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Deutiches Volkstum
Monatsfchrift für das deutſche Geiftesleben
Herausgeber :
Dr. Wilhelm Stapel
Printid ia {
Hanfeatifhe Verlagsanftalt, Hamburg
Inbalts-Derzeichnis
Broße Auffäge
Seite
Baetle, Dr. Walter, Der — der Niebergall, Prof. Dr. theol. Friedrich,
Welt bei Raabe 369 Die gi —— e religiöſe Lage in
PARSE LT. “Dr. Ludwia⸗ Kreifts Deutf: a pln Gr era one Te
39 — Nationalismus, Internationalismus
— Bidelungenttnun x 155 und Religion ee
Boed, Cbriftian, mn Hinrich ehrs 201 Petſch, Prof. Dr. Robert, Biele einer
Elaffen, — Die ———— folo- deutfhen Dramaturgie der Gegenwart .
nie im Arbeitervierte! 99 | Bland, Osfar, Die Gefährdung der deut:
— Die Oberrealfdule als humaniftifche {men Samilie .
ungsanf! 278 EN Dr. Peter Richard, Familien:
Coldi tianee, Emma, Rovto- ME u. won eR Br 2
mus o. tbewegung . . . . . . 236 Sdiefler, Dr. Guftad, Bom Staate und
Dofe, Helene, metapbufifhe Einfchlag von ftaatliden Gintidtungen . . . . .
bei Wilhelm e 380 Shmidt-Wodder, D. Iobannes,
— ns Bur Geſchichte des Ge⸗ Renan pence
425 Schramm, Dr. Wilhelm bon, Das deutſche
— Boe "Bevitien der curopiifden Weft: ff und der Krieg
völler 526 — — Dr. Rotbat, Jacob Böhme umd
Gerftenberg, Dr. Heinrich, Neuere
Schriften über dad Turnen 484 Stapel, Dr. Rilhem, Die ‘Sutunft “ger
Günther, Alb Eric, Die nationale nationalen Bewegu
Bewegung in Indien | bei uns . 336 — po ben Gel aiotstreibers der
Hah, Dr. Hermann, Scleiermader üser den Vorzeit“ .
Rolf, Maffe und poe efontael a 95 — —— Avenarius
Hebden, oR, phung und Geftal- — e wirtſchaftliche —
er er 9. Goethes — Die Kantifbe Ironie
ong. ber id Tae 17 — A ns und Metalosmos Kants
J ent 6, fa — = Sen es 0 als Eroäbler |
r Lhri er, ripe — Se ohnre taähler
146 — Aus einem amerila mae eſchichts
— es N San it in Raabes Er werle bed Jahres 1 974
aablung „Des Reides ro 396 — Die — — in Raabes Werten
olle, Dr. Hermann Sarah, “Geet aus — Bilhelm ——
biologiſcher Begri 285 — Die beiden “Bebcimnijie 7:
Knapp, Marie, lie Wildermu idermuth 240 | Ullmann, Dr. Hermann, Knut Samfun
Rolben ever, Dr. Erwin Guido, Bolt Unger at ren, Die Bedentung der
und Fü 9 Pfignerfche — Kantate won
RKiifter, Ylbert, ET in der neuen Zus ey Gele die a A
manners jobann Wilhelm, Dic =) Suhunft be maeBietridy Be Sgenwan
annhardt, m, Die um ufu er Fuge! s
ue bir engrabenmenfden . 323 Witte, Karl, u au Sort | s
Marr, Dr, * Ba DR Wittlo, Paul, Paul &
— ,,Geellofe” Arbeit 57 — Hans rn lung : :
Erle ſenes
Seite
—— Ferdinand, Gedichte und * Jobſt, Hanns, Aus „König“ und „Kreus—
Blumd, Hans Biebric, “tus _ Stelling Kant, Immanuel, Aus verſchiedenen
Rotfinnfohn ‘ 543 Werfen ;
— Amendftil, Gediht | 548 | Linde, Otto zur, Aus „Buch Wendrot
BIH me, Jacob, Bom dreifaden Reben des „Shmwurbrüder“, überfegt von ——
Menfden 2 498 Baetle: — oad pnd u
ET man ON ni | ERBETEN, Br Ss
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ebrs, Johann ‚ Das zmeiund- „Bolrslieder, alte niederdeutfche“, ge-
swanzigfte Kapitel aus „Maren“ ‘vet 206 f bon Alpers: Herr Hinrid; Toten:
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Geldigtsafdreiber. der
See kas 5 See
| Wildermuth, Ottilie, Die drei Böpfe
Seite
Rleine —
Aus der republilaniſchen Gefelfchaft .
2. 9. Der Unbermeidliche ——
mM. 8%. Bu ave Spann:Rheinfch‘ „Buch
der Eintehr” —
Auerswald, Annemarie don, "Neber
Heimatmufeen” ver
Bebne, Erna, Jobannista —
Benningboff. Dr. Tdi, Alfred
Retbel und Heintih bon Hleift . . . .
Bodemühl, Eric, Leben
— Otto zur Linde .
Braumgart, Richard, Fritz vaßß
— Matthias eſtl
Brochhaus, Paul, Zu ‘ben Lübeder Bil-
dern bon Asmus Yeffen
Elau 3 A “3, Hermann, Vom didterifden
Dänndarht, Seina, Der Rampf um ben
bein 7
Ebnl, Dr. Herbert, Das Pallib !
€ gia Zeuge ee Albert, Zur „Aheo-
ur Einführung in die
wots. oviginalgrap fhe Mappe der Fidte-
geſellſchaft
Grunewald, Dr. "Maria, ” Strabburgs
®Güntber, Albrecht Erich, Ein Brief-
wechſel zwiſchen den Revolutionen 4.
KultursJeremiaden
— ——— des Alten Man-
u: Spensiers tleinen politiſchen
Pr ge "Ratt, Deutfche Dichtung und
deutſches Geiftesleben in Wmerifa . .
He Die Grimmſchen Mär:
ax, "Die Mutter . .
Gern, Hanna Jobit .
— Erneuerung ber Bühnenkunft
i⸗ eg unferes Spracgefühls
wei oe — Ruth von, Bedürfen
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gindenverg, "Karl, Leben und Tod
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Meißner, Earl, Friedrich der t Grohe ars
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politifher Dichter
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Menzel, Br, Benno, — Soziallohn oder
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Mollenhauer, Karl, "Allmers bei den
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Das AUbermännden. NRotlehihen und Spay.
Habemus Dictatorem! Fichtes .pfydopathi-
der Quatfh“, Preuß und Witting verferti-
gen 1917 eine neue deutſche Verfaffung.
Das — Pſeudonym. Eine Illuſtra—
tion ——
Der lenfchirm. "Bollstümliches Recht und
Preffefreibeit. Warum mir Frig von Unruh
ablehnen. Georg — über die
Schweigerdeutfchen Sal —R
Der Flaggenſtreit bei Wilfons Tod. Die
„Qarbarei“, die wir verbreiten. Zum juri—
ftifhen Abbau. Bauern. Hindenburgs „ror
fee e Stablfedern”. Ein Wort für Alfred Kerr.
ffen wir immer Nod den „auten Willen
bemweifen“? Marfeillaife und Rabepfymarfch.
Der Vorwärts über Ludendorff. Kommen die
amerifanifden Seeamevues » Wer andern
einen Galgen baut. ‘ ny Mb We
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Seite
311
555
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Neues von
I Was eine Mutter tant
titec; Karl Bernhard, Bon der
teten Sprade und bem Namen Gottes
Vom rechten Feiertag des —— Fi
Die heilige Familie
Geib und Seele .
Bismard und bie Jee ber nationa:
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Geift und Fleiſch era a A
n Arbeit und Eigentum .
Bom Leben in der Wahrheit
Walter Erich, melita ‘ten
bon Reha Xi eb .
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Bu den Bildern bon Rudolf Schäfer
Stapel, Dr. Wilhelm, Ein etal
wifchen den ebolutionen 3 . .
Der Bruch in der seule Sols
„Die alten niederdeutfchen
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Neues don Sermann Claudius .
De politifhe Dummbeit Europas
Ton wem Sant beute angefeindet wird
Das Elementare in ber völfifchen Be-
wegung ‘i A
tab Schmoller zur Judenfrage €
Die Berglehre im Matthäus
Evangelium
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Errungen haftliches, 1.
Hugo Friedrich ——
„Das dritte Reich“ .
Nordifche Könige .
Ban und Helden
Kerr
Bes spots Ende "des deitſchen
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Ullmann, Or. Hermann, Wltiengefell-
fhaften und Taifune
Unger, Dr, — Mufitalifche ‘Dol:
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— Reform ber darftetlerifcen Runft in
ber Oper. .
— Muflt in der Rirde .
Voigtländer, Br. mb,
Rest und
Gerechtigfeit unferer Gegner . . . . .
Witte, Karl, Politi? und Ethif .
BHeobachter
Seite
128
178
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Guggenbeimer über das Sachverftimdigen-
gutadten. Die deutfhen Italtenfahrer. Der
LintSfogtalift Immanuel Rant. Die ber
fhnapften Nibelungen. Wieder eimmal Auf-
pound über die deutſche Unfähigleit zur
u
Die Unaulan lichkeit der Parlamente. Da:
rum fegen wir nicht lieber die Stinder aus?
„Das Leben“. Der Heiland im Zirkus. AL
fred err und der Gorilla. NRadio-Berfpel-
tiven. Blutrünftige Pasififten . .
Swet Fragen an einen pagififtifden General.
Marriftif e Pfingitbotfchaft. Georg Bern
und Elfaß-Qothringen. Philipp Scheidemann
mit Leib und Geele Warum fo aufgeregt?
Die ,uutional betonte” Vollsbildungsarbeit.
Bibat Academia radians! Amerilanifhe Re
buen ohne BORN, Der BrENNERE wem vun
ales
1467
in
219
263
313
Seite Seite
Was Lloyd George in fünf Jahren fdreiben „Abbau*. Mifcheben. Gumbel über das
wird. Die Kommiflion für Abbau des Na— Deutihe Bollstum. Finis Germaniae im
tienalbaffes. Einer der unterfchrieben bat. Barteiftreit. sino-Schillerei. Der Negertenor 467
Bie Amerifa demolratifih zivilifiert. Als der a En Ethifhe Bedenfen bon
Sranlenfur8 „berumeing“. Der raufende 1000 Marl abwärts. Der politifhe Mißgriff
Adel. „Michel im Schlafrod”. . . . . 362 der alten Germanen. BRUT te
Gaffenbauer und „Schlager“. Der ethifce beute befteht . 508
Brofpelt der „A. G. aur Musbeutung Deutfch- Das Weimarer Bauhau 3. Die "Dichter ‘det
lands“, Liebermann als Pfleger beatles Demofratie, Bölfifche Heiden? „Laden links” 557
Runft. Beten wir Wotan an? . . 416
zwie ſprache
Seite 44, 84, 130, 180, 221, 266, 316, 365, 418, 469, 509, 559.
Stimmen der Meifter
Smiller, Deutfhlands Größe (S. 46). — (S. 318). — Molttie, Gegen den Pazifismus
Ubenarius, Die Schichten (S. 86). — | (E. 366). — Raabe, Die heldenhafte Geduld
Fleift, Aus dem Guislfard (GS. 132). — (6. 420). — Hegel, Gegen abjtrafte Moral
man Der beitirnte Himmel und das mora- (S. 470). — Böhme, Die Welt ftirbt nicht
liſche Gefep (S. 182). — Fehrs, Sterndimmel (SG. 511). — and Thoma, Sind und
(S, 222). — Luther, Eheleben (S. 268). Nacht (S, 562)
Youife db. Frangots, Der Poften der Frau
e N .
Bücher und Bilder für unfern Kreis
Stapel, Wilhelm, Aus der Ernte des legten Jahres Seite 512
RUN
Heft
Amei — 0) Bau: Flattuen des Sirah Thoyl[mann, Karl, Der Bermundete 8
burger (Bwiefprade f. ©. 5
—— * feet Sriöhöitäse. Miniter Sab, Seit, Golaatha: Antergang der
41. Finfternis 8
Selen. Asmus, Zwei Bilder aus dem Yraungart über Sah T. ©. "360.)
Lübeder Dom und zwei Bilder nad) Siibeder Wilbelm Raabe und feine Braut
a i 2 1862 (Photographie) . . . . . .. 9
(Brodhans über Jeſſen ſ.' 6. 81.) (Beberzeihnungen Wilhelm Raabes:
Netbel, Alfred, Der Bannerträger . . 3 Raabes Zimmer in wüolfenbütel ©. 373,
er. (Benningboff über Rethel Reiter ©. 377, Schlucht ©. 381, Phanta-
i. ©. 126.) fien Binter ©. 422.)
Bardou, Emanuel, Zwei Aufnahmen Leibl, Wilhelm, Drei Frauen in der
feiner Büfte MantB . . ...... 4 wi Ausſchnitt daraus; eg Par)
Rant, Galfimile S. 182; (Zwieſprache (Stapel über eibl j. &. 8.)
f. ©. 180. * -Sirtle UWbert, Snterlandiatt; ober 11
JIllies, Dtto, Doliteiniiger — (Meibner über Birlle f. 7.)
garten; Buchenwald R 5 Shinnerer, Modolf, rien A 11
(Schröder über Illies 1. 5. 218.) (Golg über die Bierte originalgrapbiice
Schäfer, Rudolf, Deimalftienen: Bauerit- Mappe der Fichtegeſellſchafi f. S. 506.)
garten . vicina, 16 Schieftl, Matthias, Zwei BRENNEN
(Schröder über Schäfer it "€. 261.) der Seiligen Naht > 12
Sartmann, Hugo Friedridh, Dom au
Bardowiel; Feierabend; Un der Nordjee .
(Stapel über Hartmann f. ©. 311.)
(Praungart über Schieſtl ſ. S. 556.)
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Nam Steafhuracr Miünftor
Deutſches Bolfstum
1. Heft Kine Monatsjchrift 1924
Die Zukunft der nationalen Bewegung.
1.
8 ijt bemerkenswert, daß die nationale Bewegung, die fid feit bem Bue
fammenbrud bon 1918 gebildet Hat, gu einem nicht geringen Teile bon
Männern getragen wird, die bor dem Kriege im Gegenjaß ftanden zu dem,
was man „den Geift der wilhelminifchen Zeit“ zu nennen pflegt. Sie haben
das Bismardreid niemals als ein Ende, fondern immer nur als einen Anfang
betrachtet. Darum ftanden fie gegen die „©ejättigten“, „Befigenden“ und
„Öenießenden“. Sie waren unruhig, weil fie hinter der Sättigung und dem
®enuß die Gridlaffung fpürten. Sie faben unwillig auf den fpielerifchen
Glanz, der über die mitleidlofe Härte der geſchichtlichen Wirklichkeit hinweg—
taujdte — fie faben die Art an die Wurzel des Baumes gelegt. Ach, wir
fennen die Schwächen des „alten Shftems“ nicht weniger gut als jene Leute,
denen es nicht wider den guten Gefdmad ging, im November 1918 ihrer Gee
finnung einen Heinen Stoß zu geben und ſich (mit dem Troft, daß man „auf
diefe Weife viel Gutes wirken könne“) „auf den Boden der Tatfaden zu
ftellen“. Aber unfer Geift ift nicht fo enge, daß wir um der Schwächen millen
auch die gefunden Kräfte im „alten“ Staate verfennen zu müfjen glaubten —
entjtebt Dod ein Neues niemals aus dem Nichts, fondern jeder neue Frühling
fprießt aus den alten Wurzeln. Und wiederum: unfre Liebe zum Werdenden
ift nicht fo fritiflos, daß wir einen neuen Wufpusy für einen neuen Geift
nehmen. Wir prüfen die Dinge, ob fie feft find oder nur ein Schaum, und die
®edanfen, ob fie richtig find oder falfch.
Gs ift heute fo: gerade unter den „Nationaliften“ find die borwartds«
Drängenden Kräfte. Man vergleihe das fozialiftiihe und demokratiſche
Schrifttum unferer Tage mit dem nationalpolitifden. Dort: Wiederholung
und Berlegenbeit, man entdedt nicht mehr neue Gedanken, man [chiebt
nur nod die alten Gedanken hin und ber, wie es jeweils die Lage zu erfordern
ſcheint. Hier aber fpringt Gedanfe um Gedanke auf: neue Zufammenhänge
zeigen fic, immer neue ©egenftände fallen dem Nachdenken zu, fodaß die
Sande faum die Fülle fafjen können. Dort herrſcht das Gefühl: Wie
fommen wir um die Schwierigfeiten und Beinlichleiten unferer eigenen Konſe—
quenzen herum? Hier berrfcht diz Stimmung: Wie fegen wir uns durdh?
Dort handelt es fid um die „Wahrung“ der „Srrungenfchaften“, hier
bandelt es fid darum, eine neue Welt in immer neuen GStreifzügen gu ere
ſchließen. In die demofratifchen und fozialiftifhen Gedanken läuft das adte
zehnte Jahrhundert hilflos aus, die Idee des Nationalen aber erfüllt fid
taglid mit Empfindungen, Gefidten und Gedanken. Die demofratijchen und
fozialiftifhen Gedanfen welfen dahin in dem dürren Reifig faftlofer Ron-
ftruftionen, die nationale Gedankenwelt füllt fic frühlingshaft wie eine frifche
1
Knofpe. Port fallen die welfen Blatter bon den gefdorenen Laubwänden,
Pyramiden- und Kugelbäumen des frangdfifhen Parks, Hier wollen die
Refer eines neuen deutſchen Frühlings aufbreden.
Gin Grperiment gum Griveis: Man zeige aud nur einen einzigen Gee
banfentrieb aus der alten, berftodten Wurzel des Naturredts auf, der neu
und jung wäre. Da ift alles gu Ende gedadt und bereits irgendwie erprobt
und erledigt. Die Demoratie (das Wort im Heute geltenden Ginn) lebt
nur nod) davon, Daß fie fic ſelbſt widerfpricht: Die deutſche Republik wagt
nicht, gemäß ihrer Verfaſſung fic einen Reichspräfidenten zu wählen. Gie
denkt mit Seuf;en daran, daß fie gemäß der Gerfaffung einen neuen Reids-
tag wählen muß. Mit Srmadtigungsgefegen, Reihswehr-Ginmärjchen, Beie
tungsverboien wird regiert. Die Löcher des alten demokratiſchen Kupferfejjels
müjjen noidürftig geflidt, ja in Gile verftopft werden — er hält dem allzu
beißen Geuer des Zeitalters nicht ftand. Der Einwand, daß daran gerade
aud) die Nationaliften ſchuld feien, gilt nicht; denn (ganz abgefeben davon,
ob es eine „Schuld“ ift, ein anderes Prinzip zu haben) gerade die Demo»
fratie hat den Begriff der „beiten Staatsform“ eingeführt, fie beanfprudt, für
Nordamerifa, Deutfchland, Haiti, China, Rußland die endgültige, objeftiv
bollfommenfte Löjung zu bringen, unangejehen die nationale Wrtung der
Menden. Die Behauptung, die Deutſchen feien noch nicht „reif“ für die
Demokratie, ift eine Berlegenheitsausrede. Wer follte denn für Pemofratie
reif fein, wenn nicht ein Golf mit einer zweitaufendjährigen großen politifchen
Geſchichte, mit einer Blüte des Geiftes, die zu dem Gdelften gehört, was die
Menjchheit hervorgebracht, ein Bolt mit eingeborenem Ordnungsfinn und
unerreich:er Disziplin? Mit dem Worte „reif“ verläßt man eigentlich fdon
den Boden jenes Naturrechtes, das in Wahrheit fein „Natur“recht ift (natura:
das Werdende), jener Denfweife, der Demofratie und Marzismus entfproffen
find, und begibt ſich in den Kreis biologifher Wnfdauungen, wo der ®rund-
fat gilt: Gines ziemt fih nicht für alle. Das Wort bom Reif-fein bedeutet.
ben DBanferott der formalen Demokratie. Wenn die demofratifhe Idee die
objektiv befte ift, jo muß fie es eben aud fein, für jugendliche ſowohl wie
für greife Bölfer, für Deutfhe wie für Wmerifaner. Andernfalls find
unendlich viele „beite Berfajfungen* erforderlid. — Aehnliches gilt für den
marziftifhen Sozialismus. Man nehme den erjten Band von Marz’
„Kapt:al* por und vergieihe den dort fonftruierten Berlauf der Dinge
mit dem wirftliden. Gs ftimmt gar nichts. Gleichwohl Halt man fid
frampfbaft an das alte Begriffsgerüftl. Warum? Man fafdiert einen Irr—
tum, weil man zu ängftlich ift, fic den Irrtum einzugeftehen. — Die Demo-
traten und Gozialiften bie:en dem Beobadter diefen Anblid: Sie fönnen nit
mehr mit ber Wirklichkeit fertig werden, aber es fehlt ihnen an Kraft und Mut,
bon der Wirklidfeit aus ein neues Denken zu beginnen. Sie gingen einft bon
ber Natur aus, die Galilei, Gartejfius und Newton erforfdten und erfannen.
Und Heute geben fie immer nod von dem aus, was die Leute por zwei Jahr-
Bunder:en für Natur bielten*. Deshalb verfagen ihre Gedanfen.
Aber man wendet ein: Die „Halenkfreuzjünglinge*! Antwort: Wo ein
* Beifpielswei'e: Der Begriff der „Semeinihaft“ paßt gar nidt in die über-
altete Natur» (und Gefhidts-)Anfhauung. Daher wird diefer Begriff in der
demofratifhen und fozialiftiihen Gedantenwelt notwendig forrumpiert. Nur Dee
mofraten und Goxialiften fonnien auf den wunderlihen Einfall fommen, aus einer
Schulklaſſe eine Gemeinihaft mahen gu wollen — der Beweis, daß ,Gemeinfdaft
ihnen ein Ding mit fieben Giegeln ift. )
Geuer brennt, ift Naud. Man nehme alles in allem: Welde Idee hat Heute
mehr unverbrauchte, entwidlungsfähige Jugend an fich gezogen als die nativ»
nale? Der Wert einer Idee ift aud) daran zu ermejjen, ob fie gefundes,
ſchlichtes Volk in Bewegung zu fegen vermag. Pie nationale Idee wendet
fid an den Heroismus, die demofratijche und die fozialiftifche lebt (anders wie
einft im Zeitalter Schillers) wefentlid bom Refjentiment. Eine Idee, die
fih an das Herrliche und Herrifche im Menſchen wendet, iſt heute gufunfts-
voller als eine, die ſich an das Weibliche und Weibiſche wendet und die das
„Glück“, den geſicherten Lebensgenuß als das Ziel der Menſchheit malt. Es
fommt nicht auf einzelne groteske Erſcheinungsfformen an — wo Wäre das
Leben nicht immer aud in manden Zeilen grotest? — fondern auf die trei-
Dende Herzensfraft.
Man wendet weiter ein: Für viele Menfchen ift die nationale Idee nur
eine DBerfleidung ihrer Sehnfuht nad den vergangenen Zuftänden. Sicherlid).
Aber nicht bon diejen und aus ihren Refjentiment, aud) nidt aus der „rüd-
warts gewende:en Romantif“ ift die nationale Idee unferer Zeit ausgegangen.
Ware dem fo, dann wäre die nationale Bewegung zur Unfruchtbarkeit vere
dammt. Gin Strom muß nad) feiner Quelle beurteilt werden, nicht nach den
Nebenflüffen, die in feinem (nit ihrem) Bette verftärfend mitftrömen.
Eine Bewegung wird beftimmt von der Kraft, aus der fie entjtanden ift. Was
alfo ift die treibende Herzensfraft der nationalen Bewegung bon heute?
Sngwifden ha.ten wir als Grgebnis diejer Darlegung feit: D.e nationale
Bewegung tjt in ihrem Kern nicht Reaktion, fondern ein Neu- Werden. Folge
lid: würde Die nationale Bewegung unterdrüdt, fo würde
Damit bie Regeneration und alfo die Zukunft unfres Bole
fes erdrüdt. Hingegen vernichtet die demokratiſche und fozialiftifhe Bee
wegung fic von felbft, weil fie mit ihren, auf veralteter Naturerfenntnis fid
gründenden Abftraftionen fein Verhältnis mehr zur ——— Wirklichkeit
finden kann.
2.
Unter den Deutſchen ringen vom Anfang ihrer Gefdidte an zwei geiftige
Strömungen miteinander, und die Berworrenheit der deutſchen Geſchichte Löft
fic, wenn man beide fondert und in ihrer Wechfelwirfung begreift. Das eben
gehört zum Wesentlichen des Deutſchtums, daß beide Kräfte in ihm leben:
das febnfudtsvolle Hinausgreifen in Die Fremde, die ehrfürdtige Hingabe an
alles, was fern, fremd und glänzend ijt, Die Luft, im erhöhten Sraumbild des
Srembartigen gu leben, binwiederum das fdroffe, ja eigenfinnige Bebarren
auf das eigene Wefen, das Ablehnen alles deſſen, was nidt aus der ererbten
Natur ftammt. Diefes Volk hat einen Wandertrieb ohnegleiden und zugleich
das Ieiden{daftlidfte Heimmeh. Gegeftes und die Seinen nehmen bewune
dernden Blides das römifhe Leben auf — Kultur ift ihre Sebhnfudt,
Arminius und die Seinen aber vernichten die Römer und opfern die Letber
dem Wodan unter den alten, fturmtrogigen Giden — Sreibeit ift ihr
Wille. So fteht dem weichen Ingeld der dänifchen Heldenfage der Harte alte
Starfad entgegen. Die Sehnſucht nad Licht, Höhe und Weite ringt mit der
Liebe und Treue zur derben, rauhen Baterfitte. Hölderlin und Grnft Moris
Arndt find beide deutſch. Den größten Deutjchen aber treiben beide
Kräfte das ftarke, raftloje Herz: Goethe fehreibt den GSK und die Iphigenie,
den erften und den zweiten Teil des Fauft.
Wir finnen geradezu fegeftifhe und arminifche Zeitalter in der deutfchen
3
Geſchichte unterfcheiden. Immer wieder erleben wir das heftigfte Ginftrdmen
fremden Geiftes, und alsbald fett in den Tiefen des Bolts der Widerftand
ein, langjam, zäh, Schritt bor Schritt; es beginnt das Ausfcheiden, Um—
wandeln, Berarbeiten des Sremden aus dem inftinktiven, urwüchligen Gmp-
finden heraus. Die Arwüchſigkeit wird jedesmal verfpottet bon den „Gei—
ftigen“, aber fie tft es, die „barbarifhe“ Kraft der unverbraudten Schichten,
die das Doll als deutſches rettet. Berfolgen wir die Aufnahme des
Shriftentums, des römiihen Rechtes, der höfiſchen Kultur Ludwigs des
Biergehnten, der Antike — immer das gleihe Ringen. Geit einem Sabre
Bundert übernehmen wir mehr und mehr die politifhen Formen der Weſt—
bölfer, mit der Niederlage von 1918 ift das politifhe Denfen des Weftens
wie ein Sturzbach über uns gefommen. Inftinftip wehrt fih das Volk
dagegen: Wie es einft die römifchen Yuriften Hafte, fo haft es Heute die
Parlamentarier als die fichtbarften Ezponenten eines Geiftes, der ihm inner-
lid) fremd ijt. Was bei Männern wie Riehl und Lagarde fic vereinzelt zu
regen begann, das regt fic feit dem Zuſammenbruch pon 1918 in immer
weiteren Kreijfen. Inftinktiv lehnt man — nicht eine endlihe Bölfergemein-
ſchaft, wohl aber den gegenwärtigen Pazifismus ab, nicht eine Selbftperwal-
tung, wohl aber das, was heute „Demokratie“ heißt, nicht eine ethifche Bin—
bung der Wirtfehaft Durch Berufsehre und Achtung des Menfchlichen, wohl
aber den marziftifhen Sozialismus. Der innerfte Lebenstrieb des Volles
in feiner So-Befchaffenheit, jener herbe, dämoniſche Trieb von Urzeiten Her
erwacht gewaltig und epochebildend. Die nationale Bewegung bon heute
Hat wenig mit dem Heindeutjchen Nationalismus der „wilhelminiſchen Zeit“
gu tun, ihre Wurzeln Hammern in den tiefften Gründen der deutfchen Ge—
Ihichte. Gs Handelt fih um einen Weltanfdauungsfampf, defjen Bedeutung
man fich auf demofratifcher und fozialiftifher Seite faum je gang klar macht.
Man begreift unjre Leidenfchaft und unfern Ernft nicht. Wir aber wiffen, was
wir zu verantworten haben, wenn wir „Volk“ jagen.
Ein Zweites fommt hinzu, das notwendig ift gum Verftändnis der natio-
nalen Bewegung. Die Deutſchen waren (wie die Römer, die Frangofen) bon
je ein friegerifhes Bolf. Gs lebt in den breiten Volksſchichten, zumal in der
Jugend, ein natürlicher, friiher Mut, der fich in körperlicher Wehrbaftigfeit
äußert. Der Deutſche hat die Fähigkeit „mit Leib und Seele Soldat zu fein“.
Dieſe Eigenſchaft verliert ein Golf nicht durch einen fieglofen Friedensvertrag;
im Gegenteil, nad der Erſchlaffung wird der Mut um fo grimmiger aufs
ſchäumen. Das ift eine biologifche Notwendigkeit, Die dDurd feine pagififtijde
Doktrin aufgehoben werden fann. Gs fragt fic nur, in welche Richtung fid
diefer Mut ergieft. Da die Deutfche Republik infolge ihrer Doftrin nicht
mit dem Trieb zur Wehrhaftigfeit rechnen will, fo bringt diejer Trieb eben
außerftaatliche Organijationen hervor. Zum Seil wird er aufgefangen durd
die Doltrin des aktiven Kommunismus. Der aber fann im deutſchen Volk
(aus @riinden, die zu erörtern Hier zu weit führen würde, wir erinnern an die
früheren Schwärmerbewegungen) nur vorübergehende Bedeutung haben. Die
nationale Idee ift der natürliche Kriftallifationspuntt für alle Organifationen,
die aus dem volfhaften Drang zur tätigen Wehr erwadjen. Das wird fid
je länger. je mehr zeigen. Kein Berbot fann diefem Lebensporgang eine
Schranke fegen.
Die innerften Triebkräfte der nationalen Bewegung bon heute find nicht
nationaler Ehrgeiz, nicht Imperialismus, nicht geſchichtliche Romantif, fondern:
die plaftifhe Kraft des Bolksgeiftes und der unftillbar lebendige Trieb zur
4
Webrbaftigteit. Gin deutſcher Staat, der für diefe beiden Bewegungstrafte,
feinen angemeffenen Raum bat, muß in fid verfommen. Männer, welche
diefen Orundfräften unſres Bolfes fremd und feindjelig gegenüberftehen,
können nie gejhichtlihe Bedeutung erlangen.
3.
Hätte die Revolution die nationale Idee in fich aufgenommen, fo würde
die deutfhe Republif im Bolfe nicht weniger feft begründet fein wie Die
franzöfifhe bon 1870, es würde eine rubmpolle Revolution geworden
fein, bon der aus eine Grneuerung des ganzen Bolfes ihren Anfang ges
nommen hätte. Aber die fogialiftijden und demofratifhen Führer waren be-
fangen in ihren Doltrinen, fie fannten feinen andern Begriff des Native
nalen, als der in ihren eigenen Kreifen während der wilhelminifhen Zeit,
nicht gulegt in agitatorijcher Abficht, geprägt worden war. Sie fträuben fid
nod heute, das Nationale als einen unhemmbaren Lebensporgang im Bolfe
anzuerfennen. Die in ihm gebundene reiche ©efühls- und Gedankenwelt,
ihre Wahrheit und ihre Sittlichkeit, gilt ihnen als ein Irrtum, denn — Diefe
Welt paßt ihnen nicht zu ihren Gedanfen. Die Wucht der nationalen Bee
wegung fönnen fie ſich nur erklären als das Grgebnis einer „Hebe“, die bon
böfen oder törihten Menfchen zu niedrigen Sweden gemadt wird.* Gie
glauben allen Grnftes, die nationale Bewegung mit Argumenten befämpfen
zu können wie diefes: „Der Nationalismus ift [huld am Kriege.“ Natürlich
gelingt es folden Leuten nicht, das deutſche Volk zu meiftern. Aber es gee
lingt ihnen, die nationale Bewegung zu bedrängen. Die Folge davon ijt, daß
fie bier und Dort ezplodiert.
DBorgänge wie die Befehung des Rubhrgebietes, die Aufgabe des Wider»
ftandes an der Ruhr ufw. erzeugten eine ungeheure nationale Gefühlsipannung
im deutfhen Boll. Aber in der Leitung des Bolfes fand fie feinen ihr ent»
fprehenden Ausdrud. Nur in Münden war, infolge zufälliger örtlicher
Konftellationen, der offizielle Widerftand gegen die nationale Bewegung bee
feitigt. Hierher drängte alfo die ganze Spannung. Durch die unterirdifche
Glut entftand eine Griihreife. Man muß die Münchener Novembertage von
1923 in ihrer Naturhaftigfeit begreifen.
Das gefhichtlihe Bild des Münchner Aufftandes dürfte im Wefentlichen
fo zu zeichnen fein: Rabr wollte die verjchiedenen nationalen Kräfte in Bayern
aufammenfpannen, die militärifchen Organifationen, die ftarf ethifch gerichtete
naticnalfozialiftiihe Bewegung, die bayrifh-monardiftifhen famt den ultra
montanen Beftrebungen. Bon Münden und Babern aus wollte er Schritt
um Schritt Deut{dland erneuern. Ware fein Plan geglüdt, fo mare der
Herzpunkt des deutſchen Bolles von Norddeutfdland nad Bayern gerüdt
worden, und das zufünftige Reich hätte eine entſprechende Geftaltung ere
fahren. Aber es gelang ihm nicht, Die Kräfte, die an das Bismardreid ans
fnüpfen wollten — fie waren verkörpert in Lubdendorff und Hitler — zu bee
wältigen. In jenem Nebengimmer des Bürgerbräufellers war ihm fchließlich
eine Stunde Zeit gegeben, das zu vollbringen. Gs gelang ihm dort nicht, fid
* Slammt der Nationalismus irgendwo auf, fo pflegt der „ Borwärts“ zu
fragen: Wer gibt dad Geld dazu? Kulturgefhichtlih intereffant ift, daß Diejes
soentralorgan® der Sozialdemofratiihen Partei eine tofle NRäubergefhichte über
Hitler abdrudte, wie diejer einmal eine Hoftie ausgefpien und verunehrt habe. Die
Männer der nationalen Bewegung müſſen im „Vorwärts“ immer Trottel oder
Lumpen fein. é
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‘
gegen die andern durdgufegen, fondern nur, die andern — zu taufden,
Man denke an die Stunde nad der Schlacht bei Königgrät, da Bismard mit
dem Saijer rang. Bismard blieb der Unterlegene der Stunde und Der
Gi.ger der Gefdidte. Kahr blieb der Sieger des Tages und der Unter-
legene der Gejdidte. Die Geſchicke des deutſchen Bolfes werden nun nicht
von Bayern aus beftimmt werden. Die Urſache ijt, daß Kahr die andern
nicht geiftig, fondern mit dem MafdinengeweHr begwang. Durch ein merk—
wiirdiges Schidjal entgingen Ludendorff und Hitler dem Tode, diefelben
Kugeln aber gerfesten das bayriſche Großdeutſchland.
Ziehen wir das gejhichtlihe Ergebnis aus den tollen Tagen bon Mün-
hen. Lange bevor Bismard das Deutſche Reich baute, hatte es eine
enthufiaftiiche nationale Bewegung der Studenten und des Bolfes gegeben.
Aber das Iahr 1848 bradte nicht das großdeutihe Reidh. Das Bismard-
reich entftand fpäterhin nicht aus der Golfsbegeijterung, fondern aus dem über-
legenen Willen des umfidtig vorjchreitenden Staatsmannes. Durch diefen
allein wurde das deutſche Reih möglid. Alber eben darin lag aud die
innere Schwäche des neu gefdaffenen Staates: Nur weil er nicht aus Der,
DBegeifterung des Volkes heraus entftand, jondern bon oben Her organifiert
wurde, fonnte die Regierung als eine andere Madt gegenüber dem Bolfe, als
„Obrigkeit“ empfunden werden. Niemals wären fonft Bolf und Regierung in
dem Maße als Gegenfage fühlbar geworden. Wie wird es mit dem
zufünftigen deutfhen Reid, das irgendeinmal den gegenwärtigen Notbau
ablöfen muß? Die nationale Begeifterung der Studenten und des Bolfes ift
in München abermals unterlegen. Das ift gefhicdtlid bedeutfam. Wird das
fiinfiige Reid ein Gemächte der Diplomatie und des Militärs fein?
Niemals wird ein Staat allein aus ftürmifcher, repolutiondrer Volks—
begeifterung gejchaffen. Das widerfpridt der Natur der Begeifterung und
der Natur des Staates. Aber alle Staaten, die nur das Ergebnis überlegener
Staatskunft find, geben aus den Fugen, fobald die Staatskunft nicht mehr
überlegen ift. G8 bedarf einer Syntheſe der Volksſehnſucht und des Führer-
willens. Aber niemand fann eine Begeifterung maden nod einen genialen
Staatsmann formen. Sollen wir alfo refignieren und warten?
4.
Wir ziehen aus diefen Betrachtungen das Ergebnis, dah wir die natioa
nale Idee und die nationale Bewegung reifen laffen müjfen Wir
tönnen es ruhigen Herzens, da wir von ihrer naturhaften Notwendigfeit
überzeugt find. Das ift der Weg der Gefdidte. Se ftärfer die Hemmungen
find, um fo tiefer und mächtiger fammelt fic die Kraft, um fo reiner, feuriger,
edler werden die Früchte fein. Das rafde, braufende Kraftgefühl der Sue
gend, das {din ift, das fic aber über fein Können täuſcht, muß reifend fich
wandeln in gebändigte Männlichkeit. Denn der Staat ift eine mannlide Ane
gelegenbeit. Reifen ift niht Untätig-fein. Reifen ijt Gähren und
Klären, Wadfen und Sich-erfüllen. Das ift Heute in Dreifadher Weife von
Nöten.
Grftens: Die nationale Bewegung muß fim dapor hüten,
ebenfo wie die fozialiftifhe in Agitation gu entarten. Die
foztaliftiijhe Bewegung wurde unfrudtbar durd das Heranwadjen einer
Schicht bon GFunttionaren, die berufsmafig fogialiftifdhe Parteipolitit
madten. Gs ift ein eigen Ding um den „Geſchäftsführer“ einer Organifation,
die ihrem Weſen nad Organ einer „Bewegung“ fein foll. Gin Gefdhafts-
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führer foll die Männer, die rein um der Gade millen arbeiten, bon dem
tednifhen Betrieb entlajten, damit fie frei werden für Die Aufgaben der
geiftigen Führung. Aber leiht wird der Funktionär und Agitator zu dem
„in alle Berhältnifje eingeweihten“ „Spegialiften“, ohne den „es nicht geht“.
Ueberall madt er feine ,@efidtspunfte* geltend, die, da er fic) mehr und
mebr dem Geiftigen der Bewegung entfremdet und es gering achtet, auf
bloße Taktik gerichtet find. Zudem: er wird bezahlt. Darum muß er
in furger Stift Grfolge haben. Das treibt ihn dazu, nad) den gröbiten
Mitteln zu greifen. Gr arbeitet mit dem „Schlagwort“ und der „Plattform“
— was Wahrheit und Begründung? Auf den Effekt fommt alles an! — er
arbeitet mit Der Uebertreibung in jeder Geftalt. Schließlich weiß er auch um
des Gindruds willen die Begeifterung und die Ehrlichkeit zu imitieren, fogar
vor fich felbjt, und das ift fein erhabenftes Kunftftüd. Die nationale Bee
wegung muß alle Anfäge zu folden Wuderungen ohne Rüdfiht auf Tages
erfolge bejchneiden; denn es ift nötig, daß fie innerlid rein bleibe Gine
Bewegung, die aus den tiefften Leidenfdaften des Herzens quillt, muß gang
lauter fein, fonft wird ihr Grgebnis ein Zufammenbrudh fein oder etwas
Schreckliches.
Zweitens: Wir dürfen nicht bvergeſſen, daß der innere Ge
halt der nationalen Idee nog keineswegs zur vollen Ent—
widlung gefommen ift. Es mar befanntlid einer der ®ründe, aus
denen die fogialbemofratifhe Partei nach der Revolution verfagte, dah fie
gewijfe Anfchauungen Karl Marzens dogmatifiert hatte und geiftig nicht im
Stande mar, fic auf die befondere Lage der Beit einzuftellen. Man jtülpte
dem Bolf einen Haufen bon prinzipienfeften Geſetzen über den Kopf ohne
jede gejhichtlihe Antnüpfung, ohne jede Abſchätzung der feelifhen und fitte
lihen Auswirkung. Befonders groß war man im „Abjichaffen“, denn das
war das Leidtefte. Man hatte eben niht genug gelernt. Die junge
nationale Bewegung bedarf nod febr vieler pbhilofophifcher, Biftorifcher,
foziologifcher, pſychologiſcher Arbeit, ſowohl fritifher wie fchöpferifcher, und
zwar aus der Prazis heraus, um bas Rüftzeug für eine nationale Politik
zu jchaffen. Große Staatsmänner fann man nicht fchaffen, wohl aber Rift.
zeug für fie. Man glaube doch nicht, da der Freiherr bom Stein „einfach“
die Hörigfeit „abjchaffte* oder eine Städteordnung aus einer pliglidhen Bifion
ſchöpfte. In unjerer rationaliftijmen ©efetesfabrif Hat man ganz vergejjen,
was ein Öejeg feiner Naturnadheigentlidhift. Wer ein frudt-
bares Geſetz fchaffen will, muß es fowohl aus der Gefamtidee richtig ableiten
wie auch in der praftifhen Wirkung, die ja Dod Berwirklidung der Sejamt-
idee fein foll, abſchätzen, und zu dem letteren gehört Beobachtung und wieder
Berbadtung. Daß Bismard in der Berlegenheit und um des Gindruds willen
den weftlichen Parlamentarismus „einfach“ übernahm, war ein Gebler. Wir
erinnern uns aud) mit Schaudern, was aus der bon Rathenau angeregten
friegswirtfchaftlihen Organifation wurde, wir feufgen heute unter den bon
Grzberger aus den Aermeln gejchüttelten Finanzämtern. Gs gilt, die Mög-
lichleiten der nationalen Idee fo weit zu entwideln, daß Segen daraus fommen
fann, und zwar auf allen Gebieten des Lebens. Auch ein internationales
Ziel muß fie uns bieten. Nicht allein muß fie uns Ear und beftimmt unfre
außenpolitifhen Intereffen zeigen, fondern aud unſre Stellung und BWirkjam«-
keit im Kreife der Bölfer. Sie muß das medanifdhe Ideal der Pagififten er-
fegen durd das Bild einer Menjdbeit, das der deutfchen Idee von reis
beit und ©®emeinfchaft entfpricht. Ich glaube (mit Schiller), daß gerade das
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deutſche Denken infolge des eigentümlichen deutfhen Schidjals vorbeftimmt
ift, die Ldjung für eine reife und vernünftige Völkergemeinſchaft zu finden.
Sie liegt ſchwerlich allein in einem mechanijchen, fontobudmafigen „Selbit-
beftimmungsrecht“, fondern in einer Würdigung der gefdidtliden Leiftung,
gu der freilich eine Dobe geiftige Reife und Gerechtigkeit gehört. — Wir
wiſſen, daß mit Volkskunde, Gefdidte und Philofophie das deutſche Volk
nidt erneuert und fein Staat nicht verdeutfcht wird, aber wir wiffen, daß
dieſe geiftige Atmofphäre die Borausfegung einer erfolgreichen völ—
kiſchen Politik ift.
Drittens: Jedes GliedD der nativnalen Bewegung muß in
feinem perfinliden Leben ein würdiger Bertreter der n a
tionalen Idee fein. In der Repolution verjagte die fozialiftiijhe Be—
wegung bor allem durh — die Menjden, die fie nicht berangebildet hatte.
Seder Einzelne muß ſich felbft Zörperlich, feelifh und fittlid als Beitrag
zur Grneuerung des Bolfes darbringen. Die nationale Bewegung muß durd
die Menf den überzeugen, von denen fie getragen wird. Gs geht wahrlich
nidt an, daß wir irgend eine ®eld- oder Boden- oder Raſſentheorie auf die.
Stange fteden und glauben, damit wären wir nun fertig zur Rettung des
Daterlandes. Wir dürfen die Berantwortung nicht bon unfrer Perfon auf
eine Theorie abladen. National fein heißt nicht, für irgend ein Univerjal-
beilmittel agitieren, fondern das eigene Gein und Tun unter die nationale
erantwortlidfeit ftellen. Man laſſe fic durh das Schickſal der fogia-
liftifden Bewegung warnen. Die nationale Idee muß nicht durd ein Ree
gept fiegen, fondern dadurch, daß fie die gefundeften, ehrenhafteſten, uner-
{@rodenften und gebildetften Mtenfden zu eigen bat.
Das find drei Forderungen und — fein Rezept. Das find drei Bedin-
gungen und — feine Prophezeiung. Das find drei Befdranfungen und —
feine Befriedigung des Optimismus. Sollen wir darum ungeduldig fein? Bom
Sage dürfen wir nichts erwarten, fondern nur bon der Zeit; denn es handelt
fim um große Dinge. Aber die Sröße ift unfer Troft.
5.
Das beutfhe Volk ift wie ein Strom, der aus unbetretenem Urgebirge
quillt und duch Berge und weite Ebenen groß und ftolg dem Meere guwallt.
Die Feinde bauen Damme in ihn hinein und wälzen Blöde herzu, fie juchen
ihn zu hemmen und abzuleiten. Aber immer wieder läßt Gott es Frühling:
erden, dann raufden von neuem die Waffer fdwellend von den ewigen!
Bergen Hhernieder und die ungebändigte Urkraft reißt alle Damme und Blide
in tobendem Zorne hinweg —
„Wie der Schnee aus Feljenriffen,
Wie auf ew’ger Alpen Höh’n
inter Frühlings beißen Küffen
Siedend auf die Gletider gehn:
Kataraften ftiirgen nieder,
Wald und Fels folgt ihrer Bahn,
Das Gebirg’ Hallt donnernd wieder,
Sluren find ein Ozean —“
Und der Strom raufcht wieder frei und ftolg die alte Bahn dahin.
Gs wird aud) nach diefem Winter ein deutfher Frühling fommen, und
aögert er lange — um fo jäher und gewaltiger werden die Wogen daher—
ftiirgen. Denn ein Bolf wie das deutjche fann nicht anders als frei fein. Gt.
8
Golf und Siibrer.
3) biologiſchen Sugendlidfeit des deutſchen Volkes ift es zuaufchreiben,
daß es allezeit mehr als andere Völker nad Führung verlangt. Gs
ftrebt die Berantwortung für fic felber auf ein Gewiffen zu legen, dem es
Kraft und Mächtigkeit gujdreiben fann, feine, des ganzen Bolfes, Gnt-
widiung zu jchirmen. Unter der Hut des Führergewijjens will das Bolf
den ftarfen inneren Gntwidlungstrieben nadleben. Go mill der Siingling,
der bewußt und unbewußt bor allem feiner Gntwidlung lebt, während er
eine Hand über fich weiß, die fon zur rechten Beit fiirforglid) bemmend
oder fördernd eingreifen wird.
Aber die Not des deutfchen Volkes läßt fein Berlangen über den ftetigen
Entwidlungsgang hinausſchwirren, fein Wunder, daß es Darüber taumelnd
wird und feinen DBlid für die Natur der Dinge verliert, der in Notzeiten
doppelt fejt und ficher fein follte. Wer immer nur eine Gorm Hat oder eine
Geftalt findet, die über das Individuelle in das Allgemeine zu greifen fcheint,
dem fladert der Blid des Bolfes gu: Vielleicht ift da der Führer aus unierer
Not! Niemand bejinnt fic darüber, was N Sührer und Führerjchaft
im volksbiologiſchen Sinne bedeutet.
Durch einen rationaliſtiſchen eſchichtsunterricht und eine rationaliſtiſche
Ethik und Philoſophie iſt dem deutſchen Volke auf Schritt und Tritt dicht ein—
geblaſen worden: Alle hiſtoriſchen Greigniſſe ſind Emanationen der großen
hiſtoriſchen Perſönlichkeiten, alles Recht und Zurechtfinden fließt aus den
Denkerköpfen, unſere Sprache iſt ein Werk der Sprachſchöpfer, die Religionen
find das Werk der großen Religionsgründer. Was wir an Lebenswerten
befigen, ift uns gegeben. Dogma. Und damit hängt aud unfere Abhängig.
feit bon allem Grembden gujammen. Kein Kulturvolf, das fic) fo leicht impo-
nieren ließe — aber auch fein Kulturbolf, das gerade in dieſem kritiſchen
Sugendftadium ftünde, in Dem alles impofant wirft! Bergebens haben die
großen Spreder und Geftalter des deutſchen Wefens ihr Bolt immer wieder
auf fic felbft gu führen gefudt, Gelbftbejinnung und feinen blinden DBerlaß
gu bewirken geftrebt. Sie wurden gu Führern gemadt, zuweilen als Führer
bod geehrt, und dabei hatte ſich das deutſche Volksgewiſſen der einzigen
Pflicht entledigt, Die von den Spredern und Geftaltern des deutſchen Weſens
eigentlid und aus dem einzigen Sinne ihres ſchöpferiſchen Dafeins heraus
verlangt worden war: Nidt ihnen blind zu folgen, nicht fie ablohnend zu
berehren, fondern felbft zu werden, fic) felber zu erfennen an den Seiden
und Winken, als deren Bermittler fid) die fchöpferifchen Geiftes- und Tat-
menfden erlebten. Aber das deutſche Bolf madte feine fchöpferifchen
Menſchen lieber zu Göttern, die nicht nur einen Gntwidlungszuftand über
die Schwelle gehoben, fondern die aus fic heraus — gleihfam aus dem
Nihts — einen Entwidlungszuftand gefdaffen haben follten. Und dabei
berubigte fic) das deutfche Bolf oder es wandte fid in namenlofem Andante
bon den ſchöpferiſchen Menjchen ab, wenn es feine eigene Form, Die jene
geftalteten, nicht begriff, fie nicht als die eigene Gorm gelten lajjen wollte.
Was fuht das deutfhe Bolf, wenn es nad) Führern fuht? Nicht
feinen Führer, fondern den abfoluten Führer, den Führer fchlechthin, der
immer und überall zu führen weiß, den Gott aus der Mafchine, der ein
Lebenstheater entjcheidet, in dem das deutſche Volk ſich felber agieren fiebt.
Diefes jugendliche Sich-jelbft-aus-der-Berantiwortung-fegen Tennzeichnet unfe=
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ren Zuftand in allen öffentlihen Gihrerfragen. Man überſchätzt die fchöp-
ferifche PBerjönlichkeit aus Trägheit des Gewiffens. Und wer follte nie die
Gemifjensträgheit beobachtet haben, die gerade jugendlichen Lebensaltern
eigen ift, die alle ihre Gnergien den biologijchen Reifungszuftänden gue
ſchießen müfjen!
Den abjoluten Führer, den Führer fehlechthin, gibt eg nicht. Gr fann
niemals gefunden werden, e3 ift eine Torheit, ihn zu fuchen. Der Grund
Diejer Torheit liegt in Dem rationalen Gedanken, daß der Führer dort ge—
funden werden miiffe, wo das Bedürfnis nah Führung beftebt. Gs ift
eine zweifelbafte Wahrheit, daß dort, wo ein Wille fei, aud ein Weg fei.
Entweder wird uns der Weg, auf dem wir geben, mittwegs als Wille be»
wußt, dann brauden wir den Weg nicht mehr zu fuden, — wo wir aber den
Weg eines Willenstriebes erft fuden, da fünnen wir gewiß fein, daß diefer
Wile nod wejentlihe Widerftände zu überwinden Hat, und dann fann fid
nod) berausitellen, daß Der Wille den natürlichen Gegebenheiten nicht ent-
Iproden hat. Nicht bas Bedürfnis nad Religion hat Religionen gejchaffen,
fondern Reiigionen find der Ausdrud für einen lebendigen Gntwidlungse
guftand des metaphyſiſchen Ordnungstriebes, fie find die Gorm für ein bio—
logiſches Verhalten überindipidueller Natur, ohne den eine Religion überhaupt
unmöglich ift. Gleichwie es nun unmöglich ijt, die religiöfen Grlebnijje eines
Kulturvolfes Döllern mitzuteilen, die 3. B. auf der Gntwidlungsftufe der
Urauftraiier ftehen, ebenjo unverftanden müßte der genialfte Geftalter aud
einem höchſt Eultivierten Volke bleiben, wenn er gu weit über den Ent»
widlungszuftand diejes Volkes Hinauswiefe. Dort ſpräche das größte Genie
bor tauden Ohren, und wäre es mit feurigen Zungen eines Wpojtels begabt,
und aud hier müßte e3, ohne ein lebendiges Echo gu erweden, berhallen.
In beiden Fällen aber wäre es eben fein Führer.
Sührerjchaft ijt ©eitaltertum. Wo aber etwas geftaltet werden foll, dort
muß etwa3 da fein, das nicht nur geftaltunggbedürftig ijt, fondern vor
allem geftaltungsreif. Gin Bedürfnis nah Ume und Ausgeftaltung läßt
fid durch Äußeren Zwang erzeugen, ©ejtaltungsreife aber fett bejtimmte
innere Wahstumsperhältnijfe voraus, innere Anpafjungsmöglichleit. Ges
ftaltungsreife läßt fic) nicht mitteilen, nicht willkürlich zuſetzen, fie läßt jid
nur fördern, wenn Die Beit des inneren Wachstums an ihre Reifejdwelle
gelangt ift. Gejtalt fann nicht gegeben, fie fann nur entwidelt werden. Der
Führer, der Geftalter wird einem Bolfe nicht verliehen, fondern das Volk
ergibi den Führer. Wud) die Gejundheit wird dem Kranken nicht verliehen.
Der Organismus heilt fich felber, er überwindet die Krankheit, es kann ihm
mit den beiten Mitteln nicht geholfen werden, wenn er nicht felbjt die Kraft
bat, fid zu belfen.
Die rationale Denkart hat den Begriff des Führers ſchlechthin. des abio-
Iuten Führers gejdaffen, wirllid aus dem Nichts formlogifcher Abitraktion
geihafen. Mit jolhen Begriffen fann man fein Auslangen fnden, jolange
fonft alles wohlgeordnet vonjtatten geht. In einer Notzeit muß man fich der
begziffliden Tragweite der Abftraltionen bewußt gu werden fuchen und Die
hatürlihen Verhältniſſe wägen lernen.
Führung, Volksgeſtaltung ijt nichts anderes als ein finnfälliges Bewufte
werden defjen, was innerhalb des Bolfes aus Prangzuftänden der Ent«-
widiung in die Gntwidiungsanpaffung übergeht. Der Führer, der Gee
ftalter Hat dabei nur die Funktion, den Gntwidlungsporgang zum Wort, zur
Sat zu helfen. Gr verkörpert gleihjam in fid und für die andern das
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logifhe und praftifche Zeichen des überindipiduellen Entwidlungsvorganges.
Gx madt mündig und madt tätig. Gs ift ein Irrtum der rationalen Denk»
art, daß e3 Gntwidlungszuftände eines Bolfes ohne Führer und Geftalter,
oder daß es Führer und Geftalter ohne entſprechende Gntwidlungszuftände
geben finne. Wenn ein Volk, wenn eine Zeit reif ift, dann ift der Führer
da. &3 ijt unfinnig gu Hagen, daß eine Zeit nicht ihren Führer fände oder
ein Führer nicht feine Zeit. Wohl gibt es Geftalter, die ihrer Zeit voraus—
geben und nadfolgen, die find aber nicht Führer ihrer, fondern einer nach»
folgenden Genera:ion, oder fie wären Führer einer porausgegangenen ge»
wejen. Und es gibt aud Zeiten, die einem Zuftande zuftreben, in dem fie
Ausweg und Führung aus ihrer Not finden müffen und werden, aber fo-
lange dieſer Zuftand innerlid nod nicht fällig geworden ift, wird Das
Streben nad Führung und nach befriedigender Geftalt nur Berlangen bleiben
müjfen, und der einftige Führer, mag er gleihwohl fdon leben, wird fo lange
nit erfannt werden, ja er wird fich feines Führertums nidt bewußt
fein. Nicht nur das Golf muß feines Führers erft fähig werden, fondern aud
der Führer feines Gihrertums am Volke. Alles andere ift ein Suchen,
Zaften, ein Taumeln von Hoffnung in Gnttäufchung, bejtenfalls ein Bufalls-
trefjer, der fich nicht bewähren Tann.
So wird es begreiflid, daß ein Golf, in die Vorftürme feiner Anpaffung
berfegt und unter ihnen in Not geraten, fein Herz und feine Hoffnung an Pere
fönlichleiten hängt, die unter anderen Gntwidlungsverhältnifjen wirklich ge-
führt haben, die Ausdrud für den Bolfswillen gewefen find. Darin liegt
aud) die Tragik der hiſtoriſchen Perfönlichkeiten offen, die ihre Entwidlungs-
pbhaje des eigenen Bolfes, d. h. jenen Gntwidlungsguftand ihres Bolfes, in
dem fie ibm Führer fein fonnten, überdauern. Die gewaltigen individuellen
Gnergien, die fie in fic verförpern fonnten, dauern in ihrer Perfönlichkeit,
in ihrem Selbftbewußtfein weiter und drängen nad Ausgeftaltung. Allein es
fehlt jener biologiſche Volksboden, aus dem ihre Perfdnlidfeit gum Führer,
zum Mund» und Satwalt werden könnte. Das Volk täufcht fic in ihnen, weil
es feinen Gniwidlungsguftand innerhalb der ftürmifchen Anpafjungsporgänge
perfennt, und fie, jene Perfönlichleiten, täufchen ſich im Wolfe, weil fie ihre
einzigartige und darum engbegrenzte ©eftaltermöglichkeit nicht erkennen. So
fommt es, daß gerade die Hiftorifhen Geftalter und Führer, denen die Zeit
entgätten ift, in bit.ere Refignation verjinten oder ihre Perfönlichkeiten felbjt-
gefährdend am faljchen Orte einfegen. Sp fommt es aud, daß ein Bolt in
feiner Drangjal dieje Perfdnlidfeiten mißbraudt, fie an falfmem Orte und
zu unrech er Zeit feiner Sehnſucht nad) Befreiung opfert.
Gs gibt fein gewoiltes, fein gejucdhtes, fein gewähltes Führertum, nur ein
gewachſenes. Seder Gntwidlungszuftand eines Volkes fchafft fein eigenes
Sührertum. Wenn fich in einer Zeit des inneren und äußeren Dranges, der
inneren und äußeren Not fein Geftalter, der gugleid) aud) Befreier ware,
offenbart, fo gilt eg nicht verzweifelt nad ihm zu fuchen, fondern fic dejjen
bewußt zu werden, daß es gunddft gilt eine bittere Gntwidlungszeit zu be—
fteben, um dahin zu gelangen, wo ein Befreier wieder werden fann und eher
nidt wird. Nicht einen Lebenstag zu fpat wird der Führer fommen, aber
auch feinen zu früh. Auch er muß in die Zeit reifen, wie die Beit in ihn.
Erwin Guido Kolbenbeper.
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Beruf.
or hundertundfünfzig Jahren, als unfer Golf zwiſchen Maas und Memel,
Etſch und Belt immerhin fdon an 20 Millionen Geelen zählte, gab’s
für Deutjdhe Menfdhen: Herren, Männer und Weiber (Damen und Kinder
blieben meift noch außer Betracht) insgefamt doch nur etwa 1000 verfchiedene
Derufe. Anno 1907 aber, zur Zeit der dritten (bisher legten) reichsamtlichen
„Berufszählung“, hatten wir bei bald 60 Millionen bereits 14009, und fommt
die nächſte Grhebung zuftande, fo wird fie uns nad vor fidtigfter
Schätung mindeftens 16000 ,,Berufebegeidnungen“ bringen. Bedenken wir
die ftatiftifhe Unbebolfenbeit der VBorpäter, dann mag freilich die einftige
Armut an Berufen nicht ganz jo ſchlimm geweſen fein. (Wir Heutigen wijjen,
wie fragwürdig Ziffern find.) Zumal dod die Maffe der Heinen Leute
ebedem, weil’s noch feine dem Rechte nach freie Berufswahl gab, „in ihrem
Stande“ blieb, aljo mit dem vorhandenen Vorrat amende leichter ausgue
fommen vermodite.
Gs ift jedenfalls nur recht und billig, wenn wir eine größere Auswahl
baben, denn offenbar reicht fie ja immer nod nidt Hin: Unzählige Menſchen
Heute fuchen zeitlebens vergeblich einen Beruf (menigftens Hagen fie, fie
finnien feinen finden), und immer größer wird zudem die Schar derjenigen,
die an einem nicht genug haben. Gibt’s nicht im ,,Urbeiterftande* manchen,
der. am „Abend feines Lebens“ (d. h. bon feinem legten Arbeitswinfel aus)
auf 15 bis 20, ja mehr „Brofeffionen“ zurüdbliden fann? Und dann die
vielen „Saifon- und Doppelberufler“: Im Winter Schuh- oder Zigarren»
mader, im Sommer Bergführer oder Badewarter, oder — ein ganz moderner
Gall: Im Winter Student (und Anwaltsjchreiber), im Sommer „Werfftudent“:
Kellner (und cand. jur.) Gerner die ,,Konjuntturberufler*: Heute DBerg-
arbeiter, morgen Baubilfsarbeiter; heute „Stüge“, morgen Gabriflerin uſw.
ufw. Allein, Diefe Art fehmälert unjern Berufsporrat nicht allgujebr; übt
fie Dod gleichzeitig immer nur einen aus, und einen muß der Menſch wohl
haben. Dem DBerufsftatiftifer bon Beruf allerdings maden [don dieſe ſchlichten
„Zerufstombinationen* das Leben fauer. Und nun gar, wenn es fih um
rGleidmgeitige Mtehrberufler* Handelt! Wie und wann foll er die „er-
faffen“? Welcher ihrer verfdiedenen nebeneinander herlaufenden Be—
rufe ift ihr „eigentlicher“, ihr „Hauptberuf“? Als Hauptberuf, jagt Die
cmtlide Auslegung, gilt der Beruf, „auf dem hauptſächlich die Lebens-
ftellung beruht und bon dem der Erwerb oder deffen größter Teil herrührt“.
Gewiß, damit wäre vielleicht der „Haupt-Erwerb“, nod nicht indes der ,,-Be-
ruf“ erklärt. Welchen Hauptberuf bat 3. B. die Darietefünftlerin? Ihr
Erwerb „beruht“ manchmal nur beiläufig auf Leiftungen ihrer ftatiftifch
erfaßten Lebensftellung. And ferner: haben Dichter und Denker (ich meine
die wirklichen) feinen Beruf, nur weil das Dichten und Denfen meift nichts
einbringt, jo daß fie außerdem einen Haupt-Grwerb brauden? Manche meinen
ja, nur die „brotlofen Künfte* wären noch wirflihe Berufe. Doch ausüben
fann fie der Unvermögende und Unbeamtete eben nur, jofern er Daneben
einen — ,Sauptberuf* hat. Gir den Berufsftatiftifer ift alfo Spinoga Glas-
{dleifer, Goethe höherer Beamter (Gehaltsflaffe XIII Stufe 5), Storm Amts»
geridtsrat, Senfen Redakteur, Frenſſen Paftor ufw. Gr (der Gtatiftifer)
wird zwar nicht beftreiten, daß fie außerdem nod etwas anderes „ausübten“;
indes jener anderen Tätigkeit fehlte ja nod ein weſentliches amtlides „Kri⸗
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terium“ wirklichen Berufs: „das Zeitlih-Zufammenhängende, irgendwie Kon-
tinuierlidhe Der Berridtung*. Fürwahr, feiner fann immerlos philojophieren
oder gar dichten.
Gs gibt übrigens nod eine andere, immer häufiger werdende, ftatiftifch
nod ſchwerer erfaßbare Art „gleichzeitiger Mebrberufler“. Das find dies
jenigen, Die zwei oder gar drei formularmäßig-richtige, „Eontinuierliche*
Berufe nebeneinander betreiben. 85 vd. 9. unfrer heutigen Privatdozenten
z. DB. müſſen ſich durch „Nebenbefhäftigungen“ (die den größten Zeil ihrer
Kraft fordern) die ,,Lebensftellung* ihres Hauptberufes fidern. Ich fenne
einen Kunfthiftorifer, der ift außerdem regelredter Photograph und erteilt in
feinen „MWußeftunden“ abends italieniihen Unterriht an einer Handelsfchule.
Zumeilen, gar nicht fo felten, ift auch der richtige Hauptberuf beinahe nur
Titel für den eigentliden — — (Die neuen Reichen gehen auch
gern zum Profeffor-WArgt oder Profeffor- Anwalt). Und endlich: Hauptnzben-
und Nebenhauptberuf können fic derart ineinander verfilzen, daß der „Berufs-
träger“ felbft nicht mehr weiß, was er eigentlich ift. Gin Beifpiel für viele:
Im vorigen Jahr hatte ich einen Herrn Dr. med. X, Inhaber eines größeren
deutſchen Sanatoriums für Holländer und Wmerifaner, im Bertrauen auf bie
amtlihe Definition des Hauptberufs als „approbierten Hotelier“ begrüßt.
Glidlidherweife gewährte man mir mildernde Umftände (bon wegen meiner
{Hwadhen Nerden und ftarfen vaterlandijdhen Gefühle). Man foll alfo wohl
die Hoteliers finftig Gaftwirte heißen diirfen?? Und die Landwirte Hleineren
Umfangs Bauern???
Einen Beruf beim richtigen Namen, d. 5. mit feiner Tatigkett zu
nennen, Das wird, fcheint’s, immer gefabrlider. Der eine Handlungsgebilfe
will Kaufmann heißen, der andere, fortgefdrittenere an der Rechenmajdhine
Dingegen „geiftiger Arbeiter“. Meine (übrigens fehr tüchtige) Stenothpijtin
wicderum nennt fid) „kaufmänniſche Angeftellte“, obgleich unſer Snftitut
gar fein Kaufladen ift. In den Arbeiterberufen ift’s nicht anders: Der Drejcher
und Mäher, der Schweinemeifter möchte „nur Arbeiter“, allenfalls Lande
arbeiter fein, der gelernte Dreher aber trat feinen guten alten Berufsnamen:
an den ungelernten Revolver- und Wutomatendreber ab und wurde gleich
dem Scloffer, Mechaniker, Former ein — Metallarbeiter; unfere Stüße ift
Sausbeamtin, weshalb ich denn meine liebe Frau (die ja als Mutter und
Hausfrau nad amtlicher Anfidt „ohne Beruf“ dabinlebt), aus eigner BoN-
madt vor zwei Jahren gum Hausreferendar, beim legten Hausbeamtinnen=
ftreif aber gum Hausaffeffor ernannt und ihr fommende Weihnadt in Er—
mangelung anderer ®aben den „Sharafter“ eines Hausrats zu verleihen ge-
denfe. Ich fage hier übrigens mit Bedadt: Referendar, WAffeffor, Rat, weil
das „in“ Hintenan nicht nur fpradlid) ſcheußlich, fondern der beruflichen
Würde obendrein abträglich ift; und für den Beruf nach heutigem Begriff ift
ja ſchließlich das Gefdhledt faft fo gleichgültig wie die Religion. Hauptjache
bleibt bie (Gergeibung!: das) Perfonlidfeit (lide).
Nicht etwa aus Mitgefühl für die ftatiftifchen Wemter ftelle ich diefe Bee
tradtungen an; denn wer die Berufe feiner Mitmenfchen noch immer für zähl-
bare Zatbeftände Halt, verdient fein Bedauern mehr. Und wer fich über
meinen Beruf per Gragebogen erkundigt, ift aufdringlid; erkundigt er fid
dod nach meinem innerften Derhältnis zur Umwelt, nod mehr: nad)
meiner Beftimmung, meinem Schidjal, nad) dem Wie meines Tuns, dem
13
Wofür und Warum meines ganzen Lebens, und das ift, angefichts der Um—
ftände, unter denen wir heute leben, in der Tat taftlos. Man glaube aud
nicht, der durdjdnittlide Menſch (bin ich nicht felber einer?) wäre weniger
feinfüblig; feine für Die Behörden fo argerlid-unbeftimmten Berufsangaben
berraten Deutlih genug das Gegenteil. Sa, feine Scheu vor Gnthüllung
fann — wie wir ſahen — fo beftig fein, daß er fic, gebt’s durdhaus nicht
anberg, lieber herabſetzt, als uns klar zu fagen, wer und was er ijt. Daf
fih der Tiſchler nicht mehr Tifchler, der Zimmermann nidt mehr Zimmere
mann nennt, daß fie beide nur nod) Holgarbeiter fein mögen und die Gerber,
Sattler, Sajdhenmadher nur mehr Lederarbeiter, — dies ift aber trauriger
als es jcheint! Bedenkt: Solange uns einer fein Handwerf angab, die Art
feiner Arbeit, fagte er uns feine Gigenfchaften, jego nennt er uns nur
mebr feinen Arbeitsftoff (Holz, Metall, Leder ufw.), und morgen werden
die „Hand»- und Kopfarbeiter“ nur ihren Arbeitsort (den „Betrieb“, der
fie betreibt) verraten. — Barmbergige Brüder, — gibt e3 den Beruf über-
Haupt nod? Und wie lange noc) wird’s barmberzige Shweftern geben?
Dei dem läftigen „DBerufsfleidungszwang“, der jeden gleich feben läßt, was
man ijt! Die Gewerkſchaft des Kranfenpflegerperjonals verlangt dergleichen
nidt mehr, dafür erfampfte fie der Barmherzigkeit in Zivil die 46-Stunden-
woche, und nun endlich bat man was bon feinem Leben. Denn Leben und
Beruf find zweierlei: Leben ift Freizeit mal Arbeitsertrag plus Schlaf minus
Beruf.
Nod ein Beifpiel, das uns dem Kern der Gade wieder einen Schritt näher
bringt: Graulein Müller ift „beamtete* GSogialfürforgerin, alfo wohl beim
ftädtiihen Wohlfahrtsamt oder einer fonftigen Nächitenliebe-Srijatanftalt an-
geftelit. Indes, „als was“? Man jagt, als Schulpflegerin. Nun ja, Die
Säule „Erankt“; wie vermag indes ein einzelnes Fräulein die Klippfchulen
eines ganzen Stadtteils zu pflegen? Wie ,madt man das“? Oder find
am Gnde „nur“ die Schullinder gemeint? O nein, das wäre zu unwijjen-
ſchaftlich; „Gegenſtand“ ift vielmehr „Das Kind in feinem Verhältnis zur
Schule“, alfo das Schulkind, zum Unterfdied einerfeits vom „Iugendlichen“,
anbdererfeits pom „Kleinfind“*. Und aljo wäre Sräulein Müller vielleicht
SHorinerin? Bitte fehr — böl, fie abfolvierte eine z-ftufige Frauenſchule. Eine
Hortnerin fpielt ja nur mit Kindern, fie jedoch ftellt „Srhebungen“ — wie
erhebend Klingt das! — „an Hand“ bon Formularen an, „zweds Ergänzung“
der Alten des Herrn Magiftratsaffejfors, der dann als Jugendamtsdezer-
nent („im Einvernehmen“ mit dem zuftändigen ©efundheitsamt) oder al3 Bee
rufspormund „über Das Weitere befindet“. — Berufspormund? Gie wifjen
nid!, was das ift? Nun, wenn früher Kinder einen Gormund braudten,
fühlten fid) Anverwandte, Freunde, gute Nachbarn dazu berufen, und fie
madten’s foftenlos, „ehrenamtlich“. Seitdem nun aber die ungelernten Bor»
münder fo rar geworden, gibt es in jeder größeren Stadt einen (ſelbſtver—
ftandlid bejoldeten) Berufspormund, der alle diesbezüglichen 3 bis 30000
Kinder von Amts wegen „betreut“.** Berlaft nun „das Schulkind“ (d. i. der
Querfdnitt alies Menfdenlebens zwiſchen 6 und 14) die Schule, fo wird es
— — R:
* Sinfere I REREGEN liebten in Angelegenheit der „Aufzucht“ landwirt-
Thaftlihe Ausdrüde.
** Denn die von Geburt aus Berufenen felten werden, miiffen eben „Bollberuf-
lide“ ihre Aufgabe übernehmen. Darauf mag es aud zurüfzuführen fein, 625 Die
Zahl der Berufspolitifer in dem gleihen Maße wählt, wie die der Politifer von
Beruf abnimmt.
14
jugenbdlid, und „Sugendliche“, die nicht der Fürforgeerziehung „anheimfallen“,
„ergreifen“ allermeift fogleich einen Beruf. Da fie aber die fehr veränderlichen
„DBerufschancen“ des Menfchenmarlt3 und ihre eigne „Berufseignung“ nicht Hine
teichend fennen, vermittelt ihnen die ,, Berufsberatungsfteile* — meiſt gegen ibren
und ihrer Gltern Willen — eine „Berufslehre“. Daneben gibt es wifjenfdaft-
lide, por allem „pſychotechniſche“ Inftitute für ,Berufsforjhung* und „Bes
rufsfunde“ ind fo fann denn ein jeder, der nur will, den rechten Erwerb —
Berzeihung!: Beruf finden. — Zu fagen aljo, ein Berufspormund, geftüst auf
alle Dieje Snftangen, übe feinen Beruf aus, nur weil er etwas gegen Bezahlung
tut, was vorher durchaus fein Erwerb fein durfte, — dies wäre gewiß dreift.
Nicht minder aber das andere: daß ein Bormund alten Stils, nur weil er
feinen Gold für feine Mühe befam, fein Bormund von Beruf hätte fein fönnen.
Hier nun ftehen wir bor der wichtigen Frage nad dem Verhältnis von
Erwerb und Beruf: Die Behörde, die eine fogenannte Berufszählung vere
anftaltet, will bon mir wiffen, was id tue und wovon id lebe. Damit
aber erfährt fie lediglich meinen Grwerb, mein Geſchäft, weil eben über
meinen Beruf weder das Was meines Tuns an und für fich entjcheidet,
nod gar der Ertrag der Tätigkeit, bon der ich lebe, fondern allein das Wo»
für, in dem wiederum das Wie meines Tuns befdlofjen liegt. Beruf ift
alfo eine „innere Tatſache“, ein feelifdmes Derhältnis, eine beftimmte,
dennoch nicht „exakt“ beftimmbare „Beziehung“ des Menfchen zu feiner
Arbeit. Daß ich den Grtrag meiner Arbeit nicht entbehren fann; daf id,
um zu leben, etwas „verdienen“ muß, bat mid, Gott fei Dank, nicht ge-
Bindert, in meinem Erwerb aud) meinen Beruf zu finden. Beruf und Erwerb
ſchüeßen fic) Demnad nicht unbedingt aus, und jedenfalls ijt Die Brotlojig-
feit Durdaus fein ſiche res Kriterium wahren Berufs — wie mande wohl
meinen, Die bon ihrer guten Kunft nicht befteben können. Aber natürlich:
ebenjowenig jpricht ſchon ein gejichertes Ginfommen für einen Beruf, weil
fonft ja die mit der Anficht des Finanzamtes parallel laufende „gejellichaft-
lide Schädigung“ den Rang eines Berufs beftimmen würde. Unſer Gefühl
itrt fich indes feineswegs, wenn es grad dem Berufsdarafter der bejonders
ertragreichen Tätigkeiten befonders miftraut. Denn es bejteht zwiſchen Be—
ruf und Grwerb, Amt und Gefhäft, Dienft und „Berdienft“, fo wenig fie jich
unbedingt ausfdliefen, denn dod eine peinlide Spannung, fo daß mir
die Würde und Höhe eines Berufs ,unwillfirlid* an feiner Erwerbs⸗ und
Geſchäftsferne abſchätzen. Und in der Sat: je ferner den „Interefjen“, deſto
böber der Beruf! Wobei allerdings unter Intereffen nicht nur Seldeswert,
vielmehr alle „Ichbezüge* (3. B. Eitelfeit, Ghre und Titeljudt) gemeint find.
Lebe ih für die Arbeit oder nur bon der Arbeit? Daran allein entjcheidet-
es fid, ob ich einen Beruf babe oder nur einen Erwerb. Freilich find damit
aud) nur die äußerſten Gegenſätze und nicht die unzähligen, die Mehr-
Heit der Menſchen umfajjfenden ,Grengfalle* bezeichnet. Gs fann fa
einer ſehr wohl in feinen „Berufsgefchäften“ gang und gar „aufgehen“ —
man Denfe an den modernen ©rofunternehmer — alfo nach beiter eigner
Yeberzeugung einzig für feine Arbeit Ieben (dazu in allen Genüffen Astet
fein) und doch berufslos bleiben, folange er nämlich bewußt oder inſtinktiv
nur feinem Sntereffe, dem Berlangen nah perfonlidem Sewinn, per-
finlider Geltung, perfönlider Macht folgt. Wie aber, wenn diejes
individuell gerichtete Geltungs- und Machtverlangen über fic ſelbſt binaus-
15
wädhft? Fürwahr, es ift möglich, daß fid ein Sntereffe fogar gum Be—
mwußtjein einer Miffion erhebt und nun der König, der urfprünglich ,eigent-
lich“ nidts als feine „Hausmacht“ gewollt, zum erften Diener feines
Staates wird. Sewif, wird man ſagen, der König. der geborene Herr über
Lander und Soldaten. Befteht jedoch die gleihe Möglichkeit zum Beruf aud
für die ahnenlojen Herren der Kohle, des Gifens und der Schiffe? Wehe uns
Deutjchen, die wir feine Könige und Soldaten mehr haben, wenn wir diefe
unfere Shidfalsfrage verneinen müßten! — Und dann der andere
thpijde „Srenzfall“: Gs mag einer mit feiner tägliden Tätigkeit wiffentlid
nichts anderes bezweden als feinen privaten Lebensunterhalt, ja jede „Miſ—
fion“ darüber hinaus für feine Perfon ausdrüdlich ablehnen und troßdem
fubjeltiv etwas wie einen Beruf haben, fofern er namlid vom fogiellen
Wert, pon der gefellfchaftlihen Wichtigkeit feiner Arbeit dDurddrungen ift.
Diefe eigentümliche, oft bon jeder unmittelbaren Liebe zur tagliden Arbeit
abgelöfte, gleihjam abftrafte Hochſchätzung der Arbeit „an ſich“ ermöglicht
nun freilich aud nur jenes, bon der einzelnen Perſon abgelöfte „ſchwebende“
Derufsbemwußtfein, defjen negative Außenfeite wir „Rlafjenbewußtfein“ nennen:
Der einzelne von feinen Produftionsmitteln getrennte Arbeiter hat inmitten
majfenmäßiger Grofarbeit, auf fich allein geftellt, in der Regel feinen Beruf
mehr, aber das aus den Geelen aller Einzelnen verdrängte, heimatlos ge=
wordene DBerufsgefühl fteigt nun gleihfam zur Klaffe auf, affumuliert fi)
gleihfam in einer Gefamtperfon: die „Arbeiterfhaft“ bat Berufs-
bewußtfein, d. h. Glauben an einen Beruf, unsverwirklichten Beruf. Und
wehe uns und ihr, wenn es nicht gelänge, ihn zu verwirklichen! Ich fage, die
Arbeiterfchaft, d. 5. eben jene Arbeiterflaffe, die fic) über den zer-
fallenden alten handwerklichen Arbeiter ftänden als organifierte Maife
zufammenfchließt, bat Berufsbewußtfein. Indem fie den alten „Zunftgeift“
als ihrer Solidarität binderlid verwirft, verneint fie gwar den alten bande
werflihen Beruf; allein, fie verneint aud den bändlerifhen Grwerb;
Arbeit foll nicht mehr Privatſache fein, fagt der Marzift, fondern gefellfchaft-
lider Dienft, Offigium, Pfliht an der „Sefamtheit“. Und das heißt nichts
anderes als: fie [olI Beruf fein; da ja eine Arbeit in der Tat um fo mehr
Beruf ift, je weniger fie Privatfache ijt. Ob freilich das Menfchenrecht auf
Beruf ſchon dur) bloße Gzpropriation der Privatgefchäfte, d. 5. Durd „So-
gialijierung* der Arbeitsapparate könnte guriidgewonnen werden, bleibt eine
ganz andere Fragel
Zunädjft gilt es nod einen fehr nabeliegenden Ginwand gegen meine
Auffaffung des Berufs als einer rein „inwendigen Tatſache“ zu prüfen: I
meinte oben, nicht das Was fondern das Wie der Tätigkeit, nicht der Segen-
ftand der Arbeit als vielmehr ihre Beweggründe entfcheiden Darüber,
ob der Menfd einen Beruf hätte oder nur einen Erwerb. Anders ausgedrüdt:
Wes Wirken unter dem Geſetz der Pflicht fteht, der hat einen Beruf, gleich“
piel was er tut; wem jedoch vornehmlich oder gar ausfchließlih fein Redt
vorſchwebt, der Hat nur einen Griwerb, gleidpiel was er ſchafft. Gleich—
piel? Alſo fdnnte 3. B., wer Menfchenleben vernichtet, einen Beruf haben,
und wer Kranke beilt, bod nur ein Gefchäft?! Beides fürwahr ift möglich).
Der Offizier 3. B. hat einen Beruf, der „Kaſſenlöwe“ niht.* Heinz Marr,
(Sin zweiter Auffat folgt.)
* inter „KRaffenlöwen“ verfteht man Aerzte, die fih durch nadfidtige Attefte
und reidlide Verordnungen eine große Kundihaft unter Kranfenfaffenpatienten zu
gewinnen verſtehen.
16
Schöpfung und Geftaltung in deutfdher Lyrik.
9. Goethes Befang der Erzengel.
Rapbael.
Die Sonne tönt nad) alter Weife
Sn DBruderfphären Wettgefang,
And ihre porgef{driebne Reife
Dollendet fie mit Donnergang.
Ihr Anblid gibt den Engeln Starke,
Wenn feiner fie ergründen mag;
Die unbegreiflid hoben Werke
Sind berrlid, wie am erften Tag. _
®abriel.
Und fchnell und unbegreiflich fdnelle
Dreht fic umber der Erde Pradt;
Gs wedjelt Baradiejeshelle
Mit tiefer, ſchauervoller Nacht;
Gs jhaumt das Meer in breiten Flüffen
Am tiefen Grund der Felſen auf,
Und Fels und Meer wird fortgeriffen
Sn ewig fdnellem Sphärenlauf.
Midael.
Und Stürme braufen um die Wette,
Bom Meer aufs Land, bom Land aufs
Und bilden, wütend, eine Kette [Meer
Der tiefften Wirkung rings umber.
Da flammt ein bligendes Berbheeren
Dem Pfade oor des Donnerfdlags;
Dod deine Boten, Herr, verehren
Das janfte Wandeln deines Tags.
gu drei.
Der Anblid gibt den Engeln Stärke,
Da feiner dich ergründen mag,
And alle deine hoben Werke
Sind herrlid, wie am erften Tag.
n den Eingang feiner gewaltigften Dichtung ftellt Goethe diefen Hymnifden
Gang, ber an Größe und Grhabenbeit alles übertrifft, was wir noch unter
den Begriff der Lyrik zu fajjen vermögen. Und Doch ift er nichts als reine
Lprif: der umfafjendfte und erſchöpfendſte Ausdrud der über alles Irdiſche
zur wei.en und tiefen Weltens und Oottesjchau emporgewadfenen großen
Did:erjeele. Gs ift ein Zeichen der Genialitat feines Schöpfers, daß er die
bimmlifch erhabenen Klänge diefes Ganges nicht auf Erden aus ungeweihtem
Menfdenmund erklingen läßt, fondern im Himmel, oor dem heiligen Ohre des
Höchſten, aus dem Munde feiner vornehmſten Boten, im Kreije der Himme
liſchen Heerfcharen. Und zu erhabener Himmelsfhau müffen aud wir Herz
und Ginn empor[dwingen, wenn wir mit den Himmelsboten „Die unbegreiflich
boben Werke“ erfdauen, die ewige Harmonie der Sphären erklingen hören,
den unwandelbaren Rhythmus Freijender Welten im feelifhen Mitſchwingen
erfühlen wollen.
Mit einer die Sprache über alles menſchlich Alltäglihe Hinaushebenden
Ungewöhnlichkeit malen die erften beiden Zeilen den gewaltigen, alle andern
Sphären überiönenden Sonnengefang, Doch fo, daß wir zugleich den Chor der
„Bruderfphären“ bis in alle Himmelsweiten miterflingen hören. . Das voll»
tönige, erhaben edle Pathos der Bolalflange ftügend und verftärfend, fchreitet
der Rhy:ihmus majeftatijd wuchtig daher, im Einklang mit dem Wortſinn
der folgenden Zeilen die Gewalt und das ewige Sleidmaf des in unabänder-
lider Bahn daherrollenden Sonnenballes vortrefflich verfinnlidend. Obgleich
nur unjer Gehör angefprochen wird, glauben wir doch aus hoher Himmelsſchau
den ganzen gewaltigen Ring der Gonnenbabn überbliden zu fönnen, und
das Getdn der den ewigen Weltenraum erfüllenden Muſik läßt uns voll»
fommener als alle gum Auge fprechende Anfchaulichkeit die unendliche, über-
wältigende Weite dieſes Raumes fdauen und empfinden. Die ganze unver»
rüdbare Geftigfeit und Wucht der Bewegung aber, den gewaltigen, den
gtengenlofen Raum durhfchütternden Klang und damit die riefige Mächtig-
keit und Grhabenheit des ſchwebend freifendDen Sonnenkörpers drängt fid in
den Worten: „ind ihre vorgefchriebne Reife — Bollendet fie mit Donner»
gang“ erfchütternd und erbebend bor Sinn und Seele. Fühlen wir im feften
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rhythmiſchen Gleichgewicht der erften diefer beiden Zeilen das Ginherfchreiten
des Geftirnes in unabänderlicher, von einer höheren Macht vorgezeichneten
Dahn, fo malt der fi in zwei Tonhebungen aufbäumende Rhythmus der
äweiten die ganze jchütternde Wucht der fich vollendenden, zum Ziel fom-
menden Bewegung, im Sinn und Lautflang des mit genialer Kühnheit ge-
wählten Wortes „Donnergang“ noch einmal alle majejtätiihe Gewalt fame
wmelnd und verdichtend. _
Wir ftehen bewundernd ftill bor der dichterifchen Bildfraft, die in dem
engen. Rahmen von vier armjeligen Zeilen uns die ganze überirdijche und
überfinnlide Schönheit und Größe des himmlifchen Geftirnes por die Seele
ftellt, fo daß wir fie mit einer an diefer Bildfraft wachſenden Schaufraft er-
fajfen und überwältigt erleben. Tief ergriffen ftimmen mir ein: „Ihr Ans
blid gibt den Engeln Stärke“ und fpüren nun aud im bildlos fdlidten Wort
unmittelbar die gefammelte Geelenfraft, mit Der es gefattigt und geladen, und
die ihm eindringlidfte Wirkung verleiht. Auch die Engel müfjen fid bee
gnügen am Anblid des unergründlichen Öptteswerfes; aber wir empfinden
im verweilenden Klang diejes Wortes, wie Aug und Geele Kraft trinfend auf
dem bon ewiger und unerſchöpflicher Gottesfraft zeugenden Schöpferwerfe
ruht, und unter dem Gewicht des Wortes „Stärke“ fühlen wir diefe Kraft
wie einen nährenden Gaftftrom in Blut und Geele fließen. Mit gleich
ftarfer innerer Anjchaulichfeit malen die Worte „Wenn feiner fie ergründen
mag“ die Unergriindlidfeit der Gottesſchöpfung, und aus der in Sinn und
Zonfall diefer Worte gejtalteten finnenden Berfenfung in das Dunkel uner—
gründlidder Tiefen, reißt uns die nächſte Zeile fternenweit empor im bee
toundernden Aufblid gu den „unbegreiflich hohen Werfen“, die ewig „herrlich“
in der unberührten Reinheit und jungfrauliden Schönheit ihres Schöpfungs-
tages erglänzen.
Sühlen wir uns im Bann der Worte Raphaels gleihfam ummallt und
eingejchlojjen in die Sphäre des himmliſchen Geftirns und feines den Himmels-
raum erfüllenden ®etöng, jo empfinden wir in den Worten Gabriels den Whe
ftand gu dem nur aus der Ferne der Himmlifhen Schau mit dem Auge voll
erfaßbaren freifendDen Erdball. Noch überzeugender empfinden wir unfern
Standpunft inmitten des Weltalls und es bereitet einen wahrhaft erhebenden
®enuf, der das ewige Kreijen der Welten in fosmifchem Schauen umfajffenden
Didterphantafie nachſchaffend zu folgen.
Wie wir im fonoren Bollflang und dem majeftätifc daberfchreitenden
Rhythmus des Gonnengefanges die dem Auge unfaßbare Größe des Die
Himmel beherrjchenden Geftirns verfinnlicht fahen, fo malt uns der höher ge-
ftimmte Klang, der befchleunigte Rhythmus in dem Preislied Gabriels die
geringere Mächtigfeit und das aus der Himmelsferne deutlich erjchaute
fchnellere Kreifen des Grdballs. Wohl wird aud hier durch das im gleichen
DBersmaß gehaltene Tempo die Erhabenheit des Hymnifden Gefanges voll
gewahrt — und es ift arg verfehlt, wenn ein Gpreder diefer Worte es Dem
freijendDen Grdball an Gejchwindigfeit gleich zu tun fudt —, aber wir fühlen
befonders in den weniger zum Obr als unmittelbar zum motoriſch-dynamiſchen
Gefühl fpredhenden Worten: „Und fdnell und unbegreiflich ſchnelle — Dreht
fi umber der Erde Pracht —“ deutlich die Schwunglraft der Drehbewegung,
während die hellere Lautfarbung zugleich trefflich zu der jubelnden Greude
ftimmt, welde „Die echten Götterföhne* im Anſchauen der Grdenpradt ere
greift und im jauchzenden Hellflang des Wortes ,,Paradiefeshelle* ihren
ſchwindelnden Gipfel erreiht. Gin erlefenes Meifterftüd genialer Didter-
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fraft ift nun wieder der plößlihe Abftieg von dieſer Lidthibe in das abe
grundtiefe Dunkel der „fchauerpollen Naht“. Man weiß nicht, was man
mehr bewundern foll: den bligjdnellen Wechfel im Bilde, der uns die Tag-
und Nadifeite des Grdballs jchier im gleichen Augenblid erfdhauen läßt, und
fo die „unbegreifliche* Gejchwindigfeit des „Spbärenlaufs“ unübertrefflich
dergegenmwärtigt, oder den gleich pligliden Wechfel des begleitenden Gee
fühls zwiſchen taumelndem Lidtraufd und dem die Geele bis in ihre
leben Siefen erfdiitterndDen Schauern der Nadt. Und diefe „nachtſchaurige“
Stimmung Elingt nad und aus in Die verwandte, bon der aufwühlenden
wilden Gewalt der Meeresbrandung erwedten, deren Bild im Ginn, Laut
Hang und Rhythmus der Worte: „Ss ſchäumt bas Meer in breiten Flüfjen
— Am tiefen Grund der Felfen auf“ — mit ungewöhnlicher Befonderheit der
{pradliden Geſtaltung vollendet gezeichnet ijt. Gleich meifterlich aber vere
fnüpfen die Schlußzeilen mit Bild und Bewegung des brandenden Meeres
bie fortreißende Sphärenbewegung, das ganze Bild des freifenden Grdballs
nod einmal vor Augen ftellend.
Wieder mit einem einfahen „Und“ Ginbeit und Zuſammenhang des
Ganzen andeutend, führt Michael den Gang von der Erde und den Glementare
gewalten fort. Keine Gingelbeiten, fondern nur die einfach großen Züge Der
Glemente jelbft und der verheerenden Gewalt ihrer Wirlung werden aus der
himmliſchen Schau auf dem Grdball wahrgenommen und find erhaben genug,
bon den Öottesboten bejungen zu werden. In drangenden Rhythmen wird
die Gewalt de3 pldgliden Anfturms, das Braufen und die rajende Sdnel-
ligfeit der Stürme in den Worten der erften Zeile, ihr dem Schwung eines
ungebeuren Pendels gleihendes Hin und Her uniibertrefflid in Wort und
Rhythmus der zweiten, ihre Leidenfhaft und verheerende Wirkung rings
auf dem weiten Grdenrund in den beiden folgenden Zeilen geftaltet. Wie
eine große Sturmwelle Durdbrauft e3 die vier Zeilen diefer Strophenhälfte,
und an gedrängter RnappHeit der Geftaltung fie noch übertreffend, wird in
den an gewagter AUngewöhnlichkeit des fpradliden Ausdruds alles über—
bietenden Worten: „Da flammt ein bligendes Berheeren — Dem Pfade por
des Donnerfdlags“ zur Gewalt des Sturmes die des Gewitters, zu Erde,
Wajfer, Luft das lebte der vier Glemente gefellt. Wann ift je in „wei,
fnappen Gersgeilen diefe erhabenfte aller Naturerfcheinungen in fo pollendeter
Bildhaftigfeit geftaltet worden, und mit welder genialen Souveränität wird
fie hier gleich einer tragenden Krönung in das Gefüge des ganzen Geſanges
eingebaut, Die Reihe der elementaren Naturmadte verpollftändigend und
abjdlieBend, und fie in ihrer verheerenden und erfdredenden Gewalt bis
zum nur möglichen Gipfel emporfteigernd! Und mit derfelben nur dem
Genie eignenden ſouveränen Gelbftverftandlidfeit findet Der Dichter bon diefer
fteilen Höhe elementarer Leidenfdaft wieder in zwei Zeilen den verinner-
fihenden und tief berubigenden Ab- und Ausklang. Als ob dem ftreitbaren
Midael plöglich bewußt wird, daß er fich im verfunfenen Anfchauen der
feinem eigenen Temperament entjprehenden wilden Glementargewalten faft
gu weit hat fortreifen lajfen und fchier vergeffen, daß er mit Raphael und
@abriel „vor Gott fteht“, begreift er fic) und neigt fic mit ihnen tief und
lea verehrend bor dem ewig ruhigen und fteten Wandel des Unwandel-
aren.
„Der Anblid gibt den Gngeln Stärle — Da feiner dich ergründen mag“
— fo drängt e3 fic, tief aufquellend, mit vereinten Stimmen über die Lippen
der drei, die, vom reinen Anjchauen „der lebendig reinen Schöne“ der ſchwe—
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benden und freifenden Welten ganz erfüllt, fid nun hinwenden au i
Herrn, dem Schöpfer und Lenker aller Ei in Erden, dem ——
Pol, um den ſie kreiſen, deſſen ſtarke Hand ſie in feſten Bahnen leitei, ohne
den fie nichts als „ſchwankende Erſcheinung“ find. Ihm allein, den alle
Simmel rühmen, gebührt Preis und Anbetung, er allein, der Quell» und Lire
(grund alles Seins und Werdens, ift ewig unerfchöpflich in feiner alles Leben
Ipendenden Kraft, „Da feiner ihn ergründen mag“. — Go werden diefe
Worte, mit denen der Hymnus wieder in die erhabene Majeftät des Sonnen-
gejanges einmündet, und deren Wirkung wir faum nod einer Steigerung
fäbig bielten, in ihrer Abwandlung Hier am Schluß ſowohl gefühlsmäßig
als auch gedanklich bedeutend verfinnlicht und vertieft. Dort galten fie
der mächtigen Lebensfpenderin, die allbeherrfhend in ihrem Weltfpftem
waltet. Aber erft jest in der Hinwendung zu dem ewigen und perfönlichen
Schöpfer werden wir uns defjen bewußt, daß aus dem All der Welten ung
SHerzenswärme entgegenjchlägt, erft jet fammelt fic alle bewundernde Freude
und Derebrung mit wahrer Inbrunft in den gleich einem jubelnden Springs
quell aus dem Herzen auffteigenden Worten: „Und alle deine hohen Werke
— Gind herrlid, wie am erften Tag.“
So glauben wir denn aud erft jest die tiefen Worte ganz zu verfteben,
in denen „Der Herr“ am Schluß des Prologs im Himmel jeinen Boten auf
ihren Geſang ertwidert:
„Doch ihr, die echten Götterſöhne,
Grfreut euch der lebendig reichen Schönel
Das Werdende, das ewig wirft und lebt,
Umfaß eud mit der Liebe holden Schranten,
And was in jhwanfender Erſcheinung ſchwebt,
Befeftiget mit dauernden Gedanfen!“
Stanz Hehden.
Gon den „Sejhichtsichreibern der deutjchen
Borzeit“.
er nicht gerade Gefdidte ftudiert, pflegt eine febr unklare Borftellung
davon zu haben, aus was für Quellen unfere Gejhichtsfchreiber ſchöpfen,
wenn fie die Sreignijje und Perjdnlidfeiten des deutſchen Mittelalters dare
—fte.len. Man denkt an das mühfame Studium alter Urkunden mit baumelnden
Riejenfiegeln und an wunderlide Chroniken, die, mit Adam und Eva be»
ginnend, über „Abraham zeugete Sjaaf, Sjaak geugete Safob“, über Her»
tules, Xerzes, Auguftus, zu dem Konzil von Nicda und fchließlic zu Karl
dem Öroßen gelangen, um bei Klofterftreitigfeiten, Kometen und ftädtifchen
Unruhen zu verweilen. „Ungenießbares Zeug für moderne Lefer.“
Dieſe Borftellung ift falfd. Unfre Vorfahren Hatten eine eigene, in bee
ftimmten Gormen arbeitende Gejchichtsjchreibung. Die Männer, welde Chro—
nifen, Annalen und Lebensbefdreibungen verfaßten, waren durchaus nicht
unbedeutender als die, welche ſich heute mit gejdidtliden Dingen abgeben.
Man muß fie nur aus ihrem Weltbild und ihren Sntereffen verjtehen.
Dann können wir aus ihren Anjchauungen vielleicht fogar — etwas für unfer
eignes Leben lernen. Die Stimmung, aufgeflart und mit gerührter Ironie auf
die wennſchon braven, fo Doch rauhen „Altvordern“ guriidgubliden, tft all«
mablid ebenfo aus der Mode gelommen wie Heinrich Heine.
20
*
s
In einer Zeit, die weder den Begriff der Kaufalität noch den der Ent-
widlung fennt (und wenn fie ihn fennte, als untefentlid gering adten würde),
fönnen wir feine rankiſche Geſchichtsforſchung und »[chreibung erwarten. Gs
ift aud finnlos, Thulydides als Maßſtab zu nehmen. Die römiſche Gefdhidt-
{Hreibung bat formal ftarf auf das Mittelalter gewirkt, aber fachlich nur wenig.
Dem aniifen Menfchen, der ganz in der Welt lebte, war das Menfchendafein
in den dauernden Inftitutionen der Städte und Staaten etwas ganz andres
als dem mittelalterlihen Menſchen, der Diefe Welt nur als ein Bruchftüd an—
fab, als Zeil und Durdgangsort einer gewaltigeren, überirdifhen Welt. Im
Miiteialter bemüht man fich nidt um Gntwidlung und Fortjchritt, fondern um
Reftiiutio „ad priorem ftatum“, um Zurüdführung der Pinge in den „guten,
alten Zuftand“. Und der „Himmel“ wirkt in einer Weije in bie Gejchichte
Dinein, die uns feltjam borfommt, die wir aber begreifen miiffen, um das zu
verftehn, was für jene Menfden der „Zufammenhang“ tft.
Verſenkt man ſich mit ein wenig Sorgfalt in die verfchiedenen Thpen der
mittelalterlihen Geſchichtsſchreibung, bejonders in die Bitae (Lebensbefdrei-
bungen), Annales (Jahrbücher) und Chroniken, fo ergeht es einem ähnlich,
wie bei der Betrachtung der altdeutfchen Gemälde, Schnigaltäre uſp. Das
an die Renaifjance gewöhnte Auge empfindet die deutfchgotifhe Kunft gue
nadft als barbarijd, neigt dazu, das Ungewohnte für ungefonnt und „naiv“
gu balten, bis eines Sages die Schuppen bon den Augen fallen, das innere
Sejidt Hell wird und bie Bilder eine folhe Gewalt über ung gewinnen, Daß
alles Fremde dagegen (wenigftens zunädjft) guriidtritt. Wir erobern eine
neue Weit, und das ift um fo erregender, als wir Schritt um Schritt merken,
daß es recht eigentlid unfre Welt ift und daß unfer eigenes Leben fich darin
erfüllt bat. Ich bin der Ueberzeugung: naddem wir die romanijche und go-
tiſche Kunft wieder fehen (nicht nur kunſthiſtoriſch betrachten) gelernt haben,
naddem wir allmählich ahnungspoll die mittelalterlide Dichtung Hören (nicht
nur pbilologifch bearbeiten) lernen, werden wir bald aud unfre mittelalter-
lide Geſchichtsſchreibung verftehen (nit nur als Quellenmaterial bee
nugen) lernen. Ich möchte Hier über die gelehrten Kreife hinaus um Bee
{aftigung mit der alten deutſchen Geſchichtsſchreibung werben.
Wir müffen uns deutlid madden, daß jene Schriften für uns im runde
diefelbe Bedeutung haben wie die gefdidtliden Bücher des Alten Tefta-
mente3 für die Juden. Der Unterfchied ift nur der, daß fie nicht einheitlich
überarbei:et und zu einem fanonartigen Budfirper zufammengefchloffen und
daß fie wegen der größeren Breite und Mannigfaltigfeit unfrer Geſchichte
weit umfang eider und vielfarbiger find. Die Wehnlidfeit befteht darin, daß
aud) in den aiten deutfchen Büchern ber Könige die Gefdidte als eine Wedfel-
wirkung @ottes und des menjchlihen Herzens aufgefaßt wird: es tft Feine
tein pragmatifche, fondern eine religiös und fittlid beftimmte Geſchichtsdar—
ftellung. Ehe man fagt, daß die Gravater Abraham und Safob, die Könige
David und Salomon unerfeglich feien, muß man zuerft unfre eignen Grapäter
und Könige im Spiegel ihrer Zeit (nicht aus der pragmatifchen Darftellung
der entgötterten Wiffenfdaft) fennen. (Dabei merfen wir an, daß wir feines-
wegs darauf ausgehn, Luthers biderbe Gindeutfchung der altteftamentlichen
®eftalten und Hebels bibliſche Geſchichten einfach „abzuſchaffen“. Nicht ab»
{affen, aber — aud) unfre eignen Vorfahren nicht abgefdafft bleiben laffen!)
Unſre alten Gejchichtsfchreiber haben lateinifd gejchrieben, und man fann
fie Iefen in der gewaltigen Sammlung der „Monumenta Germaniae*. Wenn
man aber fein Latein verfteht, fo nimmt man die „Geſchichtsſchreiber der
21
deutfhen DBorzeit“ zur Hand, die in bisher 95 Bänden und Bändchen im
Berlag der Dykſchen Buchhandlung in Leipzig erfdienen find. Bon Gaefar
und Tacitus an bis ing fünfzehnte Jahrhundert begleiten die Bände unfre
Gejdhidte. Als Herausgeber zeichneten einft Männer wie Perk, Jakob
Grimm, Lachmann, Ranke. Nahdem Michael Tangl geftorben ift, hat der
Göttinger Karl Brandi die Leitung übernommen. Den geringeren Zeil
maden die fremden Schriftiteller aus, die über deutſche Dinge berichten:
Tacitus, Ammian, Prokop, Bonifatius uſw. Gigentlide „Dokumentenfamm-
Iungen“ find felten. Die Hauptmafje nehmen die Chroniken und Lebensbes
[&hreibungen Herborragender Männer ein. Die Ueberjegung ift von fundigen
Geiehrien bejorgt, fie geht vor allem auf Richtigkeit aus, die ſprachliche Kunft
fteht in zweiter Reihe. Se nad der Begabung des Ueberſetzers, nicht bloß
nad) der Art des Urteztes, wechjelt gewandter Ausdrud mit einem Deutfch,
das lebhaft an die Beit erinnert, da wir an heißen Gommernadmittagen in
der Sefunda aus dem Lipius eztemporierten. Dod) glüdlicherweife nicht allzu
oft. Man lieft ja aud mit Ginftellung auf die Gade.
Um einen Begriff bon der Sammlung zu geben, druden wir unten einige
Proben ab. Das erjte Stüd ijt aus den „Sächſiſchen Gefchichten“ (Bd. 33)
des Mönches Widulind von Corveh, die er für die zwölfjährige Prinzeffin
Mathilde, die Sodter Kaifer Ottos des Großen, niederfchrieb. Wir finden
da die alte ſächſiſche Sage bon Irminfried und Iring (wohl nad einem
Heldenliede). Ausführlid dann das Leben Heinrids des Erften und Ottos,
bejonders die Kämpfe mit feinen fic) empörenden Angehörigen und mit den
Slawen und Ungarn. Die Sdladht auf dem Lechfeld am 10. Auguft 955 ift
das Slangftiid des Werkes. Die Erzählung bon Ottos Krönung zeigt uns
lebendig den äußeren Borgang bei ber Zeremonie. Rührend ift am Schluß
der Bericht über des großen Herrfchers fchlihten Tod zu Memleben an der
Anftrut.
Die nadften Stüde zeigen uns um ein Jahrhundert fpäter die heftig ge-
ſchmähte und überſchwenglich gelobte Geftalt Heinrichs des Bierten. Gin uner«
gogener Mann bon ftarfem Temperament. Gr war zweifellos nicht bloß ein
politiſcher Rechner, fondern, bei allem Kampf mit dem Papft Hildebrant
(Gregor), bon einem leidenfdaftliden Verhältnis zu Gott. Das bezeugt nicht
nur Ganoffa, jondern aud) feine Hingebung an die Armen. Der Berfafjer
der „Sahrbüdher“, als den man ficherlic mit Recht den Lambert pom Klofter
SHersfe:d annimmt (Bd. 43), fteht bei aller Ehrfurcht por der Krone doch une
freundlich gegen ihn. Gr fann den Zehnten der Türinger und die Seindfeligfeit
Heinrih3 gegen die Sachſen nicht verwinden. Seine Graählungen find von
padender Lebendigkeit. Meifterhaft ift der Ueberfall der Gadjen durd Hein-
tid) 1075 und der Kölner Aufruhr von 1074 dargeftellt. Interefjant ift aud
ber Kampf um den Gölibat; Lambert fehüttelt ein wenig bedenklich, aber re-
figniert den Kopf zu diefer Neuerung des Papftes. Großen Wert legt er
auf die äußere Erſcheinung der Menjhen. Wie feiert er die fSrperlide
Schönheit des Bifdofs Gunther von Bamberg! Dagegen beißt es vom
Biſchoſ Adalbero von Worms fehr luftig: ,..an einem Zuße gelähmt, eine in
jeder Rüdjicht fehenswerte Erſcheinung. Denn er war von großer Stärke, von
unerfattlider Ghluft und von fo gewaltiger Dide, daß, wer ihn anfah, darüber
mehr Schauder als Berwunderung empfand; ja, daß felbft der Hundertarmige
@igant oder jedes andere Ungeheuer des Altertums, wenn es der Unterwelt
entftiege, Die Augen und die Aufmerkſamkeit des ftaunenden Volkes nicht in
fo hohem Grade auf ſich ziehen würde.“ — Leidenjchaftliche Liebe zum Kaifer
22
fpriht aus dem „Leben Kaifer Heinrich des Vierten“ (Bd. 50). Ueber den
Derfaffer hat man viel herumgeraten; es genügt zu wiffen, daß er dem Kaifer
in den legten Lebensjahren nahe geftanden hat. Was er über die letter
Sabre Heinrich zu berichten weiß, ift das Wichtigfte. Gs ift eine Berteidi-
gungsichrift mit ausgeprägter Rhetorik. (Man beachte am Schluß unfrer Probe
das entzüdende rhetoriihe Schwängchen, die Apoftrophe der höchſt unfchule
Digen Mühle).
In die Welt der Kämpfe zwijchen Deutfchen und Slawen führt uns die
bon pradtbollen Charakter- und Kampfſchilderungen ftrogende „Chronik der
Slaven“ des Niederjadjen Helmold, Pfarrherrn zu Bofau, die er den „ehr-
würdigen Herren und Batern, den Domberren der heiligen Kirche zu Lubec“
widmet. (Bd. 56.) Hier treten Heinrich der Löwe, Albrecht der Bär unt
Friedrich der Rotbart als Beitgenoffen vor uns. Ad, es waren arge Herren!
Gie pafjen einander febr auf die Ginger, fie wifjen einen Kreuzzug gegen Die
Seiden durd paſſive Refijteng zu BHintertreiben, wenn fie für ihre Steuern
fürd.en. Die Dänen fommen ſchlecht weg; wiederholt verfichert Helmold,
untereinander feien fie voller Zwietracht, feige gegen äußere Geinde. Des
Goltes Bwantewit uraltes Bild ragt geheimnispoll in den Wäldern Rigens,
bis Waldemar pon Dänemark es herporfchleppen und verbrennen läßt. Die
GSaftfreundfchaft der SIaven wird gerühmt. Immer wieder erheben fie fid
zur Ste.beit, aber fo raſch ihr Mut entbrennt, fo rafch finkt er zufammen.
Wie oft werden Länder und Burgen der Deutfden wie der Slaben verwiiftet
— ein blutgedüngter Boden! Und die Sturmflut pon 1164 reißt „viele
taujend Menjdhen und eine unzählige Menge Vieh“ in den Tod. Die See
ftalt des Priefters Gerlach fcheint mir nicht weniger vorbildlich als die des
Leonidas. Hätten unfere StaatSmänner etwas von feinem Geift gehabt, fo
hätten fie ihre Namen nicht unter das Dokument von Berfailles gejegt. — —
Gs ift eine unendlihe Fülle von Geftalten in diefen 95 Bänden. Gine
Anzahl diejer Bände gehört gum ©rundftod jeder deutjchen Haus» und Fa—
milienbiiderei. Biel zu wenige ſchöpfen aus den reichen Quellen. Wie wird
uns Durd fie die alte Kunft und Didtung lebendig! Wenn wir bei Lambert
bon der ſchönen Adela, der Witwe Markgraf Ottos von Meißen, lefen — ift
das nit die Atmofphäre der Frauen des Nibelungenliedes? Und wie der
junge König Heinrid fo wird im Gudrunlied Hilde, die Tochter Hagens, ent-
führt. So war das Leben damals. — —
Für die neuen Bände und Auflagen Hatten wir den Wunfd, daß nicht
nur die Sniereffen des Hiftorifers, fondern auch die des gebildeten Deutjchen
ſchlechthin, der die Sachen zu feiner Bereicherung lieft, berüdjichtigt werden.
Grörterungen wie in den drei Borreden zur Bita Henrici gehören in wiffen-
ſchaftliche Zeitjchriften. Statt deſſen hätten wir lieber jedesmal eine Ein-
führung in das DBerftändnis der Greigniffe und Geftalten, wie Dr. Georgine
Tang! fie zu den „Regiftern Innocenz’ des Dritten“ gibt. Wichtig wäre es
aud, die fchriftftellerifche und geiftige Gigenart der Geſchichtsſchreiber heraus-
guarbetten. Sachliche Einteilung des Inhalts mit Kapitelüberfchriften, Stamm»
bäume und SLandfarten würden die Leltiire der Bände erleichtern, geitges
nöſſiſche bildlihe Darftellungen würden _fie mit Anfchauung erfüllen. Gin
letzter Wunfch wäre, daß wir einen Ginleitungsband zur ganzen Sammlung
befämen, der uns die Typen diefer Art Geſchichtsſchreibung und ihre geiftige
Struktur darftellte und uns fo bor falfhen Maßſtäben bewabrte.* St.
* Wir empfehlen, fid) durch eine Budbandlung oder vom Berlag ein Sefamt-
verzeichnis der Sammlung fommen zu lafjen. 23
Grlejenes
Aus den von Alpers gefammelten „alten niederdeutfhen Bollsliedern“*.
Herr Hinrid.
err Hinrich und fine Broder alle drei,
I) bull grone,
fe buweden ein Schepfen to der See
umb der adelihen Rofenblomen.
Do dat Schepfen rede was,
pull grone,
fe fettden fid darin, fe forden all darhen
umb der abeliden Rofenblomen.
Do fe weftwerts aberquemen,
pull grone,
do ftund dar ein Goldfchmedes Sohn por der Dor
mit der adeliden Rojenblome.
„Weſet nu willfamen, gi Heren alle drei,
gar hübſch und gar {done!
Wille gi nu Mede ofte wille gi nu Win?“
fprad de adeliche Rofenblome.
„Wi willen nenen Mede, wi willen nenen Win,
bull grone;
Wi willen eines Goldſchmedes Dodterlin Han,
de ban adelihen Rofenblomen!“
„Des Goldſchmedes Dodter Eriege gi nicht,
gar hübſch und gar ſchone;
fe is Lütje Loiken all togefedt,
de adelihe Rojenblome.“
„Lütje Loiken de kricht fe nicht,
bull grone,
dar wille wi dre unfe Helfe umme wagen,
umme de adeliden Rojenblomen.“
Lütje Loifen tod ut fin blanfes Schwert,
bull grone,
be hauwde Herr Hinrich) finen lütlen Finger af
umb de adeliden Rojenblomen.
Herr Hinrih tod ut fin blanfes Schwert,
gar hübſch und gar fdone
be hauwe Lütje Loiken fin Hovet wedder af
umb de adelihen Rojenblomen.
„Ligge du aldar ein Kruſekrol,
bull grone,
min Herte dat is dufend Freuden oull
umb de adelihen Rojenblomen.“:
Das Lied ift handſhriftlich überliefert in Hans Detleffs Dithmarf. bhiftor. Ne-
fation von 1634, als Sriimfen-Dang. Nah Neocorus Pithmarf. Chronik gehörte
diefer Tanz zu den „Langen Tänzen“, „Darin fe alle miteinander, fo danten willen,
nba der Rege anvaten,“ Gr wurde „mit Sreden unnd Handgeberen fonderlid uthge-
, ‘Quidborn-Berlag, Hamburg.
24
richtet,“ — grone bedeutet vielleiht Grimm. Sdhepfen: Schifflein. rede: fertig. aper-
quemen: überfamen. Mede: Met.
gefedt: gugefagt. Kruſekrol: Kraustopf.
Litfe: Lüdele, Deminutid von Ludwig. to-
Sotenamt.
t daget in Dat Often,
de Maan {dint averall;
wo meinich weet min Levefen,
wor id benadten fdall,
wo weinid meet min Lenefen,
ja Levefen!
Weren dat alle mine Griinde,
bat nu mine Giende fin,
id förde fe ut dem Lande,
min Leef und Nünnelen,
id firde fe ut dem Lande,
ja Lande.
„All worden {dolbde gi mi fören,
ftolt Ritter wolgemeit?
IE ligge in Lepes Armen
in groter Werdicheit,
id ligge in Leves Armen,
ja Armen.“
„Ligge gi in juwes Ledes Armen,
bilo, gi fegget nicht war.
Gat ben to der Linden gröne,
vorſchlagen licht be dar,
gat Den to der Linden gröne,
ja grönel*
Dat Medefen nam ere Mantel umme
unde fe ginf einen Gank
all to der Linden gröne,
dar fe den Doden fand,
all to der Linden gröne,
ja gröne.
„Wo ligge gi bier vorfchlagen,
vorſchmort in juwem Blot!
Dat Heft gedan juw Röment,
darto juwe Hoge Mot,
bat Deft gedan juw Röment,
ja Röment!
Wo ligge gi bier porfchlagen,
de mi to tröften plad!
Wat bebbe gi mi nagelaten?
fo mengen bedröweden Dad!
Wat Hhebbe gi mi nagelaten,
ja gelaten?“
Dat Megdefen nam eren Mantel
unde fe ginf einen ®anf
all na eres Gaters Porten,
de je togefchlaten fand,
all na eres Gaters Porten,
ja Porten.
„Gott gröte ju Seren alle,
minen DBater mit im Talle, [mann,
unde is bier ein Here efte ein Gddel-
de mi dijfen Doden begraven Helpen
de .mi diſſen Poden, [fann,
ja Doden?“
De Heren [wegen ftille,
fe mafeden neen Gelut,
bat Megdefen ferde fid umme
unbe fe ginf weenend ut,
dat Megdelen wende fid umme,
ja umme.
Mit eren fdneewitten Henden
fe de Erde upgrof,
mit eren fdneewitten Armen
fe en to Grave droch,
mit eren fchneewitten Armen,
ja Armen.
„Qu will id mi begeven
in ein Hein Klöfterlin
und dragen ſchwarte Rieder
und werden ein Nünnefin
unde dragen fdwarte Kleder,
ja Kleder.“
Mit erem Hellen Stemmen
fe em de Mifje fant,
mit eren fchneewitten Henden
fe em de Scellen Elant,
mit eren fchneewitten Henden,
ja Henden.
Das niederdeutfhe Lied ijt niederländiihen Urfprungs, niederländiih in zwei
Lesarten erhalten (um 1540). — Gine hochdeutſche Lesart Ihon aus dem 15. Sabch.
— weinid: wenig. Leoefen, Leef:
Liebdhen.
Ehre. bilo (niederlandijh): bei Oott. vorjdymort: erftidt.
im Salle: in der Zahl, Berjammlung. efte: oder.
Ninnefen: Ninnden. Woerdideit:
Röment: Rübmen, Ruhm,
@elut: Laut.
25
Aus den „Sefchichtsfchreibern der deutfchen Vorzeit“.
Wahlund Krönung Ottos des Grofenam 8. Auguft 936. +
(Aus Widulinds „Sähfifhen Gefdhidten“.)
een nun aljo der Bater des Baterlandes und der größte und befte der
Könige, der Herr Heinrich, entfchlafen war, da erfor das ganze Volk der
Granfen und Gadjen deffen Sohn Odda*, der ſchon vorher zum Nadfolger
bezeichnet war, zu feinem Gebieter, und als Ort der allgemeinen Wahl be—
Beichnete und beftimmte man die Pfalz zu Aachen. Gs ift aber jener Ort
nabe bei Jülich, welches von feinem Gründer Julius Gajar den Namen ers
halten bat. Und als man dorthin gefommen war, verfammelten fich die Here
zoge und die erften der Grafen mit der übrigen Schar der pornehmften Bae
fallen in dem Gaulengange, welcher mit der Bafilifa des großen Karl vere
bunden ift, und fie fetten den neuen Herrfder auf einen Hier errichteten Thron;
bier reichten fie ihm die Hände, gelobten ihm Treue und Hilfe gegen alle
feine Geinde, und machten ihn fo nad ihrem Braudhe gum Könige**. Wabhe
rend dies bon den Herzögen und den übrigen Beamten vorgenommen tpurde,
erwartete Der höchſte Bifdhof mit der gefamten Briefterfhaft und dem
ganzen niedern Bolfe unten in der Bafilifa den Aufzug des neuen Königs,
Ale diefer eintrat, ging ibm der Grabifdof entgegen und berührte mit feiner
Linken die Rechte des Königs, während er felbjt in der Rechten den Krumm—
ftab trug, und angetan mit der Albe, gefhmüdt mit der Stola und dem
Mefgewand, ſchritt er por bis in die Mitte des Heiligtums, wo er fteben
blieb, und fi zu dem Bolfe wendend, welches ringsumber ftand — es
waren nämlich in Diefer Baſilika Säulengänge unten und oben im Kreife
erridiet, fo daß er bon allem Volke gejehen werden fonnte, ſprach er fo:
„Sebet, bier ftelle id) euch bor den bon Gott erfornen und bom Herrn Heinrich
früher bezeichneten, nun aber bon allen Fürften zum Könige erhobenen Herrn
Odda: wenn euch diefe Wahl gefällt, jo bezeugt dies, indem ihr die rechte
Sand zum Himmel emporhebt.*“ Darauf Hob alles Volk die Rechte in die
Höhe und wiinfdte mit gewaltigem Gefdrei dem neuen Gebieter Heil und
Segen. Sodann fchritt der Erzbiſchof mit Dem Könige, welcher mit dem enge
anliegenden fränkiſchen Gewande befleidet war, hinter den Altar, auf welchen
die fönigliden Infignien gelegt waren, das Schwert mit dem Sgepter und
das Diadem. Höchſter Priefter war nämlich zu diefer Zeit Hildibercht, von
Geidledht ein Franke, feines Standes ein Mind, erzogen und gebildet im
Klojter zu Buld***, und nad) Berdienft zu fo hohen Ehren geftiegen, daß er
gum Borfteber diejes Stiftes ernannt wurde, {pater aber die höchſte Würde
des erzbifhöflichen Stuhles zu Mainz erlangte. Hildibercht trat an den Altar,
nahm bier das Schwert mit dem Webrgebenf und fprah zum König gee
wendet: „Smpfange Diejes Schwert und treibe mit ibm aus alle Widerjader
Ehrifti, die Heiden und ſchlechten Shrijten, da durch Gottes Willen alle Madt
des ganzen Granfenreides dir übertragen ift, zum bleibenden Frieden aller
Ehriften.“ Sodann nahm er die Spangen und den Mantel und bekleidete ihn
damit. „Dies bis an den Boden wallende Gewand,“ fagte er, „möge Dich
erinnern, wie du bom Eifer im Slauben entbrennen mögejt und in Wahrung
Altſächſiſche Form für Otto. :
* Der Huldigende hielt, indem er den Eid fprad, feine Hände gwifden den
Händen oe
id u A,
26 '
des Griedens verharren miiffeft bis in den Tod.“ Sodann reichte er ihm
Szepier und Stab und ſprach: „Bei diefen Zeichen mögeft du gedenken, daf
du mit päterlicher Zucht deine Untertanen leiteft, und vor allen den Dienern
Gottes, den Witwen und Waijen die Hand der Grbarmung reideft; und möge
niemals bon deinem Haupte das Del der Barmherzigkeit verjiegen, auf daß
du jest und in Zukunft mit ewigem Lohne gefrönt werdeft.“ Darauf wurde
er alsbald mit dem heiligen Oele gefalbt und mit dem goldnen Diadem gee
front bon den Biſchöfen Hildiberht und Widfrid, uhd da nun die Weibe,
wie fic gebührt, pollitändig vollendet war, ward er bon ebendenjelben Bi—
[Höfen zum Thron gejührt, zu weidhem man auf einer Wendeltreppe hinan-
ftieg, und der gwijden zwei marmornen Säulen bon herrliher Schönheit ers
richtet war, fo daß er von hier aus alle feben und von allen wiederum ge-
feben werden fonnte.
Nadhdem man hierauf Gott gepriefen und das Mefopfer feierlich bee
gangen hatte, ftieg der König in die Pfalz herab, trat fodann an eine mars
morne, mit föniglihem Gerät gejhmüdte Tafel und fette fid mit den
Biſchöfen und allem Bolfe; die Herzoge aber warteten auf. ‘Der Herzog der
Lotharinger, Bjilberdt, zu deffen Amtsgewalt jener Ort gehörte, ordnete die
ganze Feier, Spurhard beforgte den Tijd, Hermann der Franke ftand den
Mundſchenken por, Arnulf forgte für die ganze Ritterfchaft und für die Wahl
und Abſteckung des Lagers; Sigifrid aber, der Sachen trefflichiter und der
zweite nad dem Könige, einft Schwager des Königs, und aud dem neuen
Könige Durch diefe Berjchiwägerung nahe verbunden, verwaltete um diefe Zeit
Sadjen, damit nicht etwa unterdefjen ein feindlider Einfall ftattfände, und
hatte den jüngeren Heinrich zur Graiehung bei fih. Der König aber ehrte
nach diefem einen jeden der Giirften föniglicher Freigebigleit gemäß mit an-
gemefjenen Gefdenfen und entließ die Menge mit aller Stöhlichkeit.
Entführung Heinrihs des Bierten dur Grabifhof Anno
bon Söln. 1062.
(Aus den Sabhrbiidern des Lambert bon Hersfeld.)
Ay KRaiferin, welche ihren Sohn nod) aufzog, verwaltete Die Reichsgefchäfte
feibft und zog dabei am meijten den Bijchof Heinrich von Augsburg zu
Rate. Und deshalb fonnte fie aud dem Berdadte ungiidhtiger Liebe nicht ent-
geben, da der Ruf Hin und wieder ausftreuete, daß nicht ohne fchimpflichen
DBerfehr fo große Bertraulidfeit zwifchen ihnen erwadjen wäre. Diefe Sache
war den Giirften febr anjtößig, da fie jaben, daß wegen der bejonderen Liebe
zu einem Ginzigen ihr Anjehen, weldes im Staate am. meijten hätte gelten
follen, beinahe erlofhen war. Daher hielten fie, die Ungebühr der Sache nicht
ertragend, häufige Zufammenfünfte, bandelten läſſiger bei öffentlihen Bere
richtungen, reizten Die Gemüter des Bolfs gegen die Kaiſerin auf und bes
ftrebten fich endlich auf jede Weife, den Sohn von der Mutter abzuziehen und
die Berwaltung des Reichs auf fic felbft überzutragen. Zuletzt fam oer
Erzbijhof Anno von Göin, nachdem er fid mit dem Grafen Gfbert und dem
Herzog Otto von Baiern verabredet hatte, zu Schiffe den Rhein hinab an
den Ort, welder der Werder des heiligen Switbert beißt. Hier befand fid
damals der König. Als diefer nun eines Tages nad feierlihem Mable
beiterer als fonft geftimmt war, forderte der Biſchof ihn auf, eines feiner
Schiffe, weldhes er zu diefem Zweck mit wunderbarer Kunft hatte verzieren
lafjen, in Wugenfdein zu nehmen.
27
Leicht überredete er dazu den unbefangenen und nichts weniger als
Hinterlijt argwöhnenden Knaben. Als diejer aber das Fahrzeug bejtiegen
hatte und ihn Diejenigen umringten, welde der Biſchof als Genofjen und
Helfer für feinen Anfchlag beftellt hatte, da erheben fic rafd die Schiffer,
tudern mit angeftrengten Kräften und treiben augenblidlich das Schiff in die
Mitte des Stromes. Der König durch diefe neue Erfdheinung außer Faffung
gcbradt, in Ungemwißheit ſchwebend und nicht anders denfend, als daß es auf
feinen gewaltfamen Tod abgefeben fei, ftiirgte fid jablings in den Fluß, und
die beftigere Strömung hätte ihn fchnell verfchlungen, wenn nicht Graf Sibert,
ihm nadfpringend, den Gefahrdeten mit eigener nicht geringer Gefahr faum
und mit Mühe dem Untergange entrijfen und in das Schiff zurüdgebradt
hätte. Hierauf fuchen fie ihn durch alle möglichen Schmeichelworte zu bes
fänftigen und führten ibn nad Cöln. Die übrige Menge folgt zu Lande
nad, die meiften mit der lauten Befduldigung, daß die königliche Majeftät
verlegt und ihrer Gelbftändigfeit beraubt worden fei. Der Bifdof, um das
Gehäſſige der Sat zu mildern, damit es nämlich nicht [deinen follte, als habe
er fie mehr aus Ridjidt auf feinen eigenen Ruhm als um des gemeinen
Beften willen begangen, fegte fejt, daß jeder Bifchof, in deffen Sprengel der
König fid eben zur Zeit aufbalte, dafür gu forgen babe, daß das Semein=
weſen nicht Schaden litte, und daß er in Den Sachen, welche bei dem König
angebracht wurden, vorzugsweiſe Befdeid geben folle. Die Kaiferin wollte
ihrem Sohn weder nadfolgen noch über das ihr zugefügte Unrecht nach dem
Völkerrechte Klage führen, fondern fie 30g ſich auf ihre eigenen Güter zurüd
und nahm fi) bor, bon nun an ohne Anteil an den Hffentliden Geſchäften
ihr Leben gugubringen.
Der Bang nad Sanoffa. 1026/77.
(Aus den Sabrbiidern des Lambert von Hersfeld.)
Pie Sage por Weihnadten zog er (Heinrich der Bierte) daher aus der
Stadt Speier weg und trat mit feiner Gemahlin und feinem Heinen
Sohne die Reife an. Kein freier Mann unter allen Deutjchen begleitete ihn,
da er fein Reid verließ, bis auf einen einzigen, und diefer war weder durch
Ablunft nod) durh Macht bedeutend. Und da er den Aufwand einer fo
langen Reife nicht beftreiten fonnte und viele, denen er bei nod unverſehrtem
Zuftande des Staates oft Gutes erzeigt hatte, mit Bitien anging, fanden fid
nur wenige, welche aus Grinnerung an frühere Wobltaten oder gerührt durd
das gegenwärtige Schaufpiel des wechjelnden Gejdides der Menjchen feine
Not einigermaßen erleidierten. In foldhes Elend und Unglüd war er bon
bem höchſten Ruhme und der größten Macht pliglid) Herabgefunfen. Auf
ähnliche Weife bejdleunigten aud) die übrigen Gebannten, poll Berlangens
die Losfpredung fo bald wie möglich zu erhalten, mit dem brennendjten Eifer
die Reife nah Italien; dod wagten fie nicht, den König in ihre Reije-
gejellihaft aufzunehmen, gefdredt durd die Furcht bor den Fürften, oder
bielraehr bor dem römiſchen Papfte.
Die Heftigkeit und Raubeit des Winters war in diefem Sabre fo an-
baltend und mit fo ungewöhnlicher Strenge eingetreten, daß bon dem Seite
des heiligen Martin an der Rheinftrom, durch eijigen Frojt gebunden, beinahe
bis gu Anfang des April für Fußgänger gangbar blied, und an den meijten
Orten die Weinreben, da die Wurzeln vor Kälte erftarrten, ganglid zu
Grunde gingen....
28
Der König Heinrich feierte auf der Reife nad Italien in Burgund an
einem Orte, der DBifenzun* heißt, die Geburt des Herrn, glänzend genug in
Anbetradht feines damaligen Unglüds empfangen und bemirtet bon dem
Strafen Willibelm, feiner Mutter Runfelmagen, deffen Macht in jenen See
genden febr anfebnlid) und blühend war. Daß er aber bon der geraden
Straße abbiegend fid nad) Burgund wendete, dazu veranlafte ibn, Daß er
zuverläffig erfahren hatte, die Hergoge Rudolf, Welf und Berdtold** hätten
alle Wege und Zugänge, die nad Italien führen, und die man gewöhnlich
Klaufen nennt, im Boraus mit Wächtern befest, um ihm jede Möglichkeit des
Uebergangs zu verfperren....
Gs war ein überaus harter Winter, und die Berge, über welde der
Mebergang ftattfand, die fi ins Unermeflide ausdehnen und mit -ihren
@ipfeln faft in die Wolfen ragen, ftarrten fo von Schneemaffen und eifigem
Froſt, daß man auf dem jchlüpfrigen und fteilen Whbange weder zu Pferde
nod) zu Fuß ohne Gefahr fic bewegen fonnte. Aber die Wiederkehr des
Sages, an weldem der König in den Bann gefommen war, ftand nahe bevor
und duldete feine Verzögerung der eiligen Reife, weil er wußte, daß für den
Gall, wenn er nit bor diejem Tage von dem Bannflude freigefprochen
wäre, durch den gemeinjchaftlihen Ausfpruch der Fürſten beſchloſſen fei, daß
er feine Sache für immer verloren haben und des Reiches, ohne irgend ein
Mittel der künftigen Wiedereinjegung, verluftig fein follte. Deswegen mietete
er um Lohn einige von den Gingeborenen, welde ber ®egend fundig und an
die ſchrofſen Alpengipfel gewöhnt waren, um feiner Begleitung über Die
fteilen Gebirgswände und Schneemajfen porangugeben, und den Nadfolgenden
mit allen SHifsmitteln, deren fie fundig wären, Die rauhen Pfade zu ebnen.
Mit diefen Führern gelangten fie mit größter Schwierigfeit bis auf den
Scheitel des Sebirges; hier aber zeigte fid feine Möglichkeit, weiter fortgu-
fommen, weil der ſchroffe Abhang des Berges, wie gejagt, durch den eifigen
Froſt fo fchlüpfrig war, daß er jedes Herunterfteigen gänzlich zu verjagen
ſchien. Hier nun mußten die Männer alle Gefahr mit ihren Kräften gu über-
winden fuden, und bald auf Händen und Füßen friechend, bald auf Die
Schultern ihrer Führer fi) ftügend, bisweilen aud, wenn ihr Guf auf dem
fchlüpfrigen Boden ausglitt, fallend und weiter fortrollend, langten fie Dod
endlich mit großer Lebensgefahr in der Ebene an. Die Königin und andere
Grauen, die in ihrem Pienfte waren, feste man auf Ochfenhäute, und die zum
Geleite porausgehenden Wegweijer zogen fie darauf abwärts. Gon den
Pferden ließen fie einige mit Hülfe gewiſſer Borrichtungen hinunter, andere
{dleiften fie mit gujammengebundenen Füßen hinab, bon denen viele beim
Sieben umfamen, mehrere untaugli wurden, febr wenige lebend und unver»
legt der Gefahr entgehen fonnten.
Als fia) durch Italien der Ruf verbreitete, ber König fei angelangt und
befinde fid, nahdem er die raubeften Klippen iiberftiegen, fon innerhalb
der Grenzgen Italiens, da ftürmten wetteifernd zu ihm alle Bifchöfe und Grafen
Italiens und nahmen ihn, wie es {id für die fönigliche Hoheit gebiihrte, mit
den gröften Ghrenbegeigungen auf, und binnen weniger Tage perjammelte
fid um ihn eine unermeflide Heeresmadt. Denn ſchon pom Anfange feiner
Regierung hatten fie feine Ankunft in Italien immer fehnlich gewünjcht, weil
jenes Reich durch Kriege, Aufftände, Raubereien und vielfache Fehden der
* Befancon,
** Seine Segner,
Einzelnen ununterbroden bon Feindfeligfeiten erfüllt war, und weil fie
bofiten, daß alles, was ruchlofe Menſchen wider die Gefege und Redte der
Borfahren fid) herausnahmen, Durd die Zucht der königlichen Macht ge-
befjert werden würde. Aeberdies, weil das Gerücht fich verbreitet hatte, der
König eile zornig herbei, um den Papft zu entfegken, freuten fie fich fehr, daß
ihnen Gelegenbeit geboten fei, an dem, welder fie {don längft bon der
Kirchengemeinſchaft ausgejchlojfen hatte, ihre Schmach auf gehörige Weife
raden zu fünnen.
Unterdefjen verließ der Papft, durch Schreiben bon den deutfchen Fürften,
welde in Oppenheim gujammengefommen waren, erfudt, daß er auf Maria
Reinigung zur Verhandlung über die Gade des Königs in Augsburg eine
treffen möchte, wider den Willen der römiſchen Fürften, welche ihm wegen
des ungemwijfen Ausganges der Gade bon jener Reife abrieten, die Stadt
Rom und bemühte fid, jo viel als möglich die Reife befchleunigend, am bee
ftimmten Sage dort anzulommen, geleitet bon Mathilde, der Hınzeriajjenen
Witwe des Herzogs Gozelo von Luteringen*, Tochter des Markgrafen Boni-
facius und der Grafin von Beatriz....
Als nun der Papft, während er nad Gallien** eilte, unbermutet hörte,
daß der König {don in Italien angelangt fei, jo begab er fic) auf Anraten der
Mathilde in ein febr feftes Schloß, weldes Canufium*** genannt wird,
willens bier zu warten, bis er den Zwed der Ankunft des Königs genauer
erforjhen finnte, ob er namlid fame, um Bergeibung feines Bergebens
nadgujuden, oder um die Sdmad feines Kirchenbannes mit den Waffen in
der Hand, bon Zorn erfüllt, zu abnden....
Anterdejjen berief der König Heinrich die Gräfin Mathilde zur LUntere
redung und {didie fie, mit Bitten und Berjprechungen belajtet, gum Papſte,
und mit ihr feine Schwiegermutter und deren Sohn, aud den Marfgrafen
Aggo**** und den Abt pon Wloniaca*****, und einige andere der vornehmſten
Fürſten Italiens, bon denen er nicht bezweifelte, daß ihr Anfehen von großem
Gewidt beim Papfte fei, inftändig bittend, daß diejer ihn des Bannes ents
ledigen und den deutſchen Fürften, welche gu der Anklage gegen ihn mehr
durch den Stachel des Neides als durch den Eifer für das Recht entzündet
worden waren, nidt blinden Glauben ſchenken mög.2....
Lange widerftand der Papft, da er bei dem Könige die Anbeftändigfeit
des jugendliden Gemiits und die Geneigtheit gu allem, wohin ihn jeine
Scmeidler trieben, befürchtete; endlich aber, überwunden durch das dringende
Anbalten der Unterhändler und das Gewicht ihrer Gründe, fpracd er: „Wenn
ihn die Sat wahrhaftig reut, fo übergebe er die Krone und die übrigen Ehren-
zeichen der Königswürde zum Beweife wahrer und von Herzen getaner Buße
unjerer Gewalt und erkläre fic felbft nad einer fo trogigen Sat des könig—
liden Namens und Amtes für unwert.* Zu Hart ſchien Diejes den Geſandten.
And ba fie ihm lebhaft anlagen, er möge das Urteil mildern und das zer—
ftoßene Rohr nicht durch die Strenge feines Geridts vollends zerbrechen,
ließ er fich endlich mit großer Mühe faum fo weit erbitten, daß er ihm ge-
ftattete, bor ihn zu fommen und, wenn er aufridtige Reue über feine Ber-
gebungen hege, die Schuld, die er fic) dDurd die Bejdhimpfung des apojto-
* Lothringen,
* Sp nenat Lambert das Rheinland (nit Frankreich).
*** Sanoffa.
**** pon Gite.
ser. Gluny.
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liſchen Stubles zugezogen Habe, durd) Gehorfam gegen die Befchlüffe bes
apoftolifhen Stuhles nunmehr zu fühnen.
Sener fam, wie ihm befoblen worden, und da die Burg mit einer drei-
fahen Mauer umgeben war, wurde er in den Umkreis der zweiten Ringmauer
aufgenommen, während fein ganzes Gefolge außerhalb guriidblieb, und hier
ftand er, nad) Ablegung des königlichen Schmuds, ohne alle Zeichen könig—
lider Würde, keinerlei Prunk zur Schau tragend, barfuß, faftend vom Morgen
bis zum Abend, in Grwartung des Ausjpruches des römischen Papſtes.
Diefes tat er am zweiten, Diefes am dritten Tage. Grft am vierten Tage
wurde er ihm vor Augen gelaffen, und nad vielen Reden und Gegenreden
gulegt unter folgenden ‘Bedingungen bom Banne losgejprocden....
Empörung Markgraf Efberts bon Meißen gegen Heinrigd
den DBierten. 1090.
(Aus dem „Leben Kaifer Heinrichs des Bierten“.)
G* war eine Stadt in Gadfen, die, weil fie die Gade des Königs in ge-
fegneter Gntwidlung fab, fic zu feiner Partei befehrt Hatte, im Bertrauen
fowohl auf die Feſtigkeit des Ortes wie auf den königlichen Beiftand*. Die
ſächſiſchen Großen nahmen das übel und belagerten die Stadt. Markgraf
Gfbert aber, erfüllt von der Hoffnung, Die Regierung zu erhalten, und be-
ftrebt, Dem erfehnten Ziele näher zu fommen, 30g mit einer größeren Streit=
madt als alle anderen zu dieſer Belagerung und folgte den voraufgeſchickten
Sruppen mit wenigen Begleitern felber nad. Gr war bon der Heerftraße
abgelenft, um nicht etwa in feindlihe Hände zu geraten; denn feiner ift fo
mächtig, Daf er der Widerfacher entbehrte und nicht feindfelige Nachftellungen —
gu fürd:en hätte. Gin verftedter Pfad leitete ihn durch ein Gehölz. Wie
geheimnispoll, Gott, find deine Gerichte; in wie wunderbarer Folge verbirgft
du, was du tun willft, und enthülleft, was du verborgen haft! Die Glut der
Mittagsfonne brannte auf Rof und Reiter, und die Schwüle regte, wie es
gu gejdeben pflegt, den Durft an. Meberdies befdlid die Grmüdeten fo
große Schläfrigfeit, Daf fie die fchlummerträgen Hälfe neigten, und bie Pferde
mit ſchlaffen Zügeln frei ihres Weges zogen. Nicht fern erblidten fie in
Waldeinfamfeit eine alleinftehende Mühle. Hier fehrten fie ein und über-
ließen fic dem Schlafe, naddem fie den Müller entfandt Hatten, damit er
ihnen, den Durft zu ftillen, einen Srunf aus dem Dorfe holte. Diefer beeilte
fid mit dem Schlaud auf den Schultern, als ihm einige zur erwähnten Bee
lagerung ziehbende Schildfnappen begegneten, die im ftillen Freunde des
Königs waren, obwohl fie zur Gegenpartei zählten. Bon ihnen gefragt,
woher er fomme, wohin er gehe, weshalb er fic fo außer Atem laufe, nannte
er, Da er feinen Grund hatte, zu verheimlichen, was er wußte, ihnen feinen
Saft und den Zwed feines Weges. Betroffen, war’s vor Schreden oder
bielmebr por Freude, überlegten fie, was zu tun fei: wie gefährlich, und
andererjeitsS wie lohnend, wie wader, rühmli und pflichtgetreu es wäre,
einen fo bedeutenden Gegner des Königs zu erlegen; die Gelegenbheit follte
fih nicht vergebens dargeboten haben; die größte Tapferkeit bewährt fic in
den größten Gefahren. So feuerten fie gegenfeitig ihren Mut an und eilten
fpornftreihs nad) der Mühle; ihre Wünſche eilten den Pferden nod voran.
Es feste einen Kampf, der lange Zeit hartnädig und zweifelhaft war; denn
bie Parteien waren fid an Beherztbeit und Anzahl gleich, und wie die einen
* Bielleiht Quedlinburg,
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des Ruhmes wegen, fo ftritten die anderen um ihr Leben. Doch das Glück des
Königs fiegte, und fein wildefter Feind lag darnieder, nicht im Felde, fondern
{Himpflidh in einer Mühle getötet. Allzu glüdli und ftets vielgenannt bift
du Mühle, die du nit durch dein bewegliches Gefdaft, fondern durch deinen
Ruhm die Menjfden Hinlodjt und ihnen Eappernd jenen Streit erzählft und
erzäblend flapperft.
Bom Priefter Gerlad. 1147.
(Aus Helmolds „Shronif der Slaven“.)
& will ein Greignis erzählen, welches der Nachwelt überliefert zu werden
verdient. Nachdem die Sladen bas Land der Wagrier nad Belieben
mißhandelt hatten, famen fie gulegt in den Bezirk von Süfel*, um die dortige
Anfiedlung der riefen, deren Anzahl auf mehr als 400 Männer anges
fhlagen wurde, zu verheeren. Als aber die Slaben beranfamen, wurden
faum bundert in der fleinen Befte gefunden, da die übrigen in die Heimat
zurüdgefehrt waren, um ihr dort Hinterlajjenes Bermögen zu ordnen. Nachdem
nun die Feinde alles, was außerhalb der Gefte war, in Brand geftedt hatten,
waren die, welche in derfelben fich befanden, auf das beftigfte bon den Bee
lagerern bedroht; denn den ganzen Tag wurden fie bon 3000 Slaben nad-
Diiidlid bedrängt, welche den Sieg als unzweifelhaft betrachteten, während
fie ihr Leben durch Verlängerung des Kampfes zu retten fudten. Als aber
die Slaven fahen, daß ihnen ein unblutiger Sieg nicht bejdieden fein würde,
per[praden fie den riefen Leben und Underleglidfeit des Körpers, wenn
fie aus der Befte hervorkämen und ihre Waffen ablieferten. Daher be—
gannen einige bon den Belagerten die Uebergabe zu verlangen, in der Hoffe
nung, ihr Leben gu retten. Allein der hodfinnige Priefter Gerlad widerlegte
fie und fprad: „Was wollt ihr tun, ihr Männer? Meint ihr durch die
Mebergabe euer Leben zu erfaufen? Meint ihr, die Barbaren hielten Treue?
Ihr irrt euch, Landsleute; fold eine Meinung ift töricht. Wißt ihr nicht, daß
unter allen Arten von Ablömmlingen fein Golf den Slaven verhaßter ift
als die Griefen? In Wahrheit, unfer Duft ift ihnen Geſtank. Warum werft
ihr alfo euer Leben fort und eilt freiwillig dem Untergang entgegen? Ich
beſchwöre euch bei dem Herrn, dem Schöpfer der Welt, dem es nicht ſchwer
fällt, durch wenige zu helfen, verfudet noch eine furze Zeit eure Kräfte und
meffet euch mit dem Feinde. Denn fo lange uns diefer Wall umgibt, find
wir unferer Hände und unferer Waffen mächtig, dürfen wir nod an das
Leben glauben; find wir aber entwaffnet, fo bleibt uns nichts übrig als
{dimpflider Sod. Daher taudet lieber eure Schwerter, deren Auslieferung
fie verlangen, zuvor in ihr eigenes Warf, und feid Rader eures Blutes,
Mögen fie die Frucht eurer Kühnbeit fdmeden und nicht mit unblutigem
Siege beimfebren.“ So fpredend zeigte er ihnen feinen hochherzigen Sinn,
trat bor das Sor und warf mit nur einem Manne die Scharen der Geinde
zurüd und erſchlug mit eigner Hand eine ungeheure Menge Slaven. Als er
gulegt ein Auge verloren hatte und am Leibe verwundet war, ließ er dod
nicht nah im Rampfe, indem er eine bon Gott verliehene Kraft fo des
Geiftes wie des Körpers offenbarte. Nicht herrlicher fämpften einft die all»
befannten Söhne Zerujas oder bie Makkabäer als der Priefter Gerlad und die
gar Heine Anzahl bon Männern in der Burg Süfel, und fie [hüsten die
* Sn der Gegend bon Ahrensboek.
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Befte vor der Gewalt der DBermülter.
Als aber der Graf* das vernahm,
jammelte er ein Heer gum Kampfe gegen die Slaven, um fie aus feinem
Lande zu vertreiben.
Auf die Kunde hiervon fehrten die Slaven zu den
Schiffen zurüd, und zogen mit vielen ©efangenen und reicher Beute an
manderlei Habjeligfeiten, die fie im Lande der Wagrier fi) angeeignet
Hatten, in ihre Heimat zurüd.
* Graf Adolf II, von Holftein.
Kleine Beiträge
Bon der redhten Sprade und dem Namen
Gottes.
Das ——— ®ebot.
Du ſollſt den Namen des Herrn,
deines Oottes, nicht mißbrauchen.“
Wir wiſſen, daß dies Gebot die From—
men ded Alten Teſtaments veranlaßte,
den Sottesnamen nie ausgufpreden. Und
wenn fie ibn fdrieben, legten fie ihm
andere Laute unter. Gine tiefe Scheu
verbot ihnen, diefen Namen wie andere
Worte der profanen Sprade zu ge-
brauden.
Warum diefe Sheu vor dem Namen?
Weil im Namen fih das Wefen aus-
fpridt. Wer den Namen eines Men—
{hen weiß, Der fennt fein Wefen und
bat Madht über ihn. Nod heute wird
ein Beduine dem Fremden nie feinen
Namen nennen — mie follte er fid
einem Unbelannten ausliefern? @ottes
Wejen aber ift Geheimnis und muß Ge-
Heimnis bleiben. Wehe dem, der ver-
fuden wollte, die Schleier des lebten
und tiefften Gebeimnifie3 zu lüften. Es
würde ifm wie dem Siingling ergeben,
der den Gdleier vor dem Bilde der Gott-
heit hebt:
Auf ewig war feines Lebens Heiterkeit
dahin,
Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen
®rabe,
&3 liegt ein tiefer Ginn in der Bor-
ftellung der Mojesgefhichten, daß Gott
in der ftillen Ginfamfeit der Wüfte, in
den ungugdngliden Klüften de3 heiligen
Berges wohnt. „Da verhüllte Mofe fein
Angefiht, denn er fiirdtete fic, Gott
anzufhauen“, fo wird uns bon feiner
erften Öottesbegegnung beridtet. Sa, als
Mojes auf der Höhe feines Führertums
®ott bittet, feine Herrlidfeit hauen zu
dürfen, da wird ibm der DBeiceid:
„Meine Herrlichkeit fannft du nidt fee
ben.“ Der Menſch vergeht, wenn er es
wagt, Oott gegenüber zu treten. Oott
opt in einem Licht, da niemand zu-
ann.
Das in diefen Erzählungen die Wüfte
und die Einſamkeit der ſchroffen Berge
ift, da3 war unferen Vorfahren das ge
beimnispolle Duntel des Waldes, Die
Stille der Naht und da3 Raufden
der Binde in den Kronen der Baume.
Das gleide tiefe Gefühl heiliger Scheu
ſpricht fid darin aus.
Die Sefahr, daß unferer Beit die
Quelle aller edten fittliden Bildung,
die Ghrfurdt, nidt mehr ftrömt, wird
Dadurd Heraufbeidworen, daß die Men—
fben dem Wahn erlegen find, alles
wifien, alles durhihauen zu können. Bor
diefem Wahn der Aufklärung wird alles
tlein und platt. Diefer Wahn zerrt vor
allen verborgenen Tiefen, vor allen ge-
beimen lntergründen des Lebens Die
{dhiigende, bergende Hülle weg. Nichts
was dem unrubigen und anmafliden
Serftand durd eine wahre Scheu ent-
zogen wäre. Und dad Ergebnis? „Du
gleihft dem Geift, den du begreifft, nicht
mir!“ Eine erfdredende Dede, eine er»
barmlide Gntleerung und Gntfeelung ift
die Golge, Grgriinden? ein, das eitle
Difien ergründet nidts. Die ewige Tiefe
offenbart fih nur freiwillig, wem fie
will, Aber denen, die niht warten, nicht
ftille fein und lauſchen können, erblindet
das Auge und das ©efühl.
Sragbar ward alles, da das Gine floh,
Sagbar ward alles, Drufh auf leeres
(Stroh,
Gericht über eine Zeit, die fein Geheim-
nis mehr zu verehren weiß, die alles
zu fehen und zu wiffen meint; und Die
darum an dem wahren Reidtum des
Lebens hungernd porübergeht.
Alles habend, alles wiſſend feufgen fie:
Karges Leben, Drang und Hunger überall!
Fülle fehlt!
Speider weiß id über jedem Haus
Boll von Korn, das fliegt und neu fid
Keiner nimmt. (bauft —
Keller unter jedem Hof wo fiegt
nd im Sand verftrömt der Gdelwein —
Keiner trinkt...
33
Tonnen puren Golds verftreut im Staub:
Golf in Lumpen ftreift e3 mit dem
Keiner fieht. [Saum —
„Du follft den Namen des Herrn,
deine3 Soites, niht mißbrauden.“ Als
Der Grgvater in einjamer Gternennadt
auf dem Furthügel mit ®ott ringt, Da
fragt er gulebt: Wie heißeft du? Und es
wird ihm die Antwort: Was fragft Du
mid, wie id heiße? G3 wird ihm fein
Name genannt, und dod fheidet er aus
dem Kampf mit der Sewifbeit: Sch
babe Gott von Angeficht gefeben und
meine Seele ift genejen. @ott offenbart
{id dem ringenden und fudenden Herzen,
nidt dem neugierigen Blid und der
Anmafung des Menichen, der durd fein
Wiſſen berrfhen will, da, wo e3 nur
Hingabe und Gehorfam gibt. G3 gibt
fein Wort, das Gott zu fafien vermidte.
Alles Begreifen der Tiefe bleibt tot und
leer, wenn nidt ©ott ein Herz füllt mit
dem unbegreifliden Reihtum feines Wer
fens, Gottes Offenbarung ift immer
Wunder. „Man wird aud nicht jagen,
fiebe bier oder da ift es“ — entgegnet
Jeſus den forfhenden Suden — ,fiebe
das Reid Oottes ift inwendig in eud.*
Gott [aft fih nidt nehmen und geben.
Gr ift fein Gegenftand der Grfabrung,
feine Borftellung de3 Wiffens. Gr bat
feinen Namen. Gein Name ift: „I
bin der ih bin.“ Dad ift die Antwort,
die Mofe3 auf feine Frage nah dem
Namen Gottes erhält. Ih bin der id
bin. IH bin da3 ewige Gein, da3 eine
ewige Leben. Und died Oeheimnis des
Lebens umgibt uns überall. Dem, der
@ott fudt und ehrt, dem ehrfürdtigen
pee. oifenbart er fih durd alles bine
u
rd.
Sn dem tiefften Gedicht eines Lie-
benden Herzens, das in deutiher Sprade
gejdrieben ift, fpridt Der Didter davon,
wie ihm in alten Grfdheinungen des ftei-
genden und finfenden Tages das Bild
der @eliebten erfdeint: „gleih erfenn
ih did! Go flingt in jedem edten
tiefen Wort, da3 eine Grfahrung des
wahren Lebens offenbart, Gottes Name
mit.
Luft, die alles fillet,
Drin wir immer fHweben,
Aller Dinge Grund und Leben.
fingt Serfteegen. In ihm Leben, weben
und find wir, fo befennt Paulus.
4.
®ott bat feinen Namen. Gerade da-
rum ift Diefe3 zweite Gebot, das von
dem Heilighalten de3 gdttlihen Namens
{pridt, der ernjte Hinweis darauf, dah
wir all unjere Worte, unfere ganze
Sprade duch die tiefe Scheu vor dem
34
ewigen ®eheimnis reinigen und heiligen
laffen follen. Wes das Herz poll ift,
Des geht der Mund über. Die Sprade
ift die Offenbarung de3 Hergens. Haben
wir dafür Ginn und Ohr? Sind wir uns
deifen allezeit bewußt? In der Sprade
wohnt der Seift. Was für ein Geift ift
e8, der Deine Sprade formt und ge»
ftaltet, Der fid in Deiner Sprache äußert?
Die Sprade ift Had bödjfte geiftigfte
Mittel der Geiftesoffenbarung. In ihr
lautet da3 Leben unmittelbar. Die Worte
der Sprache find die Gefäße, in denen
uns die göttlihe Wahrheit Dargereicht
wird, Durd fie fann Sotte3 [ebendiger
Weift die Seele anrühren und befreien.
Wehe dem, der diefe Gefäße durdh ge-
danfenlofen Mifbraud in Gitelfeit und
unedtem Wefen zerbridt. Gr beraubt
fein Herz der Fähigkeit, Letztes und
Siefftes zu empfinden und im Gebet
Gott zu fhauen.
Im Gebet? Daß wir nie unter das
Oericht de3 Worts in der Bergpredigt
fallen middten: ,aud follt ihr nicht viel
plappern wie die Heiden.“ G3 gibt eine
beilfame Gelbftgudt und eine Uebun
gum Gebet, zur wahren Andacht un
Sammlung des Semiits. Grziehen wir
uns felbft, erziehen wir unfere Kinder
zur Mebung wahrer Andadt, und es
wird aus folden Stunden de3 Hörens
und der Rede Hed Herzens tiefe Weihe,
Reihtum und reinigender Gegen in alle
unfere Sage ftrömen. Da ift Sotted-
dienft, wo die Sprade zum Wort Sot-
tes wird, zur Offenbarung feine3 Na-
mens, Gott ift gegenwärtig, wenn fein
Wort Zeugen findet und gläubige Herzen
e3 bören und bewahren.
5.
Zuletzt nod eins: denfen wir einmal
dem nad, daß Sobanned ala das höchſte,
was er über fein Ghriftuserlebnis zu fae
gen bat, Ghriftus als das fleifdgewor-
dene Wort, al3 da3 ewige Wort des
Gaters an uns feiert. Mofjes wird ge-
fagt: Du fannft meine Herrlidfeit nicht
feben. Aber Iohannes bezeugt: wir fae
ben feine Herrlichkeit. Gott faut, gu
wem fein lebendige3 Wort fommt, wen
es bewegt, wen es bineinführt in die Ge-
meinfhaft der ewigen Liebe. „Was fein
Auge gefeben und fein Obr gehört hat
und in feined Menjhen Herz fommen
ift, das Hat Oott bereitet denen, die ihn
lieben“ Karl Bernhard Ritter.
Gin Briefwehfel
awifden den Redolutionen. 3.
Syieber Herr Günther. Die Briefe, die
Sie fürzlih an Ihren Freund M..n
ſchrieben, haben wir, mit Ihrer gütigen
Grlaubnis, in unferm Kreife vorgelejen.
Sie geben einer Grniidterung Ausdrud,
die allmablid unter den gebildeteren
Menihen um fih zu greifen beginnt.
Ich bin nist für eine Desillujionierung
im Sinne Heinrih Heine3, die nur auf
das nidt fonderlid intelligente Kunſtſtück
binauslauft, in einem geſchmückten
Pfingftodfen das Miftvieh zu erkennen.
Aber ih bin für die morgenfrifdhe Er—
nidterung, da nad meiner Grfabrung
aus ihr die ebrlidjte und guberlaffigite
Arbeit berporgebt. (Womit id feines-
wegs die Schauer der waden Mitter-
naht mit ihren Gefidten berabfegen
will.) Diefe Grniidterung gibt uns die
bon @ottfried Keller gepriejene „Unbe—
fdoltenbeit der Augen“ zurüd. Der
junge Arnold Salander ift nühtern, der
alte Martin Salander aber ift ein illu-
fioniftifder Bolfsbegliider. Diefen läßt
Keller über feinen Ideen zum Hans-
narren werden, jenen zu einem Weifter
des Lebens. Ih möchte wohl wiffen,
wie dieie3 weiſe Alterswerk de3 Biirider
Demokraten auf einen heutigen Gogial-
demofraten wirft.
Sie fdieben die taglide Selbſttäu—
fdung, daß der Menih vernünftig fei,
bei Seite. Sie fallen — und daa redne
id Shnen befonders an — nun nidt etwa
in den bequemen logiſchen ®egenfat „Der
Menfh ift unvernünftig“, fondern fagen
lediglih: „Der Menſch ift dumm.“ Aud
in Bezug auf die praktiſche Vernunft
wollen wir die alte Rationaliftenweis-
beit, daß der Menſch gut fei (mit der
nod im Jahre 1918 der wenig gute Le»
onbardD Grant eine ganze hunde Prole-
letariergeneration au’8 pbilofopbifde
®latteis Inden konnte) nidt in den fon-
tradiftorijden ©ezenfag umwandeln, dah
der Menſch böſe fei, fondern wir wollen
die Wahrheit treffen mit dem Gage: „Der
Menih ift nidt gut.“ Wir fprehen das
ohne jeden Gorwurf au3. Es ift nun
einmal nidt anders. „Ihr führt ins
Leben ihn hinein. .“
Alle Boridlagje, die Wirtfdaft plan-
mäßig gu ordnen und gu leiten, rednen
damit, daß der MenfhH über da3 Bee
dürfni3 de3 Tages hinausblide und daf
er binreihend innere Geftigfeit babe. den
Be-futunzen zur Bequemlidfeit und zur
Korruption, die jedes Planfoftem, aud
daz raffiniertefte, mit fid bringt, zu
widerfteSen. ®erade weil fie die „höhere
Gittlidfeit* (,Ausfhaltung Hes Egois—
mus“) alg ®rundlage der Planwirtihaft
nehmen, halten fih die Bertreter folder
Ideen ja für die Beförderer ded ,, Fort
ſchritts“. Wenn e3 nur fo einfad wäre,
fittlid gu fein, wie fittlid zudenten!
Denn jemals eine mit überlegter Ab-
fiht eingeführte Planwirtfhaft fid be-
währen fönnte, fo — hätte das Se
periment fe3 „Kriegsfozialismus“ glüden
müffen. Denn damal3 waren die fitt-
lihen Borbedingungen befjer denn je ger
geben. Damals fonnte aud das fime
pelfte ®ehirn bejzreifen, daß vom Funk⸗—
tionieren der Planwirtfhaft das Schid-
fal de3 ganzen Volkes abbing, damals
war e3 nationale Ghrenfadhe, planmäßig
eraft die wirtihaftlihen Anforderungen
aus edleren als ,egoiftifden* DBeweg-
gründen zu erfüllen. Dennod verfam
das ©anze in Korruption. Man redet
fid auf „Spftemfehler“ oder auf den gro»
fen Unbelannten, namlid „die Verhält-
niffe“, binaus. Dein, das Gpftem
felb ft in feinem Brinzip tft geichei-
tert. Die Leitung der Wirtfhaft von
oben her nach einem überfhauenden Plan
ift geſcheitert. G3 hat fid gezeigt, daß
fih eine erfolgreihe Wirtihaft nur auf
den Willen der Produzenten, nidt auf
den Willen der weifen Berteiler pom
grünen Sifh ber aufbauen läßt. Was
unter moralifdh fo günftigen Bedingungen
mißlang, wird erft reht miflingen in
ruhigen Setten, two jedermann fih darauf
verläßt, daß e3 auf ihn nidt fo genau
anfomme.
Sch felbft, als ein Seil des von Ihnen
angegriffenen „gebildeten Bürgertums“,
als einer, der in die Nationalöfonomie
bon Lujo Brentano zu Münden und in
die Politif von Friedrih Naumann ein"
geführt worden ift, habe damal3, als die
Brotlarte erfunden wurde, im ,Runft-
wart“ mit tönender Hoffnung den „Sieg
über Mandefter“ gefeiert. Seither habe
id ein paar Gingelverfude, fo etwas wie
„Planwirtſchaft“ im engen Bezirk ein-
zuführen, au3 der Nähe beobadten fün-
nen. Das Grgebnis ift fo einfad wie
iiberrafdend, namlid die3: eine jede Aufe
gabe zieht die zu ihr paffende Art Men-
fen jowohl an fih wie fih beran. Sa
einer auf Lebensangft und Ginfab auf-
ebauten Wirtſchaft bildet fid der Typ
des „Unternehmers“ heraus, der Mann
des Wagemute3, der Initiative, der her»
riſchen Kraft, in einer auf Lebensfider-
beit und Kompetenzen aufgebauten Wirt
fhaft aber entfteht der „Wirtihaftsbe-
amte“. Die ein Unternehmer ſeeliſch
zum Wirtfdhaftsbeamten werden Tann,
baben wir in den lebten Jahren in je-
dem SKrämerladen erlebt. Die Kunden
wurden niht mehr bedient, fondern ab»
gefertigt, die Ladenzeit wurde zu einer
möglihft abgefürzten bureaumäßigen
Shalteröffnung, an die Stelle de3 „Wo—
mit darf ich fonft nod dienen?“ trat der
Schnauzton und da3 Adjelguden. Aud
die Arbeiter fennen gar wohl den Unter-
ſchied zwiihen dem Unternehmer, Der
35
feine Perfon und fein Vermögen einfest,
und Dem Syndikus oder Direitor, der
„leine Stellung ausfüllt“.
Beide Typen, der Unternehmer wie
der Wirtihaftsbeamte, haben ihre Lidt-
und Schattenjeiten. Mir perjönlih find
die Zeitalter der Weltentdedungen und
Delteroberungen ſympathiſcher als die
Zeitalter des Wandarinentums.
Nun aber eine Frage an Gie: Sind
die Beftrebungen, zu einer Planwirt-
{daft zu fommen, wirflid in fo hohem
Mafe, wie Gie anzunehmen fcheinen,
aus den Neigungen des Mittelftandes
und der Arbeiterfdaft zu erklären?
Sreibt nidt vielmehr „die Wirtſchaft“
aus fied felbft mit Notwendigfeit
die Planmafigfeit hervor?
1g Island, als Amerika befiedelt
wurde, ftrömten die Wenfhen anfangs
— ein, wagemutige Abenteurer.
Seder ſuchte ſich den bequemſten Platz,
nahm an ſich, was er halten konnte und
mochte. Wir kennen die Pſyche dieſer
„Landnahme-Männer“ aus den alten Ge—
\hihten redht gut. Raſch wurde die Be—
febung didter. Nun entftand der Kampf
nit mehr nur mit der Natur, fondern
gwifden den Menſchen, e8 begann das
„Heldenzeitalter“. Se mehr Menfden fa-
men, je enger fie fi aneinander m
ten, um fo weniger beldenbaft wurde
der Kampf. Die Menfchen erfdHeinen
fiimmerlider, nidt mehr fo breit, voll
und ausladend, ihr Lebens fampf wird
zu einem bloßen Ronfurreng fampf.
Schließlich hat man fih abgefampft, man
„richtet fid ein“. Der Strom hat fein
Bett gefunden und, wenn er nidt von
der Quelle her verjiegt oder bon außen
ber geftört wird, fann er in die lang-
weilige Gwigfeit hinein immer fo weiter
fließen. Das Land hätte damit feine
Mandarinenepodhe erreiht. Die Men-
{hen nennen, unfritifd wie fie find, die-
fen Zuftand den ,fittlid höheren“ und
preifen die „Ordnung“ und den „Fort-
ſchritt“.
Iſt es nicht ebenſo mit der Wirtſchaft
überhaupt? Induſtrie und Handel, zu—
nadft oft in einer Unternehmerperjon
verbunden, erobern neue Wbfabgebiete:
Entdederzeit. Nun folgt der Kampf
um die Abſatzgebiete: das Heldenzeitalter
der Wirtidaft. Se mehr Bewerber auf
dem Plan erfdeinen, um fo fümmer-
lider, innerlich fleiner wird der Kampf,
und zu gleiher Zeit heben fid die gro-
Ben ale sol a der „Weltfirmen“ heraus,
die jo „Firm“ find, daß für fie der
Kampf zwedlos und reizlos if. Man
richtet fid) miteinander ein, teilt fid die
Beute, ordnet die Kompetenzen.
Aus dem Kämpfer-Unternebmer mit
36
Initiative und Wagemut wird der Be-
lg und Beamtete des RKartells,
feine Ghre befteht nunmehr nidt da-
rin, fih durchzuſetzen und zu behaupten,
fondern Darin, Die ihm zugewiejenen
Aufträge prompt und fahgemäß zu er-
füllen. G3 gibt alſo nit nur eine auf
®rund von Doftrinen organifierte, fon-
dern aud eine natürlid beranwad-
fende Blanwirtihaft.
Sft nicht die allgemeine Neigung zur
Kartellbildung, der Wille zur Organi-
fation gerade beiden Anterneh—
mern felbft das — daß wir
ſeeliſch aus dem Heldenzeitalter der
Wirtſchaft heraus ſind und dem Man—
darinentum zuſtreben? And ſind nicht
die entſprechenden Stimmungen im ge—
bildeten Bürgertum einfach der Ausdruck
des Zeitgeiſtes?
Dann ware die „Planwirtſchaft“
ſchließlich nichts als eine Reife-Erſchei—
nung und würde bedeuten, daß die Wirt-
haft — alt wird. Während wir auf
dem Gebiete der Pädagogik von der
Anſchauung zurüdtommen, daß das Kind
möglichft bald unfindlid werden und fid
mit allem Nahdrud auf das Greifen-
alter vorbereiten müjje („Wie gelange
ih zu einer gefiderten Stellung mit
Penfionsberedhtigung?“), während man
heute den Gigenwert jedes Lebensalters
zu würdigen gelernt bat, hält man in
der Wirt{ daft die ruhige, abgetlarte,
bequeme Greijenbaftigfeit für ein deal,
dem nadguftreben „ſittliche Pflicht“ fei.
Sch fann mid der Ironie gegen den mo-
raliihden Eifer der Planwirtihafter nur
{wer eriwehren.
Damit fomme id auf die biologifde
Sunftion des von Ihnen nidt ohne
Grund getadelten „geiftigen Mittelftan-
des“. Aber ih muß für heute den Brief
abbreden. Die nimmerjatte Druderei,
-Der Gerberus, der dem Schriftfteller un—
aufbörlih dräut, will Manuffriptfutter.
Ad, e3 waren fchöne Zeiten, als man
Jeine ®edanfen nod harmlos in Privat-
briefe verftreuen fonnte und durftel Da-
mals erbaute man fic) mitten unter pbi-
lojopbifhen Gedanfengdngen an dem
reigenden Spiel der Meijen, die fid an
der hängenden Spedihmwarte vor dem
Senfter bemühen, und ſchrieb aus dem
Herrgottsgefühl heraus, mit dem man
dem Jagen der Vögel am verjchneiten
Sutterhausdhen gufab. Nun aber muß
man foigniert erfdeinen und fadgemaf
fchreiben. Mit hergliden Grüßen Shr St.
Der Brud in der Sugendbewegung.
> das immanente Ziel der Sugendbe-
wegung eine , Sugendfultur“ im Sinne
Wynekens war, wollen wir dabingeftellt
fein laſſen; fiherlih aber war das Biel
eine jugendliche Aultur. Die Alters-
erfheinungen einer unbeweglih werden-
den, Sped anfebenden Welt trieben einen
beftimmten Seil der Jugend zum Bir
derfprud. Dem Bdeal der „geficherten
Sriftenz“ widerftrebte die jugendliche Luft,
allein Die eigene perjönlide Kraft als
Schidjal anzuerfennen und erwartungs-
froh einer ungewiffen Zufunft entgegen-
zuleben, wie der Wanderer ohne Land:
farte in ein unbefanntes Waldgebirge
eintritt. Die Welt der Konvention und
der berednenden Freundlichkeit, deren
Ideal die „eaſity“ des Lebens ift, war
von je der freien Anbefangenheit und
Offenheit der Jugend zuwider, wenig-
ftend der deutſchen. Es ift beadtens-
wert, daß niht die Landjugend, fon-
dern die Oroßftadtjugend in Be-
wegung fam. Denn in den großen Städ-
ten, niht fo febr auf dem Lande wurde
das Leben von den alt gewordenen
Golfsidhidten geftaltet.
Natiirlih fann eine Sugend nidt ohne
weiteres aus fid eine „neue Kultur“
berpvorbringen. Zunächſt bat fie nur
das Gegenſatz gefühl und den Willen,
e3 nun „anders“, miglidft entgegenge-
febt gu maden. Das ift ein rein Nega-
tives. Aber der pofitive Teil der Sue
gend fudte mit ridtigem Snftinft An—
fnüpfung bei der Kultur der biologiſch
jüngeren, alfo geſchichtlich älteren Schich—
ten des Bolfes. Das Wandern war
nod nidt „Kultur“, fondern zunächſt
nidts andres als ein inftinftives Zu—
rüdgreifen auf jugendlidere L>bensfor-
men (Bölferwanderung und Wifinger-
zeit). Man bedurfte aber mehr. Da fam
ebenfo inftinftiv die Wendung zum
Bolfslicd und Volkstanz. Aud Die
Tracht näherte fid) unbewußt mittelalter-
liden Kleidungswejen an. Die Jugend
fand — und das ift beweifend für das
Echte und Alngelünftelte der Bewegung
— in der Kultur Anfhluß an die ju-
gendlideren Zeitalter ihres Volkes.
Aber die Sugend wurde älter und
fonnte nicht immer tanzen und fingen.
Als das Bedürfnis nah Grfenntnis und
damit nad Weltanfhauung fid regte,
bemädtigte man ſich zunädft der ver-
Ihiedenen „Reform“gedanten; denn das
ergab jih leiht aus der urjprünglichen
KRampfftellung und — e3 ift jo angenehm
einfad, wenn man überzeugt fein darf,
dab fid das ganze Weh und Ad der
Belt aus einem Punkte furieren läßt.
Man fann fih fo hübſch erhaben fühlen
über ,Runft und Wiſſenſchaft“.
Wie Hätte die Gntwidlung der Ju—
gendbewegung weitergehen müfjen, wenn
fie der urfpriinglid eingeidlagenen Rich—
tung treu geblieben wäre und fid nicht
den Inftinft hätte verwirren laffen? Sie
hätte nidt bloß Kleidung, Bolfstang und
Golfslied erneuern, fondern im Anhluf
an die Refte der alten Boltsfitte wieder
Golfsfitte als Lebensgeftal-
tung fdaffen miiffen. Anſätze waren
vorhanden (Sobannisfeuer u. dgl.), aber
fie beſchränkten fid auf etlide Gefte und _
waren vielfah ſchon nit mehr frei von
Aefthetentum. Die Sugendbewegung ald
®anges hat nicht mehr den Lebensan-
ſchluß an die volksbiologiſch jugendlide-
ren Schihten der Bauern und Hand-
werfer gefunden, fie bat deren Lebens-
formen und Gitte nicht mehr der Grof-
ftadt (diefe damit zerfehend) aufzuzwin—
gen vermodt. Hätte die Jugendbewe—
gung Diefe Kraft gehabt, fo bätte fie
damit — die Grofftadt erledigt. Oder
vielmehr, da niemand die Gntwidlung
rüdwärts wenden fann, es wäre vielleicht
aus dem frudtbaren Kampf zwifchen
Sugend und Alter eine neue, jugend-
gemäßere gropftädtiihe Lebensgeftaltung
erwachſen.
Um das zu ermöglichen, hätte ſich
der Grkenntnisdrang der Ju—
gendbewegung nicht auf das
Abftrafte, ſondern auf das
Konfrete wenden müffen Man
hätte das lebendige Bolfstum in Braud
und Gitte, in feiner feelifhen So-beidhaf-
fenbeit, hätte Die Natur der Heimat er-
faffen und erfunden, hätte „Oeſchichte“ im
tiefften Sinne treiben miiffen. Man hatte
die feeliihe „Schichtung“ in der „®e-
ſchichte“ begriffen und hätte die Stelle
gefunden, wo Die — ſich „geſchicht-
lich‘ an das Vorhandene, wachſend und
fih-entwidelnd, hätte anſchließen können.
Statt deſſen aber wandte man ſich auf
dem Weg über ein oft allzu redtha-
beriihe3 Reformertum den „großen“ Re-
formideen zu, man ſchritt pon der Alko—
bolbefämpfung ufw. fort zur Weltbe-
glüdung in Menfhheitsmaßftab, zur „Re—
polution“, und merkte nit, daß man fid
in dem PBeftreben, natürlich zu werden,
pon der Natur entfernte und in die Ab-
ftraftionen gerade der biologiſch alteften
(alfo geihichtlich jinoften) Volkskreiſe
verlor. Man madte all die falſchen Ab—
ftraftionen des „Sozialismus“ und „Ka—
pitalismus“, die ,Klaffen“theorie, die ra-
tionaliftifhe Auffaffung bom Wefen der
„Geſellſchaft“', der „Arbeit“ uſw. mit.
Se weniger man die Wirklichkeit beob-
a@ten gelernt hatte, alfo je dimmer man
in Wahrheit war, um fo unbelafteter
bewegte man ſich mit den (meift fogar
ziemlih unficheren) logiſchen Flügeln in
den dünnen, bewegliden Lüften Der All-
gemeinbegriffe, der „Orundſätze“, des fo-
37
genannten „radifalen“ Denfens (das in
Wahrheit wurgello3 ift, da e3 feine
radice3, d. i. Wurzeln, im wirfliden
Grdboden hat). Man war auszezogen,
das alte Wefen und die Großſtadt zu
befämpfen, und war mit dem Galto-
mortale der WAbftraftion gerade in Die
Giele der rationaliftiihen ®emeinpläße
bineingeraten und half, den müden, more
{den Karren de3 adtgehnten Jahrhun—
dert3 weiterfdleppen.
Der innere Brud in der Sugendbe-
wegung liegt alfo dort, wo man von
der natürliden und geſchichtlichen Wirf-
lidfeit abfam und in dad Gebiet der
abftraften Theorien und Sdeologien hin⸗
überſchweifte. In diefem Webiet gilt
nur Die Logik, nidt mehr der Inſtinkt.
Darum wurde der. Snftinft unfider.
Gr Hatte fih in eine Welt begeben, wo
er der rein logiſchen Beweglidfeit nidt
gewadjen war. Aur ein mit Inftinkt
erfülltes, von (innerer und duferer) An-
fhauung gelättigtes Dentfen wie das goe-
theſche und fichteſche hatte die flüchtigen
Masfengeftalten der abftraften Welt ent»
larven und den Berftand gum Diener
und Helfer des Lebens mahen fönnen,
Durd dieſes Srregeben ift die Ju—
gendbewegung zu feiner nadbaltigen,
frudtbaren Wirfung in der Volksge—
{bidte gefommen. Wer hat Freude über
eine folde GEntwidlung der Dinge? Nur
F welcher — Schadenfreude —
at. t.
Neues oon Joſef Ponten.
Mi Joſef Ponten ift wieder ein echter
Sranfe in unjre geitgendffifhe Dich-
tung eingetreten: der Stamm, der von
Schickſals wegen zwiihen Deutihen und
Srangofen eingeflemmt am grünen Rhein
fißt. ei pon jeher gwifden germanifhem
und romanifhem Rulturftreben, zwijchen
unfrer SInnigfeit („wie will man das
Wort ins Sranzöfiihe überjegen?“ fragt
Ponten) und welfhem Gormtalent ver»
mitteln, bat freilid) aud) die fteten Rei-
bungen Der beiden Vachbarvölker an
feinem Leibe am ftärfften erfahren
miiffen. Bon Haufe aus weniger zur
Entiheidung nad der einen oder andern
Geite geneigt, bat er immer aufs neue
den Gerfud der Synthefe gemadt und
unferm eignen Sunftleben, unferm
Schrifttum zumal das bitter nötige
Sormgewiffen wad erhalten, ohne das
unfer fauftiijher Drang fih ins Oren—
gens und Gormlofe verlieren würde. Aud
in Ponten wohnt eine geradezu erftaun«
lide Bitalität, feine Augen können gar
nidt genug trinfen bon dem goldenen
Meberfluß der Welt: daber bat es ihn
aus der Heimat in die Ferne getrieben,
38
aus der Zioilifation in die volkstüm—
lide ©efittung, au3 der Menſchenwelt in
die LandjHaft — überallhin, wo e3 ete
wa3 mit der Geele zu ergreifen, mit der
eingebo:enen jhöpferiihen Energie um-
gugeftalten und zu verarbeiten gab.
G3 waren nidt immer überragende
@eftalten und fenjationelle Greigniffe, die
ibn „anregten“. Gernab von jedem Gnob-
igmus, weiß der Didter aus eigenen
Sugenderinnerungen etwa die Tragödie
de3 deutſchen Kleinbürgers zu gejtalten,
der an dem Gerluft der Ehre, d. 5B.
bier de3 Refpeft3, den man ihm zollte,
innerlihd und duferlid) zugrunde gebt.
Die enge Welt, in der fih doh gahnende
Abgründe öffnen, wird mit der außer»
ordentlihen atmofphärifhen Kunft ge»
{dildert, die wir an den beiten Dich—
tungen de3 rheinifhen Erzählers ftets be⸗
wundert haben, und die Sprade, die er
meiftert wie wenige, hält den Son des
@angen feft, ohne irgendwie in bagebü-
@enen Naturalismus zu verfallen. Die
Gejdhidte heißt: „Die Ahr von Bold“
und ijt in der viel terfprehenden No»
vellenfammlung „Der Falke“ enthalten,
die foeben in der Deutſchen Berlagsane
ftalt zu Stuttzart berausfommt. In der
gleihen Sammlung aber erfdien foeben
eine andre Erzählung von Ponten: „Der
Oletſcher, eine Oeſchichte aus Ober-
menfdland“, die von andern Gormfraf-
ten in feiner Geele zeugt. Grinnerte
„Die hr“ mehr an ein niederländiiches
Gemälde, fo glauben wir bier in einen
gotijden Dom zu treten: die wunder-
polle, in ehrwürdiger Langſamkeit und
erhabener Sicherheit ſchaffende Seu-
gungsfraft der Alpenwelt wird bis
in ihre feinften und zarteften Ausftrahe
lungen aufgefangen, mit einer Schärfe
und zugleid mit einem @lang der
{pradliden Gormgebung, der an die
beften Schöpfungen Pontens, etwa an
den „Meifter“ erinnert; aber wenn in
der Baumeifternovelle nod finftre See
walten der Menſchenſeele fih aufbäumen,
fo ift bier alles gemildert, alles auf
weide, dem Lrgewaltigen demütig fid
unterordnende Töne eingeftellt: wer das
Leben der ©leticheriwelt innerlid ver-
fpürt, der wird von felbft bejdeiden. G3
ift immer ein Seiden von hoher Mei-
fterihaft, einem Grlebnis wie Ddiefem,
der wunderbar fid fudenden DBlutliebe
und der brüderlihen Treue über den Tod
hinaus neue, tiefe, ftarfe Wirkungen ab-
= eiwinnen. onten erreicht es dadurd,
aß er aud) die innerliden Sriebfrafte
wie Naturmädte wirken läßt, daß er die
Hauptwirkungen nidt durd einzelne, et-
twa fentimentale Züge, fondern Durd den
Aufbau des ganzen Grlebniffes in feiner
unbeirrbaren Notwendigfeit berbeiführt.
Da3 gelingt ibm, weil er, in der
Baufunft duch lange Studien gefdult
und mit dem jharfen DBlid für, Statik
begabt, fid a einem Künftler der er-
zähleriſchen Architektonik entwidelt bat,
mit dem e3 wenige unter den Lebenden
aufnehmen werden.
G3 muß uns reizen, diefen Meifter
bei der Arbeit und — 5— außerhalb
des lite-a:iihen Bezirks beim unmittel⸗
baren Schauen und beim nicht-ſymboli—
ſchen ©eftalten gu beobadten. Dazu bie»
tet ein neues Bändhen die willfommenfte
®elegenheit, da3 foeben unter dem Titel
„Kleine Profa von Joſef Bonten“
bei Gr. Link in Trier erfdien. G3 ge-
bört der pon War Tau begründeten und
mit liebeopoller Hand und feinem Bers
ftändni3 für das GHte geleiteten Samm-
lung „Die Novelle“ an, obwohl e3 faum
eine Erzählung und gewiß nidt die befte
von ®Bonten enthält. Dafür aber bringt
dies wabrbaft fdftlide Büchlein eine
furze Gelbftdarftellung, die vielmehr ein
Runftbefenntnis und zugleih eine bee
deutjame Auseinanderfebung über Ddeut-
{men und romanijden Runftwillen ift,
und fie bringt ferner die auserlefenften
, Berlen Bonteniher Landihaftsihilderung.
&s ijt ja auf den erften Blid faum ver-
ftändlih, dab derfelbe Mann, dem die
gotiſchen Dome ihre lebten Seheimniffe
erfhließen, fid) in den vollen Zauber der
Landſchaft, der deutihen wie der grie-
Hilden, de3 Wils und des Rheins ver-
fenft; es ift eben dadurch miglid, dah
ibm aud die Steinmaffen zu leben-
digen —— lebendiger Kräfte
geworden ſind, daß er ihnen nicht bloß
ſtatiſche, ſondern auch dynamiſch⸗rhyth⸗
miſche Oeſetze abgefragt hat, ähnlich de—
nen, die er aus den geologiſchen Ge—
ſchieben unſrer Landſchaft abzuleſen im—
ſtande iſt. Ponten iſt ein Beobachter
mit unendlich vielem, ſehr eingehendem,
ſehr ernſtem Wiſſen, aber er belehrt uns
nirgends, ſondern er dringt mit ſeiner
Wiſſenſchaft in die Geheimniſſe der
Landſchaft ein und läßt ſie vor unſern
Augen aufquellen. Und nicht bloß die
Landſchaft, auch die Ortſchaft, die Stadt
wird für ihn lebendig, wird Ausdruck des
Volkslebens, Spiegelung der Geſchichte
und des Ringens der Völker und
Stämme. Solche Weiſterſtücke wie
„Deutſche Landſchaft und der deutſche
Wenſch“ oder „Der Rhein“ gehörten
eigentlid Deut in iede3 gute Schullefe-
bud): in die Schulflajjen gehören fie ao
beftimmt, aber voll genießen wird fie
erft der reife, der mit Tourer Heimat ver-
wadjene oder nad innigfter Berührung
mit ihr ftrebende Menfd. Und fo gibt
ed wenige Schriften, nod dazu bequem
und zu erihwinglidem Preife erhältliche
Schriften der ®egenwart, die fo unmittel-
bar zu un3 fprehen, die wir fo gern in
die Hand jede3 Deutihen legen möchten,
al3 dieſe landihaftlihe „Kleine Proſa“
von Sofef Ponten. Robert Petſch.
„Die alten niederdeutihen Bollslieder.*
Ste Grinnerung au3 den Tagen der
Kindheit: IH liege Sommerabends
im Bett. Da tönt Gefang leije die Dorf-
ftraße berauf, immer ftärfer und deut
lider. Dad find die Mädchen, die nad
der Tage3arbeit in breiten Reiben, Arm
in Arm, fingend durchs Dorf ziehn, vom
einen Ende zum andern und wieder gue
rid. Lieder mit unzähligen Gerfen, die
furze Melodie immer bon neuem anhe—
bend, bon Magd und Ritter, Liebe und
Tod. Was e3 war, ift mir längſt ver
funfen, ih böre nur nod den inbrünftig
füßen, eintönigen Aland.
Biele Sabre fpäter lernte ih „Volks—
lieder“ aus den Büdhern fennen. Dare
unter au plattdeutide. Sie haben eine
merkwürdige, tie‘e, dunfle GOewalt.
id zum erften Male auf das Lied ftoße:
„Naer Ooftland wille wi riden“, quillt
e3 mir fo heiß bob, daß id das Oe⸗
fühl nicht zurückhalten kann. nd now
immer hat das Lied nicht den geringſten
Teil von ſeiner Oewalt über mich ver—
loren. Stellen dieſe Klänge die Ver—
bindung ber mit den verſunkenen Gee
filden abge‘ebter ®efHledter? Und bes
ruht auf diefer Verbindung vielleidt die
unausfpredlide Wirfung der ,,Bolfs-
poefie"? — —
Aus den zerftreuten Quellen bat Paul
Alpers in einem Bande von 260 Geiten
„die alten niederdeutidhen Volkslieder“
gejammelt und mit Einleitung und wife
fenfdaftliden Anmerkungen im Quick—
born-Berlag in Hamburg herausgegeben.
Die Bezeihnung „niederdeutich“ ift fpradh=-
lid zu verftehn, alfo bollandijde und
flämifhe Lieder findet man bier nicht.
63 find im Wefentliden Lieder aus dem
niederfadfifden Stammestreis. Den viel
umftrittenen Begriff „Volkslied“ um—
grenzt Alpers in feiner Ginleitung in
der spare ridtigen Weife: Nicht
aus der Gntftehung fann man den
Begriff feftlegen — „das Golf Ddichtet
nicht, e3 dichten immer nur Dichter; aber
ebenjowenig find alle Lieder, die das
Bolt meiterträgt, Volkslieder. Was
Golfslied ift, erfennt man nur aus Stil
und Inbalt „Aus der großen Zahl
der bom Bolfe gefungenen Lieder heben
fih als beftimmte Gattung folde ber-
aus, die nah Inhalt, Stil, Sprache,
Melodie zum „Volke“, d. b. gu den
39
der gelehrten Bildung fernftehenden
Schichten, paſſen: Diefe Gattung nennen
wir Bolftslieder zum nterjhied
bon volfstimliden und G©ejellichaftslie-
dern. Das BolfsliedD empfindet und
fingt, wie das Golf empfindet und
* Darum fann man nidt be-
grifflid, fondern nur mit dem gefdulten
©efühl beftimmen, weldhes Lied ein
Bolfslied ift. — Wir möchten die Frage
bingufiigen, ob der von der Kunftpoefie in
der Wurzel verfdiedene Retz des Bolfs-
liedes nicht letzten Endes volfsbiologifder
Art ift, wie bei Marden und Gage aud,
darum abſichtsvoll nicht berzuftellen.
Alpers’ Ausgabe hält febr glüdlich
eine mittlere Linie gwifden den Anſprü—
den de3 Gelehrten und deffen, der fid
fblidtweg an den Liedern freuen will.
Aingebindert durd die Wiffenfdaft, in
ſchönem Druck, fann man die Lieder
lefen. Der ganze „Apparat“ ift nad
binten verwieſen. Die wiffenfdaftliden
Angaben find fnapp und flar: bas Nö-
tigfte über die Quelle und Herkunft,
fowie die Le3arten, die nidt nur von
orthographijher Bedeutung find. Gele—
gentlide Urteile über den Wert zeigen,
daß Alpers ein reines Gefühl für die
Echtheit und didterifdhe Tiefe hat, wie
fie nur aus hingebender Liebe zum Ge—
genftand erwägt.
Der Herausgeber hat recht, wenn er
die ernfte, {were Ballade und das
Spott- und Sherzlied für die Pid-
tung bält, die dem niederdeutiden Bolt
am beften gelingt. Die meiften Lieder
find ja alte eberjeßungen aus dem
Hohdeutihen, zum Teil aud aus dem
Niederlandifden. Aber das Gigene, an
Zahl gering, ift dod in den genannten
®ruppen an Wert bedeutend. Die Bal-
laden ſcheinen mir da3 wertvollfte Sut.
Schade, daß wir von den niederdeutihen
Heldenliedern nicht mehr haben, das Lied
bon Dietrid und Grmentrid läßt ahnen,
was e8 einft gab. „De Berner leet fid
toapen / fülftwölfte finer Mann, / Sam—
mit unde Giden tigen / fe aber er
Harnst an. / Se fetteden up er Höpet /
van Giolen (Geilden) einen Kranz, /
do ftünden de Heren all twölve / eft fe
mafeden einen Danz.“ Das ift Dichtung,
die befteben fann.
Die ſchönſte Ballade ift wohl die
von den beiden Königsfindern, fie über-
trifft weit die hochdeutſche Faſſung. Die
Worte: „Et was up een Sunndage Mor-
gen, de Lüde wören alle fo fro...“ in ihrer
Mifhung von Sonntagsfeierlichteit, Mor-
genftimmung und dunkler Todesweibe find
einzig in der ganzen deutſchen Dichtung.
Snfaglih tief ift aud das Lied mit der
Mutterflage: „Id hebbe fe nidt up de
40
Scholen gebradt...“ Zwei der berrlid-
ften Balladen geben wir porn als Proben.
Das dithmarfijdhe Lied von Herrn
Hinrih und feinen Brüdern ift eine
wirflide „Ballade“: ein Zanzlied.
Die Leute fangen e3 zum Tange. Man
fann die Bewegungen aus dem Wort-
Hang faft refonftruieren. Fühlt man nicht
das grimmigenaddritdlide Achſel- und
Ellbogenjhütteln und Guftrampeln in
den Worten: „Wi willen nenen MWede,
wi willen nenen Win“? Und dann das
trogige, ſchwere, zweimalige Aufftamp-
fen: „oull grone“. &3 folgt das aufbel-
lende: „wi willen eines Goldſchmedes
Dodterlin ban“, das in den hell und ſüß
ausflutenden Kehrreim mündet: „de van
adeliden Rofenblomen!“ Der ganze
Tanz befteht in dem ®egenipiel von
Stoß und Weichheit, dunkler Srimmig-
feit und heller Schönheit. Sede Strophe
(außer der vierten und fedften, die nur bon
Madden zu fingen find) beginnt grimmig
und geht in den gleihmäßig füßen, rei-
nen Kebrreim aus. Sede fängt gleichjam
mit Männerftimmen an und flingt in
Mädchhenftimmen aus.
Gon fdauriger Größe ift das „Ioten-
amt“. Der @eliebte ift vom Nebenbubler
erihlagen worden. Das Madden trägt
den Soten (den gegen den elterlichen
Willen Geliebten) erft vor das verſchloſ—
fene Gaterhaus, dann in die Verſamm—
lung der Herren. Groß fteht fie da vor
dem PBater und den andern, dod in her-
bes Schludzen endet die bittere, faft
ironifhe Anrede: „..de mi diffen Doden
begraven helpen fann, de mi diffen Do-
den — ja, Doden.“ Aber die Herren
bliden fie nur ſchweigend an — fein
Beiftand, fein Laut! Weld ein Anblid!
nd dann das Abwenden: „Dat Megde-
fen ferde fi umme / unde fe ginf wee-
nend ut“ und gräbt dem Geliebten das
@rab „mit eren fohneewitten Henden“. —
Die Hauptmafje de3 Budes maden
natitrlid die harmloſeren Liebeslieder
(darunter einige intereffante „Tagelie—
der“) aus. Gin wenig bedaure ih e3, daß
Alpers den Begriff des Bolfsliedes ge-
genüber dem biftorifhen und geiftliden
Liede fo ftreng inne gehalten hat. Wir
bätten aud diefe gern in einer folchen,
den Laien zugängliden Sammlung. Biel-
leiht entſchließt fih Alpers zu einem
befondern Band? Und ferner — Die
niederländiihen Lieder wünſchen wir uns
in einer gleihen Ausgabe, in gewiffer
Weiſe gehören fie doch aud dazu.
Das Bud ift ein ſchönes Beifpiel
dafür, wie Wiffenfhaft in lebendig fort-
wirfendes Leben gewandelt werden fann.
Das ift Dienft am deutſchen Bolfstum,
wie wir ibn brauden. Ot.
Strafburgs Münfter.
t gotifhe Bauftil ift eine fo ein-
dringlide Schöpfung, daß fpatere
Geſchlechter nidt müde werden, für feine
Gigenart nad Grflarungen und Griin-
den zu fuden. Auf folde Bemühungen
ift pon mir bereits im „Peutfchen Bolfs-
tum“ vom Geptember 1921 (Gine Reife
im Gadfenland) bingetwiefen worden.
Bor furzem nun fam mir eine ganz neue,
höchſt bedeutfame Aeußerung der Ari
zu Sefidt: die Bündelpfeiler mit ihren
jich verfchlingenden Nippengewölben feien
Abbild Hes altgermanifhen Welten-
baums (Otto Ludwig Wolff: Odin und
Shriftus. Sellingftedbt 1922. ©. 62). Es
nimmt wohl der Berfaffer an, daß une
bewußt alte Borftellung dieſes Tra-
gers des Weltenalls zur Form der Trä-
ger (Stüten) der Gotteshalle führte. Da-
Durd wird fie felber zum Ginnbild un—
endliden Alls, in dem Die Gottheit
wohnt. Gine ganz wundervolle, fider
zu Recht beftehende Beziehung ftellt der
Bedankte ber. LInendlidfeit de3 Raumes
ift tatfadlid das Wirkfame im weithal-
fenden gotilden Dom und Halt und
Haft der Lnendlidfeit ift ewig griinend
die ftarfe Paadrafil. Wud die germa-
nifhe Wobhnballe wurde ja um einen
Baum gebaut, und aud das in Bezug
zum Weltentrager.
Merfwürdig und die Geele zauber-
baft umftridend mifhen fih im Sotifden
finnlides, blithendes Leben und entftoff-
lidte Geiftigfeit Der Baum mit feinen
Aeften baut den Dom wie dämmernde
lidtdurdhwobene Waldheimlidfeit, und
Ranfen und Blüten fpriefen überall aus
feinen Zweigen. Kommen wir aber bon
der Dorftellung „Haus“, fo fehlt Die
Mauer, die Maffe; wir finden Linien-
gewebe. In förperlofen SKraftjtrahlen
fügt fih die Halle zum Bau, ihre ley-
ten, garteften Beräftelungen find das Ge-
ftäbe de3 Maßwerks. Wollen wir nun
von Ddiefer feinen Geiftigfeit aus aud den
Beg in unfere altgermanifhen ©ottes-
vorftellungen gehn, fo dürfen wir viel-
lfeiht verbinden: Kraftvoll und derb wie
der gewaltige Thor erhebt fih das vor-
gotiſch⸗germaniſche Gotteshaus (älſchlich
»tomanifd“ genannt), in ekſtatiſcher Gei—
ftigfeit loht inbrünftig die ®otif auf, als
wäre fie geweiht Odin, dem Geelenent-
führer, dem Rafenden, der den Raufd-
tranf der Didter und Denker trinft, der
fein eines Auge um Wiffen gab.
Soviel vom Bau. Sn den Bweigen
des Baumes, im unendliden Raum des
Als, des gottdurdgeifteten, fließt es
über pon Lebewefen. Menſchen und Tiere
und Dinge wadhjen überall. Sie in ein
®eranie von Pflanzen und Bändern au
binden ift ausgefproden germanifde
Runftart feit alters, feit den Tagen der
Bölfertvanderung und de3 „romanifchen“
Stils. Aus Seranfe, Gewebe, Geflecht
tauchen gebeimnispoll Geftalten auf und
verfinfen, Bild ewig fic) mandelnden
Werdens, unendlichen ſchöpferiſchen
Dranges aus letztem göttlichem Grund.
Aud das Hangt fiher aufammen mil
der Borftellung der Weltenefhe. Go
find gotiſche Dome, die Waldhallen, qana
erfüllt pon fproffendem Leben. nd fe
reid) quillt und überftürzt e3 fih, daß
man den Gindrud unerihöpflihd aufrau-
fhender Erfindung befommt, Gindruct
nicht endenmwollender zeugeriiher Frudt-
barfeit.
Go ift es aud in Straßburg. Und
fehn wir uns die GSteinbilder dort ae-
nauer an, fo erfennen wir als ihr be-
fonders Giaentitmliches feine feelifche
Sartheit. Gs ift das Holde deut-
fden Weſens. das in ihnen Geftalt ae-
tinnt, in Bamberg und Naumhura Sieht
alles fräftiner ans. @otifche Menſchen—
bildung ftrebt überhaupt je länger, je
mebr zum Seinen, ja Leberfeinen. Bm
Rheinland wird der Zug tm meiften
betont, am längften beibehalten. Süße
Anmut, die auch fonft natürlih in
deutfchen Gauen nicht fehlt, bier tritt fie
befonders verbreitet hervor.
Wir tun einen Blid nah Frankreich
hinüber. G3 ift das Urfprungsland der
@otif; Franken, Normannen, Burgun-
den haben fie geſchaffen. Man fpridt viel
pon franzöſiſcher Grazie, und e3 tware
wohl niiblid, fic) einmal darüber flar
au werden, worin jene fich bon deutſcher
Anmut unterfHeidet. Dazu fonnen uns
die Straßburger Werfe helfen. Obwohl
in der Zeit der Gotik der Gharafter
franzöfifher Kunft fih noch fehr deutich
zeigt, gibt es Dod) aud) damals fdon
in der Haltung der Gteinbilder einen
leifen Anterſchied. Das ausgeprägt fran=
zöſiſche Weſen, ausgeprägt franzöfiihe
®ragie vollenden fic) aber erft im Ro-
fofo. Da befommt Franzofentum das
Mebergewidht und aud) Deutſche nähern
fih franzöfifhem Gehabe. Der Anter—
ſchied befteht darin, daß deutihe Anmut
innig und feelenbaft erbliibt wie unbe-
wußte Shönbeit frommer Blumen, fran-
göfiihe Grazie gefellihaftlih bewußt und
onpentionell auftritt.
Seihihtlih erleben wir in der Wand-
lung trauriqe3 und abfhredendes Bei-
fpiel, wie Granfen zu Sranzofen werden
fönnen. nd baben wir uns aud in
Deutihland eine Zeitlang verirrt, wir
fönnen zurüdfinden zum Märchenland
41
deutiher Anmut mit Hilfe unferer Kunft.
Lieblih ernfte ©eftalten der Rirde und
der Shnagoge, fanfte und hoheitsvolle
Srauer der SKlagenden am Sotenbett
Marien3 in Straßburg, fie atmen die
Reinheit deutfher Seele. Grftaunlid
ift es, wie der unbefannte Meifter fo
fadt und tief in3 ®emüt greift. Sein
Gefühl umfdhimmert die Seele und den
Leib — und aud dad Kleid. Aud das
arme, dod ftofflid tote Gewand wird
lebendig. Aud in ibm träumt jener
linde Grnft und eingeborene Adel. Die
feinen Schleier umfangen feufch und innig
die finnenden Geſtalten.
Maria Grunewald.
Der Beobachter
die Deutihen find von Natur häufig
Abermannden, Wenn irgend eine
entiheidende Sat gefdiebt, die ihnen nit
paßt, wenn ein Mann erfdeint, der
ihnen nidt bequem ift, fo fagen fie gue
nädft einmal: „Aber —!* Iſt er offen»
bar intelligent, fo fagt man: „Aber ob
er aud) Kraft genug bat?“ Sit er offen-
bar eine Rra‘tnatur, jo fagt man: „Aber
ob er aud flug genug ift? Man erfennt
nur Saten an, die man felbft aud ge-
tan bätte (alfo unentjhiedene), man ere
fennt nur Männer an, Die einem „nah
dem Herzen“ find (alfo fpiefige). An
Diefer Wbermanndenbaftigfeit bat fid
mande gute Sat totgelaufen, ift mander
tidtige Mann gejdeitert. Statt Din-
gugeben, zuzupaden und zu belfen, ftebn
fie Hug daneben und fagen: Aber...
IS ac find das deutide Bere
erben, a
“Te botanifhen ®arten bodt ein Rot-
fehlhen auf einem Straud, der aus
Der friſchen Schneedede hervorragt. Sch
will mein Frühſtück mit ihm teilen. Aber
fobald das erfte Brödlein durd die Luft
fliegt, furren Gpagen bon den Bäumen ber-
ab und einer aus der Spabenf Har erwifdt
das, was nidt für ihn beftimmt war.
So dicht ih Dem Rotkehlchen die Bro-
famen por den Schnabel werfe — fie
werden immer eine Beute der Sperlinge.
Das Rotkehlchen fliegt auf den nadften
Straub und fieht mid gleihjam traurig
und pornehm an. Ih verfude alle mög-
liden Künfte, ibm zu helfen, bis — mein
Srühftüd völlig in den Sperling3magen
verfhiwunden ijt. Das ift das Schidjal
alles &dlen auf Grden. — Wie denft
da3 RotfehlHen über den Spa? And
wie der Spas über das Rotkehlchen?
Sweifellos Halt das alles beichmitende
Spatenvolf, da3 überall in der Welt
durdfommt, fid für das klügſte in der
ganzen Gogelbeit. Und ift überzeugt,
daß der liebe Gott ibm feine Anpaf-
fungsfünfte nur deshalb verliehen babe,
weil er — fo gerne den herrlichen
Spagengefang bört.
42
abemus dictatorem! Bernhard Rele
lermann heißt er, der die Zeit vere
ftebt. Als Krieg war, fhwärmte er als
Kriegsberihterftatter für Die Generale,
und bejang den „Krieg im Argonner-
wald“. Als Revolution war, pried er
in feinem diden Roman „Ber neunte
November“ die rote Sahne überm Bere
liner GHlof und fpudte auf die Genes
raéle. Als die neue Freiheit in SHnibe
ler8 „Reigen“ auslief, befam Rellermann
es mit der Grotif und fervierte dem
Bublitum bei AUllftein „Schwedentlees
Abenteuer“. Nun, da der Zeiten Weifer
auf Diktatur ftebt, präfentiert er fid für
den Bedarfsfall im Neujahrs-Leitartifel
des Berliner Sageblattes. Mit fünf Ko»
loffalgedanfen eröffnet er das feller
mannſche Zeitalter: 1. Steigerung der
landwirtfhaftliden Produktion um mine
deftens die Hälfte. (Mindeftens!) 2. Bere
größerung der landwirtjhaftliden An—
bauflade. 3. een des Abjahes der
induftriellen Produktion im Inland. 4.
Spezialifierung und Veredelung der ine
duftriellen Produktion für das Ausland.
5. Klare Auswanderungspolitif und Bee
völferungspoliti. Da ftaunfte! nd
wie wird er vorgeben! Kellermann bore
neweg, alle andern binterdrein! Gr
{hreibt: „Die Fachleute fagen: Werden
Sie denn genug Leute haben, die mite
maden? G3 ift nicht jedermanns Gade,
in der Lüneburger Heide oder in einem
Walde zu haufen. Ich werde antworten:
Hunderttaufende werde id finden, die
nad Betätigung lechzen. Ich werde die
Sugend aufrufen und begeijtern, wenn
die Eripadjenen ftumpf geworden find!“
Gr madt alle3 aus der Lamang. Leber
den fünften Punkt gerbreden fih Die
Leute jahrelang den Kopf. Kellermann
weiß Rat, er defretiert: ,Aud das Rae
pitel: Klare Ausmanderungs- und Bee
völferungspolitit bedarf feines beſonde⸗
ren Kommentars. Zu diejem Puntte fei
nur eine Bemerfung erlaubt: dem Aus—
wanderungsmilligen fehlt meiftend Bors
bildung und Geld.“ Stem: bilden wir
den Amerikanern ihre künftigen Bürger
aus und geben wir ihnen das nötige
Geld mit hinüber. Bafta. Fragen wie
Sefdhloffenbeit der deutſchen Giedlung
uf. intereffieren im B. 3. weiter nidt.
Die Bergrdferung der Anbauflahe ftellt
er fih (abgejehen von dem unvermeid-
lihen Rezept der „Moorfultur“) fo vor:
Man badt die Wilder ab, baſta. Zu—
leid idealer Srjat für Kohlen und Bri-
ett3. Sm Srunewald, im Srunewald is
Holzauktion! Da fhon der alte Riehl
fih über die Wälderabhader, die bei
jeder Revolution auftreten, luftig qemadt
bat, ahnt er nift. Tut nichts. Aus den
Spalten de3 Berliner Sageblattes blüht
das neue Zeitalter auf. Kellermann wird
uns herrlidften Zeiten entgegenführen.
Ave Dictator!
Se fürzlih geftorbene Geheime Ree
gierungsrat Ridard Witting, Bore
fibender de3 Auffihtsrates der Natio-
nalbanf für Peutihland, früher Her—
renbausmitglied, ein Bruder des Liter
taturprofeffors Witfomsti und Waxi—
milian Hardens, war, wie man das zu
nennen pflegt, eine ,befannte politifde
Perfdnlidfeit*. Gr arbeitete, wie Gieg-
fried Sacobfobn in der ,, Weltbihne“
(Nr. 1) mitteilt, zuletzt an einer deut-
fhen Geſchichte, die — meint Sacobfohn
— „zu unferm Schaden nidt über die
erften Kapitel hinaus gediehen fein
dürfte.“ Lim „über die Tendenz zu
unterridten“, verdifentlihdt Jacobſohn
einen Privatbrief Wittings, der den Bei—
fall zu einem Aufſatz Flakes ausdrüdt
und u. a. Solgende3 enthält: „Nur in
äwei Punkten weihe id von Flake ab:
wl. Sidte. Er war, nadjt Luther, das
allerſchwerſte Unglück diefer fo ſchwer
eſtraften Nation. Seine „Reden“: ein
eerer, wilfter, halb oder dreiviertel pin
Hopathifdher Quatſch, den leider nur ganz
Wenige gelejen haben. Gihte war frei-
lih nicht aud nod perfinlid feige, wie
die me ften unfrer „nationalen“ Giganten,
aber er tourde die Hauptquelle diejes
findijdh-wahnwigijen Größenwahns, der
in dem fleinen, in vielen Dingen höchſt
Häglihen Deutidland den Nabel der
Welt jab. Gidte war tapfer und gut in
Sena; er wurde — wie fo ziemlih aus-
nabmslo3 Alle — widerlih in der Sau-
en-Atmofphare der Berliner Univerfi-
tät. Dort ,,befrudtete* er, zujammen
mit dem berzig lieben Hegel, AUlle:
Ranfe und Dropyjen und Sybel und —
Treitidfe, bis herunter gu Leng und
Meinefe. Grade die vielgerühmte „Ipe-
fulative“ Bhilofopbie, einfhließlih Kants
„praftiide Bernunft“, bat und mit da-
a geführt, wo wir find. (Man erinnere
th hierbei an Profeffor Witlomstis
unwiffendes ®erede über Kant im Ret-
gen-Brozeß. D. Beob.) Alfo: Nieder
mit dem Gidte der „Reden an die
deutfhe Nation“, mit dem berliner Fich—
te. &3 ift Dadfelbe wie mit dem Luther
nah 1525; nah Worms, was aber aud
fon nur fo, fo war. 2. Glafe fagt
treffend: Die Nation ift forrupt, ift ver-
dummt, bat fein Gerbaltni3 gum Mo—
ralifhen. Ausgezeihnet! Aber er nennt
die Deutfhen aud „Ihmwerfällig“. Das
find fie, glaube ih, in ihren enticheiden-
den Schichten: Intelligenz (?) und Bour-
geoifie Durdaus nidt. Der „deutſche
Michel“ exiftiert nur in völkiſchen Hirnen.
„Doof, aber geriffen“ bat meine Tochter
Gybille fon vor Jahren gejagt. Pie
Maffen find zwar intelleftuell dimmer,
dafür aber tehnifh beifer als andre
Galfer und ethifh ihnen etwa gleich“
wertig.“ — Witting ift von der jüdijhen
Breife bei feinem Tode fehr gepriejen
worden. Jacobſohn meint, er fet gum
KRultusminifter fowie zum Finanzmini-
fter (Kultur und Finanz — ecco, jagt
Alfred Kerr) befähigt gewefen. So alto
fpriht ein gebildeter Sude, der in
der Oeffentlidfeit ein Deutſcher zu fein
beanfprudt, im vertrauten Kreiſe friner
Boltsgenoffen über Deutfhes. Weld
eine Enge de3 Herzens und des Geiftes,
welche Unfähigkeit de3 Ginfühlen3 und
der Iogifhen Kraft! Aber wir ages
nidts über die Kritif Wittings an den
Deutiden — die ift ibm natürlich unbe»
nommen —, wir fagen aud nidts über
Die etwas verlaufte Wusdrudsmeife, aber
wir weifen naddridlid auf den infere
naliſchen Haf gegen gewiſſe bedeut-
fame Qualitäten de3 Deutiden Wefens
bin, die fih in Luther, Kant, Fidte, He-
gel manifeftierten. Und wir ftellen fol-
a Sragen: Grftens: Was wiirden
ie Juden fagen, wenn ein gebildeter
Deutidher fih derartig über bedeutende
Grjdheinungen ded jüdifhen Oeiſtes ere
ginge? Antifemitismus, würden fie fa-
gen. Folglich nennen wir Wittings Haß:
Antigermanismus. Zweitens: Wer gibt
uns Giderbeit, daß andre Juden, Die
einen bedeutenden Ginfluß auf Die
deutfhe Politif ausüben (wir denfen etwa
an Freund im Auswärtigen Amt) in
ihrem vertrauten Kreife nicht ebenjo über
Die Deutfen und das Deutſche urteilen?
Hierauf wiſſen wir feine Antwort. (Zur
Pipdhologie Wittings geben wir folgende
Worte Sacobjohns wieder: „Der zärt-
lidfte Bater war duch den Kriegstod
eines Sohnes leidenfhaftliher Pagifift
eworden; das alte Mitglied des Herren-
Raita batte fid, ſchwer enttäufht von
der Schlappheit feiner Deutiden Demo-
fratifhen Partei, wenigftens innerlid bis
43
didt an die A. S. P. D. heran
widelt.“)
x Dderfelben Nummer der „Weltbühne“
teilt Siegfried Sacobfohn über den
durch fid ſelbſt gefennzeichneten Geheim-
rat Rihard Witting mit, er habe 1917
zufammen mit Hugo Preuß den
Entwurf einer neuen Verfaſſung verfer-
tigt (und ein halbes Sabr por der Rez
volution dem Herausgeber der „Welt-
bübne“ felbft vorgelefen). Gr babe den
Entwurf (1917) „Den mafgebenden Stel—
len übergeben“ und fie gedrängt, die
Berfaffung (mitten im Kriege) zu ändern.
Mutet man uns den naiven ©lauben
zu, daß ein Mann, der von fo infer-
nalifdem Haß gegen das Reinfte und
Echteſte im deutihen Wefen erfüllt ift,
das getan babe aus Liebe zu unferm
Bolfe? Sit es Antifemitismus, wenn
man fid der Vermutung nidt erwebren
fann, daß er damit andre Abjihten
verfolgt babe? Abermals zwei Fragen.
Grftens: Was bewog die beiden Herren
Witting und Preuß dazu, im Sabre
1917 eine neue deutfhe Gerfaffung zu
verfertigen? Zweitens: Llrteilt Herr
Profeffor Hugo Preuß, der den wiſſen—
{dhaftlid wie praftiih unzulänglichen
Weimarer DBerfafjungsentwurf (denjel-
ben, den er mit Witting zufammen-
braute?) vorlegte, in vertrauten Briefen
ebenjo über „jein“ deutſches Bolt?
Da aller guten Dinge drei ſind teilen
wir aus dem oben erwähnten Vach—
ruf Safobfohns auf Witting nod fol-
gende Gabe mit: „Scharf, Hug und gründ—
lid legte Ridard Witting an Diefer
Stelle (in der „Weltbühne“) politifche
Anfihten dar, deren Radifalismus auf
einen Dreifiger deutete. Den Sechziger
befundete einzig Die Abneigung, ſich dureh
Züpfung feines wohlgewählten Pſeudo—
nyms einem Sagesfampf auszufeßen, def-
fen Durchführung die Erfüllung feiner
Hauptberufspflidten gefährdet hätte —
und das hätte fie, da Die Artifel in
ent⸗
ihrer Geſinnung dem Briefe glichen, den
ih bier abdrude. (Siehe oben!)“ Alfio
Derjelbe Witting, der in feinem Briefe
die Nationalen der Geigheit und „jchmie-
rigen Verlogenheit“ bezidtigte (gelegent-
lid nennt er fie aud „Laufejungen“),
der ©eheime Regierungsrat und Vor—
fißende de3 Wuffidtsrates der National
bant für Deutſchland Witting, fdrieb
anonyme Aufſätze im Geifte des zi—
tierten Briefes. Schreiben Herr Freund
und Herr Preuß aud anonyme poli-
tiſche Aufſätze und verihmähen aud fie
es, um der Grfillung ihrer Hauptberufe
willen ihre „wohlgewählten Pſeudonyme“
zu „lüpfen“? Wir fordern, daf
alle anonyme Schriftftellerei
bei fhwerer Strafe verboten
wird Gin Mann — ein Wort! „Wohl
ftebt Dir das grade Wort, wohl der
Speer, Der grade bohrt, wohl das
Schwert, das of fen fidt und von born
Die Bruft durchſticht.“ Aber Grnft Moritz
Arndt gehört ja aud zu der bafjens-
werten Nation der Luther, Kant und
Fichte. Gr hatte fih nod nit zur Mo—
ral der „Pazififten“ aufgefhwungen.
n illuftrierten Blättern finden wir
neuerdings öfter große Bilder, die
uns vorführen, wie Menjdenfreunde, be-
fonders Amerifaner, Alte der Woblta-
tigfeit an den poor little ®ermans voll»
bringen, 3. DB. im ,,Weltfpiegel des
Berliner Tageblattes eine reizend grup-
pierte Szene, welde Die PBerteilung von
Nahrungsmitteln an Schulkinder darftellt.
Darunter Iefen wir: „Frau Harriet
Kreisler, die Wattin Fri Kreislers, in
einer Berliner Shule“ Uns fällt dabei
die Bergpredigt ein. Wir lefen Matth.
6,2: „Wenn du nun Almojen gibft, follft
du laſſen vor dir pofaunen und Photo—
graphen und Rino-Operateure herbeiru—
fen, wie die Gdelmiitigen tun in den
Schulen und auf den Gaffen, auf dah fie
von den Leuten gepriejen werden.“ (Lu—
ther hat e3 merfwürdigerweije etwas an-
ders itberfebt.)
Zwieſprache
Wr beginnen das fedfte Jahr mit
einer größeren Rüd- und Borfdau.
Da das neue Sabr eine Anzahl politifde
Wahlen bringt, wird e3 von milden
Kleinfämpfen erfüllt fein. Mande Bei-
tungen, allen voran der „Vorwärts“,
baben bereits die Neujahrsnummer dem
„Wahltampf“ gewidmet. Wir beginnen
ungefähr mit dem ©egenteil eines Wahl-
auffabes und laſſen es achſelzuckend ge-
44
ſchehen, wenn man e3 uns fo auslegt,
alg ob mir refignierten. Der Gieg
unfrer Gedanfen bat mit dem Partei-
wejen nichts zu tun und hängt nidt von
den Stimmenverhältnifien in den Parla-
menten ab. Wir ftehn in dem Kampf
der werdenden Zufunft mit dem adt-
zehnten Sahrhundert, in dem Kampf um
die Gigenform und — des
deutſchen Weſens gegenüber der Auflö—
jung in gefd@idtslofe und darafterlofe
Menihbeitlidteit. Wir feben nicht ein,
warum die Gogialdemofratie fo frampf-
baft am adtgehnten Jahrhundert haftet.
Eine gewiffe Oppofition meldet fish ja in
dem redt friihen „irn“. Sogar das
„Hamburger Echo“ forderte neulich an—
ftelle der Gormaldemofratie „eine Der
deutihen Natur gemäße Verfaffung. War
es eine verflogene Schwalbe oder war es
eine Schwalbe, die den Frühling an-
fündigt?
Zum Thema gehörte eigenilid ein
Eingehen auf zwei duferft wichtige na-
tionalpolitifhe Bücher, die fürzlih er-
fhienen find, auf Moeller van Den
Bruds „Da3 dritte Reih“ (Ring-Berlag,
Berlin) und Maz Hildebert Boehms
„Suropa irredenta (Reimar Hobbing,
Berlin). Wir haben fie nod nidt be-
riidjidtigt, da wir beiden Werfen einen
eigenen Auffag widmen möchten. Ginft-
weilen weifen wir unfre Lefer nur darauf
bin, daß fie an Diefen Büchern nidt
porübergehn dürfen.
Auf die Miindener Vorgänge find
wir im einleitenden Auffag nochmals furz
zurüdgefommen, da fih in ihnen wie
in einem Punkte faft alle nationalen
Hoffnungen und Ablebnungen freugten.
Wenn wir fie mit gewijfen Erſcheinungen
nad den fFreibeitsfriegen in Parallele
ftellen, fo tun wir das um der Gre
fenntnis willen, ohne damit Wer-
tungen auszudrüden. Was Die betei-
ligten Berfönlichkeiten betrifft, fo betonen
wir: Gine eiftung, wie Hitler fie in
fünf Sabren aus ficherlih reiner Be-
geifterung vollbradt bat, verdient Ach—
tung. Wir haben früher, aufgrund von
Zeitungsberichten, gelegentlih ſcherzhaft
pon der Hitlerei gefproden, aber, nad-
dem wir Hitler felbft reden gehört, bal-
ten wir ihn für einen Wenfden, der red»
lid fein Beftes gab. Da er feinen Gr-
folg batte, ift e3 leicht, ihn gu verurteilen,
Wenn die, welde über ibn berfallen,
nur balb fo ebrlid wären wie er! Was
Ludendorff betrifft, fo ift er ohne allen
Zweifel perfönlid ebrenbaft duch
jene Tage gegangen. Gr ift nur mitge-
gangen, alg Die DBertreter der höchſten
ayriſchen Gewalt aud mitgingen. Daf
er nicht auf einen halben Wink hin fein
Wort zurüdnahm, madt ihm Ehre, nicht
Unehre. Man follte das Politifde und
Menihlide nidt verwedjeln. Lleber
Kahr läßt fid fdwer urteilen, folange
feine re tite nicht far vorliegen.
Wir fagen das, weil uns das Beſchul—
digen zuwider if. Wenn eine Betve-
gung nidt aus dem reifen um Die
„Schuld“ Herausfommt, gerfebt fie fic.
&3 wäre ſchade, wenn foviel reine und
opferbereite ®efinnung in Berbitterung
endete. Man lerne aus den Münde-
ner Irrtümern, man verbeiße fid nicht
in fie. Zu einem folden Lernen mödten
wir helfen. —
Die beiden vorigen Jahrgänge eröff-
neten wir mit Abbildungen nad den
Plaftifen des Naumburger und Bam—
berger Doms. Es folgen nun Bilder
nah den Gteingeftalten unjeres Strafe .
burger Münfters. Gie find zeitlich teils
por, teils zwiſchen den Bamberger und
Naumburger Figuren entftanden. Die
„liegreihen Tugenden“, die wir porn
wiedergeben, und Die „Elugen Sung-
frauen“, welche diefeds Heft befdliefen,
zeigen zwei verjchiedene menfdlide Ty-
pen. Port die geiftigere, berbere Art mit
Der finnenden Stirn. Dieſe „Tugenden“
find nad) Körperhaltung und Gewandun
die früheren. Die ,flugen Sungfrauen*
find finnlih voller, füßer. Man betradte
Die Zartheit der Arbeit, etwa beim Hals-
anfah der Geftalt redhts, die ſchmiegſame
Weidbeit Der Falten. Wir haben die
Kreuzblumen redts nidt weggefdnitten,
damit man abnen fann, wie Die Figuren
in Der Gandfteinarditeftur fteben. Wer
die ®efialten für fid) haben will, mag
ih das Blatt entfpredhend befdneiden
und auffleben. Die deutihe Plaftif des
Mittelalters ift fo unausfpredlid ſchön
und fo gar wenig befannt! —
Der „Beobachter“ beihäftigt fid mit
einem Briefe des jüngft verftorbenen
Seheimrats Witting. Diefer Brief bat
uns febr bewegt. Wir glaubten, Die
Srörterung der „Judenfrage“ Ienfe in
ein rubigeres Fahrwaſſer ein, die Ger
genſätze hätten fih geklärt, die unnötigen
NRücfihtslofigfeiten nähmen ab. Geit
langem baben wir uns, abgefebn bon der
Abwehr gewifjer Berliner Sournaliften,
nidt mehr grundfaglid mit der Juden—
frage bejdaftigt. Wenn wir nun aber
plöglih fo in einen vertrauliden Brief
einfehn dürfen, da — fteigen uns dod
Bedenfen auf. Go aljo fieht ed in-
wendig aus und fo wirfen fie ano-
nym. Wem foll man nod vertrauen
fönnen, wenn felbjt ein Witting fo ver—
fährt? Wir bitten, die Frage gang ernſt—
Haft zu erwägen. Gie ift nidt aus ,,An-
tifemitismus“ entftanden, fondern aus
dem Willen, vernünftig neben einander
und mit einander ausgufommen. Wie
ift Das mg ohne Bertrauen und
Adtung? —
Die Worte Schillers, mit denen wir
den Hauptteil des Heftes im Anfdluf
an den Leitauffab ſchließen, ftammen aus
einem @edidtentwurf ,Deutide Größe“
von 1801. Der Entwurf enthält Bers-
feßen und in Profa bingefdriebene Gee
45
danken durcheinander, Gine getreue Nach—
bildung de3 ganzen Brudftiides hat
Suphan 1902 herausgegeben. Die mei—
ften Schiller-Ausgaben enthalten Diefe
Stüde, die fo widtig für da3 gefdhidt-
lide und nationale Denken Schillers find,
überhaupt nidt. Sn der Srofbergog-
Wilbelm-Grnft-Ausgabe des SInfelver-
er oe bat der Leipziger Literaturbifto-
tifer Albert Köfter allerlei überflüffige
Albumblätter, belangloje Scherzgedichte
ſorgſam abgedrudt, das widtige Frag-
ment „Deutfhe Oröße“ hat er draußen
geleert &3 ift ja „bloß Gragment“.
uf Die Gorm fommt e3 an! And
ſchließlich — deutſche Größe? Was geht
die einem Profeſſor der Literatur und
Aeftbetif an? —
Die Poft hat anfdeinend nod fein
Gertrauen in die Feſtigkeit der deutſchen
jabrsbezug nod immer nidt wieder ein-
geführt. Die Lejer müjfen alfo unfre
Seitidrift alle Monate bei der Poft neu
beftellen. Durch einen Zufall unterbleibt
es oft, nadber erhalten wir verwunderte
Anfragen, warum da3 D. DB. ausbleibe.
Wir bitten, auf die Poftbeftellung adt
u geben. In Gallen, wo alle Bemit-
ungen bei der Poft fdeitern, bitten wir,
fih an den Berlag zu wenden. Das Dae
fein einer Zeitjehrift ift heute mit vielen
Heinen Mübfeligfeiten und WAergernifjen
verfnüpft. Waa früher „pon felbjt ging“,
bedarf heut eine3 unmafigen Arbeitsauf-
wande3. Aber nur, wenn wir uns nicht
entmutigen laffen, jondern, felbft mit Pee
danterie, die ge: durchſetzen, kön⸗
nen wir hoffen, daß die Selbſtverſtänd⸗
lichkeiten des Lebens einmal wieder
ſelbſtverſtändlich werden St.
Währung Denn fie hat den Viertel—
Stimmen der Meifter.
Auf der Deutihe in diefem Augenblide, wo er ruhmlos aus feinem tranenvollen
Kriege geht, wo zwei übermütige Völker ihren Gufs auf feinen Naden ſetzen
und der Gieger fein Geſchick beftimmi, — darf er fid fühlen? Darf er fid feines
Namens rühmen und freuen? Darf er fein Haupt erheben und mit Gelbftgefühl auf-
treten in der Völker Reihe?
Sa, er darf3l Gr gebt unglüdlih aus dem Kampf, aber das, was feinen Wert
ausmadt, bat er nicht verloren. Deutfhes Reich und deutfhe Nation find zweier-
lei Dinge. Die Majeftät des Deutſchen ruhte nie auf dem Haupte feiner Fürften.
Abgefondert von dem politifchen hat der Deutide fid einen eigenen Wert gegründet,
ra wenn aud) das Smperium unterginge, fo bliebe die deütſche Würde unange-
ochten.
Sie iſt eine ſittliche Oröße, ſie wohnt in der Kultur und im Charakter der
Nation, der von ihren politiſchen Schickſalen unabhängig iſt. — Dieſes Reich blüht
in Deutſchland, es iſt in vollem Wadfen, und mitten unter den gotiſchen Ruinen
einer alten barbarifhen Berfafjung bildet fid das Lebendige aus.
Dem, der den Geiſt bildet, beherrſcht, muß gulebt die Herrfhaft werden, denn
endlid) an dem Ziel der Zeit, wenn anders die Welt einen Plan, wenn des Mene
[hen Leben irgend eine Bedeutung bat, endlid muß die Gitte und die Bernunft
fiegen, Die rohe Gewalt der Form erliegen, — und das langjamfte Bolt wird alle
die ſchnellen, flüchtigen einholen,
Die andern Völker waren dann die Blume, die abfällt.
Wenn die Blume abgefallen, bleibt die goldene Frucht übrig, bildet ſich, ſchwillt
die Frucht der Ernte zu. 2
Shm (dem Deutiden) ift das Höchſte beftimmt, und fo wie er in der Mitte von
Gurppens Balfern fich befindet, fo ift er der Kern der Menfchheit, jene find die
Blüte und das Blatt.
Gr it erwählt von dem Weltgeift, während des Beitfampfs an dem etv'’gen
Bau der Menjhenbildung gu arbeiten, was die Zeit bringt. Daber bat er bisher
Fremdes fid) angeeignet und es in fic) bewahrt. :
Alles, was Schäbbares bei andern Zeiten und Völkern auffam, mit der Beit
entftand und fhwand, bat er aufbewahrt, es ift ibm unverloren, die Schätze von
‘Sabrbhunderten.
Niht im Augenblid zu glänzen und feine Rolle gu fpielen, fondern den großen
Prozeß der Zeit zu gewinnen. Sedes Bolf hat feinen Tag in der Geſchichte, dod der
Tag des Deutſchen ift die Grnte der ganzen Zeit —
Wenn der Zeiten Kreis fih füllt
Sind der Deutfhen Sag wird fcheinen,
Denn die Schatten fid vereinen
In der Wenſchheit [hones Bild! Sriedri® Giller.
Neue Bücher
Böhbmerlandb - Yahbıbud für Bolt
und Heimat 1924. Herausg. im Aufirage
aller deutfhen Schugvereine der Tſchechoſlowalei von
Otto Klegl. 200 S. 3 Mt. Bobmeriand - Verlag,
Eger.
Das Jahrbuch bat
Schon die Ausftattung
Statiftiten und vorzüglide
beiden $Plaftifen von Anton Hanak, ausgezeichnet
wiedergegeben, find jehr bedeutend. Die Wbjdnitte
bes Budes find: Unfere Heimat (Gefdhidte, He.mat-
kunde), Der Böhmerlandbote (Soziale und Rultur-
beridte), Eine Heerſchau über unjere Arbeit (Arbeit
der ugvereine, Yugendfiirforge, Kunft, Wiffen-
[haft und hohe Schulen, Vollsbi,dung ufw., Tednif
und Wirtſchaft, Politif). Dann kleinere Mitte.lun-
gen. Ein Nahruf auf Dr. Titta, Kolbenheyers
unfern Lefern befannter Aufjag über „aufgeflärten
fic). pradtig berausgemadt.
omg Adhtung Karten,
ilderbeilagen. Die
Nationalismus” u. a. „Jahresregent“ ijt Karl
Pojtl (Gealsfield). Auf den Geift und das Werk,
von dem DdiefeS Bud zeugt, auf diefe ftarfe
ſchöpferiſche und arbeitende Bollstraft bliden wir mit
berzliger Freude. Dieſes deutſche Wert, auf ge-
fundem WolfSgrunde, wird unerfdiittert daſtehn,
wenn einmal wieder ein politifher Sturm bie gu-
fälligen Staatengebilde burdheinanderwirbelt. ©.
Sudetendeutfhe3 Jahr 1924. Ein
Rocenabreißfalender, Her. bon Otto Klegl.
Böhmerland-Berlag, Eger.
Der Abreiflalender giht einen Ueberblid über
bie fudetendeutfhen Künftler und Didter. Lon
den Mitarbeitern nennen wir Auguft Brome,
— Hegenbarth, Walter Klemm, Emil Orlil,
erdinand Staeger (deffen „Schärer im VBöhmer—
wald“ weit beffer ift als dad nicht fehr gelungene
Titelblatt), F. W. Jäger (ein bortrefflihes Bild
„Im Sriedländifhen“!), auch ältere Kunft ift
bereinzelt aufgenommen: Megner (die wenig be-
fannte borzünlide „Trauernde Frau"), fogar ein
Blatt bon Fübhrih. Gedichte von Rolbenbeber und
Waßszlit; Vollslieder. Inbaltlih ein Fortſchritt
egen das borige Jahr Möge der Kalender weiter
fo wachſen. St.
Jahrbuch und Kalenber
Deutfhtumd in Lettland. 1924.
152 ©. Yond & Poliewslh, Riga, Kaufftr. 3.
Die Deutichbaltifhe Arkeitszentrale, die „für
den Zufammenfhluß der Kräfte auf allen Gebieten
deutfch-baltifher öffentlicher Arbeit in Lettland”
gebildet ift, bat bom Deutfhen Elternderhande die
Herausgabe diefes Jahrbucdes iibernommen. Den
Reichd- und fonftigen Deutfchen empfeblen mir
da3 Bud als ein äußerſt gneeianetes Werf, fich
über das geiftige Leben und die Organifation des
Deutfchtums im baltifhen Gebiet gu unterrichten.
Zunächſt fommen ausführlihe Berichte aus der
deutfh-baltifhen Stulturarbeit in Lettland, dann
Inappe aus Leben und Arbeit des Deutfchtumsd in
Eitland, Kitauen, Finnland, Rußland. Es folat
Hiftorifches, LKiterarifches, Statiftifhes. Yum
Schluß ein wertvoller Ueberblid über die ganzen
DOrranifationen mit ben Anfchriften. St.
Shle3mig - Holfteinifhes Jabr—
bud 1924. QGeraugsg. von Dr. Ernft Sauer-
mann. (Umfchlaatitel: Nunftfalender Schleswig—
Holftein.) 116 ©. u. 20 ©. Bilderbeilagen. Paul
Hartung, Hamburg.
Nah Inhalt und Ausftattung einer der reich-
en und bornehmften dentfher Calender. Fin
matfundlides und funftaefhidtlides Bilder-
material, bei dem jedem Runfthiftorifer und Runft-
freund da8 Herz aufgeht. Die Auffäge find zumeift
efhichtlihen, fulture und Funftaefhichtlihen Yn-
alts. Dazu einzelne grundfäg'ihe Muffäge bon
tepräfentativer Bedeutung: Schmidt-MWodder, Sdles-
wig als Grenzland; Friedrid Kauffmann, Deutſch
ober däniſch? Johannes Tonnefen, Vom Sdhleswiger
sum Deutfden. „Und wo ihr's padt, da ift’s in-
tereffant”. Die Gdleswig-Hoilfteiner dürfen auf
dieje Leiftung ftoly fein. Wie würdig ,Unjere Ber-
mwahrung“ auf ©. XVII. Da ftebn Schm.dt-Wodders
Worte zur Begrüßung des däniſchen Könige am 12.
Sult 1920: „Wir bof en auf den Tag, wo wir neu
entideiden werden über unjer ftaatlides Gefdid, frei
bon dem Zwang des Friedensvertrages.” Wir raten,
fi dieſes ungemöhnlid gute Jahrbuch nidt entgehn
au laffen. St.
Rubeder Jahbrbud 1924. Herausg. von
Paul Brodhaus im Auftrage der Bereinigung f.
voltstüml. Kunf. 9. ©. Hathgens graph. Kunft-
anjtalt, Lübeck.
So ſehr wir Jeſſens Kunft der Raummiedergabe
Hagen — wir offen im nädjften Heft Proben gu
ringen — dieſe feine Yahrbudausjtattung können
wir nicht anerfennen. Die Sfiggen ge,ören in die
Mappe eines Kunftfreundes, der fih an einge nen
raffiniert bingewifdten Strichen ergötzt, aber bier
wirfen fie gu anfprudsvol. Schlimm ift ed, wenn
ein Kalendarium nur als Anregung gu Linien und
Gleden dient — was fang ih nun an, wenn id
einen Wochentag nahjehn will? Die Breitfeiten des
Textes mit der breiten Antiqua und den dicht ane
einander gejhobenen Zeilen ftrengen das Auge fo an,
daß man fie nur mit unterge.egtem Lineal lejen
fann. Dabei enthält der Text recht Gutes. Wir
nennen: &tüde aus Helmolds Glavendronil, ein
Aufzug aus Franz Frommes „Jürgen Wullenweber
un Maris Meyer“, Beitrage von Habemann, Anthes,
Kleibömer, Heife. Mögen Inhalt und kl rn |
in Bufunft nit mehr fo ftart an Tg
t.
Auszüge aus Ammianus Marcel-
linus Neu überfegt von Wilhelm Reeb. (Ge-
ihichtöfchreiber der deutfhen Vorzeit. Bd. 3).
2 Geh. 5,—, geb. 6,50 Mt. Dykihe Buchhlg.,
eipzig.
Aus dem Ammian find die Stiide ausgewählt,
die für die Germanengejhidhte in Betradht kommen.
Alfo vor allem die Wlemannenfämpfe (bod aud
Sadjen-, Franfen-, Burgunderfampfe) und die An-
fänge ber bon den Hunnen bedrängten Goten. Die
berubmten Glanzftüde find die Schlacht bei Straß-
burg 357 und die Schladht bei Adrianopel 9. Auguft
378. Die Ueberfegung ift forgfältig und fpradlid
ut, nur gumeilen eine ungewöhnlihe Sapitellung
3. B. ©. 136: „Außerdem verjperrten die Wege viele
albtote” ftatt „. . . verjperrten die Halbtoten viele
ege). Die Anmerkungen find knapp und in-
ftruftiv. t.
Die Regifter Jnnoceng’ III. über bie
NReihsfrage 1198—1209. Yn Auswahl überfegt und
erläutert von Dr. Georgine Tangl (Gejhichts-
ihreiber der deutihen Vorzeit. Bd. 95.) 2356 ©.
Geh. 8,— geb. 10,— Mt. Vylſche Buchhlg., Leipzig.
Es handelt fi um die beiden Gegenfdnige
Philipp von Schwaben und Otto IV. und ihr Bere
hältnis gum Papft Innocenz II. Die Einleitung ift
vortrefflih. Ynnoceng ift mit Sorgfalt dharafterifiert,
ebenfo Philipps liebensmwürdiges, Ottos abftoßendes
Wejen. Die Einleitung ift fo gehalten, daß fie
wirflid) die nachfolgenden Dokumente in ihrem Zu-
fammenbang verftändlih macht. Diefe Dofumenten-
jemand aus dem päpftlihen Urchin ift ſowohl für
ie BVerfaffungs- und Kirhenfrage wie für die Kul-
turgefdidte rect ergiebig. Won folhen Beugniffen
aus muß man Walther von der Bogelweide be-
greifen: unter dieſen Menfden und Verhälin fjen
wirkte er alg Minnefänger und politifher Didier.
Das waren die Zuftinde, als der Nibelungend.dter
die „alten Maren” aufgriff und Wolfram an je nem
Parzival arbeitete. Aus den Dofumenten follten die
er eeee den Schülern geeignete RR [vere
eſen. t.
47
E 9 SKolbenheyer, Drei Xegenden.
Volksbücher, Heft 49.) 55 ©. Berlag der Deutjhen
Didter-Gedaidinis-Stiftung, Hamburg-Großborftel.
Das Bändchen enthält vier Gedidhte (darunter die
mit nod unbefannten „Stundenſchlag“ und „Unfer
Leben“, hervorragende Stüde), ſowie drei fleine Gee
ſchichten. Die erfte Geſchichte, „Die Rechtfertigung
Gottes“, ijt gleichſam eine Erneuerung der Schöp-
fungsgeſchichte, die zweite, „Königslegende“, ijt eine
bon ſchwerem, ernitem Denten erfüllte, feierliche
Ausprägung der Geſchichte von den bl. drei Königen.
Beide jtellen bobe Anjprühe an den Lefer. Das
tegte Stüd „Klaas Y, der große Neutrale” hat den
merkwürdigen Whalibama-Humor, an dem ich mid
jehr erbaue. Wir empfehlen das Heft nicht zur
erften Befauntjdaft mit Stolbenbeyer; wer jeine Art
nit fennt, wird fic) im manches ſchwer hinein»
finden. Die aber, die ihn aus andern Werfen
fennen und lieben, werden ihre naddentjame Freude
an dent Büchlein haben. St.
Borries, Freiherr von Mind,
baufen, Meifterballaden. Ein Führer zur
Dichter”.
Freude. Sammlung ,Didtung und
Stuttgart, Deutſche Berlagsanftalt.
Mindhaujen will uns in diejen Betradtungen
uber zeyu Weijterballaden „Türen aufſchließen zu
jener Heiligen Freude am Schönen, die allen Vers
aulaſſung und Biel alles Nedens über Stunjtwerfe
jein darf“. Dieje Freude am Sdonen ſpricht auf
jeder Seite jeines Budes warm und eriwarnend
gum Herzen des Yejers. Es gibt fider teinen für
Didterijhe Schonheit Empjfangligen, und jei er der
„Belejenjte“, dem Münchhauſen nicht bisher uns
gejeyene Schönheiten erſchloſſe. Ich geiteye gern
und dankbar, dag mir erjt durd ihn Siradw.gens
„Das Herz von Douglas” und Agnes Dliegeis „Die
War vom Ritter wianuel” Wirth vertraut und
lieb geworden find. Werden Gedichte nur „gelefen“,
jJ Jeyt Man die „gemalten Fenſterſcheiben“ nur von
außen und alles bierbt „duniel und duſter“. Führt
uns aber ein ſchönheitstruntener Fuhrer ins Innere
der „heiligen Stapelle, da iſt s auf einmal jarbig
und belle”. — Beſondere Wufjdiiifje gibt uns
uncyanjen an der Hand jeiner Beijpieie über
dad Wejen der Ballade; das durften wir von ihm,
dent Balladendichter, erwarten, Betonen
wir aber, daß der cigentlide Wert des Buches
Darin Liegt, daß We. bier in der leidenjchaftliden
Freude des Bewundernden und Genichenden von
der Schönheit meifterliher Dichtwerfe zeugt. Was
er bier und da als „Wann vom Fad" an funjt-
techuifher Belehrung einfließen läßt, wirft da»
neben unmejentlich, ja, wo es nicht ganz unaufdring-
liy gejagt wird, fdon leije ftorend, 39.
Göttinger Mujenalmanad auf
1923. Herausg. von Börries Frhr. v. Münd-
haufen. 244 ©. Hodjdulverlag, Göttingen.
Wud für diefen Muſenalmanach find wir dant:
bar, wenn aud) WMiindbaujen felbjt feftjtellt, daß er
den beiten der früheren Göttinger Almanade eben
nicht gleidfommt. Wir empfebien allen, die über-
haupt Qntereffe für die Lyrik der Gegenwart haben,
fih mit diefem Bande zu beſchäfligen, es wird fie
nicht gereuen. In der Cinleitung gibt der Heraus-
geber furg fein Urteil über die innere Wanpdlung
der jungen Didter, begründet durd den Einblid in
sablreime Gedidte, die ihm vorlagen. Dieje Wand—
lung gegenüber der Bortriegsgenetation ijt erheblich
und durchaus hoffnungsreich. Es ijt dod) ein gejunder
Boden da. Gollte die Ballade auf diefem Boden
wirklich nit mehr gedeihen? Wir boffen, man
wendet fic) ihr bald wieder mehr zu, weil wit —
geſchichtlicher, jachlicher, berber werden. Vertreten
find mit einer Auslefe von Gedicten: Paul Alt—
möchlen
haus, Kurt Beſſer, Fritz Haffelwander, Moritz Japı,
sale Johſt, Willi Kable, Martin v. Katte, Alfred
unge, Kurt Lange, Heinrich Renner, Bogislav
vd. Selcdhow, Franz Thierfelder. Auf Johſt und
Selhow fommen wir demnächſt guriid. Sehr ane
gejprohen haben uns die volljaftigen Gedidte
Worig Jahns. Auch bei Alfred Runge finder fid
Bemerfenswertes.
Martin v. Katte bat angenehm
frifhe, fraftige Töne. Ct.
Ridhard Arwed Pfeifer, Der Geijtes-
franfe und fein Werf. Cine Studie über
ſchtzophrene Stunft. 148 ©. mit 45 Abb. Alfred
Kroner, Leipzig.
Ein wiffenjhaftlihes Bud, das zugleih auf ge-
bildete, für den Gegenftand interejjierte Leſer Riid-
fiht nimmt, jo daß es fih angenehm, ja mit
Spannung lieft. Pfeifer jtellt die Frage, ob es eine
geiftestranfe Stunjt gibt, die von der gejunden in der
Wurzel verjhieden ijt. Das Ergebnis der Unter-
fudung ijt: Durch Schizophrenie entfteht nicht original
eine Stunjtbegabung, jondern es werden nur latente
Anlagen entweder frei gemacht oder in der fritijchen
Beit geftcigert oder fie fünnen fic) — bei jonjtigem
geiftigen Zerfall — nod eine Weile unberührt er-
hauen und wie gejund wirken. Ein rein aus der
Krankheit als folder entſtehender Darjtellungsdrang
ijt faum unter den Begriff der Kunſt zu faffen.
Pfeifer zeigt an ,gejunden” Erzeugniffen ener
„dämoniſchen“ Begabung, wie weit die Spannweite
deS Gejunden reicht. Seine Darftellung des
„Dämoniſchen“, unter Polemif gegen Stietregaard,
zeichnet ſehr Har einen bejtimmten Typ, dod jdeint
uns, das wort „damoniſch“ paffe darauf nicht recht,
wir moaten es lieber in Goetyes Sinn verwenden.
Auch fonnen wir den bejchriebenen Typ nicht fv
bod Werten. Außerordentlich interefjant ift das
Wiaterial, das bejdreibende und Ddidiide, das
Pſeiſer beibringt. — Nun ijt aber Kunſt nicht muir
„Lünjtieriige Begabung“, jondern Aeußerung der Ge-
famtperjöniicpleit, der Seele. Die Berjtorung der Seele
zeigt fic) bei eryaitencr „Begabung“. — Schluſſe auf
die expreſſioniſtiſche Kunſt hat der Berfaffer, und das
ijt gut, nicht gezogen. St.
Spicle deutſcher Jugend, Eine Samm-
lung neuer Spiele aus dem Gemeinfhaftsgeift der
deuten Jugend. Herausg. von Wilhelm Carl
Gerjt. Verlag des Bühnenvollsbundes, Frant-
jurt a, W. / j
Eine Bücherreihe, die den jugendlichen Spiel-
baren guten Stoff für Aufführungen bringt. Kleines
Gormat, fo daß die Biidlein leit mit auf Fahrt
genommen werden können; dazu jehr hübſche Aus-
ftattung. — Der Shweinehirt, nad dem
gleihnamigen Anderfenfhen Marder bearbeitet, und
Die Baubergeige, ein Spiel nad dem
Grimmjden Warden: Der Jude im Dorn, find
Dramatijierungen von Walter Bladetta.
Bede glei ſriſch und herzhaft und ganz nad bem
Sinn der Jugend. Das Spiel der Schweizger
Bauern von Wilhelm Tell, der „Urtell“, der
in legter Zeit durd mehrere Bearbeitungen dem
Shay der wiederbelebten Vollſpiele zugefügt wurde,
bat bier eine bejondere Form durd Franz „Johannes
BWeinrig erhalten. Hoffentlid) wird dieſer
Bo. fstell, der neben Schillers Wert befteben bleiben
fann, vet bald in den Spielplan alier Jungjpiel-
iharen aufgenommen. „Till“, eine beadhtenswerte
Schiülerarbeit de3 Frankfurter Gymnaſiaſten Gisbert
Klingemann, bat, frei geftaltend, aus dem
Coſterſchen Uilenjpiegel feinen Helden entnommen
und in Shakeſpearſcher Art jehr luftig die Handlung
durchgeführt. Für Spieltruppen, die fdon mal
viel Fleiß auf eine Einftudierung verwenden mögen,
ift auch diefe Komödie zu empfehlen. G. K.
Gedruckt in der Hanfeatifhen Verlagsanſtalt Altiengeſellſchaft, Damburg 36, Holſtenwall 2.
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Vom Straßburger Münfter
Aus dem Deutihen Voltstum
, Yübeder Haus
smus Ielfen
|
9
Aus dem Deutfiben Volfstum
Deutihes Bolfstum
2.Heft ine Monatsichrift 1924
Deutjchland — Dänemarf.
1.
gam ift fon lange bor dem Weltkrieg in die Rolle des Angeklagten
gedrängt worden, und felbftverftändlich gab es immer Punkte, wo das
mit einem gewiffen Erfolg geſchehen fonnte. Giner diefer Punkte war die Art,
wie Deutfchland die fremdnationalen Teile des Reiches regierte. Diefe Art
war nicht gefdidt, nicht Flug, por allem nicht beftändig, geradlinig. Sie ver—
legte nicht Leib und Leben, aud nicht das Eigentum der Beberrfchten, aber
fie befämpfte die Sprache der Minderheiten und zog gelegentlich gegen dem
Staat feindliche Gefinnungen mit Polizei zu Felde.
Das war in dem mit Polen durdjetten öftlichen Teil des Reiches, im
franzöfifhen Zeil Lothringens und auc in Nordſchleswig der Fall.
Im ganzen handelte es ſich dabei um etwa 6 bis 7 b. 9. der ganzen
Reidhsbevdlferung, wichtig zu wiffen, weil die jest gefchaffenen neuen Staaten,
Polen und die öfterreihifhen Nachfolgeftaaten außer Ungarn, alle nur auf
40—70 b. 9. des herrſchenden Bolfes gegründet find.
Bon Diefen 6 bis 7 b. 9. bildeten die Polen den weit überwiegenden Zeil.
Die genannten Methoden, die angegriffen werden fonnten, waren aber in
feiner Weife preußifche oder deutſche Erfindung oder etwa von befonderer
preußifcher oder deutfcher Brutalität.
Im Gegenteil hatte Frankreich in dem dem alten deutfchen Reid in feiner
Obnmadt entriffenen Gljaß-Lothringen viel zielbewußter frangdjifhen Geiſt
und franzöfiihe Sprache durchzuſetzen gefudt und in den Italien entriffenen
Zeilen Siidfrantreihs durch Berbot aller italienifch gefchriebenen Zeitungen
und ähnliche Maßregeln tatſächlich die italienifche Gonderart vollfommen aus-
getilgt.
Dänemark aber hatte nach dem Kriege von 1848 ebenfo zielbewußt in
Schleswig deutfhe Gefinnung und Sprade zu befämpfen gefudt und hatte
zu diefem Swed ein überaus ſchikanöſes Poligeiregiment eingeführt.
Was aber gleichzeitig mit preußifch-deutfcher Minderheitenpolitif etwa
in Irland oder in Rußland geſchah, war weit brutaler, als was Deutjchland
fid je erlaubte. j
In Irland war jahrhundertelang in immer neuen Borftößen geradezu ein
Ausrottungs- und DVerdrängungsfrieg geführt worden, der allein im neun
zehnten Sabrhundert die Bevölkerung von 8 auf 4 Millionen guriidbradte.
Was aber Rußland fid in Finnland, den Oftfeepropinzen und gegen
Polen erlaubte, zeichnete fid) por allem durch immer neuen Bruch gegebener
Verſprechungen aus und fcheute gegebenenfalls vor feiner Unterdrüdung zurüd.
Demgegenüber ift bejonders herborguheben, daß die nationalen Minder-
beiten in Deutichland mit allerhand Erfolg vor deutfchen Richtern ihren Kampf
um ihr Recht führen fonnten. is
Damit foll nidts pon dem Urteil zurüdgenommen werden, daß bie da-
maligen Methoden, die Preußen⸗Deutſchland braudte, wenn fie aud zehn-
mal bon andern Reiden aud geübt und diel rüdfichtslofer gehandhabt wurden,
der Kritik nicht ftandhalten konnten.
Aber nur gegen Deutſchland richtete fich einmütig die europäiſche Kritif.
Warum follen wir nicht zugeben, daß diefe Beeinfluffung der europäifchen
öffentlihden Meinung ein fehr gefdidt gebraudtes Rampfmittel der Minder-
beiten war, und daß diefe auch innerhalb des Reiches mit viel Standhaftig-
feit ihren Kampf führten, um mit deſto ernfterem Nahdrud hinzuzufügen,
daß es offenbar ein großes Ungefchid Deutſchlands war, daf es fich rubig
in Die Rolle des einfeitig Angeflagten drängen ließ.
. 2.
Bet Deut{dlands Verhältnis zu Dänemark verdienen aber nod ganz be—
fondere Umftände unfere Aufmerkjamteit:
Deutſchland Hatte durd) Preußens Initiative, abnlid wie Italien durch
Ptemonts Tatkraft, im neungehnten Sahrhundert endlich feine wenn aud klein—
deutſche nationale Ginigung durchgefegt. In diefem natirliden Prozeß, den
die andern ©rofftaaten Europas {don längft binter fid Hatten, war Däne-
matt der Staat gewefen, der Deutſchland guerft bindernd in den Weg trat,
indem es nicht unbedeutende deutſche Zeile, die Durd) Perfonalunion Schles-
wig-Holfteins mit Dänemark gebunden waren, von Ddiefer Gntwidlung aus
[ließen wollte, trogdem Holftein zugleich zum Deutſchen Bund gehörte und
Schleswig mit Holftein ftaatlid) verbunden war.
Man Tann bei unbefangener gefdidtlider Beurteilung durchaus ber-
ftehen, daß Dänemark verfuchte, feinen Staatsbeftand zu retten*, fann aber
Damit feineswegs befchönigen, daß es fic über alte fehleswig-bolfteinifche
Rechte hinwegzuſetzen und Schleswig zu entnationalifieren perfudte, und man
würde mehr als gutmütig fein, wollte man nicht den Ginger darauf legen,
daß es von den PDeutjchland umgebenden Staaten ausgerechnet Dänemark
war, das unfrer nationalftaatliden Ginigung fic entgegenftellte. Gs ſetzte
fih dabei gleichzeitig in Widerfprud mit altem Hiftorifhem Recht und dem
lebenden Recht, das fic) Durdringen wollte und ſich durdrang.
Das Ergebnis war für Dänemark ſehr fdmerglid. Gs verlor Schleswig
Holftein und damit ein Drittel feines durch die Perfon des Königs zufammen-
gehaltenen Gtaatsbeftandes. Gin Berfud, Schleswig national zu teilen,
{eiterte ebenfalls an dem Widerftand Dänemarks, das fid damit nicht ge-
nügen laffen wollte.
Mit Sdhleswig-Holftein fam nunmehr ein Landesteil zu Preußen, deffen
Bevölkerung im nördlichften Zeil dänifh ſprach und fdwantte, ob fie den
Anſchluß an Dänemark der alten Gerbindung mit Schleswig-Holftein vor-
ziehen follte. 1848 war die Stimmung offenbar nod vorwiegend für Schles-
wig-Holftein. Nad) der ftaatliden Vereinigung mit Preußen ift fie nicht ge-
fragt worden, wie urfpriinglid vorgefeben, und bon nun an vollzieht fich der
bon Dänemark in jeder Weife geförderte Prozeß, daß die Bevölkerung mehr
und mehr Dänemark als ihr Mutterland angufeben lernte, und daß fchließlich
nad) dem für Deutfchland verlorenen Weltkrieg eine Bolksabftimmung zuftande
fam, durch die gegen ein Viertel der abgegebenen Stimmen ein Landftrid mit
rund 160000 Menfden an Dänemark angegliedert wurde.
* DBergl. Nordelbingen Bd. 2: Das tragifhe Moment in der fdleswig-holftei-
nifhen Seldidte, von Profeffor Krumm, Slüdftadt.
50
Als Aufruhr und Smpörung bezeichnen die Dänen nod heute faft allge»
mein die [chleswig-holfteinifhe Grhebung bon 1848, troßdem Die dänifche
Wiffenfdhaft oon diefem Urteil Abftand genommen.
Als Wiedervereinigung feiert man allgemein die Ginberleibung Nord-
ſchleswigs, trogdem der dänifhe Minifterpräfident Neergaard feierlid auf
Düppel erklärte, daß nunmehr Nordichleswig zum erften Mal mit Dänemark
bereinigt wäre.
So gabe ſucht man nod heute die gefdidtliden Tatſachen zu verdrehen.
Bor allem zieht man den Schleier über die Art, wie diefe Bereinigung
guftande gefommen if. Wud bat man faum erreicht, was man glaubte als
nationalen Anſpruch erheben zu können, da geht das alte Spiel weiter, daß,
erheblihe Zeile bes däniſchen Bolfs durch neue nationale Anfprühe und
neue Stimmungsmade neuen politifden Gewinn vorzubereiten fuchen.
Die Art, wie diefe Bereinigung zuftande gefommen ift, hat zwei Seiten.
Sie wird vollzogen auf Grund des Berfailler Bertrags. Eine Bolfsabftim-
mung gebt ihr vorher. Man betont, auf dänifcher Seite die Bollsabftimmung;
man redet weniger davon, daß fie bon Berfailles her diftiert wurde; man
muß all feinen Grimm gegen Preußen wieder aufwärmen, um zu verteidigen,
daß die Abftimmung unter franzöfifhen Bajonetten ftattfindet. Dänemarf,
das während des ganzen Krieges eine neutrale Haltung einzunehmen fid
bemüht hatte, ließ jegt feine Wünfche durch die Feinde Deutfchlands durd-
führen. erbandlungen, die unmittelbar nad) Ausbrud der Repolution mit
Deutichland direkt perfudt wurden, wurden abgebroden, weil Frankreich das
als unfreundlide Haltung anfah.
Auf Verhandlungen, die ſchon während bes Krieges mit Deutjchland ge-
pflogen waren, und meines Wiffens fdon fehr weit gediehen waren, fam man
nie zurüd, aud nicht in der dffentlidhen Distuffion.
Gs ift richtig, Daß es Dänemark einfach nicht erlaubt wurde, jest noch fid
Direft mit uns in Verbindung zu fegen. Aber eben deswegen tft es aud
richtig, daß Dänemark damit feine Neutralität aufgab und ohne Friegerifchen
Alt feinerfeits durch die uns feindlichen Mächte die Abgabe Nordfchleswigs
erziwang.
Die Abftimmungsbedingungen felbft find bon Dänemark entworfen und
durchgefett, und man Hat allerdings getwiffe Shancen ausgefdlagen, die
Stanfreich bot, weil man, wie man fagte, nicht mehr wollte, als daß alles
heimfäme zu Dänemark, was zu Dänemark wolle. Gs ift befannt, wie man
einen Zeil bis zur Glaufenlinie gunddft für fic nahm und anordnete, dah
dort en bloc abgeftimmt werben follte, wobei es gelingen mußte, ganze Zeile,
die pon jeher überwiegend deutſch gewefen waren, niederguftimmen. &ine
zweite Zone wurde eingerichtet, in Der gemeindeweife abgeftimmt werden
follte, um es auch da zu ermöglichen, daß. man den Anſchluß fände an Däne-
mart. Die Entjcheidung, welde Zeile der zweiten Zone Dänemark guguteilen
wären, follte gleichzeitig von mirtfchaftlihen und geographiſchen ©ejichts-
punkten abhängig gemadt werben.
Es ift eine befondere Willkür, daß ein Land, das Jahrhunderte hindurch
um feine Ginbeit gerungen hatte, nun geteilt wurde und in einzelnen Zeilen
nad verfhiedenem Modus abftimmen follte. Nah Abftimmung und wirt-
Ihaftlihen und geographiſchen Gefidtspuntten wollte man Staaten neu ge-
ftalten. Alle vorhergehende Gefdidte ſchien ausgelöfcht.
Ohnmächtig, feeliih und wirtſchaftlich zermürbt, hungernd und verwirrt
mußte Deutfchland diefe Entſcheidung über fic ergehen laffen. Immerhin
51
bradte Zone zwei fopiel Widerftandsfraft auf, alles Werben Dänemarks um
bungernde Magen und müde Geelen abzuweifen. Dabei flammte gum erften
Mal wieder etwas bom fchleswig-holfteinifhen ®emeinbemwußtfein auf.
Gs verdient noch bemerkt gu werden, daß die dänifche Preffe radifaler und
fozialdemofratifcher Richtung, bepor im Berfailler Bertrag die Beftimmungen
über die ©renzordnung im Norden des deutjchen Reiches Herausfamen, fehr
lebhaft Kritif übte an dem Anheil, das die Berfailler Friebensbedingungen
über Europa zu bringen drohten. Als aber die Grengordnung beftimmt war,
berftummte diefe Kritif jehr merflih, um nun für dag Recht der neuen Ord-
nung einzutreten.
Aud das ift gewiß febr verftändlich, aber für die weitere Gntwidlung des
Berbältniffes pon Dänemark zu Deutjchland ſehr verhängnispoll. Dänemark
ift nunmehr mit interefjiert am DBerfailler Bertrag, aud an feinem Weiter»
beftehen. Für Deutichland aber ift es eine Lebensfrage, daß er aufgehoben
wird. Ob Europa es einjehen wird, daß das für den ganzen Kontinent gilt,
wird man abwarten müjfen.
Grft mit der Aufhebung des Berfailler Vertrags würde wieder der natür-
lide Zuftand eintreten, daß, Deutjchland und Dänemark ohne Außeren Zwang
ihr Verhältnis zueinander ordnen finnen. Daß diefer Zuftand vorher ein-
tritt, ift nicht zu erwarten.
3
Inzwifchen haben die Dänen der zweiten Bone fdon gleich nad der Ent-
fbeidung es als Unrecht erklärt, daß nicht die duferften nationalen Borpoften
Dänemarks mit ans Reich gefommen feien, als ob nicht unfre Borpoften an
der Königsau ftänden und mit befjerem Rect Anjchluß an Deutfchland ver-
Tangen fönnten.
Bergebens fudte man durd Internationalifierung der zweiten Zone auf
Umwegen fein Ziel zu erreichen. Sie mißlang, troßdem der fdon einmal ge-
nannte däniſche Minifterpräfident dem Plan feine mwohlwollende, wenn
aud nicht feine vollamtliche Unterftügung lieh.
Nun aber greift man zurüd auf den alten gefdidtliden Tatbeftand, daß
Schleswig fdon lange eine Einheit gewefen fei, und auf alte geſchichtliche Er—
innerung, daß Danijhe Macht bis an die Gider gereicht, und wußte für fi
eine ftetig wachfende Stimmung in Dänemark zu erzeugen, Daß Dies das neue
politijhe und fulturelle Ziel für Dänemark fein müffe, Schleswig zu erringen.
Man vergaß dabei allerdings, daß die biftorifhe Ginheit Schleswigs
im Anſchluß an Holftein, nicht im Anſchluß an Danemart, jondern durch Los-
löfung bon Dänemark entftanden war.
Weil aber der offiziellen däniſchen Bolitif eine offene Proflamation des
neuen politifhden Ziels jehr unbequem fein mußte, wurde es wiederholt offiziell
dementiert, dem fulturellen Vorſtoß aber jede, aud ftaatlide Hilfe geliehen.
Aud war die däniſche Preffe fo disgipliniert, daß nur gelegentlich Hier und
da die politifche Parole laut wurde, dann aber meiftens in ſehr unverbliimter
Weife.
Das wird aufenpolitijd der Zuftand bleiben, über den wir vorläufig
nicht Dinausfommen.
Wirkſam fefundiert wird die offizielle däniſche Politif durch das deutjch-
dänifhe fozialdemofratifhe Grengabfommen, das, allerdings in allerhand
diplomatifchen Wendungen, die jegige Grenze nur als ,gefeslide* Grenze
anerkannt und refpeftiert haben will. Das fagt fehr wenig, fieht aber ent»
52
{dieden gut aus. Die dänifche Sozialdemofratie hat zweifellos den Wunfd,
daß die Grenafrage zur Rube fomme, und fieht mit Unbehagen die dänifche
Propaganda in Scleswig-Holftein ihr Wefen treiben, fürchtet aber, fid
national blofguftell[en, wenn fie nicht die Staatsmittel für dänifche Schulen,
Büchereien, Gemeinden uf. in Zone zwei bewilligte.
So ift denn die dänifhe Kulturarbeit in Schleswig-Holftein von der
ganzen däniſchen Front legalifiert, und nichts mehr fteht im Wege, daß die
einen fie treiben im DBlid auf das politifhe Ziel und gelegentlich mit Bor-
fpann diefes Motivs, andere — und das ift wahrſcheinlich die größere Zahl,
aber die weniger aktive — nur um dänifhem Bolfstum zu bewahren, was
ihm gehört.
4.
Deutſchland Hat feinerfeits oon Anfang an derfudt, mit Dänemark zu
einem Gegenfeitigfeitspertrag über die nationalen Minderheiten zu fommen,
aber ohne Erfolg. Dänemark gab vor, daß ein folder DBertrag den uner-
wünſchten Anlaß gäbe, in die Angelegenheiten des andern Staates hinein»
gureden, und daß das für den [hwächeren Zeil eine ungünftige Lage bedeute.
Diefer Ginwand ließ fih wirkſam entkräften durch Ginridtung eines geeig-
neten Schiedsgerichts, wofür deutſcherſeits aud Vorſchläge gemadt find,
aud dies ohne Erfolg.
Somit ift Die Rechtslage der Minderheiten bon jedem Staat befonders
gu ordnen, und wenn die beiderfeitigen Regierungen nunmehr aud feine
Sandhabe Haben, den andern Staat an Snnebaltung gemeinfam eingegan«
gener Gerpflidtungen zu erinnern, fo bat die öffentliche Meinung, die Preife
bor allem, um fo ausgiebiger Gelegenheit, Bergleiche anzuftellen und Gore
derungen gu erheben.
Bei ſolchen Vergleichen geht man danifderfeits davon aus, Daf die Gee
feßesbeftimmungen auf beiden Seiten möglichft gleich fein follten, ohne zu
berüdjichtigen, daß dann die Berhältniffe auf beiden Seiten auch die gleichen
fein müßten.
Daf diefe Borausfegung in feiner Weife zutrifft, ift leicht zu zeigen.
Bis zur jüngften Zeit war die dänifhe Krone der deutſchen Mark ungeheuer
überlegen, Dänemarks Wirtfchaftsleben pom Krieg begünftigt, Deutfchlands
dagegen ruiniert, damit eine unendliche Meberlegenheit auf dänifcher Seite
borbanden, den Kulturfampf mit reidften Mitteln zu führen. Die 200 000
Kronen, die der däniſche Staat dafür jährlich bewilligte, find bon diefen Mit-
teln nur ein Teil. Private Mittel wurden in weitgehendem Maße zur Ber-
fügung geftellt. Der deutſche Staat hatte fo gut wie feine Mittel dem ent—
gegenguftellen, deutfche private Initiative war gebunden durch die dringende
Notwendigkeit, das nadte Leben der deutſchen Bürger zu fehüten, war aud
nod wenig für feine fulturelle Verpflichtung erzogen.
Schleswig-Holftein lag gemwilfermaßen offen und ungefhütt bor der In—
bafion dänifher Kultur. Wie fie ausgeübt wurde, erhellt am beften daraus,
daß bald drei deutichgefchriebene Zeitungen für die däniſche Gade warben und
thren efern guerft unterm Papierpreis, dann für die Hälfte des üblichen
Abonnementspreifes, jest, naddem fie gut eingeführt find, vielleicht zu etwas
gefteigertem Preis angeboten wurden.
Hier fommen wir dann zu dem wundeften Punkt in Deutfchlands augen-
blidlidem Leben, der genannt werden muß, wenn man die Dinge ganz richtig
feben will. Das deutfhe Bolfstum mußte immun fein gegen alle dieſe dä—
53
nifhen DBorftöße, wenn fein Leben gefund war. Gs war bis in die Seele
franf. Deutſchland wütete gegen fich felbft, und jede Kritif an deutſchen Zu-
ftänden wurde mit einer Art bitteren Bujtimmung gelefen. Sede Ausficht,
aus dem Chaos Herausgufommen, wurde zur Gerfudung, der mander erlag.
Das war der Boden, auf dem die dänifchen Blätter deutjcher Sprache arbei-
teten und den fie für fich fruchtbar madten. Leugnen wir es nicht: da liegt
ein gut Zeil deutſcher Schmad, milde ausgedrüdt, deutſcher Schwäche.
Müffen wir aber fo ehrlich fein zu gefteben, daß wir nicht nur tief wund,
aud franf, auch vielfach bon gefundem, ftarfem Volksgefühl verlaſſen waren,
dann muß es doch deutſche Herzen mit Bitterfeit erfüllen, daß Dänemark in
biejen Wunden wühlt, diefe Schwächen nutt und feine vorläufigen Grfolge
der Welt als Beweis porführt, daß ganz Schleswig nod die Sehnfudt nad)
Dänemark im Herzen bewahrt habe und jest fich auf fic felbft befinne.
Wir wiffen ganz genau, daß das alles nur ein Beweis unfres Slends ift;
aber wir werden diefen Beweis erft wirkſam erbringen können, wenn
wir fo weit gefundet find, daß niemand troß Not und Schwädhe fein Volkstum
preisgibt.
Wir find noch nicht fo weit, Gott jei’s geklagt, aber wir find auf dieſem
Wege. Wirtfchaftlich bedeutet die Stabilifierung der Mark in der Beziehung
febr viel, wenn aud natürlich auf deutſcher Seite die Armut bleibt, ja viel»
leicht erft recht deutlich wird. Mit einer ftabilen Währung entftehen doch
ftabilere Verhältniſſe. Bor allem aber wadjt das Berantwortungsbewuft-
fein der Grenzbevölkerung, wächſt der Drang, ſich ing eigene Volkstum zu
vertiefen, die Greude daran, der deutſche Stolz, Der Glaube an deutſche Bue
Zunft.
Gs gibt in Flensburg und Umgegend ein Dänentum, das echt ift und
alter Tradition. Man weiß, daß es ſchwer trägt an dem Neudänentum, das
jest gewonnen wird, weil guviel Unechtes daran ift; aber die Stimmen Diefer
edten Dänen fommen faum zu Worte, wagen fid aud faum heraus.
Nördlich der Grenge ift das Bild ein gang anderes. Die deutjche Minder-
beit Bier ift, wie aud) die Dänen anerkennen, alter Tradition, entftanden aus
altem Gemeingefibl mit Schleswig-Holftein, wenig gepflegt unter preußijcher
Herrſchaft, aber Hineingeftellt in die großen deutfhen Zufammenhänge und
ihnen Treue baltend jest im Unglüd.
Sammlung ift bei uns die Lofung und immer tiefere Berfnüpfung mit dem
Leben des deutfchen Bolfes gerade jest in der Trennung. Mander ließ fid
durch die Greignifje überrennen, zog fic zurüd, fragte vielleicht, was es nod
für einen Wert habe, dem deutſchen Volk die Treue zu halten; aber wenige
nur wandten ihr Herz wirklich dem dänifchen Bolf gu. Die aber ſich über-
rennen ließen oder ſchwankten, die finden mehr und mehr zurüd. Das deutjche
Leben zeigt Anziehungskraft, aber Sammlung ift die Lofung, nicht Groberung.
Die meiften ſprechen die däniſche Mundart, und die Beziehungen zum dänijch-
gefinnten Zeil der Bevölkerung find durchaus nicht feindliche. In ganz Nord-
ſchleswig vollzieht fic) gleichzeitig ein Gefinnen auf das, mas war und was
Deutſchland gab, und eine ftarfe Grniidterung gegenüber den Segnungen des
dänifchen Lebens, das es an Grnft der Lebensführung und Gtraffheit in
Dingen der Verwaltung, des Rechts und der Lebensgewohnheiten fehlen
läßt, tritt ein. Trotzdem wird die deutſche Sache nur in Zeitungen deutfcher
Sprade geführt, und die Kritif an däniſchen Verhältniffen halt fih von propa-
gandiftifher Verwertung fo merklich zurüd, daß die Kritif in nordichles-
wigſchen dänifhen Blättern nicht felten ſchärfer ausfällt.
54
5.
Dieſen Unterfchied der ganzen nationalen Atmofphäre bei den Minder-
beiten beiderfeits der Grenge muß man fennen und im Auge behalten, ehe
man richtig urteilen fann über das, was der eine oder andere Staat ber
Minderheit bietet. Ich halte es für wertvoll, zu allererft zu betonen, daß auf
beiden Seiten den Minderheiten mehr Raum geboten wird, als es por dem
Kriege in den Staaten üblid war, und daß rechtliche Bufiderungen gehalten
werden, aud) wenn es oft ſchwierig genug ift, fie geltend gu maden. Das foll
als Sortichritt gebucht werden.
Im übrigen liegt die Sache fo, um es in kurzen Zügen, wie es Dtefer Auf-
fag nötig madt, zu jagen, daß Dänemark beftimmte Gefege erlaffen bat, die
bie Rechte der Minderheit feftlegen und gemäß der ftarf dezentralifierten
demofratifhen Verfaſſung des Landes die Hauptentfcheidungen in die Gee
meinden legt, daß auf deutjcher Geite die Gerfaffung allgemein das Recht
der Minderheit auf eigenes Leben gufagt, eine Iandesgejegliche Auslegung aber
nod fehlt, Das meifte daher auf dem Wege der Berwaltung geregelt wird.
Daß da ein Borgug der dänifhen Regelung vorliegt, ift ſchwer zu
leugnen. Andererſeits muß aber bemerft werden, daß in Dänemark die Not-
wendigfeit porliegt, in jeder Gemeinde gefondert bie deutſchen Rechte au vere
treten, und daß eine dänifche Mebrbeit diefe vielfach fabotiert. Gin Minder-
beitenredt, das unabhängig bon der däniſchen Mehrheit fic durchſetzt, gibt es
nur in bejcheidenen Grenzen. Bor allem aber fehlt jedes Recht, die deutfchen
fulturellen Gintidtungen wie Schulen durch eigene Organe zu verwalten*. Gs
feblt die Eulturelle Gelbftbeftimmung außer in den Ginridtungen, die ganz
durch eigene Mittel getragen werden. Diefen Weg zu befchreiten, ift aber der
deutſchen Minderheit nur in geringem Grade möglich, weil die Mittel allzu
befchräntt find.
Die dänifhe Minderheit fidlid) der Grenge fann fid aber auf umfang»
reihe Mittel beides, des däniſchen Staates und des ganzen dänifchen Bolfes
ftügen und tut es ausgiebig. Gin Heer reichsdänifcher Lehrer und Kultur»
träger übt ungeftört feine Kulturpropaganda aus. Daneben errichtet der
deutſche Staat ein däniſches Schulwefen, das aber wie gefagt nicht genau ge-
feglich feftgelegt ift.
Wenn man aud durchaus verfteht, warum der preußifche Staat fich ſchwer
gu einer Regelung entfchließen fann angefidts der aggreffiven Propaganda,
fo bin id dod der Auffaffung, daß fie erwünfht und notwendig ift.
Nicht aber die gefetlichen Beftimmungen nördlich und fidlid der Grenge
geben den maßgebenden richtigen Bergleid, fondern all die Momente, die
borher genannt wurden, und diefer Vergleich wird immer das Bild ergeben,
daß nördlich der Grenze das Leben der deutjchen Minderheit durch die Auf
gabe der Sammlung und den Ausbau eines werbefräftigen Bolfslebens ge-
prägt ift, daß füdlih der Grenge die Not bes deutſchen Volles zur Bere
wirrung der Gemüter ausgenugt wird.
Wirkſam nüst da allein die Mtobilmadung aller Bolfstrafte auf deutſcher
Seite, um Die Widerftandsfraft zu erhöhen.
Das Berbot der deutfdgefdriebenen dänifhen Zeitungen ließe fich ver-
teidigen bon dem Gedanken aus, daf eine nationale Minderheit nur in der
Sprache ihres Bollstums den nationalen Kampf zu führen bat, denn nur
* Sas bedeutet u. a., daß an unfern deutfhen Schulen eine Reihe von Lehr-
traften tätig find, deren Herz dem danifden Bolt gehört, nicht dem deutichen.
55
gegen PDeutfchland benugt man die deutfche Sprade, um das deutſche Bolt
gu befämpfen, und verrät damit Deutlich den aggreſſiven Charalfter.
Srogdem dürfte es richtiger fein, Dies zu ertragen und nur bei offen»
fundiger ftaatsfeindliher Tendenz einzufchreiten. Umfo fraftiger muß Die
Seibfthilfe d. h. Stärkung des eigenen Bolfstums fich entfalten, und umſo
wirkſamer fann das wenig faire Benehmen diefer Minderheiten an den
Pranger geftellt werden.
Dänemark aber tate gut daran, rechtzeitig Darüber nadgudenfen, wie es
fih ftellen will, wenn die Gntwidlung dod einmal dazu führt, daß dieſes
ſchmachvolle Dokument der Sieger des Weltkrieges fällt.
Dänemark müßte fich darüber klar fein, daß diefer Bertrag in der furdt-
barften Weife Deutjchland entehrt gu einem unfreien, der Willfür preisgege-
benen Volk, zu einem Golf, das man zwang, fic felbft der Ehrloſigkeit gu
bezichtigen.
Dänemark Hat während des Krieges und nad dem Kriege genug an
deutſcher Ehre gefündigt, und ſchwerer fann man fid an einem Bolfe nicht
berfündigen, als indem man es an der Ehre angreift.
Die Welt beginnt fich zu teilen in Grantreid und feine Trabanten auf
der einen Seite und die, welde von Granfreid) mindeftens abrüden. Gs
fann einmal die Frage fommen, ob Dänemark zu den Trabanten Frankreichs
gehören will. Dänemark braudt nicht eine befonders feine Witterung zu
haben, um gu merfen, daß Granfreid jest die Macht hat. Danemarf hat
porläufig nach dieſer Witterung gehandelt und fann das nicht dadurd vere
wijden, daß es noch die alten Tiraden gegen preußifhe Macht zum Beften
gibt, wo es eine preußifhe Macht faum mehr gibt. Das wirkt nur lächerlich.
Will Dänemark aber im Grnft den Gindrud erweden, als ob es fein
Berhaltnis zu Deutſchland auf Macht gründen will, dasfelbe Dänemark, das
den Pagifismus als höchſte politifhe Moral zu verfedten fudt?
Kann es feiner Gade dienen, daß es faum ein Wort der Kritik gegen fran«
zöſiſches Regiment in Deutſchland findet, ja mir tm Golfeting den Mund
verbieten will, weil ich diefe Kritik übte, und gleichzeitig felbft verfucht, einen
Entrüftungsfturm über preufifdhes Vorgehen in Zone zwei zu entfaden?
Ich perſönlich teile nicht die politifihe Moral des Pagifismus, aber
Deutfchland und Dänemark miiffen fo viel Selbftbeherrfhung aufbringen, daß
ihr weiteres Verhältnis fid in ruhiger Gntwidlung ordnet.
Das nationale Ringen fann nidt abgebaut werden, muß aber in ritter-
lihen Gormen durchgeführt werden. Gin allmähliher Ausgleih der Kräfte
wird dazu viel tun. Gin gutes Minderheitenreht wird daraus erwadjfen
müffen und beruhigend wirken.
Gs läßt fih auch nicht defretieren, daß der alte fchleswig-bolfteinijche
Ginheitsgedanfe zu begraben fei, um fo weniger als gerade Dänemark guerft
den Gedanfen der Einheit Schleswigs für feine Bwede aufgriff.
Die Entwidlung geht in diefen beiden Linien weiter und drängt einmal
gu einer neuen Gntfdheidung. Mögen ingwifdhen die Völker Herangereift
fein gum DVerftändnis, daß es eine höhere germanifde Solidarität* gibt,
und daß ein verantwortlicher Staatsmann diefe nie aus dem Auge verlieren
darf.
Zondern, 9. 1. 1924. Sobannes Shmidt-Wodder.
- Bgl. das Schleswig-Holftein-Heft der „Bat“, das in Vorbereitung ift.
56
„Seelloje* Arbeit.
ans Sachs hätte einen Beruf gehabt, aud) wenn er fein Poet gewefen wäre,
H — kann die Arbeit an der Steppmaſchine in der Schuhfabrik von Sachs
u. Go. aud) Beruf fein?? Sa? Dann wäre bie Beſchaffenheit der
Zätigfeit felbft ganz gleihgültig und jede Arbeit, fofern fie nur „an.
fih“ einer Pflicht, d. b. einem iiberperfinliden Bufammenbang zu dienen
vermag, „berufsfähig*? Daf ‘fie es heute nicht ift und ber „vermaſſte“
Einzelne fid in bdiefer Zeit mit dem abftraften Berufsbewußtfein feiner
Klaffe, mit dem unerfüllten Glauben an ihren Beruf begnügen muß, ift
uns flar geworden. Der Arbeitsromantifer meint nun aber, es läge an
der Steppmafchine. So „feellofe Arbeit“ — ruft er aus — Die nie ein „ganzes
Werk“ in unfern Händen läßt, fann gar nicht Beruf fein! Alfo hatte dia
Technik [huld, und wir müßten die Mafchinen zerfchlagen? Oder fie meiden?*
@ott fet Dank ift das aber nicht die Meinung der Leute, die felbft an der
Mafcine ftehen (ihnen könnte man eher gubiel Glauben an die „Wunder
der Technik“ porwerfen), fondern nur die Anficht jener „Öeiftigen“, die Bro»
ſchüren über fie fchreiben. Sie möchten uns einreden, jeder Wenfd fet
eine „ſchöpferiſche Perfdnlidfeit* im Sinne des „KRunftwart“, d. 5. trate mit
den Anfprühen des Künftlers an feine Arbeit heran. Die Leute, bie
wirklich „ganze Werfe* verrichten durften und konnten und mollten, waren
aber allegeit felten und werden es allegeit fein. Sa, könnten die Schollen-
fnechte und Laftentrager der mafdinenlofen Sahrhunderte aus ihren Gräbern
erfteben, fie würden den äſthetiſchen Oberlehrer (ber doch auch nicht egal ,,ge-
ftaltet“) ſchon durch ihren Wnblid verftummen machen.
Man betrachte fid bie „Weltanfhauung“ der ftandfeften Proletarier: fie
ift eine Mafchinen- und Fabrifenreligion voller Beradtung der „Bude“; fie
weiß nichts und will nichts wiffen von den „rüdftändigen* Arbeitsmethoden
des goldenen Handwerks, ja ihr Sozialismus ift nur ein Mafchinismus ohne
Kapitalismus. Ich weiß bei allem wohl, Daf es auch „da unten“ nad „oben“
bin Deflaffierte gibt, und id) fenne fie, die vorftadtgeborene Sntelleftuaille,
giemlid genau: die Sung-Gogzialiften, -Rommuniften, »Shnödilaliften, -Wnar-
Hiften ufw., furzum all die vom Erwerb und darum aud bon der Ma—
{bine Angeefelten. Wud) habe id für fie viel mehr Mitgefühl als für ihre
Borbilder in einer „bürgerlichen“ Jugend (bon denen viele ihren Grwerb
gar nicht zu verlafjen braudten, um fdon jest einen Beruf zu finden). Sndes,
bier halte id es mit der Maffe der Standfeften, die da weiß, daß Arbeit
fein Bergnügen, fein Spiel fein foll. Mun wohl, fo dod eine Freude! Sagen
wir lieber eine „heilige Plage“, denn Greude ohne Mühe hat felten ,,Pflidt-
arafter“ und mifrat leicht gum bloßen Vergnügen, und allein Die aus
Mühfal und Bergidten geborene Greude ift wirklid Grfüllung. Der
Schkultürler, hört er dieſes Wort, denkt dabei natürlich fogleid an die ,,Gnt-
* Mun ja, wer mit der Welt, fo wie fie ift, durchaus nidt fertig wird, der mag
binter dem Rüden der Gabrifen „jiedeln“ und feine foftbare Perfinlidfeit derweil
in grüner Ginfamfeit „pflegen“, — nur foll er fidh nidt einbilden, damit etwa einen
Beruf oder gar eine „Miflion“ zu erfüllen. Denn wie id {don fagte: wer zuerft an
fi® felbft denkt, fid feiner Zeit und ihrer Not verfagt, der bat feinen Beruf; Beruf
ift mehr al8 Flucht vor dem Erwerb, und der Ichkurtürler ift nicht beffer denn
der grobe, aber aufridtige Ggoift; vielleiht ift er fogar fdledter, weil er fid bee
fonders erbaben dünkt und gern von „Oemeinſchaft“ ſchwätzt. — Damit ift übrigens
— ne den „Rüdzug aus der Welt“ gejagt, der mit dem ,Ora et labora“
gemeint ift. .
57
faltung feiner Perfonlidfeit*. Gr irrt fich, felbft wenn er eine Perfönlichkeit
hat oder vielmehr ift. Denn Beruf tft gwar mehr als Profeffion, aber darum
feineswegs nur Pajfion, und fein größtes „pſhchologiſches Hindernis“ bleibt
Das fich felbft bewundernde Gubjelt mit dem geräuſchvollen Innenleben.
Was, wer bin id, daß ich aus mir felbft einen Beruf dürfte maden!* Gin
Beruf im vollen Berftand gilt immer für „die Anderen“, für die Gemein-
{Haft, für — erfchredt nicht: Gott und nur auf diefem „Umweg“ aud für mid.
*
Seglide Arbeit, fag ich, die Pflicht fein fann, ift „berufsfähig“. Wud
die an der Steppmafdine. Wenn nun aber die Pflicht Tediglich einem Ge—
{Gaft, dem Grwerb eines anderen oder dem eigenen Erwerb gilt — wie die
an der Steppmafdine und auch die im Direftionsbiiro? Hier erft ftehen
wit bor der Not unfrer Beit! Hat der Herr feinen Beruf, fo fann auch der
Knecht ſchwer einen haben; fteht die ,Gefamthert auf Erwerb, fo wird glied-
befter Beruf für den Einzelnen fdier unmöglich.
Mit allem foll nicht geleugnet werden, daß die „DBerufsfähigfeit“
einer Arbeit proportional ihrer Qualität abnimmt und aljo in der Tat ein
Sandmerfer alten Stils fdon in feiner täglichen Tätigkeit felbft mehr form»
bare „Subftanz“ für einen Beruf vorfand als ein heutiger durchfchnittlicher
Sabriller. Darf man indes, wie es meift gefchieht, unfere Induftriearbeiter
überhaupt neben jene mittelalterliden Handwerker ftellen, die auf ihren
ftadtwirtfchaftlihen Kulturinfeln dod aud nur eine dünne Oberfhicht bil-
deten? Die Mafchinenmenfhen felbft vergleichen fich jedenfalls mit den
Schollenknechten des „finfteren“ Mittelalters. Und wie anders wäre auch ihr
Gelbftgefühl verftändlih? Gewiß, unter einer fortjchreitenden Arbeits- (beffer
wohl: Arbeiter-)gerlegung gerfielen die Grundlagen der alten Berufe (und
gwar nicht nur in den Hbandarbeitenden Tatigfeiten!); felten Hingegen wird der
Gewinn bedadt, der den gewiß empfindliden Berluften, die eine Minderheit
auf dem Wege bom Handwerk zur Manufaktur und Mafdinofattur erlitten
Hat und nod immer erleidet, immerhin gegenüberfteht: Millionen RKnedte,
einft nur Bauftoff, „Material“ für Geburts- und Berufsftande, erwarben
nun felbft wenigftens eine Anwartjchaft auf Beruf und empfinden — ob mit
Redt oder nist — die eifernen Apparate als Bundesgenofjen in Diefem
ihrem Geltungsfampf. Kommt hinzu: auch der Mafchinismus fordert menjd-
lide Qualitäten und begünftigt fie in viel höherem Maße als die Arbeits-
romantifer glauben; denn er führt eine, feinem wiffenfchaftlihen Charakter
entfprechende, intelligente, allerdings durchaus unfünftlerifche, technifche
Arbeiterelite herauf. nd ferner: die moderne Technik ift längft nicht mehr
nur Arbeitsteilung; fie ftrebt immer deutlicher nach Wiederbereinigung der
dur „die Hände“ zerlegten Arbeitselemente in Arbeitsfombinationsmafdinen,
denen gegenüber der Menſch nicht mehr nur Lüdenbüßer fondern Leiter ift.
Und endlih: die maffenmäßige, den Einzelnen erdrüdende großbetriebliche
Produktion hat ihre Grenge erreicht, ja bereits überfchrittenl Schon ſehen
weitblidende Wirtfchafter eine „zweite Aera der Mafdine* auffteigen und
prophezeien eine „Stadtflucht der Snduftrie“, eine „elektrotechniihe Defon-
* ‚Wolle ganz did felbft, dann dienft du am beften dem Ganzen“ — das war
die Deviſe der Mafıipen Nationaldtonomie, auf die fid die „Sthif“ des Erwerbs
gründet. Aber feitdem die Nationaldfonomen an der Greibandelslebre irre geworden,
befennen fih die Bädagogen zum Mandeftertum, und felbft „überzeugte fo
ialiſtiſche“ Erzieher trattieren nun in ihren Gbarafterlehren die Bourgoismoral des
Hidden Spieles der perfinliden Triebe — von berufswegen!
58
zentration der Habrif“, eine ,,Werkftattausfiedlung*, die in ihrem End-
ergebnis mehr bedeuten fann als eine bloße Wenderung der Produftionsweife*.
Und in der Tat: allein auf diefem Wege („entlang den Kabeln“) könnte ein
Induſtrievolk feine Heimat wiederfinden und zugleich unfer altes Bauern-
tum neue Wurzeln fdlagen. Das Sonntagsagrariertum unfrer Siedlungs-
teformer erwirft weder dieſes noch jenes; es hilft nur die Entfernung von
Haushalt und Werkftatt vergrößern, damit auch die feindliche Scheidung von
Leben und Arbeit verfchärfen.
Freunde, die Fabri ift nicht das legte Wort der Sednif! Wo doch der
Gabrifant felbft gum Bweifler an der Fabrik wird: Der Raufmann rechnet
und findet, daß die „unproduftiven Koften“ (d. b. die Berwaltungs- und Auf-
ſichtsapparate) großbetriebliher Arbeitszufammenfaffung ihre allzunabelie-
genden Dorteile in Frage zu ftellen beginnen; und aud der Sednifer
wendet fid langfam bon zentraliftiihen DenfgewobHnbeiten ab. Denn an ihren
Ort und an die Formen der Grofarbeit gebunden find ja fchließlih nur die
Betriebe induftrieller Robftoffproduftion (Kohle, Grae, Steine uj.) und die
der induftriellen Krafterzeugung, Die Kernwerfe unter den Salfperren, die ihre
{Hwebenden Kraftnege über weite Provinzen fpannen. Und die fdlanfen
Kabelträger find immerhin {diner als qualmende Schlote. Dod der Ingenieur
benft glei Dem Kaufmann bei allem nicht an Schönheit, nur an Rentabilität.
Nicht anders der AWrbeitspolitifer, der ebenfalls ohne Begliidungsab-
fit und „nur“ der Not gehordend der „Delonzentration“ das Wort redet.
Weil er befennen muß, daß er mit feiner „Pſhchotechnik“ am Ende ift. Durch
Zufammenfaffung aller lebendigen Gerantwortung in ber Betriebsfpike und
durch Motorifierung ber „Hände“ in den Werfftatten hatte er gebofft, die
{Hweren „pſychologiſchen Hemmungen“ maffenmäßiger Arbeit ,ausgujdalten*;
aber diefe „reinliche Scheidung von Geift und Bewegung“, von Leitung und
Ausführung, dieſe ,Gntdenfung* der Handarbeiten, diefe Pädagogik der
Stoppubr, die aus befeelten Menfden launenlofe und Darum zufriedene
Salbautomaten wollte madden, fie bewirkte nur dag Begenteil. Was bleibt
nun übrig? Arbeitsfreude vermag nicht gu gedeihen ohne den Sauerſtoff der
Sreibeit im Schaffen felbft; man muß alfo — das ift nun eine Lebensfrage
fhon der Wirtfchaft! — die Arbeitsperantwortung des Arbeiter am Arbeits-
platz felbft wieberberftellen, d. 5. man muß die von oben herunter wirkenden
awangbaften, fünftlihen, ftarren und Eoftjpieligen Kontrollen „wilfenihaft-
lider DBetriebsweife* Durch eine am Arbeitserfolg unmittelbar intereffierte
arbeitsgenofjenfchaftlihe Selbftaufficht erfegen, und Dies eben führt not-
wendig zu jener Defongentration des Großbetriebs, deren [estes Gre
gebnis eine fidtlid-drtlide Auseinandergliederung der Produftionsbereide,
eine „Werkftattausfiedlung“, nicht nur eine „Heimftättenbewegung“ wäre. Das
alles wird freilich nicht pon heut auf morgen gelingen; aber wir feben ein
Ziel und Möglichkeiten, die es uns verbieten, bor der Materie zu fapitulieren
und die große geiftige Aufgabe zu verachten, die Gott uns, unferem Bolfe
geftellt.
a
So fag ich's denn nod einmal: Keine Arbeit, Freunde, ift feellos („be=
tufsunfabig*) an und für fic; eine jede empfängt ihre Seele nur bon den
“ Menfchen, die fie tun. Und ein jegliches getreue Schaffen ift aud „immer
wieder dasfelbe“, fern bon fpielerifcher Abwechfelung und Genfation. 3a,
* Siehe 3. B. die intereffante Studie von Dr. Eugen Rofenftod: , Werkftattaus-
ftedlung“, Verlag: Springer, Berlin, 1922.
59
felbft die offenkundig-monotone Berridtung fann Beruf fein, fofern nur, was
ihr an ftofflider Qualität abgeht, überboten wird durch die Qualität ihres
Sinns. Denn dies ift bas Legkte und Wichtigfte, in allem bisher Gefagten
nur Ungedeutete, und Hier erft offenbart fid die innerfte Urjadhe unfrer
Berufsnot: Die Arbeit muß einen Sinn haben, der über ihren unmittelbar-
perfinliden, aud über ihren mittelbar-fozialen Zwed und Ertrag binaus-
weift in eine fuprafoziale Sphäre; fie darf nit nur Privatſache, aud nicht
nur Sogialfade fein, überhaupt nidt nur Menfchendienft, fie muß Sottes-
bienft fein können, foll fie fich wirklich gum Beruf erheben!
Aber freilich: jene Gefamtheit des Grwerbs, die wir Heute ,,Gefell-
ſchaft“ nennen, bat feinen das Shftem ihrer Zwede überragenden Sinn
und Darum aud feinen höheren Anſpruch auf meine Dienftbarfeit als
irgendein leibhaftiger „DBrotherr“. Und nicht anders wäre es bei dem
Generalunternehmer (Staat) einer „jogtalifierten“ Wirtfchaft; aud er fönnte
nidt mit größerem Redte größere Opfer von uns heifchen als der Privat»
unternebmer, denn beiden gilt Arbeit nur als Mittel zu einem Leben ohne
eigenen überperjönlihen Sinn, und beiden gegenüber bleibe ich deshalb nur
Produftiongmittel. Indem wir die Taktif unfers Grwerbs Ändern, Löfen
wir eben nidt unfere Berufsnot. Was eigentlich uns hindert Beruf zu haben,
— fagen wir es kurz und Ear — ift unfer Abfall bon Spott! Bedenkt: Nicht
bod die Befchaffenheit der Arbeit an und für fid) ermöglichte den Menfchen
Griftlider Jahrhunderte, fobald fie fid nur über das pflanzenhafte Dafein der
Scollenhörigen erhoben, das geborgene Glüd eines Berufs, vielmehr war es
bie Berbundenbeit ihrer ganzen Sozietät mit Gott, das juprafoziale Ziel
der menfhliden Gemeinf daft!
Bliden wir zurüd: Solange der Geift der ®emeinfchaft in der abendlän-
diſchen Welt ungebrochen lebte, alfo etwa bis zum Ausgang des vierzehnten
Sabrhunderts, war Beruf gleihbedeutend mit Stand, mit minifterium und
offictum. Nicht alfo den Gingelnen berief Gott tn feinen Beruf, — dieſe
individualiftifhe Auffaffung der vocatio bricht erft bei Luther durch —
fondern die Kolleftipperfonen der Stände waren die von Gott ein-
gefegten Träger der Berufe, und erft aus der Föderation der Stände, erft
aus ihren fih wedfelfeitig ergänzenden, nad natürlicher und göttlicher
Ordnung ein für allemal feftgefegten, ungleichen Dienften bildete fid „Die
Shriftenheit“ gufammen*. Wobei dann deutlich genug jene „unvernünftige“
Rangordnung waltete, die id im vorigen Auffat in dem Gage bezeichnete:
woe ferner den „Intereffen“, defto höher der Berufl*: Die „arbeitsiofen“
asfetifhen Stände in der firdliden Hierardie (Prieftertum und Möndhtum)
bildeten die Spite im gotifhen Aufbau gemeinjhaftsmäßiger Geſellſchaft;
ihnen folgten im Range die weltliden Ure und Geburtsftinde des Adels,
die Träger des Schwerts und der irdifchen Obrigkeit, fowie die ftädtifchen
Geſchlechter; nad ihnen erft famen die Arbeits berufsftände der. ftädtifchen
Gewerbe und zulegt die „ichlummernden* Schichten des unfreien Landes.
Außerhalb der Gemeinſchaft aber ftanden die Pioniere der heutigen „Ge—
fellihaft“: Die Händler, als die dem Er werb Berbafteten, d. h. über bloße
„Nahrung“ Hinaugftrebenden, darum DBerufslofen. Denn: „auszer beruf
nad) narung tradten, ift nichtS anderes denn Gott verachten.“ Diefer Sag,
"Siehe Troeltfh: „Soziallehren der Hriftliden Kirhen und Gruppen“.
60
der übrigens das DBerhältnis von Beruf und Erwerb endgültig tlarftellt, galt
nod zu Luthers Zeiten.
Dod die Tragif unjrer Iutherifhen Reformation — ich fag’s als Prote-
ftant nicht leichten Herzens! — wird fdon bier offenbar: Ihr religiöfer
Demofratismus berneinte mit feiner priefterfeindliden antimöndifhen Ein»
ftellung zugleich jene auf eine „heilige Kirche“ hingeordnete Hierardie
der Stände, erjchütterte aber fo den höheren Rang der ,arbeitslofen* (ge-
nauer: erwerbslofen) Berufe überhaupt und fegnet damit — ungewollt! —
den Erwerb. Und ihr religiöfer Individualismus bereitet — ebenfalls unge-
wollt! — jenen Bilflofen Gubjeftivigmus unferes modernen DBerufsgefühls
bor, der den Sinn eines Berufs in der unmittelbaren Befriedigung der
eignen Perfönlichkeit jucht*. Denn ift’s gleich bei Luther durchaus nod Gott
allein, der ung beruft, — ich felbft bin nur Lutherianer und „fühle mich bes.
rufen“ zu Dingen, die mir gefallen, die mich befriedigen. Nod einen Schritt
weiter aber gebt der calbinifde, puritanifch-täuferifhe Proteftantismus
mit feiner Verachtung des ,arbeitslofen“* (erwerbslofen) Lebens: Nach der
furchtbaren Lehre des Genfers fcheidet Gott auf Grund feines unerforfchlichen
uranfänglichen Ratjchluffes die Menſchen nad Erwählten und Berdbammten
ohne Rüdjiht auf ihr Sun. So brennt denn in jeder einfamen Seele die
Stage: „Bin ich erwählt, bin id) verworfen?“ Und fein Sterblider® vermag
fie ficher zu beantworten. Doch gibt es immerhin Angeiden der Gre
wäbltheit: Wenn nämlich mein Wirken — „ſachlichen“‘ Erfolg bat, darf id
vermuten, daß Gott mich liebt, weil es ja der Wille diefes Behoda-Gottes
ift, Die böfe, träge, geile Welt feiner ftrengen Herrfhaft zu unterwerfen, und
Pflimt des Frommen, diefen feinen Willen in ftetem Kampf mit der fündigen
Natur in uns und außer uns zu verwirklichen. Aber wodurch? Durd ein
astetifhes Leben in der Arbeit. Arbeit ift bier Zucht und Buße, genuf-
Iofe, freudeverachtende Meifterung der Welt, — Madtftreben um GSottes
Ehre willen. Und jeder Gläubige führt diefen Kampf allein! Gs gibt Leine
Gemeinfdaft, nur eine „Geſellſchaft“ der Freunde Gottes (fo die Quäder!).
Hier haben wir die (ingwifdhen abgeftorbenen) religiöfen Wurzeln jenes
angelfähfifhen Hebräertums, das kapitaliftifher Grmerbsethif gum Siege
verbalf**. Geſchäft und Profit werden nun fromme Pflicht, find nun Beruf,
— Mufe (nit nur Faulbeit), Freude (nicht nur Genuß) hingegen Sünde. Als
bon © ott verworfen erfdeinen die erfolglofen Gefdaftsleute, die gering
entlobnten, weil überzähligen Arbeiter, die Kranken (Grwerbsunfabigen!) und
alle Armen überhaupt. Und Gott am nadften fteht der reüffierende Unter
nehmer und Händler, der fchlaflofe Asket feines Gefhäfts. Alle lutheriſche
Steude an liederreicher Arbeit und finnlidem Bebagen, alle fünftler-
ifdme Luft erftarrt in der falten Rechenhaftigleit des einfamen, frommen,
großen Gefchäftsmannes. Ich fage des großen Gefdaftsmanns; denn
unverfennbar groß ift dieſe Gricheinung, folange nod das Licht eines
Glaubens auf fie fällt. Diefes Licht ift indes erlofchen und Calbinismus minus
Gott, d. h. Mandeftertum und Morganismus verhalfen der modernen Gr-
werbsgejfellichaft zum Siege. Aud im Iutherifchen Deutfhland? Ih wage
* Sn der unmittelbaren Defriedigung, d. 5. in der fubjeltiven Greude am
eigenen Werf, die ja den „ilmweg“ über Die Gemeinfdaft nidt mehr braudt, wenn
der Menſch „Direkt“ mit feinem Gott verfehbren fann. :
** Maz Weber hat in feiner glänzenden religionsfoziologifhen Studie: „Die
proteftantifhe Ethik und der Geift des Kapitalismus“ diefe Zufammenhänge deutlid
aufgezeigt.
61
gu boffen: nein! Sedenfalls gibt es für Deutſche feine Möglichkeit zum Bee
zuf ohne einen Sinn des Ganzen.
*
Beruf, meinte id, wäre eine „innere Tatfade“, eine feelifhe Beziehung
des Menjchen zu feiner Arbeit; aber wiederum die Arbeit empfängt ihren
Sinn bom Ginn bes Ganzen. Und wer beftimmt diefen Sinn des Ganzen?
Wer lent den Geift der Zeit? Du oder ih? Nein, Gott allein. Beruf ift
alſo Gnade, die nicht Dir perjönlich zuteil wird als vielmehr dem Ganzen.
Beruf fest eine Harmonie der Teile, der „Olieder“, der „Stände“ voraus; „freie“
Berufe find Unfinn, denn Beruf tft nur ein anderes Wort für Gemein-
ſchaft, wie Srwerb nur ein anderer Begriff für die „präftabilifierte Dis-
Harmonie“ der Gefellfhaft if. — Uns einzelnen bleibt inmitten einer
bon Gott abgefallenen Welt nur die Möglichkeit zu wirken, „als ob“ die Ge—
fellfchaft, an die wir mit unfrer Arbeit gebunden find, Gemeinſchaft wäre.
Dabei werden wir Niederlagen erleiden und tägliche Gnttaufdungen erleben,
denn die „DBerhältniffe*, d. b. die Formen eines gottlofen Gefamtgeiftes, find
mächtiger als unfer einfames DBerlangen. Wir miiffen jedoch — wollen wir
etwas wie Beruf behalten in noch beruflofer Beit — diefen Rampf brüderlich ver
bunden immer wieder aufnehmen und gwar in der Welt (nicht neben ihr in
der Siedlung!) und ohne Frage nad) dem Erfolg. Heinz Marr.
Ziele einer deutfchen Dramaturgie der
Gegenwart*.
ede lebendige geiftige Schöpfung trägt ihr Dafeins- und Entwidlungsgefeß
in fic felbft und madt es geltend von dem Augenblid an, wo fie fid von
ihrem Schöpfer abzulöfen beginnt. Wirkſam war dies Gefek fchon vorher, bon
dem Augenblid der Konzeption, ja der fchöpferifhen Stimmung an. Greif
barer tritt es, zumal beim Künftler, hervor, fobald feine geiftige Gnergie fid
auf ein beftimmtes, fefter umfdriebenes Ziel, auf die Geftaltung eines Phan—⸗
tajieerlebnifjes zu richten beginnt. Dann drängt es ihn unmwiderftehlich zu ganz
beftimmten formalen Ausdrudsmöglichkeiten hin, die ihm eine Scheinverkör—
perung feines Sraumbildes verheißen, fo rein, fo pollftändig und fo wirkſam
und überzeugend, wie das unter menſchlichen Berhältniffen überhaupt möglich
ift. Was das SGuden der Mtenfden feit Jahrhunderten an Erfahrungen auf
gefpeichert, was die geheimnisvolle Wahlverwandtihaft zwiſchen Subjelt und
Objekt an Darftellungsmitteln hervorgebracht hat, das bietet fid nun dar, um
die Widerftinde der Welt und des EZünftlerifhen Stoffes und Werkzeuges
überwinden gu belfen. Und dieſe Schwierigkeiten find nicht gering. Wie
u |
* Diefe Ausführungen find gedadt als Einleitung zum zweiten Bande der „Deut-
iden Dramaturgie“ des Berfaffers, der im Laufe diefes Sabres in der Hanfeatijden
Berlagsanftalt erfdeinen foll, Diefes Werf, dejien erfter Band („Bon Leifing bis
Hebbel“) in zweiter Auflage vorliegt, foll die Gortentwidlung des dramaturgifden
Denkens in Deutichland bis in die unmittelbare Gegenwart hinein verfolgen. Es
bringt alfo aus Biidern, Auffaben und Reden ausgewählte Stellen, Die über
einzelne wichtige Fragen der Dramaturgie entweder ganz Neues und Fruchtbares,
beut nod) Haltbares jagen oder Befanntes in eigenartiger und formal vollendeter
Weiſe gufammenfaffen oder endlich durd ihre fharfe Problemftellung geeignet find,
die Erörterung dauernd zu fördern. Die Einleitung fudt die ausgehobenen Stellen
in die allgemeine — 7 einzuordnen, Anmerkungen dienen der Gre
drterung und geben dem tiefer ®rabenden die nötigen Winfe. So will das Bud
wiffenfdaftliden und praktiſchen Zweden zugleih dienen.
62
jeder technifche Grfinder hat der Künftler, Dat der Dichter mit der Sprödig-
feit feines Materials, Des Marmors oder der Farben, der Sprache oder der
Töne zu ringen, ift er bis zu einem gewifjen Grade davon abhängig, wie weit
es die Menfden zu feiner Zeit in der Meifterung der Natur gebradt haben
oder intviefern fie dazu reif find, feine neuen Berfude, dem Stoffe unbefannte
Wirkungen abguringen, mitfühlend und mitjchaffend anzuerkennen. Dazu fommt
bie notwendige Auseinanderfegung mit den allgemeinen Borftellungen und
Wertungen der Beit auf dem Gebiete des Lebens und ber Gefellfdaft, mit
fittliden und redtliden, mit ftaatliden und religiöfen Anfchauungen, die
alle ihr Gigenredt dem Künftler gegenüber geltend machen. Kurz, er tritt fon
bier mit feinem Werfe unter Gejeblidfeiten, deren Bereich fi weit über
feine Perfon und fein Schaffen erftredt, die auch alle literarifdhen und finfte
lerifden Zeitftrömungen, Schulen und Moden überdauern. Endlich aber und
bor allem erhebt die Kunft felber und der befondere Kunftzweig, die einzelne
Darftellungsweife, Die der Künftler als die feiner inneren, nach Geftaltung
dDrängenden Schau gemäßefte erfannt bat, ihre gang eigenen, unerbittlichen
Zorderungen, die niemand ungeftraft verlegen Tann. Was man der Linie,
was der Farbe, was dem Ordefter, was der Singftimme, was dem Epos und
was Dem Drama zumuten, was man von ihnen an Wirkungen verlangen darf,
was gerade fie in ganz bejonderem Maße leiften fünnen, das liegt tief in
der Wefenheit der einzelnen Kunftformen begründet, aber es offenbart fid der
Wenſchheit nur ftüdweife und will immer aufs neue erprobt und immer tiefer
erfaßt und erlebt fein.
Aud an dem Geheimnis des Dramas müht fid die Welt nun feit Sabre
taufenden ab, und feiner wird es je völlig ergründen, weil es mit der Gntwid-
fung des Menfchengeiftes überhaupt fein innerftes Wefen immer fräftiger,
immer reicher, immer mannigfaltiger bor uns entfaltet; weil es immer neue
Möglichkeiten darbietet, aber aud) auf immer neue Abwege lodt und fid
immer wieder mit eigenem Sauber aud demjenigen zu erjchließen verjpricht,
deffen fünftlerifhe Art ihm vielleicht nur fdrittweife entgegenfommt, der fid
burd äußere Rüdfichten, wie den geheimnisvollen Reiz der Bühne oder die
Ausfiht auf den raufdenden Beifall einer Hingeriffenen Menge verführen
läßt. Aber felbft wenn der Dichter fich nicht in der Gorm vergriffen, wenn
er zum Drama ein gang innerliches Verhältnis hat, fo bleibt ihm der unab-
läffige Kampf nicht erfpart zwiſchen den Whwegen, auf die feine Ginbilbungs-
kraft ihn immer wieder verloden will, und den geheimnisvollen, nie ganz Klar
gu formulierenden, aber immer vorhandenen und unumgänglichen inneren
Lebensgefegen feiner befonderen Kunftform, auf denen gerade das Drama mit
befonderem Grnfte beftehen muß. WAefthetifde Normen maden fid geltend,
die mit den einmal ergriffenen Wusdrudsmiglidfeiten, mit Bühne und
Rollentaufh, mit dem Dialog und der aus den Charakteren entfließenden
Handlung ein für allemal gegeben find und über alle Neigungen und Sonder»
wiinfde des einzelnen und feiner Zeit erbaben find. Normen, um Derent-
willen einft diefe Formen „erfunden“ worden find, fich gebildet oder aus einem
größeren Zufammenhange abgelöft haben. Was alfo im erften Augenblid
als hilfreicher Genoffe erfchten, der formende Kräfte und die Grgebniffe tech-
nifhen Nadfinnens von Sahrhunderten für die augenblidlihe Aufgabe bereit
ftellte, das erweift fic fehr bald als ein anfpruchspoller Partner, der feind
Anſprüche gebieterifch anmeldet; doch Iohnt die Auseinanderfegung mit diefem
Gegner reichlich, indem fie immer neue Möglichkeiten erfchließt, und Den
Dichter zur unbedingten Sammlung feiner Kräfte auf das Wefentlide feiner
63
„Intention“ peranlaft. Zwiſchen der bejonderen „Aufgabe“ des Künftlers
und den innerften Gormtrieben der Gattung befteht aljo eine geheime Wahl-
berwandtichaft und eine notwendige Beziehung — nicht mehr; zu einer wirk-
liden Dedung fann es niemals fommen, immer bleibt der Stoßfeufzer des
jungen Goethe beftehen: ,Sede Gorm, auch die gefühltefte, bat etwas Un—
wahres; allein fie ijt ein für allemal das Olas, wodurd wir die heiligen
Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz des Menfchen gum Feuerblid
fammeln.*
Ware es anders, wäre irgendwo auf der Welt im geiftigen Schaffen eine
unmittelbare, reftlofe Ginbeit pon Gebalt und Form, von Geftaltungswillen
und Ausdrudsmöglichkeiten vorhanden, dann brauchten wir feine Rritif, die,
wo fie echt ift, in ernftem Ringen das Grlebnis des Künftlers nadergeugen
und an ihm das jeweils Grreichte meffen muß; dann braudte es feiner Theo-
tie der Didtung und ihrer Unterarten, dann braudte es aud feiner Dra-
maturgie, die zwijchen der bejonderen Art der dramatifch-fünftlerifhen Schau
und den fpradliden und bühnentehnifhen Möglichkeiten ihrer Verwirkli—
ung zu vermitteln ftrebt. Wie aber die Dinge liegen, fann der Künftler nicht
unbewußt und traumbaft {daffen; er muß ſich nicht nur mit den taufend Hem-
mungen Draußen und drinnen, nicht bloß mit dem Stoff und den Schwierig-
feiten Der äußeren Gorm, er muß bor allem mit dem Normengefes der Gattung
ringen, um fein nad den verjchiedenften Richtungen ausgreifendes Grlebnis
ganz in deren Bereich zu zwingen und dadurd erft recht poetifch fruchtbar zu
maden. Diefer Teil der Arbeit vollzieht fic mehr oder weniger in der Hell
beleuchteten Sphäre des wachen Bewußtjeins, mag die Konzeption des Werkes
felbft und die erfte Grgreifung der Gorm noch fo traumhaft vor fich gegangen
fein. Und hier trifft Der Dichter auf jene Schar, die bon der Anfchauung, von
dem Genuf, von der Zergliederung der gefdaffenen Werke oder gar bon der
überlieferten Theorie, vielleicht aud bon funftfremden Wertfegungen und Ab—
leitungen berfommt, um ibn gu ergründen, zu beraten — eine Schar bon Quäl«
geiftern, Die um fo peinigender auf feine empfindliche Seele wirken, als fie
einmal in feiner eignen Bruft einen mächtigen Anwalt haben und andrerfeits
der Künftler ohne diefe Außenwelt eben nicht ausfommen fann; denn „Dichter
lieben nicht zu fdweigen, wollen fid der Menge zeigen.“ Grit der Genuf,
durch verftändnispolle Lefer, erft die Iebenspolle Aufführung por einer mit-
geriffenen Menge madt das dramatifhe Kunftwerf aud für feinen Schöpfer
„fertig“, ja die ftete Auseinanderfegung zwijchen dem fchaffenden „Ich“ und
dem borgeftellten „Du“ des idealen Zujchauers ift einer der madtigften Hebel
bei der tatjadliden Ausgeftaltung des Kunftwerfes. In der „Dramaturgie“
aber, wie fie bon Didtern und von Philoſophen mit fehr verfdiedener Ein—
ftellung und febr verſchiedenem Handwerkszeug betrieben wird, wie fie aud
bon der Kritif an der Hand der Betradtung des Gingelwerfes mannigfad
gefördert werden fann und bon der Literaturgefchichte her vielfach beleuchtet
wird, in der „Dramaturgie“ wird die innere Berechtigung jener Anſprüche an
ben Dichter grundfählich erörtert. Hier fucht fid) der Menfchengeift über die
inneren Normen des Dramas Har zu werden; damit ergeben fid fofort eine
Menge von Gingelfragen: wie fid die Bühnenkunft zu den Dichterifchen Nach»
bargattungen verhält; wie weit fie, dank ihrer ftarfen jinnlihen Wirkungen,
mit den Schwefterfünften der Mufif und der bildenden Kunft in notwendigen
Beziehungen fteht; wie fie fid die allgemeinen dichterifhen Ausdrudsmittel,
die fpradliden voran, für ihre befonderen Zwede dienftbar macht oder viel»
mebr aus den fpradliden Wurzeln der Dichtung fortwährend neue und ganz
64
befondere Nahrung zieht; wie die dramatiſche „Idee* ihre paffende Organi-
fation und ihre Ausführung bis ins Eleinfte erfährt und vieles andre mehr.
Alle dieje Punkte können bom Standpunkte des Geniefhenden wie des Schaf.
fenden, fie fönnen gang allgemein, ſcheinbar deduftiv (in Wahrheit aug einer
Gille von Wnfdauungsmaterial heraus) oder an der Hand einzelner überra-
gender DBeijpiele erörtert, fie fönnen auf dem Wege allgemeiner äfthe»
tiſcher Ueberlegungen oder gejhichtlicher Ginzelbetrachtungen abgehandelt wer—
den: feiner dieſer Wege ift ein Königsweg, der geradeaus ans Biel führte,
jeder aber fann fi ibm auf feine Weife nähern, jedenfalls ift feiner ganz-
vergeblich befdritten worden.
Eine vorurteilsfreie Dramaturgie wird alfo nicht einfeitig-dogmatifch ver-
fahren, fondern bon jedem Betrachter zu lernen verfuchen und wird fid am
wenigften über Widerfpriide erregen, die fich zwifchen den einzelnen, bon ihr
verbörten Zeugen auftun. Ihr fommt es nicht auf das blanke, „richtige* Ree
fultat an (wie bei einem Rechenezempel oder einem Problem der „ezalten
Bilfenfhaften“), fie ift zufrieden mit jeder fraftoollen, eigenartigen, neue Ge—
jihtspunfte eröffnenden Ginftellung auf das ganze Ziel. Hier gilt Goethes
Wort: „Was frucdtbar ift, allein ift wahr.“ Seder einzelne Betrachter naht
fid der Norm nicht unmittelbar wie fie ift, fondern wie fie ihm unter be»
ftimmten äußeren Bedingungen erfdeint und erfcheinen muß. Nicht Bloß an
der „Ibdee* eines einzelnen Dramas fpreden, wie es Hebbel einmal aus»
drüdt, alle handelnden Figuren mit, während fie feiner rein formuliert: aud
an der Idee des Dramas überhaupt fpredhen die Dramaturgen und die zur
Dramaturgie fid äußernden Dichter aller Zeiten und aller Zonen mit; jeder
lüftet gleihfam den Schleier des gebeimnispollen ©öttergebildes an einem
andern Zipfel und erfchaut etwas, das fein andrer fab, und wiederum einiges,
was aud andre faben, nur wieder bon andrer Seite ber und in anderm Lichte;
feiner aber vermag eine für alle Zeiten giltige Gormel des Dramas aufzu-
ftellen.
Sollen wir darum mit einem müden Verzicht endigen? Auch Goethes
„Urpflanze* ift in feinem einzelnen Pflanzenförper rein und reftlos ver
förpert, und doch ift feine „Idee“ der Pflanze fein leerer Wahn: fie ijt eine
unbeftreitbare Realität, in jeder einzelnen Pflanze fo gut vorhanden und
bon einem das einzelne dDurchfchauenden und die Gefamtbeit feiner wedfelnden
Zuftände zufammenfaffenden Auge fo genau zu erfaffen wie das „Dra—
matifche* in allen Dramen, die des Namens wert find und die eine eigene
unvergleichbare Wirkung auf uns ausüben, wie fie von feinem (an fid nod
fo vortrefflichen) anders gearteten Kunſtwerk ausgehen. Auch dies legte Lee
bendige aber ift eben feine ftarre, gerlegbare und ficher zu umfchreibende, jon-
dern eine „funktionelle“ Ginbeit, die fid in taufend Formen als durchgehendes
Bildungsgefes immer wieder zu verwirklichen ftrebt und in ewiger ,,eftal-
tung, Umgeftaltung des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung“ verbürgt. Wud
das Wefen, d. h. der Lebensprogefs des Dramas ift, mit den Augen Goethes
angefeben, wie ein magnetifher Strom, der zwifchen zwei Polen Hin und
berflutet. Diejes Wedfelfpiel zwifchen den nicht bloß entgegengefesten, fon»
bern aufeinander bezogenen Polen madt eben fein Leben aus, Das uns aber
nicht an fic, fondern eben nur in feiner „Sluftuation“, in diefer „Polarität“
und „Rorrelativität“ erft fafbar wird. Nun zeigt fid) aud die befondere
Schwierigkeit der Behandlung dramaturgifher Probleme und der normativen
Beurteilung dramatifcher Schöpfungen: je nad der Ginftellung des Be—
65
trachters, je nad) ber geiftigen ®efamthaltung jeiner Zeit wird bald der eine,
bald der andere Pol beſſer zu feinem Rechte fommen.
Um ganz fnapp zufammenzufafjfen, was uns volfsfundlide und literature
geſchichtliche Betrachtung, äfthetifche und metaphyſiſche Ueberlegung Iehren:
das Drama, wie es fics feit den Tagen des Aischylos bei den wefteuropäifchen
Völkern herausgebildet und fortentwidelt hat, ftellt Die innere Bewegtbeit des
MWenſchen und die in ihr fich fpiegelnde Ywiefpältigfeit der Welt und des,
Lebens dar; es bedient fic) dazu der Mittel einer bewegten, aus dem aufge-
wühlten Innern des Menjchen aufquellenden Rede, wie der durch rhetorifchen
Technik geſchulten Auseinanderjfegung, madt wohl aud) Anleihen bei einer
anjdauliden, nur die Höhepunkte der Sreignijje beleuchtenden, epifhen Er—
sählung; es wirkt aber nicht nur mit den ſprachlich⸗redneriſchen Ausdruds-
formen, deren reine Ausbildung und Gntwidlung fdon einen hohen Grad
geiftiger Bildung vorausfegen, fondern es zieht, feinen erften Urfprüngen ge-
maf und unter williger Aneignung aller feit zwei Sabriaufenden erreichten
techniſchen Zortjchritte, die ganze Skala körperlicher und außermenſchlich-ſinn—
lider Ausdrudswerte heran, welde die Tanzkunſt im meiteften Sinne des
Wortes, die Mufil, die Dekoration, die Beleuchtung und alle Hilfskräfte der
Bühne ihr darbieten. Da nun jene erfte Gruppe bon Darftellungsmitteln fid
an unjern @eift wendet, um ibn auf die innerften Bewegungen der Welt und
der Seele zu lenfen, die andre Reihe aber unfre Sinne an die körperlichen
Ausdrudslinien feffelt, und da fie beide zufammen erft in ewig wedfelnder
Milhung das Leben als Ganges in feinem fteten Ineinander von Drinnen und
Draußen erfaffen fönnen, fo fieht fid das Drama als hddft gufammengefeste
und dod wieder von einbeitlidem Normmillen belebte Kunftform bald eine
geengt, bald getragen und gehoben durch zwei Bielftrebigfeiten bon eigner
Art. Auf der einen Seite durchwühlt der Blid des Dichters die Welt in ihren
Berriffenbeit mit bohrender Dialeftif und neigt dazu, fernab von allem Sinn-
lih-®egebenen ins Grengenlofe der Spekulation zu ſchweifen; nur zu leicht
verliert er fid) an ein Guferlid) gwar Dramatifches, aber durchaus bühnen-
fremdes Scheinwerf, das der fzenifchen Ballung auf der Bühne innerlich wider-
ftrebt. Auf der andern Geite droht die bunte Fülle ftarfer finnlider Wirkungen
den Dichter nad) der Seite des „Theatralifchen“, der gefudten und gehäuften
Bübhneneffelte um ihrer felbft willen abzudrängen. Bwifden der Sfylla einer
erftarrenden ©eijtigfeit und der Gharhbdis einer verfladenden Sinnlichkeit hat
nod) jeder große Dramatiker fein Schifflein durchſteuern müffen. Lebendige
Dramaturgie aber ift faft immer auf dem Boden der Kritif gerade porherr-
fender und im Innerften fdon erftarrter „Richtungen“ erwachſen, die eben
gumeift nach der einen oder nach der andern diefer beiden Seiten ausjchlugen;
fie fördert, verfündet, ſchützt oder prüft Dann die „neue* Kunft, die gumeift
einem Pendelſchlage nad der dem bisherigen Braude entgegengejzgten
Seite entjpricht; freilich handelt es fic ja in der Wirklichkeit nie um gang
„reine“, einfeitige Ausprägungen der einen oder andern Richtung, fondern um
Annäherungs- und Brechungserfcheinungen. Meberdies war es nur ein
» Deftfall*, den wir foeben annabmen: die „lebendige“, unmittelbar aus dem
Kunftwollen ihrer Zeit heraus geborene oder aus den ewig raufdenden Quels
len fünftlerifhen Mitfchaffens und Genießens fhöpfende Dramaturgie ift nur
eine, und leider nur feltene Erſcheinungsform der Dramaturgie überhaupt.
Als ein lebendig Gewadfenes fchleppt fie immer einen tüchtigen Ballaft des
Gewordenen mit. Dies Gewordene aber befteht nicht bloß aus aufge»
{peiderten Kräften, die jeden Wugenblid wieder in friſche Wirkſamkeit um—
66
gefegt werden fönnen, fondern aud) aus einer Fülle toten Materials; da
wirfen Beobachtungen mit, die vielleiht an lebendigen Bühnenwerfen
porgenommen wurden, die aber Zufälliges und zeitlicd Bedingtes für-ewige
und notwendige Werte anfaben oder die durd fpätere Mißperftänd-
niffe in Diefem Sinne ausgewertet wurden: wir erinnern nur an die Seftftellung
des Ariftoteles, wonach) fic die Handlung einer griehifhen Tragödie ge-
wöhnlich innerhalb eines Sonnenumlaufes abfpielte, und woraus man {pater
die ganz äußerlihen Gormen der „Ginheit der Zeit und des Raumes“ ab-
leitete. Dazu fommen reine (funftferne, oder Dod) bühnenfremde) Weberlegungen,
die von richtigen Grundlagen ausgeben, aber verfehrte oder ſchiefe Fol—
gerungen daraus ziehen, und endlid ganz millfürlihe Diftate ex cathedra
irgendeines Schulmeifters oder Kritifers, der aus irgendwelhem runde
eine Machtftellung ausübte und auf deffen Worte man denn aud in dDramatur-
giſchen Dingen hinhörte. Bieles, was angeblich zum „eifernen Beftand“ ber
Lehre bom Drama (oft freilich nur für befchräntte Zeiten und Gegenden) gee
börte, fönnen wir am beften unter Heranziehung feiner Gntftehung und feiner
Sortentwidlung bewerten und dann oft genug fallen Iajfen; vieles aber wird
ohne Namen mitgefchleppt und fann nur durch ernfte Befinnung auf das
BWefen und die Möglichkeiten des Dramas beurteilt werden. Sp entjpricht
der inneren Bewegungslinie der Dramaturgie eine äußere; fie fpiegelt Die
Tatſache, daß die Lehre bom Drama gerade fo wie jeder verwandte geiftige
Zufammenhang in die allgemeine Entwidlungsgefhichte des Menfchengeiftes
eingebettet ift und pon bier aus verftanden werden will. Alles Schmälen auf
einen übel angebrachten, ausfchweifenden und fid in fic felbft vollendenden
„Hiftorizismus“ Tann uns nicht gegen die Tatſache verblenden, daß wir uns für
das Echte, dem Wefen der Gade Entfpredhende den Blid ſchärfen miiffen,
indem wir zeitliche Bedingtheiten als folde erfennen und den darin verbor-
genen, Die Zeiten überdauernden Wahrbeitstern herausfchälen Iernen.
Eine mijfenfchaftlih gerichtete Betrachtung der Dramaturgie in ihrer
dur innewohnende Gefege beftimmten Gntwidlung wird bon bornberein
viererlei ausfcheiden Fönnen, um die Ueberficht über den ungeheuren Stoff
gu erleichtern und den Blid auf das Wefentliche zu Ienfen: einmal die gang
willfirliden, faum zeitlich, ftets perjönlich oder gar durch eine Clique oder
Schule beftimmten Aeußerungen, diz der Tag verfchlungen bat, der fie gebar.
Nur wo folde Piktate in gebeimnspoller Weife nachgemwirkt, Die Ans
[hauungen ganzer Zeitalter beftimmt, auch wohl reifere Geifter gum Wider-
fpruch berausgefordert haben, wie fo mande dramaturgifhe Weufferung der
gelehrten Pbhilologen der italieniſchen Renaiffance, da muß fic auch der Hie
ftorifer mit ihnen befchäftigen. — Gang abjeben finnen wir ferner von den
unzähligen Wiederholungen des {don Gefagten, wie fie in Schulbüchern und
Seitidriften oder Zeitungs-Auffägen mitgefchleppt werden; wo zufälliger-
toeije diefe Wiederholungen und nicht die jeweils erfte Erfenntnis, auf Die fie
guriidgeben, eine fpätere Erörterung hervorgerufen haben, da wird ein kurzer
Hinweis in der Form einer Anmerkung und eines Inappen Zitates genügen,
im übrigen aber die Einordnung des Berfaffers in die Schar der BWad)folger
eines Größeren am Plage fein. — Aber aud die Gewährsmänner jener
Geſchäftsträger der Hffentliden Meinung können wir drittens unberüd-
fihtigt Iaffen, wo fie fic) fernab von allem fünftlerifchen Leben in reinen De—
duktionen und Abftraktionen ergehen, die nur gleichſam durch Bufall die Gre
Srterung der lebendigen Biihnendidtung merklich befrudtet haben. Ihnen
ift es weniger um das Drama als foldes, als um die Vollftändigfeit ihres
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Shftems zu tun, in das die Bühnendichtung mit mehr oder weniger Glück
Bineingepreßt werden foll; es ift erftaunlich, wie febr es da oft an dem nötigen
Rejpelt vor Dem Gigenleben und dem Gigenredht der Theaterdidtung als
foldet fehlt. Ebenſo wird eine „wefentliche* Dramaturgie fih endlich gegen
die Bühnenlehre als folche abgrenzen, gegen die (an fich ſehr verdienftlichen)
technifchen Grörterungen aller der Fragen, die fih nur nod mit der Dars
ftellung des dramatifchen Kunftwerfes auf den Brettern befajjen, alfo gegen
die eigentliche Regielehre, die Mimik, die Shoreographie und g2gen alles, was
mit dem DBühnenbau, dem Majchinen-, Deforations- und Beleudtungswefen
aufammenhängt — foweit diefe Fragen nicht unmittelbar im Zufammenhange
mit einer eigenartigen und fruchtbaren Auffaffung des Dramas überhaupt ere
Örtert werden.
Innerhalb diefes Rahmens aber muß uns jeder willfommen fein, der das
Drama erlebt und etwas Wefentlides darüber zu jagen hat, der dramatifche
Dichter bor allem, fodann aber aud der Schaufpieler und der Bühnenleiter,
der Wejthetifer und der Kritiker, der Hijtorifer und der Shftematifer, foweit
fie eben einen Hauch des lebendigen Dramas verjpürt haben. Die fonftige
Größe oder Mittelmäßigkeit des Mannes darf uns nicht fümmern, wenn er
etwas über das Drama gedadt Hat, was deffen Wefen erleuchtet und feine
Entwidlung befrudtet hat oder nach unfrer ehrlichen Prüfung in nod irgend-
einer Weife befrudten fönnte. Denn jede Arbeit diefer Art wird mehr
anftreben als Geweſenes zu regiftrieren oder an einem ftarren Mafftabe zu
bewerten: fie will Lebendiges in feiner Lebendigkeit erfaffen und dem Leben,
in diefem Galle dem Leben der Bühne und dem Leben bes dramatijchen Ge—
Danfens wiedergeben, was ihm gebührt. Robert Petſch.
Ferdinand Apenarius.
erdinand Wbenarius entftammt einem thüringifchen Geſchlecht: der erfte
feine> Vorfahren, der in den Urkunden erjcheint, ift der Gijenadher Birger
und Weißgerber Hans Habermann. Gein Sohn Matthes, während des Drei»
Bigjährigen Krieges geboren, wurde Pfarrer und fdrieb fich als gelahrter
Mann — da der Hafer auf lateinifd avena heißt — Avenarius. Deffen Sohn
war der große Sheolog Iohannes Apenarius. Diefer liebte, wie ſchon der
Gater, die edle Muficam, rührete unterweilen die funftpolle Lbra und ver»
fertigte unterfdiedlide Poemata, fonderlid in Latein, aber auch in teutjcher
Sprade. Die nadften Gefdledter wandten fich denen Studiis der Rechte
gu. Sobann Ludwig aber verließ raſchen Entſchluſſes die Univerfitas Got-
tingiae und wurde Gornet in einem Hufarenregiment. Gr ging fpäter, ald
der Grfte dieſer Avenarii, dauernd aus den Grengen der thüringijchen Hei-
mat heraus und wurde Steuerrat in Magdeburg. Sein Gnfel war der Buch-
Handler WAbenarius in Leipzig. Gr heiratete 1840 die Halbfchweiter Richard
Wagners, Gacilie Geyer. In Berlin wurde den beiden dicht vor Weih—
nadten 1856 als jüngfter ihrer bier Söhne Ferdinand Apenarius geboren.
Schon 1871 fiedelte bie Familie nach Dresden über. Dresden ift feine Heimat
geworden und geblieben, aud im tieferen Ginn. Gr liebte wohl die Alpen
mebr, und über alles liebte er Die Nordfee und die einfamen Dünen. Het-
mat aber war ihm doch die mitteldeutſche Kunftftadt mit ihrer feinen alten
Kultur. Denn feiner Art nad war er Grbe alter bürgerlicher Kultur.
Der unterfegte, ftämmig gebaute Mann, der aus einer blaffen, kränklichen
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Jugend herangewachſen war, hatte in feinem Wefen etwas DBollfaftiges und
Derbes. Auf dem Rumpfe faß ein madtiges Haupt, deffen Hobe, lichte
Schädelwölbung fogleih den Blic auf fic zog. Kraftig quoll das Haar, meift /
ein wenig vermildert, um Die gebräunten Wangen und Schläfen, um Lippen
und Kinn. Die Lippen waren voll, von unbeftimmten Konturen, feinnerpig,
beweglich, geniefend. Die lebhaften Augen, die hell durch die Brillengläfer
blidien, waren des mannigfaltigften Ausdruds fähig. Gs war das Gefidt
eines Mannes von zweifellos ftarfem Triebleben. Aber die ſchönen, ſchär—
feren Linien der Nafe und der Stirn zeugten von Intelligenz und Kultur,
Die Hobe Stirn herrſchte. Abenarius hatte Verftändnis für dag Ars
wiidfige und Naturbhafte, das Große und Einfache, aber es war letzten
Endes ein — fultivtertes Berftandnis.
Diefer Mann, der in fprudelnder Lebendigkeit erzählte, der in Mimit
und Wort unmittelbar zündend lebte, der im vertrauten Zwiegefpräd die
zarteften, leifeften Töne anfchlagen und wiederum in fröhlicher Umgebung die
ganze Gejellfdhaft ftundenlang von einem Geladter ins andre reißen fonnte
(befonders im Maufcheln und im Sadfeln leiftete er Genieftiide, aber aud
in der majeſtätiſchen Gloquenz des italienifchen Spießers und im Lallen eines
betrunfenen fdottifhen Kutfchers gauberte er den Zuhörern die Gebilde der
Phantafie fichtbar Hin), diejfer Mann, aus dem die Geftaltung anjdeinend
unerfddpflidh und unaufhaltfam quoll — fobald er gu fdreiben begann,
fegte in faft quälender Weife der Intelleft ein. Die Fülle der guftrdmenden
Alfoziationen wurde ftrenger Kritif unterworfen. Kein Wort, fein Nebenfinn
fan ungeprüft und anders als gleidjam vom Lefer aus erwogen Hindurd.
Wie oft wurde eine fdon gefekte Arbeit auseinandergefchnitten, umgeftellt,
in ganzen Abſätzen neu gefdrieben — ein Schreden für die Druderei. Aus
der umfichtigen Abwehr aller erdenfbaren Mißperftändniffe überlud er gue
toeilen feine Gage; dann löfte fic der große, unbefümmerte Strom, der den
Lejer bannt und mitreißt, in ein Gewoge von einzelnen Wellen auf. Pies
eben ift für Wbenarius’ Dichterifches wie fulturpolitifhes Werk bon Bedeu»
tung: der Ginn für das Urechte und LUrgewadfene ift einem flugen und
umfidtigen Denfen unterworfen, das ihn immer wieder hemmt. Damit find
feine Stärfen, aber auch feine Grengen gegeben.
Aud wo die Abficht darauf geht, das Große und Grhabene auszu—
drüden — es löft fic faft immer wieder in ein ſächſiſch-thüringiſches Mittel»
gebirge auf. Man lefe das Stüd, das wir hinten aus einem Aufjag über die
Winterſchönheit abdruden: es ift ein ausgezeichnetes Stiid Proſa und gee
Hirt zum Beften von WAbenarius, aus feiner beiten Zeit (Winter 1904/05).
Wo der Norddeutfche jedes „Du“ vergeffen würde, weil der Weg in die Gin-
famfeit gebt, nimmt der Mitteldeutfche den Lefer vertraulid an die Hand.
And mit wiediel adtjamer Deutlidfeit werden die Dinge gezeigt! Gs find
gute Pragungen im Gingelnen, aber all da3 ift nicht in einem großen Strom,
nidt in einem beherrfhhenden Gipfel gufammengefdloffen. Geſehen ift
die Größe des winterliden Meeres, aber Dargeftellt ift fie jo, wie man den
Winter Thüringens darftellen müßte. Darum find dem Didter auch die
Dramen alg Dramen nicht gelungen. (Friedrich Düfels Rettung der Dramen
im Oltoberheft des Kunftwart bom vorigen Jahr ift menjchlich ſchön, fcheint
mir aber in der Sache nicht geglüdt.) Sopiel einzelne Schönheiten, zumal
im „Sauft“, da find — nod) Schöneres ftedt in der Intention — fo bedeutend
and der Bedankte des Gangen ift, es fehlt doch eben der dramatifche Strom
und Rataratt. Wud ein Roman als Ganges würde Avenarius fchwerlich
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geglüdt fein. Seine Gedichte aber ſchätze ich höher, als es meift gefchieht.
Gs ijt richtig, daß man in vielen Gottfried Keller und andere (in den frü-
beren Gedichten oft Heine) ,bindurdhbdrt* — trogdem! Gs ift eigene dich»
terifjhe Anſchauung da, und mandes ift vortrefflich geftaltet. Gine Anzahl
dieſer Gedichte find mir feit vielen Jahren lieb geworden und geblieben, und
ich bin überzeugt, fie werden nod lange im Bolfe lebendig fein. („Mondauf-
gang“, „Der Geeldhenbaum“, die beiden Kirſchbaumgedichte und fo mandes
— Auch die Dichtung „Lebe!“ wird immer wieder ernſte Freunde
inden.
Wenn ich überdenke, was der tiefſte Eindruck iſt, den ich von dem
Menſchen und Dichter empfing, wenn ich mir ſeines Reinſten und Inner-
lichfien inne zu werden verfuche, fo fomme ich immer wieder auf jenes Welt-
gefühl, das er in fo vielen Geftaltungen ausgedrüdt und in den verſchie—
denften Wendungen ausgeprägt bat, und das ihn zu feinem toten Hunde
fprecden läßt: „Warſt Halt als Nächfter zu mir gefellt
all der andern in Wald und Teld,
all der ftumm Brüderlichen umber
in Wies und Bufdh und Luft und Meer —
der großen Geele, die alles trägt,
in dir ſchlug und in uns nod fchlägt...“
Das Wunder und Rätfel des Lebens mit all den Gmpfindungen, die es
aufregt, erfüllte ihn ganz. In den Blumen, Muſcheln, Kriftallen, Schmet-
terlingen und DBögeln, in den Gormen und Garben der Bilder bejchäftigte
ihn das Wunder des geftaltenreiden, fid unendlich wandelnden Proteus.
Dem Adel des geformten Lebens galt feine Ghrfurdht. Dabei ſchloß er den
Gedanten an Senfeitiges aus. Gedidte wie „Der Tod“ wolle man nicht
lefen als Ausdrud eines Glaubens an das „perjönlihe Gortleben nad dem
Tode“, das Hat er felbft abgelehnt. Gs ift das Leben iin feinen unendlüch'
reihen Erſcheinungsformen und unterirdifch-rätfelhaften Zufammen-
hängen, das ihn rührt. Gedidte wie „Das Fünkchen“ und „Die Schichten“
find tieffte Zeugnifje deffen, was Avenarius innerlichjt befchäftigte*. Das
Heine PBrofaftüd, das wir hinten unter den „Stimmen der Meifter“ abdruden,
zeigt mit feinem fdauernden Gefühl, wie tief er das Leben dachte und empfand.
In diefem Lebensgefühl lehnte er alle moralijhe Sinngebung des Gangen
ab, die Moral ift ibm nur eine Seite, und nicht einmal eine unbedingte, des
großen lebendigen Sormmillens. Gr antwortete auf foldhe Sragen nach dem
„Sinn“ mit ironifher Refignation und beiterm Scherz; auf die Fragen,
nit auf das Leben, bas auc in folden Fragen ringt und fid abmüht.
Obwohl er mit rüdjichtslofem Gigenwillen fich felbft und andre in einen
Plan einfpannen fonnte, war er Dod aus jenem Weltgefühl heraus unend-
lider Güte fähig gegen alle Kreatur. Mit dem verftändigen Hund Tappel
— ein Hund, der zu den ſympathiſchten Zeitgenofjen gehört, die mir je be-
gegnet find, Friede fei aud um feinen Grabftein ber! — verkehrte er in
beiterer Brüderlichfeit, er bejahb mit ihm japanijche Holafchnitte, geduldig
wartend, bis der vierbeinige Aefthet, der in fünftlerifchen Dingen eine durch-
aus eigene Meinung hatte, durch einen DBlid oder durch Klopfen mit dem
* Grfteres in den „Stimmen und Bildern“, dag andre gab er für das „Ave—
narius⸗Buch“. Gs ift, abermals gefeilt, im Gedadtnisheft des Kunftwart3 (Of
tober 1923), in letter Gaffung abgedrudt. Avenarius legte auf diefe Stüde be-
fondern Wert, wenn er aud mit der Ausformung felbft nidt zufrieden war. (Gr gab
fih mit feinen Arbeiten nicht leidt zufrieden.)
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Schwanz das Beidhen zum Weiterblattern gab. Den Kindern war Ave»
narius Der entzüdendfte und gütigfte Onfel. Weil er fo ganz aufgehen fonnte
im fpiegelnden Anblid des edlen Lebens und in dem Gefühl „Zrinkt, o
Augen, was die Wimper hält, bon dem goldnen Meberfluß der Welt!“, war
er troß allem Dunklen, Harten und Wehen in Schidjal und Geele*, wie er
in ernften Stunden verficherte: „ein gliidlider Menjch“.
Der Sinn für das Menfdhlid-Lebendige, für Werden und Wadfen ließ
ihn alle Grftarrung vermeiden. So hat er den Kunftwart in Form und Inhalt
immerfort gewandelt, felbjt das Wagnis einer Namensänderung („Deutfcher
Wille“) heute er nicht. In der Kulturarbeit achtete er ftets auf freie Les
bendigfeit und Beweglichkeit. Im Direrbund ſchuf er eine Organifation,
die ein Hohn war auf das übliche Organifationsfhema mit Bureau, Gee
ſchäftsſtunden, Refforts, Kompetenzen, Archiven und dergleichen. Die Pro-
gramm- und Statuten-Derater waren ihm ein Gegenftand der Beluftigung,
et Dielt fie fic) forgfältig vom Leibe. Gin „Dürerbund-Archib“ eziftierte nur
in der Phantafie; der Hoffnung, daß es je „geöffnet“ werden finnte, muß
fi der gläubig verehrende Deutfche, der nicht umbin fann, fic die „geiftige
Arbeit“ als etwas bureaumäßiges vorguftellen, zu feinem Leidwefen völlig
entſchlagen. Die Tätigkeit wurde nicht aufgrund von „Programmpunlten“
„planmäßig in Angriff genommen“ (wobei fie meift nicht über Papier und
Schreibtifeh Hinausfommt), fondern man padte die Dinge an, wie das Leben
fie heranführte. Und was getan war, war abgetan. Man nahm fid nicht fo
wichtig, jid mit der „weiteren Bearbeitung“ des Gefdhebhenen aufzuhalten, um
allerlei „hiſtoriſches Material“ und eine „Statiftif* der „geleifteten“ „Volks⸗
Bildungsarbeit“ daraus zu fabrigieren. In diefer ganz fubjeftiven, per-
fönliden, aber immer tätig bewegten Atmofphäre ift weit mehr gearbeitet
worden als in den Büros mit den ftupiden Fächern. Die glüdlihe Spitem-
Iojigfeit, die der Gngländer fid aus dem germanifden Erbe bewahrt hat, das
An-fid-heranfommenclaffen und die Entſcheidung aus der inneren Bernunft
ber Sachlage heraus, hat auch Avenarius gehabt. Wichtig war dabei für den
Grfolg feiner Arbeit, daß er in feinem DBerleger und Freunde Sallweh einen
klugen, feinfinnigen und — geduldigen Mitarbeiter beſaß, der die technifchen
Möglichkeiten bereitwillig in den Dienft feiner Abjichten ftellte. Sreilich:
ein fo lebendig befeeltes Werk ftirbt mit dem Herzen, das es treibt.
Ein politifher Menſch ift Wbenarius nicht gewefen. Gr behandelte
politifhe und fogiale Dinge allzu febr als Angelegenheiten der Klugheit und
des Geſchmacks. Dennod wirfte er politifch nicht unbedeutend, und gwar
außerhalb des Parteitreibens, das wir in Deutjchland „politifhes Leben“
nennen. Gr bat durch feine Arbeit wie fein andrer zu feiner Zeit den
Deutiden ein gefeftigtes Rulturbewußtfein gegeben. Was das für
die Grenzlanddeutſchen bedeutete, bat Hermann llmann in feinem Ges
denfauffag („Deutfhe Arbeit“, Oftober 1923) gezeigt... Man muß Die
beiden letzten Sabrgehnte des vorigen Jahrhunderts aus eigener Anfchauung
fennen, um ermejfen zu fdnnen, was Abenarius und fein Kreis für den Ge-
finnungswandel im deutfchen Bolfe geleiftet hat. Manches nehmen wir Heut
als felbftverftändlih bin, was damals innere und Äußere Kämpfe foftete.
Aber wenn wir zurüdbliden, erfennen wir, daß ohne feine Arbeit die unfrige
nicht mdglid wäre.
* Aud Gedidte wie „Dunkel“ (in „Stimmen und Bilder“) haben einen Lebens-
grund in feiner eigenen Geele,
£ ral
Sein Werk wuchs in mannigfadhen Formen über ibn Hinaus. Aber der
Menſch WAbenarius war, wie es fein muß, wiederum größer als fein Werf.
Seine ftarfe Perfönlichkeit in unmittelbarem Verkehr erlebt zu haben, gehört
gum größten Gewinn unfres Lebens. St.
Erlejenes
Aus Hermann Claudius’ Gedidten*.
Der Wanderer.
Sy meiner Seele Unraft gebt
ein birfenftiller Seidemeg.
Die Stämme fteben weiß und rein
und wandern leuchtend bor mir ber
wie Säulen in ein Heiligtum,
das wartefroh dahinten liegt.
Ich weiß nicht wo. Dod bin ich ftill
und wandre mit den Stämmen fort.
Slap.
lap, du mafft min Geel ton Got.
Sod dor öwer, duftergrot
bögt de Nacht ehrn Wulfenbom
un lött lijen Drom na Drom
— fo as Druppens fallen doht —
rünnerfaden in den Sot.
Wintermorgens.
intermorgens fäum id gern nod im Bette
bis in den Hellidten Sag mit gejdlofjenen Augen,
fühl meinen Körper wie eine rubende Schale,
daraus die Geele, weich und leicht, wie fie Luft Hat,
ausjchlüpft, über mir fpielt und wieder zurüdhodt.
And: wenn ihre firrenden Flügel die Wandung
der umfangenden Schale zitternd berühren
— bie die Libelle die Gonnenflade des Waffers —
fib’ ich im köſtlichen Augenblid meine Ichheit
wie ein riefelndes Etwas bon einem zum andern.
DWelt- Krieg.
rieg, Du büft nid blot Dat Grugen
dat dorachter fteit,
bu büft as de Steernheben,
as de Storm, de weibt,
as de Gee, de rullt un dunnert
un den Dif territt
un ehr dufterdullen Bülgen
öwern Ader mitt.
Wi föhlt alltohop unf’ Lewen
lütt, fo litt vergahn.
Awer öwer uns as Riejen
anner Lewen ftahn,
dat unf’ Ogen nich köönt faten,
dat unf’ Mund nid) feggt,
fünner Regel un Geſetzen,
fünner God un Sledt,
fünner Enn’ un fünner Anfang,
naft un grell un grot —
meift, as weer be fülwen famen,
unfe Herr un ott.
— Bal. dazu den Beitrag über Claudius. Das erfte Gedidt, das in etwas
anderer Form im
Manuffript,
mburger Gdo verdffentlidt wurde, bringen wir nad dem
Die folgenden beiden und die letten beiden (Slap, Wintermorgens,
Wir, Das Gejdehen) entnePmen wir d
„Liedern der Unruh“ (Antdus-Berlag,
Libed), die übrigen vier (Welt-Krieg, De Barg, Müde Front, Der 9. Nox
vember) der „Brüde in die Zeit“ (Georg Weftermann, Braunſchweig).
72
De Barg.
i fünd de Bargvun {wor Gewicht,
de grote Barg mit groff Sejicht,
be Barg, den feen verjleepen fann,
un fpann be dufend Peer of an:
Dolf.
Wi find de Barg, de jiimmer meer.
Keen Tid un Stünn de friggt em mor.
Keen Well un Water jpöhlt em aff,
Wi find de Ger ehr legtes Graff:
Boll.
Dat lat meift fo.
In düffen Barg, ganz deep dorbinn’,
dor ig en Ramer, ſwor to finn’,
dor is en Dör, dor is en Deel.
Dor fitt en Geel, dor lurt en Geel:
Golf.
Sprüng all dat Slott? Ging all de Dir?
Klüng dat all ber? Klüng dat all ber?
Süng all de grote Mellodie:
Stab op, ftah op, din Geel is fri,
Bolt?
Dat lat meift fo.
O Dör, gab blot nich wedder to!
De Barg be rullt. De Barg de beit.
Lat rut dat Lewen, dat be lemt:
Golf!
Müde Fri nt.
mmer der Krieg gebt immer nod
Stehen die Siirme alle ftumm. [um.
Stehen die Türme mit totem Gefidt,
ftebn und ftarren und fehen nicht.
Anten vorüber, bin und ber
wandert, wälzt fic) das graue Heer.
Ruppelbelme mit ſchwerem Trott
ohne Glauben, ohne Gott,
ohne Luft, ohne Leid,
ohne Geftern, ohne Heut,
ohne Willen, ohne Gebot,
obne Leben, ohne Sod.
Immer der Krieg geht immer noch um.
Stehen die Türme alle ftumm.
Der 9. November.
ies find die Grundveſten unferes Seins:
Himmel, Sonne, Kinder, ein Stüd Brot
und ein paar Stunden, frei und Hod aufzuatmen,
Warum mißgönnt ihr es uns? —
Zofomotiven, Lofomobilen, eleftrifhe Lampen,
Kräne, Fahrſtühle, Diefelmotore und Schwimmdods,
Raufoertrage, Gejete, Wemter, Buftiggewalt, Kite...
Warum drängt ihr das alles vor unfer Menjchfein?
Warum müjfen wir immer und immer wieder
mit aufgeftemmten Armen mibfelig daraus erheben
unfer geborenes Ih?
— mibjelig heben?
Das ift aller Menfchheit tieffte Revolution.
Das ift aud unfre:
Himmel, Sonne, Kinder, ein Stüd Brot
und ein paar Stunden, frei und bod aufzuatmen ...
Warum mißgönnt ihr es uns?
Wir.
Wo" wir fchreiten Seit’ an Geit’
und die alten Lieder fingen,
und die Wälder widerflingen,
fühlen wir, es muß gelingen,
mit uns zieht die neue Zeit.
Einer Wodhe Hammerfdlag,
einer Woche Häuferquadern
zittern nod in unfern Adern.
Aber feiner wagt gu Hadern:
berrlid) ladt der Sonnentag.
73
DBirfengrün und Gaatengrün: Mann und Weib und Weib und Mann
wie mit bittender ®ebärde find nicht Waffer mehr und Feuer.
Halt die alte Mutter Grde, Am die Leiber legt ein neuer
daß der Menfch ihr eigen werde, Srieden fih. Wir bliden freier,
ibm Die vollen Hände bin. Mann und Weib, uns an.
Wort und Lied und Blid und Schritt, Wann wir fchreiten Seit’ an Seit’
wie in uralt-ew’gen Tagen und die alten Lieder fingen,
wollen fie zujammenjchlagen. und die Wälder miderflingen,
Ihre ftarfen Arme tragen fühlen wir, es muß gelingen:
unfere Seelen fröhlich mit. mit uns giebt die neue Zeit.
Das Geſchehen.
iB) bs Grdengefdebhen hat feine Beit.
Alles Gefdeben ruht in der Ewigkeit.
Ewigkeit verhüllt fic unferem Ginn.
Alles Gefdebhen, nimm du es gläubig Din.
DOeffne dem einen Strahl did, deffen Licht
fiebenfaltig durch deine Geele fich bricht.
Gedichte und Profa bon Ferdinand Avenarius*.
Die Spagentante.
n ber Laube Hauft ein Rotihwanzpärchen,
Seiner Kinder froh, der fieben zarten,
Buben vier, vermut id, und drei Mägdlein
Gon der dritten Lieferung des Jahre.
Sind die Eltern unterwegs, fo ſiehſt und
Hörft du feine Kinder, denn dann däun fie.
Dod am Neftrand nur ein Fufbetupfen,
And es [chnellen fieben ungeheure
Höchſt orangefarbne Trichter aufwärts
Aeuferft dringlichen Gepieps. Die Eltern
Stopfen das, die Schnäbel tauchen abwarts,
Aufwärts taucht das Gegenteil, die Gegen-
Gabe trägt man weg, und wieder ſenkt fid
Sanftes Schweigen übers liebe Heim.
Go bisher ging’s, und es ging gedeihlich.
Aber drüben, wo die Spaten wohnen,
Gab es feine Kinder, gab es Unfried,
Bis der Gheberr, der ſchwarzkrawattige,
Seine Gattin por die Türe ftieß.
„Gut,“ fo rief fie, „nunmehr werd ih Tantel“
Rief’s und taudte auf am Rotjchwangnefte:
„Jetzt nehm Diefer Kinder ih mid an!“
Web, wie fnidjten die beftürzten Eltern,
Wippten, hüpften: Diefe Späbin jagte
Weg die Bugebdrigen und ftopfte,
Stopfte, ftopft’ wie irr in ihre Kinder!
War fie da, fo warteten verzweifelt
Auf dem nadften Buſch, den Schnabel voll von
* Bgl. dazu die Angaben Hinten in der „Zwielprade“.
Auserlefenem, die Eltern, war fie
Unterwegs, fo ftopften fie mit richt’ger
Nahrung nad, denn was verfteht denn fold ein
Ungeſchlachtes Stiid pon Körnerfrefferin,
Was verfteht denn die Perſon, was ihren
Süßen Adelstinderdhen befommt?
„Aber immer däucht ja fremde Küche,“
Klagt das Ghepaar, „den Kindern beffer,
Dater, ad, fie efjen’s — efjen’s gerne!“
„Mutter, fieh, fie werden täglich fetter!*
„Bater, wenn fie dapon Spaten würden?“
„Weg, fie fommt!“ .... Und fieben dottergelbe
Schlünde fchoffen aus dem Neft zur Spätzin.
Serne fet mir’s, diefes unverfchämte
Weib aud nur mit einem zagen Hauche
gu verteid’gen. Aber ich verftehe fie.
Hatt ich fieben Kindermäuler um mid,
Biergehn, zwanzig Kindermäuler — alle
Würd aud id, das weiß ich, überftopfen.
Benn du eingefhlummert bift...
enn du eingejchlummert bift, mein kleiner
Kamerad, jo leg den Kopf ich heimlich
Dicht an deine zarte Kinderbruft
And belaufhe mit gefchloffnem Auge,
Was da drinnen läutet dir und fingt.
And ich feh dein Herz, wie es mit feinen
Rhythmen feine roten, leifen, guten
Wogen fendet — noch Durd breitre Straßen,
Dann durch engre Wege und auf fdmalfte
Pfade: daß bei jedem feiner Schläge
Durd das ganze Heine Reich ein frohes
Zittern geht — gibt's Botſchaft doch den ernten,
Daß bedadt der Herrjcher für fie forgt!
Denn auf wunderzarten Sciffchen, lächelnd,
Kommt das Leben auf der Flut geſchwommen,
Neues Leben, immer neues Leben.
Grüße bringt’s vom Weiten, Kraft und Bliben,
Während ftill fid einfdifft, was nur Rube
Nod begehrt, daß es die treuen Wellen
Mit fic Hin zur beilgen Stätte tragen.
Sa, fie mallen friedlid beim gum Herzen,
Tragen leife dann die ftummen Refte
Auf den Altar. Und in reinen Flammen
Schmweben die hinaus ing Ungemeffne,
Daß in fernen Welten fie, in andern
Gormen neu gum Atmen auferftehn —
Während weiter dir durch alle Adern,
Menfchenkindlein, Tod und Leben Freifen
Auf den roten, leifen, guten Wellen.
Kind, in Andachtsſchauern fromm verehre
Ih in dir das große Gein des Alls,
Wie es jih in feinem beilgen Welten-
Blute [piegelt, das aud did durdftrdmt
Mit der fonnentftammten Lebenswärme
Auf den roten, leifen, guten Wellen.
And jo lieb ih dich, wie id die Menfchbeit,
And die Erden und die Sonnen liebe,
Die im Herzen läuten dir und fingen.
Mondaufgang.
eltjam in den Büfchen
Schatten und fables Liht —
Sie ftehen alle rings herum
Mit fragendem Geſicht:
Gebn alle ernft zum Monde hin —
Der fteigt aus der Grd empor,
Steigt wie eines toten Königs Geift
Aus feiner Gruft hervor.
Blidt groß und traurig um fid ber.
Da wandelt’s bleid übers Feld,
Wird alles eine andre,
Wird wieder feine Welt.
®räber.
njre dunklen Beete
Draußen por dem. Sor
Sind mit rotem Blut getrantt,
Drum ftehn fie fo im Glor,
Drum find ihre Blüten fo ſchön
In Duften und Prangen —
Drum haben wir gehört,
Daß ihre Blumen far--..
Laß fie uns pflegen miteinand,
Dod Hör ihnen nicht fo zu:
Sie fingen nicht Dir, fie fingen
Den Scläfern drunten zur Rub.
Singen fie ihnen von uns Dabei,
So web es in ihren Traum,
Als glißere nieder der Gonnenfdein
In ihren ftillen Raum.
Der Tod.
a im Fiebertraum verbrannte
Wirr der Geift im wunden Mann,
Trat der ernfte gottgejandte
Dunkle aus der Nadt heran.
And er nahm die Hand, die heiße —
Kühle fam, wie Quell vom Girn —
And er ließ die eigne weiße
Weilen auf des Dulders Stirn.
„Sieht du’s ſchon? Um did verfinkt
Langjam wie Gewölk ins Tal, [es
And aus Scleierdünften blintt es —
Sa, da warjt du fdon einmal!
Kinderland!... Und gütig ftreicht ein
Starfes längs der Stirn dir bin —
Baterhand! ... Und nun bejchleicht
Neues Ahnen deinen Ginn. [ein
„Sieh denn, wie die Nebel fallen:
Eltern! Brüder! Sa, ihr feid’s,
Mur als Schönheit noch auf allen
Glänzt die Spur. gemeinen Leids.
Was fie taten, wollten, dachten,
Hier blieb Tidtiges allein —
Sieh, did weden die GErwachten:
Leben, jett erft ift’s auch Dein!
76
„Trink's mit deinem tiefften Lau—
Gin aus allem um dich ber, [fden
Diejes neue freie Rauſchen
Aus dem Quell wie aus dem Meer —
Hin durd all die ſchwachen Gröden
Sallt ja mit gebrochnem Klang
StüdumStüdwerfnurpom Werden —
Hör ihn jest, den Bollgefang!
„Siehft du, wie bei feinem Rufe
HH auf Höh dem Dunft entjteigt?
Hier ift jedes Ziel nur Stufe,
Die zu neuem ‚Ziele zeigt:
Wie die Lander, fo die Zeiten
Breiten, gotteslihtdurchjonnt,
Weitend in die Gwigfeiten
Horizont um Horizont.
„Arbeit fteht aud bier beim Werfe,
Schwere, daß Der Atem ringt,
Dod zu jeder reicht die Starke,
Und ein jeder Griff gelingt:
Obne Srrjdlag, ohne Sdwanfen
Schlagen wir im freien Blau
Aus den Dingen die Gedanken,
Und wir fügen fie gum Bau.
„Sieh's: der Baum wird felber Le— Droben ſchritt den ftillen Reigen
Seder Quader treibt im Geift, [ben, Stern auf Stern zur Totenwadht.
Nehmen, Geben ift ein Weben, Und die Erde war ein Schweigen,
Wo die Gottheit [chaffend freift. Und ein Fragen war die Nat.
Spür der Heiligfeiten Wallen, Und ein Klagen war der Morgen,
Wacher, jest aud did) durchziehn — Und ein Mühen ift der Tag —
Schöpfer nun du mit uns allen: Und fo haben fie geborgen
Wir find Sott und wirken ihn!“... Dieſes Reftlein, Das da lag.
Das Kind,dasausdem Dunkel tritt.
uten Zag, Kind! „Suten Tag, Grofer!* Wer bift du? „Ein Wenſch—
lein.“ Was bift du? „Sin Seelden.“ Wo fommft du ber? „Aus dem
Dunkeln“ Wo willft du bin? „Ins Licht.“ Närrlein, was haft du im
Dunteln zu fteden gehabt? „Und wo warft du, eh’ du unter der Sonne warft?“
Narrlein, gebjt du auch wieder in die Erde zurüd? „Du nicht?“ Kind, du
wollteft doch ins Licht! „Sroßer: alle Kräuter grünen, alle Blumen duften,
und unter den Füßen raufdt der Lebensquell. Aber jage mir, Großer: alles
Grünen, alles Blühen, alles Leben, alles Licht — fommt es denn nicht aus
dem Dunkel? Sieh, ich freue mid, daß ich im Lichte bin, und bin ich im
Dunfeln, jo freue ich mid aufs Licht.“
Winterfhönbeit.
a, der Winternebel. Haft du den in den Bergen fdon einmal miterlebt?
Das kennſt du ja ficher, wie die Stadt drin ausjieht, wenn dir beim Aus—
gang der fpaßende Nachbar rät, das große DBrotmefjer mitzunehmen, daß
du ibn beffer zerjchneiden fannft! Spaße du, Nachbar, was weißt du Stuben-
boder davon? Gin paar Gtatiönlein Bahn, dann ausgeftiegen und jebt
bergauf. Immer nod nur das graue Nichts, in dem da und dort etwas
dunfelt und wieder derfinft. Gine halbe Stunde weit höher, fo ift es ein
weißes Nichts, und drobend fdier treten bon rechts und links abenteuerliche
Riefengeftalten zu dir heran und wieder zurüd. Der Pfad wird fteiler, jieh:
ein weißer Mond zirkelt fid droben an. Nun adte wohl, denn Schritt fiir,
Schritt jest fann das Herrliche geſchehen. Gs geſchieht — aufjaudgen willft
du, aber der Subel löſt fid in Andadt. Gin wwallendes Meer liegt
unter dir, brandend mit feinen gewaltigen Wogen gegen fchneeige Ufergelande,
und in feinem Branden und Schäumen erftarrt. Was dir Sommers fo ver—
traut, nun fcheint es fremd wie bon einem andern Stern. Weiß umbrandet
bom Urmeere ragen felige Infeln golbumlidtet ins Blau der Unendlichkeit.
Gerweile, dann wirft du fehn, wie mit der fteigenden Sonne in die trägen
Maffen ein Gmpdren fommt, jest verhalten nod, dann in offnem Aufrubr,
ein Sturm in feinen Wogen, während fid dod fein Windlein regt, ein
Bäumen und Berreifen. Und nun ein Zerflattern. Daß die Talgriinde auf-
leuchten und wieder iiberfponnen und überfpült werden. Und nun bleiben.
Bleiben, indes in den äußerften Schluchten das Spufmeer mit feinen lebten
Gegen zerrinnt. Aber in der nadften Nacht kriecht es wieder aus allen
dunklen Stellen auf und gefpenftert fic zu Scharen und gießt fic aus den
Schwärmen wieder zur Maffe zufammen. Kommft du früh herauf, wenn der
abnehmende Mond noch glänzt, und fiebft du den in Ginfamleit falt herrſchen
über dem grauen weiten, weiten Tod, du dergiffeft es nie.
Das Waffer ift des Winters Kaifer. Das Waffer in allen feinen Formen.
Das Waffer von dem Dunfte ab, den du als folden nicht erfennft, der Dir
77
"den Waffen der Grofftddte ift der Sonn- der treibenden Gorge. Es ift
nur Sommers ungefebene Gernen Winters in blauem Dufte Herantragt, bom
Dunfte über den Nebel gum Reif, über den Regen gum gefdwollenen
Strom, über den mit Hunderterlei Kriftallen von mikroſkopiſcher Bierlicdfeit
ftidenden und fdmiidenden und mit Hauben und Mänteln finderluftig mum«
menden Schnee zum Fluß auf Fluß und Budt auf Bucht tyrannenhart bee
zwingenden Gife, das meilenweit Durd) die Nächte Hdonnert, wenn es im
Stofte fpringt. Willft du aber fein Reich unbefchränft fehen, fo geh Winters
ans Meer.
Nicht weil du dort einen der Winterftürme erleben fönnteft, deren Gre
babenbeit gu dem größten gehört, was unfer Planet überhaupt mitzuerleben
bat. Ih will nur bom ruhigen Meere fpreden. Der Strand, der zur
Sommerzeit ,, Promenade“ ift, jet ift er Vorhof der See, und weiter nichts,
ein breiter, wellig fefter Borhof, auf dem leife die langen Wogen Dinauf-
laufen, um abzulegen, was fie nicht mehr wollen. Nichts beherrſcht ihn nad
rechts und links ins Unendlide hin, als das Meer. Das felber ift leer von
Schiffen, aber einfam ift es nie. Wenn du in den blaugrauen Duft darüber
blidft, wie feltfam, fo blitt es plößlih wie ein Silbernebel am Himmel hin
und erlifcht wieder und blitt wieder auf. Jetzt begreifft du erft, woher das
fommt: ferne Geefdwalbengiige find’s — wenn fie fic) wenden, daß die
Sonne das Weiß der Gefieder trifft, dann jedesmal erglangt am Himmel der
Schimmer. Und weld) Bogelleben überhaupt. Bom Norden find die Winter-
gäfte gefommen, in unzähligen Scharen, in all den verfdiebenen Arten die
Enten und Gänſe und jonjtiges Gefliigeltier. Didt am Ufer fannft du die
Enten fehn, die unermüdlich muntern Gefellen, Die fchnattern, tauchen, fid
ganfen und fpielen, wie hier zur Hochjaifon nur die Iuftigften Menfchlein,
während würdevoll ein Höderfhwan als Goliath zwifchen dem Kleinzeug
tudert. Heut ift ja bier in der Bucht das Waffer noch eisfrei, nur die Stein
blöde, die vor Uralters auf Gletidern und Gisbergen dabergereiften, haben
fih gewaltig weiße Rapugen aufgejegt. Freilich, ſchon Eniftert es zwiſchen
ihnen, und immer mehr ummanteln und umpanzern, umftadeln und umzapfen
fie fid. Wohl morgen fchon ift die Glade ein Stüd hinaus bon Scholle an
Scholle bededt, und träge nur hebt fie fid, wenn die Wogen unter der dünnen
Schilderſchicht verlangſamt beranfriehen. UWebermorgen aber ift alles viel-
leiht ſchon ftarr, eine fefte Gisebene meilenweit hinaus, dann bleibt nur am
Horizonte pom Brandungsgifdt ein Streif pon Silber und, fteht die Sonne
darüber, bon Gold. Dabin zieht aud all das Vogelvolf hinaus. Aus
weiter Gerne hörſt du dann nadts ein Bellen wie NRüdengeläut, oder ein
Geräuſch zum Saufden genau, als larme dort draußen eine Grofftadt. Das
fommt bon den Saujenden und Abertaufenden bon Wildgänfen des Nord-
lands. Plötzlich erhebt-es fid und naht und verftärkt fi und wadft und
brauft über dir durchs Dunfel, und nun ift es gang, gang wie ein wildes
Seer... :
Kleine Beiträge
Bom redhten Feiertag de3 Herzens. grauen Wellenfdlag des Alltags aufe
Das Dritte Gebot. fteigt, frdblid, voller Gehnfudt und ver-
1 Härt durch beimlidhe Erwartungen. G3
riemand fönnte aus unferent Golfsle- ift der Sag, der aud fie entläßt aus
ben den Geiertag wegdenfen. Aud dem Lärm, der immer ——— ak
er g
tag eine blumige Snjel, die aus dem der Sonne, der großen und Heinen Kin-
78
der. Und dod ift und diefer Grofftadt-
fonntag immer eine beimlide Qual. Wer
nidt nur die bunten Kleider und Die
lachenden Sefidter anfdaut, wer in den
Augen der Wandrer, die alle Wege
füllen, nad großer quellender Lebens-
freude fudt, nad befreiter Kraft und
ihrem Glanz — der erfdridt immer
wieder über die Dede und die Geelen-
Iofigfeit diefer Feiertage. Unſer Bolf
fann nidt mehr von Serzen, aus der
Siefe heraus froh fein. Gs Hat den
Sonntag verloren, der wie ein tiefer
Brunnen mit feinem Lebenswafjer Ge-
fundung durd alle Adern ftrömen läßt.
Sewif, die Zahl derer, die bon einem
tieferen Gerlangen getrieben am eier»
tag die große Natur fuden, um fid die
Seele weiten zu laffen, ift nidt gering.
Aber mir fommt dabei immer das Wort
in den Ginn, das mir an einem Gonntag-
morgen ein edter Wandervogel zurief:
„Oott fei Dant, Dab wir der Sretmiible
wieder einmal entflohen find! Der
Sonntag eine Sludt! Gin foldes Dop-
pelleben fennt feine redte Geier. Werk
tag und Sonntag müffen ineinander flin-
gen wie beim DBauersmann, der am
Sonntag durd feine Gelder gebt, froh
der Wode mit ihrer Mühe, und der am
Derktag die Hände faltet, wenn Die
Beiperglode ruft. Nichts vermag fo febr
die traurige Armut unferes Volkes zu
verraten wie Diefe Not, daß es nicht
mebr feiern fann. G8 ift ein Wort ®oe-
thes: „Der LUnglaube ift dag Gigentum
ſchwacher, Heingefinnter, zurüdichreiten-
Der, auf fid felbft befdranfter Men-
fchen.“ ind es ift ein fleingefinntes und
ſchwaches, zurüdihreitendes Geſchlecht,
das feinen rechten Feiertag verloren hat,
das darum aud ohne wahre Sehnſucht
nad Greude lebt. Die übertäubt es im
Gergniigen, im „Amüfement“. Das bife
@en Leben wird verängftet und vertan
und finft eines Sages leer und welf ab.
2.
Meber uns treiben die dunflen Wol—
fen. Gine Welt des Grauens, der Un—
tergänge, eine Welt des ewigen Krie-
es umgibt ung. Wer die Wirklichkeit
tebt, und fid nicht in einem leeren Op-
timismus der Anagft betrügt, der weiß,
daß unfere Welt fih in Schmerzen win-
Det und ein Neues auf feine Geburt wars
tet. Wir reiten durd das dunfle Sal
und feben feinen Ausgang. Aber wir
haben den ®lauben, wir haben den Stern
in der Siefe der eigenen Bruft. Und
unfer eben ift ein fühnes Wagnis.
Das ift unfer Menfchenlos und unfer
Deutihes Schidjal. Wer das beftehen
will, tad, nüdtern und bee getroft,
der braudt die tiefe Sammlung, Der
braudt die Heimat und die Rückkehr zu
ihr. Der braudt die GSemeinjdaft des
Ölaubeng, die ihre Kämpfer trägt. Gr
muß fpüren, daß die rechts und links
ftreiten, bom gleiden Brot effen und
pom gleiden Keld trinfen. Gr braudt
die Gegenwart ©ottes und die Erfabrung
diefer Gegenwart.
Nur diefem lebten und tiefften Bere
langen erfdlieBt fih die große Onade
des Feiertage. So wie der Leib Iebt im
Wedjel von Sin- und Ausatmen —
das jpüren mir erft, wenn diefer Leib
im Kampf zur höchſten Spannung er-
wacht — fo muß unfere ringende Seele
tief eintauden und fi einbetten in die
Stille und den Frieden feiernder Anbee
tung. Sie muß immer aufs Neue ges
boren werden aus Ddiefer Stille, in der
der Ewige fid nabt.
Wir wiffen darum, wie lebensnötig
ung folde Stunden find. ind dod vere
geffen wir e8 wieder und laffen und
forttreiben vom Sag, verlieren den fi-
deren @rund, den weiten Blid der ge»
fegneten Geierftunden, die uns einmal
durd allen Dunft, alle Sriibung, alle
verwirrende Fülle hindurd auf die leuch—
tenden @ipfel der Gwigfeit fhauen lies
fen. Wir werden wieder flein und müde
und irren in den Qiederungen unferes
Dafeins.
Darum fommt immer wieder der
Sag mit feiner leifen Mahnung, will
uns helfen und fpridt gu uns: Heute
follft du für ®ott da fein, einen ganzen
Sag, einen heiligen Tag. Und du wirft als
ein anderer, neu geboren in Deine Zeit,
in deinen Kampf zurüdfehren! Laß deine
Seele froh werden und frei auf meiner
Höhe! Lerne von mir, zu leben.
3.
Mind unfer Golf? G3 wird leben,
wenn es feinen Sonntag, wenn ed feine
Kirche findet. Saufdhen wir uns dod
nidt: Aller religidje Individualismus
diejer Sage fann uns als Bolf nidt
belfen. Sm Gegenteil, er vollendet nur
die Auflöfung. Gebolfen ift uns nur,
wenn wir zu den großen Symbolen fine
den, die uns die ewige Wahrheit des
Lebens offenbaren und uns alle anrüb-
ren. Grft wenn wir wieder bereit und
fabig find, das Symbol zu uns reden zu
lafien, fönnen wir wieder feiern in der
©emeinfhaft de3 Glaubens und der Ane
betung. Obne die heiligen Seiden, die
allen das Leben deuten, gibt es feine
wahre ©®emeinihaft. G3 gibt Zirkel,
Kreife, Sekten, die fid um einzelne Per-
fonlidfeiten zujammenfdließen. G3 gibt
„Bewegungen“, aber feine Kirche. Lind
obne Kirche fein Bolf, weil ohne Kirche
fein gemeinfames Heiligtum, fein Inner-
79
ftes dieſes Volkes. Grft da ift Boll, wo
alle vor dem gleihen Altar fnien.
Leber uns treiben die dunflen Wol-
fen. Wir geben durd) Sabre der Not,
des großen Leide3, des bitteren Lebens-
fampfes. Wo find die Menfden, Die
nicht verzweifeln? Wo find fie, um die
e3 wie Kraft und wie Frieden leudtet?
Do find fie, die Menſchen des reinen
Dillens und der frohen Zuverjiht? Man
wird auf fie fdauen, die feiern fünnen
und die darum das Haupt aufreht und
die Augen Hell und Klar behalten. Gie
bringen den Sonntag wieder. Sie werden
die Kirhe bauen.
Karl Bernbard Ritter.
Neues bon Hermann Claudius.
ermann Glaudius ift unter den le—
benden Didtern wohl der einzige,
dem ein Lied geglüdt ijt, Das wirflid
pom Volke (nicht pom Operettenpöbel)
aufgenommen wurde und Da3 von der
SugendD draußen auf den Wanderwegen
wie drinnen in Den Gropftadiftrapen ge-
fungen wird. „Wenn wir jhreiien Seit’
an Geit’“ fang guerft die ſozialiſtiſche
Xrbeiterjugend, heut fingt es die Sugend
aller Schichten und Parteien. &3 ijt das
Ried der großftädtifhen Bolfsjugend
ſchlechthin geworden; in ibm wird klar
und {din die Gehnjudt der in den Stad-
ten „gefangenen“ Geelen, die Gebnfudt
nad) Natur, Greudigfeit und Reinbeit
ausgedrüdt und zugleich der Glaube der
Sugend an fi jelbit.
Der diejes Lied Der Gebnfudt fang,
ift Der Arenkel des Matthias Glaudiug,
Das Didterblut des Wandsbeder Boten
regte fid) von neuem. Aber wo einft der
Mond friedfam auf das Kirdlein im
@riinen und auf die Gelder und Wieſen
fhien, über die der Gngel freundlich
wanderte, da fdeint er heut in lange
Straßenzeilen zwifhen vielftidigen Häu-
fern und in Luftidadtbife. Der neue
Slaudiug, feines Berufes ein Volksſchul⸗
lebrer, ift ein Kind ©roß-Hamburgs. Der
Alte war der Sänger der gotterfüllten
Rube, der Sunge ift der Sänger der trei-
benden LInraft. Aber, fo heftig die Nadel
des Kompaſſes ſchwankt, fie ftellt fid
dod immer wieder auf den Pol ein:
„Alles Geſchehen ruht in der Ewigkeit.“
Da3 alte Blut will feine edle Art nicht
verlieren.
Zwei Gruppen von Gedichten find eg,
die Hermann Claudius befannt madten.
GErftlid feine fogiale Didtung: Berfe,
in denen er Die Gmpfindungen der
„mant Muern“ (zwifhen Mauern) ein
gepferdten DBoltsjeele fang, ihre Ditter-
feit und ihre Gebnjudt, aber aud Die
ungerftdrbare Kraft des Lebende. Zum
80
andern die Kinderlieder: bHumore
volle, fede, drollig-ernfthafte Verschen,
in denen Derbhei uid Kinder‘reundlih"
feit fib miſcht. Man darf fie nicht mit
den Maßftäben aus de3 Knaben Wun-
Derborn meffen; e3 find eben Großftadt-
finder, aber dod ferngefunde, flahshaa-
rige Hamburger Bolfstinder mit frallen
Augen. &3 find die Kinder jener Gorte
pon Srofftadtern, die immer nod inner»
lid zur Hälfte Bauern find. Und deren
Nöte zum Beil eben aus diejem Zwie—
fpalt zwifhen Innenwelt und Umwelt
entftehn.
Hermann Glaudius hat mehr Derb-
beit und „Saft“ als fein Ahn, aber aud
“ als @rofftadter viel zerflatternde UAn—
rube. Wohl fließt er zumeilen die
Augen und laufjht in den „Sot“, aber
jene ganz tiefe Allverbundenheit de3 Al»
ten bat er nicht. Befinnung ift nod nidt
Rube. Der Stadter ift niht eins mit
der Natur. Gr empfindet da3 Reden-
wollen der Natur, aber fie ,fiebt ibn
nur „an“ „un fteit und fteit mit ftill
Sefih'... Un ſegat dat nich. An ſeggt
dat nich.“ Die derbere Kraft und die
größere Wannigfaltigkeit hat er, die
unendlide Tiefe bat der andere, Beide
aber find edt. Der Unterfchied ift lebten
Endes der Anterſchied der Zeit. —
Aus feinen „Zeitgedihten“ hat Her
mann Glaudius 1922 eine Auswahl gue
— —* die unter dem Titel
„Brüde in die Zeit“ bei Wefter-
mann erfdienen ift. Die Gedichte fpie-
geln feine Gmpfindungen vom Kriegs
ausbrud bis zur Revolution, Gmpfin-
dungen, Die typiſch find. Grft das Her-
einbreden des — zugleich das
Erlebnis der Brüderlichkeit und Kame—
radſchaftlichkeit des Volkes. Dann das
Grauen der Schlachten, dann die „müde
Front“, das Nidt-mebhr-tragen-fdnnen,
all die Stimmungen des überlafteten Her-
gens und @ebirns. Gndlid der Schrei
der Revolution, in dem fidh foviel Hoff»
nung fundtat. G3 ift in diefem Beitbud
nidt alles „®edicht“, (und unter dem
wadfenden Drud der Zeit) viel Rhetorik
(freilid) echte, nit verftellte, nadges
madte) darin, ed ift viel flüchtig ge-
formter AWusbrud der jeweiligen Stim-
mung. Aber e3 find aud eine Anzahl
Gedichte darin, die mehr als nur Ause
brud find, die in frajtiger Gorm die
Zeitftimmung geben und aud an fünf-
tige Geſchlechter geben werden.
3m porigen Sabr bradte Slaudius
im Antäus⸗Verlag eine neue fleine
Sammlung heraus: ,Lieder Der Une
rub‘. Der Sitel darafterifiert Das
Diidlein treffend. In all dem Mannig-
faltigen, fowohl in dem Aeberheißen und
Rüdfihtslofen wie in dem Gragids-gier-
lihen (das zuweilen an iliencron er-
innert), ift die drängende Unruhe zu fpü-
ten. ber der Dichter befriedigt fid in
diefem unraftigen Treiben nidt, er fehnt
fid dod nah Ruhe. Am Shluffe heißt
eg: „Die tief in meinem Wefen immer
war, / fteig’, Rub’, herauf und glätte
mir das Haar, / dag meine Hand zer-
wühlt in ftetem Harm.“ Gr fudt nad
den ,flaren Stufen“ zum Sempel der
Schönheit. — Aus beiden Sedidtfamm-
lungen geben wir porn Proben, die das
Dielen des Dichters ae en.
Sulegt bat uns Claudius aud einen
Roman beidert: „Das GSilber-
ſchiff“. (Antaus-Berlag). Das Bud
trägt den Antertitel: „Die SGefdhidte
einer Gebnfudt* und aus Wilhelm Meie
fters Lehrjahren das Motto: „Aber wer
fommt früh zu dem Olid, fid feines
eigenen Gelbft, ohne fremde Gormen, in
reinem Zufammenbang bewußt zu fein?“
Gs ift nicht bloß objektive Graäblung,
fondern, wie die Lyrik, ein Befenntnis-
werf. In den erfundenen Geftalten und
Szenen fommt zweifellos ebenfo wie in
den ®edidten eigengelebte3 Leben zum
Ausdrud. Das Thema ift das Reif-
werden zur echten Künftlerfhaft. In
der Großftadst Albenburg (Hamburg)
wächſt Harm Gtörmer auf magerm
®rund heran und wartet auf das Gilber-
{Hiff der Erfüllung Wir denfen an
Karl Brögers „Held im Schatten“. Aber
um Störmer ift nidt die grauenvolle
Gerlaffenbeit, es ift wenn aud) prole-
tarifhe und zumeilen fogar bös rie
dende, fo Dod immer wieder friihe bame
burgifme Luft um ihn ber. Gein Sdid-
fal erfüllt fid fo: „Da ftebt, als fei der
Selszaden Erde Weftalt getworden, er
felbft, Harm Störmer, der Menſch, und
bebt feine Hände zu den Gilberfegeln
feiner Sehnfühte empor, die Hod über
ibm freifen. Alle Lieblichfeiten feines
Lebens leuchten darin und alles Leid,
das zwifchen beiden fdwingt, als wäre
e3 nun das eine und nun das andere.
Aber feine Hände find nur wie gum’
Gruße erhoben. Befiten wollen fie nidt.
Denn fie wiffen, was der alte Bater
Harm Hinrid nod nidt gewußt: dah
alle Gilberfdiffe des Olids fdeitern,
wenn fie landen wollen Daf
fie ferne bleiben, ift der Ginn ihrer
Sendung und dag ewige Sebeimnis ihrer
Stadt.“ DBeffer ift der Menih und
Dichter niht zu dHaratterifieren als Hier
mit den Herzworten feiner „Lebrjahre“.
Aber —- wenngleih die Silberfhiffe nicht
landen fönnen: fie haben dennod ihren
Hafen, von dem fie — ausgefahren ree.
t.
Zu ben Lübeder Bildern bon Asmus
Seffen.
Wi find uns meift gar nidt darüber
flar, wie ftarf wir beim SBetrade
ten von Arditeftur und Landfhaft von
den Künftlern abhängig find, deren Bil-
der uns — pvielleiht pon Kind an — ala
Bud= oder Wandfhmud vertraut find.
Sind wir gar, wie das oft genug Der
Sall ift, in eine beftimmte — etwa ro-
mantiſche — MNaturanfdhauung verliebt,
fo ärgern wir ung, wenn ein gang anders
eingeftellter Künftler uns zwingen will,
die Welt anders zu fehen, ebenfo, wie er
fie fiebt. Und dod wird ein fo aus den
gewohnten Geleifen gebradtes neues
Schauen fiir manden überhaupt erft der
Anlaß, fiinftlerifd fehen zu Iernen.
G8 handelt fid dabei um viel mehr
alg um ein reines Augenerlebnis, um
ein Gntdeden vergeffener oder verbor-
gener Schönheiten, um ein mehr farbi-
ges oder mehr lineares Sehen. Gate
Kunſt ift vielmehr immer der Ausdrud
einer beftimmten Weltanfhauung, eines
eigenartigen Weltgefühls in der jeweils
befonderen Sprade, etwa der Zeichnung
oder des farbigen Bildes. Darin liegt ja
erft der tiefe feelifhe Wert der Kunft
über das rein äſthetiſche ®eniefen hinaus,
daß fie und in das oft genug tragifde
Schaufpiel der Auseinanderfebung zwi—
{den dem fchöpferifhen Menſchen und-
der Welt bineinbliden läßt, uns je nad
dem Orade unferer Grlebnisfabigfeit bine
einreifend, bereihernd und vertiefend
oder aud befrudtend und abftoßend.
Der follte aud ftärfer von der inneren
Unruhe, der Erfdiitterung einer Zeit er-
griffen fein als der Künftler, dieſes
freiefte, empfindlidfte Organ einer Bolfs-
feele. Kunft ift feine rein bdeforative
Angelegenheit. Das „Schmüde dein
Heim!“ in Ghren. Go beredtigt diefer
Standpunkt in feinen @rengen ift, fo
wenig wird er allein dem Wefen der
Kunft geredt. Gewiß, Klärung und Rei-
nigung unseres Lebens⸗ und Weltgefühls
ift letter Sinn der Kunft, aber dod nidt
ängftlihes Bewahren vor jeder Erfchüt-
terung, wenn nun dod einmal die Grund-
feften aud unferes geiftigen Seins erzit-
tern, nidt ſchwächliches Berubigen der phi-
liftrdfen Inftintte, die in uns allen fteden.
Sq fann mir nidt vorftellen, daß ®rü-
newald und Rembrandt auf ihre Zeit
nur „beruhigend“ gewirft haben. Es
wäre freilid) aud feinem Bürger von
Colmar oder Straßburg eingefallen, fich
eine Reproduktion der G©rünewaldfchen
Kreuzigung, wenn e3 folde fdon gegeben
hätte, in feine gute Stube zu bängen.
Wenn er aber in der Kirde vor diefem
81
Altarbilde fniete, dann wird er, wenn
er fromm tar, einer tiefen Beunrubi-
gung niht entgangen fein. Was bei die»
er Wirkung fünftlerifhes, mas religi-
öſes Wejen war, diefe Frage ftellte er
ih nidt. Yu einer reinliden, begriff-
lihen wie tatfählihen Scheidung der
beiden ®ebiete Kunft und Religion haben
wir e3 ecft gebradt, wir, die glüdlichen
Kinder der Aufklärung und der natur-
wiffenfhaftliden Methode. So war unfer
Schickſal eine Kunft, die immer mehr
Dirklihfeitsfhilderung und reine Augen-
funft wurde ohne ein inneres, im weiteren
Sinne religiöjes Verhältnis zu der Welt
und den Dingen, und eine Religion, die
ihr Bedürfnis nad großen Symbolen
von ſüßlichem Nazarenerfitih befriedigen
laffen mußte.
Der Gepreffionismus ift tot und alle
breitjpurig in feinem ®efolge marfdie-
renden Ismen mit ibm. Go verfündeten ed
geftern mit Genugtuung die gleichen, die
porgeftern als Apoftel des neuen Kunft-
evangeliums ausgezogen waren, und der
Kritiker, der endlich feine Rube wieder hat,
reibt fih ſchadenfroh die Hände. Nein, tot
find diefe Ismen nicht erft feit geftern,
fie find nie lebendig gewefen, höchſtens
als Begriffe in den Köpfen der Theo—
retifer und jener Apoftel. Laßt die Toten
ihre Toten begraben. Gin Gutes hat die
%oterflärung immerhin gehabt, daß nun
zahlreide Mitläufer der ©rofien, Die
neue Wege fuden mußten, zurüdge-
funden haben zu einer ihrer eigenen Art
gemäpen Kunft, mag fie nun groß oder
lein fein. Die andern aber geben ihren
Weg weiter — fiber aud nidt nur
Große — die, in denen ein neues, ein
frommes Weltgefühl zur Natur und zu den
Dingen den fünftlerifhen Ausdrud fudt.
Sie mögen im chaotiſchen Beitgetriebe -
manden Irrweg gegangen, in mande
Gadgafje geraten fein. Vielleicht waren
diefe Um-⸗ und Abwege nötig, um den
ridtigen Weg zu finden, vielleicht ift
Diejer_ aud jest nod nidt gefunden —
wer das Olid batte, in jabrelangem
vertrauten Gerfehr foldem Künftler-Rin-
gen mit innerfter Anteilnahme gugufeben,
dem vergeht die Schadenfreude über den
„Tod des Expreſſionismus“.
Asmus Jeſſen iſt eine dieſer bis zur
Selbſtvernichtung ehrlichen, puritaniſch
ſtrengen Vaturen, Die im Ringen um
die Gorm Wege gegangen find und
gehen, die die Sheoretifer expreſſioniſtiſch
genannt haben. Obgleid er ſchon mand-
mal, fo vor allem in feinen Domgeid=
nungen, an einem Ziel ftand, ift er dod
nom auf dem Wege, wie die Litho-
gtapbien im Lübeder Jahrbuch 1924 zei-
gen. Arditeftur und Landſchaft find
82
die Gegenftande, durdh die er fid aus-
{pridt, denen er die Gorm zu geben
verjudt, die feinem Ausdrudsmwillen ge-
mäß if. Gr gibt fid nit ausftrömend
den Dingen hin, fondern zieht fie hungri
in fi, erfüllt fih mit ihrer Seele, u
gibt fie Dann, von ihr befrudtet, als Ge-
bilde feines anfdauenden und dadurch
formenden DBlides wieder. Go tun ihm
die Dinge ihr Geheimnis fund, fo offen-
bart fid ibm das Wunder des Raumes
in den Dombildern, die Myftif des Hau-
fes in den Lübeder Häufern. nd die
Kraft feines formenden Blids zwingt uns
in feinen Bann, fo nehmen wir teil an
den beglüdenden Grlebnijfen, den un»
beimliden Grregungen, die von einem
gotifhen Gewölbeſyſtem, einer romani-
ſchen Hausfaffade ausgehen. Was 3. DB.
die Senfter für ein Haus bedeuten, bald
freundlich lodende und Frieden verheißen⸗
de, bald unbeimlid drohende und bane
nende Augen, babe id nod nie fo ftarf
empfunden wie vor einigen Hauferbil-
dern Seffens. Da bat jede3 feine eigene
Seele befommen: das Hochzeitshaus, das
Gefpenfterhaus, das Totenhaus, und es
find dabei wirflide Lübecker Häufer, die
jeder wiedererfennen fann, was er freilid
nidt braudt. Belfer nod find die Dom-
bilder, in denen das Konftruftive ſowohl
wie das Raumbildende der Romantif
und der ©ott, einer jeden in ihrer Wreife,
unheimlich ftarf vermittelt wird, und zwar
fo, daß das ſcheinbar ftarf Gubjeftive
in Der —— den letzten weſent⸗
lichen, eben den religiöſen Gehalt der
Bauart des Raumes lebendig macht.
Wan betrachte daraufhin einmal die
großen Originalzeihnungen der Dombil-
der, die im Behnhaus hängen, und gehe -
dann in den Dom felbft. Liibed, deffen
Kirdhen und Häuſer bisher — unendlid
oft — nad ihren malerifhen Reizen,
nad ihrer farbigen Schönheit bin gezeigt
worden find, das feinen auswärtigen
Beſuchern gumeift nur durd die males
tijden Seidnungen Ubbelohdes in Defjen
Sremdenfühbrer lieb und vertraut ift, bat
durch Seffen ein anderes Gefidt befom-
men, ein weniger liebenswürdiges viel»
leicht, aber ein’, das von der Kraft und
@lut feiner großen Meifter umwittert ift.
Seffen ift Nordidleswiger, in feiner
Herbheit und grüblerifhen Gigenwillig-
feit ganz und gar Norddeuticher, ſchwer—
fällig und langfam im Schaffen, durd
Die ihm eigene ftarfe Bewußtheit oft ge-
bemmt. Gr lebt feit einem Sabr in
Bert zwei Stunden bon Lü-
bed, von den berufenen Kunftförderern
Liibeds wenig beadtet, von der großen
Menge nicht verftanden, feiner Ginfame-
feit frob. Paul Brodhaus.
Der Beobachter
Der Keulenſchirm, Modell 1923, ift furg,
did, plump und unbeftritten häßlich.
Sede Dame, die nur ein bifjhen „von
Welt“ ift, trägt ibn. Warum trägt fie
ibn? Gben darum, meil er ein unbe»
ftritten baflides ausgefprodenes ,Sai-
fon-Modell* ift, das im nadften Jahr
feine Dame mehr tragen fann, wenn
fie nur ein bißchen „von Welt“ fein
will. „Seht ihr,“ fagt die Keulenfhirm-
trägerin, „ib fann mir einen Schirm fau-
fen, der viel ®eld foftet und mehrere
Sabre balt, aber ih werde ibn nur
diefen Winter tragen und mir dann
einen neuen faufen; febt ihr nun, dah id
wirflid eine Dame von Welt bin?“
— Nichts gegen elegante Grauen! Nein,
id will nidt den freideutfhen Bar-
füßerinnen da3 Wort reden! Aber der
Keulenfhirm wird nidt getragen, weil
er elegant wäre, fondern weil er zeigt,
daß man über den Gerdadt, fparen zu
müffen, nod) immer erbaben ift. &benio
trug man im Sriege unmäßig bobe
Schuhe und Faltenröde, als die Zei—
tungen von der Leder- und Stofffnapp-
beit redeten. „Sebt ihr,“ fagten Die
Damen, „wir haben jemand an der Hand.
der uns bintenherum Leder und Gtoff
beforgt; wir fönnen zahlen, denn mir
find Damen von Welt.“ eute redet
man nun bon Sparen, daher der Keulen-
fdirm. Ad, ihr armen Damen von Welt!
Mibfam bat der Gatte feine RKriegs-
und Währungsgewinne por dem Ginang-
amt perfdleiert, aber Die Mode bringt’s
an den Sag, von wober ihr fommt!
(Ladle nicht, liebenswürdige Leferin, die
du feinen Keulenſchirm bejiteft; vielleicht
bift du doch nur eine durch Seldmangel
zeitweilig verhinderte Keulenfhirmträ-
gerin!) & ©.
Es ließen ſich manche „ungeheuren
Probleme“, die den Weltverbeſſerern
die Nadtrube rauben, fpielend leicht
löfen, tenn jeder verantwortliche Beamte
pon unantaftbarer fittlider @efinnung
wäre und nur nad feinem natürli-
en, gefunden Oefühl handelte.
— Rirglid ging eine ftarfe Gntriftung
durh die anftändigen Blatter wegen
eines Feuilletons der „B. 3. am Mittag“
1923, 63, und e8 wurde die Preffefreibeit
bei diefer ®elegenbeit für manden eine
„Stage“. „Bon Wüften, Kamelen und
Kriegen handelte das Feuilleton, in wel-
dem folgende Gabe vorfommen: „Aud
unfer Dafein ift ftrapagids und reid an
Gntbebrungen. Wie groß der Prozentſatz
an Samelen ift, die ihm fon erlegen
lind, ift ſtatiſtiſch wohl nicht feftzuftellen.
Man jieht immer nod fehr viele Leute,
die mit eifernen Ketten berumlaufen, auf
denen ftebt: Oold gab id für Gijen.“
Golde Feuilletons brauden uns nidt
an der SPreffefreibeit irre werden zu
laffen. Wir brauden nur ein wirflid
polfs8timlides Redt. Dann würde
id perfinlid gum Ridter gehn und den
Schreiber wegen Beleidigung verflagen.
Der Ridter würde auf Grund des Tat-
beftandes in garfeinen inneren Konflikt
fommen, fondern würde urteilen: Der
Seuilletonift der B. 3. am Mittag be-
fommt fünfundzwanzig binten aufgezäblt.
Kein Menfh im Bolf würde das als
Seblurteil empfinden, Der Schreiber aber
würde in feiner perfinliden Sreibeit
Durdhaus nicht befihränft; er finnte hin-
geben und ungehindert wieder fo was
ſchreiben — wenn er mutig ware. O. K.
Mm fragt uns gelegentlid, warum
wir den Didter Fri v. Unruh
nidt würdigen. Weil wir ihn nit für
einen Didter, fondern für einen Re d-
ner balten. ber aud als Redner
fönnen wir ifn nidt wwiirdigen, weil
feine Rbetorif voll Pbhrafe if. Wir
baben faum je fo flar und ent{dieden
den Gindrud der Pofe gehabt, wie beim
efen einer Rede Unruhs. Gine Gedan-
fenentwidlung gibt er faum, immer nur
ein Gewühl von patbetifd-unflaren Gmp-
findungen in unflarem pee ala
Was ift das wieder für eine Anfprade
gewefen bei der Reihsgründungsfeier im
großen Zefthallenfaal in SKarlsrubel
(Sranff, 3tg. Nr. 50.) Man lefe fid
laut Gage por wie diefe: „Wir, denen
die Grynnien über gerbrodhene Adler und
Seiden aufzwangen den Beugegang zu
jenem ft paragrapbengeiler Greife. .“
„ns wäre geblieben fein anderes ®e-
fühl, als das ohnmädtige Bäumen von
getretenem ®ewürm?“ „Denn Gud fehlt
der Schauder vor dem gefdladteten
Menfh!" „Sein Haud ift mein Schild!
Sein ftilles Wirken in den Kammern
neuer Liebe mein Stab gegen den Hohn,
der uns folgt aus dem Maul der Ber-
neiner, die ihr „So war es, fo wird ed
immer fein“ in den ruhigen Atem unferes
fiheren Weges ſchleudern!“ (Man febe
fih dieſen Gag bitte aufmerffam an.
Das „fein“ bezieht fid auf einen „in Die
Sphären geftofenen Schwur“, der „die
83
Haine der Mutter erreichte“. Der Haud
dieſes Schwurs alfo ift Frib v. Unrubs
Schild, das ftille Wirken dieſes Schwurs
in den Kammern neuer Liebe ift Anruhs
Stab gegen den Hohn, der ihm folgt.)
Oder: „Und aller Triebe Unvernunft
ift die Bernunft der Liebe! — Dort, two
zwei Menſchen in dem ratfelvollen Schred
ihrer Hingebung nist mehr fühlen —
das Sier — dort fommt es: — das
Neue Reid! Fritz v. Unruh bläbt fid
in eine Rolle hinein, gu der ibm Die
Kraft nidt gegeben ift. Die fehr befdei-
denen @edanfen in Ddiefem wudernden
Wortfram entbüllen fid bei näherem
Betradten als SGdubgedanfen der Ohn—
madt. Sludt in die Euphorie verfdmu-
fter Grbabenbheitsgefible. G3 gibt nur
eine Rettung: das Trappiftentlofter.
rofeffor Georg Witfowsfi, der in
Leipzig das deutfhe Kulturgut ver»
walten bilft, fhreibt im Berliner Sage-
blatt „Bon Art und Kunft der deutſchen
Schweiz“. Er fragt: „Darf die Schweiz
ein Deutfhes Land heißen?“ Nein, meint
er, denn ,feit bald einem halben Sabre
taufend befteht aud duferlid zwiſchen
dem Deutſchen Reihe und der Schweiz
nidt die Ioderfte ftaatlide Gemeinſchaft.“
Daraus, daß die Schweiz und das Deut-
fhe Reih eben zwei Gtaaten find,
ſchließt Witlowsfi: „Nur politiihe I ve
ten (von uns gefperrt) fönnen bon den
Deutſchſchweizern innigeres Mitfühlen
unjerer Leiden, tätigere Hilfe als von
Stammesfremden fordern.“ Wir fordern
troß der ftaatliden Trennung dennod
bon den Schweizerdeutſchen innigeres
Mitfühlen und tätigere Hilfe als bei-
fpielsweife von Herrn Profeffor Wit-
fowsfi. Denn e3 kommt in erjter Reihe
auf die Bolf€sverbundenbeit, in zwei—
ter Reibe auf die ftaatlihe Organifation
des Bolfes an. An dem Gah „Deutich
ift deutfh“ wird die politifhe Weisheit
des politifden Nidt-Toren Georg Wit-
fowsfis zu Gdanden. Gottfried Keller
und Konrad Ferdinand Mehyer find ſolche
„politiiden Soren“ gewefen, die aud
an den Staatsgefdiden ihres im Reide
organilierten Volkes innigeren Anteil
nahmen als an den Staatsgefchiden der
Ruffen, Sngländer, Frangofen. Hübſch
ift aud die Bemerkung Witfowstis über
Swingli als den „geiftvolleren
®enofjen Luthers“. Man vergleide da-
mit Die baßerfüllte Aeußerung feines
verftorbenen Bruders gegen Luther, über
die der DBeobadter im vorigen Heft be-
ridtete. Warum jüdt es diefe Leute,
wie bon einem böjen Geift immer auf
„das“ Thema gebannt, unentwegt über
folhe deutfhen Dinge zu reden und zu
ſchreiben, für die ihnen die Natur feine
Bollmadt gegeben bat? Was drängt
fie, immerfort eine boshafte antigerma-
niſche Kulturpolitik zu betreiben? Warum
läßt fih Witkowski nidt an dem Geifte
genügen, den er begreift, 3. B. an Arthur
Schnitzlers „Reigen“? Damit fann man
doch aud gang anjpredend das Ber—
liner Tageblatt und die literaturgejdhidt-
liden Kollegs ausfüllen.
ST Zedlitz⸗Trützſchler, erft Pringen-
Adjutant, dann bis in den Gommer
1910 Hofmarjhall Wilhelms des Bwei-
ten, bat in feinem Sagebud eifrig alle
intimen Klatfhgefhihten und häßlichen
Szenen bom Hofe zufammengetragen. Als
Bilhelm der Zweite nod regierte, fand
er nidt die Kourage, öffentlih gegen
den Höflingsbetrieb aufzutreten (wie hin
und wieder einer e3 wagte) Gr ging
umber und fammelte Shmub. Nadhdem
der Löwe tot ift, fommt Graf Bedlib-
Trützſchler berpor und traftiert ihn mit
mutigen §uftritten. Gine ganze lite»
rarifhe GjelSherde leiftet ihm Beihilfe.
Nah unfrer Meinung ift dads ftarffte
Argument gegen Wilhelm den Zweiten,
daß Menfhen wie diejer Graf e3 bei ihm
zum Hofmarfdall bringen fonnten. —
Man ftelle fid vor, bei dem Prafidenten
Gbert fdlide eine fogzialdbemofratifde
Größe umber und notierte alles, was die
Berjon de3 Prafidenten irgendwie ent»
werten fönnte, um in einem QAugenblid,
da dieſer wehrlo3 wäre, das Material
mit beforgter patriotifher Miene (und
für ein gute3 Honorar) ausgufdladten
— wir find fiber, daß wir uns mit
einem folden Menfhen nidt gemein
maden und ibn in feinem SHandwerf
nidt unterftüßen würden.
Zwieſprache
Da vom „Deutſchen Volkstum“ ſeit län-
gerem nur gang ausnahmsweiſe
mehr Hefte gedrudt worden find, als
nad der Begiehergabl unbedingt nötig
war, find die meilten Hefte vergriffen.
&3 fommen aber fortwährend Madbeftel-
84
lungen, Daher bitten wir alle Refer,
die feinen Wert darauf legen, die poll»
ftändigen Jahrgänge aufzubewahren, die
Hefte zur Verfügung zu ftellen. Ginige
Wünſche find im Angeigenteil verdffent-
licht, wir bitten um freundliche Beadtung.
Durh den Zwang der monatlichen
Poftbeftellung und durd die damit ver-
bundenen JZufälligfeiten reift bei man-
dem Lefer plötzlich unvermerft der Bee
gugsfaden ab. Sobald er inne wird, daf
die Hefte ausbleiben, iſt's zu fpät zur
Nadbeftellung, die Auflage ift vergriffen.
Darum haben wir es jest fo eingerichtet,
daß wir gegen Ginjendung von 2 Mt, ein
Bierteljabr, und gegen Ginfendung von
8 ME. den ganzen Sabrgang direkt unter
Streifband liefern. Wer nidt durd den
Buchhandel beziehen fann, entgeht auf
diefe Weife allen Scherereien.
Während der Snflationsgeit bat der
Berlag bei der Zeitichrift erheblih gu-
feben miiffen. Wir danken allen Spen-
dern im Ausland und Inland, die uns
in den ſchlimmſten Monaten geholfen
baben, Nun find wir über die Schwierig-
feiten hinweg, wir brauden feine Gorge
mehr vor neuen Begiebern zu baben.
(Grither bedeutete jeder Bezieher infolge
der ©eldentwertung eine Erhöhung der
-— Paffivfeite.) Sede Erhöhung der Auf-
lage ift ung jet wieder ein ungetrübtes
Dergnügen,
Gin paar Worte zu den Auffaben
des Heftes. Mit Nordfchleswig haben
wir ung, fo nahe es uns liegt, bisher
nie ausfibrlider befhaftigt. Wir bolen
das mit dem Aufſatz Schmidt-Wodderg,
des Führers der Deutihen in dem ab»
ne @ebiete, nah. Betont fei, daß
er Aufſatz in der erften Banuarwode
diefes Sabres gefdrieben wurde. Dah
Sdhmidt-Wodder jede Feindfeligfeit ge-
gen die Dänen fern liegt, hat er por dem
Kriege dDurd die Tat bewiejen. Wir den-
fen und fühlen heute ebenfo wie damals
ganz mit Gdmidt-Wodder. Weil wir
ein verftandiges Neben- und MWMitein-
anderleben der Beutihen und Dänen
wünſchen, bedauern mir es, Daß Die dä—
nifhe Bolitit fih durch den Gieg der
Gntente bat blenden laſſen. Die Gefdhidte
wird ſchließlich nicht durch die zeitweilige
Meberlegenbeit und Unterlegenbeit der
Galfer beftimmt, fondern durch die fte-
tigen, tiefen großen ®ejebe de3 Völker—
lebens. G3 war nod immer fo, daf
die frangdfifde Nation in ezaltiertem
Ehrgeiz die ibm Durd feine tatfadlide
Volkskraft gezogenen Grenzen überfprang,
um nad furger „Öloire” wieder — ihren
bej&heidneren natürlihen Plas einzuneh-
men. ind e8 war nod immer fo, dah
das zahlreihe, im @angen geduldige,
ftarfe, arbeitiame deutſche Bolf, dag (weit
über feine „Staatsgrenzen“ hinaus) Nit-
teleuropa in dichter Maffe befiedelt, aud
wenn e8 eine Zeitlang von den Feinden
Ser wurde, am Ende dod wieder in
er alten Größe gefeftigt daftand. Die
biologifden Völkergeſetze können nidt
einmal von den Schiefgewehren der nicht
nur großen, fondern jogar vergrößerten
tubmreiden däniſchen Armee faputtge-
{offen werden. Geduld, ihr Eepanfions-
giganten von Kopenhagen! Die dänischen
Hiftorifer werden dereinft diejenigen Bo-
litifer, die Das dänifhe Staatsfubrwerk
an den mit Qaturnotwendigfeit ab-
wartsrollenden franzöfiihen Triumph»
wagen anfoppelten, vermutlid nicht
unter die flugen und weitblidenden
Staat3männer rehnen fönnen. ind es
werden faum fonderlih ftolge Gefühle
fein, mit denen man feftftellen wird, daß
Dänemark ja aud fo hätte handeln fine
nen, daß die deutſche Ehre unverlebt
blieb. Wir pflegen, wenn jemand einen
beißen Wunſch in unüberlegter, hajtiger
Beife bereich tronifh gu fagen: Des
Menfhen Wille ift fein Himmelreid.
G8 wird fid zu feiner Zeit erweifen, ob
das däniſche Himmelreih edt ift. — —
Sq bringe nun endlid den im Oftober
perfprodenen Oedenkaufſatz über Gerdi-
nand Avenarius. Vom November 1911
bis zum Schluß des Sabres 1916 war
ih bei Abenarius am Runftwart und
in der Leitung des Diirerbundes. Es
war eine Lehrzeit, wie ein Schriftſteller
fie nirgends fonft in Deutfchland fo hätte
baben fönnen. Wan weiß, daß id im
Gtreite pon Abenarius gefdieden bin.
Es ift mir leid, daß es im Zorn gefdab.
Aber darüber bin ih mir Heute nod
flarer als damals, daß die Trennung
fein mußte, fonft wäre ih nie zu
meiner bejonderen Aufgabe gefommen.
Die Bitterkeit ift längft verſchwunden, id
denfe mit reiner Dankbarkeit an die ine
baltreiden Sabre zurüd.
G3 fam mir nidt darauf an, dad
Berk des RKulturpolitifers und Dich—
ters zu würdigen, Das habe id in dem
Avenarius-Bud, welches id 1916 zu
Avenarius’ fedgigftem Geburtstag ber-
ausgab (bei Gallwey, Münden) getan.
Zudem ift, was er geleiftet bat, aud nod
in den lebten Jahren, jedem Gebildeten
befannt. In vielen Auffaben ift e8 nad
feinem Tode gejagt worden. Leben dod
(außer Batfa) nod all die Mitarbeiter des
„alten“ Kunftwartfreifes, Adolf Bartels,
Karl Otto Erdmann, PaulGdulbe-Naum-
burg, Serdinand Gregori, Leopold Weber
uf, Gie baben mandes Dortreffliche
über Avenarius’ Wirken gefdrieben. Im
Oftoberheft 1923 des Kunftwarts bradte
fein Nachfolger Wolfgang Schumann eine
umfafjende Darftellung der Berjönlich-
feit im Sufammenbang mit ihrem Werte.
(Befjonders Hinweifen mödten wir auf
einige bisher ungedrudte ®edidte von
Avenarius in dem Heft.) Daber be-
85
{Oranfe ih mid auf eine fnappe Gha-
rafteriftif der perfinliden Art des Mans
nes, Alle Paneghrif habe id) vermieden,
aud Kritik ziemte mir nidt. Ich bob
berpor, was mir das Wefentlidfte ſchien,
ohne jedod die Grenzen zu verfdweigen.
Avenarius ift bedeutend genug, um das
ertragen zu fönnen, Ich Deik, daß er
felbft fic Mühe gab, nit nur feine
Stärfe zu nuben, fondern aud feine
@rengen zu erfennen. Gr lehnte die Hym⸗
nen ab und ſchätzte die Wabrbeit.
Die Stiide, die wir vorn aus Ave—
narius’ Schriften wiedergeben, babe id
nad dem Avenarius-Bude gewählt. Das
erfte und lebte Oedicht ift außer inijenem
Bude nur im Kunſtwart veröffentlicht
worden, die andern ftammen aus „Lebe!“
und aus den „Stimmen und Bildern“.
Die „Spatentante“ gibt ein Bild von der
perfinliden, bumorpollen Art des Er—
aablers. So erzählte er. Und die Sdluf-
berfe des Stüdes fagen die Wahrheit. In
dem „od“ ſchätze id die faft goethefde
fünfte Strophe fowie die Schlußftrophe
ganz befonders. Es ift gleihfam Avena-
tius’ eigenes Sotenlied. Der „Mondauf-
gang“ ift zweifellos duch Shwinds Bild
bon den Geiftern, die den Mond anbeten
(Sdhad-Gallerie), angeregt.
Als zehntes Bandden der Kunftiwart-
Büderei gab Wolfgang Schumann eben
eine Auswahl ,Gedidte’ pon Apena-
tius heraus, (Callweh, Münden. 68 ©.
Seb. 1
Mt.) Solche Auswablen find
natirlid fubjeftiv. Aber wie auch immer,
es ift ein fines, gehaltvolles Bändchen,
befonders wertvoll durd einige bisher
unperöffentlihdte Gedidte. Die Gedidt-
folge „Ber Leste’ und Die beiden
Strophen ,@ottvater“, worin -fih der
alte, vom Tode gezeichnete Mann mit
dem Tode verjöhnt, find erfhütternd für
jeden, der ihn gefannt bat. Das ift das
tiefe, reine ®old, da8 aus den Sdlacden
des Lebens geläutert ift. „Und nun id
geb zum Gdeiden / Bon diefer Grde
Licht, / Du Herr von Ghrift und Heiden,
/ Bie bift du plötzlich jhlihtl" Im
Bilde feines irdifhen Vaters tritt Gott
ihm entgegen. — —
Das Schleswig = Holftein= Heft der
„Zat“, auf das Sdmidt-Wodder hin—
weift, wird im März erfheinen.
Die Bilder von Asmus Seffen ent-
nehmen wir drei Mappen („Lübeder
Schiffe“, „Häufer“, „Dom“), die je zwölf
Blätter enthalten. Die beiden lebteren
find in zwei verfhiedenen Ausführungen
gu je 2 und 3 WME, die Liibeder Schiffe
für 2 ME durd die Hanfeatifhe Ber-
lagsanftalt zu beziehen. Wir wiffen, daß
viele Lefer die Köpfe fchütteln zu den
Bildern, aber eines werden fie bei einiger
Aufmerffamteit leiht empfinden: dah
Seffen wie faum ein andrer das Grleb-
Bet des Raumes zu bannen ver-
tebt.
Stimmen der WMeifter.
Was will das papierdünne beſchriebene Blatt Bewußtheit bedeuten, das auf den
Weerestiefen ſchwimmt! Schichtweiſe liegt da drinnen Welt unter Welt.
Sind fie tot, die überfluteten Zeiten? Alles bei den Vorfahren Geweſene iſt ja
in den Golgen nod, von allem tragen wir nod etwas in uns, und wir feben e3 nicht
jeden Tag gleidh, wir fehen es bald mit Wärme, bald in Gelaffenbeit, bald mit
Kälte, bald zuftimmend, bald ablehnend — aud für unfre Eugen Augen von Heute
ändert das Ginft fehr oft nod fein Gefidt: e8 lebt nod. Sede diefer Welten des
@®ewefenen lebt noch unter ihrer eigenen fremden Sonne weiter. inter ihnen ere
blibten die großen Gedanken diejes Ginft und jenes Ginft nidt nur und bildeten
Saat, nein, fie tun dag immer nod. Wiffen wir, ob Körner dapon, die uns bisher
taub fdienen, nidt heute nod feimen fünnen? Bir wiffen im Segenteil, wie oft
folde don gefeimt haben. ind was lebt wohl alles da unten nod in den Meeren!
In den Landen, die in fie verfunfen find, befeSdeten und befreundeten ſich Sippen,
Stämme, Bölfer, dort mifhten und fonderten fidh die Raffen, dort fdritten
fampfend, fiegend, fammelnd die Grofen bin — und tun e3 nod. Wir fammeln
uns ja droben über ihren Wegen drunten. Und fühlen die — Perlen, die ſie
fortwährend hinaufquellen machen gu Heut. Aber außerhalb der Grofen wirken
die Familie, das Bolt, die Raffe, die Menjchheit herauf, und wirft es immer nod
von tiefer ber — es ift fein abgrenzender Halt nad dem Dunfeln bin. Aud wenn
wir waden, wirft all das nod in uns fort. Aber allein in der Rube hören wir
etwas davon, und fei e3 nur in einem Geflifter, Gewifper und ®eträum. Stimmen
aus Heidengeiten, Stimmen aus erftem WMenfdhengeifterwaden. nd es mag fein,
daß in Rudimenten in ung fogar aufbegehrt und verfagt und wieder redet und fragt,
was nod älter ift. Sardinand Avenarius.
Neue Bücher
Runftwart-Büdherei. 1. Bd. Goethe,
Gedanteniyril, berausg. von Eva und Wolfg.
Schumann. 2 Bd. Glifabeth Barrett.
Browinig, Portugiefijhe Sonette. Engl. Text
mit Uebertragung von Hans Böhm. 6. Bd.
Mörike, Gedidte. Herausg. d. Ernft Liffauer.
9. Bd. Drofte-Hülshoff, Gedidte. tauög.
von Ferdinand Gregori. 10. Bd. Ferdinand
Avenarius, Gedidte. Herausg. von Wolfg.
Schumann. Je 68—112 ©. Geh. 1 Mi. Kunit-
wart-Berlag Georg D. W. Callwey, Münden.
Bon ben bisher erfchienenen Bänden der
Sammlung bringt die Halfte Gedidt-Auswahlen.
Diefe zeigen wir gunadft an, über die Proja-Bande
fpäter abetes. Die Sammlung will ein ge-
ſchloſſenes Ganzes geben, dod läßt fih aus den
erften 10 Bandden nicht erfennen, worin das nr
ammenfhließende liegen fol. — Die Eröffnung der
eibe duch eine fleine Auswahl von Goethes Ge-
danfenlyrif ift gut und würdig. Es ift nicht nur aus
„Sott und Welt” ujw. gewählt, es find aud
Balladen wie die „Braut von Korinth“ hinzu—
enommen. Daß allbefannte Gedihte wie „Das
öttlihe” und „Meine Göttin“ fehlen, mag bie
Eigenart der Wahl daralterifieren. — Sehr fein ift
ns Böhms Ausgabe der fog. „Pportugiefifchen
onette” (die mit Portugal nichts gu tun haben).
Dak der engliihe Text neben der bingebenden
Morifes Gedichten herausgibt, überrafht. Behr
lebrreih ijt, wie ein fo bemußter Didter mie
Liffauer die Kunft Mörikes harakterifiert. Eins bat
er in dieſer fühlfamen, zarten Würdigung über-
gangen: das ee Nidt umfonft läßt Mörite
im „Zurmbahn“ die Sonne die goldenen Namen der
frommen Gchwabenvater Bengel und Detinger
„noch goldener“ fiffen. Gn der Auswahl fehlt denn
aud „Rewe Liebe”, leider aud „Auf eine Ehrift-
Blume“, das ih zu den herrlichiten Gebilden in
deutiher Spradhe gable. Damit foll im übrigen
die Anerfennung des Wertes und der Eigenart der
Wahl nit eingefhränkt werden. — Gregoris Aus.
wahl aus den Gedichten ber Drofte famt der Ein-
leitung ift gut und charaltervol, — Auf die
Avenarius «Auswahl haben wir in der Zwieſprache
bingewiejen. St
Die Deutſche Didtung
turelen BZufammenhängen mit qaralteriſtiſchen
Proben. Eine Gefhihte der deutihen Literatur,
ber. von Dr. Frang YFahbinder, Dr. Auguft Kable
und Dr. Friedrich Kork. 1. Teil (Dihtung des
Mittelalters). 262 &. 2. Teil (Vom Humanismus
bis zu Goethes Tod). 252 ©. 3. Teil (Bon der
Romantil bis zur Gegenwart). 594 & Yn einen
Bd. geb. 14 ME. Grözahl. Herder & Co., Frei-
burg i. Br.
8 Werk ift gedacht als erfte Einführung in die
Literatur, wie fie etwa ältere Schüler oder Auto—
didaften brauden. Es ift eine febr glüdlihe Form
der Einführung: ein fnappfter geihictlider und
biographifher Rahmen, Inhaltsangabe wichtiger
Werle, vor allem aber, als Hauptbeftandteil, eine
reihe Auswahl von Gedichten, aud Proben aus
den epifhen Bersdidtungen. Der erfte Teil gibt die
abd. Gedichte glüdliherweife im Urtegt mit nbd.
Ueberjegung; die mbhd. Dichtung teils im Urtext
(mit Wörterbuch), teils in Gh den. teils beides
nebeneinander. Yn diefem Teil faben wir Wolfram
gern mehr beroorgehoben und gewürdigt, er ift ja
tatfählich neben dem Mibelungendidter der Gipfel.
Im zweiten Teil tritt bei aller erftrebten Objektivität
dod) das katholiſche Urteil ftart hervor. Bon
in ihren tul-
Quthers fpradlider und didterijher Bedeutung
nits, nur ein paar fäuerlihe Abſchwächungen des
allgemeinen Urteils, melde die Abneigung unter
fheinbarer Objektivität verbergen. Das wate nun
wirllid für den feines Glaubens gewiſſen Katholiten
nicht nötig gewefen. Gut und weit ijt die Würdigung
Goethes im ganzen. Weithergig (mehr ala wir es
bier und da fein würden) ift der dritte, von Faß—
binder bearbeitete Teil, der bis zur mobderniten
Didtung führt. Aber die mannigfaltigen Wb-
weihungen in einzelnen Urteilen hindern nidt, den
wen Wurf des Ganzen und feine padagogijde
edeutung anguerfennen. Das Werk befriedigt das
Bedürfnis, dem es dienen will. St.
Arthur RoeRler, Schwarze Fahnen. Ein
Künftlertotentang. 264 ©. und 54 Bildertafeln.
Geb. 13 Mt. Grdz. Carl Konegen, Wien.
Eine Sammlu von Zeitungsaufjägen über
bildende Künjtler, die gelegentlich der Todesfälle und
Jubiläen entitanden find. „Ohne vorangegangene
„Präparation“, aljo ohne die vielgerühmte Gründ-
lidfeit und „profunde Gelebrfamfeit”..., nur aus
der ftimmungsftarfen Erinnerung an fehlinnlid
wabrgenommene Erlebniſſe und einer, im Hinblid
auf chronologiſche Falten und hiſtoriſche Tatfadyen
nidt immer truglofen, reichen Ueberlieferung
ſchöpfend, die fic) mir...zu lebendigem Stoff ge-
wandelt hatte, geftaltete id, je naddem in Luft und
Trauer.“ Das genügt für Zeitungsaufjäge, nicht
für einen diden, gut ausgeftatteten Band. Es ift
allerlei Yntereffantes darin, aber es ift eben fein —
Bud. Einteilung: Deutihe Künftler, Defterreichifhe
Künftler, Schweizer Künftler, Engliſche Künſtier,
Franzöſiſche Künftler ufw. Beitumfang: Von Richter
und Menzel bis zur Gegenwart. t.
Das Neue Hamburg. Herausg. von Karl
Lorenz. 190 ©. Gemeinfhaftsverlag Hamburgifcher
Künftler, Hamburg.
Wundervol gedrudt in einer etwas manieriert
anmutenden, aber eleganten Antiqua auf gutem
Papier. Damit find wir am Ende deffen, was wir
loben können. Bon den gefamten Bildern bat nur
ein einziges Eindrud auf uns gemadt: das erite
von Karl Opfermann. Einiges andre „nimmt man
mit in Kauf“, da bei einer Sammlung ja aud
Schmwäderes mitlaufen muß. Uber das meifte und
im ganzen — armes Hamburg, wenn das deine
künſtler iſche Zukunft wäre! Es iſt aber nur ein
wunderliches Puppenſtadium. Sollte ein Ruckteſchell
fo enden? Die ſterile Hülle wird hoffentlich an
einem guten Tage gejprengt. Oder aber,‘ diefes
„neue Hamburg” verjadt in die langweiligite Ber-
geffenbeit. Was die Gedichte betrifft, fo fragen
wir: Warum didtet Wilhelm Niemeyer? Er kann
es doch aud bleiben laſſen, da ihn nichts von innen
ber dazu drängt. Er bat eine feine Technik des
Wortes und Verſes, aber nichts Erhebliches damit
gu fagen, jo wird die Breite quälend. Wud Paul-
fried Martens gibt uns nichts. Karl Lorenz gu
Ende zu lefen, gelingt uns nidt. Nah unfrer
Meinung ift es fo: es find Anfage da, aber fie treiben
in formlofe Wuderungen aus. Weil es an Be-
ſchränkungskraft fehlt, wird fein Meifterftüd daraus.
Etwas unorganijfd ift bintenan ein — man ift in
diefer Umgebung verfudt zu fagen: braver Aufjag
über „Stil“ von Guftan Pauli gebängt, der lejens-
wert ift. Der Titel des Buches ijt eine Gelbft-
täufhung. St.
einrich Shafer, Grundlagen der agypti-
[hen Rundbildnerei und ihre — — mit
denen der Flachbildnerei. 38 ©. u. 10 Abb. J. C.
Hinrihsfhe Budbhlg., Leipzig.
Das Heft ift gleihjam . eine Fortjegung von
Schäfers großem Werle „Bon ägpptifher Kunft“.
Sd. zeigt, wie die von ihm für das Flachbild ge-
fundene eigentümliche künftlerifhe Gefepmagigteit
87
aud für die Bollplaftit gilt. Die Berbindung wird
überzeugend nadgemiejen. Schäfer jtellt das febr
umfaffende Gejeg auf: „Die Rundbildwerke nad
Menjgen und Tieren unterliegen bei allen Völkern
und DR die nidt von der griechiſchen
Kunft bes fünften Jahrhunderts berührt find, dem
aus ber Art der RNaturbetradtung folgenden Ge-
a daß die Ausgangsebene in pe Anſicht vore
geitelt ift, und die Teile (bei Menfden Kopf,
Rumpf und die Glieder, unter diefen vor allem
Oberarme und Oberfdentel) fic) mit minbdeftens je
einer ihrer geraden Wuffidten in ein Kreuz redt-
wintlig fih ſchneidender oder gleihlaufender Ebenen
fügen.” Man lernt bier die ftrenge Gebundenbeit
der agyptifden Plaftit aus bem Wejen des „bor«
ftelligen“ (nicht des griedhifhen „mwahrnehmigen“)
Anjhauens der Dinge verftehen. Die Unterfuhungen
Schäfers find fehr auffhlußreih und — bei feiner
guten Sprache und deutlihen Darftelung — genuß-
teih gu lefen. St.
Jobann Gottlieb Fichte, Pbhilofophie
der Maurerei. Neu Herausg. u. eingeleitet von
Wilhelm Flitner. 83 ©. Geb. 3,—, geb. 4,50 Mt.
Grundy. Feliz Meiner, N:
Hier liegen Fichte® im allgemeinen wenig be-
adtete „Briefe an Konftant” in einer forgfaltigen
Ausgabe vor. idte wurde 1793 in Zürich freie
maurer. Rah dem Atheismusftreit fudte er 1799
in Berlin Antnüpfung bei Freimaurern, er trat in
Berbindung mit Febler, einem Reformer der Frei-
maurerei. Fichte wollte (nad Barnhagen) „biefen
in allen Weltteilen wirlſamen Bund von Bere
bündeten gu einem Organ ber Philoſophie machen“.
„Sleihfam ein pythagoreifhes Ynftitut”. Er trat
1800 in eine der Logen der Royal York ein und
bielt dort die Vorlefungen, die {pater ald „Briefe an
Konſtant“ veröffentliht wurden. Da Fehler und
Fichte ſich gegenfeitig gebrauden wollten, fam es
PR Brud. gi te fagte fid) von der Royal Port
08. Fichtes Vorträge wurden von K. Chr. Fiſcher
1802 veröffentlidt, leider mit erbebliden Umgeftal-
tungen und Bufagen. Da das Manuffript verloren
ift, wurde bier der Fiſcherſche Text, abgefehn von
einem Einfhub, gegeben. Ym Anhang ein Brief-
wedfel Fidtes und Feflers über Begriff und Gee
ihichte des Freimaurerordend. Flitners ausführliche
Einleitung ift ein intereffanter Beitrag zur Bio-
prapbie und zum Berftändnis Fidres. Wie denn
8 ganze Bud) für Fichtes Ethik und Erziehungs-
lehre (er ift bier nod in feiner ftarf rationalifti{d
beftimmten Zeit) redt aufſchlußreich ift. St.
Ulbert leifhmann und Ridard
Griigmadher, Der Entwidlungsgedanfe in der
gegenwärtigen Natur» und Geifteswiffenfhaft. 188 ©.
A. Deidhertide Verlagsbuhhlg., Erlangen. 3
Das Bud enthält einen Ring gemeinverftand-
lider Bortrage der beiden Erlanger Gelehrten, des
Zoologen und des Theologen. Yleifhmann gehört
au den wenigen, die nicht der Suggeftion des
Darwin-Hädelihen Entwidlungsgedantens mehr oder
weniger unterlegen find, fondern fich höhere logiiche
Anfprühe bewahrt haben. n fnappen und fdarfen
Zügen jest er die Ungereimtheiten der übliden Ent-
mwidlungsphantafie auseinander und zeigt gum
Schluß, was wirklich Entwidlung zu beißen ver-
dient und wo fie zu finden ift. Gritgmader fegt die
Gedantenreibe für die Geifteswitjenfhaften fort.
Feffelnd find feine Ausführungen über bas Wefen
der gefhichtlihen, fittlihen, religidjen „Entwid-
lung“. Antnüpfung an Rankes Bort bom „une
mittelbaren Bezug gum Gottliden”. Ein klares Ge-
fühl für den Unterfchted von Wirklichkeit und bloßer
Bhantafie und eine reinliche Logik zeichnen den Ge-
danfengang aus. Wir empfehlen bas Bud gern
und dringend jedem, der mit toe Problemen ringt,
e8 bilft ihm weiter und madt ibn von gewiſſen (faft
tödlihen) Befangenheiten unferes Zeitalter Fig
t.
Bolfram von Eſchenbach, Die Liebes.
lieber des. 50 ©. Der Innere Kreis Verlag,
GElgersburg i. Th.
Die Texte der Tages und Minnelieder (nad
Ladmann), gegenübergeftellt Ueberjegungen von
Wilhelm Willige. nitialen unb ein ganzfeitiger
Scherenſchnitt von argarete Billige. Die Ueber-
ee vereinigt inhaltlihe Genauigfeit mit weit
ebender Berüdfihtigung bes Klanges, fie verdient
netfennung. Mandes ift überrafhend gut gelöft.
(Mertwürdig ift, daß der Weberjeger den Abgefan
der Strophen von „EB ift nun Tag” am lu
zerftört, der bei Wolfram befonders ſchön ift.) Die
Bildchen find hübſch, wenn aud nicht gerade immer
wolframfden Gepräges. Wir begrüßen es, daß bieje
Lieder in einer jo würdigen Ausftattung vorliegen.
Möge die Ausgabe die diel gu wenig belannten
Tagelieder bes größten unſrer mittelalterlihen
Dihter an recht viele Menjhen bringen! Es ift
eine wahre Labung, diefe Gaden endlih einmal
nidt bloß als Gegenftände philologijder Uebungen
in einer „mwiffenfhaftlihen Ausgabe” mit Zahlen am
Rande und Lesarten unten, fondern eben einfad
alg — Gebidte lejfen zu können. Das Bolt
follte die mittelhochdeutſche Didtung endlid den
Klauen der geftrengen Philologie entreigfen und
swifhen Mund und Ohr Tebendig klingen
laffen — das geht, geht tatſächlich! St.
Albrecht Wirth, Deutfhe Abentenrer.
160 ©. Deutjdher Bollöverlag Dr. E. Boepple,
Münden.
GSliggen zur Gefdidte des deutſchen Aben—
teurertums, auf gründlichen biftorifhen Studien
berubend. In den 35 furzen Abfchnitten bandelt
es fih um die Lebensfhidfale von Männern, dte
in ihrer Beit eine 3.2. febr bedeutende Rolle
gefpielt haben. Aber in ihrem Wefen find fie
Abenteurernaturen. Um einige zu nennen: im
dreißigiährigen Sirieg der Mansfelder und Berns
bard born Weimar. Aus fpäterer Zeit Graf von
der Schulenburg in benezianifhen Dienften,
Struenfee am danifden Hof, Graf Ludner, ber
im flebenjabrigen Krieg fot und in Paris unter
der Guillotine ftarb; dann einige Namen der
Freibeitstriege bis in die neuefte Beit — was für
tolle Scidfale Tann fo ein Menfdenleben er
fülen! Wieviel in der ganzen Welt ift gerade
von Deutſchen gefchafft und gefdaffen worden!
Und wie oft haben fle gegen ihr eigenes Bater-
land gehandelt, an fremde Zwecke verfauft! Biel
und Swed beutfhen Wbenteurertum3 Tann nur
fein, dem eigenen Wolf zu nüßen. RB.
Hermann Wahroder, Sturmflu. Sdhid-
falstragödie eines Volles. Herausg. vom Künftler-
dant (Claug - Rods - Stiftung). 95 ©. Habbel und
Naumann, Regensburg.
„Die Handlung ereignet fic) zur Wendezeit des
Weltkrieges, in den Abenbdftunden des 1. November
1918 am norbdifden Wattenmeer.” Dort in ber
Sturmnadt, wo wegen Deidbrudgefabr alle nad
altem Gefeg dem einen Deidgrafen geborden
müffen, verweigern die Novemberrevolutionäre,
lauter Sleinbandwerler unter Anführung eines
„Boltsführers“, den Schug des Deides, zerftören
ihn fogar gemwaltfam, aus Haß gegen die Bauern und
Befitenden. Feuersbrunſt, Bligfdlag und anderes
Unglüd fommt binzu; ein ganzes Bolt gebt gue
grunde, weil e8 die göttlihe (oder „natürlidhe“)
Ordnung durdbroden bat. Lebendig, heiß, aus
vollem Herzen eines Dichters gefdrieben, den unfere
Zeit brauden fann. Nur hat er fi in der Form
verfeben. Was konnte ihn veranlaffen, ein Drama
aus Ddiefer Nopelle gu mahen? Das Beite
daran würde ja auf der Bühne verloren geben!
Barum erzählt er nicht dieſe Geſchichte und
madt aus den eingeflodtenen Choren der Geifter-
Mönde ein Dratorium? G. K.
GSedruckt in der Hanfeatifdhen Verlagsanſtalt Altiengeſellſchaft, Hamburg 36, Holſtenwall 2.
ASmus Ieffen, Aus dem Lübeder Dom
Aus dem Deutfhen Volfstum
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Aus dem Deutſchen Volkstum
Asmus Seffen, Lũbecker Haus
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Aus dem Deutfhen Voltstum Asmus Ieffen, Aus dem Liibeer Dom
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Aus dem Deutfhen Voltstum
Alfred Rethel, Der Bannertrager
Deutiches Golfstum
3. Heft Cine Monatsjchrift 1924
Kleilts Robert Guiscard.
1
ohl ein jeder bon uns weiß, daß beftimmte Borftellungen, gedanklich
unaufflarbare Berbindungen, halb geabnt, halb geträumt, von Kindheit
an in uns leben. Ahnungen, die im Blut liegen und bon Äußeren Dingen,
Worten, Bildern erregt werden. Wir bringen ganz Gernes zueinander. In
Schillers „Braut von Mejfina“ bat mich nidts ftarfer gebannt als das nordijch
Klingende vieler Namen diefer dumpfen Srauerfympbonie, die raunende Gre
aäblung bon dem fremden Geſchlecht: „auf dem Meerfchiff ift es gefommen“,
diefem ©efchlecht, das der fprudelnde Sturz feines nordifhen Blutes trieb bis
por den ſchwarzen Katafalt im dämmernden Gaal bes Südlandes, um ‚dort
zu verftrömen. Dann las id Kleifts Guiscardtragddie. Sie ſchuf diefelbe
Atmofphäre, aber weit gewaltiger, furchtbar bannender. Heiße Leidenjchaft,
traumbafter Wille, fernfte Sehnfühte zu erzwingen und traurige Klage.
Darüber tauchen Bilder auf: die ſenkrecht wild auffteigende Drohung eines
düfteren Wilingerftevens mit Tantigem Dradenfopf, ein ſchwarz aufgeredtes
Riff, das von weißen Wogenfammen umfhäumt und gernagt wird, und die
Winde heulen um den trogigen Baden. Oder der geborften Elaffende Fup
einer ZHpreffe mit dem ſchwarzen Trauergewölf der Zweige aus fablem Gee
leudt des Stammes, wie fie Kleift bor Guiscards Belt aufragen läßt, erregt
die DBorftellungsfolgen und trägt fie hinüber in die gerriffenen Klagetöne einer
Billa am Meer des germanifden Bödlin, wo eine ſchwarze Frauengeftalt
dwijchen Setrümmer und Gefels in ihrer verzweifelten Trauer fich gegen das
Scidjal biegt, wie die gergauften Bypreffen ihre Wipfel wild fchlagend gegen
den Meerwind aufwerfen. Und ftets die ewige Frage: Kann denn dies
braufende Nordlandsblut nicht ruben, muß es in SKataralten niederftürzen,
Daft nur Die Trauer bleibt und das rätjelhaft dunkle Schütteln des Schidfal-
bauptes? Immer wieder hängt fi das Sinnen an das trogige Guiscard—
drama, immer ftärler wächſt aus dem halb unbewußten Träumen, das um
diejen ruinenbaften Blod zieht, die Bewuftheit heraus: Hier, vielleicht nur
bier wie felten wieder ift dem nordifchen Menfchenpolf das Gleidnis feines
Weſens Geftalt geworden, das furdtbare und herrliche: wildefte Spannfraft
und graufiger Sturz und er, der es fchuf, mußte es mitleiden, Kleift, der an
diefem Werk verblutete, in ihm ftieg und mit ihm ftürzte, weil er das Schidfal
hatte, ein Kind diefes Bolfes zu fein und fein Werk leben zu müſſen, diefes
Guiscardwerf, das hod auffest und fab gerfdellt, wie immer wieder wir felbft,
und das fie darum ein Fragment beißen. Wie aber fann unferes Wefens
Gleidnis eine andere Gorm haben als das „Sragment“, wenn man den
Namen denn will für Schidjalhaftes, das niemals anders fein fann, als es
tft? Nennen wir das Schidjal des Guiscarddramas das Schidjal Kleifts und
Kleifts Sdhidjal das Schidfal unferes Bolfes: es ift eine, fen: möchte id
fagen mythiſche Einheit.
89
2.
Dies ift Der Abſchied Kleifts von feinem Guiscard, der Abfchied eines
todwunden Kriegers, der fid in die Schlaht geftürzt, Die Welt zu erobern:
„Ih Habe nun ein halbtaufend Hintereinander folgender Sage, die Nächte der
meiften miteingerechnet, an den Verſuch gefett, zu fo viel Kränzen nod
einen auf unjere Samilie herabzuringen: jest ruft mir unfere heilige Schuß-
göttin zu, daß es genug fei. Sie füßt mir gerührt den Schweiß bon der Stirne
und tröftet mid, wenn jeder ihrer lieben Söhne nur ebenfoviel tate, fo
würde unjerm Namen ein Pla in den Sternen nicht fehlen, und fo: fet es:
denn genug. Das Sdidjal, das den Völkern jeden Zufhuß zu ihrer Bildung
gumift, will, Denke ich, die Kunft in diefem nördlichen Himmelsftrich noch nicht
reifen [affen... Ich trete bor einem guriid, der noch nicht da ift, und beuge
mid, ein Iahrtaufend im voraus, por feinem Geifte. Denn in der Reihe
der menfdliden Erfindung ift diejenige, die ich gedacht Habe, unfehlbar ein
Slied...“ Dann der Zufammenbrud und die Dede des Todes: „Ich Habe
in Paris mein Werf, foweit es fertig war, Durdlefen, verworfen und dere
brannt: und nun ift es aus. Der Himmel verfagt mir den Ruhm, das
größte der Güter der Erde; ich werfe ihm, wie ein eigenfinniges Kind, alle
übrigen bin... ich ftürge mich in den Tod...“ Dazu der Guiscardftoff: Der
Herzog germanifden Blutes, der mit feinem Heldenvolk zum wilden Anfturm
auffegt, die Kaiferftadt Konftantinopel zu nehmen, der Erde gleidjam eine
neue Geftalt gu geben, bricht von der Peft gefchlagen zufammen, fein Bolt
ftirbt in Krankheit, Seenot, Sklaverei. Kleifts Quelle zum. Guiscard, ein Auf
fag von Sunk in Schillers Horen endet: „mit ihm (Guiscard) fanfen alle feine
großen Pläne ins Grab...“ In Didter und Stoff der zähnefnirfhende An-
fprung: dies alles oder nichts! In Dichter und Stoff der grauenhafte Abfturz,
das „Unmöglih“, die Sturheit des Schidjalhaften, Geift und Wille, die gegen
eine ſchwarze Mauer rennen und zerichellen.
Gundolf fpricht in feinem Buch über Kleift bei der Hermannsſchlacht von
den „Alapismen“ im Blut Kleifts. Diefe mit leifem Bedauern erwähnten
Atapismen fdeinen mir das Größte und Ausfchlaggebende zu fein,
nur fie, fonnten die Sriebfraft geben, die die Bilöde des Guiscard auf-
ftemmt. Wir müffen ung den Kataraftenfturz der „Germania an ihre Kinder“
durch die Seele braufen laſſen, dann faßt uns ein Grfdauern und ein Grfühlen
des elementaren, gleihfam von Urzeiten gefammelten Kraftfttoms, der, ge»
ftaut, gedämmt, den Guiscard auftirmt. Gin Haud von der ftürmenden
Kraft Gottes ift darin, die über Nordmeere fährt und zugleich in Reden auf-
ftebt, die jauchzend den ftampfenden Sciffskiel gegen diefen Sturm treiben,
und im Wetter der Schlacht die weißen Leiber, podend bon heißem Blut,
in den Tod werfen. Nur aus diefer Dämonie des Kampfwillens faffen wir
Kleift, aus dem Sturmfreudigen, das die Wogen nordifder Völker gegen den
morjden Bau der antifen Welt anbranden ließ, das Gefchlecht auf Gejchlecht
durchzieht und, in diefem einen gefammelt, alle Dämme brechen will. Nur fo
gebt uns aud das Verftändnis dafür. auf, daß Rleift immer wieder bon
„Ruhm“ fpricht. Das wird gerne überjehen, denn Ruhmſucht gehört nicht in
die Reihe der modernen Leidenjchaften. Kleift will den Ruhm, ja, er jelbit
fieht in dem Streben nad Ruhm die einzige Sriebfeder feiner übermenjch-
lihen Anftrengungen; man bvergleihe die angeführten Stellen. Denn der
Rubm ift das metapbhfifhe Symbol aller Diesfeitigen, er hat die inſtinktive
Konfequenz aller urfpriinglid) Heldenhaften. Der Held ftirbt für die Idee, er
zerbricht vor dem Kampf mit dem Schidfal, aber als Ruhm, als das Gee
90
fühl für die Herrlidfeit des Kämpfens und Serbredjens, bleibt die "Idee
lebendig und ftebt, am Beifpiel geftärkt, wieder in neuen Kämpfern auf. Eine
einfachere und erhabenere Gewifbeit pom Sieg des Geiftes im Kampf gegen
die Materie ift nicht denkbar. Die Worte Kleifts über Ruhm und Tod bei
dem Zufammenbruch über dem Guiscard halte man zu den ©uiscardftellen
felbft: „... Heilig wäre mir das Ghepaar, / das feinen Ruhm im Bette
zeugt der Schladjt.“ Nichts anderes ift es mit Friedrich des Großen: „Ata—
pismen“. Ruhmſucht ift das Gefühl für ihn, alles nach feinem Gewiffen beffer
gu maden als die anderen. Für Diefen Ruhm will er fterben, aber ohne ihn
nicht leben. Und, ganz in der Atmojphäre des Guiscard, tauchen die gornig
gleihmütig bingehadten Berfe Hamdirs aus dem Hamdirsmal der Edda auf:
Die beiden Brüder können nidt mehr an gegen die Webermadt, alfo ergibt
man ſich ftolg achjelgudend in das Schidjal, aber haut doch mit dem Schwert
um fid, folange der Arm am Leib fist, wie Guiscard peftfrant den Sturm
befeblen wird. Das find Hamdirs Worte: „Wir ftehen auf Leichen... / wie
Aare im Gegweig; / Heldenruhm bleibt uns, / ob aud) heut wir fterben: /,
niemand fiebt den Abend, / wenn die Norne fprad.* Diefer Nornenfprud
ift aud Kleifts und Guiscards Tragif, er bleibt die einzige und größte Tragif
troß aller geiftigen Giltrierungen des literarifchen Hebbel.
Aus diefem Urtimliden im Blut wächſt die thpifde Art Kleifts, nirgends
größer alg im ©uiscard: die Berbundenheit mit den Weltfräften: er fühlt
das Volk Suiscards als ein Meer, immer fehren diefe Meerbilder wieder in
betäubendem Borftellungszwang, der peftfranfe Hüne Guiscard wird zum
franfen Löwen, der ftöhnend die Seele aushaudt, oder er liegt fprungbereit
„wie ein gefrümmter Tiger“ bor der Kaiferzinne pon Byzanz. Hamdir, der
wie ein War im Gegweig über den erfchlagenen Öotentriegern ftebt, ift aus
derfelben Borftellungswelt entftanden. Alte nordifhe Sierbilder, der Löwe
Herzog Heinridhs in Braunſchweig tritt vor unfer geiftiges Auge. Das In—
nerfte, aus dem wir Kleift in feinem Guiscard erfühlen, ift der elementare
Kampfwille, mit den furdtbarften Spannungen geiftiger Kraft die Welt zu
erfüllen und fampfend zu durchdringen. Seine weiteren Werke erjcheinen da-
gegen faft wie eine Refignation, ein Zurüdjchrauben der Anfpannung, fie
find weit objeftiver, gegen den abjoluten, aufs äußerfte genommenen Plan
im ©uiscard. Gelb{t in der Penthefilea, im Prinzen von Homburg fest der
Angriff an einer Stelle an, in einem Shmbol, in einer Geftalt werden die
Weltkräfte gefaßt, im Guiscard ift es ein wilder, verzweifelter Anfturm einer
einzigen riefigen, gleihmäßig vorftürzenden Gront gegen die breiten, finfter
trogenden, uneinnehmbaren Baftionen. Dabei fann nur df düftere Pract
bes Kampfes bleiben, ein Stürzen und Brechen und das trogige Getrümmer
der berubigten Wablftatt, fagen wir literarifd: ein Fragment.
„In der Reihe der menjdliden Srfindungen ift die, die ich gedacht Habe,
unfeblbar ein Glied...“
Gin verwegener Plan, vorher und nachher nie wieder aud) nur gedadt:
Kleift will feinem Golf in einem großen Wurf Inhalt und Form des Kunft-
werfs geben, in dem es fic felbft wiederfindet. Nun gleich wieder aufs
äußerfte gegangen: der Held diefes Kunſtwerks ift das Volk felbft. Die Art
des Kunftwerfs aber ift das Bühnenwerf. Wir heben fehon bier Herbor: das
Bühnenwerk, nit ein literarifhes Drama, wie es die Klaffifer gejchaffen
haben. Alſo mit einem Sprung fett fic Kleift über alles Schidfalhafte
Binweg: ein Bolf, das in fic zerfallen ift, das Jahrhunderte feinen Ausdrud
eigentlich nur in der Gigenwilligfeit gegeneinander wogender Kräfte gefunden
91
bat, fbIl in einer Schau feines eigenen Symbols geeint werden und — diefes
Symbol foll nicht Ginbeit fein, fondern Kampf, Spannung, Wiberftreit.
Was erft in Jahrhunderten reifen fann, muß von dem ftürmenden Willen er-
öwungen werden. Und dann Lommt diefe Syntheſe mit der antifen Bühnen-
form, eine Syntheſe, Die mehr nad der Pranfe des gubauenden, erobernden
Löwen ausjieht, als nach einem ehrfurchtvollen Betrachten eines gefeierten
Borbildes. Gs ift alles, in jeder pſychologiſchen Vorausſetzung fo ungriechifch
als nur möglid. Port, etwa in dem mit Guiscard oft verglidenen König
Dedipus, ein Chor, der feine weitere Aufgabe hat, als Gegenfpieler zu fein
und den Reflex der Handlung zu geben. Im Guiscard ift diefer Chor, das
Bolf, aber gleichzeitig Der Handelnde und ein Stic des Helden felbft. Weiter
das typiſch Griechiſche überhaupt der Schöpfung diefes Chors: er ift formge-
iwordene Geftalt der Ginheit eines Bolfes, er fügt fih dem Werf, das aus
diefer Einheit erwächſt, wie die Laute der griechiſchen Sprache ſich ihm fügen
und ihre ſchönſte Steigerung in ihm finden. Im Chor des Guiscard aber
Ipringen die Worte in ihrer Dynamik immer eines gegen die andern an, aud
bier Widerftreit ftatt Einheit, fein Rhythmus ift bas Klatjchen pon Wogen
gegen Seljen, ihr Suriidgeworfen-werden, Wieder-Anftürmen unter Schlägen
des Orfans und unter dreinzifchenden Bligen mit nachwetterndem Donner.
Wir müßten nicht Deutſche fein, wenn uns nicht gerade diefe Unmöglichkeit
in allen unfern Faſern padte, diefe traurige Schönheit des Unerreidbaren, die
gugleid alles Zukünftige in fic birgt. Iedenfalls, [hon Wieland hat es er-
fannt, Diefer Deutfche ift der erfte und einzige, der die Bühnenform Shafe-
[peares aus ihrer individuellen Referdation wieder erweitern will gu der völ—
kiſchen Gemeinſamkeit der Kulthandlung. Als Lebensgefühl aber, das diefes
neue Werk treibt, fommt weder die antife Harmonie, noch der individuelle Stolz
Shafefpeares in Betracht, fondern ein drittes: die Spannung gwifden beiden.
Die Spannung, aus ,,Atavismen* im Blut liegend, aus Entwidlungsmäßigem
verjchärft, ift eben alles bei Kleift.
3.
Spannungen, das beißt Dynamiſches, bewegende Ströme aber finnen Die
ihnen gemäße Wusdrudsart am nabeliegendften auf der Bühne erhalten, wenn
man die Bühne in ihrem Wefen erfaßt. Ste ift feine fefundäre, nur aus»
führende Dienerin der Literatur. Sie ſchafft völlig felbftändig, unter Mit»
wirkung bon Körper, Wort, Ton, Licht den lebendigen Kosmos des bewegten
Raumes, erhebt im Gleidnis die Kraftitröme, die die Welt bilden, in das
fünftlerifehe Erlebnis. Alles Architeftonifche, die Malerei ift ein Teil davon
— ift Statik, die Bühne ift Dynamik. Ebenſo wie die Mufif. Die Bühne
aber leidet unter einer furdtbaren Feffelung. Die Muſik bleibt immateriell —
foweit fie nicht in ihrem Wefen durd Wagner und feine Nachfolger völlig
verfannt wird. Aber auf der Bühne verwirrt die Körperlichkeit der Darftel-
lung, ferner das Bortäufchen eines Geſchehniſſes die Grundlagen: die Körper
find in Wahrheit nicht um ihrer felbft willen da, fondern Diener der Bere
geiftigung: fie müffen die Unwirklidfeit des ideellen Raumes Heraufbannen,
das beißt an Beifpielen: die Luft um den Körper, der Zwijchenraum, die
Spannungen aus der Bewegung find ebenfo wichtig als diefe felbft, die Paufe
ift ebenfo wichtig als das Wort. An diefer Tragik der ftoffliden Berbaftung
fcheitert aud Kleift, als er das Höchfte zwingen will, das völfifche Gemein
ſchaftswerk des Suiscard. Aber gerade bei diefem Werk muß aud das Ringen
um die Gorm der Bühne anfeten.
Wie ſchon erwähnt, der Guiscard fett gleich mit vollem Anfturm ein.
92
Er wirft [don dadurd alle literarifchen Dramaturgiegefeke über den Haufen.
Die furdtbaren Kräfte, die in dem Werk toben, fluten in der erften Szene in
[häumender Raferei aufeinander. In immer neuer Gliederung, immer [chärfer
und eindeutiger werdender Anftraffung zerren fic die widerftreitenden Mächte,
bis das jähe Yerreißen fommt und die zudende WAgonie. Die Aufgabe der
Bühne — fie muß das Werk erft fehaffen, nicht „wiedergeben“ — beftebt
einmal darin, den Rhythmus der Spannungen zu verfinnlichen, zum anderen
aber, diefen rafd auffteigenden Blod in den Kosmos, deffen Verdichtung er
ift, in feine Atmofphäre eingubetten. Gs fet zu jäh an und endet zu plößlich,
feine Welt muß im Bufdauer erft bereitet werden.
Der Begriff „Bollendung“ ift, wenn man bon dem Kleiftifhen Typiſchen
der Spannung ausgeht, ein Unding. Gs muß ein Riff bleiben gwifden „Ob⸗
jeftipation“ pon Spannungen und elementarer Urgewalt. Zum Gebilde reicht
immer nur ein Bejchneiden; die Kraft, die bolle Entladung, bedarf des Ueber-
fchuffes, der zugleich bildend und zerftörend ift, wie ein Gewitter. Aus
dem Gefühl diefer Sragif fommt Kleifts Bergidt auf die fdeinbare Bol-
lendung des ®uiscard. Sd wage die Behauptung: der Guiscard ift, fo wie
er ift, fertig, foweit er überhaupt fertig fein fann. Gin ganzes Golf wird in
dem Symbol des Führers, in dem grafliden Gegenfturm gegen die blinden
Madte aus einem Shans zu einem in fich geformten Wefen — und zerfällt in
das Geriefel der Heinen Menſchlichkeiten feiner Individuen, als es den Führer
vernichtet fiebt. Daf Kleift über das erhaltene Werf den Guiscard weitere
zuführen verſucht bat, ift eine Verwirrung aus literarifhen Vorftellungen;
daß er ihn verbrannt Hat und das uns überfommene Stüd wieder fchrieb,
gibt uns Redt. Als der Menſch des Dämons feiner Spannungen muß er
fühlen, daß es nicht weiter zu treiben ging. Hätte er den Guiscard „beendet“
und Binterlaffen, dann wäre er nicht Kleift, fondern eine Wahrbeit, die in
der Mitte liegt. Schließlih wäre doch nod eine pſychologiſche Tragif, ein
Konflikt gwifhen Sewiffen und Müffen berausgefommen, ber den großen
Wurf verkleinert und zerrieben hätte. Gs gibt eben nichts weiter: Held und
Schickſal, Zufall und Wille, Geift und Materie krachen aufeinander. Bon
Sieg oder Niht-Sieg Tann feine Rede fein, es ift bie Pract der angeftrafften
Kräfte und das furdtbar verneinende Schütteln des Sdidjals. Was nod
folgen fdnnte, wären eben Folgen. Der Rif, die zerflüftete Ruine ift
Kleifts aus innerem Zwang auffteigendDe Gorm, im Guiscard wird fie als
Ganges Wirklichkeit, in der Penthefilea hebt fie ſich aus den legten Worten
empor; bei dem Bild der zerfplitterten Gide, die der Sturm fchmetternd
miederwirft.
Wir müfjfen, wie gefagt, das Werk in feine Atmofphäre einbetten. Der
Zuſchauer muß in diefen Rhythmus der Stöße und Gegenftöße verſetzt werden.
Diefer Vorgang ift nicht intelleftueller Art, fondern fosmifches Grleben wie
bet der Mufil. Wir legen ein Borfpiel vor die eigentlide Handlung. Gs
darf feine Benubung des aftionsmafigen Inhaltes oder gar Auftreten der
Perfonen des Stüdes bringen, fondern muß auf die Spannungen, auf diefes
Segeneinander bon Kräften einftellen. Diefe Ginftellung aber darf nicht ver—
wechjelt werden mit einer Nerventätigfeit, fie liegt im Seelifchen, nicht im
Gebhirn. Der moderne Schaufpieler verwechſelt diefe Unterfdiede ftets, er
wird in böfem Sinne theatralijd. Alles Theatralifche ift am ©uiscard aber
ein Berbreden. Gs gilt lediglich aus der Fläche des Gebildes, aus dem Stüd,
die dritte Dimenfion zu gewinnen, die es zum Raum erhebt, zu der Quere
die Tiefe zu fehaffen, über dem, worin Goethe den Sinn aller Kunft findet:
93
... Deines Geiftes höchfter Feuerflug
bat ſchon am Sleidnis, hat am Bild genug...
die Weite zu gewinnen:
Du zählft nicht mehr, berechneft feine Zeit
und jeder Schritt ift Unermeßlichkeit.
Denn aus diefem Sphärifchen fteigt ber Guiscard auf, diefer Rhythmus der
fämpfenden Mächte, die alles Lebens Wefen find, muß er ahnen lajfen. Bor
diefem Gingigen, das in der Sprache Kleifts lebt, wird alles übrige zunichte,
weil es Literatur und, auf der Bühne, verkörperte Literatur bleibt.
Nicht allein in der Wortfolge und vielmehr dem Wortgegeneinander ftedt
die Kraftfpannung, fondern in der ganzen Intonation. In dem Anfchwellen,
dem Gborbaften, das aber fein griechifceher Chor ift, in dem Dreinfchmettern
von Ginzelftimmen lebt ein Naturwunder, bas man nur mit dem empörten
Meer im lohenden Gewitter vergleichen fann und dazwifchen ftreden fid
langjam Worte bin, die wie die grauenbafte Paufe zwifchen Blitzſchlägen
wirken. Man kann neben die Sprache Kleiſts, die im Guiscard fnappfte,
gemeißelte Form geworden iſt, nur altes Germaniſches ſtellen: das Aufzucken
der Worte in den Eddaliedern, die auch aus dem brauſenden Wirbel geballter
Spannungen als zündende Funken wettern.
4.
Dann aber das Größte im Guiscard, das, warum wir ihn lieben wollen
und in ihm leben: Aus den Geheimniſſen, die das Wunder dieſes Lebens
kämpfend ſchaffen und kämpfend erfüllen, wird ein Gebilde: Nicht ein
Menſchenbild, ſondern ein Bolf! Wie dag Gebirge aus dem ſtürmenden
Kampf der Tiefe, wie das Meer aus ſchwarzen Schlünden, hebt es ſich als
ein Wefen in diefe Welt des Lichtes. Und in der furgen Spanne des Ger
ſchehens wird es und vergeht es, aus dem Geheimnis tauchend, in das Gee
Heimnis zurüdfinfend. Einen Weltenprozeß umfpannen dieje furgen Szenen.
Gin Wefen, ein Lebendiges ift diefes Bolf, chaotiſch wie das Meer, und fid
formend wie ein Gebilde in der Hand des Künftlers. Die Kraft aber, die in
ibm bildet, ift die Führeridee: diefes Mythiſche. Unter den Flügelfchlägen des
furdtbaren Schidjals wählt es in Tro und Kampf zu einem lebendigen
Organismus, aber die treibende Kraft in ihm verdichtet fid zu der einen Gee
ftalt aus ibm und über ihm. Guiscard ift das Volk und das Bolt ift Guiscard.
Gs gibt nicht eins ohne das andere. Bon Anfang an, von den erften geilen
ift Guiscard da, aber fein Körperliches erjcheint erft am Schluß. Er ift wie
die Sonne, die man nidt fieht und die doch uns allen ſcheint. Mit dem Ge—
fühl bon Guiscards Krankheit leibet und zerfällt das Golf, unter dem Sturm-
willen Guiscards, den lediglich einer feiner Verwandten mitteilt, ftrafft fich
das gejchlagene, nod) eben hilflos Hagende zu einem ftoßwilden Blod, wer
eben über den Pefttod in wahnfinniger Angft beulte, jauchzt nun: „O führ er
lang uns nod, der teure Held, in Kampf und Gieg und Tod!“ Und dann in
einer rätjelhaften Umkehrung: Als der peftfranfe Guiscard in verzweifelter
Willenskraft hod aufgeridtet bor dem Bolf ftebt, fühlt dieſes feine Krankheit
in fich, ein einziger Körper, durch den dasfelbe Blut pulft. Zu einer mythiſchen
Dorftellung wird Guiscard: „in den Sternen glaubten wir di fdon* und
gu dem leben: „o wärft du doch unfterblich, unfterblid) wie es deine Taten
find.“ „Ein aufgegebenes Leben“ gibt Guiscard, weil er felbft Iebt, jeinem
Volke wieder, die Freude diefes Lebens ftrablt auf als ein Labfal, das alle
zugleich erquidt, den Knaben, der fieberbrennend feine Worte ftammelt, und
94
den Greis, der wie im Gebet bon feinem Helden fpridt. Und nun diefe Har-
monie der Gigenmilligfeit in der Fibreridee: diefelben, die bor Guiscard fnien
wie bor einem Gott, find trogige Männer, und der Führer weiß: „ſeine Frei—
beit ift des Normanns Weib.* Freibeit und innere Gebundenheit, nie wird
fie ein Gerftand enträtfeln, bier ift fie als das Naturhafte, Oottgejchaffene,
Scidjalbafte des Wefens Bolt in feinem Führer. Aber als dann Diefer
gütige, berrlihe Riefe Guiscard gujammenbridt — da ftirbt das Volk mit.
Das Weſen, das Gebilde ift bin, in Heine Wellengeriefel zerſchäumender Menjch-
Iichleiten zerftiebt der große Organismus. Der Weltprozeß ift aus, ob die
einzelnen den förperliden Tod fterben im brandenden Meer, ob fie als
Sklaven vegetieren, das Leben ift erlofden in dem Geſchöpf; was bleibt, find
die Nervenzudungen einzelner Organe im Krampf der Agonie.
And das Freudige, Bejahende diefes furdtbaren Werkes: das ift der
Wille, der aus ihm auffchlägt, diefer Wille, im opfernden Sturm wider das
Schickſal zu jtreiten, die graufe Herrlidfeit des Endes aber fann nur Anfporn
zu neuem Aufbruch fein. Diefes Auf und Nieder ift unferes Wefens Kern
immerdar, unfer Glend und unfere Größe. Auflodern und Iodernd verbrennen:
Stirb und Werde. Ludwig Benningboff.
Schleiermadher über Golf, Mafje und
Berfönlichkeit.
Ig das preußifde Bolf im Winter 1806 vor grauenbaftefter politifcher
Ungewißheit ftand, als es mutlos und giellos einen ausfidtslofen Ver—
teidigungstrieg wider den großen Unterdrüder führte, da ftand ein Mann auf,
um mitzulämpfen, als alles fämpfte, zu Tämpfen gegen einen Geind, dejfen
Anhänger er felbft war, gegen das Weltbürgertum — ber Prediger Schleier-
mader.
Als Iüngling aus Herrenhuterfher Erziehung herborgegangen, fühlte er
ſich beimatlos, er liebte fein Vaterland nur, „wie Fremde es aud) lieben“ und
in Berlin, in der Landeshauptftadt, im geiftigen Zentrum der Romantifer
jener Sage, im gefelligen Berfehr mit geiftreihen Frauen, als Dichter unter
Didtern, fühlte er nicht Beruf, nationalen Problemen nachzuhängen. Allein
die Not des Krieges, die ummälzende Kataftrophe bon 1806 wedte in ihm
plöglih den großen Patrioten. „Als einer der erften in einer getvaltigen
Zeit,“ jagt Diltheh, „begann er für den Staat zu leben, ward eine Macht im
Staat.“ Bon der Kanzel herab wetterte er gegen einen Geift, der den vor—
Hergebenden Sabrgehnten fein Geprage gegeben hatte. Nun follte Einhalt
getan werden mit diefem Uniderfalismus der Aufllärung. „Die fo nur mit
weltbürgerlichem, nicht mit bürgerlihem Sinne erfüllt auftreten, was haben
fie wohl hervorgebracht, als einzelne Berbefferungen in Dingen, die zur Be-
quemlichfeit dienen, gum Erwerb, zur Sicherheit... Alle dagegen, die Gott
zu etwas Großem berufen bat, find immer foldhe gewejen, die bon ganzem
Herzen ihrem Gaierlande und ihrem Wolfe anbhingen und dieſes fördern,
beilen, ftärfen wollten, folde, welche die Verbindung liebten, in der fie er-
höhte Kraft, bereite Werkzeuge, willige Freunde notwendig finden mußten,
folde, welche aud) in fich felbft den eigentümlichften Ginn ihres Bolfes für
den vortrefflidhften bielten.“ Go ſprach Schleiermadher noch furg por der
Rataftrophe. Das Präludium zu dem berrliden Werke nationalen Wirkens.
Die Idee des Nationalen war in ihm gereift. Nur im Rahmen des Bolfes,
95
auf dem Boden des Baterlandes bat jede Tätigleit des Gingelindividuums
nod ethiſchen Wert. Diefer Predigt gibt Sdleiermader die Ueberfchrift
„Wie febr es die Würde des Menjchen erhöht, wenn er mit ganzer Seele
an der bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört“ und jagt, daf der
Weltbiirger ein Sremdling, der Baterlandsliebende ein Hausgenofje in Gottes
Wohnung fei. Gr erachtet es als notwendig, daß die Menfchen zu einem Gee
meinwefen fid) vereinigen, und die ,redte Wurzel aller folchen Vereini—
gungen ift Die gegenfeitige Wnhdanglidfeit, das brüderlihe Gefühl derer
untereinander, bie Gin Bolf bilden.“ Das Nativnalgefühl ift geboren und
eingebettet in dieſem brüderliden &emeingefühl, ein gegenfeitiges Durch»
gliben und Fördern. Der ehemalige Herrenhuter fommt in feiner Wnfdauung
vom Nationalen wieder gum Leben. Schwer bat der junge Zögling einft
unter jener Graiehung gelitten, er floh aus der Gemeinde, weil er fie nicht
mehr ausbielt. Aber gerade der Kampf, den der Siingling mit den Prins
zipien jener Gemeinde aufgenommen bat, zeigt, wie er fich innerlich mit
ihnen auseinandergejett hatte, die Gindriide lebten in ihm weiter. Gie
werden jpäter maßgebend und daratteriftijd für feine politijden An—
{hauungen. Schleiermadjer felbft äußert fid gelegentlich darüber, wie febr die
Herrenbuterfhe Erziehung fein Inneres in Beſitz genommen hatte. „Es
gibt feinen Ort, der jo wie diefer (Gnadenfrei, eines der herrenhuterſchen In=
ftitute) die lebendige Grinnerung an den ganzen Gang meines Geiftes bee
günftigte, bom erften Erwachen des beffern an bis auf den Punkt, wo id
jebt ftebe.* So fchreibt er im Sabre 1802 einem Freund, und feine Kriegs»
predigten zeigen, wie die Gindriide weiter mirfen. Nun ftellt er, diefes
Prinzip in den Dienft der nationalen Gade und diefe Verbindung bildet in
ihm einen Nährboden, der empfanglid) fein follte für die Ideen eines
Mannes, der in fonfreterer Weife den Gemeinfinn für das Volk fruchtbar
gu maden fudte, für Die Reformen Steins. In diefe Anfchauungen vom
gemeinfamen Schaffen, Erleben und Kämpfen Bat fid Schleiermacher immer
mebr eingelebt, der Gedanke, daß das Volk als in feiner Gefamtbeit die
Kulturgüter erzeuge, trat immer mehr in den Vordergrund, der romantifche
Begriff des Bolfsgeiftes tat das feine, um in letter Ronfequeng in Schleier-
mader’s politifher Wnfdauung das demofratifhe Glement zur Reife zu
Bringen. Das fonftitionelle Prinzip war ja befonders durd die Stein'ſchen
Gedanken damals nichts Neues, allein der große Prediger gab ihm mit pere
fénlidfter Wärme einen felbftändig-lebendigen Charakter. Die Predigt „Ueber
das redte Verhältnis des Chriften zu feiner Obrigkeit“, die Schleiermacher
zur Ginführung der Städteordnung 1809 hielt, legt davon Zeugnis ab. Gr
fagt, daß „in dem natürlihen Lauf der Dinge feine Obrigkeit ſich wefentlid
entfernt bon dem Geift ihres GBolfes... daß auf eine ganz andere Weife der
um des Gewiffens willen untertworfene der Obrigkeit zugetban ift mit feiner
ganzen Wirkſamkeit nad) außen und mit feiner inneren ftillen Thätigfeit des
Nadhdenkens und der Betrachtung.“ In diefem ftillen Nachdenken entwidelt
fi aber „wieder die edelfte Kraft, mit der er dem ganzen dienen und zu
Hilfe fommen kann, fruchtbare Wahrheiten nämlich, heilfame Winke, wol
dargelegte Ginfidten. Gin folder nämlich... Tann wol bisweilen dahin ge-
langen, wiewol zu feiner bon den Bergweigungen der Obrigfeit gehörig, im
einzelnen richtiger zu urtheilen als fie ... wie follte es in einer woleingerid-
teten Gefellfdaft an Gelegenheit fehlen, die wolgemeinte Gabe aud witk-
lich zu opfern.“ Mit feinem Wunfde indes, daß es dem Bolfe durch geiftige
Fähigkeiten ermöglicht werde, die Regierenden zu unterftügen, verband fid
96
notwendig bei ihm eine natürlihe Abſcheu por allem Konferpativen, Rüd-
ftändigen. Gr befämpft diefe Tendenz, wo fie ihm nur entgegentritt. Im
feiner befannten Predigt zum Gedächtnis Friedrichs des Großen am 24. Ja-
nuar 1808 tritt diefe Tendenz in ganz eigenartiger Gorm zu Tage.
Gr zeigt, wie der große Friedrich nur im Rahmen feiner Beitgenoffen zu
begreifen fet. Nicht nadgutrauern gälte es Heute, fondern ihn zu ehren in dem
DBemwußtfein, daß jeder große Führer eine aus dem Schofe des Bolfes ent-
ftandene und gepflegte Kraft fei, daß dieſe Ehrung nur durd Umbildung und
Anſchließen an die Bergangenbeit erwiejen werde. Schleiermadher warnt vor
jener „verfehlten Anhänglichfeit an das vergangene“ und ftellt die Frage, „ob
wir nicht ſchon zu lange alles gelafjen batten in feiner väterlichen Geftalt, ob
nicht vielerfeits bei uns das äußere überlebt hätte fein inneres.“
Sein Gemeindegefühl neigt fic fichtlih zum Wefen der Volksſouveräni—
tät und die romantifdhe Idee des Bolfsgeiftes ift in Sdleiermaders An-
ſchauung ziemlich lebendig, Die große Gemeine ift das belebende
Prinzip, die Obrigkeit aber nichts, fo fie nicht aus dem Geift ihrer Untertanen
geboren wird. u
Wie ftellte fi nun Schleiermader, der dem Gedanfen der Volks—
fouveränität fo nahe fam, der felbft oft Hunderte aller fogialen Schichten in
innere Bewegung bradte, wie ftellte er fich zur Frage der Maffe im mo-
dernen Sinne? In feiner Predigt gum Geburtstag Friedrihs des Großen
fagt er, „wie fchimpflich es fei für ein ganzes DBolf, fein Wohlergehen,
feine Selbftändigfeit gu hoffen von einem einzelnen, bon Gines Art zu
Handeln.“ Nur aus dem Bolf herausgewachſen, an ihm genährt und geübt
wird ein bedeutender Mann groß. Saft möchte man an die materialiftifche
Gefdhidtsauffaffung denken, an den Standpunft, daß der große Mann Durch—
fchnitt der Maffe, ihr Produkt, ein aus der Maffe entftandener Exponent
fei, und Doch tft dem nicht ganz fo, denn Iettlich redet doch der Theologe und
Schüler unferer Elaffifch-idealiftiihen Beit. Alle menfdlide Ginrichtung, die
aus dem Golfsgeift entfpringt, hat ein göttlihes Geſetz in fid, „eine Offen-
barung göttliher Macht und Herrlichkeit.“
And die Mafje? Hören wir ihn in feiner Predigt, der er zum Thema
gab: „Was nicht aus dem Glauben fommt, ift Sünde.“ Gs muß verdädtig
fein, fagt Schleiermadher, „wenn diejenigen, welde der Menge gum Bore
bilde dienen und fie führen follten, von ihr felbft geführt werden, ob das
nit eine DBerführung ift. Dann muß es immer Mebereilung fein, was mir
fo angeftedt und fortgeriffen unternehmen.* Nicht bon dem großen Haufen
angeregt und andern zu folgen gilt es, „jondern felbft erregend porangugeben“
mil einer Sprache, die das Grgeugnis des eignen geiftigen Lebens ift.
Widerfpridt fid nun Schleiermadher nicht. in Vergleich der oben ane
geführten Predigtftellen? — Nein. — Bergeffen wir nicht, daß er in der
Geburtstagspredigt in der Perfon des Königs ſchlechthin die Regierung, das
Geſetz vom Bolfsgeift ableitet, hier indes den geiftigen Führer, den „Seher“
im Fichteſchen Sinne, meint, der jchöpferifch, felbftändig den Sdeengebalt
poranträgt, zu dem ein Bolf erft durch lange Gntwidlung gelangt.
„Der große Haufe des Bolfes ift noch nicht fo weit entwidelt, ein po-
liti{hes Auge und Urteil zu haben“ meint Schleiermadjer viel fpäter einmal
in einer feiner Alademiareden (Nov. 1822). Diefe Alademieabhandlungen
geben nun den fchönften Auffhluß über diefe Frage. So die berühmt ge-
mwordene Rede über den Begriff des großen Mannes am 24. San. 1826.
Politijh ift die Maffe durchaus unreif, auf geiftigem Gebiet ohne Be—
97
deutung. Gr drüdt fic) darüber recht felbftverftändlih aus. ,,Gingeftanden
wird wol bon allen werden, daß auf dem geiftigen Gebiete der Ausdrud
Waſſe nur in einem beftimmten und untergeordneten Sinne gebraudt wird.“
Gr Hat die materialiftifche Begriffsbeftimmung der Perfönlichkeit, als „Durch«
Ihnitt der Maſſe“, in feiner Weife aud formuliert, aber eben im Anterſchied
gum Begriff des großen Mannes. „Je mehr der einzelne Hier ein Ort ift,
wo die verjchiedenen in der Geſamtheit waltenden Bewegungen fich begegnen,
fic Treuzgen und brechen oder verdrängen, je nachdem die Weife ift, wie, und
die Stärke, mit welder fie zufammenftoßen, ohne daß in dem einzelnen Selbft
ein den Grfolg regelndes Prinzip erfdeint, um defto mehr erfcheint er nur als
ein Glement der Maffe..“ Unter folden Elementen, wo aber der Gharatter nicht
feblen darf, befteht ein mannigfades „Berhältnis des Gebens und Gmpfangens,
des Beftimmens und Deftimmtwerdens.“ Diefem innigen geiftigen und joziolo-
gijmen Zuſammenſchwingen der Bolfesmenge gegenüber ftellt Schleiermadher
mit monumentaler Wucht das Bild des großen Mannes auf. Gr hebt fich in
feiner geiftigen, gottgejandten Größe von diefem Hintergrund gegenfeitigen
Wirkens Herrlid) ab; erft durch feine Anfdauung vom Helden zeigt Sdleier-
mader, wie wenig er bon der Maffe eigentlich hält.
„Der große Mann ift der, der nichts bon der Waſſe empfängt, und ihr
alles gibt,“ fagt er ſchlechthin. Das Wahre aber und Wefentlide, fo fährt
er fort, ,wodurd er ift was er ift, Das find Die eigentiimliden Ausſtrö—
mungen feines Wefens, die Idole bes Epikuros, die fic jeden Augenblid pon
ibm Iogreißen, in alles eindringen und alles in Bewegung fegen. Der große
‘Mann ift nur der, welder die Mafje befeelt und begeiftert, ganz heraus»
getreten aus dem Verhältnis der Gegenfeitigfeit, er auf feine elle ihr Werk,
fie aber auf feine Weife das feinige.“
Mit immer größerer Begeifterung gibt fid Schleiermadher dem Genuß
bin, das Bild jenes feltenen Menfchheitsführers zu entwerfen. Wir fühlen
bei der Lektüre diejfer Rede fo recht deutlich, wie er die Bedeutung jenes
Heldenthpus immer größer, immer freier auffaßt und mit poetiſch-ſchwung—
voller Steigerung den urfpriingliden Boden feiner Anfchauung ganz unbe-
merft verläßt. Sein Ideal rüdt in immer höhere Regionen. „Oft ift es ein
folder gewejen, der wie ein göttliher Haud einer nod urfpriinglid ftarren
bewegungslofen Maffe mitgeteilt, bas mannigfaltige Leben in ihr erregt, wie
ein bimmlifher Funfen Hineingeworfen, alle dieſe fehönen Lichter entzündet
bat... Kurz, der große Mann ift nur der, Durd welchen in irgend einer Bee
giebung die Maffe aufhört Maffe zu fein.“ Mit folden Worten aber nähert
fih Scleiermader wieder den Geiftesariftofraten der Elaffifhen Periode. Gr
fehrt zurüd zum Idealismus unferer großen Ondibdidualijten, vor allem
Zichte und W. dv. Humboldt. In ihrem Ginne ift es, wenn er jagt, daß wir
„bor diefem fegensreiden Bilde feltener göttliher Werkzeuge ftehen als
nicht bor unferes gleichen, angehörend einem Damonifden Geſchlecht, hervor—
gehend aus geheimnispoller Zeugung der Natur.“ Zu Ende feiner Abhand-
lung Ienft er erft wieder ein, um den WAusgangspuntt feiner Ausführung ins
Auge gu faffen. Bei aller Größe muß die geiftig führende Perfinlidfeit dod
einer beftimmten Maffe angehören „innerhalb deren ihre eigenthümliche
Wirkung befdloffen ift...“ Der große Mann bat eine beftimmte Heimat,
„fei fie nun räumlich begrangt oder durch einen geiftigen Sppus.* Go betont
er aufs Neue den Standpunft, den er fdon 1806 im nationalen Sinne ver=-
treten bat, diejes Seftgewurzeltfein in vaterländifcher Kultur als Bedingung
perfönliden Wirkens.
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Die Berberrlihung des Bolfes als demofratifd-fonftitutionelle Tendenz
und als romantifche Idee zieht ſich durd) Sdleiermaders politifhes Denfen
viele Sabre — allein einmal mußte in ihm Die Kraft des alten Idealismus,
der ein: Jahrzehnt zuvor Triumphe feierte, zum gewaltigen Durchbruch fommen.
Es war ihm ein Bedürfnis, mit dem begeifterten Schwung, wie er ihn als
Siingling in feinen Reden über Religion, in feinen Monologen an den Tag
legte, die Geiftesmadt der Helden gu verehrten.
Gr jelbft wird fid faum als einen ſolchen bezeichnet haben, wenn er aud
bon der Wirkjamfeit feiner Predigten überzeugt war. Man fann ihn wohl
aud nicht als eine umwälzende Kraft bezeichnen, bon fo elementarer Größe,
wie fie nur nad) Sabrbunderten der Menſchheit geſchenkt werden. Aber all
das, was Schleiermacdher in einem reichen, buntbewegten und fampfdurdfesten
Leben in fic aufnahm, aufs edelfte verarbeitete und mit unerjchrodener Auf:
tidtigfeit und Kühnheit aus fid herausftellte, war in der Tat eine „po—
litiſche Macht“, eine foziale Kraft im fchönften Sinne, die geeignet war, im
Rahmen religiöfer Wndadht auf das Volk, in dem er lebte, zu wirken. Sein
Univerfitatsfreund Steffens fdrieb über ihn: „Sein mächtiger, frifcher, ftets
frdblider Geift war einem fühnen Heere gleich in der trübften Seit. Denn
die Kräfte, die er in Bewegung fette, waren feine vereinzelten, bejchränfter
Art, es waren die tiefften edelften des ganzen Mtenfden in der hddften, Alle
durddringenden Ginbeit.“ Hermann Haf.
Die Univerfitätsfolonie im Arbeiterdiertel.
1,
gibt Gegenden Londons, Die man als das dunfelfte Gngland bezeichnet.
Wirklich fonnte man dort wie unter den Negern Gntdedungsreijen madden.
In jabrgehntelanger Arbeit ift ſchon vieles Lichter geworden. Bor uns Deut-
[hen liegen andere große Zeile unjeres Bolfes wie eine unbefannte Welt.
Dabei handelt es fid feineswegs nur um die DVerbrecherviertel und die
Schicht der Allerunterften, fondern um die breiten Maffen unferes Bolfes, aud
die äußerlich durchaus gefund erfcheinenden. Wie merkwürdig muß es Dod in
ihren Seelen ausfeben, wenn auf einem großen ftädtifchen Friedhof die Bitte
um den Sroft des Glaubens Jahr für Jahr häufiger wird, und dod anderer-
feits unter denjelben Menſchen der wütendfte Haß gegen die Kirche fich zeigt.
Melde Berriffenbeit und welde Fülle von Leid und Nöten muß da fein?
GSelbft Eltern und Kinder werden fic fremd und feindlid. Wir find ein
ſchlecht erzogenes Volk geworden. Aud) die proteftantifche Arbeiterfamilie,
die nod am Jängften Stand hielt gegen die Gifte einer neuen Umgebung,
lange nod nad) dem WAbfterben des kirchlichen Glaubens, verfagt jett. Fünf-
gebnjabrige Sungen fdelten ihre Mütter um des Borhemdes willen, das
Sonntags nicht geftärkt bereitliegt, und die halbwüchſigen Mädchen thranni-
fieren Die ſchwer arbeitenden Eltern, fteben fpät abends draußen an ben
Straßeneden mit den Burfchen. Der alte Arbeitsmann klagt, es fei nicht
mit den jungen nafeweifen Burfden zufammen gu arbeiten, und viel Tränen
fließen in Deutfchland über rohen Kindesundant.
Aud darüber follte niemand fic täufchen, daß durch die Fülle bon Bor-
trägen, Unterhaltungen, Bibliothefen, die fich wenigftens in den Großſtädten
den breiten Maffen darbieten, eine wirklid fittlich feftigende Bildung nicht
gefchaffen wird, es wächft im Gegenteil eine grengenlofe Halbbildung, welche
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mit lautem ®efchnatter, mit Zeitungsartifeln, mit Bereinsgriindungen, fizen
Odeen, ja fogar mit prophetifhem Pathos und Religionsgründungen fich
awifdhen das Volk und diejenigen Schichten drängen, welche die beften
Güter für diefes Bolf verwalten. Durd diefe Halbbildung, eine recht
eigentlid moderne deutide Erſcheinung, wird die Entfremdung gwifden den
Volksklaſſen nod) etwas verfchleiert; fie ift in Wahrheit wohl noch größer
als irgendwo auf engliſchem Boden. Gs wird durch die häßlichen Charakter—
aüge folder Halbbildung manchem verleidet, fid um unfer Bolf zu fümmern;
es wird andererjeitS vorgetäuſcht, fo würde fittlide ſchöpferiſche „Kultur—
arbeit“ geleiftet, und „es gefchehe fo ungeheuer viel für Volkserziehung“.
Gir Unterricht allerdings, für die Grziehung nidt. GSelbft unfere
Volksſchule, fleißig nad neuen Methoden fuchend, zeigt fid doch recht
Ihwad, wo fie unter den Kindern fteht, die aus zerbrochenen Familienver-
bältniffen fommen; es ift fon eine Riefenaufgabe, hier nur einigermaßen
Lefen, Schreiben, Rechnen und etwas Gehorfam zu Iehren, der über Die
®rengen des Schulhofs Hinaus dauert. Wie völlig aber mangelt die Gr-
giebung über das Schulalter hinaus! Gratehung wird aber nicht durch Bers
anftaltungen geleiftet, fondern erziehen fünnen nur Charaktere und eine fitte
liche Werte ficher fefthaltende Gemeinfdaft, in welcher die einzelnen Un-
fteten und Heimatlofen mit ihrer Seele wurgeln fönnen, fodaß Maffe durd
Maffe erzogen wird.
2.
Wer aber felbft feft an feinem Poften fteht und von diefen Zuftänden
einige Kenntnis erhält, den padt wohl eine Unruhe, eine Sorge verjaumter
Deranttvortung. Und dod — wer unter der vollen Laft des Berufs ftebt
und die eigenen Kinder erziehen foll, der fann nichts Entſcheidendes tun für
die Kinder feines Bolfes, die in den Maffenquartieren der Grofftadte fo
vielen Gefahren ausgefest find, ja ausgefegt der fchlimmften Not, die der
Menfd in folder Zufammendrängung dem Menfchen bringt.
Dazu müffen Pioniere ausziehen, die fih ihrem Bolfe gang bine
geben fdnnen. Gs gehört dazu dec Glaube an den unendlichen Wert jeder
Menfchenfeele. Das ift ein religidfes Motiv. Gs handelt fich nicht darum,
nur die „Stände“ einander „anzunähern“, fondern es müſſen Opfer ge-
bradt werden, um die ſchwere Schuld großer Gerfaumnis zu fühnen.
Ein gejhichtliher Vergleich mag die heutige Lage blithell beleuchten.
Seit den Tagen Karls des Großen befand fid unjer Volk im langfamen.
Aufftieg. Die Güter Älterer Kultur wurden angeeignet, neue Formen gei-
ftigen Lebens entftanden. Aber ein Stand, die Bauern, blieben unberührt
bon diefer Gntwidlung, blieben geiftig, rectlid, militärifh zurüd. Nicht
fo febr nagende Armut, fondern diefe Entfremdung bom Leben der Nation
führte endlich zur furdtbaren Kataftrophe des Bauernfrieges.
Heute nun bat fic) unfer Volk feit einem Sabrhundert mit raftlofer
Energie immer neue geiftige Güter und technifhe Künfte angeeignet. Gin
Wachstum geiftigen Lebens ift über unfer Land ausgebreitet, das an In—
tenfität nur bon dem Athen des Perifles und der florentinifhen Renaiffance
erreicht wird. Aber täuſchen wir uns nicht, weite Kreife wie der gefchäftliche
Mittelftand, Bauerntum und die Landarbeiter hängen mit dem modernen
Leben faft nur durch die technifhe Kultur zufammen. Wertvolles Gut Der
Bater ift maffenbaft unbeadtet am Wege liegen geblieben, und bon dem
Neuen, was gut und groß ift, ift nod faft nichts zu ihnen gedrungen. Und
doch müffen fid aus diefem Stand der Landbevdlferung die Städte und fo
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giemlid alle anderen Stände ftets wieder auffrifhen. Die Reform ftädtifcher
Kulturzuftände muß darum zugleich in Land und Stadt betrieben werden.
Aber aud durd die geiftige Beweglidfeit des großftäbtifhen Bolfes
dürfen wir uns nicht täufchen laffen. Gs ift nur eine dünne Oberſchicht der
Maffe, die fid der vielen ftädtifhen Bildungswege bedient. Diefe allerdings
ſchaffen fid wirklid eine neue Bildung. Gs ift eine Freude das mit zu ere
leben. Aber darunter liegt dumpf und ſchwer die Maffe. Diefe ift in den
legten Jahrzehnten geiftig ärmer geworden; und troß der politifchen Parteien
fühlt fie fic nad) dem Kriege führerlos. Politijher Wille und einige politifche
Gedanken hat die Sozialdemokratie freilich in die Maffen gebracht und gezeigt,
wieviel Talent zu Organifation und Disziplin in unferem Volke lebt. Aber ere
fabrene Führer lagen über die Dumpfe Urteilslofigkeit der Maffe, die bod wieder
gelegentlih in wilder Leidenfchaftlichfeit aufflammt. Die Sogialdemofratie,
felbft ja jhon ein Produkt der Gntfremdung des Bolfes vom geiftigen Leben
der raſch porwärtsfchreitenden Nation, fann aud diefe Schäden gar nicht
beilen. Sie wird felbft mehr und mehr bewegt bon der Angft, wie fie die
Herrſchaft über die Maffen behaupten foll, denen fie Herz und Seele doch auf
die Dauer nicht zu ernähren vermag.
Sp wohnt denn nun diefes Golf faft wie in einem anderen Lande. Gine
neue Ritterfhaft muß ausziehen, diefes Land zu erforfhen und Wege zu
bahnen, auf denen das geiftige Leben und die fittlihen Kräfte der Nation zu
diefem Bolfe einziehen können.
Ginige Verſuche in Deutjchland, namentlich die Hamburger Gefellichaft
Boltsheim haben gezeigt, daß fic) Stätten wahrer Kultur in den großen
Arbeiterquartieren fchaffen laſſen. Wenige entfchloffene Menſchen können
Grofes wirken. Namentlich aber in England find die Gettlements, die Burgen
folden fogialen Rittertums, zu Galtoren im nationalen Leben geworden.
In England haben fie in den fommunalen Berhältniffen der Arbeiterquartiere
und in religiöfer Beziehung große Wirkungen aud da erzielt, wo Die
älteren Greifirdhen verfagten. Und in Wmerifa arbeiten fie mit intenfiver Kraft
daran, die maffenbafte, nicht germanifhe Ginwanderung der amerifanifchen
Nationalität einzugliedern; da lernt der galizifhe Yudenjunge ſchwimmen
und ber Heine Pole oder Ruffe rühmt fid, ein Kind der „freieften und
größten Nation der Welt“ zu fein.
Das alfo gilt es: unabhängige felbftändige Trägerderna-
tionalen Kultur Dineingumerfenin die Arbeiterquarttere,
damit fie Anfänger eines neuen Lebeng werden.
3.
Am beften werden zwei ausziehen, wie Paulus und Barnabas, ein Gre
fabrener und ein Siingerer. Zunächſt gilt es fic umgutun, um zu prüfen,
weſſen der Stadtteil, deffen freiwillige Bürger fie werden, bedarf.
Wenn die Anfiedler in ihrer neuen Umgebung fic umfeden, fo finden
fie fi in einer nahezu gefdidtslofen Umgebung. Die vorhiftorifche Beit, als
nod) Fröſche und Salamander in den Graben Hauften, liegt faum fünfzig
Sabre zurüd. Dann hat einmal die Stadtverwaltung einen Straßendamm
burd Bde Gefilbe gezogen. Die Bauern, die bier feit Bater Zeiten faßen,
veiftanden fdnell den Sinn diefer Bemühung; fie verkauften ihre langen
Ihmalen Hufen, die der Straßendamm durchſchnitt, ftüdweife. Bon dem
guten ®eld leben ihre Kinder und Enkel, über die ganze Welt geftreut, wenn
nicht etwa der raſch erworbene Reichtum fie gu Grunde gerichtet bat. Das
101
Land wanderte in den DBefit Huger Kinder der Neuzeit, die aus reiner Liebe
zur Menjchheit graumandige Gtagenhäufer errichteten. Soweit verlief alles
zum Beften der Befitenden, der moralifden Weltordnung, ja fogar gum Bee
weis der fogialiftijdhen Theorie von der Sammlung des Befikes in wenigen
Sinden und der Berelendung der Mafjen. Denn elend follen nad Bers
fiderung der mittlerweile entftandenen fozialdemofratijhen Tageszeitung die
Waſſen fein, die nun einzogen. Greilid) weifen andere Leute auf die Fifch-
laden mit lebenden Karpfen, die Bäderläden mit Haufen von Süßigkeiten
und die diden Bäuche der Gajftwirte Hin. Aber die Leute, die auf fo etwas
binwiefen, waren natürlich Bourgeois, verftanden nidis bon dem Enurrenden
Magen des Proletariats und hatten gar nicht mitzureden.
Die neuen Anjiedler feben fic zunädjft fleißig um. Wenn abends in den
düftern [angen Girafentalern wenige Laternen erglänzen, wenn die Menfden
mit triefenden Regenfchirmen fich darin entlang {dieben, gibt das wohl Stim-
mungsbilder für einen Nobvelliften. Aber wozu nüst das? Wir wollen mehr
wiffen. Bei Tage erfchreden uns die ungeheuren Kinderfcharen, die laut, ner—
ods, haſtig den fedsftidigen Häufern entjtrömen und in den engen fteinernen
SHdfen ruhlos umberbranden. Genauere Beobadtung zeigt freilich, daß dar-
unter doch aud viel Kraft und Begabung fid regt. Mit den Sabren fehen
wir mande, die als erfte Stadtgeneration nod Landfraft in Gliedern und.
Nerven haben, fid) emporarbeiten in eine beffere wirtfchaftlihe Lage. Aber
viel innere Zerriffenheit und Unfertigfeit taufden fie ein für bie fittenfefte
Sharaftertüdhtigfeit ihrer Väter. Wieviel Weisheit und Kraft ift nötig, um
bier zu erziehen und zu leiten! Aber ftattdeffen ftiirgt fic ein Heer alberner,
niedriger Bergniigungen, lärmender, quiefender Karuffels und Automaten über
die Menſchen ber. In den endlofen, ermüdenden Straßen fdreien aus den
Laden immer wieder bdiefelben fehmierigen Bilder und Bücher, blutgierige
QAbenteuergefhichten und eine pornograpbhifde Literatur, welche die der Frane
gofen übertrifft. Die Beobachter finnen ſchwanken, was verderblider auf
Leib und Geele wirkt, diefe geijtige Dede, die einer nur bon Dornen und
Schlangen belebten Steppe gleicht, oder das Fünftlihe Klima, in dem fie jest
felber auch leben miiffen. Wenn es dem Anfiedler zum zweiten Male gee
{eben ift, daß Die Bäume draußen grün geworden find, ohne daß er’s gemerft
bat, dann fängt ein Grauen an feine Seele zu paden. Nicht nur die Luft,
wenn er die fteilen, düfteren Treppen fich emportaftet und in die überpöl«-
ferten Wohnungen eintritt und ibm die naffe Wäſche jede Ausficht in die
dunftigen Räume verfperrt — nicht nur diefe Luft ift entfeblid. Aud auf
den Straßen ift felten nod eine natürlihe Luft. Aus Läden und Lagern
ftrömt Gerud) und Geftank; feuchte Nebel und Ruf verhüllen den Himmel
und bededen das Pflafter mit einem felten ganz auftrodnenden Schmier. Iſt
aber einmal heißer Sommer, fo werden Hite, GeftanE und Staub zu wahren
Dämonen. Dagu wird die Luft nie ruhig, fondern wird felbft noch in Der
Nacht immer aufs neue von frachenden, drdhnenden Geräuſchen, bom Rollen
ſchwerer Laftautomobile und bon leidenfdaftliden Tönen Zanfender oder Bez
trunfener erfdiittert. Wehe dem armen Kranken, der Hier genefjen foll!
Das widtigfte find in diefer großen Ginjamfeit zunächſt Menjchen, treue
Menfchen, und feien es nur zwei Dubend.
Gs find nod) ganze Scharen vorhanden, die in feine Gemeinfdaft Hinein=
paffen, junge Matrofen, Boten, Fabrifjungen. Diefen ift eine Bereins-
organifation zu feft; ihnen gilt es ein Heim zu fchaffen.
102
Wabhridheinlid werden aud viele Lehrlinge aus WArbeiterfamilien noch
völlig ohne Halt und rechte Heimat dabinleben.
Die Anfiedler fommen nicht offiziell, nicht amtlich, fondern nur als
Wenſchen. Aber fie müffen im Ginverftändnis mit den Behörden handeln
und bon deren Organen unterjtüßt werden. Gine perſönliche Ginladung in
einer Konfirmandenklaffe einer Schule wirft mehr als viele Reflame; eine
zwangloſe Unterredung mit einem Arzt, einem Polizeibeamten, einem Ge—
werlichaftler, einem Gefdhaftsmann wird in wenigen Minuten lebendige Illu-
ftration zu vieler toter Statiftik liefern.
Gs müſſen die Anfiedler mit Gewerbefdullehrern oder Pfarrern fic) ver-
bünden; fie fönnen die Greund{daft der bon der Jugendbewegung ergriffenen
DBereine gewinnen. Gine ſtädtiſche Turnhalle läßt fid mit Banken und Tifden
wohl berridten. Und nun können die Pioniere mit wenigen beginnend eine
Sugendgemeinfdaft jchaffen, die durch Korpsgeift und Tradition erzieht. Sie
fönnen Bortragende, Wanderführer, Ratgeber in Rechtsjorgen herbeiführen.
Für die anderen aber, die Burjden, Boten uf. gilt es Aufenthaltsräume zu
ſchaffen; da muß Mild, Kaffee, Kuchen verfauft werden; Billards, vielleicht
aud eine Kegelbahn miiffen da fein. Bon entjcheidender Wichtigkeit ift aber
aud bier der Mann; und den müſſen jene Pioniere finden, einen älteren
Arbeiter oder Seemann, der mit den Burjchen umzugehen verſteht und felbft
ein an Arbeitserfahrung reiches Leben Hinter fich hat. Der muß dem Stellen-
Iofen helfen, wenn er Arbeit fudt, muß Firmen und Gefdafte fennen. Gr
muß eine Art Seeljorger für die Burfden fein. Ift es fo weit, fo fann fich
aud fonft einmal ein guter Greund unter die Sungen fegen. Auch einen
Berfauf guter billiger Schriften fann man in dem Lofal einrichten. Und es
follen fämtliche tüchtige und bewährte Turn-, Shwimm-, Wanderdereine uftw.
ihre Schilder in dem Lokal aufhängen.
Sind es der Pioniere genug, dann können fie auch die Eltern laden zu
Bortragen und Piskuffionen. Was unfer Golf in der Seele bedrüdt, das
fann befproden werden. Anausgeſetzt müfjen die Pioniere beobachten, was
beilend und was fchädigend auf das Bolt des Stadtteils wirkt. Davon
miiffen fie dahin berichten, von wo fie ausgegangen find. Zugleich müſſen fie
darauf feben, junge Menfden aus dem Stadtteil Herangubilden, die fic ver—
anitwortlid fühlen für Die Späteren. Die Kolonie muß getragen werden bon
einem Kreis bon Menfden, der um fie lebt.
Alsdann werden die erften Pioniere getroft die bon ihnen gegründeten
Bereine anderen Händen anvertrauen fünnen. Gs muß ja teils aus Gewerbe-
ſchullehrern, teils aus Kandidaten und firdliden Diafonen, teils aus den
Zöglingen der Sugendbvereine felbft eine neue Art Grgieher für die Jugend-
lihen heranwachſen; folde rechten Führer der Jugend werden am beiten
nod) in einem anderen Beruf wurgeln, Damit fie nad ein bis zwei Sabr-
zehnten aud wieder jüngeren Blak maden, und nun grad mit ihrer Gre
fabrung gerüftet an anderem Plage erft recht erfolgreich wirken.
In dieſer Entwidlung müffen unfere Pioniere umfidtig wirken, Heime,
Bereine, Turner, Schwimmer uf. des ganzen Diftrifts fennen und die überall
zerftreuten Sraiehertalente finden, ermuntern, bilden, denn es lebt mehr als
ein riefen im deutſchen Bolfe. Gin Wort Scharnhorfts gilt aud bier: „Man
muß der Nation das Gefühl der Selbftändigfeit einflößen, man muß ihr Ge-
legenbeit geben, daß fie mit fic) felbft befannt wird, daß fie fich ihrer felbjt
annimmt; nur erft dann wird fie fich felbft achten und bon anderen Achtung
gu erzwingen wiffen. Darauf Hinguarbeiten, dies ift alles, was wir können.
103
Die Bande des DBorurteils löfen, die Wiedergeburt leiten, pflegen und in
ihrem freien Wachstum nicht hemmen, weiter reicht unfer hoher Wirkungs-
frets nicht.“ Die Vereine und Heime müffen zu Ginrichtungen werden, die
bon der Bolfsfitte getragen werden; fie müffen mit dem fittlichen Gefühl
des Volkes als unentbehrlich verwadfen; und daraufhin muß unfere Nieder-
lajfung ein ganzes Gefdledt eines Stadtteils erziehen und die führenden
Köpfe bilden. Und die bon Hort fortziehen, müffen folde Gefinnung an
andere Stellen des Baterlandes tragen.
4.
Sehr wichtig für den Erfolg einer Niederlaffung ift eine gefdidte Organi-
fation. Eine ſolche Organifation ftellt fid folgendermaßen dar:
Das Komitee vertritt rechtlich die Stiftung; forgt für Befdaffung
bon Kapitalien; agitiert für die Idee, um neue Pioniere zu gewinnen; über-
gibt die gewonnenen Mittel der oder den Niederlaffungen.
Das Kollegium der Niederlaffung befteht aus drei Gruppen:
Grftens: Der Leiter, dejjen Vertreter und die vollberedtigten Mitglieder.
Gie betreiben felbftändig ihre Arbeit, berichten darüber, verfügen über die
bereitgeftellten Räume und Gelder, berichten bon ihren Grfahrungen.
Zweitens: HelfendDe Mitglieder aus dem Stadtteil, 3. DB. ehemalige
Sugendbereinsmitglieber oder erfahrene Arbeiter.
Drittens, Helfende Mitglieder, die von anderen Stadtteilen für beftimmte
Aufgaben und Zeiten herbeiftommen, 3. B. Bortragenbe, Grteiler bon Rechts-
austinften, Geranftalter von Borturnerfurfen ufw.
68 ift aljo das Komitee wie das Kriegsminifterium, das die Kriegswerk⸗
geuge bereitjtellt, die Genoſſenſchaft der Niederlajfung aber das fampfende
Heer, bei welchem fic aud die zielſetzende Führung befindet.
Die Pioniere bilden eine kleine gefchloffene Geſellſchaft wie einen
Orden. Mitgliedfhaft im engften Kreis ift nur für große perfönlidhe Leis
ftungen zu erlangen. Wohnſitz im Stadtteil ift nötig, oder mindeftens jahre»
lange Ginfebung großer Kraft. Ihre Zahl wird ftets Klein fein. Sie haben
bas Redt, Biel und Grenzen fic felbjt zu feben. Gs fönnen aber aud in
dem Stadtteil aufgewachjene, bon der Kolonie herangebildete Männer oder
Srauen bolle Mitglieder werden. Wer volles Mitglied werden will, muß fid
an den @riinder oder Leiter wenden, durch deffen Vorſchlag allein fann er
dem engften Kreis zur Wahl vorgeftellt werden. Es muß diefe Genoſſenſchaft
fein wie das Offigiersforps eines Regiments. Seder einzelne davon fann
felbft Spike eines Vereins oder größeren Unternehmens im Stadtteil fein.
Sie alle Halten gemeinfamen Grfabrungsaustaufd, und dieſe Berfammlung
unter Borfig des Leiters ift die widtigfte Inftanz der Unternehmung. Um
den engeren Kreis fann ein größerer Kreis der Helfer auf mannigfaden
Gebieten ftehen, die auf den einzelnen Arbeitsgebieten mithelfen. Aber
die Genoffenfdaft der Engeren beftimmt das Arbeitsprogramm, entjcheidet
über die Berwendung des zur Berfiigung geftellten Geldes und berichtet an
das Komitee, das fogufagen in der Heimat, in der anderen Welt eziftiert.
Nicht diefes Komitee berichtet, fondern es Hat die Aufgabe, die Erfahrungen
der weiteren Welt gu vermitteln, es fammelt Geld; denn feine Hauptaufgabe
wird es fein, denen, die wie gu einer Expedition ausgezogen find, die Mittel
gu geben, daß fie [eben und arbeiten fünnen. Ich fage ausdrüdlich ein Komitee
und nicht ein Verein, denn ich denke mir die redtlide Gorm des Ganzen als
eine Stiftung.
104
Ebenjo wie Männer follen aud Frauen ausziehen, und am beften wird
eine männlihe Kolonie neben einer weiblichen fteben, beide zueinander in
einem geordneten Arbeitsperhältnis.
Wenn es Diefer Kolonie gelingt, Käufer mit Zimmern, Salen, Werk-
ftätten und Surnballen zu fchaffen, dann werden fie allen gefunden und tüch—
tigen Sugenddereinen, die {don beftehen, Räume für ihre Berfammlungen
und GSitungen und Unabhängigkeit bon den Wirten bieten. Solche Nieder»
lafjung muß eine Burg der fittlimden Freiheit fein und den Geift
der Ginigfeii unter allen weden, die am Werke find.
Nur dann werden wirklid intenfive Grfolge erzielt werden, wenn die
Genoſſenſchaft des engeren Kreijes febr porfichtig ift mit der Vergebung ihres
Mitgliedsredhtes. Auf jeden Gall müjfen ein oder zwei der Pioniere für
einige Sabre ihre ganze Kraft, fret bon anderer Berufsarbeit, einjegen können.
Nur wenn folde Führer, weldhe andere einführen und anweifen fönnen, bore
Banden find, wird es möglich fein, auch eine größere Anzahl junger Aka—
demifer oder Lehrer außerdem zu niiblider Tätigkeit in einzelnen Dienften
Herangugieben. Wertpoll für die Grbhaltung der geijtigen Friſche und Elaſtizi—
tät wird ein gemeinfamer Haushalt fein, wie ihn die englifdhen Settlements
Baben. Sollte einer der Führer verheiratet mit Familie in der Niederlaffung
leben, fo wird das für alle Beteiligten ſehr wertvoll fein.
Wenn die befdeidenften Mittel gum Leben da find, dann können junge
Theologen, Yuriften, Lehrer, Ingenieure fic) mehrere Jahre foldhem Werke
widmen; man wird dann auch dazu fommen, das nicht als Spielerei zu bee
zeichnen, fondern als trefflide Borbildung für den Beruf. Und
fie werden aus Handwerkern und Kaufleuten fic) wieder foldhe erziehen, die
die unentbebrliden fahmännifhen Führer und DBildner der Jugend fein
fönnen auf Spielfeld und Surnplab, im Wald und auf dem Strom. Sold
eine Kolonie muß eine Schule fünftiger Bolfsergieber und Sugendjfeelforger
fein. Wie notwendig die anregende, leitende, einigende Arbeit folder Nieder»
laffung ift, wird um fo deutlicher, je mehr wir uns vergegenwärtigen, wie wir
mit der Grgiehung der fchulentlaffenen Jugend in diefer neuen Geſchichtsepoche
in Stadt und Land nod in den erften Anfängen find. Wir haben ein wenig
die Methoden erprobt; die großen Kräfte müffen erft eingefegt werden, die
uns das gewaltige Werk vollbringen follen.
5.
Wer einige Sabre in folder Niederlaffung gearbeitet Hat, wird fpäter
in feinem Beruf mit einer ganz anderen Kenntnis des Volkslebens wirken als
bisher, der Geiftlide, der Berwaltungsbeamte, der Lehrer wie der Gelehrte.
Die diefe Schule durchgemacht haben, werden die Bolfsfrembdbeit überwunden
haben. Sie werden es auch [pater überall verftehen, den einfahen Menfden
zu bewegen, daß er vertrauenspoll feine mwirflihe Meinung fagt, und fie
werden, wenn ein Problem des Bolfslebens neu auftauchend ihnen fchwierig
erfcheint, guriidfebren können an den alten Blab, dort alte Freunde als reife
Männer wiederfinden, und ohne die unmdglide Rolle des Harun al Raſchid
gu fpielen, fragen fünnen: Nun, was fagt Ihr dazu? Und fie werden aud
felbft, wenn fie etwas Wichtiges zu jagen haben, dort die Leute finden, die
unbeitrt durch der Zeitungen automatenbaft gudringlides Geſchrei, fie an-
hören und ihnen glauben.
Die zerfplitternden Kräfte zu einmütigem Wirken gu verföhnen, bon dort,
wo die Hilfsmittel und perfinliden Kräfte reidlid vorhanden, Hilfe herbei—
105
führen, das Gefühl der Berantwortlidfeit in der Volksjugend felber weden
und bilden, und ridjidtslos im Kampfe ftehen gegen Unfittlichfeit und Un—
wahrbaftigfeit und ein Lehrer fein der rechten Volkskenntnis und Bolkspflege,
das ift Die Aufgabe der Bolfsheime, wie ich fie fordere. Freilich wird fo
Großes nur geleitet werden, wenn Männer und Frauen mit ihrer ganzen
Kraft, bon den drüdendjten, nächſten Sorgen befreit, in der Arbeit ftehen und
zwar als eine fleine, bewegliche, fefte, leiftungsfabige Organifation. Gol de
Niederlaffung foll (aud in der Art ihrer Organifation)
ein Fortſchritt fein gegenüber der alten Art der Bereine,
eine fampfgerüftete Rulturfolonie, fäbig, um fid neues
®emeinfdaftsleben gu meden und Formen fittlimer Orde
nung neu gufdaffen,inwmeldenunfer Voll weiter mandern
ftann auf den Wegen einer neuen Zeit. Walther Slaffen.
Die wirtidaftlide Antinomie.
1.
Der Gegenſatz zwiſchen Unternehmern und Arbeitern oder, wie man poine
tierend zu jagen pflegt, zwijchen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ift
techt eigentlich ein Erzeugnis des Grofbetriebs. Dieſer Gegenjag ift feelifch
gang anders geartet als der gwifdhen „Herr“ und „Geſinde“ („Wirt“ und
„Volk“) in der Landwirtichaft, ganz anders als der zwijchen „Meifter“ und
„Gejellen“ im Handwerf, gwifdhen ,Pringipal* und „Sommis“ in der bürger-
lihen Handlung, wie Goethe, Stifter, Freytag fie uns jdildern, ganz anders
aud als der zwifchen dem Staat und feinen „Beamten“. Gleichwohl jucht
man die Begriffe „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ in alle Arbeitsver«-
hältniffe jchematifierend Hineingutragen und tut fo, als ob alle Arbeit die
Dienfhen ausnahmslos in diefe beiden Klaſſen zerjpalte und alg ob da, wo
man fic deſſen „noch“ nicht bewußt ift, nur Dummbeit und Rückſtändigkeit
die Arſache fei. Aber das ift eine begrifflide Vergewaltigung der Wirklid-
feit. All die früheren Arbeitsverhältniffe, Die mit vollem Recht aud heute
nod in ihrem Bereiche gelten und gelten müffen, find entweder ſtändiſche
Gegenſätze und werden fomit als fhidjalhafte Ordnungen betrachtet, oder fie
find nichts andres als Stufen des Aufftiegs (der Einzelnen oder der
Geſchlechter). Grft wenn Induftrie und Handel fid gum Sroßbetrieb ent-
wideln, ſcheiden fi die beiden „Klafjen* (nicht Stände oder Stufen) der
Arbeitgeber und" Arbeitnehmer, und nur innerhalb des Grofbetriebs darf aljo
pon dieſem „Klafjengegenfag“ die Rede fein. Wer einen Bauernknecht oder
Sagelöhner ſchlankweg als „Arbeitnehmer“ behandelt, wer einen Beamten als
„Arbeitnehmer“ des Staates vergewerfjchaftet, Handelt unfadlid. Dieſer une
fadlide Schematismus, der die ganze Welt in dem Neb eines einzigen bee
ſchränkten Begriffes einfangen will, fommt freilid) der Bequemlichkeit des
menfdliden Gehirns wohltuend entgegen. Aber er ift die Ausgeburt jener
(jebr ſtark Durd) Marz beförderten) Iogijch-mechanifchen Geifteshaltung
(Mentalität), der fchlieglich jede Gmpfindung für die jeelijchen Gründe des
Menjchenlebens und alfo aud des wirtfdhaftliden Lebens abhanden ges
fommen ift.
Wenn wir im Folgenden von dem Gegenſatz zwifchen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern handeln, fo wollen wir nie die Tatjache aus den Augen vere
lieren, daß er auf Die Sphäre des Grofbetriebs bejchräntt ift. Nur von dtefer
106
Sphäre reden wir und lehnen jede Berallgemeinerung auf Landwirtfchaft und
SHandwerf jowie auf allen bürgerlihen Handel und Wandel als irrig ab*.
Der Kampf zwifchen den beiden „Klafjfen“ ift wieder einmal bejonders
beftig geworden. Denn als die Sozialdemofratie den Staat in nicht ge-
tingem Ausmaße budftablid „in die Hand befommen“ Hatte, fudte fie die
Wirtf haft vom Arbeitnehmer aus umguorganifieren. Gie Hatte gwar in
manden Dingen nicht den erhofften Grfolg; denn es fehlte ihren Vertretern
eine zureihhende Kenntnis der Wirklichkeit. Vieles aber ,,driidte fie Durch“,
befonders den Achtftundentag. „Das mwenigftens haben wir der Arbeiter
{Saft errungen!“ Der Einfluß der Arbeitnehmer auf die Geftaltung der Wirt-
{daft war alfo erheblicher denn je. Als aber die Sozialdemokratie gegenüber
den naturhaften Gefegen des wirt{daftliden Lebens — man denfe beijpiels-
weiſe an die faft lächerlich genaue mathematifhe Progrefjion der Marfent-
wertung, an der ein Mathematiker und Phyſiker eine rein wijjenfchaftliche
Steude haben fonnte — hilflos und ratlos daftand, gewannen die Arbeitgeber,
genau an dem Punfte, wo es fommen mußte, (und man fonnte es fommen
feben), auf breiter Gront ihre eberlegenheit zurüd. Der Adtftunden-
Arbeitstag erbebte in den Grundfeften und barft. Die großen bunten Geifene
blajen der Inflationslöhne gerplagten, es blieb nur ein fümmerliches „reales“
Reftchen Seifenfhaums. Nun tobt der Kampf um Arbeitszeit und Arbeits»
lohn. Der Kampf um den Lohn fpielt fid ab alg Kampf um den Tarifvere
trag und feine ftaatlide Stabilifierung. Was hilft bie moralifhe Entriftung
über die Arbeitgeber, daß fie die wirtſchaftlich ſchwache Lage der Arbeit-
nehmer ,ausnugen*? Vorher haben die Arbeitnehmer die ſchwierige Lage
der Arbeitgeber — ausgenust. GSelbftverftändlih. C'eſt Ia guerre. Aus
moralifher Sentimentalität fann man febr hübſch Theorien und Shfteme
fpinnen, aber man fann mit diefer „Seelenfraft* nidt die Wirklichkeit meiftern.
Nehmen wir den Klaffenfampf, wie er ift. (Wie er „fein follte*, können wir
uns in gemadlideren Zeiten ausmalen, etwa auf einer freideutfhen Woche).
Worum handelt es fic) in dem Kampf um die Arbeitszeit und den Tarif-
vertrag? In einem Kampf handelt es fid meift nicht um die Dinge, um die
anjcheinend gekämpft wird. Was Acht-, Neun-, Zehnftunden-Arbeitstag!
was behördliche Regelung des Sarifvertrags! Ueber diefe Dinge würde man
fih von Gall zu Gall einigen, weil man muffs. Was der gegenwärtigen
Rampflage ihre befondere Bedeutung gibt, ift vielmehr dies: es handelt
fih um die Gibrerftellung des Unternehmers innerhalb
der Wirtfhaft und, damit zufammenhängend, um den Ginn der
Birtfhaft überhaupt.
„Was für eine Philofophie einer wähle, hängt fonad) davon ab, was
man für ein Wenſch ift“ fagt Fichte**. Der Sag gilt nicht nur für die Philo—
fopbie, ſondern aud) für die Auffaffung, die man vom Ginn der Wirtſchaft
bat. Aller Logos wurgelt im Gthos, und eine Ideologie ift die logiſche
Grideinung eines menjhlihen Sharafters. Will man fic über den Bee
— — 1 el
* Ausgezeidnet harakterifierende Worte über den „unperfönlihen“ Gro“betrich
finde ih foeben in einem Auffat über die „Betriebsverfaffung des Hochkapitalismus“
bon dem Breslauer Profelfor Gugen Rofenftod im erften Morgenblatt der Zranf-
furter Zeitung vom 16. Februar.
F ** Sn der fog. „Erſten Einleitung in die Wiffenfdaftslehre*. 1797. Kap. 5. Gs
ift ein immer wiederfehrender Orundgedanke Fidtes.
107
halt und Wert einer Ideologie Ear werden, fo muß man fie zurüdführen auf
die Menfchenart, der fie ent{proffen ift. Wir können die wirtfchaftlichen Ideo⸗
Iogien, die uns Heute unter den Bezeichnungen „Kapitalismus“ und „Sozia—
lismus“ in hundert Abwandlungen umſchwirren, leglid auf zwei Lebens- und
Birtfhaftsideale zurüdführen und zeigen, daß diefe Ideale aus zwei
grundverfchiedenen menjdliden Sharafteren erwadjen find und immer
neu erwachſen. Eben darum find fie unaustilgbar, es fei denn, eine der beiden
Menfdenarten werde ausgetilgt. ,
Gs gibt zwei Arten von Mtenfden: fämpferifhe und friedfame. Den
einen ift Die feelifche Aktivität und damit der Szpanfionsdrang eingeboren; fie
fönnen nicht in ihrem Gein beharren, fondern müſſen immerfort werden.
Eine „Unruhe“ treibt fie zu unaufhaltfamer Tätigkeit. „Arbeit“ ift für fie nicht
eine Angelegenheit gewiffer Stunden, nicht ein unbequemes Mittel, um das
nun leider einmal nötige Gelb zu verdienen, fondern fie ift ihnen vielmehr
der felbftverftandlide und unmwillfürlihde Lebenszuftand. Arbeit ift für fie
ein inneres Muß, und gwar nit nur das Muß einer von außen ber all«
mablid eingeübten Gewohnheit, ohne die man „nicht mehr leben kann“, fondern
das Muß einer Sriebfraft vom innerften Kern des Wefens her. Sofern diefe
Menden zu wirtfchaften beginnen, werden fie alsbald zu „Unternehmern“.
Sans Luther, der Bater des großen Martin, wanderte als einfadher Bergmann
ins Mansfeldifche, feine Satfraft madte ihn bald zu einem angejehenen
Unternehmer. Für Menſchen diefer Art ift alles Leben und fomit auch das
Wirt{haftsleben ein Kampf. Wirtfchaften ift erobern. Da gibt es feine
andre Grenze als die der Kraft. Die RKampfer-Unternehmer werden die
Führer und Herren einer ezpanfiven Wirtfchaft. Sie ftellen hidfte, berrifche
Anfprüde an fic felbft und an ihre Mitarbeiter. Gin doppeltes charalteris
fiert diefe wirtfchaftlihen Führernaturen: erftens dag Freiheitsgefühl
— ihr Herrenfinn ift empfindlich gegen allen Zwang. Hemmniffe reizen ie
zum Widerfprud, rufen die Luft wad zu überwinden und zu fiegen, zu—
weilen nur um des Gieges willen. Man fann beobachten, daß fie etwas bee
fämpfen, nur weil es ihnen als Hemmung und Zwang entgegentritt, während
fie es an fic gar nicht befämpfen würden. (Der berühmte „Mangel an Klug-
beit.*) Das andre ift das Ginfamfeitsgefibl. Diefe Menfchen meiden
die Herde, fie find ,afogial* und erfdeinen daher leicht ,unfogial*. Sie ehren
den andern nur, fofern er aud ein Ginfamer, ein Freier, ein Herr ijt, wie
Goethe einen Napoleon ehrt. Gs find „abgegrenzte* Menfchen, für die es
eine pofitive Berbindung mit den andern nur auf dem Weg über die Achtung
gibt (jenes Gefühl, auf das ein Kant bezeichnenderweife ein fo hohes ethijches
Gewidt legt). Wo man ihnen nidt Achtung abgewinnt, ift feinerlei „[oziales“
Gerhaltnis zu ihnen möglid. Sie tragen — fo befdaffen, wie fie nun einmal
find — das Rififo: allein und auf fic felbft zu ftebn. „Der Starfe ift am
madtigften allein“ fagt der Wriftofrat Schiller.
Aus einer folden fampferifden, freibeitsftolzen, abgegrengten und in fid
felbft gefchloffenen Geiftesart fann fi nur eine „Raubtierwirtfchaft“ ente
wideln: der „Kapitalismus“. Die Führer diefer Wirtfchaft find „Herren“ und
wollen es bleiben. Serbridt ihr „Herrentum“, fo zerbricht diefe Wirtfchaft.
Den friedfamen Naturen hingegen ift der Wunfd nah Ruhe und Bee
bagen eingeboren. Eine Welt des Kampfes ift eine Welt finnlofer Unruhe,
ta ihr Tann die „Slüdfeligfeit des Menjchengefchlechtes“, die „allgemeine
Wohlfahrt“ nicht gedeihen, die gu befördern und zu genießen doch für fie der
Ginn des Lebens ift. Das Havtifhe Sih-abmühen und Ringen, das raftlofe
108
Sih-wandeln, das fchmerzhaft unangenehme „Werben“ follte endlih auf-
hören, eg wäre an der Seit, nunmehr „volllommen“ zu fein, das heißt: fo zu
fein, daß man niemandem mehr im Wege if. Für Menfchen diefer Art ift
die Aufgabe des Lebens und damit aud der Wirtſchaft die „Zweckmäßigkeit“,
die „Bollendung“, die ,barmonifde Ausgeftaltung*. Wirtfchaften beißt Der
allgemeinen Wohlfahrt dienen. Man empfindet es als eine Stö-
tung, fih wehren zu müfjen gegen die Eingriffe und Uebergriffe der „uner-
fättlihen“ und „barbarifhen“ Herrennaturen, die immerfort „die Kultur“ in
Gefahr bringen. Der Wirtfchaftsführer foll nicht ein auf fich felbft berubender,
alles an fid reißender „Thrann“ fein, fondern ein „Diener“ des „hoben
Ideals“ der allgemeinen Wohlfahrt. Auch diefe dem Frieden geneigten
Woblfahrtsnaturen charakterifiert ein Doppeltes: erftens dag Geredtige
feitsgefühl. Wie fommt ein Gingelner zu der Anmaßung, mehr fein
gu wollen und fi gum SHerrfcher zu erheben? Gewiß, die Natur hat ibm
befondere Gaben verliehen; aber etwa dazu, daß er fie für ſich gebraude?
Das ware „Sigennug“ und „Selbftfucht“! Nein, der Menſch hat feine Bee
gabung dazu, daß er fid „für andre opfert“. Aber das wäre unnatürlich?
Nun, wenn es nidt natürlich tft, fo ift es Doch fittlid, und das entjcheidet.
Man muß eine fol dhe Wirtidaftsordnung herftellen, in der alle Begabungen
fo „verwendet“ werden, daß fie zum griftmigliden Nuten des Gangen, das
beißt: zur Wohlfahrt aller, gufammenwirfen. Das ergibt dann die „gerechte
Ordnung“. Nicht die Herrennaturen follen Führer fein, fondern die Diener-
naturen, die nicht den eigenen Willen, fondern den Willen der Geſamtheit
pollftreden, genauer: deren Gigenwille nicht anders will als der ©efamtheits-
wille. So allein wird das fogiale Gerechtigfeitsgefühl befriedigt. Der Sinn
diefer gerechten fozialen Ordnung ift das Aufblühen der „Kultur“. Kultur
ift nicht etwa die erfämpfte Höhe des Gingelnen, fondern ein „allgemeiner
Zuftand“, den man „herbeiführen“ fann. Die Leiter des wirtfchaftlichen Le-
bens haben letten Endes die Aufgabe, die Kultur „herbeizuführen“ und „dem
Volke zu bringen“. Wirtſchaftskultur und Kulturwirtfchaft ... endlich nähern
wir uns dem vollfommenen Leben! Welch eine allgemeine Slüdjeligfeit, wenn
erft alle Menſchen ein eigenes Urteil über die Relativitätstheorie haben und
über das Wefen des Expreſſionismus Beſcheid wiffen können, wenn alle ab-
ftinent leben, bodenreformerifch fiedeln, ihre Feinde lieben und jeden Men—
{Genbruder auf Händen tragen! Gs ſchwelgt das Herz in Geligfeit. Zwei—
tens das Sidherheitsgefühl. Man wünſcht das Leben allen Bue
fälligfeiten zu entziehen und hält fich daher in der wohlumbegten Herde. Man
febnt fid nad Gemeinſchaft und möchte jeden Nebenmenſchen als „Senoffen“
anfprechen. Die, welche die Herde umfreifend wachen oder pfabdjudend porauf-
[chreiten, tun es als „Beauftragte“ der andern, nicht aus eigener Kraft und
Herrlichkeit, fondern im Namen des Bolfes, das fie beruft. Unter Diefen
Menfchen gibt es eigentlich feine führenden, fondern nur ausfühbrende
(funktionierende, daher: Funktionäre).
Aus einer ſolchen friedfamen, gerechten und auf ruhige Sicherheit be-
dachten Geiftesart fann fic nur eine „Herdenwirtfchaft“ entwideln: der „So=
zialismus“. Die Führer diefer Wirtfdaft find „Beamte“, deren Auftrag und
Cittlidfeit darin befteht, der Wohlfahrt des Ganzen zu dienen. Berfagen
die Wirtfchaftsbeamten, unterliegen fie dem „Eigennug“, fo zerbricht dieſe
Wirtſchaft.
Raubtier und witternde Herde (zuweilen furchtbar durch die tauſend Hufe)
— bas iſt die Natur. ;
109
3.
Beide Menfhenarten und beide Wirtfchaftsideale, fämpferifche und fried-
fame, fapitalijtijde und fozialiftijche, widerfprechen einander wie Feuer und
Waſſer. Gleihwohl können beide ihr Recht erweifen: fie erwadfen beide
gleich notwendig aus der menſchlichen Natur. Mögen fie fic gegenfeitig immer
von neuem wegbeweijen und „ad abjurdum führen“, mögen fie fid) moralifch
über einander entrüften und alles gebrannte Herzeleid antun, fie find nun
einmal da. Und Hegels Sat von der Vernunft alles Geienden ift nod Feines-
wegs umgeftofen, wenn „man“ die Gelbftverftändlichkeit feftftellt, daß die
meiften Dinge auf Erden höchſt unvernünftig find. Vernunft ift nit Wider-
{prudslofigteit, fondern Polaritat der Widerfprühe. Den Blick aber, der
die Enden der Unendlidfeit umfpannt, hat fein Menfchenauge. Darum find
Die Widerfprühe das Schidjal unfrer Menjchlichkeit.
Beide Arten und beide Ideale find jo notwendig wie Morgen und Abend.
Wenn die Kämpfer erobernd vorwärts dringen, fo erwacht der Mtorgenwind'
und es wird fühl ringsumber. Wenn fie ihr Werk getan haben und endlich.
die Sehnſucht nad Rube alle Welt überfommt, jo fenkt fid die Dämmerung
herab und der milde Abend naht. So wird aus Morgen und Abend immer
pon neuem ein Tag.
Gs fönnen weder die Bäume der fapitaliftifchen noch die ber fozialiftifchen
Wirtfhaftsordnung in den Himmel wadfen, fondern ein jeglicher Trieb und
Wille hat feine Beit. Ift die Wirtfchaftskraft und -Tüchtigfeit eines Volkes
reif gum Aufbredhen, zur Gzpanfion, fo bricht fie auf, fie jprengt mit Nature
gewalt die alten Organifationen (Zünfte, Städteverfaffungen) und fendet ihre
Schiffe und Güterzüge um den Grdball (Weltwirtfchaft). Die Führer geben
neue Wege und „erjchliegen“ immer neue ,@ebiete*. Endlich find alle mit
den derzeitigen Mitteln erfchließbaren Gebiete erfchloffen, und es handelt fid
nur mehr um bas „Ausbeuten“. Nun braudt der Wirtfhaftsorganismus
Ordnung und Rube. Darum wadft mit Naturnotwendigfeit eine Wirtfchafts-
organtfation heran, deren „Sührer“, da es nichts mehr zu erobern, fondern
nur nod zu ordnen und leiten gibt, ihrem Wefen nah Beamte find. Beide
Tendenzen, die fapitaliftifche wie die fozialiftifche, find allegeit neben eine
ander da. Sede allein, bis zum Aeuferften getrieben, würde die Wirtfchaft
zerftören: die eine würde fic in hemmungslofem Kampf verzehren, die andre
würde in Bequemlichkeit und Enge verrotten. Darum wedfelt Frühling und
Herbft aud im Wirtfchaftsleben. Sowohl das reale Wirtſchaftsleben wie der
geiftige Kampf der Theorien ift die körperliche und geiftige „Erſcheinung“
jenes volksbiologiſchen Aus- und Ginatmens.
Stellen wir nun alfo die Frage: weldhe Wirtfehaftsform ift die „befte* für
die Nation?, fo können wir nur antworten: eine abfolut befte gibt es nicht,
weil eben die Natur ein Werden und nicht ein beharrendes Gein ift. Kampf
und Frieden, Unruhe und Rube, Kapitalismus und Sozialismus, beide find
zu ihrer Zeit und an ihren Orten notwendig. Die nationale Aufgabe ift: die
geit* zu begreifen und zu ergreifen.
Wenn die Aefte eines Baumes abgefdlagen find, fo geht er entiweder aus
mangelnder Lebenstraft an feinen Wunden ein oder er treibt neue Zweige
aus den Wunden. Gs fommt darauf an, ob der Baum lebenszäh und regene-
rationstraftig if. Wenn ein Bolt zu Boden gefdlagen und feine Wirtjchaft
* Der Hellene würde fagen: den fairos, d. h. den Augenblid, da eine Situation
berangereift, da „die Zeit erfüllt“ ift. Wir haben fein Wort, das den Ginn des
fairos wiedergäbe.
110
gerftdrt ift, fo fiecht es entweder in pagififtifcher Stimmung matt und ergeben
dahin, oder es beginnt, emfig wie die Ameifen den zerftörten Wohnhügel,
die Wirtfhaft „wiederaufzubauen“. Nicht etwa fo, daß es am grünen Tiſch
ein logiſch ſauber erflügeltes beftes Syſtem in Gedanken „aufbaut“ und dann
die Wirtfchaftenden anweift, das Programm „durchzuführen“ — es ift eine
grotesfe Berfennung des Lebens, wenn man meint, man fönnte Grfinden und
Ausführen, Denken und Sun trennen; eine Idee fann nur der durdfiihren,
der fie gehabt Hat; wer feine Ideen bat, foll beileibe nicht verfuden, Ideen
„durchzuführen“. Eine „neue Wirtfchaft“ entſteht nur fo, daß Wirtfchaftsgewaltige
erobernd auftreten. Die deutſche Wirtfchaft (und damit aller Sozialismus, der
in ibt möglich ift) verfommt, wenn wir nicht die Kraft zum Kampf aufbringen,
genauer gefproden: wenn im deutſchen Bolf nicht mehr Kämpfer-ilnter--
nehmer erwadjen, fondern wenn die Unternehmerfchaft in lauter Kartellen
und Syndikaten fic verbeamtet; wenn wir nicht mehr freie „Herren“, fondern
nur nod „Direktoren“ haben. Dies ift heute die nationale Aufgabe unjrer
Volkswirtſchaft: Daf wir wieder einen genügenden Anteil an der Weltwirt-
ſchaft an uns reißen. Können wir nicht Landgebiete erobern (was uns bitter
not zur DBollseziftenz ift, feit man uns den Often geraubt), fo müffen wir
wenigftens Wbfaggebiete erobern. Wie anders follen wir denn leben?
Darum werden wir einer ,fapitaliftijden Gpoche* entgegengehen oder
der volfswirtjchaftlihen Berfiimmerung. Nicht eine Theorie, fondern unfer
Schickſal muß für unfern Willen entfcheidend fein. Die Kämpfe, die um
Arbeitszeit und Tarifvertrag eingejegt haben, find das Zeichen, daß der
Kampfeswille fid regt und daß der alte Stamm neue Säfte treibt Kampf
ift Das Zeichen des Lebens.
4. :
Die Srfenntnis der Wahrheit befteht nicht darin, daß man einen abftraften
„Begriff“ „entwidelt“, fondern darin, daß man die Wirklichkeit durchſchaut.
Das Durchſchauen der Dinge macht gelafjen und überlegen. Das ift die prak—
tifde Bedeutung der Grienntnis. Was folgt nun aus unfrer Grfenntnis von
ben feelifhen Untergründen der Wirtſchaft?
Gir die Arbeitgeber, die der deutſchen Volkswirtſchaft wieder ihr
Gebiet zu erfämpfen haben, folgt daraus:
Erftens: Die Tendenz nad) fogialer Gerechtigkeit und die WAnfdauung,
daß alles Wirtfchaften ein „Dienft“ fei, bat ihr Recht aud im Rahmen der
Rampf-Unjdauung. Man muß diefe Tendenz verftehen, um nidt die
Kräfte an unredter Stelle zu ermüden. Gs gibt nod immer Unternehmer,
die fid mit der Tatſache der Gewerkſchaften und all dem, was daraus folgt
(Streit ufw.) nicht abzufinden vermögen und fid mit den Organifationen der
Arbeitnehmer auch da herumfchlagen, wo es im Rahmen des Ganzen nicht
nötig wäre. Für den Unternehmer aber fommt es (im Wefen, wir fpreden
bier nicht von der einzelnen Situation) nur darauf an, das ezpanfibe und
fämpferifhe Prinzip, die unternehmerhafte Auffaffung vom Wirtjchaften und
pon der Wirtfchaftsführung in Geltung zu erhalten und alle Kraft für dag
„nach außen gerichtete“ polfswirtfchaftlide Kampf-Unternehmen zu fammeln.
Im übrigen aber ift es nicht nur „ungefährlich“, fondern fogar lebensnot—
wendig, die andere Tendenz zu befriedigen; denn die Befriedigung fogialer
DBedürfniffe ift genau fo eine Borbedingung der wirtfchaftlihen Kampffraft,
wie die oneiata Hetoima profeimena* und ein tüdhtiger Schlaf die Borbedin-
* Sobann Heinrid Voß überſetzt das als „leder bereitetes Mahl“.
gungen für die Taten der homeriſchen Helden vor Ilion find. Odyſſeus —
polytropos und polbmetis, wie er ift — bält fic) nicht für zu beroifch, um
aud für diefe Dinge Sorge zu tragen.
Sweitens: Unter den Raubtieren gibt es nicht nur edle Löwen, Hodflies
gende Adler und grimmig-gutmütige Bären, fondern auch übelriehende Scha—
fale und fable alte Aasgeier. Die Unternehmer find nicht alle nur edle,
tapfere Kämpfer, es gibt auch Leichenfledderer unter ihnen, die in der Dame
merung undurchſchaubarer Börfenfpefulationen ihr einträgliches Gewerbe
treiben. Gs fommt auf die Art des Unternehmers an. Die heutige Lage
verdanken wir nicht unwefentlid) der Tatfadhe, daß die anftändigen Anter—
nehmer der unanftändigen nicht Herr werden fonnten. Die Selbftreinigung der
Anternehmerklafje ift eine Aufgabe von entjcheidender Bedeutung.
Drittens: Aud in der Arbeitnehmerfchaft werden immerfort Herren-
naturen geboren, die vorwärts wollen. In einer Wirtfchaft, in der fie nicht
porwärts fommen Tönnen, werden fie zu einem Glement der Unruhe und
Störung. Gerade in ihnen wandelt fid der edle Wille, voranzufommen, in
vergiftetes Rejfentiment, das die ganze Umgebung zerjegt. (Man beobadite,
wie unter der Arbeiterfchaft mit altem germanifchen Dlute, fo in großen
Zeilen der hamburgiſchen Arbeiterfchaft, das Reſſentiment eine befonders
große Rolle fpielt. Gs tft die geftaute, verlegte Kraft, die feine Bahn finden
fann. Gs ift die Unmöglichkeit, den GFreibeitstrieh und SHerrenwillen, der
fi gefühlsmäßig in ihnen regt, in irgend einer Weife zur Geltung zu bringen.)
Das Wirtichaftsleben muß daher in folder Beweglichkeit und Flüffigfeit ge-
gehalten werden, daß fich möglichft viele Aufftiegsmöglichkeiten auftun. Dann
febrt fic) die Drangende Kraft nad) „außen“, ftatt gegen „innen“. Gs gehört
ja zur charakteriſtiſchen Srjdeinung des amerikaniſchen Wirtjchaftslebens in
feiner ezpanfiven Epoche, daß man dort dem Willen gum Aufftieg menſchlich
ftart entgegenfam. (Man führt diefe Stimmung des „Wohlwollens“ fälfchlich
auf „Demofratie* zurüd, ihre Gründe liegen, fomeit es fic nidt einfach um
die angelſächſiſche Lebensklugheit handelt, tiefer.) Bei uns mißgönnt häufig
der, der's erreicht hat, Dem, der auch etwas erreichen will, den Aufftieg. Das
Wort „er hat's erreicht“ wird faum noch mit Achtung, meift mit Ironie aus-
aefproden. Das mürriſche Zurüditoßen fommt allguoft bet uns vor. Menjch-
lihe Seilnahme aber für den, der ringt und Tämpft, ift ein Zeichen innerer
Sreibeit. Worauf beruhte die Machtſtellung der alten Wikingerkönige?
Darauf, daß fie möglichſt viele bedeutende Krieger in ihr Gefolge zogen, daß
fie fie in freier und zugleih verantwortlicher Gtellung hielten, daß
fie die befonderen Leiftungen bejonders Iohnten und damit die Wagefreudigen
ermutigten. Diefes „Königlihe* und „Freie“ in einem Unternehmer verleiht
der ganzen Wirtſchaft etwas Königlihes und Freies. Das Befte, Das ein
Unternehmer für die Bolkswirtfchaft leiften Tann, ift, daß er die fampfe-
tidtigen und vorwärtsdrängenden Kräfte frei und verantwortlid
ma dt.
Gir die Arbeitnehmer, welde die große Schar ber Ausführenden
bilden, folgt aus unfrer Anſchauung gleichfalls ein Dreifaches.
Grftens: Sie müſſen die Notwendigkeit des wirtfhaftlihen Kampfes der
Nationen anerfennen und miiffen begreifen, daß im deutfchen Bolfe jet alles
auf eine Ezpanfion unferer Wirtfchaft anfommt. Gs ift nicht die Zeit fogialer
Theorien, fondern nationaler Arbeit. Gs ift nicht die Zeit der Beamten,
fondern der Kämpfer.
Zweitens: Wud unter den „Sunftionären“ der Arbeitnehmerfchaft gibt es
112
edle und unedle, Kriegernaturen und Gdiebernaturen, Leute mit bellem,
freiem Blid und Leute mit verquerem, feigem, Dinterhältigem Blid. Gs gilt,
nicht aufs Maul, fondern auf den Mann zu feben. Cine méannlid-ent-
ſchloſſene Selbftreinigung allein vermag in den Gewerkſchaften jenen freien,
frifhen Geift zu erhalten, der feine Berrottung auffommen läßt.
Drittens: Die Arbeitnehmerſchaft follte fic) weniger der moralifchen Ent-
rüftung Dingeben — „Entrüſtung“ ift immer bas Zeichen der Schwäche,
darum findet der Entrüftungsredner mit Sicherheit den lauten Beifall der
Bielen — fie follte ftatt dejjen fic felbft erfämpfen, was fie fich erfämpfen
fann. Es ift ein Irrtum, wenn man glaubt, der Staat könne eine „gerechtere“
Wirtfhaftsordnung „einführen“ Der Staat wird fic) einer folden Aufgabe
gegenüber ftets als impotent erweijen. Gine „eingeführte* Gerechtigkeit ift
nichts, aber ein erfämpftes Recht, das ift etwas. Beffer als bequem aus dem
Winkel her auf die „Herren“ zu fchelten, ift es, felbjt Herr zu werden. Warum
ſchafft fid die Arbeitnehmerfchaft als folde nit Wege des mwirtjchaftlihen
Aufftiegs? Statt eine {dine fozialiftifhe Wirtfhaftsordnung in Begriffen
auszufpinnen, follte man — fic) fampfend an der Volkswirtſchaft beteiligen.
Warum follten die Arbeitnehmer nidt aud Mitbefiter des Kapitals
werden und durd das Kapital mitbeftimmend werden finnen? Gs fommt
darauf an, foviel Kapital wie möglich zu erobern und in geeigneter Weije in
die Wirtfchaft zu bringen. Befit Hat, wer Befig erwirbt, nicht, wer fid
Binftellt und deflamiert: Eigentum ift Diebftahl. Die folidarifch gefdloffene
Arbeitnehmerfchaft fann Beſitz erwerben, und von Hier aus fann eine innere
Umbandlung der Wirtfehaft erfolgen, indem nun die Arbeitnehmer felbft zu
Zeilhabern der Wirtfchaft und damit gu Mitfämpfern werden. Nidt
daß jeder feine nad dem Prinzip der Gleichheit abgezirfelte republifanifche
Rube und fein ihm „gerechterweife* zulommendes Stüd „Kultur“ Hat, ift das
hddfte Biel, fondern daß er ein Mitlämpfer werde für eine wadfende deutjche
Volkswirtſchaft. Hier ift der Weg — nicht für eine, aus reiner theoretifcher
DBernunft zu findende und „einzuführende* Löfung der mwirtfchaftlihen Anti»
nomie von Kampf und Geredtigfeit, fondern für eine praktiſche Löſung aus
der praftifhen Bernunft heraus. St.
Erlejenes
Aus Hanns Johſts Werfen.*
Aus dem „König“.
König
DD. fommft ungelegen! Ich erwarte den Hof.
Königin-Mutter
Gr ift abgejagt!
König
Du wagteft ...?
KinigineMutter
Gs geht um die Krone!
* Die Bücher find bei Albert Langen in Münden erfdienen.
113
König
Ic trage fie!
Königin- Mutter
Das Bolf ijt aufgewühlt bon deinen närrifchen Streihen... Der Hof in
erregtejter Oppofition! Ich bin berufen, das Aeußerfte zu tun, wenn du nicht
unverzüglich meine Bedingungen erfiillft! Deine Willfür entwurgelt Bere
trauen und Treue. ... Miniſter, Stände, Hof und Bürgertum fordern, daß du
alles Ungewohnte abftellft. Daß du das Geſetz erfüllft, in defjen Grenzen
dein? Macht unbeftritten fein foll.
König
Gut, daß du mir das alles unter uns fagteft; denn ſonſt — was Hilfe es,
daß ich dabei den Sohn in mir erwürgte ... id müßte dich als Meuterer bee
bandeln. Dieſe Konfpiration hinter meinem Rüden, Haften, wird unterfudt.
Die Leute, die Dic, Matter, irre führten, ftreng beftraft!
Königin» Mutter
Du mifoerftebft die Stunde. Ich bin Erbe meines Gemabls! Ih ftebe
unverrüdbar im Geſetz. ... Ich bin das Geſetz!
König
Ih fude den Weg zu geben, Mutter, der dich ſchont. — jedoch
in Gefahr pad’ id den Nädjften. Statuiere ein Geempel .
Königin-Wutter
Bedente, wie leicht fid gwifden uns, was du da fagft, gegen dich wendet.
Wir ftehen gegeneinander!
dnig
3d glaube es nicht!
Königin-Wutter
@laube!
König
Das Aeußerftel?
Königin-Wutter
Fügſt du dich nicht, zerbricht dein Königtum in meiner Hand.
König
Serbridt mein Königtum ...? (auernd.)
Königin-Wutter
Gin Wort bon mir und du bift frank!
König
(ſchreiend) Ich Habe geglaubt, diefe Welt fei menfdlid. ... Sie fdnne
quälen, martern, verachten und überjehen ... id — nicht, daß ſie ſo feig
fet. ... Zu langem Zweifel läßt du mir nicht Seit . . Oft alles dies Dein
Grnft?
Königin-Wutter
Wille des Geſetzes, dem ich diene!
König
(gedudt) Schwörel
Königin-Wutter
Ih ſchwöre!
König
(tafend) Diefer Schwur entfeffelt mid wie Did! Bloß aller Natur gebt
es um nadte Macht! Entmündigen den Mund, ber euch nicht paßt. Das
Saupt der Rebellion, die Mutter! Haltung! König! Jede Grregung vere
doppelt ihr Recht! Gs gibt Worte, Wahnfinnige, die gefährlicher find wie
114
MeuGelmbrder! ... Haften! (Kalt) Diefe Frau ift fchuldig des Aufruhrs
wider den König! Führen Sie fie ab! ... (Paufe) Ungehorfam? (Sieht die
Piftole.)
Haften
Die Menjchlichkeit, mein König!
König
Schuldig des Aufruhrs wider den König!
Königin- Mutter
(feierlih) Wer mich berührt, ift des Todes! Wenn dir mein Auge die
Waffe nidt aus der Hand fchlägt, ift es wert, daß es erlifcht!
König
Diejes Auge! (Sich felbft überbrüllend) Und dennod! Schuldig des Auf-
ruhrs wider den König! Sehorfam! (Zu Haften) Ich ſchieße Sie über den
Haufen wie einen tollen Hund! (Oberbofzeremonienmeifter hat bon hinten dem
König die Piftole entrijfen.) Berrat!
Königin-Wutter
Füge did dem Geſetz, das wieder über dir!
König
Bon wem? Gibt es ein Geſetz für Meineidige?
Königin-Mutter
Doktor! Sie begleiten den König!
König
Doktor! Deuten Sie mir das alles! Wo ift Wahnfinn? Ihre Diagnofe
will id hinnehmen wie ein Delinquent.
Melior
Die Königin tft im Recht.
König
Sind Sie Surift? ... Bin ich irrfinnig?
Melior
Nein!
König
Dann ift diejes Zimmer voll Rebellen. ... Dann tft diefe Frau, in deren
Augen id einjhlief wie in einer Wiege, hundsgemeine Meuterei?
Doktor
Nein!
König
Nein, Nein!? Ift die Wiffenfdaft zur Mebe geworden für Gewalt und
Madt?... Mir ift die Welt auseinandergegangen! Doktor, fönnen Sie Adern
näben? Gie befommen Arbeit. ... Ih muß durch mich durch. ... Zu mir!
gu mir! Und wenn es das Herz foftet! Wie diefe Augen gefräßig find...
Aasgeier! (Reift feinen Rod auf.) Hier Leber und Herz! Nur das Bwerd-
fell ſchont, fonft lace id) mid zu Tode!
Königin-Mutter
Doktor! Sehen Sie!
König <
(freuzt feine Hände im Gelenf und verbeugt fic.) Willft du mir Die
Hände binden laffen? (Kniet vor der Königin-Mutter dazu bin.)
Königin-Mutter
Du marterft mid! (Boll tieffter Liebe) Du!
(Die Szene erlifcht, dann Borbang.)
115
Aus dem „Kreuziveg“.
n der Zeit aber geſchah diefe Nadt:
Der Chef ließ ihn rufen.
Während der Doktor durch die Gange nad deſſen Privatwohnung ging,
polterten elf Schläge der Hausubr vom Dadftubl.
Der Medizinalrat faß an einem runden Tifd.
Se links und rechts por ihm brannte eine offene Kerze.
Gr mußte ohne Bewegung und Atem fein, jo fteif und gläfern ftanden die
fpigen Slammen auf dem weißen Wadsleib, den fie verzebrten.
Zwiſchen den Kerzen Hodten drei weitbaudige, verftaubte Flaſchen Bure
gunder. :
On einer flachen Schale vermählte jich wie auf blauem Blute der Schimmer
der Kerzen und die vereinzelten Züge des darüber gebeugten Gefidtes.
Lidt und Abbild liefen ineinander über — ein magijches Geflecht von
Schemen und Wefen.
Die Schale atmete füßen Wohlgeruch fremdländifcher, heifer Weinberge.
Der Chef Hob fein Geſicht, ſchwer und brüdig, rot und vderwittert wie
Porpbor.
Gin Stuhl ftand ibm gegenüber und ein volles Glas.
„Setzen Sie fic!“ Seine Stimme verneigte fid. „Auf was trinfen wir?“
raufdte fein Atem.
Gr hob fein Glas gegen das Lidt. .....
Gin Lächeln verfdeudte die Berwefung aus den Zügen des Mediginal-
rates.
„Mein letter Wein, Kollege!“ Die Hände umſchloſſen achtſam die Föft-
lide Schale.
Ein Schweigen ftieg bom Tiſch auf, breitete die Flügel und füllte das
ganze Zimmer.
„Wie heiße ih?“ fragte der Chef.
Sein Gefidht wuchs por Erwartung.
Der Doktor wurde verlegen. Seine LUnterlippe verbarg fid.
„Berzeihen Sie, Herr Medizinalrat ...“ fagte er leife.
Eine Hand {dob fid ihm über den Tiſch entgegen, offen und erjchüttert.
„Ih danke Ihnen!“ fam es aus dem Schatten ‚herüber.
Der Chef Hatte fid in die Lehne feines Stubles fallen laſſen. Gr
atmete tief.
Die Kerzen twebten hin und ber.
„Mein Herzenswunſch war — mich in diefem Leben aufzulöjfen zu namen-
Iofem Beruf ... Herr Mtediginalrat! ...* — er foftete das Wort im Munde
wie Burgunder. — „Es war einmal, daß ich mid davor fürdhtetel ... Seltfam
— jebt ift diefe Furcht einziger Gewinn und Befriedigung!“ Dann fuhr er fort:
„Ih habe Sie der Direftion des Bergwerks vorgejchlagen als meinen Nade
folger. ... Ih will nichts vergewaltigen ... aber ich ſehe Sie unterwegs zu
ähnlichem Biel ...“
Gr hob die Worte wie bon einem Strande auf, an die fie eine verhaltene
See fpülte.
„Und nun fdenfen Sie mir die letzte Diagnofe, Kollege!“
Der Doktor ſah auf. Gr ftraffte fein Geficht mit gutem Willen.
„Ölauben Sie an Gott?“
Oab, unbdermittelt ftand die Frage zwifchen beiden.
116
Bin ih Menſch, Mitmenfsh? Bin ih Arzt, Geelforger? wedfelten wie
gebebte Rebe Fragen im Doftor.
„Die Wabhrheit!* forderte der Chef.
Seine Stimme legte fi um das Herz des Doftors wie eine Zange.
„sch glaube!“ fagte der Doftor.
„An Gott?“ fragte der Chef.
„sch glaube an @ott!“
Das Wort war ausgefproden. Gs ftand nadt, keuſch und wie Helligkeit
im Raum.
Da erhob fich wortlos, feierlich der Medizinalrat bom Sik. Er ftand mit
gewölbter Bruft, voller bewußter Berantwortung wie in einem großen Audi»
torium. :
nou Ehren des Glaubens!“ fagte er.
Die Lider fanfen ihm über die Anbetung feiner Augen, er taumelte in den
Stuhl zurüd.
nod) ftebe tief in Ihrer Schuld, mein Freund!“ Iehnte er jede Hilfe ab.
„Meine Zeit bat mich zum Atheiften werden laſſen,“ erklärte er fpäter, „alles
Geſchehen ift für mid Alchemiften — Chemie. Gs ging nicht alles auf. ...
Aber fenile Konvertiten peradte id. Ich Habe die Arbeit, die Pflicht ein
wenig metaphdfijdh genommen und meinem Materialismus fo aus dem
Sröbften geholfen ... Gs läßt fic aus einer Moral aber fein Glauben ge=
winnen — nur aus dem Glauben eine Moral! ... Wie bin id frob, daß die
Jugend mit erneuten Vorzeichen beginnt. ... Lieber eine törichte Religion,
als eine rechthaberiſche Weisheit ...“
Der Doltor fah, wie das Gefidt des Medizinalrats zerfiel.
Gr wollte auffpringen.
„Aber Kollegel* berubigte der Sterbende, „Sie wiſſen dod Befdeid. ...
Unfereiner gebt auf, wie ein Rechenezempel in der ABE-Scdule...“
Bitterfeit bedrohte den geöffneten Mund, aber eine unverrüdbare Ent-
ſchloſſenheit verſcheuchte diefe Gefabr.
Gein Geſicht öffnete fic) einem Lächeln.
Gr nahm den Puls feiner Rechten in die linfe Hand, er nidte dem Doktor
bedeutfam gu und murmelte die Zahl der Schläge.
Plöglih war es dem Doktor, als ob die Uhr ftehengeblieben fei. Grauen
[hlug mit bebaarter, fchweißiger Tate in feinen Naden. Sein Kopf dudte
jih zwiſchen den Schultern.
Seine Hände umflammerten die Zifchplatte, wie eine Gurgel, die fie ere
droffeln mußten, Damit es nicht finnlos auffchrie.
Ihm gegenüber faf ein Toter.
Die Wände hingen wie Tücher um feinen Leib, bebten, flatterten, ente
büllten ein fchimmerndes Gerippe. ...
Kleine Beiträge
Die heilige Familie.
Das vierte Sebot.
1
Wi alle tun eines Sages den Giin-
denfall und vertreiben uns felbft
aus dem Paradies der Kindheit. Wir
alle erwaden einmal zu uns felbft — zu
dem Gelbft, das fidh Ioslöft aus dem
miitterliden Boden des Lebens, aus dem
unfer Leben aufging. Und der Gtreit
gegen das Leben aus ſelbſtiſchem Lebens-
willen bebt an; der Kampf des Lebens
gegen fid felbft.
112
Aber wenn wir fo erwaden, finden
wir uns fdon in einem heiligen Kreis.
Sualeid mit dem Giindenfall hebt die
Bildung an zum Meberunshinaus, zur
Grfabrung eines übergreifenden, gemein-
famen Lebens, eines beiligen Lebens,
das uns mit unferem Gelbft aufhbebt und
zugleih befreit. Wir werden hineinge-
boren in die Gamilie, in einen Bezirf,
wo das Geheimnis unferes Urfprungs
in der Liebe und Treue von Bater und
Mutter als eine höhere Ginheit fid dem
ebrfiirdtigen DBlid offenbart. Sn der
Samilie wird die Liebe als Argrund
unſeres Dafeins, unferes Gelbft erlebt
und ihm der Weg gewiefen zur Grlöfung
aus der Serfpaltung des Lebens, der
Weg zur Heimkehr.
So ift die Zamiliengemeinfhaft der
Anfang alles Semeinjdaftslebens und
alfo alles fittlid-geiftigen, alles ,menfd-
lihen“ Lebens, aller Gefdidte. In der
Samiliengemeinfdaft und ihrer Anfor-
derung an alle ihre Glieder erhebt fid
der Menih über das bloß natürliche
Dafein. Die Familie ift der wunderbare
Uebergang bon der Natur zum Geift.
Sie offenbart, wie die Natur auf den
©eift angelegt ift. Die Kinder der Fa—
milie find nicht bloß „natürlihe“ Nad-
fommen. Gie haben an der She von
Gater und Mutter ihren fittliden LMr-
fprung.
Darum ift für jedes echte und ur—
fprünglide Gefühl die Familiengemein-
{Haft ein Heiligtum. Der Herd des Hau-
ſes ift Altar, Der Bater ift Priefter der
Oottheit, (heute „überläßt“ man der Frau
die „religiöfe Grgiehung* der Kinder!),
die gemeinfame Mahlzeit gebeiligtes
Mahl, Opfermabl. Wer an ihr teil-
nimmt, fteht unter dem Schub der Sott-
beit, die über dem Haufe waltet.
Sn der GBerehrung der Ahnen, die ja
für mande Völker der wefentlide Aus-
drud der Frömmigkeit ift, ſpricht fid die
tiefe Ahnung aus, daß zunädft und gue
erft in den Gltern fi Gott offenbart.
Die Eltern find Stellvertreter Gottes. .
Jeſus weiß für Gott feinen höheren Mae
men als den Daternamen, und das
ſchönſte Bild der göttlihen Liebe ift feine
Erzählung von dem Pater, der feinen
verlorenen Sohn in die Arme fließt.
Sind wir uns der tiefen Gerantwor-
tung, der heiligen Aufgabe bewußt, die
damit gegeben ift? Gltern erfüllen ihren
Elternberuf nur, wenn fie in ihrer Gin-
beit das wahre Leben offenbaren, das
Leben, das aus Glauben und Lieben
immer neu geboren wird. Damit werden
fie allen Grgziehungsaufgaben in Ginem
geredt. Nidt mas Eltern fagen und
ihren Kindern beibringen, was fie find
118
und miteinander leben, das ift für Kin-
der das unverlierbare Erbe, der Schatz,
den ein Menfdh nur im Elternhaus emp»
fangen fann und der ihm eine Wegzeh-
tung für fein ganzes Leben bleibt.
2.
Gs ift ein fiheres Seiden innerfter
Grfranfung eines Volkes, wenn, wie wir
es jebt erleben müjfen, das §amilien-
leben in Frage geftellt wird. Die Auf
löfung der Familie trifft das Leben
eines VBolfes an der Wurzel und muß
es fchließlih zerftören. In der Familie
wächſt die Zukunft eines Bolfes. In ihr
wird über Des Bolfes Leben und Tod
ent{dieden.
gerreißt die Spannung der Oenera—
tionen den Sufammenbang der Fami-
lien, fo gefährdet eine ſolche Krifis das
Ganze. Die Bugendbewegung ift aud
eine Kranfheitseriheinung. Das ift nicht
alg Gorwurf gegen die Jugend gemeint.
Die Sugendbewegung ift nur ein Aus-
drud dafür, daß die bindende und bil-
dende Kraft des Lebens gefehlt bat, die
Bäter und Söhne zujammenfhließt und
fie in ein gemeinfames Wahstum hin—
einftellt. Binden fann nur, wer felbft
gebunden ift. Ehrfurcht fann nur weden,
wer felbft Ehrfurcht hat. Liebe fann
nur twadrufen, wer felbft um bas Gee
beimnis der Liebe weif, der frommen
Liebe, die im Du das Heiligtum ehrt.
Gine Familie zerfällt, wo nicht das Bere
haltnis bon Vater und Mutter, von
Eltern und Rindern auf der Hingabe
berubt, auf dem Gehorſam gegen Ihn,
aus dem alles Leben fließt.
Die ift das Gefdledht dod fo fraft-
los und ſchwach, das nidt in der Fa—
milie, in Stille und Frieden dieſes bei-
ligen Bezirks aufwadft. G3 treibt balt-
los und ridtungslo3, fortgeriffen von
der Laune der Stunde und den Mei
nungen der Maffen und des Marftes.
Sein Lebensihiff ift ohne Anfer und
ohne Hafen. Wie foll das Geheimnis
des Lebens fid dem Menfden erjdlies
fen, Der nie „zu Haufe“ war!
Gin Bolf mit Menjden, die feine
Burzeln treiben durften im Boden der
Samilie, löft fid auf und ftirbt. An
Stelle des frudtbaren edten Zufammen-
bangs mit Gltern und Ahnen, an Stelle
der bildenden Kraft dauernder Werte
tritt das Bedürfnis des Sages, der Gee
nufwille des einzelnen, Iosgelöften Men-
fhenatoms, das ohne Ziel lebt, weil ed
ohne Grbe blieb und darum ohne Bere
antwortung ift. Die Gejhichte wird leer,
bloße Beit, ohne organiihes, wadstiime
lihes ©ejhehen. Das Geld, die Dinge
und Mittel werden ihre Herriher.
Auf Sriebfand fann fidh fein Bau er»
heben. Gin Staat lebt nur, wenn er fi
im Gewiffen feiner Bürger gründen
fann. Golde Autorität madft in der
Zudt und Treue des Familienlebens.
„&3 ift feine Obrigfeit ohne bon Gott,“
{Oreibt Paulus. Das ift ein Wort, das
heute feine Zuftimmung findet, weil fein
Grnft und feine Wahrheit fih ſchon dem
Kinde offenbaren muß, das einen Vater
bat, dem es mit Ehrfurdt begegnet. Gee
borfam gegen Gott ftreiht nicht den
Sehorfam gegen Gater und Mutter und
gegen die Obrigfeit, fondern bejaht und
erfüllt ibn.
Das vierte Gebot fließt mit den
Worten: „auf daß es dir wohl gebe
und du lange lebeft auf Erden.“ Belohnt
@ott die Kindegsliebe? Gottes Lohn und
®ottes Strafe fommt nidt bon außen.
Gie wohnen im Innern des Lebens felbft.
Gie find Ae Geſetz. Lohn und Strafe
find Leben und Sod, Zukunft und Ende,
die mit unerbittlider Solgeridtigfeit die
Antwort geben auf den Gehorſam und
auf die Beradtung der urjprüngliden
Lebensordnungen.
3.
Mnferer Zeit war es vorbehalten, die
Ablöjung der Familie durdh Lebens-
formen gu fordern, die angeblid eine
beffere „Sraiehbung“ zu fogialer Oeſin—
nung, zu ©emeinjhaftswillen verbürgen
follen. Die Kinder follen, in Horten ge
fammelt, von der Allgemeinheit erzogen
werden, die Gltern aber, insbefondere
die Mütter, dadurch für die Anteilnahme
am fulturellen und geiftigen Leben der
©efamtheit frei gemadt werden. Damit
wird alfo ein trauriger Kranfheitszuftand
zur Norm erhoben und eine verfehlte
Entwidlung, die unfer Leben an feinen
innerften Wurzeln gefährdet, in ihrer
Ridtung anerfannt. Angefiht3 folder
Sorderungen follte um fo ftärfer die Bee
finnung einjegen: Wir alle müffen prü»
fen, wo in ung die Feblentwidlung ein-
feben fonnte, die jolde Folgen zeitigen
fonnte; die unfere Madden und Frauen
in die Oeffentlidfeit trieb und unfer Bolt
der Heimat beraubte.
Was fann geihehen, um gegen die
das Familienleben mordende Gorm unje-
ter großftädtiihen Giedelung anzufämp-
fen? Was fann gefdeben troß aller
Wohnungsnot? Ihr Arditelten, Städter
baumeifter und vorab ihr Politifer, bier
ift eine dringlihfte Aufgabe, von deren
Ldfung Gedeih und Berderb unferes Bol-
kes abhängt: Ihr Shriftenmenfden, diefe
Stage follte Gud nidt ruben lajjen und
Ihr dürft nicht müde werden, bis bier
der Weg zur Rettung eingefchlagen wird.
4.
Wir fennen alle die Gefdhidte vom
verlorenen Sohn. G23 ift eigentlid die
®efdhidte von einem, der fein Baterhaus
verliert, um e3 redt zu finden und von
einem anderen, der es nicht verliert,
weil er es nie befeffen bat. Der ältere
Bruder ift bloß von Natur das Kind
des Haufes. Gr hat nie das innere Grbe
des Gaterhaujes empfangen. Der jüngere
Bruder aber nimmt dies innere Erbe mit
in die Fremde. Da läßt es ihn nicht los,
und alg der Rauſch einer falfhen Freie
beit vertobt, da bridt dies innere Grbe
aus dem tiefen Lebensgrund auf. Darum
allein gibt e3 aud für ihn ein Wieder-
finden, gibt e8 eine Grneuerung und Hei-
lung. Auf dem Wege zu folder Gre
neuerung fann freilih gerade das andere
Wort gelten, das immer zur Grgänzung
des vierten Gebotes ausgefproden wer-
den muß: „Man foll Gott mehr ge
borden denn den Menſchen.“ Lind viel»
leiht fteht der befte Zeil eines jungen
Geſchlechts, der Zeil, auf den eS an«
fommt, beute unter diefem Wort. Wir
müffen heute breden mit dem, was war,
damit ein Neues gepflügt werde. Damit
uns der Gebhorjam gegen ott die Mög-
lichkeit Schenke, Menſchen wieder mit Ehr⸗
furdt zu begegnen, — — zur
toabren, F a Samilie!
ernbard Ritter.
Reben.
Preptalter Sebruarihnee fällt in wil-
dem Wirbel auf jhmutige Straßen.
Die Laternen in großen Abftänden leuch⸗
ten [hwadh... Wie man fo hingeht in
Diefen Ginfamfeiten wenn aud belebter
Straßen: den DMantlefragen hod, die
Hände in den Taſchen — man fieht
das Zufällige, überläßt fid den Bildern,
die, bon außen angerufen, Bilder der
Seele find. Ging bedingt verborgen das
andere, die Bilder find immer ba als
wie in dunflen Räumen: 63 ift nur, daß
eine Arſache bon irgendber fie erhellt.
Auf dem Berge jenfeits die Stadt
wie ein dunkler Wald, mit taufend Lid-
terblitten. Ih ftebe und febe duch
Schnee und Regen die Schönheit blühen-
der Alleen, freifender Reigen des Lichts
.. . ih febe den Berg wie in Bewegung
der Lichter hinauf: Hod oben ijt Licht
bei Licht wie eine funfelnde Krone der
Nat.
Lind gehe weiter:
Sd weiß dann, daß diefe funfelnde
Krone der Naht die erleudtete Stadt-
halle ift: Gin Geft? Rauſchender Gei-
Denfleider tanzverſchlungenes Wogen im
finftliden Olanz der Kronleudter, Wein-
glajer, der gepflegten Scheitel und Reden?
119
Zyniſch erhaltener, aus blinfenden Augen
vielleiht dennod fprehender Gedanken?
... 3H denke, daß dies gleichzeitig ift,
indes id den winterliden Weg Diefer
einfamen Straße gebe.... @leidgeitig
ftebt aud das Armutshaus redhts bier
am Wege, danfbar der Strafenlaterne,
die einen ſchwachen Schein in die Kühe
wirft, die felten erhellt ift bei dem ftin-
fenden Qualm einer alten Petroleum-
lampe. @leidgeitig — o die Welt ift
weit — gebiert eine Mutter ihr Kind,
fällt der Schuß meudlerifhen Mordes
irgendioo.. . Irgendwo ſchreibt ein Gin-
famer Die lebten Zeilen feines Buches,
das feines Lebens Hoffnung ift. Srgend-
wo Schlägt ein betrunfener Vater fein
Kind, irgendwo verfließen Liebende in
der Geligfeit ihrer gänzlichen Bereini-
gung...
„Irgendwo“ — aaah? — bier
ift nidt Bild an Bild 5 ſchaue une
endli weit, pon unendlider Höhe und
{daue dicht an dicht nebeneinander
diejes Geſchehen, died eine Bild wider-
{prudsvollen wirfliden Leben’, dag mid
Ihaudern madt... Und ob geftern ob
morgen.. ob in aller Zeit und Zukunft:
Im Raum ift alle Zeit aufgelöft in
gegenwärtiges Gein... ich febe dies: das
Leben geballt in die Enge meines Kreis
fes als Widerfprud, Leid und Olid,
Sod und GSeburt.. wie bedingt eines
im andern.. fo dafs nichts bleibt als
mein Grfdauern, mein frierendes Grau-
fen vor diefem Abgrund aller gequälten
Seelen, aller Qual aller Seelen, aller
Not, allen wejenhaften Seins.
ind nun?
Ih ftehe auf der Strafe bei einem
toeinenden Kind, und indem id Dies
erfenne, bin id uberraſcht, da ich ſonſt
ſcheu und ängſtlich bin. ämte
mid oft des Guten vor anderen.. und
ging am Hilflofen vorüber, wie fie es
alle taten. Hatte ih ein Redt, war
ih im ganzen Wefen meines Wenfden-
tums fo gut, daß id die anderen bee
ſchämen durfte?
Sq ftand bei dem weinenden Rinde
diesmal und nahm e8 bei der Hand.
And faufte ibm die neue Glafde mit
Del für die zerbrodene — und als e8
Dennod meinte, weil die Flaſche anders
ausfab als die alte, bradte id es zu
feinem Haus und bat den Gater, gut zu
ibm zu fein... denn id wäre {ould an
dem LUnglid "geweien, da ih das Kind,
— Sahrrad ausweichend, geſtoßen
abe
And nun? Denn diefe Geſchichte muß
ein Gnde baben. Obwohl fie beendet ift,
denn id ging nah Haufe. Aber man
fühlt wohl, daß es ein Erleben meiner
120
Seele ift und daß es wirflid nit fo
wejentlih ift, daß ein Menſch Bilder
fah und dann ein einziges Bild und
— einem Kinde half und einen Vater
elog.
Ob man aus Oüte (oder aus Angft..
es ift gleidgilti ) lügen darf, be häf-
tigte mid wirfl fie ni nidt... Goll id ein
Gtid für Gabriel und Supprians Leſe⸗
buch ſchreiben: „Seht, es iſt doch noch
Outes in der Welt?“ Solch ein Hund
bin ich denn doch noch nicht, daß ich
ſagen würde, id) hätte etwas Gutes
getan.
Aendern wir nichts an dem fdauer-
vollen Bild von der Grauſamkeit des
Lebens. Und das andere, das ihr Ou⸗
tes nanntet, ift aud eine grauenbolle
Sragif. G3 ‘tonnte übrigens fein, daß in
dem Augenblid, da ihr eud) mit Dem
lieben @ott beruhigt, der ja für alles
forgt (fein Haar fällt bom Haupt ...
fein Gogel bom Dad.. .) ein Haus ab-
brennt und ein Rind verbrennt, und e8
fönnte euer Haus und euer Kind fein —
und fo es niht euer Haus und euer
Kind ware, das alfo leiden müßte. ..
ſchlimm ... und es ift eud nidt fo
ſchlimm ... nun, würdet ihr nidt felbft
erihreden ob der Sraufamfeit eurer ®e-
fühle? Aber ich felbft babe das wei-
nende Kind und feinen betrunfenen Ba-
ter, der es fdlagt, fhon bald wieder
vergeffen und denfe, wenn e3 nun mein
Kind wäre, das alfo leiden mußte...
Und das ift der Fortgang diejer Gee
ſchichte: daß es mid heiß durchglühte
in febnjidtiger Liebe zu meinem Kind
— in anderer heißerer Liebe als zu dem
Kinde eben, dag nidt mein Kind war
und dem id nur half — — — —
Sind dann war id traurig in diefen
Widerfpriiden, in diefem Chaos meiner
Geele... denn id wußte wohl, daß alles
dies nicht zu ändern ift. &3 ift: Zu er-
tragen: die Graufamfeit des Seins —
— beides, der großen Welt und unferer
eigenen Geele...
Und indes ich ging, batten Schnee
und Regen aufgehört. DVerweht war
die Schauer, und {don waren irgendwo
fern gwifden den leiten Wolfen ein-
zelne-Sterne... Bon des Tages Arbeit
müde haste ih Stirn und Augen fühlen
wollen und war zur Stadt bingegangen,
al8 mid) die Schauer iiberrafdte, und
dann in einem Bogen zurüd, durd mit-
telalterlide Straße, wo die fleinen Schie-
ferhäushen ftanden, mit den nun er-
bellten &enftern, porbei dem platidern-
den Brunnen inmitten dieſer fleinen
Schlucht, der dunklen Silhouette alter
einfader Kapelle oben am Rande,.. und
fab hinab in die breite Straße, die zwi-
{ben Wielen Her in den Wald führte,
der weit und ſchwarz ſich dehnte bis an
den Frieden der Sterne —
Die Stille legte fid mild in meine
Seele, und indem id das Törchen meines
©artens öffnete (um vielleiht eine
Stunde nod mit den Kindern zu fpielen)
Dadte ich Died: Gott ift fein Troft.. als
nur, daß man fid belöge mit ibm. G3
ift nur eins, demütig zu fein und zu tun,
was die Stunde verlangt. Aber es nenne
niemand fein Sun gut, denn es ift Bö—
fes in jedem, das ibm felbft wider-
{pridt.. und es ift niemand vollfommen
und alfo niemand gut...
In der Stille des friedliden Haujes
aber war mir die Grinnerung der Sleid-
zeitigfeit alles Seins nidt geſchwunden ...
und indes ih die Nadt binter den
Scheiben des GFenfters fab, war mein
Herz in belfender Gitte mehr als fonft
meinen Kindern und meinem Weibe, in
größerem Wollen den Menfhen und
allem Leben ergeben.
Grih Bodemi bl.
Hanns Johſt.
Ww wir durd irgendeinen Umſtand
veranlaft werden, Umfhau zu hale
ten unter dem dichteriſchen Nadhwuds,
dann merfen wir mit Grftaunen, wie wee
nige verbeifende Kräfte da wirfen. Gee
wöhnlih laſſen wir uns täufhen durch
die allerdings bedeutende Zahl junger
Menfdhen, die mit einem beißblütigen
oder gar fraftgenialifhen Grftlingswerf
berportreten und dann gleih „zu den
fhönften Hoffnungen beredtigen*. Gaft
ftetS handelt es fih darum, daß junge
Leute in der Zeit der Mannwerdung
ihre vulkaniſchen Ausbrühe zu Papier
ebradt baben. Das find immer Die-
elben Siinglingserlebniffe: Auseinander-
febung mit dem vorigen Geſchlecht (das
ewig wiederfehrende Motiv: Bater und
Sohnl), oder Aufbäumen gegen leber-
lieferung und einjhränfende Formen,
oder einfad efftatiihe ©efühlsüberquel-
lung. Bei ihrem zweiten Werf ent-
täufhen dann fdon die allermeiften die-
fer „Hoffnungen“. Ginige werden aller-
dings durch die Gunft des Beitgeiftes
— eine Weile getragen, beſonders
ſolche, die ſich den Empfindungsüber—
ſchwang erhielten und alſo der Zeit der
bod- und überfpannten Snnenerlebniffe
entipraden; und folde, die den anderen
Zug unjerer Zeit nutzen fonnten: Die
©eiftigen oder Intellektuellen mit der
Runft der feelifden Zerfajerung und Zer-
febung.
Seiden wir Diefe ,Salente* aus,
fo bleiben nur ganz wenige, pon denen
wir Größeres erwarten können, weil uns
ihr Schaffen wirklid ſchöpferiſches Quel-
len zu fein fcheint. Zu dieſen wenigen
zählen wir Hanns Bobft.
Gr hat Gedichte, Romane, Dramen
berbffentlidt. Bon dem Dramatiker wird
am meiften erwartet.
Gin wefentlider Bug feiner Begabung
tritt in jeder der genannten Didtungs-
arten befonders ftarf hervor: der Leber.
reihtum an Bildern und Oleidniffen in
feiner Sprade. Die Gedidte leiden dare
unter. Saft jeder Gab gibt ein befondes
res Bild und feffelt darum Aufmerkſam—
feit und Nachdenken, (denn feine Bere
gleihe geben fid) nicht immer leicht). Da-
Durd zerfällt aber das Gedidt in viele
einzelne Zeilen und Gabe, und Der dich—
teriihe Gedanke des Ganzen entgleitet
dem Sefer oft. Das ift fhade; denn wir
fühlen doc aud die gejunde Didtertraft
in den Berfen, wenn er fpridt: „Du mein
gefreugigtes Golf, ſchweige zum Spotte
der Schäder! Giebe, die Berge ftehn
ſchwarz. Ueber den Bergen der Spreder
ammelt die brüllenden Wolfen, fpeidert
en zornigen Donner, bündelt den filber-
nen Blit. Gible, mein Golf, des Stur-
mes Ddunfle Gerfiindigung: Wabrlid, —
du wirft mit geballten Gauften Himmel-
fabrt balten!“*. Dieſe ftarf bildhafte
Sprade ift aud das bervorftedhendfte
Wefensmal feiner Romane. Der erfte, —
es ift „Der Anfang“,** möge aus den
eingangs dargelegten @riinden übergan-
gen werden. Wichtiger ift der zweite,
„Der Kreuzweg“***. Gr prägt alle Gigen«
art des erften nod kräftiger aus. Das
Gerlangen nad Grfenntnis darafterifiert
in beiden die Menjhen. Gedanklid ſtark
belaftet find ihre Gefprade. G3 fann
wohl nit anders fein: Romane mit Men-
{hen aus unferen Tagen werden all das
Guden nad Klarheit enthalten miiffen,
das unfere Fe füllt. &3 fet gleich bier
erwähnt, daß dieſe Neigung zum Pbiloe
ren aud in Johſts Dramen hinein"
reicht.
Wieder ift es die Sprade, die uns
aud in den Romanen reizt zur Ausein-
—————— Folgender Sat iſt charak—
teriſtiſch: „Er ließ die Hände in der Luft
an ſämtliche zehn Finger zerfetzen.“ Aber
der folgende iſt doch noch mehr, er iſt
eine Sprachvergewaltigung: „Dem Ein—
tritt in das Krankenhaus meldete der
Aſſiſtenzarzt einen Fall operationsreif.“
Es iſt feine Laune bei Hanns Dobft,
wenn er die ihm eigentümlihe Gabe des
Bilderfhaueng pflegt und fteigert, fon-
* Aus ,Rolandsruf*, Delphin-Ber-
lag, Münden.
** Delphin=Berlag, Münden.
*** Albert Langen, München.
121
dern es ift bewufter fünftlerifher Wille
in feiner Spradbehandlung. Sn feinen
Bemerfungen über fich felbft, die er für
den ©öttinger Mufenalmanad auf 1923
ig bat, fagt er: „Mit aller Lei-
enſchaft meines Wefens erftrebe id eine
Kunft, die Ausdrud meines Volkes wird
duch die Begrenzung der Sprade. Die
Sprade nist als Stoff gefeben, fondern
alg mütterliden Grund und gleider-
maßen als bimmlifhes Sewslbe. Nur
die Liebe zur Sprade erihlieft Heimat,
Baterland, Bejinnung und Gefinnung..
Obne Diefe bewufte Liebe ift alles
MenfHtum Mangel an Körper und Kraft,
denn die Sprade ift und bleibt die Bere
förperung der Seele.“
Muß man alfo feine Spradformung
ernft nehmen, fo fann man dod über die
Sprade feiner Romane nur fagen: daß
wir hier nidt von einem eigentlid bild»
baften Schauen fpreden können, jon«-
dern daß e3 ein Gtillbalten ift bet
jedem fleinften Gefdeben, ja bei jedem
erwähnten @egenftand, der durd einen
Bergleih anfdhaulider gemadt wer-
den foll. („Sin Oberfteiger rif} die Tür
auf, daß fie flaffte wie ein Maul.“)
In diefem zweiten proben Roman
Sobfts geht e3 um viel, um das Su—
Ken von Wenfden, die über dem Durch—
ſchnitt ftehen, nad lebten Zielen und
Begriindungen des Lebenswegs. Nicht
der geringfte Wert des Werfes liegt in
der Haren und befreienden Auflöfung der
verworrenen Ideen bei den fudenden
Menfdhen. —
Wir fühlen aber dod, daß nit im
Roman, fondern wohl in der Bühnendid-
tung Sobftens eigentlihfte Begabung
liegt. Hier, das fühlt der geborene Dra-
matifer inftinftiv, fann er fid nicht bei
Dergleihen aufhalten, durch die er
Sprade und SHandlungsfluß beihweren
würde. Hier, im Drama, ift aud nidt
der Plab für philofophierende Gefprade.
Gereingelt finden wir jie gwar nod, aber
nicht beherrſchend. Klaſſiſch find Sobftens
Dramen nidt, denn die Klarheit in der
Seidnung der Seelen feiner Menſchen
fehlt. Das ift nit ein Mangel ge
genüber der Elaffifhen Kunft, fondern ein
Unterfdied. „Wir Deutfhen haben
nod feine deutſche Kunft. Die Bildung
ftand unfern ©rößten immer im Wege:
die Antife, Die Romanen,“ fdreibt er
im erwähnten ©öttinger Mufenalmanad.
And an die febr ſchwierige Aufgabe geht
er beran: den deutſchen Menfden finft-
lerifh gu geftalten ohne die Bildungs-
formen, die wir bon der Antike über-
nommen baben. Daß dem Leben oder
der Seele eines Deutſchen nicht mit dem
Gehirn beigufommen fet, in diefem wei-
122
teren Befenntnis des Dichters Liegt viel-
leit aud ein Hinweis auf die Helden
feiner Dramen. Da3 find alles Menſchen
mit warmem Blut und warmem Her-
zen. Aber ihr Charakter ift niemals in
ſchönen Gentengen ausgeprägt. Gie find
aud nidt in einem einzelnen Wusfprud,
nidt in einer einzelnen Handlung ganz
oder aud nur wefentlih zu faffen. Sbre
Ganzheit ergibt fid nur aus dem ganzen
Drama.
Aber wir fpüren, wie fid diefer Did-
ter zu dem Ginen durdflärt, das ane
tifes und Elaffifches deutides Drama ge-
meinjam baben: zur legten dramatifden
Srageftellung, dem Zufammenftoß des
wollenden Gingelmenfden mit dem Schid-
fal. Am reinften ift diefer zu innerft
dramatijhe Kern im „König“ zu erfüh-
len: Der König mit feinem jugendlid-fa-
natiſchen Wahrbaftigteits- und CEhrlid-
feit3drang gerbridt in feinem Kampf
gegen die zwingenden Gormen, die gwar
fittlid und etbifdh weit unter dem bon
ibm vertretenen Ideal ftehen, die aber
um des Wobles der Sefamtbeit willen
nidt umgeftoßen werden dürfen. G3 ift
ein Zerbreden am übermädtigen Gdid-
fal, aber wieder ift dies Problem nidt
flar beriusgeponen ins Reih des Bers
ftandes, fondern e3 liegt verborgen unter
der fdeinbaren Swangslaufigteit der
WMenfdhendaraftere. Mit dem „König“
zufammen bilden das Lutherdrama „Pror
pheten“ und die Komödie aus aller»
jüngfter Zeit „Händler und Wedfler*
eine beiondere Gruppe im Schaffen des
Didters. (Alle drei erfhienen in Albert
Langens Perlag, Münden) Frühere
Werfe wie die Bauernfomödie ,Stroh“*,
zu der unfere um gute Luftfpiele vere
egenen Bühnen immerhin greifen follten,
und die febr [hwade, weil an der Ober-
flähe der Gefellfdaftstritit baftenblei-
bende Komödie „Der GFremde“** tragen
nod nidt den Stempel einer eigenartigen
Didterperfinlidfeit. Dagegen erfennen
wir, wie in der erwähnten Gruppe von
Bühnenwerfen der Didter ftrebt nad
„einem deutfhen Kunftwerf, das (mög-
Lihftl) unabhängig von Bildungsein-
flüffen der Qntife und der Romanen“
bleiben foll, das den deutfhen Wenſchen,
fo wie er um uns lebt, als Robftoff
nimmt, ihm bei der fünftlerifhen See
ftaltung die ganze Blutwärme und Un—
mittelbarfeit läßt, und alle Bindungen,
Geſetze, Konflikte uf. als einen Unter“
ftrom durd das Werf geben läßt, den
man mebr erfühlen als gedanflid erfajien
foll. Lim diejes flaren Wollens und um
* Gerlag der Weißen Bücher.
** Albert Langen Berlag, Münden.
der fpürbar ausreihenden Didterfraft
willen müffen wir diefen Dichter in fei-
nem Werden teiter verfolgen.
®eorg Kleibömer.
Zur Erneuerung der Bühnenkunft.
Meiries ift im ,Deutiden Volkstum“
i über die mannigfaden a
um eine neue Bühnenkunſt gefdrieben
worden. Wie fteht e8 nun gu Beginn
des Sabres 1924 mit den praftifchen
Erfolgen der Reformer?
Da die „Deutihe Bühne“ in Ham-
burg dod wobl von allen ———
meinden am entſchiedenſten das gänzlich
neue Theater erſtrebt, ſeien aus ihrer
Arbeit zwei — herausgehoben, an
denen ſich der ille zur Löſung klar
erkannter Probleme beſonders gut zeigte:
die Aufführung des „Antichriſt“ por der
St. Georgsfirdhe in Hamburg im Suni
1922, und des „Prometheus“ des Ais-
chylos in der als Sheaterraum notdürftig
bergeridteten Srnft-Merd-Halle in Ham-
burg im Dezember 1923.
Daß die Bühnenerneuerung aus dem
©eifte der Volksſpielbewegung erwadfen
muß, fteht wohl feft. Sbenfo flar find fid
die Leiter Der Deutihen Bühne von
pornberein darüber gemefen, daß wir
nidt in der fdlidten Laientunft des
Golfsfpiels fteden bleiben dürfen, fon-
dern Darüber hinaus zur neuen Gorm
des „großen Dramas“ gelangen miiffen.
Das ,Sabrbud der Deutihen Bühne“
wies mehrfah auf dieſe Aufgabe bin.
Durd nidts hatte wohl Harer diefer
Bille und diefer Weg bezeichnet werden
fénnen al3 dDurd das Spiel vom Kaijer-
reid) und vom Antidrift. Hier hat das
Mittelalter felbft den ftarfen Schritt über
den DBanntreis des Bolfsfpiels hinaus
getan. Sowohl die tiefe Idee, die Hier
gets wurde, wie der ftrenge Stil
e3 Dramas erfdloffen eine neue Gnt-
widelung de8 Dramas, die dann aller
dings ebenfo fdnell gufammenbrad wie
das Hobenftaufifhe Raiferreid felbft. Die
neuen Aufgaben für eine Aufführung
diefes Spiels, bas Ludwig DBenninghoff
ganz porzüglid aus dem Lateini}den
überjett bat, waren dreierlei Art. Für
eine Rolle von dem inneren und äußeren
Amfang des Antidrift war eine Spiel-
fraft nötig, wie fie unter den Laienjpie-
Tern wohl faum zu finden ift. G3 wurde
darum der Verſuch gemadt, unter den
Berufsfhaufpielern folhe Talente auszu-
wählen, die nod nit in Routine und
aduferliden Formen „verfteint“ find. Ferner
waren Ghöre nötig, da die Shriftenge-
meinde, die Suden- und die Heidenjhaft
duch Chöre dargeftellt werden follen.
Gs galt alfo, Menjden zu finden, die
nidt nur fpreden, fondern aud im
Chor ſchreiten fdnnen. ind wo find
die gu finden? Wo find die Schulen für
Chorſprechen? Ebenſo fönnen wir fra-
gen: Wo find die WMenfden, die als
Ghor ſchreiten fbnnen? Auf dem
fleinen DBühnenraum muß jeder Schritt
und jede Bewegung bemeffen fein. Pie
fleinfte Bewegung, der Eleinfte Schritt
müffen Ausdrud für eine innere Bee
wegung fein. Körperbewegung als fünft-
lerifhes Ausdrudsmittel war allen
Menihen fremd geworden. Die meisten
fönnen nidt einmal — geben, viel we-
niger „ſchreiten“.
Sp war der Setinn der Antidrift-
Aufführung vor allem darin zu feben,
daß wir flar erkennen fonnten, was ung
fehlte, um eine neue Bühnenkunſt fdaf-
fen zu fönnen. —
Yun bat ung die ,Prometheus“=Auf-
führung um die Weihnadtszeit gezeigt,
wie planmäßig pon der Deutrden Bühne
in anderthalb Sabren weitergearbeitet
worden ift. Alles, was von ihr ingwifden
baad ag tourde, war Borbereitung. Wier
erum ftanden bei diefer Aufführung
die drei Aufgaben da: überragender Ein«-
gelfhaufpie.er, Spred- und Bewegungs-
unft der Chöre. Die Frage nah dem
Spieler für ‘den @iganten Prometheus
fudte die Deutfhe Bühne in derfelben
Weiſe zu löjen wie beim Antidrift: Wie
derum wablte fie aus den Berufsihau-
fpielern einen, der dem neuen Geift des
neuen Theaters erfdloffen fdien. Nad
meinem Urteil ift damit das Problem
nicht gelöft. Hier gilt e3, andere Wege
und Möglichkeiten zu fuden.
Der antife Chor wurde fühner Weife
gecest in Gpreh- und Bewegungshöre.
ndere Menfhen fpraden, und andere
befräftigten die ©efühlswerte der Worte
duch Bewegung. Die Frage bleibe da-
bingeftellt, ob diefe Seilung nur als
Lebergang oder für die Dauer beredtigt
fei. Sedenfalls muß der Deutihen Bühne
unbedingt das Berdienft guerfannt wer-
den, daß fie mit den Sprehhören aufer-
ordentli Schönes bot. In langer treuer
Arbeit bat fid Grau Bilma Mönde-
berg Diefen Chor gefdaffen, der durd
verſchiedene Klangfarben, Tonhöhen, Stär-
fen wundervolle Wirkungen erzielt. Bis
zu fugenartigem Durcheinanderſprechen
bat es Ddiefer gefdulte Chor gebradt.
Damit wird die Aufführungsmöglich-
feit für mande andere Dramen gegeben
(Braut pon Meffinal). Diefe Sprechchöre
faßen links und rehts auf der Bühne
in Reihen übereinander, unbewegt.
Auf dem DBühnenfeld aber flibte,
tollte, wogte vor dem an den Gelfen ge»
{Hmiedeten Prometheus der ftarfe Bewe—
123
gungshor. Rudolf von Laband Werk
war diefer Seil der Aufführung. Wad
der Antidrift » Aufführung batte die
Deutihe Bühne dem bisher fo aufere
ordentlid) vernadlajfigten Ausdrudsmit-
tel der Körperbewegung ihre Aufmerf-
famfeit und Pflege gewidmet. Wohl find
uns in den beiden lebten Jahrzehnten
durch einzelne Sanger und Tänzerinnen
die Augen geöffnet für die Bewegungs-
funft. Aber den erften Bemühungen,
aud Maffen im Tange zu bewegen,
ftand dod das Publifum verftandnislos
gegenüber. G8 bleibt Labans Berdienft,
bier Babnbreder gewefen zu fein. ind
die Deutfhe Bühne hat ibn dauernd
unterftüßt, und fie wußte warum fie es
tat. Nun fonnte Laban in der Prome-
theusporftellung feine Männer- und
Srauenmaffen Durdeinanderwirbeln laf-
fen; Das Hamburger Publifum faß nicht
mehr fpradhlos por neuen Ausdrudsfor-
men, die es nicht ,,berftand*.
Se unbedingter man dem Bemühen
guftimmt, der Bewegungsfunft den thr ge-
bübrenden Plas im gejpielten Drama wier
dergubderidaffen, umjo unbefangener muß
aber aud jeder derartige Berfud kritiſch
beurteilt werden. Nah diefer Auffüh-
rung muß ih die Art des Tanzes,
die Laban in feiner Schule pflegt, ab-
lehnen. Die zerflatternden Bewegungen
ewig Shwingender Frauenchöre find wohl
gemäße Ausdrudsformen für phantafti-
{he Stoffe, mögen vielleicht aud in
Bühnenwerken mit modernen, nervös zer-
faferten Seelen möglid fein, aber dem
Wefen, dem Stil des ftrengen Dramas
find fie nidt angemeffen. Mein Gefühl
verlangt gu Ddiefer ehernen Gewalt tita-
nifher Kraft in Wort und Gedanken une
bedingt nur jolde Körperbewegungen,
welche gebundene Kraft, ftraffe, berbe,
beherrihte Bewegung und miglidft ge-
{bloffene Körpermafjen darftellen. Eber
würde die Gedrungenbeit fjchreitender
äghptiſcher Statuen, eber der ftraffe
Rhythmus preußifher Örenadiere richtig
fein als diefe bis ins letzte und wildefte
aufgelöfte, unrubige DBewegtbeit, bejon-
ders der Grauen-, aber aud der Män-
nermaljen.
Nad meinem Urteil, das fih in Dies
fer Prometheusvorftellung flarte, müſſen
die Bewegungen aus anderm OSeift
geboren fein. Wahrſcheinlich wird die
Diedervereinigung von Sprechen und
Bewegen in einem Ghor fdon dieſe
Gorm zubiperen, — Bewegungen
aus ſich ſelbſt bedingen. —
Wir finden doch wohl nicht leicht
unter den Bühnenleiſtungen der letzten
Sabre ſolche, die zu fo grundſätzicher
Kritil auffordern. Damit ift, meine id,
124
die Bedeutung der Leiſtungen der Deut—
fen Bühne von felbft ausgefproden.
Dem lebten großen Problem: den
neuen Bühnenraum für das neue Shee
ater zu ſchaffen, bat fid dieſe zielflar
ftrebende Sbheatergemeinde in dieſen
ſchlimmen wirtihaftlihen Zeiten natur
gemäß nod nidt anders als nur theorer
tif widmen fönnen. Sicher wird aud
da in befferen Seiten bon ihr Wegwei-
fendes gu erwarten fein.
®enorg Kleibömer.
Mufitalijhe Dolchſtoßpolitit.
yer Deutider Lebens-Dilettantismus
beweift fid in nichts fraffer, alg in
unferer Gudt, Tatfählihes mit Ginge-
bildetem, Allgemeingültiges® mit Rein
perfinlidem zu verquiden. Und indem
wir uns allen Grnftes einbilden, aus der
traurigen Grfabrung der letzten Sabre
gelernt zu haben, fteden wir dod fefter
und gaber in alten Grbfeblern denn je.
BSetradten wir unjer sffentlides muji-
falijfhes Leben: haben wir hier aud
nur einen einzigen Schritt vorwärts gee
tan? Das Star-Linwefen, dem wir durd
die Gelb- und Verkehrsſchwierigkeiten
Abbrud getan wähnten, blüht ſchlimmer
alg vordem. Statt eines einzigen aner-
fannten Goliften pflegen heute deren mebe
rere in einem Konzert aufgumarfdieren,
denn der „Ruhm“ und die Ponglier-
fünfte des einen allein genügen unjerm
„neudeutſchen“ Publitum fdon gar nidt
mehr. Das gottlob Hinter uns liegende
„Balutajahr“ war ein fdlimmes Kriegs-
jabr für die Muſik. Ausländer verjeud-
ten unjern Rongertreflameftil, minderten
das Niveau öffentliher Konzertleiftun-
gen, verdrängten zahlungsſchwächere Deut
{he Künftler, vermittelten dafür aber
deutfhen Dirigenten Beziehungen nad
ihrer Heimat, aus der dann aud bald
minderiwertige Kompofitionen in unfere
Spielpläne eindrangen. Die ftumpffinnige
Gerehrung des Nurvirtuofen bat eher
gus Denn abgenommen. Ih febe wohl,
wie man Künftlerzimmer ftürmt, um den
nidtsfagenden Namenszug eines Sän—
gers, eines Klavierlöwen zu erbafden,
babe jedDod zu gleidher Zeit erlebt, wie
man Gdaffende, die aus unferer und der
Mufifentwidlung der Welt nit mehr
wegzudenken find, nit allein überfiebt,
fondern, fo beifpielsweije in Ghorproben,
ganz wie feinesgleiden, ja häufig flegel-
baft behandelt. Den Ausländer [dist
davor der Nimbus des Fremden. 68
wird weiter dabei bleiben, daß dem june
gen Komponiften, wenns Hod fommt,
ein gnädiger Herporruf gugeftanden wird,
während der feine Gedadtniswalge zum
aberfovielften Male abrollende und von
keinerlei „Dämonion“ beſchwerte Solift,
der vielleiht eben eine ganze Reihe von
Sünden wider den ®eift der Muſik be-
gangen, auf ®rund eines lang audsgebal-
tenen oben ©, einer atembeflemmend
beruntergeraffelten Slavierpaffage fid
Der gudringliden „Begeifterung“ (wo ift
bier Geift?) nidt ermebren fann. Wann
und wo ift fon einmal ein (jüngerer)
RKomponift, dem nicht gerade Senjations-
reflame boranging, zu „Zugaben“ ge-
gioungen worden Merkwiirdig, oder
vielmehr darafteriftifd, daß alle großen
DBoltshelden im Innerften Volkshaſſer
waren? Gäfar, Napoleon, Friedrid) der
Große. Und was fragte dod) Paganini,
der Abgott des Publikums, wenn einer
Du aniprah? „Que me peut cet ani—
mal?“
Aber ſchließlich iſt unfer Publifum
eben nur unergogen. Wo aber fteden
und was tun feine berufenen Grgieher?
Bir baben feine, haben wohl viel für
die Grgiehung unferer Sugend auf muſi—
faliihem @ebiete getan, dod die Gre
wachſenen dabei vergeffen. Und gerade
das, wozu die moderne Muſikpädagogik
die jüngeren erziehen mödte: Abwen-
Jene pom Sednifdhen zum Geift, das
ift den fogenannten „Erwachſenen“ nod
beim alten geblieben. Da fie wohl felbft
einmal ein wenig Klavier geflimpert,
ein bißchen gefungen, fo erſcheint ihnen
der, welder e3 darin zur Bravour ge-
bradt, als ein wahres Wundertier. Daf
etwas mehr dazu gehört, ein Rlavier-
konzert zu ſchreiben als e3 zu [pie
len, Diefe Binfenweisheit wird ihnen
nie mebr eingehen. Wie fagte dod) Maz
Reger? „Die Menfden begeiftern fid
fo rafd für techniſche Grrungen{daften
und brauden fo lange: um geiftige an-
zunehmen.“ Die Rolle des mufilalifhen
BolfSergiehers verbleibt heutzutage allein
dem Rritifer. Wie aber fieht es in Die-
fem Stande aus, der gar feiner ift? Wir
baben eine Menge von Fachzeitſchriften,
in denen fic Mufikhiftorifer und WAefthe-
ten nad Hergensluft tummeln. Wir ha—
ben weiter eine minimale Anzahl von
Kunftgeitidriften, in denen der Mufif
ein mehr oder weniger fnapper Raum
gugeftanden wird. Wir haben ndd wee
niger führende Tageszeitungen, in deren
„Raum unterm Strid“ angejebene Mu-
fifer fid zu TSagesfongerten äußern, mehr
und minder einjeitig, aber dod von Bee
tufsftolg und DVBerantwortungsgefühl er-
füllt. nd wir haben endlid das Gros
der fleineren Lofalgeitungen, in denen
halb „ebrenamtlih“, alfo aus Gitelfeit
und Madthunger heraus Dilettanten
famtlider Berufe, jeden, aud des nie-
derften Bildungsgrades ihre durch kei—
nerlei Gadfenntni8 und DBerufsperant-
wortung beſchwerte Meinung zu der glei»
den der Lefermaffe fügen, nur daß die
ihre, weil gedrudt, eine gefährliche
Scheinautorität gewinnt. Das find die
Leute, die jene deutſche politiide Uner-
zogenheit befunden, bon der oben Die
Rede war. Ihnen imponiert das dire
tuofe Können. Wie für fo manden
eitlen Reproduzierenden ift aud für fie
der Schaffende nur ein notiwendiges
Mebel, dem man um ©otteswillen nicht
durch „porzeitige8 DBegönnern“ den nun
einmal gottgewollten Dornenweg erleid-
tern darf. Und für fie ift nah altem
Deutfhen Braud der Ausländer dem
Ginbeimifden überlegen, da er die ſchö—
nere @efte beſitzt. Deutide finftleriide
Grbfhwaden wie Didflijffigfeit der Sab-
art, Gintönigfeit im Rhythmiſchen, Phi—
liftrofitat im Humor werden triumpbie-
rend immer neu „entdedt“ und angemerft.
Dabei dürfen dann weit [hlimmere Man-
gel der anderen Nationen und Rajjen:
Oberflädlichkeit, Süßlichkeit, Poffenbaf-
tigfeit gern und gut übergangen werden.
Was find uns Reger, Pfibner, Haas mit
ihrer Goliditat gegen das Amüfement,
das ein Ghrill Scott, ein Gajella, Stra
mwinsfi mit ihren @rotesfen zu bieten
baben? Sn Berlin und Leipzig begann
endlid das irregeleitete Publifum felbit
zu proteftieren. Anſere Provingpreffe
läuft nod im alten Trott. Die por por
puli ift ihr vorangeeilt, ob die „Sraie-
ber“ wohl den Anihluß nod erreiden
werden? Gin ausländiſcher Solift fpielt,
ein „nurdeutfher“ Komponift bringt ein
eigenes Werf. Der ftammesfremde Bir-
tuo8 wird als „Meifter“ gefeiert (e8
abe taufend Deutide, die es ihm nad-
pielten), der Scaffende, dejien Werk
man ohne die Partitur, die man als
„tompliziert“ bezeichnet, zu fennen (Re-
ger meinte: „ohne fie lefen zu fünnen“)
anhört, als unmodern abgefertigt. Man
bat fi eben den Sefdmad an fo viel
exotiſcher Grgentrif verdorben, daß er
das organiſch, und darum erft allmab-
lid ®ewadfene nidt mehr annimmt.
Kein Bad und fein Beethoven ver—
blüffte in jedem feiner Werke durch
Neues, und dod waren fie größere Re-
polutionäre als die Mehrzahl unferer
Tages-Senfationsgrößen, deren „Srrun-
——— als da find Auflockerung
es harmoniſchen Zwanges und hetero—
phone Stimmführung an ihren — heute
zum alten Gifen (nad) Regers prophe-
tifdem Wort) geworfenen — Vorgän—
gern leicht nadgutveifen Wären, nur
„ang“ bei jenen aud das Seivagtefte.
Heute aber gilt e8 den Gnobs als Are
mutszeugnis, flingende Mufif gu fdrei-
125
ben. Die tageskritiihen „Volkserzieher“
aljo find es, die „muſikaliſche Dolhftoß-
politif“ verfolgen, die, wie das Berliner
und Leipziger Beifpiel zeigt, gegen das
fiderere Inftinftgefühl des Bolfes am
deutfhen Kulturgut tagtaglid Verrat
üben. Wie fagte einft Mozart? „Es wird
boffentlih eine Zeit fommen, wo es feine
Schande mehr fein wird, fid als deut-
{hen Mufifer zu befennen“, und wie
Pfigner? „Wir Deutfhe haben die Bers
rater immer nod im eignen Haufe ger
babt.“ Hermann Unger.
Alfred Rethel und Heinrih von Kleift.
Ser Bergleid Rethel-Kleift geht felbft-
verftändlid nidt nad ©rößenmaß.
Eher fommt fdon die gemeinjame zeit-
lide Ginftellung beider in Betradt, ob-
fhon ein Menfhenalter zwifhen dem
Wirfen des einen und dem des andern
liegt. Sie entwwadfen beide — der eine
im Anfang, der andere im Ausgang —
dem Deutiden Zeitgefühl, das wir mit
der DBezeihnung „Romantif“ zu um«
fhreiben gewohnt find. Beide ragen als
ſcharfumrifſene, eigenwillig trobige Blöde
über die Sphäre des Romantifden bers
aus, verjuden, dem nfaßbaren diefer
Bewegung eine fefte Gorm zu geben,
{deinen dadurd faft wie Gegenfabe des
Romantifhen und find dod darin ver-
wurzelt.
Man foll vorfidtig fein mit der
fehnellen Verbindung von Perfinlidfeiten
durch das Wörtlein „und“. Die meiften
fdreiben fid wohl von einer tief im
Menihlihen begründeten Luft an der
Sweifamfeit ber, wie man zu einem Wort
einen Reim fuht, oder das „Pendant“
liebt. Aeuferlidfeiten genügen als Bere
bindungsmittel. Schiller „und“ Goethe,
weil beide große Didter und perfinlide
Steunde find, & $. Meyer „und“ Sott-
fried Keller, weil fie in der Schweiz
leben, Groth „und“ Reuter, weil fie nie-
derdeutſch fdreiben. Bei Kleift und Re-
thel aber wird gerade bdurd die Bere
fdiedenbeit der Mittel ihrer feeliihen
Offenbarungen der Wefensfern des einen
duch das Werk des anderen ftarfer ins
Grlebnis gehoben.
Rethel und Kleift find biftoriih. An-
ders als Menzel oder etwa Hebbel. Sie
baben beide die Kraft, einem allgemein
in ung liegenden Hang zur Bergangen-
beit fefte Gorm zu geben. Diefes Rüdge-
wandte ift weder Sraumerei nod Gore
fbungsluft, fondern der Inſtinkt des
BGolthaften, der Trieb, die geheimnisvolle
Berbundenheit mit dem Blut derer por
uns geftaltend zu fühlen. Wie wir mit
der Natur die Gemeinſamkeit der Kräfte
des All in uns und um uns empfinden,
126
und fo das Gefängnis der Körperlih-
feit fprengen, hebt uns diefer Pulsfdlag
gemeinjamen Blutes, das Wirken gee
meinfamer Kräfte, über die Jahrhun—
derte hinweg und befiegt die Beit.
Das Gefühl für Geſchichte ift ftreng
gu trennen von dem unbewußten Leben
im Golfbaften, wie es frühere, unmittel-
bare Seiten batten. Weder das Nibe-
lungenlied der Deutſchen, nod die Dra-
men der Griechen, fo weit fie aud hi—
ftorifhe oder fagenbafte Stoffe beban-
deln, find gefdidtlid. Gie find un-
mittelbar, als lebten Die Seftalten wieder
mit dem Didter. Gefdhidtlides Fühlen
ift Bewußtbeit. Es ſchlägt alfo in frudt-
loſe Sntelleftualitat um, wenn das Trieb-
bafte ihm nidt die Wage Halt. Wir
erfennen den Begenfat: die Berirrung
der SHiftorienmalerei und biftorijden
Dramatik: die eigene Leere wird durd
einen, dem Wiffen bedeutend erfdeinen-
den Stoff drapiert. Nidt das Kunft-
wert und die Kraft, die Gefhichte bildet,
ſpricht⸗ fondern die gemalte Tatjahe. Da-
gegen der geftaltende Wille: die Kräfte,
deren Birken fid als Sichtbarkeit in
der Geſchichte niederfhlug, find in eine
Perea fo ftarf verfammelt, daß
ieſe gleihfam dag ganze Werden nod
einmal in fid und aus fid berausleben
muß. Go ift es bei Kleift und Retbel.
Sie offenbaren das Naturhafte der Gee
{didte, weil in ihnen die ewigen Kräfte
{daffen, die Gefdidte bilden. Und —
da liegt beider Sragif: Die Bewußtheit
des geldhidtliden Sinnes betont bereits
das Intellektuelle, das Wiffen um das
Zorm- Werden, das Außenftehen. Der
Wille alfo, der Gefdhidte madt, trifft
gufammen mit dem Geift, der Gefdhidte
aufzeigt. Gine Knidung in der Geftal-
tung muß die Folge fein. Beide Künft-
ler wollen die fefte, große Gorm, das
mädtige Sebilde, fie fühlen, daß, wie in
der Sefdidte, fo in der Kunft immer
nut die große Perfönlichfeit das im
Bolf triebbaft Wachſende verwirflidt.
Sie rüften fid) gegenüber dem lnflaren
des Sriebbaften mit der feſten Realität
des Hiftorifhen. Sie erzwingen in ihrem
biftorijmen Sinn die Form nad früheren,
toßen Borbildern: Kleift nah Aischy—
08-Sophofles-Shafefpeare, Rethel nad
den Stalienern der Renaiffance und den
Deutichen derfelben Zeit. Bei beiden alfo
eine romantijde, typiſch Deutide Täu-
fhung. Sie fuden das Leste irgendwo
außen, wie die @oten und Staufer in
Stalien und breden die gerade Kraft
ihrer Gigenart. Aber wir reden wider
Schickſalhaftes. Bielleiht ift das Herpi-
{de dieſes Srrtums gerade das Herrlide,
diefe Berftridung von Kraft in Gedantk-
lichkeit, Gebnfudt, Grübeln. Go entftebt
im ,®uiscard“ der Brud gwifden grie-
chiſchem und deutfhem GFormwillen, fo
wirft in Rethels Karlsfresten der Kone
traft awifden marfiqer ®ermanennatur
und raffaelitifdem Rompofitionsfdema.
Des Wefens Kern bei beiden ift dod
die harte, zum Widerfturm bereite Kraft.
Das Segeneinander, die Geftrafftbeit des
Kampfes. Man muß Kleift’s Rhythmus
in feinem Prängen, Wettern, Stürzen
erfühlen und Rethels Linien verfolgen:
die Größe, Härte ftedt ganz im Un-
bewußten und es fdeint oft, als geben
fih beide Künftler Mübe, die Herbbeit
zu glätten. Es ift nur ein anderes
Dort, wenn wir für diefes Wefen des
Widerftreit3S die DBezeihnung „dDrama-
tijd“ feben. Daher muß Kleift drama-
tifh fein, ob er nun Dramen, Novellen
oder Sedidte fchreibt; fo ift aud Rethel
dramatifd und zwar am meiften, wenn
er nidt durd die in feiner Zeit fo un-
perfinlid gehandhabte Technik der Del-
malerei emmt wird. Wir finden ihn
felbft in Teiner Urfprünglichleit in feinen
Seidnungen. Wenn Rethels Cbhriftus
beimlos über das weite Land fchreitet,
ift e8 nid@t Trauer, die über der Dede
liegt, fondern ®emwitter und Sturm, und
aud das Gchreiten des Oottesſohnes,
das Wehen feines Mantels hat die ge-
baltene Kraft, die fid im Sturm ent-
feffelt. Wenn Rethel eine erbarmungs-
reihe Wärtyrergeſchichte bildet, wie etwa
die Zeihnung mit der Steinigung des
Stephanus, wo der Sterbende für feine
Mörder, die ihm den armen Leib zer-
fchmettern, um Gergebung bittet, wird
eine Rampfatmofphäre aus dem ©anzen.
Selfen, Baume, Wetterwolfen und fah-
les Geleudt türmen fid dräuend gegen-
einander auf. Die großen Werfe Rethels
find gang fleiftiih. Der Totentang, diefe
größte germanifde fünftleriide Sat viel
idt der ganzen neueren Zeit oder der
Zod als Würger entfpreden der damo-
niſchen Seele Kleifts; bei dem lebteren
mag man an die Beltihilderung des
„Buiscard“ denken, die Majeftät des
Gerweften im Kopf des toten Karl, der
dod ein Herrfder bleibt, por dem fid
alles beugt, wirft wie der peftperfallene
Normannenbergog Kleifts. Immer wie
der ift es Der Wille, fid an anderem
großen Wollen zum Kampf zu ftählen,
und der Hang gerade zum Unmöglichen,
gu dem Brud, der diefes Wollen zer»
ftört und gugleid) verewigt. Das lebt
bei Rethel in der Idee Des Hannibal»
guges, in der Freude, große Herrfider
und Helden darguftellen. Lind mit einem
geheimnisvollen Zwang zieht ibn immer
wieder gerade das ordifde, das fid
im Süden verblutet: Barbaroffas „Tod
in Kalyladnos“, „Manfreds Beftattung“
und, nad meinem ©efühl das Größte:
„Der Gabnentrager®. G3 ift, als male
Rethel fein eigenes Schidjal, dieſe zer-
marternde Gebnfudt und Anftrengung,
deutihe Kraft mit fidlider Gorm zu
vereinen. Gaft wie eine Parodie endet
diefer verzweifelte Kampf: auf feiner [eb-
ten Stalienreife, in den Sagen des end»
gültigen geiftigen Zufammenbrudesg, zeich-
net er, Der Rraftvolle, Dramatifhe —
Guido Renis Aurora nad! Und — trog
der beginnenden Anſicherheit, wo mit
dem @eift die Hand ftodt, ift aus dem
weiden Borbild ein marfiger, perfinli-
der Rethelftil geworden. — Aber der
Sabnentrager: Das Heer der Staufen
ift sage Die Lehten fnien, Der
@nade des Giegers fid überliefernd, am
Boden und legen ihre Waffen por fic
Da fpringt von einer GFelsflippe, über
einen Toten wegfetend, der Fahnenträger,
der die Schande nidt überleben Tann,
mit dem freien Reidsbanner in Die
fhäumenden Wellen. Das Blatt ift eine
Tuſchzeichnung. Aber man fühlt die
Garbe, das Rot der vergifdenden, von
Wolfenfeben umfampften Sdladtfonne
wie Blut. Der Himmel ift ein Auf
fhäumen und Aufraufhen wie drunten
das Waffer, das um den dunflen GFels-
blod fprigt. Und mitten durd das Dra-
ma der Natur febt die Jumpfumfdlun-
ene @eftalt des Springenden, die ein
enſch ift und dod mehr als ein Menfd,
eine Idee, todestrobiger und ewmiger
Wille, der Geheimnis bleibt und über
dem einem das Wort im Mund ftirbt
wie über dem Wunder eines ftürzenden
Sternes oder einer Lawine. Aber Kleifts
Worte aus dem „lebten Lied“ Flingen
einem ins Obr bei dem Bild:
„ind ftärfer raufht der Sänger in die
[Saiten.
Der Töne ganze Macht Iodt er hervor.
Gr fingt die Luft, fürs Vaterland zu
[ftreiten,
And madtlos fchlägt fein Ruf an jedes Ohr.
nd wie er flatternd das Panier der
[Seiten
Sid näher pflanzen fiehbt bon Sor gu Tor,
Schließt er fein Lied, er wiinfdt mit
[ibm zu enden
Mind legt die Leier tränend aus den
[Händen.“
Sh müßte feine größere Apotheofe
Kleifts auf fein Leben, Dichten, Sterben,
als dieſes Bild Rethels.
Der Seift des Wibelungenliedes ift
der Oeiſt Kleifts und Rethels. Gr ift
Damonie von Kampf, Grife, Kraft. Zu
Kriembild gehört die Penthefilea. Kein
Wunder, daß Rethel den Geftalten des
127
Liedes Gorm geben fonnte. Wie madtig
und trauerjhwer wirft das Hodbheben
des Leibes vom edlen Rüdeger, den die
Helden, die ihn erihlagen mußten, im
Sode nod ehren. Diejes Haupt des Toe
ten in feinen mädtigen Linien ift Aus-
drud der germanifden Seele, die lebens-
freudig und todesfreudig ift, gut wie ein
Kind und wild wie ein ,gefriimmter
Tiger“, um mit einem Beifpiel aus
dem @uiscard zu {dliefen.
Ludwig Benning hoff.
Der Beobachter
Sire der wunderlidften Streitfalle ift
der Streit um das Flaggen der deut-
hen Botſchaft, als Wilfon geftorben
war. Die Dinge liegen für jedes flare
Auge flar. Wilfon hat dem deutſchen
Bolfe das Wort gebroden, auf das es
all feine Zufunft gefebt hatte. Gin Treu-
brud ohne gleiden in der Weltgefdhidte.
Gin taftvoller Menſch konnte von feinem
Deutfden verlangen, daß er Wilfon eb-
ren folle. Nun aber war Wilfon einmal
amerifanifher Prafjident. Bei dem ftar-
fen (für unfer Gmpfinden übertriebenen)
Nationalismus der Amerifaner erwiefen
fie dem toten Manne Ghre, der, als er
nod lebte, dem amerifanifhen Bolfe feine
Ehre gemadt hat. Wir Deutihen adten
nidt Wilfon, aber wir adten das ameri-
faniide Golf. Wir fonnten durd die
Slagge niemals einem Wilfon, wohl
aber dem amerifanifhden Bolte
in feinen von ung nidt gu teilenden ®e-
fühlen Adhtung erweifen. Daraus ergibt
fih das praktiſche Verhalten ganz einfad.
In Breda in Holland erſcheint eine
Zeitſchrift „Boekenſchouw“ (ſprich:
Bukenſchau, d. i. Bücherſchau). Sie macht
über unſer „Deutſches Volkstum“ fol—
gende entzückenden Angaben: „Es ſpricht
aus dieſer Zeitſchrift eine beinahe heid-
nijde Anbetung des deutſchen Geiftes
und der reine Wille und es fdeint uns,
daß diefe Wenfden der Welt nichts
andres zu fdenfen haben als geiftige
Barbarei und DVerwilderung.“ &3 wird
unfern efern Vergnügen maden, zu ere
fabren, daß unfre Zeitſchrift Den Deutiden
©eift ,anbetet* und daß wir Barbarei
und Gerwilderung verbreiten. Aber der
unverwilderte Hollandsmann ift gutmit-
tig: tro unfrer VBerworfenheit bettelt
er uns (überflüffigerweije in hochdeutſcher
Sprade) an, ihn „Durch LUeberlaffung
bon Bejpredungsitiicen für Die Monats»
{drift Boefenfdouw in die Lage zu ver
feßen“, uns „zu dienen“. Wir warnen
die Deutiden Berle ae vor dieſer würde»
Iofen Bücherbettel-Ginrihtung in Breda.
Wir maden unfre bolländiihen Freunde
darauf aufmerffam, wie unguverlaffig diefe
„Bücherſchau“ beridtet. Sur Ghre der
Holländer nehmen wir an, daß die Bü-
128
Herihau-Holländer gar feine edt Hol
ländifh empfindenden Menfden find, fon-
dern zu jenen Iournaliften gehören, die,
obne Oprgeis nad) Wabrbeit, rings um
diefen Planeten herum die literarifche
Berleumdung des deutihen GBolfes aus
ganz beftimmten ®ründen betreiben.
Yyıles foll fparen. Alfo müßten unfre
Volksvertreter mit weithin leuchten
dem Beifpiel porangehn. Aber — der
GolfSvertreter bindet fid nit an Bei-
fpiel und Braud, er fteht auferbalb der
Dinge. Die Regierung fdlagt vor, die
Reidhsboten mddten auf ihr Borredt,
erfter Klaffe zu fahren, verzichten. Gin-
ftimmig lehnen e8 die Golfsvertreter
ab. Keinem bon ihnen fdeint es peinlich
zu fein. — Deutfdland foll arbeiten und
jdaffen. Beamte follen nidt unnütz be»
zahlt werden. Die Progeffe follen nicht
Monate liegen bleiben, bis fein Menſch
mehr daran Verſchlag hat, was heraus-
fommt. Alfo fdlagt der Suftizminifter
por, daß bei den AWmtsgeridten die Gee
ridtsferien wegfallen follen, bei den
übrigen Gerichten follen fie nicht mehr
bon Mitte Juli bis Mitte September,
fondern nur den einen Monat Auguft
dauern. Wehe, mebe! erjhallt es im
Rechtsausſchuß des Reihstags. (G8 fiben
nur Suriften drin.) Das Heiligtum der
®eridtsferien foll ihnen genommen were
den? Rechtsanwälte und Suftigbeamte
follen nur vier oder fünf Woden {lr-
laub haben wie aud andre Beamte?
Nein, zwei Monatel Als ob ihnen
dur Abfaaffung der Seridtsferien, die
längſt ihren Ginn verloren haben, ihr
übliher Urlaub genommen würdel So
berreift unfereiner bei den Obergeridten
vier Woden und die übrigen vier Wo—
den hat er Zeit zum Nidtstun gu Haufe.
Da ein Genat jest nur mit drei Mit—
gliedern bejebt ift, fommen die übrigen
Obergeridtsmitglieder gar nidt Daran,
daß fie beihäftigt werden fünnen. Aber
die Juriſten im Redtsausfhuß des
Reichstags willen, was ſich ziemt. 3
D er norddeutſche Bauer wird wach, von
Often bis Weſten gerät das Bauern-
tum in Bewegung. Erſt mußte die Not
aud ibn erfaffen, ehe er fid um die
öffentlihen Dinge kümmerte, die das
rong Golf bedrüden. So ift der Deut-
er wird erft politifh, wenn die Not
Ir "dazu zwingt. Bis dahin ließen ihn
alle Herausforderungen falt, er bee
gnügte fid, wenn er Hof und Dorf in
Ordnung balten fonnte. Roc böhnt man
in Berlin über die Bauern. Einer von
denen, die ihre Namen unter Pfeudo-
npmen verbergen (Mid. von Linden-
beden) didtete am 22. Sebruar im „Bor«-
warts“ über den „Iungbauern“: „Kriegs
ernährung blieb ihm — gottlob — gang-
lid fremd. / Heißhungrig frißt er tags
über zwecks vaterländ’iher / Srtüdhti-
ng. Nadhts in Hofe und Hemd /
Pelee er bei die Menfder.. .“
lid madt ,Midael von Lindenheden“
bald die perfinlide Befanntidaft mitden
Menſchen, die er aus dem fideren Ver—
fted der Anonymität befingt, damit er
ihre Lebensart in richtiger Weiſe fennen
lernt. — Bir find von je der Meinung:
eine auswärtige deutfhe Politif wird
erft wieder möglid, wenn der Bauern-
ftolg und der praftiihe Wirklidfeitsfinn
bes Bauern im Auswärtigen Amt re-
giert. Seit Bismard ging, bat dort der
Bauer gefehlt.
Noch einer von den vielen, die im
„Vorwärts“ deshalb pſeudonym
ſchreiben, damit der Arbeiter nicht merkt,
wer es iſt. Diesmal nennt er ſich nach
dem berühmten alten jüdiſchen Hiſtoriker
„Joſephus“. In einer Nummer, in der
ſich der Vorwärts oben über „deutſche
Taktloſigkeit“ entrüſtet, begeht „Joſep⸗
Be Solgendes: In einem Auffat plau⸗
erte Leopold von Wiefe über feine Ju—
genderlebnilje in der Kadettenfhule zur
BWablftatt. Gin Stubenältefter warf ‘mit
tintenfeudten Stablfedern nad) den Köp-
fen der Seztaner und beluftigte fid, wenn
die Federn in der KRopf aut ſtecken⸗
blieben. Alfo eine bon jenen gedanfen-
Iofen Sugendrobeiten, wie fie gelegent-
lid vorkommen, nit bloß in Radetten-
fulen. Ahl fällt dem „Joſephus“ ein,
aud Hindenburg war Kadett in Wabl-
ftatt. ind er fdreibt (man genieße den
Sargon im Gabrbhythmus): „Kein pater
landsfrommes3 Lejebud) und "teine verlo-
gene Hiftorie von der Gitte, der Gered-
tigfeit, der Tapferkeit, der Humanitat
eines GeldOmarfdalls (Hindenburg)
und eines Generals (Ludendorff) were
den e3 mid) vergeifen laffen, daß unfere
(jawohl: ,unfere“ fteht da) Generale,
unjere §eldmarfdalle, unfere Führer im
Weltirieg aud einmal Gefundaner in
Radetten|dulen waren und mit ro fti-
gen Stablfedern in die Kopf-
bäute ihrer Kameraden fta-
hen... Hier wuds jene Kafte heran,
die uns (uns) durdh Peitfhe und Mo-
nofel, durch Adfelflappe und nafales
Kommando notziidtigte. Lind wir waren
nist einmal ihre jüngeren Kameraden!
Diefen ftedte man nur Gtahlfedern in
die Kopfhäute, uns ftedte man mitjamt
unferer Kopfhäute in die maſuriſchen
Sümpfe.“ Verdient hätte es „Joſephus“
ob dieſer Niedrigfeit, daß er in Die ma—
furifhen Sümpfe erniedrigt worden ware.
Da der falſche Joſephus fo febr über
die Radettenf{dulen fdhimpft, wollen
wir daran erinnern, wie es zur Zeit
des ridtigen Bofephus in den Rabe
biner ſchulen bergi ng. Die Rulturge-
{Hidte verzeichnet, Daß es Obrfeigen und
©eißelhiebe fette und ein Anfahren, dah
„dem Schüler der Speichel ins Sefidt
flog“ Was nod peinlider ift als
roftige Gtablfedern. Und dem Schüler
war der Kadapergeborfam zur
Pflicht gemadt, er mußte es fid gefallen
lajfen. Es foll fogar fo geprügelt fein,
daß der Sod eintrat. Aehnliches ift
felbft heute im jofepbinifmen Freund»
ſchaftsleben nidt ausgeſchloſſen: Weiß-
mann und Kerr! Darüber ſchweigt das
Geuilleton des Vorwärts.
gyrierm Herzblatt, unferm Augapfel,
unferm @oldfindden, unferm lieben
Alfred Kerr ift ein Malbeur paffiert!
Beinahe hatte er Priigel befommen! Wehe!
Was find das für Zuftände im Lande der
Deutſchen! Und ſchuld daran ift der preu-
ßiſche, allerdings nidt gexabe urpreußifhe
Gtaatsfommiffar für Die öffentlide Gi-
derbeit, Weifmann, der obendrein Kerrs
leibhaftiger Schwiegervater ift. Wer foll
nod fider in dem „finftern, duftern Gru-
newald“ wandeln, wenn nit der Schwie-
gerfohn des preußifhen Sicherheitsfom-
miffars? Sedes neue Zeitungsblatt aus
Berlin bringt neue Darftellungen über
das tieferfhütternde Greignis im Grune-
wald. Wir aber glauben nur, was
Alfred Kerr felber glaubt, denn wir fa-
gen mit ©oethe: „Ich laffe mir meinen
Alfred nicht fchelten.“ Alfred Kerr Hat
ftreng „lahlih“ die Schaufpielerin Nil-
fon fritifiert. Sie war allerdings gar
nidt aufgetreten und er hatte nur neben-
bei etwas von ,,Borftadf{daujpielerin*
gemurmelt. Wie alfo fann fid die Dame
über eine fo weit getriebene Sadlichfeit
empören? Und gar ihr Befdiiber, der
Staatsfommiffar, Der „in Spielerfreifen
verkehrt“? Weifmanns fdwarge Geele
aber dingt einen Gpielflubbefiter, der
Dingt einen Greund, der dingt abermals
einen Greund, der den Schübling des
edeldenfenden und edeldingenden Herrn
129
Weifmann bandgreiflih raden foll. So
zeugt fie fort, die böfe Sat: Weifmann
zeugete Gijder, Fiſcher peucete Jxmann,
Ixmann zeugete Wiedenbein. Aber alles
De et in diefer Welt. Wiedenbein
— fo hieß die Ganaille — bradte in der
entjdeidenden, düfterdräuenden Stunde
nit mehr die Geelenfraft zu der fünf-
bundert Goldmarf ſchweren Obrfeige aur.
Germutlid war er durd die hobeitsvolle
Reinheit feines Opfers telepathijdh über-
tounden. Gr 30g e3 vor, das Geld ohne
Meudheltat zu verdienen. Nun befam der
rüdjihtspolle Meudeltaterid von beiden
Seiten „feine Auslagen erjegt“, die ihm
aus feiner Gernehmung erwudfen. Bie
leams Gjel foll weisfagen über die Gee
beimniffe der Mordnadt, aber er ſchwankt
gwifden den beiden Bündeln Heu. Gin
ſchwieriger all für das Geridt. — Kerr
telepbonierte an Stefan @®rofmann für
den „Montag Morgen“: „Sch habe zwei
Kinder, ich fürchtele für" mein eben.“
Gr bat aud heute nod zu fürdhten; denn
wer weiß, ob nit heute nod ſchwarze
DWeißmänner ihn blutgierig und mitter-
nadtig umlauern? Wir fordern mit
aller Gnergie, daß der preußiſche Staats-
fommiffar für öjfentlide Siherheit unferm
Alfred, diefem foftbarften Schab der peut
fen Nation, eine Rompagnie Sipo
leibliden Sicherheit beftellt. Alfred
Orofe darf unter feinen Umſtänden fi
einer Gefahr ausſetzen, er wird zur näch⸗
ften Premiere in Bededung von fünfzig
Gipoleuten mit Handgranaten und ®um«
milnüppeln erjheinen — mie es einer
folden Majeftät gebührt.
Zwieſprache
Das Heft mag auf den erſten Blick et-
was bunt äufammengefebt erj@einen.
Aber e3 hat ein Thema: Führer und
Boll. Womit könnte diefes Thema befjer
eingeleitet werden als mit Robert Ouis⸗
fard? Sugleid wollen wir damit auf die
Arbeit der Deutihen Bühne in Hamburg
binweifen, die unter Benningbhoffs Leis
tung den ©uisfard im März aufführen
läßt. In Seiten wie DdDiefen folIte
Kleift die Spielpläne der deutfhen Büh-
nen beherrſchen. Ab, wir können nidt
einmal fragen: wer beberrfdt fie? fon
dern nur: was beberr{dht fie? Was?
Das Geſchäft. Das Geſchäft beberridt
die Friedensvertrage der großen Staaten,
warum nidt aud das biſſel deutides
Theater, das nod immer gemimt wird
trop Kino und Radio? Geidenftriimpfige
und nadtbufige Schaufpielerinnen tanzen,
vor dem Parfett von Olabfipfen mit
ibrem geiftig gu Diefer Sorte Kultur
beran,,gereiften* weiblihen Zubehör, ums
— Kalb, nachdem, fie fid) binder-
Atavismen“ wie Ehr⸗ und Sdame
— — wegkokainiſiert haben. „Keß“ lau⸗
tet der Jargon⸗Ausdruck im Lande Bere
lin dafür. Gterbendes Boll.
Aber die Zukunft fproßt da, wo klei—
ſtiſche Leidenfhaft nod die Herzen auf
zumwühlen vermag, wo man nod mit
Beben den Adlerſchrei feiner ftürmen-
den Worte vernimmt. Wie ftürmt
die Spradhe Rleifts! Oft über ganze
geilen leife donnernd Hinrollend, ſchlägt
und blitzt pliglid mit gellendem Zon
das Wort, das fih in dem Bewölf fam-
melte, um alsbald jah aufguleudten.
Sprade und Berfe Kleifts find gewit-
terbaft. Und nur Scaufpieler, die
130
ſchweren, zäben, eifernen Zorn, aus der
Bändigung jah berporbredend, im Blute
baben, finnen fie fpreden. Ginige der
berrlidften Gerfe Kleift3 aus dem Suis.
fard beſchließen diefes Heft. Wir haben
die Ddonnernden und blikenden Worte
durd den Drud hervorgehoben. Zu fol-
Ken Worten paffen nur Rethels Bilder
vom tragifhen Heldentum.
Neben I erfdeint der milde,
weiblidere Schleiermader. Gr möge
unfre beutigen religiöfen Weltbürger,
die das GChriftentum zu blofem Pazi-
fi8mus deprapieren, erinnern, wie „ent
ſetzlich nationaliſtiſch“ einft ein Hriftlider
Deltbürger, der wahrhaftig nicht ,fid-
tiſch“ war, dadte. Wir wmeifen dabei
auf die Ausgabe von Schleiermachers
»Daterlandijden Predigten“ Hin, Die
Pfarrer Shriftian Boed im Staatspoli-
tijden Gerlag in Berlin erfheinen lief,
fowie auf deſſen ebendort erfdienene
Schrift: „Schleiermaders vaterländiſches
Birken.“ Gine hübſche, umfaffende Aus-
wahl aus den Predigten und Driefen
bat Hans Boelter im Verlag für Volks—
funft, Ridard Reutel, Stuttgart, ber»
ausgegeben unter dem Sitel ,Deutfder
Ölaube, Worte Sdleiermaders an das
deutihe Bolt“. Das find Ginfegnung3s-
eihenfe für den geiftigen Seil der deut-
den Sugend in diefer Zeit.
Die beiden lebten Auffäße geben & uf
die Gegenwart. Claſſen za einen WD
der Fübrerausbildung in Der nobernen
Großſtadt: nit bloß Nationaldfonomie
und Gogialpolitif „jtudieren“, fondern:
Einige ind Bolf, felber febn, hören,
beobadten und beadten. An Claſſens
Sorderungen dadte id mit, als id den
Reitauffag des Sanuarbeftes fdrieb.
Das ift der Weg des Führers.
Meinen Aufſatz bitte ih nicht zu
überjeben, er ift mir diesmal befonders
widtig. Ich glaube, er wird gefühls-
mäßig bei mandem Lefer auf Wider-
{prud ftoßen. Meinem eigenen Herzen
find dieſe Dinge nit leidt. Aber id
bitte, ihn beim Leſen mitgudenfen. &3
fommt darauf an, ob die Gedanken falſch
oder richtig, nicht, ob fie angenehm oder
unangenehm find.
Hanns Johſt fdeint uns bon den
neueren Didtern, die wir nod nidt
würdigt haben, der gu fein, der am ehe-
ften in den Zufammenhang dDiefes Hef-
tes gehört. — —
Denn id mid erfenntnismäßig zu
Anſchauungen gezwungen febe, wie id
fie in dem Auffat über die wirtichaft-
lide Antinomie ausfprede, fo mag ed
feltfam erfdeinen, daß wenige Menfden
fo ftarf auf mid gewirkt haben wie einft
der DdDeutid-amerifanifhe Theologe Wal-
ter Raufdhenbufd aus Rodefter. Sein
berühbmtes Bud „Ebhriftianity and the
Social Erifis“ bat mir außerordentlich
viel gegeben. (Befdamend, aber wahr,
daß fid für die Leberfebung diefes Bu-
des einft fein deutſcher Gerleger fand,
während jede Romanüberfegung aus dem
Stanzöfifhen ihren Gerleger fand.) Der
Marburger Profeffor D. Karl Budde
befpridt in diefem Heft Raufdenbujd’
letztes Werf, das deutid im Rotapfel-
Verlag erfdien. Ich felbft fonnte es erft
„anlejen“, ih muß mid mit dem Werke
nod) griindlid auseinanderfeben. Daß
Rauſchenbuſch im Kriege ftarb, ift ein
unerjeblider Berluft, er gehörte gu den
religidfen Gogialiften des Herzens.
Nod am 23. April 1915 fandte er mir
fein ,Dare we be Ehriftians?“ Er fdrieb
mir damals: „Der Krieg führt entweder
gum Sujammenbrud oder zu notgeziwun«
gas Tüchtigkeit, zur Zujammenfafjung
er Kräfte, und der Kapitalismus iſt un—
polltommene Organifation, gemäßigtes
Parafitentum. Die großartige Tiidtig-
Teit Deutichlands, die man bier teils frei
teils fauer allgemein ‚au eftebt, berubt
auf feinem Borfprung in der Aneignung
des pofitiven ®ehaltes des Sozialismus,
und die Konkurrenz der Völker nad dem
Krieg wird in derjelben Linie ausge»
fodten werden.. Gine neue DWirt-
ſchaftsordnung muß fih meift Durd ir-
eine Gorm des Bwanges zuerft
urchſetzen. DBloße Bernünftigfeit ift zu
{hwad. Deshalb ift die ,ftarfe* Regies
tung Deutidlands den ſchwachen· Re⸗
gierungen in d. demofrat. Ländern por
aus. Wir Söhne Deutfdland3 in
Amerika folgen natürli mit ergriffenem
Herzen dem ganzen Ringen. Wir haben
die Gorge und den Schmerz mehr zu
teilen gehabt alg den Stolz und den
neuen ®eift. Deutide, die in rein ames
rikaniſchen Segenden wohnen, fühlen fid
vereinfamt...“ (Golgen perfinlide Gre
lebniffe.) — —
Sebt im März find es zwei Sabre
ber, daß id jenen Kompler von Fragen
der Boltsbiologie und Bolfsfittlidfeit be»
bandelte, unter den der Reigen-PBrozeß,
die Nadttänze und ähnliches fallen. Da-
mals ſchrie unfer lieber Kerr im Berliner
Sageblatt in fprigender Wut: Berflagt
ibn! Gerflagt ihn! Aber er ging nit
gum Kadi. Der von mir lebhaft ange»
griffene Wolfgang Heine aud nid.
Wobl aber folgten dem reifigen Rufe
Grau Sertrud Eyſoldt, an die id über-
baupt nidt gedDadt und die ih gar nidt
genannt batte, und Herr ~Mazimilian
Sladef. Zwar hatte ih aud ihn nidt
genannt (id hatte Kerr, Heine und andre
borgenommen), aber — tenn er fid
durdaus perfönlid getroffen fühlen
will, fo fann id ebrliderweife nicht
umbin zu fagen: id) babe aud an ihn
mit gedadt. Als Anwalt der Be
leidigt-fein-wollenden trat der nid t fla-
gende — Heine auf. Er gab an:
nicht etwa er ſich nicht aud betrof-
fen fühle, aber für ihn gäbe es Hem—
mungen, die für ſeine Klienten nicht be—
ſtünden. Im übrigen ginge das den Be—
klagten garnichts an. Hm. Die erſte
Inſtanz wies die anne gegen mid ab.
Die höhere Inftanz aber dadte: warum
foll fid das — —— nicht mit der
Frage beſchäftigen, Herr Marimilian
Sladek beleidigt ift oder nit? Gin neuer
Reigen-PBrozeß ift zweifellos eine inter-
effante Gade. Die „Tägliche Rundihau*
hatte zwar dasjelbe wie id viel fraf-
tiger und mit Nennung Sladefs gejagt,
aber — Sladef (bezw. Heine) 30g es vor,
fid durh mid beleidigt zu fühlen,
Alfo „lief“ der Prozeß mit Terminen
und Gcriftfäßen. Im Dezember 1923
wurde Arthur Sdnibler in Wien ver»
nommen. Und für den 16. Sanuar 1924
fete dag Schöffengeriht den Hauptter-
min an. Suftament! Senn am 15. Sas
nuar faufte die Guillotine der Suftia-
Notverordnung nieder, und aud der
fine neue Reigen-Progef, der Jhon fo
nett gediejen war, fiel diefem bethlehe-
mitiſchen Kindermord zum Opfer. Ich
bin nun neugierig, ob Wolfgang Heine
im April die Wiederaufnahme des Ver—
fahrens beantragt, damit endlich heraus—
geknobelt wird, ob Herr Sladek ſich ya
mir beleidigt fühlen darf oder nicht.
ir dod unbebaglid, wenn man das nit
weiß! — Wun war der Reidsprajident
131
im Suni 1922 (offenbar ein frudtbares
Beleidigungsjabr) von dem Miindener
Dr. Sanfer des ,Hodverrats begidtigt
worden. Der Reidhsprajident Hagte nae
tirlid. Wolfgang Heine, unfer intimer
®egner, war fein Anwalt. Schließlich
aber 30g der Reidhsprajident auf Anra—
ten Heines die Klage zurüd, da der
Gadverbalt aud ohne den Mündyener
Schlußtermin hinreidhend geflart fei. Und
„et bat fid hierzu um fo mehr entfdlof-
fen, al3 er infolge de3 feit der Beleidis
gung mehr alg neungebn Monate hin—
gesouchert Gerfabrens ein Sntereffe an
er weiteren Strafverfolgung nidt mehr
batte.“ Das Berfahren gegen mid ift
noch länger hingezogen. Ob in Diefem
Sall Heine nod „ein Sntereffe an der
weiteren Rechtsverfolgung“ bat? Oder
ob er die Frage tae der Beleidigung
oder Nidtbeleidigung Sladefs für wich»
tiger halt alg die Frage, ob der oberfte
Reiter des deutihen Staates eine Bee
ſchuldigung ſchwerſten Kalibers ungefühnt
bingebn laſſen darf? Wichtig fheint mir
meine Gade nidt, aber ein bijjel neugie-
tig bin ih bod. (Ich teile dies alles
mit, weil id fo oft gefragt werde, was
denn „mein Prozeß“ eigentlid) made.
Außerdem find zwei Sabre ja ein nettes
tleines Subilaum.) — —
So eifrig id in unfern Sagdgriinden
auf Drudfebler pirfhe — weiß der Him-
mel — es bupft dod immer einmal wie-
der ein Teufelchen Amgelehn binterm
Bud ins Heft hinein. In dem ſchönen
Gedidt „Der Tod“ von Avenarius muß
e3 in der vorletten Strophe nicht heißen:
„Der Baum wird felber Leben“, fondern
„der Bau...“ nd in dem Zitat aus
Hermann Claudius' „Silberfhiff“ (S. 81)
fehlen ein paar Worte. &3 muß beißen:
w+. und alles Leid. Lind ein Lngefann-
tes, das gwifden beiden fdwingt. ..“
Wenn in dem Auffak über Apenarius
der Gentiv „des Kunftwart“ vorfommt
(G. 69), fo entfpridt das nicht meinem
Spradgebraud. G3 gibt Leute, die einen
folden Refpeft vor allen Namen haben,
daß fie fie nidt gu deflinieren wagen,
fondern wie unbehauene Blöde im Gag
liegen [affen. Ih pflege aud) Namen
zu deflinieren, alfo: de3 Runftwarts. In
meinem Auffaß über den „Brud in der
Sugendbewegung“ (der allerlei Wider-
fprud fand) babe ih zwar auf den Drude
fehler „Kleidungsmw eifen ftatt ,Rlei-
dungs wefen gefd@offen, aber das gabe
Bieh war nidt umzubringen. —
Zur nordjhleswigihen Frage bringt
Shmidt-Wodder in der Neuen Tonder-
fhen Zeitung vom 12. Gebruar einen
Auffa über „Schweden und die deutih-
däniſche Spannung“. Wir fommen im
nadften Heft darauf zurüd. Diesmal
paßt's mit dem Raum nidt. —
Wenn die Formulierung und befon-
ders der Schluß meines Auffabes über
die wirtihaftlihe „Antinomie“ an Kant
erinnert, fo ift das natürlih nur_eine
fohriftftellerifde Gorm. Das RKant-Subi-
iäum wirft feinen Schatten voraus. Auf
Rants zweihundertften Geburtstag wer—
den wir, troß unjrer Subilaumsfeind-
fdaft, eingehen und ein Rant-Heft ma-
hen. Wegen Beratung fiir Kant- Feiern
wende man fih an die Gidte-Gefellidaft.
Eben hat der Hitler-Prozeß begonnen.
Was wird in Deutihland angeklagt
und was herrſcht in Deutfhland! Wir
beneiden die Leute, die da gu Geridt
figen miiffen, nidt um ihre Aufgabe.
Aber am wenigiten die Tages{driftftel-
ler, welde die Angellagten gweds par-
teimäßiger Beeinflujfung des Bolfes auf-
tragsgemäß herunterreißen miiffen. St.
Stimmen der Meifter.
Daß kühn die Rede dieſes Greiſes war,
und daß fie ſtolz war, ſteht nicht übel ihm;
denn zwei Gejfdledter haben ihn geehrt,
und eine Spanne von der Gruft foll nicht
des Dritten Giner ihn beleidigen.
War mein das fede Bolf, das dir miffallt,
id möcht’ es anders wabrlid nit als fed;
denn feine Greibeit ijt des Normanns Weib,
und beilig wäre mit da3 Ehepaar,
das mir den Ruhm im Bette zeugt der Shladt.
Das weiß der Guistard wohl, und mag es gern,
wenn ihm der Krieger in den Wähnen fpielt,
- allein der platte Naden feines Sohnes
der fohüttelt gleih fid, wenn ibm Eins nur naht.
Meinft
Du, e3 fönne dir Die Normannsfrone
nit fehlen, daß du did fo trotzig zeigft?
Durdh Liebe, hör’ es, mußt du fie erwerben,
das Recht gibt fie dir nicht, die Liebe fann’s!
132
Heinrid von Kleift.
Neue Bücher
Balter Raufhenbufd, Die religiöfen
Grundlagen der fogialen Botfdhaft. Aus dem Eng-
liihen itberjegt von Clara Ragaz. Mit einer Ein-
leitung von Leonhard Ragaz. 332 &. Rotapjelverlag,
Erlenbach⸗Zürich.
Der Titel des Buches iſt leider irreführend über—
fegt; er beißt englifh „A Theology for the Social
Gospel”, zu deutſch „Eine Theologie für das foziale
Evangelium“, nicht „die ſoziale Boiſchaft“, wie Ragas
©. 20 wiedergibt. Daran irgend etwas zu ändern lag
fein Grund vor, — Entſchuldigungen S. 20 j.
Das Buch will die Frage beantworten (vgl. ©. 173
den erften Gab und gabllofe Stellen), welche Geftalt
die chriſtliche Glaubend- und Gittenlebre für das
fogial verjtandene Evangelium anzunehmen babe,
welche Glaubensjäge dann in den ordergrund,
melde zurüdtreten oder gar ausfallen dürfen, und
wie die einzelnen aufgefaßt, aus- und umgeftaltet
werden miiffen, um für das joziale Evangelium recht
aur Geltung zu fommen. Nach drei einleitenden Ra-
piteln über das foziale Evangelium wird dad ganze
Spitem durchgearbeitet, am eingehendften zu Anfang
der Begriff der Sünde und des Böfen; dann die Er»
Idfung, das Reid) Gottes; der Gottesbegriff; Heiliger
Geift mit Offenbarung, Jnfpiration und Prophetie;
Taufe und Abendmahl; Esdatologie; Berjöhnungs-
lebre. — Daß für die fosiale Auffaffung des Evan-
et erſt nod gefampft und um fie gerungen wer-
en muß, möchte auffallen und erflart ſich wohl vor
allem aus der amerilanifhen Heimat des Buches.
Sie verfteht fic) ja von ſelbſt angefichts bes anderen
der beiden Gebote, in denen nad dem Worte des Hei-
lands das ganze Gefeg und die Propheten hängt: „Du
foljt deinen Nächſten lieben als dich felbft“. €8 be»
rührt wohltuend, daß Raujdenbujd &. 64 f. al feine
Vorgänger die gejchloffene Reihe der größten deutiden
Theologen der Neuzeit, Schleiermacder, Rothe, Ritfchl,
Herrmann, Tröltſch aufführen fann, wie er denn andere
warts Martin Luther feinesmegs vergift. Aber dak
er mit der Forderung des fozialen Evangeliums nun
bollen Ernft madt, daß er e8 der inbdipidualiftifhen
Auffaffung gegenüber auf Schritt und Tritt zur Gel»
tung bringt und überall nacweift, wie e8 das Chri«
ftentum vertieft und erft gang ausfhöpft, das wird
niemand Wunder nehmen, der, wie wir Aelteren unter
den Marburger Theologen, —— — ausgereifte,
wahrhaft beilige chriſtliche — näher kennen
zu lernen Gelegenheit gehabt hat. Es iſt ein feſſeln⸗
des, ein ergreifendes Buch, das letzte Vermächtnis
eines der Beſten, die wir unter uns gehabt haben,
die endgültige Zuſammenfaſſung der ganzen Frucht
feines in Nadftenliebe aufgebenden Leben’. Daß es
bon einer wahrhaft freien, nah allen Seiten tief-
oründenden Theologie getragen ift, gibt ihm nur
um fo größeren Wert, wenn aud) der Herausgeber
6. 27 f. davon ein wenig meint abrüden zu müffen.
— Der Herausgeber widmet von feiner anjprechenden
Einleitung einige Seiten (24 ff.) der Gegeniibere
ftellung des Amerifanerd und des Deutichen, kraft
Bert Abftammung, in der Perfonlidfeit Rauſchen⸗
uſchs. Yn diefem Buche offenbart fic) der Ameri—
faner wohl in nichts mehr als in der grundjagliden
und bedingungslofen Verwerfung der Monardie. Sie
wird einfad als Böfes, als Sünde aufgefaßt, wie mir
felbft das drüben in Amerika wiederholt begegnet ift,
während Demofratie als das einzig Naturgemäße,
Gittlihe, Tugendhafte erfcheint. Das Chriftentum,
der Gottesbegriff und wie die Folgerungen fonft alle
lauten, müffen ,,demofratifiert” werden. „Autofratie“
und „Feudalißmus“ treten überall als fittlide Ane
Hagen auf. Wir haben diejer Grundftimmung, die
drüben alles beberrjdt, ganz wefentlid die Feindihaft
Ameritas und feine Teilnahme an dem Kriege zu
unjrer rae Dag ncaa | zu verdanfen. Den bler
Raufhenbufhs fann ih in aller Kürze nur bezeichnen
alg Berwehflungpon Demofratieund
Theofratie. Ya, wenn Gott felber, al’ Monardh
natürlihd — bei Rauſchenbuſch nimmt er unmerflid
pantbeiftifche Büge an — die Herrfhaft auf Erben
wirfli in die Hand nehmen wollte, wie man je und
je gehofft und geglaubt bat, fo wäre allem Uebel ab»
geholfen; aber wollen Menſchen fie für ihn führen,
fe wird fid) immer wieder zeigen, daß fie feine Engel
ind. Die Demofratie wird nur viele Tyrannen an
die Stelle des einen fegen, die jeder in gefteigerter
Selbftjudt bas Ihre fuden, und immer aufs neue
wird fich bewähren, daß, je fleiner der Tyrann ift,
defto gefährlicher und unbarmherziger. Wie wenig
auggefprodene Demotratien die Lehren bes fozialen
Evangeliums befolgen, das zeigt uns heute Frankreich
in jo überzeugender Weife, bab wir vor diejem Irr⸗
tum gefihert fein dürften. Raufdhenbufd fieht viel zu
Mar und ift viel gu wabrbeitsliebend, um nicht oft
genug einzugeftehen, daß die Wirklichkeit der Demo⸗
tatie febr hinter feinen idealen Borausfepungen Zus
tidbleibt, gerade aud) in feinem Heimatlande; aber
allem gegenüber bleibt doch fein felfenfeites Bere
trauen auf die alleinfeligniadyende Grundlage und not«
wendige —— der politiſchen Demokratie un-
erjgüttert. Wer diefe Anſchauung nidt teilen kann,
wird mwenigitens an den ——— und Erwartungen
Raufdhenbujhs weſentliche Abſtriche machen müſſen,
wenn auch die Grundfrage des Buches davon nicht
unmittelbar berührt wird. — Die Ueberſetzung darf
man vortrefflid nennen; da8 Buch lieft fic) im Gro—
fen und Ganzen wie ein gutgefchriebenes deutſches.
An fleinen Irrtümern fehlt ed nicht; bod find fie
verhältnismäßig felten. Einer fei bier berichtigt, weil
er das Lebensbild Raufhenbufhs ſchädigt. ©. 11 am
Ende m. e3 nicht beißen: „Bevor ich dorthin (ed
New York) ging, hatte ih an die 25 Jahre
ftudiert.” — R. wäre dann etwa 45 Jabre gewefen —
fondern etwa „bi gum Alter von 25 Jahren“, Ich
nehme an, dak im Englifhen dajteht „to 25 years”.
Der Herausgeber hätte uns mehr Zeitangaben über
die Abjdnitte in R.'3 Leben gönnen dürfen; das
einzige Datum, das er mennt, ift der Tag feiner
Geburt. Es fdeint, daß R. gleih nah der Bere
öffentlihung dieſes Buches (1918), nod vor dem Ende
des Weltkrieges, geftorben ijt. Möchte fein legtes
Werk viele Lefer finden. Karl Budde.
NihardShmidt, Einführungindie
Redhtswiffenidaft. 2. Auflage. 584 Seiten.
10,— M. Leipzig, Feliz Meiner.
Unjre Wifjenfhaft erftarcte bis jet unter ber
ah ae im Gpegialiftentum, im WMilroffopismus.
Auch bei den Geifteswiffenfdaften war e8 fo. Aud
beim Recht: der Bivilprogeffualift durfte nicht über die
Baune hinüberjehn gum Privatredtler, der Privat.
rechtler nicht hinüber gum Oeffentlidredtler. Der
NRectsftudent begann mit Feinheiten des römiſchen
Zieitprogeiien, woher feine Brüde zur Anfdauung ber
egenwart führte. angfam wird es anders. Be-
gonnen werden foll im Univerfitatsftudium mit einem
Meberblid deffen, was den Redtsjiinger erwartet.
Dazu werden „Einführungen“ gefhrieben. Zu diefen
Biidern gehört das vorliegende. Eine folde Ein-
führung darf feine tote, trodene, bloß aufzählende,
abgezogene mii gart geben, jondern muß das Rest
anfdaulid und frifd als Wirkkraft im eben, in
Wirtſchaft und Arbeit, im Gtaat und Vollstum
zeigen. R. Schmidt? Werk zeichnet fic) aus durd
eine ftarfe Betonung pbilofophifder, lebensanſchau—
lider Gedanfengange und ftellt dadurd das Recht in
den ganzen Bujammenbang und Wandel der Gefittun
und Bildung, im unfres gegenwärtigen Volks un
Staates Leben, defjen Veränderung noc feinen Ruhe—
punft erfennen läßt. Scharf ftellt er bei den leitenden
Gedanken der ftaatlihen Organifation den Irrſinn
der überfteigerten Gormdemofratie dar: bas Bolt hat
fih der Iebten acht entäußert, ber einzelne ift
fhließlih berabgefunfen und ift nur Majdinenteil
eines ungebeuren Abftimmungsapparates, er bat die
Lifte gu wählen, mag er den einzelnen iftenmann
wollen oder nicht; die Parteimafchine. der Partei»
medantsmus, ber „Gaucuß“, bas Barteifpftem ift bas
133
Entſcheidende, obgleich oder gerade weil darüber die
ee Verfafjung ſchweigt. Schmidt betont, daß
8 Redht, wenn ed Geltung in allen Volksſchichten
bean{pruden fol, auf einem Gegeneinanderwirfen und
Sich-Ausgleihen der verjhiedenen Rechtsideale be-
tuben muß. Der regelnde Gewaltentrager muß über
den Parieien ftehn, darf nicht felbft Repräfentant nur
einer Parteianfhauung fein. Fur etwas Erfprießliches
alt Schmidt das Nebeneinander von zwei Kammern,
r fommt darauf zu fprehen im Arbeitsredt,
daß er neben bas Privatre dt ftellt: unter der
Unterabteilung „Berufstörperfhaften und Arbeiter»
verfiherung“. Verheißungsvoll war ihm das Zwei—
fammer{yftem, wie es 1904 in Baden und 1906 in
Württemberg eingeführt worden ift: das eine Haus
ein Kollegium der fonfumierenden Gefamtheit, das
andere das der materiell und ideell probuftiven
Sdidten, die für daß geiftige und wirtſchaftliche Gee
deihen vor allem bie Verantwortung tragen. Nur
war ibm da8 Syſtem dort nidt ausgebaut
genug, dba die Wertreter der Angeftellien, Ar-
beiter und Kaufleute fehlten. Ueberall ent
sieht fih der Berfaffer, befonders aud im
privatredtliden Teil nidt der Auseinanderjegung
mit ber Wirllidfeit, gwifhen Sollen und Gein, und
verhüllt nicht die Gegenjage, die nun einmal oft une
überbrüdbar find. Das Bud ift nit nur für den
Rechtöftudenten, fondern jeder mag danach greiien;
er bat dadurd im Wirrſal der Gegenwart einen
Faden, der ihn vor allgugroßen Jrrtümern und alle
auweiten Abwegen behütet. . Deinhardi.
Zußculum-Büder: 1. Bd. O. Horas
tius Placcus, Carmina, lateiniſch und deuiſch.
145 6. — 4. Bd. Publius’ Ovidius Nafo, Liebes-
tunft, lateinif und deutſch. Ernſt Heimeran,
Münden.
Dieſe Bücherreihe bringt eine Sammlung lateini-
ſcher Stlaffifer, die auf der linfen Seite den Urtejt,
auf der rechten die Weberfegung gibt. Die Beitim-
mung der neuen Ausgaben tut fih in dem Namen
Tusculum fund: fie wollen dem bienen, der in ftiller,
bebaglider Stunte — procul negotiid — fi in die
alten klaſſiſchen Werke verfenten will. Ein ange»
nehmes, durdhaus nidt fdulmagiges Gemand,
Xajdhenformat, gelegentlid aud Sluftration follen
der Tusculum-Stimmung entgegenfommen. Wir
baben GSchulausgaben und pbilologijde Ausgaben
enug, endlich fommen nun dieje Ausgaben, die
ch an den gebildeten Liebbaber edler klaſſiſcher Dich-
tung und Gchriftftellerei wenden. Die gr
madt dem, defjen Latein von der Schulzeit her jchon
etwas wadlig geworden ilt, bie Leltüre ohne Worter-
bud möglid. Es ift ein Vergnügen, in dieſen
Bandden zu lefen. Wir raten, fie mıt in die Ferien
ju nehmen. — Der Horaz-Band enthält die Oden und
Epoden. (Hoffentlich folgen die Gatiren bald) Die
Meberjegung ift auf Grund von Th. Kayjer und
Mordenfly bearbeitet von Brang Burger. Man
wird fie nicht für fi lefen, fondern ald Vorbereitung
auf das bdanebenftehende Original, fo erfüllen jie
ihren Dienft. — Die berühmten drei Bücher der
„ars amatoria” des Ovid, des ungliidliden Zeit-
genoffen des Horaz, bringen die Hergbergihe Ueber»
egung, von franz Burger neubearbeitet. Ein An-
ang läßt den Aufbau des Werkes erfennen und gibt
willlommene Anmerkungen, bejonder3 zur Erfläruug
der mpthologifhen Namen. (Keine Xektüre für Lieb»
haber des ,Reigens” und des ,Qunggefellen”, fie
werden fdon nad einigen Verſen ermiiden, da man
immerhin ar und fulturbiftorifche Einftellung
u
gum Gen diefes Genießerbüchleind der auguftei«
{den Beit braudt.) — Wir würden uns freuen,
wenn dad Tusculum-Unternehmen glüdt; denn der
edle bumaniftiihe Geift follteqnidt ausfterben in
Deutſchland. Aus ihm ziehen unfre Beften Kraft, die
Klopitod, Goeiye, Schiller, Hölderlin, Mörite, St.
Der Fränkiſche Bund. Eine Bierteljahrs-
{rift für franfifhe Kunft und Kultur. Herause
ge DB. Günther Schredenbah. Verlag Der Bund,
ürnberg.
Bwei ftarfe Hefte (176 Seiten nebft Umfhau auf
dünnerem Bapier) liegen vor. Die Aufgabe der
Beitidrift, Boltöfunde und Kunft der Franken zu
pflegen, alfo dem geiftigen eben eben dieſes deut»
es Volksſtammes zu dienen, ift in muftergiltiger
eife durchgeführt. Es wird die rechte Mitte zwiſchen
reiner Wiffenjdaftlidfeit und bloßem Yeuilleton ge»
halten. Die Ausftattung ift vorgiglid in Drud und
Bilderbeilagen. (Ym 2. Heft ein intereffantes Bildnis
Karl Brögerd von Hans Werthner) Die Franten
haben bier ihrer Sultur-Ueberlieferung wieder ein»
mal Ehre gemadt. Den volfstundlidhen Teil leitet
Prof. Dr. Perer Schneider, Würzburg, den fünfte
leriſchen Dr. Heinrih Höhn vom German. Mufeum.
jit ältere Literatur und Theaterwiſſenſchaft zeichnet
t. &. ©. Wießner-Nürnberg, für moderne Literatur
Anton Dörfler, für Mufit Anton Hardörfer. Durd
Aufzählung einzelner beetle 1 die Zeitſchrift charak⸗
terifieren zu wollen, wäre ſchwierig. Sie bietet ſich
als Ganzes und muß als Ganzes genommen werden.
Möge fie ald Vorbild für andere Stämme wirfen,
aud in der Art ihrer Orgenjerlon! St.
Ju der Luft unbejiegt. Erlebniffe ım
Weltkrieg, erzählt von —— DEE. tausg. von
Georg Paul Neumann. it 6 Bilbnifjen. 316 &.
Geb. 6.— M. J. F. Lehmanns Verlag, Minden.
Das Verf fließt fi) den befannten Banden , gm
[de unbefiegt” und „Auf Eee unbefiegt” an. Das
eleitwort Rudendorffs ſchließt; „Möge diejes Bud
ebenjfo wie „Im Felde unbefiegt” und „Zur See
unbefiegt“ ung mit Stolz erfüllen über unjere Taten
und möge es dazu beitragen, daß wir erfennen, was
Gegenwart und Zukunft von uns fordern.“ Das ift
der Bwed diefer Bücherreihe: den Stolz aufzuridten
und den Willen zur Bereitfhaft gu fördern. Yn 50
Beiträgen geben Mittampfer Zeugnis von ihren Ere
lebniffen, von allen Fronten (aud aus dem Jordan⸗
tal und von Bagdad), aus allen mogliden Eılua-
tionen, von Flugzeugen und Ballons. Welde Fülle
bon BWagemut, Tatfraft, berrifher Selbitbezwingung,
erfinderifher Riugheit! Und der mwilingerhafte Geiſt
in fleinen Epifoden wie ber vom mürttembergijden
Vizefeldmebel Schäfer. S. 82. Obne literarijdhen
Ehrgeiz, im unbetiimmerten Soldatenton weniger ge-
chrieben als erzählt, werden die Stüde befonders aud
ie ältere Jugend feffein. Und dies, daß dieſe Bücher
den fraftvollen, friſchen Geijt giindend an die Jugend
weitergeben, ift nod wichtiger als daß fie dem Hijtorie
fer und Kulturhiftorifer wertvolle Kunde davon bere
mitteln, „wie es wirklich (nicht bloß nad der
Meinung einer theoretiihen Weltanjdauung, og
weſen ift.” t.
Konrad Befte, Grummet. Roman, Bud-
mud von Rudolf Sdlidter. Frang Schneider
erlag, Berlin-Yeipzig-Wien. 191 &. Geb. 4,— Me.
Ein im Jd-Ton gejdriebener Roman eines
Grofftadtdidters, der aud Sehnſucht nah der
Miuirer Erde bat und in dem ländlihen Ort, in den
er flüchtet, feine Grau findet: ein echtes bäuerliches
Menjdentind. Reine Freude laft das Bud trotz
diejer gefunden Grundanfhauung und ns ae es
mehr als Unterhaltungsleftüre geben will, nidt
auffommen, weil die ganze Umwelt in fo merk
würdig verzerrien und farrifierenden Linien gezeichn
iſt. Gerade wie die beigegebenen Bilder. G. K.
Dtio Brüning, Der Tieabend Un-
tegungen zur Geftaltung der Jugendgeſelligkeit im
Turnverein. Geb. 2,50 Mt. Grundpr. Wilhelm
Rimpert, Dresden-A. 1, Marienftr. 16.
Durd Schrift und Tat fudt Br. die von ben
Zurnern gepflegte Gejelligleit neuzugeftalten. Die
neue Form will er bilden aus Jahns Forderungen
und der Xebensart, wie fie der Wandervogel unjerer
ugend gebradt bat. Die Geftaltung der Gejellig-
eitsabenbde („Zieabende“) der Turnerjugend mird hier
nad allen Geiten Mar und gtiindlid) behandelt.
Nirgends etwas Ueberftiegenes, jondern alles aufs
geſund Praktiſche eingeftellt und ccs in unjerm
Geift. Wir empfehlen es allen Führern der jungen
Turner angelegentlidjt. G. &.
Gedrudt in ber Hanfeatifhen Verlagsanftalt Wltiengefellidaft, Hamburg 36, Holftenwall 2,
134
Aus dem Deutfhen Boltstum Alfred Rethel, Rüdeger
Aus dem Deutfihen Voltstum Emanuel Bardou, Kant
Deutiches Bolfstum
4.Heft Cine Monatsichrift 1924
Die Tantifche Ironie.
enn der Genius Sleifh wird, nimmt er zuweilen fonderbare Hüllen an.
Der Genius des Philofophen, der den tiefften Stollen in den grauen
Berg der Ewigkeit trieb, ftand in der Dämmerjtunde mit dem Rüden am
Ofen in einer fablen getiindten Studierftube, hielt die Pfeife in der Hand,
blidte über die Pappeln des Nachbargartens hinweg auf die Spike des Lö—
benidter Dorffirdturms und — dadte. Als die Pappeln fo Hod) wudjen,
daß die Turmſpitze dahinter verſchwand, fühlte fid der denfende Genius am
Kachelofen irritiert. - Der Herr Nachbar war fo entgegenfommend, die Baume,
die dem Glug der reinen Bernunft im Wege ftanden, oben abgufdneideni
Da fonnte der Geift fid wieder über den Löbenichter Kirchturm und weiter
hinaus über Raum und Veit hinweg ſchwingen zu jener geheimnispollen
Grengpforte, Durch die der ſchmale Pfad aus der Sinnenwelt in die intelligible
Welt Hinüberführt.
Was hat der Kachelofen und der Dorfkirchturm mit Grfenntnistheorie
und Metaphpfif, mit Gott, Freiheit und Unfterblichkeit gu fdaffen? Darauf
gibt uns einer Antwort, der beffer als andre die Deutſchen fannte. Wilhelm
Raabe fagt: „Wohin wir bliden, ziebt ftets und überall ber germanifche Genius
ein Drittel feiner Kraft aus dem Pbiliftertum und wird bon dem alten Riefen,
dem Gedanken, mit weldem er ringt, in den Lüften ſchwebend erdrüdt, wenn
es ihm nicht gelingt, zur rechten Zeit wieder den Boden, aus dem er erwuchs,
gu berühren.** Dies eben wollen wir beweifen: daß man in der Pringeffinnene
ftraße hinterm Königsberger Schloß und auf dem Dammweg zur Feſte Sried-
rihsberg ebenfo wie auf den Wegen zwijchen Nippenburg und Bumsdorf
alle Welten überwinden fann, fowohl die Welt, in der die Kanonen des großen
Friedrich Donnern und die Grenadiere marfdieren, wie die, in der Gevatter
Dinjemeier drei Lot brafilifhen Koffee abwiegt. Die Kraft, die zu über-
winden vermag, nennen wir: die fantifde Ironie. —
Da träumt er, ein Eleines, ſchmächtiges Männlein mit fdmaler, einge»
drüdier Bruft in feiner Studierftube. Auf dem fchlaffen Körper aber fist ein
merfwürdiges Haupt, ein berrlid) gemwölbter Schädel. Unter der mächtigen
Stirn verſchwindet faft der untere Zeil des Gefidtes. Und wie rundet fid
der edle Schädel nach hinten! Die blauen Augen find finnend gefentt, aber im
Geſpräch blinken fie lebhaft. Nun wirft der Herr Profeffor einen Blid auf
die Uhr: es ift Wusgebensgeit. Gr ftülpt die blonde Periide über den Kopf,
ein wenig chief freilid. Den Schlafrod vertaujdt er mit einem würdigen
Rolokohabit, und alsbald fteigt er die Treppe des alten, ftillen Häuschens
binunter und wandelt, den Stod in der Hand, den gewohnten Weg. „Der
Herr Profeffor Kant geht vorbei,“ fagen die Königsberger und ftellen ihre
Uhren danach. Go geht er fpagieren, gleich unbeirrt bon der grillendurch-
irpten Nachmittagsglut wie bom naffalten Regenſchauer. Das denfende
* Abu Selfan, im Anfang des 35. Kapitels.
137
Haupt fhwebt über dem Weg dahin, das Körpercdhen, gleihfam ein An-
bängfel desfelben, eine Hilfsfonftruftion, wandert unter dem Haupte Her, da
es Dod) wegen der Anziehungskraft der Grde eine Stüte braudt. Auf diefen
einfamen Gängen [haut Rant, da erdämmert ihm die Klarheit der Bee
griffe, da enthüllen fid ibm Die Spidenzen. Gr taftet der Struktur des
Menfchengeiftes und des Weltalls nad. Sein Werk entjteht als eine innere
Anfdauung, arditettonifd gefügt in ftolzer Logik. Diefer Mann weiß, daß
er ein geistiges Werk errichtet aere perennius, und daß mit Diefem Werke der
allgemeine Menjchengeift fic zu einer neuen Stufe der Grfenntnis empore
hebt. Go wandelt Prometheus unter der Periide, die mageren Beinden in
Kniehofen und Geidenftrümpfen, über das Königsberger Pflafter.
Kant war mit Bewußtfein Spießbürger, um fein Genie entfalten zu können.
Gr war wie ein DHolgiges, trodenes, ftaubiges Pflanglein, das, mit zähen
Wurzeln im mageren Heimatboden haftend, eine den profanen Augen unfidt-
bare Himmelsblüte entfaltet, daran Gott mit feinen Gngeln fich ftill erfreut.
Wohl hätte Kant fi im Trubel irdifher Ehren weithin „auswirken“ fönnen.
Der preußifhe Unterridtsminifter v. Zedlit drängte ibm eine glänzendere
Brofeffur in der größten preußiſchen Univerfitat (Halle) faft auf. Gr fette
ibm (nod por dem Grfdeinen der „Kritil der reinen Vernunft“) gu: es fet
„Pfliht“ eines folden Gelehrten, den größtmögliden „Nuten zu ftiften“.
Wie mandhes Genie würde fi) das nicht zweimal fagen Iaffen: Gelb und
Ehren und „Auswirfungsmöglichkeiten“! Kant aber meinte: „Gewinn und
Auffeben auf einer großen Bühne haben, wie Sie wifjen, wenig Antrieb für
mid. Gine friedlihe und gerade meinem Bedürfnis angemeffene Situation,
abwedfelnd mit Arbeit, Spefulation (d. 5. philoſophiſchem Nachdenken) und
Umgang befest, wo mein febr affiziertes (d. 5. leicht erregtes), aber fonjt
forgenfreies Gemüt und mein noch mehr launifcher, doch niemals franfer
Körper ohne Anftrengung in Befdaftigung erhalten werden, tft alles, was
ih gewünſcht und erhalten habe. Alle Beränderung madt mid
bange, ob fie gleich den größten Anfchein zur Verbeſſerung meines Zu—
ftandes gibt, und ih glaube, auf dieſen Inftinft meiner Natur
Adht haben gu müfjen, wenn id anders den Faden, den mir die Pargen
febr dünn und zart fpinnen, nod etwas in die Länge ziehen will.“* Gr folgte
nit dem ehrenvollen Ruf der lauten Welt, fondern der ftillen, bangen Mah—
nung des Inftinkts: verſchwende die wenige irdiſche Kraft nicht an das, was
die Menfchen „dringende Aufgaben“, „ungemein wichtige Wirkungen“, „ideale
Ziele“ uſw. nennen, fondern bewahre dir die ruhige „Unbefcholtenheit der
Augen“ und die Hare Kraft des Iogifchen Denkens. Was du für den Tag
wirfft, bridjt du deiner Wirkung auf das Jahrtauſend ab. So blieb er
im fernen Königsberg fiten und — ließ die Leute gu fic) fommen, ftatt zu
ihnen zu laufen, und fab ſich nicht einmal danad um, ob fie wohl famen
Kant wohnte nit nur im oberen Stodwerf feines Haufes, fondern in
einem oberen Stodiwerf, das er fich über Raum und Zeit erbaut hatte. Dort
{ab er bon Unendlichkeit zu Unendlichkeit, und die irdifchen Dinge wurden ihm
ganz Elein. Bon der fühlen Höhe fab er dem Spiel der Weltgefchichte mit
wehlwollendem Sntereffe zu. Aus diefer Stimmung entwidelte er eine eigen-
tümliche Ironie, die fich mit feiner Neigung zu trodener, unmerflider Schalf-
baftigleit verband. Am reizpollften zeigt fie fid in feinen Altersfchriften.
Da ift {don die Architektur der Werke pon barodem Humor. Das Büchlein,
* Brief an Warfus Herz vom April 1778.
138
das die Worte aus dem „Schilde jenes Hollandijden Gaftwirts, worauf ein
Kirhhof gemalt war“, trägt: „Zum ewigen Srieden“ ift in die Gorm eines
hochpolitiſchen internationalen Griedensvertrags gekleidet, mit Präliminar«-
artifeln und Definitivartifeln, fogar ein „geheimer Artikel“ fehlt nicht. Es
fällt Kant nicht ein, fic für den Mann gu halten, der den Herren diefer Welt
beizubringen im Stande wäre, wie fie bier und jest eine gefcheitere Politik
maden fünnten, denn er weiß, daß die Natur ihre feltfamen Wege gebt. Gr
will nichts andres als einerfeits den leichtfertigen Kriegserflärern das Gewiſſen
weden und anbdererfeits den Schwärmern fagen, welche Bedingungen in der
Weltgeſchichte erfüllt fein müßten, ehe das Ideal des wirkliden Friedens fid
follte erfüllen fönnen. Gr fett dem Büchlein eine altfräntifh graziöfe
„Klaufel“ voran, er wolle den hochmögenden Prattifern der Politik nicht ins
Gehege kommen, alfo möchten auc fie ihm, dem Philofophen, nidt ins Gee
bege fommen — „dur welde claufula falpatoria der DBerfaffer diefes fid
dann biermit in der beften Gorm wider alle böslihe Auslegung ausdrüdlich
verwahrt wiffen will.* (Man fühlt aus den Worten Die fcherzhafte Bers
beugung heraus.) Dem Berfaffer ift freilich weniger das Schidjal einer bd 8-
willigen als gutmilligen Auslegung miderfahren. Die braven und fried«
liebenden Bürger haben ihn für ibresgleidhen gehalten, und fo gilt Immanuel
Kant als anerfennenswerter „Borläufer* des Herrn Profeffor Quidde mit
den fanft ftaunenden Idealiften- Augen. — Aud der „Streit der Fakultäten“
zeigt einen ähnlich baroden, bumorvbollen Aufbau; er ift zudem voll heimlicher,
pbilofophifher Anmut der Begriffe.
Aus diefer Schrift feien ein paar Gingelbeifpiele angeführt, um die
trodene Ironie des Ausdruds zu kennzeichnen. „Man wird den Gelehrten
nidt verdenfen, daß fie, von denen faft alle Shrentitel, mit denen fich jest
Staatsleute ausfhmüden (das „aus“ſchmücken ift ein befonderer Hohn), guerft
ausgedacht find, fich felbft nicht bergeffen haben.“ Die Regierung, meint der
Schalt, „behält fid) das Recht vor, die Lehren der oberen (drei Fakultäten)
felbft zu janktionieren; die der untern (der philofophifchen Fakultät) überläßt
fie der eigenen Vernunft des gelehrten Volks.“ Daß man die philofophifche
Fakultät die „untere* nenne, fomme daher: „Daß nämlich der, welder bee
fehlen fann, ob er gleich ein demütiger Diener eines andern ift, fid Doch bore
nehmer dünft als ein anderer, der zwar frei ift, aber niemandem zu befeblen
bat.“
DBefonders gern ſchlüpft die fantifhe Ironie in anfdeinend nüchterne Bee
griffsbeftimmungen. Der arglofe Lefer nimmt fie oft allzu bieder. Man febe
fid beifpielsweife im dritten Stüd der „Religion innerhalb der Grengen der
bloßen DBernunft“ die Definitionen des Unglaubigen, des Srrglaubigen, Des
Ketzers, der defpotifchen und der liberalen Orthodozie ufw. genau an; in ihnen
beluftigt fid) der Philofoph über die Leidenfdaften der Menfchen.
Die geiftigfte Form der kantiſchen Ironie ift der berüdhtigte Perioden«-
bau feiner Gage. Man vergleiche den Stil des erften Entwurfs feiner Bere
antwortung gegenüber dem bon Woellner veranlaßten Reffript mit dem Stil
des wirklich abgefandten Briefes. Der Entwurf, der mehr aus der unmittel-
baren Bewegung des Gemütes entftanden ift, lieft fich ziemlich „glatt“. Dann
aber referbierte fid) Rant und 30g fi) in fein oberes Stodwerf zurüd. Bom
philofophifhen Olymp herab redete er mit König Friedrid Wilhelm dem
Zweiten gwar „in tieffter Depotion erfterbend“, aber in jo wunderbaren Schade
tel- und Schnörkeljägen, daß der König fdwerlid die Geduld Hatte, fie zu
entwirren, und der Herr Minifter Woellner Hat fiderlidh mit angeftrengter
139
QAufmerffamteit an dieſen Säten gerohen. Kant hat zweifellos mit einigem
Vergnügen zugefehn, wie die Menjchen mit fürzerem geijtigen Atem mühſam
feine langen Perioden durchkrochen. Gr verfügte über ein weites Gedächtnis,
er überjah die Perioden bon Anfang bis Gnde. Aber der normale Lefer Hat
in der Mitte des Gages oft den Anfang vergeffen. Kant Fann auc anders
ſchreiben, aber er liebt es, fi por dem gemeinen Lefepöbel zu abfentierem.
Dieje Ingijhen Barodbauten haben eine merfwürdige Majeftät für den, der
fie zu erfafjen weiß.
Aus Kants majeftätifcher Ironie heraus verftehn wir es, warum er den
Berweis bom König fo ruhig „einftedte*. Alle Welt erwartete einen „Kampf“
zwiſchen Kant und Woellner, das Aufbäumen der Freiheit des Menjchenger
[chlechtes gegen die Shrannei der Fürften. Kant aber wandelte nicht auf den
Spuren des Marquis von Pofa, er verzichtete auf Lärm und Sieg und Ruhm,
er legte das Papier ruhig beifeite und fagte weiter nichts. Das ift den Tages-
größen unfaßlid. „Serpilität* und „Senilität* werden aufgeboten, um Kants
Sat oder vielmehr Nicht-Tat pſychologiſch zu erklären. Aber es ift nichts
als die Ironie des Weifen: Gebet vorüber, Menfchenkinder, ich daure länger
als ihr. Und die innerfte Griladrung gibt auch bier Wilhelm Raabe: ,. ... fie
laffen fi aber gerade deshalb defto williger bereit finden, alles das, was
man bon ihnen verlangen will, bergugeben, wenn aud nur, um fo ſchnell als
möglich wieder Rube zu haben vor der Narrheit und Unverfchämtheit des
laufenden Sages. Das Befte, was der Menſch im Leben haben fann, ift
ein Stüd bon dem, was er im Tode gang haben wird, — Rube“* -
Was aber der fantifdhen Ironie ihre Gigenart gibt, ift, daß fie mehr als
Wi und Geift und Meberlegenheit, daß fie die Abwehrftellung einer Seele
ift, in deren innerfter Siefe Ghrfurdt, Staunen und Grhabenheit wohnt.
Gang felten, und aud dann nur verhalten, bricht das innere Pathos berpor,
jene treibende Kraft aus dem Kern des Menſchen Kant, die ihn zu feinem
Werke gegwungen und fein Werk fo gebildet hat, wie es if. Der Schluß
der ,@rundlegung zur Metaphyſik der Sitten“ und der „Beſchluß“ der
„Kritik der praftifhen Vernunft“ offenbaren jenes Pathos. Für die ſchärferen
Obren Elingt Hier vernehmlih der große Ton der Gwigfeit hindurd. Gs ift
nicht die Sprache Luthers oder Safob Böhmes, nit die Sprache Goethes,
aber es lebt darin Derfelbe Geift, der nicht nah Wahrheiten, fondern nad
der Wahrheit ringt. Aus ihnen allen tönt der Klang der augenflaren Wahr-
beit.
Meber feiner eigenen irdifhen YZufälligfeit ftebend, löſte fic der alte
Kant aus feinem Grdenleibe im Raum und von feiner Grdenfeele in Der
Zeit. „Was fehen Sie an mir altem, abgelebtem Manne?“ fagte er gu den
DBeiwunderern, die ihn auffudten. Einige Tage vor feinem Tode bemerkte
er: „Das Gefühl für Humanität (d. b. das Gefühl, nod als Menfd zu
eziftieren) hat mid) nod nicht verlaffen.* In feiner legten Grdennadt reichte
ihm fein treuer Freund und Pfleger, der Pfarrer Wafiansti, einen Löffel voll
Wein, Waffer und Zuder. Der fterbende Greis flüfterte faum hörbar: „Ss ift
gut.“ Das war der lette, ganz leife irdifhe Hauch, den der feheidende Geiſt
bon dem Wege ins Intelligible rüdwärts in die Sinnenwelt fandte. Bald
ebbte der Puls, das Auge brad, und endlich ftand der Iette Atem ftill.
Das denfende Haupt der Menfchheit war ganz in jener Welt, deren Gefes es
auf Grden erkundet und verkündet hat. Gin dürftiges, abgezehrtes Reftlein
blieb zurüd. Diefer einfame Tod gehört auch zur „kantiſchen Ironie“. St.
* Nadlaf. Sämtlihe Werke III, 6. S. 572.
140
Gom Kosmos und Metafosmos Kants.
1.
enn der Grfenntnisdrang im Rinde erwadht und es mit warum? und
wiefo? die Eltern gu plagen beginnt, braucht es nur ein Wort für
Das unbefannte Ding und alsbald „weiß“ es, was dag Ding ift. Zur Gre
Härung eines ©efchehens braucht es nur ein Märchen. Mag das Märchen
unwahrſcheinlich fein, wenn es nur eindru dfam ift, fo ijt der findlide
Grfenntnisdrang befriedigt. Der Kinderftorch und der Ofterhaje find ,,Grfennt-
nijfe“, Die für das Kind durchaus vollgültig find. Die Phantaſie mit ihren
Ioder gereihten Affoziationen „erklärt“ dem Kinde die Welt. Nicht anders
ift es bei den jugendliden Völkern („Naturvölfern“). Die höchfte Entfaltung
der Grienntnis auf diefer Stufe ift der Mythos. Gs ift das myhthologiſche
geitalter der Menfchen.
Eines Tages beginnt das Kind zu fragen: „Ift Die Geſchichte aber aud
wirklich fo gewefen?* Was nit „wirklich“ gefdmeben tft, fällt der Bere
adtung anheim. Der Grfenntnisdrang des Kindes befriedigt fid nicht mehr
in den leicht bemegliden Wffogiationen der Phantafie, er fudt nad einem
fefteren Gefiige. Das ,Gefte* aber ift die Wirflihleit. Und wie
das Kind fo werden ganze Völker allmablid wirklidfeitsreif. Nun ift bie
Welt und das Leben darin nicht mehr Märchen und Mythos, fondern Wirk
lichfeit. Ueber dem loſen Gefüge des WAffogiationsgefekes erhebt fich das ftren-
gere ®efüge des Kaufalgefeges. Der Srfenntnisdrang ift erjt befriedigt, wenn
der Kaujalzufammenbang eines Dinges oder Greignifjes fejtgetellt ijt; Denn
erft was jich unter Die Kaujalgejege fügt, ijt „Wirtiichteit“; was nicht faufal=
gejeglich erflärbar ift, bleibt ein Unding, eine Phantasmagorie. Die hidfte
Entfaltung der Grfenntnis auf diefer Stufe ift die Kauſalwiſſenſchaft.
Gs ift das wiſſenſchaftliche Zeitalter der Menfchen.
And abermals bricht eine neue Blüte des Geiftes auf. Die Menjchen
baben erfannt, was „wirklich“ ift. Aber was haben fie bamit gewonnen? Gut
— bie Dinge find ,wirklid“, uns täufht fein Märchen mehr. Aber leije be»
ginnt der. Grfenntnisdrang darüber Hinausguftreben, er will nicht mehr bloß
wiffen, was und wodurd etwas ift, fondern aud, warum es fein muß.
Die Naturwiffenfhaft erklärt, aus welden Urſachen die Dinge fo find, wie
fie find; aber — warum müjfen fie denn fo fein, wie fie jind? Warum
fann es nicht auch anders fein? Man will nicht mehr bloß den Kaufalzu-
fammenhang wifjen, fondern darüber hinaus jenen Zufammenhang, den wir
burd) das Wörtchen „müjfen“ bezeichnen. Das Seinmüjfen ijt ein noch fejterer
Zufammenhang als das bloße Wirklid-fein. Man fudt Hinter dem Raus
falgujammenbang den Weſens zuſammenhang. Man fudt durd die Welt
der „Wirklichkeit“ Hindurchzudringen in das Reich der „Notwendigkeit“. Das
Ergebnis der Grfenntnis auf dieſer Stufe ift nicht die „Wirklichleit“, ſondern
das Spftem. (Das „Shftem“ ift nicht ein bejchreibendes Abbild der wirk—
lihen Welt, fondern eine Aufzeigung der Wefenszujammenhänge der Welt,
ein Nachzeichnen der „innern Struktur“) Die höchſte Entfaltung der Erkennt—
nis auf Diejer Stufe ift die Philoſophie. Wir treten damit in das
pbilofophifhe Yeitalter der Menfchen ein.
Der Schritt bon der zweiten zur Dritten Stufe ift zum erften Mal, {poe
radiſch und zufällig, aber genial, bon den riechen getan worden, damals als
fie die Mathematik und die Logit entdedten. In dieſen „Wiſſenſchaften“ —
141
die viel mehr find als bloße Kaufalwiffenfchaften — griff der Geiſt zuerft
durch den Nature und Wirklichkeitszufammenhang hindurch in den Wefens-
gufammenbang; gum erften Male begannen fid ihm nicht nur Mythen, nicht
nur Raufalreiben, fondern „Syſteme“ (der Mathematik und Logif) zu formen.
Seit dieſer Entdedung tradteten die europäifchen Denker immer wieder nad
jenem fefteren (überlaufalen wie innerwirfliden) Zufammenhang, der mit
dem Worte „Notwendigkeit“ bezeichnet wird. Gin folder Verſuch, der aber
nidt zum Wefen gelangte, ift das merfwiirdige mathematifch-ethifche Syſtem
Spinogas. Grft in dem Haupte Immanuel Kants ward der Uebergang ins
dritte Reich der Grfenntnis grundfätlidh und allgemein vollzogen.
Kant ftieß das Tor ins philofophifche Zeitalter auf. Das ift feine Bedeutung
für die Menfchheit.
Die Mehrzahl auch der gelehrten Wenſchen befriedigt ihren Grfenntnis-
drang nod immer völlig im Kaufalwiffen der Naturwiffenf{daft (wobei aud
bie Geifteswiffenfdaft nur als ein „Gebiet“ derfelben erſcheint). Sie find
nod nicht notwendigfeitsreif. Darum begreifen fie Kant nidt. Wie fönnte
man eine Antwort verftehn auf eine Frage, die zu ftellen man nod nicht
fähig ift? Wie einem Rinde die „Wirklichkeit“ gleichgiltig ift, fo einem
Naturwiffenfaftler der Wefenszufammenhang. Grft der, dem das Herz
heiß ift nad der Grfenntnis, warum die Dinge fo fein müffen, wie fie find,
darf gu Kant geführt werden. Aber einmal reifen die Menjchen endlich heran,
dann müſſen fie dur die Pforte Kants. Gs gibt fein Wusweiden.
2.
Taufend Geſetzmäßigkeiten hauften fie zufammen, die Aftronomen, PBhy-
filter, Shemiler, Pſychologen, Hiftorifer, Nationaldfonomen ufw. Bujammene
faffend malen fie uns aud wohl Theorien, wie der Kosmos etwa entftanden
fein könnte. Wenn es möglich wäre, das Ideal dieſer Wiffenfdaften zu ere
füllen (was in der Sat nicht möglich ift, vielmehr „muß“ die Kaufalwifjen-
{daft ewig Fragment bleiben; es liegt in ihrem „Weſen“, Stiidwerk zu fein),
fo hätte man ein genaues Abbild des tatfadliden Werdens der wirklichen
Welt. Aber: was ift es, „was die Welt im Innerften zufammenhält“?
Warum ift diefer chaotiſche Haufe bon Dingen und Gefemäßigfeiten, den wir
als in ein großes Kaufalgewebe verflodten denken, warum ift das alles eine
Welt, ein Kosmos? Da die Welt eben eine ift, müffen all die taufend Ge—
fegmäßigfeiten zufammengebunden fein in einem letten, großen, durchgehenden
Geſetz — weldes ift das? Wo finde ich den innerften Punkt, in dem das
feltfjame ®ebilde „Welt“ fid gufammenfdlieBt? Wo fein heimlides Sejes,
das die Sonnenfpfteme und die Atome, das Tote und das Lebendige zu—
fammenhält zu einer ungebeuren, in ſich gefdloffenen Einheit?
Diefen Punkt und fein Geſetz entdedte Kant in dem, was wir mit dem
Worthen „Ih“ bezeichnen. (Erfehrid nicht, waderer Lefer, Du bift nicht gee
meint; fo Grofes hat Kant nicht von Dir gedacht. Gs handelt fid weder um
Dein nod um fonft jemandes „liebes Ich“.) —
Der Kosmos wäre zweifellos aud da, wenn fein Menſch etwas von ihm
wüßte. Als es „noch feine Menſchen gab“, tönte fdon die Sonne „nach alter
Weife in Bruderfpharen Wettgefang“. Aber erft wenn der Kosmos mit
Menfchenaugen gefehen und mit Menfdhengedanfen gedadt wird, ift er ein
für Menfhen fihtbarer und dentbarer Kosmos Wiffen fönnen
wir nur bon einem fidtbaren, fpürbaren, denkbaren Kosmos. Wovon man
nidts wiffen fann, fanh man eben — nidts wiffen. Bei allem, was wit
142
wahrnehmen, vorftellen und denken, ift es alfo notwendig, daß es eben —
wahrgenommen, vorgeftellt, gedadt wird. Wer aber nimmt wahr? Wer
ftellt fic etwas bor? Wer dent? Immer nur ein Ih-Wefen. Dieſes „Ich“
ift ein fih regendes Pünktchen, ein innerfter Herzfchlag, ein lebendiges Ouell-
den, das unaufbörlich nad der Geſetzmäßigkeit feines Herzfchlags, [eines
Quellens ein Dinglein nad dem andern erfaßt, formt, aufbehält und zu einem
großen Ganzen zufammenfdließt, bis endlich durch diefes Ich Hindurd und
für Diefes Ich der Kosmos ba ift. Das Ich fdlieht Bild an Bild, Begriff
an Begriff — endlos; darum ift der Kosmos endlos und unausforfehbar. Das
Geſetz dieſes Quellpüntthens muß gugleid das Geſetz des ganzen von ihm
erfaßten und geformten Kosmos fein; denn was nicht pom Ich-Pünttlein
ergriffen und gebildet ift, ift für das Ih nidt da. Wenn wir fagen: der
Kosmos ift aud) ohne das Ich da, Iosgelöft vom Ich („abfolut“), fo ift diefes
„ohne»-Ich-dafein“ aud nur ein Gedanke des Ich, das ihn denkt — logiſch
nad der Sefegmafigkeit des Ich geformt. Wo diefes rudende, zitternde
Herzen, diefe „Syntheſis“ des Ih nidt am „Werden“ des Kosmos webt,
wo es nicht Den Kosmos als ein Bewuftfein bom Kosmos aufbaut und in
ein zufammenbängendes Wiffen bom Kosmos bringt, da — hört jedes Wort,
jeder ®edanfe auf, da ift das dunkle Nichts. Alle Erfenntnis ift ichförmig.
Das was erfannt wurde, erfannt wird und jemals erkennbar ift, muß dem Ich
gemäß geformt fein. Die Geſetzmäßigkeit des Ich muß alfo die Geſetzmäßig—
feit Des Rosmos fein. Wir nennen die Geſetzmäßigkeit des Ich feine ,,Ber-
nunft“. Die Bernunftgefegmäßigteit ift alfo die innerfte Struktur des Kosmos:
Diefes Geſetz des Ich (der „DBernunft“), das in Anfhauungsformen, Kate-
gorien, Grundjage und Ideen zerlegt werden kann, beftimmt die gefamte
Erfheinung des Kosmos; in ihm hängt alles ineinander. Wo aber ift dieſes
merkwürdige Ich, wenn Du und ich und er es nicht „find“?
Nun, die Zahl zwei „it“ nicht irgendwie „in“ zwei Bäumen oder zwei
Striden, aber gleihwohl find es „zwei Baume“ oder „zwei Stride*. Die
Zahl zwei gilt für die zwei Baume und Stride. So „bin“ id nicht jenes
3h, aud Du „bift“ es nicht, aber jenes Ich „gilt“ für Did und mid und alle
Ich⸗Weſen, feien es nun Menjchen, Engel oder Götter. Gin „Menſch“ fann
nur dadurch „DBewußtfein“ haben, daß diefes Bewußtſein ichförmig, idbaft
ift. Wenn etwas als Bewuftfein erfdeinen foll, muß ihm, jenes Ich, jene
innerfte Shnthefis zugrunde liegen. In diefem Ich und feiner Gefegmäßigfeit
ift die Struftur alles Bewuftfeins aufgezeigt. Die Struktur „it“ nicht
bas tatſäch lide (empirische) Bemwußtfein, aber es „gilt“ für alles tate
fählihe Bewuftfein. Ohne Ich-Struftur ift ein Bewuftfein unmöglich.
Diefes „Ich“ bezeichnet im „Shftem“ des Kosmos Das ejgentiimlid Le—
bendige der Schöpferfraft, burd die der Kosmos gefdaffen wird. Gs ift das
Wefen der Aktivität überhaupt. GFreilid, zur Gejekmafigkeit des menſch—
lihen Ich gehört außer der aktiven (Rant fagt „[pontanen“) Kraft nod Die
Sabigkeit, Gindriide zu empfangen (Kant fagt „rezeptiv zu fein“). Das
menſchliche Bewußtſein ift dadurch dharafterifiert, daß es niHt nur {pone
tan, fondern zugleich rezeptiv ift, nieht nur fchöpferifh, fondern aud ge-
{haffen, nicht nur af.iv, [ondern aud paſſiv. Gin rein fpontanes Wefen würde
ins @renzenlofe ftrablen und fprithen, es würde ohne Widerjtand alles, was
feinem Denfen entquillt, alsbald „Ichaffen“ — es wäre Gott. Wher der Menſch
ift aud regeptibo und darum „begrenzt“. Der Kosmos des Menf den
formt fid aus dem Widerfpiel von Aufnehmen und Schaffen. Der Kosmos © 0 te
tes ift grenzenlos ftrablende, quellende Schöpferfraft — „und fo er gebietet,
143
fo ftebet es da“ —; der Kosmos der mit Raum- und Zeitanfhauung bebaf-
teten Menſchenweſen aber ift nur die irdifhe Srfdeinungswelt, darin fid
„die Gaden ftoßen“. Der göttliche Kosmos ift für Menfchen nur als ,,Ge-
danke“ denkbar, aber nicht mehr raumegeitlid in der Anfchauung vorftellbar,
gejdweige denn als ,,Wirklidfeit* wahrnehmbar; denn er liegt über alle Une
fhauung Dinaus. Unfre Welt ift durch unfre Regeptivitat begrenzt.
3.
Sedes Ich ift immer aud ein ,fpontanes* Ich, es greift um fich, ergreift,
begreift. Im Grgreifen geftaltet es fid den Kosmos als die gefegmäßig ge-
ordnete Fülle der „wirflihen Dinge“. Diefes Grgreifen und Begreifen ift
bas Gehen, Hören, DBorftellen, Denfen ufw., worin und wodurd mir die
„Welt“ mit allem, was darinnen ift, uns aufbauen. Alfo ift das Grkennen eine
Tatigteit des Ic.
Aber in nod feltfamerer Weife als durch das Wahrnehmen und Denken
ift das Ich tätig, handelnd, geftaltend. Ich bin nicht nur ein Wefen, das im
Schauen und Denfen, fondern aud eines, das im Handeln lebt. Das Ich und
feine ®ejegmäßigfeit („Bernunft“) ift nicht nur theoretifd (d. i. erfennend;
theorein — anjdauen, erfennen), fondern aud) praktiſch (d. i. praftog: bane
delnd; prattein — handeln). Ich ,erfenne“ nidt nur die Welt, fondern
„will“ aud) etwas in, bon und mit der Welt. Ich Habe nidt nur Sinne und
Gehirn, fondern aud) Herz, Hände und Füße; ich bin nidt nur ein Spiegel
der Welt, fondern aud ein Brunnenfdadt, in dem Triebe und Willens-
regungen aufquellen. Wie das erfennende Ich in die beiden Pole des Ane
fHauens und Denfens (,,Sinnlidfeit* und ,,Berftand“) gefpalten ijt, fo ift das
Geſamt⸗Ich gefpalten in ein erfennendes und Handelndes. Grft die beiden
Pole des Grfennens und Handelns maden in ihrer Spannung ein volles,
rundes Ih aus.
Was das Ih „will“, ift fein „Zweck“. Gs Tann fic unendlich viele
Swede ſetzen: Glück und Grfolg aller Art, wechfelnd bon Augenblid zu Augen-
blid. Aber zuweilen regt fid im Ich ein Wollen, das mehr ift als das
Streben nah Glück und Erfolg oder nad irgendeinem Effekt, der durch eine
„Abficht“ angeregt ift. Gs gibt ein fonderbares Wollen, das unferm natür=
lichen, triebbaften Wollen oft zuwider ift, das auch wohl gar gegen alles
Glück und allen Grfolg gerichtet ift. Alsdann erhebt es fich über das Wollen
binaus zu einem „Sollen“, bon dem wir nicht wiffen, warum? und wozu?
Gs befiehlt nur fategorifd: tue das, oder laß das. Bei allen andern Willens-
regungen Tann id fagen: Wenn id das und das erreichen will, fo muß id
das und bas tun; es find alfo bedingte Willensregungen. Aber jenes
„böbere“ fategorifhe Wollen und Sollen läßt fih auf fein „Wenn“ ein,
fondern fordert unbedingt. Diefes Wollen ift der „gute Wille“, dies
fes Sollen ift der „Lategorifche Imperativ“. Man nennt es aud die „Stimme
des Gewiſſens“. Weil es fo unbedingt heifcht und antreibt, mit der Majeftät
eines Gefeges, und weil die Form des Imperativs immer diefelbe tft,
während der Inhalt immerfort wedfelt wie das bunte Leben, nennt Kant
es aud) das „moralifche Geſetz“ oder „Sittengefeß“.
Sretlid kann man verfuchen, diefen fo fchlichten, Haren und dod fo rätjel«
haften „Imperativ“, der uns als „Pflicht“ bewußt wird und uns das Gefühl
der „Achtung“ abnötigt, mit Hilfe einer pſychologiſchen Theorie zu „erklären“;
aber damit wäre nur ber pſhchiſche Ablauf, nicht die Unbedingtheit des Sme
perativs erflart. Dieſe „Unbedingtheit“, die fic) nicht weiter erklären läßt,
144
ift ein „Urphänomen“, eine letzte und unerflarbare Gegebendeit. Hier fließt
etwas in uns ein, das nicht aus den Erfcheinungen des Kosmos hergeleitet und
erklärt werden fann.
Go ift das Ich voll frudtbarer Spaltungen und Spannungen. Ginnlide
Anfhauung (Rezeptivität) und begrifflides Denken (Spontaneität) find die
beiden Pole des Ich, zwifchen denen fid der Kosmos webt. Reines Denfen
(Spontaneität) und guter Wille (unbedingtes und unmittelbares Wollen) find
bie beiden Pole, zwifchen denen fid, unanfchaubar und nur im Denfen ere
faßbar, der Metafosmos webt. Sinnenwelt und reine Gorm verbinden fid
gum Kosmos der Wirklichkeit, reine Form und unbedingtes Wollen verbinden
fim gum WMetafosmos des — Hier fehlt uns das redte Wort, im Mittelhod-
deutſchen würde man fagen: des „Wunſches“. (Das Wort „Wunſch“ tft im
Neuhochdeutſchen profaniert). Gin Pol nähert fic dem andern, und wenn alle
Pole ſich deden, wenn das Sittengeſetz zum Naturgejes geworden ift — was
freilih nur in der „Unendlichkeit“ gejchehen fann —, fo ift der Kosmos im
Metafosmos aufgegangen und die Welt zum Reich Gottes geworden.
So ijt im menjdliden Ich der unendlide Lauf der Geſtirne und das
Kreijen der Atome ineinanderfließend mit dem heiligen Heifchen des Gwigen.
Das menfdlide Ich gehört zwei Welten an: der Natur und der Webernatur.
Das ift feine Seligteit und Unfeligfeit zugleich.
4.
Die Größe der kantiſchen Philoſophie ift ein Ausdrud der inneren Größe
ihres Urhebers. Drei Werte in ihr empfinden wir als im fchönften Sinne
deutſch:
Grftens: Das unbedingte Streben nah Wahrheit. Nicht Schönheit oder
Erfolg ift Kants Biel, fondern allein die Wahrheit. Mit forgfältiger Auf-
merfjamfeit taftet er der Struktur des DBemußtfeins nad, im Kampf mit
feinem eigenen logiſch⸗architektoniſchen Spieltrieb, immer darauf bebadt, das
feftguftell[en, was das WAufleudten und Ginleudten der Wahrheit, den Sold-
glanz des „So ift es und fo muß es fein“ im Gemilte entzündet. Der Dienft
der Wahrheit ift Kants Gottesdienft..
‚Zweitens: Das geduldige Buriidgeben auf die Urphänomene Iſt Kant
etwas „aufgefallen“, fo behandelt er das „Problem“ nicht etwa „geijtreich“,
fondern er verfolgt es alsbald mit angeftrengtem Ernſt und zäher Geduld.
Gr durdlauft alle Bedingungen, bis er zum Nidt-mehr-bedingten, zum „Un-
bedingten“ gelangt, zum „Prinzip“ (principium — Anfangsgrund, nicht weiter
erflärbarer Grundjag). Gr fudt nicht Hppotbefen und Theorien, fondern Prine
gipien. Immer geht er auf das Lette und Hddfte: was ift „wahr“?
was ift „gut“? Gr will die feftefte Seftigfeit und ficherfte Sicherheit. Daß er
das „Unbedingte* in dem ſpezifiſch fittliden Wollen und Sollen auffpürte,
ift an fic) {don eine glänzende Entdedertat.
Drittens: Das Gefühl für die Polaritat alles Lebendigen. Kant zeigt
überall die Doppelheit der Bedingungen auf, die gufammenwirfen müfjen,
wenn ein Lebendiges fein foll. Gr philofophiert fich fein totes Sein zurecht,
fondern er taftet Dem Werden nad. Gr erbaut nicht einen äfthetifch in ſich
abgerundeten und abgejchlojfenen Kosmos (wie denn aud feine Werke Frag
mente und Borarbeiten find), fondern zeigt uns ein ewiges fosmijches und
metalosmijches Werben, das aus dem geheimnispollen Gral der Intelligiblität
unendlich gefpeift wird. Anſere deutſche Sprade fonjugiert die Tätigfeits-
wörter nicht nur wie die romanifhen Spraden mit „jein“ und „haben“, fone
145
dern aud) mit „werden“. Das Wörthen „werden“ fpielt eine merkwürdige
Rolle in unferer Sprade. Darum ift es nicht zufällig, daß aud in unferem
religiöfen und philofophifchen Denken das „Werben“ eine befondere Bedeutung
bat. Anſer größter Denker baut nicht einen Kosmos des Gein 8, fondern
einen in Unendlichkeit und Gwigfeit lebendig ſprühenden, perdämmernden Kos-
mos des Werdens auf, in und hinter dem ein geheimnispoller Metakosmos
„wird“. Gs geht ein Strom bon den alten Mythen über Wolfram bon
Eſchenbach, Sdebart, Luther, Böhme zu Immanuel Kant. Gr durdflieft
den Whthos, das AWthfterium, den ,mbdfticigmum purum“* und ergießt ficd
endlich die reinfte, aufgeflartefte, riidfidtslofefte Philoſophie, die Doch wieder
bebend und ftaunend por dem „ewigen Kontrarium ‚soljchen Lidt und Zinfter-
nis“ ftebt.
Sede künftige Philoſophie, die im edelften Sinne deutfch zu beißen ver⸗
dienen foll, wird diefe drei Werte bewahren müffen. St.
Schöpfung und Geftaltung in deutfcher Lyrik.
10. Schiller, Die Größe der Welt.
te der fchaffende Geift einft aus dem Chaos fchlug
Durd die ſchwebende Welt flieg’ id des Windes Slug,
Bis am Strande
Ihrer Wogen id Iande,
Anker werf, wo fein Hauch mehr weht,
And der Marfftein der Schöpfung ftebt.
Sterne fab ich bereits jugendlich auferftehn,
Saufendjährigen Gangs durdhs Firmament zu gehn,
Gab fie fpielen
Nah den Iodenden Zielen;
Irrend fuchte mein Blid umber,
Sah die Räume fhon — fternenleer.
Angufeuern den Glug weiter zum Reich des Nichts
Steur’ ich mutiger fort, nehme den Glug des Lichts,
Neblicht trüber
Simmel an mir borüber,
Weltſyſteme, Gluten im Bad,
Strudeln dem Sonnenwanderer nad).
Gieb, den einfamen Pfad wandelt ein Pilger mir
Rajdh entgegen — „Halt an! Waller, was fudft du bier?“
„„Zum Seftade
Seiner Welt meine Pfadel
Segle bin, wo fein Hauch mehr weht,
And der Marlftein der Schöpfung ftebt!““
„Steh! du fegelft umfonft — vor dir Unendlichkeit!“
„„Stehl du fegelft umjonft — Pilger, aud hinter mir! —
Gente nieder,
Adlergedank, dein Gefieder!
Kühne Seglerin, PHantafie,
Wirf ein mutlofes Anker hie.““
* Bgl. Wilmans Brief, den want im „Streit der Fakultäten“ abdrudt: „Bon
einer Seien Myſtik in der Religion“
146
wei Gedidte des jungen Schiller, des Schiller der Räuber, find es vor
allem, die in ihrer fchlechthin vollendeten ©eftaltung jeden Gmpfangliden
bon feiner angeborenen Pichtergröße überzeugen müſſen. Wo haben wir —
troß Liliencron — ein Gedidt, das uns das Bild und das Grlebnis einer
Feldſchlacht mit fo begwingender Gewalt bor Ginn und Geele ftellt wie „Die
Sdladht*? Das zweite aber, das, gleich vollendet in der dichterifchen Gee
ftaltung, in feinem feelifhen Gebalt zugleich die Artung Scillerfchen Geiftes
offenbart, die ihn früher oder fpäter zu feinem Philoſophen führen mußte,
ift unfer Gedidt „Die Größe der Welt“. Hier haben wir „Gedankenlyrik“,
in welder der Gedanke in Inappfter Form ganz geftaltetes Bild und mit-
reißendes Gefühl geworden ift. Den Keim zu diefer Geftaltung eines echt
Schillerſchen „Adlergedanfens“ finden wir offenbar in folgender Hymne an
den Unendlichen, die in den gangbaren Ausgaben der Schillerfhen Gedichte
fehlt. Zwiſchen Himmel und Grd, hod in der Lüfte Meer
Sn der Wiege des Sturms trägt mid ein Zadenfels,
Wolfen türmen
Unter mir fic gu Stürmen,
Schwindelnd gaufelt der Blid umber
And ich denke did, Ewiger.
Nidt nur Strophenbau und wörtlihe Anklange, fondern aud Bild und Gee
Danfengebalt weifen deutlid) auf unfer Gedicht. Aber erft in ihm entfalten
fi die hier porhandenen Keime zur vollendeten Seftalt.
Wie finnfallig überzeugend wird uns in Wort, Bild und Rhythmus einer
einzigen Zeile Die Schöpfung der Welt in ihrer großartigen Plöglichfeit vor
Die Seele geftellt. Fühlen wir nicht das ftürmifhe Drängen des „Ichaffenden
©eiftes“ im fic bejchleunigenden Anlauf des Rhythmus, der mit rollender
Geſchwindigkeit die Silben überläuft, um in den letten beiden Worten zu
gipfeln und alle Kraft und Wucht des niederfallenden Tones in ihnen zu
fammeln? @lauben wir nidt den Schöpfungsaugenblid felbft zu erleben,
die anlaufende und hammerſchwingende Geftalt des „Ichaffenden Geiftes“
bildhaft zu fdauen, den durch den Weltenraum ballenden Schlag zu hören,
der aus dem Chaos den Kosmos ſchlägt? Und wie wir im gellenden Hall
bes Wortes „Chang“ die wüfte Dede, das wilde plane und ziellofe Durch»
einanderfluten und »ftürmen der chaotiſchen Welt glauben verfinnlicht zu
feben, fo verbilblidt der weihe Klang und wiegende Rhythmus der Worte
„Ihwebende Welt“ das Wefen des Kosmos, das Schweben und Kreifen der
trog aller Bewegung in fic rubenden und gehaltenen Welt voll höherer Ord-
nungen. Und man empfindet Diefe Rube in der Bewegung, dies Kreifen
in feften Bahnen, um fo deutlicher, als fid dem wiegenden Schweben — im
Klang der ftabreimenden Worte und im befdleunigt borwärtsftrebenden
Rhythmus wieder trefflich gemalt — das den Raum pfeilartig durchfchneidende
„flieg ih des Windes Flug“ unmittelbar anfchließt und entgegenfest. Dies
ungeftüme, todderadtende Dabinftiirmen durchs endlofe Wethermeer nad dem
bermeffen weitgeftedten Ziele offenbart die ganze Leidenſchaft des Iette Rätſel
löfen wollenden Feuergeiftes, die in ihrer vollen Wucht und verwegenen
Kühnbeit reftlos zum Ausdrud fommt in den Worten „Anfer werf, wo
fein Hauch mehr weht, Und der Markftein der Schöpfung fteht.*“ Während
wir in dem „Bis am Strande ihrer Wogen id Iande“ rhythmiſch mitfühlen,
wie die Wetherwogen den Weltenfegler ans Land tragen, geftalten die legten
beiden Zeilen im Wortfinn und in der Wucht der fi) häufenden und am
Schluß Silbe für Silbe gleid) Hammerjchlägen niederfallenden Betonungen
147
die ganze ungeftüme Kraft des Adlergeiftes, dem in feinem fühnen Fluge nur
der Marfftein der Welt, das hauclofe Nichts Halt zu gebieten vermag.
So ijt das Biel wie lebendig gegenwärtig vorausgeſchaut und mit ftiire
mendem Mute porweggenommen, während der Weltenwanderer nod auf dem
Wege ijt und im Windesflug die „ihwebende Welt“ durdeilt. Im Anfang
ber zweiten Strophe finden wir ihn {don tief inmitten Der freifenden Geftirne.
Schon fieht er neue Sterne hinter Sternen auftauchen, die in taufendjährigen
Bahnen die ungeheuren Weiten des Girmaments durchmefjen. Bewundernd
folgt fein Biid dem erbabenen Schaufpiel der freifenden Welten, läßt fid
gefangen nehmen bon ihrem wiegenden Reigen, der fie fpielend ihrem Viele
auträgt, bis plöglih aud ihr tröftlihes Licht feinem Auge entſchwindet, das
nun, ziellos irrend und vergeblich ſuchend, die endlofe Dede fternenleerer
Räume durdforfht. Wie wir den verhaltenen Jubel über die Sternen-
ſchönheit aus der erften, die Bewunderung ihrer Grhabenheit aus der zweiten
geile herausklingen hören, fo malen Lauttlang und Rhythmus der beiden Kurz
geilen den Iodenden Reig und die wiegende Bewegung der freijenden Gee
ftirne, während die Schlußzeilen erfte Berwirrung, erftes Grfdreden und Er—
ſchauern vor der Unheimlichkeit des fternenlofen Weltraums ausdrüden. Aber
aud bor der fternenlofen Nacht des Raumes zagt und ftußt der Adlergeift
nur einen Augenblid. Schnell rafft er fid auf und fpornt den Mut an zu
nod rafenderem Glug: die Windeseile wird überboten Durd die Schnelle
des Lichts. In körperlich nahfühlbarer Sinnfälligfeit malen die vier rhyth—
milch völlig gleich gebauten fechsfilbigen Verſe
Angufeuern den Glug / weiter gum Reid des Nichts
Steur’ id) mutiger fort / nehme den Weg des Lidts
den treibenden Anfporn, die porwärtsftoßende Gewalt, die bligartige Ge—
{hwindigteit des Sluges. Unermeßlihe Weiten werden durchquert, wie Sche»
men fliegen die wallenden Nebel des trüben Himmels rüdwärts vorüber,
ganze Weltſyſteme, dem mit Lichtgefchwindigfeit Boriiberfaufenden minzig
wie Strudel im Bac erjcheinend, läßt der „Sonnenwanderer“ Hinter fic.
Da taucht in der troftlofen Ginfamfeit und Leere des Raumes plöglich
der entgegenfommende Wanderer auf, und das „Sieh* am Anfang Der
vierten Strophe drüdt erleidtertes Aufatmen und freudiges Staunen aus.
Und nun folgt in dramatifcher Lebendigkeit und fparfamfter RnappbHeit das
Zwiegeſpräch der beiden Weltenwanderer. Beftätigend, daß beide gleichen
Adlergeiftes find, erklingt es aud) aus dem Munde des zweiten in fdniglid
ftclgem Pathos: „Zum Geftade Seiner Welt meine Pfade* und in faft wört«
lider Wiederholung der verwegene Ruf: „Segle bin, wo fein Haud mehr
weht und der Warkſtein der Schöpfung fteht!“
Aber wie ein gebietendes „Bis hierher und nicht weiter“ erfdallt nun
das doppelte „Steh“ aus beider Munde, ſchütternd und erfchütternd durch»
ballt, alg ob es fein eigenes dumpfes Echo wede, das „umjonft — umfonft*
den endlojen leeren Raum, und, die Seele bis ins Sieffte durchichauernd,
lift jih nun das Wort „Unendlichkeit“ pon den Lippen, deſſen Sinn beide
innerlidft und eigentlich „erfahren“ Haben. Bor diefem Wort, das uns erft
in Wahrheit die ganze „Sröße der Welt“ erfchauernd ahnen läßt, fentt der
Adlergedante feine Gittide, ftreicht die fühne Phantafie die Segel, wird aud
der bimmelftürmende Menjchengeift Hein und nichtig. Wie im Gangen des
Sedidts, fo tft auch hier wieder im Einzelnen der Gedanke bildmäßig geftaltet:
Wir [hauen und fühlen in Wort und rhythmifder Bewegung das Herabe
ſchweben des Adlers aus feiner ftolgen Höhe, und noch einmal weden die
148
Schlußzeilen das Bild des kühnen, durchs unendlide Wethermeer dahin»
fahrenden Seglers, laffen mit der Borftellung des mutlofen aud den Gegene
fag des mutig-verwegenen Wnferwerfens wieder auftauchen und verfinnlichen
damit abſchließend und zufammenfajfend den Gedankengebalt des Gedichts.
Suden wir den in unferem Gedicht geftalteten Gedanfen bei Schiller
weiter zu verfolgen, fo drängt fid ung unter feinen Gedichten bor allem
„Das verjchleierte Bild zu Gais* auf. Den Gwigen denfen, die Größe und
die Grengen der Welt erfahren, die Wahrheit fdauen zu wollen — es ift
im @runde dasſelbe vermefjene Streben des Menfchengeiftes, der letzte
Ratfel löjen will, und — im glidlidften Fall — zur Grfenntnis der Grengen
der eigenen Gernunft fommt. Daf diefe Gedanken fdon in dem jungen bore
kantiſchen Schiller fo lebendig waren, daf fie eine fo vollfommene Geftaltung
wie unjer Sedidt herporgetrieben, und dann den älteren Schiller nad einem
eingehenden Kantftudium wieder zu fchöpferifcher Geftaltung zwangen, bee
zeugt am deutlichften die Kongenialität des Dichters mit feinem Philofopben.
Schiller gehörte nicht gu den Kärrnern, denen der König an feinem ftolgen Bau
gu tun gab: Gein Weg zu und über Kant war nur ein Forte und Weitere
fchreiten unter dem Zwange und in der Freiheit des Gefekes „nach dem er
angetreten“. Grang Heyden.
Dom Staate und von Staatlichen Sinrichtungen.
Wefen und Swed des Staats.
er Staat ift eine Schöpfung des Mannes. Grauen haben mit feiner
Gntftehung nichts zu fdaffen. Denn Macht ift fein Wefen, und deren
Arjprung liegt in derjenigen Gewalt, die auf männlicher phyſiſcher und gei—
‚ ftiger Kraft berubt. Darum aud find Grauen grundfäglich nicht berufen,
Staaten zu Ienfen. Kein Beweis gegen die Regel find Ausnahmen wie
die englifhe Glifabeth, Maria Therefia und Katharina die Zweite. Die
Wacht ging als wohlbegründete in ihre Hände über, und weil fie lug waren,
gelang es ihnen, fie burd Anwendung gureidhender Mittel, — insbejondere
dadurch, daß fie tüchtige Männer beriefen und gewähren liefen —, zu
erhalten und günftigen Galls zu erweitern.
Die Frage nah, dem Zwed des Staates ift feine Angelegenheit
des Staatsmannes, fondern des PHilofophen. Ift der Staat Gelbitzwed?
— Dorfragen: Gibt es einen Selbjtzwed? Was ift der Bwed des Lebens
überhaupt?
Wir fehen bon dem ab, was die Kirche Iehrt und fließen: Dem Men-
[dengefdledt ift bon feiner über ihm ftehenden Macht ein Swed gefest. Denn
wir fennen feine ſolche Macht. Ob es eine gibt? — Sedenfalls ift fie —
und mit ihr jeder von außen geſetzte Zwed für unfere Grfenntnis verſchloſſen.
Wenn wir nad dem Zwed des Lebens fragen, fo fann nur ein folder ge-
meint fein, den der Menfd fic felbft fest. Zwed, Sinn, Biel bedeuten
bier das ©leiche: die Quelle, aus welder der Inhalt diefer Worte gefchöpft
wird, find die menf{dliden Bedürfniffe und Wünſche. Go verfdieden dieſe
find, fo verfdieden müſſen die Antworten lauten.
Der Stumpfe — die weitaus größte Zahl aller, aud) der fogenannten
gebildeten Menfden — ftellt die Frage überhaupt nicht. Der mit einigen
geiftigen Bedürfniffen ausgeftattete, aber in der Hauptſache materiell gerid-
149
tete Menfd mit unentwideltem Ethos — wir nennen ihn den niederen Men-
{hen — begnügt fid, als den Zwed feines Lebens ein möglihft hohes Maß
bon Bequemlichkeit, Behagen, Genuß zu ftatuieren. Die Gruppe der höheren
Menfden gliedert fid in zwei Kategorien, je nachdem ihr Gthos mehr nad
der Geite der Gite oder nad der Seite der Leiftung orientiert ift: jene ent-
fckeiden fich für das Glück der Meiften, diefe für das Olid der Höchften.
Sene wollen, fo gut es geht, den Sammer der Kreatur mildern und das
Paradies auf Erden fchaffen; diefe argumentieren fo: Der Wachstums«
wille in der Natur wirkt fid in der Züchtung der höchften Arten und
— innerhalb der Art — der höchſten Individuen aus. Gie find das
Ziel der Gntwidelung. In der Gattung Wenſch, welde den Geift her-
borgebradt hat, find es diejenigen Individuen, welche die höchſte Stufe phy⸗
fifher und geiftiger Gollfommenheit erftiegen Haben. Diefe Exemplare madjen
den eigentliden Wert der Gattung aus, und darum miiffen fie das Maß aller
menfdliden Wertungen abgeben. Was ihnen dienlic ift, fördert die Menfd-
beit. Das Bedürfnis, der Wunfd, das Glück, das Ideal der fo Gearteten
ift Die Leiftung — wie Nietzſche jagt: die ſchenkende Tugend — und darum
haben fie den Willen, fid zu höchſter Leiftungsfähigfeit gu fteigern. Für
ihren ®ebraud find die höchſten Güter beftimmt, denn fie wiffen den beften
Gebraud von ihnen gu machen. Gie genießen das Hohe und Schöne nidt
im Sinne eines drohnenhaften Seniefertums, fondern als folde, die Durch
den ®enuß bereichert und befrudtet werden, und wenn fie bom Genuf zu
neuem Schaffen fchreiten, erftatten fie ihren Dank dadurch, daf fie die Menfch-
beit mit neuen Werten befdenten, bereihern und befruchten.
Dies ift unfer Ideal, der Zwed des Lebens, wie wir ihn erfennen.
Aber wir wiffen, daß die andere Gruppe der höheren Menfchen anders,
weicher, mitleidspoller, gütiger — bvielleicht giitiger! — denkt, und ahnen,
daß in der Herauffommenden Gpode das Gthos der mitleidpollen Gitte, der
Sumanitat, der „Gerechtigkeit“, der Gleichheit — es find die dem Ideale
ber Demokratie wefensperwandten Sefühlsinhalte — mehr und mehr an
Einfluß zunehmen werden.
Diefe Grundanfdauungen find beftimmend aud für die Beantwortung
der Stage nach dem Zwed des Staates. Denn er als die höchſte Form menjde-
lider Gemeinſchaft muß berufen fein, legten Endes den Zielen zu dienen,
tele das Menſchengeſchlecht als die höchften erfannt Hat und fid fest:
jeder Staat in Der Befonderbeit, wie fie Durd die Gigenart des in ihm
geeinten Bolfes charakterifiert wird. Denn Gelbftzwed ift nichts auf der
Welt, was Wenſchen fdaffen; alles muß mit menfdlidem Maße gemejjen
werden und menſchlichen Belangen dienen.
Darum fagen wir: der Staat hat die Aufgabe, Firforge zu treffen,
daß die höchſten Kulturgüter gefdaffen werden.
Das Staatsideal bes Güte-Gthos muß es fein, der breiteften Maſſe
des Bolles möglihft große Slidsmiglidfeit zu vermitteln. (Diefem Ideale
würde vielleiht die Zurüdführung der Menfchheit in einen Zuftand Der
Bediirfnislofigfeit am beften dienen.)
Die Materiell-Befinnten (die niederen Menfhen) und Die
Stumpfen treffen mit den Bolfsbegliidern auf balbem Wege gum Ziel
zufammen, nur daß andere Motive beftimmend find: was jene für andere
tollen, erftreben diefe für fid.
Wir fürchten, daß wir mit den harten Forderungen des Leiftungs-Gthos
fo bald feine Mehrheit in der öffentliden Meinung finden werden. — —
150
Ob jemand fid gu dem Gthos der Güte oder gu dem der Leiftung be-
fennt (legten Endes ein Ausfluß des Unterfchiedes gwifden den Idealen des
befdauliden und des tätigen Thpus), hängt nidt bon Gründen, fondern
bom Temperament ab, ift nicht eine Gade des Berftandes, fondern der Mie
ſchung des Bluts und des Gefiibls. So fdarf die Grenglinie beider Auf-
faffungen in Theſi gezogen ift, wird fie doch fließend im praftifden Leben.
Denn wie die Dinge tatjächlich liegen, zwingen fie regelmäßig nicht zu einer
grundfäglidhen Stellungnahme. Immerhin: wer als Denker das Bedürfnis hat
nad reinliher Klarheit über den Bau feiner Geele, wird nicht davor zurüd-
ſchrecken, theoretifh mit unerbittlider Folgerichtigfeit den ihm durch feine
Anlage vorgefdriebenen Weg bis gu den letten Möglichkeiten zu geben.
Geſchieht dies, fo ift damit ein untrügliches Erfennungsgeiden gefunden für
die Zugehörigkeit zur einen oder anderen der beiden Kategorien.
Eine Frage, die zur grundfäglihen Stellungnahme zwingt, ift dieſe:
SHätteft Du zu entfcheiden, ob — auf der einen Seite — der Menfdbeit ein
neuer Genius wie Goethe oder Perifles oder Sokrates oder Rembrandt
oder Niebsde oder gar bon der Art des Sefus von Nazareth entftände,
während bHunderttaufende der Not und dem Sammer des Lebens aus-
gejegt blieben, — oder — auf der anderen Seite, — ob diejen ein forglofes
Dafein befdieden würde, ohne das WAufleudten eines neuen geiftigen Sternes:
welde Wahl würdeft Du treffen? Das Gthos der Leiftung ergreift ohne
Sdwanken die erfte, das der Güte die zweite Möglichkeit. Glücklicherweiſe
wird der Menſch in Wirklichkeit niemals mit fo harter Frageftellung bedrängt;
er würde die Berantwortung faum zu tragen vermögen. Bei den Entſchei—
dungen, welche das praftifhe dffentlide Leben etwa im Bereiche der Sozial»
politif verlangt, werden heute fogar regelmäßig beide Gruppen Hand in
Sand geben; denn aud) wir, die dem Gthos der Leiftung Berfallenen, find
der Yeberzeugung, daß mit der Hebung der unteren Klafjen aud einem GFort-
[reiten in der fulturellen Gntwidelung am beften gedient ift, weil bon
unten ber immer neue gefunde Kräfte dem Geiftesleben der Nation zugeführt
werden.
Aber jener Unterſchied ift gleihfam der Markſtein zwifchen den beiden
widtigften Weltauffaffungen der Gegenwart, und wo diefer im dialeftifchen
Gefprad zweier Männer aufgerichtet ift, verbreitet fich fofort Klarheit über
Grund und Wefen der Gegenfaslidfeit in den Anfchauungen über Die
meiften Probleme.
Sn einem befdrantteren als dem oben angewandten Sinne fann es gee
{Heben, daß wir dem Staate die Qualität zufprechen, Selbftzwed zu fein:
dann nämlid, wenn fein Bau und feine Organifation die Bollfommenheit
eines Kunftwerks erreicht haben. In diefem Galle fteht er mit den Werfen
der großen Dichter, der großen Künftler, der großen PbHilofopHen, ja, der
Religionsgründer auf einer Stufe. Gr befitt alfo — und das fogar nod
nad feinem Untergang — die Fähigkeit, den höheren Menſchen, welche
fih eine Anfchauung feines Wefens zu fehaffen vermögen und einen Ginn
für ſolche Grfdeinungen haben, einen geiftigen ®enuß zu bereiten, der gue
gleid; beglüdt, bereichert, befruchtet und zu neuem Wirken Die Kraft verleiht.
Go erfüllt er neben feinen praftiihen Aufgaben einen mittelbaren, entfern-
teren, idealen Swed, der ibn — in gewiffem Sinne — als Selbſtzweck
erfdeinen Iaffen finnte, in demfelben Sinne, wie man Kunft, Dichtung
und andere Kulturgüter, die feinen unmittelbaren greifbaren Zielen dienen,
ungenau als Selbftzwede zu bezeichnen pflegt.
151
Polizeiftaat — Redtsftaat — Nationalftaat — Kulturftaat.
Die Umwandlung des Poligeiftaats in den Redtsftaat, welche durch
die Schaffung der Berwaltungsgerichte ihre Krönung erfuhr, wurde bom libe-
talen Dürgertum als hoher Grfolg gepriefen und als großes Berdienft
in Anſpruch genommen. Nidt ohne Grund; die Gindämmung der Willkür
baute erft das Gundament für die frei fic) auswirfende Tätigfeit des Gin-
zelnen. Dod darf die neue Grrungenfdaft nicht überfchätt werden. Gs
gibt Aufgaben des Staats, die nur auf Koften wohlerworbener Redte in
Angriff genommen werden Tönnen, und nidt immer läßt fid der Gingriff
in die gefügten Formen der gejeslid geregelten Enteignung zwingen. Bue
dem wird durch die allguftarfe Betonung des Rechts, insbefondere des
Privatredts, eine kleinliche — rechthaberiide — Gefinnung gegiidtet; wie
wir denn feben, daß die Hebre Göttin Yuftitia, die billigerweife nur in
widtigeren Gtreitfallen angerufen werden follte, fid dazu bergeben muß,
wie eine Dienftmagd den Schmuß aus den Gden zu fegen. — Obne dah
fo viel wie bon jener Umwandlung darüber geredet wäre, erwuch3 Der
Redtsftaat zum Nationalftaat. Diejer — indem er fic) darauf beruft, oder
fingiert, in ihm fei ein Bolt von gleiher Abftammung oder dod bon aſſi—
milierter Art geeint, — betont viel ftarfer als bisher die Gegenfage zu
den anderen Staaten und DBöllern, erhebt weitgehende politifche und wirte
{Gaftlide Anſprüche, gründet diefe auf Macht und fdafft fid gu ihrer
Durdfibrung eine ungeheure militärifhe Rüftung: es wurde das Wort
Imperialismus erfunden.
Alle drei Phaſen der Gntwidelung haben Befugnifje ausgebildet, deren
ber Staat unbedingt bedarf. Unferem Ideal entjpricht noch feine von ihnen.
Was wir anftreben müffen, ift der Kulturftaat: der fic die Aufgabe fest, die
höchſte Kulturleiftung zu zeitigen, deren das in ihm geeinte Volk fähig ift.
Dann erft ift er in wahrem Sinne [höpferifh. Der Redtsftaat war das eigente
lid nit: denn Redht und Geredtigfeit, deren Betonung fein Wefen be-
zeichnet, Haben nur die — gewiffermafen negative — Aufgabe, Hindernijfe
aus dem Wege zu räumen, die eine freie Bewegung bon Berfehr aller Art
ftören. Der Nationalftaat hat mit woblberedtigter Selbftfucht die materiellen
eigenen Sntereffen und die Belange feiner Angehörigen zu wahren und
zu erweitern geſucht; fo fehr er aber aud das Wort „Kultur* im Munde
geführt, die eigentlichen geiftigen Dinge find bei ibm nidt in gebührender
Weiſe beachte. Was Redts- und Nationalftaat gefdaffen, wollen wir
adten und bebiiten; aber im Gewuftfein, daß alles Materielle legten Gndes
dem Geift zu dienen hat, aud) den Staat unferer Zulunft diefem Dienft
weiben, und ung in aller Befcheidenheit nicht por der Erkenntnis verfchließen,
daß der Poligeiftaat diefem Ideale gelegentlid ſchon näher geweſen ift
als feine Nachfolger. Semotratie
Wenn man die Worte richtig verfteht, bat Demokratie nur die Aufgabe,
den Uebergang zwifchen Ariftofratien gu bilden. Der Demos, das Boll, ift
nicht imftande, einen Staat zu regieren; dazu find nur die Wrijtot, die
Beften, die Tüchtigften, bie Erfahrenften, im beften Sinne Gebildetften bee
fabigt. Wenn fich diefe Ariftoi zu einer Kafte verfnöchert und das Charisma,
die Begabung, verloren haben, bedarf es einer Um- und Durdfdiittelung,
damit wieder die wirklid) Beften an die Stelle der Herrfchenden gefest
werden. Die Demokratie ift das Mittel, um zu diefem Ziele zu gelangen.
Denn es ift Gade bes ganzen Bolfes, daß die Auslefe gelingt. Gs ift
152
aber nicht die Idee der Demokratie, daß die unteren Volksklaſſen zur Herr—
{Haft fommen follen. Die Auslefe muß aus dem ganzen Bolfe, dem Demos,
dem Populus, nicht aus dem Odlos, der Plebs, dem Pöbel allein gemadt
werden. Denn, mögen in diefem aud bier und da Männer mit Regenten-
tugenden gefunden werden, fo ift und bleibt dies Dod eine Ausnahme; regel-
mäßig geben die zum Herrſchen DBerufenen aus dem Kreife der Stände
hervor, in welchen Bildung und Kultur json mehrere Generationen Din-
dur) zu Haufe waren. Dies zu erfennen muß das demofratifhe Bolt Witte-
tung genug haben. Gonft ift es feiner Aufgabe nicht gewachſen und wird
verdientermaßen nad Zeiten der Unordnung wieder einer Gewaltherrſchaft
verfallen.
Wer regieren will, muß Gefdidte fennen. Gr braudt fein gelebrter
SHiftorifer zu fein, muß fid aber fo viel mit dem Weltgeſchehen befchäftigt
haben, daß ibm ein Begriff von den Zufammenhängen in Fleifh und Blut
übergegangen ift. Dazu gebdrt eine Durdbilbung des Geiftes, die regel-
mäßig nicht in einer einzigen ®eneration erworben zu werden pflegt.
Vom Wahlrecht.
Das Wahlrecht ift eins der Mittel, um dem Bolle die Teilnahme an der
Regierung gu ermöglihen. Will man es grundfäglich rechtfertigen, fo müßte
man entweder die Fiktion aufftellen, alle Wahlberechtigten hätten die Fabig-
feit zu politifdem Urteil, oder fi auf den Standpunft Stellen, daß der
Wille der Mehrheit — aud wenn fie zu einem großen oder dem größten
Teil aus Ginfidtslofen befteht — für das Staatsgefchehen beftimmend fei.
(Ware dies der Sinn der Demofratie, midte fie gum Teufel geben!)
Aber das Wahlrecht läßt fid noch unter anderem Gefichtswintel bee
traten: als ein Mittel, die Maffen zur Befchäftigung mit politifhen Fragen
beranzuziehen und dadurch zu bilden, zu erziehen. Das wäre fo gu begründen:
Ebenfo wie im gewöhnlichen können aud im politifdhen Leben die Aufgaben
auf verjchiedene Art erfüllt werden, und es fommt dabei oft weniger darauf
an, wie, als daß etwas gefdiebt. Wenn aud die unqualifizierten Wähler
mande ungeeignete Vertreter ins Parlament fchiden, wird doch die in
den Dingen liegende Bernunft forgen, daß im großen das Richtige getan
wird; daß vernünftige Männer an die rechte Stelle fommen, deren Ein
fluß gelingt, Die anderen bon der Notwendigkeit des Notwendigen gu iiber-
zeugen. Go bat Bismard gedadt, als er dem deutfchen Bolfe das Reichs-
tagswahlreht gab und boffte, Deutſchland werde, in den Sattel gehoben,
reiten können. In Zeiten, wo der Fluß der Dinge nidt fataraftartig ift,
trifft das gu. Set aber feben wir, wie das Schiff fteuer-, maften- und
fiibrerlog bon den Gluten dahingetragen wird. — —
Das preufifhe Wahlreht war nidt ganz fo fdledt wie fein Ruf. Man
hatte mit ibm den Berfud gemadt, der Bildung einen porwiegenden Ein-
fluß in der Zuſammenſetzung des Parlaments zu fidern. Mit dem aus-
gleidenden Verhältnis der zweiten und dritten Klaffe war das nicht übel
gelungen; das plutofratijde Uebergewicht der erften Klaffe gab ihm aber
den häßlihen Zug. Dennoch mußte es fallen, weil es mit der Beradtung
der öffentlihden Meinung allzufehr belaftet war, und es bedeutete einen
der ſchwerſten Fehler der Krone und der vorrepolutionären Regierung, die
Befeitigung nit durchgefeßt zu haben.
Der wirklide Wert des allgemeinen gleiden direkten Wablredts ift
ebenfo problematifd. Hier foll einmal gefragt werden, ob es mit der gegens
153
wärtigen DBorftellung pom Wefen des Menfden, feinen Aufgaben und vom
Ginn des Lebens überhaupt in Einklang fteht. Diefe Frage ift zu perneinen.
Die Idee des allgemeinen Wahlrechts ift aus den Meberzeugungen hervor⸗
gewadjen, welde die Epoche des Sndividualismus beberrfdten: die Menfch»
Heit fei in Atome zerlegt, deren jedes fein Gigenleben fiir fich fibre.
Diefer Spode ift die des Sozialismus gefolgt: fie wird von der Auffaffung
getragen, die großen Aufgaben der Menjchheit können nur durd) Zufammen-
ſchluß zu Arbeitsgemeinfdaften gelöft werden. Der einzelne bedeute nichts,
die Geſellſchaft, die Genoffenfdaft, der Berein alles. Daraus würde in
fonfequenter Durddentung des Problems folgen: nicht das Individuum, fone
dern die Intereffengemeinfhaft muß Sragerin des Anfpruds fein, welchen
das Golf auf Teilnahme an der Regierung erhebt. Der einzelne wird nur
innerhalb der ®emeinfchaften, denen er angehört, feine Stimme zur Geltung
bringen fönnen. Daraus ergibt fic ein indireftes Wahlrecht des Individuums
und die Zufammenfetung des Parlaments aus Bertretern großer Interefjen-
gruppen, Berufsvereine, privater und gemeinniigiger Gefellfchaften, turg aller
auf Grreidung lebenswidtiger Zwede geridteter Verbände.
Dod aud) gegen eine folde Geftaltung erheben fid) gewidtige Ber
denfen. Zwei Gefahren würden beftehen: einmal, daß mehr nod als bisher
in Die DBerufsorganifationen die parteipolitifhe Agitation ihren Einzug hält;
fodann, daß in den Parlamenten — wie por Zeiten in den ftändifhen Lande
tagen — Die Sonderbejtrebungen der einzelnen Grwerbs- und Berufsgweige
fid in den Vordergrund fdieben und die allgemeinen Bedürfniffe des Staates
in den Schatten drängen. — —
Das Frauenwahlrecht ift ein Danaergefchent für die Bölfer. Die Frauen
baben im allgemeinen feinen Beruf für die Politik, weil bei ihnen das
Gefühl den Berftand mehr überwiegt als bei den Männern. GFreilid —
bei der Unzahl von urteilsiofen Wählern männlichen Geſchlechts — was vere
ſchlägt es, ob aud die Frauen zur Wahlurne gehen? Die Gefahr aber bee
fteht darin, daß die Plattform, auf welder fic der politifde Kampf ab-
{pielt, Durd ihren Eintritt nad der Seite der Gefühlsmäßigfeit verfchoben
wird. Ginfidtige Männer find immer bemüht, dem Streit der Meinungen
den Charakter nücdhterner Gadlidfeit zu geben; diefem Beftreben bedeutet
das Grauenwablredht ein neues Hindernis.
Sn der Gemeinde und in der RKirde, vor allem in der Armenpflege
und in allen den gemeinnügigen Angelegenheiten, wo es auf eine unmittel-
bare praktiſche Arbeit unter Betätigung menfdliden Gmpfindens anfommt,
ift die Stau am Plate. Innerhalb folder Bereiche foll fie aud wabl-
berechtigt fein und ihre Stimme nicht nur beratend erheben können. Hier wird
ihr Gefühl zu einem beilfamen Gegengewicht gegen die Härten des theore-
tifierenden mannliden Berftandes.
Die Frau darf in der Nidt-Gleidh-Gekung mit dem Mann feine Minder-
adtung erbliden. Die DVBerfchiedenheit liegt im Phyſiſchen begründet, das
der Nährboden des Geiftigen if. Wer die Anterſchiede betont, diejenigen
Gebiete abgrenzt, auf denen die Frau Tüchtiges — und gelegentlih Tiidh-
tigeres als der Mann — leiften fann und die Veredelung der GFrauene
arbeit auf diefem @ebiet anftrebt, ift ein größerer. und wabrerer Freund
der Grauenbewegung als die unentwegten Frauenredtlerinnen. — —
Eine fluge Grau fagte: folange die Frauenmode Tafden in den Kleidern
verbietet, verdienen die Frauen nicht, als ernfthafte Mitbewerberinnen der
Männer auf irgendeinem Gebiete betrachtet zu werden. — —
154
Rechtund Gerechtigkeit.
Mit dieſen Worten wird viel Unfug getrieben. Recht und Gerechtigkeit
— fagte ein griehifher Weifer — Haben die Menfchen erfunden, damit
Gleich⸗Mächtige miteinander in Frieden leben können. Sie find tatfadlid
GrfindDungen des menjdliden Geiftes, ermadfen auf dem Boden der Gee
wobnbeiten und Grfabrungen, und bedeuteten urfprünglid Hülfen zur Auf
rechterhaltung der öffentlihen Ordnung. Daf man fie fpäter mit den Attri«
bruten höchſter Ehre umfleidet bat, ift ein Beweis pon edler verantwortungs-
boller Ghrfurdt des menſchlichen Geiſtes vor fid felbjt und feinen wert.
vollen eiftungen.
Dorausfegung für die Gntftehung pon Redten ift das Borbandenfein
einer über Dem Berechtigten ftehenden Gewalt — regelmäßig der Gewalt
eines Staates —, welche die Rechte verleiht und für ihren Schuß einzu.
treten bereit ift; Gerechtigkeit ijt die Gigenfdaft des Richters, Der unpare
teiiſch — ohne Anjehen der Perjon — Streitigleiten entfcheidet. Weber diefe
Begriffe hinaus follte man mit dem Gebraud der Worte vorfidtig fein.
Bon allgemeinen Menfdmenredten gu fpredhen ift widerfinnig; wir fennen
feine dem Menſchengeſchlechte übergeordnete Macht, die eine Gleichheit der
Wenſchen ftatuierte; ein Recht der Konfefjionen auf gleihe Behandlung im
Staate 3. B. befteht nur dann, wenn es die Berfajfung gewährleijtet. Gin Recht
auf Arbeit eziftiert ebenfowenig wie das Redt der Frau auf ein Kind. Wo
jene Borausfegungen ftaatlider Anerkennung fehlen; wo Forderungen erhoben
werden, die fid, ohne daß fie auf folder Grundlage fteben, bdurdfegen
wollen, fann nur bon „Anfprühen“ geredet werden, und wenn Diefe unbe«
friedigt bleiben, ift es nicht die Geredtigfeit, die verlegt wird; nur Die
„Billigfeit* mag angerufen werden. Die Gntwidelung bon Gewohnheit,
Gitte und GSittlidfeit find in dauerndem Fluß: was borgeftern Utopie war,
rüdte geftern in den Bereich der Möglichkeit; heute ijt es Wnfprud, um
morgen Recht gu werben: man denfe an die SGleidberedtigung der Juden.
Subjektiv ausgedrüdt: es wird eine Ungleichheit erkannt; der ungünftiger
Geſtellte empfindet fie fdmerglid; er fragt nad dem Grunde, erfennt ibn
nit an, wünſcht die Ungleichheit befeitigt gu feben, weil fie ihm unbillig
erjcheint; er fucht andere, die nicht in gleicher Lage find, bon der Unbillig-
feit ‘zu überzeugen und findet bei menſchlich Denfenden Berftändnis, welche
ibrerfeits für die Idee einzutreten bereit find und Gefinnungsgenoffen were
ben. So wird der Wunfh zum Anfprud, und wenn er fid durchzufegen
bermag, zum Redt. Es ift notwendig, die Unterfdiede dieſes Progefjes im
Auge zu behalten. Auch der Terminologie treu gu bleiben, ift wichtig. Denn
die Anwendung des Wortes „Recht“ da, wo es nicht hingehört, verleitet zur
Verſchiebung der Begriffe, und wir fehen täglich, wie mit Unverſchämtheit —
die aud) Woblgefinnte verwirrt — auf „Rechte“ gepodt wird, wo — einft-
weilen wenigftens — nur feimbaft fi zu „Anſprüchen“ entwidelnde „Wünſche“
geltend gemadt erden. ®uftap Sdiefler.
Nibelungenfilmung.
i) augenblidlide politifhe und geiftige Konftellation geitigt in Iebbafter
Weife Nachfrage und Angebot in nationalen Stoffen. Man fann daher
Sridericus im Film, Gridericus in der Manege, Bismard, vorgeführt von
Gmil Ludwig auf den Brettern, Bismard im Zirkus Bufd haben. Als das
155
Neuefte werden die Kino-Nibelungen auf den Markt gebradt. Trotz Staats-
männerreden anläßlich der Eröffnung diefes Groffilms ift die künſtleriſche
Seite des Greignifjes zu unerheblich, viele Worte zu machen; wer bier oon
einem bedeutenden Kunftwerf fpridt, verwechjelt den Aufwand materieller
Mittel mit einem fünftlerifhden Wert. Wichtig aber ift, daß die Zeitpſyche,
die Atmoſphäre, in der wir leben, fic) mit erjchredender Deutlicdfeit in diefem
Unterfangen fpiegelt.
Die gefilmten Nibelungen find nichts Sporadifches. Sie find typifdh. So
fommt es aud), daß diefe Angelegenheit gar nicht ganz neu ift. Ihre erfte
Silmung haben die Nibelungen, zwar ohne Kurbelfaften, aber im Geift
Slimmerwand, in den legten Kriegsjahren erlebt, alg Werner Sanfen fie zu
einem Roman verarbeitete. Die unferer Beit zu langatmigen, fagen wir
beffer lang» und tiefatmenden Nibelungenverje widen einem furgatmigen —
Aſthma hängt ja wohl öfters mit den Nerven zufammen — alfo einem zadigen
Gegenwarts-Helden-Telegrammftil, der an gemogter Forſche und lapidarer
Monumentalifierungsbeftrebung nichts gu wiinfden übrig ließ. Alles zudt,
ftarrt, fteilt und wippt vorbei, und gibt fid in aller Gile Mühe, im Borbet-
flirren unverlöfliden Gindrud zu maden. Der gute, fimple Lieddichter
bat es nie recht verftanden, die Situationen feines Stoffes ausguf[dladten.
Ihm fehlen die Nerven! Da ift fein GFibrieren! Kein Singerjpigengefühl!
An fid mag beifpielsweife der Streit der badenden Königinnen, wie Danfen
ihn vorführt, ein erfreulider Aſpekt für einen neugeitliden Runftbeflifjenen
jein, nur — für Die Nibelungen erfdeint er mir unangebradt. Aber da jtedt
des Pudels Kern! Die Nibelungen haben eine gang andere pfhdologifde
Dorausfegung als die Waſſenpſhche unferer Tage. Meinetwegen laßt fie
olle Ramellen fein! Langweiliges Zeug! Aber verjucht fie nicht aufzubügeln.
Dod nun fommt das Berteufelte: Sie erfcheinen ftofflid den Modernen
gar nit fo unbrauchbar, man muß fie nur modern maden. GSelbftverftänd-
lich bat fic ihr Stoff jeder Zeit angeglichen, er ift immer neu geworden, aber
die Zeiten, die an diefem Stoff bildeten, waren ihm adaequat. Gr traf ihren
Geift, fie framten ihn nidt aus dem DBildungsrummel auf. Der heutige Aus-
drud der Beit erfdeint im Film. Alfo wird das zeitlofe Wefen der Nie
belungen in die geitlide Zerrung des Gilms gepadt. Gerade Diefe „Er—
neuerung* madt den Abftand deutlih! Nicht bon der Wandlung rede ich
— fie ift [didfalbaft und alles Lebens Wefen, fondern von unferer Bers
fommenbeit. Wir müffen gerecht fein: fowohl Sanfen wie Thea bon Harbou
und die Leute des Nibelungenfilms nehmen ihre Sache ernft. Sonft wäre der
Gall gar nicht fo tragifch. „Tragiſch“ ift allerdings nicht richtig. Es bleibt bei
der Parodie. Gin braber ann, der fid als Goethe fühlt, und hungernd und
frierend didtet, wirft nicht tragifch, fondern tragikomiſch und erregt Mitleid.
Die letzteren unangenehmen DBegleiterfcheinungen fallen aud) wohl bei den
fämtliden bier in Betracht kommenden Nibelungenerneuerern weg. SKleift
ift tragifd in feinen Irrungen, wenn er in den Ronflift des Lebensgefühls
feiner Zeit mit dem angeftrebten Stilwillen feiner Werke gerät. Wir find zu
flein dazu. Wir würden uns mit Tragik drapieren.
Alfo, der Nibelungenfilm ift ernft gemeint und deshalb — langweilig.
Wie könnte es anders fein bei dem Bruch gwifdhen dem Weſen des Films
und dem Wefen des Nibelungenliedes. (Gs wird Hier immer bom Lied ger
fproden, da der Film fidh im großen ganzen an dieſe Unterlage Halt.) Das
Lied ift nicht langweilig, weil feine Kraft innen fist und fic bei jedem Bers
verjchloffene Tore auftun. Im Film liegt alles auf der Oberflade. Er hat
156
feine innere Weite. Die Sntgleifungen — er befteht in diefer Hinficht eigent-
lid) aus lauter Gntgleifungen — liegen in feinem Wejen, nicht in der faljchen
Auffaffung feiner Schöpfer. Sie find nicht zufällig, fondern thpifdh. Gs fehlt
die innere Konfequenz der Handlung, es fehlt jogar die äußere Folgeridtig-
feit. Gin paar Beifpiele: Man läßt fid) das Schwertfchmieden Siegfrieds
nicht entgehen, aber man läßt fid aud die Auffindung der Zauberſchätze in
der Höhle Alberihs nicht entgehen, aljo Hat Siegfried zwei Schwerter.
Damit wird der erfte Zeil zur finnlofen Gpifode. Siegfried ift Königsſohn
bon Xanten, wadft aber in der Wildnis auf. Die Leimung der Sagenfaffungen
ift fo oberfladlid und wird in dieſer Materialifierung fo fhonungslos bloß-
gelegt, daß man fid an den Kopf faßt. Bei Kriemhild bimmeln immer
@loden in Großaufnahme. Ich habe 23 mal Gloden gezählt, es können aud
ein paar mal mehr oder weniger fein. Gs fcheint ein ſchlechter Wik, das Publi-
fum nimmt das auc) fo auf. Was foll diefes Hineintragen des Rirdhliden?
Bielleiht paßt es fulturbiftorijdh für die Beit der Gntitehung des Liedes,
ift aber unfinnig beim Gedanfen an das Wefen der Nibelungen und Kriem-
hilds. Gine Kommunion im Vordergrund, wobei der Priefter die Oblate
bochhebt, Trönt diefe Borgänge. Der wijjende Gunther des Liedes wird zum
betrogenen Sroddel des Films. Seine inneren Kämpfe fudt er durd ein
froihhaftes Augenberporquellen vor der Oeffentlidfeit zu dofumentieren.
Seine Sragif ift Einfachheit halber geftriden. Die äußeren PlumpbHeiten
markieren mit diden Kledjen das Geblen jedes inneren Berhältniffes gu dem
Stoff: Die Brutalität, das auslaufende Auge des Drachen in Grofaufnahme
porzuführen, die Scheußlichkeit, das Stüd mundes Fleiſch von Giegfrieds
Bruft, aus dem bei dem Herantreten Hagens das Blut fließt, ebenfalls
extra in Sroßaufnahme zu bringen mit Iangjam rinnendem Blut! Siegfried,
der mit dem Speer im Leib endlos umberrennt, und fid anfcheinend Mühe
geben muß, zu zeigen, daß er born und hinten richtig durchbohrt ift, gehört
dazu. Wefentlider nod ift Kriemhild in Kopfaufnahme Man fann genau
feben, wie ein Menfdengefidt fid in hidftem Schmerz ausnimmt. Die
Tränen friehen aus dem unteren Wugenlied Iangfam hervor. Gine nicht zu
verpaffende Gelegenheit, das in feinem faft anatomifchen Vorgang, ruhig
im Warmen figend, einmal feftellen zu fönnen. Aber der Film will ja
feelifde Borgänge bringen. Gr foll die Finger davon laffen! Man marfiert
nidt nur mit dem Gefidt Schmerz und Freude. Man Tann nicht alles
feben, fondern muß es fühlen. Aber das Wort ift heute zu wenig
fenfationell, es braudt ein langfames Mitklingen und Nachhallen in uns,
wir haben feine Zeit, feine Kraft dazu, deshalb haben wir ja den Film.
Damit find wir bei dem Wefen. Uns fehlt die Schaufraft, alfo erfegen
wir fie durch Materialijierung des Wortes, diefes wird dadurch überflüffig,
weil zeitraubend. Aber die Nibelungen beftehen auf diefer Schaufraft,
die Welt mythiſcher Borftellungen läßt fich nicht vorzeigen und nicht „fehen“,
fondern will innen erfdaut fein. Diefer Welt gehört alles im Lied der
Nibelungen. Sie ift feine Ginheit. Die Geftalten find mehr als einzelne
Menfchen, fie find Konzentrationen des Blutes von Jahrhunderten. Man
fann nicht, wie im Film, auf den laufdenden Giegfred pliglid einen Piep-
mag in Naturaufnahme folgen Iaffen, das vernichtet alle Vorftellungs-
möglichkeit, das ijt in der ganzen Sphäre ein Kosmos für fic, mit „Nature
aufnahmen“ fommt man dem nicht bei. Das Wort erhebt das Yeberge-
waltige des Liedes in die Ahnung, die Slimmerwand fchlägt diefe Ahnung
tot. „Ez wag eine Küneginne gefeggen über See“: was liegt für eine nebel-
157
bafte Gerne in den Worten! Dann heißt es von Brunbilb: „Si fchoz mit
ftarfen Reden umbe Minne den Schaft.“ Die Ueberfteigerung des Weiblichen,
die Ungeheuerlichkeit hebt fid) aus dem Klang der Worte auf. Im Film
büpft ein mondänes, hyſteriſches Grauengimmer — Pſychologie; erotifche,
Derirrung — einher. Was konnte man anders erwarten? Der graufenpolle
Bers des Liedes, wo die ganze Welt horcht auf das Klopfen des dere
tinnenden Blutes bei Giegfrieds Tod: „do fiel in die Bluomen / der Krieme
Bilde Mann / dag Bluot ug finer Wunden / fad man fafte gahn“ wird zu
einem widerliden Anblid, der Qufdauern von Gladiatorenfimpfen und
Schlächtern ſympathiſch fein mag. Gr hat feine Weite, ift plumpe Materiali-
fierung, wie wenn man Qufdauer einer Mefferftecherei fein muß. Was fann
an die Tiefe des Schmerzes heran, wenn Kriemhild fleht, den Sarg ihres
Gatten nod einmal zu öffnen: „daz ich fin ſchoene Houbet noch eins müeße
feben“ und die Dilflofe Qual diefes heiligen Schmerzes: „fi huop fin fchoene
Soubet mit ir vil wiißen Hant* — id mag nicht fchreiben, was jest im
Film geſchieht. Diefe erflügelte Sentimentalität ift ungewollt infam! Genug
des graufamen Spiels: Schaufraft im alten Lied gegen inneren Tod heute.
Das Gute Hat der Film: Gr hebt die ungeheure Größe des Liedes durch
feine Grbarmlidfeit in die Bewuftheit. Welde Konzentration Hat
Dod dies endlos lange Lied! Die erften Verſe fchaffen die ganze Welt mit
ihren grauenhaft unbeimliden, dumpfen Klängen bei der Graäblung vom
Aebermaß der Kriembild. Diefe fuggeftive Kraft hält bis zum lebten Bers
durd. Wie Klein find wir, daß wir nur Einzelheiten daraus erfaffen! Unfere
Seele reicht nicht mehr aus. Wir können fein Epos mehr bauen, fo wenig
wir einen Dom bauen fdnnen. Wir fönnen es nicht einmal mehr nade
empfinden. Woher aber nimmt Diefes Gpigonengefdledht die Stirn, bon
„Längen“ zu fpreden, weil unſere Nerpofität zum Durdleben des Epos
nicht reiht? Kann man aus einem Dom Fialen, Spiten, Maßwerk heraus
ſchlagen, weil vieles konſtruktiv überflüffig erfcheint? Was wiffen wir bon
überflüffig? Wir follten nur wiffen, daß wir fize, elende Sappelmannden
in der Zeit bes Autos, Telefons, Radios find! Mit diefen technifchen Er—
rungen{daften, fie mögen an und für fi gut und niiblid fein, verdeden
wir unfere Armut. Daher machen wir einen Film mit „Wundern der Technik“.
Die contradictio in adjecto bei diefem ftolgen Wort geht uns nicht auf. Aber
um die Gnttwunderung durch die Wunder der Technik zu begreifen, muß man
den Nibelungenfilm feben. Troß Drachen, Zwergen, Höhlen, gefhidt arran-
gierten Bildern, als da find Aufnahmen bon Domen mit Borplagen aus der
Perfpettive, als handele es fic nicht um die Nibelungen, fondern um Bandere
bilts Hochzeit oder Wilfons Beerdigung, photographiert für Woche und
Slluftrierte, troß dem allem bleibt das Wunder fern, es Hodt wohl ftatt in
dem ſchönen GFilmbaus der Stadt irgendwo im Winkel einer armfeligen
Bauernfate in der Lüneburger Heide, wo eine frummgearbeitete alte Frau
ihre wilden Gnfel mit Dem Grufeln pon Geſpenſtergeſchichten beruhigt. Die
Berfibrung der Wbenteuerge{didten, die das Lied gang nebenbei mit feiner
Ironie abtut, wäre vielleiht im Film noch ertraglid. Gr follte ſich auf fie
befchränfen. Aber er würde aud bier die Schaumöglichkeit, die der Begriff
„Abenteuer“ auslöft, verdrehen zu wichtig aufgetafelten Senfationen.
Ich fenne den praftifhen Einwand der ganz Klugen und Woblgefinnten:
Die Kunft muß national fein und das Bolf muß feine großen Stoffe fennen
lernen. Die Snfonfequeng diefer Leute ift geradezu erftaunlih! „Politifch“
find fie ,®egner der Demokratie“ und reden bom Führerideal, auf der andern
158
Seite glauben fie für geiftige Dinge an eine pfuchologifche Gleichheit der
Maffe. Sie verwedfeln Hier Golf und Maffe und finnen im praftifchen
Sall nicht „ariftofratifh“ genug fein! Da fie bon der Grfahrung belehrt
werden, daß ein Kunftwerf nur ſchwer zugänglich ift, gleichen fie es der
Waſſenpſhche an. Als ob dann das Werk überhaupt noch vorhanden ware!
Die Unnah barkeit des Kunſtwerks für ibm nit ebenbür-
tige Seelen dDofumentiert Die Ungleichheit der Menfaden;
wenn wir fie aufgubeben tradten, vernidten wir bas
Kunftwerkl Was bleibt, ift ein böfes Bildungsfurrogat. Warum laufen
wir Sturm gegen Schidfalhaftes? Die Grenzen find nicht zu überfpringen.
Der Nibelungenfilm fchafft feinen Nibelungengeift, er Hat ja feinen. Daf
fein Stoff im Film gebraudt wird, ändert nidts an der Tatfade; wer es
bod glaubt, verwechfelt ©eift und Material. Kein Wunder in unferm
materialiftifden Zeitalter! Laßt diefe Art Volksbeglückung, fie pfufht dem
ah Gott ins Handwerk und entwürdigt uns des Grofen, das wir nod
aben.
Gon Intereffe ift nod die Stellung der löblichen Kritik gu dem Nibe-
Iungenfilm. Sie findet ihn im allgemeinen großartig. Wieweit die Inferate
in den Zeitungen dabei mitfpielen, weiß id nicht. Oder wird der Film einfach
nicht ernft genommen? Dann läuft es auf eine Irreführung des Publitums
hinaus. Wie wird fonft immer von der „Form“ geſchwätzt. Form und Gee
Halt müffen eins fein! Gs gibt eigentlich gar feine Trennung zwifchen beiden.
Sonft fommt fein Kunftwerf heraus! Gewiß fann man einem Stoff neue
Gorm geben, aber wenn er fo wie im Nibelungenlied „geprägte Form“ ge-
worden ift, fann man ibn nicht daraus löſen.
Es wäre nod ein Wort über Thea bon Harbous Romanbearbeitung des
Stoffes zu fagen. Die Idee einer Romanbearbeitung des Liedes ift an fid,
wie aus dem vorigen erflarbar, verfehlt, es muß aber anerfannt werden, daß
diefe Bearbeitung felbft großen Grnft und großes Können zeigt. Danad
find die plumpften Gntgleijungen nidt auf Koften des Manuffriptes zu fegen.
Der Geftalt einer Kriembild gerecht zu werden, fann unfrer Zeit Taum ger
lingen, es ift auch bier nicht der Gall. Immerhin ftellt die ganze Art des
Aufbaues: in der nachgebolten Erzählung von Siegfried durdh Kriemhild
gegenüber dem werbenden Rüdiger — eine Art Gliederung nad homeriſchem
Borbild — Kriemhild gang in den Mittelpuntt.
Und nod einem muß fein Redt werden: In die Unmdglidfeit des
ganzen Films wird natürlich die Siegfriedfigur Dineingeriffen, aber einzeln
genommen ift Diefer Giegfried eine pradtpolle Leiftung. Wie fitt Diefer
Menſch zu Pferde, wie trägt er das Haupt! Gegen diefe Geftalt wirkt aller»
dings die unmöglide Kriemhild nod Fataftrophaler.
Schließlich aber, wir find jammerlide, Heine Menfchlein geworden. Das
bißchen Blut, das nod in ung fteden mag, muß fic entzünden an der unere
mefliden Gewalt des Geelifchen, das aus alter Zeit zu uns herüberragt. Seid
ebrfiirdtig, betrachtet diefe Größe und — wenn fie euch zu fern und uns
nabbar ijt, dann taftet fie nidt an, es bleibt ein GFrevel, und Wohlge-
meintheit entjchuldigt ibn nidt. Man kann nicht Trauben lefen bon den
Difteln. Biel mehr aber als Difteln find wir nicht. Befcheidenheit mag lange
fam und 245 dem müden Ader in ruhiger, treuer Arbeit wieder Frudt abe
ringen [affen. Und diefe Befheidenbeit tut uns not.
Ludwig Benningboff.
159
Erleſenes
Aus Kants Werken.
Gon dem lebten Zwede der Natur.
TS" haben im DBorigen gezeigt, daß wir den Menfchen nicht bloß, wie
alle organifierte Wefen, als Naturzwed, fondern auch bier auf Grden
alg den legten Swed der Natur (in Beziehung auf den alle übrige
Naturdinge ein Shftem bon Zweden ausmaden) nad) Grundlagen der Ver—
nunft, zwar nicht für die beftimmende, dod für die refleftierende Lrteilstraft,
gu beurteilen hinreichende Urſache haben. Wenn nun dasjenige im Men-
{den felbft angetroffen werden muß, was als Zwed durch feine Verknüp⸗
fung mit der Natur befördert werden foll: jo muß entweder der Zwed von
der Art fein, daß er felbft Durd Die Natur in ihrer Wohltätigfeit bee
friedigt werden Tann, oder es ift die Tauglichkeit und Gefdidlidfeit zu
allerlei Sweden, dazu die Natur (äußerlich und innerlih) von ihm gee
braudt werden Efönne Der erfte Zwed der Natur würde die Slüd-
feligfeit, der zweite die Kultur des Menjden fein.
Der Begriff der Glückſeligkeit ift nicht ein folder, den der Menſch
etwa bon feinen Inftinkten abftrabiert und fo aus der Zierheit. in ihm feldft
bernimmt, fondern ift eine bloße Idee eines Buftandes, welder er den
fegteren unter bloß empirifden Bedingungen (welches unmöglich ift) adäquat
maden will. Gr entwirft fie fich felbft, und gwar auf fo verfchiedene Art,
durch feinen mit der Ginbilbungsfraft und den Sinnen verwidelten Berftand,
er ändert fogar diefen fo oft, daß die Natur, wenn fie auch feiner Willkür
gänzlich unterworfen wäre, doch fchlechterdings fein beftimmtes allgemeines
und feftes ®efet annehmen fönnte, um mit diefem ſchwankenden Begriff, und
fo mit Dem Zweck, den jeder fid willf irlider Weife vorſetzt, überein-
guftimmen. Aber, felbft wenn wir entweder diefen auf das wahrhafte
Naturbedürfnis, worin unfere Gattung durchgängig mit fich übereinftimmt,
berabfegen, oder, andererfeits, die Gejhidlichkeit fid eingebi Idete Zwede
gu verichaffen noch fo bod fteigern wollten, fo würde doch, was der Menſch
unter „Slüdfeligfeit“ verfteht, und was in der Sat fein eigener legter Natur-
awed (nicht Zwed der Freiheit) ift, von ihm nie erreicht werden; denn
feine Naturiftniht von der Art, irgendwo im Befite und
Genuffe aufzubören und befriedigt gu werden. Anbdererfeits
ift fo weit gefehlt (d. b. ift es völlig falfch), daß die Natur ihn zu ihrem bes
fondern Liebling aufgenommen und vor allen Sieren mit Wohltun begünftigt
babe, daß fie ihn vielmehr in ihren verderblihen Wirkungen, in Peft, Hunger,
Waffergefabr, Froft, Anfall bon andern großen und Kleinen Tieren u. dgl.
ebenfowenig verfchont wie jedes andere Sier; nod) mehr aber, daß das
Widerfinnlide der Naturanlagen ihn felbft in felbfterfonnenen Plagen
und nod) andere bon feiner eigenen Gattung, durch den Drud der Herrfchaft,
die Barbarei der Kriege ufw. in folde Not verfegt und er felbft, fo viel an
ihm ift, an der Zerftörung feiner eigenen Gattung arbeitet, daß ſelbſt bet der
mohltätigften Natur außer ung, der Swed derfelben, wenn er auf die Gli d-
feligteit unferer Species geftellt wäre, in einem Syſtem berfelben auf
Grben nicht erreicht werden würde, weil die Natur in uns Derfelben nicht
empfänglich ift. Gr ift alfo nur immer Glied in der Kette der Natur-
160
awede, zwar Brinzip (bd. 5. erfter Anfang) in Anſehung mandes Zweds,
dazu die Natur ihn in ihrer Anlage beftimmt zu haben fcheint, indem er jich
felbft. dazu macht, aber dod auch Mittel zur Grbaltung der Zweckmäßigkeit
im Mechanismus der übrigen Glieder. Als das einzige Wejen auf Erden,
das Derftand, mithin ein Vermögen bat, fid felbft willfirlih Zwede zu
fegen, ift er zwar betitelter Herr der Natur, und, wenn man diefe als
teleologifhes Shftem anfiebt, feiner Beftimmung nad der lette Swed der
Natur, aber immer nur bedingt, nämlich daß er es verſtehe und den Willen
babe, diefer und ihm felbft eine foldhe Zweckbeziehung zu geben, die unab-
bangig don der Natur fid felbft genugfam, mithin Endzweck fein fönne,
der aber in Der Natur gar nit gefudt werden muß.
Um aber ausgufinden, worein wir am Menfchen wenigſtens jenen
legten Swed der Natur zu fegen haben, miifjen wir dasjenige, was die
Natur zu leiften vermag, um ihn dazu vorzubereiten, was er felbft tun
muß, um Gndgwed zu fein, hberausfuchen, und es von allen den Zweden ab-
fondern, deren Möglichkeit auf Bedingungen beruht, die man allein pon der
Natur erwarten darf. Bon der letteren Art ift die Slüdfeligfeitauf
Erden, worunter der Inbegriff aller dur die Natur außer und in dem
Menfdhen mögliden Zwede desfelben verftanden wird; das ift die Materie
aller feiner Swede auf Grden, Die, wenn er fie zu feinem ganzen Swede
madt, ihn unfähig madt, feiner eigenen Eziftenz einen Gndgwed zu ſetzen
und dazu zufammen zu ftimmen. Gs bleibt alfo von allen feinen Sweden
in der Natur nur Die formale, fubjeftive Bedingung, namlid
der Tauglichkeit: fich felbft überhaupt Bwede zu fegken, und (unabhängig
bon der Natur in feiner Zwedbeftimmung) die Natur den Mazimen feiner
freien Zwede überhaupt angemeffen, als Mittel zu gebrauchen, übrig, was
die Natur, in Abſicht auf den Gndgwed, der außer ihr liegt, ausrichten,
und welches alfo als ihr letter Swed angefeben werden fann. Die Here
borbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wefens zu beliebigen Zweden
überhaupt (folglid in feiner Freiheit) ift die Kultur. Alfo fann
nur die Kultur der legte Bwed fein, den man der Natur
in Anſehung der Menfhengattung beigulegen Urfade hat; (nit
feine eigene ®lüdfeligfeit auf Erden, oder wohl gar bloß das vornehmfte
Werkzeug zu fein, Ordnung und Ginbelligfeit in der vernunftlofen Natur
außer ihm zu ftiften).
Aber nicht jede Kultur ift zu diefem legten Zwede der Natur hinlanglid.
Die der Geſchicklichkeit ift freilid die vornehmfte fubjeltine Bedingung
- der Tauglichkeit zur Beförderung der Zwede überhaupt, aber doch nicht Hine
teidend, den Willen, in der Beftimmung und Wahl feiner Swede, zu
befördern, welder dod zum ganzen Wmfange einer Tauglichkeit zu Sweden
wejentli gehört. Die lettere Bedingung der Tauglichkeit, weldhe man die
Kultur der Zucht (Difziplin) nennen könnte, ift negativ, und befteht in
der Befreiung des Willens von dem Defpotismus der Begierden, wodurd
wir, an gewijfe Naturdinge gebeftet, unfähig gemadt werden, felbft zu wählen,
indem wir ung die Triebe zu Feſſeln dienen laffen, die uns die Natur nur
ftatt Leitfäden beigegeben bat, um die Beftimmung der Tierheit in uns nicht
gu vernadjläffigen, oder gar zu verlegen, indes wir doch frei genug find, fie
anzuziehen oder nachzulaffen, zu verlängern oder zu verkürzen, nachdem es Die
Swede der Bernunft erfordern.
Die Gefdidlidfeit fann in der Menfchengattung nicht wohl (d. 5. nicht
anders) entwidelt werden, als vermittelft der Ungleichheit unter Men-
161
ſchen; da die größte Zahl die Notwendigkeiten des Lebens gleidfam me—
chaniſch, ohne dazu befonders Kunft zu bedürfen, zur Gemadlidfeit und Mufe
anderer, bejorget, welche die minder notwendigen Stüde der Kultur, Wijjen«
ſchaft und Kunft, bearbeiten, und bon diefen in einem Stande des Druds,
faurer Arbeit und wenig Genuffes gehalten wird, auf welde Klafje fid
denn Dod mandes bon der Kultur der höheren nach und nach aud vere
breitet. Die Plagen aber wadjen im Gort{[dritte derfelben (deffen Höhe,
wenn der Hang gum Gntbehrliden fdon dem Unentbebrliden Abbruch zu
tun anfängt, Luzus beißt) auf beiden Seiten gleich mächtig, auf der einen
burd fremde Gewalttatigfeit, auf der andern durch innere Ungenügjamleit,
aber das glänzende Glend ift Dod mit der Gntwidelung der Naturanlagen
in der Menjchengattung verbunden, und der Zwed der Natur jelbft, wenn
es gleih nidt unfer Swed ift, wird doch hierbei erreicht. Die formale
Bedingung, unter welder die Natur diefe ihre Endabficht allein erreichen
fann, ift diejenige Berfafjung im VBerhältniffe der Menjchen untereinander, wo
dem Wbbrucde der einander wedbfelfeitigen widerftreitenden Freiheit gefebe
mäßige Gewalt in einem Gangen, welches „bürgerlide Geſellſchaft“ beißt,
enigegengejegt wird; denn nur in ihr fann die größte Gntwidelung der
Naturanlagen gefdebhen, zu welder aber doch, wenngleih Menſchen fie ause
gufinden Hug und fih ihrem Stange willig zu unterwerfen weiſe genug
wären, nod ein weltbürgerlihes G©anze, d. i. ein Syſtem aller
Staaten, die aufeinander nachteilig zu wirfen in Gefahr find, erforderlich
wäre. In deſſen Grmangelung und bei dem Hindernis, weldhes Ehrſucht,
Herrrſchſucht und Habjudt, vornehmlich bei denen, die Gewalt in Händen
haben, felbjt der Möglichkeit eines folden Entwurfs entgegenfegen, ift der
Krieg (teils in welchem fid Staaten zerfpalten und in Kleinere auflöfen, teils
ein Staat andere Kleine mit fic) vereinigt und ein größeres Ganzes zu bilden
ftrebt) unbermeidlid, der, fo wie er ein unabfidtlider (durd
aligelloje Letdenjdaften angeregter) Berfuh der Menfchen, dod tief vere
borgener, vielleidt abſichtlicher Berfud der oberften
Weisheit iſt, Geſetzmäßigkeit mit der Freiheit der Staaten und dadurd
Einheit eines moralifd begründeten Syſtems derfelben, wo nicht zu ftiften,
dennoh vorzubereiten, ungeadtet der fchredlichften Drangfale, womit
er das menfdlide Geſchlecht belegt, und der vielleicht noch größern, womit
die beftändige Bereitſchaft dazu im Frieden drüdt, dDennod eine Triebfeder
mebr ift, (indes die Hoffnung zu dem Rubeftande einer Volksglüchſeligkeit
fid immer weiter entfernt) alle Talente, die zur Kultur dienen, bis zum
höchſten Grade zu entwideln.
Was die Difgiplin der Neigungen betrifft, zu denen die Naturanlage
in Abficht auf unfere Beftimmung, als einer Tiergattung, ganz zwedmäßig
ift, Die aber die Gntwidelung der Menſchheit fehr erjdweren, fo zeigt fich
bod aud in Anfehung diefes zweiten Grforderniffes zur Kultur ein ziwed-
mäßiges Streben der Natur zu einer Ausbildung, weldhe uns höherer Zwecke,
als die Natur felbft liefern Tann, empfanglid madt. Das Uebergewidt der
Mebel, welde die Berfeinerung des Gefdmads bis zur Idealifierung des«-
felben, und felbft der Luxus in Wiffenfdaften, als einer Nahrung für die
Gitelfeit, durch bie unzubefriedigende Menge der dadurch erzeugten Neigüngen
über uns ausfchüttet, ift nicht zu beftreiten; dagegen aber der Zwed der Natur
aud) nicht zu verfennen, der Robigkeit und dem ngeftüm derjenigen Neis
gungen, welche mehr der Tierheit in uns angehören und der Ausbildung zu
unferer höheren Beftimmung am meiften entgegen find (den Neigungen des
162
Genuffes) immer mehr abzugewinnen und der Gntwidelung der Menfch-
beit Plat zu maden. Schöne Kunft und Wiffenfchaften, die durch eine Luft,
die fich allgemein läßt, und durch Gefdliffenbeit und Verfeinerung für die
Geſellſchaft, wenngleich den Menfchen nicht fittlich befjer, dod gefittet maden,
gewinnen der Thrannei des Ginnenbanges febr viel ab, und bereiten dadurch
den Menjchen zu einer Herrfchaft bor, in der die Bernunft allein Gewalt
haben foll, indeffen daß die Uebel, womit uns teils die Natur, teils die
unvertragjame Gelbftjudt der Menfden heim fucht, zugleich die Kräfte der
Seele aufbieten, fteigern und ftählen, um jenen nicht gu unterliegen, und fo
eine Tauglichkeit zu höheren Bweden, die in ung verborgen liegt, fühlen laffen.
(Aus der ,,Kritif der Urteilstraft*.)
Die Religion des guten Lebenswandels.
Mes, was außer dem guten Lebenswandel der Wtenfd noch tun zu können
bermeint, um @ott woblgefallig zu werden, ift bloßer Religionswahn
und Afterdienft ©ottes. — Ich fage, was der Menſch tun zu können glaubt,
denn, ob nicht über alles, was wir tun können, nod in den Sebeimniffer
der höchſten Weisheit etwas fein möge, was nur ®ott tun fann, um uns zu
ihm wohlgefälligen Menfden zu maden, wird hierdurch nicht verneinet....
Simmlijde E&inflüffe in fid wahrnehmen zu wollen, ift eine Art
Wahnfinn, in welhem wohl gar aud Methode fein Tann, (weil fic jene
bermeinten „inneren Offenbarungen“ dod immer an moralifche, mithin an
Bernunftideen anfdlichen müfjen) der aber immer dod eine der Religion
nadteilige Selbfttäufchung bleibt. Zu glauben, daß eg Snadenwir-
tungen geben finne und vielleicht zur Ergänzung der Unpolllommendeit
unferer Zugendbeftrebung aud) geben müſſe, ift alles, mas wir Dabon fagen
fönnen; übrigens find wir unbermigend, etwas in Anfehung ihrer Kenn-
zeichen gu beftimmen, noch mehr aber zur Herporbringung derfelben etwas
gu tun.
Der Wahn, durd religiöfe Handlungen des Kultus etwas in Anfehung
der Redtferiigung vor Gott auszurichten, ift der religiöfe Aberglaube; fo
wie der Wahn, diefes durdh Beftrebung zu einem vermeintliden „Umgange
mit Gott“ bewirken zu wollen, die religiöfe Schwärmerei. — Gs ift aber-
gläubifher Wahn, durch Handlungen, die ein jeder Menfh tun fann, ohne
daß er eben ein guter Menſch fein darf, Gott wohlgefällig werden zu wollen
(3. B. dur) Bekenntnis ftatutarifher Glaubensſätze, durch Beobachtung Kirche
lider Obfervanz und Zucht u. dgl.). Gr wird aber darum abergläubifch gee
nannt, weil er fid bloße Naturmittel (nicht moralifche) wählt, die zu
dem, was nidt Natur ift, (d. i. dem fittliden Guten), für fich fehlechterdings
nidts wirken können. — Gin Wahn aber beißt ſchwärmeriſch, wo fogar das
eingebildete Mittel, als überfinnlich, nicht in dem Vermögen des Menfhen
ift, ohne noch auf die Unerreichbarkeit des dadurch beabfichtigten überfinn«
liden Zweds zu feben; denn diefes Gefühl der unmittelbaren Gegenwart
des höchſten Wefens und die Unterfcheidung desfelben von jedem andern,
felbft dem moralifhen Gefühl, wäre eine Gmpfanglidleit einer
Anfdauung (b. h. für eine Wahrnehmung) für die in der
menſchlichen Natur fein Sinn ift. — Der abergläubifhe Wahn,
weil er ein an fich für mandes Subjeft tauglides und diefem zugleich mög«
lides Mittel, wenigftens den Hinderniffen einer Gott woblgefalligen Ge—
finnung entgegen zu wirfen, enthält, ift doch mit der Bernunft fofern ver
toandt, und nur zufälliger Weife dadurch, daß er das, was bloß Mittel fein
163
fann, zum unmittelbar Gott woblgefalligen Gegenftande macht, ver-
werflid; dagegen ift der ſchwärmeriſche Religionswahn der moralijdhe Tod
der DBernunft, ohne die dod gar feine Religion, als welche, wie alle Moe
ralitat überhaupt, auf Grundjage gegründet werden muß, ftattfinden Tann.
Der allem Religionswahn abhelfende oder vorbeugende Srundjat eines
Rirdhenglaubens ift alfo: daß Diefer neben den ftatutarifchen Säßen, deren
er vorjetzt nicht gänzlich entbehren fann, Doch zugleich ein Brinzip in fid
enthalten müjfe, Die Religion des guten Lebenswandels, als
das eigentlide Biel, um jener dereinft gar entbehren gu fdnnen, herbeizu—
Der Menfd wendet ſich gewöhnlicher Weife unter allen göttlichen mora-
lichen Eigenfchaften, der Heiligkeit, der Gnade und der Geredtige
feit, unmittelbar an die zweite, um fo die abjdredende Bedingung, den
Sorderungen der erfteren gemäß zu fein, zu umgeben. Gs ift mibfam, ein
guter Diener zu fein, (man hört da immer nur bon Pflichten jprechen); er
möchte daher lieber ein Gaborit fein, wo ihm vieles nadgefeben, oder,
wenn ja zu grdblid) gegen Pflicht verftoßen worden, alles durch Bermittelung
irgendeines im höchſten Grade Begiinftigten wiederum gut gemacht wird,
indeffen, daß er immer der Iofe Knecht bleibt, der er war...!...
Denn der Wahn diefes vermeintlichen Himmelsgünftlings bis zur ſchwär—
merifhen Ginbilbung gefühlter befonderer Gnadenwirfungen in ibm
fteigt (Bis fogar zur Anmaßung der Bertraulidfeit eines bermeinten dere
borgenen Umgangs mit Gott), fo efelt ihn gar endlich die Tugend an, und
wird ihm ein Gegenftand der Beradtung; daher es denn fein Wunder ift,
‚wenn öffentlih geflagt wird, daß Religion nod immer fo wenig zur
Befferung der Menfchen beiträgt, und das innere Licht („unter dem Scheffel“)
Diefer Begnadigten nicht auch äußerlich, durch gute Werke, leuchten will, und
zwar (wie man nad) diefem ihrem Vorgehen wohl fordern fdnnte), bore
züglih bor anderen natürlich-ehrliden Menfchen, welche die Religion nicht
zur Grfegung, fondern zur Beförderung der Zugendgefinnung, die
in einem guten Lebenswandel tätig erfcheint, furg und gut in ſich aufnehmen.
Der Lehrer des Gpangeliums Hat gleihwohl diefe äußeren Beweistümer
äußerer Grfabrung felbft zum Probierftein an die Hand gegeben, woran, als
an ihren Früchten, man fie und ein jeder fic felbft erfennen fann. Noch aber
Hat man nicht gefehen, daß jene ihrer Meinung nach auferordentlid Bee
günftigten (Auserwählten) es dem natiirlidmen ehbrliden Manne,
auf den man im Umgange, in Gefdhaften und in Nöten vertrauen fann, im
mindeften zubortäten, da fie vielmehr, im ganzen genommen, die Bergleidung
mit Diefem faum aushalten dürften; zum Beweife, daß es nicht der rechte
Weg fei, bon der Begnadigung zur Tugend, fondern vielmehr von der
Zugend zur Begnadigung fortzufchreiten.
(Aus der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Bernunft“.)
Das Begreifen der Unbegreiflidleit.
De ſpekulative Gebrauch der Vernunft in Anſehung der Natur, führt
auf abjolute Notwendigkeit irgendeiner oberften Urſache der Welt; der
prattijhe Sebraud der Bernunft in Abfiht auf die Freiheit führt aud
auf abjolute Notwendigkeit, aber nur der Gefege der Handlungen eines dere
nünftigen Wefens als eines folden. Nun ift es ein mefentlides Prinzip
alles Gebrauchs unferer Bernunft, ihr Erkenntnis bis zum Bewuftfein
ihrer Notwendigfeit gu treiben (denn ohne diefe wäre fie nicht
164
Grfenntnis der Vernunft). Gs ift aber auch eine ebenfo wmefentlide Ein—
ſchränkung ebenderfelben Bernunft, daß fie weder die Notwendigkeit deifen,
was da ift, oder was geſchieht, nod deffen, was gefchehen foll, ein-
feben fann, wenn nidt eine Bedingung, unter der es da ift oder gee
ſchieht oder gefdeben foll, zugrunde gelegt wird. Auf diefe Weife aber
wird durch die beftändige Nachfrage nad der Bedingung die Befriedi-
gung der DBernunft nur immer weiter aufgefhoben. Daher fudt fie raftlos
das Unbedingt-Notwendige und fieht fich genötigt, es anzunehmen,
ohne irgendein Mittel, es fich begreiflid zu machen; glüdlic genug, wenn
fie nur den Begriff ausfindig machen fann, der fid mit diefer Boraus-
febung verträgt. Es ift alfo fein Zabel für unfere Dedulftion des oberften
Prinzips der Moralität, fondern ein Gortourf, den man der menfdliden
Bernunft überhaupt maden müßte, daß fie ein unbedingtes praftifches Gefes
(dergleihen der kategoriſche Imperativ fein muß) feiner abfoluten Not—
wendigfeit nah nidt begreiflid maden fann; denn daß fie diefes nicht
durh eine Bedingung, nämlich vermittelft irgendeines zugrunde ge-
legten Intereffes, tun will, fann ihr nicht verdadt werden, weil es alsdann
fein moralifches, d. i. oberftes Gefeg der Freiheit fein würde. Und fo
begreifen wir gwar nicht die praftifche unbedingte Notwendigfeit des
moralifden Imperativs, wir begreifen aber doch feine Unbegreiflid-
feit, weldes alles ift, was billigermaßen bon einer Philoſophie, die bis
zur Grenge der menfdliden Vernunft in Prinzipien ftrebt, gefordert werden
fann. (Aus der ,@rundlegung zur Metaphyſik der Gitten“,)
®ebeimniffe.
8 gibt Geheimniffe, Berborgenbeiten (arcana) der Natur, es fann Gee
beimniffe (Geheimhaltung, fecreta) der Politi geben, die nicht öffent»
lid befannt werden follen; aber beide fönnen uns dod, fofern fie auf
empirifhen Yrfachen beruhen, befannt werden. In Anfehung beffen, was
gu erfennen allgemeine Menfdenpflidt ift (nämlih des Moralifchen), Tann
es fein Geheimnis geben, aber in Anſehung deffen, was nur © ott tun fann,
wozu etwas felb ft gu tun unfer Bermögen, mithin aud unfere Pflicht über-
fteigt, da Tann es nur eigentliches, namlid Heiliges Geheimnis (mbfterium)
der Religion geben, wovon uns nur, Daß es ein foldhes gebe, zu wiffen
und es zu berfteben, nit eben es einzufeben nütlich ift.
(Aus der „Religion innerhalb der Grengen der bloßen DBernunft“.)
Atung.
Htung gebt jederzeit nur auf Perfonen, niemals auf Saden.
Die letteren fönnen Neigung, und wenn es Tiere find (3. B. Pferde,
Hunde ufw.), fogar Liebe, oder aud Furcht, wie das Meer, ein Bulfan,
ein Raubtier, niemals aber Achtung in uns erweden. Etwas, was dieſem
Gefühl ſchon näher tritt, ift Bewunderung, und diefe, als Affelt, das
Grftaunen, fann aud auf Sachen geben, 3. B. himmelhohe Berge, die
Größe, Menge und Weite der Weltkörper, die Starfe und Gefchwindigfeit
mander Tiere ufw. Aber alles diefes ift nidt Achtung. Gin Menſch
fann mir aud ein Gegenftand der Liebe, der Furdt, oder der Bewunderung
fogar bis gum Grftaunen und dod darum fein Gegenftand der Achtung fein.
Seine ſcherzhafte Laune, fein Mut und feine Starke, feine Macht (durch feinen
Rang, den er unter anderen Hat), finnen mir dergleiden Gmpfindungen eins
flößen, es fehlt aber immer nod an innerer Achtung gegen ihn. Gontenelle
165
fagt: bor einem Vornehmen büde id mid, aber mein Geiſt biidt fich nicht.
Sd fann Hinzufegen: vor einem niedrigen, biirgerlid-gemeinen Mann, an
dem id eine Redtidaffenbeit des Charakters in einem gewiſſen Maße, als
id mir felbft nicht bewußt bin, wahrnehme, büdt fid mein Geift, id mag
wollen oder nicht, und den Kopf nod fo hod tragen, um ihn meinen Bore
rang nicht überfehen zu laffen. Warum das? Gein Beifpiel hält mir ein
Geſetz bor, das meinen Gigenbdiinfel niederfchlägt, wenn id es mit meinem
Berhalten vergleiche, und deffen DBefolgung, mithin die TSunlidfeit des.
felben, id bdurd die Sat bewiefen vor mir febe. Nun mag id mir fogar
eines gleiden Grades der Rechtſchaffenheit bewußt fein, und die Achtung
bleibt Dod. Denn, da beim MWtenfden immer alles Gute mangelhaft ift,
fo ſchlägt das Geſetz, durch ein Beifpiel anfhauli gemadt, Doch immer
meinen Stolz nieder, wozu der Mann, den id por mir febe, deffen Lnlauter-
feit, die ihm immer nod anhängen mag, mir nicht fo, wie mir die meinige,
Sefannt ift, ber mir alfo in reinerem Lichte erfdeint, einen Mafftab abgibt.
Achtung ift ein Tribut, den wir dem Berdienfte nicht verweigern können,
wir mögen wollen oder nicht; wir mögen allenfalls äußerlich damit zurüd«
balten, fo finnen wir doch nicht verhüten, fie innerlich zu empfinden.
Die Achtung ift fo wenig ein Gefühl der Luft, daß man fich ihr in
Anſehung eines Menfden nur ungern überläßt. Man fudt etwas ausfindig
gu maden, was uns die Laft derfelben erleichtern fönne, irgendeinen Tadel,
um uns wegen der Pemütigung, die uns durd ein foldes Beifpiel wider
fährt, ſchadlos gu halten. Gelbft Berftorbene find, vornehmlich wenn ihr
Beiſpiel unnahahmlich fdeint, vor diefer Kritik nicht immer gefidert. Soe
gar das moraliihe Geſetz felbft, in feiner feierliden Majeftät, ift
diefem Beftreben, fi der Achtung dagegen zu erwehren, ausgefest. Meint
man wohl, daß es einer anderen Urfache zugufchreiben fei, westwegen man
es gern zu unferer bertrauliden Neigung Herabwiirdigen möchte, und fid
aus anderen Urſachen alles fo bemühe, um es zur beliebten Borfdrift unferes
eigenen wohlverftandenen Gorteils zu machen, als daß man der abfchredenden
Achtung, die uns unfere eigene Unwiirdigleit fo ftrenge vorhält, los werden
möge? Gleichwohl ift darin dod aud wiederum fo wenig Unluft, daß,
wenn man einmal den Gigendünfel abgelegt und jener Achtung praftifchen
Einfluß verftattet hat, man fic wiederum an der Herrlidfeit diefes Geſetzes
nicht fatt feben fann, und die Seele fic) in Dem Maße felbft zu erheben glaubt,
als fie das heilige Geſetz über fid) und ihre gebredlide Natur erhaben fieht.
Swar können große Talente und eine ihnen proportionierte Tätigkeit auch
Adtung oder ein mit bderfelben analogifhes Gefühl bewirken, es ift aud
ganz anftändig, es ihnen zu widmen, und da fdeint es, als ob Bewunderung
mit jener Empfindung einerlei fei. Allein, wenn man näher gufiebt, fo
wird man bemerken, daß, da es immer ungemwiß bleibt, wieviel das anges
borene Salent und wieviel Kultur durch eigenen Fleiß an der Gefchidlichkeit
Zeil babe, fo ftellt uns die Bernunft die Iettere mutmaflid als Grudt der
Kultur, mithin alg Berdienft por, welches unferen Gigendünfel merklich
berabftimmt, und uns darüber entweder Vorwürfe madt, oder uns die Bee
folgung eines folden Beifpiels, in der Art, wie es uns angemeffen ift, aufe
erlegt. Sie ift alfo nicht bloße Bewund erung, dieje Achtung, die wir
einer ſolchen Perfon (eigentlid dem Gefete, was uns fein Beifpiel vor—
Halt), beweifen; welches fi auch dadurch beftätigt, daß der gemeine Haufe
der Liebhaber, wenn er das Schlechte des Charakters eines folhen Mannes
(wie etwa Boltaire) fonft woher erkundigt zu haben glaubt, alle Achtung gegen
166
ibn aufgibt, der wahre Gelehrte aber fie noch immer wenigftens im Ge—
fidtspuntte feiner Talente fühlt, weil er felbft in einem Geſchäfte und Berufe
verwidelt ift, welches die Nachahmung bdesjelben ihm gewiffermafen zum
®efege madt.
Achtung fürs moralifhe Gefes ift alfo bie einzige und zur
gleih unbezmweifelte moraliſche Zriebfeder, fo wie diefes Gefühl aud auf
fein Objeft anders, als lediglich aus dieſem Grunde geridtet ift......
(Aus der „Kritik der praktiſchen DBernunft“.)
Kleine Beiträge
Leib und Seele.
Das hint te ®ebot.
Bw in lichter Klarheit, bald in Gar-
bengluten, ein @efdmeide Gottes,
wädft Der Rriftall gebeimnispoll im
dunklen Schoß der Erde. Lidtfebnfudt
baut ibn auf. Gr ift ein Ahnen der
Sonne mitten in der finfteren Nadt. Ihm
wird Grfüllung, wenn feine Höhle zer-
broden wird. Dann funfelt der Strahl
durd fein Herz, und er erlebt feine Ber-
Härung, feine neue, wahre Geburt.
Warum wadft der Kriftall, dag Kind
des Lichts, im dunklen Schoß der Erde?
Was bildet ihn gum Auge Gottes in
lauter Naht? Iles Dergänglice ift
nur ein @leidnis. Sa, erft im Gleid-
nis erſchließt fich fein Sinn. Alles Ber-
gang! ide ift ErfHeinung des einen Lee
ensgeiftes, der fid in taujend Seftalten
offenbart, immer neu und immer ein
Wunder. Und in allen Wundern weht
ung eine geheime Nähe an. Wie ift es
dod, daß alles feine Sprade redet und
wir verftehen fie? Wie ift Natur ung
fo feltfam fern und dod fo nab. Weil
in ung der ewige Geift fpridt, der in
den Siefen der Berge waltet, uns fo
fremd und dod verwandt, nicht wir felbft
und dod wir felbft, der da por uns im
Sebilde fteht und uns .erfennen madt.
Wie haben wir fo lange gefdieden,
baben Natur und Geift als zwei Wel-
ten getrennt, die nidts miteinander ge-
mein haben. Da madte fid der fluge
Gerftand auf, Natur ohne Geift, „aus fid
felbft zu erflaren wie einen großen Me-
&hanismus, der feinen Sinn in fid fel-
ber bat. Gr ift nun einmal da.
Aber Natur ohne Geift ift unerflär-
bar, ift ſchlechthin unbegreiflid. Alle
Natur ift auf den Geift angelegt. Aller
Grund und Ginn in Diefem wunderbaren
Organismus begreift jih aus der Offen-
barung des G©eiftes, der im Stufenbau
der Welt ein Glied das andere ergän-
gen und ermögliden läßt, bis er im
leudtenden Auge des Menfden fid felbft
erfennt. Wer will den Leib, das An-
gefiht erklären ohne den lebendigen Seift,
er ibn geftaltet? &3 ift der Geift, der
fid den Körper baut. Wem nidt alle
Erkenntnis aus der Ginbildungstraft des
©eiftes guwadft, dem zerfällt die Welt
in tote Zeile, ohne daß er aud nur das
Sebeimnis eines Kriftalls, geſchweige das
des MenfHenauges anzurühren vermödte.
Die Welt erfennen, das beißt, etwas da-
von erfabren:
„Die alles fid zum Ganzen webt,
Eins in dem andren wirft und Lebt,
Die Himmelsträfte auf und niederfteigen
And fid die goldnen Gimer reichen,
Mit fegenduftenden Schwingen
Gom Himmel durch die Grde dringen
Harmoniſch all das A ——
Und der Pſalmiſt ſchaut: Du machſt deine
Engel zu Winden und deine Diener zu
Seuerflammen.
2.
Wir Iefen bei Meifter Ekkehart: In
allen Kreaturen ift Oott uns gleid nahe.
Der weile Mann fagt: Gott bat feine
Nebe und Stride auf allen Kreaturen
ausgebreitet, fo daß man ihn in einer
jeden finden und erkennen fann — wenn
man e8 nur wahrnehmen will.
Wenn man es nur wahrnehmen will!
Wie beihämt uns das. Verftehen wir
da nidt ohne viel Worte, was Paulus
meint, wenn er im Römerbrief davon
{pridt, daß die Kreatur der Eitelkeit
unterworfen ift ohne ihren Willen, ge
en ihren innerften Ginn? Wir Peut-
den haben ein tiefes Oefühl dafür mit
befommen, das e8 ziemt, ein jedes Ding
feinem Sinne nad zu behandeln, aud die
tote Gade, wie viel mehr alfo allem
Lebendigen gegenüber voll Ghrfurdht zu
fein. Du follft nit willfirlid und eitel
brauden, was dir Mutter Natur immer
neu aus ihrem Reidtum fpendet. Natur
ift ®abe, uns anvertraut, daß wir ihren
Sinn erfennen, erfüllen, daß wir ung in
fie bineinleben als Olied. Das ift por
167
allem das Wefen deutiher Kunft, dah
fie Gerjenfung ift in alle reihe Fülle,
in alles befondere Leben, in alle gewad-
fene @eftaltung; daß fie ibre Ginbeit
nidt von außen ae aufzwingt, fie viel-
mebr laufhend und fdauend pon innen
ber fpitrt und ‘bt — — Leben
offenbart. Der Liebe öffnet Natur ihre
Geheimniſſe, aber der Willfür verfagt fie
i
Welde Weite und Siefe hat das Gee
bot: Du follft nicht töten! Es tötet, wer
nidt liebend den Sinn des Lebens fpürt
und ihn zu erfüllen tradtet. G3 tötet,
wer nist in allem Leben die Offenba-
tung des Geiftes erfennt und ihr ge-
bordt. Frage did, ob du dem Leben
. gedient haft, in ®edanfen, Worten und
Werfen. Warft du wadh? Haft du Hem-
mungen und SHinderniffe fortgetan, dort,
eben blühen wollte und feine Sonne
nidt finden fonnte? Grage did: haft du
den Ginn deines Lebens erfüllt? Lebft
du denn? Offenbarft du den Geift, der
aud did erfduf, dir Leib und Leben
gab, lebft du ibm a Dienften? Oder
Dat du der Gitelfeit und darin dem
ode
3.
Das führt zu der anderen Grfenntnis:
Go wie die Natur ihr Geheimnis nur
dem Geift erfhließt, der fid in ihr be-
greift — fo offenbart der Geift fid
nit, ohne daß er fih im leibhaftigen
Leben verwirklicht.
Am tiefften bat davon Paulus ge-
fhrieben: Durd den Tod Hindurdh fudt
unfer eben feine wahre Geftalt. Wir
febnen uns nad der ,Bebaufung, die im
Himmel ift, von Gott erbaut.“ Darum
befennen wir die Auferftehung des Flei-
ides, die Gerflarung der Natur zur
reinen Offenbarung des Geiftes und re—
den nidt von der unfterbliden Geele
im fterbliden Leib wie die, denen Natur
und @eift zwei Welten find, einander
ewig fremd und feindlid. Im Geift Ie-
ben, das heißt in vollendeter Geftalt, in
erlöfter und erfüllter Natur leben. Go
warten wir mit aller Natur auf unferes
Leibes Grlöfung.
Das find freilid Gedanfen, die un-
verftanden bleiben in einer intelleftua-
liftifmen Zeit, der pom Geift nur der
bloße Berftand, die bloßen Gedanfen, der
Begriff verblieb. Die Welt der Bee
griite | ift nur ein Schatten des Lebens.
er der ®eift ift die Wirklichkeit aller
Welt als Offenbarung des Grundes in
der Wirkung, des Schöpfers am Gee
ſchöpf.
Gottes Wort iſt geſtaltende, wirkende
Wacht. „So er ſpricht, fo ‚geihiebts, fo
er gebeut, fo ftebt e8 da.“ Sarum ift
168
Anteil am Geift Anteil am Leben, die
Offenbarung der Wirklichkeit in uns und
an uns felbft.
„Werd Gott, willft du gu Gott.“
Darum fendet Gott nit ein Bud,
eine Lehre, Gedanfen, um fid zu offen
baren. Den Bualiften, die Leib und
Seele auseinanderreißen, genügt eine
„Bbilofophie“ zur Grlöfung. Aber Goit
fendet zur Grlöſung den lebendigen Nen-
fen, den Sohn. „Das Wort ward
Bir stellen fein Wort nicht
daß wir feine Oedanken in uns
aufnehmen, fondern fo, daß wir in feiner
Semeinihaft die Wahrheit erleben.
Die Wahrheit begreife id nur, fo weit
fie mir im Leben Seftalt gewinnt. Alle
Lehre fann nur Deutung, Grflarung fein,
ig auf die Grfabrung der Wabr-
eit im leibhaftigen Zeugnis der Lebens-
gemeinfdaft.
4.
Die Grfenntnis der Wabrbeit ift Be-
ftätigung der Olaubensgewifbeit in aller
Wirklidfeit des Lebens. Go wird ihr
alles, was ift, zum Symbol des einen
Lebens, zur GErſcheinung des ewigen
Orundes, zur ———— des Geiſtes.
Alles Endliche iſt darum dem zuge des
Olaubens Gleidnis des Ewigen, ©leich-
nis im ftrengen Ginn des Worts.
Go ift für Sefus alles in Natur und
Menfdenleben ein Gleidnis, in dem fid
das ewige Leben nidt nur fo abbildet,
wie ein Bild etwas anderes, einen an
fi fremden Snbalt bedeuten fann. In
allem ift das ewige Leben als fein wahrer
@rund und Sinn da, es verwirklicht fid
im Weinftod und Reben, Hirt und Sda-
fen, Gater und Sohn. In der verzei-
benden, gnädigen Liebe des Vaters zum
verlorenen Sohn ift die Oottesliebe wirk⸗
fam, in der Reue und Heimkehr des Goh-
nes das Öottesreih Run. Gs ift der
ein iebesgeift der Die Blumen auf dem
Gelde ſchmückt, die Bagel jubilieren läßt
ve alle unfere Schritte gum Grieden
eitet.
Go ift das Saframent das Gleichnis
unferer Gemeinſchaft mit dem Sohn. &8
ift das gleide Oeſetz des Liebesgeiftes,
das über dem Samen waltet, der ins
dunkle Srdreid muß, um zu fterben und
alg neues eben aufzugeben, das reift
in ®luten und wird als Brot gebroden
und verteilt, Speife gum Leben. &3 ift
das gleiche Sefet,, das da waltet, wo Gr
fein Leben gibt, das gerbridt, um fid
auszuteilen und in uns zum Leben zu
werden. Go wie wit bon einem Brote
effen und bon einem Kelch trinfen, find
wir von einem Leben in Ihm gendbrt.
Gr felbft ift das Symbol unferer Gee
meinfdaft, die Wirklidfeit, in der unfer
@laube feiner felbft gewiß ift. In der
leibbaftigen Gemeinfdaft des Gaframents
wird unjer Leib als Sempel und Woh-
nung Des einen Geiftes bezeugt, der in
Ihm uns alle verbindet.
„Nichts ift drinnen, nichts ift draußen,
Denn was innen, das ift außen.
So empfanget ohne Säumnis
Heilig öffentlich — at
Dod ift in dem Allen das Lebte nur
erft angedeutet und nod nidt ausge»
fproden. Heute ift uns der Ginn für die
Leibhaftigfeit aller Wahrheit neu auf-
geralajlen. Bir wiffen wieder darum,
aß Wahrbeit mehr ift als bloßer Gee
danke, Begriff und Wort. Daf nur nidt
der Leib als das Lebte, Die Höhe vere
ehrt, daß nur nidt Natur vergottet
wird! Daß nidt nur nad der Gtärte,
daß nad Ginn und Wahrheit eines Sr-
lebens gefragt wird! Schon ift die Gee
fahr wieder groß, daß dem waden Oe—
fühl und der großen Ahnung leibhaf-
tiger ©ottesnähe die Götter der unteren
Welt den Altar befigen. Natur hat darin
ihre Weihe, dab fie Ausdrud und Gee
ftalt des Geiftes wird. Zu foldem Were
den gebt e3 immer nur durchs Sterben.
In Prbiendo confumor et nascor. Stirb
und werdel Das Kreuz fteht über aller
Natur. Ueberall, wo wir dem Sefeh dec
Lebensoffenbarung nadgeben, jehen, wie
der Seift fid auswirft, Br Grideinung
drängt, ba finden wir, daß erft durds
Sterben bindDurd die wahre Seftalt fid
entfaltet und fidtbar wird. Das Weigen-
forn muß in die Grde und erfterben, fo
bringt’8 Grudt. Wir warten auf un-
feres Leibes Grlöfung durd den Sod.
Der GChriftus gerbridt am Kreuz und
vollendet fid im Sod zur Auferftebung.
Wenn Paulus vom Gebnen und
Seufzen der Kreatur redet, die frei wer-
den will pom Dienft des vergangliden
Wefens, fo ift damit nit nur gemeint,
daß wir Menfhen fie ung unterworfen
baben in Gitelfeit und Mifbraud — die
Kreatur fehnt fid nad der herrlichen
Sreibeit der Kinder Gottes. Die Natur
ift nit vollendet, nidt zu ihrem Ginn,
zu ihrer Grfiillung gefommen, fo lange
fie nur für fi felber da ift, fo lange die
Notwendigkeit ihres Dajeins nidt als
Sreibeit Des Seiftes, ihr Oeſetz als die
Wirklidfeit der — Perfinlid-
feit erjhienen ift. Im Schmerz und im
Serbreden ihres bloßen Dafeins verflart
Natur jih gum wahren Angefiht des
©eiftes.
Schauen wir in die Gefhidte unferes
Bolfes. G8 ift ein Brud, der bom Gere
manentum gum deutſchen Bolfstum führt.
Sollen wir darüber trauern? Nein, die-
fer Brud liegt auf dem Weg zur Gre
füllung unſeres Wefens in den Offenba-
rungen des deutihen Geiftesd. Alle Ge
fdidte ift ein Serbreden und ein Dabin-
tenlaffen der bloßen Natur, und nur fo
ift fie der a a des Geiftes.
Sarum und nur darum gilt bas
Wort: „Das Leben ift der Güter hddftes
nit.“ Sn der Hingabe des Lebens bis
zum Tode wird der Ginn des Lebens
offenbar. Nicht in der Erhaltung der un-
angefodtenen Eziftenz ihrer Glieder um
jeden Preis, in dem Opfer diefer Grifteng
für ihr wahres Leben, für die Freibeit,
erfüllt eine Nation den Ginn ihres Da-
fein’. Du follft nit töten — died Gebot
fann, recht verftanden, mir das Schwert
in die Gauft drüden. Denn es ift das
©ebot der Ghrfurdht por dem Leben als
der Erjheinung des Geiftes. Dies Leben
aber will immer neu erfampft fein.
Vom Gifen wiffen wir, daß es fid
auf unjerer Grde nie entjchließt zur kri—
ftallinifhen Seftalt. Aber wenn es, los⸗
geriffen von feinem Wahstumsgrund, als
Meteor durd den leeren Abgrund des
Alles gejchleudert wird, dann, in Diefer
äußerften Bedrängnis, in diefem LUnter-
gang, ſchießt es zufammen, findet es
feine Gorm und verflärt fid zur rei-
nen Gtrenge der Säule, die fein innerftes
Dielen fpendet.
Karl Bernbard Ritter.
Die politifde Dummheit Europas.
a früheren Seiten fudte man das paf-
fende Wetter, Regen oder Sonnen"
ſchein, durch Zauber herbeizuführen; das
nit fonvenierende Wetter gauberte man
weg. Sn den heutigen, aufgeflärteren Zei-
ten fudt man die eingeborenen Lebens-
gefebe der Völker, fobald fie einem nidt
pafien, dur den modernen Zauber, den
man „Bolitif“ nennt, zu forrigieren. Sh
fürdte, der eine Zauber ift fo faul wie
der andre.
Srftens: Der Ehrgeiz des franzd-
fifhen Bolfes (wenigftens der füh-
renden Gdidten fräntifher und römi-
{der Abkunft) ift auf Rubm und Slang
des Staates geridtet, er ift por allem
politifd. Schon früh fam man zur
nationalen Geſchloſſenheit, bald zu einer
weitgehenden ftaatliden SZentralifation.
Alles wurde zum böheren Ruhm des
Staates gefügt, und die Glanggeiten der
Raben Geſchichte find die Zeiten
der ftaatliden &rpanfion: die Zeitalter
des viergebnten Ludwig, der großen Re-
polution und Napoleons.
Der Ehrgeiz des deutfhen Bole
fes ift auf Siefe und Weite der Kul
tur geridtet, er ift vor allem geiftig.
169
inter den Deutfhen wurden die Fragen
der Religion, der Dichtung, Kunft, Mufit,
aud der Wirtfhaft zu Fragen des bit-
terften Srnftes, mit denen man auf Le
ben und Zod rang. Gtaatlide Dinge
ftanden felten im Bordergrund der all»
"Fake Zeilnahme im den Gtaat
ümmerte man fid immer erft dann,
wenn e8 um der Kultur willen hand»
— nötig war. Die Glanzzeiten der
eutſchen Oeſchichte find die Zeiten ho—
her „geiftiger Rultur.
eweis: Man vergleide, wie der
franzöſiſche Schweizer fih im Welt-
frieg zum franzöſiſchen Staat ftellte, und
wie der Deut{ dhe Schweizer zum deut-
[hen Gtaate. Oder man beadte: die
Deutihen haben ihre Freude an der ftol-
zen fleinen Selbftändigfeit der Hollander,
die Sranzofen aber fuden die Belgier
unter ihren Einfluß zu ziehen.
Solgerung: Die Deutihen ertragen es,
in einem nicht-deutſchen Staatswejen als
Bürger in gefdloffener Mafje ohne po-
litijme Afpirationen zu leben. Gie find
bon Natur feine „Irredentiften“; denn
e8 genügt ihnen, wenn fie fulturell und
wirtfhaftlih ihr deutfhes Weſen treiben
fönnen. Aber fobald man fie gewaltjam
in Sprade, Kultur und Wirtſchaft bee
bindert, fobald man ihnen gar eine Rul-
tur zweiter Hand aufnötigen will, wer-
den fie „politifh“ und feben fih zur
Behr; dann erfdallt der alte Arminius-
Ruf: Freiheit und Ginbeit!
Anwendung: Staliener, Rumänen,
Polen, Frangofen, Sihehen wollen deut-
jhe Volksangehörige in ihren Staat ein-
gliedern. Ließe man die Deutiden in
jenen Ländern unbebelligt ihrer Sprade,
Kultur und Wirtidaft leben, fo gäbe es
feine Srredenta. Die Deutfden würden
wie in Der Schweiz, wie einft in den bal-
tijden Ländern, wie in Brafilien, Shile
und jfonftwo gute Staatsbürger fein.
Statt dejfen raubt man ihnen, in An—
fenntnis Der Deutfhen Golfsfeele, das,
was ihnen das Anabtrennbarfte ift. Die
Solgen werden fid zeigen. Ans im
— Reiche kann es nur recht ſein.
enn:
Zweitens: Die Franzoſen ſind das
Volk des Elans. Sobald ſie Gelegenheit
haben, entfalten fie den Slan im Dienſte
ihrer politifden Expanſion: mit fedem
Shwung fjuden fie die Führung Guro-
pas an fid zu bringen, fuden fie bon
ihrem Winkel gwifden Mittelmeer und
Atlantifhem Ozean aus die europdifde
Staatenwelt gu beberrjhen. Aber nies
mals dauert es lange. Der Glan über-
ſchlägt jih und ebbt naturnotwendig zu»
rüd. Sedesmal ift das Ende der Gloire,
daß die Grangofen wieder in ihre befdei-
170
dene DVierzig-Millionen-Stellung im
Winkel zwifhen Mittelmeer und Atlane
tiſchem Ozean zurüdfinken.
Die Deutihen find das Bolf der rue
big, feft und breit fid) entwidelnden
Arbeit. (Man lege den ftinfenden Shaum-
blafen einer üblen Zeit nicht allzu ho—
ben Wert bei. Gie fließen vorüber im
großen Strom, der fid felbft reinigt.)
Die Deutfhen laffen den Dingen gern
ihren Lauf, folange ihnen der Lauf nicht
ge:ade lebensgefährlih wird. Sie wohnen
in breiter, didter Mafje weithin über
die Staatsgrenzen ihres Reiches hinaus
in ganz Mitteleuropa und erfüllen alles
mit ihrer Arbeit. Gie nehmen mit diel
®eduld viel Leid hin. Aber fobald die
Quälerei an den innerften Nerd dieſes
Golfes rührt, fobald feine „Innerlich-
feit“ (ein in fremde Gpraden nidt über
feßbareg, für fremdes Begreifen nicht be=
qreiibaree Wort) erzürnt wird (wie zu
rminius’, zu Napoleons Zeit), gebt ein
Schüttern durd das Gange. G3 rect fid.
Die ftill gefammelte Kraft entlädt fid
in gewaltigem Drud, daß die Grde er-
bebt. Dagegen Hilft feine Sednif, fein
Slugzeug und fein Giftgas. Haben die
fremden Völker fein Gefühl dafür, was
e8 volkspſychologiſch bedeutet, daß deut-
Ihe Bauern und Bürger und Arbeiter
— deutſche, nidt etwa heißatmige
romaniſche — im beſetzten ®ebiet die Ge-
paratiften mit Knitteln totſchlu—
gen? Rührt fie nidt warnend ein abe
nungspolle8 Grauen an? Es gerollt
dumpf im Innern des Berges.
Fühlt ihr nicht, wie der Zorn eines
betrogenen und in den beiligften Gmp-
findungen gefränkten großen DBoltes
{hwillt? Wie unter diefem Born der
Berg fih ſchwer und [angfam hebt? Nod
fährt der franzöſiſche Triumphwagen, auf-
gebubt mit bunten Bändern und benga-
{ih beleudtet, unter fchmetterndem
Srompetentlang über deutfhe Erde. Aber
{hon wölbt fid dieſe Grde unter ihm.
Gs bedarf feines „Krieges“, nicht einmal
einer raufdenden „Srhebung“. Gs reift
eine Zeit heran, da e3 wieder gilt: „Gin
Wortlein fann ibn fällen.“ Das einz
Wörtlein des Proteftes: „Nein.“ Mit Mae
turnotwendigfeit wird der franzöſiſche
Sriumphwagen über den zornihwellen-
den Boden auf den rollenden Rädern
des fallenden Granfen in die Tiefe fau-
fen und gerfdellen. ind feine „Sanie-
rung“ wird ibn aufhalten. Die Sanierung
bängt von uns ab. Und ein Gridrecden
wird über die Völker fommen, die ihr
Geſchick an den franzöfiihen Triumph»
wagen gefettet haben. Sie werden e3
nidt mehr wahr haben wollen, daf fie
je einen Deutſchen um feiner Mutter-
{prade und feiner Kultur willen gefrantt
haben. Fühlt ihr nicht unter den Sohlen
das leife Beben? Hört ihr nidt das
Wurren und Grollen und Raunen, das
ee Die deutfhen Dörfer und Städte
t
Die Naturgefebe werden weder durd
die franzöſiſchen Waffen nod durd die
berlineriide Grfüllungsdiplomatie in
ihrer Gntwidlung aufgehalten. Aud die
Völker müffen „nah ewigen, ebernen,
großen Geſetzen“ ihres ,Dafeins Kreife
pollenden“. Diefe Gefebe find ihnen ein»
—— ſie wirken durch die Jahrtau—
ende.
Quem deus perdere vult, dementat.
Paris iſt dumm geworden. Der Boden
bebt. Paris wankt. Die da klug find,
machen ſich bereit und retten troß aller
Sanierung ihr Geld in andere Lander
inüber.
Gs vollzieht fid. St.
Staat und Marrismus.
Al⸗ vor hundert Jahren Deutſchland
das Griebnis der franzöſiſchen Re—
volution und der Greibeitstriege in
geiftige Werte umjduf, da wurde des
groban Schotten Adam Smith wirtihaft-
ide Freiheitslehre von feinen deutfden
Schülern zur „Nationalöfonomie“ oder
„Volkswirtſchaftslehre“‘“ nadgeftaltet und
mit den eberlieferungen der Polizei—
wiffenfhaft verbunden; Adam Müller
legte Die Abkehr von aller traditionsger-
ftörenden ©leihmaderei in einer roman-
tijden Staatsfunft nieder; Hegel fügte
Die bürgerlide Geſellſchaft, inmitten der
Samilie und des Staats, feiner Redhts-
lehre ein; Ranfe endli lehrte aud) die
wirtfchaftlihen Borgänge im Rahmen der
grofien Nationalförper fehen und deren
erhalten zu den fremden Staaten un-
terordnen. Während aber die geihiht-
lide Anfidt der Volkswirtſchaft fid ime
mer mehr vertiefte und Guftad Schmoller
Ihließlih alle Grenggebiete der Wirt-
haft zu umfaffen fudte, madte das
ftaatsphilofophiihe Denfen keineswegs
den Aintergrund der jüngeren DWirt-
{daftsthenrien aus. Weder Lorenz Stein
nod) Adolf Wagner haben eine Schule
begründet. Bielmebr folgte das national»
ökonomiſche Denfen neuen Sternen. Ein»
mal DE die Sreibeitslehren des äl-
teren Liberalismus über in ein durchaus
unpbilojophifhes, ja fladh utilitarifdes
„Mandeftertum“, das mit Bismards
Uebergang zum Gdubgoll (1878) feine
geftaltende Kraft unter der neuen Pare.
teifonftellation einbüßte. Seither nahmen
die Wortführer der großen Unternehmen
und Gerbande die Parole der „freien
Wirtfhaft“ auf. Wir find durdaus ge-
wohnt, von ihnen die „ehernen Gefebe
des Wirtſchaftslebens“ gegen jeden
Staat3eingriff verteidigen zu hören; daß
Wirtidaft unfer Schidjal ſei und ftaat-
lide Geſundung bierpon abbange, gilt
bi3 gu Den fonfervativen @ropgrund-
— bin beinahe für einen ®emein-
plag.
Auf der anderen Seite wurde feit der
Sulirevolution (1830) eine Kritif an der
liberalen Wirtfchaftslehre rege, in derem
Ablauf wir nod ftehen. Sie ermuds auf
dem Boden jener politiihen Demofratie,
welde den »Oriftlid-germanifden*
Staat der Rarlsbader Beſchlüſſe, der
Metternih und Gens, aber aud das
Preußen der Hardenberg und Altenftein
verwarf: Ihre Kritif verlangte parla-
mentarifhe Ginridtungen, deren Borbild
fie der radifalen Gerfaffung pon 1793
fowie der radikalen Oppofition im Frant-
rei des „Bürgerkönigtums“ entnahm.
Sie blieb fomit nicht fteben bei einem
Senfuswablredt und landftandifdher Mite
beratung, fie ging über die Ideale eines
Welder oder Rotted wefentlid hinaus.
Die Abkehr von unferer Klaffit und von
®oethe, deren Zeugen Heinrih Heine
und das „Bunge Deutfhland“ wurden,
der Kampf wider die alternde Romantik
Schellings und die Gnttäufhung über
Stiedrih Wilhelm IV. (1840), den „Ror
mantifer auf dem Throne der Gäfaren“,
führten die junge Generation der Ludwig
Geuerbad und Bruno Bauer, der Frei—
ligrath und Herwegh binaus über alle
tefentlich liberalen Borftellungen. Ber
Widerfprud, den fie nah Friedrid Wil
Helms IV. Shronbefteigung erfuhr, er-
tötete in ihren fortgejchrittenften Mit»
— fogar jene nationalen Inſtinkte,
ie bei den verfolgten Burſchenſchaftern
fo lebendig gewefen waren. Der inter=
nationalen „Reaktion“, die aud in
Stantreid und in der Schweiz alle Aufe
ftände oder @ebheimbiinde niederfdlug,
galt e8 eine internationale $ront der
„S&manzipation“, dem @edanfen der
„Heiligen Allianz“ ein ,Sunges Guro-
pa“ entgegenzufegen. Rußland namente
lid bielten alle „Sreien“ für den Hort
der Reaftion. Ziel einmal das Zartum,
dann mußte PBreufen, fein „borrufjiihee
Leibftaat“ ihm im Gturge folgen. So
haben Karl Marz, Griedrid Gngels,
Wilhelm Liebfneht, aber aud) die Haup-
ter Der „reinen“ Demofratie ihr Hoffen
mehr als einmal ausgejproden.
In Diefen Zufammenhängen ward
nun jene Gosialfritif vollends bedeut-
fam, deren Wurzeln im Ancien regime
Srantreihs liegen. Bom Pfarrer Mes
lier, einem. Seitgenoffen des pazififti-
{hen Abbee de St. Pierre, führt dort
171
eine Linie zu Babeuf, deffen „Verſchwö—
rung für Die Gleichheit“ (1796) ihren
Urheber auf's Schaffot bradte. Babeufs
Anhänger Buonarotti hat den Gedanfen
wirtfhaftliher Gleihheit jenen Radi—
falen (um 1830) übermittelt, deren
Sturmlauf wider das „Bürgerfönigtum“
wir bereits. erwähnten. Lorenz Stein,
der Schüler Hegels, hat die ,utopifden
Socialiften“ und ,Rommuniften* ung
Deutihen befanntgemadt, Heinrid Heine
in feinen Parifer Briefen auf fie binge-
wiefen. Gourier, Gabet, Proudhon find
uns feither wenigſtens dem Namen nad
befannt.
In eben diefe Kreife geriet Wilhelm
Weitling, der Wortführer des fog. Hand-
werfsburfjhenfommunismus; dort grün-
deten gefliidtete Burfhenfhafter den
„Bund der Seaddteten® und den „Bund
der Gerechten“, aus dem der Londoner
„KRommuniftenbund“ berporging; dort
wurde ein Mofes Heß zum erften Kom-
muniften. — Heß, der bezeihnenderweife
fpäter der erfte Deutide Zionift ward und
überdies (1871) ein Borläufer der enten-
tiftiiden Hafpropaganda gegen Deutich-
land. In Paris lebte damals Gried-
rid Engels, in dem unfere Sozialdemo-
fratie Marzens Freund und ihren gei-
ftigen Leiter nad Marxens Tod ver-
ehrt. Karl Marz felber wandte fid nad
ris, alg er mit dem deutſchen Segen-
wartsjtaat 1842/43 gebroden hatte. Ine
dem er Weitling wie Heß und Proudhon
an Radifalismus übertraf, wurde Marz
gum geiftigen Bater fowohl des deutſchen
Kommunismus wie der deutfden radi-
falen Arbeiterparteien. Aus Paris vere
trieben, hat er in Briffel (1847) das
„fommuniftifde Manifeft“ verfaßt und in
London (1863) die erfte „Arbeiterinter-
nationale“ begründet.
Gergebens freilid fudten Marz und
Engels während der deutfden Märzre-
polution (1848) zum Giege zu gelangen;
fie mußten ſich begnügen, den linfen $lü-
gel der adtundviergiger Demofraten zu
ilden. Grft als Bismard das ,driftlid-
—— Preußen im Deutſchland der
euen Aera und des Konflikts zum Auf⸗
ftieg führte, fhlug ihre Stunde. Aus
den ,fort{drittliden* Parteiwablern fon
derten ihre Schüler Wilhelm Liebfnecht
und Debel jene Arbeitervereine ab, wel-
de fid ſchließlich in Gijfenad (1869)
alg ,Gogialdempfratifhe Arbeiterpartei
Deutihlands“ fonftituierten. Im Sabr
bon Königgräß war das fommuniftifde
Manifeft gum erften Mal auf deutidem
Boden neugedrudt worden; alsbald lie
fen die „Süddeutihe BolfSpartei*, deren
Organ Gonnemann’s „Frankfurter Zei—
tung“ war, fowie Liebfneht und Bebel
172
im Norddeutfhen Reidstag Sturm wider
„Die Zitadelle der RKnedhtidaft*, wider
Bismards „Säbelregiment“. Ferdinand
Laffalle, der revolutionare Schüler He»
geld, war (1864) allzufrüb geftorben.
Mit allen ihren Wünſchen fir Deutid-
lands Niederlage begleiteten Marz, En-
gel3 und Wilhelm Liebfneht feit Gedan
Bismards Aufftieg: die „Kaiferpoffe“,
das „Bündnis gwifden Thron, Altar und
®eldjad“. Der Hochverrat regiere die
Welt, erflärte Liebinedht 1873 feinen Leip
giger Ridtern. Nidt einmal.gu Kriegs-
beginn bewilligten er und Sebel die
Kriegstredite; ihre Anhänger forderten
fie während des Kriegszuftands, mit
dem Ruf „Es lebe die Republifl*, zu
Straßendemonftrationen auf. Die Llebere
tefte der Laffaleaner wurden in Botha
(1875) den „Eiſenachern“ verfhmolzen;
feither gab e8 feine „Bismardjozialiften“
mehr. In allen Ländern beftehe nur
eine Arbeiterpartei, deren Mitglieder
einzig „Durch den Zufall der ©eburt“
unterjhieden feien; Feind der deutſchen
Gogialiften feien niemalg ein aus—
ländifher SKlaffengenofie, wohl aber
die einheimifhen Bolfsgenoffen auf der
„bürgerliden“ Seite. Nun entbrannte der
Kampf mit dem Segenwartsftaat zu vol-
[en &lammen; erft als Bismards Gturz
befiegelt war, fiel das „Spzialiftengejeß“
(1878 - 18%), fammelte die Partei ihre
fogleih anjdwellende Anhängerzahl um
das „Erfurter Programm (1891).
Alle diefe Zuſammenhänge find dem
Seitgenoffen faft ausihließlid aus der
Parteipolemif befannt, in Mehrings „Oe⸗
ſchichte der deutſchen SOC DENE ROLE
aber derart tendenziös behandelt, daß
dem Lefer unmöglich ift zu jcheiden, was
Quelle und was Zutat fei. Gine objef-
tiv-fritijde Gefhidte der fozialen De-
mofratie in Deutſchland glaube id
alg erfter in meiner „PDeutichen
Sozialdemokratie“ geboten zu bar
ben.* ft das Gerbaltnis der Gozia-
liften zu Karl Marz, und beider zum
Staat dort ridtig gefeben, dann erflärt
fih ohne weiteres, warum die Sage der
„internationalen, revolutionären, pölfer-
befreienden Sozialdemofratie“ marzifti-
{her Objervanz bei uns gezählt find.
Eben mit dem Bismardifden Preußen
Deutichland, als deffen Todfeind fie er-
ftand und deffen Bernihtung ihr oftmals
— Ziel blieb, war ihr Gee
{hid derart verfnüpft, daß über dem
"Staat und Marzismus. |.
Zeil: Die marziftifhe Geſellſchaftslehre
(2. Aufl. 1922); Il. Seil: Die deutſche
Sozialdemokratie (1924. Gerlag 3. ©.
Gotta).
Zufammenbrud fie felber den Ginn ihres
Dafeins verlor. So feben wir fie fid
bon dem Augenblid ab —— da die
tötliche Kriſis des Reichs begann: der
ee fpaltete Die Partei inner-
» oe Niederbrud des Bartums Lief
die „uU. 6. B. 9.“ entfteben, der Waf-
fenftillftand gab den Rommuniften Spiel»
raum. Wenn aud Parteien unter dem
®efes, nad dem fie angetreten, fteben,
dann find die Zeiten der einen großen
Partei des Proletariat3 vorbei. Das Feld
neu zu beftellen, ift uns auferlegt. Reine
Aufgabe fann ſchwerer fein. Gie vorgu-
bereiten, fordert pon ung eine Gedanfen-
arbeit, eine innere „Selbftverftändigung“,
die nicht geringer fein darf als jene, auf
der Karl Marz einft den Oedankenbau
feiner Lehren errichtet bat.
Sriedrid Leng.
Bismard und die Idee der
nationalen Bewegung.
Ocdanfen zu Garl SHweigers
Bis —— —
n feinem Januar-Aufſatz über „Die
Zufunft der nationalen Bewegung“
fommt der Herausgeber diejer Zeitichrift
zu dem Schluß, daß wir die nationale
Idee und die nationale Bewegung rei-
fen laffen miffen. Gr f@reibt: „Wir
dürfen nidt vergeffen, daß der innere
Deal der nationalen Idee nod feines-
wegs zur vollen Entwicklung gekommen
iſt.“ Wir ſtimmen dem zu und ag
nur weiter: Wo liegt die Sicherheit
für, daß wir ein folded Reifen erleben
werden? Was fönnen wir dazu tun, dah
e3 zu Diefer inneren Gntwidlung fommt?
Stapel weift in feinem Aufſatz bin auf
die „naturhafte Notwendigkeit“ der Bee
wegung. Aber er felbjt gebt dann dazu
über, geiftige Arbeit gu ihrer Alnter-
bauung zu fordern. Und Damit fordert
er, ohne es ausgulpreden, den Anſchluß
an die SBefdhidte Denn dies „Ler-
nen“, das der Bewegung nottut, ift
immer ein Lernen an der Sefdidte und
mit der Oeſchichte. Bon der eigenen ®e-
Ihihte feiner Gegenwart lernt nur, wer
bewußt aus feiner Gergangenbeit ber-
fommt, mit ihr lebendig im Geifte vere
bunden ift. Denn was es zu lernen gilt,
das ift der DBlid für das Dleibende im
Wechſel des Tages, das Dauernde im
unjiheren Spiel des zeitlihen Ablaufs.
Der politifde Wenſch, der fid nicht dare
an genügen läßt, dem zufälligen und
willfiirliden Bedürfnis des Augenblids
* Dr. Garl Schweiter: Bismards
Stellung zum dKriftlihen Staat. Gers
lag von Georg Stilfe, Berlin.
Redhnung zu tragen, der für die Bue
funft fdaffen un bauen will, bedarf
des lebendigen Gefühls der Ewigkeit, in
Die alle Geſchichte eingebettet ift und aus
der alle frudtbaren Entjheidungen ge»
boren werden. Grudtbarer Politifer ift
nut der fonjervative Menſch. Die nativ»
nale Bewegung wird fonfervativ fein
oder fie wird eine „Bewegung“ bleiben
und nie zur Sat reifen.
Obne den Anihluß an die tragende
Idee unjerer Vergangenheit erliegt die
nationale Bewegung der Gefahr, dem
Liberalismus und Demofratismus gegen
ihren Willen zu verfallen und um ihren
Ginn in einer fladhen Auflöjfung betrogen
zu werden. Man fpridt in der natior
nalen Bewegung viel von ariftofratifden
®edanfen des Führertums und zugleich
droht bod die Maſſe und der Najfen-
menfd aud in ihr duch fein Schwerge-
wicht beftimmend zu werden. Der arifto-
fratiide Menſch bat feine Aleberlegenbeit
darin, daß fid in ibm die Grfabrungen
Der Seſchichte verkörpern, daß er die
Tradition und in ihr das Bewußtſein
um die dauernden und bleibenden
Dinge bat. Die nationale Bewegung lei
det heute daran, daß der ariftofratijde,
der fonjervative Menſch unter und fehlt.
Das ift der Grund ihres Führermangels.
Denn der fonjervative Wenſch hat fi
den lebten Sabrgehnten mehr und mehr
felbft mit dem reaftionären Menſchen ver-
wedjelt. Gr war auf Grbaltung bedacht,
auf bloße Grbhaltung der Gorm. Gr ver-
gab, dab alles Grbalten nur möglich ift
uch immer neues Werden, durd ime
mer neue eiftung und Begründung aus
dem beraus, was über allen Gormen ift
und duch fie hindurch erfdeinen muß,
aus der Sdee. Aus Der Idee handeln
beißt aber, aus DBemwußtbeit, aus ®eift
bandeln und nidt aus bloßem Snftintt.
Der fih am Inftintt genügen läßt, bringt
e8 allenfalls gur Mafjenbewegung, wenn
die Konjunktur gerade günftig ijt, aber
nit zum Staat. Die Sefabr der nativ»
nalen Bewegung ift, daß fie zur Maffen-
bewegung entartet, ftatt zur Volksbewe—
gung zu werden, und daß fie dann eben-
ſo ſcheitert, wenn ihr die Wacht zufällt,
wie die Revolution 1918.
Sp lange nidt an die Gtelle der
reaftionären und der Snftinftmenfden der
fonjervative Menſch getreten ift, werden
wir immer wieder erleben, daß die diirf-
tigen und abgebraudten Ideen des adt-
zehnten Sabrbhunderts, von denen Die
Mitte heute gebrt, und die ſchließlich aud
Der einzige bewußte Beli der Revolu-
tion waren, bei uns im ftaatliden Leben
obenauf fein werden. Schon deshalb, weil
beim Uebergang zur politiiden Prazis
173
jede nod fo reine Bewegung ohne be-
wußtes und flares geiftigen Bild ihres
Willens der vorhandenen liberalen Gee
dantenwelt hörig wird. Den Beweis ha-
ben nit nur die Sabre feit 1918, fon-
dern zur Genüge die ganze wilhelminifhe
Aera erbradt. &3 fteht fo, wie „Das
Gewiſſen“ in einer Befpredhung des Auf»
fakes bon Stapel ridtig Ichreibt: „Die
intellektuelle Linke bat in einer folden
aa iUnterbauung, jo zweifelhaft und
Bgeftellt fie heute ift, immer nod eine
Boh e, gegen die eine Redte ohnmächtig
ift, die nur einen Standpunft beſitzt, aber
feine Begründung dieſes Standpunftes.
Auf diefer Rechten gibt es immer nod
Deutide, die der Meinung und geheimen
Hoffnung find, daß es aud) ohne die gei-
fige nterbauung der nationalen Bee
egung geben werde. &8 gibt fodar poe
m Uae Parteien, die diefer Meinung
... Aber e8 geht nidt ohne die
mati e Redte. Immer wird die Redte
der Vinten politijd unterlegen bleiben,
wenn fie ihr geiftig, unterlegen bleibt. G3
gibt feinen Gieg in einer Gade, und
wenn es die befte wäre, ohne daß die
Menfdhen ein Bewußtfein der Dinge
faffen, um die es fis bei ihr handelt.“
Bir müffen dar Geiſt unferer Ges
fdidte für uns gewinnen. Das beißt
aber, wir müffen den Zufammenhang mit
dem geiftigen Erbe Bismards aufnehmen.
Gr ift der lebte fonjervative Staatsmann
unferer Oeſchichte, der lebte Staatsmann,
“per aus den Kräften der Dauer heraus
een bat. Der Gerluft diefes Ie-
endigen Sujammenbangs mit Bismard
ftellt fid uns beute dar als fein Mif-
verftändnis, das auf der Verfennung,
vielmehr auf dem Nidtgewabhrwerden der
gelrigen Hintergründe und LUIntergriinde
ieſes politiihen Willens berubt. Es
war ein reaftionares Mifverftandnis und
ein liberales Mißperftändnis Bismards.
Gin reaftionäres Mifverftandnis, das fo
tat, alg feien nun mit Bismards Shöp-
fung alle politiiden Probleme gelöft und
alg fönne es nur nod die eine ——“
geben, unter Ausnußung der Madtlage,
ie er geichaffen, zu leben und zu ge»
nießen. ind ein liberales Mißverftänd-
nis, das nur die Madtbilbung, aber
nidts vom Ginn und ideellen Leben
Diefer Madht fab. Aus dem Politifer,
der aus tieffter Berpflidtung gegenüber
der Idee, aus dem Manne, der aus leh-
ter männlicher @laubigteit beraus ges
bandelt bate, wurde der „Realpolitifer“
gemadt, der "nichts weiß, alg das fluge
und millfürlide Spiel mit den Sate
faden, der leere Willensmenfd, der die
Madht um der Madt willen erftrebt.
174
Man bildete fid ein, mit einer tdeen-
Iofen ,Realpolitif auf den Spuren Bis—
mards zu wandeln, die duch ihr flades
Haften an den Satfaden alle entjcheiden-
Den Realitäten, alle treibenden Mädte
der Gefdhidte überfab und verfannte.
Erben Bismards wähnten fih Gpigonen,
die dod nicht ergriffen waren bon fei-
nem @lauben, Menſchen des Willens
obne Geift und Intellektuelle, ohne den
Willen, der aus der Madt des gläu-
bigen Gewiffens geboren wird.
Gs ift begeidnend genug, daß Die
Hiftorifer Bismards glaubten, den Chri—
ften und den Politifer in ibm auseinan-
derhalten zu mitffen. Da fie von Der
Weite und Spanntraft echter Slaubig-
feit nidts abnten, wurde fein Sbriften-
tum entweder nicht ernft genommen und
alg ein vorübergehende Anpaffung an
die Gedanfenwelt der Braut und Frau
und ihres Kreijes, eine „Belehrung“ a
Swed der Brautwerbung verftanden
oder, wenn man den Seugniffen Des Ren
bens gegenüber gu folder Deutung den
Mut nit aufbradte, dann mußte im
Leben Bismards ein Brud vorhanden
fein, Dann gab es bei ihm eine religidfe
und eine antireligiöfe Gpode. Oder Bis
mard befdranfte fid) eben darauf, im
Privatleben Ghrift zu fein. Als Staats-
mann aber ließ er nicht gelten, was dem
Privatmann, dem Ghemann heilig war.
Man muß fid einmal die verfdiedenen
Darftellungen der Snnerlidfeit Bis—
mard3 auf dieſe einfachen —— —
bringen, um zu fühlen, wie unwürdig
und unmöglich dieſe ganze Betradtungs-
weife ift. Sie vergewaltigt die Perfin-
lichfeit in ihrer gefdloffenen und tiefen
®angbeit, weil fie aus der Perſpektive
der Aufklärung diefes Leben nidt faf-
fen fann. Es offenbart fid aud hier die
Sragif, die über Bismards Leben und
Birken liegt, daß er der Iebte war,
der den inneren Sufammenbang mit der
Höhe und Siefe des deutiden G®eiftes
und Deutider Iutherifher Frömmigkeit
in einer innerlid niedergehenden, dden
Zeit gewahrt hatte. Gin pietiftiid ver-
— und mißverſtandenes Chriſtentum
eine geiſtloſe Auffaſſung vom Weſen
der Politik find die Vorausſetzungen je-
ner KRonftruftion.
Die Srage der innerften religidfen
Begründung der Perjönlichkeit Bismards
ift darum jo ungemein frudtbar, weil
Diefer Mann uns zwingt, ganz in Die
Tiefe zu geben, in der a lein Die Ginbeit
gefunden werden fann, in und über allen
Spannungen, an denen dieſes Leben der
politiiden Sat fo reid ift. Go erweitert
fih notwendig eine Unterfuhung über
das Verhältnis Bismards zum Chri—
ftentum gu einer Unterſuchung über das
Berhältnis pon Politif und Religion,
Sat und OSlauben überhaupt. Und es
wird an diefem Repräfentanten deutſchen
Weſens fidtbar, wie er als religöfer
Menih dem größten deutſchen religi-
öfen Genie, Luther, verwandt gewefen
if. Der Anterſchied feiner Grimmigfeit
egenüber dem Gbriftentum Der Men-
hen, unter denen ihm feine Braut ent-
gegentrat, ift der Anterſchied Iutherifcher,
zur DWeltgeftaltung und Weltiiberwin-
dung Ddrängender ©läubigfeit gegenüber
dem Pietismus mit feiner negativen Ab-
grengung bon der Welt. Da wo Luther
ie Ginbeit fand für die beiden Geiten
des Lebens, das Innen und Außen, das
Leben in ©ott und das Leben in der
Welt, im Gewilffen, da ift aud für Bis-
mard ‘die Ginheit der Perfinlidfeit. Man
bat oft genug darauf bingetwiefen, daß
Bismard der Politifer gewefen fei, der
fid nie nad Grundſätzen gerichtet babe.
Aber diefe ,Freibeit pon Grundſähen ift
nidt Grundfablofigkeit*. Gr hat gewiß
nidt nad einem Programm Politik ge-
madt, und dod ift er pon Anfang an
bon einer Idee beberrfdt, die in einem
lebendigen Sun entfaltet und entwidelt
wird und aud für ibn gerade in der po—
litiſchen Tat immer fonfretere Züge an-
nimmt. Bismard war gewiß fein Theo—
retifer. Aber es ift nur ein Beweis da-
für, wie wenig man vom Wefen des
Seiftes weiß, wenn man daraus folgern
wollte, daß ibm ideelle Klarheit und
Solgeridhtigteit gefehlt, daß er ohne
Weltanfhauung geweſen fei.
Die Bdee ift nidt ein fubjeftives
Ideal, fondern eine allgemeine und totale
Gorm der Welterfaffung überhaupt und
augleich allerperjinlidfte, ſchöpferiſche Le-
bendigfeit. Go ftellt die Idee hinein in
die Gemeinfdhaft, in das Bolf und fein
wejentlihe3 Werden. Die Idee bildet den
Zufammenhang der Werfönlichfeit mit
Bergangenheit und Zukunft. Die Idee
madı ihren — zum Repräſentanten
der Volkheit und des in ihrer ſchöp—
Tangent oct ®egebenbeit fih offenba-
renden Wertes. „Werde, was du bift“,
das ift der Ginn der Seſchichte eines
Volkes und darin liegt der Auftrag für
den Staatsmann und Führer. Dazu das
Rehte und Richtige tun fann nur, wer
das jedesmal in einer Lage ©egebene
nad feinem Ginn und Wert ergreift.
„Der praftiihe Staatsmann muß auf der
@rundlage einer allgemeinen Anſchauun
den vorliegenden Moment ergreifen‘
(Ranfe). Das unterfdeidet gerade Bis-
mard von den Ronjuntturpolitifern, den
Liberalen aller Schattierungen, daß fie
im ftaatliden Leben nidt nad einer
Idee Handeln, fondern die Orundfag-
lofigfeit gum @rundfak maden. Darum
war für ihn ein Staat ohne religiöfe
@®rundlage gar fein Staat, fondern ein
Intereffengeihäft. „Sonft behalten wir
als Staat nidts als ein zufälliges Age
gra pon Redten, eine Art Bollwerk
Her gegen Alle, welches die ältere Phi- -
loſophie aufgeftellt hat.“ (Bismard.) In
diefem Wort ift die Aufklärung flar und
deutlich ——
So klar, wie ſich Bismarcks religiöſe
—— pon allem liberalen Auf⸗
lärertum abhebt und ihn eben dadurch
alg verbunden mit den tiefen und ech—
ten Lebensmädten erfennen läßt, die
allein Staaten zu bauen und zu tragen
vermögen, fo Har, wie darin bei ihm der
innere Ginn und das innere Recht der
Madtübung erfdeint, fo flar hebt er fid
aud ab gegenüber einem Gbriftentum,
Das an die Gtelle der „Freiheit eines
Chriſtenmenſchen“, in der ein Luther gee
rade den Grund und die Möglichkeit des
Dienftes, der Tat fand, eine Gefeblid-
feit, einen Moralismus ftellt, der den
Menfdhen nit zur Tat befreit, fondern
ibn feftbalt und hemmt. Gerade für alle
Die, die Heute im Namen des Gbriften-
tums gegen die Politik, wie fie Bismard
gemadt bat, wie überhaupt gegen Wacht⸗
politif proteftieren und unmittelbar aus
teligiöfen Oberfagen politiide Golgerun-
en ziehen wollen, ift e8 ungemein
ebrreid, zu feben, wie in der Ausein⸗
anderjegung Bismards mit Qudwig von
©erlah und feinem Kreife nicht etwa
Bismard pon einem undriftlihen Stand-
punft aus gegen die driftlihe Forder
tung Gerlads fämpft, fondern für fid,
wie mir fdeint, mit vollem Redht dad
tiefere und lebendigere Gerftandnis des
Ehriftentums in Anfprud nimmt. &3 ift
der Rampf des in der lebendigen Gpan-
nung des praftifden Lebens um die
Einheit pon Idee und Wirklichkeit rin-
genden StaatSmannes gegen einen une
ausweihlid zur Aegation treibenden
Doftrinarismus. Die Doltrin, folgerichtig
zu Ende gedadt, verneint jeden Staat
und jede ftaatlihe Politif. Das ift nicht
nur bei den Oerlachs, fondern aud heute
nod) die Ronfequeng bei allen denen, Die
Gwigfeit und Zeit, Gott und Welt ftarr
auseinanderhalten, in eine nur negative
Beziehung ſetzen und nit mit Luther
im ®lauben den Anjagpunft finden, von
dem aus in der DWirflidfeit der unbe»
dingte Wert fid durdfest und behauptet.
„Alle diefe Gruppen haben gemeinjam,
daß fie einerfeits Staat, Politif, ge-
Ihichtlich-perfönlihes Leben überhaupt,
andererjeit3 die ewigen Wahrheiten des
175
Shriftentums und der Kirdhe ausein-
anderhalten; daß fie dann dod beide zu
vereinen fid) bemühen, aber nun ftatt
zu einer organijden Ginbeit, in der beide
Zeile zu ihrem Redte fommen, nur zu
einer Bermifhung gelangen, die beider
Weſen verdirbt. G3 fehlt diejer ganzen
Anfdauung ein pofitives Verhältnis zur
Geſchichte als der Gerwirtlidung ewiger
Werte in Der Zeit. Gie bat feine Ehr—
furdt bor der lebendig wirkenden Ge-
{didte, weil ihr im Grunde der Glaube
an den @eift fehlt, der das Leben der
Golfer und Staaten in concreto, nidt nur
in abftracto durchwirkt. Darum ift ihr
alle Kultur heidniſch, darum verfennt fie
den eminent fittliden Charakter des
Staates.“
G3 führt eine große Linie von Lue
ther über den deutſchen Idealismus zu
dem deutiden und chriftlihen Staats-
mann Bismard. Diefe Linie mit großer
gedanflider Klarheit und Schärfe her—
ausgearbeitet zu haben und damit einen
grundſätzlich höchſt wertvollen Beitrag
zur Klärung der Segenwartsfampfe um
eine politiide Weltanjdhauung de3 deut-
{hen Bolles gegeben gu haben, ift das
Gerdienft Carl Schweiters. Gein Bud
fei dem Lejerfreis des Deutſchen Bolfs-
tums dringend zur Beadtung empfohlen.
Karl Bernhard Ritter.
Bon wem Kant Heute angefeindet wird.
Sa Kants Werk wilffenfdaftlid um-
ftritten wird, ift ſelbſtverſtändlich.
Wiffenfaft ift ein Kampf der Geifter.
Aber dab das Werk Kants (und felbft
feine menſchliche Perfinlidfeit) ange
feindet wird, verdient Aufmerffamteit
in weiteren Kreijen. Denn bier handelt
es fid unter dem Schein einer wiffen-
fbaftliden Stellungnahme in Wahrheit
um fulturpoliti)de Vorftöße.
Swei Kreife verfuden es in unter
Zeit aus zwei febr verihiedenen Mo—
tiven, Kant und fein Werf dem deut-
fen Volke zu verleiden.
Grftens ift da der moralifhe Liber-
tinismus, in dejjen Pflege ſich beftimmte
Schriftſteller und Gelehrte (überwiegend
jüdifher Herkunft) hervortun. In dem
Prozeß um Arthur Schnitlers „Reigen“
erlebten wir es, daß der Leipziger Pro-
feffor Georg Witfowsfi die fantijde
Ethik als „überwunden“ ablehnte und
por der monftröjen Behauptung nicht
aurüdichredte, „alle hervorragenden Kan-
tianer, alle jeine Schüler, alle, die ſpe—
giell über Kants Ethik gearkeitet ba-
ben, baben immer Die wendbarkeit
der Kantſchen Ethik geleugnet.“ Wit-
kowski weiß alſo nicht einmal, daß die
Kantſche Ethik“ gar nichts andres iſt
176
als die Redtfertigung der einfahen Oe—
wiffens- und Pfliht-Sthif des ſchlichten
Wenfden, der Ethik, die freilid den
Kulturgenüßlingen fo unfagbar {dal und
reizlos if. Witlowsfi nennt fed und
fefs Den, Der unjre „heutige Sittlidfeit*
aus Rants Gthif ableiten will, einen
Schwindler, — womit er redt hätte,
wenn er unter der ,beutigen Gittlich-
feit“ die heutige (und allzeitige) Unfitt-
lichkeit verftünde (die er felbft im „Rei-
gen“ protegiert). Witfowsfis Bruder,
Öebeimrat Witting, mödhte gar die
„praftiide DVernunft“ Kants für Den
Deutfden Bujammenbrud mitverantwort-
lid maden. Die harten, unbeugfamen,
ebrenbaften, zurüdbaltenden, unnabbaren
Pflidtmenfdhen fantifder Prägung, die
mit Geftdielengenüffen, pompöjen Gaft-
mälern und bereitgeftellten Dirnen —
die politiihen Formen der Rofofozeit
wiederholen fic) gutweilen in merfwür-
diger Weife in Berlin — nit von ihrem
geraden Wege abzubringen find, haben
freilih etwas Alnangenebmes für die
Leute, die eben — „eine andre Auf-
faffung bom Leben“ (und von der Por
litif) haben. Die Kreiſe, weldhe das
deutihe Bolf, vor allem die führenden
Schichten, in ein jchlaffes, bequem zu bee
bandelndes ®enüßlingstum voll erotifder
Neidtfertigfeit hineinführen möchten,
empfinden den kantiſchen Geift als ein
unangenehmes Hemmnis. Die fantifde
Philoſophie zu widerlegen, fehlt e3 ihnen
an Sntelligenz, alfo fuden fie durd
dreifte Bebauptungen, durch „witige“
Sronien u. dgl. das Anfehn diefer Phi—
Iojophie und ihres Urhebers zu ent-
werten. (Wir bitten uns nidt antije-
mitifch mifguverftebn. Wir meinen ganz
beftimmte Kreife. Gs fällt uns nit ein,
die großen Gerdienfte ernfter Gelehrter
jüdiſcher Abfunft um Kant zu verflei-
nern, fie gehören nidt auf das Niveau,
pon dem wir reden.)
Zweitens ift da ein merfwürdiger
— —— der ſich immer in
in einem Kulturkampf fühlt. Kants Lehre
fand bekanntlich zu ihrer Zeit warme
Aufnahme auch unter Katholiken (Würz⸗
burg). Wenn man nun aus dDogmar
tifden Gründen fantifdhe Lehren ab-
lehnt, fo ift nichts weiter dagegen zu
fagen; Sogmen nimmt man an oder man
lehnt fie ab. Wenn man aber die fan-
tiſche Gewiſſensethik als „Subjeftivis-
mus“ ſchmäht, fo ift das etwas andres.
©erade dieje Gthit ift nidt „jubjel-
tiviftij®“, fie bat feinen Raum für Will
für, Zaune und Angebundenheit. Nie»
mals blieb Kant im odautel- und Gau-
felfpiel Der Relativismen fteden. Seine
Lehre bindet den Menjden im Ine
nerften und Snnerlidften an Oott und
®ottes Gefeb, fie bebt den Menfden über
alles Gubjeftive hinaus in ein ewiges
Reid. Kants Lehre ift charakter—
bildend und feliid mie fittlich
feftigend. Und das ift es wohl, was
die Halben, die Verſchwommenen, die
undurdgebildeten Intelligenzen nicht
mögen und twogegen fie fid auf ihre
Art wehren. Die Auflöfung in Subjef-
tivismus und Relativismus, die in Der
proteftantifden Welt (aber nicht minder
aud anderswo, man denfe an das wie»
neriſche oder pariferiihe Geiftesleben)
beflagt wird, ift dDurd Kant nidt geför-
dert, jondern gehemmt worden; fie febte
gerade mit der Abkehr von Kant und
mit Dem Mangel an DBerftändnis für
feine Lehre ein. Die Auflöfung gebt nicht
pon Kant, fondern von der großftädti-
fben Pſyche aus, für die ein Kant viel
gu „Ihwer“, ,ernft und „gründlich“ ift.
Beide Ridtungen, die fic troß ihrer
Gegenfablidfeit von Gall zu Gall gut
verftehn und verftändigen, empfinden das
„Breußifche“ in Kant als unangenehm.
Aber diejes „Preußiſche“ ift nidts als
die großartige Ausprägung eines Grund-
guges Der deutſchen, im Siefften der
ermaniihen Geele. Die Gegner des
antiſchen Wefens find beftimmte, in das
deutihe Volk mit eingegangene, antiger-
manifhe Glemente, enen Die berbe
Gbarafterfeftigfeit jowie das flare und
reinlide Denfen zuwider if. In Dem
ſcharfen kantiſchen Oftieewind Halt fid
weder Patfduli nod) Weihraud. Die,
denen foldhe Geriidhe lebenswidtig find,
wehren fih gegen die berbe Oftjeeluft,
indem fie behaupten, fie fei ungefund
und, genau geroden, riede fie eigentlich
falgig. Wir aber wiffen, daß in Diefem
Winde der deutihe Wenſch feft, ftolz,
bod und troßig gedeiht. Wir freuen
ung, wenn er ftürmt. St.
pngelifa ten Swaart*
bon Frank Shieh.
Jy berflieat man die gablreiden Preffe-
ftimmen gu dem vor Sabresfrift ere
ihienenen Bud, fo wird neben der ganz
einftimmigen äußerft günftigen Aufnahme
das befonders bervortreten, daß es faft
allgemein als ein typiſches Werf unferer
jüngften Didtung bezeichnet wird, als
eine „dichteriſche Sat“, die den jeelifchen
Sortihritt der Ietten Sabre in Geftal-
tung gebradt und fünftleriih ausgewertet
bat. &3 wird fid aljo lohnen, das Werk
daraufhin angufeben.
Seder Geſchichtsabſchnitt eines Kulture
volks trägt einen beftimmten Gbaratter
und fordert für Diejen von der Kunft,
befonders bon der Dichtung den ihm an-
gemeffenen Ausdrud, um eine fein
eigentlihes Dafein überdauernde Giltig-
feit, dem Ideal nad natürlih ,Gwig-
keitswert“ zu erlangen. Wir müfjen alfo
zwei $ragen zu beantworten fuden: Zus
nädft, welches find die Gehalte unferer
Beit, die Franf Shieh zu geftalten hatte?
Dann: Ift ibm Diefe ©eftaltung gelun-
gen? Iſt die entfpredende Form ge-
funden?
Die erfte Frage ift, fo allgemein ge-
ftellt, unlösbar. Wir fünnen einer ver-
gangenen, Zeit, da aud fie einen Aus-
ruc gefunden bat, den und den Cha—
rafter beilegen, allerding3 immer unter
ftarfer Gergewaltigung geiftiger Minder-
beiten. Anfre Gegenwart aber liegt por
uns, wie die gabllofen Rinnfale eines
Quellgebiets; wir wiffen nicht, weldes
ein Fluß fein, weldes verfidern wird.
Aber wir könnens uns leichter maden:
Nehmen wir Dod das als Hauptgebalt
unfrer Zeit, was Thieß an Gedanfen
und Motiven feinem Werf zugrunde ger
legt bat, und was alle feine Kritiker
aud als für fie widtig erflärt haben.
Es ift, wenn ein Wort gebraudt werden
muß, Popular-Myſtik. And wir find
damit wohl zugleich giemlid nahe an den
ftärkften geiftigen Strom unferer Gegen—
wart gefommen, an Die Auflehnung der
Menihen gegen die Rationalifierung der
Welt, gegen Hauptnenner und Gormel.
Sbhevfophie und Offultismus gebdren als
Extreme ebenfowohl in diefe Reihe, wie
das kleine Wörthen „irgend“, das unfre
jungen Gdriftfteller faft ausnahmslos zu
Sode beten und womit fie das Ber-
ſchwimmende, Srrationale " ausdrüden
wollen. Man lieft zwar nicht Ekkehard
und Dichellal-eddin Rumi oder indijde
Moftifer, wohl aber Bücher über fie und
fühlt, daß fie einem aus dem Herzen
{preden.
Und nun die zweite, für uns widti-
gere Grage: Sft mit der „Angelifa“ eine
Gorm entftanden, die dieſen Gebalt be-
wahren wird? Sit fie das Werk eines
Dichters oder eines Literaten, der weiß,
wie mans madt? — IH enticheide mid
für das letztere. Dein, es ift feine
„ewige“ Gorm geworden. Man wird ein-
werfen, daß Dies nur eine Gntideidung
des Gefühls fei, die fein Rest auf All-
gemeingültigfeit babe. Aber vielleidt ift
es Dod nicht ganz fo. Die Grfabrung
zeigt, Daß febr oft da, wo für unfer ge-
{dhidtlides und darum nidt mehr gang
fubjeftives LIrteil die Geftaltungstraft ver=
fagt, die „Pſychologie“, die Analyje fec-
liſcher Borgänge eintritt, während deredte
Didter je nahdem Handlung oder Iy-
riſche Gorm fdafft. Handlung aber ift
im DBereih der Didtung etwas Wahres,
177
weil Notwendige’s, ift Gorm. Pſycholo⸗
giide Deutung ift etwas Zufälliges,
Billtürlihes, meiftens fogar febr Fal-
ſches. Meberdies ift fie nicht die Arbeit
des ſchöpferiſchen Didters, fondern des
Anatomen. — Gewiß, e8 mag fdwierig
fein, eine dem Myſtiſchen, gebeimnispoll
Berfnüpften entiprehende Ausdrudsform
gu finden. Aber man wird nidt leugnen
fönnen, daß e3 den perfiihen Sängern
wie dem Seili ur von Aſſiſi gelungen
ift. Daß aud die ganze ar Tra-
gen nichts anderes ift, als höchſte Gorm
er Wyftif, dag mag man in Paul
Grnfts „Zufammenbruh des deutfdhen
Sdealismus* nadlefen. Die DBeweisfüh-
rung ift zwingend. — Frank Shieh ſpürt
oft jelbft, daß etwas nit in Ordnung
ift. Ge greift zum Mittel der Tragödie
ann verfudt, Seelifhes zu fombolifieren.
u hierzu Natur und Muſik heran.
es ift bedenflid. Um bei den Bei-
en gu bleiben: Aishylos verwendet
Naturfyombole nie, und bei den rifern
ift e3 etwas anderes. Gie find gläubig,
die Natur ift ihnen feiend, beilig, mit
ihnen in Oott rubend. Für Thief ift fie
eine Beziehung zur Seele, und wenn er
fie nun zum Symbol des Geelifden ver-
wendet, jo ergibt fid ein peinlider cir-
culus. Das Symbol ‚jener Männer ift
bon anderer Art: &3 ift Rhythmus und
Klang, das Sieffte der lyriſchen Gorm.
— Leber Muſik als Symbol wäre mane
des zu fagen. Man erflärt dabei + mit
2 Denn wer fann von Tönen ohne Um—
— reden? Aeberdies ift die Mu-
fit der Epik verfeindet und pflegt zur
Erweidung der Struftur zu führen. —
Was mit diefen Mitteln erreihbar ift,
das erreiht Thief: Stimmung und ners
vöſe Bewegung. Geftaltung aber und
roße Gorm liegen anderswo. Swiges ift
bier nidt geldatfen.
Außer diefer typifhen Geftaltungs-
fraft aber mangelt dem Verfaſſer nod
etwas, das für einen Didter vielleidt
nidt ausfchlaggebend erfheinen mag: Die
Kraft der Gedanken, der geiftige Rang.
Aud diefe Shwäde ift — leider! —
feine eigentiimlide, fondern in unferer
Seit ganz allgemeine. Wir fordern vom
Didter Talent — fonft nidt3! Nur
ſchade, daß unter den vielen zweifellofen
Talenten der Gegenwart fein wirklicher
Didter ift! Und an unferm Werf, wo
Durd das Gerfagen der Form die ins
nerfte Gtruftur flar liegt, wo Sdeen nur
alg folde, nidt in ihrer finftlerifden
Auswertung auf uns wirken müßten, Hier
wird e3 Deutlid, wie dürftig dieſe Ideen
letzten Endes find. Die Philofophie des
Sode3, dem Grundproblem des Werks:
der geheimnisvollen Verknüpfung bon
@®eburt und Sod, innig verwandt, wirft
nur fo lange, als fie nicht zutage tritt
und erinnert jo — borribile Dictu! — an
die geiftreihen Leute der Srauenzimmer-
tomane, die fid als Idioten entpuppen,
wenn fie den Mund auftun. (Aud in
Thieß' umfangreidftem Werf „Die Bers
Dammten“ geht die Geftalt des „Helden“
Axel Durd feine oft betonte Philoſophie
in Die Bride.)
Wir glauben, daß das, was bier zu
fagen war, von allgemeiner Bedeutung
ift. Darum mußte e3 ohne Befdinigung
und mit Gntidiedenbeit gejagt werden.
Daß Granf Thieß an fih ein bedeu-
tendes Talent ift, das gu beftreiten has
ben wir weder Luft nod Möglichkeit.
Aber es ift unſer Redt, ja, unfre Pflicht,
mehr bom Didter zu verlangen.
Walter Grid Shafer.
Der Beobadhter
Die DER Deutfden Leiftungen ge»
mäß dem PBerfailler Diktat betra-
gen nad deutſcher amtlider Schäbung
42 Milliarden. Gie beftehn zum größeren
Zeil aus beihlagnahmtem deutfhen Pri—
vateigentum. Der Betrag läßt fid gee
ſchäftsmäßig flar erweifen, und zwar
pon ung, nidt pon den Gegnern: Denn
wir baben die Anterlagen, fie nidt.
Wir fönnen ung nidt darauf einlafjen,
daß die ©egner unjre Leiftungen nad
den lächerlich geringen Preiſen anjeben,
die fie bei der Verfchleuderung deutſchen
Gigentums erzielt haben. Wenn bei»
ſpielsweiſe in einer weftafrifanifden Re-
publif eine Anzahl deutſcher Nieder -
178
/
laffungen im Werte bon vielen Mil-
lionen @oldmarf im Sabre 1917 von
unfern Geinden für den zehnten Zeil
ihres wirfliden Wertes wegge jeben
wurde, fo ift und nidt der Shleuder-
preis, fondern der wirflide Wert gutzu-
ſchreiben. Wenn eine afrikaniſche Pflan-
zung, die einen DVorfriegswert von 3
Millionen Mark hatte, für 1500) Pjund
verfauft wurde, fo haben wir feinen An-
laß, die 2700000 Marf fahren zu laffen,
fie gehören als Outſchrift auf das Re-
parationsfonto. Warum redet unfer Herr
Außenminifter gaghaft von „DBeweiin
für unfern guten Willen“ ftatt pon der
Satjadhe, dag wir einen außerordentlid
boben Teil der uns aufzubürdenden
Summe bereits bezahlt haben? Wo in
aller Welt ift denn ein Schuldner, der
beffer bezahlt haben könnte und würde?
And wir follen gleihwohl nod unfern
„guten Willen beweifen“? Germutlid
bält man es in Weudeutidland für „Po—
litif’, {id die fchleimigen, unredliden
Phraſen der Gegner zu eigen zu madhen?
Nad der bismarddeutihen Auffafiung
— die leider im Auswärtigen Amt uns
befannt ift — beißt Politif: die Dinge
der Wahrheit gemäß darftellen und beim
ebrliden Namen nennen.
@ ers Büchners ,Dantons Tod“ bringt
in der Nationalfonvdents-Ggene Die
Marfeillaife. Der „Zigeunerbaron“ fließt
im legten Aft mit Dem Radebfy-Marid.
— Die Nationalfozialiften in Stuttgart
beftanden mit Grfolg darauf, dah ,Dan-
tons Sods vom Gpielplan abgefest
würde, wenn man nidt die Marfeillaife
ftrihe, da die Marfeillaife nidt aud
nod im unbefesten Gebiete gepofaunt
und gefdmettert zu werden braude. Das
rauf volltinige Gntriftung aller braven
Marziften und Pazififten über die „Ber-
gewaltigung des Kunftwerfs“. — In
Berlin beftand die fozialdemofratifche,
„Volksbühne“ mit Grfolg darauf, daß der
„Bigeunerbaron“ pom Spielplan abgefest
werde, weil der Radetzky⸗Warſch ftets
eine nationaliftifde Geelenregung aus-
ldfe. Darauf volltinige Begeifterung aller
braven Marziften und Pagififten über
die Niederringung des Runftwerfe3, das
die Sicherheit der Republif bedrobe.
Das Wort „Kinder“ ift für diefe Leute
gu ſchade.
us einem Geitartifel Ded Vorwärts
bom 1. März über Qudendorff: ,...
mit militärifh furzgefhorenem Gerftande
eee) nee eines Mannes, der nidt mehr
weiß, ob er ein Männden oder ein
Weibdhen tft ...“, „In der Politik ift
er ein Gfel pon Oottes Ona—
den.“ (Im Vorwärts gefperrt gedrudt.)
Darauf folgt fehsmal das Wort „Gelei“.
„Gr taperte ...“ „Und nun fist er wie
das Kind im Dred“, „plump und tape
piſch“, ,... blamierte fid bis über die
“ „DBlamage“ ,Ludendorff iſt
futſchl“ „... aber in der Bolitifift
er ein Gfel.“ (Wieder gefperrt ge-
drudt.) „... beruntergefdnau3t.“ „...
ganz gewiß ift er ein politifder
Idiot.“ (Gleidfalls gefperrt.) Darauf
fhrieb der Borwärts am 9. März: „An«
ftändige Menfhen pflegen in der Regel
mit der Ehre ihres Mitmenfden vor-
fihtig umzugehen.“ Nur in der Regel?
— Der Borwarts bat Urfade, eine po r-
fidtige Definition des Begriffes „an«
ftandiger Menfd“ zu geben. Wir hoffen,
es wird ihm auf Erden wohl gelohnet
werden.
Hee Gords Automobile tuten un«
geduldig an der deutihen ©renze.
Der Xerxes des Automobils rüdt mit
feinem unabfehbaren Heer an, um fid
endlid aud die Proving ©ermanien
untertan zu maden. Quousque tandem
— wie lange nod werden die ©renzen
balten? Dann wird unfer Bolf aus
zwei Menfdenflaffen beftehn: die eine
zählt nah Sebntaujenden und ftinft ftolg
im §ordwagen umber, die andre zählt
nad Millionen und windet fid vor—
fidtig äugend in Gtaub oder Regen-
ſchmutz, blauen Stank fdlucend, zwiſchen
den ſauſenden Ketten der Autos hin—
durch. America triumphans. Man per-
gleiche nicht Amerika mit Deutſchland.
Sn Amerika iſt endloſer Raum mit lane
gen, geraden, breiten Straßen, in Deutich-
and ift uraltbefiedelter Rulturboden mit
ſchön gefhtwungenen Wegelinien, traulid
engen @affen, wundervollen alten Gen
und ©iebeln. In Amerika find die Stra-
fen bon vornherein für den Automobil-
verfehr gebaut mit Untergrund, Teerung
u. dgl., in Deutfdland nidt. Wollt ihr
die Fordautomobile bereinlaffen, fo baut
bitte erft die nötigen Straßen Dafür.
Sonft könnte fid im deutihen Bolfe
der ,Automobilgeftant* in eine „Stinf-
tout umfeßen, und wir befämen zu dem
Antialfoholismus und Antifemitismus
aud nod einen Antiautomobilismus und
damit ein drittes Karnidel, das an allem
fhuld if. Wir Haben aber fo fdon
unfre ſchwere Not.
Geers Bernhard hat feinem Herzen,
was jelten gefdiebt, ebrlid Luft
gemadt. Gr, der einft im Kriege die
Herren Generäle umjdmeidelte, meinte:
in jedem andern Lande würde Luden-
dorff am — hängen. Nun find
Die Völker gliidlidermeife felten, die der
Pflidt der Danfbarfeit gegen geniale
(wenn aud) unbequeme) Männer foweit
vergeffen, daß fie fie an den ®algen
(oder ang Kreuz) hängen. Wir wüßten
feine Nation um uns ber, der wir das
zutrauen möchten. Hat der Ghefredaf-
teur der Boffifmen Zeitung fein Augen-
maß für die Wirkung feiner Worte?
Durd Worte diefer Art, die alle Gmp-
findungen der perjönlich - menfdliden
Adtung und Treue empören, bringt man
das deutfhe Bolf in eine erbitterte Stim-
mung, die zu Geplofionen führen muß.
Wer andern einen @algen baut, fommt
179
felbft daran. Uebrigens vergefjen wir
nicht, daß dieſer Galgen-Bernbard wäh-
rend Der Beit des Ruhrfampfes mit
Lächeln geftand: er made in der Bof-
fifden Zeitung Politif gegen feine LWeber-
zeugung, feine politiſchen Orundſätze hät-
ten den gefdaftliden Grundſätzen nicht
ftandgebalten. &3 ift nötig, einen Sue :
ftand herbeizuführen, in der Leute von
folder Qualität nidt einen Augene
blid als Gadwalter der Deffentlichkeit
mehr möglih find.
Zwieſprache
Syne Seitidrift pflegt fid nidt an
die Zufallsdaten der Jubiläen zu
Binden. Sn meiner Sugend war e3 nidt
üblih, den Gintritt in diefe miferable
Welt Sabr für Sabr feftlih zu begebn,
und nod immer fträubt fid mein Oe—
fühl dagegen, daß Seburtstage etwas
Seiernswertes feien. Das ift ja nichts
alg Widtignebmerei de3 Individuums:
man läßt fid photographieren und hängt
fih fein eignes Konterfei por die Nae,
man beleuchtet geichwellten Bufens das
liebe Ich mit feierliden Seburtstags-
feftfergen. G3 tut fo wohll Ich möchte
wiffen, mann und bon wem die Geburts-
tagsfeiern aufgebradt find. Und nun gar
die Subilare im Grad und mit weißen
Handihuhen — es überfommt mid ein
peony tay pon Unbehagen und gerühr-
tem Mitleid.
Denn wir nun aber den gweibun-
dertften @eburtstag Immanuel Kants
zum Anlaß eines Kantheftes nehmen, fo
ift aud in dieſem Gall (wie ftets im
Leben) der äußere Anlaß nidt der
wahre. Wir feiern vielmehr die Sabre
1781 (Kritik der reinen Gernunft), 1788
(Kritit der praftiiden Gernunft), 1790
(Kritif der LUrteilstraft), 1793 (Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Ver—
nunft). nd aud jener Daten gedenken
wir nur, weil wir mödten, daß Diefe
Werfe, die zu den wunderbarften Her-
porbringungen des deutſchen Geiſtes ge-
hören, endlid) der gebildeten Fübhrer-
ſchicht unſres Volkes vertrauter werden,
als ſie annoch ſind. Freilich erfordern
ſie eine Verſenkung, die der ältere, in
Geſchäften umgetriebene Mann nicht mehr
aufbringen kann. Aber die Leute zwiſchen
20 und 30 (natürlich nur die mit zurei—
chender Intelligenz) ſollten dieſe höchſte
Schule des Deutſchtums durchlaufen. Zu
ſchwer? Oewiß. Aber es gibt Hilfs-
mittel. Ich darf auf meinen eigenen
Verſuch eines Kommentars hinweiſen:
„Kants Kritik der reinen Vernunft ins
Gemeindeutſche überſetzt“. Ich babe Ab-
ſatz für Abſatz in geläufige Sprache, mit
Beiſpielen durchſetzt, „übertragen“; man
kann abwechſelnd erſt einen Abſatz meines
Kommentars, dann, mit dem fo vorbe-
180
reiteten Verftändnis, den betreffenden
Abſatz des Urtextes lefen. Bisher liegen
zwei von den beabfidtigten fieben Bane
Den por. Der zweite enthält das Haupt-
und Rernftiid der fantifhen Lehre. Wann
id zur Gortfebung fomme? Ih muß
immergu „Auffäge“ fchreiben und Reden
halten, immerzu. Ginen Rant-Rommen=
tar aber ſchreibt man nidt am Fenfter-
brett des D-Zug-Abteils; man beginnt
aud nidt erft damit, wenn man in
der nadften Stunde fon eine andre
Gade „erledigen“ muß.
Diele „Situation“ wolle man aud
meinen beiden Aufläßen porn zugute
halten. Sm zweiten derfelben babe ich
den PBerfuh gemadt, gleidfam eine
„Smpfindung“ pom Weſen der fantifden
Weltanfhauung zu geben, mehr nidt.
G3 foll nur Kants pbilofophijde ,,Gin-
ftellung“ zum Kosmos umriffen werden.
Bejonders freuen wir ung, die vor
furgem in Halle aufgefundene Kant-Büfte
Gmanuel Bardous, die jet im Kaifer-
Stiedrih-Mufeum in Berlin ift, zeigen
zu fünnen. Gie gibt das menfdlide We-
fen des Denfers ganz ungewöhnlid) fein.
DBardou in Berlin (1744—1818) ftammte
aus einer Gmigrantenfamilie, er zeichnete
fid in der Bildnisfunft aus. Ob der
Künftler Kant felbft gefehbn hat, weiß
man nidt. Gr fann auf einer Reife
nad Rußland in Königsberg gemwejen
fein, wenn aud früher als 1798 (dem
GEnt{tehungsjabr der Düfte). Die nähere
®efdhidte der Düfte, die 45 cm Hod ift,
findet man in der Jubiläumsnummer
der „Kant-Studien“ in einem Aufſatz
pon Pireftor Dr. Demmler.
Die Handihriftenprobe verdanken wir
der Hamburgiihen Stadtbibliothef. Die
Sentenz ift auf die Rüdfeite eines Holz
gettels gejchrieben. Wir geben fie in der
Originalgröße. Der Text ift bisher
nur in der großen Atademie-Ausgabe
der Werke Kants verdffentlidt worden.
Wir wollen den Lefern das Gergniigen
nidt nehmen, die Handihrift felbft zu
entziffern (eb. mit Bergrdferungsglas).
Die Worte unter den ,Stimmen Der
Meifter“ find wohl die berühmteften aus
dem ganzen Kant, fie ftammen aus dem
„Beihluß“ der „Kritif der praftifchen
Bernunft“.
Bon den neuen Kant⸗Büchern der [ese
ten geit begrüßen wir mit befonderer
Sreude Hermann Kutters „Im Anfang
war die Sat.“ Der Untertitel lautet:
„Berfud einer Orientierung in der Phi—
Iofophie Rants und den von ihr ange»
regten höchſten Fragen. Für die denfende
Sugend.“ (302 S. Rober C. F. Spittlers
Nadf. Bafel.) Wir empfehlen das Bud
ridbaltlos. G8 ift innerlid durdlebt und
durchglüht. Der ſchwere Stoff ift pradt-
doll gemeiftert. Bor allem: bier ift nicht
das Intereffe des Fadgelehrten oder des
Philofophiehiftorifers oberftes Ridtmaf,
ondern das heiße Verlangen des Sue
denden nad Wahrheit. Ferner liegt
bon Eugen Kühnemanng „Kant“ der erfte
Band vor (558 6. ©. H. Bedihe Ber-
lagsbuchhandlung, Münden). Der Unters
titel dieſes Bandes lautet: Der euro
päiſche @edanfe im porfantifhen Den-
fen. Aus der Borrede: „Kants Gwig-
feitsgedanfe ift die ewige Wahrheit des
pbilojophifhen Idealismus. Als Ide⸗
alismus bat Platon die abendländifche
Pbilofophie begründet. Aber erft Kant
bat den platonifhen Gedanken in feiner
Notwendigkeit abgeleitet und ihn als die
Wahrheit erwiefen.“ Die Darftellung
gebt von Gofrates und Platon über See
fus, die neuere Naturmwiffenfhaft und
Metaphyſik x Spinoza, Hume, Leibniz,
effing, Herder. —
In diefen Tagen por der Reids-
tagswahl wollten wir das Heft nicht
ganz ohne politifde Beiträge binaus-
gehn laffen, daher in dem „Kant- Heft“
die Aufſätze bon Landgeridtsdireftor Dr.
Shiefler und Prof. Dr. Friedrid Lenz,
dem Oießener Nationalöfonomen. — Zu
Dr. Benninghoffs höchſt notwendigen
Ausführungen über den Nibelungenfilm
möchte id betonen, daß ich derjelben
Meinung bin wie er. Ih fann mir zwar
einen guten Nibelungenfilm Ddenfen: in
der ruhigen Größe gleihmäßig fortidrei-
tender Bilder (ohne pliglide „Oroßauf⸗
nabmen“, Gernbilber ufw.), alle Pere
fonen und Gejdebniffe in gotifher Bee
wegung in die Glade ftilifiert und fom-
poniert (denn in Wahrheit bat der Film
feine Tiefe), das fönnte Stil haben
und große Wirkung tun. Uber diefe
Sbeaterei, zumal die mit dem nerpöfen
Sräulein Brunhild aus Berlin B., ift
unmöglid. Die Jugend, die diefen Film
gefebn bat, ift für das Nibelungenlied
verdorben. Ihr wird das Lied zu „lang-
weilig“ fein, weil fie nur Senfation ftatt
Seele, Piyhologie ftatt Epif, Nerpen-
fißel ftatt Berber @rdfe erwartet. G3
war zum Grbarmen, als man all die
frifde Sugend vor diefem verfludten
»filmtednifden Wunderwerf“ fab. „Den
Seufel ſpürt das Völkchen nie, und wenn
er es beim Kragen hätte“ Nicht nur in
Auerbadhs Keller, fondern aud im Kino.
&3 mögen nod einige Anzeigen fol»
gen. In der von mir herausgegebenen
Sammlung „Unſer Golfstum“ erfdien
ein Bänden „Deutfhes Redtsleben in
der Berannpenbeit” bon Paul Bartels,
einem Schüler Karl Weinbolds fowie
@ierfes und @oededes. (56 SG. Geb.
1,50 Mt.) Das Biidlein führt in der
prädtigften Weife in den Geift und die
@efinnung des alten Deutiden Rechts—
lebens ein. Wer es gu leſen beginnt,
legt es fobald nit wieder aus der Hand.
— Bon unferm Freunde Ritter erfdien
im Gerlag des Biihnenvolfsbundes in
Sranffurt a. M. „Das Spiel pom großen
Abendmahl“. (40 ©. Kart. 75 Pfg.)
Ritter hat das alte thüringifhe Abend-
mabl von den zehn Sungfrauen für die
Aufführung erneuert, dazu gibt e8 eine
Mufit von Gpes Gtablberg. WMande
unfrer Leſer werden die Aufführung er-
lebt haben, berfdiedene haben uns bon
dem gewaltigen Gindrud erzählt. — Wir
werden öfter nad einer zuverläſſig bee
ridtenden Zeitſchrift über neuere Dich—
tung gefragt. Sebt, feit dem Januar,
fönnen wir endlid eine empfehlen, Die
umfaffenderen Anjprühen genügt, als
Bartels’ befannte kleinere Zeitſchrift
„Deutihes Schrifttum“. G3 ift „Die
\höne Literatur“, herausgegeben von
Will Besper. Verlag von Gd. Apena-
rius, Leipzig, Rofftr. 5. Monatlih ein
Heft zu 50 Pig. Auffabe, Biidherbefpre-
Hungen, Zeitfhriftenihgau, DBühnenbe-
rihte, Mitteilungen. Wir gewinnen aus
"den vorliegenden Heften den Gindrud
einer forgfältigen, objektiven Arbeit.
Für die Lefer unfrer Zeitfhrift, die fid
eingehender mit der zeitgenöſſiſchen Did-
tung befdaftigen wollen, alg wir es bei
unferer @ejamtaufgabe fönnen, fommt
„Die ſchöne Literatur“ gang befonders in
Betradt. —
Den Lefern, die es intereffiert, zur
Nadhridt, dad ih gegenwärtig im
Kunſtwart „widerlegt“ werde. Wolfgang
Schumann beweift im Märzbeft, dah id
mit den beiden Auffagen, die unter dem
Sitel ,Antifemitismus?* im Sonderdrud
erihienen find, unredt babe. Gr glaubt
halt an Menjden mit zwei Bolfstiimern.
„Schluß folgt.“ Wenn Shumanns Sdluf
a fein wird, wollen wir weiter
jebn. —
Der Mündener Prozeß ift zu Ende.
Das Seridt bat juriftiides Recht ge-
{proden. Das Bolt wird bei den Wab-
len moralifhes Redht fpredhen. Greilid
181
nur, foweit eg nidt den Zeitungen unter-
liegt, fondern nod gefundes Gefühl für die
Eſſenz der Greignijfe bat. Wer, der fid
objektiv den Gindrüden bingibt, fönnte
Qudendorff und Hitler den menfdliden
Refpeft verweigern (und fid damit auf
das niedrige Niveau eines Georg Bern-
bard begeben)? Aber, jagt man, Luden—
dorff fet „fein Bolitifer“. Ift der Po-
litifer wirflih das höchſte der Ideale?
„Politiker“ haben wir hinreihend gehabt.
Könnte e8 einen befjern „Bolitifer“
geben als Strefemann? Aber wir leben
in einer Zeit, in der ung Politifer
nidt mebr helfen fönnen, fondern nur
Golfsinftinft ift es, der der völkiſchen
Bewegung eine fo elementare Wudt vere
[eibt. Wan distutiere nod fo flug über
die Lage — Ludendorff ift die Schid-
falsperjönlichfeit des Deutihen Bolfes.
Ob eine glüdlihe oder tragifhe? Das
Schidfal geht feinen Weg. Wehe dem
Golf, das mit feinem eigenen @enius
nidts anzufangen weiß! Dir batten
beute das Gdwerfte hinter uns, wenn
die deutfhe Republié nidt — Alngft
por Ludendorff gehabt, fondern feine
Kraft dahin geftellt hätte, wohin fie
duch ihre Natur gehört. So muß er
fid eben felbft die Stelle erringen.
nod Helden. Der ungebrodene Volks—
inftinft febnt fid fort von den Politikern,
die Herzen fliegen Ludendorff gu. Der
Stimmen der Meifter.
N bt Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung
und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender fih das Waddenfen damit ———
Der beftirnte Himmel über mir, und das moraliſche Oeſetz in
mir. Deide darf ih nidt als in Dunfelheiten verhüllt oder im — Dil gen
außer meinem Gefidtstreife (d. h. außerhalb meines Geſichtskreiſes) fuden und bloß
vermuten; id febe fie por mir und verfnüpfe fie unmittelbar mit dem Bewuft-
fein meiner Geiſtenz. Das erfte fängt bon dem Plate an, den id in der äußeren
Ginnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin id ftebe, ind
unabfeblid-®rofe mit Welten über Welten und Gpftemen von Syſtemen,
überdem nod in grengenlofe Zeiten ihrer periodifhen Bewegung, deren Anfang
und $ortdauer. Das zweite fängt bon meinem unfidtbaren Selbft, meiner Pere
ſönlichkeit, an, und ftellt mid in einer Welt dar, die wahre Unendlid-
feit bat, aber nur dem Derftande ſpürbar ift, und mit melder (dadurd aber
aud zugleich mit allen jenen fidtbaren Welten) ih mid, niht wie dort, in bloß
ufälliger, fondern allgemeiner und notwendiger Perfnüpfung er
enne Der erftere Anblid einer gabllofen Weltenmenge vernichtet gleidjam
meine Wichtigkeit, als eines tierifhen Geſchöpfes, das die Materie, daraus
e8 ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurüdgeben muß,
naddem e8 eine furze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft verfeben geiwefen.
Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlid,
durch meine Perſönlichkeit, in welder das moralifhe Geſetz mir ein von der
Sierheit und jelbft von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben oifenbart, wenig-
ften3 fo viel fid aus der gwedmafigen Beftimmung meines Dafein3 durd diejes
®efeb, welde niht auf Bedingungen und Grenzen dDiefes Lebens
eingeſchränkt ift, fondern ins Unendlide geht, abnehmen laft.
Immanuel Kant.
Mud das ift wohl gut fo; denn im
Kampfe wadft der Menſch. Gt.
182
Neue Bücher
Immanuel Kants Leben in Darftel-
lungen feiner a R. B. Jahmann, 2. E.
Borowski, A. Ch. Waliansti. Gekürzte Ausg. von
Paul Landau. (Lebensbilder aus deutſcher Ver—
gangenbeit, herausgegeben von Börries Frhr. von
Mindyaujen.) 154 Seiten. Geb. 2,10 WE. Carl
Flemming und E. T. Wistott, Berlin.
Nad Angabe des Verlags find „alle heut weniger
interejjierenden Beitihmweifigfeiten“ weggelafjen,
ferner fand „eine dronologijhe Neuordnung des
Stoffes ftatt” und „das Wefentlide wurde bei ge-
treuer Wahrung des urfprünglihen Textes hervor»
gehoben.“ Wljo eine eingehende Bearbeitung der
drei berühmten zeitgenöffiihen Sciderungen von
Kants Leben, die einander fo glüdiih ergänzen,
daß fait eine völlige Biographie herausfommt. Alle
drei gekürzt zujammenzufaflen, war ein jehr glüd-
liber Gedanfe. Das Bud) wird aud ältere Schüler
intereffieren, denn alle drei Schriften find ja leicht
und angiebend zu leſen. Sie geben zugleih ein
bübjhes Kuiturbild. Die Bearbeitung am ak
nadgupriifen, ift uns im Wugenblid nicht möglich,
da das Bud) gerade beim Äbſchluß diejes Heftes
anfam. ine rafde Durdfidt ergibt einen jehr
günftigen Gindrud. Auf alle Fälle ift bas gut aus-
geftattete Budlein geeignet, eine richtige und wür—
bige Vorftellung von dem Leben unjres größten
Philofophen zu vermitteln. St.
Jatob Baza, Einführung in die romantijdhe
Staatswiſſenſchaft. Guftad Fifer, Jena.
Das legte Jahrzehnt ift für die Durdforfdung
der deutſchen Romantif von ausfdlaggebender Be-
deutung geworden. Die inneren Grundlräfte der
Romantit — bisher gumeift nur als künſtleriſche
Faktoren gewertet — find endlich hineingeftellt in
das Gebiet wermen pulfenden Lebens. an hatte
gehofft, die Romantif als Teilgebiet des Lebens
berauszugreifen und für fic) der Behandlung zu
unterziehen. Man hatte gebofft, ihrer unflaren
Beherrfhung des Stoffes die Ziel- und Ridtungs-
lofigteit einer fünftliben Betradhtungsmweife zu
unterjhieben. Die jüngfte Forihung bat fih mit
diefer bisher gewohnten Betradhtungsweife nicht
mehr einverftanden erflären können. Es fonnte
nidjt länger verdedt bleiben, daß der Geift der Ro-
mantif in mehr als der Kunft allein fein Wefen
treibe. Wenn er fchon als etwas Unmriffenes an-
erfannt war, fo mußte er aud in den gefamten
Aeußerungen menfdliden Lebens die beitimmende
Rolle jpielen. Es ift das Werl Jakob Bazas in
Wien, die moderne Auffaffung über das Wefen der
Romantif, zumal in gejelliaftswiffenfhaftlider
Hinfiht, in bhervorragendem Make ausgebaut zu
haben. Mit überwältigender Kraft verfteht er den
Beweis dafür zu erbringen, daß Romantif Lebens-
inhalt bedeutet Und das Weſen diefes Lebense
inhaltes tritt in allen Aeußerungen menſchlichen
Dafeins in Eriheinung, aus allen Gegebenheiten
offenbart fic) das Walten einer einbeitliden Le—
benSauffaffung. — Die bisherige wiſſenſchaftliche
Methode glaubte auf dem Wege der Pezentralijas
tion zu bodfter Schöpfung zu kommen. Der Weg
war gangbar, folange die Glieder der Gefellidaft
ein ftabiles gleihförmiges Leben lebten. Krieg und
Nachkriegszeit mit ihrer Fülle fic) aufdrängender
Probleme haben dem Menfhen die Gunft erwiefen,
Har feben zu laffen, woran es ihm fehle. Dejene
tralifation in der Wiffenfhaft mußte notgedrungen
zur völligen inneren Xeere führen, nirgends liegen
fi Kräfte des Zuſammenhangs erfennen, nirgends
wurde ein Mittelpunkt fühlbar, aus dem ewig
neue8 Leben auf die Teile überflutete. Enger Zu-
fammenbang mit dem witfliden Leben und der
Zwang einer fongentrierten Lebensweife braden
mit der alten MWeberlieferung eines medaniftifhen
Liberalismus. Ungemein fräftig und ftärfend weht
uns Ddiefe Auffaffung aus dem Buche Baxas ents
gegen, troy der vielen ſchöpferiſchen Geftalten der
tomantifhen Epoche durchzieht wie ein roter Faden
der Drang nad Einheit das Leben und Werk eines
jeden von ihnen. — Dieje „Einführung“ — fie ift
ct Wirklidteic viel mehr als das; denn in rajtiofer
Arbeit und QDucllenforihung hat der Verfafler die
Srundfaftoren der Romantik zu beftimmen vermobt
— tann wie faum ein zweites Bud im Xejer bie
Freude am felbjtandigen Weiterdenfen Hier nur
furz angeregter Gedanfen erweden. €8 fei nur
bingewiejen auf die grundlegende Verwandtſchaft
swijden dem franzöjifhen Naturredht der Aufllä-
tungszeit und dem englifhen Liberalismus det
Mandhefterjhule. Beides drang weſensfremd im
deutſche Xebensfreife ein, vermodte fic) eine Beit-
lang zu baltcn, mußte aber dem Gedanken deutjcher
Wejengeit, wie er fih in der Romantik auf ebeljte
Weije offenbart, weiden. Auch beute fann der
Liberali8mus — und der Marxismus ift nur eine
Abart von ihm — als abgemwirtjhaftet gelten. Denn
bei beiden Erjheinungen mußte das deutihe Wejens-
element zu furz fommen: jeine Smnerlichleit, feine
Seele, und bie ließ fih auf die Dauer nicht ver»
leugnen. Siegel.
Zofef Windler, Trilogie der Zeit. 1546.
Greifenverlag, Rudolſtadt.
Inhalt: das Ferientind.
Die Medanifierung.
Ein Bergmannsjunge aus Bodum, der als
Ferienfind aufs Land kommt, fann in feiner Heinen
Seele gwijden den beiden Welten: Hungerelend das
beim und „Reihtumsüberfülle* auf dem Lande
feine Verbindung finden. Bei dem Bwiefpalt in
ibm überwiegen Neid, Hab, et eg und vere
wirren ibn feelifd-fittlid) fo ftarf, daß er des
Bauern Bieh vergiftet. — Der zweite Teil diejer
Trilogie gibt ein Bild von der Beit des pajffiven
Widerftandes im Ruhrgebiet, das wahrſcheinlich als
tünftieriih gefagtes Stulturbofument von der Ge—
fdidte aufbewahrt werden wird. Diefe fachliche
Schilderung der Ereigniffe, durdlebt von einer Fa—
milie des geiftigen Mittelftandes, erzeugt beim
Refer denfelben verzweifelnden Drud, unter dem —
unjer Bolt in jenem Xeidensgebiet die lange Zeit
gelebt bat. — Der erlöfende optimiftifche Glaube des
Didters, nad dem mir bei Ra Schilderungen
vergeblich lechzen, leuchtet dann dod) aus dem dritien
Teil auf. Es ift die Idee, dak der Prozeß der
Medanifierung, in den unfere Kultur fic) verjtridt
bat, bis ans Ende durchgeführt werden muß, damit
er durch fic) felbft überwunden wird. Yn der phan—
taftiijhen Form von dem künſtlich hergeitellten jeelen-
lojen Menſchen, der als Arbeitstier überall einge»
fegt wird, wird uns gezeigt, wie die Menjchen
wieder zur Wertfhägung der Geele lommen. —
Gejamturteil: €8 handelt fig um ein wertvolles,
empfehlenswertes Bud. G. 8.
Adolf Bartels, Gefhichte der beutjchen
Literatur. Erſter Band: Die ältere Zeit. (Gaupt-
werte zur Deutſchen Literaturgefhichte von Adolf
Im Hungergebirge.
Bartels. Große Ausgabe 1.) 661 S. H. Haeffel
Verlag, Leipzig.
Die Sammelausgabe von Bartels’ Titeraturge-
{hidtliden Schriften beginnt mit der dreibandigen
großen Literaturgefhicdhte, deren erfter Band bier
vorliegt. Diejer große Band reiht von der alt-
germanifhen Dichtung (Götter- und Heldeniieder,
Marden, Beowulf, pila bis gu den Klaſſikern
in Weimar und bis gu Peſtalozzi, Hebel und Jean
Paul. Das Werk zeichnet fic) inbaltlid) durd den
betonten Zufammenhang von Bolfstum und Literas
tur, formal duch die flare, fadlid) einleudtende
Einteilung aus. Bu unſern mittelhochdeutſchen
Dihtern haben wir heute durd) BVerfenfung in die
Urtegte ein innigeres Verhältnis gewonnen, fo dag
183
wit Bartels Urteil, der Nibelungendidter habe „mit
natürliher Kraft, aber ohne reicher ausgebildete
Kunft“ geftaltet, nidt teilen. Wir finden: bei ihm
eine fo ausgebildete Kunft, in Lyrif und Sprad-
Yang, daß fie der fpäteren Stunft die Wage bält.
Wud) würden wir die zentrale Stellung des Bar-
gival für unjer Bollstum mehr betonen. (Boron
ijt nad Ehretiens und Wolfram. Die Einteilung
in die 16 Bücher ftammt von Ladmann, der leider
die alte Einteilung der Handfdrift D. felbitherrlich
„verbefjert“ bat.) Unjer Urteil über Schiller ijt
anders al® das von Bartels. (Seiner wunderlihen
Hppotbeje von dem „Eeltiihen Cinfdlag” ftellen wir
entgegen, daß nah Gievers juft Schiller die typifd
germanijhe Rlangturve bat.) Aber was Bartels
über Goethe ſchreibt, midten wir befonders aner-
fennen. Wud das Rapitel über den von andern
gu wenig gewürdigten Terfteegen ift gut, überhaupt
fheint uns die Behandlung des 17. und 18. Jahr⸗
bundert8 vortrefflihd. Jedenfalls: ein dharalter-
volles Werf. St.
Maria Kahle, Gekreuzigt Boll. Gedichte.
—— ap Verlag, Raffel.
enige nur, gang wenige Didter haben das
Reid und ben verbiffenen Born unferer leidenden
Landsleute an Rhein und Rubr im Lied geftaltet.
Es ift wohl leichter, ein fchmetterndes fied im
Krieg gu fingen, wenn nod der Glaube an Sieg
und freiheit in allen lebt, als das ftill ertragene,
unberoijdhe Leid eines BolfeS im Gedichte auszu-
prehen. Maria Rabble gehört gu diefen ganz
enigen. Wir finden in dem Gedidtband eine
ange Reihe von Liedern, von denen wir wobl ver-
Beiken dürfen, daß fie dauern werden. Faſt mann-
lide Kraft tlingt in den Gonetten, die an Riiderts
Geharnifhte Gonette beranreihen, und fraulid
milder und doc) berber sone flingt in den ſchön⸗
is der Lieder: „Singe je bell nicht, Nadtigall, die
elt ift voll von Leide~. Aus diefem Gedidtband
empfeblen wir ausjumwählen, wenn an einem
„Deutihen Abend“ der Rhein» und Rubrbevdlferung
gedadt werden joll. G. &.
Neue Bühbnenftüde: Hans von Wol—
sogen, Longinus. Cine beutfhe Legende, —
€. von Weitra, Blüderfieg. Ein dramatifdes
Spiel in zwei Aufzügen. — Otto Goftmann,
Der Ordensritter. Schaufpiel in drei Aufzügen. —
As Band 1 bis 3 der ungdeütſchen
Bühne im Jungdeutſchen erlag, Kaſſel. —
Otto Brües, Das Albreht PDürer-Spiel. Yn
der Sammlung „Spiele beutfher Jugend“ im Verlag
des Bühnenvollsbundes, Frantjurt a. M. —
Walter Flex, Die Bauernfubrer. Trauerfpiel
aus dem Bauernfriege in vier Aufzügen. (Dra-
matifhe Sfigge.) Mr. 36 der YJugendbiihne des
Theaterverlags Eduard Blok, Berlin E. 2.
Der Jungdeutihe Verlag will aud in der neu
von ihm herausgegebenen Fungdeutſchen Bühne den
Geift wehrhaften ge pflegen, wie er aus-
Gefproden ift im tolog zum ,Ordensritter”:
„Treu fein und deut{ ad fein, troy Kummer und
Leid! Diefen Glauben im Herzen tragen, Sei
unfer Troſt aud in heutigen Tagen!“ Die vor-
liegenden drei Werke find nod aus dem Geift und
den Bedingungen de8 beftehenden großen Theaters
heraus erwadjen, nit aus dem Boden unferer
Jungipielfdharen. Wolgogen führt uns in’ Deutjch-
land des adjten Jahrhunderts. Eine reingermanijde
häuslihe Umgebung, in der fis der germanijde
uptmann bon Jeſu Kreuz, Ahasvar der emige
ude und Armin» Sprößlinge gufammenfinden.
eift des Germanentums und des Chriftentums zu
vereinigen, ift bie Jdee des Bühnenwerks. Nicht
gang klar wird dieſe geiftige Idee gelöft. Die Welt
unferer Vorfahren erleben wir bier, wie bei den
meiften Berfuhen biefer Art, mehr mie eine Er-
jablung, die uns dargeboten wird, als wie eine
Gegenwart, die wir von innen heraus erleben. —
„Blücherfieg“ von Weitra gibt uns einen Ausfchnitt
aus der Gefdidte, der unfer vaterländifhes Emp-
finden ftarf und ftolg aufriibrt. Es ift fein Drama,
fondern drei Szenen; fraftvolle, gut gefdaute und
charafterifierte Bilder, aus denen gejunde Begeifte-
tung bervorquillt. Der Schluß braudte nidt fo
theatralifd zugejpigt gu fein; die Wirkung ware
aud fonjt nicht ausgeblieben, eben weil die Szenen
et find. Sehr tüdtige Laienjpieler können fid
vielleiht an diefes Stüd wagen. — Otto Softmanns
„Ordensritter“ ift zwar aud) mit Liebe und Wärme
geſchrieben, aber boc) ohne Didterfraft. Die feelie -
{hen Sonflifte und Wandlungen find gu beritandes-
mäßig fonftruiert. Behandelt wird in diefem Sdau-
fpiel ein Stoff aus der Geſchichte der Deutidordens-
titter, der Konflikt eines jungen Ritters, der eine
Polin liebt, aber feinem Gelübde treu bleibt. — Das
Albreht Dürer-Spiel von Otto Brües bringt zwei
Szenen aus Dürerd Leben: Yn Venedig wird ihm
ein ebrenvolles Angebot gemadt, dort zu bleiben;
aber Qeimatliebe zieht ibn ins Baterland zurüd.
Jn Nürnberg dann hat Dürer Gelegenheit, in Gee
einig mit verſchiedenen Menjhen feine nieht
affung von der Kunſt zu offenbaren. Go vollzieht
fid zwar die Löfung der „Bleihung von Charafter
und Begabung“, die der Dichter eritrebt, aber bra-
matifh werden die Szenen nicht, weil alle innere
Bewegung jehlt. — „Die Bauernführer“ von Walter
gie lönnen den Jugendbühnen empfohlen werden.
iht etwa ift bier ber ganze Sdeengehalt der
Bauernfriege, an dem fid fo viele unjerer größten
Dichter verjudt haben, ausgejhöpft; aber es ift aus
dem jugendliden Geijt und mit der jugendliden
Brifhe des neunzehnjährigen Didters geſchrieben
und trifft darum den Ton ber Sanoiviclioaren
gut. 8.
Strang Werner Shmidt, Strindberg
212 S. erlag
und feine 34 beiten Bühnenwerfe.
Franz Schneider, Berlin.
Die Aufgabe der Bühnenführer in Schneiders
Verlag ift nicht leicht. Die Gefahr liegt nahe, die
Kenntnis des Stüdes zu erfegen durd eine Ynbalts-
angabe mit zugebörigem inneren Gehalt. Diefe
Gefahr ift im vorliegenden Fall glüdlih vermieden.
Der Führer durch Strindbergs Dramen ift fo be
butfam, feine — Ergüſſe zu bringen, fon-
dern das Gelbjtverftandlide in einer prägnanten
und fnappen Art zugleih mit bem Inhalt heraus—
zufhälen. Ein Lejen der Stiide erübrigt fic nidt,
fondern man wird angeregt dazu. e ſachliche
Art de3 Buches überläßt es dem Lefer, den Wert
Strindbergs für uns ſelbſt einzufhähen. Worüber
fonnen wir nidt an ibm. Er fteht auf der Scheide
einer vergangenen, felbftherrliden Welt und ſucht
nad einer neuen, erlöften Menjchheit. Er ijt dod
der Einzige, bei dem dieſes Suchen nidt mwilllom-
mene Gelegenheit zu wirfungsvoller Literatur iſt,
fondern dämonifher Zwang. Das uns fein Werk
jtatt mit §rieden, mit Grauen erfüllt, wer ann
ibn darum fchelten? ine furdtbare, gnadenlofe
Zeit kann nidt ihren Ausdrud in Harmonie und
innerer Freudigfeit finden. Nur eins: man berfalle
nit Strindberg! Die Gefahr ift groß. Sie führt
zu willenlojer Entnerpung. 2.8
Yulius Heiß, Der arme Heinrich, ein alt
deutjhes Spiel nah dem Gediht von Hartmann
von Aue. 66 S., 1,50 ME. Berlag bes Bühnen-
volf3bundes, Frankfurt am Main.
Hartmann von Aues Bersroman ift hier ſchlicht
und einfad gum Spiel zubereitet. Man fühlt, daß
der Didter diefe Sdhlidtheit nicht markiert und
Naivität heudelt. Das Spiel wirft rein und herz-
lih. Ih fcnn mir eine Aufführung durch Laien
und Wandertruppen recht wohl denfen. Diefe Er-
neuerung des armen Heintih für die Bühne ift
um vieles erfreulider als G. Hauptmanns unglüd-
felige3 Drama, das peinlidfte von Hauptmanns
Stüden, mit feinem Berfuh, Pfychologie zu geben
und die Gejtalt der opferbereiten Maid durch blut-
arme Srankhaftigfeit zu erllären, L. B.
Gedrudt in der Hanfeatiihen Verlagsanſtalt Aktiengeſellſchaft, Hamburg 36, Holftenwall 2.
184
Emanuel Sardou, Kant
Aus dem Deutfhen Volfstum
Deutiches Bolfstum
5. Heft Kine Monatsihrift 1924
Die gegenwärtige sehigine Lage in Deutichland.
er Verſuch, etwas über die — religiöſe Lage in Deutſchland
zu ſagen, kann nur ſehr ſubjektiv und ſchematiſch unternommen werden.
Ein gewiſſes Gegengewicht indeſſen kann eine geſchichtliche Begründung bieten.
Wie alle phyſikaliſche und politiſche Geographie ſich als Ergebnis geſchicht—
licher Entwicklung faſſen läßt, ſo auch das, was man religiöſe Geographie
nennen könnte. Denn alles, was iſt, iſt geworden, und alles, was einmal war,
beſteht in irgend einer Form noch fort. Aelteſte geologiſche Perioden haben
wir in unmittelbar ſichtbaren, wenn auch ſtark verwitterten Stellen der Erd—
oberflähe nod vor uns. Nicht anders verhält fich die religiöfe Bergangen-
heit zur Gegenwart. Gin religions- und ein firchengefchichtlihes Lehrbud
liegt gleichfam in jedem Land, ja in jeder Stadt und in jedem Dorfe vor
dem aufgefdlagen, der Bildung und Geift genug befitt, um dem Reize
nchaugeben, den das Schauen des Bergangenen im ©egenwärtigen und
des ©egenwärtigen im Bergangenen gewährt. Bom älteften germanifchen
SHeidentum an bis zur modernften offultiftifchen Bewegung finden wir alle
Gruptionen des religiöfen Werdeng, die aus wer weiß welchem Grunde aufs
geftiegen find, nebeneinander in dem Antlitz unfrer deutfchen Religiofität
wieder. Chriſtlich masfiertes Heidentum, maffiver Katholizismus, mittel-
alterlide Myſtik, die Frömmigkeit beider Formen der Reformation, die Ortho-
dozie, der Pietismus, die Aufflärung famt ihrem ©egenpol auf derjelben
Giundlage, dem Rationalismus, der Idealismus unferer flaffifdhen eit,
die RNomantif famt der fie begleitenden religiöfen MWiederherftellung, der
Umjdlag in den gröbften Materialismus und Kirchenhaß; daneben die liberale
Sheologie, Monismus und GFreidenfertum; endlich der Umfdlag in die Myſtik
und den Okkultismus famt der Vorliebe für alles, was aus dem gebei-mnis-
bollen Orient fommt: all dies liegt in der Breite, wenn auch mannigfad
umgeformt und in mander Verknüpfung por ung, wie es gefdidtlid fid
einigermaßen abgelöft bat, freilich nicht ohne daß Altes nod lange blieb
und Neues fich langfam emporarbeitete.
Gs entfpricht einer üblichen Ausdrudsweife, wenn wir, was in der Lange
Bintereinander fam und in der Breite neben- und durcheinander liegt, Der Ueber
fidt halber fo anordnen, daß wir von jenen Niederjchlägen der Gntwidlung
des religidfen und firdliden Denkens die einen links, die andern rechts und
wieder andere in die Mitte ftellen. Go befommen wir eine Front, die bon
dem Atheismus und dem Greidenfertum über den naturwiffenfchaftlich gee
gründeten Monismus zu den criftliden Kirchen und don ihnen aus wieder über
Selten, Myſtik, Schwärmerei für die ruffifhe Frdmmigfeit nah Perfien,
Indien und nod tiefer nach Afien hinein läuft. Ihrem Wefen nad unter-
ſcheiden fid der linfe und der rechte Flügel febr ftarf voneinander. Das
Wefen des linken ift Diesfeitigfeit, Hingebung an Kultur und Zipilifation,
185
Begeifterung für Technik und Wiſſenſchaft, zumal Naturwifjenfchaft, für
alles, was mit dem Sntellett erfaßt werden Tann; dazu tritt nod der Sinn
für perfinlide Sreiheit und den Gort{dritt, für ein Leben in der Gegenwart,
abgewandt bon der Bergangendeit. Die rechte Seite weift die entgegengefetzten
Züge auf: ftatt der Diesfeitigen Welt die Ueberwelt oder das Senfeits, ftatt
der Natur die Gefdidte, ftatt der Wiſſenſchaft die Religion, ftatt des Tne
tellefts die Phantafie, die Seele und das Gemilt, ftatt der Oberfläche die
Tiefe, ftatt der Freibeit die Autorität und die Gemeinfdaft. Gang grob ge-
{proden könnte man fagen: all jene Dinge ftammen bom Welten, alfo von
England und Granfreidh, und find burd die Aufklärung DHereingefommen;
dagegen trägt alles, was auf der anderen Geite ift, öſtliches Geprage und
ftammt gulegt aus Aſien.
Das befondere Kennzeichen der gegenwärtigen Lage ift nun Ddiefes: der
Weften fink und der Often fteigt. In jener guerft gezeichneten gejchicht-
lihen Linie find immer Bruchftellen, die eine oft ſcharfe Wendung genau ins
®egenteil bedeuten; wenn fich eine geiftige Richtung erſchöpft Hat, dann
tritt aus einem gebeimnispollen Srunde, durch einzelne Männer oder durd
Bewegungen vermittelt, die entgegengefebte auf. So haben wir nun einen
Grud) burdhgemadt; es geht aus der rationalen Periode in eine irrattonale
hinein. Das begann fdon lange por dem Krieg, fon um die Jahrhundert»
wende. Aber der Krieg und die Nachkriegszeit haben diefe Entwidlung febr
verſtärkt. Wird dod der Krieg immer mehr als die Auswirkung jenes Geiftes
empfunden, der im Ginn für das Diesfeits und das brutale Recht aller Natur
fih am deutlichften offenbart hat. Angewidert bon dem graufigen Zufammen«
brud) alles beffen, was einmal für groß galt, zieht fid nun alles innerlich
Lebendige in die entgegengejeste Haltung zurüd. Man verlangt nad Tiefe,
nad ©eift und Seele, nad dem Geheimnis, der Autorität, der Bindung durd
Gemeinfdhaft, mit einem Wort gefdhidtlid gefprogen nad) einem neuen
Mittelalter, geographifh geredet nad dem Orient.
Mitten zwifchen jenen beiden Flügeln ftehen die riftliden Kirden,
pon beiden Seiten befämpft, wie fie fid) auch felber einander bekämpfen. Um
ihrer Shwäden und Febler-nidt nur, fondern auc um ihrer ganzen ®rund-
baltung willen gelten fie beiden Seiten als ®egner, mehr natürlich der linfen
als der rechten. Ihr Anfprud auf alleinige Wahrheit, ihre Begründung auf
eine Gefdhidte voller Gnaden und Wunder, ihre immer nod das ganze
Leben und aud Volk und Land mit ihren PBarochien umfpannende Organi-
fation, ihre Verbindung mit den berrfchenden oder einft herrſchenden Gee
walten — dag alles macht fie verhaßt. Spricht man von der Kirche, fo fällt
aud) fie, wie faft alle geſchichtlichen Grfdeinungen, polar auseinander, und
zwar aud zur Linken und zur Rechten, der Proteftantismus mehr nach der
Seite der Kultur im älteren Sinne, der Katholizismus mehr nad der anderen
Seite. Und wiederum diefe polare Neigung fest fid in die einzelnen Kirchen
felber hinein fort. Wie der Proteftantigmus eine rechte Seite hat, fo hat der
Katholizismus eine linke. Gs braucht nicht herporgehoben zu werden, daß,
wie der Katholizismus von der berrfchenden Welle im Unterfhied von den
fiebziger Sabren emporgetragen wird, fo der Proteftantismus im allgemeinen
finkt, und aud was in ber fatholifhen Kirche pon feinem Geifte befrudtet
ift, nur fehr ſchwer gegen die entgegengefebten Beftrebungen auffommt.
Niemand gibt fid mehr einer Täuſchung darüber Hin, daß die Rolle wenigftens
der evangelifhen Kirche Außerft befcheiden geworden ift. Weit davon ent-
fernt, in der Deffentlichkeit irgendwie beachtet zu werden, ift fie aud nur nod
186
für wenige der Rahmen ihres perfinliden Dafeins. Gibt es aud nod abgele-
gene Landgemeinden, die 70 b. H. Sonntags zur Kirche bringen, fo ftehen denen
unendlich viele andere gegenüber, die es faum auf 1 b. 9. bringen. Kürzlich
war der Durchſchnitt pon einer maßgebenden Stelle auf 3 v. 9. geſchätzt
worden. Nur an Fefttagen fdeint die Welle der religiöfen Zeitftrömung die
Kirhentür zu überfchreiten. Schlimmer als die Austrittsbeiwegung nad links
And rechts ift Die Sleidgiiltigteit, die „Iatente Austrittsbewegung“ in allen
Kreifen. Romane, Gefprade, Zeitungen weifen an diefem Punkt ein vole
liges Gafuum auf. Gs ift viel verfäumt, es ift viel gefehlt worden; Führung
und Waſſe haben verfagt. Ob die eifrig betriebenen Reformen auf dem Gee
biet der DBerfaffung, des Oottesdienftes, alfo der Predigt und des fultifden
Lebens, und die fo überaus rege auf dem des Religionsunterrichtes üben-
haupt nur den gegenwärtigen Beftand erhalten fünnen, das muß die Bue
funft lehren. Der Gegner und der Wettbewerber um den religiöfen Sinn der
Bevölkerung gibt es gar zu viele.
2.
Die Kirche, die Botin einer YUeberwelt, gegründet auf eine vergangene
Heilsge[hidte voller Wunder, mit dem Wnfprud auf eine Iebtgiltige
Wahrheit, mannigfad verftridt in die Kultur, die Philoſophie und die Sitten
einer vergangenen Zeit, dazu nod aufs engfte mit älteren privilegierten
Ständen und Gruppen verbunden, ift der Gegenftand grimmiger Seindfchaft
der ganzen ,infen“. Dieſe ift in fic fonft febr wenig einheitlich; aber in
der Grundridtung und in ihrem Gegenfag ift fie einig, bon Dem ausgefpro-
denften Atheismus an, mag der nun auf Illufionismus, Sfeptigismus oder
Materialismus beruhen, bis zu einem Theismus des DVerftandes, der fid in
der Beife der Aufklärung mit Moral und etwas Glauben an Unjterblidfeit
paart. Diefe Gedanfenridtungen heben fid, wenn fie bewußt find, aus der
Gbene der fdredliden Gleichgültigfeit heraus, die in allen Kreifen Der
Kirhe und ihrer Botfhaft gegenüber befteht. Die Laft und die Not des
Lebens, üble Grinnerungen, unbewußte Srundftimmungen, die jenen aus-
geſprochenen Richtungen entfprechen, erfüllen die breite Maffe in allen Schich—
ten, wie jeder Roman, jede Unterhaltung, jede Zeitung bezeugt. Dagegen
ift ohne Zweifel eine ausgefprodene Feindſchaft immer nod ein Zeichen don
Charakter und eine gewiffe Hoffnung. Mag aud Materialismus und Natura-
ligmus grundfäglih überwunden fein, im Leben des Bolfes ift immer nod
das Dogma herrſchend, daß die ganze Wirklichkeit mit der finnlid) wahr—
nehmbaren gufammenfalle. Diele davon nicht befriedigte Geifter juchen in
irgend einer der vielen Arten bon Monismus einen SGrja für die ihnen
im. übelften Gedadtnis gebliebene Kirchenreligion. Diefe Srundauffaffung
bindet, was ihr bon Höherem geblieben ift, bas Wahre, Gute und Schöne
oder aud) das Göttliche, an die Natur, an das AU, den Kosmos oder wie
man jonft den Erſatz für Chriftus und die Bibel nennt. Bald ift es eine
fühlere DBerftandesfache, der man anhängt, bald eine ſchwärmeriſche Hinge-
bung an das große All, in dem man die Harmonie der Perfönlichkeit und
Ihöpferifhe Kräfte zur Beftreitung der Koften bes Lebens fudt.
Diefe ganze Grundftimmung bat fid aud organifiert. Moniftenbund,
Sreidenferdereine und ähnlich gerichtete Gruppen haben fich guerft zu einem
Weimarer Kartell, dann zu einem Bund für Geiftesfreiheit zufammenge-
Ihloffen; daneben befteht nod ein Bund proletarifher Greidenfer, weld
legterer 400 Ortsgruppen mit 25000 Mitgliedern enthält. Die ganze Bee
187
wegung ijt immer nod in langfamem Wadstum. War fie im Krieg unter
dem Grnjt der Zeit jehr zurüdgegangen, jo hat fein Ausgang und die Not
nachher ihr anfdeinend gegen die gottesgläubige Kirche Recht gegeben. Gin
Seiden für den unausrottbaren Zug nad Rirde ift der mehrfach unter-
nommene Verſuch, fultiihe Berfammlungen, Weihehandlungen, ja fogar eine
Art von Hlöfterlichen Lebensgemeinfdaften zu veranftalten. Die ganze Bee
wegung ift ein Zeichen, wie ſehr die Kirche in ihrer Pietät oder Schwerfällig-
feit es verſäumt bat, fid der neueren Zeit fulturell angupaffen; es fei bloß
an ihren Widerftand gegen die Geuerbeftattung oder an ihr Fefthalten an
dem biblifden Welt- und Naturbild erinnert.
Auf der „rechten“ Geite ift viel „zweite Religiofität“.. (O. Spengler.)
Abgeftofen oon der Zipilifation, unbefriedigt von der Kirche, fdaut fid
zumal großftädtifhe Stimmung nad irgend einem Grfak oder Reigmittel
um, wie das alternde Rom, und findet, was es fucht, in älteren Kulten oder
im „Often“. Romantiſche Grundjtimmung, die Mode des Srrationalen, des
©eheimnijjes, der ,Siefe“, läßt, neben manchem neuertadten ernjten Ginn
für Seele und Ueberzeitliches, nad allem greifen, was, vor Iahrzehnten noch
verladt, heute etwas bon Sinn und Halt und Sroft verfpridt. Durd das
viele Gefdrei, das diefe Mode madt, darf man fid nicht darüber täufhen
lafien, daß überaus viel fünftlihe Mache zugrunde liegt. Die Myſtiker des
Mittelalters, zumal Gdebart, find ſehr verbreitet; darüber fann man fic freuen,
weil diefe Dod einen ausgefproden ethifchen Zug an fich tragen und Gott und
feine Welt mit der Seele innigft ergreifen wollen. Moderne Myſtiker, ob
fie nun bon der Natur oder bon der Dichtung Herfommen, neigen dagegen
ftarf dazu, den Gegenfak bon Gut und DBöfe und die felbftändige Gzifteng
Gottes zu ftreichen, um das Individuum in feiner Selbftherrlichkeit und aud
fleifhlihen Gier allein übrig zu laſſen. Die Jugendbewegung und viele
andere romantifd geftimmte Kreife pflegen eine Myſtik des Alls, bon dem
man fid) durdfluten laffen will, um jchöpferifhe Kräfte zum Aufbau am
großen WeltendDom zu gewinnen. Das Elingt wenigftens etwas ernfter als
das ſo meitverbreitete Schwärmen und Schwelgen einer Religion ohne Gott,
die in heiligen Schauern und feden GSelbftüberfteigerungen aufgeht. Im Zur
fammenhang mit politifhen Beftrebungen greifen mande Kreife auf alt»
germanifhen Wodankult zurüd, der den Gegenſatz nicht bloß gegen Das
Judentum, fondern aud gegen das Chriſtentum in fid fließt. Weniger
bedenklich ift die Auffrifhung einer halb perfifchen, Halb indifhen Frömmig-
feit, Die fi Magdagnan nennt und echt orientalifd eine ausgebildete Hy—
giene mit myſtiſcher Verſenkung vereinigt. Aehnlich verfährt aud die weit
verbreitete Ghriftian Science, die, ein modernes amerifanifhes Gewächs, wie
Sefus Leib und Geele zu beilen verfpridt. Groh ift die Hinneigung zu allem,
was ruſſiſch ift. Doſtojewsky hat Tolftoi als Urruffe abgelöft. Der grimmige
Grnft gegen alle weftlihe Bivilifation, die Gnergie der religiöfen Hingebung
an Öott und das Senfeits, der fefte Glaube an die Offenbarung einer ganz
andern Welt bon Gott aus hat eine immer wadfende Anhängerfchaft dem
öftlichen Shriftentum zuzuführen begonnen. Dabei fpielt auch der neuerwachte
Sinn für alles, was Kultus und Liturgie heißt, eine Rolle, der in der fog.
Hochkirchlichen Bewegung feinen jedem Reformierten underftandliden Aus»
drud gefunden bat.
Das eigentlihe Modeland aber ift Indien. Diefes Wort können mande
ohne Augenauffhlag und fdmadtende Laute garnicht ausfpregen. Schon
lange hat die ältere Theoſophie ihre Anhänger gehabt, die, aus Amerika
188
berübergefommen, etwas Brahbmanismus mit modernem Gpolutionismus
mifdt. Aber feitdem Rudolf Steiner aufgetreten ift, verbreitet fic) dieſer
©eift immer mehr. Diefer univerfale Geift verfpricht der Zeit, was fie haben
will: wiſſenſchaftliche Grfenntnis der jenfeitigen Welt und Löfung der großen
Lebensratfel. Sein Anhang ift immer nod im Wadjen; feine Lehre
wendet er auf alle Gebiete des Lebens als frudtbares Prinzip an
bis auf PWirtfhaft und Kunft und Pädagogif. Diele ernfte Kreije,
natürlih aud) viele Dalbgebildete, fallen ibm anbeim. Pie Anthro-
pofophie ift eine geiftige Grdfe, mit der man rechnen muß. Aud an
ihr fann fih die Rirdhe Har madden, was fie verfäumt Dat: die Pflege
der Grfenntnis und zumal die der jenfeitigen Welt. Dieje Geiftesridtung
bat fic ebenfo wie die „Shriftlide Wilfenfhaft“ zu einer Art oon Kirche
mit Rultusfeiern organijiert; der Kult Hat bei diejer einen einfacheren, am
Wort orientierten Charakter, während die anthropojophijche SuliDung fafra-
mentaler Art ift.
Im ganzen ift es ein febr buntes Bild, das bon tiefer ſeeliſcher Not
zeugt. Es ift Advent. Das Geld ift reif zur Ernte. Die epangelifche Kirche
muß mit vielen Wettbewerbern in den Kampf treten. Sie fann ihn bloß
wagen, wenn fie etwas Grofes und Gutes zu verfündigen Hat, und wenn fie
mit Wort und Tat der Welt Hilft, mit ihren Nöten fertig gu werden.
Sriedrih Niebergall.
Gegenwart und Zukunft der Jugendbewegung.
ern aud) die SugendDbewegung ein beliebter Gegenftand für Doftor-
arbeiten geworbden ift, verſucht man, fie mit pſychologiſchen und fogiolo-
gifhen Kategorien zu faffen. Dies ift nicht gelungen. Gin abgejchlofjfenes
Gerftandnis der Bewegung wird erft möglich fein, wenn fie Geſchichte ge-
worden ift, wenn der Hiftorifer fie völlig überfchauen und einordnen fann.
Aber wie bei aller Bemühung um die Fragen der Beit ift auch Hier eine Gre
fenntnis notwendig und möglich, die praftifchen Zielen dient, etwa der Ein—
ſchätzung, die Der Graieber, der Lehrer, der Geiftlide, der Politifer gewinnen
muß. Für eine Jol de Bewertung muß man verſuchen, ihr Weſen zu dere
fteben. Gs fommt dabei darauf an, Die Grundlage nicht zu eng, fondern mög-
fihft breit zu wählen. Gs ift unmöglich, fie allein bon einer ganz beftimmten
und einfeitigen Gormulierung ber zu begreifen, etwa bon dem freideutjchen
Autonomiegedanfen, der fid) einer unberedtigten und feltfamen Bevorzugung
in der Literatur über die Sugendbewegung erfreut. Selbſt Univerfitäts-
profefforen wie Natorp und Stählin find diefem Fehler nicht entgangen. Auch
die jüngfte Arbeit von Hans Schlemmer (Der Geift Der Tugendbewegung.
Berlag Rösl u. Gie., München. 1923. Pädagogiſche Reihe. 9. Band) ift ibm
verfallen. Das muß den DBlid für die Gigengefeblidfeit der Zugendbewe-
gung und die Fülle der Erfcheinungen in ihr trüben. Man muß auf die
umfpannenden Horizonte bliden: eine neue ®anzbeit des Lebens:
ein neuer Menfd — eine neue Welt, bas ift der einzige richtige
Anfagpunft für die Grfaffung ihres Strebens und Wefens. Und ferner:
die pſychologiſchen Feftftellungen über den eigenartigen Charakter ihres Sue
- gendbewußtfeins mögen gut und richtig fein. Aber man muß die Bewegung
in eine umfaffendere und tiefere Wirklichkeit Hineinftellen, um fie zu ver-
fteben und ihre Bedeutung zu feben, in die des Volkes: junge Gefdledter
eraden in einer Krifis der Bolksgefhichte und der Kultur gum eigenen Be—
! 189
wußtfein ihrer Jugend. Ihr Erleben heißt: Jugend verpflichtet! Die Jugend
fühlt eine ®emeinjamfeit des Lebens und der Berantwortung dem DBolfe
gegenüber. Gine neue Welle des Bolfslebens fteigt bod. — Bon da aus
woollen wir die Lage und die Aufgaben, die ihr entfpringen, betrachten.
1
Eine jede neue Bewegung findet erft nach langem Irren und Kämpfen
Weg und Ziele. Man darf das vor allem bei einer Bewegung der Jugend
als folder nicht bergeffen! — Die erfte Epoche der Sugendbewegung (es
handelt fid nit um millfürliche zeitlihe Begrengungen, fondern um innere,
finnhafte Zufammenhänge) fann man die naibeurfpringlide nennen.
Ueber ihren repolutionären Charakter gegenüber den Erziehungsmethoden und
dem gejellihaftliden Aufbau der umgebenden Welt ift jo viel gefchrieben
worden, daß wir uns dabei nicht aufhalten. Nur zwei beliebte Mifverftand-
niffe gilt es abzuwehren. Die Jugend nimmt eine kulturkritiſche Hal-
tung ein. Ihre letdenfdaftlid glühende Bejahung des Lebens ift nicht ein
Sa zum Leben, wie es ift, fondern wie es fein ſoll, wie es in den lebten
Tiefen der Seele als Zielbild und „neues Reid“ geahnt wird (Reinheit,
Wahrheit, Schönheit, und wie diefer Idealismus der Sugendbewegung fid
ausfprechen mag.) Sie entzieht fid der Zipilifatton, fie geht in die Walder.
Aber diefe neue ,,tweltlide* Wskefe, wenn ich fo jagen foll, ift nicht negae
tid, wie man behauptet bat, fondern ſchöpferiſch. Sie fdafft ein neues,
bon der Greibeit der Natur befhmwingtes Gemeinfdaftsleben. In
der Heimat tauden uralte Werte und Bindungen den Wandernden wieder
auf. Was das ift: Heimat, Bolfstum, das lebt jett neu, ganz unmittelbar,
aber ohne geiftige Gormung und gewollte Bielfebung. Das Leben felbft in
feiner gehetmnispoll-pffenbaren Fülle zu leben und zu fühlen, ift Luft und Gebne
ſucht diefer Jugend. Aber ſchon drängt es fie gum eigenen Schaffen. Volkslied
und Tang, Märchen und Sage, polfstümlihes Kunfthandwerf werden neu
lebendig. Gs ift feine Renaiffance aus gepflegten äſthetiſchen Bedürfniffen,
fondern der Lebenstrieb, der in vorher verſchloſſenen Tiefen aus feiner Lebens-
not heraus Gingang findet. Natur, Heimat, Volkstum find die Werte diefer
Welt, fie umfpannen ihren Gefidtstreis, werden in ungezählten Gemeinfchaften
erlebt und geftaltet. Die Kulturkritif wurde aud bier Zultur-jchöpferifch,
weil fie nicht ffeptiihe Abwehr war, fondern leidenfdaftlider Angriff aus
ber Ahnung tieferer Lebenswerte. — Und zweitens ift es falfch, immer nur,
bom „Indipidualismus“ oder „Subjektipismus*“ in der Zugendbewegung zu
reden. Daß er in einem Alter vorhanden ift, in dem der Wenſch erft zu
fic ſelbſt erwacht, follte nicht wundernehmen. Allein das Entſcheidende ift,
wie die Sugendbewegung dem begegnet: das neue Leben ift untrennbar
pon der Gemeinſchaft. Daß der Menſch dem Menfchen, aller anderen
Hüllen bar, Du und Du, gegenüberfteht, das ift ihr Gemeinfdaftserlebnis.
Gs bindet und es verpflichtet irgendwie (das fann nun die verſchiedenſten
Gormen annehmen). Im Führer faßt fid diefe Gemeinfdaft gujammen,
ftellt fie fih dar. Wud in ihm wird eine höhere Kraft, ein ftärferes Yiel-
bewußtfein gefühlt. Ueberall alfo haben wir ein Verlangen nad) Wert und
Bindung, die über dem einzelnen find. Erft von ihnen aus erhält die Ginzel-
perjönlichfeit ein neues Geprage, ja einen neuen Sebalt.
Allein gerade dann, wenn der Weg zur Se ftaltung des Gemeinfchafts-
lebens, zu fruchtbaren Leiftungen befchritten werden follte, mußte mit innerer
Notwendigkeit eine Krifig eintreten. Gie ftellt fid dar in der freideut«-
190
[hen Jugend. Man fann von einer freideutfhen Spode ſprechen. Ss
treten neue Kreife in die Bewegung ein. Die älteften Generationen ftehen
por neuen Fragen. Auf der Univerfität, im Berufe öffnet fi das Chaos der
Probleme unferer Welt, unferes Bolfs- und Staatslebens. Kine mächtige
Problematif ſchwemmt über die älteren Kreife der Bewegung Hin. Intellek—
tualismus und Gfepfis dringen ein. Die Kraft zur Gemeinfchaftsbildung läßt
nad. Es war nicht anders möglid. Eine junge Bewegung, die ihren Willen
nod nicht gebildet Hat und Ziele mehr ahnt als fieht, mußte in diefem neuen
Zujammenftoß mit der Kultur erfchüttert werden. Gs blieb in der Tat gue
nächſt nicht viel mehr über als die freideutfhe Autonomie, dieſe {male
Grundlage des „Aus eigener DBeftimmung, bor eigener Berantwortung, mit
innerer Wahrhaftigkeit“.
In diefe Gntwidlungen fdlugen die Wetter des Krieges. Go viele
Führer draußen blieben, fo viele ungeführte Gemeinfdaften fic auflöften —
der Krieg entband neue Möglichkeiten und Kräfte. Die Jugendbewegung ging
verjüngt aus ihm hervor und ergoß fid in immer größere Breiten. Die
Sugend erwadte allenthbalben; denn das DBemußtfein, in Seiten des Bue
fammenbrudes, der Entjcheidung zu fteben, erfaßte immer weitere Kreife.
Das Erlebnis des Krieges und des Bufammenbruds ift begründend für bie
heutige Lage der Jugendbewegung. Damit beginnt eine neue Spode:
Die DugendDbewegung griff auf die großen gefdhidtliden
Madhteunferer Kultur iiber. Gie erfaßt die Ideen, die diefe Mächte
befeelen. Gie ftrebt nad einer Grneuerung diefer Mächte aus ihren Grund—
fräften heraus, indem fie ihnen die Aufgaben unferer Beit borbalt und
die ftarrgewwordenen Traditionen, die veralteten Lebensformen angreift. Wir
haben feitbem eine fatbolifde, eine fozialiftifche, eine proteftantifche, eine
nationale (völkifche, im pofitiven Sinne) Jugendbewegung. (Gs fann bier nur
Darauf anfommen, die Haupttypen herauszuftellen. Gs ift ein Zeichen
unferer Zeit, daß alle Momente, die unfer Volk und feine Geſchichte auf»
gebaut haben, daß alle großen Männer neu erftehen, um als Borbilder zu
gelten, daß alle Gedanken, die in der Luft liegen, leidenſchaftlich ergriffen
werden. So ift es auc) in der Jugendbewegung. — Wir fehen Hier ab von
PBarteijugendgruppen.)
Gs ift nun die Frage, wie fid diefer neue Zufammenftoß mit der Kultur
und mit der Gefdidte — denn bis dahin ift die Bewegung im wefentliden
geſchichtslos geblieben — geftaltet. Gormt ſich aus dem Geiſte der Tugend»
bewegung und aus der geiftigen Welt, in die er eingedrungen ift, etwas
Neues? Wird die Tugendbewegung nicht ihrem Wefen untreu, wenn fie
fih bon den großen gefdidtlid gewordenen und geftalteten Ideen erfüllen
und beftimmen läßt? Hat ihr Geift irgendweldhe Bedeutung für die Gre
neuerung unfers Bolfslebens und feiner Mächte? Das find die großen
wirtliden Fragen, aus denen die fogenannte „Krifis der Sugendbee
wegung“ entftanden ift. Nicht theoretifche Probleme, fondern lebendig geführte
Kämpfe, in denen die großen Bünde und Strömungen mitten darin ftehen. Wer
ihre Schwere erfaßt, wird nicht fragen: was hat denn die Sugendbewegung
nun „geleiftet“? Go fann man beute nirgends fragen, Gs ift alles er-
{[ittert; es muß alles neu werden. „Was wir find, ift nichts; was win
fuden, ift alles.“
2.
Wir wollen feine prophetifhen Ausblide in die Zufunftsmögli d=
feiten tun. Wir haben nur zu fragen, was für Die Zufunft getan
191
werden muß, und mweldes die Fragen find, die Die Gegenwart ung für
die Sufunft ftellt.
Die urjpriinglidhe und unmittelbare Einheit der Bugendbewegung ift nicht
mehr. Gid nad ihr zurüdfehnen, wäre bloße Romantif. Wud die Bue
gendbewegung fann fih nidt herausſetzen aus dem ges
[Hidtliden Werden Die Zuflunftsfragen ftellt die Gee
ſchichte. Indem wir in ihren Orundfräften leben und arbeiten, fünnen
wir felbft Geſchichte werden. Deshalb werden fid aus einem gefdidtslofen
Idealismus, der nur ein allgemeines Kulturideal fieht, Löfungen der deutfchen
Stagen nicht ergeben. Das gilt für eine ganze Anzahl von DBünden, die
feine rechte Stellung zur Wirklidfeit finden können und im Unbeftimmien
ſchweben bleiben. Sie finnten höchftens, fofern fie es jehen lernen, bom
deutſchen Schidjal belehrt werden. Das Schwergewicht fällt auf die
Dünde, die die großen Tendenzen unferer Gefdidte in ji) aufnehmen und
etwas zu ihrer Neugeftaltung tun.
Die Fatholifde Sugendbewegung (auf die Unterfchiede der einzelnen
Bünde einzugeben, ift unmöglih) madt nad außen den gefdlofjenften Gin-
Drud. Gie hat an der fatholifhen Kirche gefeftigte Grundlagen. Gine feine
und reiche katholiſche Frömmigkeit zeichnet fie aus (Erneuerung der Liturgie,
Saframentsmpftikl). Ihre Führer find großenteils junge fatholifdhe Geiſt—
lide. Die „Schildgenoſſen“ find eine der beften Zeitjchriften der Jugend-
bewegung. Die Aelterenfrage ift dort zuerft angefaßt und ein Welterenbund
gebildet worden (wenn aud), wie überall, unter großen Schwierigfeiten). Wir
haben hier ohne Frage eine lebendige Grneuerung katholiſcher Srömmigfeit
bor uns. — Das Wefen des Bolfes ift tief und ſchön erfaßt; allerdings oft
mehr nad) der äfthetifchen Seite. Die Folgerungen für den Aufbau eines
deutſchen Staates werden nicht Elar gezogen. Gs beftebt in der Fatholifchen
Jugend eine ftarfe Spannung zwifchen fatholifchen Konjervativ-Nationalen und
katholiſchen Pagififten. Auch die lebendigfte Anſchauung bon dem orga-
niſchen Lebensreidhtum eines Golfes nütt nichts, wenn wir aus dem Bolfs-
gedanken nicht ftaatspolitifhe Folgerungen ziehen. — Die fatholifche Jugend
findet ihre @rengen an den Grengen der Kirche. Sie Tann nicht anders,
wenn fie im DBollfinne fatholijd fein will. Aber es ift dann die Frage,
ob fie mehr fein wird als eine Renaifjance im Katholizismus, wie es
folde {don öfter gegeben hat.
Der fozialiftifhen Tugendbewegung ift durch den Zerfall des Par-
teifogialigmus eine Lebensfrage geftellt worden. In der „Arbeiterju-
gend“ bat troß des leidenfdaftliden Aufflammens in und nad Weimar
(1920) der Geift der Sugendbewegung fi wohl in den Lebensformen, dem
allgemeinen Stil der Bewegung, aber nicht in der geiftigen Führung durch—
fegen fönnen. Die Madt und die gefdidte Taktif der Parteiorganifation hat
ihn benugt und gugelajfen für das Leben der Gemeinfdaften, aber fie hat
geherrſcht. Das marziftiihe Dogma ift troß Der neuen Bedeutung, Die
der KRulturgedanfe gewann, nicht erfdiittert worden. Anders fteht es in
der ,Sungfogialiftif{men* Bewegung, unter den Aelteren. Der Ruhr-
fampf einerfeits, geiftige Auseinanderfegungen andererjeitS bewirften im
legten Sabre eine neue Gntwidlung. Ueber die Wirklidfeiten der Geſchichte in
Staat und Bolf fonnte man nicht mehr Dinwegfeben. Gine nationale Strömung,
die über Laffalle zu Fichte zurüdging, wurde ftärfer und ftärfer. Heiße
Kämpfe tobten innerhalb der Bewegung. Gs ift die bedeutfame Wendung
pon einem rationaliftifhen, materialiftifhen Sozialismus zu einem So—
192
gialigmus Der fittlihen Gemeinſchaft. Der Weg gum deutſchen Staatsge-
danken ift offen.*) — Wie der Kampf ausgeben wird, ift nod nicht zu jagen.
(Gine verwandte Entwidlung ift in der demofratijchen Jugend zu beobachten.)
Die völfif He, nationale Jugendbewegung fommt bon zwei Geiten
ber: bon einem neuen Verftändnis des Volkes (aus dem Wanderpogel Her
nad dem Kriege fräftig und tief in der jungdeutfhen Bewegung entwidelt,
im Gegenfage zu den Sreideutjchen, die fic entweder fogialiftifd oder liberal-
demofratifch einftellten) und bon nationalftaatliden Traditionen (im Bue
fammenbange mit der allgemeinen nationalen Bewegung). Gs ift ihre Auf-
gabe, dieſe großen Ueberlieferungen innerlid neu zu geftalten. Trotz des
Grenglandfeuers im Fichtelgebirge fehlt ihr noch immer die Ginbeit, deren
fie bedarf — die die vielen $ormen nicht vernichten, fondern umfchließen
foll. Gs fehlt auch hier die große geiftige Grundlegung der nationalen Idee,
die in der gefamten nationalen Bewegung vermißt werden muß. Bon der
fraftpollen Einheit in einem. Öeifte ift alles andere abhängig. — Bon der
bloßen, gefühlsmäßig erlebten „Volksgemeinſchaft“ ift aber eine Gntwidlung
zu einem gefchichtlih begründeten deutfchen Staatsgedanfen im Gange: Der
Staat wird wieder als die Willenseinheit des Volkes gefehen und feine Macht
als notwendig erfannt. Allein in der Gorm des Staates gelangen Beruf
und Sendung eines Bolfes zu lebendiger Wirkung. — Diefe Gedanken hat
bon je der Sungnationale Bund verfodten. Der Deutfchnationale Sugend-
bund bat mehr und mehr bom -Leben der Jugendbewegung angenommen;
feine geiftige Struftur ift der gleichnamigen Partei verwandt. Daneben
fteben die Wanderpogelverbände, die Ringpfadfinder, die Neupfadfinder,
der deutjche Pfadfinderbund, die Adler und Falken. In den Wandervogel-
bünden und bei den Neupfadfindern ift der Zufammenhang mit der Deutfchen
Sefdidte noch nidt da und die Grfenntnis der nationalen Notwendigkeiten
bielfad) nod nicht über die Romantik des Volkserlebniſſes hinausgedrungen.
Die proteftantifde Jugend tritt für den erften Wnbli€ noch mehr
aurüd, hat aber diefelbe Bedeutung zu beanfpruchen. Sie beſitzt diefelbe Biel-
geftaltigfeit mie der deutſche Proteftantismus überhaupt. Sie bedarf por
allem einer ftärferen Beziehung auf die Arbeit in der Kirche und der Gre
neuerung der Kirche, wenn fie den Proteftartismus bon innen Der zu ere
neuern ftrebt. Am ftärkften ift der Geift der Sugendbewegung im „Bund
- Deutfcher Sugendbereine*. Wir haben bier überhaupt meiftens ältere Orga-
nifationen bor ung, Die bon der Jugendbewegung erft langſam erfaßt wor-
den find. Daber ift der Prozeß der Verſchmelzung des Geijtes der Jugend
mit den Wefenstraften des Proteftantismus noch nicht fo ftark und flar her—
borgetreten wie bei anderen Strömen der Bewegung. Im ange ijt er auch
bier. Innerhalb der Welt des Proteftantismus hat die evangelifche Tugend
in der Kirde die Aufgabe, neue Gefdledter ihr zu gewinnen, fie in
ihrem Geifte religiös zu erziehen, und in der Jugend, entjcheidend in die
Krifis der MWeltanfhauung einzugreifen. Wenn fie nidt bon Anfang an
die repolutionäre Kraft der eigentlihen Sugendbewegung bejejjen bat, fo
wird Doch ihr Ausgang bom Innerft-Religiöfen fie befähigen, entjcheidend
mitzuwirken, gerade weil fie (vor allem etwa feit 1883, der Entſtehung
der Dibelfreife) eine eigene Gntwidlung gehabt hat.
*) Bgl meinen Auffa „Nationaler Sozialismus?“ im Gewiſſen Wr. 52
pom 24. 12. 1923.
193
3.
Die Einheit der Jugendbewegung liegt in ihren Lebensformen und dem
Lebensgefühl, das fie durchzieht: Träger einer „neuen Zeit“ gu fein.
Dazu fommt Heute allenthalben ein tieferes Verſtändnis für die Ginbeit
und das Wefen des Bolfes, für feine entfheidende Bedeutung und Wire
fung auf das Leben des einzelnen. In diefem Erlebnis findet man fid.
Allein, es ift far, daß beides den Beftand und die Zufunft der Nation
nod nicht verbürgen, halten und geftalten fann. Die Stellung zur Gee
ſchichte unferes Volkes, die lebendige, fchaffende Aufnahme feiner
geiftigen und politifhen UWeberlieferungen, das ift eine der Zufunftsfragen
an die Sugendbewegung. Der Hiftorismus ift überwunden. Aber wir find in
Gefabr, unbiftorifh gu werden. Gs darf nicht bei dem ftimmungsmäßigen
Einfluß etwa des Mittelalters auf die Jugend bleiben. Gin großes Geſamt—
bild der deutſchen Gefdidte, ihrer entjcheidenden Kräfte, Menſchen und
Bewegungen, muß fie erfüllen. Sonft bleibt fie in romantifher Wiederholung
bon Sedanfen und Stimmungen oder in einem utopifhen Kulturidealismus
fteden.
Das zweite ift die Stellung zum Staat. Nicht zum gegenwärtigen, fon-
dern zum zufünftigen. Spengler fordert mit Recht nüchterne und harte poli—
tiſche Arbeit: Kenntnis der Grundlagen eines Staatslebens, der mweltpoli-
tiſchen Probleme ift nötig. *) Das Bdealbild des fommenden „dritten“ Reiches
muß mit der politifjhen Wirklichkeit in Beziehung geſetzt werden. Einzelne
in der Jugend beliebte Gedanken, wie die vom Ständeftaat, der Ueberwindung
der Parteien, der Golfsgemeinjdaft, find bon Reffentiment und Sentimene
talität gu befreien. Auch die großdeutfhen Schlagworte haben in der Jugend
ungeheuer viel Utopifhes an fid. Zu verfennen ift natürlich nicht, daß
die Kämpfe in den Grenglandern, an Rhein und Ruhr diel dazu beitragen,
die Erkenntnis Mar und nüchtern zu machen. — Bor allem aber muß Die
Jugend fi zu dem Gedanfen des nationalen Staates befennen, der Lebeng-
träger und geftalteter Wille des Bolfes ijt, in dem fich fein Betwuftfein
bon feinem Gigenwert und feinem Menfchheitsberufe verkörpert. Gs gehört
nod) eine ungebeuere Arbeit dazu, das in die Herzen zu prägen und zur
Lebenskraft jedes einzelnen zu maden. Die Begeifterung für den GFreibheits-
fampf ift echt und gut. Allein wie fdnell fann friegerifcher Gnthujiasmus
perraufden, und was war das politiihe Schidfal der Jugend, die in den
Greibheitstriegen focht, obwohl damals Männer hoher Genialitat und Kraft
führten, die heute noch nicht erfdienen find? — Gs bedarf alfo einer langen,
ausdauernden, gründlichen nationalen politifhen Arbeit und Selbftergiehung
der Jugend, ehe fie die Schiht im Bolfe ift, auf der das Volk freudig
feine Zufunft ruben fiebt.
Diefe Aufgaben hängen mit der foziologifhen Lage in der Jugend zu—
fammen. Durd alle ihre Bünde hindurch geht zur Beit Die fogenannte
„Aelterenfrage* Gs handelt fid) darum, daß den älteren Menfchen
gegenüber, die in die Pflichten und Aufgaben einer Lebensarbeit eintreten,
viele jugendlihe Formen ihre unbedingte Giltigfeit verlieren. Sollen fie den
gemwöhnlihen Weg, den die Jugend als den des Philifters bezeichnet, geben
und die Ideale ihrer Jugend als trügende Wunfchbilder über Bord werfen?
Sollen fie ewig Siinglinge und Mädchen bleiben, „ewige Wandervögel“?
*) Die politifhen Pflidten der deutfhen Tugend, Deutfhe afademifhe Stimmen
pom 22. 3. 1924, Solge 25.
194
Gs gibt aud nod andere „Ewige“! Bielmebr ift die Frage, ob der Geift
der Sugendbewegung in ihnen ftarf genug ift, im „Leben“, im Berufe fid zu
bewähren und durchzufegen. Ob er den Wirklichkeiten gewadjen ift! —
Diele Bünde haben erkannt, daß die Aelteren nicht auf den nachwachſenden
Generationen der Jüngeren laften dürfen. Man geht daher an die Bildung
bon Qelterenfreifen und -bünden mit der Ginftellung auf Die Sragen bes
Berufes ufw. — Die Verſuche, etwa in der völkiſchen Sugendbewegung alle
Aelteren in einer Gliederung zufammenzufafjen, find verfrüht gewefen und
Daher gefcheitert. Se lebendiger, ftärfer und eigenartiger die einzelnen großen
Bünde find, defto weniger finnen und dürfen fie daran denken, ihre Aelteren
einfach auszufheiden und ins bloße Nichts zu entlafjen. Gs ift alfo das
Biel gefest für die Bünde, zugleich möglichft gefchloffene Stoftrupps Aelterer
in das Leben des Bolfes zu entfenden und die Graiehungsarbeit an den
neu Hingufommenden Siingeren fortzufegen, die im einzelnen nicht einfachen
Probleme diefer fortdauernden Sdhidtung zu überwinden. Gs gibt und wird
da heftige Kämpfe geben. Solange die Idee eines Bundes lebt und wirkt,
fann diefe Arbeit gelingen. Die Notwendigkeit der Zufammenfafjung foll
nicht geleugnet werden. Aber ein allgemeiner Sammelbrei ift unfinnig. Gnt-
{heidend ift die Gortentwidlung der größeren Bünde, die Charakter und
Einheit in fic felbft befigen.
Wir müffen endlid, wenn wir die Zufunftsaufgaben der Sugend ganz
verftehen twollen, auf eine nod) tiefere Schicht guriidgeben: die lebte der
menfhliden Wirklichkeit überhaupt. Die Krifis der Sugendbewegung ift eine
Krifis der Welt- und Lebensanfchauung, eine religiöfe Rrifjis.*) Romane
tif, Moftif und Idealismus — und fie haben bisher in der Weite und
Dreite der Jugend geherrſcht — haben ſchwere Grfdiitterungen erlitten. Das
Reid, das nit oon diefer Welt ift, ift nur dann überlegen, wenn es
Gottes Reid ift. Allein eine aus der Ziefe erneute Frömmigkeit, die
nicht nur ©efühle, Grlebniffe und Ideale fennt, fondern aus einem weltüber-
Iegenen Glaubensgrund zum Handeln fommt, eine Wiedergeburt aus dem
einzigen wirklich heiligen ©eifte, den nur Gott gibt, fann das Chaos der
Stimmungen und Meinungen, an deren Ehrlichkeit und ftarfem Suchen nicht
zu zweifeln ift, durchdringen und überwinden. Hier find große Aufgaben der
religiöfen Sugendbewegung. Sie muß das Gewiſſen und die Mahnerin aller
Sugend fein und ihr in der letzten Tiefe jene Einheit geben, ohne die Die
Sille des Lebens verraufht und die Bielheit der Gormen fcheitert und
birft, — das Gericht und die Erhebung aus lebendiger Erfahrung des Gottes,
der die Macht und der Geift der Gefdidte ift.
Heinz-Ddietrih Wendland.
Die Bedeutung der Pfitznerſchen „Romantijchen
Kantate bon deutjcher Seele“
für die deutjche Mufik.
8 geht wohl anders, als du meinft,“ diefe Anfangsworte feines Textes
find dafür ſchickſalweiſend geworden, in welder Weiſe Hans Pfitner
bei der Beurteilung feines neueften Chorwerkes fahren follte. Hatten fid
*) Bgl. das Nähere in meinem Auffat ,Oeift und Glaube. Zur Frage Sue
Er eee Religion.“ DBannerträger, Beitidrift des Sungnationalen Bundes, 1923
tr. 11.
195
{don an die Durchſetzung feiner (oder feiner Freunde) Idee der Namens-
gebung diefes Werkes alle möglihen Hemmnijje gefnüpft, jo jollte dieſes
Werk felbft dem Gefdid verfallen, als reines Konzertftüd unter vielen
taufend anderen gewogen und bier und dort jogar als nicht gewidtig genug,
empfunden zu werden. Aber feltfam: diefe Be- und teilweife Berurteilungen
gingen nun gerade den umgefehrten Weg und betrachteten die Kantate wieder
rein bom äfthetifchen, pom literarifchen, ja jtellenweife bom politifchen Gee
fidtspuntte aus. Sie liefen damit entgegen der Theſe des Meifters felbit, die
er in einer Nidtadhtung feiner eigenen Interefjen ausſprach, wie fie nur echte,
glühende Uebetzeugung bervorbringen fann, der Theſe von der alleinjelig-
madenden Kraft des muſikaliſchen Ginfalls gegenüber der „philoſophiſch
literarifhen ®ejamtidee*. Wenn wir wirklich von einer „gefellfchaftsbildenden
Madht und von einer Weltgeltung der deutfchen Mufif“ im Grnfte reden
wollen, fo bat Pfigners Werk dod oon fic aus Anjprud auf eine Wertung
nad) folder Seite Din. Ihre Urauffibrung in der deutſchen Reidshaupt-
ftadt, ihre weitere Grftauffibrung in der Schweſterhauptſtadt Wien, in der
Metropole des Heute mehr als je fulturell bedrohten Weftens, in Köln im
Rahmen der weit und breit berühmten ſommerlichen Mufikfefte, in Eſſen,
dem heute lebenswidtigften Landgebiet des Reiches, in Leipzig, wo der
Danfbare und meitfchauende Univerjitätshor St. Pauli den Komponiften
wie den Ghorleiter Karl Straube in die Reihe feiner Ghrenmitglieder wählte,
die Namen wie Brahms und Schumann zieren, all das bleibt äußeres
Beiwerk und halbes Stüdwerf, wenn nicht die Geſamtheit der deutjchen Kul—
turwelt den Sinn und Inhalt der Kantate als eines über Gelegenheits- oder,
wie man heute angefidts der fulturwidrigen Jagd nah „AUraufführungen“
fagen möchte, über Saifonswert ftehendDen Opus erfaffen will.
Man hat in dem Titel diefer Kantate fdon für fid) genommen eine Art
mufifalifh=fünftleriijher Polemik Pfitners fehen wollen. Und man vergaß
Dabei Doch zu bedenken, wie jehr es eben heute not tue, fic feines bißchen
Deutfhtums bewußt zu bleiben, das aus dem Bufammenbrud der jüngften
Beit gerettet ift. Bu der bisher nicht anders gefannten Sonderart des Deut-
jen, fid im Auslande feiner Heimatliden Gigenart zu ſchämen und nad
tajdem Anfdluf an das fremde Bolfstum zu ftreben, ſcheint nunmehr eine
zweite fommen zu wollen: die, foldhe Selbftdemütigung im eignen Lande vor—
zunehmen. Der Hans Pfigner innerlich naheftehende Thomas Mann bat in
feinen „Betrachtungen eines Unpolitifhen“ vor längerer Zeit ſchon mit jenen
Neftbefchmugern abgerechnet, aber was will das jagen, wenn fic einer
unferer angefebenften Dichter zu der Bemerkung Hinreifen ließ: „Ich fühle
mid nicht mehr als Deutfcher, fondern als Europäer.“ Haben andere deutjche
Meifter ebenjo gefproden, ſolche vielleiht gar, deren Ruhm noch diel mehr
im Auslande begründet wurde als derjenige diejes ihres feltfamen Nad-
fommen, etwa Beethoven, Mozart, Wagner, Schiller? Bon einem Gedanfen-
austausch der großen und freien Geifter einer Zeit ijt ja nod ein meiter
Schritt bis zur Selbitentäußerung des eignen Bollsempfindens. Iſt es nicht
mehr als ein Zufall, wenn demgegenüber bei einem gottlob nicht geringen
und unwichtigen Seile unferer fchaffenden Jugend fich das Beftreben geltend
macht, deutfhe Dichter bon neuem der Gegenwart wiederzufchenfen, die frei
waren bon jenem irren Weltglauben, an dem wir anjdeinend ein zweites
Mal fcheitern follen: wenn Grabbe, Hölderlin zu unerhofften Ehren erwachen,
wenn Männer der reindeutfhen Geſchichte pon Pichtern der Gegenwart in
den Mittelpunft poetifchen Gefdehens geriidt werden: ich denfe an Fri von
196
Unruhs „Prinzen von Saalfeld“, an Hanns Iohfts Lutherdrama „Propheten“.
Uber: Autoritätsglauben ift in unferer angeblich jo gedanfenfreien Zeit die
Devije. Und wenn Richard Sternfeld in feinen „Mufifalifchen Skizzen und
Sumoresfen“ fo amüfant den Zornesausbruch Beethovens gegen die ,,Beet-
bovenmode“ des Tages wettern läßt, fo ließe fic) auf Dichterifchem Gebiete
ein ©egenftüd dazu liefern in einem gleihen Ausfall Goethes gegen die
Soethemanie unferer Gpodhe. Dazu gehört ja auch der Sat bon der ,Gr-
Habenbeit des Schaffenden über die Politif“, womit man aber tatfächlidh ver—
fteben midte: über die Fragen, die fein Bolf außen wie innen bewegen, und
die in ihrer Mehrzahl doch eben diefes Bolfstum angeben. Pfigners Wahl
Eichendorffſcher Texte ift darum mehr als ein Zufall, nicht nur, daß er fid
bon jeher zu diefem Dichter Hingezogen fühlte, macht den Kern der Gace aus,
denn es ift mehr Folge als Urjadhe. Aber es fann fein Zufall fein, daß das
lyriſch mufifalifhe Schaffen der neueren Zeit bon der Bertonung folder im
engften Sinne deutfher Dichter ausgegangen ift: Heine, deffen Deutſchenhaß
feiner mehr als Pfigner als den Ausfluß verlegter Viebe erklärt, Mörike,
dem Hauspoeten Hugo Wolfs, und Storm, zu defjen Verſen feiner fchönere
Gingebungen fand als Brahms, fie alle find neben Gidhendorff die Nothelfer
der deutfchen muſikaliſchen Romantit und Nachromantif geworden. Was an
ihnen allen fpezififch deutfch erjcheint, das ift beileibe nicht das Kleinbürger-
liche, welches ihnen hier und da ein überfluger Alleswiffer anbangt, fondern
etwas ganz anderes: Guido Adler, der Wiener Mufifgelehrte, Hat einmal
mit Recht darauf Hingewiefen, daß nichts verfehrter fei als die allgugetreue
Anwendung des befannten Scillerverfes bon den „bauenden Königen und den
dadurch befchäftigten Kärrnern“. Im Gegenteil läßt fic hiſtoriſch nahmeifen,
daß gerade die „Könige“ der Kunft fehr wohl Sntdedungen der fleineren
Geifter anerkennen und fogar für ihre eigene Arbeit übernehmen. Aber:
nod) mehr: diefe fogenannten ,,fleineren Götter“ beberrfden fehr häufig ein
Sondergebiet, das den Königen fern und fremd bleibt. So bat feiner je die
Sphäre des Ueberjinnliden in gleich ſeheriſcher Weife erfannt und geftaltet,
wie Hebbel, der Dichter des „Heidefnaben“. Und Pfigner wies einmal mit
Nahdrud auf jenen der bon ihm verwendeten Gichendorfffhen Spriide hin,
der in feiner erdhaften Myſtik ohne Beifpiel ‘ei: „Der jagt dahin, daß die
Roffe fchnaufen, der muß im Staub daneben laufen, aber die Nadt Holt
beide ein. Setzt jenen im Sraume neben die Roffe und den andern in feine
Karoffe. Wer fährt nun fröhlicher: der da wacht oder der blinde Paffagier
bei Naht?“ Das ift freilich eine Myſtik anderer Art als die mimofenbaft
literariſche Maeterlinks, deutfh, weil aus deutſchem Naturempfinden er»
wadfen und, weil fie echt ift, darum aud „weltgeltend“ im weiteften und
beften Sinne.
Aber man wendet ein: „Pfigner ift gar nicht der Gichendorffinterpret, der
er zu fein glaubt. Ihm hängt an die Bewußtheit des modernen Nerbden-
menfden, bie jenem fremd blieb, ihm fehlt die fatholifche Selbftaufgabe, die
jenem eigen war.“ Wer wagt bier den Richter zu fpielen? Gtwa Der
Dichter felbft? Grblidte nidt Goethe in dem inferioren Zelter „feinen“
Dichter, Lenau in dilettierenden Zeitgenoffen die ihm fongenialen Geifter? Sind
es nicht pielmebr immer nur gewiffe Gingelgiige, welde der Mufifer am
Didter als ihm mefensperwandt erfennt und zu ‘freier nachfchöpferifcher
Tätigkeit mitwirken läßt, fo wie Beethoven das ,,maeftofe* Klopftods zu
einer Zeit bewunderte, als er der Anmut feiner Borgänger das Pathos feiner
eigenen Sonfprade hinzufügen wollte. Gudte Hugo Wolf, der Bewunderer
197
Wagnerſcher Riefenmaße, bei dem didtenden Landgeiftliden Mörife mehr
als die Innigfeit und Naturfrifche, die er aud in feiner Mufif anftelle der
„Sreibhausatmofphäre* Wagners zu fegen ftrebte? Aud Pfigner wollte
feine Umkehr von der fafralen Grhabenheit Paleftrinas gu engromantijcher
Tonſprache ins Allmenjchliche. Derfelbe Drang, aus der Welt des Reinperfön-
liden, wie fie nod im Paleftrina borwaltet, in diejenige des Allgemein-
menfdliden durchzuführen, war es aud, der Pfitner zu der Wahl eines
choriſch⸗ſoliſtiſchen mufifalijhen Borwurfs ftimmte. Das Problem unferer
geit: das Bollschorwerf, an dem fick ſchon fo mander dberfudt, mußte einen
Mann wie ihn befonders reizen, der fid) des ethiſchen Wertes feiner Runft
bewußter ift als jeder andere. Was Hermann Bilder mit feinem Bolks-
liederfpiel in fleinem Rahmen angebahnt, das wollte Pfigner in größerem
Mafjftabe geben: die Bereinigung bon Gmpfindungen des einzelnen wie der
Allgemeinheit. Damit war freilich aud der Keim gelegt zu jener angeblichen
»Unausgeglidenbeit und Unklarheit des Gefamtaufbaus“, die heute dem Tone
dichter bon jo mandem Kritifer tadelnd vorgehalten wird: der erfte Teil gibt
in Naturbildern und Naturphilofophie Gedanken, die uns alle bewegen, der
zweite fet zunächſt dieſe Ideenrichtung fort, um in feiner legten Hälfte,
dem „Liederteil* zu einzeln voneinander fic) abhebenden Stimmungsbildern
reine Lhrif gu geben. Sreilih: aud bier wird der Zufammenhang mit dem
allgemeingültigen Inhalt des übrigen Gefitges durch Horifhe Einfchaltungen
feftgebalten, fo dur den „Spruch“, den „Singehor“ und den hymniſchen
Schlußgefang. Wenn man demnad) bon einer Spaltung des gefamten Werkes
in lyriſche und choriſch-philoſophiſche Seilftiide reden will, jo wäre bas ein
Borwurf, der jedes andere ähnliche Werk treffen müßte, folange es nicht
bon einer einheitlichen, das ganze bindenden Handlung hiftorifcher oder bib-
lifer Art getragen wird. Durd die Fefthaltung der Einheit der Didter-
perfönlichkeit ift Pfitzner jedenfalls jener Gefahr ausgewiden, in die Wal-
demar bon Bauffnern mit feinem „Lied bom Leben und Sterben“ rettungslos
verfiel, als er fi) Texte der verfchiedenften Didternaturen gu einem ,,@angen“
gufammenftoppelte. °
Wenden wir uns zu der rein fünftlerifch-mufifalifhen Leiftung: entgegen
der Meinung derer, die Hier ,,Paleftrinareminifgengen* aufftöbern, dürfen
wir, ebenfo wie bei der Biolinflavierfonate Pfigners ein Abbiegen bom
archaifierenden Stil jenes Bühnenwerks (d. b. in feinem 1. Alt, wo dies ſti—
Kiftifch und Hiftorifeh bedingt war!) feftftellen. Selbft in dem dem Liederteil
angehörenden Ordefterlied: „Die Nonne und der Ritter“ ift bon einer ftarren
Arhaifierung feine Rede: die Chromatik ift bier durhaus wie ſonſt be-
berrfchend, nur fteht fie im Banne einer Freiheit der Stimmführung, die im
„Baleftrina“ erft angebabnt, zum neuen Stil Pfigners gu gehören fdeint,
toorauf auch feine foeben erfdienenen Lieder nach Heine, Goethe uf. deuten.
Ihren Höhepunkt erflimmt diefe Souveränität der Linie in dem Ordefter-
zwifchenfpiel „Ergebung“, wo an Rüdfihtslofigkeit der Einzelftimmführung
guungunften ftebendDer Harmonie wohl das äußerſte erreicht wird, eine Aeber-
rafhung für alle jene voreiligen Gefdhidtsmader, welde den Romponiften
des „Armen Heinrich“ und der „Rofe vom Liebesgarten“ jo gern im Schub-
fad „Nahromantif“ untergebracht hätten, und die jest erfennen müffen (wenn
fie es nur wollten), daß der „alte Zauberer“ es noch mit den Singften, den
„Melos“-Leuten aufnehmen fann, mit dem einzigen Unterfdiede, daß fein
Muſikmachen getragen wird von einer glühenden Sinnlichkeit, wie fie im
Ordefterlied „Der alte Garten“ Sriumpbhe feiert bei den Seztworten: „Da
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gibt es einen wunderbaren Klang“, wo zu der führenden ſehnſuchtsvollen
Streidhermelodie, den üppig weitfhwingenden Blaferbarmonien fid im tiefften
Baf ein Glodenton gefellt, eine Stelle bon überwältigender Klangpradit.
Meberbliden wir furz das ganze: „Menſch und Natur“ heißt der erfte
Zeil des Werks. Gr beginnt mit einer nachdenklichen Betradtung des
Dichters: „Es geht wohl anders als du meinft, derweil du rot und fröhlich
fcheinft, ift Leng und Gonnenfdein verflogen, die liebe Gegend ſchwarz ume
zogen.“ Pfigner läßt diefe Worte bom ALltfolo bezeichnenderweife zur
gleihen Melodie vortragen, die. am Schluffe des Werkes bom Chor und
Soliftenquartett vereint erklingt zu den aufrüttelnden Worten: „Faß das
Steuer, laß das Zagen“, eine ,Leitmotivarbeit* fchönfter, tieffter Art!
Gon ber Idee der „Gegend“ ifts nur ein Schritt gu der einer ,Lebens-
wanderung“, die in den nun folgenden Stüden zum Ausdrud fommt: „Was
willft auf dieſer Station fo breit dich niederlaffen, wie bald nicht bläft der
Boftillon, du mußt dod alles laffen. Kaum bat der Senor diefe mahnenden!
Worte ausgefproden, da fegt im Orchefterzwifchenfpiel der „Zod als Poe
ftillon“ vorüber, fein fehmetternder Gignalruf, von Beitfchenfnallen unter-
broden, Elingt bald fern bald nab durch das Jagen der Streicher. Wieder
nimmt Der Golift feinen Gprud auf und wendet die Stimmung ins Geho—
benere: „Allwärts fröhliche Gefellen trifft der Grohe und fein ®lüd.* Gee
danfen, bie uns den Dichter der Wanderburfchenpoefie wieder in Erinnerung
Bringen und an die gleide Poefie der „Menſchenwege“ bon Waldemar
Bonjelg denken laffen. Soliften und Shor vereinigen fid) zu einem Kanon
bei den Worten „Sinkt der Stern, alleine wandern magft du bis ans Gnd
der Welt, bau du nur auf feinen. andern, nur auf ©ott, der Treue Halt.“ Der
Solobaffift, gefolgt von der GSopraniftin, Iacht über den draußen tobenden
Sturm, der im Ordefter höchſt amüfant wiitet, um in Piccolo und Bafe
Harinette zu vertlingen. Gin wundervolles Zwifchenfpiel für Flöte, Harfe
und Horn malt den Frieden des Abends, wobei das Sneinandermiinden fern-
fliegenden Alforde in feherifcher Weife jene Stimmung wiedergibt, die Dehmel
einmal treffend fennzeichnete „Das Gewohnte wird fonderbarer.* Die „Nacht“
fließt fid an: ein Shoral der Pofaunen, Hörner und Trompeten fingt fid
zart aus. Ganz genial ift bier das ,iUmbdieedeflingen“ der abendlichen
Zurmbläfer getroffen: die Trompete gibt ganz leife den „Ton daneben“ nad
der befannten Beobadtung, daß in der Ferne jeder Ton „abrutſcht“. In die
legten Choralflänge trillert die Lerhe ihr Lied. Der Sopran fingt „Die
Lerde grüßt den erften Strahl ... und du willft Menfchenkind der Zeit ver»
gagend unterliegen? Was ift dein Kleines Grdenleid, du mußt es überfliegen.“*
Zur Lerche gefellt fid der Godelhahn, der ganz Föftlih nad den Studien
des Meifters in feinem bayerifhen Dörfchen am Ammerfee porträtiert ift.
Der Shor gibt ein Marfdlied „Und die Stern ziehn bon der Wade, Gott:
behüte Land und Haus,“ wozu im Ordefter in vergrößerter Gorm der
Hahnenſchrei humorvoll Hineingellt. Was nun folgt, ift ein Schlußgefang,
gang analog dem des Gefamtichluffes: den Worten an diefer Stelle ,Gwig
muntres Spiel der Wogen, viele haft du fehon belogen, mancher fehrt nicht
mehr zurüd. Und dod wedt das Wellenfdlagen immer wieder frifches
Wagen“ entfpridt der Schlußtert nad dem zweiten Zeil „Aufgerollt bat
Gottes Hand diefe Wogen zum Befahren und die Sterne did) zu wahren.“
In die legten Sezgtworte ,mander fehrt nicht mehr zurüd“ klingen plößlich
wieder die Harfenafforde der „Abendmufif“. Der Golotenor fpridt von
einem Schiffer, der in Meereseinjamfeit in den Sternen die Rätfel der Nacht
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lieft, und {don bebt im Chor der „Nachtgruß“ an, ein Choral, wie ihn
fongenialer faum ein [chaffender Mufifer nachgefchrieben: „Weil jeto alles
ftille ijt und alle Menjden jchlafen, mein Geel das ewge Licht begrüßt, ruht
wie ein Schiff im Hafen.“ Nachgebildet ift die Melodie dem Nadtdoral,
pradtooll der leere Quintenfall der Oberftimme bei den Worten „ftille ift“.
Das Solijtenquartett führt in breiter Steigerung den Schluß diefes großen
Abſchnitts herbei gu den Sezttworten „Gin andrer König wunderreid zieht
herrlich ein im ftillen Reich, befteigt die ewigen Binnen.* Pfitzner läßt bier
jeden der vier GSoliften nacheinander eine glänzende Schlußfoloratur into»
nieren, die fid im Sopran bis gum hohem c aufjdwingt.
„Leben und Singen“ nennt fid) der nun folgende zweite Hauptabjdnitt.
Das poetiſche Motiv des Wanderns beherrſcht auch den Muſiker: einem breiten
inftrumentalen DBorfpiel folgt ein weitgefponnener Chorſatz zu den Worten:
„Wir wandern nun viel hundert Sabr und fommen doch nicht zur Stelle.“
Ein einziger, ſcharf afzentuierter Rhythmus trägt das ganze, im Baffe
„wandert“ es müde abwärts, im Distant hebt fid eine gleihe Gangbewegung
und zieht abwärts durd die Mittelftimmen. Wud im Chor fest zunächft der
Baf: allein ein, fanonifd imitiert von den übrigen Stimmen. Zu maje-
ftätifcher Klangfülle ſchwillt Orchefter und Shor an bei den Worten „Der Strom
wohl raufht an die taufend Sabr und fommt Dod nicht zur Quelle“, eine
Partie von ähnlicher innerlidher wie fünftlerifher Wucht, mie Brahms fie im
Schidjalslied gegeben. Das Ordefter verebbt im Orgelpunft, und nun fett
der GSolotenor ein: „Was id wollte, liegt zerfchlagen.“ In fammermufi-
falifher Beſetzung, faft nur auf Holgblajer geftügt, beginnt das Zwiſchenſpiel
„Grgebung“. Gin Motiv der Demut im Kampfe mit dem des eigenfinnigen
Borwartswollens, eine Muſik Herbfter Reibungsdiffonangen ausflingend in
einer wundervoll tröftenden Ausgleichung der beiden. Bedenfdlag und
Paufendonner reißen uns jedoch rafd aus dem Griedenstraum: „Der jagt
dahin,“ das ſchon einmal zitierte Gedicht bildet die Unterlage für eine wahr-
Haft gejpenftiih „wilde Jagd“. :Schellengeflingel und Peitſchenknallen malt
den ftolg in feiner Karoſſe einberfabrenden „Slüdlihen“, Harfen die alle,
Reihe wie Arme ins Nichts guriidftofende Naht. Ganz genial mutet jene
Stelle an, da Pfitner die Textworte „Wer fährt nun fröhlicher, der da wacht
oder der blinde Paffagier bei Nacht“ fo deflamieren läßt: „oder ..., oder ...“,
alfo kurze Paufen einfchiebt, wobei der gefamte Chor wie gebannt auf einem
einzigen Sone haftet. Wieder brauft die Sagd, fie verflingt in den Solo—
gefang des Baffes: „Bleihwie auf dunflem Grunde ber GFriedensbogen
blüht, fo durch die böfe Stunde verföhnend geht das Lied.“ Wieder ſchwelgen
Harfe und Horn in geheimnispollen Klängen und geben den fchönen eber-
gang zum „Lieberteil“, der Schlußpartie des Werkes. „Der alte Garten“
zaubert ung vergangene Seiten im Bilde einer mit der Laute in der Hand
im arf eingefhlummerten Grau. Wir denfen an Schumanns Lied oom
Ritter, der auf der Lauer eingefchlafen die Jahrhunderte überdauerte. Nur
ftrebt Schumann mit feiner ftarren Paffacagliabegleitung (ähnlich Schubert im
„Doppelgänger“) öde Herbftftimmung an, Pfigner dagegen ſchenkt uns üppig-
ften fommerliden Wohllaut. Der Chor fingt feinen ,Sprud“: „Bon allen
guten Schwingen, zu breden durd die Beit, die madtigfte im Ringen das
ift ein rechtes Leid.“ In den offnen Quartfeztafford des Geſangsſchluſſes
Hingt ein Wiegenliedmotiv der Streicher, das zum nadften Orcheftergefang
der „Nonne und dem Ritter“ überleitet. Das alte Thema vom Lebensvere
gidt der geweihten Frau fingt diefes Duo zwifhen Alt und Tenor. Bu dem
200
leifen Saufen des Windes gefellen fid) ſchwere Pofaunenafforde bei den
Worten des Ritters, der pom Kreuzzug beimfehrt und das Schloß der Gee
liebten verlaffen und verfallen findet. Wieder will er ins heilige Land ziehen,
feinen Schmerz begraben. Die Mufif malt furz das Bliken des Kreuz.
fabrergugs. Der Chor flüftert in rätjelhaften Quartengängen: „Geht ein
Schiff, ein Mann ftand drinnen,“ die Nonne Hagt „Welt ade, Gott woll bee
wahren, die nod irr im Dunkeln fahren.“ Die Orgel präludiert aus der
Gerne. Aber auch bier ftoßen die Stimmungsgegenfäge Hart aneinander:
der Chor fährt fort, wie Kinder im Hüpfen und Springen trällern: „Wohl
por lauter Singen, Singen fommen wir nidt recht gum Leben, wieder ohne
rechtes Leben muß zu Ende gehn das Singen.“ Der Solofopran mahnt furz:
„zeben! Haft du dod Flügel eben und das gewaltge Wort. Halt hod did
über dem Leben, fonft gehts über dich fort!“ Der ,Griedensbote* beginnt
feinen Abgefang: wie ein freundlicheres Gegenftüd zur Begegnung der Nonne
und des Ritters erklingt bier ein Ständchen des fiegreid aus dem Kriege
beimfehrenden Geliebten: „Schlaf ruhig, das Land ift ja frei.* Wie das
©aloppieren des Pferdes Happert ein ungeftümer Begleitrhythmus, und ein
feuriger Militärmarfch gibt den finndollen Uebergang zur Gndpartie, dem
„Schlußgefang“: „Wenn die Wogen unten toben, Menjchenwig gu Schanden
wird, weift mit feur’gen Zügen droben heimwärts dich der Wogen Hirt. Sollft
nad feinem andern fragen, nicht zurüdihaun nad dem Land, faß das Steuer
laß das Zagen! Aufgerollt Hat Gottes Hand diefe Wogen zum DBefahren
und die Sterne did) zu wahren!“ Gin riefiges „Rollmotiv“ gibt das Bild
der unabjehbaren Wogen, dazu tritt als treibende Kraft das Motiv des
energifh Gidaufraffens, das fdon in der Ginleitungsmufif zum ganzen
aufflang, als drittes endlich eine ſchwungvolle Gebarde des „Sichaufrichteng“,
bie die Hauptftüge der Schlußmelodie bildet. Soliftenquartett und Chor wett—
eifern in ÖSteigerungen, bis fie fic) vereinigen zu den Gndworten „Dich zu
wahren“, ein dichterifch-mufilalifher Zroftfprud, wie ihn fein Volk, und
gu feiner Zeit dringender brauchte als das unfere in unjeren Tagen. Chor,
Soliften, Orgel und Ordefter fdliefen in dröhnendem Unifono, ein Bild
ftärffter Ginheit und Kraft. Wo ift die Legende bon dem zeit- und welts
ferner ,Romantifer“ Pfigner, wo das Gerede bon der zarten Saftlofigteit
feiner Mufil. Seine „Romantifhe Kantate* ift Mufif im beften deutfchen
Sinne, wie ihn Beethoven forderte: Feuer aus dem Wenſchen zu fdlagen
trok aller Snnigfeit, allen Sieffinns. Möge fie ihres Amtes walten, unjer
Golf aufzurütteln, aber auch aufguridten und fo denen recht zu geben, die
einen Heilsweg aus der Niederung, der Dunkelheit des Tages allein ere
bliden in unferer deutfchen Kunft, voran unferer Mufil. Hermann Unger.
Sohann Hinrich Fehrs.
Me die Perfinlicfeiten, in denen fic) der deutſche Geift am reinften
ausgeprägt hat und die bon uns daher als deutlidfter Wusdrud umjeres
Golfstums empfunden werden, wirken durch die Kraft diejes ihres Wejens
weit in unfer Volk hinein, fchaffen dort aus dem Ungeftalteten das Geftaltete
und entwideln aus dem Robftoff des AMurmenfdliden die beftimmte Form,
auf bie hin unfer Golf angelegt ift: fie, nicht nur Abbilder, zugleih aud Ur-
bilder unferes Bolfstums, bauen diefes aus und vertiefen es. Ob fie mehr
Menſchen der Sat find und des praftifchen Handelns oder mehr Menjchen des
201
©eiftes, immer wird ihr Werl, eingefügt in die völkiſche Entwidlung, wie es
ein Ergebnis von ihr ift, fie beeinfluffen und weitertreiben.
Da Werk und Perfdnlidfeit aufs engfte zufammenhängen und untrennbar
find, haben, wie es jcheint, die Menfchen des Geiftes, die Philofophen, Künft-
ler, Mufifer und Dichter, bor den Tatmenfden einen Borgug dadurch, dah ihr
Werk ohne fremde Ueberlieferung und unverändert durch fremde Gegenwirkung
fid auf die Nachwelt vererbt, während das Werf des Tatmenfden fid in
feinem einmaligen Wirken verzehrt. Aber der Tatmenſch zwingt die Menfchen
ganz anders in feinen Bann, er wirkt viel unmittelbarer auf fie; fehneller und
heftiger geht die Wirkung, die bon ihm ausftrablt, in das Gange der Ent-
widlung ein. Und diefe Wirkung dauert länger, als mandem bewußt ift, und
gang {pat noch tragen die Blatter der Gefdidte fie fort gu dem Nachfahren,
der Geſchichte richtig lieft, indem er fid an ihr begeiftert.
Geſammelter erfcheint das Werk des Künftlers in feinen Kunftgebilden.
An ihnen fann die Wirkung, mag fie aud felten fo gewaltig fein wie die
des Tatmenfden, fich ftets bon neuem mit größter Leichtigkeit entzünden, und
bier bleibt Unmittelbarfeit auf die längfte Zeit bin möglich. Das ift in
der Tat ein Borgug, und ihn gilt es auszunugen, wenn die Gelegenbeit fid
bietet und es notwendig wird.
Gelegenheit und Notwendigkeit vereinigen fic bet einem Pichter wie
Iohann Hinrid Fehrs, weil feine Werke vor kurzer Zeit neu erfchienen find
(bei Weftermann) und weil er nod lange nicht genug in feiner Bedeutung
gewürdigt ift. Das bat vor allem zwei Urfadhen. Zunädjt die, daß Febrs
die meiften und beften feiner Werke plattdeutfch gefdrieben Hat, und fodann
die andere, daß er ein ganz ausgeprägter Vertreter unferes Bolfstums ift.
Das müßte eigentlich) dazu dienen, ihn vollsbefannt gu machen, wenn bei
uns auf diefem @ebiete alles feine Nichtigkeit hätte und in Ordnung wäre.
Das ift aber nicht der Gall. So ift es nicht zu verwundern, daß Fehrs in
den Literaturgefhichten faum erwähnt wird. Gine Ausnahme madt Adolf
Bartels; doch fommt auc bei ihm Fehrs nicht zu feinem vollen Redte, wenn
bie Beurteilung auch von Auflage zu Auflage günftiger wird.
Sene übereinftimmende Nichtbeachtung fann nicht damit begründet werden,
daß Gebrs als Dichter nicht bedeutend genug wäre, um in einer Gefdidte
der neueren deutſchen Literatur genannt zu werden. Wir haben in Fehrs
einen Dichter, deffen Stoffgebiet äußerlich freilich begrenzt ift, Der aber feine
Stoffe mit einer außerordentlihen Künftlerfchaft behandelt und fie mit einem
reihen menfdliden Gebalt durchwirkt. Febrs hat, man behauptet damit nicht
gu viel, einen der beften Romane gefdaffen, den die deutfche Literatur in
den erften beiden Sabrgehnten diefes laufenden Sabrbunderts berborgebradt
bat.
Fehrs beſchränkt fid im wefentliden auf ein engabgegrengtes Stoffgebiet;
bie Befdrantung geht fo weit, daß die meiften feiner Gefdhidten auf deme
felben Schauplat fpielen. Diefen Umſtand bat der Dichter felbft als will-
kürlich bezeichnet, er ift es aber nur bis zu einem getviffen Grade. Sicherlich
finnten einzelne diefer Gefdidten aud anderswo fpielen, als wo der Didter
fie fpielen läßt. Aber viele feiner Graählungen find dadurch miteinander
verbunden, daß in ihnen gum Zeil diefelben Perfonen auftreten. Das ergibt
für diefe wenigftens die Notwendigkeit, fie auch räumlich nahe beieinander zu
legen. Gs ift aber anzunehmen, daß aud) die anderen Gefdhidten durch ein
gebeimes Band an den Ort gebunden find, an den der Dichter fie verpflanzt
Hat oder richtiger: wo fie ihm aufblühen. Sedenfalls ift Das Ergebnis dies,
202
daß gerade aud) durd die räumliche Bereinigung der Gefdidten das, was
fie gemeinfam barftellen, Das dörfliche Leben im zweiten Drittel des vorigen
Sabrhunderts zu einer größeren Gefdloffenheit zufammenrüdt. Gs entfteht
auf dieſe Weife eine defto Iebhaftere Anfchauung eines Holfteinifchen Dorfes
zu jener Zeit, ein ideales Dorfbild, ein Typus, in dem jeder einzelne Zug
taufend Gbnlide an anderen Orten vertritt und in dem viele Ginzelheiten
gu einer reineren Ginbeit verſchmolzen ſind.
Gé iſt für Die Frage, ob ein Dichter im Sinne unſeres Volkstums ſchafft,
nebenfadlid, wd er feine Stoffe fudt. Gr fann fie bei den Antipoden nehmen
und doch im deutfchen Geifte ſchaffen. Aber es ift für unfere Selbfterfenntnis
und Gelbftbefinnung nicht unwefentlid, wenn ein Dichter uns das deutjche
Bolfsleben ewig nahe bringt Durd die Zauberfraft, bie er ihm einbaudt,
fodaß es dauernd lebendig bleibt. Fehrs hat unferem Bolfe das deutfche Dorf
in der Geftalt, die es um die Mitte des neunzehnten Sabrbunderts Hatte, zu
einem bleibenden Geſchenk gemadt.
Ebenfo ift es bis zu einem gewiſſen Grade einerlei, wie umfaſſend den
Stoff ift, den ein Pichter geftaltet. Auch im Gngbegrengten fann er hddfte
Meifterfchaft entfalten und es gum Spiegel der Welt machen. Fehrs hat es
faft in allen Didtungsformen, die er verwandte, zur künſtleriſchen Meifter«
[haft gebradt. Gr bat nur einen einzigen Roman gefdrieben, Maren, aber
diefer zählt für viele. Am gablreidften find die Heinen Erzählungen, unter
denen fi Meifterftiide der Novelle finden wie „Shler Schoof“ und „Leben
und Dood“. Bon feinen plattdeutfhen Gedidten Hat einmal jemand ge-
fagt, daß fie in der Mtannigfaltigfeit der Gormen und in der VBollendung,
die faft jede ®attung erreicht, wie eine Auswahl aus einer größeren Gamme
lung, wie die Spiken eines im Meere verfunfenen Gebirges wirken. Nur
im Hochdeutfchen, mit dem er begann, bat Febrs die legte Bollfommenbeit
nicht erreicht, von Gingelbeiten abgefeben, Gin beftimmter Charakter ift da,
aber indem die Formen der nachllaffifhen Epigonenzeit angewandt werden,
wirken fie wie ein Togagewand, aus dem ein bolfteinifches Gefidt heraus-
fbaut. Hier ift der lebte Bufammenflang bon Gorm und Inhalt nicht ger
lungen, der eine Dichtung erft polllommen madt.
Goll diefes Biel auch im engften Stoffgebiet erreicht werden, dann muß,
und gerade umfomebr, je enger begrenzt der Stoff ift, der Inhalt mit gei-
ftigem und feelifhem Reihtum durchwoben und gum edt menfagliden
®ehalt gefteigert fein. Da gibt uns Fehrs in reicher Fille. Wie Die
GSeftalten feiner Dichtung lebendige Menſchen find, mit Schöpferhänden gee
formt, fo ift das ganze Stüd Welt, bas der Dichter uns bietet, feelifd durch»
waltet. Hier finden wir nicht die Marionetten, in deren Gorm eine neuere
Literaturfunft alles Menfdhlide einzuzwängen tradtet, hier waltet nicht der
Iharfe, gewaltfam orönende, bewußt aufbauende, falte Berftand, unter deffen
Anhaud alles Seelifhe verdorrt, fondern bier ift das ganze Bild gefättigt
mit unmittelbarem menfdliden Gebalt, der allein die Seele des Geniefenden
aufguregen und in Bann zu fdlagen verfteht. Gerade diefes inmwillfürliche
und Unbetußte, das ein Kunftwerf wie ein Geheimnis ummittert, ift es,
das das innerfte Wefen des Künftlers offenbart, weil es aus ihm gefloffen
ift, und zugleich darüber Klarheit gibt, ob er im Geifte feines Volkes ſchafft.
Die Welt des Bewuften reicht da zur Erklärung nidt aus. So ift es
nidt ausfchlaggebend, ob der Dichter fic als Deutfdher fühlt und weiß. Das
tat Fehrs perfönlih gang entſchieden. Aber befanntlid) miderfpricht es ja
deutfcher Art durchaus nicht, fi nidt in erfter Reihe als Deutſcher zu
203
fühlen, fondern Bürger einer erträumten Menſchheitsgemeinſchaft fein zu
wollen, und ferner ‚bietet ein betontes Deutſchtum nicht immer die Gewähr,
daß es wirklich Ausdrud innerften Wefens ift. Zudem fcheidet bei der Bee
urteilung eines Kunftichaffens die biirgerlide Haltung des Künftlers aus.
GHer fdon würde es Hintreffen, wenn man nad dem befannten Wort
das Deutſche darin findet, daß der Dichter feine Sache um ihrer felbft willen
treibt. Das trifft jedenfalls bei Fehrs zu, der plattdeutfch fdrieb, weil es
ihn innerlich dazu trieb, mochte auch der erfte Anftoß dazu bon außen ge-
fommen fein. Gr fchrieb plattdeutfch, trogdem er fid fagen mußte, daß er
Dadurch feinen Wirkungstreis. fehr einſchränken mußte. Das heißt gewiß eine
Gade um ihrer felbft willen treiben. Aber fchliegli tut das jeder echte
Dichter, der didtet, weil er muß und nicht anders Tann.
Die Merkmale des Deutjchen an einer Dichtung müſſen wir in der, Dichtung
felber fuchen. Sunddft in der Sormregel, der fie unterliegt. Sicherlich unter-
fcheidet fich die germanifche Dichtung von der romanifden durd ein befonderes
Sormprinzip. Gilt im Romanifhen die [mine Gorm über alles, fo im
Germanijden die Harafteriftifehe. Wirkt die romanifhe Didtung mehr
flächen haft auf ung, jo fcheint uns die germanifde eine größere Ties
fenmirfung gu haben. Sene macht immer mehr oder weniger einen fare
bigen Gindrud, während im Deutſchen ohne Zweifel die Linie vorherrſcht.
Alles das, was der deutjchen Dichtung eignet, glauben wir bei Fehrs zu
finden. Gewiß, er idealifiert etwas, aber das Charafteriftifche bleibt pore
wiegend bei ihm, der einer der beiten Menfchendarfteller unjerer Literatur
ift. Go Har und deutlich alles ift, was er in feinen Werfen zur Anfdauung
bringt, es liegt Doch in der Regel mehr dahinter, als was der an der Obere
fläche haften bleibende Blid entdedt, und oft genug bieten fic) weite perfpef-
tiviſche Ausblide. Und fchließlich, immer Jind es flare Umriffe, in denen er
mit fparfamjten Mitteln Gegenftande und Menfchen zeichnet. Dadurch werden
fie uns anjdaulid, und nicht durd eine blendende Fülle gebaufter Gingel-
beiten, die wie Garbenflede zu einem Bilde zufammengehen.
Die Form ift fodann lebten Gndes der Ausfluß einer beftimmten
Menjchlichkeit, einer beftimmten Berfönlichkeitsart. Wir find, es kann fein,
in Gelbittäufhung befangen, wenn wir die Behauptung wagen, daß es Die
Wefensart des idealen deutſchen Menjchen ijt, in fid das Sleidgewidt
aller feelifhen Kräfte zu tragen ohne merfbares Weberwiegen einer einzelnen.
Gir Fehrs jedenfalls ift diefe Art begeidnend, für feine Perfinlidfeit als
Menfdh und als Dichter, in weld Ietterem jener in ganz berporragender
Weije gegenwärtig ift. Iſt es ein Irrtum, wenn wir annehmen, daß in der
Dichtung unferer weitlihen Nachbarn der Berftand porwiegt und bei den
Ruffen das grengenlofe Sefühl? DBehaupten wir gu diel, wenn wir,
andere Golfseinbeiten zum Bergleid heranziehend, bon den Juden behaupten,
daß bei ihnen und befonders aud in ihrer Literatur, foweit fie in Ddeutfcher
Sprade erfdienen ift und darum allgemein mit zur deutfchen Literatur ge-
rechnet wird, der Wille vorherrſcht, der Wille, der alles nach feinen
Sweden umbiegt und guredtriidt? Gs will uns fdeinen, als wenn mitten
unter diefen Gegenfagen das Deutfdhe in einem ſchwebenden Gleich—
gewidt aller Seelenkräfte verharrt und das aud in feiner Did-
tung unwillfürlih gum Ausdrud bringt.
An einer Gingelheit wird der Gegenfat vielleicht nod deutlicher, in
der Art des Humors. Der Jude Hat faum Humor, er fpielt bart und
rückſichtslos mit den Gegenftinden, die er nicht einem befreienden Laden,
204
fondern dem Geladter preisgibt, ihm liegt Die Satire mehr und der Kalauer.
Die angelfähfifhen Bölfer haben in dem Herausheben des Grotesfen eine
befondere Abart des Humors, die uns gleidfalls fremd anmutet; aud bei
ihnen fommt der Gegenftand allzu ſchlecht weg. Das ift bei dem, was wir
in tieferem Sinne Humor nennen und was denn wohl unfer eigener Humor
ift, weniger der Gall. Wir lächeln über den Gegenftand der Humoriftifden
Betradtung, aber wir tun es nicht veradtlid und nidt ohne Mitgefühl, ja
wir find ibm woblgefinnt und lieben ibn oft. Fehrs verwendet nie den Humor
um feiner felbjt willen, er gebraucht ihn zur rechten Zeit und an feinem Ort,
und dann ift es jedesmal jene Art des Humors, der aus dem Medium der
Menfdhengiite und Liebe gefloffen ift.
Aber legten Endes läßt fid das, was deutfh an einem Didter ift und
ihn gum Wusdrud unferes Bolfstums madt, nicht verftandesmäßig feftlegen,
gumal da wir felber mitten drin fteben. Leben, und nun gar ein Stüd Leben,
gu dem wir felbft gehören, fann nicht durch Yergliederung erfannt werden,
wir miifjen es haben und fühlen. Go fpüren wir es einem Didter ab, ob
der Rhythmus feines Blutes zu unferem paßt, ob die Seelenfhwingungen, die
bon ihm ausgehen, in die Schwingungen unferer Seele pafjen. Wenn das
geichieht, dann erfennen wir: bier ift Art von unferer Art und Geift bon
unferem @eifte. Und wenn der Dichter echt und groß ift, dann wirft der
Rhythmus feines Wefens fo, daß er unfer Wefen fchärfer ausprägt und beute
liher den Rhythmus deutfhen Wefens herporhebt, der aud) durch uns pulft.
So fann ein Dichter wie Fehrs zur Ausgeftaltung des deutfchen Bolfs-
tums, Deffen Auswirkung er gleichzeitig darftellt, dienen, indem wir ibn auf
uns wirfen lafjen. Gr fann uns in der Not unferer Zeit noch befonders helfen.
Seine Werte, wie fie überhaupt ein Ausdrud feiner Perfönlichkeit find, zeugen
aud) davon, daß Menfch fein Heißt ein Kämpfer fein, der fic felbft befämpft.
Geiftige Zucht und fittlide Bildung find die Kennzeichen diefer Didterper-
jönlichkeit. Gs ift fein Wort darüber gu verlieren, daß es das ift, was unfer
Bolt heute am nötigften gebraucht nad all der Zügellofigfeit, der es fich hin—
gegeben, nach diefer Ausgeflofjenheit nach allen Seiten Hin, die es faft feines
Wefens Gorm hat ganz verlieren laffen. Da fann ein Dichter nun fammelnd,
bildend, läuternd wirken, der wie Fehrs fo gang geſchloſſen por unjeren
Augen dafteht, weil an feiner Perfönlichkeitsgeftaltung die beften Kräfte
unferes Bolfstums bildend gewirft haben. Shriftian Boed.
Grlejenes
Aus Otto zur Lindes „Buch Abendrot“.
6% wird fein ein Raunen im DBolf
Bon einer neuen Zeit, die über fie fommt.
Gs wird fein ein Staunen einer Welt
Und eine Herrlichkeit der freien Geifter.
Wir werden alle aufmachen aus Dumpfem Traum,
Wir werden eine neue Sonne fteigen febn.
Gs wird ſchwellen eine ungeheure Welle des Lidts
Aus neuem Wort und alter Botfchaft.
205
G8 wird fi auftun der Gagenberg
Des fdlafenden Kaifers wie Chrifti Grab.
. &8 wird auf unfre Stirn berabfallen ein Stern
Und blendend glühn als ein neues Auge.
Ghriftus, du brannteft den Stirnen der Menfchen
Eine Wunde der Glut, unauslöfchlih, wir fieberten —
Milder, Lieblicher, wir ſchrieen nad Liebe,
Wenn wir genefen find, lächelt lieblid ein Auge auf unferer Stirn.
aria, Sunimittnadts Himmelszelt
Ueber der traumberfentten Gommerwelt,
Da unfer Glühn den blüh’nden Kelch aufhält,
Daß uns ein Lieberfülltes in den Kelchgrund fällt.
Maria, ſenk in mein verfehntes Herz
Dein mildes Sternlidt, mit fo füßem Schmerz
Ueber die Himmelswälder fährts
Durd leifes Raufdhen erdenwarts.
Ueber die Himmelswälder erhebt fid) dein Stern,
Wandert auf Wegen wefther fo weltenfern,
Wandert entgegen den Wegen des Weltenherrn,
Wandelt zu Segen die Saat der Sehnſucht fo gern.
& bör die Seele läuten,
Die Glode ihres Leibs,
Der Stimmentlang in weiten
Räumen des Ginns; des Weibs
Und Manns Befinnung ftreiten
Nicht, leife lebt das Gein.
Ganft Gelbft und Geele gleiten
Sinaus, den Geift zu befrein.
Sadt Mafhe um Mafde Iöfen
Gie die DVerftridung; der Ginn
Aus allem Berlornen und DBöfen
Iſt Tiebli; ein letztes „ich bin“
Läutet ein Echo; Weib-Wefen,
Mann-Möglichleit; und es ift
Geiſts Göttlichfeit und Genefen:
Das ſchöpferiſch fife „du Bift“.
Das zweiundzwanzigfte Kapitel aus Fehrs’ „Maren“.*
7m Ddefiilwige Tied hött ool Dierf-Scheper fien Sdhap in Kratt un Heid
adtern Otterndief. He barr fif, as be geern dä, en Barg opfidt un ftunn
dar nu en lange Sied un feef aewerall. O, de Heiloh weer fmud in ehr diifter-
grön Sommerfleed! Nod funfel de Dau an de Schattenfiet von den Kratt,
de Bram fdien gal, un in de Lunk lic dat flowitte Wollgras op den düftern
Grund. ©älgöfchen fung fien trurig Leed ümmerto, man ümmerto, de Lerchen
ftegen in’t wide Blau, un de Kudud reep un lach bon den Holtrand ber.
Bon Ilenbed weer wenig to fehn; en par ſpitze Gäweln, en bredes Strob-
dad mit en Hadbarneft, en Strohbiimpel, en Schofteen mit fine Roofwolten,
de langfam ropftegen na’n Häben, fünft weer allens todedt bon dat Moeln-
un OolIndiefsholt, von Appel- un Bärböm. Rechts, na’t Noorn to, duuk fit
* Gal. hinten die Bwielprade.
206
de Moe! ünner de Hoge Dann, blenter de brede Dief un Haradter drömen
Wiſchen un Koornfelder in’n Sünnfdien; wider hin niz as düftere Heid, Hier
un dar en buufnadten Führn un frufen Kratt.
Dierk munfter diiffe ftille Welt, as barr he ehr nod nie febn. He dreih
fit darbi langfam an fien Stod un ſöch jeden Barg un jede Lunk gemadlid
af, be barr jo Zied. Op’n mal duuf dar en Geftalt op, en Mann, de fac’
bon de Moel herfamen dä. Amer wo wull he Hin? Gn Weg weer dar nid,
ni mal en Goot{tigg. Gunnerbar! De Ool ftunn lang un leet em nid ut Ong.
Spit, de neffen em Huuf, funn fad fo wied ni fehn, awer Dierk vertell un
DID em allens, wat be wies war.
„As if fegg, Spis, de Mann ſöcht watt, fäler, fiekt in jeden Krattbufch
un luurt in jede Qunf. Keen {dull dat man? Slowitte Hemdsmaun un gries-
graue Biz un Weft, niz um’e Nad un ni mal en Handftod. So wmied de
Heid löppt, fennt wi jeden Snurrer, Spig — wat meenft Du? Ha hal lad
de Onl Iuud op, nu ritt be fit de Mütz von'n Kopp un fmitt ehr ſik vir de
Sd: un ftampt darop. Dar is wat ni richtig, Spitz! De hett ſik mit fien Gee
danfen vertörnt. Gn narrfden Keerl, ha, hal Sa, mien Goebhn, wenn de Gee
danfen in de Mik weern, denn wull man ehr wol frigen! Ni wahr, Spis,
de an fien ®edanten ran will, mutt fit fülben to Kopp gan. Na, He befinnt
fit un fett de ool Klodd wedder op. Nu bett he uns fach fehn, Spis, he ftirt
op uns to. Wat? waraftig! Spis, nu rid Di fteil op, wi friegt groten Beſök!
De Kniesbod von Blenbed fommt, Paul Strud, de fit in ftahln Gelb be-
raten fann! Harın em al lang kennen müßt, Spit, an Biz un Weft, fünd
wi denn höhnerblind? Sien Madam bett em ja farreert as en Gnaf bon
nerrn bet baben. Wat, du bellft nich, Spi, dar fommt en vol Wied, un
Du bellft nih? Du warrft oold, Spi, findfh! Du bellft blot den Uennerrod
an un meenft, allens ift en Mann, wat en Biz an bett, Schapstopp! —
Awer Eloeterig füht he ut, de Ogen liggt em Holl as fien Ohm Henn Karl.
Nu pap op, Spik, un hör, wat He op’n Stafen bett!“
Spi feeg gliefgüllig Dindal un fa nig — Mannsliid bell He nu mal
nid) an.
Paul fnoefel möhfam un unfäfer rop na den Barg un fmeet fif denn
lingelang in de Heid, rein möd un ut’e Puuft. „Rann He mi bölpen, Dierk,
if bed min Gru verlarn,“ fa be flau.
„Dien Fru? Wofaten?“
„Se if weggan un narms to finnen. Hep de ganze Nacht fodt in Huus
un Schün, bed fodt in Lehmlod un Moorfubl, in Soot un Bak — narms!
Hett He ehr fehn? Giiftern ...“
„Wiwer ſeh if nid an!“
„He füht un weet Dod allens, wat Hier op de Heid paffeert, Bader Dierf
— Hett He ehr nid von widen ...“
„Bün nid Dien Bader, Paul Strud! un fehn Heb if niz!“
„Se mutt wedder famen, mutt wedder famen, fiinft is allens ut, allens
ut! if meet denn ni mehr, wat if do! Rann He mi’ denn garfeen Rat geben?“
„Rat geben? Di?“ lad) Dierk Iuud op, dat Paul fit verfdraf. De Ool
lad felten, awer de düt Lachen mal hört barr, vergeet dat nid. Dat Hung fo
Holl un dump un funnerbar. „Ne, Paul Strud, if fann Di ni Rat un Wink
geben; awer if fenn een, de fann dat vellid — meenft Du nid of, Spig?“
Spit feef fien Herrn an un lid mit en lange Sung vewer de Nas.
„Ut Di warr if ni Eloof, Spis! Du drömft wol von Mettwuft un Sped-
jwart, ole Srätfad!* !
207
„Wofeen is dat, Dierf? He fennt een, de mi feggen kann ...“
„Ja. Amer Du mußt töben bet Middag. Du fennft jo den bogen diden
Slöndoorn an de Ed von Dien Hungerfamp. Dar mußt Du Hingan un töben.
Mn wenn de Bedflod flan bett, denn fommt be.“
„Wofeen, Dierk, wofeen?*
„ Bondag friegt wi en Middag, as he wan mutt. Keen Lufttog, teen Wolf;
de Bradden danzt un bäpt aewer de Heiloh, de Krei jappt op’n Tilgen, Lerch
un Gälgöſchen verfruupt fit in’n Schatten, Snak, Adder un Sünndrang liggt
un luurt in de pralle Sünn. Allens dodenftill. Bi den legten Klodenflag
leggt fif en blauen Daf vewer Heid un Kratt un Doornbufd, de Sinn füht
verflapen bon den mittgrauen Häben dal. Denn fommt he, denn fommt he
mit en fortfarigen Schritt, as be ümmer dä, da he nod lab .. .*
„Wa wat meent He, Dierf? doch Teen Gefpenft? Gefpenft bi belligen
Dag?“ Paul feem bald tohdd un feeg den Ooln angftig an.
„Bi belligen Dag twifchen twölf un een. Sa! Un Du fennft em, Paul
Strud. Uenner den olen tagen Rundhoot gloeft Di de beiden Hollen Ogen
fewerig an, de witten Haar liggt em op de Schuller ...“
„Hu, mien Ohm!“ grüns Paul un floog de barben Hann vör’t Geficht.
„Dien Ohm Henn Karf. In’t falmanfen Kamfool glinftert un lücht de
groten Knöp as Löchen, de em ut de Rippen flat, de rode Weft brennt as
en fürige ®loot, fwäfelgäl {dient de Hirfchleddern Büz, un de blanfen,
Stäwelſchächten bligt in de Sünn. Keen Halm, feen Heidbult bögt fif ünner
fien Soot; be geit Din un ber, Du hörſt fien Schritt nich, darbi wringt be de
barden fnoeferigen Hann, wieft un winkt un handjleit, de Mund is immer in
Bewegung, as wenn be fpridt, awer feen Ohr hört en Luud. Wenn Du em
fühft ...“
Paul krieſch Iuud op un verfteef den Kopp in den Heidgrund.
„Wenn Du em fibft, denn ga bin un frag em, wat Du waten wullt, he
fann Di fach bedüden. Amer verpaß ni de Sied! Gen Stunm bett he man
in Sünnfdien, de birt em. 38 de verlopen, röppt em en Stimm dremal
bump, as fommt fe ut’n Grund. Denn wringt be de Hann, dat Kinn flüggt op
un Dal, de Geftalt bavt, awer He mutt, be mutt bin na den Boom, den
frummen Führn ...*
„Is nid) wahr, deb if utrad un verbrennt!“ fdreeg Paul.
„In de Stunn fühlt Du den Boom dar ftan, den Strid mit de Sling an
den Aft. Du füft Dien Ohm Hinfnoefeln, duufnadt un mit en lahmen, une
fafern Schritt, un denn fühlt Du em dar hangn as en Bagel in’n Snär, de
Tung lang ut’n Hals, grad fo, as Du em mal funnen heft. Awer denn ward.
be wedder ropen, un to’n drüttenmal, un mit en Ruff find Boom un Ohm
tweg, en ftrobgale Wolf jagt aewer Heid un Kratt un Moor na de Drager
Dannfoppel to. Und wenn Du nod ni fragt beft, ift’t to lat, de Heiloh liggt
wedder in blanfen Sünnſchien.“
Paul Strud leeg an’n Grund, ftoehn Iuud un bäwer an Hann un Git.
„Sta op, Paul Strud, un gal De Klod is ölben, Du kannſt in Komodig-
feit Dingan. Nimm den Weg aewern Brambarg, dar meiht Kaffen Blund
de hoge Heid, de fann Di mehr vertelln — man to, fta op!“
„IE hingan?“ reep Paul mit en Stimm, as wenn He ftiden fdull, „Gott
ſchall mi bewahrn! Hu, gräfig!“*
„Is Di dat to Hitt in de Middagsftunn. denn tiv bet to Nacht. Dat
glüdt nic immer, be friggt nid immer Berldv. Awer is be mal fri, denn
fühft Du em twifdhen twölf un een fafer an een Stell, in De Ramer ddr fien
208
@eldtift. Dar is fien Schatz, dar mutt be immer mwedder hin.“ Dierk lad
boll op un proof wedder mit fien Hund. „Hev if Di dat ni feggt, Spit?
Gm find fien Gedanfen ut Spoor. He ſöcht en goden Rat, un nu if fegg, wo
be em finnen fann, wöhlt be mit’n Kopp in de Heid rinn un winnt fil as
en Gnaf un ward grulid. Dat is de Art bon all de farreerten Lid. Dar is
uns anners tomot, Spik, en Spöf fann uns ni bang mafen, Gruun fenn wi
nid. Awer as Henn Kark nod de Bonapart von Ilenbed un dat halwe
Kafpel weer — meetjt nod, Spitz?. Do Harrn wi Angft, do bögen wi em
ut, a8 weer He en dullen Hund. Sa ja, Spit, De Keerl weer gräfig, jlimmer
as Schinner un Sdarpridter. He fndr arm Lüd, de in fien Hann fulln, den
Hals af, awer langſam, langſam. He leet ſik Tied. Weetft Du, wat en Hart
is, Spigk? Dat Hart ift en litt Ramer, pon buten un binn root anfträfen, dar
twabnt de Reed in un dat Grbarm. Henn Karf Harr feen Hart; dar, wo dat
Hart fitten fdall, droog be en ſmädiſern Sparbüß mit en Slott bdr. In diffe
Sparbüß fparr be de arm Geeln rin bon all de Strafels, de be den Hals
affnört barr. Un wenn be alleen in de Ramer feet bi fien Geldfaften, denn
müffen de arm Geeln em vörjingen, too dumm fe weft weern un wofafen De
ehr ſchrittwies in de Sling lodt barr. So weer de Sparbüß en Art Spalubr
for em. Du fduulft mi an, as wenn Du fragen twullt, woher if dat all weet.
Dat is licht feggt, Spig: mien arm Geel bett dar of jabrnlang faten in Henn
Kark jien Spälubr un mitfungn. SE weer en lichtfarigen Bengel, as if Baders
Gewäs anfat, un en Dummbart darto, ja ja, Spig! So Harr Henn Karf en
lit Spill, mi in de Klauen to frigen, un dar weern man en par Jahr in’t
Land Iopen, fo feem mien nette Sladterie, Huus un Gewäs ünnern Hamer.
Dat verdroot mien fmude Gru, de if op Hann dragen un mit Glierfram be-
Dungn Harr as en Pringeffin, fe gung mit en Bengel bon Wittgarwer ddr
de Lappen — if fegg, en Wien is en Satan! — Ha ha, Spit, lidft mi de
Sand! Ga, mien Hund, Du verfteift mi! — Do weer if gang alleen. Süb,
Spi, fo feem mien Geel in Henn Karf fien Späluhr un if fülben op denn
foren Biert, if müß doch in de Neeg bliebn! WAwer nu hör nip to, Spi,
verfehr Di awer nid! Henn Kark feet mal vör fien Geldfaften in de Ramer.
Gn Lit ftunn neffen em op’n Difdh. Do tid von buten en Finger an de
Sinfterrut. He verſchrak fif un feef tohöch un feeg en Dodenfopp ringrinfen
un en Enaefern Arm winken — denn weer’t weg. Henn Kark ſloog trügg, de
Stohl broof tofam, un be leeg dar as en Of, den de Schlachter dalflan Bett.
He weer ni dood, Henn Kark weer tag as en Rott. De Poltor funn em nod
wootdreftig wedder to Been bringn. Amer fien Späluhr meer ganz ut’t
Spoor, de Geeln meern rebellfh un fungn all dörch'nanner un leten em feen
gerubige Stunn. Un dat Leed meer gräfig, Spig! Memmerto fungn fe em
en Singfang bdr, fe fungn: Hunnert heft Du de Kähl affnört, awer een läpt
nod, de mutt nod ran! Denn is Dien Dagwarf dan, denn is de Tall voll!
— Ge fungn un fan em ni gang düdlich, wofeen dat meer, awer he verftunn
ehr, De wüß Dat. He wehr fit un wull nid. Awer op de Lang war He möd
un maer. Du fennft fowat nid, Spis, Du büft to dumm darto, Di fehlt de
Grfabrung. Amer hör man wider! Dat weer fo’n Dag as nu, ſo'n fralln
Sulidag, Hitt, ftill, lurig. Henn Kark Harr fif de ganze Nacht in’t Bett wültert,
un feen Ong todan. Den Morgen froop be unruhig in Ramer, Stall un
Shün ümher. Toletz Eroepel be fit rop na de Gefdirrfamer un nehm
dar wat bon de Wand, wunn dat tofam un fteef dat in de Taf — Rubig,
Paul Strud! Spig mutt de Gefchicht endlich mal weten! — Dar weer nüms
to Huus as de Koekſch, de Lid Heun nerrn in de Wifdhen. Denn nehm He
209
Hoot un Stod un Humpel Ins. He humpel, fegg if, Spik. Giet den grulichen
‚Abend in de Kamer wull dat linfe Been ni mehr recht mit, de linfe Arm
‚weer of lahm. De Koelfh, de grad en Ammer Water ut’n Hillgenbäf
haln mull, feeg em aewer de lütt hölten Brügg gan. Se barr em fad any
topen fdullt un trügghooIn, awer wofeen wag dat? Eben adter de Briigg
ftunn be ftill un dreih nod mal den Kopp na fien ftatjden Hof. De Deern
verſchrak fil, dat fe binah von't Steeg fulln weer. He barr den Hoot in’t
aſchgrau Geſicht ſchaben. De brede Mund weer faft tofnäpen, dat be utfeeg
as en lange Gobl, un de frumme Hafennäs ftött binah an dat fpige Kinn.
Lang ftunn he dar, wol tein Minuten, de Deern ftütt fit mit beide Arms op
den Ammer un wag fif nid to rögen. Denn drei he fif langſam iim un gung
na de Moel to, rop na’n Biert. — Lat em tofräden, Spitz, wat Enurrft Du!
Paul Strud bett iesfole Gedanken, be mutt fit fhütten un winnen, be fann
nid anners. He bett fien Ohm von den Boum losmakt, em utlöft, in en
Pärdäl flan un na Huus führt. Sowat is en graflide Arbeit, Spitz. Ya,
be bett noch mehr dan an fien Ohm. — As Dien Bader ftord, Spig, da hed ifem
in mien Kuller na Huus dragen, hed em wufden, un as he drög weer, em
fämmt — be feeg ganz fmud ut. Denn bed if en Graff malt un dat mit
‚blömte Heid utpulftert. Dar la if em rin, as be to flapen plegg, un ded em
to, un op fien Graff fett if en groten Geldfteen. Un fo lang de Sommer
‘Blomen wedt un Blöten bütt, bett he fien Kranz. Du Heft dat all ftill mit ane
febn, Spit, un geift of nod oft na dat Graff Hin. Dar blied man bil Awer
lat mi den Steen tofräden, Spik! Du Heft en Art, an Dien goden Bader to
benfen, de mi ni gefallt! Scham Di wat! — Wat if awer egentlid feggn
‚wull, Spiß: weetft Du, wofafen Henn Karf graben is? Denk Di: feen Minish
‚wull em anrögen, ni mal en ool Wiew ut de Urmfat, ni für Geld un gode
Wor. So is Henn Kark ni wufden un fämmt, of ni infleed, as man fiinftt
wol deit. Us he gung und Hung, mit Stäweln un Sparn is be to Ger famen.
Paul Strud bett em fien wittblau Kapittelmiig aewer Was un Obrn troden,
damit he man bat grulide Gefidt ni feeg. Denn bett he em de ſülwern Kndp
‚affnäden, em de SIoetels to de Ramer un de Geldkiſt ut de Tafch namen wn
em in’t Sarg fmäten, dat he fülben tonagel. — So lat Dod Dien Staebnen,
Paul Strud, Spit fann jo feen Wort verftan! — Henn Kart war graben,
un adtern Wagen fdroefeln en Barg Lid. Dat is fünft feen Mood, Spi;
De fif ophungen bett, föhrt alleen na’n Karkhof. Wwer diffe Lid weern em
{@illig, fe ftunnen in fien Book. Gir Gelb fann man den Düwel dangen
laten, feggt man. Dat is ni wahr, Spi, de Düwel deit fowat nid; awer
de Minſch danzt iim Geld in’t pligte Land un frallen Sand, ddr Dred un
‘Doorntnid, vewer Lifen un Leilafen bin. SE ftunn op’n fwarten Barg dicht
an de Landftraat un feeg mi den Tog an. Paul Strud feet vir op’n Liken—
wagen un barr dat Leit in de Hand un de Glaetels to Ramer un Geldfift
in de Taf. Sien Potthoot wink hin un Her, Hin un Her, grad as de Wagen
mit fien Ohm wadeln dä, fe weern fif gang und gar enig. Achter den Wagen
wöhln de Lid in den frallen Sand, de Sweet Ieep ehr de Baden dal, de
Stuff fteeg in griesgäle Wolfen — Paul Strud un fien Ohm mafen ehr warm
un föhrn doch fo langfam! Do hör if op’n mal von den Hollen Bak ber Iuftig
ropen: Rudud! Kudud! un denn lad un fdradel de Bagel adterher. Mi
war grulid) tomoot, un dochen, Spit, if funn’t ni möten: if lad! if lach Iuud-
hals! So’n eerften Mal na lange Sabhrn lach if, Spis, un dat adtern Lifen-
‚wagen ber! Gunnerbar! De Lid verfdrafen fil, dat fe de Klöör verloorn
un mi anglupen ag en Gpdt — if lad) un lad man ümmerto. Giet den Dag
:210
boolt fe mi bdr aewerfnappt, fir foppfranf. Lat ehr, Spis, Du perfteift mi,
Du feegft mi dat glif an, dat mien Geel wedder to mi famen weer, mien arm
Geel, de fo lang gefangn faten barr. Se blivt nu bi mi un föhlt ſik ganz mollig.
Un wenn fe mal ehr vergnögten Schuurn friggt as bondag, denn fingt fe dat
Reed, wat Henn Kark to Dood fungn Hett. Dat is en gräfig Leed, Spib,
awer wat fdall fe? en anner fennt fe nid. Runnft Du dat mal born, Spis,
Du warft Huuln, dat de Schap vewer Stod un Blod lepen. Amer if mutt
laden, lachen, dat de Lid fit bang na mi ümkiekt. — Wat Heft Du, Spi?
Hörft Du ni to? Aba, nu feb if. Dar fommt noch, een. Dat is de Schoofter
bon Slenbed, de Dwallerhans Ritwitt.“
Paul Strud fprung tohdd, keek mal wild üm fif un ftörrt denn in grote
Sprüngn den Barg bindal.
Gn Holl Laden joog adter em Her. „Spitz, Spik, lat em! SE fa Di
jo, dat he en ool Wied is, dar fommft Du nu eerft adter? — He fmitt fit
den Schoofter an den Hals, ha, bal Nüdlich! Weg mit dat Ding dar!“ He
ftdtt mit’n Stod an Paul fien Mis. „Bring den Sammerlappen dat na:
atwer bool Di nid op, Spib, wi wüllt hier weg, dat rift bier na Henn Karf.“
Neels wull rop na Dierf, awer Paul Strud Heel em trügg.
De Onl lach wedder Holl un funnerbar op un wink af. ,Romm, Spit,
wat gluupft Du noh? De Reerl ift to trurig! Weer ung Henn Kark mal
fo tolopen, wat? wir barrn em toräten bi lebennigen Lied un de Krein dire
fmäten! Düſſe Stadel is to trurig, lat em Iopen! Wi wüllt den Magen wat
Dp de Röp fmiten, en batjn Schatten finnt fit fad. Du Heft en good Gnd
Wuſt verdeent, Heft mi de Bidt good verhört. Komm, mien Hund!“
De Ool drifel langjam den Barg op de anner Giet Hindal, Spit bell un
bang vergnögt vörop.
Neels feeg ehr na un ſchütt den Kopp newer den wunnerliden Ooln, denn
gung be af mit Paul, de fwar an fien Arm Hung. „Du büſt jowol helliſch
möd? Wat wuft Du bi vol Dierk?“
„SE ſöch Maren,“ mummel Paul.
„Hier op'n Biert? Maren hed if funnen, dent Di, fe is bi Doortjn
Holm, op Dien Nawerfchop!*
„Doortin Holm?“ Paul fproof, as wenn He duun weer,
‘Tung.
„Du Heft lang niz äten, feggt mi Gillja, un of nich flapen. Un denn in
fo’n Hitten op de Heid rümlopen! Gerft en gode Mtabltied, Paul, un denn
to Bett! Nu Maren funnen is, fannft Du jo ruhig wän,“ begöfch Neels.
Paul fa niz. As fe fort vör’t Dörp weern, floog in wide Feern de Bad-
flod. Saul feeg fit mal ſcholu im un trod den Arm, as wenn he fit verfchraf.
„Wat Heft? marrft Du flau?“
„Nix niz! lat uns gan, if fam wol hin.“
mit en [ware
Kleine Beiträge
Leben und Tod
De Siel, das das 16. Jahrhundert,
das Jahrhundert der ſogenannten
Wiedergeburt, wie das 18. Jahrhundert,
das Ja rhundert der ſogenannten Auf⸗
klärung, uns aufgezeigt haben, war die
Vollendung der menſchlichen Gingelper-
ſönlichkeit. Sie mit allem Olanz, allem
Reidhtum zu fdmiiden war ihr Streben.
Das neunzehnte Jahrhundert hat — das
Ziel verflahend — das Olid der Vielen
an die Stelle gefebt.
Allein warum fterben wir? Warum
währt unfer Leben nicht ewig, wenn das
Werf der Vollendung endlid vollbradt,
die Grundlagen des Glüdes endlid ge:
211
legt find? Warum muß das Leben immer
wieder bon porn anfangen, warum das
Weib immer wieder mit Schmerzen Kin»
der gebären? Welder Jammer, welde
Shmad, daß der vollendete Menfd zer-
bridt, damit das unfertige Kind in die»
felben Schuhe tritt, Die der Vater müh-
jam ausgetreten battel Weld finnlofer
Kreislauf! Wir fühlen uns gemahnt an
die Hoffnungslofe Arbeit jener Danaiden,
die nidt müde werden, Waffer in boden-
lofe Gefäße zu ſchöpfen, an einen Gi-
ſyphos, dem eine raftlos emporgemalgte
aft immer wieder furz bor dem Gipfel
entgleitet. Weld ein unnüß bertaner
Aufwand ift diefe ftändig fid erneuernde
Qual unferes Gin und Ausgangs aus
der Welt! Wenn Glück der Ginn der
Welt wäre, ließe er fih nidt auf une
endlid einfadere Weife verwirfliden?
Warum Holt wieder und wieder eine
dunkle Madt die Seele deffen, der fein
Haus auf Olid gebaut hat, über Naht?
Die eine Pofaune tönt in diefe Fra—
gen das Wort des Apoftels: „Lnfer
feiner lebt ihm felber, unfer feiner ftirbt
ibm felber. Leben wir, fo [eben wir dem
Herrn. Sterben wir, fo fterben wir dem
Herrn. Darum, wir leben oder fterben,
fo find wir des Herrn.“
Letztes Biel des Lebens ift nicht
GSelbftoollendung, fondern Dienft. Laffet
uns nad Selbitoollendung ftreben, nus
um beffer gu dienen. infer Leben ift
fein ängſtlich feftgubaltender Befit, es ift
ein wechſelweiſem ®eben und Gmpfangen
weit gu öffnendes Herz. Jeder furge
Atemzug, den wir ein- und ausatmend
tun, Der lange Atem der Sefdledter,
in dem wir, was wir bon den Vätern
überfamen, den Kindern vererben, er
zeigt ung, was unfer Leben fein follte,
ift: aus Gott in Gott, wenn es möglich
ift, Unausfpredlides in ein Wort zu
faffen.
Daf wir im Sode gerbreden, aud
das ift nidts alg ein Gemabnen an
unjeren wahren Beruf. „&3 fet denn,
daß jemand bon neuem geboren werde,
fo fann er das Reid ©ottes nicht feben.“
Weil das „bei den Menfden“, im Leben
des Einzelnen unmöglid ift, darum muß
®ott uns helfen. Gr läßt uns fterben, Gr
uns in Kindern aufs neue lebendig were
den, auf daß uns in Leben und Sterben
der Ginn des Lebens lebendig fei.
Sarl Lindenberg.
Otto zur Linde.
Es iſt weder Begrenzung noch Verklei—
nerung, wenn ich ihn, den Menſchen
ſtärkerer Lebensintenſität und größerer
ſeeliſcher Breite, der das Weſen ſeines
Stammestums ausgeprägter vergegen—
212
auch der Bedeutun
wärtigt, ſchlechthin den deutſchen Men-
ſchen nenne, ob ich ſchon in ihm den
Menfden an ſich ſehe, wie er in den
Sabrhunderten oder Jahrtauſenden im-
mer einmal in feiner pollfommeneren ure
fprünglideren ©eftalt über die Erde gebt.
Aber in diefen Sagen deutider Schid-
falsnot liegt e8 mir nab, von ihm als
dem deutfdhen Menſchen zu fagen, ing
dem id weiß, daß id ibn Damit jue
gleid in feinem Wefen erfenne und
feines Werkes nahe
fomme, das wie fein anderes, namlid
das Leben und alles geiftige Gein in
das vorausſetzungslos Urjprünglide zur
rüdführend, für unfer Bolt erlöjfend fein
finnte. Man fab bisher diefen Menfden
als Dichter und Philoſoph, jab ihn pare
tiell immer aus dem Winfel der eigenen
funfttbeoretifden oder religiöfen oder po»
litifhen Parteibeengung — man fah aber
den Menſchen nidt, der da belaftet
ift mit dem Leid der Welt und des
Golfes: ,Sabr um Jahr lieg ih unterm
dumpfen Schmerz der Bolfsverfennung
meines heiligen Werks“ — por deffen
eid der jahrelangen Einſamkeit der Wife
fende in Gbhrfurdt fteht wie abnend die
Borfebung eines höheren Sinns, dem
dieſes Werf (wie eine Srlöfung) diefes
Leides (vielmaliger Kreuzigung) wert ift.
Es ift die Klage der großen Indipiduali-
tät, deren Leid und Sein Weltfeele ift:
„Die Welt ift web, drum liebt ich fie —“
daraus aber fich geftaltet (aus Leid und
Sehnſucht) die tröftlihe Harmonie, das
Lied der ewigen Geele.
Man muß erft diefes einmal feben,
wie Otto zur Lindes kunſtpſychologiſches
Denken, fein Zurüdführen der Runft ge-
en Daturalismus und Gormalismus
ange vor dem Warktgeſchrei des arti-
ftifhemanirierten Expreſſionismus auf
ihre (expreſſioniſtiſchen) Urprinzipien
(„Zorm pon innen heraus“ — „KRunft ift
Wenſchheitsſein“), wie fein pſychologiſches
ſyſtemloſes Grgründen in der „Rela-
tionenlebre“, feine religidfe Myſtik und
Mythologie, feine Sprad- und päda—
gogiihe Pbhilofophie....feine Denkver⸗
weigung in die fubtilften QAngelegen-
Felten der Wortphyfis und der Gigen-
bewegung des Reims und ferner fein
Grbreitern zu den legten Peripherien des
wirtfhaftliden Lebens ... wie alles
dies in ibm einbeitli® not—
wendig, wie nidts vor dem anderen
nebenfadlider ift — — wie eben alles ift:
Geftaltung des Seins als Zwang feiner
Seele, Konjequenz feines Grlebens — —
und wie er damit ift: Grneuerer aus
Religion, Korreftiv des Lebens und der
Welt.
Gs ift nichts unbedeutend — und es
fommt auf die Seele an, auf ihre Siefe
und ihre borigontlofe Wirklichkeit, ob
das Kleine ab ift, nämlih in den Bee
tehungen des Alls und der Lnendlid-
eit. Hier ift zu fagen bon Otto zur
Lindes mythologifh-fosmifher Weltge-
ftaltung, feinen weltbaften Bildern, in
denen Katbar wird das Geheimnis, das,
ob es aud nidt zu jagen ift, die be-
adete inbrünftige Seele erjpürt. Wer
tto zur Lindes Werf innerlich fennt,
weiß, wie traditionslos es ift, weiß aber
aud die feelifhe Berbindung feiner Ur-
pifionen mit den Gddabildern, feiner reli-
idfen Myftif mit Ekkehardſchen Berfun-
enbeiten — weiß, wie deutih-germani-
fhe Wefenheit in feinem DBlute freift.
Die Seftaltungen der Dreieinigfeit (felbft
in der Kugelphilofophie), finden fid neu,
und obne jeglide biftoriihe oder fon-
feffionelle Orientierung ift dag Marien
ſymbol geftaltet in einer Fülle der An-
fdauungen und Schönbeit der Geftaltun-
gen wie bei feinem Dichter lebtvergan-
gener Iahrhunderte. „Es ift geftellt feine
griehiihe Böttin Hin, Maria ift nicht
Seugungsfpmbol, Fleiſcherhöhung, die fo
tiefer fällt... feines Weibes Gnade dies
je mebr fein foll...“ Es find dann die
Bücher der Gefammelten Werke und die
Kugel, eine Pbhilofophie in Berfen mit
den Ghriftusgeftaltungen und den Bildern
der Moira, den Wurzeln des Raums
und den Balladen vom Wann am
Stein, mit den Liedern der Ghe und den
Bifionen der Thule⸗Zyklen und das
» Dud) Abendrot“, das in feiner Mannig-
altigfeit und feiner einfahen Schönheit
am daratteriftifdten das Weſen zur Line
defher Dichtung dartut. Gein [ebtes im-
merwährend nod merdendes Bud ift
„Die Hölle“, in der der Didter und tie-
fer: der Menſch aus Unergründlichkeiten
ins Dafein, aus dem Nichts die Wirklid-
feit febend die Religion der Bufunft
{dafft. Wie überhaupt bisher ift aud in
diefem Wort: ,Semeinfdaftsdienft durch
Selbftentfaltung“ nur ein Hinweis zu
dem Werf gegeben, deifen Wefen es ift,
am Paradies zu bauen, das auf Diefer
Erde erfüllt ift, wenn der Gingelne und
die vielen Gingelnen aus metaphyſi—
[hen Weſenheiten leben. Alles Glück,
alle Schönheit ift in der abjoluten Ehr—
lichkeit des Menfden bedingt. „Wirklich“
ift die unendlide Welt der Geele...
Diesfeitig wirflidl
Otto zur Linde, der aus Schickſal
Wiffende, der aus Inbrunft und Treue
inftinitjider das volfseigenfte ideelle Ere
fennende — gugleid das fremd-Berderb-
lide der Gntartung — erlebt, nunmehr
bereits 50 Sabre alt, die tragifde
Erfüllung feiner Borherfagungen in des
Deutiden Golfes tieffter Not. Sein Werk
aber liegt da, an uralter Weisheit reid
und wejenbaft in dem gerade, das ein
Golf erlöjen fann: Stark vor allem in
den Wurzeln feines Gthos und feiner
Religion, feiner deutſcherweiſe mweltum-
faffenden Individualität. G3 ift nidt das
Werk eines Dichters oder Philofophen —
es ift das Werk eines Menfden, der be—
gnadet ift, zu tragen das Leid der Welt
und des Golfes, zu fingen das Lied der
ewigen Seele... Grid Bodemühl.
Das Elementare in der völliſchen Bes
Wwegung.
Yu der gegenwärtigen biftorifden
Lage unjres Bolfes heraus mu f-
ten, Der menfdliden Natur entipre-
hend, zwei gegenfablide Strömungen
entftehen: die gentrifugalen Kräfte,
die das eigene Golf aufgeben und auf-
löfen, und die gentripetalen Kräfte,
die das Golf jammeln und feftigen. Die
zentrifugalen Kräfte erfdeinen in der
al oe doling in der Beförderung der
Auswanderung (unter gleichzeitiger Be-
günftigung fremdvdlfifher Gintwande-
rung) und in der Aufldjung der Bolfs-
fitte (Libertinismus). Die zentripetalen
Kräfte ftellen fid dar in der „völkiſchen
Bewegung“.
Die zentrifugale Strömung fudt das
Deutfhe Golf den AL anzu.
gleichen: es foll in Berfaffung, Wirt-
ſchaft ufw. dem Weften ähnlich werden.
Die zentripetale Strömung will die An—
terfheidung und Befonderung
des deutſchen Volkes gegenüber den
andern Völkern, fie fudt nad der „eigen-
deutfhen Gorm“. Die einen begeiftern
fid für Menfhheitsfultur, die andern
für Volkstum. Die einen fehen ihr höch—
ſtes Siel in der DBereiherung und Bere
edelung allgemein menfdlider Rultur-
genüffe, die andern in der unbedingten
Golfsfreibeit. Die völkiſche Bewer
gung ift im tiefften ®runde
Bille zu völfifher Form. ~
Aber, wendet man ein: welde Bere
mworrenheit und Unklarheit in diefer Be—
wegung! Wo zeigt fid da Gorm!
Alle Gorm entfteht aus einem Chaos.
An der völkiſchen Bewegung ift das
Bedeutfamfte gunddft dies, daß fie
elementar ift. Gie ift nicht finftlid
duch den Willen einzelner Männer ent»
facht, fondern der Bolfswille fommt den
Rufern entgegen. Gie ſchießt naturhaft
in allen Seilen Deutfdlands empor, in
allen Bevölkerungsſchichten, BPBarteien,
Konfeffionen. Für die Reihstagswahl
ift gwar eine bejondere völkiſche Zweck—
organifation entftanden, fporadifh und
unfeft nod, aber nidt diefe allein und
213
die für fie abgegebenen Stimmen find
ein Mafftab für die Ausdehnung der
völfiihden Bewegung. Aud innerhalb der
alten Parteien lebt und gärt die völ—
fifhe Idee. Eine Partei wie die deutih-
nationale wird heute wefentlid von pöl-
tifhen Kräften mitgetragen.
Weil die Bewegung elementar ft,
bat fie eine fo ungeheure Wucht. Gie
ift zur Seit die — Kraft, welche die
verhärteten Schranken der Parteien zu
ſprengen vermag; alle „Neugründungen“
(die Republifanifhe Partei u. dgl.) er
{deinen ihr gegenüber matt und dürftig.
Darum bietet allein fie die Möglich-
feit, das deutfhe Volk über alles Pare
teiwefen und über alle fonftigen Ser-
Hüftungen hinweg gu einer Bewegung
— und zu einem po»
ttifhen Willen und SKulturmwillen zu
formen. Es gibt feine einzige Idee fonft
im Ddeutfden Leben, die zu einer folden
Möglichkeit nod Raum hätte. Eine „PBar-
tei“ will „Anhänger“ gewinnen, die völ-
fifhe Bewegung will fdledthin das
Golf gufammenfaffen. Gine „Partei“
bat ein , Programm“, die völkiſche Be—
wegung bat eine Idee. Gine „Partei“
ftellt einen „politifhen Kopf“ (mdglidft
einen „beliebten“) an die Spibe, die völ⸗
kiſche Bewegung ftellt einen Helden an
die Spite Gine „Partei“ ift „Hug“,
die völkiſche Bewegung ift leiden»
{haftlid. Einer „Partei“ „Ichließt“
man fih „an“, die völkiſche Bewegung,
aber reißt mit. Damit ift die höhere
Ebene der Bewegung gegenüber allem
Parteiwefen bezeichnet. Damit wird gu-
gleid aud) verftändlih, warum der brave,
orönungsliebende Parteibiirger die völ⸗
kiſche Bewegung als „verwirrend“ emp-
findet und vorwurfsvollen DBlides trop
aller ,Ginigfeit in den Zielen“ nicht
umbin fann, ihr feine Gntriiftung über
die gang unnötige Spaltung feiner Par-
tei fundgutun.
Nun wird man begreifen, warum die
vdlfifhe Bewegung als ein Chaos ers
{deinen muß. Gie ift eine nob unge
fübrte Bewegung, die mit ungebeurer
Sabeit aus dem Bolfsinftinft hervor⸗
bridt und ihren Weg teils in den Par-
teien, teil8 außerhalb fudt. Sn ihr
ringen taujend Kräfte um die Führung,
{hießen taufend Gedanfen auf, fterben ab,
treiben aufs neue — ein wirres Treiben
und Drängen. Das ift das Werden.
Die Deutfhen find mit ihrem politifden
Denfen nod fo im Parteitwefen befan-
gen, daß fie für die neue Grfdeinung
nidt die redte Ginordnung, die denfge-
läufige Kategorie finden. Die Völkiſchen
laffen fid) ärgerliherweife weder „rechts“
nod ,linfs“ nod in der „Mitte“ unter-
214
bringen, fie gehören überhaupt nidt in
das Halbrund der Parteien, fie find eben
ſchlechthin Boll. Ins Parlament drängt
Die Bewegung nidt, um darin und da-
bei gu fein, wo betriebfam unter den
Parteien um die Minifterpoften gefub-
bandelt wird, fondern um ins Bolt zu
toirfen. Denn erft einmal muß dag
Bolt durd eine große Idee geformt
werden, ehe wieder aus dem Bolfe ein
gutes politifmes DInftrument geformt
werden fann.
Der die völkiſche Bewegung verftehen
will, muß an die fozialiftiihe Bewegung
der fünfziger und Ay Sabre des
vorigen Jahrhunderts denken. Damals
war in der fozialiftifhden Welt ein ähn-
lihes chaotiſches Ringen der Kräfte. Aud
damals wandten fid alle braven Bürger
pon Geſchmack, Urteil und Lebenser-
fabrung von diefer entfebliden Anord⸗
nung ab, in der man fid nidt guredt-
finden fonnte. Aber aus dem fogiali-
\tifmen Chaos muds damals eine Zu-
funft. Gie geftaltete fid im Laufe der
Sabrgebnte, brad endlid durd, raffte
den Bismardftaat dahin und fudt feit-
dem pofitid einen Staat nad marzi-
ftifden Idealen zu bauen. (Das gelingt
ihr nidt, da Marz im Srunde unpoli-
tifd, feine Sdeen alfo politifh unmöglid
waren. Aber immerhin hat der Marzis-
mus es bermodt, die fozialiftiifhe Bewe-
gung ins Nur-Wirtfhaftliche abzubiegen.)
Die die heute abgelebte fogziali-
ftifde Bewegung, deren verfnddertes
Parteigebilde nit mehr durd eine le-
bendige Idee, fondern nur nod durd
einen großen, foftfpieligen Parteiappa-
rat aufredt erhalten wird, einft aus der
fogialen Not des werdenden Sndu-
ftriepolfes geboren wurde, fo wird heute
die völfifche Bewegung aus der na-
tionalen Not des deutfhen Gefamt-
polfes geboren. Aud fie wird durd
Sturm und Drang bindurd ihre Geftalt
finden und dereinit die auf liberalen und
marziftifhen Oedanken gegründete , Wei
marer“ Republif zerbreden, um den pöl-
kiſchen Staat an die Stelle zu feben.
Aber freilid, aud ihr drohen Gefabren,
aud fie fann abgebogen werden. Daher
ift nötig: :
Erftens, daß die ſchöpferiſchen Kräfte
nidt durch die agitatoriſchen Kräfte er-
ftidt werden. Agitation ift nötig, da in
einem auf Mebrbeitsbefhlüffe geftellten
Stagt die Bewegung immer aud nad
Mehrheit ftreben muß. Aber die Agi-
tation darf nidts andres als Mittel
fein; wird fie zum Gelbftawed, fo verdirbt
fie das Gange. —
Zweitens iſt nötig, daß ſich über all
die Viertels- und Halbführer hinaus,
an denen das beutfhe Bolf und alio
aud die völfifhe Bewegung allzu reid
ift, eine gefdloffene große Führung
entwidelt. G38 darf nidt jeder glauben,
das deutfhe Bolf gehe zugrunde, wenn
er nidt feinen Willen befäme. Die
Seibkaudt, der von Gitelfeit nicht ge-
trübte Blid für bas Wirflide, das
Augen für biftorifhe Gntwidlung,
das find die Kräfte, die einen jeden in
jeine Sphäre zu frudtbarer Arbeit
bannen. Wir Deutfhe wollen oft allgu-
piel auf einmal und hemmen por lauter
Wollen einander im ndeln.
Drittens muß vermieden werden, dah
die völkiſche Bewegung fih zu zeitig
in eine organifierte rtei verpuppe. Sie
darf nidt Partei unter Parteien werden,
fondern muß fid ihrer Sendung für
Bolt als Golf bewußt bleiben. Schon
das Aufftellen von „Brogrammpunften“
ift nicht ohne Bedenken. Das Programm
darf nie mehr als zeitweilige Zweck—
febung fein. Denn ſobald etwas als
autoritatives „Programm“ „anerfannt“
ift, hört das febendige Gorfden und
Guden auf und der programmtüdtigz
Dogmatifer verfebert den, der fudend
vorwärts dringt. Die völfiide Bewe-
gung braudt aber gerade porwärts drin-
gende Gorfdung, lebendigen Geift. Sie
entftand nit aus einem Programm, fon-
dern aus einer Idee und aus der Lei-
denfdaft eines glühenden Herzens.
Darum: Das Höchſte der völkiſchen Be—
— muß die lebendige Idee
die geiſtvolle, herzens—
warme Führerperſönlichkeit
fein. Idee und Perfdnlidfeit find
mehr als alle PBrogrammatif und Dog-
matif,
Biertens: Die völkiſche Bewegung
darf nidt mitfhuldig an der parlamen-
tarifhen Regiererei werden. Sie darf fid
nidt durd eine forrupte Antvendung
des Begriffes ,Berantwortlidfeit* dazu
bringen laſſen, mit an einer Roalitions-
fuliffe für folde Polititer fehieben zu
belfen, die ibre Berantwortlidfeit Dinter
die Mitfhuldigfeit einer Majorität zu
flüchten beftrebt find. In demfelben
Augenblid wären die Völkiſchen im
Reidhstag nit mehr eine Schar freier,
———— Perfinlidfeiten,
fondern Mitglieder einer „Fraktion“ alten
Stils. Sie hätten aud Butter auf dem
Kopf wie die behäbigen Koalitionspoli»
tifer und dürften aus Angft por der
{dmelgenden Butter nidt mehr in Die
reine, flare Sonne treten
Endlid aber ift der völtiſchen Be⸗
wegung zu wünſchen, daß fie nicht all-
u raſch wadfe. Ihre Gegner wiinfden
anntlid, daß fie raf anfchiwelle, da-
mit fie raf abebbe. Widerftand und
Kampf maden feft und ftarf. Möge ihr
der Kamp} nidt erfpart bleiben. Ot.
@uftad Sdhmoller zur Sudenfrage.
GShmallers »Orundrif der allgemeinen
Volkswirtſchaftslehre“ gehört zu den
großen repräfentativen Werfen eines
Zeitalters, die als foldhe aud dann nidt
veralten, wenn ihr Inhalt langft überholt
ift. Diefe beiden ftarfen Bände find nidt
nur bedeutend als das Lebenswert eines
führenden Gelehrten, fondern zugleich be»
deutfam als der wiffenfdaftlt e Aus.
druck einer eigentiimliden Gpode une
ferer geiftigen und wirt{daftliden Ent-
widlung.
Schmoller gehört zu den ganz weni-
en feines Gades, welde die empirifd-
Bioriige Methode foweit vorgetrieben
fie aud das Pſychologiſche
ace und die wirt{[daftlide Bee
deutung der Piodologifden Golfsthpen
mitbebandelten. In Bud über
„Land, Leute und Seht alg Maffen-
erfdeinungen und Glemente der Bolfs-
wirtfhaft“ widmet er ein Kapitel den
„Raffen und Bölfern“. Die Typen, die
er da zeichnet, verdienen Beadtung, ftedt
dod in ihnen die Lebenserfabrung und
ernfte Grfenntnis eines objektiv urtei-
(enden Wenfden.
Da die ,Sudenfrage* die Semiiter
lebhaft bewegt und nicht immer mit Gade
fenntni8 behandelt wird, ift e8 wertvoll,
nadgulefen, was ein Schmoller über die
Juden denft. Gr fdreibt (im erften Band
der — von 1919, Seite 153):
„Die Semiten. . haben, allerdings im
Anfepluß an eine “ältere, wohl mongo-
Iotde Kultur, an das affadifde oder fu-
merifhe Reid im ———— des
Euphrat die chaldäiſche techniſche und
wiſſenſchaftliche Kultur, die Grundlagen
alles Maß⸗ und Gewichtsſyſtems ge—
ſchaffen, ſie haben in ihrem phönikiſchen
Zweige, dem erſten großen Handelsvolke,
die Formen des Handels und die Bud-
ftabenfdrift, fie haben ote drei —
weltbeherrſchenden Religionen, den jü⸗
diſchen Monotheismus, das Chriſtentum
und den Iſlam erzeugt; die Araber ha-
ben dann ebenfo dur ihre Groberungen
wie duch ihren Handel, ihr Wiffen und
ihre Grfindungen eine bedeutende Rolle
im Mittelalter gefpielt. Die Semiten
waren fo mit ihrem leidenſchaftlichen See
müt, ihrem energifden Mut, ihrem hart
nädigen, 345 das Grworbene feithalten-
den Willen, ihrem @lauben an aus«
ſchließliche Beredhtigung, ihrem harten
Ggoismus, ihrer fdarfen Wbftraftions-
fraft die Mauerbreder für die höhere
Kultur der abendländifhen Menfhheit;
215
fie wurden in vielem die Lehrer der
Sndogermanen und wirfen durh die
Suden aud beute nod überall mehr
oder weniger als ein Leben und Rei—
bung erzeugendes, teils $ortfchritt, teils
Auflöfung bringendes Glement in den
indogermanifhen Staaten fort. Wir wol»
len ftatt der einfeitigen erurteilun
ihrer Raffeneigenfhaften durh Erne
Renan lieber Ghwolfon, der felbft Ge-
mite ift, die Raſſe Harafterifieren laffen.
Gr fagt: Der praftifche, niidterne, mathe
matiſche, ja fpibfindige Gerftand Hat bei
den Gemiten alle Motbologie, alle My—
tif, alles Gpos, alles Drama ausge»
Hloffen; er ift in Religion und Wiffen-
{daft relativ früh zu einfaden, großen
Grgebniffen, zu einer flaren Grfaffung
des empirifhen Lebens gefommen; die
fdarf ausgeprägte fubjeftive Sndividu-
alität des Gemiten erlaubt innige Hin-
gabe an Familie und Stamm, bat aber
ftets ftaatlider ilnterordnung mider-
ftrebt, troß des weichen, faft meidliden
Ginnes für Milde und Wohltätigfeit und
troß der raſchen Empfänglichkeit für all»
gemeine Ideen; das Ideal des Gemiten
war nie in erfter Linie die Tapferkeit,
fondern die weife ©eredtigfeit;. geiftige
Eigenfhaften überſchätzte befonders das
Judentum ftet8 gegenüber fdrperlider
Kraft und Öefundbeit; harte Ausnügung
der eigenen Slugbeit, befonders gegen
unreife Stämme anderer Raffe, fpielende,
wißelnde, ſarkaſtiſche Selbftüberhebung,
Habjudt und Sinnlihkeit find die nicht
zu leugnenden Schattenfeiten des im übri-
gen fo reid) begabten Rajfentypus.
Baht diefe Schilderung der Gemiten
im ganzen aud auf die feit zweitaufend
Sabren zerftreut lebenden, überwiegend
dem Handel ergebenen Suden, fo fragt
fih freilid immer, was biervon auf
den femitifhen Rafjentypus und was auf
die Sdidjale und die Berufstätigkeit die-
fes Zweiges guriidgufibren fei. Sicher
ift, daß die Juden Heute allerwärts als
Handler, Unternehmer, Bantiers und
Sournaliften eine führende Rolle fpielen
und daß dies ebenjo mit ihrem Rajfen-
thpus wie mit ihrer Internationalität
gujammenbangt; ihre große jchriftftelle-
riſche und politifhe Tätigkeit ſchließt nicht
aus, daß der ihnen fonft febr günftige
De Sandolle redt hat, wenn er fagt, die
europäifhe Kultur würde fofort von
Barbaren vernichtet werden, wenn die
Staaten nad ihren Idealen eingerichtet
würden. Auch mer fonft fie als Lehr—
meifter in geſchäftlichen Dingen anerfennt,
wird Bismard redt geben, wenn er jagt,
too ihre Geſchäftsleute die politiſche Lei—
tung eines Staates beeinfluffen, wie in
Paris und Wien, fei e8 vom Lebel.
216
Nidt bloß das habſüchtige, aud das
edle Judentum ift meift unfähig, die
ftaatliden Notwendigkeiten und Härten,
den Mechanismus ftaatlider Inftituti-
onen zu begreifen. Gin fdlagendes Bei-
fpiel bierfür find die fozialen Theorien
pon Karl Marz. Bierfandt daratteri-
fiert die Semiten mit dem Gage, der fehr
gut auf Marz paßt: ihre geiftigen Schöp-
ranger erreihen die Realität der Dinge
n 7* Fa
Die lebten Gage enthalten eine wert-
polle Srfenntnis. Go jehr jüdiſche Schrift“
fteller fid aud als die „wahren“ Poli-
tifer auftun und fid über die angeblich
unpolitiihe Art der Deutihen erregen,
fie find ihrer Natur nad unpolitifd.
Aus der unpolitiihen Natur der Suden
erflärt fid ihr Bolfsididfal. Man führe
nidt immer gleid einen Disraeli vor,
der in England möglih war. Ratbenau
war ein Mufterbeifpiel des unpolitifden
Politifers, wie fdon ein aufmerffame-
res Studium feiner Bücher und Auf-
fabe lehrt. Gr ift daher das politifade
Ideal aller Alnpolitifer, denen Politif
eine Angelegenheit nicht des Sharatters,
fondern nur des Geiftes ift. Das Kar zu
ſehn, ift für die Wahl und Wertung der
politifhen Führer widtig.
Die von Schmoller angeführten Schrif-
ten find: Shwolfon, Die ſemitiſchen Bile
fer. 1872. — YW. de Gandolle, Hiftoire
de la fcience et des favants depuis deuz
fiecles. 1889. — PBierfandt, Naturpöl-
fer und Sulturvdlfer, ein Beitrag zur
Sozialpſychologie. 1896. St.
Der Kampf um den Rhein.
Die aus ſchöpferiſcher Siefe einft un-
bewußt berborgebrodene Heimatbe-
wegung bat durd die Sdidfalsidlage
der lehten Sabre ungefannte neue Im—
pulfe erfahren und ift zu einem der
ftarfften Linterpfander underer wadjen-
den Gelbftbefinnung geworden. Das
deutfhe Volk fühlt fid heute mit Ruhr
und Rhein, Saarland, Elſaß und Ober-
{dlefien unlösbar verbunden, nidt aus
ftrategifhen, madtpolitijden und wirt-
ſchaftlichen Erwägungen — es ift das
deutſche Gemüt, das die, durd feindliches
Diktat dem Reichskörper entriffenen Gee
biete in feinem Schoße unverbriidlid
bewahrt und nidt von ihnen läßt. Der
Feind glaubt durch Reparationen und
Kontrollen fein Biel erreihen zu fin-
nen, während fid das Volk ſchon feinem
Zugriff durd eine in ihm entftandene
Bewegung entzogen Hat, die heute nicht
wie einft von dem geformten Denfen
weniger, deren Pathos die Gebildeten
der Nation aufruft, getragen wird, fon-
dern den LUrfraften des Bolfes ent-
fpringt, feiner Liebe zur anererbten
Scholle, feiner Treue zu beimatlihem
Braud und Leben. G8 ift fo, wie Herr-
mann Stegemann in feinem neuen Bude
„Der Kampf um den Rhein“ es immer
wieder aufflingen läßt, daß welſche und
deutfhe Art mit verfdiedenen Kräften
um den Schidjalsftrom Guropas ringen.
Der ordnenden Sewalt palmer ©eiftes,
der feinen feiner einmal ausgejprodhenen
politiiden Anfprühe vergißt und diefe
felbft alsbald zu einem pollfommenen
Spftem redtsfraftig gemadter Berbind-
lidfeiten, natürliher Grengen, fultureller
Durddringungen zu erheben weiß, ftebt
die verſchwendende Fülle deutſchen Oe—
müts gegenüber, das in ſeinen ſchickſals—
pollen Stunden fid genialiih zum furor
teutonicus fteigert und den Gieg an fid
reißt, um feine Gerfolgung in läjfiger
Grjdlaffung und verträumter Outmütig—
feit zu verfäumen. „Auf Speeren und
Sdilden tragen die Germanen ihr Bolts-
tum über den Rhein.“ Der Kampf gibt
der Landfdaft des Stromes ihre Bee
deutung und ihren Ginn, verleiht ihr
Schidjal und Gnade. Der Kampf ift
der Schöpfer der ftaatliden Bildungen
in dem Stromgebiet, wie diefes für jenen
Maß und Grenze ift als unteilbare na-
turgegebene Ginbeit.
Diefe Wedjelwirfung zwifhen den
Bee Kräften der Gefdhidte und
en bedingenden Gormen der Landihaft
ift der Untergrund, aus dem Stegemann
feine urfprünglide und eigentiimlide Ge—
{hidtsbetradhtung erwadjen läßt. Gie
ftellt in ihren Mittelpunkt die großen
KRampfentiheidungen. Schlachten und
Seldzüge, in ihrer Durdfibrung von
den natiirliden DBerhältniffen des Ge—
ländes beftimmt, entjcheiden über Die
Bodenherrſchaft und damit über das Lex
ben der Dilfer. Der eherne Gang der
KRampfentiheidungen um das Stromland
ift Die ordnende Geftaltungsfraft von
zwei Sabrtaujenden rheinländifher Ge—
jdicdte, ihm unterwerfen fid alle ande-
ren Einzelzüge. Sm Kampf offenbart
fih Kraft und Gigenart der Bolter, im
Wiirfelfpiel des Krieges fällt ihr Los.
Mur einer folden großartigen und
ſchickſalhaften Betradhtung gefdhidtliden
Werdens fonnte e8 vorbehalten fein,
einen Stoff bon unerhörter Fülle und
Ausdehnung zu einem Gefamtbilde zu
formen. Go entftand ein Werf aus einer
dem Wandel der Zeiten gegenüber fi
gleihbleibenden Berjpeftive feines Schöp-
fers, Der die twertende und ordnende
Arbeitsweife des Gelehrten mit der nad-
Ihaffenden Schau des Künftlers gu ver-
binden wußte. Nie verfagt fid ibm
bei aller oft beängftigenden Stoffülle
die ordnende Sewalt der fdreibenden
Hand. Unterftügt von einer feltenen ma-
lenden Betwwegtheit der Sprache und
einer neujhöpferiihen Kraft des Aus»
drucks geftaltet ſich Bild auf Bild.
Mandes unter ihnen beftet fid une
auslijhbar ins Gedächtnis,
der Derfajfer dapon fpridt,
Mainlauf mit feinen Winkeln und Hafen
gotifhen Schriftzügen gleiche, die fid
als politifde Runen in die SGejdhidte
der Deutſchen eingegraben batten. Gpi-
foden wie die Schilderung des Kampfes
zwiſchen Gaefar und Ariorift oder wie
die Gefdhidte der Schweizer Söldner—
ſchlachten verdienten eine DVBerbreitung
aud) über den Rahmen des Buches Hine
aus und dürfen einen Platz in der erften
Reihe deutſcher Gefdidtsdarftellung be-
anjpruden.
Die fraftbolle Zufammenfaffung und
Begrenzung des Themas, die allein
feine Durchführung ermöglihte, mußte
erfauft werden duch das Zurüdtreten
des beftimmenden Anteils, das Dem
Wirfen der Gingelperfinlidfeit wie dem
des Staates in der Sefdidte gufommt.
Der diplomatifhe und fulturelle Kampf,
der um den Rhein fpielt, deffen Wacht—
entfaltung fid nit auf den Schladtfel-
dern feiner ilfer, fondern in den Haupt»
ftädten feiner Rivalen vollzieht, ver—
bleibt am Rande des Bildes, das bier
an Plaſtik und Garbengebung verliert,
um ſchließlich mandmal in einer er-
müdenden Aufzählung von Namen und
Daten zu erblaffen. An diefem Punfte
ergeben fid) Schwäden der von Stege-
mann befolgten, von Kiellen und Albert
bon Hofmann vorgebildeten geopolitijden
Methode in ihrer Anwendbarfeit, wie
andererjeitS nicht zu verfennen ift, daß
fie gegenüber der politiiden Geſchichte
großen Stils und ihren feit Jahrzehnten
feftgelegten Gormen in vielen Puntten
eine fritifhe Bereiderung bedeutet.
Dies gilt insbejfondere aud für die
beute allgemein iiblide heimatgeſchicht—
lide Betradtungsweife, für die Das Ste-
gemannſche Bud) einen neuen Aufſchwung
bedeuten follte. Gs ertweift, daß wie
Waffentat und §reibeitsjinn die edel-
ften @iiter der Heimat, fie aud not-
wendig den Rerngebalt ihrer überlie-
ferten ®efdhidte bilden follen, die nur
fo dem Ganzen der Weltgefhidte fid
einzufügen vermag. Sein DBerdienft
mödte id) aber bei Gtegemann höher
anfhlagen alg feine Darftellung deffen,
was ein Golf vermag im Kampfe um
die Freiheit, im Bilde der ſchweizeriſchen,
flandrifhen wie elſäſſiſchen Geſchichte.
Diefe Bilder deutihen VBolfsfampfes um
den Rhein, voreilig vergeffen in einer
217
Zeit fleindeutider Geſchichtsſchreibung,
wirfen am nadbaltigften auf unfre Her-
zen. In ihnen liegt Die einzigartige
biftorijde Sendung dieſes Buches, fel-
ber eine Waffe um den Rhein zu fein,
denn es lehrt die Deutfchen, daß ein Bolf
für feine Gefdhidte nirgends einen bef-
feren Anfprud ableiten fann als aus
der Geſchichte felbft.
Heinz Dabnbardt.
Su den Bildern von Otto Illies.
Das vorliegende Heft bringt zwei Bild-
beilagen nad) Gemalden des Malers
Otto Illies. Diefer Maler gehört zu
den SKünftlern unferer Sage, die troß
der berrfdhenden Runftridtung des Gee
—— der letzten Jahre — deſſen
Bedeutung wir dabei keineswegs unter—
ſchätzen — vom Beginn ihres Schaffens
an unbeirrbar ihre eigenen Ziele aus
dem Weſen ihrer künſtleriſchen Veran—
tagung heraus verfolgten. Dieſe Treue
des Malers gu fich felbft und zu feinen
Anlagen, fein bebarrlihes Durdbalten,
das Ringen um feine eigene Handfdrift
zeugt von hoher Verantwortung vom
Schaffen eines Künftler8 und nötigt uns
bon vornberein größte Hohadtung ab.
Otto Illies wurde 1882 im fernen
Often, in Iapan, als Sohn eines Ham—
burger leberjeefaufmanns geboren. Dort
verlebte er jedodh nur wenige frühe Ana-
benjabre, ſodaß von einer Beeinflufjfung
durd japaniſche Kunft — es ift das felt=
‚lamerweije zuweilen bei einigen Früh—
arbeiten des Meifters gefchehen, die von
hoben malerifhen Reizen find — dod
wohl nidt gut die Rede fein fann. Bon
frith auf 309 es Illies zur Malerei.
Die Kunftihule in Weimar vermittelte
aber nicht viel mehr als das Handwerf-
lide feines fünftigen Malerberufes. Meh—
rere Sabre zeichnete und malte er bei
Ludwig von Hofmann. Das Feftlihe und
die Poefie im Schaffen diefes Meifters
zogen Illies an, während er zu
der Kunft van de Beldes fein wärmeres
Gerbaltnis gewinnen fonnte.
Einen beftimmenden Ginfluß auf das
KRunftihaffen unjeres Malers bat Die
Weimarer Zeit nidt ausgeübt. Grft die
bolfteinifhe Heimat war dazu berufen,
alle fhlummernden Kräfte feines eigen-
ften Wefens auszulöfen: Illies fudt das
große @ebeimnis des Lebens in der
Poefie der ftillen Garten, wie in den
berben, von Knids durdgogenen Weiten
der holſteiniſchen Landſchaft. Ruhige
niederdeutfhe Dorfſchaften mit ihren
ftrodgededten DBauernhäufern, Snnen-
räume mit ihrem SHelldunfel finden in
Illies ihren treuen Künder. Dann wie-
der verjenft fic) der Maler mit tiefer
218
Ehrfurcht und unermidlidem Bemühen
in die Welt des norddeutihen Waldes,
die er vortreffli wiederzugeben vermag:
bier das Lichte des Budenwaldes mit
feinem Moosgrund, in dem die durd-
fallenden Gonnenftrablen eine freudige
Seierlidfeit fhaffen, Dort das geheimnis-
volle Dunkel des düfteren Sannenwaldes.
Aud den malerifhen Reizen der Warſch—
landidaften mit ihrer waffergefattigten
Luft, die Die Fernen verihwimmen läßt,
ift Illies mit großer Liebe nadgegangen.
Sn gablreihen Studien — fie wären eine
Sonderausftellung wert — bat der Mas
fer den Wechſel der abendliden Stim-
mung über dem breiten Glbftrom feftge-
balten. An feinen Ufern, auf einer be-
waldeten Höhe in der Umgegend Blane
fenejes baute er fid) aud fein Künftler-
beim. Weit blidt es über den majeftä-
tijden Strom binüber ins hannoverſche
Warſchland hinein, grüßt manden nie-
derfähliihen Marſchenhof und die fernen
Kirhtürme des alten Burtehude.
Nur im Winter Iodt es den Künftler
beraus aus feiner Heimat: in gablrei-
hen Gemälden hat er die Schönheit
des oberbayriihen Winters fejtgehalten.
Weiter nad Süden zog es ihn nidt. Es
mag fein, daß der Schnee, deſſen taux
fendfältiges Garbenfprithen im Sonnen—
liht er jo febr liebt, mandes zudedt,
was der Künftler nad feiner Wejensart
als Niederfadfe wohl fonft nidt malen
würde.
Das Wefentlide der Kunft unferes
Malers ift damit wohl am beften ges
fennzeichnet, wenn wir feine Arbeiten
als folde einer in Der Tiefe des Heimat-
bodens wurzelnden Perfinlidfeit anfpre-
den: Wir jpüren eine ernfte, mannlide
Gefdloffenbeit in der Linie, beobadten
ftarfes, maleriijhes Gmpfinden, zumei-
len aud) den gewinnenden Bug einer
liebevollen intimen Auffaffung, die be—
fonders bei feinen Innenräumen zur
Geltung fommt. Aus jeder Arbeit jpricht
eindringid Grnft und Größe als
Gharaftergug feines fünftlerifhen Schaf-
fens. Gir Illies ift die Kunft ein Sym—
bol: er gibt nidt lediglih Die Amriſſe,
die Glemente des landfdaftliden Vor—
wurfs wieder, er erlebt feine Heimat,
fhaut ein neues innerlides Bild, das
er mit erftaunlider Kraft und Reinheit
wiederzugeben vermag.
Illies bat nur febr wenig Runftaus-
ftellungen bejdict, ift Daber weniger be-
fannt geworden. Wer ihn fennen lernen
will, der muß ibn in feiner Werfftatt
auffuden. Der Befuder wird iberrajdt
fein bom Können unferes Heimatliden
Malers, pon den Hoben Zielen, die er
feinem Schaffen zugrunde legt. Der
Meifter bietet eine durch und durd ge-
funde SHeimatfunft, die es zu fördern
gilt, denn wir mwijjen, nur eine folde
Kunſt fann fowohl das nationale mie
aud) das fittlide Gmpfinden unjeres
{wer fampfenden Golfes fördern belfen.
Hans Shröder.
Der Beobachter
Da⸗s „Sachverſtändigengutachten“ ift Die
eiſerne Jungfrau, in die das zu tor—
quierende deutſche Volk eingeſperrt wer—
den ſoll. Dieſes „Outachten“, das eigent-
lich ein Bösachten iſt, ſtellt ſich als ein
ungeheuer verwickeltes Gebilde dar. Es
verlangt nicht nur eine ſorgſame Lek—
türe, ſondern auch langwierige Erwä—
gungen zahlreicher Folgen. Gewöhnliche
Sterbliche vermögen nur, entweder
es aus grundſätzlichen politiſchen Erwä—
gungen von vornherein abzuweiſen, oder
aber fid) zunädft ſchweigend auf ein
gründlihes Studium des Angeheuers
einzulaffen. Anders unfre Parlaments-
größen, die zu der auswärtigen Po—
litif, Die die andern mit uns Deut—
{den treiben, die nötigen deutſchen
Begleitreden maden. Guftap Strefemann,
geboren zu Berlin ausgerednet im
Sabre 1878, das parlamentariihe in-
genium ingeniofijfimum, batte mit
einem DBlid durh das Gouvert, in dem
das große Sfriptum ftaf, die Situation
erfaßt, und Die ganze in Berlin ver-
fammelte ®olitiferihaft ließ fid an Oe—
nialität nicht [umpen, aud fie erfannte
fofort das „Wefentlihe“ Des „Outach—
tens“; man trat feierlich zufammen und
madte drei tiefe Biidlinge in die Rid-
tung, in Der Die fhmunzelnden Abjender
des „Gutachtens“ daheim find. Nun hat
merfwürdigerweife ausgerechnet Herrn
Dr. Guggenheimer, dem befannten In—
duftriellen, „ein Durch Zufall verurfadtes
raſches Erhalten des Parifer Tertes“
— folde Zufälle find intereffant — „An—
laß gegeben“, fid) den Test genauer
angujeben. Gr fdreibt über den Inhalt
allerlei Grbaulides in der Deutihen All-
emeinen Zeitung vom 8. Wai. Dir
eben aus dem Aufſatz zwei Stellen
beraus, die über Die geniale Firigfeit
Der Berliner Gtaatsmänner bandeln:
sod) nehme feine Tendenz bei der fal-
[hen Wiedergabe und zwar weder pon
der einen oder anderen Geite an; wohl
aber ift der Borwurf beredtigt, daß dod
tedt weitgehende bindende Aeuferungen
gu dem Vorſchlage der Sadverftändigen
in einem Seitpuntte abgegeben wurden,
in Dem ganz fider die volle Beurteilung
der Gorlage nod gar nicht möglid war.“
„Aud die Weuferungen unferer „Staats=
männer“ (®uggenbeimer verziert Herrn
Strefemann mit diejen Ganfefiipden, nicht
wir), Die fid beeilten, fofort pon einer
„geeigneten ®rundlage“ zu ſprechen, ſchie—
nen mir nidt zu febr ins Sewidt zu
fallen, denn man fonnte diefen Herren
ja nadrednen, daß fie das Gutad=
ten nod gar nicht gelefen und
verftanden baben fonnten; denn
im Zeitpunfte ihrer welterſchütternden
Grfldrungen lag ein deutiher Text noch
gar nidt vor, und über ihre GFabigfeit,
en fremd{pradigen — übrigens aud bon
den Spradfundigen durdhaus nidt ganz
einfad) aufgufaffendDen — Text in ih auf-
zunehmen, babe ih ganz eigene Grfab-
tungen gemadt.“ Man beadte den aus-
gefudten Hohn des Herrn Dr. Ouggen—
beimer, der, wie männiglich befannt und
wie fon der Name anzeigt, feineswegs
„völtiih“ ift und der das ©utadten
lediglid als Geſchäftsmann behandelt.
Das find die „Staatsmänner“, die unfer
Gertrauen in Anjprud nehmen.
II die Amerifaner, Gnglander und
Grangofen, Die ihre lebhafte Gnt-
rüftung über die vielen Deutſchen in Sta-
lien fundtun, vergeffen eines: daß viele
Deutihbe aus Sparjfamfeit nad
Stalien fahren, weil fie dort billiger
[eben als in Peutihland. Wenn ein
Schriftfteller oder Künftler, der für deut—
{hes Geld arbeitet, in Italien lebt, fo
ift das fein „Luxus“, fondern eine Gr-
fparnis. Dasfelbe gilt für viele Gre
bolungsreifende. Alſo in Baufh und
Bogen von den vielen Deutiden in Sta-
lien auf einen deutſchen Wohlftand zu
ſchließen, iſt ein Fehlſchluß. Leute, Die
fparen müjfen, haben das Beftreben, fid
die billigfte Gegend ausgufuden. Als
die Galuta PDeutichland billig madte,
ergoffen fih Scharen von nidt fonderlid
bod fultivierten Wmerifanern, Gnglän-
dern und §rangojen über PDeutjchland,
um mit ihren Dollars, Bfunden und
Sranfen bei uns bejjer zu leben als in
der Heimat. Wenn die Baluta nun Sta
lien und §ranfreid zu billigeren Län—
dern madt als Deutſchland, fo ift es
ganz natürlih, daß die Deutfden fid das
. billigere Leben nicht entgehn lajjen. Man
foll mit moralifher Gntrüftung nidt zu
219
verihiwenderifh umgebn, fondern fie für
den Hausgebraud aufheben.
3) Immanuel Kants zweihundertfter
®eburtstag juft in die Beit eines
deutfhen Reidhstagswabhlflamaufs fiel,
war es nit zu umgehen, daß irgend-
einer, der's nicht lajjen fann, den alten
Smmanuel por feinen Parteifarren
fpannte. Der Detektiv und Journaliſt
Hellmuth Falfenfeld ließ fein erfinderi-
ſches Galfenauge bliten und begab fid
auf die SHimmelsbibne, ‘um Kant zu
interpiewen. Gr bradte Hellen Mutes
ein Sntervie auf die ,Weltbiibne* mit
berab. Danad hat fid Kant im Himmel
über Gidtes Reden an die deutidhe Na-
tion lebhaft „geärgert“. Hegel babe ibm
„Magenjhmerzen gemadt“. Ueber Marz
fagt er weiter nichts. Ginftein preift er
natirlid als Genie. Sn Bezug auf die
Reidhstagswabhl habe ſich Rant folgender-
maßen vernehmen lafjen: „Das Sittenge-
feß fordert — id) babe mid da in meinen
Schriften mandmal nod etwas undeut-
lih ausgedrüdt —: daß wir die Würde
aller Menfden für gleid eradten. Alfo
wählen Gie die Partei der unbedingten
Gerechtigkeit. Sh bin im Augenblid faft
Der Anſicht, daß die nur bei den ent-
{dhiedenen Sozialiften, wenn nidt gar bei
den Rommuniften gu finden ift.“ Da das
gagbafte „faft“ und „wenn nidt gar“
durchaus nidt der fantifdhen Sprehmeife
gemäß ift, da aud der Inhalt des In—
terviews Die üblihe Unkenntnis kan—
tiſcher Gedanfen verrät, wurden wir mif-
trauifd und begaben uns gleidfalls in
den Himmel. G8 gelang uns, Herrn Pro»
feffor Kant zu treffen. Wir ftellen feft,
daß die Bebauptung Falfenfelds, Rant
wohne in einem fleinen Gartenbaus, frei
erfunden ift. Gbhenfowenig wie der irdi-
(he, bält fih der himmliſche Kant in
feinem @arten auf, er bewohnt nad wie
por feine Gtudierftube und verfammelt
im Eßzimmer feine Freunde zwar nidt
mehr um den geliebten englifhen Rafe,
wohl aber um gefäuerten Neftar und
Ambrojia. Kant ipfiffimus bat uns zu
folgendem Dementi ermädtigt: Der pp.
Salfenfeld babe ihn überhaupt nidt ge-
fproden; es fei ein febr eiliger, windiger
Herr gewefen, der ibn mit dem jüngft
berftorbenen Geheimrat Witting vertwed-
felt und deffen Auslaffungen über Rant
{dledhtweg, als fantifhe Auslaffungen no-
tiert babe. Witting gehöre, mangels zu=-
reihender Gertrauenswirdigfeit, nidt
gu Kants himmlifhen Tijdgaften, fei alfo
nidt qualifiziert, aud nur über Kant zu
{predhen. Wenn das Gefeires über ihn
(3. B. aud in der Kant-©efellihaft) nod
lange fo weitergebe, werde er oftentativ
220
zu den Völkiſchen übertreten; denn
{dlieBlid habe aud er wie alle Menſchen
das Redt, einfad für das genommen zu
werden, was er fei.
Ser Grfolg der verfilmten Nibelungen
bat aud die Liförinduftrie zu ent»
{predhenden Taten animiert. Go bringt
eine große Likörfabrik in Worms jest
folgende neue Marten heraus: §afnirs
Blut, DWalfüren-Preis, Brunbildens
Neid, Wormjer Domſchatz, Nibelungen-
®old, Kriemhilds Sroft. Heil dem Zeit.
alter der nidt nur verfilmten, fondern
aud verfdnapften Nibelungen! Merk»
würdig, daß es zu König Gunthers Zeit
in Worms nod feine profperierende Li-
förfabrif gab. Dann hätte die Witwe
RKriembild, dem Beifpiel der frommen
Helene folgend, fih mit der Flaſche
Kriembhilbs Troft im Eckſchrank getröftet
und die ganze Ghelei und Mebelei wäre
niemals eingetreten. Dann hätte Gri
Lang feinen Roloffal-Welt-Reford- Film
daraus maden fünnen. Weld ein Gegen
für die Filminduftriel Alſo feien wir
dem Schidfal dankbar. Bei mir: Fafnirs
Blut — Prdftden!
Ted! Gin graufes Unglüd ift geihebn!
Das deutſche Volk wird nun endgiil-
tig und zum unwiderruflid legten Male
aus der Reihe der Kulturnationen ge-
ftriden. Gelbft Alfred Kerr, der fid vor
den fdmergbaften Anfdlagen feines
Schwiegervaters im DVerborgenen balten
muß, wird durd die Alngeheuerlichkeit
der Greigniffe auf die Rampe der „Kul-
turfundgebung“ im Dlüthner-Saal ge»
trieben (ohne Gollbart freilich, den hat er
fih vorfidtigerweife abnehmen laſſen).
&3 gebt „ egen die nationaliftifden The-
aterffanDdale“ und „gegen die jefuitifche
Staatsgewalt“. George Groß, Frik Kort-
ner, Arthur Holitiher, Sulius Bab, Paul
Levi, alle, alle, die ganze „radifal-repu-
blikaniſche Arbeitsgemeinihaft des re-
publifaniihen Sugendbundes Schwarze
Rot-©old“ hat fie) aufgemadt, um zu
ſchreien, fHreien und zu geftifulieren, bis
felbft die Marsbewohner von Beradtung
gegen die deutfhe Kultur erfaßt werden.
Zubören und zujehn darf man gegen Gre
legung von drei bis fünf Mark. Sft man
„Mitglied einer fulturfortihrittliden Ore
ganifation“, fo darf man fih fdon für
eine Warf — merffte was — eine Karte
im Büro des Republifanifhen Jugend»
bundes erfteben. Was ift los? In Dres-
den bat es einen Sfandal um Tollers
„Hintemann“ gegeben. Man ftelle fid
bor: in Amerifa wäre ein Stüd aufge-
führt worden, in dem die amerifanifde
Nation in einem (budftablid) entmann-
ten armen Teufel fpmbolifiert worden
wäre — gegen den Skandal im Lande
des Teerens, Federns und Lyndens wäre
der Dresdener Terror ein Kinderipiel.
Soh wir fommen auf die Sade mit
Hinfemann nod zurüd. Bleibt der ver—
urteilte George Groß. Groß bat Quali-
täten. Bei weitem nidt fo große, wie
ihm (infolge feiner fommuniftifhen Ten—
Deng und feiner Abftammung) angedidtet
werden. aber immerhin. Alſo mag er
feine Runft, aud) in abftoBenden Sormen,
unbebelligt ausüben. Etwas andres ift
es, ob fih ein Golf nun aber gefallen
laffen muß, daß mit dieſer Runft ein
breites öffentlihdes Geſchäft gemadt
wird, daß diefe Kunft aus beftimmten
Abfidten ganz fapitaliftifd ins Volk hin-
einagitiert wird. Das ift feine Frage der
Sreibeit der Runft, fondern der Grei-
beit des Geſchäfts. Wir bedauern an
dem irteil gegen Groß, daß es nidt
bon der unmigliden Grageftellung
„Kunſt und Gittlichkeit“ loskommt, da es
jid dod um die Frage „Kunſt und Gee
{Haft handelt. Kunftfreibeit ift nicht Gee
ſchäftsfreiheit. Hier unterfdeidet fid die
Mentalität zweier Völker. Der Repu-
blifani{fhe Sugendbund Schwarz-Rot-
Gold wird unfere Trennung von Kunſt
und Kunftgefhäft nie begreifen. Gir ihn
ie Agitation, Kunft und Gefdaft eine
auce.
Zwieſproche
Baran, daß das RKantheft nidt zum
Tage Kants erfdien, bin ih un-
{huldig. Die Reihstagswahl wirkte mit
ihren eiligen Drudaufträgen in die Druf-
ferei hinein. Immanuel Kant Hat mit
fantifher Ironie auf Das ©etriebe herab-
ejehn. Mit der löblichen Beicheiden-
eit, welche die Frucht diefer Ironie ift,
bat er den Dichtern und Denfern der po-
litifhen Slugblatter (fie find meift mehr
Dichter als Denker) den Bortritt gelaffen.
Aud meine Arbeit wurde fdlieflid
ein wenig pon den Wahlen disturbiert.
Es war fünf Minuten vor Mitternadt,
ih j{drieb gerade an den lebten Zeilen
der April⸗Zwieſprache, da Donnerten
unten an der Haustür ein paar Männer»
fäufte, die Treppe fnarrte, und dann vers
nahm id) in Dem veriwunderten grünen
Lidte der Schreibtiihlampe aus dem
Munde der nadtliden Abordnung, id
folle für den völkiſch-ſozialen Blod den
zweiten Hamburger Reidstagsfandidaten
maden. (Liftenverbindung mit Schles—
wig-Holftein. Grfter Kandidat auf beiden
Liften Graf Grnft zu Reventlow, der
Herausgeber des „Reihswarts“.) Nad
langen leberlegungen babe id aus
@riinden, die man in meinem Beitrag
über die völfiide Bewegung nadlefen
mag, zugeftimmt. Der Wablausfall war
fo, daß id nicht „heran“ braude. Das
gereist mir zur Befriedigung. Aud fade
id. Wir wollen froh fein, daß die völ—
kiſche Bewegung nicht zu raſch und leicht
und Hod aufflammt. Sie muß langjam
und ftetig ſtark werden. ‘
Nod ift das deutſche Golf nicht mit
den Parteien fertig. Bon der So—
ee rn Bartei bis zur Deut-
hen Volkspartei haben fie fid gleich-
fam abregiert. Iebt ift die Frage: wird
die Deutjchnationale Partei mit Grfolg
regieren und dadurd das Parteifyftem
und den Parlamentarismus retten oder
wird fie fid aud abregieren wie Die
andern? Daß Helfferich gerade vor den
fommenden Sntiheidungen hinweggeriſſen
wurde, ift ein ſchwerer Berluft und —
nit ein günftiges biftorifhes Aufpicium.
Würde die Deutfchnationale Volkspartei
den Weg der Deutihen Bolfspartei gehn,
fo würden alle Parteien „ausprobiert“
fein, e8 blieben nur nod die „Bewe—
gungen“ übrig: Die fommuniftifhe auf
der einen, Die völfifhe auf der andern
Geite. Deren Kampf ware nidt mehr
eine parlamentarifde Angelegen-
beit. Sedenfalls tut die ganze völkiſche
Bewegung (aud fomeit fie in den alten
Parteien ftect) gut, die Möglichkeit nicht
aus dem Auge zu verlieren, daß fie
einmal beftimmt fein fann, letter Rüd-
halt der nationaldeutfhen Kräfte zu fein.
Sir die völfiihe „Fraktion“ im Reichstag
ift diefe zufünftige Aufgabe pon höherem
Wert als die fogenannte „parlamenta=
riſche DVerantwortlihkeit“. Sie darf ihr
Anfehn zwar nidt in läppifhem Obftruf-
tionslarm, aber aud nidt in widtigneb-
merifhen Rompromifjen und Koalitionen
verwirtihaften. Gbhrlidfeit und unbe»
Dingte Treue zu ihrer Idee wird ihre
befte „Bolitif“ fein. Dieſe Fraktion bat
den großen Gorgug, weil fie eben nicht
Ausdrud einer Partei, fondern einer
Golfsbewegung ift, in ungebrodener Ehr-
lidfeit unverrüdt bebarren zu fönnen,
ein @®ewifjen für alle nationalen Poli»
tifer. Wod ift ihre Aufgabe nicht po-
litif, fondern ethiſch. Möchte fie fid
allmabli® etbijd fo feftigen, daß fie
221
einmal ebrlide Bolitif — nad fo viel
„Barteipolitif* — treiben fann. Damit
die völkiſche Fraktion ihre Ginftellung
gegen alle Parteien bildhaft aus—
dDrücte, wäre es pſychologiſch glüdlicher,
fie fette fid nicht mitten unter den alten
Parteien nieder, fondern ginge an das
Ende des Halbrunds im Reichstag,
gegenüber den Rommuniften. Gin ©eg-
ner, der fic) einordnet, wird nidt fo
deutlih als grundjäßliher Gegner emp-
funden. — —
Nod einige Worte zu den Auffaben
Diejes Heftes. Sch felbft bebellige unjere -
Leſer in diefem und dem nadften Heft
nicht mit längeren Ausführungen — „Ser
rien bom Ih“. Ih hatte in den lege
den vier Heften unfern Mitarbeitern all»
zuviel Raum weggenommen. Diesmal
herrſcht Holftein vor: der Dichter Johann
Hinrih Fehrs aus Mühlenbarbeck (1838
bis 1916), dazu der Maler Otto Sllieg,
der in Galfenftein bei Blanfenefe Iebt.
Nicht zu verwedfeln mit dem unfern Lez
fern aus früheren Dilderbeilagen und
Auffaben befannten Arthur Sllies.
G3 gibt eine Gebrs-Gilde, die das
Andenten des Dichters pflegt. Näheres
erfährt man durch Pfarrer Chr. Boed
in Bramfeld bei Hamburg. Die unferes
Wiſſens lebte Verdfjentlidung der Gilde
ift „Bon Groth gu GFebrs. Wege zur
niederdeutfhen Kultur.“ (Weftermann,
Braunfhweig.) Darin unverdffentlidte
Gedichte von Klaus Groth, perjönliche
Grinnerungen an ibn, ein Gti aus
Sehr!’ Nahlaf, widtige Auffäge über
@®roth und Fehrs. Als ih fürzlih Die
Novellen von Fehrs gu lefen begann,
war ich itberrajdt über Die hohe künſt—
lerifhe und menfdlide Qualität. Hier
ift einer, Der rubige, in ſich gefdloffene,
innerlih reihe Wenfden von feiner Ab—
gewogenbeit lebenswahr Darguftellen ver—
mag. G3 ijt jene edle Art der Dorfge-
Ihichte, deren erfter Vertreter der allzu—
wenig gefannte Weldior Mehr ift. Diefe
Runft fteht an Qualität weit über der
zeitläufigen @rofftadtfunft, die in allen
Seuilletons prangt. Gie ift reif und
weltüberlegen. Sd perjönlih ſchätze bei
Sehr3 mebr die ganz gefammelten, ver—
baltenen Stellen, weniger die Darftel-
lungen des Damonifden. Wenn wir
gleichwohl gerade eines der erregteften
Kapitel aus „Maren“ wiedergeben, fo
begründet unjer Mitarbeiter Ghriftian
DBoed das folgendermaßen:
„Kurz nad) Erſcheinen des Romans
fchreibt Der Dichter an einen befreundeten
Kritiker: „Leid bat mir’s getan, daß
Sie das 22. Kapitel nicht‘ recht Leiden
fonnen. Gs enthält die Generalbeidte
de3 alten Dierf-Sheper, deffen Frauen-
baß, feine Gludt in die Ginjamfeit ufw.
fortan zu verftehn ift, und es beſchwört
den graufigen Schatten Des Obms von
Paul Strud, der jid entfekt abfehrt von
Dem @eldfaften und feinen bedenfliden
®eldgefhaften. Als ih dies Kapitel zu
{Oreiben hatte, war meine $reude groß,
id hielt und halt es mit zu den ge-
lungenften des Buches. Dod id beſcheide
— der Vater des Kindes irrt ſich in
ſeinem Arteil über dasſelbe gar zu leicht.“
Unſre oberdeutſchen Leſer werden ſich
ſchwer in die Sprache hineinfinden. Aber
es hätte eines kleinen Wörterbuches be—
durft, um alle ihnen auffallenden Bil—
dungen zu erklären. G8 gibt für 30 Pfg.
eine „Worterflärung zu den plattdeut«
ſchen Werfen pon Fehrs“ (bei Wefters
mann in Braunſchweig). Sie tut gute
Dienfte beim Ginlefen. Fehrs' Redt-
fOreibung mußten wir leider aus Wane
gel an den ihm eigentiimliden Laut—
darafteren ändern, wir fonnten die ſpe—
zifiſch plattdeutiden Laute nidt befon-
ders bezeichnen. .
Das nadfte Heft wird fid mit der
deutihen Familie bejchäftigen. Ot.
Stimmen der Meifter.
Sat weer buten (draußen) fo ftill as in de Kart, de Häben (Himmel) weer aewer-
bär (überher) mit Steerns beftreit, fe plinfern mi an, as baren je mi ganz wat
Heemlihs to vertelln (erzählen); in’t Often ſpömm voll un rund de Maan (Mond)
un jeeg gerubig in De mide Well.
Go'n wunnerflare Steernhimmel is dod Dat
grötfte, wat uns Herrgott for uns opftellt hett! Den Minjhen mutt ic beduurn,
de diffe Pradht anjehn fann, abn dat em en Toon ddr de Geel Flingt ut en anner
Welt.
Wenn mi mal de Kleenwelt hier op Gern mdd un mdr (mürbe) malt, denn
feeg (febe) if immer geern na baben (oben) in dat Gewimmel. Denn fommt mi dat
bier nörrn all jo litt pdr un iS mi tomoot, as harr if Flümfen (Sliigel) un funn
vewer all den Kroepelfram (Kleiniram) roewer flegen na baben op en jchönen Öteern.
De wide Häben fteit nu al all de dufende von Sahrn un ünner em ftiggt een Min-
fhenwell na de anner un duuft (taucht) wedder ünner — wat bett dar fo'n Bettel
to bedüden, De uns mal en par Dag drüden un plagen Deit!
222
Sobann Hinrid Fehrs.
Neue Bücher
Johann Hinrigd
Lid. 138 ©. — Jebann-
158 S. — Ehler Schoof.
mann, Braunjdiweig.
om "stg ijt Fehrs eine ganz wunder-
volle Gejtalt gelungen: in fic) reich, geſchloſſen, bei
aller jeeliihen Tiefe dod) ausgeglichen, eine Bereini-
gung von zarter, weicher Güte und gereifter Männ-
lidfeit, jo daß man fih in feiner Gejfellihaft wie
in der Hut eines Schutzgeiſtes fühlt. Und gwar
gerade da, wo er nidt Hauptperfon ilt, 3. B. in
der menjhlid tiefen Novelle von dem unglüdlihen
Bimmermann Ebler Sdoof. mmer führt uns
Fehrs durch edie, ernjte menſchliche Not hindurd,
immer jcheiden wit innerlih nit nur bemegt,
DR bereihert von ihm. Dabei ift dieje Scan
eit fi in Natur, Duft und Atmojphare des all»
täglihen holſteiniſchen Dorfes eingebettet, dak merf-
mwürdigerweife gar fein Zwieſpalt fühlbar wird.
Fehrs ijt, wie jeder echte Dichter, ein Lebenshelfer,
der uns getrojt macht im Lebensfampf. — Schade,
daß das Papier der Ausgaben nicht beffer ijt. St.
Fobann Hinrih Fehrs, Anna Moeſch
un if. Bertelln ut de Stinnertied. Ut fien nalaten
Bapiern, tutgeben von Karl E. Febrs. 70 Seiten.
Georg Weftermann, Braunfdweig.
Eine nadgelafjene, unfertige Arbeit, aus Yugend-
erinnerungen gewoben. Der Sohn hat das Beite
aus den Papieren zujfammengeitellt und zwei Ge-
ſchichten felbftändig zu Ende geführt (die Stüde find
in der Einleitung bezeichnet), um ein Ganzes zu
bieten. Das Bändchen jtellt man gern neben die
vollendeten Novellen. St.
Karl Anguft Meifinger, Sant und
die deutihe Aufgabe.
200. Geburtstage. 100 ©. Kart. 2 ME.
u. Schloſſer, Frankfurt a. M.
Das Buch ijt zu leihtbin gejchrieben. Der Unter»
titel follte beißen: Kants Anjdauungen in deutſch—
demofratifher Auffaffung. ie pbilojopbi-
{den Gedanfengange Kants find flüffig und ange-
nehm lesbar dargeftellt, zum Teil in interefjanter,
eigenartiger Weife. Aber jobald Meifinger auf „die
deutihe Aufgabe” kommt, fdiittelt man den Stopf.
Was joll diejes Altuellemahen Kants? Wenn fon,
dann dürfte man es wenigſtens an fantifher Gründ—
licpteit nicht fehlen Iaffen. Was da zu dem Thema
Sosialismus-Rapitalismus yefagt wird, ijt dürftig.
Was über, vielmehr gegen die ,,v0lfifde) Frage” gee
fagt wird, tft fomobl von Sant aus wie von der
volfijden bee aus oberflächlich wie ein Wabiflug-
blatt. Und wenn jchlanfweg behauptet wird, der
„erite Definitivartifel” Kants „zum ewigen Frieden”
fordere den Parlamentarismus des 19. ahrhun⸗
derts, ſo fann man nur erſtaunen. Die Weimarer
Verfaffung würde nämlich fur Kant unter den Bee
ariff der Dejpotie fallen — bitte genau zujehen.
Derartige „Anwendungen“ Kants find immer be-
dentlich, jte bedürfen auf jeden Fall der größten
Selbitentäußerung. St.
Isländiſche
ehrs, Allerhand Slag
hm. 147 ©. — Eittgrön.
74 ©. — Georg Wefter-
Englert
Vollsmarden. Ueber
fett von Hans und Yda Naumann. 317 S. Pappbd.
6, Halbl. 10 Mt. Eugen Diederichs, Leipsig.
in Band aus den ,Mardhen der Weltliteratur“,
der 71 islandifde Marden und 8 von den Fardern
enthält. 10 Marden find der alten Saga-Literatur
entnommen. (Die Gefdidte von Thorftein aus der
Batnsdoela ga madt freilih nur ſehr mittelbar
den Eindrud eines Mardhens.) Die große Maffe
des Buches enthält aljo neuere Bolf3märden, die
freilich viel uraltes Gut bewahren. Ganze Partien
de3 Buches wirken wie Beifpiele für Naumanns
Lehre vom Präanimismus. Bejonders auffallend ijt
die nicht geringe Zahl der Medtermardhen — wobei
die ag tet, der Aechter leicht ins Totenreid-
mäßige biniberfpielen — ber Riefinnenmarden und
Hfldrenmärhen. Merfwiirdig ift Rr. 38: „In
Eine Handreihung zu Kants,
Deutihland war ein Ritter...” Eigentümlich ſchön
find die Seehundsmarden 30, 31 und 72. Spegifi-
ide Dümmlingsſagen finden wir nur zweimal:
Ne. 3 (Tritt, Littl umd die Vögel), Nr. 50
(Hwelt), wovon nur die erfte den typiſch deutſchen
ähnelt. Das Ganze bildet eine reizvolle, im fich
gefhloffene Welt, eine le — von Rea—
lismus und Traumhaftigkeit, herber Nüchternheit
und Dämonentum. Wer die Sagaliteratur ſchätzt,
ſollte ſich dieſen Band als Ergänzung nicht enigehen
laſſen. St.
Robert Budzginsti, erdinand Avena—
rius. rg ee Bildgr. 22 x 32cm,
Vom Künftler figniert, 5 ME. Georg D. W. Call«
wey, Münden.
Das Blatt deigt Avenarius in dem Turmraum
feines großen Arbeitszimmers, im Seffel vor. dem
großen runden Tiſch. Durchs Fenfter fieht man ins
Elbtal. Es ift der alte Avenarius in rubender
Stellung, mut raſchen, flotten Striden La el
ohne Eingehen aufs Detail (das fic) bei Avenarius
bejonders lohnen würde). ür uns, die wir ihn
fennen, ein willfommener Anhalt für die Erinnes
rung; für die andern gibt es eine Seite feines
Weſens, freilich die, welhe für den Stunftwartlefer
alg bejonders wejentlih in Betradt kommt: die des
ruhig Sinnenden. Gamberger gibt mehr, am mei»
ften gibt Bleefers Porträtbüfte. Bei Budzinsfi tritt
das Ehrwürdige des refignierenden, aber immer
nod lebendigen Alters hervor. Die PVerehrer des
Mannes und feines Werkes feien auf das Blatt
aufmertjam gemadt. St.
Erid Lilienthal, Die Toten Magen an.
Des deutfchen Volkes Freijprud. 64 ©. 1,— Mt.
Pyramidenverlag Dr. Schwarz u. Co., Berlin.
Das ware ein feines Aufflärungsmaterial, dieje
eds fleinen Bilder. at da die Menſchen in der
Welt nicht mehr fo aufgeregt find, würden jie durch
diefe Meinen Szenenbilder das deutjhe Voll, wie
alles war im Strieq und alles wurde, verftehen
lernen! Statt wertlofer Brojhüren und Flugblatter
follte man dieje Meinen Hefte recht weit ver) a
Arthur Mabraun, Ueber die Einführung
der allgemeinen gleihen Arbeitsdienftpflimt. Yung«
deutjher Verlag, Kaffel. 2 ©. 0,40 Mt.
Hinter diefen furgen und fadliden Darlegungen
über Zmwed und Möglichkeit der Arbeitsdienitpflicht
ftebt der Wille des Jungdeutihen Ordens. Erſtaun—
lid) raſch und weit bat fi unter unjerer Jugend
die Begeifterung für diefen Erjaß der Heeresdienit-
pflicht verbreitet. Ich glaube allerdings, dak wit
eher die allgemeine Heeres- als die Arbeitsdienit-
piliht haben werden, würde mich aber freuen, wenn
ih ins Unrecht gejegt würde und die Jugend aus
fic) dieſe wirkliche „Tat“ vollbradte. Mahraun
bietet auf wenigen Seiten eine flare Ueberſicht über
den heutigen Stand der Angelegenheit. Er jtellt
feinen Plan fürs erfte ganz auf Oedlandfultur ein,
um die Gelbitverforgung Deutſchlands zu fichern,
will aber die Sleinfiedlung (Gartenfultur) viel mehr
alg die Bauernjiedlung pflegen. Finanzieren will
er den großen Apparat auger durh einen erjten
Staatsfredit durd) die „Arbeitsmart”, die geſtützt
wird durh die zu fdaffenden Werte. Das vor
allem fdeint mir der neue Gedanfe zu fein. Wefent
lich ift bei der Mahraunfhen Arbeit auch, dak er
die fittlihen und ethiſchen Werte ftarf betont, die
in dem Gedanten der Wrbeitsdienftpflicht Liegen,
Ich vermiffe aber aud bier noch wieder eine Aus-
einanderjegung mit folgenden Einwendungen, die
gegen die A. erhoben werden: 1) den Ginmwurf der
Gewerffdaften, daß ein fo riefiger Arbeiterapparat
in der Hand einer Regierung diejer einen jtarfen
Einfluß auf den Ausgang mirtihaftliher Span»
nungen und Kämpfe geben würde; 2) daß die Be-
ihaffung von Wohnungen, Kleidung ujw. für die
223
Arbeiterheere gerade jest unerſchwingliche often ver»
urfahen würde; 3) daß die Abſicht, auf Grund der
Bübrungszengnille freie ober verbilligtes Land an
die Wrbeitsjoldaten zu geben, ein fittlih fo eine
wandjreies Beamten- und Borgejegtenheer voraus-
eben würde, wie e8 in unjerer moralijh verwil-
erten Zeit niemand für möglih halten würde;
4) daß ein Bmwangsarbeitögejeg einen mit Macht-
mitteln ausgerüfteten Staat vorausſetzt, den wir
nidt haben, G. K.
Arthur Mahraun, Der Weg für Deutid-
lands Zukunft. 15 ©. 0,50 Mt. Jungdeutſcher
Verlag Kaffel.
Eine jehr erquidlihe Anjprade des Hochmeiſters
des Jungdeutſchen Ordens. er den gejunden Geift,
ber diefe Gemeinjdaft leitet, fennen lernen, wer
Ballen will, worin die pofitive Arbeit des Ordens
beftebt, der leje die kurze Rede. Nichts Ueberitiege-
nes im Programm, jondern edhtes deutſches Leben
wird da gepflegt. G. K.
Bilbelm € Gerſt, Gemeinſchaftsbühne
und Jugendbewegung. Sammelband 1924, Beit-
rift des BiihnenvolfSbundes. Gebd. 3,50 Mi.
tanffurt a. M.
Diefe Yabresgabe des BiihnenvolfSbunde3, die
don in reid) bebildeter, gut ausgeftatteter zweiter
uflage vorliegt, gibt eine umfaffende Weberficht
über alles Streben nad Bühnenerneuerung, jomweit
e8 aus dem Geift der Jugendbewegung gejdiebt.
Außer mehreren grundlegenden Aufjägen find die
Gebiete „Vom Spielen der Yugend“, „Zugendfpiel
und Stegreiffpiel”, „Heimatjpiele”, „Bom Spielplan
des deutſchen Theaters“, „Die Neformarbeit am
Theater” u. a. m. jo ausführlich behandelt, daß
jeder, der irgendwie an diefen ze beteiligt ijt,
reihe Anregung darin findet. 8 iſt augenblidlid
das Bud über die Beitrebungen zur Bübnen-
teform. G. 8.
Hermann Krieger, Not-Wende Vom
Aufitieg des germanifhen Wbendlandes. 298 ©.
Verlag Georg Weltermann, Braunjchweig.
Man wird ſchwer fertig mit dem Bud. Auf den
erften Anhieb gelingt es wohl überhaupt feinem.
Dazu find die vielen gigantifhen Yoeen, die es ent-
hält, zu fehr in einer unferm Gefühl durchweg
mwiderfprehenden Form dargeftellt. Wir mehren ung
innerlich gegen mandes, was Strieger fagt, obgleich
wir fühlen, daß wir ihn nicht widerlegen fünnen.
Am Ende loft fih uns aber dod wohl auf, was uns
lange widerftrebte: wenn wir nämlid merfen, daß
wir im Grunde die legten Gefege, die bei Rrieger
fo drüdend wirken, in freundliderem Gewande an-
erfennen Lönnen. Die dee „Satan Natur” ift
dod gleihzufegen mit Goethes Gefeg „Hammer
oder Amboß“. Andere großartige Gedanten, die uns
wiſſenſchaftlich nicht fiher genug gegründet zu fein
fheinen, fann man ald Dichtung nehmen; wieder
andere fann man ablehnen. Gewinn bringt die
Beihäftigung mit ihnen immer. Go mag dieſes ges
baltvolle Sud, da8 uns bet der Ergruͤndung
unſeres germanifd raſſiſchen Weſens einerfeits bis
gu den Urzellen führt und uns anbdererjeits die
Reifen großer Gebirge jo gut wie ganzer Völker er-
leben läßt, und das dabei unjer heutiges Leben
ges fo unerbort aufrichtig beleuchtet wie das der
olfer in Urzeiten, ernten Menfden zur häufigen
Beihäftigung mit großen Ideen und Hypotbejen
warm empfohlen fein. 8.
Cornelius Tacitus, Roms Geſchichte
feit Auguftus’ Tod. 1.—6. Bud. (Annalen.) atei-
nijh mit gegeniibergeftellter Ueberjegung von Lud—
pig, Maenner. (Tusculum- Büderei I. u. IH.)
2 Bände. Ernit reg Münden.
Wie bei den früher angezeigten Bänden von
Ovid und Horaz find Iateinifher Text und deutjche
Ueberjegung gegenübergeftellt. Die Bändchen ent»
balten die Gefdidte des Tiberius und damit ein
gut Teil Germanengeſchichte. Wünſchenswert ware
ein Inhaltsverzeichnis und Namensregijter gewefen.
Die a fonnen wir leider nicht loben, und
zwar, weil jie zu anjprudsvoll ijt. Erſtens fagt fie
mebr, als im ert fteht (mit ohne Tendenz), gum
andern bat fie einen ergwungenen Gtil, der dem
gedrungenen Stil des Tacitus denn dod nicht ent.
ſpricht. Schon im erjten Sag heißt ed: „Im An-
jang lafteten auf Rom Sonige... Nur Monate
fliidteten fi zur Diktatur“. Wo fteht bet Tacitus
etwas von ,laften” und as Seltſam die
Einführung direfter Rede ohne Grund: „Vier Keile
werden gejpalten!” erweiterte ber Cäſar den lüjter-
nen egionen die Verheerung“. „Es fprad ber
Senat: Nicht mit nädtigen Lijten ftidt das rächende
Rom nad jeinem Feind, — feine Klinge brandet
bellauf.“ Es fteht von Stlinge und branden gar
nichts da, jondern nur „palam et armatum ulcisci.”
(I. &. 109.) Den Stil erträgt man ein Feuilleton
ang, aber nidt einen Band bindurd. ud wird
die Lektüre des Urtextes durch folde Variationen
taum erleidhtert. Schade. - St.
Alfred Brehm, Haustiere. Auswahl aus
der 1. u. 2. Aufl. von Brehms Tierleben. 264 ©.
eb. 6 Mt. — Wildtiere. Auswahl aus den erjten
uflagen von Brehms Tierleben von Dr. Walther
Sable. 393 ©., geb. 8 ME. Bibliographifhes In—
ftitut, Leipzig.
Das alte Brehmſche Tierleben mußte in wiffen-
ſchaftlichem aaa von Auflage zu Auflage um»
geftaltet werden. abei ging der urfpriinglide Text
allmählih verloren. Aber Brehm war nicht nur
Forſcher, fondern aud Tierliebbaber, Yager und
vor allem, unbewußt und unabfidtiid, eın munder-
voller Volkserzieher. Yn der Art und Weije, wie
er bon ben Xieren ergablt, Bet eine Teilnahme
für die Streatur, eine Liebe und freude, die ane
ftedend wirkt. Ich ſelbſt verdanfe dem alten Brehm,
deffen Bande ih als unge bei einem Onkel ent»
dedte, für mein Verhältnis zur Natur ungeheuer
viel. Darum gab id aud gleih nad dem Freie
werden des Werles die Eleine Sammlung „Bom
Hofftaat des Königs Nobel“ heraus. Ich begrüße
es, daß bier zwei umfangreihere Auswablen aus
dem Brehmjden Tee vorliegen. Der Band ,,Haus-
tiere“ bringt: Hund, — Pferd, fel, ind,
Büffel, Schaf, Ziege, Schwein, Kamel, Renntier.
Der Band „Wildtiere“: Affen, Raubtiere, Sterfjäger,
Nager, Beuteltiere, Wiederfauer, Elefanten, Nase
börner, Schweine, Flubpferde, Seehunde. Dazu die
alten Holsihnitte. Die Wuswablbande aus Brehm
ebören auf das Bücherbrett jedes deutjhen Jungen.
Sie erfüllen die ſchönſte und reinfte Qungensfebn-
fudt. Obne Brehm aufzumahfen will mir wie
eine feelijdhe Berarmung erjcheinen. Brehms Tier-
freundjdaft ift ein Stüd deutfhen Vollstums. St.
Smillers Werte. weite, kritiſch durch⸗
geſehene und erläuterte Ausgabe. 15 Bände. Verlag
des Bibliographifchen a in ny :
Pe des deutſchen Ausverlaufs fehlten im
Buchhandel felbjt die Ausgaben unferer erjten Klaffi«
fer längere Sell, Inzwiſchen hat Cotta eine neue
G@oethe-Ausgabe herausgegeben, die gwar der Yubi-
laumsausgabe nicht gleidfommt, indes für wiljen-
ſchaftliche Arbeit im allgemeinen ausreidt. ür
Schiller hat nun das Bibliographiſche Inſtitut mit
der vorliegenden Neuausgabe von „Meyhers Klaſſi—
fer-Ausgaben” hervorragend gejorgt. Die Namen
der Herausgeber Ludwig Bellermann, Robert Petſch,
Albert Leigmann und Wolfgang Stammler bürgen
für die Sitte der Leiftung. Der Lömwenanteil fallt
Robert Petſch zu, der fi mit der ihm eigenen
Gewiffenbaftigfeit bejonders des dramatiſchen Nad-
laffes (Demetrius!) angenommen bat. Die Einfüh-
rungen, die erlauternden, textliden und gejhicht-
lihen Anmerfungen, gute abresüberfihten und
ein länzendes Perjonen- und Sadregifter am
Schluſſe erleichtern die Benugung ungemein und
fihern diefer Ausgabe heute den erjten Plak. Dag
die „Gedichte“ (Bd. I) die übliche Einteilung in 8
Perioden nicht mehr beibehalten haben und rein
aeihichtlih nad der Entjtehungszeit angeordnet find,
fei bejonders hervorgehoben. 9. 6.
Gedrudt in der Hanfeatifhen Verlagsanftalt Aktiengejelichaft, Hamburg 36, Holftenwall 2. v
224
Otto Illies, Buchenwald
Aus dem Deutihen Volkstum
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Aus dem Deutfhen Volfstum Rudolf Shafer, Heimatfrieden
Deutiches Bolfstum
6. Heft Eine Monatsichrift 1924
Die Gefährdung der deutjhen Familie.
as Gamilienleben der Gegenwart ift uns eine ernfte Sorge. Aus den
engen Wohnungen und gedrüdten Gefjidtern fchaut uns die Not an, auf
den Rummelplagen und an den VBergnügungsftätten lacht uns der Hohn ente
gegen, in Wort und Schrift madt fidh Frivolitat und Schwärmerei breit. Die
Sablen unferer Ghee und Geburtsregifter aber bejtätigen ſolche Stimmungs-
bilder in erfchredender Weiſe.
Wir nehmen das fehr [hwer. Niht aus Gründen der Bepöl-
ferungspolitif. Gie ift vielmehr gerade mit fduld daran, daß fo viele
gegenwärtig die Berantwortung für ihr Gamilienleben von fic abjchütteln.
Man Hat den Leuten immer eingeredet, fie batten die „Pflicht“, für den Staat
Ehen zu fließen und Kinder aufzuziehen — nun, dann foll der Staat e8
einem erjt einmal möglid maden. Wir Hatten nicht halb fo diel Bitterfeit
und Gtarrjinn in unferem Gamilienelend ohne diefen bevölferungspolitifchen
Gedanfengang der GBolfsmaffen. Der Staat aber fteht verlegen da, denn ihm
find es nun mit einem Male zwanzig Millionen Menfchen zu viel, für die
er forgen foll.
Ans befümmert bie Gefährdung der Familie aus gang anderen Gründen.
Die Ghe ift Der befte Sradmeffer für die Volksſittlichkeit.
Mag es gleich vereinzelt Männer von hidfter DBerufstüchtigfeit geben, bei
denen das Gefdledtsleben ganz in das Gebiet des Natürlichen fällt und von
fittliden Grundjagen faum berührt wird — fürs Ganze urteilt unfer Bolfs-
Empfinden Doch richtig, wenn es beim Wort „unfittlich“ zunächſt an geſchlecht—
lide Zudtlofigfeit denkt. Hier ift der Punkt, an dem fi nun einmal beim
Mann die Beherrjdhung und Sei der Frau die Bejeelung des Trieblebens ent-
ſcheidet. Ebenſo wichtig aber ift uns der Gedanke an die Rinder, denn die
Samilie ift und bleibt Der Midtigfte Sraieber für dasnadfol-
gende Gefdledt. Seder, der mit der Sugendgeridtsbilfe in Fühlung
ftebt, wird das beftätigen.
Trogdem lehnen wir das Gejammer und die Entrüftung des moralifchen
Spießbürgers ab. Gr tut, als fei das Gamilienleben zu feiner Zeit überall
ideal gewefen. In Wirklidfeit hat es aber immer neben dem gefunden Fa—
milienleben aud) unentwideltes und entartetes gegeben! Diefe biologijche
Unterfdeidung erft führt über bloße Stimmungsurteile hinaus.
Beim gefunden Familienlebm denkt faft jedes unmillfürlich
ans eigene Glternhaus. Gewiß, es ift nicht alles fo ideal gewejen, wie wir
in unferer findliden Unbefangenheit meinten, aber wenn wir aud im friti-
fen Jugendalter und in reiferen Jahren nod den Gindrud haben, es fei nicht
bom beutigen Gerderb angefränfelt gewejen, Dann war es — nun meinthalb
nicht ideal, aber doch gefund. Vater und Mutter hatte die Liebe zufammen-
geführt und der Segen diefes Bundes war eine Schar frifcher, fröhlicher Kin-
der. Man hat daheim fchaffen und fparen müffen, aber man bielt fic die
227
geit frei für ſchöne Sonntage und vergnügte Feierabende; Krankheit und
Gorge blieben nidt aus, aber die Eltern ftanden treu zufammen und eines
trug des andern Laſt; aud Trübungen und Spannungen fehlten nicht, aber
wie wir unfere Eltern fannten, hatten fie fic) bereits ineinander eingelebt und
die Krifis der GFlegeljabre hat dem Zufammenleben bon Eltern und Kindern
[hließlich Doch nur tieferen Gehalt gegeben. Auf diefem Hintergrund hebt fich
tdyllifeh die Grinnerung an Samilienfefte und Berwandtenbefude, dramatijch
bie Auseinanderjegung der alten mit der neuen Generation, Ihrifd Die Liebes-
geſchichte des Sefchwifterfreifes ab — furgum: die Familie war das Sammel-
beden, in das alles floß, was jedes erlebte, Die Quelle, aus der Heute nod
Slüd und Kraft ftrömt.
Ein folhes Familienleben ift eine natürliche Lebensgemeinfchaft, befeelt
durch die Liebe. Sie ift aber nie der Normalfall gewefen, zahlreicher waren
ftetS die unentwidelten Familien. Statt der völligen Lebensgemein-
{aft gewahren wir bier nur drei Berührungspunfte: Standesgemeinfdaft,
Sefdhledhtsgemeinfdhaft und Arbeitsgemeinfhaft — und begeidnenderweife
führt gerade der erjte, oberfladlidjte Berührungspunft zur Eheſchließung. Die
beiden Gamilien und ihre Güter paffen zufammen — alſo pajjen auch die
beiden Menfchen zufammen. Sie heiraten ſich ohne tiefere perfinlide Neigung,
aber ohne daß fie auch nur ein deutliches Gefühl für die Roheit folchen Ge—
ſchlechtsverkehrs hätten, ftellt der Naturtrieb die ebelidhe Verbindung ber;
fame nicht zur Standes- und ©ejchlechtsgemeinfchaft die Arbeitsgemeinjhaft
Binzu, jo würde fic jchwerlich je ein menfchenwürdiges Verhältnis ergeben.
Aber merkwürdig: fobald die beiden Haus und Hof zu verwalten haben und
in der Kindererziehung den Grnft der Verantwortung fpiiren, wadft ihnen von
da aus fo viel Pflichtgefühl zu, daß die She an fittlidem Gehalt das Map
befommt, das fie braudt, um in Treue und GHrbarfeit beftehen zu könnem.
Wenn man fo will, entjteht aud hier etwas wie eine Lebensgemeinfdaft, nur
ift fie fo unentwidelt wie die Menfchen, die fie bilden: es fehlt ihr Die Seele,
weil die Liebe fehlt. Eine ſolche She wird nicht unglüdlich fein — die Leute
wiffen gar nicht, wie viel ihnen mangelt — aber fie wird meiftens freudlog
bleiben. In allen Bolfsfhichten, in denen Stand und Befik ausfchlaggebend
Jind, alfo bor allen in Adel, Sefhäftswelt und Bauerntum, find ſolche Shen
die Regel, an der die Jugend nicht zu rütteln wagt. Da aber das Herz des
jungen Menſchen aud in diefen Kreifen eine andere Berbindung ahnt, fo
wird die Poefie der Liebe por der Ehe im freien Verhältnis porweggenommen,
ehe man mit dem Hochzeittag die öden Repräfentationspflichten und Werk-
tagsjorgen auf fid nimmt. Und gegen diefe Sitte find nun die Alten machtlos. -
Sn diefen Kreifen fann nod gar fein rechtes Familienleben gedeihen, weil über
den perfönlihen Beziehungen unverrüdbar die dingliden fteben.
Die entarteten Familien fönnen genau nach demfelben Schema
dargeftellt werden — bis auf einen einzigen Heinen Unterfchied: an die Stelle
der Arbeitsgemeinfdaft ift bier die Giitergemeinfdaft getreten. In dem
Augenblid aber, wo ftatt der Arbeit der Genuß den Lebensinhalt bildet, be—
fommt die She fozufagen ftatt des pofitiven Borgeidens ein negatives, jo
daß aud die an fic indifferente Standes- und Geſchlechtsgemeinſchaft unfittlid
wird. Innerhalb diefer Gruppe gibt es felbftverftindlid eine ganze Reihe von
Abftufungen, wobei die entfcheidende Frage ift, ob die Familienglieder wenig-
ftens nod gemeinfamer Genuß verbindet oder ob jedes unabhängig bom an»
dern oder gar auf Koften des andern fein Leben zu genießen jucht; immer
aber hat der Genuß die Tendenz, die Gemeinfdaft zu Iodern oder zu fprengen.
228
Solde Ehen findet man bon jeher unter den oberen Zehntaufend wie im
Zumpenproletariat.
Nun ift Die Lage die: bisher waren die gefunden Ghen das unbeftritteme
Ideal, weldes — ohne daß man biel darüber geredet hätte — bie unent-
widelten anzog und über fic hinauswies, die entarteten dagegen der verdien-
ten Beradtung der Gefellfchaft preisgab. Daraus ergab fich fürs Ganze eine
fteigende Kurve. Geit einigen Jahren aber ift eine verhängnispolle
Berfdiebung eingetreten: die entarteten Shen find nad Zahl und Einfluß
in rajhem Wachstum begriffen, die gefunden aber gleichzeitig in folche
inneren und äußeren Schwierigkeiten gefommen, daß fie aufhören, die maß-
gebende Rolle zu fpielen. Wollen wir diefe Verfdiebung verftehen, fo müffen
wir unferer Zeit ins Auge fchauen.
Die Sünde der Zeit ift die Genupfudt. Sie ift in den verweichlichen-
den Stiedensjahren groß geworden, war im Krieg voritbergebend zurüdge-
drängt, erhebt aber feit Zufammenbruh und Repolution Anfpruh auf
Schadenerfag und gleihes Recht für alle. Dadurd erft wirkt die Genußſucht
fo leidenfcaftlid und brutal. In der Schwindelzeit der letzten Jahre konnte
fie fic zunächft befriedigen: erft war der Tang Mode, dann das Kino, jchließ-
lid der Lilör; und immer waren Weibergefhichten mit im Spiel. Das ift nun
feit der Berarmung der meiften wieder unmöglich geworden, aber die Sudt ift
geblieben. Und gerade die gefdledtlide Genufjudt wird von den Drabte
giebern der Gefellfdaft am meiften gereizt und ausgebeutet. Wir brauden gar
nidt an einzelne Sfandalfälle wie Schnitlers „Reigen“ zu denfen, fdon
die Iandläufigen Kinos und Wikblatter, Schundhefte und Schandjtüde peit-
{den die fezuelle Phantafie ftändig auf. Und fie verlangt nun ihre DBefrie-
digung. Gewiffen? Bab! Sp madens alle! Golgen? Dummer Junge,
das fauft man dod in jedem Srifeurgefhäft! — Man muß nicht
meinen, fo raffiniert fet nur die @rofftadtjugend. Seit dem Krieg
ift jeder Mann „gewitt“ und in den Arbeitergiigen lernen aud Die
Mädchen verftehen, was das Wochenblättchen meint, wenn es immer wieder
die Anzeige bringt: , Bei Regelftörung verwende man...“ War früher der
Hobe Prozentſatz unebhelider Geburten ein Zeichen fittlider Zuchtlofigkeit,
fo ift feit einigen Jahren das Seltenwerden diefer Fälle aud) auf dem Land
ein nod viel bebenflideres Anzeichen geworden. Man fann hören, wie
junge Gurfden und Mädchen fi in der Gifenbabn über folde Nittel mit
einer Kaltblütigfeit unterhalten, als handle es ſich um Huftentropfen. Das ift
auch gar fein Wunder. In der modernen Sezualwiffenfchaft und im modernen
Drama erhält ja jeder den Freibrief, fic geſchlechtlich auszuleben. Die Sünde
gebärdet fid) als Natur, die Ungudt wird Ideal. Maffenverfammlungen for»
dern das gefeblide Recht, von jedem Raffenargt die Tötung des feimenden
Lebens vornehmen laffen zu dürfen, und im Entwurf zu einem neuen Seuchen»
gefeß, das nur hygieniſche Gefidispuntte fennt, erfcheint die Gewerbsungudt
bereits als ehrliches Gewerbe, die Ausftellung und Anpreifung bon Borbeue
gungsmitteln als erwünſcht.
Daß diefe Strömung gerade Menfchen aus unentwideltem Gamilienleben
gefährlich wird, liegt auf der Hand. Die jungen Arbeiter und Arbeiterinnen
mit ihrem lange Zeit übermäßigen Berdienft, die jungen Kaufleute und Bere
fäuferinnen in ihrer oft verderblihen Umgebung, aber aud die Alten, die in
Spekulation und Schiebertum hineingeraten find, fie alle find einer übertriebenen
Lebenshaltung und — was ſchlimmer ift— einer genießerhaften Lebensanſchauung
verfallen. Weil ihnen bei ihrer feelifhen Zurücgebliebenheit dabei die Kraft
229
einer ftarfen, perfinliden Liebe fehlt, die fie berausriffe, fo ftebt auch ihre
Ehe unter dem Zeichen der Genufjudt: man will fie in der Ehe befriedigen,
jedenfalls nicht durch fie beeinträchtigen Iaffen. Eben dies ift nun aber im
höchſten Maß der Fall! Wer heute feine Familie auch nur notdürftig durd-
Bringen will, muß feine ganze Kraft dafür einfeben. Daher die verbitterte,
gereigte Stimmung fo mander GFamiliendater. Irgendwie muß in dieſe
Kreife die Ahnung echter Freude und wahrer Liebe fommen, irgendwie muß
ihnen die Grkenntnis werden, daß Genießen gemein madt. Gs müßte ein Fen-
fter aufgeftoßen werden, durd) das fie in das bisher unbefannte Sebnfudts-
land eines reineren, ſchöneren Lebens fdauen.
Das wäre viel leichter, wenn mehr gejundes Familienleben als lebendiges
Ideal unter uns zu finden wäre. Aber das ift die eigentliche Urfache der
Krifis, daß diefe Familien durd die Not der Beit gedrüdt und durd den
Geift der Zeit germiirbt find.
Bei der Not der Zeit denfen wir por allem an die Wohnungsnot
und Dienftbotennot, hinter Der aber beidemal zugleich die Geldnot fteht. Gin
junges Paar will heiraten. Ratfelbafterweife hat es troß der verlorenen Gre
[parniffe noch irgendwie zu einer Ausfteuer gereicht. Aber nun beginnt die
Schwierigkeit: „375 Bordermanner“. erflärt adfelgudend der Wohnungsbe-
amte, der fie bormerft. Sie müfjfen fid trauen lafjen, um nur überhaupt
Anredht auf DBerüdfichtigung zu erwerben; nah Sabr und Tag fiten fie,
iwenn’s gut gebt, in einer Zweizimmerwohnung mit Gasherd oder Küchen-
anteil, ohne Keller und Holglege. Das ift an fic) ſchon für Mann und
Grau eine ftarfe Nerbenprobe, jeder weitere Menfch aber ift einfach zupiel.
Daher der üblihe Gang des Paares zum Spegialargt: „Wir wollen heiraten,
fönnen aber feine Kinder brauchen. Wie follen wir's madhen?“ Die ere
wartungspolle jorgliche Freude, mit der man früher dem erften Kindlein ent-
gegenfab, ift der Gurdht por dem Kind gewiden. Und in den älteren Fa—
milien, die ihren Hausftand in den befferen Zeiten gegründet haben? Da ift
die Hausmutter durd die Dienftbotennot zur Magd geworden und der Hause
bater zieht mit Dem Handfarren zum Kohlenplatz. Schaffen, forgen und fparen
wird der einzige Inhalt des Gamilienlebens. Gewif, fo hat man es in Ar-
beiter- und DBauernfreifen ſchon immer gehabt — wir verftehen mit einem
Male den Drud, der auf ihrem Gamilienleben lag! — aber die Sragik ift bier
doch größer, weil es fih um Menfchen handelt, die gewaltfam auf die Stufe
der bloßen Arbeitsgemeinfhaft herabgedrüdt werden, obwohl fie innerlich
zu etwas Höherem reif wären. ’
Womit follen fie fid tröften? Die Not ift einfad da und fann dur
nichts aus der Welt gejchafft werden. Das deutfche Volk gleiht einem Baum,
der im Gaft fteht und treiben möchte, dem aber unbarmbergig immer wieder
die Aefte abgefdlagen und die Schoffen zurüdgefchnitten werden. Das muß
als unertraglide Not empfunden werden. Aber verloren ift der Baum erft,
wenn ber Saft ftodt, das DBolf, wenn es feinen Lebenswillen aufgibt. Ehe—
ſcheu und Kindermord find diefe Gelbftaufgabe. Mit ihnen gibt aud die
Liebe alle Unmittelbarfeit und Unbefangenbeit auf. Gs liegt ein Bann auf
dem Bamilienleben.
Gs muß nidt fo fein. Unfer Volk hat früher aud fdon [were Zeiten
erlebt. Aber wenn wir in alten Lebensbefdreibungen aus den Zeiten des
großen Griedrid) oder Napoleon blättern, fo ftoßen wir auf Leute wie den
gelehrten Profeffor Pfaff in Sappers „Frau Pauline Brater“, der in
einer Gde der Wohnftube, nur durch einen RKreideftrid von der lärmenden
230
Kinderſchar getrennt, fein Sanstritwörterbuch fchreibt, oder auf Beate Paulus,
die Enkelin des berühmten Slattich, die wie eine Bauernmagd auf ihren Pfarr-
ädern fteht, um aller menjhliden Berechnung zum Trog ihre feds Söhne
ftudieren laſſen zu fünnen. Wie viel Lebensmut hatte doch jenes Geſchlecht,
einen Lebensmut, der Herauswuds aus Anfprudslofigfeit und Gottvertrauen!
Man madte nidt die heutigen Anſprüche an Bequemlidfeit und geficherte
Sufunft, fondern wagte das Leben — und gewann. Gaft alle die Großen in
unferem Bolt baben in einem folden Glterns und Gefdwifterfreis ihre
Lebensenergie empfangen. Giner der wenigen, der aus gefiderten Verhält—
niffen ftammt, Mörife, klagt:
Ih bab müffen die Liebe, die Freude,
[die Gite
Für fo viel Kinder allein auseffen!
Das will ih mein Lebtag nicht ver—
Ich bin meiner Mutter einzig Kind,
Und weil die andern ausblieben find
— was weiß id, wie viel: die feds [geffen!
[oder fieben — Es hätte mir aber wohl mögen frommen
Sft alles an mir allein hängen blieben. pote if ane oud matinee th fecbfe
[befommen!
And nod eins fällt uns an jener Zeit auf. Man madte weniger Anſpruch
an Geift, mehr Anſpruch an Gemüt. Ich rede nidt von den Salons der Roe
mantifer, fondern bon den Familien. Man träumte nicht von geiftiger
Kameradſchaft mit gemeinfamer Lektüre u. dgl., fondern fand fein Glück in der
Liebe, die die Laft des Tages erleichterte, und an dem froben Lachen der
Kinderftube. Matthias Claudius und Ludwig Richter find dafür Zeugen.
Man fann nicht mehr einfach zurüd in „die gute alte Zeit“. Aber wo
Diefer Lebensmut heute wieder erwacht, wie in unferen Werfftudenten und
Siedlern, wo das finnige Gemüt warme Gemütlichkeit fchafft mitten in der
Dirftigfeit unferer Haushaltungen, wo Gottesfurdt und Gottvertrauen wurzel-
echt aus der Not Herauswadjen, da ift die Not aud ſchon gebrochen, die Zu—
funft gewiß!
Go bat uns die Not der Beit bisher fhon auf den Geift der Zeit
adten gelehrt. Bon zwei Erſcheinungen muß aber noch gang befonders die
Rede fein. Was die Beften für ein gefundes Gamilienleben innerlich ver—
dorben bat, ift die geſchlechtliche Aufflärung und der gefteigerte Sndividualis-
mus. Ueber das Recht der Aufflärung gegenüber heuchlerifcher Prüderie und
dem Schmuß der Gaffe ift fein Wort zu verlieren; aber weil es Aufklärung
war, 30g fie gefühllos Dinge ans Licht, von denen nur die Liebe den Schleier
hätte lüften dürfen. Daher der kraſſe Naturalismus und fable Rationalismus
in unferem gefdledtliden Denfen und Gmpfinden bis hinein in die&he. Man
hatte uns nidt über das GSefdledtsleben aufflären, ſon—
dernin dieMpfterien dDerLiebe einweiben follen, jo daf wir
dem Gros mit Ghrfurdt und Berantwortlidfeit gegenübergeftanden wären, wie
fic’s gebührt. Statt dem „zurüd zur Natur“ hätte man uns viel eher ein
anderes „zurüd“ gurufen follen: „zurüd zur Religion!*, zurüd zu der heiligen
Scheu por den Gebeimniffen des Lebens, welche ein Grundgug jeder echten
Stömmigfeit ift.
Saft noch verhängnispoller ift aber für unfere Jugend der gefteigerte In«
dividualigmus geworden. Und gwar deshalb fo gefährlich, weil er zunächſt
recht hat mit feinem Ideal der Wahlverwandtihaft. Bon Platons Sympo—
fion bis gu Schleiermadjers Bertrauten Briefen und Ellen Keys Eſſahs um-
treift die erotifhe Phantafie immer wieder diefes romantifhe Ideal. Seder
231
fühlt, daß unter diefem Ruf der Liebe die Knofpe feines Wefens auffpringen
müßte und daß jede andere Ehe nur ein fimmerlider Erſatz fein fann.
Aber je beftimmter und höher die Erwartungen find, die wir auf einen ge-
liebten Menfchen fegen, der uns ganz entſprechen foll, defto empfindlicher, une
fiderer und ent{dlupunfabiger werden wir. Aufgelöfte Berlobungen und ent»
täuſchte Shen bezeichnen den Leidensweg der romantijden Liebe alter und
neuer geit, wenn fie nicht bon vornherein [don in den Srrgarten der „freien“
Liebe gerät. Und wohlgemerkt: diefer Sndividualigmus wirkt nicht erft in
feelifch überfeinerten Kulturfhichten fo zerjegend — Mud-Lamberth 3. DB.
ift Drechjlergefelle. Noch febe ich einen ftruppigen Bauern bom Säntis bor mir,
der mir in der Gifenbahn bon dem Olid vorſchwärmte, das er im Anſchluß
an Sutter und an Ragaz gefunden, und vor dem Ausfteigen ander»
traute, er wolle fi bon feiner Frau ſcheiden laffen, weil fie ihn nicht mehr
verftehe. Dabei ftand fie bor der Geburt feines neunten Kindes! Gs wird
gu diefer Scheidung nie gefommen fein, aber bezeichnend ift bet jolchen indi-
vidualiftifhen Schwärmern, wie die Lebensenergie, die zur Weberwindung der
®egenfake aufgeboten werden müßte, in frudtlofem Grübeln und Sinnen
vielmehr die Fäden auflöft, die fich bereits herüber und hinüber angefponnen
batten. Wie viel mehr Schuß por foldhen Stimmungen und Berftimmungen
lag in dem unverrüdbaren „Du follft“, mit dem man fic früher an das Treu-
gelübde hielt, oder in folden fprihwörtliden Abſchiedsworten der Brauteltern:
„Du darfft jederzeit zum Befuch heimfommen, aber nie zum Klagen.“ Mit
diefem „Du follft* famen die Alten beffer guredt als wir Jungen mit
unferem „ih midte*. Luthers Berlegenheitsebe 3. B. — denn um eine folde
handelt es fic) bei ibm nad unferen heutigen Begriffen — Tann por dem romans
tiſchen Ideal nicht beftehen, aber mit feinem Willen zur Ehe Hat er dod
in Wirklichkeit etwas aus ihr gemadt, was die tatfidliden Ehen der Ro—
mantifer tief befchämt.
Allein das ift es eben: die inneren Kräfte fehlten uns bisher, um den An«
forderungen und Berfuhungen gewadfen zu fein, und deshalb war jede Ehe
in Gefabr, auf die nadftniedere Stufe Derabgufinfen. Wenn nicht alles trügt,
ift Diefe finfende Tendenz Heute gum Stillftand gefommen. Man Hat nicht mehr
den Gindrud des widerftandslofen Dabingleitens, fondern es ift wieder der
Ginn für bie einfadhen, großen Grundbedingungen des Lebens erwadt, gu
denen aud) Ehe und Familie gehört. Diefen wird die neu erwwadte Kraft zugut
gu denen aud) Ehe und Familie gehört, fo wird diefen bie neue Kraft zugut
fommen. Die meiften Männer haben ihr Familienleben bisher in tragifcher
Gerblendung einem Götzen geopfert. Nun aber beginnt einer um den andern
eingufeben, daß die Familie die ficherfte Möglichkeit gibt, der Gegenwart frob
zu werden und auf die Zukunft zu wirfen. Das madt uns Hoffnüng, daß
wir die Krifis überftehen. Ostar Pland.
Zamilienmüdigfeit.
m Mittelpunkt des Kampfes zwifchen der alten und der jungen Generation,
der Heute um uns und in uns tobt, fteht das Problem der Familia
Alle Anflagen, die bor allem bon der Jugend gegen diefe Bindung ins.
Treffen geführt werden, laffen fid auf das eine Grundmotid reduzieren, daß
die Familie infolge des Mangels an Gleidhgeftimmtbeit zwifchen den einzelnen
Gliedern die ſeeliſche Entwidlung des werdenden Menfchen behindere. Alles
Lob, mit dem befonders das Alter die Familie bedenkt, läuft fchließlich darauf
binaus, daß fie inmitten der Unraft des Lebens einen fideren Rubebafen bilde,
232
io der Grmattete „im Kreife der Seinen“ neue Kraft und neuen Mut ſchöpfen
fünne.
DBegrifflih lapt fic diefer Streit nicht fdlidten. Denn die Antinomie
gwifden dem Lebensgefühl des Alters und der Jugend ift ihrem Wefen nah
ewig. Immer wird der junge Menfd mit dem Gefühl an die Welt heran-
treten, er miiffe fie bon Grund auf neu aufbauen. Immer wird das Alter
dieje Anmaßung belädeln. Die Grfenntnis der „Zeitlofigfeit dieſes Rone
fliftes darf man fid aud nicht dadurch trüben laffen, daß der Kampf gwifden
alt und jung in der jegigen Phafe unferer Zipilifation und aus der Bejonder-
beit unferer Diftorifdhen Lage heraus fdeinbar ganz neuartige Gormen ane
genommen bat. Sugendbewegungen hat es zu allen Zeiten gegeben. Man
braudt nur an den Sturm und Drang oder an die Romantik zu denken. Und
wenn uns heute unfere Bäter als faum zu überbietende Mufterbeijpiele der
Arterienderfalfung anmuten, fo dürfen wir nicht vergeſſen, daß fie fich einft
erbittert mit ihren Vätern hberumfchlugen und daß wir vorausfidtlid den—
felben Borwurf der Ueberalterung von unferen Kindern hören werden.
Der Kampf der Generationen ift fo alt wie die Welt. Sein lester Inhalt
ift immer die Grfenntnis, daß fein Menſch für einen anderen „Lebenserfahrung“
fammeln fann. Wechſelnd hingegen und dadurch der logiſchen Analyſe
zugänglich find die Formen, die Argumente, mittels deren dieſer Kampf ge»
führt wird. Und in der Art, wie Heute Ankläger und Verteidiger das Thema
„Samilie* behandeln, fdeinen mir beide Parteien — Repolutivnäre wie
Patriardaliften — in einem fundamentalen Irrtum befangen.
Zunädft ift die Familie fiderlid — und das ift der Irrtum ihrer Lobe
redner — feine friedliche, fondern eine eminent Triegerifhe Inftitution. Und
gwar gerade wegen ber abfoluten Srrationalitat ihrer Zufammenfegung. Feinde
maden wir ung, Greunde und Haustiere fuchen wir uns aus. Die Wahl
mag oftmals qualvoll fein, immer ift fie frei. Dieſe Freiheit hört aber ſchon
bei der Shefchließung auf. Sede Ehe — ganz gleich, ob es fid um eine Bere
nunfte oder um eine Liebesheirat handelt — ift ein Abenteuer, Denn Mann
und Weib find zwei ganz verſchiedene Welten. Und wie fic dieſe beiden
Welten ineinanderfügen, wie fie fi) zufammen- oder auseinanderleben, das
entzieht fid, als Leben, jeder Berechnung. Die Mtathematif hat Recht, wenn
fie das Aziom aufftellt, daß zwei mal zwei gleich vier ift. Falſch ift da-
gegen der Gab, daß eins plus eins gleich zwei ift. Eins plus eins fann
taufend, fann aber aud null fein. Der Sprung von der Ginfamfeit
zur Sweifamfeit ift immer ein Sprung ins Duntfle.
Gin nod größeres Abenteuer als die Eheſchließung ijt aber das Geboren—
werden. Denn mit diefem völlig paffinen Akt plagen wir in eine Welt hinein,
auf deren Zufammenfegung wir nicht den geringften Einfluß gehabt haben,
und der wir Dod für lange Sabre unferes Lebens hilflos ausgeliefert find.
Zu einem fo heroiſchen Entſchluß aber ift nur ein gänzlich unbewußtes Wefen
fähig. Selbft der fühnfte Springer würde bor einem Sprung zurüdichaudern,
deffen Ziel in undurddringlides Dunkel gebillt ift. Die Geburt aber gleicht
einer Reife im fliegenden Koffer mit dem erſchwerenden Umftand, daf der
Koffer, nidt fein Befiger das Reifeziel beftimmt.
Anfer moderner bon Zwedmäßigfeitsporftellungen beherrſchter Geiſt löckt
begreiflierweife gegen den Stachel diefer Irrationalität. Der Kampf gegen
den „Zufall“ der Geburt ift das Schlagwort, unter dem einft das Bürgertum
die privilegierten Stände befiegte. Gr ift das Feldgefdrei, unter dem Heute
der Sozialismus über das Bürgertum zu fiegen hofft. Satfadlid ift es aud
233
der modernen Zipilifation gelungen, eine große Anzahl der alten Bindungen
zu zernagen. Begriffe wie Sippe und Stamm, Stand und Zunft, find für uns
ldngft leere Worte, deren ehemalige Bedeutung wir uns mühfam aus einem
Lezifon gufammentlauben. Auch die Straße, der Nachbar haben wenigftens
für den modernen Grofftadter den Charakter des Schidfalbaften, des Aben-
teuerlichen verloren. Nur das unentwirrbare Geflecht von Eltern und Kindern,
@rofeltern und Gnfeln, Onfeln und Tanten, Bettern und Bafen hat
felbft unfere moderne Wiſſenſchaft nod nicht zu rationalifieren vermocht.
Nirgends tritt die völlige Ginfluplofigfeit technifcher Grfenntniffe auf unfer
Lebensgefühl fo grotest in Grjdeinung wie in diefem Punkte. So wenig fid
der DBerliebte durch die Entdedung des Kopernifus daran gehindert fühlt,
Sonne und Mond als Privatveranftaltungen zur Beftrahlung feiner Emp-
findungen zu betrachten, jo wenig ift es der Pſhchoanalhyſe mit ihrer wider-
finnigen Neigung, fidh das Unteilbare durch Yerlegung angueignen, bisher
gelungen, aud nur einen Zipfel des Schleiers zu lüften, der das Gebeimnis
des DBlutbandes verhüllt.
Mußte die moderne Zivilifation fo den Kern der Familie unangetaftet
lafjen, fo ftrebte fie doch nad einem Seilfieg und bemühte fich, dieſe unheim-
ih irrationale Bindung, die fie nicht gertriimmern fonnte, nad Kräften zu
lodern und gu umgehen. Zahllos und nad Ort und Zeit fehr verfdieden
find die Mittel und Mittelden, die zu diefem Zwed zur Berfiigung ftehen.
Der familienmüde Gnglander gebt in den Klub oder nad Indien auf die
Zigerjagd. Der Deutfche gründet einen Gerein. Der Gffekt ijt immer der
gleihe. Immer wird die irrationale Bindung durch eine überfichtliche, zweifel-
bafte erfebt. Sfatjpieler fteht gegen Sfatjpieler, nicht Seele gegen Geele.
Selbft die Beziehung zwifhen Tiger und Tigerjäger ift beruhigend eindeutig
im DBergleih zu der zwifchen Onkel und Neffe. Ob fi ein Verein Die
Berforgung der Sudanneger mit Badehojen nder die deutſche Weltherrſchaft
zum Ziele fest, immer ift er feinem Grundrhythmus nad eine pazififtifhe Gin-
tidtung. Denn mit der Garderobe gibt der Herr Aftuar Meder auch fein
Menſchentum ab, um das Bereinslofal als fleifhgewordene Idee Des
Imperialismus, oder was fonft verlangt wird, zu betreten.
Schade nur, daß der Slüdsraufch, fich unter gleidhgeftimmten Nidt-Geelen
gu befinden, fo furg ift. Nad Faſſung vieler nügliher Beſchlüſſe taufcht Herr
Meher gegen feine Garderobemarfe Mantel, Hut, Regenihirm und Menjchen-
tum wieder ein und fehrt — wie unfere Gentimentaliften fo [hön jagen — in
den „Schoß der Gamilie* zurüd. Dort aber findet er feine Tochter Emma
in wildem Disput mit ihrem Bruder Frit. Die theofophifch veranlagte Gmma
erwartet die Rettung der Menſchheit bom Nufeffen, der beidnifch geftimmte
Fritz bat fi in der Hike des Wortftreits zur begeifterten DBerfechtung des
Kannibalismus durchgerungen. Beide Teile appellieren an die väterliche
Autorität. Und vor der erdrüdenden Schwere des Problems: „Nüffe oder
Menfchenfleifh?“ finten alle die weichen Hüllen, Aktuar und Imperialift, zu
Boden. Nadt und bloß fteht Herr Meder da, nur nod) Vater, inmitten des wilden
Agons der Familiengwifte. Denn bier tobt der zügellofe Rampf des Lebens,
in dem ein jeder fich felbft für den Rechtgläubigen, den Gegner aber für einen
Ketzer hält. Hier feffeln eiferne Klammern den Berfdwender an den Geighals,
den Sragen an den Ghrfiidtigen, den Graufamen an den Grbarmenden. Hier
ftebt Seele gegen Seele unverhüllt, unverftanden und verftändniglog.
Um dieſer agonalen Struftur, nicht aber um ihrer angeblichen Friedlidfeit
willen haben fich alle gefunden Zeiten zur Familie befannt. Der Unraft des
234
modernen Zipilifationsliteraten blieb es vorbehalten, diefe Bindung zu
befritteln oder zu fentimentalifieren. Beide Betradtungsmeijfen verfälfchen das
Problem, weil beide das Produkt einer durchaus unfamiliären Grundlage find.
Der rationaliftifhe Kritifer, der unter dem Vorwand der Erweiterung feines
geiftigen Horizonts durd Vereine, Klubs und PDfchungel raft, gewahrt nicht,
daß alle diefe Ausflüchte lediglich ein Daponlaufen vor dem eigenen Ich dar—
ftellen. Der Sentimentalift aber fteht der Urtatfache des Blutbandes mit der-
felben DBlödfichtigfeit gegenüber, wie das Naturgefühl des modernen Groß—
ftädters dem Faktum: Natur.
In der fraglofen Bejahung der Familie ftimmt dagegen der geiftige
Menfsh mit dem natürlichen, ftimmt das Genie mit Dem Demiurgen überein.
Goethe hat feiner Ahnen mit demfelben Stolze gedadt wie der weftfälifche
Bauer, der den Pflug über die Scholle feiner Bater führt. Ilias, Nibelungen-
lied und König Lear find Samiliendihtungen. Weder Homer nod Shafejpeare
aber denken daran, die Familie in einen Rubehafen umgulügen. Sie fpreden
es unberbillt aus, daß die ſchwerſten Sragddien Samilientragödien find, und
beugen ſich der Weisheit des Alten Teftaments, das dem vierten Gebot als
eingigem unter allen eine Verheißung beifügt.
Wider den Stachel des DBlutbandes lödt nur das Halbgenie. Denn es
berfennt den Umftand, daß der Krieg der Bater aller Dinge, daß felbft der
Saf; ein Ausdrud tieffter Zufammengebörigfeit ijt. Vereine, Klubs und Welt
reifen find fiinftlide Zufammenballungen bon Individuen unter einem Zwed-
gedanken. Die Familie Hingegen ijt die letzte fosmifche Gemeinfdaftsform, die
uns Die moderne Zipilifation gelaffen Hat. Nur aus dem Mutterboden des
Kosmijhen aber fann die phantaftifche Blume der Perjönlichkeit erblühen.
Denn nur in diefer Luftfhicht geht der Kampf aufs Ganze, find Seilent=,
{Heide und Halbheiten unmöglid. Der Bruder fann den Bruder bafjen oder
lieben, er fann fic aber nicht gleichgültig ihm gegenüber verhalten.
Daber ift vielleiht das ernftefte Symptom unferer feelijden Grfranfung
die repräfentative Stellung, die wir zwei wefenhaft unfamiliären Lebensformen
einräumen: dem Schaufpieler und dem Hiftorifer. Beider Wirfungsmöglich-
feiten beruhen auf einem abfoluten Relativismus, Dd. h. einer völligen Charakter—
Iofigfeit. Se mebr der Schaufpieler fein eigenes Ih ausldjdt, deſto
größer wird der Kreis feiner Rollen. Bon Natur Keter und Bagabund
flieht er inftinftio die brutale Realität der Familie, die feinem Antlig fcharf
umtrifjfene Züge geben und ihm damit die Wandlungsfähigfeit rauben würde.
And in einer ganz gleichgearteten Welt des Scheins atmet der Hiftorifer. Um
fih dem feligen Wahn bingeben zu fünnen, er verftehe Luther und Bismard,
muß er gunddft einmal bergeffen, daß er nidt das geringfte bon dem
Seelenleben feines leiblihen Bruders zu begreifen vermochte. Das Streben,
die Grinnerung an dieſe erfte und entjcheidende Niederlage feiner Ein—
fühlungsfähigfeit zu übertäuben, nötigt ihn, um das Schlachtfeld der Familie
einen borfidtigen Bogen zu fchlagen.
Geſunde, aktive, dogmatifhe Zeiten — alle drei Adjektive find gleich“
bedeutend — verfehmen deshalb dieſe beiden Typen des Alleserfühlens als
©aufler. Mittelalter und Aufklärung haben troß aller Gerfdiedenbeit ihrer
@laubensinhalte eines gemein: fie find gutiefft unhiftorifh und unſchau—
ſpieleriſch. Aus dem Kampfinftinkt ihres Ganatismus heraus find fie familiär.
Unfere Zeit aber ift frank. Ihre Kritif und ihre Sentimentalität entjpringt
derfelben Wurzel: der Familienmidigfeit als Sonderform einer allgemeinen
Kampfesmüdigtfeit. Peter Rihard RoHhden.
235
Rhythmus oder Kunjtbewegung?
usgangspunft oder Biel unzähliger Beftrebungen fcheint gegenwärtig die
Unterweifung in Kunftbewegungen zu fein, weldhe zum Grlebnis und
zur Grfenntnis des rhythmiſchen Geſchehens führen follen. Diefer in immer
neuer Gewandung wiederfehrenden Bemühung um das Wefen des Rhythmus
ftebt ein erhebliher Zeil unferes Bolfes fremd oder ablehnend gegenüber;
es macht fid) fogar eine Srmüdung bemerkbar, diefe Beftrebungen zu fördern,
in der Annahme, daß alles ſchon zu oft und ohne Erfolg verfudt worden fei.
Daß es aljo mit dem RbHythmifden eine eigne Betwandtnis haben miiffe,
ahnen einige dunfel, ohne aber die Kraft aufzubringen, felbft nachzufpüren,
weldes die Arſache der Grfolglofigfeit der fich oft widerfprechenden Lehre
methoden wohl fet.
Man fann Rhythmus weder lehren nod Iernen, fo wenig, wie man das
Leben und Weben in der Natur lehrt und lernt; man muß ihn beſitzen und
die geheimnispolle Kraft fpüren, wenn man den ſchüchternen Berfud madden
will, anderen Menfden dazu zu verhelfen, das zitternde Pulfieren und feine
Schwingen in fic Durch fic felbft zu erleben.
Betrachten wir die Naturentfremdung der Stadtbepölferung und die ge-
fundbeitlihe Gntartung unferer Jugend. Gs vererben fic leiblide und
geiftige Schäden, die durch die Lebensweife bedingt find; unharmoniſch und
verframpft reden Körperbewegungen und G©efichtsausdrud eine erjchredend
deutlihe Sprade bom verlorenen Naturzuftand. Das Sedeiben der Pflanzen
zeigt jedem aufmerkſamen Beobadter, daß Unkraut aud unter ungünftigften
Bedingungen nod fröhlich blüht und fic vermehrt, während edleres Gewads
ber bebutjamften Pflege bedarf. Ebenfo ift es beim Mtenfden. Auch bier
[hießen Shwäden und Fehler luftig ins Kraut, fdiidterne Knofpen der Gee
fundbeit und feelifhen Schönheit überwucdhernd, wenn liebevolle Fürforge fehlt.
Diefe Not gebar die Körperkulturbewegung, die nun Stadt und Land
überfhwemmt. Unendlich groß ift die Zahl der auf Abhilfe Sinnenden und
ihre Syſteme treten in verlodenden Garben an Suchende heran. Nad
ſchwerer Wahl bleibt es dem Zufall überlaffen, ob das erwählte „Syſtem“
hilft, nicht hilft oder — ſchadet.
Da man im allgemeinen von der Annahme ausgeht, daß das Eleine
Kind noch im glidliden Beſitz urfprünglicher Empfindungen ift, fudt man
meiftens erft nad Abhilfe, wenn die Schäden bedenklich geworden find, anftatt
porgubeugen. Goethes Wort: , Web dir, daß du ein Enkel bift,“ fann nicht
bedeutfam genug aufgefaßt werden. Satfadlid beſitzt mandes kleine
Kind nod ein Ausdrudspermögen mittels elementarer Körperbewegungen, das
uns mit ftaunender Ehrfurcht erfüllt — aber man bedenke, daß der Grad
biefer inftinftiven, überwältigenden Gefühlsäußerungen abhängt von der Bere
erbung feit Generationen, und daß die Stärke urfpriinglider Seelenregungen
durchaus abhängig ift von der Gefundheit oder Entwidlungsmdglidfeit körper—
lider und feelifher ©efühle.
Sind aber die Srofftadtmenfden im Zeitalter des Materialismus und
Sntellefiualismus überhaupt im Stande, die Urkräfte, Rhythmus und Schwung
zu ahnen und zu begreifen, weshalb fie den meiften abhanden famen? Nicht
allen Kindern bleibt der feeliihe und leiblide Rhythmus unverfümmert,
fet ihre Abftammung hoch oder niedrig. — Gine höhere Intelligenz oder eine
feitig intelleftuelle Bejchäftigung der Eltern hat unzweifelhaft ebenſowohl
Abtötung oder ungünftigfte Beeinfluffung inftinktiver Körpergefühle und
236
Geelenregungen zur Golge, wie die mechanifche Berridtung eines Fabrik—
arbeiters.
Die Frage der Bererbung auf diefem Gebiet follte Gltern und Lehrer
wahrlich lebbafter bejchäftigen und man follte fid Verſtändnis zu verfchaffen
fuden, was dieſe neue Bewegung will. Wem der Dienft am Rhythmus
Lebensbediirfnis (leiblihes und geiftiges), aber nicht nur Beruf oder Geſchäft
ift, Deffen Arbeit wird bon belebendem Einfluß auf feine Umgebung fein
müffen durch die eigne starte Perfönlichkeit*; — nur foldhe Menjchen fönnen
als Führer diefer neuen Beftrebungen in Grage fommen, wenn man auf Ab-
Hilfe rechnet. „Alle guten Dinge find über die Maßen Zoftjpielig auf Erden
und immer gilt das Geſetz, daß, wer fie Hat, ein anderer ift, alg wer fie
erwirbt. Alles Gute ift Grbjdaft; was nicht ererbt ift, ijt unboll-
fommen, ift Anfang.“ „Eine Raffe, ein Gefdledht fann, wie fonft irgend-
ein organifches ®ebilde, nur wadjen oder zugrunde geben; — es gibt feinen
Stillftand,“ (Nietzſche). Können nod Zweifel Herrfden, mann und wo es
gilt, Gejundbeitspflege bes Volles zu treiben?
„Das Reich der Kunft nimmt zu, das der Gefundheit und Unfchuld nimmt
ab auf Erden; man follte, was nod) davon übrig ift, aufs Sorgfältigfte kon—
ferdieren und man follte nicht Leute, die viel lieber in Pferdebüchern mit
Momentaufnahmen Iejen, zur Poefie (d.h. Kunft) verführen wollen.“
(Thomas Mann).
Liegt Zwed und Ginn einer Geredlung des Gefdledts in der „Fünftler-
ifchen“ Körperausbildung des Bolfes? Se inniger die Verbindung der Bes
griffe „Eünftlerifeh“ mit Körpererziehung fic geftaltet, defto gefährlicher wird
der Einfluß, den eine entartete, naturfeindlide Strömung bereits gewonnen
bat. Durd berüdende Aufmahung wird es der Arhythmie gelingen, den
Kampf gegen die Wiederbelebung des Rhythmus erfolgreich fortzufegen,
wenn die Liebe zum Bolf uns nicht Hinreift zu fraftiger Gegenwebr.
Raft euch nicht betdren, deutfhe Mütter. PHrafen und Ideen, welche
eurem Wefen fremd find, fremd bleiben müffen, wenn anders ihr deutjches
Bolfstum ſchützen und erhalten wollt, finnen ebenfowenig Erſatz bieten für
fehlende Gemiitstiefe und -marme, wie bor der Geburt oder im erften Kindes»
alter verfäumte förperlihe Gefundheit durch Tanzſchulen und „Lünftlerifche“
Körpererziehung in fpäteren Jahren ergänzt werden können.
Sollte uns unfer - Inftinkt, unfere Urfprünglichkeit und Ehrlichkeit fo weit
verlaffen haben, daß wir verleitet werden fönnten zu der Anficht, die Kunft
fet ein höheres Ziel als edelftes Menſchtum? Wenn Peftaloggi por Hundert-
fünfztg Sabren ausruft: „Der Menfch muß zu innerer Ruhe gebildet werden.
Fühlſt du's nicht, Erde, wie die Menfchengefchlehter bon dem reinen Gegen
ihrer Hausliden Berhältniffe abweichen und ſich allenthalben auf milde,
[himmernde Schaubühnen bindrängen, um ihr Wiffen zu fpiegeln, ihren
Ehrgeiz zu figeln?“ dann follten wir heut uns fragen: wo finden wir Die
Quelle innerer Rube? Gtwa in „Lünftlerifcher* Betätigung, in Fünftlerifcher
‚Körperkultur? —
Thomas Mann gibt flare Auskunft; er läßt feinen Künftler befennen: es
ift widerfinnig, das Leben zu lieben (d. b. Geſundheit, Kraft, Sreude) und
Dennod) beftrebt zu fein, es auf feine Seite zu ziehen, es für die Fineſſen und
Melandolien, den ganzen franfen Adel der Literatur (Kunſt überhaupt) zu
getinnen.“
Sa, es ift widerfinnig, bon Bolfsgefundung, von der Hebung der fittlichen
gt. Heinz Marrs Aufſatz über „Beruf“ im Sanuarbeft. =
Kräfte zu reden, körperliche Graiebung zu fordern, um ein fernigeres,
inftinkiftarfes Geſchlecht zu züchten und in demfelben Atemzug „Lünftlerifche
Körperfhulung“, alfo die Gineffen der Künfte, fei es nun Dichtung, Muſik
oder Malerei, mit Hineingugieben in eine Reformbeftrebung, bei welcher es
fid um ,@efundheit und Anſchuld“ unferer Jugend handelt.
Gin Vergleich gwifden neugeitlider künſtleriſcher Körperfchulung und der
por fünfzig Sabren erträumten Rückkehr zur Natur fällt kläglich genug aus.
Wir follten diefe Neubelebung der Künfte durch Körperfultur getroft
den Künftlern überlaffen, denn fdrperlide Geſundheit ijt bier ebenfowenig
das Ziel, wie es auf einem Irrtum beruht, daß das Nadtturnen in unjerm
Klima, tweldes dauernde Bekleidung verlangt, eine Borbedingung fei für
rhythmiſches Erleben oder Wiederbeleben. Man vergegenwärtige fid Die
Grrungenfdaften des Eisſports; aufs höchſte gefteigerte, vollendete Beberre
{hung des Körpers: Schwung, Rhythmus tro Bekleidung.
Die Borfiibrungen unzähliger männlicher und weiblicher im Tang Aus»
gebildeter lajfen den elementaren Ausdrud, das Ginfadhe und Schwungpolle,
das rhythmiſchen Bewegungen eignet, faft gänzlich vermiffen. Man wird
nidt durd Ausbildung und Technikbeherrſchung Tanger. Tanzen können ift
göttlihe Begabung, ift Naturangebinde, Erbſchaft.
„Die Natur auffaffen und fie unmittelbar benugen, ift nur wenigen
Menjchen gegeben: zwijchen Grfenntnis und Gebrauch erfinden fie fid gern
ein Quftgejpinft, das fie forgfaltig ausbilden und darüber den Gegenjtand
mit der Denußung vergejjen.“ (Goethe). Das ift es! Gegenftand ift und
bleibt die. Gefjundung des Bolfes. Während nun einerjeits die Wohle
fabrigeinridtungen überhand nehmen, 30g man anbererfeits die Körpererzie-
bungsfrage auf eine fchiefe Gbene; ftatt für Wrterhaltung und Grtidtigung
in raffebpgieni{her Hinficht, für Wiederbelebung elementarer Gefühle und
Kräfte zu ftreben, verläuft die Idee abfeits der Natur in verwaiferte,
fünftlihe Sreibhausfultur. Die afthetifhe Wirkung wurde Ausgangspunft
und Ziel — bierin liegt die Gefahr. „Das Wahre ift immer fdlidt einfad,
haarſcharf, es verträgt fein aufgebaujdtes Gewand,“ jagt Feuerbach, aber
eben „das verdrießt die Menjchen, daß das Wahre fo einfach ijt: fie follten
bedenfen, daß fie nod Mühe genug haben, es praftifd zu ihrem Nuten an-
zuwenden.“ (Goethe).
Auf Koften des Rhythmus herrſchen Borderhirnprodufte und verfuchen,
die Natur in die Enge zu treiben.
Was bedeutet die Wiederbelebung des Rhythmus? Unter Rhythmus
verjtehen wir das Fließende, Sich-ewig-Wechſelnde, in fteter Bewegung
Befindlide, wie es im Kreislauf unferes Blutes, im Raufden des Windes,
in der Gewalt der Strömung des Wajfers, in Ebbe und Flut fid uns offen-
bart — alfo: was einen Gegenjaß bildet zum Bebarrliden, Beftändigen, zeitlich
Mefbaren. Urfjprünglide oder rhythmiſche Bewegungen entjpringen der
Sotalitat eines Körpers, wie man fie im Lauf und Sprung der Tiere be-
obadten fann, folange fie nicht durch Dreffur und andere menfdlide Beein-
fluffung ihre Natürlichkeit eingebüßt haben. Den Gegenjat bilden durch
zeitliche Ginteilung in beftimmten Grenzen fid abjpielende, gebemmte, unfreie,
edige Bewegungen des Menfchen, d. 5. einzelner Zeile oder feines ganzen
berfteiften Organismus. Bewufte Berfteifung und Mechanijierung der
Bewegungsfunttionen ift eine Frucht gegenwärtiger Syſteme. Mit viel Pathos
borgetragene Gorderungen zeitigen abfonderlide GSrfolge; es erwedt den An—
fein, alg wolle man abfidtlid alle Gefühlsſtrömungen, alle inftinktive
238
Bewegungsfreude und unbewußte Hingabe an den Rhythmus abtöten, als
veraltet abtun oder lächerlich maden. Durch pantomimijde, grotesf wir—
fende Arm- und Beinhaltungen (futuriftiiher Gzprejfonismus), wird Grfag
für Sefühlsäußerungen durch elementare Gebärde geboten. Anmut und Gine
falt ftehen Elagend abjeits. „Wer die Menfden betrügen will, muß bor allen
Dingen das Abjurde plaufibel machen.“ (Goethe).
Seblt es den deutſchen Männern und Grauen an Mut, Kraft oder Ein-
fit, gegen dieſe fchleihende Gefahr rüdhaltlos aufzutreten? Einen Teil der
Schuld an dieſer Duldjamfeit trägt die faljhe Deutung und Anwendung der
Begriffe bom Rhythmus und Taft neben der Forderung einer „bewußten“
Spannung. Mangel an „richtiger“ fdrperlider, d. h. Musfel-Spannung, ift
angeblih Urſache der üblen Körperbefchaffenbeit; infolgedeffen gerät man in
einen Zuftand bon Dauerjpannungen, weldhe abjurde, gehemmte Bewegungen
erzeugen; unfähig, einem Impuls zu folgen, wirken diefe Bewegungen geradezu.
lähmend auf den ganzen pſycho-phyſiſch bewegenden, bewegten Organismus.
Wer lehrt die Tiere die richtigen Spannungen? Dur) „Raumeinftellung“,
„Sormbeberrfhung“, „geometriſche Sefegmafigkeit der Bewegungen“, durch
„den Willen zur bewußten Spannung“ wurden unferer Jugend bon der fünft-
leriſchen Körpererziehbungslehre weit bedenflihere Feſſeln gefdmiedet, als
jemals durch die ftraffe Zucht des jest bon allen Seiten angegriffenen deutjchen
Turnens.
Die Beobachtung der Siere führt uns mitten hinein in das Berftandnis.
für den Rhythmus; felbft in langer Rerferhaft bewahrt fid das wilde Tier
nod) Gelaffenbeit und Anmut durch ftete Bewegung im engbemejfenen
Raum. Der Auffaffung eines befannten Hamburger Schulmannes, das Kind
fei nur ,Rohmaterial*, welches der formenden Hand des Lehrers bedürfe, und
das bewegungsdurftige, lebhafte, biegjame Pflänzchen fei in überfüllten
Schulklaſſen wohl aufgehoben, um zur Kultur zu gelangen durch ftundenlange
Bewegungslofigkeit, widerfpridt bie Beobachtung, die uns jeder zoologifche
@arien ermidglidt. — Spalierobft ziehen und Tazusheden befdneiden zur
Steigerung des Grtrags und aus Raummangel ift fein Grgiehungsideal. Wir
wellen unfern Kindern die lieblihe Anmut erhalten oder ihnen wieder dazu
verhelfen, und fie ſchützen vor GEinflüffen, welche ihrer Ieiblihen Freiheit
und ſeeliſchen DBertiefung binderli oder feindlid gefinnt find. Einfachſte
allgemein anwendbare Uebungen fünnten ohne viel Belehrung das Gefühl
und DVerftändnis für Natürlichkeit und Abſcheu gegen Biereret und Fünftliche
Drejjur weden. Diefes Ideal würde nur erreicht Durch vorbildlich wirkende
Körperbeichaffenheit und -bewegungsmöglichkeit des Lehrenden und oft nur auf
Koften höchfter geiftiger Erträge. Was hülfe es dem Menjchen, wenn er Die
ganze Well gewönne...? „Die Wachheit des Geiftes“ fieht der bedeutendite
Erforfher des Rhythmus, Luwig Klages, als den Grund der überhandneh-
menden rhpthmusfeindliden Erziehungsverſuche an. Das weibliche Geſchlecht
müßte bor allem gefchüst werden bor der regelnden Kraft des Geſetzes durch
den Geift, denn in den Müttern rubt Die Quelle der Bolfsfraft und in ihnen
wird die organifhe Ginbeit der verfchiedenen Anlagen des Herzens, des
Körpers und Geiftes am unerbittlidften geftört; bier trägt dieſe Berftdrung
die erjchütterndften Golgen.
Der Kampf auf diefem Gebiet fceint fid zu rbhftallieren um die Vee
deutung und Anerfennung des Wertes des Bital-Pfydifden gegenüber dem
Logifdh-Geiftigen und es nimmt nit Wunder, wenn einfeitig intelleftuelle
Gefhöpfe ihre Natur verleugnen und mit dem meffenden Berftand Dinge be—
239
urteilen zu können glauben, welde eben nicht durch Logik, fondern nur durch
Sefiible und Empfindungen Hhingenommen — geabnt werden fönnen.
Aus der angeftrebten Wiederbelebung des Rhythmus (Bode, „Der Rhyth⸗
mus und feine Bedeutung für die Erziehung“. Diederichs, Bena) erhoffen wir
eine ftarfe belebende Strömung der Volkspſyche. Ss bedarf hierzu feines
foftfpieligen, großen Wpparates. Wie fdon erwähnt wurde, dienen eine
fadfte, dem täglichen Leben der Menſchen entnommene Bewegungen und
Uebungen diejem Ziel, fobald fie einer einzigen grundlegenden Gorderung
genügen: mit dem Schwerpunft zu gehen. Man fpricht in der Körpererziehung
bon einem fogenannten aftiben oder angefpannten Mustelzuftand im Gegen»
fab zur paffiven, d. 5. nad Möglichkeit entfpannten Muskulatur. Der höchſte
®rad von Entſpannung löſt ohne weiteres das Gefühl für die Schwere der
&ztremität aus und zugleich ift biermit die Mmichtigfte Borbedingung für
jeglide Körperfchulung gegeben. Das Schwunggefühl fommt lediglid aus
der Fähigkeit, bewufte Entſpannung ausnugen gu können durch impulfive
Bewegungen.
Die Erkenntnis dieſer Theorien führt aber nicht zum Erwachen des
Körpergefühls bei der Allgemeinheit; man muß ſogar bedauerlicherweiſe immer
wieder erfahren, daß das Fleiſch willig, der Geiſt aber zu ſtark iſt, um dem
Rhythmuserlebnis Bahn frei gu geben.
Kleifts ftarfer, urfpriinglider Gmpfindung verdanken wir folgenden Aus»
{prud in der Abhandlung vom Marionettentheater: „Wir fehen, daß in dem
"Maße, als in der organiſchen Welt die Reflezion dunkler und ſchwächer wird,
die Gragie darin immer ftrablender und berrfchender Herbortritt... fo findet
fih aud, wenn die Grfenntnis gleihfam durch ein Unendlides gegangen ift,
bie Gragie wieder ein, fo daß fie zu gleicher Zeit in demjenigen menſchlichen
Körperbau am reinften erfdeint, der entweder gar feins, oder ein unendliches
DBemußtfein bat, dD. h. in dem Gliedermann oder in dem Gott. Mithin müßten
wir wieder bon dem Baum der Grfenntnis effen, um in den Stand der Un—
ſchuld zurüdzufallen.*“ — Smma Goldige Wortmann.
Ottilie Wildermuth.
Nicht unfer Hirn, fondern unfer Herz denft den größten
®edanfen. Anſer Herz aber oder unfere Seele oder der
Kern unferer Perfinlidfeit ift ein Gunfen aus dem Lebens-
lihtmeer Sottes. Sean Paul.
Clit die ältere Generation in Schwaben wedt der Name Ottilie Wilder-
mutb eine Fülle von anmutigen Bildern und bunten Geftalten; er ver—
fegt fie zurüd aus einer harten und ſchweren Beit in eine verjunfene Welt
bürgerlichen Friedens und beiterer Hauslider Behaglichkeit. Da wandelt ein
flanger, bagerer, lederfarbener Gnglander durch die Gaffen Mtarbadhs und
wirft fic, während er fchreitet, Zuderpaften, die er in feinem weiten Aermel
verborgen hält, in den Mund. Das Fräulein bom Greihof fteht por uns
-auf, Die fich als blühende, gefeierte Schönheit einft von einer Zigeunerin wahr»
fagen ließ: „Kein anderer als ein Kaifer wird dich heimführen. Kommt er
aud) jpät, jo fommt er doch gewiß,“ Die daraufhin einen Freier um den andern
bon ihrer Tür weift und ſich das Warten nicht verdriefen läßt, bis fie, Die
Neunzigjährige, fchließlih vom Leichenkutſcher Raifer zu ihrer legten Rube
beimgeführt wird; da erfcheint der humoriſtiſche Pfarrer, der fein Frühſtück
240
in der Aurorahalle einnimmt und deffen Buben mit goldenen und filbernen
Pfeilen jhießen; der knöcherne Hafelnußpfarrer, der feinen großen Garten mit
lauter Hafelnußftauden bepflanzt, um des Abends in feiner Studierftube bei
Wein und Nüffen und dem dumpfen Ton feiner Bafgeige einfame Orgien zu
feiern; die geigige Pfarrfrau mit den Dettbezügen aus Trauerfattun und,
ihrem: „Ich effe nichts mehr, der Papa mag nichts mehr, der Herr Vikar
begebren nichts, das Hermannden friegt nichts, und Die Magd braudt
nichts mehr;“ oder jener freundlide Heilbronner Stordenwirt, der, wenn
eine reifende Dame mit Kindern [hücdhtern eine Suppe beftellt, fie mit den
Worten unterbridt: „Gut, Madame, ja, ja; haben recht fräftige Nudelfuppe,
werden aud) noch ein wenig Deffert übrig haben für die Kinderlein, das geht
drein“ — eine Figur, die uns Heutige anmutet, als wäre fie einem alten
Märchen entjtiegen. Noch hundert andere könnte ich anführen, an denen fid
die Herzen unferer Mütter und Großmütter ergdst und erquidt haben. Und
die fpätere Generation? Sie lehnte Ottilie Wildermuth mit einem mitleidigen
Achſelzucken ab: den nad unbefdranfter Freiheit Dürftenden erfdien fie als
die Bertreterin einer enghergigen, moralijierenden, leicht pietiftifch gefärbten
Spießbürgerlichkeit, die mit Recht als ein veralteter, übertwundener Stand-
punkt angefeben werden dürfe. Diefes Bild haben heute nod viele von ihr,
die meiften freilich, ohne fie recht zu fennen.
Go hätten fic alfo die Zeitgenoffen in ihrem bewundernden Urteil über
das didterifhe Schaffen diefer Frau getäufht? Der ernfte Uhland, in dem
der „Stadtjchreiber“* ein fold) inniges Bebagen, ein fold berglides Lachen
auslöfte, wie es in Jahr und Tag fein anderes Buch getan; der Philofoph
Shelling, der befennt, daß er faum jemals |, Lieblideres“ gelefen**; die Dichter
Adalbert Stifter, Seremias Gotthelf, Bodenftedt und taufend andere mit be-
rühmten und unberühmten Namen, fie alle batten es nidt vermocht, den
©eift Heinbürgerlicher Enge, der mit bedrüdendem Haud Durch diefe Schriften
toeben foll, zu verjpüren und ihre literariſche Wertlofigfeit zu erfennen? Ehe
wir ein foldes Urteil fällen, wäre es wohl der Mühe wert, ung einmal zu
fragen, was denn eigentlid den Wildermuthſchen Schriften den gerügten
bausbadenen, fpießbürgerliden Sharafter verleihe? Und ferner, ob in ihren
Werken jenes ſchwer definierbare Etwas ftede, das ihnen ein Recht geben
würde, ihre eigene Zeit zu überdauern und auch einem fpäteren Geſchlecht nod
etwas zu jagen?
Einfache, befcheidene, wenn man will [pießbürgerlihe Berhaltniffe find
es zweifellos, in denen fich die meiften der Wildermuth’fhen Helden und
Heldinnen bewegen. In ſchwäbiſche Pfarrhäufer werden wir geführt, in
alte, gediegene Beamten- und ehrbare Bürgerhäufer und in die Hütten der
Armut. Das Alltagsleben wird ung gemalt, nicht in rofa und Himmelblau,
fondern mit viel gefundem, oft derbem Realismus. Aber auf dem Boden
diefes Alltagslebens wachſen die mannigfaltigften Originale, wunderliche
Käuze, deren Gebaren und Einfälle fid bunt von der grauen Folie der fie ume
gebenden Spießbürgerlichkeit abheben; fraftpolle Manners und aufopfernde
willens- und glaubensftarfe Grauengeftalten, die ihre bejchränften Berbalt-
niffe nicht als drüdende Geffel empfinden und abwerfen, fondern die innerhalb
diefer DBerhältniffe ihr Leben nad) ihrem Sinn und Willen zu geftalten
» Bilder und Sefdhidten aus Schwaben, Band I.
** ‚Ottilie Wildermuths Leben“ (nad ihren eigenen Aufzeihnungen zufammen«
geftellt und ergänzt von ihren Töchtern).
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wiffen. Alles was lebensfabig, gefund und tiidtig, was froh und beglüdend
in Heinen Verhältniſſen ift, wird von der Didterin ans Licht gebradt. „Der
einfache Grundgedanke aller meiner fleinen Berfude*, fo fchreibt fie felbft an
eine Sreundin, „ift Der Wunfch, zu zeigen, wie reich und mannigfaltig aud
das alleralltäglichfte Leben in feinen verfchiedenen Erjcheinungen ift, wiepiele
erfreuliche, . ergögliche und poetifche Seiten jede Zeit und jeder Lebenstreis
Bieten, wie Quellen zu barmlofem Lebensgenuß in jeder Stellung liegen.“
Der befannte Literaturbiftorifer Bilmar fchreibt einmal der Didterin: „Ihnen
ift Die wunderbare ®abe verliehen, nicht etwa die Wirklidfeit zu vergolden
— bas fönnen andere aud) — fondern das Gold der Wirklichkeit an den Tag
gu legen; und wieder ift dies nicht bloß irdifches Gold, fondern das Bold, das
an den Schwellen des PBaradiefes gefunden wird.“ — Spießbürgertum, fo
wie ich es verftehe, ift ein trübes Altwaffer, an dem der Strom des Lebens
porüberzieht, ohne dem trägen Glement Bewegung mitzuteilen. Die Schriften
der Wildermuth aber find ein Waffer, das munter dabinraufdt und das ‘im
goldenen Gonnenglang ihres Humors taufend bligende Lichter wirft. Kein
Strom, der ftolg und madtig das Land durchzieht und unfere Phantafie in
fabelbafte Gernen Iodt, aber ein klarer Bad, der durd die heimiſchen Fluren
eilt, an deffen Ufern alles grün und frifh und frudtbar ift, und der den
Wanderer bei jedem Schritt por neue Freuden und Ueberrafdungen führt.
And der moralifhe Ginfdlag, die pietiftifhe Färbung der Wilder-
muthſchen Schriften, an denen mande fo großen Anftoß nehmen? Die
fdlidte Lebensweisheit, von der Ottilie Wildermuth ausgeht und zu der fie
wieder und wieder guriidfebrt, ift: der einzige Weg, gliidlid zu werden, ift,
glidlid zu maden. Das einfadfte Leben, ja fogar ein Leben in Armut und
Not, in Kummer und Krankheit bietet uns die Möglichkeit, durch ſelbſtver—
gefjende Liebe andern wohl zu tun und fo zu dem Frieden zu gelangen,
welden die Welt nicht geben fann. Diefe Lebensweisheit aber hat ihre Wur—
geln nicht in einem engbergigen Pietismus, fondern in einer lauteren, find«
liden Frömmigkeit, in jenem echt chriſtlichen Geift, ber die Menfden, die uns
nahe fommen, gang befonders aber Die Armen und Bedriidten und Glenden,
mit verftehender Liebe umfaßt. — Nur eines ift Ottilie Wilbermuth in der
Seele zuwider: das Blaffe, Siflide und Gentimentale, alle Unnatur und
falfde Romantik. Gegen ſolches Unwefen find denn aud die einzigen [harfen
Pfeile gerichtet, die fie verjendet. In diefem Stüd ift fie Schwäbin durch
und Durd, und fie zeigt fid bier nicht nur ftammes-, fondern aud geiftes-
verwandt mit dem ihr befreundeten flaren, nüchternen, maßpollen Ludwig
Ubland. Diefer fteht als eine Geftalt voll Kraft und Friſche ja aud in aus—
gefprodenem Gegenſatz zu dem unmännliden, verſchwommenen und phan«
taftifchen Wefen manches andern Dichters der romantifhen Schule — wenn
man Uhland überhaupt zu diefer Schule rechnen will. Daß Ottilie Wilder-
muth im Ausdrud ihrer Abneigung gegen romantifhe Stimmungen und Gee
fühle aud je und je zu weit gebt, fo 3. B. wenn fie den jungen: Wertber,
„etwas ärmlich“ findet, ijt freilich nicht gu leugnen.
Nun zu der Frage, ob die Schriften der Ottilie Wildermuth einen frudt-
bringenden Keim aud) nod für unfere Zeit enthalten. Gang abgejehen davon,
daß fie als ſehr beadtenswerte Kulturdenkmäler por ung ftehen, find einige
der „Bilder und Gefdidten aus Schwaben“ rein äfthetifh gewertet Kunft-
werfe auf dem Gebiet humorvoller Kleinmalerei, und wenn fich die [pater
erfdienenen Gefdidten nicht immer auf diefer Höhe halten, fo finden fich dod
auch unter ihnen nod Perlen von hellem Glanz, wie 3. B. der entzüdende
242
„SHerbfttag bei Weinsberg“*, der uns unwillfirlid Gottfried Rellers Gre
gablungstunft in den Sinn ruft.
So viel Rühmenswertes aber auch von einzelnen Sefdidten gejagt werden
mag, fo ift der eigentlide und tieffte Wert der Wildermuthſchen Schriften
Dod wohl nidt auf rein äfthetifchem Gebiet zu fuden. Der bereits genannte
Vilmar fchreibt, daß ihm die Werke der Didterin „nicht nur ſchöne, fondern
gute Stunden bereitet haben“. Alle die ernjten und heiteren Gefdidten find
im legten Grunde dod nur Ausdrud der Perſönlichkeit der Dichterin.
einer Perfdnlidfeit, wie fie in ihrer vollfommenen Harmonie fdiner und
feelenpoller faum gedadt werden fann. ‚„Nicht die Schriftitellerin fei gee
priefen, fondern die Grau, deren Seele gefdaffen war, fo liebliche Erfchei-
nungen in ihrer ganzen Ginfalt nicht bloß aufgufaffen, fondern fo rein Dare
auftellen, ohne einen unredten oder ftörenden Ton einzumifchen,“ fdreibt
Schelling. Die Kunft ift für Ottilie Wildermuth nicht Selbftgwed, fondern
ein Mittel, aus dem Reichtum ihrer Natur andern mitzuteilen; den ſchmerz—
lichen Konflikt zwifhen Kunft und Leben, an dem {don fo viele Größere zu-
grunde gegangen find, wußte fie für fic felbft in beglüdende Ginbeit auf»
guldfen. Sie war die liebevollfte, aufopferndfte Gattin und Mutter, die ihre
fchriftftellerifjchen Arbeiten nie in den Bordergrund ftellte. Stets war fie be
reit, Die Feder oder Die Nadel aus der Hand zu legen (fo erzählt ihre Tochter
in ,Ottilie Wilbermuths Leben“), wenn ihr Mann ein Anliegen an fie hatte,
und ihre Kinder famen fich bei ihrer vielfeitigen Tätigkeit nie verkürzt vor.
Sie hatte ein offenes Herz für alle, die ihr nahe famen, und nahm fich ihrer
nit nur mit Rat, fondern auch mit der Tat an. Wieviele verliefen nicht
das gaftlide Wildermuthſche Haus in Tübingen geftarft an Leib und Geele!
Da taudt einmal „ein armer Grangos“ mit „abenteuerliher Bergangenbheit*
auf, der weder Freunde noch Geld hat, und um den man fid annehmen muß;
ein andermal ift’s ein ſchwindſüchtiger Engländer, der fo notwendig Pflege
braudt, und obgleid Ottilie Wildermuth felbft in recht beſcheidenen Bere
Haltniffen lebte, glaubt fie Dod, daß wir „viel mehr bon Gott empfangen als
wir gerade zum Leben nötig haben.“ Nad) ihrem Tode erzählte der Anftalts-
geiftlihe eines Zuchthauſes ihren Töchtern von einem gang befonders vere
härteten und verftodten Sträfling, der nur Haß und Bosheit bon den Menfchen
erfahren haben wollte. Als aber der Geiftlide nicht nachließ mit Fragen nad
feiner DBergangenbeit, ging in dem düfteren Geſicht plöglic ein Licht auf:
Sa, ein Menjch babe ihn einmal mit unverdienter Güte behandelt; es fet
eine Grau in Tübingen gewefen, Frau Wildermuth Habe fie gebeifen.
Wie Ottilie Wildermuth über die Ehe und über das Verhältnis gwifden
Mann und Frau’ denkt, fpridt fid in den Worten aus, die fie als Sungver-
mählte an eine Greundin fdreibt: „Es ift eben nichts Schweres, ein paar
liebevolle Worte, ein freundliches Gefidt, eine Liebfofung für den Mann zu
haben; aber die beftändige ftille Wufmerffamfeit und unveränderte Gorge für
feine Heinen Bedürfniffe und — Gigenheiten, für die man nicht einmal einen
Dank erwarten fann als des Mannes unbewußtes Wohlbehagen, das ware
wohl das eigentlihe Reich der Frauen ...* Gine fold felbftlofe, beinahe
unterwürfige Gefinnung läßt fic) fehwer mit dem Freiheitsdrang modern
denfender Frauen vereinen, und manche möchte es der Wildermuth vielleicht
gum DBorwurf maden, daß fie, die ihren Gatten an geiftiger Bedeutung wohl
weit überragte, fic befdeiden in allen Lebensfragen feinem Willen unterwarf.
Auffallend erfcheint mir, wenn wir fie auf ihrem Gang durchs Leben bez
* Mus dem GFrauenleben, Band II. 26
2
gleiten, nur, daß wir gar nie den Gindrud gewinnen, als babe fie in der Ehe
ihre Greibeit und Gelbftändigfeit aufgegeben, als habe ihre Perfönlichkeit
das Geringfte von der ihr innewohnenden Kraft eingebüßt.
Wenige Tage vor dem Tode Ottilie Wildermuths fam ein fremdes junges
Mädchen in ihr Haus; es wäre ihr, fo fagte fie, ein Troft, Frau Wildermuth
gu feben, ehe fie einer ſchweren Operation entgegengebe. Ich weiß gewiß,
daß auch mandem bon uns heute Lebenden ein Licht auf den dunflen Weg
fiele, den wir geben müffen, wenn er diefe Frau fennen und lieben lernte.
Marie Knapp.
Erleſenes
Ottilie Wildermuth / Die drei Zöpfe.
s gibt unterſchiedliche Zöpfe.“ Das wurde auch die ſelige Ururgroßmutter
* mit Staunen gewabr, als ihre drei Buben, die man alleſamt bei einem
auswärtigen Präzeptor untergebracht hatte, der befonders berühmt in der
Drefjur war, in der erften Bafang nad Haufe famen. — Hatte jie doch alle
Drei bor der Abreife eigenhändig gewajchen und geftrählt, eigenhändig ihre
widerfjpenftigen Haare mit Puder, Talg und Wachs behandelt, bis fie nach
Hinten geftriden und dort zu einem fteifen Zopf vereinigt waren, mit einem
nagelneuen ſchwarzen $loretband ummwunden, fo daß fie der Garde des Königs
Stiedrih Ehre gemacht hätten, wie fie abzogen, gleich gekleidet in glänzenden
geftreiften Gternell, und die Zöpfe auf ihren Rüden tanzten.
Sa, es gibt unterfchiedlihe Zöpfe; wie verfdieden fahen die Buben jest
aus! Der ältefte, der Heinrich, der gar ein hübſcher Burfd war und allzeit
gern den Herrn fpielte, der hatte fid nimmer mit dem jimplen Sopf nad
päterlider Weife begnügt, fondern er hatte eztra ein paar Budeln born, die
gar zierlich ins Gefidt ftanden, und an dem Zopf noch eine befondere Schleife
mit flatterndem Band als Bierrat; fo hatte er’s bei der Suite eineg durd-
reifenden Girften gefeben, und jo hatte er’s mit der Hilfe bon Prageptors
Heinrife zuftande gebradt. Chriftian, der Züngfte, machte mit feinem dünnen
Schmwänzlein feine folhe Pratenfionen, Das war nach wie por fäuberlih nad
Binten geftrichen, nur das floretfeidene Band hatte er an den Heinrich ver-
bandelt, und ftatt deſſen ein altes Sadband mit Dinte ſchwarz gefärbt und
ihn damit umwidelt. Der Zweite aber, der didbadige Gottlieb, der allezeit
bas Bequeme liebte, der hatte die Haare nur oben zufammengebunden und
ließ fie nach unten frei, wie er fold fliegendes Haar ſchon bei Leichenbeglei-
tungen geſehen; er meinte, fo tue ſich's aud. Was hatte die gute Mama für
eine Not, bis fie Die drei Zöpfe wieder zurechtgefalbt und in den normalen
Suftand gebracht hatte; aud) gab man ihnen am Schluß der Ferien ein Geleit-
ſchreiben an die Frau Präzeptorin mit, worin diefelbe höflich erfucht wurde,
dod aud auf die Zöpfe der ihr anbertrauten Jugend zu adten und fie
nimmer in fo ffandalöfem Zuftand nad) Haus zu [chiden.
Ob die Zöpfe bon nun an in Ordnung geblieben find, das weiß ich nicht;
fo viel aber weiß ich, daß jene Vakanzzöpfe bereits den finftigen Sharafter
der Buben vorbildlich darftellten. Der Heinrich, der war und blieb der Gle-
gant; der Ehriftian fümmerte fich juft nicht darum, ob fein Zöpfchen did oder
dünn, in Florettfeide oder in Sadband gewidelt war, wenn er nur fonft fein
Schäfhen ins Trodene bradte; der Gottlieb aber, der wollte nidts als es
244
gut haben auf der Welt, und weils einmal ohne Zopf nicht ging, fo wollte.
er fic) den feinen wenigftens fo bequem maden als möglid. Wenn der Herr
Pate jedem der Buben einen Marftgrofchen verehrte, jo durfte man gewiß
fein, daß fich der Heinrich eine unechte Stednadel und Gottlieb eine Wurft
faufte, der Ehriftian hingegen ftedte den feinigen in einen Sparhafen, einen
irdenen von der {innreiden Sorte, die nur eine Deffnung oben hat und bie
man zerfchlagen muß, wenn man den Inhalt wiederhaben will.
*
Mit ftattlid gediehenen Zöpfen wurden die Herangewadfenen Knaben zur
beftimmten Zeit nacheinander auf die Mniverfität fpediert, um allda ihre
Studien zu oollenden; der Heinrid) und der Chriſtian famen ins berühmte
Stift, allmo jede Honette Familie wenigftens einen Sprößling haben mußte;
der Gottlieb hatte eigentlich feine Laufbahn durch verſchiedene Schreibſtuben
gemadt, follte aber doch nod die gemeinen Redte und etwas Humaniora
ftudieren, um für ein ftädtifhes Amt tauglich zu werden.
Die Zöpfe haben fie mitgenommen und redlich wieder heimgebradt. Keiner
ift gewichen aus dem Gleis der angeftammten Zucht und Gitte, wenn es aud
da und dort fleine Abfchweifungen gab. Heinrih war ein febr ftrebfamer
©eift, aber troß feiner Begabung bradte er es zum Sammer bon Papa und
Mama niemals zum Primus. Gr trieb allezeit Nebenftudien, Italieniſch, Grane
zöfifeh, Heraldik und andere Allotria, und verlegte, wo er konnte, die heilige
Stiftsordnung, um mit etliden „Jungen bon Adel“ Bagdpartien und Fedte
übungen mitgumaden, und nur feiner Rednergabe und, wie die böſe Welt
fagt, den auserlefenen Weinproben in Gafden, mit denen der Papa die
Herren Profefforen beehrte, hatte er’s zu danken, daß er noch mit Ehren feine
theologifhen Studien abfolvierte, und nidt mit dem Rainsgeiden eines
binausgeworfenen Stiftlers durch die Welt ſchweifen mußte.
Gottlieb, der band fich feinen Zopf bequem, er ftudierte fo viel ihm
gutraglid, aß und trank fo viel ihm jchmedte, ohne es in beiden Stüden
gu übertreiben. So oft die regelmäßige ©eldfendung bon Papa anfam (der
alte Herr bielt ftreng auf fefte Termine, obwohl er die Söhne nicht knapp
hielt), ſchaffte ſich Heinrich eine bordierte Wefte, ein zierlihes Cachet oder
irgend fonft einen Artikel an, mit dem er, troß der ftrengen Kleiderordnung,
die den GStiftlern Kutten vorſchrieb, in feinen adeligen Birfeln Staat machen
fonnte, oder reichte es die Miete für ein Reitpferd oder ein weltliches Bud.
Der Gottlieb aber, der lud feine Brüder zu einem Abendeſſen ein, wobek
drei fette Gnten verfpeift und in edlem Uhlbacher des Papa’s Gefundbeit
getrunfen wurde; er lachte dabei den Gbriftian berzlih aus, der fich die
Schlegel und Flügel der Ente fein fauberlid in ein Papier widelte, um nod
etlihe Sage daran zu gehren. Gein Geld hatte der forgfam verwahrt zu
fpärlihftem Gebraud; er hatte feit feinen Rnabenjahren bereits den dritten
Sparhafen fo weit gefüllt, daß nichts mehr hinunter fiel, unverfehrt ftanden
fie mit ihren biden Bauden in einem geheimen Schiebfach feines Pults und
ladten ihn mit ihren fdiefen Mäulern an.
Aber den Bopf behielt er bei und auch das Gloretband; feine äußere
Grfdheinung blieb jederzeit anftändig, wenn fie gleich immer dünner und
{pigiger wurde.
*
„Es gibt unterſchiedliche Zöpfe.“ Das zeigt ſich klärlich, wenn man die
Bildniſſe der drei Urgroßonkel aus ihren reifen Jahren betrachtet. Da
ift zuvörderſt der Heinrich, der hübſche Mann mit den feingefchnittenen Zügen,
245
Deffen Zopf als eleganter Haarbeutel ſchalkhaft zwifchen den fin geordneten
Budeln berporblidt. Der feine dunfle Rod ift mit einem Orden gejhmüdt
und nur ein paar zierlihe Priefterfräglein bezeichnen nod den Theologen;
mit fpigen Fingern nimmt er eben eine Prieje aus der goldenen Tabatiere
mit einem vornehmen Bildnis in feiner Hand, und ſchaut lächelnd nach dem
fürjtlihen Luftfchloß, das feitwärts durch ein Fenfter zu feben ift.
Der Heinrid) war immer ein etwas leichtes Blut; der Weftwind, der oon
jeber fo viel Unſamen von Frankreich zu uns herüberwehte, hat ihn befonders
ftarf angebaudt und gar manchmal war er nahe daran gemwejen, des rejpef-
tablen Namens feiner Bater unwert gu werden. Gr hatte es verſchmäht als
ebrbarer Vikarius unter den Fittihen des Papas fic zum gleichen Beruf
vorzubereiten; feine hübſche ©eftalt, feine feinen Manieren und die fran-
zöſiſche Spradfenntnis hatten ihm eine glänzende Stelle als Hofmeijter von
zwei jungen Prinzen verfdafft. Diefer Beruf führte ihn an fremde Höfe, in
‘Bader mit Spielbanken, in die Salons ſchöner Damen, ebenfo viele Klippen
für den welts und lebensluftigen jungen Mann, und gar mande Kalypfo hätte
den Mentor beinahe eber als feine Selemads feftgebalten.
Aber der folide Geiſt des Baterhaufes, die Zucht der geftrengen Mutter»
band, die ihm den erften Zopf gebunden, hatte ihn nie gang im Stiche gee
laffen, und er trug jest feinen Haarbeutel mit Ehren als wohlbeftallter Ober-
fonjiftorialrat. Go war er nun der Stolg und der Glang der Familie, der
Herr Pate von allen Neffen, Nidten, Grofnidten und Gefdhwifterfindsfindern;
feinen Gltern wurde bei den damaligen Reifefdwierigfeiten nur einmal die
Greube, ihn zu bejuchen, aber diefer Befucd und die huldvolle Audienz bet
ben allerbidjten Herrfchaften blieb aud) der Lidtpunkt ihrer Grinnerungen.
Ih wollte Gud nun gern die Details aus dem Leben des Heinrich ſchildern,
die gierliden Unterhaltungen, die er mit der Frau Fürftin und dero Hod-
frifierten Hofdamen gepflogen, die geheimen, diplomatifhen Sendungen, mit
denen ihn der burdlaudtigfte Herr beebrt hat, die franzöfifhen Luſtſpiele,
die ihm die Hoffitte, unbefchadet feiner geiftliden Würde, zu dirigieren ge-
ftattet hatte; aber id muß die Ausmalung folder Szenen denen überlaffen,
die mehr daheim find auf den Parkettböden der Hoffäle, als ich.
Nun aber betrachtet Onfel Sottliebs Bild und fagt, ob Guch dabei nicht
das Herz ladt, wie er da fist, mit vergnüglidem Lächeln auf feinem wobl-
bäbigen breiten Gefidt, den ſchön gejchliffenen Kelh mit funfelndem Wein
in Der Hand, während ein Altenftoß zur Seite und das Rathaus im Hinter-
grund ibn als ftädtifhen Beamten bezeichnen. Was hätte die Mama, die
es nimmer erlebt hat, wie er Bürgermeifter der guten Stadt H. wurde, was
hätte fie für eine Greude, wenn fie fabe, wie er jebt fo guten Muts den diden
ftattliden Zopf den Rüden hinunter hängen läßt, von dem er fid nun nicht
mehr beengt fühlt. Gr hatte es auch nicht nötig, {id etwas beengen zu laſſen;
es war ihm nad feines Herzens Wunſch ergangen, er fonnte fich und andern
das Leben leicht madhen. Wie behaglich [baute einem ſchon von weitem feine
Bebhaujung auf dem Markt entgegen, mit bem blankpolierten Türfchloffe, den
fpiegelhellen Scheiben, durch die man reidbefrangte Borhänge jab. Da war
alles Fülle und Wohlbehagen, die gaftlihe Tafel des Herrn Bürgermeifters
war weit berühmt in Stadt und Land. Gr ließ fic niemals mit ausländifchen
Produkten ein: Auftern, Kaviar und Champagner wurden in dem foliden
ſchwäbiſchen Haufe nicht vermißt, aber alle guten Landeskinder, delifate Spar-
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geln, feine Pflaumen und Aprifofen, Krebje, Forellen und ale, auserlefene
Srauben und reine Landweine von den edelften Gahrgangen zierten die Tafeln
und erfreuten der Menſchen Herz; der Hühnerhof nährte Geflügel aller Art,
Kapaunen, welfhe und deutfhe Hühner, Tauben und Ganfe, die jederzeit
bereit waren, ihr Leben im Dienfte der Menfchheit zu verhauden. Gs war
fein Wunder, wenn angejichts diefer Herrlichkeit ein Bäuerlein meinte: wenn
er der preußifch’” König wär’, er tat’ jid nicht lang plagen mit dem Krieg,
fondern gufeben, ob er nicht aud fo ein „Deinftle* (Dienst) befommen könnte.
*
Aud der jüngfte, der Ehriftian, war gu Ehren und Würden gefommen;
auf feinem Bildnis hat ihn der Maler mit großen Buchstaben als feine Hoch»
würden den Herrn Spezial M*** bezeichnet. Befagtes Bildnis wurde ure
{priinglid auf Koften des Stiftungsrats für Die Saktiftei im Akkord gemalt,
den Mann a 2 fl, und ift daher fein künſtleriſches Meifterftüd, doch foll es
bortrefflid getroffen fein.
Demnad ift der Onkel Spezial juft feine beaut é geweſen, erftaunlich lang
und fchmal, fein Gefidt bat die gelblihe Farbe und die fpigen Linien, wie
man fie borgugsweije bei Leuten findet, die für „ziemlich genau“ (ein milder
Ausdrud für geizig) gelten; jogar der Bopf entfpriht dem übrigen, er ift
auffallend lang, dünn und fpib.
Ich babe es noch nicht berausgebradt, ob die Leute oft reid) werden, weil
fie geigig find, oder geizig werden, weil fie reich find, es wäre eine logijche
Aufgabe für's philologifhe Samen.
Dei dem Onfel Spezial fdien beides in angenehmer Wedfelwirfung zu
ftehen, reich war er unbeftritten, und geigig ebenjo gewiß, ſoweit fich folches
mit Anftand und Schidlichleit vertrug.
Das Zehentwefen hatte er bei feinem Bater daheim recht gründlich ftu-
diert und fo weit war er, bei feiner natürlihen Begabung zum Sparen, bore
trefflich befähigt zum Betrieb auch der materiellen Seite des Defanatamtes.
Yebrigeng ging er im Erwerben und Sparen niemals fo weit, daß er feinem
geiftliden Anfehen gefchabet hätte, „der Bopf, der Hing ftets Hinten.“ Die
große Liberalität des Bruders Gottlieb war ihm ein Gräuel; war er dod ficher,
wenigftens gwangigmal des Sabres bei den jeweiligen Pifitationen einen
ausgefudten Schmaus zu genießen, woran die Grau mit den lieben Kleinen
aud) Anteil nahm, und wovon jedesmal eine vollgepadte Schachtel mit Bik-
tualien, gar oft nod ein Schinken, ein Sädchen dürres Obſt oder ein ge-
füllter Schmalzhafen bei der Heimfahrt in die Shaife gepadt wurde. Da jede
Frau Pfarrerin die befte Köchin fein wollte, jo waren diefe Schmaufereien fo
reidlid, daß man gar lang aus der Grinnerung zebren und fid daheim mit
Semis und Kartoffeln bebelfen konnte.
Ein Spezial war damals nod eine gang andere Refpektsperfon als
heutzutage; den Pfarrern lag fehr viel daran, in Gunft bei dem Hodwiir-
digen Herrn zu bleiben, damit ein günftiges Zeugnis dem Bericht an’s Kon-
fiftorium beigelegt werde, darum hatten die Bötinnen bom Dorf faft all»
widentlid ein Küchengrüßlein für die Grau Speziälin im Korb, aljo daß
Diefe unter der Hand einen Kleinhandel mit Spargeln, Safelobft und fettent
Seflügel in die Refideng trieb, da folde Lederbiffen zu foftbar für Die
eigene Safel erfunden wurden. Gin Wochenbett, das fagte Onfel Sbriftian
im Bertrauen feinem Bruder Gottlieb, fonnte er allegeit zu dreißig Gulden
Reinertrag anfdlagen......
*
247
Der Herbft ift der eigentlide Schwabenfrühling. Das laffe ih mir night
nehmen, fo abjurd es Elingen mag. Gs fteht dies gewiß im Zufammenbang
mit Der Sage, daß dem Schwaben der Berftand erft mit dem vierzigften
Sabr fomme. Wir Schwaben haben zwar recht frühlingswarme Herzen und
fönnen gar [dine Lenggedidte machen mit den verpönten Reimen: ziehen,
blühen, Rofe, Schofe, Mat, frei oder Treu; aber das muß ich doch im
Bertrauen fagen, daß id im Schwabenland felten einen Frühling erlebt
babe, in dem Die Kirfchenblüte nicht erfroren und die Aepfelblüte nicht ver—
regnet worden ift.
Srühlingsluft, recht allgemeine volle Srühlingsluft paßt für ein füd-
lid) Bolf, deffen milder Boden ohne Müh und Arbeit feine Früchte fpendet.
Was aber weiß unfer Landmann von Maienwonne und DBlütenluft, der eilen
muß, feinen Dünger auf die Wiefe zu bringen, und deffen Winterporräte
gu Gnde find. Auch die lieben Kinderlein, die man in Srühlingsbildern und
Liedern im Ringeltang auf dem Rafen abbildet, find des Beildenpfliidens
gar bald jatt, und feufzen nach der Zeit der materiellen Naturgenüffe: der
Kirfhen und Pflaumen und Birnen. Aber wie gefagt, id bin weit entfernt,
dem Frühling zu nahe zu treten, mit dem ich perfinlid febr intim ftebe,. nur
das müßt ihr mir zugeben, daß das erft recht Freude ift, an der jung und alt,
reid und arm teilnehmen fann, wo bon allen Hügeln Schüffe fnallen und
Schwärmer glänzen, wo der Segen bom Himmel aud die bärteften Herzen
mildtätig gemadt bat, und wo der ärmſte Bettelfnabe dod mit ein paar
Aepfeln im Sad an einem Raine liegen und fidh einen ſchönen Abend machen
fann mit einigen balbausgebrannten Grifden, die er von einem Herbftfefte
erbafdt bat.
„Es geht in Herbft“ ift ein ſchwäbiſches Troft- und Entfhuldigungswort
bei Eleinen Mängeln, in die man fid) mit Humor fügen muß, das felten feine,
Wirkung verfehlt. „Der fieht aus, als ob ihm der Herbft erfroren wäre,“ bee
zeichnet einen hohen ®rad von Trübſal und Niedergefchlagenbeit; kurz, der
Herbft ift der rote Faden, der ſich durchs Schwabenleben zieht, darum laft’s
euch nicht zu viel werden, wenn in diefen Bildern der Herbft eine häufige
Rolle fpielt.
Macht mir nidt den Einwurf, daß in einem großen Teil pon Schwaben
feine oder faure Trauben wachen, Herbft muß doch fein! Die mit den fauerften
Trauben jubilieren am lauteften, und die, fo gar feine haben, halten Kar»
toffelberbfte und pugen adt Sage zuvor fdon ihre alten Piftolen und neuen
Büchſen, um fie recht laut krachen zu lafjen.
Sm Herbft allein fieht man feine neidifhen und verhungerten Sefidter,
im Herbft braucht feine Hand müßig zu fein, die fich rühren fann, das kleinſte
Mädchen fchneidet ihr Kübelein mit Srauben, der Eleinfte Bube trippelt
mit den Füßen und lacht ſchelmiſch hervor aus der Bütte, in der er auf und
nieder tanzt. Im Herbft zieht der fröhliche Burfde in die Serien beim und
Bringt ein frifhes Leben in das verroftete Philiftertum Heiner Städte.
Darum liegt für ein ſchwäbiſches Herz ein füßer, geheimnispoller Reiz
in Dem Duft des feuchten Herbftnebels, wenn er zum erften Male wieder fid
in die warme Sommerluft wagt, eine Grinnerung an fröhlide Herbitnächte,
too auflodernde Sugendluft und fife Wehmut wie Mondenfchein und Facel-
glanz ihre magifhen Lichter in junge Seelen werfen.
Aud die drei Brüder hatten fich von ihren Knabenjahren an des Herbites
gefreut. Sie haben als Buben Berftedens in den Bütten gefpielt und ab-
wedjelnd des Baters Trauben zu Wein getreten, bon denen fie gubor im
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Gebeim reidliden Bebenten gezogen, fie hatten als Student um das Iodernde
Sadelfeuer das Gaudeamus igitur angeftimmt, nicht einmal den Onkel Chri—
ftian ausgenommen, der fogar an einem Herbftabend das Herz feiner nad-
maligen „Stau Liebften“ erobert hatte. Go dachten fie denn als Männer:
Sp hab’ ich’S gehalten bon Jugend an,
And was id als Ritter gepflegt und getan,
Nicht will ich's als Kaifer entbebren.
Der DBürgermeifter hatte jich den beftgelegenen Weinberg gefauft und ein
{dines Lufthaus darein gebaut; da wurde denn der Herbft in Bergnügen und
Herrlichkeit gefeiert, daß man weit und breit davon ſprach, und bon den bore
nehmften „Regierungsberren“, die dazu gebeten wurden, bis zu dem niedrigften
Schütenbuben, der fid um die Bebiitung des Weinbergs VBerdienjte erworben,
wußte jeder zu rühmen bon dem fröhlichen Abend und dem freigebigen Herrn
Dürgermeifter. Auch Onkel Shriftian, zu deffen Stelle ein ſchöner Weinberg,
gehörte, tat ein übriges; es wurde ein Schinken abgefotten, und Käfe angerührt
zu der Weinlefe, ja, es durfte fich jeder feiner Knaben ein halb Dutend
Schwärmer dazu anjchaffen.
Wie aber follte der arme Heinrich den Herbft feiern in feiner fandigen
Refideng, wo faum Kartoffeln wuchſen? Wohl fervierte man an der Hofe
tafel Die und da Trauben in Gewadshaufern gezogen, aber was war das
gegen eine Platte voll heimifher Silvaner, Rotweljh und Mustateller? Die
erlefenen Trauben, die ibm Bruder Gottlieb einmal in einer Schachtel ge=-
{didt, waren auf den ſchlechten Wegen bei dem Mangel an ordentlider Trans—
portgelegenheit als ungenießbarer Moft angefommen, fein Amt aber gee
ftattete ihm nie, zur Herbftzeit eine Reife in die alte Heimat zu machen. — Da
{prac er denn einmal feine Herbſtſehnſucht recht wehmütig in einem Brief
an den Bruder DBürgermeifter aus, und der wußte Rat zu fchaffen.
Gs war in einem gefegneten Herbftjahr, als der Oberfonjiftorialrat eben
mit feiner Grau beim Kaffee faß und ihr bom ſchwäbiſchen Herbft erzählte,
da fam ein plumper, ſchwerer Tritt die Treppe herauf, und eine derbe Stimme
fragte: „Sind der Herr Konfeftore daheim?“ Nod ehe er nachfehen fonnte,
wer draußen fei, Elopfte es mit der Fauft an die Tür und herein trat ein vier—
ſchrötiger Mann in der württembergifchen Bauerntradt, mit einem fogenannten
Reff auf dem Rüden, das vollbepadt war mit Schadteln, und an der.
Seite mit funftreich verpfropften Krügen behängt. „Öotenobend, Herr Kon=
feftore, en {dine Gruaf bom Herr Burgamoafter, und do follet fe au d’Trauba
und da füaße Mohft verfuada.“
Nun war’s eine Freude! Da lagen fie wohlgebettet und unverfehrt im
grünen Rebenlaub: Silvaner und Rotwelfche, Gutedel, Belteliner und Muska—
teller, daneben füßer Moft in den Krügen, der juft den Heinen „Stich“ Hatte,
mit dem er am angenebmften zu trinken ift, über Berg und Tal, über hol»
perige Pfade und Flußfähren fider getragen auf dem breiten Rüden des
Matthes, des Leibweingärtners bom Bruder Gottlieb, der fich gegen reichliche
Bergiitung dazu verftanden hatte, feine Zöglinge felbft gut an Ort und Gtelle
gu bringen. Der Konfiftorialrat, der feine Hofmann, vergoß belle Freuden-
tränen über dies Stic briiderlider Liebe; die Frau Fürftin felbft mußte mit
böchfteigenem Munde die Grftlinge diefer füßen Schwabenfinder foften, und
bei einer fröhlihen Abendgefellihaft wurde in altem und neuem Wein die
Gefundbheit des freigebigen Bruders getrunfen. Der Matthes, der der Mei-
nung tar, er fei faft bis ans Weltende gereift, fo daß er nadftens Hinunter-
gefallen wäre, wurde fo herrlich verpflegt und reichlich befdenft, daß er gern
249
derfprad, im nadjten Sabre wiedergufommen, als er nad drei Tagen ab»
30g, feine Schadteln gefüllt mit den feinen Würften, die das pornehmite
Produkt der neuen traubenarmen Heimat des Heinrich waren.
Seitdem zog Sabr für Sabr der ehrlihe Sendbote durch drei deutfde
Lande, um dem Heinrich den Herbftliden Brudergruß zu bringen, dem aud
der Shriftian fein Scherflein beifügte, und es hat die Herzen der Brüder warm
‚erhalten und das Gedächtnis an die Heimat jung und grün.
Wenn Geres und Proferpina durd) Samen und Blüten fid Grüße gee
fandt haben, warum follten ein württembergifcher Bürgermeifter und ein fürjt-
lider Oberfonfiftorialrat nicht durh Trauben und Würfte in Rapport mit»
einander treten?
Das ift das nettefte Stüdlein, bas id) euch zu erzählen weiß bon den.
Drei Urgrofonteln mit -den unterfdiedliden Zöpfen.
Kleine Beiträge
Geiſt und Fleifd.
Das ſechſte Gebot.
1;
Das Fleiſch gelüſtet wider den Oeiſt
* und der Geiſt wider das Fleiſch.“
Was Paulus damit als eine Grundtat-
ſache alles menſchlichen Lebens behaup—
tet, erſcheint vielen unter uns als eine .
unwahre, unerträgliche Verkehrung ihres
Lebensgefühls. Heißt das nicht, nichts
ſpüren von der innerſten Schönheit und
Kraft der Natur und ihrem göttlichen
Sinn? Sft das nidt eine Anſchauung,
‚geboren in einer Zeit des Alntergangs,
in einer fterbenden, müden und darum
unreinen, weil unfräftigen Welt? Steht
diefe Anihauung des Paulus nidt in
einem unlösbaren Oegenſatz zu unferem
beften deutfhen Wefen und &mpfinden?
Gerfennt fie nidt den reinen fittliden
‘Adel des natürliden Lebens?
She wir folder Zurüdweifung Raum
‚geben, wollen wir hören, was Paulus
weiter fdreibt: „Diefelbigen find wider
einander, daß ibr nidt tut, was ihr
wollt.“ Was willft du? Was ift dein
Ziel? Nennen wir gleid das höchſte:
Ootteskindſchaft. Gotteskindſchaft aber
beißt Freiheit, heißt Klarheit und Helle,
Güte, Die überwunden hat, heißt ein gan-
zes, Wades, gutes Dafein, heißt eine lebte
Sicherheit und eine völlige Offenheit gu-
leid. Und nun frage did, ob dieje Frei-
Beit nidt bedroht ift durch das, was
Paulus hier Fleifh nennt? Bift du
immer ganz du felbft? Herr, oder wahrer
~nod: Diener des Lebens in freier Hin
abe an die Wahrheit? Gs gibt ein
Baberes alg das Olid des Raufdhes
und als die lette und innigfte Steige-
rung alles Gefühls, ein höheres als
Lebenserhöhung und jelige Befriedigung
250
aller Gebnfudt Leibes und der Geele,
das ift Die ftille und reine Klarheit eines
Herzens, die Gottes Liebe wiederfpie-
gelt, und dag — Herrſchertum des
Geiſtes, das in der Zucht tiefſter De—
mut und freudigen Gehorſams reift.
Nicht darum handelt es fid, dab dag
eine gut, das andere böje fei, der Geift
im ©egenfat gum Leib. Die Anfdauung
einer fpäten Pbilofopbie der antifen
Welt, die Geift und Fleifh, Seele und
Sinne, Innen und Außen einander ent-
gegenjeßte; der alles Leiblih-Natürliche
als foldes fündhaft war; die darum in
der Entleiblihung, in der Entfernung bon
der Natur, in der Weltfludt, in der
Derleugnung des Geihlehts den Weg
der Grlöfung zu finden glaubte, fie ift
fein Oedanke des ——
Wohl aber iſt das die Frage: wer
herrſcht? Wo iſt das Ziel deines Le—
bens? Iſt es zuletzt die Befriedigung,
die Steigerung, die Verzückung, das Glück
und die Lebenserfüllung deines irdiſchen
Daſeins? Gebt dieſem Dafein feinen höch⸗
ſten, feinſten Sinn. Nehmt die Anbetung
und Verehrung aller Götter bis hin zu
dem, den die Alten Dionys nannten, dem
Oott der letzten Begeifterung und des ers
babenen Raufdhs und innerften Traums
der Liebe. Weitet diefes Dafein aus bis
gu den ©renzen der Schöpfung und bis
zur Höhe der ftrablenden Sterne — —
und Das alles verjinft Dod vor der Herr-
lichkeit eines Lebens, das im Angefidt
der Gwigfeit gelebt wird, verjinft por der
Madt und Tiefe eines Lebens, das fid
in jedem Augenblid bon einem unbeding-
ten und heiligen Willen berufen eih.
ift Armut und Nidts vor der Kunft
einer letzten Freiheit; die alles Hat, als
hätte fie nichts, die alles haben fann
und fid Dod nidt verliert; die darum
freie Liebe, Bitte ift; die nichts bedarf
und fid bod zu allem neigt und fid
freut an jedem zitternden Gonnenftrabl.
Die Bötter des Bluts und der Tiefe
find groß, und durd alle Sabrtaufende
bindurd haben fie mit VBerzüdung und
verwirrenden Wundern ihre Diener be-
lohnt. Aber zulett find fie Dod bettel-
arm und obnmädtig und ein großer
Trug, eine ewige Lüge und Täuſchung.
Seder reine und flare Strahl der ewigen
Sonne des Geiftes enthüllt ihr Nichts.
Haben wir in unjerer Zeit den Blick
dafür verloren, wie auf dem Wege zu
folder Greiheit aud die Strenge und
Abgeihlojfenheit bes Menſchen Tiegen
fann, der um feiner geiftigen Aufgabe
willen, um Oottes willen alles läßt, was
fih ihm duch die Entfaltung feines na»
türlihen Lebens erfdliefen fünnte? Im
Matthausevangelium fpridt Jeſus da-
pon: ,G8 find etlide verſchnitten, die
find aus Wutterleibe alfo geboren; und
find etlide verfhnitten, die am Menfden
perfdnitten find; und es find etlide
perfdnitten, die fid felbft verfdnitten
haben um des Himmelreids millen.
Wer es faffen mag, der faſſe es.“
Wo ift dein Biel, du WMenfdenfind?
Wohl dem, über den die unteren Mächte
nidts mehr vermögen!
„und jene bimmlifden Seftalten,
Sie fragen nidt “> Wann und Weib!“
Die befte, die ſchönſte Schule folder
Sreibeit aber ift die Ehe. „Wandelt im
@eift, fo werdet ihr die Lüfte des Flei—
{hes nicht vollbringen,“ ſchreibt Paulus.
Diefer Wandel, diefe Befreiung von der
Sudt nah fics felbft, nad Selbftgenuf
und Gelbfterhöhung ift nidt der Gnt-
ſchluß eines Augenblids. Bon der Gelbft-
ſucht erlöft nicht eine glüdlihe Stunde.
„Wandelt im Geiſt“, gu diefer Kunft
führt nur die bebarrlidhe Hebung wah-
ter Liebe und Treue. She ift ja nidt
das Sih-haben-wollen und Sich-genießen-
wollen. Go lange fie das nod ift, ift fie
nidt She. „Du follft nidt ehebrechen!“
©eftehen wir es dod einmal gang offen:
fo lange Liebe das fid nehmen und ge-
nießen ift, fo lange der Ginn und Wert
des Lebens in der größtmögliden Stei-
gerung und Grfüllung des Dafeins, der
Selbftbefriedigung der Perſönlichkeit ge-
funden wird, folange man den Reid-
tum des Gelbft über alles ftellt — —
fo lange- wird diefes Gebot eines Tages
zur Selfel, gum finnlofen, lebenswidrigen,
furdtbaren Gefeh. Da madt es die She
dur Züge, zur unwahren Gorm. Oder es
zwingt die Menſchen zur Stumpfbeit,
gen Gerfinfen und fid Begniigen mit
er ®ewobhnbeit. &3 läßt die Menſchen
fih eines Sages im Rerfer finden.
Solange einer alles für immer baben
und nidts Laffer will, fo lange ift die
Ehe für ihn der LUnfinn. Solange einer
aus bidfter Stimmung heraus, aus der
Bewegtheit der Sinne und der Geele her-
aus leben will, jo lange ift für ihn She
die Gefahr der Enttäufhung. Alber fo
lange ift für ibn aud der Weg zum
Lande der Freiheit und des Geiftes ver-
eloffen.
Gewiß ift die She ein Befenntnis zum
Geſchlecht, ein Befenntnis zur atur,
zu ihrer Schönheit und Freude. Aber in
ihr ift gugleid alle Natur aufgehoben zu
einem Höheren. Ihre Treue ift die Ghr-
furdt vor dem Leben, das mehr ift als
die Süße und die Fülle, fei ed nod fo
geweibter Stunden. Ihre Treue ift die
Ehrfurcht vor der heiligen Berufung des
Lebens, ift der Dienft am göttlichen
Sinn des Lebens.
Nur fo, fo aber ganz gewiß, öffnen
fid in der Ghe immer neue Wunder
des Lebens, wird in ihr das Leben ein
immer freiere8 und gütigeres Gidjlaf-
fen — und gerade fo ein immer innigeres
und näheres Sichhelfen und Sichbeglüden.
Ad, das Geſchlechtserlebnis ift nidt das
Wunder, das erlöft und befreit, wie ung
beute von fo vielen Propheten in my»
ftifhen und anderen @etwandungen er-
ablt wird. Mehr als alles hidfte Ge—
POL der Liebe ift die edle Zucht, in der
die Greibeit der oar i die Witte, reift.
Aud die She ift nur ein Weg. Aud
über diefem Weg fteht das Kreuz. Mit
feinem Schmerz, aber aud mit feiner
Verheißung. Gs gibt ein altes Wort:
Eheleute follen einander in den Himmel
bringen. Lind dasjelbe fagt unjere
Sprade: fie freien einander. Sie befreien
einander durch die Liebe, die voll Ehr—
furdt an den wahren anderen, dag Got»
tesfind im anderen glaubt. Sie befreien
einander zu der berrlidften Sreiheit der
Kinder Sottes.
Sagen wir e3 gang {dlidt: fie befreien
einander zum Leben. Gie maden ein-
ander bon fic felber frei für das Leben.
Sh las das ſchöne Wort: Ehe ift die
ftaunende Freude am Kind. She ift die
Sreude an dem Leben und die Shrfurdt
por dem Leben, das unfer Leben ift und
das dod größer ift als wir felbft, vor
dem Leben, dem wir dienen.
She, fo könnte id aud jagen, führt zu
der Rube, der Gefdloffenbeit, die frei
madt für die wahre, die große, die
Öottesliebe; für die Liebe, mit der Gott
feine Welt und feine Menjhen umfängt,
251
und pon der wir alle ein Sröpflein
in unfer Herz einfangen dürfen.
„Regieret Gud) aber der Geift, fo feid
ihr nidt unter dem Geſetz.“ Ad, da erft
ift Ehe gefdloffen, wo fie aufhört, Geſetz
gu fein. Darum ift fie und ihre Wahr-
heit ein Bild und Oleidnis, ein Weg
und eine ®eftalt des wahren Lebens. Gie
ift Symbol der Gottesgemeinfdaft.
Unter Midelangelos Bifionen an der
Sirtinadede findet fih ein Bild, wie
Adam fih fhwer und mühfam löſt aus
der Erde, aus der er gemadt ift. In
feinen ausgeftredten Ginger fpritht
®ottes Hand die Glut des Lebens über.
Seine Augen aber fdauen ftaunend auf
Spa, die, eingebillt in Gottes Mantel,
durhbebt bom Wunder des Geiftes, ihm
entgegenjiebt. Go erwadt in Der Ehe
eines am anderen zur Grfenntnis der Gee
genwart Sottes.
©ott ift gegenwärtig. Das uns zum
Griebnis werden laffen, das einander
{denfen — ob in der She, ob ohne fie —
das ift Freiheit und Frieden, das madt
frob. Da ift das Land der Berheißung,
da ift Himmelreid.
Karl Bernbard Ritter.
Die Mutter.
edes Kind fommt mir wie ein Seelen⸗
fäftchen por, darinnen der Schmud der
Swigfeit liegt. Die Mutter nimmt den
Schmud heraus, betrachtet ihn und ftrablt
poll Glück. Und wenn fie etwas findet,
in der Stube, auf der Wiefe oder im
Walde, fo etwas ganz Schönes, fo legt
ſie's mit in das Geelenfäfthen hinein,
gu den ewigen Dingen, die Gott por ihr
bineingelegt bat.
Da ift fo manderlei, was fie findet.
Sie erflärt Dem Kinde das Leben eines
Käfers ſo wunderherzlich, daß die Kinder
nie mehr einen Käfer zertreten... Oder
fie fpridt bon den Blumen mit fonniger
Stömmigfeit, daß die Kinder in den
Blumen die bunten Lichter der Land-
{daft feben und fie nicht auszulöfchen
wagen.
Mandmal denft fie fid aud fraufe
Gefdhidten aus von den Bildern, die in
Steinen {dlafen, oder bon einer Margiffe,
die die Helle des Waldbahes tranf, bis
fie fih jelber wie der Waldbah fühlte.
Oder fie erzählt den Kindern bom Sraume
des Dorfteides, den die irren Libellen
Davontragen und in Schalen aus Opal
legen.
Oder fie Elopft ihnen Pfeifen aus
Weidenruten und erzählt dann, was der
‘Wind in fo einer Pfeife denkt, wenn er
hineingefroden ift.
Bom Geſang der Aderfdollen weiß
252
fie zu erzählen, von den Wandergefühlen
der Sterne. Und das alles legt fie ins
Geelenfaftdhen binein. Und das ſchimmert
dort drin und fingt dort drin.
Mutter, du trägft ja den Himmel auf
den Händen! Maz FSungnidel.
Elternſchaft.
die
GerbeifBung Sfaats, des Sohnes,
ift e8, an die der Gott des Alten
Seftaments Seine Verheißung, die Ber
beißung des Bundes fnüpft. Das ift fein
Zufall. Wenn etwas uns des Waltens
überperfönlider Mädte inne werden
läßt, dann ift es die Folge der See
f&hlechter, die in geheimnispollem Wellen-
flag die Kinder der Menfden an den
Strand des Lebens fpült, um die Greife
wiederum binwegzunehmen. Nie find wir
frommer, alg wenn wir in. Ghrfurdt
zu den Borfabren auffhauen. Nie fühlen
wir uns dem nnennbaren verwandter,
alg wenn uns das Grlebnis der Gltern-
{Haft ward. So nennt Chriftus Gott
Bater. Go haben reine Herzen oft den
Gindrud gehabt, Dad die Stau gött-
liheren efens fet alg der Wann:
Mutter ift mebr nod als Bater fein.
Die Kinder der Welt fpreden: „Laſſet
ung effen und trinfen, denn morgen find
wir tot.“ Und fie glauben damit etwas
Kluges zu fagen, der Wirklichkeit der
Dinge ins Geſicht zu feben. Allein die
Wabrbeit ift, daß „der Menfh nidt
Rie Brot allein lebt“, daß jedes Leben
felbftifhen Genuffes ein Leben der jelbft-
— Beſchränkung, der Abſon—
erung, der Sünde iſt und darum den
Sod, „der Sünde Sold“, nicht nur als
zufünftige äußere Golge mit fid bringt,
nein, gegenwärtig im Herzen trägt.
G3 ift ©ottes Ginger, daß ein in Gee
nuß entnerptes ®eihleht die Bürde zu
ſcheuen beginnt, die Slternfdaft auferlegt.
Der Gott des Lebens will nit, daß wir
Kindern ein Leben geben, das aud fie
dem Tode weiht. Gr will, daf wir es
erft dann tun, wenn Gbrifti Kreuz uns
der Sieg ward, der den Sod überwindet.
Grft dieſes Kreuz birgt die Kraft, der
dem fommenden Gordledt gegenüber ob»
liegenden Aufgabe geredt zu werden.
Denn diefe Kraft wird gefpeift aus der
Sreude am Geben und nidt am Nehmen,
am Opfer und nidt am Genuß. Wir
müffen das Leben mit Gbrifti Augen
feben lernen, damit die Berheißung, pon
der die erften Blätter der Schrift bee
ridten, die Gerheiffung des Sohnes an
Abraham uns nidt Laft, fondern Gegen
wird. Nur wer fein Leben Dingibt, nur
der „bat das Leben“, und „in ibm
werden gefegnet alle Gefdledter auf
Grden“. Karl Lindenberg.
Was eine Mutter Tann’.
©! beißt der ilntertitel einer Lebenss
befdreibung, die von dem belden-
baften Ringen einer ſchwäbiſchen Pfarr-
frau por hundert Sabren erzählt. Es ift
Beate Paulus, die Tochter des geift-
und wortgewaltigen Grwedungspredigers
bilipp Matthäus Hahn und GEnfelin
e3 Pfarrers Johann Griedrid Flattid,
eines heute nod) durd zahlreihe Anek⸗
doten befannten fdwabifhen Originals
von darafterfefter derber Offenheit
und Natürlichkeit: Ihr Mann ftammte
im Unterſchiede dapon aus einer
feingebildeten NHofratsfamilie und hatte
in Sena im Haufe feines Detters,
des berühmten Aufflärungstbeologen
Paulus, bei Schiller, Goethe und
Herder feine fhöngeiftigen Neigungen be-
friedigen dürfen. Hernad fudte er fid
eine gerubige Xandpfarrei aus und über-
ließ Die Gorge für den mühevollen Haus-
halt und die beftändig wachſende Kinder-
{dar feiner Grau. Shr Hauptbeftreben
war, dur GSelbftbewirtihaftung aus den
Pfarrgütern fo viel berauszubolen, daß
fie ihre Söhne ftudieren laffen fonnte.
Diefe wurden denn aud Hervorragend
tidtige Männer. Die Mutter aber
fampfte Sabre lang einen fdier über»
menſchlichen Kampf gegen die von allen
Seiten andringende Not. Gin pflidtge-
{hulter unbeugfamer Wille und ein une
gebrodener, bergeverfegender ®laube hal»
fen ihr bindurd. Sn Ddiefen zwei Ge-
ftalten fteben zwei Typen unferes Volks
por der Lebensprobe, und Beate Paulus
beftebt beffer als ibr Wann. Wir ent-
nehmen der Biographie ein paar Tage—
budeintrage und Familienerinnerungen.
Aus dem TSagebud vom Hungerjahr
1817: „Nun fommen nod meine Kinder
von Leonberg in die Bafang und zwei
Knaben von Herrn Dr. Nid mit und
ift feine Hand voll gut Mehl im Haus,
und der Heuert nod dazu. Ich hatte
nod) einige Gimri eigenen Kernen; aber
weil mein dod nidt gut ift, fo batte
man nidt fo viel gute Plage, um alles
unverdorben zu erhalten. So war alfo
die Frucht ganz fdhwarg und nah, daf
man dabon faft nicht foden und baden
fonnte. Als id den Brief befam, daf
die beiden Nid aud mitfommen, fo
fonnte ich fein Wort mehr reden, big id
mid am Morgen gefaßt hatte. Den
erften Tag, da fie da waren, mußte id
* Beate Paulus geb. Hahn, oder Was
eine Mutter fann. Gine felbftmiterlebte
Samiliengejdidte. Herausg. pon Philipp
Paulus. Belferide agsengbenblung
Stuttgart. 7. Aufl. 1921. ©. 93—95,
03, 109.
baden von meinem fdledten Mehl. Sh
fonnte das Brot faft nidt in den Ofen
bringen und bat Oott immer, er mödte
nur foweit feinen Segen geben, daß man
es effen könne. Zum effen war es aud
gut, aber ganz dünn, fohlihwarz. Aber
nah adt Sagen war aud das wieder
gar. Ih buf dann wieder etlide Laibe
aus Wurgelmebl, weldes nod rauber
war, und dann war das eigene Mehl
aus. Nun ging es ans Kaufen. Sch
faufte einen Scheffel, der aber aud) nur
2!/, Simri Kernen gab und aud nidt
gut war. Da war man gar nidt mehr
{o fed, daß man Brot buf. Ich dörrte
Srefter und Birnen, mablte es im Mabl-
trog und ließ e3 nod in der Mühle
nahin. Aber was geſchah? Bh nahm
balftig Bohnenmehl und einen Teil Ker-
nenmehl dazu für mein Gefinde. Als id
aber dem Gefinde davon gab, fagten fie,
das effen fie nidt. Nun war guter Rat
teuer. Für eine Dauebartung pon fo
viel Perſonen (nämlih 17!) alles Mehl
faufen, und da wir ohnehin ohne Geld
waren, womit bezahlen? Sd fonnte
einen ganzen Tag faft fein Wort reden
und nidts mehr bejorgen. Für die zwei
Nid war es mir befonders fo leid, dah
ih ihnen weder gutes Brot nod etwas
®utes von Mehl foden konnte, und nod
bin id in großen Sorgen, was ihre
Eltern fagen werden, daß man ihnen
nidt mehr Liebe erwiefen habe, da fie
fo viel an Fri getan haben. Ih madte
deswegen mit ihnen eine Reife nad
Schaffhaufen, um einige Sage herumzu—
bringen. Go ging id mit ihnen und
meinen eigenen gwei Knaben und nahm
außer einer feinen Summe Geld nur
zwei kleine Laibe Brot mit, weil id
nidt mehr hatte gum mitnehmen. Ich
faufte dann aber unterwegs Brot, dazu
tranfen wir Bier und des WittagsMild.
Außerdem nabm id nod einen Krug
Bein mit, weldhes unfer Labjal war.
Der Bers Heiterte mid auf dem ganzen
Weg auf:
Was id nur will,
Sft da die Fill’;
Mind wo id mid binwende,
Da find’ ih Freud’ obn’ Ende!“
„Die Mutter wollte die Kleinen unter»
ridten und war dagu_allerdings —
befähigt, da ſie in Münch — beim
alten Flattich Lateiniſch und andere
©pmnafialfäher ziemlid gut gelernt
batte. Gie fing daher mit ihnen Die
lateinifden Deflinationen und Konjuga-
tionen an, dabei aber mußte fie zugleich
ihre Hausbaltungs- und Feldgeſchäfte be-
forgen, und fo fam e oft vor, daß, wenn
fie gerade ein Gefdhaft auf dem Gelde
gu verrichten hatte, das ihr erlaubte,
253
nebenher zu reden, fie fofort die Knaben
pom Spiel wegrief und mit auf den
Ader nahm, um ihre Deflinationen oder
Konjugationen mit ihnen durdgugeben,
während fie zum Beifpiel Kartoffeln felgte,
oder daß, wenn fie am Suber ftand und
wufd, die Knaben in ihrer Nähe fid
aufftellten und ihre Deflinationen auf
fagen mußten.“
„Am Sonntag ging fie mit dem Hi-
ftorienbud) unter dem Arm zu den Kine
dern (der Bauern) in ihr Haus und bee
fudte fie von Haus zu Haus, fo daß fie
oft an einem Sonntag in fünf oder feds
Häufer fam, freilid aber aud oft 3 bis
4 Stunden braudte. Da aber die Kinder
diefe Grgablungen an der Hand des Hi-
ftorienbuds febr gern hörten, fo geſchah
es faft regelmäßig, daß, wenn fie ein
Haus verließ, um in ein anderes zu
geben, fämtlihe Kinder mit ihr gingen,
um im nädften Haus Die Sortjegung
zu bören. Das war denn freilid ein
ganz eigener Anblid, wenn fie wie ein
Hirte unter feinen Schäflein durd die
Straßen 309 und aud wabrend Ddiefer
Wanderung auf der Straße nod fortfuhr
Mi reden und Die Lernbegierigen gu bee
bren. G3 war dies in der Tat nidts
anderes als eine wandernde Sonntags-
{dule, wie fie die Welt bis dahin viele
leiht nod nie gefeben hatte. Allein fie
war gefegnet im höchſten Grade und
atte den befonderen DBorteil, daß fo
immer aud den Alten Gelegenbeit ge-
boten wurde, etwas Outed zu hören.“
Ostar Pland.
Bedürfen wir der Sitte?
G ift Die große und verhängnisvolle
©efahr der Srofftadt, daß fie wur-
gellofe Menſchen erzeugt. Die enge Woh⸗
nung — in” Gegenden, wie Berlin-Oft
und -Norden, oft genug für mehrere Fa—
milien gleichzeitig berednet — die Ent—
bebrung eines trauten Heims, die Fabrif-
arbeit, die fein perfinlides Verhältnis
zwiſchen Menfh und Arbeit auffommen
läßt, der Mangel an Beziehungen zur
Natur, das ganze entnerbende und auf
Genfation eingeftellte Alltagsleben der
@rofftadt, find Lmftände, die der
Bodenftandigfeit, Wurgelbaftigfeit, Ent-
widlungstraft ungünftig find. Wir werden
unter ſolchen VBerbältniffen weder Za-
milienglüd nod) Heimatliebe nod pater-
landifhe Gefinnung obne meiteres er=-
warten dürfen. Tragen wir Berlangen
nad) Grneuerung deutidher Bolfstraft, fo
werden wir unjre Blide dorthin ridten
müffen, wo der Menfd nod in gefunden
Gerbaltniffen lebt, wo er gebunden ift
an die Mutter Erde, too er feine Wur-
geln nit nur bildbaft, fondern unmittel-
254
bar in Deutfden Boden fenft. Für den
Menfdhen, der feine Beziehungen zu der
Umgebung bat, in der er lebt, in der
feine Vorfahren wirkten, bat aud die
®egenwart nur fo viel Bedeutung, als
fie ibm Genuß und Befriedigung feiner
materiellen DBedürfniffe gewährt. Gin
Wenſch ohne Sefdhidte ift wie ein Iofes
Blatt, das der Sturm vom Baum abe
getrieben bat. Gin Golf, das in feiner
Öefamtheit ftädtifh, ungebunden, losge—
löft von feiner Gergangenbeit, nur dem
Augenblid und feinen Bediirfniffen lebte,
müßte mit aturnotwendigfeit unter-
geben. Man bat Berlin-Oft die fterbende
Stadt genannt, weil man beobadtet bat,
daß eine Familie fid unter rein ftäd-
tifhen Verhältniſſen nidt über die dritte
Generation hinaus ausdehnt.
Unſere Blide lenken fid darum natur-
gemäß auf das Land und feine Be-
twobner. Gon dort ber erwarten wir
neue Kräftezufubr für unfer armes, zer.
riffenes und leidendes Gaterland. er
aud dort madt fid eine bedenflide Neir
ung zur Uebertragung ftädtifher Gere
Bältnifte geltend. Wirtſchaftliche Schwie⸗
rigkeiten, aber auch gemeine Geldgier
treiben zur Spekulation und in ungeſunde
Bahnen. Die teufliſche Göttin Mode,
die dem Landmann eingureden fudt, dah
das, was etwa in der GFriedridftrafe in
Berlin bewundert wird, aud das Land
gieren müffe, ftädtiihe Gewohnheiten, die
erjehnt werden, weil fie fo „fein“ und
„gebildet“ ausfeben, Gergniigungs- und
Senfationgluft, Die nur die innere Ge—
Iaffenheit aufpeitiden und den Wenfden
unruhig maden, ftreden ihre Sangarme
aud dorthin aus, wo fraftpolleg, ftetiges
Leben ein Bolf bilden foll, das allen
Stürmen gewadfen fein, das neue Men⸗
{den fdaffen foll, Menfhen, die neue
fing große Aufgaben zu löſen beftimmt
ind.
Wir fehen uns nad Möglichkeiten um,
diefer Stetigfeit fördernd zu dienen, und
wir finden einen Weg dorthin in der
Ara ee Ih wiee
derbole e8: Ein Menf ohne Gefdhidte ift
mwurzellos. Sradten wir danad, unjerm
Golf Wurzeln zu geben, fo erhalten wir
ibm feine Geſchichte. Diefer Hof, diefes
Haus, diefes Grbftiid ftammt von den
Batern! Weld ein ftolges Bewußtfein!
Aber aud: Diefe Gewohnheit, diefe Sitte
wird bei uns von altersher hodgebalten!
Unſere Gorfabren taten das gleiche,
unfere Kinder wurden damit groß, unfere
Gnfel werden es ebenfo halten. Nicht
wahr, wir fühlen, daß das Kraft be»
deutet, daß unter folden G@edanfen in
unfere Taten etwas Dineinflingt von ur-
eigenfter Golfsfeele, von deutidem Wee
fen, deutfher Sreue. Wir wollen mit
beiden Füßen auf der Erde ftehen, gu der
wir gebören, wir wollen nidt verwehen
wie der Haud im Wind.
Die deutſche Bolfsfitte! Sie drüdt fi
in den verfdiedenften Gormen und Gre
feinungen aus. Im allgemeinen wird
fie den Gbarafter beftimmter Golfseigen-
timlidfeiten und beftimmter Naturein-
Driide wiedergeben. Der fröhlihe Nhein-
länder unter den Rebenftiden wird
andere Gitten haben als der ſchwer—
fällige Fiſcher pon der Oftfee oder gar
der wortfarge Rartoffelbauer des Sand-
bodens im’ Herzen Deutſchlands. Aber
es ift nit bon befonderer Bedeutung,
welhes Sefidt die Sitte bat; ob man
ihr perfinlid DBerftändnis en ve
bringt, oder fie gar ein wenig be Sell.
©enug, daß fie Gitte ift, daß fie viel-
leicht fon Hunderte von Sabren in dem
Dorf, in dem Haus, das wir bewohnen,
lebt. ®enug, daß wir jedes Mal unter
ihrem Gindrud ein Stüd Geſchichte Ie-
bendig werden lafjen, daß wir mit ibr
einen Gaden ziehen bon Bahr zu Sabr
und von Sefdledt zu Seidledt.
Da find die alten Familienfitten;
etlihe, die wir bon alters ber ererbt
baben, etlide, die wir neu begründet
baben, alg wir unfer eigenes Heim
ſchufen. Sie ftellen fid dar in der Art,
wie wir unfere Gefte feiern, wie mir
unfere Speifen bereiten, wie wir Gore
derungen an unfere Hausgenoffen ftellen,
wie wir felbft dieſe ungen erfüllen.
Gin barmonifhes Familienleben ift un-
denkbar ohne Gitte. Glidlid und reid
wird es durd die ©ebräude bei unfern
Seiern, die den Schab von Grinnerungen
BET, der Die Augen des Sreifes nod
aufleudten und feine Lippen lebendig
werden läßt, wenn er ihrer gebdentt.
Wichtig ift im Wefen der Gitte, daß fie
nit eine einmalige Grfindung ift, fon-
dab fie jedes Jahr wwiederfebrt.
Ser. gleide Weihnadtsbaumfdmud, der
gleihe Geburtstagsfuden, das gleiche
Seftlied. Grft durd die Wiederholung
befonderer Srlebnifje werden fie zur Gitte.
Wir haben zweierlei Aufgaben: wir
müffen alte Gitte, wie fie ung als bee
ftehend überliefert wurde, feftbalten, und
wir dürfen neue Gitten fdaffen —
Braude einführen, die durch unfere
Pflege und gewiffenhafte Treue zur Gitte
werden.
Da find die DVolksfitten, die oft nod
aus der heidniſchen Zeit ſtammen mögen,
die aber immer dem Zweck dienen,
Volksgemeinſchaft zu bilden. Raft
fie uns nidt mit Geringſchätzung be-
bandeln, fondern ihnen unfre ganze Auf»
merffamteit zuwenden. Sobald unfer
Auge dafür gefdharft ift, werden wir
bundert Anſätze dazu bemerken, die wir
unterftüßen und pflegen fünnen. Immer
follte uns por Augen fteben, daß wir, fo
piel an uns ift, das Sun und Treiben
einer Dorfgemeinſchaft lebendig beein-
fluffen follten. Es dürfte 3. DB. feinen
Ort geben, der nidt ein Grntefeft feiert,
Diefe nabeliegende und pietätpollfte Sitte
für Landbewobner. Die Grntefrone, die
gelanädien Harfen, das Kranzgedidt,
er Grntegug, die Geftrede, der bis in
den Morgen ausgedehnte Sang... Gie
gehören an den Schluß des Grntejahres
wie der Punkt auf das i.
Und dann die firdliden Sitten! Sie
tragen aud ein Stiidden göttlihes Leben
in ſich. Nicht jeder einfadhe Menſch ift
dazu berufen, ein Hod entwideltes gei-
ftiges Leben zu führen. Für viele befteht
die Bindung an das Gattlide darin, dah
die Art unferer Tauffeier, der Ginfeg-
nung, der Trauung, des Begrabniffes
ihnen das Heilige vermittelt. Zerftören
wir niemals willfürlih eine alte fird-
lide Gitte; wir laufen Gefabr, gleich»
zeitig Der Gemeinde etwas zu nehmen,
was fie an @ott bindet. Linfere epan-
gelifhe Rirdhe hat im legten Sabrbundert,
wenn aud gewiß aus innerften Motiven,
die Betonung der Grfenntnis für ihre
@lieder reidlid ftarf in den Border-
‘thas geftellt. Aber es find ihrer viele,
die nicht gar zu weit denfen und auffaffer
fönnen, Die beim Anfdauen des bren-
nenden Baumes das Wunder von dem
Kind in der Krippe beifer begreifen, als
duch eine tiefgründige Predigt, die das
Gaframent des Abendmahls nur dadurch
verftehen, daß die ehrwürdigen, heiligen
Worte gefproden werden, während die
Gemeinde mit ibrem Pfarrer auf den
Knien liegt; für die der Himmel {id
öffnet und einen Ginblid in die Ewigkeit
gewährt, wenn bas madtoolle Wort:
„Bon Erde bift du genommen, zu Erde
follft du werden; unfer Herr Sefus Chri—
ftus wird did am jüngften Tage auf-
erweden bon den Toten“ — über dem
Sarge ertönt. Die Pa ee im
Halbdunfel der RKirde, die erften Früh—
lingsblumen auf dem Altar am Aufer-
ftehungstage des Herrn, die grünen
Maien, die Oarben und Früdte des
Geldes unter dem RKrugifiz und das am
Schluß des Sottesdienftes unter Oloden-
läuten ftebend gefungene „Nun danfet
alle Gott“ — ift es nicht Weihnadten,
Oftern, Pfingften, GErntedanffeft, wie es
der Gemeinde im Bilde baftet, wie ed
fie erhebt und mit @ottesnabe erfüllt,
wie e8 fie das Heilige erleben läßt und
wie es fie nod taufendmal fefthält und
bindet an das, was vielleiht fonft zu
255
en und vergefien zu werden
Drobt.
Samilienfitte, Dorffitte, firhlide Sitte,
Bindungen für deutſches, bodenftändiges
Bollstum — pielleiht nur ein Gandforn
zu neuem Qufbau, aber Ddennod be-
deutfam für das, was unferm Volk zum
Heil dient: Wurzelbaftigfeit.
Ruth von Kleift-Rebom.
Die Berglehre im Matthaus-Eoangelium.
ene Sammlung bon fdarf geprägten
Sefus-Worten im fünften bis fie
benten Sapitel des Matthaus-Goange-
liumg, die wir mit dem Namen ,,Berg-
predigt“ zu bezeichnen gewohnt find, ift
im europäifhen Rulturfreis zweifellos
der am meiften „erflärte“ Text. Gr
ift dementfprehend unerflärt. Zwar der
{blidt-findlide Berftand wird leicht mit
ihm fertig: er lieft ih das heraus, was
er verfteht. Aber je wiffen{daftlider der
PBerftand wird, um fo mehr ift ibm der
Text verfiegelt. Unter den vielen Gr-
flarungen gibt es febr {dine und fluge,
aug denen man allerlei lernen fann, aber
meines Wiffens nicht eine, bei der man
über die Gmpfindung binausfäme, daß
fie eben — Die fubjeftive Auffaffung des
Erklärers fei.
Mit einem Male ftupft Rolumbus
das Gi auf den Tiſch — das Gi ftebt.
Mit einem Male geht einer mit der
felbftperftandliden Ginftellungan
die „Bergpredigt“ — der Text wird flar.
Karl Bornbhaufer, der Marburger Sheo-
Inge, bat die Frage geftellt: wie haben
eigentlid die Zeitgenoffen Jeſu die
„DBergpredigt“ verftanden, wie haben fie
fie aus ihrer Sprade und Zeit heraus
berfteben müffen? Und dieſe Frage
beantwortet er mit fleißiger, flarer Gore
hung, fo reinlih und nüdtern, daß alle,
die auf den Kothurnen der „Religions
pbilofophie“, der „Ethik des Ghriften-
tums", der „biftorifhen Auffaffung“ uf.
einherwandeln, mit den bodpbilofopbi-
iden Denferftirnen in die Wolfen ra-
end, ein wenig degoutiert und unbe»
— auf das, was da auf dem ganz
reellen erdigen Grdboden por ſich geht,
hinabblicken werden. Ic meinerſeits
Habe por Bornhäuſers Bud die Gmpfin-
Dung: Warum haben wir denn feit Sabr-
gebnten eine ,biftorifde Theologie“, wenn
nun erft ein „orthodoxer“ Theologe
fommen muß, um fold eine Frage zu
beantworten?
Diefe Geltfamfeit fdeint mir — id
* Karl Bornhäufer, Die Bergpredigt.
Berfud ae zeitgenöffifhen Auslegung.
198 ©. Geb. 7.50, geb. 9.— ME. C. Ber-
tel8mann, Gütersioh.
256
bin nidt Theologe, fondern urteile aus
der Analogie anderweitiger biftorifcher
Forſchung — nur fo erflärbar: unjre
kritiſchen Hiftorifer und Philologen find
a priori davon überzeugt, daß jie, die
Kinder des fortgefdrittenften Saeculums,
die Sezte viel ſchärfer und eindringender
beurteilen fönnen als die „naiven“
Sammler und Redaftoren der alten
Schriften. Die baben eben nod nicht
den „biftorifhden Standpunft“ gebabt.
Nein, den haben fie nidt gehabt. Aber
fie batten fiderlid EHrfurdt por
ihren Sezten, mehr als mander Kon»
jefturenfhufter. {Ind warum fie Dümmer
gewefen fein follen als ein heutiger Pro—
feffor, vermag id — bei allem jchul-
digen Refpeft por der gefdeiten Segen-
wart — nidt eingufeben. Unſre Sezte
fritifer meinen, fobald ihnen etwas
ſchwer verftandlid erfdeint, aus ihrer
Ueberlegenbeit heraus: da bat ein un-
verftändiger Redaftor, Schreiber ufm.
etwa verpudelt, das müſſen Wir mit
unjrer @ejdeitheit wieder in Ordnung
bringen. Und dann wenden fie jcharf-
finnige Methoden an — Methoden, nad
denen e8 {dledhterdings unmöglich wäre,
daß der zweite Zeil des Fauſt vom
Dichter des erften Teils ftammte. Pro—
feffor X beweift, daß der Dichter des
zweiten Seils ein unfähiger Fortjeßer
des erften Teils war, der leider fogar
in den erften Seil hineinpfufhte. Pro—
feffor BB bemeift, daß der Dichter des
gweiten Seils der erfte und wahre Did-
ter war (der ältere Dichter ift bei den
Textkritikern — erweiſe immer
der beſte) und daß der des erſten Teils
nur eine törichte Vorgeſchichte erfunden
den zweiten Teil mit ein paar brü—
eigen Slidzeilen daraufhin gugeftubt
e. Brofeffor 3 beneit: daß beide
a einer gemeinjamen verlorenen Quelle
ſchöpften, die fie beide mißperftanden
haben und Die erft Profeffor 3 wieder
in ihrer „Reinheit“ refonftruiert. Das
nennt man Philologie. IH bin dafür:
auzugeftehn, daß die alten Herrenaud
geſcheite Leute waren. Sobald wir etwas
nit verftehn, wollen wir zunädjft ein-
mal, ehe wir mit unfern abfpredenden
Kritifen dreinfahren, gerade das ſchwer
Begreiflihe pon den Redaftoren und wo»
möglich von den Zeitgenoffen aus zu be»
greifen fuden.
Bornhäuſers Frage ift natürlich längſt
geftellt worden, fie ift bisher nur nidt
— mit fopiel Gelbftverleugnung geftellt
und mit fopiel Sorgfalt verfolgt worden.
Bornhäujer geht pon dem rabbinifhen
Schulbetrieb und von der in ibm ge-
bräudliden Sprade aus. Die &pan-
gelien find in der belleniftijden ®emein-
fprade (Koine) überliefert. Die Koine
hatte aber in verſchiedenen Gegenden und
Lebenstreifen ihre befondere Auspra-
gung. Wer Jeſu Sprade verftehen will,
darf nidt einfad mit einem Lezifon der
Koine daran geben, fondern muß da-
Binter zu fommen fuden, wie die den
—— nahe ſtehenden Kreiſe, unter
enen Jeſus wirkte, ſich in der Koine
ausdrückten, was ſie ſich bei ſeinen Wor—
ten vorſtellten, was alfo der unausge-
{prodene, felbftverftändlihe Hintergrund
der Reden Jeſu war. nd nun ftudiert
Bornhaufer die auf jene frühe Zeit
zurüdgebende rabbiniihe Literatur. Fer—
ner muß man aramäiſch fünnen, da Sefus
aramäiſch fprad; denn mandes „grie-
chiſche“ Wort wird man in der Rüd-
iiberfebung ins Aramäiſche deutlicher
verfteben.
Das Grgebnis ift: Die Bergpredigt
ift gar feine „PBredigt“ ans Bolf, jondern
eine „Süngerlehre“ für den engften Kreis
der Schüler Sefu. Jeſus warf eine
Stage auf, disfutierte fie mit feinen
Schülern eine halbe, eine ganze Stunde
und länger. Zum Schluß faßte er das
Grgebni8 in eine Formel gufammen.
Diefe Formel wurde von den Schülern
auswendig gelernt und überliefert. Mat-
thaus, der feinen Stoff nicht dhronifalifd,
fondern fadlid ordnete, ftellte eine gri-
Bere Zahl folder Formeln in einer finn-
vollen Golge — und gab ihr
den Hintergrund des Berges, weil Jeſus
oft im Freien lehrte. Daraus folgt: Die
„Bergpredigt“ enthält keine allge—
meine Gthbiffiralle Wenſchen,
ſie enthält Anweiſungen für den engſten
Kreis der Jünger, Die in der Gemein-
{daft der Gnade leben. Die , Feindes-
liebe“, das Badenbinbalten ufw. ift fein
„unerfüllbares Ideal“, das der „Menih-
beit“ zum Anfporn vorgehalten wird,
feine „Szaltiertheit“, fondern erklärt fich
alg fonfrete Anweifung für die Zwölf.
Dabei flären fid nun faft amüfante
uralte Mißverftändniffe auf. Das „Salz
der Grde“ wird einem deutlicher, wenn
man weiß, daß man einft die Thora mit
dem Salz verglid (wie die Mifchna mit
dem Pfeffer), Daß das neugeborene Kind
mit Salz gebadet wurde, weil man Salz als
Reinigungsmittel nahm, daß man
das Gleijh vor dem Gebraude mit Salz
pom DBlute reinigte. Die Borfdriften
über das Schwören, Ghebrehen, Töten,
uſw., die uns fo viel Kopfzerbreden
maden, fdliefen fid, fogar in der
Reihenfolge, an die alten givilredt-
liden Borfdriften an. „Wer zu feinem
Bruder fagt: du Narr...“ ift das nicht
übertriebene Gmpfindlidfeit? Die Wör-
ter find falfd verftanden: es Handelt
fid um Bann formeln, von der leichten
zur ſchwerſten anfteigend; entſprechend
fteigt Die Inftanz vom Dreimannergeridt
bis gum höchſten Geridt. Die Wantel-
und Rod-Gefdhidte wird faft humorvoll
verftändlih, wenn man die alten Pfan-
dungsporiäriften fennt. Der Schlag auf
den ,redmten Baden“ — ja, wenn id
jemand obrfeige, fo treffe ih dod feine
linfe Bade? Man muß eben wiffen,
daß der Rabbiner feinen Schüler am
ſchlimmſten franfte, wenn er ihn mit dem
Rüden der redten Hand obrfeigte: das
Drüdte tieffte Verachtung aus. Der
„breite“ Weg a nidt der des Lafters,
fondern gerade der ,fdniglide Weg“ der
Pharifäer, die Thora; der ,fdmale
Weg", den Sefus empfiehlt, ift der Weg
der praktiſchen Liebe.
Als Ganges ergibt fid: Jeſus vere
fündet feine „neue Ethik“, er verlegt
nit die Gittlidfeit pom äußern Tun in
die „Befinnung“ — das haben die alten
Rabbiner längft aud getan. Das „Neue“
beftebt darin, daß Jeſus für feine Jün—
ger den Kreis des fittlid-religidfen
Handelns fprengt. Was bei den Rab»
binern nur gegenüber dem Bolfs- oder
ger Raftengenoffen getan zu werden
raudt, follen feine Sünger im Berfebr
mit allen Menfden tun. ind ftets be-
tont er die Liebestatigfeit, die gemilut
dajadim, gegenüber Sora und Aboda
(Sefeb und Kultus).
Indem fo die „Bergpredigt“ zu einer
ſchlichten, Durdaus praftiid möglichen
Siingerlehre wird, füllt fie fid zugleich
mit der eindrüdlihften gefdidtliden
Wirklichkeit. Was fo feft in der All—
täglichfeit eines beftimmten Lebenskreiſes
wurgelt, ift nicht „erdichtet“. All die ge»
{Heiten Deduftionen, daß Sefus „nicht
gelebt“ Haben fönne, und gar Arthur
Drews’ ausjchweifende Phantaftik fällt
por folder Satfadlidfeit einfah ins
Laderlidhe ab. Weil es fid um Dinge
Bandelt, die jeden Gbriften angebn,
Danfen wir es Dornhäufer befonders,
daß er feine an fih nicht leidten Anter—
Judungen in fodlidter, verftändlicher
Gorm portragt; man braudt nidt he—
bräifh, faum griedifd zu fünnen, da er
meift Die deutſche Bedeutung binzufügt.
Obne jedes geiftreihe Betun ift bier
der Weg befdritten, der allein zum
Siele führen wird: der Cae MAND:
t.
Soziallohn oder Leiftungslohn?*
95 die Arbeiter Leiftungslohn fordern
follen oder Gogiallohn, wird nod
immer verfdieden beantwortet. Sm gan-
zen gilt der Gogiallohbn als das Wün-
{dhenswerte, aber die Durdfibrung in
257
ber Wirklichkeit ftößt immer wieder auf
Schwierigkeiten, denn jeder Betrieb, der
viele Gater großer Gamilien einftellt,
belaftet fein Lohnfonto tatfadlid® fo ftarf,
daß er in den Preifen feiner Waren
fhließlih mit dem Konkurrenten nicht
mehr metteifern fann, der weniger So—
ziallöhne zu zahlen bat. Den Betrieben
ift daher ihre Abneigung gegen den So—
giallobn gar nidt gu beritbeln, und es ift
für den Gogialpolitifer vielleicht ſchmerz⸗
lich, aber Dod verftandlid, dah der Go-
ziallohn hier und da wieder abgefdafft
ift.
Dielleiht fann man die Grage erft
dann gang befriedigend löfen, wenn man
fid ganz Har darüber ift, wer das größte
Intereſſe am Gogiallohn hat. Die grund»
fabliden Gegner des Gogiallohns ver-
werfen ihn ja deshalb, weil fie im Hei-
raten und im Aufziehen von Kindern
eine Angelegenheit nur der Gingelperfon
erbliden. Das ift ein Stüd jener Welt-
anfhauung, die alle Menfden als glei
anfieht und in der Entwidlung der Gin-
gelmenfden die höchſte Aufgabe alles
menfhliden Dafeins empfindet. Die ent-
gegengefeste Anfiht Halt den einzelnen
enfden für ein unfelbftändiges Wefen,
das erft in der Gemeinjdaft gum Men-
{den wird. Die höchſte Gemeinschaft, die
wir bis jebt als organifiertes Wefen
fennen, ift das Bolf. Goldes Gefamt-
toefen ift weniger ein förperlihes Ding
als ein geiftiges, und feine Grbaltung
rubt daher mehr auf der Pflege der
Sittlihfeit als auf Der des Körpers.
Das Sefdhledhtsleben ift eins der wich⸗
tigften Kapitel in diefer Sittlidfeit, und
darum ift es für den Politifer, der fein
Golf erhalten will, aud fo aufer-
ordentlid wichtig, daß er das Gefdledts-
Ieben im weiteften Sinne gelund, inne”
Lich gefund erhält. Für diefe Auffaffung
ift e8 feine Privatangelegenbeit, fon-
Dern eine widtige dffentlide Gade, ob
Die Slieder des Bolfes eine Ehe idlie-
Ben können und ob in der She Mann
und Frau viele Kinder großziehen fin
* nen oder nidt.
Das Gingehen einer Ehe und die Er-
giebung einer Rinderfdar ift aber neben
allem Gittliden aud eine wirtidaftlide
Grage und fordert daher von unferm
vollsorganifhen Standpunkt aus Beriid-
fidtigung in der Wirtſchaftspolitik des
Volkes. Bon diefem Wirtidaftliden zu
* Reiftungslohn: der Lohn, der nur
nad der geleifteten Arbeit berechnet wird.
Gogiallohn: Der Lohn, der Has fogiale
Bedürfnis des Arbeitenden, feine Ya»
milie, fein Alter u. dgl. beriidfidtigt.
(9. Schrift.
258
reden, verlangt unfer Thema, aber es
fol bier gefdeben immer: unter dem
Obergedanfen, daß es fid dabei um eine
der Grundlagen handelt, aus denen unfer
Volk feine fittlide Gefundungstraft giebt.
Die Werte, die eine Ghefrau über Die
„möblierte Wirtin“ hinaus erzeugt, find
et nur zum Seil materieller Art, wie
ie forgfältigere Pflege aller Ginrid-
tungs- und Berbraudsgegen{tinde, und
find zum größeren Zeile ideeller Art,
wie die Schaffung eines wirfliden Heims
und die Pflege innerer ®emeinihaft zwi-
{hen den Mitgliedern der Familie. Aber
die Volkswirtſchaftslehre ift ja längft
darüber hinaus, daß fie nur die Gre
geugung materieller Dinge als Schaffung
bon Werten anfieht. Sie fett die gei-
ftigen Werte den materiellen gleidh. ind
da die Arbeit der Hausfrau die Kraft
eines Menjden völlig beihäftigt, muß
ihr der Wirtſchaftspolitiker aud den
wirtidaftliden Lebensunterhalt dafür be-
willigen oder — auf dieje ideellen Güter
verzichten, und das geht eben nidt, ohne
die Gefundheit des Bolfes zu fchädigen,
wie oben dargelegt war. Und daß eine
roße Kinderzahl im Bolfe ganz abge»
eben von anderer Bewertung aud rein
wirtfhaftlih für die finderlofen Eheleute,
den Sunggefellen und die Sungfer nötig
find, davon überzeugt ſchon ein ein-
aiger Sedanfengang: die alt gewordenen
Beamten haben von ihrer Penfion, die
alten Arbeiter pon ihrer Gogialrente, der
Mann des freien Berufes von feinen
Grfparniffen nur dann etwas, wenn fie
für das Geld aud Waren kaufen können.
Denn nidt vom Gelde leben wir, fondern
bon Waren. Und alle Waren werden
durh Arbeit erzeugt. Die alten Leute
find felber ja arbeitsunfabig getworden.
Darum muß die Arbeit, die zur Gre
zeugung diejer Waren nötig tft, eben von
der jüngeren Generation verrichtet wer-
den. Dazu muß aber eine a @®ene-
ration überhaupt da fein, das beißt
eben: Kinder! Dem alten Sunggefellen,
den alten finderlofen Leuten nübte ihr
Geld zur Altersverforgung gar nichts,
wenn nit wenigftens andere Leute Kin-
der batten. In einfachen Berbaltniffen
treten die Kinder für ihre alten Eltern
ein; in unferer heutigen Volkswirtſchaft
die ganze junge Öeneration für die alte.
Nebenber bemerkt: es ift aud in diefem
Sufammenbange fraglid, ob beim Bore
berrjden des Gin- oder Zweikinder⸗
ſyſtems in einem Bolf die jüngere ®ene-
ration allein fhon zablenmäßig ftarf ge-
nug ift, um diefe Arbeit neben der
eigenen Grbaltung zu übernehmen. Wahr-
fheinlich ift das nicht der Fall, und dann
müßte ein Bolf Rentenpolitif treiben, wie
Sranfreid mit Rußland, oder, wenn das
nidt mehr gebt, Grprefferpolitif, wie
Sranfreidh jest mit Deutichland.
Das Same ift alfo Dies: Gheihlie-
fung und Kinderzahl ift unter wirtihaft-
lidem und unter fittlidem Sefidtspuntt
nidt nur Privatfade der Gingelnen, fon-
dern eine Angelegenheit der Gefamtbeit.
Die Begründer einer Ghe und die Bater
und Mütter leiften etwas febr Wert-
volles für die Gefamtbeit des Volkes.
Diefe Leiftungen haben neben anderen
Borausfebungen aud wirtihaftliche. Sind
diefe nicht erfüllt, fo find die Leiftungen
nidt möglid. Darum ift e8 Gade der
BolfSgemeinfdaft, dafür gu forgen, daß
diefe Leiftungen aud wirtſchaftlich aner-
fannt werden, daß fie bezahlt werden.
Diefe Bezahlung wäre der ,,Sngiallohn“!
Der ift alfo aud ein Leiftungslohn wie
jeder andere „Leiftungslohn“, nur ift der
Empfänger der Leiftung nist der ein-
m Betrieb, fondern die Volksgemeinde,
et Staat, und der muß naturgemäß
daher aud diefen Lohn zahlen, denn nur
wer die Leiftung empfängt, bat den Lei-
ftenden zu entidadigen. Der Sogiallohn
ift bisher alfo an falſchem Ort gefordert:
nit der Gingelbetrieb, fondern die Gee
famtbeit, der Staat, ift der richtige. Grft
wenn man die Frage des „Soziallohnes“
von diefem Zuſammenhange aus zu bee
antworten fudt, wird man zu vernünf-
tigen und bdurdfibrbaren Grgebniffen
fommen.
Zunächſt müßte der Staat alles be-
- feitigen, was in feinen Ginridtungen den
Sheihluß geradezu beftraft. Bei der
DBermögensfteuer war und ift es wobl
n fo, daß ein gewmiffes Vermögen
fteuerfrei ift, in der Seit por dem Kriege
einft 6000 Warf. Hat ein Mann diefe
Summe und eine Grau aud, fo find fie
beide fteuerfrei. Heiraten fie aber, fo
gelten die beiden Vermögen als eins
pon 12000 Warf und find fteuerpflidtig.
— Die Witwe eines Beamten oder eines
Kriegers erhält pom GStaate eine Pen-
fion. Vielleicht vermietet fie, um beffer
auszufommen, einen Seil ihrer Wohnung
an einen Herrn ab. Heiratet fie diefen
Herrn aber, fo verliert fie ihre Penfion
und die beiden Menfden find ftatt auf
gwei nun auf ein Ginfommen angewiefen.
Das wirkt geradezu als Prämie auf das
Berbältniswefen und all das, was als
ſchädlich für die fittlide Bolfsgefund-
beit zu befämpfen ift. — Gine Beamtin
erhält neun Zehntel vom Gehalt ihrer
männlihen Kollegen und daher ibre
Benfion (hddftens 80 v. %. des Gee
balts) faft genau fo wie der Mann. Die
Witwe des Beamten aber, die „nur“
Hausfrau war, erhält drei Fünftel nidt
etwa des Gehalts, fondern der Pen—
fion ihres Mannes, alfo aud nur etwa
zwei Giinftel der Penfion der Beamtin.
Go bewertet bis jebt der Staat die
Arbeit feiner Hausfrauen und Mütter!
nd da wundert man fid über Eheſcheu
bei Mann und Grau? Sa nad unferm
®edanfengange über die Grbaltung der
älteren @eneration burd die jüngere
zwingt der Staat alfo die jüngere, in
der Steuergablung für die unverheiratete
penfionierte Beamtin mehr zu leiften als
für Die eigene Mutter! — Das
alles find nur ein paar Beifpiele, die fid
bequem nod) vermehren ließen, und alle
zeigen, wie die BolfSgemeinfdaft bis
jeßt recht viel tut, was die Gheleute
{dledter ftellt als die unverheirateten
und was daher unbedingt abgeftellt wer-
den muß, wenn das Bolf fid nicht felbft
zugrunde richten will.
Aber das Volk muß aud durd neue
Ginridtungen den Soziallohn, zu dem
wir es moralifh verpflichteten, {daffen.
Dagegen darf fih aud nidt das übliche
Geſchrei derer erheben, die bon Volks—
wirtſchaft nidts Derftehen: woher foll
der Staat das Geld nehmen! G8 handelt
fih ja nur um eine andere Verteilung
des Ginfommens, das fdon da ift. Die
Art, wie Has grundfaglid am flarften
und gugleid tehniih am einfadften ge
ſchehen fann, bat Berthold Otto in feinen
pollswirtihaftlihen Büchern gezeigt, im
„Zukunftsſtaat als fogialiftifde Monar-
hie“ und in „Mammonismus und Mir
litari8mus“. Aber aud innerhalb unferer
beftebenden Wirtihaftsverfaffung bieten
fid einem ernfthaften Willen feine un-
überwindliden Schwierigkeiten. Die fo
giale Gerfiderung, gar nod auf genoffen-
fdaftlider Grundlage, ift freilid von
pornberein und im Grundſatz falfh. Aud
Sunggefellen- und Sungfrauenfteuern find
mißlich. Das einfadfte ift dies: die Gin
fommenfteuer wird febr ftarf erhöht und
den Gerbeirateten als Grauen- und Kine
dergelder nad der Zahl ihrer Familien-
mitglieder wiedergegeben. Auf Diefe
Weife erhielten nidt nur die Beamten
des Staates ſolchen Sogiallohn, fondern
eben jeder Angehörige des Bolfes. Die
Höhe der Gelder muß nun aber fo
bemeffen werden, daß das volfsjitt-
lide Biel wirklich erreiht wird. Die
Srauengelder dürfen alfo nidt wie jebt
ein Paar Gtiefelfohlen im Monat wert
fein, fondern mitffen fo bod fein, daf
zwei Ghegatten im wefentliden auf dere
felben Kulturftufe leben fonnen, als wenn
die Grau in einem andern Berufe bliebe.
Dazu ift nidt medhanifhe Addition ihrer
früheren Ginfommen nötig. Aud die
Srage wäre zu erörtern, ob die Frauen-
259
gelder für alle Stände gleich fein follen.
G3 ſpricht vieles für eine mäßige Un«
leichheit. Der Kernpunft ift dod immer
Ber: Die Höhe des Frauengeldes muß
bewirken, daß eine Heirat die wirtichaft-
lide Lage zweier Wtenfden nidt vere
{dledtert, wie e8 heute tatfadlid der
Sall ift, fondern auf derfelben Höhe er-
halt. — Ebenſo müfjen die Kindergelder
fo bemeffen werden, daß die materiellen
Koften der Kinderpflege im wefentliden
wirklich gededt werden. Man rede nicht
davon, daß damit fo viel „Idealismus“
aus der Familie ausgetrieben werde.
G8 war nod nie ideal, wenn finderreide
Samilien weniger für die Wohnung aus-
eben finnen ‘als finderlofe, wenn Die
inderreide Mutter fid niemand zur
Hilfe nehmen fann, und die finderlofe
dagegen e8 tut, wenn Gltern bungern
müffen und vorzeitig altern, um ibre
Kinder ernähren zu fünnen. G38 ift Sde-
alig8mus genug, wenn Bater und Mutter
mande Naht ihre Rube für die Kinder
opfern, auf manden nod fo edlen Genuß
verzihten, um fid ihren Kindern zu
widmen und deren Entwidlung zu pfle-
gen. Wud die Ausbildung des Kindes
gu einem Berufe muß durch Kindergeld
ermiglidt werden, und darum muß die-
fe Geld fo lange gewährt werden, wie
unter gewöhnliden DBerbältniffen die
Ausbildung für Diefen Beruf dauert.
Der Aufgaben find e3 alfo nod ge-
nug. Die Reidsverfaffung erfennt fie
in ihrem Xrtifel 119 ausdrüdlih als
folde an. Ob wir eine ernfthafte Lö»
fung diefer Aufgaben aud wirflid ver-
Juden, das ift geradezu der Priifftein
dafür, ob wir unfer Bolf wirklid nod
einer Zufunft entgegenfiibren wollen oder
ob wir nur jhöne Redensarten maden.
Denn. wenn in einem Bolfe die gefdhledt-
lide Sittlidfeit erft verdorben ift, fo ift
aud das Golf ganz und gar verdorben.
Deshalb arbeiten alle äußeren und inne-
ten Geinde eines gefunden deutichen
Volkstums daran, uns unfere Phantafie
über gefdledtlides Leben gu verderben
und unjer Handeln auf den Weg gum
Abgrunde gu loden. Dem gilt es mit
flarer Grfenntni8 der Oefahr und der
migliden Abwehr entgegengutreten, aber
aud mit dem feften Willen zur Tat.
Benno Menzel
Reform der darſtelleriſchen Kunft
in der Oper.
Es mutet wie eine tragiſche Ironie der
Oeſchichte an, wenn man bedentt,
wie Wagners Idee eines Sefamtfunft-
werfs eigentlih erft Dadurd zu reiner
Wefensbeftimmung und Zweckerfüllung
gelangen fonnte, daß die Generation nad
260
Wagner alle jene Künſte, welde der
Bapreuther Meifter mit einem einzigen
@®riffe gufammengubalten glaubte, im
einzelnen, jede bon Der andern getrennt,
ur Reife entwideln mußte, ehe mir
aran denfen durften, ihre Vereinigung
erneut herbeizuführen. Das dramatijfde
Glement, dem Wagner zu endgültigem
Siege verholfen zu haben meinte, brad
es jih nicht erft in der der Wagnerfchen
@dtterwelt abſichtsvoll entgegengeftellten
periftiihen Ridtung freie Bahn? Gre
fannte man das, was der Bayreuther
Meifter an choreographiſcher, an mimi-
[her Symbolik erftrebt, nidt erft an Hand
der nadwagnerijdhen rhythmiſchen Gym⸗
naftif des Genfers Jacques Dalcroge?
Haben wir uns nidt über die ins Opern=
mäßige übertragene „Meiningerei“ Bay-
reuth3 den Weg freimaden müffen zu
einer der Mufif des Meifters endlich
wahrhaft angemeffenen Gtilfunft der
Szene? Die Neueinftudierung des ,, Pare
fifal* als Gröffnungsfeier des Duis-
burger Opernbaufes ebenfo wie die Wag-
nerfeftfpiele in Budapeſt waren bier
Marffteine auf neuem Wege. Diefen
Weg hatte Wagner zwar gewiefen, hatte
das Ziel erfannt und in feinen Werfen
alle Möglichfeiten geboten, den Weg
weiterzufchreiten. Aber wie fo oft: nidt
in der Nadfolge, getreu feinen mahnen-
den Worten ,Madht Neues, Kinder“
fudte man das Heil der Kunft, fondern
man madte feine Werfe zu dden Pa—
radeftiiden, denen man dies oder jenes
DWirfungsmittel entlieh, ohne die See
famtbeit feiner Ideen im Auge gu be-
balten. Go ift es die Aufgabe erft un-
ferer allerjüngften Zeit geworden, bier
flarere Grfenntnis und zielbewußte Lme
fehr vorgubereiten.
‘Was an diefer Aufgabe nod ungeldft
verblieb, das ift por allem die feftumrij-
fene Een des Begriffes „Spiel“.
Nachdem felbft die Dod „realiftiih“ fein
wollende neuitalienifhe muſikdramatiſche
Ridtung und ihre deutihe Gefolgſchaft
dem gefprodenen und gefungenen Worte
immer und immer nod nidt dazu ver-
bolfen, fid neben dem aus dem Riefen-
apparat der neudeutfhen Tondidtung
gefpeiften Ordefter zur freien ©eltung
gu bringen, naddem in der — jener
veriftifhen Sondergattung entgegengejeh-
ten — Märden- und Legendenoper zu
dem alles umnebelnden Bollflang der in=-
ftrumentalen Begleitmufif nod die den
Wortfinn felbft einhüllende mehr oder
minder, meift minder Ddeutlide pbilofo-
phiſche Nebenbedeutung des Seztes trat,
ſchien die Möglichkeit, jemals dem Worte
wiederzugeben, was ibm zufam, weiter
alg je in die Gerne gerüdt. Nun bieß
e8 für die Oper, die alte wie die mo-
derne, doppelt eingedent zu bleiben des
QMrelements aller Worttonbibnenfunft:
der Pantomimif Es mag nabe
liegen, bier eine bedingungslofe Annä-
berung an das obenerwähnte Dalcroze-
fhe Spftem predigen zu mollen. er
dem ftebt eins erigegen: wie Rudolf
Gabhn-Speper, der Berliner Mufiffdrift-
fteller und Romponift in feinem Schrift
den „Zur Opernfrage“ fdon por einer
Reihe pon DSabren richtig betonte, fällt
der Mufif hierbei die Aufgabe zu, den
pom PDarfteller ausgedrüdten ©efühlen
eine erhöhte Sntenfitat zu verleihen, d. b.
Die motivifhe „Oebärde“, wie fie Nieb-
{be febr feinfinnig nannte, der fdau-
{pielerijden angugleiden. Während nun
die Sharafteriftit der rein fchaufpieleri=-
{den Runft in der Brägung immer neuer,
fid raſch ablöfender Bewegungen und
©ebärden beftebt, bedarf die Muſik zur
Entfaltung ihrer eigenen Gebärdenkunſt
einer gewifjen Zeit, einer beftimmten
Abfolge einzelner, fid) aus einer zur ane
deren immer Deutlider herausentwideln-
den Seilbewegungen. Hier wäre es
durchaus verfehrt und aud dem mufifa-
lichen Leitgedanfen der Dalcrozeſchen
Lehre zuwider, den Sänger zum Träger
einer „pointilliftiihen“ Zappelrhythmik zu
maden (wie fie Alezander Jemnitz un-
längft einmal nannte). Die Stilifierung
der Gebardenfprade wird Hier zum une
ausweidbaren Zwang.
Aud das betont Semnib mit vollem
Redte: daß das Mienenfpiel des ſpre—
chenden Schaufpielers nidt ohne weiteres
maßgebend fein fann für das des durd
die Rüdfiht auf feine ©efangsorgane
gebundenen und zur Hälfte ganz einge»
{dranften Opernfangers. Dagegen t
diejer [ebtere gegenüber feinem Kollegen
pom Schaufpiel den Vorteil, Dolmetich
Der ordeftralen Rhetorik zu fein und fo-
mit Seften fid zu eigen zu maden, Die
innerhalb der nüchternen Rezitation des
Schaufpielers übertrieben wirken würden.
Mur jo fann und wird ein inniger Sue
fammenbang zwifhen Bühne und Or-
efter herguftellen fein, ein Wechſelſpiel
im Sinne des antifen Sufammenwirfens
von Agonift und Shor, ein Zufammen-
bang aud, welder der gefteigerten moti-
{den Beteiligung unferes modernen
Opernordefters wirflid) gu entſprechen
permag und der weit hinausweiſt über
die alltaglide Auffaffung, als fei jener
Inftrumentalförper einzig und allein da—
für da, die zur Oberftimme gebörige
@®rundbarmonie anzugeben, eine Auffaf-
fung, die nidt einmal dem primitivften
Stand des begleitenden Weneralbajfes
aus der Zeit der Entftehung der floren-
tiner Oper ent{prade. Damit ift der
Opernfanger aud) endlid einmal aus der
jämmerliden Rolle erlöft, ab- und in
den Hintergrund treten zu möüjlen, fo-
bald feine Phrafe ausgefungen. Denn
bier gerade wird er in idealer Arbeits-
gemeinfhaft mit dem ihn —
Orcheſter Uebergänge auszufüllen, Un—
ausſprechbares durch Gebärden Hand in
Hand mit dem motivifdh weiter ent-
widelnden Ordefter auszudrüden haben.
Aus diefer Satfadhe jedoh ergibt ſich
zugleih für den Komponiften die Pflicht,
einer folden Wedfelwirfung porzuar-
beiten und, was ebenfo bedeutjam, ge
fanglide Höhepunkte nicht mit jolden
Sebadrdenfpradhe zufammenzulegen, um
dem Sänger Freiheit gegenüber dem
Spieler in einer Perfon zu gewährleiften.
Damit wird nicht allein die Zeit por»
über fein, wo trefflide Sänger mäßige
Spieler fein und fid mit den jattfam
befannten, „opernhaften“ Stumpffinns-
— begnügen konnten, um immer in
em Augenblicke, wo die Reihe mit dem
Singen wieder an ſie kam, mit wuchtigem
Bühnenſchritt nach vorn zu ſchreiten, um
von der Rampe aus ihr ſängeriſches
Licht leuchten zu laſſen. Die Zeit wird
auch vorüber eth Da zwiſchen Sänger
und SKapellmeifter eine ,gottegewollte“
Seindihaft, ein Sichmeiden bis zum
Augenblid der Hffentliden Aufführung
Plas hatte. Es wird nun aud dem-
jenigen Hörer, der nidt im Befite eines
Tertbuches, möglid fein, an Hand der
por feinen Augen fid) abfpielenden Gee
bardenfpradhe Berftändnis für Handlung
und für DBegleitmufif zu finden. Und es
wird eine reinigende Wirkung ausgehen
pon Diefem Zujammenarbeiten der pla
ftifden wie der rhetorifchen und panto-
mimifhen Runft: alle überflüffige Pbi-
lofopbafterei, alle verlogene Symbolik,
alle unnatürlide Anbäufung realiftifder
Handlungsmomente wird nad und nad
aus den Partituren der neuen bübnen-
mufifalifhen Schöpfungen verfdwinden,
mögen fie fid nun Wufifdbrama oder
mögen fie fid) Oper nennen, Legenden-
fpiel oder ——
Damit endlich würde der Weg ge—
funden ſein zurück zu Wagner, d. h. zu
einer idealen Vereinigung aller Künſte
zu einem „Oeſamtkunſtwerk“, wie es der
Bayreuther Weiſter erträumte, wie es
aber feiner Zeit gum Verftändnis nod
zu früh erfhien. Hermann Unger.
Zu den Bildern bon Rudolf Schäfer.
gyre Heft, das dem Jungborn deut-
{men Gamilienlebens gewidmet ift,
baben wir mit Zeihnungen Rudolf Schä—
fers gefdmiidt, der fein feines Können
261
in befonderem Mafe in den Dienft einer
deutfhen Hauskunſt geftellt und fid mit
gablreiden Arbeiten viele Greunde er-
toorben bat. Gaft fünnte Schäfers Kunft
ein Abbild eines ſchönen Familienlebens
fein, das fid am fdftlidften dort gibt,
wo es nad außen bin unfidtbar bleibt
und bleiben muß. Wer mödhte dies une
fidtbare Wohltun zwiſchen Gltern und
Kindern permiffen? Wer möchte auf
die vielen Heinen beglüdenden Züge des
Samilienlebens verzihten? Etwas ähn-
lies ift in den Arbeiten unferes Künft-
fers zu fpüren. Nah außen bin drängt
fi feine Kunft nidt auf, hat fie fo gar
nidts Prahleriſches, gibt fie fid be-
ſcheiden und einfad. Dod verweilen wir
bei ibr, dann verfpüren wir den ftarfen
Herzihlag, den der Künftler im Innern
bergen muß. Gs ift eine Greude, den
vielen Einzelheiten auf Schäfers Blättern
nadgugeben, die er zu einem eindruds-
pollen @angen zufammenzufaffen weiß,
zu einer Runft, die fo redt fürs Haus
geſchaffen ift.
Sreilid, der Kunftfritifer bleibe beim
Betradten einmal beifeite; bier fann er
nidts ausridten mit dem übliden Bere
leihen mit Werfen anderer Künftler,
Bier läßt fid nit fragen nad Ginflüffen
und DBeziehungen, wenn aud) fdon bin
und wieder ‘bei Schäfers Arbeiten pon
einer „Zudwig-Rihter-Schule“ gefproden
fein mag. Rudolf Schäfer ift aber durd-
aus ein Gigener, ift fein Nacdahmer.
Denn man ibn wirflid mit Ludwig
Ridter, Otto Specter und Graf Frang
Pocci zufammen nennen wollte, fo fonnte
man allenfall3 jagen, daß Schäfer wohl
mit dem gleiden Herzen wie feine Bore
gänger fdafft, nidt aber die Art ihrer
Seidhenweife aufgenommen bat. Wie jene
Meifter zeichnet Schäfer mit fdarfen
Augen und mit fiderer Hand, dazu mit
einem andadtigen Semiit. Aus dem
legten @runde bat Schäfer bald eine
große Gemeinde gefunden, daher bleibt
es nidt aus, daß je länger man fid in
feine religiöfen Zeichnungen vertieft, umfo
ftärfer feine Kunft an die Pforten des
®emiits des Beſchauers flopft.
Eine Entwidlung bat Rudolf Schäfer
unftreitig Durdhgemadt; man könnte ſchon
an feinen Blättern verfolgen, wie fid
der Strid des Künſtlers allmählich
feftigte, wie der Seidenftift immer
fiherer zur Geftaltung des erftrebten
Ausdruds gelangte. Dod fdhaben wir
immer wieder, daß Rudolf Sdafers
Zeichenweije bon Anfang an fo gar nichts
@®efiinfteltes bat. Seine Zeichenart bat
vielmehr etwas Arjprünglides, etwas
Reines — in Rube fließen die Linien
gumeift dahin. Zuweilen lafjen die Strich-
262
lagen aud) wieder große Beweglichkeit
erfennen, {afft der Künftler mit großen
Lidt- und Sdattenmaffen überaus ftarfe
Wirkungen. Aber nie wird die Technik
der Zeichnung, die Gtridfibrung zum
DBorberrihenden feiner volkstümlichen
Kunſt. Aehnlich ſchuf aud einft Ludwig
Richter, der einmal feine Abfichten, aller-
dings im Holgidnitt, mit den Worten
fund gibt (1835): „Ich ging nidt auf
malerijhe Soneffefte aus, fondern auf
Reihtum der Motive, flare Anordnung
und Schönheit der Linienführung.“
Der Reidtum der Motive, der uns
in Rudolf Schäfers Schaffen entzüdt,
ift in der Sat erftaunlid. Zu bewundern
ift aud die Ausdrudgfraft, die im eins
fadften Borwurf angeftrebt und erreidt
wird, zu bewundern der große Fleiß,
mit dem der Künftler an die Öeftaltung
der fleinften Aufgabe berangebt, um eine
würdige Kleinkunſt dem deutiden Haus
auf den &amilientifch legen zu fönnen.
Daraus ſpricht gleidfalls ein Wunid
des Altmeifters Ludwig Ridter, der ein-
mal mabnend in jets Sagebud (1825)
eintrug: „Man follte wirflid auf die
gewöhnlihen Bolfsfalender mehr Fleiß
verwenden, und id babe wohl Luft,
nod fünftig Die Kupfer dazu zu maden,
wenn ſich nur ein Gleidgefinnter für die
Wahl des Textes fände, man fönnte
viel Gutes damit ftiften. Gerade in
folden geringen und niedrigen Dingen
liegt oft viel Segen.“
Golder Segen ift pon unjerem Künft-
ler in reidem Maße ausgegangen. Schon
feine erften Mappenwerfe, im Stiftungs-
verlag in Potsdam erfdienen, beweijen
es durd Die febr hohe Zahl ihrer Auf-
lagen. Die mannigfadften Gebiete be-
herrſcht Sdhafers Beidenftift. Wie föft-
lid {dilbert er bald bie deutſche Fa—
milie, das Olid der Mutter und der
®rofeltern. Wir fingen und jubilieren
mit ibm (§rau Wujila), erfreuen uns
an der Schönheit unferer deutſchen Hei—
mat (drei vaterländiihe Zeichnungen),
laffen ung bon dem Künftler in trau-
lide Garten (Allerlei Garten) führen
und auf das Reizpolle des Lichterſchei—
nes (Allerlei Lichter) aufmerffam maden.
And fteben wir ſchon in diefen Blättern
mit ibm in der Schönheit der ©ottes-
welt, fo vergißt er Dabei nie, unfere
Dlide aud nad oben zu lenken, heim-
warts zum Schöpfer. Gr fennt febr fein
den „Wanderfchritt des Lebens“, fdrei-
tet uns den Weg eines Sbhriftenmenjden
voran. Möchten fid redt viele an diefen
®aben Schäfers, den Schilderungen eines
gemütpollen und religidfen Innenleben,
in ftillen Seierftunden erfreuen!
Am die Wahl eines geeigneten Textes
bat Rudolf Schäfer nidt zu forgen
brauden. In feinen Blättern beweift der
Künftler, in weld) innigem Verhältnis
er zum ewig jungen Born der heiligen
Schrift ftebt, den er voll ausgefhöpft
und uns in reidem Mafe zugänglid
gemadt Hat. Seine religidfe Runft ere
meift fid aber aud eindringlid in feinen
Seidnungen zu den Liedern des Gottes-
fänger® Baul Gerhardt (Berlag ©.
Schloefmann, Hamburg), die den Künft-
ler wohl am befannteften madten und
in denen Schäfers religiöfes Gefühl wohl
am ftärfften zum Surdbrud gefommen
if. Das find Blatter, die den Runft-
freund aus jedem religidfen Lager ere
quiden fönnen. Hier geht Schäfers Kunft
weit über die üblihe Art einer Illu—
ftration hinaus: es find fleine Predigten,
in denen Schäfer zu uns fpridt. „ind
hättet der Liebe nidt...“, diefe Worte
fpüren wir tief in dieſen Andadts-
blättern über Schöpfer, Shöpfung un)
Oeſchöpf.
Einen köſtlichen Text lieferte dem
Künftler der getreue Asmus, der Wands-
beder Bote Matthias Claudius, mit dem
er den gleiden Hergensfdritt einzuhalten
weiß, wie etwa Sobann Abraham Peter
Schulz, der die feinfte Vertonung für die
Lieder fand. Schäfer fudte die ſchönſten
®aben des Boten Asmus heraus (Bom
Wandsbeder Boten. Bei ©. Schloeß⸗
mann in Hamburg) und fduf dazu über-
aus wertvolle Zeichnungen, die man ime
mer wieder aufs neue betrachtet. Im glei-
den Berlage erjdienen 1913 aud Illuſtra⸗
tionen zu deutſchen Bolfsliedbern unter
dem Sitel ,Rofen und Rosmarin“, von
denen ein feiner Duft deutfher Inner»
lichfeit ausgeht. Der eben genannte Ber-
lag verantftaltete ferner aus alten und
neuen Seidnungen in den [ebten Jahren
Mappenwerfe in größerem Gormat, in
denen Schäfers Griffelfunft eigentlich nod
ftärfer zum Ausdrud fommt als in den
oft verfleinerten Wiedergaben. "Wir
nennen die Mappen: „Made deinen
Leuchter belle“, „Laßt uns geben nad
Bethlehem“, „Jeſu Herrlichkeit“. Alle
diefe Blatter bedeuten reihe Lebens-
gaben für die deutſche Familie, die wohl—
feil zu erwerben find.
Dieje wenigen Zeilen mögen zu einer
Einführung in das Schaffen des Künft-
ler8 genügen.
Der Kunft Rudolf Schäfers barren
aber nod) viele Aufgaben, denn es gilt
mebr als bisher, das religiöfe Leben in
der deutſchen Familie mit Hilfe aud
feiner Kunft zu beben, einer religiöfen
KRunft, die fih bewußt von zu großer
©efüblsfeligfeit und von falfhem Pathos
fern hält, jondern einzig durd die ftille
Schönbeir und den reihen Wedfel der
Pbhantafie gewinnt. Hans Schröder.
Der Beobachter
9) 28 deutihe Parlament joll ein Mit-
tel fein, die politifhen Intelligengen
an die Führung zu bringen, es ift aber
nidts andres als ein Spiegelbild der
perworrenen Mafjenmeinungen. Hier zeigt
fih far das Grundgebreden des reinen
Parlamentarismus: er fest die Auswahl
der Führung und den Ausdrud der im
Golfe vorhandenen Meinungen in eins,
während beides feinem Weſen nad
grundverfhieden if. Das hilfloſe Hin
und Her der Parteiverhandlungen im
Reidhstag ift der augenfdeinlide und
Handgreiflide Beweis für die Unmög—
lidfeit, aus einem bloßen Parlament
eine Führung zu bilden. (Man wende
nicht Gngland vor. Geit Gngland fid
dem reinen Parlamentarismus zu nähern
beginnt, gebt e8 aud) dort bergab. Lloyd
®eorge bat den Abrutih Englands er-
öffnet, Macdonald befördert ihn. Immer»
bin: Macdonald regiert nit, fondern
man läßt ihn regieren; man [aft die
„dritte“ Partei fid ab- und ausregieren,
um fo vielleiht gum alten Zuftand zu-
rüdzufehren) Wir PDeutfhen bemühen
uns ebrlid und eifrig, aus dem Par-
lamentshaos, das ein getreues Spiegel-
bild des deutſchen Waſſenchaos ift, durd
Addition und Gubtraftion eine „Regie-
rung“ berauszuftellen. Wir durdfdauen
den Shwindel no} nidt und find
alfo nod nidt „reif“ genug, den Schwin-
del zu überjhwindeln. Solange wir
deutih bleiben, werden mir nie „reif“
dafür werden. &8 bleibt ung nichts
übrig, als der Natur der Dinge zu ge
Borden und die Führerauswahl (Ree
eng, pon der Reprafentation
er Mafjenmeinungen (Parlament) wieder
u trennen... Das Golf wird am Ende
N egreich fein, das zuerft den Irrweg
des Parlamentarismus verläßt und zu
einer vernünftigen, in fid beftändigen
Sübrung gelangt.
Se Gall Heifer („Mutabor“) Hat eine
der {Hauerlidften moraliſchen Nöte
unfrer Seit im Bliblidt gezeigt. Nicht
weniger als elftaufend Kinder foll diefer
263
Menih aus ,,Menfdenfreundlidfeit* im
Werden erdrofjelt haben. Die ganze Rei-
gen-Breffe und jene verrudte Sorte von
Gadperftandigen, deren
Magnus Hirjdfeld ift, benugen den Fall,
um Gtraffreibeit für Wbtreibungen zu
fordern. Die fogialdemofratifde Partei
gibt fid dazu ber, diefe Gorderung als
„moraliih“ und ,fogial gu propagieren.
Moralif® und fozial wäre e8, Die
gefdledtlide Selbftdilziplin zu fordern
und zu fördern. Das fällt jenen Lite
raten nidt ein. Sie propagieren in
einem ane die Abtreibung und
die „Reigen“- Aufführung. Wo immer
eine Spur von Puritanismus fid zeigt,
fallen fie mit Hohn darüber ber. Rein
Wunder: diefe Leute verteidigen unter
der Waste des fozialen Mitleids im
@runde nidts als ihre eigene geile
Amüfierfrehbeit. Wir aber wollen uns
das Gewiffen nidt wegagitieren laffen:
die fittlide Forderung ift durd feinerlei
foziale Nöte zu modifizieren, denn fitt-
lide Gorderungen find nidt empirifder
Art, fondern fategorifh. Das Sewiffen
fordert: entweder Gelbftdifgiplin oder
Ronfequeng gegenüber dem werdenden
Rinde. Aber erft fid „feruell ausleben“,
dann das Kind im Wutterleibe ab-
murffen, ift eine fdmubige, unappetit-
lide ©emeinbeit. Darüber fann gar feine
Distuffion ftattfinden. Wenn aber Die
Großſtadt moralifdh fo abgejunfen iſt,
daß fie nidt mehr die Kraft aufbringt,
ihre Kinder reifen zu laffen, fo liegt fein
Anlaß vor, diele großftädtiihde Shwäde
zur Norm des ganzen Bolfes
gu maden Wan teile dann die
Menfden in zwei Klaffen: erftens in
folde, die fittlih ftarf genug find, für
ihre Taten einguftebn, zweitens in folde,
die dazu nidt mehr fähig find. Wer
ein Sind abtreibt, finft in Die zweite
Klaffe hinab und ftellt fid damit
unter das Redt der zweiten
Klaffe: er mag oder will minder-
wertiger fein, alfo foll er aud nicht mehr
die Hffentliden Ehren haben, foll nit
mehr zu öffentlihen Wemtern wählen
und wählbar fein uf. Im übrigen mag
er ftraffrei feiner minderen Moral Leben.
Damit ift das Gift ausgefdieden. Kann
ein Golf als Ganges die Moral nidt
mehr balten, fo muß e8 Die oral
wenigftens in einem Stande halten,
fonft reißt der Amüfierpöbel und der
Glendsproletarier das Volksganze in den
Abgrund. Gin andrer Weg ware: zur
— des Altertums zurückzukehren und
ie Kindesausſeßung wieder zu
geſtatten. Gs iſt immer nod humaner,
ein eben geborenes Kind auszuſetzen, als
es, unter Oefährdung der Mutter, im
264
Prototyp der -
Mutterleibe zu ermorden. Mord ift bei-
des — will man durdhaus Mord, fo
wähle man wenigftens den bumaneren.
Bielleiht rührt mandes Kind, wenn es
nur erft geboren ift, das Glternberg und
bewahrt e8 vor Schuld. Wenn nidt,
nun — fo finfen wir menigfteng nicht
nod unter die Moral des Altertums.
AY hy geht zur Beiprehung das Probe-
beft einer neueren Wonatsſchrift
„Das Xeben“ zu. Aber fdon die erfte
Durdhfidt zeigt, daß fie nidt befpro-
ben, fondern beobachtet werden
muß. Der Beobadter ftellt feft: Diefe
Zeitfhrift fpefuliert mit großem Raffine-
ment auf bürgerlihes Publifum. Gie hält
fid in Text und Slluftrationen geihidt
in den Swifdenregionen zwiſchen Kitſch
und Kunft, zwiſchen Wervenfibel und Kaf-
feetiſch, zwiſchen pifanter Grotif und an-
geregter Biirgerlidfeit, zwifchen exotiſcher
@raufamfeit und deutidem „Gemüt“.
Wir führen als &haralteriftiihe Proben
folgende „Aphorismen“ an: „Wirklich
wahre, edle Grauen find für uns Männer
gewöhnlih Iangweilig.“ „Sünde ift ge-
wöhnlih das, was man gerne tut.“ Wel-
der „Wit“! Gute Mitarbeiternamen, die
fid aud darin finden, deden die Hefte
egen etwaige Vorwürfe. Das Genre die
er Zeitſchrift ift in Deutfchland neu, in
weftlideren @egenden unfres Planeten
findet man Borbilder. Am merfwür-
digften find jedoh in dem uns zuge»
fandten Hefte die Anzeigen, die Moſſes
Annoncenezpedition gefammelt bat: es
find ungemein viele — Anzeigen
darunter. Herr Ephraim Löbl in Pra—
bat das Bedürfnis, im Deutſchen Rei
feine Seide zu empfehlen. Die Böhmische
Union-Bant in Prag bietet ung ibre
Dienfte an. Gine Sriefter Lebensverfi-
@erung, „Direktion für die tihehojlowa-
tifhe Republik“, erwartet, dah wir ung
auggerednet bei ihr verfidern Iaffen,
uf. ufw. Das madt uns auf den Bere
lag neugierig — fiebe da: Leipziger Ber-
lagsöruderei ©. m. b. 9. Das ift bee
tanntlih Diefelbe G©efellihaft, die das
Beippiger Tageblatt verlegt. Wir haben
es alfo zum erbebliden Zeil mit tidedi-
{hem Kapital zu tun. Wir begreifen,
wober der Stil der Monatsſchrift fommt:
Wiſchkultur zwifhen Paris und Balkan,
ein wenig auf deutfhe Sentimentalität
abgetönt. Man wendet fid nidt mehr
bloß an die Gents und jene Weiblid-
feiten, Die ihr geiftiges Gutter nur in
den DBahnhofsbuhhandlungen und Set
tungsbäushen erftehn, man nimmt eine
ewiffe Haltung an, um in die deutfche
vt eingudringen. Deutſche — Ad
tung
G* gibt Geſchäftsleute, die jede Rone
Pg ftur ausnugen — Warum nidt
aud die Konjunktur einer nationalen
oder religiöfen Bewegung? So feben
wir denn ſchlecht gemimte Griderifuffe
und Bismards in der Zirfusmanege auf
treten. Der alte Kaifer und andre ge»
{hidtlide ©eftalten werden mit verar-
beitet. Wan bat fein ®efühl dafür, dah
folde Helden nit banalen Darftellern
anvertraut und daß fie nit an Diefen
Ort gefdleift werden dürfen. Die Zirkus-
Sriderifuffe und Birfus-Bismards find
niht ein Ausdrud der nationalen Stim-
mung, fondern ein Ausdrud der Ehr—
furdtslofigfeit unferes Seitalters. Für
ben großen §riebdrid, für Bismard ift
nur die bddfte, reinfte und edelfte dra-
matifhe Runft gut genug, Man made
im Zirfus Sapfenftreidh, Parademarfd,
biftorijhes Sdhladhtenpanorama mit Are
meemarjden, fopiel man will, aber man
tafte nidt mit Gefhaftsfingern unfre ge-
fhidtliden Helden an. Gie Dürfen
nidt mißbraudt werden in einer At—
mofphäre, der die Weihe, Würde und
Ehrfurdt fehlt. Das Zollfte ift, daß nun
aud Sefus Ghriftus im Birfus vorge
führt wird. Im Birfus, wo die circe bs a
der Menge dargeboten werden. Mit
Programmbeften, die der Gitelfeit der
Darfteller dienen. America triumpbans.
Oroße Kirhenlichter empfehlen, laut Bro-
fpeft, die Ehriftus-VBorführung im Sire
fus. Wir verftehen das nidt. Wir be»
Baupten, daß dem, der einen Manege»
Ehriftus fördert, das zartere Gefühl für
beilige Dinge abgeht. Oder daß er ein
gedanfenlofer Menſch ift. Troß Titel und
Würden. Wenn eine Diktatur fommt,
fordern wir im Namen völkiſcher Mo»
tal: erften3 die Ausmiftung der Bahn-
bofsbudbandlungen bom erotifhenShmuß
os erliner Leben, Sunggefelle, Sd und
ie Großſtadt, Luftige Blätter, Reigen,
Buntes Leben, Die ohne), zweitens aber
aud ein ftriftes Gerbot, fürderhin die
nationalen und religidjfen G@eftalten in
der Zirfusmanege zu entweihen. LInfre
deutfhe Kultur ift bor der Repolution
ohne folden Klimbim gut ausgefommen,
fie wird daran nidt Schaden nehmen,
daß man die ©efchäftsfreiheit und Bo-
gelfreiheit der höchſten Oemeinſchafts-
werte wieder aufbebt.
Pt folgen Alfred Kerr ins gelobte
und nod durd) mehrere Geuilletons
tweitergulobende „Yanfee-Land“. Alfred
der Große, der von dem Weismann
verfolgt wird, meidt den dhnaftifden
Kämpfen aus und enteilt mit abgefdnit-
tenem DBarte nah Amerifa. Bräfident
Coolidge empfängt den Ruhmreichen. Line
finn? Nicht dod, Alfred Kerr teilt es
(in befdeidener Parentheſe) felbft at
(B. 3. Wr. 259): „Dann: Waſhington
(wo der Prafident Coolidge im Weißen
pase nec ny und ſchlicht genug war,
den Plan der Reife mit mir forgfam
gu befpreden). Dann ging er, duch Bire
— Teneſſee, Alabama —“ Was mag
er Prafident Coolidge für Borftellungen
bon Deutſchland haben, daß er den Kerr
im rg Haus empfängt? Lind wer
ibm zu diefen Borftellungen ver-
Ha ig Sollte Deny Gord Dowd nidt
ganz unredt Haben Das Hiibjdefte
aber ift, daß Alfred Kerr auf dem
Schiff einen — Oorilla antraf: „Sch bab’
ihn bejudt und war erſchüttert. Gr ift
ja ein ſchwarzer Negermenih. Gin tief-
{Hwargnadter Nigger, etwas bhaarbe-
wadfen. Gr hat einen ernften Menfden-
fopf. Als er mir entgegentritt, fag’ id
faft: „Angenehm; mein Name ift ...“
Anerforſchter Hine. Mehr breitbrüftig
und musfelftar— als irgendein „©ottes«-
fohn“. Dozerhaftes Rätfelgefhöpf.
Dann legt er einen Arm um meinen
Hals, berührt mit dem Mund meine
Stirn. Es ift wie ein Gruß. Schauer-
lid... Wenn er, nad zwei Millionen
Sabren, den Beruf eines Journaliften
ausübt und mein @egner in redts-
ftebenden Blättern ift, wird alles das
verfladt und verfleint und befdeiden
und miefrig geworden fein.“ Der „etwas
baarbewadjene“ @orilla gibt dem ra-
fierten Alfred Kerr einen Ruf — Diefe
rührende Bruderſzene ift bedeutend.
Weld ein Symbol! Verwandte Seelen
haben fid auf dem großen Waffer ge»
funden.
Die engliſche Rundfuntgefellihaft bat
eine Gepedition ausgerüftet, die in
einer nadtigallenreiden @egend mit
Hilfe eines empfindliden Mifrophons ein
Nadtigallenfongert aufnimmt. LUnmittel-
bar nad diefem Wondſcheinkonzert fpielt
Miß Beatrice Harriton eine Gellofonate,
damit Sir George Plumpudding im
Rlubfeffel „die Naturtöne mit den Tönen
des Inſtruments vergleihen Tann.“
Sollen wir Deutiden auf diefem Gee
biete guriidbleiben? &3 eröffnet fid bier
ein ſchönes Geld für die „deutſche Gründ-
lichkeit“. Wir fchlagen por, neben den
Schulkinos auch Schulradios einzurichten
Es wäre ein neuer Triumph des Er—
ziehungsweſens, wenn die Klaſſe im
Klaſſen — je nach Gelegenheit das
Tuten der Schiffe im Hafen von Canton,
das Herdengeläut auf der Alm, einen
Teppichhandel im Bazar von Beirut,
das Orillengezirp des Zuli-Nahmittags
in der Küneburger Heide und „zum Ver—
265
gleih“ ein Konzert von Mud (der Diri-
gent erfdeint dabei auf der Flimmer—
wand) vernehmen könnte. Aud fdnnte
man den Radiofunt in den Dienft des
DBeamtenabbaus ftellen. Wieviel Pfar-
rer, Profefforen, Lehrer würden gejpart
werden, wenn man die Gade einfad
per Radio madte. Warum müffen an
awangig LUniverfitaten Gorlefungen über
Weltgeſchichte, Philoſophie ufw. ftatt-
finden? —— Det kann von einer
„Akademiſchen Vorleſungs-Organiſation“
(Apo) aus jemacht werden.
erlag und Redaktion des „Borwärts“
ließen am 18. März am Grabe der
— tenet einen Kranz niederlegen
mit dem Gers: „Der Schrei nah Frei-
beit, einft mit Blut erftidt, / Starb nit
mit Gud! Es wuchs fein wild Begehren!
/ Das Volk ward frei. G3 Halt fein
Schwert gezückt. / Um jedem Feind, der's
knechten möcht', zu wehren!“ Zwiſchenruf:
Aud um den Franzoſen zu wehren?
(Pſychologiſches Problem: warum fdwel-
gen die pringipiellften Pagififten fo gern
in den blutrünftigften Verſen?)
Bwiefprade
Dicies Heft befdhaftigt fid) infonderbeit
mit einer ®emeinjdaft, die juft bon
den größten Gemeinihaftsihwärmern am
meiften vernadlaffigt wird. Gs fcheint
mir faft wie ein pfpdologifhes Gefes:
Der in allgemeinfter Menjchenliebe eine
allgemeinfte Menſchheitsgemeinſchaft or-
ganifieren will, wird auffallend oft nicht
mit Der engften und einfadften aller ®e-
meinjfdaften, mit der She, fertig. Gs ift
die ewige Sludt der ſchwächlichen See—
[en aus der fonfreten Wirklichkeit, in der
man fih bewähren muß, in die leere
AUbftraftion, in der man fid nit zu be-
währen braudt. Wer zu fiimmerlid ift,
um gegen feinen Nebenmenfhen im
Raum, fobald es darauf anfommt, gütig
gu fein, falviert fih durd billige Phan—
tafiegitte, die er an eine pbantaftifde
Wenſchheit verfdhwendet. Wieviel groß-
artiger und edler fcheint es, eine Refo-
lution für die endgültige Whfdaffung des
Krieges zu faffen, als — aud nur die
eigene She zu pazifizieren. Bei den
Bazififten (wenigftens bei den deutſchen)
ift mir immer Der Mangel an Humor
aufgefallen. Und der Mangel an praf-
tiſcher Kameradfhaft. Humor und Ka-
meradjdaftlidfeit geht immer aufs Un⸗
mittelbare, auf das, was bor Handen ift.
Die „Liebe“ aber ift durch die vielen
Philofophen und Theologen verdorben
worden, die fie definiert und zum Mittel»
punft ihrer moralifhen Syſteme gemadt
haben. (Kant ift eine Ausnahme, für
ihn ift die Liebe nicht Gthos, fondern
Pathos; das allein erwedt fdon Ver—
trauen zu feiner Philoſophie.) Liebe ift
ebenfowenig ein Pauerzuftand wie Be-
geifterung. (Die ewig Begeifterten und
die immerfort bon Liebe LUleberfliefenden
ftellen große Anfpriide an den Humor
derer, die mit ihnen ausfommen miiffen.)
Aber tapfere Rameradfdhaftlidfeit ift et-
was, das ein vernünftiges Ziel unfres
vernünftigen Willens fein fann.
266
Um der bumorvollen Kameradſchaft⸗
lidfeit willen mödten wir mit diefem
Hefte gugleid Ottilie Wildermuth (1817
bis 1877) wieder zu den verdienten Ehren
bringen helfen. Wir haben von ihr meift
nur nod die dunkle Borftellung, als fei
fie eine in Ehren verfloffene Dugend-
jriftftellerin. Da dankte ih e3 Pfarrer
Pland in Nufdorf, daß er mir einen
alten ftocfledigen, aus dem Dedel ge-
riffenen Band der „Bilder und Gefdhid-
ten aus Schwaben“ vermittelte. SH Habe
mit großer Greude darin gelefen.
bringen als Probe daraus (nur an einer
Stelle gefürzt) Die Sefdhidte von den
drei Zöpfen. Kann fo etwas je veralten?
Befonders eingenommen bat mid ein
Porträtftih porn in dem Bande. Weld
ein reines, gütiges, dharafterpolles Ant-
lib! Gin Adel fondergleihen. ind wenn
man dann an Schnitzlers kaltherzig ge⸗
boſtelten „Reigen“ und dergleichen, das
—— Ritteratur“ gu fein beanfprudt,
enkt
In ein Heft der deutihen Familie
paßt unter den lebenden Künftlern faum
einer fo gut wie Profeffor D. Rudolf
Schäfer in Rotenburg in Hannover, der
Gobn eines Altonaer Pfarrers. Die herz-
lihefräftige Zeichnung porn ift das Titel-
bild zu einem Heftdhen „Meine Heimat
du“, wir verdanfen fie dem Gerlag des
Gpangelifden Preßverbandes in Stutt-
gart, Tübinger Gtr. 16. Der „Bauern-
garten“ ftammt aus der Mappe „Aller
lei ®ärten“, die, wie andere Schäfer—
Mappen, im Stiftungsperlag in Pot3-
dam erfdienen ift. Preis 1,50 ME.
Hier möhte ih binweifen auf den
„Bericht über den Erjten Deutihen Afa-
Demifer »- Tag, Potsdam, April 1924“
eig = Dr. Karl Moninger, Greifswald.
48 G., g.). Die Tagung war von
der there haft des Deutihen Hod=
ſchulrings veranftaltet, ihr Grgebnis ift
zufammengefaßt in den Potsdamer
Srundfägen“. (G. 11.) Das Heft enthält
Anfpraden und Bortrage, u. a. den
pon Prof. Othmar Spann „Kritik der
Demokratie und der wahre Staat“ in
furgem Auszug, den von Prof. Rein-
hold Geeberg über „Die Bildungshöhe
des Afademifers und ihre Pflichten“ poll»
ftändig, von meinem Bortrag über die
„Entwidlung des Volkstums“ die Thefea.
In einem Auffaß über jene Tagung,
der im Hochſchulblatt der Sranffurter
Zeitung ftebt, fdreibt Dr. Grid Trof:
„Nie dürfen wir (das fei vor allem Wil—
helm Stapel gejagt) das Befondere deut-
Ihen Wejens, die „Kraft“, die „Macht“,
das ,,Nordifdh-Herbe* als das Leste an-
beten: denn fo vertwedfeln wir Weg und
Ziel.“ Ih frage die Lefer unfrer Seit-
{rift, die Hörer meiner Bortrage: wo
babe id) je die Kraft, die Madt, das
Nordifh = Herbe oder aud felbft das
Bolfstum als Letztes angebetet,
ja aud nur bezeichnet? Gerebrter Herr
Dr. Troß, id made den Anfprud, auf-
merffam gelefen und gehört zu werden.
G8 wäre fdade, wenn Gie aud fdon
den „Dreh“ „raus hätten“, einen An—
dersdenfenden mit flüchtigen Klifchee-
Borftellungen zu entwerten. Ich webre
mid gegen eine folde Sr-Troßelung. —
Im Runftwart entdedte id, wie {oon
mitgeteilt, eines Tages nicht ohne Der-
gnügen, daß ein recht betradtlider Teil
meiner zwei Auffabe zur paper teas
(die unter dem Sitel „Antifemitismus
erſchienen find) abgedrudt war. Nicht
zwar ohne einiges Lob, aber mit der
Ankündigung, daß diefer Abdrud gleid-
fam nur als dunfle Folie für die glan-
zende Widerlegung durch Wolfgang
Schumann dienen folle. Die Widerlegung
wölbte fid durch zwei Kunftwartbefte
bin, auf zehn Geiten. Goll id nun ein
entiprehendes Gegengewölbe aufführen?
ch mödte meine Zeitſchrift nidt gern
mit umfangreider Polemik belaften.
Darum will id,.was zu antworten nötig
ift, gelegentlid in eine weitere Behand-
lung der Grage mit bineinarbeiten. Hier
fei nur folgendes gejagt:
Grftens fadlid: Wenn wir von den
weniger widtigen Ausführungen Schu-
manns abjeben, geht feine Argumenta-
tion auf zweierlei aus: er jeßt ©emein-
fbaft und Geſellſchaft gleid. Gr ftellt
unbefangen eine „Stufenfolge“ auf wie
diefe: Gamilie, Gemeinde (Dorf, Stadt),
Stamm, Staat. Wie foll ih nun mit
jemandem diskutieren, der Tönnies’ Un—
teriheidung bon Semeinfdhaft und Gefell-
{daft vielleiht gelefen, aber nichts daraus
gelernt bat? Der Heinz Marrs Unter-
Iheidung von Organifation und Organis-
mus nidt durchdacht bat? Schumanns
Belebrungen über Gemeinfdaft find für
mid unzulänglide Berfude über Dinge,
die id in meinen Aufſätzen voraus-
ſetzte, zumal ich mich damit in meiner
„Bol tsbürgerlihen Erziehung“, befonders
in der zweiten Auflage, beihäftigt babe.
Uebrigens ift das Wefentlide der Unter—
fdeidung ſchon deutlid genug bei Fichte
ausgedrüdt. Sd möchte faft glauben, die
immer wieder erfolgende Verwechſelung
der prinzipiell „unwillfürlihen“ und
prinzipiell „willfürlihen“ Lebensformen
berubt darauf, daß es eben Menjden
gibt, denen die Anihauungs-
grundlage für bie Unterfdeidung
fehlt; denn an Intelligenz fehlt ed
bei Schumann ganz or nidt. Sum
andern: Schumann behandelt das Bolf
und das Bolfstum wie eine Abftraftion.
Auf abnlide Weife hat Wyneken einmal
die Grifteng der deutſchen Sprade aufa
get; es gäbe „eigentlih“ nur Dialefte,
er Oberbaher veritebt den GFriefen nicht
ufto. Wo fei alfo die fogenannte ,,deut-
Ihe Spradhe*? Tableau! Gin Gebilde
ift etwas andres als ein Begriff,
eine Struftur etwas andres als eine
Abftraftion. Go etwas follte man
eigentlih „im ®efühl“ haben. Gonft vere
fällt man eben darauf, wie Schumann,
ein Golf durd „Merkmale“ beftimmen
zu wollen. Damit fommt man freilich
nur zur QAuflöfung der Gorm, zur Tri—
vialität der utilitariihen Willkür, letz—
ten Endes zu nidts. Unfruchtbare
©eiftigfeit. Ueber diefe Dinge bandle
id in einer nod nicht vollendeten Schrift,
welde die Morphologie und damit die
innere Gtruftur des deutſchen Volkes
zum ®©egenftande hat.
Zweitens perſönlich: Schumann findet
meine Ausführungen „eng“, er wirft mir
a aie ——— Ueberregtheit por.
Beſonders, daß pon @ott ſpreche,
gebt ihm auf die N das
fei ,nidts alg ein Ausfluß fubjeftiver,
ſektiſch überreizter Dogmatif*. „Seine
ganze Diftion ift die des Reberridters“.
Da hab’ ich's. Ich ftelle meine „Diktion“
getroft (deutliher gejagt: nidt ohne
Schmunzeln, dem Urteil des Lefers an—
beim. Und erinnere mid dabei an die
Diftion jenes Zeitungsartifels, in dem
Wolfgang Schumann (in „flammenden
Worten“, wie man das nennt) die Are
beiter auf die Barrifaden rief und ihnen
das Herz mit dem Srofte ftarfte, daß die
Sntelleftuellen hinter ihnen ftünden. Ich
denfe ferner an das zwar nidt feltijde,
aber hektiſche Pathos, das ihn fo oft be-
fällt, wenn er bon Rathenau redet. —
Gin ernftes Wort zum Schluß (faft zu
ernft, alg daß man’s ausfpreden follte,
aber — was Dilft’8?) Was Wolfgang
Sdumann als „Seftendogma“ empfindet,
267
ift etwas, das ihm fremd ift: das Gee
meinſchaftsbildende. Sch babe von bier
aus eine ©®emeinfhaft bauen helfen.
Er bat die Gemeinfdaft, die Avenarius
einft gebaut Hatte, zerftört. Hierin ift
der leßte Grund dafür zu finden, daß id
ſynthetiſch denfe, er aber analytiih; daß
id ihn verftehe, er aber nicht mid. Wie
Sft das wieder ,Hodftolg* und
„ueberregtheit“? Sd lege feinen “Wert
darauf.
Die Worte Luthers am Schluß mögen
das Heft abrunden. Sie ftammen aus
der Predigt „Bom ebheliden Leben“ von
1522. Die Gribliden werden fie mit
freundlidem Lächeln Tefen, die Mürri—
gejagt: unfrudtbare Geiftigteit. Gin {den werden fid darüber ärgern. Gin
Schickſal. jeder, wie er — es verdient. St.
Stimmen der Meiiter.
PR: fiebe gu: Wenn die fluge Hure, die natürlihe Vernunft (welder die Heiden
x gefolgt haben, da fie am klügſten fein wollten), das eheliche Leben anſiehet, fo
rümpft fie die Najen und fpridt: Ach, foll id das Kind wiegen, die Windel wafden
Bette maden, Stanf rieden, die Naht waden, fein’s Schreiens warten, fein Grind
und Blattern beilen, Darnad des Weibs pflegen, fie ernähren, arbeiten, hie forgen,
da forgen, bie tun, da tun, das leiden und dies leiden, und was denn mehr LUnluft
und Mühe der Sheftand lernet? Gi, follt’ ich jo gefangen fein? O du elender, armer
Mann, haft Du ein Weib genommen — pfub, pfub des Sammers und Anlufts! Es
ift bejjer frei bleiben und obn’ Sorge ein rubig Leben geführt. Ih will ein Pfaff
oder Nonne werden, meine Kinder aud dazu halten.
Was jagt aber der Kriftlih Glaube hiezu? Gr tut feine Augen auf und fiebet
alle diefe geringe, unluftige, beradte Wert im Geift an und wird gewahr, daß
fie alle mit göttlihem Wohlgefallen als mit dem fdftlidften Gold und Gdelfteine
geziert find, und fpridt: „Ach Gott! Weil ich gewiß bin, daß du mich ein Mann
geldaffen und bon meim Leib das Rind zeuget Haft, fo weiß id aud gewiß, daß
Dir’s aufs allerbefte gefället, und befenne dir, dah id nicht würdig bin, daß id das
Rindlein wiegen folle, nod feine Windel wafden, nod fein oder feiner Mutter
warten. Wie bin id in die Würdigfeit ohn’ Berdienft fommen, daß ich deiner
Kreatur und deinem liebften Willen zu dienen gewiß worden bin? Ach wie gerne
will ich folds tun, und wenn’s nod geringer und deradter ware! Nu foll mid weder
Froſt nod) Hie, weder Mühe nod) Arbeit verdriefen, weil ih gewiß bin, daß dir’s
alfo wohl gefället.“
_ Alfo foll aud das Weib in feinen Werfen denken, wenn fie das Kind fauget,
wieget, badet und ander Werf mit ihm tut, und wenn fie fonft arbeitet und ihrem
Mann hilft und gehorfam ift. Gs find alles eitel güldene, edele Werf. Alfo foll
man aud ein Weib tröften und ftärfen in Kindesnöten, nidt mit St. Margarethen
Kegenden und anderm närrifhen Weiberwerf umgehen, fondern alfo jagen: „Oedenk,
liebe Greta, daß du ein Weib bift und dies Werf Gott an dir gefället. Tröfte did:
feins Willens frdhlid und laß ihm fein Redt an dir. Gib das Kind ber und tu
dazu mit aller Madht — ftirbft du drüber, fo fahr bin — mohl dir! Denn du
ftirbeft eigentlid im edlen Werf und Gehorſam Gottes. Sa, wenn du nidt ein Weib
wäreft, fo follteft du itt allein um diefes Werks willen wiinfden, daß du ein Weib
wäreft und fo föftli in ©ottes Werk und Willen Not leiden und fterben. Denn
bie ift Gottes Wort, das did alfo gefdaffen, folde Not in dir gepflanget hat.“
Gage mit, ift das nidt aud (wie Salomon fagt) Woblgefallen von Gott ſchöpfen, aud
mitten in folder Not?
Au fage mir: Wenn ein Mann Hinginge und wüſche die Windel oder tate fonft
am Sinde ein verädtlih Werf, und jedermann fpottet fein und bielt ihn für ein
Maulaffe und Frauenmann — fo er's dod tät in folder obgefagter Meinung und
SHriftlihen Glauben: Lieber, fage, wer fpottet bie des andern am feinften? Gott
lat mit allen Engeln und Kreaturn, nidt daß er die Windel wäſcht, fondern dah
er’8 im Ölauben tut. Sener Spötter aber, die nur das Werk fehen, und den
@lauben nicht jeben, fpottet Gott mit aller Kreatur als der größten Narrn auf
pies Sa, fie fpotten fih nur felbft und find des Teufels Maulaffen mit ihrer
ugbeit...
Das jag’ id) darum, daf wir lernen, wie gar ein edel Ding es ift, wer in dem
Stand ift, den Gott eingefest hat und da Gottes Wort und Wohlgefallen innen ift,
dadurch alle Werf, Wejen und Leiden foldhs Stands Beilig, göttlih und föftlich
werden, daß wohl Salomon eim folden Mann Glüd wünſcht und fpridt Proverb. 4:
Sreu did mit dem Weib deiner Sugend. Martin Luther.
268
Neue Bücher
Zeremias Gotthelf, Geld und Geift oder
Die Berfühnung. 397 S. Pappbd. 3,80 Mt. Wolts-
ausgabe. Eugen Rentſch Verlag, Erlendach ⸗ Zürich
u. München.
Mit dieſem Bande wird die „Vollsausgabe“ der
Hauptwerfe” Gotthelfs eröffnet, die auf 11 Bände
beredynet ijt. Sie bringt den Text auf Grund der
neuen von Hunzifer und Bloejd herausgegebenen Ge-
——— * die ihrerſeits auf die Wanujfripte,
ezw. auf die Eritdrude zurüdgeht. Sie enthält =
das ungeglättete Schwizerdütih, das Gotthelf jo
pradtvoll einfließen läßt und das den Rbythmus
und Gagbau in jeiner herrlichen Kraft a tect
offenbart. Gin [eines Wörterverzeichnis rt die
Mundartformen ift beigegeben, das aber (ih ſpreche
vom Standpunlt des Worddeutihen aus) erbeblid
erweitert werden müßte. Das Papier ift gut, der
Drud angenebm Wer fih nicht die große Ausgabe
leiften fann, dem fei vor allen andern Ausgaben diefe
empfohlen. Sie enthält freilid nur die geben
Werke. — Unter Geld ift hier Bauernhof und Bauern»
vermögen, unter Geift der driftlide Geiſt der Näch-
ftenliebe und Gilligfeit zu_verftehn. Berner Bauern
werden uns vorgeführt. Der brave Bauernhof oben
in Liebiwyl und der ſchlimme — drunten
mit dem geizigen, didlöpfigen Rabenvater ſtehn gegen-
einander. Eigentlich jind's zwei Gefdidten. Die
erfte fpielt unter den Eltern des Hofes in Liebiwyl,
die andre zwiſchen den Stindern der beiden Höfe; alfo
eine ganze Sippengeihichte. Breit ausladend — feine
redigt des Pfarrers, feine Erörterung über die
rbfolge im Familienrat wird uns geſchenkt. Nichts
2 Ir eilige Lefer. Und die Moral wird dem Lefer um
ie Ohren gefdlagen, alg ob er ein hartes Bauern-
fell batte. Ich bab’ laden miiffen, als ich neulich
einen Wiener Literaten in einer Berliner Zeitung
ben Gottbelf hab’ loben jehn. rüber haben fie ihn
nicht gemodt. Der Auerbad, ja der war es, aber
der u — pfui Teufel. Ich mein’, das Herrlein
ſchreibt mehr der Gejamtausgabe als dem Gotthelf
gu Liebe. Wer den Heujdnupfen nicht zu fürdten
braudt, wen's nicht efelt, wenn ibm im ilchtopf
eine Fliege zappelt, und wer in dem etwas dumpfigen
Dorflirhengewolbe gang gern ein wenig Beit ver—
drufjelt, der rette i aus all den literarifhen Ston-
ditoreien in Gotthelfs Bauernpfarre. St.
Jeremias Gotthelf, gai meg Oy
erausg von Bruno Gols. 373 S. Halbleinen. 4 Me.
. Boigtlanders Verlag, Leipzig.
Die Auswahl enthält: Elfi, die {feltjame Magd;
Kurt von Koppigen (eine Gejhichte, die id) befon-
ders liebe); Die ſchwarze Spinne; ons Joggeli, der
Erbvetter; Die ie Pfarrerin. lſo lauter Titel,
die den Mund fdledern machen. Papier und Aus—
ftattung gut. enugt ift der gereinigte Text der
großen Gefamtausgabe. Die Einleitung von Golz
tt ganz vortrefflich, der Hinweis auf die innere Bere
wandtihaft Gottbelfs mit Luther wertvoll. Diefer
Band ift vorzüglihd zum ,,Cinlefen” in Gottbelf ge-
eignet, die furgen Geſchichten ftellen nicht jo große
Anforderungen an bas zerfahrene Grofftadtgemut
wie die bomerijhe Breite der großen Srpeblangen.,
Hoffentlich folgt bald ein zweiter Wuswablband. St.
Jeremias Gotthelf, Uli ber Pächter.
Mit Vorwort von Bruno Gols. 415 S. Halbl. 5 Mt.
Hanſeatiſche Verlagsanjtalt, Hamburg.
Das ift der zmeite der beiden berühmten Uli»
Romane, bier in einer faubern, anftändigen Ausgabe
dargeboten. Der Text ift —— je daß ber
norddeutſche Lefer nicht alle Augenblid verlegen fragen
mug: Wat fegat be? Golz ſchreibt: „Was Balzac
und Zola für die Romanen, Dojtojewsli und Tolftot
für die Slaven bedeuten mag, bedeutet für die Ger-
manen und zumal für uns Deutſche Yeremias Gott»
elf.“ Go ih es. Wenn irgend ein Kreis von Gee
Ideten im deutſchen Wolfe nod fähig ijt, das recht
aus dem Herzen heraus zu bejaben, fo dürfte es der
Kreis unfrer Volkstumsleſer fein. Wenigitens aed i
ih das von ibm verlangen. t.
Qouife von Francois, Meiftererzählun.
gen. Her. von Bruno Golj. . Halbleinen
4,— WDE, Gangleinen 4,50 Ml. R. Boigtlanders
Verlag, Leipzig.
Enthält: Die Gefhidhte meines Urgrokvaters; Der
Poften der Frau; Fraulein Muthdhen und ihr Haus-
meier; Das Yubilaum; Die goldene Hochgeit.
eine warmberzige Einführung von Coll. Es find
fernige Gejhichten, bejonders die von der Gräfin
int (Poften der ory) und von Fräulein Muthden.
ie Erzählung vom „Poſten der Frau”, die vor und
während der Schlaht von Roßbach jpielt und worin
der große König, zunädft unerfannt, auftritt, follte
von allen heranwadfenden Mädeln ausmwenbdi
werden. Gold) eine Gejdidhte madt tapfer und
efund. Die „goldene Hochzeit“ ijt ein RKabinettftid
lit einen feinen literariihen Gejhmad. Aud fpielt
in all die Geſchichten mehr oder weniger der Humor
hinein. Nachdem die Sana abgelaufen, wird
die Francois hoffentlih befannter im Wolf, biefe
Auswahl aus den weniger befannten fleineren Er-
zählungen wird ihr fiher weithin Freunde gewinnen.
——— Nr. 6436—39.) 382 ©. Geb. 1,80 Mt.
Er beiten
panze Anzahl weife Verleger das Manuffript abge»
ebut, die Dichterin hat lange fuchen miifjen.) Der
e auf polafeetem Papier, die man leidht in der
aſche mitführen fann. St
Qouife von Francois, Fräulein Muthdhen
und ibe Hausmeier. Mit Nachwort von Hermann
Hoßfeld. (Reclams Univerjalbibl.) 74 &. Geb. 60 Pig.
Philipp Reclam jun., Leipsig.
Ein jhmaler Pappband, oe en auf bolzfreies
Papier as mannlide Fraulein Erdmutbe,
das die Franzoſen haft, ihr „Hausmeier“, der teutjche,
wunbderlide, aber fernige Schulmeiſter Polylarpus
und der tapfere Student und Soldat, der Napoleon
ſchlagen hilft und die fhöne Erdmuthe gewinnt, da-
tum herum tobt da8 Getiimmel des Jahres 1813. St.
Thomas Mann, Tritan. Mit Nahmwort von
Rudolf K. Goldihmit. 74 ©. Geh. 30, geb. 60 Pig.
Bhilipp Reclam jun., Leipzig.
Mit diefer berühmten Titelnovelle hält Thomas
Mann feinen Einzug in Reclams Univerjalbibliothet.
Die Sanatoriumsgefhichte, die zwijchen den menjch-
liden Gegenjägen des Herrn SKloterjabn und des
sivilifierten „Geiſtigen“ Spinell jpielt, ift entzüdend
ie lefen in ibrer funjtvoll gehämmerten Sprade.
ber anjtelle des Humors ift nur Sronie da, anitelle
der tief aufquellenden Spradgewalt (wie wir fie bei
einem Stolbenbeyer finden) nur die feine Künſtler—
band. Jd glaube nicht, wie Goldjd@mit, dak Thomas
Mann „eine ende abſchließt“, er ift vielmehr Ber-
treter einer geiltigen Strömung, die eher als mance
andre der Xiteraturgefhichte verfallen wird, weil
fie „dem Bolfe* nichts zu fagen bat. St.
Hermann Claudius, Lidt. Ein Sonnen»
wendjpiel. Mit Federzeihnungen von Ilſe Claudius.
19 S. 30 Pig. Arbeiterjugend Verlag, Berlin.
Das hübſch ausgejtattete Heine Heft gibt ein in
fraftigen, Inappen Zügen und Berjen gebaltenes
fymbolifhes Spiel, in dem der Jüngere, der Idealiſt,
egen den Welteren, den banalen eltläufigen und
eltflugen, ſteht. Die Jugend fiegt mit dem herein.
bredenden Licht, das von einem Jugendchor aus der
Tiefe emporgejhürft wird. (anise Einwand wäre:
Licht fommt nie aus der Tiefe, fondern immer aus
der Höhe, darum wadjen wir von „unten“ nad
„oben“, nicht ———— n ber Tiefe iſt nur
geftorbenes Licht, das fFürnftlich wieder ein wenig
269
edrudt.
gum Brennen gebradht werden fann. Ferner: das
ehte Licht fheint nicht, von wannen wir wollen,
eng von mannen e3 will. Licht wird nicht durd
tbeit erworben, fondern durh Gnade. Und: „Wär’
nidt da8 Auge fonnenbaft...” Darum: wir ar-
beitenum Qobhn, um Qigdt aber beten wir.
Licht ift nicht Belohnung, fondern freie Gottesgiite.)
wei jupendlidi-frtide onnwendgedidte find dem
piel beigegeben. St.
Charlotte Niefe, Als der Mond in Doro-
theen8 Zimmer fdien. Erzählung. 155 ©. Richard
Hermes Verlag, Hamburg.
AS der Mond in Dorotheens Bimmer fdien, fing
er an, mit allerlei altem Hausrat, der da gufammen-
Bed von früheren Zeiten zu erzählen. nd aus
ee Geplauder des Stubhls, der Sruenels ber Bor»
ellanfigur an. erfahren wit die Geſchichte einiger
[range her Emigranten, die vor ber Revolution aus
rem Baterland flohen und in Altona freundliche
ufnabme fanden. Es liegt fo viel Güte, reife
Menjhenmweisheit, wohltuender Friede und eine edle
Gefinnung, die ihren ftarfen Halt in warmer Bater-
Iandsliebe bat, in diefer Erzahlung. Ohne Leiden
ſchaft, ohne große Probleme, wohltuend ſchlichte Er-
gablung. Der Verlag Hermes hat dieſes nicht neue
Wert der Didterin au ihrem 70. Geburtötag neu
aufgelegt. €8 verdient, befonders als Gejchent, a
fleißig gefauft gu werden. 8.8.
Urjula Mepynhart:
Emil Perters, Konftanz.
In tagebudpartigen Hafieihaungen erzählt die
junge Baltin von dem bumpfen Widerftreit zwiſchen
Staatsbirgerpflidt und nattonalem Gewiffen, der
ihren Stamm feit bem Tode Alexanders II. bedrüdt.
Bir hören von den Schreden der eriten Revolution
1905, von dem glüdlihen Stilleben in den eng vere
bundenen deut{den Rreifen in ben friedliden Jahren,
bon der inneren und äußeren Not des Kriege unter
der Zarenherrſchaft, von den fürchterlichen Tagen ber
Vogelfreiheit unter dem Bolfhewilenregiment. Wir
erleben den Jubel der Befreiung mit und das furdt-
bar nieberbrudende Ende der deutſchen Herrfdaft.
Die Schilderung perfönlicher Erlebnifje hört hier auf.
Ein Bericht über bas Ende der Dorpater Geifeln im
Januar 1919, erjhütternd in ſachlicher Kürze, fchließt
das Bud: Ave, Germania, morituri te falutant. —
Aber es hinterläßt Feine troftlofe Stimmung. 8
fündet nicht nur don Not; nod mehr von notüber-
windender Kraft. Diefe Menſchen leben mit ihrer
Vergangenheit. Die Ueberlieferung ift ihnen feine
tote Form, fie leben in den eiftigen Sdhagen bes
deutihen Bolfes, im Volkslied, in Quther,
Goethe, Fichte; Berufsleben, Bolitif, perfün-
lie Intereffen, Gefelligteit, das fällt nidt augein-
ander. Rot ſchmiedete die Staribe gufammen. Das
ere Band aber ift ihre evangelifde Kirche. Keine
aftorentirde, feine Staatstirhe, nein, im Gegenſatz
um orthodogen Staat fließt er alles Streben des
olfes nad —— un flege ſeiner Eigenart
zuſammen. Darum fonnte dieſe Kirche die Führer
des Bolfes ſtellen. Eine Geftalt wie ben Dorpater
Märtyrer Profeſſor Hahn follte unfer Volk nicht vere
gellen fonnen. WolfSgeift und chriftliher Glaube
urchdringen in vollfommenem Ein ang Freude und
Not und Alltag. Das gibt eine Sicherheit, eine
freudige Stärke, die ung im Reid fait zur Sage ge-
worben if. Aus Urfula Meynbarts Bud konnen
wir fie fennen lernen. Wenn uns bas gelingt, dann
verfteben wir aud, warum rhe be Geift fid feine
(peu fo und nicht anders fuden mußte, fo ans
Sterbende Heimat.
uchslos, mandmal altväteriih. Wir dürfen nicht
apftäbe anlegen, die wir von Werfen ganz andrer
+91 dee erholen. Wir müffen fragen: „Iſt das
Belenntnis echt? Greift uns bie Mahnung ans Herz?“
Beides fordert feine eigne Form, und die ift aera
v. d. G.
zb. von der Pfordten, Die Tragif des
deali8smus (Schriften aus dem Eudenfreis. Heft 14.)
Hermann Beyer u. Söhne, Langenfalga.
Der Berfaffer gehört zu denen, die auf dem
Obdeonsplay in Münden fielen, als Kahr und Loſſow
auf die Nationalfozialiften ſchießen ließen. Der Bore
trag v. d. Pfordtens zeichnet die verſchiedenen Typen
von Idealiſten, den, der die Welt verfennt, ben,
der eben dadurd fdeitert, daß er fic) einordnet und
fo bon feiner Linie abbiegt, den zurüdbleibenden,
en unteinen und ſchwachen, den naiven. „Die Tragit
des Idealismus wird in feiner Form erjpart bleiben.
Aber die Erkenntnis dieſer Tragif wird die Kleine
Gemeinde von bealiften nie bejtimmen, die Segel
zu ftreihen.“ bv. d. Pfordten bat danad gehandelt
und feine Erlenntnis mit dem Tode befiegelt. jeder
Tod eines Ydealiften erwedt eine Schar von neuen
Idealiſten. St.
Bang, Vollswirtihaft und Vollstum (Schriften
zur politifhen Bildung. Heft 7.) 65 ©. 80 Big.
Hermann Beyer u. Söhne, Langenfalza.
Das Heft liegt in 3. Auflage vor. Oberfinang-
rat Bang hat das Verdienft, ir bei ben wirt{daft-
liden Dingen immer wieder auf die politifhen Ur—
ongee und Wirkungen pHa we denen
ie alles „nur vom wirtfdaftliden Standpuntt aus
betradhten und furieren wollen. Daß Heft ift ent“
ftanden aus zwei Vorträgen, welde die a Be
Gedanken über die — — bon Vollstum
und Volkswirtſchaft zuſammenfaſſen. Es iſt nicht eine
Schrift, die die Erkenntnis erweitert, ſondern die die
Ergebniſſe in knapper, leicht faßbarer Form darbietet.
Daher aur Einführung und Propaganda fehr geeignet.
Gelegentlich verliert en die tal Schluffigkeit,
is ift auf &. 35 ber Schluß nicht swingend: weil der
eift nur in ber Differenzierung lebt, im Gonbdere
tum, im Bollstum, „deshalb gibt e8 aud edte fitte
lide Gemeinſchaft nur zwiſchen —— — Damit
iſt die Gewiſſensfrage nicht erledigt. ener ſcheint
mir bei der Wertung der „Werkgemeinihaften“ ein
Irrtum vorzuliegen. Um ihn darzulegen, müßten
wir freilid auf die jonstssijte Struktur des pt 4
betriebes eingehen. U. E. waren Gewerkſchaften au
dann entftanden, wenn Mary nie gelebt und eine
margiftiihe Sbdeologie” nie gemwefen ware. Aber
Freilich umgebogen worden find die Gemwerlichaften
burd) den Marxismus. Das etwas derbe Bild ©. 57
oben follte gefttiden werden. Dod das find Einzel»
beiten; bie Sarift als ganze i{t anregend, feffelnd
u lefen und geeignet, aud folde an die Probleme
si bie ſich bisher mit den Dingen noch
nicht beſchäftigt haben. St.
Traub, Das Recht auf Obrigfeit. ere
gut politifden Bildung. Heft 15.) 29 ©. 45 Pig.
Hermann Beyer u. Söhne, Langenfalza.
Pfarrer D. Gottfried Traub ba in diefem
Bei bie Frage, ob Beige: auf bloßer Macht oder
auf Recht berube. Er befampft die heute Iandläufige
Anfdhauung, bag allein bas Yn-die-Gewalt-nehmen
eines Amies genügt, um ,Obrigfeit” au ftatuieren.
Das richtet fig gegen die Statuierung der Republit
von 1918. „Wofür die Obrigkeit fih einfegt, bas
allein gibt oder nimmt ihr das Daſeinsrecht.“ „Nicht
Mahtbefig, fondern Mahtperwertung tft
das Entfcheidende.“ Weil das „Wofür“ ber Republik
problemas sia ift, ift auch ihre Autorität problematifch.
raub bat mit jener ormulierung zweifellos die
ridtige Frageftelung getroffen. Hieran ſcheiden &
die Grifter. t.
Der Piperbote für Kunft und Literatur.
brq. 1, Heft 1. Gingelbeft 25 Pig. Münden,
. Piper u. Co. 3 G
Der Verlag Piper in Münden hat fih nun aud
eine eigene Zeitfchrift geihaffen, bie viermal im
abre erjheinen foll, atürlih will ein Berlag
immer bor allem für fic) felbft werben mit folder
geitiärift, fo daß fie nicht mit einer anderen bere
gliden werden fann, die ihren Xefern nad gen
einer Richtung hin etwas Gefdloffencs, Einheit ides
bringen will. Wber cin Verlag, der ah viel und fo
Wertvolles zu bieten hat, wie ber Piperfde, Tann
allerdings eine ganze Fülle des Guten bringen. So⸗
wobl die Heinen Auffage, wie die vorzüglihen Bild»
beigaben geben bem Sefer reihe Angaben und lohnen
die 25 Pfennig, die für das Heft au zahlen find. ©. K.
Gedrudt in der Hanfeatifhen Verlagsanftalt Altiengefelichaft, Hamburg 36, Holftenwall 2.
270
Aus dem Deutihen Voltstum
RudolfShäfer, B uerngarten
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N. 9.72
Hugo GFriedrid Hartmann, Dom zu Bardowiel
Aus dem Deutihen Voltstum
Deutiches Bolfstum
7. Heft Eine Monatsichrift 1924
Klopftod.
ayn erbaute man fid in der vielen freien Seit, die man hatte, an dem
„Irdiſchen Bergnitgen in Gott“ des Herrn Senators Barthold Heinrich
Brodes zu Hamburg, erluftierte fid moralijfh mit Herrn Handelsjefretär
Sriedrid bon Hagedorn dafelbften und Herrn PBrofefjor Ehriftian Firdtegott
Gellert aus Hainiden. Der fromme und patriotifhe Landridter Iohann
Peter Uz in Wnsbad und der RKonreftor Dafob Immanuel Phra bom Kölle»
niſchen Gymnaſio zu Berlin edierten ihre fHhagenswerten Poefien. Wilde und
empfindungsreide Seelen ſchwärmten mit Ewald Ehriftian von Kleift, Seiner
Majeftat des Königs von Preußen tapferem Offizier. Auch griff man mit
Begierde zu dem artigen „Verſuch in ſcherzhaften Liedern“ des hallifchen Stu-
denten, nadmaligen balberftädtifhen RKanonifus, Sobann Wilhelm Ludwig
Öleim.
Mitten unter den wohlgejegten Berjen, die von würdigen Sünglingen und
Männern in ihren Mußeftunden mit Kunſt und Wit verfertiget wurden, rauſch⸗
ten plöglih im Sabre 1747 die Worte daher:
„Willft du zu Strophen werden, o Lieb, oder
Anunterwürfig Pindars Sefängen gleich,
@leid Zeus’ erhabenem trunfenen Sohne
Srei aus der fchaffenden Seele taumeln?“
Was war das für ein Klang? Weitete fid nicht unwillfirlid die Bruft?
War es nicht, als würde die Zunge bon einem ſchweren Bann gelöft? „rei
aus der fdaffenden Seele taumeln!* Wie Elingt das! Gs bebt durch den
innerften Nero, es ftrömt groß und ftolg daher, es ift, als würde Der ganze
Menſch zur flingenden, braufenden Sprade. Nicht mehr bloß diefes oder
jenes Gefühl, nicht mehr bloß ein erwedlicher Gedanke wird metriſch ausge»
prägt, fondern bie ganze übervolle Seele ergießt fid mit ftrömender Gewalt
in die Sprache. Hier wird nicht mehr nur etwas durch die Spradhe mitge-
teilt, bier wird etwas in der Sprade offenbar. Die Sprade ift plöglich
tönende Seele geworden.
Die deutfhe Dichtung war, unter dem Einfluß des Humanismus jowohl
wie der Roi-foleil-Rultur, eine Angelegenbeit der Mußeftunden gewore
den, bei Klopftod wurde fie eine Wngelegenbeit tiefften Grnftes. Gr war
nit ein dichtender Senator, Offizier, Profeffor, fondern Dichter. Das
fonnte er fein, weil er nicht bloß {dine Berfe machen wollte, um die Mit-
Bürger zu erfreuen und aufguridten, fondern weil er ein höheres Ziel als das
literarifhe hatte: er wollte Gott dienen. Gr fand wieder zu einem Stoff
bin, der die ganze Kraft eines Menfdenlebens bean{pruden fonnte. Den Mej-
fias und die Grldfung der Menfchheit gu fünden — dag war die Aufgabe
des von Gott berufenen und begabten Priefters. Als Stimme Gottes fang
er das Werk des Erlöfers. Gr befennt: „Ich fleh’ um feinen Lohn: ich bin
fon belohnt durch Gngelfreuben, wenn id) Dich fang, (ich bin belohnt durch)
275
der ganzen Geele Bewegung bis Din in Die Siefen ihrer erften
Kraft, (durch) Srihütterung des Innerften, (fo) daß Himmel und
Erde mir ſchwanden, und, flogen die Flüge nicht mehr des Sturms, (belohnt)
burd fanftes Gefühl, das, wie des Lenztags Frühe, Leben fäufelte.“ * Das ift
bie Grfdiitterung des Släubigen. Klopftod glaubte das, was er Dichtete.
Gr war fein „Neuromantifer“, der, um der literarifehen Produktion willen, fid
fo ftellte, alg ob er glaubte. Gein „Meffias* war ihm nicht bloß {dines Spiel
der PbHantafie, fondern ein heiliges Werk. Er fang eine Wahrheit; daher
fein Grnft.
Aus diefer Tiefe allein erklärt fid aud feine merkwürdige, meines Wif-
fens nicht beadtete innere Verwandtſchaft mit dem (gleichfalls aus niederfäch-
fiidem Stamm entfproffenen) Helianddichter des neunten Jahrhunderts. In
der Literaturgefchichte pflegt der unbekannte Gadfe, der den Heliand fchrieb,
als ein geiftlich gebildeter Herr zu erfcheinen (mutatis mutandis als Theo—
Iogieprofeffor mit poetifhen Neigungen), der fic zu feinen barbarifchen
Stammesgenoffen Herablaft, um ihnen das Evangelium mittels Stabreim und
Angleihung an das germanifhe Milieu populär zu maden. Gine edt rationa-
Kftifhe Borftellung! Aber der Helianddidter glaubte, was er fang. Der
Grlöfer war für ihn fo, wie er ihn darftellte.
Für Klopftod ift ebenfo wie für den Helianddidter der Meffias der
gdttlide Herr. Bet dem einen ein König inmitten feiner Degen, bei dem
andern der Gott in Menfchenhülle, por deffen Blid Satan ergittert. Das
Königliche, nidt die Grniedrigung wird betont. Der Meffias ift ein Held.
Beide Dichter haben die Ianghinflutende Sprache. Der Sänger des Hee
liand ftrömt oft über die Versenden hinweg (Enjambement) und fchließt Die
Periode mitten im Bers. Ebenfo löſt Klopftod die Hezameter auf. Seine
„Hezameter“ haben nichts bon der gemeißelten Architeltur der Antike, fie find
nur ein untergelegtes taftuelles Schema, über das die Sprache mie eine
Mufit frei hinflutet in mannigfaltigftem Rhythmus, in unerhört fühner Klang-
malerei. Man lefe jene Berfe, in denen Klopftod den Weg vom Himmel
zur Erde befchreibt: Iett find an jenem Wege nicht mehr
n. « . Die fohattigen Lauben, wo ehmals die Menfden,
MeberwallendD von Freuden und füßen Gmpfindungen meinten,
Daß Gott ewig fie fhuf; — die Erde trug des Fluches
Laften jest, war ihrer vordem unfterbliden Kinder
Großes Grab. .. .“**
Wie erdbenfdwer, dunfel und mühfam ſchleppend (unbefümmert um die metri-
fe Quantität) fintt der Klang dahin: „Die Erde trug des Fludes.. .“
And der Abflang der Periode ift wie ein auffchlagender Fall: „Großes Grab.*
Bon folhen Feinheiten des Rhythmus und des Klanges ift der Meffias (die
berühmte Schlußzeile des zehnten Gefanges!) voll, dieſe Feinheiten maden
aud den unfterbliden Reig der Oden aus: Der Abklang „Seiernd in mad-
tigen Dithhramben“ — ift das wirklih nur das Syſtema Alcaicum der
alezandrinifhen Metrif? Es ift ein Abklang, wie ihn ſchon der Helianddichter
fennt, geboren aus dem Wefen unfrer deutfhen Sprache: „adhalordfrumo
allomachtig.“ Weil Klopftod aus feiner feelifhen Struftur heraus den ine
* Aus der Ode „An den Grlöfer“, die Klopftod nad der Vollendung des „Mef-
fias in wenigen Minuten tieffter Grgriffenheit niederfchrieb. Wir haben abfidtlid
die Bersteilung unterdrüdt. Das Gingeflammerte ift der logiſchen Deutlidfeit halber
eingefügt, da wir die geilen als Selbftzeugnis anführen.
* Meffias I, 217 ff.
276
nerften Nerd unfrer Sprade traf, wirkte er zu feiner Zeit und wirft er nod
Heute löfend auf das Sprachgefühl. Goethe und Schiller hat er fpradlid ere
wedt. Und wer bon uns hat fid nicht in feiner Jugend einmal an flopftod-
fen Verſen ,,beraufdt*? Luther war der erfte Baumeifter des Domes unfrer
Sprade, Klopftod der zweite, Goethe war der Bollender. —
Gs heißt mit Recht, daß der Sinn im Bilde, die Seele aber im
Klang offenbar werde. Bei Klopftod ift das Höchfte der Klang, das „See⸗
life“. Wohl zeichnet er zuweilen gewaltige Bilder. Man denfe an das Gee
witter in der „Srühlingsfeier“:
„And die Gewitterwinde? fie tragen den Donner.
Wie fie raufden, wie fie mit lauter Woge den Wald durdftrdmen!
And nun f{dweigen fie. Langfam wanbdelt
Die ſchwarze Wolfe.“
Das „Langfam wandelt die ſchwarze Wolfe“ ift bon unerhörter Größe. Eben⸗
fo der nädjfte Whang: „Und der gejchmetterte Wald dampft.“ Oder Iefen
wir das himmliſche Gewitter im erften Gefang des Meffias (um bas ſchul—
mäßige Klappern der Hezameter zu vermeiden, druden wir die Berfe ohne
{Hematifhe Abteilung; um fo fadlider fann man fie Iefen):
„Nah bei der Herrlichfeit Gottes, auf einem himmliſchen Berge rubet des
Allerheiligften Naht. Lichthelles Glangen wacht inwendig um Gottes Gee
beimnis. Das heilige Dunkel dedt nur das Innre dem Auge der Engel. Bis-
weilen eröffnet Gott die Dämmernde Hülle durch allmadttragende Donner vor
dem DBlide der bimmlifden Schar. Sie feben und feiern... Aber ist
füllte des Gwigen Blid der Himmel von Neuem; jeder begegnete feiernd
und ftill dem gdttliden Blide. All’ erwarten die Stimme des Herrn. Die
himmliſche Zeder raufdte nicht, der Ozean fHwieg am hohen Geftade. Gottes
lebender Wind bielt gwifden den ehernen Bergen unbeweglid und wartete
mit verbreiteten Gligeln auf der Stimme Gottes Herabfunft. Donnerwetter
ftiegen gum Wartenden Iangfam das Allerheiligfte nieder. Aber noch redete
Gott nit. Die heiligen Donnerwetter waren Berfündiger nur der nabenden
göttlihen Antwort... .. Giebenmal hatte der Donner das heilige Dunfel ere
öffnet, und die Stimme des Gwigen fam fanftwandelnd hernieder.“ *
Ober nehmen wir ein Bild wie diefes: „In dem ftillen Bezirk des unbe»
trachteten Nordpols ruhet die Mitternacht, einfiedlerifch, faumend; und Wolfen
fließen bon ihr, wie finfendes Meer, unaufbörlich herunter.“ **
„Bilder“ find das, aber eigentümlich verſchwimmende, verfehimmernde. Sie
löfen fid in Geahntes, Hintergründiges auf, in — Geelifhes. Geht man
dem Gejamtaufbau des „Meſſias“ nach, fo ift es nicht anders. Reine plaftifche
„Argiteltur“, die „in fid) gefdloffen* wäre (Dante), fondern eine mädtig
wogende „Mufit“.
Nun gehört gu den häufigften Wörtern im Meffias das Wörtchen ,fdau-
en“ — anfchauen, durchſchauen, anfehen. Ebenſo begegnen wir oft dem
„Iinnen“. Aber niemals ift es plaftifdes Schauen, fondern immer das
„Iinnende Schauen“, das an die Stelle des Denkens tritt. Aber Klopftod ift
aud fein dDenfender Dichter. Nirgends logiſch feft geihloffene Form. Der
„Gedankengehalt“ feiner Dichtung, rein intelleftuell genommen, ift arm. Statt
dejfen finden wir ein weites, ſchauendes Sinnen: jene eigentiimlide Bere
einigung bon Gegenftand und Seele, die uns Deutfchen befonders zu „lie—
gen“ ſcheint. Die Grenzen zwifchen Welt und Seele, Ding und Empfindung,
* Meffias I, 300-335. 358—367. 395—396. ** I, 587-589.
277
Draußer und Drinnen, Objeft und Subjekt verſchwimmen; die Seele reißt
die empfundene Welt in ihren Strom dahin: Mufif. Daher find alle ,,Bil-
der“ feelifch gefärbt: voller Sntzüden, voller Schreden, boll fanfter Trauer,
boll füßer Liebe uſw. Gin herrliches metaphyſiſches Beifpiel des klopſtockiſchen
„Schauens“ ift feine Iette Ode aus dem Februar 1802: ,Die höheren
Stufen.“
Mit dem Mtufifalifden geht das Motorifhe zufammen. Wir wiffen,
wie fehr Klopftod die förperlihe Bewegung liebte — reiten, fpringen, wan-
bern, Schlittſchuh laufen. Gr liebte aud das Tanzen. Das Tanzlied ber
Thusnelda in „Hermanns Sdladt* ift von wunderpoller Gindringlidfeit* *:
„Komm, Sdgerin, fomm bon des Widerhalls Kluft!
Das Wild ift erlegt, das Wild ift erlegt.
And fpült’ in dem Gad von des Riefen Helme das Blut.
Die Jägerin fam bon dem Gelfen herab.
a Das Wild lag im Tal, das Wild lag im Tal.
Gr fpült’ in Dem Bad bon des Riefen Schilde das Blut.
Sie fprang zu ihm hin wie im Sluge des Pfeils,
Weit über das Wild, mit wehendem Haar:
Da fant in den Bac ihm des Riefen Panzer voll Blut.“
So etwas ift Hanggewordene Bewegung. Gerade für motorifd begabte Men-
fen werden Klopftods Verſe ihren Reig am längften behalten. —
Ein Mann, der fo gang Priefter und aus innigfter Gottesliebe Dichter
war, hat unfre deutfhe Dichtung aus der Sphäre höfifcher Beluftigung und
birgerliden Beitbertreibs erhoben. Gr gab der Dichtung ihre eigene Rdnigs-
würde. Das fühne, freie, gotttrunfene Herz, die hohe Gefinnung, das reine
eben erfüllten ihn mit einem gerechtfertigten Selbftgefühl. Das Bolt emp-
fand wieder etwas von der Berufung und dem Beruf des Dichters. So er-
tang Klopftod dem Dichter im fogialen Gefüge des Bolfes feine hohe Stel—
lung. Das war auch eine Bedingung dafür, daß Goethe und Schiller möglich
wurden: „Der Menfdbeit Würde ift in eure Hand gegeben...“ Und Heute?
St.
Die Oberrealjdule als humanijtijdhe
Bildungsanjtalt.
ine Oberrealfdule pflegt ihre Schüler in den Oberklaſſen aus verjchiedenen
Realfdulen zu übernehmen. Sunddft verfammelt die Oberfefunda folder
Schule eine Reihe von Biinglingen, die frifch und frei ins Leben Hinausfeben,
willig zum Lernen. Die Kameraden fteben nun als Lehrlinge ſchon irgendwo
im Beruf. Sie hier dürfen — ehe fie als Ingenieure, Offiziere, Aerzte, Kauf
leute, Beamte an die unmittelbare Berufsausbildung denken, noch drei Sabre
lang ihren Geift ausweiten. Deutfhe Bürger, die mit Betwuftfein einft an
berantwortliden Stellen ftehen werden, follen erzogen werden.
Drei Tatjachen, auf denen unfere heutigen Weltzuftände beruhen, foll der
Schüler fennen lernen: Wie die Indogermanen in Europa die führende Raffe
wurden, wie das Shriftentum entftand, wie Die Germanen durd die Befrud-
tung mit der antifen Kultur zu einem Geiftesleben erwachten.
Hier läßt fic) der Deutfchunterricht ohne Bezugnahme auf den Gefdidts-
* Das ganze Lied: Ausgabe von Diingker bei 5. A. Brodhaus, Leipzig, 1876.
Seite 88 f.
278
unterricht nicht Befpreden. Man wird im Deutfhen von der großen indo-
germanifhen Spradfamilie fprechen, die Wandlung der Spraden durd ine
nere Gefege und durch Äußere Einflüſſe erflaren. In der Gefdidte ift zu
zeigen, wie auf Steinzeit und Bronzezeit dasjenige folgt, was wir erfte Bölfer-
geſchichte nennen fönnen; und zwar beginnt für Guropa dieſe Zeit zufammen-
bängender Gefdidte mit dem Auftreten der Indogermanen. Diefe haben von
Norden einwandernd die griehifche und Iateinifhe Nation begründet —, aber
auf dem @runde einer viel älteren, bochentwidelten Kultur. Schon dies ift
eine Bölferwanderung, der ein Mittelalter, Neuzeit und Zeit der individuellen
Hochkultur folgen. Unfere heutige chriftlich-germanifde Welt Hat wiederum
jene erfte indogermanifhe am Mittelmeer beerbt.
Diefem Gefchichtsbild entjprehend muß aud der Deutf{dunterridt ver-
fahren. An die Behandlung der Sprachgeſchichte ſchließt fih am beiten eine
Wiederholung der germanifchen Götter» und Heldenfage. Sind Hebbels Nibe-
lungen nod nicht befannt, fann man fie jest leſen; diefes dine, aber nicht
leihte Thema ift ganz geeignet dazu, daß der Lehrer mit der neuzufammen-
gefebten Klaſſe warm werde.
Mittlerweile fchreitet der Gefdidtsunterridt aus der DBefprechung der
Eiszeit, Stein- und Bronzezeit heraus zu den Griechen. Nun hat der Deutfch-
unterricht die Aufgabe, die Schüler erleben zu laſſen, wie die deutſche Haffifhe
Literatur aus der Antife Formenfraft und Anfchauungsfülle gewonnen hat.
Gs ift eine reine, fine Luft, in der die Schüler nun einige Monate atmen.
Ilias und Odpffee foll fennengelernt werden in der Ueberfegung, teils durch
gemeinfames Lejen, teils durch freie Bortrage. Dann ftehen zur Berfiigung
aus unferer Dichtung: Braut bon Meffina, eine Reihe Schillerfher Balladen
(bon denen auch nod eine oder zwei gelernt werden follen), Goethes Iphi—
genie. In Schillers Leben muß die große Wendung zum Studium der Philo-
fopbie und der Antike befproden werden; Goethes Gntwidlung ift gu bee
ſprechen bis zur italienifden Reife, die Rückkehr nad Deutfhland, das lange,
nun beginnende jchöpferifche Arbeitsleben. Bon Leffing fteht zur Berfiigung
zur Srläuterung griedhifden Wefens: Lanfoon oder: Wie die Alten den Tod
gebildet —, oder jenes merfwiirdige Fleine Werk aus griedifd - deutfchem
Geifte: Philotas. Auf Leffing fann in diefem Zufammenhang nur wenig Beit
verwandt werden.
Die Antike foll aber auch felbft fennengelernt werden in einem oder zwei
Dramen des Sophofles. Und noch bon einer anderen Seite. Die Griechen ha—
ben die Wiffenjdaft um ihrer felbftwillen gepflegt. Die Gefdidte muß bon
den jonifhen Philoſophen und von Gofrates berichtet haben. Die Wpologie
oder der Kriton fönnen gelefen werden. Eine begabte Klaffe Tann aud {don
verftehen, wie der Menfd dazu fommt, zu fragen: Was ift denn Grfenntnis,
und was ift erfennendes Gubjeft? Und diefe Fragen laffen fih am Phaedon
(in Schleiermadhers Ueberfegung) vorzüglich behandeln.
Die Gefdhidte muß fo behandelt werden, daß fie die Grundlage zu ſolchem
Deutfchunterricht biete. Das griehifhe Mittelalter mit feiner Kolonifation,
Dichtung und erwachenden Wiffenfdhaft als Kulturfhilderung; die Staaten der
Spartaner und Athener; der Kampf für Guropas Gelbftändigfeit gegen Alien.
Die Kataftrophe des peloponnefifhen Bruderfriegs. Die Kriege gwifden
Athen und Sparta in der Mitte des fünften Iahrhunderts werden gang kurz
behandelt; hingegen wird die Bedeutung Gigiliens, Grofgriedhenlands und
Karthagos erklärt. Ausführlich das makedoniſche Volkskönigtum und Alezan«
ber als Ausbreiter der griehifhen Kultur! Die Diadodenftaaten als Borbe-
279
teitung des Römerreichg und Borbedingung der Entwidlung des Chriftentums
werden darafterifiert.
Gon Rom ift die innere Gntwidlung fo zu behandeln, daß dies große
Mufterbeifpiel wirtfchaftlider Kämpfe und politifcher Organifation wirklich
berftanden wird. Im Uebrigen fann die römiſche Sefdidte bis zum Beginn
des II. Bunifhen Krieges ganz kurz behandelt werden —, feine Namen- und
Sablenlaft wird aus diefer Epoche mitgenommen. Dann wird die Gründung
des Weltreihg und die Entftehung der Monardie im einzelnen behandelt.
Nad dreiviertel Jahren fteht die Klaffe bei Auguftus. Gs bleibt ein
Bierteljabr, um den Kampf des Rimerreids mit den Germanen zu behandeln.
Sp fehrt am Abſchluß des Sabres der Schüler gu den Germanen zurüd, Die
er [don am Anfang im Nebel der Borgeit erblidte. Der Urgefhichte germa-
niſchen Golfstums ift nun eine liebevolle Sorgfalt zuzuwenden.
Der Religionsunterridht muß es der Gefdidte abnehmen, einige anjdau-
lide Bilder der frühorientalifden Völker zu geben. Das Größte an ihnen ift
dod ihre Religion — die Pyramiden und die Ofirisreligion der Weghpter, Die
Kalenderfunft der Babplonier, nod Heute uns täglich niiglid, aus ihrer Ree
ligion entftanden, die völferordnende Königsarbeit der Achämeniden als ein
Dienft für den reinen Gott Ormuzd. Das Intereffe der Schüler für verglei-
ende Religionsgefdidte ift groß. Um fo mehr gilt es, dem fo gewedten In«-
tereffe nun gu zeigen, wie das melthiftorifch folgenreichfte Greignis der alt»
orientalifden Gefdhidte im lebten Grunde dod ebenfo ein erhabenes ie
wunderbares Greignis bleibt: Wie dem israelitifhen Bolfe durch feine Pro—
pbeten unter den Stürmen der völfervernichtenden Affyrier der ethiſche Mono»
theismus gefdentt wird. Gs wird gezeigt, wie Durch dies Greignis das Alte
Seftament entftehen mußte. Größere Partien der Propheten, der Pfalmen und
ber fo oft bernadlaffigten nacdhezilifhen jüdifhen Literatur werden gelefen.
Dafür ift die Auswahl aus der Bibel fehr gut, wo die Sprade Luthers
nur etwas unferer Sprade angenäbert ift. Auch müßte gerade in den fo
{Hwierigen Büchern der Propheten die Ueberfegung wirklid dem heutigen
Berftändnis der Sprachforſchung genügen. Schon befigen wir heute folde Bü-
der. An das Alte Seftament ſchließt fid im 2. Halbjahr eine eingehende Bee
. fpredhung des Lebens und Kampfes Sefu und der Laufbahn und Gedantenwelt
des Paulus.
Go fteht der Religionsunterridt im letzten Vierteljahr mit dem Gefhichts-
unterricht in der gleichen Spode, der römifhen Kaiferzeit. _
Diefe jo merkwürdige und große Epoche Iernt der Schüler fogufagen mit
der urdriftliden Gemeinde fennen, — der Brand Roms, der Untergang Serue
falems, die Entjtehung des Neuen Teftaments, der Gemeindederfaffung, des
®laubensbefenntniffes werden ihm feffelnde, höchſt wichtige Greigniffe inmitten
einer nun völlig anfdauliden, verftändliden Welt.
Sowohl orientalifhe Geſchichte, wie Bibel, griehifche und deutfche Literatur
bieten Stoff zu freien Bortragen der Schüler, 3. B. die Sternenfunde der
DBabplonier, das Buch Tobias, der Philoktet des Sophokles oder Goethe in
Straßburg, das Leben der großen deutfchen Mufifer, 3. B. Beethovens u. a.
Auf ein nicht deflamatorifcheg, aber flares und ſchönes Lefen der [hwierigeren
Gedichte Schillers und Goethes ift zu achten. Diefe Altersftufe hat nod bon
der Friſche des Jungen und fdon viel bom Ahnungspermögen des Jünglings.
Am Ausgang der Ila oder fofort.beim Eintritt in Ib wird das Mittel»
hochdeutſche wieder aufgenommen. Dazu werden die Sagenfreife, die ältefte
Poefie der Germanen befproden. Vom Geiftesleben unferer Borfahren foll ein
280
Bild gewonnen werden. Hier nun muß von der Germaniftif noch viel Arbeit
geleiftet werden. Wie anders find dod die Hilfsmittel, die zur Verfügung
fteben, um die Propheten Amos und Sefajas, um Paulus und das Urdriften-
tum verftändlih und anfdaulid zu maden? Gtwas derartiges fehlt uns nod
für unfere großen germanifden Gpen und überhaupt für Leben und Geſchichte
ber ®ermanen. Ich wage zu bemerken: Was ein Wilamowit - Möllendorf,
Eduard Meher, Harnad, Wellhaufen, gewaltige Provingen und Länder der
Forſchung beherrſchend, leifteten, das muß für die Germaniftif noch gefdeben.
Wer aus der Methode der vergleidenden Religionsforfhung Herfommt, ver
wundert fid, eine angelfähfifche, flandinapifhe und deutſche Forſchung neben-
einander zu finden. Die große, zufammenfaffende Erkenntnis, die ein Darfteller
der Dinge — alſo der Lehrer — braudt, fehlt nod.
Gs Hat einmal eine große, frühgermanifde Welt gegeben. Beo—
wulf und SHeliand find Werfe eines olfsgeiftes, ja, müßte man
nit fagen, desfelben Bolfsftammes? Siingere Edda, Saxo Örammaticus,
Paulus Diafonus find gleichwertige, man müßte vielleicht fogar Jagen, gleich»
artige Quellen der germanifhen Sagenwelt; aud Widulind und Adam bon
Bremen gehören in gewiffer Beziehung noch hierher.
Wie verwirrend wirft es, wenn der Literarhiftorifer dem Heldenliede ein
tein äfthetifches Intereffe an der Sharattergeftaltung gufpridt, der Hiftorifer
aber den Swed des Heldenliedes darin findet, Königsgeſchichte zu überliefern.
Nun erft gar die fühnen Konftruftionen der Archäologen über germanifche
Bölkerfhidjale und die Hypotheſen der Raffenforfcher!
Die ordnende Herrfderin über all diefe Erkenntnis muß die Germaniftif
fein; die Sprachforſchung fommt doch dem lebendigen Geifte am nadften; aber
bie ®ermaniftif darf nicht die anderen verachten, fondern muß ihre Arbeiten
fih nugbar und dienftbar machen.
Eine Fülle wiffenfchaftliher Arbeit muß unferem Unterridte nod Bore
arbeit leiften.
Wir ftehen nod gang am Anfange der Aufgabe, die Gefhichte des ger-
manifchen ©eiftes zum Mittelpunkt unferes Unterrichts zu maden.
Während fo Sage und Heldenlied behandelt werden, hat der Gefdidts-
unterricht das Mittelalter erreicht; nun wird Walther von der Bogelweide
mit Liebe gelefen und andere Proben mittelhochdeutfher Poefie.
Gs ift nun fehr wichtig, daß aud) der Religionslehrer mit dem Deutfch-
und Gefdidtslehrer zufammenmwirkt. Das Bild von unferes Bolfes Früh—
zeit wird völlig chief und falfd, werden nicht aud die tiefen Wirkungen des
Ehriftentums erfannt. Die Lebensbilder der erften großen germanifden Chri—
ften müffen den Deutſch- und Gefhichtsunterricht begleiten. Wichtiger als
der Parteifampf por und nad den Nikanifden Konzil ift für uns folgendes:
Auguftin, der legte große Menſch der Antike, ein gang moderner Menſch, Sohn
einer fompligierten Kultur, und Doch ift er eg, der die Weltanfchauung des
Mittelalters in der „civitas dei“ geftaltet; Die Lebensbilder: Ulfilas, der
Germane, Severin, der altdriftlide Mind unter den Hereinbredenden Gere
manen, Öregor der Grofe, der erfte mittelalterliche Romane, Bonifay, Karl der
Grofe, der Bolfsergieher Anfdar, Adaldag, Adalbert bon Bremen, Hame
burgs große Srabifchöfe, die Samilienge[didte der Ottonen, die deutſchen
Rreuggiige gegen Wenden und Preußen, Frangiscus, Waldenfer, Myſtiker,
Sorreformatoren.
Ift Dod dies ein gang wefentlider Inhalt früher deutfcher Gefdhidte: See
281
waltige Menfden verfuchen mit großartiger Energie, die driftliden Ideen im
Leben der Völker durdgufihren.
Darum foll der Religionsunterridt der Gefdidte, die rüftig der Neuzeit
gufdreiten muß, viel abnehmen —, das Meifte des Borgenannten. Und er
muß das Bild, welches der Deutfchunterricht pom altdeutihen Geiſtesleben
gibt, ergänzen.
Der Deutfch- oder der Religionsunterricht endlid muß dem Schüler zeigen
den Grnft der romanifchen und die erhabene Schönheit der gothiſchen Architek⸗
tur, als Offenbarungen des germanifden Geiftes, dazu die feelentiefe bil»
dende deutſche Kunft von den rührenden Heiligengeftalten der Gotik bis zur
Lebensfiille Dürers.
Dod nicht zu lange darf der Deutfchunterrigt in Prima beim Mittelalter
verweilen. Die befte Kraft ift doch der klaſſiſchen Periode unferer Dichtung
guguiwenden. Goethe, Schiller, Leffing. Dies der wefentlide Stoff.
Literaturgeſchichte — mit oder ohne Lehrbud — genügt nidt. Gewiß muß
gezeigt werden, wie die deutſche Sprade, nach dem Sturz des Preißigjäh-
tigen Krieges, durch einen Opis und andere pädagogiſch behandelt wird, aber
Diefer Fiterargefchichtlihe Standpuntt ift zu niedrig. Die deutfhe Klaffit muß
behandelt werden in ihrem Verhältnis zu Reformation und Renaiffance.
Die Renaiffance befreit ben Menfden aus den feften Formen des Mittel-
alters, indem fie ihn auf fic felbft ftellt; fie iſt egozentriſch — von ihr leitet
fim ber die Aufflärung, dann der wirtfchaftliche, äſthetiſche und ethifdhe Indi-
pidualismus des neungehnten Sabrbunderts bis zur Mandhefterjchule, zu
©erhard Hauptmann und Niebfde.
Die Reformation befreit den Menfden des Mittelalters, indem fie ihn
durch das Erlebnis des den Menfden ergiehenden Gottes zur felbftändigen
Perfdnlidfeit madt —, das ift Luthers Werk. Diefe Perfönlichkeit bedarf der
®emeinfchaft der Frommen — nur auf fich geftellt, wird auch fie egoiſtiſch —,
nit in ©ottvertrauen, fondern in rechthaberifcher Herrſchſucht.
Die reformierte Kirche hat die Gemeinfchaft früher und glüdlicher gepflegt,
darum ihre Kraft in firdhlider Organifation.
Der deutſche Pietismus hat die Aufgabe der Gemeinſchaft am tiefften ere
faßt. Gr hat die Seelen verfeinert und geadelt —, wie das Freytag in feinen
„Bildern“ an der deutfhen Familie des 18. Jahrhunderts fo wundervoll
zeigt. Aus der pietiftifchen Familie, die troß aller Freude an der Aufflärung
eines „vernünftigen Zeitalters“ in der Frömmigfeit ihre befte Kraft hatte, find
unfere Klaffifer fämtlich ermadjen. j
Gp find denn aud) das geiftlide Lied und die deutſche Muſik die Fünft-
leriſchen Erzieher der Deutſchen geweſen, aud für die Literatur.
Anfere RKlaffifer find Weiterbildner der Reformation —, Gegner ber
egozentrifchen, atheiftifchen Weltbetradtung. Diefer Gegenſatz muß den Shü-
lern eine heilige Grfenntnis werden.
Die Humanitat in Leffings Nathan ift etwas viel Größeres als Die de—
mofratifche Gleihmaderei der Franzoſen. Fauft ift nicht das Gpangelium des
Egoismus, fondern Gauft ift in allem wahr und edht — aud in der Rüd-
fehr des irrenden und fampfenden Menfden zu Gott. Goethe ift in feiner
biftorifhen Laufbahn zweimal mifbanbdelt worden — einmal dur Die
„Muder“* —, das ift durch jenen aus der Romantif herfommenden Meus
pietismus, der Goethe faum fannte, aber ihn für den böfen Heiden erklärte;
diefe Mifhandlung hat Goethe jest überftanden. Noch aber gejchieht die viel
ſchlimmere durch die Literaräfthetifer, die Goethe gu dem fdinen Heiden
282
machen, und das deutſche Bolt im Namen Goethes zu einem genießenden
Egoismus befehren möchten.
Das Bild unferer deutſchen Geiftesgefhichte nad der Wahrbeit zu ge-
ftalten und in die Herzen eingupflangen, ift das Hidfte Ziel unferer Schule.
Srogdem follen wir auf der Oberrealjchule nicht für das germaniftifche
oder Hiftorifhe Studium begeiftern. Denn dafür gibt dod nun einmal das
alte Humaniftifde Gymnaſium in den alten Spraden das nötige Riiftgeug.
Unfere Schule foll finftigen Naturwiffenfchaftlern, Wergten, Ingenieuren,
Offizieren, Kaufleuten, höheren Berwaltungsbeamten bor ihrer Berufsbildung
die Grundlage einer humaniftifchen Bildung geben. Darum muß im deutſchen
Anterriht und im Religionsunterriht aud eine Fühlung mit den Natur»
wiffenfdaften gemonnen werden; das Problem: Worauf beruht die Sider-
beit unferer Grfenntnis? muß gezeigt werden; Kants Bedeutung in der
Gefdhidte des menſchlichen Geiftes fünnen die Schüler wenigftens {don ahnend
erfennen. Gr gehört mit hinein in die deutfchen Klaffifer, welche den Grden-
pölfern für Jahrhunderte Die Bahnen des Denfens vorgezeichnet haben. Gin-
fade Uebungen des Urteils, fo wie fie etwa Kants Einleitung in die Logif
in die Hand gibt, müffen im Unterricht porfommen; die Kategorien Kants
tönnen erklärt werden. Aber aud der Begriff der transgendentalen Grenge
des Grfennens wie die pofitive Gültigkeit unferer Grfenntnis gerade in der
Naturwiffenfhaft nad den notwendigen Formen unferes Grlebens fann bon
ben Schülern erfaßt werden. Die Begabteften müffen Luft befommen, Kants
Kritif der Urteilstraft, der praftifhen Bernunft und die Prolegomena der
Metaphyſik felbft zu lefen — wenigftens im erften Semefter. Die [este Voll—
endung (joweit eine ſolche für werdende junge Menfchen überhaupt möglich
ift) fann aud hier nur der Religionsunterricht geben —, oder beffer gejagt:
Gr foll die Siinglinge mit der höchſten praftifchen Aufgabe ins Leben Hinaus-
fenden. Das Ringen um Gott ſchenkte dem Deutfchen die Reformation. Aber
bolle Befriedigung wird er in diefem Ringen nur finden, wenn er Gottes
GErziehung in der Menfchengemeinfchaft erlebt.
Nun foll der Unterricht zeigen, wie der Pietismus in Speners und
Stanfes Tagen diefe fromme Lebensgemeinihaft zu ſchaffen fudt. In der
Samilie wird fie wieder lebendig — wunderbare fittlide Kraft bewährt aus
biefer Erziehung das deutſche Volk in den Freiheitsfriegen. Diefe Kraft wirkt
nod weiter in der gelehrten bürgerlihen Familie und zum Teil im Klein»
Bürgertum. Aus diefem Geifte haben deutfhe Maler im neungehnten Iahr-
hundert gefdaffen — die mir jebt erft wieder entdeden — feelentief und
berzerfreuend — damals unberftanden bon ihrem Zeitalter. Um die Mitte des
neunzebnten Jahrhunderts verſucht ſowohl proteftantifcher wie katholiſcher
Idealismus durch die innere Miffion aud das Bolfsleben mit diefem Gemein-
THaftsgeift zu durchdringen. Derfelbe Idealismus will für diefe Gemeinſchaft
der Liebe aud) die Heidenvddlfer gewinnen (äußere Mtiffion). All dies bleiben
nur Anfänge.
Dielmehr hat im öffentlihen Leben der abfolute Individualismugs ge-
fiegt, im DWirtfchaftsleben, in der Politik, fogar in der Kunft — der Geift
bon Mandefter, wie Garlhle fagte — oder der brutale Individualismus Fried»
tid Niebfches.
Dereinfamung und tiefftes feelifhes Elend des einzelnen, Wtomifierung
der Gefellfdaft ift die Folge. Aufbau neuer Gemeinfdaft aus den ererbten
@eiftesfräften unferes Volkes — Chriftentum, Reformation, Klaffit — das
ift die Aufgabe.
283
Bemerken muß id nod: Wm diefer Zufammenfafjung all unferes Unter
richts — Deutſch, Gefdidte, Religion einerfeits, Naturwiffenfchaft anderer-
feits — zu genügen, bedürfen wir noch einer Darftellung unferer deutfchen See
ſchichte, wie wir fie bis jet nod nicht befigen, nicht nur einer politifd-
militärifchen, nicht nur einer fulturgefchigtlichen, fondern einer Gefdidte des
Lebens unferes Volles. Lamprechts Berfud ift groß — aber hier fehlt bod
die ganz große flare Weltanfhauung. Lampredt ift felbft Dod fo febr Sub-
jeftivift, daß er — darin Kind des neueften eigenfinnigen Deutſchtums — dod
gu wenig den großen Batern bat vertrauen und folgen wollen. Gr wollte zu
Hug fein. Ihm fehlt die große gotterfüllte Weltanfhauung des Klaffiters unter
ben Hiftorifern, Ranfes. Ihm fehlte, fo viel wir aus ihm lernen follen und
finnen, die lette Dinreifende, feelenbildende Kraft der in einem großen Glau—
ben lebenden Perjönlichkeit.
Unſer Unterricht foll deutfche Siinglinge mit Glauben und Wnfdauung er»
füllen.
Die Jungen werden auf diefer Stufe lang und unpoetifd, fagt man; das
Befte des inneren Lebens wird verborgen. Der Berftand wird miftrauijd
und kritiſch. Dies lettere darf nicht vergeffen, ja, es muß benußt werden. Bore
ausgeſetzt und gefordert wird, daß gemilfe Tatſachen, Namen und Daten
bon den Unter- und Mittelllaffen ber ſchon feftfigen, oder Dod leicht aus der
Grinnerung gewedt werden können; die eigentliche Kraft der Arbeit foll im
Unterricht felbft liegen, und gwar im Denken. Wer gum Denken wedt, wird bie
Schüler gewonnen haben. Wenn der Schüler fühlt, daß feine Urteilskraft fid
bildet, der Horizont fich weitet, die Welt feiner Grfenntnis fic wirklich öff-
net, Dann wird die Freude daran aud) jene Begeifterung weden, bon der ein
frudtbarer Unterriht getragen werden muß.
Nun denfe man fid, daß die fo in Gefdhidte und Geiftesleben der Na»
tion Gingeführten viele Stunden der Woche Mathematif und den Nature
wiffenfchaften widmen und mit der Realität des Lebens gründlich vertraut
werden, den Automobilen und eleftrifdhen Mafdinen in die innerften Gee
därme fdauen, wopon wir armen Humaniften älteren Stils nidts vere
fteben. Go dürfen wir hoffen, Menfchen zu erziehen mit rechten Herzen, Die
feft auf den Süßen ftehen und Haren Auges ins Leben fchauen. Nur ein ges»
tinges Maß täglich genau zu leiftender häuslicher Arbeit, aber viel felbftan-
Dige Arbeit, praftiihe Uebungen in Phyſik und Chemie, Lefen, Hören und
Spreden einer oder zweier neuerer Spraden gehört zu den Aufgaben Diefer
Schule. Es muß aud die Geographie forgfam gepflegt werden. Gs ift nämlich
aud) Durd die Naturwiffenfchaften nidt möglich, in der Grofftadt fern von
Wald und Wiefe Kenntnis der lebendigen Natur gu vermitteln. Aber der
geographifhe Unterricht foll die Beobadtung weden, ebenfo wie der gee
{Hidtlide in die heimifhe Landſchaft Hinausfenden.
Sir Zeichnen und Gefang läßt die Schule Raum genug. Endlich muß ein
leßtes den Menfden vollenden: Turnen, Spiel, Rudern, Wandern. Das gibt
die Bollendung der Form, den rechten Stil.
Allerdings, diefe Schulform bedarf immer, und gwar unbedingt für den
Sefdhidts- und Religionsunterricht, in einzelnen Vertretern aud der Mature
wiffenfhaften Männer, die felbft die griechifch-Iateinifhe Schulung durchge»
madt haben.
Und Hier fehe ich prattifd eine Frage nod ungelöft: Zum theologifden,
biftorifhen und meiner Meinung nah — aud zum germaniftiihen Studium
gibt die Oberrealfdule feine Borbereitung. Der Gymnafien werden weniger.
284
Mander zu jenen Studien Berufene und Geeignete gerät auf die Ober-
realfdule. Wie forgen wir, daß mir die organifhe Weiterentwidlung Der
Geifteswiffenfdaften felbft nicht bedrohen? Walther Slafjen.
Seele als biologifher Begriff.
n das eigene Geelenleben hat der Menfch geblidt, folange und foweit er
zum Nachdenken über fic felber gefommen ift. Man könnte meinen, daß
wir über die menf{ lide Geelenfunde längft im flaren fein müßten. Und
dod treten immer wieder neue Richtungen in der Piychologie auf. Heute
berrfcht, gefördert dur) die „ezalten“, das heißt meffenden und zählenden
Naturwiffenfchaften, die „Szperimental-PBiyhologie* por. Aber Meffen und
gählen Tann uns wohl eine genauere Kenntnis der phyſiologiſchen Erſchei—
nungen unferes Vervenſyſtems bieten, an dem das individuelle Geelenleben
baftet, aber feinen Ginblid in das Wefen der Seele felber, an der nichts zu
mefjen und zu zäblen ift, weil Raum und Zeit erft dur das Erleben
bon außen an fie Derantritt.
Einen Einblid gibt nur die innere Gelbftbeobadtung. Da tritt nun ein
unzünftiger Piychologe, Dr. Ludwig Klages, auf den Plan mit der Bee
hauptung, daß die herkömmliche Geelenfunde „Seele“ mit ,,Geift* verwechjelt
und, weil nur die Seele wirflides Dafein habe, nur mit Giltionen, willfür-
lihen Annahmen, arbeite, die, durch uralte UWeberlieferung gebeiligt, als be—
ftebende Satfachen gelten. Diefe in feinem Bude „Bom kosmogoni—
[den Gros?) in fünftlerifher Darftellung, anfniipfend an die Erforfchung
des tieferen Ginnes alter Kulte, gegebenen Anjichten entwidelt er in wiſſen—
ſchaftlicher Gorm in feinem Werke „Bom Wefendes Bemwußtfeins“?)
Klages fagt bon den metaphyſiſchen Denfern: „Nachdem fie erft einmal die
Wirklichkeit gu einer Art Widerfchein des Geiftes verflüchtigt, blieb es nicht
aus, daß fie, fid auf die Seele befinnend, ftatt ihrer nur das Bewußt-
fein fanden und fich forthin erſchöpften an der Hoffnungslofen, um nicht zu
fagen wahnhaften Aufgabe, aus dem Bewuftfein herauszufpinnen aud deffen
Grmöglihungsgrund: das Grleben!* — Rages wendet fi fdarf gegen
den Ideologismus, der die Welt als bloße Borftellung auffaft: „Sin anderes
ift Das Wahrnehmen und wieder ein anderes das Borftellen, Sichvergegen-
wärtigen, Darandenten.“ Gs gibt Trugwahrnehmungen und Halluzinationen;
„aber nod nie hat jemand fein Wahrnehmen mit feinem Borftellen verwechjelt“.
„Würde Borgeftelltes fic ftets augenblidlid verwirklichen, fo müßten
wir nidts bon einer Tätigkeit des Gorftellens; und erfdiene uns Wahrge-
nommenes wie etwas Borgeftelltes, fo wiederum nichts bon der Wirklid-
feit.* — Bei der Grorterung des ,,Grlebens“ folgert Klages aus der Tatjache,
Daf wir 3. B. Farbe nicht in unferem Ropfe wahrnehmen, fondern außerhalb
unfer, daß das Grleben nicht in gegenftändifhen Körperporgängen, Mole-
fularbewegungen im Gebnerben, beftehen Tann: „Der Begriff der Rote
ift allerdings ein Geiftesergeugnis; aber er meint eine Wirklichkeit, die weder
bom Geift erzeugt, noch jemals bon ibm gedanflid) durchdrungen wird.“
Ohne DBeifa eines Erlebnisftoffes gibt der Geift (der Berftand) unmittelbar
nur den in jedem Begriff mwiederfehrenden Gedanfen der Ginbheit des
bon ibm gemeinten und, da die Sebung der Ginbeit ſich wiederholt, mittelbar
1) Berlag Georg Müller, Münden 1922.
) Berlag Sob. Ambrofius Barth, Leipzig 1921. Preis geb. Mi. 4—.
285
aud den Begriff der Zahl. Ding und Ginneserlebnis ift nicht dasfelbe.
Denn das Ginneserlebnis fließt und verändert fid in jedem Augenblid, Tann
alfo nit die Ginheit bes Dinges begründen: „Keine Aneinanderreihung
bon Glementen des Gindruds würde die Ginerleibeit des Dinges erwirfen,
hätte ein erfter und einziger Blid nur nicht fdon „gegeben“ jene feiende Ging,
in Anſehung deren alles Bergleihen (wie Unterfcheiden) allererft einen Sinn
befommt.“
Der WAuffaffungsatt des Dinges gehört nicht der Welt des Gefchehens
an, fondern bedeutet eine in der Zeitftelle erfolgende geiftige Sat. Klages jagt
mit Nieblde: „Wir haben Einheiten nötig, um rechnen zu können: deshalb ift
nidt anzunehmen, daß es folde Einheiten gibt. Wir haben den Begriff
der Ginbeit entlehnt von unferem Ichbegriff ... Wenn wir nidt uns für
Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff ,Ding* gebildet.* — Das Ich—
gefühl aber ift lediglich das Gefühl des Borhandenfeins und des Bebarrena
im Seitverlauf. Gs behauptet fih gegen die Widerfahrniffe der
Semütsbewegungen und gibt uns damit das Mufter des Wirkungspermögens
der Dinge und damit der „Urfahe“ und der „Kraft“.
Diefe pon Klages mit beiwunderungswürdiger Schärfe gezeichneten Gee
danfengänge entfprechen durchaus dem, was ich in meiner „Allgemeinen
Biologie als Örundlage für MWeltanfhauung, Lebensführung und Po—
litif“ *) in der Einleitung unter „Mechanifches und biologifches Denken“ und
im Abfchnitt „Leben und Befeelung* bom biologifchen Standpunkte ausge»
führt Habe. Bei dem Ietterwähnten Punkte möchte ich aber fcheiden: Das
36, dur die Sinneswahrnehmung mittels der zentripetalen Nerven erregt,
empfindet fid) den Dingen gegenüber als Objeft und die Dinge als „Ur«-
fade“ der eigenen Gmpfindungen. Mittels der zentrifugalen Nerven auf bie
Muskeln einwirtend, empfindet es fid als Subjekt, als Urfache oder diel-
mehr als frei beftimmender Urbeber und damit als Träger einer der
äußeren mechanifhen gegenüber final wirkenden „Kraft“, deren Ziel
immer die Selbftbehbauptung ift. Die Denkformen der Kaufalität
wie der Ginalitat wendet der Geift dann aud auf die Dinge unter fih am.
Daher hat „Sinalität* nur Sinn als „Zwedhaftigfeit“ und ift nur anwendbar
auf das Leben, in dem „Indipidualität* gugleid) Selbftzwed ift. Indie»
pidualität, Wefenseinheit, ijt eine feelifme Wirklichkeit, nämlich der
Wirfungsbereidh der Zwedhaftigfeit; im Unleben gibt es nur
Dinghaftigfeit als mögliherweife porauszufebendes Ergebnis phy-
fiider Kräfte Die Ridtung diefer Kraftwirfungen auf ein beftimmtes
Ergebnis, etwa die Bildung eines Kriftalles aus einer verdampfenden Ldjung,
die Abtragung eines Gebirges dur den Kreislauf des Waffers oder nod
allgemeiner die Gntropie, ift feine Finalität, fondern nur umgefehrte, bon der
Urſache, ftatt bon der Wirkung aus betradtete Kaufalität. Und der ich—
bewußte Geiſt oder das Denkvermögen ift nur ein formales Mittel oder eine
Sabigteit der Seele, um das Grlebnis mit rafcherer und genauer eingeftellter
Gegenwirfung zu ermwidern, wie es insbefondere im Gefellfdaftsleben des
Menſchen gegenüber dem gemadlider ji abmwidelnden Naturleben nötig
geworden ift. :
Durd diefe Fähigkeit ift die Seele in den Stand gefest, fich felber zu
beobadten. Die phyſiologiſche Unterfuhung läßt feinen Zweifel, daß das
förperlihe Organ diefer ſeeliſchen Zätigfeit das Großhirn ift, deffen Nerven-
3) Berlag I. 5. Lehmann, Münden 1919. Preis ME. 4.50.
286
verbindungen mit ben übrigen Hirnteilen deren Zuftand, feelifch gedeutet,
gum Demwußtfein bringen, wie Die Sinnesnerven den YZuftand der durd die
Borgänge ber Außenwelt beeindrudten Sinnesorgane. Wie die Borgange
in den Ginnegorganen nidt als Molefularbewegungen aufgefaßt erden,
fondern in der feelifhen Form der Farben, Töne, Geriide ufw., fo gefchieht
es auch mit den zum Bemwußtfein fommenden Borgängen im Gebirn, woe
bei wir fie als Begriffe und Urteile, Gefühle und Wollungen unterjcheiden.
Suridfebrend zu Klages bemerfe id, daß ich bei ibm die Betonung
der Ginalitat in dem bier gedachten Sinne bei der Seelentätigleit permiffe.
Wenn Klages die Seele den Ginn Des Lebens nennt, fo ift das dasjelbe,
was id als den Lebensplan bes Naturwefens bezeichne. Aud ich
febe den ichbewußten Geift nur als einen an fic leeren Spiegel an.
Klages jagt in einer Anmerkung zu feinem „Rosmogonifhen Gros“: „Man
verfolge die Geſchichte des Geiftes und insbefondere der Wiffenfhaft durch
alle Zeiten und Bölfer; oder man denfe aud nur ein Problem zu Gnde, fo
wie es uns die fpätefte Wiffenfchaft, diejenige bon Heute, darlegt: etwa, was
ift der Stoff, was die Kraft, was die Außenwelt, was die Seele ujiw., und
man endet zulegt unweigerlich beim abfoluten Nichts. Alle Richtungen des
Srfenntnistriebes fonbergieren auf das Nidts, das ift auf die Projektion
des aktiven Nichts, des Beiftes.“ — Die Seele aber lebt und fie ere
ſcheint in der Wirklichkeit der fid wandelnden Bilder, die wir als ihren
einzigen Inhalt an ung felber wahrnehmen. Wenn Klages aber beifpiels-
weife fagt: „Sarbe, Wärme, Raumeigenfdaften ufw. taugen nur deshalb
zur Befdreibung befeelter Perſönlichkeiten, weil fie felber befeelt
find“, fo fdeint mir diefe Ausdrudsweife weniger treffend, als wenn wir
etwa fagen: „weil fie Wefenszüge der Seele find“.
Der bewußte Zeil bes Geelenlebens, der als ,,Bernunft* oder „Beilt“
bezeichnet zu werden pflegt, bedeutet die bom Menſchen im Rulturleben
erworbene Fähigkeit, bie Bilder des Grlebens, die den Inhalt der Seele ause
machen, mit Merkzeihen (dem gefprochenen oder gefhriebenen Wort) gu ver
feben, die als „Begriffe“ gemeinfam-wefentlide Züge verfchiedener Bilder
bedeuten, ohne daß die Begriffe felber als DBilder er-
[meinen und eigenes Leben gewinnen, mie bas die Ideen»
Iehre Platos fälfhlih annimmt. Die Begriffe werden im „mechanifhen
(logifhen) Denfen“ in den eingewöhnten Beziehungen angewandt, ohne daß
fie dabei irgendweldhen anfdauliden Inhalt hätten. Diefen erhalten fie
erft, wenn man im „Denken“ eine Baufe madt und Bilder der Seele gue
tiidruft, die zu ihrer „Ableitung“ im eigenen Erleben den Anlaß gaben.
Dazu Hat man aber im gewöhnlichen Leben feine Beit. Der Philoſoph, oder
wer ihm folgt, muß fie fid nehmen, fonft madt oder hört er aud nur
Worte. Die Vertiefung des Denfens befteht darin, daß die Geele Die
Bilder raſch und vollftändig auffaßt, fider fefthalt und leicht wieder vere
gegenmwärtigt.
Auf den Fortgang des Lebens kommend, fagt Klages: „Wenn
weder das Gigenwefen erhalten bleibt, nod) aud ber Stoff, aus dem es
befteht, was ift es denn eigentlich, das durch Abertaufend bon Geſchlechtern
ununterbroden bindurhreiht? — Die einzig möglide Antwort lautet: ein
Bild! Das Bild der Eiche, das Bed Der Föhre, das Bild des Fiſches, das
Bild des Hundes, das Bild des Menſchen fehrt in jedem einzelnen Trager der
©attung wieder.“ — Das ift dasfelbe, was ih den „Qebensplan der
®attung genannt habe, Der bor und über feiner indipiduellen
287
Berwirklichung ftebt. „Sortpflanzung“, fagt Klages, „heißt der phyfi-
Talifch ewig unzugängliche Borgang der Weitergabe der Urbilder der Gattung
bon Ort zu Ort und bon Zeit gu Zeit. Niht die Materie lebt, fone
dern das im Kreislauf des Geſchehens von Körper zu
Körper wandernde Bild“
Damit fommen wir auf die binlogifme Auffaffung der Seele,
über die wir nun einen Gadbivlogen zu Rate ziehen wollen. In feinem Buche
bom „Begriff der organifmen Form), das er als eine furge,
möglihft einbeitlide Darlegung feiner Gefamtanfidt bon, der ,organifden
Gorm bezeichnet, ftellt Profeffor Hans Driefd, ausgehend von einer
Iogifhen Grirterung des Begriffs der Gorm überhaupt, den Sag auf, daß,
wenn aud) der Organismus als „ein Shftem materieller Lebtteile (Atome)*
aufgufaffen ift, „oon denen jeder einzelne in jedem Zeitpunkt eine durch drei
Raumesfoordinaten beftimmte Lage einnimmt“, er dod nicht als „mechaniſches“
Spftem gefaßt werden fonne. Denn er unterläßt es, mit ausdrüdlich be-
tonter Abficht, die Worte hinzuzufügen: „und in welchem Die Aenderung
(Bewegung) jedes Lebtteils, abgefehen bon der Geſchwindigkeit in jedem Zeit-
puntt, Iediglid bon den Raumeskoordinaten der übrigen Legiteile abhängt“.
Sn dem Beweis für die Wirkfamfeit eines nidtmedanifden Faktors vermeidet
er jede pſychologiſche Ausdrudsweife. Gr jagt, daß „die Teile der organifhen
Gorm Funftionspermögen befigen“, aber nicht, daß fie „da feien für Die
Sunftionen“, und ftellt feft, daß alle „Angepaßtbeiten“ im Wege ber reinen
Embryologie entftanden find, unbefimmert um das Medium. Die Bore
gänge, die zu ihnen führten, feien alfo nicht „Anpafjungs“-DBorgänge: „Die
organifhe Form als dynamiſche Gorm inmitten des abfoluten und rela
tiben Mediums ift eine Gorm mit, fowohl der Gonderausgeftaltung als aud
den Gunftionen nad, gangbeitserbaltendDen Bermögen.“ Aber
mehr als das, muß nad Driefh aud ein Vermögen, neue Gangbeiten zu
bilden, bon vornherein Dem Leben gugefproden werden: Sede organifde
Gorm innerhalb der phbhHlogenetifhen Kontinuität „trägt in fid gleidjam
eine Anweifung auf alle diejenigen mutatid anders geftalteten Gormen in
der Kette der Nachkommenſchaft, welde einmal im Laufe der PhHlogenefe
als echte Mutationen entftehen werden.“
Sd fann Driefh in diefer Auffaffung nidt gang folgen. Wenn fdor
die tatfählihen Wandlungen in der Gefdidte des Lebens auf der Erde
Dafür fpredhen, daß die Fähigkeit fpäterer Wandlung im voraus beftimmt,
alfo aud befchränft ift, fo bleibt doch für die Anwendung diefer Fähigkeit
zur Gntjtehung einer neuen Gorm die Möglichkeit der Wahl zwifchen ver»
ſchiedenen Fähigkeiten, wie aud die Möglichkeit, fie nicht anzuwenden, wie
denn viele organifhe Formen durd lange Zeiträume fic) unverändert ere
balten haben, wenn bie Umwelt, oder, mit Driefd gu reden, das „Medium“
feine der Erhaltung ungünftige Wandlungen aufwies, während andere, mit ihnen
aufammenlebende Formen fid nah verfhiedenen Ridtungen abwan-
delten. Hier bleibt alfo Spielraum für die „Freiheit“ und damit für Die
pſychiſtiſche Auffaffung des Organismus, der aud nad Driefd ,,Gigen-
fbaften im Sinne bon Vermögen und Potengen Hat, weldhe nicht Reful-
tanten.... ber Gigenfdaften der Relativteile find.“ Driefd leitet diefe
Gigenfdaften aug einem unraumbaften Faktor ab, der den zureichenden Grund
für die Gntwidlung abgibt, und nennt ibn ,Gnteledie*. Gr nennt ihn
4) Berlag Gebr. Borntrager, Berlin 1919. We 3.—.
288
nicht. „Seele“, weil er diefen Begriff für die „Eonftitutiv-logifche Erfaſſung
bon Natur“ ablehnt. Deshalb vermeidet er aud) das Wort „zwedmäßig“
für gangbeitsbegogene Zeile oder Yuftände und „zielftrebig* (teleologijch)
für gangbeitsbegogene Vorgänge.
Da aber Driejd die Einheit des Gefamtlebens anerfennt, müßte er
folgerichtig das ganze Geelenleben des Menſchen als Auswirkung der „Ente—
lehie* annehmen. Dann ware freilich nicht eingufeben, warum er nicht ein-
fad ftatt Entelechie „Seele“ fagt, da er doch die Gntelechie als dag Wirf-
lide anerfennt, „das fid an materieller Ausprägung der Perfonen, welche
poneinander abftammen, realifiert“, wenn es nidt etwa der Widerfprud
gegen die berrfchende Auffafjung bon „Seele“ als individuell gefonderter
unmaterieller Gubftang ift. Dazu fehlt aber der Anlaß, wenn wir
erfannt haben, daß das Bewußtwerden der auf die eigene Ganzheit
gerichteten Sielftrebigfeit der eigenen Seele an deren Wefenheit nichts ändert.
Und wenn nad Drieſch „Das fidtbar Geformte mit allen feinen Sonder-
potengen“, alfo aud) den individuell feelifchen, „nur das vergänglide Wire
tungsproduft der Gnteledie als der eigentliden Subftanz in die Wirklid-
feit hinein“ ift, fo ift die Gingelfeele nur die inbividualifierte Enteledie, die
für das eigen? Leben in gleihem Sinne richtunggebend für die phyſiſchen
Kräfte felbftändig weiter wirft. Gnteledhie wäre alfo „Urſeele“ oder
„Allfeele*.
Gs ift das Wefen des Geelifchen, Individualität (Wefenseinheit oder
Gangbeit) zu geftalten, wie im Gefamtleben der Natur, fo aud) im ein-
zelnen Menfchen, mag es fih nun um geiftiges Schaffen handeln, bon der
Bildung der Begriffe an bis zur Kunft und Wiffenfchaft, oder um Körper-
liches bei der Geftaltung der einfadften Gerdte wie der gufammengefesteften
Mafdinen. Aber es ift der Grundfebler der Piychologie, deswegen „Seele“
als unförperlihes Ginzelweſen aufzufafjen. Alle großen Gorfder, Gre
finder oder Künftler find fic) bewußt, die Ideen ihrer Werke nicht aus fich
gefdaffen, fondern in fid gefunden zu haben. — Wenn wir aber mit
Klages die idbewufte Bernunft nur als ein mechaniſches Hilfsmittel des
Geelenlebens betrachten und dies nad den Grgebniffen der Bererbungsfor-
{hung als brudjtiidweife bon den Borfabren überfommen erkennen, unbee
fbadet der „Ganzheit“, zu der fie fi im Ginzelwefen vereinigen, fo ift
im ®runde nit mehr die Bndividualfeele, fondern die
Gattungsfeele und das überindipviduelle Geelenleben
iberbaupt der eigentlide Segenftand der Pſychologie, die
Damit iberibre formale Natur binausfommt und zur bio—
logiſchen Forſchung wird.
Denn die allen biologiſchen Tatſachen widerſprechende, aber gleichwohl
vorherrſchende Auffaſſung iſt nicht mehr haltbar, daß die Individualſeele als
für ſich beſtehende ſeeliſche Weſenheit mittels des Nervenſyſtems die körper—
lichen Verrichtungen zu leiten habe. Dieſe werden vielmehr durch die
gattungsmäßig organiſierte Zuſammenarbeit aller Zellen ſeeliſch beſtimmt. Die
harmoniſche und zweckhafte Zuſammenarbeit iſt da, auch wenn es bei den
Organismen, Pflanzen und niederen Tieren, noch keine Nerven gibt. Dieſe
ermöglichen nur, wo ſie auftreten, eine beſchleunigte Reizübertragung, ſozu—
ſagen „Verſtändigung“ unter den Zellen, ſo daß in den vermittelnden Hirn—
zellen raſcher zum Ausdruck kommt, was das einzelne Erlebnis dem Ge—
ſamtweſen bedeutet. Wenn mit dem Großhirn das Bewußtſein erwacht iſt,
wird dadurch der Individualſeele ermöglicht, in den Vorgang der Gegenwir—
289
fung zügelnd einzugreifen. Deſſen feeliiher Antrieb liegt im Urgrund
bes unbewußten, durch die Generationen zufammenhängenden Seelenlebens. —
So ift aud das Gebirn nit der Sit der Seele, fondern nur ein Organ
des Körpers, mittels dDeffen die Sattungsfeele indipiduali-
fierte Reaktionen berpvorbringt.
Das Geelenleben der Tiere als Borftufe des menjchlihen gewinnt mit
diefer Grfenntnis eine befondere Bedeutung, weil bei den Sieren das indi-
biduelle Seelenleben noch mehr als beim Menſchen gattungsmäßig beftimmt
if. Damit ift nicht gejagt, daß fie weniger befeelt wären. Alle Lebeweſen
find vielmehr in gleihdem Maße befeelt, das heißt für die befondere
Stelle, die fie im Gefamtleben ausfüllen, pvollflommen organifiert. —
Wenn neuerdings Prof. Dr. Baftian Schmid in den „Abhandlungen
zur tbeoretifhen Biologie“ bon den „Aufgaben der Tierpſhcho—
Iogie“ redet°), fo fucdt er fie allerdings Teineswegs in diefer Richtung. Er
tadelt vielmehr in der heutigen Pſychologie, daß fie ein „feelifches Subftrat“
ablehnt. Trotz grundfäglicher Anerkennung „pfuhifcher Realitäten“ im Tier,
verwirft er Dod den Anthropomorphismus als unwiffenfchaftlihe Voreinge—
nommenbeit und redet von dem „Zurüdtreten des Pſychiſchen in abfteigender
Linie bis herunter zu den Protogoen“. Das ift nur folgerichtig, wenn er
„Seele“ nur als Sndividualfeele fennt und der Des Menfden eine befondere
Stellung vorbehält. Diefe Hat er allerdings dur die Ausbildung feiner
Laut» und Scriftfprahe gewonnen, die der Weberlieferung für fein
Leben und feine geiftige Gntwidlung neben der Bererbung eine erhöhte Bee
Deutung verleiht; aus der Naturgefeglidfeit bes Gefamtlebens ift er aber damit
nidt herausgehoben. Wer die Ginheit bes Gefamilebens anerfennt, muß
das Geelenleben der Tiere, aus dem fid Doch das menfdlide herausgebildet
bat, grundfägßli als gleidartig annehmen. Aud der Menfh verſtändigt
fih übrigens mit feinesgleiden nidt nur durd die Sprade und fann in
einfadhen Gallen aud) ohne fie ausfommen. Mit der menfdliden Sprade
als dem Ausdrud ,,begriffliden Denkens“ laffen fid im der Seele anderer
bedeutungspolle Züge der „Bilder“ herporrufen, die den Inhalt der eigenen
Seele. darjtellen, aber nur indirekt die daran fid) fnüpfenden Gefühle und
Wollungen, die erft der Berbildlidung bedürfen, um überhaupt ausgedrüdt
werden zu fdnnen. Die Biere verftändigen fid darüber in viel einfaderer
Weiſe durh Beachtung der fSrperliden Begleite und Folgeerfheinungen
der feelifchen Zuftände, in den „Ausdrudsbewegungen“ bei den „Augen-
tieren“, in den chemifhen Wmfegungen bei den „Nafentieren“. Der Kultur-
menfd hat die Fähigkeit zu diefer Art der DVerftändigung durch einfeitige
Bevorzugung der Sprade immer mehr verloren und damit an Lebensfabig-
feit ebenfopiel eingebüßt, wie er auf der anderen Seite Durch Die Sprade ge-
iwennen bat, die eine notwendige Anpaffung an das Gefelljdaftsleben ift:
Dei allen Lebewefen geben ihre Fähigkeiten nit über
die Notwendigfeiten ihrer Erhaltung hinaus. Das verlangt
das urfeelifch bedingte „biologifhe Sleihgewiht“ des Gefamtlebens.
Hermann Suftad Holle.
5) Berlag Gebr. Borntrager, Berlin 1921. ME. 1.50.
290
Heinrich Sohnreh als Srgabler.
1.
urd) die ganze deutſche Kunft zieht fid ein eigentümlih „volkskundliches“
Ontereffe, eine Freude an der Darftellung des in beftimmten Sitten und
Brauden Hinlebenden Menfdhen. Gs ift ein Zug zum „Ständifhen“. Die
Bejdreibungen des ftändifhen Bolfslebens find bei ung, die wir uns ja feit
Alters das „Deutfche“, d. 5. pollsmäßige Volk nennen, ungeheuer reid. Diefe
Dorliebe für das im Riehlſchen Sinne „Soziale“ ift mit dem Grwaden des
Realismus in der bildenden Kunft vorhanden: man findet es auf den Bild-
tafeln der jpätgotifchen Schnitaltäre, bei dem Hausbudmeifter, bei Dürer,
Hans DBaldung, {pater bei den Niederländern. Ghenfo fteden die alten Lane
derbejchreibungen, Chroniken, Abhandlungen aller Art voller „Volkskunde“.
Aud der deutſche Noman wmeift gleich bei feiner Entftehung diefen Zug auf:
Grimmelshaufens Simplizifjimus wirft faft wie eine große DBolfsdarftellung.
Diefes Bolfs- und Grönahe, das fid mit Worten nicht ausdrüden läßt, ift
wie der Gerud alter, durch Generationen bewohnter Stuben, es gibt der deut-
[hen Literatur weithin einen eigentiimliden Charafter.
Nidt mit dem Humanismus, aber mit der Aufflärung, mit dem Grane
gofentum und ©riechentum tritt jener Charakter zurüd, doch dringt er bon
Zeit zu Beit immer wieder bor. Die Sphäre diefes „volfhaften“ Gerudes in
unfrer Literatur aufzuzeigen, wäre eine ſchöne Aufgabe, die freilich eine feine
Witterung für das Golfedte, insbefondere auch für Stammescharaftere er—
fordert.
Die fonferdativ-fogialen „volkhaften“ Kräfte offenbaren fid auch in jener
„Richtung“ unfrer zeitgenöffifchen Literatur, die man als „Heimatkunft“ (Adolf
Bartels) zu bezeichnen pflegt. Sie ift fogial nicht im Sinne des Sozialismus,
fondern in einem tieferen Sinne: fie geht auf die gewachfenen Lebensgemein-
ſchaften der Sippe, des Standes, des Stammes. Gs ftedt in diefer Literatur
eine fogiale Grfenntnis, die der wiffenfdaftliden Mationaldfonomie zu ihrem
und des Bolfes Schaden meift fremd geblieben ift.
Bei feinem ift dieſe Berbindung bon Didtung, Bolfstum, Bolfsfunde
und fogialer Teilnahme (Luther driidt eine folde Teilnahme mit den Worten
aus: „es jammerte ihn des Volkes“) inniger als bei Heinrich Sohnrey. Er
ift Das, was wir einen „Bollsmann“ zu nennen pflegen: jelbft aus dem ,,Bolfe*
fommend arbeitete er in unermüdlidher Tätigkeit bis bor wenigen Jahren für
den DBauernftand, nod fpridt und erzählt er für die Bauern und bon den
Bauern. Seine Gefdidten find Schatzkammern der Bolfsfunde, und die
Kunft feiner Erzählung felbft ift in ihren Mitteln fo urecht ſchlicht und eine
dringlid, fo zart und wieder fo maffid, wie fie eben nur bei einem Dichter
fein fann, der felbft, troß feiner „Indipidualität“, noch unerſchöpfte Volkhaf—
tigfeit in fi hat. Schon der Menſch Sohnrey in feiner Grfdeinung ift ein
Stüd Volksnatur. Seine gelehrte ftädtifhe Bildung bat die Arwüchjigfeit
und Unbefangenbeit feiner Natur nicht gebrochen. In feiner Geſellſchaft er»
gebt es uns, wie es unter echten Bauern und Handwerkern zu gehn pflegt: man
wird warm, das Herz geht einem auf. Mit ihm fann man nod „ein Herz
und eine Seele“ fein. Gr hat nod die alte Kraft der Gemeinfdaft.
2
Heinrich Sohnrey wurde am 19. Suni 1859 als Sonntagsfind in IJühnde
bei ©öttingen, alfo im füdlichen Zeile Niederjachfens, geboren. Gr wuchs „in
291
Heinen DBerbältniffen* auf und mußte bon Kindheit an Feldarbeit tun.
Dem Paftor fiel er durch feine große Bibelfenntnis auf. (Sonft war er fein
Licht der Schule, nur die Gefdidten der Bibel Hatten es feiner Phantafie
angetan.) Auf des Paftors Veranlaſſung fam er nad der Ginfegnung in
eine PBräparandenanjtalt (Ahlden an der Aller). Als Giebgehnjabriger ging
er ins Lehrerjeminar zu Hannover. Was eigentlich zum Lehrer-werden gee
bört, intereffierte ihn nicht, wie ibm denn auch fpäter das Lehramt eine leis
dige aft war. Aber ſchon als geplagter, ſchlecht behandelter Seminarift
ſchrieb er Gedichte und Erzählungen. Bon 1879 bis 1885 war er Lehrer in
Nienhagen im Kreije Northeim. Dort fammelte er Sagen und Bolfslieder
und ſchrieb feinen erften Roman: „Hütte und Schloß.“ Dann nahm er einen
zweijährigen Urlaub und ftudierte in Göttingen Philoſophie und Geſchichte.
In Gottingen vollendete er fein 1886 erfdienenes „Sriedefindhen“. Auf Wunſch
feiner Mutter verſuchte er es nochmals mit dem Lehramt, und gwar in einem
entlegenen Dorfe im Kreife Gronau, bis 1888, Da fdrieb er wiederum einen
Dorfroman: „Verſchworen — verloren“ (jet lautet der Titel: „Bhilipp Du-
benfropps Heimkehr“). Endlich befreite er fi bom Amt und wagte es, mit
Grau und Kindern als freier Schriftfteller zu leben, in Northeim. Bon 1890
bis 1894 war er Redakteur an der „Freiburger Yeitung“ in Freiburg im
Dreisgau. Bon dort aus gründete er die Heute nod bejtehende Zeitjchrift
„Das Land“, die zuerft im Januar 1893 in Berlin berausfam. Bald fie-
delte er felbjt nach Berlin über und begann bier feine befannte foziale und
kulturelle Arbeit, die unendlich viel Segen ins Land gebradt hat. Wie man-
den Gedanken, der heute weithin Gemeingut geworden ift, hat er durchge-
fampft! Minifterialdireftor Dr. Thiel förderte feine Beftrebungen. Wan
gründete 1903 den befannten „Deutſchen Berein für landlidhe Wohlfahrts-
und Heimatpflege*. Neben diefer Wohlfahrts- und Kulturarbeit hat Sohn-
teh immer aud) Gefdidten gejärieben, wenngleich viele literarijhe Pläne
unausgeführt bleiben mußten.
3.
In dem Eritlingswerf „Hütte und Schloß“ überfteigt das Wollen nod
Das Können. Die Anlage ift groß: das joziale Gemälde der Oefonomifierung
und $Proletarijierung eines Dorfes. Scharf ijt Licht und Schatten verteilt,
{arf wie in Reuters „Kein Hüfung“. Aber die Gefchichte endet, obwohl fie
bis in die heftigſte Dramatik gefteigert wird, verjöhnlid: der Wohlfahrts-
und Heimatsgedanfe findet in einer grafliden Familie Boden, fie arbeitet
der Proletarijierung, Die bei den „Eleinen Leuten“ mit der Aufhebung der
dörfliden Semeinbheitsredte einjegte, entgegen und erhält den Bedrangten
SHeimat und Lebensfreude. Um der fogialen Grfenntnis willen ift diefe Gee
{bidte nod immer lejenswert. Darum ift es gut, daß Sohnrey das Werk
{pater, ohne es in der Anlage gu verändern, überarbeitet bat, bejonders
ſprachlich.
Mit „Friedeſinchens Lebenslauf“ erreicht Gobhnreh ſogleich einen Höhe—
punft feines Schaffens. Inhaltlich ift die Erzählung von Friedeſinchens Sue
gend eine Art Vorgeſchichte zu „Hütte und Schloß“, aber fie ift dod ein in
fih gefchlojfenes Meifterwerf. So oft id das „FZriedefinhen“ gelejen Habe,
es ijt mir immer lieber geworden. Diefes arme Dorfmädchen und Dienft-
mädchen, das bei aller Weichheit fo lebensftark ift, gehört zu den rührendften
Geftalten, die überhaupt gefdaffen wurden. Wie ein Menſch diefes Bud
aufnimmt, das ijt geradezu eine Herzensprobe. Obne „Kunft“ ift bier ein
292
Kunftwerf rein aus dem armen, Dergliden ®emüt Sohnreys entjtanden,
das dauern wird. Die arme, leidende Kreatur, die doch fo voll gefaßter,
ftiller Tapferkeit ijt, ftebt in einer Lebensjelbftverftändlichkeit vor uns, daß man
fie atmen bört und den fonntagliden Duft ihres Weſens ſpürt. Das ift
mehr als Kunft, es ift Liebe und Ehrfurcht.
Mit „Philipp Oubentropps Heimkehr“ verläßt Sohnreh feine engfte Hei—
mat und erzählt ung -eine Dorfgefdhidte aus dem MWeferberglande. Das
Golfstundlide tritt hier fehr ftarf hervor: Pfingftbier und Spinnftube. Gin
tüchtiger, ſchlichter Burſche findet einen Rivalen an einem bösartigen, aber
überlegenen Kameraden und gerät jchließlich unter deffen Einfluß. Gr wird in
eine Mordgeſchichte verwidelt und fommt um des dbermeintliden Freundes
willen ins Zuchthaus. Die Gefdidte ſchließt verſöhnlich mit der „Heimkehr“.
©emaltiger ift „Der DBruderbof“, der zweite Höhepunkt in Sohnreys
Schaffen. Zwei Brüder ringen nach des Gaters Tode um den armjeligen Hof,
auf Bauernweije mit Bauernleidenfdaft. Der ältere ift wie eine ftruppige
SHainbude, der jüngere wie eine glatte Rotbuche. Der „weltjinnige“ Zün-
gere gewinnt dem innerlich ftarf gebemmten Qelteren Hof und Braut ab.
Der Betrogene verfommt, aber der Betrüger fümmert aud im Elend Hin.
Die Tragif ijt bis auf die duferfte, erbarmungslofe Spike getrieben. Das
Werk ift wie ein alter ftrenger Holgfdnitt, der mit wenigen einfaden Linien
auf engem Raume eine Welt darftellt. Gs gibt nur wenige Bauernromane
bon folder Schtheit, man riecht hier geradezu das Bauerntum.
Im Sabre 1911 gab Sohnrey heraus: ,,Grete Lenz, ein Berliner Mädchen.
Erlebniſſe, bon ihr felbft erzählt.“ Gine ländliche, heruntergefommene Ga-
milie zieht nach Berlin; der Gater, ein Srinfer, verfommt. Die lebenszähe,
tapfere Tochter ringt fic aus aller Trübfal und durch den häßlichſten Sumpf
ftarE und fauber empor. Der Lefer ift nicht fider, wieviel Anteil Sohnrey,
wieviel die Grgablerin felbft — „ich verfichere, daß bier nur wirklide Lebens-
gefhichte erzählt wurde“ — an dem Werfe bat. Hier und da empfindet
man Längen. Nimmt man das Werk bon der fogialen und volkspſychologiſchen
Seite, fo wird man biel daraus lernen.
Dagegen ift der lebte Roman „Pie Lebendigen und die Toten“ (1913)
ein fehr bewußt aufgebautes Kunftwerf. Gobnreh ftellt fchärffte Gegenſätze
gegeneinander: Wiffenfdaft und Proteftantismus bier, volfSmafigenaiver
Katholizismus dort, Deutfchtum bier, Polentum dort, innere Freiheit bier,
dumpfe abergläubifche Befangenbeit dort. Beide Welten ringen miteinander:
die düftere, tiefe, urwüchfige mit der Hellen, aber gerade durch ihre Bewuft-
beit ebenfalls befdrantten. Gin quälendes Hin und Her, das tragifch endet.
Die Gefdidte fpielt an der Oftfee, wo Deutſche und Polen nebeneinander
wohnen. Außer feinen, bewußten Meeres- und Strandftimmungen enthält
fie febr viel Golfsfundlidhes, und gwar aus einer ganz primitiven Schicht.
BOwifden den größeren Werfen hat Sobnreh viele Skizzen und Heine Gee
ſchichten gefchrieben, fie erfhtenen in einigen Bänden unter wiederholt veränder-
ten Siteln (jiehe die Notiz am Schluß). Sie find febr verfdieden an Wert. Gee
legenheitsarbeiten, die in 3ufammenbang mit Sohnreys Kulturarbeit ftehn,
wechjeln mit vortrefflichen Erzählungen. (Aus der Sammlung „Die hinter den
Bergen“ heben wir folgende Stüde hervor: „Als die Oroßmutter fterben
wollte“, „Die Tränen der jungen Bauerswittwe“, „Wie die Dreieichenleute um
ihren Hof famen“.) Gs wäre zu wünfchen, daß die bedeutendften Stüde ein-
mal gefammelt in einem Bande zufammengefaßt würden.
Bon den volfstundliden Berdffentlidungen Sohnreys müffen die 1923
293
erfchienenen „Sollinger* aud als erzählendes Werk gewürdigt werden.
Sohnrey hat bon feinen Lebrerjabren ber den Golling geliebt (auch feine
Grau holte er dorther). Aus dem durd) Iahrzehnte gefammelten Stoff bat
er als erjten Band diefe „Bolksbilder aus dem Gollinger Walde“ (fo lautet
der Untertitel) geftaltet. Gs ift eine leider verfinfende Welt. In furgen Gee
fbidten wird der Lebens- und Sabhreslauf mit feinen Geierlidfeiten darge—
ftellt, dann folgen Bräuche, Sharaktergeftalten, örtliche Scherze, zum Schluß
Spridmwörter und Redensarten. Sobhnreh gibt nidt eine troden aufreihende
» Bolfstunde“, er gibt mit dem Stoff zugleich die Seele. Gs find prächtige
Skizzen in dem Bude.
4
Das Befondere der Sohnreyſchen Kunft hat Hans von Lüpfe in feinen
Ausführungen „über den inneren Zufammenbang des Dichters und des Re-
formators Sohnrey“ unübertrefflich gefenngeidnet. (In dem bon Küd her—
ausgegebenen Geburtstagsbud „Heinrih Sohnrey“. Bor allem Seite 54 ff.)
Sohnrey erzählt „jo einfah und objektiv, als erzähle das Volk felbft
fein Dafein und als erzähle es das wider fic felbft“. Gr „erlebt dieſes
Leben für die, die es leben, d. h. gang in deren eigener Sphäre, er geftaltet
es, ohne fie durch einen frembartigen Ton zu ftören. Gs fdaut fein Zug
aus dem Bilde heraus, fein Blid nad dem SIntereffe des Gebildeten hin.“
Geftalten und Greignijje find echt, ohne Sentimentalität, Herb, ja graufam,
und Doch wieder voll Zartheit. Wie Eommt es, daß aud) der Gebildete durch
diefe Erzählungen gefeffelt wird? Daß er fich nicht Heruntergegogen fühlt?
Das madt weniger die bewußt geftaltende „Kunſt“ — jedes WAefthetentum
liegt Sohnrey weltenfern — als vielmehr die Liebe, in der er mit feiner
DBauernwelt verbunden ift. Gs ,fommt aus dem Herzen“ und darum rührt
es ans Herz.
Die Romane haben alle einen bdramatifhen Bug. Aud das ift edt
bauerlid. Starke Kontrafte, Zufpigung auf einen großen Zufammenftoß bin
liebt das Bolf. (Man denfe an die alten Heldenlieder.) Im „Bruderhbof“
bäuft Sohnrey ſchließlich Greignis auf Greignis, es „kommt alles zufanı-
men,“ als ob es ihm nicht kraß genug werden fünnte — Nerven fennt der
Bauer nicht, je grufeliger, defto beffer. Der Gott der Bauern ift der
wunderbare Helfer, aber er ift auch ein graufamer, radender Gott. Wo eine
faule Stelle ift, fegt er den Teufel gum Bernidtungswerfe an. Wehe dem,
der fein lauteres, feftes Herz bat! Gr muß Dinab. Und wenn der Satan
ihn aud erft in der Todesftunde ereilt, er padt ihn, daß der Stamm fradt
und fplittert. Aber ein Friedeſinchen behält den Sieg. St.
*
Romane: Hütte und Schloß. 4 Mk. Friedeſinchens Lebenslauf 4 ME. Phi—
lipp Dubenfropps Heimkehr. 2 WE. Der Bruderhof. Halbleinen 4, Gangleinen 6,
Halbleder 9 ME. Grete Lenz. 4 ME. Die Lebendigen und die Toten. 4 Mt. Ge =
fammelte Grzgablungen: Fürs Herzbluten. 2 ME. Die binter den Beer
350 Mi Bolfsfundlides: Die Sollinger. Halbleinen 5 ME Gangl. 7 Mt.
— Zu des Didters fünfzigften Geburtstag erfdien, von Prof. Dr. Küd beraus-
gegeben: ,Heinrid) Sohnrey“. 1909. Kart. 1 ME. Darin zwei Bilder Sohnreys und
eine AR { Auffäße über den Mann und fein Werf Dem Auffakh Küds haben
wir die Angaben über Sohnreys Leben entnommen. Alles im Berlag der Deutiden
Landbudbandlung in Berlin.
294
Grlejenes
Aus Heinrid) Sohnrehs Schriften.*
Gott und die Bolter.
ie Gaaten verdurften in fengender Slut,
Die Aeder liegen zerjpalten,
Und weite Länder ſchwimmen in Blut, —
Wo bleibt da das göttlihe Walten?
Sie pred’gen, es wäre des Himmels Born,
Der über die Erde gefommen,
Der Baume und Gaaten ließe verdorrn
And der uns das Liebjte genommen.
D beiliger Himmel, o Herre Gott,
Was finnt id mit allen Qualen,
Mit Sranenbaden, mit Bergen Not
Gir eine Schuld dir bezahlen?
Bift du noch Jehova, der rotes Blut
Gordert zur heiligen Sühne,
Dem unſer Liebftes als Opfergut
On Iodernden Slammen diene? —
Ih wandle ftill durd) das Aebhrenfeld,
Die Seele poll Kummer und Klagen.
Die Sonne wirft Garben Gold in die Welt,
Und zur Grnte rüften die Wagen.
Auflöfen ſich alle Schatten der Nacht,
Ich höre die Lerche wieder,
Und Gottes Stimme ergreift mid mit Macht
Im Jubel der Lerchenlieder:
Ihr tdridten Menfchlein im Grdental,
Ihr werdet mich nimmer begreifen;
Ihr fetid meine Saat und müßt allzumal
In Glut und Blut erft reifen.
Kommt in die Stille der Heimatflur,
Hier findet ihr leife mich wieder:
Alleins ift Gott und Menfdh und Natur,
Alleing wie Haupt und lieder.
Der Lerche gab ich den perlenden Ton,
Dem Felde die Kraft und die Farben;
Gab nichts zur Strafe und nidts gum Lohn,
Kein Gattfein und fein Darben.
Ih gab euch alles in eure Hand,
Das Glücklichſein und das Leiden,
Und gab euh Herz und Sinn und Perftand,
Im Glücke euch zu befdeiden.
* Das Sedidt ift den Sungdeutfhen Stimmen oom 21. Febr. 1919 entnommen.
ne Biider find im Verla
&ienen.
g der Deutſchen Landbuhhandlung in Berlin er-
295
Und wies euch des Lebens ewigen Grund:
Mir nah fein im Denken und Lieben —
Ad, auf dem weiten Grdenrund
Seid immer ihr fern mir geblieben!
Ihr madtet die Erde zum Krämerftüd,
Nun ift fie vom Blute gerötet,
Eine ganze Welt voll Glauben und Glück
Geſchändet und getötet.
Sd bin fein alter, fein neuer @ott,
Od bin der ewige Gine
And Harr’ auf eud) trog Schand’ und Spott,
Go fern ih euh aud foeine!
Wie Friedefinden in die Welt fam.
(Aus „Sriedefindens Lebenslauf*.)
8 ift gerade in der Slachsrupfezeit geweſen und genau dreizehn Sabre nad
der Schlacht bei Waterloo, die unjfer Bater mitgemacht hatte, als mid die
Bademutter oon Hilgenthal aus dem Brudborn holte und in das liebe Haus-
den auf dem Lindenberge brachte, auf dem die alte Linde noch immer fo prade
tig raufdt.
Wie ein Kiidlein unter der Gluce fteht das teure alte Häuschen mit dem
trauten Baume und wird darum gemeinhin nur die Lindenhütte genannt. Gines
ohne das andere fann ich mir nicht denken, gerade wie ich mir den Himmel nidt
denken fann ohne Sonne, Mond und Sterne. Obne die Linde wäre die Hütte
nicht, was fie ift, und ohne die Hütte wäre der Baum nicht, was er ift.
Nur einmal fhön und heimiſch ift’s da oben! Keinen Plak wüßte ich
in der Welt, der fchöner wäre. 's Herz lacht mir im Leibe, gude ich dem herr—
lichen alten Baume in feine grünen Augen. An ihm hab’ ich die grünen Augen
gern; nur bei Menfchen mag ich fie nicht: denn es ftedt oftmals Fuchsfalſchheit
dabinter. Ich hab's erfahren.
68 ift in der Flachsrupfezeit gewefen, wie id auf die Welt gefommen bin,
allein es hat damals auch nicht einen Stengel zu rupfen gegeben. Gin grau-
figes Hagelwetter ift plöglich Dabergebrauft gefommen, Hat alle Gewächſe der
Seldmarf wie mit Keulen zu Boden gefdlagen, und wie es nun nichts mehr
zu rupfen gab, fo gab’s auch weder was zu mähen, noch was zu fchneiden, nod
was eingufabren, kurz, es war eine troftlofe Zeit.
Den Lindenhüttenleuten fonnte nicht viel verhagelt fein, fie batten ja nur
ein paar fehmale Streifen Land. Schlimm genug war’s aber doch: denn haben
die Grofen fein Brot, fönnen die Kleinen auch feins fchneiden.
Als Hatten nun die armen Lindenhüttenleute in diefer dDrangjalspollen Zeit
an ihren bier lebendigen Kindern noch nicht genug, gebt eines ſchönen Tages
die alte Iuftige Bökerſche, die Bademutter nämlich, zum Brude hinauf, fließt
in gänzliher Unbedachtſamkeit die Kinderfammer im Brudbrunnen auf, ere
wifcht einen weißhaarigen Knirps und trägt ihn woblgemut in die Linden-
bütte. Die Lindenhüttenleute machen wohl erft ein ängftliches Geficht, taufhen
dann aber einen Blid mit unferm Herrgott im Himmel und laffen es rubig gee
Iheben, daß die Bademutter den Brunnenfifch, der ganz gegen die Gewohnheit
der Gifdhe einen recht hergbaften Schrei ausftößt, in die Hobel legt, die der
Gater etwa eine Stunde zuvor in feiner Arglofigfeit vom Habnebalfen her—
untergebolt bat.
296
Wie der Knirps aber gar zu jämmerlich fchreit, tut der Bater, als würde
er unwirſch und fagt: „Si, Bökerſche, was madft du aud für Streihel Haben
wir etwa nicht der Schreihälfe genug, daß du uns nod einen dazu bringft? —
Hätteft den Fiſch dod in die Pfarre bringen können! Warum gebft du an der
immer vorbei? Da würde man fich mehr gefreut haben als in der Linden-
bütte. Greilid) heißt’s ja: Wer da Hat, dem wird gegeben... Und da wir
Kinder haben, fo fommen Kinder zu. Hätten wir taufend Taler, jo fämen
gewiß aud) taufend Taler zu; aber wer weiß, was beffer wäre... .“
Dann {dob er das Genfter auf und rief hinaus: „Linde, Linde, es ift
wieder eins da, ein gang, ganz weißes!“
Geladht ward, worauf der Lindenbiittendater herzlich und zufrieden fagte:
„Sollft Dod) ſchönen Dank haben, Bademutter! Gs fommt bon Gott: Biel
Kinder, viel Segen! Und ich könnte wahrhaftig das liebe kleine Schreiding
nidt bon mir geben, böte aud) einer taujend Dufaten dafür!“
„Das ift ein gutes Wort, Hanfrieder!“ antwortete die Bademutter und
madte ein fo recht verjchmigtes Gefidt, als wollte fie jagen: „Könnteſt dir
die taufend Dufaten dreift auszahlen laſſen, denn du wirft die Hotel in Bue
funft [don nod einmal bom Salfen Derunterholen müffen.“ Ginen
Schalk hatte fie ja immer im Naden, die Bademutter, und die Wege, die fie
einmal gewohnt war, ging fie gern immer wieder, wie fie fagte.
Als nun die Leute unferer Freundſchaft, Frohnhöfers und Bornriefens,
bernahmen, in der Lindenhütte ware wieder was Junges angefommen, ließen fie
Stod und Stengel fteben und eilten herbei, um die Eltern zu beglüdwünfchen und
den neuen Weltbürger zu befichtigen. „Si ſeht — was für gralle Augen — wie
ferngefund — und weld fräftiger Schreil Wird ein langes Leben haben!“
»Unberufen!“ fügten die Eltern vorfidtig bei.
Altem Herfommen gemäß holte der Bater die für diefen Gall bejonders
aufgefparte „Bameumenwurſt“ von der Raudfammer, wette das Meſſer und
nötigte „Sett euch nur gleich alle zufammen an den Tiſch, Leute!“ Solange
madte die Wurft die Runde, bis fein Zipfel mehr übrig war. „Nun wird das
Kind einen ſchönen Tag haben“, meinten die Säfte und wifdten fich vergniigt
den Mund... ..!...
Als fie aus der Kirche guriidfamen, legte die Pate den Täufling der
Mutter in den Schoß mit den Worten: „Ihr habt mir gegeben ein Heidentind,
id bringe Gud wieder ein Ehriftenfind. Und wenn Ihr’s wollt mit Namen
nennen, fo nennt es — Friedeſinchen!“
„Stiedefinhen! Mit Gottes Rat und Segen!“ befräftigten die Gltern
feierlih und drüdten der Gedatterin die Hand. Dann hielt mid der Bater
ins offene Genfter und rief hinaus: „Segne aud) du das Kleine, alter guter
Lindenbaum!“
Und die Zweige neigten fic gegen das Genfter, und es fäufelte wie ein
Segen Gottes in das Stübchen, wie meine Mutter oft erzählte.
Mit einem Gefangbude unter dem Kiffen mußte das junge Chriſtenkind
feinen erften Shriftenfchlaf tun. Derweile feste man fid zu Tiſch und war
tro des fargliden Feftmahles fröhlich und guter Dinge —, hatte man dod
den lieben Herrn Ghriftus mit gu Gafte geladen.
Klein-Friedefindhen tat einen gefegneten Schlaf, und da fic feine Mienen
oft wie zu einem Lächeln verzogen, meinte die Pate, die Engel im Himmel
fpielten mit ihm. —
Als es endlid) die Aeuglein wieder auffdlug, fagte die Mutter: „Nun
wollen wir doch mal hören, wie unferes Griedefindhens Lebensgefang lauten
297
mag!“ Sie nahm das Gefangbud, ließ die Blatter willfürlih auseinander-
fallen und las unter gefpannter Aufmerkſamkeit des Eleinen Feftkreifes die
Berfe, die fid jo gleichjam jelbft aufgejchlagen hatten:
„Wie Gott mid führt, fo will ich gehn.
Gs geh’ durd Dorn und Heden.
Gott läßt fid nicht bon Anfang fehn;
Der Ausgang wird entdeden,
Wie er nad feinem DBaterrat
Mid treu und wohl geführet Hat.
Dies fet mein Glaubensanker.“
Wabrlid, einen zutreffenderen Gefang hätte die Mutter nicht auffchlagen
fönnen. Ich babe mich feiner in meinem Leben oft getröftet.
Bäterliche Lehre.
(Aus „Sriedefindens Lebenslauf“.
&" Meile fchritten wir in völligem Schweigen nebeneinander ber. Da
ging die Sonne auf, und nun nahm mid der Bater an die Hand und
fagte: „Sriedefindhen, alles, as du tuft, halt’ did) danad), daf du jedermann
fannft gerade ins Gefidt feben. Hüte deine Augen, daß feine Gleden bin-
einfommen, leicht ziehen die Sleden ins Herz. Berftopfe deine Ohren und jpite
fie nicht, wenn dir jemand arge Reden fagen will; leicht dringt der Schall da=
bon in dein Herz. Bor allem, Kind, vergifs den lieben Gott nicht — börft du,
Friedeſinchen, das Beten vergiß nicht! Gin rechtes Gebet Elingt im ganzen
Himmel wieder. Dann wird auch deine Mutter hören, wo du bift und wie
du bift. Gin junger Menſch, der feinen feften Halt im Glauben an Gott hat,
ift wie eine Wehre im Sturm, die gefnidt wird, ehe fie reifen fann. Schäme
dich nie deiner Armut, denn der arme Mann muß die Welt ernähren. Ver—
leugne nie, daß du in der Lindenbiitte geboren bift, fie enthält föftlichere Schäße
als mander Palaft. Se weniger du braudft, defto dauerhafter ift das Slid.
Hänge feinen Glitter an dein Kleid und trage.feinen Hut mit Federn. Dein
wohlgefämmtes Haar und dein weißer Scheitel fei deine fehönfte Bier. Halte
did am Zaun, der Himmel ift bod; Früchte, die man nicht haben Tann, läßt
man figen. Und im übrigen, Friedefinden, halt’ dich darnad, daß du Fein bun-
tes Gerfel nad) Haufe bringft.* ... *
Der Hedetaler.
(Aus dem ,BruderDHo f*.)
3)" war mal,“ begann fie {don gang von felbft zu erzählen, „da war mal
„ in Hildesheim eine Frau, die hatte einen Alraun, den ließ fie 'n Sabr
lang in ihrer Gabe liegen, da gudte fie nach), und da hatte er ’n Hecetaler bei
fih. Den fonnte fie nun nehmen und nahm ihn aud und bezahlte alles, was
fie faufte, mit dem Hedetaler. Wenn fie aber nah Haufe fam, war der Hede-
taler auch ſchon wieder da. Das ging denn auc ’ne ganze Beit gut; fein Menſch
merfte, daß der Taler wieder mit ihr wegging. Sie aß den ſchönſten Kuchen,
den fetteften Braten, trank den füßeften Wein, den ftärkften Kaffee, fonnte beim
wärmften Ofen figen und wurde Eugelrund. Kein Menfch merkte was. Aber
einem Schlädhter fam es doch mit der Beit kurios vor, denn er wollte reid
werden und merkte, daß er immer ärmer wurde, wenn diefe Frau bei ihm ein-
* 9. h.: Zauf nidt vor der Zeit aus dem Dienft weg.
298
gefauft hatte. Sollft doch mal ordentlich aufpaffen, nahm er fic) vor. Und als
die Frau wieder mal jo 'n ſchönen Happen faufte und wieder mit dem ſchönen
blanfen Taler bezahlte, dachte er fich gleich, es miiffe wohl etwas mit dem
Taler fein. Aber er ließ fich nichts aus, gab der runden Grau auf den Taler
beraus, legte ihn in den Kaften und paßte mit beiden Augen auf. Und fieh did
dal Kaum ift die Grau zur Ladentitr raus, wird aud der Taler im Kaften
unruhig und will fidh auf die Reife maden. Mein Schlädter nicht faul, padt
did den Taler mit feiner diden GFauft, hält ihn mit feiner ganzen Schlädhter-
fraft umflammert, holt geſchwind 'n Klopfhammer und nagelt did) den Taler
auf den Hackeklotz .. .“
„OH, den Düwell“ rief Steffen und fchabte fic) das Hofenbein, als wäre
da der Nagel durchgegangen.
„... nagelt did) den Saler auf ’n Hadellog,“ wiederholte Annefathrine
nochmals mit tönender Bafftimme, worauf fie fortfubr: „Da wurde dich dann
aber der Sadeflog auf einmal rattentoll, hüpfte und fprang, daß es gang
[chredlih anzufehen und anzuhören war. Als jemand die Tür aufmadt, was
meinfte, da nimmt fid der Klo auf und tanzt holterdipolter hinter feiner
lieben Grau Her. Da iſt's denn am Tage gewefen, und fie hat zur Strafe all
ihr Hab und Gut hergeben müffen, den Altaun mit dem Hedetaler natürlich
aud. Bebielt fein Hemd auf ’m Leibe und mußte nun Holz tragen und Hungern
und durften wie unfereiner aud.“
- Wie der Tote befragt wurde. *
(Aus dem ,Bruderho f*.)
A uf dem Friedhofe lag filberglangender Mondenfdein und erdgrauer Sdat-
ten, jener in unregelmäßigen, vielfach zerrifjenen und zerjtüdten Flächen,
diefer in den fcharf ausgeprägten Formen bon Kreuzen und Hügeln, Ringen
und Pfeilern, Stämmen und Zweigen.
Der Wind hatte, glei der Droffel im Buſch, den Kopf zwiſchen die
Slügel geftedt, und unter dem wolfenlofen, ftrablenden Sternenhimmel lagen
Liht und Schatten, obgleid von Natur widereinander, in regungslos fried-
lidem Berein, wie fie alle da unter den grünen Hügeln, die Biertelhufner, die
SHalb- und Bollhufner, die RKotfaffen und Häuslinge, die Tagelöhner und
Knedte, mit ihren Frauen, Mägden und Kindern.
Der Nadtwadter, der mit gebeugtem Rüden und einem furgen Fuße am
Kirhhofe voriiberftapfte, blies dreimal ins Horn, rief: „Die Glode hat zwölf
geſchlagen — zwölf ift die Glod’!“ und fang mit eintöniger Stimme die alten
Reime bon den zwölf Siingern des Herrn, deren einer ihn verriet.
Als Oppermann hinter dem nädjften Gehöfte verſchwunden war, löften
fi) aus dem Schatten der Kirhhofsmauer zwei Geftalten. Die Pforte fnarrte,
und der Rademacher, an der Hand feine Tochter, trat fadhten Sdrittes auf den
bügelreihen Öottesader.
‘Gn Iangen und furgen Reihen, in großen und Eleinen, hohen und einge-
fallenen Hügeln lagen fie da rund um die Kirche her, an ber das Mondenlicht
leife binunterglitt —, die Bauern mit ihren Angehörigen für fi auf der
Sommerfeite, die Häuslinge, Tagelöhner, Knechte und Mägde mit ihren Angee
börigen auf der Winterfeite.
* Rademader Drewes bat feinem verftorbenen Nahbarn, dem Vater Oelfers,
auf dem Gterbebette gelobt, dem Steffen Oelfers feine Tochter zu geben. Nahdem
diefer verſchollen ift, will er feftftellen, ob er feine Sodter dem zweiten Sohne,
Marten Oelfers, geben dürfe.
299
Modte aud) die Bedeutung des Standesunterjchiedes im Dorfe nidt gar
fo groß fein, jo gebot dod die Gitte ein orönungsgemäßes Auseinanderhalten
der Schranken, wie im Leben jo im Tode. Der Tod war für die Woldhäufer
nod nicht der Allerweltsgleihmagder, eben weil er für fie nid@t Tod, jondern
Sortleben bedeutete.
On diefer Nacht aber lag der größere Zeil des Lichts auf der Winters
feite und der größere Teil des Schattens über den Bauerngräbern, denn das
Licht fragte ebenfowenig wie der Schatten, welches Standes die waren, Die
unter-diejen Gräbern jchliefen.
Die beiden Lebenden gingen, bon ihren gedrungenen Schatten begleitet,
ein paar Schritte auf dem Kirchhofsſteige bin und bogen rechts bei den Bau—
erngräbern, wo der breite, wilde Hagedorn ftand, bom Wege ab.
Ein zarter Beildhenduft ftieg wie ein Atembolen aus dem jungen Hiigel-
grafe auf.
Sophie empfand den feinen Duft in dem Schauer der Nadt wie einen
heimlich freundlichen Sroft, während der Vater faum darauf adtete.
Licht und Schatten über den Toten, Licht und Schatten über den Lebenden!
Drewes dachte, während er feiner Tochter voran mit hHodgehobenen Beinen
über die Graber fchritt, an den einen und den andern. Go viele hatte er ge—
fannt, als fie nod in den Stürmen des Lebens ftanden, hin- und hergeweht,
als nod Licht und Schatten in ihre offenen Augen fielen. Allerlei Stimmen
zogen bor feinem Obre hin, belle und grobe, Iuftige und gornige, bittende und
drohende, betende und fludende. Wie Licht und Schatten voneinander abe
bängig, aneinander gebunden, hatten fie miteinander gelebt, in Lieben und
Haſſen, in Dulden und Widerftreiten, in Gmpfangen und Entfagen, in Hoffen
und DBerzweifeln, in Jauchzen und in Stöhnen —, bis jählings die Nadt Here
einbrad und fie fo ftill, fo ftill wurden wie dies Mondlicht und diefer Kreuzes—
ſchatten. —
Sie waren in eine nod unbollendete Reihe gefommen und blieben vor
einem nod faft unbewachfenen, aber bereits halb eingefallenen Grabe fteben.
„Hat nicht lange Stand gehalten, der Raftelaften,* murmelte Drewes und
ärgerte ſich über den Sifchler, daß er fo jchlechtes Holz gu Dem Garge verwandt
batte. Gr trat an bas Kopfende des Grabes, wo der derbe vieredige „Leichen
pfabl* mit dem kreuzfoͤrmigen Kopfe ftand, nahm die Mütze ab und betete mit
leifer, Dumpfer Stimme ein VBaterunfer.
Eng an den Bater gedrüdt, hielt Sophie die Hände feft ineinanderge-
ſchlungen und betete aus tieffter Seele mit, vermochte aber, im Grauſen faft
erftarrend, Die aufeinandergepreßten Lippen nicht zu rühren.
„Amen!“ fagte Drewes und fah um fic und über fich. Bei der Kirchentür
glaubte er eine dunkle Geftalt wahrzunehmen, und es drängte fid ihm das
alte Gagenwort in den Sinn: „Bon twölwen bet einen find alle Geijter te
Deinen.“ Gr faßte die regungslofe Tochter feft bei der Hand, erfannte aber
bald, daß es nur der Schattenwurf des alten runden Grabjfteines war, der eine
Urne trug.
Der Mond fah rubig auf den Kirchhof herab, der Sterne Heer ſchimmerte
aus der Unendlichkeit, und in Gilberftrablen flutete das Licht durch Die
Nacht um die alten Kirchturmsmauern. Kein Laut vernehmbar, fein Schatten .
bewegte fic.
Der Rademacher beugte fid zum andern Male über das Grab und betete
ein zweites Baterunfer. —
And wieder fah er um fic und über fid. Nicht ein Haud war zu ver—
300
fpiiren, außer dem eigenen Atem. Der Waldberg im Often, gu dem die DBlide
{Gweiften, lag unter dem Sternenhimmel wie ein Garg, auf dem die ruhig
brennenden Lichter ftehen — regungslos, unbeimlid.
Da neigte fid Drewes zum dritten Male und rief mit leijer, tiefer Stimme:
„Xaber, ich ftehe mit meiner Tochter hier an deinem Grabe, wie wir an
deinem Sterbebette ftanden. Siehſt du uns, wie Gott Hod über den Sternen
uns fiebt, fo fag’ uns an: Ijt Steffen, dein Sohn, bei den Toten oder ift
er noch bei den Lebenden? — Die Frauen, die an jenem frühen Oftermorgen
gum Grabe des Heilandes gingen, famen mit der großen Gorge: Wer wälzet
uns den Stein von des Grabes Fir? Mit fold einer Gorge ftehen wir aud
an deinem @rabe. Eine große Schuld liegt gwifden uns. Du weißt es wohl,
und id muß fragen: wer walget fie ab bon uns? Henderk Oelfers, der du
dur) das Grab in den Himmel gingeft, fiebft du uns, wie Gott über den
Sternen ung fieht, und fannfte meine Sodter um deines zweiten Sohnes willen
bon ihrem Derjprechen entbinden, die Schuld unferer Kinder vergeben, wie
wir aud unjern Schuldigern vergeben, fo gib uns nad) unjerm dritten Bater-
unjer ein Zeichen, fei’s Dod am Himmel, fei’s unten auf der Erde.“
Lind er betete das Heilige Baterunfer zum dritten Male — langjam und
feierlich.
Grabesjtille war nad wie bor, aber als die Betenden nun über fic faben,
{of ein glängender Strahl bom Himmel — mitten zwijchen dem Delfersjchen
und dem Drewesſchen Gehöfte — herab.
» Sater!“ flüfterte das Mädchen.
„Komm, Kind!“ fagte Drewes tief ergriffen, und Sophie ging rafd voran.
Bei den Eichen blieb er aufatmend fteben, jab über fein Gehöft bin und
murmelte zufrieden: „Der Sternfunfen muß dorthin gefallen fein, wo der Steg
fein foll.“
Der Tod der alten „Lieb Gottche“.
(Aus den ,Lebendigenund den Toten“)
G" Wort feines alten Studienfreundes Dr. med. Plenge fiel ihm ein, der in
feiner draftifchen Weife mit dem ihm eigenen leichten Achfelzuden einmal
fagte: ,Sod? Was ift der Tod? Eine Grholungspaufe des Lebens auf dem
Wege zur Swigfeit.“
Nun, wenn fo ein armes Menfchenfind wie „Lieb Gotthe* neungig Sabre
gelebt bat, follte man ibm wohl aud die Erholung bon Herzen gönnen, dadte
er bei fid. Und am felben Sage nod ging er hin und befudte „lieb Gottche“.
Das Bild, das fi) ihm diesmal bot, war nod grotesfer und ergreifender
als jenes, das ihn bei feinem erften Eintritt in das wadelige Haus überrafchte:
In einem niedrigen Stibden mit gertretenem Lehmboden, zerbrödelnden Wän-
den und zwei Fenftern, die mit Papier und Fliden an Stelle fehlender Schei-
ben ausgeftopft waren, Iag „lieb Gotthe* zwiſchen allerlei Geriimpel und
Gerät im — Sarge, wahrhaftig im Sarge, dem neuen gelbgeftrichenen, der an
der Wand unter Heiligenbildern und dem gefreuzigten Grldfer auf dem Erd-
boden ftand. Aber fie war nicht tot, fondern lebte, fah noch munter um fi
und nidte dem Doktor fichtlih erfreut zu.
„Ad, Herrdhe, ah Dokterche,“ fagte fie und verfuchte fich etwas aufzu-
tidten, „wie gut Sie doch find, daß Sie fo ein altes Graudhe nod einmal
beſuchen —, acd, und dak Sie mir auch zu dem ſchönen Sarge verholfen haben.
Lieb Gottche, es ift doch fchade, daß fo 'n gutes Herrche nicht unfern Glauben
bat; — aber ich werde bei lieb Gottche ſchon fürs Dofterde bitten.“
301
Gs dauerte einige Zeit, eh’ der Doktor fic bon feinem Schreden erholt
hatte. Gine Tote im Sarge, meinte er bei fic, hätte ihn nicht fo erfdreden
fönnen wie dieſe lebendige Alte. Seine ganze Borftellungswelt wurde von
einer Art Ummwälzung erfaßt und erjchüttert.
Die Alte, als fie fein Grfdreden bemerkte, lächelte überlegen und ließ den
Kopf in das fnitternde Seegrasfiffen guriidjinfen. „Ich babe mich {don gleich
in den Sarg gelegt, daß mid andere nicht erft bineinzulegen brauchen, wenn
id tot bin. Was man tut, folange man noch Tann, ift getan, wenn man nicht
mehr fann. Mein Oroßtochterhe Tann mid allein nicht heben, und andere
Leutche,“ — fie madte mit ihrer dünnen Hand eine wegwerfende Bewegung —
„ja, wer mag denn fo eine Altche nod) anfajjen, wenn fie tot ift!“
Der Doktor fab fic) verwundert nad allen Seiten um und fragte: „Iit
denn Ihre Groftodter nicht bei Ihnen?“
„Ad, Herrde, die ift mit ihren Kinderche ins Holz nad Preifelbeeren, um
Geldche zu verdienen .. .“
@ruber f{diittelte den Kopf. „Sroßmutter Konka, es muß doch aber jee
mand bier bleiben, der Ihnen hilft.“
Sie madte eine abwehrende Bewegung. „Dann pflüden die andern die
Preifelbeeren alle ab; es find {don nicht mehr viele da. Iſt aber aud nidt
nötig, daß wer bei mir bleibt. Wenn ich geftorben bin und die Kinderche tome
men, brauden fie mir nur die Augen zuzudrüden und für mein Geelde zu
beten — und es ift alles fertig und gut.“
Gin müdes Ladeln ging über das verfnitterte Gefidt, fie Schloß die Augen,
öffnete fie wieder und fab den Doktor verwundert an.
Wie eine gang neue Entdedung fdien ihm dies armfelige Leben —, arme
felig und doch von weld rührender Ginfalt und welder Größel
Gr griff in feine Tafche und gab ihr all fein Geld. „Damit aber Dod
die Groftodter oder eines ihrer Kinderchen bei Ihnen bleiben fann, folange
fie frank find, Großmütterchen.“
„Aachche, aadde, fo ein gutes, gutes Dofterchel* ftammelte fie, ftreichelte
das Geld und war ganz glüdjelig.
Tief ergriffen ging der Doktor gwifden den Heinen ftrohbededten Fijcher-
bäufern hin der großen See zu. Eine frifhe Brife wehte ihm entgegen. Je
weiter er Durd das Dünengehölz fam, defto ftarfer wurde das Rollen und
Raufden des Meeres. Aber immer noch tönte die Stimme der alten Frau in
ibm nad, und wohin er fab, immer wieder ftand bor ihm der gelbe Sarg mit
dem verfnitterten und nod fo lebendigen Gefidt. Weld eine ftarfmütige Men-
fchenfeele! Sie legt fid in den Sarg wie in ihr Gett und wartet gang ge
troft und ohne Grauen auf das Hereinfommen ihres Erlöfers. Eine tiefe Bee
ſchämung befdlid ihn, nun er fein eigenes Fühlen und Denfen und Tun
mit dem ihren berglid. Mußte er nicht zu diefer alten Grau auffehen? Griff
diefe in neunzig Sabren gehärtete Menfchenfeele nicht mit einem fühlbaren
Rud in fein weichmütiges, überempfindfames Leben? Der Tod, ob er nun
gu unferen Lieben oder zu uns felbft kommt, foll ung nicht ſchlaff und weich“
lid) finden, nicht fröftelnde Troftlofigfeit über uns bringen, fondern ein Weder
für uns werden, ein Weder der Heldenmütigfeit, die Gott Dod wohl in den
Grund einer jeden Menfchenfeele gelegt hat. Sich richtig einftellen zu ihm,
beißt, fic abfinden mit der Unabänderlichkeit des menfdliden Seins. Ka—
pitän Krüßfeld fiel ihm wieder ein, der mit feinem Schiffe in der Bucht von
Sfhringshael untergegangen mar.
„Sterben ift Ieidt für denjenigen überhaupt, der fid) mit feinem Tode
302
vertraut gemadt hat“ — hieß es in dem Briefe, den der Kapitän im Ane
gefiht des Todes an feine Gattin fchrieb.
War nidt die Neunzigjährige in ihrem Denken, Fühlen und Handeln
ebenfo ein Held wie Kapitän Krübfeld?
Sa, der Sod läßt ſich nicht rühren, aber er läßt fid) imponieren, ſetzte
Dr. Gruber fein Nachdenken fort und ging durch den mahlenden Sand weit
am Strande hinaus. Wud ein Wort Martin Luthers fiel ihm ein, deffen Ge—
danken diefe gum Sterben gerüftete bochbetagte Katholifin praftiih fo nahe
fam: „Wir find alle zum Tode gefordert, und es wird feiner für den andern,
fterben; fondern jeder muß in eigener Perfon geharniſcht und gerüftet fein,
mit dem Tode zu kämpfen... .“
Öleihmäßig rollten die Wogen, ledten die Wellen nach dem Strande;
manchmal ein Gludjen wie aus einer Riefenfeble. Gin grauer Farbenton lag
auf dem Waſſer. Hinter den Wogen aber erfdien das weite Meer glatt und
bimmelblau und weich glänzend wie Seide. Die Sonne war im Ginfen, und
unter ihren ſchrägen Strahlen jdillerten die Wogenfamme, als wären fie von
feinem Silber. Bon den winzigen GFifdlein aud, die unbarmbergige Wellen
auf den Strand geworfen hatten, ging ein filberiger Schimmer aus. Ging, bas
noch leife gudte, bob er eilig auf und warf es in das Meer zurüd. Gin feifter,
prallrtunder Tümmler lag tot auf dem Strande, der fich vielleicht noch vor
einer Stunde tief im Meere gütlich getan, dann wohl auf der Jagd fid zu
weit porgewagt hatte und elendiglich geftrandet tar . . . Da war der Waſſer—
fafer doch glüdliher daran, der fachte über den trodenen Gand frod, den
die Wellen vorhin befpült hatten. Gr zeigte fid) zwar betroffen, als er bier
zurüdblieb und ftand eine Weile wie verdugt ftill, befann fic aber, fehrte
um und frabbelte dem Meere wieder zu, bis eine neue Welle fam und thn
freundlih wieder in ihren Schoß nahm.
Plötzlich erfdien das ganze Meer in blafbläulide Farben getaudt, Die
fi immer weiter ausbreiteten; über den weißen Strand floffen fie wie über
die Dünen und Kiefern.. Gruber meinte zu fühlen, wie ibn felbft der blaß-
bläulihe Abglanz des Meeres bon oben bis unten überftrömte und als wunder»
fames Strablengewebe über feine Füße riefelte.
Spenneweih bom Rathaus.
(Aus den „Sollingern“.)
E⸗ iſt vierzehn Tage por Oſtern. Das Grau der erſten Morgendämmerung
lagert ſich um den ehrwürdigen Rathausturm der alten Sollingsſtadt
Aslar, und fdon hallen von feinem eifenbefchlagenen Tore Hinaus auf die
Hauptftraße wunderbare Töne. Gin Heiner Haufen Jungen bat fid dort
aufgeftellt, unermüdlich rufend: „Spenneweih bom Rathaus, Spenneweih bom
Rathaus !*
Nad furger Zeit naht fic ein zweiter Srupp, unterwegs Hier und da
verftärkt, und richtet merfbar aufgeregt feine Schritte ebenfalls auf das Rate
haus zu. Verdutztes Stehenbleiben, als fie die anderen gewahren. Doch furz
entfchloffen eilt der Srupp in die Nebenftraßen, und nun hört man, wie fie
zu den Genftern der Häufer Hinaufrufen: „Heinrich, Wilhelm, fehnell, ftebt
auf, die Neuftädtfchen haben die Kleppel* Bald ift der Srupp erheblich an-
geſchwollen und rüdt im Sturmfdritt die Dobe Rathaustreppe Hinauf. Gin
furzes Gemenge, und fie haben den Plas beſetzt — die anderen entweichen.
Bon neuem erfdallt es: „Spenneweih bom Rathaus, Spenneweih vom
Rathaus!* Melodifh abgeftuft: erft im Sturmmarſchtempo, dann langjam
303
“=
Hagend, abwechjelnd mit hoher Stimme, oder fo tief es die Kinderftimmen vere
mögen. Plislid Stille — nichts fidtbar als ein wirres Durdeinander von
Heinen Fäuſten, die aufeinander [osarbeiten. Aber die Neuftädter find zu
ſchwach, die Eroberer aus der Altftadt (die Langenfträßer) halten, mögen die
Ginger von Hieben fehmerzen, die meffingjche Türklinke (Kleppe), die Trophäe
des Tages. Dann aber erhebt fid bon neuem der Schladtruf, einig ftimmen
ae und Feind ein: „Spenneweih vom Rathaus, Spenneweih vom Rate
aus |“
Sind an diejer Tür die älteren Jungen bis zu vierzehn Jahren ver=
fammelt, jo halten an dem Nebeneingange die Mädchen und das fleinere
Volk, die nad und nad erjcheinen und bon ferne die Schlacht bewundern. AMuf
den Armen trägt man Die Eleinften heran. Go find in der Morgenfrühe die
Kinder verfammelt, als wären fie dem meiland Rattenfanger bon Hameln
gefolgt.
Was aber foll der Hader der Parteien? Nun, feit unnordenklicher Zeit
— man fagt feit 1342 — ift von viel ehrbaren Rittern und Sunfern den Us—
larern ein Ader, genannt die Spendehufe, zum ewigen Vermächtniſſe geftiftet
worden, aud) nod bor einigen Sabren, ehe verfoppelt war, im Befite der
Stadt gewejen. Dabraus, jahrein wird nun feither — weder der Dreifig-
jährige Krieg noch der Weltkrieg hat etwas daran geändert — aus den Gine
fünften des Bermadtniffes an jedes Kind, ob arm oder reid, ein Weden
verteilt, der von der Stiftung den Namen Spendeweden (plattdeutjch „Spenne=
weih“) erhalten bat. ;
Ginft Hatten die Uslarer Ratsherren das Vermächtnis vergefjen und
den Spenneweih nicht baden laffen; oder mochte es auch fein, daß. fie dem
alten Braud in Wegfall fommen Iaffen wollten. Da erfchien eine weiße Taube
in der Stadt, die beftändig rief: .„Spenne, Spennel* Davon erfdredt, führ-
ten die Ratsherren bie Spende gemäß dem GBermadtnis wieder ein. Nah
einer anderen Grzählung erſchien an dem vergefjenen Spenneweihtage plöß-
lid eine Henne mit ihren Küchlein auf dem Rathausfaale und lief den
Ratsherren zwiſchen den Beinen herum, ohne daß man fie meggutreiben
vermochte, noch daß man ein Riidlein hätte befhädigen können. Auch darin
erblidte man die Mahnung, das alte Bermadtnis in Ehren zu halten und
den Spenneweih wieder heraujtellen.
Nicht der Wert der Gabe, fondern das gleiche Recht, fie ſich Holen zu
dürfen, bildet für die Kinder eine Freude, die die regelmäßige Wiederkehr
eher erhöht als abſchwächt. Gs ift einer der ftandhafteften alten ®ebräuche,
deſſen unjchuldige Greude nie verfiegen möge.
Kleine Beiträge
Meber Heimatmufeen.
ine Arbeit, die unmittelbar in das
Leben bineinführt, Begiehungen zu
allen Sreifen der Bevdlferung Katt,
diefe in eine wobltatige Wedfelwirfung
zueinander fett und ihnen zugleih un—
merflih, nidt mit dem aufdringliden
Ton des Belehrens, reihes Willen ver-
mittelt, ift die Arbeit am Heimatmufeum.
Gs ift nidt zu viel gefagt, wenn man
ihr guerfennt, daß fie Baufteine zu einer
304
Gertiefung und Bereicherung des Welt
Bildes berbeiträgt, daß fie, wie faum et»
was anderes geeignet ift, die Liebe zur
Heimat und zur eigenen Art zu weden
und zu feftigen. Dabei ift fie wie ein
lebendiger Organismus, vermag miibe-
los fid) immer neue ®ebiete anzugliedern
und mit ihrem Gedanfengebalt zu durch—
dringen. Die Grenzen ihrer Wirkſamkeit
find faum abgufteden und werden je-
weils immer nur gezogen werden fünnen
nad dem Gorbandenfein oder Nidtyor-
Bandenfein lebendiger Perfinlidfeiten, die
fih in ihren Dientt ftellen. Geblen diefe
gang, wird das Heimatmufeum freilich
in einen Dornröschenſchlaf verfallen, nur
daß jeden Sag der Prinz erfdeinen fann,
der es gu neuem Leben führt.
Die Heimatmufeen haben um ihre Da-
feinsberedtigung harte Kämpfe führen
müffen. Unter dem Schlachtruf ,3en-
tralifation“ haben die großen, baupt-
ftädtifhen Mufeen verſucht, ihre Wirk-
famfeit zu befdneiden und zu unter-
binden. Der Wiſſenſchaft follte gedient
werden. Seder Fund bon einiger Bedeu-
tung follte in Die riefenbaften Depots
der ftaatliden Mufeen wandern, damit
Profefforen und Studenten bequem ihr
Material beifammen hätten. Das flade
Land wäre ausgeplündert, des Denkmals
feiner Gergangenbeit beraubt, guriicdge-
blieben. Ueber unfdagbare- fittliche
Werte wollte man adtlos fort{dreiten.
Die Brandenburgijmen Heimatmufeen
haben fid einmütig dagegen erhoben. Gie
haben fid zu einem Bund zufammen-
geihloffen, der würdig feine Redte ver—
tritt und in dem bei den jährlich zwei—
mal ftattfindenden Gerfammlungen Gr-
fabrungen und Anregungen auf dem
®ebiet der Heimatpflege ausgetaufdt
werden. Bei dem Mangel eines bran-
denburgifhen Propinzialmufeums — das
Markifhe Mufeum in Berlin ift ftadtifh
— miffen diefe Heimatmufeen in ihrer
©efamtheit als Erfah für ein foldes
galten. Ganz ungeftört in ihrer Wirffam-
eit find fie freilid aud jebt nidt ge»
blieben. Geſetzlich ift jedem ein bee
ftimmtes Schußgebiet mit genauen Ab»
grenzungen zugewiefen. Golde ftaatlide
Bevormundung Hat nun bei einer Arbeit,
die fo ganz auf Freiwilligkeit geftellt ift,
ihre zwei Seiten. Sind dod fleinen,
faum lebensfähigen ®ebilden große See
biete zugewiejen, die mit Blut und
Wärme zu durddringen ganz außer ihrer
Wacht fteht, lebendigen, wirffamen Orga-
nismen aber fo enge Örenzen gezogen, Daß
der Pulsihlag ihres Lebens weit dar-
über hinausgeht. Noch fdlimmer aber
mödte fdeinen, daß nun, wo alle See
biete bon einer hoben Obrigfeit verteilt
find, das ſchöpferiſche Moment, das
fiegbaft Neues fdafft, unterbunden ift.
Die Gatten, Befibenden werden wohl
aufpaffen, daß da, wo fie ftaatliden
Schub und Rechte genießen, fein Fremd—
ling ihre Kreiſe ftört. Der wohltätige
Kampf ums Dafein, der die Kräfte zu
ihrer höchſten Steigerung anfeuert, ift
unterbunden. Immerhin bleibt den flei-
nen Mufeen nod genügend Raum zur
Betätigung, befonders wenn fie fid
ihrer volfserzieheriihen Aufgaben bes
tuft bleiben.
Am nun zu zeigen, was ein Heimat-
mufeum in feiner Gegend zu bedeuten
vermag, erzähle id) wohl am beften die
Gefdhidte der Sntitehung und des Wer-
dens unferes eigenen. @riinder unferes
Heimatmufeums war Paul Quente, ein
junger, bohbegabter Maler. Im Sabre
1910 begann er, indem er eine eigene
fleine Sammlung zur DVerfügung ftellte,
bier fein Werf. Im Oftober 1915 fiel
er am SHartmannsweilerfopf im Sturm
gegen franzöſiſche Schübengräben. In
ieſen wenigen Jahren bat er unſer
Heimatmuſeum geſchaffen, wie es im
roßen und ganzen unverändert noch
* beſteht, achtzehn Räume füllend,
und wie es gu einer Hauptſehenswürdig—
feit Des Rreifes geworden ift, mie es
aber aud in der wiffenfdaftliden Welt
fid einer hoben Anerfennung erfreut.
Es ift natürlid nur einer Perfinlidfeit
mit feltenen Anlagen, ungeftümem Wol-
Ien, der Fähigkeit, Dinge und Menſchen
zu meiftern, gegeben, ein foldes Werf
in fo furzer Zeit auszuführen.
Borbildlih ift, wie Paul Quente fid
Mitarbeiter aus allen Kreijen zu ſchaffen
wußte, und gerade dadurd Lebendige
Werte vermittelte. Die Anfänge waren
mehr zufällig. Bon feinen Wanderungen
auf Rügen hatte der junge Künftler,
der von früher Sugend an fid für prä-
biftorifde Dinge interefjierte, allerhand
Steinwerfzeuge mitgebradt, die er mit
©enehmigung der Aebtiffin in dem Ka—
pitelfaal unferes alten Klofters aufftellte.
Da zeigte es fid, daß mande von
unferen Bauern und Landleuten ein ähn-
fides Stüd, das auf ihrem Ader ge-
funden war, bei fid zu Haufe liegen
batten. Gie bradten es bei ihrem nad-
ften Befuh mit. Aus den Mitteln der
Alebtiffin wurde ein fleiner Schaufaften
beihafft und die Keimzelle, aus der das
Heimatmufeum erwadfen follte, war da.
Glückliche Umſtände famen freilich
bingu. Das Klofter bot in den alten Ka—
pellen, die nad dem Klofterhof gu der
Kirche angegliedert waren, Räume, die
für andere Swede nit dienen fonnten,
und deren fhöne, gewölbte Deden, deren
Spitbogenfenfter fie nod befonders ane
ſprechend madten. Bor allem aber, Die
Aebtiffin des Klofters erfannte, daß fid
bier ein Werf anbahnte, das für die All—
gemeinheit von größter Widtigfeit wer-
den fonnte, und unterftüßte es mit allen
ihren Kräften.
Paul Quente madte nun mit einigen
Lehrern, die er zu intereffieren wußte,
gen über das Land, ging zu den
euten, von den Büdnern bis zu den
305
®rofgrundbefibern, mußte ihre Seil-
nahme zu weden, fie für feine Gee
Danfen zu begeiftern. Niemals fehrte er
guriid, ohne den Rudjad vollgeftopft zu
baben mit allerhand altertiimliden
Stüdfen. Bald verging faum ein Tag,
daß nidt folde Altertiimer angebradt
wurden. Die Leute waren ftolz darauf,
wenn fie etwas geben fonnten. Der eine
Raum genügte nidt mehr. Das Geburts-
tagsgeſchenk he den Künftler beftand in
einem Ausftellungsihranf. Sorglid wur-
den Die Sachen geordnet, iiberfidtlide
GSrläuterungen wurden beigefügt. Neben
jedem Stüd ftand der Name des Gebers,
der Ort, woher es ftammte. Das ftellte
alle gewiffermafen mitten hinein in Die
Mufeumsarbeit. LMrnenfunde wurden ge-
mat, Ausgrabungen begannen. An einer
folden Ausgrabung nahm die ganze Ort-
fdaft teil. Wenn die Schule vorüber
war, ftellten fid) Lehrer und Kinder ein.
Der Bauer, dem der Ader gehörte, half
mit feinem Rnedt beim Graben, }tellte
das Fuhrwerk zum Fortſchaffen der
Sunde. Sedes Stüd wurde beftaunt und
beiproden. In umfaffender Weife wurde
die fleine Preffe benubt. Seder Gund
wurde verdffentlidt, alle Gaben und Ge—
ber aufgeführt, jede bedeutende Neuer-
werbung befproden. Dann bielt Paul
Quente Lidtbildervortrage. Kein Ort war
ibm zu Elein, zu weit entlegen. Wenn
fid nur Sntereffe zeigte, fo fuhr er bin.
Bald war das Mufeum zu einer Ane
gelegenbeit der ganzen Bevölferung ge-
worden.
In jene Beit fiel die Ausgrabung,
die dem Mufeum feinen Ruf in der
wiffenfdaftliden Welt begründet hat, die
Ausgrabung des langobardifhen Urnen-
friedbofes von Dahlhaufen. Hundertfünf-
zig Orabftellen wurden freigelegt, ein
bodbedeutfamer Opferftein in der Mitte
des Alrnenfeldes gefunden. G8 wurde
nadgetviefen, daß Langobarden bei uns
in der Prignig in großen Bauernfied-
lungen feft anjajjig gewefen find. Die
gabllofen Beigaben erzählten von einer
reihen, bodenftändigen Kultur. Die bau-
erlide Gemeinde von Dahlhauſen aber
beihloß, dem Mufeum um feines ho—
ben Kulturwertes willen eine jabrlide
Zuwendung zu maden.
Nun trat Paul Quente dem Ge-
Danfen näher, einen Mufeumsperein zu
gründen. On ibm follten fih alle
Stände zu gemeinfamer Arbeit an Die-
fem WMujeumswerf zufammenfinden. Sein
Aufruf hatte ungeabnten Grfolg. In
furzer Zeit zählte der Mufeumsperein
gegen taujendD Mitglieder, in der Haupt-
fahe DBüdner, Handwerker, Arbeiter,
Bauern. Zugleih wurde eine Mufeums-
306
zeitfhrift gegründet, die nod) heute er—
{deint. Sie diente fhon damals dem
deutſchen Gedanfen. Unſere große Ver—
gangenheit ſollte zu einer lebendigen
Kraft in den Wenſchen unſerer Zeit
werden.
Nad dem Kriege fudten wir das
wertbolle Grbe lebendig zu erbalten.
Biele Mitglieder Hatten wir verloren.
Die Alngunft der Beit legte uns Feſ—
feln an. Und dennod dürfen wir füh—
len, daß wir an lebendigem Werfe
fteben. Heimatfefte, Bolfsfpiele haben
Scharen von ®äften zu uns geführt, und
fie mit unferem Denken und Wollen ver-
traut gemadt. Bor allem, die Samm-
lungen felbft find nod immer täglich
geöffnet, werden taglid gezeigt, find im
Sabr für etwa 3000 Befuder, für etwa
fünfzig Volksſchulen eine Sprade der
Heimat. Die Schulen werden geführt.
An Hand der Sammlungen wird Den
Kindern in großen Zügen ein Bild ihrer
Heimat gegeben.
Diefe Zeilen möchten dazu anregen,
ob etwa bier und da fid aud Die
Möglichkeit zu folder Arbeit fände. Ich
denfe, feine Bauernhochſchule mit ihren
Vorträgen fann das geben, was fold
ein organifh gewordenes Ganze an Bil-
dungswerten ausftrömt, unmerflid, felbft-
verftandlid, darum um fo tiefer baftend.
Annmarie pon Auerswald
Sur Dresdner Sertilfdau.
De⸗ dritte Jahr der „Dresdner Jah—
resſchau“ iſt das geſegnetſte. Hier
kommt die gute Idee endlich ſo rein her—
aus, wie ſie dem Hirn ihrer Erzeuger
entſtiegen war: Textilien in hiſtoriſcher
Pradt, im Olanz der Oegenwart und
in der wirklich unerhörten Spontaneität
ihrer Gntftebung durd Riefenmafdinen.
Swar hatte das Urſprungsland bisher
nod immer verpflidtet: 1922 war es
Keramik („Deutfde Erden“ in mißper-
ftändlihdem Idiom betitelt), 1923 Sport
und Spielwaren; fo gut beides in der
— —— ſeinen Nährboden fand
und die Berechtigung heimiſch anmuten—
der Ausſtellung: Das Urſächſiſche, das
Waſchechte heimatlichen Erdgeruchs haf—
tet nun doch erſt der Textilbranche an.
Und fo konnte dieſe dritte Schau ein
von allen Seiten vollfommenes und er-
freulides Bild ergeben, und bloß das
Plakat, das traditionelle Schmerzenstind,
rutihte ein wenig abfeits mit der une
felig afioziationsbeladenen Spinne, Die,
troß webetechnifcher GStilifierung immer
ein Gdreden der Damen, eber ans
Satale der achtfüßigen Kerbtiere denn an
Athenens Liebling Arahne erinnert.
Gor allem find diesmal die unbehag-
lihen Hallen der Großen Ausftellung
an Der Lenneftrafe reftlos bewältigt;
bisher war immer ein fhnöder und pein-
lider Reft unaufgeteilt geblieben. Der
unbdermeidlide riefenbafte Mittelraum ift
durch Seppide und fafrale Vertifal-
tücher geradezu vornehm gemadt wor—
den; etwa wie der ſchöne Seppidfaal
im Berliner Wertheimhaus. Rechts und
linfg die fabelbaften Waſchinenſäle. Es
ift fider das Gebenswertefte, mas man
zur Zeit in Dresden hat: diefe diffigilen
exaften ungebeuren und bis ins AUller-
legte mit fpinnwebfeinem Detail über-
riefelten Wafdinen für Spinnerei und
Weberei, für Herftellung unbegreiflid
entlegener Hilfsmecdhanifen, und ihre
Sreiten- und Langsridtung bis ins An—
gemeffene: Der Laie, wozu wir uns dod
reftlos zählen miiffen, ftebt einfad faj-
ſungslos und voll unbegrengter Gbr-
furdt por fo viel Materie gewordener
©eiftesfomplifation. Ind dieſe rattern-
den, fchnurrenden, fpazierenfahrenden
Riefengeftelle nod in Gunttion zu je-
ben, benimmt einem armfeligen Sntel-
leftuellen den letzten Reft pon Oottähn—
lidfeitsgefiibl. Wer einmal fo eine
Baumwollfpinnmafdhine gefeben bat,
weiß, was gemeint ift, und wers nidt
fennt, dem ift Dies organifierte Gifentier
überhaupt nidt flar zu maden. Deden-
falls fühlt man aber hier, daß wir nod
ziemlih weit bon dem Inftinft der ,,Gi-
ganten“ aus Döbling letztem (grandiofen)
Roman entfernt find; daß wir in fcheuer
Entfernung diefe horizontal gelagerten
Lingetiime anzubeten geneigt find, Die
ung fleiden, betten und verſchönern. Auf
feinen Gall mödten wir der Neigung
begidtigt werden, bineinzufpringen, um
fie unfhädlih zu maden, oder fie gar
pon Staats wegen zu fprengen. (Aller-
dings bat Döblin diefe Perfpeftiven fo
fehs bis fieben Jahrhunderte nad
unfrer Oegenwart verlegt.)
Nicht unbedingt die gleihe Begeifte-
rung wie den Mafhinen (und, Refpelt,
ihren Grbauern und Grfindern) fann man
allen Produkten entgegenbringen, welde
die LUnfduldigen gu Sage und auf den
Warkt fördern. Das ift nun das Sebeim-
nis Der alten Wamfell, fogufagen: in-
dem leider nod) immer nidt der jugend-
fide und unbefledte Menih die Mode
angujagen bat, jondern der mehr oder
minder übel beratende Kommis und afa-
Demijd eingebildete Mufterzeichner. Wir
haben febr jhöne Apahenihals, Her-
renfoden, Bademäntel, Sportweften und
mandmal bezaubernde Pyjamas; man
fann jagen, daß man auf dem Jung—
fernftieg {don redht gut angegogenen
Herren und Damen jeden Alters bee
gegnet. Komifherweije aber fommt das
und vieles andere unter dem Gieges-
zeihen der Dresdner Teztilipinne nicht
ret heraus. Die langen Gerien der
Wirk- und Gtoffabrifate, die Schleier,
Leinwand, Sapifferien, Kleiderftoffe,
®ardinen, Strümpfe, ®arne und fo wei-
ter wirfen nicht erjchütternd; fie laffen
ob ihrer techniihen Fertigkeit baß er-
ftaunen, aber fie find meift nidt allzu
günftig ausgewählt und nod) ungünftiger
zu Klumpen geballt, um zu dem Ghr-
geiz funftfritijder Ginftellung verführen
zu fönnen. Aber fahlih ift das alles
tiidtig, bandwerflid und faufmannifh
fauber und meift mit Ddeforatibem ®e-
\hmad und traditionell dresdneriſchem
Ausftellungsgefhid gujammengebunden
und abgeteilt; faft nirgends entjteht das
peinlide ©efühl eines vollkommen ver-
fagenden Iobbergefhmads, wie bei den
meiften Kabinen der unfeligen Porgellan-
mwüften bei der erften Jahresſchau.
Und man findet denn aud, und dies
ift der erfte und fundamentierte Gin-
drud, eine Reihe pornehmer und aus-
gezeichneter Gingeldarbietungen, die das
notwendige Abjolutum an Qualität in
jeder Beziehung aufweifen. Da ift das
mardenbaft eingeridtete Haus der Pill-
niger Seppidmanufaftur (Wisligenus-Bi-
browicg); der ifolierte, höchſt anmutige
Raum der Dresdner Werfftatten, ein
luftiges Gebilde von Hellen Rofentönen
und begebrenswerten Rleidungs- und
Wohngegenftänden; die vollfommenen
Webereien des Bauhauſes in Weimar
(Klaffe Mude), leider nur ein ſchwacher
Abglanz der verfdwenderijhen Pradt
aus vorjähriger Bauhaus - Ausftellung:
dennoh wird man vergeblid nad Ver—
wandtem an tednifder, künſtleriſcher,
farbiger Originalität in jeder Gorm der
Webefurft juden. Das einzige, was fid
diefen beften Handarbeiten am Tritt»
und @obelinwebftubl zur Geite ftellen
läßt, find die Handwebereien von Möge-
lin in @ildenball und die Wollftoffe der
Werkftatt Hablif-Lindemann in Itzehoe;
gemufterte jhwere Wollftoffe für Wände
und Möbel, die wohl das Befte diefer
Art von Beztilien darftellen; ftreifig oder
zweidimenfional gemuftert und von mo-
numentaler Pract.
Daneben gab es nod allerhand reig-
volle Dinge wie die fapriziöfen und aus
dem Ginn des Materials geiftreih emp-
fundenen Spibenfombinationen bor
Margarethe Naumann in Plauen („Mar-
garethenfpite“), die fladgemufterten Go-
belin8 Der Werfftatte Giebichenftein
(Hallenjer Kunftgewerbeichule), die treff-
liden Leiftungen der fadfifden Gade
fhulen und die GStreifenmufter bon ©.
307
von Weed (Münchner Bund). Wunder-
lid und begeidnend genug: daß alles
wahrhaft Gute in diefer urälteften Hand-
fertigfeitsfunft aud) beute nod Hand-
arbeit if; daß der wundervollen
Künftlihfeit der Maſchinen nod feine
Qualität ihrer Grgeugniffe fünftlerifch
entfpridt. Oder es ſchien wenigftens fo.
Der Bedankte: daß aub mafdinell
begebrenswerte Stoffe entfteben fönnen,
Konkurrenz den Handarbeiten — Ddiefer
Gedanke ift leider faum aufgetaudt, oder
wenn fdon, dann verfungen und vertan
im Alltagszudrang der beteiligten und
@arantiefonds zeichnenden Firmen.
Aber dies ift das Los aller Sabhres-
fOauer.
Reftlos einverftanden fann man wie-
der mit der biftorifhen Abteilung fein,
die vor allem mannigfaden Mufeen und
Sammlern zu danfen ift; an erfter Stelle
dem Völkerkundlichen und dem Hiftori-
hen Mufeum Dresdens. Aegyptifde,
foptifhe, chineſiſche Stoffe; ein fom-
plettes türfiihes Teppichzelt von etwa
1650, Webereien aus Wmerifa, Oge-
anien, Afrifa, europäifhe Bolfstradten
und mittelalterlide bieratiihe Prunkge—
wänder tetteiferten an Schönheit, Die
wahrhaftig unverganglider ift als die
weit foliderer Stoffe, und mußten die
Konkurrenz einer praftifabeln Klöppel-
ftube aus dem Gragebirge aushalten, in
der lebendes Material arbeitend zur
Schau geftellt war und aud nod Bolfs-
weifen mit Klampfe gum DBeften gab.
Seztilien intereffant auszuftellen ift
eine ſchwere Kunft. Hier ift der Deut-
hen Jahresſchau endlid einmal ein
Treffer untergefommen; man bat die
Gade ridtig angepadt und am Ende je-
dem etwas auf den Weg gegeben zum
Nachdenken und zum Genuß.
Paul Ferdinand Sygmidt.
Ein Briefwedfel awifden den
Rebolutionen. 4.
Sie baben zu meinen beiden Briefen
im Sanuarbeft Stellung genommen
und dabei meine Gedanfen weitergejpon=
nen bis gu SKonfequenzen, die id fdon
mandmal bejorgt durdgedadt babe. Sie
fragen mid: ,Sreibt nidt ‚die Wirt-
ſchaft' aus fid felbft die Planmafigfeit
Hervor?“ Sie jhildern die wirt{daftlide
Sntwidlung fo, daß die Planwirtihaft
eben nidts als eine Reifeerfheinung der
Wirtidaft fei, ein Zeichen des heran-
rüdenden Alters, das an Gtelle von
Wagemut und Initiative ein Manda-
rinentum febt, welches ſich einridtet und
die Kompetenzen ordnet. Und fie ironi-«
fieren die Autfaffung, die in dieſer „ru=
bigen, abgeflärten und bequemen Grei—
308
fenbaftigfeit ein Sdeal fieht, dem nadgu-
ftreben fittlide Pflicht fei“. In den Kar-
tellen, induftriellen Fachverbänden und
in den ®roßbanfen und abnliden Wirt
ſchaftskörpern feben Gie mit Redt „eine
nidt auf Grund von Doftrinen orga-
nifierte, fondern organiih heranwadfende
Planwirtſchaft“. Weld unheimlihe Ber-
wandtidaft befteht doch zwiichen der fo-
gialiftifden und fapitaliftifhen Welt! Mit
weld) zwingender Sicherheit hat die Sed-
nit Unternehmer und Arbeiter in den
Bann derjelben Auffaffungen gezwungen!
Lind wie recht bat Marz, wenn er jagt,
daß der Sozialismus im Schoße der fa-
pitaliftijden Wirtidaft beranwadfe! Das
Bild der alternden Wirtſchaft, das fid
aus Ihren Andeutungen entwideln läßt,
gleiht in beängftigendem Maße dem,
welches Dr. Heinz Marr in feiner pradt-
pollen Schrift „Das proletarifde Ber-
langen“ als das Wunfchbild der Ar-
beiterjhaft darftell. Gn der Sat, der
Kampf zwifhen Kapitalismus und So—
zialismus fieht fo feltfam aus, weil in
Diefer alternden Wirtſchaft der geiftige
Gegenſatz ſchwindet und nur nod der
Streit um die Verteilung der Altersrente
mit denfelben Schlagworten geführt wird,
die früher eine tiefe innere Gegenſätz-
lidfeit bezeichnen follten. Sind es nit
die erwähnten fapitaliftifden Organifa-
tionen gewefen, die — unter der Regie
pon Staatsfefretär Profeffor Hirfh —
in der Nachkriegszeit den planwirtidaft-
lihen Ideen von Wiffel den Leib ge-
fieben haben? Obne Diefe fapitaliftifde
Gorarbeit und praktiſche Beihilfe — 3. B.
auf dem Gebiete der Außenhandelsrege-
lung — wären die Ideen Wiffels und
vd. Möllendorf3 troß aller Verordnungen
ebenfo auf dem Papier geblieben, wie
die ,, Wirtidhaftsverfaffung* des deutiden
Reides, pon der nur die Spitze, der —
immer nod — vorläufige Reidswirt-
ſchaftsrat porbanden ift und in einem
Hinterhaufe der Bellepueftrafe auf den
fehlenden Anterbau wartet.
And wenn Gie die Planwirtidaft als
greijfenhaft bezeichnen, jo war diefe pom
Kartellfapitaligmus und Gewerkſchafts-
fogialismus geſtützte Planwirtidaft da-
gu nod ein Liederlider und fdmubiger
@reis, ein richtiger Luftgreis, der Die
@ier des Kapitalismus mit der Dlut-
Iofigfeit des Sozialismus vereinigte.
(Hirſch übrigens, der mit Wirth im rid-
tigen Augenblid abging, um die bereits
in $aulgärung übergebende Hinterlaffen=
{daft der Grfüllungspolitif dem unfe-
ligen Guno angudreben, hat jebt ein Bud
eſchrieben, worin er dartut, wie er alles
abe fommen feben und nur bon böjen
Menfhen gebindert worden fei, alle
Mebel abguftellen. Sas Berliner Tage
blatt ift unter dem Titel „Die Kaffandra
der Währungsfataftrophe“ ftarf von die»
fer Prophetie poft feftum beeindrudt.
Sh aud. G3 will mid bedünfen, als ob
man den gepflegten Qffprerbart von
Herrn Profeffor Hirſch nod einmal in
Dem ehemaligen Sumberland=- Hotel feben
würde, das % ſchäbig geworden ift, feit
das Reihswirtfhaftsminifterium dort
feinen Sit bat.
Srogdem fann id an das Greiſentum
der deutſchen Wirtihaft nidt glauben.
G3 fommt mir eher fo por, als ob wir
e3 mit einer porgeitigen Gridlaf-
fung der gefunden BWirtihaftsenergien
gu tun batten, die nun eine Reihe uns
eigentümliher Anarten bat ind Kraut
{dieBen laſſen, begünftigt duch die un-
natürliden DVBerhältniffe der lebten zehn
Sabre. Aber die Grfdlaffung ift das
Primäre, denn {don vor dem Kriege bee
— in der Induſtrie jene Zujfammen-
allungen und Rompetengverteilungen, bei
denen die Altiengeſellſchaften die letz—
ten Gingelunternebmer einfreiften, um
dieſes unruhige Element aus ihrer fid
ordnenden Welt auszumerzen. In dem
Kampf zwifhen Adolph Woermann und
Ballin bat das Ringen gwifden Unter—
nehmer und Generaldireftor faft ſymbol—
bafte Deutlidfeit angenommen. Aber
dieſe Gntwidlung diente nod Der
Sch —— einer Wachtſtellung, nicht
ihrer Ausbeutung. nd das, 2.
eben der folgenden Spode den Stem ig
fteriler Greiſenhaftigkeit aufbdritct, ift
Umſtand, daß die errungene Kraft über-
wiegend zur Niederhaltung der Konfur-
tenten benüßt wird, und daß der ju-
riftiihe Beirat des Llnternehmens, Der
Syndikus des Verbandes, die Initiative
übernimmt. Senes feltfame Neb abftraf-
ten Madtbefiges in Seftalt pon Altien=-
mebrbeiten wird immer dichter und ver
widelter gefponnen, immer häufiger wird
ftaatlider Einfluß ausgeübt oder in Ane
{prud genommen. Wollen bier neue
Wirtſchaftsformen fi) bilden oder ſchoſ⸗
fen in Der tropifhen Atmoſphäre der
Inflation nur die $arnfräuter zu Baue
men auf?
Der eijige Wind der jebigen Krifis
wird bier Klarheit fdaffen. Gr wird
aber aud viele Anarten weaf en er
fid in dem warmen SHalbdunfel
Papiermartfalfulation haben breit —
können. Dazu gehört die Tendenz, junge
aufſteigende Konkurrenz nicht durch ge—
ſchäftliche Ueberlegenheit, ſondern durch
Abmachungen der Verbände, gar unter
Zuhilfenahme der ſtaatlichen Autorität
zu bekämpfen. Ferner die Neigung, Die
Warenſeite der Wirtſchaft gegenüber der
Geldſeite zu vernachläſſigen, wie ſie ſich
darin zeigt, daß weit über die Kreiſe des
eigentlichen Geldhandels hinaus Geſchäfte
gemacht werden, bei denen die Ware ent-
weder gar feine oder eine untergeord-
nete Rolle fpielt wie bei den Franfen«-
Sermingefhäften in Blei. DBefonders
unwirtſchaftlich ift endlich der Bug, lieber
wenige Geſchäfte mit großem, als viele
mit geringem Nuten zu maden. (Da
fönnte eine Snbafion von Gord Grfreu-
fides bewirfen!) Alles in allem beob-
adtet man ein Nadlaffen der faufe
männifhen Entſchlußkraft, wie etwa in
diefer Krife die bitterften Gerlufte da—
durd entftanden find, daß man fid nicht
überwinden fonnte, rechtzeitig mit ge-
tingem Gerluft zu verfaufen, jondern an
der Ware fleben blieb, bis die drän—
genden Sablungsverpflidtungen zu mafe
fenhaften plögliden DBerfäufen zwangen,
Die eine viel größere Ginbufe bedeu-
teten.
Bielleiht wird die böje Beit, die por
uns liegt, die wendigen und itberfidt-
lihen Privatunternebmungen gegenüber
den organiſatoriſch komplizierten und viele
fad biirofratijierten Riefengefellihaften
begiinftigen und unferm Wirtſchaftsleben
wieder eine einfadere und fonfretere Gee
ftalt verleihen. Auf jeden Gall muß fid
unfre DWirtfhaft verjüngen, denn der
bevorftehende Kampf fann nur vom
Kaufmann, nidt vom Wirtfhaftsbeamten
geführt Beiden,
Albredt Grid Oünther.
Errungenſchaftliches.
1. Radiofunk.
Nu erft vollendet ſich Die Drabtfultur.
Gin Gpinngewebe bon Drähten
fpinnt fid zwiſchen den Dadern und
Schhornfteinen unjres Stadtteils bin und
ber. Mit gefnidtem Gelbftbewußtjein
{dleidhe id) unter dem drabtdurdfurdten
Himmel hin: ih bin nod ein Menfdh
ohne Antenne. Denn id habe feine Gee
baltgerbibung in Radio anzulegen. Der
Schriftjteller fteht wie Schillers Dichter
bei der Seilung der Erde dabei. ——
nörgelt er und bemüht ſich, Unzufrieden-
beit in diefe berrlid tortichreitende Welt
zu bringen.
Nein, id ſchwöre: auch wenn ich
Goldmarkmillionär wäre, id würde eher
dag ‚ftille Saufen anfangen, vergraben
in einem bolagetäfelten Simmer binter
dem Römer und der Slaſche rheiniſchen
Weines, als daß ich mir ein Radio—
geweih aufs Haupt ſchnallte. Ich habe das
Radio probiert. Beim nächtlichen Wein—
glas hat die Seele wenigſtens von jenſeits
des Trommelfells her Ruh, das Radio
aber — es gibt nicht Ruh bei Tag und
309
Naht. Man muß immer nad der Uhr
Ihaun, wann’s Iosgeht, um das Abonne-
ment auszunußen. Und nadber ift man
dem Potpourri verfallen. Das ganze Ge-
birn wird zu Potpourri. G38 beginnt
das Ende der Welt: die Auflöfung der
Wenſchheit in Radiopotpourri. ©efähr-
lid ift ein Klavier im Nahbarhaus,
verderblih der täglihe Beitungsgraus;
Dod) das ſchrecklichſte, das Die Menſchheit
errung, ift der Radiofunf.
Mein Schufter ift aud Radiat ge-
worden. Mit der Gebirnfdnalle fist er
auf feinem Gdemel und fdlagt mit dem
Hammer auf dem Goblleder den Saft
zur Sannbaufer-Ouvertiire. Mit dem
Didten und Philoſophieren der Schufter
ift es vorbei. Hans Sachs und Safob
Böhme — altertiimlide Zeiten! Wir
find ins Radiogeitalter fortgefdritten.
Der Schufter hatte aber troßdem nod
ein gutes Herz, er ließ mich probierens-
halber an der Grrungenjdaft teilnehmen.
Ich befenne, daß id zu dieſer afu-
ftifden Abftraftion nicht fähig bin. Man
bört die Töne, hört fie flar und deut-
lid, genau fo wie fie gefungen und ge-
fproden werden. Aber es fehlt ihnen die
Raumlidfeit. Sie Hingen nidt durch den
Raum, fie hängen nidt im Raum, fie
find in irgend einem abftraften, dünnen
Nirgendwo. Aud die vifuelle Begie-
bung zum Spredhenden, Singenden, Mu-
De RD fehlt. ollendete Ginjinnig-
eit.
Der Zortichritt der Kultur befteht
darin, daß Die Ganzheit des Wenſchen
als eine in fih geichloffene Ginbeit ge-
fördert und erhöht wird. Der Fortſchritt
der Bivilifation beftebt darin, dah
der Menſch in lauter ,Gader“ und „Oe—
biete“ gerftiidelt wird. Im Kino bat
der Menfh nur die Augen zu. be
nugen, die Obren find abgujdnallen und
in der ©arderobe abzugeben (Zumider-
Bandelnde werden durch Kinomufif be-
ftraft). Am Radio Hat der Menfh
Die Gehnerden abzufnipfen und das Ge—
bir angudrebn (die Strafe für Zumider-
bandelnde ift erft nod im Stadium der
Grfindung. Verſchiedene Radioptifer find
dem §ernfeben {don auf der - Spur).
Kino und Radio bedeuten alfo Gort-
f&hritte der Zipilifation. Sie find dazu
da, allmählih die Kultur zu givilifieren.
Das Theater war befanntlid einft eine
Rultureinri@tung, aber mit Hilfe des
Kinos haben wir es fdon ganz gut
Seinen Siehe Sternheim, Hafenclever,
eorg Kaifer. Der Reft ift teil Opes
rette, teils expreffioniftijde Kuliffe und
Jeßnerſche Sreppenbiihne. Lange werden
fih Schiller, Kleift, Grillparger, Hebbel
nicht mehr webren, ihre Kultur ift nur
310
nod) ein ganz Klein bißchen lebendig, jo
wie ein in zwölf Stüde zerjchnittener
Aal nod lebendig ift. Sie werden bald
nidt mehr die Zipilifation durd Grre-
gung eines ſchlechten Gewiſſens ftören.
Nod ein bißchen Grrungenfdaft, und
wir werden mit reinftem GOewiſſen über-
zeugt fein, das Theater fei eine Stüm—
perei gegen dag Kino gewwefen.
Die das Kino die Zufhauer aus
dem Theater geholt bat, bis es fid
faum nod lohnte, viel auf der Bühne
bergumaden, jo holt nunmehr das Radio
die Zuhörer aus den Konzertfälen, Bor-
tragsräumen und Kirchen. Wozu nod
die Beine in Bewegung fesen, wenn man
all folden Rulturfram billig zu Haus
im Scaufelftuhl oder im Bett haben
fann? Ordefter, Sängerinnen, Profeſ—
foren, Kanzelredner — Radiofunf liefert
alles prompt ins Haus. Keine teuren
Gintrittsfarten mebr, fein Warten an
der Garderobe, feine Enttäuſchung über
den Blab. Früher, wenn der Redner am
Dortragspult uns allzu gelehrt Tang-
weilte, wagte man fic nit durd GFort-
laufen aus dem Gaal zu blamieren, aber
beim Radio — bumms, tilge id den Kerl
mit einem Handgriff aus, id ſchmeiße
ihn gleihjam verädtlih von mir. Der
foll fih wohl in Adt nehmen. Hier
find wir Herr.
Das Kino bat die Sheaterfultur zer-
trümmert. Das Radio wird die Konzert»
fultur und PVortragskultur zertrümmern.
Der Fortſchritt raft mit Wutomobileseile
porwärts.
Aber nod immer ift das Ende der
nendlichkeit nicht zu febn. Die nadften
Gtappen, die dem Fernhören folgen, find
erftens das Gernfjeben, zweitens das
Serntaften.
Das optijhe Radio wird uns ferne
Greigniffe leibhaft vor Augen ftellen.
Es fommt die Zeit, da fann jeder Deut-
fhe auf feinem Sofa nidt nur dem
Reihstag zuhören, jondern er fann
zugleih telenptijd den ganzen Reidhs-
tag vor fid febn, er fann fid dabei
amitfieren, wie feine Grwählten fid prü—
geln, würgen und mit Tintenfäfjern be-
werfen. Dadurd wird das politiihe
Sntereffe weitefter Kreife angeregt. Un—
fere Devife ift: Jedem Deutiden fein
Reidhstag. Ebenſo fann man fid telenp-
tif an den amerifanifd-japanifden
Krieg anjhließen Laffen.
Aber das ift nod gar nichts gegen
das Ferntaften, das durch das „taf-
tifde* Radio (Sango-Radio) ermöglicht
wird. Da fann id nidt nur hören
und feben, was hundert oder taufend
Kilometer von mir fid ereignet, fondern
ih fann es fogar berühren und an-
~ Tanten,
faffen. Im Programm des Tango-
Radios würde gum Beifpiel ftehn: 8 Uhr
15: Reichsminifter Strejemann fdiittelt
den Teilnehmern die Hand. 8 Uhr 20:
die Maſſary gibt allgemeinen Rundfuß
aus. Da würde ich aber vorher ab-
hängen. St.
Aus der republifanifden Gefellfdaft.
in „führender“ Berliner Seitungs-
mann, beriidtigt durch feine ſchludrig⸗
felbftgefällige, aufdringlide Politifafterci,
die der Gntente gerade dann immer ge-
legen fommt, wenn es für Deutidland
am ungelegenften ift, der im übrigen aber
febr ungebalten wird, wenn man ihn
nidt als Deutfden Führer gelten
lajfen will, fißt in Berliner Sefellidaft.
Wan glaubt unter fid gu fein, ein une
bedeutender „Sremder“ wird überjehen.
Mit Hand und Mund verfidt der große
Mann eben wieder eine feiner mehr
geiftreihen als gewiffenbaften Theſen;
ein Ginwand, der von deutjchnationaler
Seite ftammt, wird ihm aus der Gefell-
ſchaft entgegengebalten. Da entihlüpft
ibm das geflügelte Wort: „Das fann id
fhon gut leiden, wenn e Goi will ge-
{heiter fein als unfereiner.“ (VBerbürgt
wahr.) >
Sn dem Parteiberidt der GB. S. P. D.
wird aud ftolg verfiindet, daß man wie—
der ein BWibblatt babe, und zwar ein
„republifanifches“, das „Lachen Links.
Man kann fih ſchwer etwas Wib- und
©eiftloferes vorftellen als diefe gequäl-
ten und geſchwitzten Kalauer und zum
Seil ſchweiniſchen Schmierereien. Bon
einigen Börſenſchmonzes abgefeben, die
man offenbar für bejonders angemeffen
hält, um fie dem Proletarier vorgufeben
und Die immerhin ein wenig auf Das
„Milieu“ fchließen Laffen, aus dem die—
jes „Witzblatt“ hervorgeht, herrſcht troft-
Iojefte Langeweile. Wir nehmens den
V. S. P 9.- Leuten (Kuttner zeichnet)
aud) nidt übel, wenn ihnen der Humor
ausgeht und der jüdifhe Gifer allzu febr
das Konzept verdirbt. Aber eins über Die
Singer gen jenen Piamantenfabri-
ie aus Mangel an anderem
Stoff gegen den § 218 (Srudtabtreibung)
„Dichten“:
So dient ein Weib, ee PD aes auf
U ’
Teils’ der Moral und teils dem
Nationalen,
Wer wahrhaft driftlid ift, der braudt
fein ®eld,
Der Himmel wird die Alimente gablen..
Was weiß fold ein Geiftesbliber bom
„Shriftlihen“? Die Republifaner von der
„Öermania“ find da in einer netten Ge—
fellfdaft. 2
- auf:
Raum ift Bofel etwas im Ginfen,
Caftiglioni ein wenig verblaft, da fteigt
ein neuer Stern am jitdijden Himmel
Midael. Gein „Konzern“ ift
Käufer für alle gefunfenen Altien, der
neuerlide große Fiſchzug gegen Den
Reft des mittelftändifhen Beſitzes fließt
wieder in die ridtigen Taſchen.
Schon bat das berüdtigte 12-L1hr-Mii-
tagsblatthen, ein DBörfenanimierblatt
{hlimmfter Sorte, eine Reflamenotig für
Michael Iosgelafjen. Das erfte, dunfelfte
Stadium ift überwunden; er wird groß
genug, um Reflame und ,,Literatur* zu
wagen. Bis por furzem war es nod nidt
gan angenehm, mit diefem „Konzern“,
er mit Induftrien handelte wie mit
alten Gtiefeln, je nad) Konjunktur ftill-
legte oder „produzierte“, Geſchäfte zu
maden. Die Methoden waren zu neu-
berlinifd. Smmerhin: die unbegreiflid
weithergige Kreditpolitif der Reidsbanf
u Beginn des Sabres fam dem Konzern
Febr zugute. Dann fam ein befonders
feines Geſchäft. Die Gelder der Poft
wurden einer Banf anvertraut, die Mi»
dael zu diefem Swed gegründet batte.
Was jagte der Herr Reihspoftminifter
Höfle dazu? In einer Beit, in der für
taglides Geld 30 v. 9. gegeben wurde
und die Zandwirtihaft fowie die wirklich
produzierende Snduftrie an Kreditnot gu-
— gebt? Das Geſchäft wurde dann
od bemerft, freilich nicht, ohne daß das
Reih reidliden Gewinn — wem? —
abgeworfen hatte. Sebt fauft Michael
alles. Die Ronfursmaffe ift ja jo herrlich
groß. Häufer, $abrifen, Banken, Güter
— ein neuer Raubzug ift im Gange. Der
wiepielte feit der glorreihen Revolution?
Hugo Friedrih Hartmann.
Frame und Runft Hugo Griedrid Hart-
manns ift aufs engfte mit Bardo-
tief verbunden, der alten Zangobarden-
ftadt, Die einft Heinrid der Löwe fo
zerftörte, daß fie fid) nicht wieder erholte.
Seit etwa drei Sabrgehnten wohnt Der
Künftler dort. Geboren ift er freilich fern
im Often in Marienwerder, aufgewadfen
ift er in — Berlin. Seine fünftlerifche
Ausbildung fand er in Dresden unter
®otthard Kuehls Leitung. Nahdem er
innerlich felbftandig geworden war, fudte
er fih feine Heimat, und das Blut,
das durd) die Sabrbhunderte wirkt, zog
ihn in den deutſchen Nordweften, in
die Landſchaft, die zu feiner Art paßt.
Gine mannigfaltige, reizvolle Natur
verbindet fid in Bardowief mit großen
geihichtlihen Grinnerungen. Gs ift heut
ein Dorf mit niederfadfijden Strobdad-
häufern, aber der alte Badfteindom und
der Nikolaihof zeugen von ftädtifcher
311
DBergangenheit. Nur eine Stunde ent-
fernt ragt die getürmte Lüneburg mit
ihren gotifhen Kirchen, dem ſchätzereichen
Rathaus und den alten Giebelhäufern.
Mitten zwifhen Aedern, Wiefen, Hei-
de, Moor, Kiefernwäldern und der wei-
ten grünen Ddeidhumagogenen Elbmarſch
liegt in unendlider Ruhe das Dorf. Die
Ilmenau trägt die Fradtfabne pon Ham—
burg nad Lüneburg vorüber. Wie
Träume des Sdlafenden gleiten fie da-
in.
Grnft, tief, verhalten, aber nicht gleid-
förmig, fondern unerfhöpflihd reid) an
ftimmungsoollen „Winkeln“ und Wo—
tiven ift Die Randichaft. In einer wei-
ten, ferngefunden Natur lebt eine ftille,
alte, echte Kultur. Wie das Wefen die-
fer’ Landihaft ift das Wefen des Künft-
lers, der fie fand.
Die Wirfung der „impreſſioniſtiſchen
Walerei“ wird heute immer geringer:
Nidt duch die Gegenwirfung des „Ex—
preffionismus“, onen Burd die zeit“
lide Entfernung. Bilder, die einft gro-
fen Gindrud auf ung ’madten, laffen
uns heute fühl. Das ift der natiirlide
Ztuglelepenneh: die $ülle der ,Begabun-
gen mit ibren taufend Bildern ver—
inft, e8 bleiben nur wenige Werke und
wenige Künftler. Zugleich verjdieben ſich
die Wertungen. Wie in der Literatur
der einft geringfhätig behandelte Jere—
mias Onttbelf ung immer gewaltiger em-
porguwadjen beginnt, fo in der Ma—
lerei Leibl. Daher treten heute die Aus-
ftellungsfüller und Runftgebandelten des
impreffioniftijden Seitalters mehr und
mehr zurüd, während Künftler, die frü-
ber verhältnismäßig wenig genannt wur-
den, nidt nur bleiben, fondern uns
bedeutender erfdeinen. Hartmann bat
in den Ausftellungen der Berliner Se—
aeffion wohl die Aufmerkſamkeit auf fid
gezogen, Durdgedrungen aber ift er nicht.
Gr fand wohl feinen Kreis, und fein
Atelier in Bardowief war immer wieder
das Biel von Kunftfreunden; aber eine
Größe in der Welt des Kunfthandels
und Mufeumsbetriebs wurde er nit. Er
rangierte unter „Heimatfunft“. Weder
pifant nod aufregend.
Aber während id manden Größen
des Impreffionismus gegenüber Heute
nur @leidgiiltigfeit empfinde, fpreden
mid Hartmanns Bilder lebhaft an. Die
Sreilidtmaleret mit ihren Problemen,
fehr reihe, feine und frifhe Farbigfeit,
fider empfundener Aufbau — dergleichen
trifft man aud bei andern. Geit e8
„erreiht“ wurde, feit es nur nod abge»
wandelt zu werden braudt, intereffiert
es uns faum. Bet Hartmann aber ift
außer dem feinen Künftlerauge und
312
der feinen und feften Künftlerband_
nod mehr: Charakter. Wir mögen nidt
mehr bloß äſthetiſche Augentiere fein,
feitdem wir die Schule des Lnglids
Durdhgemadt haben, wir fuden aud in
der Kunft menfdliden Gharatter.
Hartmann ift aud nidt „Spezia-
lift’, der nur eine beftimmte Gade „ann“.
Oewiß, die Pferde auf feinen Bildern
werden febr geſchätzt, und zweifellos ift
er ein berporragender Maler des Pfer-
des. Aber er malt aud SKaben -und
Hunde, Waldinneres, Arditeftur, Still»
leben, Heide, Meer, Watten, Menſchen
— alles — und nod nidt „alles“. Es
geht ihm ftet8 um die norddeut-
{he Natur. Keine Kruzifige und Ma-
Donnen, die Heute fo beliebt find, aud
feine „Stätten der Arbeit“ mit SGdorn-
fteinen und OR feine gal wr i
Grofftadtftrafen — das würde nidt *
nem harakter entſprechen. Aber
was er mäßlt, iſt ſehr mannigfaltig,
immer wieder neu erfaßt, immer wieder
„anders“ und eben dod Hartmann.
Dir zeigen in diefem Heft auf drei
Blättern drei verfdiedene Geiten feiner
RKunft. Bunaddft einen Holzſchnitt.
Dasjelbe Motiv (Dom zu Bardowiek)
bat Hartmann aud gemalt, aber der
Schnitt gibt in der Reproduftion mehr.
Zugleih haben wir damit ein DBeifpiel
feiner fräftigen, feften Art im Se Schnitt.
Das Blatt ift omalerifd, es wirft „far⸗
big“, nicht „linear“. Aber die Linie iſt
nicht ausgeſchaltet ſondern ſpielt inner⸗
halb der großen GOegenſätze pon Schwarz
und Weiß ihre Rolle. Den. dunflen
Kern bildet der Dom. Nun beadte man,
wie das Weiß pom Gröboden über die
Wände und Dächer binaufgebt, fid in
den Bäumen aufwölbt und verliert, wie
ibm das Helle des Himmels Widerpart
Halt, und wie bas Gange von vorn nad
binten fid aufbaut, umwölbt vom Raum.
Der Himmel wirft madtig Burd die
Wolfen. Dod das Kompofitionelle ift
nur widtig für den Künftler,
gebt uns nidts an. (Der Teufel Hole
Die Kunfterzieherei mit ihrer äſthetiſchen
Analpfe, dem Laien ziemt nur Qualis -
tätsgefühl.) Wir fragen, ob das Bild
nidt nur ,gefonnt* ift, fondern ob es
ung etwas ift. Da ift uns der Dom das
dunfle Geheimnis, hingelagert, faft wie
ein Zier bingefauert. Die Dunkelheit iſt nicht
tot, ſondern in den gotiſchen Fenſtern
glimmt verborgenes Leben. Sp liegt ed
wudtig zwiſchen Abendfonne und Regen
fdauer. Die Haufer der Menjhen ume
eben das heilige ngetüm wie eine
las muntere Gnfelfdar den greifen,
wiffenden Abn.
Bon den bemwunderten „Pferdebil-
dern“ Hartmanns gibt der „Seierabend“
ein Beifpiel. Mit weld feinem Oefühl ift
Erde und Himmel gegeneinander auf-
— und wie ſicher ſteht die Oruppe
arin! Wer mag, verfolge die Stellung
der Pferdebeine, ihre „Bedeutung für
den Aufbau“, Die Gegenbewegung Des
Gggenden im Hintergrund, die Abge-
wogenbeit bon Hell und Dunfel, der die
Abgewogenheit der Farben entipridt.
ins aber intereffieren Die beiden Pfer-
Dewefen, die mit diefer Kunft dargeftellt
find. Ihre Grmattung, ihre Rube, das
mit Worten nidt auszufagende müde
Ropfbangen und leife Schnaufen, das
Pferdhafte in Berbindung mit Acer und
Himmel.
Gndlid geben wir eine rafhe Far-
benffigge wieder, die mit vielen andern
in den lebten Jahren an der Nordfee
entftanden ift. Hartmann bat dort das
„werdende Land“, die Watten, Die
Priele ftudiert. Hier haben wir anges
Ihwemmte Warſch. Schon ift der Schlid
bon faftigem Gras überzogen, fdon find
ein paar Kühe binausgetrieben. Sn dem
Priel (natiirlide Bafferrinne im Schlick)
fteht nod) das Salzwaſſer, das bon der
Glut zurücdgeblieben ift. Gern über dem
@®elb und Grün der Wiefen ift der fhma-
fe violette Schein des Meeres fidtbar.
In dieſe Skizze ift die Ginſamkeit und
Mrwiidfigfeit des fid bildenden feften
Landes zwifhen Erde und Meer binein-
emalt. Es ift nicht bloß „Wiedergabe“
er gejehenen Natur, fondern — das,
was ſich nit ausfpreden läßt, was aud
niemand pbotograpbieren und ume
ſchreiben fann, fondern was der Waler
aus feinem Anblid und feiner Stimmung
eben nur malen fann. —
Meift leitet man den „deutſchen Im—
preffionismus“ von ,frangdfifden Bore
bildern“ ab. Daß mande deutihe Ma-
ler fid) Anregung und malerifhe Tech—
nif aus Paris geholt haben, ift befannt.
Aber aud) ohne Paris wäre eine im-
preffioniftiihe Malerei bei uns entftan-
den. Gin Werf wie das Hugo Friedrich
Hartmanns ift in Sedhnif und Gehalt fo
aus einem ®ufß, daß e3 ganz deutid
ift; ein SHinüberbliden auf franzöfifhe
Meifter bilft uns nichts gum befferen
Gerftandnis. Hartmann fann nur ver—
ftanden werden aus feinem deutſchen
Weſen in diefem beftimmten Zeitalter
deutfher Kultur. St.
Der Beobachter
Der General Berthold von Deimling
veröffentlicht in der Frankfurter Bei-
tung einen ganz gemütlichen Schrieb von
wegen: der Wilitärkontrolle. Im Stil
einer Bugendigriftftellerin aus den adte
iger Sabren beginnt er: „Liebe Leferin
und lieber Lefer!* Und dann erzählt der
gute, liebe ®eneral der guten lieben Lee
ferin, daß er in®enf beim guten, lieben
Bölkerbundsrat geweſen fet und — nun
hau mal einer! — „aud GSelegenbeit
gebabt babe, mit Bundesratsmitgliedern
über die allgemeine politifde Lage zu
{preden.“ Na nu ja dod, da ham fe
den guten, lieben ®eneral alle febr nett
angehört und find aud alle gut und
lieb getvefen mit der verdienftvollen und
würdigen Szcellenz. Und Gzcellenz glau-
ben es ihnen auf Wort: „Die ganze
Welt febnt fid nah Frieden und er-
bofft ibn durch Zufammenwirfen im
Völkerbund. Nur Deutſchland
ſteht noch abſeits! Nein; wir
dürfen uns den Eintritt in den Völker—
bund nicht verbauen laſſen durch eine
Geiftesridtung, die zum Fluche Deutſch⸗
lands troß der blutigen Lehren des Welt«-
frieg3 nod) nicht begriffen bat uſw. uſw.
(folgt die üblide liberale Phrafe)...
Nad meiner Meinung müffen wir jebt
den Alliierten fagen: ,Rommt und
fontrolliert und febt nad,
wasundfoviel Shrwollt. Wir
wollen Gud alle Kiften und
KRaften öffnen! — Was ift denn da»
bei, wenn fie wirflid) Waffen finden?
Bird die franzöfiihe Politif in Zu—
funft in ein anderes @eleis gelentt,
dann werden aud Gertragswidrigfeiten
gang von felbft aufhören. Alles
werden die Alliierten einfeben und
begreifen und werden froh fein,
die Kontrolle fobald als möglich in die
Hände des Völkerbundes legen zu
fonnen.“ Hat der gute, liebe Profeffor
Wilſon nidt aud „eingefehen“ und „be=
griffen“, ift er ſchließlich nidt aud febr
„froh geweſen“? In dem Augenblid, da
die Nolletiften Hinter jeder Ddeutfden
Sagdflinte einen neuen Weltfrieg wit-
tern und da Granfreid, England, Ame-
rifa, Polen, Tſchechoſlowakei und felbft
Dänemark (entgegen den Worten von
Gerfailles) rüften, rüften, rüften, mutet
man uns zu, den gewappneten Gewal-
tigen vertrauenspoll im Hemd entgegen-
augehn und ihnen mit feelenvollem blauem
uge Ddeimlingsbaft an die eberne Bruft
313
zu finfen? Aber im Grnft, Gecelleng!
Wenn Sie wiinfden, daß Leute, deren
berglide Beforgnis mit den von Ihnen
beliebten Scheltworten über den Natio-
nalismus nicht abgetan ift, in Ihren
Worten mebr fehn follen als den Aus-
drud einer bebagliden Laune am Raf-
feetifd, fo müffen Sie Ihre innere Gtel-
lung zu den Dingen zuvor flar und offen
duch die Beantwortungder folgenden bei-
den Gragen begründen: Grftens: warum
glauben Gie, daß es genügt, wenn
Deutſchland abgerüftet bat? Warum
verlangen Gie nidt, daß die andern
Bölfer in gleider Zeit und in
gleidem DMaßftab abrüften?
Die ift Bertrauen ohne Gegenſei—
tigfeit möglihb? Zweitens: Halten
Sie die Wegnahme Glfah-Lothringens,
Danzigs, des preufifhen Oftens und der
Deuter Kolonien für einen Wi der Ge-
redtigteit und find Gie bereit, end-
gültig auf Glfaf-XSothringen
ufw. zu vergidten? Sa oder
nein, Herr General bon Deim—
ling? Und wenn Gie nidt ja oder
nein jagen mögen, jo follen Ihnen auf
Ihrem Sterbebette diefe drogen ſchnei⸗
dend in die Ohren gellen und im Jen—
ſeits ſollen Ihnen die Väter, die für
die deutſche Freiheit gefallen ſind, mit
dieſer Frage entgegentreten.
Sr Seift, den man „marziftiih“ nennt,
fommt in flaffifder Reinheit in
einem gewerffdaftliden Pfingft-Auffat
im „Borwärts“ pom 8. Suni zum Aus—
drud. Die driftliden Worte werden fo
unbefangen ing Marziftiihe umgedeutet,
daß wir diefe an fih unbetradtliden
geilen als Kulturdofument und Mufter-
beijpiel aufheben: „Der Heilige Geift...
bildet fid in uns, getragen von der Er—
fenntnis, daß in der fapitalifti-
{hen Wirtſchafts- und Gefellfhaftsord-
nung die Sntereffen der großen befit-
Iofen Maffe des Bolfes in durdaus un-
ureihendem Maße berüdjichtigt wer—
en,... daß die privatfapitali-
ftifde Broduftionsmeife nidt
bon ewiger Dauer, fondern nur eine
Stufe in der Gntwiclungsgefdhidte der
Menfchheit ift, pon der aus eine höhere
Stufe zur ſozialiſtiſchen Wirtfhaftsord-
nung führt. Dieſe Grfenntnis in Bere
bindung mit der Gmpörung ob der
gegenwärtigen zwiefpältigen Ordnung der
Dinge, dem Mitleid mit ihren wehr-
Iofen Opfern, führt zum inneren
a tek mitzuarbeiten an dem großen
Werfe der Menfchheitsbefreiung aus dem
Sode diefer egoiftifhen, ungeredten und
recht unvollfommenen Geſellſchaftsord—
nung... Der Geiſt des Sozialismus
314
beihwingt die Herzen, erhellt die Hirne
und befeuert die Zungen der Apoftel,
die in allen Ländern Das Gpange-
lium des Sozialismus verfünden
und ibm duch ihr Wirken die Bahn
bereiten. Gein Wunderwerf ift, daß er
Die Arbeiter, die fid im Weltfriege
jahrelang in feindliden Lagern bewaff-
net — wieder geeint bat.“
— uch ein Heiliger Geiſt, eine Er—
kenntnis, ein Zungenreden, ein Apoitel-
amt, ein Gpangelium, ein Wunder. Etwa
fo, wie ein Kino „aud“ ein Theater ift. ~
Geors Bernhard, auch einer, der ſich
„an Klugheit von feinem Goi über—
treffen läßt“, redet uns zu, den Grane
gojen Die derzeitige Weftgrenge zu ga-
rantieren. Die Gljajfer feien ja nun dod
einmal nit deutſch, fondern frangdfifd
gejinnt. Das ift nun zwar falfd, aber
aud wenn es ridtig wäre — Elſaß-Loth—
ringen ift nidt eine Frage des Willens
der einen oder andern Partei, fondern
eine Grage Ded Redts. Das Redt
ift nicht beftimmt durch den Willen ir-
gend welder einzelnen, aud nidt durd
den Willen der Ginwobhner des Landes,
fondern es ift eine Angelegenheit der
®ejfdhidte ,
bilipp Scheidemann bat auf dem ſo—
zialdemofratifhen Parteitag eine
feiner gefdmalgten Gettdrucdreden losge—
lajjen. Nad dem Berliner Tageblatt
\hloß er mit folgendem ©lanz- und
Kraftwort (man le daß wir nidt
in begeiftertem Gettdruc zitieren): „Die
Rrrepublif muß verteidigt werden — fofte
e8, was es wolle — mit Leib und Lee
ben.“ Nad dem Vorwärts fagte er:
„Die Gerpflidtung wollen mir eine
geben, unbejhadet unferer fonftigen
Pflidten, die Republik zu retten, fofte
e8, was es wolle, und zu fampfen für
die Republif mit Leib und Geele.“ —
Bir ridten an den mit dem ehrwürdigen
Oberbürgermeifterleib für feine Repus
blik fämpfenden Philippum zween Fra—
gen. Grftens: Will er für die Republik
nur gegen feine deutſchen Bolfsgenoffen
oder aud) gegen Die — Bel⸗
ier ufw. mit dem Leibe und der Seele
ämpfen? Zweitens: Sft der Leib- und
Geelenfampf nur für die Republit
oder aud für das Baterland zu-
laffig?
n irgendeinem Prozeß gwifden zivei
Deutihpöltiihen erfdeint der völfi-
Ihe Abgeordnete Henning mit einem
Hafenfreuzabzeihen wor Geridt. Der
Almtsgeridhtsrat, Der fid) diefen fetten
Happen nicht entgehen läßt, ift juftament
Herr Friedlander. Gr weiß zivar,
erften3, daß der Abgeordnete Henning
völtifh ift, zweitens, daß das Haken—
freug das Abzeichen der völkiſchen Partei
if. Gleichwohl gerät er beim Anblid
des hübſchen fleinen Kreuzes mit den
böfen Hafen in Wallung. Gr hat nidt
die Shipp BAA ein allbefanntes
Abzeihen ruhigen Blutes anzufehn oder
darüber binwegzufehen. Das Reffenti-
ment bringt fein ®emüt zum Sieden, er
poltert, daß ein foldes Abzeichen auf
einem Rod „die Ehre und Würde des
Gerichtes verlege“. Warum verlegt e3?
Was hat das Reffentiment des unfried-
lihen Herrn Friedländer mit Ehre und
Würde des Geridtes zu tun? — Mande
Leute fönnen die blonden Haare nidt
ohne Reffentiment anjehn. PVielleiht ver-
langt einmal ein Amtsridter, daß Klä—
ger und Zeugen zur Ehre des Gerichts
mit jhmwarzgefärbtem Haar erfdeinen?
Wer fist uns vor den Laderlid-
feiten folder Hyſterie? — Sd habe nie=
mals ein Hafenfreuz oder fonft ein Ab—
ricer getragen. Aber id) möchte eben
arum betonen, daß id) die wilde Wut,
mit der viele aufgeregte Suden das
Hafenfreug berühmt gemadt haben, als
dumm empfinde Gelaffenbeit ſcheint
nidt die Tugend unferer verehrten jit-
difhen Mitbürger zu fein. — Aehnlid
liegt e8 bei Dem Kampf gegen das
„Borfum-Lied“. Es ift eine fhauderbafte
Boefei — ein @affenbauer wie viele
andre. (Mander antigermanifde Saffen-
bauer jüdifher Provenieng ift pöbelhaf-
ter.) Die Leute in Borfum wollen
eben unter fih fein. Wenn man mid
irgendwo nicht haben will, gebe id nicht
bin. Die aufgeregte jüdiihe Seele will
nun aber gerade hin. Man muß
Swiebeln und Rnoblaud auf die Wunde
legen. Iſidor der Allgewaltige febt den
Minifter, den Oberpräfidenten uſw. bis
zum Landrat für feine bedräute Frei=-
zügigfeit in Bewegung. Die Borfumer
werden auf alle Weile fchilaniert. Der
Landrat muß das Lied verbieten — eine
grotesfe Amtshandlung. Die Gdupo
muß anmarfdieren und eine Sdladt ge-
oy Die Borfumer Rurfapelle fchlagen,
i8 das Borfum-Lied tot am Boden
liegt und der letzte raffenbaffende Trom—
petenton bafraffelnd im abendliden Ze—
phyr verflingt. Gndlid) aber ftellt das
Gericht feft, daß in der freien deutſchen
Republif die Landräte fid den Teufel
um @affenbauer zu fümmern haben.
Ein Landrat fei fein Rabbi. Die
Rurfapelle jchmettert wieder vergnügt
ihren Raffenbaf in den Nordfeeabend
Binein und der Landrat ftebt beladelt
am WMeeresftrande. ©algen = Bernhard
mwütet mit der Feder. „Was denfen jih
eigentlih folhe Ridter in Preußen?“
{dreit e8 aus feiner verwundeten Seele
auf. O Iſidor — o deutihe Republif!
— Nadtrag: Landrat Bubert in Em—
den hat foeben in republifanifhem Land—
ratggorn den Badedireftor weggejagt.
Schneid muß ein Landrat haben. Das
Ladheln ſchwillt zu einem Geladter. Hof-
fentlid) wird ibm bald deutlich gemadt,
Daf republifanifhe Landrate ihre Amts—
befugnis niht dazu veriwenden follten, Be-
weismaterial für das Schlagwort bon
der ,udenrepublif zu liefern.
Wi baben eine Freude gehabt, die
wir durdaus nidt bei uns behalten
fönnen. lle, die mit Golfsbildbung zu
tun haben, mödten wir Anteil an unfrer
innigen §reude nehmen lafjen. Namlid:
es gelangte ein Grofpeft zu uns, in dem
Dr. R. v. Grdberg und Dr. Werner
Pidt mitteilen, daß fie die beiden Zeit-
I&riften ,, GBolfsbilbungsardio* und „Ars
beitsgemeinfhaft“ in ein ,Ardiv für
Srwadjenenbildung“ zujammengelegt bat-
ten. Man babe den Aufgabenfreis er-
weitert „entiprehend der Wandlung, die
fih im freien Golfsbildungswefen über-
Haupt vollzogen hat“. Was foll das für
eine Wandlung fein? Lies, Lefer: „Die
freie Bolfsbildungsarbeit muß heute nati-
onal (wennaud gewif nicht nationaliftifd)
betont fein, wenn fie ihre Aufgaben er-
füllen will, die geiftige Bolfsgemeinfdaft
alg Borausfebung der politiiden zu ver—
wirklichen.“ — Subilate, cantate im na-
tionalen Himmel! Aber mit dem leiſen
Bedenken: Heute muß die Bolfsbil-
dungsarbeit „national betont“ fein, wie
aber, o Sreunde, muß fie morgen bez
tont fein?
gx Gorjdhlag des Beobadters, den
Radiofunf in den Dienft des Univer-
fitatgabbaus zu ftellen, hat die begei-
fterte Zuftimmung aller fort{drittlid ge-
finnten Lefer gefunden. Welde Erleich—
terung des Studiums! Go ließe fid bei-
ipielsweife Früh- und Dammerfdoppen
auf das angenebm{te mit dem Borle-
fungsbefuh verbinden: man erftebt beim
Kellner eine Hörmarfe, jdnallt fid die
Weisheitsijpange um das von Wiffens-
durft bdurddrungene Hirngewölbe und
birt — etwa Friedrih Meinede über
die „Sntwidlung vom bimmelblauen
Deltbürgertum auf dem Umweg über
den Nationalftaat zum rofenroten Welt-
Bürgertum“ oder was man grad’ zum
Gramen braudt. Bwifdhendurdh Tann
man „borfommen“, ,nadfommen“, „aufs
Spezielle“ — furz, man verbindet das
Nüslihe mit dem Angenehmen. Sämt-
315
lide Bierdirfer würden fid natürlich
Weisheitsantennen zulegen. Der Fort-
ſchritt der Sednif ift gar nidt fo un-
bebaglid, man muß ibn nur ridtig zu
gebrauden wiffen.
om amerifanifhen Theater gibt Were
ner Krauß im B. T. einige Gin-
drüde wieder, die wohltuend fadlid find.
„Das amerifanifhe Theater in feiner
heutigen Gtruftur fönnte dem deutſchen
in vieler Hinfiht Vorbild fein. (SH
fann das wohl fagen, ohne in den Ruf
eines Moralpredigers zu fommen.)“ ind:
„gablreih find in Newyork die Repue-
theater, Die man mit den Deutfden nicht
in einem Atemzug nennen fann. Port
herrſcht nicht die derbe Bote, im Grunde
find diefe Repuen furdibar harmlos,
aber die ſchönen Frauen, die fid darin
bewegen, überhaupt der ganze gejhmad-
volle Rahmen, find von jo auserwählter
Anmut und Gragie, daß man reftlos
begeiftert Diefe Theater verläßt.“ —
Sleihwohl wird der Wolfgang Heine,
der alte Gorfampfer für nuditäre Runft,
nit aufhören zu behaupten, die Deut-
fen madten fid durd Ablehnung goten-
durdfebter Kitſchkunſt „por den andern
Völkern laderlid“.
Au der großen engliſchen Wembley-
Ausftellung ift zu febn: das Dent-
mal des Prinzen von Wales mit Pferd,
lebensgroß aus Butter gefnetet. Zu
befidtigen in einem Kühlraum. Darunter
ftebt zu leſen, daß des Bolfes Liebe
zu diejem Prinzen „nie fchmilzt“. Be
pretty — is’ nt? Ob Gatberland! J
braude mid Deiner Hausgreuel und
Sünden wider den Geift des Diirerbune
des fürder nicht mehr zu fhämen. Wir
find aud) auf dieſem G@ebiete ruhm-
poll bejiegt worden.
Zwiefprache
SS). diefes Heft in die Ferien eines er-
freulid warmen Sommers fällt, bale
ten wir es für angemeffen, dem Lefer
eine bunte Schüjfel Allerlei vorzufeben,
daraus jeder fih einiges entnehmen
mag. Wir bringen einen „Bücherbrief“,
der, in Gortfebung der einft regelmäßigen
BDiidherbriefe, eine nod nicht bei uns be—
handelte Bidergruppe zufammenfaßt.“ —
Claſſens Aufſatß ift gunadft für päda-
ogijd intereffierte Kreife beftimmt, ent-
alt aber aud etwas für Nidtfadleute.
Dabei weijen wir darauf hin, daß Glaf-
fens „Werden des deutſchen Bolfes“
bald abgefdloffen fein wird. Das vor—
legte Heft ift das 13/14: „im Gine
beit und Sreiheit“, 208 Seiten. Geheftet
2,50 ME Darin wird die Zeit pon 1812
bis 1858 behandelt. Zunädft der Frei—
beitsfampf, dann die Biedermeiergeit
(„Stilles Wadfen“), gulebt Die Rebo—
Tution bon 1848 mit ihren Nadwirfungen. —
Kunft und Literatur im vorliegenden
Heft ift diesmal niederfählifh, wenn—
gleid) Klopftod und Gobnreh febr weit
auseinanderliegen. Klopftods Zweihun—
Dertjabrfeier wollte ih nicht übergehn,
nad@dem wir uns mit feinem Sabres-
und Seitgenoffen Kant im April fo aus-
führlih bejdajftigt hatten. Zudem find
Klopftods Oden Freunde meiner Sugend,
id babe fie einft alle gelefen und in
ihnen geſchwärmt. Aud gehöre id zu
den wenigen Wenfden, die den Meſ—
fias zu Ende gelefen haben. Abfidt-
lid) babe id nidt über Rlopftods Stel-
lung zur politifdhen Zeitgeſchichte ge-
316
ſchrieben; denn es ſcheint in Deutidland
Mode zu werden, aud die Klaſſiker dar-
aufbin angufebn, wie fie wohl zum
Reihstag gewählt haben würden. Der
„Vorwärts“ führte feinen Lefern zwar
Riopftods Antityrannentum und Degei-
fterung für Die franzöſiſche Revolution
por, Dod verihiwieg er Dabei die Ode
pon 1793: „Mein Irrtum“. Schon 1792
Didtete Klopftod Strophen gegen „Die
Sacobiner“. Und dann folgen die bittern
Oden „Das Neue“ (1793), „Das Bere
fpreden“ und „Zwei Nordamerifaner“
(1795). Ferner denfe man an die im
„Vorwärts“ gleidfalls verfhwiegenen
Gaterlandslieder und Bardiete. Klopftod
Dadte groß und frei, aber Motive und
Ziele feines politifhen Denfens Hatten
nichts mit auffläreriihem frangdfifden
Sanatismus zu tun, fondern waren von
vornehmſter Deuifdbeit. Warum die par-
teipolitiihe Plafatierung und Verſchmie—
rung der Klajfifer?
Sohnrey zu würdigen fommt gerade
unjrer Zeitihrift vor allen zu. Geine
praftiihe und feine literariſche Arbeit
fteben gang im Dienfte des Golfstums;
ibm baben wir befonders viel gu dane
fen. Wilhelm Heinridh Riehl ift freilich
umfaffender und geiftiger, dafür aber
fteht er den von ihm fo bod gemerteten
Bauern fdon faft mit äfthetijhem Inter-
effe gegenüber; Gobnret dagegen ftebt
felbft nod mitten im Bolf, [ebt und fühlt
wie das Bolf, er denkt und fdreibt nicht
über die Bauern, fondern aus une
mittelbarem Zuſammenhang mit ihnen.
Leber Hugo Friedrid Hartmann bat
das Deutfhe Bolfstum fon por meiner
Seit einen Auffat von Grnft Linde»
mann gebradt, dazu eine Anzahl Bilder
(September 1917). —
Im porigen Heft beobachteten mir,
dad Alfred Kerr nur in beideidener
Parenthefe feines Gmpfanges duch den
are Coolidge gedadte. Aber er
at's nicht laffen finnen: ingwifden lie-
ferte er eins feiner umfangreidften B. T.⸗
Geuilletons über dieſes Greignis. Kerr
quittierte, feiner Natur gemäß, mit Sro-
nie. Aber fo vorfjidtig, daß Soolidge
e3 nidt merft, zumal wenn er es in
guredtgemadter Lleberfebung lieft. Wenn
wir Kerr die ®rabrede zu halten hätten,
würden wir jagen, er fet ein ungemein
vornehmer Geiſt gewejen. —
Su meinem Beitrag über DBornhäu-
fers „DBergpredigt“ im vorigen Heft
midte id nod ausdrüdlih Hinzufügen,
daß mit diefer Erklärung der Sefusworte
die Berufung der Bazififten auf Die
Worte vom DBadenhinhalten, pom Rod
und Mantel, von der Geindesliebe hin—
fällig werden. Es handelt fid um eine
Apoftellebre für die Zwölf, nidt um
eine Gthif für die Menſchheit. Tene
Worte feben die Gnade voraus, fie find
nidt G©efeh einer gnadelofen Welt. —
Man weift mid auf Sobannes Willers
Bergpredigt Hin. Aber dieje ift andrer
Art. Millers Grfenntnis ift intuitiv,
Bornhaufers Arbeit ift fHlidt wiffen-
{haftlidh. Müller, der gerade in feiner
Srläuterung der Bergpredigt febr eines
ibt, fann man annehmen oder ab-
ehnen, Bornhäuſer fließt das Gub-
jeftive aus. —
Leber die wieder einmal „entiheiden-
den“ politiſchen Borgange dieſes Mo—
nats werden wir im nächſten Hefte ſpre—
chen, wo wir des Kriegsausbruches ge—
denken. Wir find der Meinung: Mace
donald fowohl wie Herriot find den
iibliden liberalen ®edanfengängen ver-
fallen. Aber Macdonald fann nidt, wie
er mödte. Gr hat feine Najorität. Die
Gnglander werden mit dem liberalen Go-
talismus fertig werden: fie laffen ihn
fig abregieren. Wud Herriot fann nidt,
wie er möchte. Der fluge, harte Poin-
care hemmt ibn. Aber — Herriot bat
bis zu einer gewiffen ©®renze immerhin
eine Wajoritat. In Frankreich bat ein
Ringen eingefebt zwifhen der nationalen
©ruppe, die vor allem GFranfreihs Gloire
will, und der internationalen @ruppe,
Die vor allem eine ruhige gefdaftlide
Gntwidlung will. Reine von beiden
Gruppen hat zur Beit die völlige Ober-
band, es gibt Rompromiffe und „Ausle=
gungen“, Wbhmadungen und Ableugnun-
gen. Damit bat Granfreid Diefelbe
Spaltung in fid, die uns ſchwächt.
Denn jest in Deutſchland ein Politifer
mit einfahem Bauernverftande regierte,
er würde dem — —— Li⸗
beralismus eine iederlage bereiten
fönnen, daß die Jahrhunderte Laden.
@erade jest ift die Zeit für einen deut-
{hen ®olitifer. Den Liberalismus fann
man immer bineinlegen; denn er ift
leßten Endes dumm. Aber — der deut-
fhe Reichskanzler fagt: unfre größte Sor—
ge fei die wirtihaftlihe Schwierigkeit. °
Sir einen liberalen ®ejhäftsmann mag
das wohl der Gall fein, für einen Po—
litifer ift Die deutſche Freibeit
die größte Sorge. Wir hätten nichts da-
gegen, daß unfer Reidstangler folde
Worte redete, wenn wir nur nidt an-
nehmen müßten, daß er — felbft in aller
Unſchuld von ihrer Wahrheit durch—
Drungen fei. Gr felbft denkt ganz in
liberal=-demofratiihen Gedanken und ar-
beitet mit liberaler Logif. Gr fagt: wir
erftreben „die Freiheit und Gleidbered=-
tigung des deutſchen Bolfes3 im Kreije
der Nationen, und fagt im felben Atem-
zug: wir erftreben nichts andres als die
genaue Erfüllung des Gerfailler ,Ber-
trags“. Alſo wenn wir das DBerjailler
Diktat erfüllen Dürfen, find wir eine freie
und gleidberedtigte Nation. Der Par-
lamentarismus bringt wunderbare Lo—
gifer an die Führung des Staates. Aber
Die Majorität bemerkt dergleihen nidt.
Solange bei uns die Majorität Die
@rundlage des Staates ift, werden wir
das Schidjal aller Majoritaten haben:
entiwveder die Knute oder den Unſinn.
Bisher zeichneten alg Mitredafteure
des „Deutihen Volkstums“ Herr Dr.
Benninghoff von der Deutfhen Bühne
und Herr Kleibömer von der Fidte-Ge-
fellihaft. Beide waren durd ihre Tätig-
feit jo febr in Anſpruch genommen, daß
fie praftif® nur als Mitarbeiter
belfen fonnten. Aber es follte die Gin-
beit der Arbeit in den innerlid zuſam—
mengebdrigen Organifationen betont were
den. Dod bat zumal die Deutihe Bühne
eine Gntwidlung ganz für fid genom-
men. 68 ift nun für die Mitarbeit inner-
Halb der Redaktion Herr A. ©. Giin-
ther eingetreten, den Die Lefer aus dem
„DBriefwechfel gwifden den Revolutionen“
fennen. Diefe Beitrage mußten feiner-
zeit leider ausgefebt werden, da der Ber-
taffer ſchwer erfranfte; der „Briefwech—
fel“ wird nun weitergeführt.
Die Worte am Schluß des Heftes
find der Graählung „Der Poften der
Stau“ entnommen, auf die wir das
porige Mal bei der Bejpredung der
®olgidhen Ausgabe von Luiſe von Fran-
317
cois „Meiftererzählungen“ (Boigtländer,
Leipzig) bejonders hinwiefen. —
Wir laden unjre Greunde ein zu der
„zagung für deutſche Nationalerziehung“,
Die von der Fichte⸗Oeſellſchaft anfangs
Oktober in Hamburg, im Auditorium
mazimum der Univerſität, einberufen
wird. Am 2. Oktober Begrüßungsabend.
Herr Profeſſor Dr. Felix Krueger, der
zweite Vorſitzende der Geſellſchaft, hält
die Begrüßungsanſprache. Am 3. und 4.
Oktober finden drei Vorträge, mit Aus—
ſprachen, ſtatt. Herr Profeſſor D. Dr.
Otto Scheel-Kiel wird ſprechen über die
Entwicklung vom fpätmittelalterlihen zum
modernen Staat, Herr Profefjor Dr. Othe
mar Spann-Wien über den Staat als
Schöpfer und Geſchöpf des Bolfstums,
ich felbft fprede über deutſche National»
erziehung. G8 find nod) weitere Ber-
anftaltungen in Ausficht genommen. Die
Seilnehmerfarte ift für 6 ME. durd das
Arbeitsamt der GFidte-Gefellfdhaft (Ham-
burg 36. Poſtſchließfach 124) zu haben.
Alles Nähere wird von dort befannt-
gegeben. St.
Stimmen der Meifter.
„Ein Kind gehört ſeinem Vater und eine Frau unter das Dach ihres Ehemannes.“
„Und wenn ihr die Ehre verbietet, unter dieſem Dache zu weilen?“
„Die Ehre? Gine Frau bat feine Ehre, die ihr etwas verbietet, Madame.“
Anverſchanmt IE
tief die Grafin in höchſter Gntrüftung.
Der Preuße verjette defto gelaffener:
„Beruhigen Sie fid, Grau Gräfin; was Ghre ift, wiffen nur Männer, denn 7s
allein wiffen für fie einzuftehen. Bei den Weibern heißt das Ding anders.“
„And wie beißt eg, wenn id fragen darf?“
„Es beißt Reufchheit und Treue, Madame.“
"And welche ©enugtuung foll aus diefem Quiproquo für eine beleidigte Frau
deduziert werden?“
„Die Genugtuung einer übereinftimmenden Pflicht.
Denn gleihiwie der Mann
pon Ehre feinen Poften nidt verlaffen darf — wie, zum Exempel, id den meinigen
nit verlaffen dürfte, bis der Wachtmeifter Lehmann mid ablöft —, gleiderweife
verpflichtet die Treue au
dh die Grau, auf dem ibrigen ftandzubalten.“
„Und was nennen Gie den Poften der Frau, mein Herr?“
„Allemal das Haus, in weldhem ihre Kinder erzogen werden miiffen.“
„And wenn fie auf diefem Poften beleidigt worden ift?“
„Mag fie Hand über Herz legen und fein Gefdrei erheben. Gin jeder Wade-
Dienft hat feine Laft.
„Eine bequeme Moral für die hoben Herren, die ihre Beleidigungen raden
dürfen.“
„Au contraire, Madame, eine bequeme Moral für Die Ihönen, Damen, die fie
nit" raden, eventualiter ih auf einen Gerteidiger berufen Dürfen.“
„®anz gut, mein Herr, infofern der berufene Berteidiger ‚nit zugleich der Be⸗
leidiger ift.“
„Madame, ein Mann, der feine Frau beleidigt, ift ein Poltron, und Hat alle
Shancen, ein Pantoffelheld gu werden. Zu feinem Nub und §rommen, verftebt fid,
und dur eine räfonable Grau. Möge fie denn in Gottes Namen die Hofen an-
ziehen an feiner Statt und weder er nod fie und ihre Schußbefohlenen werden fid
zu beflagen haben.“ ....
„Aud die Treue hat ihr Heldentum wie die Ghre, junge Srau, und vielleicht
find es nit die fhwerften Kämpfe, die mit dem Schwert in der Hand zum Austrag
fommen. ‚Zum Gbeftand gehört mehr Herz, als in die Schlaht zu ziehen,’ hat eine
Königin gejagt, die freilich nur bewiefen, daß fie feins bejaß.“
Gr wendete fid nad) dieſer Rede der Türe zu, Gleonore folgte ihm in unaus-
{predlider Bewegung.
„OD Sott, Sie geben!“ rief fie unter bervorbredenden Tränen, „alles verläßt mid,
was "Toll id tun?‘
„Standhalten, Haushalten, Ihr Haus Balten, Gräfin Fink,“ verfebte zurüd-
fehrend der Preufe. „Einft lautete der Shrenfprud einer Grau: Gafta pizit, lanem
fecit, domum fervabit, das beißt auf deutſch —
„Ih weiß, was es beißt,“ fiel die Dame unter Tränen lächelnd ein, „aber wir
find feine Römerinnen.“
„Schlimm genug, Madame, denn wir brauden wieder Römer,“ fagte der Preufe,
indem er die Hütte verlief. vuifepon Francois.
318
Neue Bücher
Für die Beit des Wanderns und pee ftellen
wir die folgenden uns zugegangenen fieben Bücher
gufaminen:
Guftav Wolf, Das norddeutiche Dorf. Bil»
der ländliher Bau» und Giedlungsweife im Gebiet
nördlid bon Mojel und Lahn, Thüringer Wald wnd
Sudeten. Mit 141 Neg- u. 26 Stridagungen. ~ 222
Seiten. R. Piper u. Co., Münden.
In derjelben Bücherfolge, in der Wolf die nord»
deutjhe und mitteldeutjhe Stadt, Rebensburg das
ſüddeutſche Dorf behandelt hat, erfdeint nun diejer
abjhliegende Band. Wolf geht nah einem furgen
allgemeinen Kapitel über die Grundformen des land»
lihen Hausbaues die verſchiedenen Haustypen durd
von Oſtdeutſchland bis Friesland, dann in der zwei—
ten Hälfte Ynnenraume, Einzel» und gejellige Sied-
lung, Dorflichen und Gejamtbild des Dorfes. Wir
haben bier eine flare, überfihtlihe Einführung, die
dem Wanderer die Augen für das arditektonifche
Wejen des norddeutfhen Dorfes öffnet. Ein folider
übrer durch ein nicht einfaches Gebiet, man fann
ih ihm anvertrauen, eo oftdeutihen Haus ware
wohl nod auf Hans Naumanns Theorie über das
litauijhe Haus — ,Primitive Gemeinfhaftstultur”
S. 148 ff — binzumeijen.)
Arthur Fabhlberg, Das deutſche Ordens-
land Wejtpreußgen. Mit 62 Bildern im Text und
auf Tafeln. 84 ©. u. 32 Tafeln. Deutjher Kunft-
verlag, Berlin,
8 umfaßt das ganze ehemalige Weftpreußen. „Wir
aber, die wir die Erben unjerer Väter auf ange-
ftammtem Boden jteben, wir mögen bieraus die
Mahnung vernehmen, alle Straft diefer Grengmart
des Reiches, der teuren Heimatproving zu widmen.”
Möge das Buch mit feinen fchönen Bildern das
Gedadtnis für die zum größten Teil uns geraubte
Proving wadbalten,
Paul Shulgke-Naumburg, Vom Vere
fteben und Genießen der Landjdaft. 152 S. Geb.
2 Mt. Greifenverlag, Rudolftadt.
Ein Büchlein in Meinem Tafhenformat. Nad
einleitenden Gedanken über den äjthetiihen Genuß
der Landſchaft folgt eine Betrahtung der hauptjäch-
lihen fosmijden Geftaltungen: Himmel, geologiſche
Erjheinungen, die Flora, und endlich der Bedeutung
des u und jeiner Arbeit für die Landjdait.
Dann folgen einzelne Erörterungen, 3. B. über die
Fortbewegungsmittel und ihre Bedeutung für den
Naturgenuß, über Starten, über hi Lak tet gab one
turdidtung u. a. Es ijt febr wertvoll, von einem
fe fahverftändigen Manne über diefe Dinge zu
dren. Er bringt uns manden guten Gedanfen.
(Mit einzelnen Ausführungen find wir nidt immer
einverjtanden. So jdeint e8 uns allzu bequem,
die jozialen Bedenfen gegen den henmungslojen
Automobilismus einfah als „Neid“ abzutun. Nicht
nur der Neid, fondern auch die brutale Nichtachtung
der Mitmenjchen um der eigenen Bequemlichkeit
willen ift „eine der übelften und niedrigiten Leidene
ihaften“.)
Das Wandervogelbud. weiter Teil.
Senats: von Sarl Dieg und Willi Er 180
ilder auf 126 S. Greifenverlag, Rudolftadt.
Ein foldes Bilderbudy gibt in der Tat mehr vom
Bien des Wandervogels als biltorifhe und pbilo-
opbiihe Abhandlungen. Der erite Teil führt das
andervogelleben (aud) das Striegsleben) vor, der
zweite zeigt, wie der Wanbdervogel die Landſchaft,
wie er Wolf und Kunſt fiebt. Die Landfdafts-
bilder find befonders angiehend, man fiebt fie immer
wieder mit Genuß.
Wilhelm Hhafer, Der Niederrhein und
das bergifde Land. 112 ©. Greifenverlag, Rudol-
ftadt.
Buerft 1907 berausgelommen, jegt neu aufgelegt,
um in der Beit der „bejegten Gebiete“ für den
Rhein zu werben. Das Büdlein beginnt mit einer
allgemeinen Rheinfahrtbetrahtung, jchildert dann die
„Neſter“ Bons, Neuß, Kaiferswerth, Kleve. Köln
bat ein eigenes Stapitel. Es folgt eine Wanderung
durd das Wuppertal (eine ler ers gut gelungene
Del. dann: das bergijde Land, das Ruhr—
ebiet, Düfjeldorf, Benrath, Brühl und Bonn. Das
lidlein bat doppelte Angiebungstraft, man Lieft ed
fowobl des Inhalts wie Wilhelm Schäfers wegen.
Möge es Nadfolge finden! Landſchaftscharalteriſtik
ijt eine Ian unft; ich ziehe eine feine Land—
ihaftsdarjtellung einer Erzählung vor.
Werner Meyer-Barkthaujen, Alte
Städte zwiſchen Main und Wejer: Corbadh. 56 ©.
mit Text u. 45 Wbb., dazu 30 Bildtafeln. H. BW.
Urjprud, Corbad.
„Ein Städteführer, wie ihn fih der Kunſtfreund
münfdt. Im Umfang den Langewiejhe-Bücdern
entipredend, gibt dad Bud gunadjt geſchichtliche
Notizen, behandelt dann den Stadtplan, die Mauern
und Türme, die Straßen und Plage, die alten
Biirgerbaujer, endlid) eingehend die Kirchen Kilians—
und Nifolaificche mit ihren ungen. Der Text
ijt mit großer Liebe und Sadfunde gejchrieben.
Die Abbildungen geben reizvolle, in weiteren Kreijen
faum befannte Gaden. Wir empfehlen das Bud)
den Liebbabern alter deutſcher Kunſt. Möge die
Aufnahme des Bandes jo fein ha der Berlag bald
die weiteren Bünde folgen lafjen fann und dag an-
dere Stleinjtädte dieſem Borbilde folgen!
J. BV. Lafleben, Wellen und Wiefen. Eine
Wanderung duch bas Tal der Schwarzen Laber.
Bilder von Max Schulte. 114 S. Midael Laf-
leben, Kallmünz,
Nah dem Titel erwartet man Landjhaftsjchilde-
rungen, dod erhält man vielmehr Angaben darüber,
was man alles fieht, wenn man das Tal durch—
wandert, befonders aud gejdhidtlide Angaben, p
daß das Buch eigentlid mehr ein Banderführer ijt
Die gelegentlihen furzen Schilderungen erheben fich
nidt zu fünftlerifher Bedeutung. Hübjch find die
vielen eingeftreuten Bildchen, St.
May Maurenbredher, Glaube und
Deutfhtum. Gottesdienfte, Andachten, religiöje Aufe
füge. Neue Folge. Bierteljabrlid 7 Hefte zu 2 Mt.
Einzelheft 50 Pig.). Heft 1: Das Wort vom Kreus.
oethes Altersweisheit über den Gefreuzigten.
Heft 2: Gottentfremdung — Gotterlebnis. Berlag
Ölaube und Deutfdtum, Berlin-Lichterfelde, Elifa-
betbitr. 29. :
Damit jegt Maurenbreder die Hefte fort, die cr
früher in Dresden herausgab, ehe er die Leitung
der Deutihen — übernahm. Er gibt Betrad-
tungen, die nad Umfang, Inhalt und perjönlihem
Gehalt über Zeitungsaufjage hinausgehen. Die vor—
liegenden Hefte find jehr anregend, bejonders fein
ijt, was Maurenbreder über Goethe ausführt. Die
Aufgabe, Goethe für das Chriftentum auszufhöpfen,
ijt febr dankbar. Das echte Bild des alten Goethe
ift unjerm Wolfe ja, trog oder gerade wegen der
vorhandenen Biograpbien, völlig fremd. Wir boffen
nad diejen Heften, daß Maurenbreder Wejentlides
für die deutjhe Ausprägung des Chrijtentums Er
tragt. t.
Theo errle, Die deutfhe Jugendbewegung
in ihren kulturellen Zufammenhängen, 8. umgearb,
Aufl, Geb. 3 Mi. Friedrich Andreas Perthes, Gotha.
Herries Buch ijt ſehr umiftritten. Begreiflider-
weiſe; der Berfud in etwa 130 Geiten das Kultur»
milteu der Yahrhundertwende als den Hintergrund
der Qugendbewegung zu zeihnen und dann diefer
felbjt von ihren Quellen bis in das Chaos der
Bünde, Gruppen und Grüppden zu folgen, dabei
nod) die Realtion und den Einfluß der Gejellihaft
auf die Jugendbewegung zu berüdjichtigen, nötigt
den Verfaffer zu einem atemberaubenden Tempo,
in dem gerade das Feinſte, Innerlidite nicht dar—
319
gr werden fann. Deffen if er fih aber =
ewußt 6 S. 122) und gleicht dieſen Mangel dur
eine geſchickte Auswahl von darakteriftiihen Selbſt-
zeugniffen aus. Ueberdies ermögliht er es dem
Rejer, duch erftaunlid reichhaltige iteraturnad-
weife fi über jede Gruppe, jede Phaje ein eigenes
Urteil zu bilden. Durh die außerordentlih an-
regende Thefe bon der Yugendbewegung als ein-
maligem Sulturpbanomen feaff zuſam⸗
mengehalten, entſteht A eine Inappe Entwidlungs-
geihichte, mit dem illen zur Gerechtigkeit, aud
in der Kritik nie ohne Liebe und völlig frei von der
pathetifh verſchwommenen Galbaderei, die fonft
meift den Zugang zum Schrifttum der Se rt
sung fperrt. . €. ©.
manuel Hirſch, Die Liebe zum Bater-
Iande. 31 Seiten. angenjalga, Hermann Beyer
u. Söhne.
Die Heine Schrift des bedeutenden Göttinger
Theologen ragt weit über das hinaus, was fonft über
diefeS Thema geredet und gejchrieben zu werden
pflegt. Hier ift die Gace einmal wirklich bis gu
Ende durdgedadht und aus legten Tiefen begründet.
Edler und mwahrhaftiger al8 bier ift wohl felten über
die Ethik der Politif gehandelt worden. An diefer
Shrift, die fo unbedingt zur Bertiefung unjerer
Liebe gum Baterlande führt, darf niemand BEER
W
geben. . BW.
Georg Kor N , Reltenwerden, Weltenende,
Der fommende Chrijtus. 115 Seiten. Zwei Welten-
Verlag, W. Heimberg, Stade.
Das ijt die alte Gnofis des zweiten Jahrhunderts
n. Ehr., wie fie leibt und lebt. Der Syntretismus
in ſchönſter litte. Weltenwerden, Weltenwende,
der Logos-Chrijtus ein kosmologiſches Prinzip. Diefe
Abirrung von der Höhe wahrer Religion möge mit»
Maden, wer will. Das, was das Yohannisevan-
elium den „Logos“ nennt, ift eben gerade nicht
osmologiſch veritanden, fondern ift ein für allemal
die Ueberwindung aller Gnofis und Tbeofopbie K. W.
Franz von BWendrin, Die a rei
des Paradiefes. Mit 43 Abbildungen im Tert un
2 Karten. Seiten. Berlag Georg Weftermann,
Braunſchweig.
Otto Gigftid Reuter, Das Rätfel der
Edda und der Urglaube. 2 Bande. Mit zahlreihen
Abbildungen. 276 Seiten. Verlag Deutihe Gemein-
ſchaft, Berta.
Wer die Abbildungen der {owelti en Felsbilder
befhaut bat, der wird verjtehen, daß eine üppige
Phantafie in biefer Beit aufſchießen muß, gegen
welche die Verleger etwas zurüdhaltender fein follten.
Br verftehen ift folde Phantafterei wohl! Die Bor-
Ken von der nur 2 Yabre alten gemani-
en
ultur wird durch dieſe Felsbilder er
Wir fehen mit Augen, daß weit davor eine bobe
nordiihe Kultur beftand, und nun verſucht bie
bantajie, in biefen geſchichtsleeren Raum eine
elt bineingubauen. Daß dabei aud) die jchöpferifche
Phantafie nicht wertlos fein wird, ift gugugeben.
Um fo mehr muß man auf der Hut fein, daß wahre
Wiſſenſchaftlichkeit und wiſſenſchaftlicher Schein nicht
aero durcheinandergeraten. Wenn eine fo hane-
üchene Leiftung wie Wendrins „Entdedung“, daß
das Paradies in Medlenbur, gelegen bat, mit dem
Anfprud der Wiffeniaftliatert er Deffentlichleit
übergeben wird, fo fommt man ftark in Berfudung,
feiner Berärgerung in Journes Worten Luft gu
mahen. Nur das Gefühl, daß ber Berfaffer felbft
von jeiner Entdedung ehrlich begeiftert ift, hält
einen davon ab. Er hatte uns lieber die mebrfadh
angefündigte Cntgifferung der Felsbilder vorlegen
follen als dieſe Pbantafterei, die fic) gumeift auf
nidt nadpriifbare Angaben ftüßt.
Um etwas wejentlid) Underes hanbelt es fic) im
weiten Band von Reuters ,Ratjel der Edda“. Aud
er zieht die ſchwediſchen Seiser häufig zu Rate.
Aber wir find dod) imftande, im, einzelnen N fein
wiſſenſchaftliches Rüſtzeug zu prüfen, und wir were
den in mandem Einzelfall feine Ergebniffe als nicht
Seid gegründet bezeihnen. Die große bee
euterd aber, dag wit die mythologifhen Erzählun«
gen unferer Vorfahren an den Sternhimmel verjegen
müffen, um fie richtig zu verfteben, öffnet uns eine
neue Welt, und fehr vieles davon ſcheint uns fo
unabweislih wahrjdeinlih, daß mir der meiteren
ernjtliden Erforfhung gejpannt folgen ENT
Joadim Kurd Niedlid, Der Heiland,
eine deutiche Iefustragödie. Erfter Teil. 152 ©.
Leipzig, Dürrſche Buchhandlung.
So ernithbaft und beadhtlih die Arbeiten ded
Verfaffers auf dem Gebiet der „deutichen Kirche“
find, fo fehr bedeutet diefe Jefustragödie eine Ent-
täufhung. Der vorliegende erfte Teil zeigt den
Kampf Jeſu, in dem er fics bon feiner Familie
und dem bisherigen Lebenskreiſe losreißt, um
feiner großen Aufgabe gu leben. Aber das mutet
alles fo blutleer und boltrinär an. Un diefem
Iefus ift nists Großes. Man begreift nit, daß
diefer Mann nun der Heiland ift. Es bleibt ihm
nichts an Schwierigleiten erfpart, bids ibm zulegt
nod) der eigene Vater flucht (bei dem Jeſus der
Evangelien ein unbollgiehbarer Gedanfe!); aber
den Kampf bebt nichts über die allgemeinen Kon—
flilte jedes felbftindigen Geifted hinaus. Man
balte dagegen etwa nur das eine Wort Marc. 3, 35
„Wer ift meine Mutter, wer find meine Brüder?
Wer den Willen Gottes tut...“ Darin leben
ganz andere Spannungen, darin ftedt aber aud
fiegbafte Löfung. Da ift eben das echte wahre
Leben aus Gott, bas fish nicht in Romane und
Tragödien faffen läßt, fondern Hidftens in
Evangelien. RB.
Jürgen Brand, Yugendweihbe. 24 Seiten.
Preis 0,30 Mi. Berlin, Urbeiterjugend-Berlag.
Gang abgejehen davon, daß es {ehr betrüblich ift,
wenn aud % tüchtige Arbeiterjugend den Weg zur
Religion nod nicht findet, fondern ſich mit Reli-
gionserjag („Jugendweihe“ ftatt „Einfegnung be»
qniigt, tut einem die Enge webe, in der ſich das
Denten felbft fo tiidhtiger Naturen wie Jürgen
Brand bewegt. Neben armen Arbeiterfindern kennt
er nur die Söhne und Töchter reicher Leute, denen
alles durch das Geld der Eltern leiht gemadt wird.
Bom ganzen Mittelftand weiß er nichts, von uns
allen, die wir nod ärmer al8 viele Arbeiterfinder
aufgewadjen find und dod feine internationale
Proletariers,tlaffe” wurden. Wo der unbeſchwerte
Geift der Jugendbewegung in diefem Heft fi burd-
tingt, finden fih ſchöne Wbfdnitte. Das Bete iit
das Sdhlubgediht „Der Vater fpriht”, in weldem
der Dichter Jürgen Brand alle gedanfliden Scheu-
tlappen abgeworfen hat und ganz als Menſch ba-
ftebt. G. K.
Erig Lilienthal, Ein Mann geht den
Weg. Roman. 322 Seiten, gebd. 5 Mt. erlin,
Pyramiden-Verlag. .
Wie in feinem vorigen Roman „Der Bollstonig”
entnimmt ilientbal den Stoff nicht der Gefdidte
bon geftern oder ebgeftern, jondern von morgen und
übermorgen. Die fommenbe Revolution wird in
außerorbentliher Xebendigfeit bdargeftellt. Edel und
pence. gut und böfe, bablig und ſchön wirbeln
ie Bilder durcheinander, alle oefant mit den on a
nungen, in denen beute unfer Bolt lebt. In nr
Umwelt binein ftellt Lilienthal nun wieder wie im
feinem Te, eine „Wunfchgeitalt”: Den Dil-
tator. Ein Fabri fherr, tlater Geijt, raftlofer Ur-
beiter, ber feine Kräfte nicht in unfrudtbaren Eit-
gungen berzettelt, fondern abjeits der Biirgerfampfe
I Arbeiterheer er und wartet, bis mit dem
rand der Hauptitadt fid) der innere Zündftoff im
Volt entladen bat, fo dak mun bie Befreiung des
Vaterlandes von den äußeren Feinden beginnen
fann. Während die Geftaltung der Revolution m
der Hauptitadt als eine glänzende Leiftung bewertet
werden muß, wirkt die Hauptgeftalt nidt ri
genug; fie bat menfdlid niht das Gewidt un
aud nicht die Tiefe, um als berufener Diktator von
ung zwingend anerkannt gu werden. Der Bolkslönig
gab in der Hauptperfon mehr. ® 8.
Gedrudt in der HYanfeatifhen Verlagsanftalt AWttiengefellidhaft, Hamburg 36, Holfienwall 2.
320
Aus dem Deutfihen Volfstum Hugo Friedrid Hartmann, Feierabend
Aus dem Deutfhen Volfstum Hugo Sriedrid Hartmann, An der Nordfee
— —
28
Karl Thylmann, Der Verwundete
Aus dem Deutfhen Voltstum
Deutiches Bolfstum
8. Heft Kine Monatsichrift 1924
Die Abrechnung der Sdiikengrabenmenjden.
1.
eS ee Sabre find vergangen, daß das deutſche Geſamtvolk auf der Grde
plöglih aus dem Saumel iiberhebliden Slides in die Beit fdwerfter
Prüfungen eintreten mußte. Der Webergang wurde nicht fo jah empfunden,
wie er war, weil viele im Saumelguftande verbarrten, indem fie in der
Legende des fiebgiger Krieges und im Gedanken eines Gieges, wenn Die
Blatter fallen, lebten. Dagegen empfinden wohl Heute alle, die in der Wirk—
lidfeit ftehen, den Zufammenhang dieſes Iahrzehnts, in dem Waffenftill»
ftand und fogenannter Friedensſchluß nur oberfladlide Einfchnitte Bilden.
Gs ift ein ungebeuerlides Leiden von hundert Millionen Menjchen, das
durd Jimmh-Klänge und Feinkoftauslagen nicht widerlegt, fondern nur be=
ftätigt wird. Gallen auch feit Movember 1918 die Berluftliften — nicht die
Berlufte an geborenen und ungeborenen Bolfsgenoffen — weg, fo dod auch
jede Größe, jede Tat, jede Erhebung. Vielleicht befteht der einzige wefent-
lide Unterfchied gwifdhen dem Leiden por und nad dem Kriegsende nur
darin, daß es damals einen Sinn hatte, alfo ein Gut war, während es)
beute für die meiften finnlos und deshalb ohne Förderung ift. Die zehn—
jährige Wiederfehr des Kriegsbeginns bedeutet fein Haltmaden, fondern
nur ein Gidbefinnen auf dem Wege. Unabfehbar dehnt fich nod vor uns
die Leidensgeit aus. Wie lange noh? Gs wäre ein Irrtum gu boffen,
daß irgendein Außenftehender fie bon uns nehmen fdnnte. Leid verzehrt
fih entweder felbft und damit feinen Träger — Dann ware es aus mit
einem deutſchen Volke und einem deutjchen Reiche — oder es läutert, indem
der Träger felbft es überwindet. Gewiß ift die Leidenszeit als eine Schidung
über uns gefommen, und wir tun gut daran, fowohl die des Krieges wie
des Nachkrieges als verdient angufeben. Aber fie ijt nicht unabwendbar. Gs
ift in unferen Willen gelegt, ein Ende mit ihr zu maden. Nicht in den der
einzelnen. Wie das Leid zugleich über alle Deutfchen gefommen ift, fo
fönnen wir es nur gemeinfam bon uns wegwälzen. Und ehe wir nicht zu
folder gemeinfamen Leiftung fähig find, wird alles Mühen jedes einzelnen
umfonft fein. Daraus ergibt fic als oberfte Grienntnis bei Rüdblid und
Ausblid in diefem Monat, daß das Fähigwerden zu gemeinfamer Leiftung
die ®rundvorausfegung für die Beendigung des Leidensguftandes ift.
Gs wird uns in diefen Woden, die uns ja zugleich die jechsjährige
Wiederkehr der Wendung des Kriegsglüdes bringen, nicht an Betradtungen
darüber fehlen, wie fich unfere Lagen 1914, 1918 und 1924 zueinander vere
balten. Immer noch glauben die meiften bon ung, indem fie den Schein
für die Wahrheit nehmen, daß die Zeit por dem Kriege, nehmen wir als
Seitpuntt etwa das filberne Regierungsjubiläum Wilhelms des Zweiten,
einen Höhepunkt der bdeutfchen Entwidlung darftelle. Jeder tiefere Blid
in Das Innere des deutfchen Menſchen bon damals, jeder weitere Blid auf
323
europäifche und meltpolitiihe Zufammenhänge finnte Hier eines Befferen
belehren, wenn nicht immer wieder die Abficht, politifche Geſchäfte damit zu
maden, einen fiinftliden Nebel por die Tatfaden legte. Sicht und Auf-
fafjung darüber ijt durchaus nicht gleichgültig. Bor jedem fteht ein Bild
des, das er werden foll. Wir können das Leiden nur überwinden, wenn wir
einen Suftand jenfeits des Leidens feft ins Auge faffen und ihm mit aller
uns zur Verfügung ftehenden Kraft zuftreben. Gs wäre fehr bequem, wenn
wir alg diefen Zuftand nur den vor zwölf Iahren zu nehmen brauchten,
wenn mir, als notwendige Folge davon, diefe gehn Jahre einfad nur ala
ein uns bon anderen zugefügtes Unrecht anjehen würden. Manche Leute
fügen fogar hinzu, man müſſe diefe Aufgabe gerade ob ihrer verhältnis-
mäßigen Leichtigkeit in Angriff nehmen, da die Deutfchen zur Löfung einer
{Hwierigeren gar nicht fähig wären, fondern ihr gegenüber in vollfommene
Pajjivitat verfallen würden. Hier fehlt jeder innere Grnft, jedes Bers
ftändnis aud) für den Grnft unferer Lage. Der Auguft 1914 bedeutete eine
endgültige Seitenende. Iedes Verfennen würde uns zu einer weiteren
Selbittäufhung führen. Die nötige Deutlidfeit vermittelt uns vielleiht die
Anwendung zweier geläufiger Begriffe: Gegenüber dem Vorfriegszuftande,
der ja nur der Idee nad nod vorhanden ift, bleibt ſchärfſte Repolution ge—
Boten, muß jeder Reaftionsverfuh im Keime befämpft werden. Damit ift
übrigens nod nichts über die revolutionären Mittel gefagt und niemand be-
fugt, eine Reaftionshandlung nad) feinem Belieben feftzuftellen. Nein, Die
zu löfende Aufgabe ift eine unendlich viel fehwierigere. Der bon uns pus
nächſt bildhaft zu erfaffende Zuftand in der Zukunft ift nur aus uns felbft
gu fdaffen. Aus dem, was wir uns in unferem harten Leben felbft erworben
haben und aus unferem Erbgut heraus, in dem das Bismardreidh nicht
lebendiger ift als das alte Reich der drei deutſchen Kaifergejchlechter. Diefes
Bild läßt fic nicht fonftruieren. Gs fann nur bon Menfden, die im Bee -
fibe folches Grbgutes find und fid den Ginn für die Gegenwart erworben
haben, gefdaffen werden. Wer dazu berufen ift, läßt fich nicht feftitellen.
Möge jeder mache Deutjche durch die Uebernahme einer Arbeit in dieser
Richtung an fic felbft feftjtellen, wie weit feine eigenen Kräfte zu diejer
Aufgabe reichen.
Ueber die Bewertung dejjen, was fid das deutſche Bolf 1918 angetan
Hat, dürfte Heute bei allen, die überhaupt werten wollen und fönnen, die
gleihe Meinung vorherrſchen. Wenn das nicht überall in Worten zum
Ausdrud fommt, fo liegt das zum Teil an dem Glauben an die Lüge, zum
Zeil an der ficherlich trügerifchen Ginbildung, man fönne auf diefe Weiſe
die drohende Reaktion aufhalten. Nah dem Bufammenbruc batte der
Marzismus in Deutfchland völlig freie Bahn. Gr fonnte fic) verwirklichen,
wie er wollte, auf demofratifcher oder diktatoriſcher Baſis. Wie viele unter
feinen Gegnern waren bereit, ihm zu folgen, wenn er nur feine Kraft und:
feine Lebensfähigfeit bewies. Wenn er es nicht tat, fo zeigte er damit, dah
fowobl fein Lehrgebäude wie fein politifches Ziel wie fein fittlicher Wille
faul waren. Der Beweis ift unwiderleglid. Als Weltanfhauung, als
politiihe Möglichkeit ift der Sozialismus für uns tot. Wenn trogdem Heute
Die Zahl der fogialiftifchen und fommuniftifchen Stimmzettel nod) fo hoch
ift, jo find dafür ganz andere Gründe maßgebend, als fie einft zur Bildung
der jozialdemofratifhen Organifation geführt hatten: das bei den Deutfchen
mebr als bei anderen Völkern aud in geiftigen Dingen geltende Gefet der
Trägheit, die gegenwärtig nicht ausgeglichene Begebhrlidfeit der Mtenfden,
324
die um fo bedenflider ift, wenn die Menfden zu Waffen geworden find, und
bor allem der Umftand, daß die Gebhnfudt diefer Wenfden von feiner
anderen Stelle befriedigt wird. Die Feftftellung eines Tiefftandes im Herbft
1918 befagt nichts über die Dauer des Buftandes.
Die Auguft-Betracdhtungen jeder Richtung werden fic zum mindeften
am Schluſſe mit der Frage befafjen, ob und wieweit „es“ feit dem Auf-
hören normaler Yuftände vor zehn Sabren „allmählich“ „beifer“ geworden
fei. Nichts wird die Sroftlofigfeit unjerer Lage deutlicher maden als Die
Derjhiedenheit der gegebenen Antworten. Sehr viele hätten nad der Cine
führung der Rentenmarf eine andere Stellung eingenommen als in der Kredit-
not des Borjommers. Andere meinten in den hundert deutjchnationalen
Mandaten den befannten Lichtftreifen am Horizont zu feben, der ihnen erft
wieder verſchwand, als fie von den Vorgängen bei der Bildung des zweiten
Kabinettes Marz erfuhren. Die einen weifen auf das überſchwengliche Ge—
baren, das frampfartige Berlangen nah Führung durch Männer von Leiftung
und fittlidem Ernſt Din, das fih auf den „deutſchen Tagen“ Männer wie
etwa Ludendorff gegenüber zeigt, Die anderen fehen in der widerjtandslos
durchgeführten Ginengung Diefer Sage die Wiederberftellung der Staats-
autorität. Hier oder in allen anderen nicht aufgezählten Fallen eine Ent—
ſcheidung treffen zu wollen, wäre ein nublofes Unterfangen. Denn jeder
Urteilende fommt bon anderen Wiinfden und ftrebt nach anderen Vielen hin,
obne ji darüber Har zu werden, daß ein treffendes Urteil nur bei einer
Gemeinjdaft von Wunſch und Biel gegeben fein fann. Wir unfererfeitd
midten unfere Stage befdeiden umgrengen und fie auf uns felbjt beziehen,
Hart und ftreng und gang unter dem vollen Gindrud folder zehn Sabre,
die uns auf die Höhe unferes individuellen Lebens führen mußten. Das
„wir“ find in Diefem Galle die jungen, aufnahmefähigen, aber {don reifen
Männer, die 1914 ahnend oder wiffend hinauszogen, um in der Not des
Krieges die Schladen wegzubrennen, die uns auf dem Wege zu unferer-
Bolfheit hemmten. Wir fragen die Schügengrabenmenfchen, ob fie mit gutem
Sewifjen befennen fönnen, daß fie die ihnen allein und in befonderem Maße.
auferlegte Pflicht, wie fie ihnen in den erften vier Jahren flar werden
mußte, in den folgenden feds Jahren treu erfüllt haben.
2.
In jenem Heinen Büchlein, das id) nad) der Heimkehr nidt bon mir
aus, fondern als Sprecher für diejenigen, die nicht mehr fpreden fonnten,
als Bertreter der in ganz befonderer Weife bom Kriege erfüllten Heimfehrer
gejchrieben habe, ftehen die Aufgaben der Schügengrabenmenjchen wohl ver-
zeichnet *. Nichts Hat fic) an ihnen verſchoben oder geändert. Selbjt wenn
fie erfüllt fchienen, fo wären fie damit nicht aus Der Welt gejhafft. Denn
es handelt fid) um Aufgaben, die jeder immer wieder bon neuem an fid
und feinem olfe zu erfüllen bat. Prüfen wir, wie es mit uns in be»
ftimmten einzelnen Gallen fteht.
Der Krieg hatte uns gelehrt, daß nur das Gdte in uns, nur das une
mittelbar zu uns Gehörige Beſtand Hat, daß alles andere angejidts des
Sodes abfiel, wie der Ralf in den ſchlecht gebauten franzöfifchen Häuſern,
wenn in der Nähe die Batterie arbeitete. Sollte das angeſichts des Lebens,
das wir unter der Laft der uns von den gefallenen Kameraden überfommenen
* Mannbhardt, Schütengrabenmenjhen. 53 Seiten. 30 Pfg. Hanfeatifde Ben
lagsanftalt, Hamburg.
325
Gerantwortung zu führen haben würden, anders fein? Wir mußten Zrie-
densjoldaten werden, wie wir Kriegsfoldaten geworden waren. Wir mußten
fein, was wit geworden waren und danad ftreben, einfach Durch unfer
{dlidtes Sofein und Dafein, nicht durd haftig por uns Hergetragene An-
fidten die anderen fowohl bon der Beredtigung, als aud von der
Notwendigkeit und der Allgemeingültigfeit unferer Haltung gu überzeugen.
Schon der Krieg hatte gezeigt, daß nicht alles Lebendige jich unter die ein-
fachen Formeln von Befehl und Geborjam bringen lief. Nun nad dem
Sujammenbrud fdienen mehr denn je alle Schranten gefallen zu fein. Die
fogenannten Forderungen des Sages traten überwältigend an die Schüßen-
gtabenmenjden heran, bald auf ein Mehrverlangen, bald auf ein Nachgeben
gegenüber dem, was ridtig war. Go fam es denn bielfad anfangs zur
Hilflofigteit, dann zu Kompromiffen, ſchließlich gum Berlaffen der Sahne,
zur Berleugnung des Kriegserlebnijfes. Die jüngeren Männer zumal waren
nod nicht gefeftigt genug. Gs fehlte untereinander die Tuhfühlung Nur
wer aus Gigenem oder mit Hilfe anderer zu der Grienntnis gefommen tar,
daß zwar bas tägliche Leben immer auf Geben und Nehmen d. b. auf Ver—
ftandigung beruhen muß, daß es aber einen Kompromiß auf dem im Graben
gewonnenen Lebensgrunde und in der Idee nicht geben durfte, fonnte fid be-
baupten und die im Kriege gefundene echte Perle weitertragen. Wir haben
wohl diefe Aufgabe zu leicht genommen, wir ausgewacdhjenen Deutfden,
denen ſchon der einfahe Widerftand fo fdwer wird, unabhängig bon Der
fittliden Gorderung, die fih daran fnüpft. Unfer Straucheln Hat uns ger
ſchwächt. Aber die Gefeiten dürfen darob nicht müde werden. Gie dürfen
Die Abgeglittenen nicht dauernd aufgeben, fondern müſſen jie wieder zu jich
heranziehen. Gerade die tätige Liebe der unbedingt an fich felbft und an
ihrem Grlebnis fefthaltenden Schügengrabenmenfhen untereinander wird fie
der Durchfegung ihres Willens, Sauerteig für das ganze Bolf zu werden,
näberbringen,
Vielleicht finnte man das deutſche Schidjal als ein dauerndes aber ver—
geblides Ringen um die Form anfeben. Für diejenigen aber, die jich inner-
balb einer vita activa nicht mit dem ,anfeben* begnügen fünnen und wollen,
ergibt ſich aus dem DBlid auf die Vergangenheit die Grfenntnis für die
Zufunft, daß unfer Volk nicht zur Vollendung fommen fann, wenn es nicht
augleih aud zu feiner Gorm fommt, die nad) den Worten des Nleijters
fein foll „geprägte Gorm, die lebend fic entwidelt*. Zu der Form im ganzen
gehört im einzelnen auch die des Umgangs mit Bolfsgenoffen und mit Frem-
den. Hier tut fid) der Deutfche fo ſchwer wie faum ein Angehöriger irgendeines
anderen Bolfes. Wir glaubten im Schügengraben den rechten Ton gelernt
gu Dbaben, ſowohl dem Borgefesten, dem Gleichgeftellten und dem Anter—
gebenen als aud) dem elteren und Vüngeren gegenüber, den Ton, der fid
swanglos aus dem Dienft an der gemeinjamen Gade unter Hintanfebung
und dod) zugleich auch Beriidjidtigung perſönlicher Gmpfindlidfeiten ergab:
Deutlid, naddriidlid, warm, würdig, bindend. Diefer Ton mußte aud
weiterhin der rechte fein; denn weder der gemeinfame Dienft nod die natiir-
lide Unterordnung follte im Nachkriegszuftande aufhören. Auch bier haben
wir uns alg ſchwächer erwiefen als es unferem Willen entjprochen bätte.
Wie oft haben wir es bei anderen, namentlich bei Welteren erleben müffen,
daß fie fih im Ton vergriffen, obwohl fie niemanden Eränfen wollten. Das
gejchieht namentlich, fobald der eine eine Andersartigfeit feines Gegenüber
Hat entdeden können. Nod) ſchwerer wiegt die aus der Gormlofigfeit und
326
dem dauernden Ringen um den Inhalt fic) ergebende Unſicherheit, Die durch
den Ton, die „ftramme Haltung“ das Fehlende, eben die Sicherheit, erfegen
möchte. Das fuabiter in modo, fortiter in re* wird ung fo unendlich ſchwer.
Man gebt faum zu weit, wenn man behauptet, daß bier auf diefem Gebiet
ein gut Zeil unferer Hemmungen zum völkiſchen Zufammenfchluß, zur Gin-
Heit und Ginigfeit gelegen ijt. Und dod, troß dieſer Grfenntnis, troß des
eigenen Griebniffes haben die Schützengrabenmenſchen bier faum etwas an
fi) felbjt und an den andern ändern finnen. Gewiß wird bier eine Bef
ferung nit von einem Gejchleht zum anderen eintreten fünnen. Aber die
Not und das Gmpfinden der eigenen Unzulänglichfeit müſſen in Bufunft
gründlicher helfen, als fie es bisher getan haben. Se mehr wir dadurch einen
inneren Salt befommen würden, um fo ficherer wäre dann auch unfer Auf-
treten nach außen. Immer por dem Kriege, vollends jet aber binterber,
ift die Haltung der Deutſchen im Auslande überaus Fläglich gewefen. Ver—
dedten wir damals unjere Schwäche durch hochfahrendes Wefen, fo beute
dur Die übelfte LUnterwürfigfeit. Beides wird bon den Fremden als unedt,
als Masfe empfunden und deshalb die mannigfaltigfte Side hinter uns ver-
mutet oder in uns hineingelegt. Unfchuldig-[huldig werden wir zum Gegen—
ftand des Deutfchenhaffes. Diefe uns felbft zugefügte Erſchwerung jeder
Politik unfererfeits fann nur durch ein Anderswerden unferer felbft behoben
werden.
Sdiikengrabenmenjden find nicht durd Dichten und Denfen, fondern
durch gemeinfames Leiden und gemeinjame Taten geworden. Gie Maren
fim, als fie beimfamen, darüber flar, daß fie die ihnen zugefallene Aufgabe
nidt durch Projeftemaden, durch Reden und Schreiben, fofern es nur Reden
und Schreiben ift, fondern ausjchließlich durch ein Sun, durch ein ihr Leben
in ihrer Art ganz ausfüllendes Werk würden löſen können, das eben ein Zeil
des ganzen Werfes, ein Mittel auf dem Wege unferer Bolfvollendung
werden follte. Diefer Beruf ift fdhon unter den Schügengrabenmenfchen
felbft vielfach mißperftanden worden. Manche nahmen die Aufgabe zu leicht
und fchätten zugleich fic zu Hod ein. Gie Dielten fic) berufen, bereits
DBaumeifter am Gangen zu fein und waren doch nur geeignet, als treue Hand»
langer oder als Herfteller von Gingelwerf, das fpäter einmal am Hauptbau
SGerwendung finden mußte. Go faben wir mande Sfarusfliige, jaben das
Entftehen von Gefellfchaften, Kreifen, Bünden, Ringen, Orden, deren Sinn
nur darin beftehen fonnte, aufs ®anze zu gehen. Sobald die eigene Schwäche
bei Beginn der Ausführung des Planes erfannt war, erfolgte jofort die Re-
fignation. Die die Grldjung batten bringen wollen, wurden gum Klüngel.
Und einer reibte ſich an den anderen, muds und zerfiel, nachdem er fich im
Kampf mit den anderen erjchöpft hatte. Der Geiſt des Schügengrabeng
entwid, und man borgte feine Ideologie bon den Zeiten Jiegreicher Kriege
und bon den Kriegervereinen der Vorfriegszeit. Sa, wir find wieder im
richtigen Gleiſe der deutfchen VBereinsmeierei drin. Das ift die ganz, ganz
bittere Wahrheit, aber die Wahrheit, mag das Herz darüber auch bluten.
Ih weiß, daß viele edle Männer mir bier widerfpreden. Aber ich bes
haupte, daß fie durch eine rofa Brille fehen und die Ausnahmen für Die
Regel nehmen. Wo ift die Bufammenfaffung der Schügengrabenmenfcen,
der Bund der beimlid) Berfhworenen? Wo find die regional getrennten
@ruppen, in denen BolfSgenoffen jeder Art und Herkunft im Dienft der
+ Mild im Benehmen, feft in der Gade.
327
reinen Notwendigkeit zufammenftehen? Wo gefdieht die Heranziehung ber
Jugend durch Gorderungen an fie, nicht durch Verſprechungen oder jonftiges
Gidbeliebtmaden Hurd) Gewahrenlaffen? Wo feben wir die Anfänge der
in Ordnung aufgebauten Ppramide, in der fi Bol! und Staat vollenden
follen? Kürzlih bat in Halle ein Redner gejagt, daß ein Staat, in dem
die Mehrheit berr{de, immer zum Untergang verurteilt fei. Darin liegt fo«
wohl die größte Wahrheit wie die größte Lüge. Gewiß find überall nur die
wenigen zur Führung berufen, gewiß fann die letzte veranttwortlide Ent—
fheidung nur bei Ginem liegen. Aber in unferem Zeitalter wird nur dann
für Führung und Herrfhaft die Möglichkeit beftehen, wenn fie bon der
Gefamtheit bis zum Letten und Aermften getragen werden, wenn zwifchen
Herrfher und Mehrheit jenes innere Band von Führer und Sefolgsmann
beftebt, das die Minderheit einfach mitreißt. Auf diefem weiten Felde liegt
die Arbeit der Schügengrabenmenfchen, auf dem jeder bei der feinigen ane
fangen muß. Möge fid auf Grund der befcheidenen Leiftung jeder zu
einer höheren Stufe rufen Iaffen. In der Gefinnung und im menſchlichen
Werf find alle gleih. Zür die höhere Arbeit entjcheidet allein befjeres
Können und größere Tüchtigfeit. Ob unter uns ein fo großes Können vor—
handen ift, daß es die höchſte Gewalt in Bolf und Staat einnehmen fann,
das entjcheidet Gott allein.
Andere Schügengrabenmenjden find an ihr Werk gegangen, bas fie fid
im Rahmen des Ganzen Iangfam oder fchnell, groß oder Klein, je nah Um—
ftänden und Vermögen aufgerichtet hatten. Daß fie dabei dauernde Kämpfe
mit ihren Widerfadhern, mit den Feinden des Schügengrabengeiftes, zu
beftehen haben würden, war als felbftberftindlid porauszufehen. Darüber
fonnte es fein Grmiiden geben; denn Kampf war man gewohnt. Wenn
aber fo manches boffnungspolle Werf, das der tätigen Mitarbeit getreuer
MWenſchen bedurfte, nicht gedeihen wollte oder gar dahinfiehte, fo waren
es zumeijt die eigenen Kameraden, die die Wurzel des Werkes bedrohten.
Wie wenig hatte der Krieg felbft die verändert, die er im OSnnerften ges
fohüttelt hatte. Immer nod find wir der Hagen, der Giegfried erjchlug.
Immer nod lafjen wir durch unfere unfrudtbare Kritif das Werk hinter
feine Gebler zurüdtreten und zerftören es mit heiligem Gifer, ohne etwas
Befferes an die Stelle fegen gu können. Befonders ärgerlich find dabei Die,
die hinterher mit Krofodilstränen in den Augen erklären, wie febr fie ane
fänglih an das Werk und feinen Urheber geglaubt hätten, und wie tief fie
pon beiden enttäufht worden feien. Hier müffen wir die Trennungslinie
ziehen: Das find feine Schüßengrabenmenfchhen mehr, die den Willen, etwas
felbft beffer zu machen, nicht mit der Ghrfurdht por dem Werke des andern
verbinden Tönnen.
Gon vornherein mußte es fraglich fein, ob und wieweit die Schüßen-
gtabenmenfden felbft während ihres Lebens in die Lage fommen würden,
das Deutſche Reid) der Zukunft mit zu errichten. Sicher mußte aber ihre
Hauptaufgabe darin Liegen, ihr Gein, ihre immanente voll» und ftaate
bildende Kraft fruchtbar zu maden, weiter zu vermitteln und auf das nadfte
Geflecht zu übertragen. Hier lag die befondere Pflicht der Schüßengraben-
menfden als Graieher. Diele find mit Liebe und Gefdid an die Arbeit
gegangen, zu denen, die während des Krieges nod Kinder waren. Die Gre
gebniffe find aud bier zunächft nicht befriedigend. Man darf nicht glauben,
daß die nad dem Kriege ftärfer einfegende Sportbewegung die Aufgabe
irgendwie erleichtert hätte. Durd die junge Generation geht beute eine
328
deutlich erfennbare Sceidungslinie: die einen find irgendwie, wenn aud
noch fo oberfladlid, bon der fogenannten Sugendbewegung ergriffen; Die
anderen wollen nichts damit zu tun haben. Die Scheidung gebt durch alle
Stände und Schichten bHindurd. Die Iettere Gruppe umfaßt die an jis
Unbewegliden, die jugendlichen Greife, die Pringipienmenjden, die Lauen
und Die Realtionare, alfo Menfchen, die unter ſich wenig Gemeinjames
haben. Zu dem Wenigen gehört die Abneigung gegen das lebendige Geis
ftige, alfo auch gegen den Geift des Schützengrabens. Damit ift nicht gejagt,
daß fie und ihresgleichen nicht dod, wenn die Zeit des großen Werkes er-
füllt ift, gut brauchbar find. Aber fie taugen weder als Fadelträger:
nod als Kleinodienbewahrer. Bei der Sugendbewegung befteht die akute
Gefahr, daß wir in ihr eines Tages nichts weiter als die übliche Deutide
SugendD mit all ihren lieben Tugenden und Feblern, nur in anderer Auf
madung, bor uns haben. Diefe Gefahr fann nicht bon uns, fondern nur bon
der Sugend felbft abgewandt werden. Gang unabhängig davon ftebt Die
Stage ihrer Stellung zum Schügengrabenmenfhentum. Die Borausfesungen
find bei denen, Die nod feft in Heimat und Bollstum wurzeln, nidt ungünftig.
Aber eines erjchwert die Arbeit fo außerordentlich, ja, macht fie faft unmöglich:
Dasift der Mangelan Dijziplin Hier liegt der Grhfehler
Der Deutſchen, der felbft durch die Dienjtpflicht nicht gebeilt if. Was
fol! werden, wenn felbit dieſe fehlt? Gs hängt mit den oben berithrten
Seiten des deutfhen Wefens zufammen, daß wir, mögen wir auch Heute
lauter denn je nad) dem Führer fchreien, autoritätsungläubig find. Diefer
Mangel fann nur dur) Difgiplin, ja, vielleicht fogar nur bdurd) erzwungene
Difziplin geheilt werden, mit der fic felbft unfere Autoritäten haben durch
fegen müffen. Gs ift deshalb fein Wunder, daß Hier aud) die Sdiigen-
gtabenmenfden vielfach fic einer einfachen Unmöglichkeit gegenüber geſehen
haben. Dabei finnen fie fic aber nicht beruhigen. Hier handelt es fid
vielleicht um die Kardinalfrage unferer Zukunft, und wir finden gerade bier
die Männer des Schütengrabens befonders bereit, mit allen in Betradt
fommenden fittlichen Kräften in Deutfchland an diefer Aufgabe gujammen-
auarbeiten.
3.
68 ließe fid) nod mandhe Aufgabe der Schügengrabenmenfchen und ihre
Durdfibrung befpredhen. Die Hier furz behandelten brennen aber am meijten
auf den Nägeln, und das Grgebnis ift überall das gleiche: bas Biel bleibt
alg unverändert, unverrüdbar und ſchlechthin notwendig beftehen. Der gute
Wille der dahin Strebenden ift ebenfo unleugbar wie die noch vorhandene
Schwäde. Der Erfolg bleibt hinter den eigenen Grwartungen zurüd. Gs
ift müßig, darüber nachzudenken, ob das an den Menfchen felbft oder den fie
umgebenden Berbältniffen liegt. Wir tun auf alle Galle gut daran, Die
@riinde in uns felbft gu fuchen. Andererfeits liegt nicht die geringfte
Beranlaffung por, die Flinte ins Korn zu werfen. Wir haben {chon vor fünf
Jahren davor gewarnt, die Aufgabe zu leicht zu nehmen und die note
wendige Beit zu gering anzufchlagen. Der DBerftoß dagegen fdeint uns
ebenſo menſchlich erflarlid, wie tatſächlich verhängnisvoll. Vielleiht mußte
aber aud) die Zeit felbft wiederum Die Lehrmeifterin fein.
Der verlorene Krieg darf uns nicht niederdbrüden, nadhdem wir ibn fo
lange mit Ghren geführt Hatten. Niederlagen an fic verbauen den Weg
nicht, wenn die Betroffenen ihn fic nicht felbft verbauen. Niederlagen
nehmen die Völker in harte Zucht. Schnellfuren helfen da aber nicht. Das
329
zeigt uns unfere eigene Gefdidte: Der Auftrieb der Sabre 1808 bis 13 hat
faum über die $reiheitsfriege hinausgereiht. Das Jahr 1918 bat aber nicht
nur eine Niederlage, fondern Durch die Art des Zufammenbruhs unfaglide
Schmad über uns gebradt. Sie brennt gewiß in niemandem fo ſtark wie
in den Schügengrabenmenfchen, und es ift ihr felbftverftandlides Berlangen,
daß fie fie fo fehnell als möglich abwafden möchten. Sie rubt zugleich
auf dem ganzen Volke wie auf dem einzelnen. Der legtere fann fid von,
ihr logmaden, eben indem er das Leben des Schüßengrabenmenfchen führt.
Das verpflichtet ihn, auch dabei zu helfen, das ganze Bolf bon der Schmach
frei zu maden. Aber frei wird es erft, wenn es fich felbft frei macht. Dabei
ift derfelbe innere Prozeß notwendig, wie bei der Ueberwindung der Nieder-
lage. Mad menfhlihem Grmeffen werden wir nur beides zugleich von ung
nehmen fönnen und erjt, wenn unfer Golf bereit ift.
Dieje Auffaffung begegnet oft dem Borwurfe des „Nur-warten=lafjen-
Wollens“, der Pajfivitat. Gr ift völlig ungeredt. Auch die Schüßengraben-
menfden wiffen gang genau, daß nur die Tat und das Deifpiel, niemals
die Betradtung und das Geſchehenlaſſen das Kommende zeugen fann. Aber
fie wollen nur ihre Taten tun, nicht die anderer Menjchen, die oftmals nur
im Wunfhbild vorhanden find, als ob es einen „Sührererfag“ geben fdnnte.
Al unfer Sun fann nur auf der realen Tatſache aufgebaut fein, daß Deutich-.
land heute unter den Grofmadten außerordentlic” wenig bedeutet, daß man
es in Diefem YZuftande belajffen will, und daß im Innern immer nod das
Chaos herrſcht. Wir können uns des Gedanfens nidt erwebren, daß alle
„Saten“ der letzten Sabre, die Kapp- und Hitlerputfche, die Attentate, die
@riindungen, die Tagungen nur aus äußerer, nicht aus innerer Berufing
heraus in die Wege geleitet find. Gs genügt nicht, das Surchtbare unferer
Lage zu empfinden und zu erfennen und dann „auf Deubel fomm raus“ da-
gegen anzugehen. Gewiß ijt auch das einmal nötig. Aber ein foldhes Vor—
gehen muß bon einer geeigneten Gibrerqualitat und bor allem von einem
einfichtigeren Urteil über die realen Unterlagen getragen fein. Der wahre
Führer befigt alle diefe Gigenfchaften zugleich, ja er fann, wenn es nötig ift,
fih fogar die notwendigen realen Unterlagen felbjt jchaffen. Der Ginn der
Schützengrabenmenſchen befteht Tettlih darin, den mirklic Starken und
Stärfften unter ihnen dies Schaffen zu ermöglichen. Meint man, fich ent»
gegen dem bier Gefagten auf den Standpunft ftellen zu Dürfen, daß Die
großen Führer wohl vorhanden feien, daß es ihnen aber an der nötigen ©e-
folgichaft fehle und fie deshalb Gchiffbrud erlitten hätten, fo beweiſt das
eben nur die Richtigkeit unferer Befiirdhtung, daß gunddft einmal mit Hilfe
der vorhandenen Führer die Bereitichaft hergeftellt werden muß.
Weift man auf den Ausgang diejer Taten und auf den wenig fidtbaren
Grfolg der Schügengrabenmenfchen Hin, und erinnert etwa noch an das Fidte-
wort, daß feine Lehre hundert Sabre wirken müſſe, um die Deutfden zur
DBolfheit zu maden, dann wird man oft eines trübfeligen Peſſimismus ge-
gieben, der die Sreudigfeit und den Mut der Jugend lähme und fie tatenlos
made. Wir fhäten unfere Jugend nicht fo gering ein, daß wir ihr Miß-
berfteben befürchten müßten. Gewiß Hordt fie gern auf leichte Worte und
und auf die Schalmei, deren Echtheit fie nicht nadpriifen fann. Aber gute
Jugend will {dliehlid nur die Wahrheit wiffen. Wie por dem Kriege der
Sugend aller Schihten das Rect auf Lebensgenuß gepredigt wurde, jo
wollen wir ihr jett die Notwendigkeit und den Ginn des Leidens verkünden,
auf daß fie daraus den Beruf für fich entnehme, unfer Bolt dur die
330
beroifhe Sat von diefem Leiden zu befreien, wobei die heroifhe Tat nicht
in einem einmaligen DBorftürmen unter äußerfter Lebensgefahr, fondern in
einem vielleicht lebenslänglihen Opfergang und in einem dauernden Sich—
verzehren im Dienfte des Ganzen befteht. Solches aus Leiden aufftehende,
finnpolle und treue Tun, das des Grfolges gewiß ift, ohne ihn vielleicht
beobadten zu fdnnen, bringt die größten Greuden, deren frohbgemute und
aufunftsgläubige Menfden teilhaftig werden können.
An die Schügengrabenmenfchen ergeht bei unferm furgen Ginbalten in
dem Laufe der Zeit einfad der Zuruf „Weitermadhen“. Und das beißt
» Seffermaden*. Die Berfude und Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre
müjfen den folgenden zugute fommen. Was jagen wir aber den anderen
und namentlich den jüngeren, die den Krieg draußen nidt mehr miterlebt
Baben, wenn fie uns fragen, was fünnen wir für Deutfchland tun? Wir
find feine Nachweifungsftelle für Arbeit und Beruf. Und im Geifte des
Schüßengrabens leben zu können, bedarf es feines befonderen Plages, jondern
jeder bis zu dem geringften ift gerade recht dazu. Denn es handelt fid
darum, eine beliebige Arbeit aus einer beftimmten Gefinnung heraus zu tun.
Se beffer diefe Arbeit ift, je mehr in diefem Sinne gearbeitet wird, je enger
dadurd zugleich der Zuſammenſchluß der deutfhen Menfchen wird, um fo
eher fallen all die Mängel weg, bon denen hier die Rede war, um fo eber.
find die VBorausfegungen fertig für die innere DBereitfchaft, für die Befreiung
und die Greibeit in Ginigfeit, die der Sinn und das Ziel unferes Lebens ijt.
Alte und junge Kameraden, wenn wir alle Heftigfeit und vorzeitige Unzu-
länglichfeit ablehnen, wenn wir euch bitten, alle Grneuerungs- und Reform-
plane auf euch felbft zu fongentrieren und euren Wirfungswillen auf eure
Reichweite zu befchränfen, wenn wir fogar empfehlen, das heutige Staats-
leben auf fic) beruhen zu laffen, um nad) der durch den Äußeren Drud ver—
mebrten inneren Sammlung aufs Ganze gehen zu können, fo gefdiebt das,
weil wir wollen, daß „die große Tat“ ein entfheidender Schritt auf
dem Wege zur Bollendung unferes Bolfes fei, und weil wir glauben, daß
er auf diefem Wege aud) am fdnellften getan werden fann. Richten wir,
unfer Leben in dieſer Weije ein, Dann mag aud der Sag des neuen Reiches
aller Deutfden und der Tag des Führer-Kaifers nicht mehr fo fern fein, als
wir es aus unferer Gegenwart heraus zu fehen permögen.
Sobann Wilhelm Mannbardt.
Das deutſche Bolf und der Krieg.
tieg und Niederlage jind Proben des Sdidjals; ihre ftarfe aufbauende
Kraft wird frei, fobald fie von einem geiftigen Gtandpuntt betrachtet
und nad ihrem höheren Sinn gewürdigt werden. Gie fteben in diefem Fall
über jeder Kritif. Zwar ijt das deutſche Volk in ihrer Folge wehrlog ge-
worden inmitten der Rüftungen anderer Völker; einer gefunden foldatifchen
Tätigkeit ijt eine ergwungene Pauſe gejegt, doch fann diefe Pauje eine neue
Kriegstüchtigfeit begründen, wenn fie nur eine jolhe des Naddenfens und
der Gelbjtprüfung ift.
Aud das politifche Urteil braucht den gefunden Zieffinn des deutjchen
Wefens. Die Bolitik ift eine fo Hobe und fdwere Kunft, undenkbar ohne
tiefere Kenntnis der gebeimeren DBorgänge in der menfdliden Geele;
zu ihr gehört die fadlide Leidenſchaft echter Wiffenfchaftlichkeit. Mit
dem Haren, felbftlojen GSpürfinn der Liebe muß fie als gründliche
331
Wiffenfdaft den Erſcheinungen auf den Grund gehen. So jchöpfen politijde
Menjchen aus der Seele des ganzen Bolfes, feltner in Deutfchland als in andern
Landern, weil bier diefe Seele fo unergriindlid und ſchwer zu faffen ift.
Das redhte Handeln der Gegenwart ruht auf dem Ginbli€ in das Gee
worbdene; flares Berftändnis von Krieg und Niederlage find die Grundlagen
einer neuen Wehrkraft; auf geiftigem Weg müffen alle Kreife des Bolfes
einer natürlichen Kriegstücdhtigfeit wiedergemonnen werden.
Gs braucht dazu politifhen Taft und eine fchöpferiihe Geſchichtsbe—
tradtung, die wirklid) dem fdeinbar Ginnlofen wieder Sinn gibt, denn
am gefährlichften für die Gefundheit des Volkes ift eine Kritik, die vernichten
fann. Die wahre völfifhe Kraft findet den Sinn und den guten Kern felbft
in den DBorgängen, die gum Ungliid des VBaterlandes geworden find, fie
bereitet fogar den Gliedern des Bolfes, die fid) vergangen haben, den Rüde’
weg zur rechten Geſinnung, weil ein Stüd urjprünglicher Bolfstraft nod in
dem Iegten Sohn eines guten Volkes Iebt.
Wir brauden für eine neue Wehrkraft eine grundfaglide Klarheit. Wir
müffen bor allem wifjen, wie ji das deutſche Boll zum Kriege verhält,
was es früher friegstüchtig gemacht bat und auf welde Weije es trotzdem
gu einer Gabotage des Krieges fam. Gs muß hierbei von dem deutfchen
Bolt als einer organifchen und befeelten Einheit gefproden werden, felbft
wo man nur einzelne Sreibende oder Schuldige feben Tönnte; jedenfalls
fann in feinen entfcheidenden Augenbliden ein Golf nur als Ganges handeln;
gwifden Sun und Gefdebhenlaffen ift dann fein Anterfchied.
Sn der urfpriingliden Form des Krieges fpielt die Metaphyſik eine
große Rolle; hier lebt das Unberedhenbare des Schidjals in aller urfpriing-
lihen Starfe. Im Kampf entfalten ſich neue Kräfte, Die immer gefdlafen
haben, es entftebt ein gleichjam nerpiges und durddringendes Feingefühl
als eine erhöhte Aktivität der Seele.
Der Deutſche fudt gern das Abenteuer des Krieges oder beffer gejagt,
deffen erhöhte feeliihe Tätigkeit. Gr ift friegerifd in einer bon jeher jtarf
entwidelten Seelenfraft, die fic) immer wieder betätigen will. Das tägliche
Leben ift ihm leicht zu fein und zu eng, dann fuchen die mannigfaltigen
inneren Kräfte eine intenfipe Betätigung. Seine Gefdhidte ift eine Gee
ſchichte der Raftlofigkeit, die fid in ſchweren Aufgaben ftillen will. So ift
der Krieg dem urfprünglichen Deutſchen nur ein natiirlider Gnergiever-
braud des drängenden Innenlebens.
Rraftlofe Menfchen fdnnen den Krieg nicht verftehen; fie feben nur
Mord, Sinnlofigfeit und Zerftörung; in ihrem Leben fehlt jeder Aeberſchuß.
Sie ahnen aud nicht, daf gerade das Unfichtbare, der feelifche Ueberſchuß,
früh oder {pat das wahre Schidjal der Menfchheit ausmadt.
Der reine Krieg fommt nun aus diefem Ueberfluß wie der meifte Kampf;
er ift ein Ringen um feelifches Gleichgewicht, eine Gntladung und Reini»
gung, die fic) die Menjchheit felber auferlegt. Könnte ihn nur die Bernunft
befeitigen! Go ift er aber ein Stüd natürlichen Lebens, ja gefteigertes Leben
felbft. Gr verbraudt ja nicht nur die feelifhen Kräfte; wie jede gejunde
Tätigkeit verbraudt er im Gleihmaß die leiblichen, feelifchen, geiftigen.
Zwiſchen den Bölfern bringt er das innere Krafteverhaltnis ins Gleichgewicht,
das volflide Leben der Kämpfenden klärend, beruhigend und ftarfend.
Freilich ift hier von dem Arbild des Krieges die Rede, von feiner Idee,
wie eine folhe auch von Pflanze, Tier und Wenſch befteht. Die Erſchei—
332
nungsformen diejfer Idee find unendlich wandelbar. Dod fann jede einzelne
an dem Urbild gemefjen werden.
Im Deutjchen lebt die reine Idee des Krieges und die ift es aud, Dia
er immer gejudt bat; im ideellen Ginn ift er friegerifh, um des Urbilds
willen ſucht er den wirkliden Krieg. Gs geht bon ihm ein Geift der Une
tube aus, den die gedämpfteren Seelen der anderen Völker faum verftehen
fönnen. G8 wird ihm deshalb auch fchwer, auf natürlidem Weg Form,
Gleichgewicht, Gleichmaß zu finden. Die Natur hat den anderen Völkern
ein gebalteneres Innenleben gegeben; bon ihrem Standpunkt haben fie wohl
das Recht, uns Barbaren zu nennen. Gs ift auch verftändlich, geben fie uns
wegen unjerer Unruhe die Schuld am Krieg.
Betrachtet man aber den Krieg als Schidjal, als ein Verhängnis, dag
über die Völker fommen muß, fo ift diefe Schuldfrage herzlich gleichgültig.
Sie gehört der Sagespolitif; por der Gefdidte ift fie bedeutungslos.
Sedenfalls haben die Deutfchen einmal auf den Ausbruch des Krieges
eine heimliche Hoffnung gejeßt; es war eine innerlide, nur Halbbewufte
Hoffnung auf Wiedererlangung des inneren Gleidhgewidts. In den tieferen
Gründen ift alle Gejdhidte Seelengeſchichte.
Wie fprunghaft hatte ſich die Gntwidlung Deutfchlandg feit einem halben
Jahrhundert vollzogen! Wie unorganifdh ging die Gntwidlung, die plötzlich
aus einer Summe von Heinen Staaten ein Weltreid) bildete! Der rafde
äußere Aufftieg mar für die meiften diefer entwidelten Seelen ein tiefes
Ungliid, obwohl er zuerft von ihrer eigentümlichen Raftlofigfeit genährt war.
Sie fudten etwas in diefer materiellen Betätigung, das fie nicht finden
fonnten; die DBefehrung zum Materialismus vollzog fich im fdnellen Puls-
flag des feelifchen Giebers.
Alles das bradte die Feindſchaft, ja die Mißachtung der Völker mit
einem befferen inneren Gleichgewicht.
Wer wird die Deutfchen jemals verftehen, wo fie fich felbft ein Rätſel
find? Gie lebten [chließlich ein materielles und betriebfames Leben und nur
das Anfchwellen des Sozialismus, ftärfer als in jedem anderen Land,
mochte verraten, wie tiefe Unzufriedenheit Dem ganzen Bolt an der Seele
fraß.
So hat es fidh in dem ausgebrodhenen Krieg 1914 zu entladen gejudt.
Seit Jahrzehnten war feine Seele in einem mechanifierten Leben gefeffelt,
nun war da auf einmal der Krieg, in dem der Wert des Perfdnliden, alle
feelifhen Tugenden, freie, fchaffende Sat wieder gelten follten.
Die Grinnerung an Diefe Zeit erfüllt Heute unwillfirlid mit Trauer.
Die DBegeifterung und die Ezpanfionskraft der Heere in diefer erften Zeit war
die vergehende Gnergie des Abſtoßes vom gewöhnlidhen Leben. Noch fab
man Damals ein freies, perfönlich bandelndes Dafein im Krieg. Die Deutfchen
flüchteten aus dem Gefängnis der Seele, aus Geſchäft, Fabrif und Betrieb,
ja aud) aus der Schule, wo überall und fo oft aus dem lebendigen Menfden
ein Ding gemadt worden war. Für das beutjche, diefes perfönlichfte aller
‘Dilfer, war der Krieg ein Wiederbeginn des Lebens, das nun bon aller
Mechanik frei war.
Aber in diefer Borftellung lebte das Urbild und nicht die Erfdeinungs-
Kan: ein für allemal ſchien der Krieg ein Triumph von elementaren Grleb-
niffen.
So muß ein Bolf in die ſchlimmſte Enttäuſchung feiner Gefdidte hinein-
geben. Gs erwartet bon einem Krieg die Befreiung aus einer medanifierten
333
Welt und erlebt ftatt deffen den graufamen Sieg der Materie über den
lebenden Menjchen.
Man könnte aus diefem Gefichtspunft eine ganze Gefdidte des Krieges
fchreiben, ja, boffentlid) wird fie nod einmal gefchrieben werden. Dielleicht
war die Niederlage der erften Marnefdladt, was aud immer Die rein
militärifhen Gründe gewefen fein mögen, ein erftes Gingeftändnis Der
innerlihen Gnttäufhung. Sedenfalls fest der Grabentrieg, bie Starrbeit
der Front, die dann begonnen: hat, einen ganz beftimmten Zuftand der Gegner
voraus. Gie beherrfehen nicht mehr den Kampf, die Mechanif der Kampf
mittel beberrfcht nun fie. Sm Often blieb der Kampf immer öftlicher, Dort
fam es nie zu jener weftliden und medanifden Starrheit der Front; lebendige
Menfden fämpften noch miteinander.
Warum ift die Pſychologie diefes Krieges nom ungefdrieben? Gie
finnte Dinge entbiillen, die wie ein Geftandnis das ganze Leben der Bölfer
erleichterten; fie öffnete die verborgenen Leiden und Freuden der deutfchen
Soldaten, die felber bis Heute nod ſtumm und über fich unflar geblieben find.
Die Unterfchiede des Kampfes in Oft und Weft find Unterfdiede der
Weltanſchauung; feine Berfdiedenheit reicht bis in den Bezirk der höchſten
menfhlihen Dinge War es ein Bufall, daß die Deutjchen im Often fieg-
reid) geblieben find? Waren fie deshalb nur fiegreich, weil die Ruffen fo
ſchlechte Soldaten und fdledt geführt worden find, oder weil ihnen fdom
der fommuniftifde Geift in den Knochen jaß?
Wir können an diefer Stelle auf foldhe Fragen nicht eingehen. Gs ift
nur darauf zu berweifen, daß der Kampf im Often bei allen Truppen,
die aus dem Weften gefommen find, als eine feelifche Auffrifehung gegolten
bat. Die oberfte Heeresleitung hat fic diejes Wechfels der Kampffront nicht
nur aus ftrategifhen ®ründen bedient.
Denn im Weften geriet die deutfche Seele immer mehr in Gefangen{daft,
in die graufame Haft der toten Materie. Notwendig zieht die Starrheit
der Gront die Materialfhlaht nad fid. Gerade die Maffen der In—
fanterie, die bas Gefedt entfcheiden foll, werden als lebende Wefen immer
mehr unterdrüdt; fie werden Kanonenfutter, Nummern und Zahlen ohne
Rüdficht auf perfönliden Wert. Ihre größte Tapferkeit ift das Wusbarren,
ihre größte Leiftung die ftumpfe Preisgabe ihres Körpers.
So muß man von diefer Zeit ab erleben, daß die Soldaten die Truppe bere
lafjen, wenn fie in Stellung gebt, diefelben Soldaten, die dann im Often die
tühnften Gingeltaten verrichten fdnnen.
Gs ift gewiß, daß unfere Gegner im Weften nicht in dem gleichen Grad
unter diefer Mechanik des Krieges gelitten haben; es will faft fcheinen, als
wären fie auch auf diefem Gebiet mit der Materie auf vertrauterem Fuß ge-
ftanden. Wie handhabten die Franzoſen 3. B. die Heinen Schilanen der Grae
bengefhüte, Gewehrgranaten und Minen! Unfere Truppe war diefen Mitteln
wenig freundlich gefinnt, fie erfdienen fo unperfinlid, ihre Handhabung
fo anftrengungslos und billig. Was die Widerftandsfähigften aufrecht erhielt,
war die Hoffnung auf eine Gingeltat, auf eine perfinlide Leiftung. Darin
befreite fich immer wieder der Trieb der Seele zum fchaffenden Handeln.
Aber auch davon foll Hier nicht weiter die Rede fein; all das verdient
eine bejondere pſychologiſche Würdigung. Gs bleibt nur feftzuftellen, daß
gerade der Deutfche, der freudig und tapferwillig den Krieg begonnen hatte,
in feiner entwidelten, tätigen Seele am meiften unter dem Krieg gu leiden.
anfing.
334
Ja, es entwidelte fich ein unbefchreibliher Haß in der Seele des Bolfes
gegen die blinde Mechanik des Krieges. Und diefer Haß war geboren aus
- einem gefunden und natürlichen friegerifden Inftinkt. Gr entftand wohl aud
bei den andern Völkern, doch wußte fich deren entwidelter materieller Sinn
immer neue und raffiniertere Mittel zu fdaffen wie die mechaniſchen Un—
getüme der Tanks. Die Deutfchen aber haben ihre Erfindungen fchlecht und
gdgernd ausgenüßt, als empfänden fie ihre Seindfeligfeit gegen das Urbild des
Krieges.
Unter einem foldhen Gefidtspuntt dürften wir uns getroft zu einem Haß
des Krieges befennen. Gin folches Bekenntnis wäre nicht gegen die natürliche
Zapferfeit, denn unfer Gefühl, das fi das Urbild, die reine Idee, zum
Mafftab genommen hat, richtete fid ja dann nur gegen die entfeelte und ent«-
geiftigte Gorm. Wollten dod einmal die ehrlichen Deutfchen, die Pazififten ge-
worden find, unter dieſem Gefidtspuntt ihre Empfindung ſchärfer prüfen!
Die oberfte Heeresleitung hatte wohl die Gefabr des medanifden
Krieges erfannt. Man ahnte, daß die feindliden Heere nicht mit einer folden
inneren Not zu fampfen Hatten, die größer war als die materielle. So fam
der organifierte vaterländifhe Unterricht, den übrigens gute Truppenführer
{hon lange pflegten.
Die Idee des vaterländifhen Unterrihts mar feelifche, geiftige
Stärkung, um ber innerliden Zerftörung der Kriegsmechanif entgegenzuwirfen.
Es war die Idee eines wahren GFeldherrn. Aber zu ihrer Berwirklihung
hätte es {don im Frieden einer intenfiven Grgiehung des Offigiersforps bee
durft. Hier genügte feine medanifdhe Fertigkeit in den äußeren Dingen des
Sandwerks, es bedurfte der wahren Kriegskunft, die aud mit Geift und
Seele der Menſchen Iebendig umgeht.
Dod war die beutfche Seele nod ſtark genug, um auch ber Mechanik des
Krieges ftandgubalten; fie ift ihr nicht unmittelbar unterlegen. Doch verloren in die⸗
fem Wüten des Materials Sieg und Niederlage jeden urfprünglichen, lebendigen
Ginn. Gefühlsmäßig wußte das jeder Frontfoldat, daher aud) feine Gleich—
gültigfeit gegenüber dem Ausgang des Krieges, im Durchſchnitt wenigftens.
Gr tat feine Pflicht, foweit ihm das feelifh noch möglich war; aber innerlich
grimmig enttäufcht bon der Umkehrung aller Begriffe, hielt er ſchließlich die
ganze Welt für Schwindel.
Warum follte eine foldhe Tatſache den deutſchen Soldaten entehren?
Gs war die natürlihe Reaktion der Bolfsfeele. Immerhin war diefe Bolks-
feele an der Front nod) immer durch Kampf gebunden, in der Heimat vere
Dielt fie fich anders; in der Heimat empörte fie fic.
Aber es ftünde uns fchlecht, würden wir in der Sabotage bes Kriegs
dur das Hinterland nur Kriegsmüdigfeit und Geigheit fehen. Dies gäbe
ſchlechte Ausfichten für den Aufbau des neuen Heeres. Gs entſpricht aber
aud gar nidt den Zatfachen. Oft waren die Bannertrager des Umfturzes
Derftümmelte, die fic einft an der Front fanatifch gefdlagen Hatten. Auch
in der Sabotage des Krieges zeigten fie fid als gute Soldaten, wenn auth
gleihfam ohne die Budt des Handwerks. Vielleicht erinnert man fih aud
der ,,Seefdladt* von Goering: aus den guten Matrofen wurden wirklich gute
Meuterer. Wer diefe Matrojen nod im Mai 1919 fechten gefeben Hat, dem
wird um den friegerifchen ©eift unferes Bolfes nicht bange.
Gs ift zu unferem Oliide anzunehmen, daß fid die deutfche Seele gegen
die Medhanif des Krieges empört Hat, nicht gegen den Krieg felbft. Un—
bewußt mußten Dod die Gmpdrer und Saboteure das ftumme Ginverftändnis
335
des großen Gangen befiten, fonft brauchten wir nicht zu fragen: wo blieb
damals der Widerftand? Der Krieg entjchied langft nicht mehr über den
wahren Wert und die Kraft der Völker, deshalb wehrte fic aud die Front
nicht mehr gegen die Niederlegung der Waffen, da es ja eigentlich nicht mehr
die ſoldatiſche Ghre anging.
Wohl haben ſich volfsfremde Menfchen der deutſchen Empörung gegen
die Mechanik des Krieges bedient; durch diefe gewaltige Seelenfraft hielten
fie fic) des rebnlitiondren Gieges für fider, aber fie fannten die wahren
Regungen nicht, deren fie fich bedienten; fie wußten nicht, daß diefe Gmpdrung
aller Mechanik gegolten hat.
Der Sozialismus marziftifher Richtung ift aber eine mechaniſche Welt-
anfhauung. Go lange er nur das Recht des freien Menjchen verfündetg,
bejaß diefe Idee, aber ins Deutjche umgedeutet, eine unbergleidlide agi—
tatorifhe Kraft. Heute ift die Kraft zu Ende. Der Kampf gilt ibm. Durch
Krieg, Empörung und äußere Niederlage führt ein gerader Weg zum eigen-
tiimliden deutfchen Wefen.
Die Deutfchen befämpfen fic nod untereinander; wahrſcheinlich ift aud
Dies zur Klärung und Beruhigung der Seele notwendig. Die Hajfiihe Gin-
Deit ift ihnen ewig fremd. Wie das Leben ift diefes Volk reich, bunt, von
den mannigfaltigjten und entgegengejegten Farben. Aber leije fängt es jdon
an fic felbft gu verftehen, fich wieder zu adten und wert zu ſchätzen. Gs
wird fid Iangfam zu einer feelifhen Wehrfähigfeit erziehen, die ftärker ift
als alle mechaniſchen Rüftungen. Wilbelm von Shramm.
Die nationale Bewegung in Indien und bei uns.
ir find ein Golf des Kontinents. Leichter verftehen wir die Expanſion
des ruffifhen Agrarreiches. das Landitrede um Landftrede an jich rif,
alg den Bau des britifchen Imperiums, der die Meere überwölbt. Die
Stage, ob ein Land bäuerlich befiedelt werden fann, jpielte für die volks—
tiimlide Bewertung der Kolonien bei uns eine entfcheidende Rolle; für das
Weſen angelſächſiſcher Weltherrfhaft ging unſerm Volk nod nidt
einmal das DBerftändnis auf, alg wir — gum zweitenmal in unfrer See
ſchichte — der weltbeherrſchenden Zivilifation zum Kampfe gegenübertraten.
Kaum heute fehen wir den Gegner deutlich, der im Dawes-Gutadten das
Sazit aus der diesmal verlorenen Hermannsjchlacht zieht und uns dem bdiel-
fad) abgeftuften Spftem bon Abhängigkeiten angliedert, mit dem er den Erd-
ball überzogen bat. Das Waffenrafjeln Frankreichs fiziert unſern Blid auf
den feftländifchen Feind: — mit diefem uns auf greifbare und unferm Weſen
gemäße Art auseinanderzufegen, find wir ohnehin feit Jahrhunderten ge»
wohnt. Aber der unfaßbare Widerjader drüben auf feiner Nebelinfel, mit
feinen maritimen Kajtellen an den Küften aller Meere und feinen Heerftraßen
zu Waffer, mit feiner Macht, die Meinung der Welt zu formen, mit moralith
und DBlodaden und mit feinem Bündnis mit dem Ginangfapital, deffen Ber
treter heute den Staaten ihre Politik porfdreiben, — diefer Widerfacher loft
nit wie Frankreich Hellen Haß aus, fondern ratlofe Grbitterung.
Waren wir nicht weltpolitifher Ausblide jo wenig gewohnt, fo müßten
wir längft mit größter Spannung das Werk jenes Mannes verfolgen, der den
Kampf mit diefem Gegner aufgenommen bat: das Werk Mahatma Gandbis.
Aber unfer Wiffen befchränfte fich meift auf einige feuilletoniftifche Zeitungs-
attifel und gelegentlihe Reutertelegramme, die uns faum Die Bedeutung,
336
Diefer Bewegung für uns ahnen ließen. Sekt Hat Romain Rolland ein Buch*
über Gandhi gefchrieben und eine Auswahl feiner Auffäße ** herausgegeben.
Nur von diefen ijt im folgenden die Rede. Dadurch, daß der große franzöſiſche
Bazifift, daß Upton Sinclair in Giegfried Jacobſohns Weltbühne, daß
unsre demofratifcheinternationale Preſſe fic für Gandhi begeiftert, entfteht die
Gefahr, daß nationale Kreife Gandhi für einen pagififtiihen Ideologen
halten und ihn ebenjo ablehnen, wie den — ingwifden rubmlos verjchol«-
Ienen — Smporte-rtifel Rabindranath.
Aber die Gründe, aus denen unfre Pagififten Gandhi propagieren, find
etwas anderes, als der tiefe Grund, aus dem Gandhi die Kraft jchöpft, gehn
Millionen Menſchen zu gewinnen, die bereit find, für ihr Land zu leiden.
Now ehe man die Gedanfenwelt diefer Aufjäse überblidt, fühlt man,
daß bier andere Luft weht als in den Schriften unfrer Pazififten: man fpürt
den heißen Atem eines Bölkerftreites, Blutopfer fallen und immer deutlicher
bört man aus den Haren und fühnen Worten den Öotteszorn des Propheten
reden. Selten find ftolzgere Worte gewedfelt worden, als zwijchen Gandhi,
dem Sprecher der indifhen Millionen, und den Herren der halben Welt.
Gandhi fampft ohne Gewaltanwendung. Aber nicht aus Mangel an
nationaler Würde, nicht aus meinerlicher Leidensfcheu, nicht aus Sorge um
bie zipilifatoriihe Wohlfahrt ift feine Idee der Gewaltlofigfeit entfprungen:
fie entftammt feiner humanitären Wurzel.
Gr fieht fein Land, zerriffen von dem tiefen Religionshaf, der achtzig
Millionen Mohammedaner zweihundertzwanzig Millionen Hindus gegenüber-
ftellt, Die wiederum durch Kaften und Stämme in vielfahem Gegenſatz grup-
piert find. Gr ſieht das britifhe Weltreich, das durch Hunderttaujend aus-
erlefene Männer diefes Bolf in Hörigfeit erhält. (Kiplings „Kim“ gibt eine
einzigartige Slluftration diefer Berhaltniffe.)
Gandhi erkennt die Methoden diefer Verſklavung, ihre teuflifche Genialitat
— und ihre ®rengen. Gr fieht, wie durch die Zerftörung der indifhen Haus-
tweberei Ddiefes Land, das mehr Baumwolle erzeugt, als es verbraudt, ge
zwungen wird, an der Ginfubr von Belleidungsftiiden zu berarmen. Gr fieht ein
lüdenlofes Shftem brutaler Unterdrüdung, das Straßen, Gifenbabnen, Schulen,
Geridte nur fdafft, um der Ausbeutung die Wege zu ebnen. Aber er fieht
aud, daß dieſes Shftem nur Iebensfähig ift durch die Mitarbeit der Inder
felbft: die Berwaltung, die Bahnen, die Armee brechen in dem Augenblid
gufammen, in dem fein Inder mehr im Dienfte der Briten fteht. Diefen
Augenblid herbeizuführen, ift das Biel Gandbis.
Dazu judt er die entnervende Armut zu lindern, die Profitgier Man—
defters zu enttäufchen, indem er die Arbeit am Gpinnrade, das Tragen
Hausgemwebter Stoffe zur Pflidt madt. Darum fordert er gum Austritt aus
dem englifhen Dienft, zur Bermeidung englifcher Schulen auf. Gr fiedt, daß
die Engländer diefe Entwidlung erkennen und fürdten; daß fie verfuchen, Die
Bewegung durch DBrutalitäten und Provofationen zum offenen Aufftand zu
treiben, dejfen fie mit Tanks und Mafchinengewehren Herr zu werden hoffen:
er weiß, daß dann die „Ihwäcdhlihen reiseffenden Millionen Indiens“
„dem Löwen“ nur als „angenehme Spenden“ dargebracht werden.
* Romain Rolland, Mahatma Gandhi. 152 ©. Geb. 2.50. Geb. 3.50.
** Mabatma Gandhi, Sung Indien. Auffabe aus den Jahren 1919—1922.
540 ©. ®eb. 7.—, geb. 8.50. Beide Bände im Rotapfel-Berlag, Erlenbach-Zürich,
Münden und Leipzig.
337
An diefem Punkte fest jene Kraft ein, die Gandhi auszeichnet. Gr ſchöpft
wie fein Volk feine Stärke aus den religiöfen Tiefen des Hinduismus, der
Gerehrung des heiligen Rindes. Im Hinduismus aber Iebt die Idee der
Gewaltlofigteit, nicht als Negation, jondern als eine grundlegende pofitive
Wacht: als die Art, in der die Welt erfaßt, umfaßt wird, — wir würden
Liebe jagen, wollte man nicht jenes diftangloje ſchlampige ©efühlsungefähr
darunter verftehen, das bei perfönlicher Herzensdürftigkeit blaffe Empfin—
dungen auf allumfajfende Abftrafta wendet. Gandhi fühlt jich als orthodozer
Hindu, und zu den Greueln der Zipilifation rechnet er neben den Gifenbahnen
aud die — Rranfenhaufjer. Man fiebt, man befindet fic) auf fremdem
Boden, nicht in einem ideologifchen Nirgendsheim, fondern auf national ge-
formtem Gelande mit fejten charakteriſtiſchen Umriſſen, die nicht der Aller-
weltsſchablone internationaler Moral nadgegeidnet find. Sa, daß die Stämme
und Kaften untereinander heiraten und miteinander fpeijen, will er dem ent»
gegengefesten Empfinden feiner Landsleute nicht aufzwingen: die europäifchen
DBerhältniffe Haben ihn nidt davon überzeugt, daß die Berwifdung volks—
tiimlidher Abgrenzungen den Grieden gewährleifte. — Wie haben unjre
empfindfamen Pagifijten nur diefe „Barbareien“ jchluden fönnen? und wie
fann Siegfried Iacobjohn folden „völkiſchen Raſſenfimmel“ propagieren?
Daraus erhält eben diefe Bewegung ihre Wudt, daf fie aus der ftärfften
nationalen Eigenart ihre Richtung, Farbe und Gorm gewinnt. Nur wenn
die innerften Kräfte aufgerufen find, vollziehen fic foldhe Myſterien, wie fie
Gandhis Kampf begleiten. Pilgergiige, — Sikhs find es, frieqserfahrene
Kämpfer von der Weftfront — die in ftummem Gebete Iangfam in das Mas
fhinengewehrfeuer bineinfchreiten, während Tauſende mit teilnehmender Liebe
der furdtbaren Opferung als einer Rulthandlung beiwohnen, — das find
Grfdeinungen von fo tiefer Srrationalitat, wie fie nie auf dem Boden der,
„Menſchenwürde“, der humanitären Gmpfindjamfeit, der „religiös“ retu-
{dierten „Geiſtigkeit“ wachjen. Diefer Kraft ift England auf die Dauer nicht
gewachſen: wenn die Greuel von Amritfar * aud in ihrer Wiederholung Die
feelifhe Widerftandstraft Indiens nicht brechen, fo müffen fie der Freiheit
den Sieg bereiten, denn nidt nur wird eine Armee, die fich daran gewöhnt,
Betende mit Keulen zu erfdlagen, für ehrlihes Waffenwerf unbraudbar
und eines Sages nicht mehr in der Hand ihrer Führer fein, fondern vor allem
reißen diefe Vorgänge die Kluft zwiſchen den Gngländern und den Indern
immer tiefer auf: der mit diefer Blutfchuld belafteten Regierung entgleitet
die Würde und es wird ihr immer fchwerer, gerade die beiten des ers
bitterten Volkes in ihren Dienft zu ziehen. Damit rüdt jener Augenblid
gwangslaufig näher, Der Bandhis Biel ift: die Non-Kooperation, die Ber»
weigerung der Mitarbeit an der Unterdrüdung, die fofort den Zufammenbrud
der engliſchen Herrichaft bedeutet, denn mit überläuferifhem Gefindel Tann
der Sndiendienft, der Englands befte Männer beanfprudt, feine Aufgabe
micht fortführen. i
Grfidtlih handelt es fih nicht nur um paffive Refiftenz, die Gandhi
vielmehr als Waffe der Schwachen verwirft; fein Plan, obwohl gewaltlos,
ift aggreffiv, fpitt den Konflikt zu, treibt ihn aufs äußerfte, und wird bei
der religidfen Leidenfdaftlidfeit des Bolfes immer wieder gu Sewaltaus-
brüchen führen. Das weiß Gandhi; in der denfwiirdigen Berhandlung, die
* Man leje den erfdittternden Beridt pon Revad Prafad Misra in der Deut-
{den Rundfhau, Suli 1924.
338
feiner Verurteilung voranging, hat er — anders als unſre Regierung im
Rubrfampf! — die Mitverantwortlichfeit an den Gewalttaten feiner An—
Hanger auf fid) genommen, obwohl jene feinen Befehlen zuwidergehandelt
haben.
Für Gandhi ift eben Gewaltlofigkeit nicht das Biel, fondern der Weg:
das Ziel ift die Freiheit. Gr kämpft midt nur für Die Wohlfahrt,
fondern um die Seele feines Bolfes. Darum ift es Selbftverftandlidfeit
für ihn, niemals aus taftifher „Klugheit“ irgend etwas zu tun oder zu dulden,
was die Reinheit des nationalen Willens trübt: fein die Nation entehrendes
Geſetz des Gegners darf befolgt, fein nod fo borteilhaftes Kompromiß gee
Ihloffen werden. Denn ift einmal das Srrationale dem Rationalen gewiden,
fo ift feine Abſolutheit gerftdrt und der Kampf fteigt aus dem Bereiche des
©laubens in das Gebiet des Zwedhaften bernieder; bier aber, auf feinem
eigenften Boden, dem britifhen Imperium trogen zu wollen, wäre Berblene
dung. .
Gandhis Werk hat zwei Gefabrzonen: eine afiatifhe und eine europäijche.
Gr verfuchte, indem er für die religiöfen Rechte der Mohammedaner in der
Kalifatsfrage eintrat, die Brüde gwifdhen den Mohammedanern und den Hin-
dus zu fdlagen. Aber weil fein Kampf die tiefften religiöfen Kräfte auf-
rief, belebte er auch die Gegenfage aufs neue: zwifchen den beiden Gruppen
brechen Kämpfe aus, und mit einem Geufger der Erleichterung läßt England
feine Tanks auf beide feuern. Dies ift die afiatifhe Gefahrgone; die euro—
päifche droht bon Home Rule aus. Die ,,aufgeklarten* Nativnaliften haben
fid von Gandhi getrennt, um auf parlamentarifdhem Wege Indien in ein Do—
minion zu verwandeln. Nad der Art Auftraliens etwa, diefem Lande, das
nit Gott gefdaffen bat, fondern die Engländer: ohne Kultur, ohne Ver—
gangenbeit, ohne den Lichtfehimmer einer Würde, die nicht Bufinef ift.
Seder wird fühlen, daß diefe Sache uns angeht, und daß fie nicht gue
fällig in diefem Hefte behandelt wird, das dem Kriegsgedenfen gewidmet ift.
Die angelfähjifhe Raſſe podt darauf, daß fie die Methode der ziviliſato—
tijden Weltregelung meiftert, wie fein anderes Boll. Daß uns diefe Me»
tbode nicht einleuchtet, weil uns das Ziel nicht befriedigt, Fann der Brite
nicht einfehen, weil er fih nidt vorftellen fann, daß man eines anderen
gieles bedarf. Man taufdhe fid nicht; felbft Die Quaker, mögen fie aud mit
lauterer Herzenswärme die Härten der weftlichen Zipilifation mildern wollen,
fteben im DBanne Ddiefes Ddürftigen Ideals.
Hätten wir Waffen, fo würde uns fein fejtländifcher Feind fchreden;
aber gegen Gngland genügen fie nidt. An Indien fehen wir, wefjen wir bee
dürfen: unjre tiefften irrationalen Gründe allein geben die Kräfte ber, mit
denen wir dem Reiche des Nur-Zwedhaften den Kampf anfagen fdnnen.
Sreilid find es andere Mächte, die fic) bei uns als die tiefften erweijen were
den; die Idee der Semwaltfojigfeit ijt bei uns nicht im Urgrunde verwurzelt.
Den Hindus gab der Uebergang zum friedliden Aderbau die Berehrung des
Deiligen Rindes mit der GHrfurdht vor allem Lebendigen; uns fteigt in dev
entfprechenden Epoche die Geftalt des jiegjpendenden Wodan, fpäter des
Helden Heliant auf.
Gerade weil Weg und Ziel die gleichen find, muß unjre nationale Bewee
gung anders ausfeben als in Indien; denn indem fie gum Greibeitsfampfe fid
auf ihre letzten Kräfte befinnt, muß die völkiſche Sonderart mit aller Schärfe
berbortreten. Aber aud) wir werden unfre „barbarifche“ und unfre euro»
päijche Gefahrzone haben: die felbitzerftörenden Triebe in der Tiefe des deut—
339
[hen Weſens werden neu belebt werden, und jene „aufgellärten“ Nationa-
liften, melde die deutfhe Seele ,parlamentarifd vertreten“ wollen, fehlen
uns aud nicht. !
Aud wir werden den Weg zu unfern irrationalen Kräften nur finden,
wenn wir uns den DBlid für das Wefentlide nicht durch Opportunitäten trü-
ben Iaffen: nur „unbefcholtenen Augen“ erjchließt es fic. Darum ijt das
Kriegsfchuldbelenntnis nicht nur ein juriftifcher Nachteil, fondern fommt einer
feelifhen DBerftümmelung gleid: nidt daß wir zu Unrecht für fduldig
gelten, ift das Glend, fondern daß wir uns einer feigen Lüge ſchuldig ge»
madt haben, lähmt unfer Herz.
Daf wir uns von Frankreich Hypnotifieren laſſen, rührt nit nur Don
den gewalttätigen Greignifjen im Rubrgebiet ber, fondern auc bon der
Scheu, der welthiftorifchen Aufgabe ins Auge zu fehen, die uns durch die
Gegnerfchaft der angelfähfifhen Welt geftellt if. Wir fdauern vor der Bes
tufung zurüd, die nidt nur unfere Ddiesjeitigen Kräfte prüfen wird; eine
dumpfe Geelenangft berührt uns: haben wir unjer ewiges Teil bewahrt?
Werden wir da verfagen, wo nur feine Kräfte wirken fünnen? Werden
wir einmal, ,,fartoffelefjende ſchwächliche Millionen“, vaterlandslos im Domi-
nion Deutfchland der angelfähfifhen Welt angehören? Sind wir berufen, aber
nicht auserwählt? Albrecht Grid Günther.
Aus einem amerikaniſchen Geſchichtswerke des
Jahres 1974.
Aus der Ginleitung.
addem die Menfchheit fid in Sahrtaufende währender Verwirrung abge-
müht hatte, ihre bernunftgemafe Ordnung zu erreichen, nachdem die bare
bariſchen Fehden der Sippen abgelöft worden waren bon den zügellofen
Kämpfen der Stämme und diefe wiederum bon den furchtbaren Kriegen der
givilifierten Großmächte, erlangte Amerika eine folde wirtjchaftliche und mora-
lifhe Macht über die Völker diefes Planeten, daß es auch die widerftreben-
den zur Anerkennung der Grundfäge der Geredtigteit und Menfchlichfeit be»
wegen fonnte. Nun endlich reift die Grntegeit Der Mtenfdbeit heran, und unjer
Geſchlecht ift bon der Vorſehung gewürdigt, das mit Augen zu fdauen, was
die edelften Geifter der Bergangenbeit in ihren reinften Stunden erjehnt
haben. Nicht mehr als Sraumbild, fondern als eine Wirklichkeit, die wir zu
vollenden im Begriff find, fteht die demofratifhe Föderation der Menjchbeit
por ung; ja wir feben bereits die Wege, auf denen fie zu einer einzigen (großen
und gerechten, bon den weifeften Geiftern der Menjchheit geleiteten Zentral»
demofratie fortjchreiten wird. :
In Amerika vereinigten fid Die materiellen und moralifhen Bedingungen,
die ein jolches Grgebnis herporbringen mußten. Bon den äußeren Urfachen
find vor allen zwei zu würdigen. Eritlih: Aus den Landern der alten Welt
ftrömten hierher die tatfräftigften und unternehmungsfreudigften Glemente, die
für ihre Gabigfeiten in den engen Verhältniſſen der Heimat feinen Raum
fanden, zufammen. Nachdem das Land oberflächlich gefüllt war, erzielte
Amerifa durch eine weife, Sinwanderungspolitif, welche aud die biologijden
Geſetze berüdjichtigte, jene eigentiimlide Miſchung feiner Nation, die, wenn-
gleid) einige Fehler der früheren Zeit nicht wieder getilgt werden fonnten, im
340
ganzen doch den elaftifchen Geift der efficiency Herborbradte, der bon allen
Beobadtern Wmerifas bewundert wird. Zum andern floß infolge einer glid-
lichen Bolitif, die fid) weife in den Dienft großer wirtfchaftlicher Ziele ftellte,
das Kapital der ganzen Welt hier zufammen, und Amerifa fonnte die wohl«-
erworbene mirtfchaftlihe Macht in den entjcheidenden Stunden zugunften der
Seredtigteit und Menfchlichkeit verwenden, indem es als willlommener
Schiedsrichter in den Streitigkeiten der Welt auftrat.
Die geiftigen Urfachen erkennt man in den hohen Idealen, die das ameri-
kaniſche Volk erfüllen. Nirgends in der Welt ijt das Ideal der Demo—
fratie fo vollfommen durchgeführt worden wie in Amerika. Unjere demo—
fratiihe Verfaſſung, unfer dDemofratifher Lebenszufchnitt, unfre bon echt Demo»
kratiſchem Geift erfüllte Bolitif wurden zum Borbild aud der älteren Völker,
die, mit den Hemmniffen einer langen Gefdidte belaftet, die Autofratie nicht
leicht überwinden und nidt einen fo gliidliden Anfang machen fonnten wie
Amerifa. Nicht weniger bedeutjam ift das Ideal des Fortſchrittes, dem
wir Amerifaner mit Greudigfeit dienen. Weil wir porurteilslos uns Dem
Geifte des Fortjchrittes öffneten, brachten wir es zu der vollfommenjten Ore
ganifation der Arbeit, der Wirtfhaft und der Erziehung, und unfere Spfteme
wurden bald von den übrigen Gdlfern nachgeahmt.
Das find die Urfachen, die das amerilanifhe Volk zum führenden Bolt
in der Welt machten. Ihm fiel daher die Rolle zu, die Organifation Der
Welt, den Traum der Sabhrtaufende, zu verwirklichen.
Aus demneunzebnten Kapitel.
Da aber wurde die Wufmerffamfeit des amerifanifhen Bolfes pon der
pazififhen Küfte pldglid) nach Often abgelenkt; denn in Guropa brad ein
großer Krieg aus, der auch die amerifanifchen Intereffen berührte. Deutjch-
land hatte die Brandfadel an den feit mehr als einem halben Jahrhundert
aufgebauften Sprengftoff gelegt.
Die deutjchen Stämme, die bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts
fid gwar bon jeder Fremdherrſchaft freigubalten verftanden, fonft aber feine
größeren wirtfchaftlichen und politifchen Ziele gefannt, fondern bor allem den
Wiffenfdaften und Künften gelebt hatten, waren bon den Preußen unter der
Führung Bismards, eines brutalen und Eugen Staatsmannes, gum größten
Zeil in eine Monarchie der Hohenzollern zufammengezwungen toorden. Diefer
neue Staat entwidelte feine Wirtfchaft in überrafchender Weife und begann,
an verfchiedene Stellen des Planeten porgefhobene Madtpoften zu er»
richten. Deutfchland behielt nunmehr feinen Volksüberſchuß für fic felbft;
ftatt Menjchen führte es Waren aus. Wohl niemand mißgönnte diefem Bolfe
feinen Aufſchwung, aber der Wmftand, daß es autofratifch regiert wurde und
daß die Autofratie fi aus den beiten Kräften des Bolfes ein furchtbareg
Heer gefdaffen hatte, das in der Hand feines „Kriegsherrn“ als eine Waffe
des Ehrgeizes und der Willkür dienen fonnte, ftellte eine fo große Bedrohung
der allgemeinen Greiheit dar, daß die benachbarten demofratifhen Völker
bon tiefem Mißtrauen erfüllt wurden. Da Frankreich und England allein
der wadjenden deutfchen Macht auf die Dauer nicht hätten Widerftand leiften
fonnen, verfchmähten fie es nicht, fid mit der ruſſiſchen Autofratie zu ver
bünden, die eine Ausdehnung nad) dem Südweſten erftrebte und dabei auf
die deutfchen Intereffen ftieß. So wurde die deutfche Gefahr rings bon einem
Ball umfdloffen. Eine gefdidtere europäifche Diplomatie hätte es wohl gue
ftande gebracht, die ebrgeigigen Pläne der deutfhen Monarchie auf friedliche
341
Weife in die Grenzen der Geredtigfeit zurüdzumeifen und das Volk zu reis
neren Idealen zu erziehen; aber die ruſſiſche Autofratie fonnte ihren Aus-
debnungstrieb nicht zügeln und Sranfreich fonnte das ihm durch feine Nieder-
lage angetane Unrecht nicht verſchmerzen. Gine ruſſiſche Ungefdidlidfeit gab
dem Kaiſer Anlaß, feine furcdhtbare Heeresmafdine nad Often und Weften
in Bewegung zu fegen. i
Die eine Hälfte des Faiferlihen Heeres walgte fich mit taufend Schreden
über das fleine neutrale Belgien dahin bis tief nach Nordfranfreidy hinein,
die andere Hälfte zerfprengte und zermalmte die großen ruffijden Armeen,
bis die Kräfte diefes ungebeuren europäifch-afiatifhen Reiches erjchöpft
waren. Der Kaifer fchredte nicht davor zurüd, von der tüdifhen Waffe des
Unterjeebootes einen Gebraud zu machen, der fogar die Freiheit der amerifa-
nijhen Seefahrt bedrohte. Immer gigantifder ftieg Die Gefahr einer preu-
Bilden Hegemonie in Europa empor. Mit feuchendem Atem fampften die
Demofratien des Weftens, denen fid) Italien angefdloffen hatte, um ihre be—
drohte Freiheit.
England und Granfreidh Hatten fi) fhon von Anfang an nad Amerika
gewandt, deſſen Sympathie ftets auf der Seite der Freiheit und Gerechtigkeit
gewefen ift; Amerika hatte den beiden fämpfenden Ländern feine Induftrie
und fein Kapital nicht verweigert. Mande haben ihm daraus einen Borwurf
gemadt und es der ftillen Teilhaberſchaft am Kriege geziehen. Demgegen-
über muß betont werden, daß Amerika als neutraler Staat feine Induftrie
und fein Kapital aud) den Deutfden nicht verfagt haben würde, wenn dieſe
nit, in ihrem Stolz und Trotz verblendet, es verjhmäht hätten, zu Ame-
tifa zu fommen und fich ihm zu verpflichten.
Im Sabre 1917 erreichte der deutfhe Uebermut feinen Gipfel. Hatten
Die deutſchen Unterfeeboote ſchon vorher harmloſe neutrale Schiffe nicht ver»
font, jo gingen fie jet auf das brutalfte gegen die gejamte Schiffahrt der
Welt vor. Amerika fah fic Dadurd auf zwiefache Weife einer Bedrohung
ausgejest. Grftens mutete man ihm zu, feine private Schiffahrt, die der In—
duftrie und dem Berfehr diente und die, wie es gu geben pflegt, bon dem
Kriege der andern den Borteil hatte, ſchutzlos zu laſſen. Das war eine Bee
drobung feiner nationalen Ehre. Zum andern wäre durch die näher rüdende
Niederlage Englands die amerifanifhe Wirtfchaft aufs tieffte getroffen wore
den. Gin fiegreiches Deutjchland hätte zum mindeften feine Kriegsjchulden
aus dem Tribut der Befiegten bezahlt und feine Wirtfchaft zu neuer Blüte
gebracht. Wmerifa aber hatte bon den Befiegten fdwerlid) die Berginjung
der geliehenen Werte herausholen fünnen. Deutjchland hatte die Vorhand in
der Gntwidlung der Dinge befommen. Go verfnüpften fic bei uns unlös—
bar das private und öffentliche Sntereffe.
Wilfon, der nie nach blutigen Lorbeern geftrebt hat, erfannte, daß in
Europa durd den deutjchen Sieg eine nationale deutfhe Wirtfchaft entftehen
würde, die, autofratifch regiert und auf eine unüberwindliche Heeresmadt ge»
ftüßt, fid) mit der in ihr vereinigten wirt{daftliden und militärifhen Kraft
nidt nur der bon Amerika Her fic bildenden großen internationalen Wirt-
{daft entzogen, fondern fogar bon fic aus ein neues internationales Wirt»
ſchaftszentrum gebildet hätte. Gs handelte fich nicht mehr um die befonderen
Angelegenheiten Guropas, fondern um die große Frage, ob das internationale
Spftem Amerikas, das auf Freiheit und Demofratie gegründet war, oder das
deutſche Shftem, das auf der militärifchen Autofratie und dem fogenannten
Staatsjozialismus berubte, zum Mittelpunkt der künftigen Weltorganifation
342
werden follte. Das teutonifhe Shftem drohte das angelſächſiſche Shftem zu
überholen. Wilfons mutiger Entſchluß entſchied das Schidfal der Menjchheit.
Nahdem durd den Sieg der Alliierten die wefentlihe Entſcheidung ge-
fallen war, glaubte man das übrige der natürlichen Gntwidlung der Greig-
nijje überlafjen zu können. Darum bielt fi) Wmerifa von allen nur europä-
iſchen Streitigkeiten fern. Gs ijt freilich gugugeben, daß Wiljon durch Die
vierzehn Punkte in gewiffer Weife moralifch verpflichtet war, für ihre Durd-
führung die amerifanifche Autorität einzufegen; aber man darf nicht vergeſſen,
mit was für einem Gegner man es zu tun hatte, Wer gab uns Sicherheit, daß
Deut{dland, in deffen Grenzen durch die Repolution alle Staatsautorität in
Stage geftellt war, irgend einen Bertrag halten würde? Mußte man nicht
annehmen, daß es feine inneren Schwierigkeiten durch eine nationaliftifche
Wendung nach außen zu löſen verfuchen würde? Darum war es Elug, Deutjch-
Iand mit einer ftarfen realen Feſſel gu umgeben, bis es bon feiner Raferei und
feinem Weltmadhtswahn völlig geheilt wäre. Und man fonnte es den Fran-
zofen, die im Kriege am fdwerften gelitten hatten, wohl gönnen, daß fie aus
dem amerifanifden Siege einen möglichſt großen Nuten für fich Herausgu-
bolen fudten.
Ausdemeinundgwangigften Kapitel,
Sranfreid) verfuchte nunmehr, obwohl es der amerifanifdhen Hilfe nicht
weniger als alles verdantte, ein eigenes nationales Syſtem zu entwideln. Es
befeftigte die Superiorität feiner Wirtfhaft auf dem europäifchen Kontinent,
und zwar nidt auf der Grundlage der Freiheit, fondern, dem Syſtem des
faijerliden Deutjchlands folgend, auf der Grundlage einer drohenden Heeres-
madt. Man fudte ein felbftandiges wirtfchaftlich-militariftiihes Zentrum
gu bilden, deffen ®efährlichkeit freilich durch Demokratie gemildert war: man
hätte durd) Aufllärung des franzöfiihen Bolfes den übermütigen Leitern
feiner Gefdide den Boden entziehen fünnen. Aber das wäre ein umftand-
lihes Unternehmen getwefen. Amerifa war nicht darum gegen Deutſchland
in den Krieg gezogen, daß Frankreich die Rolle Deutfdlands übernähme. Dar-
um fenlte es den Wert des franzöfifhen Franken und ließ auf diefe Weiſe
die franzöfifhen Machthaber fühlen, daß Amerika das Wiedererftehen der
alten Gefahr in einer neuen Gorm nicht dulden würde.
Da England, durch ungeheure Anftrengungen und durch eine nicht fehr
borfidtige Bolitif Lloyd Georges geſchwächt, nicht mehr imftande war, Franks
teihs Machthaber in den Grenzen der Gerechtigkeit und Billigfeit zu halten,
mußte Wmerifa zum zweiten Mal in die europäifhen Verhältniſſe eingreifen.
Gs fette eine Kommiffion durd, die unter General Dawes’ Führung ‘die
Grundzüge für eine gerechte Ordnung der europäifchen GStreitigfeiten vorſah.
Das Biel war, eine exemplarifhe Beftrafung Deutſchlands mit einer Feſſe—
Tung des franzöfifhen Ghrgeiges zu verbinden. Das fogenannte Dawes-Gut-
adten wurde zur Grundlage einer Reihe von Konferenzen, deren erfte in
London ftattfand und die im Laufe der Sabre die Entgiftung und Beru-
higung Europas durdfiihrten.
Mit der Annahme des Datwes-Gutadtens war der Sieg des amerifa-
nifhen Syſtems endgültig gefichert. Unter der Leitung der amerifanifchen
Banfen entwidelte fid ein Syſtem der internationalen Wirtfchaft, unter
deffen Segen die einzelnen Völker beffer denn je leben. Die Menfchheit fdrei-
tet Dem einen großen Reich der Arbeit und Greude entgegen; die religidfen
Streitigkeiten des Mittelalters, die nationalen SKonflifte des vergangenen
Sabrhunderts find überwunden; es herrſcht allgemeine Duldung, fo daß ein
343
jeder ungeftört feinen Ontereffen [eben fann. Religion und Nationalität
find Privatangelegendeiten geworden, Wirtfchaft ift die weife und ſegens—
reihe Macht, die für alle forgt. In allen Zeilen der Welt erklingt aus allen
Srammophonen, aus allen Radiv-Apparaten, auf allen Sportplagen und
bei allen Zeftverfammlungen die neue völkerverbindende amerifanifde
Hymne: DBufineß, Bufineß über alles, über alles in der Welt!
Aus dem Schlußkapitel.
Aber nod glimmt in den befiegten Bölfern die dunfle Glut veralteter
Gorurteile. Gs gibt noch immer Schichten bei ihnen, weldhe nicht einfehen,
daß fie frei geworden find, fondern einem andern, underftindliden Freiheits—
begriff anhangen. Die ruffifhen Volksmaſſen werden bon fanatifhen Bolks-
predigern und bon einer niederträchtigen Literatur gegen das fegensreide
ametifanijhe Shftem aufgehett, und in den großen induftriellen Werfen, die
wir zu ihrem Wohle finanziert haben, murrt ein heimlicher Aufruhr. Wir
wurden bereits gezwungen, mehrere Bolfsprediger in die fibirifhen Staats“
gefängnijje zu fteden.
Nod ernfter faft ift eine geiftige Bewegung in Deutfchland zu nehmen,
die aus Der fogenannten „völkiihen“ Bewegung entftanden ift. Dieje fam gue
erft in die Höhe, als das deutfhe Volk zwifchen der Sowjet-Republif und dem
Bertrag von Berfailles eingeflemmt war; man erklärt fie aus einem eigens
timliden deutſchen Ehr- und Greibeitsgefibl. Die völkifhe Bewegung ver—
braudte fid in einigen Putſchen und zerfloß allmählich in unbedeutende Geft-
begeifterung. Aber fie war in giemlidem Umfang aud in die geiftigen Schich—
ten des Bolfes gedrungen. Hier erzeugte fie eine gerfekende Kritif der Demoe
fratifhen Sdeale und ftellte den demofratifchen Ideen feltfame andre Ideen
entgegen. Man behauptet, die Nationalität fei nicht eine Privatangelegen-
beit, fondern fie fei die Wurzel aller wahren Kultur, und verfteigt fid zu
dem tollen Sat, daß Amerika feine wahre Kultur habe; man müffe die Welt
bom amerifanifhen Shftem „befreien“, damit wieder Volkskulturen erblühen
fönnten. Allerlei religiöfe Gedanfen und Antriebe follen fic) mit diefen Ideen
verbinden. Gs wird Sache des amerifanifchen Bolfes fein, diefe dunklen, irra»
tionalen Strömungen, die aus der merkwürdigen Vergangenheit des deutſchen
Volkes gefpeift werden und die den Beftand der amerifanifch-internationalen
Demofratie, wenn aud zunächſt nur geiftig, bedrohen, fdarf im Auge zu Hal-
ten und geeignete Bropaganda-Mittel gegen fie zu befchaffen. Denn bei dem
deutfhen Bollscharafter, der, wenn der teutonifche Furor Herborbridt, Der
verwegenſter Ideen und Taten fähig ift, fönnen wir es nicht für ausgejchloffen
erachten, daß bon neuem eine deutfche Gefahr über die Welt heraufzieht. St.
Grlefenes
Aus Snorris Königsbudh.*
Nordifhe Königsgeftalten.
Grid Blutazt 933—934.
&® war ein großer und ftattliher Mann, ftarf und höchſt mannhaft, ein
großer Krieger und der Giege gewohnt, aber gewaltfamen Ginneg,
graufam, unfreundlid) und wortfarg. Seine Grau Gunnhild war ein fehr
* Seberfebt von Geliz Niedner, drei Bände, im Verlag pon Gugen Diederidhs,
Sena. Bgl. den Beitrag ,Nordifhe Könige“.
344
ſchönes Weib, Hug und zauberfundig. Sie redete gern und gut, Doch war fie
febr Hinterliftiger Gefinnung und äußerſt graufam.
Hakon der Gute 934-961.
Hakon war ein duferft frobfinniger Mann, fehr wortgewandt und leut—
felig. Auch war er fehr Hug und zeigte großen Sinn für Gefebgebung.
Sarl Halon der Madtige 975—995.
Sp groß war das Mah an Feindfchaft, die die Drontheimer gegen Sarl Hafon
‘Degten, daß ihn niemand anders nennen durfte als den „böſen Sarl“. Diefen
Beinamen bebielt er noch lange in der Folgezeit. In Wahrheit aber muß
man von Sarl Hafon fagen, daß er vieles für einen richtigen Häuptling in
{id vereinigte. Zuerft ftammte er aus hohem Gefdledt, dazu beſaß er Klug-
beit und tidtige Begabung zur Führung der Herrfchaft, endlid fam dazu
feine Beherztheit in Schladten und daneben fein Glüd bei der Gewinnung
pon Siegen und bei der Erſchlagung der Zeinde.
Olaf Tryggvisſohn 995—1000.
König Olaf war der größte Meifter in allen Zertigfeiten bon all den
Leuten, über die man in Norwegen berichtet hat. Gr war ftarfer und gee
wandter als jedermann. Darüber find mande Erzählungen verbreitet. Eine
berichtet, wie er die Klippe Hornelen erftieg und oben auf dem Gelfen einen
Schild befeftigte. Ferner erzählt man, wie er einem feiner Gefolgsleute
half, der vorher auf die Klippe geflommen war und nun eder weiter
nad) oben noch wieder herunter fommen fonnte. Da ging der König gu ihm
Dinauf, griff ihm unter den Arm und bradte ihn bon oben wieder auf ebene
Grde herab.
König Olaf ging außerhalb der Ruderbänfe auf dem Sciffsrand enta
lang, wenn feine Mannen auf dem Wurm ruderten, und er fpielte mit drei
Dolchmeifern, fo baß eins immer in der Luft war und der Griff eines immer
in feiner Hand. Gr fodt gleich gut mit beiden Händen und ſchoß mit awed
Speeren auf einmal. König Olaf war beiteren Ginnes wie wenige Männer
und gern zu Scherz aufgelegt. Gr war leutjelig und umgänglidh, febr bee
triebfam in allen Dingen, höchſt freigebig, ſehr gewählt in ſeiner Kleidung,
allen Männern an Kühnheit in Kämpfen über. Dod war er äußerſt grau-
fam, wenn er in Zorn geriet, und feine Feinde ließ er ſchlimm Martern. Teils
ließ er fie im Feuer brennen, teils durd) wütende Hunde zerreißen, teils aud
verfiümmeln und bon hohen Zelfen berabftürzen. Deshalb hingen ihm feine
Sreunde in großer Liebe an, feine Seinde Hingegen fiirdteten ihn. Seine
Erfolge waren deshalb fo gewaltig, weil die einen aus Liebe und Anhäng-
lichkeit, die andern aus Gurdt taten, was er wollte. ‘
Olaf Ber Heilige 1015—1030.
Als König Olaf Haraldsfohn herangewachſen war, war er fein hoch—
getwadfener Mann. Gr war nur bon Mittelgrdfe, dod von ftämmigem
Ausfeben und voll Leibestraft. Er hatte lidtbraunes Haar und ein breites
Seficht. Sein Antli war frifh und von gefunder Farbe. Gr hatte gan
tounderfame Augen. Seine Augen waren glänzend und durddringend, fo
daß es ein Schreden war, ihm ins Geficdt zu fdauen, wenn er in Wut
war. Olaf war ein Mann, der fich auf viele Fertigfeiten verftand. Gr
mußte wohl mit dem Bogen umzugehen und war ein guter Schwimmer. Gs gab
feinen bejjern Handſchützen als ihn, dazu war er gefdidt und umfidtig bei
jedem Handiwerf, ob er es felbft ausübte oder durch andre. Man nannte ihn
345
„Dlaf der Dide* Gr wußte Hug und Ear zu reden, frühzeitig mar er in
allem gereift, an Kraft wie an Weisheit. Alle feine Berwandten und Bee
fannten liebten ihn. Gr war ein Meifter in jedem Spiele und wollte jtets
der erfte fein, wie ihm das ja aud zufam bei feinem Rang und bei deiner
Abftammung.
Magnus der Gute 1035—1047.
König Magnus war ein Mann von mittlerem Wuchs gewefen, von
regelmäßigen Gefidtsgiigen und lidten Antlitzes. Gr hatte helle Haare.
Gr war redegewandt und leicht zu ftiirmifd, tatkräftig und fehr freigebig.
Aud war er ein gewaltiger Kriegsmann und fehr waffentiidtig. Bon allen
Königen war er der meijtbeliebte, und Freund und Feind pries ihn.
Haraldder Harte 1045—1066.
Allgemein fagte man im Bolfe, König Harald Habe alle Leute an Klug-
beit und Ratficherheit übertroffen, ob er nun einen fdnellen Entſchluß faffen
oder einen weitausfchauenden Plan entwerfen mußte für fi oder andere. Gr
war waffentüchtiger als irgendeiner.
König Harald war ein fddner und ftattlider Mann, mit gelblidem
Saar und gelblidem Bart. Gein Schnurrbart war lang, die eine Braue
böber denn die andere. Gr hatte lange Hände und Füße, war aber dod
fonjt wohlgewachſen. Fünf Ellen maß feine ©eftalt. Er war graufam gegen
feine Geinde und jeden Widerftand beftrafte er unerbittlich.
Die Brüder Dlaf der Heilige und Harald der Harte.
SHalldor, der Sohn bon Brynjolf Kameel, war ein fluger Mann und ein
mächtiger Häuptling. Der fagte fo, wenn er die Reden der Männer börte,
wie fie behaupteten, die Gharaftere der Brüder, König Olafs des Heiligen
und Haralds, feien febr verfchieden geweſen — dann pflegte er gu fagen:
„Ich ftand bei beiden Brüdern in hoher Gunft, und ich fannte die Sinnesart
beider gut. Ich fand nie zwei Männer mit fo ähnlicher Sinnesart. Gie
waren beide höchſt Eluge und wmaffentiidtige Männer, beide begierig nad
Gelb und Macht, ftolgen Sinnes, nicht gewöhnlider Art, zum Herrjchen ge-
boren und hart in ihren Strafen. Olaf führte das Bolf im Lande zum
Ghriftentum und zum redten Glauben, und er abhndete es graujam, wenn
jemand für diefe Lehren taub war. Die Mächtigen im Lande wollten feinem
billigen und unparteiifhen Richterfpruch fic nicht fügen. Sie erhoben fid
wider ihn und töteten ihn in feinem eigenen Reihe. Daher wurde er heilig
geſprochen. Harald aber beerte, um feinen Ruhm und feine Macht zu
mehren, und er unterwarf fi alles Bol, foweit er fonnte. Gr fiel aud in
eines andern Königs Lande. Beide Brüder waren im Alltagsleben wohl
gefittet und von guter Lebensführung. Sie waren auch beide weit herum—
gefommen und Männer von gewaltiger Satfraft. Und beide wurden dadurd
weithin berühmt und angefeben.*
Magnus Haraldsjohn 1066—1069.
König Magnus war leicht zu erfennen, da er größer war als die meiften.
&r batte ein rotes Wams über der Briinne. Gein Haar, flachsgelb wie
Seide, flutete über Die Schulter herab.
Gin Ausfprud Magnus Haraldsfohnes.
Die Leute wiffen von folgendem WAusfprud des Königs zu fagen: als
feine Greunde meinten, er fei häufig febr unvorfichtig, wenn er außer Landes
346
heerte, da fprad der König: „Ginen König foll man zum Rubm haben
und nicht zu langem Leben.“
Olaf Ber Stille 1067—109.
König Olaf war gewaltig in feinem ganzen Wuds und {din geftaltet.
Alle jagen, man Habe nie einen jchöneren und ftattlider anzufehenden Mann
gejhaut. Gr Hatte goldenes Haar wie Geide, das wunderbar ſchön war,
und einen blühenden Körper. Keiner hatte fo {dine Augen mie er. Geine
Sliedmaßen waren mwohlgeformt. Gr war meift einfilbig und fein Redner
auf Ehingen. Beim Bier aber war er vergnügt. Gr hielt gerne Trinfgelage
ab, und Dabei war er geſprächig und unterhielt fid gern. Gr war friedlid
gefinnt feine ganze Regierung bindurd.
GpHftein 1103—1122.
König Ehftein war ein fehr finer Mann. Blaue und ziemlich große
Augen hatte er. Sein Haar war gelblih und fraus. Gr war faum bon
guter Mittelgröße, flug und verftändig, in jeder SHinfiht bewandert, in
Geſetz und Redtipredhung wie in Menfdenfenntnis, fehr rat» und rede-
gewandt und fpradgewaltig. Gr war der fröhlichfte und leutfelig/te Mann,
im ganzen Wolfe beliebt und woblgelitten.
Sigurd der Jerufalemfabrer 1103—1130.
König Sigurd war Hod an Wuds und hatte rötlihes Haar. Gr war
tidtig, nicht fchön, aber woblgewadjen, ungeftümen Weſens, wenig ge-
ſprächig und oft unwirfch, aber gut gegen feine Freunde und energijch im Ent»
IHluß.- Gr war fein Redner, hielt aber auf gute Lebensführung und Ruhm.
König Sigurd war ein ftolger Herrfcher und bart in feinen Strafen. Die
Geſetze hielt er gut. Gr war freigebig, madtig und weit berühmt.
Harald ©illi 1130—1136.
Harald Gilli war ein hoher und fchlanf gewadfener Mann. Gr hatte
einen langen Hals und ein ziemlich langes Gejidt. Seine Augen waren
ſchwarz, fein Haar dunkel. Gr war flint und fdnell gu Fuß. Gr trug ganz
iriſche Tracht: furge und leichte Sewandung Die norwegifhe Sprache
wurde ihm ſchwer. Gr ftieß oft an bei den Worten, und mancher bänfelte
ihn gern deshalb.
Harald Gilli war ein recdtidaffener Mann, fröhlih und zu Scherzen
geneigt, Ieutfelig, freigebig, jo daß er feinen Greunden gegenüber nicht fargte,
und zugänglich für Beratung, fo daß er auch anderen gern allen ihren Willen
ließ. Dies alles verfdaffte ihm Freundſchaft und einen guten Namen,
fo daß fic viele Mächtige im Reich zu ihm nicht weniger hingegogen fühlten
als zu König Magnus.
Magnus der Blinde 1130—1139.
Magnus war fchöner als alle Männer, die damals in Norwegen waren.
Gr war ein ftolger und graufamer Mann. Greilid) war er ein Mann von
großer Tüchtigfeit, Dod die Freundſchaft für feinen DBater verfdaffte ihm
Bauptfählih die allgemeine Anhänglichkeit im Bolfe. Gr war ein großer
Seder, geldgierig, unfreundlih in feinem Wefen und wenig umgänglid).
Sigurd 1136—1154 und Ghftein Haraldsfohn 1142— 1156.
König Sigurd wurde ein fehr ungebärdiger und wenig umgänglidher
Mann, als er herangewachſen war, und zwar waren beide fo, er wie Eyſtein.
Dod war Eyſtein immerhin gemäßigter, aber der war überaus habgierig
347
und fniderig. König Sigurd wurde ein großer und ftarfer Mann. Gr war
ftattlid) von Ausfehen, hatte bellbraunes Haar, aber einen häßlichen Mund.
Dod war im übrigen fein Gefidt fdin. In feiner Rede übertraf er alle
durch Gewandtheit und Fertigfeit.
König Spftein hatte ſchwarzes Haar und dunkle Hautfarbe. Ungefähr
bon Mittelgröße war er, ein Zuger und wohlverftändiger Mann. Das aber
tat feinem Anſehen Abbrud, daß er fniderig und geldgierig war.
Ingi 1136—1161.
König Ingi war ein Mann, fehr [din von Antlit. Gr hatte gelbes und
etwas dünnes, ziemlich gefräufeltes Haar. Bon Wuchs war er Fein, und
{wer fonnte er allein gehen: fo war der eine Fuß well, Rüden und Bruft
aber höderig. Gr war freundlich und Ieutfelig gegen feine Freunde, freigebig
mit Gelb, und ließ fich leicht bon anderen Häuptlingen in der Landesvera
waltung beraten. Gr war beliebt bei den Leuten, und alles das zog das
Land und die Menge des Bolfes auf feine Geite.
Aus Ingis Anfprade 1161, bor dem Fall.
Ih war erft im zweiten Jahr, als man mid zum König in Norwegen
machte, und jest bin id) wohl fünfundzwanzig. Ich glaube, ich habe mehr
Unruhe und Sorgen gehabt während meines Königtums als Kurzweil und
Greude. Ih babe viele große Schlachten ſchlagen miiffen, bald mit mehr,
bald mit weniger Truppen als die Seinde, und das war immer mein größtes
Slüd, daß id mich niemals zur Flucht zu wenden braudte. Gott [dike
mein Leben, folange es noch währen foll, aber niemals werde ich mich zur,
Flucht entfchließen.
Hakon Breitfmulter 1156—1162.
König Hafon war ein gar fddner und wohlgewachjener Mann gewefen,
hod) und ſchlank. Er war ziemlich breit an den Schultern. Deswegen nannten
ihn feine Gefolgsleute Hafon Breitfdulter. Und da er nod jung an Lebens-
alter war, halfen ihm die andern Häuptlinge mit ihrem Rate. Gr war
munteren Sinns und gewinnend in feiner Rede. Gr fdergte gern und hatte
ein jugendlides Wefen. Bei allen Leuten war er wohl beliebt gewefen.
Grilling, der Vater König Magnus’ SGrlingsfohnes. 1162.
Grling war ein mädtiger und Huger Mann, ein gewaltiger Krieger,
wenn Unfriede berrfchte, ein tüchtiger Landesperwalter und ein geborener
Herrſcher. Man bezeichnete ihn als ziemlich graufam und bartherzig, aber
bauptfächlich deswegen, weil er nur wenige bon feinen Feinden im Lande
bleiben ließ, fo febr fie ihn darum baten, und daher f{dlofjen fic viele bon
ihnen fofort Banden an, wo fi) folde wider ihn erhoben. Grling war ein
hoch⸗ und ſtarkgewachſener Mann, etwas furabalfig. Gr hatte ein Tanges
Geſicht und fdarfe Züge. Seine Hautfarbe war licht, fein Haar fdon fehr
ergraut. Gr trug fein Haupt etwas fchief und war freundli im Umgang
und anfehnlih in feinem Wefen. Altmodifh war feine Sradt. Gr Hatte
lange Bruftftüde und Wermel an Hemde und Rod und trug welfdhe Mäntel
und Hobe gefchnürte Schuhe. Diefelbe Kleidung ließ er den König tragen,
folange er jung war. Als der aber felbftändig wurde, Fleidete er fich fehr
ſtattlich.
König Magnus war leichten Sinnes und ſcherzhaft, ein gar fröhlicher
Mann und fehr Hinter den Frauen ber.
348
Shormods Ende in der Schlacht bei Stiflaftad. 1030.
Aus den „Shwurbrüdern“, iberfegkt von Walter Baetfe*.
bormod fuhr mit dem König aus dem Lande und ertrug mit ihm die
ganze Berbannung. Gr fubr auch mit ihm guriid nah Norwegen. Denn
es dünfte ihn bejfer, mit ihm zu fterben als nad ihm gu leben.
Als aber der König nach Drontheim fam in das Tal, das Beradal heißt
und bon dem Hinterhalt der Drontheimer gegen ihn erfuhr, da fragte er Thor—
mod im- Scherz und fprad fo: „Was wiirdeft du jebt tun, wenn du Der
Sührer der Heerihar wart, die wir jest haben?“ Da fprah Thormod
bie Weife: „Brennen wir alle Bauern
Binnen, die wir finden
Im Hofe, wenn fie die Heimkehr
Dem Heere wollen wehren.
Drontheims Volk follte freifen
Feuer in ihren Häufern,
König, zu Kohle fie brennen,
Kalter, hätt’ ich bier zu walten!“
König Olaf fagte: „Wohl möglid, daß das richtig wäre, wenn man jo
verführe, wie du fagjt;, aber wir werden zu einem andern Mittel greifen, als
unfer eigenes Land zu verbrennen; wir trauen Dir aber zu, daß du fo handeln
mwürdeft, wie du fprichft.“
An dem Sage, an dem die Schlacht bei Stiflaftad war, bat König Olaf
Thormod, ihnen etwas vorzutragen. Gr aber fang das alte Bjarlilied. Der
König ſprach: „Das Lied ift gut gewählt, um der Dinge willen, die fich heute
gutragen werden; und fo nenne ich das Lied „Mannenermunterung“.
\ Gs wird erzählt, daß Thormod an dem Tage por der Schlacht ziemlich
niedergefchlagen war. Der König merkte es und fagte: „Warum bift du fo
ftill, Shormod?* Gr antwortete: „Darum, Herr, weil es mir nicht fider
{Heint, daß wir Heute abend dasjelbe Nachtquartier beziehen werden. Wenn
du mir nun verſprichſt, daß wir beide dasjelbe Nadtquartier nehmen, werde
ich froh fein.“ König Olaf fprad: „Ich weiß nicht, ob mein Wille das gue
wege bringen fann; wenn id aber etwas dazu tun Tann, fo follft du heute
abend dahin geben, wo ich Dingebe.* Da wurde Thormod fröhlihd und
tea bie Ziele: „Es ſchwillt zu wilden Sturme
Die Sdhladht nun mit RKraden.
Nicht beben foll in den Briinnen —
Berften fie gleih — das Herz uns.
Wir liegen Hier oder leben —
Was liegt dran, ihr Krieger!
Raften wir nicht, den Raben
Reidhes Mahl zu bereiten!“
Der König antwortete: „So wird es fein, Sfalde, wie du fagft; Die
Männer, die hierher gefommen find, werden entweder mit dem Leben dabone
fommen oder bier liegen bleiben.“
Die Leute Haben es doch gerühmt, wie mannbaft Thormod fid bei
Stiflaftad ſchlug, wo König Olaf fiel; denn er hatte weder Schild nod
* Aus der Sammlung „Bauern und Helden“, Hanjeatiihe DVerlagsanftalt,
Hamburg. Bgl. den Beitrag hinten.
349
DBrünne Gr ſchwang immer mit beiden Händen feine Breitazt und ging den
feindlichen Reihen entgegen — und feiner bon denen, auf die er traf, verſpürte
Luft, unter feiner Azt fein Nachtlager zu finden.
Es wird erzählt, daß, als der Kampf zu Gnde war, Shormod nicht ver—
wundet war. Darüber Harmte er fic jehr und fagte: „Ich glaube jest, daß
id) heute abend nicht zu demfelben Nachtlager fommen werde wie der König;
aber {dlimmer dünft es mid) nun zu leben als zu fterben.“ Und in dem
Augenblid, wo er dies fagte, flog ein Pfeil auf ihn zu und traf ihn vor die
DBruft, und er wußte nicht, woher er fam. Ueber die Wunde ward er froh;
denn er glaubte zu jpüren, daß fie ibm den Sod bringen würde.
Gr ging gu einer Scheune, in der viele verwundete Königsmannen lagen.
Eine Frau warmte Waſſer in einem Kefjel, um die Wunden der Männer zu
waſchen. Shormod ging zu einer Rohrwand und lehnte fich dagegen. Die
Stau fagte zu Thormod: „Bift du ein Königsmann? Oder biſt du vom
DBauernheer?* — Shormod fprad die Weije:
„Wir waren, Weib — du fiehft es
Wohl — bei König Dlaf
Im Kampfe — es EHafft die Wunde.
Der Sfalde wehrte den falten
Schneefturm mit rotem Schilde.
Befdhieden ward ibm Unfriede.
Ganz faft haben die Gegner
— @laubs — des Lebens beraubt mid.“
Die Frau fagte: „Warum läßt du deine Wunde nicht verbinden, wenn
du verwundet bift?* Thormod antwortete: „Ich Habe nur folde Wunden,
die des Berbandes nicht bedürfen.“ Wieder fragte die Frau Thormod: „Wie
ging der König Heute bor?“ Thormod fprad die Weife:
„Sreigebig war Olaf — der Giirft ging
Mutig vorwärts — yon Blut rot
Schnitten die Stablflingen
Bei Stillaftad — id erblidte
Keinen als nur den König —
Am fibnften ftritt er — der mit dem
Schilde in den fdarfen
Speerftürmen fid nicht ſchirmte.“
In der Scheune lagen viele Männer, die ſchwer verwundet waren, und
aus den Hohlwunden drang lautes Geräuſch, wie es bei Wunden natürlich ift.
Als nun Shormod jene Weifen gefproden hatte, da fam ein Mann von
dem DBauernheere in die Scheune hinein, und als er hörte, daß es in den
Wunden der Männer laut röchelte, fagte er: „Es ift doch nicht gu verwundern,
daß der Kampf mit den Bauern für den König nicht gut abgelaufen ift —
fo weidlid wie das Kriegspolf ift, das er geführt hat; denn das glaube ich
jagen zu fönnen, daß die Männer, die Hier drinnen find, faum ihre Wunden
ertragen fönnen, ohne zu ftöhnen.“ Shormod antwortete: „Scheint es dir fo,
als ob die Männer nicht ftandhaft find, die Hier drinnen find?“ Gr ante
wortete: „Gewiß jcheint es mir fo, daß bier viele matthergige Männer zu—
fammengefommen find.“ Shormod fprad: „Es fann wohl fein, daß bier
in der Scheune jemand ift, Der fein großer Held ift — und meine Wunde
wird Dir wohl unbedeutend vorkommen.“ Der Bauer ging zu Thormod hin
und wollte feine Wunde befehen. Aber Shormod bieb mit der Axt nad ihm
350
und flug ihm eine tiefe Wunde. Sener frie laut auf und ftöhnte fehr.
Da fprad Thormod: „Das wußte ich, daß Hier ein Mann drinnen war, der
feinen Schneid bat; es fteht Dir fchlecht an, andern den Mut abgufpredhen —
denn du Bift felbft ein Schwädling; bier find viele fdmerderwundete
Männer, und feiner pon ihnen ftöhnt; dafür aber können fie nichts, daß es
aus ihren Wunden laut tönt; du aber ftöhnft und jammerft, obgleich du bloß
eine fleine Wunde erhalten Haft.“
Als Shormod dies fagte, ftand er gegen die Rohrwand gelehnt, die in
der Scheune war. — Und als ihr Gefprad beendet war, da fagte die Grau,
bie das Wafjer wärmte, zu Thormod: „Warum bift du fo bleih, Mann, und
farblos wie eine Leihe? Warum läßt du denn deine Wunden nicht vere
binden?“ Thormod f{prad die Weife:
„Rot nicht bin id) — wohl rötern
Gatten — riet ich's? — hatteft
Stau, du. Gorn in der Bruft mir
Seft fit das Gijen. Den Schügen
Der Dänen — dit flogen Pfeile —
Dank ich's; tief ein drang die
Waffe. Der Schmerz der Wunde
Will — id fpür’s — fi nicht ftillen.“
Da ftarb er an der Wand ftehend und fiel tot zur Erde. Harald, Si—
gurds Sohn, ergänzte den Gers, den Thormod gefproden Hatte; er fügte
das Wort „tillen“ Hinzu — fo wollte er gewiß fagen: „Will, ich fpür’s,
fih nicht ftillen.“
So ſchloß das Leben von Shormod Schwarzbrauenffalde; und damit
endet die Gefdidte, die wir zu erzählen wußten bon Thormod, dem Streiter
des Königs Olaf des Heiligen.
Kleine Beiträge
Friedrich der Oroße als politifcher
Dichter.
Soin Golf fennt den großen König als
Mann der Sat, es weiß, daß er der
Philoſoph von Sansſouci und ein fluger
Denferfopf war, aber es fennt faft nichts
‘pon feiner Poeſie. Der febr einfade
Das tritt nod Leudtender als in
feiner Profa in feinen Gedichten Hervor.
Seit ein paar Sabren haben wir in den
zwei Schlußbänden der zefnbändigen
deutſchen Ausgabe der Werke Friedrids
des Großen, Die bei Reimar Hobbing,
Berlin, erfdienen find, die ganze poeti-
Grund ift, daß diefer Neugeftalter Preu-
Ben-Deutihlands franzöſiſch fdrieb und
dDidtete. Lm zu begreifen und zu be»
gründen, warum das in den Jahren, da
fein reicher Geiſt ſich fultivierte, min-
Deftens rer verftändlihb war, braudt
es einer bejonderen Abhandlung Wir
feben Bier nur das Galftum, das aud
bon guten Menfden oft mit fanfter Gnt-
rüftung ausgefproden wird. nd felbft,
wenn man außer dem Spradliden nod
gusugeben bat, daß Friedrichs Geiftesart,
er fühle Olanz des Wibes der Auf-
flärungszeit ftarf unter Boltaires Gin-
fluß ftand — die Gefinnung des Kö—
nigs ift fo feft preußiſch-deutſch-germa—
nij®, wie ſich's unfere Gaterlandsliebe
nur irgend wiinfden fann.
fhe Produftion des Königs in recht gue
ten “Llebertragungen von Oppeln-Broni-
fowsti, Eberhard König und anderen bei
fammen. Und die zwei Bände „Auge
gewählte Werke“, fowie die einbändige
Auswahl „Der große König“ des glei»
hen Gerlages enthalten davon wenig.
ften3 einiges Widtigfte.
Sriedrid der Große war fein Dichter
im Bollfinne des Wortes und wußte das
aud felbft. Aber er fonnte dod febr
ftattlide didterifhe Kräfte entwiceln.
Da ift ein Luftfpiel, das im Dialog und
der Führung der Handlung redt fau-
bere Arbeit ift und dem immer nod die
Mraufführung fehlt. Da find die Gpi-
fteln an feine §reunde, die liebenswürdig
geiftreihen Spiele des vornehmen Wane
351
nes, denen wir dod viel Grfenntnis fei-
ner feelifden Stimmungen verdanfen. Da
fpottet er, alg er Goubife bei Rofbad
en binter den Grangofen drein:
tlaubt, daß id eud im Vertrauen fage,
Dah ih, nahdem fo vieles mir era.
Den jhönen Lorbeer diejer Nieder
Den id bei der Begegnung mit eud
fliicte,
Gerdanfe eures Körpers fhönften Seil,
Berdanfe eurer Rüdwärtsfonzentrierung,
Solange e8 der hbimmlifhen Regierung
®efallt, mir folde Helden auf den Weg
u fenden,
O mögt ihr ftets das Antlitz von mir
wend
Dem menſchlichen Geſchlecht
en,
um Olid
und SHeill
Mer Kraft, Feuer und ftählerner
@lang fommt erft in feine Berfe, wenn
fie mitten in angefpannter Gabrtgeit ent»
fteben, wenn @efabr ibn und fein Land
umdroht, wenn beroifher Lebens- und
Sodesmut ibn durdglibt. In Strophen
feiner „Ode an den Prinzen Heinrich“.
die mitten im Siebenjährigen Kriege ent»
ftand, bridt diefer Herovismus in ftolgem
Selbftgefühl heraus:
„Hobe Seelen, fie entfalten
Grft im Drange der Gefahr
Sbrer Mannbheit Trubgewalten,
Weifteswebrfraft wunderbar;
Dann erft wird ihr Mut geboren! —
Wer, von Todesnot ummittert,
Im Öeheul des Sturmes zittert,
Nur der Feigling ift verloren!
Starrem Sroge gibt die Welt
Endlih dod die Wege frei!
Iſt's verzweifelt denn beftellt,
Go verzmweifle, aber fei
Die ein Held! '3 muß alles enden,
Aeufserftes lebt niemals lang;
Oft dem Leidensborn —
Schon erſehnteſtes Vollend
Sind wir da nicht plötßzlich tief bin-
eingeriffen in die Grundnot unferer
Sage? Nur daß, der diefe Zeilen fand,
aud) der war, der fie wahr werden
ließ. Wir aber, wir ftehen ohne einen
großen Führer, verzweifelt und als Gin-
gelner der Sat nit madtig, por dem,
was Griedrid der Große aud fon vom
Deutihen febr gut wußte und was =
1760, als er in fhwerfter Not faß, in
feiner „Ode an die Deutihen“ Heraus-
ſchrie:
Ihr eee deutfhen Stämme, ftets in
ruderfampf entzweit,
Ihr RP Unrubgeifter. —* dem An⸗
tergang geweiht!
Ewig Wehgeſchrei erſchüttert eure Lüfte
allerenden,
Langer Kämpfe Sdrecdensmale
Heimatboden fdhanden,
euren
352
Eure Gluren Wüfteneien, eure Städte
Haufen Sduttes,
Minter eurer Waffen Wüten rinnen
Ströme roten Blutes;
Ad, ein ar aus der Hölle, Bwietradt
mit den toutentflammten
—— fie entfachte dieſen Haß
, den verdammten,
Diefe Mordluft, euch zerftörend, inein=
ander zu verbeißen,
— — mit den Händen euch
das Innre zu zerreißen.
Schmählich ſind ſie abgefallen von dem
Wanneswert, dem alten,
AU ihr Freiheitsſinn, von frecher Here
renfauſt in Schach gebalten,
Hat gelernt, die Stirn zu beugen, ſich ins
klavenlos zu finden.
Unterm Fuße won Thyrannen ſich zu
ſchmiegen, ſich zu winden!
Ja, ſie Taffen ſich bedrüden
Obne jede Gegenwehr!
Ihre Feigbeit wird fid büden,
Sih gewöhnen und fidh ſchicken
In der Kettenlaft Beſchwer.
Aber er findet dod den Auftaft. Gr
ruft zur Sammlung
Seht die vielen Bile te, alle, be fi wider
uns pe
Die vor diinfelbafter Shriudt völlig den
erftand verloren;
nverzagt nur, meine Helden! Srefft fie
mit dem Wetterfdlage
Eures Bornes, eurer Hiebe, daß die
Menfhheit fünft'ger Tage
Diefem Sturmlauf obnegleiden, diefem
Sieg der Minderzahl
Wider eine Welt pon Neidern türm’ ein
bleibend Ghrenmal!
Waren die Worte urjprünglid fran-
zöſiſch, ihr innerfter ang ift deutſch und
follte heute dröhnen!
©pethe -war in feiner Jugend
„fritziſch“· Gr bat zu feinem Großen
feiner Zeit fo verebrungspoll aufgeblidt,
wie zu dem Alten $rib. m fab
er den großen Deutſchen, der die typi⸗
ſchen deutſchen Schwächen in ſich be—
zwungen und uns emporgeriſſen hatte.
Gib Schickſal, gib uns einen ſolchen
Mann! Garl Meißner.
„Das dritte Reid *.“
ist das dritte Reid der Myſtiker ift
gemeint, fondern das dritte Reid
der Deut{den.
Die Deutihen Haben viele Staaten
gegründet und gründen helfen. Monar-
* Moeller van den Brud, Das
dritte Reid. 262 S. Kart. 5 ME. Ringe
Gerlag, Berlin.
bien und Republifen. Aber nur zwei
Reihe gelten als die eigentlid deutſchen:
das Heilige römifhe Reid deutſcher
Nation und das Bismard-Reidh. Das
erfte Löfte fid) auf, dag andere ward zer-
broden. Sft nun aud bas deutide Bolt
aufgelöft und gerbroden, oder wird der
alte Stamm von neuem einen ftarfen
Wipfel Herdorireiben, ein drittes Reich?
m diefe Grage handelt es fid in dem
- Bude Moeller van den Bruds. G3 wird
fein Wunſchbild gezeichnet, fein politi-
{hes Programm aufgeftellt, fondern es
werden Die thpifden politifhen Kräfte
unfrer Zeit dargeftellt und auf ihre Be—
deutung für die Sufunft bin abgewogen.
Es find fieben Kräfte, die in unjrer
Sagespolitif miteinander um Die Bue
funft ringen: Die repolutionäre, fogiali-
ftifhe, Tiberale, bdemofratifde, proleta-
rifde, reaftionäre und fonfervative Kraft,
und Diefe fieben Kräfte laffen fid zu
drei Gruppen ordnen. Myſtice? Nein,
ganz realiter.
Moeller gi — und das fpridt man
zuweilen tadelnd aus — nidt Satfa-
den, nicht Zeitgeſchichte. Er „gibt uns
nichts Feſtes in die Hand“. Das iſt ride
tig. Aber man muß ſeine Abſicht ver—
ftebn: er will nidt Geſchichte fdreiben,
Jondern will die ſeeliſche Struk—
tur der gegenwärtigen politiiden Welt
bloßlegen. Gr zeichnet die thpifden in-
neren Haltungen der Leute, die zur Zeit
Politik maden. Darum jebt er das Tat-
jadlide voraus. Die politiihen GOei—
fteshaltungen (Mentalitäten) erfaßt er
mit pfpdologifher und ſgoziologiſcher
Meifterfhaft. Die Darftellung ift [hledt-
bin glänzend (wie fein „Preußifcher
Stil“ glänzend gefdrieben ift). Ich fenne
wenige Bücher, die einen fo vollendeten
Stil haben. Das ganze Bud) ift wie eine
Sammlung eleganter Gormulierungen, es
drängt von Pointe zu Pointe. Darum
läßt fid das Bud nur abfabwmeife leſen
— nur barte Kubmäuler finden feinen
Unterſchied zwifhen einer leuchtenden
Dlumenwiefe und einer grünen Gras—
weide.
Moeller fpannt einen großen Bogen
bon der revolutionaven zur fonferba-
tiven Gefinnung, er ift repolutionar und
konſervativ zug eich. Gr erkennt die Re-
volution an, aber fie muß wirklich voll»
endet werden, ihre Bollendung und Rube
findet fie erft in einer rechten fonfer-
vativen Bolfsgefinnung. Hier trifft
Moellers politiiher Injtinft eine ewige
Wahrheit — alle mirflid revolutio-
nären Männer waren fonfervativ: Lu—
ther, Stein, Bismard. Gelingt es, den
Bogen gwifdhen „repolutionär“ und ,,fon-
Tervativ“ zu fließen, fo bat das deut-
fhe Golf fein drittes Reid getoonnen.
Die tauben, blinden und lahmen Sabo—
teure der Repolution, die fid felbft irr-
tümlih für Rebolutionare hielten und
dod wilbelminifdh bis ing Snnerfte find,
fonnten, aus Mangel an fonferbativer
Weite des Horizonts und fonfervativer
Siefe des Gefibls, nidts als ein bißchen
verplempernde Aufregung berporbringen.
+ Innerhalb diejer großen bipolaren
Wahrheit gibt Moeller eine Fülle von
einzelnen Grfenntniffen, von denen wir
drei als die Wertoollften hervorheben.
GErftens feine Kritik des Sozialismus. Gr
zeigt, wie die Sozialiften nie den eigent-
iden GOrund aller wirt{daftliden und
fozialen Entwidlung: das Wahstum des
Golfes, in den Bereich ihres Denkens ge
zogen haben. Das Lebervölferungspro-
blem, als das politiihe Grundproblem,
baben fie nie begriffen. G3 ift ein bee
weisihwerer Beleg für die geiftige Ber-
ödung des Sozialismus, daß ſich feit nun
faft einem Sabre fein marziftiiher See
lehrter oder Schriftfteller gefunden bat,
der ſich mit der lebensgefährdenden Kris
tif Moellers beihäftigt hatte. Zweitens:
ein @lanaftiic ift die Charakteriſtik des
Liberalismus, „an dem die Völker zu
@®runde geben“. Aud fie ift ohne
Antwort geblieben, obwohl fie das in-
nerfte Leben der fogenannten „gebildeten
Shit“ angeht. Gndlid ift von bejon-
derem Werte die Feftftellung des Anter—
{hiedes zwiſchen „realtionär“ und „fon
fervativ“, es ift eine enticheidende
Scheidung. „Der reaftionäre Menſch bat
eine ebenio oberfladlide Auffaffung von
der Gejdhidte, wie der fonfervative eine
vertourgelte von ihr hat. Der Reaftionar
ftellt fid) die Welt fo por, wie fie ge»
wefen ift. Der Konfervative fieht fie
fo, wie fie immer fein wird. Gr ift
erfabren im Seitliden. Und er ift er-
fabren im Gwigen. Was war, das wird
niemalg mehr fein. Aber was immer
in der Welt ift, das fann immer wie-
der aus ihr berportreten. Reaftionare
Politik ift Heine Politik. Ronfervative
Politif ift große Politif. Gejdhidte, die
flein ift, hat die Politik, die ihr ent»
fpridt: folde Politif wird bald ver-
geffen. Bolitif wird erft groß, wenn
fe Seididte ſchafft: Dann ift fie unver-
lierbar.“
Kritiihe Anmerkungen hätten wir nur
zu Gingelbeiten zu maden, fo zu Der
merkwürdigen Wertung des „Raumes“
gegenüber der „Yeit“. Die mächtigsten
Dinge find nur in der Zeit und räum-
lih überhaupt nit zu vollziehen. Hier
fheint ung Moeller für einen wahren
®edanfen ein falijhes Bild gegriffen zu
haben. Gerner rejerpieren wir uns ge-
353
gen die Kritik Ludendorffs (Seite 193
ff.). G38 ift fonferdativ, den Tag nidt
por dem Abend zu loben und aud nidt
por dem Abend zu tadeln. (Desiwegen
pflegen fonfervative Hiftorifer ungern
Zeitgeſchichte gu fchreiben. Das rafd fer-
tige Urteil des Zeitgenofjen ift eine üble
liberale Gewohnheit.)
Demgegenüber aber fteht eine Fülle
gut geformter Wahrheiten. Gtwa auf
Geite 246 die Beftimmung des Ratio»
nalen: „eben im Bewuftfein feiner Na»
tion beißt Leben im Bemwußtfein ihrer
Werte. Gine Nation ift eine Wertungs-
gemeinfhaft.“ Oder auf Geite 227 Die
Worte über die Monardie: „Es ift feine
Königlichkeit und feine Shriftlidfett mehr
in der Welt: deshalb ift fein König da.
Und e8 ift feine Kaiferlichfeit mehr in
der Welt: deshalb ift fein Kaifer da.“
And dann all die entzüdenden ®lanz-
lihter auf dem polierten Werfe: „Der
revolutionäre Menih gebt von feinem
Siele aus — eine unmöglihe Sebweife,
wie wir meinen.“ „Das Plaufible wurde
das Berderben der Menſchen.“ „Die In-
dipiduen, aus denen ein Golf fih gue
fammenfeßt, unterfdeiden fid nidt nur
duch die Bedingungen, unter denen fie
arbeiten, fondern aud durd die Bega-
J mit der ſie arbeiten.“ Aſw.
s ift ein Bud, das man mit ei—
nem Worte harafterijieren fann: adlig.
Dornehm in der ©ejinnung, edel in der
Gorm. Daf ein foldes Bud in Diefer
wiiften Zeit, da Der RKlatfhmohn der
Plattheit die dürren Gelder überwuchert,
geſchrieben wurde, zeugt bon der imma—
nenten Gormfraft des deutiden Genius.
Gpidemien find anftedend, Formkräfte
aber find erwedend. Gpidemien toben
fih aus, Gormfrafte aber geftalten etwas
aus. Das ift unjre Hoffnung. St.
Nordifhe Könige.
3° dem = gefdhidtliden DBewußtfein
unfres Golfes ftehn die Auseinan-
derfeßungen mit den welfden VBölfern
im Süden und Güdmweften voran, die
Aluseinanderfebungen mit den Slawen
treten zurüd, am wwenigften aber find
die Zujammenhänge fowie Zuſammen—
ftöße mit den Nordgermanen befannt.
Man bat einiges von den Normannen
gehört, von Suftad Adolf von Schweden
bat man fogar ein giemlid feftumriffenes
Bid, im übrigen ift der Norden uns
biftorifjh meift eine terra incognita. Es
ift ja in der Sat fo, daß unjer ganzer
biftorifher Bug von Norden nad Sü—
Den gebt, felten von Weften nad
Often, nie gen Norden. Dem Norden
gegenüber haben wir nur das G®efühl
des dunklen Arſprungs; daß er politifd
354
wichtig fein fönne, der Gedanfe liegt ung
ern.
Und bod ift der Norden für uns in
tieferem Grunde bedeutend, wegen der
naturbaften und uraltfulturellen Sufame
menbange, die uns mit ihm verbinden
und die unfer Sdidfal, aud das poli-
tifde, innerlich fehr weſentlich mitbeftim-
men. Wenn wir uns auf unfer „Wefen“
(als den Urquell unfres Schidjals) bee
finnen wollen, fünnen wir nidt ume
bin, ung dag altnordifhe Leben zu vere
gegenwärtigen; denn bier haben mir
Seugniffe, die wir im Süden nidt
haben. Und wenn wir aud die Gere
manen des Südweſtens mit denen des
Nordens nit einfach gleidfeben dürfen,
fo fdnnen wir dod durch begründete
Analogie unendlich vieles aus dem Nor-
diſchen erfdliefen, nicht gum wenigften
in bezug auf Rebensanihauung und
Rebensfiibrung.
Darum ift die „Sammlung Thule“
für jene Geiftesridtung, die auf „Selbft-
befinnung“ gebt, eine fo überaus wert-
volle Quelle Hier lernen wir Orund—
lagen unfres Lebens fennen, die nirgends
fonft fennen zu lernen find. Der umfaf-
fenden Saga-Sammlung, die wir im Sas
nuar 1923 wiirdigten, hat Selig Nied-
ner nun eine dreibändige Ausgabe des
„Königsbuhes“ Des isländiſchen Ge—
ſchichtsſchreibers Snorri Sturlasfohn fol»
gen lafjen *. Gntftanden ift Gnorris Werf
in den Sabren 1220 bis 1230, es enthält
die Gefdidte der norwegifhen Könige
von den Urzeiten bis 1177.
Snorri erzäht Durdhaus im Saga-Gtil.
Gon jedem der wefentliden Könige gibt
er die „Saga“. G8 ift aljo die anein-
anbdergereibte Darftellung pon Gbaraf-
teren, die in ihren Taten gezeichnet wer
den; nicht das, was wir Heute „Ge—
ſchichte“ nennen. Aber das Werk liegt
auf dem Weg zur Gefdidte, gibt fi
Dod) Gnorri jhon fritifhe Rechenſchaft
über feine Quellen.
Im Mittelpuntt des Werkes fteht die
Grgablung von König Olaf dem Piden
(nadmals „der Heilige“ genannt). Gr
ift Der eigentlidhe Held des norwegifden
Golfes. Der ganze zweite Band, der zu-
dem der ftärffte ift, ift bon feiner Oe—
{Hidte, die nur fünfzehn Sabre umfaßt,
per: Warum wurde er Der
Bolfsliebling? Gr bat das Ghriftentum,
das Schon fein Vorgänger einführte,
mit Nahdrud durchgeführt. Gr ift bee
rühmt Durd fein „Slüd“, auf „König
* Thule. Bd. 14. 15. 16. Bd. I. geb.
7, geb. 11 Mf. Bd. II. geh. 8, geb. 12
Marf. Bd. III. geb. 8, geb. 11,50 Mt.
Olafs Olid wagt man vieles. (Olüdhaf-
tigfeit galt als Gigenfhaft des Charak—
ters.) Gr ift ein Arzt. Seine Leiche wird
gue Reliquie, an der viele Heilung fin-
en. Seine Augen haben es den Men—
{hen angetan. G8 ift eine fraftoolle Ge—
ftalt, von Myſtik umtmittert.
Der erfte Band enthält die Gagas
der früheren Könige. Der ältefte ift
Odin, der in Alien Aftlid vom Doa
Häuptling war, Afenheim feine Haupt-
adt. An den Ponmündungen ſitzen
die Wanen, mit denen Odin Krieg führt.
Nadhmals zieht Odin an den Mälarjee,
alg Sdwedenfinig, er gibt den Schweden
Gefebe. Nah feinem Tode wird Nidrd
Alfeinherrfher über Schweden, darnad
Sreh. Den Öötterfönigen folgt die große
Menge der Gagenfdnige, bis wir mit
Halfdan dem Schwarzen (etwa 830 bis
860) in hellere Zeiten gelangen. Gr ift
der Bater Harald Schönhaars, der die
norwegifhen SKleinfönige befeitigt und
fih zum Herrfher eines großen Reiches
aufſchwingt (Schlacht im Hafsfjord 872).
Aus feinem Gefdledte ftammen die fol-
genden Könige, Deren bedeutendfter vor
Olaf dem Heiligen Olaf Tryggvisſohn ift.
Der dritte Band gibt die Gagas der
fpäteren Herriher aus Olafs Blut. Es
perrinnt und verfidert mehr und mehr.
Bei dem lebten ift der Zufammenhang
fon febr zweifelhaft. Durchſetzt ift die
Srzählung immer wieder mit den Wun—
dertaten des toten Olaf. Seine Geftalt
gibt dem ganzen Werfe einen funftpollen
Zufammenbalt.
Sehr ergiebig ift diefe Gefdidte für
das, was wir heute das „Führerpro—
blem“ nennen. @erade weil es fid um
„primitivere“ Verhältniſſe handelt, tritt
das Iebte Menfalide fo plaftiih her—
por. Man fehe daraufhin die Stellen
durd, die wir unter „Erlefenes“ anein-
anderfügen. Das find nidt Könige, wie
der Artus und Karl der Gage, Die nur
Mittelpunkt eines Kreifes pon Paladinen
find, fondern es find vorangehende Füh—
rer, die mit Schwert und Sdild und
„Blüd“ an der entjcheidenden Stelle
fampfen. Da fie oft fdon als Kinder
Könige fein müffen — Die politiidhe
Führung war damals eine duferft Ie-
bensgefährlihe Gade, die Könige wur—
den jelten alt — müſſen fie fhon als
Kinder in die Sdhladt. Der zweijährige
Sngi muß gegen Magnus den Blinden
giebn, es fommt zum Kampf. „Es beißt,
daß Thjoftolf Alisfohn den König Ingi
in feinem Schoße trug, während Die
Schlacht tobte und er unter dem Banner
ging, und daß Sbhijoftolf da durch das
Andrängen und den Anfturm der Feinde
in große Not fam. Man erzählt, dah
Sngi dort die Gebreften befam, an denen
er jein ganzes Leben litt.“
Seffelnd find die Berührungen der
nordiihen mit der byzantinifhen Welt —
das Mittelmeer, von Island aus gefehn!
Da find Wege der Politif und der Kul-
tur, die mitten durh Deutfdland füh-
ren; wir fennen fie heute faum, und dod
find fie für unfre Gage und Didtung
bon großer Bedeutung. Piefe Gebiete
barren nod der Durchforſchung. —
Das madtige Werf ift feine leichte
Leftüre, e8 erfordert nidt wenig Auf.
merffamfeit und ®edädtnis. Die Bere
armung PDeutihlands |deint uns aud
darin fidtbar zu werden, daß dieſe
Bande nidt mehr fo reidlid wie die al-
teren Thule-Bände mit Hilfsmitteln des
Gerftandniffes ausgeftattet find; Das
Kartenmaterial ift dürftig, Stammbäume
fehlen, bor allem vermißt man ein Na-
mensregifter. Was die Leberjehung felbft
betrifft, fo befriedigt der fpradlide Wus-
drud nidt immer, zumal in der Wieder-
gabe der eingeftreuten Gfaldenverfe. Man
würde es vorziehn, Niedner verzichtete
auf die Nadhabmung der fdwierigen
Gorm und gäbe nur getreu den In—
balt der Berfe. Bwangvolle Bildun-
gen wie „Kühnem Wann ob totem Kö-
nig/Rommt eb’r zu die Zähre“ oder
,Oorg’ in der Bruft: dem Bafte, / Bleid
Antlit mein, gleihft dul ärgern den
Lefer fo, daß jedes poetifde Gefühl ver-
fliegt. Warum nidt lieber unter einiger
BOT DERSOI LER: nes . ziemt ie
Sabre eher“ und „Bange forg’ id: dem
Bafte/Gleidt mein bleihes Antlig“?
Dod diefe Kleinigkeiten follen den Dank
für die Gefamtleiftung nicht herabmin-
dern, wir fpreden fie nur als Anre—
guages für boffentlih bald nötig wer-
ende neue Auflagen aus. Und nod den
Wunſch hätten wir freilih, daß in einer
Einleitung oder als bejonderes Bändchen
eine fnappe, weitgefpannte ®efamtdarftel-
lung der altnordifhen Sefdhidte von
Heute aus gegeben würde, die dem Lefer
gleihfam einen Rahmen für die alten
Darftellungen lieferte. —
Gewiffe Dinge liegen in der Zeit.
Während Niedner Gnorris Königsbud)
überjehte, fdrieben Arthur und Beate
Bonus „das Dlafbuh*. G3 ift eine
freie Naderzählung der Gaga von Olaf
dem Heiligen, in hohem Stil gehalten,
überjihtlih geftaltet und dem Bedürfnis
heutiger Lefer angenähert. Go fann aud
{hon die ältere Sugend von dem nore
Difhen Ghriftenfönig und feinen Taten
lefen. G38 ift ein Bud, das GFeftigfeit
* Thienemanns Berlag, Stuttgart.
Seb. 5 ME.
355
und hohen Ginn zu erweden vermag;
möge e3 die Blide wieder Ienfen zu den
falten Bergen und Weeren, pon denen
uns Der Geift unferer Gorfabren zu
Hilfe fommt. Ot.
„Bauern und Helden.“
Be is Sanuar vorigen Sabres, als wir
die Sagas der Sammlung Thule ane
zeigten, gaben wir aud eine Probe aus
Walter Baetfes neuer Leberjebung der
Gaga von Biga-Glum, die Damals ge-
rade gedrudt wurde. Geitber find nun
die erften beiden Bände der Baetfefden
Sammlung „Bauern und Helden. Gee
{Hidten aus Alt-Island“ in unferm
Gerlag erfdienen; der erfte enthält die
Gaga von ,@lum dem Totſchläger“, der
zweite die bon den „Schwurbrüdern“.
Seder der bübihen Pappbände foftet
zwei Marf.
Während die Sammlung Thule einen
oßen leberblid über die altnordifde
rzählungsfunft gibt und für Den, Der
tiefer in diefe Welt eindringen will,
unentbebrlid bleibt, wendet fid Die
Sammlung „Bauern und Helden“ an
die größere Menge der Lefer. Ihre
Aufgabe ift, die tiefen ethifhen Kräfte
jener nordgermanifden Meifterwerfe, die
nod allzu wenig befannt find, frudtbar
zu maden. DBaetfe hat mit feinem Bor-
wort redt: „Wenn heute das deutſche
Volk in feiner äußeren und inneren Not
nad Sroft und Stärkung Ausfdau hält,
- fo fann ibm weder japanifhe Kunft nod
indijde Weisheit frommen. Wohl aber
fann es fid aus den alten islandifden
Gagas Sefundbeit trinken; denn fie kom—
men aus den Tiefen zu uns berauf, in
die die Wurzeln unſres eignen Bolfs-
tums, unfrer deutfden Seele binunter-
reihen.“ Da nun aber die eigentiimlide
nordifhe Graählungsfunft nidt geringe
Anforderungen an den Lefer ftellt, fucht
DBaetfe in feinen Ausgaben die Schwie-
rigfeiten binwegzuräumen. Die Ginlei-
tungen geben das nötige fulturgefdhidt-
lide Wiffen, das die Gaga vorausfebt,
Bilder veranfdauliden Das GSefagte,
Stammbäume geben uns den Ueberblick
über die Gippenzufammenhänge, Pere
fonen=- und Ortsregifter ermöglichen es,
nachzuſchlagen, wo ein Name eingeführt
wird (eine der widtigften Sedadtnis-
bilfen!), Plane zeichnen die gengraphifche
Situation. In der — iſt genealo⸗
giſches Rankenwerk, das mit der Gade
nichts zu tun hat und nur dem perſön—
lichen Intereſſe der alten Erzähler ent—
ſtammt, weggeſchnitten. Der größte
Wert aber iſt darauf gelegt, den Stil,
ſowohl den proſaiſchen wie den poeti—
ſchen, zu treffen. Wir ſind der Meinung,
356
daß Baetkes Uebertragung ſprachlich die
der meiſten andern übertrifft. So wird
dieſe billige Sammlung ihrer Aufgabe
portrefflid gerecht, dem gebildeten Lefer
(aud) der älteren Jugend) eine Welt
nahe zu bringen, die von unfern Vor—
fahren ber in uns felbft nahmirft.
Die Sammlung wird nidt endlos
fortgefebt werden, fie bringt nur eine
Auslefe der finftlerifh und ethifh bee
deutendften Stüde der Gaga-Literatur.
Die Gefhidte von Slum dem Sotidlager
gibt eine piyhologiih febr fein gezeich-
nete Gharafterdarftellung des gum Hel-
Den und Führer emporwadjenden Bau—
ern, aud) die Sragif ift in dem Sharafter
angelegt. — ,Gtarf, {din und wilde,“
dieje Worte des Nibelungenliedes fünnte
man auf die Gefdidte pon den beiden
Schwurbrüdern Sbhorgeir und Thormod
anwenden. Als Probe daraus druden
wir unter „Srlefenes“ das Schlußfapitel
ab — weld eine ®ewalt des Willens!
Wir denfen von diefer Szene weg be-
\hämt an den Herbft 1918. Mebrigens
erzählt aud) Gnorri Sturlasfohn den Sod
Sbormod3, der ein bevorzugter Gfalde
König Olafs des Heiligen war, in feinem
„Königsbuch“ (Heimskringla). Nur
Raummangel hindert uns, Snorris Dar—
ſtellung zum Vergleich abzudrucken. Man
findet ſie im zweiten Band des Werkes
(Thule. 15. Bd.), Seite 379 bis 383. Die
Borgänge find im Einzelnen anders er-
äblt, der Gharafter Shormod3 im Gter-
en ift derjelbe. (Bgl. aud Bonus’
Olafsbud Seite 151 ff.)
In all diefen Gefdidten ift die All-
tagswelt des germanifmen Bauern um
das Jahr 1000 ganz realiftifch dargeftellt.
Aus diefer Welt wadfen Harte, ftarfe
Führer auf und mit ihnen eine heroiſche
Ethik. Sollen wir uns dieſe Bauern- und
Heldenethif von einem niedrigeren Ge—
fdledht zu Unehren ſchwätzen laffen?
Wir denfen an des alten Arndt bittere
Worte:
„Könnt ih Löwenmähnen fdittteln
Mit dem Born und Wut der Jugend,
Die gewaltig wollt’ id rütteln
An des Sages blajfer Tugend,
An dem Trug der Feigen, Matten —
Wer will ihre Namen nennen?
Die der Bäter Heldenfdatten
Nur als Leihenfhatten fennen*“ Gt.
* Als Illuftration dazu: Eben er-
folgte (in Berlin) die Gründung eines
»Wanderbogels vegetarifher Art“. Pro-
gramm: „Wir trennen uns grundjählid
pon allen Anwendungen der Gewalt und
des Dlutvergießeng (Anwendung des
Dlutvergießeng — was ift das?) im
Menihen- und DBölferleben und haben
Uttiengefellfhaften und Zaifune.
aR en gefunden Zeiten werden
die Hemmungen des Lebens
ſchmerzlich. Tod, Krankheit, Anglück der
Menfdhen und Völker.
&3 gibt aber aud Zeiten, in denen
das Leben an fid ſchmerzlich und
fraglich iſt; in denen es ſelbſt als eine
einzige Hemmung, als Tod, Krankheit,
Unglüd erfdeint.
eben mir in einer folden Zeit?
Nie nod, will uns fdeinen (weil wir
ja nur ein febr geringes Gnddhen Ge—
{didte überfhauen), war die Frage nad
dem Ginn Diefes unferes Lebens fo
dringlid, fo unbefriedigend dringlid wie
jebt.
Da fißen die Madtigften der Welt,
die Scheinbar und die wirflid Made
tigften, die Politifer und die Bantiers,
wochenlang beifammen und beraten über
ein höchſt verwideltes, höchſt fünftliches
Spftem bon Anleihen, Zinfen und Kon—
tributionen, und „die Welt“ Halt den
Atem an, um den weltgefdhidtliden
Augenblid nidt zu verfaumen, two Diefe
Bermwaltungsratsmitglieder und General
direftoren, dieſe Interejfenvertreter und
Marionetten unperfinlider Kapital
zufammenballungen „einig“ geworden
find. Und fo finftlid, fo naturfern ift
unfer Leben geworden, daß wirflid un-
fer Schidfal und das „der Welt mehr
davon abhängt, ob und wann dieſe Sn-
tereffenten mit ihrer A. O. zur Wusbeu-
tung eines befiegten Golfes, mit diefem
fünftliden Spftem, mit dem man tod-
franfe Staaten und Wirtſchaften gu hei—
fen vorgibt, fertig werden, als davon,
ob die Roggenernte in unferem Heimat-
gau gut oder fhleht wird. Und da’ man
gegen Hagelfhlag und Feuer verfichert
ift, fo gibt's faft feinen Schaden mehr
alg den, den die Wenfden, zur Unzahl
auf dieſer engen Erde anwadfend, die
ihr in ihrer arbeitsfheuen Senuf- und
Raubgier eng wird, fid gegenfeitig an-
tun. Der Menfdh fiebt nur nod Menſch⸗
fides. Wenn nidt einmal ein Grdbeben
oder ein Saifun ein wenig von aufen,
bon jenfeits aller Menfdenfenntnis und
mop anflopft und befdeiden
mahnt
den @lauben, daß — Verſte⸗
hen, Achtung und liebevolle Hilfe die
Wenſchheit paberfiibren, alg es Kampf
und Wadt vermögen.“ Wit einem fol»
den Olauben ftürzt man fid nidt in
Alnfoften und mit einer fo bequemen
Moral läßt ſich's bequem dafein. Wir
ſchätzen, daß fid) BHinreihend fdmalg-
Gugige Wundervögel finden, die daran
ein feelenbdolles Gefallen finden.
Alles Glementare ift verfdwunden
aus unferem Leben. Saft fdeint es, als
wäre diefer Krieg ein [estes Aufbäumen
der elementaren Kräfte im Menſchen gee
weſen gegen die furdtbare Weltmafdi-e
nerie, Die uns alle zu erfaffen und zu
zähmen droht.
Die letzte? Gott braucht aud ſolche
Seiten der Waſchinenherrſchaft, der Uni—
form und des Zentralismus, wie ſie uns
pon den Beld-Weltmädten ber droht.
Sie allein erzeugen Widerftand und in—
neres Wadstum der natürlihen Gigen-
fräfte in den WMenfden und Bölfern.
Sie allein erproben die Bölfer und Wen-
fen und ihre tiefften Kräfte Wir aber
freuen uns. Wer nod fo vergiftet wäre
von dem Gift der Gerbitterung und der
Müdigkeit, der Fragefudt und der Ziel-
unfiderbeit: bie und da in irgendeiner
Gefpradswendung, in einem Knabenblid,
mitten im Toben des ftumpfen ohnmäch⸗
tigen Maffenraufhes einer Berjammlun
oder in ftillen Näcdten, da er in id
bineinlaufht — fühlt er Dod dad ferne
ungeduldige Poden und Herandrangen
einer braufenden Brandung, einer elee
mentaren Gmpdrung, eines Orfans, eines
Grdbebens oder eines Saifuns, der wie-
der einmal befdeiden, von jenfeits aller
Menfhenerfenntnis und Menfdhenmade,
anflopfen wird. Aus den Siefen der
DBölfer und der Menfchennatur heraus,
die ,nod nie“ fo gefejjelt, gezähmt und
„befriedigt“ war wie jebt.
Wir wiffen: Gott duldet aud Aktien»
gefellfdaften, aber er offenbart fid in
den Q@etvittern und dem natürlichen
Wahstumsfegen, der aus Gewittern
quillt. Hermann Ullmann.
KultursSeremiaden.
G 3 mag ioe unfreundlid a ee aber
mandmal fann man es wirflid nicht
mehr mitanhören, wie fie alle feufzen:
über den Berfall des Handwerks, die
Gerwabhrlojfung der Jugend, die Gntfeee
lung der Arbeit, die Gntartung der
Kunft, die DVerflahung der Denen
und wie alle die traurigen — Au
faptbemen heißen. Das ift nämlid
das Grbitternde, daß dieſe gewiß; beach—
tensiwerten und beängftigenden Erſchei—
nungen zu den ergiebigften und belieb-
teften Auffatthemen des gebildeten Deut-
{den geworden find. Namentlihd wenn
der Privatmann zur Feder greift, liebt
er e8, ein Klagelied über die Gerderb-
nis der Zeit anguftimmen. Gin Rum-
melplag, ein großftädtifhes Kaffeehaus
gibt ihm dazu das anregende Aergernis,
Das mag fehr woblgemeint fein, aber
mir will e8 Dod verdadtig erſcheinen.
Man fann fid nidt des Gindruds ere
357
wehren, daß diefe Klagen mit einem ge-
willen Behagen vorgebracht werden. Es
muß ein ſchönes ©efühl fein, fid fo viel
beffer als feine ſchlechte Zeit zu wiffen
und ihr, die uns ohnehin ärgert, une
angenehme Dinge ins Gefidt zu fagen,
wobei man der Zuftimmung aller ®ut-
gefinnten fider fein darf.
Aber offenbar bin id fein ©utge-
finnter. Denn id ftehe nidt an, mid
über dieſe Rulturfjentimentalitaten zu
ärgern. Das Kino, die Grofftadt, die
Zipilifation, die Sednif, welche meinem
fOreibenden Privatmanne nur ©reuel
find, dünfen mid berrlide Summelplage
Br den gu fein, welder unjer Bolfstum
ebt.
Nicht als ob id mid von der Bivi-
lifation blenden ließel Ich weiß, wie es
mit ihr beftellt ift: wenn die Müllkutſcher
adt Sage ftreifen, fängt fie an zu ftin-
fen. (nd die Müllfutfher verfäumen
nicht, auf dieſe Weife einer AUeberſchät—
zung der Zipilifation vorzubeugen.)
Aber ein gefunder Men fann einen
Buff vertragen und ein fräftig veranlag-
tes Golf aud. Nicht ohne Narben davon-
guiragen, gewiß nicht; aber ſolche Schön-
beitsfehler brauden uns nidt zu ent»
mutigen. Wenn man bei hundert Men—
ſchen den Bruftforb durdleudtet, wird
man bei neunzig Spuren von Quber-
fulofe finden, aber bei mindeftens adtgig
baben die natürlihen Widerftandsfräfte
auggereidt, um die eingedrungenen Ba-
zillen einzufapfeln und unjhädlich re
‚maden. Und die lebten zehn Sabre foll-
ten gezeigt haben, daß die Widerftands-
fraft eines Golfes größer ift, als jede
me — zu fagen vermodt
ätte.
Und darum glaube id, daß der ge
beime Bauplan unjres Volkes nidt por
den Broblemen der Snduftrialifierung
und der Großſtadt Halt madhen wird. Im
®egenteil, wie Heinz Warr im Februar
beft unfrer Zeitihrift gezeigt hat, gerade
am WMaffenmenfden unjtes technifchen
Seitalters erweift fid die Unzerſtörbar—
feit völfifher Gigenart — freilid nur
dem, der jid) duch das Schlagwortverhau
gu den lebendigen Realitäten durdge-
rungen bat.
Dahin fommt man freilih nicht mit
fulturellen Schäferfpielen; man muß berz-
baft Dred anfaffen können und e8 mag
billig fein, daß dies Gefdaft uns Jün—
geren itberlaffen bleibt, die wir ohnehin
alg Kriegsteilnehmer Dergleiden ge-
wohnt find.
Die Oroßftadt und die Zipilifation
find uns als eine Aufgabe auferlegt: das
merfen wir nun, naddem wir uns zu—
erft an dem Pfefferfudenbaus gefreut
358
batten. Hagenbed afflimatifiert Strauße
in Gtellingen; follte fih unfer Bolfstum
in der Gisgeit der Bivilifation nidt er—
halten fünnen? §reilid wird es manden
Schnupfen abſetzen, aber deswegen ift ed
Dod verkehrt, in grüne Giedlungen zu
entweihen und bon einer wärmeren Der-
gangenbeit zu träumen. Sas madt nur
webleidig und läßt die Diffonangen des
modernen Lebens fo {drill erfdeinen, dah
man glaubt, fid die Obren gubalten zu
müffen: daher rührt dann Rulturfenti-
mentalität und Linfenntnis auf allen den
®ebieten, von denen man nidts willen
mag.
Darum fehlt e8 dann bei jeder Arbeit,
die unferm Volkstum dient, an welt-
Eundigen Helfern, darum ftellen ftatt
ihrer fid) gutgefinnte Gigenbrödler und
Querföpfe ein, die über jedes praftifche
Hindernis ftolpern und fid von den Ge—
riffenen übers Ohr bauen lajfen.
Man überprüfe einmal das völkiſche
Schrifttum; wieviel Konjunfturmaderei,
wieviel feelifd DVerbogenes, wieviel
myſtagogiſch aufgepubte Kurpfufcherei
wird Da bon Kreifen aufgenommen, Die
Dod eine Gefundung aus unfrer nationa-
len Gigenart heraus anftreben. Offen ge-
fagt, mehr als Kino, Kabarett und Opes
rette bedrüdt mid die Snftinftlofigfeit
unfres Volkes in feiner eignen
Gade fogar in den Kreifen, die fid auf
die völkiſchen ©rundtriebe befinnen
wollen.
Wie fann man fid von ſolchem Kraft»
meiertum imponieren laſſen? Ich fürchte,
gerade unfern fulturell bedeutfamften
Gdidten fehlt es vielfad an einer ge-
wiſſen Wefensfeftigteit, ja Wefenshärte,
wie fie aus einer mutigen und verant-
wortliden Hingabe an den Alltag
erwächſt. Gmpfindjame und weidlide
Naturen, die ganz zu LUnredt als , ideali-
ſtiſch“ von dem „groben Materialismug“
abrüden, find ebenfo dem porlauten
Kraftmeiertum wie der fentimentalen
Weltflictigfeit ausgefebt. Diefe beiden
ſcheinbar fo verfchiedenen Stimmungen
beweijen denn aud ihre Berwandtihaft
Durd das beiden gemeinfame Refjenti-
ment gegen die Zipilifation.
Reffentiment ift aber die unglüdlichfte
Gerfajfung, in der man an eine mib-
felige und unangenehme Aufgabe beran-
geben fann. G8 fdeint den Blid zu
\härfen, aber es falfdt ihn. Gs er-
regt und madt Dod fraftlos. G3 des—
illufioniert und madt dod nicht niidtern.
Die Wirklichkeit Heinlih und erbarmlid
gu finden, ift nod fein Seiden von
Größe; die Zeit anguflagen, fein Beweis
der Unſchuld.
Der nidt den Mut Hat, feine Seele
rüdjihtslos dem ultravioletten DBogen-
lidt der Bivilifation auszufegen, wer
fid nidt zutraut, mitten in die moderne
Welt — — ohne ſich an ſie zu
verlieren und wer ſich ſcheut, Trübungen
und Schädigungen ſeines Weſens beim
Sprung in die Welt auf ſich zu nehmen,
der findet wohl noch genug Aufgaben im
ſtilleren Kreiſe. Aber er fehlt, und fehlt
fühlbar in dem Kampf, den unſer Volk
um die Weiſterung der Ziviliſation führt.
Albrecht Grich Oünther.
Kerricht.
Wir blättern in Zeitſchriften, die vor
zehn Jahren geſchrieben wurden.
Die ſah doch S. Fiſchers „Neue Rund—
ſchau“ damals aus? Das Auguſtheft
zeugt nod von tiefſtem Frieden. Sue
nius der Pieudonyme redet in feinem
politijden ,Sagebud“ boffnungsfreudig
davon, daß in Granfreid) „der Femi—
nismus der erwerbtätigen Stau fid an
die Oberflähe arbeitet und die Abſchwä—
ung der militärifhen Snftinfte der
Rafje verurjadt.“ In Frankreid fei nidt
Poincare maßgebend, Frankreich „Icheint
beftimmt, als erftes Land in Guropa
die unheroiſchen Ideale einer egalitären
©efellihaft zu verförpern und uns alten
Europäern (man wiege diefen WAusdruc)
einen DVBorfhmad von den Realitäten
der Sfdandala-Werte zu geben, Die
Niebihe fo beflommen heraufkommen
fab.“ Aber „Bunius“ beugt fih „vor
Diefer Logif der Tatſachen williger und
freudiger, alg por dem Heroismus einer
fapitaliftiihen ®ejellihaft...“ Sm Sep—
temberbeft ift dann Der Krieg da, und
Samuel Gaenger fdiebt den einen Arm
unter Treitſchkes, den andern unter Fid-
tes Arm.
Der fizefte aber ift unfer Freund
Alfred Kerr. Gr tritt im September-
beft auf den Plan mit dem „Kriegstage-
bud eines Hirnwefens“. Alfred ergablt:
„Als id an das Begirfsfommando, Oe—
neraleBape-Straße, fdrieb: ‚Der Anter—
zeichnete meldet fid) biermit freiwillig
um Gintritt in das Heer. Gr ift Land-
Kom mit Waffe, von Beruf Schrift—
fteller. Körperlih gewandt uf. (Wasmag
binter diefem ufw. geftanden haben?) Gr
mödte nidt bis zu feinem fpäteren
Aufgebot warten — und bittet ibn an»
aunebmen’, lagen zwei Regungen binter
mir. Gin Gefühl des Abrüdens von
einer Menfhengattung, die Befferes nicht
elernt bat als mit ſolchen Mitteln bie»
ige Dinge zu ordnen. Habe nichts mit
ihnen zu Schaffen; in Gwigfeit, in Gwig-
feit; in Gwigteit. Der andere Ruf jagt:
- fie dürfen diefem edlen Bolf nichts tun.
Nichts Diefem ‚Deutihland’ benannten
©efühl, das wir im Blut haben. Man
bat die Fredbeit, uns am Atmen hin—
dern zu wollen. Schluchzende Wut pact
einen.“ Gr fhludst, wenn er wütend ift.
Gthnographijd intereffant.
Und weiter: „Unfrer Haut miiffen
wir uns wehren — unfrer heut nod
podenden Herzen. Ich juble fhon über
einen Brud) des Völkerrechts.“ Aber
Alfred! So etwas ift nidt nur „Lör=
perlih gewandt“! Dod es ift fein
Zweifel — furz darauf fdreibt er:
„Das Bezirksfommando weift mid an
ein Regiment. Im Regimentsbiiro (aus-
gerednet „Büro“ fdreibt er) die Weie
fung: das Aufgebot abzuwarten. Saft-
volle Menſchen, jebt völlig frei von be—
tonter Strammbeit. Hundertfünfzig
Ueberzählige fdon eingeftellt. Antunlich.
Bei andren Regimentern ebenfo. Als id
im zweiten Gejud von meiner mittleren
Schießfähigkeit fpreden will, im Kahn
und im Walde zur Not bewährt, ftocdt
etwas in mir; id) ſchreibe den Gab nicht
bin. Menſchenköpfe. Gee dafür Die Mit-
teilung, daß id Franzöſiſch wie ein
Srangofe fpreden und fdreiben fann.
Selber nidt ans Sterben gedadt. Man
glaubt ja feft an fein Schwein. Hat Bee
tehungen gum Himmel. Wenn im Did»
fen Geſchoßhagel Neun fallen, bin id
der Bebnte.“
Allmählih ftodt nod) mehreres in
ihm. Rleifts Gab „Was braud id La-
tier, die mir Outes tun?“ ift „einer pon
Den allerfdwerften Stürzen“, Die Die
Menidbeit „feit der Gntwidelung des
DBeuteldahfes zu der Gruppe Woſes,
Ehriftus, Marz“ (wir genießen edteften
Kerr!) getan bat. Aber:
„..mwie dem dreimal fei: zu Haufe
ftirbt man und erftidt, wenn fie einen
nit mitnehmen. Wir wollen fampfen:
für Deutihland... Wir treten Bin,
Mann für Mann, feft in dem Sdwur:
Wir wollen helfen bis zum lebten Heme
de; bis zum lebten Gingernagel; bis
zum [ebten Wurf Speichel: aber nicht
bergeffen, was uns angeht — inmitten
diejer Weltbrande... Gs gibt nur einen
Herzihlag in diefer Stunde: Deutfd-
land, Deutfdland über alles. Wenn der
Sriede fommt, fommt eine Abrednung.
Habt Ihr verftanden? Dann erft be-
ginnt es. Im Grieden ein Dreifigiab-
tiger Krieg. Das wird fein: der Welt-
frieg.
Der .,,fdrperlid gewandte* Alfred
mit der „mittleren Schießfähigkeit“, der
fid im Gertrauen auf „fein Schwein“
porfjidtigerweife als Dolmetſcher refom-
mandiert, bat feinen Rampfidwur ge-
halten: gang ohne Hemde ftebt er da,
ohne Fingernägel. Sogar ohne Bart;
359
aud fein Bart ift abgefämpft, im Rampfe
mit dem fdwargen Weismann. Nur —
Gpeidel hat er nod. Und fpudt ganze
Rastaden. Gr fpudt freili nicht mehr
im SRampfe für das „©efühl Deutich-
land“, das er „im Blute bat“, fondern
fiir die Entwidlungslinie Beuteltier-Go-
Damals, im Dezemberbeft der
„Neuen Rundfhau“ begeifterte fid Oskar
Bie für — Goldatenmufif und fand in
den Liedern „Sh bab mid ergeben“, in
LUblands ,@utem Kamerad“, in Hauffs
„Morgenlied“, Arndts „Was blafen die
Trompeten“ ujw. „alle, liebe, deutide
Seele.“ Ob, fie arbeiteten mit Hohdrud
in „Seele“. Arthur Gloeffer batte fid
Br Thema erforen: Worf und Bohen.
r gebt für Hindenburg ins Gefdirr, als
ob er Ginftein zu propagieren bätte:
„Wer fid ein wenig mit Kriegsgeihichte
befaßt bat (Arthur Gloeffer bat es; zum
Swed der Gabrifation deutfher Kriegs-
literatur), der febt das Kunftwerf der
Schlacht bei Sannenberg neben und über
das klaſſiſche Mufterbeifpiel der dop-
pelten Umgebung bon Gannäd.“ Alfred
Döblin fohreibt einen wahrhaft alttefta-
mentliden Palm gegen England (aus
Anlaß des Gefdreies über Reims). Dare
in die denfwürdige Stelle:
„Als zwei Bilfer ftöhnend Bruft an
Bruft miteinander rangen, da wagten es
Wenſchen, fid DHinzuftellen und zu
{Oreien: ‚Halt, die Spike pom Turm
bridt ab. Du warft, der Deutſche war
eg. Um Gottes willen, er fiebt fid
nidt por, zwei ©lasfenfter aus dem
zwölften Sabrhundert hat er gerbroden.
Runft, wo bleibt Runft! Barbarei, man
fieht es, nadtefte, brutalfte Barberei!’
Die beiden Kämpfer würgten fid, awei
mädtige Bölfer beteten und zitterten
binter ihnen, — die Kulturfreunde rann-
ten, {dlugen die Lezifa auf und lajen
nad.“ — Gebr hübſch. Alfred Döblin,
wir beloben Gie. —
Dann liegt da ein ganzer Stoß
„Kriegszeit, Rinftlerflu blätter“. Deriin-
ternebmer dieſer Lithographien ift der
fpätere Galonfommunift Baul Gajfirer.
auptzeichner ift fein Teilhaber az
iebermann. Gr, der nadmals auf einem
Albumblatt aus fiherem Hinterhalt die
„wißige“ Saftlofigfeit gegen Luden—
dorff beging *, zeichnete (7. Sept. 1914)
* In das Stammbud der Dorothea
KR. ſchrieb Ludendorff: „Der Dienft für
das Baterland ift für jeden Deutfden
bas vornehmſte Geſetz.“ Dorothea KR. bat
Maz Liebermann als zweiten. Gr, der
—— Patriot, zeichnete auf das
nächſte Blatt einen erſchoſſenen Soldaten
360
einen friſchfröhlichen Kriegsreiter und
lithographierte darunter: „Jetzt wollen
wir fie dreſchen!“ Derfelbe Maz Lieber-
mann zeichnete den „Hercules Hinden-
burg“, der den ruffiihen Bären ere
fhlägt. Damals (24. Deg. 1914) ver-
breitete Gaffirer einen Paneghrifus auf
Hindenburg: „Wir erleben jebt den gro-
Ben Geldberrn als eine Grideinung, die
nidt nur der Kriegsfunft und ihrer Gee
{hidte gebdrt... Wir empfinden ibn
alg einen dem großen Diplomaten, dem
Staatsmann, ja dem Bolfsfibrer Bere
wandten und fie alle — Ueberragen-
den!“ (Was für Wahrheiten die dunfle
Gorge aus dem Wenſchen berauspreßt!)
Aud Sudermanns „Kaiferlied“ Lief Gaf-
firer lithograpbieren und verbreiten, nam-
lid: „Der freie Mann, der deutide Mann
liebt feinen Kaifer, wie er fann, und
balt ihn bob und wert. Gr Haut die
Seinde fefte man, Gr ift und bleibt der
befte Mann, denn Gr fodliff uns bas
Schwert.“ Was wollen Ge, hat er nidt
ejagt: wie er fann? Rann mer
eut? —
Wir laffen die falfmen Brillanten,
die von gen Sabren blind geworden
find, naddenflid duch die Ginger glei-
ten. SBröftlihes Ergebnis: Die repu-
blifanifhen Brillanten, die heut von
Denfelben „Oehirnweſen“ in Der zere-
bralen Retorte fabrigiert und bon den
alten Brillanthändlern gebandelt wer—
den, tragen aud die ſchnelle Grblin-
dung in fid, fie werden ebenfobald trüb
fein wie die militariftijden Brillanten.
Halte die Augen offen, daß fie did nit
triigen! Gs ift ein ftille8 Vergnügen,
fie in ihrer Ankraft zu erfennen und
auf den Rerridt zu werfen. Go oft es
aud wiederferrt — es ift immer derfelbe
tröftlide Rerraus. St.
Fris Hab.
Es ift dem Deutſchen, ſofern er wirf-
lich einer iſt, nicht gegeben, ſich mit
dem ſchönen Schein der Dinge zu be—
gnügen und an ihrer Oberfläche zu haf⸗
ten. Er wird immer verſuchen, in ihre
Tiefe zu dringen und zu ergründen, was
die ſichtbaren Hüllen verbergen und was
jenfeit8 der Griheinungswelt ift.
Diefer auf das Geiftige und Gee-
life gerichtete Grfenntnisdrang ift aud
vielen Malern eigen. Lind Künftler mit
diefem Trieb, der nist zu unterdrüden
ift, fönnen unmöglich dauernd Realiften
oder Smpreffioniften fein. Pie Runft
hat für fie einen höheren Zwed als nur
und einen verredten ®aul und fdrieb
darunter: „Der Reft ift Schweigen!“ Das
ift der ,liebermannfde Bit“.
den, die Wirklichkeit mao tt getreu
widerzufpiegeln. Sie wollen etwas fas
gen, ausdrüden, wollen einem Gefidt
oder Traum, einer Sehnſucht ©eftalt ge-
ben und allerlei Wunderbares aus den
Abgründen der menfdhliden Seele ans
Licht Holen. Das fann nun freilid auf
zwei verjdiedene Arten gefchehen. Bue
nadft in einer Weife, daß ohne Rüd-
fiht auf Gorm und Farbe nur dem ab-
ftraften @edanfen eine abftrafte Seftalt
gegeben wird. Das ift die Art, die der
natürlid Gmpfindende ablehnen wird,
und nidt gulebt aud) deshalb, weil fie
fih zu weit pom Künſtleriſchen entfernt.
Eine zweite Art aber gebt ftets, aud
bei Geiftigftem, von der Gorm und der
farbigen Grideinung aus. Diefe primär
malerifde rg aang! eines DBildgedan-
fens ift wohl die richtige Art, weil ihr
Sundament das Künftleriihe if. Auf
ihr beruht aud) das Schaffen des Mün-
chener Malers GFrib Haß.
Es fann ſchon fein, daß viele anders
empfinden, und daß es ihnen feinen
will, als fei bei Haß der Gedanfe, die
Idee zuerft dagewefen und die finftleri-
fhe Form fpäter um fie herum gebildet
worden. Dem fteht aber entgegen, daß
diefe Gorm unmöglich fo elementar male-
rifh, aus Licht und Farbe geboren fein
fönnte, wenn fie nidt das Arſprüngliche
eiwefen wäre. §Greilid: wer fann Die
ebten Arſachen Der Entſtehung eines
Runftwerfes ergründen und nadtraglid
genau feftftellen, in welder Region der
Seele fo ein Schöpfungsaft feinen An—
fang genommen bat? Man wird da im-
mer nur auf Anzeichen, das beißt alfo
auf etwas mehr als auf DBermutungen,
angewiejen fein. Dieſe „Indizien“ aber
weifen bier fo deutlih in die Richtung
auf das WMalerifhe, daß ein Zweifel
ausgefdloffen ift. Und außerdem erklärt
Srib Haß felbft den Borgang der GEnt-
ftebung feiner Bilder auf diefe Weife.
Tun ift gwar ein Künftlerzeugnis nidt
immer ein vollgiiltiger Beweis. Es fann
aud auf Gelbfttaujdung beruhen. In
diefem Galle aber bat e8 die Kraft einer
autbentiihen Urkunde. Denn Haff ift in
allem, was feine Perfon angeht, eben-
fo Bellfidtig wie in der viſionären Be—
tradtung des LUniverfums.
Die ftarfe Betonung der Oeburt der
Bilder von Hab aus dem Geifte der
Malerei finnte übrigens den Anfdein
erweden, als folle damit ihr Sdeenge-
halt nah Möglichkeit entſchuldigt
werden. Das iſt aber keineswegs der
Fall. Es ſoll vielmehr nur der allein
richtige Standpunkt für ihre Betrachtung
gewonnen werden. Und von dieſer Baſis
aus ift gerade aud das Geiftige, das
diefen Bildern ihr Befonderes und lebe
ten Endes aud ihre Bedeutung gibt, am
flarften erfennbar. Es wird Dann
dDeutlid, daß die Kunft von Haß eine
Kunft der Liebe, jener Alliebe name
lid, die das fleinfte Wefen wie den
Kosmos mit gleider Kraft umfaßt, die
aus peffimiftijder Grundftimmung unter
taufend Schmerzen fid gum Pofitivismus
dSurdgerungen bat und in der Unendlich»
feit des Weltgangen allerorten das Wire
fen idealer Kräfte fpiirt. Wud eine Kunft
des ©laubens ift fie, des Glaubens an
den Gieg des Lichts über die Finfter-
nis, Des Geifts über die Materie, des
Göttlich-Gwigen über das Zeitlihe und
des feligen Befreitfeins von Leid und
Schmerz. Das alles ift in feiner Kunft;
und jedes feiner Bilder ift wie ein Pro—
pbet, der als Heilsfünder und Lidte
bringer durh die Welt gebt und den
®emiitern und Geelen gum Grieder wer-
den möchte.
Bielleiht wäre es Haß nie möglich
ewejen, mit foviel Lebergeugungsmadt
urd feine Runft gu den pettabunaviaen
Menfdhen zu reden, wenn fein Lebens-
weg mübelog und ohne Steine und Dore
nen gewejen wäre. Das Sdidfal pflegt
MWenſchen, durd deren Mund oder Hand
es Der Welt irgendeine Botſchaft ver
mitteln will, erft im Feuer des Leids
zu {dmieden, fo daß fie wie Stahl bart
und dod elaftifd werden. Aud Haß bat
mandes Schwere zu tragen und feine
liebe Not mit dem Leben gehabt. Aber
nichts bat feinen Mut verringern und
feinen Willen zur Eünftleriihen Offen»
barungs- und Befenntnistat lähmen fin
nen. Und fo ift fein Leben und Schaffen
ein Beifpiel dafür geworden, was deut-
{her Idealismus und deutihe Babigfeit
u leiften imftande find. Wander wird
fi gerade in diefen trüben Zeiten daran
aufguridten vermögen.
Haf ift 1864 zu Heiligenbeil in Oft-
preußen als Sohn eines proteftantifden
©eiftlihen geboren. Gr ftudierte an den
Kunftafademien in Königsberg und Mün-
den, allerdings, infolge chroniſchen ®eld-
mangels, unter erfdwerenden Umftänden.
Sedenfalls ift er als Maler Autodidatt.
Gein Brot mußte er mit SIlluftrieren,
Panoramamalen und dergleiden ver
dienen. Und fhon damals hatte ihn ein
ſchweres Fußleiden befallen, gegen das
er bei Pfarrer Kneipp Hilfe fand. Als
im Sabre 1893 die Münchener Gezejlion
ihre erfte Ausftellung veranftaltete, war
aud Haß mit einem Bilde vertreten,
das feiner modernen Tendenz wegen ftare
fen Gindrud madte. Aber es war dod
nidt das, was Haß eigentlid wollte.
Gein Ziel war bereits in jenen Sabren
361
das myſtiſche Bild. Und diefem Ziel ift
er mit den Bildern „Die Naht“ und
„Die große Babylon“, die 1895 und
1896 in der Gegeffion ausgeftellt waren,
fon febr nahe gefommen.
Gin ſchweres Augenleiden, das ibn
furz nad feiner Gerbeiratung (1896) be-
fiel, behinderte ibn dann wieder jahre»
lang in der normalen Gntwidlung. Gr
illuftrierte und malte gelegentlid Rin-
derbilder — aber fein Ziel verlor er nie
ganz aus den Augen. nd als er {pater
dur einen Freund in die Welt Richard
Wagners eingeführt wurde und Rudolf
Steiner fennen lernte, da wußte er, daß
fein Grleben fünftig feinen andern Zwed
mehr haben fünne als die Sidtbarma-
ung der myſtiſchen Bifionen feiner ins
Ueberfinnlide ftrebenden Geele. Er ift
zwar beute, fozujagen im DNebenberuf,
aud) ortratmaler (mit dem Ziel, das
©eiftige im Menſchen fdhaubar zu mas
@en!). Aber die eigentlihen Dokumente
feines künſtleriſchen Wollens find eine
Anzahl Bilder, die in fehönen farbigen
Reproduftionen in einer bei Otto Wil-
Helm Barth in Münden erfdienenen
großen Mappe vereinigt find.
Sn allen diefen Bildern fpielt das
Licht als fiegende Madt eine widtige
malerijde und myſtiſche Rolle, gleidviel,
ob e8 von einem weifgliibenden Körper
ausftrömt, por dem die ©eifter der Fin-
fternis in die Tiefe ftürzen, oder von
dem Öelreuzigten auf Golgatha. Gs bricht
in der grandiofen Bifion ,,Ganttus“ mit
jubelnder ®ewalt Durch rofafarbene
Woltenbögen. In Milliarden von glü-
benden Sternpuntten umfreift es als feu-
tiger Sphärengefang die Weltenfeele.
Gelautert zu perlmutterig ſchimmernder,
ftrablendDer Reinheit umweht es in lo—
Dernden Stürmen das Gigantenbaupt ded
Lidtbringers. Seine höchſten Sriumpbhe
aber feiert es in dem ungebeuren, menſch⸗
fides Faſſungsvermögen faft iberfteigen-
den Gefidt pon den Grgengeln, die als
faum erfennbare Lichtkörper verflärt,
fegnend und unbeweglid im fternüber-
fäten, zartbunt jchillernden Weltenraum
ſchweben. Diejes Bild gibt vielleiht das
Höhfte an myſtiſcher Ausdrudstkraft, was
mit den Mitteln der Malerei überhaupt
zu erreichen ift. Und zugleich ift es, wenn
aud nur als fünftleriihe Viſion, die Gr-
füllung der Gebn{udt fo mandes from-
men Schwärmers, der mit brennenden
Augen nadtelang am Sternenhimmel das
Angejiht Gottes gefuht hat. Sp fann
der Künftler — und wohl nur er —
eine unmittelbare Antwort auf Fragen
geben, Die auc) der Weifefte unbeant-
mwortet laſſen muß. :
Ridard Baumgart.
Der Beobachter
Weil man e8 uns nidt glauben
würde, wenn wir's fjagten, wollen
wir berjegen, was Lloyd ®eorge
in einem Pfingft-Artifel über „den Gin-
fluß großer Männer auf die Geihichte“
(Deutihe Allgemeine Zeitung pom 8.
Suni) ſchrieb; denn wie follte man ihm,
der es am beften wiffen muß, die Gadh-
funde abftreiten? Lloyd George alfo
meint: „Was ware gefdeben, wenn
Deutihland im Sabre 1918 einen Glee
menceau berborgebradt hätte — einen
Mann von unbezwingbarem Willen, fä-
big, feine Landsleute in der Stunde
der Not gujammengubalten? Gr hätte
niemal8 dem Novemberwaffenftillitand
gugeftimmt — der Krieg ware um
ein weiteres Jahr verlängert worden —
die Deutſchen Hatten ihre zufammenge-
brodene Front hinter dem Rhein wie-
der aufgebaut, und Deutfdland hätte
nad Räumung bon Belgien und Gljaß-
Nothringen einen ebrenvollen Frieden
erzwungen. Weder Frankreich nod Gnge
land würden den Berluft einer weiteren
halben Million WMenjden gewagt ba-
ben, um den Krieg nad PDeutichland
362
bineinzutragen, nur zu dem Swed, feine
Kolonien zu anneftieren und gewaltige
Reparationszablungen berauszuprefjen.“
— Im Sabre 1918 flopfte Profeffor
Quidde einem jungen Manne beruhigend
auf die Schulter: „Wenn wir nur Ber-
trauen haben auf die GEntente, fo wird
das Dertrauen nidt getäufht werden.“
Lloyd George aber fagt: Warum babt
ihr nit Gertrauen zu euch felbft
a Aud jest beim Gadperftin-
igen, gut“adten ftehen fid) wieder ge-
genüber die, welde auf- das deutſche
Golf vertrauen, und Die, welde auf die
Gntente vertrauen. Vielleicht fchreibt
Lloyd George nad fünf Sabren eine
neue Sonntagsbetradtung: „Was wäre
gejhehen, wenn Deutihland im Sabre
1924 einen Glemenceau berporgebradt
und ftandhaft nein gejagt hätte —?*
8) er weftlid-Denfende Graf R. N. Sous
Denhove-Ralergi ridtet in der Bof-
fiiden Zeitung (8. Sulit) einen ,, Appell
an §ranfreih“. Mit dem Sdematis-
mus ungefdhidtlider Menfden, die nicht
innig mit einem Bolt und Vaterland
verwachſen find, fiebt er einerfeits das
Britiſche Welt-Imperium, anderfeits das
afiatijde, chaotiſche Rußland. Bwifden-
inne mödte er die Gereinigten Staaten
bon Guropa gegründet wiffen. Frank—
reid) foll diefe Staatenvereinigung führen.
G3 möge fid entſcheiden, ob es ala Füh—
rer afrifanifher DBölfer Guropa be—
zwingen oder als Führer der euro-
päifhen DMationen Guropa einigen
wolle. So ſympathiſch es ift, daß
@raf Goudenhove den „deutihen Hah“
toenigftend nicht als urfadlojfen und un-
beredtigten Ausfluß einer böfen Seele
ehandelt, fondern vier ®ründe für ibn
(ungelöfte Reparationsfrage, unwürdige
Behandlung, Befebung deutfher Pro-
vinzen, offene Oſtgrenze) anerkennt, ſo
ſcheint uns dod, er mute Frankreich eine
biftorifh wie pſychologiſch unmöglidhe
Aufgabe zu. Granfreid fann nur herr—
ſchen, nidt fibren. Das liegt in
feiner pera IH EDEN Art. Man vere
gleide deutſche und franzöfiihe Rolonial-
politif. Der Grangofe fühlt ftets fid
als den überlegenen, der pon den andern
beivundert zu werden verdient; der Deut-
Ihe ift feiner geiftigen Struftur nah im
allgemeinen bereit, den Webenmenfden
und das Nebenvolk zu adten. Deutih-
land zu „führen“, würde den $ranzofen
fo viel Selbftverleugnung foften, daß es
zuviel von ihnen verlangt wäre. Darum
berjuden fie ja, Deutihland zu be—
herrſchen — es ift ihnen bequemer.
Nur fragt fid, wie die Beherrſchung
eines großen Golfes durd ein Eleineres
Bolt jhlieglih ausläuft. — Graf Sou-
Denhove will eine ,ftandige deutſch-fran—
zöſiſche Kommiffion für Den Abbau des
Nationalhajfes einjegen“. Gr gerät mit
folden Borfdlagen aus der Sphäre des
pollfräftigen fittliden Lebens in Die
dünne Luft intelleftueller Ronftruftionen.
„Diefer Kommiffion foll das Recht gue
ftehen, jede nationaliftiihe Hebe und
Kriegspropaganda in Schule, öffentlicher
Rede, Literatur und Preffe als Hodper-
rat an Guropa durd ein gemifdtes Gee
ridt unter neutralem Vorſitz zu be-
ftrafen.“ Wan ftelle fih die bedauerns-
werten Männer por, die immerfort über
moralifhe Impulfe ihrer MWebenmenfden
gu GSeridte fiten miiffen! Gine olde
Kommiſſion“ ift der Tod alles edten
fittliden Lebens, eines freien Gewiffens,
das zwifhen Abneigung und Buneigung,
Liebe und Haf lebt und webt. Gin Sn
quifitions- und Kebergeriht, das ſchlim—
mer ift alg das religiöfel Woher fommt
es, daß der Pazifismus fo lebensfremde,
fittlih unertraglide Vorſchläge ausbrü-
tet? Es fommt daber, daß in den ties
feren (fittlihen) Wurzeln des Pagifis-
mus ein Irrtum ftect.
ermann Müller-Sranlen, deſſen Na—
menszug unter dem Diktat bon Ver—
faille3 in ſchwarzer Tinte glänzt, bat
nod nidt genug von Politik. Er ift fo
unbefangen, fid unter andre Menſchen
gu begeben und ihnen feine politifhen
Anfihten vorzutragen. Im „Borwärts“
pom 8. Suli fordert er im demofratifden
Sigarrendunftmaffenton das „Ddeutiche
Golf auf: ,Hinein in den Bölferbund!“
Dann trägt er in dem iibliden Rota-
tionsdeutid — taujend Abzüge fürn
Groſchen — folgendes vor: „Wenn ein-
mal ein neutrales, mit größter wiffen-
{dhaftlider ®enauigfeit arbeitendes Rol-
legium eingefjebt wird — wir hoffen, daf
das bald gefdiebt, damit den Haß-
predigern, die in Deutfdland den
Kampf gegen die Schuldlüge führen, das
Handwerk gelegt werden fann — fo
würde ein foldes unparteiifhes Gericht
fiher zu dem Arteil fommen, dah
Deutfhland feineswegs die Al-
leinjhuld am Ausbrud des Welt-
frieges trägt, daß aber eben fo fider die
Politi€ des faijerlidhen Deutihland von
1914 und bon vor 1914 wegen ihrer Sa-
ten und ibrer Alnterlaffungn mit-
Yhuldig ift an dem Ausbrud der
größten Kataftrophe der Weltgefdidte.
Möchte (1) ein ſolches Urteil für Deutſch—
land fo günftig ausfallen als denkbar,
fo würde (!) damit nidts geändert, daß
das deutſche Volk nad feiner Leiftungs-
fabigfeit zahlen müßte fiir Die Kriegs-
ſchäden, weil es Den Krieg verloren
bat.“ Der feiner Gmpfindende fühlt aus
Diejen Sätzen das gerbrodene Oewiſſen
des Gerjailles-Gangers heraus, der fid
felbft mit der Borftellung zu tröften
fudt, daß Das deutfhe Bolf ja aud zah—
len müßte, wenn er, der Müller-$ran-
fen, nidt den Pertrag unterfdrieben
hätte. Als ob's nur ums Zahlen, nicht
um die Wahrheit und die Ehre ginge!
Der Berfailler Gertrag fteht nicht auf
der „Mitfhuld“, fondern auf Der
„Schuld“ des deutſchen Volkes. Müller
Sranfen bat, obwohl er’s beffer wiſſen
fonnte und ficherlich beffer gewußt bat,
„die Schuld“ des Deutihen Bolfes an«
erfannt und unterfdrieben. Oleidwobl
ftellt er fih bin und befpeit die, welde
jid um die Berbreitung der Wabhr-
beit bemühen, als „Haßprediger“.
Denn er fdweigend in einen Winfel
fröhe, würde man ihm mitleidig feine
voreilige Sat alg aus der Verwirrung
entiprojfen vergeben. Nun aber die foe
— —— Partei ſich nicht geniert,
ieſes Menſchenkind ans Tageslicht zu
ſtellen, ſogar mit Schimpfen auf ge—
wiſſenhaftere Leute, wollen wir doch
deutlich ſagen, daß dieſer Müller-Fran—
363
fen für weitefte Kreife des deutfden
Volkes moralifd nidt mehr ertraglid ift.
Sie Amerifaner find das Bolf der
felbftbewußten Moral, der Demo—
fratie und des Pagifismus. Ihre Zei—
tungen verurteilten ung Deutſche ohne
Kenntnis der Gejdhidte, Beographie und
Statiftif, aber poll Gntriiftung, weil wir
die Bolen, Dänen, Sranzojen „unter
drückt“ und das noble little Belgium
„tuhlos“ überfallen batten. Sarum ift
e3 für uns intereffant, die Moral der
Moraliften in ihrem eignen Lande zu
ftudieren. Wie fieht amerifanijdhe Oe—
redtigfeit und amerifanifher Pazifismus
zu Haufe aus? Alice Salomon, eine febr
fein empfindende und redlide Grau,
[hreibt aus Amerifa über „Amerikas
Indianer“ (Boff. Ztg. Nr. 328) folgen»
des: „Teils ausgerottet, teil durch die
Not zu freiwilliger Anfruchtbarkeit ver-
urteilt, grenzenlos degimiert, haben die
Ueberlebenden ihre eigene Art dod bee
wabrt, und erft in neuefter Zeit haben
fulturelle Affimilierungsverfuhe einge»
febt. Die geographifhe Abfonderung Bat
fie bor der fozialen Bedrüdung bewabrt.
Sie find nidt wie die Neger, die man
im Often der Staaten an ihre Stelle ge-
febt bat, zu abhängigen, untergeord—
neten, unfreien Qrbeitsfraften gemadt
worden.“ Die berporragend moralifde
Begriindung für die Ausrottung der In-
dianer lautet: „Pie YZurüddrängung
der Indianer ift ftet8S damit begründet
worden, daß ein fid) bevölfernder Erd-
teil eine von Sagd lebende Gruppe nicht
ertragen und ernähren fann; daß die
Beihränfung der Indianer auf die Re-
ferbationsgebiete fie zwingen jollte, zum
Aderbau iibergugeben und auf gerin-
gerer Slade ihre Nahrung zu erzeugen.“
Alfo: Rüde bei Seite, Menfchenbruder,
damit id Platz finde, da die Natur mid
fetter gebildet bat als did. Go prefite
man die Indianer in ,Referdationen“
binein, „die faft alle in dürftiger, un—
frudtbarer Gegend liegen.“ Da mögen
fie Aderbau treiben — „bis fie zum
Schluß in faft unbebaubaren @egenden
Rube fanden“. Aber die Indianer haben
fid nidt unterworfen und aſſimiliert.
(G8 gab feine Partei der „indianischen
Demokratie“ unter ihnen, wie es unter
ung eine Partei der „deutſchen Demo»
fratie* gibt.) „Ihnen fehlt der ‚Infe-
rioritatsfomplez’, der den Neger nad
fultureller Affimilierung ftreben Tief.“
(nd der fo viele Leute in Deutſchland
a Affimilierung treibt.) Der Indianer
lieb feiner Art und feiner Kultur
treu. Nun ſchlägt hinterher dem Ame-
rifaner das Getiffen, er will ,Gered=
364
tigfeit“ üben. Natürlid amerifani-
{he ©eredtigfeit: „Das bedeutet unter
amerifanifdem Gefidtswinkel zunädft
die wirtſchaftliche, geiftige und fittlide
Angleidhung der Indianer an die übrige
Bevölkerung. Eine biologiijhe WAffimilie-
rung ift felbftverftändlih nicht beabfich-
tigt.“ Alfo nimmt man den Indi—
anernibre Kinder und ftedt fie in
Internate, wo fie auf Gtars and
Stripes gedrillt, in Aniformen geftectt
und mit gedanfenlofer Berehrung für
democrach infiziert werden. ,,Giele Ame-
tifaner find auf diefe Maßnahmen fehr
ftolg. Rein Wunder, daß fic) bei den
Indianern religiös = meffianifhe Frei»
beitshoffnungen regen. — Wir haben
bor Dem freiheitsftolgen Indianer
mehr Hodadtung als vor dem Ame-
rifamann, der, mit der Bfeife im
moralinfauren Mundmwinfel, ung feine
morality, humanity und demdcrach preift.
©ott bewahre die Welt in Gnaden vor
der Amerifanijierung.
Bi einem Aufſatz über „Politik und
Konjunftur* im ,@ewiffen* vom
14. Sult heben wir ein paar lebrreiche
Gabe heraus: „Am 17. Sanuar fprad
Dr. Strefemann zum erften Male das
bedeutungspolle Wort: „Der Währungs-
verfall, der bon Often nad Welten vor-
dringt, läßt fid duch währungstechniſche
Mittel und Verordnungen nit aufbal-
ten, wenn die Politif jedes Mittel zer.
Ihlägt.“ Gr ſprach es als ernfte Ware
nung an das unglüdlide Granfreid...
Die Spekulation auf Franken-Baiſſe fei-
erte aud) in Deutihland wahre Orgien!
Bis Morgan mit dem währungstechni—
{hen Mittel eines Kredits pon 200 Mil-
lionen Dollar der Valutapolitik Poin-
cares zu Hilfe fam und Der gejunfene
Grant innerbalb von vierundzwanzig
Stunden um 50 bv. 9. geboben wurde.
In diefem Augenblid hatte die deutide
Wirtſchaft, wie fid erft ſpäter ſchätzungs—
weife berausftellte, nidt weniger als
drei Milliarden Goldmarf verfpefuliert.
Nur diejenigen Häufer, die fid guter
Beziehungen erfreuten, fonnten ihre En-
— vierundzwanzig Stunden vor
em amerikaniſchen Eingriff liquidieren,
wie beiſpielsweiſe das Haus War Ware
burg u. Co. in Hamburg.“
ans Bauer — canis a non canendo
— ſchreibt in einem ſeiner vielen
Feuilletons, die er als Mitarbeiter der
gefamten Reigenpreffe verftrömt (dies-
mal im DVBorwärts): „Der deutſche Adel
ift allenfalls in Einem groß: im
Raufen und SKriegeführen. Das Wort
Deutih bat er zu handhaben gewußt,
das DdDeutide Wort nicht.“ Börries oon
Mündbaufen, Liliencron, Pring Gmil
von Schönaidh-Garolath, Stradhwib, die
Drofte-Hilshoff, Kleift, die Humboldts,
Alrich pon Hutten, Bombaft pon Hoben-
beim, Nagifter, Edebart, Wolfram, Wale
ther uf. — um nur einige befanntefte Nas
men zufammenzuraffen — find große
Raufbolde und -boldinnen. Der verbredee
riſche Kriegeführer Friedrih pon Ho-
Hengollern Hat nidt einmal ordentlich
deutſch fpreden fünnen, Bliider verwech—
felte mir und mid. Der Freiherr pom
Stein, Bismard, Moltfe würden nie ein
Seuilleton guftande gebradt haben, das
Maz Hoddorf im Borwarts angenom-
men hätte. Wohin wäre die Deutide
Gprade geraten, wenn fid nidt endlid
die Heinrich - Heine » Sünger ihrer er
barmt batten?
Der deutſche Michel im Schlafrock iſt
ein ſo altes und verbrauchtes Bild,
daß Leute bon Geſchmack es nicht mehr
verwenden. Gs ift fo abgegriffen und
veridliffen, daß jebt der große Schrift
fteller Georg Bernhard im poffifden
Allerwelts-Srödelladen damit zu han—
deln beginnt. Ginen Aufſatz, in dem er
fih für die liberale Bolitit der Herriot
und Macdonald ereifert und die Riffe
im liberalen Snternationaligmus mit
Schleim. zu verfleben fudt, überfchreibt
er: „Michel im Sdlafrod.“ Galgen-
Bernhards ftarfe Geite war immer der
Salt. Darum würde er fid beftig er-
eifern, wenn ein deutſcher Redakteur
feinen Leiter überfchriebe: ,Sbig im
Raftan.“ Gleichwohl: unter dieſer De-
vife würden fid feine Ausführungen weit
pifanter ausnehmen.
Zwieſprache
RB: zehn Sabren fuhren wir mitten aus
dem fonnenheißen Gerienfrieden durch
die aufgeregten Golfsmaffen heim. Die
Kriegsbereitihaft wurde erflart. Diz
Menichen fammelten fid um die Mauer-
anjdlage. Das Wort Krieg hing wie ein
ungebeures fables Gewitter über dem
Bolfe. Wenige nur hatten einen „Krieg“
gefeben. Der Waffentod aus Gewebren
und Kanonen war etwas Fernes, voll
unbeftimmten ®rauens. Was in China,
Oftfibirien, in Der Siirfei porfommen
fonnte, follte über das fultivierte Guropa
fommen. Glug{diffe und Flugzeuge wae
ten nod) Merkwürdigkeiten. Alles Bolf
rückte eng zufammen, drängte, gum erften
Male ein Shidful fiblend, in bie
Rirdhen. Freundlichkeit und Hilfsbereit-
{aft brad) aus den Wenjfden hervor
wie nie bisher. Gine Weihe lag über
dem ganzen Golf und felbft über der
Landfdhaft. Durd) Gefangniffe fogar und
Zudtbäufer ging das Wehen des Geiftes.
Aus den Straßen tönte Gefang der mare
ſchierenden Sruppen, die gum erften Male
in „Seldgrau“ erjdienen, endlofe “Ro-
Tonnen, ungeber von den ebrfiirdtigen
und liebevollen Blicen einer Wenge, die
gum Bolfe geeint war. Nichts hat je-
mals unfer Bolt fo gut und gütig ge-
madt wie der Ausbrud des furdtbaren
Krieges. In vier Sabren vergehrte fid
diefer Geift, und als die Revolution
fam, war unter dem Worte des Friedens
ringsum Haß, Wut, Anklage, Gelbftzer-
fleijdung, Habgier. nd es ift bis heute
nit beffer geworden.
Geltjame PBaradozie des Lebens: der
Alusbrud des Krieges trieb Die Güte,
der Anbrud des Friedens die Niedrig-
feit aus den Herzen der Menfden Her-
por. An diefer Paradozie wird alle ab-
ftrafte Moralphilofophie gunidte. Gin
Bolf, das den Auguft 1914 in folder
Weiſe erlebte, fann erfhöpft fein, aber
nit erfhöpft werden. Tief im Grunde
der Bolfsfeele fammeln fid leife die
reinen, heiligen Gewaffer. Ginmal wird
ein neuer §riibling im deutihen Bolf
erblühen. Nicht aus der Kraft des Ra-
pital3, mit dem Amerika die Deutide
DWirtfhafı tranft, fondern aus der Kraft
der Geele, mit welder der Schöpfergott
das zerbrodene und gefdlagene Men—
ſchenvolk tranft. Dies ift Die einzige
Hoffnung, die id für unfer Volt nod
babe. Wie ich die Dinge febe, wolle man
born in dem „amerifanifhen“ Auffat
nadlefen. Die Yiterarifche Ginfleidung ift
mit AWbfidt gewählt; man muf die Dinge
aus der geitliden und räumlichen
Gerne zu feben fuden. Ih braude
nicht erft zu jagen, daß der Auffas nit
eine Prophezeiung, fondern eine Ware
nung geben will. Der Lefer wird nidt
fo töricht fein, die Ironie in den Aus-
führungen zu verfennen.
Wir find dankbar, daß wir unferm
Kriegsgedenkheft den Holzihnitt Karl
Thylmanns „Der DVerwundete“ poran-
feben Dürfen. Thylmann felbft ift als
eins der edelften Opfer geblieben: Saat,
bon ©ott gefäet. Wir haben im April»
beft 1919 mebrere Holafchnitte von ihm ge-
bradt, haben ibn im März 1921 als
Dichter gewürdigt. Möge nun Dies Fleine
Dlatt aud unsre neuen Lefer zu ihm lei—
ten! Sd erinnere mid feines Bildes, das
fo tief wie diefes den Geiſt Der erften
Krieg3monate ausdrüdt: die große Gitte,
365
das reine Opfer. Es ift fein beabfid-
tigte8 „Symbol“; ganz realiftifd mit
ſchwerem Schritt — erinnern wir uns der
erften Berwundeten auf den Straßen! —
fommt der Wann daher. Aber was liegt
in der Neigung des Körpers und was
por allem in dem Antlik! Wo find je
Augen wie diefe gezeichnet! Gie haben
etwas Hintergrundiges, ein ſchweres Gre
lebnis, das verfonnen hinter ihnen liegt.
Sugleid fpridt Feſtigkeit, Zuverſichtlich—
feit, Würde und eine große, - willige
Sreundlidfeit aus ihnen. Mir ift diefes
Bild feit Sabren ein Sroft. Wenn man
mid fragte, wie id) mir den Deutiden
der Zukunft wiinfde, fo wüßte ich feine
beffere Antwort als: fo wie Karl Thyl—
mann ibn bier gezeichnet bat. Das fei
aud meine Antwort an alle die, welde uns
als ,SHafprediger“, als „Wodansanbe-
ter“, alg „&haupiniften“ ufw. verleum-
den, nur weil wir die Ehre unfres Bol-
fes nicht für ein gutes FSriedensgefhäft
verfauft wijfen wollen. — Wenn jemand
einen Originalabzug von dem Holzſchnitt
wünſcht, leiten wir die Beftellung gern
an Stau Joanna Thylmann weiter. —
Mit den Blattern nad) den großen
®emälden von Haß zeigen wir zum erften
Male Bilder, die der thenfophifden
(oder anthropoſophiſchen — ich fenne mich
da nidt aus) Gmpfindungs- und Ge—
Danfenwelt entftammen. Ih bin im all-
gemeinen ffeptifd gegen ſymboliſtiſche
Bilder, fie finfen leiht ins Kitichige.
Aber die von Michael Georg Gonrad
bevorwortete farbige Friß-Haß-Mappe,
die bei Otto Wilhelm Barth in Mün-
den, Schellingftr. 61, erfdienen ift, fef-
felte mid. Man findet darin aud unfre
beiden Bilder in größerer, farbiger Wie-
Dergabe. Und im Atelier des Künftlers
überzeugte id) mich, daß bier das Können
eines tüchtigen Malers im Dienft der
Gade ftebt. Hab bat aud) vortrefflide
Bildniffe gemalt. Die Anſchrift des
Künftlers ift: Minden, Zieblandftr. 9. —
Su der Befpredhung von Moeller van
den Bruds „Drittem Reich“ Hatten wir
gern Proben gebradt, aber es fehlte an
Raum. Die meiften deutſchen Schrift—
fteller brauden viel Raum und geben
nidt darauf ein, daß bei uns ein „klei—
ner Beitrag’ höchſtens zwei Seiten, ein
großer höchſtens fünf Geiten lang fein
fol. Wenn wir bei einem alten Mite
Stimmen
arbeiter wie Dr. Mannbardt einmal eine
Ausnahme maden, fo bitten wir, aus
Diefer perfönlih begründeten Ausnahme
feine Regel berleiten zu wollen. Für
Das nädite Heft, das, aus Anlaß der
Haupttagung der Raabe-Gefellfdhaft, die
diesmal in Hamburg ftattfindet, wieder
ein Raabe-Heft wird, find die Mitarbei«-
ter mit unferm bißchen Raum nidt fpar-
fam umgegangen. Ih werde in Zufunft
alle längeren Auffäte hartberzig abwei-
fen. Man fann auf furgem Raum alles
fagen, was zu fagen ift. G3 liegt am
Können, nidt an der Gade, e8 liegt am
Auswählen, Aufbauen, Befdneiden, Zur
fammengieben. — Aud daß Ritters An«
dachten⸗Reihe unterbroden wurde, liegt
nur an unjeren Raumfdwierigfeiten. Se
weniger Raum wir DeutfHen in der
irdifhen Welt Haben, um fo mebr,
ſcheint's, fuden wir das Bebagen der
Ausdehnung in der geiftigen Welt. Aber
ne da ift die Quantität bedeutungs-
D8. Ich werde auf diefe Gabe bei der
Suriidjendung oon Manuffripten vere
weiſen. —
Diefes Heft glauben wir am beften
abzufäließen mit den naddenfliden
Worten eines großen Kriegsführers, der
zugleih ein großer Men} war. Der
erite Seil ftammt aus Woltkes Brief an
einen Herrn Goubareff, der zweite aus
dem befannten Brief vom 11. Dezember
1880 an Qebeimrat PBrofeffor Br.
Blunt{dli. Darin fommen jene vielzitier-
ten Worte por, die fid die Pazififten
ausfuden, um ©ehäffigfeit, Hohn, Gnt-
rüftung und dbnlide friedfertige Gmp-
findungen, mit Denen fie fo reid) gefeg-
net find, daran aufgubangen. Wan [efe
aber das ®anze, um den Sufame
menbang gu haben, und urteiledann.
Das Dritte Stüd ftammt aus der Gin-
leitung der ,@efhidte des deutſch-fran—
gdfifhen Krieges pon 1870/71“. Wir be»
nuben die Gelegenheit zu einem Hine
weis auf das fhöne Werk „Helmuth von
Moltfe. Gin Lebensbild nad feinen Brie-
fen und Sagebiidhern. Herausgegeben bon
Hanns Martin Glfter. Mit 16 Abb.
375 Geiten. Strecker und Schröder, Stutt-
gart.“ Eine gute Auswahl aus Woltfes
Selbftzeugnijjen, mit verbindendem Sezt.
Gin Hausbud von hohem ergieherifden
Wert. St.
der Meifter.
6 erfldren den Krieg bedingungslos für ein Berbreden, wenn aud ein in
Berjen bejungenes; id) halte ihn für ein letztes, aber vollfommen gereätfer-
tigtes Mittel, das Beftehen, die Unabhängigkeit und die Ehre eines Staates zu bee
baupten.
Hoffentlid wird dies lebte Mittel bei fortidreitender Rultur immer feltener in
Anwendung fommen, aber ganz darauf verzichten fann fein Staat.
366
Sft dod das
Leben des Wienfden, ja der ganzen Natur ein Kampf des Werdenden gegen das Bee
ftebende, und nidt anders geftaltet fid das Leben der Bölfereinheiten. Wer möchte
in Abrede ftellen, daß jeder Krieg, aud der fiegreide, ein Unglück für das eigene
Bolt ift, denn fein Landerwerb, feine Milliarden können Menfdenleben erjegen und
die Trauer der Familien aufwiegen.
Aber wer vermag in diefer Welt fih dem Unglüd, wer der Notwendigkeit gu
entziehen? Gind nicht beide nah ©ottes Fügung Bedingung unferes irdifhen Da-
feins? Nidt den Wallenftein, fondern Maz läßt unfer großer Dichter fpreden:
Der Krieg ift fhredlih, wie des Himmels Plagen,
Dod ift er gut, ift ein Geſchick wie fie. :
And daß der Krieg aud eine fine Seite hat, daß er Tugenden zur Ausführu
isi de die fonft fhlummern oder erldfden würden, fann wohl faum in Abrede geftellt
werden. ,
Gewiß ift es viel leichter, das Glid des Friedens zu preifen, als anzugeben,
wie er gewahrt werden foll. Um die vielleicht fid) freugenden Intereffen der Na-
tionen ausgugleiden, ihre Streitigkeiten zu {dlidten, fomit die Kriege zu verhindern,
wollen fie an Stelle der Diplomatie eine dauernde Berfammlung von Auserwählten
der Völker. Mehr Bertrauen als zu diefem Areopag babe ih zu der Ginfidt und
der Madt der Regierungen felbft. Die Beit der Kabinettsfriege gebört der Bere
gangenbeit an, und es gibt heute ſchwerlich einen Staatslenfer, welder die Ihwer-
twiegende Berantwortung auf fid nimmt, ohne Not das Schwert zu ziehen. Möchten
nur überall die Regierungen ftarf genug fein, um zum Kriege drängende Leiden-
(haft der Völker zu beherrſchen.
Shr Memorandum betont die befonders friegerifhe Neigung der germanijden
Raffe; id bitte Sie, die Gefdhidte unferes Jahrhunderts durdgumuftern und zu ur—
teilen, ob bon Deutfchland die Kriege ausgegangen find.
Der ewige Friede ift ein Traum, und nicht einmal ein finer, und der Krieg
ein Glied in Gottes Weltordnung! In ibm entfalten fid die edelften Tugenden des
Menfden, Mut und Entjagung, Pflichttreue und Opferwilligfeit mit Ginjebung des
Nebens. Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus verfumpfen. Durdaus
einverftanden bin ih ferner mit dem in der Gorrede ausgefprodhenen Sab, daß die
allmablid fortidreitende Gefittung fih aud in der Kriegführung abfpiegeln muß;
ader id gehe weiter und glaube, daß fie allein, nicht ein fodifizierted Rriegs-
recht, dies Biel zu erreihen vermag.
Sedes Geſetz bedingt eine Autorität, weldhe deffen Ausführung überwadt und
bandhabt, und diefe Gewalt eben fehlt für die Einhaltung internationaler Berab-
tedungen. Welche Dritten Staaten werden, um deshalb zu den Waffen greifen,
weil von zwei friegfiibrenden Mädten durd eine — oder beide — Die [vis de la
guerre verlegt find? Der irdifhe Ridter fehlt. Hier ift nur Erfolg zu ere
warten von der religiöfen und fittlihen Grgiehung der einzelnen, von dem Ghrgefühl
und Redtsfinn der Führer, welde ſich felbft das Gefe geben und danach handeln,
foweit die abnormen Suftande des Krieges e8 überhaupt miglid) maden.
Solange die Nationen ein gefondertes Dafein führen, wird e8 Streitigkeiten
geben, welde nur mit den Waffen gefdlidtet werden können, aber im Sntereffe der
Menidhbeit ift zu hoffen, daß die Kriege feltener werden, wie fie furdtbarer ge-
worden find.
Ueberbaupt ift e8 nicht mehr der Ehrgeiz der Fürften, es find die Stimmungen
der Bilfer, das Unbehagen über innere Zujtände, das Treiben der Parteien, be-
fonders ihrer Wortführer, weldhe den Frieden gefährden. Leichter wird der folgen-
{Hwere Entihluß zum Krieg von einer Gerfammlung gefaßt, in welder niemand
die volle Verantwortung trägt, als von einem einzelnen, wie hoch er aud geftellt
fein möge, und öfter wird man ein friedliebendes Staatsoberhaupt finden, als eine
BolfSvertretung von Weifen! Die großen Kämpfe der neueren Zeit find gegen
den Wunfh und Willen der Regierenden entbrannt. Die Börfe bat in unjeren
Zagen einen Einfluß gewonnen, welder die bewaffnete Wacht für ihre Sntereffen ins
Seld zu rufen — Wexiko und Aegypten find von europäiſchen Heeren heim—
eſucht worden, um Die Forderungen der hoben Finanz zu liquidieren. Weniger
ommt es heutzutage darauf an, ob ein Staat die Mittel befist, Krieg zu führen,
alg darauf, ob feine Leitung ftarf genug ift, ihn zu verhindern. Go bat das ge-
einigte Deutihland feine Macht bisher nur dazu gebraudt, den Frieden in Europa zu
wahren, eine ſchwache Regierung beim Nadbar aber ift Die größte Rriegsgefabr.
Helmuth von Moltte.
367
Neue Bücher
Otto Heinele, Jrminheid. Ein Kampf
um das niederfähfifhe Bauerntum. Roman.
92 ©. Wolf Wlbredt Adam ag Hannover.
Irminheid ift ein ftolger alter Bauernhof, der
feine Geſchichte . Rist nur Familiendronif
und Balleninfhriften fondern auch ein alter
Steinaltar und Runengeiden auf alten Stein»
fegungen berbinden die lebenden Bewohner mit
den uralten Gefdledtern, die bor ibnen da
waren. Und nun pflegen die augenblidliden In—
baber des Hofes in unfern Tagen einen neuen
Germanentult, find nicht das, wads Wir unter
„Bauer“ verftehen, fondern Gelehrte, die den
legten Fragen und Ratfeln der Welt nachgehen.
Romantifh. unbäuerlib ift ibr Tun; die Men-
{en und ihre Art fommen uns wie lauter Fidus—
Geftalten dor. Als „Noman“ muß man das Werk
nehmen, dann bat man feine Freude dran; denn
eine Reinheit geht durch das Ganze, die wobltut,
und die felbft der Geſchwiſterehe alles Abſtoßende
benimmt. G. K.
Karl Immermann, Der Oberhof. 384
Seiten. Geb. Grdpr. 2 MI. Verlag Joſef Köſel
und Sriedrich Puftet, Regensburg.
Um eine billige Boll3ausgabe in bdiefer Zeit
Bringen au fönnen, mußten natiirlid größere Ans»
fprüde an Papier und Drud guritdgeftellt werden,
Zrogden ein anfehnlides Bud. Der Berfud,
duch ſchreiende äußere Aufmadung des Schuß.
umfdlags die wirlfamen Mittel, denen fonft die
Schundliteratur ihre Erfolge gum guten Teil ber»
danlt, aud der guten Boll3literatur nutzbar zu
madden, ift anerfennenStwert; obwohl diefer „meit-
fäliſche Hofſchulze“ einem Struwwelpeter ber-
zweifelt ähnlich ſieht. Als Ausſchnitt aus Immer—
manns „Münchhauſen“ muß ia die Handlung der
Erzählung etwas zufammengeftrihen werden. Das
ift in gelungener form gefchehen. G. K.
Gottfried Keller, Der grüne Heinrich
2 Bde.), üriher Novellen, Das Ginngedidt,
ieben Legenden (je 1 Band). Mit Einleitungen.
Verlag Gebrüder Stiebel, Gej. m. b. H., Reidenberg
in Bohmen. 1922.
Der deutihböhmiihe Berlag Stiebel in Retdhen-
berg gibt unter dem Titel „Bücher der Deutſchen“
eine Sammlung heraus, welche das Befte unferes
ergablenden tifttums bringen will und in ber
Tat aud bringt. Wir finden bisher Morife, Storm,
Eichendorff, Reuter, Stifter, Angengruber, Gotthelf
und von Steller die vier oben genannten Werte.
Diefe Bande find auf gutem Papier Peis gedrudt
und gut, wenn aud nidt fjonderlid gefdmadvoll
ausgeltattet; das fieht man beſonders an dem Buch—
hmud, der genie belanglo8 und zu den Sieben
egenden jogar höchſt abfitopend ijt. Dagegen find
die Einleitungen, mit Ausnahme derer zu den Zü—
riger Novellen durdgebend auf einen ruhigen,
Haren Ton geftimmt, laffen alles unmejentlihe Ge-
rede beifeite und weiſen auf den wahren menfdliden
Grundgehalt der Werte hin. D.
Ludwig Herpel, „Weltgefühl“ und Politil.
Ein Entwurf, zugleih eine Antwort auf Julius
@oldftein: Rafe und Politif. 16 ©. Zwei Welten-
Verlag W. Heimberg, Stade.
Sehr gedrangt, flar die leitenden Gedanfen her—
ausgeboben, wird dem Weltgefiihl der Guden das
deutfde, abendlandifdhe Weltgefühl petaegengetelty
und aus diejem legteren wird deutſches Recht (Be—
figreht, Bodenredht, Arbeitsrecht) und deutfcher Staat
(auf Stämmen und Standen gegründet) und jchließ-
lid eine die Grenzen überwindende abendlandifde
Werfgemeinjhaft gefordert. Ein far erdadtes Pro-
gramm, das leider wieder nur die geſchichtlich ge-
re (gewadjenen!) Berhaltniffe eS
aft. K.
Jogeph Silbermann, Sulturfragen.
Drei Borträge. ——— vom Verbande der
weiblihen Handels- und Büro-Angeftellten E. 8.
Sm. 0.75. BerlineWilmersdorf, Kaifer-Allee 25.
nhalt: Kultur und Staat. Kultur und Wirt»
haft. Kultur, Kunft und BWifjenfdaft. Eine freund-
id-verftandige Einführung ohne neue Gefihtspuntte,
aber aud ohne Sdhwulft und Phrajen. Eignet fid
vorirefflid) als Grundlage für Diskujfionsabende,
an denen man nicht frei über Seele pbantafieren,
fondern der inneren Armut und Sehnſucht unjerer
Beit ins Auge feben will. A. E. ©.
Friedrich Wilhelm Bopyen, Die
Wangen. Taten und Meinungen des Marquis de la
Vidange. Mit 8 Beihnungen von O. v. Kurfell.
166 ©eiten. —
Zwei Bücher, die wieder einmal zeigen, daß wir
verſtehen. 1 f b
——— Beſtreben, mit den Mitteln der Satire
ie —— au bekämpfen; beide aber fonnten
nidt, was fie wollten. Der Gung-Fauft ift ein jehr
matter Berjud einer ,Parodie” des Fault: ein deut»
fer Jüngling wird durch Nadtlofale, Spießerlaffee-
ärten, Vereinäverfammlungen ufw. bindurdgeführt,
leibt unbefriedigt, bis ibn der Rubreinfall der
Frangofen zu vaterlandifder Tat aufruft. Go wenig
der Giingling etwas Fauftiihes an fi hat, fo wenig
ift das Parodiftijdhe in der Zeihnung fait aller
genen gelungen.
Wenn man Flöhe oder Wanzen ihre Abenteuer
erzählen läßt, fo jegt man fic) der Gefahr aus, daß
man dabei in dem zweifelhaften Milieu verjaden
tonnte. Boyen bat fic in feinem Werl „Die
Wangen” diefer Gefahr ausgejegt und ift aud wirl-
lid darin umgefommen. ® K.
Yours aron bon Galtenftetn,
Bliidher und York 1818—1815. — eed von
Artur Mahraun. 192 Seiten. ungdeutſcher Ber-
lag, Eafjel 1923.
Stanz Johannes Beinrid, Das
Telljpiel der Schweiger Bauern. 60 ©. 1,50 Mt.
Verlag des Bühnenvolfsbundes, Frankfurt a. Main.
Weinrihs Kolumbus“ hat burd die Aufführung
im GtaatStheater Berlin viel Staub aufgemwirbelt.
Die Ableynung des Stüdes hat fics fait zu einer
Propaganda für den Kolumbus ausgewadjen.
finde die Bedeutung, die man durdh Fir und Gegen
diefem Stüd beigemeffen hat, übertrieben. Es wirkt
unteif und ungefonnt, ein paar jpradlihde Schön-
beiten bleiben Dafen. Die Erneuerung bes alten
Tellfpiels duch Weinrich bingegen ift jehr glüdlic.
Das alte Spiel febjt wirkt ſchon durd die Gerad-
Tell wird durch feine Tat
Stüdes, das nur eine auf verjhiedene Perjonen
verteilte Erzahlung ift, gum Gpiel geftaltet. Da-
bei bat er — ein fait einzig baftehender Gall, die
Gefahr des üblihen Dramas glüdlid vermieden
und ftatt deffen durch die ganze Anlage eine Unter-
lage für die Bühne gefdaffen, die dieſer Aufgaben
fteut, die mwefentli find. Sein Einzug der Lands-
{necte, feine Reigenbewegung um den Mittelpunkt
des Hutes find wirflige Aufgaben der Biihnenfunft.
Der Schluß mit dem fresloartigen BZujammenraffen
gum Schwur und der aktive Borjtok aus diefer
Glade nah vorne unter den Klängen bed Bater-
lands» und Greibeitsliedes ijt prachtvoll. Ich finde,
daß in diefen Unteriagen für ein neues Bühnenjpiel
mehr aufünftige Werte für das deutſche Bühnenjpiel
fteden, alg in der Wichtigkeit, mit der die neue
literarifhe Dramenproduftion auftritt. 2. B.
Gebrudt in ber Hanfeatifhen Verlagsanftalt Altiengefelliyait, Hamburg 36, Holitenwall 2.
368
Aus dem Deutfhen Volfstum Fritz Haß, Golgatha
Aus dem Deutfhen Volkstum Fritz Haß, Untergang der Finfternis
Aus dem Deutihen Volfstum Brautbild
Deut] ches Bolfstum
9. Heft Cine Monatsichrift 1924
Der Gegenjak der Welt bei Raabe.
si" an dem Wert und der Beredtigung der Literaturgefchichte irre gu wer-
den, braudt man nur nadgulefen, was in deutſchen Literaturgefchichten
über Wilhelm Raabe gefdrieben ſteht. Gr felbft hat darüber einmal ironiſch—
gelajfen feine Meinung gefagt; es fonnte ihn nach den Grfabrungen, die er
mit dem Verftändnis feiner Yeitgenoffen fozufagen am eigenen Leibe gemadt
batte, nicht mehr berühren. Seinen Freunden mag eine literarhiftorijche Blüten-
lefe eine Stunde der frdblidjten Heiterkeit bereiten. Grnft aber wird die Sache,
wenn man daran denkt, daß auch redlid Juchende Geelen und befonders junge
fih fo gern der Führung der „berufenen“ Kenner der Literaturgefchichte an—
vertrauen, um fic auf ihrem für alle heute unüberjehbar gewordenen Gelde
guredtgufinden. Ich rede garnicht bon den Schreibern, denen (wie Richard
Mofes Meher) die Berftändnisiofigfeit für Raabe fogufagen in die Wiege gee
legt war; fie fchrieben fic felber gum Geridt. Was aber wiffen denn die
andern, und felbft die beften unter ihnen, dem beutfchen Bolf über ibn zu
fagen? Daß er zu den großen Realiften des neungehnten Jahrhunderts ge-
hört, daß er groß war in liebepoller Kleinmalerei, daß er eine Borliebe für
fnurrige Käuze und Sonderlinge hatte, daß er oft dunfel und verworren
und daß er im übrigen ein Humorift war, der als folder gleidwertig neben
Reuter fteht. Ob das nun im einzelnen richtig oder falfch ift — wie wenig
trifft das alles den Kern der Sache, das heißt der Raabeſchen Perfönlichkeit
und feiner Stellung im deutſchen Geiftesleben! Gs wird an dem DBeifpiel
Raabes befonders deutlid, wie verfehlt die ganze literariſche Geſchichts—
ſchreibung bisher gewefen ift.
Die Stellung des Dichters in der ihm durch feine Lebensfdidjale gege-
benen Umwelt, feine literariſchen VBerwandtfchaften und Beziehungen,
die Wahl feiner Stoffe und Gormen, die Ginflüffe pon Menjchen und Be—
gebenheiten, feine eigenen menfdliden Gigenfdaften und Gigenbeiten: alles
das ift ja nidt das Wefentlide an ihm, wenigftens nidt an dem großen
Dichter, über den ſich Literaturgefhichte überhaupt zu fdreiben lohnt. Gs ift
die irdifhe Hülle feines ewigen Wefens, in die er wie alle göttliche Erſchei—
nung auf Erden gebannt war, ift die ibm in das Grab feines Grdendajeins
mitgegebene Speife, an der fich feine Seele genährt hat, die aber das ihr
wefentlide Dafein in einem Reich gelebt hat, das nicht von diefer Welt und
nicht an geitlide und räumliche „Umftände* gebunden war. Wer durd alle
menfdliden, gefdidtliden und literarifhen Hüllen und Haute nicht bis zu
dem ewigen Kern der dichterifchen Perfdnlidfeit hindurdhgudringen vermag,
tötet Leben, wenn er über fie fpricht, ftatt es gu weden, und verfündigt fid
wenn nicht an dem Dichter, fo an dem Bolfe, dem er gejchentt war. —
Wir haben von Wilhelm Raabe felbjt ein Wort, das wie mit Adlers-
fittid über die Niederung der ganzen literarifch-gefchichtlich-äfthetifhen Be—
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trachtungsweiſe emporhebt: „Es fommt für den wirklichen Menfchen die Zeit, wo
er in den Werfen der Autoren nicht mehr die Kunft, das Aeſthetiſche fucht,
um fid felber Rube zu fchaffen im Sturm des Lebens, fondern die Gingergeige,
wie jene fid in dem großen Kampf guredtgefunden haben. Da werden in
alle Zukunft Dinein alle 40 Bände Goethe die große Panacee bilden, und
die armen Schluder laßt die Nafe rümpfen über den Gebeimratsftil uf. darin.“
Das Wort hat um fo tiefere Bedeutung, als es ung gleichzeitig einen Finger
geig gibt, um zum Verftändnis bon Raabes eigener Dichtung zu gelangen.
Sedenfalls wiffen mir ihn felbft auf unferer Seite, wenn wir in ihm bor allem den
Sechtmeifter im Lebensfampfe feben und in feinen Werfen die Waffen, die er
an alle diejenigen meitergibt, die im Sturm des Lebens nicht die Ruhe fuden,
fondern den Gieg.
In den Werfen feiner großen Dichter und Denker entfaltet fic die einem
jeden Volke eigentümliche fittlide Idee; fie ift der Urquell, aus dem fie alle
fhöpfen, und nur diejenigen, die bis zu feiner Siefe Hinunterreiden, haben
ihrem Volke wirkliches Lebenswaffer zu geben. Dagegen ift es gleichgültig,
ob ein philofophifches Syſtem por der Logi oder eine Dichtung por der
Aeſthetik beftehen kann. Höchftes Denker- und Didtertum wird immer dort er-
blühen, wo in einem begnadeten ®efäß bie geiftig-fittlide Kraft eines Volks—
tums fic frei und bon fremden Ginfliffen unbehindert auswadfen Tann.
Gs ift das Schidfal gerade des deutſchen Geiftes gewesen, daß ibm diefe Frei—
beit bisher nur felten gewährt worden ift. Um fo tiefer bat der Deutfde
immer diejenigen geliebt, die im Kampf gegen eindringende fremde Gee
walten Sieger blieben und in echten Schöpfungen ihm ein reines Spiegelbild
feines eigenen Weſens fchenkten: Walther von der Bogelweide, Luther, Sdil«
ler, den Dichter Faufts und Götzens, Fichte, Niebide und Wilhelm Raabe.
In ihnen brad jedesmal wie in einem Geuerftrom die Glut des dem deutfchen
Volke eingeborenen fittliden Weltgefühls Hurd die Dede der fremden Kulture
einfliffe Dindurd, um ©ebilde der eigenen Art zu geftalten; die Werke feiner
großen Geifter find im deutfchen mehr als in einem andern der großen euro—
päifhen Bölfer — es fei denn dem ruffifhen — nationale Befreiungstaten,
und es ift fein Zufall, fondern liegt in feinen geiftigen Schidfalen begrün«
det, wenn feine politifhen Groftaten immer erft im Gefolge großer philoſo—
phiſcher und Literarifher Leiftungen auftreten.
Sp viele Raffen- und Kultureinflüffe im Laufe der Iahrhunderte an der
Bildung der deutfchen Seele geformt haben mögen, fo ift Dod das Grund-
gefühl, aus dem heraus fie fi) zur Welt und zum Leben einftellt, unver-
ändert geblieben. Gs ift die Sittlichfeit des germanifhen Menſchen, wie fie
am reinften aus der älteften Dichtung zu uns fpridt, den Heldenliedern und
den Sagas. Diefe Weltanfhauung ift heldifcher Art; fie fieht bas Leben unter
dem Bilde des Kampfes und mift den Wert des Menſchen danad, wie er fid
in diefem Rampfe behauptet. Wir finden in der Edda und im Nibelungen-
lied, wenn mir tief genug graben, das gleiche Doppelfundament der deutfden
Weltanfchauung, das Kant in den beiden Begriffen Notwendigkeit und Sreibeit
ins philofophifhe Bewußtſein erhoben hat. Gs gibt ein Schidfal, das unent=
tinnbar, mit eherner Notwendigkeit daherſchreitet, „welches den Menſchen zer-
malmt,“ aber es gibt eine Greiheit, die ihn inftandfett, es unerfchüttert zu
tragen und ihn über es Dinausbebt in ein intelligibles Reid, wo es feine Ge—
walt befist.
Wenn Raabe in den Werken der großen Autoren por allem den Sdladt-
bericht über ihren Lebensfampf fucht, fo fpridt er damit feine germanifde
370
Weltanfhauung und das Thema feiner eigenen Dichtung aus. In der Tat
bat feiner der neueren Dichter die uralte Frage: wie befteht der einzelne
Menſch im Lebensfampfe im Sturm des Schidjals? fo in ihrer Tiefe gepadt
wie Raabe. Das madt, er hat diefen Kampf felbft gefampft, und feine Dich»
tung ift nicht nur wie bei andern der Niederfchlag davon, fondern fie ift der
Giegespreis, den er fid) in diefem Kampf gewonnen Hat: „meine Bücher ge-
monnen, mein Leben verloren,“ mit diefen Worten Hat er felbft einmal bas
bitter-ftolge Sazit gezogen. Sünfzig Sabre lang hat er fogufagen unter Tage
gearbeitet, um den Nibelungenfchat feines Dichtertums zu gewinnen, im Dune
fein, unbefannt oder bergeffen, während draußen die Sonne des Tages die
„andern“ mit ihren Rubmesftrablen vergoldete. Wer will ermeffen, was das
bei einem jchöpferifchen Geifte erften Ranges, der wie fein zweiter mit ſei—
nem Werfe eins und der fid über den Wert feines Werkes fo vollfommen
far war, zu bedeuten hatte. Man fann es nur ahnen, wenn man etwa das
DBorwort zur zweiten Auflage des „Horns bon Wanza“ lieft, das er mit
fiebgig Sabren gefdrieben hat: „Hoffentlich ift die Gefdidte in den zwanzig
Sabren feit ihrem erften Erſcheinen nicht fo febr veraltet, daß das heutige
Publifum eine nodmalige Ausgabe als eine Unhöflichkeit auffajfen finnte!“
And dazu nehme man das andre Befenntnis: „Wenn ein Frangofe fo das in—
nerfte franzöfifche, ein Engländer das innerfte englifhe Wefen gefannt und
bejchrieben hätte, wie id) das deutjche, wie würden denen ihre Golfer mit
Sauchzen zugefallen fein! Die Deutſchen wollen bon dem, was fie felbjt ha—
ben, nichts wiffen.* Indem das deutfhe Bolf ihm feine Werfe mit Bers
adtung Iohnte und ihm fagen ließ, es habe genug bon ihm, zwang es ihn,
fih mit der Stage: wie fteht es um die wahren Werte in der Welt? für ſich
allein auseinanderzufegen. Dies und dies allein bildet den Inhalt feines
Lebens und Schaffens. Die ſchwerſten und die entjcheidenden Schlachten auf
diefer Erde find immer in den Tiefen der menfchlichen Bruft gefchlagen wore
den, ob ihre Helden nun Sefus, Luther oder Bismard hießen. Ss ift Raabes
©röße, daß er den ihm bon der Welt aufgegwungenen Kampf in feiner
Weife aufgenommen und fein Erlebnis in „wunderpoll erleudteter, in lichter
Seele zum Austrag gebracht“ hat. Gr war fich felbft bewußt, dadurch, daß er
in balbhundertjähriger Probe den Sieg über den Widerftand der ftumpfen
Welt errungen, eine Sat pollbradt zu haben, die ihn unter die Heroen der
Menfchheit reihte: „Im 34. Sabre ift der Opfertod nod Linder und faum
der Rede wert. Aber alt geworden zu fein und feine Ideale Hodgubalten und
feinen Opfermut dafür zu erweifen: das madt den Heros, den Menfchheits-
erlöfer.“ }
Weldhes war nun diefes eigentlide und einzige Raabeerlebnis? Gr ift
nidt nur „die heiße Hand an der Gurgel mit der Frage: was wird mit Dir
und den Deinen morgen?“ fein Lebenlang nicht [os geworden; er Hat aud
bor der furdtbaren Hamletfrage geftanden: Sein oder Nidtfein —.
Denn wer ertrüg der Zeiten Spott und ©eißel,
Des Madt’gen Drud, des Stolgen Mißhandlungen,
Verſchmähter Liebe Pein, des Rechtes Auffchub,
Den YUebermut der Wemter und die Shmad,
Die Unwert ſchweigendem Berdienft erweift?
Gr hat den bittern Kelch, den Niedertracht, Wnmafung, Underftand, Ge—
meinbeit und Gelbftjudt ung zu trinfen geben, bis zur Neige geleert und das
troftiofe Wort gefprochen, daß zulegt doch immer die Kanaille Herr Bleibt.
Man glaube aud nicht, daß die Bitterfeit, ja die Menfchenveradhtung, die
371
aus Werfen wie dem Schüdderump, den drei Federn, dem wilden Mann
oder den Alten des BVogelfangs zu uns fpridt, Ausfluß einer porübergehen-
den düſteren Stimmung fei, die er jpäter „überwunden“ Habe. Wer Raabes
Humor fo verfteht, daß er fchließlich Die nicht megguleugnenden Schwächen der
menjdliden Natur mit dem Mantel der Liebe gugededt und feinen Frieden
mit der Welt gemadt habe, um fich in einer behagliden Heiterkeit zu fonnen,
der — verfteht ibn eben nicht. Raabe ift bis zu feinem Ende bimmelweit ent-
fernt gewefen bon jenem rofenroten Optimismus, der da glaubt, dah wir
{[HlieBlidh doch in der beften aller Welten leben, und einem allgemeinen
Menfdhenfreunde wird es niemals wohl werden beim Lefen feiner Bücher, aud
der ,bumoriftijdften* nicht. (Mebrigens einer der Gründe, warum fopiele
Leute nit an ibn ,,beranfommen“.) Nein, in diefer Beziehung ift Raabe
reiner, rüdjichtslofer Realift geblieben und Hat weder fich nod andern etwas
borgumaden verſucht. Ich weiß nicht, ob es unter den mancherlei Definitionen
des „Humors“ eine gibt, die ihn aus einem Kompromiß zwijchen der guten
und der fdledten Anfidt von der Welt erwachfen läßt; wenn aber, dann war
Wilhelm Raabes Humor jedenfalls nicht von diefer Sorte. Gr hat fid nicht
abgefunden, er hat aud) nicht, wie felbjt ein Hans Hoffmann meinte, „Das Bers
fühnende und Tröſtende im einzelnen, im Heinen gefunden und fich mit
den Eleinlichen, ſonſt verädhtlihen Philiſtern als mit pojfierliden Käuzen aus-
gejöhnt!“ Wenn das wahr wäre, wäre fein Humor nidt weltüberwindende
Sat, nidt Srlöfung für alle, die mühfelig und beladen und mit leider-
fülltem Herzen gu ihm fommen. Gs wäre feine Antwort, fondern ein Hohn
auf die Hamletfrage, und Raabe wäre fein Großer im Reiche des germa-
niſchen Geiftes, als deffen Grundſatz man geradezu bezeichnen fann, daß er
feine Rompromiffe, fondern nur reine Löfungen fennt. Nein, Raabe Hat die
®emeinheit, die furdtbare Gemeinheit der Welt und die menfdlide Gre
barmlidfeit alg Tatſache unter feine Füße genommen und auf ihr fußend
feinen Standpunkt zu den Dingen gewonnen. Gs war fein Urerlebnis, dah
die wahren Werte an der Börfe diefer Welt nicht notiert werden; nur Die
leidige Griedensfeligteit des Philifters, der fi) die großen Ueberwinder (bor-
an Sefus) lieber mit der Palme als mit dem Schwert malt, das fie gebracht
haben, fann den trogigen Grimm verfennen, mit Dem Raabe der nüchternen,
brutalen Wirklidfeit ins Auge gefehen hat. Man braudt ja nur den Ane
fang — und den Schluß des „Wilden Mannes“ zu lefen, um zu erfahren, bon
welchem Eiſeshauch, aus Urgründen auffteigend, feine vielgerühmte „Semüt-
lichkeit“ ummittert ift.
Die Raabefdhe Sat, durd die er die Löfung feines Welträtfels, [eine
Antwort auf die Hamletfrage gefunden Hat, war nicht Refignation, nicht ein
feiger Sriedensfhlug mit der Welt auf der mittleren Linie — es war Die
entjdloffene Sat des Glaubens, der die Welt überwindet. Das
Reid, in dem fid ihm die Diffonangen des Lebens, die er fchneidender ge-
‚fühlt und dargeftellt Hat als irgendein andrer deutſcher Dichter, auflöften,
war nicht bon diefer Welt. Gr hat die unerbittlide Kritik, mit der er Diefer
in feinen „tragifchen“ oder „peffimiftifchen* Büchern das Urteil gefproden
bat, in feinen Alterswerfen weder zurüdgenommen nod gemildert (es ift
das, was bon ahnungspollen Gemiitern oft als „Hohn“ in feinen Büchern
empfunden wird), aber er hat, den Fuß auf fie fegend (wie Kant auf jeine
Kritil der reinen Vernunft) fich über fie hinausgeſchwungen in eine Welt, in
der andre Geſetze und andre Werte gelten und in welder dem, der das Bür-
gerredt in ihr befigt, die Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geſchicks nichts
372
anhaben finnen. Im Gegenteil, in diefem Reich der Freiheit, Rube und
©elaffenheit „hält man den Sieg gerade dann am fefteften, wenn die Wider-
fader am lauteften Sieg über uns kreiſchen“. In ihm find all diejenigen zu
Haufe, die wie Hagebuder, Belten Andres, Peter Uhujen, Philipp Krifteller,
Phoebe und Stopfluhen in Diefem Leben Sdiffbrud und Anfechtungen ere
leiden, aber einen Adelsbrief in der Bruft tragen, der ihre Niederlagen in
Siege wandelt und fie frei durchgehen läßt durd alle Widerwartigfeit des
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Dajeins, durd Not und Tod, wie der Sonnenftrahl den Sturm burd{dneidet,
der Giden bridt. .
Durd alle Werte Wilhelm Raabes zieht fid) wie ein roter Faden ‚der
Gegenſatz zwifchen den zwei Welten und den Menfchen, die hüben oder drüben
ihr Heimatredt haben. „Es ift was Gewaltiges um den Gegenſatz der Welt“ —
dies Wort Leonhard Hagebuders fünnte man als das Grundmotid der gan«
gen Raabefchen Dichtung bezeichnen. Gs handelt fid in feinen Büchern faft
nie um irgendeine äußere Handlung mit einem Ziel, um das der Kampf
zwiſchen Spielern und Gegenfpielern geführt wird — und wenn, fo ift das
nur der Pflod, an dem die eigentlihe Raabifhe Handlung aufgehängt wird;
diefe dreht fid immer und überall, bon der Sperlingsgaffe bis Haftenbed,
um den ®egenfat gwifdhen Zeit und Gwigfeit, zwifchen Schein und Wefen,
Lärm und Stille, gwifdmen den ruhigen und den unrubigen Gäſten in diefer
373
|
Zeitlichfeit. Gr ift das eine große Thema, das er mit Hddfter Fünftlerifcher
Meifterfchaft in allen Tonarten, bom mutwilligen Scherz wie in den Gänſen
bon Bützow, ja der Poffe wie in Pedlin, bis zur tiefften, erfchütterndften
Sragif in den Alten des Bogelfangs behandelt hat. Und einen Gipfel deut-
fer Kunft bedeuten gerade diejenigen unter feinen Werfen, in denen er auf
eine äußere Handlung fogufagen gang verzichtet Dat, um jenes Thema mit
fomphonifher Reinheit und Stärke herauszuarbeiten, wie „die Alten des
DBogelfangs“, „Die unrubigen Gäſte“ und „Stopfluhen“, um nur die drei
größten unter ihnen zu nennen. Namentlich die letzten beiden find bon jenem
Dualismus fo ftark beherrfcht, daß er in der Raabe eigenen tiefen Symbo—
lif fich in einer Zweiheit des Schauplates einen Ausdrud gefchaffen hat, durch
die der Unterfdied zweier Lebensauffaffungen und Lebensführungen ſcharf
und wirkungsvoll berborgeboben wird. In ihnen können wir daher aud am
beften über das Wefen jener beiden Sphären und ihr Verhältnis zueinander
Klarheit gewinnen.
Sn dem „Roman aus dem Gaefulum“, den unrubigen Gaften, haben wir
auf der einen Seite den larmbollen, unrubigen Kurort mit feiner Ziviliſa⸗
tion, dem gefell{daftliden Leben und Sreiben, den Zerftreuungen der „Sais
fon“, furzum dem Getriebe Der ganzen fogenannten großen Welt — und auf
der andern das ftille Bergdorf mit feinen Wäldern und Wiefen, feinen armen
Bewohnern, dem freudlofen Pfarrhaus und der elenden Hütte am Waldes-
tand. Raabe gibt uns feine Schilderung des modernen Badelebens —
„andere haben diefes alles häufig und mit Talent bis ins einzelne ge»
[hildert und werden es uns noch oft befchreiben!* — aber niemand fann bers
nidtender die Nichtigkeit Diefes Lebens darftellen als er es in der kurzen Gin-
gangsfzene tut, wo Fräulein Lili inmitten ihrer Iuftigen und lauten Reife»
gejellfchaft jene Hütte — „o wie hübſch—“ — in ihr Sliggenbud aufnehmen
möchte, aber durch den Hinweis, daß dort dag Fledfieber herrſche, famt ihren
Kavalieren erniidtert und entrüftet in die Flucht gejagt wird. Die Hauptber-
treter diefer Welt find der Profeffor Beit von Bielowm und Valerie, „der
unruhige Gaſt“, „die Yeitlichkeit als Weib, in all ihrer Liebenswürdigfeit und
Schönbeit.“ Man fann nicht fagen, daß der Dichter ihnen nicht in jeder Be-
ziehung bolle Geredtigfeit zuteil werden ließe, er tut es im Gegenteil fo febr,
daß der gewöhnliche Romanlefer feine Teilnahme vielleiht Phoebe und Beit
bon Dielow zu gleihen Zeilen ſchenkt und am Ende bedauert, daß fie fid
nicht gefriegt haben. Wer in des Dichters Meinung eindringt, weiß, daß der
ſchöne und gelehrte Mann für ihn zu der Welt gehört, die bon jener, in der
Phoebe Iebt, durd eine Kluft getrennt ift, über die es fein Hinüber gibt. „Gr
geht“, wie die alte Dorette in ihrer Ginfalt begriffen bat, „mit der Stunde
und was darin mit ihm ftimmt, wie meines feligen Bruders Freund, der Oberft
aus Brafilien, der Don Agonifta.“* Indem fie ihn mit diefem gewiffenlofeften
aller Sgoiften in Raabes Werfen in einem Atem nennt, fpridt fie des Dichters
wahre Meinung über ihn aus; ja, fie urteilt nod härter über den „lieben,
freundliden und böflihen Mann,“ als über den Berderber ihres eigenen
@lids; „denn meines feligen Bruder Filipps Freund tatſchte Doch nur in unfer
tägliches Auskommen, aber deines Bruders Prudens Freund hätte dir nod
biel Schlimmeres angetan, ohne daß er eine Ahnung und alfo
ein Gewiſſen hatte.“ Man muß begreifen, daß weder Beit pon Bielow
nod Don Agonifta im „Wilden Mann“ Böfewichter im gewöhnlihen Ro-
manfinne find; es fehlt ihnen gänzlich das Bemwußtfein deffen, was fie tun;
fie ziehen den andern „in SHerglidfeit und Vergnügen“ das Gell ab, zer-
374
ftören ihr Glück und ihren Frieden und „denken fid garnidts Schlimmes
dabei.“ Sie find beides in ihrer Art liebenswürdige Menfchen, und fie ge-
niefen den Beifall und die Bewunderung der Leute. Sie ſind eben über-
haupt nidt, wie wieder Dorette in tieffter Lebenseinfiht am Ende ihrer
Sage erkennt, „ein Ausnahmsfall pon Menſchen und Menſchenwerk und Tun
gegeneinander“, fondern „fie find bie Regel, und die Ausnahme fommt alle
Hundert Sabre nur einmal!* In ihnen manifeftiert fid, mit Schopenhauer zu
reden, der blinde, nadte Wille gum Leben, der nichts von fic felbft weiß, jo-
aufagen in feiner givilifierten Gorm. „Was kümmert einen“, fo ruft Beit fel-
ber aug, „der leben — leben — leben will, das, was die andern wollen?!“
Sie wollen alle das Ihre, Beit und Balerie, Agonifta und — felbft aud
Dorette, fo lange fie befümmert und verbittert ihrer geraubten Lebensbehag-
lidfeit nadtrauerte. Sie mögen fonft fein, wie fie wollen, ftarf wie Balerie
und Auguftin oder ſchwach wie Herr von DBielow; es hilft ihnen aud nichts,
daß ihnen gelegentlich felbft ein Licht aufgeht über fid, daß fie feufgen —
„was für ein Egoismus in dem Menfchen ftedt, erfährt er erft ganz genau
nad fold einem Schritt bom Wege und fo mit dem Zerlegemeffer in der Hand
am Werke an feinem eigenen Gelbjt!* Sie find gefangen im Dunfel ihrer Welt,
gu der fie gehören und — aus der fie nicht herauskönnen.
„Das ew'ge Licht geht dort Herein, gibt der Welt einen Hellen Schein.“
Das ift der Gindrud, den Phoebe auf alle macht, denen fie auf ihren Wegen
begegnet. Als fie den alten wadern Badearzt inmitten des gefellichaftliden
Srubels und der Sommerluft auf der Rurpromenade anfpridt in ihrer Angft
um den erfranften Beit bon Bielow, den zu retten ihr einziger Gedanke ift,
da fcheint es ihm, „als ob jenes alles nicht fei und nur die ſchmächtige, ſchweig-
fame Geftalt im grauen nonnenhaften Kleide an feiner Seite wirklides Dafein
und wabrbaftige Bedeutung in diefem farbigen Schein und Setiimmel habe.“
Wie ein ruhiger Gaft aus einer andern Welt geht fie durch diefe unruh—
bolle Seitlidfeit; allen, die Augen haben zu fehen, wie Spörenwagen, Dr.
SHanff und Dorette, erfcheint ihr Wefen als Offenbarung, alg Gnade des
Himmels. Wo fie erfdeint, da ift es, „als ftinde alles, was ung Die
Beit mißt, auf der Grobe ftill, und als fei nur ein einziger
tubiger Pulsfdlag durd das Weltall.“ Gie hat das, was den
Kindern der Welt fehlt: den Geelenfrieden, die Gottesftille; fie ift gefeit und
fist im Schatten ihres Glaubens am beißeften Grdentag, wie Dr. Hanff
bon ihr fagt. „Sie ift die einzige Gewappnete unter alle den Rüftungslojen,
die einzige Ruhige unter all den Aufgeregten, die einzige Gefunde unter all
den Kranken. Ohne ihr Zutun hat fie Die Gabe, die Gnade — und weiß nichts
davon, als wie ein Menſch nidts bom Hunger verfpiirt, wenn er fatt ift.“
Go feben die andern fie, als eine, die vielen Beiftand tut — und der nie»
mand ein Leid antat. Und doch fehen aud fie nicht alles. Auch Phoebe
ift ein ,redtes Weib“, auch von ihr gilt, daß Menfch fein heißt, Kämpfer fein.
Aud in ihrer Seele bligken Schmerz und Zorn auf, fie fieht ihrer Feindin
und Nebenbublerin ftreng und Hart ing Gefidt, und ihre Stimme fann klar
und hart Ellingen. Sa, ihr Kampf ift der eigentliche, wefentlihe Inhalt des
Budes, wenn aud in Worten wenig bon ihm zu lefen ftebt. Aber das ift eg,
daß fie diefen Kampf in fic allein ausfämpft, nicht mit andern, fondern mit
fic) felbft; fie zieht fi mit ihrer Angft und ihrer Unruhe in ihr Stibden
aurüd, „um ohne Hilfe aus der Nähe und mit wenig Beiftand aus der Ferne
aud weiterhin mit fic felber allein fertig gu werden und ihren Öottesfrieden
mit dem Saefulum aufrecht gu erhalten.“ Sie bolt fid) ihre Waffen aus einer
375
Rüftlammer, bon der die andern, aud die ihr nadften, nichts wiffen; fie bat,
um gerüftet zu fein für die Anfechtungen diefes Lebens, die Kraft im Bufen,
welde nie verfagt. Was fie mit fid durdhmadt und ausmacht, ift wahrlich
nichts Leichtes und Geringes — „es mochten recht fdlimme Kämpfe an dies
fem Sage in der Welt ausgefodten werden, fie waren nicht härter und Hatten
vielleiht weniger gu bedeuten als der Kampf diefes jungen Mädchens“, jagt
der Dichter felbft bon ihnen. Sie trägt ihr Schidfal nicht unerfchüttert, aber
in heißem Kampf überwindet fie es, das heißt fich felbft, mit den Waffen, die
ihr die ©nade des Herrn, wie fie felbft es empfindet, aus jener andern
Welt zureicht: dem Glauben und der Liebe. So ift fie, die Ueberwundene,
aulegt dod die Siegerin, die YWebertwinderin aus eigener Kraft; fie ift im
Frieden, während Galerie weiter in Unruhe durds Leben gebt und — nidt
verzeihen Tann.
Die Grf[diitterung, mit der uns dieſes Buch entläßt, troßdem eigentlich
nidts gefdieht in ihm, fommt daher, daß uns aus ihm die Schauer einer jens
feitigen Welt anwehen und wir zutiefit empfinden, Daß es etwas Heiliges
gibt, an das der Menfd mit profanen Händen nicht rühren darf. Der Grabs
fauf Beit pon Bielows ift deshalb Sünde, weil es ihm im tiefften Sinne nidt
„beiliger Grnft* damit ift, weil er nur mit einem Fuß in jene Welt, bon der
ibm durd Phoebe eine Ahnung aufgegangen ift, Hinübertritt, fowie er einen
Abftedher aus dem Modebad in das Gebirgsdorf madt. Gs gibt aber hier nur
ein Entweder — oder. Und fo ift auf der andern Seite Phoebes Kampf und
Sieg, wie alle Selbftüberwindung, gulebt — Gelbftbebauptung. Ihr
®efühl für Beit bon Bielow war ein Schritt pon ihrem Wege, wie es dag
feine war. Die Semeinheit Baleries, die ihren eigenen wirklichen frome
men @lauben als felbftfidtiges Raffinement verdächtigt, Öffnet ihr einen
gtauenbollen, erfchütternden DBlid in jene Welt, die ihr bisher fremd ge-
blieben, und bringt fie zur ,,Befinnung*. Die beiden Lebensfreife, die fid
einen Augenblid berührt haben, entfernen fid wieder — ſymboliſch wird das
am Schluß des Buches durd die Abreife der Badegäfte verdeutlicht —, nad)»
dem die Menfchen in ihnen als tiefftes Grilebnis die Kluft erfannt haben, die
zwiſchen hüben und drüben befeftigt ift.
Weiter nod und ftrenger voneinander gefdieden als in den „Anruhigen
Gäſten“ find die beiden Welten, um deren Gegenſatz es fich für uns bier han»
delt, im „Stopfkuchen“, — fo weit, wie die rote Schanze draußen im freien
Selde bor und über der Kleinftadt liegt. Gs führt faum nod ein Weg von
der einen zur andern. „Gine Römerftraße, auf der bor, während und. nad der
Völkerwanderung Saufende totgefhlagen worden waren, fonnte im laufenden
Saefulo nicht mehr überwachen und von Grasnarbe überzogen fein, wie Die
alten Radgleife und Fußſpuren, die über den Graben des Prinzen Xaverius
pon Sachſen auf dem Dammiwege des Bauern zu der roten Schanze führten.“
And die Frage, die Freund Eduard an Heinrid) Schaumann, genannt Stopf-
fuchen, richtet, ob er denn überhaupt noch notwendige Gänge nad dort unten
babe, ob er wahrhaftig nod nicht mit allem, was für unfereinen.
fo draußen berumliegt und beforgt werden muß, abgefdloffen habe, ob alles
das nicht draußen vor feinen wundervollen Wallen liege, trifft nur zu febr
ganz das Richtige. Stopfkuchen fist, wie einft der Pring bon Sachen, der
bon dort mit feinen Kanonen die Stadt zur Unterwerfung gegtoungen bat, auf
feiner roten Schanze als Sieger über die Welt da draußen, und niemand bere
mag mehr den Frieden gu ftören, den er nad feinem bon Kindesbeinen an
mit ihr geführten Kriege — fich felbft errungen hat. Raabe Hat auf die
376
Stage, welches er felbft für das befte von feinen Werfen halte, ftets mit
Deftimmtheit geantwortet: Stopffuchen! und gelegentlich als Begründung die
Worte Hinzugefügt: „Da babe ich die menfdlide Kanaille am fefteften gepadt
gehabt.“ Das läßt uns beffer als alles in den Sinn feines Werfes — und
feines Lebenswerfes überhaupt — einen Ginblid tun. Gewiß iſt „Stopfluden“
ein Bud poll göttlihen Humors; das, was wir Raabefhen Humor nennen,
fann man aus feiner andern bon feinen Gefdidten beffer fennenlernen,
aber es ift dennod ein Bud nidt des Friedens, fondern des
Krieges, nidt der Berfdpnung, fondern des Grimms, nicht der
Gergeibung, fondern der Anklage. Ich wenigftens fenne feins, in dem bie
lieben Mitmenfchen, wie fie gewachjen find, die „edle, driftlide Menſchheit“,
ſchärfer, unerbittlicher unter die Fritifche Lupe nicht nur, nein, unter die gore
nige Gudtel genommen werden. Bon den lieben „eingefchrumpfelten, zaun«
fönighaft-nerpös-Iebendigen Eltern“ Stopfluchens in ihrer pbiliftrijen Bee
{branttheit, insbefondere dem Bater mit feinen „dürren Subalternbeamten-
gefühlen“, über feinen ungliidliden Schwiegervater, den er „einen duds
nadigen, mürrifhen, wider»
wärtigen Patron, furg einen une
angenehmen Wenfden* nennt,
bis zu Kienbaums Mörder, dem
unglüdfeligen andbrieftrager
Störzer, der in erbarmlider
Schwäche nidt den Mut findet,
fih zu feiner Sat zu befennen,
deren Golgen er ein Lebenlang
tagtaglid) por Augen fieht, pon
der graufamen, findliden
Quälerbande, die Sinden ihre
Jugend vergiftet, bis zu dem
{buftigen DBauernfänger-Ge-
findel, das das Unglüd des
: - alten Quafat ausbeutet, und
nidt gulebt dem ganzen felbftgeredten, klatſchfrohen Pbiliftertum, für
den der Mordverdbadt, in dem jener fteht, zu einem angenehmen und
unentbehrlihen Lebenskitzel wird — was für ein Abgrund bon Gee
meinbeit, Geigheit, Selbftjuht und Niedertraht eröffnet fi Dem, der
da binunterblidt! Was will das fagen, daß der eben fdulentlaffene Stopf-
fuden im Anblid des Propinzialgefängniffes feinen Freund fragt: „Hätteft du
wirklid nie das Bedürfnis gefühlt, deinen greulichen Alten, fo wie ich den
meinigen, hinter einem jener Gitter unſchädlich gemadt, in Sicherheit figend
zu wiffen?!* Und was liegt für ein gepreßter Ingrimm in der Fauft, die er
„den grauen Sünder, dem alten Weltwanderer und Wegfchleicher“ Störzer
auf das Kopfende feines Sarges legt! Nein, hier wird es ganz deutlich, der
Raabefhe Humor, wenn man ihn denn fo nennen will, nimmt dem Leben
nichts bon feiner Bitterfeit und Gurdtbarfeit, er vergoldet und verſchönt es
nidt. Gs ftedt im „Stopfluchen“ nicht weniger Sragif als in den „Alten des
Gogelfangs“ oder dem „Schübderump“, die doch zu den bitterften Tragö—
dien der Weltliteratur gehören. Der Humor, den er enthält, ift ohne dieſe
Sragif garnicht denkbar. Gr beruht, wie fie, auf der Spannung zwijchen der
Welt der Wirklidfeit und — jener andern Welt, die wir philoſophiſch die
Welt der Werte nennen mögen, auf Dem Pathos der Diftanz, dem
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Reider an dem Abftand zwifchen beiden, und ift darum um fo tiefer, je weiter
diejer Abftand fid vor uns auftut. Wenn der Dane Harald Höffding in feinem
übrigens nicht nur geiftoollen, fondern auch weifen Buch über „den großen
Humor“ jagt: „Zeit und Swigfeit find für den Humoriften nidt abfolute Gee
genfage, fodaß notwendigerweife ein fchmerzpolles Spannungsperhältnis awi-
fen ihnen vorhanden fein müßte,“ fo bat er, wie die meiften, den Raabefden
Humor in feine Definition nicht mit einfangen fönnen, da er eben aus dem
Schmerze über jenes „Spannungsperhältnis* erwachjen ift. Nur daß, während
Raabes tragifhe Bücher der Ausdrud diefes Schmerzes find, fein Humor der
Ausdrud dafür ift, daß er, für fid, ihn überwunden, daß die Gwigfeit den
Sieg über die Beitlidfeit Dabongetragen Hat und der Dichter fid in ihr ge»
borgen weiß. Wud die Tragödie bringt ja diefen Sieg zur Darftellung (nir-
gends reiner und fchöner als in den „Alten des Bogeljangs“); im Humor fehrt
der Dichter den Spieß nur um, indem der Sieg nun nicht mehr am Schluß der
Erzählung, fondern fozufagen ſchon an ihrem Anfang liegt. Dak Stopftuden,
als der fichere Sieger im Lebensfampf, bon der Höhe feiner Weltbetradhtung
aus, feine und Sinden Quafakens Kämpfe und Leiden erzählt, madt den
Humor feiner Gefdidte aus — eben der Abftand alfo macht ihn gwifden
denen und dem, worunter er gelitten bat, und feinem jebigen freien und ho—
ben Standpuntt, wo ihm das alles, tro& underminderter Gegenmwärtigfeit und
Wirklichkeit, nichts mehr anhaben fann. Hier ift die Antwort gegeben auf die
Samletfrage, daß zwar nicht im Nidtfein, fondern im Dajfein, im Trogdeme
fein, eine Rettung vor den ird'ſchen Schreden zu gewinnen ift, daß im Men—
ſchen, bon den meiften unentdedt, eine Kraft wohnt, durch die er fid — eine
rote Schanze erobern fann, wo die Gee von Plagen, das Herzweh und Die
taujend Stöße, die unfres Fleifches Grbteil find, ihn nicht erreichen.
Mögen die großen germanifchen Tragdden, por allen Shafefpeare, das
bittre Leiden diefer Welt in ihren Werfen erfchütternder gefchildert Haben —
die menſchliche Freiheit, die Kraft und Herrlidfeit des Yeberwindertums bat
nirgends in der Weltliteratur einen großartigeren Ausdrud gefunden als im
„Stopfkuchen“. Hier hat Raabe nicht nur die menfdlide Kanaille, hier Hat
er, und darauf fommt es an, aud) den Gieg über fie am fefteften gepadt —
„in bligender Rüftung fteht der Menfch, der vor einem Augenblid nod im
Erdendred und Zumpenbehang fid verfommen fühlte, und alles ift Freibeit,
und alles ift Kraft, und alles ift Grhebung — alles ein Wohlduft, ein Rau-
[hen jungen FSrühlingsgrüns, ein blaugolönes Leuchten und Funkeln auf allen
Seiten, und flare Gee und freie Fahrt bis in alle Gernen!* So wadft in dies
fem Bude, das man nur unter berzbrechenden Tränen — beladen fann,
der behäbige, dide Iateinifhe Bauer, der frühere Großknecht auf der roten
Schanze, unter feiner Erzählung bor uns zu ungeheuerlicher Größe auf zu einem
Reden und Ritter ohne Gurdt und Tadel, da wir ihn am Ende, wie Gduard
bom borbeifabrenden Zuge aus, auf feinem Walle ftehen fehn, aber nidt
mehr im gemiitliden Schlafrod, fondern in fhimmernder Wehr und das blit-
gende Schwert in der Hand, mit dem er den Drachen — das Leben felbjt —
befiegt und fid das Sinden an feiner Seite gewonnen hat! Gs ift fein Scherz
bon ihm, wie Gduard meint, fondern tieffte Gelbfterfenntnis, wenn er jagt,
er Habe für — den „göttlichen fiebenjährigen Krieg und den wundervollen
alten Gtreithabnen, den alten Fritz, immer feine ftillfte, aber innigfte Su-
neigung gehabt.“ „Bitte, nenne mir einen andern aus der Welt Haupt- und
Staatsaftionen, der für unfereinen etwas Spmpathifcheres als der an
fih haben fann.“ Gr ift fein Mann, weil er an ihm gelernt Hat, aus eignet
378
Kraft und ganz für fich allein mit der ganzen Welt fertig gu werden und mit
allem, was fie ung zu unferer eigenen Lebensmablgeit einbroden und auftifden
mag. — „Sein Appetit. Tadellos! Gut in feiner Kindheit, in feiner Jugend;
aber über alles Lob erhaben bei zunehmendem Alter. Hätte id wo ein Wort
gu berlieren, fo wäre es bei diefer Betrachtung, fo wäre es hier. Der Mann
berdaute alles! Derdruß, Propinzen, eigenes und fremdes Ped und
bor allem feine jeden Sag eigenhändig gefjchriebene Speifefartel“ Was fann
der Menjdh im Leben mehr gewinnen als daß — er mit ihm fertig werde,
daß er feine ihm bom Schidfal gugemeffene Portion, und fei fie noch fo muffig
und widerwärtig, verdaut, wie Heinrich Schaumann, der verfradte Student,
die feinige. Darum ift „Stopfluchen“ fein rechter Name und fein Ghrenname
und darum ift es ibm Scherz und bitterer Grnft zugleich, wenn er fagt, man
finne ihm feinetwegen feinen Wahlſpruch „Friß es aus und friß dich durch“
in Goldſchrift auf feinen Grabftein fegen laffen. Gewif, es gibt feinen andern,
um durchs Leben zu fommen, aber ebenfo gewiß freilid aud, daß der Löffel,
mit dem Stopfkuchen fic bdurdgefreffen bat, aus einem Holz gefdnist ift,
das nicht auf diefer Erde gewadfen ift. Der dide Schaumann und die zarte
Phoebe, die Schweſter bon Schmerzhaufen, haben gewiß auf den erften DBlid
wenig WAehnlidfeit miteinander. Und doch find fie Genoffen, Rampfgenoffen,
Bürger desfelben geheimnispollen Reiches, von denen Raabe fagt, daf fie fich
immer und überall als Brüder und Schweftern erfennen, wo fie fich im
Alltag diefes Grdenlebens begegnen. Denn man verfenne nidt, was freilich
gutiefft in ,Stopfiuden* fim den Bliden verbirgt: daß aud, wenn das Leben
feines Helden die Sat war, ihr Wefen dod wie das der Heldin in den
„Unruhigen ®äften“, die Liebe ift, jener „Dimmlifche Strahl, der in jedes
Menfdhenherg bon Gottes Gnaden eingefdlofjen ift.“ Sie ift die Kraft
aus der Höhe, die ihn feinen Weg in redtem Sinne geben und ihn die Auf-
gabe finden läßt, durch die er feinem zeitlichen Leben einen ewigen Inhalt
gibt. Darum erfüllte fid feines Freundes erfte Befiirdhtung, daß „das Gras
aud Dinter Ihm wieder aufgeftanden“, daß er erft veradtet, nun ein Bers
Gdter geworden fei, nicht. Stopfkuchens Aufgabe, fein Swed und Biel im
Grdendafein, beißt: Sinden Quakatz. Gine ſchöne Menjdenfeele finden, ift
Gewinn. Aber aus einem verfhüchterten, berfommenen, hülf- und mutterlofen
Bauernmadden, einer verfolgten hageren Wildfage eine bebaglide, reine,
gierlide, gebildete und glidlide Frau gu machen, „einem vermwilderten Tier
zur Rube und ins Menfdlide Hineingubelfen,“ ein bon Haß und Blutgerud
erfülltes, berbittertes, Dundeelendes Dafein in ein Leben voll Behagen, Sonne,
Friede und gläubigem ©eborgenfein gu verwandeln, das ift eine Tat, bon der
wenigftens die Frage geftellt werden barf, ob der Menſch Höheres, Wert-
bolleres auf diefer Erde guwege bringen fann. Diefe Tat ift jedenfalls das
Gegenteil oon allgemeiner Menfchenliebe, fieift -— Nächftenliebe in einem
befonders tiefen und aufſchlußreichen Sinne. Wir rühren hier an den innerften
Kern der Raabefden Sittlidfeit und feiner ganzen Weltanfdauung. Gr bat,
fo wenig das den meiften Obren Heute noch wird eingehn wollen, im „Stopf-
kuchen“ dem deutſchen Bolfe feinen „Fauſt“ gefdentt. Auch feinen Heinrich
führen Mächte, die das „Recht zu haben glauben, etwas anderes aus ihm
gu machen alg was in ihm ftedt,“ in die Irre, doch er bleibt fich in feinem dun—
keln Drange feines rechten Wegs bewußt — und madt aus fid, was aus
ibm zu maden ift. Aber feiner Weisheit Ietter Schluß ift ein andrer: nicht
„eröffnet er Räume vielen Millionen, nicht fider gwar, doch tätig-frei zu
wohnen,“ fondern er — bebt einen Menfden auf, den ihm das Schidfal,
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bon dem menfdliden Raubtiergefindel zerfchunden und gefdlagen, vor die
Süße geworfen bat, und madt ihn glidlid. Gs wird vielleicht noch
lange dauern, ehe dem deutſchen Bolfe diefe einfache Weisheit tief genug ere
fdeint, damit es „Stopfludhen“ neben „Sauft“ und „Iphigenie* einen Plas
auf feinem klaſſiſchen Bücherbrett einräumt. Aber Raabe hat den Sroft, der
aud) darin Liegt, fich felbft gegeben: „Man muß Bücher fdreiben, die ge-
innen, wenn das Gefdledt, das fie fpäter lieft, andre Röde und Hofen
trägt.“ Walter Baetke.
Der metaphhHfifche Einfchlag bei Wilhelm Raabe.
Sen das Grftlingswerf Raabes, die wehmütig-tiefe „Chronik der Sper-
lingsgaffe“, ift neben aller realiftifchen Sicherheit in Handlung und Sdil-
derung, in fluger Geinbeit der Hronifgemafen Kompofition, [hier durchleuch⸗
tet bon jenfeitigem Grfühlen. Oleic auf den erften Blättern begegnet uns
der Zug des Todes. Marie Ralff, die fonnige Gee der Sperlingsgaffe, die
geliebte junge Grau und Mutter, die einft auch Heimlidgeliebte Iohan-
nes Wachholders, des Berfaffers der „Chronik“, gebt ihren legten Erden-
gang. Langfam ſchwankt der Sarg auf den Schultern der Trager daher —
„die junge Braut im porüberrollenden vornehmen Hochzeitswagen birgt zit-
ternd ihr juwelengefhmüdtes Haupt an der Bruft neben ihr, der arme Are
beiter am Wege läßt das Beil finfen und fieht ftier dem Zuge des Todes
nad. Sein Weib liegt zu Haufe fterbend...“ Aber was ift der Tod dem, der
bereits ein ewiges Leben in fic fühlt! Der an der boriibergiehenden, fetten»
flirrendDen DBerbrederfhar nur das Dereinftige Herabfinten der Ketten ere
[haut angefidts des Todes! „Der Tod zieht vorüber! Gr wird aud eud
einft bon euren Ketten befreien! Geugt das Haupt, ihr armen Geſchöpfe der
Nacht, der Tod zieht vorüber, und auch eud hebt er einft, den erborgten Glitter-
pub, den armen beſchmutzten Körper, die Sünde der Geſellſchaft euch abjftreie
fend, rein und heilig empor aus der Dunfelheit, dem Schmuß und dem Glend.“
Der bittere Tod birgt ein köſtliches Geheimnis — nur der Spötter ift nicht
wert, es zu erahnen.
Dafür trauern die leeren Aefte der Bäume wehmütig mit, ja, eine Meife
fliegt bon Aft zu Aft bor dem Zuge her. Soll man folde feinen Gingelgiige,
aud wenn fie nicht weiter ausgeführt find, bei Wilhelm Raabe gefliffentlich
überfehen oder überfhlagen? Wud wenn fpäter gar das Motiv wiederfehrt
und damit alfo betont wird? In der ,@rabrede bom Jahre 1609* klingt eg
ähnlich, aber fröhlich lächelnd an: „Die Sonne wußte wohl, warum fie über
die törichten Menfchen lächelte... fie wußte wohl, daß der alte Rektor Rollen«.
Hagen nod lange nicht tot fei, und „Doktor Sperling“, der „bunte Kirchjper-
ling“, welchen Herr Georg Rollenhagen fo trefflich befungen, hatte aud eine
Ahnung davon. Weber dem Grabe, zu Häupten des ſchwarzen Sarges fang er
auf der ausgeftredten Hand des WApoftels Paulus an der hohen Säule und
zwitjcherte fo freudig und Iuftig feinen Glauben an die Unfterblidfeit Der
Dichter, der Sänger und an feine eigene Unfterblidfeit aus, daß fi) mand
ein geneigt Haupt auf fein Helles Rufen erhob.“
Unſere Fuge Beit wird derartige „Pbantaftereien“ faft durchweg belä-
dein — aber hat Franz bon Affifi wirfli gang umfonft gelebt, er, der den
Schwälblein predigte und fchnabelfrohe, flügelfchlagende Antwort bon ihnen
befam, er, bon dem es heißt: „Singend war er in die Gwigfeit eingegangen.
Als ein letter Gruß jedoch an den dabingegangenen Sänger Gottes ertönte
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in demfelben Augenblid über dem Haufe und darum herum ein ftarfes und
plöglides Zwitſchern — es waren die guten Freunde des heiligen Franz,
die Lerden, die ihm das legte Lebewohl darbradten* —? Legenden! Ob
Legende und Täuſchung, d. 5. Lüge, wirklid) fo ſchlechtweg dasfelbe ijt?
Man denfe an Ernſt Woritz Arndts, dieſes ehrlichen, kernfriſchen Mannes er—
ftaunliden poetifhen Bericht bon dem Lerchengruß, den der daheim, auf Rü-
gen, fterbende Bater dem damals in Schweden meilenden Sohne fandte im
taufdweren Frühmorgen:
„Wimmerndes Böglein, du famft ein Bote der Sehnſucht und Treue:
Alfo fendet der Geift Boten der Liebe dem Geift.
Denn mein Bater verließ die irdifhe Heimat und grüßte,
Wandelnd die himmliſche Fabhrt, noch den Gntfernten durch dich.“
Meint man wirklich, es gäbe nicht auch Heute noch feine und gottesinnige
Geelen, die bon ähnlichen Grlebniffen zu berichten wiffen? Das Geheimnis,
das zwifhen Menſch und Tier und Ueberwelt obwaltet, ift ja noch lange nicht
ergriindet! Was Raabe {don wenige Seiten {pater in der „Chronik“ jagt:
„Wir alle find Sonntagskinder, in jedem liegt ein Keim der Fähigkeit, das
Geiſtervolk zu belaufchen, aber es ift freilich ein garter Keim, und das Pflänz-
hen fommt nicht gut fort unter dem Staub der Heerftraße und dem Lärm des
Marktes,“ das gilt aud) bon den Beziehungen zur Natur. Geifterwelt wie
Naturbefeelung find unferem Auge nod) derfdloffen, trogdem find fie und
ſuchen Gelegenbeit, fic zu offenbaren. Das Kind Marie Ralffs erfchaut im
Traum die nie gefebene „erdentote* Mutter. „Mama,“ flüftert das Kind
leife, und ein heiliges, glüdjeliges Lächeln gleitet über das Gefichtchen. Wer
taunt der Waife das fife Wort zu? Die alte Martha hat die Hände gefaltet
und betet leife...ift es ein Traum, oder fommt die erdentote Mutter zurüd,
über ihrem Rinde zu fdweben? Dann fällt wohl ein Mondftrahl glänzend
durd das Gfeugitter auf das Bild Mariens, der
Kanarienpogel zwitſchert aud wie im Traume
auf...“ Gin dreifahes freudiges Grfennen! O
Wilhelm Raabe, wie zart glitten deine Ginger bon
je über die Saiten des rätſelvollen Lebens!
And wie warft du ber heiligen Uebergeugung
fo ficher, daß einft alle Rätfel fic Iöfen werden in
dem Uebergang, den wir Tod nennen, und der dod
nur der Eingang zu einem wahreren Leben ift! Das
DBüblein der armen Tänzerin liegt im Sterben. „Das
Kind ftöhnt im unruhigen Schlaf; die Hand bes
Todes drüdt ſchwer und fchwerer auf bas Fleine
unwiffende Herz, dem fich gleich ein Geheimnis ent»
büllen wird, vor weldhem alle Weisheit der Welt
ratlos ftebt.“
„Die Toten fommen nicht zurüd, Hans! Ich
wollte, ich wüßte alles fo genau wie das,“ ertönt
es dagegen fchrill aus dem Munde Mofes Freuden-
fteins im ,Sungerpaftor“. Gr ift der geiftige Iuzi-
feriſche Widerpart des gotteshungrigen Johannes
Unwirrfh. Ihm muß daran liegen, daß die Toten für
immer ausgelöfeht find — böfes Zeugnis würden fie
ablegen fünnen und müffen gegen ibn, das ents
artete Kind eines zeitlebens nur für den Sohn be-
dacht gewejenen, an der SHerzensperderbnis des Sohnes geftorbenen Vaters.
„Die Toten fommen nicht wieder!* Hans Unwirrfch aber glaubte, als er beim
Ordnen des Nadlaffes dem „Freunde“ treu zur Seite blieb, in dem Schatten
des Freudenſteinſchen Haufes oft nod einen anderen Schatten zu feben: „es
war ihm, als ob der tote Mann nod nicht ganz fortgegangen fei — er war
ja aud) der Baſe Schlotterbed begegnet, und die Gute hatte bedenklich den
Kopf gefdiittelt, alg man fie näher darum befragtel“
Sa, die Bafe Schlotterbedl Im „Hungerpaftor“ ift fie die fattjam befannte
Krongeugin des Ueberfinnliden. Und fie bleibt einzigartig auf dieſem Gebiet
durd) den ganzen Raabe. Gie fieht die Geifter. „Die Berftorbenen waren
für fie nicht abgefchieden bon der Erde; fie fab fie durch die Gaffen fchreiten,
fie begegneten ihr auf den Märkten... Damit war für fie nicht der geringjte
Saud von Unheimlidfeit verbunden... Selbft den Bekannten der Bafe Schlot-
terbed erregte die „Gabe“ derfelben fein Grauen mehr... Auf den Sharafter
des guten Weibleins felber hatte die hohe BVergiinftigung feinen verſchlechtern—
den Einfluß.“ Die Bafe nahm ihre Gebergabe „wie eine unberdiente Gnade
Goties.“ Daf ihr zwifhen Weihnachten und Spiphanias, alfo in den aud im
Dollsglauben als befonders bedeutjam geltenden zwölf heiligen Nächten, die
Schatten vieler Geftorbener zu begegnen pflegten, erwähnt Raabe aus-
driidlid. „Sie ſchritten in den Gaffen einher oder traten mit ihr in die Kirche
und umfchritten den Altar.“ Die Tageszeit fpielte bei diefem ihr ganz natür—
lichen Schauen feine Rolle. Als Hans Unwirrfdh fein Maturitäts-Szamen
beftanden hat und glüdfelig daheim immer und immer wieder der Mutter, deny
Onfel Griinebaum, der Bafe Schlotterbed zärtlich dankt, bricht er ſchließlich
in die Worte aus: ,O Mutter, wenn dod der Vater nod Iebtel* O, er lebte
und fab! Für die Bafe fiderlid! Die Mutter brad) freilich in lautes Weinen
aus; „aber die Bafe legte nur die Hände im Schoß zufammen, nidte mit dem
Kopfe und lächelte vor fid bin... auf einmal aber erhob fie fid fchnell bom
Stuhl, faßte den Rod der Frau Ghriftine und deutete geheimnispoll nach
dem Genfter. Seder folgte der Richtung ihres Winfes. Aber niemand außer
ihr ſah was. Die Kröppelftraße lag im vollen Mittagsfonnenfdhein...“
„Sie fünnte einen am hellen lidten Sage aus der Kontenanffe bringen“
murmelt da der Oheim Griinebaum mit einem fdeuen Seitenblid auf die Baje.
Sie leben immer in einem fröhlichen Kleinkrieg, diefe beiden. Sie hat ibn
ganz hübſch unter der Knute und weiß ihm derb die Wahrheit zu fagen, dem
mehr politif- als arbeitshungrigen und allegeit durftigen Schuhmachermeifter
— wie ergdblid z. B. ift das auf Seite 447 * gejchilderte Redegefedt der bei-
den, in dem natürlich die draftifhe und humorvolle Schlagfertigfeit der Bafe ies
gerin bleibt. „Sür diesmal habe ich genug von ihr.“ Sa, diefe Geifterfeberin ift
nichts weniger denn eine PBhantaftin. Refolut, praftifch, ficher, ftets Flug hilfsbereit
ftebt fie im Leben und im Haufe Unwirrfh. Dem Heinen Hans ift fie zweite
Mutter und frühe Lehrerin, dem Obeim ein moralifher Halt. Als fie ge»
ftorben ift, will er „ihr nad.“ Gr ſaß im Winkel und verlangte nad der Baje.
„Ad, die Bafe, die Bafel Sold ’ne furafdierte Perfdon mit foldem Ine
ftinft für Riode Zehn und’s richtige Zubettegehen! Ich Tann nicht ausfom-
men ohne die Bafe...* Und am Abend ihres Begräbnistages ftirbt er ihr
witklid nad. Man fieht: es liegt Raabe daran, diefe Geifterfeherin als
prächtigen, vollwertigen Menfden zu erweifen. Gwigfdine blaue Wunders
augen trägt fie in einem Napoleon-Gefidt durch diefe Welt. Erſchaut fie nicht
aud) im Geifte ein univerfales Menſchheitsreich, und gehört nicht Tapferkeit
* Sefamtausgabe.
382
ae
dazu, davon gu zeugen unentwegt? Nur: ihr Reich ift des Gottes poll, der
in ihrem Auge widerftrahit. Gs gibt aud) Dämonenwerf, böfe Geifter, die
am finfteren Reid Iuziferifher Machtbegier bauen! Nur wer „im Lidtkreis
der glänzenden Kugel“ Iebt, die der Hungerpaftor über feinem Arbeitstifch
in Grungenow aufgehängt bat, d. 5. im Stande der Öottverbundenheit, wie
Safob Böhme fie lehrte, nur der hat die richtigen Waffen gegen das Reich
der Ginfternis. Bon diefer Gottberbundenheit, bem Gebeimnis der Myſtik, wider-
ballt das dem Hungerpaftor unmittelbar folgende Raabewerk: „Abu Telfan“.
Bor diefer überwältigenden religiöfen Grunderfabrung, der mbftifden
Neugeburt, erblaßt im perfinliden Leben zunächſt alles andere, aud die
Welt der überfinnliden Phänomene. Denn die „zweite Geburt“ ift das Wun-
der aller Wunder. GSelbft der „helle Schein“, der in befonders marfanten
Gallen diefes Grlebnis begleiten Tann, die Lichtüberflutung bon oben, die den
ganzen Menfden bis ins innerfte Mark durddringt, wird von dem Gmpfane
genden felbft zunächſt faum mit beiwertet, obwohl, erfchauernd, bis ins Tiefſte
empfunden. Dem erften Betäubtfein, dem „Schlag por den Kopf“, folgt, oft
Woden, Monate andauernd eine Greudeniiberflutung des ganzen Menfchen,
die unbergleidlid und unbefdreiblid ift. Denken und Wollen fdeinen auf-
geldft in Wonne — alles drängt dem Geelengrunde, der Geburtsftatte des
neuen „Kindes“ in uns zu, und der Jubel, der hier aufquillt, ergießt fid
wiederum befeligend durd alle Regionen des ganzen Menſchen. „Wohldem,
der feines Menjchentums Kraft, Macht und Herrlichkeit fennt und fühlt durch
alle Gibern des Leibes und der Seelel* Gs ift die Wonne diefer neuen myſti—
{ben Menſchwerdung, die Raabe durch Leonhard Hagebuders Mund im Abu
Selfan mit diefen Worten fchildert. Myſtik ift das Grundwort in Abu Telfan,
ift die alles andere überfchattende Geift-Erfahrung. Gs nimmt daher nicht
Wunder, daß grade Abu Selfan an einzelnen metaphyſiſchen PBHanomenen faft
nichts aufweift. Daß eine feine, bis in die umgebende Natur hinüberſchwin—
gende Magie die abgellärte Welt der Frau Glaudine durchgeiftet, ift natürlich
durchweg fühlbar. Dasfelbe gilt vom Schüdderump. Antonie Häußler Tebt
durchweg in einer höheren Welt, fie ift ein ,Befud bom Himmel“, und alle
Schönheit, aller Reichtum desfelben ſchwingt verflärend um fie. Wo bas
Wunder Iebendig gegenwärtig ift, braucht es fid nicht in einzelnen PHanoe
menen zu offenbaren. Aber Hanne Allmann fieht das Kind nadts im Traum
mit goldenen Slügeln.
Aehnlid liegt es in den Unruhigen Gäften. Auch Hier gruppiert fich das
Ganze um das efoterifhe Grlebnis, diesmal ausgefprodhen driftlid beleuch-
tet, in Phoebes lieblidher Geftalt fich offenbarend, die die „Gnade“ Hat. Bon
metaphyſiſchem Einſchlag faft feine Spur.
Weld’ gewagten Ausflug in die Romantik bedeutet dagegen das feine,
bon deutfhem Weh und deutfhem Bieffinn durchgogene geitbild „Nach dem
großen Kriege.“ Hier werden alle Wunder der Romantik lebendig: Elfen
und Nizen treiben ihr Wefen. Irrlichter tanzen. Geifter und Gejpenfter üben
prophetifhen Vorſpuk durd Klopfen ufw., andere fteigen aus dem Boden und
zeigen ihre Wunden. An dem „wüften Ort“ haben die Toten „bis heute noch
feine Rube in ihren ©räbern, fie geben um und umfdweben in nächtlicher
Weile, manchmal aber aud am hellen, lidten Sage, den wüften Ort; und mand
einer hat Grfahrung davon.“ „It nicht der Sufanne am hellen Sage, im
SHerbit des Tahres 1809, mittags um zwölf Ahr, als die Sonne hell fdien,
ein folder Spuf begegnet? Ift nicht der Paftor des mwüften Dorfes vor ihr
bergegangen, — ein alter Mann im fdhwargen Predigergewand mit weißer
383
Salstraufe und Blutfleden darauf? Ift nidt das Gefidt der Erſcheinung
weiß gewefen, wie ein Totengefidt, und ift nicht der Priefterrod zerriffen und
poller Brandflede gewejen? Hat der Spuf nicht die Bibel im Arme gehalten,
und ift er nicht Iangfam dur) den Wald gegangen bis gu der Stelle, wo einft
die Kirche des verlorenen Dorfes geftanden hat? Hat er da nicht Sufanne
gang ftarr angefeben und mit der Hand gewinft, und ift er nicht verſchwunden
darauf, als ob ihn die Erde oder die Luft berfdlungen hätte? Halb wahn-
finnig vor Angft ift die Sufanne durd den Wald geftürzt.“ Das ift „das
redte Sachſenland, nicht die Proving der Meißner und Leipziger.“ Raabe
hat recht, altgermanifches Denken und Schauen lebt in feinen Bewohnern viel»
fach bis heute nod und wirkt fid in ungewöhnlichen Begabungen aus. Dahin
gehört 3. B. das Wandeln im Geift, von dem in dem „Lebensbud des Schul.
meifterlein Michel Haas“ äußerſt anfdaulid berichtet wird, das Sidmani-
feftieren in die Ferne durd Wort, Bild, Laut, am häufigften von Sterbenden
ausgeführt, wie es in den Kindern bon GFinkenrode, in Meifter Autor fo herzbe⸗
weglid) gefdildert wird. „Hier war wahrlid Magie,“ betont Raabe ausdridlid,
Daf in den Kräbenfelder Gefdidten, bejonders in den drei lebten: Frau
Salome, die Gnnerfte, Bom alten Proteus, ganz gewagte Spaziergänge in
das Land des Ueberfinnliden gemadt werden, habe id an anderer Stelle
mehrfach dargelegt. „Wer nicht zwei Leben hat, ift ein armfeliger Hund; der
Genius aber hat deren neun und Hettert an den Hausmauern herauf und
geht auf den Dadfirften wie die Kate.“ Suft neun, Wilhelm Raabe? Gi, wie
fein das zufammenklingt mit den „Himmeln“ und Devahan-Abftufungen alt=
indifHer Weisheit, Freund Raabe! Wußteft du davon? Und bon der neun»
faden individuellen Entſprechung im irdifchen Sein? Nun, fo oder fo —
perjuden wir es, mit dir auf metaphyſiſchen Dadfirften gu geben wie Ma-
dam Kate. GS madt augenweit und berzensjelig, dieſes erdüberhobene und
fternennabe Geiltangen. des Seiftes!
Dod, was frage id, ob, neben der eigenen Grfahrung, aud die alte in»
diſche Weisheit dir ihren Gruß entboten habe, fie, bon der Freund Sdopen-
bauer einft befannte, fie fei die &reude feines Lebens geweſen und werde
der Sroft feines Sterbens fein! Weißt du nicht aud) bon dem mbdftifmen Om
des Brahmanen? Die „Weihnacdhtsgeifter* verraten es uns, diefe in Yeber-
mut, Sieffinn und Höhenflug erfunfelnde Skizze oon einigen gwangig Seiten, Die
einen glänzenden Stirnreif, will jagen ein nedijhes Motto trägt: „Quand
les gens d’efprit fe mélent d’etre béêtes, ils Ie font énormément.* Daß es
dir, Du Gigant aus eigenen und fremden Gnaden, nicht an Geift gebrach, wiffen
wir alle. Du bift ein Gigener — und Haft zudem allen Seiten tief ins Auge
geihaut. Und daß du in diefer Weihnachtsplauderei ganz tidtige Purgel-
bäume fchlägft und dem, ber fie dir als ſolche glaubt, ein Schnippdhen dazu
— das merfen wir aud. Barodfter Humor erfdeint auf dem Plan und ift
dod tieffter Grnft: ein Chriftabend-Ausflug in das Weihnadhtsmbdfterium.
Weitenweber infgeniert ihn — er weiß bereits mehr davon als der behäbige
Hinfelmann, der einer durch Weitenwebers Schuld zunichte gewordenen Weih-
nadtseinlabung nadtrauert, einer Ginladung gar in ein ganfebliimden-poefie-
vergoldetes Geheimratshaus. Den echten Weihnadtsgruf hätte diefes ge-
Heimratlide Haus ja doch nicht zu bieten bermodt. „Liebe Brüder zu Babel“
gitiert Weitenweber feinen Safob Böhme, „tanzet doch nicht alfo bon außen
ums Myſterium.“ Wo tanzt man in diefer bon Scheinfreude durchſetzten Welt
nicht von aufen ums Mpfterium, dag allein die echte Freude birgt? Wher
Stimmen, die zu diefer wahren Greude rufen, gibt es genug. „Es ift mander-
384
lei Art der Stimmen in der Welt, und ift doch feine undeutlich“ zitiert wieder-
um Weitentweber den Apoftel Paulus und — erfchließt feinem Freunde Hinkel
mann eine der Stimmen: die Stimme der Stadt.
Nichts geſchieht bon ungefähr. Hinkelmann bat juft ein ziemlich abgegrifa
fenes Büppchen auf einer nadbarliden Auftion gefauft — weiß er warum?
Aber fein „Dämon“ weiß es... Das Piippden liegt auf dem Tijd por den
beiden Freunden, neben der Punfdterrine, und Freund Weitenweber fennt das
Zauberwort, ihr geiftiges Urbild zu beſchwören. „Diefe Welt ift ein großes
Wunder! Wir wollen über die Weihnadhtswelt wandern, Karl Theodor Hine
felmann! Fülle die Glafer! Diefe Puppe foll uns führen! Ich erfenne eine
alte Sefannte in ihr — Dolla, fpiritus biarum — daemon ambulatorius!
Srwade, Liebdhen!“
Ift in Geftalt diefes zerzauften Püppchens wirklid) eine Fee über die
Schwelle des weihnadtsbaren Tunggefellenftübchens getreten? „Wir haben
feinen Namen, wir find ein großes Gefdledht. Wir in den Gaffen, wir find die
©eifter der Gaſſen — ber da fennt uns.“ „Ia, id fenne euch.“
Alles wird lebendig unter dem Zauberftab diefer Fee. Selbft der vergol-
dete Apfel, das Piippdhen am Baum, der fühe Honigkuchen- und der ſchwarze
proletarifhe Pflaumenmann. Wud der Streit diefer Welt... Aber dann er»
Hingen allmählih Gloden in die ftille Nacht. Und damit kündigt fid ein gang
neues Leben an. Gin Leben in Harmonie, in Friede und Freude. Ginft ward es
ſchon Wahrheit, neu fol es Wahrheit werden in jedem von ung. Chriſt ward
einft geboren ins Fleifch, neu foll er hineingeboren werden in unfer fleifchliches
Sein! Nie hört diefes Wunder auf. Der es in fich erlebt, tanzt wahrlich nicht
mehr bon außen ums mbdfterium magnum, er lebt mitten darin. „Wenn es nur
fon fo wäre* wünſcht Weitenweber.
Daf diefe Weihnachtsfeier, elfengeführt, Durch eine fefundare Puppenwelt
wandernd bis gum höchften primären Leben, bor dem alsdann Die ganze
Puppen-Grfdheinungswelt verfinkt, nicht als Humoresfe gemeint fein fann von
Wilhelm Raabe, ift woh! Har. Man lefe den feierlihen Ausklang, in den
Urworte unferer weihnadtliden Weihegefänge bon Dom und Kirche ber Hine
eintönen. Man höre den Gubelgefang der mehr und mehr in ©eift, Schönheit
und Weihe fich verflärenden Elfe: „Shrift ift geboren! Ehrift ift geboren!“
Wir haben eine metaphyſiſche Höhenwanderung por uns. Mandhem fider
eine Sorbheit, eine Burlesfe. Schon, weil die Punfdbowle eine Rolle dabei
fpielt. Da will Raabe-Schalkheit uns einen Streich [pielen. Aber — Freund
Weitenteber tut der Punſch ohnehin nidts. Der „Rauſch“ aber, der um
Hinkelmann feinen Zauber wirft — finnte der nicht vielmehr eine Sraum-GEnt-
rüdung fein? Der junge efthetifprofeffor in ,,Gulenpfingften“ Hat feinen
Tropfen getrunfen, er fagt aber doch gu fic felber: „Das Wahre in der Welt
. ift dod, halb betrunfen gemadt zu fein — guerft natürlich durch Entzüden ...
und die Welt verfchleiert zu feben. Der ridtige Menſch, und por allem der
deutſche Menſch gehört nur in den Nebel hinein, und in folden Nebel!* —
Alfo: ni@tinrationale Nüdternheitl — — — —
Ih glaube in Borftehendem leidlid ertwiefen gu haben, dah ein metae
phyſiſch orientierter Raabe nicht grade meine Grfindung, fondern eine Tate |
face ift. Möglichft find ja feine eigenen Worte als Belege gebradt worden.
An feiner Bedeutung als fdaffender und geftaltender Künftler rüttelt das
nicht — im G©egenteil. „Wahre Dichtungen halten der Zeit den Spiegel nur
infofern nützlich por, daß fie die Zeit in der Gwigkeit fich fpiegeln laſſen,“
fagt er felbft. Daf diefes Ewigkeitslicht in der heutigen Beitlidfeit weiten Krei-
385
fen ein ©reuel ift, daß man es Hier und da aud in Raabe am liebften tot-
ſchweigen midte, das darf uns nicht hindern, dem Beften feiner „Raabenweis-
beit“ nachzugehen. „Dem einen wadfen die Adlerflügel, wo dem anderen
brecherlich gumute wird,“ erklärt er draftifch felbjt einmal.
Und grade heute ift Raabes Lebensbotſchaft an fein deutjches Bolt
gang befonders wertvoll nad diefer Gwigfeitsfeite hin. Gr Hat, wiederum
feinem eigenen Wusfprud) nad, das innerfte deutfhe Wefen gefannt und gee
{dildert, in ſchier beifpielslojer Schönheit, Liebe und Tiefe. Und augenblid-
lid ift das deutfche Volk bitter franf. Grade an feinem innerften Wefen. Ma-
terialigmus, Rationalismus, Mammonismus, Internationalismus Haben es
zerfrejfen und durdgiftet. Die einft Jo mächtige Bewahrerin und Darbieterin
idealer Werte, die Kirche, ijt machtlos geworden und fteht fdier ratlos in
ſchwerem Kampf. Sie verſucht es, ihre Lehre durch Seilreformen wieder
ſchmackhaft zu maden; fie baftelt an Neugeftaltung des Kultus, des Dogmas,
baut an neuen Liturgien — dod in die Tiefe dringt fie mit ihren Reformen
nidt. Noch wirkt ein verflachender Liberalismus fich viel zu ftarf in ihr felbft
aus. Hier aber ift, mas fie retten fann: Myſtik und Metaphyhſik, wie fie
in Wilhelm Raabes fünftlerifher Verkündigung fid die Hand reichen. Beide
find ja bereits zur Stelle auf dem heutigen Geiftesfampfplag. Gin neues lites
rarifches Erblühen der Myſtik ift da — id nenne nur Namen wie Lagarde,
Sobannes Müller, Arthur Bonus, Friedrid Lienhard. In auferfirdliden
Selten (wie in der „Semeinfchaftsbewegung“) ift fie ja nie erloſchen. Man
nehme fie neu und tapfer auf in die Verkündigung der offiziellen Kirche. Sie
ift der eigentliche Herzpunft der Religion; fie allein fchafft lebendige und hero—
iſche Shriften. Mit der üblihen ,andadtigen DBeriefelung“, wie Johannes
Müller einmal fagt, ift’s nicht mehr getan.
Myſtik ift gebeimnispolles zentrales Grleben; fie „zielt ins Herge
Gottes“. Metaphyſik ift überfinnlihes Grkennen. Aud fie, bon der eban-
gelifhen Kirche bon je gang befonders vernadlajfigt, erlebt ein neu Grfteben
Heute, u. a. in Spiritismus, Offultismus, Sheofopbie,- WnthropofopHie. Die
Kirche follte nicht zögern, den Wahrheitsgehalt auch diefer Beftrebungen ber»
auszuheben und ihrer DBerfündigung zuzuführen. „Das alte Wahre, faß es
an!“ Wilhelm Raabe bat’s gewagt, und darin liegt das Geheimnis feiner
©enialität und feines nie auszufhöpfenden Reidtums. Helene Dofe.
Die innere Zorm in Raabes Werfen.
1.
G* gehörte zu den Errungenfchaften des auf Die Höhen des adtgehnten und
neunzehnten Sahrhunderts gelangten Geiftes, daß er fid die verworrene
Welt fäuberli in „Gebiete“ eingeteilt und organifiert hatte. Gr gaunte mit
dem ſchönen Begriff „Religion“ beftimmte verdäcdhtige Erſcheinungen des Ler
bens ein, er pferchte fie mit porfidtigem Gadperftand fo feft in die befannten
anderthalb Sonntag-Bormittag-Stunden, daß fie nicht mehr ausbreden und
die übrigen ©ebiete, die ihre Stunden und Tage hatten, in Unordnung brin-
gen konnten. Der errungen{daftlide Geift bildete den Begriff „Wirtfchaft*
und feßte gelehrte Begriffshütehunde bor das Gebiet, die den Unbefugten
aus den Gebieten der Ethik ufw. den Zutritt verwehrten. Giner der pornehm-
ften Begriffe war der der „Kunſt“. Wer fid in diefes hochgelegene Gebiet, in
386
dem viel Hungergras wadft, begeben hatte, war „Künftler* und Hatte auf
den anderen Gebieten nichts mehr zu fuden und zu wirfen. Hatte er troß-
dem ein menfdlid-religidjes Erlebnis, verfpürte er ettva fogar eine „neue Ge—
burt“, jo hatte das lediglich eine fünftlerifche neue Geburt zu fein, oder,
um es in der Sprade des neungehnten Sabrbunderts auszudrüden: er ere
lebte fie „nur“ „in Hinblid auf fein Künftlertum“. Dagegen war nidts zu
maden, denn es war Grrungenfhaft. Wie war es denkbar, daß ein Dichter
feiner Würde fo vergäße, daß er fi) zum Berfiinder des Göttlichen hergäbe?
Dafür waren doch die fadhgemaf für das religiöfe Gebiet porgebildeten Pa-
ftoren da!
Die Muttergottesbilder ſchienen im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr
zur Anbetung, fondern für die Kunftgefhichte gefdnikt zu fein. Die Dich»
tung war nidt mehr zur Berfiindigung der großen Wahrheiten des Lebens
und Ueber-Lebens, fondern für die Literaturgefhichte gedidtet. Kleift ver-
meinte, fein Golf mit der Herrmannsſchlacht zum Freibeitsfampfe aufgupeit-
fen, der Literarbiftorifer wußte es beffer: Kleift war ein „Dichter“ und bat
„nur“ ein „KRunftwerf“ guftande bringen wollen. Das Mufeum und die Gee
fammelten Werte — das war die Hauptſache und die hidfte Ghre.
Aber das neungehnte Bahrhundert ift nicht nur die Epoche der Runft-
und Literaturgefchichte, fondern aud) die Spode der Piychologie. Der Gottes-
mann, der Staatsmann, der Dichter, der Künftler wurde „pſychologiſch bee
tradtet*. Gs wurde ein beliebter Sport, „in die Gntftehung des Kunſtwerks
einzudringen“, und man drang mit all der Auf» und Budringlidfeit des Sae—
culums ein. Die ,,Gntftehung eines Kunſtwerks“ „begreifen“ gu wollen, war
eine der vielen törichten Aufgaben, die fic) Die Beit geftellt Hatte. Wie ein
Kunftwerf entfteht, weiß jeder, der eins gefchaffen hat (nämlich fo wie der
Gebende bon feinem Sehen, der Denfende von feinem Denfen weiß). Die an-
dern werden es nie wiffen, es geht fie aud nidts an. Da Hat man jämtliche
Geuerbrande zufammengeftellt, von denen Wilhelm Raabe in der Zeitung oder
bei Goethe gelefen haben fann — wiffen wir nun, warum Raabe am Schluß
feiner Gefdidte bon der Grau Salome das Glammengeiden des Werkſtatt—
brandes errichtet hat? Wer nicht mit den Augen der Bolba die Götterdäm«
merung fdauen fann, dem hilft fein Zitat zum Berftändnis des Feuers, das
aus jener Werfftatt bridt und die Hütten der Menſchen in Aſche legt. Was
er im fertigen, runden Werke des Dichters nicht findet, findet er aud nicht
auf dem Schreibtifh und im Papierkorb des Dichters.
Wir unferfeits grenzen uns gegen das neunzehnte Jahrhundert mit folgen
den beiden Behauptungen ab: Daf ein Künftler die Kunftmittel als Künftler
beberrfche, ift die Borausfegung, nidt der Sinn feines Schaffens.
Sinn und Zwed desfelben ift vielmehr das, was er ausdrüden will und fann.
Gin Dichter, der uns nicht eine echte, ewige Wahrheit zu verfündigen bat, ift,
und fei er nod fo „Eunftpoll“, nur ein Unterhalter des laufenden Publifums.
Gs fommt für uns alfo nicht darauf an, die (ewig unbegreifliche, nur tätig
auszuübende) „Runft“, fondern die Berfündigung zu verftehn. Zweitens:
Uns gebührt nur, die Gabe des Dichters zu empfangen; allein das Werf, wie
er es uns gibt, geht uns etwas an. Wir fragen, was in dem Werk ift und
was nicht. Der Gehalt eines Werkes ift feine Befonderbeit, ift das, was
uns nur durch diefes Werk und fonft nicht gegeben werden fann. Darum fuchen
wir die „DBefonderheit* des Werkes, nicht feine „Zufammenhänge*. Die
Sündleinsphilologie mit ihrem Zitätleskram führt bom Werfe ab, nicht zu
ihm Din.
387
2.
Das Geheimnispolle am Kunftwerk ift feine Lebendigfeit Gs ift
Leben darin gebannt, das fortzeugend neues Leben zu entzünden vermag. In-
fofern das Kunftwerf „lebendig“ ift, fteht es unter den Gefegen alles
Lebens: es wird nicht abfihtspoll durd den menfdliden Organifations-
willen ,gemadt“, fondern es „wädlt“. Was „gemacht“ wird, hat einen
„gwed“; was „wählt“, hat eine „Struktur“. Gewadfen fein heißt: eine Struk—
tur haben, durd die bon einem innerften „Punkt“ Her die innere’ und äußere
Gorm gleicherweife beftimmt ift. Diefe Struktur ift die in fich berubende Gee
fegmäßigfeit, die das „Innere“ und „Aeußere“ ineinanderbindet, es durch-
waltet und geftaltet. Wir fragen alfo bei einem echten, d. 5. „gewachfenen“
und „lebendigen“ Kunftwerf nad jener einheitlich gefchloffenen Geſetzmäßig—
feit, die uns das Aeufere und Innere, die Form und den Gebalt, als eine
organifhe Einheit verjtehen läßt.
Es ijt befannt, daß Raabe feine Werke als ganze („Sanzbeiten“) fongi-
pierte. Diefes Ganze wurde mehrmals, immer fid erweiternd und verän-
dernd, entworfen, ehe das ,endgiltige*, das „reife* Werk niedergefchrieben
wurde. Infolge Diefer Gntftehung weifen gerade Raabes Werfe eine er-
ftaunlid gefdloffene Struftur auf. Inneres und Weuferes hängen bei ihnen
unlösbar, bon einem Leben durchpulft, zufammen. Wenn wir den äußeren
Aufbau richtig erfchauen, jo erfchließt fid uns darin zugleich der innere „Sinn“,
die „Bedeutung“, das „Lebendige“ des Werkes.
Git das Heraustaften der finntragenden Struftur fommt por
allem das fertige Gebilde in DBetradt. Frühere Entwürfe des Werkes
fönnen nur einzelne Merkwürdigkeiten erklären. (Wie das Wefen eines Man-
nes aus ihm felbft in feinem Mannesalter erflärt werden muß, nur aus—
bilfsweife fommt für einzelne Züge eine Grflarung aus dem Kindes- und
Jünglingsalter in Betradt.)
Aber ift eine aufgezeigte Struktur nicht fchließlih ein bloßes Begriffs-
gerüft? Und fol ein DBegriffsgerüft, ein „Schema“, ein „Schatten des Lee
bens“ follte als ,,G@rflarung* eines Kunftwerfes gelten? Wir betonen: wenn
wir die Struftur eines Werkes Herausftellen, fo wollen wir damit nur das
Kunftwerf verdeutlichen, es fällt ung nicht ein, bie Struktur an die Stelle
des Werkes zu feben. Auch die Sprache, als lebendiges Gebilde des menfch-
liden Geiftes, hat eine Struktur: ihre Grammatif. Ich Tann eine Sprache
{predhen, ohne ihre Grammatik zu fennen. Will ich fie aber bon ihrem Grunde
aus, als einen gefdloffenen Organismus, verjtehen, fo muß id) Grammatik
treiben. Wollen wir eine Dichtung nicht eben „nur“ lefen und aufs Serate-
wobl „genießen“, fo müffen wir — ganz entjprechend — ihren Herz» und
Ouellpuntt ausfinden und von ihm (als dem „Aziom“) aus ihren gefegmä-
Bigen Aufbau ertaften. Sp erfafjen wir den „Sinn“ der Dichtung, der nichts
andres ift als das fchöpferifche Geſetz, das fie geftaltet Hat. Nun werden wir
das Werf voller, reiner, erwedter genießen, wie wir die Räumlichfeit eines
gotifhen Domes voller, reiner, erwedter genießen, fobald wir ihn in Grund-
rif und Aufriß fennen und die haotifhen Einzelanſichten im Bewußtſein des
®anzen erfaffen. Alles Berftehen ftrebt zu einer Gangbeit.
Wir behaupten durchaus nicht, daß der Didter die Struftur feines Wer-
fes beim Schaffen bor Augen bat. (Gr darf es faum in voller Bewuftbeit,
weil er fonft in die Gefabr des bloßen Konftruierens fame.) Als das DBolf
feine Sprade ſchuf, wußte es nidts bon Grammatif und dennoch bildete
es die Sprade grammatifh. Gs handelt fid eben um die ſchöpferiſche Ge—
383
ſetzmäßigkeit, die teils völlig unbewußt in reiner Aktivität, teils Dämmernd
und ahndevoll ihrer felbft bewußt im Schaffen geftaltet. Hat fie fid aus»
gewirkt, fo läßt fie fid im fertigen Gebilde aufweifen.
Da jedes Raabefhe Werk ein Individuum für fid ift, fo bat ein jeg-
liches fein befonderes Geſetz. Wir fünnen alfo nicht anders vorgehen, als
daß wir die einzelnen Werke auf ihre Struftur Hin unterfuden. Grit wenn
das geleiftet ift, finnen wir auf die durchgehende Gefamtftruftur binzielen
und damit das urfprünglide und allgemeine Geſetz des Schaffenden, Die
Struftur feiner Perſönlichkeit zu verftehen fuchen.
(Aus den Werfen Raabes, die ich bisher analbfiert habe, wähle ich im
folgenden drei als Beifpiele aus, den „Abu Telfan“, den „alten Proteus*
und die „Stau Salome“. Gine pollftändige Analyfe würde ein Buc erfor»
dern. Ich fann bier nur gleihfam kurze Hinweife geben, aus denen der bere
ftandniswillige und intelligente Lefer fic) das Uebrige felbft erjchließen mag.)
3
Im „Abu Selfan* bringt ung Raabe die Berfiindigung bon der alles
überwindenden Geduld als der innerften und gabeften Kraft des Lebens. Wir
fönnen den „Abu Selfan* das Buch der „Heimgefehrten“ nennen, denn es
bandelt fic um drei Heimfehren. Im Mittelpunft ftehbt Frau Claudine: Unſre
liebe Grau bon der Geduld. Ihre Katenmühle, obwohl und gerade weil
fie abfeits der Welt liegt, ift ber ruhende Mittelpunft in der freifene
den Gludt der Grjcheinungen. In ihr ift die Zeit und die Beitlidfeit über—
tounden. In ihr finden die Lebensfämpfer, die gerfdunden aus der Sdhladt
heimkehren, Sufludt und Heilung; denn bier ift die heilige Quelle, wo das
Gwige ins Zeitliche einftrömt und das Zeitliche im Ewigen verebbt.
Die fehsunddreißig Kapitel des Werkes find in drei Gruppen geteilt, je
zwölf Kapitel gehören zufammen. Diefe Zwölfergruppen zerfallen wieder je
in zwei Hälften. Das achtzehnte Kapitel als die Mitte der mittleren Gruppe,
Bringt die große Rede Leonhard Hagebuders über Tod und Leben. Im vier»
undgwangigften, dem Sclußfapitel der Mittelgruppe, verfündet Hagebuder
die „beldenhafte Geduld“ als die tieffte Kraft des „nicht tot zu Friegenden“
Lebens *.
Sede der drei Zwölfergruppen enthält die Gefdidte einer Heimkehr.
Der erfte, der zur Grau Glaudine heimfehrt, ift Leonhard Hagebuder, der
zweite ift Frau Glaudines Sohn, Biktor Fehlehfen (van der Monk). Die lebte
und fchauervollfte Heimkehr ift die der Nikola von Ginftein. (Die Heim-
fehren find nad dem Grad ihrer Schwierigkeit geordnet. Se öfter man den
„Abu Selfan* lieft, um fo höher madft die Geftalt der Nikola, während
die des beredten Leonhard Hagebucher, der immer mit dem rechten Wort bei
der Hand ift und dem Raabe viel humoriftif{he Umgebung zugemefjen bat,
aurüdtritt.)
Die Heimkehr Hagebuders ift pom fommerliden Licht umfloffen, Bik-
tor fehrt im Herbft heim, Nikola aber im Winter. Auch das läßt die Abficht
Raabes erfennen. Dazu beachte man: Hagebuders Heimkehr ift ein Idyll,
Viktor ift eine epifche, Nikola eine tragiſche GSeftalt.
Seder der Heimfehrer hat fein befonderes Kampfgefilde. Leonhard fteht
gegen das verftändnislofe Spießertum. Sein Kampf ift voller Komik (der Fae
* Bol. Dr. Hermann Sunge, Wilhelm Raabe. Studien über Gorm und In—
halt feiner Werfe. Sunge und id find unabhängig voneinander auf die Einteilung
der Kapitel gefommen.
389
milienrat), aber hinter der fomifhen Maske ftedt dod die ernftefte Bruta-
lität des Lebens. Biltor durchirrt die Welt der raftlofen Unrube, er eilt ziel»
los von Tat zu Sat, aber fein Abenteuer gibt ihm Rube. Nikola fampft den
{redlidjten Kampf, den Kampf gegen die Ganaille in ihrer ſchlimmſten
Gorm: fie lebt in der Welt der Lüge **.
Sedem der Lebenstämpfer ift ein andrer gegenübergeftellt, der in feiner
Weiſe (und zwar auf einer niederen Stufe) mit der betreffenden Welt fer-
Nicola von
Einstein
tig geworden ift. Der Better Waffertreter Hat in weltiiberlegener Wurftig-
feit und nicht ohne reidliden Alkohol die Spießerwelt mit feftem Griff ge-
padt und fogar die Grau Slaudine entdedt. Täuberih Pajda, der abenteuer-
lihe Schneider, lebt ein blofes Pbhantafieleben, abgeftorben den Realitäten
des Lebens. Die Welt der Lüge aber erzeugt als ihren Ueberwinder den grau-
figen Räder, den Leutnant Kind. Grau Glaudine hält ihn auf feinem Wege
nit auf, er muß feinen furdtbaren Weg gehn.
** Gon der „Sanaille“ bei Raabe handelt ganz vortrefflid) Dr. Max Adler
im Schulprogramm des Salzwedeler Oypmnafiums über ,Raabes Stopffuden*.
390
Das Prinzip einer jeden der drei Welten ift jedesmal in einer Haupt-
perjon verkörpert. Der Hauptvertreter der Spieferwelt ift der alte Hagebucher,
in der Welt der Abenteuer ift die phantaftifche ſchwarze Hauptperjon Die
Madame Kulla Gulla im Mondgebirge. In der Welt der Lüge ift der größte
Birtuofe der Baron bon Glimmern. (Man beadte den daratterifierenden
Klang der Namen.) Die drei Welten freifen: Leonhard fam aus der Welt der
Abenteuer, bom Mondgebirge, Biltor fam aus der Welt der Lüge. Nikola
ging aus Angeduld durd eigenen Entſchluß aus der Welt der JdHlle. —
In diefen drei Welten mit ihren dreimal drei Perfonen, die alle um die
Grau Glaudine reifen, ift die Struftur des „Abu Telfan“ far gelegt. Daraus
gebt der Ginn des Gangen eindeutig hervor. Gs handelt fid um mehr als
eine bloß moralifche, es handelt fih um eine religiöfe WAngelegenbeit: wie
fönnen wir das Leben durchfämpfen und ertragen, diefes Leben, über dejjen
Ginn wir nidhts Mebreres und nichts Höheres zu erfennen imftande find als
das, was Leonhard Hagebuder im adtgehnten Kapitel ausfpridt? Man bee
adte ferner das Symbol des Brotes, das Grau Glaudine der Nikola auf
ihren fchweren Gang mitgibt. Man wage Wort um Wort die Schlußfäge des
bierundgwangigften Kapitels: „Der Sturm, welden wir nur aufhalten, nicht
verbieten können, wird ihr fines Haupt tief beugen, Dod den Baum des
Lebens wird er nicht entwurgeln. Ginft bat fie mir bon einem Bürger-
redt in einem Reihe, von dem die Welt nichts wiffe, ge-
{proden. In der redten Stunde wird fie diefen Freibrief pormweifen, und
alle da draußen werden ihn widerwillig und freudig anerkennen miiffen, und an
diefem Tiſche wird fie niederfigen und fprechen: Mutter, ich danke dir, Dein
Brot bat mid erhalten!“ Dazu nehme man die faft zerreißende Iebte Span-
nung auf der lebten Seite des Buches: der Dodt glimmt nur nod ganz wenig
in der ungebeuren Ginfternis — wird Gr den glimmenden Dodt ganz aus-
löfhen? It das „KRunft“, oder ift das — Götterbämmerung, oder ift bas —
Evangelium? Gs ift alles zugleich. Schreibt das einer, der „als Künftler“
neu geboren wurde? Nein, hier gibt einer Zeugnis von feiner neuen Seburt
gum Leben, bon jener Kraft, die ihn alle Gnttäufchungen bis in fein hohes
Alter mit Reinheit und Geduld ertragen ließ. Und diefe Kraft ift nicht eine
gute nur, fondern eine heilige. Aber der Taube Hirt immer nur feine Taub-
beit und nimmt die Stimmen, welche die andern hören, für Halluzinationen.
4,
Im Sdlupfapitel des „Abu Selfan* fagt Leonhard Hagebuder: „Die
andern alle, die mit Lift oder Gewalt den äghptiſchen Proteus, das Leben zu
überwältigen und zu ihrem Willen zu zwingen fuchen, und mit ibm ringen
müffen bis an den Sod...“ Das war im März 1867 gefchrieben. In den
erften Monaten des Iahres 1875 ſchrieb Raabe die Gefdidte „Bom alten
Proteus.“ Proteus ift das ewig wechjelnde Leben, das immer anders ift,
alg man es im Augenblid gu fehen bermeint, es verwandelt feine ©eftalt un—
ter den zugreifenden Händen. Ift diefes Leben bloß täufchender Schein ohne
fefte Wahrheit? Schale ohne Kern? Blüte ohne Grudt? Weſſen Herz rein
ift und feft — Innocentia, die Unfchuld, und Gonftantius, der Fefte, Bee
ftändige, Setreue; „der ftäte Gefelle* jagt Wolfram —, der finkt nicht, fondern
fteigt, er ſchrumpft nicht ins Wefenlofe, fondern wadft empor. Gs gibt taube
Dlüten, aber auch Blüten, die Frucht treiben. Unferm irdifhen Blid freilich
entſchwindet „das lieblide Wunder“ wie „ein filberner Klang“ oder entſchwebt
als „lite Geftalt im Morgenglang*. Aber — es zieht uns Dinan. —
391
Die zwölf Kapitel des „alten Proteus“ zerfallen in vier Gruppen zu je
drei Kapiteln, und zwar bilden die beiden mittleren Dreiergruppen wiederum
eine höhere Einheit. In den erften drei Kapiteln wird uns die banale Rear
lität der Dinge vorgeführt, die brabe Welt der Piepenfchnieder und die böfe
Welt der Püteriche. Mit dem vierten Kapitel aber geraten wir in den Bereich
der Geifter. Rofas Geift beherrſcht die Szene und treibt das Liebespaar
nin das Wunder“. Im fiebenten Kapitel ziehen fie Hinein, er zuderfichtlich,
fie aufgeregt, und widerwillig als eine Gans. Im achten Kapitel, dem lieblidften
und reizendften des ganzen Werkes, erfcheint Innocentias fichernder Geift. Mit
dem neunten Kapitel verlafjfen wir den wunderliden Wald und die Geiſter—
welt und fehren mit Pater Gonftantius in die reale Welt guriid, aber feine
Realität ift nicht mehr gemein und banal, fondern eine höhere Lebensitufe.
Gr ift Herr über das Leben geworden.
Die Gefdidte zerlegt fic, fobald man ihre Gorm zu erfchauen fudt, in
zwei Gefdidten, die nur durch die beiden ©eiftererfcheinungen verbunden
werden. Die eine fpielt in der Gegenwart: zwiſchen dem fehr alltäglichen
Liebespaar Hilarion und Ernefta (zu deutſch: Heiterfeit und Ernſt). Man bee
adte aber aud den Klang der beiden Nachnamen: Abwarter Flingt hart,
Piepenfdnieder Hod und zart, in jenem liegt zugleich ein Yögerfames, in
diefem eine blanke, rettungslofe Banalität. Die andere Gefdidte hat vor
Sabrgehnten gefpielt, von ihr find nur nod zwei am Leben, die beiden dazu
gehörigen Toten agieren als Geifter. Die erfte Gefdidte fpielt in bürger-
lichen, die zweite in abdligen Kreifen. Die erfte ift eine werdende, wir were
den nur bis zur Krife geführt und dann mit einem Gragegeiden entlafjen,
die zweite ift eine fic pollendende.
Die Bergangenheitsgefhinhte ift diefe: Der oortrefflide Baron,
der [pater als Pater Eonftantius in der Ginfiedelei Haufte, liebte die zarte
Roja oon Krippen, eine Jungfrau, die fid nie im Leben getraute, robuft fie
felbft zu fein. Das Biel ihrer Wiinfde ift der elegante Lebemann Baron
Püterich. Diefer wieder jagt der Schaufpielerin Innocentia nad, die ibm für
feine Begierde ein lederer Biſſen zu fein ſcheint. Innocentia aber bemüht fid
vergeblid um den Baron, deffen Namen wir nicht erfahren, fondern der uns nur
als Pater Gonftantius befannt wird. Die zueinander gehören, find einander
abgewandt, aber fie jagen dem nad, was nidt gu ihrem Wefen paßt. So
entjteht der Kreis des irrenden Lebens: der Ring der Selbſttäuſchung, in
dem die Grjdheinungen des Scheinlebens wefenlos freien. Nur die Tänzerin
Innocentia hat den rechten Willen. Darum ift ihre Buße nichts als eine
breißigjährige ©eifterfröhlichkeit, fie Tann nicht anders als fröhlich fein. Weil
fie „der Welt Stöhlichkeit“, die „gute Seele* ift, darum ift fie der Erlöfung
am nadften und entſchwebt heimwärts zu den Urgründen des Lebens, zum
» Sater TSaufendfinftler“ und „Pſamothe, dem Mütterchen“. Pater Conſtan—
tius muß durd die Buße der felbftbereiteten Bein Hindurd, aber fein feftes
Herz läßt ihn alles überwinden. Gr ift aus dem Sraumerwagdt. Das
ift es, es ift die oberfte Stufe des irdifchen Lebens, bon der aus er der Gna
nocentia folgen wird. Wiederum eine Stufe tiefer fteht Roſa, deren Geift
zwiſchen den Wangen Binter der Tapete laufchen und den in feiner realen
Widerwartigfeit fehen muß, zu dem es fie heimlich zog. Aber: „Der mag denne
nod wefen geil (mag dennoch genefen, wand an ibm find beidü Zeil, des
Himmels und der Helle* (Wolfram von Gfdenbad.) Rofa wird durd die
Buße bon ihrem halben Wefen geheilt. Wher gang der ſchwarzen Farbe vere
fallen ift der Onfel Lump, der Baron Püterich, der gemeine Sinnenmenid.
392
Den beiden Gegenfpielern Conftantius und Piiterid fefundieren zwei Ka-
tifaturen ihrer felbft: dem Pater Gonftantius der rotnafige Forftauffeher
Oppermann, der auch ein waderes, feftes Herz Hat, aber aud) fehr realen,
biesfeitigen — DBranntwein; Hinter dem alten Püterich fteht fein Freund
Magerftedt. Piterid ift wenigftens noch des Grauens fähig, er ift noch zu
zerſchmettern; Magerftedt aber ift fo ausgelocht und hartgefotten, daß er durch
nists mehr aus der Gacon gebracht wird.
| Wy
—— :
Zinnackntiz
H
Opper. Piter Hılarıon Ernesta —* ies
—— ⸗ >>> — —
waar Abwarter Pepensdanieder Poterich Maser.
sted?
In der Gegenwartsgeſchichte wird die ,ernfte* Spießbürgerin
Grnefta fiderlid der Welt des Märchens und Wunders, die ihr höchſt unbe»
haglich ift, entfliehen, fie wird ihren Hilarion figen laffen und den jungen
Bankier „nehmen“. Der „heitere* Spießbürger Hilarion aber, der fid willig
den Geiftern bingibt, der jedoch annod ein „Träumer im Traum der Welt“
ift, wird aus der Täuſchung durch die fdmergende Ent-täuſchung erwachen,
wie einft Sonftantius, und dann: denfelben Weg geben. In ihm wird das
Wort des Paters Conftantius, das er auf dem abendliden Friedhof fpricht,
zünden. Und wird fie nicht Die Seinige, fo „bift Du morgen der Meinige“,
Das ift die Krifis, die Ent⸗ſcheidung.
Die Struktur diefer Geſchichte ift Außerft geiftvoll in ihrer Berfdlingung
bon Gegenwart und Zukunft, von Realität und Spiritualität. Was die jen-
feitige Welt betrifft, fo weifen wir auf das Wort Hin, mit dem Raabe ause
393
gerechnet das vierte Kapitel einleitet: „Wir, der Autor, gebekt mit allen
Hunden der Kultur des neungehnten Jahrhunderts, wiffen das und geben den
Nerpen der beiden alten Herren reht und niht dem Faffungsper-
mögen ibrer logiſchen Denkfähigkeit; wobei wir uns die Ans
merfung geftatten, daß die erfteren immer nod eine Realität find, während
das legtere Dann und wann eine ſchöne Redensart ift und auch bleibt.“ Der
wandeljame Proteus erfchöpft fid nicht in den Geſchöpfen dieſes Lebens, fon-
dern dahinter fteht das fchaffende Geheimnis des Gangen. (Wir erinnern
uns der Worte Leonhard Hagebuchers im achtzehnten Kapitel des „Abu Tele
fan“.) In diefer Welt wechfeln die Erſcheinungen eine nach der andern. Aber
quer durch diefe Welt wachſen und fteigen die edlen Kräfte aufwärts, ent»
quellend dem dunfeln Schoße des ©eheimniffes, „ſich verflüchtigend* im —
„Morgenglanz“ der Gwigfeit, Licht pom unerjchöpften Lichte. Die „Hunde
der Kultur des neunzehnten Jahrhunderts“ können — in den Morgenglanz
nur Dinausbellen. Gin jedes Wefen begrüßt den Morgen auf feine Reife.
5.
Ueber die „Stau Salome* möchte id nur einiges nadtragen, was nicht
Jon in unferm erften Raabe-Heft (September 1921) ausgeführt ift.
Der Aufbau der Sraählung gleidt dem Aufbau des „alten Proteus* (und
der ,Onnerfte“). Die zwölf Kapitel zerfallen wieder in vier Gruppen zu je
drei Kapiteln. Auch Hier bilden die beiden mittleren Gruppen, welde die
Gilife in ihrer Qual bis gum „Durchgehen“ zeigen, eine höhere Einheit. Die
erften drei Kapitel gehören dem alten Scholten, er wird uns bis gum Zufam-
mentreffen mit der Grau Salome gefchildert. Die legten drei Kapitel gehören
Querian. Am Schluß des dritten Kapitels heißt es: „Sp denn hinein ins Ge-
heimnis!“ Das erfüllt fid) in einem tieferen Sinne, denn in Scholtens Duar«
tier treffen wir Gilife, um die fid nun alles dreht. Das neunte Kapitel, die
Mondnadt, in der Gilife auf dem Dade der päterliden Werkſtatt fteht, ift
ein Höhepunkt fowohl in diefer Erzählung wie in Raabes Schaffen über-
Haupt. Aber das „Durchgehen“ erhöht nur die Spannung. Während im „alten
Proteus* die Entſcheidung (die Grldfung) näher der Mitte liegt, ift fie bei
der „Stau Salome“ ans Ende gerüdt. Jene Gefdidte ift idylliſch, diefe dra-
matiſch fongipiert.
Die drei Geftalten Scholten, Querian, Schwanewede ftehen in einem Kreife
gujammen: der praktiſche Menſch und Richter, der fünftlerifch-prometheifche
Wenſch, der myſtiſche Menſch. Alle drei find Freunde aus derfelben Heimat,
in ihnen find typiſche deutfche Charaktere ausgeprägt. Sie ergänzen fid ge-
genfeitig. Was ich früher darüber ausgeführt babe, bleibt beftehen. Der
SHerzpunft der Erzählung aber ift Gilife, das tumbe Mädchen, eines jener
dumpfen, traumwachen Kinder, die niemand fo wie Raabe dargeftellt Hat.
Gie gehört in die Reihe des Horader Lottchen, Tonie Haufler. In ihr ift all das
ftumme, fdmerglide, drängende Sehnen mit feiner SHilflofigfeit und feinem
hellſeheriſchen Scharfblid, in ihr ift die Werdensnot des Menſchen be»
ſchloſſen. In ihr ift, vielmehr: fie felbft ift das ewige Lebensgebeimnis: das
Edle, das Geftalt wird: „Was Safob Böhme fah und fühlte und wovon er
gu jchreiben berfudte, bier mar’s und fongentrierte fic in dem Herzen des une
verfiändigen verwahrloften Geſchöpfes, der Gilife Querian! das ewige Kon—
trarium zwifhen Finfternis und Licht — die „Quall* im Univerfo. Was diel
leicht Peter Schwanewede zu Pilfum am Pilfumer Watt in diefer Mondichein«
naht aus den Bildhern des myſtiſchen Philofophen mit adgenden Hebe-
394
baumen und fnarrenden Ketten des Geiftes aufguwinden tradtete: hier lag es
auf den Lippen des Kindes, unter den Zähnen, die diefe Lippen blutig preß-
ten!“ (In diefen zwei Säßen des neunten Kapitels ift jede Silbe durchleuch—
tet bon Snnerlidfeit und umweht von Ewigkeit.)
N \ I ⸗
= Peter
NN
Shane wede
1 \\NS
Karl Ernst
Queria n
Scholten Salo lome
In Gilife regt fidh der Tropfen Ichor, Götterblut, der in die irdifchen
Adern verflößt ift, der Die Menſchen gegen die Welt treibt, der ihnen die
Augen aufgeben läßt in hellſeheriſcher Bitterkeit. (Gilife: „Die Welt ift fo
weit, fo weit. Die Wege find fo lang, fo lang, und in den Wäldern geht man
in die Irre. GS find auch viel zu viele Mtenfden in der Welt... “) Dann feben
fie den Vachtraubvogel niederfdiefen und halten den Atem an. Und —
löſen fid und — wandern, auf der mondbefdienenen Straße, ihrer Sehn-
fudt nad. Das Ichor unterfcheidet die, in deren Adern es eingegangen ift,
bon der Ganaille. Wer Ichor Hat, verblüht nicht, fondern bringt hervor
die Frucht der Gwigfeit. Die Not des Herzens ift das Reifen der Frucht.
Immer treibt das Ichor die Menfden aus der Welt hinaus und über die Welt
395
Hinaus. Peter Schwanewede thront über der Welt wie eine taufendjährige
Krdte im Stein, wie ein alter gotifher Dom über dem Trödelmarkt zu feinen
Süßen. Scholten und Frau Salome, die wie ein Komet zwifchen die andern
bineinfährt und bei der fich die Gegenſätze zufpiten, ziehn dem toten Schwane-
wede nad. Querian aber, der „begabtefte*, zerbricht. Gr, der fchöpferifche,
wollte, was nur Gott kann: ein Lebendiges fchaffen, und über dem Feuer der
Werkftatt vergaß er das Lebendige, das aus ihm gefdaffen war, fein eigen»
ftes und nadftes Leben. Ihn trieb das Götterblut, das aud [wären und fich
zerfegen fann, in die Irre. Gr wird bon feinem eigenen Feuer verzehrt,
wie die fduldig gewordenen Götter im Weltbrand untergehn. Gr felbft bat
diejes Feuer entzündet, nidt der Blitz, und die Hütten derer, die an ihn
glaubten, müjfen mit verbrennen. Raabe fdrieb die Gefdidte — fi zur
Warnung.
Das ift die Berfündigung von der Damonie Des Lebens, das aus dem
Grunde quillt zugleich als Quell und Qual des Liniderfums. Und es ift des
Menjden, ob es ſich zur Geligfeit oder LUnfeligfeit wendet. Das Ichor bee
fruchtet das elementarijhe Leben mit dem unruboollen Geift des ewigen Lex
bens, daraus das Quellen und Wachfen anhebt, das die bitterfte Not bringt,
aber aud die heilige Frucht reifen madt. In der „Frau Salome“ ift die Not
und das Werden, im „alten Proteus“ die Ueberwindung und die Reife *.
6
Raabe beginnt den „alten Proteus* mit dem Wunfche, daß er [einem
Lefer recht glaubwürdig erjcheinen möchte. Nicht den Lefern überhaupt, fone
dern fei,nem“ Lefer. Wer ift diefer Lefer? Gr verrät es uns bald, nod im
felben Sabre im ,SHorader“, im Anfang des zweiten Kapitels. Nämlich:
wenn die Leute gujehen, wie ein neues Haus gebaut wird (pder wenn fie eine
Geſchichte Iefen), fo fritifieren fie äfthetifch, oder fie überlegen, wie fie fid
in dem Haufe praftifh anfiedeln und einridten würden. Giner bon tau—
fend aber „lehnt die Stirn an die Fenfterfcheibe, die dünne Glaswand, die
ihn bon dem Driiben trennt, und denkt an Geburt, Leben und Tod, an die
Wiege und an den Sarg, und für diefen einen fchreiben wir Heute und haben
wir immer gefdrieben.* Denken wir alfo, wenn wir Raabe lefen, getroft an
Leben und Tod, an diefes Aufleudten in der unendliden Finfternis, das dod
nie ftirbt, fondern Blitz um Blitz, Stern um Stern entzündet und die Gwige
feit des Lichtes gegen die Gwigleit der Nacht behauptet. Lefen wir alfo Raabe
getroft in — @ottes Namen. Wer aber glaubt, Raabe habe mit der Bee
fbreibung feines Lefers die Literarhiftorifer und Philologen gemeint, *
irrt. t.
Kunſt und Schönheit in Raabes Erzählung
„Des Reiches Krone“.
GC weiß mit Schreibers Kunſt Befdeid und Hat wohl etwas zu fagen, was
= aud feine Macht behalten mag, ob allem Schall und Farbenfpiel der
Erden.“ So fpridt der Dichter am Schluß der kurzen Einleitung der Erzäh-
lung bon dem „greifen Mann“, den er feine Gefdidte bon der Krone des
deutfchen Bolfes und des deutfchen Reiches, bon dem leidvollen Heldenfchidjal
Medtildes, der Groffin, niederfchreiben läßt. Wir wüßten fein zweites Wort,
* Wir ftimmen Frau Helene Dofe in der Behandlung und Bewertung der drei
legten „Kräbenfelder ®efhichten“ zu, wie der Kundige bemerken wird.
396
das Sinn und Wefen pon Raabes Dichtkunft treffender zeichnete als dies fein
eigenes. An feiner Stelle aber fteht es mit größerem Recht, gewinnt es
inhaltsſchwerere Bedeutung, als hier am Gingange dieſer „Eleinen“ Raabe»
fen Erzählung, die immer in der Reihe der großen und größten Werke des
Meifters mitgenannt werden wird.
Man hat Raabe wohl den Ruhm des großen Künftlers ftreitig machen
wollen, wenn man ihm aud) den bes großen Gthifers und Seelenfünders nie
nehmen fonnte. Freilich liegt das eigentlid) Gormfiinftlerijhe und Bildne-
tifche bei Raabe nie fo offen zutage, daß es aud dem oberfladliden Blick
fogleich deutlih ift. Aber ift es nidt das Zeichen aller großen und vor—
nehmen Runft, daß ihre Schönheit zunächſt mit der Selbftverftindlidfeit
natürlider DBildungen wirft und die formende Künftlerhand vergeffen läßt?
Lind ift nicht diefe Künftlerhand ſchließlich aud nur Dienerin, die das geftaltet,
was aus dem freiquellenden Born der Schöpferfeele berauffteigt? Kommt es
nidt letzten Gndes doch darauf an, daß der Künftler „etwas zu jagen hat“?
Das freilid wird dann um fo bollfommener zutage fommen, je beffer jene.
bildende Hand „mit Schreibers Kunft Beſcheid weiß“. Diefe feinnerdige Künft-
lerhand aber finden wir bei Raabe im Bau und Öliederung der ganzen Gre
zählung bis herab gu der jedes einzelnen Sates am Werle. Zeugt nidt da-
für [don der von uns zitierte Sat, der wohl des „Schreibers Kunſt“ zuerjt
und gebührend berporhebt, aber das Schwergewicht der G©efühlsbetonung
mit den Worten „und Hat wohl etwas zu fagen, was aud feine Mtadt be-
balten mag ob allem Schall und Garbenfpiel der Erden“ dod fo naddriid-
lid auf den feelifhen Gehalt der nun beginnerden Graählung legt, daß es fie,
Stimmung gebend, weittragend durchhallt?
And ift nicht diefe Einleitung als foldhe ſchon ein Meifterftüd für fich?
Auf dem Raum einer einzigen Drudfeite fchließt fie, einftimmend und vor—
deutend, die ganze Erzählung feimbaft in fid. Der feierlih umftandlide Ein-
gangsfag, der fie in feinem funftboll periodifhen Aufbau gleich als „ein finft-
lih Schreibmwerf“ fennzeichnet, ftimmt uns fdon durd feinen nun durch die
ganze Erzählung wmeiterflingenden Ton ein auf ihren erhabenen Gehalt, und
{aft uns fie nicht nur als eine hiftorifche erfennen, fondern gemeinfam mit
den zu diefem Gingangsfak fein abgewogenen und abgeftimmten drei Säßen
der zweiten Abſchnittshälfte verjfett es ung zugleich in die Weiheftimmung des
weltgeſchichtlichen Augenblides und läßt uns die ganze Wucht der biftorifchen
Sdidjalsftunde fühlen.
Go kunſtvoll durdhfomponiert aber wie diefer erfte ift Abfchnitt für Ab—
fchnitt der ganzen Graählung, und man lieft fie erft recht, wenn man das,
wenn aud nicht bewußt erfennt, fo doch mitfühlend fpürt. Wiepiel mehr
aber als trodene Orts- und Zeitangaben fdon Diefe Enappen Ginleitungs-
worte geben, wie fehr fie bis ins Kleinfte Dichtung find, dafür zeugt wohl
am bdeutlidften der folgende Sat: „Das Stüblein ift fahl und ohne jeden
Schmud, aber über dem Garten liegt die Sonne, und der Tag ift Heiter und
der Himmel blau.* Wie in einem Symbol liegt hier wieder Kern und Gehalt
der Erzählung feimbaft umfdloffen, und mit welder rührenden Wärme und
Snnigfeit Elingt aus der zweiten Hälfte des Gages alle Lieblidfeit und Schöne
des aus der Erinnerung auftauchenden und nun für die Graäblung vorge-
fhauten Jugendidplls in feinem Gegenſatz zu der entfagenden Alterseinjam-
feit des „greifen Mannes“ heraus. Bor allem aber, wie lebendig fteht uns
nad den wenigen Säßen Diefer Ginführung die Geftalt des greifen Schrei-
bers bor Aug’ und Seele, der wohl dann und warn auffhaut gum Himmel
397
und Dinbordt auf das „wunderliche Getin, das durd die Lüfte ſchwirrt,“ aber
die Seder dod nicht aus der Hand legt und ,,fid nicht wirren läßt.“ Wie deut-
lid) feben wir nit nur Gemad und Hausgärtlein, fondern aud) Nürnberg
mit feinen „alten tapferen hohen Schugmauern und Türmen“, die den Schall
„gar eigen“ zurüdwerfen. Der bedeutungspolle Blid aber über den Garten
nad) dem Himmel und der Sonne, das Hinhorden auf das wunderlide Getön
wiederholen fi durch die ganze Erzählung und rufen uns immer wieder in
die gegenwärtige Stunde und zu dem „grauen Mann“ zurüd.
Go ftellt ſchon die Einleitung die ©ejtalt des Schreibers nahdrüdlich in
den DBordergrund, und wir fpüren, daß fie für die Dichtung eine wichtigere
Aufgabe zu erfüllen hat als die eines anderen GHroniften. Raabe wählt aud
in mandem andern feiner Werke die Gorm der Rahmenerzählung und er
liebt es, einen Greund bom Leben und dem Schidjfal des Helden erzählen
gu laſſen. Auch Hier ift es der Freund des tapferen Ritters Michel Groland,
der die Geſchichte oon feinem ergreifenden Schidfal niederfchreibt. Aber nicht
diefe Freundſchaft por allem, fo innig fie ift, beftimmt hier die Geftalt des Ere
gablers und feine bedeutfame Stellung in der Dichtung. Beftimmend für bie
Rolle des Schreibers ift vielmehr, daß das Schidjal der beiden Hauptgee.
ftalten, bedingt und gekrönt durch die Liebe der Mechtild Groffin, ibm zu dem
für fein eigenes Leben entjcheidenden Erlebnis geworden ift. Daß dies Gre
lebnis die Wende feines Lebens bedeutete, daß es ihn gleich einer göttlidhen
Stimme umrief auf feinem Wege ins Leben, daß es ihm „der Welt Wirre
warr deutete und ihm den Frieden gab,“ das ftellt ihn in feiner Doppelgeftalt
fo bedeutend in den Bordergrund der Dichtung. Weil das eigentlide Greige
nis, der Stoff und Vorwurf der Erzählung mit feiner niederfchmetternden und
erhebenden Gewalt Lebensfdidjal, Lebensführung und por allem die Lebens-
anfdauung des Erzählers beftimmt, darum Hat der Dichter in ibm aud die
Geftalt gefunden, die, indem fie erzählt, zugleich das ganze Boll- und Gold»
gewicht des ethifhen Gehalts der Erzählung ausfdiitten und offenbaren fann
und muß. Damit gewinnt aber aud) der Pichter die volle Freiheit, in dies
fer dureh Seite und fonftige Lebensperhältniffe miglidft ferngerüdten ©eftalt
die eigene Lebens- und Weltanschauung in fo tiefem Grnft, in fo unmittel-
barer Offenheit und runder Gefdloffenheit zu enthüllen, wie faum in einem
andern feiner Werle. Dabei ift diefe Geftalt fo feft umriffen nicht nur in zeit-
und örtlicher, fondern aud in ihrer zeit- und ortsgeſchichtlichen Bedingtheit,
daß wir feinen Augenblid das Gefühl haben, als dränge fich in ihr der Dichter
felbjt in den Bordergrund. Wie fie aber dem Dichter Gelegenheit gibt, feine
Welt- und Lebensanfchauung in ihrer ganzen Eigenart und Siefe zu offen«
baren, fo hält fie damit zugleich bie beiden Hauptgeftalten, deren Liebes- und
Lebensſchickſal den Gegenftand der Graählung bildet, völlig frei bon jeder ge-
danflihen Reflezion, fo daß fie in der vollen, fhönen Unmittelbarfeit und
Mnbefangenbeit ihres Lebens und Griebens durd die Dichtung fdreiten als
ganz freie Geftaltungen rein dichterifcher Schöpfungs- und Bildfraft. Gs ift
wahrlich ein geniales Meifterftüd höchſter Kunft, wie der Dichter die Rollen
und Aufgaben unter die vier Geftalten feiner Erzählung verteilt hat. Denn
aud) die Teidpolle Geftalt des heimatlofen griedhifhen Meifters Theodoros
Antoniades, der mit feinem und feines Volkes Schidfal wie eine lebendige Mah—
nung in der Dichtung ftebt, ift mit feinftem PDichterfinn erfunden und mit
wahrer Meifterhand an ihren Plab geftellt.
DBeftimmend für den befonderen Son und Stil der Erzählung aber ift Die
Geftalt des greifen Erzählers felbft. Das ,,Tolle! Tegel“, die fanfte Stimme,
398
die der heilige Auguftinus als eine göttliche Stimme deutete, wird ihm zum
beherrſchenden Thema und Leitmotiv, mit dem er anhebt und das immer wie—
der da aufflingt, wo er an den tragifhen Kern der Dichtung rührt. Ehe die
Graählung pom Sdidjal der fdinen Jungfrau Medtilb Groffin und des.
tapferen Ritters Michael Groland, das jene Stimme fhmbolifiert, felbjt ein-
fest, berichtet der Grgabler im lyriſch-hymniſchen Stil und Ton einer Bekeh—
rungsgefhichte, einer großen Konfeffion, bon der Bedeutung diefes ,,Tolle!
lege!“ für fein Leben. Weil jenes tragifdhe Gefdid, das er niederfchreiben
will, entfcheidend für fein Leben und feinen Glauben geworden ift, muß er
gleihfam erft ein Lebens- und Glaubensbefenntnis ablegen, ehe er es erzählt.
Die gewaltige Bußpredigt des feurigen Mönches Iohannes Kapiftranus auf
dem fteinernen Predigtftubl pon St. Sebald, die die Gloden übertönt und das
Bolf pon Nürnberg in die Knie zwingt, fann jene fanfte Stimme, die ihm
pordem erflang, nicht übertönen. Ihm, der ein [anges reiches Leben lang auf
den Höhen der Menfchheit gewandelt ift, hat der Bruder Iohannes nichts zu
fagen. Gr weiß, „daß die Spiele der Erwachſenen Geſchäfte genannt werden,“
und Hat nun aud) diefe Gefdafte wie einft die Spiele der Jugend bon fich
getan, er ift „zur Ruhe gefommen, durd die Gnade Gottes.* Aber nod freut
er fid in der Grinnerung aller Schönheit feines reichen Lebens, noch freut
er ſich „feiner großen und treffliden Gaterftadt“, über alles preift er „Die
Stadt feines Gaters und feiner Mutter, die Stadt, welche Mechtilden, die
Groſſin, geboren werden fab.“
Durd das einfache Stilmittel der Wiederholung ftimmt der Dichter feine
Erzählung auf den weihenollen Ton, der gang der fdlidten Größe und Gre
habenheit ihres Inhalts entfpridt. Man beachte, wie hier fon am Anfang
dag feierliche Ichbefenntnis durch dies Stilmittel zuſammengeſchloſſen und ge-
fteigert wird, bis es auf feinem Hdbepuntt mit dem alles übertönenden Nas
men Mechtildes, der Groffin, in die eigentlide Erzählung einmündet. Immer
wieder erflingt es „Ich höre... — id höre..., Ich fcreibe...—id fdreibe...,
Ih bin... — id bin..., Ih babe... — ich habe..., Ich freue mid... —
id freue mid),...* um dann im legten Aufſchwung diefe Apotheofe zu krönen
mit dem breit und gewichtig ausladenden „Ich preife..., ich preife hier an
diefer Stelle und zu diefer Stunde die Stadt, welche Mechtilden, die Grojfin,
geboren werden fab!“
Damit ift dann mit allem Naddrud und aller Feierlichfeit das Stichwort
gefallen, welches die Geftalt herporruft, bie dem Erzähler bom erften Wort
an bor der Seele ftand, Die nun als weit überragende Heldin die Dichtung be-
herrſcht, in der fid ihre leuchtendfte Schönheit wie im edelften Kriftall jammelt
und offenbart. Gs ift ſchier ein Wunder um die herrlihe Kunft, die diefe holde
und hehre Geftalt in all ihrer Lieblichfeit und Hoheit herdorgugaubern ver—
modte, und es ift rührend und ergreifend, dies Schöpfungswunder nachzuer-
leben, ſoweit es aus dem fertigen Werk hervorleuchtet, die lichte Geſtalt zu
fdauen, wie fie in ihrer aufblühenden Liebe, in ihrer liebliden und hoben
Schöne durd die Dichtung fchreitet.
Zweimal erklingt der Name Mechtilde Groffin vor den der beiden andern
Geftalten, die neben ihr und der Sugendgeftalt des Graählers in der Dichtung
ftehen, viermal wird er genannt, bevor fie felbjt in die Graäblung eintritt.
And immer, wenn Ddiefer Name erklingt, fühlen wir das Herz des Graählers
höher fchlagen. „Es ift mein Garten und der, in dem Medtilde Groſſin als
ein Hein Mägpdlein fpielte und als Jungfrau Iuftwandelte, die mich zu fich her—
übergezogen haben.“ Wie dort in dem Preislied auf feine ftolge Baterftadt
399
im höchſten Aufſchwung des Gefühls fid dem Erzähler der Name ihrer hebrften
Tochter zum erjtenmal auf die Lippen drängt, fo bezeugt er hier mit der webs
mütigen Innigfeit rüdfchauender Grinnerung, welde hohe Macht fie über feine
Seele gewonnen bat. — Nun erft führt der Erzähler Michel Groland in feine
Geſchichte ein und ſchlingt das Band um diefe drei Geftalten mit dem einfachen
Cag: „Der wilde Sunker Michel ift mein Freund gewefen, und Mechtilde Srof-
fin die Braut des Junkers.“ So wird das Sdidfal der Jungfrau zuerft mit
dem des Sunfers Michel Groland verknüpft, und in den Worten: „Auch ihre
Stimmen find verſtummt, ihre Fußtritte verhallet: Tollel lege! — tolle! legel“
— ſtellt ſich der greiſe Erzähler den ganzen Ernſt und göttlichen Ginn ihres
Schickſals und des Wenſchenſchickſals überhaupt por feine einſame Seele. Un—
mittelbar darauf aber weiß er dreimal in einem furzen Abfchnitt die Schönheit
der Medtilde Groffin ins Licht zu rüden. „Keine ſchönere Blüte als
Mecdtild Groſſe“ ift an dem ,ftarfen Baum mit hundert Aeften“ des ftatt-
lidften aller Nürnberger Geſchlechter aufgebliht, ein Wunder fcheint es ihm,
daß er heute „welf und grau über der [hönen Dirne fommerliden Garten
in ihr Senfterlein“ fieht, in ihr Stüblein, aus dem fie einft „der Liebe gee
Hordend und des Ahnherrn Winfe folgend in aller Iugendfhöne“
Hinmegging. Und aud Hier wieder fühlen wir das „Zollel Iegel“ aus bewegter
Seele Deraufflingen, wie eS dann aud in dem Gage: „Anno Gbrifti 1400
ift Mechtild Orojfin in unferem Nadbarhaufe in diefe Welt des Leidens Hin
eingeboren worden“ ſtark mitfchwingt.
Sp ertönt immer wieder die fanfte göttliche Stimme, die mabnend auf
Sinn und Biel der Erzählung Hindeutet, gleihfam die ganze Handlung vore
wegnehmend, und dod die Seele des Lefers von Mal zu Mal höher fpan-
nend, nicht zwar in müßiger Neugier, aber in der Kraft innigfter Anteilnahme
und tiefften Miterlebens. Und wenn nun in fhöner Verflechtung und reiz»
vollem Wechſel der Lauf des Lebens der beiden jugendliden Geftalten, die
eradende und wachſende Neigung ihrer Herzen bis gu der höchften Liebe.
über Seit und Tod hinaus an uns porüberzieht, fo kann man faft von Ab-
ſchnitt gu Abfchnitt verfolgen, wie der epifche Ton in der hochgeftimmten Seele
des Graäblers fich immer wieder zu Iyrifcher Befdwingtheit fteigert, und wir
fühlen mit, wie er fich bei jedem neuen Ginfag der weiterführenden Gre
zählung erft wieder zur epifhen Rube zwingen muß.
Grftaunlid aber ift die Kunft des Aufbaus und der wechfelreihen Glie-
derung, Durch welche der Dichter fid immer neue Gelegenheit verjchafft, dia
Heldin in immer neuer und höherer Schönheit und Liebe leuchtend in den Bore
dergrund zu ftellen, und daneben zugleich die Geftalt des thpifd deutjchen
Ritters Michel Oroland in aller individuellen Lebendigkeit und plaſtiſchen
Rundung berportreten zu laffen.
Nad dem erjten Zöftlihen Sugend- und Kinderidpll, in dem fid ſchon
die herzliche Neigung gwifdhen „dem Kinde* und „dem wilden Sunfer* offen»
bart, läßt der Dichter Michel Groland dreimal — als Studenten, als vere
fchollenen Abenteurer und als Kämpfer um des Reiches Krone — in der
Serne weilen, und bei jeder Heimkehr tritt ihm und uns Mechtilde Groffin in
der alten und Doch wieder neuen, immer wadfenden Liebe und Schönheit ent
gegen. Als das Kind, als gebnjabrig Mägdlein, als erblühende Sungfrau,
alg ummorbene Geliebte, als ftolge Ruferin zum Kampf um des Reiches
Krone, als Harrende Braut, als mächtige Heldin — fo wächſt fie in ihrer
Liebe gu dem wilden Sunfer, dem tapfern, dem treuen, dem guten, dem armen,
dem rechten Ritter Michel Groland in immer neuen Geftalten zu immer grös
400
.
Berer Herrlidfeit empor, und die Schönheit der Bilder und Szenen, in denen
fie ung erſcheint, ijt nicht auszufchöpfen.
Als der griehifhe Meifter den Graähler feine Sprade Iehrt und fie
aud) den Sunfer Groland lehren will, jo wäre aud dies „vielleicht angegangen,
wenn das Kind nicht fein lodig Häuptlein in die grüne Laube geftedt hätte.
Der Meifter Theodoros malte uns eben mit einem Stüd Kreide das erfte
Gamma auf den Sifdh, da fam das Kind, und das Griechiſche war verloren
für den wilden Sunfer Michel Groland von Laufenholz. Gr fing das Kind
mit Laden und hob es fofend in die Luft und ftörte uns mächtig. Ich halt
ibn ernftlich, dod er lachte nur mehr und hat es um das Dirnlein nicht über
das Alphabet hinausgebradt: da aber {con bildete fic fein Schidfal her—
aus und das meinige.“ Diefes Brudjtiid aus der erften jener Szenen gibt nicht
nur ein in feiner rührenden Lieblidfeit föftliches Bild, es zeigt uns zugleich
die vier Hauptgeftalten in ihrer Verbundenheit und jede in begeidnender Bee
leuchtung, während im rührend liebevollen Ton, in dem unbefdreiblid) ine
nigen „das Kind... das Kind... das Kind...“ und in dem
mahnend ernften Schlußfaß der greife Erzähler, gleichſam als fünfte Geftalt,
mit feiner ganzen Geele dabei ift. Das Bild der Kleinen Mechtild aber er-
gänzt und verbollftändigt die fic unmittelbar anjdliefende Szene, wo fie „bei
den Leftionen auf des Freundes Knie fist, aufmerfjam und ftill genug’ zu»
bört, und mit großen ernften Augen auf das fummervolle Gefidt des weifen,
berbannten Lehrers fieht“. Den Sagden aber, die „das junge Kind“ und „das
erwachſene Kind“ durd den Garten um Bufh und Baum halten, fdauen
alle Nachbarn aus den Fenſtern zu und felbft die Grundberrin, die uralte
Mutter, in derem Haufe zum Schilde Kaifer und Reich über die güldene Bulle
zu Rate faßen, als fie ein jung Gheweib war, fommt „auf ihren Stab und ihrer
Enkelin Arm geftügt an den Zaun und Hat ihre Luft an der Jugend Luft.“
Diefe Geſtalt der Altmutter, der großen Anna Grundherrin, dient dem
Dichter nicht nur dazu, die Wirkung diefer Szene feelifch zu vertiefen und der
GErzählung einen hiſtoriſchen Ginjdlag zu geben, fie wedt aud) wieder das
Leitmotiv, das ,,Solle! legel* Denn „fie ift der erften Mater Leproforum,
der erften Mutter der Sonderfiehen... Helferin gemefen.* Und neben das
belle Licht des fonnigen Zugendidylls wird nun als dunkler Schatten die
Erzählung bom Glend der Sonderfiehen geftellt. Immer aber leuchtet aud
aus diefem Dunfel das Licht der Liebe, der „milden Grauen“, die fich der
Sonderfiehen erbarmen, und fo wirft das Geſchick Michel Srolands und der
Medtilde Groſſin nidt nur feinen Schatten, fondern auch fein ewiges Licht
borauf.
Der Schilderung des Leprofenwefens folgt die Erzählung, wie der Sunfer
mit dem Greunde auf der Unipverfität „ein.jeder auf feine Weife verharret“,
und nad ihrer Heimfehr finden fie Medtild Groffin, „als ein zebnjährig
Mägplein..., und bon neuem Hat das Spiel zwijchen dem Kinde und dem
Sunfer Groland angehoben.“ Und wieder wird mit ein paar ficheren Striden
{dftlid die neue Art des alten Spiels, die leife Gntwidelung in der Herzens»
neigung der beiden gezeichnet, des „tollen Studenten und Kriegsmannes“, der
alle „mit faft Iuftiger Giferfucdt von feinem erwählten Liebling wegdrängt“,
und des „Lieblings“, der fich „mit ganzem Herzen und allem zierlichen Gigen-
willen an den ftattliden Freund hängt.“
Nah fünf Gahren, in welder Zeit „die tunderlide Neigung...von Tag
zu Sag wuds, fic) veränderte und doch diefelbe blieb..., viel Liebliches wäre
darüber zu jagen“, muß der Sunfer die Nürnberger Gefandtjchaft „als Füh—
401
ter des ©eleits“ auf das Konzil nad Koftnig begleiten, und erft nad fünf-
jährigem Abenteuerleben fehrt er unerwartet und auf eigene Weife nad
Nürnberg zurüd. Sowohl feine Abweſenheit als aud feine Heimfehr weiß
der Dichter zu benugen, um uns Mechtild Groffin, die erblühende Jungfrau,
in immer neuem und Derrliderem Glange ihrer Schönheit zu zeigen. Hier
erweift fid ibm wieder die Doppeltolle des Graählers und Freundes als
befonders fruchtbar und ergiebig. In der Geftalt des daheimgebliebenen
Sreundes fieht und erlebt er felbft, wie fid) die Knofpe zur Blüte entfaltet,
und in der Geftalt des alten zurüdblidenden Erzählers fieht er fie im Lichte
ihres fpäteren Heldentums und hebt ihre Schönheit dadurch noch höher, daß
er bezeugen fann, wie er feinem ganzen langen Leben, fo weit feine Augen
reichten, feine Knoſpe fid zur Blüte entfalten fab, „die fchöner und fifer
war denn Die, fo in des Nachbars Sroffen Garten unter den Schweftern auf-
wuchs, und auf die Erfüllung ihres Lebens wartete.“ Bon ganz erlefener Kunft
und Schönheit aber zeugt die Darftellung, wie die Liebe des Sunfers Gro-
land und der Medtild Groffin, das, „was alle bis zulett für ein Kinder
{piel genommen batten“, fid „in der Naht auf Simon und Suda im Sabre
1420“ als ein „ſüßes Myſterium unter Feuerfdein und Waffenlärm offenbart.“
Auch aus diefer Schilderung des Tanzes und Waffentanges auf dem
Rathausfaal zu Nürnberg leuchtet vor allen anderen die Schönheit der Med)»
tild Groffin Herbor. „Mit den ſchönen Jungfrauen der Stadt find wir auf-
gezogen, und id habe die Wechtild, die Allerfhönfte im Reihen, geführet.“
Aber aud bier wieder drängt fid das Iette Bild der Heldin, mit feinem
nod) höheren Giang, aber auch mit feinem „Tolle! lege“ bor die Geele des
greifen Grgablers. Dann aber fieht er fie wieder „in der freudigen Pracht
der Jugend“, in der fie auf dem Gefte erfcheint, und weiß fie uns mit
einem einzigen Sat in einem Bilde bon unendlidem Liebreig por Aug’ und
Seele zu ftellen. „Und als fie unter dem Schein der Lichter und Fadeln durd
die Windungen des Reigens ladelnd und ftattlid fdlupfte, da ift wohl fein
Auge gewefen, weldes nicht mit Freude und Stolg dem holdfeligften Kinde
bon Nürnberg nadfolgte.“ Man fofte die vor allem burd die rhythmiſche
Spradbewegung erzielte plaftifhe Schönheit diefes wahrhaft fdftliden Bil-
des mitfühlend durch, um aud im einzelnen die hohe Kunft dichterifcher Ge—
ftaltung zu erfennen.
Aber aud das zeugt wieder von feinftem Didterfinn, daß bon dem Augen»
blide an, in dem beim plötzlichen Grfdeinen des Ritters Michel Sroland im
Rathausfaale der Arm der Mectildis im Arm des Freundes erzittert, fie
keuſch guriidbaltend wird. Und wenn fich der Ritter „in das Herz des Kindes
Medtild faft wie in die Nürnberger Burg gefdliden hatte, fo mußte er Doch
nun um das Herz der Jungfrau Medtildis eine neue und lange Belagerung
anfangen, ehe es gefteben mochte, daß es fic) ihm [don feit dem Kinderfpiel ge-
geben babe.“ Wie ſchalkhaft wird nun die Berliebtheit des werbenden Sune
fers gezeichnet, und wie uniibertrefflid) fein wird die Geftalt der Jungfrau
Mechtildis der des Kindes Medtild wieder in einem Bilde von feltenfter Köft-
lichteit gegenübergeftellt. „Die Sungfrau blieb fittfam im Bereich ihres Gare
tens, verborgen durch dichtes Gegweig, und nur felten erglänzte ihr Gewand
pon ferne dur das Grün.“ Welder äfthetifhe Feinfdmeder weiß uns in der
ganzen deutfchen Profa einen Sat zu nennen, der mehr als diefer und der
vorhin zitierte vom Reigen im Rathausfaal aud feinen Gefdmad zu be-
friedigen vermag?
And bod fpiiren wir fdon in der nun folgenden Szene, in welder die
402
Jungfrau die im Bebagen ihres Beifammenfeins vergeffenen Greunde zum
Kampf um des Reiches Krone aufruft, daß Raabeſche Didtfunft noch höherer
Schönheit mädtig if. Es wäre eine Berfiindigung an der vollendeten Gee
{bloffenbeit diefer Szene, wenn wir aud nur einen Gag unterfdlagen woll-
ten, und wir fegen fie darum in ihrem vollen Wortlaut hierher. Auf dem
Reichstag ift der Kreuzzug wider die Huffiten ausgerufen worden. Der Kaifer
hat die aus der Hand des papftliden Legaten empfangene Fahne des Kreu-
ges in die Hände Friedrichs des Erſten, des Kurfürften pon Brandenburg,
gelegt, „auf daß er des Reiches Heer führe und des Reiches Krone erlöfe“:,
„Das war ein ®eläut der Gloden in Nürnberg! Und unter dem Klingen:
und Dröhnen in den Lüften hat fic die verborgene Pforte geöffnet, die aus
des Vachbars Sroffen Garten in den unfrigen führte, und Durch den engen eine
gefriedeten Weg ber ift die Jungfrau, die als klein Mägblein fo viel lieber
unter dem Gezweig der Heden durchſchlüpfte, aufgerichtet, ernft und ftolz ber-
gefdritten und Dat uns aufgetrieben bon unfern Gigen, wie eine Gricheinung
der Engel des Herrn. Im Born ift fie por ung geftanden und Hat geredet ohne
Scheu. Der Ritter Groland und id haben uns Inapp auf den Füßen gee
balten; aber der griehifhe Heimatlofe, der Meifter Theodoros Wntoniades,
bat balde das Gefidt mit beiden Händen bededet, und die Tränen find ihm
zwiſchen den Fingern niedergerollt.
„Wiffet ihr nicht, wie es gehet um des Reides Krone?“ Hat die Sung.
frau gerufen. „Was figet ihr und treibet Kurzweil mit fremder Völker toten
Zeichen und Schriften, weil bas eures eigenen lebendigen Bolfes Krone, Zep-
ter und Schwert fo hart berannt und bedränget wird bon dem Feinde, port
dem man nidts wußte, ehe wir ihn groß madten burd unfere Schuld! Um
was werbet ihr, während Kaifer und Reich und alles Golf um Hülfe ruft für
die Krone, die der große Karl in Aachen auf feinem heiligen Haupte trug?
Meifter Theodor, faget Ihr es ihnen dod, daß man Heute im eifernen Har-
nif bleiben muß, wenn man fein Weib, feine Kinder und fein Haus vor
Shmad, Tod und Verwüftung hüten will, wenn man nicht heimatlos ume
fahren will, ein $remder in der Fremdel Wie lange glänzt nod der goldene
Reif des Kaifers Konftantin, ihr Männer bon Byzantium? Habet ihr nicht
geftritten für die Krone, wie es fich gebührte, ihr griehifhen Leute? Wehe
euern Grauen und Töchtern, wenn fie eud) das Schwert nidt in die Hand
drüdten, da es noch Zeit war!“ — —
Da brad die Jungfrau ab mit [autem Weinen; aber der wilde Freund,
der tapfere Ritter Michel, lag zu ihren Füßen und füßte aud mit Tränen in
den Augen den Saum ihres Gewandes; fie aber legte ihm Ieife die Hand auf
das Haupt und entfloh. Mit zitternden Händen fudte der Berbannte, der
heimatlofe Griede, feine Schriften zufammen, feine Knie bebten; gleich einem
bom Armbruftbolz Getroffenen fah er auf uns und rief:
' „Wehe eud, wenn ihr nicht höret, was die Kinder, die ſchwachen Mägd-
lein und die Graber eurer Borfahren euch in die Ohren gellen, — webe euch!“
And aud er entwich in taumelnder Eile aus der Laube; und fo ture
den ber Ritter Michel und ich gewonnen für den Kampf um des Reiches
Krone. — —“
Zweimal im Berlauf der ganzen Erzählung, bier und auf ihrem lebten
und höchſten Gipfel, als Medtilde Groffin ihre „ſchöne bleihe Wange“ an die
„bärene Rutte“ auf der Bruft des Wusfagigen legt, als fie ihm die lebte und
höchſte Liebe ermweift, gibt der Dichter der Heldin feiner Erzählung felbft das
Wort, und beide Male erfdeint fie als wirklide Heldin. Wie madtooll er-
403
haben fteht fie in unferer Szene über den drei Männern! Aber mehr nod
faft als in ihrem ftolgen Auftreten und in ihren hohen, berrliden Worten
müjfen wir die undergleidlide Runft bewundern, mit welder der Dichter nach
den Worten der Mechtild Grofjin den ergreifenden Abſchluß der Szene geftal-,
tet Dat. Dies gartefte Berldbnis der Liebenden in der Flücdhtigfeit des weihe-
bollften Augenblids, dies Hinwegeilen der Jungfrau, dies Echo ihrer Worte
aus dem Munde des verbannten, Heimatlofen Meifters und fein Gntweiden
„in taumelnder Gile* — das zeugt bon nicht genug gu beiwundernder Meifter-
Ihaft. —
Und als nun die drei bor dem Aufbruch der beiden Freunde in den Kampf
„zum legten Mal in Hoffnung und Glüd“ beifammenfigen, da wird ung
gleihjam die erfte jchöne Frucht jener Weiheftunde in den nur diefer Liebe
ganz entjprechenden und dod zugleich für das heimliche Liebesglüd des. deut-
{den Bolksliedes typiſchen Worten offenbart. „Was aber der Michel und die
Medtilde einander verfproden haben, das wurde gar leife gejagt; aber fie
beide Hatten die allerlichteften Gedanken und verfpradhen fid das allerfeligfte
©lüd, wenn des Reiches Krone von dem fchlimmen Feind erlöft fein würde.“
Dann jehen wir „die holde Maid“ noch einmal, wie fie neben dem ſchmerzens—
reihen Meifter Theodoros Antoniades von der hohen Stadtmauer den in den
Kampf daponreitenden Freunden mit wehendem Siidlein den Wbjdied nad-
winkt.
Gs folgt nun die ein kleines Kunſtwerk für ſich bildende Erzählung vom
Kampf um die Krone des Reiches und ihrer Grrettung vor den Huffiten bis
gu einer in der fich fteigernden Macht der dichterifchen Darftellung [hier atem-
taubenden G©ipfelung in der Karlfteinfzene, die Wilhelm Brandes mit tref-
fendem Wort „eine Szene bon faft myſtiſcher Erhabenheit“ genannt hat.
Als danad) der Freund Michel Grolands allein zurüdfehrt, da ruft er am
Sore „der um des Freundes Abweſenheit erbleihenden Freundin die frohe
Mar vom Roß zu, daß Michel Groland nit in der Huffitenfdladt ver-
Ioren gegangen fei...“ und „Die Jungfrau neigete fich mit der Hand auf dem
Herzen.“
Und nun weiß der Dichter fid nicht genug zu tun, ung die ,liebesfrohe
Maid“ in immer neuer Schönheit und der rührenden Bertrauensfeligfeit ihres
hoben Liebesgliids por die Geele zu ftellen, des Slides, welches durch das
dem Greunde mitgegebene Wort von „des deutſchen Volkes allerhidfter Kron“,
das Michel Sroland im Allerheiligften, in der Kirche zum heiligen Kreuz auf
dem Karlftein vor des Reiches Krone gefproden, feinen höchſten Gipfel er-
‚reicht hat. Als der Freund ihr fein Geheimnis verrät, „da find wahrhaftig
aus den weißen Rojen auf den Wangen der Jungfrau gar rote geworden;
und rote Rofen blieben es um den Schwur, fo bor des Reiches Krone getan
worden war, und rote Rofen blieben es durch Winter, Frühling und Sommer,
und es war eine Herrlidfeit Gottes um die Sreude und den Stolz der jungen
Tiebesfrohen Maid.“ Jetzt, da fie „ein fo lieblid) Geheimnis“ miteinander tei-
len, fühlen fid der Freund und die Freundin „mit goldenen Ketten“ aneine
ander gebunden, „....und fein Märlein, feine goldene Legende war der Wune
der voller, alg das Reich der Geligfeit, welches die Sungfrau in der Gtille
auferbauete.“
Wir können nicht alle herrlihen Worte hier wiedergeben, mit denen der
Dichter uns der Jungfrau höchſtes Glück vor die Seele zaubert. Aber wir
müjfen doch zeigen, wie er nun den goldenen Ring rundet, in welchem er alles
Glück und alle irdifhe Schönheit der Mechtild Groſſin gefaßt bat, indem er
404
mit einer Szene abſchließt, die jener entjpricht, in der „Das Kind“ zum erften-
mal durch die Hede in den Garten ſchlupfte und fie lebhaft in unferer Grinnes
rung wadruft: „Wiederum haben wir im Sommer in der Rofenlaube an der
ihirmenden Mauer der Stadt Nürnberg unjern Studiertifch gehabt, der Mann
pon Chios und id, und jetzo hat fih die Maid wie in den Kindertagen nicht
mehr gefdeuet, zu uns herüberzukommen aus den Blumen, dem Grün, dem
Gonnenjdein des eigenen Gartleins, und bat neben uns ftill gefeffen und dem
Beridht bon den Kämpfen des edlen Hektor, des unverſehrlichen Achilleus, des
biedern Aias gelaufchet und bat des ritterlihen Freundes im fingenden Here
gen gedacht, und feiner Heimfunft bon der neuen Heerfahrt in Liebe und Treue
gewartet. Die Baume haben ihre Blüten über unfere Schriften herabgeſchüt—
telt; ich habe das Pergament weggeworfen, um mit der Mechtild einem bunte
farbigen Schmetterling nachzujagen, und felbjt der Weifter, der alte graue
Lehrer, der Gerbannte, bom heidnifhen Feinde Bertriebene, der Heimat»
loſe, deffen [ete Burg und glorreidhe Stadt Konftantinopolis von dem Bere
derben nod) fdlimmer und beftiger bedrohet war, als unfere Heimat, bat
an unferem Mutwillen feine Greude und über unfer leicht und glüdlih Herz
fein Lächeln haben mögen.“ Wir überlaffen es dem Lefer, fid) der Schönheit
diefer Worte und Bilder und durch den Vergleich mit jener erjten Garten—
{gene der Entjprechungen zwijchen beiden im einzelnen bewußt gu werden. Nur
auf die feine Bariation wollen wir hinweifen, daß bier nicht der Greund und
die Freundin einander. jagen, wie dort der Junker und Die Eleine Mech»
tild, fondern daß beide dem buntfarbigen Schmetterling nadeilen. Wud bee
adte man, wie der Geftalt der Altmutter, der Örundberrin, dort, die des
alten grauen Meifters Theodoros hier entjpricht, wie aber darin zugleich eine
Steigerung liegt, die auch in der Häufung der vielen, das ſchwere Geſchick des
Meifters umfchreibenden Attributen nahdrüdlih zum Ausdrud fommt.
Gin doppeltes ,,Solle! lege! — Tolle! Iege!“, das gewidtigfte Der ganzen
GErzählung, und die vollausge{driebenen Worte des heiligen Auguftinus, mit
denen er feine Niederfchrift anhob, fett nun der greife Schreiber auch bor den
folgenden Schlußteil der Erzählung, in dem fic das tragiihe Sdidjal der
beiden Liebenden erfüllt und offenbart, das als Ginn und Biel feines Berichtes
von Anfang an dem Erzähler vor der Seele ftand. Vom Gipfel des hddften
@lids werden wir in den Abgrund des tiefften Glends geftofen: Die Gre
sählung von der legten Heimfehr Michel Grolands aus „Hungarn“ hebt an.
Wer fann fic der zwingenden Gewalt, der unheimlihen Wucht diefer Dare
ftellung entziehen, die uns erfchauernd mitfühlen läßt, wie Der Freund bon dem
Sdidjal des Freundes Schlag auf Schlag getroffen wird, bis es ihn buchftäb-
lid zu Boden fchmettert! Wer weiß aus unferer ganzen Literatur Gewal—
tigeres zu nennen als das ftumme Bild unter dem Kreuze por dem Siechfobel
bon St. Johann? Herzzerjchneidend Klingt der Schrei „Michell Michel!“, dem
„nur der fcharfe zifhende Wind in den dürren Gräfern antwortet“, und
dann das entjprechende „Mechtildel Mechtildel* Wir erleben „die tiefite Sr
niedrigung* des Freundes mit, wir erleben mit, wie ihm alles, was er lieb
hatte, feine ftolze Baterftadt, die ganze Welt zum Spott und Hohn wird,
wie „nichts überblieben bon dem Menfchen, der vor zwei Stunden ausge»
gangen.“ — Wir fühlen bis ing Innerfte mit, wie es ihm durch die Seelefchneidet,
daß er „dem fchönen lächelnden Mädchen, das in feinem füßen Vertrauen
auf Gottes Güte fürder wandelt“, Die Hand gum Tange bieten muß, während
Dod überall das Schwert Michel Grolands „in den Boden geftoßen“ vor ihm
ftebt. Gr muß es erleben, wie die Jungfrau in der Erwartung der baldigen
405
glüdlihen Heimkehr des Geliebten ihm „Itrablend in der Fülle ihres Glüdes
...mit dem Ginger auf dem Munde“, die große Neuigfeit zuflüftert bon der
Rüdkunft der Krone des Heiligen Römifchen Reiches nad Nürnberg, und es
fommt der Augenblid, wo er mit dem griechiſchen Meifter und der Stoll-
boferin, der Mater Leproforum, zu der Berlobten Michel Grolands geben
- muß, wo fie ihr „das Buch des Todes aufgefchlagen und auf die Stelle
gedeutet haben, die ihr Gefdid in flammenden Scriftzügen wies. — —“
In dem fideren Gefühl, wo Hier die Grenze realiftiicher Darftellungstunft
liegt, überläßt es uns der Dichter, den unfäglihen und unfagbaren Schmerz
der Medtilde Groſſin an dem des Freundes zu ermeffen, und fie tritt uns
erft wieder entgegen, nachdem fie überwunden bat, wieder in Schönheit, aber
in einer neuen Schönheit, die alle jene irdifhe weit hinter fich läßt, in einer
Schönheit, die nicht von dieſer Welt ift. Es verfagt fid uns das Wort, aud
nur einen ſchwachen Gindrud zu geben bon der fdlidten, hehren Größe der
Szene, die der greife Erzähler „mit pochendem Herzen“ niederfchreibt, von der
Szene, in welder der Dichter feine Heldin und uns auf die legte Höhe führt.
Hier ift ,jeglide Macht nichtig“ gegen fie, Hier tritt fie uns entgegen in der
großen, edlen Rube der Siegerin. Auf diefer legten Höhe ift Mechtild Groffin
Jungfrau, Braut, Weib und Mutter gugleid — aller Grauen Krone —
Mater Leprojorum — ja, in ihrer über jedes Leid erhabenen Liebe, in der
Liebe, die alles verträget, die nimmer aufhöret, „die aud ihre Macht bee
halten mag, ob allem Schall und Farbenfpiel der Erden“ — ift fie Die Hel-
din ſchlechthin.
„Das war die Nacht, in der fich mein Leben ——— Durch den Klage—
geſang bon Sankt Johann habe ich die ſüße kindliche Stimme gehört, wie Sank—
tus Aurelius Auguftinus fie aud) vernommen hat.“ So ſchreibt der Graäbler,
nachdem er uns bat miterleben lajjen, wie er mit dem hoben bygantinifden
Meifter „bis über die falte dunkle Mitternacht hinaus“ fdweigend por dem
Giedfobel bon St. Iohann gejejfen, „der Alte und der Junge, und es war
fein Anterſchied gwifden unfern Seelen.“ „.. Aus dem großen Leid ift die
große Ruhe erwadfen...“ Und nun wiederholt fid, aud bier den Kreis
ſchließend, das Ichbefenntnis, aber nicht in jener gefpannten Grregung des
Anfangs, fondern in der großen Rube des Ausflangs.
Und in diejer großen Ruhe Hingt aud die Erzählung aus. Noch einmal
sieht der Freund aus wider die Huffiten, und bei feiner Heimkehr hat er „den
Freund und guten Ritter Michel roland... nicht mehr in der Grdennot
funden.“ „Der Braut“ begegnet er in den Gaffen, „die ging aufrecht in der
Seelnonnen Gewand...und grüßte ftill hinüber“, und er weiß noch bon ihrem
ſchönen Leben und ihrem ſchönen Herzen zu jagen.
Wir haben nur eine Linie durch die Erzählung hin verfolgen und ihre
Kunfi und Schönheit nur foweit zeigen können, als fie fid in der Geftalt der
Heldin unmittelbar fundtun. Gs würde den Rahmen eines Zeitfchriftenauf-
fages fprengen, wenn wir nur annähernd ausführli auch den übrigen Ge-
ftalten der Dichtung nadgeben wollten. Wir würden die große Kunft be-
wundern müffen, mit welcher der Dichter jede in ihrer Art feftumriffen vor
uns Dinftellt. Den Michel Groland als den typiſchen deutſchen Ritter, den
„jungen Adler“, den tumben Michel, der aufs Geratewohl auf Abenteuer aus-
sieht und doch das Befte heimbringt, den tapfern, den treuen, den guten, den
ftarfen, den armen, den rechten Ritter, der fein ſchreckliches Geſchick trägt und
allein tragen will. Ihm gegenüber fteht der Freund, der Patrigierfohn mit fei-
ner bumaniftijden Bildung aus erfter Quelle, der ohne den griedifden
406
Meifter Theodoros nicht gedacht werden fann. Bis ins Kleinfte werden die
beiden Hauptgeftalten in ihrer reinen Deutfchheit pon jenen beiden unter»
fdieden. Se einmal reden Michel Groland und Medtilbe Groffin den grie-
Hifhen Meifter an und beide fagen „Meifter Theodor“, während er oom
Grgabler ftets Meifter Theodoros Antoniades genannt wird. — Wir mußten
darauf verzichten, Die Welt- und Lebensanfchauung, wie fie in der Geftalt des
Graählers zum Ausdrud fommt, rein herauszufchälen und zu zeigen, wie der
Dichter den gefhichtlihen Hintergrund malt, wie meifterhaft er das Gefdhidt-
lide mit dem Grfundenen zu verweben weiß, wie gewiffenbaft er das Difto-
riſche Quellenmaterial berwendet, und wie er es dichteriſch umfchmilgt. *
Die feine Kunft der dichterifchen Sprachgeftaltung mag man aus den ge»
gebenen Proben erfennen. Wir weifen nur noch darauf Din, wie ftarf der
Dichter durch Klang» und Gefühlswert eines einzigen Wortes zu wirken ver—
mag. Als zum erftenmal die legte Heimkehr Michel Grolands erwähnt wird,
da beißt es: „Sıft im Sabre 1423 ift er bon Ofen guriidgefebrt gu gräß-
lihftem Wehe“ Und als nah der Riidfehr die Stollboferin zu dem
Freunde bon der fehredtichen Entftellung des Ritters fpricht: „Seine leibliche
Mutter würde ihn nicht mehr fennen. Ich babe ihn nicht erfannt, du würdeft
ibn nicht erfennen,“ da wiederholt fie nad Diefen furgen Sägen, in derem
Rhythmus wir nod die RKeulen{dlage des Schickſals nachgufiiblen glauben,
in diefer Stimmung und in ihrer Sprache jenes Wort in der mit ftärkfter'Sinn=-
fälligfeit malenden Wendung: „SOottes Hand greifetgräßlid.“ Und
wie bezeichnend ift es, daß Der Dichter erft in jener faft überirdifh erhabenen
Szene uns das Antlig des Wermften bon der Hand der liebenden Medtild
ſelbſt enthüllen läßt.
Themen für fich wären es, dem ftarfen Gormelement des funftoollen Paz
talleligmus der einander entfprehenden Szenen und Wotive durch die Erzäh—
lung nachzugehen, den fünftlerifchen Aufbau bis zur legten Höhe zu verfolgen,
gu zeigen, wie in der dichterifchen Geftaltung auch das Kleinfte bis zum {ware
gen Tropfen, der dem greifen Schreiber aus der Feder fließt, ſymboliſche Be—
deutung gewinnt, die große Meifterfchaft des Dichters, die hiſtoriſche Illufion,
die Illufion der erfundenen Handlung und der gegenwärtigen Stunde neben=-
einander wachzuhalten und vieles andere mehr.
Das alles aber müßte in dem Sinne und gu dem Ende gefdeben, des
Meifters Hohes deutfches Lied von des Reiches Krone feinem deutjchen Bolfe
tief und unaustilgbar ins Herz zu prägen. Man lefe die Dichtung wieder und
immer wieder. Grit beim wiederholten Leſen wird man gang in ihre Tiefe
eindringen und fid bom erften Aufflang des ,,Solle! legel“ ab tieffter Gr-
griffenheit nidt erwehren können.
Stanz Hehden.
Kleine Beiträge
Gon Arbeit und Eigentum.
Das fiebente, neunte und
SER eee:
Du follfe nicht fteblen. Du follft nicht
‚> begebren deines Nadften Haus. Du
foltft nidt begebren deines Nadften
* Siehe dazu „Wilhelm Gebfe, Aus
Weib, Knecht, Magd, Vieh oder alles,
was fein ift.“
Laut und — — erhebt ſich in
unſerer Zeit der Widerſpruch gegen die
Oeſinnung, die aus dieſen Sätzen zu uns
gu {preden fdeint. Habt ihr nidts an-
eres, nidts Widtigeres gu fagen über
Wilhelm Raabes Didterwerfftatt. Des
Reidhes Krone“ (Raabe-Ralender 1914) und „Wilhelm Brandes, Allerlei Raabe-
quellen“ (Mitteilungen f. d. Gef. der Freunde Wilhelm Raabes 1913 No. 3).
407
Eigentum und Wirt{daft als dies? Gre
ſchöpft fih darin eure fittlide Weisheit,
daß ibr das Gigentum „heilig“ fpredt?
Schütt ihr dadurh nidt mit dem Ane
fprud einer höchſten Autorität eine ganz
beftimmte ®efellihaftsordnung, die in
ihren Auswirfungen den Menjden ver—
gewaltigt, die zur Ausbeutung und Un-
terdrüdung, zur Gerfflapung der Men⸗
{den getiipet bat? Herrſcht nidt im Na-
men Des ,gebeiligten Gigentums“ die
furdtbarfte Ungerechtigkeit und Lieb—
lofigfeit? Hat diefe Gefinnung des
„Rechts“ nidt fraffe Selbftfuht und den
barten Willen gum Kampf aller gegen
alle zu ihren Kindern? Sft nidt das
Gigentumsredht längft und taufendmal
unter dem höheren Gedanken der menſch—
liden ®emeinjhaft und der Berpflid-
tung, Die fid) aus diefem Oedanken er-
geben, zum böfen Anrecht geworden?
Soweit diefer Widerfprud bon denen
erhoben wird, die nur dag fremde
Eigentum als Ungerechtigkeit empfinden,
deren Denken und Wollen zulett felbft
auf Befit, Genuß, Wohlergehen gerid-
tet ift, joweit braudt er uns nidt nad-
dentlih zu ftimmen. Du follft nicht be-
gebren — das Wort bleibt immer wahr.
Denn die Begierde maht gemein und
verfflavt. Neid ift eine niedrige Empfine
dung, ob fie nun den einzelnen oder eine
Waſſe beberrjht. Einer Zeit, die den
Wert des Lebens in dem Anteil an den
@iitern diejer Welt fieht, Hält dies Wort
bor, wie veradtlid fie if. Daran fann
feine Wirtjdhaftsordnung irgend etwas
ändern. Nidt das Gigentumsredt, aud
nit eine beftimmte Berteilung des Bee
fißes ift Der Grund des Mebels. Ihre
Aenderung fann darum feine Hilfe brine
gen. Die Geſinnung, die Geld und Gut
mißbraudt, die Gefinnung, die den Wen-
fen an die Dinge bindet, ihn gum Knedt
der toten Dinge madt, ift die tribe
Quelle des Anheils. Gebunden ift aber
nidt nur der, der Hat; gebunden ift
ebenfo, wer begehrt, oft genug erniedri-
gender alg jener. Der „Mammonsdienft“
madt unfrei und böſe. Gr madt den
Befiger verantwortungslos, er madt den
Armen gudtlos. Gr nimmt allen die
Sabigfeit, den anderen und feine Welt
zu adten, die ihren äußeren Ausdrud
im Gigentum findet.
&3 gibt feine „chriſtliche Wirtſchafts⸗
ordnung“, fo wenig es ein ,,driftlides
Schneiderhandwverf“ gibt im Gegenfab
zu einem heidniſchen Schneiderhand-
werk. Wohl aber gibt es dhriftliche
Schneider, die aud in ihrem Beruf den
GhHriften nicht verleugnen, fondern bee
währen. Die Ordnung der Wirtfdaft ift
feine Grage, die fid unmittelbar
408
pom driftliden Gewiffen löſen ließe. Die
redte Ordnung der Wirtihaft zu fine
den ift eine Aufgabe des Gadperftan-
des. Diefer Gadperftand muß freilich
durch die redhte Gefinnung geleitet wer-
den, die um Ginn und Biel aller Wirt-
{daft weiß. Aud die Wirtidaft ift feine
„Sade für fih“. Die Wirtihaft ift eine
Ordnung der äußeren Mittel des Lebens
und ihrer Grgeugung, die, ihren eigenen
Bedingungen entipredend, fadhgemap ge-
ftaltet fein will. Aber fie ift eben nur
eine Welt der Mittel. Wer das ver-
ißt, Der wird aud nicht ſachgemäß wirt-
haften fönnen, denn zum ſachgemäßen
Berhalten gebört, daß id dem Sinn einer
Gade geredt werde. Sefinnung und Sad-
verftand durchdringen einander, eines ift
nidt ohne das andere Man fann fid
darüber nur vorübergehend taujden. Da-
rum wehe, wenn die Wirtjhaft fic felber
zum Swed wird. Dann bört fie auf,
Ausdrud und Hilfe des Lebens zu fein
und führt gu dem Chaos einer Zeit der
bloßen Wirtfhaft, wie wir fie heute er-
[eben müjfen. ,Bernunft wird LUnfinn,
Wobltat Plage.“ Wehe, wenn die See
febe der Wirtfhaft als Beftimmungen
des Lebens mit dem Anfprud auf un-
bedingte Geltung ausgerufen werden. Die
Wirtidaft und ihre Gefebe haben es
immer und allegeit nur mit dem Bee
dingten zu tun, das dem Unbedingten
unterworfen bleiben muß. Die Wirt
{aft dient dem Leben, oder aber fie
vergewaltigt e8 und taubt ihm feinen
Sinn. Wieder gilt das Wort: Du follft
nit begebren! nd Hinter dem Verbot
leuchtet das Gebot auf: Du follft dienen!
2.
Du follft nit begebren! Dies Wort
erhält aber im Urdriftentum einen neuen,
unmittelbar religidfen Klang, den ihr
„Shriften“ unferer Zeit gefliffentlich über-
bört, fo lautet der zweite, febr viel ernft-
gner Einwand gegen dieje Gebote vom
igentum und feinem Shut. Wir finden
bei Sefus und in der Siingergemeinde,
in der Apoftelgeit, ja, in den ganzen
erften Sabrbunderten der driftliden
Kirche eine völlige Whwendung von al»
lem, was zu diefer Welt gehört und eine
ungebrodene Hinwendung zum Senfeits.
Gs liegt über dieſer Zeit eine Stimmung
der Weltabgewandtheit. Diefe Welt vere
gebt, es fomme das Reid! Sefus preift
die unbefdmerten Armen felig, er warnt
por den ©efabren des Reidtums, der
die Menihen an das Hier feffelt. Wenn
ihr Nahrung und Kleidung habt, fo laßt
eud) genügen, fo beißt e3 bei Paulus.
Die Apoftelgefhihte erzählt, wie in der
erften Gemeinde alle beitrugen zu dem
gemeinfamen Anterhalt und dafür ibr
Eigentum bingaben. Wie gleihgültig,
wie vorübergehend ift das alles, mas die
anderen fo widtig nehmen; wie zieht es
nur bon dem Einen ab, das Not ift! Gebt
Dem SKailer, was des Kaifers ift, und
®ott, was Gottes ift — dies befannte
Wort Jeſu ift doch por allem ein Aus-
drud dafür, daß Jeſus die Frage, die
ibm die Juden ftellen, als völlig une
wejentlih zur Seite fdiebt. Und je mehr
wir in die Geſchichte der Kirche hinein-
fommen, um fo ftarferen, unmißverftänd-
lideren Ausdrud fdafft fid diefe Stim-
mung, bis zu dem uns heute ganz unfafe
liden, für die $römmigfeit jener Zeit
aber ein gefeiertes, gewaltiges Symbol
Darftellenden Sreiben der Gäulenhei-
ligen. $ür @ott, für die andere, jens
feitige Welt, für die wahre Heimat da-
fein und darum den Dingen diefer Welt
eine fo geringe Aufmerkſamkeit zumwen-
den, al8 es nur irgend möglich ift, das
ift die Gefinnung, die fid in der Hal-
tung diefer Asketen ein weithin ficht-
bares Denkmal f{dafft. Das Leben bier
unten auf der Erde ift nur eine vor—
übergebende furge Seitfpanne der Prü—
fung. Alle @lut des Herzens, alle ine
brünftige Gebhnfudt gehört dem Droben.
Das ift e8, was uns in den erften
edten Zeiten des Ghriftentums entge-
genleudtet. ind immer wieder ift es
Dieje Stimmung, die in religiös=leben-
digen Zeiten der Rirdhe durdbridt, in
der Myſtik, im Pietismus. In fo vielen
unjerer Rirdenlieder flingt fie an. Seht
nad Indien und auf feine Wsfefe, wenn
ibr Heute nod Iebendige, echte Reli»
gien finden wollt, ſo ſagt man uns. In
em Chriſtentum des Abendlandes iſt ſie
längſt geſtorben.
Iſt nicht das Chriſtentum unſerer Zeit
in der Sat nur allzuweit entfernt von
diefer Stimmung? Sft es diefer Welt
nidt allzufehr zugewandt? Sft die Reli-
gion nidt völlig zu einer Begleiterfdei-
nung, einer gemüthaften, äfthetifchen oder
weltanfhaulihen Gergierung eines Lex
bend geworden, das mit feinem ganzen
Dillen und Grnft dem Inhalt dieſes
irdijden Dafeins zugewandt ift? Und
ift nidt im runde genommen die Ree
ligion durch dieſe nicht zu leugnende
BWillensridtung der abendländiihen Kul
tur geftorben? Wir haben Kultur und
Religion miteinander zu verbinden *
ſucht. Aber was haben in Wirklichkeit
Religion und Kultur miteinander zu
tun? Sind nicht wahrhaft religiöſe Zei—
ten für die Dinge der Kultur blind?
Was fab Paulus in Athen, in Korinth
bon der munderbaren Sunft diejer
Städte, von der Blüte ihrer großen Kul—
tur, Die wir Heute nod anftaunen?
Nidts! Er fah das Lafter, die Sott-
lofigfeit, den Zerfall. Sit es nidt fo,
daß der Blid entweder nad innen oder
nad außen gewandt ift? Können wir
aber beute nod ernftbaft leben, ohne
die Welt ernft zu nehmen? Kann uns
Die Religion wirflid etwas fagen zu
unferen §ragen der Arbeit und des
Eigentums?
G3 ift ganz gewiß fein Zufall, daß
gerade Da folde Gragen laut werden.
Wir leben in einer Zeit der umfaffen-
den und tiefgreifenden Kriſis unferer
Kultur; einer Krifis, die eben darin
ihren @rund bat, daß unfere Kultur
mit echter Religion wirflih nichts mehr
gu tun bat. ®enau fo wie die grie-
Hilde Kultur, die Paulus in Korinth
fand, wie die ganze fterbende Antike,
in deren Welt das Ehriftentum eintrat,
mit ®ott nidts mehr zu tun hatte. Un«
fere Kultur ift ohne Geele, ift gottver-
laffen. Die Welt ift leer und, {dal gee
worden. Gie jagt nichts mehr, fie bee
deutet nidts mehr. Sie hat ihren Sinn
verloren, den einzigen Ginn, den Die
Kultur haben fann, Symbol zu fein für
das, was über aller Kultur if. Wo
darum Gott heute wahrhaftig erlebt wird,
da wird er erlebt als der, der Diefe
Welt gerbridt. Gein Leben offenbart
ih als die Rataftrophe der Zeit. Gr
fommt und zerftört den babplonifden
Surmbau.
3.
Dies fann und muß zunädft gejagt
werden. Es muß gejagt werden gegen«
über all der Religiofität unferer Zeit,
Die fih fo wichtig nimmt, der aber je-
ner wurgelbafte Grnft fehlt, der aus der
Gerfflapung [dfen, der frei maden
fönnte, weil er ein entfdloffenes Nein
aufbringt zu dem, was ift, und ein ech—
tes gläubiges Sa für Den ridtenden
®ott. Der Heilige tritt uns gegenüber
mit einem unbedingten Anfprud. Gr ift
uns alles, oder er ift uns in Wahr—
beit nichts. In der Oewißheit des Got-
teserlebniffes find wir über alle Kultur
und alles irdiſche Oeſchehen hinaus.
Der Seift des Glaubens hebt uns über
allen Streit und alle Problematik der
®efhidte empor, in eine letzte Hingabe
des Lebens, eine lebte Verſöhnung, in
den §Grieden, der höher ift als alle Bere
nunft. „Sie wandeln auf Grden und Ie-
ben im Himmel“, das ift das unper-
lierbare und unentbebrlide Kennzeichen
echter Frömmigkeit. Der Religion geht
es um Öottesgemeinfhaft. Lm nidts ane
deres.
Aber gerade von da aus gewinnt die
Kultur einen neuen Ginn. Nicht nur die
409
Wirtfhaft, alle Kultur ftebt unter dem
Wort: Du follft dienen! Gie dient, und
das beißt, fie meift über fid hinaus;
oder fie zerftört das Leben. Wo fie
bindet, wird fie Oötzendienſt und madt
uns zu Rnedten des Todes. Gie bee
freit und dient dem Leben, wo fie fid
begreift alg Symbol. Gdte Kultur ift
wie der Turm des Domes, der den Blid
auffteigen läßt in die Gwigfeit. Das ift
die große Frage, die in ihrer Krijis der
Kultur geftellt ift: wird fie durch das Gee
richt, das heute über fie ergebt, gapurge
werden, in aller ausgebreiteten Seilhaftig-
feit ihres Lebens den Ginn zu finden,
ihren Beruf zu erfennen, und fo aus
einer Welt des Todes fih gum Dienft
am Leben zu wandeln? Zu einem
Dienft, der nur fo ang und fo weit Dienft
ift, alg er fih willig diefem Gericht
untermirft, das immer wieder in dem
unbedingten Anſpruch Gottes über Als»
les ergeht, was if. Dennod und ge»
rade fo zu einem Dienft, der gebeiligt
ift, weil er getan wird in der gläu-
bigen und verjöhnten ©ewißheit der
®ottesgemeinfdaft, in der Gewißheit der
»Seilbaftigteit*? Ihr feid Chriſti, Chri-
ftus aber ift @ottes, fagt Paulus, und
darum ift alles Euer. Go fann man
„baben, als hätte man nit“. Das ift
Steiheit pon der Welt, gugleid aber
Sreibeit zum Dienft in der Well.
Gine Sreibeit, die weiß, daß alles
@ott gehört, daß darum „alle Kreatur
auf die Offenbarung dieſer Freiheit der
Kinder Gottes wartet“. Chriſtlich und
deutfh ift es, in allem was ift, ebr-
firdtig nah dem zu fuden, was Die
Gade will, auf den Kern zu ſchauen.
Grft das ift Kultur, die fid als Gottes-
dienft begreift, ift „ſachliche“ Kultur, ift
finngebendes Berbalten. Gine Gade um
ihrer felbft willen tun, was das beißt,
weiß nur, wer fie um Gottes willen
tut.
4.
Bon da aus wird unfere redhte Stel»
lung zu Arbeit und Gigentum, diefen
beiden Grundformen unferes Anteils an
der Kultur, Mar. Arbeitskraft und
Eigentum find anvertraute Pfunde, die
wir verantwortlich, als Dienftleute und
Lehensmänner Sottes, zu veriwalten ha—
ben. Seglide Arbeitsfraft, von der
Gtarfe der Arme bis zur Schöpferkraft
des begnadeten Künftlers. Arbeit ift
®ottesdienft. Wo fie ed nidt ift oder
nidt fein fann, da beginnt die Not. Das
ift der innerfte Kern der ,fogialen
Grage“. Arbeit foll Beruf fein fönnen.
Gie fann es nur fein, wo die Arbeit
ihren letzten Ginn darin finden darf,
Dienft zu fein am Leben. Aber der
410
Beruf wird zerftört, die Fron beginnt,
wo die Arbeit Mammonsdienft ift, Herr-
(haft der Dinge über die Geelen. Der
Mammonsdienft madt alle „fachliche“
Leiftung unmöglid. Da ift ron nidt
nur beim „Arbeiter“ zu finden, feelen- ,
mordende Fron ift dann aud das Tun
des Sabrifberren.
Gigentum aber ift um der Gerantwor-
tung willen; ein Leben, das wir finn-
gemäß zu verwalten haben. Das ift der
tiefe Ginn des Gigentumsredts, von
feinem Volke fo tief verftanden wie von
unferem Ddeutiden Golfe. Wenn Mie
@ael Kohlhaas gum Empörer wird, fo
wird er es wahrhaftig nidt aus Gigen-
fudt, fondern weil er in feinem Redts-
anjprud) das Redt felbft, das göttliche
Recht verteidigt, pon dem aud fein Redt
fih ableitet. Gr fteht im Kampf um fein
Gigentum nidt für fic, er ftebt für das
@ange, deifen Lehnsmann er als .Gigen-
timer ift, das er im Anfprud auf
fein Recht verteidigt gegen ſchnöde Will-
für und felbftifde Begier. Wehe dem
Golf, daß diefen Sinn des Gigentums
und des Rechts verfehrte. Ihm wird
in einem ganz tiefen Ginn das Gigen-
tum ,entbeiligt* und damit die Berant-
wortung der anmafenden Willfiir geop-
fert und die Ghre des Mannes der Gaffe
preisgegeben; der Sudtlofigfeit find alle
Sore geöffnet.
Darum ift die Gigentumslofigfeit brei-
ter Schichten eines Volkes eine große Not
und fittlide Gefahr. Nicht, weil dadurd
viele bon dem ,geredten Anteil“ an den
@iitern des Lebens ausgefdloffen find.
Sondern weil fie ausgeſchloſſen find von
der Ehre und Würde der Berantwor-
tung, die im Leben des Gigentums den
Menſchen gegeben wird. Und nur zu
leiht wird der Menih ohne Eigentum
zum Gflaben feiner bedürftigen Natur.
Darum ift äußeres Glend allen, die ed
anjeben, ohne nad ihren Kräften zu
belfen, ein fhwerer Vorwurf. Aud der
Nadfte ift zur Freiheit berufen.
5.
Du follft nit begehren. Aber du
follft dienen. {ind darum follft du did
bineinftellen in diefe Welt. Darum follft
2 als bätteft du nit. Aber die Ab-
febr von der Welt, die Flucht ift, fie
ift aud) Glaubenslofigfeit; ift Schwäche;
oder eine Gelbftjudt feinerer Art. Sie ift
nit das tapfere und vertrauende Denne
nod des Slaubens, fie ift die Bergweif-
lung, die obnmadtig dem GSeridt des
Heiligen über die Welt zufieht und fid
felbft diefem @eridt zu entziehen fudt.
Wehe uns, wenn der müde Geift des
OSndertums uns unferem Beruf untreu
machen follte. Wieviel Eitelfeit lebt inaller
Askeſe, wo fie nicht ganz eindeutig nur ein
Mittel der Erziehung, oder eine Pree
digt der Sammlung und Gerinnerlidung
fein will; wo fie nicht Dienft ift, fon-
dern Heiligkeit gu fein beanfprudt. Wohl
preift Sefus die Armen felig, aber webe
den Armen, die fid daraus einen Titel
der Geredtigfeit und Gottwobhlgefalligfeit
maden. Alles ift Guer; Ihr aber feid
Ehrifti, Shriftus aber ift Gottes. Dienet
mit Gurer Arbeit und dienet mit Eurem
Reidtum!
Sröftet Gud aber allein der ewigen
@nade!
Bom didterifden Schaffen.
a) Dramen und Romane, ja Novellen
aud und Balladen ihrem Didter
nidt fir und fertig in den Schoß fale
fen, das wird aud der Lefer wiffen,
der fonft über dichterifhes Schaffen nie
fonderlih naddadte.
Aber Gedihte? Nun, die jchreibt
man eben bin. Dafür ift man bod
Dichter. Und der Lefer ftellt fid in dies
fem Augenblid mit gütigem Lächeln den
Herrn Poeten in einem Buftande gelin-
der Berrüdtheit por.
Sa — allerdings gibt es Gedidte
(foweit man überhaupt über deren Ent—
ftebung orientiert ift) die blank und ſchier
aus der Geele fpringen wie die Nuß
aus der Schale, die alfo gleih endgitl-
tig und einmalig zu Papier fteben.
Wie lange fold Gedidht aber im Kopfe
des Autors fid) wandelte, bevor er es
niederfdrieb, ift nod eine zweite Gade.
Denn Gedidte wadfen wie jede
Srudt wadft, müffen wie dieſe erft
Spelzen und Hülfen fprengen, um rund
und reif berborgutreten. Sa, der ure
{priinglide Kern vermag fih zu fpalten
und eine Doppelfrudt erfdeint.
Aehnlides will das Nadfolgende
(bisher LIngedrudtes) ohne großen Kom-
mentar einmal deutlid madden.
Sh weiß nidt, warum bier etwas
gefliffentlih gu — wäre.
And faß id — Hände,
faß id mein ander Id.
&3 wadfen meine Wände
—— über mich.
Das endrot entſchwindet.
Komm, ſchau mit mir hinein:
Was innen tief uns bindet,
muß ewig ſein.
II.
Mit verändertem Anlauf entſteht
noch am ſelben Tage das folgende fer—
tige Gedicht:
Karl Bernhard Ritter.
nd wenn id Deine Hände faffe,
fo ift’s, alg ob der Berg erbebt
und feine erdenftarre Maife
gewaltig fid gum @ipfel Debt.
Es fteigt die Olut der tiefften Brände
Binauf in Wolfenbheiligen{dein.
Das ift das Wunder Deiner Hände.
Und Deiner ae nur allein.
Seht ward an Tage — aus
der allg fallen gelaffenen 2. Strophe
von I:
Der Abend fteht in Feuer
Wir fhauen ftumm binein.
And morgen wird ein neuer
Morgen wieder fein.
Dazu als nadtraglider Auftaft (al-
fo voran guftellen!):
Der Sag, der geht zur Riifte.
Hat jeder feine Plag.
nd immer fo, als wüßte
fein Tag — ER Sag.
G3 ändert fid:
Wir fdauen ftumm hinein,
das nod als Nadbleibfel des ungeteilten
erften @edidts Zurüdblieb, in:
G3 Iodert rot ae Schein.
Nad ein paar Zagen fommt das fo
geociebene Gedidt mir in die Hände
und obne weiteres fdreibe ih darunter:
Da böre id ein Rufen:
Da feh id eine Hand:
Du weißt nur von den Gtufen.
Der Tempel ift dir unbefannt.
Das war am 23. Suni. Und Heute
(1. Suli) änderte id endgültig wie folgt:
Der Tag, der geht zur Riifte.
Hat jeder feine Plag.
nd immer fo, als wüßte
fein Sag vom andern Tag.
Der Abend fteht in euer.
&8 Iodert rot fein Schein.
Und morgen wird ein neuer
Morgen wieder fein.
Da fordert mid ein Rufen.
Da weift mid eine Hand.
„Du fiebeft nur die Stufen.
Der Tempel felber ift dir unbefannt!“
Hermann Glaudius.
Die Berfladung unferes Spradgefühls.
Unlere Ohren ſind grob und taub ge—
worden; wir hören garnicht mehr,
was alles in RSS immer nod febr
— — und bildkraftvollen
prache klingt. Es ſind darum in letzter
Zeit viele Schriftſteller darauf verfallen,
uns dieſe Oegenſtändlichkeit der Sprache
durch das Sinneswerkzeug zu vermitteln,
das nod) am ſchärfſten arbeitet: das Auge.
Bei Oundolf fand ich zuerſt den Einfall:
zuſammengeſetzte und abgeleitete Wörter
411
ourd DBindeftrihe auseinandergugerren.
Seitdem baben’s ifm viele andere nad
gemacht: Bielfah mit erftaunlicher BDir-
ung. Das Wort ,bertwerfen“ 3. B. gebt
durd unjer Obr, "pinterlaft einen Gine
drud abftrafter Art, mehr nidt. Wird
aber dasjelbe Wort unferm Auge darge»
ftellt in Der Gorm „per-werfen“, fo wird
uns pliglid die febr fonfrete Handlung
des ,, Werfens bewußt, die in dem Wort
liegt, und die Borfilbe „ver“ empfinden
wir dann dod aud wieder in ihrer
eigentliden Bedeutung als „weg, in fal-
{der Richtung“. Das Wort „Enttäu-
fhung“ mit Bindeftrid „Sntstäufhung“
gefdrieben, regt zu weiterem Nachdenken
an. Gine „Täuſchung“ ift eine nidt rich»
tig erfannte Wirklichkeit, Tatſache, Wahr-
beit. Ginem zu tiefft wahren Wtenfden
müßte alfo eine Täufhung immer ein
Anluftgefühl erregen. Die „Ent-täu-
{dung dagegen, die uns aus der Täu—
{hung Herausreift, müßte uns das Ge—
fühl der inneren Befreiung erregen. Da-
gegen vergleihe man aber, was wir
wirklid bei einer „Snttäufhung“ emp-
finden! — Hermann Krieger bat ein Bud
gef@rieben: „Not-Wende“. Aus den bei-
den zufammengefoppelten Wörtern fpridt
eine Fülle ernfter Gedanfen, leidt ver-
ftändlih für jedermann. Wenn Krieger
nun in Diefem Bud das Wort „not
wendig“ gebraudt und es mit einem
Bindeſtrich „notwendig“ fdreibt, fo gebt
unjerm Spradgefibl plislid auf, weld
ein vollgewidtiger Inhalt in diefem Wort
ftedt. Wir werden wahrſcheinlich ftoden,
wenn uns nun einmal ein gleidgiltiger
Sat über die Lippen fahren will wie
etwa: „Sch muß heute notwendig nod
in Die Stadt.“ Uns ift dod wohl, als
brade das Wort „notwendig“ mit feiner
Kraft und Tiefe heraus aus dem inhalt-
lid leeren Gab. —
Ih babe an mir und andern beob-
adtet, dab wir duch diefe Bindeftrid-
manier wieder aufmerffam ge eiworden find
auf unjere Sprade und Daß wir mit
großer Freude beginnen, uns ihrer Bild-
baftigfeit wieder bewußt zu werden. Aber
tief betriiblid ift Dod die hierdurch feft-
geftellte Satfade, daß unfer vielleidt
edelfter Sinn: das Gehör, abftumpfte.
Als weitere beweijende Tatſache gehören
dazu die Verfilmungen klaſſiſcher Wort-
dramen. Nathan der Weije, Minna von
Barnhelm, Sbfens Dramen, Hamlet, alfo
lauter Werke, deren Gwigfeitswerte Doch
im Bort liegen, verlieren diefes Befte,
und nur das bißchen, was für die Augen
beftimmt ift, wird den Schauenden por-
geführt.
Mehr Spradverwirrung als Sprad-
verflahung bedeutet eg, wenn unfere
412
Kinokultur eigenmädtig den Sinn eines
Wortes ins Gegenteil umbiegt. Was hat
fie aus dem feftumriffenen Begriff
„Sitte“ gemadt? Wenn von fdreienden
Plataten das am fetteften gedrudte eine
Wort „Sitten“ uns entgegenfdreit und
in Heinem Drud- darunter ftebt: „Film in
fo und fo viel Akten“, fo befagt in diefem
Salle das gute Wort „Sitten“, daß in
diefem Film das Gegenteil, namlid „in
fitten, Gittenlofigfeit* dargeftellt wird.
Und wir nehmen die Umwertung oder
Entwertung des Wortes „Sitte“ ruhig
hin. Wie wir überhaupt unfere Sprade
nit hüten und pflegen als das Kleinod,
das fie Dod if. Georg Kleibömer.
Allmer3 bei den Kleiderfellern.
3 Zufammentreffen und vollends
den näheren Umgang mit bedeu-
tenden Männern babe id von früh auf
für einen befonderen Vorzug der Lee
bensführung gebalten und deshalb die
Gelegenheiten zu folder Auszeihnung
geiwiffenbaft genugt, ja, wohl aud) ge-
fudt. Ih darf freilid nidt verſchwei—
gen, daß id einige aus Ungeſchick oder
Sahrläffigfeit aud) verpaßt oder ver-
fäumt babe. er nidt von foldem
GEntidliipfenlaffen glüdhafter Umſtände
will id bier ſprechen, ſondern von der
Bereicherung, die mir durch die Be—
kanntſchaft mit Perſönlichkeiten größeren
Zuſchnitts zuteil geworden iſt. In dieſem
Sinne bin ich lebenslänglich meinem ver-
ehrten Freunde Wilhelm Brandes, der
fürzlih als Oberſchulrat i. R. feinen fieb-
gigiten Geburtstag in Wolfenbüttel feie
ern durfte, zu größtem Danfe verpflid-
tet, weil er mid in — Jahren in
die Geſellſchaft der ehrlichen Kleider—
ſeller in Braunſchweig einführte. Die
Verkehrsformen dieſes Kreiſes waren dae
angetan, den guten geſelligen An—
agen Vorflut zu verſchaffen und une
nützen Hemmungen der Entwicklung vor—
zubeugen.
Es iſt ſchon oft die Feder angeſetzt
worden, dem Fernſtehenden das eigent-
lide BWefen diefer merfwiirdigen Bere
brüderung, die durd ihr pornehmftes
Mitglied, Wilhelm Raabe, in die Litera-
turgeſchichte gefommen ift und darin eine
erfte Stelle zu behaupten einftweilen
alle Ausfiht hat, flar zu maden; aber
das ift febr ſchwer, um fo fdmerer, als
bei dem wedfjelnden Mitgliederftande
und bei dem Nidtftilleftehen der Zeit
felbft in Diefem Kreiſe die vorwalten-
den Wefenszüge nicht eindeutig geblie-
ben find. Gin fhöner Zug war es je-
Denfalls, daß ein irgendwie bedeutender
Bejud, der einem Mitgliede widerfubr,
fofort der Gefamtbeit zugeführt wurde.
Dieje eingeführten Fremden fpielten bei
den Sujammenfiinften im Laufe Der
Sabre eine große Rolle, und ihrerfeits
nahmen fie mehr oder weniger bedeu-
tende Gindriide mit nah Haufe. .
Nun hatte ih im Juli 1891 von Lü-
neburg aus, wo id auf dem dortigen
GStadtardive einiges gearbeitet hatte, an
Hand von Hermann Allmers MWarfden-
bud, für das id mid Damals auferor-
dentlich begeiftert hatte, eine Fußreife
emadt. Zunädft ging die Reife am
infen Glbufer flußabwärts bis nad
Cuxhaven und dann, indem id die Halb-
infel bSurdquerte, an die Wefer und
Durd die dortigen Marfhen auf Bree
men zu. Hier nun wartete meiner ein
wahrhaft mardenbaftes Slid. Sh durfte
in dem ſchönen Safthof zu Smftein, im
Lande Wurften, unmittelbar am Wefer-
deih, an einer Tagung der „Männer
bom Morgenftern“ teilnehmen. Ganz ab-
fihtslos fchneite ih in Diejes Feſt, das
dem vom Dürgermeifter pon Geeſte—
münde zum Leiter der Hanfeati-
fhen DVorführung in Lübeck beru—
fenen Braunſchweiger Gebhardt zu
Ehren gegeben wurde, hinein. Den
Hdbepuntt des Abends bildete das
Eintreffen Hermann Allmers'. Nachher,
bei feiner temperamentvollen Abfahrt,
wollte mid Allmer3 gleid mit auf feinen
Hof zu Redtenfleth entführen. Da ich
mir aber batte verraten laffen, daß es
infolge der unbegrenzten Oaſtfreundſchaft
des Dichters auf dem einft fo blühenden
Hof nidt mehr gum beften ftebe, febte
id der ftürmifhen Ginladung ausrei—
Genden Widerftand entgegen und blieb
im Sreife Der ausdauernden Männer
bom Morgenftern urüd. Aber die
Sreundfhaft war gefdloffen. Und nidt
lange, fo führte fie den ftets reifeluftigen
Gdlenderer nad Draunfhweig und in
das Heine Gartenhaus am Petritore, das
id Damals mit meinen Schweftern be-
wohnte. Die friegten feinen kleinen
Gdreden, als fid ihnen, wie fie vor
der Türe faßen, unerwartet die gewal—
tige @®eftalt des damals etwa fiebenzig
Sabre alten Didters nabhte. Nicht to
wohl das etwas eigenartige Weuffere war
e8, das fie einigermaßen in Derlegen-
heit fette, als die unartifulierte Sprach—
weife, der der Befuder nad mir
fragte. Denn befanntlid batte diefer
Mann, bei dem alles nah Mitteilung
drängte und der eine bedeutende Bered-
famfeit entfalten fonnte, einen fogenann-
ten Wolfsradhen mit Hafeniharte, jo daß
fih feine Worte nur unvollfommen forme
ten. Wan mußte fih erft in feine Redes
weife bineinhören. Bei einer Taſſe Raf-
fee ftellte fid dann die Bebaglidfeit ein.
Tur über eins wunderte fid Allmers
immer wieder, daß id bei der Anfün-
A des Befudhs durd) meine Schwe-
fter gleih gewußt hätte, um wen es fid
bandle. Daß er aud auf die gedräng-
tefte Bejhreibung bin fofort wiederzu-
erfennen fei, davon fdien er feine Ah»
nung zu baben. — Run folgte eine
Wanderung durch die Stadt. Es madte
den Straßenjungen Braunfhiweigs viel
Gergniigen, Dem Gremden, der in etwa
an den Reifeanzug Hoffmanns pon Fal—
lersleben erinnernder Sradt neben mir
berfdritt, in einiger Gntfernung zu fol»
gen und den Aeuferungen feiner Gin-
rüde gu laufhen. Namentlih auf dem
Schloßhofe hatte id einige Mühe, fie
guriidgubalten. Im Gdloffe wohnte da-
mals Der Regent des Landes, der
Pring Albrecht bon Preußen. Aad def-
fen Beliebtheit fragte mid der Gaft mit
lauter, Gottlob ſchwer verftändlidher
Stimme. An meine Antwort, die einiger-
mafen zurüdhaltend gefaßt war, fnüpfte
er die umftändlihe Erzählung von einer
Begegnung mit dem Prinzen in den Ka-
tafomben Roms. Dies Grlebnis bat er
aud in feinen römifhen Schlendertagen
mitgeteilt, dort mag es gewiß am Plage
fein. Hier aber, unmittelbar unter den
Senftern des hoben Herrn, batte- die
Wiedergabe des Begebnijjes etwas Pein-
lihes. Denn in durhaus nidt gewähl-
ten Ausdrüden fdilderte er, wie er dem
damals nod jungen Prinzen feine an«
gefidts der ebrwiirdigen Stätte unan-
ebradten Scherze und Späße verwieſen
Babe, und auf den Hinweis des Beglei-
ters, daß er es mit einem preufijden
Prinzen zu tun babe, in die entrüftete
PBerfiherung ausgebroden fei, daß ihm
diefe Sigenihaft gänzlich einerlei fei. Sh
war in Diefem QAugenblide fo {dledt,
daß ih mid über den Spradfebler des
aufgeregten Mannes freute; Denn obne
dieſen wäre die Ggene auf dem Sdlof-
bofe vielleiht nidt fo harmlos verlau-
fen, wie e8 troß der allmablid ange-
wachſenen Zubörerihaft der Gall war.
Nunmehr fprad Allmers das Berlangen
nad einem Glaſe Bier aus. Ich führte
ibn in die Hagen{denfe, die für die Er—
füllung diefes Wunfdes wie gefdaffen
war. Der große GOaftraum war nod
giemlid leer. Merfwürdigerweife trafen
wir dort meinen älteren Freund und
Mitfleiderfeller, Profeffor Schlie, an, der
duch irgend einen Zufall um dieſe
Stunde dorthin geführt worden war. Nod
merfwürdiger war, daß gleichfalls der
Oberfhulrat Eberhard um diefe Zeit hier-
ber feine Schritte [enfte Da ich bee
forgen mußte, daß das immerhin auf-
fällige ®ebahren meines Gaftfreundes in
413
den Augen des damals allerdings nidt
mebt allgemaltigen Gdulmannes zu aller-
band Mifdeutungen Anlaß geben fönne,
fo ſchien e8 mir das Weratenfte, die bei»
den Römer, den Humaniften und den
Schlenderer, miteinander befanntzu-
maden. Das war denn aud febr wohl-
getan. Aber, wenn id gedadt hatte, den
®egenftand der Anterhaltung zwifchen
ihnen würde das ewige Rom bilden,
fo Hatte ih mid febr getäufht. Denn
Eberhard war mit der Beit fo fehr von
feinen BHumaniftifden Sntereffen abge»
fommen und in den Schulverwaltungs-
betrieb Hineingeraten, daß er den Frem-
den Iediglid pon feinen unmittelbaren
Sorgen, der DBejehung eines eben frei
gewordenen Direftorpoftens, unterhielt.
Diefe Gade hatte ihn denn aud in Die
Hagenſchenke getrieben, weil er eine
Stunde {pater einen in der Vachbarſchaft
wobnenden darin mit zuftändigen Herren,
der nidt gu Haufe gewefen war, treffen
follte. Immerhin war das Gefprad im
@ange, und id fonnte die für mid dar
dur gewonnene Gntlaftung bam, bes
nugen, durch furge enzykliſche ittei⸗
lung die durch Dienſtmänner
baren Kleiderſeller für den Abend in
das Gewandhaus zu beſtellen. Denn ich
hatte nach meiner Rückkehr von jener
Reife und meiner Begegnung mit All«
mers foviel in deren Rreife erzäblt, dah
ihnen der Befud nicht vorenthalten were
den durfte. Namentlid Wilhelm Raabe
mußte ihn fennenlernen und Allmers ibn.
&3 wurde ein ganz anfebnlider Kreis,
der fid in der fleinen Dönje neben dem
Hauptgaftzimmer zufammenfand. Der
Kellner, der uns firforglid wie immer
betreute, ift jet DBrodenwirt; er fönnte
meinen Beridt von diefem Teile Des
Allmersfhen Befudes in Braunfhweig
beftätigen. G3 läßt fid faum ein grö-
ferer Gegenfab denfen, als fid zwiſchen
dem felbftfideren Iateinifhen Bauer aus
der Marfdh und dem balb-ffeptifd, balb-
ſchüchtern zurüdhaltenden Wilhelm Raabe
offenbarte. Gine eigentlide LUnterbal-
tung entwidelte fid nidt, wenn man
darunter den Austaufd von Witteilun—
gen und die Ausldjung von Gedanfen
und Ginfallen auf beiden Seiten verftebt.
Denn Allmers entlud fid, ungebemmt
durd feinen Gpradfebler, in breiter Mit-
teilfamfeit einer Menge von Grlebniffen
feines langen Lebens, das ihn in DBezie-
bung mit vielen WMenfden aller Ord-
nungen und ®rade gebradt hatte. An—
erfhöpflid mar er in Vorführung von
Leuten, die mit irgendeinem Anliegen
auf feinem Hofe anlangend, dort wochen⸗
lang getweilt batten, einer fogar in der
Abjidt, für fein Marfhenbud die Mu-
414
erreich- |
fit zu {reiben. Offenbar batte er viele
diefer ®efhichten {don unzählige Male
zum beften segenen und war des bei fei-
ner Greigiebigfeit verftandliden und ge-
wohnten Beifalls gewärtig. Raabe hörte
dem Alten mit einer gewiffen nadfid-
agen Aufmerffamfeit gu. Obgleid er
felbft einen hübſchen Vorrat bon netten
Schnurren in petto hatte und id ibn
felbft gelegentlih welche recht wirfungs-
poll babe erzählen hören, fdien er nidt
auf den ®edanfen zu fommen, mit dem
@afte etwa den Wettbewerb aufzuneh-
men. Ih war — ein bißchen ent⸗
täuſcht über die Einſeitigkeit der Unter⸗
haltung und hätte ae den Häuptling
der Männer bom Apenfeen gegen«-
über mit dem Sleiderfellerfürften Staat
gemadt. Nadträglih ift mir aber das
Serbalten Raabes aufgegangen. Der
breiten Dingegebenbelt an bie äußere
Welt, die den Warſchbewohner neben
feiner Gdwarmerei für die allgemeine
Bildung und den Fortſchritt fenngeid-
nete, hatte diefer ausgefprodene Innen⸗
menſch, der fid) feine Welt nah den Bee
dürfniffen feines Gemüts eigengejeblid
formte, nidts Rommenfurables entgegen-
ufeben. Daber redeten fie oder ſchwiegen
fie aneinander vorbei. —
Raabe bat denn aud fein lrteil
über den Abend, als ih mit dem Fremd⸗
ling gegangen war, um ihn in fein Gaft-
haus zu geleiten, in die Worte gefaßt:
Der Kerl hatte gar nidt zu fommen
brauden: Wollenhauer hat ibn in feinen
Grgablungen viel beffer gefannt.
Karl Mollenbauer.
Lebenserinnerungen des Alten Mannes.
aabe ift einer der wenigen Peut-
fden, Die, ohne von politiihem Ref-
jentiment geleitet zu fein, nidt in dem
neuen Saijerreih, aber in den neuen
faiferliden Deutihen die feeliide Ber
änderungen empfanden, die ein Men-
ſchenalter jpäter zu jener tiefen Grfran-
fung des deutſchen Wefens führte, wel
de wir die milhelminifde Wera und
in ihrem beutigen Stadium die deutihe
Republif nennen. Im Borwort zu jei-
nem „Chriſtoph Pechlin“ fpriht er bie
Pein aus, die ibm diefe Ginfidt berei-
tete; der ſchroffe und ſchmerzliche Wider
{prud gegen den Feftlärm feiner griin-
dungsfrohen Beit entladt fid in jener
Erzählung, deren feltjamer Humor aus
diejer Not fommt. In faft allen Grzäh-
lungen, die in feiner Gegenwart fpielen,
erfdeinen Geftalten aus der Epode, die
diefer Veränderung vorberging. Ihnen
und den fleinen Fürftenftädten, in deren
fdattiger Stille fie reid und wunderlid
aufwuchſen, galt feine Liebe; in ihnenbörte
er das, was wir heute in feiner Kunft
bören: das Boden des deutihen HKer-
ens, jenes zarten und kraftvollen, wei-
en und unrubpollen Dinges, an dem
alle Galfer des Erdballs Aergernis neh⸗
men.
&3 ift ein fhöner Glidsfall nidt nur
der Literaturgefhihte, daß die Zeug-
niffe aus jener Gpode fid um einen
wertpollen Beitrag vermehrt haben, daß
gu den ,Sugenderinnerungen eines alten
Mannes“ ein per Band getreten ift,
ufammengeftellt aus den Briefen Wil-
heim bon Rigelgens an feinen Bruder
®erbard *. Greilid find Die ,Sugend-
erinnerungen“ ein bon ihrem Perfaffer
forgfam gefeiltes, abgewogenes Werf, die
‚„xebenserinnerungen“ dagegen bon freme
den Bearbeitern aus bebagliden Briefen
durch Streidungen und Zufammenlegun-
gen guredtgefdnitten, aber beide Werke
erhalten fo wenig von der literarifden;
fo febr von der perfinliden Seite ber
ihren Wert, daß diefer große formale
Ainterfdied für die Bedeutung der bei-
den Bande nidt ins Sewidt fällt. Im
Segenteil, die Linmittelbarfeit diefer brü-
derliden Briefe wiegt mindeftend Die
geringere Durdarbeitung durd ihren
Serfaffer auf. Zwar fann man ohne
Ginfidt in die Originale den Einfluß
der Bearbeiter nidt abſchätzen, aber die
von ihnen ausgewählten Zitate unter den
gablreiden Bildern erweden Zutrauen
u ihrer Tätigkeit; fie zeugen davon, daß
fie nidt nur mit Lmfidt und Sewiffen-
baftigfeit, fondern aud mit wirflider
Ginfiblung das ihnen anvertraute Out
verwaltet haben. inter diefen Bildern
findet fid ein Porträt eines jungen
Mädchens, das im Haufe Kügelgens wie
ein eigenes Kind galt. Die Herausgeber
fegen darunter eine Briefftelle: „In Die»
fem jungen Mädchen, das weder {din
nod geiftreid ift, lebt etwas, das id
nidt nennen fann, das aber einen Sau-
ber übt, den alle Menfden fühlen.“
Kügelgen fann ibn nidt nennen, aber
zeihnen. Gr, der leidpolle und rin-
gende Menfdh, auf den fih das Shae
rigma, die Gnade, nur in feltenen
Alugenbliden berabjentt, er fennt fie
Dod, und ift imftande, fie ins Bild zu
bannen. Dazu peidbige ibn nidt nur
malerifhes Können. Genes Bild Hat die
Kieblidfeit einer Geele, die in innerer
Heiterfeit das Leid erwartet, an dem fie
reifen wird, mit folder Reinheit wie-
* Wilhelm von Kügelgen, Lebensere
innerungen des Alten Mannes. 8
Köhler Verlag Leipzig. In Pappband
ME. 3.60, Halbl. ME. 4.80, in Gangleinen
auf bolzfreiem Papier Wf. 10.—.
dergegeben, daß wir fühlen, was der
arten, bon böfen Humoren geplagten
atur Kügelgens die Kraft gab, mit der
er auf feine Umgebung und auf uns
wirft. Mathilde Balentiner, fo heißt je
nes junge Mädchen, ift die „Frau bon
der ©eduld“, ehe fie vom Sdidfal erfaßt
wird, in findlider Grwartung und dod
für den Lebensweg gerüftet, der fie in
die Kabenmühle führen wird: das im
Leiden gejegnete deutſche Herz, traume
vg und {dicdfalsbereit.
on bier aus muß man den Weg zu
Kügelgens erfonlidfeit fuden. Was
aus Ddiefem Bilde fpridt, ift das worum
er ringt, — nidt was er befitt. Aber
e8 lebt in ihm als Gebnfudt. Deutlider
wohl als in den „Sugenderinnerungen“)
die in den Slang einer glüdlihen Kind-
beit getaudt find, fpricht fid dieſes Rin-
en in den Driefen aus. Zwei Fragen
ind e8, in denen der Lebensfampf Dies
fer verwundbaren und dod unbefiegliden
Natur fi Eriftallifiert: die Religion und
die Politif.
Bei Kügelgen — wie übrigens gele-
gratis bei abe — finden wir jenen
iberalismus, an den ganz gu Unrecht
die beutige Demofratie anzufnüpfen
glaubt. Diefer Liberalismus ift bon dem
Aingeifte de8 modernen Liberalismus
ebenfo prinzipiell unterfdieden, wie die
ftolge und fühne „Aufllärung“ Griedrids
des Großen und Leffings bon der Grei-
geifterei, wie fie der geiftige Kleinbürger
aus Haedel entnimmt.: Gs ift ein Anter⸗
fhied des Ranges, nidt der Ideo—
logie, und darum unferm Zeitalter,
weldem Nietzſche ohne Nuten gelebt bat,
unfaßlih. Bei Kügelgen erleben wir nun
den denfwürdigen Zufammenprall zwi-
{den dem „proteftantiihen“ Liberalismus
und Der beroifden Politif, die in der
Oeftalt Bismards in Die deutihe See
ſchichte wieder eintritt. Sener Liberalis-
mus ift ein Zuſtand deutfch-nationalen
Strebens — das Worthatindiefer Zeit eine
bon Arndt und Sabn Herfommende Bee
deutung, die wir heute faum nod heraus-
bören —, in dem das deutſche Wefen
abnungspoll nad feiner politiihen Gorm
fudt, die feine ftaatliden Kräfte binden
foll. Die Reden in der Paulstirde hal—
len wider pon Diefer Gebnfudt, aber
nur Hellbörigen ift es vergönnt, in den
Worten des Landtagsabgeordneten und
Minifters v. Bismard den Klang wieder gu
erfennen, auf den fie warteten. Zu dieſen
Hellhdrigen gehört Kügelgen; abgeftoßen
bon dem Geſchwätz der Revolution, er-
fennt er in Bismard die Führernatur,
die dem Drange zur Tat verhilft, der als
DBollen die ,deutihe Frage“ aufge»
worfen hat. Dem fdeuen Maler ermög-
415
lidt das Gertrauen feines Fürftenhau-
fes, als Mittler zwiſchen der alten und
der neuen Zeit zu wirken.
Diejes Gertrauen erwirbt fid Kügel-
an durch eben jene Gigenjdaft, wegen
er wir ihn heute lieben: durd eine ftille
und ergreifende Gite, die bon dem Wee
fen echten Humors faum zu trennen ift.
Sie madt ibn zum Freunde feines ver-
blödenden Herzogs und deffen tapferer
@attin. Der Wahnfinnige vom Schloß
Hoym hängt an ibm wie Täuberih Pa-
{ba an Leonhard Hagebuder; die Ge-
{prade, die Riigelgen wiedergibt, er-
flären, warum der franfe Giirft in Diefer
Geſellſchaft fih wohl fühlt; zwiihen dem
mit feiner Zeit zerfallenen Irren und
dem zeitlofen Künjtlerherzen befteht eine
Gerwandtidaft, die nur zwiſchen dem
— und wahrem Humor möglich
t.
Dieſer Humor kommt aus den tiefen
Schichten, aus denen die letzten Fragen
aufſteigen. Man fühlt, bier iſt man in
der Luft, die Raabes Graählungen ate
men. Aus dieſer Welt ftammen feine
melandolifh=heiteren Weijen, feine alten
Lbrmader und Erfinder und feine Anti
quariatsbudbandler. Kügelgen gehört zu
ihnen. Wud über ihm liegt jene Stim-
mung, die das landläufige Urteil als
Relignation bezeichnet. er das Wort
vermag die beitere und Leiddurdwebte
Stille nidt auszudrüden, die nidt aus
einem Mangel, fondern einer Fülle des
ar berfommt. Diefer Zuftand der
Seele ift aud) das Ergebnis der religidfen
Kämpfe, die Kügelgen durdgemadt hat.
infere modernen ,@ottfuder“ und Die
Prediger, deren Gemeinde fie bilden, tä-
ten gut, diefe ebrliden Befenntniffe zu
Iefen. Sie rühren an das, was die Re-
ligion jenfeits der Menjchenfeele ift, an
das Mpfterium, das wir ahnen und füh—
len und dod nicht erwerben fönnen,
wenn es fih uns nidt jhenft. Kügelgen,
der feine tiefe und innige Srömmigfeit
nie verliert, bat Dod ein jchmerzendes
Wiffen pon einer lebten Wirklichkeit,
Die fid ihm verſchließt, nadhdem fie fid
at in Stunden der Begnadung gezeigt
at. —
Siebenundzwanzig Sabre umfafjen die
Briefe. Nehmen wir die „Dugenderin=-
nerungen“ binzu, fo überbliden wir faft
ein ganzes Menfchenleben. Leber Die-
fes Herz „ift mandes Ungetüm getram-
pelt“. Aber im Reifwerden der Perjön-
lihfeit bleiben ihre @rundlagen unver-
ändert; jie dauern im Wandel, wie eine
Landidhaft, über die die Jahreszeiten hin—
geben. Lind diefe Landfdaft ift ein Stüd
Heimat der deutſchen Geele,
Albredt Grid Öüntder.
Der Beobachter
Borries Freiherr von Münchhauſen
regt in der Frankfurter Zeitung an,
man folle, wie einft da3 Bolfslied, fo
jest den ©afjenhauer fammeln, ehe er
ausfterbe. Der richtige alte Gajfenhauer
(„Sm Grunewald ift Holzauftion“ ufw.)
„Itirbt an feinem Nadfolger, dem Shla-
ger, denn: Das deutihe Golf ſucht
ih niht mehr aus einer Anzahl von
Liedern das ihm entfpredendfte aus, fon-
dern eine fleine einflußreihe Gruppe
bon Operettens und Schwanffabrifanten
beftimmt alljährlih in Wien, neuerdings
aub in Berlin, welche Lieder, welde
Operette als „Schlager“ des Sabres zu
gelten haben. Diefe werden dann in Der
nötigen Aufmadung allen Phonographen
und ®rammopbhonen und in allen Stimm»
lagen und Begleitungen allen Sortimen-
tern zugefertigt und bald fann feine
Damenfapelle und fein Tanzabend, feine
Drehorgel und fein Gaffenpfeifer mehr
ohne den Schmarren fein. Da aber die
Lieferanten gleid) ihren ©ejinnungsge-
noffen bom SHausvogteiplah immer neue
Nouveautés freieren und auf den Markt
416
werfen milffen, fo fommt das einzelne
Lied nist mehr, wie etwa vor gwangi
Sabhren, zur wirfliden Auswirfung un
fozufagen organifhen Ausbreitung, fon-
dern die Hebjagd wird immer wilfter
und baftiger. Nur nist zur Rube fom-
men lafjen! ,Sarara — bumdiäh“ fang
nod ganz Deutidland felig gleichzeitig,
beute faut Altenburg nod am Gaffen-
bauer von vorgeftern, Leipzig Leppert
am geftrigen, während Berlin ſchon aus-
gerehnet Bananen fdnuppert. Aber in
Wien werden derweil die Tips für den
fommenden Winter ausgegeben.“
3: einer Polemik gegen die „Kölniſche
BDolfsgeitung*, die den „©eift von
London“ als ,@eift des Guropdismus“
preift, ihreibt „Der Deutihe“: „Wir ha-
ben weiß Gott verzweifelt wenig Ane
laß, Die Londoner Konferenz, auf der
falte und vollfommen unidealifti-
{fhe Intereffen miteinander, ringen
und fubbandeln, mit Begeifterung und
Ueberfhwang der Gefiible zu beobadten.
Was dort fid ereignet, ift alles andere
alg dazu angetan, in uns den Olauben
an eine etbifde „Entwidlung“ der
„Menjhheit“ zu ftärfen. Gs handelt fid
einfah um die Begründung einer Aktien⸗
gefellfdaft zur Ausbeutung Deutidlands
und politifden Beruhigung Guropas, wo-
bei man fid nidt verſagen fonnte, im
Prine um des Sefdhaftserfolges wil-
en einige gene nwahrbeiten wie die,
daß Deutfhland durd den Krieg und den
„Stieden“ wenig gelitten habe, mit unter-
laufen zu laffen. Daß dieje Aftiengejell-
ſchaft, wenn wir den ridtigen &influß
bei ihrer ®ründung mit ausüben, und
unfere Gertreter fid nidt vom Olanz
rein finanzpolitifder Utopien Blenden
laffen, einige politiide Vorteile unter
Amftänden für uns bedeuten fann, ftebt
auf einem anderen Blatt und ift gewiß
nidt einem bejonderen Gthos der Lon-
doner Konferenz zuzujhreiben.“ — Wenn
fid die deutfhen Iournaliften dod von
der fubalternen Haltung ,fleiner Leute“
fretmaden fönnten, daß die Moral der
Sremden ohne weiteres über die Moral
zu Haufe gefebt werden müfjel
ct fürzlih erfolgreih ausgefodtene
Kamp! Tidudis pe en Maz Lieber-
manns Gerfud, Ginf of auf Die Natio-
nalgalerie zu gewinnen, gehört zu den
pifanteften und naddenflidften republi-
fanijden Erſcheinungen. Der Streit gab
dem §reiberrn Leo v. König Anlaß, in
der 9.2.3. vom 15. Juli einen „Offe-
nen Brief an Marz Liebermann“ zu
verdffentliden, der merfwürdige Blice
ins Innere der Unnatur tun läßt. Wir
en diefes deutfhe Kulturdofument wie-
er, da eS nicht mit dem Tage verwehen
follte: „Sehr geehrter Herr Profeffor!
Seit Sie durh Ihre Amtsführung vor
ungefähr 13 Jahren das Werk Leifti-
fows, die Berliner Gegeffion, zerftörten,
und id unter Proteft meine Mitglied
{daft im Borftand niederlegte und das
morfhe Schiff verließ, haben wir nichts
voneinander gehört. Ih hatte fein Inter
effe, Ihre Amtsführung in der Afa-
demie anzugreifen, da id der Anfidt bin,
je rafher Gie dieſes Inftitut berunter-
wirtidaften, defto beffer ift e8 für die
Sntereffen der Kunft. Denn diefe Außer-
lihe Würde giidtet nur falfhen Ehrgeiz
und bequeme Gattheit. Go entfpraden
Sie gang meinen Wiinfden, als Gie den
Kreis Ihrer einftigen ®egner mit Gin-
ladungen gu Ihrer Ausftellung ver-
fhonten. Heute aber greifen Sie, wie die
Sama gebt, weiter, und Shr Madtappe-
tit verlangt, auf das Wert Tihudis und
Suftis Sinfluß gu gewinnen. Um dies zu
verhindern und Ihr „Papfttum“ zu be»
fämpfen, würde id meine Thefen an
Shren Kunfttempel fdlagen, wenn id
nidt hoffte, daß Ihre Ginfidt feit 1911
probes geworden ift, und id Sie durd
iefen Brief von Ihrem Vorhaben ab-
bringen fann. Sd verjudte, Ihnen fdon
damals in der Gegeffion flargumaden,
daß zur Führung por allen Dingen
Mebergeugung, Glaube an die Dinge, die
man tut, gebört. Sie aber glaubten nur
an Ihre eigenen Bilder, und alles an-
dere war Der befannte „S...dred“!
Bei der Auswahl der Bilder entjchieden
infolgedeffen die perfinliden Shmpatbien
für geborjame Adepten oder eine duper-
lide Ginftellung, die Sie in die Worte
gu fleiden pflegten: „id finde det fcheiß-
id, aber det mijfen wer haben“. Den
einen wie den andern Standpunkt ver-
traten Gie mit viel Dib, oft mit Geift,
fo daß es für Gie bei der Machtitellung,
die Sie fhon damals batten, nidt ſchwer
fiel, Ihren Willen durchzuſetzen. Gie
wiffen heute, wohin das geführt bat,
und erleben nun wieder bei Ihrer Lei-
tung der Akademie, welde negativen Gr-
folge falte Routine immer, zumal in
der Behandlung von RKunftfragen, mit
fih bringt. Gin Fünkchen Liebe
ift bier wie überall im Leben
BERgBanSTUbIgtn als aller
erftand. Gie find fid bod flar,
daß Gorinth, Slebogt und fo mander
andere nit mit Ihrem Willen, fondern
gegen ibn vorwärts gefommen find. Da-
zu gehört, daß der fedgigiabrige Co—
tint gegen Shren Wunſch Mitglied
Sbrer ademie wurde. — Der hodge-
lobte Liebermann ift, wie uns heute jcheint,
febr bod gelobt. Gin figer Könner ift
er, Das find andre nicht minder. LUner-
reiht find nur fein Mundwerf und feine
Beziehungen.
Br den demofratifhen Sentrumstrei-
fen — alfo aus jener wolfenverban-
enen Gegend, wo Bentrumsbonge und
fosialiftiféer Bonge einander verftänd-
nisinnig Die Hände reihen und fid vor—
fihtig über Brofeffuren, Beamtenftellen
und Dergleiden wichtige politifhde Dinge
einigen — wird neuerdings eine ſyſtema—
tiſche Hebe inauguriert gegen einen „Na-
tionalismus“, wie er fid) in der Don⸗
Quidote-Phantafie jenes fehr, febr flein-
ftädtifhen Redtsanwaltes malt, dem
beim Worte „pölfifh“ übel wird. Ir—
endwelde Alebertriebenheiten belang-
ofer fleiner Kreife werden aufgegriffen
und dem harmlos ftaunenden Bolfe als
wotanifde ©ötenanbetung vorgeführt.
Selbft ein Sooft fieht eine ,,Bergottung
der ation“ drobend emporfteigen.
(Weftdeutihe Arbeiterzeitung Wr. 31.)
Gbenderfelbe fdleppt mid als einen
417
„Heiden“ durch feine Wahlverfammlun-
gen. Wenn das ein Iooft tut, den id nie
für verbonzbar hielt, was werden fid Die
eringeren @eifter Der Partei erlauben?
fteht denen, Die mit ausgefprodenen
Atheiften Seite an Geite kämpfen, febr
hübſch zu Gefidt, wenn fie bewufte Chri-
ften als Heiden befdimpfen. Wir gra-
tulieren Ihnen, Herr Sooft, zu dem gro-
ben Bummdarah der Parteipaufe, Die
dröhnen zu maden Ihr derzeitiger Ge-
ſchmack Ihnen offenbar nidt —
t.
Zwieſprache
Wi bradten zu Raabes neungigftem
®eburtstag im November 1921 ein
Raabe-Heft heraus, das viele Freunde
— at. Wenn wir nun nad drei
ahren abermals ein Raabe-Heft brin-
gen, fo ift der äußere Anlaß die Haupt
tagung Der Raabe-Befellihaft, die am
fedften und fiebenten September in Ham-
burg ftattfindet. Gin weiterer Grund
ift, daß wir möglihft in jedem Jahr
ein „ftilles“ Heft ohne Aktualität ein-
fügen, zur — des Leſers wie
der Schriftleitung. hat aber auch
einen tieferen ®rund, wenn wir uns fo
ftarf für Raabe einfeben. Seine Bedeu-
tung für das Beutide Bolf wird Sabhr-
gebnt um Jahrzehnt wadfen. Die Lite-
raturmodifhen fdmarmen heute für
Doftojemsfi und mürdigen ibn als
Bertreter des Ruffentums. Diefelbe Bee
deutung für das Peutihtum hat Raabe
und in andrer Weile Seremias Sottbelf.
Wir behaupten, daß man überhaupt erjt
anfängt, Raabe zu verftehen. Grit
Krieg u Revolution haben uns reif
gemadt, Die Probleme in ihrer Tiefe
gu begreifen, die der reife, alte Raabe
— feiner Zeit weit voraus, wenn aud
natirlid von der Ausdrudsweife feiner
Zeit abhängig — unerfannt und einfam
in ſich durdfampfte.
Gs ift nod immer Die Regel, daß
man Raabe als „Schriftfteller“ oder
„Dichter“ „würdigt“, äſthetiſch und Lite»
raturgeſchichtlich. Wir wiffen ja: Storm;
Keller ufw. ufw. Gines von den „gro-
fen Erzählertalenten“ der zweiten Hälfte
des uf. uf. ins aber enthüllt er
fi heute als etwas anderes: als ein Le-
bensführer innerlichfter Deutider Art, als
einer, Der die Berbindung mit den „ilr-
mädten“ des Lebens, Die Hinter, über
und unter allem irdiſchen Leben Liegen,
gehunden hat, und der darum all denen,
ie Obren haben zu hören, ein Pſycho—
pompos zum Sartaros wie zum Olymp
if. Gr rang mit dem „alten Riefen,'
dem Sedanfen“, und das Schaudern war
ifm Der Wenſchheit beftes Teil. Wir
ringen mit ihm um den TeptenGinn
des Lebens. Romane und Novellen
lieft man zum Zeitvertreib, Bibel und
©efangbuh aber aus andern ©®ründen.
418
Aud Raabe lefen wir nit gum Zeit-
vertreib, fondern aus andern @riinden.
Die weifen Leute aber, denen das
Gdaudern nidt ihr beftes Seil ift, fon-
dern nur eine Sorbeit —
Seelen, die der wiſſenſchaftlich Gebildete
ſich ſchamhaft abgewöhnt hat, werden
uns ablehnen und ihren Raabe weiter—
bin literarhiftorifh und äfthetiih „genie-
Ben“. Wie fie aud Bibel und Gefang-
bud in den DBereih ihrer literarhiftori-
fen Studien ziehen. Wir laffen fie gern
nad ihrer Gacon — auf die Seligfeit
vergidten, die unfere Unruhe ift. Gie
haben den Borgug, gedanfengefund zu
bleiben. Das einzige, was wir wiinfden,
ift, daß fie gegen ung ,@edanfenfranfe“
— nidt lieblos find. Und wenn fies
find, madt’s aud nidts. Gs ift uns
gottlob eine ftahlihte Schale gemadfen.
Zudem baben wir immer unfer Ber-
gnügen daran, wenn uns einer — zwi—
jen die Finger gerät.
G8 gibt fogar Leute, die in Raabe
por allem den „verehrten Meifter“ feben,
der fdledht gewafden und piinftlid zum
Stammtifh fam und feinen verehrungs-
würdigen Schnurrbart tief ins Wein-
las hängen ließ, fie begeiftern fid für
en „bumoroollen“ „Schilderer des Klein-
lebens“, für den guten Rumpan, zu dem
man gemittlid an den Sifd rüden fann.
Aud diefe waderen Leute wollen wir
bleiben lafjen, was fie find. Wir prei-
fen fie fogar als die über allen Zweifel
erhabenen @edanfengefundeften. Es ift
nötig, daß es in der Welt etwas gibt,
was nidt ausftirbt. —
Bir find der Tochter Wilhelm Raa-
bes von Herzen dankbar, daß wir aud
Diesmal wieder Zeichnungen Raabes
bringen fönnen. Anſre Dichter zeichne-
ten und malten ja meiftens gern: Woetbe.
Stifter, Keller, Mörife, Reuter (wie
unfre großen Seidner gern ein wenig
dDidteten). Die Ergeugniffe aus Raabes
Stahlfeder haben einen höchſt eigentiim-
liden Reiz. Sie find nidt „Uebungen“,
fondern abfidtslofe „Kribeleien“ aus
einer finnenden Phantafie heraus, oft
auf Manuffripträndern —— (wie
der kleine Reiter, den wir bringen). Von
ben beiden größeren Handgeidnungen
zeigt die eine Raabes Zimmer in Wol«-
fenbüttel, das er nad feiner Rüdfehr
aus Berlin in aller Stille bezog (er
wohnte wabrideinlid bei Klingenberg);
die andre zeigt ein Neben- und Nad-
einander bon allerlei Phantafien, in die
fih der Dichter in Schreibepaufen verfpon-
nen haben mag. — Das Brautbild des ein-
unddreißigjährigen Raabe, das zum erften
Male in dem von uns mehrfah emp-
fohlenen ,Raabe-Gedenfbud“ (Berlags-
anftalt Hermann Klemm, Berlin-@rune-
wald) erfdien, hat mid ftets befonders
gefeffelt. Weld ein Antlib ſchon damals
im Sabre 1862! Wieviel Jugend und
zugleih wieviel Tiefe!
An den Schluß fehen wir ein Stic
aus dem 24. Kapitel des „Abu Selfan“.
Warum, das fagen die drei vorderften
Auffähe des Heftes.
Su meinem eigenen Auffat möchte id
nod) anmerfen, daß id als drittes Bei-
{piel Lieber eine andere Graäblung als
die , Grau Salome“ genommen hätte, da
id die felbe Gefdhidte in unferm frü-
heren Raabe-Heft behandelt babe. Aber
in jener Arbeit bin id einem wefent-
liden Irrtum verfallen, id batte nob
nidt erfannt, daß in der Gilife der
eigentlide Herzpunkt der Erzählung liegt.
Durdh den Titel geleitet, fudte id ibn
bei der Frau Salome, ohne felbft befrie-
Digt zu fein. Die genauere Analyfe bat
mid, boffe id, weitergeführt, und davon
wollte id) Redenfdhaft geben.
Wir maden unfre Lefer nochmals
auf die Tagung für Deutide National-
erziehung aufmerfjam, die von der Gidte-
Gefellfhaft pom 2. bis 5. Oktober veran-
ftaltet wird. Die Verhandlungen finden
im Auditorium mazimum Der LUniverfi-
tät am 3. und 4. Oft. (Greitag und
Sonnabend) ftatt. Die Seilnehmerfarte
(zu beziehen von der Sefdaftsftelle der
Sidte-Sefellidaft, Hamburg 36, Poft-
{hlieffad 124) foftet fehs Marf. Na-
heres [efe man in der Anzeige nad.
Willfommen find alle, die fid in den Gee
Danfen der Reden Fidtes an die deutide
Nation — nines vermögen. Es
foll die Frage des Verhältniffes von
Golf und Staat und die Frage der Na-
tionalerziehung behandelt werden, ohne
jede Agitationsabfiht und ohne Partei-
geift. Wir mddten eine Stelle fchaffen,
an der man der innerpolitifden Atmo-
\pbäre mit ihren alles beberrfdenden
Parlaments- und Propaganda-Riidfid-
ten entboben ift. {Im ein wejenlojes ®e-
rede in der Wusfprade zu verhindern,
werden die Redner von der Tagungs-
leitung aus der Zahl der Seilnehmer
aufgefordert werden; Wiinfde bittet man
frühzeitig an die Tagungsleitung zu
bringen. Die Vorträge und Ausf{praden
werden ftenograpbiert undals Heft beraus-
gegeben; das Heft wird den Lefern unfrer
Seitidrift gu einem Gorgugspreis zur
Derfügung ftehn. — :
Gon unferm Freunde Dr. Ritter er-
{dien jüngft in unferm Berlag eine Aus-
legung des Grften Briefes St. Soban-
nis unter dem Sitel: „Die Gemeinfdhaft
der Heiligen.“ (110 Seiten, fartoniert
3 ME.) &8 find einige der Andadten
Ritters, mit denen wir den zweiten Beil
unfrer Hefte einleiteten, bineingearbei-
tet. Ferner weifen-wir die Freunde dar-
auf bin, daß Ritter one mit
Heinrih Wolfgang Seidel (die Lefer er-
innern fic) feiner aus dem Gebruarbeft
Des vorigen Sabres) ein monatlides
fleines @®emeindeblatt unter dem Titel
„Der Deutide Dom“ Herausgibt. Seidel
und Ritter find beide Pfarrer an der
Neuen Kirche zu Berlin. Ihr Blatt ift
nidt von der Art der üblihen Oe—
meindeblätter, fondern fett Lefer voraus,
wie fie das Deutſche Bolfstum — bof-
fentlid bat. („Der Deutidhe Dom“ ift
gu beziehen durch das Cidendorff-Haus,
Berlin WW. 8, Sharlottenftraße 52, jähr-
lid 2,60 ME.) —
Wir wiefen neulid auf den Pots-
damer WAfademifer-Sag bin, auf dem
Othmar Spann und Reinhold Geeberg
gefproden haben (aud id felbft Batte
dort einen Bortrag). Grgdngend teilen
wir mit, daß von Dr. Schöning berid-
tende ,Betradtungen gum erften Deut-
{hen Afademifer-Tag in Potsdam“ er-
fcienen find, erbaltlid bei der Kanzlei
Der Altherrenfdaft des Deutidhen Hod-
ſchulrings, Berlin, Sdellingftr. 1. —
Und endlid: Wolfgang Schumann
bat, wie unfre Lefer wiffen, im Runft-
wart meine Ausführungen über Anti»
femitismus widerlegt. Ich hatte nur furz
in Der Swiefprade —— Que
fällig finde ih nun einen Auffab von
Schumann über ,,Golfstunde, Boltstum,
Völkiſch‘ im , Berliner Börjen-Gourier“
pom 12. und 13. Auguft, der nidt ohne
Beziehung auf meine Antwort ift. Dar-
um feien unfre Lefer der Bollftandigfeit
balber aud) darauf aufmerffam gemadt.
Mein Hinweis auf die fogiologifde
@rundverfdhiedenheit einer „©®emein-
Ihaft“ und einer ,@efellfdaft* veranlaft
ihn nur, von „Myſterismus“ zu reden.
Mein Hinweis auf den Strufturbegriff
ift ohne jede Spur geblieben, Schumann
fpridt unbefümmert aud jetzt nod pon
Golfstums,merfmalen“. Der eindruds-
vollfte Sat (der mich freilid weniger
trifft) ift: eine bon ihm befämpfte ⸗
ſchauung über die Bedeutung des Bau-
erntums fei „fein feriöfer fogiologifder
419
®edanfe“. Da Schumann fehr von oben von ihm ift mir derartiges bisher nicht
berab aud jest wieder von „Dilettantise befanntgeworden. Die Leftitre von aller-
mus“ der andern redet und für fid Wif- let Büchern über allerlei garantiert feine
fenfdaftlidfeit in Anfprud nimmt, muß Wiffenfchaftlichfeit, man gelangt Damit
id betonen: Wiffenfdaftlidfeit erwirbt nur zu ,,feridfen ſoziologiſchen Gedanken“;
man durch forgfältige methodifhe Schu- die im Berliner Börfen-Gourier — ihren
lung fowie Durd tatfählihe wiſſenſchaft- richtigen Plab haben. St.
lide Arbeit. Beides habe ich geleiftet,
Stimmen ber Melfter.
ter ftehen wir zwei von allen Wettern zerzaufte Männer; der eine gu Land
~J und zur Gee, im Kriege und in den Wäldern gebartet und pooteuntct und in
jeder Ockabr, welde die Materie dem Menfden droht, [adend; der andere in
der Knedtidaft gum Mann gefdmiedet, wohlbewandert in der Logik der Satfaden,
mit allen Waffen zum Kampf des Geiftes gegen die Geifter ausreidend ver-
feben, und dod) — beide wie ſchwach und ſchwänkend, wie hinfällig und nichtig
in all ihrem Sun und Urteilen, in all ihrem Wollen und Bollbringen. Wohin wir
ung wenden, ftoßen wir gegen die Mauern, welde die dunfeln Hände gegen
uns errichten. Bergeblid mühen wir uns in Zorn und Angft knirſchend und atmend
ab und ftemmen uns wider die Madte, die unfer fpotten. Wir ringen nah Atem,
Licht und Luft, und es gelingt ung aud) wohl, von der Höhe eines Trümmerhaufens
einen Blid in die Weite gu werfen und die Welt im goldenen Lichte der Sdhinbeit
und des Griedens liegen zu feben. Dann dünfen wir uns groß und gewaltig, rufen
Sieg und merken nidt, wie hinter unferem Rüden die [hwarzen Walle während un-
feres eitlen furgen Triumphes höher emporftiegen, und wie wir nun da die Nadt
baben, wo uns por einer Stunde nod der belle Tag leudtete. Wir riefen Sieg
pon der Höhe eines Trümmerhaufens, und aus den Spalten und Riten zu unfern
Süßen Elingt ein höhniſches Laden; in unfern Triumph binein wählt es aud por
ung wieder auf: hinab, hinab, wieder in die Tiefe gu neuer vergeblider Arbeit,
aur Redten oder zur Vinten, bis in den Sod feudend und ringend! Nun febt auf
diefe Frau und wagt e8, Guern Gewinn vor ihr zu —— ie lag unter berg-
hohem Sammer verihüttet, die Feinde waren in ihr llerheiligſtes gedrungen, fie
war vernichtet in ihren Gefiiblen als Gattin und Mutter, aus ihrer Heimat war
fie in die Wüfte gejagt und dort allein gelaffen worden, und fie braudte nicht, wie
wir, an die Bruft zu fdlagen und zu fagen: es ift nur mein Redt, was mir wider-
fährt! Wie fteben wir ihr gegenüber, Viktor Feblepfen? Die Welt hat ihr nichts
gelaffen, und heute weiß fie ihres Schabes fein Ende. Wir find die Bettler, fie
ift die Reihe. Mit leeren Händen fommen wir zu ihr und fie allein fann uns
geben, twas wir bedürfen: die Kraft, den Mut, den unerfhütterlihen Willen. Ad,
wie feige find wir gegen ibre heldenhafte Beduld! Sie lag tiefer gebeugt
alg wir alle, aber leife richtete fie fid auf und füllte die Wüfte mit ihrer Hoffnung.
Sie faß ftill in der Ginfamfeit, redtete mit niemand und wies nur den Born, den
Haß und die Rade bon ihrer offenen Tür fort. Sa, ihre Tür war offen, und die
Sage zogen an derjelben vorüber und fahen fremd und befremdet hinein; die Grau
Glaudine aber lächelte ihnen entgegen: Was wundert ihr euh? Freilid fie
id bier und lebe und fpinne an meinem fhönften Geiertagsgewande; — ihr kommt,
fudt eine ®eftorbene und findet eine Lebende; ja, ih lebe und will Ieben; — wie
die Zweige des Waldes mir in mein Genfter wadfen, fo drängen fid die lichten
Gedanfen in mein Herz; — id baue für meine Kinder, die in der wilden Welt
umberirren, ein neues Haus, einen neuen Herd, an weldem fie einft niederfiben
werden, mir von ihren Mühen und Leiden zu erzählen; — was follte daraus wer-
den, wenn id nicht ftill bliebe und den armen Wanderern, den Gejagten und Ber-
folgten eine §Greiftatt offen Bielte?! — Wabrlid, eS ift nicht allein der Helden
und Könige Gade, zu rufen: Sonne, ftebe ftill und leute der Vollendung unferer
Siege! Aud der Shwädfte, der Aermfte, der Geringfte fann den glangpollen
Stern über feinem Haupte und Herzen fefthalten, bis alles vollbradt ift und Die
Srau Claudine fonnte e8. Dest, wo die Naht um uns dunkler denn je zuvor ift,
fommen wir zu ihr und bitten um ein Ginflein Lidt; — wie finnen wir gerettet
werden, wenn nidt ihr Mut gu unferem Mut, ihr Olid zu unferem Olid wird:
wenn wir uns nicht zu ibr, auf ihr Feld ftellen und in dem milden Scheine ihrer
Sonne ihre Götter anrufen?!“ BWilbelIm Raabe
420
Neue Bücher
Georg Mollat Unfere nationalen Ex—
ieher von Luther bis Bismard. Ein Hausbu: ee
as vestige Bolt. 577 S. Halbleinen 10,
i. &@. B. Ficigd Oſterwieck.
Eine neue Anthologie Mollat. Sie will dem
nationalen Denken dienen. Das Werk h4 m im
engeren Ginn polittih, fondern weſentlich fulturell
eingeftellt. Go findet man aud Stide aus Diirers
Schrifien, aus Rant, Selling ufo. (Aus Rants
am ewigen Tim, follte nicht bloß der furge
ortlaut der „Artikel“ abgedrudt werden, die ber
ungejdulte Lefer gum Teil mißveritehen muß, fon-
dern aud) Stüde aus dem eigentlihen Test.) Der
auptteil bes Werkes enthält ,Rernftiide anus den
hriften unferer nationalen Erzieher“, der zweite,
fürzere Teil enthält „Eharalteriftifen unferer nattos
nalen Erzieher“, 3. B. Strauß über Hutten, Ranke
über den großen NKurfürften, Schmoller über Fried-
tid Wilhelm den Erften, Humboldt über Rant
ufo. Das Bud ift ungehener reichhaltig und feffelt,
wo man e3 aufſchlägt. Ein gutes Gefhentwert. St.
Edel Noth, Verträumte Winkel aus Weimar.
Bertraumte Winkel aus bem Thüringer Wald, von
Imenau bis Oberhof. — Berträumte Winkel aus
ürnberg. — 3 Mappen mit je 8 bandgetinten Ure
fteingeihnungen. Jede Mappe 6 ME. Der Ynnere
Kreis Berlag, Berdtesgaden-Sdhinau.
Im vorigen Jahr re wir die Rothenburger
Mappe angezeigt, mun find drei meitere in derfelben
ſchönen Ausftattung erfdienen. Die Saden find fo
fabelbaft billig, bag id vagaries rate. Die Litho
tapbien, die ſehr reigvoll mit ber or übertufcht
finb, find nit nur auf den erften Blid entgiidend,
fondern man blättert fie immer wieder mit Ber-
qniigen durch. Moth bat ein febr deutſches Emp-
finden für „Winkel“ in alten Städten und für „Auß«-
ſchnitte“ aus der Natur.
3 © Klopftod, Der Tod Adams. Ein
Trauerfpiel. Neubrud, mit 5 Originalradierungen
von Ludivig Meidner. Pontos-Berlag, Freiburg im
Breisgau.
Gin hübſch in Leder gebundener, die Ausgabe
bon 1757 getreu fopierender Neubrud ed or⸗
fabpapier im Stil bes 18. Yabhrh.). Ein Nachwort
von FIritz Stich verteidigt mit fehr guten Gründen
den Wert bes Klopftodihen „Zrauerfpiel3”, das frei-
lid tein „Drama“ ift und fein fol. Es gewährt
einen eigentümlichen Genuß, ein ſolches ert in
feiner reigvollen alten Gorm ftatt in irgend einer
Sammelausgabe zu lefen. Das Leſen diefes einit
ſehr berübmten Werlleind lohnt ſich heute nod,
befonders für folde, die fih Gebdanfen über die Ent-
widlung bes Mpfterienjpield machen, St.
Yobann matinee. von Goethe,
Bon bdeutfher Baufunit. ierter Reuchlindrud.
15 &. Sarl Raub, Deffau. 7
Ein fehr fhöner Drud auf Biitten. Ein wiir-
diges Gewand jenes berühmten bt den ber
junge Goethe dem Straßburger Münſter widmete,
unfern Qefern zweifellos befonders willfommen.
Goethes Briefwedjel mit Heinrig Meder.
erausg. bon Max Heder. 8 Bd. an, 1821 bis
arg 1832. a ften der Goetbe-Befellicaft.
35. Bd.) 262 &. Berlag ber Goethe-Gejelidait,
Weimar.
Damit liegt ber Schußband des Briefmechjels mit
dem Kunft-Deyer vor. (Regifter und Anmerkungen
erjheinen gefonbert.) Sur Goethe-Spegialiften.
Biele Heine Billette zwiſchen den größeren, belang-
reiheren Briefen.
Kohn Beder, Goethe und die Brüberge-
meinde. Mit Geleitwort von Friedrid) Lienhard.
3 S. Friedrich Yanfa, Neudtetendorf i. Th.
Eine Spenche ung und Grorterung ber
Beuaniie, ie Goethe in feinen Schriften, bejonders
im Wilhelm Meifter
über feine Berührungen mit
den Herrenhutern gibt. St.
Johannes BWuttig, Willebalm von
Orange. Nad Wolfram von Efdenbadhs Didiung
153 &. Geb. 2.50 Mt. Alegander Köhler
mit dargeſtellt ift.
Ueberblid über den Ynbalt. 8 ift befonders für
die ältere Jugend gefdrieben, für die ed eine will»
tommene Ein —— in die Sagenwelt um Aliſchanz
und in BWolframs Geiſt iſt. Für dieſe Zwecke recht
empfehlenswert. St.
Abolf-BViltor von Koerber, Der
völliſche Lubendorff. 168 S. Geh. 1.90, Gangleinen
3 Deutfher Vollsverlag Dr. E. Boepple,
Münden.
tijden Kundgebungen und Briefen. Bum Schluß
die
bat. *
Ernft 38 nger, In Stablgewittern. 13.—15.
S. he au 4 mt.
Mittler & Sobn, Berlin.
ee en Szenen der Materialfdhladt: bligerbellte
Iligen ‚modernen Menjden
feltaubalten mit ben bizarren Einzelheiten, die traum-
Ernft Baafd, Gefhihte Hamburgs 1814 bis
1918. Erfter Band 1814—1867. Geh. 7 ME. Ganj-
leinen 9 ME. Verlag Friedti Andreas Perthes
A.⸗G., Gotha-Stuttgart.
Eine Stadtgefhihte hat einen befonderen Reis
durch die enge ofale hg fy ni in ber die Ereig-
niffe burd die Sonderart der Bevolferung eine eigene
Farbung belommen. Und gerade Hamburg mit feinem
eigentümlichen "Stammesharafter. bas als jelbftän-
biger Organismus weit in bie Vergangenheit zurüd-
reiht und in biefer Tradition feine Eigenart ent-
widelt bat, muß ben su und Gefdhidtsfreund
in bobem Maße anziehen. Baafd, der von der
Stadt nah dem Umſturz im Gro efdieden ift,
bietet in feinem Suche viel Yntereffante3; eine
Menge intimes Material ift zufammengetragen, —
und dennod fcheidet man ohne rechte Befriedi ung
von dem Werke. Die den Alten folgende Darftellung
läßt die handelnden Perfonen und die Triebtrafte,
die in ihnen wirffam find, nur ahnen. Das Bild
eines lebendigen Stadtweſens, deffen charakteriftifche
Büge deutlid) heraustreten, ſucht man vergeblid
in diefer gewiffenbaften Arbeit. Die Darftellung bes
eiftigen und Zulturellen Lebens famt dem Hanbdel
n einem Schlußkapitel anzuhängen, tft eben ein Bere
fahren, da8 uns heute nicht mehr befriedigt. a
deffen als Nachſchlagewerk und wiffenfdaftlides
+ fsmittel für den, der von dem eben ber Hanja-
tabt ein amfchaulihes Bild bereits befit, iit das
Bud von hohem Werte. A. €. ©.
421
Louis Baron von
Blüher und PYorf 1813—1815.
Artur Mahraun. 192 Seiten.
lag, Caffel 1923.
Perfonlide Erinnerungen von Faltenfteins, Anel-
dotenhaft gefhrieben. Ein prächtige Buch, ungemein
plaftifh und lebendig. won nah lommt man an
die beiden Deran, ben alten Slider und feinen alten
Falfenftein,
erausgegeben von
ungbeutijder Ber-
Iegrimm, den General po faft als man fie
ieibbaftg vor fid und jpürte ihren Atem. Mehr,
man begreift unmittelbar das Geheimnis ihrer Per-
Onlidfett. Man verfteht, dak dad Heer ber Be-
reiungsfriege unter folden Yührern Bun mußte,
teil feine Seidheren zugleich große Menjhen waren,
von Genie und Charakter, von unbedingter fittlider
Ueberlegenbeit. Rg fann man überhaupt lernen,
was e3 um den Geift ber Freibeitstriege war. Hatten
wir nur etwas davon! Auf das Bucy fei nad.
dritdlid) bingewiefen. K. B.
Paul Benndorf Weimars dentwiirdige
Sine ces ann aa i ai A or des
alten Friedhofs. Leipzig, H. Haeffel Verlag. Papp-
band Mt. 8.—, Halbl. nk. Fm
Anf 56 Seiten Text werden in gedrangtefter Form
die Grabftätten bei den Rirden Weimars und die
wichtigſten des neuen Friedbofs befdrieben und dagu
biographifhe Angaben über die Toten gegeben. In
einem Anhang werben 32 jehr Hare Abbildungen
berühmter Graber gezeigt. Das vorzüglich ausge-
ftattete Werf ergänzt jede Weimar-Bücerei aufs
befte, ba bier viel Material zuſammengebracht ift,
nach dem man fonft lange vergeblich fucht. Gang
bejonder8 danfbar wird man bathe fein müffen, daß
bier die „Geſchichte“ von Schillers eriter Rubeftatte
einfah durch tnappe Aneinanderreihung bofumenta-
rifher Radridten Marer dargeftellt wird als in faft
allen Biographien. G. K.
Franz Fromme, ait en Wullenwever unde
Maris Meyer. Een platt un Spill ut dat ole
Ribed. 1. Band der „Lübeder Bücher“, raus.
N Paul Brodhaus. Berlag H. ©. Rabtgens,
übe
Bei diefem Werk jheint ed mir widtig, auerft auf
das Spradlihe hinzumeifen und alle an Freunde
der plattdeutfhen Sprache auf das „Spill“ aufmerf-
m zu maden. Das rege Bemühen bier in Norb-
entihland, bas Niederdeutfhe wieder zur Sprade
einer ernit zu wertenden Literatur zu maden, ſcheint
mir duch Frommes Drama eine ftarfe Forderung
au erhalten. ine fo tourgeledte, ftraftige platt«
deutfche Sprache, die ſich nicht nur etwas altertiimlid
aibt, fondern aud wirklich ed ga tft, fon.
nen m. ®. nidt viele andere plattbeutjde Werle
anfwetfen.
Die dichterifhen Werte diefes Revolutionsbramas
liegen außer in der Geftaltung edter niederbeutfcher
Vollsart, die durch ihre derben Redensarten aller-
dings vielleiht manden „peinlih“ werden mag, be-
fonders in ber fdarfen und Flaten Zeihnung bon
Charatterfiquren, Nebengeftalten, die nur einfeitig
beleuchtet zu werben brauden.
Der echte Revolutionsftoff aus der lübeckiſchen
Geſchichte und der „Vollsheld“ Jürgen Wullenweber
haben nod nie eine überragende dichteriſche Ge—
Aare erfahren. Das läßt dod vermuten, daß
ullenmweber fein eigentlid dramatifder Held ift.
Uud in Frommes Drama fommen nit die been
der Revolution und aud nicht die treibende Leitung
von Wullenweber her; er erſcheint vielmehr als der
Befonnene in der erregten Menge, der die Vernunft
möchte fegen laffen. Solche Naturen find im all-
gemeinen feine wirlſamen Dramenhelden. Das tra-
giſche Schidjal Wullenwebers ift nur angedeutet und
oll in einem zweiten Zeil weitergeleitet werden. Die
evolution jelbit als —— hat durch das
Erlebnis „unferer” Revolution eine reihe Fülle
lebendigiter Züge erhalten, fo dah die Unmittelbar-
teit ded Erlebens für den Lefer fofort hergeftellt ift.
Ronis M. % Berbed. 1. Die driftliden
Gegner Rudolf Steiners und der Anthropofophie durch
fie ſelbſt widerlegt. 2. Die wiffenfdaftliden Gegner
Rudolf Steiners in der Anthropologie durd fie felbit
widerlegt. 2 Bande (131 u. 212 Seiten), 1924. Der
fommende Tag A. G., Stuttgart.
Hinter den —— ro Titeln verbirgt fid
ein ganz dürftiges Hwerl. Der Berfafler hat es
fih febr bequem gemadt; er bat einfah aus allem,
was nur irgend gegen die Anthropofophie gejchrieben
ift — Bitate gefammelt, bat aljo dasfelbe getan, was
er feinen Gegnern fo heftig vorwirft, einzelne Sate
aus dem BZufammenhang herausgerifien und bas
Ganze dann fo geordnet, daß allerlei Widerſprüche
berausfommen. (m erjten mb find es 211, im
jweiten 432 Zitate.) Als ob jahlih damit irgenh
etwas gewonnen werden fönnte! Als ob man nidt
dasſelbe Experiment mit gutem Refultat bei
Steiner aud) machen könnte! Man vergleihe nur
feine zweite und britie Periode miteinander, F
wenn es ſich um fachliche, weſentliche Widerſprüche
innerhalb der gen — und philoſophiſchen Sy⸗
fteme handelte, bas gabe eine ernithafte — —
— „mit guten
Iehung- Aber davor drüdt fic) Werbed
Gründen”. Er befcaftigt fie nur mit einander
widerjprechenden a dar in der Beurteilung der
Anthropofophie. Durd diefes Täufhungsmandper
wird nur der Blid vom Wefentlihen abgezogen. Der
eigentlihe Kampf der Geifter liegt auf einer gana
anderen Ebene. fo: ein Bud nur für oberfladlide
Refer.
I Sie Kampfesweife des Berfaffers ift niet erade
bornehm, und im übrigen — bon ihm f aral-
terifiert Bd. 1, S. 104, „Das ift der geheime Richter
im Menfdhen...., der die außerfahlihen Motive
bes fdretbenden Rritifers — und feien dieſe nod fo
fein verfponnen — durdfdaut und ihm bas Un-
bebagen an feiner unflaren SER. einflößt, fo dab
et in verftedter Furcht vor dem Durchſchautwerden
feine Zuflucht zu allerhand Selbftentihuldigungen
und feinen Trübungen de3 Bewußtſeins feiner Lefer
und — feiner felber nimmt.” RB.
Unfer Beg. Bericht des Verbandes ber So-
staliftiihen Arbeiterjugend über das Jahr 1923.
Berlin, Arbeiterjugend-Berlagg. 56 S ME. 0.50.
Das vierte Jahrbuch ber Sogialiftifhen Arbeiter-
jugend. Es bringt Berichte über Organifation, Preffe,
Verlag, „Unfere Arbeit”, den 3. Deutjchen Arbeiter-
jugendtag, den Ausfhuß der Deutſchen Jugendver-
banbe ps Mandes lieft man mit frohem Gefühl,
wie eben in allen Bmeigen ber N le a
immer biel Hergerquidendes zu en ift; be
manden Beridten fchütteln mir bann wieder ben
Kopf über fo feltjame Unklarheiten und Widerſprüche,
die einer Wohl immer dann nicht fieht, wenn er
parteipolitiſche Scheuflappen trägt. S. 48: „Die Be-
antwortung hängt gufammen mit der anderen Frage,
die ja ebenfalls in unferen Reiben
noch umftritten ift, ob die Arbeiterfchaft mit
dem Schickſal des deutſchen Volkes verbunden ift
oder nicht. Solange die eigentlich ſelbſtverſtändliche
Auffaſſung ſich in unſeren Reihen nicht durchgeſetzt
Welch ein betrübliches Selbſtzeugnis!
Eine weltanſchauliche Bewegung, die 50 Jahre be-
fteht und feit 5 Jahren fid zur Leitung des großen
deutfchen tes “beredtigt und befähigt balt, muß
in ihren Reiben nod um „felbftverftandlihe Auf-
faffungen” herumftreiten! Und wie klingt das,
wenn über den Ruhrlampf gefagt wird (6. 49), da
ein ſchwediſcher Genoffe in einem „ausgezeichneten
Artikel die „aftipe Abmehr des rechtswidrigen
Vorgehens ber famafiigen und belgifhen Regie-
tungen” (immerhin „Regierungen“, die nicht in der
Luft ſchwebten, fondern dod) vom „Wolf“ getragen
wurden und werden!) gefordert babe. Wenn's ein
ſchwediſcher Genoffe fordert, dann iſt's „ausgezeich-
net“, und wenn ein deutſcher Ydealift wie Schlageter
leiher Anficht ift, wie urteilt man dann bei ben
zialdemofraten darüber? ® &.
Gebrudt in ber Yanfeatifden Verlagsanftalt Altiengeſellſchaft, Hamburg 36, Holftienwal 2.
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Aus dem Deutſchen Voltstum Wilhelm Leibl, Ausfhnitt aus dem Kirchenbild
Deutjdhes Bolfstum
10. Heft ine Monatsichrift 1924
Zur Geſchichte des Gewiſſens.
1.
2) dem europäifchen Feſtland fann entweder Granfreid vorherrſchen mit
einem gewiſſen Ginfluß bon Gngland, der eine völlige Unterjochung der
europäifgen Bölfer verbiitet, oder Deutſchland mit einem gewifjen Einfluß
der dftlid ſlaviſchen Völker, der auf Deutfdland felber wirkt. Die Bore
herrſchaft ift politifch, wirtfchaftlih und geiftig; und fie erftredt fich auch auf
die Völker, welche fcheinbar recht abfeits liegen, wie denn etwa in den
ſchwediſchen Schulen nad dem für Deutfchland verlorenen Krieg die fran-
zöſiſche Sprade an die Stelle der deutfchen Sprache getreten ift.
Man weiß wohl fo ungefähr, was die politifche Vorherrſchaft bedeuten
fann, obwohl {don ein fehr großes gefdiditlides Wiffen und Berftehen
dazu gehört, um diefe Bedeutung ganz zu erfaffen; fdon weniger madt
man fid Har, weldhe Folgen die wirtjchaftlihde Vorherrſchaft bat, weil man
nur felten die Bedeutung der Wirtfchaft für das gefamte Leben betrachtet;
faft gar nichts aber weiß man über die geiftige Vorherrſchaft.
3d mödte nun an der Gefdidte eines Wortes zeigen, was Diefe
geiftige Vorherrſchaft des einen oder andern GBolfes in Europa bedeutet.
Am bas Folgende zu verftehen, muß man fich zuerft die fittliden und
religiöfen Urguftände ins Gedächtnis zurüdrufen.
Die europäifchen Völker erfcheinen zunächſt als Friegerifche Gefamtbeiten,
die als folde wirken, in denen der Einzelne {id bon den Mebrigen in andrer
Weiſe abhebt, alg wir das heute fennen. Die friegerifhe Geſamtheit be-
tradtet die ®efamtheiten und Einzelnen außer ihr nicht als Gegenftande der
Sittlichkeit, fondern nur der Intereffen, etwa wie nod Heute wenigftens in
unfrer Rechtsauffafjung, wenn aud) nicht mehr in unfrer Gittlichkeit, die Tiere
nur Öegenftände des Rechts find, nicht Träger: man fann rechtlich nicht ein
Zier franfen, fondern nur feinem Befiger einen Schaden zufügen. In ihrem
Innern wird dieſe Geſamtheit durch fefte Regeln beftimmt, die nicht, wie
wir Heute leicht denken, ji) aus dem Gefühl ergeben, fondern aus der Logit.
Wir können das wieder im Recht am beiten beobadten. Wenn ein Mann
einen andern tötet, fo fann das nach heutiger Auffafjung ein Mord oder ein
Totſchlag fein. Gine foldhe UnterfHeidung macht der Menfch früherer Zeiten
nicht. Gr fennt deshalb aud nicht unfern Begriff der Strafe. Durd die
Tötung ift die Sippe des Getdteten um einen Menſchen geſchwächt; es erjcheint
als logiſche Forderung, daß aud) die Sippe des Tdters um einen Menjchen
geihwädht werden muß, wobei durdaus nicht etwa der bewußte ©edanfe
borhanden zu fein braudt, daß ein Gleichgewicht erhalten werden mülfe.
Bei weiterer Gntwidlung fann die Forderung der Blutradhe durch eine Geld-
‚ablung abgefauft werden: das wird Dann ausdrüdlih „DBeilegung“ ge-
nannt und nicht „Strafe“.
425
Gs ift für uns Heutige febr ſchwer, diefe Dinge zu erfennen, aud wenn
wir noch bei lebenden Bölfern die alten Yuftände betrachten fünnen, weil
wir notwendig unfere heutigen Worte und Begriffe zu diefer Erkenntnis
anwenden. Im Gall der Tötung ift die Sade ja einfach, und Niemand be-
aweifelt Heute, daß die Sachen fo lagen, wie fie eben dargeftellt wurden.
Aber eine Tötung ift immerhin ein feltener Borfall. Wir werden heute im
tagliden Leben in den geringften Kleinigfeiten durch fittlide Erwägungen
geleitet. Wir müffen uns flar maden, daß es Diefe für den früheren Menſchen
nicht gibt. B
Das Leben diefer Menjchen bot viel weniger mögliche Lagen dar, als das
Leben der heutigen, und für diefe beftanden fefte Regeln, die aber nicht die
Natur bon fittlihen Borfdriften hatten, wie fie heute haben würden, jondern
« einfach bon unbderbriidliden Regeln und weiter nidts. Man fann dag am
beften fich fo Har maden, wenn man an Inftinkte der Tiere denkt, an ans
geborene und noch mehr anergogene.. Die Erziehung eines jungen Kriegers
der alten Zeit ift vielleiht am erften mit der Erziehung eines Sagdhundes
gu vergleichen. :
Was wir heute „Gewiſſen“ nennen, das liegt der Möglichkeit nad in
diefen Snftinften. Aber nur der Miglidfeit nad: aus dem Snftintt
fann fid — wir müffen das nad unfern menfdliden Borjtellungen fo
ausdrüden — das Gewiſſen entwideln.
Eine foldhe Gntwidlung wird notwendig, wenn fid die alten, feften
Zuftände auflöfen und nun nicht mehr die Regel gültig ift, fondern in jedem
Gall eine Ueberlegung nötig erfdeint.
Es wird nie möglid) fein, diefe Gntwidlung wiſſenſchaftlich zu erforfihen,
denn fie geht nicht in der Zeit vor fid. In manchem der Gittlidfeit leben
wir noch heute inftinftmäßig, in mandhem ift {don in der graueften Borgeit
eine Spur unferes Gewiffens zu beobachten. Bielleiht Tann man fid fo aus-
drüden, daß feit den älteften Zeiten eine Bewegung in der Menfchheit auf
Bildung des Gewiffens vorhanden ift, in welder wir nod Heute ftehen; ich
glaube, daß im heutigen Europa, vor allem in Deutichland, das Hier immer
führend war — die Urfadhen werde ich zeigen — die Bewegung febr fchnell
geworden: ift.
Solde Bewegungen drüden fih in der Sprade aus. Wenn etwas —
Innerlihes oder Aeußerlihes — aus irgend einem ©runde wichtig für den
Menjhen wird, dann bildet er dafür ein Wort. Die Erſcheinung Tann
{don lange dagewefen fein, ausgebildet oder fich erft ausbildend. Erſte An-
zeichen deffen, was mir heute Gewiſſen nennen, waren gewiß fdon längſt
borbanden: zu einer beftimmten Zeit wird es für die Menfchen notwendig,
die Erſcheinung mit einem Wort gu bezeichnen.
Iſt eine Grfheinung mit. einem Wort bezeichnet, jo wirft das Wort nad
furzer Zeit wieder auf die Erſcheinung zurüd. Das gilt fon von dem
Außern Dingen und Borgangen, nod mehr natürlich bon den innern. Das
Wort ift die Form diefer Borgange.
Wir müffen ja mit der Sprache denfen, wir müfjen deshalb das un-
trennbare Band der Erſcheinungen zerfchneiden. Gs gibt „in Wirklichkeit“
feine „Wirklichkeit“; aud das „Ding an ſich“ ift nur ein Grengbegriff. Wir
fönnen aber nicht denfen und mitteilen, ohne daß wir fo fagen: die innere
Wirklichkeit wird mit einem Wort bezeichnet; dieſes Wort gibt für uns ihre
Gorm ab; und nun ift diefe innere Wirklichkeit diefe Form.
Bom Wort hängt aljo bas weitere Schidfal einer Grfdeinung ab.
426
Ift eine Grjdeinung fo bedeutend, wie das Gewiffen, Dann hängt bon dem
Wort alfo etwas gang Ungeheures ab.
Innerhalb unferes europäifhen Kulturfreifes haben die Griedhen als
die Erſten ein Wort für „Gewiſſen“ gebildet. Wenn wir das betrachten,
fo müffen wir vorher ung nod einmal Ear maden, daß das griechifche und
deutſche Wort ſich nicht deden: eben, weil die Worte verfchiedene Bedeutung
haben, maden wir ja diefe Unterfudung.
Gs muß ein griehifhes Wort eido angenommen erden, das dene
felben Stamm hat, wie das lateinifhe Wort video, id fehe. Bon diefem
fommt eine Perfectform vida bor, in der Bedeutung „ih weiß“ urfprünglich
nid) babe gefehen“. Diefe findet fic fdon bei Homer. Bon diefem vida
wird eine Zufammenfegung ſyn⸗-oida gebildet, die [id fdon bei Herodot
findet . Das Adverb fhn bedeutet „zugleich“, „zufammen“, befonders bom
Zufammentreffen zweier oder mehrerer Handlungen in einem Zeitpunkt. Bei
Demofthenes fteht einmal das vida „ih weiß durd Hören“, dem ſynoida,
„ih weiß dabdurd, daß ich felbft dabei war“ entgegen; die alte Bedeutung
vida = „ih habe gefehen“ ift {don längſt vergejfen.
Aus diefem Berbum ſynoida wird ein fubftantiviertes Partizip gebildet
„to ſyneidos“. Das ift alfo gunddft Mitwiffen mit Andern, dadurd, dah
mar dabei war, ein ganz genaues, untriiglides Mitwiffen.
Sp weit ift es, als es nötig wird, ein Wort für „Sewiffen“ gu finden.
Man nimmt to ſyneidos: es wird Hier in ausgezeichneter Weife die wunber-
bare Spaltung der Perfdnlidfeit im „Gewiſſen“ dargeftellt; es wird aus—
gedrüdt: „Ich bin zwei Wefen, das Wefen A und das Wefen B. Das
Weſen A tut etwas, das Wefen B ift dabei und weiß daber ganz genau,
was das Wefen A tut.“ Ich finde in meinem Wörterbuh (Paſſow) das
Wort zuerft bei Demofthenes.
Nun ift die Zeit der großen religiöfen Bewegung in Griedenland, aus
welder, verftümmelt und vielfach verderbt, dann das Gbriftentum hervor—
gegangen ift, welches wir aus dem Neuen Teftament fennen. In diefer Zeit
bildet man bas Wort he fhneidefis. Das ift ein richtiges Abftractum, eine
fräftigere Subftantivbildung, eine Art Berfelbftändigung; während in to fone
eidos nod) die DBorftellung ftedt, daß es fi um einen Vorgang handelt, ift
[pneidefis entfchieden ein Subjekt, welches der Träger des Borganges ift.
Aud diefe Entwidlung ift fehr merfwürdig. Die Srifhe und Lebendigfeit
des erften Gefühl-Gedankens ift fort, es ift ein grammatifalifcher Gedanfe an
die Stelle getreten: ein Ding wird untergef{doben; und man fann {don feben,
daß einmal Denker fommen können, welche fagen: diefes Ding ift gar nicht
vorhanden. — Gs ift aud nicht vorhanden; man ift einer allgemeinen Richtung
der Sprade gefolgt.
Die griehifhe Sefittung war im Wefentliden organifch entwidelt. Die
Sefittung der Römer ift aus zweiter Hand, fie ift bon den Griechen über»
nommen.
Bei einer foldhen Mebernahme fann es gefchehen, daß Begriffe aus
der Sremde fommen, denen überhaupt nod nichts entfpricht. Das ift ein febr
häufiger Borgang. Man fann ihn fid anfdaulid maden durd das Bild
des Negers, der in Lendenfdurg und Bblinder ftolgiert: der Bblinder wird
ibm bom Händler gebracht, es wird ihm gefagt, daß man den Gegenftand
auf den Kopf fest, und nun ift der Bblinder ein erftrebter Gegenftand fir
ihn, obwohl er eigentlich gar feine Berwendung für eine foldhe Kopfbededung
bat. Gs ift Har, daß ein derartiges Herübernehmen ſchlimme Folgen haben
427
muß: es fann fi in dem Volk die Srfdeinung nicht felbftändig entwideln,
und das Herübergenommene muß bald entarten und zu etwas gang Ane
derem werden, als es urfpriinglid) war.
Als die Römer die griedifhe Gefittung annahmen, waren fie nod
nicht fo weit, daß fie ſyneideſis hätten ganz verftehen können. Aber fie hörten
das Wort bei den Griedhen und überjegten es fid mit „conscientia“.
Was das bedeutet, will ih an einem Beifpiel Har maden. Das indiſche
Golf bat im Seelenwanderungsglauben eine Gorm gefunden, welde etwa
unferm @lauben an das perfönlihe Fortleben im Senfeits entſpricht. Das
Senfeits fann man fic nicht porftellen, und die mehr oder weniger uns
gulangliden Bilder, durd die man es fi malen will, haben den großen
Nachteil, daß das gewöhnliche Bolf, welches etwas Feftes braucht, nicht mehr
an fie glauben fann und will .So find einige Leute auf den Gedanfen ge-
fommen, den Mythus der Seelenwanderung bei uns an Stelle des Mythus
bon Himmel und Hölle einzuführen. Der Verſuch muß immer mißlingen,
weil „Seele“ für ung etwas ganz anderes ift wie für den Inder. Damit ein
Golf von dem Geelenwanderungsglauben Nuten baben foll, muß es ihn
fim felber gebildet haben; bei uns fann der Mythus nur religiöfen
Schwindel erzeugen.
„Sonscientia“ ift die Ueberfegung des {don grammatifd gewordenen
foneidefis; es ift nicht felbft erlebt, fondern aus der Fremde herübergenommen;
und gang begeidnend ift, daß in den Stellen, welche das Wörterbuch anführt,
uns [don ein DBegriffswandel entgegentritt: es ift im Befonderen das „böje
Sewiffen*.
Das bedeutet eine Berfladung.
Wir europäifhen Bölfer von Heute ftehen ja nod immer unter dem
Bann der lateinifhen Sprade, aud wenn nur nod Wenige Latein lernen:
dur) die Kirche, aud die proteftantifhe. Soweit wir über „Gewiſſen“ durch
die Religionslehre erfahren, befommen wir einen Begriff, der viel flacher
ift, als der griehifhe war — auch diel flacher als der in den germanijden
Spraden ausgedrüdte und deshalb in den germanijden Bölfern Iebendige.
Die Berflahung geht jdon auf die Bildung von ſyneideſis guriid: es ijt da
immer bon Wirkung die Rede, plump von Gegenwirkung des „Sewijjens“
als eines Dinges gegen die Handlungen des Menjchen; und da ich diefe
Gegenwirfungen bauptjächlich bei den böfen Handlungen zeigen, als quälende
Segenwirfung: das „ſchlechte Gewiſſen“ erfdeint als Gewiſſen fchlechthin.
Gyneidos aber ift fein Ding, weldhes wirkt, fondern es ift nod jelber
Geſchehen.
Das Gewiſſen hat eine gang leife Sprache, man muß fie ſehr aufmerkſam
bören; nur felten fpricht es laut. Durd die Bildung des Wortes conscientia
bat der Lateiner fich die Fähigkeit zerftört, auf dieje leiſe Sprache zu hören,
er bat nur nod die lauten Worte vernommen. Diefe lauten Worte aber,
naddem fie den Zufammenhang mit den leifen Worten verloren haben, find
nicht mehr verftändlich, fie find nur nod finnlofe Qual.
Die katholiſche Kirche ift eine Gorm, weldhe die Menfchen des Wortes
eongcientia fdufen, um diefe Qualen loszuwerden, und fie ijt eine in ihrer
Art ausgezeichnete Form.
Aber wie wird diefe Gorm auf die Menfchen wirken, die nicht „conscien-
tia“ haben, fondern organifh aus fi heraus das Wort ‚Gewiſſen“ ent-
widelten?
428
2.
Das Ehriftentum ift die bis heute höchſte Religion der Menjchheit. Gs
bildete fid im griehifhen Volk aus als Leben, gewann bei ihm und im
Hellenismus feftere Formen — wir fahen fdon das Wort fhpneidefis —
verlor dabei aber ſchon früh die Hobe ©eiftigfeit, die es urfpriinglid) gehabt
haben muß, und ift in den älteften, vollftändigen Zeugniffen, die auf uns
gefommen find, den Schriften des Neuen Teftaments, ſchon durch Schichten
des Volkes gegangen, die nicht imftande waren, es auch nur geiftig voll
zu erfajfen. Gs gibt ein Herrenwort, das außerhalb des Neuen Teftamentes
aufbewahrt ift: „Ich babe immer Menſchen gefudt, welche diefe Worte ver—
ftanden, aber ich babe fie nicht gefunden.“ In diefem Sat ift das furdtbare
Sdidjal des hddften Geiftes ausgedrüdt, welder je auf Erden gewandelt ift,
zugleich das Schidfal feines Glaubens: er ift ung überliefert durch Menfchen,
welde ihn felber nicht verftanden.
Geſchichtlich-politiſche Erſcheinung wurde das Chriſtentum durch die katho—
tholifhe Kirche. Gs wurde dadurch wieder etwas anderes. An diefer Stelle
wollen wir nur hervorheben, daß für ung feine Sprade lateiniſch wurde.
Was das bedeutet, Haben wir an dem Wort conscientia gefeben. Man
fann allgemein fagen, daß bie lateinifhe Sprache fid entwidelt hat für Bes
dürfniffe politifher Gormung — wie man fie im Altertum verjtand, alſo
zum großen Seil mit rhetorifhen Mitteln — und daß fie den Einfluß der
Digtung auf ihre Gntwidlung zurüdgedrängt Hat: die Dichtung wird aud
{pradlid immer mehr äußerlihe Nachahmung der griechiſch-helleniſtiſchen
Didtung und fommt aud) fpradlid nidt mehr aus dem innern Gefühl. Das
beißt, daß die Worte und Giigungen fefte und Elare Begriffe ausdrüden, aber
nit mehr das Schwebende des Gefühls und der Anfdauung. Damit gebt
gugleid) die maflofe Ueberſchätzung des Begriffs, unter welcher wir nod
Heute leiden, die romanifhen Völker am meiften, dann die Gnglander, dann
die Deutfden, und am menigften wohl die nordgermanifchen Bélfer.
Sn der Bölferwanderung drängten ®ermanen in die fiidliden Lander und
bildeten bier mit den Gingefeffenen die romanifden Bölfer. Weber deren
Schidfal naher. Die Deutfhen und die nordgermanifden Völker hätten
ſich aus fich felber organifch weiterbilden fünnen, wie die Griechen, wenn nicht
das SHriftentum zu ihnen gefommen wäre. Gs fam in der Geftalt der fatho-
liſchen Kirche, und in der lateinifhen Sprache, da der WArianismus bers
nidtet war.
Zu den nordgermanifhen Völkern fam es ſpäter als zu den Deutfden.
Die Nordgermanen waren dahin gelangt, daß ihre alte Religion nicht mehr
genügte; man fann das an deren LMeberbleibfeln fehen. Aber auch bei den
Deutfhen muß das Heidentum am Ende gewefen fein. Der Webergang
bom Kriegervolf gum Bauernbdolf war fdon gemadt. Das Bauernvolf aber
fann mit den Göttern und mit den Lebensformen einer kriegeriſchen Geſellſchaft
nidts mehr anfangen.
Wir wollen bei unferm Wort bleiben. Natürli fann man feine Gee
{hidte des Gewiffens fchreiben. Aber man darf vielleicht Folgendes als
Dehauptung aufftellen. Neue Gefühle können nur entftehen bei neuen Bee
giebungen. Man fann etwa nicht erwarten, dah pliglid ein „Gewiſſen“ da
ift, welches den „Mord“ verbietet. Der Mord ift Tötung und unterliegt den
Regeln der friegerifhen Sefellfhaft auch weiterhin. Aber es entwidelt fid
nun eine neue Art Eigentum. Früher waren nur die Waffen und der
Schmud (Uebergang gum Schatz: die edlen Metalle) Eigentum der Gin-
429
zelnen; jebt ift es die Seldfrucht, der Obftbaum und das Haus, bald aud der
Ader, der die Frudt trägt. An diefem neuen Eigentum fann fid ein neues
Gefühl entwideln, das dann fpäter aud) auf Die früheren Beziehungen
übergreifen fann. Aber wenn wir das bedenfen, fo dürfen wir nie ver—
geffen, daß wir im Denken felber fdon einen Fehler machen, weil wir in
Begriffen denfen. Was ein Menſch der höchſten Art Heute Gewiſſen
nennt, das ift nicht das, was ſich bei den Deutfchen etwa um 600 bilden
fonnte. Das Hat noch viel mehr Aehnlichkeit mit dem, was bier für die-
friegerifhe Gefellfhaft als „die Regeln“ bezeichnet ift. Bwifden gefell-
ſchaftlichem Inftinkt, Regel und Gewiffen find überhaupt feine Schnitte zu
maden. Gins entwidelt fid aus dem andern, wie die Berhältnijje verwidelter
werden und die Menſchen nicht mehr mit einfachen Handlungen aus Reflez
und Gewohnheit ausfommen, fondern prüfen miiffen.
In die Umwandlung der Deutſchen fam alſo das fatholijde, in latei-
niſcher Sprade gelehrte Shriftentum.
Gs wirkte zunächſt auf die Priefter und Mönche. Die müffen da doch in
zwei Welten gelebt haben: in ber deutfden Welt ihres täglichen Seins und
beimifchen, geiftigen Lebens, und in ber Iateinifchen der Religion und des
bald ihr folgenden fremden geiftigen Lebens. Diefen Zuftand fünnen wir uns
Heute ſchwer vorjtellen. Man muß fich denken, daß die Perfönlichkeiten jich
richtig geitlid und räumlich teilten: gu beftimmten Stunden, an beftimmten
Orten waren fie lateinifch und zu andern waren fie deutjch.
Was bon den Laien religiös verlangt wurde, fonnte nur fehr wenig fein:
faum mehr als das Halten von Fajten, das Berbot der VBerwandtenehen,
der Gebraucd der Saframente — furg, eine Einordnung in Die Magie der
Rirdhe; diefe Magie, damals die Hauptjache, ift bei uns Proteftanten faft
ganz verfchwunden und daher ſchwer verſtändlich.
Aber es mußte auch verjucht werden, den geiftigen Gehalt des Shriften-
tums den Vertretern der Kirche in ihrer ganzen Perfönlichfeit nahe zu bringen,
nidt nur als lateinifches Wijfen, und aud die Laien mit ihm befannt zu
maden. Man verfudte deshalb Bearbeitungen der Heilsgefchichte in deutſcher
Sprade wie den Heliand und Otfrieds Spangelienharmonie und richtige
Ueberfebungen.
Da mußte man nun aud conscientia fiberfegen.
Scheinbar war man in der Lage, wie die Römer, als fie ſyneideſis über-
feßgten. Aber nur feheinbar. Die Römer Hatten fhon Gefühle, welche in den
Begriff eingehen fonnten. Diefen pflangte man das neue Wort auf und leitete
dadurh ihre Gntwidlung auf einen Weg, den fie fonft nidt eingefchlagen
hätten. Die Deutſchen Hatten faum folde Gefühle Für fie war conscientia
etwas eigentlid Unverftändliches.
Wenn man conscientia überfegen mollte, jo mußte man „Mitwiffen“,
„Mitwiffenfhaft“, „Mitwiffentum“ fagen. Das deutſche Wort ,,Gewiffen“
Dat den Stamm „wiffen“, aber es drüdt nicht das „Mit“ aus, fondern etwas
andereg. ,
„Sewiffen“ war bor Luther ein Femininum; es ift Partizip des Praeteri-
tum bon „Wiſſen“, nad der älteren ftarfen Gorm gebildet, während wir
Heute die ſchwache „gewußt“ haben, und Hat zugleich aftive und paffive
Bedeutung.
Um das gu verftehen, müjfen wir uns flar maden, was das Praeteritum
bier bedeuten fann. Wenn ich bilde „ich ſchlug“ von „ich fdlage“, fo heißt
das: ich ſchlug in der Vergangenheit, in der Gegenwart fchlage id nicht mebr.
430
Dielleicht liegt bier eine falfde Anwendung der lateinifhen Grammatik auf
die deutfhe vor. Das Praeteritum „gewijfen*, wie wir es grammatilalifch
nennen müffen, drüdt nicht eine Vergangenheit, fondern eine Dauer aus,
es meint, ®egenwart, Bergangenheit und Zulunft: man fann es mit dem
griehifhen Aoriſt gleichftellen. „Gewiſſen“ ift immer da. enfeits des
Srammatifalijhen wird etwas gemeint, das die Griedhen mit ſyn meinten.
Wir müffen uns aud) Har maden, was es bedeutet, daß Gewiſſen zu-
glei aktiv und paſſiv fein fann. Gin ,getiffener Mann“ ift ein Mann, der
Kenntnis oder Wiffenfdaft hat. „Du bift getreu, gewiffen, weife* heißt es
in einem alten Gedicht. Gs heißt aber aud in einer alten Mönchsregel: „Die
durd Schur gewiffen find“, die durd das Gefdorenjein erfannt werden.
Diefes Partizip wird durch VBorfegen des Femininartifels ein Subftantiv.
Das Wort hat nun gunddft alle die Bedeutungen, die es fo haben fann,
und behält fie lange bei. Die find gang allgemein, und im Lauf der Zeit fom-
men Dana Derengerungen, durch die ja in der Regel ein Wort für
einen notwendig getwordenen Begriff gebildet wird. Sp nannte man im
Mittelhochdeutfchen einen Gewiffenen einen Mann, der wußte, was er andern
in den mannigfaltigen Lebenslagen fehuldig ift, mas man heute mit dem inter-
national gewordenen Wort Gentleman ausdrüdt (man beadte den Unters
ſchied: das engliide Wort nimmt einen auf Raffgnunterfhied rubenden
Klaffengegenfat an). So fommt aud die Berengerung auf unjern Begriff
„Gewiſſen“. In dem Maße, wie die Deutfchen fic berinnerliden und die
Gade befommen, verwenden fie aud) das Wort in der fo verengerten Bee
Deutung.
Nun fommt aber der Bruch mit der römifchen Kirche.
Was „Reformation“ ijt, das ift, wie jedes gejchichtliche Greignis, nicht
mit Begriffen zu bezeichnen. Aber wir fönnen den feelifchen Urjprung der
Bewegung in der Perfönlichkeit Luthers feftftellen: es war die Gewiſſensangſt,
welche durch die firdhliden Redtfertigungsarten nicht befhwichtigt würde.
„Sonscientia* ift ein fefter firchlicher Lehrbegriff. Wenn ein Menſch etwas
fühlt, das wir „Sewiffen“ nennen, fo fagt die Rirdhe: „das ift conscientia.
And für die Beruhigung der conscientia Habe ich bie guten Werfe und meine
magifhen Mittel“. Bielleidt fühlt der eine oder andere, daß da etwas in ihm
ift, das nicht durch diefe Beruhigung getroffen wird. Aber das ift gang unbe-
ftimmt, unfaßbar, denn er hat dafür ja fein Wort, denn unter „conscientia“
fällt eS nicht, und fo wird diefes Gefühl nidt gefaßt und geformt, und zer-
tinnt, wie alles in uns zerrinnt, das nicht geformt wird. Luther aber hatte
das Wort „Gewiſſen“.
Der Streit Luthers entbrannte bei Gelegenheit des Ablaßhandels. Diefer
Sandel ift logifch richtig begründet, und es läßt fid bom firdhliden Stand-
punkt gar nidts gegen ihn jagen. Gin Menfch beichtet feine Sünden, der
Beidtiger legt ihm eine Buße auf, und diefe Buße fann in Geld umgewane
delt werden, wie etwa eine Gefangnisftrafe noch Heute in Geld umgewandelt
werden fann. Das ift ein Gedanfengang, wie er bei den lateinifhen Worten
und Sabfiigungen, die immer mit feften Begriffen arbeiten, ſehr einfach ift.
Aber Luther fühlte: was ich im Gewiffen habe, das fann id ja gar nidt
in Begriffe und Worte faffen, „Sünde“ ijt nicht etwas, das ih in Sätzen
ausdrüden, das id andern Menfdhen mitteilen fann. Gelbft wenn id
alle guten Werke tue, welde vorgejchrieben find, mein Gewiffen wird da-
durch nicht um das geringfte erleichtert. Diefe ganze Lehre der Kirche iſt
fal{m, id) muß auf andere Weife erlöft werden.
431
Die Sefhide der Völker werden gum Zeil durch ihre großen Männer
beftimmt, und zwar durch deren perfinlides Grleben. Das ift der wertvollfte
Zeil der Gefhichtsichreibung, daß fie die Zufammenhänge der großen Ein—
zelnen mit ihrem Golf ar madt. Das Griebnis Luthers war fein Erleb—
nis. Aber er fonnte es nur haben, weil er Deutfder war. Und nun fommt
das Wunder, das immer in der Geſchichte im Grunde liegt: die deutſche Na-
tion erlebte fein Grlebnis mit.
Gin Zeichen davon ift die Sprache. Luther fagte: „Das Gemwilfen“. Gr
Batte in feinem beimatlichen Dialekt eine Verwechslung einer verftärkten Gorm
bes fubftantivierten Infinitivg, der ein Beutrum ift, mit jenem fubftantivier-
ten Partizip des Praeteritum, das ein Semininum war. Und durch ibn befam
nun die deutfhe Sprade das Wort „Das Gewiffen*. Man fann die Wand-
lung bei Melandthon verfolgen: in feinen früheren Schriften fagt er nod
„die Sewiffen“, in den fpäteren „das Gewiſſen“.
Eine jede Nation hat in ihrer Gefdidte Borfommniffe, in denen ihr
Wefen, ihr jenfeitiges Ziel, ihr gottgewolltes Sein befonders zum Ausdrud
fommt. Die Grinnerung an fie madt das Herz der Volksgenoſſen höher ſchla—
gen, in Tagen der Not und Bergweiflung denkt die Nation an fie.
Gin foldhes Borfommnis ift das Wort Luthers auf dem Reichstag zu
Worms, als der Bergmannsfohn bor dem Kaifer und den Fürften des Reiches
ftand. Die Deutfchen find fein dreiftes Bolf, fie find fehüchtern, und Luther
war ein ganzer Deutfcher, er muß fdiidtern gewefen fein in der glänzenden
Berfammlung. Aber fein Gemiffen hielt ihn. Gr fagte: „Hier ftehe ich, ich
fann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!“ Es fann wohl nur ein Deutfder
diefe Worte ganz nadfiblen; und jeden wirkliden Deutſchen rührt es ans
Herz, wenn er an Luther in Worms dentt.
Galvin war ein Grangofe, er hatte außer „conscientia* nur „conscienje“.
Man fann vielleidt nun verftehen, daß er etwas ganz anderes ift, als Luther.
Auf ihn gebt zum großen Zeil die Reformation bei den angelfadfifden
Bölfern zurüd: ich glaube, daß die lutherifhen Völker den katholiſchen näher
ftehen wie den calbinifden. Und der deutſche Katholik fteht dem deutfchen
Proteftanten näher wie etwa dem franzöfifhen oder italieniſchen Katholiken:
als Menjch, wohl gemerkt, in der Art, wie das Chriſtentum auf fein Leben
wirft.
„Das Sewiffen“ ift viel mehr als conscientia und ſyneideſis, es ift aud
mehr wie fpneidds. Die Praeteritalform bezeichnet Hier in Wirklichkeit die
geitlofigfeit, die Senfeitigfeit, fie ift eine Gorm wie der Xorift, während
to ſyneidos im Diesfeitigen bleiben fann. Das eine muß notwendig religiös
fein, das andere fann es fein. Dadurd, daß es zugleich aktiv und paſſiv ift,
wird es der DBeftimmtheit entzogen, die für fpneidefia und conscientia verhäng⸗
nispoll wird: es muß nicht notwendig als ein Ding aufgefaßt werden; das
wirft; es fann aud eine Kraft fein, eine Gefdeben, eine Beziehung, ein
Werden, ein Tun: das Gewiſſen drüdt, jchlägt, erwacht, ift eng oder weit,
man fann es verhärten, es ift rein oder unrein, es ift Teidht, gut, fchlecht,
böfe, unverlegt, unanftößig, erfdrocden, betrübt, ſchwach, frank, man reinigt © es,
man [dont es, man hat Sewiffensbiffe.
So fagt Goethe einmal: „Was hat denn der Mathematiker für ein Ber-
hältnis gum Gewiſſen, was dod das höchſte, das wiirdigfte Grbteil bes
Menfden ift, eine incommenfurable, bis ing Feinfte wirkende, fic felber fpal-
tende und wieder verbindende Tätigkeit? Und Gewiffen ift’s vom Höchften
432
bis ins Geringfte. Gewmiffen ift’s, wer das kleinſte Gedicht gut und bore
trefflih madt.“
Die romanifhen Völker und die Gnglander haben ihr Wort aus consci-
entia entwidelt. Was wird ba bei ihnen gefdeben fein, was muß Heraus-
fommen, wenn fie in Kampf mit den Deutfchen geraten; und was wird es für
Europa bedeuten, wenn die Deutfchen auf den europäifchen Geiſt beftimmend
einwirfen oder die andern? Paul Srnft.
Nationalismus, Gnternationaligmus und
Religion.
1.
G* mag eines pifanten Beigefchmades nicht entbehren, wenn wir Diefe für
uns als deutſche Sbhriften fo wichtige Frage an dem Modell des Bolfes
Israel in feiner Haffifhen Gefdidts- und Religionsurfunde zu klären ver—
fuden. Allein wir haben in ihm ein unvergleichlihes Modell — nicht
Borbild — zur Löfung diefer Frage. Liegt doch Hier eine Gefdidte in ihrer
ganzen Ausdehnung bor uns, in der das Verhältnis der drei genannten Kräfte
eine große Rolle gefpielt bat. Nicht nur, daß das typiſche Erlebnis Aliens,
der Ginn für das Allgemeine und Unendliche, das ganze nationale Leben tief
in die ewigen Fundamente von Leben und Welt hat eintauchen helfen; nicht
nur, daß fich unfer ganzes deutſches Gefdid mit Aufftieg, Höhepunkt, Nieder-
gang und Beradtung dur die Welt mehr in jenem fpiegelt, als mande
unter uns Wort haben möchten; eine bon der Herrfchaft der Affekte frei ge—
baltene Bildung wird immer anerfennen, daß unfere ganze Kultur an einem
Strome liegt, der aus dem griehifeherömifchen und dem israelitifch-hriftlichen
Zufluß guftande gefommen ift. In den beiden grundlegenden Zeiten, in Der
Entftehung des Chriftentums und in der Reformation, hat diefer ©eift des
Alten Seftamentes mittelbar eingewirkt, dem in der großen Dölferfuge auf»
gegeben war, den Ton bon dem einen geiftigen, perfdnliden und heiligen Gott,
beizutragen. Das darf man nicht vergefjen, wenn man die übernationale Bee
deutung jenes Golfes mit einem bitteren Lächeln um feiner Gebler und
verhängnispollen Wirkungen willen angweifelt. An die Stelle der befchränften
Kenntnis des Alten Teftaments, die die Schule vermittelte, der zufolge man
fih für israelitifhe Siege und Stammbäume, für unmdglide meffianifde
Weisfagungen und Wunder begeiftern follte, trete bie Ginfidt in das Weſen
biefes Buches: es ift ber Niederfchlag der Gefdidte eines Bolfes, das eine
fraftoolle Golfsreligion mit men{dbeitlidem Ginfdlag gepflegt Hat, die nicht
Bloß ge{dhidtlid, fondern auch immer nod) praftifch wichtig für uns ift. Denn
in ihren tiefften und beften Gründen, in ihrer Gnteledie ruht etwas bon dem
Beften, das uns gefchaffen und getragen hat und auf das zu befinnen einen
Teil unfrer Kräftigung bilden fann. Wm nur eins zu nennen: allem matten
und verfhtwommenen Moftizismus und Offultismus vermag ber Geift diefer
Religion mit feinem befondern Charisma, der nüchternen, fittlid-fogialen Gin—
ftellung wirffam entgegengutreten.
2.
Wenn wir zuerſt die Frage beantworten, wie Israel gu einer Nation
geworden fei, fo wollen wir uns auf zwei Arten von Geſchichtsſchreibung
befinnen. Neben die quellenmäßig begeugte tritt die Fülle pon ganz fub-
433
jeftiven ®ebilden, Sage, Mythus, Poejie und Legende. So haben wir für
Israel neben den Gefdidtsurfunden von den Telamarna-DBriefen an bis zu
dem Leudter auf dem Srajansbogen andere, bie bon der genannten ct,
die man jenen gegenüber zurüditellen würde, wenn Greigniffe und Zahlen
das Befte der Gefdhidte ausmadten. Wird dazu aber das Geelifde, alfo
3. DB. das Gelbftgefühl eines Bolfes oder feiner Idee, alfo der Gedanke Sottea
mit ihm, feine Gnteledie, Dann gewinnen die fubjeftiven Zeugniffe den Bore
gug des Lebendigen bor jenen andern. Auf jeden Fall find fie gefchichtliche
geugnijje für Die Zeit, da fie entftanden find, was damals an Ueberzeu-
gungen und Hoffnungen in dem Volke gelebt bat. In diefem feelifchen
Beſitz bricht herbor, was eine Nation fonftituiert. Denn diefer Begriff gehört
ebenfo in den Bereich der Kultur, wie der des Bolfes nod in dem der
Natur mwurzelt. Freilich ragt diejer ſchon dadurch über die Begriffe Stamm,
Raffe, Horde Hinaus, daß er den Einfluß der Gefdhidte in Rüdfiht zieht.
Golf ift Israel durch politifde Greigniffe geworden. Die Befreiung
bon Aegypten, der Einzug oder vielmehr Ginbrud in das Land Kanaan,
eignes Land, eignes Redt, der Anfang bon ftaatlihem Leben und ftaat-
lider Macht hoben Israel auf eine Stufe des Bolffeins empor, die durch
den alles gufammenfaffenden Kultus ſchon dem Charakter der Nation gus
ftrebte. Männer waren es, die ihm fein ®epräge in ihrem eignen gaben.
Moje und David bedeuten die großen Schöpfer des israelitiihen Volks—
tums und feiner Nationalität. Mag es eine ſachgemäße oder nur eine bild»
lide Redemeife fein: aus einem „Ur“ heraus geftaltete eine Idee einheitlich
und mächtig diefes nationale Wefen. Hatte Mofe diefer Offenbarung zuerft
vielleiht nur ftammelnde Worte verliehen, fo gab ihr David den Nahdrud
der ftaatliden Macht, wie er diefer mit thr Sinn und Füllung verlieh. Der
israelitiihe Nationalftaat wölbt ſich über dieſe Kultur, wie jie aus dem
Geheimnis der Tiefe gerade Hier aufgebrochen war, und darum fieht dieſes
Volk immer nod in jenem großen Namen den Grund zu all feinem Selbft-
gefühl. Als es mit dem Staatswefen abwärts ging, trat diefe Idee zuerft
nicht zurüd, fondern in ihrem ganzen lange ans Licht. Die Propheten waren
eg, Die, fet es um den Staat trogdem zu erhalten, fei es um wenigftens Die
Perle bei dem Tod der Mufchel gu retten, ihre Bufludt nahmen zu dem,
was mehr ift als der Staat. Unter der Hand ward das Mittel zum Bwed
und der Swed zum Mittel: Gott, der Schutpatron des Staates, ward zum
abjoluten Herrn und das Bolt, wenn es überhaupt feinen verdienten Untere
gang überlebte, gum Srager der Botſchaft pon diefem Gott. Hier ift eine der
Stellen in der Weltgefhichte, ba Ewiges verflößt wird in die Zeit. Der Gee
danfe an @oit ringt fi ganz bon der Natur Ios und vermählt fic mit ber
Geſchichte; er ringt ſich los bon dem Dienft der einzelnen und ihres Staats.
wefens und ſchwingt fid auf zu den Hdben fittliden und fogialen Gmpfindens,
Das Morgenrot des Perfinlidfeitsideals und gugleidh der Menfchheit erwacht,
und es wird gum umftrittenen Grbe der ©eiftesgefhichte, was in beftimmter
gejdidtlider Lage aus dem Genius des Volkes geboren wurde. Als jenes
tragende und ſchützende Gewölbe bes ftaatliden Lebens gänzlich zerfiel, legte
fim das Volk den harten und abftofenden Panzer einer ausſchließenden Kirche
an, bie ihm den Dienft tat, fein Beftes zu verwahren, wie die Hülle des Kor»
nes den Samen bewahrt, bis er aufgeben foll. Odium generis humani — im
tätigen und im leidenden Sinn des Wortes, bald verdientermaßen, bald fraft
tragifhen Berhangniffes, ift und bleibt dDiefes Volk ein Bolt der Berheißung,
434
beftimmt, das Ideal eines fraftpollen, fittlid gerichteten Glaubens in die Welt
gu tragen — troß allem.
Kraft diefer feiner Entelechie hat es das vorderaſiatiſche Sagengut in feine
geiftig-fittlide Gigenart umgedadt und umgedidtet. Aus ihr ftammen Die
Lieder, die in unferen Shorälen nadtinen und fo viel pom Geiftesleben des
Golfes geftaltet haben, wie unfre Beften von den hoben Geftalten und Ge-
danfen lebten, die unter vielem Schutt und aud) Schmuß aufgeblüht find.
Mögen fie aud etwas bon ihrem Beften in fie hineingelegt haben, fo ift dieſes
bod nicht ohne jenes geworden. Aug jenem Geift ftammt aud das Zehngebot,
das im Aufbau unjres feelifchen Bejiges fo wichtig geworden if. Was Wun—
der, wenn fich ein ftarfes Selbftgefühl in diefem Bolf regte, das ibm auc
bas Recht zu geben [dien, feine Anfänge an die der Welt anzufchliegen? Mies
mand urteile über das Alte Teftament, der fich nicht vertieft hat in die Stim-
mungen und Uebergeugungen der erften elf Kapitel der Genefis. Hier taucht
Menfhlihes und Menfchheitlihes auf. Hoher Weltglaube und tiefe Mes
landolie ftehen dicht nebeneinander. Wenn man den Wahn überwunden bat,
als müffe das Geſchichte fein, oder es fei Srug, dann tun fics die Tiefen
der Seele bor einem auf. Hier faut das Allgemeine aus dem Befonderen, hier
Ihaut das Ewige aus dem Ginmaligen heraus. Gs ift wirklich fo, wie U. Hore
see gejagt bat, daß fic diefer Sagenwelt feine andere zur Geite ftellen
ann.
Erhebt feine Kultur ein Volk zur Nation, fo Hat feine Religion diefes
Bolf, das feine Kunft, feine Philoſophie und feine Wilfenfchaft befaß, um
einen Mittelpunkt gefammelt und thm die Beftimmung gegeben, eine Idee zu
verwirklichen, die feinen Beitrag zur Kultur der Menfchheit darjtellen follte.
3.
Wie Hat fid) Israel gu den andern Völkern geftellt?
Auf feinem Mari in das Land feiner Beſtimmung und erft recht auf
Diefer Landbrüde gwifdhen Aſien und Afrika hat es fein Dafeinsrecht fid in
beftändigem Kampf mit den gegnerifchen Völkern erringen und verteidigen
müfjen. Aeghpten, Gbom, Moab und jpäter die Pbiltfter, Haben ihm fein Recht
auf Freiheit und Herrſchaft ftreitig gemadt; Shrien, Ajfprien und Baby—
Ionien ftrebten nach dem aud im lebten Krieg umlämpften Borlande an der
Küfte. Alte Gefdhide der porderafiatifchen Landftriche Hat es geteilt, bis es
endlich dauernd feine Freiheit an die Römer verlor. Durd die Jahrhunderte
feiner Geſchichte zieht fic der leidenfchaftlihe Kampf um die Güter, die jedem
Bolt teuer find: Land, Ausdehnung, Freiheit, Macht und Herrſchaft über die
Nahbarn. Bis zum Wahnfinn hat es im oft tollfühnen Glauben an fich felbit
fih gegen die großen Weltmadte aufgelehnt und jeden feiner Grofen ver»
dädtigt, der wie etwa Seremia zur Unterwerfung riet, um das Befte des
Doltes, feine Religion für die Zukunft vor der Zerftörung durch die eberne
Gewalt der Feinde zu retten. Geredtfertigt war jenes Streben nad Macht
und nad) Selbfterhaltung durch das Selbftgefühl eines fruchtbaren und fraft-
vollen Bolfes, wie aud) diefer Verzicht auf ftaatlide Selbftändigfeit durch
den unerfchütterlihen Glauben an ein göttliches Sondererbe, bas es für die
Sufunft zu erhalten galt.
In all diefen politifchen Gefdiden vollzog fic eine bedeutfame Ausein-
anderfegung mit der Kultur der anderen Nationen in gegenfeitigem Nehmen
und Geben. Immer hat Israel fich losgeldft von der Kultur feiner Beherrſcher
und immer hat es Wertpolles bon ihr übernommen. Das ift feine innere Gee
435
{hidte von feiner Befreiung von Aegypten an bis zu feinem Freiheitsfampf
gegen die Römer. Dem Wüftenvolf Midian hat es fider mandes entnommen,
was fpäter, innerlich angeeignet und umgewandelt, gum Beften feiner Ree
ligion geworden ift. Als Nomadenpolf in das Bauernland Palaftina ein-
gebrochen, verfiel es bald nad der Regel, daß der Befiegte dem Sieger Gee
fege gibt, den Ginflüffen der älteren Kultur mit ihren Licht- und Schatten-
feiten. Dagegen aber erhob fich der fraftige nationale Rüdjchlag aus der Tiefe
des Bolfstums von Glia an bis zu den großen Propheten Amos, Sefaja und
Seremia. In dem Kampf wider den Baal handelte es fich nicht um einen
Namen, fondern um den Inhalt des Gottesbegriffs: Naturgottheit mit hei—
liger Ungudt und Zauberei oder geiftige Gottheit mit Gehorjam und Gerech—
tigkeit. Später mußten die Nachfolger diefer Propheten den Einfluß des fo
berführerifhen Sterndienftes zugunften des Gottes abmebren, der als Herr
Himmels und der Erde feinen heiligen Willen in feinem Geſetze offenbart hat.
Der Kampf gegen den Diadoden Antiohus Gpiphanes, der Verzweiflungs—
fampf der Maffabäer, der durch das Oratorium weiteren Rreifen befannt ift,
als es ſonſt diefe Gefdidte zu fein pflegt, hat den Gigenfinn eines Bolfes
gum Beweggrund, das eher untergehen als feine angeftammte Religion auf-
geben will. Diefer gegnerifhen Bewegung gebt aber auch eine andere zur
Seite. Es ift {hon bon dem Sagengut die Rede gewefen, das Israel aus dem
Schatz der vorderafiatifhen Kultur übernahm, um es gang und gar mit fei-
nem Geift zu durchdringen. So hat es aud fpäter mande Borftellungen, wie
etwa die bom Teufel und der Hölle, die bon der Auferftehung und’ dem
ewigen Leben übernommen und in feinen Geift eingetaudt. In Abwehr und
Uebernahme hat es fo feine nationale und religiöfe Gigenart ebenfo bewahrt
wie bereichert. Bielleicht ift es fo überhaupt die Grice geworden, auf der
wertvolles afiatifhes Gut feinen Weg in die Kultur des Abendlandes hinein
gefunden bat.
Das fittliche Selbftgefühl Israels den andern Bölfern gegenüber ift fid
ftets gleich geblieben. G8 war immer auf Grund feiner Borzüge diefelbe Ueber»
bebung, wie fie aud die Grieden den Barbaren und alle andern reich be—
gabten und fraftbollen Bölfer ihren Nachbarn gegenüber hegten. Das zieht
fid dur die ganze Sagenwelt und die ganze Gefdidte hindurd. Wie
beſchwört Abraham feinen Knecht Gliefer, feinem Sohn fein Weib aus den
andern Stämmen, nur eines aus feiner Freundfchaft zu nehmen! Weld ein
Sriumph fpricht aus der Sofeffage, daß einer bon Israel diefe hohe Stellung
in Aeghpten eingenommen habe! Weld) ein Uebermut erfüllt die Sagen
bon Safob und Gfau, den Stammpätern des eigenen Bolfes und der Edo—
miter! Dem Gremben gegenüber ift alles erlaubt, Lüge, Unterfchlagung und
graufame Ausrottung. Unfagbar leidenfdaftlider Haß gilt dem Anterdrücker.
Ridjidhtslos werden nad dem Ezil die Mifchehen auseinandergeriffen: nd
der Traum bon der Freiheit verbindet fid) immer mit dem bon der Herre
{daft über die anderen Nationen, die dem Bolt Gottes Unterwerfung und
Tribut fchulden. Aber das ift Doch nur die eine Seite. Aus dem humanen
propbetifchen Geift, wie er im fünften Bud) Mofe fpricht, Eingt auch dem
Srembling ein freundliches Wort entgegen; das Wort Sefu, bas den Sama-
riter um feiner Barmberzigfeit über den Priefter und Leviten ftellt, ift freilich
eine Höhe, zu der im Alten Seftament felbft Feine erfennbare Stufe hinauf»
führt.
Aber es ift doch aus dem Geift der Propheten, die Gott alg den Herrn
aller Golfer zu erfennen angefangen haben. Damit traten fie freilich allem ent»
436
gegen, was die Srundüberzeugung des Bolfes bildete. Wir wiſſen defjen
Ölauben, das auserwählte Bolt Gottes zu fein, als Ausdrud einer Ueberzeu—
gung zu deuten, die die eigene Beftimmung tief in dem Untergrund der Welt,
aljo metaphyſiſch veranfert wußte. Gs läßt fic) fein idealer Wert ohne eine
folde Ueberzeugung allen Widerwärtigfeiten gegenüber halten. Die enge Ber-
bindung mit dem eignen Bundesgott, der der mädhtigfte unter allen @dttern
fei, ift Ausdrud und Halt gugleid für dag nationale Gelbftgefühl und den
unbedingten ®lauben an die eigene Beftimmung. Aus feiner Hand empfing
das Golf das Anrecht auf das Land der Berheifung, fein Geſetz, Sieg und
aud) Niederlage, daher war fein Gefdid umleudtet mit dem einen Ginn, der
ibm nie erlaubte, ®lauben und Hoffnung fahren gu laffen. Wieder haben die
großen Propheten aus der Grundtiefe ihrer fittlid gerichteten Ueberzeugung
heraus dem Begriff bon G©ott Freiheit und Weite gegeben. Gott ijt aud
der andern Völker Gott; er ift nicht nur feines Bolfes Schußpatron, der ihm
Sieg und Gedeiben zu geben hätte, er ftraft es auch und fucht es beim um
feiner Sünden willen. Hier ſchwingt fid die nationale Religion Israels über
die bisherigen Grenzen hinaus zu dem Glauben an den Gott der Bölfer und
der Welt. Aber niemals gibt einer der Propheten den nationalen Anſpruch
damit auf. Bald ift es der niedrigere Gedanke der Herrfdaft über die Völker,
bald ift es der hohe der Milfion, mit der Israel um feines religiöfen Sonder-
gutes willen in der Welt betraut ift. Die Höhe diefer Ueberzeugung bildet
der in feiner gefdidtliden Bedeutung um feiner üblichen mejfianifchen Aus—
Iegung viel zu wenig gefannte Gedanke bon dem leidenden Knechte Sottes:
von den Völkern veradtet um feiner, wie fie meinen felbjt verjchuldeten
Leiden willen, wird er endlich in feiner Unſchuld erfannt und, weil er fich treu
geblieben war, mit der Aufgabe betraut, die Bölfer gu Gott zu führen, wo-
für fie ihm ihre Huldigung darbringen werden. In diefem Gedanfen hat der
Anfprud Israels auf Herrjdaft über die Nationen feine höchſte Berklarung
gefunden; bier ift feine Gnteledie herborgebroden und der tieffte Ginn feiner
nationalen Eigenart ift in feiner Bedeutung für die Welt offenbar.
4.
Nun bedarf es nur nod einiger zufammenfaffender Worte über unfer
Modell und das, was wir uns an ihm baben anfdaulid maden wollen.
Was bat Israel der Welt als feinen Beitrag gu ihrer Kultur guge-
bradt? Man mag darüber fpotten, wenn man nur an die Juden und nicht
an Israel denkt. Gs ift nichts Geringeres als die Moral, die religiös ge-
gründete und fozial und geiftig gerichtete Moral. Daf wir fromm und gut
nidt auseinanderreißen, daß wir Unrecht als Sünde und Sünde als Unrecht
empfinden, ftammt aus biefem Erbe Israels. Ferner der heiße Drang nad)
einem Reid) der Gerechtigkeit, fozialer Gerechtigkeit, ift der tiefe Grund der
befannten Beteiligung der Juden an allen politifchen und fogialen Revo»
Iutionen. Gs ift fein Zufall, daß Marz, Laffalle und Landauer aus diefem
Bolfe ftammen. Endlich ift auch der Mefjiasgedante ein Stüd diefes Grbes,
der Gedanke alfo, daß ein jedes felbjtbewußte und fraftvolle Bolf den An—
jprud babe, feine Eigenart in der Welt durchgufegen und bas Redt von der
Weltgejdhidte ber, ihr feinen Stempel aufzudrüden.
Diefen Beitrag zur Kultur der Welt hat Israel aber nur leijten fönnen,
weil es fich felber treu geblieben ift, allen Abfällen zu andern ®öttern zum
S108. Daf es fich fo hartnädig auf feine nationale Gigenart verjteift bat,
Das allein hat ihm feine übernationale Bedeutung gegeben. Wäre es auf-
437
gegangen in dem porderafiatifhen Bölferbrei, dann wäre es uns jebt wie
Moab und Ammon. Nur das Bolf gewinnt übernationale Bedeutung, das
fih national treu bleibt. Damit ift nicht gejagt, daß es die andern verachten
folle; zwiſchen dummer Beradtung und elender Selbjtwegwerfung liegt der
edle Stolz, der fid nicht zu gut dünkt, auch die andern fennenzulernen und
gelten zu laſſen. Nur fo wird eine Menfchheit. Sie befteht nie aus gleichen,
fondern wie der Leib aus ungleiden ©liedern. „Die Idee der Menfchbeit,
@ott gab ihr Ausdrud in den verfhiedenen Völkern.“ Die Völkerfuge befteht
aus verſchiedenen Stimmen. Jedes Volk hat feinen Tag in der Weltgefchichte.
Die Menfchheit fommt zuftande, wenn jedes Bolt, bas etwas gu geben bat,
im Nehmen und Geben mit den andern in Wustaufd tritt, aber immer nur um
fi in Widerfprud und Angleichung felber treu gu bleiben und immer mehr zu
werden, was es ift. Wir Deutſche müjfen wiffen, was uns anvertraut ift: es
ift das Hobe Gut des Idealismus, das wir aus dem beiten Erbe Griedhen-
lands und der biblifhen ©eifteswelt uns gefchaffen haben. Unfere Bedeutung
für die Welt, bie uns nicht untergehen lafjen fann, an die wir glauben müffen,
verwirfliden wir, wenn wir dem Geift nachfpüren, aus dem wir ftammen und
wenn wir ihn immer mehr im Berfehr mit andern Geiftern zu feiner Reinheit
und Fülle ausgeftalten. Friedrich Niebergall
Wilhelm Leibl.
Ss)" größte deutfhe Maler der lebten Jahrzehnte des vorigen Sabr-
bunderts ift Wilhelm Leibl, einer unfrer größten Maler überhaupt.
Diefen Sat ftellen wir voran als eine Grfenntnis, die, feit langem unbeftimmt
gefühlt, uns allmählih im Sehen und Vergleichen zur feften Gewißheit ge—
worden ift. Sene Bewegung in der Malerei, die auf die Dingegebenfte und
innigfte Gerfenfung in die Natur ausging — Plein air, Smpreffionismus
und alles, was dazu gebirt — Dat in ibm ihr Haupt. Gr gehörte zu feinem
Klüngel, fondern ftand mehr und mehr „abjeits*. Gin Ginfamer. Trogdem
ift er der $ührer. Se mehr der Schwarm der Zeitberühmtheiten in die Bere
geffenbeit finkt, um fo eindrudfamer tritt die Kunft Leibls hervor. Wir, die
wir uns zu Wilhelm Raabe, Seremias Gotthelf und Adalbert Stifter bee
fennen — wir wählen diefe Namen mit Bedadt —, geben Heute an vielen
Bildern vorüber, die nod immer, und gum Zeil mit Recht, berühmt find,
und finden unfres Herzens Troft bei Wilhelm Leibl. —
Die Familie Leibl ftammt aus der Bayriſchen Pfalz. Der Bater, ein
begabter Mufifer und trefflider Komponift, wurde Domfapellmeifter in Köln.
Die Mutter war eine Kölnerin, die Tochter eines Gymnafialprofeffors. Wil-
beim Leibl, geboren am 23. Oftober 1844, war das fünfte bon fehs See
{wiftern. Die Familie hielt in großer Treue zu einander, Wilhelm Leib!
Ding mit inniger Berebrung an feinen Gltern*. Gr wuds auf in einem ehren-
*) Wir betonen das und meifen darauf bin, daß dies bei unfern Oroßen die
Regel ift: Dürer, Luther, Kant, Goethe. Aud im ,fapitaliftifhen Zeitalter“:
Brahms, Hans Thoma ufw. Gegenüber etliden Apofteln, die in Aufrubrmaden
reifen und den „Kampf“ gegen die „alte Generation überhaupt, fowie gegen die
„bürgerlide Familie“ und die Sltern insbejondere in genialiidem Baufh und Bogen
lehren und die in der LUnwiffenbeit mander bewegten Jugend ein leichtes Abfahfeld
Dr ihre Irrtümer finden, muß man die Augen auf die natürlide Wirklichkeit
enien.
438
haften, redlichen, gütigen und gebildeten Kreife, der bürgerlid war im
ſchönſten Sinne.
Körperlih und geiftig war Leibl von ausgeprägt germanifcher Art. Gin
großer und ſchwerer, herrlich gebauter Körper, ein edles Gefidt, von braunem
Haar und Bart umjfdloffen, mit begwingenden blauen Augen. Kraftübungen
waren feine Greude, er liebte Turnen und Athletik. Die große Gifenftange
und ein Anbderthalbzentner-Stein zum Stemmen durften ibm nidt fehlen.
Schlug er mit der Fauſt auf den Gidentifd, fo brad) die Kante fplitternd ab.
Wenn auf dem Ammerfee der Sturm einfegte und die GFifder mit ihren
Booten das Land fudten, ldfte er fein Segelboot und fuhr in den Sturm bin»
aus. (In der Sugend hatte er „Maler oder Seemann“ werden wollen.)
Seine Ueberfraft und feine YUeberanftrengung ließen ihn nur fechsundfünfzig
Sabre alt werden. Gaft die Hälfte feiner Zeit widmete er der Jagd. Nicht
aus Freude an der Schießerei, fondern aus Freude an dem einen treffenden
Schuß und aus Freude am — Hund. Die Sicherheit feines Schuffes war
berühmt. Zuweilen lag bie Büchſe neben dem Malgerät, um eine porüber«
fliegende Gnte Heruntergubolen. Die Hunde wählte er mit forgfamfter Bee
obachtung und zog fie felbft auf, er hielt fie ftreng und farg, lenkte fie mit
Inapper Gefte und furgem Wort. Gr hatte por den Tieren unter Umftänden
mehr Adtung als bor den Menſchen. Brehms Sierleben lag ibm ftets zur
Hand. Den Darwinismus tat er mit Der ironifhen Bemerfung ab: Hätte
diefe Theorie recht, fo würde fich der Menfch gegenüber dem Tier nicht vor
warts, fondern rüdwärts entwidelt haben.
In der Unterhaltung war Leibl wortfarg. Was er an tieferen Dingen
zu fagen Hatte, gab er in feinen Bildern, nicht in Worten. Aber wenn er
etwas jagte, fo „jaß“ es. Auch fdweigend beberr{dte er die Menfchen.
Im Umgang war er bon einer getwiffen edlen Unbeholfenbeit, wußte aber in
den Kreifen des Adels fo gut zu verkehren wie bei den Bauern. Geriet er
unter Schwäßer oder reichgewwordenen Pöbel, fo wurde der Unterfchied zu Un—
gunften der anderen rafd bon felbft offenbar. Die wenigen Freunde wählte
er mit eindringendem Auge. An diefen Freunden Hing er mit underbriidlider
Treue Bor den Frauen bielt er fic zurüd, obwohl er aud wundervolle
Stauenbildniffe gemalt hat. Die Tochter des Schondorfer Wirtes (er bat
fie auf dem Bilde, das unter dem Titel „Ungleihes Paar“ bekannt ift, als
Modell gewählt) war fein einziges „Abenteuer“. Gebheiratet hat er nicht.
Obwohl Leibl in den Monaten por dem fiebziger Kriege umgeben von
Anerkennung und Reidtum in Paris lebte, kehrte er nad dem Friedens—
ſchluß nicht dorthin guriid, fondern ging aufs oberbayrifhe Land fernab der
Eifenbahn. Gr bradte fein Leben nacheinander in Graflfing, Unterfchondorf,
DBerbling, Aibling, Kutterling zu, in Moor und Wald und mit Ausblid
auf die Berge (nicht im Gebirge felbft). Doch bebielt er meift aud eine
Wohnung in Münden oder wenigftens in dem Gleden Aibling. Gr baufte
in bäuerliden Stuben, und lebte wie ein Bauer unter Bauern, ohne daß
ihn feine gab feftgebaltene fölnifhde Mundart darin behinderte. Für Die
Bauern ift ein Künftler im Allgemeinen ein mißtrauifch betradteter halber
Tagedieb und Springinsfeld. Aber wenn „der Herr Leibl“ fam, fo ging
ihnen das Herz auf. Bor feiner Malerei Hatten fie Refpeft. Als er ar
feinem ,Rirdhenbilb“ („Drei Grauen in der Kirche“) malte, berichtete er
(am 20. Mai 1879) in einem Brief an feine Mutter: „Letthin waren mehrere
Bauern davor und falteten unmwillfürlih die Hände. Einer fagte: Das ift
Meifterarbeit. Auf das Urteil der einfachen Bauern habe ich von jeher mebr
439
gehalten, als auf dasjenige der fogenannten Maler und foll mir diefe Aeuße-
tung des Bauern ein gutes Omen fein.“ Das Bild, das der Berblinger Bauer
„Meifterarbeit* nannte, nannte bernad) Lenbad in Münden „Zuhthaus-
arbeit“ ...
Diefer fraftftrogende, ſchwerbewegliche, langſam denfende Künftler, Sager
und Bauer, der zwar zuweilen in hellem Zorn auflobte, aber doch vor allem
die überlegfame Rube [häßte, war zugleich ein Menſch von tieffter Innerlichkeit
und Sartbeit. Wie fdonfam ging er mit den Menfhen um! Wenn er
fih aud) nicht zur Kirche hielt, fo wußte er es doch fo einzurichten, daß fein
mangelnder Rirdhenbefud den Bauern fein Wergernis gab. Seinem ehrfürch—
tigen Gemüt war jeder Spott über religiöfe Dinge zuwider. Als er in einer
Scheune einem DBauerntheater („Ritter Kuno oder der Schwur um Mitter-
nadt am Garge“) beiwohnte und das Laden über die „Tragik“ nicht halten
fonnte, ging er hinaus: „Es ift eine Ungegogenbeit, da gu lachen, wo fid
andere erbauen.“ Zoten fonnte er nidt vertragen — das ficherfte Kennzeichen
inneren Adels.
Mit diefen Zügen ift zugleich der Künftler charakterifiert: eine Bere
bindung berber Kraft und zartefter Innerlichkeit. Beides einigt fid in der
Ehrfurdt. Alles von Menfdhen Zurechtgemadhte, Geſchönte, Bdealifierte ver—
adtete er. Die Ghrfurdt vor der bon Menſchenwitz und Menjchenwillfür
nicht verdorbenen Natur, der unbedingte Wille zur Wahrheit und Gadlidfeit,
der Ginn für das Handgreiflid-Wirklihe bilden den innerften Grund feines
Künftlertums. Man folle fidh fein „Seelifches“ ausdenfen und das dann '
malen, man male das Körperliche, wie man es mit ebrliden Augen febe,
dann babe man „das Geelifche ohnehin dabei“. Das ift nidts andres als
jene alte germanifhe Anſchauung, die mit dem Worte „Leib“ Körper und
Seele als Einheit erfafte.
Der Natur, als dem Grunde und der Heimat alles Lebens, gab er fid
gang bin. Gr ging nidt aus der Stadt, wenn es ibm paßte, in die Natur
binaus, um fie zu „jtudieren“ und in Gfiggen beimautragen. fondern er lebte
in ihr. Was er tat, tat er eben immer ganz. Diefe umftandlide Sediegen-
beit und Griindlidfeit gibt feiner Kunft das Altmeifterliche, jodaß feine Bilder,
die aud in der Technik dauerhaft find, die Nachbarſchaft der alten ober—
deutſchen und niederdeutijchen Meijter vertragen fönnen. Diefe Hingabe an die
wirklide Natur madte ihn freilih abhängig bom Modell. Gr malte nichts
aus der Phantafie, fondern immer nur aus der Wirklichkeit. Seine „Phan-
tafie“ ift eben nicht ein Grfjinnen, fondern ein Auswählen; feine PbHantafie
ift ungelöft bon der Realität, er bewährt fie darin, daß er fic) die Modelle
ausfudt. Und hier offenbart fic fein eigentiimlides Auge und fein Herz.
Seine Sinne find fo fein und wählerifch, daß er Bildnisauftrage nur unter
der Bedingung annimmt, daß der, den er malen foll, ihm nicht unſympathiſch
fei. Leere oder unangenehme Gefidter anzufehen ijt ihm faft phyſiſch peinlich,
er wendet fid ab. Das Tiefe, Sharafterpolle, Schte und Edle (bon „Schön«
beit“ hält er fo wenig wie unfre Alten) fcaut er als das Grundiwirkliche aus
der Natur heraus. Als er ein Lieblingspferd des Grafen Sreuberg malte, ere
ftaunte der gufdauende Graf: der Maler, der von Pferdezucht nichts ver—
ftand, traf mit verblüffender Sicherheit gerade die Merkmale der edlen Rajje.
Gs fommt eben aufs Sehen an, und ein häufiger Wusfprud) Leibls war:
Die Menſchen können nicht fehen. Der fdarfe, helläugige “Blid des agers,
der Blid des rafjigen Menfden für das Gdle, das ift nadft der Ehrfurdt
und ©ediegenheit das dritte Merkmal feiner Kunft.
440
Sehr begeidnend ift die Art, wie er malte, wie die Fauft des Hünen
mit den empfindlidften Nerven den feinften Pinfel regierte. Mit ausge»
ftredtem Arm ftand er da, viele Stunden — {don das eine erftaunliche Kraft-
leiftung. Gr malte alla prima, ohne Untermalung. Das Bild wurde mit
großen Kobleftrichen angelegt, dann begann er irgendwo, an einer Schulter,
einem Auge und madte nun ein Feldchen nad) dem andern fogleich ganz
fertig. Daher war feine größte Sorge, das Gemalte lange genug feucht zu
halten, rafd trodnende Farben mied er. Gnt{[prad ein Stüd feinen Anz
forderungen nicht, fo bob er es mit einem Rafiermeffer heraus und begann
bon neuem. Sp bat er einmal an dem „Kirchenbild“ die Arbeit bon mehr als
zwei Monaten befeitigt und neu begonnen. Gs ftedt eine ungeheure Mühe in
Leibls Bildern. An jenem DBerblinger Kirdenbild mit den drei Frauen
bat er faft vier Sommer gemalt, immer in dem dämmrigen Kirchenraum,
zuweilen im Spätherbft in großer Kälte, im Halbdunfel fein Auge faft über»
anftrengend. Die „Wildſchützen“, die ibm die größte Mühe gemadt batten,
zerfägte er in drei Stüde, weil er, zu nahe am Modell ftebend, die Größen»
veıhältniffe der Figuren zu einander nicht recht getroffen hatte. Und diefer
Seblgriff erfchütterte ihn fo, daß er feither nie wieder eine größere Rompo-
fition unternahm. Der Sager ſchoß nicht zum zweiten Mal auf ein vere
febltes Wild.
Techniſch ſchätzen wir an Leibls Bildern die für unfre eilfertige Zeit un-
erhörte Gediegenbeit, äftbetifch die meift uniibertrefflide Farbenfeinheit. Aber
Das find nur die Bebifel für die tieferen Werte, eben für das „Seelifche“,
bas zu malen er ablehnte. Durd die ehrfürdtige Hingabe, die gediegene
Sadlichkeit und den Blid für das Echte holte er die mbftifde Urtiefe aus
dem Naturgewadjenen und Snnermenfdliden heraus. Wo haben wir in der
ganzen neueren Runft Augen und Hände wie die bon Leibl gemalten! Diefe
Gefjidter und Hände find individuiert bis aufs Aeußerfte, und Doch Liegt
in ihnen Sabrtaufende altes, Generationen durchzitterndes Leben. Bei Leibl
vereinigt ſich höchſter Indipidualismus mit Gwigfeitsblid. Gr gibt uns Die
Wirklichkeit, die uns erfchauern läßt und zur Andacht zwingt. (Nichts ift Iehr-
reicher, alg pon einem Leiblſchen Bilde weg vor die Bilder andrer hervorra—
gender Realijten, etwa Menzels oder auch Liebermanns, zu treten. Der Unter-
ſchied der feelifhen Haltung und Tiefe ift verblüffend.)
Leibls Bedeutung wurde früh empfunden, fdon als er nod in München
bei Ramberg war. Aber er ift in eigentlidem Sinne weder Rambergs nod
Piloths „Schüler“ gewefen, fondern ging bon Anfang an ftrads feinen eigenen
Weg. Die Darftellung, als fei er nad Paris gegangen, um fic dort gu voll»
enden, Die Begeidnung Leibls als Sourbet-Schüler ift unwahr. Courbet er-
fannte in München Leibls Bedeutung, die Grangofen holten fi den
jungen deutſchen Maler nah Paris, weil er etwas fonnte. Seine Kunft
ift eigendeutſches Gewächs. Als er in Paris die „Kokotte“ mit dem bee
rühmten goldigen Kolorit malte, jah ihm Gourbet bewundernd bei der Arbeit
gu. Auch fpäter blieb ihm die Bewunderung der Parifer Kunftfreunde treu.
In Deutfchland aber hatte Leibl Jahre der Nicht-Beachtung, ja Berfennung
durchzumachen, und es ift nicht bloß DBitterfeit, fondern nur allzu tribe Wahr—
Heit, wenn er den Neid eine „Haupttugend der Deutſchen“ nennt. Gs gibt
in Deutjchland fo viele Halb- und Biertelsfinner, die mit befferwifferifchem
Adjfelzuden, um ihren Platz zu behaupten, die geborenen Meifter zu ent-
werten ji bemühen. Gelbft ein Lenbad gab fi dazu ber, Leibl zu
verkleinern und ihm den Verkauf eines Bildes zu verderben.
441
Heut aber, ba wir nicht mehr in den Tageskämpfen um den Bmpreffionis-
mus fteben, fondern die Gpode als ein Ganges in den ©efamtleiftungen über»
fhauen, löfen fi für unfern Blid aus den vielen Hügeln die wenigen hohen
Berge heraus; ſchroff und ftolg ragt über ihnen ein granitner, aus dem Grd-
innern auftoadfender Gels: Leibls Werk. Und faft ſymboliſch mutet es an,
daß diefer größte Maler feiner Beit weder bon den Nieder- noch bon den
Oberbdeutfchen, weder von den Kölnern nod bon den Bayern ganz beanſprucht
werden fann, fondern eine ſchlechthin deutſche Erſcheinung ift. Wie er in
politiſchen Dingen zu Bismard bielt (und die ftille Bornehmbeit des alten
Kaifers, befonders aber die unbeirrbare Gadlidfeit Moltkes ſchätzte), fo ift
aud feine Kunft ohne jeden Partifularigmus. Sie ift in Wahrheit weder
Iandfchaftlih nod ftändifch eingefchräntt. Gs ift vielmehr fo, daß in Leibl
der germanifhe Ginfdlag der deutfhen Bolfheit fo rein wie felten fonft
erfcheint. Das läßt fid an der Struktur feiner Perjönlichkeit wie feiner
Kunft aufzeigen. Bor allem darin, daß ihm die Wahrheit (nicht die Schön«-
beit) und die felbftberrlide (autonome) Freiheit (nicht die Kultur) als höchſte
Werte gelten. Das heißt ins Künftlerifche übertragen: Realismus und Sach»
lichkeit. Indem Leibl diefe Gadlidfeit bis zur duferften Hingabe treibt,
erfaßt er in jedem Stüd der Natur zugleih „das Ganze“ und im Ginnliden
zugleich das Seeliſche. So gewinnt der Naturalismus eine myſtiſche Tiefe.
Diefes unpathetifhe Pathos, diefe lichtklare Schattentiefe, dieſe mbftifde
Sadlichkeit bannt den Befdauer fo, daß vor einem Leibliden Bilde des
Schauens fein Ende ift. St.
Paul Ernſt.
er fih bom Stadtbild bon Weimar erträumte den Abglanz Haffifcher
Tage, wird enttäuſcht; aud bon der ausdrudslofen Monotonie der
Gront des Goethehaufes. Selbſt die beflemmende Hinfalligfeit des Schiller»
Haufes übt faum eindringlidere Reize aus, ſodaß wohl mander an ihm in
unmiffender Achtlofigfeit porüberwandelt und fi fo einen nachdrüdlichen
Aufruhr der Gefühle verfagt. Und die äußere Schlichtheit des doch von
Wundern vollen Wittumspalais atmet davon wohl für den wadfam weiss
lichen Suder, nichts aber für den flüchtigen Befuder aus. Doch wenn du
droben bom „Horn“ Hinabfhauft auf die heimlich flüfternden und dod fo
verfchwiegenen alten Buchen und Eichen des Parks und auf die blattgrüne
@irlande der eilenden Sim, und wenn du dann berniederfteigft gum „Stern“,
dann fiebft du Goethes Gartenhaus fi an die Senke fufdeln, bon der du
famft, und vor ihm Die Wiefe gebreitet, das niedere, Eleinfenftrige, hoch—
dDadige Häuslein, auf dem ein Rebengitter rechtedig fid) zeichnet, ſchmuck—
Iofefte, Holdefte Anmut von naturhafter Reinheit, umbhegt von dem heiligen
Srieden vollendeter Harmonie, — dann Haft du das alte Weimar, dann
jpürft du die Unfterbliden, dann abnft du Goethe.
Droben, „Am Horn“, in altertiimlidem Patrigierhaufe, por twunderlid
berwildertem, romantifhem und melandolifch traulidem Garten, mit tröftlich
labendem Blid auf den lieben Park, haufte viele Sabre Paul Grnft. Gr
ftand in reifem Mannesalter, als er dorthin zog. Dort erft, im Schatten der
Titanen, fand er fic felbft, erfaßte er fein ewiges Gelbft und ficherte es,
dort fühlte er fic) gefeit gegen deffen Berluft, fern von der überreizten Anraſt
feiner Zeit, dort fudte er über Weimar hinaus den Weg zu neuer fittlicher
442
Weltanfhauung, dort wollte er, der Neufantianer, die fittlihe Freiheit des
Menfden wiederfinden und fo zu einem neuen nationalen Drama gelangen.
Seine dramatifhe Kunft will Natur und Prunf, Sbenmaf und Wirrfal
zugleich fein, des Lebens Taumel und Betörtheit priefterlich gefammelt Elären.
Während die Dichtung feiner Zeit noch befangen war im Ab bilden des
Alltags, ſchritt Paul Grnft — und bas ift feine große, wegweifende, feine
Altweimar würdige Tat — zu didterifher Schöpfung feiertägiger Bore
bilder. Und fein erfter dramatifcher Sedanke wurde einer der Gwigen und
Allmädtigen Weimars, Demetrius, mit dem Sciller in feinem Todesfampfe
sang und dem Hebbel ein halbes Jahrhundert fpäter in Weimar zugeführt
wurde. Dod eigenfchöpferifch ift fein „Demetrios“. Aus den ftumpfen, fturm«
gepeitfchten Steppen des rauhen Ruflands entführte er den falfhen Fürften
in des Taygetos großartige Gebirgslandfchaft im ſchönen, fruchtbaren Guro-
tastal, aus dem fiebzehnten Jahrhundert nad, ins zweite Jahrhundert
bor Chriſto. Der lakoniſchen Welt entſpricht die lakoniſche Kargheit und
©eftrafftheit der epigrammatifch-Haffiziftifhen Sprache Ernſts. Dies vor
nun annähernd zwei Jahrzehnten entftandene Drama ift Heute bon aufs
fälliger Zeitwirkfamteit. Der biftorifhe fpartanifhe Staatsftreichler Nabis
wird bon dem Baftardfohne des bon ihm vertriebenen legten Herafliden ent-
thront. Im @lauben an feine Legitimität madht fi der Baftard zum
König. Als berufener Reformator will er aus dem verlotterten Bolf, das
feine Scheu und feine Ehrfurcht und fein gleides Wollen fennt, in dem einer
dem andern fchadet, um fich felbft zu niigen, ein neues Volk erfchaffen mit
den Trümmern alter und den Scherben neuer Zeit. Doch wer Herrfden will,
bedarf ftarfen Grundbaus und fefter Pfeiler. Da er fic, ohne fie zu befigen,
fühn und edel über die Parteien ftellt, wird er deren Spielball und abhängig
por des Pöbels ewig unbeftändigem Ginn. Def Art ift es, an Geelengröße
ftets zu zweifeln; des Helden Art, glaubend fic felber treu zu fein. Gin Bere
tiefterer alg Schillers und als Hebbels Demetrius, geht Demetrios nicht an
feiner Zufallswiege gu @runde, fondern an feinem Abſcheu por dem ©arftigen
der Politik, vor der Grbarmlidfeit der eigenfiidtigen Parteien, nachdem er
längft den Demetrius-Menfden überwunden batte zugunften Der Deme—
trius-Sdee, zugunften der Idee des Schaffens für das Bolfsgange. Das aber
ift, nad Grnfts Standpunkt von 1905, vergeblide Liebesmüh. So ift Denn
Ernfts „Demetrios* in Wahrheit eine Tragödie, bie Tragödie bon der Une
möglichkeit, edel zu herrſchen in unedler Zeit.
Es ift ſchon Größe in diefer Dichtung; fie hat Fülle, Gewicht und
äußere Wirkfamfeit, Szenen von ethijd großer Empfindung, Szenen dunflen
Erſchauerns; und eine feltfam farge, recht fpartanifhe Lprif. ft freilich
der Zodbereite, der Todfreudige, der Weltverefelte nod) Tragddienheld?
Demetrios ftirbt nicht um feiner hohen Ziele willen, fondern als ein am
Grgielen Bergweifelter. Ohne ein neues Biel den eberlebenden zu binter-
laffen, gebt er aus dem Leben. Altweimarifhe SKlaffizität ift bier neu.
weimarifd nietzſchiſch amalgamiert. Wud in feiner „Brunhild“ ftirbt Sieg-
fried mit Dank auf den Lippen für den Sodbringer. In „Canoſſa“ fiegt der
Untreue über den Zreuen, ber ins Geil wandert. Ninon de Lenclos wird
durch den Tod ihres reinen Sohnes befreit zu neuem Leben in wilden Lüften.
Lebensfeindlid) wurde bag lebensfreudige Altweimar.
Klarer und klüger als feine Mitftrebenden fdritt Grnft den „Weg zur
Gorm“, zur hohen Tragödie der Alten. Mit eiferner Zähigkeit meiftert er
zielgefhärften Blides die Form, bewußter Schüler der Wntife. Alles ift
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teftlos durchdacht, Big zum Ende alles gefonnt, fein I-tüpfel zu wenig, feines,
aber auch gar feines zu biel, alles rund und ohne Tadel, alles tunftoolles
Gleichmaß. Und dod) — dieſe in ihrer Tiefe und Schönheit unerfhöpflichen
Dramen ergreifen wohl, löfen im Lefer das Gefühl menfchliher Größe und
Würde — aber fie paden fein Publifum, fie reißen niemanden hin, machen
fein Blut wallen. Nicht etiva, weil die Geftalten nicht Fleifd und Blut wurden
— einzelne wurden eg, bod wer ſchert fid heute darum — nidt um der
fühl fcheinenden Kargheit, um des Gkels am Allgumenfdliden willen. Der
Nahfühlfame greift ins Leere, der da lechzt nad Meberfülle und nad LMeber-
maß. Grnfts bewußt betonte Kargbeit ift gewiß zum Zeil felbftauferlegter
Swang, weife Selbftbefchränfung, Bändigung — dod aud merflider Mangel
nidt etwa an Ueberjhuß, fo dod an Ueberfhwang, an überwältigenden
‘Seuersbriinften.
Denn nicht ein Stürmender, ein paroxyſtiſch Rafendre, in feelifchen Sumul-
ten Braufender, in Gergiidungen Beraufdter, ein (wie etwa Strindberg und
Wedekind) Leidenfchaftsgepeitfchter und fid Yerfleifchender, fondern ein Bee
berrfchter, zu weimariſch⸗klaſſiſcher ſittlicher Seelenruhe und zu Seelenadel
gekommener Seelenretter, einer, der das menſchliche Tagesleid überwand und
vom großen Leid der Welt und feines deutfhen Bolfes tief erfüllt ijt, ſchuf
diefe Dramen im SHochgefühl feiner Heimliden Krone apollinifher Ge»
Taffenbeit.
Der Theoretifer Grnft hat gewiß recht: nidt ein Menſch, der, Spielball,
dem Schidjal blindlings unterliegt, fondern einer, der Dem Schidjal kämpferiſch
gewachſen ift, der ihm mit Größe troßt, vermag dauernd im Drama zu feffeln.
Das aber ift die Sragif im Schaffen des Sragddiendidters Ernft: daß zwiſchen
feinen Theorien und feinen dichteriſchen Schöpfungen ein abgründiger Wider-
ſpruch Hafft. Seine in ihrer edelfchönen Kunftform am höchſten ftehende,
monumental hodragende „Brunhild“* ift ein bilb- und gleichnisreiches dialo⸗
giſiertes Sinngedicht von geiſtvoll zugeſpitzter Kürze, vergleichbar einem mit
Beckerathſchen Fresken ausgemalten Gewölbe, innerlich erfüllt von dem zu
Starrheit gepanzerten, unbeugſamen Sittengeſetz. Die, Ideenmenſchen dar—
ſtellenden Bildſäulen Ernſts ſind ins Beiſpielmenſchliche zeitloſer Art ge—
fteigerte und nur zu ſcheinbarer Körperhaftigkeit gefügte Abſtraktionen, unter-
liegen, zur Vollkommenheit ſtrebend, in zwangvoller Ausreifung ihres eigenen
begrenzten Selbſt einem ſtrengen, gebieteriſchen, eiſenharten Schickſal und
tragen das Gefühl der Abhängigkeit als irdiſche Notwendigkeit, als Unum-
gängliches in ſich, als ein Gebot des Weltwillens. Reine Hirnweſen, ſchauen
ſie nur allzu bewußt und allzu gefaßt das Kommende voraus. Gegen
die menſchliche Unfreiheit gibt es bei dem Dunkelſeher Ernſt feine Appella-
tion einer aufrührerifhen Bebemeng. Seine dramatifhen Helden find nie
nur MWerdende, find im mefentlihen Gewordene, Gefdloffene. Indem er
3. B. dem deutjchen Bolfsepos eine neue Deutung gab, ward ihm in feiner
aus der trüben Gegenwart ber verfnechteten Deutjchheit erwachjenen „Chriem—
bild“ Hagen zum tragifchen Symbol des mit untwandelbarer, ebrenfejier, allen
Gefahren tollfühn trogenden Treue willig einer fanftionierten Idee fic) untere
orönenden deutfhen Wefens. Ernfts denktüchtige Menjchen find, nicht unähn-
lid dem ihm fo minderwertig fdeinenden „Suhrmann Henſchel“ Hauptmanns,
Haglos, ergebungs- und entjagungspoll untergangsbereit, zäber, unlöglicher
Bindung ausgeliefert; durd die Gewalt des Gewiffens fie, Durch feinen
Stumpffinns-Rurablid er. Das ift der Unterfchied. In unentrinnbarer Bere
{dlingung nehmen die (zuweilen gliederlofen) Höhenmenjhen Grnjts ihr Los
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mit adliger Gefinnung und Haltung auf fid, um, weder in vergiidter Inbrunft
nod in glühender Grregtheit, fondern mit Kaltblut geftablt untergutauden
in den erlöjenden Born unendlichen Gottesfriedens.
Alles retardierende epifodifche Beiwerk hat er ebenfo wie alle Erdſchwere
abgeftoßen, nur die moralifhe Perfönlichkeit ift in unbededter Schuglofig-
feit dem Schidfal gegenübergeftellt zur Selbftforreftur, oder, wie er fid) aus
drüdt, „zur Integration des Guten“ in Stolz und Bornehmbeit fittlider und
religiöfer Denfart.
Ernſts Hiftorijhe Geftalten, bon denen mande uns faft den franzöfifchen
Klaffiziften näher zu fein fcheinen als den alten Griechen, würden fic wohl
fügen in den ftrengen Stil einer Reliefbühne, vielleiht aud in ein des Ko—
thurns wieder bedürftiges Amphitheater oder eine Bühne überlebensgroßer
Marionetten.
Der Primitivismus in Grnfts mit ftarfem Intelleft gezeugten und bedach—
ten Sragddien, der eine merkwürdige Parallele hatte in den dem malerifden
Gzpreffionismus unmittelbar poraufgehenden romantiziftifchen Gotikern, den
SHodler, Lehmbrud, Hoetger, Ludwig bv. Hofmann, Gaspar und Gefährten,
blieb in formaler Konftruftion und ftofflider Gedrungenbeit das Aeußerfte,
Legte, die unüberfchrittene Grenze in der Gerpflidtung der Dramatik zu ethi-
ſcher UIntelleftualität. Die neue Beit ſchlug neue Wege ein.
Die Mehrzahl unferer Theater pflegt an dem dramatiſchen Gefamtwerke
Grnfts, das die Fünftlerifchen und fittliden Durdhdnittswerte der die Spiel-
plane beherrfchenden Bühnenftüde weit überragt, felbft an feiner tieffidtigen
und zweifellos bühnenwirkfamen fdftliden Komödie „Der heilige Grispin“,
adjelgudend vorüberzugehn. Und doch verdient Ernfts wenn aud erftarrtes,
fo dod unentwegt hochzieliges dramatifches DBeftreben por vielen Anerfen-
nung und Würdigung durch feine Nation.
*
Grnfts Weg nah Weimar ift wunderlid gewunden gewefen. Gr ift ein
Sohn des Harges, wo drei deutſche Stämme fic berühren und mifden, die
Thüringer, die Gadfen und die Franfen, ein Sohn eminent Hiftorifmen Bo-
dens. Sn dem Städtchen Glbingerode fam er zur Welt, wo die Grafen von
Wernigerode großen Waldbefiß haben, als Sproß einer frommen und bibele
belefenen DBergmannsfamilie, die, einft begütert, gu Gnde des fünfzehnten
Sahrhunderts aus Antwerpen eingewandert war. Giner feiner Aelterpäter hat
mit Luther in freundfdaftliden Beziehungen geftanden. In feinem Bater-
Haufe waren durch die Liebe der Vorfahren reine Ehre, ftrenge Pflicht und
ein gartes Gewiſſen von Alters her heimifch. Seine angeborenen Triebe nah-
men diefelbe Richtung wie bei Bater und Großvater, doch feine Art wurde
nod) ftarfer, wie die feiner Borfabren gewefen war. Was ihm fein friede-
umbegtes ftilles Glternhaus mit auf den Lebensweg gegeben Hat, das fpiegelt
fein erfter Roman „Der fdmale Weg zum Glüd“ am innigften, doh aud
andere feiner Schriften in vertiefter Weisheit wider. Als er noch in gartem
Kindesalter ftand, wurde fein Bater Podfteiger in dem Hodgelegenen Klaus»
thal. Die Natur ift in diefer Gegend arm und öde, die Erde fo fdledht und
das Wetter fo raud, daß Aderbau nicht mehr getrieben werden fann. Da
erwachfen denn Grübler, die das Leben von der jchwerften Seite nehmen, Die
unaufhörlih die Bibel ftudieren, um die Probleme des Lebens zu ergrün-
den. Da ift aud) der Nährboden für Träumer, die fid in eine unwirfliche
Welt einfpinnen und fritifd und miftrauifd allen Wirklidfeiten gegenüber-
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fteben. Der Unterfchied zwifchen diefem Aufenthaltsorte und dem früheren
war offenbar und ergreifend; er lehrte den Knaben nachdenken und vergleichen,
fich felbft mit neuen Augen betradten und fich feines Weſens bewußt werden,
das den Grübler und den Träumer in fich vereinte. In Klausthal und jchließ-
lid in dem einftmals reichsſtädtiſchen Nordhaufen, wo bor Zeiten feine Fa—
milie die herrfchende gewefen war, verbradte er feine Gymnaſialzeit. Zum
Theologen beftimmt und fic aud berufen fühlend, bezog er, treufinnige Ge-
fangbudberfe im Herzen, die Univerfität. Fünf Semefter bat er, pornehm-
lid in Berlin, fleißig dem Studium der Gottesgelahrtheit gewidmet. Doch
nichts war natiirlider, als daß den leicht formbaren, weichherzig mitfühlfamen
Siingling die Gindrüde des Grofftadtlebens ftärfer ergriffen als die meiften
feiner Mitftrebenden, daß das viele Faule und Gntartete dort ihn tief be—
fümmerte, daß die Mifbildungen und Zerfegungserfcheinungen im Großſtadt—
getriebe ihn nicht nur feelifd, fondern auch intelleftuell gu befchäftigen be-
gannen, daß er den immer ftärfer werdenden Ginflüffen fozialiftifcher Ideen
erlag. Nahhaltigften Einfluß übten auf ihn ferner die Theoreme Tolftoig,
des weltabgefehrten Gdelgeiftes, Berherrlichers der unteren und Berhafliders
der oberen Stände, Schwärmers bon menfdlider Allgüte und höchſte Kunft
ausübenden Beradters der Künfte. Der Kreis jugendlicher Stürmer und Prän-
ger, dem er, anfangs durch Zufall, {pater mit Abficht fid angefchlofjen hatte,
tat ein Uebriges zur Seftigung feiner politifhen Gugendmeinungen. Hatte
Grnft {don feither mehr philoſophiſche als theologifche Gollegia gehört, fo
wandte er fid nun, nad langem inneren Rampfe und Kämpfen mit dem
Baterhaufe, gang und gar dem Studium der Bollswirtfchaft zu, feiner eigent-
lihen Neigung für die Künfte zum Trog in aufraufhendem Kunfthaß. Und
in feinem fedften Semefter promobierte er prompt mit einer Unterfudung
über „Die gefellfhaftlihe Reproduktion des Kapitals bei gefteigerter Produk—
tivitat der Arbeit“. In feiner edlen Lebensauffaffung glaubte er ein Führer
des Bolfes aus Srren und Wirren werden zu follen und wandte fid dem
fozialdemofratifhen Sournalismus zu. Gin Sabr lang redigierte er in Berlin
eine Heute längft verfchollene fozialiftiiche Tageszeitung, fette aber feinen
Gerfehr mit Arno Holz und anderen jungen Poeten fort und geriet jo, fait
unberfehens, in den Strudel der Literaturredolution und der naturaliftifchen
Dichtung jener Tage. Und ijt doch Damals ein noch zu jugendlider Roman»
tif neigender Dämmerungsmenfh gemwejen von ftiller Weichheit eines groß
empfindenden ®emüts, der fi mehr bon Anderen, Gnergiedolleren treiben
ließ, als‘ daß er felber trieb. Seiner innerften Veranlagung nad) war er
nidts weniger als ein politijder und literarifher Revolutionär, bewahrte
vielmehr, der Tradition im Glternhaus gemäß, in feinem Herzen, ganz fcheu,
ein Gdden poll frommen Glaubens an Gott und an die Notwendigkeit von
obrigfeitlihen Gewalten. Seine Freundſchaft mit dem konſervativen Volks—
wirtfchaftler Rudolf Meyer führte ihn zur Befdaftigung mit Agrarpolitik
und längerem Aufenthalte bei diefem im Böhmifchen, wo er nach Biftorifchen
Studien und publiziftiiher Zufammenarbeit mit Meher den Giiterdireftor
eines böhmifhen Magnaten fennen lernte. Auf diefen fowie zwei mitteldeut-
fen Giitern hat er dann anderthalb Sabre polontiert.
Sp vollzog fid denn Mitte der neunziger Jahre feine offene Whwendung
bon der Sozialdemokratie, nahdem er fie weder als wahrhaft fogial noch
als wahrhaft fittlid erfannt hatte. Gr wollte fih nun dem fommunalen Bere
waltungsdienfte widmen. Am Tiebften Hätte er einen Bürgermeifterpoften
irgendwo in Mitteldeutfchland erlangt. Beim Magiftrat in Nordhaufen, der
446
Sodburg der bürgerliden Demokratie der Proving Sachfen, arbeitete er
1894/95 als Golontar. Mit feinem feinen Chriſtuskopfe, feinen zarten Ma»
nieren, feiner zurüdhaltenden, fenfitiven, faft menfdenfdeuen Art erhielt er
aber allenthalben, wo er auch bei hochmögenden, der Bolfsgunft wohl be-
fliffenen Stadtpätern anflopfte, freundlich ablehnenden Befdeid, trotz befter
Empfehlungen des große Stüde auf ihn haltenden Hugen damaligen Nord-
bäufer, fpäteren Sharlottenburger Oberbürgermeifters Schuftehrus. Im übrigen
betätigte er fich damals eifrig als foziologifcher Schriftiteller. Seine von aller
Barteipolitif nunmehr freien Auffäge erfchienen zumeift in Hardens „Zukunft“
fowie in ftatiftijden und Handelspolitifhen Beit{driften des In- und Aus-
landes.
Als er ſah, daß alle ſeine Hoffnungen auf einen Stadtherrſcherpoſten
vergeblich waren, wohl aud) um feiner jüngften ſozialiſtiſchen Bergangenheit
willen und feiner ununterbrodenen Mitarbeit an der fozialiftifhen Tages-
preffe, fehrte er nad) Berlin zurüd, nicht nur bon der Sogialiſtik und der
Deomofratie, fondern von jeder politifhen Parteinahme gründlich genefen. Gr
30g mit Arno Holz zufammen, der fic damals auf der Gude nad einer neuen
Gorm der Lprif befand. Unter dem Titel „Polymeter“ veröffentlichte Grnft
1898 im Doppelfinne des Wortes ungereimte Gedichte fowie ein paar Gin-
after, die an frajfem Naturalismus in jenen Jahren wohl unübertroffen
daftehen. Sie befriedigten weder ihn noch fonft jemanden.
Dod um die Jahrhundertwende vollzog fi mit ibm und in ihm eine
tiefgreifende Wandlung. Gr hatte fich ingwijdhen (gum zweiten Male) ver»
beiratet (feine erfte, furg nach feiner Univerfitätszeit gefchloffene Ehe mit
einer Ruffin war ſchon nach einem Sabre getrennt worden und jene Frau
bat [pater mit dem Namen Grnfts manchen Unfug getrieben), und gwar mit
einer Tochter Robert v. Bendas, des 1899 auf feinem Gute Rudow bei
Berlin verftorbenen befannten nationalliberalen Parlamentariers und Freun-
des Wilhelms des Grften, und war fo zu bebhagliden materiellen Berhält-
niffen gefommen. Die Periode des raft- und friedlofen, immer Aprilmettern
ausgefegten, unftet fuchenden und vieles verſuchenden Bohemiens war nun
für immer überwunden, geendet hatte die emfige und aufreibende publigiftijde
Tatigteit für den Tagesmarkt und den Tagesbedarf. Nun fonnte er feine in-
nigften Herzenswünſche erfüllen, Italien befucden, wo den tiefften Gindrud
auf ihn Giottos maleriſcher Monumentalftil madte, eine prächtige Bibliothek
fim anfdaffen, befonders reid) an Werfen aus der Antike, des deutfden und
italienifhen Mittelalters, der italienifchen Renaiſſance und der deutjchen
Romantik, und tiefgreifende literarifche Studien treiben. Gr durchforſchte mit
Inbrunft die altitalienifhe Novellendidtung und fand in der verallgemei-
nernden und zujammenraffenden Kunftform der Novelle, daß fie, unter Bere
fnüpfung von Schidjal und Charakter und dem ewigen Problem ihrer gegen-
feitigen Beftimmtbeit, wie die Tragödie Weltanfdauungsdidtung ift. Gr
verbreitete fich darüber auch theoretifch und gab 1902 eine gar feine Ueber-
tragung altitalienifcher Novellen in zwei Bänden heraus.
me
1903 fiedelte er nad) Weimar über. Dort, an geweihter Stätte, gelang es
ibm, in ſich ganz fic gu verfenfen. Wie Goethes Wilhelm Meifter entdedte
er das Gittlide als feine Lebensregel, erfannte er es als feine anerfdaffene
und angeborene Natur. Dod nicht die Herven bon Weimar, fondern Giotto
wurde der große Lehrmeifter feines dramatiſchen Stils, eines Stiles, durch
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deffen geballte Bündigfeit die Natur in ihrer madtigen Ureinfachheit zum
Ausdrud kommt. Grnft erreidt als Dramatifer wie aud als Nobvellift
bei aller DBändigung feiner Gefühle zu fdeinbar unerregter Der-
ftandesfühle zuweilen eine priefterlide innere Würde, bor deren ges
finnungsbober und einfidtsreider Weisheit wir uns millig beugen.
Dod läuft da eine gewiffe Laubeit für den Lefer feiner Novellen mit
unter, der für die ungewohnte Strenge des geftrafften Stiles unzugänglich
ift, befällt ihn wohl befremdende Groftigfeit und verftimmt ibn fo etwas
wie trodene, monotone Sadlichkeit. Gs ift zu betonen, daß die Natur Paul
Ernft mit lyriſchen Gaben nicht gerüftet hat. Die Kunft, ein Gefühl im Ton
des Wortes zur vollen Blüte aufbrechen zu Iaffen, ift ihm verfagt. Nie Löfte
fih im Liede feine Seele. Mitfchwingende Organe mit den leifen Regungen
der Natur find ihm nicht gegeben. Nidt die Melodie der Dinge führt feine
Seele, nicht der natürlihe Duft der Worte, nidt einfame, gebeimnispolle
Schönheiten der Natur oder der menſchlichen Seele oder der Mutterfprade ent-
facen in ihm geheime $euerbrände, die Schöpfertum aufflammen laſſen. Bon
Begebenheiten mannigfadfter Art vielmehr wird fein Gemüt fo bewegt, daß
es ihn drängt, in möglichft Enapp gefaßten Novellen fie fpannend und charak—
teriſtiſch und insgeheim belehrend darzuftellen, meift in ihrer nadten Tatjad-
lichkeit, eben nad italienifhen Muftern. Damit aber verurteilt er fich felbft,
wie als Dramatiker, der eigenwillig nur der Antife nachhorcht, als Novelliſt
mit gleicher Babigfeit zu formalem Rückſchritt. Die Berfdlungenbeiten und
zarten Geinheiten gegenwärtiger Seele in allen ihren Gefühlsftufungen nad-
zumittern und fie allmählich abgutaften unterläßt er bewußt, indem er Die
Pſychoanalyſe mit hartnädiger Konfequenz immer wieder für „ſpezifiſch un-
fünftlerifch“ darzulegen fich beeifert, fo daß feine „Novellen“ Anekdoten (oft
Haffifh in ihrer Art), Schwänfe, Schnurren — oder Sagen und Mären wurs
den. Unerſchöpflich ijt er auf dieſem Gebiete als Erfinder. Gs gibt wohl an
die zehn Bände feiner kurzen Gefdidten, darunter einige Meifterwerfe. So die
romantiſche Hiftorie bom reuelofen Rauber „PBapedöne*, feinem Weibe und
feinen fieben Söhnen, die in ihrem fparfamen Zeitfolorit und ihrem mit Deli-
fateffe leiſe myſteriös durchwitterten Unheimlichfeit wie eine graufige mittel»
alterlide Mär fi ausnimmt. Bon nahezu gleicher erzählerifher Meifter-
[haft find in demfelben Bande („PBrinzeffin des Oftens“) „Der Tod des
Oſchinghiskhan“, „Die Gefdhidte des Abul Haffan“, „Der Gefangene“, wäh-
rend „eine Gefdidte aus dem Dorfe“ an Gntfegen erregender Schidjals-
Surdtbarkeit in der deutſchen Novellenliteratur ihresgleichen fudt. Bon Iaunig
liebenswürdiger Kurzweil und einer bei Grnft überrafchenden jchalkhaften
@ragie find, mehr nod als die bald nedifch Humorgewiirgten, bald in feiner
Melandolie erzitternden „Romödiantengefhichten“, die „Spitzbubengeſchichten“
gewichtlog aufflatternde Kleine Ledereien, für Schneiderfeelen unausftehlich
in ihrer aufgeräumten Gulenfpiegelhaftigfeit, bon denen „die Uhr“ und „das
fpigenbefegte Wäfcheftüd“ geradezu Haffifch find; bon ſchwermutsvoll⸗ſüßer,
faft Inrifher Bartbeit ein paar feiner ,Occultiftifden Novellen“, die den
in das Menfchenleben Hineinragenden verborgenen Mächten feinfüßig folgen.
In dem Nopvellenfranze „Die Taufe“ erfchüttert die Leine — „Skizze“ würs
den wir fagen — „Der Bruder“, ift „Die Grau des DBahnmwärters“ von
gewichtiger Sinnſchwere durch das mit Inappfter Bündigfeit geftellte Problem
des Kampfes zwifchen Pflicht und Liebe in einem Gater und einer Mutter und
deren verfhhiedene Handlungsweife, und die Ausdeutung diefes Problems durch
den Gthifer Grnft. In diefem Novellenbande befonders dringt Ernft fieghaften
448
Geiftes zum letzten Ende feiner Motive, zur Deutung letter menfdlider Rätfel»
fragen. Die Rahmenunterhaltungen feiner großen Novellenfrange find fo
{barfgeiftige wie fharfzüngige Abrechnungen mit den berrfchenden fogialen,
religidfen und politifhen Zuſtänden aus der Gefinnung eines fonferbatiden
Mannes, wenn man diefe „Sefinnung nidt im JIafagen zu zufällig beite-
benden Ginridtungen ... oder im Hochhalten der Grundrente fuden will,
fondern in einem @eifte, der für ein Golf die ihm angemeffenfte Art eines
ruhigen und naturgemäßen Lebens wünjcht, in deffen Berlauf es das ibm
bon Gott gefeste Ziel für die ganze Menjchheit erreichen fann“ („Der Nobel»
preis“.) Dod Ernſt philofophiert tief und fchön, erzählt wundervoll Har und
Hug, veranfhaulidt und erfdlieht Probleme — aber geftaltet nur felten.
Wiederholt findet man Wendungen wie „Die Freude ift nicht zu ſchildern“
oder „Ich Tann ihren Gedanfengang nicht wiedergeben“. Ja macht das nicht ge-
rade mit den Dichter aus, feeliihe Regungen und Gedanfenginge nachzu-
bilden, Die der Nidtdbidter nur dunkel ahnt und nie zu formen vermag?
Grnfts erfter Roman „Der ſchmale Weg zum Glüd“, der viel von des
Autors eigenem Sntwidelungsgange gibt, ift teHnijd nur gu einem Drittel
gekonnt. Grnft meint, das liege nidt an ihm, fondern an der „Halbfunft“
des Romans. Während das Wachen und Werden des Heinen Hans im väter“
liden Forfthaufe mit viel feelifher Zartheit zum Ergötzen des mitfühlenden
Leſers geftaltet ift, mißlingt es ihm, die fpäter in Hanfens Leben tretende
Dielheit bon Figuren in eine fortfchreitende einheitlihe Handlung irgendwie
kunſtvoll eingugliedern, zerfällt vielmehr das Buch weiterhin in faft ausnahms»
log Zunftlofe Berichte bon unbderbunden aneinandergereihten Gingelborfallen.
Trotzdem ift es ein gar gutes und kluges Buch für ftille Stunden der Einkehr.
Gin Menfd bon tiefem Gemüt, bon einer feufhen und gagen Subtilitat des
feelif{hen Gmpfindens, von ergriffenfter Religiofitat, bon einer nad langen
und harten Kämpfen mit fic felbft und Dem wandelbaren Leben zu {diner
innerlider Beruhigung und Ausgeglidenbeit gelangten edlen Weltauffafjung
[pridt daraus. Gs gelingt ihm aud) im zweiten Teile etwa die poeſieumwehte
Zeichnung eines rührend unfduldigen Menfchenbildes, eines friedhaft freund-
liden Idylles (Peter und Luife). Sein Stil ift ba nod (1904) ein wenig
gewollt borbaterlid, lutheriſch fimplifigiert, nicht ohne wehdurchzitterte, fanft
melodifhe Untertöne.
Techniſch gemeiftert ift fein zweiter Roman, „Die Saat auf Hoffnung“.
Hier ift die Sprade bon naturhafter Reinheit und Schlichtheit, gierlos und
unmanitiert; einiges überflüffige berichtende Kleinwerf, dag er im Drama
fo peinlich meidet, ftört nur. Es ift bie befennerifhe Ergießung einer alles
ernft und groß und ſchwer nehmenden, Menfdlides, Allzumenſchliches nach—
ſichtsvoll verfühnenden Seele. Saat auf Hoffnung fäen heißt aus gütigem
Herzen in Elarer vollswirtfchaftliher Ginfidt und Menfchentenntnis Gutes
tun bei unabläffiger Arbeit an fich felbft für die Allgemeinheit, wodurd wir
uns Öott mühevoll erarbeiten. Gs ift ein eminent foziales Bud, das unfern
Söhnen und Töchtern in die Hände gegeben werden follte. Ridtet es doch
unbefangen, befonnen und fadlid über die zweifelhaften Werte der triftigen
Lebensfafte unferer Zeit, ift es doch ein tiefes, ernftes, frommes, ja in manchen
Partien feierlides Bud der Reife, ein Buch des Ausgleichs, ein Buch zu
weifer, unmerflider Führung der Maffe Menſch, das den Frieden der Seele
fordert und fördert, das Den hohen Wert des Leides und — Solftoiifdh —
fo gu leben Iehrt, alg ob wir das Leben eines anderen führten, nicht unfer
eigenes; ein Bud, das, 1912/13 gefdrieben und 1916 erfdienen, wie Burtes
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„Wiltfeber“ in Gerbindung mit großen meltpolitifhen Rataftrophen furdt-
baren Zuſammenbruch propbegeit, vornehmlich weil durch den Weltlauf der
unterfte, der nabrendDe Boden der Nation vernichtet ward.
Gon feinem ,Gpos in drei Zeilen“, „Das Kaiferbud~, liegt
bisher nur der erfte Teil vor. Gs ift ein gar ftolges Unterfangen, die deutſche
Kaifergefhichte in die Form eines Gpos zu bannen, in ein Gpos, entftanden
aus dem erbliden Befik des deutſchen Volkes an Kaiferfagen und dem
dvefiß der deutfhen Geſchichtswiſſenſchaft an Wiffen bon den deutfden
Saifern, und geformt mit plaftifher Kraft, malerifher Garbenfiille und
roetifher Anfdauung zu einem Tempel voll tiefer göttliher Grleudtung,
Einfiht in die deutſche Seele und andadhtspoller Vorbereitung des Volksgeiſtes
für die ibm beftimmte fittlide Höhe. Inwieweit ihm dies gelingt, bleibt noch
abzuwarten. In diefem erften Zeile findet fic vieles von höchſter Anſchau—
lichkeit, imponiert die Gnergie und Größe der Hauptgeftalten, Heinrichs des
Doglers und Ottos des Großen. Kritifche Ausblide in Gegenwart und Zukunft
des deutſchen Bolfes machen befonders aufhorden. Die Form ift bon jener
primitiven Sdlidtheit und Simpligitat, wie fie Die Abfiht des um Bolfs-
aufflarung ringenden Didters verlangt. Diefer Wbfidt aber widerfpricht
bedenflid) der geplante Umfang des Achtung gebietenden Werkes. Schon
jest würde fid) die Mebernahme befonders eindrudspoller Partien, wie der
bom Mäufeturm u. a. in Schullefebüher und volfstimlide Schriftenfamm-
lungen empfehlen.
*
Ernfts Eſſaybände find Ausjpraden und Auffchlüffe. für geiftige
Wenſchen, die nad Ganzheit ftreben, denen es daran gelegen ift, des Dafeins
Tiefen gwedbedadt zu erfdiirfen. Am bedeutendjten {deinen mir feine aus
der Zeit für die Zeit entftandenen und doch aus zeitlos wahren und erjprieß-
lihen „Erdachten Gefprade* zwiſchen Gipfelmenſchen der Weltgeſchichte und
Weltliteratur. Was den durch menjdlides Ginzelgefchehen umhüllten Wurzel»
boden feiner Dichtungen ausmadt, das ift hier rein begrifflidh fin geformt
in gehobener, inbrünftiger, feeleerfüllter, feierwürdiger Rede und Gegenrede
nad ſokratiſcher Methode. Unverfchleiert offenbart fid Hier Grnft als weit
über feinen DMeifter Tolftoi binausdringender wahrbeitswilliger Gdelgeift.
Sn Dergangenheit und Bufunft fehend und der großen Sormen des Lebens
adtend, Dogiert er überzeugend feine flare Ginfidt bon der Relativitat des
Wertes und Unwertes der Dinge. Sr fündet im tiefften ergriffene Duldſamkeit,
Nädjftenliebe, Arbeit mit der Seele um den Grlöfer in uns felbft als Ginn
des Lebens der Menjchen, die unbefledt vom Weltliden in ihrer Freizeit
mit dem ihnen angemefjenen Höheren fid bejchäftigen follten, auf daß fie
innerhalb ihres ftets nad) Begabung verfchieden bleiben müfjenden Standes
und Berufes Hidftes leijften fünnen und wollen und fo innerlich, por Gott,
gleich werden.
Sn feiner Eleinen Schrift „Der Zufammenbruh des Marzismus“ verfolgt
er Marz’ Lehre in feine legten Schlupfwinfel und leuchtet ihr mit genialer
Klarfiht in jo untwiderftehlider Weife heim, wie das bisher wohl nod faum
je bei irgend einem Volke gefdeben fein dürfte. Seine Geiftesfreibeit ftrebt
mittelalterliden Zunftidealen zu. Die mwohlgeformte Artigfeit und geiftige
Geſchliffenheit diefer 200 Seiten Srnfts ift ein Sondergenuß für geiftige Fein-
ſchmecker.
Paul Ernſt ward — nach langem Taſten, nach endlichem tiefſten Erkennen
der inneren Hohlheit unſerer Zeit, der Lieb⸗ und Treuloſigkeit ihrer Menſchen,
450
der fozialen und politifhen Verworrenheit und Zerriffenheit infolge kranker
Staatsordönung und mangelnder Staatseinfiht — der deutſche Priefterfänger
unferer Zeit, der fein feeljorgerifches Didteramt mit bewegtem Grnft und
Empfindungsftärfe ausübt für die deutſche Bolfsgefamtheit. Wie er fid
entwidelte, jo ift fein Biel feines Golfes Selbjtbefinnung zu der ihm ſchickſal—
beftimmten Höherentwidelung. Sein dichterifhes Werk will er geiftig und
feelifch das Deutſche umfaffend, die Weite des deutſchen Wefens foll es er—
ſchließen. Seine Kunft formt nicht das Leben nad, Jondern fie jelbft will
bas Leben formen, das Leben eines neuen fittliden deutfchen Wtenfden. Wenn
er dabei aus innerlid) Grlebtem fddpft, dann fühlt man das Beben feines
warmen Künftlerherzens. Als Trager bon Ideen, als ftrebender Geiſt, als
Spradformer überragt er weit das zeitgenöffifhe Didtertum. Gr ift das
Mufterbild des fogialariftofratijdhen Gdelmenfden als Künftler.
Das aber ift das Grfdiitternde in unjerm Didterbilde: Weil es unferer
unfeligen eit gebridt an den ftarfen Wallungen und Strebungen einer
geiftig und feelifh eng verbundenen Volksgemeinſchaft, blieb refigniert die
Kunft Paul Grnfts, der nur nad diefer Gemeinfdaft gewiſſenſchärfend
lechzen, nicht fie fuggeftiv gum Erwachen bringen Tann. Geine Stoffe, bei
deren monumentalem Ausbau er Gedanken und Gorm dem beißen Erleben
überordnet, das antik-klaſſiſche Ueberperfinlide feines wahrhaft großen Stiles,
feine unbolfstimlidhe DBildungshöhe, fein Mangel an Gntflammungsfräften
bielten ibn dem Bolfe fern, dem dod) fein ganzes Schaffen dient.
Gein Werk aber ward doch zulegt höchſte und zugleich einfadjte Bere
térperung der deutjchen Geiſtigkeit diejes Zeitalters.
Aus dem Werke diefes einjamen Säemanns, Pfadfinders und Wegweiſers
möge die deutſche Jugend fid den Willen [höpfen zur Wiedergewinnung und
Sujammenballung der wahren Werte deutſchen Wefens. Paul Wittfo.
GErlejenes
Aus Paul Srnfts Novellen *.
Der Sefangene.
olgender Borfall ereignete fid nad einem alten Schriftfteller in der letten
Hälfte des fiebzehnten Sabhrhunderts. Gin junger fhwedifcher Offizier
aus pornebmem Geſchlecht machte eine Reife dur) Deutjchland, um Städte
und Länder zu feben und fremde Menfden wie neue Berhaltniffe fennengu-
lernen. Gr fam in eine Eleine Refidenaftadt, deren Natur und Bewohner ihm
recht zufagten, denn fie lag am Abhang eines Gebirges, das mit Dichten und
ſchwarzen Fichtenwäldern bededt war, und Badlein fprangen durch die grünen
Diefen, Eifenhämmer podten im Walde und madten des Nachts einen fidt-
baren Schein, und die Menfden waren frdblider und zutulicher Art. Das
alles erinnerte ihn fo an feine Heimat, daß ihm wei) ums Herz wurde. Und
da es auf die Frühlingszeit ging, fo verfpürte er ein unbeftimmtes Sehnen
im Herzen.
*) Die erfte Novelle ift aus dem Bande ,,Pringeffin des Oftens“, die zweite
aus dem Bande „Die Taufe“ entnommen. Grnfts Werke find bei Georg Müller in
Münden erjhienen, nur das „Kaiferbuh“ bei Marz Hueber, Münden.
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Am Sonntag ging er in die Kirche und erbaute fid an dem frommen
Gejang und der ebrenfeften Predigt. Nad der Predigt wurde das heilige
Abendmahl gefeiert. Da öffnete ſich der Stuhl der fürftlihen Herrfchaften,
und ein junges $räulein fohritt hervor, mit züchtig gefenften Augen, das fniete
auf dem Bänkchen vor dem Altar, faltete Die Hände und ſchaute gläubig zu
dem weifbaarigen und hochgewachſenen Priefter in die Höhe, dejjen Augen
Hell und gut leuchteten. Gs gefdhah dem Fremden, als ftehe ihm plislid das
Herz ftill; und er betrachtete mit ftarren Augen das Flare und reine Antlit
der Jungfrau.
Nun war ihm wie im Traum, daß er im Wald ging und in der Ferne
bammerte ein Spedt. Dann hörte er auch, daf feine Geliebte die einzige Toch—
ter des Giirften war; bon dem Fürften erzählten die Leute, er fei roh und
gewalttätig, die Prinzefjin leide; das machte ihm aber geringe Gedanken.
Immer zog es ihn dahin, wo er fie feben konnte, und doch hatte er gar feinen
bewuften Willen, in ihre Nähe zu fommen. Ginmal fuhr fie an ihm vorbei
mit Bligfdnelle, vier Pferde waren vor ihrem Wagen. Gr grüßte, als fie
ſchon vorüber war; aber fie blidte zurüd; vielleicht hatte fie auch nicht zu—
rüdgeblidt.
68 flopfte an einem fpäten Abend an feine Tür. Als er öffnete, drüdte
ibm ein Mann ein Briefden in die Hand und lief eilig und polternd Die
Stufen hinab. In dem Briefden ftand, er folle einen Yufluchtsort in feiner
Heimat vorridten, den Wagen für die Flucht bor der Stadt bereithalten und
zu beftimmter Nadtitunde an einer Kleinen Tür des Schloffes warten. Bere
wunderung fpiirte er gar nidt. Aber er wußte, daß jest alles fo fommen
mußte, wie es beftimmt war über ihn; glüdlid war er, daß er nur tun follte,
was ihm aufgetragen wurde. Schnell fdrieb er in feine Heimat, beftellte
einen Wagen. Gs fiel ihm auf, daß ihm die Leute nicht nadjaben, wenn er
duch die Straßen fdritt. Wud wärmende Deden und Pelze beforgte er.
Als der Abend fam, verſah er fich mit Piftolen, loderte feinen Degen, ging
ohne Mantel. Lange wartete er unter der dunklen Wölbung der Eleinen Tür.
Zumweilen hörte er aus weiter Entfernung, wie ein harrendes Pferd auf Stein-
platten fdlug. Aber das waren nicht feine beftellten Pferde. Einen fallen-
den Stern fah er einmal. Und wärmend durdriefelte ihn das Olid.
Da warfen fid plöglih mehrere Männer auf ibn, hielten feine Arme an
den Leib gepreßt und verftopften ihm den Mund. Gr wurde fchnell gebunden
und durh Gäßchen gefdleppt, durd Türen und ein Tor zu einem Wagen.
Zwei Männer ftiegen mit ihm ein, der Kutfcher ſchlug auf die Pferde.
Auf eine Hohe Burg bradten fie ibn, da befam er ein Turmſtübchen. Wie
auf einen moofigen Waldgrund blidte er Hin über weite Wälder. Oft zogen
unter ibm Wolfen, die fic wunderlid anhalten an Bergfpigen und fic ver—
gerrten gu frembartigen Figuren. Lautlos war es, und nur felten drang more
gens bei günftigem Wind ein leifer Ton von DBogelgezwitfcher an fein Obr.
Weil er erft zwanzig Sabre alt war, und bier follte er fein ganzes
Leben gefangen bleiben, fo dachte er, Hier könne er wohl fechzig Sabre leben,
und das war doch eigentlich ebenfo, als wenn er ſechzig Tage lebte oder fech-
gig Stunden. Gang weit zurüd lag ihm alles, feine Kindheit und fein Dienft,
feine Kameraden, feine Reife, als feien fdon die ſechzig Sabre um; aber er
war nod ein junger, bartlofer Mann mit Heller Stimme. Ieden Tag riste
er mit dem Nagel ein Kreuz in die Wand; dreihundertfünfundfehzig Kreuze
bedeuteten ein Jahr, bas war eine lange Reihe von der Dede bis gum Boden,
und dann nod eine halbe Reihe. Wenn er fedhgig Yahre lang täglich ein
452
Kreuz rigte, fo reichten die Wände gerade aus, denn es war ja dod aud
der große Ofen da und die Tür. Hart war es doch wohl, daß er ein folches
Leben führen follte. Nun dadte er nad, ob es ein Zufall gewefen fei, daß
ihn dieſes Gefdid traf. Stwa, er hätte doch einen anderen Reifeweg eine
{Hlagen können und die Pringeffin nie gefehen; oder an jenem Sonntag hätte
er können die Kirche verfäumen; dann hätte er feine Reife beendigt, wäre nad
Haufe guriidgefehrt, und vielleiht wäre Krieg gelommen, und er hätte fid
ausgezeichnet und wäre ein berühmter Heerführer geworden. Alles lag biel
leiht an einem getbrodenen Rade oder einem zufälligen Kopfſchmerz. Dann
wäre doch eigentlid das Leben ein bloßes Spiel. Viele Jahre hatte er por
fih, über diefe Frage nachzudenken; und er beſchloß allen feinen Berftand
anguftrengen, um fie zu löfen. Gr ging auf und ab in feinem Gtübchen, bie
Hände auf dem Rüden, immer vom Genfter gum Ofen und bom Ofen gum
Senfter. Sp vergingen Sabre, und er hatte an feiner Stelle ſchon einen Gang
in die Dielen eingetreten. Ginmal empfand er ein großes Mitleiden mit fid,
als er diefen Gang fab. Da wurde ihm Klar, daß unfer Schidjfal aus unferm
Innern fommt, und deshalb gibt es feinen Zufall im Leben. Gr war fo
ein Menſch, der ein foldhes Schidfal haben mußte, und überall bätte ibn
das gertoffen. Sa, vielleicht war die äußere Ausgeftaltung nur ein Schein oder
ein Traum, wie wir ja im gewdHnliden Traume felber Gefdidten bilden gu
einem ®eräufch oder einem ©efühl von außen. Denn was war das Wefent-
lide? Daß er Hier auf und ab ging und naddadte, und Krümchen ftreute
für einen Zeifig, der an fein Genfter fam, und um den Zeifig batte er viele
Sorgen, daß der nit bon einem Raubvogel gefrefjen würde.
Aud hatte er den alten Burgwart gern und fein Sidterhen. Das Kind
fam an den Nachmittagen zu ihm herauf, erzählte ihm, und er felbft erzählte
dem Heinen Mädchen aud. Immer diefelben Gefdidten befpraden fie, wie
er bon feinem König einmal. eine goldene Denfmiinge erhalten, und welde
Sarben fein Regiment hatte; er holte auch wohl feine Uniform aus dem
Schrank und erflärte die Ligen und Schnüre. Sie fprad bon ihren Hühnern,
und wie vor Jahren einmal ein Fuchs in den Hof gefommen war. So wurde
das Kind allmählich größer und fam dann feltener; endlich verheiratete fie
fih und erfdien in des Gefangenen Stiibden mit ihrem Mann, um ihn zu
zeigen; der Mann drehte verlegen feine Mütze, fie fprach mit großer Schnel—
ligteit. Gr fdentte ihnen einen großen Doppeltaler, den er noch bejaß. Und
dann Hatte die Grau ein Kind und fam mit dem Kinde zuweilen zu ihm,
und bald fam das Kind allein die Treppe Heraufgefroden, und bald jah das
Kind fo aus, wie die Mutter ausgefehen hatte, Damals, als er hierher geführt
ward in dieje Burg. So lange war das fchon ber, er wunderte fid febr dare
über; zuweilen verwechjelte er das Kind mit der Mutter. Noch fdneller gee
{bah es, daß diefes Mädchen ihm vorbeiging, heiratete, und wieder befuchten
ihn die Kinder. Da erzählte ihm ein Kind, eine bornehme Dame fei vor dem
Burgtor gewefen, ganz in ſchwarze Seide gekleidet, auf einem foftbaren Roß,
und ein Diener fei bei ihr geweſen, und fie habe dem Bater viel Geld gee
Boten, er folle fie gu dem Gefangenen laffen, der Bater aber habe gejagt,
das gehe gegen feinen Eid, da habe der Diener eine Piftole in der Hand
gehabt, und aus dem Gebüſch feien andere Leute getreten, mit Gewehren, der
Gater aber habe die Brüde hochgezogen, da feien die Fremben wieder fort»
geritten.
Als der Gefangene die Geſchichte gehört Hatte, ging er gum Gchrant,
nabm die alte Uniform heraus und zog fie an; fie pafte noch genau; nur
453
madte es ihm Mühe, daß er aufrecht gehen mußte, wegen der Halsbinde.
Dann öffnete er das Fenfter und feste fid ans Fenfter. Es war aber Winter
und eine febr falte Luft zog Herein und bewegte feine weißen, dünnen Haare.
Lange Stunden faß er fo am Genfter in feiner Uniform, bis es dunfelte. Da
30g er die Uniform wieder aus, legte fie ſorgſam in ihre alten Galten und
bängte fie fort. In der Nacht aber erkrankte er ſchwer, denn er hatte fid eine
beftige Srfältung der Lunge zugezogen, und weil fein geſchwächter Körper
den Stoß nicht vertragen fonnte, fo verfiel er in eine Iangfame Abnahme
der Kräfte und ftarb nad einiger Beit. Auf dem Totenbette aber fagte er:
„Die vielen langen Sabre der Gefangenfchaft find verfunfen in meiner Geele,
und id muß mir erft bie Reihen der Kreuze anfehen, die ich in die Wand
gerigt habe, wenn id will, daß ich überhaupt etwas bon ihnen weiß. Aber
den Tag in Der Kirche habe ich behalten, und den Tag, da fie mir vorbeifuhr,
und wie id) ihren Brief befam, und daß fie meiner nicht vergeffen hat, fon-
dern mich jegt bat befreien wollen. Diefer Dinge gedenfe id mit großer
Sreude, und einer größeren Greude bin ich gewiß nicht fähig. Deshalb fterbe
id als ein fehr glüdliher Menſch; denn es ift gewiß das höchſte Slid, zu
wiffen, daß ein anderer an uns denkt in Liebe und ohne Falſch. Außer dieſem
aber erinnere id) mid nod an die Heinen grünen Blatter der Bäume im
Frühjahr, welche klebrig find.“
Die Frau des Bahnmärters.
& faß mit meinem Greunbde auf dem Balkon vor meinem Arbeitszimmer.
Im @arten unter uns begannen die Griibapfel an ben Bäumen zu
ſchwellen, bie Zweige der Stachelbeerjträucher bogen fic ſchwer zur Erde; an
den Stangen blühten Iuftig weiß und rot Die bochgefletterten Bohnen.
Ueber der Balfontiir niftete ein Rotſchwänzchen. Die Jungen waren
fon recht groß und drängten fid in dem Neft; fleißig flogen die Alten
ab und zu; wenn fie ankamen, festen fie fid erft auf den Dadrand ung
gegenüber und faben mißtrauifch zu uns, ob wir fie aud nidt beobachteten;
wenn fie uns in unfer @efprad vertieft bemerften, dann bufchten fie eilig
auf den Rand des Neſtes; ein allgemeines Schreien ber Sungen begann; das
eine Junge wurde befriedigt, alle verftummten, und die Alte flog wieder
davon, um neue Nahrung zu holen.
„Wie friedlih das alles ift,“ fagte mein Greund; „und Doch ift jede
Raupe, jede Fliege, weldhe der Bogel den Kleinen bringt, ein lebendes
Weſen gleid ihm; wir hören den Jubel der Jungen, fehen die Liebepolle
WAengitlichfeit der Alten; aber der Sammer des zerriffenen Inſekts dringt
nidt an unfer Ohr, feine verzweifelnden Windungen fehen wir nicht. Alle
drei Minuten etwa fommt das Männchen oder Weibchen mit Beute; pom
Morgen bis gum Abend fucen fie für die fünf Jungen, deren gelbe Schnäbel
wir bon unten auf dem Rande des Neftes liegen feben; wie viele Leben
fallen im Laufe eines Tages qualpoll diefen Tieren zum Opfer; und wir
glauben ein anmutiges, Deiteres Bild zu feben, wenn das Männchen dort
ängftlih mit dem Schwanz wippend und einen dünnen Ton ausftoßend mit
feiner Gliege im Schnabel auf der Dadrinnenede jitt.“
Obne einen Uebergang zu machen, und dod offenbar durd die Bigelden
veranlaßt, erzählte mein $reund mir nun folgende Gefdidte.
„Wir haben oft darüber gefproden, wie wenig bedeutend für unfer
eigentlides Leben die Moral ift, deren angeblide Geſetze gewöhnlih als
454
fo wichtig bingeftellt werden; und wie die Lehren unferer Rirdhe in dem
{Hwankenden, vieldeutigen und umfaffenden Begriff der Sünde fo febr viel
tiefer find, wie diefer bürgerlihe Moralglaube. Wir haben einmal von der
Lehre über die Sünde wider den Heiligen Geift gefprochen, die uns fo dunfel
und fdauerlid) erfdien. Ich babe nun einen Borfall erlebt, bei dem mir
Har geworden ift, wie wir uns für unfere heutigen DVorftellungen dieſes
firdterlide Dogma deuten können.
Etwa eine Diertelftunde bon meinem ©utshof, gerade wo die Strede
giemlid ftarf bergab gebt, liegt, wie du weißt, ein Bahnwärterhäuschen.
Der Warter hat eine Weiche zu beforgen, welde etwa zwanzig Schritte von
dem Häuschen entfernt iſt. Gleid nad Mittag fommen furg hintereinander
zwei Züge, ein gewöhnlicher Perfonengug und ein Schnellzug. Der Mann muß
den Perfonengug vor feiner Tür ftehend erwarten, der auf ein totes ©leis
fährt, dann fchnell die paar Schritte laufen und die Weide umiftellen
fic den Schnellzug; der Perfonengug Halt, bis der Schnellzug porübergefahren
ift; der Wärter ftellt die Weiche wieder anders, läuft zu dem Perjonengug,
winkt, der Perfonengug fährt zurüd und rangiert wieder auf das große
@leis, um binter dem Schnellzug Hergufabren. Wenn der Mann die Weide
nicht umftellt, fo fährt der Schnellzug auf der abjchüffigen Bahn mit aller
Wucht auf den Perfonengug, und Hunderte bon Menjchenleben werden
vernichtet.
Die Leute in dem Wärterhäuschen, ein junges Ehepaar, Hatten einen
dreijährigen Knaben. Der Bater war ängftlih mit dem Kind und ließ es
um die Zeit, wo die Züge famen, nie bor Das Haus. An einem Sonntag
bettelte der Knabe, er wolle feine Sahne nehmen und aud) bor dem Haufe
den Zug erwarten, wie der Bater. Auf das Zureden der Mutter erlaubte
es der Mann; als der Perfonengug langſam beranzog, ftand er in feiner
@artentir, in der linfen Hand die Sahne fdulternd, mit der Rechten den
anmutigen Knaben baltend, der mit der anderen Hand die Sahne hielt
wie der Bater. Aus dem Genfter fab, die Hand über die Augen gelegt, die
Mutter dem bheiteren Bilde zu; Führer und Heiger des langfam rollenden
Perfonenguges nidten und riefen einen Gruß berüber; Reifende ladten und
winften Dem Kinde zu, bas ernft und feft wie ein Erwachjener mit der
Sahne daſtand.
Während die legten Wagen rollten, hörte die Grau in der Küche ihre
Raffeemild überkochen; fie eilte bom Genfter, rüdte ihre Mild ab und
ftreute Salz auf die Herdplatte. Inzwifchen hatte der Mann die Hand des
Knaben Iosgelaffen, rief der Grau zu, daß fie fommen folle, um ihn zu
halten, und lief zu feiner Weihe. Im Laufen fab er fich, getrieben durd
irgendeine Angft, indeffen fdon der Raud des Schnellzuges vor ihm auf-
gualmte, einen Augenblid um; da fab er, wie das Kind Hinter einem bunten
Schmetterling gerade in den Gleiſen des Schnellguges lief. Gr rief aus
Kräften nad feiner Grau und lief dann weiter gu feiner Weiche; wie er
niederdrüdte, jah er fic) wieder um; die Grau hatte das Rufen nicht gehört,
das Kind lief weiter. Nun rief er dem Kinde zu, ſchrie in feiner Angft; das
Kind erfdraf, blieb fteben und wußte nicht, tas es tun follte; die Mutter
ftürzte aus dem Haufe; da raffelte ſchon die Lofomotive flirrend über
die Weide.
Man bat Dem Manne nachher eine WAnerfennung zuteil werden Iaffen.
Ih finde das falfh, denn er hatte ja nichts getan, wie feine Pflicht,
Gs gehört mit gu den bürgerlichen Sentimentalitäten unferer geit, daß man
455
eine ſolche Selbftverftändlichkeit für etwas Befonderes Halt. Ih will ja
nicht fagen, daß jeder Mann fo gehandelt hätte wie diefer, der fein Kind
gum Opfer bradte; aber wer nidt fo bandelte, der hätte fid einer Pflächt-
vergeſſenheit ſchuldig gemacht.
Für den Bahnwärter war das Stellen dieſer Weiche ſein Lebenszweck
und ſein Lebensgrund. Er durfte nur leben, weil man ganz ſicher war,
dieſer Mann wird unter allen Umſtänden die Weiche ſtellen. Hätte er ein»
mal einen Menſchen ermordet, jo wäre er ein Mörder gewefen, natürlich.
Aber Gott fann einem Mörder vergeben. Hätte er aber, um fein Kind zu
retten, Die Weide nicht geftellt, jo hätte er eine Sünde begangen, Die Gott
nicht vergeben fann, denn er hätte gegen den Grund gefrevelt, der ihm das
Zeben erlaubt. Das wäre die Sünde gegen den Heiligen Geift gewefen.“
Sd verſuchte, eine Ginwendung zu maden. Gr fdnitt meine Worte mit
einer Handbewegung ab und fuhr fort:
nod) weiß, du willft mir fagen, daß meine Deutung nicht mit der üblichen
Erklärung der Lehre übereinftimmt, weldhe bon einem Sichperhärten gegen
die Wirkung der göttlichen Gnade auf uns fpridt. Aber man faßt da den
‘Begriff der gdttliden Gnade zu eng.“
Sd fab fein Gefidt, als er die folgenden Worte fprad: „Ein jeder
bon ung lebt, darf Ieben, nur durch eine befondere göttliche Gnade. Slidlid
der Menfd, der weiß, daß er eine Weiche gu ftellen Hat, damit ibm die
Gnade zuteil wird, der nicht zweifeln muß, ob er die Gnade nicht mißbraudt.“
Sein Geſicht war fahl geworden, die Augen fdienen tief gefunfen zu fein.
Nah einer Paufe fuhr er fort.
„Bis jebt ift meine Gefdhidte ja nicht fehr neu. Wehnlides ift fchon
borgefommen. Aber nun folgt das Merkwürdige.
Der Mann wurde aljo wegen feiner Sat belobt und bon allen Leuten
gepriefen. Ob ihm diefe Anerfennungen nicht ſchmerzlich oder peinvoll ge-
wejen find, fann ih nit jagen. Gr war ein ftiller Mann, der nicht aus
fih berausging.
Aber nad einigen Woden fam die Frau zu mir. Sie verlangte meinen
Rat. Ich kann ihren Gedanfengang nicht wiedergeben; bas ift aber aud
nit nötig. Gs fam alles darauf hinaus, daß fie nidt mehr mit dem Manne
aufammenleben fönne, der por feinen Augen das Kind Habe überfahren laſſen,
ohne ihm zu belfen, und daß fie fic bon ihm fcheiden laſſen wolle.
Sd verſuchte auf die Frau zu wirken; ich fagte ihr: ‚Gr hat doch feine
Pfliht getan. Die Frau fchüttelte den Kopf, zupfte an ihrem Schürzenzipfel
und fab dann ftill zur Erde. Endlich fagte fie: ‚Ih fann ja fdon nicht an
einem Tiſche mit ihm figen. Wenn er fommt, fo ftehe ich auf. Ich habe feinen
Haß gegen ihn; aber ich fann nicht.’
Gs wurde mir pliglid Har: was dieſe Frau trieb, bon ihrem Mann gy
geben, das war dasfelbe, was den Mann getrieben hatte, feine Pflicht zu
tun. Es wäre eine Sünde wider den Heiligen Geift gemefen, wenn fie bei
ihm geblieben wäre. Und fo ging fie denn bon ihm.
Was mit dem Mann werden joll, weiß ih nidt. Er ift ja Bodh nod
ein junger Menfdh. Vielleicht fängt er an gu trinken; ich weiß feinen anderen
Ausweg für ihn; denn ich glaube nicht, daß er genug Klarheit bat, um an
Gott zu glauben. Sa, wenn er an Gott glauben könnte, Jo wäre ihm wohl
geholfen.
Die Rotſchwänzchen fliegen ab und zu und bringen Würmer, Raupen,
Käfer und allerhand andere Tiere für ihre Jungen. Wenn wir fdhwad jind,
456
Frauen in der Kirche
Wilhelm Leibl, Drei
Aus dem Deutfhen Volfstum
dann denken wir wohl: das Schidjal diefes Bahnmwärters hat feinen anderen
Ginn, wie das Schidfal diefer Tierchen, die bon den jungen DBögeln ber»
gebrt werden. Aber wenn wir gang unferer madtig find, dann wiffen mir:
das ift faljh. Gs hat dod einen Ginn, daß der Mann feine Pflicht tut,
daß die Grau von ihm geben mußte. Sie haben beide recht gehandelt.“
„Die Frau Hat fider unmoralifch gehandelt,“ fagte id; „Dennoch glaube
aud id, daß fie im Redte war.“
Kleine Beiträge
Gom Leben in der Wahrheit.
Das adte und lebte Bebot.
©? wie das erfte Gebot in der Ehr—
furdt die Quelle aller Gittlicfeit
bezeichnet, fo faßt dies adte Gebot, das
pom ©eborfam der Wahrheit fpridt, den
Ginn alles fittliden Gerbaltens in einem
gujammen: Lebt in der Wabrbeit, tut die
Wahrheit! Gs hat feinen tiefen Ginn,
daß dies ®ebot nidt einfad, entipredend
dem fünften, fedften und fiebenten, lau—
tet: „Du follft nicht lügen“, fondern daß
e8 pon dem Schaden jpridt, den Die
Lüge der Gemeinfhaft zufügt. Pie
Wahrheit ift die Grundlage aller ®e-
meinſchaft, fie ift das heilige ©efeb, das
den fittliden Kosmos durdwaltet und
trägt. In ihr find alle Gebote bee
ſchloſſen.
1.
Unſere Zeit ift geneigt, bon der
Wahrhaftigkeit zu fpreden, aber bon der
Wabrbeit zu ſchweigen. Gie ftellt Die
fubjeftine Wahrhaftigkeit febr bod, ohne
gu bedenfen, daß dieſe Wabhrbaftigfeit
nur fo viel für das Leben wert ift, als
die Perfdnlidfeit, die fie übt, lebendige
Werte, Wahrheitsgebalt in fih trägt.
Das nüst die Wahrhaftigkeit der Un—
reife oder des —— Herzens? Iſt der
Anforderung des Lebens damit gedient,
daß die Verkehrtheit ſich darauf beruft,
einem wahrhaftigen Oefühl und Willen
entfprungen zu fein? 68 gibt eine Wahr-
baftigfeit, die fruchtlos und vergeblich
ift, ja die nur fchadet, weil dem, der fie
übt, Die Reife des gütigen Herzens fehlt.
Wahrhaftigkeit fann ein Deckmantel fein
für den Gtarrfinn des LUnbelehrbaren,
und viel Gelbftbetrug beruft fid auf
das Redt der „perjönlihen Aleberzeu-
gung“. Aber nits ift darum {don wahr,
meil irgendjemand davon überzeugt zu
jetn behauptet. Wahr fein fann nur, wer
ih Der Wahrheit beugt, ihrem Gericht
und ihrer @nade. Ueberzeugt ift nur,
wen Die Wahrheit duch ihr Zeugnis
überwunden bat. Wahrhaftig ift nur der
Demiitige und Sebor)ame.
2.
Dod was ift Wahrheit? Wir wagen
e8 Heute nicht mehr, die Wahrheit zu
bezeugen. Wir wiffen nur von Mei-
nungen und laffen jede gelten, wenn
Das ift ein
fie nur — iſt.
deutlicher Beweis dafür, daß uns eine
echte, unbedingte Lebergeugung fehlt, eine
Gewißheit, die in der Wahrheit wohnt,
die immer und für alle Zeit gilt. O
nidt ein Hauptgrund für diefen Rela-
tipismus unferer Sage darin zu finden
ift, daß wir die Wahrheit für eine Gade
des Gerftandes, des Wiffens halten, die
doch eine Gade des Lebens ift? Für den
Berftand ift freilid alles relativ, gilt
alles immer nur „bis auf weiteres“.
Die Wahrheit aber erfennt nur, wer fie
tut und lebt. Jeſus fpridt davon, daß
er die Wahrheit „ift“, nit daß -er fie
„weiß“.
Darum ift die Wahrheit aud nicht
mit Worten zu faffen. Alle Worte find
immer nur ein Hinweis, ein Deuten in
die Ridtung, in der die Wahrheit gu
fuden ift. Gntfdheidend ift und bleibt,
ob dir das Leben aufgeht, das hinter den
Worten fteht. Was wahr ift, entfcheidet
darum nidt der Berftand, fondern das
Sewiffen.
Weldhes Bild ift wahrer: die Photo-
rapbie oder das Oemälde eines Riinft-
er3? Obne Zweifel das Bild, das der
Wirllidfeit des Oegenftandes näher
fommt. Dieſe Wirklichkeit aber ift nicht
der zufällige Schleier, das Angefidt
eines Augenblids, fondern das Bleibende,
Dauernde, das Wefen, das Hinter der
Grfheinung wohnt. Die Wahrheit ift
die ag ak Wirklidfeit der Welt.
Wabr fein beißt wefentlid Leben, aus
der wahren Wirklichkeit heraus, aus dem
@runde! Wahr handeln heißt, die Dinge
alg dag nehmen und behandeln, was
fie „in Wahrheit“ find. Das Leben zu
feiner Wahrheit erheben, heißt alfo, es
zu feines Weſens Grund zurüdführen
und aus ibm neu gewinnen.
457
Luthers Erklärung des adten Gebots
fließt mit der Aufforderung: wir follen
alles zum Beften febren. Berftehen wir
es ganz umfaffend: wir follen alles zu
feiner wahren Ordnung bringen, zu der
Einheit, die in der Tiefe wohnt, im
Wefensgrund. Wahr leben beißt, der
Ordnung der Liebe dienen.
4.
Die lebendige Wahrheit Tann nie
trennen. Worte trennen, „Leberzeugun-
en“ verfeinden. Die Wahrheit madt
ebendig und eint. Wahrheit ift immer
aud Liebe. Die Oberfladlidfeit hindert,
daß man fid näher fommt. Oder fie baut
eine ee auf, die auf Dul-
dung geftellt ift und die feine ernftbhafte
Probe befteht. Neutralität ift der Sod
aller Gemeinfdaft. Neutralität ift das
©egenteil von Liebe. Liebe ift nidt ohne
die Madt und das Redht der Wabrheit.
Die Wahrheit verbindet aud da, wo
fie tebe tut. Denn fie ift das Zeugnis
Des Lebens, das Liebe ift und aus dem
einenden Grunde fließt. Gs gibt feine
Wahrheit, die nidt im Siefften Liebes-
offenbarung wäre. Licht ift Liebe und
Licht ift Leben. Wer aber die Wahrheit
tut, fommt an das Lidt.
Obne Wahrheit gibt es feine Gemein-
ſchaft. Da nur herrſcht Vertrauen, wo
die Wahrheit regiert. Darum ift der
Teufel der Bater dem Lüge, der Teufel,
der immer zerftört, zerreißt, der zum Sa
des Lebens immer das Nein der Selbft-
fudt fpridt. Gott aber dient, wer zum
Organ der Wahrheit wird. Die Wahr-
beit ift die Heimkehr aller Kreatur zur
®ottesgemeinfdhaft. Die Welt ift aus
@ott und darum Martet fie auf Gott.
Bien Wahrheit ift der lebendige Wott
elbit.
Der Wahrheit dienen, das Wahre tun
fann nur, wer glaubt. @lauben beißt,
binter allem „No nit“, durd alle
Schleier hindurd das Bollfommene und
das Wefen — und feſthalten. Wir
leben alle in dem „Nod nicht“, in einer
Welt, in der die Wahrheit nod nidt er-
fdienen ift, und die dod nichts anderes
ift alg eine Offenbarung der Wabrbeit.
Glauben beißt, folder Offenbarung trauen.
@lauben heißt, aller Züge, allem Wahn,
allem Irrtum, aud) des eigenen Lebens,
das Dennod entgegenbalten, das nicht
fiebt und Dod glaubt, das die Wahrbeit
weiß, aud wo fie nod im Gerborgenen
wohnt. Die lebte Wabrbeit ift immer
nur im innerften Gebeimnis, im verbor-
genen Dunfel der Seele gu faffen. Aber
aus diefem tiefen Grund gebt ihre Kraft
bervor und überwindet die Welt zu
ihrem Heil.
458
Die Quelle aller Gittlidfeit ift Ehr-
furdt. Ihre Bollendung ift die Offenba-
tung der Wahrbeit. Shr Weg ift der
®eborjam und die Demut des Gewiffens.
Ihre Kraft aber ift der Glaube, der die
Welt überwunden bat.
Karl Bernbard Ritter.
Das politifhe Ende des deutſchen Bolles.
G? verlohnt fid faum nod, die Feder
angufeben. Das Befte ift, feitab gu
geben und zu ſchweigen. Sie haben ge
liegt, Die Allguvielen, die fleinen Seelen,
fie, die die Welt nad dem Bebagen
der Sdhwidliden und der Befdrantten
regieren und dabei auf ihrer Seele und
ihres Leibes Koften fommen. Das Hoff»
nungslofefte ift, daß diefe Leute ebrlid
überzeugt find, ihre Gade brad gemadt
gu haben, daß fie glauben, aus der Im—
poteng werde ein neues, wohl gar bef-
fered Leben entftehen. Go weit ein
Menfdhenauge ſehen fann, ift das deutſche
Golf — troß allem Triumph über die
„gewahrte Ginbeit* — als Golf tot. Der
Kadaver wird nod einige Sabrbunderte
weiter vegetieren. Und mit dem Rae
daver wird der tidtige Haufler, der
Gdle bon Haufenbleib, fogar treffliche
®efdhafte maden. Was liegt daran? Nur
allzu wahr ift das nadtidmere Wort
Des Ritters von Olaubigern: „Das ift
das Schrednis in der Welt, ſchlimmer
als der Tod, daß die Kanaille Herr
ift und Herr bleibt.“ Der Göle von
Haufenbleib erfdeint, wenn er triume
pbiert, felbftperftindlid) niemals anders
alg im Mantel der fhimmerndften Moral.
Ob, die Moral der braven und wohl«-
meinenden Triumphatoren, die in Genf
am @®edeiben der Wenſchheit arbeiten,
ftinft unerträglid um den ganzen Pla
neten berum, fo daß eine empfindlide
Naje und ein ebrlides Gemüte fein fau-
beres Plätzchen mehr findet, es fei denn,
daß man feines Stübchens Fenfter dicht
verfdliefe.
Wan foll nidt fo daberreden und
dem Bolfe nit „den letzten Mut“ neb-
men? Wenn dem deutfhen Bolfe
iberbaupt nod zu helfen ift (was id
bezweifle), fo nur dadurd, daß man ihm
den Mut nimmt, diefen verrudten, ober»
fladliden, dummen, optimiftifden „Mut“,
Der den Blid von der todſchwangeren
Wirklichkeit abwendet und in euphorifher
Schwäche darauf „vertraut“, daß „man
{don durdfommen werde“, daß „es fid
{don maden laffen werde“ und wie fonft
diefe unperfinliden Redensarten einer
{Hmugglerifden und fupplerifhen Weis-
beit lauten. Was follte uns bindern,
diefem DBolfe die Wahrheit gu fa-
gen? 3d fenne fein höheres Geſetz als
die Wahrheit — und dies ift das Befte,
was id dem ©enius meines Bolfes vere
danke: Luther und Kant. Wenn man
die Wahrheit „aus Politik“ oder „aus
Pfydologie* nidt fagen foll — was
ift dann nod das Leben? Gin Golf, das
an der Wahrheit zugrunde gebt, foll
Kagründe gehn. Ob, wären wir Deutfden
endlid alle tot! G8 find unfrer nicht bloß
gwangig, e8 find unjrer fiebzig Mil-
lionen zuviel in der „Welt“. Aber wir
fünnen ganz ruhig fein, wir fünnen Die
bitterfte Wahrheit fagen, Diejes Bolt
verftebt fie „glüdlicherweife“ nidt. Es
gudt die Adfeln, es lacht, es Iebt und
bat — größere Sorgen.
Die Lnterzeihnung des Friedens von
Gerfailles war die Befiegelung einer
Niederlage, die Annahme des Lone
doner „Vertrags“ ift die Befiegelung
einer Unterwerfung. Die Nieder-
lage ift nur ein militäriſches Greignis,
die Unterwerfung ift ein moralifdes Gr-
eigni8. Man erleidet eine Nieder-
lage, aber man unterwirft fid: das
erftere ift nur ein Paffiv, das andre aber
ein Medium. Wad einer Niederlage ride
tet man fih wieder auf. Nah einem
Gid-Linterwerfen bleibt man liegen. Wie
wenig bedeutet Berfailles gegen London!
Ich will auf niemand von denen, die
mit 3a geftimmt haben, einen Stein wer-
fen. Sie haben zum Seil einen ſchweren
Sewiffensfampf gefampft. Und was liefe
fih aud) Gerftandiges auf die Frage ant-
worten: „Wie follen wir eine dunkle Zu-
funft wagen mit — dem Deutiden Volk
hinter ung ber?“ Gs ließe fid auf
Diefe §rage nur eine „unverftändige“
Antwort geben. Gine unverftändige Ant-
wort zu verfteben, fann man aber nur
einem ®enie zumuten, und es foll beileibe
niemand Genie fpielen, der feins ift. Die
Leute mit dem Sa haben ein Schidfal
vollzogen. Sie baben die Ronfequena
aus dem Zuftand des gegenwärti-
gen Ddeutiden Bolfes gezogen. Nur ein
®enie hätte die Konfequenz aus dem
Zuftand eines zufünftigen deutiden
Bolfes gezogen. Kein Genius führte uns
in den Stunden der Entſcheidung. Alfo
ift aud feine Zukunft.
Sener „Mut“ rechnet fo: Wir müffen
erft wieder „wirtihaftlih gefunden“,
dann „arbeiten wir uns frei“. Das ift
eine Gerfennung des Wefens der „Ar
beit“. Als ob fid je ein Bolf frei ge-
arbeitet batte! Wie man fid ine
nere Freiheit nidt durh Lernen und
Iedernen Fleiß erwerben, wie man fid
zu ihre nur ,durdringen“ fann, fo fann
ein Golf feine Golfsfreibeit nur er-
fampfen. (Rein, Herr Pagifift, wir
reden nidt bon einem Waffentampf, wie
Sie das zur bequemen Behauptung Ihrer
Pofition annehmen, wir reden nidt von
Blücher und Moltfe, fondern von Stein
und Bismard.) $rei werden durd die
BWirt{[ daft (alfo dur arbeiten) fann
ein Golf nur, wenn es feine Golfswirt-
{haft alg einen Kampf auffaßt. Wenn
es, wie einft militäriſche Macht, jo jebt
wirtfhaftlide Macht im Dienfte der Na»
tion anbäufen würde. Aber das wird
das deutſche Bolt nidt. Die Wirtſchaf—
tenden in Deutſchland denfen nur an
fid, nidt an Die Nation. Das
ift das Sntfheidende. And hin-
gufommt, daß die Grundlagen zu ſchwach
find, um ein von Amerifa unabhängiges
wirtfhaftlides Machtzentrum in Deutſch⸗
land zu fdaffen. Die Optimiften möchte
ih daran erinnern: Deutſchland hat feine
gewaltige Wirtfhaftsmadt vor Dem
Kriege nidt in einem unbewehrten, pon
jedem feindliden Atemguge umzupuften=-
den und durdeinanderzupuftenden Zu-
ftande gefdaffen; Deutihland ware nie
jo wirtjchaftsftark geworden, wie e8 war,
wenn es nicht guerft das preußifche Heer
und nadber das Reihsheer als Rüden-
ftärfung gehabt hätte. Die Wirtidafts-
größen follen fid) nit mebr Berdienft
gumeffen, als fie wirflid haben. Gie
glauben ohne eine nationale Heeresmadt
im Rüden eine nationale Wirtfhaft auf-
bauen zu finnen? Weld eine — LUnter-
{habung Amerikas! Unſre eifrige Arbeit
und Wirtſchaft wird uns beftenfalls da-
zu verhelfen, eine blühende Wirtidafts-
proving Amerifas zu werden, zur Frei-
beit wird fie uns nicht verhelfen.
Srei wird eine Nation nur, wenn die
einzelnen, erfüllt pon Trotz und Frei—
beitsmwillen, all ihr Sun und Laſſen in
den Dienft der Nation ftellen. Die Deut-
ſchen ftellen ihr Sun und Laffen aber
nur in allerlei andere Dienfte. Der
nadfte „Schritt“ wird der Gintritt des
Deutihen Reiches in den „Bölferbund“
fein, Der erfolgen wird, nidt wann es
uns paßt, jondern wann es den ane
dern nüblih erjheint und wenn fie
uns fdeuden: Kufh! willft du hinein»
geben, verfludter Bode?! Und Bode
wird mit eingefniffenem Schwanz in den
Balferbund f{dleiden.
Grft wurde das deutſche Oftreidh unter
die Botmäßigfeit der vereinigten Sieger
gebradt, dann das deutihe Bismard-
reid. Wem foll man darob einen Bore
wurf maden? Niemand wird beftreiten,
daß Seipel fowohl wie Marz von den
lauterften Motiven getrieben wurden und
die befte eberzeugung Hatten, "haben
459
und ftetS haben werden. Wer fann aus
feiner Haut heraus? Onfel Gam ftredt
in Grwartung guter Geſchäfte den beiden
wohlwollend die goldgewidtige Hand
entgegen. War es einft unfer Gtolz,
Seppeline für Deutfdland zu bauen, fe
ift e8 heute ein „deutiher Triumph“, für
Amerifa the largeft Zeppelin of tbe
world liefern zu dürfen. Das deutide
ublifum ift zufrieden und frabt von al»
en Dächern den „deutfhen Sriumph“
fih felbft in die Obren. Lind wenn die
Barteien fih verfammeln, fraben fie Sri-
umpb über ihre „großen Staatsmänner“.
Das Oftreid wurde eingefeipelt, das
Bismardreih wurde vermarzt. Dabei
fönnen wir ganz unbebelligt effen, trin-
fen, ſchlafen und arbeiten „as ufual“. &8
tut nit fo web wie ein Krieg. Mit die-
fem ſchönen und triumphierenden Be»
wußtjein fließen wir die Spode des
deutfhen Bolfes ab, aus der die drei
großen Sterne Friedrich, Stein und Bis-
mard nod eine Weile in der Finfternis
nadleudten werden.
- Warum wir unter fotanen Umſtänden
nod) fdreiben und reden? Das — wiffen
wir felbft nidt. Der Wenſch bat fid,
folange er lebt, dem Schidfal zur Bere
fügung zu balten. Wud der glimmende
Sunfe in einem großen Haufen Aide
fann nod zu einem Brande beftimmt
fein. Wehe jedem, der in Dem Aue
genblid, da Gott ibn zur Gntideidung
ruft und zwingt, verfagt. Gs ift Nadt.
Die Stunden rinnen dunkel, müde und
{dlaflos. Ob diefer Naht je eine Däm-
merung folat? G8 bleibt uns nichts als
die ,beldenbafte Geduld“. St.
Redht und Geredtigheit
unferer ®egner.
Bizmar ſagte am 25. Oftober 1871
im Reihstag über die Behandlung
des befiegten Granfreid:
„Wir halten es nidt für unfere Wuf-
abe, unfern Nahbarn mehr zu ſchä—
igen, als zur Giderftellung der Aus-
führung des Friedens für uns abjolut
notwendig ift, im ©egenteil, ibm zu
nüßen und ibn in den Stand zu feben,
fih bon dem Unglüd, das über fein Land
gefommen ift, zu erholen, foviel wir ohne
®efabrdung der eigenen Intereffen das
zu beitragen fönnen.“
Bismard war fein Verfünder von
„Brogrammen“. Gr handelte. Gr behan-
delte den Befiegten, bei aller Wahrung
der Redhte des Giegers aus dem Gefühl
nenn Anftandes heraus, er hatte
Adtung vor dem ilnglüd des Befiegten,
er wollte ihm Gelegenheit geben,
gu erbolen, er dadte nidt einen Augen-
460
blid daran, Granfreid den nötigen Lee
bengraum gu beengen, im @egenteil,
feine Politif verfolgte das Biel, den frane
öfifhen TSatendrang nur von der deut»
Ken Weftgrenge weg, auf foloniale Be-
tätigung_ binzuleiten. Der Grieden, den
er 1871 ſchloß, ift wohl ein Mufter-
beifpiel für einen anftändig, aus [ee
bendigem Gefühl aud für die Lebens-
redte des andern gefdloffenen Friedens.
Dabing en der vor fünf Jahren ge-
ſchloſſene Berfailler „Srieden“, der in
Wirklichkeit den Kriegsguftand auf nun-
mehr zehn Jahren verlängerte. Gein
Kenngeihen ift unanftändigfte Ausnüt-
zung der Lage des Wehrlojen, die Nei-
gung, den Linterlegenen immer tiefer ing
Unglüd zu ftoßen, er ift die Krönung des
bon vornherein unfittliden Kriegsziels
der Gntente, einem anftändigen fleißigen
Golf, das an Ueberpölferung fdon por
dem Kriege litt, deffen politiihe Schwie-
rigfeiten aus der Tatſache des zu ger
ringen Bodenraumes famen, Ddiefen Lee
bensfpielraum nod) weiter auf das Gmp-
findlidfte zu befdranfen, und nod dazu
unerfüllbare iibermenfdlide Leiftungen
zu verlangen. Gebt man die fitt-
liden Werte, die in dem Griedens-
ſchluß von 1871 nod) oH gu lebendiger Aus⸗
twirfung famen, aßftab an, fo er
mißt man erft ie Größe des fittliden
Abſturzes, der fid von 1871 bis 1919
in Guropa pollgogen batte. Bom Stand-
punlt menf{ Olid fiiblender Gerechtig⸗
keit iſt der „Frieden“ von 1919 das
furchtbarſte Unrecht, ein Verbrechen an
dem unveräußerlichſten Recht eines je—
den Volkes, frei zu leben und zu atmen.
Noch größer ſcheint der Abſtand zu
fein, wenn man an die „Verſprechungen“
und die Grwartungen denft, mit denen
die Völker dem als Kriegsziel der Ene
tente verfündeten ,Redtsfrieden* ent-
gegengeichen batten. Der §Friede, der
en Weltfrieg beendete, follte fein gee
wodbnlider Frieden fein, er follte nicht
nur diefen Krieg, fondern alle Kriege bee
enden, er follte auf den Grundſätzen
des Rechts und der Geredtigfeit, nicht
auf Macht beruhen und darum von gül-
tiger Dauer fein. 1871 batte niemand
an folde Anſprüche gedadt, niemand ab-
ftrafte Griedensprogramme, vierzehn
Bunfte aufgeftellt, feierliche Orundlähe
verfündet, und es war bod ein Friede
geworden, der geredt der damaligen
Gadlage entiprad. Bei dem Berfail-
ler Gertrag flafft der ungeheure Wider-
fprud zwiſchen den hoben Gripartungen
auf einen „Frieden Der Geredtigfeit*
und der fdauerliden Wirklichkeit voll
Unredt und Gewalt. Daher ftammen Die
DBorwürfe, die namentlid und fehr vere
ftandliderweife deutfcherfeits gegen den
Berfailler Gertrag und gegen Wilfon
erhoben werden, „Betrug“, „VBertrags-
brud“, die in dem Waffenftillftand „ver-
einbarte Bafis des Redtsfriedens“ fei
verlaffen worden. Wilfon babe feine
„Berfpredungen“, die er dem deutichen
Volk gemadt babe, nidt gehalten, uf.
Der AWotenwedfel, der 1919 gwifden der
Gntente und der deutfhen Wbordnung
unter Graf Broddorff-Rantau ftattfand,
bewegt fid pornebmlid in den Grör-
terungen über den „vereinbarten Rechts—
frieden“. Die Deutihen verfuhten Punt
für Punft nachzuweiſen, wo diefe Srund-
lage verlaffen fei und die gablreiden
Widerfpriide zu den Wilfongrundfaben
aufzudeden. Die Gntente dagegen bee
barrte auf dem Standpunft, der Bertrag
ftimme mit den Grundſätzen Wilfons
überein. Die letzte Antwort auf die
deutſchen Ginwände erteilte fie im Alti—
matum und der begleitenden Mantel
note am 10. Suni 1919. Hier an einer
nod wenig in ihrer Bedeutung bead-
teten Stelle fteht die Begründung, wes-
halb die Gntente den vorgelegten Gries
den als einen „Redtsfrieden“ angejehen
wiffen wollte.
„Die all. und aff. Mächte glauben
demnad, daß der Friede, den fie por«
geihlagen batten, feinem ®rundme-
fen nad ein Redtsfriede ift.... Der
Vertrag ftellt einen ehrlihen und bewuß-
ten Verſuch dar, jene „Herrihaft des
Rechts, gegründet auf der LMebereinftim-
mung der Regierten und erhalten durd
die organifierte öffentlihe Meinung der
Menfhheit zu fdaffen, melde als
®rundlage e8 Griedens vereinbart
wurde.“
DasRedt, gegründet auf undher-
Recetas aus der ,organifierten öffent
iden Meinung der Menihbeit“, das
war das Kriegsziel der Entente tatfad-
lih gewefen. Wilfon hatte fid in feiner
Rede von Mount Vernon am 4. 7. 1918
ebenfo ausgedrüdt:
„Diefe gewaltigen Griedensaiele laſ—
fen fid) in einem einzigen Gab aus—
Ddriiden. Was wir elite: ift Die
Years des Gefebes, gegründet auf die
‚guftimmung der Regierten und getragen
pon dem vrganifierten Willen der
Wenſchheit.“
Tatſächlich iſt nun, wenn man ſich ein—
mal ganz genau vergegenwärtigt, daß
dieſes unter dem Schlagwort ,,Redts-
frieden“, unter dem SKriegsziel „Herr—
{daft des Rechtes“, verftanden werden
muß, der Gerfailler Gertrag in diefem
ententiftiihen Sinne ein „Redtsfriede“.
Denn es ift nicht zu leugnen, mit allen
feinen (menfhlih gefeben) Scheußlih-
feiten, ftimmt er mit der „organifierten
öffentliden Meinung der Menſchheit“ pon
dem „Ihuldigen“ und „verbrecheriſchen“
Deutidland überein. ,@eredtigfeit ift
das, was die Deutidhe Delegation ver-
langt und von dem Diefe Delegation
erflart, man babe e8 Deutſchland ver
fproden. Geredtigfeit foll Deutſchland
werden.“
„Recht“ und „Geſetz“ gründen fid
nad ententiftifder Auffaffung auf die
»dffentlide Meinung“, find gewabrleiftet
durch formelle lebereinftimmung mit
Diefer. Gir diefe Grundfabe der Formal-
demofratie Hat Wilfon gefampft, den
„Kreuzzug“ gegen Deutfdland geführt,
und Diefe halten geiftig die ,Gntente“
zufammen, und laſſen fid aud in den
einzelnen Beftimmungen des Berfailler
Bertrags nadweifen. Am deutlidften
in der elfaf-lothringifden Frage. Das
„Anredt, das Granfreid 1871 binficht-
lid Elſaß⸗Lothringens“ angetan worden
ift und „wiedergutgemadt“ werden follte,
(Wilfons vierter PBunlt!) umfdrieb die
Gntente in WAbfdnitt V Art. 51 des
Gertrags folgendermaßen:
„In Anerfennung der fittliden Bere
pflidtung, das Anrecht wiedergutgu-
maden, das Deutfchland im Sabre 1871
fowohl dem Rechte Franfreids als dem
Willen der troß des feierlihen Proteftes
ihrer Bertreter.. von ihrem Baterland (|)
getrennten elfaß=lotbringifhen Bevölke—
rung ans begangen bat“, fordert
Artifel 51 die bedingungsloje Riidgabe
des Landes an Franfreid. Lind als die
Deutihen betonten, daß eine LInterlaf-
fung der Bolfsabftimmung jest ein nod
größeres AUnrecht fei, antwortete die En—
tente wiederum bon ihrem formal ab»
ftraften ReHtsbegriff aus, daß alle
Beftimmungen nur den Bwed Hatten,
„Perfonen und Gaden wieder in den
Redhtszuftand zu verjegen, in dem fie fid
1871 befanden.“ Gine neue Bolfsabftim-
mung fet darum überflüffig. Hier ftebt
wiederum fittlides Redt gegen ab-
ftrafte formale Ret sbegriffe.
Wer feinem natiirliden Redhtsgefihl
folgt, fann in der Wiedererwerbung von
Gljafp-Lothringen nad einem ehrlichen
Sieg 1871 fein Anrecht feben. Glfaf-
Lothringen ift deutiches Land dem Wee
fen nad und der Revandegedantfe
Stantreihs ein Kriegsziel ohne jede ties
fere fittlide Beredtigung, wenn aud bon
franzöfifcher Seite die Wiedergewinnung
bon Elſaß-Lothringen als identifch mit
der Wiederherftellung des Redhts im
abjoluten Sinn empfunden wird. Ich fand
einmal den eigentiimliden ®edanfen
vertreten, daß Elſaß-Lothringen feit der
franzöfifhen Revolution, feit der Bers
461
fündigung der Menfdhenredte, zu innerft
und unbderduferlid dem franzöfiihen
Staat einverleibt worden fei. Auf diefe
Weiſe geht die Gormaldemofratie über
die mehr als zweifelhafte Art hinweg,
wie feinerzeit Das Land im fiebzehnten
Jahrhundert an Frankreich fam und läßt
das Gefühl für dieſe fittlihe Rechts—
widrigfeit erlöfchen.
Man wird geiftig nidt fertig mit dem
Gerfailler Bertrag und mit der Schuld—
frage, wenn man nidt beide aus der
abftraften formaldemofratiiden Rechts—
auffaffung begreift, die ententiſtiſch ift
und aus der jener furdtbare inquifito-
riſche Haß fogleih ftammt, mit dem in
Deutihland das „böje“ Pringip befämpft
wurde. Hinter den ideologifden Schlag-
worten des Weltfrieges ,Redt gegen
Wacht“, „Rampf für den Redtsfrieden“,
„Dauerfrieden der ®eredtigfeit“, „für
Sortfhritt und Zipilifation“, für Die
„Grundſätze (!) der Wenſchlichkeit“, fteckt
eine geiftige Wirflidfeit, Die
wir jogar in Gaben, wie Die oben ans
geführten, dofumentarifh faſſen fönnen.
In der RKriegsideologie war Deutid-
land das böſe Prinzip, das Prinzip des
Krieges, des Militarismus, und Der
Krieg wurde fo zum Kreuzzug.
Ganz fdarf fajlen wir den geiftigen
Oegenſatz zwiſchen Deutfdland und Der
Gntente, wenn wir einmal näher unter-
fuden, was denn nun das wilfonglau-
bige Deutijhland unter den Orundſätzen
Wilfons verftanden bat. „Da fam aus
Amerifa ein Glang in die dunfle Welt,
daß mandem Guropäer zumute ward,
alg ginge die Sonne im Weften auf.
Wilſon hatte verfündet: feine Gefhidte
mehr nad dem alten ®rundja „Macht
gebt bor Redt“, feine a ee
mebr, eine Geſchichte fortan, Die fih ent-
widelt aus ©eredtigfeit und Dilligfeit,
aus Gerftandigung, VBerbündung, Bere
brüderung, ein Aufblüben der Golfer, ein
jedes aus eigenem Boden in freie Luft
binein, bis feine bejonderen GFridte reif-
ten.“
Nehmen wir diefe Worte als Doku—
ment, lajjen wir Die Deifle Grage, wie
e3 denn möglih war, daß man Diejes in
Die Wilfongrundjäße bineinlegen fonnte,
Die demjenigen, der niemals aud nur
den Drudteil einer Gefunde an Wil-
fon „geglaubt“ bat, immer wieder zu
ihaffen madt. Der Wejensunter-
ſchied deutſcher und ententiftijder Gei—
ſtesart iſt hier für jeden, der auch nur
einiges Gefühl für derartige Dinge bat,
fo greifbar, wie es nur möglich ift. Se-
des Wort hat eine andere geiftige Gar-
bung, einen anderen Ginn, fo unwilſoniſch
wie möglid. „Geſchichte, die fid ent-
462
widelt“, niemals bat Wilfon an Ge
bite in diefem Ginn gedadt, für ihn
gab es nur ©rundjähe
formal, ,@eredtigfeit, in diefem Sinne
etwas ganz anderes, als die falte grau-
fame @eredtigfeit des Verfailler Pil-
tat8, die ihre Gorderungen an das „ver-
brecheriſche“ Deutfdland ftellt. Gs ift
eine andere ®eredtigfeit und Billigfeit,
die den Lebensnotwendigfeiten der Böl-
fer Rechnung trägt, ihre Entfheidungen
aus der Gadlage trifft, und nidt nad
leeren @rundfagen, die bier vorſchwebt.
Gin „Aufblühen der Bilfer aus eigenem
Boden in freie Luft binein“, das fann
nur ein Seutfder fagen und meinen,
dem fcematijf und zerftörend anges
wandten Nationalitätenprinzip weftlider
Prägung ift diefer Gedanfe unfaßbar. Die
nbefonderen Früchte“ jedes Bolfes ge-
bören nidt in eine Welt ,demofratifden
Gort{dritts", fie werden von deſſen
plumpem Tritt, der lebendige GEntwid-
lung baft, zu Boden getreten.
»@Oewalt, Oewalt bis ans Ende, Ge-
walt ohne Grenze und ohne Ende, die
redtmapfige und triumpbierende Oewalt,
welde das Redht gum Gefeh der Welt
maden und jede Herrfdaft, deren Ziele
felbftfühtig find, in den Staub ftreden
wird“, jo predigte Wilfon am 6. April
1918. Gewalt ohne Grenzen und ohne
Ende ift das Zeihen aud des Berfailler
Alnfriedens, gerade weil er mit dem
Anjprud auftrat, ein allgemein giiltiger
Ret sfrieden zu fein. Im Namen
eines für allgemein gültig gebaltenen
abftraften Prinzips wurden Die Dlut-
ftrdme der franzöſiſchen Revolution ver—
goſſen, wütete heute der Bolſchewismus,
predigte Wilfon den Kreuzzug gegen
Deutihland. Die Gewalt des Berfailler
Diftats gründet fih auf die Redtsauf-
fafjung, welde das Redt von der Leber-
einftimmung mit der öffentliden Mei—
nung berleitet. Auf deutſcher Seite ftebt
fein abftraftes Programm, Deutſchland
vertritt ein anderes Redt, das des Lex
bens und feiner Wirtlihfeit. Die
Gertreter des abftraften Prinzips haſſen
darum Deutichland. Der Krieg gebt wei-
ter gegen das Deutſchtum, gegen die
fittliden Werte, denen zur Madt zu ver-
helfen, deutide Aufgabe im Krieg ge-
wejen ware.
Gerfailles und die „Entente“ werden
elaumnengepe niht zum letzten durd
iefe eigentiimlide abftraft-moraliftijde
©eiftigfeit, fie werden überwunden fein,
wenn wieder fittlide Werte gelten, die
Recht und Geredtigfeit aus der
menfhliden Wirklichkeit ber
leiten. Dieſe ,Gntente* beftebt aud in
Deutihland; foweit in den Gntentelän-
ftarr abftraft,
Dern Menjfden find, die aus menfdlidem
Oefühl das Linredht von Berfailles vere
urteilen, find fie Bundesgenofjen in dem
Kampf, den Deutidland zu führen immer
noh die Aufgabe hat.
Smmp Voigtlander.
Bolitit und Ethik.
St Rolffs führt in einem weit über
den Durdjdnitt der diesbezüglichen
Literatur binausragenden größerem
Werte über das DBerhältnis von Ethik
und PBolitif* aus:
Se mehr der Berftand die ihm ge-
febten ®rengen vergißt und fid zur letz⸗
ten Autoritat des Lebens madt, um
fo mehr ift alles wahre Leben gefähr-
det. Beſchränkt und ebrfurdtsl[os, aber
febr von fid überzeugt, zerſetzt er jedes
®ebeimnis, alles Gwige und DBleibende.
Rationalismus ift immer Vergewaltigung
des Lebens. Aus allem Organifchen löft
er Die Seele und verfehrt es in Mecha—
nismus. Die Kultur wird zur Bivili-
fation, die Religion endet in Sfeptizis-
mus, die Gthif wird zur platten Olück—
feligfeitsmoral. Dieſer Rationalismus
blüht gegenwärtig in der Welt wie faum
je gubor, aud unter uns Deutſchen, als
bätte es für uns niemals einen deutſchen
Idealismus gegeben. Beweis: Amerifa-
nismus, weftlide Demofratie, Interna-
tionalismus, Pazifismus, Marrismus,
das Lmfidgreifen des Rationalismus in
der Wiffenfdaft und der Kunft.
Aber es ift wie eine Ironie des
Schickſals, wie ein Hohn des wahrhaft
lebendigen G©ottes, daß der Rationalis-
mus, gerade wenn er Die Sade wieder ein-
mal gefdafft zu haben meint, an Madten
zerjheitert, die gänzlih außerhalb feiner
Berednung liegen. Das ift das Srratio-
nale alg die ſchlechthinnige LMebergewalt,
unbegreiflid, unabwendbar. Ihm gegen-
über find wir madtlos. Man denfe etwa
an große Naturfataftropben oder an die
Wirklichkeit des Lebels und des Böen
in der Welt, die immer wieder dem
Traum einer Aufwartsentwidlung der
Menfhheit ein Ende madt.
Das Srrationale ift das Hemmende,
gerftörende, Widerfpiel des Vernünfti—
gen, Knedtung des Geiftes. Darum fann
e3 das Lebte nicht fein. Immerhin wäre
der irrationaliftifhe Peffimismus wahr-
* Politifhe Ethik und ethiſche Welte
anfhauung bon Grnft Rolffs. 359 Gei-
ten. Hinrihs, Leipzig. Vergl. aud-den
Rolffsfden Aufſatz „Vom Erleben des
Srrationalen in Oeſchichte und Religion“
im Sulibeft 1923 des Deutiden Bolfs-
tums.
baftiger als der optimiftifhe rationalı-
ftifde Spolutionismus. Dennod wird die
Kulturmenfhheit aller Ginnlofigfeit des
Oeſchehens zum Trotz den Slauben nidt
laffen, daß die Bernunft die Gefdhidte
regiert. @egen das Srrationale tritt
das Ueberrationale in den Kampf. Die
Sriheinungsform des Leberrationalen ift
der ©enius: „Mit dem Genius tritt ein
Ueberrationales in den Gang der Ge—
{hidte ein, aus deffen Kampf mit dem
Srrationalen die rationale Gntwidlung
refultiert“ (6. 192). Ranke bat einmal
gejagt: „In großen Oefahren fann man
wohl getroft dem Genius vertrauen, der
Guropa nod immer por der Herridaft
jeder einfeitigen und gewaltfamen Rid-
tung befhübt, jedem Drud von der einen
Seite nod immer Widerftand von der
anderen entgegenfebt und bei einer Ber-
bindung der Sefamtbeit, die bon Sabre
zehnt zu Iahrzehnt enger geworden, die
allgemeine Greibeit und Gonderung gliid-
lich gerettet bat.“ Go vollzieht fid der
wahre Sefdhidtsverlauf pom LMeberratio-
nalen ber, die Aeberwelt ift die Domi-
nante der Welt. :
Dies find in großen SBiigen Die
Orundgedanken des Rolffsfdhen Budes.
Wir haben bier den großen Wurf einer
feft in fih gefdlofienen Gefdhidtspbhilo-
fophie por ung, die für die Politif eben-
io bedeutungspoll gu werden verdient,
wie „Das Heilige“ von Rudolf Otto
für die Theologie.
Dennod bat fid mir gegen Gnde
des Werfes die Frage aufgedrängt, ob
der „bervarhiihe Supranaturalismus“,
wie Rolffs feine Pofition nennt, nicht
dod) wieder — pielleiht, wenn man jo
fagen fann: ein tranfzendenter, durch
die fräftige religidfe Wärme und das
Berftändnis für dag Srrationale gemil-
derter — Rationalismus ift. Die Leber
welt fteht als Zweites, Selbftändiges ne-
ben der Welt; aus dem Kampf des Lee
berrationalen mit dem Srrationalen er-
gibt fid die rationale Gntwidlung.
Wenn es aud unmiglid ift, Die Gee
genfabe je gang aus der Welt gu ſchaf—
fen, fo foll dod ihre Milderung ange-
ftrebt werden. „So bleibt alfo die religidfe
Gorftellung des Gottesreides die not-
wendige Gorausfebung für den politi-
fhen Gedanfen des Bölferbundes.“ „Um—
gefehrt, wer als Gbrift das Gottesreid
will, muß fid für die Grridtung des
Bölferbundes einfehen.“ (CG. 346 / 47.)
Das find unverfennbar rationaliftifhe
Beftandteile. Rolffs Hat redt, wenn er
die fortgefegten Spannungen, die aus
dem Widerftreit des Srrationalen mit
dem leberrationalen entjpringen, für
463
niemal3 gang lösbar erflärt. Aber es
bleibt dod die Frage, ob fie nicht in
einer höheren Syntheſe gwar nicht aufge-
löft, aber dod überwunden werden.
Rolffs fagt S. 321: „In voller Schärfe
madt fid die Spannung im Kriege er
tend, wenn die allgemeine Wehrpflicht
alle Bürger nötigt, die Waffen gegen
Dürger feindlider Staaten zu richten,
die als Menſchen zu lieben ihnen ihre
Shriftenpflicht gebietet. Hier bleibt nidts
anderes Abel, alg entweder die drift-
lide Gittlidfeit Der ftaatsbürgerlichen
®efinnung überzuordnen.... oder aber in
der Grfüllung feiner ftaatsbiirgerliden
Pfliht die Moral der Bergpredigt zu
verleugnen.“ Das ift ein unertraglides
„Sntweder — oder“. Hier fdeint den
Berfaffer aud das Aleberrationale im
Stid zu laffen. Gs gibt aber eine Gr-
fabrung des Gewiſſens, die im Olaubens-
erlebnis liegt, aus der heraus wir gwar
nidt die Gegenfabe aus der Welt fchaf-
fen, aber Dur d die Gegenfäge mit einem
ruhigen Gewiffen und einem reinen Her-
zen „frei hindurchgehen“ fönnen.
(Raabe) Go ift e8 im Kriege erlebt
worden. Bon der Welt des Gewiſſens
lefen wir bei Rolffs fo gut wie nichts.
Bei ihm ift das Entideidende das Genie.
Darum ift bei ihm die Religion aud nur
ein Lebensgebiet neben vielen anderen.
Grft die Einführung des Gewiffens in
den Sefhidtsverlauf erreidt eine edte
Gerbindung von Gthif und Gejdhidts-
pbilofopbie. Hier fommt die Sinngebung
des Geſchehens aus der ſchlechthin
pon niemand gebotenen frei-
en Sat, die das Gewiffen wagt, und
die die Borausfebung aller höheren Gitt-
lidfeit if. Für das Gewiffen ift die
Religion die alles umfpannende Lebens-
wirklidfeit. Grft bei dieſer Betradh-
tungsweife erfcheint mir der Rationalis-
mus ganz überwunden. Gie muß als
notwendige Ergänzung den Rolffsfden
Ausführungen binzugefügt werden.
Karl Bitte
Die Grimmſchen Marden plattdeutich.
ie Gorwort zum erften Bande der
Kinder- und Hausmarden vom
Sabre 1812 fdreibt Wilhelm Grimm:
„Wären wir fo glüdlih gewefen, fie in
einem redt beftimmten Dialekt erzählen
zu fönnen, jo zweifeln wir nidt, würden
fie viel gewonnen haben; es ift bier der
Sall, wo alle erlangte Bildung, Geinbeit
und Kunſt der Gpradhe zu Schanden
wird, und wo man fühlt, daß eine ge»
läuterte Schriftfprade, fo gonad fie in
allem andern fein mag, beller und durd-
fidtiger, aber aud Ichmadlofer gewor-
464
den und nidt mehr feft an den Kern fi
ſchließe.“ Saft diefelben Worte werden
im Gorwort zur erften Ö©efamtausgabe
pon 1819 wiederholt und bedauernd hin-
zugefügt: „Schade, daß die niederbeffijde
Mundart in der Nabe von Kajfel, als
in den Grengpuntten des alten fadfifden
und franfifen Heffengaues, eine unbe-
ftimmte und nidt reinlid aufgufaffende
Mifhung von iederfadfifdem und
Hoddeutihem ift.“
Diefe Worte und die Tatfade, daß
die Brüder Grimm die wenigen Mare
den, die ihnen bon Freunden für ihre
Sammlung mundartlid niedergefdrieben
wurden, immer gerne und unverändert
aufgenommen baben, bezeugt naddrüd-
lid, wie febr fie empfanden, daß zum
Bollsmärden die BolfSmundart geböre.
Aud fie felbft Haben die Marden, Die fie
unmittelbar aus dem Volksmund fchöpf-
ten, offenbar nur in der Mundart ge»
bört, in der allein dag Marden als
miindlide eberlieferung im Bolfe lebt.
Daß aus dem Zwang, ihre Warden
troßdem in Der boddeutihen Sdrift-
{prade erzählen und literarifh geftalten
u müffen, ein Segen wurde, der Gegen,
aß nun jedem deutſchen Kind feine
Marden in einer allen verftändlidhen
Gpradhe gejdenft wurden, ift ein rechtes
deutihes Märdenglüd, deffen wir uns
immer freuen wollen.
Doppelt und dreifad aber fdeint der
Plattdeutihe mit Wärchenglück gefegnet
u fein. Denn wurde ibm burdh Wil-
elm WWiffer, Hundert Sabre nad den
®rimmjden, nod fein eigenes plattdeut-
{hes Marden befdhert, unmittelbar aus
Der Quelle geſchöpft, in der reinen und
urfpriingliden Volksmundart, fo gebt
nun aud) nod der pon uns faum ge-
wagte, von den Brüdern Grimm ftill ge»
begte Wunfd, den von ihnen gehobenen
Märdenihag in der Mundart zu bee
fißen, wieder uns Plattdeutiden in Gre
füllung.
Wilhelmine Gieffes erzählt
uns in ihrem im §Griefen-Gerlag er-
fdienenen Büdlein „Dort was ins
mal" dreiundgwangig Srimmfde Mär-
den in ihrem oſtfrieſiſchen Plattdeutſch;
und — twas das Gnt{deidende ift —
felbft die von Wilhelm Grimm befon-
ders fein geftalteten Marden haben durch
diefe Neugeftaltung in der Mundart in
dem bon den Brüdern erwarteten Sinne
gewonnen. Go uniibertrefflid und un»
übertroffen Wilhelm Grimm die Aufgabe,
das Volksmärchen aud im Hochdeutſchen
naiv zu erzählen, durd feine aus feinem
didterifhen Empfinden und Können ge-
borene, dem findliden Hörer angepaßte
Grgdblweife gelöft bat, jo wird dod
durh den Bergleidh mit der plattdeut-
fen Seftaltung Wilhelmine Gieffes über-
geugend flar, daß bier wirflid der Gall
ft, wo „alle erlangte Bildung, §ein-
beit und Runft der Spradhe gu Sdan-
den wird“.
Die Llebertragung Wilhelmine Gief-
fes, die felbftverftändlih feine wörtliche
leberfegung ift, fondern eine Umbdidtung
in den ®eift und die Gormen des Platt-
deutſchen fein mußte, zeichnet fic — bei der
ungewöhnlihen Kraft der überall ber-
porleudtenden dichteriſchen Geftaltungs-
gabe — durd eine rührende Treue in der
Wiedergabe des Inhalts aus. Gomeit
es, unbefdadet des mit unbeirrbar fide
rem Gefühl erfaften plattdeutihen Er—
gablftilg nur — war, wird faſt
Sat für Sab inhaltlich getreu den Brü—
dern Grimm naderzählt. Wo aber durd
eine freiere @®eftaltung die Darftellung
plaftifher und gefühlsmäßig eindring-
lider wird, wie 3. B. im Gingang
bon „Askenpuddel“ fdridt Wilhelmine
Gieffe3 aud vor einer bedeutenderen Ab»
weidung nidt zurüd, wobei jedod die
inbaltlide Treue ftets gewahrt wird.
Gin eingehender durch vergleidende
Gegeniiberfiellung überzeugender Wad-
weis, daß Wilhelmine Gieffes Marden
neben den Grimmfden volle Dafeinsbe-
redtigung haben, fann im Rahmen die»
fer erften Anzeige nidt gegeben werden.
&3 bedarf aber nod einer furgen Be-
gründung, warum mir in ihnen aud eine
willfommene Grgangung der Wifferfden
Marden fehen.
Sn der WifferfHen Mardenfamm-
lung, auf deren nidt leicht zu über-
Ihäßenden Wert die Bolfstumslefer wie-
derholt bingewiefen worden find, ver-
miffen wir faft alle die fih durch be—
fondere Naivitéat und Gemiitsinnigfeit
auggeidnenden Lieblinge unjerer Kind»
beit. Gie waren, wobl gerade wegen
ihrer findliden Waivitat, faft ganz aus
der lebendigen Lleberlieferung verſchwun—
den, während fid) die mannlideren und
derberen Warden und Schwänke, die
den größeren Raum in Wiffers Samm-
lung einnehmen, bis in unjer Sabhr-
bundert erhalten batten. Bei Wilhel-
mine Gieffes finden wir nun fon in
diejer fleinen Sammlung Sneewittje, As-
fenpuddel, Doornrooske, Frau Holle, Fan
de füwen Rawen und eine ganze Reihe
anderer Warden, die jhon Wilhelm
®rimm durd die Aufnahme in die fleine
Ausgabe der Kinder- und Hausmärden
ausgeidnete. Lind Wilhelmine Gieftes
wetteifert mit Wilhelm Grimm in der
liebe- und gemiitvollen Darftellung diefer
feiner und Der Kinder und offenbar aud
ihrer Lieblinge. Aus dem Bergleid zwi—
fhen der Grimmiden und der Wiſſer⸗
{den Märdenfammlung muß man fdlie«
fen, daß im Laufe des zwiſchen ihnen
liegenden Jahrhunderts dod eine ge-
wife feelifhe Berarmung des Bolfsmar-
dens ftattgefunden bat, und wir danfen
es Wilhelmine Gieffes befonders, daß
fie durch die von ihr getroffene Aus-
wahl für unfer plattdeutihes Bolfsmar-
den aud in dieſem Sinne einen will-
fommenen Ausgleid) geihaffen bat.
Sir die Verbreitung der Warden
Wilhelmine Gieffes mit allem Nahdrud
einzutreten, ift Ehrenpflidt jedes Platt-
deutfden und jedes Märdhenfreundes. Die
oftfriefiihe, aud für viele Plattdeutide
ungewobnte Mundart madt eifrige Wer-
bearbeit nötig. Das Ginlefen in died
edel flingende Plattdeutſch fann jedoch
durch feinen Stoff leichter gefdeben, als
an dieſen allbefannten, findlih einfachen
Marden. Aus eigener Erfahrung fann
ih jagen, daß mir, der ich bisher fo gut
wie nichts in friefiiher Mundart gelejen
babe, die gunddft unverftindliden Vo—
fabeln und Wendungen nad der ein-
maligen Leftiire des Biidleins faft aus-
nahmslos vertraut waren. Seder Lefer
aber wird fih für die leihte Mühe
des Ginlejens reich belohnt fühlen. Wil-
belmine Gieffes Warden verdienen e$,
fünftig mit den Grimmfden und Wiſſer—
ſchen gugleidh genannt gu werden. Uns
find die Grimmjden Warden neu ge
ſchenkt worden. Stanz Heyden.
Hintemann.
Der Spektakel legt ſich allmählich. Viel»
leicht kann man nunmehr eine ruhige
Meinung an den Wann bringen.
Wir haben Tollers „Tragödie“ nach
allen Seiten gewendet, um dem Ding
etwas abzugewinnen. Aber — es iſt
nichts. Es iſt wirklich nichts.
Erſtens: Iſt der Hinkemann ein Ten-
denzſtück oder nicht? Ih Habe nichts
gegen eine Tendenz. (Sind nicht Wolf-
rams Parzival und Kleiſts Herrmanns-
ſchlacht Sendengwerfe?) Tollers Gtüd
endigt mit Achſelzucken, es ift als Sane
3e8 fein Sendenaftiid. Aber ihm ift
ftrecdfenweije eine Tendenz angeflebt.
Die Szenen, in denen der entmannte Hin»
femann aus rührenden Motiven den
„deutſchen Helden“ in der Schaubude
mimt, find mit tendenziöfer Ironie über
„Deutihes Heldentum“ vollgeftopft. Aber
Diejer Spott wählt nicht aus den Cha—
rafteren oder der Situation. Gr fönnte
fehlen, und an dem Gang der „Tragödie“
ware nidts geändert. Alſo fällt der
Spott nidt dem „Budenbefiter“ und dem
„Peter GOroßhahn“ zur Laft, fondern dem
465
Autor ganz perfinlid. Gr Hat feinen
Ginfall für fo wichtig gehalten, daß er
e3 fid nicht verfneifen fonnte, ihn zu
verwerten. Nidt die Tendenz, fondern
das Angeflebte der Tendenz wirkt
peinlid. So arbeitet fein Künftler, fon-
dern nur ein Agitator mit mangelnder
Seftaltungstraft.
Smweitens: Das Werk ift ftillos. Teils
bemüht ſich Soller naturaliftiih zu fein,
teils judt er, wie man das nennt: den Na⸗
turalismus zu überwinden“. Se naddem
es der mangelnden Geftaltungstraft des
Autors gerade bequem if. Im Hinke—
mann foll ein deutſcher Arbeiter nad
feiner innerften, erdbenfhiweren Natur gee
ftaltet fein. Soller felbft weift den Schau—⸗
{pieler an: „Immer bat feine Sprade
das Ausdrudsihwere, Dumpfe der eler
mentarifhen Geele“ ind wie fpridt
nun Diefe „elementarifhe Seele“? Der
deutfhe Arbeiter Hinfemann fagt in der
Wohnfühe zu feiner Frau: „Spürft du
nidt, wie eine große Ginfternis fid) über
Did wirft?“ „... und deine Lungen
pluftern fid, dein Baud follert fid por
Laden. „Und wenn id gleid mid
duden müßt wie ein Tier.“ Oder fpater:
„Wachs ift in den Ohren, Wadhs — aus
®eladter gefnetet und aus Spott.“ Wo
baben wir dod diefen Tonfall gehört?
Bei deutfhen Arbeitern nie, aber — in
jüdifhen Feuilletong und in der Anter—
baltung mit Suden. Pardon! Ih will
nicht verlegen, aber id will eine Wahr—
beit nidt verſchweigen. Hinkemanns
Deutſch ift ſchlecht überfehter Sargon.
Benn Grete Hinfemann eine Deutſche
ware, fo würde fie allenfalls jagen: „Es
ift zum Gergweifelni* Bei Soller
aber jagt fie: „Am Gergweifeln bin id!"
(Man fprede beides laut. Motorijd ver
anlagte Sefer werden fofort den vere
fhiedenen Körper- und Bewegungstyp
berausfpiiren. Beide Sätzchen erzwingen
ethnothpifd verfdiedene Geften.) Gin
{pradlides Pradtbeifpiel für den Unter
Ihied eines edten Deutih und eines
überfetten Sargon ift der Schluß des
erften Aktes. Grete Hinfemann, allein
auf der Szene, jagt: „Man ift nur ein
armes Weib. Und bas Leben ift fo
bertworren.“ Go joll eine deutihe Are
beiterfrau fpreden! Nein, fo fpricht die
geiftreihe Sarah in einem literarifchen
Salon. Ih bedaure jeden A bee
gabten Schauspieler, der deutihe Arbei-
ter auf Grund eines folden Tertes dar-
ftellen foll. Die pom Autor beabfidtigte
Sharafteriftif und die pon ibm gejpros
dene Sprade find infongruent. Gin Wa-
466
ler, der die Garben nicht beherrſcht, fann
niht malen. Gin Autor, der die Sprade
nit beberriät, fann nit deutſche Tra-
gödien jchreiben.
Drittens: G8 ift unbegreiflid, warum
die ebenfo bedauerlide wie unwahrſchein⸗
lide Begebenbeit Hinfemanns eine „Ira
gödie“ fein fol. Gon Tragik reden
wir, wenn tragiſche Sbharaftere gegeben
find, oder wenn ein Schickſal finntief
tragifd fih auswirkt. Hier aber ift Grete
Hinfemann nur eine unmöglide Sans.
Ware ihre Frömmigkeit pom Didter
ernft gemeint, fo fiele fie nidt fo flaglid
dem Großhabn anbeim. Da fie aber
fo jammerlid ift, begreift man nidt,
warum fie fid felbft mordet. Denn by-
fterifh foll fie nicht fein, fondern eine
geegde Arbeiterfrau. Gie mordet fid,
amit eine ,Sragddie* gum Aufführen
berausfommt. Denn zu einer Tragddie
gener balt ein Sotmaden. Und ift durd
iejen Sod ein Schidfal erfüllt und ir-
gend etwas offenbar geworden? Hinte-
manns lette Weisheit ift: „Wie ift das
ſinnlos!“ An der Leide pbilofophiert
er: „Warum aber trifft es mid, gerade
mid? Wahllos trifft eds . . . Was wif-
fen wir? Wober? Wohin?“ Sragit?
Wenn Soller uns weiter nidts gu vere
fünden bat als eine Gentimentalitat,
warum madt er fid die Mühe, Tras
gödien zu fdreiben? Zweckloſer Ehrgeiz.
G8 ftebt hinter dem Werf nidt eine
gureidende menſchliche Qualität. Der Ber-
faffer ringt fentimental und darum bere
eblih mit dem Problem des Leides. Gr
Bolt die miglide Sragif nidt aus dem
Stoff heraus. Lind er hat nicht einmal
fo viel Ghrfurdt vor feinem Problem, daß
er e8 vermeidet, fein Werf mit allerlei
agitatorifher Ironie zu tapezieren. Es
ijt durhaus nidt zu verwundern, wenn
ebrlide und biderbe deutſche Gemüter
fihd über dag Gewibel ärgern. Denen
aber, die fih ibrerfeits wiederum über
den Aerger aufregen, fagen wir: Ihr
fönnt ja nidt einmal den Suden in
Riderts „Bom Bäumden, das andre
Blatter hat gewollt“ vertragen, fondern
merzt ihn aus. Wenn Ihr den braven
Rüdert wegen Raffenhaß verfolgt, wa-
rum nidt den Soller? Könnt Ihr wirk-
lid nidt objektiv fein?
Im beige: laffen wir den belieb-
ten Strom der Zeit aud diejes Zeugs
verſchwemmen. Gs ift zu belanglos für
Grregungen. Die armen Literaturhiftori=-
fer, die aus lauter Wewiffenbaftigfeit
aud das nod in ihren Literaturger
ſchichten mitfdleppen werden!
Der Beobachter
oder ift das Wort „Abbau“ gefom-
men, das heute gu den meiftge-
braudten Wörtern gehört? Früher gab
e3 nur ein „Bauen“ und „Aufbauen“.
Das Gegenteil davon war „niederneh-
men“, „abtragen“, „abreißen“, „nie=
derreißen“ ufw. durch mannigfaltige
Abjihattungen. DBauen fann man
immer nur in die Höhe, in Die
Breite, in die Siefe, alfo ins Orö—
Bere, man fann durh „Bauen“ nichts
fleiner maden. Bauen ift ein pofi-
tiver, nidt ein negativer Begriff. Alfo
ift „abbauen“ eine twiderfinnige Wort»
bildung. &8 ift eben fo, wie wenn man
das Wort „ihrumpfen“ oder „abiter-
ben“ (alg den Gegenſatz von ,,wadfen“)
duch das Wort „abwachſen“ erſetzen
toollte. Der Birnbaum ftirbt nidt
mehr ab, fondern wmadft ab. Groß-
pater fdrumpft nidt mehr gufam-
men, fondern wächſt gleidfalls ab
oder in nod zeitgemäßerem Deutſch:
„er ift dem Moreadien anbeimgefallen“.
Daß ein fo blödfinniges Wort wie „Ab-
bau“ ganz unbefangen von Mund zu
Mund fliegt, ift ein Zeugnis für das
„Abwachſen“ des finnenfriihen Sprad-
gefühls im deutihen Bolte.
n der Monatsihrift „Das Evange—
lifhe Deutihland“ finden wir eine
Mifhehen-Statiftik, die ein Licht auf die
zunehmende Mifhung im deutihen Bolfe
wirft. Gpangelifd-fatholifhe Mifchehen
wurden gefdloffen: 1919 — 82033, 1920 —
89144, 1921 — 73207, 1922 — 72349.
Berhältnismäßig betradtet bildet dieſe
abfolute Abnahme jedod eine Zunahme;
denn auf 1000 Eheſchließungen fommen
1919 — 97,16; 1920 — 99,60; 1921 —
100,11; 1922 — 106,10 evangelifd-fatho-
liſche Mifchehen. Evangeliſch⸗jüdiſche
Miſchehen (wobei lediglich die Ronfef-
ſion, nicht die Volksangehörigkeit beach—
tet iſt) wurden geſchloſſen: 1919 — 1368,
1920 — 1529, 1921 — 1322, 1922 —
1363. VBerbältnismäßig bedeutet das
eine Zunahme; denn auf 1000 GEheſchlie—
fungen fommen 1919 — 1,62; 1922 —
1,71; 1921 — 1,81; 1922 — 2 evange-
liſch⸗jüdiſche Miſchehen.
Einen ®egner au verleumden ift be-
quemer, als ihn zu widerlegen. So
malt man jebt in manden Kreijen, die
nidt fonderlid durd Intelligenz ausge-
zeichnet find, der andadtigen Gemeinde
Den völkiſchen Sedanfen als heidniſche
Wotansanbeterei vor. Eine bequeme Me—
thode: man rupft aus dem politijden
Wirrwald einige Auswüchſe ae
und beizt damit die religiöfe Empörung
an. So ift man des weiteren überboben.
Was fümmerts diefe Gtreiter, ob die
Engel im Himmel oder die Teufel in der
Hölle über foldhes Werk laden? Iſidor
findet diefe Methode ebenfalls ungemein
prattiid. Gr madt immer mit, wenn
e8 den Deutfden etwas am Zeuge zu
fliden gibt. — Heute wollen wir unfern
Leſern eine ganz befondere Dreiftigfeit
ur frdbliden Beurteilung vorlegen. Bon
onen ®umbel, deffen “Bud über die pon
ibm ausgewählten politifden Morde
weithin verbreitet worden ift, bat ein
neues Bud im Malil-Berlag Heraus-
gebradt: „Verſchwörer“. ‘Diefes mit
einem imitierten Blutfpriber gefdmad-
voll gebud{dmiidte Werk ift bevorwortet
worden bon Herrn A. Frehmuth, Senats-
präfidenten am Rammergeridt zu Berlin
in Preußen. Sn dem fammergeridts-
präfidentlih bevorworteten Werle befin-
Det fih auf Seite 220 ff. ein „Literatur-
verzeihnis“, das alfo beginnt: „Ich lege
gre en Wert auf die Feftitellung, dah
en vorliegenden Zeilen feine trüben
Quellen zugrunde liegen.“ nd dann
ftellt der quellenreine & 9. Gumbel
feft: ,Deutide Volkstum, Das. Wonats-
{drift für deutſches Geiftesleben. (Gnt-
hält: Raffentheorien, Blutunterfudungen,
Artifel über Wotan und andere völkiſche
Götter und Anterſuchung, inwiefern Je—
{us von Nazareth der deutſchen Sade
ſchaden fann . . )“ Grinnern ſich unfre
Leſer, je einen Artikel über Raffetheo-
rien, eine DBlutunterfuhung, einen Auf»
fat über Wodan, Donar ufw. oder über
die Schädlichkeit Jeſu in unfern Heften
gefunden zu haben? Wer etwas derarti-
ges bei uns findet, foll bon der GEntente
gum Borfibenden der militarifhen Kon—
trollfommiffion gemadt werden, denn er
fann mehr feben als gewöhnliche Sterb-
lide. — Gumbel ... nun, er ernährt
fih vermutlih mit der Fabrikation fol»
der Bücher. Darum muß er wohl mit
Sirigfeit arbeiten. Aber daß ein Senats-
präfident am Rammergeridt feine Perfon
und feinen Titel por ein derartig „zur
verläffiges“ Material fpannt, das tut
der Würde des preußiſchen Kammerge-
ridts, von dem man peinlide Exaktheit
und Objektivität erwartet, nidt gut. An
was alles werden wir uns nod gewöh-
nen müffen im Dollarifden Dominion
®ermanh?
467
Wr lefen, nad den itbliden natio~
nalen §eften müffe man annehmen,
„daß Deutihland ein hoffnungslofer Fall
ift: verbohrt in militariftiidem Wahn-
finn, verfallen der blutigen, brüllenden
Phrafe und ein verbafter Stein des An-
ftoßes für Die Gntwidlung der Welt.
G3 wimmelt in Deutfdland oon Offi-
ieren und ®emeinen, e8 herrſchen Ans
etung der Lehre, daß Der Staat
mebr fei, denn Chriſtus, und
daß jeder Gidbrud gottgewollt fei, wenn
es gefdiebt zum Leide der Republif und
zur Serfdmetterung der ‚Seinde‘.“ Und:
„Niemals war mir die deutfhe Wonne
und Begier am Kriege, Sdladten, Gie-
gen und Zertreten fo flar wie am Gonn-
abend im beflaggten Braunfhweig. Sie
wollen brennend gerne das Schwert gies
ben ufw.“ Wo ftebt das? Im Matin?
Nein, in einer deutfhen Zeitung, im
Braunſchweigiſchen Golfsfreund. Gor
lauter Bolfshaß vergißt der brave
Sozialdemofrat den angeftammten Shri-
ftusbaß, ein gelehriger Schüler der
„Koalition“. Wenn das Bebauptete
wenigftens wahr wäre; aber dies eben
ift das Gdlimme, die baffpribende Bere
dadtigung ift nidt einmal fadlid rid-
tig. Und ein Golf, in dem fo etwas
gejdrieben, gedrudt, gelefen wird, follte
ein anderes Gdidfal baben fünnen als
den Untergang? In deiner unje-
ligen Bruft find deines Schidjals Sterne!
Jehzt wolln wa mal zur Erholung ins
Kino gehn. Da entkeimt der ge-
funden Natur mit jedem Programmwech—
fel immer nod) aufs neue eine unange-
franfelte Kultur. Uns ift eine fin ge-
drudte Ginladung zugegangen, die ift
noch verlodender als ein PBrügelbericht
aus dem deutihen Reichstag: „Sröff-
nungs-Programm.“ „Am Ihnen etwas
ganz Befonderes zu bieten, habe id die
Grftauffibrung der nadftebend näher be—
zeihneten Filme abgefdloffen.“ „Carlos
und Glifabeth. Gin Drama von Liebe
und Giferfudt in zwölf Kolofjalaften.“
„Man fennt die Hiftorie, man hat feinen
Schiller im Kopf und fieht Gingewurgel-
tes pliblid) verändert. Die alten ver-
trauten Perfonen zeigen ein neues Gee
fidt. Da a e8, Borgefaftes zu uns
terdrüden, Literatur und Theater zu ver»
geffen und das neue Werf unbefangen
auf fic wirken zu laffen. Nur fo wird
man feinen inneren Werten geredt ...
Dann dDidtet der GFilmmann — mit ei-
nem Geitenblid über den Ozean — fei-
nen großen nervenfpannenden Schluß—
effekt: Snquifitionsurteil gegen Don Care
Ios. Liebesabſchied im Rerferverliefs.
Aus den Armen Glifabeths auf den
468
Ridtblod. Das Haupt des Geliebten
fällt zwei Gefunden por der pe
gung. Ale Pulfe ftoden. Das Sdid-
fal auf dem Gilmband läuft weiter: Sli—
fabeth wird vom Gdlage gerührt. In
Reue zerfließt Philipp an ihrer Babre.
Sm SKlofterfrieden fudt er Bergeffen.
Die bittere Krone überläßt er dem pier-
jährigen Zödterlein. — O VBötter, o
Menidengefhid — — !... Das Spas
nien der Snquifition erftebt mit Pomp
und Prunf, mit Reifrdden und Spiben-
fraufen, mit Thronfälen und Palaftge-
mädern, mit Palmengarten und Tazus-
gängen. Belaspuez und Marillo (!) er-
toaden zu neuem Taontineiben eben.
Werndorffs Bauten und Koftüme find
pon troßend deforativer Pradt. Em—
pfindungen ſchweigen fonft in diefer ftei-
fen und falten Orandezza. Aber Eugen
Klöpfers Grimm und Schmerz Iodern
brennend durch den filbernen Harniſch,
Conrad Beidts Fladerauge kündigt Ek—
ftafen, die fein junges Herz flammend
verzehren. Und Glifabeth? Go glut-
äugig und heiß wie Dagnh Servaes blidt
feine teilnamslofe andalufiihde Königin.
Nur Egede Niffen als Eboli, Dieterle
als Pola, Kühne als fdleihender Sefuit,
por allem Klein als Grofinquifiteur,
mit der fteinernen Maske, find mebr als
Koftiimpuppen in der Welt leeren Schau-
gepränges. Hauptdarfteller: Dagny Ser—
paes, Aud Egede Niffen, Gonrad Beidt
. uf.“ „Zu diefem Film bringe id
ein ganz entzüdendes Luftfpiel: Das
Lieben ift fhredliih! Zwei Alte Gie
werden faum ein fo originelles Luft{piel
gefeben baben. Sranen werden Gie la-
hen!“ — Da müffen wir hin, Auguftel
Grft fuden wir zu, wie Don Garloffen
fein Kopp runterfullert und nadber
laden wir Tränen. — Hier, meine Herr-
(haften, feben Gie tiefer ing Innere
der Natur des Bolfes hinein als in ir»
ge einem Bud oder Schaufpiel. Wir
ruden das nidt, damit Sie in Kultur»
trauer verfallen oder in Kulturentrüftung
fprühn, fondern damit Sie — fid aud
mal amüjfieren.
Gr Negertenor fingt deutihe Lieder.
Sn Berlin. Das 8 Whr-Wbendblatt
fbreibt dazu ſchmelzend und ſchmalzend:
„Mit welder Anmut weiß die ſchwarze
Hand die blaue Blume der Romantik zu
reihen. Seien wir aufridtig. Schumanns
‚Sb bab’ im Traum geweinet’ wird aud
pon Deutſchen faum ftimmungspoller ge-
fungen als von diefem Mobren, der weit
mehr als feine Schuldigfeit tat, bevor er
geben konnte... Schon wegen des Borur-
teils, das bier in fpmpatbifdher Gorm
entfräftet wird, foll man Hayes gehört
haben. Der Beifall ftieg bis zur Se
bite an. Denn wenn ſchon ein weiße
Senor Grauenbergen böber —
macht, um wieviel mehr ein fdhmare
ge rt!“ Insgefamt: ,Gine Ginfiblung in
ie Seele des Deutfden Liedes, die ein
fad ftaunen madte“ Wenn ein Neger
fih in die Geele des deutfhen Liedes
einfühlen fann, warum bringt e8 dann
das 8 Ubr- Abendblatt partout nidt fer-
tig, fid in die Geele des deutihen Bol-
kes einzufühlen?
Zwieſprache
Penn diefes Heft an die Lefer gee
langt, wird die von der Fichte⸗Ge—
fellfdaft veranftaltete Tagung für deut-
{he Nationalerziehung in Hamburg ftatt-
finden. Wir hoffen, nad den Anmeldun-
gen, daß es eine frudtbare Tagung wird.
Die Vorträge von Prof. 9. Dr. Otto
Scheel, Prof. Dr. Othmar Spann und
mit jowie die Ausipradhe werden furz-
{Oriftlid aufgenommen und unter dem
Sitl „Bolfstum und Staat“
berdffentlidt. Das Bud, das nod vor
Weihnadten berausfommt, wird fider
nidt über drei Marf foften. Da feine
Hobe Auflage gedrudt wird, ift es am
beften, daß die, die fid für dieſe Dinge
beſonders intereffieren, fogleid beftellen
durch Budhandlung, durdh die Hanje-
atiſche Gerlagsanftalt oder durch die
SichtegefelHaaft).
Sn den beiden vorigen Heften find
mehrere Drudfebler fteben geblieben, pon
“ denen wir die belangreideren bier an—
geben wollen: Seite 343, Zeile 13 v. u.:
entwarf ftatt vorſah. Seite 349, Zeile 4
b. u.: Bod ftatt dod. Geite 361, rechte
Spalte, Zeile 5 bv. o.: hinter Liebe ift
eingujdalten: ift. Seite 362: der Auffat
über Grig Haß ift nidt von Baumgart,
fondern von Braungart in Minden (wie
auf dem Umſchlag richtig ftand). Geite
392, Zeile 10 b. o.: zehnten ftatt neunten.
Seite 417: rechte Spalte, Seile 37 v. o.:
müffen binter wurde Anführungsftride
ftebn, um das Zitat abzugrenzen. Gben=
da Zeile 3 b. uw: hen | e3 Joos ftatt
Sooft beißen.
Unſre Bemerfung gegen den Abge-
ordneten Idos, daß er mid wegen Hei-
dentums in feinen Wahlverfammlungen
angegriffen babe, ftühte fih auf einen
als Seiter gebradten Beridt des Clever
Golfsfreundes. Da id auf Nadfrage
pon Herrn Boos feine Antwort erbielt,
nahm id den Beridt als zutreffend an.
Nunmehr erfahre id) von Herrn Joos,
e3 babe fid nidt um eine „Wahl-
verfammlung“ (wie id aus der Auf»
madung ſchloß), fondern um eine „Ka
tholifenverfammlung“ gehandelt. Der Bee
ridt im Glever Bolfsfreund fei ihm nie
gu Geſicht gefommen. Ih habe jest den
Gindrud, dat Herrn Boos’ Bemerkungen
nidt verlebend gemeint waren. Das ift
mir angenehm, es entfällt mir damit
der Orund zur Schärfe und Ditterfeit.
Daß ih mid nidt gern als undriftlich
binftellen laffe und nidt etwa gar unter
das Stidwort „Ber — der Nation“
geraten möchte, werden die Lefer unfrer
Seitidrift verftehen. Leber die neuefte
Diesbegiiglide Leiftung (von Gumbel)
fiebe porn im „DBeobadter“. —
Wilhelm Leib! würde im Oftober
adtgig Sabre geworden fein (und damit
nod nidt das Alter Hans Thomas er-
reiht haben!) Das zufällige Datum gibt
ung Anlaß, endlid einmal — wir
wollten es ſchon längft — mit Naddrud
auf ibn binzuweifen. Leibls Bilder zogen
‘mid in den Bilderfammlungen ftets be-
fonders ftarf an, und ihre Kraft wadft,
je länger man fic) mit ihnen befdaftigt.
Gin Bild wie das der drei Frauen in
der Kirche iſt nicht auszuſchöpfen. Wenn
wir einen Ausſchnitt daraus bringen,
ſo, um die feine Einzelarbeit deutlicher
zu machen. Uebrigens pflegte Leibl bei
Bidern, die ibm nicht gelungen fdienen,
die unanfedtbar guten Seile herauszu—
fOneiden und aufzubewahren, die andern
aber zu vernidten. Aud er madte alfo
„Ausſchnitte“. Als Beifpiel der faft hol—
beinifhen Bildniskunſt Leibls bringen
wir das Bildnis des Arztes Dr. Rauert.
Wie wundervoll ift e8 aud farbig! Das
belle, zarte Fleiſch, der rötlihe Bart,
der bräunlide Hintergrund, der graue
Anzug. Und wie ift die ganze Art
Diefes Menfhen in Haltung und Blid
gegeben! Beide Bilder hängen in der
Hamburger RKunfthalle. Die biograpbhi-
{hen Angaben, die id für die Charak—
teriftif verwendet babe, ftammen zum
Teil aus einer VBorlefung von Profeſſor
Karl Goll, zum größten Teil aber aus
Dr. Sulius Mayrs „Wilhelm Leibl. Sein
eben und fein Schaffen.“ (Bruno Gajfi-
rer, Berlin). Mayr hat feinen langjäh-
rigen Greund auf das Anziehendfte dar-
geftellt. Schade, daß der Berlag ein fo
— Werk ſo lieblos ausgeſtattet
at. —
Im Maibeft wiejen mir, gelegentlich
der Würdigung Sobann Hinrid Febrs’,
auf die Gebrs-Gilde Hin. Wir mödten
469
nadbolen, daß diefe Gilde nidt nur
Fehrs' Andenken pflegt, fondern „ein
niederdeutfher Kulturverein ift“. „Sie
bat fid für das niederdeutfhe Stammes-
tum Gbnlide Ziele geftellt wie die Fichte»
©efellihaft für das deutihe Volkstum.“
Das Hegelide Wort am Schluß über
den Anwert einer abftraften Gitt-
lichkeit ftammt aus den „aosleiungen
über die Philofophie der Geſchichte“, die
obwohl bon DBrunftäd bei Reclam im
Sabre 1907 gut und ug herausgegeben,
im gebildeten Deutfhland wenig befannt
find. Man rede nidt unbefeben Scho-
penbauers Urteil nah — HegelB Gee
ſchichtsphiloſophie geboet gu fen geift-
pollften Büchern, die ih fenne Dah
vo. einem Werf von folder Höhe nod
eine „materialiftiihe Gefhihtsauffaffung“
möglih war, gehört zu den ratfelbaften
— des Geiſtes. —
das Wenige, was ich vorn zur
politifden Lage {drieb, den Meiften „zu
düfter“ porfommen wird, weiß id. Aber
e3 ift wahr. Leute, Die vor allem wirt-
{daftlid denken, feßen ihre „Hoffnung“
auf das „Wiedererftarfen der deutiden
Wirtfhaft“. Sie wird nur als ameri-
fanifhe Proving erftarfen, und je ftarfer
die Wirtfhaft wird, um fo fetter und
bebaglider wird das Leben und um fo
mehr gebt — der Wille zur Nation
flöten. Wenn es den Deutfden allzu
gut gebt, verlumpen fie allzu leicht:
fiehe die deutfhe Oeſchichte. Andre, die
an eine „Menjhheitsentwidlung“ glau«
ben, feben ihre „Hoffnung“ auf den
Bölferbund. Man febe fid dod die
Bölferbündelei in Genf an: da fuden
die Siegervölfer die unterlegenen Völker
mit ewigen Retten zu binden. {Ind
dabei bofieren und fomplimentieren fie
famtlide heilige Sugendgdttinnen: die
Wabrbeit, die Geredtigfeit, die Frie-
Densliebe, die Menfdenliebe, die Auf-
ridtigteit. ®efund, ftrahlend und ohne
Sham, an jedem Arm eine beilige
Göttin, präfentieren fid die Vertreter
der bom Weltenjammer. fid mäftenden
Giegernationen auf der Bühne am lacus
Lemannus römifh-cäfariihen Angeden-
fens. Der Völkerbund in Genf — man
mag fid über das folgende Wort em-
pören, aber e8 foll Ddaftebn, denn es
ift wahr — ift ein abfdeulides mo-
raliihes Bordell, in dem die Sieger fid
mit den Tugenden amüfieren. Und auf
diefes ſchamvergeſſene ©etriebe foll man
„Hoffnungen“ gründen? Gin fauler
Baum bringt in alle Gwigfeit nur arge
Srüdte.
Die deutfhe Politif oder vielmehr:
der deutſche Verzicht auf Politik ift für
abjehbare Zeit feftgelegt. Wer fann ete
was daran Ändern? Das politifhe
Leben Deutſchlands ift in einen wmeiten,
ftagnierenden Sumpf gemündet, aus dem
fein Abfluß ift. Es bat gar feinen Sinn,
in Diefem trüben Sumpf ein Geplemper
zu maden: tut man’s, fo verfadt man
nur um fo tiefer. Daß dem fo ift, muß
eine SIrfade haben. Gine folde po—
litifhe VBerfumpfung wäre unmiglid
ohne einen von tief ber mirfenden
Örundirrtum. G8 gilt alfo, zunädft den
Irrtum aufzudeden, aus dem alles Uebel
unleres Rage fid berleitet. Es muß ein
adlider Irrtum fein, denn fonft
Bären die Folgen nidt eingetreten. Nur
wenn man den Srrtum erfennt und be»
bebt, fann man den Strom. aus dem
Seblbett wieder in das richtige Bett
leiten. Aus all meinem Nachdenken
ergibt fid) immer gender der Grund—
irrtum ift as Wajoritats.
pringip. Diejes Prinzip ift der große
@rundirrtum der weſteuropäiſchen Rul-
tur, an dem fie gugrunde geben wird,
wenn feine Herrfdaft nidt durd Die
redtzeitige Grfenntnis — wird.
Darüber werden wir Stinftig nod
Wefentlides zu fagen haben. St.
Stimmen der Meifter.
D etwas Leeres, wie „Das Gute um bes Guten willen“, hat überhaupt in der
lebendigen Wirflidfeit niht Plab. Wenn man bandeln
will, muß man nidt
nur „das ©ute“ wollen, fondern man muß wiffen, ob Diefes oder jenes das
@ute ift. Welder Inhalt aber
ift für die gewöhnlichen Galle des
ut oder nidt gut, redt oder unredt fei, dies
ripatlebens in den Gefeben und Sitten eines
Staates gegeben. Das Hat feine große Schwierigkeit, es zu wiffen. Jedes Indie
piduum bat feinen Stand, es weiß, was rechtliche, ebrlide Handlungsweife über-
baupt ift. Wenn man es für die gewöhnlichen Privatverbaltniffe für fo ſchwierig
erklärt, bas Redte und Gute zu wählen, und wenn man für eine vorgitglide Mora-
lität hält, darin viele Schwierigkeit zu finden und Skrupel zu maden, fo ift dies viel
mehr dem üblen oder
böfen Willen gugufdreiben, der Ausflühte gegen feine
Pflidten fudt, die zu fennen eben nicht ſchwer ift, — es pH wenigftens für ein
Müßiggeben * reflektierenden Gemüts zu halten,
das ſich alſo ſonſt in ſich zu tun macht und ſich in der
®eorg Wilhelm Friedrich Hegel
viel zu tun und
moraliſchen aboblactalligtett ergebt.
470
dem ein fleinlider Wille nicht
Neue Bücher
Die Herdflamme. Sammlung ber gefell-
hafts-wiffenihaftlihen Grundwerfe aller Zeiten und
Ol fer. — von Othmar Spann. Ver or
Fifher, Jena. Bd. I: Adam üller, Die Ele
mente der StaatStunft. Herausg. von pees nt
Bwei Halbbande zu 475 u. 608 Seiten. Geb. 10,50 Mt.
— Bd IE: Adam Müller, Berfuhe einer neuen
Theorie des Geldes. Mit erflärenden Anmerfungen
bon Helene Liefer. 332 Seiten. Geb. 3,50 Mt —
Bd. IV: Auguftinus, Der Gottesftaat. Bon
Karl Bolter. 194 ©.
Die Sammlung Herdflamme will die von der
individualifti{den ernten af vernadläffigten
„Srundmwerfe der univerfaliltiihen Meifter zu neuem
Leben erweden“. Während Smith, Ricardo, Malthus,
Comte leiht zugänglih find, mußten jene andern
Plato, Auguftin, Thomas, Adam Müller, Hegel,
taufe) gurudfteben, waren gum Teil geradezu une
augänglid. Die Herbflamme will, fchreibt Spann,
„die Funken des Gemeinjcaftsgedantens von über»
aller jammeln und zu einem heiligen Feuer empor«
ſchlagen lafjen“. — Gunadi wurden zwei Hauptwerfe
von Adam Heinrich Müller, dem oft gerühmten, aber
faum gefannten, neu herausgegeben. Die 36 Bore
lefungen über „die Elemente der Staatäfunft” (1808),
in denen Müller, auf den rig ee Scellings und No»
valis’ fomwie des Englanders Burke die Idee des „or.
aniſchen Staates” ausführt, enthalten: 1: Idee und
egriff des Staates. 2. Ydee des Redıtes. 3. Geiſt der
Gejeggebungen im Altertum und Mittelalter. 4. ee
des Geldes und des Nationalreihtums. 5. Die ofo~
nomifhen Elemente des Staates und der Handel.
6. Verhältnis des Staates zur Religion. Dr. Baza
a außer den Anmerfungen eine kurze a
fillers fowie eine Fülle von Dokumenten zu Müllers
Leben binzufügt. (Anmerkungen, Dokumente uſw.
über 300 Seiten.) Born ein Bild Müllers von Ger-
bard v. Kügelgen. — Sodann hat Dr. Helene Liefer
die „Geldtheorie” (von 1810/11) in ähnliher Weife
herausgegeben. Beide Werle find für den Aufbau
völfifher Gedanken von unfhäsbarem Wert. Wir
werden eingehend auf fie zurüdlommen. Die „Ele-
mente” empfehlen mit aud) den Nidt-Fadhleuten zu
Genuß und Anregung. — Aus dem berühmten
„Bottesftaat” des Auguftinus (413426, alfo bald
nahdem Alarih Rom erobert hatte, gejchrieben), hat
Prof. Dr. Boller die ftaatswiflenfhaftlihen Teile
berausgefchnitten und (mit verbindendem Text) über-
fest, bei den widtiaen Partien hat er unterm Strid
den lateinifhen Text hinzugefügt (eine fehr glitdlide
Methode). Go fann man Pe leihte Weife einen
Ueberblid über das vielberufene große ert bee
fommen. St.
Othmar Spann, Bom BWefen des Bolts.
tums. Was ift deutfh? 7.—15. Tauſend. 24 Seiten.
Johannes Stauda, Augsburg.
Die dburdgefehene neue Auflage des Vortrags,
den wir [don vor längerer ae ausführlih gewuͤr⸗
digt haben. Wir bitten unjere Lefer um fleißige
Verbreitung bes Heftes. t.
Heinz Marr, Bon ber Arbeitsgefinnung
unfeter induftriellen Maffen. Ein Beitrag zur Hp dt
Menſch und Mafdine. (Frankfurter gelehrte Reden
und Abhandlungen. 1.) 17 Seiten. 50 Pfg. Englert u.
Schloſſer, Frankfurt a. M.
Das ift etwas, das unfere Lefer befonders angeht.
Dr. Marr ftellt vergleihend nebeneinander die Are
beitögefinnung der Romanen, Englander und Deut
per. Er gebt alfo vom Menden, und gwar von
em duch fein Bollstum beftimmten Menſchen aus.
Gegen die fentimental-romantifhe Arbeitsauffaffung,
gegen die „Arbeitsphbilofophen a la Levenftein“ ftellt
er die (fait fanatifhe) Gadlidteit als das
eigentlih Deutihe bin, zeigt aud ben pesifiid
preußifhen Einfluß auf das deutide Arbelisethos.
Der deutſche Arbeiter verzichtet qu auf ben „per-
onalen Eigenwert der Arbeit“, das Lantijche Pflicht»
deal, das „der außerdbeutfhen Welt ftets unverftand-
lid, ja unheimlich bleiben wird“, waltet aud in dem
eigentiimliden Arbeitsethos des deutſchen Proleta-
tier’. Dies glangende Werflein, das einen reihen
Inhalt in befter, angenehmiter Form gibt, empfehle
ih all unjern Jungdeuiſchen und QJungnationalen
auf das angelegentlidfte. St.
Charies X Hartmann, Wer trägt bie
Schuld am Welttrieg? Mit bisher unbefannten Doe
tumenten aus den ruffiihen Urdhiven. 27 6. Bere
lag der ,Deutiden Rundſchau“, Berlin.
Die in diefem Heftchen entbaltenen Tatſachen find
burd ihre Beröfientlihung in der „Deutihen Runde
ga guerft befannt geworden und dann raſch durch
ie ganze Brle gegangen. Uber biejes aterial,
wie bie Beitehungsliite der franzofiiben Beitungen
die Berichte Raffaloviths und Ysvolstys ujw. mu
man befigen, denn mer nur, wer den Srieg
gemadt bat, fondern vor allem, wie er gemadt
wurde, ift aus den Imappen fonfreten Urkunden er-
fihtlid. „Man lernt täglid von neuem die Bere
adtung diejes Gefindels“ ſchreibt jelbit der ruffiiche
„Auftaufer” der franzöfiihen offentliden Meinung.
Da das Heft, das die Bedrohung der Nationen durch
eine wiriſchaftlich beeinflugbare Preſſe zeigt, von
vielen Zeitungen —— — werden wirb, jet
bier nahdrüdiih darauf hingewieſen. A. €. G.
Die deutſche if FES ALF Bielif-
Biala. (Heft 1 der Schriftenreihe der beutfchen
Gemeinfdhaft Bielig „Deutihe Gaue in Polen“, here
ausgegeben von Biltor Kauder.) 96 Seiten, mit
Bildertafeln und einem SKärthen. Verlag: Das
junge Wolf, Plauen i. Bogtl.
Für den Binnendeutfhen ift die Meine Schrift
eine ausgezeichnete Einführung in dad ins flawifde
Meer hineingebettete Oſtdeutſchtum. Wir lernen feine
eiſtig⸗ſeeliſche Lage an einer beftimmten Stelle
ennen, wo ji die Verhältniffe bejonders günftig gee
ftaltet haben. Und doch weld ein ſchweres, unermüd«-
liches, ftilles und nur felten waffentlirrendes Ringen
burd die Jahrhunderte hin! So geht e8 — wie weit
nah Often binein! — feit weit mehr als einem
balben Gabrtaujend. Das Heft enthält Beiträge von
berfdiedenen Berfaffern. Es berichtet von den heute
nod) lebendigen Sorgen, von dem Brauchtum, ber
Geſchichte, der heutigen Lage jener völfiihen Inſel-
menfhen. Wir lernen den Volksſplitter als ein
Ganzes, al8 einen fih immer wieder berjüngenden
Helden len Bir fehen Ihre heutige Aufgabe
von den berufenen Trägern erfaßt. Wir fpüren es:
fie find Altiviften in unferem Sinne, find Jugend⸗
bewegte, deren Denen, Fühlen und Wollen dem
unferigen im beutfhen Mutterlande ganz entſpricht.
Sie find feine „Schriftfteller“, fondern wirkliche,
lebendige Brüden, wie fie das fünftige er
in feinen Rindern außer Landes braudt. J. W. M.
Hans Friedrid Blund, Stelling Rote
finnfohn. Die Gejhichte eines Verkünders und feines
Volle, Mit 7 Holzfhnitten von ns are. 303
Seiten. Geb. 7, geb. 9 Mt. Geor, filler, Münden.
Der „Stelling“ gibt dem „Bernd Fod“, jener
„Mär vom gottabtrünnigen Sdhiffer”, nicht® nad
es ift ein Werf, das lange bleiben wird, Blund
greift bier zurüd in die legten Jahre Karla des
Großen, in die Beit Ludwigs des Frommen und
feiner ftreitenden Söhne. (810—850.) Ort: die Gee
gend von Itzehoe, Segeberg, — dazu Wilin-
ger- und Raufmannsfabrten über die ganze Nordſee.
Das täglihe germanifhe Bauern-, SKriegere und
Handelsleben in Feld und Wald und zur See erhält
ine Farben aus den alten Sagas. Die Franken
aben die Sahfen wnterworfen, thre Grafen fuden
die alten Götter auszurotten. n den Wäldern,
todumlauert, lebt nod der alte Kult, mit ihm ber
Greibeitswille, die Bereitfhaft zum Aufftand. Gere
manifhe Meffiashoffnungen vom „weißen König“,
bom miederfehrenden Balder geben um. In bieje
Rett binein wird dem Abbo Rotfinn, dem geadteten
reibeitsfampfer, fein letzter Sohn Stelling von
471
&
einem Waldmädchen geboren; er hat von der Mutter
die Gabe des Traumgejidhts. Die Erzählung get
nun das Sdidjal Stelling’ und in und mit ihm bas
der fähfifhen „Norbleute”. Die erften vier Kapitel
erzählen bie Kindheit und Jugend Stellings, bie
jweiten vier Kapitel führen über bas Liebeserlebnis
bis gum Wilingeriode des Vaters und dem Wunder
der Rettung Steliings. Ym dritten Viertel ber Gee
gi te beginnt die Mejjtashoffnung ded Bolles ja
telling gugudrangen. Er geht in bie Ginfamfeit
des Waldes, bis es ihn endlih zur Verkündigung
feiner Myſtik — wir denfen an Edebart — hinaus
gum Wolfe treibt. Das legte Biertel bringt den
Kampf. Stellings inneren Kampf mit Thioda, den
Kampf gegen die Wunderjucht des Volks, den neuen
Kampf der Nordleute gegen die Franfen. CEndlid
der ee: Ein großes Fragezeihen am
Schluß: die Erdfremde des „weißen Knechts“ (Stel-
lings), der „wohl ein Herzog hätte fein follen und
ein Wunderiraumer war“. Das Bud, das uraltes
Leben erneuert, ift bid gum Berften mit der feelifchen
Atmofphäre unferer Beit geladen. Es ift geradezu
das Bud der beiten heutigen A ok Szenen, die
fic) unvergehlih einprägen: das Rind Stelling und
der Wijent im Urwald, Gtelling Verfolgung der
Idrut über das Eis, Stellings und Thiodas Flucht
vor den Wolfen ufm. Das Buc trifft überraſchend
mitten in die innerften QYntereffen ber Lefer des
Deutfhen Bollstums hinein! t.
Sreifentalender 1925. Herausg. Bilt
Geißler. Greifenverlag, Rubolftadt.
n bdiefem Jahrgang des aus ber Yugendbetwe-
ung entftandenen Wbreiffalenders foll „alles inner-
Paik der zeitgenöfjijhen Kunft Bedeutungsvolle
Niederfhlag finden“. Das ift eine unmöglihe Auf-
abe, darum ift fie felbjtverftandlid auch nicht er-
fin, Das innerlid Ergwungene gibt dem Ganzen
die Signatur: die Signatur der Beit! Das innerfte
Wefen bdiefer Zeit offenbart Hallerftedes „Der Er»
bangte (fünftleriih gut!) Gutes von Hans Groß,
Gelbe, Tilgner, Wendling, Pape (aber nichts Beſſeres
als fonft), Giginger u. a. Schmidt-Rotluff — nein,
Dak man Ganfens „Anklage“ und Hoerles „Zeit-
glofje” eine Woche lang vor der Naſe hängen haben
fol... ?! babe Janſens Sprud „Quatſcht
nicht, helft” befolgt und mir geholfen, indem ic) fein
Blatt berausrif. Für die von Windler gewählten
Gedichte gilt Aehnliches. Gutes von Kolbenheyer
(bas bejte im ganzen Kalender fein „Ueber Nadt“),
von Rötiger, Heffe, Lerſch (aber nur das eine: „Grell
tnallen...“), vielleiht aud Kneipe Chriftophorus.
Die andern bebe ih mir nicht auf.
fie alle: Mombert, Liffauer, Toller, Heynide, Ed—
mid — was tas Lerg begehrt. Wie fonnte man
ie fchreiend unedhte Lins-Jmitation des (fenti-
mentalen) Toller wählen. Weber Armin FT. Wegners
„Welt, du fanujt much nicht vermunden!“ mußte id
unwillkürlich laden, und ih babe diefelbe Wirkung
prompt bei jeder Borlefung erprobt. Das war aber
dod wohl nicht der Bwed des Yung-Sciller-PBathos.
„Meine Seele hat in Blut gebadet, aus der Welle
fteigt fie unbefdadet.” (Weil „unbeſchädigt“ fi) nicht
reimt, muß man ſchnell „ſprachſchöpferiſch“ werden —
unbefdabet feines Didterrubms.) Am begeidnendften
für unjere Zeit ift das Cindrud-maden-wollen mit
„ſprachſchöpfetiſchen“ Geiſtesblitzen. Was einem
Goethe in zehn Gedichten einmal gelang, macht der
heutige in jedem Gedicht dreimal. eynide: „Des
Lebens rundraufdende pon birft bic) mit Leben
voll.” (Pfui dom!) Liffauer: „Aus allen Gärten
ftürzen Vogelſchälle.“ (oot Gewolt und nicht
gefonnt! Das Schwerfte ift dod der Verzicht auf
Unerreichbares. St.
Deutjhes Land. 1925. 2 ML. Hermann
Cidblatt, Leipzig
Der Abreiflalender hat den Vorteil, zu einem be-
ftimmten Zweck dazufein: er will bas Gedadtnis an
Bertreten find
entriffenes und bejegtes deutſches Land ‚feitbalten _
fein abftrafter Bwed wie „die Kunft“! Es find
hübſche, meift {dlidte Landſchafts- und Architektur
bilder, darunter einige rect feine. Baterländiſche
Gedihte und Spriihe von verfdiedenem Wert
eingeftreut. Go wird auf fultiviercte Weiſe ein Bee
dürfnis befriedigt
Gefundbrunnen. 1925. 160 Seiten. Geb.
0,70, geb. 1,20 Mt. Georg D. W. Callwey, Münden.
Dak der Diirerbundfalender aud nad Avenarius’
Tode feinen alten Charafter treu bewahrt, ift erfreu-
lid) in einer Zeit, wo ae die Fliegenden Blatter
ihre tiidtige alte Art aufgeben „mußten“. Der Band
bringt Avenarius’ Bild von Gamberger und einen
ausgezeichneten Wuffag von Dr. Ullmann über ibn.
Dazu eine Anzahl Gedichte und allerlei avenarianijde
Weisheit durd den ganzen Kalender hin. Der zweite
De der in dieſem Jahrgang herrſcht, ift
ean Paul. Ym übrigen find all die Gebiete be-
rüdfihtigt, die man im „Gejundbrunnen“ fudt. St.
ua Leander Gampp, Gottfried.
Keller-Büchlein. Ollmanh u. Hinge, Berlin-
Qriedenas,
Dem Morife-, Storms und Cidhendorffbidlein
folgt mun ais viertes dieſe Seller-Musmabl, ge-
ſchrieben, y„ezeichnet, umfonnen und durdjponnen
bon Gampps feiner RKunjt. Der Künftler bat bier
ein Gebiet merfbar erweitert. Das „Zrintt, o
ugen...” und die Rize unterm Gis, fo völlig fie
aud Gampp find, haben neue Töne. Das Büdlein
bat ein ge Format als die andern, mwas ber
Wiedergabe der Gamppſchen Zeichnungen fehr zugute
fommt. Der Einband ijt entzüdend. Etwas für die
Herzens- und RMleinodien-Ede des Bücherſchrankes,
ein foftlihes Gejdentlein für Brautleute, deutſche
Familien, Gefreundete aller Art. St.
Paul Lutdec, Jugend heraus! 289 Seiten.
Wilhelm Meifter Verlag G. m. b Berlin.
Wer in der Sammlung „Ih will in die Sonne
m Kraft und Troft eines Starken gefunden bat,
er wird aud nad diefem neuen Bud Baul Zutbers
greifen. Mit feurigen Heroldsrufen wendet er fid
an die reife deutſche Jugend. Vorbei ift die Warte-
zeit, die Zeit des Traumens und Bur-Seite-ftebens.
Sie foll es fein, die als erfte wieder dienen lernt und
ihmeigende Taten tun. Darum Jugend beraus aus
Weltſchmerz und Welttändeiei, heraus zum Dienft
am Bolfe! „Die Menfdbeit ift etwas Bequemes,
aber da8 BolfStunn fordert, dag ih mich verzehre
in feinem Dienft.” Dienft aber ſchließt ein die Ehr-
furdt bor dm, bem man dienen will. „Wer über
das Alltägliche fic) emporredt, wer felber dem Großen
und Echten guftrebt, oer beugt fic vor allem Großen,
das einft deutjhem Leben den Gluthaud der Kraft
gegeben bat.” Nur wer auf der Väter Werken baut,
wird aud im tiefften Sinne Zufunft bauen fönnen.
Darum murzele die Jugend im Mutterboden natio«
naler Geſchichte! reife Treue gegen die Bere
angenbeit aber bedeutet nichts als Werantmortun
lic die Gegenwart. Allein die Gewißbeit, daß au
unfere Beit Gottes ift, der immer im Sturm fort»
fhreitet, fcentt uns den unerjdütterlihen Glauben
an den künftigen Tag des Deutjhen. Wenn unter
Führung der Jugend unfer Volk den Weg zu feiner
angeborenen Art mwiederfindet, dann bridt der Tag
an. Denn „aus der Kraft ber Jungen wird bie
große Nauterung deutfhen Lebens fommen. Lakt uns
in thre leuchtenden Augen ſchauen, damit Ofterlidt
über unfere Seelen fpielt”. Das find die Hauptgedan-
fen des Buches, umrantt von Liedern aus der Gegen-
watt und Gtimmen der Meifter Goethe, Arndt,
ichte, Jahn, Raabe. Bismard u. d. a. Als Shmud
ift dem Buche außer bem fymbolifhen Titelblatt
eine Reihe vin Wiedergaben nah Originalradieruns
gen bon Gerba Luther beigegeben. öchte es für
viele unſerer Jungen ein Anſtoß zur u ar
is laer.
Gebrudt in ber Hanfeatifchen Verlagsanftalt Attiengefellihaft, Hamburg 36, Holftenwall 2.
472
Aus dem Deutiden Vollstum Wilhelm Leibl, Bildnis
ulvꝙſquvjaauigð "1411 312411 wunsnog. uapijnag wag eng
Deutiches Bolfstum
11. Heft Cine Monatsjchrift 1924
. Yacob Böhme und das Wort.
oD LS fons wir heute bon den Grfenntniffen und der Lehre Jacob Böhmes wiffen,
wifjen wir aus feinem Wort. Die Klarheit feiner Lehre und das Gee
heimnisvolle feiner Grfenntniffe tritt in immer neuen erftaunliden Bildern
uns entgegen. Das Wunderbare feiner Sprade läßt Böhme für viele ein
Dichter fein, hinter dem fich der Denker verbirgt, und es ift eine zünftige Gee
mwohnbeit, den Dichter, der Grfenntniffe übermittelt, nicht ernft als Dichter und
nicht ernſt alg Denker zu nehmen. Go können nur Menſchen urteilen, denen
der Denfoorgang die höchſte Stufe menfdlider Grfenntnisart ift. Aber fdon
Dichten ift mehr als Denfen. Denn die Dichtung fammelt und ordnet die
®edanfen zu einem rhythmiſchen Lautgebilde. Und jede Dichtung ift ein
Spiegel der ganzen Welt im Kleinen, während der Gedanfe nur einen Aus-
{Hnitt der Welt umfaßt. Der große Myſtiker Böhme fonnte nicht anders als
Didten. Denn es ift mbftijhe Grunderfenntnis, daß das fchöpferifche
Werf des Mtenfden eine Entjprechung der großen Weltſchöpfung fein foll,
daß jedes menfdlide Werk, wenn es fchöpferifch ijt, eine Heine Welt, ein Whe
bild der großen Welt fein muß. Bet folder Grfaffung und Darftellung der
Greenntnijfe ijt der Denfovorgang nur eines der verjchiedenen GErfenntnismittel
des Menfden, ein hohes, aber bei weitem nicht das höchſte. Aud der all»
taglide Menſch weiß, was Gingebung bedeutet, und daß die Gingebung une ©
mittelbarer Grfenntnijfe vermittelt alg das Denken, und daß, wo Gingebung
und Denken einander widerfpreden, die Gingebung mit größerer Sicherheit
arbeitet. Wir wiſſen, daß Diefe intuitive Kraft die wahrhaft fhöpferiiche ift.
Der Intelleft arbeitet analptijdh, die Intuition ſynthetiſch. Sp unterfcheiden
fih der Gorfdher und der Philofoph. Böhme wurde bon feinen Zeitgenojjen
der „deutſche Philoſoph“ genannt, und es fcheint, als ob faum ein Deutjcher
diefen Namen mit mehr Recht getragen habe als Böhme.
Die Legende erzählt von ihm, der als Schufter in Görlit lebte, daß er
feine anderen Bücher befeffen habe als die Bibel und ein Werk des Theo—
pdraftus Paragelfus. Hierin ift ausgedrüdt, wie er Die Bibel fah: als ein
Dofument der Mpftil, und wie er das Leben fah: als das lebendig gewor-
dene Wort diejes Buches. Denn das Leben des Parazelfus, defjen über-
tegende Bedeutung erft heute wieder Har zu werden beginnt, ift Der unbeirrte
Kampf eines ritterliden Charakters um die eigene Gerwirllidung des Evan—
geliums. Spielt fich bei Parazelfus diefer Kampf auch im äußeren Leben auf
das beftigjte ab, fo vollzieht fid Böhmes Drama der Menfchwerdung in der
‚Stille. Bon dem inneren Streit in Diefer äußeren Stille erzählen feine Werke
mandes Mal. Wendet fidh die Gewalt der Rampfworte bei Paragelfus meift
gegen feine Gegner in Wiffenfdaft und Kirche, jo fämpfen Böhmes Worte
meift gegen feine eigene Unzulänglichkeit. Gin ftetes Ringen mit fich felbft
und ein unabläfjiges Bemühen um die Darftellung feiner Erkenntniſſe fteigert
die DBildhaftigkeit und Klarheit feiner Werfe von der Aurora bis zu den
473
furzen Schriften der letzten Sabre. Gs bat die Zeitgenoffen am meiften
erftaunt, daß diefer Mann weder Latein noch Griedijdh fonnte und dod
Bücher fdrieb, an denen fi Gelehrjamfeit und Theologie die Köpfe ein-
ftießen. Uns ift es eine tiefe Sreude, Daß er die deutjche Sprache zum Werkzeug
einer wahren Bhilofophie fduf. Wer heute feine Schriften lieft und fie nicht
verjteht, der gebe nicht der Sprache oder fogenannten Abfonderlichkeiten in
den Anfhauungen Böhmes die Schuld, fondern fuche, bis ibm ein Wort
Böhmes den Schlüffel eingibt. Denn ein Schlüffel gehört zu jeder müftifchen
Schrift. Wer aber den Sclüffel nicht nur Hat, fondern aud) zu bereiten
weiß wie Böhme, der verfteht auch alle fremden Gpraden, wenn er fie hört.
So erzählt die Legende von Böhme, daß er jede fremde Sprache, wenn fie
gu ihm gefproden wurde, verftand. Böhme gibt uns den Schlüffel zu feinen
Schriften, und damit den Schlüfjfel des Wortes überhaupt.
Böhme lehrt uns die Naturfpradde. Wer fie beherrfcht, begreift durch fie
die Natur, das Fleifeh gewordene Wort, und ergreift durch fie das Wort,
Gott. Böhme fagt: „Sp du diefelbe Sprade verftehen willft, fo merfe im
Sinne, wie fid ein jedes Wort bon Herzen im Munde faffet, was der Mund
und Die Zunge damit tut, ehe es der Geift wegjtößet: wenn du dies bee
greifeft, fo verftebeft du alles in feinem Namen, warum ein jedes Ding alfo
beißet (aber den Begriff der drei Prinzipien mußt du haben zur Naturfprade),
Denn ihrer find drei, Die das Wort bilden, als Seele, Geift und Leib.“ (Dreif.
2. 5.85.) * Wir follen alfo die Gntftehung des einzelnen Wortes recht „im Sinne
merfen“, d. 5. den organifchen Vorgang der Wortbilbung bewußt erleben.
Gs ift allerdings eine und die fchwerfte Borausfegung an dieſes „im Sinne
merfen“ gebunden. Wir follen einen Begriff bon den drei Prinzipien haben,
und das Bewuftfein muß die Dreibeit, die das Wort bildet, Seele, Geift
und Leib, umfaffen. Die drei Prinzipien find: die Lichtwelt, die finjtere Welt
und gwifden beiden die Welt der offenbarten Erſcheinung. Die Wort—
bilbner Geift, Seele, Leib entſprechen diefen drei Prinzipien. Der Geift ent»
{pridt der Lichtwelt, die Seele der offenbarten Sricheinung, der Leib der fine
fteren Welt. Die Wortbildung geht nun fo vor fid, daß der Geift durch das
Mittel der Seele in der Finjternis der Körperwelt das Wort gebiert. Wie
{wer dieſe Geburt des Wortes ijt, die fid in jedem Wort des Alltags voll»
ziehen foll, drüdt Böhme folgendermaßen aus: „Es wird in aller Bölfer
Sprachen alfo erfannt, ein jedes in der feinen. Und eben an dem Orte liegt
der jhwere Fall Adams, daß wir verloren haben, was wir in der Unfchuld
batten, aber in der Wiedergeburt Sefu Ehrifti nach dem neuen inwendigen
Menjchen wiedererlangt haben.“ (Dreif. 2. 5.86.) Die Naturfprache beherrſcht
nur der Menfd, der nad dem neuen inwendigen Menſchen wiedergeboren ift.
Der Fall des Menfden bat den Menfden die Sprachverwirrung gebradt.
Und wir verftehen die eigene Mutterfprache untereinander nicht. Der Bank
der Meinungen fommt aus diefem Aneinandervorbeireden und Mißperftehen.
Und das alles Hat feinen Grund in der Mifbilbung der Worte: „Denn ein
jeder Buchftabe ift ein ©eift“, jagt Böhme. Die Verwirrung der Öeijter bringt
die Berwirrung der Worte, und die Berwirrung der Worte erzeugt wieder den
zerftörenden Geift. Se mehr wir uns felbft bon dem zerftörenden Geiſt abwen-
den, je mehr wir im inwendigen Menſchen uns der Wiedergeburt näbern,
defto verantwortungspoller bilden wir das Wort. Und wenn wir unfer eigenes
* Sacob Böhme, Bom dreifahen Leben des Menfhen, neu herausgegeben
von Lothar G@reher in Wilhelm Stapels Sammlung „Aus alten
Bücderfhränten“, Hanfeatifhe VBerlagsanftalt Hamburg 1924.
474
Weſen Geift — Seele — Leib geordnet haben, finden wir das Wort, das
Ihöpferifch ift, das der Grfenntnis die rechte Sprachgeftalt gibt. Diefes Bere
hältnis und Diefe Kraft ftellt fic oft intuitiv beim Dichter ein. Aber Die
meiften Dichter verlieren ihre Kraft und die Ordnung ihres Wefens wieder,
weil fie die Gabe, mit der fie begabt wurden, nicht zu halten vermögen. Dann
verwandelt ji der Gott in den Damon und zeritört das Schöpferijche im
Menfdhen. Aber auc in jedem anderen Menſchen fann diefe Kraft erwaden.
Gs geht dann, wie man fagt, bon feinen Worten ein Zauber aus. So ift
jeder Menſch oor die Verantwortung der Wortbildung gejtellt. Im Wort
gibt das Wefen des Menfchen fich felbjt Antwort, damit er erfenne, was er
ift. So tft jeder, der ein Wort ausjpricht, Schöpfers eines Gebilbdes, einer Tate
fade, eines geiftigen Komplexes, einer unmittelbaren Wirkung, eines Werfes.
Böhme jagt: „Der Geift gibt jedem Dinge Namen, wie es in der Geburt
in fic felbft ftehet, und wie es fich im Anfang bat geformt in der Schöpfung;
alfo formet’s auch unfer Mund: wie es ijt aus dem ewigen Wefen erboren
worden und zum Wefen fommen; alfo gebet auch das menjhlihe Wort aus
dem Gentro des Geiftes in Gorm, Qual und Geftalt hervor, und ift nichts
anders, alg machte der Geift ein fold) Wefen wie die Schöpfung ijt, wenn
er die Geftalten der Schöpfung ausjpricht. Denn er formte das Wort des Na-
mens eines Dinges im Munde, wie das Ding in der Schöpfung ijt worden:
und daran erfennen wir, daß wir Gottes Kinder und aus Gott geboren find.“
(Dreif. 2, 6. 3. 4.) Je mehr wir wiedergeboren find, um fo mehr nähern wir
uns der Schöpferfraft. Se weniger wir wiedergeboren find, um jo mehr nähern
wir uns dem Deus inverjus, dem Zerſtörer. Was Schöpfer fein bedeutet,
fonnen wir aus der rechten Lautbilbung des Wortes erkennen. Böhme jagt:
„So fagt die Vernunft: Was ijt Gottes Schaffen gewefen? Das Wort ſchuf
hat's in feinem eigenen DBerftande nach der Naturfprade ... Merfe, ob es
wahr fei, was id dir bon der Naturfpradhe fage; verjuche es und denfe ibm
nad, nicht allein mit diefem Worte ſchuf, fondern mit allen Worten und
Namen aller Bölter Sprachen, ein jedes in feinem Berftande.... Wenn du
fageft ſchuf, fo fafjet fic der Geift im Munde, und macet die Zähne zu—
fammen, und ziſchet durd die Zähne als ein angezündetes Feuer, dag da
brennet, und madet aber die Lippen auf, hält fie offen, alsdann gebet der
Drud vom Herzen, da ſchmiegen fid die oberen Zähne in die unteren Lippen,
und die Zunge verfreucht fid, und fdmieget fic in unfern ®aumen, und der
Seift ftößet die Silbe [Huf durdh die Zähne aus: und das Wort des Unter
Ihiedes, welches die Silbe [uf von fich ftößet, bleibet in feinem Sig im
Herzen... Wenn wir fpreden: im Anfang ſchuf Gott Himmel und Erde, fo
nennen wir alles das, woraus Himmel und Erde ijt gefchaffen worden, und
nennen aud) die @eftalt und Gorm, wie fie ift gefdaffen worden, und das
verftehet alleine der Ginn im Lichte ©ottes... Wenn der dreifache Geiſt
des Menfchen fpridt [huf, fo merfet der Sinn auf die Form und Geburt
des Wortes... Wie der Mtund das Wort fj duf formet, alfo ijt die Schöp-
fung aud) geformet worden: denn die Lippen tun fid auf, und der Obera
gaumen mit ben Zähnen faffet fid mit der untern Lippe und zijchet der
Geift durch die Zähne; das ift alfo: wie fic die Lippen als der äußere Um—
fang auftun, alfo bat fic aufgetan die Matriz der Gebärerin verjtehe in der
Entzündung: das Ziſchen ift das Feuer und aus dem Feuer die Luft als ein
©eift der Matriz, welder jest ermedet und gubor im Gentro nicht erfannt
ward, fondern allein in der Weisheit bor der Dreigabl.“ (Dreif. 2. 5.)
Das ganze Lebensproblem Böhmes beruht in der Grgreifung und Bee
475
herrſchung des Wortes. Das Wort ift gugleidh Mittel und Ziel eines Lebens
in der Liebeordnung. Der tönende Menſch ift der harmoniſche Menſch, deffen
Milrofosmos abgeftimmt ift nad der Harmonie des Mafrofosmos. Wort, Ton
ift das Symbol jener großen Wefenheit der Natur, die Böhme unter feinen
fieben Quellgeiftern der Natur als „Schall“ bezeichnet. Gs ift der Merkur
der Aldemiften, das Quedjilber, die hemifhe Form der Glemente, die am
nächften dem Gold fteht. Darum lehrte das ,finftere* Mittelalter aud die
Sransmutation des Quedfilbers in Gold, eine Erkenntnis, die für die jüngfte
®egenwart foeben wieder einmal durch die Grfolge Mtiethes bejtätigt worden
ift. Den Wldemiften aber bedeutete Quedfilber, Merkur, Schall, der fie-
bente Quellgeift Gottes und der Natur mehr als das chemifche Glement. Gs
war das Symbol des gereinigten Wortes, des Liebewortes, das feine Gre
füllung im Gold, in der Sonne, in ber Liebestat findet. Hier ruht der Stein
der Weijen. Das Zauberwort, das ihn fchafft, tft das Liebewort, der tdnende
Wenſch im Gleidflang mit Der Harmonie der Schöpfung. Diefer Menfch redet
mit „feurigen“, d. 5. gereinigten, Haren und verflärenden Zungen. Diefes
Wort ift der Heilige Geift der chriftlichen Lehre, der gebeiligte und Heiligende
©eift, der fic im Menjchen verwirklicht.
Sede Religion gibt dem Menfden ein Mittel, fid abguftimmen, um in
Sarmonie zu fein mit den Geiftern Gottes und der Natur. Dieſes Mittel ift
wieder das Wort, und gwar in einer befonders gearteten Wortperbindung,
dem Gebet. Die großen Religionsftifter haben ftets ein bejonderes Gebet
angeordnet, das für die jeweilige Gntwidlung der Menfchheit am geeignetiten
war, das Inftrument Menſch abguftimmen nad der Harmonie der Welt.
Das Gebet, das Shriftus gab, ift das Gaterunfer. Böhme widmet den Worten
des Daterunfers in feiner Schrift bom dreifachen Leben des Menjchen ein
umfangreidhes Kapitel. Durch diefe Auslegung frönt er feine ganze Schrift.
Denn das Baterunfer handelt bom dreifadhen Leben des Menfchen und ver—
kündet Die Harmonie des Menſchen und der Welt. Wm Wortfinn erfennen wir
das nicht ohne wmeiteres, jondern erft, wenn wir die Worte nidt nur mit
dem Berftand, fondern allen äußeren und inneren Sinnen aufzunehmen fuden.
Nach der myſtiſchen Lehre ift jeder Budftabe ein Geift und das Wort eine
ungeheure geiftige Kraft. Das Wort felbjt ift ftets eine Vermittlung zwi—
fen dem gröberen und feineren Stoff, der fogenannten Materie und dem
fogenannten Geift. Die rechte Budftabenbderbindung wedt geiftige Kraft und
verbindet uns mit geiftigen Kräften. Go wendet fid der Menſch im DBater-
unjer an die geiftige Welt, die Kräfte des Mikrokosmos ſuchen die unmittel=
bare Gerbindung mit den Kräften des Makrokosmos. Grft, wenn wir fol»
es wiffen, verftehen wir die Gigenart, in der Böhme das Baterunfer ere
flart. Gr erklärt das -Baterunjer nad Silben. Gr fagt uns nicht, was das Wort
DBater bedeutet, fondern was die Silbe Ba und die Gilbe ter bedeuten. Es
ift eine bewußte Aufdedung der Buchftabenfrafte. Gines Buches für fid
würde es bedürfen, die Harmonie folder Kompojfition intelleftuell gu erklären.
Gs fei hier nur angedeutet, in welchen Richtungen fich die Kräftenerbindungen
der Budftabenfompofition der einzelnen Bitten bewegen. Die Anrede ftellt
die Berbindung der geiftigen Welt und der Körperwelt Her. Nach der myſti—
fen Lehre Böhmes ift die geiftige Welt eine dreifache und die Körperwelt
eine dreifache. Für die Dreiheit der geiftigen Welt gebraudt Böhme die
Worte: Wejen, Schall, Liebe. In der chriftlihen Lehre, die Böhme in einer
bon den Dogmen der katholiſchen und proteftantifchen Befenntniffe freien Gorm
lehrt, entſpricht Weſen dem Bater, Schall dem Heiligen Geift, Liebe Dem Sohn.
476
Die dreifahe Körperwelt nennt Böhme Härte, Betwegnis, Angft und unter-
fbeidet Hiermit die Drei verjchiedenen SHauptzuftände der Körperlichkeit.
Die Härte finnen wir uns bergleichsweife als die Memifhe Welt,
die DBewegnis als die vegetabile Welt, die Angft als die ani-
maliſche Welt vorftellen. Der Menfdh umfchließt Körperwelt und Geiftes-
welt, er ift die Offenbarung der ®eiftwelt in der Körperwelt, die Sicht—
barmadung der Dreieinigfeit in der Dreiheit der Materie. Da die Ma—
terie als eine Spiegelung des ®eiftes, als der Schein des Seins betradtet
wird, entfprechen fid der Bater und die chemiſche Welt als der obere und der
untere ®rund der Welt, die vegetabile Welt und der Heilige Geift als das
Prinzip des Lebens, des Ausſprechens der Schöpfung, und es entfpreden
{ih die animalifde Welt und der Sohn als das Reich des Geborenfeins zum
Erlöferwerf. Durch die Bitten des Baterunfers bittet die menſchliche Seele
bej dem dreifachen Geift für den dreifadhen Körper. Und es wird ftets die
geiftige Kraft der Welt des Seins gebeten um Hilfe für die entfprechende Kraft
der Welt des Scheins. In der fiebenten Bitte bittet der Menfchengeift zum
Schluß für fich felbft. Diefen Menfchengeift, der als der vierte unter den Quell»
geiftern der Natur erfcheint, nennt Böhme Feuer, Blit. Gs ift der leuchtende
Dliß, der ©eift und Materie bindet, entzündet und erleuchtet. Das Reid) diejes
Geiftes, das eigentlide Menfchenreich, Eönnen wir mit der intellektuellen Welt
bezeichnen. Wenn nun der Menfch fich an feinen Intelleft wendet mit der Bitte
„Srlöfe ung vom Uebel“, fo bedeutet das: die Losldfung des Blites der Gre
fenntnis vom Angftfeuer der animalifh-menfhliden Natur und die Berbin-
dung des Blikes der Erfenntnis mit der intuitipen Welt des Liebefeuers des
Sohnes. Die intuitid-menfhlide Natur ift Kern und Mittelpunkt diejes Gee
betes. Hierdurch ift dem Menfden felbft die Macht und die Verantwortung
gegeben, ſich die Gnade der erfüllten Bitten zu erringen. Der Menfd muß
fi felbft bom Uebel erlöfen, aus den Geffeln der animalifchen Welt befreien,
um fie gu beberrfchen, er muß fic felbft den Kräften der intuitipen Welt ein»
ordnen, fie erfennen und ihnen geborden lernen, wenn er die Grfiillung der
Bitten des Gebetes erreichen will.
Die Grmahnung zu diefem Gebet wiederholt Böhme mit immer neuen
Worten. Und fein Wort ift immer mit Buberfidt und Troft erfüllt, wenn er
aud) nod fo ftreng ſpricht. Gr fpridt zu jedem Menfchen, daß er in fid
Gott fude.
Zum Gedächtnis an folde Mahnungen und folde Tröftung diene nod
ein Wort Böhmes, das er zu jedem Menfden gefagt haben will: „Siebe, du
liebe Seele, merfe es dod, es ift die teure Wahrheit: wenn du alſo in did
geheſt und fucheft deine Greuel und fieheft an der Teufel und der Welt
Sraber, bie du lange Beit gefreffen haft und erinnerft did) Gottes und feiner
Barmbergigfeit, fo fehre ja nicht wieder um in Säuftall, und fprich ja nicht:
ih ſchäme mich meines alten lieben Vaters, ich darf ihm nicht unter Augen
treten bor großem Spott und ©reuel, denn ich war ein herrlicher Sohn und bin
jegt ein nadender Säuhirte; fondern denke, daß fich bein Vater ebenfo wohl
um dich befümmert als du um feine Gunft und Liebe, die du mutwillig ver-
f&herzet haft. Gaffe dir nun einen freundliden demütigen und untertänigen ge=
borfamen Willen, und fomm, gehe bon den Säuen aus, laß die Traber der
Welt ftehen, laß fie Die Säu freffen und fich felber weiden; gehe du in dich
und flopfe an, an bein böſes Herge, brid) durch Türen und Toren ein, und
wenngleid alle Säue und Seufel um ihren Hirten Heulten, fo fomm du gum
ater mit folden Gebärden und Worten, die du nicht darfft ſchmücken, wie
477
fie fein follen, und ob du nicht gleich mehr als des armen Zöllners Worte
hätteft, es lieget nichts an dem. Nur ernfter Beftand ohne Nachlaß, und folle
die Hölle gerfpringen, oder Leib und Seele vergeben, fo ftebe ftille und gehe
nicht wieder aus der Tür des Gaters; fobald du wirft die Tür aufmachen in
deiner Seelen, und wirft aus dem Kot gegen den alten Bater gehen, daß er
dich nur erkenne, daß du fein Sohn bift, daß du zu ihm eingewandt bijt, fo
faget er: Das ift mein verlorener Sohn, um den fid mein Herz befümmert,
und ift in die Menjchheit eingegangen in dieſe Welt und hat ihn gefuchet, jest
babe ich ihn wiedergefunden.“ (Dreif. 2. 16. 15.) Lothar Schreyer.
Knut Hamfun“
Jr id an diefen größten lebenden Dichter germanifchen Blutes dente,
fo fteben mir immer als befonders fenngeidnend feine Retfebilder
bor Augen. Reifeglüd und Reifeeinfamfeit: Das ift Hamjuns Lebensftimmung.
Fremd und dod allem aufs innigfte vertraut, Befdauer und Doch mit-
leidender Freund der Welt, abjeits Wandelnder und doch mitten in den
Dingen Lebender, heiß, wild, liebevoll und doch tief befonnen Lebender: Das
ift Hamfun. Das Leben ift ein Spiel, aber ein Heiliges. Nichts ift ganz ernft
zu nehmen. Was ift por Gott (mit dem er durdhaus night wie andere „im
Reinen ift“) ernft? Aber alles ift heilig. Das Moos im, Walde und die
Wolfe im Blau genau fo wie die gefunde Glut eines fremden Liebespaared
oder der Sod eines von gebeimen Mächten, bon „Myſterien“ ins ewige
Dunkel Gelodten. Gs gibt faum ein dichterifches Lebenswerf, das fo bon Gott
erfüllt wäre wie diefe fpröden, ironifden, fpielenden, Gottes Namen keuſch
verhüllenden Reifebilder aus der Menfchenwelt. Er font und vertufcht nicht,
o nein. Gr fieht die Menfchen in ihrer ganzen Schwachheit und Rleinbeit,
fein ,@rofer“ befteht Iegten Endes vor ihm (wieviel größer wären Ddiefe
Großen, wenn fie fid nicht fo ernft nähmen!) — aber in Gottes un»
begreiflide ®röße (von der nur in befdeidenften, demütigſten Träumen die
Rede ift, in Wald- und Wadtraumen, aus tieffter Ginfamfeit geboren)
mündet alles: „Größe“, ob Weltgröße oder die Herrn Mads, die aus einer
norwegiſchen Rleinftadt emporragt, oder der SelegrapHift Baardjen oder
ein diebifher Kirchendiener oder ein vor Alter unwirllider Armenhäusler.
Aus Gott ftrömt, in Gott mündet alles. Bloß die Länge und Art des Weges
madt einen Unterfchied. Und der Weg felbft ijt fennens- und fdauenswert,
um bes Urfprunges und Gndes willen, der ihn verflärt. Aber von all dem
ift nidt die Rede, es lebt in Hamfuns Geftalten und Bildern, und fobald
man darüber redet, ift’s eigentlich ſchon zupiel.
4
Gs ift das germanifhe Weltgefihl, unfagbar verfeinert, oft überfeinert,
oft geradezu überfteigert und verzettelt. Es ift da ein Mitfchwingen bis gum
Wahnwig wie in ,Hunger“ und „Mofterien“, oft ift’s aber aud ein ge-
laffenes, bewußtes Strömenlaffen der Weltjtröme durch das goldene Didter-
fieb. Unendlich überlegen, wo ſich's um Menfdlides handelt, dDemütig-ratlog,
ehrfurchtsvoll farg, wo es um mehr geht: fo ift Spradhe und Darftellung.
* Sefammelte Werfe bei Albert Zangen, Münden. Bisher erfdienen: Bd.1
Hunger, Mofterien. Bd. 2 Redakteur Lynge, Neue Erde. Bd. 3 Pan, Viktoria,
Schwärmer. Bd. 4 Benoni, Rofa. Bd. 5 Unter Herbftfternen, ®edämpftes Saiten-
fpiel, Lebte Freude. Bd. 6 Im Wardenland, Unter dem Halbmond, Kinder der Zeit.
478
Eine fabelhafte Kunft des Beobadtens, ein Scharfblid, der bis ins
Zieffte dringt und feine äußere Gingelheit überfieht. Diefe unbeftedlid falten
und Dod leidenſchaftlich ſuchenden Augen ruben einen Augenblid auf einer
neu eintretenden ©eftalt, auf diefem jungen Mädchen, das den Weg zur
Stadt wandelt, diefem Welthandelsmann, der eine Diamantfchnalle in feinem
weißen Hemd trägt — und fchon find fie bis in ihre letzten Schidfale voraus—
geahnt. Eine Sdidfalsahnung, eine ſchwere, bedeutfame Lebenswitterung
liegt über faft allen Geftalten diefer Profagedichte, die fic zu Romanen,
gu Ketten bon Romanen zuſammenſchließen. Biele feiner Menfchen ftreden
gleihfam ihre Hand dar und wir leſen in ihnen die Linien ernfter und
wechjelpoller Borausbedeutung. Denn alles ift bedeutfam, alles gee
hört zueinander, zufällig tft fein Wort und feine Gebarde.
Das ift bie tiefe, Bie einzige Geſetzmäßigkeit in Hamfuns dichterifcher
Welt, die oft fo verworren, fo bunt fic zeigt. Abenteuer? Die wildeften und
fremdeften, wenn ihr wollt. Aber meift in der Gebärde eines Alltags, mit der
Atmofphäre jener Gommernadt oder jenes Herbftmorgens um fid, an die
aud Die fremdeften Abenteuer gebunden find. Dadurd werden fie nicht
nüchterner, nur defto natiirlider und gwingender. Man folgt dem Eheſchickſal
einer blonden verehrten Grau durch zwei Romane („Unter Herbſtſternen“
und ,@ebdampftes Saitenjpiel“) mit atemlofer Spannung, und dod fpielt es
fih in norwegifhen Kleinftädten, auf ®utshöfen ab, die nichts Romantifdes
haben. Aber wozu die „Romantit“ fdildern, wozu fie maden? Iſt dod die
Seele des Menfchen felbft bunt und feltfam genug. Ueberall find wir im
„Märchenland* — nit nur in Raufafien.
x
m all diefe Meberfülle bon Natur und Geelenleben gu faffen, dazu bedarf
eg natürlih einer unendlich verfeinerten, geradezu raffinierten Technik.
Es wäre eine Aufgabe für fic, diefer Technik, die oft nahe an Manier
gu grenzen fcheint, der man oft gefeffelt, aber beinahe mit leifem Widerwillen
folgt, im einzelnen nachzugehen. Man würde freilid finden, daß es fid
nicht fo jehr um eigentlide Sednif, d. b. um durchdachte und planmäßige An—
wendung beftimmter fpradlider und dichterifher Mittel Handelt, fondern um
febr echten, troß aller Rompligiertheit fehr unmittelbaren Ausdrud eben des
inneren Wefens diefer Dichtung. Eins ift vor allem Kar: während die
meifien deutfhen Didter, etwa pon Sean Paul und Raabe abgejehen, um
die möglichfte Objektivierung, um möglichſt weiten Abftand von ihrem ©efühl
fampfen und in Diefer „objeftinen* @eftaltung geradezu das Biel ihres
Schaffens fehen, gebt Hamfun mitten burd fein Gefühl, feine eigene Bewegt-
beit bindurd bis an die Dinge heran. Man fieht alles bis ins Sieffte und
Einzelne fo ungeheuer nahe, weil man es durch ein andringendes, immer
bewegtes Temperament Hindurd fiebt. Der Graähler ift Vermittler, aber
felbft mitlebender, erregter, oft tief in Die Schidjale der Hauptperfonen ver»
ftridter. Gin Wanderer fehrt in einem Gaſthof ein und fchildert zwei Bücher
hindurch das Ghedrama der Befiger. Aber nicht ohne die Gutsherrin felbft
feu und leidenfdaftlid zu lieben. Man weiß nicht: ob als Weib oder
alg Greignis, alg Stüd der Welt. Und was das Wirkfamfte, das fo bee
fonders feltfam Grregende ift: Diefer Wanderer ift Knut Hamfun felbft. Pere
fonlides, vielleicht fogar Biographifches flingt hindurch, man mittert innere
Zuſammenhänge gwifhen den Hauptperfonen und dem Didter. Man fühlt,
daß aud fie, diefe ganz lebendigen Menfchen aus der norwegifchen Gegenwart,
479
nur irgendwie Figuren auf der Bühne feiner eigenen Seele find, und die See
ftalten, die fo fichtbar find, als wandelten fie bor uns und wir fönnten zu—
gleih durch fie ganz bindurdfeben, find fo febr bon Stimmung umflojfen,
in Atmofphäre aufgelöft, daß der Hauptgegenftand der Dichtung geradezu
diefe Atmofphäre, diefe Stimmung fcheint.
Man riecht in „Unter Herbftfternen“ die Herbftlide Wald- und Ader-
erbe, in „Ban“ die Tiebestrunfene Gommernadt, in „DBenoni“ und den
dazugehörigen Romanen die von Fiſchgerüchen und falgiger Meerluft durch»
witterte Atmofphäre bon Girilund, halb weltmeerweit, Halb ftuben- und
menfdendumpf. Und daneben, neben diefer unbefchreiblich ſchweren, bezau—
bernden, dieſer Traum» und Reijeftimmung, diefer Schidjals- und Fatums-
luft, Die naturhaft durh Frühling und Sommer zu Herbft und Winter, durch
Srwaden zum Tag und Abend und Dunkel gebt, verfchwinden die Menjchen.
Senes andere bleibt bor allem im Gedadtnis und läßt geradezu eine Sehn—
ſucht nad diefen Profagedidten zurüd, wie man fie nad intenfid und traum»
Daft auf der Reife gejchauten großen Landſchaften empfindet.
Kennzeichnend ift aud, wie fouperän, wie überlegen er feine Geftalten
aufleben und abtreten läßt. Durch zwei Bücher hindurch fieht man „DBenoni“,
diefen norwegifchen, unvermwüftlichen, dummfchlauen, gutmütigen, ftreberhaft
eitlen, reic;werdenden und innerlich immer unficher bleibenden Bauernjungen.
Man fiebt ihn durh zwei Brillen: durch die des Graählers und durd die
eines jugendlid mitfhwingenden Studenten, der in Rofa, Benonis Frau,
verliebt ift. Wie genau man ihn fennt! Und dod nicht müde wird, ihn zu
betrachten. Denn er ift in all feiner Menfchenbegrengtheit ein Stüd Natur.
Oder gar jene Mads, die in fo vielen Hamfunfhen Büchern wiederfehren.
Diefe Gabelfürften im Kontor des RKramladens, diefe Beherrſcher von
Sirilund und Segelfoß, mit ihren unglaublichen Herrenlaftern und ihrer fieg«-
baften YWeberlegenbeit, undurddringlid und dod) bor jener großen Ironie, die
bier alles Menſchliche umſchwebt, die Kleinften. Biel Heiner als die Iebens-
unfunbigen, verjchwenderijch-hilflofen Leutnants und Gutsbefiger aus altem
Herrenblut, die jo gut um ihre Abhängigkeit Befdeid wiffen, daß es ein
Sammer ift, und obnmädtig diefer neuen Zeit erliegen. Biel Heiner vor
allem als etwa der Knecht Nils, der dem Kapitän und feiner armen gnä-
digen Grau bis zur GSelbftentäußerung dient, ohne ein pathbetifches Wort,
aus felbjtverftändlicher Treue, ein Stüd Volk, bet deffen Schilderung Hamjun
nur ſchwer feine Liebe und feinen Jubel verbirgt.
Aber diefer Dichter fümmert fid im übrigen den Teufel darum, ob ung
feine ®eftalten ſympathiſch oder zuwider find. Sie find ja nicht Selbftzwed,
nit um ihrer felbft willen da (oder gar um des Lefers willen!). Der gang
naive Lefer wird bei ihm nie auf feine Roften fommen, denn felbft bei den
Leuten, mit denen der Dichter fehr zufrieden ift, läßt er fich’S nicht merken,
im übrigen find fie bei ihm febr felten. Nichts ift, wie es bei einem wirk—
liden Didter fic eben bon felbft verfteht, ganz „gut“ oder ganz „böfe*.
Die Menſchen find ſchwach, ſehr ſchwach, nur beadtenswert als Träger jenes
Außermenſchlichen, jener Weltftröme, jener Weltfeele, die in Herbitfternen»
nadten und Wintereinfamfeitsmorgen Dod) nod) dbernehmlider wird als in
der Penfion Toreginnen oder fonft unter Menfden.
Auf fie fommt’s an und nur auf fie. Die Mtenfden find nur die unter
uns Grödengejchöpfen gangbarjte Sprache, die die Weltfeele fpricht. Freilid
aud) die verworrenfte und dunfelfte.
*
480
Hamfun hat viele Länder durdwandert. Seine in wohltätiges, den Phi—
Iologen feindlides Dunkel gehüllte Biographie ift voller wirklicher Abenteuer
und Wechjelfälle, denen eine weniger elementare Natur nicht gewachſen ge—
toefen wäre. Seine Gefdhidten aus amerifanifhen Prärien und Kolonijtens
ftädten, aus dem Leben verzweifelter und fraftftrogender „Tramps“ find nicht
ganz erfunden. Aber Amerika ift ja befanntlich fehr nahe an dem Schifferland
Norwegen, und das alles gehört bis zu einem gewijfen Grad mit zu Ham»
[uns Heimat, in der er mit feinem Schaffen wurgelt und bleibt.
Diefes Land germanifcher Urnatur und modernfter Seelenverfeinerung,
Derbitterung und innerer Ronflifte. Wbenteuerndes Blut bom Meere ber
miſcht fih hier und da in den ſchweren Fluß bäuerlich-altväterifchen, Fein»
bürgerlich»erftarrten Lebens. In abgelegenen Ginjamfeiten figen tiefjinnige
@riibler, denen fic) das Leben in Probleme auflöft. Die Enge des Landes,
dag trogdem über fo viel Breitengrade reicht wie Mitteleuropa, die Gnge des
Lebens preßt die Riejenfräfte, die in diefem Boden wurzeln, nach innen.
In düfterem oder gejhidt Lächelndem Schweigen fpielen fic gewaltige Tras
gödien und feinfte Komödien, voll aller Ironie der Weltordnung ab. Wir
fennen Diefe Welt aus der nordifchen Literatur, die unfere deutihe am Ende
bes vorigen Jahrhunderts fo entjcheidend beeinflußt Hat, und bon Reifen ber,
gu denen uns die gewaltige Natur lodt, ift uns die Landſchaft wie ein Stid
mbhtbhifder Urheimat in Grinnerung. Knut Hamfun ift der Lette aus der großen
nordifhen PDichterreihe und, außer Heidenftam, dem Schweden, ber freilich
nidt fo elementar ift, außer ber Lagerlöf nod, die mehr Gabuliererin ift,
weiblides Grgablergenie, als Dichter im umfaffend-mpthijhen Weltjinn —
neben diefen beiden großen fehwedifchen Begabungen ijt Hamſun die tieffte
und nordifchfte. Gr reicht viel tiefer in die Urerde feiner Heimat hinab. mit
feinen Wurzeln als der ſtark wefteuropdifd-demofratifd befrudtete, rationa=
Iiflifcherobufte Prediger mit der Pofaunenftimme, der Paftorsjohn Björn»
ftjerne Bjornfon; viel tiefer als der an „Suropa“ (und das bie damals
noch zu neun Zehntel: Paris) leidende, es nordifd zergrübelnde Problems
mifher Ibfen. Sie hat Hamfun nicht etwa übertvunden, nein, faum erlebt.
Gr weiß natürlih bon ihnen und ihrem Wirken in der Nation fehr genau,
aber fein Weg ging anders als der ihrige. Gr ging aus der Natur in die
Natur, neben der Zipilifation, die er mit Ingrimm auch fein Land erobern
fiebt, bald trogig, bald vollkommen gleichgültig ber. Gs fehlt ibm bas
nationalenorwegifche, fabnenfdwenfende Pathos Bjdrnfons, aber aud die
im Snnerften landfremd gewordene Nationalproblematif und Nationalfritil
Ihfens. Und dennod) ift er in tieferem Sinne national alg die beiden. Ginfad
ein Stüd Norwegen, bas feiner nicht dadurch bewußt wurde, daß es fid
außerhalb feiner felbft ftellte, fonbern das fich immer tiefer in fic) verjenkt
und durch fich felbft Hindurchdringt zur weltweiten Aufgefchloffenheit. Da ift
nicht ein Wort, nicht eine Geftalt, die nicht norwegifch, nordgermanijch ware.
Aber es ift nirgend dazu gejagt, nirgend betont. Blüte der Nationalliteratur.
Selbftverftändlichkeit des Nationalen, innerer Zwang gum Nationalen.
Wir Deutſchen haben ein entferntes Segenftiid, wenigftens foweit wir
Niederdeutfhe find: Raabe. Gs fönnte reizen, die beiden zu vergleichen,
fo weit fie augeinanderliegen. Denn fie find verfchieden wie die nordgerma-
nifhen Ginfamfeiten endlofer Wald- und Schneegebirge und die Spöken—
tieferlandfchaft niederdeutfcher Heidedörfer. Aber dafür haben die Kleinftädte
im Guferften Norden und im Niederdeutfchen fdon eher etwas Berwandtes.
Gs ift vielleidt aud) fein Zufall, daß Raabe der Aeltere und Altväteriſche
481
ift, Hamfun der Modernere und Nerpöfe. Nicht, daß der eine gum andern
hinüber gewirkt hätte, aber Deutfchland ift eben früher in jene Auseinander-
febung geraten, die Knut Hamſuns Welt durchfchüttelt, und es ift weniger eles
mentar in fie geraten — „gemütlicher“, matter, mittelbarer, ohne fo viel Urs
widerftand und Urkräfte, wie fie im Norden noch aufgefpeichert find. Kurzum:
Da ift fo viel Unterfchied wie zwifchen einem Boll, das feit einem Sabrtaufend
in bunteften Rafjen- und Kulturmifhungen und »berftridungen gelebt, feine
älteften Rafjenfräfte nur auf engem Raum rein bewahrt, im übrigen in aller
Welt verzettelt Hat — und einem Bolf, das in düfterer, fampfreidher Ein-
famfeit das Sabrtaufend vertrogt und nun der vdlferausgleidenden Welt
givilijation gegenübergeftellt if. Der Unterfchied ift ungeheuer. Aber das
Ginigende ift etwas fehr Tiefes, etwas im Blute Liegendes. Was bei Hamjun
und vielen heutigen Nordifden fo ſtark mitwirkt, das Elingt auch bei Raabe
nod, trog allem gebeimnisvoll auf: die nordgermanijhe Gabe des „zweiten
Gejidts“. Sener Zufammenhang mit dem Ueber- und Unterfinnliden, jene
fchöpferifch-fehberifhe Weltverbundenbeit, die wir wohl als unfer Gigenftes
und Siefftes in die abblaffende europäifche Kultur und Bivilifation mit hinein—
tragen. Wer Raabes Welt durchforſcht Hat und zu Knut Hamfun fommt,
der wird etwas wie ein urweifes, geheimnispolles Grüßen über verfchüttete
Sahrhunderte hinwegfpüren.
s
Aus diefem Weltgefühl heraus, mit biefem Zwang zum Beobadten und
Durddringen behaftet, mit diefer fünftlerifehen Technik zur Bewältigung Hiefes
Swanges ausgerüftet, tritt er aus autodidaltifcher Ginjamfeit, von ländlicher
Sittenjugend genährt, von Hungergequälten, mettergefchüttelten Lehre und
Wanderjahren ausgelocht, der heutigen Welt, dem heutigen Norwegen gegen-
über. Und ba er fic vorzugsweife mit heutigen Menfchen bejchäftigt (die
freilich über die heutigen Zuftände hinaus fraft der ihnen innewohnenden
ewigen Heimatlräfte leben werden), fo ergibt fic neben dem Dichter Hamſun
ein fehr elementarer, weniger denferifcher als inftinktftarfer, für feinen Inſtinkt
fih webrender Rulturfritifer.
Hamfun ift durdhaus fein Demokrat im gegenwärtig furfierendDen Ginne.
Ueberhaupt haben die Schlagworte, an denen Guropa hängt, bei ihm nicht Den
geringften Kurswert. Immer und immer wieder bohrt er Hartnadig nad:
was geben uns „Bildung“, „Technik“, „Sortfchritt“, „Zipilifation“, „Verkehr“?
Was hilft uns diefes über die Erde gefpannte Syſtem von Zelegraphen-
dräbten, Borfenberidten, Abhängigkeiten und Mafchinenbequemlichkeiten ?
Was hilft es unferem Leben, unferer inneren Gefundbeit, dem Wefentliden
in uns? Wir können es nicht abfdaffen; aber man laffe uns um Gottes
willen mit diefen Lobpreifungen bon Dingen in Rube, die uns an und für fid
nun einmal nidt die geringjte wirkliche Sreude machen können.
Realtionär? Negativ? Romantijh? Gr verneint nur, was nicht zu
bejaben ift, und reagiert nur auf eine übermäßige Berberrlidung von höchſt
aweifelhaften Werten. Und nidt um zu berneinen, fondern um ungehindert
Wefentliches bejahen zu können.
Diefer Sohn des Bolfes, durch foziale Tiefen Hindurdgegangen, ift
fonjervatip. Nicht aus birgerlidem Wefthetentum, aus Snobismus, aus
anergogenen Wertfegungen heraus; fondern aus dem Grbgut feines Blutes,
aus Ehrfurdt por dem Gwigen, aus Yeberlegenheit über das Berganglide,
wie fie im echten Volke überall und immer nod Iebt. Und Diefer Konfer-
bativismus in ihm wehrt fich gegen die gottlofe, die eitelüberhebliche, falfche
482
Sortfhrittsphrafe, der. man ringsum die unerhörteften Opfer bringt. Um
ihretwillen Halt er ®ericht über Größen wie Ibſen und Tolftot (Dichter, die
leider verfuchten, Denker zu fein). Um ihretwillen find ihm Storthingabge-
ordnete verdädtig, ihr Heim ift lieblos und ohne die alte Geelenfultur der
einfadhen Hütten, bom Zeitungsgeſchwätz und politijden Ausſatz zerfreifen.
Da gehen diefe armen Dinger bon Mittelftandstöchtern Hin und ftudieren fich
bleichſüchtig und wiffen die Iateinijden Namen von Pflanzen und werden
Lehrerinnen und fallen aus lauter Lebensfehnfudt und Lebensfremdheit
irgendeinem Gbharlatan bon Verführer zum Opfer. Laßt fie einen tüchtigen
und etwas fomifden Handwerker heiraten und Mütter werden — das ijt
mehr wert. Ihre Kinder find einem einfamen Wanderer und Bufdauer
„Letzte Freude“. Und diefe widernatiirlide Sremdeninduftrie. Sie bringt hoch—
mütige Gnglander mit all ihren fdmugigen Laftern ins Land und madt
naibe Landftreidher zu lifternen Hallunfen, ftolge Bauern zu fi wegwerfenden
SHaustnedten. Hamſun befommt einen roten Kopf, wo ihm diefe Fremden-
induftrie, Die aus Norwegen eine zweite Schweiz maden will, begegnet.
Selten find Deudlerifhe und anmafende Albionsfühne mit ergdsliderem
Garfasmus gefdilbert worden. Sein zweitftärkfter Zorn gilt den „Künft»
lern“, diefer aus Paris eingeführten Boheme, die bom „Brand“, dem Lites
raturcafe Shriftianias aus, das Land verſeucht, gediegene Kaufleute ausfticht
und diefes Golf bon Bauern und SKleinftädtern mit einem Hauch bon bere
Iogener Liederlichkeit, fälfhlih für Romantik gehalten, überziehen möchte.
Gdelftes Seelengut gebt dabei zu Bruce, andre retten fid noch eben auf feſtes
Land, auf „Neue Erde“.
Seine gelafjenfte und überlegenfte, dadurch auch vernichtendfte Satire hat
er aber am Journalismus ausgelaffen. Redakteur Lunge ift wohl der vor—
züglichfte Repräfentant jener glorreiden Bivilifation, die allen „Segen der
Erde“ verramjdt. Redakteur Lunge ift aud fo ein bäuerlicher Gtreber, ein
[hlauer Schwimmer auf den Wogen der Genfation, der Volksmeinung, ein
Intrigant und ©enüßling, der immer wieder feiner Frechheit die Rettung
aus beiflen Affairen, fteigende Grfolge dankte. Lüge, Schwindel, Berrat,
ftrupellofe Wusnugung der Gutglaubigfeit ijt fein Lebenselement. Gr ift eine
Macht, den alle bis zum Minifterpräfidenten hinauf fürchten, — nur durch
bie ungebemmte Beweglichkeit eines ungebildeten, ehrfurchtsloſen, aus fozialen
Tiefen emporgefdleuderten Geiftes. Gr benimmt fid genau wie ein aus
bem Ghetto allzufchnell Aufgeftiegener. Und indes Hamjun ihn immer neue
©emeinbeiten begeben aft, ihm durch die niedrigften Zumutungen ins Gefidt
fpeit, Iäßt er ihn immer höher fteigen und triumpbieren, fo daß am Schluß
nicht er, Zunge, fondern die Welt gerichtet ijt, die ſolche Talente züchtet und
(gedeihen Jäßt.
Aber legten Endes fieht Hamfun über die Literaten und die Zunge und
all die Schwindler und Beitgenoffen hinweg — auc diefe Zeit ift nur ein
Stüd Gwigfeit, aud fie wird überwunden und neue Konflifte werden ere
wadjen. Wir würden vergebens ein politifches Glaubensbefenntnis erwarten.
Politi, Bivilijfation ift nichts. Die urfprüngliden alten Volkskräfte, Die
Natur ift alles. Herren und Knedte leiden und fiegen. Im Knechtsgewand
geben Ariftofraten einher wie Nils, verwunfchene Prinzen des Bolfes. Aber
laßt fie da. Sollen fie fid „binunterarbeiten* zu Schulmeiftern und Paftoren?
Das ift mehr als ein Paradoz, irgendeinem Myſtiker oder romantiſchen Guts—
befiger und Leutnant in den Mund gelegt. Das ift Glaube an das Leben,
das ohne menſchliche ,,Berbefferung* gut ift. Dem rationaliftifd-naiven oder
483
gottlos-fribolen Gort{drittsglauben ftellt fic jene im Siefften Fromme
Stepfig entgegen, die den Blid freimaht auf das Wefentlide und Gwige.
* 7
Daher aud) diefe ftarfe geheime Liebe gum Orient, zu Rußland. „Freilich
fennt der Kaufafier nicht die Hauffe und Baiffe der New-Vorker Börſe, fein
Leben ift fein Wettlauf, er hat Zeit zu leben und fann fich feine Nahrung
bon den Bäumen fchütteln oder fein Schaf fdladten, um davon zu leben.
Uber find nicht die Europäer und die Bankees doch größere Menfden? Gott
weiß es. Gott und fein andrer weiß es, fo zweifelhaft ijt das...“
Sreilich ift da ein Brud. Wenn die Natur wudtiger und größer ift als
alle Zivilifation — warum febren wir denn nicht zu ihr und ihrer Ginfachheit
zurtüd? Warum maden wir nicht entfchloffen Schluß mit all diefen vere
feinerten Konflikten, diefen aus lauter Zartgefühl und Stolz und Scheu Bere
brodenen Shen, diefen Grübeleien, die noch tiefer ins Dunkel führen, diefen
QRubelofigfeiten und Sünden gegen uns und die Nächiten, die uns immer
mehr mit der Natur, mit ®ott entzweien?
Immer ftärfer, immer tiefer, immer eindringlider fpridt die Natur
zu uns. Wälder, in denen Woden wie Stunden verrinnen, Berge, in deren
Anbli€ wir uns „ohne Halt auf der Grde fühlen“, „als ftänden wir Auge
in Auge mit einer Gottheit“, das Meer, die nordifhe Gommernadt — alles
umbillt ung wie ein Braufen. Wir werden mit fortgerijfen in den Strömen
bes Kosmos und vergeſſen das Fragen. Die Denker verfuden zu antworten
und fid außerhalb des Wirbels zu ftellen. Dichter find felbft Natur und
[&öpferifcher Strom. Lebensbereiderung, Naturnähe und Einheit mit dem IL
Und es ift ein bergebliches Beginnen, fie jchildern, umfchreiben, bes
f&hreiben, mit Worten erfaffen zu wollen.
Befdreibt einen Baum im Walde, in all feinem Leben! Ihr müßt gue
frieden fein, wenn ihr nur eine Ahnung feines Raufchens erwedt Habt.
Hermann Ullmann.
Neuere Schriften über das Turnen.
n Schulfreifen, in denen man um die Stundenzahl jedes Faches marftet
wie der Krämer um den Wert und Preis feiner Ware, fämpft man nod
immer um die tägliche Stunde für Leibesübungen der Jugend gegenüber einer
fünffahen Zahl bon Stunden rein geiftiger Arbeit. In Turnlehrerkreiſen
fordert man immer dringender eine vollakademiſche Turnlehrerausbildung und
die Anerfennung des Surnens als eines Hauptfaches gleich ben wiſſenſchaft—
lihen Studienfadern der ftaatliden Oberlehrerprüfung. Ift es nit fiir Die
Rüdftändigfeit unferes gefamten Graiehungswefens fenngeidnend, daß um folde
Selbftverftändlichkeiten in Deut{dland immer noch gefeilfcht und gerungen werden
muß? Kennzeichnend aud für die Ginftellung weiter Kreife gegenüber der all»
gemeinen Golfsnot, bie bor allem eine Sugendnot ift, daß man alles Körper
lide fo weit hinter das Geiftige zurüditellt?
Leibesübungen find Lebensfitte und nicht ein Sdulfad, das wie Bie
meiften Lehrfächer in bomöopathifhen Gaben verabreicht werden darf.
Der Menfch ift ein förperlich-geiftig-feelifhes Wefen; daher ift Körperbildung
ein unldslider Zeil der Gefamtbildung. Wiffenfchaftlider Ginblid in Wefen,
Mittel und Ziele der Körpererziehung und unmittelbare Erfahrung in ihr
find nicht lediglich Aufgaben eines neben den anderen ftehenden „Lehrfaches“,
obwohl der Fachturnlehrer nicht zu entbehren ift, fondern unerlaplide Bore
484
Bedingung jeglichen echten Graiehertums. Man bedenfe dod, wie Sahn die
deutſche Turnfunft als eine Braudfunft für das Leben gegründet Hat und
wie planboll er fie in den Dienft einer allgemeinen Volkserziehung und Volls—
erneuerung bat geftellt wiffen wollen! Aber in der Gefdidte der Jugend»
und BDolfsergiehung des neungebnten Sabrbhunberts ftößt man immer wieder
auf die Gefahr, daß gum Schnedengang herabzuſinken droht, was Adlerflug
nehmen follte. Grft mußte der fchwelende Brand fSrperlider Gntartung,
{oon feit länger als einem Menfchenalter bon Graiehern und Wergten, Bolfs-
wirten und Bolfsfreunden als ein Raub an unfrer Volksgeſundheit und Volks—
fraft erfannt, durch Den Sturmwind des Weltkriegs und der Nachkriegszeit zu
gefräßiger Lobe entfadt werden, ehe der Geuerfdein die deutſchen Gewiſſen
wedte. Heute, wo es für unfer Golf um Sein oder Nichtfein gebt, finden die
Bolfs- und Sugendwarte willigeres Gehör, die, wägend und wmwagend, in
Wort und Tat eine Gefamtergiebung bon Geift und Körper fordern.
Trotz der erhebliden Schwierigkeiten des Büchermarktes ift die Zahl
der Neuerjcheinungen zum Schrifttum der Leibesübungen nach der Gbbezeit
der Kriegsjabre bedeutend geftiegen. Und die bittere Not der Gegenwart
Hopft fo dringlih an die Tore, daß die Turnfchriftfteller die turngeſchichtliche
Forſchung ziemlich beifeite laſſen und fich lediglich auf das Gebot der Stunde
einftellen. Das entjpriht gwar dem ungefhichtlihen Sinne eines Ueber
gangszeitalters, das fid bon dem überfommenen Alten abe und einem ers
febnten Neuen guwendet. Trogbdem bleibt das Fauftwort „Was du ererbt von
deinen Bätern haft“ im Werte. Da ift es gu beflagen, daß die Meifter-
werfe der Begründer des Turnens fo ſchwer zugänglich find. Wo findet man
nd Guts Muths’ „Symnaftif*, das Grundwerk? Selbft Friedrich
Ludwig Iahns Werke, die Garl Guler bor vierzig Jahren fleißig
gefammelt und herausgegeben bat, find vollftandig vergriffen. Sein „Deut-
{bes BGolfstum“ und „Die deutfhe Surnfunft* find allerdings bei Reclam
erjdienen, und fürzlih bat die Hanfeatifhe Berlagsanftalt in der Samm-
lung „Aus alten Bücherfchränfen“ einen Auszug des für unfre Beit Wert-
vollften, was Jahn gefdrieben, herausgegeben („Sriedrih Ludwig
Iahns Srbe* von Heinrich Serftenberg, Hamburg 1923). Indejjen
ift eine neue Gefamtausgabe der Werke Jahns um fo dringenderes Bedürfnis,
je näher er dem Deutſchen der Gegenwart gerüdt ift und je mehr er ung
aud für die deutfche Zukunft zu fagen bat. Auch eine heutigen Anſprüchen
genügende Lebensgefhichte Jahns fehlt nod und ebenfo die Gefdidte des
beutfhen Turnens und der Deutfhen Turnerſchaft überhaupt. Ift Dod Die
deutſche Turngeſchichte ein twefentlider Teil der deutſchen Bolksgefchichte, mit
ihren Wellenbergen und Siefen ihr innerlich und äußerlich aufs engjte ver—
bunden. Grfennt man, zu welchen wertoollen volls- und fulturge{didtliden
Grgebniffen die griindliden Unterfuchungen befonders Paul Wengdes zur
Geſchichte der deutſchen Burfdhenfdaft, die die gleichaltrige Schwefter der Tur-
nerei ift, geführt haben, fo wird man es als eine Ghrenpflidt nicht nur der
Zurnerfchaft, fondern der deutfchen Gefhidtsforjdung anerfennen müffen, daß
die Gntftehung und Gntwidelung des beutfhen Turnens im Bufammenbhange
der deutſchen ®efchehniffe von allgemein völfifhem Standpunkte aus über-
haut und dargeftellt werde. Garl Gulers „Oeſchichte bes Turn»
unterridts* (3. Auflage von Garl Roffow. Gotha 1907) ift nicht diel
mehr als eine fleifige Sammelarbeit, gewiß verbienftpoll, aber nicht
ausreihend. Wertvoll ift Woolf Shieles „Die neue Grgiehung,
Werden und Wefen der Leibesübungen“ (Leipzig, ©rethlein u. Go. 1919).
485
Der Obertitel weift auf die Bufunft bin. „Die neue und dod fo uralte Gre
giebung ift bie, bie fih auf die Erziehung des Leibes aufbaut, die bom
Leibe ausgehend unbermerft den Geift, den Willen nad ſich zieht“. Thiele
gibt bor allem einen umfajjenden Yeberblid über Werden und Wefen der
Leibesübungen bis in den Weltkrieg Hinein, würdigt die mafgebenden Rich»
tungen und ihre führenden Männer und läßt fie aud in ausfihrlideren Bee
legftellen felbft zu Worte fommen. Als Stadtjcehularzt in Chemnitz ift ihm ein
reiches Grfabrungsmaterial zugefloffen, fo daß er über die Stellung feines
Standes zu der förperlihen Ausbildung entfcheidende Forderungen aufftellen
fann. In feinen Leitfägen verlangt er daher eine pofitive, fürdernde
Mitarbeit des Arztes. Erzieherſchaft und Aerzteſchaft — das gibt eine viel-
berfprehende Bundesgenoſſenſchaft, deren Früchte Die Jugend ernten wird.
Nur follen es die fünftigen Aerzte als einen wefentliden Beftandteil ihrer
fahliden Ausbildung betrachten, ſich Durd eine turnerifhe Betätigung und
dur Seilnahme an Turnlehrgangen mit Wefen und Wegen der Leibeserzie-
bung innig vertraut zu machen. Da fehlt es heute nod vielfach. Immerhin ift die
Aerztefhaft in dieſer Ridtung im Warſche. An ihrer Spike ftebt als
Senior der Bonner Arzt 5. A. Schmidt. Sein Handbud der Anatomie,
PhHfiologie und Hygiene der Leibesübungen „Anjer Körper“ (R. Boigt-
landers Gerlag in Leipzig) ijt bereits in fedfter Auflage erfdienen. Die
Höhe der Auflagen erübrigt ein Wort des Lobes über das feiner Zeit bahn-
bredende Werf. Auch feine „PPhyſiologie der Leibesübungen“
(in demfelben Gerlage) liegt bereits in dritter Auflage por. Sie ift befonders
dadurh fo Mertvoll, daß fie die Ginwirfung ber Leibesübungen auf die
einzelnen Organe und ihre Funktionen und den phyhſiologiſchen Uebungswmert
der verſchiedenen Arten von Leibesübungen nachweift und den Aebungsſtoff
auf die Lebensalter nach deren Uebungsbediirfnis verteilt. In gemeinverftänd«
lider Darftellung für weitere Kreife behandelt Schmidt denfelben Gegen—
ftand in feinem anfpredenden Büchlein „Wieerbalteih Körperund
®eift gefund?“ (Aus Natur und Geifteswelt Bd. 600. B. ©. Teubner,
Leipzig 1921). Gndlid Hart Schmidt in einer Heinen ergebnisreiden und
anregenden Schrift ,Ceibesiibungen und Geiftesbildung* (Gdt-
tingen 1920, bei Bandenhoef und Rupredt) die Wechjelwirfungen bon Körper
und G©eift. Gr geht hier bon dem Zufammenhang gwifden der Sntwidlung
des findliden Gehirns und ber DBeherrfhung des Bewegungsapparates
(Koordination) aus und meift dann an manderlei ftatiftiihem Material
nad), wie in den verjchiedenen Lebensaltern durch regelmäßige Leibesübungen
die fdrperlide und geiftige Gntwidelung in inniger gegenfeitiger Beziehung
gefördert wird. Gr betritt damit ein ©ebiet, für deffen Durchforſchung die
Wiffenfdhaft erft in den Anfängen ftebt.
Meberall fpridt aus Schmidts Büchern der gediegene Wiſſenſchaftler,
der reid) und ſcharf beobadtende Arzt, der praftifde Turner. Neben feinem
Hauptwerf „Anfer Körper“ fteht, inbaltlid ihm nahe verwandt, Soe
bannes Müllers Werk „Die Leibesübungen. Ihre biologifch-
anatomifden Grundlagen, PhHfiologie und Hygiene. GErfte Hilfe bet Une
fällen (Leipzig und Berlin 1924 bet B. ©. Teubner). Die foeben erjchienene
dritte Auflage bedeutet einen fehr betradtliden Schritt porwärts, da
die neueften wiffenfdaftliden Grgebniffe verwertet find. Ueberall in Dem
Gude begegnet man dem erfahrenen Prattifer. Denn dem Berfaffer fteben
alg Lehrer an der Preufifdhen Hochſchule für Leibesübungen das reichte
Beobadtungsmaterial und eine Fülle von GForfdungsgelegenbeit zu Gebote.
486
Ar die theoretijch-wijfenfhaftliden Darlegungen knüpft er unmittelbar in
Solgerungen und Forderungen praftiihe Hinweife für die Gejtaltung des
Detriebs der Leibesübungen und ijt dadurch für Arzt und Erzieher ein treff-
lider Ratgeber.
Neu ijt das Lehrbudh von Walter Schnell „Biologie und Hy
giene der Leibesübungen“ (Urban und Schwarzenberg, Berlin und
Wien 1922). Gs ift aus Borlejungen hervorgegangen, die im Rahmen eines
Zurnlehrerausbildungsfurfus gehalten find, und trägt daher den Bedürfnifjen
des Schulturnens und des Turnlehrers unmittelbar Rechnung, indem es
weniger die anatomifhen und phyſiologiſchen Tatbeftande Iehrt, als in die
Biologijchen Erſcheinungen und hygieniſchen Sorderungen einführt, immer von
dem Sejidtspuntte aus, dem denfenden Turner und Surnlehrer ein tieferes
Berftandnis des Ginfluffes planmäßiger Körperübungen auf die funktionellen
DBorgänge zu erweden.. Das gelingt ihm auf dem Wege, daß er in den
einzelnen Abjchnitten nad der allgemeinen Ginführung in ein ©ebiet, 3. B.
in der Bewegungslehre, deſſen bejondere Beziehungen zur Leibesiibung bes
[prit und daraus die Folgerungen für die Geftaltung der aftiven Leibespflege
und der Körperausbildung zieht. Durch folhe Berbindung von Theorie und
Prazis gibt er dem Gachlebrer der Leibesübungen in biologifcher und hy—
gienifcher Richtung das geijtige Rüftzeug für feinen Beruf. Die reichlihe
Beigabe eines vortrefflichen Bildermaterials erhöht den Wert des Werkes.
Das Bud bon Friedrih H. Lorentz „Sporthygiene“ (Iulius
Springer, Leipzig 1923) ift ber Niederjchlag und die Berwertung der ume
fanglidhen Beobachtungen, die der Verfaſſer als Leiter der fporthygienijden
Unterfuchungsftelle des Hamburger Ausfchuffes für Leibesübungen aus dem
befonders vielfeitigen und reichhaltigen Prüfungs- und Tatfachenmaterial des
{portfreundliden Hamburg gewonnen hat. Lorenk erweift fid indejjen nicht
als einjeitiger Sportsmann, fondern erfennt der Gymnaſtik ihre volle Bes
tedtigung neben dem Sport und ihre Unentbehrlichkeit por ihm und für ibn
gu. Da er den Betrieb eines Sports erft dem Lebensalter der Reife gugeftebt,
betont er, wie der volle Grfolg in der mehr oder weniger einfeitigen Sport-
leiftung bon einer vorhergegangenen allgemeinen Durdbildung des Körpers
alg notwendiger VBorausjegung abhängt, wie aber aud neben
dem Sportbetriebe, getwifjermafen als Grgänzung und zum Aus
gleid, die Ausbildung derjenigen Muskeln und Körperteile nicht
bernadlaffigt werden darf, die bon der Gonderart der einzelnen
Sportbetätigung nicht getroffen werden. Mit anderen Worten: der Sports-
mann bedarf täglicher allgemeiner Gymnaſtik, mindeftens eines ergänzenden
Wechſelſports. Da Loren diefe Gorderungen vertritt, fo enthält fein Buch
nicht nur für den Sport und den Sportlehrer, fondern auch für den Surnbetrieb
und den Zurnlehrer wertvolle Anregungen.
Zufammenfaffend dürfen wir daher fagen, daf fic das fteigende Bere
ftändnis der deutſchen Aeratefdaft für die Bedeutung und die Pflege der
Leibesübungen im Schrifttum der letzten Sabre deutlich widerfpiegelt. Be—
fonders aud) bon der 1920 gegründeten „Deutfhen Hochſchule für
Leibesübungen“ in Berlin, deren Rektor der Geh. Medizinalrat Prof. Dr.
Bier ift, darf eine immer erfolgreidhere wiffenfdaftlide Forjhungsacbeit
erwartet werden.
Diefe Deutfhe Hochſchule tritt mit dem großzügig angelegten Unter-
nehmen eines „Handbudhs der Leibesübungen“ (Herausgeber ©.
Diem, A. Mallwit und © Neuendorff, Weidmannſche Buchhand—
487
lung, Berlin) hervor, bas in mindeftens 30 Bänden alle Zweige der Leibes-
übungen und alle Wifjensbeziehungen umfaffen foll. Bisher find folgende
drei Bände erfdienen: 1. Garl Diem, „Bereine und Berbände
für Leibesübungen (VBerwaltungswefen)“. Das Bud berichtet über
Bereinswefen und Vereinsrecht und bringt dann eine gründliche Zufammen-
ftellung der einzelnen in Deutfchland beftehenden Verbände aller Arten bon
Leibesübungen und ähnlicher ausländifcher und internationaler Verbände, der
Spitenorganifationen und ftaatliden Ginridtungen. Gs ift das unentbehrliche
Nadhjdlagebud, um fih über irgendeine verwaltungstehnifhe Frage oder
über vorhandene Ginridtungen ſchnell und fider Rat gu bolen. 2. Julius
Sparbier „Deutfhe Turn» und Kampffpiele, ihr Wefen, ihr
Betrieb, ihr Werden“. Giner der griindlidften Kenner und erfolgreidften
Sörderer bricht Hier eine Lange für Die deutſchen Kampfipiele, unter denen
das Schlagballfpiel die Krone verdient. Die klaren Darlegungen der Spiel
regeln und des Spielbetriebs werden Hurd vortrefflide Aufnahmen wichtiger
Spielporgänge veranfhaulidt. Gin kurzes Schlufwort „Bon der Kultur
bei den Spielen“ meift dem deutſchen Kampffpiel feinen fideren Stand im
Volksleben und feinen Beruf zur Schaffung des deutſchen Menfchen der Zu=
funft zu. 3 Ludwig Deppe „KRörperlihe Grziehung des
Säuglings und Kleinfindes“ Hier weift ein Arzt in Wort und
Bild das Elternhaus darauf Hin, daß die förperlihe Erziehung des Kindes
nicht erft mit feiner Ginfdulung beginnen darf, fondern {don im Saduglings-
alter durch Spiele und dem Alter ent{predende Leibesübungen einjegen muß,
damit durd eine gute förperlihe Berforgung aud) die geiftig-feelifde Gnt-
widlung bon früh auf beeinflußt werde. Das Buc gehört in die Hände
junger Gltern, denen es um ihre Pflidten dem Neugeborenen gegenüber
ernft ift.
Biel mehr als der Site! verfpricht, Bringen Rihard Wehls „Nedhts-
Fragen aus dem Gebiete der Leibesübungen und der Jugendpflege“ (Leipzig
1922 bei B. ©. Teubner). Sie geben nicht nur Auskunft in rein praftifchen Fragen
über Vereinsrecht, Haftpflicht und deren Verſicherung u. dgl. fondern klären
aud den Wanderer und Wanderführer, Ruderer, Jugendpfleger über Fragen
des unmitielbaren Betriebs, über das Betreten bon GForften und Waldwegen,
über das Befahren pon Geen und Zlüffen, die nicht ohne Unterfchied jämtlich
fürs Ruderboot frei find, über das Abkochen im Freien, über die Auswirkung
des neuen Iugendwohlfahrtsgefeges auf. Unmittelbar aus dem Leben gee
griffen, ift Daher dies Büchlein nicht nur nützlich, fondern aud höchſt anregend.
Ueber den Stand der Leibesübungen por allem im Kreife der Deutjchen
Zurnerfchaft berichtet feit nunmehr fiebzehn Sabren Rudolf Gaſch in
feinem bei den Zurnern überall eingeführten ,Sahbrbud ber Turners
ſchaft“ (Dresden, Wilhelm Limpert), das über die turnerifchen Geſchehniſſe
alljährlich vorzüglich auf dem Laufenden Halt, jedoch auch allgemeinere Auf-
faze bringt. Als ähnliche Grfdeinungen find zu nennen das bom Deutjchen
Reigsausfhuf für Leibesübungen herausgegebene ,Sabrbud der
Leibesübungen 1919“ (Leipzig, Grethlein u. Go.) und das vonXotbar
Berger im Auftrage des Deutfhen Hochſchulamtes für Leibesübungen bee
arbeitete Handbuch für den deutſchen WAfademifer ,Leibesibungen an
deutfhen Hochſchulen“ (Hochſchulverlag, Göttingen 1922). Mit Gee
nugtuung Tann man in biefem Iegten Bude verfolgen, wie die ftudierende
Sugend jich immer Harer auch ihrer auf dem Gebiete der Körperbildung lie-
genden Aufgaben bewußt wird und an den Hodfdulen planmäßig Die ent»
488
Adolf Sdhinnerer, Landungsbrüde
Aus dem Deutihen Volfstum
{prehenden Einrichtungen einführt. Hoffentlich fehlt der Grfenntnis und dem
guten Willen nicht die Auswirkung durch die Sat, fo ſchwer es unter den
herrſchenden wirtjchaftlihen Nöten, die das Werkftudententum gegeitigt haben,
für viele Studierende fein mag, aud) für regelmäßige Körperübungen all»
taglid Zeit und Kraft gu erübrigen. Ginen guten Meberblid über den heu—
tigen Stand des Sports bietet © Diems „Sport“ (Aus Natur und
Geifteswelt 551. Leipzig 1920. B. ©. Teubner), Gndlidh ift bier Gd—
‚mund Neuendorffs ,Sugendturnerfpiegel. Gin Lebensbud
für jugendlide Turner und Turnerinnen* (Berlin 1923, Weidmann{de
Buchhandlung), zu nennen. Der warmbergige Greund der Jugend und bee
geifterte Borfämpfer ber Turnfade wendet fic hier als Sugendwart der Deut
{hen Zurnerfhaft mit der ihm eigenen Unmittelbarkeit und Zrifche, . mit
warmem bvaterländifhen Empfinden und beiligem Grnfte an die deutſche
Jugend, um fie in das Werk Sahns und der Deutſchen Turnerfchaft, fowie in
die Sugendbewegung einzuführen und ihr ihre deutſchen Brüder und
Schweſtern beim Turnen und Spielen, beim Singen und Tanzen, auf der
Wanderfahrt und im Landheim recht anſchaulich zu zeigen, auf daß fie
Luft befomme, es ihnen gleichgutun in allen Künften des Leibes und in der
Deutfches Bolt und Land umfdlingenden Liebe, auf daß unferm armen
DBaterlande aus feiner Jugend die Kräfte zur Gefundung zuftrömen. Das
ift wahrhaftig ein lebenspolles Buc zur rechten Zeit *!
Endlich nod ein Wort über Hilfsmittel für den eigentlichen
Zurnunterridt. Deren gibt es natürlihd eine große Zahl, fo daß
die Gefahr befteht, wenn man einzelne nennt, anderen nicht mine
der treffliden durch Verſchweigen Unrecht zu tun. Hier verdient vor
allem darauf bingewiefen zu werden, daß das deutfhe Turnen, ohne feine
auf Guts Muths, Jahn, Spieß, Yäger, Maul berubende Gigenart und Selb—
ftändigfeit aufzugeben, immer wieder bon der ſchwediſchen Spmnaftif nügliche
Anregung erhalten hat. Der fdon genannte Bonner Arzt F. A. Schmidt
ift im legten Menfchenalter einer der eifrigften und erfolgreichiten Befürworter
der Bereidherung des deutfhen Surnens durch gewiffe [hwedifhe Uebungen
gemwejen (3. B. in feinem Bude „Die ſchwediſche Shulgymnaftif“,
Berlin 1912). Die deutfhe Zurnlehrerfhaft und die Deutfhe Zurnerfchaft
haben nidt ohne Widerfprud in ihren eigenen Reihen Wefen, Betrieb
und Uebungsformen der ſchwediſchen Gymnaſtik, die auf einen Zeitgenofjen
Sahns, Behr Henrik Ling, zurüdgeht, fid aber unter dem Ginfluß
des deutſchen Turnens neuerdings wefentlid weiterentwidelt Hat, geprüft und
eine Anzahl Uebungen, die für Stellung, Haltung und Atmung bejonders
5 A Nadträglih find eingegangen aus dem Berlage bon Wilhelm Limpert in
resden:
1. Sri Edardt „Tr 2 Sahn. Cine Würdigung feines Lebens und
DWirkens“ — eine febr verdienftlihe Arbeit des Jahnforſchers, der in einer Reihe
bon Auffaben das Bild Jahns als eines Streiters für PVolfstum und Vaterland,
für Deutide Freiheit und Ginbeit, deutihe Sprade und Gitte, als Erziehers der
poy hia und des ganzen Bolf8, als eines aufredten deutiden Mannes liebevoll
zeichnet;
2. Otto Brüning „Dertie-Abend“. Das don Jahn wieder aufgenommene
Wort „Zie“ erflärt er als Derfammlungs-, Grholungs-, nterhaltungs- und Ger
fellfchaftsplat. Das Bud führt treffli in die Sugendarbeit der Deutjhen Turnere
{daft ein, indem e3 zeigt, wie zu den turnerifhen Uebungen geiftige Anregungen
in Geftalt von Bortrag und Lefen, Lied und Bolfstang, Spiel und Spaß, Wan-
— und Feierſtunden hinzutreten ſollen, um die Jugend allſeitig berangu-
ilden.
489
wertvoll find, übernommen. Gs fommt alfo auf ein gegenfeitiges Geben und
Nehmen hinaus. Darum fet bier für den, der fic) über die ſchwediſche
Gymnaſtik eingehender unterridten will auf 2. M. Torngreeng „Lehr—
bud der ſchwediſchen Gymnaſtik“ (überfegt pon Gg. A. Schairer,
3. Aufl. Eßlingen 1921 bei Wilh. Langguth) bingewiejen. Bon dem ſchwe—
difhen Turnen Hat das däniſche unter ftrenger Auswahl des Wertvollften
manderlei übernommen. Hier ift ein aud für die deutfhe Körperfhulung
wichtiges Bud die ,Surnerifde Hebungslehre* von &. A. Knude
fen (überfegt bon Ane Iperfen, herausgeg. bon Karl Möller; Leipzig 1915,
DB. ©. Teubner), das in Deutfdland vollfte Beachtung und meite Bers
breitung verdient. Das Erbe Lings bat in neuefter Zeit der Dane Niels
Buh verwaltet und in feiner Weife gemehrt. Obne ein neues Shftem zu
entwideln, was leicht zu Starrbeit und Tod führt, bat er in Ollerup auf
Sünen eine Hodjdule für Gymnaſtik gegründet, die 1923, im dritten Sabre
ihres Beftehens, bereits über taujend Schüler vereinigt bat. In feiner gym—
naſtiſchen Arbeitsweije betont er gewifje grundlegende Uebungen („primitive
Gymnaſtik“), um in der Jugend den allgemeinen Menjhen-Eyp, in dem Gee
[Hmeidigteit, Kraft und Gewandtheit in harmoniſcher Schönheit vereint find,
auszugeftalten. Saft in allen Ländern des europäifchen GFeftlands bat Bulb
mit unleugbarem Erfolge feine „Srundgymnaftif“ gezeigt; fest ift fein Lehre
bud) aud in deutſcher Sprade erfdienen: „Srundghpmnaftii“ von
Niels Buh. Auf deutjch herausgegeben bon Anna Giebers und
Karl Möller (Leipzig und Berlin 1923 bei B. ©. Teubner). Gs ift
ernftefter Beachtung wert, ba es bejonders zur Befämpfung typiſcher Hal-
tungsfebler fidere Wege meift.
Auf die verſchiedenen Shfteme für Leibesübungen, die in letter Zeit unter
ftärferer oder geringerer Anlehnung an die nordiſche Symnaftif in Deutjchland
bejonders für das Grauenturnen aufgefommen find, und auf die durd) Die
DBerbindung mit dem Sang Heute zur Mode gewordene rhythmiſche Gym—
naftif Tann bier nicht näher eingegangen werden. Alle dieſe verjchiedenen
Spfteme enthalten wertbolle Gntwidlungen nach gewiſſen einzelnen Rich
tungen, eignen fid aber, wenigjtens auf ihrer heutigen Stufe, noch nicht zur
allgemeinen @rundlage einer neuen deutſchen Körpererziehung, wie bon
tuander Geite begeiftert behauptet wird. Diefe ift uns durch das unter nors
diſchem Einfluß bereicherte und gefichtete deutfhe Turnen in Berbindung mit
Spielen, Wandern, Schwimmen, Rudern und Winterfport für die Gegenwart
und nadfte Zukunft vollauf gemwährleiftet. —
Hat der vorliegende Bericht gu der Beobadtung geführt, daß der Arzt an
der Begründung und Bervollfommnung der Leibesübungen einen mejentliden
Anteil haben foll und neuerdings bat, fo fei zum Schluß auf ein Bud) Hine
gewiefen, in dem ein Phyſiker das Wort ergreift: Bruno Mahler, „Die
©®rundlagen praftifher Leibesübungen“ (Leipzig 1920,beiTiheod.
Thomas). Daß unfer Körper mit feinen Knochen, Muskeln und Bändern bei
den Bewegungen des täglichen Lebens und der bewußt betriebenen Leibes-
übungen nad phyſikaliſchen Geſetzen arbeitet, ift feine neue Gntdedung; doch
ift man erft in letter Zeit gu eingebenderen Unterfuhungen und Berechnungen
der einzelnen Bewegungen gefommen, die durch Bergliederung einfader
Uebungen neue Ginblide in ihr Wefen und neue Hinweife für ihre Durch—
führung und für die Leiftungsfteigerung ſchaffen. In diefer Ridtung wird
mander, der fi durch mathematiſch-phyſikaliſche Konftruftionen und Be—
technungen nit abſchrecken läßt, in Mablers Bud willfommene Aufſchlüſſe
4%
finden. Mebrigens wird aud die finematographifhe Aufnahme mit Hilfe
der Zeitlupe es ermöglichen, in das Wefen der einzelnen Leibesübungen tiefer
einzudringen. Dieſe neue Erfindung, fo vielber{predend fie ijt, ift indesu. W.
in dem Schrifttum über Körperbildung noch nicht zufammenhängend verwertet
worden. Da laffen neue Methoden neue Auffchlüffe, Erkenntniſſe und Fort-
{&ritte erhoffen. Heinrid GSerftenberg.
Mufif in der neuen Jugend.
G* find nun etwa fünfzehn Sabre her, daß ein females graues Büchlein
feinen Siegeszug durchs deutfhe Land antrat. Gs war der „Zupfr-
geigenbanfl* Hans Breuers. Was jahrzehntelanges Bemühen der Schule
und der Öefangvereine nicht bermodt hatte, das echte Lied im Bolfe wieder
lebendig zu machen, dem Wanderdogel war es gelungen, und der Bupfgeigens
hanſl war ein Zeichen für bas Leben diefer neuen Jugend. Gleichzeitig mit
dem Liede wurden Laute und Gitarre die Begleiter der Jugend auf ihren
Fahrten, Feften und Heimabenden. Wenn aud von vornherein nicht immer
fürftlerifch mufiziert wurde, fo erfaßten doch alle innerlich Die gemeinjchafts-
bildende Kraft der Mufil. Gs entitanden neben Frank Fiſchers „Wander-
prgelliederbuh“* fo manche Liederblätter der verſchiedenen Zandjchaften, Die
bon dem eifrigen Gammelwillen ihrer Herausgeber zeugten, wie bas der
Thüringer, Brandenburger, die Jenaer Liederblatter uſw.
Nad und nach festen an verjchiedenen Orten Beftrebungen ein, die das
Wufilleben der Jugend auf eine höhere und Fünftlerifhe Stufe bringen
wellten. Nod im Kriege entftand die Zeitfhrift „Die Laute“, Monatsjchrift
zur Pflege des deuifchen Liedes und guter Hausmufif (Herausgeber Richard
Möller), die das planloje Mufizieren der Jugend nicht mehr dem Bufall über-
laffen, fondern zielbewußt an der Weiterentwidlung des Lauten» und Öitarre-
fpieles, des Liedes ujw. mitwirken wollte.
Us nad) Möllers plöglihem Tode die Leitung der Zeitfchrift in die
Hände Fritz Iödes fam, da wuds mit einem Male etwas hervor, was
nidt nur um Lautenmufif und Lied ging, fondern aufs Ganze, auf die Mufik
gielte. Jödes Srundeinjtellung geigte fich jener Beit in Dem Schriftchen
„Mufil“ (Cin pädagogifher Berfuh für die Jugend. Sm Berlag von
Zwißler, Wolfenbüttel. 30 Pf.) Das Biel war: Befreiung der Mufif aus
fadlider Gage burd den Geift der Jugend.
Bald wurde der Schritt getan zur alten polbphonen Chormuſik (Laute
I. Jahrgang, 5/6), zur Rammermufif (II, 9/10), es erwachjen Mitarbeiter
weit über die eigentlichen Kreife der Jugendbewegung binaus, vor allem
in Den Mufiflehrern der Landesergiehungsheime, wie Auguft Halm, Hilmar
Hödner, Martin Schlenſog, und andere Langſam fommt es an vielen
Orten des Reiches zu Zufammenjchlüffen junger Menfchen, die in Gemeinſchaft
der Muſik ihre Dienfte weiben wollen. An der Zeitjcehrift „Die Laute“ wird
fleißig gearbeitet, Auffäge grundſätzlichen Snbaltes wedfeln mit folden über
die Oiganif der Mufil, der Melodie, Harmonie, über Mufilerziehung ufw.,
die reichen Notenbeilagen geben den pradtigften Anlaß zum gemeinfamen
Wufizieren, kurz: ganz organifh wächſt Hier etwas empor, das Gorm und
Seftalt anzunehmen beginnt und vielverheißend in die Zukunft weift.
Schon bald gab Sdde neben der Zeitfchrift „Laute“ als DBeihefte eine
Sammlung „Hausmufif* (Zwißler) heraus, die in zwangloſer Folge den in
491
gemeinfamer Arbeit ftehenden Kreifen geeignete wertvolle Muſikwerke bieten
wollen. Auf dem Boden einer neuen Gefinnung follte verjucht werden,
gu einer Erneuerung der Hausmufif bon Grund aus zu gelangen. Bisher er»
fhienen Heft 1. Karl Gofferje, Ein Gingebüdlein (alte Volkslieder
in Ddreiftimmigem Gag); 2. W. A. Mozart, Stüde für Geige und Gitarre
(bearb .von Yöde); 3. KR. Gofferje, Alte deutfche Kirchenlieder zur Laute
(eine tüchtige Arbeit); 4/5. Auguft Halm, Drei Serenaden (Geige, Bratjche,
Cello); 6. M. Schlenſog, Zwölf Gefänge (mit Geige und Laute); 7/8.
G. Duis und Th. Storfebaum, Gantareetfonare (fleine Haus-
mufifen, vofal und injtrumental); 9/10. Auguft Halm, Drei Sonaten
für Die @eige allein; 11/12. 8. Gofferje, Gin Spielbidlein für die
Laute (allen Lauteniften gu empfehlen); 13. M. Schlenſog, Kleine Haus-
mufifen für Geige und Laute (herrliche Melodien); 14/16. F Bide, Alte Ma-
drigale (hervorragende Sammlung bon Chören des fechszehnten Sabrhunderts);
17. SH. Reichenbach, Mein Gambenbiidlein; 18. Aug. Halm, Soe
natine in B-dur (Geige, Bratjche, Sello); 19. W. Nein, Alte VBolfslieder
für Heinen Grauendor, Flöte, Geige, Bratſche (mit Stimmen und Partitur);
20. Martin Shlenfog, Geiftlide Hausmufif (Streichtrio und Quartett);
21. W. Rein, Neue Madrigale (Alte Weifen mit neuem Sab zu 4, 5 und 6
Stimmen. Gang pradtige Chöre). Weitere Hefte follen demnächſt erjcheinen.
Allen Sugendfreifen und Hausmufiffreunden feien diefe Hefthen warm
empfohlen (Preis 1.— Mi. bis 1.75 Mt).
Eine fehr bedeutende Arbeit leiſtet Hans Dag. Bruger, als
er bei Zwißler die Originalfompofitionen Sob. Seb. Bachs für die Laute
- herausgab. Wer fich diefe Werke, die, ähnlih Bachs Violins und Celloſonaten,
eine hohe Schule des Lautenfpiels find, pornimmt, der fpürt, wieviel am
Lautenfpiel noch gearbeitet werden muß, damit dieſe Schäte gehoben werden
fönnen. Gie fdnnen allen Lautenfpielern nicht dringend genug empfohlen
werden, die über das dumme Shrumm-Schrumm hinaus der wirkliden Lauten»
Zunft näher zu fommen tradten. Gin erfreuliches Zeichen diejes Strebens
ift es ficherlih, daß das Werk ſchon in fo furger Zeit die zweite Auflage‘
erlebt hat. Kürzlich erſchien, ebenfalls bei Zwißler, eine neue wertvolle
Leiftung Brugers, ein Quartett von Sofeph Haydn für Laute, Seige,
DBratfche, Cello. Die Streidherftimmen find leicht, die Laute verlangt tüchtige
Spieler. Alle Spieler werden große Freude an diefem Werk haben, ift es
Dod ein richtiger Heiner Haydn. Ferner befindet fid von Bruger im Prud:
„Schule des Lautenjpieles* für gewöhnlide Laute, Baflaute, Doppelddrige
und tbeorbierte Laute. Nad Lehr und Art der alten Meifter. I. Teil
„Für den anfabenden Schüler“ (Heft 1 und 2); II. Seil „Der FZunftreiche
Lautenſchläger“ (Heft 3 und 4). Nah Brugers Tüchtigfeit zu urteilen,
ſcheint es, als ob diefe Schule die entfcheidende zu werden verjpricht. Sie baut
{bftematifd auf der blühenden Lautenfunft des jechzehnten und, fiebgehnten
Sabrbunderts auf. Die Uebungsbeifpiele find durchweg den wertvollen Bee
ftänden alter Qautenmujif entnommen. Diefe Schule erftrebt über den Rahmen
einer folden hinaus ein unentbehrliher Ratgeber und ein zuperläjjiges
Nachſchlagewerk für die Laute und alle einjchlägigen Tragen zu fein.
Der Berlag Gimrod bradte bon Brugers Arbeiten nod: Alte Lauten
funft aus drei Sabrbunderten. Heft 1: Sechzehntes Jahrhundert; Heft 2:
Giebgehnies bis achtzehntes Jahrhundert; ferner: Sohn Dowlands Soloftüde
für Die Laute (1562—1626) und Altengliſche Madrigale zur Zaute bon Sohn
Dowland (1597). Wem es ernft ift mit feinem Lautenfpiel, der arbeite einmal
492
recht aufmerkſam diefe Werke durch, die Brugers Fleiß uns bier bietet. Gr wird
reichliche Greude finden und der Kunft des Lautenfchlageng ein weit größeres
Stüd näher fommen, als wenn er fid dauernd mit den Duisſchen und ähnlichen
Saden abgibt.
Seit 1921 erfcheint jabrlid) im Greifenderlag (Rudolftadt) als Jahrbuch
der Neudeutfchen Künftlergilde „Die Mufilergilde*. Sie bietet nichts über Mus
fit, fondern Muſik felbjt. Wenn man die drei bisher vorliegenden Hefte ver»
gleicht, fo ift ein erfreulicher Sortjchritt in der Gefamthaltung feftguftellen.
„Kammerlieder“ (Ginige alte Golfslieder für Singſtimmen mit beglei-
tenden Inftrumenten) nennt K. Oofferje feine im gleichen Berlage erjchienene
Arbeit; er tritt warm dafür ein, daß Lieder nidt nur bon Akkord-, fondern
aud) bon Melodieinftrumenten (Flöte, Geige, Bratſche, Gambe, Cello)
begleitet werden finnen. Herrli find daraus zum Beifpiel: „Wie ſchön
leucht uns der Morgenstern“ für Alt, Geige, Bratſche, Gello, oder „Das
Trierſche Chriſtkindlein“ für Sopran, Alt, Senor, zwei DBratjchen, Cello.
Wir wiffen im Dank für feine ftarfen Anregungen.
Als äußerſt wertvoll muß id das op. 1 bon Walter Nein bezeichnen:
Liebesgefange nad altdeutihen Texten für Daritonfolo und Grauendor
(Sreifenverlag). Diefe Lieder, feinem Lehrer Erwin Lendpai gewidmet, find
im polyphonen Gag gefdrieben und wohl nur bon recht guten Sängern aus—
zuführen.
Bei Bwifler erfdienen oon Rein außer Hausmufif 19 u. 21 (f. oben)
„Deutfhe Lieder vergangener Jahrhunderte“ für drei Stimmen in poly—
phonem Sat. Gr fchreibt im Geleit dazu: „Wer die jüngfte Entwidlung ber
Ehorliteratur aufmerkſam verfolgt bat, der wird erkannt Haben, daß mir
an der Schwelle einer neuen a capella-Beriode ftehen. Ihre Kraft faugt
diefe Bewegung aus dem großen Können Boh. Seb. Bads. Die zur Dire
tucfität ausgeartete Homophonie mußte fie über Bord werfen. Damit Hört
die Herrfchaft der Oberftimme und die dapon abhängige Verſklavung der
Unterftimmen mit ihren gleichen, melodifch nichtsfagenden, erftarrten Ton»
ſchritten auf. Statt deffen fommt die Har zeichnende Architektonik der Poly»
pbonie zu ihrem Rechte. Sede Stimme wird Trager der Idee und fchreitet
in aller Selbjtherrlichfeit vorwärts. Weld ungeahntes Leben erjchließt ſich
damit! Hart ftößt auf Hart! Der Kampf der Stimmen entbrennt. Die Diſſo—
nang ift Die lebendige Kraft, bie alles in Bewegung bringt und die Rone
fonang erft in ihrem wahren Werte, als Rube, als Grldjung erfdeinen läßt.
Aus dieſem Geifte find die vorliegenden Bearbeitungen entjtanden; fo
wollen fie aufgefaßt und gefungen werden.“
Gin Werf von weittragender Bedeutung, bor allem für die Sefangs-
lehrerfchaft ift Sides „Muſik und Graiehung* geworden. Gin jeder, der
empfänglich ift für pulfierendDes Leben, wird feine belle Freude daran haben,
wie der DBerfaffer mit feinen Schulfindern mufigiert, wie er nicht nur vers
fudt, ihnen tednifde Dinge beizubringen, fondern fic bemüht, fie das melo—
diſche Walten, den Rhythmus der Muſik fpüren zu laffen und ihm nachzugehen.
Dies Buch Hat auferft umgeftaltend auf den Schulgefangsunterricht einge-
wirkt.
Wohl die bedeutendfte und viele neue Wege weifende Arbeit Iödes ift
hie Herausgabe eines neuen Liederbuces für die Schule: Der Mufifant,
Lieder für die Schule. 6 Hefte. (Verlag Zwißler.) Hier wird gum erften Male
der wirklide Berfud) unternommen, die Kinder teilnehmen zu laffen an
dem, was wir mit Ehrfurcht unfere Mufif nennen. Wer diefe Hefte ernftbaft
493
durdjfieht, dem wird es vielleicht jest erft Har und bewußt, was der bisherige
Mujifunterridt an den Kindern, aud an uns, verfäumt hat.
Die erften beiden Hefte find der Unterftufe gewidmet. Gnthalt das
erfte Heft Kinderlieder und -fpiele, bei denen der Lehrer durchweg die Me»
Iodie auf einem beliebigen Inftrument mitjpielt (außer einigen prächtig
frifhen Kanons), fo treten im zweiten Heft (Bunte Lieder, hin und wieder
mit freien zweiten Stimmen und mit Inftrumenten) felbftändige Begleitungen
der Inftrumente auf. Die oft den Liedern beigefügten Tangweijen geben, wenn
fie den Kindern recht vertraut geworden find, ein recht luſtiges Mufizieren
(etwa das Widele, wedele mit einem ber Beethovenfden ländleriſchen Tange).
Hier tritt aud zum erften Male als Begleiter des Schulfingens die Laute
auf. Wer es miterlebt hat, wie gerade Diejes Inftrument Menjchen zum ge-
meinfamen @efang zufammenzufcließen vermag, wird es mit Freuden bee
grüßen, daß die Laute endlid) Gingang in unferen Schulen finden foll.
Das dritte Heft (alte und neue Lieder für Gingel-, Wedfel- und Chor—
gefang, einftimmig, zweiftimmig und mit Inftrumenten) dient in der Haupte
fahe dem guten Bolfsliedbe. Bom jüngeren Bolfsliede ausgehend, gebt es
largfam über zum älteren, an beffen melodifchen Kräften die Sugend fid
nicht früh genug erfreuen fann. Inmitten nimmt der Minnegefang einen
befonderen Plaß ein. Gr foll zeigen, wie die ganze Mufifergiebung in der Er—
giebung zur Melodie veranfert liegt. Hören wir Iöde felbft einmal: „Wenn
neben der recht eindringlich fein wollenden Anregung zu feiner Pflege (des
Chorgejanges) in diefem Heft im bunten Reigen der Inftrumente die Laute
den erften Platz einnimmt, fo ift das aufs engfte verfnüpft mit der bier ere
ftrebten Pflege des Volksliedes und foll daneben immer aufs neue den Lehrer
daran erinnern, daß er der erfte Borfänger feiner Singgemeinde zu fein bat.
Weber aber Flöten, Braten, Schlagzeug und gar Hörner zu nehmen find,
das fei der Gindigfeit und Regfamfeit der einzelnen Mufilantengruppen
als bejonders reizvolle Aufgabe geftellt. Wo bier ein Wille ift, dürfte in
den meiften Gallen aud ein Weg fein.“
Das nadfte Heft (4. Heft: Bolfsliedber und Kunftlieder meift in poly—
pbrnem Sag mit und ohne Inftrumentalftimmen) foll langſam den Uebergang
gum Runftliebe vorbereiten. In der Schlußbemerfung heißt es: „Diejes Heft
ftebt unter dem Zeichen der Wiederermedung der Melodie. Sroffreie Melo-
Dif, Die uns lange fremd gewefen ijt, weil wir ihr fremd waren, beginnt uns
aufs neue in ihren Bann zu ziehen und foll dur) Tradition dem ganzen Bolfe
wieder vertraut werden. Darum feten dieſe Lieder einftimmig ohne jede Bee
gleitung an; darum nimmt das Melodieinftrument bier einen breiten Raum
ein; darum fteht im Bordergrund der polyphone Stil Alles das, an dieſem
Ort und in dieſer Geftalt, ift Neuland. Gin Einzelfall vorerft in der Lite-
ratur für den Schul» und Sugendgejang. Aber bitte fein Streitfall. Keine
DBrandfadel wird geworfen; fondern aus Freude foll zur Greude aller um
Schönheit gerungen werden. ®laube nun niemand, dem die vorgejchlagenen
Snftrumente nod nicht zur Verfügung ftehen, er müffe darum auf Die be=
treffenden Lieder verzichten. Gr finge fie ruhig einftimmig ohne Begleitung.
Wir müjfen die Schönheit ihrer einjtimmigen Melodie überall erft wieder-
finden, ehe wir den Ginn des Snftrumentalgefanges begreifen, der ihnen zur
Seite tritt.“
Das fünfte und fedfte Heft find dem Mufilleben der Oberftufe beftimmt.
Das fünfte Heft (Lieder und Gefange von Praetorius, Scheidt, Schütz, Han-
del, Mozart, Beethoven, Schubert, Reger und anderen Meiftern mit und
494
‘
ohne Snftrumentalmufif) will in feiner Anordnung gleichzeitig einen Weg durd
die verfchiedenen Mufikftile unferes Volles zeigen, zum anderen aber in je»
dem Werk unmittelbar als Kunftwerf vor den jungen Menfden treten. GS
fann natürlich in einem Heinen Heftdhen nur ein Bruchteil bon dem geboten
werden, was vorhanden ift. Diefen muß der Lehrer nad eigenem Grmejfen
ergänzen, por allem auf dem Gebiete der Inftrumentalmufil.
Das legte Heft ift pollftändig Soh. Seb. Bach gewidmet (eine und mehr-
ftimmige ®ejänge mit und ohne Inftrumentalbegleitung). Geben wir Ddde
noch einmal das Wort: „Wo dies legte Heft des Mufifanten Eingang fin»
det, wird es durch feine Art aufs neue das Band zwifchen Vokal- und In—
ftrumentalmufif fchließen belfen, das fo lange und fo zu unferm Nachteil
zerriffen war. Laßt nur überall die Inftrumente mitfingen, wenn ihr fingt!
Scheut eud nicht, den Schritt vom Schulfingen zur Schulmufif wirklich zu tun!
Ih rechne da febr ftarf auf die junge Lebrerfdaft, die Durch ihr eigenes
neues Mufizieren in Greundestreifen diefem Wollen fdon beträchtlich näher»
gerüdt ift. Denn es ift notwendig, wenn diefe Gefänge wirklich lebendig were
den follen, daß fie von Lehrern in die Schule getragen werden, denen fie in
ihren häuslihen Mufiftreijen vertraut geworden find, und daß die Jugend,
die fie aufnimmt, fie wieder mweiterträgt in ihre Kreife außerhalb der Schule
und in ihre eigene Hausmufif. Dazu in meiteftem Umfange anzuregen und
zu Zufammenfclüffen in neuer Mufifarbeit gu ermuntern, foll nicht der letzte
Wunſch des Mufilanten gewefen fein. — Um eins aber fei gebeten: Seid nicht
fo unbeweglid, daß ihr fragt, woher man denn in der Schule für gemijchte
Chöre Baßftimmen und woher Geiger und Gelliften nehmen folle. Grft ein-
mal wird in der Jugend viel mehr Inftrumentalmufif getrieben, als die Schule
Heute weiß, ferner ift es ja gerade Abjicht des Mufilanten, diefes Mufizieren
um feiner felbft und unferes Golfes willen zu pflegen und für die Schule nuß-
bar zu machen, und fchließlich: ift eg nicht eine der berrlichften Aufgaben der
Schulmuſil, daß fie Lehrer und Schüler zu gemeinfamem Dienft zufammen-
führen kann? Was muß das für eine Zeit fein, wenn überall in den Schulen
Lehre: und Schüler miteinander mufigieren!*
Wer einmal fold ein Schulmufizieren miterlebt hat, wie es mir jüngft
bei den Kindern des Landwaijenheims Bedenftedt am Harz vergönnt war,
dem wird Dies unbedingt der Weg fein, wie wir gu einer Grneuerung der
Muſik bon Grund auf gelangen fönnen.
Als eine redht gute Srgangung für die Ginführung in bas polbphone
Singen feien Zödes „Altdeutfche Lieder“ zweiftimmige Lieder im poly»
phonem Gag im Berlag bon Bwifler) genannt. Gs find zwei Hefte, bon denen
das eine geiftlide, Das andere weltlide Lieder bringt.
Seit Herbft 1922 erfdeint die Laute unter dem Titel „Die Mufifanten-
gilde, Blatter der Erneuerung aus dem Geifte der Jugend“. Als Beilage
zu ihr gibt es feitbem die „Muſik im Anfang“, die die Verbindung mit denen,
bie am Anfange ihrer Mufilarbeit ftehen, aufrecht erhalten und pflegen foll.
Gs foll nit fo fehr das Nachdenken über Mufil vermehrt werden, fondern
mit aller Arbeit zur Muſik ſelbſt geftrebt werden. Der Hauptteil find Noten;
guter, ernfter Muſikſtoff wird zur Grarbeitung bereitgeftellt. Der Zeztteil foll
der Bertiefung der gebotenen Mufif dienen.
Gs fann nit genug auf Diefe beiden Zeitfchriften hingewieſen werden.
On ihrer ganzen Grundeinjtellung, mit ihrem reichen Notenmaterial, find fie
wie feine andere Mufikzeitfchrift dazu berufen, vor allem Führer der jungen
Generation zu fein und gu werden. Hier bieten Pädagogen, wie es fie leider
495
nur wenig gibt, Einführungen in Muſik, fo daß man bitter werden könnte,
weil einem in feiner Schulzeit folde Dinge vorenthalten find. Greudig be-
grüßen wir es, daß endlich einmal ernft gemadt wird mit der Erziehung zur
Muſik!
Nod einige Büchlein verdienen Erwähnung: Iöde, Goethes Lieder zur
Laute (Lieder von Schubert, Zelter, Reichardt, Beethoven ujw.) und Armin
Knab, Lautenlieder. Knabs Lieder find wohl mit das Befte, das je an Lie—
dern zur Laute gefdrieben wurde. Beide Sammlungen werden. fid recht
viele Freunde erwerben. Gin in Sugendfreifen recht befanntes Buch ift der
„Iungfernfranz“ von Georg Götſch. Gs enthält über Hundert der ſchönſten Volks—
lieder, zum ‚größten Teil mit Flöte, Geige, Laute ufw., ebenfo die „Sröhlichen
Shorlieder“ pon Götſch. Alle diefe Sammlungen werden in der Schule recht
gut gebraudt werden fünnen.
Es ift ficherlich fein Zufall, fondern von tiefer Bedeutung, daß nicht nur
in Deutfchland, fondern aud bei unfern Grenzland- und Auslanddeutfchen, vor
allem bei der Jugend, in ähnlicher Weife für die Grneuerung des Gingens
und der Mufif überhaupt eingetreten wird, wie es Side und fein Mitarbeiter»
freis tun.
Dies find por allem in Böhmen Walther Henfel und feine Grau,
deren Wirken fo leuchtend vorangeht. Wer einmal das Büchlein „Die Finfen-
fteiner Gingwode* (Bärenreiterverlag, Augsburg) gelefen Dat (ein Bericht
der Teilnehmer an diefer Woche, wo junge Menſchen feitab vom Getriebe des
Alltags einmal 8 Sage nur der Muſik dienen durften), dem wird es verjtänd«
lid, welde Wirkungen Henfel auszuüben vermag. Dazu fommt nod das Bee
mwußtfein, daß er und feine Greunde an gefährdeter Stelle des Deutſchtums
fteben und für bdeffen Grbaltung kämpfen müffen.
Gang pradtig ijt Henjels Werk „Wach auf“, in dem er außer manchen
alten Chören viele alte Melodien in neuen Sätzen von ihm felbft bringt. Gr
giebt die polyphone Schreibweife der Homophonen, vertifalen durchaus por
und tritt für eine neue Bielftimmigfeit, Die jeder Stimme einen Ginn gibt, ein.
Wenn man fein anderes Werk „Aufreht Fabnlein, Liederbuc für Stu»
denten und Volk“ anjieht, fo wünſcht man aufridtig, es würde wirklih Gin-
gang in Studentenfreifen finden. Doch wer diefe fennt, bleibt Beffimit!
Ein. bisher weniger gut gelungener Verſuch, das echte Lied wieder zum
Volksgut zu maden, find Henfels ,Ginlenfteiner Blätter“. Gie find troß
des einen oder anderen guten Gages nicht biel über das Niveau der alten
Liederblätter Hinausgefommen. Es ware zu wiinfden, daß Henfel, defjen
Arbeit fonft recht vorzüglich ift, fid) bemüht, den fünftlerifchen Gefidhtspuntt
feiner anderen Werke aud den Finfenfteiner Blättern zugrunde zu legen. An»
dernfalls fann man fid des Gindruds einer VBerflahung nicht erwehren.
Zur geiftigen Durdarbeitung find dagegen den Sugendfreifen zu emp»
fehlen: Henfel „Lied und Bolf“, fowie fein „Singftreit“, der Ridtpuntte zum
Wettftreite im Singen gibt; dazu aud) das Büchlein feiner Grau Olga Ja-
niczef (Henfel heißt eigentlid Dr. I. Sanicgef): ,Hausmufif* (mit Anhang:
Walther Henjel, Ratgeber zur Hausmufil).
Schließen möchte ich dieje kleine Ueberjicht, die feinen Anfprud auf Boll»
ftändigfeit erhebt, mit einem Worte aus Iödes neuftem Buche Anſer Muſik⸗
leben, Abſage und Beginn“ (Zwißler).
„Wenn aber alles nicht mehr bedeutet als ein legtes Aufleuchten einer
untergebenden Welt, und wenn zehnmal die allgemeine Schlappheit der Zeit
über die friſchen Sriebe fommt und Gemeinfdaft zum Unterhaltungsmittel
496
und Geift zur Ware unter Menfchen degradiert, fo foll uns das alles nicht
Hindern, gu verfuden, das Leben aus dem Geifte der Wufif neu gu veran—
fern. Und ob zwar für mich die Frage an die Zulunft aus einer anderen
Quelle als all mein Sein und Tun entjpringt, fo will id zum Schluß dod
fagen — eben für die, die mit Sorgengefichtern dreinſchauen und meinen: Die
Botſchaft Hör’ id wohl, allein mir fehlt der Glaube —: nit wahr, wenn
wir denn einmal untergehen follen, laßt uns wenigſtens berfuden, in Schön»
beit untergugeben.
In diefem Sinne laßt uns unfere Hände regen, da wir es nun dod einmal
nicht laffen können.“ Albert Küfter.
Erleſenes
Aus Srita Spann⸗Rheinſch' „Buch der Einkehr“ *.
®ebet.
Nis um ein rubebolles eben bitte ich dich,
OD Herr der Welten,
Sondern um ein ruhevolles Herg!
Nidt um ein forglofes Leben bitte ich did,
Sondern um ein forglojes Hera!
Nidt um ein gefahrlojes Leben bitte ich Dich,
Sondern um ein furdtlofes Hera!
Nidt um Reichtum bitte ich Dich,
Sondern um ein freigebiges Hera!
Nicht daß mein Nadbar arm fei wie ich, möge mir gefallen,
Sondern gib mir ein neidlofes Herz!
Nicht um die Fefttage der Welt bitte ich did,
Sondern um ein fingendes Herz!
Nicht Daf du die Unredliden bon meinem Pfad entfernft,
Sondern das Miftrauen aus meinem Herzen,
Darum bitte ich did!
Nicht um den Slauben bitte ich did, der da weiß,
Du bift über den Wolfen, oder überall,
Sondern um den Glauben an deine Hilfreihe Allmadt,
Xm den ©lauben, der Berge verfest!
®ertruds Lied vom Tode.
ie wohl wird’s allen meinen @liedern tun,
Wenn ihnen nichts mehr bleibt als ausgurubn!
Die Hände, müdgewerlt bon mancher Laft,
Sind dann gefaltet und in fich gefaßt;
Die Süße, ſchwer bon langer Wanderfabrt,
Sie liegen ohne Schuhe, leicht und zart;
Gin Blumenftrauß verwelft an meiner Bruft
Wie eine lebte, unbewußte Luft;
Go lind lag nie mein Haupt auf einem Pfühl
Als dann auf jenem Kiffen, rein und fühl —
*' Dr. Strohmer Verlag, Wien und Leipzig.
497
Wie eine Mutter auf ihr Kindlein fieht,
DBlidt auf den Leib die Seele, vor fie flieht —
Die Morgenflügel fpannt fie aus im Nu
And wiinfdt ibm gute Naht und ewige Rub.
Oedslein und Gfelein.
obt aud, ihr Gngel, mit eurem Gloriafdall,
Das Oedslein und das Gfelein in Ehrifti Stall!
Gie, bon den ftummen Wefen in Feuer, Luft, Waffer und Erdenflur,
Durften zugegen fein am Brauttag der Natur.
Ihre großen Augen fahn Gottes flares nächtliches Licht,
war, fie waren wie blind und begriffen es nicht,
Dod fie fahn und erfannten mit unfaßbarer Luft
Ein neugebornes Knäblein, bas lag an der Mutterbruft.
Sie ftredten die Hälfe, es näher und beffer zu febn, *
War ihnen nie ſo wohl und tiefinnig weh geſchehn.
— Als ſie dann ſtarben nach vieler dumpfer Beſchwer,
Nicht mehr als Tiere fanden ſie Wiederkehr.
In Heiligen und Seligen von Sankt Franziszi Art
Haben ſie ſich auf Erden den Brüdern offenbart.
Aus Jacob Böhme, Bom dreifachen Leben des Menfchen *.
©®ott überall.
ir” fügen dem gottliebenden und fuchenden Lefer, diefes bon Gott zu
erfennen, daß er nicht fein Gemüte und Sinnen zufammenraffe, und
bie pure @ottheit allein hod über den Sternen fuce, in einem Himmel allein
wohnend, welder aljo nur mit feinem Geifte und Kraft in diefer Welt regiere,
gleihwie die Sonne in der hoben Ziefe ftehet, und mit ihren Strahlen allent-
halben in der ganzen Welt wirfet: Nein. — Die pure Gottheit ift überall
ganz gegenwärtig allen Orten und Gnden: es ift überall die ®eburt der
heiligen Dreigabl in einem Wefen; und bie englifhe Welt reichet an allen
Enden, wo du Dinfinneft, auch mitten in der Gröden, Stein und Gelfen: alfo
aud die Hölle, oder das Reid des Borns Sottes ift auch überall.
Ohne GStrengbeit feine Natur.
Syn du fieheft in allen Kreaturen Bosheit und Gift, und dann aud Liebe
und Begierde: fo Denfe nur, wie die Natur alfo ein ernftlih Wefen fei.
— Aber gleihwie das Herze Gottes den ftrengen ater in feiner Natur
fänftiget und freundlid) machet, alfo aud das Licht der Sonnen in dieſer
Welt alle Dinge, welches alles aus der ewigen Natur feinen Urftand hat. —
Denn wenn die Strengbeit nicht im ewigen Willen erboren würde, fo ware
feine Natur, und würde auch ewig fein Herge und Kraft Gottes erboren,
fondern wäre eine ewige Stille. Go aber die Ewigkeit das Leben, begebret,
fo mags anders nicht erboren werden: und fo es dann alſo erboren wird, jo
ift es ewiglid das Liebfte: darum fann und mag die ernftliche ftrenge Geburt
in Gwigfeit nicht aufhören, wegen des Lebens, welches ift der Geift Sottes,
— Darum fiebe dich und alle Kreaturen an, und betrachte dich; aud betrachte
Simmel und Hölle im Born und Grimm Gottes, du findeft es aljo und gar
nicht anders: wiewohl mir allbier eine Gngels-Zunge bediirften, und du ein
englifd Licht im Gemiite, fo wollten wir einander wohl verftehen, diefe Welt
begreifts nicht.
* Herausgegeben von Dr. Lothar. Schreyer. Hanfeatifhe Berlagsanftalt.
®ebunden 8 Mt, a
498
Lit in der Finfternis.
5 eek du ftebeft alfo als ein Licht im Sentro mit der Ginfternis umgeben,
und bift ein Gewächſe im Leben Sottes, aus der finftern ftrengen Natur.
Das gläferne Meer.
enn da febet ihr ein gläfern Meer por dem Stuhl des Alten, welder ift
Gott der Gater: und das Meer ift der fiebente Siegel, aber aufgetan
und nicht verfiegelt, denn Darinnen ftebet die engliihe Welt; aber die fechs
Siegel find die Geburt der ewigen Natur, welche in des Vaters erften Willen
erboren wird, aus weldem das Herze oder Wort SGottes von Ewigkeit immer
geboren wird, als ein eigen Gentrum, in bem Sentro der fieben Geifter Gottes:
und wie wohl es ift, daß bas fiebente Siegel aud im Bater ift, und gehöret
gum Gentro, jo wird es doch Durd Wort gum Wefen gebracht, denn die eng-
lijde Welt ftehet Darinnen. — Darum, mein lieber Lefer, wiffe, daß alles was
bon Gott gefchrieben oder geredet wird, das ift Geift, denn Gott ift Geift: er
wäre aber in ſich nicht offenbar, aber die fiebente Geftalt madt ihn offenbar,
und darinnen ift bie Schöpfung ber englifhen Welt ergangen, denn fie heißet
Sernarius Sanctus; denn die Dreizahl ift unbegreiflid. Aber das Wort madet
bas gläferne Meer, darinnen die Begreiflidfeit wird verftanden; und wird eud
in der Figur des Bildes in der Offenbarung recht vorgeftellt.
Die Apoftel.
atten fie aber gefeffen, und nur die Pharifäer ausgeedet, ihrer gejpottet,
fie beradtet, und ein höhniſch Spiel aus ihnen getrieben, der Heilige
Geiſt wäre nicht fo fräftig unter ihnen gewefen
3@ will. J
it lange Ddisputieren, nur Grnft: dann der Himmel muß zerfpringen,
und die Hölle ergittern, und es gefchieht aud. Du mußt alle Sinnen
mit Gernunft, und alles was dir in den Weg fommt, darein fegen, daß du
nicht wolleft bon ihm Iaffen, er fegne dich denn, wie Safob die ganze Nacht
alfo mit @ott rang: wann gleich dein Gewiſſen fagt lauter Nein, Gott will
deiner nicht, fo ſprich, fo will id aber feiner, ich laſſe bon dir nicht ab, man
trage mid) dann ing @rab; mein Wille fei dein Wille, ich will was du Herr
willft: und wann gleich alle Seufel um did ftünden, und fprächen, verzeuch
es ift auf einmal genug; fo mußt du fagen: Nein, mein Sinn und Wille foll
nidi außer Gott fommen; er foll ewig in Gott fein, feine Liebe ift größer als
meine Sünde: habt ihr Seufel und Welt ben fterbliden Leib in eurem Ge—
fängnis, fo bab id meinen Heiland und Wiedergebärer in meiner Seelen,
ber wird mir einen Dimmlifden Leib geben, der ewig bleibet.
Sreuet eud.
ie Kinder find unfere Lehrmeifter, wir find in unferer Wike Narren gegen
ihnen: Wenn die geboren find, fo ift Das ihr erftes, daß fie lernen mit
fic felber fpielen; und wenn fie größer find, fpielen fie miteinander. Alfo hat
Gott von Gwigfeit in feiner Weisheit in unferer findifhen Berborgenbeit
mit ung gefpielt: da er ung aber in Die Wie fchuf, da follten wir miteinander
und untereinander fpielen; aber Der Teufel mißgönnete uns das, und madete
ung in unferm Spiel uneing. Darum ganfen wir nod. Wir haben jonft nichts,
daß wir könnten ganfen als in unferm Spiel: Wenn das aus ift, fo legen wir
uns in die Rube und geben beim; dann fommen andere zu fpielen, und ganfen
fid aud bis an den Abend, bis fie fchlafen geben in ihr Land, daraus fie
499
gegangen find: denn wir waren im Lande des Friedens, aber der Teufel
beredet ung zu geben in fein unfriediges Land. — Lieben Kinder, was machen
wir bod, daß wir dem Teufel gehordhen? Warum ganfen wir uns um ein
SHöfglein, das wir nicht gemadt haben? Iſt doch dies Land nicht unfer
und aud dies Kleid nicht unfer: es ift unferer Mutter, und der Teufel hat das
befudelt; wir wollen das ausziehen, und zur Mutter geben, daß fie ung ein
ſchönes anziehe, jo dörfen wir nicht um das NRödlein, das befudelt ift, ganfen.
Wir ganfen allhier um einen Rod, daß ein Bruder ein ſchöner Rödlein hat
als der ander: Seudt doch die Mutter einem jeden feinen Rod an; warum
ganfen wir mit der Mutter, die uns geboren hat? Sind wir dod alle ihre
Kinder; laffet ung nur fromm fein, fo wird fie uns allen und einem jeden
einen neuen Rod faufen, fo wollen wir ung freuen, wir wollen des befudelten
alle vergejfen. + Wir geben im Rofen-Garten, ba find Lilien und Blumen
genug, wir wollen unferer Gdwefter einen Kranz machen, fo wird fie fid
bor uns freuen: wir haben einen Reihen-Tanz, daran wollen wir alle hangen;
Iaffet uns Dod fröhlich fein, ift doch feine Nacht mehr da, unfere Mutter forget
für ung. Wir gehen unter dem Feigen-Baum: wie ift feiner Srüchte fo viel,
wie {din find die Tannen im Libano! Laffet uns freuen und fröhlich fein,
daß unfere Mutter eine Greude an ung hat. — Wir wollen fingen ein Lied
bom Sreiber, der uns uneins madete: wie ift er gefangen! Wo ift feine-
Madht? Ift er doch nirgend da. Dazu Hat er das befudelte Rödlein nicht
gefriegt, da wir uns um gantten, die Mutter hat's im Behälter, wie ift er
fo arm! Gr berrfchete über uns, und nun ift er gebunden: wie Bift du große
Macht alfo zu Spott worden! Schwebteft du doch über die Gedern, und
liegeft nun zum Füßen und bift fo unmächtig: freuet euch ihr Himmel und ihr
Kinder Gottes! der unfer Treiber war, der uns plagete Tag und Nad, ift
gefangen, freuet euch ihr Engel ®ottes, die Menfden find erlöfet, die Bosheit
ift gefangen!
Die Turba.
in Ding, das aus einem Anfang wadfet, das hat Anfang und Ende, und
wachſet nicht höher, als ein Ding in feiner Zahl hat, daraus es gewadfen
ift: tas aber in Einer Zahl ift, das ift ungerbredlid, denn es ift nur eines
und nichts mehr; es ift nichts in ihm, das es gerbrede, denn fein Ding,
das nur eins ift, feindet fich felber. Wenn aber zwei Dinge in einem find,
fo ift [hon Widerwärtigfeit und Streit, denn eins ftreitet nicht wieder in
fic felbft, fondern zeucht fid in fi und aus fic, und bleibet eins: und ob
es mehr in fic fuchet, fo findet es doch nidt mehr, und das fann nimmer-
mehr mit ihm felbft uneins werden, denn es ift ein Ding, wo das hingehet,
fo gebet es in einen Willen. Denn wenn zween Willen find, fo ift Trennung,
denn einer will öfters in fid, und der ander aus fid, und fo das Ding
dann nur einen Leib Dat, fo ift das Regiment im felben Leibe uneins: und
fo dann eines ins ander gebet mit Anfeindung, fo ift der Widerwille (der
ing ander gebet, und Darinnen wohnet) die dritte Zahl; und diefelbe dritte
Zahl ift ein vermifhet Wefen aus ben erften beiden, und ift wider alle
beide, und will ein Gignes fein, und hat dod aud zween Willen in fid
bon den erften zweien, da auch einer zur Rechten, und der ander zur Linfen
will. Alfo fteiget das Ding auf bon zweien in viel, und ein jedes Hat einen
eigenen Willen: und fo es nun in einem Gorpus ift, fo ifts mit ihm felber
uneinig, denn es Hat viel Willen, und bedarf einen Richter, der da fdeide,
und die Willen im Zwange halte. So aber die Willen ftarf werden, und fid
den Richter nicht wollen bändigen laffen, fondern fahren über aus, fo
500
werden aus einem Regiment zwei: denn das Ausgefahrne richtet fic felber
nad feinem Willen, und feindet das erfte an, Daf es nicht in feinem Willen
ift, und ift alfo ein Streit, da eines das ander begebret gu dämpfen, und
fim alleine in einem Wefen zu erheben: und fo es das nicht vermag zu
dämpfen, wie heftig es aud) darwider ftreite, fo madfet ein jedes in fid
felber, bis in feine bidfte Zahl, und ift immer im Gtreite wider das ander.
And fo es dann fommt, daß es in feine höchſte Zahl gewadfen ift, daß es
nidt weiter fann, fo gebet es in fic felber, und fdauet fid, warum es
nicht mehr wadjen fann, fo fiebet es der Zahl Ende, und feet feinen Willen
in der Zahl Gnbe, und will das Ziel gerbredhen: und in demfelben Willen,
welden es in Der Zahl Ende feet, damit es zerbrechen will, ift der Prophet
geboren, und der ift fein eigener Prophet, und mweisfaget bon den Srrungen
im Willen, wie daß der nicht mehr por fic geben fann, und bon der Bers
bredung; denn er wird in der höchſten Zahl in der Krone, am Gnde des
giels, geboren, und redet bon der Turba in feinem Reiche, wie fic dasfelbe
enden foll, und was die Urfaden find, daß es nicht aus feiner eigenen Zahl
[reiten Tann.
Kleine Beiträge
breitete ihren Mantel über das Oras
Sobannistag.
Gir {males Bogengitter führte auf und fete fid) darauf nieder, als wollte
den alten Griedbof. Lidtfunfen fie fagen: nun bin id geborgen. Gie
tanzten unter dem Laubdad feiner faß da aud wie eine traurige Pringeffin,
Allee, und von Diefer fonnenflüffigen
Aber zogen fid feine Aederchen nad
allen Seiten. Die Oebüſche waren inein-
andergewadfen und DBlütendolden und
Ranfen gojfen fid auf verfallende Grab»
tafeln, ala wollten fie in den Stein hin-
eindringen und liebend erfüllen, was
mandes Herz unter den fühlen Platten
fein Leben lang vergeblich erjehnt hatte.
Oder blühten fie aus dem Stein heraus,
Diefe ſchwanken Lilien und Winden, diefe
@lutrojen und wiegenden Kelde, neue
®ebauje der fdlummernden Geelen?
Schlanke ſchwarze Vögel fhlüpften zwi-
{men den Blättern hindurch, ſeidige
Schlänglein ſonnten ſich und Gräſer zit-
terten in grüner Dämmerung. Keine
Menfdhenfeele — aber Geflüfter vieler
Stimmen in der düftefhweren Stunde.
Die Gräber waren vergeffen, nur ein
alter Wächter beforgte fie und muds mit
ihnen binüber in ein Leben, das Die
ftrengen ®rengen des Sages fanft über»
tanfte. Selten fam eines Menſchen Fuß
aus Der fernen Stadt in diefe Wildnis.
Gingefriedigt zwiſchen gegoffenem
@itterwerf lag ein fleiner Glec grünen
Rafens zu Füßen einer alten Gtein-
platte. inladend und lieblih fab er
aus, wie ein gepflegtes Giland zwifchen
der Wirrnis. Das modte aud das
Mädchen denfen, das fid von den ge-
wundenen Wegen hatte führen laffen,
bis es auf dieſes Gledden fam. Gie
die alles was fie hatte, auf dieſes Stüd-
lein gebreitet hatte, namlid ihr ftilles
Geſicht und den fhönen fdlanfen Körper,
preisgegeben dem @ebliibe und Getier,
Das jie umgab. Gie war in dem’ Zu-
ftand bierber gelaufen, in dem ung plöß-
lih alles, twas wir tun und leben, un-
wirflih erfdeint, und alles was in ung
ift, in einem tiefen bobrenden Schmerz
begehrt zu Gottes Brunnen. Hier ftörte
fie nidts, ja, was fie umgab, fdien ihr
vertraut. Ihr Kopf fant auf die Stein-
platte, die gang im Gdatten lag. Go
{hlief fie ein, oder vielmehr ihre Geele
fenfte fid in Die Stille der taufend
Ranken, die fie in ihre Arme nabmen.
Sie glitt leiht durch die Steinplatte und
ſchlüpfte durh die Wurzeln einer weißen
Winde in das Grdinnere, wo fie in einem
©ehäufe ein armes Herz fand. Das
bub an zu flagen und zu feufzen, ald
wollte e8 ein Meer aus fid heraus—
weinen, und was es nidt erfüllt, das
bob fid) auf wie ein Gels, der alles er-
drüden wollte, und — mas es nidt
pet, das ftieg wie ein Brand herauf,
er alles begraben wollte. Sa umarmte
Die Geele das arme Herz und war ihm
fo bereitet, wie die Wiele dem fdlafen-
den Mädchenkörper. In großer Not und
Schmerzen zudte es nod einmal auf
und vereinigte fid mit der Geele, wie
zwei Lichter, die ineinanderfinfen.
Als das Mädchen aufwadte, wußte
501
e8 pon nidts. Aber in feinem Herzen
war eine große brennende $lamme, und
e8 ging und tat, was Tier und Pflanze
tun: e3 fnüpfte das unfertige Gnde des
armen rubelofen Herzens unter der Stein»
platte an die Kette des Lebens an.
Grna Behne
Zu Erika Spann Rhein’
„Bud der Einkehr“ *.
238. Harnads „Wefen des Shriftentums*
findet fid "inbe ug auf das ater
unfer das Wort, „Daß diefes Gebet nur
griproges werden Tann in tieffter Samm-
ung des Oemüts und bei bollfommenfter
Sammlung des Geiftes auf das innere
Verhältnis auf das Gerhatnis zu Ott.“
Diefe ernfte Mahnung gilt aud der
inneren Haltung, mit der wir das , Bud
ber Ginfebr“ aufidlagen. Wang wad,
gang bereit miiffen wir fein, febren wir
Dod) ein bei Dem, den wir im Webet
des Herrn anrufen.
nod glaube an einen @ott, ja das
ift ein fchönes, löbliches Wort, aber
©ott erfennen, wo und wie er fid offen-
bart, das erft ift die wahre Geligfeit
auf Gröden“, fagt Goethe. Und von diefer
„wahren Geligfeit auf Erden“ ift dieſes
Bud ein einziges jubelndes Zeugnis.
Klar und rein wie felten in der See
{didte der Sprade — und in der heu-
tigen Zeit faum zu begreifendes Gpange-
lium — darf bier menihlihes Wort
Träger göttliher Wahrheit fein. Aus
jedem Gers fpridt der Gingige mit Ber-
beißung:
„SH bin der Lebende, der fchafft und liebt,
IH bin der Gebende, der ganz vergibt.“
„Da hilft dir nichts, du mußt fie über-
ammen,
@laub mir, die Hölle felber —— kühl,
Schlüg Menſchenliebe über ihr zuſammen.“
Wunderbar eindringlich kommt das
Ewige des Augenblicks zum Ausdruck:
„Nichts erfährſt du nur zum Spott,
Sede Stunde kommt von Gott.“
Diefes „Nihts erfährft du nur zum
Spott“ umfdliebt bas Geheimnis des
Lebens, das in diefen Liedern fic felbft
einen Pfalm fingt. ,@ott ift gegenwär-
tig“, in jedem fleinften Ping, in der
„Stille durchs Gemüte“, in den Weg-
genoffen des Kindes, die fid »Bieje“,
„Nacht“, —— „KRirchlein“ nen»
nen, überall tönt e3:
„Srfennft du
Mid, den Gingigen, in fieben Lichtern,
Mid in meinen taufend Angefihtern ?“
Gin folhes Herz aber, das wie Sde-
bart fagt, „oon der Zorm feines berglid
* r. mteobaer=<Besksgs Reipzig,
Wien. 1923
502
gebegten ©ottes durdformt und mit fei-
nem ganzen Wefen fo in ihm verwur-
zelt ift“, das fpricht die Erfahrung aus:
„Das Auge, auf den Hddften eingeftellt,
Das fladert nit mebr im Getrieb der
Welt.
Ihm wird, wenn es fid oft in Gott
verfentt,
Der ftille reine Kinderblid gefdentt,
Der Blid, der sa ot Mutterantliz
Und wie ein Wunder. Abed Ding
empfängt.“
Diefem reinen Blid taudt fid Leben
und Welt in göttlihe Heiterfeit; in aller
tiefften Anbetung vermag er rein und
underworren „Sonne, Mond und Sterne,
deine en) fleinen ®efdwifter® zu
dau
36° blattere Hin und ber. Mein der
tut einen §reudenfprung, da dunkel un
dumpf erfüllter ®eborjam plötzlich ſei⸗
nen „irzufammenbang“ erfährt. Stehe
id nicht immer vor meinen Büchern,
wenn „id nicht weiß, was ich leſen ſoll“
und febe gefpannt und gelaffen meiner
Hand zu, weldhes Bud) fie ergreift, da
fie immer da3 Bud nimmt, was id
gerade leſen foll? Nun werde id be
lehrt, da
ihtes Meer Leudttiirme fteben,
Der Welt als Meifter Gdebart,
Laotſe und Novalis zart,
Als Safob Böhme offenbart.
Blidt ihrer einer erdenwärtg,
Dann löft fid bier von Luft und Schmerz
nd febrt ins Wefen beim ein Herz.“
Go muß id von nun an nidt mehr
dumpf warten; bon nun an werde id
auffeben, wer von den feligen Geiſtern
mid anblidt, um mid zu erlöfen.
Aber am tiefften weht Oöttliches um
„Das Dlatt“:
„Dies grüne Blatt — ein Epheublatt —
Sft aller Lehr und Weisheit fatt.
In feinen fieben Sternenzaden,
®eftaltet ohne Fehl und Schladen,
In feine Adern, reingetrieben,
Ift Gottes Ratidluf eingeſchrieben.
Nidts anders fteht Hod über Firnen
®ebeimnispoll in den GSeftirnen,
Und was die Sonne wandelnd tine,
&3 birgt dies Blatt in feiner Schöne.
IH halte did, du grünes Beiden
Und fann did finnend nicht erreichen,
Nur der did ſchuf, fhaut mein Geſchick
nd dein’ mit einem ewigen DBlid!“
Ih fann aud finnend nit erreiden,
wie wunderbar tief und daa dag tn
das Leben fich offenbart. Ich hole das
andere zärtlihd geliebte und gebütete
Blatt mit dem fremden Namen „aus
dem Often“ und halte fie nebeneinander,
das fefte Deutide, das gräberhüllende
Spheublatt und das fe tie feine, das in
fih felbft fid) febnende de3 Oingo Bi-
Ioba, deffen Namen und Geftalt wie
traurige8 Warden find. Wud bier ant-
toortet nur erjchüttertes Bekenntnis:
„Wie wunderbar, Herr, find Deine Ge-
danfen, id fann fie nidt begreifen.“ Aber
ih fann an fie glauben und ihnen dienen,
und das ift der Ginn dieſes Buches: es
ruft gu der feften, Gerantwortung be»
touften Haltung, die „immerzu gu Öott
und Wenfd das Band fühlt“, es ruft
den treuen Menfden, der in der Mitte
fteht. Mit der einen Hand Halt er fid
feft an @ottes Hand und läßt fie nicht
— nein, fie läßt ihn nidt — mit der an-
deren aber, mit ber freien Hand hilft
er, gibt, entwirrt, ftreidelt er, tut Wohl.
Möchten viele treue Menfhen aus der
Einkehr in diefes Bud) Betätigung und
Kraft empfangen, dann wird Die Ber-
beißung des Wächterliedes fih erfüllen:
„&3 nimmt das Alte berrlih neu
Den feurigen, verjüngten Lauf,
Die alte Kraft, die alte Treu
Bringt Lieb und Glauben mit pera”
Zu Spenglers Heinen politifden
Schriften.
Gs gehört zu Gpenglers Auffaffung
bonv wiffenf-hattlib ſchöpferiſchen
Geiſte, daß fein Träger nur ein gan—
ager Wann fein fönne; in wem nidt
ein natürliches ©efühl für die realen Lee
bensfämpfe feiner Zeit und der Drang,
in fie einzugreifen, lebendig und
wirffam fei, der Ri nidt zum Philo—
fopben, fondern nur gum Sednifer feiner
Wiſſenſchaft berufen. Senes Berrbild des
Philoſophen, deffen Anfprud auf diefen
Namen eben darin begründet ift, daß er
weltabgewandt und weltfremd jede Bee
rübrung mit den Kräften der Zeitlichkeit
vermeidet, bat fid leider der populären
Borftellung eingeprägt. Dabei fonnte
man 3. DB. in der die lebten Jahr—
zehnte beberrihenden Nationalöfonomie
in voller Deutlidfeit erleben, welden
Schaden die Wiljenfhaft felbft duch
dieje Lebensfremdbeit erleidet, ohne der
befonders peinlihen Fälle zu gedenfen,
in denen fogialiftifher Syſtemglaube fo
gelebrten Naturen große praftiihe Auf»
gaben anbvertraute. Philoſoph feiner
Wiffenfdhaft zu fein, bedeutet nicht ihr
Spftematifer zu werden, fondern um dies
fen Namen zu verdienen, muß man ihre
Idee als Ganges in ſich tragen, fid über
ihr Seilwerf erheben und jenen freien
Blid wiedergewinnen, der das Kenn»
—— gemeiſterter Erkenntnis iſt.
rkenntnis aber erhält ihre letzte Reife
erſt in der Tat, fo wie ſich die Gin-
fiht in diefe Welt des Geſchehens nidt
dem arithmetifhen Fleiß des Statiftifers,
fondern dem Zugriff des Wollenden ere
fließt.
Darum ift e3 folgerichtig, daß Speng-
ler aftiviftijd über die Zone der See
lehrfamfeit hinausgreift und fid mitten
in den politiſchen Kampf _ bineinftellt.
Bon diefen Schriften gilt dasfelbe wie vom
„Untergang des AUbendlandes“: Die
„Richtigkeit“ oder ,iUnridtigfeit’ der
Gingelbeiten tritt guriid gegen die Wirk-
famfeit des Oejamtmwillens, der aus
Spenglers Arbeiten fpridt. Die Gewöh-
nung de3 ©ebildeten an entmannte ,Ob-
jeftivität“ madt ibm das Berftandnis
für aftiviftijdes Schrifttum fo ſchwer,
wie er gewöhnlid ja aud Bismards
»Sedanfen und Grinnerungen“ — wenn
überhaupt — als Memoirenwerf lieft und
fih nidt flar maden fann, daß Bis-
mard feine geile gu fdreiben vermochte,
pie Seftftellung und nidt Handlung fein
ollte.
Die „Bolt'iihen Pflichten der deutſchen
Bugend“ * find bereits in weiteren Kreifen
befanntgeworden. Die Schrift enthält
viel intereffantes hiftorifhes Material in
ne Sormulierung. Der Gedante,
er, dem Anlaffe ihres Grfdeinens ent»
fpredend, Der Schrift den Namen ge-
geben bat, ift nur ein Brudftid aus
Den Grgziehungsgedanfen, die im „Neu=
bau des deutſchen Reiches“ * entwidelt
werden. Dort ſteht aud jenes Kapitel
„Der Sumpf“, wegen deifen die Links—
preffe Spengler als DBerleumder ange
griffen hat. Man verlangte geridtliden
Nachweis, welder der Mader von Wei-
mar bei einer ent{deidenden Gibung
der Nationalverfammlung betrunfen ge-
wejen fei u. dgl. G3 gibt aber Dinge,
die —— — unſer Arteil be»
ſtimmen und doch nicht ee
notoriſch zu maden find, 3. DB.
Empfindung, die ung — und felbft bie
Sranffurter Zeitung — befhleiht, wenn
Dr. Ouſtav Strefemann eine Politik der
Ideale fordert. Hiervon aber, von wee
der geridts- nod parteinotorijden Din»
gen handeln Spenglers Schriften über-
baupt.
Spengler fudt die politiihe Wirk—
lichkeit darzuftellen, wie fie ausfiebt, ehe
fie die Mühle des Leitartifels paffiert
bat. Gr ſucht die ftillihiweigende ideolo—
gifhe und phrafeologifhe Konvention zu
Durdbreden, die troß aller Oegenſäte
* Oswald Spengler, Politifde ee
ten der deutſchen Jugend. Geb. M
Neubau des dDeutiden Reiches. 285
Mk. 2.50. Beide Schriften bei C. H.
Beck, München.
503
die Teilhaber am politifhen Oeſchäft ver-
bindet, fo wie er im „Untergang des
Abendlandes“ die Konvention hee euro“
paifden öffentlihen Meinung zu durd-
breden fudte. Deutihland bat jest die
— freilid) ſchlecht benütßte — Gelegen-
beit Beant, den Bau und die Wirkſam—
feit Der „organifierten öffentlihen Mei—
nung der Welt als etwas fennengu-
lernen, was nidt nur Täufhung oder
Lüge, fondern eine politifhe Wefenbeit
ift, und hätte darum Anlaß, Spenglers
Durdhbrudsverfuden mehr als Literari-
{Hes Intereffe zuzuwenden. Diejer Gigen-
{daft von Spengler Schriften midte ich
die größte Bedeutung beimeffen. Bes
el find die pofitiven Bore
lage Spenglers alle an diefem Kampfe
orientiert. Gie follen, wenn fdon Die
Maffen dem Banne der zipilifierten
Konvention nidt mehr zu entreißen find,
den Führer der Wirklichkeit felbft, nicht
ihrem agitatorifhen Zerrbild gegenüber»
ftellen. Denn das ift eben das finn-
verwirrende in Deut{dland, daß jene
Phrafeologie, mit der man den angel»
ſächſiſchen „Mann von der Straße“ Ienft,
bei ung zum @laubensbefenntnis politi»
{der Sührer wird, das Werkzeug alfo
zum Siel.
Obwohl Spengler nidt afthetifd, fon-
dern politiijh bewertet werden foll, darf
der ftiliftiihe Reiz feiner Schriften nidt
unerwähnt bleiben. Ginen glänzenden
Stil = ſchreiben, ift freilid im nationa—
Ien Sager faft verpönt, aber es ift im-
merbin ein Irrtum, daß eine plumpe
und ungeiftige Wusdrudsmeife die Ehr—
lihfeit verbürge oder ihr unvermeidlich
anbafte .. . Das ift eine bequeme Mei-
nung, Die unfere Trägheit ungerne preis»
gibt, die ſchwächliche GOutmütigkeit als
Sdealismus, ungefüges Poltern als
Kraft und die ganze unmanierlide Forme
Iojigfeit unfrer Oeffentlidfeit als die
galliidem Glitter abgeneigte deutſche
Aufridtigfeit pramiiert. Die feindlichen
Schlichen nie gewachſene Arglofigfeit des
Deutfden Michels, deren man fidh als
einen edlen Geblers rühmt, mddte einem
im Zeitalter des Dawes-Gutadtens do
in einem andern Lidte erfcheinen. G3
gibt feltjame Geiglinge, die leihter das
eingetroffene Unglüd ertragen, alg dem
Drobenden entgegenfehen, das fie zur
peinliden Verantwortung eines Ent—
{dluffes nötigen würde.
Diefer behagliden Pflege unfrer nas
tionalen Schwächen treten Spenglers
pojitive Borfhläge auf dem Gebiete des
Rests und der Ergiehung entgegen. Gr
tradtet fidtlid danad, das Leben unge»
miitlider = geftalten. Nod ungemiit-
lider, in Der Sat. Man fann fid, im
504
Beftreben, fid im Völkerſturm einen Reft
von Behaglichkeit zu erhalten, in eine
fehr ungemütlihe Lage bineinmandpe-
rieren. Um berauszufommen, muß nidt
nur zeitweilig bas Bebagen, fondern vor
allem der Hang zur Gemiitlidfeit über-
tounDden werden. In verzweifelten Situ-
ationen bedarf es eines berben männ»
lihen Oeiſtes, deffen WMaßftab für
das Glück ein anderer ift; folde Kämpfe
müffen von Soldaten, nidt von DBürger-
militars gefämpft werden.
Diejenigen, die fid bisher mit Feuille-
ton-Lirteilen über den „Kulturpeffi-
miften“ begnügt haben, werden füh-
len, daß das nist gu der Borftellung
paßt, die fie fih haben anfertigen lafjen.
Sreilid, ob man aus feinen Gdriften
Mugen zieht, hängt davon ab, ob man
geiftig felbftändig if. Denn Spengler
vermittelt fein Haben, fondern ein
Germigen. Ob man bon ibm erfaßt
ift, merft man an dem peinliden fhwin-
delerzeugenden Rud, der unausbleiblid
mit Der Anei Be einer neuen Methode
verbunden ift, Die nidt anderes
Biffen, fondern eine andere Art
anzuſchauen bedeutet.
an jagt, daß die nationale Bewe—
gung im Segriffe fei, ihre geiftigen
Örundlagen zu gewinnen. Die Beobad-
tung dieſes Vorgangs erinnert nidt we»
nig an die Art, in Der die nationaldeut-
{den Bereine von 1848 die Grundlagen
für das Deutihe Reid zu Ihaffen tra»
teten. Mit den geiftigen Golgen Diefer
»dorgeburtliden Erziehung“ Des Deut
- [hen Reiches hatte Bismard während
feine8 ganzen Lebens zu fämpfen; fie
feinen heute nod) nit überwunden.
Sreilid) werden Denker in dem uner-
ſchöpflichen deutfchen ©eiftesihate eine
Sormulierung finden, die der fpontanen
und als Lebensporgang zunädjt ,,worte
Iofen“ nationalen DBewe ung als ibr
„Wort“, als ihre Parole dienen fann.
Aber die Aufgabe ift nicht, den Weift
diefer Bewegung zu formulieren,
fondern ihn zu formen, wenn aus
einer Grregung ein Wille werden foll
Auf diejes Biel ift Gpenglers Arbeit
gerichtet.
Albredt Grid ®üntber.
Deutfhe Dichtung und deutfches Geiftess
leben in Amerila.
Wr bon deutider Didtung in Ame-
tifa die Rede ift, jo müffen wir
gleih von vornherein feftbalten, daß es
fid bier um feine Literatur für fid
bandelt, nidt einmal um einen befon-
deren Zweig der deutfden Literatur, fo
wenig wie bei der deutihen Literatur
in der Schweiz, in Oefterreid und über-
haupt in der Welt außerhalb des Deut-
{den Reidhes. Die Annahme folder
Sonderliteratur bat Gottfried Keller ein
für allemal abgetan mit den derben
Worten: „Ich bin gegen die Auffaffung,
als ob es eine fdweigerifhe National»
literatur gäbe. Bei allem Patriotismus
verftebe ich Hierin feinen Spaß; jeder bat
fih an da3 große Spradgebiet zu halten,
dem er angehört.“
Das iſt einleudtend: der Dichter wur⸗
gelt mit feiner Seele in fpradlidem und
völfiidem Boden, wo in der Welt er
aud) [eben mag. Die geiftige Gntwicde-
lung der Bildungsvölker unferer Zeit ift
die Frudtentwidelung jahrtaufendelanger
Arbeit.‘ Die bildet die Grundlage für
das gefamte geiftige Leben der zu einem
Bolfstum gehörenden Menſchen, und zwar
durch das Mittel der völfiihen Sprade.
Eine äußere Trennung vom urfprüng-
liden GBolfstum, fet fie nun perfinlider
oder ftaatlider Art, bildet nod feine
Trennung auf geiftigem Gebiete, jo lange
die Nutterfprade ibr Recht bewabhrt.
Die Sprade ijt das Handwerkszeug des
Dichters: damit ift feine Zugehörigkeit
gu feiner völkiſchen Literatur entſchieden.
Dir Dürfen alfo nist von einer
deutſchamerikaniſchen Didtung fpreden,
fondern nur von deutſchen Didtern in
Amerifa. Diefe Deutide Didhtung in
Amerifa ift fo alt wie die deutfdhe Gin
wanderung. Das deutide Lied hat unfere
Volksgenoſſen, wie überallhin, fo aud
in die Vereinigten Staaten begleitet, ein
treuer Greund in Arbeit und Erbauung,
in Greud und Leid. Das deutihe Lied
bat die deutiden Ginwanderer und einen
Zeil ihrer Nadhfommen geiftig frifh er-
halten und ihnen geholfen, im fremden
Lande beimifh zu werden und fid bei-
mifh zu fühlen. &3 ift recht woblfeil,
über Deutidhe Didtung in Amerifa die
Nafe gu rümpfen und fie nit für voll
gu nehmen. Nicht alles, was da Berfe
madt, bat ja Anfprud auf den Didter-
namen, allein zur Grhaltung und Pflege
unferer Mutterfprade und all des Schö-
nen und Herrliden, was darin gefdrie-
ben ift, zum Grwerb der Erbſchaft unferer
®rofen, Hat es viel beigetragen. Alle
diefe Berjemader find ja aud) Oenießer
der Literatur und vermitteln das Deutide
Bud ihren Stammesggenoffen. Das ift
immer die Grfüllung eines Stückchens
Bildungsaufgabe.
Die deutſche Geiftesarbeit in den Ber-
einigten Staaten zerfällt in zwei Abtei-
lungen: SZeitungswefen und freies
Schriftwefen in Didhtung und Wifjen-
ſchaft. Das Zeitungsweſen fteht mitten
im öffentliden Leben und bat die Auf-
gabe, das eingewanderte Deutihtum in
das amerifanifhe Leben überzuleiten.
Zugleid muß es den Gingetpanderten
die deutihe Literatur des Heimatlandes
vermitteln und ihnen gute Bücher der
Literatur Deutſchlands empfehlen. Das
ift aud ſchließlich die Aufgabe aller, die
fid dort mit Literatur genießend und
{dhaffend abgeben. Die Pflege der deut-
ſchen Sprade und Literatur durd das
DeutjHtum Amerifas ift ja dod por-
zugsweife eine genießende, der Geiſtes—
bildung des einzelnen wie weiterer Kreife
Dienend.
Halten wir daran feft, daß alles
Singen und Sagen der Deutiden Ames
rilag eine Bedeutung für die Pflege
unferer Wutterfprade und Literatur und
damit für die geiftige Entwidelung des
einzelnen wie weiterer Volkskreiſe bat;
daß wir deshalb all dieſes Singen und
Sagen mit freundliden Augen anfeben
wollen; daß wir aber aud an alles, was
Anjprud auf fünftleriihe Bedeutung er»
bebt, einen finftlerifden Maßſtab an-
legen miiffen, fo fönnen wir nicht leicht
irre gehn und werden aud nicht leicht
einem Inredt tun. G3 braudt uns
gar nidt fo darauf anzufommen, Die
Zeiftungen abzufhäten und die Oröße
der Begabung feftzuftellen, als vielmehr
darauf, die Richtlinien für eine weitere
Entwidelung auszulegen.
Gigentlide Berufsdidter in deutſcher
Sprade gibt es in den Bereinigten Staa-
ten nidt, wie Rattermann in feinen
Schriften zur Oeſchichte des Deutſchtums
bemerft. Indeſſen bat die dichterifche
und ſchriftſtelleriſche Tätigkeit deutjcher
Gingewanderter, befonders in früberen
Zeiten, einen kulturgeſchichtlichen Wert.
&3 ftanden da fraftvolle entſchloſſene
Männer hinter dem Singen und Sagen,
und ihr Reden und Tun war dem Leben
gewidmet. Die fpätere Didtung ift im
allgemeinen nidt öffentlih portretend,
meift auf beftimmte Kreije befhränft und
deshalb aud nidt allgemein befannt.
Aus den beiden größeren Sammlungen
„DeutfheAmerila“ von G. U. Zimmer-
mann und „Bom Lande des Gternen-
banners“ von ©ottbold Neeff läßt fid
weder über den Wert der dichterifchen
Arbeit des Deutihtums im allgemeinen,
nod) über die dichteriihe Begabung der
einzelnen ein Arteil bilden. Golde Blu-
menlefen bilden ja einen ganz hübſchen
Schmud des Büdertifheg, ein Literatur-
bild geben fie uns aber nidt. Wir
dürfen e8 aber aud ruhig dabingeftellt
fein Laffen, wer von Diejen etwa 200
Didtern, die Neeff verjammelt hat, ein
wirfliher Dichter ift und wer nidt.
Ih fagte, die deutſchen Didter in
Amerifa find nidht Berufsdidter. Sie
505
leben nidt bom Erlös aus ihren ar
beiten und find aud, mit gang wen len
Ausnahmen, nidt in der Lage, is ein
ihrer Runft gu leben. Gie find in
Hauptfahe in einem andern, tren
eigentliden Lebensberufe tätig, als Leh⸗
rer, Aerzte, Geſchäftsleute, Oeiſtliche, in
techniſchen und handwerklichen Berufs-
zweigen, auch als Fabrikarbeiter; einige
ind im Zeitungsweſen tätig, in Sdrift-
eitungen angeftellt wie als Mitarbeiter;
einige wenige haben fogar Romane für
Seitungen gefdrieben und — bezahlt bee
fommen. Zum eben aber reiht das
nit, und Sedidte werden nicht bezahlt.
Redhnet man dazu die Pflege der
Didtung in literariihen und gefelligen
Gereinen und im Haufe, die Pflege des
deutſchen Liedes, vor allem de3 Bolfs-
Tiedes, in den Öejangpereinen, fo fommt
ein ret hübſches Guthaben für die gei-
ftigen Beftrebungen des Deutſchtums in
den Pereinigten Staaten heraus. Bei
aller Sorge ums taglide Brot, im fteten
Kampfe ums Dafein, im unausgefetten
Wehren um dufere und innere Freibeit
und Gelbftändigfeit, bat das Deutiche
Bolfstum in Amerika fih die lebhaftefte
Seilnahme für deutihhe Literatur bewahrt
und das deutſche Bud gehört zu einem
feften Beftandteil * deutſchen Hauſes
drüben. Karl Gundlach.
Zur Einführung tn die vierte originals
graphifhe Mappe der ZichtesBefellfchaft.
We fid in die Schriften Safob Böh-
mes verjenft, mag fid bisweilen an
den tieffinnigften und tiefinnigften Rup-
ferftih Albrecht Diirers erinnert fühlen,
feine „Melandolie“. Aber aud zu dem
beihaulihen „Hieronymus im ®ehäug“
und dem trußigen „Ritter, Tod und Teu-
fel“ laufen von dem wundervollen Schu.
fter magifhe DVerbindungsfäden. Wie
fönnte e8 aud anders fein! Deutſche
Graphif und deutide Pbhilofophie hängen
von jeher eng zuſammen, weil fie jenem
Bereide unjrer Geele entftammen, in
dem fid Geift und Gemüt berzinnig an-
einander fdmiegen. ;
Die unerfddpflide Tiefe deutſchen
Seelenlebens befundet aud die neue gra-
phiſche Mappe der Fichtegefellfchaft. Gie
ift ihren Gorgdngerinnen vielleiht nod
infofern überlegen, al3 fie nod mannig-
faltiger ausgefallen ift. Zehn Blatter und
zehn verichiedene, ungebrodene Strahlen
unjres Volkstumes! Wir fühlen ung
wunderfam angebeimelt, ob uns nun
Broebl zu einer Ruine am Rheine ente
rüdt oder Thiel zu den Stufen des Köl-
ner Domes, Otto Zifher uns in den
Hamburger Hafen verfest oder Quante
506
an das Wattenmeer, ob Grabl den Wine
fel eines lieben deutfhen Neftes humor⸗
voll wiedergibt oder Bolfert ein ſchweres
Lebensfdidjal im Antlig einer alten
Stau fid fpiegeln läßt, ob bei Pottner
über einen Waldfee Wildenten flattern,
bei Golfmann Kühe unter Beiden
am WWaffer mweilen oder bei Ratel-
bin der WMéardengauber des Ddeut-
{hen Waldes uns umfängt. Berfdie~
dene Sednifen (Radierung, Steindrud,
Holgfhnitt) erhöhen nod den Reig
diefer Mannigfaltigfeit.
Eine Probe möge von der ®üte der
neuen Mappe zeugen. Gibt es ein fhlich-
tered Motiv als einen Durdblid durch
{hattende Baume auf eine weite Waſſer⸗
flähe? Was aber hat Sdinnerer bier-
aus gemadt! Gr erhebt das Licht zu
einer Offenbarung überaus garter, Duftig
verflingender Seelenſchwingungen. Sogar
die im Bordergrunde des Bildes ſchwe—
benden Lampen find befeelt. Welche ent-
üdende Anmut! Bedeutet aber die Fü—
Bigteit, aus einem dürftigen Motive fo
viel Schönheit berporzuloden, nit eine
ähnliche ®ottesgabe wie die unfres Safob
Böhme, in einer —— — bimm-
nies Olanz zu entdeden?!
Der Himmel auf Gröden bleibt freilih
behaftet mit Materie. iind fo bat denn
aud) die neue Mappe eine weniger er-
freulide Seite: fie foftet Geld. R. Voigt
landers Gerlag ift jebod bereit, —
lungen entgegenzunehmen. Auch ſei ar⸗
auf hingewieſen, daß jedes Blatt ein für
ſich beſtehendes Kunſtwerk iſt und daß
deshalb der Inhalt der Mappe unter
verſchiedene Perſonen verteilt werden
kann. Man erwäge nur, welche Summen
noch immer für mehr oder minder kit—
ſchige Oeſchenke verausgabt werden, und
bedenke: acht Wark für ein ſigniertes,
zwei Warf für ein unſigniertes, aber
vortrefflid gedrudtes, jeder Wohnung, ja
Sammlung zur Bierde gereihendes Ori-
ginal eines bedeutenden deutiden Gra—
pbifer3! Den Preis tiefer zu fenfen, war
nidt möglid, weil fo ausgegeidnete
Künftler Anſpruch auf ein Honorar hae
ben, das ihr wirtidaftlides Dafein
fidern Hilft.
Abfihtlih find gu den Mappen ber
Fichtegeſellſchaft feine der gumeift maßlos
überſchätzten WModegrifen herangezogen
worden. Wer durhaus Liebermann, Co—
tinth, Glevogt oder Meid befigen will,
wende fih getroft an einen modifhen
Gerlag. Gr wird prompt bedient werden,
und wenn er tiidtig bezahlt, friegt er
vielleiht als @ratisgabe einen empfeb-
lenden Hinweis auf Daumier und Ga-
parni. Wir haben nur Künftler berüd«-
fidtigt, bie mit allen Gafern ihrer Seele
am deutfhen Bolfstum hängen. Nicht
verfhweigen fönnen wir aber, daß unfer
Ainternebmen fdwer bedroht ift. Gelingt
e3 nidt, die bundertundzwanzig Exem⸗
plare Der fignierten Ausgabe und unge»
fabr die gleihe Zahl der unfignierten
abaufegen, wird diefe Mappe vermutlich
die lebte fein. Darum belft, einen Hort
deutfher Kunft por dem Gdidfal bes
Unterganges zu bewahren!
Bruno Ooly.
Albert Birkle.
Sy maoergangene Woden einer italieni-
{hen Studienfahrt, auf der ich gu den
mir befannten nod viele neue Gekreu—
sigte fab, baben mir beftätigt, mas id
{hon zuvor für richtig bielt: die Idee
des erften großen Bildes, mit dem der
junge Albert Birfle vor zwei Wintern
guerft auf fid aufmerffam madte, ift
wirtlid neu!
Diefe madtige Leinwand zeigt im
dunklen Vordergrunde die beiden Schä—
&er groß am rohen Stammholz, das oben
fid verbindet, zeigt ihre gepeinigten
Körper naturaliftiih unverlindert. Der
Krampf fladert oben aus in ein wildes
Ornamentgewirr ihrer verzerrten Hände.
In diefem dunflen wilden Rahmen ganz
irdifher Schmerzen wadft eine Bifion im
Lidt. Leber einer Landihaft, die mit
fombolifh wirfenden Garbmaffen den
Raum ordnet, wadft ein glattes, ftilles
Kreuz. on geftredt hängt daran ein
Gbriftus, der das ,G8 ift vollbracht!“
gefproden bat.
Gs ift fon etwas für einen jungen
Künftler, wenn er im erften großen Werf
und das als Preiundzwanzigjähriger
einem fo taufendfad gebraudten und
mifbraudten Stoffe ein Neues abge-
winnt. Aber aud die FGarbengebung
war fider und löſte fid tro großer
Wudt in Harmonie. Gormal famen —
um Die Art des Bildes zu bezeichnen —
Grinnerungen an ©rünewald, blieben
aber ganz im Aeuferliden. Die gang
eigene Grundempfindung ift mit „heroiſch
fatbolifh“ fo ungefähr begeidnet. Das
Grfaffen einer alten Tradition über viel
Schwächliches hinweg war mit einer aus-
drudsflugen Modernität verbunden.
Was Albert Birfle im vergangenen
Winter im Künftlerhaufe, der SGegeffion,
der Afademie und nun wieder der Ser
geffion in Berlin an Gemälden und
Zeichnungen zeigte, bat ihn bei Kritik
und SKäuferpublitum merfwiirdig rafd
und fider in den Sattel gefebt. Der
Großſtadtmaler Birfle iftganzmodern,
wenn man will, fogar mit Anführungs-
ftriden!
Das troftlos unbarmonifhe Oewirr
verfnäulter und ſich durcheinanderſchie-
bender Menfhen und Wagen. — Zum
Himmel gefpibte Brandmauern über den
Hinterhäufern der Grofftadt, por denen,
windgetrieben, ein wenig Leben eilt. —
Glendsweiblein, die aus dem Dunfel am
ftumpfen Waffer in die jabe Helle der
Bogenlampen bineintaften. — Ueber dem
Gdimmern des glatten Afphalts gleiten
— nur die Hufe flappern — zwei Droid-
fen aneinander vorbei — unbeimlid ent-
wirflidt — eine Geifterei! tind unfere
Zeihnung: Arbeiter, müde Durd Die
Dämmerung nad Haufe trottend, in den
grotesk gezerrten Gefidtern die Srihlaf-
fung, die ftumpf und gedanfenlos den
Lebensfinn verloren geben will. Dabin-
ter unent{pannt das Sugtier und faufende
Stadtbabngiige. -
Immer: qualended Getriebe, fdin-
beitslos! Arbeit, Haft, Gridlaffung.
Wohl „Kritit am Zuftand“, aber nichts
bon fozialer Predigt! Mit einem erreg-
ten Auge, das Sonderwert in $arbe und
Gorm fudt, padt bier ein faft bartes
Temperament den RHythmus diefes tief-
gefannten aber ungeliebten SXebens-
trubel3.
Sft bier alles tad, faft qualvoll le—
bendig, fo ift in Albert Birfle, dem
Zandihafter, viel mehr Rube und Traum.
Der Künftler, der in Berlin aufwuds,
bat fi in der fhwäbifchen Slternbeimat,
um den Hohenzollern, bei Klofter Beuron
und im oberen Donautal tief eingebeimt
und bat fid nun aud ſchon mit der ſchleſi—
fhen Bergwelt und dem Harz fünftlerifch
auseinandergefeßt — wofiir man ja
eigentlid) ,ineinandergefebt fagen müßte.
Zur gedebnten Glade, zu Ebene, Heide,
Meer ift Birfle nod nicht gefommen.
Gein rita fuht immer bewegtes Land;
er fühlt den Rhythmus der Bodenwoge,
das „gedrängte Meer“, von dem Gott-
fried Keller jpridt. Und bier ift alles
pofitiv, bier ift ein fo guter, ganzer
deutfher Grnft, daß man gern an Gafpar
David GFriedrid denft. Ob er nun Weie
ten öffnet und das Bild reid gliedert
oder wie auf unferem Bilde mit den
„legten Häufern“ die Gipfelempfindung
einer fih rundum ausdrudsihwäder ab-
bauenden Landſchaft gibt, es ift immer
Sprade, wohl überlegt in jedem Klang,
aber dod aud poll und fraftig aus
lebendigem Naturgefühl heraus tönend.
Dem Maler religiöfer Stoffe und dem
Land{daftsmaler Birfle gebe ih am
meiften Qufunft. „Das Negative iſt
nichts“ donnert Goethe, als er mit Gere
mann pon Lord Byron fpridt. And
dod haben wir Heute fehr intereffante
Maler — benfen wir an George Orof,
Mar Bedmann und Artur Diz, die ihr
507
Gigentlides in diefem Negativen baben.
Berlorener @laube an Menfchenwert
führt zum Nihilismus in der Kunft, der,
fo „intereffant“ er fein fann, doch aud
fo unfäglih fterblid if. Wud Birfle
bat vor allem als Bildnismaler, der ftatt
Wenſchen farifaturiftifde
der Zeit Tribut gegollt.
Hoffen wir, daß er fic ganz findet,
um einer unjerer Wefentliden zu wer—
den. „ind im Wabhren, Guten, Schönen
refolut zu leben“! Garl Meißner.
Sppen malt,
Der Beobachter
In England, deſſen Demokratie nach—
zuahmen heiligſte Pflicht für alle
fotfheittichen deutfhen ®emüter ift,
gibt e8 — einen Zenſor für Bücher.
Stefan Zweig, deutiher Schriftſteller
wienerifcher Provenienz, war im Begriff,
eine Auswahl feiner Novellen in London
berauszubringen. Der engliide Bücher-
genige aber — verbot den öffentliden
erfauf. Gr fette das Bud auf die Ree
ferved Lift. Wohlgemerft: nit der Bere
fauf überhaupt wurde verboten —
Liebhaber folder Literatur dürfen die
Novellen perjönlid beftellen und er-
werben. Uber das Bud darf nicht
öffentlih feilgeboten werden.
Man madt namlid in Gngland den
Unterſchied zwiſchen „unfittlih“ und
„littengefährdend“. Unfittlihe Bücher
werden ftrads fonfisgiert. Sittengefähr-
dende Bücher von Kunftwert dürfen zwar
an Liebhaber abgegeben, nidt aber hem—
mungslos in der Oeffentlidfeit ange»
priejen und feilgeboten werden. &3 bane
delt fih nidt um „Sittlichfeit“, ſondern
um den Schuß der Gitte. Wir er
innern uns: alg man dem Ddeutiden Bolfe
den „Reigen“ aufzuzwingen fudte, log
die intereffierte Preſſe unferem Bolfe
por: Deutihland made fih vor der Welt
laderlid, wenn es nicht diefen ing Lite»
rarijhe gehobenen Mitofh-Geift applause
dierend aufnebme. Germutlicd Liigt dies
felbe fenalites gefdriebene) Preſſe jetzt
den Engländern vor, daß „man“ ſich
„logar in Deutfhland“ über das Bore
geben des Zenſors empire. Im ©egen-
teil, wir wünfhen aud in Deutfdland,
daß die Republik endlich begreifen lerne,
was Bolfsjitte bedeutet. Wahre
Demofratie ijt nicht möglih ohne Gitte.
Staatspuritanismus!
Ri Geptemberbeft des „Oftwarts“
einer bom DBübhnenpolfsbunde bere
ausgegebenen Seitfdrift, lefen wir unter
der inhaltfhweren Aeberſchrift „Arthur
Schnitzlers Ethik oder grundſätzliche Bee
denken von 1000 Mk. abwärts“ das
Folgende: „Man erinnert ſich, wie ſich
im Reigenprozeß die Grbpädter Der
Kunftfritit fpaltenlang entrüfteten, als
508
hygieniſch empfindende Menfden gegen
ferienweife Genfationsauffibrungen des
Reigens Ginfprud zu erheben wagten.
Aus beftunterridteter Quelle erfabren
wir, daß ein Theater, das mit Reigen-
ipeftafel ein wenig verfpätete Lorbeeren
ernten wollte, vom Verlage, als es das
Aluffiibrungsredht einholte, den Beſcheid
erhielt, der Gerfaffer fei aus grund»
fabliden Bedenken fiinftlerifher Art ge-
gen weitere Aufführungen. Nad folden
GrjHeinungen eine Revifjion des Reigen-
progejfes zu beantragen, wäre verfrübt
ren denn Herr Arthur Schnibler
rabtete denen, Die fic über fo plößliche
DEE unger einigermaßen wun⸗
derten, daß er gegen 2000 ME.
TSantiemeporihuß Diefe Be—
Denfen guridfteden wolle und
auf eine weitere etwas berunterhandeln-
de Anfrage, daß er ev. aud gegen
1000 ME. Tantiemevorſchuß
mit fid reden Iaffen würde...“ Wie
wir bören, find die Seleqramme nod
vorhanden. In einem Termin in Gaden
des neuen Reigenprozeifes, den Sladek
feit mehr als zwei Jahren gegen mid
„führt“, fagte Schnibler aus, für ihn fet
zwar das wirtſchaftliche Intereſſe ,aud
mit“ in Betracht gefommen, aber aus»
{HlaggebendD dafür, daß er entgegen
feiner früheren Stellungnahme die Auf-
führung des. Reigen geftattet habe, ſeien
Dod künſtleriſche Motive gewefen.
Tja, es ift nur ärgerlich, da der Wech-
fel in Schnitlers Anfhauung über die
Aufführbarfeit des Reigens juft mit der
Gntwertung der öfterreihifhen Krone zu-
fammentraf. Es wäre porfidtiger ge-
toefen, einen weniger verdädtigen Seit-
punkt zu wählen. Wie will Schnißler
ih fonft vor dem allgemeinen Ladeln
über die Tauſend-Wark-Ethik hüten?
Alles wäre in Ordnung, wenn er ine
nerlich fo frei wäre, ein Geſchäft Gefhaft
fein zu laffen, ftatt fein Gewiſſen mit
„Lünftleriiden Motiven“ und „neuer“
oder gar „höherer Gthif“ einzuwideln.
Go etwas fann man fid felbft vor-
maden, aber nidt andern. Denn bee
fanntlid ift man felbft immer gut, und
„die andern find immer béfe.
aul Nathan, Leitartiller des Bere
liner Tageblattes (wenn es die ihm
am Herzen liegenden Sntereffen ver-
langen, aud) Seitartifel des Borwarts)
foreibt im B. 3. (2. Oft. Abendausg.)
„Bon der politiiden Begabung der
Deutihen“. Da befanntlid die Juden
eine politiih ziemlih unbegabte Na»
tion find und nur felten einen bedeuten-
deren Politifer berporbringen — ihre
Stärfe liegt in anderen als den ei-
gentlid politiihen Fähigkeiten —, fo ift
Herr Dr. Nathan für diefes Thema be-
fonders guftandig. (Wilhelm Buſch:
„Denn immer, wo man nichts verfteht,
der Schnabel um fo leichter gebt.“) Wir
wollen von dem ridifülen Rationaligsmus
der Ausführungen Natbans über den
„tügften Bolitifer“ abfebn; aber daß
folgender Sat im zwanzigften Sabrhun-
dert gejdrieben werden fonnte, verdient
Dod Die Aufmerffamtleit der Kulturhifto-
tifer und Gthnologen: „Sm allgemeinen
wird nidt genügend beadtet, daß die
®ermanen fid in Guropa an jener Stelle
feBbaft gemadt haben, die politifa
fih etwa als die allerungünftigfte, als
die allergefährdetfte in unferem Erdteil
erwiefen bat; ein Mißgriff, der
nur gu entfhuldigen ift durd
die mangelnden geographi-
{den Kenntniffe jener Beit
der Metgelage* Daf Mofe und
Sofua das israelitifhe Bolf an die ,po-
litiſch allerungiinftigfte Stelle‘, die fid
„als Die allergefährdetfte erwiefen hat“,
plazierte, nämlich mitten hinein zwijchen
die Sroßmädte des Nils und des Bwei-
ftromlande3, war ebenfalls ein Mifsgriff,
und zwar einer, für den e3 — nidt ein-
mal den Milderungsgrund eines Met—
gelages am Berge Horeb gibt. Der nas
thanifhe Orundſatz lautet: Mangelnde
Kenntniffe find duch witzige Dreiftigfeit,
fahlihde Grwagungen duch Berbliif-
fungstaftif zu erjeßen.
Ri einer. Zeitung — daß es zufällig
der Vorwärts ift, tut nidts zur
Gade — finden wir auf der eriten
Seite unmittelbar untereinander folgende
Nadridten: „Die Reparations-
leiftungen. Aeberweiſung weiterer
5 Millionen Goldmarf durch die Rhein»
fandfommiffion ...*“ ,Die Blut
berrfdhaft in ®eorgien. Paris,
2. Oftober. Die georgiihe Delegation
veröffentliht ein Gommuniqué, daß in
®eorgien von den Sowjettruppen 9000
Aufftandifhe hingerichtet worden find, 63
Geijeln find in einem Gifenbabnguge nie—
Dergemadt worden...“ „Die DBörfe
tubiger. Die Börſe ftand Heute im
Seiden rubigeren Geſchäfts .. .“ Giebe
da: der Griede der Nie-wieder-Krieg-
Reute. Der Friede, den die friedlichen
Gertreter der Durch Bankintereſſen ins
nigft verbundenen und verbrüderten
Menichheit in Genf hüten und bewahren.
Zwieſprache
Dicies Novemberheft foll wie das vor»
jährige der Bücherberatung dienen.
Da wir aber gleihwohl an Sacob Böhme,
dem vielgerühmten und wenig gefannten,
an feinem Grinnerungstage — fein Leib
wurde vor dreibundert Sahren ins ®rab
efenft — nidt voriibergeben wollen, fo
aben wir ihm den beften Platz gegeben.
Da dadurch ein Gontrarium zwiſchen
©eift und Leib in diefem Heft entftanden
ift, wird der Reinfte und Innigſte aller
Deutiden im Paradiefe mit Freundlid-
feit gutbeißen. Sd midte wohl, daß die
Zarteren und die Aelteren unter unjern
Lefern den Grinnerungstag zum Anlaß
nähmen, fid mit Sacob Böhme zu bee
Ihäftigen. Freilih: man fann ibn nidt
ohne tiefe innerlide Rube, in der man
bellbörig ift für Unausſprechliches, leſen.
Man muß feine Gage oft Lefen, mandes
laut-leife, und immer Dorden auf das,
was Dahinter ift. G8 ift wie Traum,
der aus dem Tiefften unfres Wefens
aufdämmert. Gdrehers Ausgabe des
Budes „Vom dreifahen Leben des
Menfdhen* in den Schriften „Aus alten
Bücherſchränken“ gibt eine bequeme Mög-
lidfeit, einmal eines der fpäteren Haupte
werfe (von 1620) des pbilofophus Teuto-
nicus gang Ddurdgulefen. Gonft ift febr
beliebt die fleine gute Auswahl „Jacob
Böhme“ von Bofeph Grabifh in der
Sammlung „Die Fruchtſchale“ (Berlag
pon Grid Lidtenftein, Gena) und Die
gré bere Auswahl in den Dom-Bänden
es Injel-Berlags. In der Injel-Aus-
gabe findet man aud den Hauptteil des
Myfterium magnum. —
Aud den „Meifter Foahim Paufe-
wang“ von Kolbenheyer wolle man fid
nidt entgehen lajfen. In diefem Roman
begegnet uns Sacob Böhme als Gefelle. —
Gon unjerm Mitarbeiter Dr. Heinrich
Höhn, aus deffen jhönem Gpiel „Die
Drei Könige“ wir im vorigen Jahr eine
Ban bradten, follen im DBerlag von
udwig Spindler in Nürnberg, Burg»
ftraße 6, Gedidte erfdeinen. Man fann
509
darauf fubffribteren (unter 20 b. H. Preis-
nadlafs) im Laufe dieſes Monats. Wer
das Dreiföniggipiel und „die Kirche Got-
tesgüte“ von Höhn fennt, weiß, daß er
etwas eines erwarten darf.
Gon Walther Slaffens „Werden des
deutiden Volkes“ erfdeint eben das lebte
(zwölfte) Heft. Damit liegt der dritte,
abichließende Band des Werfes (gebunden
6 ME.) fertig vor. 63 ift Die Gefdhidts-
darftellung, die unfre Lefer am meiften
intereffieren wird.
And nun nehme id einen fleinen An-
lauf und wage das Gingeftändnis, daf
aud von mir zu Weihnadten ein Bud
— nein, ein Büchlein erfdheint. G3 find
nod) immer nicht „Die drei Stände“, fone
dern es ift erft ein Andadtsbud: „Das
DBüdlein TShaumafia“, und enthält „drei—
Big Andadten por den Wundern des
Lebens“. Ich gebe darin — mie foll ich
fagen — fo etwas wie die Örundzüge
meiner pbilofophifhen und
Weltanfhauung. Die fattelfeften Natur»
wiffenfafter unfrer Zeit werden, hoff
‚ den Kopf zu den Dingen fdiitteln,
die ich gejchrieben babe. Späterhin, dag
boff id aud, werden fie verftändiger
über die mehr phänomenologiſche Be—
trachtungsweiſe, die ich anwende, urteilen,
wenn fie erft mehr aus ihrem derzeitigen
pbilofophifhen Sattel gehoben find und
wieder das gute deutfhe Flügelroß des
- Paracelfus und des Jacob Böhme au bee
fteigen wagen. Das Buch erfdheint im
®reifenverlag in Rudolftadt (der die
Herausgabe anregte) und foftet ge
bunden 4 Mt.
Die ,Dorffirhe* Hans von Lipfes,
die ung in der Gefinnung nabeftebt, laft
feit dem vorigen Monat eine Seilaus-
gabe unter dem Titel ,Rirde und Volks—
tum“ erfdeinen, die über die Kreife der
©eiftlihen hinaus bie Beziehungen zwi—
[hen Kirhe und Bolfstum erfennen und
pflegen will. (Berlag der Deutfden
saabous paneling, Berlin, Preis viertel-
jabrlih 150 WE) Wir weifen unfre
evangelifhen Lefer darauf bin; e3 bane
delt ſich um eine Gade, die fowohl für
te Kirde wie für das Bolfstum wichtig
1 —
Der „neue Reigenprozeß“, den Maxi—
milian Sladef und Gertrud Eyſoldt unter
dem PBeiftande Wolfgang Heines wegen
meines im März 1922 erfdienenen Auf⸗
fates über das Reigen-Öeihäft gegen
mid führen, foll am 13. Dezember im
Amtsgeridt Alt-Moabit in Berlin zur
Berbandlung fommen. Endlid wird Herr
Gladef aus dem Zweifel’erlöft, ob er fid
feit bald drei Sabren mit einer von mir
beleidigten oder nicht beleidigten Ehre
im beiligen Dienfte jener Art Kunft auf-
510
etbifden -
opfert, bei der Die Beteiligten mit Gifer
gu berfihern pflegen, daß „dem Reinen
alles rein“ fei. Der halbverwefte Prozeß
wird alfo endlih auf den Obduktionstiſch
geboben. Als der Reihspräfident ein-
mal beleidigt worden war, fagte fein
Berteidiger Wolfgang Heine, nad ein-
dreiviertel Sabr fei das Sntereffe daran
erlofhen. Herrn Sladeks Ghre ift weit
bartnädiger als die des Reihspräfiden-
ten. Ich glaube nidt, daß es gelingen
wird, den „Reigen“ neu aufzuladieren
und intereffant gu maden. Sogar die
Berliner „Repüen“ beginnen ihre Dare
ftellerinnen fhon wieder anzuziehen. Ar-
thur Gdnibler wird dem Anzug der Zeit
permutlid bald folgen. Die allgemeine
Ablehnung, die er fid mit feiner „Romö-
die der Verführung“ gugog, war deutlich
genug. Garl Weichhardt ſchrieb in einer
guten Befpredhung des Stüdes in ber
Sranffurter Zeitung: „Als die Frau des
Bantpräfidenten ihren @atten im Gee
fängnis glaubt, jubelt fie, daß fie mim
ſchlafen fann, wo und bei wem fie will;
vom Schlafen in diefem Ginne fpreden
die Grauen bier bis zur Grmüdung, und
diefe Atmofpbhäre der Anſau—
berfeit — man muß das Wort bei-
nahe aud rein phyſiſch verftehen! — bee
rührt darum fo undelifat, weil der
Didter nidt fühlen läßt, daf
er über ibr ftebt.“ „So redet und
lebt fie fi in das von Galfenir und —
Schnitzler ihr eingeimpfte und auf-
fonftruierte Dirnentum hinein.“ Niemand
aber bat den Reigen fo trefffider gefenn-
zeihnet wie Herwarth Walden in ein
paar ironifhen Worten im „Sturm“ (wo-
bei wir ung darauf Dinguweifen geftatten,
daß Walden in feinen fritifmen Sronien
im „Sturm“ zuweilen ganze Abfchnitte
von Literaturgeſchichten überflüffig madt;
das Gergniigen, dag man beim Lefen von
Literaturgefhihten nidt bat, bat man
dabei obendrein.) Wir führen aus Wal-
dens „Sinn und Sinne“ (Mat 1923) an:
„Die Kultur ift für die Ginnlidfeit. Woe
runter fie einen Schlafzimmerſchmarren
pon Herrn Sdnibler verfteht. Obne Def-
fous einer Weltfirma. Unter folder
Ginnlidfeit firmiert in dieſer großar-
tigen Kultur die Welt. Eine Kultur, ge-
madt von Leuten, die Deffus für Def-
fous balten und denen Deffous das Le-
ben der Sinne ift.“ Weiter ift nidts zu
fagen. — Man „darf“ jebt wieder an-
ftändig fein, ohne als Muder und Spie-
fer zu gelten, Herr Sladef. Warum alfo
Ihre Bemühungen? Geien Gie dod nidt
fo pride. —
Lefer, die auf eine woblgelungene
Bildnisbifte Alfred Kerrs Wert legen,
maden wir auf Wr. 32 des Simplicijji-
mus pom 3. November aufmerffam. Da
bat Karl Arnold den zarten Heros in
®ips gezeichnet und diefes Denfmal mite
ten in dad reigpollfte Afrika gefebt. Je—
ber Sug des Antlites ift edel wie Gips.
Der befannte @orilla naht fid dem Rule
turträger brüderlid pom Stamm der
Palme ber.
Bir hatten im Yuliheft zwei Fragen
an Herrn ©eneral von Deimling (einen
jener @enerale, die gefunden zu baben
unfre Demofraten fo überaus glidlid
find) geridtet und ibm dad Heft guge-
{hidt. Keine Antwort. Nirgends bat er
die angeregten Gragen bebandelt. Sept
wiffen wir, daß er fie nicht einmal in
feinem Getviffen behandelt bat; denn —
Sräulein Glifabeth von Deimling bat bas
unbequeme Papier abgefangen. Als Herr
v. Reibnis einen eingeihriebenen Brief an
den General richtete, antwortete ibm Pa-
pas gutes Rind, fie babe ihrem Pater
den Brief nidt gu lefen gegeben. „Mein
Gater bat gute Schubgeifter, die ihm
folde ‚Biftfpriger' fernhalten.“ (Man
bört aus dem Sonfall diejes Gages forme
lid den fauerliden Gdelmut tropfen.) So
ift es redt. Wer im öffentliden Leben
ftebt, darf nie Kritif gu hören befommen.
Sonft fönnte er in feiner Gefinnungstid-
tigkeit Schaden leiden. Fräulein von
Deimling erinnert fehr an die brave
Märdenfrau im Walde, die den guten
Däumling vor dem böfen Menfdenfreffer
befdiibte, der ihm zu Leibe wollte. Die
Rolle des großmädtigen Generals und
lorreidhen Hererobefiegers wilhelmini-
fipen Angedenfens ift in Ddiefem Galle
Ban aer deimlingshaft als däumlings-
t. —
Inzwiſchen iſt der Reichstag aufge—
Wer die Waſſen leiten will, muß ſich auf
Situationen für die Maſſe verſtehen. Der
Reihspräfident Hat dieſes Berftandnis
aus langer Schulung, feine ®egner nicht.
Die einzige Bedeutung, welde dieſe
Wahl Haben Tann, ift, daß fie eine
Stappe auf dem Wege zum Zweipar-
teienfpftem wird. Wir fteuern — une
ausweihlih — auf die Parteien Shwarz-
mweiß-rot und Schwarz-rot-gold gu. Da-
wifhen werden die Belanglofigfeiten
— Irgend etwas geihiht-
lid bedeutfames Neues aber wird aus
dem Parlament, fei e3 fo oder fo, nicht
erwachſen. Das fann nur nod außer-
balb des Parlaments und gegen das—
felbe erftehen. Da das bei den Shwarz-
mweißeroten am Odeutlidften empfunden
wird, werden diefe parlamentarifh am
ebeften im Nadteil fein. Zumal Sfidor
dad nötige Kattun für Schwarz-rot-gold
aus feinem Warenhaus gratis zur Der-
fügung ftellt — e3 trägt'3 wieder ein.
Das Befte, was dem deutſchen Bolf zu
Weihbnadten gefdentt werden fönnte,
wäre ein Reichstag, der aus zweihundert
didtenfetten, penfionsberedtigten Gozia-
liften und gweibundert aufgeregten fom-
muniftijhen Suden mit mebender Haar-
tolle beftiinde. Das ware ein herrlicher
Anblid. Das müßte einmal durdhgemadt
werden. Man muß fie fid „bewähren“
laffen. Aber man madt’3 bei uns (im
Oegenſatz zu den Gngldndern) fo: man
läßt Die Internationalen die Situationen
fbaffen und dann — übernimmt man
aus nationaler Gemiffenhaftigfeit die
Gerantwortung für die von den andern
geihaffene Lage. Was foll man folder
politijder Weisheit gegenüber andres
tun als die Achſel zuden? Im übrigen
lft worden. Der damit erftrebte3med ift Das eigentlid Widtige Die
wird im allgemeinen erreiht werden. Reidsprafidentenwabl. St.
Stimmen der Meifter.
Und geben euch dies hoch und ſcharf zu erkennen, daß Oott alles ans Licht
hat geſchaffen, und nicht in die Binternis: Denn dem Tode im Gentro, als
dem Leibe, oder dem fdrperliden Wefen der Erden, bat er erwedet die Sinctur,
das tft ihr Slang, Schein und Licht, darinnen ftehet ihr Leben; und der Tiefe über
Dem Gentro bat er gegeben die Sonne, welde ift eine Sinctur des Feuers, und
teidet mit ihrer Kraft in die Freiheit außer der Natur, in welder fie aud ihren
@lang erhält, und ift des ganzen Rades der Sternen ihr Leben, und ein Auf-
(hliehen de3 Todes in der .Angft-Rammer, denn alle Sterne find ihre Kinder:
nidt daß fie derer Gffentien babe, fondern ift ihr Leben, und aus ihrem Gentro
Be fie am Anfang gangen; fie find das Gentrum des Obern in der Greibeit des
ebeng, und die Grde ift das Gentrum de3 Antern im Tode, und da dod fein
Sterben in feinem ift, fondDern Berdnderung des Wefens in ein anders. — Denn
diefe Welt ftürbet nicht, fondern wird verändert werden in ein Wefen, fo es vor nicht
war, verftehe die Gifentien: aber der Schatten aller diefer Wefen bleibet
ewig fteben, alg eine Figur zu Gottes Ehre, Freude und Wundertat.
Sacob Böhme,
511
Bücher und Bilder für unfern Kreis.
Aus der Ernte des legten Jahres.
Bon Or. Wilhelm Stapel.
We niht gerade beruflid oder aus
Riebbaberei feine Teilnahme einem
beftimmten Rulturgebiet zumwendet, wird
immer in der Wabl Feine: Reftüre
dem Zufall ausgeliefert fein; ihm fehlt
der fefte Wittelpunft, pon dem aus er,
feine Ontereffen erweiternd, in die vere
{diedenften ®ebiete eindringt. Aber aud
wer einen folden feften Bunft bat, von
dem aus er „weiterarbeitet“, wird bei
der Wahl der allgemeinen Lektüre oft
genug vom Zufall beftimmt. Daber ent»
fteht das Bedürfnis nad einer fadliden
Beratung für die Budwabl, und es wird
ganz bejonders rege zu der Zeit, da der
Deutide, alter Volksſitte gemäß, am
bäufigften Bücher allgemeineren Inhalts
fauft, in der Gorweihnadtsgeit. Man-
derlei ,,Weihnadtsfataloge* voller
„Waſchzettel“ und manderlei „Literarifhe
Berater“ mit mehr oder weniger ftrengen
„genfuren“ haben in diefem Bediirfnis
ihren Urjprung.
Gir den Kreis um das „Deutſche
Golfstum“ und die Fidte-Sefellfdaft
baben wir im vorigen Sabr eine Zur
fammenftellung folder Bücher begonnen,
die „man zu Weihnadten faufen fann“.
Bir bringen nun jabrlid als Fortſetzung
eine Ausleje aus den Neuerfheinungen.
DBollftändigfeit wird nidt erftrebt. Wir
arbeiten vielmehr fo: was ung an guten
oder dod braudbaren Werfen, pon denen
wir meinen, daß fie unfern Leferfreis
angeben, unter die Hand fommt, heben
wir aus der Slut des Boriibergleitenden
auf. Der Lefer Hat die Giderbeit, daß
die bejprodenen Biider nidt aus ge
{aftliden oder unfadliden Griinden
auggelefen find, fondern daß ibm ein
ebrlides Urteil geboten wird. Zenfuren
über die Bücher erteilen wir nidt, da
wir uns der Gubjeftivitat unferer Gtel-
lung bewußt jind und weder uns nod
andern eine anjprudspolle Objektivität
pormimen mödten. Ehrlich fein ift ein
möglihes Siel, objektiv fein ijt ein une
möglihes Biel, ohne BegriindDung ab»
ae urteilen ijt eine Anverſchämt—
eit.
Dies für das Folgende vorausgefebt,
eben wir einen leberblid über etwa
Fiber Bücher, die in der Mehrzahl in
diefem Bahr erfdienen find. Hin und
wieder greifen wir auf Aelteres zurüd,
512
das wir im vorigen Sabre itberfeben
hatten. Die Preife geben wir an, foweit
wir fie ermitteln fonnten. Sie gelten für
die einfad gebundenen Gremplare, es
gibt von manden Werfen aud beifer gee
bundene Ausgaben, worüber man fid
beim Buchhändler erkundigen mag. Sft
das Bud nur gebeftet zu haben, fo wird
das ausdrüdlih angegeben.
Sir die Jugend.
Bon den Kreidolfihen Bilderbiidern,
die wir ftets in erfter Reihe empfeblen,
find die „Alten Rinderreime* neu ber-
— darin einige der ſchönſten
Bilder Kreidolfs wie das Nadtbild.
Für das allerfdblidtefte Rinderthe-
ater im Haufe (Kinder im erften Schul-
jabr) fönnen wir jest Grid DBodemühls
„DWeihnadtsipiele“ empfehlen. Die 15
Stüdlein ſind bon einem wirfliden Did-
ter im engften 3ufammenbang mit der
Sugend gejdaffen worden und fteben den
Kleinen wirflid gu Geftalt und zu
Munde Aud die Lehrer werden viel
Anregung von dem Bude haben. —
Sur Einführung der heranwadfenden
Sugend in Die Gagenwelt hat Leopold
Weber nun aud den großen Sagenfreig,
der fih um die Seftalt Dietrids gebil-
det bat, in einer zufammenbängenden Gre
pablung dargeftellt. Die Sprade ift ähn-
id wie in Webers „Midgard“. Das
Bud enthält: Dietmars Tod, Iungdiet-
rid, Sm Glend, Der Nibelungen ot,
Heimkehr. Wijfenfhaftlide Beherrihung
des Stoffes, Stilgefühl und formftarfe
Gpradhgewalt zeichnen die Graäblung
Webers aus. — Die Jugend (etwa
Zwölfjährige) zu Wolfram von Eihen-
bad binzuführen, unternahm Wuttig in
einer Enappen und ſchlichten Nadherzäh-
lung des „Willehalm“. — Wer ,altmo«
dif“ genug ift, feinem Sungen eine
tedte Bolisgeihihte zu geben von einem
tapferen Knaben, der Hujar wird und
den fiebziger Krieg mitmadt (mit Bil-
dern dazu), ridtig „für Sungens“ er-
zählt, dem fet Sohnreys „Hirfchreiter“
empfohlen, der eben neu berausgefommen
ift, um ein Weltfrieg-Rapitel vermehrt.
Um Die Ratucaniecuntiy anguregen
und zu bilden, find immer nod die Na-
turftudien Des alten Mafius am aller-
geeignetjten. Seine Skizzen find wohl
das Befte, was in der Nadfolge Alerane
der von Humboldts in diefer Hinfidt ge-
{dhrieben ift. Sch babe in einer Auswahl
feine ſchönen Landfdaftsbilder unter dem
Titel „Norddeutihe Landihaft“ neu ber»
ausgegeben. Wer Almfaffenderes will,
pele a OGrubes „Sharafterbildern deut-
den Landed und Lebens“. Bom „alten
©rube“ ift in den neueften Auflagen frei»
lid wenig mehr übrig geblieben, feine
Darftellungen find erſetzt durch mander-
lei Auffäße pon verjchiedenem Wert, die
aber als ne einen guten Meberblic
geben über Landfdaft und Menfden-
leben. Zu den Darftellungen der deut-
fhen Landfhaft nehme man eine gut les—
bare deutſche GefHidte hinzu für die ältere
Sugend. Wir empfehlen die von Wal-
ther Glaffen, deren dritter (und Iebter)
Band foeben fertig wird.
Aus alten Zeiten.
Die Sammlungen altnordiihen Schrift-
tums, die wir im vorigen Sabre emp"
fablen, find inzwifhen um mebrere
Bande weitergeführt worden. Die Samm-
lung „Zhule“ bringt in ihrer zweiten
Reihe Ueberjegungen romanbaft ausge
fiibrter nordijder Heldenfagen, die im
Anſchluß an die alten Gagas und in
ihrem Gtil entftanden. Und zwar ent-
halt der Band „Isländifhe Heldenro-
mane“: die Wölfungengefhihte (die für
die Nibelungendidtungen widtig ift), die
Gefdhidten von —— Lodbrok, von
Nornageſt und von dem berühmten Dä-
nenfönig Hrolf RKrafi. Gin befonderer
Band enthält „die Sefdhidte Thidrefs
pon Bern", die nordifde, auf niederdeut-
{he Quellen urüdgehende Faſſung der
Dietrichlage, ie wir für unfre Ddeutfde
Heldenfage, aud für das Nibelungenlied
(vgl. Heusler, Nibelungenfage und Nibe-
lungenlied) gum Berftandnis beranziehen
müffen. Insbefondere der Thidrefjaga
wünfhen wir aufmerffame Lefer.
In der Sammlung „Bauern und Hel-
den“, die Walter Baetfe Herausgibt, ift
der Geihihte bon „Olum, dem Tot
Ihläger“ die berrlide Gaga von den
„Shwurbrüdern“ Shorgeir und Thormod
gefolgt. Blutsfreundihaft, Blutrade,
Sfaldentum poll heroiſcher Wildheit.
Das Bändchen ift mit Einleitung, Karte
und Bildern fo ausgeftattet, daß man
ugleid eine gute fulturgefhihtlide An-
I chauung gewinnt. Wud) für die heran—
twadjende Sugend vortrefflid geeignet.
Dem es zu fdwierig ijt, die Nibe-
lungen im Lrtert zu Tefen, der greife
u der wieder neu aufgelegten freien
Deofarübertragung des treffliden Soe
annes Gderr. Ich ziehe fie den dich—
teriihen Aeberſetzungen por. Man fann
das Bud aud benuten, um fid mit fei-
ner Hilfe in den Artert einzulejen. Bor-
trefflih ift Der Bildihmud (Bendemann,
Retbel ufw.).
Ginen erlefenen ®enuß bietet die bon
Wolfsfebl und v. d. Leyen herausgege-
bene Sammlung ,eltefter deutfder
Dihtungen“. Links fteht der Lirtert,
redts Wolfskehls fid glücklicherweiſe
meift eng an den Wortlaut anjdliefende
Ueberjepung. Das Nadwort gibt, was aus
Literaturgeihihte ufw. zum Berftandnis
nötig ift. Die Sammlung beginnt mit
dem Hildebrandglied und ſchließt mit
dem Grgolied. Dazwiihen Zauberiprüde,
Liebeslieder uſp. Merfwiirdig, wie tief
uns heute die altdeutide chriſtliche Dich-
tung padt — nidt nur poetifd, fon»
dern aud) religiös. LInglaublid ſchön ift
das Marienlied der Welker Handicrift.
Möchten wir für diefe Dinge wieder
bellhörig werden!
Gom deutfden Volkstum.
Als ein ag Werf nennen
wir vor allem „Pie nordiihe Geele“
pon Glauß, weil fi dieſes Bud in
eigenartiger Weije mit den grundlegen-
den Begriffen wie Artung und Shidjal
beihäftigt. Gin fühnes, in die Probleme
eindringendes Bud, mit dem ſich aus-
einanderzufegen Gewinn bringt.
Wertvoll ift Weigerts „Religiöfe
Volkskunde“. Was Pfarrer [’Houet in
feinem pradtvollen Bud über die Piy-
Hologie de3 Bauerntums begann: dads
Berftdndnis volfstimlider Religion,
wird bier in fnapper, flarer Weife von
einem fatbolijmen Pfarrer gum Thema
gemadt. Das Biidlein bat in feinem
Wefentliden Bedeutung über die Gren-
gen der SKonfejfion binaus. — Ginfhs
Heftlein „Der Ahnenhorft“ ift geeignet,
das Verſtändnis für den Familien- und
Bolfsgufammenbang und das Gerantwor-
tungsgefühl für alles, was Die Bers
erbung uns auferlegt, zu weden.
Volkstum und Landjdhaft gebören
aufs engfte zufammen. Das tritt deut—
lid) berpor in den beiden Bänden „Das
{dine deutſche Dorf“, insbefondere in
dem von Guſtav Wolf verfaßten Bande
„Das norddeutihe Dorf“, das nidt nur
äfthetiihe, fondern gerade aud volts
fundlide Intereſſen befriedigt. Gine
Fülle wundervoller Bilder Bft das
Auge öffnen für Das, worauf e3 an«
fommt. ud die oben erwähnten Stu—
dien von Mafius über die norddeutiche
Landſchaft mit ihrer feinen Kunft des
Wortes fommen in Betradt. Gin volfs-
fundlih reigvolles Bilderbud (mit dem
man Der Jugend Freude maden wird)
ift Das Wanderpogelbud, deffen zweiter
513
Band zum großen Teil auf Bolf und
SD eingeftellt ift.
Dah das Redt eigentlih nidt eine
Angelegenbeit der Suriften, fondern des
Dolfes ift, bat unfre Zeit ganz vergeffen.
Gin Büdlein wie Paul Bartels’ „Deut-
fhes Redtsleben in der Bergangenheit“
follte jeder lefen, nicht bloß, weil e3 eine
reizvolle Lektüre ift, die den Lefer bis
gem Schluß feftbält, fondern aud, um fid
Tar zu werden, was das Redt urfprüng-
lid und eigentlich it.
Damit fommen wir fhon in die volfs-
fundliden Stoffe felbft hinein. Wir nen-
nen Haldys intereffante Sammlung ber
„Deutihen Bauernregeln“ (mit entzüden-
den Monatsbildern pon ®ampp) und —
ein ebenfo eigenartiges wie liebevolles
Werf — Fraengers ,Bauern-Bruegel
und das deutidhe Spridwort*. Pieter
Bruegel der Aeltere war ja der Maler
des Sprichworts. Fraengels reid illu.
ftrierte Grilarung ift ein rt ge
Beitrag zur Sprichwörterkun — Die
Kajperfpiele find darge behandelt
bon dem Hamburger Johs. G. Rabe in
„Kafper Putſchenelle“, deffen zweite, ers
beblid überarbeitete und vermehrte Aus-
gabe neulid) berausfam. Rabe zieht das
ganze Abendland in feinen Bereid, den
Hauptteil nimmt jedod der Hamburger
Kafper ein, der in einer Reihe von
volksechten Stüden vorgeführt wird. Da-
u fet nod auf den mit vielen Bei-
f, ielen gefpidten ,SHamburger Bolfs-
bumor“ von Paul Wriede —J—
lehrreich und vergnüglich für alle Lieb-
haber plattdeutſchen Schmunzelns.
Hierher können wir aud Karl‘ Bud-
des „Das alte deutſche Weihnachtslied“
ſtellen, das ja in ſeiner Oeſamtheit beſtes
Volksgut iſt. Budde gibt ſorgfältig die
alten Texte. Dazu die Noten.
Oeſchichte, Politi
8eſeilſchaft; ietisaft
Das Sefdhidtswerf, das wir für
unfern Kreis befonders empfeblen, ift
Walther Glaffens » Werden des Deut-
fen Volkes“, das nun in drei Banden
(der dritte Band führt bis zur Grrid-
tung des Deutiden Reiches) abgefdloffen
vorliegt. G3 ift nidt eine wiffen-
{haftlide Leiftung, fondern, auf dem
Grunde miffenfhaftliher Studien, eine
voltspädagogifhe Arbeit. Slaffens Teil-
nahme gilt überall dem Bolt im höch—
ften Sinn des Wortes. — Bon gefdhidts-
wiffenfdaftliden Werfen beben
wir Griedrid) Meinedes foeben erjchie-
nene „Idee der Staatsräfon in Der neue»
ren Oeſchichte“ hervor, ein großes ideen-
gejdhidtlides Werf, das von Madie
avelli ausgeht, bis gu Ranfe und
514
Treitidfe reicht und mit einem Dlid auf
die Gegenwart fließt. Das Bud bat
bie DBorzüge und Schwächen des be-
rühmten Werkes über „Weltbürgertum
und Nationalftaat“: forgfältiges Gindrin-
gen in die Gntwidlung des Sdeellen,
aber ohne die fefte Bertniipfung mit
dem tatfadliden Gefdheben. Go gibt es
piel Grfenntni8, aber wedt nidt den
Willen. Wer nad tieferer biftorifcher
Grfenntnis ftrebt, wird fi mit Diefem
Werfe ebenfo auseinanderjegen miiffen
wie mit dem älteren Werle. Man muß
freilich felbft politifhen Inſtinkt mitbrin-
gen, da Meinede wobl ein gelebrter, aber
nicht ein inftinftiv-politifher Menſch ift.
Gir den, der Hiftorifden Sinn hat, ift
nidts genufreider als dag Studium pon
Quellenwerfen in guten Ausgaben. Ne-
ben Die altbefannte Sammlung „Aus
deutfher Vorzeit“ tritt jest eine neue,
glänzend ausgeftattete, mit zum Teil zeit-
gendilifden ildern: „Das alte Reich“,
die Quellenwerfe aus dem Heiligen
Römiſchen Reid deutfher Nation bringt:
Die buntbewegte, zum Teil Augen-
zeugen naderzählte „Oeſchichte des erften
Kreuzzugs“ pon Albert pon Aachen
in zwei, von SHefele gut aus dem
Lateinifhen überjegten Bänden; dann
die berühmte „Limburger Shronif“ (Zeit-
alter Karls IV. und Wenzels) mit aus-
fibrlider Ginleitung von Otto §. Brandt;
endlid „Die Wiedertäufer zu Münfter
1534/35. "Berichte, Ausfagen und Aften-
ftüde von QAugenzeugen und Beitgenof-
fen“, ausgewählt und itberfebt pon Kle—
mens Löffler. — Wer fulturge[hidtlide
Belebrung in angenehmer Gorm fudt,
greife gu der neuen großen Ausgabe bon
en „Bildern aus der deutſchen
— die mit einer Fülle gu—
61 —— ——— Bilder ausgeſtat⸗
ere politiiden Bildung nennen wir
gunddft Die Neuausgaben zweier bee
rühmter alter Autoren: Adam Müllers
Borlejungen über die ,Clemente der
Staatstunft* (vor allem nationalifono-
mifh), herausgegeben von Safob Bara.
Es ift ein Hauptwerk der Romantik mit
ihrer organiihen Staatsauffafjung. Zum
andern Paul de Lagardes „Schriften
für das Deutfhe Bolf“, herausgegeben
von Paul Gilder. Diefe Ausgabe, de—
ren erfter Band die „Deutihen Schrif—
ten“ enthält, befriedigt endlid die Ane
{priide des Gebildeten an Ausftattung
und Gollftandigfeit. Wir empfehlen fie
uneingefhränft jedem Deutfden, der
felbftändig über politiihe und religiöfe
Dinge zu denfen vermag und der ge
wohnt ift, dabei aud auf literarifche
Qualität zu adten. G3 dürfte feinen ge-
bildeten Deutiden welder „Richtung“
aud immer geben, der diejen in gewiffer
Deife „vollftändigen“ Lagarde nidt mit
Sewinn und GFreude Lieft.
Neuere umfaffende Schriften zur Po-
litif: Soeben beginnt ein bon Berens-
mann, Stablberg und Roepp herausge-
gebenes „völkifhes Handbuh“ unter dem
Titel ,Deutide Politif in Lieferungen
zu erfdeinen, das nad dem vorgelegten
Orundrif ein wiffenfhaftlid folides, um-
faffendes Werf für das Studium fowre
gum Nadfdlagen gu werden fdeint. Die
erfte Lieferung (Greihberr bv. Berfduer
über „Rafje“) zeugt von vorfidtiger und
dod flarer chohanbling des Segenftan-
des. Die „Schriften zur politiihen Bil-
dung“, die von der Gefellfdaft „Deut-
fher Staat“ herausgegeben werben, be-
bandeln in billigen Heften teils allge-
meine, teils aftuelle politifhe Fragen,
man lieft fie durhweg mit ®ewinn. Die
Zendenz ift „rechtsgerichtet“, aber einige
Hefte ftehen geiftig fo hod, daß ihnen
gegenüber Begriffe wie „rechts“ und
„lints“ wefenlos werden. — Da von der
geltenden „Weimarer Gerfaffung* oft mit
piel Ankenntnis gefproden wird, empe-
fehlen wir die umfaifende Darftellung
und Sritif, die v. Freytagh-Loringhoven
ibt: „Die Weimarer Gerfaffung in
Zebre und Gegenwart.“ 63 ift dringend
notwendig, daß die Gebildeten fid inten-
fiver mit der Berfaffung, in welder
der Orund zu unfern unmögliden poli-
tijden Zuftänden liegt, befajfen. — Gin
gang porzügliches, zugleich pojitines wie
itiſches, Schrifthen ift Wilhelm Stah-
lind „Die völtiihe Bewegung und unfere
Verantwortung“, dem id große Berbret-
tung wünfche unter all denen, die über-
Haupt nadgudenten gewillt find. — Gin
foasertogo ifhes Bud, das aud zu
politiih beadtliden Ginfidten perbiltt,
ift Baſchwitz' Behandlung des ,,Maffen-
wahns“, der Pſychoſe, welche faft die
ganze Welt gegen die Deutiden einge-
nommen batte. — Gndlid fet noch auf ein
Werf der indifden nationalen eae
bingewiefen: Mahatma Gandhis „Jung
Indien“. Die Aufjabe Oandhis müjfen
freilih gelefen werden mit Berftandnis
für die Gigenart des indifden Wefens.
Gon fogialen Dingen wird unendlid
piel geihrieben, aber wenig, bas weiter
führt. Was follte man aus der afademi-
{hen Literatur einem größeren, nicht
fadlid intereffierten Rreife empfehlen?
Wir empfehlen in erfter Reibe Die
Schriften pon Heinz Marr. Seine $ranf-
furter Antrittsporlefung „Bon der Ar-
beitsgefinnung unferer induftriellen Maf-
fen. Gin Beitrag zur Frage: Wenſch
und Majfdine* tft zugleih überzeugend
und daraftervoll. Diefes Sindringen in
die feelifhen (und fittliden) Grundlagen
des Wirtfdaftslebens fheint nur allein
weiterzuführen. In diefer Richtung lie»
en aud Die wertpollen Schriften von
ugen Rofenftod, fowobl fein großes
Bud über „Werfftattaugfiedlung. Unter-
fuhungen über den Lebensraum des In—
duftriearbeiter3“ als aud die fnapp gue
fammenfaffenden Aufſätze in „Induftrie=
polf“. Aus der nationalen Oewerkſchafts⸗
beivegung find zwei Schriften entftanden,
die weit über Die Oewerkſchaftskreiſe hin-
aus gelefen gu werden verdienen: Hans
Bedhly „Bolt, Staat und Wirtidaft™
und Maz Habermann ,Die Erziehung
eee deutſchen Menſchen“. Sener beban-
elt die wirtichaftspolitifchen, Diefer die
polfserzieherifhen Sragen nidt nur pom
rein gewerffhaftlihen Gtandpunft aus,
fondern mit Ginftellung auf das Volks—
ange, alfo mit bidfter Verantwortliche
eit. — SHingewiefen fei nod auf eine
fpezielle Abhandlung, auf Gerhard Oün⸗
thers „Das Hamburger Bolfsheim 1901
bis 1922. Die Geſchichte einer fogialen
Idee“. Es iſt nidt eine Gefdidte der
perfinliden Bemühungen, fondern der
fogialen Idee, die fih im Hamburger
Boltsheim, das einft auf Walther Glaf-
fens Anregung entftand, ausmwirfte.
Beltanfhauung.
Das Beftreben, tiefer in den Ginn
und Zufammenhang des Lebens einzu-
— iſt in unſerem im übrigen recht
troſtloſen Zeitalter zweifellos ſtärker por-
handen als in jenen Jahren, da die Phi-
lofophie in Gefdidte und die Theologie
in den Kämpfen um ortbodor und liberal
aufging. Die religidje und philofophiiche
Literatur gewinnt an Tiefgang, und das
erftredt fid aud auf die Pfydologie.
Begeidhnend ift fon, daß jest alte
Werke von großer religiöfer und pbilofo-
pbifher Bedeutung, Die früher in den
Hintergrund gerüdt waren, neu bervor-
euer und einer größeren Leferfdaft
argeboten werden. Martin Lutbers „de
ſervo arbitrio“, die gegen Grasmus von
Rotterdam gerichtete Streitihrift, die zu
dem Siefften gehört, was der Reformator
überhaupt geihrieben bat, wurde unter
dem Titel „Bom unfreien Willen“ naw
der alten Ueberfegung des Suftus Ionas
neu herausgegeben bon Griedrid Oogar—
ten. Daß diejes Meifterwer~ von Bere
ftandesihärfe und Hergenstiefe fo febr
vergefjen werden fonnte! Mandes fdiefe
Alrteil über Luther fdien mir auf man-
gelnde Kenntnis diefes Werkes, das nicht
weniger widtig ift als das von der
babplonifhen Sefangenfdaft der Kirche,
zurüdzugehn. — Das Iacob-Böhme-Iahr
515
bat uns die von Lothar Schreyer bee
forgte Neu-Ausgabe des Werfes „Bom
dreifahen Leben des Nenfhen“ gebradt,
eins der fpäten Hauptiwerfe. (Die meiften
Tefen immer nur die Aurora oder Aus»
wahlen.) Böhme erfordert ftillfte, tieffte
Hingabe, fonft ftebt der Lefer ratlos vor
berrlid) Elingenden, aber unverftandenen
Gaben. Wer aber darauf und Ddabinein
zu hören verfteht, wird fo tief innerlich
erwedt, wie nirgends fonft. Den De-
tinger fennen die meiften nur aus Mö—
tifes „Turmhahn“ als einen der „from«
men Schmwabenpäter“ (1702—82). Sebt
hat Otto Herpel eine Auswahl aus fei-e
nen Werfen, Briefen und Aufzeihnungen
berausgebradt unter dem Sitel „Die hei—
lige Philoſophie“. Gin hiftorifch wie reli-
giös ungemein fejjelndes Bud. (Brief-
wedfel mit Bengel, Zinzendorfl) Ih
empfehle dieſes innerlid reihe Bud
nahdrüdlid. Aus folhem Boden ere
toudfen ja dod Goethe und Kant! Ohne
die Kenntnis der ehten Srömmigfeit des
adtgebnten Jahrhunderts fann man wee
der den einen nod den andern verftebn;
id mödte geradezu fagen: von bier
ftammt, wenn zum Seil aud unbewuft,
ihr Beftes. — Als legten in diefer Reihe
nennen wir einen ganz Andersartigen:
Lagarde. Auf die Neu-Ausgabe feiner
Schriften wiefen wir oben fdon hin.
Bon den Zeugniffen unſrer Sage nen
nen wir Karl Bernhard Ritters „Oe—
meinfdaft der Heiligen“. In der Form
einer Auslegung des erften Johannis-
briefes gibt Ritter feine Theologie, loci
communes fönnte man das Bud nad
altem Gpradgebraud nennen, nur daß
die loci in neue Gorm und Ordnung ge»
bradt find. Gin Bud zu ftiller Andacht
und zum Borlefen. — Zum ‘Berftandnis
der Bergpredigt balten wir für unum-
ganglid Karl Bornhäufers „Die Berg-
predigt. Gerfud einer zeitgenöfliihen
Auslegung“. Bornhäufer zeigt, wie die
Zubörer Jeſu feine Worte aus dem
Gpradgebraud der Zeit und des Ortes
beraus verftehen mußten, und räumt fo
mit uralten Mißverſtändniſſen in gerade»
zu befreiender Weije auf. Man fann das
Bud gegenüber einem allzu haftigen Hi-
ftorigismus geradezu als eine „Rettung“
Sefu bezeihnen. — Wer etwas fudt
über die Verbindung von Bolfstum und
Religion, Deutfhtum und Ghriftentum,
fei auf die Heinen Hefte hingewiejen, die
Mar Maurenbreder regelmäßig beraus-
gibt unter dem Titel „Ölaube und
Deutihtum“. — Grwähnen mödte id
zum Shluß „Die religidjen Grundlagen
der ſozialen Boifhaft“ des Deutfh-Ame-
rifaners Walter Raufhenbufh, die Clara
Ragaz iiberfebt bat. ins, die wir vom
516
Weltkrieg ringsum eingefdloffen waren,
ift e8 unmöglid, mit dem Problem der
Sünde ebenjo fertig zu werden wie Rau-
ſchenbuſch. Es ift aber für jeden, der Gee
richt über fih balten will, lehrreich, fein
Gmpfinden und Denken an diefem reinen
und warmen Bude zu meffen, in dem
{id deutfhe Denkkraft mit amerifanijder
Atmofphäre merfwiirdig vereinigt.
Sehen wir von der Theologie zur
Philoſophie über, fo ftoßen wir zunädft
auf die Bücher, die das Rant-Subilaum
ung gebradt hat. Eine jhöne Zuſam—
menftellung über „Kants Leben“ aus den
Aufzeihnungen feiner Beitgenoffen Sach»
mann, Borowsfi und Waliansfi bringt
Paul Landau. (Aud für ältere Sugend
geeignet.) Gine gute, verftändlide Gin»
führung in Kants Syſtem gibt Auguft
Meifer in „Smmanuel Kants Leben und
Philoſophie“. Die befte Frucht des Kant
Sabres aber fheint mir Hermann Rut-
ters „Im Anfang war die Sat“. Hier
ebt es nidt um hiſtoriſche Kenntnis des
antiſchen Spftems, fondern bier ringt
einer mit Kant und aus der Tiefe Rants
um die höchſten und lebten Wahrbeiten.
Das ift, wonad ehrliche junge Studenten
fuden: mwortgewaltiger innerfter Grnft.
Die lebendig Gidte in unjfrer Zeit
ift, erweift fid an zwei großen Beröf-
fentlidungen: Die berühmte, lang vers
griffene Gejamtausgabe feiner Werfe, die
fein Sohn J. H. Fichte veranftaltet hatte,
ift in elf Bänden photographiih genau
neu gedrudt worden. Gerner ift Hans
Schulz mit feiner Sammlung der Briefe
Sidtes fertig geworden — ein monumen-
tales Werf, das uns zweifellos ein ties
fered Gindringen in Gidtes Leben und
Denfen ermögliden wird.
Gine philoſophiſche Anthologie, weldhe
die wefentlid Deutf aden Züge aus den
Werfen unfrer großen Denfer herausar-
beitet, hat Weidel unternommen, das
Bud foll nod zu Weihnachten vorliegen.
Bon den neueren philoſophiſchen Bee
mübungen mödte id vor allem auf „die
Philofophie der Individualität“ pon Rie
dard Miüller- $reienfels hinweiſen, weil
fie widtig ift für eine methodifde Gre
fenntnis des Golfstums. Das Bud ift
für jeden ©ebildeten angenehm lesbar.
Abſchließen möchte id dieſen Abſchnitt
mit einem Hinweis auf mein Andachts⸗
-bud „Das Büchlein Thaumajia“. In
dreißig furgen Betradtungen, die fid,
wie id hoffe, in einer guten Mitte zwi—
{hen dem Konfreten und Abftraften hal
ten, babe id) fosmifhe und ethiſche Pro—
bleme bebandelt. Sd babe verfudt, in
diefer Gorm meine Weltanfhauung und
mein Lebensgefühl mitzuteilen.
Lebenserinnerungen.
Swei der berühmteften deutfden
Lebenserinnerungen baben eine unver—
boffte Grgänzung erfahren. Ludwig
Ridters , Lebenserinnerungen eines deute
[hen Malers“ waren, wie fid Heraus-
ftellte, von feinem Sohn Hans überarbei-
tet worden. Mar Lehrs hat nun den ure
fprüngliden Text nah der Handihrift
wieder hergeſtellt. Zu Wilhelm v. Kür
gelgens „Bugenderinnerungen eines alten
Mannes“ ift gar ein ganz neuer Band
„KXebenserinnerungen des alten Mannes“
bingugefommen, namlid Briefe an Wil-
beims Bruder Gerhard, die in ihrer Un—
mittelbarfeit von der wundervollen Per-
fonlidfeit ihres Gerfaffers zeugen. Die
Liebhaber jenes merftwiirdigen brieffeli-
en Seitalters möchten wir außerdem
Pinioeifen auf „Sin Lebensbild in Brie-
fen aus der DBiedermeierzeit“, das die
Geſchichte einer Altfrankfurter Gamilie in
den Jahren von 1780 bis nad der
"Reihsgründung darftellt. Die Haupt»
briefichreiberin ift Gleophea Banfa geb.
Schmid (1793—1875.) Herausgeber ift
Otto Banja. Das Bud ift fehr würdig
ausgeftattet. Dieje Spiegelung der Gee
{hidte im Leben eines woblgebildeten
Samilienkreifes, gruppiert um eine Ieb-
bafte, edle Grau, ift fiir jeden Greund
fulturgefhihtliher Dinge ein Genuß. In
diefem Zufammenhang weifen wir aud
auf die Auswahl Hin, die Walther „aus
den Sagebiidern und Iahresheften Lud
wig Richters“ veranftaltet hat. ine
folde Auswahl ift bei der häufigen
Breite der Ridterfden Aufzeihnungen
willfommen.
In eine gang andre und dod ver-
wandte Welt führt uns aaa Winnigs
„Frührot“, die Jugendgeſchichte des bee
fannten fozialdemofratiihen Führers.
Daß die Partei einen Mann, der fo von
einer foldhen Sugend fdreiben fann, nit
gu balten vermodte, zeugt nidt gegen
en Wann, fondern gegen die Partei.
Gin Bud von bleibendem menfdliden
wie fulturgejhidtliden Wert.
Sum Schluß nod ein Bud, das ei-
gentlid {don in den nadften Abſchnitt
gebirt: ,@ottfried Keller. Briefe und
Gedichte mit lebensgefhidtliden Ver—
bindungen von Grnft Hartung“. Briefe
und eingeftreute Lebenserinnerungen find
mit dem biographiihen Text zu einer fol-
den Einheit verwoben, daß man faft in
einem richtigen Grinnerungsbude zu le⸗
ſen vermeint. Eins jener Bücher, in dem
man zu leſen nicht aufhören kann, ſo—
bald man irgendwo darin begonnen bat.
Gon den Didtern.
Glaus Groth, über den bisher Adolf
Bartels’ Schrift als Die befte galt, ift
nun in umfaffender Weife dargeftellt
worden bon Weert Geelig, den der Did-
ter einft jelbft dazu beftimmt hatte. Der
Wenſch und der Dichter mit feiner Am—
welt ift behandelt worden, die Alrteile
find forgfältig und geredt, die Darftel-
lung ift flar und fejjelnd. Dem Inhalt
entſpricht die vortrefflide Ausftattung
mit reihem Bildermaterial.
Ueber Wilhelm Raabe liegen zwei
neue Bücher vor: Heinrich Spiero, einer
der Freunde des Dichters, ftellte „Leben,
Werf, Wirkung“ dar. G3 ift ein liebe»
volles und lebendiges Bud, das freilid
nidt in die Abgründe des Dichters ein-
dringt, in jene jeelifhen Tiefen, die fein
andrer Didter fo durdmeffen hat wie
Raabe. Darum nehme man Helene Doſes
„Aus Raabes myſtiſcher Werfftatt“ hin-
zu. Grau Ooſe ift in ihren QAuffäßen
wirflih auf entiheidende und lebte Dinge
der Raabefhen Welt eingegangen.
Gon Rojegger hat Emil Ertl, der be-
fannte öſterreichiſche Grgabler, zwar
feine Biograpbie, aber ein rechtes Sreun-
desbud gefdrieben. Man erfährt in un-
terbaltjamer Weife foviel Perjönliches
von Rofegger, daß man am Gnde meint,
man babe ihn felbft gefannt.
Lienhard fand fdon jebt einen Bio»
gtapben in Paul Bülow. Das umfang-
reihe Werf, das zugleich eine apologeti-
fhe Sendeng bat, bringt mandes ilnbe-
fannte, darunter fulturpolitiih fo inter»
effante Stüde wie Lienhards „Erfahrun⸗
gen mit deutſchen Bühnen“.
Bon den Literaturgeigichten fommt
für uns (troß einiger Abweidhungen wie
B. in Gaden Seitiers) die große „Ge⸗
Pinte der Deutſchen Literatur“ von
Adolf Bartels vor allem in Betradt,
weil fie ebrlid und daraftervoll ift.
Der erfte Band, der von den Anfängen
bis zu Weimar und den „Mitflafjilern“
Hebel und Sean Paul führt, liegt fertig
por, der zweite Band wird in Diefen
Tagen ausgegeben.
Hier moddten wir aud nachdrücklich
auf ein Bud binweifen, das nidt we-
niger unter den Abjdnitt „Weltanihau-
ung“ gehört: ©ottfried Sittbogens „Res
ligion Leſſings“. Gine eindringende, ob»
jeftive Arbeit, welde viele Iandläufige
Urteile umftößt. Fittbogen faßt Leſſing
als Borlaufer Kants und Begründer
des „Neuproteftantismus“.
Didtungen und Grzäblungen.
Zunädft eine Anzahl Neu-Ausgaben
älterer Werfe. Die Alemanniſchen Gee
Didte Johann Peter Hebels Liegen in
einer würdig-[hlihten Ausftattung por
mit Zeihnungen bon Rudolf Dürriwang,
die mir ſchlechthin meifterhaft in ihrer
517
Bereinigung von beutliher Oegenſtänd⸗
lichkeit mit Lidt- und Luftftimmung er-
ſcheinen. (Gigirlides fcheint ihm nidt in
leider Weife zu gelingen, und bier
iegt ein Widerfprud zum Inhalt des
Budes.) Gabe e8 pon Hebels Biblifden
Sefhidten und Schapfäftlein gleich gute
Ausgaben! — Zu den Romantifern führt
uns DBenninghoff3 neu bearbeitete zweite
Auflage von ,Romantif-Land“. — Den
Sridericus-Roman pon Willibald Alesis:
„Sabanis“ follte man nidt nur aus der
Literaturgefhihte fennen, er liegt in
einer guten neuen Ausgabe por. — Sere
mias @ottbelf erlebt fo etwas wie eine
Auferftebung. Dagu trug fider die
gehe ®efami-Ausgabe von Hungifer und
löſch bei. Die neue Bolfsausgabe, die
auf elf Bande angelegt ift, ermöglicht
es allen ®ebildeten, fid die Hauptwerfe
des appaltiqen Gpifers angufdaffen. In
diefen Gefdhidten lebt bas Bolf fo leib-
baftig wie nirgends fonft. — Aud die
Stancois fommt allmablid zu ibrem
Redt, nadhdem fie dreißig Sabre im
®rabe darauf gewartet bat. „Die lebte
Redenburgerin“ gibt es jebt in allerlei
Ausgaben. Aber über dem allgemad
berühmten großen Roman foll man ihre
kleineren ®efhihten nidt vergeffen. Bru-
no @olg bringt eine vortrefflide Aus-
wahl in dem von ihm herausgegebenen
Bande „Meiftererzählungen“ mit einer
guten Ginführung. — Den fdlidteren
franfifden Heimaterzäbler Heinrid
Schaumberger zu lefen lohnt fid immer
nod, wenigſtens in feinen Hauptwerfen
wie ,Bater und Sohn“. — Aus Bof-
dorfs bod- und plattdeutihen Oedichten
und Graählungen hat Albredt Jansſen
eine angiebende fleine Auswahl im „Her-
mann⸗Boßdorf⸗Buch“ (mit einigen Beid-
nungen des Dichters felbft) gegeben.
Ueber neuere Graäbler werden wir
fpäter einmal einen zufammenfaffenden
Meberblid bringen. Hier nur einige Hin-
weife auf etlide Bücher, die mir gerade
zur Hand liegen. Da find drei Hambure
ger: Hermann Glaudiug, der fo ganz ane
ers erzählt als fein Urgroßvater Wat
tbias, gibt im "Siberihit “ die Gntwid«
lung eine3 Kindes, Knaben und Jüng-
lings in Hamburg, das Reifen zur Künjt-
lerfdaft. Aus mander Troftlofigfeit und
mander Sritbung läutert fid die Gre
fenntnis pom Wefen der Gehnfudt. Bon
Albert Peterfen erfdheint foeben ein
Budbandler-Roman, der in Leipzig und
Hamburg fpielt: „Der junge Perthes",
wiederum ein ftreng hiftoriiher Roman.
Gine neue Auflage des „Arnold Ame
find“ fommt in befferer Ausftattung her—
aus. Hans Griedrid Blunds „Stelling
Rotkinnfohn“, der um die Witte Des
518
neunten Jahrhunderts an ber Niederelbe
(Rampf der Niederfadfen gegen Die
Franken) fpielt, behandelt, obwohl ein
biftorifher Roman, Gwigfeitsfragen, die
uns gerade beute befonders angeben:
Gaterglaube, fremder Glaube, Boltsfrei-
beit — ein Werf von mädtiger Spann«
weite.
Kleinere Graäblungen: Bindlers
„Zrilogie der Zeit“ behandelt in ſchroffer
ARE das Wefen unferer Seit.
udwig Bate gibt im „Mond über Nip-
penburg“ eine Anzahl ſehr ftimmungs-
voller Skizzen, Die ung niederdeutide
Meifter, insbefondere Dichter, in ihrem
Wefen nahe bringen. Gr zeigt, wie über-
all der Genius fid aus dem Pbiliftertum
emporringt, ein ehtes Raabe»-Thema. In
Diedrihd Speckmanns neueftem Bande
„Wolfen und Sonne“ finde id einige
portrefflihe Srzäblungen (Ser Stamm«
baum, Das Feft der Alten u. a.). Zieb-
baber derben und guten Humors feien
bingewiefen auf Garl Geeligs „Nadhtge-
ſchichten aus der guten alten Bent", die
bewußt in Der Vachfolge Hebels, des
großen Spradmeifters, entftanden find.
Reihlih hundert ganz furze Anefdoten
und Scherze, wie man fie in alten Ra-
lendern findet. Wir freuen uns des Zu-
falls, da diefer Abfchnitt, der mit Hebel
an mit einem Hinweis auf Hebel
fließen fann. 1
Büder über Kunft
und Runftmappen.
Zur Deutung des Genter und des
Sfenbeimer Altars gibt Rudolf Günther
in zwei Heften eindringende Forſchungen
mit reidem Material. Benen bezieht er
auf die Allerheiligenliturgie, bas Iſen—
beimer Mittelbild deutet er als Gponja
Shrifti. — Willy Paftor fudt in „Rem-
Brandt der Geufe* Rembrandt aus der
©eufengefinnung — das Weſen des Bau-
ern gegen das Weſen des Gdelmanns —
gu veritehen. So ſchroff wird fid Die
Theſe faum halten lafien, aber fie gibt
der Geftalt Rembrandts mande neue
Beleudtung und erfdlieht mandes in
feinem Wefen. — Auf Fraengel3 Bud
über die Sprichwörter Bruegels haben
wir im Abſchnitt über „Volkstum“ bin»
gewiefen.
gu den beften Brieffchreibern unter
den Künftlern gehört Moris von Shwind.
Perfdnlidfeit, Kunft- und Literaturge-
fhidte, Kultur der Zeit — ein feffelndes
Bild, das fih in der fehr umfaffenden
Auswahl von Otto GStoeffl (mit einer
Anzahl Schwindfher Bilder) por uns
ausbreitet. Das Bud gehört als drittes
neben Ridters und Rigelgens Grinne-
rungen. — Gine Biographie Rudolf
D
Schäfer wird vielen willfommen fein.
Konrad Wad, ein Greund des Künft-
ler, hat ung Werden und Wefen Schä-
fers gefdildert. Sas Werf ift mit einer
Hülle guter, zum Zeil farbiger Wieder-
—— geſchmückt und enthält auch ein
erzeichnis aller Veröffentlichungen von
Bildwerken Schäfers.
Die kleinen Dichterbücher nach den
— und der Handſchrift Joſua
eander ®ampps find um ein wunder⸗
Ihönes Gottfried-Keller-Büdlein ver—
mebrt worden. Gin Geſchenkbüchlein, wie
es deren wenige gibt.
Kreidolfs DBilderbüher ſcheinen mit
wenigen Striden und Farben ſchlicht bin-
geivorfen zu fein. Gon dem Gtudium,
das Dahinter liegt, gibt die Mappe
„Bergblumen“ eine Gorftellung. Da find
eine Anzahl Blumenftudien vereinigt, die
der Künftler für feine Alpenblumenmär-
den madte — diefe „Studien“ find Bil-
der, die bis ing Rleinfte durd —
ſind, man meint die Blumen förmlich mit
den Fingerſpitzen fühlen zu können. Es
find in der Sat die ſchönſten Blumen—
bilder.
Der zu einem verhältnismäßig billi-
en Preije zu einer Mappe mit ausge
At guter Originalgrapbif fommen
mödte, den verweijen wir auf die von
Bruno Golz berausgegebene grapbijde
Mappe der Fichtegefellidaft mit Blat-
tern bon Hans vd. Bolfmann, Schinne-
rer u. a.
®ute, ftimmungsvolle Originallitho-
grapbien, bandgetujdt, enthalten Die
appen von Gdel oth, die allerlei
„DBerträumte Winkel“ aus Rothenburg,
Weimar ufw. fefthalten. Es find Bild»
hen, die bei jedem Durdhblattern aufs
neue erfreuen.
Alphabetiſches Verzeichnis der beſprochenen Bücher.
Albert von Aahen, Geſchichte des erſten
Rreugguges. Ueberfegt und eingeleitet von Her-
mann Hefele. 2 Bde. Diederige, Jena . 14.—
Aleygis Willibald, Cabanis. 2 Boe. Hanfeatiiche
Berlagsanftalt, Hamburg
Bartels, Adolf, Seigisie der deutichen ——
1 : Die ältere Beit 9. Haeſſel, Lpz. . 14.—
Bartels, Paul, Deutſches Reis eben 4 "der Bere
gangenbeit, ant. — Hbg. Geb. 1.50
Ba } Hwig, Kurt, Der enwahn, feine Wire
ung und, feine Beherrſchung. C. 9. ehr
Bite, Ludwig, Mond über Rippenburg. =
Schünemann, Bremen .
Baette, Walter, Die Sd wurbriider. * (Bauern
und „gelben. 2) anlage Beclagsouhialt,
"Staat und svi,
amburg .
Iy, ‘fend, Boll,
* Sanfeatif e Fegusanhen, Hamburg BE:
Benningbof I Romantıl-Land, 2. Aufl. 5.—
Berensman te Wilhelm, u. Bolfgang Stable.
ei | u. Friedrich Koepp, Deutihe Politit. Ein
vol: ifches gennent: Erfheint in Lieferungen.
Englert & Schloſſer, ee a. M.
ede Lieferung 0.50 bis 1.50
Biedbermeierzeit, Ein Lebensbild aus der —.
gut Geſchichte einer Witfrantfurter Senn.
nglert & Schloffer, Franffurt a. M.
Blund, Hans Friedrich, Stelling Kotkinnfohn. ‘Die
Geſchichte eines Verkünders und ſeines Volkes.
Georg Müller, Münden . . 9.—
Bodemühl, Eric, Weignaghtsfpicte "für Rinder
in Schule u. Haus. Fr. U. Perthes, Gotha 3.—
Böhme, Jacob, Vom dreifachen Leben bes Men»
er. "Herausg. von Lothar Schreyer, panjentiine
erlagsanftalt, Hambur 8.—
Bornbhaufer, Sarl, Die’ Bergprediat. verfuch
einer geitgenoffifehen Auslegung. € . Bertelsmann,
G@iitersloh .
Bokdorf-Bu o, "Ausmabl aus Hermann Bobe
dorf Werfen von Ablredht Jansfen. a
Hermes, Hamburg .
Budde, Karl, Das alte deutiche Weihnaditalien.
Mit Noten. Hanſeatiſche Snne weer
burg . . —
Bilow, Paul, Friedrich Lienhard re Meni
und fein Werl, Max Rod, Leipzig. . . 12.—
Claffjen, Walther, Das Werden des deut den
Volles. 3 Bde.
Hanſeatiſche Berlagsanitalt,
ambur
— Bleibe, Heft i2 "einzeln (Das * geiaie Bis-
mards) .
Elaudiuß, Germann, Das Siberfsift..
Anräus-
Berlag, Qiibed . "4.50
Elauß, Ludwig Ferdinand, Die nordiihe Seele. -
„Yetung, Prägung, Ausdrud. Niemeyer, Halle 5.—
Helene, Aus Wilhelm Raabes moftifder
serfitatt, Hanfeatijhe Verlagsanſtalt, —— —
Eiwa 4.50
Ertl, Emil, ae? Nojegger. Wie id — fannte
und liebte. Staadmann, Leipzig . . ae
Fichtes ämtliche Werle. Herausg. von J.
Fichte. 11 Boe. Mayer PY Müller, Lpz. Fr
Fichtes Briefmedjel, Gefamiausgabe. Herausg.
von Hans Schulz. 2 Bde. Haeffel, Lpz. 50.—
Fichtegeſellſchaft, inte originalgraphiſche
Mappe der —. eraußg. bon Bruno Gols. Grae
phiſche Blatter. Voigtlanders Verlag, Leipzig.
Signiette Ausg. für itglieder 80 f. Um
fignierte Ausg. 20 Me. Ym freien Handel erjt
Anfang 1925 zu haben.
Finchh, Ludwig, Der WIReRösEh,
Rudolftadt F
Bittbogen, Gottfried, Die Religion Senn.
Mayer & Müller, Leipsig . . etwa 9.—
Francois, Louiſe, v., Die legte itedenbutgerin
Philipp Reclam jun., Leipzig . 1.80
Francois, Louije von, Meiftererzählungen. Her-
ausgegeben von Bruno Gols. R. Voigtländers
erlag, Leipsiqg . - 4.50
Braenger, Wilhelm, Der Bauern-Bruegel und
‚Seeitenvering,
das deutide Spridwort. Mit 49 Abb. Eugen
Rentſch, Münden . . . etwa 6.—
Freytag, Guftav, Bilder aus der deutſchen Bere
gangenbeit. Illuſtt. — 6 Bde. Paul ar
Xeipzig f
Brevtag- Qoringboven, Axel Fehr. “be,
Die Weimarer Verfafjung in "Lehre und Wirklich⸗
keit. J. Lehmann, Münden . 9.—
G@ampp, ofua Leander, Ein Gottfried-Keller-
Bidlein. Ollmann & Hinge, Berlin-Friedenau.
50
Gandhi, Mabatma, Jang Indien Rotapfel- 2
lag, Münden 2
Gottbelf, Jeremias, Werke. ‘wotthauspate,
11 Boe. Pappband. €. Renifh, Münden. Je 3.80
— Meiftererzäblungen. Herausg. von Bruno Gols.
N. Boigtlanders Verlag, Leipzig
— Uli der Pidter. Ganteatiioe
Samburg CE ROR MONS ok Te Me EN) Foe
@Brube, Mugu Wilhelm, Charafterbilder deutfchen
Landes und Lebens. Herausg. von Georg Dreßler.
17. Aufl. Mit 37 Bildern. Friedri ara
ftetter, Leipzig .
Gintber, Gerhard, Das Hamburger Goltspeim
1901—22. erlag ber Arbeits emeinſchaft
Berlin. Geb. 3.60
519
Berlagsanitalt,
Günther, Rudolj, Die —2 des Genter und
des Iſenheimer Altars. efte. ———
Verlagsbuchhandlung, ed. Heft etwa 1.50
Habermann, Dax, Die Erzieygung zum beute
{den Menfden. Hanf. Verlagsanft., Hbg. —.30
Haldy, Bruno, Die deutichen Bauernregein. Mit
Monatsbildern von SUR — RR.
spa os Diederids, pe
Heldenromane RR
Ueberjegt von Paul Herrmann. Eugen
Diederihs, Jena . . 6.—
Kants Leben in Darftellungen feiner Beitgenoffen,
Gefiirgte Ausg. von Paul Landau. ——
Wistott, Berlin . . 10
Keller, Gottfried, Briefe "und "Gedichte ae
lebendge[dhidtliden Verbindungen. Bon Ernit
Hartung. Wilhelm Langewiefdhe-Brandt, Eben-
Daihen. —— att. 3.—. Geb. 5.—
Kreidolf, Ernft, Bergblumen, Studien. Erfte
olge. Hotapfel- »Berlag, München
— Ülte Kinderreime,. Herm. Sdaffi tein, Köln 7.50
Kügelgen, Wilhelm von, Lebenserinnerungen
des Alten Mannes. 8. 8. Köhler, Leipzig.
Pappbd. 3.60. albieinen 4.80
Kübnemann, Eugen, Kant. 1. Bd.: Der europ.
Sedante im vortamiſchen Denken. 2. Bd.: Das
Werf Kants und der ER Gedanke.
Münden ... Bd. I: 11.—. ‘
Rutter, Hermann, “gm Anfang war die Tat.
Verfud einer Orientierung in der spalolopbte
Kants und ben von ihr angerenten höchſten oe
en. Für die denfende Jugend. Sober C.
pittlers Nachf., Bajel a
Sagarde, Paul be, Schriften für das —*—
olf. 1. Bd.: Deutihe Schriften. 2. Bd.: Aus-
gewählte Schriften. 3. F. Lehmann, ange.
Je 6.50
Eingeleitet von Otto
Eugen Diederigs, Jena . . 7.50
zöffler, Klemens, Die Wiedertaufer zu Münfter
1534/35. Berichte, Ausfagen und ——
Ausgewählt u. überſetzt. iederichs, Jena 9.--
Qutbher, Martin, Vom unfreien Willen. Nach der
Weberfepung bon Juftus Jonas herausg. und mit
einem Nachwort verjehen von Friedrich Gogarten.
Chr. Kaifer, Münden . — en:
Mad, Konrad, Rudolf Safer. Mit 66 teils far-
bigen Bildproben. Guſtav Schlößmanns Verlags-
budbandlung, Leipzig . 8.—
arr, Heinz, Bon der Arbeitsgefinnung unferer
induftrielen Maffen. Englert & Edloffer, Grant.
furt a. M. . Geh. —.50
Mafius, Hermann, Norddeutiche Land haft. Mit
Bildern von Carus, Hänfelich, orgenftert,
©. Epedter u. a. herausg. von Stapel. Hanjea-
tiſche *Berlagsanftalt, Hamburg . etma 2.50
Maurenbredher, Max, Glaube und Deutſch—
tum, Bierteljährlich 7 Hefte. — Glaube
und Deutſchtum, Berlin-Licterfelde, Sear
ſtraße Je
Meinecke, Friedrich, Die Idee der” Etantsräfon
in der neueren Gefdhidte. R. Oldenbourg,
Münden. 13.—
Med tots Auguft, Immanuel Kants Leben und
ilofophie. Streder & Schröder, Stuttgart. 5.50
Müller, Abam H., Die Elemente der Gtaatd-
Limburger Chronit.
9. Brandt.
kunſt. Berausg, von Dr. Jakob Bara. (Samm-
poe: Die Herdflamme.) 2 Bde. Guftav Bilder
ena
Müller-Sretenfels,. Richard, Die Bho.
ophie der Individualität. 2. Aufl. Belt
einer, Leipsig . .
Roth, Ebel, Verträumte Winkel aus Beimar.. _
Verträumfe Wintel aus dem Thüringer Wald. —
Verträumte Winfel aus Nürnberg. 3 Mappen
mit je 8 bandgetönten Urfteinzeihnungen. Der
Innere Kreis Verlag, RIESEN NENNE,
Detinger, Yaseen. Chriftoph, Die heilige
bilojophie. usgew. bon > Herpel. Chr.
aifer, Münden . . . „etwa 3.—
Wily, Rembrandt ber Geufe. ae 49 a
Haeffel, Leipzig
sd ta
Pererfen, Albert, Der junge Perthes. "an ta
tiſche Veria Sanftalt, Hamburg . . Etw
— Arnold Amind. 3. Aufl. Ebendort. Etwa B=
Rabe, Jobs. E., Kafper Putfdenelle. Duidborn»
Verlag, amburg A 1.—
Raufhenbufjd, Walter, “Die teligiöfen Grund-
lagen der fogialen voiſchaft Einl. v. Leonhard
Ragas. Rotapfel-Verlag, Münden . etwa 6.—
Richter, Ludwig, Lebenserinnerungen eines deut-
fen Malers. erausg. von Maz Lehrs. =
pyläen»-Berlag, Berlin .
— Tagebücher und Jahreshefte. "Auswahl bon Ri.
Walther. Hanfeatifhe Verlagsanft., Hog. . 3.—
Ritter, Karl Bernhard, Die Gemeinjdaft ber
gi. Eine Auslegung des Eriten Briefes
Seh Panjeceine ——— Ham-
Rojenttod, "Eugen,
arolus-Druderei, Frankfurt a. P
— u. Engen May u. Martin Grünberg, Berfftatt-
ausfiedlung. Julius Springer, Berlin. .
Shaumberger, Heinrith, Bater und Com
Martin Warned, Berlin .
Scherr, Johannes, Die Nibelungen. yn "role
überfegt u, eingeleitet. Heſſe & Beder, Lzg. 2.50
Schriften zur politifhen Bildung. Herausg. bon
der Gefe ent „Deutiher Staat“, Hermann
Snduftrievolt. werlag der
Beyer & Söhne, — rn 3a.
3. Schwarz, Ethik der Vaterlandsliebe.
Geh. 1.10
4. Althaus, Staatsgedanle und Reich
Gotted . rp
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tifchen Befähigung ber DentiOoen und
ihre Befeitigung .
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Stoeſſl. Bibliograpb. Snftitut, Leipig . 5.—
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Bent. Greifenverlag, Rudolftadt . . 3.—
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Werden. Alfter-Verlag, antbur . . . 12,—
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Bah-Novelle. Fr. Kiltner u. C. T. B. Biegel,
Leipsig -
Sobhbnrenp, geinzie, "Der Sirſchreiter. veuſc;
n
Sandbuhbandlung, Berlin
Spiero, Heinrih, Raabe. Ernft "Hofmann & Fa
Darmitadt . 6.50
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unfere Verantwortung. Buchverlag des Bundes
deutfher Jugendvereine, Sollitebt . . Geh. 1.10
Stapel, Wilhelm, Das Büdlein Zbaumafı.
Oreifenverlag, Rudolitadt . .
Khidref von Bern (Sammlung Thule). chen
fept bon Fine Erichſen. Diederihs, Jena 11.—
Bandervogelbud. Bweiter Teil. Heransg.
von Karl Dieg u. Willi Geißler. ker.
Rudolftadt . .
Weber, Leopold, Dietrich von Bern. 8. —
mann, Stuttgart .
Weidel, Karl, Deuiſche Weltanſchauung. Mit
21 Kunſtdrucktafeln. Hanſeatiſche ———
Hamburg twa 8.—
We : 8 ert, Jofeph, "Religiöfe Boltstunde. Br &
Freib urg 3.20
Bi : ji Lex, Soret, "Trilogie der” Beit. "Sheifen
verlag, Audolftadt ad
Vinnig, Auguft, Frithrot. Cotta, Stuttgart 5
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born-Biider. 30.) QDuidborn-Berlag, Ham»
burg .—T
Buttig, ” Johannes, Willehalm von ‘Orange. Nah
Wolfram bon si REDE, IE
Leipzig é 2.50
@edrudt in der Hanieatiihen Verlagsanftalt Attiengefelichaft, Hamburg 36, Holitenwal 2.
520
Albert Birkle, Großftadt
Aus dem Deutihen Volkstum
17 DI a
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Aus dem Deutihen Voltstum Matthias Schieftl, Heilige Naht
Mit Genehmigung des Verlages Hermann A. Wichmann, München
Deutiches Bolfstum
12. Heft Cine Monatsichrift 1924
Die beiden SGeheimniffe.
1
e weniger die Menſchen von der Nacht wahrnehmen und je weniger fie
Ginfternis empfinden, um fo weniger find fie jenem Gefühl zugäng-
lich, das wir „Shrfurdht“ nennen (und das fowohl bei Kant wie bei Goethe
gu einem zentralen Lebensgefühl wurde). Denn die Nadt ift bas Symbol des
Gebeimnifjes, Ghrfurdt aber ift Gefühl eines hohen Gebeimnifjes. Darum ift
der Großſtädter notwendig ehrfurdtslos; denn faum je lernt er die Nacht als
etwas Glementares fennen, immer ijt Licht oder doch die Möglichkeit Des
Lichtes um ihn, Nacht ift etwas Weites, Drohendes, Anbeherrſchtes, das liebt
er nicht. Gr wil alle Dinge fehen und überfehen fünnen. Darum neigt er
einer WWeltanfdauung zu, die das Geheimnis erhellt oder wenigitens nicht
beadtet, Der Großſtädter ift aus innerfter Neigung rational. Gelbft feine
Myſtik wird zur Gnofis. Die Lihtfuht des Grofftadters (und des Klein-
ftädters, deffen Ideal die Grofftadt ift) gebt fo weit, daß er die altem goti-
fben Dome mit elektrifhen Lampen knallhell erleuchtet wie einen Hörfaal.
Aus allen Winkeln und Gewölben muß die Dämmerung vertrieben werden,
denn „man muß doch feben fünnen“. Die Theologie im Dom und die Philo-
fophie im Hörfaal, beide müffen fnallhell fein. Die Ginjternis ift „barba-
tif“, und für den erbellten Großſtädter wäre es ein böfer Vorwurf, wenn
man ihn für einen „Barbaren“ bielte. Die „Lichtftadt* und das ,,Lidtere
meer“ find feine Grrungenfdaft, in ihnen lebt er mit Sicherheit und Stolz, ver
geffend, daß draußen fic) dunkle Wälder, Wülten und Meere dehnen. Ob,
er wird die ganze Grde mit Draht umfpinnen und mit Licht umflimmern,
Herrſchaft der Zipilifation über die Natur — Herrfchaft des Geiftes über die
Materie — Herrihaft des Berftandes über das Gebheimnisvolle — Herr
fbaft und nichts als Herrfchaft ift fein Begehren. Aber der Dämon der Fin-
fternis höhnt: Eure Lichtftädte werden wüfte fein, Wälder werden darüber
wadjen, Meere darüber ftrömen. Die Finfternis war immer und wird immer
fein, das Licht glüht nur auf und verglübt. Das Licht entiteht und vergeht,
aber die Ginfternis ift ohne Gntfteben und Bergehn. Wie Kein ift das Bivi-
lifations- und Herrjchaftsgefühl im Angeficht der ewigen Nacht! Groß und
weit aber ift die GHhrfurdht, welche die Finjternis in ihrer Yngeheuerlichkeit
empfindet und fic bejcheidet por dem Geheimnis der Nacht. —
Bon jeher gilt das Licht, das entfteht und vergeht, als das Symbol des
Lebens. Licht ift Leben, Finfternis ift Tod. Licht ift Bewußtſein, Finfter-
nis ijt Bewußtloſigkeit. Jacob Böhme fagt: „Du ftebeft als ein Licht im
Centro mit der Finjternis umgeben.“ Das Licht des Bewußtjeing fendet feine
Strahlen bon einem Piinktchen aus nad allen Seiten in die Finjternis des
Unbefannten, Aus dem Piinktdhen „Ich“ bricht das Sehen, Hören, Fühlen,
Denfen hervor — ich ſehe, ich höre, ich fühle, ich denfe — und umftrablt und
burdleudtet, was es findet. Wie die Strahlen einer Kerze berdämmern,
521
je weiter fie fid bon ihrem glühenden Quell entfernen, fo berdammert die Gre
fenninis, je weiter fie fid von ihrem Quellpuntt, dem Ich, entfernt. Des
Menfhen Bewuftfein ift wie ein leuchtender Strahlenfranz, die Strahlen
fahren nad allen Seiten aus und taften in die Dämmerung hinein, werden
müde und erlöfchen leife in der Dunfelbeit, die rings um das Licht ber ift.
Das Ich ift das Glutpiinktden, das fo Hell und beifend gleißt, daß wir
es nicht erfehen können. Nur was rings um diefes Ich-Zünklein ber ift, er»
fennen wir: die Gefühle und Gedanken, den Leib mit feinen Gliedern, und
um ibn ber den Kosmos bis zu den ſchwindenden Unendlichkeiten fernfter Gee
ftirne. So lebt ein jedes Ich gleihfam in einer Lidttugel, die fid in die Une
endlichfeit wölbt,
Sedes Ih-Fünflein glänzt allmählich auf, brennt ftärfer, verzehrt fid und
glüht aus, Se ftärfer es ftrablt, um fo weiter dringt fein Licht in Die
Sinfternis des Unerfannten hinaus, Se mehr es verglühend in fid) zufammen-
finkt, um fo {wader und trüber wird das Licht, um fo feltfamer und wundere
lider werden die Schatten, Wenn die lebte Kerze am Weihnadtsbaum vere
glüht, wachfen die Schatten ins Unbeimlide. So ſinkt das menfdlide Bee
mwußtjein in die Allmutter Nacht zuräd, s
2.
Die Lichtkugel des menſchlichen Bewußtfeins ſchwebt zitternd zwifchen den
Unendlidfeiten, Ob wir uns ins Große oder Kleine, ins Vergangene oder
„Zukünftige wenden, überall ftarrt uns die Unendlichkeit, die Leere, bie Fine
fternis entgegen.
Unſre Gedanfen fahren über Länder und Meere dahin, erheben fih in
die Lüfte, fteigen auf durch den Wether. Die Erde ſchrumpft unter uns zur
angeleuchteten Kugel zufammen. Bon der Sonne aus ſehn wir die Sterne
freijen. Wir laffen die Sonne Dinter ung und fahren an immer neuen Sonnen
mit mirbelnden Grbden vorüber, Nidt nur Welten, fondern Weltſyſteme
fHrumpfen unter uns zufammen und verfinfen — endlos. Nirgends erreicht
unfer Gedanke ein Gnde: immer dehnt fid vor ihm Unendlichkeit um Une
endlidfeit, Die ftärkfte Schwinge ermattet und ſinkt zurüd. So [chlagen wir
den umgefehrten Weg ins Kleinere ein, Wir ziehen uns zufammen, bis der
Wajffertropfen uns als ein Meer erfdeint, und fehen die Meeresungeheuer
des Sropfens einander befämpfen und derfdlingen. Und ins immer Klei—
nere fahren wir, bis wir die Atome feben. Aber aud) fie find nicht das
Lette, fondern find wiederum Weltſyſteme. Wir erfdauen fie und — fin-
den abermals noch wingigere Kleinheiten, So eilen wir endlos dem Aller-
Heinften gu und ergreifen es nicht; denn immer liegt bor ung eine neue Un—
endlichfeit des Kleineren. Grmattet hebt fid der Gedanke ins menſchliche Maß
guriid und rubt in feinen eingeborenen Abmefjungen.
Oder wir eilen rüdwärts in die Vergangenheit, Durch die Gefdidte der
Menſchheit gelangen wir in die bormenfdlide Zeit der Tiere und Pflanzen,
der glühenden Grde, der freifenden Sonne, des wirbelnden Nebels, des une
endliden Chaos — immer rüdwärts, Aber da ift fein Ende, es taucht eine
Borgeit bor der andern auf, Gbenjo vergeblih ift die Fahrt in die Zu—
funft, dur) die Geſchichte der Menjchheit in die der Nachmenjchheit, in das
Derglühen oder Grftarren des Weltalls, in dag neue Chaos, das da fommt.
Immer dehnt fid nach der durdmeffenen Beit eine andre Zeit. Hinter une
ferm Pfade ſchlägt die Nacht zufammen. Bor unferm Pfade dehnt fid ime
mer neue Naht. Wo du auch feift, du „ſteheſt als ein Licht im; Centro mit
der Ginfternis umgeben“, ,
522
Nun ift es freilich fo, daß unfre Erkenntnis, die wir als „Wiffenfchaft“
organifiert haben, ununterbroden daran arbeitet, die Ginfternis des Uner-
fannten guriidgudrangen. Die Wiffenfdaft greift hinaus in die Welt der
Sterne und hinein in die Welt der Atome; fie bellt die Zeiten der Bere
gangenbeit auf und zieht Folgerungen in die Zukunft hinein. Immer ftarfer
glänzt das Licht, immer Heiner wird die Welt des Unbelannten. Da Gott
im Unbefannten thront, verfündet der Menfd mit Stolz: Gottes Plab in
der Welt wird täglich enger, wir treiben den Schöpfer Schritt für Schritt
aus der Schöpfung zurüd, Wie der Großſtädter in feinem Lichtmeer der fer-
nen dunfeln Wüften und Meere faum noch adtet, da er fie „prinzipiell“
bereits erleuchtet hat und „es nur noch eine Frage der Zeit ift, daß...“,
fo adtet der Wiffenfdaftsfrohe faum nod) des Dunfels, das jenfeits der
Mildftrafe und jenfeits der Atome, jenfeits des Urnebels und jenfeits der
fommenden Dinge ltegt. Auch die Aufbellung diefes „noch“ übrigen Dun-
fels ift „nur eine Grage ber Zeit“. Aber der Demiurg umlauert in feiner
geheimnisvollen Naht das hHellprahlende Licht des menfdliden Wiffens.
Kühn tritt Der Menſch dem Gott entgegen: er fet durch die Naturgefege
gebunden und fönne nicht gegen fie handeln. Aber wenn der Schöpfer more
gen aus der Nadt feiner Unendlichkeit eine glühende Sonne in „unfer“
Weltipftem DHineinwalgte und in braufendem Feuerbrand unfre Sonne und
Erde verlohen ließe — was für ein Sroft wäre es, daß aud diefer Welt—
brand „naturgefeglich“ fei? Solange nod ein Geheimnis ift, folange um-
droht ung ein Unberedenbares. Wer will fagen, welde „Geſetzmäßigkei—
ten“ fe und je aus der ewigen Nacht Herborbreden fdnnen?
Dennod, der ftolge Menſch Tann fagen — und wer wollte ihm wider-
fpreden? —: Unfre Grfenntnis dringt Stic für Stüd ins Unbefannte hin»
aus, jede neue Generation bellt ein neues Geld des Raumes und der Zeit
auf. Du wendeft ein: Aber hinter jedem aufgebellten Felde liegt eine neue
Unendlichkeit! Nun gut, aud) die Generationen werden in die Unendlichkeit
anfgubellen fortfahren. Ginft in der Unendlichkeit: werden fie die Unend—
lidfeit gang erhellt haben. Dann wird dem erfennenden Geifte nichts mehr
zu erfennen übrig fein, die Welt ift gang voller Licht, und nirgends bee
ſchmutzt mehr ein irrationaler Schatten die vollfommene Rationalität.
Damit fämen wir zu dem Grgebnis: Wenngleih das Sebeimnis und
bie Nacht unendlich find, fo können fie doch [chrittweis in die Unend-
lichkeit fort aufgededt und erhellt werden. Geht die Grfenntnis in die Un-
endlicdfeit weiter, fo wird endlich alles Geheimnis offenbar fein. Arbeiten wir
fröhlih und emfiglid im Dienfte der Grienntnis! Damit wäre die Kultur»
moral unjres Seitalters hinreichend gerechtfertigt.
3,
Aber alle Grfenntnis „entquillt“ einem „Ich“. Soll ih von der Mild-
ftraße und dem Atom, bon der Vergangenheit und Zukunft, kurz, foll id
bon etwas wiffen, fo muß ich eben als ein Ich dapon wiffen. Die Welt
mag ohne mich bafein, aber ein Wiffen von der Welt ift nicht möglich,
ohne daß ein Ich bon der Welt weiß. Sobald man ,,Wiffen* fagt, fest
man damit zwei Pole: ein Ich, das weiß, und ein Gtwas, das gewußt wird,
ein Wiffendes und ein Gewußtes. Bwifden den beiden Polen „Ich“ und
„Stwas“ webt und zittert der eigentiimlide DBorgang, den wir „Wiſſen“
nennen. Wir haben bisher nur als möglich eingefeben, daß alles, mas ge—
tuft werden fann, aljo das Weltall in feiner Unendlichkeit, fich in allmäh-
lidem Fortſchritt der Grfenntnis reftlos muß aufbellen laffen. Was wir
523
bon der Natur noch nicht wiffen, ift nit feinem Wefen nad unwifbar, fon-
dern es ift nur eben „noch nicht gewußt“. Was „noch nicht“ ift, fann in Que
tunft fein. Wie aber fteht es nun mit dem andern Pol, der dem „Etwas“
‚gegenüberftebt, mit dem „Ih“?
Wenn ih „etwas“ mabhrnehme — den blauen Himmel über mir —
fo weiß ich in diefem Anblid nur bon dem, was ich erblide, alfo von dem
Himmel, Davon, daß ich den Himmel febe, weiß id im Augenblid des Hin-
gegebenen Sehens nichts. Das Wahrgenommene (der Himmel) ijt mir bee
wußt, das Wahrnehmende (id) ift mir nicht bewußt. Gbenfo, wenn ich eine
matbematifde Aufgabe rechne, fo weiß ich während des Rednens nur bon
dem, was id rechne, nicht bon dem Rechnen und dem rechnenden Ich felbft.
Das Ezempel ift mir bewußt, des rechnenden Ich bin ich mir nicht bewußt.
Das Wahrnehmen und Rechnen (Denfen) gefdiebt alfo unbewußt. Nun
aber will ih den Ich⸗Pol erfaffen und richte meine Aufmerffamleit von dem
Wabhrgenommenen und Gedadten (von dem Himmel, von der mathemati»
fen Aufgabe) weg auf „mich“. Ich denke plöglid — nicht mehr an den
Himmel oder das Geempel, fondern — „mid“. Was halte ih da? Nichts
als den Begriff „mich“. Wooon „weiß“ id in dem Augenblid, da ich den
Begriff „mich“ denfe? Bon dem Gedachten, alfo dem Begriff, aber
nichts bon dem Ich, das den Begriff „mich“ denkt. Bewußt ift mir nur! das
gebadie „mich* (wie vorher der wabrgenommene Himmel, bie gerechnete
Aufgabe), aber unbewußt bleibt das Ich, das den Begriff „mich“ denkt. Das
Wahrnehmen, das Denken, furz alle geiftige Tätigkeit, hat einen unbe»
wußten Pol. Ein geheimnispolles „es“ denkt durch mid, und ich vermag
diefes im Unbewußten tätige „Cs“, das ich als ein „Ich“ denfen muß, wenn
ih es denke, nie zu fajfen. Ich faffe immer nur ein Objeft (den Akkuſativ
nmid“), nie das Gubjeft (den Nominativ id“), Ich denke und ergreife nicht
„ich“, fondern nur „mi“ (Gin „Ich“ fann fid nur tätig „[egen“, nicht
denfen) Wie die Kinder hinter dem Regenbogen berlaufen, Hoffend,
Dinter den Hügeln werden fie bor dem bunten Pfeiler ftehen und ihn ane
faffen fönnen, fo laufen wir hinter dem „Ich“ ber und greifen immer nur
„mi“. Das greifende Ich fteht jedesmal im Unbetwußten Dinter dem ere
griffenen und begriffenen „mich“. Dies eben ift der LUnterfdied zwiſchen
den beiden Polen des Bewußtjeing, zwijchen dem Ich und dem Gtwas, zwi-
fen dem Subjekt und dem Objekt: das Objelt Tann id greifen, das grei—
fende Gubjeft aber fann fich niemals felbjt greifen. Anftatt des Lebens Halt
es immer nur das @elebte, anjtatt des Seins immer nur die Grf[deinung
in Der greifenden Hand. Wie Münchhaufen fid nicht felbft an feinem Schopf
aus dem Sumpf ziehen fann, fo fann aud das Ich fich nicht felbft aus
dem Dunkel des Unbetouften Derborgiehen. Das gleihfam meißglühende,
gleißende Ich⸗Fünklein ift die ftrahlende Kerze der Erkenntnis. Wir „wijfen“
nur bon dem, „was“ die Strahlen anleudten, alfo aud bon dem Dodt
und dem Zalg, aus dem das Licht entbrennt (Seele und Körper), aber das
brennende, glänzende Ginflein felbft ift nicht „Wiffen“, fondern ſprühende
Tätigkeit. Gs ift das ewig unwißbare Subjekt, das Hinter allem wißbaren
Objekt fteht. Gs ift die geheimnisvolle Wandlung.
Aljo: wenn die unendlide Welt in Raum und Zeit aud grundfäglich
bon der fortfchreitenden Grfenntnis erhellt werden fann, fo gibt es Dod außer
diefem ,Objeft* ein ewig Subjeftives, das grundfäglich unerfennbar ijt: jene
bon ung als „Ich“ bezeichnete, merfwürdige Altivität, die da madt, daß es
ein Grfennen überhaupt gibt. Aus dem „Ich“ quellen immerfort die Gre
524
tenntnisftrablen und erfüllen die Welt mit ihrem Lit. Unter all den
„Dingen“, die ich in diefem Lichte febe, erfenne th aud das Ding „mich“,
ſowohl den bloßen Begriff wie den pſhchologiſchen Komplez, als den id
den Begriff „mich“ anjchaulid „begreifen“ Tann; aber ich erfenne eben nur
„mich“, nicht „ih“. Ih Habe Grfenntnis, aber id bin nit Grfenntnis.
Das Ich ift der lebendige Brunnen, dem alles Wiffen, aud dag Wifjen um
mich felbft, entquillt, Die Grfenntnis fteigt und quillt aus einem ewigen Gee
beimnis, das feinem Weſen nad nicht entdedt und erfannt werden Fann.
Aus dem dunfeln Brunnen des Lichtes ftrömt bie Kraft des Bewußt-werden-
wollens empor, und plößlich, da fie hervorbricht aus dem Schadt, entzündet
fie fih als ein Lidt und Bewuft-fein und fdeidet nun rings um fid Der
das Dunkle vom Hellen, das Endlide bom Unendliden, das Gubjeft pom
Objet, das Berftandene pom Geheimnispollen.
4,
Sacob Böhme fagt ferner: „Du bift ein Gewadfe im Leben Gottes,
aus der finftern ftrengen Natur,“ Nicht minder alt als das Shmbol des
Lichtes, namlidh dak die Welt ein Kampf fei gwifden Licht und Finfternig,
ift Das Shmbol des Baumes, nämlich daß die Welt ein Baum fei. Der
„Weltbaum“ twurgelt in einem dunkeln, geheimnisvollen Grund und treibt
Stamm, Aeſte und Zweige in gewaltigem Wipfel durch alle Himmel. Die
Geſchöpfe entjpriefen dem Weltbaum wie Laub und Blüten. Beide Bore
ftellungen aber find vereinigt in dem Lihterbaum: aus dem Sebeimnis
hervorwachſend ragt er in die Unendlichkeit, und feinen Zweigen entblühen
und entjprühen leuchtende Lichtblumen, welde die Ginfternis umber erbellen.
Diefes Bild der heilig erhellten heiligen Naht ift wahrlich das vollkommenſte
Symbol der Welt,
Aus dem ewig unerfennbaren Grunde, wo „die Mütter* wohnen und
die dunfeln Wurzeln fic ſchaurig dehnen, fteigt das Leben, aud) der Gre
fenntnisdrang, im Unbewußten aufwärts; an den Spiten ber Zweige ent-
fprüht der Trieb als bewuftes Leben in die geheimnisvolle Naht des Welt»
allg hinaus. Der Weltbaum ift umgeben bon zwei Gebeimniffen: dem
Wurgelgehbeimnis und dem Wipfelgehbeimnis Das Wurzel»
gebeimnis ift feiner Offenbarung fähig; denn wenn man es „wüßte“, fo
fönnte es fein ,WWiffen* mehr geben; der Begriff des „Wiffens“ verlöre
feinen Sinn, da alles Wiffen nur dadurch möglich ijt, daß ein Nidt-Wiffendes
fih etwas bewußt madt. Grfennte das Wiſſen feinen eignen Quell und feine
eigene Wurzel, fo wäre der Pol des Unbewuften ausgelöſcht und es bliebe
nur nod) Sewuftes, nur nod Objelt. Es wäre fein Quell und feine Wurzel
mehr. Das Wipfelgeheimnis aber ift wifbar. Gs dehnt fich als ungeheure, un=
endlide Finfternis um den ragenden Baum. Die Lichtblüten erhellen diefes
Gebeimnis, und je fraftiger fie blühen und leuchten, um fo klarer erbellen fie
die Zinfternis, Wadft der Baum in die Unendlichkeit und ftrahlt er in Boll»
fommenbeit, fo wird das Wipfelgeheimnis enthüllt und die ganze Welt
wird gewußt fein. — Das Wurzelgeheimnis ift ewig geheim, das Wiſſen
fann nicht nad innen dringen; das Wipfelgeheimnis aber liegt dem Sts
offen, das Wiffen fann endlos nad außen dringen.
So ſchwanken wir Lichtblüten des Weltbaumes auf den wiegenden
Sweigen zwiihhen dem Wurzelgeheimnis und dem Wipfelgeheimnis. Aus der
Wurzel auillt uns die Kraft des Lebens und Grfennens, über die wir nicht
Serr find, da wir fie uns nicht felbft gumeffen können, fondern fie hinnehmen
525
miffen, wie fie ung gugemeffen wird. In die Nacht aber, die rings um den
Wipfel des Weltbaumes fic dehnt, leuchten wir mit ftaunendem Grfennen
Hinein und erbliden uns mitten zwiſchen unzähligen andern aufbligenden und
wieder verglühenden Lidtern, und um uns dehnen fid Wälder und Wüften,
Dörfer und Städte, wogende Meere und ziehende Wolfen, funfelnde Sterne
und unergriindlide Nadte. Weld ein feltfames Bild vor unfern aufgetanen
Augen! Gs fchauert uns bis ins Innerfte, und wir möchten die Augen
{dliefen, wurzelwärts zu finnen und zu ruben, zu finfen in den grundlofen
Grund des Lebens, aus dem wir ohne unfer Wollen und Wilfen auffteigen
und aufblühen — mußten, ‘Ot.
Das Gewiſſen der ——— Weſtvölker.
De Franzoſen und Engländer ſind — aber die Deutſchen ſind es
auch. Zum mindeſten ſind ſie eine Miſchung von Germanen und Slaven,
Kelten und Finnen, wenn man die andern Beſtandteile vergeſſen will, und
es iſt ſchon die — natürlich unbeweisbare — Behauptung aufgeſtellt, daß nur
etwa zehn bom Hundert der Deutſchen germaniſchen Urfprungs ſeien. Ich vere
mute, daß bereits die alten Germanen der Bölferwanderungszeit eine Mifchung
waren.
Völkermiſchungen haben natürlich immer gewiffe Ergebniffe, die nad
dem Standpuntt des Beurteilers günftig oder ungünftig find. Man follte ein-
mal die Gngbergigfeit der rein biologifhen Betrachtung verlaffen und untere
fuden, welche Grgebniffe zu erwarten find, wenn die Bedingungen des Mi—
fens fid ändern. Eine der Hauptaufgaben wird da fein, zu unterfuchen,
was fich ergibt, wenn die Völker, welche fid mifchen, auf verfchiedenen Höhen
der geiftigen Gntwidlung fteben.
Das deutſche Volk hat fid im mefentlihen aus Bölfern von ungefähr
gleicher Sntwidlungshöhe gemifht. Bei den Franzoſen fann man den Gin»
{blag der Weftgoten und Burgunder wohl vernadläffigen als unbedeutend
im Verhältnis zur vorhandenen Bevölkerung. Aber die Franken haben den
heutigen franzöfifhen Nationaldharafter wefentlich beftimmt. Die gugiehenden
Franken waren weniger geiftig entwidelt als die romaniſchen Ginwohner des
Landes. Die heutige franzöfifche Sprade ift aus der römifhen Provinzſprache
entftanden mit geringen Zufhüffen des FSränfifhen. Die Franfen nahmen
aljo Worte und Wendungen auf, für die fie noch nicht reif waren.
Was das bedeutet, fönnen wir am beiten im heutigen Engliſch betrachten,
das entftanden ift durch die romaniſche Eroberung. Die Goncreta find faft
famtlid germanijden Urfprungs, die Abftracta romanifden. Die Abftracta
waren eher da, als bei einem großen Zeil des Bolfes das Bedürfnis nad
ihnen und die Fähigkeit, fie jelbftändig zu bilden. Man muß fich nicht wundern,
wenn da denn etwas Herausfommt, was uns Deutf{den als Berlogenbheit er-
ſcheint. Kein Deutſcher fann meines Gradtens umbin, die franzöfifche und die
engli{he Sprache als verlogen zu empfinden, jeder Deutfche Halt, wenn er
bewußt ift, jeden Grangofen für einen Lügner, jeden Gnglander für einen
Heuchler. Ich rede dabei natürlich nicht von den platten Dummtöpfen, die über-
haupt nichts merken und aud nidt von den febr feltenen Männern, welche
eine Kenntnis vom geiftigen Mechanismus haben und die Beziehung vor
Wort zu Begriff und Gefühl unterjuden können, fondern von der Waffe der
gebildeten und Eugen Männer ohne Borurteil.
526
Die Groberung Gnglands durch die Normannen ift im vollen Licht der
Gefdidte vor fid gegangen, und hier können wir denn jene merkwürdige
Derfhiebung der Begriffe und Worte im Augenblid des Borganges felbjt
beobachten. Das Domesday- Boot ift gwar lateinijch gefchrieben, aber für diefen
Swed madt das nichts aus; ich möchte den Vorgang nad) einem Beifpiel aus
der Mineralogie (ein Kriftall zerfällt, es bleibt fein Hohlraum zurüd, der
nun bon einem andern Mineral ausgefüllt wird, fo daß es fo fcheint, als ob
diefes bier plöglih einem andern Kriftallioftem angeböre) Pfeudomorphofe
nennen. Etwa: „Raul bat injufte (ungeredter Weije) dem Neel fünf Morgen
Land genommen, die bewiefenermafen einen Teil der Erbjchaft (haereditas)
des DBorgängers (anteceffor) des Neel waren.“ Die Groberung war ein Zug
zur Ausplünderung der Gadfen gewefen. Der Antecefjor, defjen Haereditas
Neel in Anſpruch nimmt, war ein Gadfe, den er ermordet oder verjagt bat.
Snjuftum wird es genannt, daß Raul einen Seil des Raubes, den Neel ge-
madt bat, für fid in Wnfprud nimmt. Die Normannen hatten nod die alten
Anſchauungen des RKriegervolfs: Menſchen, welde man befiegen fann, haben
feine Rechte. Man nimmt ihnen alles weg. Aber die Wegnehmenden dürfen
einander nicht ins Gehege fommen. Raoul fam Neel ins Gehege. Neel
fonnte das mit einem beimifden Wort bezeichnen, dann war alles Elar, und
bas beimifhe Wort konnte fid im Laufe der Zeit mit den Beradnderungen
der ®efittung weiter entwideln. Aber er redete eine Sprache, welche einer
neueren ®efittung entfprah und nannte das Borgeben Raouls „injufte*.
Das Wort blieb nun im Geift diefer Leute. Gs bedeutete für fie das Abnehmen
des Raubes durch einen andern Räuber. Wohin follte bie Sprache aber jest
geben, als fich neue fittlihe ®efühle bilden wollten, als wirflide „Ungerech—
tigfeit“ gefühlt wurde und es Zeit war, dafür die Worte zu finden? Der
Weg zu ihnen war abgefdnitten, und es konnten fid) Gefühle und Begriffe
nicht bilden, weil fic feine Gorm für fie fand.
Ich erinnere mid, an einer Wirtstafel in Italien einmal mit einem Eng-
länder gufammengefeffen zu haben. Gs fam die Rede auf ein Land, das als
febr wertvoll gefdildert war. Der Engländer fragte: „Weshalb ift es nicht
englifehes Eigentum?“ Gr hatte die fefte Uebergeugung, daß nad der Gerech-
tigfeit alles gute Land in der Welt englifch fein mitffe.
Sm Gejfprad mit Frangofen oder Gnglandern fommen wir Deutſche
ftets jchnell an jolde Grengen. Wir halten dann die andern Bölfer für dumm,
diefe ibrérfeits verftehen uns Deutſche nicht und halten uns für unflar und
nebelbaft und außerdem aud für dumm. So wird jeder nur einigermaßen
verftändige Deutfhe Wilfon für einen dummen PbHrafendrefder halten. Aber
die Deutſchen ibrerfeits find auf die dummen PbHrafen bHineingefallen und
baben fie für bare Münze genommen.
Alle germanifhen Völker haben auf einer Stufe geftanden, wie die
Normannen — mit romanijierten Galliern und Bretonen gemifdte Dänen
und Norweger, welche franzöfifch fprachen — bei der Groberung hatten. In
England fanden fich damals außer den Sachfen aud viele Dänen por, alfo
die nadften Berwandten der Normanen. Aber wenn die germanifchen Böl-
fer ungeftört fic) entwideln, dann fommt aus Der friegerifhen Härte eine
eigentümlide Weichheit, ja Gmpfindjamfeit; man fann fie Heute als bee
fondere Gigenfchaft der Norddeutfhen und Schweden bezeichnen. Die ſäch—
fifh-dänifhe Bevölkerung Englands war offenbar im Begriff, diefe Gigen-
Ihaft zu befommen; durch die Eroberung und die fremden Worte wurde das
verhindert.
527
Das franzöfifhe confcience ift weniger wie das lateinifhe confcientia.
Dei dem lateinifhen Wort hat man immer nod die ganze Fülle des Begriffs
feire „wilfen“; und das Wort wird nicht nur in der engen Bedeutung ,Gee
wiffen“ gebraucht, fondern aud) nod in der allgemeinen, die fid aus dem
Mitwiffen ergibt; man weiß alfo, daß „Gewiſſen“ nur eine Seilbezeichnung
ift, ein Herausheben aus einem allgemeinen Zufammenhang: die Beziehung
des Gewiſſens auf die Taten des Mannes, bon dem die Rede ift. Das ift
im Franzöſiſchen alles verfhwunden. Gonfcience fteht unerflärt und unerflär-
lich für fih da. Das Wörterbuch) der Akademie gibt nur die Bedeutung „in-
neres Licht“ an. Gs gibt ja nod das Wort Science, Wiffenfdaft; aber ſchwer⸗
lid) denkt der Franzoſe im Leben daran, daß Gonfcience damit zufammen-
hängt. Das deutfhe Gewiſſen ift ein Ding, eine Kraft, ein Gefdeben, eine
Begiebung, ein Werden, ein Tun; das franzöfifche Gonfcience ift nur ein Ding;
fo mifberftanden wird es als Ding, daf es als „tribunal“ bezeichnet wird.
Oft es fo weit gefommen, dann bat man einfach eine unverftändlide Gre
{deinung vor fi, nicht mehr eine Gorm des inneren Seins, Dann ift das
Gewijfen nicht mehr das eigene Leben, nur bon einem beftimmten Gefidts-
puntt betrachtet, wie bei Goethe das innerfte Leben des Didters; fondern
eine oft unangenehme Macht, mit der man gu paftieren berfuden muß.
Gs gibt eine franzöfifhe Redensart „faire une dofe pour l’aquit de fa
confcience“. Acquit ijt Quittung. Gs wird alfo ein Verhältnis angenommen,
daß man etwas bezahlt, das man fduldig ijt, und dafür eine Befdeinigung
erhält, daß nun alles in Ordnung ift. Wir faben, daß der Leste Sinn des
deutſchen Sewiffens ift, daß das Verhältnis bom Menfden aus nie in Ordnung
ift, daß Luther Gott braudte, der es durch feine Gnade in Ordnung bringt.
Man fönnte mir einen Gers von Schiller entgegenhalten aus dem Sell:
„Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt“. Das ift ein Ausdrud, der
nod aus den mittelalterlid) katholiſchen Borftellungen ftammt, den Schiller
vielleicht in feiner Sugend nod im Volk gehört hat. Heute könnte ihn fein
Dichter mehr verwenden, wenn er nicht etwa mittelalterlihe Anfchauung
geben will. j
Die Engländer haben „confcience* bon den Normannen übernommen.
Wenn es miglid war, ift dadurch das Wort nod mehr entwurzelt. Leider
kann ich nicht, da die Sprade nod nicht fo gründlich unterfucht ift, das durch
die Wendungen nachweifen. Man muß aber an die Gefdebhniffe des Lebens
denen.
Seber Fremde, der Englander beobachtet, wird finden, daß fie es ver
fteben, ihr Gewiſſen fo einzurichten, daß es immer vorteilhaft für fie fchlägt.
IH will mid auf ihre eigene Dichtung berufen: man denfe an die verſchie—
denen Puritanerfiguren bei Walter Scott. Walter Scott ift gewiß fein großer
Dichter, der uns in die legten Gefdebniffe der menfdliden Seele einführt,
aber er bat immer richtiges Gefühl und ebrlide Darftellung. Nun, er gebt
fo weit, daß er in einem Roman einen für unfer ©efühl rein teuflifchen
Wenſchen darftellt, der ein puritanifcher Held tft. Das Teuflifche ift bei ihm in
SHodhmut und Radfucdt verwurzelt.
Nun denfe man daran, daß die Deutfchen den Begriff des „dummen
Seufels* haben, aud) Mephiftopheles ijt Dod Fauſt gegenüber dumm, troß-
dem er unleugbar gefcheiter ift, und fo ift er denn ſchließlich auch der Bee
trogene. Die Engländer haben den Begriff des ftolgen, intereffanten Teufels,
der zwar aus Hodmut gefallen und nun radfidtig ift; aber das verzeiht
der englifhe Dichter thm dod gern. Der Satan Miltons ift der Ahn yon
528
Scotts Puritaner. So ift auch bei den Deutfchen der Teufel ftets häßlich,
bei den Gnglandern ift er „Dämonifch ſchön“. :
Bei dem geringften Naddenfen wird man diefen englifden Teufelsbes
griff rein lappifd finden. Gr ift ja denn aud burd den Kanal oon Bhron
[Hlieglih in die Unterhaltungsliteratur gefommen, wo vernünftige Begriffe
fih nie aufhalten können.
Bölfer haben eine Lebensdauer wie die Einzelnen. Eine der wichtigsten
Mächte, welde diefe Lebensdauer beftimmen, ift die Sprade. Wenn ein Volt
mit feiner Sprache gu Gnde ift, wenn es nicht mehr die Möglichkeit bat,
Gefühle, Empfindungen und Gedanken, weldhe ihm bei Höberentwidlung
fommen, ſprachlich zu formen, dann muß es abjfterben. Diefes Abfterben ijt :
ein jenfeitiger Borgang, es ift nicht zeitlich zu beftimmen, und es ift möglich,
daß geftorbene Völker in der Wirklidfeit fcheinbar noch leben. Bon den
großen europäifhen Völkern find Heute die Deutfhen und Rujfen die eins
igen, die eine fic) Iebendig weiter entwidelnde Sprache haben. Beide Böller
find {wer bedroht; aber dDurd Äußere Unglüdsfälle ijt nod nie ein Volk zu-
grunde gegangen.
Solange ein deutfches Bolf ift, können die Ruffen ja nie die geiftige Bore
berrfdaft in Guropa gewinnen. Gs Handelt fich für Guropa darum, ob Deutfch-
land oder England und Frankreich fie haben werden: welcher Fall der gün-
ftigere ift, braudi wohl nicht befonders gejagt zu werben.
Boz allem die Eleineren germanifhen Völker müffen bier die Sntjcheidung
ihres Schidjals feben, denn Kleine Völker finnen ja überhaupt nur als
geiftige Gingelwefen leben und müffen viel fdneller zugrunde geben als die
großen, wenn fie fein geiftiges Leben haben. Die nordgermanifden Völker
und die Hrlländer haben in den letten Jahrzehnten eine bedeutende Dich»
tung bertergebradt. Das war möglich dadurd, daß der franzöjifche geiftige
Einfluß auf Europa durd die klaſſiſche Dichtung und Philoſophie ber Deut-
Then zurüdgedrängt war. Zu derfelben Zeit ftand das geiftige Leben in
Deutjchland ja fehr tief, und es ift fraglich, ob Deutfchland den mit den
‘Waffen fiegreihen Weftmadten einen Geift gegeniiberftellen wird, der den
übrigen Bölfern wertvoll genug ift, daß fie ihn gu verfteben fuchen: denn das
‘Verftandnis des deutſchen Geiſtes ift für die andern Völker ja viel jchwerer,
wie der des franzöjifchen oder englifchen. Deutichland fann es, nach feinen
Gabigkeiten, durch den Geift feiner Sprache. Berfagt es aber, dann kommt
über Europa die Roheit und Dummheit Amerikas.
Das Srimmfhe Wörterbuch hebt einen Sat bon Hegel heraus, der Die
Heute in Deutſchland herrſchende Anſchauung ausdrüdt: „Allein diefer Unter»
fied des allgemeinen Bewußtſeins und des einzelnen Gelbjts ift es eben, der
fic aufgehoben, und dejjen Aufheben das Gemijjen ijt. Das unmittelbare
Wiffen des feiner gewiffen Selbſts ift Geſetz und Pflicht; feine Abſicht ift
baburd, daß fie feine Abficht ift, das Rechte; es wird nur erfordert, daß es
dies wiſſe und daß es die Uebergeugung davon, fein Wiſſen und Wollen fei
bas rechte, fage. Das Ausgefprodene dieſer Berficherung hebt an fic felbft
die Gorm feiner Befonderheit auf; es anerkennt darin die notwendige Allge»
meinbeit des Selbſts; indem es fi Gewiffen nennt, nennt es fich reines
Sidh-Selbft-Wiffen und reines abftractes Wollen... „wer alfo jagt, er handle
fo aus ®emwijfen, der fpridt wahr, denn fein Gewiffen ijt das wiffende und
wollende Selbft“. 2.
Die Quäker ſind gewiß der wertvollſte Teil des amerikaniſchen Volks. Als
ſie ihre Speiſungen in Deutſchland machten, waren einmal Männer von ihnen
529
bei uns, die uns als ihre Führer genannt wurden. Soweit man in Diefen
feinen Dingen fi auf Aeußeres verlaffen darf, fann man fagen, daß diefe
Männer die feelifh am höchſten ftehenden Perfonen aus Wmerifa waren.
Drei Freunde von mir befpraden fich mit ihnen. Zwei waren ein Phi—
lofoph und ein Dichter, welche zufammen einer allgemeinen Berfammlung beis
wohnten und einer war ein junger Mann, einer der Führer der Jugendbewe—
gung, febr Hug, aber nicht berborragend wie die beiden andern.
Der Dichter ftellte in der Berfammlung Anfragen. Gr erzählte mir felber
davon. Neben ihm faß der PbHilofoph. Der Philofoph fannte natürlich die
©renzen der Quäler, der Dichter, der feine philoſophiſch fhulmäßige Bildung
hatte, fannte fie nicht. Gr bat deshalb den PbHilofopben, ihm ein Seiden zu
geben, wenn, er mit feinen ragen zu weit gehe. Gr fragte über Sewiffen,
Pflidt, Sünde und die andern Begriffe, die für uns im Mittelpunkt der Re-
ligion fteben. „Immer, wenn id fo weit war, daß bas entjcheidende Wort
gefragt werden mußte, ftieß mich mein Freund an“, erzählte mir der Dichter.
„ueber das Wefentlide fann man mit den Leuten nicht reden, bas verftehen
fie nicht“.
Der junge Mann war mit den Quälern bei einer andern Gelegenheit
gujammen. Ich fragte ibn nad feinem Ginbdrud. Gr lächelte: „Sehr gute
Leute, aber fie haben fidh eine Technik der Gittlidfeit gemadt. Ueber das
Wefentlide fann man mit ihnen nicht fprechen“.
Wir find heute in einer Weltwende. Gewiß find die Sozialiften aller Rich»
tungen platt und gemein; aber daß es Heute unter den Menfchen, die über-
haupt denfen, fo viele Sogialiften gibt — man fann feine Verhältniszahlen
fagen, da man nicht beftimmen fann, bei welchem Teilungsſtrich des geiftigen
Gradmeſſers bas Denfen anfängt; ich möchte aber annehmen, daß der weit-
aus größere Zeil der annähernd felbftändigen Menſchen Heute Sogialiften find
— bas ift fider ein Seiden dafür, daß wir in einer großen Wmgeftaltung
aller Verhältniſſe begriffen find. Die bürgerliche Geſellſchaft gebt zu Ende,
und mit ihr die bürgerlichen Gormen der Religion, der Ehe, des Staats, des
Eigentums, der Gittlichfeit — Des ganzen geiftigen und feelifhen ©erüfts
unjrer Geſellſchaftsordnung. Das Neue, das fic bilden will — oder foll —
fennen wir nod nicht: die Plattheit der Gogialiften befteht eben darin, daß
fie Diefes Neue zu fennen behaupten, indem fie ein Gebäude mit Neid, Miß-
gunft, Feigheit, Pöbelfinn und andern Ähnlichen feelifhen Kräften errichten
wollen. In einer folden Zeit wird nun aud das Gewiſſen fragwürdig.
Shafefpeares Richard der Dritte fagt am Schluß, nachdem fein Gewiffen
ibm in Träumen feine Berbreden vorgeführt hat: .
Net not our babbling Dreams affright pur fouls;
GSonfcience is but a word that cowards ufe,
Devis’d at firft to feep the ftrong in awe;
Our ftrong arms be our confcience, [words our lab.
Die Geelen foll uns Traumgeſchwätz nicht fchreden;
Gewiſſen ift ein Wort für Duder nur,
Grdadt, in Furcht den Männlihen zu halten:
Gewiſſen fei der Schild uns, Recht das Schwert.
„Soward*, gewöhnlich Feigling überfegt, ift ein franzöfifhes Wort „Sour
ard“. Gs Hat einen fogialen Nebenklang: „Coward“ war früher der unter-
worfene Gadfe. Der normannifhe Herr bezeichnet „Sonfcience* als einen
Begriff, der für den veradteten Hörigen paßt. Man fann bier wieder Die
Berbindung mit dem Satan Miltons feben.
530
Ridard Hat recht mit feinem Ausfprudh. Für Gngland ift das Bere
Haltnis fo gewefen.
Aber die Deutfchen, bei denen es nicht ein Grobererdolf gab, haben ihre
Worte „Gewiſſen“ und ,Feigheit* anders gebildet.
Bei uns hat Nietzſche von einer Sflabenmoral gefproden, und vielleicht
hätte er das Wort Ridards nicht als Ausdrud einer beftimmten gefdidt-
liden Lage, fondern als allgemein gültig angenommen. In Nietzſche fommt
die ge{dhidtlide Umwandlung, bon der wir fprachen, teilweife gum Bewuft-
fein in einer Kritit der biirgerlid-fittliden Werte. Diefe Kritik hat viel Rich»
tiges, aber noch mehr Galfdes. Die Urſache liegt in Der Sprade, die ihn
irreleitet. Sehr merkwürdig, Niebfhe war Philologe, aber nie ift ihm Die
Grfenntnis des Philologen geworden, die eigentlih Dod) das widtigfte Gr»
gebnis des Handwerks ift: daß die Gefühle, welche Hinter den Begriffen
fteben, fic entwideln; daß die Worte, welche die Begriffe ausdrüden, der
Entwidlung folgen müffen, und daß dadurch Begriffswanderungen, Begriffs-
fpaltungen, neue Begriffe entfteben; daß aber das Wort nicht gleichmäßig
in feiner Gntwidlung der GEntwidlung des Gefühls folgt, und daß, wenn da
eine zu große Spannung entftebt, bie einzelnen und Die ganzen Völker
gerftirt werden. Richard hat Recht für Sonfcience, Das ift ein Wort für Co—
wards, und er ift fein Goward. Aber er weiß nicht, daß ihm ein Wort fehlt:
das Wort, das fid aus der Kriegerfitte neu hätte entwideln müffen, das fid
nidt entwideln fonnte, weil die nordländifchen Krieger in Frankreich das
Wort confcience porfanden.
Wir wollen an die geiftreihen Sake Hegels denfen. Heute ift es nicht
mer fo, daß der Anterſchied des allgemeinen Bewußtſeins und des einzelnen
Gelbft fid) aufgehoben hat. Der Gab, daß diefes Aufheben das Gewiſſen ift,
gilt uur da, wo eine große Schicht in einer beftimmten Beit ihre Ruhe ge»
funden bat und ihre Stimmung ber gefamten Nation mitteilt. Sie galt aljo
etwa für das PDeutjchland von 1830. In folden Zeiten fann denn ein fo
auffalliges Wort geprägt werden, daß ein gutes Gewiffen das befte Ruhe—
- Tiffen ift.
Als Luther in Worms ftand, da hatte er fein gutes Rubeliffen. In
Seiten der Zerſetzung und eubilbung mögen die ftumpfen, gleichgültigen
MWenſchen bis zu einem gewiffen Grade gut ruben: die wertvollen Menjden
Haben dann ein Gewiffen, das fie nicht ruben läßt.
Ih darf mich hier felber anführen als einen Dichter, der in einer folden
Zeit lebt. In meinem Luftjpiel „Der heilige Grifpin* wird dem Helden gee
fagt: „Dein Gewiſſen war deine Zeigbeit“. In „Ariadne“ fagt die Heldin,
als fie ihren ©ott gefunden bat, zu dem Mann, der im bisherigen Sinn ein
Held ift: „Ich fenne... die feige Wage des Gewiffens nicht“.
Das ift etwas ganz anderes als der Ausſpruch Richards und gelegentliche
andere ähnlihe Wendungen bei Shalefpeare. Gs ijt hier gemeint: „Was Ihr
Gewiſſen nennt, das ift die feelifhe Spiegelung der bisherigen YZuftände.
Aber diefer Zuftand ändert fid. Gr fann fic nur durd Menfchen ändern.
Diefe Menfden, weldhe ibn Ändern, haben dieſes Gewiſſen nicht, das nur
Spiegelung ijt, fie Daben etwas anderes. Gs gibt Heute fein Wort dafür: wir
müſſen es aud Gewiſſen nennen.
Gs gibt fein Wort dafür: die Ratlofigkeit unferer Zeit wird durch diefen
Mangel eines Wortes erzeugt. Das Wort muß gebilbet werden. Wer es
bildet, der wird die Beit erlöfen.
Nur in Deut{dland fann es gebildet werden, denn die Eleineren germas
531
nifhen Völker, in denen man fid diefe Bildung aud denken finnte, wenn
man nur die Möglichkeiten der Sprache betrachtet, führen ein glüdliches ge—
ſchichtliches Stilleben: auf uns laftet die Feindfchaft der ganzen übrigen Welt,
und wir müffen um das nadte Dafein Tämpfen. Das führt uns an die legten
fittliden Fragen.
Der eine der Graberger-Mörder ftammte aus einer alten und frommen
katholiſchen Familie. Gr hat lange fittlid mit fid gerungen. Gs wurde ein
Brief eines Gerwandten gefunden, in dem es hieß: „An erfter Stelle ftebt
die Kirche“ (im katholiſchen Sinn wird fie genannt, wo wir Proteftanten
die Religion nennen), „an zweiter das GBaterland. Die Kirche hat den Mord
verboten. Aber du mußt felber wiffen, was du zu tun haft“.
Der Mann bat den fittliden Kampf durchgekämpft. Bei ihm war das Gea
wiſſen nicht mehr eine Spiegelung; er hatte die andere Art bon Gewiſſen,
welde das Neue ſchafft. In vielen Dingen des Lebens müffen wir Deutfche
Heute neu fühlen: man denfe nur, daß der Staat Durd die Revolution eine
unfittlide, ja, verbrecheriſche Macht geworden ift. Wir müffen fuden, daß
wir ein neues Wort finden, und wir werden es finden. Die Franzoſen haben
die Abjicht, aus uns fo etwas zu maden, wie die Normannen aus den
Sadjen madten, und der Baterlandsperrat der Sozialdemofratie hilft ihnen
Dabei. Das wichtigfte Mittel ift Die Vernichtung der geiftigen Schicht, bon der
Sozialdemokratie Der Bourgeoifie gleidgefekt oder als bon ihr abhängig bare
geftellt. Der Kampf eines waffenlofen Bolfes gegen einen bewaffneten Feinb
muß natiitlid nocd) viel mehr bon den geiftig Hodftebenden geleitet werden,
als der Kampf mit den Waffen.
Es war der Irrtum des Deutfhland por der Revolution, daß es als
geiftige Macht tatfählih nur die Wiffenfchaft anerkannte und die Dichtung
unbeachtet zur Seite ſchob. Wiffenfchaft aber fann nie leiten, fie fann nur
. begleiten: leiten fann die Dichtung, wenn man fie recht verfteht, nämlich
als die Darftellerin der Gefühle eines Bolfs und die Bildnerin der Sprade.
Die deutfhe Sprade ijt auf einem gefährliden Punkt angelangt. Sie
far bor dem Dreißigjährigen Krieg lebendiger, entwidlungsfähiger, fchmieg-
famer, finnlider, als nad dem Krieg. Durd den Krieg wurde die Bevöl—
ferung Deutfchlands von zwölf Millionen auf fünf gebradt, bon denen gewif
ein Drittel obdadlos im Land umberirrte. Die Sprache war mit Fremd»
worten und fremden Wendungen fo überladen, daß man fie faum noch als
deutfch bezeichnen fonnte; felbjt die Syntax war ftarf beeinflußt. Die Are
beit Der Sprachreiniger ift bewundernswert; daß fie in fo hohem Mafe glüdte,
ift gewiß ein Zeichen für Die geiftige Kraft des gertretenen Bolfes. Aber es
find damals viele Fäden abgeriffen, die nicht wieder gefnüpft werden fonn-
ten; es gefdab etwas, das doch eine gewiffe Aehnlichkeit mit dem Vorgang
des heutigen iriſchen Bolfes hat, das die fremde englif{he Sprache aufgeben
möchte und dazu feine alte erſiſche Sprache wie eine fremde neu lernen müßte.
Ih mödte nun einen Vorſchlag wagen, der vielleicht abenteuerlich er»
fcheint, der natürlih aud nur ein ®edanfe ijt, den man überhaupt nicht fo
ohne weiteres ausführen fann; der doch aber als eine Möglichkeit betrachtet
werden follte, wenn die politifhen Zuftände fich ändern.
Die beutfche Schweiz hat gwar nicht unmittelbar unter dem Dreißigjährigen
Krieg gelitten, ift aber doch durch ihre geiftige Gemeinfdaft mit dem deut=-
[hen Volk mit feinem Schidfal aufs innigfte verbunden gewefen. Sie betrach-
tet ihre Gprade als Dialeft und Hat das Deutſche als Schriftipradhe. Ihr
weitaus bedeutendfter Dichter ift Seremias Gotthelf; und die didterifhe Bea
532 on tak oe
~~ 4
*
deutung bes Mannes ift untrennbar mit ber ftarf dialektifchen Färbung feiner
Werfe verbunden. Man fann das fofort feben, wenn man Die zurechtge-
machte Berliner Ausgabe mit den guten Druden vergleicht. Holland und
bie nordgermanifhen Völker haben eigene Sprachen gebildet. Aber es ijt
für ung fehr leicht, dieſe Sprachen zu verftehen, und diefe Bölfer müſſen notge»
brungen Deutjch Iernen, wenn fie im großen We.t;zufammenhang bleiben woilen.
Man könnte das Verhältnis ähnlich auffajfen, wie das des Bonifden
und fpäter des Attiſchen zu den übrigen griehifhen Dialeften. Wüßten
wir mehr bon ber Sprade, welde in Mazedonien gefprochen wurde, fo
fänden wir wohl etwas, das an das Schwedijche im Verhältnis zum Deutſchen
erinnerte. Gs wird ja ſchwer zu Jagen fein, wo ein Dialelt in eine neue Sprache
übergeht; noch im fiebzehnten Jahrhundert war man fid nicht durchaus bes
mußt, Daf das Hollandijde eine andere Sprache ijt, man begriff es mit unter
das Niederdeutfche.
Die griehijche Sprade hat aus der Lebendigleit ihrer Dialekte einen guten
Zeil ihrer Kraft gefchöpft. Wenn die germanifdhen Völker in eine engere gei«-
ftige Gemeinfdaft fämen, fo könnte die deutfche Sprache einen neuen Antrieb
gewinnen, der allen zugute fame. Gs müßte fo fein, wie es fid ja von jelber
bereits angebabnt bat, daß das Deutjche die allgemeine Sprade der Biljen-
fchaft diefer Vöolker würde, und daß die Dichtung die heimatlihe Sprache
benugte. Gs würde dann fofort bei ung das Plattdeutfche wieder an feine
Stelle fommen, die Hocdeutfhen waren gezwungen, das Plattdeutfche zu
lernen und wären gezwungen, ſich mit den nordifchen und der holländifchen
Sprade fo vertraut gu maden, daß fie deren Dichtung verjtehen fönnten.
Dadurh würden fene gerrifjenen Faden wieder angelnüpft, die hochdeutſche
Schriftjprahe würde wieder mehr Ginnlidfeit befommen und würde eine
piel größere Beweglichkeit gewinnen; und die andern germanifchen Bölfer
würden ihre Sprache bereichern, indem fie einen viel engeren Anteil an
der abftraften Weiterbildung des Deutjchen hätten als Heute, wo es ihnen
gefühlsmäßig eine fremde Sprade ift.
Ich weiß wohl, daß nicht folhe Erwägungen die Gefdide der Spraden
und damit der Bolter beftimmen, fondern Die politiihe Macht. Gs [cheint
Heute, daß die politiij he Macht nicht bei den Bölkern fein wird, die „Ge—
wijjen“ haben, fondern nur bei den DBölfern mit „Sonfcience*, Aber der
Weltkrieg war nur der erfte Teil der allgemeinen Weltummalgung, und bon
Welterneuerung, die ja denn doch im legten Teil fommen muß, ijt noch nichts
gu fpüren. Lloyd George Hat erklärt, daß die Gefdide der Völker ja dod
nur durch den YZufall geleitet würden — eine trefflide Ginfidt für einen
Staatsmann bon Heute, in welcher die Nichtigkeit der bisher führenden Männer
gum Gelbftbewußtfein fommt. Gs wird fdon nod eine Zeit erfcheinen mit
Staatsmännern, welde wilfen, daß die Gejchide der Völker von Gott gee
leitet werben.
Woher dieje Staatsmänner fommen werben, fann noch niemand wiffen.
Nur eines ijt fiher. Gin Bolf in der Lage des Deutſchen fann nur am
Leben bleiben, wenn es an Gott glaubt; und die Menfden gelangen ja nur
dann zu Gott, wenn fie müjfen, wenn ihre Obnmadt ihnen Har geworden
ift. Gott ift außerhalb der Welt, denn er leitet die Welt; aber erfannt wird
er in ung, und er fann nur erfannt werden bon Völkern, welche das Werkzeug
des Grfennens haben, die Sprache. Paul Srnft.
533
Luther und die Myſtik.
m folgenden ift Luther der Myſtik gegenübergeftellt, obwohl es Luther
oft gerade als Borgug angerechnet wird, daß er auc) Myſtiker geweſen
fei. Greilid, wenn man jede Bereinigung mit Gott Myſtik nennt, dann ift
eben alle echte Religion Myſtik, und dann ift Myſtik das Lewte und Höchfte
in der Religion. Aber das Glaubenserlebnis Luthers widerfpridt in allen
entfcheidenden Punkten dem, was man im eigentliden Sinn Myſtik nennt.
Gs liegt darum jenfeits der Myſtik, und ift dennoch lebendige Bereinigung
mit @ott. ! .
Gewiß Hat Luther die Theologia deutfh Herausgegeben. Aber gerade
diefe eine myſtiſche Schrift jenes Unbekannten fdeint mir auf ber
Scheide zweier Zeiten gu fteben. In ihr fteden Gabe, die alle Myſtik
fprengen, fo myſtiſch fie fonft aud ift.
Unſere Frage ift übrigens nicht nur ein theologifches Streitobjeft, fondern
ein @®egenwartsproblem von großer praftifher Bedeutung. Wie wird die
innere Haltung des deutſchen Menjchen für die folgende Zeit beftimmt werden
— bom Glauben ber, oder pon der Myſtik?
1.
Das entfcheidende Erlebnis der Myſtik ift die Geburt Gottes in der
Seele. Sie geſchieht in jener lebten, einbeitliden, unbeweglichen Natura
tiefe, im Seelengrunde, viel zu tief, als daß Berftand und Sinne hinab»
gureiden bermddten. Im Grunde der Geele ift Gott. „Es ift etwas in der
Seelen, das Gott alſo Sippe ift, daß es Ein ift und nicht bloß vereinet“
fagt Ekkehart. Freilich, es ift eine verſchüttete Quelle, finnlides Begehren,
Schutt und Serdll des Lebens haben fie zugededt. Aber darauf zielt ja
gerade alle Mühe und Uebung des Myſtikers, fie wieder freigulegen, fid) bom
„äußeren Menjchen“ ab ganz dem „inneren“ guguwenden. Der Sinne Unter»
gang ift der Wahrheit Aufgang. Leer fein bon allem Grfchaffenen beißt
Gottes voll fein. „Was ift eines gelaffenen Menſchen UWebung?* fragt
Zauler und antwortet: „Das ift ein Gntwerden.* Wenn man auf einer Tafel
{Hreiben will, muß man zuvor auslöfchen, was darauf ftebt. „&benfo, folk
Gott in das Herz in vollendeter Weife fdreiben, fo muß alles, was ,diefes’
und ,jenes’ heißt, aus dem Herzen fort.“ (GlEebart.) Das heißt „abgejchieden“*
fein: fic fern halten von allen Menfchen, ungetrübt bleiben bon allen auf»
genommenen Gindrüden, frei bon allem, was dem Wefen eine fremde Zutat
gibt, ans Irdifhe verhaften und Kummer über uns bringen könnte, „und
das Gemül allegeit auf ein heilfames Schauen richten, bei weldem man
Gott im Herzen trägt als den Gegenftand, von dem die Augen nimmer
wanken.“ In diefen Worten liegt Ekkeharts großartiges Gefammeltfein: eine
Seele, die auf nichts weiter wartet als auf Gott allein. Die Theologia deutfch
fagt es nod) [härfer: „Da muß Kreatürlichkeit, Sefchaffenheit, Ichheit, Selbftheit
und dergleichen alles verloren und zunichte werden; die Seele muß gang lauter,
ledig und bloß fein von allen Dingen.“ Hier wird gang deutlich, worum es
gebt, um nichts anderes, als um die Zertrümmerung des Ichbewußtfeins. Dem
Gedanken der Einheit alles Seins ift jede Selbftändigkeit, jede Befonderung
unertraglidh. Gottgefühl und Ichgefühl find unvereinbar. Darum muß das
Id als das Nidtefein-follende zernichtet werden.
Wenn die Abgefhiedenheit fid vollendet hat, dann geſchieht der Durch—
brud Gottes.
534
4A
„Oft Deine Seele ftill und dem Geſchöpfe Nacht,
fo wird Gott in dir Menfch und alles wiederbradt.* (Angelus Sileſius)
Das Geheimnis iſt unausſprechlich, man kann es höchſtens andeutend ume
ſchreiben. „Geburt Gottes in der Seele“ — „Einswerden mit dem Anend⸗
lichen und ewig fein in einem Augenblid“ — „Es wird die Seele wunder—
lih begaubert, fie weiß nicht, daß fie ift, fie wähnt, fie fei Gott, fo gar
fommt fie aus fid felber.* — „Das göttlihd Minnegefprinc das fließet auf
die Seele und tredet fie aus ihr felber in das ungenannte Wefen, in ihr
erften Urfprung, das Gott ift alleine.* Die Sprade ift zu arm. Hier ift die
Myſtik, die fonft fo beredte, eben ftumm, entbildet und überbildet von Got—
tes Gwigfeit. „Was das für ein Triumphieren in dem Geifte gewefen, das
fann ich nicht ſchreiben noch reden; es läßt fic) auch mit nichts vergleichen,
nur mit dem, too mitten im Sode das Leben geboren wird: mit der Auf-
erftehung der Toten“ jubelt Jacob Böhme.
Alle Befonderung hört auf; Gott ift in der Seele mit feinem Wefen und
feiner Natur. Billige Ginung. Abſolute Geligfeit.
Und Luther? Gr weiß nichts von einem rubenden, unberührten Seelens
grund, in dem Gott fic felber liebt, in dem wir immer die Möglichleit haben,
in ©ott einzugehen. Luther findet in der Tiefe unfres Wefens als das Zen-
trum des Lebens den Willen. Und der Wille liebt fid und eben nicht Gott.
Alſo gerade da, wo der Myſtiker fich göttlich weiß, entdedt Luther den Bene
tralpunft der Selbftbehauptung gegen ©ott. Für den Myſtiker ftedt die Ab-
fonderung, die Sünde, nur im äußeren Wenfden, und diefe Kreatürlichkeit
muß in der Abgefchiedenheit zunichte werden, damit der Goldgrund der Seele
aufleudten fdnne. Gir Luther fließt die Sonderung aus dem innerjten Men-
fen. „Der Wille ift das allertiefft und größt Uebel, darum weil er fid
felber liebt und ſucht.“
Luthers Gott ijt nicht die Ginbeit alles Seins, fondern Heiliger perfin-
lider Wille, der die Hingabe des Menfchen fordert zu freiwilligem, freue
bigem Gebhorjam. Am Anfang und Ende aller Religion fteht das erfte Gee
bot. Religion erfüllt fich nicht im Grlebnis der Harmonie mit dem Unendlichen
und Der Dergottung, fondern in der Pflicht des Dienftes, den der Menjh
Gotte ſchuldig ift, in der Hingabe des Willens an die großen Anliegen
Gottes. Aber das ift ja nun gerade Luthers furdtbare Gntbedung, die die
Qual feiner Klofterfämpfe ausmadt, daß er die unbedingte Forderung Sottes
nidt erfüllen fann. Alle natiirlide Frömmigkeit fucht felbft in ihren beften
Werken fich felbjt und ftrebt in eigener Willensridtung. Das Pflichtverhält-
nis zu ©ott ift überall verlegt und durchbrochen; „der Menſch findet nichts
in fid, damit er möge fromm werden“ Gr fühlt nur den ungebeuren Ab—
ftand und zerbricht bor dem Unbedingten. Der Myſtiker mag zum Geelen-
grund flüchten; Luther bleibt auch diefer Ausweg verfperrt; gerade dort im
Geelengrunde ballt fic) ja alle Selbftbehauptung gujammen. Das Nein Sottes
trifft den innerften Lebenskern; der Menſch ift vor Gott fdledthin ſchuldig.
Und Luther ift ehrlich genug, fid dem Gericht zu ftellen.
Uber Hier hebt nun aud das Geheimnis lutherſchen Glaubenserlebniffes
an, wahrlich ebenjo tief wie jenes der myſtiſchen Ginung, gang und gar nicht
Theologie, fondern eine zarte, innerlihe Gefdidte des Gewiffens. Die
„Seburt Gottes in der Geele“ ijt ein Widerfahrnis, wir nennens Gnade.
Die Seburt des BVertrauens ift nicht minder Widerfahrnis und Gnade.
Sie ijt ebenfo irrational; in der Gorm, in der Luther fie erfährt, vollendete
Paradozie. Er weiß nur um eine zerbrochene Gemeinfdaft und ,,fann es nicht
535
glauben, daß er jemals wieder angenommen werden könne“; er bejaht das
Seridt und will es, weil er wahrhaftig bleiben muß. Aber gerade da und
dann gefdiebt das Unglaublide, Unerhörte: er muß Burd den Born Hine
burd bis an deffen Ende und ftößt gulegt auf — Liebe; zulegt hört er „über
und unter dem Nein das tiefe heimlihe Sa.“ Der gerechte Zorn ift das Lei«
den des Gaters um die Sünde des Kindes; wie umgelehrt alles redhte Bers
geiben damit rechnet, daß die Tiefe des Riffes vom Rinde in ernithafter
Reue durdlitten wird. Grft fo ift das Bergeben eine fittlide Tat. Der
Weg gum Herzen Gottes führt durch das Bericht Hindurd: „Durchhin wider
©ort gu Gott dringen“, jagt Luther. ,,Gs gilt nicht fliehen bor dem, der Did
ſchlägt, fondern fid) nur fdledhts in Spieß und Stich geben, fo geudet er
Dinter fid.“
Nichts ift dem Menſchen fehwerer zu glauben, als daß ihm die Schuld
feines Lebens vergeben fei. Und dod ift „die göttlid Vorheiſchung und
Zufagung“ da „und ſpricht: fiebe da, glaub in GHriftum, in weldhem ich dir
gujag alle Gnad, Geredtigfeit, Fried und Freiheit. Glaubft bu, fo Haft du,
glaubft du nit, fo baft du nit.“ Auch jest, und jest erft recht, gilt das erfte
Gebot, Gott ernft zu nehmen und nicht zu zweifeln „er fei fromm und wahr-
baftig in allen feinen Worten“. Ift der Glaube zum erften ein Widerfahr-
nis, fo ift er zum andern ein Wagnis, eine „VBermefjenheit“, „wider alle
Gernunft*, ſchlechthinniger Gehorſam „ohne Sicherheiten oder Wiffenbeiten,
fondern ein frei Grgeben und fröhlid Wagen auf Gottes underjudte, une
empfundene, unerfannte Güte“. Aber diefes wagende Vertrauen gewinnt bei»
bes, Die Sreiheit des Gewiffens und die Gewißheit Gottes. Die Myſtik fühlt
fi) gerade im Augenblid des Ginswerdens fogleich wieder abgeftoßen und
aurüdgeworfen und muß das Gntwerden bon born beginnen. Die Gefdidte
bes DBertrauens verläuft nad ‚anderen Geſetzen; Luther „bat“ Gott.
Myſtiſches Gotteserlebnis und Tutherifhe Glaubenserfabrung — awet
verfchiedene Kreife mit völlig anderem Mittelpuntft.
2.
Diefe Gegenſätzlichkeit läßt fid nun bis in alle Einzelheiten hinein auf
zeigen. Wir greifen einige marfante DBeifpiele heraus.
Angelus Gilefius fagt im Sherubinifhen Wandersmann:
„Sch bin fo groß als Gott, er ift als ich fo Hein:
er fann nicht über mid, id unter ihm nicht fein.“
oder:
„Ih weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu fann leben;
werd’ ich zunidht, er muß bon Not den Geift aufgeben.“
Bei diefer Gleichſetzung ,@ott ijt Dasfelbe Gin, das ih bin“ — melde
Myſtik ijt je ganz frei von pantheiftifhen Gedanken! — werden für Luther
beilige Geſetze der Diftang verlegt, Die eben nicht verlegt werden dürfen.
Der Myſtiker nennt fic) unbedenklid Gottes „Freund“; Luther fpridt von
feinem „Herrn“ Chriſtus. Die myſtiſche Bereinigung ift felbftverftändlich
Ginung mit Gott; vielleicht zeigt nichts fo jehr Luthers Gefühl für Reinheit
innerhalb der Religion, als die Tatjadhe, daß feine „Myſtik“ — genau wie
bei Sobannes und Paulus — eben nidt Gottess, fondern „Chriſtusmyſtik“
ift. „Der @laub...vereiniget bie Seele mit Chrifto als eine Braut mit
ihrem DBräutgam,...das was Cbriftus Hat, das ift eigen der gläubigen
Geele, was die Seele bat, wird eigen Chriſti.“ Das Bild, das er wählt,
die Art, wie er es deutet, zeigt wiederum, daß er an Gertrauensgemein{daft
536
“
= — —
denft und nidt an Bergottung. Man überfieht Entjcheidendes, wenn man
das nicht beachtet.
Zweitens: Bei Luther hängt alles am „Wort“. Die Schrift ift ihm Nein
und Sa Gottes. Ohne das Wort wäre Gott ftumm. Aber Gott fpridt.
Der flühtige Hauch, der gefchriebene Buchftabe wird Träger geiftiger Reali-
täten, Ausdrudsmittel eines Willens, der fordert und begnadet. Mehr, „das
Wort ward Sleiſch“; der Unbedingte bedingt fid, „in unfer armes Gleifd und
Blut verkleidet fid das ew’ge But“. Sejus durchleidet den Rif, Gottes
Menjfdbeitsnot und der Menſchen Gottesnot, offenbart Geridht und Bers
gebung @ottes. Wort Oottes ijt für Luther alles, „was Ghriftum treibet“.
Für die Moftif Hat weder Sefus zentrale Bedeutung, nod hat fie ein inneres
Berhältnis zur Schrift. Sie duldet feine Autoritäten, ihr Grleben ift unmite
telbar, das innere Licht ift mehr als die Bibel.
Gffehart hat gelehrt, daß Abgejchiedenheit überhaupt nicht beten fdnne.
Für Luther ift das Gebet der Urlaut des Vertrauens, das unausfprecdhliche
Seufzen des Geiftes; „fein Geift gibt Zeugnis unferm Geifte*. Hier ijt
mehr als das Schweigen der Myſtik.
Drittens: Was hat unfre deutſche Moftif für tiefe Gedanken über Die
Schönheit des Leidens, weitab von buddhiftiihem Peffimismus! „Das
ſchnellſte Roß, das euch zur Bollfommenbheit trägt, ift Leiden. Nichts ift fo
gallebitter mie Leiden und nichts fo bonigfüß wie Gelittenbaben,.... denn
weifen natürlicher Geift bier in der tiefften Niedrigfeit Friecht, deſſen Geift
fliegt empor zur höchſten Höhe der Gottheit. Denn Luft bringt Leid und
Leid bringt Luft“. (Ekkehart.)
— Leid bringt Luft, es wird Mittel zum Hddften Zwed, zur Bollfommen-
Deit.
Gir jedes echte Glaubens- und DBertrauensperhältnis bedeutet das Glück—
feligfeitsftreben den Tod. Darum darf das Leiden nie Mittel für eigene
Swede fein. Leiden ift vielmehr die Aufgabe, in der Ueberwinderfraft des
@laubens die Herrlichkeit Sottes offenbar zu maden. Die Seligpreifung für
die Leidetragenden ift nicht die Erfüllung ihres Strebens, jondern trifft fie
genau fo unerwartet, wie den Geridteten das Ja Gottes.
Damit haben wir an die innerfte Schwäche jeder Myſtik gerührt: fie ver-
ſchmäht die Welt, damit fie Befferes gewinne; „jie verjagt fic allen Gee
nuß, um fic felbft für feine böchfte Steigerung aufgujparen“, nämlich die
myſtiſche Ginung, das heißt: fie fucht im tiefften Grunde doch nur fic jelbft.
— Und Luthers Kampf ift gerade das Ringen um die Reinheit des Slau-
benserlebnijjes, um die Ausjcheidung aud der leiſeſten Regung eines Glück—
feligfeitsftrebeng.
Bei der Stellung zur fozialen Frage zeigt fich Dasfelbe. Gewiß hat Ekke—
bart das Ideal der Martha über das der Maria geftellt. Aber alles Dienen
und Wohltun ift ja Iegten Endes aud nur Mittel, um zum myſtiſchen Gre
leben zu fommen. Im entjcheidenden Augenblid ijt der Myſtiker allein und
abgejchieden, „verdrießt ibn alles, was nicht Gott oder Gottes ijt“. Und
der Glaube — empfindet gerade da, wo er am reinften erlebt wird, am ftark-
ften die Pfliht zum dienen, ohne Lohn, einfach weil er muß. Glaube und
Liebe find ein- und dasjelbe Man fann geradezu fagen, daß die Liebe die
geſchichtliche Srfcheinungsform der Lebenshingabe an Gott fei. Damit ift
dann ein durchaus pofitives Verhältnis zur Kultur, gum Staat und zum
Nächſten gewonnen.
537
Moftifhes Erleben und religiöfer Glaube — an allen REDE
Puntten ein Gegenſatz zueinander.
3.
Die gegenwärtige religiöfe Bewegung in Deutfchland tft gum allergrößten
Zeile eber eine Grneuerung der Myſtik als des Glaubens. Man denfe an
Waldemar Bonfels, an Rainer Maria Rille, Stefan George ufw.; es ijt eine
lange Reihe von Namen, die da zu nennen wäre. Die Myjtik bat ja fo weiten
Spielraum. Bom ati ıwana bis zur Harmonie mit dem Unendliden, bom
Aphroditefult bis zur Klarheit der Theologia deutfch, von allem fann man
gegenwärtig etwas finden. Nur daß der moderne Myſtizismus Hinter der
echten deutſchen Myſtik weit zurüdbleibt; er hat ja faum mehr ihre Grlebe
nijfe, fondern eigentlich nur nod ihre Dogmatik, den Sat bon der Ööttlich"-
teit Der menſchlichen Naturtiefe, bas Ablehnen jeder Autorität in religiöfen
Dingen, den abjoluten Individualismus. Darüber fann alle Schönheit und
Wortfiille der Sprache — oft allzu gedanfenleer — und die Stärke oder Fein—
beit gefühlsmäßigen Gmpfindens nicht hinwegtäufchen. Unjre Beit bat nicht
bie Kraft, eine große Myſtik zu pflegen, aber fie ijt [wach genug, an den
Klippen der Myſtik zu, fcheitern.
Ich febe in der Myſtik eine Gefahr für unfer nationales Leben. Ihr
Indipidualismus madt fie gleichgültig gegen jede Gemeinjchaft; darum wirkt
fie zerſetzend und zerftörend. Nationale Not ift gwar ungewollt ein För—
derer moftifcher Neigungen, aber die Myſtik ift niemals eine Ueberwindung
der nationalen Not. Dazu verharrt der Myſtiker viel zu febr in einer legten
Paffivitat.
Grft das Glaubenserlebnis gebiert bie Freiheit des Gewiffens, des Gee
wiljens, das in feiner Zuverſicht gu Gott ein Herr aller Dinge ijt. „Findet
es fein Herz in der Suberjidt, daß es Gott gefalle, fo ijt das Werk gut,
wenn's aud) fo gering wäre, alg einen Strohhalm aufheben; ijt die Zuper-
fit nicht ba oder Zweifel daran, fo ijt das Werfenidt gut, ob es {don alle
Toten auferwedt und fic) der Menfch verbrennen ließe.“ Grit das ift die
rechte Freiheit, in der das Gewiſſen fic felbitändig feinen Weg in der
{hledhthin von niemand gebotenen freien Sat fucht und doch nur aus letter
Sebundenbheit entjcheidet und auf Gott hin wagt. Hier wird das fittliche
Handeln zur fchöpferifhen Tat. Glaube ijt höchftgefpannte Aktivität; weil
bödjfte Sreiheit zugleich ftärffte Berantwortung ift. Der Glaube findet die
Syntheſe bon Gemeinſchaft und Perfönlich!eit, deren die Myſtik nicht fähig ift.
Die Trage bleibt, ob wir die Kraft zu diefer Syntheſe haben, ob wir
glauben fdnnen, wie unfre Bater geglaubt haben, oder ob wir beim bloßen
religiöfen Grleben ftehen bleiben.
@laube oder Mpftit — aud eine Schidjalsfrage. Karl Witte
Hans Zriedrih Blund.
3 ) ha ber Siefe des Gemütes quillt die Lprif. An den Dingen ftreift fie
nur, läßt bon Geſchehnem die Gefühlskraft widerflingen. Der Romane
Dichter fündet Gefdebenes, hinter dem er zurüdtritt. Dinge, Begebenheiten,
Ideen bilden ben Kern des Romans, deren Mund der Dichter ift, der fie gee
treu und ſchön geftaltet und darftellt. Der Lyriker offenbart fein Menſchen—
3d, feine Gonderbeit, fein Luft» und Schmeragefühl, feine perfönlide Gmp-
findung des Griebens, der Wahrnehmungen, BVorjtellungen und Reize. Seine
Seele fpricht, wie fie in ihrer Ginmaligfeit die Welt in fid) aufnahm, fie ftrablt
538
ihren Gindrud bon der Schöpfung aus. Der Romandidter gibt ein mittelbares
Spiegelbild gelebten Lebens. Der Lyrifer enthüllt fein Verhältnis zum Inbegriff
der Welt, unter Außeradhtlaffung bon Einzelheiten und ©eringfügigfeiten. Der
Romandicter fieht die Welt durch ihre Ginzelheiten und ©eringfügigfeiten,
Der Lyriler gibt feine innere Weit, der Romandichter immer eine äußere Welt.
Sie fann ins Sitanijde ragen, wie bei Doſtojewski und Balgac.
Die dichteriſche Welt Hans Griedrid Blunds, des Romandidters und
Lyrilers, ift nicht genügfamer. Wohl befcheidet er fic) auf eine, feine hei—
miſche Landſchaft. Dod mehr denn nur Inrifh reiher Romandidter ijt
Blund Boll-Gpifer, dejfen Impuls feinem Bolfstum entjpringt, den Diefes
mit feiner Gigenart, feinen Trieben, Neigungen, Stimmungen, Sehnjüchten,
mit allen feinen Sinnen und Fähigkeiten, allen feinen Kräften und denen der
beimifhen Natur trägt, dem es feine Stoffe im ganzen porgearbeitet hat.
SHeimifhe Landfdaft und heimiſches Bolfstum find für Blunds Didter-
tum das Gntjcheidende: die ibm (oder bon ihm) befeelte Niederelblandichaft
als Trägerin unausjpredhlid inniger Symbole, ihre Tiefe, Gerne, Strenge,
Herbigleit, Wolfen, Wind und endlofe Ebene — dieje Landichaft, und aud
jene: Heimat, der weite niederdeutfche Bezirk mit den Menfchen darin, dem
ebenjo tiefen, ftrengen und berben Golfstum. Go ftanden fchon feine erften,
feine Ih-Helden, Gerd im „Ritt gen Morgen“ und Gord im ,,Sotentang*,
in Diefer Landfchaft. Beide brüderlich verwandt mit Wind und Waffer, Wol-
fen und Wetter, beide fchon fauftifhe Ringer ums Menſchentum mit mephiſto—
pheliſchem Einſchlag, Zwiefpältige, Grübler, entzündliche Stürmer und Dran-
ger, bon immer neuen Wnfedtungen beimgejudt. „Jan ®ünt“ ift der Hei-
mate, der DBaterlands-Abtrünnige, der bornehme, fühle, überragende, lebens-
gierige Halbhanjeat, den dod der Meerwind, der feine Jugend umtofte, fteifte
und ftarfte; der nur einen ethijchen. Lebensleitgedanfen bat, daß die ein-
sige Gewißheit, die wir haben, über alle Religionen hinaus Die ift, daß wir
in unjern Kindern leben und meiterleben; daß Der Tod nur eine Gorm bes
Lebens ift, wenn wir die Gndlichkeit in unfern Kindern befiegen. Oble, in
„Peter Obles Schatten“, ift wieder ein fchwerblütiger niederdeutſcher Träumer
pom Sdlage der Gerd und Gord. Daß er, in laftender Grlebnisfchivere, zu
Kaltherzigfeit vereifte, daß er ein feelifhes Doppeldafein führt, madt ihn zu
einer befonderen Spielart Blundfcher Künftlerlaune. „Peter Ohles Schatten
enthält fdon erfte Anſätze von Blunds MWlardendidtertum. „Hein Hover“
bat das hochſtämmige Herz des Niederdeutfchen, feine marfige Mannbeit,
tft zugleich unbändig und gemeffen, leidenfchaftspoll und gelaffen, ift Sinnbild»
fülle deutfcher Treue zur Heimaterde. „Berend God“ ijt prometheifher Him-
melftürmer, aus Menfchheitsftols und Uebermenfchenfraft, potengierter Bere
treter eines ganzen Geſchlechtes vollendeter Sündhaftigfeit gegen Gott, ift
gefteigerte Seelenwirflidfeit in Realität und Märchen, ijt, wie die Schlange
des Paradiejes, brennender Schmerz, ätender Hohn, liftiger Doppelfinn von
Mopftit und Wetaphyſik, ift fiebenfach exgentrifdhes' Ungeftüm, Damon
Aufllärer und DBerführer, fiegfroblodender Herausforderer Gottes, Lucifer-
Satanas und Lucifer-Anticrift; fchließlih in Sinnenglüd und Seelenfrieden
erſchöpfte Demut; ift tief vertourgelte Hingegebenheit des Niederdbeutfchen zu
ben dunfeln, geheimnisvollen Naturmaddten, die im Sagen» und Märchen-
baften fic verfinnbildet. And endlich „Stelling Rotlinnfohn“, in dem heißes,
beiliges Bauernblut rinnt, ift der Wegfucher feines Bolfes, der inbrünftig
Hoffnungsdurchleudhtete, der gern fefthalt am Alten mit Zleiß und Treue,
bod) aud) bes Neuen, des Werdenden Werte erfaßt, in fic ein von beiden
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erfülltes Rommendes entfeimen fühlt und [dlieflid zu höchſter Opfertat für
fein Golf fähig ift. In feinem Leben wiederholt fid das Walten und Wallen
des Lebens des Täufers Johannes, aber aud, in etwas, Das Leben Sefu. Gr iftder
Schlichtgläubige an die Bejtimmung feines Volkes, an einen höheren Zwed
und Sinn des Grdendafeins, der Klarhirnige mit dem Herzen ohne Galjd,
der Seele poll Gite und Andacht, der da Handelt aus dem Herzen um der
Semeinjhaft willen, nidt um Lohn; der entflammte Künder einer befferen
Beit; ein lihtpoller Held, der das Dunkel erhellt, in dem die Mitmenſch—
beit Iebt. — Sie alle, von Gerd bis zu Stelling, find famt und fonders Boll-
föhne der niederdeutfhen Landichaft.
Dlunds große drei Romane aus niederelbifher Gefdhidte — „Hein Hover“,
„DBerend Sod“ und „Stelling Votkinnſohn“ — ift feine jener Erſcheinungen, die
die Gegenwart bejtriden, in der nadften Zukunft aber fdon verfdollen und
verjchüttet find. Wpmit bier Blund das Deutſchtum bejchenkte, das wird
dem ficheren Beftande der deutſchen Dichtung zugezählt werden. Und es
wird immer Rreije geben, Die bon dieſer niederdeutfchen Dreiherrenjpite nicht
ablajjen werden. Den Mangel an Begriffen über das gejdidtlide Wer-
den feines niederdeutfchen Volksſtammes, der bei der hoch- und niederdeutfchen
Doppelfultur im Rahmen des Reiches immer eine gefonderte Stellung ein-
nahm, empfand Blund. Darum verſuchte er diejes Werden feines Volks—
ftammes mit dichteriſchen Mitteln zu formen, indem er fich jene eben gefenn-
jeichneten Männer Herausjudte, die ihm bejonders wejentlich erſchienen für
Art und Eigenſchaft des niederdeutidhen Menſchen als foldhen. Hein Hover,
der Landsinedt des vierzehnten Babrhunderts, muds empor zum jchidjals-
fräftigen Staatsmann; der zur Sagengeftalt gewordene Blanfenefer Schiffer
Berend God, als Seefahrer Borbote des Hamburger Handels, war der une
tubig ſchweifende Phantaſt, den die Niederdeutjden in ihrem Lande immer
wieder jah auffpringen feben; in Gtelling fab er den geiftigen Führer im
ältejten deutſchen Bauernfriege in der Mitte des neunten Jahrhunderts,
jenem Rampfe der (niederſächſiſchen) Nordleute um die Wiedererlangung der
alten vorkarolingiſchen Sefegke und Freiheiten aus den Zeiten des Heiden-
tums. In diefen drei hiſtoriſchen Geftalten hat der Didter die tiefften, aus-
gepragteften und eigentümlichften Grundzüge niederdeutfchen Wefens aus den
beadtlidjten und bedeutjamften gefchichtlihen Zeiträumen herausgefühlt und
mit ihnen berausgehoben. Neben ihnen ftehen drei niederdeutfhe Frauen-
figuren: die Avelke Hohers, ein Mädchen von der Herben, blumigen Süße
eines edlen RHeingauweines, dejjen amagonijdhes Heißblut ihre fchmelzende
Zartfühligfeit gebeimbalt; die holde, liebmiitterlide Imme Gods, die Mitt-
lerin und Grlöferin. des Mannes; die Hodjinnige Thioda Gtellings, die fid
in ihrer Tochter zu verführerifcher Hoffart variiert. Sp zeitferne Menjchen
und Geſchehniſſe der Dichter in diefem Dreibund bon Romanen vorfiibrt, jo zeit-
wirkſam ift Dod feine bom Beit geift geführte Ginftellung. Die Kämpfe
feiner drei Helden find die ewigen Kämpfe der Menjchheit um Selbjtbehaup-
tung, um @ott, um das Gute, um der Heimat Erde und der Heimat Art,
Aus ftarfer Innenwelt, die aber, ins Bedeutende, gar ans Yebernatür-
lide dringend, in ihren großen Zügen unperfinlid, gegenftandlid, porurteils-
frei wirkt, ſchuf Blund feine drei großen Romane. Die nicht durchaus günftigen,
vielfach unfinnlihen Stoffe fudte er durch tiefes Gindringen in menjchliches
Lieben und Hafjen dem Lefer mundgeredter gu maden. Nidt immer gee
lingt ihm das vollflommen. So werden wir 3. B. in „Berend Fod“ guweilen
auseinandergeworfen Durd die Art, wie die Gefdidte des Helden und Die
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Phantafiegefhöpfe des Dichters Durcheinander fpielen. Dod je mehr er die
Gelegenheit dazu ergreift, defto fejfelnder wird fein Werf. War in feinen
beiden erften Romanen er felbft — cum grano falis — der Held, fo find die
Helden feiner großen Roman-Dreieinigfeit wenn aud gefdidtlid, jo dod
dichteriſch ganz originale Gorm geworden und zugleich Iyrifch foloriert —
legten Gndes ihm im wefentliden Mittel, feinem religiöfen Ringen um einen
im beutfhen Bolfstum twurgelnden deutſchen Glauben Ausdrud zu verleihen.
Gs bleibt nidt aus, daß er, namentlich in „Berend God“, den breiten epifchen
Strom verläßt und fid nicht nur auf lieblide Binnenteihe der Subjeftipität
und der Lprif, an mardenbafte Weiher im Ueberjinnliden begibt, jondern
aud an die Brunnentiefen des rein Begriffliden. Dies aber ift den Geſtal—
tungen des Romans (weniger denen der eigentliden Epik) nicht förderlich,
fondern Täuft ihnen entgegen. Die Amkreiſe feiner drei großen Romane bee
greifen eine Bielheit und Mannigfaltigfeit, infonderheit in „Berend Fod“, daß
fie mit den großen Bolfsepen wetteifern fönnten. Doch nicht durchaus gee
lingt es dem Dichter, den Umfang dem Inhalt anzupaffen. Wohl ent»
widelt er feine Stoffe im wefentlichen aus fpärlichen Quellen zu bildnerifcher
Meifterfchaft. Dod manches Spürchen bleibt, in den beiden erften großen, Ro»
manen bom GHronifhaften, das aud) faum noch ungewöhnliche Borgänge mand-
mal etwas breit verzeichnet und liebepoll aud an nicht Handlungsförderndem
haftet; bleibt manches bon gelebter Gefdicdte und überlieferter Sage ungeftaltet.
Mit Borliebe greift nicht nur der Märchendichter, fondern aud der Romane
dichter Blund in das Reid zwifchen Himmel und Erde. Wenn er dadurd
{deinbar den Bufammenbang mit den hiftorifchen und den eigentlihen Romans
Begebenheiten verliert, jo gewinnt er um fo innigere Berbindung mit uralt
bertourgelten Volksvorſtellungen und dem Bolfsgefibl. So find God, dem
Sauftifchen, Ueber» und Unterirdifde dienftbar, ein Heer von Unbolden,
in Die menfdlide Handlungsſphäre übergreifende Mächte vberwandlungs-
fabiger Spufgeftalten — erfinnbildlidungen bon Naturerfcheinungen der
Niederelblandfdaft. Gs gelingt ihm die Gefddpfgeftaltung von Angeſchöpf—
lidem, die Berperfinlidung pon Unperfinlidem, die Intelleftualifierung bon
Unintelleftuellem. In den beften Teilen verbinden fic ®efühlshöhe, Sn-
brunft, lyriſche Leidenfdaft mit epifcher oder märcdhenhafter Bewegtheit.
Blunds drei niederdeutfjhe Proſa⸗Epen follte namentlid die nab
ibm berauffommende, jüngfte Didtergeneration leſen. Sie könnte dienen, der
trüben Gegenwart die Blide auf große Seelen zu ridten. Wir haften Heute
überfchwer am Boden der Wirklichkeit und ihren Kränfungen. Aud Blund
fußt auf ibm, aber er madt nicht furze Sprünge darüber wie viele Poeten
unferer Tage. Man lerne von ihm, wie er ihn, in ferne Zeiten fliegend, über-
windet. Seine Werke weifen auf unfere Wunden. Dod mag man fehn, für
was die Männer fterben. Nod wirkt ein Göttliches im deutfchen Wefen, noch
treten die Gedanfen, die der Menſch als hidfte achtet, ins Leben ein, in—
mitten unfrer wild berworrenen Zeit.
Aud in Blunds ,Marden oon der Niederelbe* raunt des Dichters hei-
matlide Slur, rauſcht der heimatlihe Fluß mit feinen Bäumen und Büfchen,
woran das Herz der Menfden von der Niederelbe feit Kindesbeinen mit
ftiller Liebe hängt, Iebt Die Seele feiner unterelbifhen Heimat, deren züch-
tige und biedere Gittenhaftigfeit und deren willentlid) geballte Sief- und
Schmwerfinnigfeit, die fid gar oft Hinter falgig derber und herber Hergens-
frifhe und ausgelaffener Sröhlichkeit verbirgt. Der alte Uhland hat in einem
„Märchen“ betitelten Spätgedichte die in feiner Zeit fich breit machende füm-
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merige alte Sante Stubenpoefie mit blinder Rake im Schoße weidlid ver
fpottet, doch die Wiederkehr eines rotgoldenen Morgens deutfcher Natur«-
poefie prophegeit. Diefe, zumeift wohl dem engen und doch mit reigdoller
Sormenmannigfaltigfeit gejhmüdten Rundblid des holſteiniſchen Bier»
bergen-Landhäushens Blunds nachgeträumten Märchen find Naturpoefie,
find Greiluftpoefie, Die Das Unbefeelte perfonifigiert. Die beften bon ihnen —
fie find nicht alle gleichwertig, ich ftelle die von fidernden Humoren ge»
tränfte „Boppenbütteler Wafjermühle* am Hhidften und weitere fieben ihnen
zur Seite — vereinen mit naiver Urfprünglichkeit, Ginfalt und raffiger Nature
widjigteit wettergehärtete Sefühlswärme und innig bebergte Männlichkeit,
mit verwegener Phantaſtik onfelhaft vorforgende flare Verſtändigkeit. Go
find fie denn zugleich feltjam erdecht und unirdifd, zeitbürtig und überzeitlich.
Aud Hier werden, wie in „Berend Fod“, „Unterirdijche“, unter der Erdober-
fläche betriebfame Naturfrafte, Wejen von Fleifh und Blut; bauen LUnter-
grundbahnhöfe; unterhalten fic mit jenen fonderbaren einbeinigen, langen,
Dünnen Käugen, die in Reih und Glied an den Straßen ftramm ftehen,
viele Drähte bon Rüden zu Rüden jchleppen, Heine weiße Köpfe haben und
jedem Windzug nachſingen; und haben ihren Spaß daran, den Menjchen bald
Hilfreich beiguftehen, bald fie zu foppen. Leidenfchaften, Schalfheit, Scharf»
finn, Grfahrungen, Weltweisheit werden anſchaulich, ergdglid und gefällig,
und bieten, in den Mittelpunkt der Märchen geitellt, der Phantafie des
empfängliden Erwachſenen wie des helläugigen Kindes reichen Spielraum.
Neuen Sinn erhält wieder einmal des Weilen Nathan Wort: „Nicht die
Kinder nur fpeift man mit Märchen ab.“ — Ein neuer Mardhenband Blunds
ift in Borbereitung.
In feinem Aeußeren hat Blund graniten DBerhülltes, geheim Sdlume
merndes, charakterfeft Bedächtiges. Da ijt etwas wie in hohem Wogenwind
Gewordenes, ſcheu Zurüdhaltendes, Weltflüchtiges. Die nahe Nordjee flutet
Herb in ibm. Und dod ift zugleich in feinen Zügen ein Weiches, Gefühls—
feliges, erwärmt und fänftigt fie ein nad innen gerichtetes, dod) wachſames
Auge. Gang gewiß ift er nicht nervös, aud dann nicht, wenn ihn Gefühlſam—
Feit padt. Bei ihm findet man feine Spur jener übermäßigen Verfeinerung,
der fo viele weft» und füddeutfche Poeten unjerer Tage verfallen find. Will
man DBlund recht verfteben, muß man fic deſſen immer bewußt bleiben,
daß er Nordmärfer ijt. Hier gilt fo recht das Wort Soethes:
Wer den Dichter will verſtehen,
Muß in Dichters Lande geben.
Wenn der Frühling ing Land zieht, dann bededt die den madtigen Elbftrom
begleitenden weiten Wiejen reicher Blumenfhmud, find die Lande längs der
Deiche ein einziger Obftblütengarten, luftwandelt man zwijchen üppigen Knids,
auf anheimelnder Heide und in liebliden Gehölzen, während im Hafen Hame
burgs das Jahr hindurch das Leben der Welt brauft, das Geld rollt, geiftes-
ftarfer Weltwille fid Außert. Doh im Herbft und Winter hüllen undurd-
dringliche Nebel die Landjdaft ein, toben und wüten Stürme von hoher Gee
ber. Wohl gibt fie reichliche, vielen überreihlihe Nahrung, bringt aber
aud manches Unbeil. Da fteht neben dem nüchtern rechnenden, weltgewand«
ten und die Welt fennenden königlichen Kaufmann der Spefulant, deffen
Träume ins Riejenhafte geben, neben dem phantaftifhen ©lüdsjäger (in
Berend God, einem G©egenftüd zu Peer Gynt, zur duferften Potenz ere
Hoben) der fühl wägende ſcharfſinnige Saktifer (Hein Hover), der nad der
Bolisjeele forfhende Wahrheitsſucher (Ctelling). Hier erwächſt der Hart
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arbeitende Bauer, der kritiſch und mißtrauifh allen Gefdebhniffen gegen«-
iberftebt; der tief verfonnene ©eifterfeher, Wunder- und Abergläubige, der
Dinter die Wirklidfeiten fchaut und fic in eine Märchenwelt einfpinnt. Die»
fem olf, diefer Erde entjtammt Blund.
Sein erftes Gedichtbändchen war bereits erfter Auftakt zu feinen jpäteren
didterijhen Bemwältigungen, des Wefenslernes niederdeutfhen Bolfstums und
feiner Geſchichte. Schon in ihm leibte und lebte die Schwermut der fargen
Landſchaft. Mit dem Ungeftüm des Jungmannes -in feiner Natur und dem
Liebevcllen in feinem Sinne fühlte er fic) mit den in Balladen eingefan«-
genen Sagengeftalten tief verwandt, die fo Bart find und doch im Innern
ein Füllhorn großer Gefinnungen tragen. Die niederdeutjdhe Natur offen
bart jih ſchon hier im blutigen Schimmer der in der Nordfee ertrinfenden
Sonne. Ueber des jungen Dichters Worten ſchwebt der Düjtere Zauber von
Heide und Moor, verdämmert alles Gefdeben in der Landſchaft. Schon bier
ift lebendige Naturpoejie.
Alle Borzeitnordmärler Blunds haben übrigens des Dichters gefühls-
feinen Naturfinn.
Der Heute ein großer Profaepifer ift, meifterte als junger DBalladen-
fänger (3912) noch nicht Die Form. Geine fpätere, reine Lyrif („Sturm
überm Land“, 1916, „Der Wanderer“ ‘und „Hart, warr ni möd“, 1920)
ift gemidiig und wertvoll. In „Sturm überm Land“ eifert, flammt, grollt
grimmig heiß erlebtes Deutjchtum, brodelt aus tiefitem Born ftrdmendes
daterländijches Gefühl. Da ift ftählern geftaltete Inbrunft. Blunds Bild—
traft leuchtet bier jhon auf und ed treiben ibm DBijionen gu bon malerijicher
Köftlichkeit, mit ſchlichteſten Mitteln geformt, und binausgefchmettert in eben»
fo abwehr- wie angrijfsfreudiger, pangerbarter und doch jeelenvoller, form«
finer Melodif, die tieferen Schwingungen innigen deutſchen Bolfs- und
LZebensgefühls widerflingend.
And dod, wenn man heute des erft fechsunddreißigjährigen Dichters
bisheriges Geſamtwerk überblidt, erjcheint es berftändlich, daß die Lyrik im
Laufe feines weiieren Schaffens zurüdtrat. Die Ueberfü.le feines Grfindungs-
reidtumes wies ihn zu den unendlichen Weiten der Gpif, auf dem die ftärfften
Ausjagen feiner Dicdterfraft wohl noch ausitehen, bon denen wir zunädjft
größere Konzinnheit und Konzisheit erwarten, als Die drei legten Bande
zeigen. Möglich, daß fie das Leste offenbarten, was Blund fünjtlerifch ere
ſchüttert. Wahrfcheinlih, daß er das Tiefſte nod in fich findet.
Paul Wittlo.
Grlejenes
Aus Hans Friedridh Blunds „Stelling Rotlirnfohn“*.
SS” wollen die Drachen redh.s und Lin's und wiediel find ihrer? Wäre
der Morgen dod nicht fo Hell! Wher der gibt feine Gnade, tweithin
leuchtet die Gee von brennendem Grwaden: grünjilbern über dem Schwall
der Wogen und wieder wie Blut, wo die Frühe fie grüßt,
* Gerlag von Georg Müller, Münden. Geb. 9 Mt. — Zum Berftandnis des
Sufammenbangs fei gefagt: Abbo der Rotfinn tft mit feinem Snaben Stelling dem
Witten auf See. Gr wird oon feindliden Dänen auf Dradenfdiffen verfolgt, die aud
troh dem Sturm nidt von ibm ablaffen. Der Rotfinn bat im Sturm feine beiden
andern Schiffe verloren. Rorororo: Sejang der Ruderer,
543
Rorororo, Da lächelt Abbo Rotkinn mitten in der Not. Wie mag er
nur lächeln? Ginige fdauen feinem Blid nad, Gine Nadel hebt fid im
Weften weiß umfpült aus dem Wafer, Ginmal fällt Sonne, darauf und läßt
fie aufgliiben, Der Votkinn fdreit die Nuderer an. Sie heben die Rüden
und fuden nod einmal die lette Kraft aus der Zunge zu feuchen. Uber es
ift gut, daß Das Gegel fie mit vollem Rüden auf das Land zutreibt, Die
Draden haben den Schwan erfannt, fie fommen zu beiden Seiten neben
ibm auj, vier, fünf find es jest, Rein Alftad nod Bobbe ift zu feben.
Abbo Rotkinn lächelt. Gr gibt das Leben nicht auf, ehe fie’s ihm: nicht
aus den roten Fäuften reißen. Gr fühlt, dies Schiff ijt verloren. Laßt es
fahren, gu Haus bauen fie an einem neuen; ift es aud Hart genug, den
Nodgifell einzubüßen, Gr will heut nur fi und die Männer bergen, die
ibm folgten, Und er will Stelling in die Wälder retten, er foll mit feines
Gaters Atem zum andern Mal zu feinem Golf gehen — ja, das foll er!
Die Nadel wird unten breiter, oben dunfler, fpiker. Klippen fteden -
redts und linfs aus den Rammen der Seen, flahe Beden dagwifhen. Was
ift das für ein Land? Niemand weiß es. Sie fehnen fid nur darnad), als
fei es Das Gnde aller Meerfahrt und Beginn einer neuen fetigen Stille, Hate
ten fie erft Gels unter den Füßen!
Der Rotlinn wird unruhig Warum umfreifen die Draden ihn nidt?
Ob fie felbjt gejagt werden? Niemals, wann wurden Dänen zur Gee gee
jagt? Gs ift ein anderer Gludh am Werf und einmal, wie die Sonne bon
einem Nebelflug bejchattet wird und die weiße Giſcht erlifcht, fieht Abbo
Rotlinn, daß fein Nodgifell fteil gegen eine Halbinfel fliegt, ſchon bahnen
zwei Dänen fich rechts und links einen Pfad in die Buchten, Nur die hin»
ter ibm verhalten, und der Starfe erkennt, daß ein letztes Spiel um Sod
und Leben beginnt.
Die Landung gelingt. Wunderlid — als lächelt ihnen ein abenteuer-
lihes Slüd, ſchäumen fie an Eleinen Klippenbudeln vorbei und geraten in
einen Strudel, der fie bei vollem Segel um eine Felswand faugt. Dann
ftrandet der Nodgifell, der Abbo Rotlinn wohl fünfzehn Sabre trug, berftend,
mit EnatterndDem Leinen gegen einen halbnadten Strand.
Die Männer heben fich mit letter Kraft, werden über Bord gefchleudert
oder Elettern bon Hed und Bug und wagen den Sprung in dem Ebbeſchwall.
Diele werden weggerijjen, den andern gelingt es, fie ziehen einander bod,
ftügen fic und laſſen fid Schild und Waffen reichen.
Dann arbeiten ji die Nordleute in ein Moor hinauf, das im Keſſel
inmitten der Snfel liegt. Gin Gehöft, ein Haus mit vier Eleinen Strohbadern
tagt in feiner Mitte. Gin einfamer Bauer tritt daraus hervor, er gebt
Schonung flebend mit einem Brot auf Herrn Abbo zu. Aber die Leute find
todwund, fie werfen fid in das Haus und berrammeln es, Inapp fann
Gtelling hinein, Einige brechen Pfetllider in die Wände, legen Ohnmäch—
tige an die Herdafche, ſchlagen zwei Schafe und legen fie halb ausgeweidet
in die Glut. Und fie trinfen Waffer und Bier, was fie nur finden, als
hätten fie ein Leben lang in einem Durſtfeld verbringen miiffen.
Abbo Rotfinn und Gtelling wollen zum Moor, um DBottiche gegen den
Brand zu füllen, Aber es ift fdon zu fpät. Auf den Klippen figen die
etften Drachenmänner und fdiden zitternde Pfeile herüber. Da treten fie
zurüd, ſehen fic ftill an und bliden nod einmal in das Land hinaus, ehe
fie die Sir ſchließen. GS wird ein Harter Tag werden, vielleicht nod eine
Naht dazu,
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Aber der Witte weiß, fein Bater hat ein Gefek überwunden, ein Une
gebeuer fcheint er ibm, einer, der mit dem Schickſal zu ringen wußte,
Rorororo, Hingt es nod) in den faufenden Ohren. Die Männer heben faum
bie Köpfe, liegen: wie tot umber.
Nur Abbo Rotkinn fann laden. Gr geht die Banke entlang und bat
ein gutes Wort für jeden, das wie Wein in die Glieder rinnt, „Slinf, meine
Wolfe, wacht auf, daß wir uns wehren!“
Einige erheben fic endlich, Himmen ins Strohdad und fdiden Pfeile
gu den Klippen zurüd, Gut, daß fie es taten, die Dradenleute meinten,
fie könnten wie zum Tanz anfommen. Nein, jest fegen fie fic lieber gededt
nieder, zünden Geuer an und beraten oder drohen hinüber, etwas ärgerlich,
daß die andern das Gehöft gewannen. '
Was wird fommen? Der, Rotfinn Iugt nad draußen und nimmt einem
Sodmilden die Wadht ab, Gr fann dem Borausdenfen nicht wehren, obs
wohl er weiß, Daf es ſchwach madt, Das Gefühl des Umpingeltfeins zwingt
dazu. Zwei Dinge haben fein bäurifch beldhaftes Leben beherrſcht: das
Schidfal feines Golfes und das Ratfel des Dunfels, das einft über ihn fome
men wird, Es ift das Leid der Nordleute, diefe Zwiefpältigfeit zwijchen
Sandeln und Grübeln von Jugend auf,
Ginmal wedfelt er mit Stelling einige Stunden Schlaf. Gr traut kei—
nem andern mehr. Könnte er dem Burfden dod Flügel anbinden, denkt
er, und es Dauert ihn bitter feinea Jugend, Danad fiken die beiden am
halb abgededten Dad) Hinter rajd aufgehobenen Brettern. Der Himmel
wird blaffer und die Dämmerung lähmt den Mut. Wunderlich zu wiffen,
daß der nadfte Tag den andern gehört.
Draußen am überquellenden Woorgraben ftehen gelbe Trollblumen, die
Die Köpfe der Sonne nadheben. Grasbebangene Weiden reden fid bier
und da, ein paar gabnende Erdlöcher, die der Bauer aushub, ftarren ſchwarz
nad) oben. Gs ift Frühling über Schottland, das Moor fingt.
„Was werden fie jest tun, Bater?“
„Hörft du die Werte?“
nod) böre fie wohl“
„Sie {lagen Schilde gegen uns, es wird bald fp weit fein,“
Der Burfdh ſchweigt. Wie dunfelt das Moor, wie dunfelt der Hime
mel, Was wird morgen fein?
Bon den Klippen fommen halblaute Rufe berüber und fpannen Die
QRuderer an, Kopf an Kopf laufen fie.
Kleine Feuer glimmen rundum. Die Männer oon fieben Schiffen ware
ten darauf, den Nordleuten ihre Stunde zu bereiten,
Das Moor fingt. „Hör,“ fragt Abbo noch einmal aus feinem Traum, „Du
Haft Gejidter gehabt, id jpürte e8 wohl. War Herr Ubbema bei mir?“
„sa, Bater!* Eine Weile jchweigen fie.
„Wo Hatte er feine Wunde, daß ich ihn rafd erkenne?“
„Sein Haar blutete, mehr jah id nicht.“
„And id, Stelling, mein Stelling!“
Da ftöhnte der auf. „Mein Gefidt Iog, Vater! Du famft aus der Gee,
aber du bift ftärfer als die Seel“
Der Rotlinn fchüttelte den Kopf, er glaubt nicht daran,
„Sahſt du mich nidt umkehren, Stelling, mein Stelling?“
„Woher umkehren? Warum fragft du danach, Bater?“*
Abbo fieht bon unten auf den Sohn, noch nie fprad er mit ihm davon
545
+
„Ih will dabei fein, wenn der Geredte unferm Golf aufbilft,“
„Der Geredte, Bater?“
„Der nach der Beilzeit fommen wird, Stelling!“
Sie ſchweigen wieder. Dunkel fchweifen die Schatten ber Klippen über
das Selb. Schneehühner rufen im Schalm. „Wem foll man glauben, Bater,
wenn einer fagt: Ich bin es!“
„Sie werden ihn alle erfennen, wenn er fommt,“
„And wer ruft ihn?“
Der Witte will pon ©®islamöhmes drei Wundern hören. Aber Abbo
weiß nichts davon. „ES werden Männer kommen, dünkt mid, die bon
ihm verfünden,*
Sa, pon ihm verkünden! Der Witte denkt nicht mehr an ben Tod, er
fühlt nur den Raujd feiner Liebe zu jenem Geredten, Berfiinden will er
Don ihm!
Das Dämmern wird zur Nacht, die Moorwajfer tragen ein ſchwarz⸗
grünes Glimmen, Letter Salgwind klagt bie Klippen entlang.
SHörte er, wie die dänifhen Männer Iangfam bon den Klippen ftiegen
und mit Sturmböden und glimmenden Sceiten die Moorwege betraten?
Dorfidtig, auf daß niemand fih eine DBlöße gäbe, ſchreiten einige Dinter
SHolzwänden voran, Die andern folgen unjidtbar und fdirmen fid nod.
Zautlos wird die Nacht. Der ſchwere Rud des Frühlingsmoors ftrömt
bon der Grde auf, Duft des Schaumfrguts ift dabei und Fäule bon totem
Gras, das aus Dem wärmenden Waſſer aufitieg. Duntel ift die Weite rund»
um; mitunter nur ein fabler Widerſchein aus dem blauen Leuchten der
Nacht, oder eine Helle von verwejendem Holz, oder weitab ein Irrlicht,
Das über einen Graben tanzt.
Was fchreitet Durchs Dunkel? Was lat und flüftert drohend und ftapft
f&wer über die gurgelnden Gumpffanten den Weg gu Mac Neils Gehöft?
Blutrache ift’s, Gericht gegen Gericht,
Wie dunfel die Naht wird! Und kann dod das fehnfühtige Singen
nicht beilen, das aus ihrer Siefe fommt und die Arme müde nad einer
fernen @liidfeligfeit madt. Wie der Frühling doch duftet, wie warm aus
dem Herd die Slamıge nad oben fchlägt, wie auch die Sterne aus der Höhe
funfeln und ihr Licht aller Erde fpenden werden!
Hord, im Röhricht ſchwirren erfchredte Enten auf. Die Gindde ants
wortet, Nadtitimmen werden wad. Nod klingt das fremde Lied gleich
einem Loden aus dem Lebendigen, tiefer als das Meer, höher als der Hime
mel. Wo werden die Männer gum Morgen fein?
Da nimmt Herr Abbo Stelling den Bogen aus der Hand, feine Augen
funfeln, er will Weggenoffen haben. Die Sehne fdwirrt, ein röchelnder
Aufſchrei reißt fih aus der Schwärze des Bufdhes, Drüben brüllen Bee
feble, Schilde Heben fich Höher, fchreiten dunkel und wie der Weg fo breit gum
Gehöft. Bolzen praffeln auf Wand und Gebüfh, Laden und Glide ante
worten, Da verhalten die Schilde, Feuer leuchten hinter ihnen auf, fie geben
gute Siele, Aber aus ihren Spalten pfeifen brennend Pfeile ins Dad,
ue gitternd feft und kniſtern. Wahr did, Whbo Rotlinn, die Brander
ommen!
Die Gingefdloffenen näffen das feudte Schilf und ziehen mit den
Sinden das Feuer heraus,
Ya fommen neue Schilde quer übers Moor, glühen auf und fenden
sifhend Ped und Feuer zum Hof. Und von rüdwärts fdreien fie nad
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Waffer. Gs Iniftert und praffelt wie niederfaufendes Reet. Brandiger Naud
glühı durch das Gebälk. Wahr did, Rotkinn, du ſtehſt mitten im Feuer—
fein!
Wahr did, Rotfinn! Sieh, bon allen Seiten nahen rotumrandete Schat-
ten. Gin Sturmbod dröhnt von rüdwärts gegen die verrammelte Tür.
Sie fdiitten alles Waffer ins Gebalf; einige ftürgen dabei, aber es
bilft noch einmal, Dann naht es fi, als ftanden ſchwarze Mauern rund-
um, wohin fie aud fpähen. Flammen fpringen dahinter auf, jagen das
Dunkel in die Klippen zurüd,
Was rufen fie? „Göttrik der Junge ift bier? Kommt heraus, Ruderer
ber Sajjen, warum verkriecht ihr euch?“
Herr Abbo ftöhnt vor Kampfgier, feine Zähne Inirfhen. „Der Rotfinn
ift bier, Komm gum Holmgang, Ööttrilfohn!“
Wie die von drüben den Namen des Rotkinn bören, heulen fie por
Wut und fdmahenden Worten, Segt Hilft es nicht mehr, mit Waffer zu
fommen, Die Pfeile bohren fic zifchend und fnijternd in alle Gden ein.
And der Sturmbod rammt am Hoftor, was hilft’s, daß fie die Pfoften ,
aujbreden und Davor legen, Schon fällt brennendes Stroh bom Dac auf
die Senne, die Männer drängen fih um Schuß in die engen Winkel, heben
Schilde über fid und fchreien vor Schmerz. Gs wird Zeit gum Ende.
Da jieht Abbo Rotlinn noch einmal fdweigend den Witten an, wens
bet fich und wirft mit einem Schlag das Sor aus den Pflöden Die Knechte
fteigen über, drängen fic rafend vom Feuer nach draußen. Die Prachen-
leu.e weichen zurüd, werfen ihre Speere, Dann dringen die Nordferle wie
ein Keil vor, alg wollten fie den Wall der Männer von fieben Schiffen
ſprengen.
Wie lange dauert der Streit? Die Nacht brennt und brüllt. Gs iſt, als
hätten zwei vielföpfige Riefenleiber einander gepadt, rängen rafend um
Atem und Licht. Dumpfes Schreien Hallt daraus hervor, Stdhnen, Stampe
fen, gellender Hilferuf und verzüdte Kampfgier, Wut und fdrilles Angft-
geſchrei.
Aber es werden ihrer zu viel, Die Drachenleute umzingeln Abbo Rot-
finns Männer langjam von allen Seiten. Die Dichte Löjt ſich, Berjprengte,
Heine verfolgte Rotten eilen gegen die gnadenlojen Wände. Nod einmal
erbebt fi das Geſchrei zur Wildheit, wo Abbo der Starke fampft. Gr bat
einen Pfeil im Naden, aber er fteht wie ein Stier, Die Bruft porgebeugt,
bie linfe Gaujt vorfintend auf den Schild geftügt, wirbelt er den blinfenden
Saß im Kreis, Wieder und wieder fpringen fie gegen ibn, fallen gegen die
Knechte, die feinen Rüden ſchützen. Aber Schlag um Schlag wirft er nod
bie Dunklen Leiber nieder, beugen fie fih vor ihm zurüd, der nicht ge»
fällı werden fann,
Da tritt ein ſchwerer Gifengefchienter aus den Drachenmännern berpor,
die legte Not fommt,
„Rotlinn, id will ein Ende machen.“
„Herr Hardang,“ ſchreit der Bauer auf; es ift, als wollte er die Hände
gum &leben aufwerfen, Aber er hebt nur mit letzter Kraft das Schwert mit
beiden &äuften,
Sein Schlag Elirrt gegen die eiferne Sdildfante. Herr Abbo ftürzt von
ber Wudt vorniiber, mitten in Hardangs Hieb. Blut ftrdmt über feine Stirn
und leuchtet im Feuerſchein.
Da verläßt die legten Nordleute der Wut. Sie ftirgen blind ausein-
547
ander, bon den Dänen verfolgt, umringt oder aus den geöffneten Wane
den mit Todeslachen aufgefangen. Gin junger Burſch ftolpert dagwijden.
Gr wehrt fic, fo gut es geht, gegen einen graubärtigen Dänen, der ihm
folgt und zu jedem feiner müden Streiche in Laden fällt. Bis in die Wände
fommt er, nod trafen fie ibn nidt, Da ftellt ihn der Graubart, ſchlägt
ibm mit einem furdtbaren Hieb den Schild aus der Hand und wirft ibn
in Die Knie, daß die furze Waffe Elirrend zur Seite fliegt. Aber wie der
Graue ihm den Sod geben will, gefdiebt es, daß feine Hand vorm Fallen
anhält. Des Burfchen Gefidt leudtet im Fackelſchein, betäubt bom Sturz,
das Schwert im DBlid, das ihn treffen will. Aber feine Augen tragen-
nidt Beit, nit Furt; wunderlid fern blinkt die Gadel mitten hinein. Der
Dane läßt den Arm finfen, er hebt dem Geftiirgten den Kopf auf.
Der junge Geefdnig ftürzt auf ihn gu. „Was tuft du, Thorgrimm?“
Das Dunkel larmt, Schatten und Flammen fpringen gefpenftifh bin
und ber, gleih als wiirfelten fie zwifhen Höhe und Siefe. „Laß diefen,“
fagt der Graubart und ſchiebt Göttriks Sohn zur Seite, „Gr ift ein Uebers
fichtiger!*
„Sr wird fid rächen,“ fchreit der junge Dane, Aber der Alte tritt gue
rid, „Laß ibn! Diefer nimmt feine Rade, er bat nidts mit Menſchen zu
tun.“ Gr ftiigt den Halbbetäubten mit feinem Schild bod und ftößt ibn ins
Dunkle, Die Blide der Knedte folgen ihm mordluftig, aber niemand wider-
{pridt. Dann wenden fie fih gum brennenden Kampfplat, wo der Tod
den letzten Schrei erlöfcht.
Was fingt in der Luft? Was flattert in Der Luft? Ob, viele Geelen,
die zur Nacht erfdlagen wurden, Was ift für ein Gntjegen über dem Burſch,
der das Moor durdirrt? Bater, wo bift du? Ad, Abbo Rotkinn ift weit;
Herr Hardang hebt Erde auf das blutige Haupt, um ibm die Rube zu
geben, die er im Leben nicht fand,
Serner ballen die lebten Schreie bom Kampfplag; blaffer wird Der
Schatten des Brandes, weicher die Klippe, die nadt und blaß unter den
Sternen liegt.
» ater, wo bift bu?“ Aber feine Antwort fommt, Da finft der müde
gebebte Leib des Ruderers ohne Macht zu totengleihem Schlaf gufammen.
Hans Friedrich Blund, Awenödftill*,
u is ’t fo ftill un fachen,
deep in den Daak de Wichel flöpt,
de Gee eer glönig Laden
to Rimpeln kröpt.
In't Schummern ftarwt de Waggen,
bat fingt un fichelt, ruufdt un dropt,
wietaf in’t Spill een Draggen
lies gnurſcht un ftopt.
Alns Swerhen een Stwigen,
an ’n Strand gait 't ag een Wegenleed,
de Newels lücht bi 't Stigen
ut Bees un Reet,
> Aus: „Hart, warr ni mdd. Nedderdütihe Gedidten.* Berlag von Konrad
Hanf, Hamburg.
548
Kleine Beiträge
Durdhbrud*.
ind er fprad das Wort: C8 werdel
Da erflang ein ſchmerzlich Ad!
Als das All mit Madtgebarde
In die Wirklidfeiten brad.
Ooethe, Weft-dftlider Divan.
Die Welt ift voller Stoßen und Stamp-
fen, Berften und Breden. Wir
unterfdeiden dabei das zufällige pom
notwendigen Serbreden. Wenn der
Slik einen Baum zerfchmettert, wenn
der fallende Baum einen Straud ver—
nidtet, wenn der Löwe eine Gazelle
gerreißt, wenn der Wagen über einen
enihenförper rollt und ihn zerfett,
fo bätte das alles aud anders fein
fönnen. G38 ift ein Gebilde zerftört,
nidts weiter. Wir fagen: es ift Zur
fall, daß es gerade dieſes oder jenes
Weſen trifft. Gs könnte aud _,ebenfo-
ut“ ein andres getroffen haben, und
a wäre fein Unterſchied als allein der,
daß es eben ein anderes ift. Wir nen-
nen e8 „Zufall“, und erflären das Bue
fällige für „Sinnlos“. Die aufgeflärte
Bernunft erträgt folde Ginnlofigfeit
ſchwer und redet von der „Ungerechtig—
feit“ in der Welt. Der Schöpfer muß
fih por ihr verantworten, weil er feine
beffere Welt zuftande gebradt bat.
(Sheodicee.) j
Ein anderes Zerbreden ift es, wenn
eine Knoſpe, pon inneren Gäften ge»
ihwellt, aufbridt und wenn aus dem
Spalt hervor ein neuer Sproß ,ent-
Iprießt“. Oder wenn die Blüte in ihrer
feujhen Gefdloffenbeit pon der Kraft
der Reife gefprengt wird und wenn der
Keld fih den Lüften und der Sonne
erjhließt. Oder wenn ein Menfdentind
im Mutterleibe, plöglih von Anruͤhe er-
faßt, nit mebr bleiben fann und une
ter Schmerzen und Blut fih in die Welt
hinaus zwängt. Wie oft geht die Mut-
ter an Diefem Gtofen und Breden zu
@runde! Aber foldes Berbreden ift ein
Durdbreden, und in diefem „Durch“
bat e8 einen „Sinn“: den Ginn des
Lebens Gs ift unter dem alten
Leben ein neues, unter der alten Gee
ftalt eine neue erquollen und will nun
ein neues, eigenes Leben werden. Die
fes neue Leben „bricht“ rud- und ftoß-
weife mit einer gewiſſen Plötzlichkeit her-
vor und erfdiittert dadurd das Leben,
aus dem es wird.
* Mus Gtapel, Das Biidlein
Thaumafia. @reifenverlag, Rudolftadt.
Bgl. Bwiefprade,
Nidt anders ift es im feelifhen und
geiftigen Leben. Langfam reift im UAn—
terbewußtfein eine neue Grfenntnis, ein
neues Ziel, eine neue Sat. Mehr und
mehr fpitren wir die gärende Anruhe.
bis in Kämpfen und Zudungen unerwar-
tet fid) unfer inneres Auge auftut und
das Neue gleihfam aus uns hervor—
bridt. Oder wir ringen um einen Gnt-
ſchluß, der aus taufend unbewuften und
balbbewußten Regungen endlid mit
einem flaren, heftigen „Ih willl in
die Wirklichkeit hineinbridt. Aud das
innere Werden ift ein Durdhbreden, das
nidt obne Anruhe, Schmerz und Zer—
ftörung des Gewohnten und Geltenden
abgebt. Immer erjdeint das Neue zu-
nadft als ein Chaos; man fieht wohl
ringsum Zerftörung, aber nod nidt das
neue Gormwmerden, bis endlid die neue
Gorm fid berausjondert und dem Blick
enthüllt.
Die jedes einzelne Leben in die
Wirklidfeit hervorbridt, fo aud das Gee
famtleben de3 Kosmos. Alles Wetwore
dene ift in vergangenen Zeiten einmal
nod) nidt gewejen. Diefer Gidbaum war’
vor fedgig Sabren nod nidt; da war
nur eine Gidel. Sn ihr rubte die Mög-
lihfeit des Gihbaumes, fie war aber
nidt die Wirklichkeit des Baumes.
Gin Pünktlein „reifte“ in der Sichel her—
an, plößlih zu feiner Zeit begann das
Pünktlein allerlei Stoffe, die um es Her
waren, „lih anzueignen“ und baute aus
dem Geienden ein bisher nod nicht Sei—
endes, ein „neues“ Stic Wirklichkeit.
Es zerjprengte die Sichel, der feimende
Stengel Durdbrad die Erde. Nun wuds
das neue @ebilde aus der Welt der
Möglichkeit in die Welt der Wirklichkeit
Hinein.
Sp war aud der gefamte Kosmos
einmal ,nod nidt* Wirklidfeit, fondern
nur Möglichkeit. Da war nur der dan-
tifhe Stoff, den die raubende Kraft des
Lebens an fid rif, um daraus den Kos—
mos zu geftalten. Diefe Kraft aber war
— wo? In einer Welt, die nodh nidt
„Wirklichkeit“ war, die für unfern Blid
nidts als eine bloße Möglichkeit ift, in
der nod nidts „wirkte“ und nidts ,ge-
wirft war“. Wir feben immer nur das
®ewordene, nidt den Urfprung; wir fe-
ben nur das Ende, nidt den Anfang;
wir feben nur die G©eftalt des Lebens,
niht das Leben felbft.
Warum aber ift das Werden ein
Durdftofen und Durdbredhen? Warum
nidt ein fanftes, leidtes, gleitendes Gide
549
geftalten? Warum „wird“ ein Wefen
nidt nur duch ftilles Reifen ohne je-
den „DBulfanismus“? Dann wäre feine
gerftörung und feine ſchmerzende „Un—
eredtigfeit’ in der Welt. Alles würde
id, reifend von Seftalt zu Geftalt, fanft
wandeln. Aber durh das Reifen al»
lein wird nichts geboren. Immer, wenn
ein Neues werden will, febt pliglid
eine Unruhe und alsbald eine Katar
ftropbe ein, bis die neue Seftalt „mit
Madtgebarde* fid) Hhervordrangt. So—
lange etwas „reift“, bleibt e3 dasjelbe
Leben, das es ift. Grft mit dem ,Durd=
breden“ wird e8 ein „anderes“ Leben,
das fid vom mittterliden Leben ſchei—
det und alfo von ihm gefdieden und vers
fdieden tft. Das Reifen bleibt in der
Ginbeit befdloffen. Das Durdhbreden
aber zerreißt die Ginbeit und jchafft die
Anderheit. Daher muß, um der Man-
nigfaltigfeit und Anderheit willen, ein
Becbreden in der Welt fein.
(Adalbert Stifter preift in feiner herr»
liden Gorrede zu den „DBunten Stei—
nen“ Den „rubigen Gilberftrom’ der
Gntwidlung, da3 fanfte, unmerflide Rei-
fen. Die tobenden Gewitter, die Lander
verfditttenden Grdbeben erfdeinen ihm
flein und nidtig gegenüber der Größe
des Heimliden und langfamen Sih-Wan-
delns. Dennod ift wahr, daß der bren-
nende Blig, das ſchmerzliche Zerreißen
und Serdreden notwendig und darum
groß find. Wer das ewig gleide Gein
will, der wird die Größe des Lang»
famen und Linmerfliden preifen. Wer
das ewig, fid erneuernde Werden will,
wird nidt minder die Grdfe der Durd-
brüde und Rataftrophen preifen.)
Das Gid-ablifen eines werdenden
Neuen gelcbtebt immer durch eine Ich—
Kraft, Die ſich befreit und fid felber
alg unabhängig vom andern Ich febt.
&3 ift immer eine Scheidung und ein
Schmerz für das, was reif gemadt bat,
nidt für das, was reif geworden ift.
Die Mutter leidet Not, das Kind bat
die Luft. Das neue, hervorbredhende Le-
ben jebt mit Madt und Triumph fid
Int und freut fich feiner Neuheit und
raft.
Weld ein Schmerz der Swigfeit, als
aus der reifenden Rube ihrer Ginbeit
die Anderbeit der Welt berporbrad in
die Wirklidfeit! Welh ein Jauchzen,
da die Kraft des Gormenden binein-
brad in die barrenden Möglichkeiten des
Sormlofen und in leuchtenden Sonnen
und ftrömenden Bahnen bes Lichtes den
Kosmos wirfend verwirflidte poll une
endlid malmialahigee ®eftalt! Lind im-
mer drängt bon igfeit gu Gwigfeit
und durd alle Alnenbdlidfeiten hin der
550
Strom der Geftaltung und ſchäumt auf
in ftürzenden Gebilden über Gebilden —
e8 ift ein Breden, Stoßen und Kraden
der „Jubelchöre der Söhne des Lichts“,
ein Sriumpbieren bes Lebens, und Du
— Hagft das dämoniihe Leben an, weil
e8 voller Schmerzen ift und web tut?
weil e8 ungeredt allein der Kraft
um Giege But? Bahrlid, wer müde
Labinfintt, vermag den Ginn des Lebens
nit zu faffen, er geht unter in bitteren
Moralismen und matten Anflagen. Gr
zieht ſich zurüf in die ftarre Shatten-
welt der Abftraftionen. G3 ift aber fein
Leben als im Durdbredhen zur Wirk
lichkeit.
Wenn wir einmal aus der Wirflid-
feit wieder hinaus- und hindurchbrechen
in die Gwigfeit, wabrlid, du vermagft
e8 nicht mit fauren Anflagen über dad
Böfe in der Welt und mit den dürren
Moralismen des aufgeflarten, in fid
felbft verfangenen Berftandes. Aud der
Durchbruch durh die Wände dieſes Lee
ben8 in die Freiheit des Reidhes Got-
teS und in die LUeberwelt des a
Geiftes ift eine Sat der jchiwellenden
Kraft und ift eine Madtgebirde. Mit
leudtenden Augen und erbob:nen Hän«
den [affeft du die Welt in ihren Schmer-
en binter Dir, und das himmliſche Lidt
—* in der Fülle ſeines GOlanzes dir
entgegen über did. und rauſchend von
feinem goldenen Stuhl erhebt Gr fih und
tritt Gr dir entgegen, der ewige ott.
Sur „Eheoloyia Deutfh*.
G bat einen einentümlihen pornehmen
Sauber, dies Büchlein deutfher Shee
ologie eines Granffurter Ordensherrn
aus der Zeit um 1350. Weniger wohl
deshalb, weil es die reinfte $ovm einer
deutiden Frömmigkeit darftellt, wie
einer feiner beiten Neubearbeiter, Her-
mann Diüttner*, meint; aud wohl nidt
feines theologiihen Lehrgehalte3 wegen,
der den jungen Reformator Luther mit
dem Werke fo eng und herzlich verband.
Die Frage ded Theologiſchen und ded
Gbriftentum3 darf einmal ruhig ausge»
[haltet werden, wenn wir nidt bon Hi»
ftorifhen Bedingungen, fondern von un-
mittelbarer — org 8 fpreden. &3
bandelt fid für un3 bei der ,,Sbeologia
Deutih“, einem der edelften Geftirne der
Moftil, um den Glanz der Religion
überhaupt und um den Aufgang unjfrer
unerfüllten Sehnfuht nah der metaphy⸗
ſiſchen ri oe des Lebens.
Naturwifienfhaft und Technik haben
tief und wiffend die Saugwurzeln der
* Ausgabe bei G. Diederihs, Tena,
Zebensporgänge Bloßgelegt und freiges
fpült, aber fie haben damit aud ſchmerz⸗
li@ genug in den Dafeinsquell des
Wadjens und Nährens eingegriffen. Das
ſchützende GErdreich ift fortgeriffen, das
quellende Waffer hat fid in unbefannte
Tiefen zurücdgezogen, und unbarmherzig
brennen die Strahlen der Wiffenszerglie-
derung auf zarteftes Gewebe nieder. Kein
Wunder, daß der Organismus dürftet.
Wir haben im tiefften Sinne die Bere
Bindung mit unfern Quellen verloren.
Sehr ernft gemeint und entfdloffen ift
pon einflußreiher Geite der neuen deut»
{Hen Sugend geraten worden: Habt den
Mut, ohne Religion zu leben; die Re»
ligion ift tot; eine fudende Seit hat feine
Religion. Bugleid wird die Religion
des @eiftes und die Metaphyfif (im
Sinne Schopenhauers) als neues Heil
gereidt. Nun weiß id zwar, daß jener
Ruf zur religiöfen Abkehr mehr mißver—
ftanden als begriffen wurde, daß er im
@runde die Gelbftbejinnung de3 feelifchen
und geiftigen Menſchen auf feine Ur—
fprünge bedeutet, gegenüber der Medani-«
fierung des äußeren Dafeins und der Ber-
flahung religidfen Lebens in der Kirche.
G3 ift aber wohl bod verhängnispoll,
das Guden nad religiöfem Sebalt preis-
zugeben. Schopenhauer erlöft nidt vom
Proteftantismus oder irgendweldhem Lire
päterglauben, der fid in Berduferlidung
tot gelaufen bat. Gine gallige Meta
phyſik ift um feinen Deut beffer als ein
rofenfarbener @laube. Die Tiefen der
Religiofität und der Metaphyfif werden
ineinander münden: ihr letztes Wort ift
nidt DVerföhnung, fondern Leiden und
Sragif, heldiijde Haltung und Anbe—
Dingtbeit por dem igen.
Die Moftik ift dahin mifverftanden
worden, daß fie Grlöjung, Auslöſchen
der ®rengen, Aufhebung der Spannungen
wolle Da wo Moftit das will, foll
man ihr entfagen. Die tiefften Bezie—
hungen de8 Menjhen vertragen am toes
nigften eine Schönfärbung. Myſtik foll
nur gelten im berbften und flarften
Sinne, den Meifter Gdehart und eben
aus feinem @eifte die Deutihe Theolo—
gia umfdrieben haben. Bei ihnen ift
jene Metapbpfil, mit der fid unfere
Zeit meffen fann. lebernahme der My-
ftit aus fremder Geingart in die unfre
binein, gebt nidt an. Wohl aber dürfte
unfer Ziel in einer verwandten Ridtung
liegen.
G3 gibt wenige europäifhe Bücher
über Religiofität, die in einer fo reinen
Linte und von fo bedeutender, verget-
ftigter Ebene aus über Religion etwas
wiffen. &3 ift ein Zug von wirklicher
Srhabenheit und Größe, wie bier alle
porletten Entiheidungen abgetviefen wer-
den gegenüber tem einen Lebten, in
bedingten durch das paulinifhe mäd-
tige eitmotiv: „Wenn das Bollfome
mene fommt, fo berwirft man das Un—
pollfommene und das Stückwerk“ oder
burd die ftete Befinnung auf den Schluß:
Eins ift not! Nicht im Gyftem wird
das durchgeführt, fondern immer von
neuen Geiten au3, fo wie alle queren
Shliff-Ebenen des Diamanten dod ihren
gemeinfamen Mittelpunftt haben. Die
Sbheologia ift uns die Berheifung eines
neuen WMenfden, der vielleiht nie fein
„Iſt“ erreiht hat und immer nod als
ein „Soll“ vor ung fteht: der Menſch der
unbeirrbaren Mitte, der Menſch der han-
delnden Geiftigfeit und der milden
Gtarfe, die beberrihend und ſchöpferiſch
if. Ga ift ein Wenſch, der in ſich einen
Arquell unverfieglider Kraft befist, die
ibn unbefümmert läßt um die Angriffe,
den Trug und die Wichtigkeit äußerer
Mächte. Dieſer MWenſch gleiht nicht dem
gebrochenen Sünder des Mittelalters, er
iſt aud) nicht der Narr feiner Perjinlid-
keit wie der Zeitgenoſſe, ſondern es iſt
der ſich ewig aus feinen innerſten Kräf—
ten verjüngende Wenfh. Gr hat den nur
äußeren Schein des Menfdfeins hinge
geben fix die Grfenntnid des göttlichen
Alrerlebniffe3, das er fortwährend in fei-
nem eben zur Darftellung bringt. Oe—
enüber fündigem Bewuftfein, Gigentwil-
en, felbft Gigentum fennt er das Gee
beimnis der Gemeinfdaft, und died ein-
mal als ein a ie Wort gemeint: „Im
wahren Lidt und in der wahren Liebe
ift feine Stätte für ein SH und Mein,
ein Du und Dein und dergleichen.“ Ien-
feit8 von Gut und Böſe — ift die Lo»
fung; nur nidt allein durch Abſchaffen
des DBöfen und den Abzugsreft einer
freundlid dämmernden guten Welt, fon-
Dern durd die Abſchaffung des DBöjen
als Schidjal der Schöpfung und die Ber-
drängung des Guten durd das Bollfom-
mene.
Es ift bas erfhütternde Bild des ver-
gotteten Menfhen, auf deſſen Lippen
nicht nur das heilige Ladeln der Mühe
Iofigfeit Liegt, fondern ſchmerzliche und
wiflende Grfenntnis. G3 ift Jugend und
Alter, Güte und Strenge vereint in einer
neuen @eftalt. Nidt Der Trager einer
Rehre, fondern der Srfüller eine Rufes
und eines Lebens. Es gibt feine Bors
fdriften und lernbare Wege dahin. Der
große Menfd, der neue Menſch handelt
nidt nah Regeln, fondern er weiß fid
eins mit dem Lirgefeb. Go ift bier be»
reits das losmifhe Bewußtfein, nad dem
wir verlangen, in einem hohen Bilde ge
(haut. „Wers nicht ift, der fanns nidt
551
fagen, denn er weiß davon nichts; und
wer es ift und weiß, der fann es aud
nicht verworten oder jagen! Darum, wer
eg wiſſen will, der warte, mie er’s
werdel“
Der Frankfurter gibt Meifter Edebart
——— nichts nach: „Oäb es
as Beſſeres als Gott, das müßte ge—
liebt werden por Oott!“ Diefe Liebe
ift aber nicht jene blaffe und flaue Gee
fühlsverdünnung, die aus dem „lieben
©ott“ einen Gamilienpapa gemadt bat,
fondern fie ift die ftrenge Güte des Wei—
fen und die große Leidenihaft des Gre
fillten. Mag Js daß Gdebart fühner
in feinen Schlüſſen und wagebalfiger,
verblüffender in feinen Ableitungen ift,
— es ift das fchlieflih ein Erbe pon
ſcholaſtiſchem Sntelleftualismus —, der
Deutſchherr der Theologia ift abgerun-
deter, faft lebensmwärmer in feiner Spra—
de und Darftellung. Gr ift ein geiftiger
Menſch von hohem Range, aber nidt von
jenem falten Typus der neugeitliden
Bernunftwifjenfhaft: ,Lidt oder Gre
fenntnis taugt nidts ohne Liebe“ Gr
beftreitet nidt das Dafein einer liebe»
leeren Grfenntnis, wohl aber ihren Wert.
©rade diefe Gorm der Grfenntnis, die
nidt objektiv vernünftelnd, fondern ine
tuitid und wiffend fortfdreitet (ohne in
Srrgarten von Gefühlswillkürlichkeiten
oder perfinlider Neigungswiinide abgu-
irren) ift wohl geraten für Das, was
wir metaphyſiſche Erfenntnis nennen. Sie
baut im @runde dann aud die neue
Religiofität auf, die nidt immer aus
dem Mythos der rzeit oder der Ger
{didte, fondern aud einmal aus den
©ebeimnisgründen unfers Geiſtes aufe
wadjen fann. Alfred Shrentreid.
De Mufil in der Rirde.
Dia Strom volfSentiproffener Mufil,
defien bisher verſchüttete Quellen von
den zahlreichen, im Zeichen demokrati—
ſcher Volksbildung entſtandenen Vereini—
gungen neu gewedt werden ſollen, floß
einft vereint mit dem der firdlid-reli-
— Muſik. Faſt unlösbar erſcheint
ie Aufgabe, feſtzuſtellen, in welchen
Fällen Kirche oder Volk der nehmende,
der gebende Zeil geweſen. Mit der Ent-
fremdung des Golfs von der Renaij-
fance-Runftmufif Hand in Hand ging die
Entfremdung der deutſchen Bolfsmufif
pon der Kirche. Durd Luthers perjön-
lide hausmuſikaliſche Betätigung, durch
Badhs Feftwurzeln im Bolfsempfinden
feiner Zeit wurde die proteftantifche
Kirche por dem Schickſal ihrer Schweſter⸗
kirche bewahrt: jenen Zuſammenhang
gänzlich zu verlieren und dadurch ihrer
beſten Näbrquellen beraubt zu werden.
552
Aber aud fie ift heute nur nod im Bee
fite Der Nadwirfungen jener guten al
ten Zeit, und Reger hatte redt, den
nt gugurufen: „Ihr verdient
en Schatz an ſchönſter alter Choralmuſik
nicht“, pe nad ©oethes »Srivirb, was
du ererbt, um es = befigen“. Und wenn
die Entiheidung, ie in unferen Tagen
fid der proteftantifden Kirche auf»
drängt, die Entideidung über ihre fünf-
tige Gerfaffung dahin fallen follte, wo-
bin der von den Kirchenvätern vorgelegte
Entwurf zielt: eine Nahahmung des
katholiſchen Biſchofweſens zu werden, fo
wird fie in mujifalifher Beziehung ihr
Gdidjal teilen mijffen. Im Gegenteil:
fie wird jenes Schickſal fic) felbft auf-
bürden zu einer Zeit, wo innerhalb ihrer
Schwefterfonfefjion der Oedanke fid
Bahn bridt: die Mufif der Kirche miffe
wieder Anſchluß fuden an das zeitgendj-
ſiſche Schaffen, das ja feinerfeit3 eben-
falls enge Gerbindung mit der Dolfs-
feele erftrebt. Gin DBenediktinerpater
wie ein Sefuit (Kreitmaier, der
Gerfajjer einer tühtigen Wogartbiogra-
pbie) treten feit einiger Zeit entidloffen
für eine Modernifierung der katholiſchen
liturgifhden Mufif in die Schranken. Der
BSenediftiner, Pater Fidelis aus Beu—
ron, weift Toner auf Marz Regers Bee
deutung für Die katholiſche RKirhenmufif
bin. Lind es berührt wie ein Spiel der
Geſchichte, wenn zur gleihen Beit von
dem Gremium einer proteftantifhen Kir—
de der Antrag, Regers Orgelwerfe in
den Räumen einer der ihm unterftellten
Kirchen vortragen zu lafjen, mit dem Bee
merfen abgelehnt wird: ,Regers Mufif
eigne fih nidt für den ernften Rahmen
eines Gotteshauſes.“ Dies fagt ein Deut-
{hes Kirdhenfollegium von der Mufif des
gleihen Mannes, der in den lebten Sab-
ren feines Lebens von der amerifanifden
Landeskirche beauftragt wurde, ihr litur-
giſche Gottesdienftmujif zu fdreiben.
Was der Sefuitenpater feiner Grörte-
rung voranjebt, dürfen aud wir zum
Neitgedanfen unjerer Betradtung ma-
den: „Alle äftbetifhen Künjte, die im
riftliden Tempel entfaltet werden, find
nidt Selbſtzweck, fondern dem religiöfen
Nuten der Glaubigen Ddienftbar.“ Wie
anders ift die Pruntliebe der katholiſchen
Kirche zu erflären und in unferer Zeit
der Armut des Staates zu rechtfertigen
(der fonft febr wohl nad bolſchewikiſchem
Borbild die RKirdhenfhabe der Allge-
meinbeit nußbar maden ODiirfte, ja
müßte!) als durch jene dee von der
Mitbelferrolle der Künfte. Denn nur ein
echtes Kunftwerf darf Anfprud auf wert-
pollfte Materie erheben!
Kreitmaier prägte einen Gab, deffen
Lehre die Kirchen beider Richtungen an
guerfennen und nubbar zu maden batten:
„Die Hauptbeftimmung des Ootteshauſes
wird in feiner Weile Schaden leiden,
wenn jemand die Kunftiwerfe einer Kirche
einmal unter rein äſthetiſchen ®efichts-
punften betradtet, oder Wenn etwa
außerhalb der Zeit des Oottesdienftes
eine ganze Gdulflaffe in die Kirche gee
führt wird, um über die Schönheiten
des Bauwerks und feiner Ausfhmüdun
belehrt zu werden. Und wer wollte fi
daran ftoßen, wenn id am Gonntag,
naddem id meiner Pflicht genügt habe,
ein Hodamt bloß der Mufif wegen bee
fude? Ware die Mufif nidt ihrer
Natur nad etwas Flüchtiges, wäre fie
ebenfo in Stein und Farbe verewigt
wie die bildenden Künfte, dann fünnte
dh gu jeder beliebigen Tagesftunde in
Die Kirche gehen und mid an der Mur
fit ebenſo äfthetifh erfreuen wie an den
übrigen Kunjtwerfen. Da dies nidt
möglich ift, bleibt nichts übrig als eine
Reproduktion mufilaliider Werke außer-
balb des Sotteshaufes (foll wohl heißen
„außerhalb des Oottesdienftes")., Das
aber ift bereit3 Wefen und Kern des
Rirdenfongerts. Gewiß: die Kirche ift
nid@t der Ort äſthetiſchen Genuffes im
Sinne ihrer Hauptbeftimmung, fie fann
aber, ohne diefe zu bindern, aud ein
Ort äſthetiſchen Oenuſſes fein.
Der Aufenftehende fann troß aller
Anerfennung des LMebergzeugungsmutes
Diejes Sefuiten faum den Gindrud los—
werden, al8 würden bier Binjenwahr-
beiten ausgefproden. Aber der Ginge-
weibte eth, twelde —— Wider⸗
ſtände bier noch aus längft überholter
Zeit wegzuräumen ſind: Kreitmaiers Ar—
tikel iſt nur eine Abwehr einer charak—
teriſtiſcherweiſe anonym erſchienenen
Auslaſſung, in der u. a. Kernſprüche
aufgetiſcht werden mie dieſer: „Kunſt—
genuß iſt ein ſinnlicher, materieller Ge—
nuß“, Kirchenkonzerte werden vom tap—
feren Anonymus mit Armenbällen uſw.
gleichgeſtellt und ihnen als Leitidee das
(innliche, ſchlagt drei Kreuzell) Ver—
gnügen unterſchoben. Und wer die zähen
Kräfte kennt, welche ſich der Einfüh—
rung von Frauenſtimmen in Kirchen—
chören entgegenſetzen, der ſieht hier ein
neues — zur Verdammung
der Kirchenmuſik überhaupt heraufdäm—
mern, eins, das im Gegenſatz zu Pfib-
ners legendärem Sridenter der wahren
Satjählichkeit entſprechen wird.
Dat das Bolf fih längft ein eigenes
Urteil gebildet, beweilen taufend Bei-
fpiele: Kreitmaier fpridt pon einem böh—
mifhen Dorf, wo fid didte Scharen zu
dem im Anſchluſſe an den mäßig bee
judten Gottesdienft ftattfindenden Orgel-
fonzert drängten. Manchem wird bas
immer ein „böhmifhes Dorf bleiben,
aud wenn er hört, daß gleides aller-
orten gefhieht. Hier hatte die Kirche
einzugreifen, nicht bindernd, fondern för-
dernd. Und fie hätte dafür zu —
daß dabei wirklich Erbauungsmuſik ger
fpielt werde, nidt Kiebentalorsnis
wie fie fon den jungen Beethoven gu
autofratijdem Ginfdreiten. bradte. Denn
wie gu Beethovens Zeiten italienifde
Sagesihmadtarien fid in die nadhgot-
tesdienftlihen Smprovifationen der Ore
ganiften einfdliden, fo tun das heute
ern Wagnerſche Weijen. Pater Fidelis
öjer aus Beuron gebt bier mit beftem
Beifpiel voran, wenn er auf Regers fire
denmufifalifhe Bedeutung binweift,
eines Mannes, zu deffen Lieblingsworten
der Gas gehörte: „Mozart fonnte nur
darum fo berrlid fomponieren, weil er
im tiefften Herzen fromm war.“ Frei—
lid: weder Mozart nod Reger hat man
* hat vor allem die Kirche) ihre Re—
igioſität glauben wollen und ſich ſelbſt
dabei, d. h. die Kirche und ihre An—
ehörigen, ihrer wertvollſten Mithelfer—
räfte zum Preiſe Gottes beraubt.
Profeffor Dr. Abert, der bedeutende
Nadfolger H. Kretzſchmars, wies une
längft gelegentlid eines Bortrags im
Rabmen Der Kilner Schulmuſikwoche
darauf bin, daß es verfebrt fei, fid von
der Wiedereinführung der Badfden
Kantaten in den offiziellen Gottesdienft
etwas zu verjprehen, da jene ja dod
teztlih wie geiftig inbaltlid zu fehr zeit“
lid gebunden und darum nur nod als
abjolute, alfo nidt angewandte Kunft-
werfe zu verwerten feien. Aljo aud hier,
auf der „anderen“ Seite erklingt der Ruf
nad neuer Kirchenmuſik.
Steilih: das ſetzt voraus einmal, daß
das Schaffen unferer Beit foldem neuen
Bedürfnis entgegenfomme und zum an«
dern, daß die Kirche geneigt fei, ihre
amtliden mufifaliihen Organe fo in Mu.
torität wie wirtidaftlider Lage gu ftel-
fen, daß fie gern und eifrig fold neue
Pflidten auf fih nehmen. Was das
erfte anlangt, fo müßte eine Rompo-
niftengeneration wie die unfere, zu de—
ren Leitſpruch das Wort von der „Ent-
materialifierung der Mufif und von ihrer
Ridfehr zum edten Volkstum“ gehört,
gang bejonders jolhem Verlangen ente
gegenfommen. Die beute angebrodene
„Renaiffance der Kammermufif“ müßte,
der wirflihen Bedeutung diefes Begriffs
nad aud) zu einer Yerftärkten Pflege der
„Oebrauchsmuſik im höchſten und weite»
ften Sinne“ führen. at die Kirche,
vielmehr mögen beide Kirchen diefem
553
ebrliden Trieb —— und ihn
dadurch befruchten, daß ſie Aufgaben
ftellen! Dazu gehört aber auch, daß fie
„ ihre mufifaliiden Beamten, Ghorleiter
und Organiften wirtihaftlih auf eine
Stufe heben, die ihnen Leben und Arbeit
zur Greude madt! Bisher hat es hierin
mebr als erlaubt, gefehlt, wie die ewig
erneuten Klagen diejer Beamten bewei-
fen, bon denen fo mander an Gehalt
dem niedrigften Küfter oder Türſchließer
nadftebt! DBielleiht folgt aus der Neu-
geftaltung des höheren Muſiklehrberufs
aud eine Reform des Rirdhenmufifer-
tums. G8 find Fälle, nahzumeifen, wo
jüdiſche Synagogen proteftantifde Mur
fifer beranziehen, deren Siidtigfeit fie
erfannt baben und deren Griftengforgen
fie grofbergiger entgegenfommen als die
Rirge, die folhde Männer ihre „Söhne“
nennt.
Alle Weltweisheit unferer Zeit er»
ftrebt gang im Ginflange mit der Politik
die Stärkung des ©emeinihaftsgedan-
fens: der ungarifhe Philoſoph Palaghj
und fein deutſcher Gadgenofje Klages
baben der alles zerjegenden, alles Den-
fen und Gmpfinden feiner Halteftiiben
beraubenden Relativitatslehre Ginfteins
ein Gpftem des Dualismus: Geift und
Leben entgegengefest, um fo der jedem
Menſchen innewohnenden rfeele ihre
— verlorengegangene Bedeutung
wi ugeben. Die Kirchen hätten heute
mehr denn je die Miſſion zu erfüllen,
die Menſchheit zu einigen zu neuen Frie⸗
denswerfen und neuem ®eiftesglauben.
Weldhe Helferin wäre bier hilfreicher,
welde madtiger als die Runft, voran
die Mufit? Will die Kirdhe wieder Gee
meinfhaftstirde werden, fo muß fie, wie
der rheiniihe Dichter Safob Kneip dies
fo treffend ausgefproden bat, pon neuem
gum Volke berabfteigen, aus dem Kle—
tifer muß wieder der Bolfsprediger wer-
den, wenn man wirren Sdwarmgeiftern
die Heute mehr denn je blühende Kunft
des „Menihenfangens“ aus der Hand
reißen will. Zu foldem innigen Sus
fammenfinden mit der Bolfsfeele dient
por allem die Muſik, die Kunft der
Segenftandslojigfeit, der einfachen Seelen-
regungen. Nod ift es Zeit, fie zu rufen,
ehe fie fih in neues Artiften- und
Xefthetentum verliert und ihre wert»
pollen Kräfte verzettelt anftatt fie der
Semeinfhaft nugbar zu maden. Ob die
Kirchen die Beit zu nüßen wiffen wer-
den? Hermann Unger.
Das Paffir.
XQ 2° non eft in actis non eft in
mundo, fo hieß die Prozeßvorſchrift,
die nod zur Beit der Aelteften unter
554
uns galt. &3 muß eine dem Deutfden
utiefft innewohnende Sharattereigentiim-
idfeit fein, welche dem ſchriftlichen Ber-
febr über dag Geridtsverfabren hinaus
feinen gewaltigen und verderbliden Gin
fluß einräumen fonnte.
G3 liegt auf der Hand, daß der
{Hriftlide Verkehr feine ihm eigentüm-
liden Formen fdaffen mußte. Das Here
porftehende Merkmal erblide id darin,
daß der Schreiber, der fiir feine Pare
tei, feine Behörde vortragt, berichtet oder
meldet, die Sdhform meidet. Die unper-
fonlide Form des Bortrages, die diel-
leiht aud) heute nod) den Anfdein er-
böbter Gadlidfeit erweden foll, bat nun
eine befondere Stilform hervorgerufen,
pon der man pdielleidt fagen fann, daß
fie nidt nur einen Rückſchluß auf die
Denfart des Schreibers geftattet, fon-
dern dab der Menih der Sklave feines
Stil3 wurde.
Gage wie: „für die Berfammlung mie»
tete ih den Saal“ oder „ich eröffnete die
Gibung um 10 Uhr“ Lauten in diefem
Aftendeutfh: „für Die Berfammlung
wurde der Gaal gemietet“, „die Sitzung
wurde um 10 Uhr eröffnet“. Aber dar
mit nod nidt genug! Für den DBeherr-
{her — oder miffen wir nicht beffer
fagen: Sklaven — diejes Stils ift aud
nod) die Borfilbe „ge“ ein @reuel, ift
fie Dod aud das Kennzeihen des Pers
feftum Aktivi. Wieviel beifer flingt
ihm: „für die Berfammlung wurde der
Saal ermietet, das Brot wird er-
baden, das Simmer wird er heizt“. In
der gleiden Weife überfteigert er die an
fid ſchon paffive Gabfonftruftion „der
Betrag wurde ausgelegt“ in „der Bee
trag wurde zur Gerauslagung gebradt”.
3h welt nidt, wieviel Deutide
beute in einer Schreibftube groß werden.
Giderlid find es aber fehr viele und
alle diefe Hunderttaufende denfen, fo»
bald fie die Feder in die Hand neb-
men, nidt im Altivum, fondern im Paf-
fioum. Wer könnte daran zweifeln, daß
diefe Gorm des Denkens nidt nur ein
Seiden der Zeit, fondern gugleid aud
eine Grflarung für unfere Lage ift?
Bie maden e8 die anderen? Nichts
ift Iehrreider als ein Blid in den An
eigenteil eines engliihen, eines ameri-
aniihen Magazine. „Wenden Gie fid
an Ihren Drogiften; er führt, was Sie
brauden“, „Warum fragen Gie nidt nad
unferer PBreislifte; wir jhiden fie Ihnen
gern“, fo heißt e8 dort. Und bei und —:
„Sn jeder AWpothefe erhältlih“, „Pie
Preislifte wird auf Wunſch zugeſchickt“.
Welde Blutleere des Sedanfens (wer
wird wohl in der Umgangsfprade fa-
gen, eine Ware ift „erhältlih”?). In
der heutigen Morgenzeitung lefe id in
einer Anzeige: ,Durd die felbfttätige
An ts a dae — wurde ein Sroffeuer
Ber ert’. Wenn id die Anzeigevor⸗
tidtung gu verfaufen hätte, würde id
fagen: „Unfere felbfttätige Anzeigepor-
ridtung verhinderte den Wusbrud eines
Sroffeuers“, und mir dabei einbilden,
daß der Anterſchied nidt nur in den
Worten liegt.
G8 ift nicht immer fo bei ung getwefen.
Gor einigen Jahren drudte eine Ber-
liner Zeitung Anzeigen ab, die in der
gleiden Nummer vor Hundert Jahren
geftanden batten. Mir ift lebhaft in der
Grinnerung geblieben, wie ungefünftelt
in der Gorm der Wortlaut war. Dae
mals fagte man nod: „Ih habe einen
— —— zu verkaufen“ und nicht
„Sin Kinderwagen iſt zu verkaufen bei“.
Ih behaupte, der Anterſchied ift nicht
nur eine Srage des Gefdmads und des
Spradgefihls. Wir ſchreiben und denfen
im Paſſivum, die Engländer und Ame—
tifaner denken und fdreiben im Al
tipum.
Aufgabe der Schule ift e8, die Wand-
lung zu fchaffen. Kampf bis aufs Meffer
der paffiven Sabfonftruftion. Gin Doll,
das aftiv denkt, wird aud handeln und
nit leiden. Herbert Edyl.
Der Lnbermetdlide.
Er ſtammt natürlich aus Budapeſt. In⸗
direkt nod viel weiter aus dem Süd-
often. Nie follt ibr mid befragen...
Der Bater handelte erfolgreih. Womit?
©ott, womit man fo handelt. Der Sohn
wurde „©elehrter“. Mit viel Geld und
Aufwand drängte er fich einer fehr fon
fervatiben Alniverfitätsftadt auf. Port
ereignete fic) allerlei Bemerkenswertes.
Minter anderm folgendes: G8 befteht in
jener Stadt eine febr alte, febr merf-
würdige, febr patrizifhe Gitte. Wenn
ein alter Patrigier zu einem @aftmabl
einlädt, dann läßt er fi, bevor allge»
mein aufgetragen wird, einen Seller
Suppe allein reihen, den er bor dem
Beginn des Mahles feierlih auslöffelt.
Der Saft aus dem Often lädt zu fid ein,
was fommen mag. Gr thront feierlich
an der Gpibe der Tafel und lapt fid
feinen Zeller Suppe auftragen...
And fo bat er’3 immer gehalten. Die
‘Landesfitten muß man ehren, man muß
fih anpaffen. Zwar bat jene fonfer=
pative Stadt merkwürdig wenig Tere
ftändnis für folde Salente gehabt. Sie
bat alles daran gefebt, diefe Leudte der
Wiffenfdaft wieder loszuwerden. Ia, e8
geht fogar die Rede, dab man in befagter
Stadt einen patriotiihen Berein mit dem
einzigen Swed gründete, den Unverſtan⸗
denen wegauefeln, und daß diefer Verein
fih feftlihd auflöfte, alg der Swed er-
reiht war. Aber mein @ott, es gibt
fo viele weniger fonferdative Städte. Zum
Beifpiel: Berlin.
Berlin. Schon die lebte Kriegszeit bot
bier ungeheure Möglichkeiten. Im Häu-
ferfdieben wie im Seitungs- und poli-
tiſchen „Betrieb“. Man arrangiert DBor-
träge, man lädt ein — man hat's ja
— man bringt e8 durch unermüdlide
„Öefälligfeiten“ dazu, daß alle jene hin-
eben, die überall dabei fein miiffen und
ie „ganz Berlin“ ausmaden, man bat
Gerbindungen und ſchließlich wagt nie»
mand mebr, dem man fid gefällig er-
weifen will, die fleinen journaliftifden
Dienfte zurüdzumeijen. Gin Diner beim
©efandten X, das wundervolle Abend-
fleid Der Frau WMinifter B, dte (ftillen)
Gerdienfte des (allgubefdheidenen) Poli-
tifers 3 — sure die Hand, die in jener
fonfervativen Stadt niemand jhütteln
wollte, fand bier, in Berlin, dem fo um—
und zugängliden, viele Schüttler, eifrige
Schüttler oder zum mindeften vorfidtig-
böflihe — man fann nie wiffen —.
Aber fo redht wurde man dod ae
feiner Talente und feines Lebens fro
nad der glorreiden Revolution. Da
—— man den — fogufagen — Ritter⸗
ſchlag. Da war man — endlich — poll»
wertig. Da fonnte man fid voll ent-
falten. Wan ging morgens in die Hotels
und fragte nad den git gba ae Frem⸗
den, ließ ſich melden, und vermöge der
internationalen Verbindungen, vermöge
des wiſſenſchaftlichen Namens gab's dod
immer wieder ein Interview, eine be—
ſcheiden⸗ſchmeichelhafte Szene in der Zei⸗
tung, in Der fid unfer eg Sftlider
Sreund in angemeffen vertraulider Ber-
einigung mit Mifter Cor aus New-York
(dem befannten Groffinangier) oder Wr.
Goque aus Paris (dem befannten Po-
litifer) zeigen fonnte. „Es ift natiirlid
nicht möglich, aus der etwa drei Biertel-
ftunden wabrenden vertrauliden Unter—
redung Ginzelheiten mitzuteilen...“ Bon
den Hotels geht man zu den Wefandt-
f&haften, in denen man wie zu Haufe ift.
Wan trägt Neuigkeiten bin und ber —
weshalb man aud den Titel „Austaufh-
profefior“ bon boshaften Zungen erhält
— man madt fid teils nützlich teils un«
bermeidlid. Man unterftüßt geivefene
Minifter, d. 5. folde, die zu den inter-
nationalen Beziehungen pafjen, man fine
det alle Türen offen und füllt außerdem
Die Spalten eines (aud) zu den inter
nationalen Beziehungen paffenden) Zei-
tungsfongerns mit manierlih aufgemad-
ten böflihen, befdeiden » welthiftorifchen
Notighen. ,Sefprad mit dem Präfiden-
555
ten...“, „Ein Abend bei dem Mini-
fter...“. Rurgum — man ift der Ho—
mer diefer Helden des Beitalters der
Reparationen, Konferenzen und parla
mentarifhen Schiebungen, zu Haufe und
in der Welt.
Das waren felbft diefe — obne
einen Homer? L. H.
Matthias Schieſtl.
ern in früheren Zeiten — id denfe
por allem an die Jahrhunderte um
1500 — ein Maler aus freien Stüden
oder im Auftrag ein religidfes Bild ge-
malt bat, fo war das mindefteng eben-
fofebr eine religiöfe Handlung wie eine
fünftlerifhe Angelegenheit. Dem Maler
war ein foldes Bild nicht nur ein
willfommener Anlaß, irgendein Problem
der Löfung entgegenzuführen, fondern
aud) @laubensfade. Sa, man fann
fagen: Da der Künftler ganz von dem
duchdrungen war, was er malte, und
da ibm das den höchſten geiſtigen
Lebensinhalt bedeutete, ſo war für ihn
das Malen ſelbſt, dieſes Mittel zum
Zweck, nur eine Sache von geringerem
Belang. Es war ſelbſtverſtändlich, daß
er dieſes Mittel in jeder Hinſicht be—
herrſchte; denn ſonſt hätte er es, in
ſeiner frommen Einfalt, gewiß als einen
Frevel —— ſich überhaupt an eine
ſolche Aufgabe zu wagen. Ind ebenfo
felbftverftändlih war es, daß er, im
Dienfte des Himmels, als Künftler das
Kette aus fic) Herausholte, zur höheren
Ehre Gottes, Marias oder der Heiligen.
Daber allein fommt die wundervolle Ab»
geflärtheit der Bilder aus jener Zeit,
dieſes fogufagen ewige Leben, das als
Atmofphare um fie ift, und die faft
unbegreiflihe Harmonie des Geiftigen
und Siinftlerijden, der dee und Der
Ausführung.
Die gang anders ift dagegen der
Gindrud der meiften religidjen Bilder,
Die in unferer Zeit entfteben! Bor allem
bat man faft immer das Gefühl, daß der
Maler das religiöfe Motiv nur gan
bat, weil e8 das bequemfte, billigite
und verftandlidfte if. Alfo nidt aus
Antrieb von innen heraus, und weil ed
dem Maler eine tiefe Befriedigung ge-
wabrte, fid) mit göttlihen Dingen aus-
einander zu feben, fondern im ©runde
eigentlih nur aus ©edanfenfaulheit und
legten Endes zu dem Hauptgwed, irgend"
ein malerijdes &;periment auszuprobie-
ten. &3 ift flar, daß der religiös ge-
ftimmte Wenſch jolde Bilder, foweit fie
den Anfprud erheben” religidje Malerei
zu fein, ablehnen muß. Und dazu gehört,
wie bemerft, der größte Teil Der moder
nen Bilder mit Motiven aus der Bibel
556
und por allem mit folden aus der
Lebens“ und Leidensgeſchichte Shrifti.
G3 gibt aber gliidliderweife aud
Ausnahmen. Lind unter diefen ift Der
Mündener Maler und Grapbifer Mat-
thias Schieſtl eine der erfreulichſten.
Schieſtl ift ja nicht ausſchließlich reli—
giöſer Maler. Er hat auch Landſchaften,
mit weltlichen Stafſagen oder ohne ſolche,
gemalt reizende GStilleben, mei mit
Ipenblumen, und Porträts. er der
überwiegende Seil feines Schaffens, an
den wir zunädft denfen, wenn wir den
Namen Matthias Shieftl bören, ift reli»
gidfe Kunft. Und es dürfte wohl feinen
geben, er fet religiös oder nicht, der
por diefen Bildern und Zeihnungen nicht
fofort empfände, daß ihr Schöpfer an
das glaubt, tas er gemalt hat. Diefer
Künftler — das fpürt man — ift nidt .
nur als Gtilift ein Arcdhaift; er bat
aud) nod den innigen, ftillen, ‘ftarfen,
alles durdleudtenden und erwärmenden
@lauben der Alten. Und fo wirken feine
Bilder ganz ähnlih wie die der ober-
und niederdeutifhen und der holländiſchen
Maler etwa des 15. und 16. Jahr—
Hunderts. Mit einem Worte: Sdieftls
Kunſt ift echte religidje Malerei. Und
außerdem eines der wenigen modernen
Beijpiele für eine Runft, deren Gefin-
nung unantaftbar und die außerdem
a an unbeftreitbarer, hoher Quali-
ät ift.
Matthias Shieftl ift am 27. März
1869 in @nigl bei Salzburg geboren, wo
fein ater, der Bildtgniger Matthias
Scieftl, vorübergehend Aufenthalt ge-
nommen hatte. Gein älterer Bruder
Heinz lebt als Bildhauer in Würzburg,
der jüngere, Rudolf, ift Profeſſor an
der Kunftgewerbeihule in Nürnberg. Die
eigentlide Heimat der Familie ift das
Sillertal in Sirol, wo die Sdieftl von
alters ber beimifd find. Und es ift des-
balb verftandlid, daß Matthias Schieſtl,
obwohl er feine ganze Jugend in Würz-
burg, dem fpäteren Wohnort feines
Gaters, verlebt bat, Dod feinem Weſen
nad mehr ein Siroler als ein Granfe
geworden ift. Sedenfalls liebt er Die
Siroler Berge und die Wenfden diefes
Landes, und im beimatlihen Zillertal,
wo er, in der Nähe von Zell am iller,
zufammen mit feinem Bruder Rudolf ein
bejdeidenes, bebaglid-bauerlihes Blod-
baus bejitt, ift er faft alljährlih ein
regelmäßiger Gaft. Das merft man aud
an feinen Bildern und Zeichnungen,
deren Landjdaftlide Hintergründe meift
Siroler Motive find. Den hidft foliden
©rund feines Könnens bat atthias
Schieſtl bei feinem ausgezeichneten Vater
gelegt, in deffen Würzburger Werfftatt
* =
er zehn Sabre als Bildfehniger gear-
beitet bat. Dann fam er nad Münden
an die Afademie, zu Wilhelm von Piez
und Später, nad einem furgen Aufent-
balt in Snnsbrud, zu Löfftz Und in
Münden, bon wo er mande eindruds-
reihe Reife nad Holland, Italien,
Aegypten ufw. gemadt bat, Iebt und
ſchafft er heute nod, in einem Atelier,
das viele Aehnlidfeit mit einer alten
Rlofterwerfftatt bat.
Man Hat Matthias GSdieftl den
Maler des Weihnahtswunders genannt.
Das trifft. wohl zu. Aber man fönnte
ihn vielleiht mit nod mehr Redt einen
Marienmaler nennen. Sedenfalls ift das
Sentralproblem vieler feiner Bilder das
Leben Maria. DBerfündigung, Anbetung
der Hirten und der heiligen drei Könige,
ludt find die Hauptmotive. Am
äufigften fehrt das Motiv wieder, das
Maria, die jungfräulide, die Scieftl
wie mander alte Meifter als ein äußerft
zartes, mäddhenhaftes, ja faft findlides
Geſchöpf von rührendfter Hingabe fdil-
dert, alg Mutter des Jeſuskindes zeigt:
alfo das Weibnadtsmotiv oder Maria,
das Rindlein wiegend, wartend oder mit
ibm fpielend.
Hier ift in der Sat BVolfstimlidftes,
und nur folded, in foblidter und dod
unendlih gefühlsreiher Gprade jedem
ur Greude und zur Grbauung ausge»
erben Sn Matthias Shieftl ift eben
einer der vielen, wahrhaft frommen,
ftillen Maler des 15. Sabrbunderts
wieder erftanden. Gr ift ein berufener,
{pater Heelan der Memling, Syd,
Dürer und vielleiht aud des Fra An—
gelico. And in feiner Runft, Die troß
ihrer vielen Beziehungen zur Bergangen-
beit dod [eben iger, wahrer und unmite
telbarer wirft als fo mandes, was um
jeden Preis modern fein mddte, bewährt
fih erneut die über Raum und Zeit
triumpbierende Madt des religiöfen Ge
Danfens, der in ihr Gorm gewonnen hat.
Ridard Braungart
. Der Beobadter
Das aus der Kunſtgewerbeſchule her⸗
vorgegangene Staatliche Bauhaus in
Weimar hat ſich durch Kommunismus,
Expreſſionismus, Vacktbeinigkeit, Maz⸗
daznan und ähnliche ſchöne Dinge vieler-
orts unbeliebt gemacht. Schade. Denn
die ſtachlicht⸗exotiſche Schale birgt einen
guten Kern: das Beftreben, aus der
Runftgefdhaftelbuberei ing Gut-Handwerk-
lide zurüdzufehren und von bier aus
einen neuen Anfang zu nehmen. Nur,
fheint ung, entfprad der guten WAbfidt
nit die Kraft. Sollte die Gade gelins
gen, fo hätte man eine wirkliche Lehr—
und Lerngemeinſchaft größeren Stils gu-
ftande bringen mitffen. Wie ift das aber
möglih mit Künftlern, die, fo febr man
bor jedem einzelnen von ihnen Refpeft
haben mag, dod nad ihrer Herkunft,
ihrer menfdliden Art, ihrer Kunft und
ihren Sdeen fo grundverfdieden find wie
die Baubaus-Meifter? Wie follen diefe
individualifti{dten Sndividualiften unfres
Planeten eine Oemeinſchaft bile
den? {Ind gum andern: wie follen mife-
rabel befoldete Meifter, die nebenbei
ihren Lebensunterhalt durch freie fünft-
lerifhe Arbeit erwerben müffen, die nd-
tige Kraft und Zeit für die pädagogische
Aufgabe, wie fie im Programm. ftebt,
aufbringen? So war das Bauhaus abne
lid) wie die Demokratie: eine gutgemeinte
Sdee und eine fhlimme Realität. Nun
geht es im thüringifhen Landtag um die
Stage: foll das Bauhaus aufgelöft wer-
den, foll man die Künftler vor die Tür
feben? Wir meinen: Entweder — oder!
Entweder: man forgt für eine gwecent-
{predhende Sufammenfebung der Meifter-
jhaft als eines Lehr körpers und gibt
den WMeiftern ein vernünftiges Gebalt,
fo daß fie ihre Stellung nit bloß als
einen Kleinen Zufhuß zum Leben und als
Redht auf ein billiges Atelier. zu ber
tradten brauden; oder: man [sft dag
Bauhaus auf und gibt den Künftlern
ihre Greibeit zurüd. Kunft- und Rinft-
lerpflege fann man auf andere Weife
würdiger betreiben als durd fhöne Pro-
gramme, fdledtbefoldete Stellungen und
unmdglide Zumutungen. Auf feinen Fall
oe fönnen die Dinge bleiben, wie fie
G3 ift pon je fo gewejen, daß „der
Sänger mit dem König geht“. Did-
ter aber, die mit einer grundfaglid un-
beldifhen und unföniglihen Demofratie
eben, bat erft das Zeitalter des Ameri-
anismus bervorgebradt. Da wird der
Dichter zu einem firforgliden Betuer der
„Kulturwerte“, der fis auf den ertrag-
reihen Boden der Satfaden ftellt und
die dide Banalitat mit den Flittern fei-
ner Runft verziert und, wenigftens der
Abjidt nad, verihönt. Homer verhöhnte
den pagififtifden und antimonardifden
Demofraterih Therfites; Ariftophanes
557
munterte feine Mitrepublifaner gegen
den Demotratenhduptling Kleon auf:
»Paie, paie ton panourgon!“ (Aufreizung
zur Gewalt, Beradtlidmadung der athe-
nifhen Republik.) Gr bezeichnete ihn mit
dem berrliden Worte Borborotararis —
fann man einen um die Majorität wer-
benden Wahlredner onomatopoetifder
und fadgemafer (e8 bedeutet namlid:
Schlammaufwühler) benennen? Platon
bielt fid die Nafe zu, dachte über die
Difaiofyne nad und entwarf eine reaf-
tionäre Politeia mit Dreiklaſſenſyſtem.
Raffenbygiene und einem höchſt fultur-
widrigen Gerbot der Sdniblerjmen Dra-
men. Im Dominion Germany ift ed
gang anders. Da arbeiten die beiden
größten Didtersmanner fleißig mit am
Schuß der Republif. Gerhart Haupt»
mann, der einft friegsdichtete, ftellt lid
unter „Die, die belebrbar find“ und be-
lehrt alsbald die andern. Der andere
Mann (ohne Haupt-) ftellt fi, eben-
fallg belehrt und belebrend, auf das
Dienftfertig pom Berliner Tageblatt hin-
gamohene Podium und madt feine
ännden für die Demofratie. Den Bogel
(in Ddiefem Gall: die Taube) hat aber
diesmal unzweifelhaft der Haupt-Mann
abgeſchoſſen. Ginige hochwohlbeſitzende
Demokraten, denen es auf Geld nicht an—
kommt, wollten den verehrten Weiſter
aus dem Parkhotel in Lugano durch
die Luft in eine Deſſauer Demofraten=
verfammlung fliegen laffen. Der verehrte
Meifter aber zog die Gefurität und Be-
baglidfeit des Parkhotels dem In⸗die⸗
Luft-fliegen por. Immerhin war er
dankbar und überjandte „mit den ange»
legentlidften Smpfehlungen“ feine edel-
mütigen @®edanfen brieflid. Diefer für
die Literatur der Republif ewig denk»
würdige Brief fließt: „Da ein Glug-
eug für fie (diefe Zeilen) einen unver-
ältnismäßigen Aufwand bedeuten wür—
de, fende ih fie mit der üblichen Brief»
taube, aud weil es mir gut foheint, daß
man binter politiihem Lärm immer wie
der den Fittih der Friedenstaube ein
wenig raujden hört. Mag fie mit ihrem
Slügelihlag, inmitten aller fturmbaften
Energien des Wahltampfes, auf das hin-
weiſen, worin die weitaus meiften Deut-
{hen einig find: die Liebe zu Volt und
Gaterland.* Die demofratifmen Tauben
find balt gang befondere Sremplare. Gie
baben einen fo foloffalen Gittid, daß
man ibn fogar durd die fturmbaften
Energien des Wablfampflarmes raujden
hort. Der Sliigelidlag bejagten Zittichg
zeigt außerdem augleid ridtunggebend
auf die Liebe gu Bolf und Vaterland
bin. Mein Lieber, das ift edelftes Dee
mofratendeutih, Erzeugnis des geebrte-
558
ften Boeten der Republif. Will hat fei-
nen Homer und der Kitjchpolitifer hat
feinen Kitfhdihter. Denn alle Schuld
radt fih auf Erden. (Ob dem forgfalti-
gen Thomas Mann nidt die Schweiß.
perlen auf die Stirn treten, wenn er je
zuweilen das Deutfdh feiner beiden de—
mofratifhen Didterfollegen Hauptmann
Mur: ls böfliherweife Dod wohl leſen
mu
ie Tageszeitung Germania,
Re: Stern Sofeph Wirth aus
Sreiburg ift, fteht befanntlih in Dem
Ruf, unter den größeren deutiden Zei»
tungen bon den Lefern das geringfte
Quantum Intelligenz gu bean}pruden.
Den mürriſchen Kleinbürgern und Sdlau-
bergerlein, die dort „große Politik“ trei-
ben, gelingt es nidt, die völkiſche Idee
vas gu bewältigen. Sie vereinfachen
fd as erfabren gegen Leute, die
ihnen irgendwie unbeimlid find: fie
ſchüren für ihre politifden Parteizwede
die religiöfen Gmpfindungen an. Zur
Zeit wird diefe Methode gegen die völki—
fhen und nationalen Kreife gehandhabt,
die nidt fo wollen, wie Sojeph Wirth
will. Wir lefen in der Germania: „Wir
fteben nidt an, das Völkiſche, wie es
jid heute in Deutfdland entwidelt bat,
alg eine ausgefproden anti-
Hriftlide Harefie zu bezeichnen,
alg neugermanifdes Heiden-
tum, das wahrhaft driftlider Gefin-
nung unwürdig ift und gu ihr im
ſchärfſten Widerfprud fteht.“ In Baufd
und Bogen — baftal Was foll man
fid mit LUebelwollenden ftreiten? Wir
warten in ®eduld das Jüngſte Gericht
ab. Da werden ja aud alle fatten und
felbftgeredten Wuguren por dem Weltene
ridter erfdeinen müffen. Dann wird fid
berausftellen, wie @briftus über die
Keberrihter della Germania denkt, und
wie über ung Gerfegerte, die wir immer-
bin überzeugt find, mit unferer Liebe
und Gorge um das deutſche Bolf die ung
von @ott gefebte Aufgabe zu erfüllen.
DBerumtamen in mundi fluctibus,
ubi nemo mundus a fordibus,
quod dicitis in veftris cordibus
conpungendum eft in cubilibus.
deren
Das „Lachen links“ erfordert, daß man
es ein wenig beobachte. Hier kann
aud der Harmloſe den Unterſchied zwi—
ſchen wirklicher Satire und gemeiner ®e-
poliigrett ftudieren. Man vergleide etwa
den Borfriegs-Simplizijfimus mit diefem
„tepublifaniihen“ „Wißblatt“. Gang abe
gefeben bon dem erbebliden Begabungs-
unterjhied (das ,Laden links“ ift gum
Gähnen wiblos, die Zeichnungen find
gumeift erbärmlide Schmierereien): im
Simpliziffimus fprad gornige Liebe, ent-
täuſchte Sebnjudt, febriudtabolle Deutſch⸗
beit in den meiſten Karikaturen, vielleicht
pon Sh. SH. Heine rea in dem {don
eine Note von ironiſch⸗ſchadenfrohem Ab»
feitsftehen war. Im Simpliziffimus war
außerdem Oppofition, zum “Seil,
wie wir wiffen, febr gefabrlide und gee
wagte. In Ddiefem ,republifanifden
Wibblatt’ aber herrſcht der beroifche
„Witz“ des Sfelsfußtritts. Der tote Löwe
(das niedergebrodene deutihe Golf) wird
bon allen den mutigen Feinden, die ebe-
mals nidt zu muden wagten, ftramm
verböhnt. Das ift nit zornige Liebe,
wenn man fid aud in verlogen-feurigen
Befenntniffen zu Sdhwarg-Rot-Gold fo
frijiert — das ift gang gemeiner, gei-
fernder, nadjtragerifder, feiger Haß, der
den äußeren Feinden unbedenflid Waf-
fen liefert, der überhaupt nurinnere
Seinde fennt und lebten Endes jeden
wirfliden Bluts- und Gefjinnungsdeut-
fden als Geind anfiebt. — Hier fann
man in aller Deutlidfeit ftudieren, mit
welden Mitteln Außenftehende, inners
lidft Fremde, Ohetto-Entfprungene, Frei-
gelaffene jeder Art, fid in die inneren,
die Weltanfhauungs- und Stammesge-
genfabe des deutſchen Bolfes einmifden,
fie ausnüben, fiir fid) verwenden. Das
ift einmal ein bis zur Unvorfidtigfeit
offener Gerfud, im Trüben zu fifden.
Was in den LinkSparteien und in der
„demokratiſchen“ Breffe ſchlau und por
litiſch betrieben wird: bier zeigt fids
plump und unverfhämt. Diefe Typen
pon SHafenfreuglern find George Groß
oder Raemaefers abgefebn, plump nad-
geäfft; die übelfte belgiſch-franzöſiſche Ra-
rifatur war, als feindlide affe, ane
ftändiger als mande diefer Gudeleien
und Sedidte. Ohetto, das fid austobt.
Nur gwifhendurd das idealifjierte Antlitz
Hugo Preuß’ oder ähnlicher Bater der
Republi, die dem a fo abnlid
fehn wie Griedrid Schiller aus Marbadh
dem Griedrid) Schiller aus Tarnopol. —
Auf dem Titelblatt aber blonde, idealifti-
fhe Sugend unter wallenden ſchwarz⸗rot⸗
goldenen Fahnen. Das ift die ſchlimm—
fte Verhöhnung: deutſche Sugend, die,
pon alten, umgefälſchten großdeut-
ſchen, demofratijd-deutiden Idealen ge-
lodt, zu ſehr undemofratifchen, febr un»
Deutfden, zu internationalen, gbettoge-
borenen, in Berlin W fid auslebenden
Sweden mifbraudt wird. Ia, dies
feds , Wibblatt* ift republifanifh. Wer
Die Methoden einer gewifjen, in diefer
Republif feit ihrem Beginn wirklid herr-
ſchenden Glique, wie fie fid gewiſſer—
mafen in einem unbewadten Augenblid,
in einer ſchwachen Stunde gibt, ftudieren
will, der fann’3 in ein paar Nummern
Diefes neuen Erzeugniſſes der jogialde-
mofratifhen Parteifultur. Am beiten in
jenen Nummern, in denen fid der Frei-
gelaffene „national“, ſchwarz-rot⸗gold,
„Demofratifh“ anftreiht und ftatt „Hoc
Die Internationale“ ſchreit: „Frei Heil.“
Mimicry war von jeber die befte und
feinfte Kunft der reife, die wirklich
Dinter Diefem Sreiben fteben. &. 9.
Zwieſprache
S!#? Sabre Arbeit liegen binter uns.
Nad dem erften ftarfen Aufſchwung
1919 und 1920 fam die Zeit der Infla-
tion. Smmerbin blieb ein nicht geringer
Zeil unferer Lefer uns felbft in Den
ſchwerſten Monaten des vorigen Jahres
treu. In diefem Jahr nun ging's fo
ftetig aufwärts, daß der Berlag Die
Örundlage für feft genug Halt, die Seit-
ſchrift auszubauen. Das Gormat wird
ein wenig bandlider werden, jedes Heft
wird etwa 80 Geiten bringen; zu Den
Bilderbeilagen, die boffentlih allmählich
wieder vermehrt werden können, fommen
regelmäßige Notenbeilagen. Go werden
die einzelnen @ebiete, insbeſondere die
der Kunft, bedeutend mehr Raum haben
als bisher. Der Erweiterung muß natiire
lid eine Erhöhung des Preijes entfpre-
den, aber mit einer Warf monatlich
gehören wir nod) immer zu den billigften
Rulturgeitidriften. Wenn uns fo febr
an einem folden Ausbau unfrer Zeit-
{rift Liegt, fo ift das nit Freude am
Diderwerden, fondern die Abficht, auf
folde Weife ftärferen Ginfluß im öf-
fentlihen Leben zu gewinnen. In dies
fem DBeftreben töten wir uns eins mit
unfern Mitarbeitern und Lefern.
Unfer beuriges Weihnadtsbheft ift
weniger weihnachtlich als mandes frü-
bere. G8 wurde eben juft in der lärmen-
den Wablgeit gemadt, da aus allen
Seitungsblattern und mit taufend Wahl-
plafaten und Werbezetteln Giftgafe auf
Den füßen Demos Iosgelaffen wurden.
Der „Wahltampf“ ift die hohnvollſte
Widerlegung der demofratiihen Theo—
tie. Damit, daß man nad dem Mufter
der Odol- und Rufirolreflame die wäh-
lende MWenſchheit von allen Geiten ber
anbrüllt: „Wählt Lifte +1“, bekundet
man bandgreiflid, daß man die Wähler
für Rindvieh Halt. Ginen verftändigen
559
Menfdhen fudt man zu überzeugen, ein
Rindvieh Ienft man mit brüllenden Bue
tufen: gu Hoi! Kp! Und das Rind»
pieh gebordt dem, der es am lauteften
anbrillt. Oder welchen Swed haben die
ee und der Gpeftafel fonft? Lind
as ift die — „Örundlage des Staates“.
Auf joldem Zundament tuben die mo»
dernen @rofftaaten! Auf dem Sutter»
inftinft und auf den Schredoorftellungen,
mit denen man Rindvieh fheudt. Die
Wiſſenſchaft pom Staatsreht nennt Die»
fes die „DBolktsfouveränität“. In Wirk-
lichkeit ift ba weder Bolf nod) Souverä—
nität, fondern nur Rindvieb, das teils
mit Heu gelodt, teils mit einem Rniip-
pel verihredt wird. Wenn die liberalen
und fozialiftifhen Demokraten nad ihrer
Sbeorie handelten, müßten fie nit bril-
fen, jondern überzeugen. Aber juft fie
arbeiten am meiften mit ®Plafaten und
Rarifaturen. Diefer gange wefteuropäi«
{he Schwindel muß ja einmal quia:
menbreden. Wir unfrerfeit3 wollen in
einer Reihe von Aufſätzen im naddften
Sabrgang mit Rube und Sorgfalt unter»
fuden, too denn die Irrtümer im Spftem
liegen, die fold einen Hexenſabbat zur
notwendigen Folge haben
Dennod: die Beilige * Nadt ift felbft
in Wefteuropa und Amerifa nidt tot-
zufriegen. Die alten Berfe erflingen im-
mer aufs neue, Wir geben am Schluß
zwei Lieder aus den „Alten deutiden
Beibhnadtsliedern“, die Geheimrat Prof.
D. Karl Budde-Marburg für unjre
Sammlung „Aus alten Bücherſchränken“
zu einem ſchonen Oanzen gerundet hat.
Dem Text ſowie den Noten ift die größte
Sorgfalt gewidmet. &3 fcheint mir, daß
Budde das Weihnadtsbiidlein gelun-
gen ift, ee gerade unfer Kreis bedarf.
G3 ift das Gdte, Herbe, Bolltönende
gegeben, alle Berfühlihung und Gers
niedlidung der Weibnadt ift ferngebal-
ten. Zu folden Liedern gehört Mat-
thaus Schieftl. Wir bradten 1922 Bil-
der von feinem Bruder Robert Sdieftl
in Nürnberg. Der in Münden wohnende
Matthäus ift recht eigentlid der Weih-
nadtsmaler. „Weihnadtlih ift Schieftls
ganze Kunft... Und je älter und ftiller
er wird, um fo lieber und öfter ftellt er
fid beim Kripplein ein, buldigt dem
dttlihen Kind und feiner jungfräuliden
utter, freut fid) mit dem bl. Sofef und
den treuen Hirten.“ Go jhreibt Gajetan
Opwald in feinem ſchönen Bude , Mate
thaus Gdieftl* (Geſellſchaft für rift-
lide Runft, Münden. In Leinen geb.
13,50 Mk.). Das Bud mit feinen vielen
vorzüglicen. Bildern und feiner liebe»
pollen Sinführung in Leben, Art und
Runft des edt volfstümlichen Meifters
560
ift ein mwunderfchönes Hausbuch. AUnſer
en Bild ift ihm entnommen. Gin
ergleih der beiden Bilder, die den-
felben Stoff abnlid und Dod fo vere
fhieden behandeln, ift auferft reizpoll.
Dir raten, fid einmal die @riinde ‚zu
Demwußtfein zu bringen, warum das eine
Bild fröhlich, Lieblih und heiter wirft, das
andre aber ftill, zart, verfonnen. Bis
in den Aufbau (Stellung der Maria und
des Kindes vor dem Hinter rund) Din
ein fann man den UAnterſchied verfolgen.
Zu meinem Auffaslein „Durchbrüch“
bemerke ich, daß er eine Probe ift aus
meinem Andachtsbuch ,Sbaumafia“ (d.
h. zu deutfh: Wunder). G3 foftet vier
Mark und fommt bHoffentlid wirflid
bor per see Der Berleger alt mir
mit, daß es jeden ie der Bin⸗
derei fommen fénne. eine Auswahl
aug Mafius’ Naturftudien wird leider
faum nod gum Feſt aus der Budbin-
derei fommen. Geber und Binder find
Heuer ftarf überlaftet. — Zu dem Auf-
fa Karl Wittes, des Leiter unfrer
Hamburger Fidtehodidule, madhe id
auf das lebte Heft der Mitteilungen
der Luthergefellfhaft in Wittenberg
(1924. Heft 4/5) aufmerffam. Gs enthält
neu aufgefundene Qutberbilönilfe, und
gwar ende eidnungen, die ein Witten»
berger Student Reifenftein 1545/46 ge»
madt bat. Gr hat Luther offenbar im
gezeihnet. Die unmittelbare Na-
turnähe wirft auferordentlid reizvoll. —
Nun nod einige einzelne Nadridten.
Zunädft: unfer Greund Dr. Hermann
Allmann in Berlin gibt von Sanuar ab
eine neue Zeitihrift, die „Politiſche Wor
chenſchrift· heraus. Sie wird ftaatspoli»
tifd und fozialpolitiih etwa dem „Deut-
ſchen Boltstum“ entjprehen. Als Woe
Henfdrift bat fie, was für politijde
Dinge notwendig ift, die Möglichkeit grö-
ferer Aktualität. Allmann {dreibt: „Wir
brauden eine Partei oder Parteigrup-
pierung der pverpflidtenden
Selbithilfe. Gin Volk in unjerer
Lage fann nidt durch fremde Hilfe ge»
rettet werden. Mißtrauen gegen fremde
Hilfe, Vertrauen auf eigene Kraft zu
weden: das ift die Aufga e einer ftaats-
politijden Redten in Deutihland.“ Am
beften fann man den Geift der Woden-
{rift vielleiht umfdreiben, wenn man
auf den $reiherrn vom Gtein hinweift:
was er für feine Zeit wollte, will man
bier für die heutige Zeit. — (Probe-
nummern erhält man foftenlo8 pom Ber-
lag der Politiſchen Wodenfdrift, Ber—
lin W.35. Potsdamer Gtr. 27a. Der
Bezug foftet vierteljährlih 4,50 ME,
monatlich 1,80 Mk., Einzelheft 50 Pfg.) —
Mein guter alter Reigen » Progefs
fommt leider aud) am 13. Dezember nod
nidt zur Rube. Wolfgang Heine bat
die DVerfhiebung des Haupttermins bee
antragt, da er in jenen Degembertagen
in Magdeburg fein muß, um zufammen
mit Landsberg den Reichspräfidenten
gu verteidigen. Diefer Progefs war im
ovember angefebt, wurde aber auf den
Dezember ver}doben.
Unter den Bücherbeſprechungen bat-
ten wir bor einiger Zeit die „Sntdedung
des Paradiefes* eines angebliden Franz
bon Wendrin — fagen wir höflih: ab-
gelebnt. Landrat a. D: v. Herbberg Hat
in der Deutihen Zeitung vom 13. Sept.
(Nr. 409) und vom 29. Nov. (Nr. 538)
nadgewiefen, daß diefer Autor eigentlich
Stang Whydrinsti beißt und aus Ra-
tibor-Studzienna ftammt. Gr wurde por
nidt langer Zeit von einer Anklage we-
ger Heblerei freigefproden, weil er nad
em @utadten von Gadperftandigen an
beginnender Paralyfe leide, deren Ans
fänge fid bereits im Sanuar 1920 ge»
zeigt haben. — Wir fönnen nicht umbin,
gu bemerfen, daß wir weniger über den
anfen Wydrinski erftaunt find als über
den = altangefebenen Weftermannfden
Gerlag, der ſich nicht ſcheute, feine ehren-
werten Autoren in die ©ejellfhaft Herrn
Wydrinskis zu Bringen. 63 gebt mit dem
Qualitätsgefühl in Deutihland reifend
abwärts. —
®egen unfre Oloffe über den „Ab-
bau“ (im Oftoberheft) wendet ein Gad-
mann aus dem Bergbau ein: das Wort
werde aus dem PBergbau übernommen
fein: man „baut“ Kohle, Metalle ufw.
„ab“. Hier hat das Wort nod den al»
ten Ginn, nämlih: Erde bearbeiten (da-
ber: Bauer = Adermann). Aber id
glaube nicht, daß die Herren in den Mi-
nifterien bei ihren WbbausBerordnungen
an Dergbaulides gedacht haben. m
Bergbau wird das abgebaut, was zu wert»
vollen Sweden benubt werden foll, das
nidt zu Verwendende aber läft man
liegen. Der Beamtenabbau wollte bin-
gegen grundfäglih das Unverwendbare
abbauen, aber das für die Staatsziwede
Notwendige und Braudbare an Ort und
Stelle laffen. Nein, man bat wirflid an
Bauen im Ginne bon Hausbauen ge»
dacht, und bat die Gade nur durd ein
unlogifhe8 Wort zu verfdleimen ge»
fudt, unbewußt natürlid. &3 gebt mit
dem G©efühl für Logif in Deutſchland
reifend abwärts. —
3m Oftoberbeft hatten wir die Ver—
leumdungen gegen ung, die fid ein Herr
®umbel in feinem Malil-Buh „Ber-
Ihwörer“ aus feinen wenig fauberen
Singern gefogen hatte, feftgeftellt. In—
zwiſchen erfuhren wir, daß diefer Gumbel
— Privatdozent in Heidelberg fei. Hei-
delberg liegt in jenem vielgerühmten
Mufterlandle, das dem deutſchen Bolfe
die größten VollSmänner der Neuzeit
befdert bat: Konftantin Febrenbad, Jo⸗
feph Wirth, Pring Marz von Baden,
Berthold Deimling. (Das „von“ Deime
ling ift thm erft bon feinem früheren
Kriegsherrn verliehen worden; von dem
Treuſchwur bat ihn der Kaifer ja wohl
entbunden, von dem Adel offenbar nidt.
Der Kaifer ftürzt, fein Reid zerfällt. So
gebt es eben in der Welt. Man fist am
Kaffeetiſch und denkt: Sekt nehm’ id ihn
nidt mebr gefdentt. Dod) was er ein-
ftend mir verlieh, das bleibe feft und
wanfe nie! 63 bleibt das „von“, der
Shwur entfällt, fo fommt man weiter
durd die Welt. Man paßt fid an dem
Augenblid, erft Kaiferreih, dann Repu-
blik. Stolz weht die Flagge ſchwarz⸗
rot⸗gold — weiß; Gott, wir baben’s nicht
ewollt, Die Welt ift febr veranderlid.
rft ftand man ftill, nun rührt man fich.
Rührt eud! ſchnarrt Herr von Deimling.
Da rührt fid mander Sdleimling: Mit
Riibren, ja mit Rühren, wird er uns
aufwärts führen! Der gute Menfd wird
angeführt, der böfe Menſch bleibt unge»
rührt.) Bir bitten um Gntihuldigun
für die Abſchweifung. Wenn alles fi
rührt und wadelt und alle Begriffe ing
Gdaufeln gebraht werden, gerät aud
Poefie und Proſa durdeinander, und
man treibt auf ungemollten Bahnen.
Stillgeftanden! Zurücd marſch marfd in's
Mufterlandle! Heidelberg liegt dort, wo
der Wind aus Mannheim weht. Da tut
man am beften, wenn man den Mann-
beimer Wind mit dem Mantel auffängt.
Dann fommt es auf Wahrheit und abn
lihe produftionsverlangfamende Ideale,
an denen die reaftionare bourgeoife Wif-
fenfdaft Teidet, nidt fo febr an. Giz
mußt du fein, Gindrud mußt du maden,
Auffeben mußt du erregen, damit
fommft du nicht nur beim Rabbi voran,
fondern aud in einer parlamentarifchen
Demokratie. Dann kannſt du werden wie
der Bernhard, der darf die Deutiden
fogar fdon obrfeigen. — Uebrigeng:
Herr Genatsprajident Frepmuth vom
Berliner Rammergeridt, dem wir unfre
Darlegung über die falfden Angaben
feines Schützlings Gumbel fandten, bee
folgte das berühmte Deimlingſche „Rührt
eud!“ nicht, fondern bielt fih ganz ftill,
Denn dir ein Menih was Böfes will,
und dieſer Menih hat Redt, fo drüde
did) und denke ftill: nicht jeder ift fo
ſchlecht. Die Welt ift gut, die Welt vere
ane Bald krähſt du wieder Hod vom
T —
561
Sn dem Gedidt ,Oedslein und Eſe—
lein“ von Grifa Gpann-Rbeinfh (im
Novemberheft) find in der fünftletten
geile zwei Wörtlein verfehentlid aus-
gefallen, e8 muß beißen: War ihnen
nod nie fo wohl und fo tiefinnig weh
geihehn. —
Gndlid mödten wir nod darauf bins
weifen, daß für nadftes Sabr Lienhard-
Seftiptele geplant find, zu Ghren des
Sedgigiabrigen. Gs follen im Harzer
Bergtbeater aufgeführt werden: Gott
fried bon Straßburg, König Arthur,
Wieland der Schmied, Heinrid von
Ofterdingen, Münchhauſen, Sill Gulen-
fpiegel. Auch Gbafefpeares Gommer-
na@tstraum und Sleifts Herrmanns-
ſchlacht. Im Zeftausfhuß find Friedrid
Düfel, Rudolf Guden, Slifabeth Förfter-
Vietzſche, Pfigner, Lilienfein, Hans vb.
Wolgogen u. a. Die Sefhaftsitelle ift
bei Greiner und Pfeiffer in Stuttgart,
Gbhriftianftr. 40. —
Hans Thomas, des jiingft Verftor-
benen, zu gen {dlieBen wir bas
Heft und den Sapegang mit einigen
Worten aus feinem bei Diederidhs er-
fdienenen Bud „Im Winter des Lex
bens. Aus adht Sabrgehnten gefammelte
Grinnerungen.“ Leber Thomas Kunft hat
Dr. Ridard Beng im Oftoberbeft 1919
bei ung gefdrieben. Wir dürfen bier
darauf verweijen. Hans Thoma gehört zu
dem felbftverftändlihden inneren Beſitz
unſres SKreijes. Das Nadterlebnis des
Kindes, das er erzählt, möge den dunf-
fen Schauer der Naht, bon dem wir im
Reitauffab handeln und der aud durd
DBlunds Schilderung des nächtlichen
Nordmannenfampfes ebt, in fanfte
Reinheit ausklingen lajfen, um überzu-
leiten zur heiligen RNadt.
Stimmen der Meifter.
©’ will id nun erzählen und zwar wortgetreu, denn Liſa war inzwifchen zwei-
einbalb Sabre alt geworden und fonnte fhon redt viele Worte gebrauden, wie
Stare wast entdedt bat, und wie fie in ihrem Bettlein im Dunkeln ein Nadtlied
gedidtet bat.
Zu der Zeit, da die Gommertage anfangen fürzer gu werden, war fie länger auf.
Das Lidt brannte im Zimmer, die Tür, die direft in den Garten gebt, ftand offen,
da fab fie auf einmal in die Dunkelheit hinaus und fagte veriwundert, faft fragend:
prtladt draußen! Sfa feben, wie Naht ift.“ Damit watfdelte fie zur Türe hinaus,
ntebrte gleih wieder um: „Draußen Naht, im Warten Naht, überall Nadt!“
Sie trippelte wieder hinaus bis an das ©ittertor des Gartens, zu feben, ob vor dem
Sor im Wald aud Nadt fei, fie fam wieder und verfündete uns: „Draußen überall
Naht, im Wald aud Naht, was ift aud das? — ganz Nadel“ Gie wollte aber
fehen, ob auf der andern Geite des Hauſes aud Nadt fei, und id nahm fie auf
den Arm und trug fie duch das dunkle Gebüfh ins Gemüfegärtlein. Da war aud
Nadt, aber fie fah den Himmel über fid und die Sterne fo bod droben: „Da
Gternlein, dort aud Gternlein, große Gternlein, Heine Sternlein,“ fie entdedte
immet mebr, fie war poll VBerwunderung und voll Staunens: „Naht, überall Nadt!
Was ift denn das? Biele Sternlein.“
Sie wurde zu Bett gebradt. Sie war ganz ftill. In der Naht wadte fie auf
und fing an zu fpreden, meine Schwefter hörte ihr gu. Lifa fühlte fid aber ganz
allein. Zuerft von ihrer Puppe, der Frieda, dann auf einmal:
„Nacht, überall Naht — Die Baume f{dlafen,
Naht — bier Nacht, Der Wald fdlaft,
Draußen aud Nadt, Die Sternlein ſchlafen,
Im Garten Nadt, Der Mond fdlaft,
Sm Wald aud Nadt, Alle Leute fdlafen.
Ueberall Nadt, Schlaft wobl!
nd Sternlein bod oben am Himmel, Schlaf wohl, Wald!
©Orofe Sternlein, fleine Sternlein. Schlaf wohl, Garten!
Alle ſchlafen, Schlaf wohl, Naht! —
Der Brunnen fdlaft, Lieber Gott, mad mid fromm,
Dah id gu dir in Himmel fomm!“
Sft das nit, als ob man ein Quellen riejeln hörte, bon dem aus die Poefie
ihren LUrfprung nimmt? Senfeits von aller Literatur und ihren VBorratsbehältern?
Gin Quellden, aus dem aud die tofenden Sturgbade und die ftolg binwandelnden
Ströme der Poefie ihren Anfang nehmen. Die DVBerwunderung und das Staunen
find die lebendigen Quellen der Poefie. Der DVerftand freilich ift immer dahinter
ber, fid die Berwunderung abzugewöhnen. G8 ift wohl feine Aufgabe, und id
will fie ibm nidt abfpreden. Was ift ibm die Nadt! Da ift dod nidts zu
bertpundern. Das fommt, weil die Sonne auf der andern Geite der Grde fteht. Bon
diefem Standpunft aus wird freilid feiner ein Nadtlied fingen oder ein Aadtlied
perfteben. Hans Thoma.
562
Neue Bücher
Während wir unfere Ueberfidt für das
vorige Heft fihrieben, famen immerfort neue
Biker heran, die borgeftelt und gum Gefte ge-
laden fein wollten. Die Verleger baden in dies
fem Jahre offenbar meift fehr lange überlegt,
ehe fie fchließlihd zu einem Entſchluß famen, und
fo find Bruder und Bucbinder in den beiden
legten Wortweibnadtsmonaten bis ſpät abends
und über Gonntag angefpannt, während fie bore
dem bergeblid nah Arbeit Iugten. Manches
lommt nicht mehr rechtzeitig. Bon dem, was nod
bis Unfang Dezember gu und gelangte, gebe id,
fomweit Blag ift, in olgendem einiges, was ings
befondere als Weihnactsgeihent in Frage
fommt, und danad nod etlihe Saden, bie faon
eit längerem anftehn. Das Meiſte, aud die
abrbud-Literatur, fann erft im Januar drans
lommen. St
Sriedrid Rienbard,
Werle, in drei Reihen. Erſte Neihe: Erzählende
Werle. 4 Bde. Gangleinen 30, Halbfrang 50 A.
Greiner & Pfeiffer, Stuttgart,
Rienbard wird im fommenden Jahr zu ben
Sedaigern gehören. Da ift es rect, bab der
Verlag feine Werle in einer Gefamtausgabe her»
ausbringt. Es ift aud rictig, dab die Eraäh-
lungen und Betradiungen guerft Iommen. Die
äweite Reihe fol die Gedichte und Dramen
(5 Bande), die dritte das eigentlid Gedantliche
(6 Bände) bringen. Bis gum lommenden Herbit
wird daS Ganze fertig borliegen. Die Ausitat«
tung ift febr fauber, ſchlich und würdig. Erfter
Band: Die weiße Frau. Helden. Wasgaufahrten.
Abiiringer Tagebudh. Zweiter Band: Gberlin.
Dritter Band: Der Spielmann. Weftmarf,
Vierter Band: Jugendjahre. Der Einfiedler und
fein Boll. Wer gulegt ladt.... Diefe vier
Bande bilden an fish ion ein Lebenswert. Werle
wie Oberlin, Wejtmar! und die Wasgaufahrten
find ein nationales Gut, daS zu Iennen heute
faſt eine Pflicht genannt werden muß.
Brehms Tierleben. Qn Auswahl her-
ausgegeben und bearbeitet von Carl W. Neumann.
6 Bde. mit 150 Bildtafeln. Leinen 30, Halbleder
45 A. Philipp Reclam jun., Leipzig.
Durd diefe Ausgabe wird der alte Brehm
in weiterem Umfang al3 in den früher angeacige
ten Qusmahlbänden „gerettet“. Zugrunde gelegt
ift die zweite Auflage, die nom den echten Brehm-
fen Text tte. Der Herausgeber Hat ausge
Gefammelte
merat, was Heute als unridtig gelten muß. Hine
gugetan gum Text ift nidts. (Was hinzugefügt
wurde — bor allem zwei Abſchnitte über Men
fGenaffen und Haushunde — ift als folded Iennt-
lid gemacht.) Werner find die vielen Zitate, die
Brehm in größter Ausführlichleit bradte, teils
ausgelaffen (wie ih eS in dem bon mir beraus-
gegebenen Bändchen auch getan hatte), teils ein»
eihräntt, Auf diefe Weife tritt Brebms Dar»
tellung tar berbor. Diefe Grundfage des Her
ausgebers find nit nur gu billigen, fondern au
loben. MeumannS Worten über Brebm3 Tiers
befeelung mödten wir nadbdritdlid) guftimmen.
Bedentliher finden wir die Veränderungen in
der Reibenfolge, die aus verlagStednifden Grün
den borgenommen wurden. Es follte wenigſtens
ein genauer Ueberblid über Brehms Anordnung
mitgegeben werden. Auch Hatten wir die alten
Holafhnitte borgegogen. Die von Neumann ges
bradten Bilder, meift nad photographifgen Auf-
nahmen, find zwar redt inftruftiv und fachlich
fehr mwillfommen, aber es ift doch wohl mit nur
Pietätsgefühl und Jugenderinnerung, wenn id
Brehm am liebften mit braven alten ———
illuſtriert ſehe. Doch ſoll dadurch der Dant an
Herausgeber und Verleger nicht geſchmälert wer
ben. tiefer alte Brehm gebirt wie Goethe,
Schiller, Shulefpeare, Uhland, Ranle uf. in jede
Yamilienbibliothel. Er muß den Jungen immer
zur Hand fein. Das ift ein fehr wichtiges Stid
deutfher BollSergiehung. Jungen, die fic midt
eibe Baden darin lefen, find gar feine richtigen
ungen, fondern find berdddtig, Problemgriibler
und Literaten gu werben, die auf jugendbewegten
Woden dem lieben Gott feine Welt durh Re
formprogramme verbeffern möchten, ftatt bie
bunte Welt fennen gu lernen. Much ift Brehm
wunderbar geeignet gum Worlefen am Gamiliens
tifm. Er ift ein wirtſames Hausmittel gegen
die pbilofopbifm«moralifm-politifme Broblemjegerei
unferer Tage. Tatſachen, Forſchung, nidt Gee
ſchwäßs! — Die erjten drei Bände bringen die
Säugetiere, die nadjten beiden bie Vögel, der
Iegte die Kriechtiere, Lurhe und Gilde.
u. € Brehm, Papageien. Her. v. C. W.
Neumann. Geb. 60 3. Ph. Reclam jun., Leipaig.
Ein Abſchnitt aus dem oben angezeigten Wert,
und gwar ein recht unterhaltfamer.
Ernft Kreidolf, Ein Wintermärden.
Geb. 8.25 A. Notapfel-VBerlag, München.
In Umfang und Drud den „WUlpendlumen-
märchen“ gleih. Das [lichte Gefwidtlein er
zählt, wie drei Broerge fic gu ben fieben Zwergen
aufmaden, um das Rotläppchen au fehn, das alle
fieben Jahre auf einen Wintertag bei ihren Net»
tern au Befud fommt. Die Bilder find voll mune
derbarer Eisblumenftimmung. Die Farben a
fo gatt und lieblih, daB man von einem Ent
aliden ins andre fält. Schnee im Sonnenfgein,
Schnee in der Nadt, und das Schneewittchen und
die bergnügten Zwerge und die Eichhörnchen und
die Gimpel bei den derf{dneiten Bogelveeren —
es ift gar nicht augsgufagen. Das 3 orfagpapter
wollen wir aud nidt bergeffen, das ijt stret-
dolf wieder einmal zum Verwundern gut gelun-
gen. &3 ift der reinfte, gartefte, liebfte Meifter,
und das deutide Voll muß ihn auf Händen
tragen. .
Georg Blifhle, Bon Englein und
Bmwergen und fonft allerlei, bie Dtorgenfonne ift
aud dabei. Bilder und Reime. 24. Berlag
Deutſcher Kulturderband, Prag.
Pliſchles Scherenſchnitte find weiteren Streifen
duch den Gefundbrunnen und den Kunftwart be»
fannt; Avenatius, der für Scherenſchnitte ein
feıne3 Urteil hatte und bas Meifte ablehnte, was
gefd@nipfelt wurde, freute fih immer wieder an
Pliſchles Sadhen. Das borliegende Heft enthält
in Leporello-Sorm einen te Kinbderfries, den
man auseinanderfalten umd über die ganze Wand
fpannen lann. Ein billige Ding, das den Stine
bern biele und dauernde Freude machen wird.
Sehr flott gefchnitten, ed ift eine tangende und
webenbde, derbgarte Stinderbergnügtheit darin.
Bertha Heller, Blumen, 10 GScherene
ſchnitte. 3M. Greifenverlag, Rudolftadt.
In der Art Kreidolfs (der 3. B, im „rauen
flachs“ deutlich bereinwirlt) werden Blumen in
menfhliden Gejtalten dargeftellt. tta Qüthie
bebt im Vorwort zu den Blättern die Bartheit
hervor. Dod fheint mir eher eine gewiffe fräf-
tige Derbheit, nicht eigentlid Geinbeit charalteri-
ſtiſch. Das feingliedrige der Pflanze, etwa beim
Hirtentafmel, und das Gchleierzarte fehlt, ftatt
deffen fühlt man mehr das wiefenhaft Saftige der
Simmelsiglüffel. Bgl. aud den Fingerhut!
M. E Boigt, Adht Zeichnungen gu Löns
Webrwolf. 4.50 M. Der Innere Kreis Verlag,
Berchtesgaden-Schönau. :
Den Holafhnitten, die wir im borigen Jahr
anzeigten, folgen bier atveifarbige Dfffetdrude
nah SHandzeihnungen (Blattgröße 34 X 49 cm),
die fehr gut gelungen und erftaunlid) billig find.
Boigt lebt offenbar ftarl in fpdtefter Gotif und
Barod; fo etwa würde ſich Barod entmwidelt
baben, wenn die Renaiffance nicht bineingeloms
men wäre. Gerade beshalb werden diefe Blatter
dem er —— ber Beit des Dreißigiäh-
ya Krieges in hohem Mae gerecht. Sie paden
e
c ftarl,
563
Ernft Liffauer, Das SKinderland im
Bilde der beutfhen Lyrif bon den Anfängen bis
gut Gegenwart, Mit 13 Federzeihnungen und
farbigem Umfdlag bon Jofua Leander Gampp.
216 Seiten. Geb. 6 A. Deutfhe Berlagsanftalt,
Stuttgart.
Eine Sammlung, bie bon großer einbring-
lider Arbeit zeugt. Wohl in feinem anderen
Wer! .nichtwiffenfchaftlider Art findet man eine
folde Fülle bon SKinderliedern und Liedern bom
Iindliden Leben, Alteftes Vollsgut und neuefte
Didtung bis bin au Dehmel, Sindh, Werfel und
Liffauer felbft. Yn dem Buche find zwei Arten
bon Dichtung aufammengefügt: eigentlide Kin
dergedidte, und folhe „in denen Kind und Kind«
beit befungen, ABER. angefhaut wird.” Und
gebt Liffauer aumeilen über das RKindeSalter Hine
aus in3 Rnabenalter. Co ift ein Buch nist für
die Kinder felbft, fondern für die Eltern ent
ftanden. Auch bat man durch dieſes Verfließen
der Grenzen den Cindrud einer gewiſſen über-
reihen Bormlofigleit. Wiederum: die Feſte find
biel zu furg teggelommen; fie beginnen, redt
unfindlid, mit Neujahr ftatt mit Weihnadten.
Das bängt nun freilid mit dem Grundfaß aus
fammen, den Liffauer im Nachwort (GS. 206/7)
entividelt, daß man bem Stinde feine Gottesbor-
ftelung beibringen folle, die bor der madfenden
Einfiht nicht, beftehen Yonne. Das ift aber eine
Scheinwahrheit; forveit fie gilt, gilt fle nad mei—
nen Erfahrungen nur für wenige intelleftuell
veranlagte Kinder und allenfalls für mande aus
atheiftifhen Elternhäufern. €8 gibt Altersftufen
der Religion nist nur in der Weltgefhichte, ſon—
dern aud im Leben der Cingelwefen. Gerade
das Rind ift au Beiten in feiner Art eminent
religiös — e3 wird nur ben meiften Erwadfenen
nicht offenbar. Cin normales Kind enttvidelt
feine religiöfen Vorftelungen aus dem Marden:
baften bon felbft in „erwadfene“ Vorftellungen,
wenn e3 wächſt. (Uebrigens beftreite ih es
Liffauer als einen Irrtum, wenn er fagt, bie
Gottheit fet eine ,fiberperfinlide Macht“, fie ift
Perſönlichkeit fat’ eroden.) Was ferner die Aus—
wahl betrifft, fo läßt fim natürlich viel darüber
diöfutieren. Von Matthias Claudius vermißt
man einiges, fein Urenlel Hermann Claudius
bätte nicht feblen follen. Daß Eichendorff ganz
ausfällt, hundert mid. Seine Gedidte „Auf
meined Kindes Tod“ find das Tiefite, was je
über ein tote3 Kind in deutfher Sprache gefchrie-
ben wurde. (Wenn man‘ mir nicht glaubt,
laubt man es bieleicht Abenarius, der gemißlich
onft Yeine Qorliebe für Eichendorff hatte.) Dann:
Parzibald Jugend bei Wolfram von Eſchenbach!
Eine Gruppe fehlt gang: Gedichte, bon Rindern
felbft gemadt. Es gibt da allerlei wertvolles
Material. (Bgl. Hand Thomas Worte in diefem
Heft unter „Stimmen der Meifter”.) DaB Liffauer
ein oſtiüdiſches Kinderlied aufnahm — das übri—
gens febr intereffant ift, man bätte gern mehr
dabon — Wirkt wie ein Algent, und zwar tie ein
gaghafter. Entweder: ein ganzer Abfchnitt folder
Rieder, ober gar feines, ber nicht: ein bißchen
druntermifhen. Gegebenenfal3 durften dann
flämifche, holländiſche Saden uſw. nit fehlen.
Doh all das find Anregungen für weitere Wufe
lagen. Daß ein Buch zu folder Auseinander-
fegung beranlaßt, zeugt für feine Bedeutung. Die
Dilder Gampps find fehr reigvoll, echtefter Gampp
(bi3 auf das Geſicht in „Gaffe und Garten”, das
zur Familie Kreidolf gehört). Es ift ein Rei-
mende3 und ein zarted Werden in biefen Zeich-
nungen ausgedrüdt, und alles bol Tieblicher,
frifher Symbolik.
Carl ®. Neumann, Das Paradies ber
Tiere. Mit Bildern bon Willy Pland. 272 ©.
Quelle & Meber, Leipzig.
Eine bunte BZufammenftelung bon Fabeln,
Heinen Gefdhidten, Gedichten aller Art, alten und
neuen. Auch einiges, deffen man ſich aus alten
Lefebühern erinnert und da3 leider bon ben
fuperpädagogifhen Lefebucdh-Aeftheten beſeitigt
wurde, obgleih e3 uns Jungen Spaß madte.
Das Baumbahfhe Lied bom Rofenftraud und
564
Sint hätte aber nicht aufgewarmt werben follen,
folder Kitſch gebt auf die Nerden. Hingegen tft
de3 alten Hagedorn „Rabe und Fuchs“ gang Löfte
lid. Go etwas fonnten die Gagedorn und Gellert
unnadabmlid. Hagedorns „Adler, Sau und
Rage” ift ber ee N nit mwürbig. Ber»
blüffendermeife fehlt das Meifterftüd biefer Art:
Goethes „Adler und Taube". Ym Ganzen: Gee
danke und Plan des Buches (mit den eingeftreu-
ten Gtridgeidnungen, meift am Rande) tit bor
trefflih, aber es wird bet der Wahl für Tünftige
Auflagen feinere8 Abwägen bedürfen.
Dentfhe3 Knabenbuch. Ein Yahr-
bud der Unterhaltung, Beleh mg und Beſchäftl⸗
gung. 33. Bd. 302 ©. Geb. 7.50 M. K. Thiene-
mann3 ®erlag, Stuttgart.
Ein woblgelungener Jahrgang, mit dem man
zwölf⸗ bis biergebnidbrigen Jungen diel Freude
maden wird. So etwas tie ber alte „Gute
Ramerad“, den wir einft verfdlangen, im Niveau
geboben. orn ein bortrefflides, Terniges Gee
leitwort bon Leopold Weber, binten Spriide bon
Gottfried Meller. Dazwiſchen Reifeabenteuer,
biftorifhe Erzählungen, Belehrendes aus Natur«
efhichte, Vorgefhichte und Technif, allerlei „Hos
n3polus“, eine Adleriandgefhihte bon egerleh-
ner uf. Sei dem Auffat und den Abbildungen,
die das Nino betreffen, hätte man u. €. das,
was Manuffript, Regie u. dgl. argebt, weglaffen
und bafür mehr Tehnifhes geben miiffen.
Sonft ift das nicht? für Qungens. Dem Sammel»
trieb hätte man wohl auch gerecht werden lönnen:
Verfteinerungen, Botanifches. Erziehung zur
Pflangenliebe fdeint mir febr nötig! Uber ed
fann nicht alles auf einmal fommen. Wir lönnen
den Band, wie er ift, recht empfehlen.
Wilbelm Schreiner, Im Bauber ber
Südſee. Mit 20 Offfetbilbern bon Robert Henrb.
190 ©. Geb. 7.504. RK. XThienemanns Verlag,
Stuttgart.
In unliterarifhem Ton gefhrieben. Es fom
men Gate bor tie diefer: „Kaum angelangt, mar
er aber bon feinem Better Hammann breitgefdla-
gen worden, am nächſten Tag auf den Greiffen«
ftein mitgufommen.” Weftheten werden alfo die
Stirn rungeln. Gleichwohl empfehlen wir das
Buch mit beftem Gewiſſen. Es tft fahlih und
abenteuerlih gugleih. Wir geben mit einem
jungen Deutfhen auf eine Forſchungsfahrt: In—
feln der Südfee, Samoa, die Robinfon-Anfel.
Tieffee-Lebewefen, Eingeborene — alles munber-
bar und bod jugendlih flar erfaßt. Die Jugend
bat reiche fadlide Belehrung und die ihr gebüh-
rende Spannung. Die Bilder find in ihrer Fare
bigfeit ausgezeichnet.
Germanifde3 Wefen der Früb—
zeit. Eine Auswahl aus Thule mit Einfüh—
tungen. Bearbeitet bon Guftad Nedel. 278 ©.
Eugen Diederihs, Jena,
In derfelben Reihe, in der die Lagarde- und
Niebl-Ausmwahl erfhienen ift, ift mun diefe Aus—
mahl aus der Sammlung Thule berausgelommen;
wir wünſchen ihr die gleihe Verbreitung und
Mirlung. Sein befferer Herausgeber alB Nedel
hätte gewonnen werden fönnen. Das
zeigt fhon fein Imappes, gute3 Vorwort. Die
Einführungen in die einzelnen Gtiide find bore
trefflid. Es find ausgewählt Stüde aus dem
Köniasbuh Snorris, aus größeren Sagas (den
Reuten bom Lauterfee, der Niala u.a., vor allem ans
Grettir), die Gisli-Saga bom 6. Rap. an, bie
Slum-Saga in den SHaubtitüden, gum Schluß
einige3 aus den Heldenromanen, bon Siaurb,
Atli, bon Hilde und Hedin, fowie ein Stüdlein
bom Rolf Rrafe. Das Buch tft geeignet, aud
die Ältere Qugend in die Welt ber alten Nord»
germanen einzuführen.
tnft Morik Arndt, Katechismus für
Deutfche. Eine Auslefe bon Julius Burg. 104 ©.
Meverfhe Hofbuchblg. Detmold.
„Diefer Ratehismus iſt gefchrieben, in ber
Stille gelefen zu werben, um die ftille, ftets wache
Beaeifterung für die Tat au fcaffen.” MIS Ein»
leitung ein furger Ueberblid über Arndts Leben.
Dann folgt eine Anzahl meift kurzer Worte ans
Arndts Schriften: Von den Alten; bom beutfhen
Dienfhen und der Pflicht zur Eintradt; vom
Deutſchen Reich; von Freiheit und Baterland uſw.
Ein Andadhtsbiidlein, das man vor allem älterer
Jugend bei mancher bee ate mit auf den Tiſch
legen lann. Wud die wiirdige Ausftattung macht
ed dazu geeignet.
Der Ruf. 366 Gedanlen und Gedichte deute
fer Denker und Dichter, ausgewählt bon «Gerhard
Merian. („Du und die Welt” 3. Folge) 138 ©.
Steif geh. 1 Mi. Verlag von Gerhard Merian,
Berlin-Zehlendorf.
Für jeden Tag des Jahres einen Sprud oder
ein Gediht. (Für den Scalttag einen Bonfels.)
Von Goethe und Hölderlin bis zu den Autoren
bes heutigen Tages reicht die Wahl. Nur ders
eingelt wird auf ältere wie Edehart, Geufe,
Ruther guriidgegriffen. Drud und Papier bes be»
quemen fleinen motes find gut, Es ift gleich-
fam ein profaneS Gegenftüd au den Serrnbuter
Lofungen. Es wird mandem eine Freude fein,
eS auf bem Tiſch liegen gu haben und morgens
nachauſchlagen.
A. Shmidt, Die Weiſen aus dem Morgens
land. Srippenfpiel in fünf Bildern. Mag Hanfen,
Glüdftadt.
Bon einem Lehrer für Schulzwecke gedidtet
und folden Lehrern, die über gewandte Echüler
verfügen, gu empfehlen. Nicht die Chriftgeburt,
fondern da8 Zufammentreffen ber drei Weifen,
ihre Erlebniffe in Jerufalem und an der Strippe
in Bethlehem bilden den Inhalt. Etwas ftörend
wird wobl allen auffallen, daß bad Bild des
Stale3 in Bethlehem mit dem fdon aweijäh-
rigen Sefus in der Krippe erfceint. Der Ber-
faffer folgt nicht der Weife unferer BollStrippen-
fpiele, fic) die Begebenheiten naiv ind Heimatlich-
Deutfihe zu übertragen, fondern gibt Bilder bon
orientalifihem Wefen, die aber dod klar und
fhlibt genug find, um aud einfaden Menſchen
eingugeben. er das Gpiel aufführt, muß fid
aber bor der VBerfuhung hüten, fic) durd au
ftarfe Betonung diefes Iheaterhaften bon der eins
fahen Frömmigleit des Spielend anlenfen a
laffen. a Se
belm G@reiner, Auf Weibnadt3s-
wegen, ein Chriftfeftipiel. 56 Seiten — Deutfde
Weihnadt, ein Krippenfpiel. 52 Seiten. — Beide
bei Hellmuth Weftermann, Braunfchmweig.
Endlid zwei Weibnadtsauffiibrungen, mit
denen man etwas anfangen fann. G8 gibt deren
leider fehr, fehr wenig, aber diefe beiden genügen
aud boben Anforderungen. Dabei find fie fo ein»
fad, dab fie in der Heinften Porflirhe zu fpielen
find. Und dod haben fie Tiefe und Gehalt. Das
ganze Weihnachtsweben und »Leben ift in ihnen;
aber fie reden aud) bon unfter deutfchen Not, und
dadurch werden fie gegenivartswitllid. Sehr
elüdlih ift die reihlihe Verwendung des Weih—
Nadtsliedes, wodurd die ganze Gemeinde zur
altiven Beteiligung gebradt wird. Praltifche
Unmeifungen und Noten find beigefügt. K. W.
Treblin, Was follen wir fpielen? Ratgeber
für das Laienjpiel 2. Aufl. 23 Seiten. Verlag
Evangel. Preßverband, Berlin-Breslau.
202 Spiele für alle Yahreszeiten und Feit, fröh-
lide und Marden-Spiele find zufammengeftellt; durch
verjhiedenen Drud find die febr guten und bie
mittelguten Stüde fenntlid — Gedacht iſt in
erſter Reihe an die ſpielfreudigen ehe Pre Que
gendvereine, ohne jede Engberzinkeit. Aus den „10
Geboten für die Spielleiter“ ift durd Sperrdrud
der Gag herausgehoben: „Du haft feine BVerpflid-
tung gegen das Stüd, nur gegen die Sache, deren
Ausdrud das Stüd ift und gegen die Gemeinjchaft,
der du dienen follft.” Das if natürlih ein Grunde
fag, der nicht den vollwertigen Kunftwerfen, fondern
nur den mittelmäßigen ahmerfen gegenüber er»
laubt fein darf. Wir empfehlen bas Heft allen Ber-
einen und Familien, in denen bei feitlihen Gelegen-
beiten Theoter gefptelt „wird, G. K.
belm Loew, Goethe al3 religidfer
Charafter. 87 ©. 1.50 M. Chr. Kaifer Verlag,
Münden.
Immer wenn ein Problem die Deutfhen ftart
befhäftigt, taudt bie Frage auf: Was fagt
Goethe bazu? Sein Wunder alfo, dab man ſich
an biefen unferen Führer heute aud in ben le
bendigen religiöfen Nöten wendet. Wander Ber-
fud, Goethes Religion {lar erfaffen und dar»
auftellen, ift in den legten Seren gemadt wor⸗
den. Loews Arbeit ftellt eine erfreuliche Bereiche
tung diefer Literatur dar. In flarer Erlenntnis
deffen, was fi überhaupt erreihen läßt und wads
nit, bergidtet er auf den frudtlofen Berfud,
Goethe vielfahe aber * unaufammenhängende
Aeußerungen auf einen furgen Generalnenner,
auf ein Schlagwort au bringen. Er behandelt fie
alg das, was fie find: Randbemerlungen gu fei-
nem eben, aus denen fid fein „Shitem“, fein
Lehrgebäude maden läßt. Das Bud gibt des
halb feine aufammengefaßten Mefultate, fondern
fugt mit dem Riiftgeug einer außerordentlih um:
faffenden Kenntnis des Materials in ſechs Ab-
fonitten (Weltweisheit; Ehrfurdht; Sadlicleit;
Geift und Gorm; Stirb und Werde; Welt und
Gott) bon den bderfdiedenften Geiten ber den
teligidfen Eharalter Goethes zu erfaffern. Es
bringt dem Lefer reihen Gewinn. ® K.
Chriftian Geyer, Die Religion Stefan
Georges. Heft 5 der Reihe zeitgemäßer Schriften
eens und Religion“. Greifenverlag, Rudol⸗
adt.
Eine bornebme und gerechte Würdigung for
wohl der Didterperfinlidfeit Stefan Georges als
aud bor allem des in feinen Didtungen gum
Ausdrud lommenden en Erlebniffes. Fret.
li im Bergleih der Religion Georges mit dem
Chriftentum urteilt Geber, es fei die Tragif aller
der Geifter, „die ohne das Kreuz leben wollen“,
bab fie in ihrem SHinausftreben über das Chris
ftentum „mit innerer Notwendigfeit, weil fih nun
einmal das Grundgefeg des Lebens nicht umgehen
läßt, auf eine feiner Vorftufen aurüdfallen.“
Wenn das ein Mann wie Geyer fagt, bat es
fon feine Bedeutung. Der Wert der Schrift be-
iteht eben gerade darin, daß fie nicht nur eine
{dhine, aus tiefem Verftehen berausgeborene Eine
führung in Georges Dichtungen, fondern gugleid
aud Fritifhe Mabftäbe religionsgeſchichtlicher Ber
urteilung gibt. RK. W.
Auguft Meffer, Oswald Spengler als
Pbilofoph. 239 ©. GStreder & Schröder, Stutt-
gart.
Unlängft befpraden wir die in demfelben Ber-
lage erichienene bedeutende Arbeit bon Heinrich
Srid ,Unthropofophifhe Schau und religiöfer
Glaube“. Diefed Gegenftüd des Giebener Philo⸗
fopben, das eine Kritif Spengler3 darftellt, fcheint
und ebenfo wertvol. Man follte diefeS Buch
fennen und aur Hand haben, wenn man baran»
geht, etwa den Untergang des Abendlandes durch—
auarbeiten; man wird Spengler felbftindiger ge-
genitberfteben und mit größerem Gewinn leſen.
Meffer behandelt in drei Abfchnitten Spenglers
Metaphyſit, Erfenntnistheorie und Ethif: und der»
fudt in allen drei Zeilen Spenglerd Unzuläng—
lichleit nachzuweiſen. Namentlich in der Erfennts
nistheorie und Ethif wird die Schwäche der
Spenglerfden Pofition aufgezeigt, aber auch die
Hnpotbhefe der ifolierten Stultucfeelen, ,,herausges
boren aus einem einfeitigen Naturalismus” tft
ibm nicht mehr, als „ein geiftreider Einfall“.
Meffer Hat für die Auseinanderfegung mit Epeng-
ler, die ja mod längft nicht abgefchloffen ift,
Wefentlihes zu fagen. & W.
Niederbrudm und AWufftieq, Wege
gu Deutfslands Erneuerung, bon einem Staat
mann. 280 S. Quelle & Mever, Leipzig.
„Es muß eine fittlihe Wiedererneuerung unfe-
re3 ganzen Volles eintreten. Wir milffen zurück—
Iehren zu dem BPflihtgefühl gegen den Staat,
wieder emporfteigen au der fittlihen Höhe unferer
Verborderen.“ (S. 125). Wir Iefen bei Goethe
in den Zahmen Xenien: -
Es ift mit zu ſchelten, man laff’ e8 gelten.
Sch aber bin fein Haar weiter, ald ih war. K: W.
Helmuth Schreiner, Das Gebeimnis
de3 dunllen Todes. Neue Wege zur Weltanfchaus
ung. -150 ©. Sriedrih Bahn, Schwerin.
565
„Aus Denfen und Wollen ber Gegentwart ber»
aus, aus völliſchem Scidfal und perfönlicher
Lebensfehnfuht möchten diefe Blätter den Weg
mweifen gu dem Geheimnis de3 dunflen ores,
das in Schmerz, Tod und Wunden die Lichtherr-
lichfeit einer höheren Welt enthüllt: daS Leben
des emigen Geiftes.“ Man braudt nur die Ka,
pitelüiberfchriften gu Tefen (Bonfeld, der „Pro»
phet” — Das Rolf des Fluches — Der Glaube
des beutfhen Menfchen — Das Reich der Geifter
und Tämonen — Dee Erlenntnis höherer Wel«
ten — Der ewige Geift), um gu erfennen, daß e3
fic um böchſt aftuelle Fragen handelt. Bor allem
aber tft e3 ein Buch, das zu führen vermag. Aus
einer ftarfen Rofttion heraus gefchrieben, wiſſen—
ſchaftlich fattelfeft, fharf und gereht in feiner
burdhaus nidt im Negativen ftedenbleibenden
Kritil, ermweift e3 die allen Gegentwart3problemen
gewachſene ſachliche MUeberlegenheit chriſtlicher
Weltanſchaunung. RK. W.
Guftab Maaß,D bu Heimatflur! Gedichte.
4 © 1 M. Mar Apnert Verlag, Caffel.
Otto Sartmann, Das deutfhe Hera.
Gedichte. 56 S. 1 ML. Ebendort.
Zwei Tleine fchlihte Gedichtbücher. Das erfte
enthält Gedichte, die aus der norddeutſchen Hei—
mat (Samburg, ber Heide uftv.) ertoachfen find.
Am heiten find die ftifen Stimmungen wie
„Abendfrieden”. Eigentümlich berührt des öfteren
das Wenlaffen des Artifeld vor dem Hauptmort.
Im übrigen gilt für die Eharafteriftif dtefes Bänd⸗
dens dasſelbe, was für die beiden erften Bändchen
gefnat wurde. Hartmann Gedichte fpieneln
mannigfaltine Stimmungen wieder. Die eigent-
lihe Burdfchlagsfraft fehlt. Man ann fagen:
„richt übel.“ Ein Kreis bon Menfchen wird feinen
Gefallen daran haben, ohne baß man an bie Lite-
roturgefhichte denten muß.
G U. Rüppder3-GSonnenberg, Bom
Wrademifer gum ae Abenteuer und Erleb-
niffe. 235 6. Geb. 3—M. Deutſche Land⸗
buchhandlung, Berlin.
Ein alademifh gebildeter Kriegsteilnehmer,
der in der erſten Kriegszeit ein Bein verlor, er⸗
zählt, wie fein Wandervogelgeiſt ihn in die Lines
burger Heide treibt, wo er ein Stüd Boden urbar
madt, fih eine Wohnhütte baut, heiratet, fein
erfte3 Kind in feiner erften Entwidlung beobachtet.
Seine Erzählung aibt die ganze Romantil wieder,
die tm Bon-borneanfangen liegt, denn bis aur
Tagebuchgenauigkeit lernen mir dies NRobinfon«
leben mit feinem Sauber und feinen aften
fennen. inter ber Erzählung lieat aber biel
mehr: AU die Irrungen und Wirrungen, die dem
echten Wanderbogel aus feiner Abneigung gegen
unfere Kultur erwadfen, treten bier zutage: Der
Bndividualismus wird durch den Zwang des Les
bens überwunden; die Geringſchäßzung ber bor
bandenen Kultur läßt Ah nidt aufrecht erbalten;
eine Ahnung bom Wert ber bindenden Gitte ge! H
den Giedlern auf. Und das alles mifcht fih mit
dem gefunden neuen jugendlichen Geift, fo dab
als Letztes das Kind alS Mittelpuntt der Familie
aud) rein Außerlih im Bud den größten en
einnimmt,
Werladt da? Ein Rasch ger. —8
Poincarés, herausgeg. i. Auftr. usſchuſſes
für vaterländiſche Arbeit an * Techniſchen
Hod{dule Darmftadt (fo die Anſchrift für Be—
ftelungen!), bon Richard wereiffer: 64 S. Gut
audgeftattet Preis 2,50 Mt., bei Beftellung bon
mehr ala 25 Etüd mur 1,50 Mr.
Adenarius‘ Gedanle daß wir die Wirkung der
Karrifatur auf die Giller viel höher einſchätzen
und fie darum als politifhes Kampfmittel werten
lernen miiffen, wirft erfreulicherweife melter. Hier
find aus den Seitfdriften und Tagesblättern der
berfchtedenften Nationen mare hundert Karrila⸗
turen zuſammengetragen, bie fi a den Ein
brud der Frangofen in unfer Ruhrgebiet beziehen.
Ein die Bilder berbindender Text gibt nod ein-
mal einen Weberblid über die wefentliden Ereig-
niffe des Ruhrkampfes, und ein Schlußaufſatz
mahnt eindringlid, die Propaganda al
politifhes Mittel allgemeiner AN, Diefer
Aufruf fann nicht oft und laut genug bem einzel»
nen wie den Regierungen gugerufen werden; wir
baten in friedliden Zeiten die Müke zu tief über
die Obren gezogen ‚gebnbk, fo daß wir nicht merl-
ten, wie die Druckerſchwärze als übended Gift
gegen uns überall in ber Welt gebraudt murrbe,
Nicht aulest die Rarrifatur Hat gegen uns gee
arbeitet, ie die borliegerde Sammlung zeigt,
bat in biefem 1 aud Frankreich erfahren
miiffen, wie fein Anfehen in ber Welt burch folche
Zeichnungen untergraben wurde. Vielen im Lande
wird dieſes Heft die Augen öffnen über den Wert
eine3 bisher berfannten Kampfmittels; befonders
aber oe die Verbreitung im Ausland i? es
empfohlen. 8.
Die Garbe. Eine Bücherreihe bes Berlanns
Carl Sdiinemann Bremen. Bänden in anges
nebmem Tleinen Gefchenfformat. 60—90 Geiten
ftarf, billig. Die Verfaffer find echte Niederdeutſche,
die aud Wlattdeutfh in ihre Erzählungen ein-
fließen Iaffen. Ludwig Sinrigdfen nennt
feine fünf Novellen „Abfeit3 bom Wege". Men»
fchen, die nicht in ber Reibe der großen Menfhen-
fhar geben finnen, weil fie au3 ber Geſellſchaft
ausgeftoßen find. Ein bermwilberter Junge, ein
„Löwe“ einer Hafenftadt, ein mild triebhaftes
Naturmenfhenfind; derart find die Menfchen,
bon denen Hinrichfen erzählt. Er findet in ihrem
Leben das Schidfalhafte, wodurch fie ibm Tieb
werden. Und biefe Liebe für bie abfeit3 bom
Wege Gehenden wedt er aud bei und. Auch
Jben Arufe malt in feine Inappen Bilder
Menfhen aus Holftein hinein, bie ebenfo berb
und derb find wie bas’ Gchmarzbrot, bas man
bier ißt. PBielfah find e3 nur Sfigaen ober Tleine
Genrebildden, bie er gibt. Aber alle find voll
bom eigenartigen Duft der Heimat, bie Kruſe
mit ebenfo eindringliher Freude am Sleiniten
und Schlichteſten befchreibt mie Hinridfen. Her»
mann Eide, Stedingen. Cine Kekercronit.
Hter iſt's eine aufammenbängende Ergiblung aus
bem Mittelalter. Die Bauern bon Gtedingen
werden tegen Ketzerei in Acht und Bann ges
tan und ein Kreuzzug wird gegen fie aufgerufen.
Trotzig und mannbaft fegen fich dieſe niederdeut«
fhen Bauern zur Wehr, bis fie alle erfihlagen
liegen. Stnapp, eifern find bie Zatfaden. Die
Sprade berfucht, diefer inneren Wucht gerecht zu
werden. Baul tiedrid Juels, Tobias
Traddl. Wndere Luft umwebt uns bier. Wir
üblen die Sleinftadt mit ihrem Reig idhlliſcher
ube, in der ein „Stiller“ Teben fann. Ein be
deutender Dichter, ber nur unter Dednamen ben
Menfchen befannt tft, lebt unerlannt im Städt-
den, gang für fic. Eine fpäte Liebe gu dem
Mädchen, das ihm lange fhon treu feinen Haus»
halt führt, wird mit der milden Wärme feptem-
berliher Sonne erzählt. Daswilhen Täuft eine
vergnügte Gefdidte bon einem etwas feltfamen
literarifhen -Preisausfdreiben. — Cin Biidletn,
wie man e3 gern bat für eine ftille Stunde ded
Ausrubens und Entipannens. G. 2
Snnenrtäume beutfher Bergan:
ger beit. Aus Shlöffern und Burgen, ——
ürgerbauten und Bauernhäuſern. 80 ee O Mt.
Karl Robert Langewieſche, Königftein + fy Bass
Das neue blaue Langewiefche Buch bringt
76 Bollbilder mit einer guten, Inappen Einleitung
Wilhelm Pinders. ES find nicht intimere, Ileine
Näume, fondern meift Sale (nur vereinzelt In—
tımere3d wie das gotifhe Domftiftzimmer in Frit-
lar, Dürerd Zimmer oder Bauernftuben bon ber
Nordfeelitite), und gwar aus Gotif, Menaiffance,
unb einiges aus Barod. Die Bilderauswahl zeugt
bon Sefhmad und Sorgfalt, Einwendungen haben
wir nur gegen die allgu unfbftematifd-bunte An—
ortnung und gegen den Ausflug der Schweiz —
was bat bie Staatögrenze gt bem Bollstum und
der Kultur gu tun?
Gedrudt in der Yanfeatiihen Verlagsanftalt Aftiengefellidatt, Hamburg 36, Holftenwall 2.
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Notenbeilage gum „Deutfden Volkstum“.
Zwei Weihnachtslieder.*
I
Puer natus in Bethlehem.
ge = born zu
Hie leit es in dem Krippelein,
obn Ende tft die Herrfchaft fein.
Alle-Alleluja |
Die Konig’ aus Saba famen dar,
Gold, Weihrauh, Myrrhen brachten *
Alle-Allelu ja! [da
Sein’ Mutter tft die reine Mago, -
die obn ein’n Mann geboren bat.
Alle-Alleluja!
Die Schlang thn nicht vergiften kunnt,
tft worden unfer Glut ohn Sünd.
Alle-Alleluja!
„Das alte deutfhe Wethnadtslted’,
Leifentritt 1567.
Beth - le - bem, wi. Beth-
Er tft ung gar gleich nach dem Fleifch,
der Sünden nach uns gar nicht gleich.
Alle-Alleluja I
Damit er thn uns machet’ gleich —
und wiederbrächt’ zu Gottes Reich,
Alle-Alleluja |
r folche gnadenreiche Zeit
ei Gott gelobt in Ewigfeit! «
Alte-Alleluja !
Gelobt fet die heilt hate
von nun an bis in Ewigkeit.
Alle-Alleluja |
Babftijhes Gefangbuch 1542, 1545.
Eine Auswahl. Mit den Weifen im Klavierfag
ferausge 38 8 R or tH Budde und Arnold Mendelsfohn, Hanfeatifche Verlagsanftalt, Samburg.
in Gangleinen ©
II.
Weife: Ich dank dir fehon Durch deinen Sohn (1610).
En! mi-rae pul - - - cri - tu - di-nis eyn
Ruhig. Sn wun-der-ba = D - rer Schön-heit Kranz ein
blom-fe is & = = fprun - gen a
Blüm-lein iſt ent - - fpun = gen bod
Se
thro- no al - - ti - tu - di - nis, Der
aus des Him - mels - thro - nes Glanz, dem
4
4 — — eS —— — — — — — —
fan SP — =e —
—— ——
Originem recepit flos Dies Blümelein entſproß der Au
alhir upp duſſer erden, allhier auf dieſer Erden,
ut gratiae permisit ros, wie's ihm beſchied der Gnade Tau,
vom Jeſſe dem vel werden. von Jeſſe dem viel werten.
O junckfraw fyn, fe gnaden ferpn, D Jungfrau fein, der Gnaden Schrein,
rogamus mente pia: wir flehn mit frommen Sinnen,
Warff uns den toon des fyndes dyn mwirf ung den Schein des Kindes dein
caelesti hierarchia! von Himmels heilgen Sinnen!
Mittelniederdeutfh, Wolfenbütteler Handfchrift, 15. Jahrh.
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Aus dem Deutihen Voltstum
Matthias Schieftl, Heilige Nacht
32101 071955726
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