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Full text of "Deutsches Volkstum - Monatsschrift für das Deutsche Geistesleben 26.1924"

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Deutiches Volkstum 


Monatsfchrift für das deutſche Geiftesleben 


Herausgeber : 


Dr. Wilhelm Stapel 


Printid ia { 


Hanfeatifhe Verlagsanftalt, Hamburg 





Inbalts-Derzeichnis 


Broße Auffäge 


Seite 
Baetle, Dr. Walter, Der — der Niebergall, Prof. Dr. theol. Friedrich, 
Welt bei Raabe 369 Die gi —— e religiöſe Lage in 
PARSE LT. “Dr. Ludwia⸗ Kreifts Deutf: a pln Gr era one Te 
39 — Nationalismus, Internationalismus 
— Bidelungenttnun x 155 und Religion ee 
Boed, Cbriftian, mn Hinrich ehrs 201 Petſch, Prof. Dr. Robert, Biele einer 
Elaffen, — Die ———— folo- deutfhen Dramaturgie der Gegenwart . 
nie im Arbeitervierte! 99 | Bland, Osfar, Die Gefährdung der deut: 
— Die Oberrealfdule als humaniftifche {men Samilie . 
ungsanf! 278 EN Dr. Peter Richard, Familien: 
Coldi tianee, Emma, Rovto- ME u. won eR Br 2 
mus o. tbewegung . . . . . . 236 Sdiefler, Dr. Guftad, Bom Staate und 
Dofe, Helene, metapbufifhe Einfchlag von ftaatliden Gintidtungen . . . . . 
bei Wilhelm e 380 Shmidt-Wodder, D. Iobannes, 
— ns Bur Geſchichte des Ge⸗ Renan pence 
425 Schramm, Dr. Wilhelm bon, Das deutſche 
— Boe "Bevitien der curopiifden Weft: ff und der Krieg 
völler 526 — — Dr. Rotbat, Jacob Böhme umd 
Gerftenberg, Dr. Heinrich, Neuere 
Schriften über dad Turnen 484 Stapel, Dr. Rilhem, Die ‘Sutunft “ger 
Günther, Alb Eric, Die nationale nationalen Bewegu 
Bewegung in Indien | bei uns . 336 — po ben Gel aiotstreibers der 
Hah, Dr. Hermann, Scleiermader üser den Vorzeit“ . 
Rolf, Maffe und poe efontael a 95 — —— Avenarius 
Hebden, oR, phung und Geftal- — e wirtſchaftliche — 
er er 9. Goethes — Die Kantifbe Ironie 
ong. ber id Tae 17 — A ns und Metalosmos Kants 
J ent 6, fa — = Sen es 0 als Eroäbler | 
r Lhri er, ripe — Se ohnre taähler 
146 — Aus einem amerila mae eſchichts 
— es N San it in Raabes Er werle bed Jahres 1 974 
aablung „Des Reides ro 396 — Die — — in Raabes Werten 
olle, Dr. Hermann Sarah, “Geet aus — Bilhelm —— 
biologiſcher Begri 285 — Die beiden “Bebcimnijie 7: 
Knapp, Marie, lie Wildermu idermuth 240 | Ullmann, Dr. Hermann, Knut Samfun 
Rolben ever, Dr. Erwin Guido, Bolt Unger at ren, Die Bedentung der 
und Fü 9 Pfignerfche — Kantate won 
RKiifter, Ylbert, ET in der neuen Zus ey Gele die a A 
manners jobann Wilhelm, Dic =) Suhunft be maeBietridy Be Sgenwan 
annhardt, m, Die um ufu er Fuge! s 
ue bir engrabenmenfden . 323 Witte, Karl, u au Sort | s 
Marr, Dr, * Ba DR Wittlo, Paul, Paul & 
— ,,Geellofe” Arbeit 57 — Hans rn lung : : 
Erle ſenes 
Seite 
—— Ferdinand, Gedichte und * Jobſt, Hanns, Aus „König“ und „Kreus— 
Blumd, Hans Biebric, “tus _ Stelling Kant, Immanuel, Aus verſchiedenen 
Rotfinnfohn ‘ 543 Werfen ; 
— Amendftil, Gediht | 548 | Linde, Otto zur, Aus „Buch Wendrot 
BIH me, Jacob, Bom dreifaden Reben des „Shmwurbrüder“, überfegt von —— 
Menfden 2 498 Baetle: — oad pnd u 
ET man ON ni | ERBETEN, Br Ss 
eg 
ebrs, Johann ‚ Das zmeiund- „Bolrslieder, alte niederdeutfche“, ge- 
swanzigfte Kapitel aus „Maren“ ‘vet 206 f bon Alpers: Herr Hinrid; Toten: 
on a 


Geldigtsafdreiber. der 
See kas 5 See 


| Wildermuth, Ottilie, Die drei Böpfe 


Seite 


Rleine — 


Aus der republilaniſchen Gefelfchaft . 
2. 9. Der Unbermeidliche —— 
mM. 8%. Bu ave Spann:Rheinfch‘ „Buch 
der Eintehr” — 
Auerswald, Annemarie don, "Neber 
Heimatmufeen” ver 
Bebne, Erna, Jobannista — 
Benningboff. Dr. Tdi, Alfred 
Retbel und Heintih bon Hleift . . . . 
Bodemühl, Eric, Leben 
— Otto zur Linde . 
Braumgart, Richard, Fritz vaßß 
— Matthias eſtl 


Brochhaus, Paul, Zu ‘ben Lübeder Bil- 
dern bon Asmus Yeffen 
Elau 3 A “3, Hermann, Vom didterifden 


Dänndarht, Seina, Der Rampf um ben 


bein 7 
Ebnl, Dr. Herbert, Das Pallib ! 
€ gia Zeuge ee Albert, Zur „Aheo- 


ur Einführung in die 
wots. oviginalgrap fhe Mappe der Fidte- 
geſellſchaft 

Grunewald, Dr. "Maria, ” Strabburgs 

®Güntber, Albrecht Erich, Ein Brief- 

wechſel zwiſchen den Revolutionen 4. 

KultursJeremiaden 

— ——— des Alten Man- 


u: Spensiers tleinen politiſchen 
Pr ge "Ratt, Deutfche Dichtung und 
deutſches Geiftesleben in Wmerifa . . 
He Die Grimmſchen Mär: 

ax, "Die Mutter . . 
Gern, Hanna Jobit . 
— Erneuerung ber Bühnenkunft 
i⸗ eg unferes Spracgefühls 
wei oe — Ruth von, Bedürfen 
wir der 
Lens, ar ae Friedrich, "Staat und 
Marrismu £ 
gindenverg, "Karl, Leben und Tod 
Eltern! haft 
Meißner, Earl, Friedrich der t Grohe ars 


u 
bden, Sranz, 
hen plattdeutfd 
Bre ngnidel, 


ibömer, 


politifher Dichter 
— MUlbert Birfle 
Menzel, Br, Benno, — Soziallohn oder 
Reiftungslohn? x —— IE: os 
Mollenhauer, Karl, "Allmers bei den 


lelderiellert: oe BS a, te ee 


Der 


Das AUbermännden. NRotlehihen und Spay. 
Habemus Dictatorem! Fichtes .pfydopathi- 
der Quatfh“, Preuß und Witting verferti- 
gen 1917 eine neue deutſche Verfaffung. 
Das — Pſeudonym. Eine Illuſtra— 


tion —— 
Der lenfchirm. "Bollstümliches Recht und 
Preffefreibeit. Warum mir Frig von Unruh 
ablehnen. Georg — über die 
Schweigerdeutfchen Sal —R 
Der Flaggenſtreit bei Wilfons Tod. Die 
„Qarbarei“, die wir verbreiten. Zum juri— 
ftifhen Abbau. Bauern. Hindenburgs „ror 
fee e Stablfedern”. Ein Wort für Alfred Kerr. 
ffen wir immer Nod den „auten Willen 
bemweifen“? Marfeillaife und Rabepfymarfch. 
Der Vorwärts über Ludendorff. Kommen die 


amerifanifden Seeamevues » Wer andern 
einen Galgen baut. ‘ ny Mb We 
WA 85 


Seite 


311 
555 


‚502 


Neues von 


I Was eine Mutter tant 
titec; Karl Bernhard, Bon der 
teten Sprade und bem Namen Gottes 
Vom rechten Feiertag des —— Fi 
Die heilige Familie 

Geib und Seele . 

Bismard und bie Jee ber nationa: 


len Beweg oun RE 

Geift und Fleiſch era a A 
n Arbeit und Eigentum . 

Bom Leben in der Wahrheit 

Walter Erich, melita ‘ten 

bon Reha Xi eb . 

oe Ferdinand, Zur 


“Sans, "gu den Bildern 
Mi 


ied 

Bu den Bildern bon Rudolf Schäfer 
Stapel, Dr. Wilhelm, Ein etal 
wifchen den ebolutionen 3 . . 
Der Bruch in der seule Sols 
„Die alten niederdeutfchen 
Hieder” — re NOLS ale 
Neues don Sermann Claudius . 
De politifhe Dummbeit Europas 
Ton wem Sant beute angefeindet wird 
Das Elementare in ber völfifchen Be- 
wegung ‘i A 

tab Schmoller zur Judenfrage € 
Die Berglehre im Matthäus 


Evangelium 
Radiofunt 


Errungen haftliches, 1. 
Hugo Friedrich —— 
„Das dritte Reich“ . 
Nordifche Könige . 
Ban und Helden 
Kerr 

Bes spots Ende "des deitſchen 


en u Man art ER 
Miu 0% 8 ee 
Ullmann, Or. Hermann, Wltiengefell- 
fhaften und Taifune 
Unger, Dr, — Mufitalifche ‘Dol: 


i pedal 
— Reform ber darftetlerifcen Runft in 
ber Oper. . 
— Muflt in der Rirde . 
Voigtländer, Br. mb, 


Rest und 
Gerechtigfeit unferer Gegner . . . . . 
Witte, Karl, Politi? und Ethif . 


BHeobachter 


Seite 


128 


178 


—* 
wes 


Guggenbeimer über das Sachverftimdigen- 
gutadten. Die deutfhen Italtenfahrer. Der 
LintSfogtalift Immanuel Rant. Die ber 
fhnapften Nibelungen. Wieder eimmal Auf- 
pound über die deutſche Unfähigleit zur 
u 

Die Unaulan lichkeit der Parlamente. Da: 
rum fegen wir nicht lieber die Stinder aus? 
„Das Leben“. Der Heiland im Zirkus. AL 
fred err und der Gorilla. NRadio-Berfpel- 
tiven. Blutrünftige Pasififten . . 

Swet Fragen an einen pagififtifden General. 
Marriftif e Pfingitbotfchaft. Georg Bern 

und Elfaß-Qothringen. Philipp Scheidemann 
mit Leib und Geele Warum fo aufgeregt? 
Die ,uutional betonte” Vollsbildungsarbeit. 
Bibat Academia radians! Amerilanifhe Re 
buen ohne BORN, Der BrENNERE wem vun 
ales 


1467 
in 


219 


263 


313 





Seite Seite 
Was Lloyd George in fünf Jahren fdreiben „Abbau*. Mifcheben. Gumbel über das 
wird. Die Kommiflion für Abbau des Na— Deutihe Bollstum. Finis Germaniae im 
tienalbaffes. Einer der unterfchrieben bat. Barteiftreit. sino-Schillerei. Der Negertenor 467 
Bie Amerifa demolratifih zivilifiert. Als der a En Ethifhe Bedenfen bon 
Sranlenfur8 „berumeing“. Der raufende 1000 Marl abwärts. Der politifhe Mißgriff 
Adel. „Michel im Schlafrod”. . . . . 362 der alten Germanen. BRUT te 
Gaffenbauer und „Schlager“. Der ethifce beute befteht . 508 
Brofpelt der „A. G. aur Musbeutung Deutfch- Das Weimarer Bauhau 3. Die "Dichter ‘det 
lands“, Liebermann als Pfleger beatles Demofratie, Bölfifche Heiden? „Laden links” 557 
Runft. Beten wir Wotan an? . . 416 
zwie ſprache 
Seite 44, 84, 130, 180, 221, 266, 316, 365, 418, 469, 509, 559. 
Stimmen der Meifter 
Smiller, Deutfhlands Größe (S. 46). — (S. 318). — Molttie, Gegen den Pazifismus 
Ubenarius, Die Schichten (S. 86). — | (E. 366). — Raabe, Die heldenhafte Geduld 
Fleift, Aus dem Guislfard (GS. 132). — (6. 420). — Hegel, Gegen abjtrafte Moral 
man Der beitirnte Himmel und das mora- (S. 470). — Böhme, Die Welt ftirbt nicht 
liſche Gefep (S. 182). — Fehrs, Sterndimmel (SG. 511). — and Thoma, Sind und 
(S, 222). — Luther, Eheleben (S. 268). Nacht (S, 562) 
Youife db. Frangots, Der Poften der Frau 
e N . 
Bücher und Bilder für unfern Kreis 
Stapel, Wilhelm, Aus der Ernte des legten Jahres Seite 512 
RUN 
Heft 
Amei — 0) Bau: Flattuen des Sirah Thoyl[mann, Karl, Der Bermundete 8 
burger (Bwiefprade f. ©. 5 
—— * feet Sriöhöitäse. Miniter Sab, Seit, Golaatha: Antergang der 
41. Finfternis 8 
Selen. Asmus, Zwei Bilder aus dem Yraungart über Sah T. ©. "360.) 
Lübeder Dom und zwei Bilder nad) Siibeder Wilbelm Raabe und feine Braut 
a i 2 1862 (Photographie) . . . . . .. 9 
(Brodhans über Jeſſen ſ.' 6. 81.) (Beberzeihnungen Wilhelm Raabes: 
Netbel, Alfred, Der Bannerträger . . 3 Raabes Zimmer in wüolfenbütel ©. 373, 
er. (Benningboff über Rethel Reiter ©. 377, Schlucht ©. 381, Phanta- 
i. ©. 126.) fien Binter ©. 422.) 
Bardou, Emanuel, Zwei Aufnahmen Leibl, Wilhelm, Drei Frauen in der 
feiner Büfte MantB . . ...... 4 wi Ausſchnitt daraus; eg Par) 
Rant, Galfimile S. 182; (Zwieſprache (Stapel über eibl j. &. 8.) 
f. ©. 180. * -Sirtle  UWbert, Snterlandiatt; ober 11 
JIllies, Dtto, Doliteiniiger — (Meibner über Birlle f. 7.) 
garten; Buchenwald R 5 Shinnerer, Modolf, rien A 11 
(Schröder über Illies 1. 5. 218.) (Golg über die Bierte originalgrapbiice 
Schäfer, Rudolf, Deimalftienen: Bauerit- Mappe der Fichtegeſellſchafi f. S. 506.) 
garten . vicina, 16 Schieftl, Matthias, Zwei BRENNEN 
(Schröder über Schäfer it "€. 261.) der Seiligen Naht > 12 


Sartmann, Hugo Friedridh, Dom au 
Bardowiel; Feierabend; Un der Nordjee . 
(Stapel über Hartmann f. ©. 311.) 


(Praungart über Schieſtl ſ. S. 556.) 











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Nam Steafhuracr Miünftor 


Deutſches Bolfstum 


1. Heft Kine Monatsjchrift 1924 





Die Zukunft der nationalen Bewegung. 


1. 


8 ijt bemerkenswert, daß die nationale Bewegung, die fid feit bem Bue 

fammenbrud bon 1918 gebildet Hat, gu einem nicht geringen Teile bon 
Männern getragen wird, die bor dem Kriege im Gegenjaß ftanden zu dem, 
was man „den Geift der wilhelminifchen Zeit“ zu nennen pflegt. Sie haben 
das Bismardreid niemals als ein Ende, fondern immer nur als einen Anfang 
betrachtet. Darum ftanden fie gegen die „©ejättigten“, „Befigenden“ und 
„Öenießenden“. Sie waren unruhig, weil fie hinter der Sättigung und dem 
®enuß die Gridlaffung fpürten. Sie faben unwillig auf den fpielerifchen 
Glanz, der über die mitleidlofe Härte der geſchichtlichen Wirklichkeit hinweg— 
taujdte — fie faben die Art an die Wurzel des Baumes gelegt. Ach, wir 
fennen die Schwächen des „alten Shftems“ nicht weniger gut als jene Leute, 
denen es nicht wider den guten Gefdmad ging, im November 1918 ihrer Gee 
finnung einen Heinen Stoß zu geben und ſich (mit dem Troft, daß man „auf 
diefe Weife viel Gutes wirken könne“) „auf den Boden der Tatfaden zu 
ftellen“. Aber unfer Geift ift nicht fo enge, daß wir um der Schwächen millen 
auch die gefunden Kräfte im „alten“ Staate verfennen zu müfjen glaubten — 
entjtebt Dod ein Neues niemals aus dem Nichts, fondern jeder neue Frühling 
fprießt aus den alten Wurzeln. Und wiederum: unfre Liebe zum Werdenden 
ift nicht fo fritiflos, daß wir einen neuen Wufpusy für einen neuen Geift 
nehmen. Wir prüfen die Dinge, ob fie feft find oder nur ein Schaum, und die 
®edanfen, ob fie richtig find oder falfch. 

Gs ift heute fo: gerade unter den „Nationaliften“ find die borwartds« 
Drängenden Kräfte. Man vergleihe das fozialiftiihe und demokratiſche 
Schrifttum unferer Tage mit dem nationalpolitifden. Dort: Wiederholung 
und Berlegenbeit, man entdedt nicht mehr neue Gedanken, man [chiebt 
nur nod die alten Gedanken hin und ber, wie es jeweils die Lage zu erfordern 
ſcheint. Hier aber fpringt Gedanfe um Gedanke auf: neue Zufammenhänge 
zeigen fic, immer neue ©egenftände fallen dem Nachdenken zu, fodaß die 
Sande faum die Fülle fafjen können. Dort herrſcht das Gefühl: Wie 
fommen wir um die Schwierigfeiten und Beinlichleiten unferer eigenen Konſe— 
quenzen herum? Hier berrfcht diz Stimmung: Wie fegen wir uns durdh? 
Dort handelt es fid um die „Wahrung“ der „Srrungenfchaften“, hier 
bandelt es fid darum, eine neue Welt in immer neuen GStreifzügen gu ere 
ſchließen. In die demofratifchen und fozialiftifhen Gedanken läuft das adte 
zehnte Jahrhundert hilflos aus, die Idee des Nationalen aber erfüllt fid 
taglid mit Empfindungen, Gefidten und Gedanken. Die demofratijchen und 
fozialiftifhen Gedanfen welfen dahin in dem dürren Reifig faftlofer Ron- 
ftruftionen, die nationale Gedankenwelt füllt fic frühlingshaft wie eine frifche 


1 


Knofpe. Port fallen die welfen Blatter bon den gefdorenen Laubwänden, 
Pyramiden- und Kugelbäumen des frangdfifhen Parks, Hier wollen die 
Refer eines neuen deutſchen Frühlings aufbreden. 

Gin Grperiment gum Griveis: Man zeige aud nur einen einzigen Gee 
banfentrieb aus der alten, berftodten Wurzel des Naturredts auf, der neu 
und jung wäre. Da ift alles gu Ende gedadt und bereits irgendwie erprobt 
und erledigt. Die Demoratie (das Wort im Heute geltenden Ginn) lebt 
nur nod) davon, Daß fie fic ſelbſt widerfpricht: Die deutſche Republik wagt 
nicht, gemäß ihrer Verfaſſung fic einen Reichspräfidenten zu wählen. Gie 
denkt mit Seuf;en daran, daß fie gemäß der Gerfaffung einen neuen Reids- 
tag wählen muß. Mit Srmadtigungsgefegen, Reihswehr-Ginmärjchen, Beie 
tungsverboien wird regiert. Die Löcher des alten demokratiſchen Kupferfejjels 
müjjen noidürftig geflidt, ja in Gile verftopft werden — er hält dem allzu 
beißen Geuer des Zeitalters nicht ftand. Der Einwand, daß daran gerade 
aud) die Nationaliften ſchuld feien, gilt nicht; denn (ganz abgefeben davon, 
ob es eine „Schuld“ ift, ein anderes Prinzip zu haben) gerade die Demo» 
fratie hat den Begriff der „beiten Staatsform“ eingeführt, fie beanfprudt, für 
Nordamerifa, Deutfchland, Haiti, China, Rußland die endgültige, objeftiv 
bollfommenfte Löjung zu bringen, unangejehen die nationale Wrtung der 
Menden. Die Behauptung, die Deutſchen feien noch nicht „reif“ für die 
Demokratie, ift eine Berlegenheitsausrede. Wer follte denn für Pemofratie 
reif fein, wenn nicht ein Golf mit einer zweitaufendjährigen großen politifchen 
Geſchichte, mit einer Blüte des Geiftes, die zu dem Gdelften gehört, was die 
Menjchheit hervorgebracht, ein Bolt mit eingeborenem Ordnungsfinn und 
unerreich:er Disziplin? Mit dem Worte „reif“ verläßt man eigentlich fdon 
den Boden jenes Naturrechtes, das in Wahrheit fein „Natur“recht ift (natura: 
das Werdende), jener Denfweife, der Demofratie und Marzismus entfproffen 
find, und begibt ſich in den Kreis biologifher Wnfdauungen, wo der ®rund- 
fat gilt: Gines ziemt fih nicht für alle. Das Wort bom Reif-fein bedeutet. 
ben DBanferott der formalen Demokratie. Wenn die demofratifhe Idee die 
objektiv befte ift, jo muß fie es eben aud fein, für jugendliche ſowohl wie 
für greife Bölfer, für Deutfhe wie für Wmerifaner. Andernfalls find 
unendlich viele „beite Berfajfungen* erforderlid. — Aehnliches gilt für den 
marziftifhen Sozialismus. Man nehme den erjten Band von Marz’ 
„Kapt:al* por und vergieihe den dort fonftruierten Berlauf der Dinge 
mit dem wirftliden. Gs ftimmt gar nichts. Gleichwohl Halt man fid 
frampfbaft an das alte Begriffsgerüftl. Warum? Man fafdiert einen Irr— 
tum, weil man zu ängftlich ift, fic den Irrtum einzugeftehen. — Die Demo- 
traten und Gozialiften bie:en dem Beobadter diefen Anblid: Sie fönnen nit 
mehr mit ber Wirklichkeit fertig werden, aber es fehlt ihnen an Kraft und Mut, 
bon der Wirklidfeit aus ein neues Denken zu beginnen. Sie gingen einft bon 
ber Natur aus, die Galilei, Gartejfius und Newton erforfdten und erfannen. 
Und Heute geben fie immer nod von dem aus, was die Leute por zwei Jahr- 
Bunder:en für Natur bielten*. Deshalb verfagen ihre Gedanfen. 

Aber man wendet ein: Die „Halenkfreuzjünglinge*! Antwort: Wo ein 





* Beifpielswei'e: Der Begriff der „Semeinihaft“ paßt gar nidt in die über- 
altete Natur» (und Gefhidts-)Anfhauung. Daher wird diefer Begriff in der 
demofratifhen und fozialiftiihen Gedantenwelt notwendig forrumpiert. Nur Dee 
mofraten und Goxialiften fonnien auf den wunderlihen Einfall fommen, aus einer 
Schulklaſſe eine Gemeinihaft mahen gu wollen — der Beweis, daß ,Gemeinfdaft 
ihnen ein Ding mit fieben Giegeln ift. ) 


Geuer brennt, ift Naud. Man nehme alles in allem: Welde Idee hat Heute 
mehr unverbrauchte, entwidlungsfähige Jugend an fich gezogen als die nativ» 
nale? Der Wert einer Idee ift aud) daran zu ermejjen, ob fie gefundes, 
ſchlichtes Volk in Bewegung zu fegen vermag. Pie nationale Idee wendet 
fid an den Heroismus, die demofratijche und die fozialiftifche lebt (anders wie 
einft im Zeitalter Schillers) wefentlid bom Refjentiment. Eine Idee, die 
fih an das Herrliche und Herrifche im Menſchen wendet, iſt heute gufunfts- 
voller als eine, die ſich an das Weibliche und Weibiſche wendet und die das 
„Glück“, den geſicherten Lebensgenuß als das Ziel der Menſchheit malt. Es 
fommt nicht auf einzelne groteske Erſcheinungsfformen an — wo Wäre das 
Leben nicht immer aud in manden Zeilen grotest? — fondern auf die trei- 
Dende Herzensfraft. 

Man wendet weiter ein: Für viele Menfchen ift die nationale Idee nur 
eine DBerfleidung ihrer Sehnfuht nad den vergangenen Zuftänden. Sicherlid). 
Aber nicht bon diejen und aus ihren Refjentiment, aud) nidt aus der „rüd- 
warts gewende:en Romantif“ ift die nationale Idee unferer Zeit ausgegangen. 
Ware dem fo, dann wäre die nationale Bewegung zur Unfruchtbarkeit vere 
dammt. Gin Strom muß nad) feiner Quelle beurteilt werden, nicht nach den 
Nebenflüffen, die in feinem (nit ihrem) Bette verftärfend mitftrömen. 
Eine Bewegung wird beftimmt von der Kraft, aus der fie entjtanden ift. Was 
alfo ift die treibende Herzensfraft der nationalen Bewegung bon heute? 

Sngwifden ha.ten wir als Grgebnis diejer Darlegung feit: D.e nationale 
Bewegung tjt in ihrem Kern nicht Reaktion, fondern ein Neu- Werden. Folge 
lid: würde Die nationale Bewegung unterdrüdt, fo würde 
Damit bie Regeneration und alfo die Zukunft unfres Bole 
fes erdrüdt. Hingegen vernichtet die demokratiſche und fozialiftifhe Bee 
wegung fic von felbft, weil fie mit ihren, auf veralteter Naturerfenntnis fid 
gründenden Abftraftionen fein Verhältnis mehr zur ——— Wirklichkeit 
finden kann. 

2. 


Unter den Deutſchen ringen vom Anfang ihrer Gefdidte an zwei geiftige 
Strömungen miteinander, und die Berworrenheit der deutſchen Geſchichte Löft 
fic, wenn man beide fondert und in ihrer Wechfelwirfung begreift. Das eben 
gehört zum Wesentlichen des Deutſchtums, daß beide Kräfte in ihm leben: 
das febnfudtsvolle Hinausgreifen in Die Fremde, die ehrfürdtige Hingabe an 
alles, was fern, fremd und glänzend ijt, Die Luft, im erhöhten Sraumbild des 
Srembartigen gu leben, binwiederum das fdroffe, ja eigenfinnige Bebarren 
auf das eigene Wefen, das Ablehnen alles deſſen, was nidt aus der ererbten 
Natur ftammt. Diefes Volk hat einen Wandertrieb ohnegleiden und zugleich 
das Ieiden{daftlidfte Heimmeh. Gegeftes und die Seinen nehmen bewune 
dernden Blides das römifhe Leben auf — Kultur ift ihre Sebhnfudt, 
Arminius und die Seinen aber vernichten die Römer und opfern die Letber 
dem Wodan unter den alten, fturmtrogigen Giden — Sreibeit ift ihr 
Wille. So fteht dem weichen Ingeld der dänifchen Heldenfage der Harte alte 
Starfad entgegen. Die Sehnſucht nad Licht, Höhe und Weite ringt mit der 
Liebe und Treue zur derben, rauhen Baterfitte. Hölderlin und Grnft Moris 
Arndt find beide deutſch. Den größten Deutjchen aber treiben beide 
Kräfte das ftarke, raftloje Herz: Goethe fehreibt den GSK und die Iphigenie, 
den erften und den zweiten Teil des Fauft. 

Wir finnen geradezu fegeftifhe und arminifche Zeitalter in der deutfchen 


3 


Geſchichte unterfcheiden. Immer wieder erleben wir das heftigfte Ginftrdmen 
fremden Geiftes, und alsbald fett in den Tiefen des Bolts der Widerftand 
ein, langjam, zäh, Schritt bor Schritt; es beginnt das Ausfcheiden, Um— 
wandeln, Berarbeiten des Sremden aus dem inftinktiven, urwüchligen Gmp- 
finden heraus. Die Arwüchſigkeit wird jedesmal verfpottet bon den „Gei— 
ftigen“, aber fie tft es, die „barbarifhe“ Kraft der unverbraudten Schichten, 
die das Doll als deutſches rettet. Berfolgen wir die Aufnahme des 
Shriftentums, des römiihen Rechtes, der höfiſchen Kultur Ludwigs des 
Biergehnten, der Antike — immer das gleihe Ringen. Geit einem Sabre 
Bundert übernehmen wir mehr und mehr die politifhen Formen der Weſt— 
bölfer, mit der Niederlage von 1918 ift das politifhe Denfen des Weftens 
wie ein Sturzbach über uns gefommen. Inftinftip wehrt fih das Volk 
dagegen: Wie es einft die römifchen Yuriften Hafte, fo haft es Heute die 
Parlamentarier als die fichtbarften Ezponenten eines Geiftes, der ihm inner- 
lid) fremd ijt. Was bei Männern wie Riehl und Lagarde fic vereinzelt zu 
regen begann, das regt fic feit dem Zuſammenbruch pon 1918 in immer 
weiteren Kreijfen. Inftinktiv lehnt man — nicht eine endlihe Bölfergemein- 
ſchaft, wohl aber den gegenwärtigen Pazifismus ab, nicht eine Selbftperwal- 
tung, wohl aber das, was heute „Demokratie“ heißt, nicht eine ethifche Bin— 
bung der Wirtfehaft Durch Berufsehre und Achtung des Menfchlichen, wohl 
aber den marziftifhen Sozialismus. Der innerfte Lebenstrieb des Volles 
in feiner So-Befchaffenheit, jener herbe, dämoniſche Trieb von Urzeiten Her 
erwacht gewaltig und epochebildend. Die nationale Bewegung bon heute 
Hat wenig mit dem Heindeutjchen Nationalismus der „wilhelminiſchen Zeit“ 
gu tun, ihre Wurzeln Hammern in den tiefften Gründen der deutfchen Ge— 
Ihichte. Gs Handelt fih um einen Weltanfdauungsfampf, defjen Bedeutung 
man fich auf demofratifcher und fozialiftifher Seite faum je gang klar macht. 
Man begreift unjre Leidenfchaft und unfern Ernft nicht. Wir aber wiffen, was 
wir zu verantworten haben, wenn wir „Volk“ jagen. 

Ein Zweites fommt hinzu, das notwendig ift gum Verftändnis der natio- 
nalen Bewegung. Die Deutſchen waren (wie die Römer, die Frangofen) bon 
je ein friegerifhes Bolf. Gs lebt in den breiten Volksſchichten, zumal in der 
Jugend, ein natürlicher, friiher Mut, der fich in körperlicher Wehrbaftigfeit 
äußert. Der Deutſche hat die Fähigkeit „mit Leib und Seele Soldat zu fein“. 
Dieſe Eigenſchaft verliert ein Golf nicht durch einen fieglofen Friedensvertrag; 
im Gegenteil, nad der Erſchlaffung wird der Mut um fo grimmiger aufs 
ſchäumen. Das ift eine biologifche Notwendigkeit, Die dDurd feine pagififtijde 
Doktrin aufgehoben werden fann. Gs fragt fic nur, in welche Richtung fid 
diefer Mut ergieft. Da die Deutfche Republik infolge ihrer Doftrin nicht 
mit dem Trieb zur Wehrhaftigfeit rechnen will, fo bringt diejer Trieb eben 
außerftaatliche Organijationen hervor. Zum Seil wird er aufgefangen durd 
die Doltrin des aktiven Kommunismus. Der aber fann im deutſchen Volk 
(aus @riinden, die zu erörtern Hier zu weit führen würde, wir erinnern an die 
früheren Schwärmerbewegungen) nur vorübergehende Bedeutung haben. Die 
nationale Idee ift der natürliche Kriftallifationspuntt für alle Organifationen, 
die aus dem volfhaften Drang zur tätigen Wehr erwadjen. Das wird fid 
je länger. je mehr zeigen. Kein Berbot fann diefem Lebensporgang eine 
Schranke fegen. 

Die innerften Triebkräfte der nationalen Bewegung bon heute find nicht 
nationaler Ehrgeiz, nicht Imperialismus, nicht geſchichtliche Romantif, fondern: 
die plaftifhe Kraft des Bolksgeiftes und der unftillbar lebendige Trieb zur 


4 


Webrbaftigteit. Gin deutſcher Staat, der für diefe beiden Bewegungstrafte, 
feinen angemeffenen Raum bat, muß in fid verfommen. Männer, welche 
diefen Orundfräften unſres Bolfes fremd und feindjelig gegenüberftehen, 
können nie gejhichtlihe Bedeutung erlangen. 


3. 


Hätte die Revolution die nationale Idee in fich aufgenommen, fo würde 
die deutfhe Republif im Bolfe nicht weniger feft begründet fein wie Die 
franzöfifhe bon 1870, es würde eine rubmpolle Revolution geworden 
fein, bon der aus eine Grneuerung des ganzen Bolfes ihren Anfang ges 
nommen hätte. Aber die fogialiftijden und demofratifhen Führer waren be- 
fangen in ihren Doltrinen, fie fannten feinen andern Begriff des Native 
nalen, als der in ihren eigenen Kreifen während der wilhelminifhen Zeit, 
nicht gulegt in agitatorijcher Abficht, geprägt worden war. Sie fträuben fid 
nod heute, das Nationale als einen unhemmbaren Lebensporgang im Bolfe 
anzuerfennen. Die in ihm gebundene reiche ©efühls- und Gedankenwelt, 
ihre Wahrheit und ihre Sittlichkeit, gilt ihnen als ein Irrtum, denn — Diefe 
Welt paßt ihnen nicht zu ihren Gedanfen. Die Wucht der nationalen Bee 
wegung fönnen fie ſich nur erklären als das Grgebnis einer „Hebe“, die bon 
böfen oder törihten Menfchen zu niedrigen Sweden gemadt wird.* Gie 
glauben allen Grnftes, die nationale Bewegung mit Argumenten befämpfen 
zu können wie diefes: „Der Nationalismus ift [huld am Kriege.“ Natürlich 
gelingt es folden Leuten nicht, das deutſche Volk zu meiftern. Aber es gee 
lingt ihnen, die nationale Bewegung zu bedrängen. Die Folge davon ijt, daß 
fie bier und Dort ezplodiert. 

DBorgänge wie die Befehung des Rubhrgebietes, die Aufgabe des Wider» 
ftandes an der Ruhr ufw. erzeugten eine ungeheure nationale Gefühlsipannung 
im deutfhen Boll. Aber in der Leitung des Bolfes fand fie feinen ihr ent» 
fprehenden Ausdrud. Nur in Münden war, infolge zufälliger örtlicher 
Konftellationen, der offizielle Widerftand gegen die nationale Bewegung bee 
feitigt. Hierher drängte alfo die ganze Spannung. Durch die unterirdifche 
Glut entftand eine Griihreife. Man muß die Münchener Novembertage von 
1923 in ihrer Naturhaftigfeit begreifen. 

Das gefhichtlihe Bild des Münchner Aufftandes dürfte im Wefentlichen 
fo zu zeichnen fein: Rabr wollte die verjchiedenen nationalen Kräfte in Bayern 
aufammenfpannen, die militärifchen Organifationen, die ftarf ethifch gerichtete 
naticnalfozialiftiihe Bewegung, die bayrifh-monardiftifhen famt den ultra 
montanen Beftrebungen. Bon Münden und Babern aus wollte er Schritt 
um Schritt Deut{dland erneuern. Ware fein Plan geglüdt, fo mare der 
Herzpunkt des deutſchen Bolles von Norddeutfdland nad Bayern gerüdt 
worden, und das zufünftige Reich hätte eine entſprechende Geftaltung ere 
fahren. Aber es gelang ihm nicht, Die Kräfte, die an das Bismardreid ans 
fnüpfen wollten — fie waren verkörpert in Lubdendorff und Hitler — zu bee 
wältigen. In jenem Nebengimmer des Bürgerbräufellers war ihm fchließlich 
eine Stunde Zeit gegeben, das zu vollbringen. Gs gelang ihm dort nicht, fid 





* Slammt der Nationalismus irgendwo auf, fo pflegt der „ Borwärts“ zu 
fragen: Wer gibt dad Geld dazu? Kulturgefhichtlih intereffant ift, daß Diejes 
soentralorgan® der Sozialdemofratiihen Partei eine tofle NRäubergefhichte über 
Hitler abdrudte, wie diejer einmal eine Hoftie ausgefpien und verunehrt habe. Die 
Männer der nationalen Bewegung müſſen im „Vorwärts“ immer Trottel oder 
Lumpen fein. é 


5 


‘ 


gegen die andern durdgufegen, fondern nur, die andern — zu taufden, 
Man denke an die Stunde nad der Schlacht bei Königgrät, da Bismard mit 
dem Saijer rang. Bismard blieb der Unterlegene der Stunde und Der 
Gi.ger der Gefdidte. Kahr blieb der Sieger des Tages und der Unter- 
legene der Gejdidte. Die Geſchicke des deutſchen Bolfes werden nun nicht 
von Bayern aus beftimmt werden. Die Urſache ijt, daß Kahr die andern 
nicht geiftig, fondern mit dem MafdinengeweHr begwang. Durch ein merk— 
wiirdiges Schidjal entgingen Ludendorff und Hitler dem Tode, diefelben 
Kugeln aber gerfesten das bayriſche Großdeutſchland. 

Ziehen wir das gejhichtlihe Ergebnis aus den tollen Tagen bon Mün- 
hen. Lange bevor Bismard das Deutſche Reich baute, hatte es eine 
enthufiaftiiche nationale Bewegung der Studenten und des Bolfes gegeben. 
Aber das Iahr 1848 bradte nicht das großdeutihe Reidh. Das Bismard- 
reich entftand fpäterhin nicht aus der Golfsbegeijterung, fondern aus dem über- 
legenen Willen des umfidtig vorjchreitenden Staatsmannes. Durch diefen 
allein wurde das deutſche Reih möglid. Alber eben darin lag aud die 
innere Schwäche des neu gefdaffenen Staates: Nur weil er nicht aus Der, 
DBegeifterung des Volkes heraus entftand, jondern bon oben Her organifiert 
wurde, fonnte die Regierung als eine andere Madt gegenüber dem Bolfe, als 
„Obrigkeit“ empfunden werden. Niemals wären fonft Bolf und Regierung in 
dem Maße als Gegenfage fühlbar geworden. Wie wird es mit dem 
zufünftigen deutfhen Reid, das irgendeinmal den gegenwärtigen Notbau 
ablöfen muß? Die nationale Begeifterung der Studenten und des Bolfes ift 
in München abermals unterlegen. Das ift gefhicdtlid bedeutfam. Wird das 
fiinfiige Reid ein Gemächte der Diplomatie und des Militärs fein? 

Niemals wird ein Staat allein aus ftürmifcher, repolutiondrer Volks— 
begeifterung gejchaffen. Das widerfpridt der Natur der Begeifterung und 
der Natur des Staates. Aber alle Staaten, die nur das Ergebnis überlegener 
Staatskunft find, geben aus den Fugen, fobald die Staatskunft nicht mehr 
überlegen ift. G8 bedarf einer Syntheſe der Volksſehnſucht und des Führer- 
willens. Aber niemand fann eine Begeifterung maden nod einen genialen 
Staatsmann formen. Sollen wir alfo refignieren und warten? 


4. 


Wir ziehen aus diefen Betrachtungen das Ergebnis, dah wir die natioa 
nale Idee und die nationale Bewegung reifen laffen müjfen Wir 
tönnen es ruhigen Herzens, da wir von ihrer naturhaften Notwendigfeit 
überzeugt find. Das ift der Weg der Gefdidte. Se ftärfer die Hemmungen 
find, um fo tiefer und mächtiger fammelt fic die Kraft, um fo reiner, feuriger, 
edler werden die Früchte fein. Das rafde, braufende Kraftgefühl der Sue 
gend, das {din ift, das fic aber über fein Können täuſcht, muß reifend fich 
wandeln in gebändigte Männlichkeit. Denn der Staat ift eine mannlide Ane 
gelegenbeit. Reifen ift niht Untätig-fein. Reifen ijt Gähren und 
Klären, Wadfen und Sich-erfüllen. Das ift Heute in Dreifadher Weife von 
Nöten. 

Grftens: Die nationale Bewegung muß fim dapor hüten, 
ebenfo wie die fozialiftifhe in Agitation gu entarten. Die 
foztaliftiijhe Bewegung wurde unfrudtbar durd das Heranwadjen einer 
Schicht bon GFunttionaren, die berufsmafig fogialiftifdhe Parteipolitit 
madten. Gs ift ein eigen Ding um den „Geſchäftsführer“ einer Organifation, 
die ihrem Weſen nad Organ einer „Bewegung“ fein foll. Gin Gefdhafts- 


6 


führer foll die Männer, die rein um der Gade millen arbeiten, bon dem 
tednifhen Betrieb entlajten, damit fie frei werden für Die Aufgaben der 
geiftigen Führung. Aber leiht wird der Funktionär und Agitator zu dem 
„in alle Berhältnifje eingeweihten“ „Spegialiften“, ohne den „es nicht geht“. 
Ueberall madt er feine ,@efidtspunfte* geltend, die, da er fic) mehr und 
mebr dem Geiftigen der Bewegung entfremdet und es gering achtet, auf 
bloße Taktik gerichtet find. Zudem: er wird bezahlt. Darum muß er 
in furger Stift Grfolge haben. Das treibt ihn dazu, nad) den gröbiten 
Mitteln zu greifen. Gr arbeitet mit dem „Schlagwort“ und der „Plattform“ 
— was Wahrheit und Begründung? Auf den Effekt fommt alles an! — er 
arbeitet mit Der Uebertreibung in jeder Geftalt. Schließlich weiß er auch um 
des Gindruds willen die Begeifterung und die Ehrlichkeit zu imitieren, fogar 
vor fich felbjt, und das ift fein erhabenftes Kunftftüd. Die nationale Bee 
wegung muß alle Anfäge zu folden Wuderungen ohne Rüdfiht auf Tages 
erfolge bejchneiden; denn es ift nötig, daß fie innerlid rein bleibe Gine 
Bewegung, die aus den tiefften Leidenfdaften des Herzens quillt, muß gang 
lauter fein, fonft wird ihr Grgebnis ein Zufammenbrudh fein oder etwas 
Schreckliches. 

Zweitens: Wir dürfen nicht bvergeſſen, daß der innere Ge 
halt der nationalen Idee nog keineswegs zur vollen Ent— 
widlung gefommen ift. Es mar befanntlid einer der ®ründe, aus 
denen die fogialbemofratifhe Partei nach der Revolution verfagte, dah fie 
gewijfe Anfchauungen Karl Marzens dogmatifiert hatte und geiftig nicht im 
Stande mar, fic auf die befondere Lage der Beit einzuftellen. Man jtülpte 
dem Bolf einen Haufen bon prinzipienfeften Geſetzen über den Kopf ohne 
jede gejhichtlihe Antnüpfung, ohne jede Abſchätzung der feelifhen und fitte 
lihen Auswirkung. Befonders groß war man im „Abjichaffen“, denn das 
war das Leidtefte. Man hatte eben niht genug gelernt. Die junge 
nationale Bewegung bedarf nod febr vieler pbhilofophifcher, Biftorifcher, 
foziologifcher, pſychologiſcher Arbeit, ſowohl fritifher wie fchöpferifcher, und 
zwar aus der Prazis heraus, um bas Rüftzeug für eine nationale Politik 
zu jchaffen. Große Staatsmänner fann man nicht fchaffen, wohl aber Rift. 
zeug für fie. Man glaube doch nicht, da der Freiherr bom Stein „einfach“ 
die Hörigfeit „abjchaffte* oder eine Städteordnung aus einer pliglidhen Bifion 
ſchöpfte. In unjerer rationaliftijmen ©efetesfabrif Hat man ganz vergejjen, 
was ein Öejeg feiner Naturnadheigentlidhift. Wer ein frudt- 
bares Geſetz fchaffen will, muß es fowohl aus der Gefamtidee richtig ableiten 
wie auch in der praftifhen Wirkung, die ja Dod Berwirklidung der Sejamt- 
idee fein foll, abſchätzen, und zu dem letteren gehört Beobachtung und wieder 
Berbadtung. Daß Bismard in der Berlegenheit und um des Gindruds willen 
den weftlichen Parlamentarismus „einfach“ übernahm, war ein Gebler. Wir 
erinnern uns aud) mit Schaudern, was aus der bon Rathenau angeregten 
friegswirtfchaftlihen Organifation wurde, wir feufgen heute unter den bon 
Grzberger aus den Aermeln gejchüttelten Finanzämtern. Gs gilt, die Mög- 
lichleiten der nationalen Idee fo weit zu entwideln, daß Segen daraus fommen 
fann, und zwar auf allen Gebieten des Lebens. Auch ein internationales 
Ziel muß fie uns bieten. Nicht allein muß fie uns Ear und beftimmt unfre 
außenpolitifhen Intereffen zeigen, fondern aud unſre Stellung und BWirkjam«- 
keit im Kreife der Bölfer. Sie muß das medanifdhe Ideal der Pagififten er- 
fegen durd das Bild einer Menjdbeit, das der deutfchen Idee von reis 
beit und ©®emeinfchaft entfpricht. Ich glaube (mit Schiller), daß gerade das 


7 


deutſche Denken infolge des eigentümlichen deutfhen Schidjals vorbeftimmt 
ift, die Ldjung für eine reife und vernünftige Völkergemeinſchaft zu finden. 
Sie liegt ſchwerlich allein in einem mechanijchen, fontobudmafigen „Selbit- 
beftimmungsrecht“, fondern in einer Würdigung der gefdidtliden Leiftung, 
gu der freilich eine Dobe geiftige Reife und Gerechtigkeit gehört. — Wir 
wiſſen, daß mit Volkskunde, Gefdidte und Philofophie das deutſche Volk 
nidt erneuert und fein Staat nicht verdeutfcht wird, aber wir wiffen, daß 
dieſe geiftige Atmofphäre die Borausfegung einer erfolgreichen völ— 
kiſchen Politik ift. 

Drittens: Jedes GliedD der nativnalen Bewegung muß in 
feinem perfinliden Leben ein würdiger Bertreter der n a 
tionalen Idee fein. In der Repolution verjagte die fozialiftiijhe Be— 
wegung bor allem durh — die Menjden, die fie nicht berangebildet hatte. 
Seder Einzelne muß ſich felbft Zörperlich, feelifh und fittlid als Beitrag 
zur Grneuerung des Bolfes darbringen. Die nationale Bewegung muß durd 
die Menf den überzeugen, von denen fie getragen wird. Gs geht wahrlich 
nidt an, daß wir irgend eine ®eld- oder Boden- oder Raſſentheorie auf die. 
Stange fteden und glauben, damit wären wir nun fertig zur Rettung des 
Daterlandes. Wir dürfen die Berantwortung nicht bon unfrer Perfon auf 
eine Theorie abladen. National fein heißt nicht, für irgend ein Univerjal- 
beilmittel agitieren, fondern das eigene Gein und Tun unter die nationale 
erantwortlidfeit ftellen. Man laſſe fic durh das Schickſal der fogia- 
liftifden Bewegung warnen. Die nationale Idee muß nicht durd ein Ree 
gept fiegen, fondern dadurch, daß fie die gefundeften, ehrenhafteſten, uner- 
{@rodenften und gebildetften Mtenfden zu eigen bat. 

Das find drei Forderungen und — fein Rezept. Das find drei Bedin- 
gungen und — feine Prophezeiung. Das find drei Befdranfungen und — 
feine Befriedigung des Optimismus. Sollen wir darum ungeduldig fein? Bom 
Sage dürfen wir nichts erwarten, fondern nur bon der Zeit; denn es handelt 
fim um große Dinge. Aber die Sröße ift unfer Troft. 


5. 


Das beutfhe Volk ift wie ein Strom, der aus unbetretenem Urgebirge 
quillt und duch Berge und weite Ebenen groß und ftolg dem Meere guwallt. 
Die Feinde bauen Damme in ihn hinein und wälzen Blöde herzu, fie juchen 
ihn zu hemmen und abzuleiten. Aber immer wieder läßt Gott es Frühling: 
erden, dann raufden von neuem die Waffer fdwellend von den ewigen! 
Bergen Hhernieder und die ungebändigte Urkraft reißt alle Damme und Blide 
in tobendem Zorne hinweg — 

„Wie der Schnee aus Feljenriffen, 
Wie auf ew’ger Alpen Höh’n 
inter Frühlings beißen Küffen 
Siedend auf die Gletider gehn: 
Kataraften ftiirgen nieder, 
Wald und Fels folgt ihrer Bahn, 
Das Gebirg’ Hallt donnernd wieder, 
Sluren find ein Ozean —“ 
Und der Strom raufcht wieder frei und ftolg die alte Bahn dahin. 

Gs wird aud) nach diefem Winter ein deutfher Frühling fommen, und 
aögert er lange — um fo jäher und gewaltiger werden die Wogen daher— 
ftiirgen. Denn ein Bolf wie das deutjche fann nicht anders als frei fein. Gt. 


8 


Golf und Siibrer. 


3) biologiſchen Sugendlidfeit des deutſchen Volkes ift es zuaufchreiben, 
daß es allezeit mehr als andere Völker nad Führung verlangt. Gs 
ftrebt die Berantwortung für fic felber auf ein Gewiffen zu legen, dem es 
Kraft und Mächtigkeit gujdreiben fann, feine, des ganzen Bolfes, Gnt- 
widiung zu jchirmen. Unter der Hut des Führergewijjens will das Bolf 
den ftarfen inneren Gntwidlungstrieben nadleben. Go mill der Siingling, 
der bewußt und unbewußt bor allem feiner Gntwidlung lebt, während er 
eine Hand über fich weiß, die fon zur rechten Beit fiirforglid) bemmend 
oder fördernd eingreifen wird. 

Aber die Not des deutfchen Volkes läßt fein Berlangen über den ftetigen 
Entwidlungsgang hinausſchwirren, fein Wunder, daß es Darüber taumelnd 
wird und feinen DBlid für die Natur der Dinge verliert, der in Notzeiten 
doppelt fejt und ficher fein follte. Wer immer nur eine Gorm Hat oder eine 
Geftalt findet, die über das Individuelle in das Allgemeine zu greifen fcheint, 
dem fladert der Blid des Bolfes gu: Vielleicht ift da der Führer aus unierer 
Not! Niemand bejinnt fic darüber, was N Sührer und Führerjchaft 
im volksbiologiſchen Sinne bedeutet. 

Durch einen rationaliſtiſchen eſchichtsunterricht und eine rationaliſtiſche 
Ethik und Philoſophie iſt dem deutſchen Volke auf Schritt und Tritt dicht ein— 
geblaſen worden: Alle hiſtoriſchen Greigniſſe ſind Emanationen der großen 
hiſtoriſchen Perſönlichkeiten, alles Recht und Zurechtfinden fließt aus den 
Denkerköpfen, unſere Sprache iſt ein Werk der Sprachſchöpfer, die Religionen 
find das Werk der großen Religionsgründer. Was wir an Lebenswerten 
befigen, ift uns gegeben. Dogma. Und damit hängt aud unfere Abhängig. 
feit bon allem Grembden gujammen. Kein Kulturvolf, das fic) fo leicht impo- 
nieren ließe — aber auch fein Kulturbolf, das gerade in dieſem kritiſchen 
Sugendftadium ftünde, in Dem alles impofant wirft! Bergebens haben die 
großen Spreder und Geftalter des deutſchen Wefens ihr Bolt immer wieder 
auf fic felbft gu führen gefudt, Gelbftbejinnung und feinen blinden DBerlaß 
gu bewirken geftrebt. Sie wurden gu Führern gemadt, zuweilen als Führer 
bod geehrt, und dabei hatte ſich das deutſche Volksgewiſſen der einzigen 
Pflicht entledigt, Die von den Spredern und Geftaltern des deutſchen Weſens 
eigentlid und aus dem einzigen Sinne ihres ſchöpferiſchen Dafeins heraus 
verlangt worden war: Nidt ihnen blind zu folgen, nicht fie ablohnend zu 
berehren, fondern felbft zu werden, fic) felber zu erfennen an den Seiden 
und Winken, als deren Bermittler fid) die fchöpferifchen Geiftes- und Tat- 
menfden erlebten. Aber das deutſche Bolf madte feine fchöpferifchen 
Menſchen lieber zu Göttern, die nicht nur einen Gntwidlungszuftand über 
die Schwelle gehoben, fondern die aus fic heraus — gleihfam aus dem 
Nihts — einen Entwidlungszuftand gefdaffen haben follten. Und dabei 
berubigte fic) das deutfche Bolf oder es wandte fid in namenlofem Andante 
bon den ſchöpferiſchen Menjchen ab, wenn es feine eigene Form, Die jene 
geftalteten, nicht begriff, fie nicht als die eigene Gorm gelten lajjen wollte. 

Was fuht das deutfhe Bolf, wenn es nad) Führern fuht? Nicht 
feinen Führer, fondern den abfoluten Führer, den Führer fchlechthin, der 
immer und überall zu führen weiß, den Gott aus der Mafchine, der ein 
Lebenstheater entjcheidet, in dem das deutſche Volk ſich felber agieren fiebt. 
Diefes jugendliche Sich-jelbft-aus-der-Berantiwortung-fegen Tennzeichnet unfe= 


9 


ren Zuftand in allen öffentlihen Gihrerfragen. Man überſchätzt die fchöp- 
ferifche PBerjönlichkeit aus Trägheit des Gewiffens. Und wer follte nie die 
Gemifjensträgheit beobachtet haben, die gerade jugendlichen Lebensaltern 
eigen ift, die alle ihre Gnergien den biologijchen Reifungszuftänden gue 
ſchießen müfjen! 

Den abjoluten Führer, den Führer fehlechthin, gibt eg nicht. Gr fann 
niemals gefunden werden, e3 ift eine Torheit, ihn zu fuchen. Der Grund 
Diejer Torheit liegt in Dem rationalen Gedanken, daß der Führer dort ge— 
funden werden miiffe, wo das Bedürfnis nah Führung beftebt. Gs ift 
eine zweifelbafte Wahrheit, daß dort, wo ein Wille fei, aud ein Weg fei. 
Entweder wird uns der Weg, auf dem wir geben, mittwegs als Wille be» 
wußt, dann brauden wir den Weg nicht mehr zu fuden, — wo wir aber den 
Weg eines Willenstriebes erft fuden, da fünnen wir gewiß fein, daß diefer 
Wile nod wejentlihe Widerftände zu überwinden Hat, und dann fann fid 
nod) berausitellen, daß Der Wille den natürlichen Gegebenheiten nicht ent- 
Iproden hat. Nicht bas Bedürfnis nad Religion hat Religionen gejchaffen, 
fondern Reiigionen find der Ausdrud für einen lebendigen Gntwidlungse 
guftand des metaphyſiſchen Ordnungstriebes, fie find die Gorm für ein bio— 
logiſches Verhalten überindipidueller Natur, ohne den eine Religion überhaupt 
unmöglich ift. Gleichwie es nun unmöglich ijt, die religiöfen Grlebnijje eines 
Kulturvolfes Döllern mitzuteilen, die 3. B. auf der Gntwidlungsftufe der 
Urauftraiier ftehen, ebenjo unverftanden müßte der genialfte Geftalter aud 
einem höchſt Eultivierten Volke bleiben, wenn er gu weit über den Ent» 
widlungszuftand diejes Volkes Hinauswiefe. Dort ſpräche das größte Genie 
bor tauden Ohren, und wäre es mit feurigen Zungen eines Wpojtels begabt, 
und aud hier müßte e3, ohne ein lebendiges Echo gu erweden, berhallen. 
In beiden Fällen aber wäre es eben fein Führer. 

Sührerjchaft ijt ©eitaltertum. Wo aber etwas geftaltet werden foll, dort 
muß etwa3 da fein, das nicht nur geftaltunggbedürftig ijt, fondern vor 
allem geftaltungsreif. Gin Bedürfnis nah Ume und Ausgeftaltung läßt 
fid durch Äußeren Zwang erzeugen, ©ejtaltungsreife aber fett bejtimmte 
innere Wahstumsperhältnijfe voraus, innere Anpafjungsmöglichleit. Ges 
ftaltungsreife läßt fic) nicht mitteilen, nicht willkürlich zuſetzen, fie läßt jid 
nur fördern, wenn Die Beit des inneren Wachstums an ihre Reifejdwelle 
gelangt ift. Gejtalt fann nicht gegeben, fie fann nur entwidelt werden. Der 
Führer, der Geftalter wird einem Bolfe nicht verliehen, fondern das Volk 
ergibi den Führer. Wud) die Gejundheit wird dem Kranken nicht verliehen. 
Der Organismus heilt fich felber, er überwindet die Krankheit, es kann ihm 
mit den beiten Mitteln nicht geholfen werden, wenn er nicht felbjt die Kraft 
bat, fid zu belfen. 

Die rationale Denkart hat den Begriff des Führers ſchlechthin. des abio- 
Iuten Führers gejdaffen, wirllid aus dem Nichts formlogifcher Abitraktion 
geihafen. Mit jolhen Begriffen fann man fein Auslangen fnden, jolange 
fonft alles wohlgeordnet vonjtatten geht. In einer Notzeit muß man fich der 
begziffliden Tragweite der Abftraltionen bewußt gu werden fuchen und Die 
hatürlihen Verhältniſſe wägen lernen. 

Führung, Volksgeſtaltung ijt nichts anderes als ein finnfälliges Bewufte 
werden defjen, was innerhalb des Bolfes aus Prangzuftänden der Ent«- 
widiung in die Gntwidiungsanpaffung übergeht. Der Führer, der Gee 
ftalter Hat dabei nur die Funktion, den Gntwidlungsporgang zum Wort, zur 
Sat zu helfen. Gr verkörpert gleihjam in fid und für die andern das 


10 


logifhe und praftifche Zeichen des überindipiduellen Entwidlungsvorganges. 
Gx madt mündig und madt tätig. Gs ift ein Irrtum der rationalen Denk» 
art, daß e3 Gntwidlungszuftände eines Bolfes ohne Führer und Geftalter, 
oder daß es Führer und Geftalter ohne entſprechende Gntwidlungszuftände 
geben finne. Wenn ein Volk, wenn eine Zeit reif ift, dann ift der Führer 
da. &3 ijt unfinnig gu Hagen, daß eine Zeit nicht ihren Führer fände oder 
ein Führer nicht feine Zeit. Wohl gibt es Geftalter, die ihrer Zeit voraus— 
geben und nadfolgen, die find aber nicht Führer ihrer, fondern einer nach» 
folgenden Genera:ion, oder fie wären Führer einer porausgegangenen ge» 
wejen. Und es gibt aud Zeiten, die einem Zuftande zuftreben, in dem fie 
Ausweg und Führung aus ihrer Not finden müffen und werden, aber fo- 
lange dieſer Zuftand innerlid nod nicht fällig geworden ift, wird Das 
Streben nad Führung und nach befriedigender Geftalt nur Berlangen bleiben 
müjfen, und der einftige Führer, mag er gleihwohl fdon leben, wird fo lange 
nit erfannt werden, ja er wird fich feines Führertums nidt bewußt 
fein. Nicht nur das Golf muß feines Führers erft fähig werden, fondern aud 
der Führer feines Gihrertums am Volke. Alles andere ift ein Suchen, 
Zaften, ein Taumeln von Hoffnung in Gnttäufchung, bejtenfalls ein Bufalls- 
trefjer, der fich nicht bewähren Tann. 

So wird es begreiflid, daß ein Golf, in die Vorftürme feiner Anpaffung 
berfegt und unter ihnen in Not geraten, fein Herz und feine Hoffnung an Pere 
fönlichleiten hängt, die unter anderen Gntwidlungsverhältnifjen wirklich ge- 
führt haben, die Ausdrud für den Bolfswillen gewefen find. Darin liegt 
aud) die Tragik der hiſtoriſchen Perfönlichkeiten offen, die ihre Entwidlungs- 
pbhaje des eigenen Bolfes, d. h. jenen Gntwidlungsguftand ihres Bolfes, in 
dem fie ibm Führer fein fonnten, überdauern. Die gewaltigen individuellen 
Gnergien, die fie in fic verförpern fonnten, dauern in ihrer Perfönlichkeit, 
in ihrem Selbftbewußtfein weiter und drängen nad Ausgeftaltung. Allein es 
fehlt jener biologiſche Volksboden, aus dem ihre Perfdnlidfeit gum Führer, 
zum Mund» und Satwalt werden könnte. Das Volk täufcht fic in ihnen, weil 
es feinen Gniwidlungsguftand innerhalb der ftürmifchen Anpafjungsporgänge 
perfennt, und fie, jene Perfönlichleiten, täufchen ſich im Wolfe, weil fie ihre 
einzigartige und darum engbegrenzte ©eftaltermöglichkeit nicht erkennen. So 
fommt es, daß gerade die Hiftorifhen Geftalter und Führer, denen die Zeit 
entgätten ift, in bit.ere Refignation verjinten oder ihre Perfönlichkeiten felbjt- 
gefährdend am faljchen Orte einfegen. Sp fommt es aud, daß ein Bolt in 
feiner Drangjal dieje Perfdnlidfeiten mißbraudt, fie an falfmem Orte und 
zu unrech er Zeit feiner Sehnſucht nad) Befreiung opfert. 

Gs gibt fein gewoiltes, fein gejucdhtes, fein gewähltes Führertum, nur ein 
gewachſenes. Seder Gntwidlungszuftand eines Volkes fchafft fein eigenes 
Sührertum. Wenn fich in einer Zeit des inneren und äußeren Dranges, der 
inneren und äußeren Not fein Geftalter, der gugleid) aud) Befreier ware, 
offenbart, fo gilt eg nicht verzweifelt nad ihm zu fuchen, fondern fic dejjen 
bewußt zu werden, daß es gunddft gilt eine bittere Gntwidlungszeit zu be— 
fteben, um dahin zu gelangen, wo ein Befreier wieder werden fann und eher 
nidt wird. Nicht einen Lebenstag zu fpat wird der Führer fommen, aber 
auch feinen zu früh. Auch er muß in die Zeit reifen, wie die Beit in ihn. 

Erwin Guido Kolbenbeper. 


11 


Beruf. 


or hundertundfünfzig Jahren, als unfer Golf zwiſchen Maas und Memel, 

Etſch und Belt immerhin fdon an 20 Millionen Geelen zählte, gab’s 
für Deutjdhe Menfdhen: Herren, Männer und Weiber (Damen und Kinder 
blieben meift noch außer Betracht) insgefamt doch nur etwa 1000 verfchiedene 
Derufe. Anno 1907 aber, zur Zeit der dritten (bisher legten) reichsamtlichen 
„Berufszählung“, hatten wir bei bald 60 Millionen bereits 14009, und fommt 
die nächſte Grhebung zuftande, fo wird fie uns nad vor fidtigfter 
Schätung mindeftens 16000 ,,Berufebegeidnungen“ bringen. Bedenken wir 
die ftatiftifhe Unbebolfenbeit der VBorpäter, dann mag freilich die einftige 
Armut an Berufen nicht ganz jo ſchlimm geweſen fein. (Wir Heutigen wijjen, 
wie fragwürdig Ziffern find.) Zumal dod die Maffe der Heinen Leute 
ebedem, weil’s noch feine dem Rechte nach freie Berufswahl gab, „in ihrem 
Stande“ blieb, aljo mit dem vorhandenen Vorrat amende leichter ausgue 
fommen vermodite. 

Gs ift jedenfalls nur recht und billig, wenn wir eine größere Auswahl 
baben, denn offenbar reicht fie ja immer nod nidt Hin: Unzählige Menſchen 
Heute fuchen zeitlebens vergeblich einen Beruf (menigftens Hagen fie, fie 
finnien feinen finden), und immer größer wird zudem die Schar derjenigen, 
die an einem nicht genug haben. Gibt’s nicht im ,,Urbeiterftande* manchen, 
der. am „Abend feines Lebens“ (d. h. bon feinem legten Arbeitswinfel aus) 
auf 15 bis 20, ja mehr „Brofeffionen“ zurüdbliden fann? Und dann die 
vielen „Saifon- und Doppelberufler“: Im Winter Schuh- oder Zigarren» 
mader, im Sommer Bergführer oder Badewarter, oder — ein ganz moderner 
Gall: Im Winter Student (und Anwaltsjchreiber), im Sommer „Werfftudent“: 
Kellner (und cand. jur.) Gerner die ,,Konjuntturberufler*: Heute DBerg- 
arbeiter, morgen Baubilfsarbeiter; heute „Stüge“, morgen Gabriflerin uſw. 
ufw. Allein, Diefe Art fehmälert unjern Berufsporrat nicht allgujebr; übt 
fie Dod gleichzeitig immer nur einen aus, und einen muß der Menſch wohl 
haben. Dem DBerufsftatiftifer bon Beruf allerdings maden [don dieſe ſchlichten 
„Zerufstombinationen* das Leben fauer. Und nun gar, wenn es fih um 
rGleidmgeitige Mtehrberufler* Handelt! Wie und wann foll er die „er- 
faffen“? Welcher ihrer verfdiedenen nebeneinander herlaufenden Be— 
rufe ift ihr „eigentlicher“, ihr „Hauptberuf“? Als Hauptberuf, jagt Die 
cmtlide Auslegung, gilt der Beruf, „auf dem hauptſächlich die Lebens- 
ftellung beruht und bon dem der Erwerb oder deffen größter Teil herrührt“. 
Gewiß, damit wäre vielleicht der „Haupt-Erwerb“, nod nicht indes der ,,-Be- 
ruf“ erklärt. Welchen Hauptberuf bat 3. B. die Darietefünftlerin? Ihr 
Erwerb „beruht“ manchmal nur beiläufig auf Leiftungen ihrer ftatiftifch 
erfaßten Lebensftellung. And ferner: haben Dichter und Denker (ich meine 
die wirklichen) feinen Beruf, nur weil das Dichten und Denfen meift nichts 
einbringt, jo daß fie außerdem einen Haupt-Grwerb brauden? Manche meinen 
ja, nur die „brotlofen Künfte* wären noch wirflihe Berufe. Doch ausüben 
fann fie der Unvermögende und Unbeamtete eben nur, jofern er Daneben 
einen — ,Sauptberuf* hat. Gir den Berufsftatiftifer ift alfo Spinoga Glas- 
{dleifer, Goethe höherer Beamter (Gehaltsflaffe XIII Stufe 5), Storm Amts» 
geridtsrat, Senfen Redakteur, Frenſſen Paftor ufw. Gr (der Gtatiftifer) 
wird zwar nicht beftreiten, daß fie außerdem nod etwas anderes „ausübten“; 
indes jener anderen Tätigkeit fehlte ja nod ein weſentliches amtlides „Kri⸗ 


12 


terium“ wirklichen Berufs: „das Zeitlih-Zufammenhängende, irgendwie Kon- 
tinuierlidhe Der Berridtung*. Fürwahr, feiner fann immerlos philojophieren 
oder gar dichten. 

Gs gibt übrigens nod eine andere, immer häufiger werdende, ftatiftifch 
nod ſchwerer erfaßbare Art „gleichzeitiger Mebrberufler“. Das find dies 
jenigen, Die zwei oder gar drei formularmäßig-richtige, „Eontinuierliche* 
Berufe nebeneinander betreiben. 85 vd. 9. unfrer heutigen Privatdozenten 
z. DB. müſſen ſich durch „Nebenbefhäftigungen“ (die den größten Zeil ihrer 
Kraft fordern) die ,,Lebensftellung* ihres Hauptberufes fidern. Ich fenne 
einen Kunfthiftorifer, der ift außerdem regelredter Photograph und erteilt in 
feinen „MWußeftunden“ abends italieniihen Unterriht an einer Handelsfchule. 
Zumeilen, gar nicht fo felten, ift auch der richtige Hauptberuf beinahe nur 
Titel für den eigentliden — — (Die neuen Reichen gehen auch 
gern zum Profeffor-WArgt oder Profeffor- Anwalt). Und endlich: Hauptnzben- 
und Nebenhauptberuf können fic derart ineinander verfilzen, daß der „Berufs- 
träger“ felbft nicht mehr weiß, was er eigentlich ift. Gin Beifpiel für viele: 
Im vorigen Jahr hatte ich einen Herrn Dr. med. X, Inhaber eines größeren 
deutſchen Sanatoriums für Holländer und Wmerifaner, im Bertrauen auf bie 
amtlihe Definition des Hauptberufs als „approbierten Hotelier“ begrüßt. 
Glidlidherweife gewährte man mir mildernde Umftände (bon wegen meiner 
{Hwadhen Nerden und ftarfen vaterlandijdhen Gefühle). Man foll alfo wohl 
die Hoteliers finftig Gaftwirte heißen diirfen?? Und die Landwirte Hleineren 
Umfangs Bauern??? 

Einen Beruf beim richtigen Namen, d. 5. mit feiner Tatigkett zu 
nennen, Das wird, fcheint’s, immer gefabrlider. Der eine Handlungsgebilfe 
will Kaufmann heißen, der andere, fortgefdrittenere an der Rechenmajdhine 
Dingegen „geiftiger Arbeiter“. Meine (übrigens fehr tüchtige) Stenothpijtin 
wicderum nennt fid) „kaufmänniſche Angeftellte“, obgleich unſer Snftitut 
gar fein Kaufladen ift. In den Arbeiterberufen ift’s nicht anders: Der Drejcher 
und Mäher, der Schweinemeifter möchte „nur Arbeiter“, allenfalls Lande 
arbeiter fein, der gelernte Dreher aber trat feinen guten alten Berufsnamen: 
an den ungelernten Revolver- und Wutomatendreber ab und wurde gleich 
dem Scloffer, Mechaniker, Former ein — Metallarbeiter; unfere Stüße ift 
Sausbeamtin, weshalb ich denn meine liebe Frau (die ja als Mutter und 
Hausfrau nad amtlicher Anfidt „ohne Beruf“ dabinlebt), aus eigner BoN- 
madt vor zwei Jahren gum Hausreferendar, beim legten Hausbeamtinnen= 
ftreif aber gum Hausaffeffor ernannt und ihr fommende Weihnadt in Er— 
mangelung anderer ®aben den „Sharafter“ eines Hausrats zu verleihen ge- 
denfe. Ich fage hier übrigens mit Bedadt: Referendar, WAffeffor, Rat, weil 
das „in“ Hintenan nicht nur fpradlid) ſcheußlich, fondern der beruflichen 
Würde obendrein abträglich ift; und für den Beruf nach heutigem Begriff ift 
ja ſchließlich das Gefdhledt faft fo gleichgültig wie die Religion. Hauptjache 
bleibt bie (Gergeibung!: das) Perfonlidfeit (lide). 


Nicht etwa aus Mitgefühl für die ftatiftifchen Wemter ftelle ich diefe Bee 
tradtungen an; denn wer die Berufe feiner Mitmenfchen noch immer für zähl- 
bare Zatbeftände Halt, verdient fein Bedauern mehr. Und wer fich über 
meinen Beruf per Gragebogen erkundigt, ift aufdringlid; erkundigt er fid 
dod nach meinem innerften Derhältnis zur Umwelt, nod mehr: nad) 
meiner Beftimmung, meinem Schidjal, nad) dem Wie meines Tuns, dem 


13 


Wofür und Warum meines ganzen Lebens, und das ift, angefichts der Um— 
ftände, unter denen wir heute leben, in der Tat taftlos. Man glaube aud 
nicht, der durdjdnittlide Menſch (bin ich nicht felber einer?) wäre weniger 
feinfüblig; feine für Die Behörden fo argerlid-unbeftimmten Berufsangaben 
berraten Deutlih genug das Gegenteil. Sa, feine Scheu vor Gnthüllung 
fann — wie wir ſahen — fo beftig fein, daß er fic, gebt’s durdhaus nicht 
anberg, lieber herabſetzt, als uns klar zu fagen, wer und was er ijt. Daf 
fih der Tiſchler nicht mehr Tifchler, der Zimmermann nidt mehr Zimmere 
mann nennt, daß fie beide nur nod) Holgarbeiter fein mögen und die Gerber, 
Sattler, Sajdhenmadher nur mehr Lederarbeiter, — dies ift aber trauriger 
als es jcheint! Bedenkt: Solange uns einer fein Handwerf angab, die Art 
feiner Arbeit, fagte er uns feine Gigenfchaften, jego nennt er uns nur 
mebr feinen Arbeitsftoff (Holz, Metall, Leder ufw.), und morgen werden 
die „Hand»- und Kopfarbeiter“ nur ihren Arbeitsort (den „Betrieb“, der 
fie betreibt) verraten. — Barmbergige Brüder, — gibt e3 den Beruf über- 
Haupt nod? Und wie lange noc) wird’s barmberzige Shweftern geben? 
Dei dem läftigen „DBerufsfleidungszwang“, der jeden gleich feben läßt, was 
man ijt! Die Gewerkſchaft des Kranfenpflegerperjonals verlangt dergleichen 
nidt mehr, dafür erfampfte fie der Barmherzigkeit in Zivil die 46-Stunden- 
woche, und nun endlich bat man was bon feinem Leben. Denn Leben und 
Beruf find zweierlei: Leben ift Freizeit mal Arbeitsertrag plus Schlaf minus 
Beruf. 

Nod ein Beifpiel, das uns dem Kern der Gade wieder einen Schritt näher 
bringt: Graulein Müller ift „beamtete* GSogialfürforgerin, alfo wohl beim 
ftädtiihen Wohlfahrtsamt oder einer fonftigen Nächitenliebe-Srijatanftalt an- 
geftelit. Indes, „als was“? Man jagt, als Schulpflegerin. Nun ja, Die 
Säule „Erankt“; wie vermag indes ein einzelnes Fräulein die Klippfchulen 
eines ganzen Stadtteils zu pflegen? Wie ,madt man das“? Oder find 
am Gnde „nur“ die Schullinder gemeint? O nein, das wäre zu unwijjen- 
ſchaftlich; „Gegenſtand“ ift vielmehr „Das Kind in feinem Verhältnis zur 
Schule“, alfo das Schulkind, zum Unterfdied einerfeits vom „Iugendlichen“, 
anbdererfeits pom „Kleinfind“*. Und aljo wäre Sräulein Müller vielleicht 
SHorinerin? Bitte fehr — böl, fie abfolvierte eine z-ftufige Frauenſchule. Eine 
Hortnerin fpielt ja nur mit Kindern, fie jedoch ftellt „Srhebungen“ — wie 
erhebend Klingt das! — „an Hand“ bon Formularen an, „zweds Ergänzung“ 
der Alten des Herrn Magiftratsaffejfors, der dann als Jugendamtsdezer- 
nent („im Einvernehmen“ mit dem zuftändigen ©efundheitsamt) oder al3 Bee 
rufspormund „über Das Weitere befindet“. — Berufspormund? Gie wifjen 
nid!, was das ift? Nun, wenn früher Kinder einen Gormund braudten, 
fühlten fid) Anverwandte, Freunde, gute Nachbarn dazu berufen, und fie 
madten’s foftenlos, „ehrenamtlich“. Seitdem nun aber die ungelernten Bor» 
münder fo rar geworden, gibt es in jeder größeren Stadt einen (ſelbſtver— 
ftandlid bejoldeten) Berufspormund, der alle diesbezüglichen 3 bis 30000 
Kinder von Amts wegen „betreut“.** Berlaft nun „das Schulkind“ (d. i. der 
Querfdnitt alies Menfdenlebens zwiſchen 6 und 14) die Schule, fo wird es 


— — R: 

* Sinfere I REREGEN liebten in Angelegenheit der „Aufzucht“ landwirt- 
Thaftlihe Ausdrüde. 

** Denn die von Geburt aus Berufenen felten werden, miiffen eben „Bollberuf- 
lide“ ihre Aufgabe übernehmen. Darauf mag es aud zurüfzuführen fein, 625 Die 
Zahl der Berufspolitifer in dem gleihen Maße wählt, wie die der Politifer von 
Beruf abnimmt. 


14 


jugenbdlid, und „Sugendliche“, die nicht der Fürforgeerziehung „anheimfallen“, 
„ergreifen“ allermeift fogleich einen Beruf. Da fie aber die fehr veränderlichen 
„DBerufschancen“ des Menfchenmarlt3 und ihre eigne „Berufseignung“ nicht Hine 
teichend fennen, vermittelt ihnen die ,, Berufsberatungsfteile* — meiſt gegen ibren 
und ihrer Gltern Willen — eine „Berufslehre“. Daneben gibt es wifjenfdaft- 
lide, por allem „pſychotechniſche“ Inftitute für ,Berufsforjhung* und „Bes 
rufsfunde“ ind fo fann denn ein jeder, der nur will, den rechten Erwerb — 
Berzeihung!: Beruf finden. — Zu fagen aljo, ein Berufspormund, geftüst auf 
alle Dieje Snftangen, übe feinen Beruf aus, nur weil er etwas gegen Bezahlung 
tut, was vorher durchaus fein Erwerb fein durfte, — dies wäre gewiß dreift. 
Nicht minder aber das andere: daß ein Bormund alten Stils, nur weil er 
feinen Gold für feine Mühe befam, fein Bormund von Beruf hätte fein fönnen. 


Hier nun ftehen wir bor der wichtigen Frage nad dem Verhältnis von 
Erwerb und Beruf: Die Behörde, die eine fogenannte Berufszählung vere 
anftaltet, will bon mir wiffen, was id tue und wovon id lebe. Damit 
aber erfährt fie lediglich meinen Grwerb, mein Geſchäft, weil eben über 
meinen Beruf weder das Was meines Tuns an und für fich entjcheidet, 
nod gar der Ertrag der Tätigkeit, bon der ich lebe, fondern allein das Wo» 
für, in dem wiederum das Wie meines Tuns befdlofjen liegt. Beruf ift 
alfo eine „innere Tatſache“, ein feelifdmes Derhältnis, eine beftimmte, 
dennoch nicht „exakt“ beftimmbare „Beziehung“ des Menfchen zu feiner 
Arbeit. Daß ich den Grtrag meiner Arbeit nicht entbehren fann; daf id, 
um zu leben, etwas „verdienen“ muß, bat mid, Gott fei Dank, nicht ge- 
Bindert, in meinem Erwerb aud) meinen Beruf zu finden. Beruf und Erwerb 
ſchüeßen fic) Demnad nicht unbedingt aus, und jedenfalls ijt Die Brotlojig- 
feit Durdaus fein ſiche res Kriterium wahren Berufs — wie mande wohl 
meinen, Die bon ihrer guten Kunft nicht befteben können. Aber natürlich: 
ebenjowenig jpricht ſchon ein gejichertes Ginfommen für einen Beruf, weil 
fonft ja die mit der Anficht des Finanzamtes parallel laufende „gejellichaft- 
lide Schädigung“ den Rang eines Berufs beftimmen würde. Unſer Gefühl 
itrt fich indes feineswegs, wenn es grad dem Berufsdarafter der bejonders 
ertragreichen Tätigkeiten befonders miftraut. Denn es bejteht zwiſchen Be— 
ruf und Grwerb, Amt und Gefhäft, Dienft und „Berdienft“, fo wenig fie jich 
unbedingt ausfdliefen, denn dod eine peinlide Spannung, fo daß mir 
die Würde und Höhe eines Berufs ,unwillfirlid* an feiner Erwerbs⸗ und 
Geſchäftsferne abſchätzen. Und in der Sat: je ferner den „Interefjen“, deſto 
böber der Beruf! Wobei allerdings unter Intereffen nicht nur Seldeswert, 
vielmehr alle „Ichbezüge* (3. B. Eitelfeit, Ghre und Titeljudt) gemeint find. 
Lebe ih für die Arbeit oder nur bon der Arbeit? Daran allein entjcheidet- 
es fid, ob ich einen Beruf babe oder nur einen Erwerb. Freilich find damit 
aud) nur die äußerſten Gegenſätze und nicht die unzähligen, die Mehr- 
Heit der Menſchen umfajjfenden ,Grengfalle* bezeichnet. Gs fann fa 
einer ſehr wohl in feinen „Berufsgefchäften“ gang und gar „aufgehen“ — 
man Denfe an den modernen ©rofunternehmer — alfo nach beiter eigner 
Yeberzeugung einzig für feine Arbeit Ieben (dazu in allen Genüffen Astet 
fein) und doch berufslos bleiben, folange er nämlich bewußt oder inſtinktiv 
nur feinem Sntereffe, dem Berlangen nah perfonlidem Sewinn, per- 
finlider Geltung, perfönlider Macht folgt. Wie aber, wenn diejes 
individuell gerichtete Geltungs- und Machtverlangen über fic ſelbſt binaus- 


15 


wädhft? Fürwahr, es ift möglich, daß fid ein Sntereffe fogar gum Be— 
mwußtjein einer Miffion erhebt und nun der König, der urfprünglich ,eigent- 
lich“ nidts als feine „Hausmacht“ gewollt, zum erften Diener feines 
Staates wird. Sewif, wird man ſagen, der König. der geborene Herr über 
Lander und Soldaten. Befteht jedoch die gleihe Möglichkeit zum Beruf aud 
für die ahnenlojen Herren der Kohle, des Gifens und der Schiffe? Wehe uns 
Deutjchen, die wir feine Könige und Soldaten mehr haben, wenn wir diefe 
unfere Shidfalsfrage verneinen müßten! — Und dann der andere 
thpijde „Srenzfall“: Gs mag einer mit feiner tägliden Tätigkeit wiffentlid 
nichts anderes bezweden als feinen privaten Lebensunterhalt, ja jede „Miſ— 
fion“ darüber hinaus für feine Perfon ausdrüdlich ablehnen und troßdem 
fubjeltiv etwas wie einen Beruf haben, fofern er namlid vom fogiellen 
Wert, pon der gefellfchaftlihen Wichtigkeit feiner Arbeit dDurddrungen ift. 
Diefe eigentümliche, oft bon jeder unmittelbaren Liebe zur tagliden Arbeit 
abgelöfte, gleihjam abftrafte Hochſchätzung der Arbeit „an ſich“ ermöglicht 
nun freilich aud nur jenes, bon der einzelnen Perſon abgelöfte „ſchwebende“ 
Derufsbemwußtfein, defjen negative Außenfeite wir „Rlafjenbewußtfein“ nennen: 
Der einzelne von feinen Produftionsmitteln getrennte Arbeiter hat inmitten 
majfenmäßiger Grofarbeit, auf fich allein geftellt, in der Regel feinen Beruf 
mehr, aber das aus den Geelen aller Einzelnen verdrängte, heimatlos ge= 
wordene DBerufsgefühl fteigt nun gleihfam zur Klaffe auf, affumuliert fi) 
gleihfam in einer Gefamtperfon: die „Arbeiterfhaft“ bat Berufs- 
bewußtfein, d. h. Glauben an einen Beruf, unsverwirklichten Beruf. Und 
wehe uns und ihr, wenn es nicht gelänge, ihn zu verwirklichen! Ich fage, die 
Arbeiterfchaft, d. 5. eben jene Arbeiterflaffe, die fic) über den zer- 
fallenden alten handwerklichen Arbeiter ftänden als organifierte Maife 
zufammenfchließt, bat Berufsbewußtfein. Indem fie den alten „Zunftgeift“ 
als ihrer Solidarität binderlid verwirft, verneint fie gwar den alten bande 
werflihen Beruf; allein, fie verneint aud den bändlerifhen Grwerb; 
Arbeit foll nicht mehr Privatſache fein, fagt der Marzift, fondern gefellfchaft- 
lider Dienft, Offigium, Pfliht an der „Sefamtheit“. Und das heißt nichts 
anderes als: fie [olI Beruf fein; da ja eine Arbeit in der Tat um fo mehr 
Beruf ift, je weniger fie Privatfache ijt. Ob freilich das Menfchenrecht auf 
Beruf ſchon dur) bloße Gzpropriation der Privatgefchäfte, d. 5. Durd „So- 
gialijierung* der Arbeitsapparate könnte guriidgewonnen werden, bleibt eine 
ganz andere Fragel 

Zunädjft gilt es nod einen fehr nabeliegenden Ginwand gegen meine 
Auffaffung des Berufs als einer rein „inwendigen Tatſache“ zu prüfen: I 
meinte oben, nicht das Was fondern das Wie der Tätigkeit, nicht der Segen- 
ftand der Arbeit als vielmehr ihre Beweggründe entfcheiden Darüber, 
ob der Menfd einen Beruf hätte oder nur einen Erwerb. Anders ausgedrüdt: 
Wes Wirken unter dem Geſetz der Pflicht fteht, der hat einen Beruf, gleich“ 
piel was er tut; wem jedoch vornehmlich oder gar ausfchließlih fein Redt 
vorſchwebt, der Hat nur einen Griwerb, gleidpiel was er ſchafft. Gleich— 
piel? Alſo fdnnte 3. B., wer Menfchenleben vernichtet, einen Beruf haben, 
und wer Kranke beilt, bod nur ein Gefchäft?! Beides fürwahr ift möglich). 
Der Offizier 3. B. hat einen Beruf, der „Kaſſenlöwe“ niht.* Heinz Marr, 

(Sin zweiter Auffat folgt.) 


* inter „KRaffenlöwen“ verfteht man Aerzte, die fih durch nadfidtige Attefte 
und reidlide Verordnungen eine große Kundihaft unter Kranfenfaffenpatienten zu 
gewinnen verſtehen. 


16 


Schöpfung und Geftaltung in deutfdher Lyrik. 


9. Goethes Befang der Erzengel. 


Rapbael. 
Die Sonne tönt nad) alter Weife 
Sn DBruderfphären Wettgefang, 
And ihre porgef{driebne Reife 
Dollendet fie mit Donnergang. 
Ihr Anblid gibt den Engeln Starke, 
Wenn feiner fie ergründen mag; 

Die unbegreiflid hoben Werke 
Sind berrlid, wie am erften Tag. _ 
®abriel. 

Und fchnell und unbegreiflich fdnelle 
Dreht fic umber der Erde Pradt; 
Gs wedjelt Baradiejeshelle 

Mit tiefer, ſchauervoller Nacht; 

Gs jhaumt das Meer in breiten Flüffen 
Am tiefen Grund der Felſen auf, 


Und Fels und Meer wird fortgeriffen 

Sn ewig fdnellem Sphärenlauf. 
Midael. 

Und Stürme braufen um die Wette, 

Bom Meer aufs Land, bom Land aufs 

Und bilden, wütend, eine Kette [Meer 

Der tiefften Wirkung rings umber. 

Da flammt ein bligendes Berbheeren 

Dem Pfade oor des Donnerfdlags; 

Dod deine Boten, Herr, verehren 

Das janfte Wandeln deines Tags. 
gu drei. 

Der Anblid gibt den Engeln Stärke, 

Da feiner dich ergründen mag, 

And alle deine hoben Werke 

Sind herrlid, wie am erften Tag. 


n den Eingang feiner gewaltigften Dichtung ftellt Goethe diefen Hymnifden 

Gang, ber an Größe und Grhabenbeit alles übertrifft, was wir noch unter 
den Begriff der Lyrik zu fajjen vermögen. Und Doch ift er nichts als reine 
Lprif: der umfafjendfte und erſchöpfendſte Ausdrud der über alles Irdiſche 
zur wei.en und tiefen Weltens und Oottesjchau emporgewadfenen großen 
Did:erjeele. Gs ift ein Zeichen der Genialitat feines Schöpfers, daß er die 
bimmlifch erhabenen Klänge diefes Ganges nicht auf Erden aus ungeweihtem 
Menfdenmund erklingen läßt, fondern im Himmel, oor dem heiligen Ohre des 
Höchſten, aus dem Munde feiner vornehmſten Boten, im Kreije der Himme 
liſchen Heerfcharen. Und zu erhabener Himmelsfhau müffen aud wir Herz 
und Ginn empor[dwingen, wenn wir mit den Himmelsboten „Die unbegreiflich 
boben Werke“ erfdauen, die ewige Harmonie der Sphären erklingen hören, 
den unwandelbaren Rhythmus Freijender Welten im feelifhen Mitſchwingen 
erfühlen wollen. 

Mit einer die Sprache über alles menſchlich Alltäglihe Hinaushebenden 
Ungewöhnlichkeit malen die erften beiden Zeilen den gewaltigen, alle andern 
Sphären überiönenden Sonnengefang, Doch fo, daß wir zugleich den Chor der 
„Bruderfphären“ bis in alle Himmelsweiten miterflingen hören. . Das voll» 
tönige, erhaben edle Pathos der Bolalflange ftügend und verftärfend, fchreitet 
der Rhy:ihmus majeftatijd wuchtig daher, im Einklang mit dem Wortſinn 
der folgenden Zeilen die Gewalt und das ewige Sleidmaf des in unabänder- 
lider Bahn daherrollenden Sonnenballes vortrefflich verfinnlidend. Obgleich 
nur unjer Gehör angefprochen wird, glauben wir doch aus hoher Himmelsſchau 
den ganzen gewaltigen Ring der Gonnenbabn überbliden zu fönnen, und 
das Getdn der den ewigen Weltenraum erfüllenden Muſik läßt uns voll» 
fommener als alle gum Auge fprechende Anfchaulichkeit die unendliche, über- 
wältigende Weite dieſes Raumes fdauen und empfinden. Die ganze unver» 
rüdbare Geftigfeit und Wucht der Bewegung aber, den gewaltigen, den 
gtengenlofen Raum durhfchütternden Klang und damit die riefige Mächtig- 
keit und Grhabenheit des ſchwebend freifendDen Sonnenkörpers drängt fid in 
den Worten: „ind ihre vorgefchriebne Reife — Bollendet fie mit Donner» 
gang“ erfchütternd und erbebend bor Sinn und Seele. Fühlen wir im feften 


17 


rhythmiſchen Gleichgewicht der erften diefer beiden Zeilen das Ginherfchreiten 
des Geftirnes in unabänderlicher, von einer höheren Macht vorgezeichneten 
Dahn, fo malt der fi in zwei Tonhebungen aufbäumende Rhythmus der 
äweiten die ganze jchütternde Wucht der fich vollendenden, zum Ziel fom- 
menden Bewegung, im Sinn und Lautflang des mit genialer Kühnheit ge- 
wählten Wortes „Donnergang“ noch einmal alle majejtätiihe Gewalt fame 
wmelnd und verdichtend. _ 

Wir ftehen bewundernd ftill bor der dichterifchen Bildfraft, die in dem 
engen. Rahmen von vier armjeligen Zeilen uns die ganze überirdijche und 
überfinnlide Schönheit und Größe des himmlifchen Geftirnes por die Seele 
ftellt, fo daß wir fie mit einer an diefer Bildfraft wachſenden Schaufraft er- 
fajfen und überwältigt erleben. Tief ergriffen ftimmen mir ein: „Ihr Ans 
blid gibt den Engeln Stärke“ und fpüren nun aud im bildlos fdlidten Wort 
unmittelbar die gefammelte Geelenfraft, mit Der es gefattigt und geladen, und 
die ihm eindringlidfte Wirkung verleiht. Auch die Engel müfjen fid bee 
gnügen am Anblid des unergründlichen Öptteswerfes; aber wir empfinden 
im verweilenden Klang diejes Wortes, wie Aug und Geele Kraft trinfend auf 
dem bon ewiger und unerſchöpflicher Gottesfraft zeugenden Schöpferwerfe 
ruht, und unter dem Gewicht des Wortes „Stärke“ fühlen wir diefe Kraft 
wie einen nährenden Gaftftrom in Blut und Geele fließen. Mit gleich 
ftarfer innerer Anjchaulichfeit malen die Worte „Wenn feiner fie ergründen 
mag“ die Unergriindlidfeit der Gottesſchöpfung, und aus der in Sinn und 
Zonfall diefer Worte gejtalteten finnenden Berfenfung in das Dunkel uner— 
gründlidder Tiefen, reißt uns die nächſte Zeile fternenweit empor im bee 
toundernden Aufblid gu den „unbegreiflich hohen Werfen“, die ewig „herrlich“ 
in der unberührten Reinheit und jungfrauliden Schönheit ihres Schöpfungs- 
tages erglänzen. 

Sühlen wir uns im Bann der Worte Raphaels gleihfam ummallt und 
eingejchlojjen in die Sphäre des himmliſchen Geftirns und feines den Himmels- 
raum erfüllenden ®etöng, jo empfinden wir in den Worten Gabriels den Whe 
ftand gu dem nur aus der Ferne der Himmlifhen Schau mit dem Auge voll 
erfaßbaren freifendDen Erdball. Noch überzeugender empfinden wir unfern 
Standpunft inmitten des Weltalls und es bereitet einen wahrhaft erhebenden 
®enuf, der das ewige Kreijen der Welten in fosmifchem Schauen umfajffenden 
Didterphantafie nachſchaffend zu folgen. 

Wie wir im fonoren Bollflang und dem majeftätifc daberfchreitenden 
Rhythmus des Gonnengefanges die dem Auge unfaßbare Größe des Die 
Himmel beherrjchenden Geftirns verfinnlicht fahen, fo malt uns der höher ge- 
ftimmte Klang, der befchleunigte Rhythmus in dem Preislied Gabriels die 
geringere Mächtigfeit und das aus der Himmelsferne deutlich erjchaute 
fchnellere Kreifen des Grdballs. Wohl wird aud hier durch das im gleichen 
DBersmaß gehaltene Tempo die Erhabenheit des Hymnifden Gefanges voll 
gewahrt — und es ift arg verfehlt, wenn ein Gpreder diefer Worte es Dem 
freijendDen Grdball an Gejchwindigfeit gleich zu tun fudt —, aber wir fühlen 
befonders in den weniger zum Obr als unmittelbar zum motoriſch-dynamiſchen 
Gefühl fpredhenden Worten: „Und fdnell und unbegreiflich ſchnelle — Dreht 
fi umber der Erde Pracht —“ deutlich die Schwunglraft der Drehbewegung, 
während die hellere Lautfarbung zugleich trefflich zu der jubelnden Greude 
ftimmt, welde „Die echten Götterföhne* im Anſchauen der Grdenpradt ere 
greift und im jauchzenden Hellflang des Wortes ,,Paradiefeshelle* ihren 
ſchwindelnden Gipfel erreiht. Gin erlefenes Meifterftüd genialer Didter- 


18 


fraft ift nun wieder der plößlihe Abftieg von dieſer Lidthibe in das abe 
grundtiefe Dunkel der „fchauerpollen Naht“. Man weiß nicht, was man 
mehr bewundern foll: den bligjdnellen Wechfel im Bilde, der uns die Tag- 
und Nadifeite des Grdballs jchier im gleichen Augenblid erfdhauen läßt, und 
fo die „unbegreifliche* Gejchwindigfeit des „Spbärenlaufs“ unübertrefflich 
dergegenmwärtigt, oder den gleich pligliden Wechfel des begleitenden Gee 
fühls zwiſchen taumelndem Lidtraufd und dem die Geele bis in ihre 
leben Siefen erfdiitterndDen Schauern der Nadt. Und diefe „nachtſchaurige“ 
Stimmung Elingt nad und aus in Die verwandte, bon der aufwühlenden 
wilden Gewalt der Meeresbrandung erwedten, deren Bild im Ginn, Laut 
Hang und Rhythmus der Worte: „Ss ſchäumt bas Meer in breiten Flüfjen 
— Am tiefen Grund der Felfen auf“ — mit ungewöhnlicher Befonderheit der 
{pradliden Geſtaltung vollendet gezeichnet ijt. Gleich meifterlich aber vere 
fnüpfen die Schlußzeilen mit Bild und Bewegung des brandenden Meeres 
bie fortreißende Sphärenbewegung, das ganze Bild des freifenden Grdballs 
nod einmal vor Augen ftellend. 

Wieder mit einem einfahen „Und“ Ginbeit und Zuſammenhang des 
Ganzen andeutend, führt Michael den Gang von der Erde und den Glementare 
gewalten fort. Keine Gingelbeiten, fondern nur die einfach großen Züge Der 
Glemente jelbft und der verheerenden Gewalt ihrer Wirlung werden aus der 
himmliſchen Schau auf dem Grdball wahrgenommen und find erhaben genug, 
bon den Öottesboten bejungen zu werden. In drangenden Rhythmen wird 
die Gewalt de3 pldgliden Anfturms, das Braufen und die rajende Sdnel- 
ligfeit der Stürme in den Worten der erften Zeile, ihr dem Schwung eines 
ungebeuren Pendels gleihendes Hin und Her uniibertrefflid in Wort und 
Rhythmus der zweiten, ihre Leidenfhaft und verheerende Wirkung rings 
auf dem weiten Grdenrund in den beiden folgenden Zeilen geftaltet. Wie 
eine große Sturmwelle Durdbrauft e3 die vier Zeilen diefer Strophenhälfte, 
und an gedrängter RnappHeit der Geftaltung fie noch übertreffend, wird in 
den an gewagter AUngewöhnlichkeit des fpradliden Ausdruds alles über— 
bietenden Worten: „Da flammt ein bligendes Berheeren — Dem Pfade por 
des Donnerfdlags“ zur Gewalt des Sturmes die des Gewitters, zu Erde, 
Wajfer, Luft das lebte der vier Glemente gefellt. Wann ift je in „wei, 
fnappen Gersgeilen diefe erhabenfte aller Naturerfcheinungen in fo pollendeter 
Bildhaftigfeit geftaltet worden, und mit welder genialen Souveränität wird 
fie hier gleich einer tragenden Krönung in das Gefüge des ganzen Geſanges 
eingebaut, Die Reihe der elementaren Naturmadte verpollftändigend und 
abjdlieBend, und fie in ihrer verheerenden und erfdredenden Gewalt bis 
zum nur möglichen Gipfel emporfteigernd! Und mit derfelben nur dem 
Genie eignenden ſouveränen Gelbftverftandlidfeit findet Der Dichter bon diefer 
fteilen Höhe elementarer Leidenfdaft wieder in zwei Zeilen den verinner- 
fihenden und tief berubigenden Ab- und Ausklang. Als ob dem ftreitbaren 
Midael plöglich bewußt wird, daß er fich im verfunfenen Anfchauen der 
feinem eigenen Temperament entjprehenden wilden Glementargewalten faft 
gu weit hat fortreifen lajfen und fchier vergeffen, daß er mit Raphael und 
@abriel „vor Gott fteht“, begreift er fic) und neigt fic mit ihnen tief und 
lea verehrend bor dem ewig ruhigen und fteten Wandel des Unwandel- 
aren. 

„Der Anblid gibt den Gngeln Stärle — Da feiner dich ergründen mag“ 
— fo drängt e3 fic, tief aufquellend, mit vereinten Stimmen über die Lippen 
der drei, die, vom reinen Anjchauen „der lebendig reinen Schöne“ der ſchwe— 


19 


benden und freifenden Welten ganz erfüllt, fid nun hinwenden au i 

Herrn, dem Schöpfer und Lenker aller Ei in Erden, dem —— 
Pol, um den ſie kreiſen, deſſen ſtarke Hand ſie in feſten Bahnen leitei, ohne 
den fie nichts als „ſchwankende Erſcheinung“ find. Ihm allein, den alle 
Simmel rühmen, gebührt Preis und Anbetung, er allein, der Quell» und Lire 
(grund alles Seins und Werdens, ift ewig unerfchöpflich in feiner alles Leben 
Ipendenden Kraft, „Da feiner ihn ergründen mag“. — Go werden diefe 
Worte, mit denen der Hymnus wieder in die erhabene Majeftät des Sonnen- 
gejanges einmündet, und deren Wirkung wir faum nod einer Steigerung 
fäbig bielten, in ihrer Abwandlung Hier am Schluß ſowohl gefühlsmäßig 
als auch gedanklich bedeutend verfinnlicht und vertieft. Dort galten fie 
der mächtigen Lebensfpenderin, die allbeherrfhend in ihrem Weltfpftem 
waltet. Aber erft jest in der Hinwendung zu dem ewigen und perfönlichen 
Schöpfer werden wir uns defjen bewußt, daß aus dem All der Welten ung 
SHerzenswärme entgegenjchlägt, erft jet fammelt fic alle bewundernde Freude 
und Derebrung mit wahrer Inbrunft in den gleich einem jubelnden Springs 
quell aus dem Herzen auffteigenden Worten: „Und alle deine hohen Werke 
— Gind herrlid, wie am erften Tag.“ 

So glauben wir denn aud erft jest die tiefen Worte ganz zu verfteben, 
in denen „Der Herr“ am Schluß des Prologs im Himmel jeinen Boten auf 
ihren Geſang ertwidert: 

„Doch ihr, die echten Götterſöhne, 
Grfreut euch der lebendig reichen Schönel 
Das Werdende, das ewig wirft und lebt, 
Umfaß eud mit der Liebe holden Schranten, 
And was in jhwanfender Erſcheinung ſchwebt, 
Befeftiget mit dauernden Gedanfen!“ 
Stanz Hehden. 


Gon den „Sejhichtsichreibern der deutjchen 
Borzeit“. 
er nicht gerade Gefdidte ftudiert, pflegt eine febr unklare Borftellung 
davon zu haben, aus was für Quellen unfere Gejhichtsfchreiber ſchöpfen, 
wenn fie die Sreignijje und Perjdnlidfeiten des deutſchen Mittelalters dare 
—fte.len. Man denkt an das mühfame Studium alter Urkunden mit baumelnden 
Riejenfiegeln und an wunderlide Chroniken, die, mit Adam und Eva be» 
ginnend, über „Abraham zeugete Sjaaf, Sjaak geugete Safob“, über Her» 
tules, Xerzes, Auguftus, zu dem Konzil von Nicda und fchließlic zu Karl 
dem Öroßen gelangen, um bei Klofterftreitigfeiten, Kometen und ftädtifchen 
Unruhen zu verweilen. „Ungenießbares Zeug für moderne Lefer.“ 

Dieſe Borftellung ift falfd. Unfre Vorfahren Hatten eine eigene, in bee 
ftimmten Gormen arbeitende Gejchichtsjchreibung. Die Männer, welde Chro— 
nifen, Annalen und Lebensbefdreibungen verfaßten, waren durchaus nicht 
unbedeutender als die, welche ſich heute mit gejdidtliden Dingen abgeben. 
Man muß fie nur aus ihrem Weltbild und ihren Sntereffen verjtehen. 
Dann können wir aus ihren Anjchauungen vielleicht fogar — etwas für unfer 
eignes Leben lernen. Die Stimmung, aufgeflart und mit gerührter Ironie auf 
die wennſchon braven, fo Doch rauhen „Altvordern“ guriidgubliden, tft all« 
mablid ebenfo aus der Mode gelommen wie Heinrich Heine. 


20 


* 


s 


In einer Zeit, die weder den Begriff der Kaufalität noch den der Ent- 
widlung fennt (und wenn fie ihn fennte, als untefentlid gering adten würde), 
fönnen wir feine rankiſche Geſchichtsforſchung und »[chreibung erwarten. Gs 
ift aud finnlos, Thulydides als Maßſtab zu nehmen. Die römiſche Gefdhidt- 
{Hreibung bat formal ftarf auf das Mittelalter gewirkt, aber fachlich nur wenig. 
Dem aniifen Menfchen, der ganz in der Welt lebte, war das Menfchendafein 
in den dauernden Inftitutionen der Städte und Staaten etwas ganz andres 
als dem mittelalterlihen Menſchen, der Diefe Welt nur als ein Bruchftüd an— 
fab, als Zeil und Durdgangsort einer gewaltigeren, überirdifhen Welt. Im 
Miiteialter bemüht man fich nidt um Gntwidlung und Fortjchritt, fondern um 
Reftiiutio „ad priorem ftatum“, um Zurüdführung der Pinge in den „guten, 
alten Zuftand“. Und der „Himmel“ wirkt in einer Weije in bie Gejchichte 
Dinein, die uns feltjam borfommt, die wir aber begreifen miiffen, um das zu 
verftehn, was für jene Menfden der „Zufammenhang“ tft. 

Verſenkt man ſich mit ein wenig Sorgfalt in die verfchiedenen Thpen der 
mittelalterlihen Geſchichtsſchreibung, bejonders in die Bitae (Lebensbefdrei- 
bungen), Annales (Jahrbücher) und Chroniken, fo ergeht es einem ähnlich, 
wie bei der Betrachtung der altdeutfchen Gemälde, Schnigaltäre uſp. Das 
an die Renaifjance gewöhnte Auge empfindet die deutfchgotifhe Kunft gue 
nadft als barbarijd, neigt dazu, das Ungewohnte für ungefonnt und „naiv“ 
gu balten, bis eines Sages die Schuppen bon den Augen fallen, das innere 
Sejidt Hell wird und bie Bilder eine folhe Gewalt über ung gewinnen, Daß 
alles Fremde dagegen (wenigftens zunädjft) guriidtritt. Wir erobern eine 
neue Weit, und das ift um fo erregender, als wir Schritt um Schritt merken, 
daß es recht eigentlid unfre Welt ift und daß unfer eigenes Leben fich darin 
erfüllt bat. Ich bin der Ueberzeugung: naddem wir die romanijche und go- 
tiſche Kunft wieder fehen (nicht nur kunſthiſtoriſch betrachten) gelernt haben, 
naddem wir allmählich ahnungspoll die mittelalterlide Dichtung Hören (nicht 
nur pbilologifch bearbeiten) lernen, werden wir bald aud unfre mittelalter- 
lide Geſchichtsſchreibung verftehen (nit nur als Quellenmaterial bee 
nugen) lernen. Ich möchte Hier über die gelehrten Kreife hinaus um Bee 
{aftigung mit der alten deutſchen Geſchichtsſchreibung werben. 

Wir müffen uns deutlid madden, daß jene Schriften für uns im runde 
diefelbe Bedeutung haben wie die gefdidtliden Bücher des Alten Tefta- 
mente3 für die Juden. Der Unterfchied ift nur der, daß fie nicht einheitlich 
überarbei:et und zu einem fanonartigen Budfirper zufammengefchloffen und 
daß fie wegen der größeren Breite und Mannigfaltigfeit unfrer Geſchichte 
weit umfang eider und vielfarbiger find. Die Wehnlidfeit befteht darin, daß 
aud) in den aiten deutfchen Büchern ber Könige die Gefdidte als eine Wedfel- 
wirkung @ottes und des menjchlihen Herzens aufgefaßt wird: es tft Feine 
tein pragmatifche, fondern eine religiös und fittlid beftimmte Geſchichtsdar— 
ftellung. Ehe man fagt, daß die Gravater Abraham und Safob, die Könige 
David und Salomon unerfeglich feien, muß man zuerft unfre eignen Grapäter 
und Könige im Spiegel ihrer Zeit (nicht aus der pragmatifchen Darftellung 
der entgötterten Wiffenfdaft) fennen. (Dabei merfen wir an, daß wir feines- 
wegs darauf ausgehn, Luthers biderbe Gindeutfchung der altteftamentlichen 
®eftalten und Hebels bibliſche Geſchichten einfach „abzuſchaffen“. Nicht ab» 
{affen, aber — aud) unfre eignen Vorfahren nicht abgefdafft bleiben laffen!) 

Unſre alten Gejchichtsfchreiber haben lateinifd gejchrieben, und man fann 
fie Iefen in der gewaltigen Sammlung der „Monumenta Germaniae*. Wenn 
man aber fein Latein verfteht, fo nimmt man die „Geſchichtsſchreiber der 


21 


deutfhen DBorzeit“ zur Hand, die in bisher 95 Bänden und Bändchen im 
Berlag der Dykſchen Buchhandlung in Leipzig erfdienen find. Bon Gaefar 
und Tacitus an bis ing fünfzehnte Jahrhundert begleiten die Bände unfre 
Gejdhidte. Als Herausgeber zeichneten einft Männer wie Perk, Jakob 
Grimm, Lachmann, Ranke. Nahdem Michael Tangl geftorben ift, hat der 
Göttinger Karl Brandi die Leitung übernommen. Den geringeren Zeil 
maden die fremden Schriftiteller aus, die über deutſche Dinge berichten: 
Tacitus, Ammian, Prokop, Bonifatius uſw. Gigentlide „Dokumentenfamm- 
Iungen“ find felten. Die Hauptmafje nehmen die Chroniken und Lebensbes 
[&hreibungen Herborragender Männer ein. Die Ueberjegung ift von fundigen 
Geiehrien bejorgt, fie geht vor allem auf Richtigkeit aus, die ſprachliche Kunft 
fteht in zweiter Reihe. Se nad der Begabung des Ueberſetzers, nicht bloß 
nad) der Art des Urteztes, wechjelt gewandter Ausdrud mit einem Deutfch, 
das lebhaft an die Beit erinnert, da wir an heißen Gommernadmittagen in 
der Sefunda aus dem Lipius eztemporierten. Dod) glüdlicherweife nicht allzu 
oft. Man lieft ja aud mit Ginftellung auf die Gade. 

Um einen Begriff bon der Sammlung zu geben, druden wir unten einige 
Proben ab. Das erjte Stüd ijt aus den „Sächſiſchen Gefchichten“ (Bd. 33) 
des Mönches Widulind von Corveh, die er für die zwölfjährige Prinzeffin 
Mathilde, die Sodter Kaifer Ottos des Großen, niederfchrieb. Wir finden 
da die alte ſächſiſche Sage bon Irminfried und Iring (wohl nad einem 
Heldenliede). Ausführlid dann das Leben Heinrids des Erften und Ottos, 
bejonders die Kämpfe mit feinen fic) empörenden Angehörigen und mit den 
Slawen und Ungarn. Die Sdladht auf dem Lechfeld am 10. Auguft 955 ift 
das Slangftiid des Werkes. Die Erzählung bon Ottos Krönung zeigt uns 
lebendig den äußeren Borgang bei ber Zeremonie. Rührend ift am Schluß 
der Bericht über des großen Herrfchers fchlihten Tod zu Memleben an der 
Anftrut. 

Die nadften Stüde zeigen uns um ein Jahrhundert fpäter die heftig ge- 
ſchmähte und überſchwenglich gelobte Geftalt Heinrichs des Bierten. Gin uner« 
gogener Mann bon ftarfem Temperament. Gr war zweifellos nicht bloß ein 
politiſcher Rechner, fondern, bei allem Kampf mit dem Papft Hildebrant 
(Gregor), bon einem leidenfdaftliden Verhältnis zu Gott. Das bezeugt nicht 
nur Ganoffa, jondern aud) feine Hingebung an die Armen. Der Berfafjer 
der „Sahrbüdher“, als den man ficherlic mit Recht den Lambert pom Klofter 
SHersfe:d annimmt (Bd. 43), fteht bei aller Ehrfurcht por der Krone doch une 
freundlich gegen ihn. Gr fann den Zehnten der Türinger und die Seindfeligfeit 
Heinrih3 gegen die Sachſen nicht verwinden. Seine Graählungen find von 
padender Lebendigkeit. Meifterhaft ift der Ueberfall der Gadjen durd Hein- 
tid) 1075 und der Kölner Aufruhr von 1074 dargeftellt. Interefjant ift aud 
ber Kampf um den Gölibat; Lambert fehüttelt ein wenig bedenklich, aber re- 
figniert den Kopf zu diefer Neuerung des Papftes. Großen Wert legt er 
auf die äußere Erſcheinung der Menjhen. Wie feiert er die fSrperlide 
Schönheit des Bifdofs Gunther von Bamberg! Dagegen beißt es vom 
Biſchoſ Adalbero von Worms fehr luftig: ,..an einem Zuße gelähmt, eine in 
jeder Rüdjicht fehenswerte Erſcheinung. Denn er war von großer Stärke, von 
unerfattlider Ghluft und von fo gewaltiger Dide, daß, wer ihn anfah, darüber 
mehr Schauder als Berwunderung empfand; ja, daß felbft der Hundertarmige 
@igant oder jedes andere Ungeheuer des Altertums, wenn es der Unterwelt 
entftiege, Die Augen und die Aufmerkſamkeit des ftaunenden Volkes nicht in 
fo hohem Grade auf ſich ziehen würde.“ — Leidenjchaftliche Liebe zum Kaifer 


22 


fpriht aus dem „Leben Kaifer Heinrich des Vierten“ (Bd. 50). Ueber den 
Derfaffer hat man viel herumgeraten; es genügt zu wiffen, daß er dem Kaifer 
in den legten Lebensjahren nahe geftanden hat. Was er über die letter 
Sabre Heinrich zu berichten weiß, ift das Wichtigfte. Gs ift eine Berteidi- 
gungsichrift mit ausgeprägter Rhetorik. (Man beachte am Schluß unfrer Probe 
das entzüdende rhetoriihe Schwängchen, die Apoftrophe der höchſt unfchule 
Digen Mühle). 

In die Welt der Kämpfe zwijchen Deutfchen und Slawen führt uns die 
bon pradtbollen Charakter- und Kampfſchilderungen ftrogende „Chronik der 
Slaven“ des Niederjadjen Helmold, Pfarrherrn zu Bofau, die er den „ehr- 
würdigen Herren und Batern, den Domberren der heiligen Kirche zu Lubec“ 
widmet. (Bd. 56.) Hier treten Heinrich der Löwe, Albrecht der Bär unt 
Friedrich der Rotbart als Beitgenoffen vor uns. Ad, es waren arge Herren! 
Gie pafjen einander febr auf die Ginger, fie wifjen einen Kreuzzug gegen Die 
Seiden durd paſſive Refijteng zu BHintertreiben, wenn fie für ihre Steuern 
fürd.en. Die Dänen fommen ſchlecht weg; wiederholt verfichert Helmold, 
untereinander feien fie voller Zwietracht, feige gegen äußere Geinde. Des 
Goltes Bwantewit uraltes Bild ragt geheimnispoll in den Wäldern Rigens, 
bis Waldemar pon Dänemark es herporfchleppen und verbrennen läßt. Die 
GSaftfreundfchaft der SIaven wird gerühmt. Immer wieder erheben fie fid 
zur Ste.beit, aber fo raſch ihr Mut entbrennt, fo rafch finkt er zufammen. 
Wie oft werden Länder und Burgen der Deutfden wie der Slaben verwiiftet 
— ein blutgedüngter Boden! Und die Sturmflut pon 1164 reißt „viele 
taujend Menjdhen und eine unzählige Menge Vieh“ in den Tod. Die See 
ftalt des Priefters Gerlach fcheint mir nicht weniger vorbildlich als die des 
Leonidas. Hätten unfere StaatSmänner etwas von feinem Geift gehabt, fo 
hätten fie ihre Namen nicht unter das Dokument von Berfailles gejegt. — — 

Gs ift eine unendlihe Fülle von Geftalten in diefen 95 Bänden. Gine 
Anzahl diejer Bände gehört gum ©rundftod jeder deutjchen Haus» und Fa— 
milienbiiderei. Biel zu wenige ſchöpfen aus den reichen Quellen. Wie wird 
uns Durd fie die alte Kunft und Didtung lebendig! Wenn wir bei Lambert 
bon der ſchönen Adela, der Witwe Markgraf Ottos von Meißen, lefen — ift 
das nit die Atmofphäre der Frauen des Nibelungenliedes? Und wie der 
junge König Heinrid fo wird im Gudrunlied Hilde, die Tochter Hagens, ent- 
führt. So war das Leben damals. — — 

Für die neuen Bände und Auflagen Hatten wir den Wunfd, daß nicht 
nur die Sniereffen des Hiftorifers, fondern auch die des gebildeten Deutjchen 
ſchlechthin, der die Sachen zu feiner Bereicherung lieft, berüdjichtigt werden. 
Grörterungen wie in den drei Borreden zur Bita Henrici gehören in wiffen- 
ſchaftliche Zeitjchriften. Statt deſſen hätten wir lieber jedesmal eine Ein- 
führung in das DBerftändnis der Greigniffe und Geftalten, wie Dr. Georgine 
Tang! fie zu den „Regiftern Innocenz’ des Dritten“ gibt. Wichtig wäre es 
aud, die fchriftftellerifche und geiftige Gigenart der Geſchichtsſchreiber heraus- 
guarbetten. Sachliche Einteilung des Inhalts mit Kapitelüberfchriften, Stamm» 
bäume und SLandfarten würden die Leltiire der Bände erleichtern, geitges 
nöſſiſche bildlihe Darftellungen würden _fie mit Anfchauung erfüllen. Gin 
letzter Wunfch wäre, daß wir einen Ginleitungsband zur ganzen Sammlung 
befämen, der uns die Typen diefer Art Geſchichtsſchreibung und ihre geiftige 
Struktur darftellte und uns fo bor falfhen Maßſtäben bewabrte.* St. 


* Wir empfehlen, fid) durch eine Budbandlung oder vom Berlag ein Sefamt- 
verzeichnis der Sammlung fommen zu lafjen. 23 











Grlejenes 


Aus den von Alpers gefammelten „alten niederdeutfhen Bollsliedern“*. 


Herr Hinrid. 


err Hinrich und fine Broder alle drei, 
I) bull grone, 
fe buweden ein Schepfen to der See 
umb der adelihen Rofenblomen. 
Do dat Schepfen rede was, 
pull grone, 
fe fettden fid darin, fe forden all darhen 
umb der abeliden Rofenblomen. 
Do fe weftwerts aberquemen, 
pull grone, 
do ftund dar ein Goldfchmedes Sohn por der Dor 
mit der adeliden Rojenblome. 
„Weſet nu willfamen, gi Heren alle drei, 
gar hübſch und gar {done! 
Wille gi nu Mede ofte wille gi nu Win?“ 
fprad de adeliche Rofenblome. 
„Wi willen nenen Mede, wi willen nenen Win, 
bull grone; 
Wi willen eines Goldſchmedes Dodterlin Han, 
de ban adelihen Rofenblomen!“ 
„Des Goldſchmedes Dodter Eriege gi nicht, 
gar hübſch und gar ſchone; 
fe is Lütje Loiken all togefedt, 
de adelihe Rojenblome.“ 
„Lütje Loiken de kricht fe nicht, 
bull grone, 
dar wille wi dre unfe Helfe umme wagen, 
umme de adeliden Rojenblomen.“ 
Lütje Loifen tod ut fin blanfes Schwert, 
bull grone, 
be hauwde Herr Hinrich) finen lütlen Finger af 
umb de adeliden Rojenblomen. 
Herr Hinrih tod ut fin blanfes Schwert, 
gar hübſch und gar fdone 
be hauwe Lütje Loiken fin Hovet wedder af 
umb de adelihen Rojenblomen. 
„Ligge du aldar ein Kruſekrol, 
bull grone, 
min Herte dat is dufend Freuden oull 
umb de adelihen Rojenblomen.“: 
Das Lied ift handſhriftlich überliefert in Hans Detleffs Dithmarf. bhiftor. Ne- 
fation von 1634, als Sriimfen-Dang. Nah Neocorus Pithmarf. Chronik gehörte 


diefer Tanz zu den „Langen Tänzen“, „Darin fe alle miteinander, fo danten willen, 
nba der Rege anvaten,“ Gr wurde „mit Sreden unnd Handgeberen fonderlid uthge- 


, ‘Quidborn-Berlag, Hamburg. 








24 


richtet,“ — grone bedeutet vielleiht Grimm. Sdhepfen: Schifflein. rede: fertig. aper- 


quemen: überfamen. Mede: Met. 
gefedt: gugefagt. Kruſekrol: Kraustopf. 


Litfe: Lüdele, Deminutid von Ludwig. to- 


Sotenamt. 


t daget in Dat Often, 
de Maan {dint averall; 

wo meinich weet min Levefen, 
wor id benadten fdall, 
wo weinid meet min Lenefen, 
ja Levefen! 

Weren dat alle mine Griinde, 
bat nu mine Giende fin, 
id förde fe ut dem Lande, 
min Leef und Nünnelen, 
id firde fe ut dem Lande, 
ja Lande. 

„All worden {dolbde gi mi fören, 
ftolt Ritter wolgemeit? 
IE ligge in Lepes Armen 
in groter Werdicheit, 
id ligge in Leves Armen, 
ja Armen.“ 

„Ligge gi in juwes Ledes Armen, 
bilo, gi fegget nicht war. 
Gat ben to der Linden gröne, 
vorſchlagen licht be dar, 
gat Den to der Linden gröne, 
ja grönel* 

Dat Medefen nam ere Mantel umme 
unde fe ginf einen Gank 
all to der Linden gröne, 
dar fe den Doden fand, 
all to der Linden gröne, 
ja gröne. 

„Wo ligge gi bier vorfchlagen, 
vorſchmort in juwem Blot! 
Dat Heft gedan juw Röment, 
darto juwe Hoge Mot, 
bat Deft gedan juw Röment, 
ja Röment! 


Wo ligge gi bier porfchlagen, 
de mi to tröften plad! 
Wat bebbe gi mi nagelaten? 
fo mengen bedröweden Dad! 
Wat Hhebbe gi mi nagelaten, 
ja gelaten?“ 
Dat Megdefen nam eren Mantel 
unde fe ginf einen ®anf 
all na eres Gaters Porten, 
de je togefchlaten fand, 
all na eres Gaters Porten, 
ja Porten. 
„Gott gröte ju Seren alle, 
minen DBater mit im Talle, [mann, 
unde is bier ein Here efte ein Gddel- 
de mi dijfen Doden begraven Helpen 
de .mi diſſen Poden, [fann, 
ja Doden?“ 
De Heren [wegen ftille, 
fe mafeden neen Gelut, 
bat Megdefen ferde fid umme 
unbe fe ginf weenend ut, 
dat Megdelen wende fid umme, 
ja umme. 
Mit eren fdneewitten Henden 
fe de Erde upgrof, 
mit eren fdneewitten Armen 
fe en to Grave droch, 
mit eren fchneewitten Armen, 
ja Armen. 
„Qu will id mi begeven 
in ein Hein Klöfterlin 
und dragen ſchwarte Rieder 
und werden ein Nünnefin 
unde dragen fdwarte Kleder, 
ja Kleder.“ 


Mit erem Hellen Stemmen 
fe em de Mifje fant, 
mit eren fchneewitten Henden 
fe em de Scellen Elant, 
mit eren fchneewitten Henden, 


ja Henden. 


Das niederdeutfhe Lied ijt niederländiihen Urfprungs, niederländiih in zwei 
Lesarten erhalten (um 1540). — Gine hochdeutſche Lesart Ihon aus dem 15. Sabch. 


— weinid: wenig. Leoefen, Leef: 


Liebdhen. 
Ehre. bilo (niederlandijh): bei Oott. vorjdymort: erftidt. 
im Salle: in der Zahl, Berjammlung. efte: oder. 


Ninnefen: Ninnden. Woerdideit: 
Röment: Rübmen, Ruhm, 
@elut: Laut. 


25 


Aus den „Sefchichtsfchreibern der deutfchen Vorzeit“. 
Wahlund Krönung Ottos des Grofenam 8. Auguft 936. + 
(Aus Widulinds „Sähfifhen Gefdhidten“.) 


een nun aljo der Bater des Baterlandes und der größte und befte der 
Könige, der Herr Heinrich, entfchlafen war, da erfor das ganze Volk der 
Granfen und Gadjen deffen Sohn Odda*, der ſchon vorher zum Nadfolger 
bezeichnet war, zu feinem Gebieter, und als Ort der allgemeinen Wahl be— 
Beichnete und beftimmte man die Pfalz zu Aachen. Gs ift aber jener Ort 
nabe bei Jülich, welches von feinem Gründer Julius Gajar den Namen ers 
halten bat. Und als man dorthin gefommen war, verfammelten fich die Here 
zoge und die erften der Grafen mit der übrigen Schar der pornehmften Bae 
fallen in dem Gaulengange, welcher mit der Bafilifa des großen Karl vere 
bunden ift, und fie fetten den neuen Herrfder auf einen Hier errichteten Thron; 
bier reichten fie ihm die Hände, gelobten ihm Treue und Hilfe gegen alle 
feine Geinde, und machten ihn fo nad ihrem Braudhe gum Könige**. Wabhe 
rend dies bon den Herzögen und den übrigen Beamten vorgenommen tpurde, 
erwartete Der höchſte Bifdhof mit der gefamten Briefterfhaft und dem 
ganzen niedern Bolfe unten in der Bafilifa den Aufzug des neuen Königs, 
Ale diefer eintrat, ging ibm der Grabifdof entgegen und berührte mit feiner 
Linken die Rechte des Königs, während er felbjt in der Rechten den Krumm— 
ftab trug, und angetan mit der Albe, gefhmüdt mit der Stola und dem 
Mefgewand, ſchritt er por bis in die Mitte des Heiligtums, wo er fteben 
blieb, und fi zu dem Bolfe wendend, welches ringsumber ftand — es 
waren nämlich in Diefer Baſilika Säulengänge unten und oben im Kreife 
erridiet, fo daß er bon allem Volke gejehen werden fonnte, ſprach er fo: 
„Sebet, bier ftelle id) euch bor den bon Gott erfornen und bom Herrn Heinrich 
früher bezeichneten, nun aber bon allen Fürften zum Könige erhobenen Herrn 
Odda: wenn euch diefe Wahl gefällt, jo bezeugt dies, indem ihr die rechte 
Sand zum Himmel emporhebt.*“ Darauf Hob alles Volk die Rechte in die 
Höhe und wiinfdte mit gewaltigem Gefdrei dem neuen Gebieter Heil und 
Segen. Sodann fchritt der Erzbiſchof mit Dem Könige, welcher mit dem enge 
anliegenden fränkiſchen Gewande befleidet war, hinter den Altar, auf welchen 
die fönigliden Infignien gelegt waren, das Schwert mit dem Sgepter und 
das Diadem. Höchſter Priefter war nämlich zu diefer Zeit Hildibercht, von 
Geidledht ein Franke, feines Standes ein Mind, erzogen und gebildet im 
Klojter zu Buld***, und nad) Berdienft zu fo hohen Ehren geftiegen, daß er 
gum Borfteber diejes Stiftes ernannt wurde, {pater aber die höchſte Würde 
des erzbifhöflichen Stuhles zu Mainz erlangte. Hildibercht trat an den Altar, 
nahm bier das Schwert mit dem Webrgebenf und fprah zum König gee 
wendet: „Smpfange Diejes Schwert und treibe mit ibm aus alle Widerjader 
Ehrifti, die Heiden und ſchlechten Shrijten, da durch Gottes Willen alle Madt 
des ganzen Granfenreides dir übertragen ift, zum bleibenden Frieden aller 
Ehriften.“ Sodann nahm er die Spangen und den Mantel und bekleidete ihn 
damit. „Dies bis an den Boden wallende Gewand,“ fagte er, „möge Dich 
erinnern, wie du bom Eifer im Slauben entbrennen mögejt und in Wahrung 





Altſächſiſche Form für Otto. : 

* Der Huldigende hielt, indem er den Eid fprad, feine Hände gwifden den 
Händen oe 

id u A, 


26 ' 


des Griedens verharren miiffeft bis in den Tod.“ Sodann reichte er ihm 
Szepier und Stab und ſprach: „Bei diefen Zeichen mögeft du gedenken, daf 
du mit päterlicher Zucht deine Untertanen leiteft, und vor allen den Dienern 
Gottes, den Witwen und Waijen die Hand der Grbarmung reideft; und möge 
niemals bon deinem Haupte das Del der Barmherzigkeit verjiegen, auf daß 
du jest und in Zukunft mit ewigem Lohne gefrönt werdeft.“ Darauf wurde 
er alsbald mit dem heiligen Oele gefalbt und mit dem goldnen Diadem gee 
front bon den Biſchöfen Hildiberht und Widfrid, uhd da nun die Weibe, 
wie fic gebührt, pollitändig vollendet war, ward er bon ebendenjelben Bi— 
[Höfen zum Thron gejührt, zu weidhem man auf einer Wendeltreppe hinan- 
ftieg, und der gwijden zwei marmornen Säulen bon herrliher Schönheit ers 
richtet war, fo daß er von hier aus alle feben und von allen wiederum ge- 
feben werden fonnte. 

Nadhdem man hierauf Gott gepriefen und das Mefopfer feierlich bee 
gangen hatte, ftieg der König in die Pfalz herab, trat fodann an eine mars 
morne, mit föniglihem Gerät gejhmüdte Tafel und fette fid mit den 
Biſchöfen und allem Bolfe; die Herzoge aber warteten auf. ‘Der Herzog der 
Lotharinger, Bjilberdt, zu deffen Amtsgewalt jener Ort gehörte, ordnete die 
ganze Feier, Spurhard beforgte den Tijd, Hermann der Franke ftand den 
Mundſchenken por, Arnulf forgte für die ganze Ritterfchaft und für die Wahl 
und Abſteckung des Lagers; Sigifrid aber, der Sachen trefflichiter und der 
zweite nad dem Könige, einft Schwager des Königs, und aud dem neuen 
Könige Durch diefe Berjchiwägerung nahe verbunden, verwaltete um diefe Zeit 
Sadjen, damit nicht etwa unterdefjen ein feindlider Einfall ftattfände, und 
hatte den jüngeren Heinrich zur Graiehung bei fih. Der König aber ehrte 
nach diefem einen jeden der Giirften föniglicher Freigebigleit gemäß mit an- 
gemefjenen Gefdenfen und entließ die Menge mit aller Stöhlichkeit. 


Entführung Heinrihs des Bierten dur Grabifhof Anno 
bon Söln. 1062. 


(Aus den Sabhrbiidern des Lambert bon Hersfeld.) 


Ay KRaiferin, welche ihren Sohn nod) aufzog, verwaltete Die Reichsgefchäfte 
feibft und zog dabei am meijten den Bijchof Heinrich von Augsburg zu 
Rate. Und deshalb fonnte fie aud dem Berdadte ungiidhtiger Liebe nicht ent- 
geben, da der Ruf Hin und wieder ausftreuete, daß nicht ohne fchimpflichen 
DBerfehr fo große Bertraulidfeit zwifchen ihnen erwadjen wäre. Diefe Sache 
war den Giirften febr anjtößig, da fie jaben, daß wegen der bejonderen Liebe 
zu einem Ginzigen ihr Anjehen, weldes im Staate am. meijten hätte gelten 
follen, beinahe erlofhen war. Daher hielten fie, die Ungebühr der Sache nicht 
ertragend, häufige Zufammenfünfte, bandelten läſſiger bei öffentlihen Bere 
richtungen, reizten Die Gemüter des Bolfs gegen die Kaiſerin auf und bes 
ftrebten fich endlich auf jede Weife, den Sohn von der Mutter abzuziehen und 
die Berwaltung des Reichs auf fic felbft überzutragen. Zuletzt fam oer 
Erzbijhof Anno von Göin, nachdem er fid mit dem Grafen Gfbert und dem 
Herzog Otto von Baiern verabredet hatte, zu Schiffe den Rhein hinab an 
den Ort, welder der Werder des heiligen Switbert beißt. Hier befand fid 
damals der König. Als diefer nun eines Tages nad feierlihem Mable 
beiterer als fonft geftimmt war, forderte der Biſchof ihn auf, eines feiner 
Schiffe, weldhes er zu diefem Zweck mit wunderbarer Kunft hatte verzieren 
lafjen, in Wugenfdein zu nehmen. 


27 


Leicht überredete er dazu den unbefangenen und nichts weniger als 
Hinterlijt argwöhnenden Knaben. Als diejer aber das Fahrzeug bejtiegen 
hatte und ihn Diejenigen umringten, welde der Biſchof als Genofjen und 
Helfer für feinen Anfchlag beftellt hatte, da erheben fic rafd die Schiffer, 
tudern mit angeftrengten Kräften und treiben augenblidlich das Schiff in die 
Mitte des Stromes. Der König durch diefe neue Erfdheinung außer Faffung 
gcbradt, in Ungemwißheit ſchwebend und nicht anders denfend, als daß es auf 
feinen gewaltfamen Tod abgefeben fei, ftiirgte fid jablings in den Fluß, und 
die beftigere Strömung hätte ihn fchnell verfchlungen, wenn nicht Graf Sibert, 
ihm nadfpringend, den Gefahrdeten mit eigener nicht geringer Gefahr faum 
und mit Mühe dem Untergange entrijfen und in das Schiff zurüdgebradt 
hätte. Hierauf fuchen fie ihn durch alle möglichen Schmeichelworte zu bes 
fänftigen und führten ibn nad Cöln. Die übrige Menge folgt zu Lande 
nad, die meiften mit der lauten Befduldigung, daß die königliche Majeftät 
verlegt und ihrer Gelbftändigfeit beraubt worden fei. Der Bifdof, um das 
Gehäſſige der Sat zu mildern, damit es nämlich nicht [deinen follte, als habe 
er fie mehr aus Ridjidt auf feinen eigenen Ruhm als um des gemeinen 
Beften willen begangen, fegte fejt, daß jeder Bifchof, in deffen Sprengel der 
König fid eben zur Zeit aufbalte, dafür gu forgen babe, daß das Semein= 
weſen nicht Schaden litte, und daß er in Den Sachen, welche bei dem König 
angebracht wurden, vorzugsweiſe Befdeid geben folle. Die Kaiferin wollte 
ihrem Sohn weder nadfolgen noch über das ihr zugefügte Unrecht nach dem 
Völkerrechte Klage führen, fondern fie 30g ſich auf ihre eigenen Güter zurüd 
und nahm fi) bor, bon nun an ohne Anteil an den Hffentliden Geſchäften 
ihr Leben gugubringen. 


Der Bang nad Sanoffa. 1026/77. 
(Aus den Sabrbiidern des Lambert von Hersfeld.) 


Pie Sage por Weihnadten zog er (Heinrich der Bierte) daher aus der 
Stadt Speier weg und trat mit feiner Gemahlin und feinem Heinen 
Sohne die Reife an. Kein freier Mann unter allen Deutjchen begleitete ihn, 
da er fein Reid verließ, bis auf einen einzigen, und diefer war weder durch 
Ablunft nod) durh Macht bedeutend. Und da er den Aufwand einer fo 
langen Reife nicht beftreiten fonnte und viele, denen er bei nod unverſehrtem 
Zuftande des Staates oft Gutes erzeigt hatte, mit Bitien anging, fanden fid 
nur wenige, welche aus Grinnerung an frühere Wobltaten oder gerührt durd 
das gegenwärtige Schaufpiel des wechjelnden Gejdides der Menjchen feine 
Not einigermaßen erleidierten. In foldhes Elend und Unglüd war er bon 
bem höchſten Ruhme und der größten Macht pliglid) Herabgefunfen. Auf 
ähnliche Weife bejdleunigten aud) die übrigen Gebannten, poll Berlangens 
die Losfpredung fo bald wie möglich zu erhalten, mit dem brennendjten Eifer 
die Reife nah Italien; dod wagten fie nicht, den König in ihre Reije- 
gejellihaft aufzunehmen, gefdredt durd die Furcht bor den Fürften, oder 
bielraehr bor dem römiſchen Papfte. 

Die Heftigkeit und Raubeit des Winters war in diefem Sabre fo an- 
baltend und mit fo ungewöhnlicher Strenge eingetreten, daß bon dem Seite 
des heiligen Martin an der Rheinftrom, durch eijigen Frojt gebunden, beinahe 
bis gu Anfang des April für Fußgänger gangbar blied, und an den meijten 
Orten die Weinreben, da die Wurzeln vor Kälte erftarrten, ganglid zu 
Grunde gingen.... 


28 


Der König Heinrich feierte auf der Reife nad Italien in Burgund an 
einem Orte, der DBifenzun* heißt, die Geburt des Herrn, glänzend genug in 
Anbetradht feines damaligen Unglüds empfangen und bemirtet bon dem 
Strafen Willibelm, feiner Mutter Runfelmagen, deffen Macht in jenen See 
genden febr anfebnlid) und blühend war. Daß er aber bon der geraden 
Straße abbiegend fid nad) Burgund wendete, dazu veranlafte ibn, Daß er 
zuverläffig erfahren hatte, die Hergoge Rudolf, Welf und Berdtold** hätten 
alle Wege und Zugänge, die nad Italien führen, und die man gewöhnlich 
Klaufen nennt, im Boraus mit Wächtern befest, um ihm jede Möglichkeit des 
Uebergangs zu verfperren.... 

Gs war ein überaus harter Winter, und die Berge, über welde der 
Mebergang ftattfand, die fi ins Unermeflide ausdehnen und mit -ihren 
@ipfeln faft in die Wolfen ragen, ftarrten fo von Schneemaffen und eifigem 
Froſt, daß man auf dem jchlüpfrigen und fteilen Whbange weder zu Pferde 
nod) zu Fuß ohne Gefahr fic bewegen fonnte. Aber die Wiederkehr des 
Sages, an weldem der König in den Bann gefommen war, ftand nahe bevor 
und duldete feine Verzögerung der eiligen Reife, weil er wußte, daß für den 
Gall, wenn er nit bor diejem Tage von dem Bannflude freigefprochen 
wäre, durch den gemeinjchaftlihen Ausfpruch der Fürſten beſchloſſen fei, daß 
er feine Sache für immer verloren haben und des Reiches, ohne irgend ein 
Mittel der künftigen Wiedereinjegung, verluftig fein follte. Deswegen mietete 
er um Lohn einige von den Gingeborenen, welde ber ®egend fundig und an 
die ſchrofſen Alpengipfel gewöhnt waren, um feiner Begleitung über Die 
fteilen Gebirgswände und Schneemajfen porangugeben, und den Nadfolgenden 
mit allen SHifsmitteln, deren fie fundig wären, Die rauhen Pfade zu ebnen. 
Mit diefen Führern gelangten fie mit größter Schwierigfeit bis auf den 
Scheitel des Sebirges; hier aber zeigte fid feine Möglichkeit, weiter fortgu- 
fommen, weil der ſchroffe Abhang des Berges, wie gejagt, durch den eifigen 
Froſt fo fchlüpfrig war, daß er jedes Herunterfteigen gänzlich zu verjagen 
ſchien. Hier nun mußten die Männer alle Gefahr mit ihren Kräften gu über- 
winden fuden, und bald auf Händen und Füßen friechend, bald auf Die 
Schultern ihrer Führer fi) ftügend, bisweilen aud, wenn ihr Guf auf dem 
fchlüpfrigen Boden ausglitt, fallend und weiter fortrollend, langten fie Dod 
endlich mit großer Lebensgefahr in der Ebene an. Die Königin und andere 
Grauen, die in ihrem Pienfte waren, feste man auf Ochfenhäute, und die zum 
Geleite porausgehenden Wegweijer zogen fie darauf abwärts. Gon den 
Pferden ließen fie einige mit Hülfe gewiſſer Borrichtungen hinunter, andere 
{dleiften fie mit gujammengebundenen Füßen hinab, bon denen viele beim 
Sieben umfamen, mehrere untaugli wurden, febr wenige lebend und unver» 
legt der Gefahr entgehen fonnten. 

Als fia) durch Italien der Ruf verbreitete, ber König fei angelangt und 
befinde fid, nahdem er die raubeften Klippen iiberftiegen, fon innerhalb 
der Grenzgen Italiens, da ftürmten wetteifernd zu ihm alle Bifchöfe und Grafen 
Italiens und nahmen ihn, wie es {id für die fönigliche Hoheit gebiihrte, mit 
den gröften Ghrenbegeigungen auf, und binnen weniger Tage perjammelte 
fid um ihn eine unermeflide Heeresmadt. Denn ſchon pom Anfange feiner 
Regierung hatten fie feine Ankunft in Italien immer fehnlich gewünjcht, weil 
jenes Reich durch Kriege, Aufftände, Raubereien und vielfache Fehden der 





* Befancon, 
** Seine Segner, 


Einzelnen ununterbroden bon Feindfeligfeiten erfüllt war, und weil fie 
bofiten, daß alles, was ruchlofe Menſchen wider die Gefege und Redte der 
Borfahren fid) herausnahmen, Durd die Zucht der königlichen Macht ge- 
befjert werden würde. Aeberdies, weil das Gerücht fich verbreitet hatte, der 
König eile zornig herbei, um den Papft zu entfegken, freuten fie fich fehr, daß 
ihnen Gelegenbeit geboten fei, an dem, welder fie {don längft bon der 
Kirchengemeinſchaft ausgejchlojfen hatte, ihre Schmach auf gehörige Weife 
raden zu fünnen. 

Unterdefjen verließ der Papft, durch Schreiben bon den deutfchen Fürften, 
welde in Oppenheim gujammengefommen waren, erfudt, daß er auf Maria 
Reinigung zur Verhandlung über die Gade des Königs in Augsburg eine 
treffen möchte, wider den Willen der römiſchen Fürften, welche ihm wegen 
des ungemwijfen Ausganges der Gade bon jener Reife abrieten, die Stadt 
Rom und bemühte fid, jo viel als möglich die Reife befchleunigend, am bee 
ftimmten Sage dort anzulommen, geleitet bon Mathilde, der Hınzeriajjenen 
Witwe des Herzogs Gozelo von Luteringen*, Tochter des Markgrafen Boni- 
facius und der Grafin von Beatriz.... 

Als nun der Papft, während er nad Gallien** eilte, unbermutet hörte, 
daß der König {don in Italien angelangt fei, jo begab er fic) auf Anraten der 
Mathilde in ein febr feftes Schloß, weldes Canufium*** genannt wird, 
willens bier zu warten, bis er den Zwed der Ankunft des Königs genauer 
erforjhen finnte, ob er namlid fame, um Bergeibung feines Bergebens 
nadgujuden, oder um die Sdmad feines Kirchenbannes mit den Waffen in 
der Hand, bon Zorn erfüllt, zu abnden.... 

Anterdejjen berief der König Heinrich die Gräfin Mathilde zur LUntere 
redung und {didie fie, mit Bitten und Berjprechungen belajtet, gum Papſte, 
und mit ihr feine Schwiegermutter und deren Sohn, aud den Marfgrafen 
Aggo**** und den Abt pon Wloniaca*****, und einige andere der vornehmſten 
Fürſten Italiens, bon denen er nicht bezweifelte, daß ihr Anfehen von großem 
Gewidt beim Papfte fei, inftändig bittend, daß diejer ihn des Bannes ents 
ledigen und den deutſchen Fürften, welche gu der Anklage gegen ihn mehr 
durch den Stachel des Neides als durch den Eifer für das Recht entzündet 
worden waren, nidt blinden Glauben ſchenken mög.2.... 

Lange widerftand der Papft, da er bei dem Könige die Anbeftändigfeit 
des jugendliden Gemiits und die Geneigtheit gu allem, wohin ihn jeine 
Scmeidler trieben, befürchtete; endlich aber, überwunden durch das dringende 
Anbalten der Unterhändler und das Gewicht ihrer Gründe, fpracd er: „Wenn 
ihn die Sat wahrhaftig reut, fo übergebe er die Krone und die übrigen Ehren- 
zeichen der Königswürde zum Beweife wahrer und von Herzen getaner Buße 
unjerer Gewalt und erkläre fic felbft nad einer fo trogigen Sat des könig— 
liden Namens und Amtes für unwert.* Zu Hart ſchien Diejes den Geſandten. 
And ba fie ihm lebhaft anlagen, er möge das Urteil mildern und das zer— 
ftoßene Rohr nicht durch die Strenge feines Geridts vollends zerbrechen, 
ließ er fich endlich mit großer Mühe faum fo weit erbitten, daß er ihm ge- 
ftattete, bor ihn zu fommen und, wenn er aufridtige Reue über feine Ber- 
gebungen hege, die Schuld, die er fic) dDurd die Bejdhimpfung des apojto- 


* Lothringen, 

* Sp nenat Lambert das Rheinland (nit Frankreich). 
*** Sanoffa. 

**** pon Gite. 

ser. Gluny. 


30 





liſchen Stubles zugezogen Habe, durd) Gehorfam gegen die Befchlüffe bes 
apoftolifhen Stuhles nunmehr zu fühnen. 

Sener fam, wie ihm befoblen worden, und da die Burg mit einer drei- 
fahen Mauer umgeben war, wurde er in den Umkreis der zweiten Ringmauer 
aufgenommen, während fein ganzes Gefolge außerhalb guriidblieb, und hier 
ftand er, nad) Ablegung des königlichen Schmuds, ohne alle Zeichen könig— 
lider Würde, keinerlei Prunk zur Schau tragend, barfuß, faftend vom Morgen 
bis zum Abend, in Grwartung des Ausjpruches des römischen Papſtes. 
Diefes tat er am zweiten, Diefes am dritten Tage. Grft am vierten Tage 
wurde er ihm vor Augen gelaffen, und nad vielen Reden und Gegenreden 
gulegt unter folgenden ‘Bedingungen bom Banne losgejprocden.... 


Empörung Markgraf Efberts bon Meißen gegen Heinrigd 
den DBierten. 1090. 


(Aus dem „Leben Kaifer Heinrichs des Bierten“.) 


G* war eine Stadt in Gadfen, die, weil fie die Gade des Königs in ge- 
fegneter Gntwidlung fab, fic zu feiner Partei befehrt Hatte, im Bertrauen 
fowohl auf die Feſtigkeit des Ortes wie auf den königlichen Beiftand*. Die 
ſächſiſchen Großen nahmen das übel und belagerten die Stadt. Markgraf 
Gfbert aber, erfüllt von der Hoffnung, Die Regierung zu erhalten, und be- 
ftrebt, Dem erfehnten Ziele näher zu fommen, 30g mit einer größeren Streit= 
madt als alle anderen zu dieſer Belagerung und folgte den voraufgeſchickten 
Sruppen mit wenigen Begleitern felber nad. Gr war bon der Heerftraße 
abgelenft, um nicht etwa in feindlihe Hände zu geraten; denn feiner ift fo 
mächtig, Daf er der Widerfacher entbehrte und nicht feindfelige Nachftellungen — 
gu fürd:en hätte. Gin verftedter Pfad leitete ihn durch ein Gehölz. Wie 
geheimnispoll, Gott, find deine Gerichte; in wie wunderbarer Folge verbirgft 
du, was du tun willft, und enthülleft, was du verborgen haft! Die Glut der 
Mittagsfonne brannte auf Rof und Reiter, und die Schwüle regte, wie es 
gu gejdeben pflegt, den Durft an. Meberdies befdlid die Grmüdeten fo 
große Schläfrigfeit, Daf fie die fchlummerträgen Hälfe neigten, und bie Pferde 
mit ſchlaffen Zügeln frei ihres Weges zogen. Nicht fern erblidten fie in 
Waldeinfamfeit eine alleinftehende Mühle. Hier fehrten fie ein und über- 
ließen fic dem Schlafe, naddem fie den Müller entfandt Hatten, damit er 
ihnen, den Durft zu ftillen, einen Srunf aus dem Dorfe holte. Diefer beeilte 
fid mit dem Schlaud auf den Schultern, als ihm einige zur erwähnten Bee 
lagerung ziehbende Schildfnappen begegneten, die im ftillen Freunde des 
Königs waren, obwohl fie zur Gegenpartei zählten. Bon ihnen gefragt, 
woher er fomme, wohin er gehe, weshalb er fic fo außer Atem laufe, nannte 
er, Da er feinen Grund hatte, zu verheimlichen, was er wußte, ihnen feinen 
Saft und den Zwed feines Weges. Betroffen, war’s vor Schreden oder 
bielmebr por Freude, überlegten fie, was zu tun fei: wie gefährlich, und 
andererjeitsS wie lohnend, wie wader, rühmli und pflichtgetreu es wäre, 
einen fo bedeutenden Gegner des Königs zu erlegen; die Gelegenbheit follte 
fih nicht vergebens dargeboten haben; die größte Tapferkeit bewährt fic in 
den größten Gefahren. So feuerten fie gegenfeitig ihren Mut an und eilten 
fpornftreihs nad) der Mühle; ihre Wünſche eilten den Pferden nod voran. 
Es feste einen Kampf, der lange Zeit hartnädig und zweifelhaft war; denn 
bie Parteien waren fid an Beherztbeit und Anzahl gleich, und wie die einen 


* Bielleiht Quedlinburg, 
31 


des Ruhmes wegen, fo ftritten die anderen um ihr Leben. Doch das Glück des 
Königs fiegte, und fein wildefter Feind lag darnieder, nicht im Felde, fondern 
{Himpflidh in einer Mühle getötet. Allzu glüdli und ftets vielgenannt bift 
du Mühle, die du nit durch dein bewegliches Gefdaft, fondern durch deinen 
Ruhm die Menjfden Hinlodjt und ihnen Eappernd jenen Streit erzählft und 
erzäblend flapperft. 


Bom Priefter Gerlad. 1147. 
(Aus Helmolds „Shronif der Slaven“.) 


& will ein Greignis erzählen, welches der Nachwelt überliefert zu werden 

verdient. Nachdem die Sladen bas Land der Wagrier nad Belieben 
mißhandelt hatten, famen fie gulegt in den Bezirk von Süfel*, um die dortige 
Anfiedlung der riefen, deren Anzahl auf mehr als 400 Männer anges 
fhlagen wurde, zu verheeren. Als aber die Slaben beranfamen, wurden 
faum bundert in der fleinen Befte gefunden, da die übrigen in die Heimat 
zurüdgefehrt waren, um ihr dort Hinterlajjenes Bermögen zu ordnen. Nachdem 
nun die Feinde alles, was außerhalb der Gefte war, in Brand geftedt hatten, 
waren die, welche in derfelben fich befanden, auf das beftigfte bon den Bee 
lagerern bedroht; denn den ganzen Tag wurden fie bon 3000 Slaben nad- 
Diiidlid bedrängt, welche den Sieg als unzweifelhaft betrachteten, während 
fie ihr Leben durch Verlängerung des Kampfes zu retten fudten. Als aber 
die Slaven fahen, daß ihnen ein unblutiger Sieg nicht bejdieden fein würde, 
per[praden fie den riefen Leben und Underleglidfeit des Körpers, wenn 
fie aus der Befte hervorkämen und ihre Waffen ablieferten. Daher be— 
gannen einige bon den Belagerten die Uebergabe zu verlangen, in der Hoffe 
nung, ihr Leben gu retten. Allein der hodfinnige Priefter Gerlad widerlegte 
fie und fprad: „Was wollt ihr tun, ihr Männer? Meint ihr durch die 
Mebergabe euer Leben zu erfaufen? Meint ihr, die Barbaren hielten Treue? 
Ihr irrt euch, Landsleute; fold eine Meinung ift töricht. Wißt ihr nicht, daß 
unter allen Arten von Ablömmlingen fein Golf den Slaven verhaßter ift 
als die Griefen? In Wahrheit, unfer Duft ift ihnen Geſtank. Warum werft 
ihr alfo euer Leben fort und eilt freiwillig dem Untergang entgegen? Ich 
beſchwöre euch bei dem Herrn, dem Schöpfer der Welt, dem es nicht ſchwer 
fällt, durch wenige zu helfen, verfudet noch eine furze Zeit eure Kräfte und 
meffet euch mit dem Feinde. Denn fo lange uns diefer Wall umgibt, find 
wir unferer Hände und unferer Waffen mächtig, dürfen wir nod an das 
Leben glauben; find wir aber entwaffnet, fo bleibt uns nichts übrig als 
{dimpflider Sod. Daher taudet lieber eure Schwerter, deren Auslieferung 
fie verlangen, zuvor in ihr eigenes Warf, und feid Rader eures Blutes, 
Mögen fie die Frucht eurer Kühnbeit fdmeden und nicht mit unblutigem 
Siege beimfebren.“ So fpredend zeigte er ihnen feinen hochherzigen Sinn, 
trat bor das Sor und warf mit nur einem Manne die Scharen der Geinde 
zurüd und erſchlug mit eigner Hand eine ungeheure Menge Slaven. Als er 
gulegt ein Auge verloren hatte und am Leibe verwundet war, ließ er dod 
nicht nah im Rampfe, indem er eine bon Gott verliehene Kraft fo des 
Geiftes wie des Körpers offenbarte. Nicht herrlicher fämpften einft die all» 
befannten Söhne Zerujas oder bie Makkabäer als der Priefter Gerlad und die 
gar Heine Anzahl bon Männern in der Burg Süfel, und fie [hüsten die 


* Sn der Gegend bon Ahrensboek. 
32 


Befte vor der Gewalt der DBermülter. 


Als aber der Graf* das vernahm, 


jammelte er ein Heer gum Kampfe gegen die Slaven, um fie aus feinem 


Lande zu vertreiben. 


Auf die Kunde hiervon fehrten die Slaven zu den 


Schiffen zurüd, und zogen mit vielen ©efangenen und reicher Beute an 
manderlei Habjeligfeiten, die fie im Lande der Wagrier fi) angeeignet 


Hatten, in ihre Heimat zurüd. 
* Graf Adolf II, von Holftein. 





Kleine Beiträge 





Bon der redhten Sprade und dem Namen 
Gottes. 
Das ——— ®ebot. 


Du ſollſt den Namen des Herrn, 
deines Oottes, nicht mißbrauchen.“ 
Wir wiſſen, daß dies Gebot die From— 
men ded Alten Teſtaments veranlaßte, 
den Sottesnamen nie ausgufpreden. Und 
wenn fie ibn fdrieben, legten fie ihm 
andere Laute unter. Gine tiefe Scheu 
verbot ihnen, diefen Namen wie andere 
Worte der profanen Sprade zu ge- 
brauden. 

Warum diefe Sheu vor dem Namen? 
Weil im Namen fih das Wefen aus- 
fpridt. Wer den Namen eines Men— 
{hen weiß, Der fennt fein Wefen und 
bat Madht über ihn. Nod heute wird 
ein Beduine dem Fremden nie feinen 
Namen nennen — mie follte er fid 
einem Unbelannten ausliefern? @ottes 
Wejen aber ift Geheimnis und muß Ge- 
Heimnis bleiben. Wehe dem, der ver- 
fuden wollte, die Schleier des lebten 
und tiefften Gebeimnifie3 zu lüften. Es 
würde ifm wie dem Siingling ergeben, 
der den Gdleier vor dem Bilde der Gott- 
heit hebt: 

Auf ewig war feines Lebens Heiterkeit 
dahin, 
Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen 
®rabe, 

&3 liegt ein tiefer Ginn in der Bor- 
ftellung der Mojesgefhichten, daß Gott 
in der ftillen Ginfamfeit der Wüfte, in 
den ungugdngliden Klüften de3 heiligen 
Berges wohnt. „Da verhüllte Mofe fein 
Angefiht, denn er fiirdtete fic, Gott 
anzufhauen“, fo wird uns bon feiner 
erften Öottesbegegnung beridtet. Sa, als 
Mojes auf der Höhe feines Führertums 
®ott bittet, feine Herrlidfeit hauen zu 
dürfen, da wird ibm der DBeiceid: 
„Meine Herrlichkeit fannft du nidt fee 
ben.“ Der Menſch vergeht, wenn er es 
wagt, Oott gegenüber zu treten. Oott 
opt in einem Licht, da niemand zu- 
ann. 


Das in diefen Erzählungen die Wüfte 
und die Einſamkeit der ſchroffen Berge 
ift, da3 war unferen Vorfahren das ge 
beimnispolle Duntel des Waldes, Die 
Stille der Naht und da3 Raufden 
der Binde in den Kronen der Baume. 
Das gleide tiefe Gefühl heiliger Scheu 
ſpricht fid darin aus. 


Die Sefahr, daß unferer Beit die 
Quelle aller edten fittliden Bildung, 
die Ghrfurdt, nidt mehr ftrömt, wird 
Dadurd Heraufbeidworen, daß die Men— 
fben dem Wahn erlegen find, alles 
wifien, alles durhihauen zu können. Bor 
diefem Wahn der Aufklärung wird alles 
tlein und platt. Diefer Wahn zerrt vor 
allen verborgenen Tiefen, vor allen ge- 
beimen lntergründen des Lebens Die 
{dhiigende, bergende Hülle weg. Nichts 
was dem unrubigen und anmafliden 
Serftand durd eine wahre Scheu ent- 
zogen wäre. Und dad Ergebnis? „Du 
gleihft dem Geift, den du begreifft, nicht 
mir!“ Eine erfdredende Dede, eine er» 
barmlide Gntleerung und Gntfeelung ift 
die Golge, Grgriinden? ein, das eitle 
Difien ergründet nidts. Die ewige Tiefe 
offenbart fih nur freiwillig, wem fie 
will, Aber denen, die niht warten, nicht 
ftille fein und lauſchen können, erblindet 
das Auge und das ©efühl. 

Sragbar ward alles, da das Gine floh, 
Sagbar ward alles, Drufh auf leeres 
(Stroh, 
Gericht über eine Zeit, die fein Geheim- 
nis mehr zu verehren weiß, die alles 
zu fehen und zu wiffen meint; und Die 
darum an dem wahren Reidtum des 
Lebens hungernd porübergeht. 
Alles habend, alles wiſſend feufgen fie: 
Karges Leben, Drang und Hunger überall! 
Fülle fehlt! 
Speider weiß id über jedem Haus 
Boll von Korn, das fliegt und neu fid 
Keiner nimmt. (bauft — 
Keller unter jedem Hof wo fiegt 
nd im Sand verftrömt der Gdelwein — 
Keiner trinkt... 


33 


Tonnen puren Golds verftreut im Staub: 
Golf in Lumpen ftreift e3 mit dem 
Keiner fieht. [Saum — 


„Du follft den Namen des Herrn, 
deine3 Soites, niht mißbrauden.“ Als 
Der Grgvater in einjamer Gternennadt 
auf dem Furthügel mit ®ott ringt, Da 
fragt er gulebt: Wie heißeft du? Und es 
wird ihm die Antwort: Was fragft Du 
mid, wie id heiße? G3 wird ihm fein 
Name genannt, und dod fheidet er aus 
dem Kampf mit der Sewifbeit: Sch 
babe Gott von Angeficht gefeben und 
meine Seele ift genejen. @ott offenbart 
{id dem ringenden und fudenden Herzen, 
nidt dem neugierigen Blid und der 
Anmafung des Menichen, der durd fein 
Wiſſen berrfhen will, da, wo e3 nur 
Hingabe und Gehorfam gibt. G3 gibt 
fein Wort, das Gott zu fafien vermidte. 
Alles Begreifen der Tiefe bleibt tot und 
leer, wenn nidt ©ott ein Herz füllt mit 
dem unbegreifliden Reihtum feines Wer 
fens, Gottes Offenbarung ift immer 
Wunder. „Man wird aud nicht jagen, 
fiebe bier oder da ift es“ — entgegnet 
Jeſus den forfhenden Suden — ,fiebe 
das Reid Oottes ift inwendig in eud.* 
Gott [aft fih nidt nehmen und geben. 
Gr ift fein Gegenftand der Grfabrung, 
feine Borftellung de3 Wiffens. Gr bat 
feinen Namen. Gein Name ift: „I 
bin der ih bin.“ Dad ift die Antwort, 
die Mofe3 auf feine Frage nah dem 
Namen Gottes erhält. Ih bin der id 
bin. IH bin da3 ewige Gein, da3 eine 
ewige Leben. Und died Oeheimnis des 
Lebens umgibt uns überall. Dem, der 
@ott fudt und ehrt, dem ehrfürdtigen 
pee. oifenbart er fih durd alles bine 

u 


rd. 

Sn dem tiefften Gedicht eines Lie- 
benden Herzens, das in deutiher Sprade 
gejdrieben ift, fpridt Der Didter davon, 
wie ihm in alten Grfdheinungen des ftei- 
genden und finfenden Tages das Bild 
der @eliebten erfdeint: „gleih erfenn 
ih did! Go flingt in jedem edten 
tiefen Wort, da3 eine Grfahrung des 
wahren Lebens offenbart, Gottes Name 
mit. 

Luft, die alles fillet, 

Drin wir immer fHweben, 

Aller Dinge Grund und Leben. 
fingt Serfteegen. In ihm Leben, weben 
und find wir, fo befennt Paulus. 

4. 
®ott bat feinen Namen. Gerade da- 
rum ift Diefe3 zweite Gebot, das von 
dem Heilighalten de3 gdttlihen Namens 
{pridt, der ernjte Hinweis darauf, dah 
wir all unjere Worte, unfere ganze 
Sprade duch die tiefe Scheu vor dem 


34 


ewigen ®eheimnis reinigen und heiligen 
laffen follen. Wes das Herz poll ift, 
Des geht der Mund über. Die Sprade 
ift die Offenbarung de3 Hergens. Haben 
wir dafür Ginn und Ohr? Sind wir uns 
deifen allezeit bewußt? In der Sprade 
wohnt der Seift. Was für ein Geift ift 
e8, der Deine Sprade formt und ge» 
ftaltet, Der fid in Deiner Sprache äußert? 
Die Sprade ift Had bödjfte geiftigfte 
Mittel der Geiftesoffenbarung. In ihr 
lautet da3 Leben unmittelbar. Die Worte 
der Sprache find die Gefäße, in denen 
uns die göttlihe Wahrheit Dargereicht 
wird, Durd fie fann Sotte3 [ebendiger 
Weift die Seele anrühren und befreien. 
Wehe dem, der diefe Gefäße durdh ge- 
danfenlofen Mifbraud in Gitelfeit und 
unedtem Wefen zerbridt. Gr beraubt 
fein Herz der Fähigkeit, Letztes und 
Siefftes zu empfinden und im Gebet 
Gott zu fhauen. 

Im Gebet? Daß wir nie unter das 
Oericht de3 Worts in der Bergpredigt 
fallen middten: ,aud follt ihr nicht viel 
plappern wie die Heiden.“ G3 gibt eine 
beilfame Gelbftgudt und eine Uebun 
gum Gebet, zur wahren Andacht un 
Sammlung des Semiits. Grziehen wir 
uns felbft, erziehen wir unfere Kinder 
zur Mebung wahrer Andadt, und es 
wird aus folden Stunden de3 Hörens 
und der Rede Hed Herzens tiefe Weihe, 
Reihtum und reinigender Gegen in alle 
unfere Sage ftrömen. Da ift Sotted- 
dienft, wo die Sprade zum Wort Sot- 
tes wird, zur Offenbarung feine3 Na- 
mens, Gott ift gegenwärtig, wenn fein 
Wort Zeugen findet und gläubige Herzen 
e3 bören und bewahren. 


5. 

Zuletzt nod eins: denfen wir einmal 
dem nad, daß Sobanned ala das höchſte, 
was er über fein Ghriftuserlebnis zu fae 
gen bat, Ghriftus als das fleifdgewor- 
dene Wort, al3 da3 ewige Wort des 
Gaters an uns feiert. Mofjes wird ge- 
fagt: Du fannft meine Herrlidfeit nicht 
feben. Aber Iohannes bezeugt: wir fae 
ben feine Herrlichkeit. Gott faut, gu 
wem fein lebendige3 Wort fommt, wen 
es bewegt, wen es bineinführt in die Ge- 
meinfhaft der ewigen Liebe. „Was fein 
Auge gefeben und fein Obr gehört hat 
und in feined Menjhen Herz fommen 
ift, das Hat Oott bereitet denen, die ihn 
lieben“ Karl Bernhard Ritter. 


Gin Briefwehfel 
awifden den Redolutionen. 3. 


Syieber Herr Günther. Die Briefe, die 
Sie fürzlih an Ihren Freund M..n 
ſchrieben, haben wir, mit Ihrer gütigen 
Grlaubnis, in unferm Kreife vorgelejen. 


Sie geben einer Grniidterung Ausdrud, 
die allmablid unter den gebildeteren 
Menihen um fih zu greifen beginnt. 
Ich bin nist für eine Desillujionierung 
im Sinne Heinrih Heine3, die nur auf 
das nidt fonderlid intelligente Kunſtſtück 
binauslauft, in einem geſchmückten 
Pfingftodfen das Miftvieh zu erkennen. 
Aber ih bin für die morgenfrifdhe Er— 
nidterung, da nad meiner Grfabrung 
aus ihr die ebrlidjte und guberlaffigite 
Arbeit berporgebt. (Womit id feines- 
wegs die Schauer der waden Mitter- 
naht mit ihren Gefidten berabfegen 
will.) Diefe Grniidterung gibt uns die 
bon @ottfried Keller gepriejene „Unbe— 
fdoltenbeit der Augen“ zurüd. Der 
junge Arnold Salander ift nühtern, der 
alte Martin Salander aber ift ein illu- 
fioniftifder Bolfsbegliider. Diefen läßt 
Keller über feinen Ideen zum Hans- 
narren werden, jenen zu einem Weifter 
des Lebens. Ih möchte wohl wiffen, 
wie dieie3 weiſe Alterswerk de3 Biirider 
Demokraten auf einen heutigen Gogial- 
demofraten wirft. 

Sie fdieben die taglide Selbſttäu— 
fdung, daß der Menih vernünftig fei, 
bei Seite. Sie fallen — und daa redne 
id Shnen befonders an — nun nidt etwa 
in den bequemen logiſchen ®egenfat „Der 
Menfh ift unvernünftig“, fondern fagen 
lediglih: „Der Menſch ift dumm.“ Aud 
in Bezug auf die praktiſche Vernunft 
wollen wir die alte Rationaliftenweis- 
beit, daß der Menſch gut fei (mit der 
nod im Jahre 1918 der wenig gute Le» 
onbardD Grant eine ganze hunde Prole- 
letariergeneration au’8  pbilofopbifde 
®latteis Inden konnte) nidt in den fon- 
tradiftorijden ©ezenfag umwandeln, dah 
der Menſch böſe fei, fondern wir wollen 
die Wahrheit treffen mit dem Gage: „Der 
Menih ift nidt gut.“ Wir fprehen das 
ohne jeden Gorwurf au3. Es ift nun 
einmal nidt anders. „Ihr führt ins 
Leben ihn hinein. .“ 

Alle Boridlagje, die Wirtfdaft plan- 
mäßig gu ordnen und gu leiten, rednen 
damit, daß der MenfhH über da3 Bee 
dürfni3 de3 Tages hinausblide und daf 
er binreihend innere Geftigfeit babe. den 


Be-futunzen zur Bequemlidfeit und zur 


Korruption, die jedes Planfoftem, aud 
daz raffiniertefte, mit fid bringt, zu 
widerfteSen. ®erade weil fie die „höhere 
Gittlidfeit* (,Ausfhaltung Hes Egois— 
mus“) alg ®rundlage der Planwirtihaft 
nehmen, halten fih die Bertreter folder 
Ideen ja für die Beförderer ded ,, Fort 
ſchritts“. Wenn e3 nur fo einfad wäre, 
fittlid gu fein, wie fittlid zudenten! 

Denn jemals eine mit überlegter Ab- 
fiht eingeführte Planwirtfhaft fid be- 


währen fönnte, fo — hätte das Se 
periment fe3 „Kriegsfozialismus“ glüden 
müffen. Denn damal3 waren die fitt- 
lihen Borbedingungen befjer denn je ger 
geben. Damals fonnte aud das fime 
pelfte ®ehirn bejzreifen, daß vom Funk⸗— 
tionieren der Planwirtfhaft das Schid- 
fal de3 ganzen Volkes abbing, damals 
war e3 nationale Ghrenfadhe, planmäßig 
eraft die wirtihaftlihen Anforderungen 
aus edleren als ,egoiftifden* DBeweg- 
gründen zu erfüllen. Dennod verfam 
das ©anze in Korruption. Man redet 
fid auf „Spftemfehler“ oder auf den gro» 
fen Unbelannten, namlid „die Verhält- 
niffe“, binaus. Dein, das Gpftem 
felb ft in feinem Brinzip tft geichei- 
tert. Die Leitung der Wirtfhaft von 
oben her nach einem überfhauenden Plan 
ift geſcheitert. G3 hat fid gezeigt, daß 
fih eine erfolgreihe Wirtihaft nur auf 
den Willen der Produzenten, nidt auf 
den Willen der weifen Berteiler pom 
grünen Sifh ber aufbauen läßt. Was 
unter moralifdh fo günftigen Bedingungen 
mißlang, wird erft reht miflingen in 
ruhigen Setten, two jedermann fih darauf 
verläßt, daß e3 auf ihn nidt fo genau 
anfomme. 

Sch felbft, als ein Seil des von Ihnen 
angegriffenen „gebildeten Bürgertums“, 
als einer, der in die Nationalöfonomie 
bon Lujo Brentano zu Münden und in 
die Politif von Friedrih Naumann ein" 
geführt worden ift, habe damal3, als die 
Brotlarte erfunden wurde, im ,Runft- 
wart“ mit tönender Hoffnung den „Sieg 
über Mandefter“ gefeiert. Seither habe 
id ein paar Gingelverfude, fo etwas wie 
„Planwirtſchaft“ im engen Bezirk ein- 
zuführen, au3 der Nähe beobadten fün- 
nen. Das Grgebnis ift fo einfad wie 
iiberrafdend, namlid die3: eine jede Aufe 
gabe zieht die zu ihr paffende Art Men- 
fen jowohl an fih wie fih beran. Sa 
einer auf Lebensangft und Ginfab auf- 
ebauten Wirtſchaft bildet fid der Typ 
des „Unternehmers“ heraus, der Mann 
des Wagemute3, der Initiative, der her» 
riſchen Kraft, in einer auf Lebensfider- 
beit und Kompetenzen aufgebauten Wirt 
fhaft aber entfteht der „Wirtihaftsbe- 
amte“. Die ein Unternehmer ſeeliſch 
zum Wirtfdhaftsbeamten werden Tann, 
baben wir in den lebten Jahren in je- 
dem SKrämerladen erlebt. Die Kunden 
wurden niht mehr bedient, fondern ab» 
gefertigt, die Ladenzeit wurde zu einer 
möglihft abgefürzten bureaumäßigen 
Shalteröffnung, an die Stelle de3 „Wo— 
mit darf ich fonft nod dienen?“ trat der 
Schnauzton und da3 Adjelguden. Aud 
die Arbeiter fennen gar wohl den Unter- 
ſchied zwiihen dem Unternehmer, Der 


35 


feine Perfon und fein Vermögen einfest, 
und Dem Syndikus oder Direitor, der 
„leine Stellung ausfüllt“. 

Beide Typen, der Unternehmer wie 
der Wirtihaftsbeamte, haben ihre Lidt- 
und Schattenjeiten. Mir perjönlih find 
die Zeitalter der Weltentdedungen und 
Delteroberungen ſympathiſcher als die 
Zeitalter des Wandarinentums. 

Nun aber eine Frage an Gie: Sind 
die Beftrebungen, zu einer Planwirt- 
{daft zu fommen, wirflid in fo hohem 
Mafe, wie Gie anzunehmen fcheinen, 
aus den Neigungen des Mittelftandes 
und der Arbeiterfdaft zu erklären? 
Sreibt nidt vielmehr „die Wirtſchaft“ 
aus fied felbft mit Notwendigfeit 
die Planmafigfeit hervor? 

1g Island, als Amerika befiedelt 
wurde, ftrömten die Wenfhen anfangs 
— ein, wagemutige Abenteurer. 
Seder ſuchte ſich den bequemſten Platz, 
nahm an ſich, was er halten konnte und 
mochte. Wir kennen die Pſyche dieſer 
„Landnahme-Männer“ aus den alten Ge— 
\hihten redht gut. Raſch wurde die Be— 
febung didter. Nun entftand der Kampf 
nit mehr nur mit der Natur, fondern 
gwifden den Menſchen, e8 begann das 
„Heldenzeitalter“. Se mehr Menfden fa- 
men, je enger fie fi aneinander m 
ten, um fo weniger beldenbaft wurde 
der Kampf. Die Menfchen erfdHeinen 
fiimmerlider, nidt mehr fo breit, voll 
und ausladend, ihr Lebens fampf wird 
zu einem bloßen Ronfurreng fampf. 
Schließlich hat man fih abgefampft, man 
„richtet fid ein“. Der Strom hat fein 
Bett gefunden und, wenn er nidt von 
der Quelle her verjiegt oder bon außen 
ber geftört wird, fann er in die lang- 
weilige Gwigfeit hinein immer fo weiter 
fließen. Das Land hätte damit feine 
Mandarinenepodhe erreiht. Die Men- 
{hen nennen, unfritifd wie fie find, die- 
fen Zuftand den ,fittlid höheren“ und 
preifen die „Ordnung“ und den „Fort- 
ſchritt“. 

Iſt es nicht ebenſo mit der Wirtſchaft 
überhaupt? Induſtrie und Handel, zu— 
nadft oft in einer Unternehmerperjon 
verbunden, erobern neue Wbfabgebiete: 
Entdederzeit. Nun folgt der Kampf 
um die Abſatzgebiete: das Heldenzeitalter 
der Wirtidaft. Se mehr Bewerber auf 
dem Plan erfdeinen, um fo fümmer- 
lider, innerlich fleiner wird der Kampf, 
und zu gleiher Zeit heben fid die gro- 
Ben ale sol a der „Weltfirmen“ heraus, 
die jo „Firm“ find, daß für fie der 
Kampf zwedlos und reizlos if. Man 
richtet fid) miteinander ein, teilt fid die 
Beute, ordnet die Kompetenzen. 

Aus dem Kämpfer-Unternebmer mit 


36 


Initiative und Wagemut wird der Be- 
lg und Beamtete des RKartells, 
feine Ghre befteht nunmehr nidt da- 
rin, fih durchzuſetzen und zu behaupten, 
fondern Darin, Die ihm zugewiejenen 
Aufträge prompt und fahgemäß zu er- 
füllen. G3 gibt alſo nit nur eine auf 
®rund von Doftrinen organifierte, fon- 
dern aud eine natürlid beranwad- 
fende Blanwirtihaft. 

Sft nicht die allgemeine Neigung zur 
Kartellbildung, der Wille zur Organi- 
fation gerade beiden Anterneh— 
mern felbft das — daß wir 
ſeeliſch aus dem Heldenzeitalter der 
Wirtſchaft heraus ſind und dem Man— 
darinentum zuſtreben? And ſind nicht 
die entſprechenden Stimmungen im ge— 
bildeten Bürgertum einfach der Ausdruck 
des Zeitgeiſtes? 

Dann ware die „Planwirtſchaft“ 
ſchließlich nichts als eine Reife-Erſchei— 
nung und würde bedeuten, daß die Wirt- 
haft — alt wird. Während wir auf 
dem Gebiete der Pädagogik von der 
Anſchauung zurüdtommen, daß das Kind 
möglichft bald unfindlid werden und fid 
mit allem Nahdrud auf das Greifen- 
alter vorbereiten müjje („Wie gelange 
ih zu einer gefiderten Stellung mit 
Penfionsberedhtigung?“), während man 
heute den Gigenwert jedes Lebensalters 
zu würdigen gelernt bat, hält man in 
der Wirt{ daft die ruhige, abgetlarte, 
bequeme Greijenbaftigfeit für ein deal, 
dem nadguftreben „ſittliche Pflicht“ fei. 
Sch fann mid der Ironie gegen den mo- 
raliihden Eifer der Planwirtihafter nur 
{wer eriwehren. 

Damit fomme id auf die biologifde 
Sunftion des von Ihnen nidt ohne 
Grund getadelten „geiftigen Mittelftan- 
des“. Aber ih muß für heute den Brief 
abbreden. Die nimmerjatte Druderei, 


-Der Gerberus, der dem Schriftfteller un— 


aufbörlih dräut, will Manuffriptfutter. 
Ad, e3 waren fchöne Zeiten, als man 
Jeine ®edanfen nod harmlos in Privat- 
briefe verftreuen fonnte und durftel Da- 
mals erbaute man fic) mitten unter pbi- 
lojopbifhen Gedanfengdngen an dem 
reigenden Spiel der Meijen, die fid an 
der hängenden Spedihmwarte vor dem 
Senfter bemühen, und ſchrieb aus dem 
Herrgottsgefühl heraus, mit dem man 
dem Jagen der Vögel am verjchneiten 
Sutterhausdhen gufab. Nun aber muß 
man foigniert erfdeinen und fadgemaf 
fchreiben. Mit hergliden Grüßen Shr St. 


Der Brud in der Sugendbewegung. 


> das immanente Ziel der Sugendbe- 
wegung eine , Sugendfultur“ im Sinne 
Wynekens war, wollen wir dabingeftellt 


fein laſſen; fiherlih aber war das Biel 
eine jugendliche Aultur. Die Alters- 
erfheinungen einer unbeweglih werden- 
den, Sped anfebenden Welt trieben einen 
beftimmten Seil der Jugend zum Bir 
derfprud. Dem Bdeal der „geficherten 
Sriftenz“ widerftrebte die jugendliche Luft, 
allein Die eigene perjönlide Kraft als 
Schidjal anzuerfennen und erwartungs- 
froh einer ungewiffen Zufunft entgegen- 
zuleben, wie der Wanderer ohne Land: 
farte in ein unbefanntes Waldgebirge 
eintritt. Die Welt der Konvention und 
der berednenden Freundlichkeit, deren 
Ideal die „eaſity“ des Lebens ift, war 
von je der freien Anbefangenheit und 
Offenheit der Jugend zuwider, wenig- 
ftend der deutſchen. Es ift beadtens- 
wert, daß niht die Landjugend, fon- 
dern die Oroßftadtjugend in Be- 
wegung fam. Denn in den großen Städ- 
ten, niht fo febr auf dem Lande wurde 
das Leben von den alt gewordenen 
Golfsidhidten geftaltet. 

Natiirlih fann eine Sugend nidt ohne 
weiteres aus fid eine „neue Kultur“ 
berpvorbringen. Zunächſt bat fie nur 
das Gegenſatz gefühl und den Willen, 
e3 nun „anders“, miglidft entgegenge- 
febt gu maden. Das ift ein rein Nega- 
tives. Aber der pofitive Teil der Sue 
gend fudte mit ridtigem Snftinft An— 
fnüpfung bei der Kultur der biologiſch 
jüngeren, alfo geſchichtlich älteren Schich— 
ten des Bolfes. Das Wandern war 
nod nidt „Kultur“, fondern zunächſt 
nidts andres als ein inftinftives Zu— 
rüdgreifen auf jugendlidere L>bensfor- 
men (Bölferwanderung und Wifinger- 
zeit). Man bedurfte aber mehr. Da fam 
ebenfo inftinftiv die Wendung zum 
Bolfslicd und Volkstanz. Aud Die 
Tracht näherte fid) unbewußt mittelalter- 
liden Kleidungswejen an. Die Jugend 
fand — und das ift beweifend für das 
Echte und Alngelünftelte der Bewegung 
— in der Kultur Anfhluß an die ju- 
gendlideren Zeitalter ihres Volkes. 

Aber die Sugend wurde älter und 
fonnte nicht immer tanzen und fingen. 
Als das Bedürfnis nah Grfenntnis und 
damit nad Weltanfhauung fid regte, 
bemädtigte man ſich zunädft der ver- 
Ihiedenen „Reform“gedanten; denn das 
ergab jih leiht aus der urjprünglichen 
KRampfftellung und — e3 ift jo angenehm 
einfad, wenn man überzeugt fein darf, 
dab fid das ganze Weh und Ad der 
Belt aus einem Punkte furieren läßt. 
Man fann fih fo hübſch erhaben fühlen 
über ,Runft und Wiſſenſchaft“. 

Wie Hätte die Gntwidlung der Ju— 
gendbewegung weitergehen müfjen, wenn 
fie der urfpriinglid eingeidlagenen Rich— 


tung treu geblieben wäre und fid nicht 
den Inftinft hätte verwirren laffen? Sie 
hätte nidt bloß Kleidung, Bolfstang und 
Golfslied erneuern, fondern im Anhluf 
an die Refte der alten Boltsfitte wieder 
Golfsfitte als Lebensgeftal- 
tung fdaffen miiffen. Anſätze waren 
vorhanden (Sobannisfeuer u. dgl.), aber 
fie beſchränkten fid auf etlide Gefte und _ 
waren vielfah ſchon nit mehr frei von 
Aefthetentum. Die Sugendbewegung ald 
®anges hat nicht mehr den Lebensan- 
ſchluß an die volksbiologiſch jugendlide- 
ren Schihten der Bauern und Hand- 
werfer gefunden, fie bat deren Lebens- 
formen und Gitte nicht mehr der Grof- 
ftadt (diefe damit zerfehend) aufzuzwin— 
gen vermodt. Hätte die Jugendbewe— 
gung Diefe Kraft gehabt, fo bätte fie 
damit — die Grofftadt erledigt. Oder 
vielmehr, da niemand die Gntwidlung 
rüdwärts wenden fann, es wäre vielleicht 
aus dem frudtbaren Kampf zwifchen 
Sugend und Alter eine neue, jugend- 
gemäßere gropftädtiihe Lebensgeftaltung 
erwachſen. 

Um das zu ermöglichen, hätte ſich 
der Grkenntnisdrang der Ju— 
gendbewegung nicht auf das 
Abftrafte, ſondern auf das 
Konfrete wenden müffen Man 
hätte das lebendige Bolfstum in Braud 
und Gitte, in feiner feelifhen So-beidhaf- 
fenbeit, hätte Die Natur der Heimat er- 
faffen und erfunden, hätte „Oeſchichte“ im 
tiefften Sinne treiben miiffen. Man hatte 
die feeliihe „Schichtung“ in der „®e- 
ſchichte“ begriffen und hätte die Stelle 
gefunden, wo Die — ſich „geſchicht- 
lich‘ an das Vorhandene, wachſend und 
fih-entwidelnd, hätte anſchließen können. 

Statt deſſen aber wandte man ſich auf 
dem Weg über ein oft allzu redtha- 
beriihe3 Reformertum den „großen“ Re- 
formideen zu, man ſchritt pon der Alko— 
bolbefämpfung ufw. fort zur Weltbe- 
glüdung in Menfhheitsmaßftab, zur „Re— 
polution“, und merkte nit, daß man fid 
in dem PBeftreben, natürlich zu werden, 
pon der Natur entfernte und in die Ab- 
ftraftionen gerade der biologiſch alteften 
(alfo geihichtlich jinoften) Volkskreiſe 
verlor. Man madte all die falſchen Ab— 
ftraftionen des „Sozialismus“ und „Ka— 
pitalismus“, die ,Klaffen“theorie, die ra- 
tionaliftifhe Auffaffung bom Wefen der 
„Geſellſchaft“', der „Arbeit“ uſw. mit. 
Se weniger man die Wirklichkeit beob- 
a@ten gelernt hatte, alfo je dimmer man 
in Wahrheit war, um fo unbelafteter 
bewegte man ſich mit den (meift fogar 
ziemlih unficheren) logiſchen Flügeln in 
den dünnen, bewegliden Lüften Der All- 
gemeinbegriffe, der „Orundſätze“, des fo- 


37 


genannten „radifalen“ Denfens (das in 
Wahrheit wurgello3 ift, da e3 feine 
radice3, d. i. Wurzeln, im wirfliden 
Grdboden hat). Man war auszezogen, 
das alte Wefen und die Großſtadt zu 
befämpfen, und war mit dem Galto- 
mortale der WAbftraftion gerade in Die 
Giele der rationaliftiihen ®emeinpläße 
bineingeraten und half, den müden, more 
{den Karren de3 adtgehnten Jahrhun— 
dert3 weiterfdleppen. 

Der innere Brud in der Sugendbe- 
wegung liegt alfo dort, wo man von 
der natürliden und geſchichtlichen Wirf- 
lidfeit abfam und in dad Gebiet der 
abftraften Theorien und Sdeologien hin⸗ 
überſchweifte. In diefem Webiet gilt 
nur Die Logik, nidt mehr der Inſtinkt. 
Darum wurde der. Snftinft unfider. 
Gr Hatte fih in eine Welt begeben, wo 
er der rein logiſchen Beweglidfeit nidt 
gewadjen war. Aur ein mit Inftinkt 
erfülltes, von (innerer und duferer) An- 
fhauung gelättigtes Dentfen wie das goe- 
theſche und fichteſche hatte die flüchtigen 
Masfengeftalten der abftraften Welt ent» 
larven und den Berftand gum Diener 
und Helfer des Lebens mahen fönnen, 

Durd dieſes Srregeben ift die Ju— 
gendbewegung zu feiner nadbaltigen, 
frudtbaren Wirfung in der Volksge— 
{bidte gefommen. Wer hat Freude über 
eine folde GEntwidlung der Dinge? Nur 
F welcher — Schadenfreude — 

at. t. 


Neues oon Joſef Ponten. 


Mi Joſef Ponten ift wieder ein echter 
Sranfe in unjre geitgendffifhe Dich- 
tung eingetreten: der Stamm, der von 
Schickſals wegen zwiihen Deutihen und 
Srangofen eingeflemmt am grünen Rhein 
fißt. ei pon jeher gwifden germanifhem 
und romanifhem Rulturftreben, zwijchen 
unfrer SInnigfeit („wie will man das 
Wort ins Sranzöfiihe überjegen?“ fragt 
Ponten) und welfhem Gormtalent ver» 
mitteln, bat freilid) aud) die fteten Rei- 
bungen Der beiden Vachbarvölker an 
feinem Leibe am ftärfften erfahren 
miiffen. Bon Haufe aus weniger zur 
Entiheidung nad der einen oder andern 
Geite geneigt, bat er immer aufs neue 
den Gerfud der Synthefe gemadt und 
unferm eignen Sunftleben, unferm 
Schrifttum zumal das bitter nötige 
Sormgewiffen wad erhalten, ohne das 
unfer fauftiijher Drang fih ins Oren— 
gens und Gormlofe verlieren würde. Aud 
in Ponten wohnt eine geradezu erftaun« 
lide Bitalität, feine Augen können gar 
nidt genug trinfen bon dem goldenen 
Meberfluß der Welt: daber bat es ihn 
aus der Heimat in die Ferne getrieben, 


38 


aus der Zioilifation in die volkstüm— 
lide ©efittung, au3 der Menſchenwelt in 
die LandjHaft — überallhin, wo e3 ete 
wa3 mit der Geele zu ergreifen, mit der 
eingebo:enen jhöpferiihen Energie um- 
gugeftalten und zu verarbeiten gab. 

G3 waren nidt immer überragende 
@eftalten und fenjationelle Greigniffe, die 
ibn „anregten“. Gernab von jedem Gnob- 
igmus, weiß der Didter aus eigenen 
Sugenderinnerungen etwa die Tragödie 
de3 deutſchen Kleinbürgers zu gejtalten, 
der an dem Gerluft der Ehre, d. 5B. 
bier de3 Refpeft3, den man ihm zollte, 
innerlihd und duferlid) zugrunde gebt. 
Die enge Welt, in der fih doh gahnende 
Abgründe öffnen, wird mit der außer» 
ordentlihen atmofphärifhen Kunft ge» 
{dildert, die wir an den beiten Dich— 
tungen de3 rheinifhen Erzählers ftets be⸗ 
wundert haben, und die Sprade, die er 
meiftert wie wenige, hält den Son des 
@angen feft, ohne irgendwie in bagebü- 
@enen Naturalismus zu verfallen. Die 
Gejdhidte heißt: „Die Ahr von Bold“ 
und ijt in der viel terfprehenden No» 
vellenfammlung „Der Falke“ enthalten, 
die foeben in der Deutſchen Berlagsane 
ftalt zu Stuttzart berausfommt. In der 
gleihen Sammlung aber erfdien foeben 
eine andre Erzählung von Ponten: „Der 
Oletſcher, eine Oeſchichte aus Ober- 
menfdland“, die von andern Gormfraf- 
ten in feiner Geele zeugt. Grinnerte 
„Die hr“ mehr an ein niederländiiches 
Gemälde, fo glauben wir bier in einen 
gotijden Dom zu treten: die wunder- 
polle, in ehrwürdiger Langſamkeit und 
erhabener Sicherheit ſchaffende Seu- 
gungsfraft der Alpenwelt wird bis 
in ihre feinften und zarteften Ausftrahe 
lungen aufgefangen, mit einer Schärfe 
und zugleid mit einem @lang der 
{pradliden Gormgebung, der an die 
beften Schöpfungen Pontens, etwa an 
den „Meifter“ erinnert; aber wenn in 
der Baumeifternovelle nod finftre See 
walten der Menſchenſeele fih aufbäumen, 
fo ift bier alles gemildert, alles auf 
weide, dem Lrgewaltigen demütig fid 
unterordnende Töne eingeftellt: wer das 
Leben der ©leticheriwelt innerlid ver- 
fpürt, der wird von felbft bejdeiden. G3 
ift immer ein Seiden von hoher Mei- 
fterihaft, einem Grlebnis wie Ddiefem, 
der wunderbar fid fudenden DBlutliebe 
und der brüderlihen Treue über den Tod 
hinaus neue, tiefe, ftarfe Wirkungen ab- 
= eiwinnen. onten erreicht es dadurd, 
aß er aud) die innerliden Sriebfrafte 
wie Naturmädte wirken läßt, daß er die 
Hauptwirkungen nidt durd einzelne, et- 
twa fentimentale Züge, fondern Durd den 
Aufbau des ganzen Grlebniffes in feiner 


unbeirrbaren Notwendigfeit berbeiführt. 
Da3 gelingt ibm, weil er, in der 
Baufunft duch lange Studien gefdult 
und mit dem jharfen DBlid für, Statik 
begabt, fid a einem Künftler der er- 
zähleriſchen Architektonik entwidelt bat, 
mit dem e3 wenige unter den Lebenden 
aufnehmen werden. 

G3 muß uns reizen, diefen Meifter 
bei der Arbeit und — 5— außerhalb 
des lite-a:iihen Bezirks beim unmittel⸗ 
baren Schauen und beim nicht-ſymboli— 
ſchen ©eftalten gu beobadten. Dazu bie» 
tet ein neues Bändhen die willfommenfte 
®elegenheit, da3 foeben unter dem Titel 
„Kleine Profa von Joſef Bonten“ 
bei Gr. Link in Trier erfdien. G3 ge- 
bört der pon War Tau begründeten und 
mit liebeopoller Hand und feinem Bers 
ftändni3 für das GHte geleiteten Samm- 
lung „Die Novelle“ an, obwohl e3 faum 
eine Erzählung und gewiß nidt die befte 
von ®Bonten enthält. Dafür aber bringt 
dies wabrbaft fdftlide Büchlein eine 
furze Gelbftdarftellung, die vielmehr ein 
Runftbefenntnis und zugleih eine bee 
deutjame Auseinanderfebung über Ddeut- 
{men und romanijden Runftwillen ift, 
und fie bringt ferner die auserlefenften 
, Berlen Bonteniher Landihaftsihilderung. 
&s ijt ja auf den erften Blid faum ver- 
ftändlih, dab derfelbe Mann, dem die 
gotiſchen Dome ihre lebten Seheimniffe 
erfhließen, fid) in den vollen Zauber der 
Landſchaft, der deutihen wie der grie- 
Hilden, de3 Wils und des Rheins ver- 
fenft; es ift eben dadurch miglid, dah 
ibm aud die Steinmaffen zu leben- 
digen —— lebendiger Kräfte 
geworden ſind, daß er ihnen nicht bloß 
ſtatiſche, ſondern auch dynamiſch⸗rhyth⸗ 
miſche Oeſetze abgefragt hat, ähnlich de— 
nen, die er aus den geologiſchen Ge— 
ſchieben unſrer Landſchaft abzuleſen im— 
ſtande iſt. Ponten iſt ein Beobachter 
mit unendlich vielem, ſehr eingehendem, 
ſehr ernſtem Wiſſen, aber er belehrt uns 
nirgends, ſondern er dringt mit ſeiner 
Wiſſenſchaft in die Geheimniſſe der 
Landſchaft ein und läßt ſie vor unſern 
Augen aufquellen. Und nicht bloß die 
Landſchaft, auch die Ortſchaft, die Stadt 
wird für ihn lebendig, wird Ausdruck des 
Volkslebens, Spiegelung der Geſchichte 
und des Ringens der Völker und 
Stämme. Solche Weiſterſtücke wie 
„Deutſche Landſchaft und der deutſche 

Wenſch“ oder „Der Rhein“ gehörten 
eigentlid Deut in iede3 gute Schullefe- 
bud): in die Schulflajjen gehören fie ao 
beftimmt, aber voll genießen wird fie 
erft der reife, der mit Tourer Heimat ver- 
wadjene oder nad innigfter Berührung 
mit ihr ftrebende Menfd. Und fo gibt 


ed wenige Schriften, nod dazu bequem 
und zu erihwinglidem Preife erhältliche 
Schriften der ®egenwart, die fo unmittel- 
bar zu un3 fprehen, die wir fo gern in 
die Hand jede3 Deutihen legen möchten, 
al3 dieſe landihaftlihe „Kleine Proſa“ 
von Sofef Ponten. Robert Petſch. 


„Die alten niederdeutihen Bollslieder.* 


Ste Grinnerung au3 den Tagen der 
Kindheit: IH liege Sommerabends 
im Bett. Da tönt Gefang leije die Dorf- 
ftraße berauf, immer ftärfer und deut 
lider. Dad find die Mädchen, die nad 
der Tage3arbeit in breiten Reiben, Arm 
in Arm, fingend durchs Dorf ziehn, vom 
einen Ende zum andern und wieder gue 
rid. Lieder mit unzähligen Gerfen, die 
furze Melodie immer bon neuem anhe— 
bend, bon Magd und Ritter, Liebe und 
Tod. Was e3 war, ift mir längſt ver 
funfen, ih böre nur nod den inbrünftig 
füßen, eintönigen Aland. 

Biele Sabre fpäter lernte ih „Volks— 
lieder“ aus den Büdhern fennen. Dare 
unter au plattdeutide. Sie haben eine 
merkwürdige, tie‘e, dunfle GOewalt. 

id zum erften Male auf das Lied ftoße: 

„Naer Ooftland wille wi riden“, quillt 
e3 mir fo heiß bob, daß id das Oe⸗ 
fühl nicht zurückhalten kann. nd now 
immer hat das Lied nicht den geringſten 
Teil von ſeiner Oewalt über mich ver— 
loren. Stellen dieſe Klänge die Ver— 
bindung ber mit den verſunkenen Gee 
filden abge‘ebter ®efHledter? Und bes 
ruht auf diefer Verbindung vielleidt die 
unausfpredlide Wirfung der ,,Bolfs- 
poefie"? — — 

Aus den zerftreuten Quellen bat Paul 
Alpers in einem Bande von 260 Geiten 
„die alten niederdeutidhen Volkslieder“ 
gejammelt und mit Einleitung und wife 
fenfdaftliden Anmerkungen im Quick— 
born-Berlag in Hamburg herausgegeben. 
Die Bezeihnung „niederdeutich“ ift fpradh=- 
lid zu verftehn, alfo bollandijde und 
flämifhe Lieder findet man bier nicht. 
63 find im Wefentliden Lieder aus dem 
niederfadfifden Stammestreis. Den viel 
umftrittenen Begriff „Volkslied“ um— 
grenzt Alpers in feiner Ginleitung in 
der spare ridtigen Weife: Nicht 
aus der Gntftehung fann man den 
Begriff feftlegen — „das Golf Ddichtet 
nicht, e3 dichten immer nur Dichter; aber 
ebenjowenig find alle Lieder, die das 
Bolt meiterträgt, Volkslieder. Was 
Golfslied ift, erfennt man nur aus Stil 
und Inbalt „Aus der großen Zahl 
der bom Bolfe gefungenen Lieder heben 
fih als beftimmte Gattung folde ber- 
aus, die nah Inhalt, Stil, Sprache, 
Melodie zum „Volke“, d. b. gu den 


39 


der gelehrten Bildung fernftehenden 
Schichten, paſſen: Diefe Gattung nennen 
wir Bolftslieder zum nterjhied 
bon volfstimliden und G©ejellichaftslie- 
dern. Das BolfsliedD empfindet und 
fingt, wie das Golf empfindet und 
* Darum fann man nidt be- 
grifflid, fondern nur mit dem gefdulten 
©efühl beftimmen, weldhes Lied ein 
Bolfslied ift. — Wir möchten die Frage 
bingufiigen, ob der von der Kunftpoefie in 
der Wurzel verfdiedene Retz des Bolfs- 
liedes nicht letzten Endes volfsbiologifder 
Art ift, wie bei Marden und Gage aud, 
darum abſichtsvoll nicht berzuftellen. 

Alpers’ Ausgabe hält febr glüdlich 
eine mittlere Linie gwifden den Anſprü— 
den de3 Gelehrten und deffen, der fid 
fblidtweg an den Liedern freuen will. 
Aingebindert durd die Wiffenfdaft, in 
ſchönem Druck, fann man die Lieder 
lefen. Der ganze „Apparat“ ift nad 
binten verwieſen. Die wiffenfdaftliden 
Angaben find fnapp und flar: bas Nö- 
tigfte über die Quelle und Herkunft, 
fowie die Le3arten, die nidt nur von 
orthographijher Bedeutung find. Gele— 
gentlide Urteile über den Wert zeigen, 
daß Alpers ein reines Gefühl für die 
Echtheit und didterifdhe Tiefe hat, wie 
fie nur aus hingebender Liebe zum Ge— 
genftand erwägt. 

Der Herausgeber hat recht, wenn er 
die ernfte, {were Ballade und das 
Spott- und Sherzlied für die Pid- 
tung bält, die dem niederdeutiden Bolt 
am beften gelingt. Die meiften Lieder 
find ja alte eberjeßungen aus dem 
Hohdeutihen, zum Teil aud aus dem 
Niederlandifden. Aber das Gigene, an 
Zahl gering, ift dod in den genannten 
®ruppen an Wert bedeutend. Die Bal- 
laden ſcheinen mir da3 wertvollfte Sut. 
Schade, daß wir von den niederdeutihen 
Heldenliedern nicht mehr haben, das Lied 
bon Dietrid und Grmentrid läßt ahnen, 
was e8 einft gab. „De Berner leet fid 
toapen / fülftwölfte finer Mann, / Sam— 
mit unde Giden tigen / fe aber er 
Harnst an. / Se fetteden up er Höpet / 
van Giolen (Geilden) einen Kranz, / 
do ftünden de Heren all twölve / eft fe 
mafeden einen Danz.“ Das ift Dichtung, 
die befteben fann. 

Die ſchönſte Ballade ift wohl die 
von den beiden Königsfindern, fie über- 
trifft weit die hochdeutſche Faſſung. Die 
Worte: „Et was up een Sunndage Mor- 
gen, de Lüde wören alle fo fro...“ in ihrer 
Mifhung von Sonntagsfeierlichteit, Mor- 
genftimmung und dunkler Todesweibe find 
einzig in der ganzen deutſchen Dichtung. 
Snfaglih tief ift aud das Lied mit der 
Mutterflage: „Id hebbe fe nidt up de 


40 


Scholen gebradt...“ Zwei der berrlid- 
ften Balladen geben wir porn als Proben. 

Das dithmarfijdhe Lied von Herrn 
Hinrih und feinen Brüdern ift eine 
wirflide „Ballade“: ein Zanzlied. 
Die Leute fangen e3 zum Tange. Man 
fann die Bewegungen aus dem Wort- 
Hang faft refonftruieren. Fühlt man nicht 
das grimmigenaddritdlide Achſel- und 
Ellbogenjhütteln und Guftrampeln in 
den Worten: „Wi willen nenen MWede, 
wi willen nenen Win“? Und dann das 
trogige, ſchwere, zweimalige Aufftamp- 
fen: „oull grone“. &3 folgt das aufbel- 
lende: „wi willen eines Goldſchmedes 
Dodterlin ban“, das in den hell und ſüß 
ausflutenden Kehrreim mündet: „de van 
adeliden Rofenblomen!“ Der ganze 
Tanz befteht in dem ®egenipiel von 
Stoß und Weichheit, dunkler Srimmig- 
feit und heller Schönheit. Sede Strophe 
(außer der vierten und fedften, die nur bon 
Madden zu fingen find) beginnt grimmig 
und geht in den gleihmäßig füßen, rei- 
nen Kebrreim aus. Sede fängt gleichjam 
mit Männerftimmen an und flingt in 
Mädchhenftimmen aus. 

Gon fdauriger Größe ift das „Ioten- 
amt“. Der @eliebte ift vom Nebenbubler 
erihlagen worden. Das Madden trägt 
den Soten (den gegen den elterlichen 
Willen Geliebten) erft vor das verſchloſ— 
fene Gaterhaus, dann in die Verſamm— 
lung der Herren. Groß fteht fie da vor 
dem PBater und den andern, dod in her- 
bes Schludzen endet die bittere, faft 
ironifhe Anrede: „..de mi diffen Doden 
begraven helpen fann, de mi diffen Do- 
den — ja, Doden.“ Aber die Herren 
bliden fie nur ſchweigend an — fein 
Beiftand, fein Laut! Weld ein Anblid! 
nd dann das Abwenden: „Dat Megde- 
fen ferde fi umme / unde fe ginf wee- 
nend ut“ und gräbt dem Geliebten das 
@rab „mit eren fohneewitten Henden“. — 

Die Hauptmafje de3 Budes maden 
natitrlid die harmloſeren Liebeslieder 
(darunter einige intereffante „Tagelie— 
der“) aus. Gin wenig bedaure ih e3, daß 
Alpers den Begriff des Bolfsliedes ge- 
genüber dem biftorifhen und geiftliden 
Liede fo ftreng inne gehalten hat. Wir 
bätten aud diefe gern in einer folchen, 
den Laien zugängliden Sammlung. Biel- 
leiht entſchließt fih Alpers zu einem 
befondern Band? Und ferner — Die 
niederländiihen Lieder wünſchen wir uns 
in einer gleihen Ausgabe, in gewiffer 
Weiſe gehören fie doch aud dazu. 

Das Bud ift ein ſchönes Beifpiel 
dafür, wie Wiffenfhaft in lebendig fort- 
wirfendes Leben gewandelt werden fann. 
Das ift Dienft am deutſchen Bolfstum, 
wie wir ibn brauden. Ot. 


Strafburgs Münfter. 


t gotifhe Bauftil ift eine fo ein- 

dringlide Schöpfung, daß fpatere 
Geſchlechter nidt müde werden, für feine 
Gigenart nad Grflarungen und Griin- 
den zu fuden. Auf folde Bemühungen 
ift pon mir bereits im „Peutfchen Bolfs- 
tum“ vom Geptember 1921 (Gine Reife 
im Gadfenland) bingetwiefen worden. 
Bor furzem nun fam mir eine ganz neue, 
höchſt bedeutfame Aeußerung der Ari 
zu Sefidt: die Bündelpfeiler mit ihren 
jich verfchlingenden Nippengewölben feien 
Abbild Hes altgermanifhen Welten- 
baums (Otto Ludwig Wolff: Odin und 
Shriftus. Sellingftedbt 1922. ©. 62). Es 
nimmt wohl der Berfaffer an, daß une 
bewußt alte Borftellung dieſes Tra- 
gers des Weltenalls zur Form der Trä- 
ger (Stüten) der Gotteshalle führte. Da- 
Durd wird fie felber zum Ginnbild un— 
endliden Alls, in dem Die Gottheit 
wohnt. Gine ganz wundervolle, fider 
zu Recht beftehende Beziehung ftellt der 
Bedankte ber. LInendlidfeit de3 Raumes 
ift tatfadlid das Wirkfame im weithal- 
fenden gotilden Dom und Halt und 
Haft der Lnendlidfeit ift ewig griinend 
die ftarfe Paadrafil. Wud die germa- 
nifhe Wobhnballe wurde ja um einen 
Baum gebaut, und aud das in Bezug 
zum Weltentrager. 

Merfwürdig und die Geele zauber- 
baft umftridend mifhen fih im Sotifden 
finnlides, blithendes Leben und entftoff- 
lidte Geiftigfeit Der Baum mit feinen 
Aeften baut den Dom wie dämmernde 
lidtdurdhwobene Waldheimlidfeit, und 
Ranfen und Blüten fpriefen überall aus 
feinen Zweigen. Kommen wir aber bon 
der Dorftellung „Haus“, fo fehlt Die 
Mauer, die Maffe; wir finden Linien- 
gewebe. In förperlofen SKraftjtrahlen 
fügt fih die Halle zum Bau, ihre ley- 
ten, garteften Beräftelungen find das Ge- 
ftäbe de3 Maßwerks. Wollen wir nun 
von Ddiefer feinen Geiftigfeit aus aud den 
Beg in unfere altgermanifhen ©ottes- 
vorftellungen gehn, fo dürfen wir viel- 
lfeiht verbinden: Kraftvoll und derb wie 
der gewaltige Thor erhebt fih das vor- 
gotiſch⸗germaniſche Gotteshaus (älſchlich 
»tomanifd“ genannt), in ekſtatiſcher Gei— 
ftigfeit loht inbrünftig die ®otif auf, als 
wäre fie geweiht Odin, dem Geelenent- 
führer, dem Rafenden, der den Raufd- 
tranf der Didter und Denker trinft, der 
fein eines Auge um Wiffen gab. 

Soviel vom Bau. Sn den Bweigen 
des Baumes, im unendliden Raum des 
Als, des gottdurdgeifteten, fließt es 
über pon Lebewefen. Menſchen und Tiere 
und Dinge wadhjen überall. Sie in ein 


®eranie von Pflanzen und Bändern au 
binden ift ausgefproden germanifde 
Runftart feit alters, feit den Tagen der 
Bölfertvanderung und de3 „romanifchen“ 
Stils. Aus Seranfe, Gewebe, Geflecht 
tauchen gebeimnispoll Geftalten auf und 
verfinfen, Bild ewig fic) mandelnden 
Werdens, unendlichen ſchöpferiſchen 
Dranges aus letztem göttlichem Grund. 
Aud das Hangt fiher aufammen mil 
der Borftellung der Weltenefhe. Go 
find gotiſche Dome, die Waldhallen, qana 
erfüllt pon fproffendem Leben. nd fe 
reid) quillt und überftürzt e3 fih, daß 
man den Gindrud unerihöpflihd aufrau- 
fhender Erfindung befommt, Gindruct 
nicht endenmwollender zeugeriiher Frudt- 
barfeit. 

Go ift es aud in Straßburg. Und 
fehn wir uns die GSteinbilder dort ae- 
nauer an, fo erfennen wir als ihr be- 
fonders Giaentitmliches feine feelifche 
Sartheit. Gs ift das Holde deut- 
fden Weſens. das in ihnen Geftalt ae- 
tinnt, in Bamberg und Naumhura Sieht 
alles fräftiner ans. @otifche Menſchen— 
bildung ftrebt überhaupt je länger, je 
mebr zum Seinen, ja Leberfeinen. Bm 
Rheinland wird der Zug tm meiften 
betont, am längften beibehalten. Süße 
Anmut, die auch fonft natürlih in 
deutfchen Gauen nicht fehlt, bier tritt fie 
befonders verbreitet hervor. 

Wir tun einen Blid nah Frankreich 
hinüber. G3 ift das Urfprungsland der 
@otif; Franken, Normannen, Burgun- 
den haben fie geſchaffen. Man fpridt viel 
pon franzöſiſcher Grazie, und e3 tware 
wohl niiblid, fic) einmal darüber flar 
au werden, worin jene fich bon deutſcher 
Anmut unterfHeidet. Dazu fonnen uns 
die Straßburger Werfe helfen. Obwohl 
in der Zeit der Gotik der Gharafter 
franzöfifher Kunft fih noch fehr deutich 
zeigt, gibt es Dod) aud) damals fdon 
in der Haltung der Gteinbilder einen 
leifen Anterſchied. Das ausgeprägt fran= 
zöſiſche Weſen, ausgeprägt franzöfiihe 
®ragie vollenden fic) aber erft im Ro- 
fofo. Da befommt Franzofentum das 
Mebergewidht und aud) Deutſche nähern 
fih franzöfifhem Gehabe. Der Anter— 
ſchied befteht darin, daß deutihe Anmut 
innig und feelenbaft erbliibt wie unbe- 
wußte Shönbeit frommer Blumen, fran- 
göfiihe Grazie gefellihaftlih bewußt und 
onpentionell auftritt. 

Seihihtlih erleben wir in der Wand- 
lung trauriqe3 und abfhredendes Bei- 
fpiel, wie Granfen zu Sranzofen werden 
fönnen. nd baben wir uns aud in 
Deutihland eine Zeitlang verirrt, wir 
fönnen zurüdfinden zum Märchenland 


41 


deutiher Anmut mit Hilfe unferer Kunft. 
Lieblih ernfte ©eftalten der Rirde und 
der Shnagoge, fanfte und hoheitsvolle 
Srauer der SKlagenden am Sotenbett 
Marien3 in Straßburg, fie atmen die 
Reinheit deutfher Seele. Grftaunlid 
ift es, wie der unbefannte Meifter fo 
fadt und tief in3 ®emüt greift. Sein 


Gefühl umfdhimmert die Seele und den 
Leib — und aud dad Kleid. Aud das 
arme, dod ftofflid tote Gewand wird 
lebendig. Aud in ibm träumt jener 
linde Grnft und eingeborene Adel. Die 
feinen Schleier umfangen feufch und innig 
die finnenden Geſtalten. 

Maria Grunewald. 








Der Beobachter 








die Deutihen find von Natur häufig 
Abermannden, Wenn irgend eine 
entiheidende Sat gefdiebt, die ihnen nit 
paßt, wenn ein Mann erfdeint, der 
ihnen nidt bequem ift, fo fagen fie gue 
nädft einmal: „Aber —!* Iſt er offen» 
bar intelligent, fo fagt man: „Aber ob 
er aud) Kraft genug bat?“ Sit er offen- 
bar eine Rra‘tnatur, jo fagt man: „Aber 
ob er aud flug genug ift? Man erfennt 
nur Saten an, die man felbft aud ge- 
tan bätte (alfo unentjhiedene), man ere 
fennt nur Männer an, Die einem „nah 
dem Herzen“ find (alfo fpiefige). An 
Diefer Wbermanndenbaftigfeit bat fid 
mande gute Sat totgelaufen, ift mander 
tidtige Mann gejdeitert. Statt Din- 
gugeben, zuzupaden und zu belfen, ftebn 
fie Hug daneben und fagen: Aber... 
IS ac find das deutide Bere 
erben, a 


“Te botanifhen ®arten bodt ein Rot- 
fehlhen auf einem Straud, der aus 
Der friſchen Schneedede hervorragt. Sch 
will mein Frühſtück mit ihm teilen. Aber 
fobald das erfte Brödlein durd die Luft 
fliegt, furren Gpagen bon den Bäumen ber- 
ab und einer aus der Spabenf Har erwifdt 
das, was nidt für ihn beftimmt war. 
So dicht ih Dem Rotkehlchen die Bro- 
famen por den Schnabel werfe — fie 
werden immer eine Beute der Sperlinge. 
Das Rotkehlchen fliegt auf den nadften 
Straub und fieht mid gleihjam traurig 
und pornehm an. Ih verfude alle mög- 
liden Künfte, ibm zu helfen, bis — mein 
Srühftüd völlig in den Sperling3magen 
verfhiwunden ijt. Das ift das Schidjal 
alles &dlen auf Grden. — Wie denft 
da3 RotfehlHen über den Spa? And 
wie der Spas über das Rotkehlchen? 
Sweifellos Halt das alles beichmitende 
Spatenvolf, da3 überall in der Welt 
durdfommt, fid für das klügſte in der 
ganzen Gogelbeit. Und ift überzeugt, 
daß der liebe Gott ibm feine Anpaf- 
fungsfünfte nur deshalb verliehen babe, 
weil er — fo gerne den herrlichen 
Spagengefang bört. 


42 


abemus dictatorem! Bernhard Rele 

lermann heißt er, der die Zeit vere 
ftebt. Als Krieg war, fhwärmte er als 
Kriegsberihterftatter für Die Generale, 
und bejang den „Krieg im Argonner- 
wald“. Als Revolution war, pried er 
in feinem diden Roman „Ber neunte 
November“ die rote Sahne überm Bere 
liner GHlof und fpudte auf die Genes 
raéle. Als die neue Freiheit in SHnibe 
ler8 „Reigen“ auslief, befam Rellermann 
es mit der Grotif und fervierte dem 
Bublitum bei AUllftein „Schwedentlees 
Abenteuer“. Nun, da der Zeiten Weifer 
auf Diktatur ftebt, präfentiert er fid für 
den Bedarfsfall im Neujahrs-Leitartifel 
des Berliner Sageblattes. Mit fünf Ko» 
loffalgedanfen eröffnet er das feller 
mannſche Zeitalter: 1. Steigerung der 
landwirtfhaftliden Produktion um mine 
deftens die Hälfte. (Mindeftens!) 2. Bere 
größerung der landwirtjhaftliden An— 
bauflade. 3. een des Abjahes der 
induftriellen Produktion im Inland. 4. 
Spezialifierung und Veredelung der ine 
duftriellen Produktion für das Ausland. 
5. Klare Auswanderungspolitif und Bee 
völferungspoliti. Da ftaunfte! nd 
wie wird er vorgeben! Kellermann bore 
neweg, alle andern binterdrein! Gr 
{hreibt: „Die Fachleute fagen: Werden 
Sie denn genug Leute haben, die mite 
maden? G3 ift nicht jedermanns Gade, 
in der Lüneburger Heide oder in einem 
Walde zu haufen. Ich werde antworten: 
Hunderttaufende werde id finden, die 
nad Betätigung lechzen. Ich werde die 
Sugend aufrufen und begeijtern, wenn 
die Eripadjenen ftumpf geworden find!“ 
Gr madt alle3 aus der Lamang. Leber 
den fünften Punkt gerbreden fih Die 
Leute jahrelang den Kopf. Kellermann 
weiß Rat, er defretiert: ,Aud das Rae 
pitel: Klare Ausmanderungs- und Bee 
völferungspolitit bedarf feines beſonde⸗ 
ren Kommentars. Zu diejem Puntte fei 
nur eine Bemerfung erlaubt: dem Aus— 
wanderungsmilligen fehlt meiftend Bors 
bildung und Geld.“ Stem: bilden wir 
den Amerikanern ihre künftigen Bürger 


aus und geben wir ihnen das nötige 
Geld mit hinüber. Bafta. Fragen wie 
Sefdhloffenbeit der deutſchen Giedlung 
uf. intereffieren im B. 3. weiter nidt. 
Die Bergrdferung der Anbauflahe ftellt 
er fih (abgejehen von dem unvermeid- 
lihen Rezept der „Moorfultur“) fo vor: 
Man badt die Wilder ab, baſta. Zu— 
leid idealer Srjat für Kohlen und Bri- 
ett3. Sm Srunewald, im Srunewald is 
Holzauktion! Da fhon der alte Riehl 
fih über die Wälderabhader, die bei 
jeder Revolution auftreten, luftig qemadt 
bat, ahnt er nift. Tut nichts. Aus den 
Spalten de3 Berliner Sageblattes blüht 
das neue Zeitalter auf. Kellermann wird 
uns herrlidften Zeiten entgegenführen. 
Ave Dictator! 


Se fürzlih geftorbene Geheime Ree 
gierungsrat Ridard Witting, Bore 
fibender de3 Auffihtsrates der Natio- 
nalbanf für Peutihland, früher Her— 
renbausmitglied, ein Bruder des Liter 
taturprofeffors Witfomsti und Waxi— 
milian Hardens, war, wie man das zu 
nennen pflegt, eine ,befannte politifde 
Perfdnlidfeit*. Gr arbeitete, wie Gieg- 
fried Sacobfobn in der ,, Weltbihne“ 
(Nr. 1) mitteilt, zuletzt an einer deut- 
fhen Geſchichte, die — meint Sacobfohn 
— „zu unferm Schaden nidt über die 
erften Kapitel hinaus gediehen fein 
dürfte.“ Lim „über die Tendenz zu 
unterridten“, verdifentlihdt Jacobſohn 
einen Privatbrief Wittings, der den Bei— 
fall zu einem Aufſatz Flakes ausdrüdt 
und u. a. Solgende3 enthält: „Nur in 
äwei Punkten weihe id von Flake ab: 
wl. Sidte. Er war, nadjt Luther, das 
allerſchwerſte Unglück diefer fo ſchwer 
eſtraften Nation. Seine „Reden“: ein 
eerer, wilfter, halb oder dreiviertel pin 
Hopathifdher Quatſch, den leider nur ganz 
Wenige gelejen haben. Gihte war frei- 
lih nicht aud nod perfinlid feige, wie 
die me ften unfrer „nationalen“ Giganten, 
aber er tourde die Hauptquelle diejes 
findijdh-wahnwigijen Größenwahns, der 
in dem fleinen, in vielen Dingen höchſt 
Häglihen Deutidland den Nabel der 
Welt jab. Gidte war tapfer und gut in 
Sena; er wurde — wie fo ziemlih aus- 
nabmslo3 Alle — widerlih in der Sau- 
en-Atmofphare der Berliner Univerfi- 
tät. Dort ,,befrudtete* er, zujammen 
mit dem berzig lieben Hegel, AUlle: 
Ranfe und Dropyjen und Sybel und — 
Treitidfe, bis herunter gu Leng und 
Meinefe. Grade die vielgerühmte „Ipe- 
fulative“ Bhilofopbie, einfhließlih Kants 
„praftiide Bernunft“, bat und mit da- 
a geführt, wo wir find. (Man erinnere 
th hierbei an Profeffor Witlomstis 


unwiffendes ®erede über Kant im Ret- 
gen-Brozeß. D. Beob.) Alfo: Nieder 
mit dem Gidte der „Reden an die 
deutfhe Nation“, mit dem berliner Fich— 
te. &3 ift Dadfelbe wie mit dem Luther 
nah 1525; nah Worms, was aber aud 
fon nur fo, fo war. 2. Glafe fagt 
treffend: Die Nation ift forrupt, ift ver- 
dummt, bat fein Gerbaltni3 gum Mo— 
ralifhen. Ausgezeihnet! Aber er nennt 
die Deutfhen aud „Ihmwerfällig“. Das 
find fie, glaube ih, in ihren enticheiden- 
den Schichten: Intelligenz (?) und Bour- 
geoifie Durdaus nidt. Der „deutſche 
Michel“ exiftiert nur in völkiſchen Hirnen. 
„Doof, aber geriffen“ bat meine Tochter 
Gybille fon vor Jahren gejagt. Pie 
Maffen find zwar intelleftuell dimmer, 
dafür aber tehnifh beifer als andre 
Galfer und ethifh ihnen etwa gleich“ 
wertig.“ — Witting ift von der jüdijhen 
Breife bei feinem Tode fehr gepriejen 
worden. Jacobſohn meint, er fet gum 
KRultusminifter fowie zum Finanzmini- 
fter (Kultur und Finanz — ecco, jagt 
Alfred Kerr) befähigt gewefen. So alto 
fpriht ein gebildeter Sude, der in 
der Oeffentlidfeit ein Deutſcher zu fein 
beanfprudt, im vertrauten Kreiſe friner 
Boltsgenoffen über Deutfhes. Weld 
eine Enge de3 Herzens und des Geiftes, 
welche Unfähigkeit de3 Ginfühlen3 und 
der Iogifhen Kraft! Aber wir ages 
nidts über die Kritif Wittings an den 
Deutiden — die ift ibm natürlich unbe» 
nommen —, wir fagen aud nidts über 
Die etwas verlaufte Wusdrudsmeife, aber 
wir weifen naddridlid auf den infere 
naliſchen Haf gegen gewiſſe bedeut- 
fame Qualitäten de3 Deutiden Wefens 
bin, die fih in Luther, Kant, Fidte, He- 
gel manifeftierten. Und wir ftellen fol- 
a Sragen: Grftens: Was wiirden 
ie Juden fagen, wenn ein gebildeter 
Deutidher fih derartig über bedeutende 
Grjdheinungen ded jüdifhen Oeiſtes ere 
ginge? Antifemitismus, würden fie fa- 
gen. Folglich nennen wir Wittings Haß: 
Antigermanismus. Zweitens: Wer gibt 
uns Giderbeit, daß andre Juden, Die 
einen bedeutenden Ginfluß auf Die 
deutfhe Politif ausüben (wir denfen etwa 
an Freund im Auswärtigen Amt) in 
ihrem vertrauten Kreife nicht ebenjo über 
Die Deutfen und das Deutſche urteilen? 
Hierauf wiſſen wir feine Antwort. (Zur 
Pipdhologie Wittings geben wir folgende 
Worte Sacobjohns wieder: „Der zärt- 
lidfte Bater war duch den Kriegstod 
eines Sohnes leidenfhaftliher Pagifift 
eworden; das alte Mitglied des Herren- 
Raita batte fid, ſchwer enttäufht von 
der Schlappheit feiner Deutiden Demo- 
fratifhen Partei, wenigftens innerlid bis 


43 


didt an die A. S. P. D. heran 
widelt.“) 


x Dderfelben Nummer der „Weltbühne“ 
teilt Siegfried Sacobfohn über den 
durch fid ſelbſt gefennzeichneten Geheim- 
rat Rihard Witting mit, er habe 1917 
zufammen mit Hugo Preuß den 
Entwurf einer neuen Verfaſſung verfer- 
tigt (und ein halbes Sabr por der Rez 
volution dem Herausgeber der „Welt- 
bübne“ felbft vorgelefen). Gr babe den 
Entwurf (1917) „Den mafgebenden Stel— 
len übergeben“ und fie gedrängt, die 
Berfaffung (mitten im Kriege) zu ändern. 
Mutet man uns den naiven ©lauben 
zu, daß ein Mann, der von fo infer- 
nalifdem Haß gegen das Reinfte und 
Echteſte im deutihen Wefen erfüllt ift, 
das getan babe aus Liebe zu unferm 
Bolfe? Sit es Antifemitismus, wenn 
man fid der Vermutung nidt erwebren 
fann, daß er damit andre Abjihten 
verfolgt babe? Abermals zwei Fragen. 
Grftens: Was bewog die beiden Herren 
Witting und Preuß dazu, im Sabre 
1917 eine neue deutfhe Gerfaffung zu 
verfertigen? Zweitens: Llrteilt Herr 
Profeffor Hugo Preuß, der den wiſſen— 
{dhaftlid wie praftiih unzulänglichen 
Weimarer DBerfafjungsentwurf (denjel- 
ben, den er mit Witting zufammen- 
braute?) vorlegte, in vertrauten Briefen 
ebenjo über „jein“ deutſches Bolt? 


Da aller guten Dinge drei ſind teilen 
wir aus dem oben erwähnten Vach— 
ruf Safobfohns auf Witting nod fol- 
gende Gabe mit: „Scharf, Hug und gründ— 
lid legte Ridard Witting an Diefer 
Stelle (in der „Weltbühne“) politifche 
Anfihten dar, deren Radifalismus auf 
einen Dreifiger deutete. Den Sechziger 
befundete einzig Die Abneigung, ſich dureh 
Züpfung feines wohlgewählten Pſeudo— 
nyms einem Sagesfampf auszufeßen, def- 
fen Durchführung die Erfüllung feiner 
Hauptberufspflidten gefährdet hätte — 
und das hätte fie, da Die Artifel in 


ent⸗ 


ihrer Geſinnung dem Briefe glichen, den 
ih bier abdrude. (Siehe oben!)“ Alfio 
Derjelbe Witting, der in feinem Briefe 
die Nationalen der Geigheit und „jchmie- 
rigen Verlogenheit“ bezidtigte (gelegent- 
lid nennt er fie aud „Laufejungen“), 
der ©eheime Regierungsrat und Vor— 
fißende de3 Wuffidtsrates der National 
bant für Deutſchland Witting, fdrieb 
anonyme Aufſätze im Geifte des zi— 
tierten Briefes. Schreiben Herr Freund 
und Herr Preuß aud anonyme poli- 
tiſche Aufſätze und verihmähen aud fie 
es, um der Grfillung ihrer Hauptberufe 
willen ihre „wohlgewählten Pſeudonyme“ 
zu „lüpfen“? Wir fordern, daf 
alle anonyme Schriftftellerei 
bei fhwerer Strafe verboten 
wird Gin Mann — ein Wort! „Wohl 
ftebt Dir das grade Wort, wohl der 
Speer, Der grade bohrt, wohl das 
Schwert, das of fen fidt und von born 
Die Bruft durchſticht.“ Aber Grnft Moritz 
Arndt gehört ja aud zu der bafjens- 
werten Nation der Luther, Kant und 
Fichte. Gr hatte fih nod nit zur Mo— 
ral der „Pazififten“ aufgefhwungen. 


n illuftrierten Blättern finden wir 

neuerdings öfter große Bilder, die 
uns vorführen, wie Menjdenfreunde, be- 
fonders Amerifaner, Alte der Woblta- 
tigfeit an den poor little ®ermans voll» 
bringen, 3. DB. im ,,Weltfpiegel des 
Berliner Tageblattes eine reizend grup- 
pierte Szene, welde Die PBerteilung von 
Nahrungsmitteln an Schulkinder darftellt. 
Darunter Iefen wir: „Frau Harriet 
Kreisler, die Wattin Fri Kreislers, in 
einer Berliner Shule“ Uns fällt dabei 
die Bergpredigt ein. Wir lefen Matth. 
6,2: „Wenn du nun Almojen gibft, follft 
du laſſen vor dir pofaunen und Photo— 
graphen und Rino-Operateure herbeiru— 
fen, wie die Gdelmiitigen tun in den 
Schulen und auf den Gaffen, auf dah fie 
von den Leuten gepriejen werden.“ (Lu— 
ther hat e3 merfwürdigerweije etwas an- 
ders itberfebt.) 


Zwieſprache 


Wr beginnen das fedfte Jahr mit 
einer größeren Rüd- und Borfdau. 
Da das neue Sabr eine Anzahl politifde 
Wahlen bringt, wird e3 von milden 
Kleinfämpfen erfüllt fein. Mande Bei- 
tungen, allen voran der „Vorwärts“, 
baben bereits die Neujahrsnummer dem 
„Wahltampf“ gewidmet. Wir beginnen 
ungefähr mit dem ©egenteil eines Wahl- 
auffabes und laſſen es achſelzuckend ge- 


44 


ſchehen, wenn man e3 uns fo auslegt, 
alg ob mir refignierten. Der Gieg 
unfrer Gedanfen bat mit dem Partei- 
wejen nichts zu tun und hängt nidt von 
den Stimmenverhältnifien in den Parla- 
menten ab. Wir ftehn in dem Kampf 
der werdenden Zufunft mit dem adt- 
zehnten Sahrhundert, in dem Kampf um 
die Gigenform und — des 
deutſchen Weſens gegenüber der Auflö— 


jung in gefd@idtslofe und darafterlofe 
Menihbeitlidteit. Wir feben nicht ein, 
warum die Gogialdemofratie fo frampf- 
baft am adtgehnten Jahrhundert haftet. 
Eine gewiffe Oppofition meldet fish ja in 
dem redt friihen „irn“. Sogar das 
„Hamburger Echo“ forderte neulich an— 
ftelle der Gormaldemofratie „eine Der 
deutihen Natur gemäße Verfaffung. War 
es eine verflogene Schwalbe oder war es 
eine Schwalbe, die den Frühling an- 
fündigt? 

Zum Thema gehörte eigenilid ein 
Eingehen auf zwei duferft wichtige na- 
tionalpolitifhe Bücher, die fürzlih er- 
fhienen find, auf Moeller van Den 
Bruds „Da3 dritte Reih“ (Ring-Berlag, 


Berlin) und Maz Hildebert Boehms 
„Suropa irredenta (Reimar Hobbing, 
Berlin). Wir haben fie nod nidt be- 


riidjidtigt, da wir beiden Werfen einen 
eigenen Auffag widmen möchten. Ginft- 
weilen weifen wir unfre Lefer nur darauf 
bin, daß fie an Diefen Büchern nidt 
porübergehn dürfen. 

Auf die Miindener Vorgänge find 
wir im einleitenden Auffag nochmals furz 
zurüdgefommen, da fih in ihnen wie 
in einem Punkte faft alle nationalen 
Hoffnungen und Ablebnungen freugten. 
Wenn wir fie mit gewijfen Erſcheinungen 
nad den fFreibeitsfriegen in Parallele 
ftellen, fo tun wir das um der Gre 
fenntnis willen, ohne damit Wer- 
tungen auszudrüden. Was Die betei- 
ligten Berfönlichkeiten betrifft, fo betonen 
wir: Gine eiftung, wie Hitler fie in 
fünf Sabren aus ficherlih reiner Be- 
geifterung vollbradt bat, verdient Ach— 
tung. Wir haben früher, aufgrund von 
Zeitungsberichten, gelegentlih ſcherzhaft 
pon der Hitlerei gefproden, aber, nad- 
dem wir Hitler felbft reden gehört, bal- 
ten wir ihn für einen Wenfden, der red» 
lid fein Beftes gab. Da er feinen Gr- 
folg batte, ift e3 leicht, ihn gu verurteilen, 
Wenn die, welde über ibn berfallen, 
nur balb fo ebrlid wären wie er! Was 
Ludendorff betrifft, fo ift er ohne allen 
Zweifel perfönlid ebrenbaft duch 
jene Tage gegangen. Gr ift nur mitge- 
gangen, alg Die DBertreter der höchſten 
ayriſchen Gewalt aud mitgingen. Daf 
er nicht auf einen halben Wink hin fein 
Wort zurüdnahm, madt ihm Ehre, nicht 
Unehre. Man follte das Politifde und 
Menihlide nidt verwedjeln. Lleber 
Kahr läßt fid fdwer urteilen, folange 
feine re tite nicht far vorliegen. 
Wir fagen das, weil uns das Beſchul— 
digen zuwider if. Wenn eine Betve- 
gung nidt aus dem reifen um Die 
„Schuld“ Herausfommt, gerfebt fie fic. 
&3 wäre ſchade, wenn foviel reine und 


opferbereite ®efinnung in Berbitterung 
endete. Man lerne aus den Münde- 
ner Irrtümern, man verbeiße fid nicht 
in fie. Zu einem folden Lernen mödten 
wir helfen. — 

Die beiden vorigen Jahrgänge eröff- 
neten wir mit Abbildungen nad den 
Plaftifen des Naumburger und Bam— 
berger Doms. Es folgen nun Bilder 
nah den Gteingeftalten unjeres Strafe . 
burger Münfters. Gie find zeitlich teils 
por, teils zwiſchen den Bamberger und 
Naumburger Figuren entftanden. Die 
„liegreihen Tugenden“, die wir porn 
wiedergeben, und Die „Elugen Sung- 
frauen“, welche diefeds Heft befdliefen, 
zeigen zwei verjchiedene menfdlide Ty- 
pen. Port die geiftigere, berbere Art mit 
Der finnenden Stirn. Dieſe „Tugenden“ 
find nad) Körperhaltung und Gewandun 
die früheren. Die ,flugen Sungfrauen* 
find finnlih voller, füßer. Man betradte 
Die Zartheit der Arbeit, etwa beim Hals- 
anfah der Geftalt redhts, die ſchmiegſame 
Weidbeit Der Falten. Wir haben die 
Kreuzblumen redts nidt weggefdnitten, 
damit man abnen fann, wie Die Figuren 
in Der Gandfteinarditeftur fteben. Wer 
die ®efialten für fid) haben will, mag 
ih das Blatt entfpredhend befdneiden 
und auffleben. Die deutihe Plaftif des 
Mittelalters ift fo unausfpredlid ſchön 
und fo gar wenig befannt! — 

Der „Beobachter“ beihäftigt fid mit 
einem Briefe des jüngft verftorbenen 
Seheimrats Witting. Diefer Brief bat 
uns febr bewegt. Wir glaubten, Die 
Srörterung der „Judenfrage“ Ienfe in 
ein rubigeres Fahrwaſſer ein, die Ger 
genſätze hätten fih geklärt, die unnötigen 
NRücfihtslofigfeiten nähmen ab. Geit 
langem baben wir uns, abgefebn bon der 
Abwehr gewifjer Berliner Sournaliften, 
nidt mehr grundfaglid mit der Juden— 
frage bejdaftigt. Wenn wir nun aber 
plöglih fo in einen vertrauliden Brief 
einfehn dürfen, da — fteigen uns dod 
Bedenfen auf. Go aljo fieht ed in- 
wendig aus und fo wirfen fie ano- 
nym. Wem foll man nod vertrauen 
fönnen, wenn felbjt ein Witting fo ver— 
fährt? Wir bitten, die Frage gang ernſt— 
Haft zu erwägen. Gie ift nidt aus ,,An- 
tifemitismus“ entftanden, fondern aus 
dem Willen, vernünftig neben einander 
und mit einander ausgufommen. Wie 
ift Das mg ohne Bertrauen und 
Adtung? — 

Die Worte Schillers, mit denen wir 
den Hauptteil des Heftes im Anfdluf 
an den Leitauffab ſchließen, ftammen aus 
einem @edidtentwurf ,Deutide Größe“ 
von 1801. Der Entwurf enthält Bers- 
feßen und in Profa bingefdriebene Gee 


45 


danken durcheinander, Gine getreue Nach— 
bildung de3 ganzen Brudftiides hat 
Suphan 1902 herausgegeben. Die mei— 
ften Schiller-Ausgaben enthalten Diefe 
Stüde, die fo widtig für da3 gefdhidt- 
lide und nationale Denken Schillers find, 
überhaupt nidt. Sn der Srofbergog- 
Wilbelm-Grnft-Ausgabe des SInfelver- 
er oe bat der Leipziger Literaturbifto- 
tifer Albert Köfter allerlei überflüffige 
Albumblätter, belangloje Scherzgedichte 
ſorgſam abgedrudt, das widtige Frag- 
ment „Deutfhe Oröße“ hat er draußen 
geleert &3 ift ja „bloß Gragment“. 

uf Die Gorm fommt e3 an! And 
ſchließlich — deutſche Größe? Was geht 
die einem Profeſſor der Literatur und 
Aeftbetif an? — 

Die Poft hat anfdeinend nod fein 
Gertrauen in die Feſtigkeit der deutſchen 


jabrsbezug nod immer nidt wieder ein- 
geführt. Die Lejer müjfen alfo unfre 
Seitidrift alle Monate bei der Poft neu 
beftellen. Durch einen Zufall unterbleibt 
es oft, nadber erhalten wir verwunderte 
Anfragen, warum da3 D. DB. ausbleibe. 
Wir bitten, auf die Poftbeftellung adt 
u geben. In Gallen, wo alle Bemit- 
ungen bei der Poft fdeitern, bitten wir, 
fih an den Berlag zu wenden. Das Dae 
fein einer Zeitjehrift ift heute mit vielen 
Heinen Mübfeligfeiten und WAergernifjen 
verfnüpft. Waa früher „pon felbjt ging“, 
bedarf heut eine3 unmafigen Arbeitsauf- 
wande3. Aber nur, wenn wir uns nicht 
entmutigen laffen, jondern, felbft mit Pee 
danterie, die ge: durchſetzen, kön⸗ 
nen wir hoffen, daß die Selbſtverſtänd⸗ 
lichkeiten des Lebens einmal wieder 
ſelbſtverſtändlich werden St. 


Währung Denn fie hat den Viertel— 


Stimmen der Meifter. 


Auf der Deutihe in diefem Augenblide, wo er ruhmlos aus feinem tranenvollen 

Kriege geht, wo zwei übermütige Völker ihren Gufs auf feinen Naden ſetzen 
und der Gieger fein Geſchick beftimmi, — darf er fid fühlen? Darf er fid feines 
Namens rühmen und freuen? Darf er fein Haupt erheben und mit Gelbftgefühl auf- 
treten in der Völker Reihe? 

Sa, er darf3l Gr gebt unglüdlih aus dem Kampf, aber das, was feinen Wert 
ausmadt, bat er nicht verloren. Deutfhes Reich und deutfhe Nation find zweier- 
lei Dinge. Die Majeftät des Deutſchen ruhte nie auf dem Haupte feiner Fürften. 
Abgefondert von dem politifchen hat der Deutide fid einen eigenen Wert gegründet, 
ra wenn aud) das Smperium unterginge, fo bliebe die deütſche Würde unange- 
ochten. 

Sie iſt eine ſittliche Oröße, ſie wohnt in der Kultur und im Charakter der 
Nation, der von ihren politiſchen Schickſalen unabhängig iſt. — Dieſes Reich blüht 
in Deutſchland, es iſt in vollem Wadfen, und mitten unter den gotiſchen Ruinen 
einer alten barbarifhen Berfafjung bildet fid das Lebendige aus. 

Dem, der den Geiſt bildet, beherrſcht, muß gulebt die Herrfhaft werden, denn 
endlid) an dem Ziel der Zeit, wenn anders die Welt einen Plan, wenn des Mene 
[hen Leben irgend eine Bedeutung bat, endlid muß die Gitte und die Bernunft 
fiegen, Die rohe Gewalt der Form erliegen, — und das langjamfte Bolt wird alle 
die ſchnellen, flüchtigen einholen, 

Die andern Völker waren dann die Blume, die abfällt. 

Wenn die Blume abgefallen, bleibt die goldene Frucht übrig, bildet ſich, ſchwillt 
die Frucht der Ernte zu. 2 

Shm (dem Deutiden) ift das Höchſte beftimmt, und fo wie er in der Mitte von 
Gurppens Balfern fich befindet, fo ift er der Kern der Menfchheit, jene find die 
Blüte und das Blatt. 

Gr it erwählt von dem Weltgeift, während des Beitfampfs an dem etv'’gen 
Bau der Menjhenbildung gu arbeiten, was die Zeit bringt. Daber bat er bisher 
Fremdes fid) angeeignet und es in fic) bewahrt. : 

Alles, was Schäbbares bei andern Zeiten und Völkern auffam, mit der Beit 
entftand und fhwand, bat er aufbewahrt, es ift ibm unverloren, die Schätze von 
‘Sabrbhunderten. 

Niht im Augenblid zu glänzen und feine Rolle gu fpielen, fondern den großen 
Prozeß der Zeit zu gewinnen. Sedes Bolf hat feinen Tag in der Geſchichte, dod der 
Tag des Deutſchen ift die Grnte der ganzen Zeit — 

Wenn der Zeiten Kreis fih füllt 
Sind der Deutfhen Sag wird fcheinen, 
Denn die Schatten fid vereinen 


In der Wenſchheit [hones Bild! Sriedri® Giller. 








Neue Bücher 








Böhbmerlandb - Yahbıbud für Bolt 
und Heimat 1924. Herausg. im Aufirage 
aller deutfhen Schugvereine der Tſchechoſlowalei von 
Otto Klegl. 200 S. 3 Mt. Bobmeriand - Verlag, 


Eger. 

Das Jahrbuch bat 
Schon die Ausftattung 
Statiftiten und vorzüglide 
beiden $Plaftifen von Anton Hanak, ausgezeichnet 
wiedergegeben, find jehr bedeutend. Die Wbjdnitte 
bes Budes find: Unfere Heimat (Gefdhidte, He.mat- 
kunde), Der Böhmerlandbote (Soziale und Rultur- 
beridte), Eine Heerſchau über unjere Arbeit (Arbeit 
der ugvereine, Yugendfiirforge, Kunft, Wiffen- 
[haft und hohe Schulen, Vollsbi,dung ufw., Tednif 
und Wirtſchaft, Politif). Dann kleinere Mitte.lun- 
gen. Ein Nahruf auf Dr. Titta, Kolbenheyers 
unfern Lefern befannter Aufjag über „aufgeflärten 


fic). pradtig berausgemadt. 
omg Adhtung Karten, 
ilderbeilagen. Die 


Nationalismus” u. a. „Jahresregent“ ijt Karl 
Pojtl (Gealsfield). Auf den Geift und das Werk, 
von dem DdiefeS Bud zeugt, auf diefe ftarfe 


ſchöpferiſche und arbeitende Bollstraft bliden wir mit 
berzliger Freude. Dieſes deutſche Wert, auf ge- 
fundem WolfSgrunde, wird unerfdiittert daſtehn, 
wenn einmal wieder ein politifher Sturm bie gu- 
fälligen Staatengebilde burdheinanderwirbelt. ©. 

Sudetendeutfhe3 Jahr 1924. Ein 
Rocenabreißfalender, Her. bon Otto Klegl. 
Böhmerland-Berlag, Eger. 

Der Abreiflalender giht einen Ueberblid über 
bie fudetendeutfhen Künftler und Didter. Lon 
den Mitarbeitern nennen wir Auguft Brome, 
— Hegenbarth, Walter Klemm, Emil Orlil, 

erdinand Staeger (deffen „Schärer im VBöhmer— 
wald“ weit beffer ift als dad nicht fehr gelungene 
Titelblatt), F. W. Jäger (ein bortrefflihes Bild 
„Im Sriedländifhen“!), auch ältere Kunft ift 
bereinzelt aufgenommen: Megner (die wenig be- 
fannte borzünlide „Trauernde Frau"), fogar ein 
Blatt bon Fübhrih. Gedichte von Rolbenbeber und 
Waßszlit; Vollslieder. Inbaltlih ein Fortſchritt 
egen das borige Jahr Möge der Kalender weiter 
fo wachſen. St. 

Jahrbuch und Kalenber 
Deutfhtumd in Lettland. 1924. 
152 ©. Yond & Poliewslh, Riga, Kaufftr. 3. 

Die Deutichbaltifhe Arkeitszentrale, die „für 
den Zufammenfhluß der Kräfte auf allen Gebieten 
deutfch-baltifher öffentlicher Arbeit in Lettland” 
gebildet ift, bat bom Deutfhen Elternderhande die 
Herausgabe diefes Jahrbucdes iibernommen. Den 
Reichd- und fonftigen Deutfchen empfeblen mir 
da3 Bud als ein äußerſt gneeianetes Werf, fich 
über das geiftige Leben und die Organifation des 
Deutfchtums im baltifhen Gebiet gu unterrichten. 
Zunächſt fommen ausführlihe Berichte aus der 
deutfh-baltifhen Stulturarbeit in Lettland, dann 
Inappe aus Leben und Arbeit des Deutfchtumsd in 
Eitland, Kitauen, Finnland, Rußland. Es folat 
Hiftorifches, LKiterarifches, Statiftifhes. Yum 
Schluß ein wertvoller Ueberblid über die ganzen 
DOrranifationen mit ben Anfchriften. St. 

Shle3mig - Holfteinifhes Jabr— 
bud 1924. QGeraugsg. von Dr. Ernft Sauer- 
mann. (Umfchlaatitel: Nunftfalender Schleswig— 
Holftein.) 116 ©. u. 20 ©. Bilderbeilagen. Paul 
Hartung, Hamburg. 

Nah Inhalt und Ausftattung einer der reich- 
en und bornehmften dentfher Calender. Fin 

matfundlides und funftaefhidtlides Bilder- 
material, bei dem jedem Runfthiftorifer und Runft- 
freund da8 Herz aufgeht. Die Auffäge find zumeift 
efhichtlihen, fulture und Funftaefhichtlihen Yn- 
alts. Dazu einzelne grundfäg'ihe Muffäge bon 
tepräfentativer Bedeutung: Schmidt-MWodder, Sdles- 
wig als Grenzland; Friedrid Kauffmann, Deutſch 
ober däniſch? Johannes Tonnefen, Vom Sdhleswiger 


sum Deutfden. „Und wo ihr's padt, da ift’s in- 
tereffant”. Die Gdleswig-Hoilfteiner dürfen auf 
dieje Leiftung ftoly fein. Wie würdig ,Unjere Ber- 
mwahrung“ auf ©. XVII. Da ftebn Schm.dt-Wodders 
Worte zur Begrüßung des däniſchen Könige am 12. 
Sult 1920: „Wir bof en auf den Tag, wo wir neu 
entideiden werden über unjer ftaatlides Gefdid, frei 
bon dem Zwang des Friedensvertrages.” Wir raten, 
fi dieſes ungemöhnlid gute Jahrbuch nidt entgehn 
au laffen. St. 

Rubeder Jahbrbud 1924. Herausg. von 
Paul Brodhaus im Auftrage der Bereinigung f. 
voltstüml. Kunf. 9. ©. Hathgens graph. Kunft- 
anjtalt, Lübeck. 

So ſehr wir Jeſſens Kunft der Raummiedergabe 
Hagen — wir offen im nädjften Heft Proben gu 
ringen — dieſe feine Yahrbudausjtattung können 
wir nicht anerfennen. Die Sfiggen ge,ören in die 
Mappe eines Kunftfreundes, der fih an einge nen 
raffiniert bingewifdten Strichen ergötzt, aber bier 
wirfen fie gu anfprudsvol. Schlimm ift ed, wenn 
ein Kalendarium nur als Anregung gu Linien und 
Gleden dient — was fang ih nun an, wenn id 
einen Wochentag nahjehn will? Die Breitfeiten des 
Textes mit der breiten Antiqua und den dicht ane 
einander gejhobenen Zeilen ftrengen das Auge fo an, 
daß man fie nur mit unterge.egtem Lineal lejen 
fann. Dabei enthält der Text recht Gutes. Wir 
nennen: &tüde aus Helmolds Glavendronil, ein 
Aufzug aus Franz Frommes „Jürgen Wullenweber 
un Maris Meyer“, Beitrage von Habemann, Anthes, 
Kleibömer, Heife. Mögen Inhalt und kl rn | 
in Bufunft nit mehr fo ftart an Tg 

t. 

Auszüge aus Ammianus Marcel- 
linus Neu überfegt von Wilhelm Reeb. (Ge- 
ihichtöfchreiber der deutfhen Vorzeit. Bd. 3). 
2 Geh. 5,—, geb. 6,50 Mt. Dykihe Buchhlg., 
eipzig. 

Aus dem Ammian find die Stiide ausgewählt, 
die für die Germanengejhidhte in Betradht kommen. 
Alfo vor allem die Wlemannenfämpfe (bod aud 
Sadjen-, Franfen-, Burgunderfampfe) und die An- 
fänge ber bon den Hunnen bedrängten Goten. Die 
berubmten Glanzftüde find die Schlacht bei Straß- 
burg 357 und die Schladht bei Adrianopel 9. Auguft 
378. Die Ueberfegung ift forgfältig und fpradlid 
ut, nur gumeilen eine ungewöhnlihe Sapitellung 
3. B. ©. 136: „Außerdem verjperrten die Wege viele 
albtote” ftatt „. . . verjperrten die Halbtoten viele 

ege). Die Anmerkungen find knapp und in- 
ftruftiv. t. 

Die Regifter Jnnoceng’ III. über bie 
NReihsfrage 1198—1209. Yn Auswahl überfegt und 
erläutert von Dr. Georgine Tangl (Gejhichts- 
ihreiber der deutihen Vorzeit. Bd. 95.) 2356 ©. 
Geh. 8,— geb. 10,— Mt. Vylſche Buchhlg., Leipzig. 

Es handelt fi um die beiden Gegenfdnige 
Philipp von Schwaben und Otto IV. und ihr Bere 
hältnis gum Papft Innocenz II. Die Einleitung ift 
vortrefflih. Ynnoceng ift mit Sorgfalt dharafterifiert, 
ebenfo Philipps liebensmwürdiges, Ottos abftoßendes 
Wejen. Die Einleitung ift fo gehalten, daß fie 
wirflid) die nachfolgenden Dokumente in ihrem Zu- 
fammenbang verftändlih macht. Diefe Dofumenten- 
jemand aus dem päpftlihen Urchin ift ſowohl für 
ie BVerfaffungs- und Kirhenfrage wie für die Kul- 
turgefdidte rect ergiebig. Won folhen Beugniffen 
aus muß man Walther von der Bogelweide be- 
greifen: unter dieſen Menfden und Verhälin fjen 
wirkte er alg Minnefänger und politifher Didier. 
Das waren die Zuftinde, als der Nibelungend.dter 
die „alten Maren” aufgriff und Wolfram an je nem 
Parzival arbeitete. Aus den Dofumenten follten die 
er eeee den Schülern geeignete RR [vere 
eſen. t. 


47 


E 9 SKolbenheyer, Drei Xegenden. 
Volksbücher, Heft 49.) 55 ©. Berlag der Deutjhen 
Didter-Gedaidinis-Stiftung, Hamburg-Großborftel. 

Das Bändchen enthält vier Gedidhte (darunter die 
mit nod unbefannten „Stundenſchlag“ und „Unfer 
Leben“, hervorragende Stüde), ſowie drei fleine Gee 
ſchichten. Die erfte Geſchichte, „Die Rechtfertigung 
Gottes“, ijt gleichſam eine Erneuerung der Schöp- 
fungsgeſchichte, die zweite, „Königslegende“, ijt eine 
bon ſchwerem, ernitem Denten erfüllte, feierliche 
Ausprägung der Geſchichte von den bl. drei Königen. 
Beide jtellen bobe Anjprühe an den Lefer. Das 
tegte Stüd „Klaas Y, der große Neutrale” hat den 
merkwürdigen Whalibama-Humor, an dem ich mid 
jehr erbaue. Wir empfehlen das Heft nicht zur 
erften Befauntjdaft mit Stolbenbeyer; wer jeine Art 
nit fennt, wird fic) im manches ſchwer hinein» 
finden. Die aber, die ihn aus andern Werfen 
fennen und lieben, werden ihre naddentjame Freude 
an dent Büchlein haben. St. 

Borries, Freiherr von Mind, 
baufen, Meifterballaden. Ein Führer zur 
Dichter”. 


Freude. Sammlung ,Didtung und 
Stuttgart, Deutſche Berlagsanftalt. 

Mindhaujen will uns in diejen Betradtungen 
uber zeyu Weijterballaden „Türen aufſchließen zu 
jener Heiligen Freude am Schönen, die allen Vers 
aulaſſung und Biel alles Nedens über Stunjtwerfe 
jein darf“. Dieje Freude am Sdonen ſpricht auf 
jeder Seite jeines Budes warm und eriwarnend 
gum Herzen des Yejers. Es gibt fider teinen für 
Didterijhe Schonheit Empjfangligen, und jei er der 
„Belejenjte“, dem Münchhauſen nicht bisher uns 
gejeyene Schönheiten erſchloſſe. Ich geiteye gern 
und dankbar, dag mir erjt durd ihn Siradw.gens 
„Das Herz von Douglas” und Agnes Dliegeis „Die 
War vom Ritter wianuel” Wirth vertraut und 
lieb geworden find. Werden Gedichte nur „gelefen“, 
jJ Jeyt Man die „gemalten Fenſterſcheiben“ nur von 
außen und alles bierbt „duniel und duſter“. Führt 
uns aber ein ſchönheitstruntener Fuhrer ins Innere 
der „heiligen Stapelle, da iſt s auf einmal jarbig 
und belle”. — Beſondere Wufjdiiifje gibt uns 
uncyanjen an der Hand jeiner Beijpieie über 
dad Wejen der Ballade; das durften wir von ihm, 
dent Balladendichter, erwarten, Betonen 
wir aber, daß der cigentlide Wert des Buches 
Darin Liegt, daß We. bier in der leidenjchaftliden 
Freude des Bewundernden und Genichenden von 
der Schönheit meifterliher Dichtwerfe zeugt. Was 
er bier und da als „Wann vom Fad" an funjt- 
techuifher Belehrung einfließen läßt, wirft da» 
neben unmejentlich, ja, wo es nicht ganz unaufdring- 


liy gejagt wird, fdon leije ftorend, 39. 
Göttinger Mujenalmanad auf 
1923. Herausg. von Börries Frhr. v. Münd- 


haufen. 244 ©. Hodjdulverlag, Göttingen. 

Wud für diefen Muſenalmanach find wir dant: 
bar, wenn aud) WMiindbaujen felbjt feftjtellt, daß er 
den beiten der früheren Göttinger Almanade eben 
nicht gleidfommt. Wir empfebien allen, die über- 
haupt Qntereffe für die Lyrik der Gegenwart haben, 
fih mit diefem Bande zu beſchäfligen, es wird fie 
nicht gereuen. In der Cinleitung gibt der Heraus- 
geber furg fein Urteil über die innere Wanpdlung 
der jungen Didter, begründet durd den Einblid in 
sablreime Gedidte, die ihm vorlagen. Dieje Wand— 
lung gegenüber der Bortriegsgenetation ijt erheblich 
und durchaus hoffnungsreich. Es ijt dod) ein gejunder 
Boden da. Gollte die Ballade auf diefem Boden 
wirklich nit mehr gedeihen? Wir boffen, man 
wendet fic) ihr bald wieder mehr zu, weil wit — 
geſchichtlicher, jachlicher, berber werden. Vertreten 
find mit einer Auslefe von Gedicten: Paul Alt— 


möchlen 


haus, Kurt Beſſer, Fritz Haffelwander, Moritz Japı, 
sale Johſt, Willi Kable, Martin v. Katte, Alfred 
unge, Kurt Lange, Heinrich Renner, Bogislav 
vd. Selcdhow, Franz Thierfelder. Auf Johſt und 
Selhow fommen wir demnächſt guriid. Sehr ane 


gejprohen haben uns die volljaftigen Gedidte 
Worig Jahns. Auch bei Alfred Runge finder fid 
Bemerfenswertes. 


Martin v. Katte bat angenehm 
frifhe, fraftige Töne. Ct. 

Ridhard Arwed Pfeifer, Der Geijtes- 
franfe und fein Werf. Cine Studie über 
ſchtzophrene Stunft. 148 ©. mit 45 Abb. Alfred 
Kroner, Leipzig. 

Ein wiffenjhaftlihes Bud, das zugleih auf ge- 
bildete, für den Gegenftand interejjierte Leſer Riid- 
fiht nimmt, jo daß es fih angenehm, ja mit 
Spannung lieft. Pfeifer jtellt die Frage, ob es eine 
geiftestranfe Stunjt gibt, die von der gejunden in der 
Wurzel verjhieden ijt. Das Ergebnis der Unter- 
fudung ijt: Durch Schizophrenie entfteht nicht original 
eine Stunjtbegabung, jondern es werden nur latente 
Anlagen entweder frei gemacht oder in der fritijchen 
Beit geftcigert oder fie fünnen fic) — bei jonjtigem 
geiftigen Zerfall — nod eine Weile unberührt er- 
hauen und wie gejund wirken. Ein rein aus der 
Krankheit als folder entſtehender Darjtellungsdrang 
ijt faum unter den Begriff der Kunſt zu faffen. 
Pfeifer zeigt an ,gejunden” Erzeugniffen ener 
„dämoniſchen“ Begabung, wie weit die Spannweite 
deS Gejunden reicht. Seine Darftellung des 
„Dämoniſchen“, unter Polemif gegen Stietregaard, 
zeichnet ſehr Har einen bejtimmten Typ, dod jdeint 
uns, das wort „damoniſch“ paffe darauf nicht recht, 
wir moaten es lieber in Goetyes Sinn verwenden. 
Auch fonnen wir den bejchriebenen Typ nicht fv 


bod Werten. Außerordentlich interefjant ift das 
Wiaterial, das bejdreibende und Ddidiide, das 
Pſeiſer beibringt. — Nun ijt aber Kunſt nicht muir 


„Lünjtieriige Begabung“, jondern Aeußerung der Ge- 
famtperjöniicpleit, der Seele. Die Berjtorung der Seele 
zeigt fic) bei eryaitencr „Begabung“. — Schluſſe auf 
die expreſſioniſtiſche Kunſt hat der Berfaffer, und das 
ijt gut, nicht gezogen. St. 
Spicle deutſcher Jugend, Eine Samm- 
lung neuer Spiele aus dem Gemeinfhaftsgeift der 
deuten Jugend. Herausg. von Wilhelm Carl 
Gerjt. Verlag des Bühnenvollsbundes,  Frant- 
jurt a, W. / j 
Eine Bücherreihe, die den jugendlichen Spiel- 
baren guten Stoff für Aufführungen bringt. Kleines 
Gormat, fo daß die Biidlein leit mit auf Fahrt 
genommen werden können; dazu jehr hübſche Aus- 
ftattung. — Der Shweinehirt, nad dem 
gleihnamigen Anderfenfhen Marder bearbeitet, und 


Die Baubergeige, ein Spiel nad dem 
Grimmjden Warden: Der Jude im Dorn, find 
Dramatijierungen von Walter Bladetta. 


Bede glei ſriſch und herzhaft und ganz nad bem 
Sinn der Jugend. Das Spiel der Schweizger 
Bauern von Wilhelm Tell, der „Urtell“, der 
in legter Zeit durd mehrere Bearbeitungen dem 
Shay der wiederbelebten Vollſpiele zugefügt wurde, 
bat bier eine bejondere Form durd Franz „Johannes 
BWeinrig erhalten. Hoffentlid) wird dieſer 
Bo. fstell, der neben Schillers Wert befteben bleiben 
fann, vet bald in den Spielplan alier Jungjpiel- 
iharen aufgenommen. „Till“, eine beadhtenswerte 
Schiülerarbeit de3 Frankfurter Gymnaſiaſten Gisbert 
Klingemann, bat, frei geftaltend, aus dem 
Coſterſchen Uilenjpiegel feinen Helden entnommen 
und in Shakeſpearſcher Art jehr luftig die Handlung 
durchgeführt. Für Spieltruppen, die fdon mal 
viel Fleiß auf eine Einftudierung verwenden mögen, 
ift auch diefe Komödie zu empfehlen. G. K. 








Gedruckt in der Hanfeatifhen Verlagsanſtalt Altiengeſellſchaft, Damburg 36, Holſtenwall 2. 


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Vom Straßburger Münfter 


Aus dem Deutihen Voltstum 





, Yübeder Haus 


smus Ielfen 


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9 


Aus dem Deutfiben Volfstum 


Deutihes Bolfstum 


2.Heft ine Monatsichrift 1924 





Deutjchland — Dänemarf. 
1. 


gam ift fon lange bor dem Weltkrieg in die Rolle des Angeklagten 
gedrängt worden, und felbftverftändlich gab es immer Punkte, wo das 
mit einem gewiffen Erfolg geſchehen fonnte. Giner diefer Punkte war die Art, 
wie Deutfchland die fremdnationalen Teile des Reiches regierte. Diefe Art 
war nicht gefdidt, nicht Flug, por allem nicht beftändig, geradlinig. Sie ver— 
legte nicht Leib und Leben, aud nicht das Eigentum der Beberrfchten, aber 
fie befämpfte die Sprache der Minderheiten und zog gelegentlich gegen dem 
Staat feindliche Gefinnungen mit Polizei zu Felde. 

Das war in dem mit Polen durdjetten öftlichen Teil des Reiches, im 
franzöfifhen Zeil Lothringens und auc in Nordſchleswig der Fall. 

Im ganzen handelte es ſich dabei um etwa 6 bis 7 b. 9. der ganzen 
Reidhsbevdlferung, wichtig zu wiffen, weil die jest gefchaffenen neuen Staaten, 
Polen und die öfterreihifhen Nachfolgeftaaten außer Ungarn, alle nur auf 
40—70 b. 9. des herrſchenden Bolfes gegründet find. 

Bon Diefen 6 bis 7 b. 9. bildeten die Polen den weit überwiegenden Zeil. 

Die genannten Methoden, die angegriffen werden fonnten, waren aber in 
feiner Weife preußifche oder deutſche Erfindung oder etwa von befonderer 
preußifcher oder deutfcher Brutalität. 

Im Gegenteil hatte Frankreich in dem dem alten deutfchen Reid in feiner 
Obnmadt entriffenen Gljaß-Lothringen viel zielbewußter frangdjifhen Geiſt 
und franzöfiihe Sprache durchzuſetzen gefudt und in den Italien entriffenen 
Zeilen Siidfrantreihs durch Berbot aller italienifch gefchriebenen Zeitungen 
und ähnliche Maßregeln tatſächlich die italienifche Gonderart vollfommen aus- 
getilgt. 

Dänemark aber hatte nach dem Kriege von 1848 ebenfo zielbewußt in 
Schleswig deutfhe Gefinnung und Sprade zu befämpfen gefudt und hatte 
zu diefem Swed ein überaus ſchikanöſes Poligeiregiment eingeführt. 

Was aber gleichzeitig mit preußifch-deutfcher Minderheitenpolitif etwa 
in Irland oder in Rußland geſchah, war weit brutaler, als was Deutjchland 
fid je erlaubte. j 

In Irland war jahrhundertelang in immer neuen Borftößen geradezu ein 
Ausrottungs- und DVerdrängungsfrieg geführt worden, der allein im neun 
zehnten Sabrhundert die Bevölkerung von 8 auf 4 Millionen guriidbradte. 

Was aber Rußland fid in Finnland, den Oftfeepropinzen und gegen 
Polen erlaubte, zeichnete fid) por allem durch immer neuen Bruch gegebener 
Verſprechungen aus und fcheute gegebenenfalls vor feiner Unterdrüdung zurüd. 

Demgegenüber ift bejonders herborguheben, daß die nationalen Minder- 
beiten in Deutichland mit allerhand Erfolg vor deutfchen Richtern ihren Kampf 
um ihr Recht führen fonnten. is 


Damit foll nidts pon dem Urteil zurüdgenommen werden, daß bie da- 
maligen Methoden, die Preußen⸗Deutſchland braudte, wenn fie aud zehn- 
mal bon andern Reiden aud geübt und diel rüdfichtslofer gehandhabt wurden, 
der Kritik nicht ftandhalten konnten. 

Aber nur gegen Deutſchland richtete fich einmütig die europäiſche Kritif. 

Warum follen wir nicht zugeben, daß diefe Beeinfluffung der europäifchen 
öffentlihden Meinung ein fehr gefdidt gebraudtes Rampfmittel der Minder- 
beiten war, und daß diefe auch innerhalb des Reiches mit viel Standhaftig- 
feit ihren Kampf führten, um mit deſto ernfterem Nahdrud hinzuzufügen, 
daß es offenbar ein großes Ungefchid Deutſchlands war, daf es fich rubig 
in Die Rolle des einfeitig Angeflagten drängen ließ. 

. 2. 

Bet Deut{dlands Verhältnis zu Dänemark verdienen aber nod ganz be— 
fondere Umftände unfere Aufmerkjamteit: 

Deutſchland Hatte durd) Preußens Initiative, abnlid wie Italien durch 
Ptemonts Tatkraft, im neungehnten Sahrhundert endlich feine wenn aud klein— 
deutſche nationale Ginigung durchgefegt. In diefem natirliden Prozeß, den 
die andern ©rofftaaten Europas {don längft binter fid Hatten, war Däne- 
matt der Staat gewefen, der Deutſchland guerft bindernd in den Weg trat, 
indem es nicht unbedeutende deutſche Zeile, die Durd) Perfonalunion Schles- 
wig-Holfteins mit Dänemark gebunden waren, von Ddiefer Gntwidlung aus 
[ließen wollte, trogdem Holftein zugleich zum Deutſchen Bund gehörte und 
Schleswig mit Holftein ftaatlid) verbunden war. 

Man Tann bei unbefangener gefdidtlider Beurteilung durchaus ber- 
ftehen, daß Dänemark verfuchte, feinen Staatsbeftand zu retten*, fann aber 
Damit feineswegs befchönigen, daß es fic über alte fehleswig-bolfteinifche 
Rechte hinwegzuſetzen und Schleswig zu entnationalifieren perfudte, und man 
würde mehr als gutmütig fein, wollte man nicht den Ginger darauf legen, 
daß es von den PDeutjchland umgebenden Staaten ausgerechnet Dänemark 
war, das unfrer nationalftaatliden Ginigung fic entgegenftellte. Gs ſetzte 
fih dabei gleichzeitig in Widerfprud mit altem Hiftorifhem Recht und dem 
lebenden Recht, das fic) Durdringen wollte und ſich durdrang. 

Das Ergebnis war für Dänemark ſehr fdmerglid. Gs verlor Schleswig 
Holftein und damit ein Drittel feines durch die Perfon des Königs zufammen- 
gehaltenen Gtaatsbeftandes. Gin Berfud, Schleswig national zu teilen, 
{eiterte ebenfalls an dem Widerftand Dänemarks, das fid damit nicht ge- 
nügen laffen wollte. 

Mit Sdhleswig-Holftein fam nunmehr ein Landesteil zu Preußen, deffen 
Bevölkerung im nördlichften Zeil dänifh ſprach und fdwantte, ob fie den 
Anſchluß an Dänemark der alten Gerbindung mit Schleswig-Holftein vor- 
ziehen follte. 1848 war die Stimmung offenbar nod vorwiegend für Schles- 
wig-Holftein. Nad) der ftaatliden Vereinigung mit Preußen ift fie nicht ge- 
fragt worden, wie urfpriinglid vorgefeben, und bon nun an vollzieht fich der 
bon Dänemark in jeder Weife geförderte Prozeß, daß die Bevölkerung mehr 
und mehr Dänemark als ihr Mutterland angufeben lernte, und daß fchließlich 
nad) dem für Deutfchland verlorenen Weltkrieg eine Bolksabftimmung zuftande 
fam, durch die gegen ein Viertel der abgegebenen Stimmen ein Landftrid mit 
rund 160000 Menfden an Dänemark angegliedert wurde. 


* DBergl. Nordelbingen Bd. 2: Das tragifhe Moment in der fdleswig-holftei- 
nifhen Seldidte, von Profeffor Krumm, Slüdftadt. 


50 


Als Aufruhr und Smpörung bezeichnen die Dänen nod heute faft allge» 
mein die [chleswig-holfteinifhe Grhebung bon 1848, troßdem Die dänifche 
Wiffenfdhaft oon diefem Urteil Abftand genommen. 

Als Wiedervereinigung feiert man allgemein die Ginberleibung Nord- 
ſchleswigs, trogdem der dänifhe Minifterpräfident Neergaard feierlid auf 
Düppel erklärte, daß nunmehr Nordichleswig zum erften Mal mit Dänemark 
bereinigt wäre. 

So gabe ſucht man nod heute die gefdidtliden Tatſachen zu verdrehen. 

Bor allem zieht man den Schleier über die Art, wie diefe Bereinigung 
guftande gefommen if. Wud bat man faum erreicht, was man glaubte als 
nationalen Anſpruch erheben zu können, da geht das alte Spiel weiter, daß, 
erheblihe Zeile bes däniſchen Bolfs durch neue nationale Anfprühe und 
neue Stimmungsmade neuen politifden Gewinn vorzubereiten fuchen. 

Die Art, wie diefe Bereinigung zuftande gefommen ift, hat zwei Seiten. 
Sie wird vollzogen auf Grund des Berfailler Bertrags. Eine Bolfsabftim- 
mung gebt ihr vorher. Man betont, auf dänifcher Seite die Bollsabftimmung; 
man redet weniger davon, daß fie bon Berfailles her diftiert wurde; man 
muß all feinen Grimm gegen Preußen wieder aufwärmen, um zu verteidigen, 
daß die Abftimmung unter franzöfifhen Bajonetten ftattfindet. Dänemarf, 
das während des ganzen Krieges eine neutrale Haltung einzunehmen fid 
bemüht hatte, ließ jegt feine Wünfche durch die Feinde Deutfchlands durd- 
führen. erbandlungen, die unmittelbar nad) Ausbrud der Repolution mit 
Deutichland direkt perfudt wurden, wurden abgebroden, weil Frankreich das 
als unfreundlide Haltung anfah. 

Auf Verhandlungen, die ſchon während bes Krieges mit Deutjchland ge- 
pflogen waren, und meines Wiffens fdon fehr weit gediehen waren, fam man 
nie zurüd, aud nicht in der dffentlidhen Distuffion. 

Gs ift richtig, Daß es Dänemark einfach nicht erlaubt wurde, jest noch fid 
Direft mit uns in Verbindung zu fegen. Aber eben deswegen tft es aud 
richtig, daß Dänemark damit feine Neutralität aufgab und ohne Friegerifchen 
Alt feinerfeits durch die uns feindlichen Mächte die Abgabe Nordfchleswigs 
erziwang. 

Die Abftimmungsbedingungen felbft find bon Dänemark entworfen und 
durchgefett, und man Hat allerdings getwiffe Shancen ausgefdlagen, die 
Stanfreich bot, weil man, wie man fagte, nicht mehr wollte, als daß alles 
heimfäme zu Dänemark, was zu Dänemark wolle. Gs ift befannt, wie man 
einen Zeil bis zur Glaufenlinie gunddft für fic nahm und anordnete, dah 
dort en bloc abgeftimmt werben follte, wobei es gelingen mußte, ganze Zeile, 
die pon jeher überwiegend deutſch gewefen waren, niederguftimmen. &ine 
zweite Zone wurde eingerichtet, in Der gemeindeweife abgeftimmt werden 
follte, um es auch da zu ermöglichen, daß. man den Anſchluß fände an Däne- 
mart. Die Entjcheidung, welde Zeile der zweiten Zone Dänemark guguteilen 
wären, follte gleichzeitig von mirtfchaftlihen und geographiſchen ©ejichts- 
punkten abhängig gemadt werben. 

Es ift eine befondere Willkür, daß ein Land, das Jahrhunderte hindurch 
um feine Ginbeit gerungen hatte, nun geteilt wurde und in einzelnen Zeilen 
nad verfhiedenem Modus abftimmen follte. Nah Abftimmung und wirt- 
Ihaftlihen und geographiſchen Gefidtspuntten wollte man Staaten neu ge- 
ftalten. Alle vorhergehende Gefdidte ſchien ausgelöfcht. 

Ohnmächtig, feeliih und wirtſchaftlich zermürbt, hungernd und verwirrt 
mußte Deutfchland diefe Entſcheidung über fic ergehen laffen. Immerhin 


51 


bradte Zone zwei fopiel Widerftandsfraft auf, alles Werben Dänemarks um 
bungernde Magen und müde Geelen abzuweifen. Dabei flammte gum erften 
Mal wieder etwas bom fchleswig-holfteinifhen ®emeinbemwußtfein auf. 

Gs verdient noch bemerkt gu werden, daß die dänifche Preffe radifaler und 
fozialdemofratifcher Richtung, bepor im Berfailler Bertrag die Beftimmungen 
über die ©renzordnung im Norden des deutjchen Reiches Herausfamen, fehr 
lebhaft Kritif übte an dem Anheil, das die Berfailler Friebensbedingungen 
über Europa zu bringen drohten. Als aber die Grengordnung beftimmt war, 
berftummte diefe Kritif jehr merflih, um nun für dag Recht der neuen Ord- 
nung einzutreten. 

Aud das ift gewiß febr verftändlich, aber für die weitere Gntwidlung des 
Berbältniffes pon Dänemark zu Deutjchland ſehr verhängnispoll. Dänemark 
ift nunmehr mit interefjiert am DBerfailler Bertrag, aud an feinem Weiter» 
beftehen. Für Deutichland aber ift es eine Lebensfrage, daß er aufgehoben 
wird. Ob Europa es einjehen wird, daß das für den ganzen Kontinent gilt, 
wird man abwarten müjfen. 

Grft mit der Aufhebung des Berfailler Vertrags würde wieder der natür- 
lide Zuftand eintreten, daß, Deutjchland und Dänemark ohne Außeren Zwang 
ihr Verhältnis zueinander ordnen finnen. Daß diefer Zuftand vorher ein- 
tritt, ift nicht zu erwarten. 


3 


Inzwifchen haben die Dänen der zweiten Bone fdon gleich nad der Ent- 
fbeidung es als Unrecht erklärt, daß nicht die duferften nationalen Borpoften 
Dänemarks mit ans Reich gefommen feien, als ob nicht unfre Borpoften an 
der Königsau ftänden und mit befjerem Rect Anjchluß an Deutfchland ver- 
Tangen fönnten. 

Bergebens fudte man durd Internationalifierung der zweiten Zone auf 
Umwegen fein Ziel zu erreichen. Sie mißlang, troßdem der fdon einmal ge- 
nannte däniſche Minifterpräfident dem Plan feine mwohlwollende, wenn 
aud nicht feine vollamtliche Unterftügung lieh. 

Nun aber greift man zurüd auf den alten gefdidtliden Tatbeftand, daß 
Schleswig fdon lange eine Einheit gewefen fei, und auf alte geſchichtliche Er— 
innerung, daß Danijhe Macht bis an die Gider gereicht, und wußte für fi 
eine ftetig wachfende Stimmung in Dänemark zu erzeugen, Daß Dies das neue 
politijhe und fulturelle Ziel für Dänemark fein müffe, Schleswig zu erringen. 

Man vergaß dabei allerdings, daß die biftorifhe Ginheit Schleswigs 
im Anſchluß an Holftein, nicht im Anſchluß an Danemart, jondern durch Los- 
löfung bon Dänemark entftanden war. 

Weil aber der offiziellen däniſchen Bolitif eine offene Proflamation des 
neuen politifhden Ziels jehr unbequem fein mußte, wurde es wiederholt offiziell 
dementiert, dem fulturellen Vorſtoß aber jede, aud ftaatlide Hilfe geliehen. 
Aud war die däniſche Preffe fo disgipliniert, daß nur gelegentlich Hier und 
da die politifche Parole laut wurde, dann aber meiftens in ſehr unverbliimter 
Weife. 

Das wird aufenpolitijd der Zuftand bleiben, über den wir vorläufig 
nicht Dinausfommen. 

Wirkſam fefundiert wird die offizielle däniſche Politif durch das deutjch- 
dänifhe fozialdemofratifhe Grengabfommen, das, allerdings in allerhand 
diplomatifchen Wendungen, die jegige Grenze nur als ,gefeslide* Grenze 
anerkannt und refpeftiert haben will. Das fagt fehr wenig, fieht aber ent» 


52 


{dieden gut aus. Die dänifche Sozialdemofratie hat zweifellos den Wunfd, 
daß die Grenafrage zur Rube fomme, und fieht mit Unbehagen die dänifche 
Propaganda in Scleswig-Holftein ihr Wefen treiben, fürchtet aber, fid 
national blofguftell[en, wenn fie nicht die Staatsmittel für dänifche Schulen, 
Büchereien, Gemeinden uf. in Zone zwei bewilligte. 

So ift denn die dänifhe Kulturarbeit in Schleswig-Holftein von der 
ganzen däniſchen Front legalifiert, und nichts mehr fteht im Wege, daß die 
einen fie treiben im DBlid auf das politifhe Ziel und gelegentlich mit Bor- 
fpann diefes Motivs, andere — und das ift wahrſcheinlich die größere Zahl, 
aber die weniger aktive — nur um dänifhem Bolfstum zu bewahren, was 
ihm gehört. 


4. 


Deutſchland Hat feinerfeits oon Anfang an derfudt, mit Dänemark zu 
einem Gegenfeitigfeitspertrag über die nationalen Minderheiten zu fommen, 
aber ohne Erfolg. Dänemark gab vor, daß ein folder DBertrag den uner- 
wünſchten Anlaß gäbe, in die Angelegenheiten des andern Staates hinein» 
gureden, und daß das für den [hwächeren Zeil eine ungünftige Lage bedeute. 
Diefer Ginwand ließ fih wirkſam entkräften durch Ginridtung eines geeig- 
neten Schiedsgerichts, wofür deutſcherſeits aud Vorſchläge gemadt find, 
aud dies ohne Erfolg. 

Somit ift Die Rechtslage der Minderheiten bon jedem Staat befonders 
gu ordnen, und wenn die beiderfeitigen Regierungen nunmehr aud feine 
Sandhabe Haben, den andern Staat an Snnebaltung gemeinfam eingegan« 
gener Gerpflidtungen zu erinnern, fo bat die öffentliche Meinung, die Preife 
bor allem, um fo ausgiebiger Gelegenheit, Bergleiche anzuftellen und Gore 
derungen gu erheben. 

Bei ſolchen Vergleichen geht man danifderfeits davon aus, Daf die Gee 
feßesbeftimmungen auf beiden Seiten möglichft gleich fein follten, ohne zu 
berüdjichtigen, daß dann die Berhältniffe auf beiden Seiten auch die gleichen 
fein müßten. 

Daf diefe Borausfegung in feiner Weife zutrifft, ift leicht zu zeigen. 
Bis zur jüngften Zeit war die dänifhe Krone der deutſchen Mark ungeheuer 
überlegen, Dänemarks Wirtfchaftsleben pom Krieg begünftigt, Deutfchlands 
dagegen ruiniert, damit eine unendliche Meberlegenheit auf dänifcher Seite 
borbanden, den Kulturfampf mit reidften Mitteln zu führen. Die 200 000 
Kronen, die der däniſche Staat dafür jährlich bewilligte, find bon diefen Mit- 
teln nur ein Teil. Private Mittel wurden in weitgehendem Maße zur Ber- 
fügung geftellt. Der deutſche Staat hatte fo gut wie feine Mittel dem ent— 
gegenguftellen, deutfche private Initiative war gebunden durch die dringende 
Notwendigkeit, das nadte Leben der deutſchen Bürger zu fehüten, war aud 
nod wenig für feine fulturelle Verpflichtung erzogen. 

Schleswig-Holftein lag gemwilfermaßen offen und ungefhütt bor der In— 
bafion dänifher Kultur. Wie fie ausgeübt wurde, erhellt am beften daraus, 
daß bald drei deutichgefchriebene Zeitungen für die däniſche Gade warben und 
thren efern guerft unterm Papierpreis, dann für die Hälfte des üblichen 
Abonnementspreifes, jest, naddem fie gut eingeführt find, vielleicht zu etwas 
gefteigertem Preis angeboten wurden. 

Hier fommen wir dann zu dem wundeften Punkt in Deutfchlands augen- 
blidlidem Leben, der genannt werden muß, wenn man die Dinge ganz richtig 
feben will. Das deutfhe Bolfstum mußte immun fein gegen alle dieſe dä— 


53 


nifhen DBorftöße, wenn fein Leben gefund war. Gs war bis in die Seele 
franf. Deutſchland wütete gegen fich felbft, und jede Kritif an deutſchen Zu- 
ftänden wurde mit einer Art bitteren Bujtimmung gelefen. Sede Ausficht, 
aus dem Chaos Herausgufommen, wurde zur Gerfudung, der mander erlag. 
Das war der Boden, auf dem die dänifchen Blätter deutjcher Sprache arbei- 
teten und den fie für fich fruchtbar madten. Leugnen wir es nicht: da liegt 
ein gut Zeil deutſcher Schmad, milde ausgedrüdt, deutſcher Schwäche. 

Müffen wir aber fo ehrlich fein zu gefteben, daß wir nicht nur tief wund, 
aud franf, auch vielfach bon gefundem, ftarfem Volksgefühl verlaſſen waren, 
dann muß es doch deutſche Herzen mit Bitterfeit erfüllen, daß Dänemark in 
biejen Wunden wühlt, diefe Schwächen nutt und feine vorläufigen Grfolge 
der Welt als Beweis porführt, daß ganz Schleswig nod die Sehnfudt nad) 
Dänemark im Herzen bewahrt habe und jest fich auf fic felbft befinne. 

Wir wiffen ganz genau, daß das alles nur ein Beweis unfres Slends ift; 
aber wir werden diefen Beweis erft wirkſam erbringen können, wenn 
wir fo weit gefundet find, daß niemand troß Not und Schwädhe fein Volkstum 
preisgibt. 

Wir find noch nicht fo weit, Gott jei’s geklagt, aber wir find auf dieſem 
Wege. Wirtfchaftlich bedeutet die Stabilifierung der Mark in der Beziehung 
febr viel, wenn aud natürlich auf deutſcher Seite die Armut bleibt, ja viel» 
leicht erft recht deutlich wird. Mit einer ftabilen Währung entftehen doch 
ftabilere Verhältniſſe. Bor allem aber wadjt das Berantwortungsbewuft- 
fein der Grenzbevölkerung, wächſt der Drang, ſich ing eigene Volkstum zu 
vertiefen, die Greude daran, der deutſche Stolz, Der Glaube an deutſche Bue 
Zunft. 

Gs gibt in Flensburg und Umgegend ein Dänentum, das echt ift und 
alter Tradition. Man weiß, daß es ſchwer trägt an dem Neudänentum, das 
jest gewonnen wird, weil guviel Unechtes daran ift; aber die Stimmen Diefer 
edten Dänen fommen faum zu Worte, wagen fid aud faum heraus. 

Nördlich der Grenge ift das Bild ein gang anderes. Die deutjche Minder- 
beit Bier ift, wie aud) die Dänen anerkennen, alter Tradition, entftanden aus 
altem Gemeingefibl mit Schleswig-Holftein, wenig gepflegt unter preußijcher 
Herrſchaft, aber Hineingeftellt in die großen deutfhen Zufammenhänge und 
ihnen Treue baltend jest im Unglüd. 

Sammlung ift bei uns die Lofung und immer tiefere Berfnüpfung mit dem 
Leben des deutfchen Bolfes gerade jest in der Trennung. Mander ließ fid 
durch die Greignifje überrennen, zog fic zurüd, fragte vielleicht, was es nod 
für einen Wert habe, dem deutſchen Volk die Treue zu halten; aber wenige 
nur wandten ihr Herz wirklich dem dänifchen Bolf gu. Die aber ſich über- 
rennen ließen oder ſchwankten, die finden mehr und mehr zurüd. Das deutjche 
Leben zeigt Anziehungskraft, aber Sammlung ift die Lofung, nicht Groberung. 
Die meiften ſprechen die däniſche Mundart, und die Beziehungen zum dänijch- 
gefinnten Zeil der Bevölkerung find durchaus nicht feindliche. In ganz Nord- 
ſchleswig vollzieht fic) gleichzeitig ein Gefinnen auf das, mas war und was 
Deutſchland gab, und eine ftarfe Grniidterung gegenüber den Segnungen des 
dänifchen Lebens, das es an Grnft der Lebensführung und Gtraffheit in 
Dingen der Verwaltung, des Rechts und der Lebensgewohnheiten fehlen 
läßt, tritt ein. Trotzdem wird die deutſche Sache nur in Zeitungen deutfcher 
Sprade geführt, und die Kritif an däniſchen Verhältniffen halt fih von propa- 
gandiftifher Verwertung fo merklich zurüd, daß die Kritif in nordichles- 
wigſchen dänifhen Blättern nicht felten ſchärfer ausfällt. 


54 


5. 


Dieſen Unterfchied der ganzen nationalen Atmofphäre bei den Minder- 
beiten beiderfeits der Grenge muß man fennen und im Auge behalten, ehe 
man richtig urteilen fann über das, was der eine oder andere Staat ber 
Minderheit bietet. Ich halte es für wertvoll, zu allererft zu betonen, daß auf 
beiden Seiten den Minderheiten mehr Raum geboten wird, als es por dem 
Kriege in den Staaten üblid war, und daß rechtliche Bufiderungen gehalten 
werden, aud) wenn es oft ſchwierig genug ift, fie geltend gu maden. Das foll 
als Sortichritt gebucht werden. 

Im übrigen liegt die Sache fo, um es in kurzen Zügen, wie es Dtefer Auf- 
fag nötig madt, zu jagen, daß Dänemark beftimmte Gefege erlaffen bat, die 
bie Rechte der Minderheit feftlegen und gemäß der ftarf dezentralifierten 
demofratifhen Verfaſſung des Landes die Hauptentfcheidungen in die Gee 
meinden legt, daß auf deutjcher Geite die Gerfaffung allgemein das Recht 
der Minderheit auf eigenes Leben gufagt, eine Iandesgejegliche Auslegung aber 
nod fehlt, Das meifte daher auf dem Wege der Berwaltung geregelt wird. 

Daß da ein Borgug der dänifhen Regelung vorliegt, ift ſchwer zu 
leugnen. Andererſeits muß aber bemerft werden, daß in Dänemark die Not- 
wendigfeit porliegt, in jeder Gemeinde gefondert bie deutſchen Rechte au vere 
treten, und daß eine dänifche Mebrbeit diefe vielfach fabotiert. Gin Minder- 
beitenredt, das unabhängig bon der däniſchen Mehrheit fic durchſetzt, gibt es 
nur in bejcheidenen Grenzen. Bor allem aber fehlt jedes Recht, die deutfchen 
fulturellen Gintidtungen wie Schulen durch eigene Organe zu verwalten*. Gs 
feblt die Eulturelle Gelbftbeftimmung außer in den Ginridtungen, die ganz 
durch eigene Mittel getragen werden. Diefen Weg zu befchreiten, ift aber der 
deutſchen Minderheit nur in geringem Grade möglich, weil die Mittel allzu 
befchräntt find. 

Die dänifhe Minderheit fidlid) der Grenge fann fid aber auf umfang» 
reihe Mittel beides, des däniſchen Staates und des ganzen dänifchen Bolfes 
ftügen und tut es ausgiebig. Gin Heer reichsdänifcher Lehrer und Kultur» 
träger übt ungeftört feine Kulturpropaganda aus. Daneben errichtet der 
deutſche Staat ein däniſches Schulwefen, das aber wie gefagt nicht genau ge- 
feglich feftgelegt ift. 

Wenn man aud durchaus verfteht, warum der preußifche Staat fich ſchwer 
gu einer Regelung entfchließen fann angefidts der aggreffiven Propaganda, 
fo bin id dod der Auffaffung, daß fie erwünfht und notwendig ift. 

Nicht aber die gefetlichen Beftimmungen nördlich und fidlid der Grenge 
geben den maßgebenden richtigen Bergleid, fondern all die Momente, die 
borher genannt wurden, und diefer Vergleich wird immer das Bild ergeben, 
daß nördlich der Grenze das Leben der deutjchen Minderheit durch die Auf 
gabe der Sammlung und den Ausbau eines werbefräftigen Bolfslebens ge- 
prägt ift, daß füdlih der Grenge die Not bes deutſchen Volles zur Bere 
wirrung der Gemüter ausgenugt wird. 

Wirkſam nüst da allein die Mtobilmadung aller Bolfstrafte auf deutſcher 
Seite, um Die Widerftandsfraft zu erhöhen. 

Das Berbot der deutfdgefdriebenen dänifhen Zeitungen ließe fich ver- 
teidigen bon dem Gedanken aus, daf eine nationale Minderheit nur in der 
Sprache ihres Bollstums den nationalen Kampf zu führen bat, denn nur 





* Sas bedeutet u. a., daß an unfern deutfhen Schulen eine Reihe von Lehr- 
traften tätig find, deren Herz dem danifden Bolt gehört, nicht dem deutichen. 


55 


gegen PDeutfchland benugt man die deutfche Sprade, um das deutſche Bolt 
gu befämpfen, und verrät damit Deutlich den aggreſſiven Charalfter. 

Srogdem dürfte es richtiger fein, Dies zu ertragen und nur bei offen» 
fundiger ftaatsfeindliher Tendenz einzufchreiten. Umfo fraftiger muß Die 
Seibfthilfe d. h. Stärkung des eigenen Bolfstums fich entfalten, und umſo 
wirkſamer fann das wenig faire Benehmen diefer Minderheiten an den 
Pranger geftellt werden. 

Dänemark aber tate gut daran, rechtzeitig Darüber nadgudenfen, wie es 
fih ftellen will, wenn die Gntwidlung dod einmal dazu führt, daß dieſes 
ſchmachvolle Dokument der Sieger des Weltkrieges fällt. 

Dänemark müßte fich darüber klar fein, daß diefer Bertrag in der furdt- 
barften Weife Deutjchland entehrt gu einem unfreien, der Willfür preisgege- 
benen Volk, zu einem Golf, das man zwang, fic felbft der Ehrloſigkeit gu 
bezichtigen. 

Dänemark Hat während des Krieges und nad dem Kriege genug an 
deutſcher Ehre gefündigt, und ſchwerer fann man fid an einem Bolfe nicht 
berfündigen, als indem man es an der Ehre angreift. 

Die Welt beginnt fich zu teilen in Grantreid und feine Trabanten auf 
der einen Seite und die, welde von Granfreid) mindeftens abrüden. Gs 
fann einmal die Frage fommen, ob Dänemark zu den Trabanten Frankreichs 
gehören will. Dänemark braudt nicht eine befonders feine Witterung zu 
haben, um gu merfen, daß Granfreid jest die Macht hat. Danemarf hat 
porläufig nach dieſer Witterung gehandelt und fann das nicht dadurd vere 
wijden, daß es noch die alten Tiraden gegen preußifhe Macht zum Beften 
gibt, wo es eine preußifhe Macht faum mehr gibt. Das wirkt nur lächerlich. 

Will Dänemark aber im Grnft den Gindrud erweden, als ob es fein 
Berhaltnis zu Deutſchland auf Macht gründen will, dasfelbe Dänemark, das 
den Pagifismus als höchſte politifhe Moral zu verfedten fudt? 

Kann es feiner Gade dienen, daß es faum ein Wort der Kritik gegen fran« 
zöſiſches Regiment in Deutſchland findet, ja mir tm Golfeting den Mund 
verbieten will, weil ich diefe Kritik übte, und gleichzeitig felbft verfucht, einen 
Entrüftungsfturm über preufifdhes Vorgehen in Zone zwei zu entfaden? 

Ich perſönlich teile nicht die politifihe Moral des Pagifismus, aber 
Deutfchland und Dänemark miiffen fo viel Selbftbeherrfhung aufbringen, daß 
ihr weiteres Verhältnis fid in ruhiger Gntwidlung ordnet. 

Das nationale Ringen fann nidt abgebaut werden, muß aber in ritter- 
lihen Gormen durchgeführt werden. Gin allmähliher Ausgleih der Kräfte 
wird dazu viel tun. Gin gutes Minderheitenreht wird daraus erwadjfen 
müffen und beruhigend wirken. 

Gs läßt fih auch nicht defretieren, daß der alte fchleswig-bolfteinijche 
Ginheitsgedanfe zu begraben fei, um fo weniger als gerade Dänemark guerft 
den Gedanfen der Einheit Schleswigs für feine Bwede aufgriff. 

Die Entwidlung geht in diefen beiden Linien weiter und drängt einmal 
gu einer neuen Gntfdheidung. Mögen ingwifdhen die Völker Herangereift 
fein gum DVerftändnis, daß es eine höhere germanifde Solidarität* gibt, 
und daß ein verantwortlicher Staatsmann diefe nie aus dem Auge verlieren 
darf. 

Zondern, 9. 1. 1924. Sobannes Shmidt-Wodder. 


- Bgl. das Schleswig-Holftein-Heft der „Bat“, das in Vorbereitung ift. 
56 


„Seelloje* Arbeit. 


ans Sachs hätte einen Beruf gehabt, aud) wenn er fein Poet gewefen wäre, 
H — kann die Arbeit an der Steppmaſchine in der Schuhfabrik von Sachs 
u. Go. aud) Beruf fein?? Sa? Dann wäre bie Beſchaffenheit der 
Zätigfeit felbft ganz gleihgültig und jede Arbeit, fofern fie nur „an. 
fih“ einer Pflicht, d. b. einem iiberperfinliden Bufammenbang zu dienen 
vermag, „berufsfähig*? Daf ‘fie es heute nicht ift und ber „vermaſſte“ 
Einzelne fid in bdiefer Zeit mit dem abftraften Berufsbewußtfein feiner 
Klaffe, mit dem unerfüllten Glauben an ihren Beruf begnügen muß, ift 
uns flar geworden. Der Arbeitsromantifer meint nun aber, es läge an 
der Steppmafchine. So „feellofe Arbeit“ — ruft er aus — Die nie ein „ganzes 
Werk“ in unfern Händen läßt, fann gar nicht Beruf fein! Alfo hatte dia 
Technik [huld, und wir müßten die Mafchinen zerfchlagen? Oder fie meiden?* 

@ott fet Dank ift das aber nicht die Meinung der Leute, die felbft an der 
Mafcine ftehen (ihnen könnte man eher gubiel Glauben an die „Wunder 
der Technik“ porwerfen), fondern nur die Anficht jener „Öeiftigen“, die Bro» 
ſchüren über fie fchreiben. Sie möchten uns einreden, jeder Wenfd fet 
eine „ſchöpferiſche Perfdnlidfeit* im Sinne des „KRunftwart“, d. 5. trate mit 
den Anfprühen des Künftlers an feine Arbeit heran. Die Leute, bie 
wirklich „ganze Werfe* verrichten durften und konnten und mollten, waren 
aber allegeit felten und werden es allegeit fein. Sa, könnten die Schollen- 
fnechte und Laftentrager der mafdinenlofen Sahrhunderte aus ihren Gräbern 
erfteben, fie würden den äſthetiſchen Oberlehrer (ber doch auch nicht egal ,,ge- 
ftaltet“) ſchon durch ihren Wnblid verftummen machen. 

Man betrachte fid bie „Weltanfhauung“ der ftandfeften Proletarier: fie 
ift eine Mafchinen- und Fabrifenreligion voller Beradtung der „Bude“; fie 
weiß nichts und will nichts wiffen von den „rüdftändigen* Arbeitsmethoden 
des goldenen Handwerks, ja ihr Sozialismus ift nur ein Mafchinismus ohne 
Kapitalismus. Ich weiß bei allem wohl, Daf es auch „da unten“ nad „oben“ 
bin Deflaffierte gibt, und id) fenne fie, die vorftadtgeborene Sntelleftuaille, 
giemlid genau: die Sung-Gogzialiften, -Rommuniften, »Shnödilaliften, -Wnar- 
Hiften ufw., furzum all die vom Erwerb und darum aud bon der Ma— 
{bine Angeefelten. Wud) habe id für fie viel mehr Mitgefühl als für ihre 
Borbilder in einer „bürgerlichen“ Jugend (bon denen viele ihren Grwerb 
gar nicht zu verlafjen braudten, um fdon jest einen Beruf zu finden). Sndes, 
bier halte id es mit der Maffe der Standfeften, die da weiß, daß Arbeit 
fein Bergnügen, fein Spiel fein foll. Mun wohl, fo dod eine Freude! Sagen 
wir lieber eine „heilige Plage“, denn Greude ohne Mühe hat felten ,,Pflidt- 
arafter“ und mifrat leicht gum bloßen Vergnügen, und allein Die aus 
Mühfal und Bergidten geborene Greude ift wirklid Grfüllung. Der 
Schkultürler, hört er dieſes Wort, denkt dabei natürlich fogleid an die ,,Gnt- 


* Mun ja, wer mit der Welt, fo wie fie ift, durchaus nidt fertig wird, der mag 
binter dem Rüden der Gabrifen „jiedeln“ und feine foftbare Perfinlidfeit derweil 
in grüner Ginfamfeit „pflegen“, — nur foll er fidh nidt einbilden, damit etwa einen 
Beruf oder gar eine „Miflion“ zu erfüllen. Denn wie id {don fagte: wer zuerft an 
fi® felbft denkt, fid feiner Zeit und ihrer Not verfagt, der bat feinen Beruf; Beruf 
ift mehr al8 Flucht vor dem Erwerb, und der Ichkurtürler ift nicht beffer denn 
der grobe, aber aufridtige Ggoift; vielleiht ift er fogar fdledter, weil er fid bee 
fonders erbaben dünkt und gern von „Oemeinſchaft“ ſchwätzt. — Damit ift übrigens 
— ne den „Rüdzug aus der Welt“ gejagt, der mit dem ,Ora et labora“ 
gemeint ift. . 





57 


faltung feiner Perfonlidfeit*. Gr irrt fich, felbft wenn er eine Perfönlichkeit 
hat oder vielmehr ift. Denn Beruf tft gwar mehr als Profeffion, aber darum 
feineswegs nur Pajfion, und fein größtes „pſhchologiſches Hindernis“ bleibt 
Das fich felbft bewundernde Gubjelt mit dem geräuſchvollen Innenleben. 
Was, wer bin id, daß ich aus mir felbft einen Beruf dürfte maden!* Gin 
Beruf im vollen Berftand gilt immer für „die Anderen“, für die Gemein- 
{Haft, für — erfchredt nicht: Gott und nur auf diefem „Umweg“ aud für mid. 


* 


Seglide Arbeit, fag ich, die Pflicht fein fann, ift „berufsfähig“. Wud 
die an der Steppmafdine. Wenn nun aber die Pflicht Tediglich einem Ge— 
{Gaft, dem Grwerb eines anderen oder dem eigenen Erwerb gilt — wie die 
an der Steppmafdine und auch die im Direftionsbiiro? Hier erft ftehen 
wit bor der Not unfrer Beit! Hat der Herr feinen Beruf, fo fann auch der 
Knecht ſchwer einen haben; fteht die ,Gefamthert auf Erwerb, fo wird glied- 
befter Beruf für den Einzelnen fdier unmöglich. 

Mit allem foll nicht geleugnet werden, daß die „DBerufsfähigfeit“ 
einer Arbeit proportional ihrer Qualität abnimmt und aljo in der Tat ein 
Sandmerfer alten Stils fdon in feiner täglichen Tätigkeit felbft mehr form» 
bare „Subftanz“ für einen Beruf vorfand als ein heutiger durchfchnittlicher 
Sabriller. Darf man indes, wie es meift gefchieht, unfere Induftriearbeiter 
überhaupt neben jene mittelalterliden Handwerker ftellen, die auf ihren 
ftadtwirtfchaftlihen Kulturinfeln dod aud nur eine dünne Oberfhicht bil- 
deten? Die Mafchinenmenfhen felbft vergleichen fich jedenfalls mit den 
Schollenknechten des „finfteren“ Mittelalters. Und wie anders wäre auch ihr 
Gelbftgefühl verftändlih? Gewiß, unter einer fortjchreitenden Arbeits- (beffer 
wohl: Arbeiter-)gerlegung gerfielen die Grundlagen der alten Berufe (und 
gwar nicht nur in den Hbandarbeitenden Tatigfeiten!); felten Hingegen wird der 
Gewinn bedadt, der den gewiß empfindliden Berluften, die eine Minderheit 
auf dem Wege bom Handwerk zur Manufaktur und Mafdinofattur erlitten 
Hat und nod immer erleidet, immerhin gegenüberfteht: Millionen RKnedte, 
einft nur Bauftoff, „Material“ für Geburts- und Berufsftande, erwarben 
nun felbft wenigftens eine Anwartjchaft auf Beruf und empfinden — ob mit 
Redt oder nist — die eifernen Apparate als Bundesgenofjen in Diefem 
ihrem Geltungsfampf. Kommt hinzu: auch der Mafchinismus fordert menjd- 
lide Qualitäten und begünftigt fie in viel höherem Maße als die Arbeits- 
romantifer glauben; denn er führt eine, feinem wiffenfchaftlihen Charakter 
entfprechende, intelligente, allerdings durchaus unfünftlerifche, technifche 
Arbeiterelite herauf. nd ferner: die moderne Technik ift längft nicht mehr 
nur Arbeitsteilung; fie ftrebt immer deutlicher nach Wiederbereinigung der 
dur „die Hände“ zerlegten Arbeitselemente in Arbeitsfombinationsmafdinen, 
denen gegenüber der Menſch nicht mehr nur Lüdenbüßer fondern Leiter ift. 
Und endlih: die maffenmäßige, den Einzelnen erdrüdende großbetriebliche 
Produktion hat ihre Grenge erreicht, ja bereits überfchrittenl Schon ſehen 
weitblidende Wirtfchafter eine „zweite Aera der Mafdine* auffteigen und 
prophezeien eine „Stadtflucht der Snduftrie“, eine „elektrotechniihe Defon- 

* ‚Wolle ganz did felbft, dann dienft du am beften dem Ganzen“ — das war 
die Deviſe der Mafıipen Nationaldtonomie, auf die fid die „Sthif“ des Erwerbs 
gründet. Aber feitdem die Nationaldfonomen an der Greibandelslebre irre geworden, 
befennen fih die Bädagogen zum Mandeftertum, und felbft „überzeugte fo 
ialiſtiſche“ Erzieher trattieren nun in ihren Gbarafterlehren die Bourgoismoral des 
Hidden Spieles der perfinliden Triebe — von berufswegen! 


58 


zentration der Habrif“, eine ,,Werkftattausfiedlung*, die in ihrem End- 
ergebnis mehr bedeuten fann als eine bloße Wenderung der Produftionsweife*. 
Und in der Tat: allein auf diefem Wege („entlang den Kabeln“) könnte ein 
Induſtrievolk feine Heimat wiederfinden und zugleich unfer altes Bauern- 
tum neue Wurzeln fdlagen. Das Sonntagsagrariertum unfrer Siedlungs- 
teformer erwirft weder dieſes noch jenes; es hilft nur die Entfernung von 
Haushalt und Werkftatt vergrößern, damit auch die feindliche Scheidung von 
Leben und Arbeit verfchärfen. 

Freunde, die Fabri ift nicht das legte Wort der Sednif! Wo doch der 
Gabrifant felbft gum Bweifler an der Fabrik wird: Der Raufmann rechnet 
und findet, daß die „unproduftiven Koften“ (d. b. die Berwaltungs- und Auf- 
ſichtsapparate) großbetriebliher Arbeitszufammenfaffung ihre allzunabelie- 
genden Dorteile in Frage zu ftellen beginnen; und aud der Sednifer 
wendet fid langfam bon zentraliftiihen DenfgewobHnbeiten ab. Denn an ihren 
Ort und an die Formen der Grofarbeit gebunden find ja fchließlih nur die 
Betriebe induftrieller Robftoffproduftion (Kohle, Grae, Steine uj.) und die 
der induftriellen Krafterzeugung, Die Kernwerfe unter den Salfperren, die ihre 
{Hwebenden Kraftnege über weite Provinzen fpannen. Und die fdlanfen 
Kabelträger find immerhin {diner als qualmende Schlote. Dod der Ingenieur 
benft glei Dem Kaufmann bei allem nicht an Schönheit, nur an Rentabilität. 
Nicht anders der AWrbeitspolitifer, der ebenfalls ohne Begliidungsab- 
fit und „nur“ der Not gehordend der „Delonzentration“ das Wort redet. 
Weil er befennen muß, daß er mit feiner „Pſhchotechnik“ am Ende ift. Durch 
Zufammenfaffung aller lebendigen Gerantwortung in ber Betriebsfpike und 
durch Motorifierung ber „Hände“ in den Werfftatten hatte er gebofft, die 
{Hweren „pſychologiſchen Hemmungen“ maffenmäßiger Arbeit ,ausgujdalten*; 
aber diefe „reinliche Scheidung von Geift und Bewegung“, von Leitung und 
Ausführung, dieſe ,Gntdenfung* der Handarbeiten, diefe Pädagogik der 
Stoppubr, die aus befeelten Menfden launenlofe und Darum zufriedene 
Salbautomaten wollte madden, fie bewirkte nur dag Begenteil. Was bleibt 
nun übrig? Arbeitsfreude vermag nicht gu gedeihen ohne den Sauerſtoff der 
Sreibeit im Schaffen felbft; man muß alfo — das ift nun eine Lebensfrage 
fhon der Wirtfchaft! — die Arbeitsperantwortung des Arbeiter am Arbeits- 
platz felbft wieberberftellen, d. 5. man muß die von oben herunter wirkenden 
awangbaften, fünftlihen, ftarren und Eoftjpieligen Kontrollen „wilfenihaft- 
lider DBetriebsweife* Durch eine am Arbeitserfolg unmittelbar intereffierte 
arbeitsgenofjenfchaftlihe Selbftaufficht erfegen, und Dies eben führt not- 
wendig zu jener Defongentration des Großbetriebs, deren [estes Gre 
gebnis eine fidtlid-drtlide Auseinandergliederung der Produftionsbereide, 
eine „Werkftattausfiedlung“, nicht nur eine „Heimftättenbewegung“ wäre. Das 
alles wird freilich nicht pon heut auf morgen gelingen; aber wir feben ein 
Ziel und Möglichkeiten, die es uns verbieten, bor der Materie zu fapitulieren 
und die große geiftige Aufgabe zu verachten, die Gott uns, unferem Bolfe 
geftellt. 

a 

So fag ich's denn nod einmal: Keine Arbeit, Freunde, ift feellos („be= 
tufsunfabig*) an und für fic; eine jede empfängt ihre Seele nur bon den 
“ Menfchen, die fie tun. Und ein jegliches getreue Schaffen ift aud „immer 
wieder dasfelbe“, fern bon fpielerifcher Abwechfelung und Genfation. 3a, 


* Siehe 3. B. die intereffante Studie von Dr. Eugen Rofenftod: , Werkftattaus- 
ftedlung“, Verlag: Springer, Berlin, 1922. 


59 


felbft die offenkundig-monotone Berridtung fann Beruf fein, fofern nur, was 
ihr an ftofflider Qualität abgeht, überboten wird durch die Qualität ihres 
Sinns. Denn dies ift bas Legkte und Wichtigfte, in allem bisher Gefagten 
nur Ungedeutete, und Hier erft offenbart fid die innerfte Urjadhe unfrer 
Berufsnot: Die Arbeit muß einen Sinn haben, der über ihren unmittelbar- 
perfinliden, aud über ihren mittelbar-fozialen Zwed und Ertrag binaus- 
weift in eine fuprafoziale Sphäre; fie darf nit nur Privatſache, aud nicht 
nur Sogialfade fein, überhaupt nidt nur Menfchendienft, fie muß Sottes- 
bienft fein können, foll fie fich wirklich gum Beruf erheben! 

Aber freilich: jene Gefamtheit des Grwerbs, die wir Heute ,,Gefell- 
ſchaft“ nennen, bat feinen das Shftem ihrer Zwede überragenden Sinn 
und Darum aud feinen höheren Anſpruch auf meine Dienftbarfeit als 
irgendein leibhaftiger „DBrotherr“. Und nicht anders wäre es bei dem 
Generalunternehmer (Staat) einer „jogtalifierten“ Wirtfchaft; aud er fönnte 
nidt mit größerem Redte größere Opfer von uns heifchen als der Privat» 
unternebmer, denn beiden gilt Arbeit nur als Mittel zu einem Leben ohne 
eigenen überperjönlihen Sinn, und beiden gegenüber bleibe ich deshalb nur 
Produftiongmittel. Indem wir die Taktif unfers Grwerbs Ändern, Löfen 
wir eben nidt unfere Berufsnot. Was eigentlich uns hindert Beruf zu haben, 
— fagen wir es kurz und Ear — ift unfer Abfall bon Spott! Bedenkt: Nicht 
bod die Befchaffenheit der Arbeit an und für fid) ermöglichte den Menfchen 
Griftlider Jahrhunderte, fobald fie fid nur über das pflanzenhafte Dafein der 
Scollenhörigen erhoben, das geborgene Glüd eines Berufs, vielmehr war es 
bie Berbundenbeit ihrer ganzen Sozietät mit Gott, das juprafoziale Ziel 
der menfhliden Gemeinf daft! 


Bliden wir zurüd: Solange der Geift der ®emeinfchaft in der abendlän- 
diſchen Welt ungebrochen lebte, alfo etwa bis zum Ausgang des vierzehnten 
Sabrhunderts, war Beruf gleihbedeutend mit Stand, mit minifterium und 
offictum. Nicht alfo den Gingelnen berief Gott tn feinen Beruf, — dieſe 
individualiftifhe Auffaffung der vocatio bricht erft bei Luther durch — 
fondern die Kolleftipperfonen der Stände waren die von Gott ein- 
gefegten Träger der Berufe, und erft aus der Föderation der Stände, erft 
aus ihren fih wedfelfeitig ergänzenden, nad natürlicher und göttlicher 
Ordnung ein für allemal feftgefegten, ungleichen Dienften bildete fid „Die 
Shriftenheit“ gufammen*. Wobei dann deutlich genug jene „unvernünftige“ 
Rangordnung waltete, die id im vorigen Auffat in dem Gage bezeichnete: 
woe ferner den „Intereffen“, defto höher der Berufl*: Die „arbeitsiofen“ 
asfetifhen Stände in der firdliden Hierardie (Prieftertum und Möndhtum) 
bildeten die Spite im gotifhen Aufbau gemeinjhaftsmäßiger Geſellſchaft; 
ihnen folgten im Range die weltliden Ure und Geburtsftinde des Adels, 
die Träger des Schwerts und der irdifchen Obrigkeit, fowie die ftädtifchen 
Geſchlechter; nad ihnen erft famen die Arbeits berufsftände der. ftädtifchen 
Gewerbe und zulegt die „ichlummernden* Schichten des unfreien Landes. 
Außerhalb der Gemeinſchaft aber ftanden die Pioniere der heutigen „Ge— 
fellihaft“: Die Händler, als die dem Er werb Berbafteten, d. h. über bloße 
„Nahrung“ Hinaugftrebenden, darum DBerufslofen. Denn: „auszer beruf 
nad) narung tradten, ift nichtS anderes denn Gott verachten.“ Diefer Sag, 


"Siehe Troeltfh: „Soziallehren der Hriftliden Kirhen und Gruppen“. 





60 


der übrigens das DBerhältnis von Beruf und Erwerb endgültig tlarftellt, galt 
nod zu Luthers Zeiten. 

Dod die Tragif unjrer Iutherifhen Reformation — ich fag’s als Prote- 
ftant nicht leichten Herzens! — wird fdon bier offenbar: Ihr religiöfer 
Demofratismus berneinte mit feiner priefterfeindliden antimöndifhen Ein» 
ftellung zugleich jene auf eine „heilige Kirche“ hingeordnete Hierardie 
der Stände, erjchütterte aber fo den höheren Rang der ,arbeitslofen* (ge- 
nauer: erwerbslofen) Berufe überhaupt und fegnet damit — ungewollt! — 
den Erwerb. Und ihr religiöfer Individualismus bereitet — ebenfalls unge- 
wollt! — jenen Bilflofen Gubjeftivigmus unferes modernen DBerufsgefühls 
bor, der den Sinn eines Berufs in der unmittelbaren Befriedigung der 
eignen Perfönlichkeit jucht*. Denn ift’s gleich bei Luther durchaus nod Gott 
allein, der ung beruft, — ich felbft bin nur Lutherianer und „fühle mich bes. 
rufen“ zu Dingen, die mir gefallen, die mich befriedigen. Nod einen Schritt 
weiter aber gebt der calbinifde, puritanifch-täuferifhe Proteftantismus 
mit feiner Verachtung des ,arbeitslofen“* (erwerbslofen) Lebens: Nach der 
furchtbaren Lehre des Genfers fcheidet Gott auf Grund feines unerforfchlichen 
uranfänglichen Ratjchluffes die Menſchen nad Erwählten und Berdbammten 
ohne Rüdjiht auf ihr Sun. So brennt denn in jeder einfamen Seele die 
Stage: „Bin ich erwählt, bin id) verworfen?“ Und fein Sterblider® vermag 
fie ficher zu beantworten. Doch gibt es immerhin Angeiden der Gre 
wäbltheit: Wenn nämlich mein Wirken — „ſachlichen“‘ Erfolg bat, darf id 
vermuten, daß Gott mich liebt, weil es ja der Wille diefes Behoda-Gottes 
ift, Die böfe, träge, geile Welt feiner ftrengen Herrfhaft zu unterwerfen, und 
Pflimt des Frommen, diefen feinen Willen in ftetem Kampf mit der fündigen 
Natur in uns und außer uns zu verwirklichen. Aber wodurch? Durd ein 
astetifhes Leben in der Arbeit. Arbeit ift bier Zucht und Buße, genuf- 
Iofe, freudeverachtende Meifterung der Welt, — Madtftreben um GSottes 
Ehre willen. Und jeder Gläubige führt diefen Kampf allein! Gs gibt Leine 
Gemeinfdaft, nur eine „Geſellſchaft“ der Freunde Gottes (fo die Quäder!). 
Hier haben wir die (ingwifdhen abgeftorbenen) religiöfen Wurzeln jenes 
angelfähfifhen Hebräertums, das kapitaliftifher Grmerbsethif gum Siege 
verbalf**. Geſchäft und Profit werden nun fromme Pflicht, find nun Beruf, 
— Mufe (nit nur Faulbeit), Freude (nicht nur Genuß) hingegen Sünde. Als 
bon © ott verworfen erfdeinen die erfolglofen Gefdaftsleute, die gering 
entlobnten, weil überzähligen Arbeiter, die Kranken (Grwerbsunfabigen!) und 
alle Armen überhaupt. Und Gott am nadften fteht der reüffierende Unter 
nehmer und Händler, der fchlaflofe Asket feines Gefhäfts. Alle lutheriſche 
Steude an liederreicher Arbeit und finnlidem Bebagen, alle fünftler- 
ifdme Luft erftarrt in der falten Rechenhaftigleit des einfamen, frommen, 
großen Gefchäftsmannes. Ich fage des großen Gefdaftsmanns; denn 
unverfennbar groß ift dieſe Gricheinung, folange nod das Licht eines 
Glaubens auf fie fällt. Diefes Licht ift indes erlofchen und Calbinismus minus 
Gott, d. h. Mandeftertum und Morganismus verhalfen der modernen Gr- 
werbsgejfellichaft zum Siege. Aud im Iutherifchen Deutfhland? Ih wage 


* Sn der unmittelbaren Defriedigung, d. 5. in der fubjeltiven Greude am 
eigenen Werf, die ja den „ilmweg“ über Die Gemeinfdaft nidt mehr braudt, wenn 
der Menſch „Direkt“ mit feinem Gott verfehbren fann. : 

** Maz Weber hat in feiner glänzenden religionsfoziologifhen Studie: „Die 
proteftantifhe Ethik und der Geift des Kapitalismus“ diefe Zufammenhänge deutlid 
aufgezeigt. 


61 


gu boffen: nein! Sedenfalls gibt es für Deutſche feine Möglichkeit zum Bee 
zuf ohne einen Sinn des Ganzen. 
* 


Beruf, meinte id, wäre eine „innere Tatfade“, eine feelifhe Beziehung 
des Menjchen zu feiner Arbeit; aber wiederum die Arbeit empfängt ihren 
Sinn bom Ginn bes Ganzen. Und wer beftimmt diefen Sinn des Ganzen? 
Wer lent den Geift der Zeit? Du oder ih? Nein, Gott allein. Beruf ift 
alſo Gnade, die nicht Dir perjönlich zuteil wird als vielmehr dem Ganzen. 
Beruf fest eine Harmonie der Teile, der „Olieder“, der „Stände“ voraus; „freie“ 
Berufe find Unfinn, denn Beruf tft nur ein anderes Wort für Gemein- 
ſchaft, wie Srwerb nur ein anderer Begriff für die „präftabilifierte Dis- 
Harmonie“ der Gefellfhaft if. — Uns einzelnen bleibt inmitten einer 
bon Gott abgefallenen Welt nur die Möglichkeit zu wirken, „als ob“ die Ge— 
fellfchaft, an die wir mit unfrer Arbeit gebunden find, Gemeinſchaft wäre. 
Dabei werden wir Niederlagen erleiden und tägliche Gnttaufdungen erleben, 
denn die „DBerhältniffe*, d. b. die Formen eines gottlofen Gefamtgeiftes, find 
mächtiger als unfer einfames DBerlangen. Wir miiffen jedoch — wollen wir 
etwas wie Beruf behalten in noch beruflofer Beit — diefen Rampf brüderlich ver 
bunden immer wieder aufnehmen und gwar in der Welt (nicht neben ihr in 
der Siedlung!) und ohne Frage nad) dem Erfolg. Heinz Marr. 


Ziele einer deutfchen Dramaturgie der 
Gegenwart*. 


ede lebendige geiftige Schöpfung trägt ihr Dafeins- und Entwidlungsgefeß 

in fic felbft und madt es geltend von dem Augenblid an, wo fie fid von 
ihrem Schöpfer abzulöfen beginnt. Wirkſam war dies Gefek fchon vorher, bon 
dem Augenblid der Konzeption, ja der fchöpferifhen Stimmung an. Greif 
barer tritt es, zumal beim Künftler, hervor, fobald feine geiftige Gnergie fid 
auf ein beftimmtes, fefter umfdriebenes Ziel, auf die Geftaltung eines Phan—⸗ 
tajieerlebnifjes zu richten beginnt. Dann drängt es ihn unmwiderftehlich zu ganz 
beftimmten formalen Ausdrudsmöglichkeiten hin, die ihm eine Scheinverkör— 
perung feines Sraumbildes verheißen, fo rein, fo pollftändig und fo wirkſam 
und überzeugend, wie das unter menſchlichen Berhältniffen überhaupt möglich 
ift. Was das SGuden der Mtenfden feit Jahrhunderten an Erfahrungen auf 
gefpeichert, was die geheimnisvolle Wahlverwandtihaft zwiſchen Subjelt und 
Objekt an Darftellungsmitteln hervorgebracht hat, das bietet fid nun dar, um 
die Widerftinde der Welt und des EZünftlerifhen Stoffes und Werkzeuges 
überwinden gu belfen. Und dieſe Schwierigkeiten find nicht gering. Wie 


u | 

* Diefe Ausführungen find gedadt als Einleitung zum zweiten Bande der „Deut- 
iden Dramaturgie“ des Berfaffers, der im Laufe diefes Sabres in der Hanfeatijden 
Berlagsanftalt erfdeinen foll, Diefes Werf, dejien erfter Band („Bon Leifing bis 
Hebbel“) in zweiter Auflage vorliegt, foll die Gortentwidlung des dramaturgifden 
Denkens in Deutichland bis in die unmittelbare Gegenwart hinein verfolgen. Es 
bringt alfo aus Biidern, Auffaben und Reden ausgewählte Stellen, Die über 
einzelne wichtige Fragen der Dramaturgie entweder ganz Neues und Fruchtbares, 
beut nod) Haltbares jagen oder Befanntes in eigenartiger und formal vollendeter 
Weiſe gufammenfaffen oder endlich durd ihre fharfe Problemftellung geeignet find, 
die Erörterung dauernd zu fördern. Die Einleitung fudt die ausgehobenen Stellen 
in die allgemeine — 7 einzuordnen, Anmerkungen dienen der Gre 
drterung und geben dem tiefer ®rabenden die nötigen Winfe. So will das Bud 
wiffenfdaftliden und praktiſchen Zweden zugleih dienen. 


62 


jeder technifche Grfinder hat der Künftler, Dat der Dichter mit der Sprödig- 
feit feines Materials, Des Marmors oder der Farben, der Sprache oder der 
Töne zu ringen, ift er bis zu einem gewifjen Grade davon abhängig, wie weit 
es die Menfden zu feiner Zeit in der Meifterung der Natur gebradt haben 
oder intviefern fie dazu reif find, feine neuen Berfude, dem Stoffe unbefannte 
Wirkungen abguringen, mitfühlend und mitjchaffend anzuerkennen. Dazu fommt 
bie notwendige Auseinanderfegung mit den allgemeinen Borftellungen und 
Wertungen der Beit auf dem Gebiete des Lebens und ber Gefellfdaft, mit 
fittliden und redtliden, mit ftaatliden und religiöfen Anfchauungen, die 
alle ihr Gigenredt dem Künftler gegenüber geltend machen. Kurz, er tritt fon 
bier mit feinem Werfe unter Gejeblidfeiten, deren Bereich fi weit über 
feine Perfon und fein Schaffen erftredt, die auch alle literarifdhen und finfte 
lerifden Zeitftrömungen, Schulen und Moden überdauern. Endlich aber und 
bor allem erhebt die Kunft felber und der befondere Kunftzweig, die einzelne 
Darftellungsweife, Die der Künftler als die feiner inneren, nach Geftaltung 
dDrängenden Schau gemäßefte erfannt bat, ihre gang eigenen, unerbittlichen 
Zorderungen, die niemand ungeftraft verlegen Tann. Was man der Linie, 
was der Farbe, was dem Ordefter, was der Singftimme, was dem Epos und 
was Dem Drama zumuten, was man von ihnen an Wirkungen verlangen darf, 
was gerade fie in ganz bejonderem Maße leiften fünnen, das liegt tief in 
der Wefenheit der einzelnen Kunftformen begründet, aber es offenbart fid der 
Wenſchheit nur ftüdweife und will immer aufs neue erprobt und immer tiefer 
erfaßt und erlebt fein. 

Aud an dem Geheimnis des Dramas müht fid die Welt nun feit Sabre 
taufenden ab, und feiner wird es je völlig ergründen, weil es mit der Gntwid- 
fung des Menfchengeiftes überhaupt fein innerftes Wefen immer fräftiger, 
immer reicher, immer mannigfaltiger bor uns entfaltet; weil es immer neue 
Möglichkeiten darbietet, aber aud) auf immer neue Abwege lodt und fid 
immer wieder mit eigenem Sauber aud demjenigen zu erjchließen verjpricht, 
deffen fünftlerifhe Art ihm vielleicht nur fdrittweife entgegenfommt, der fid 
burd äußere Rüdfichten, wie den geheimnisvollen Reiz der Bühne oder die 
Ausfiht auf den raufdenden Beifall einer Hingeriffenen Menge verführen 
läßt. Aber felbft wenn der Dichter fich nicht in der Gorm vergriffen, wenn 
er zum Drama ein gang innerliches Verhältnis hat, fo bleibt ihm der unab- 
läffige Kampf nicht erfpart zwiſchen den Whwegen, auf die feine Ginbilbungs- 
kraft ihn immer wieder verloden will, und den geheimnisvollen, nie ganz Klar 
gu formulierenden, aber immer vorhandenen und unumgänglichen inneren 
Lebensgefegen feiner befonderen Kunftform, auf denen gerade das Drama mit 
befonderem Grnfte beftehen muß. WAefthetifde Normen maden fid geltend, 
die mit den einmal ergriffenen Wusdrudsmiglidfeiten, mit Bühne und 
Rollentaufh, mit dem Dialog und der aus den Charakteren entfließenden 
Handlung ein für allemal gegeben find und über alle Neigungen und Sonder» 
wiinfde des einzelnen und feiner Zeit erbaben find. Normen, um Derent- 
willen einft diefe Formen „erfunden“ worden find, fich gebildet oder aus einem 
größeren Zufammenhange abgelöft haben. Was alfo im erften Augenblid 
als hilfreicher Genoffe erfchten, der formende Kräfte und die Grgebniffe tech- 
nifhen Nadfinnens von Sahrhunderten für die augenblidlihe Aufgabe bereit 
ftellte, das erweift fic fehr bald als ein anfpruchspoller Partner, der feind 
Anſprüche gebieterifch anmeldet; doch Iohnt die Auseinanderfegung mit diefem 
Gegner reichlich, indem fie immer neue Möglichkeiten erfchließt, und Den 
Dichter zur unbedingten Sammlung feiner Kräfte auf das Wefentlide feiner 


63 


„Intention“ peranlaft. Zwiſchen der bejonderen „Aufgabe“ des Künftlers 
und den innerften Gormtrieben der Gattung befteht aljo eine geheime Wahl- 
berwandtichaft und eine notwendige Beziehung — nicht mehr; zu einer wirk- 
liden Dedung fann es niemals fommen, immer bleibt der Stoßfeufzer des 
jungen Goethe beftehen: ,Sede Gorm, auch die gefühltefte, bat etwas Un— 
wahres; allein fie ijt ein für allemal das Olas, wodurd wir die heiligen 
Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz des Menfchen gum Feuerblid 
fammeln.* 

Ware es anders, wäre irgendwo auf der Welt im geiftigen Schaffen eine 
unmittelbare, reftlofe Ginbeit pon Gebalt und Form, von Geftaltungswillen 
und Ausdrudsmöglichkeiten vorhanden, dann brauchten wir feine Rritif, die, 
wo fie echt ift, in ernftem Ringen das Grlebnis des Künftlers nadergeugen 
und an ihm das jeweils Grreichte meffen muß; dann braudte es feiner Theo- 
tie der Didtung und ihrer Unterarten, dann braudte es aud feiner Dra- 
maturgie, die zwijchen der bejonderen Art der dramatifch-fünftlerifhen Schau 
und den fpradliden und bühnentehnifhen Möglichkeiten ihrer Verwirkli— 
ung zu vermitteln ftrebt. Wie aber die Dinge liegen, fann der Künftler nicht 
unbewußt und traumbaft {daffen; er muß ſich nicht nur mit den taufend Hem- 
mungen Draußen und drinnen, nicht bloß mit dem Stoff und den Schwierig- 
feiten Der äußeren Gorm, er muß bor allem mit dem Normengefes der Gattung 
ringen, um fein nad den verjchiedenften Richtungen ausgreifendes Grlebnis 
ganz in deren Bereich zu zwingen und dadurd erft recht poetifch fruchtbar zu 
maden. Diefer Teil der Arbeit vollzieht fic mehr oder weniger in der Hell 
beleuchteten Sphäre des wachen Bewußtjeins, mag die Konzeption des Werkes 
felbft und die erfte Grgreifung der Gorm noch fo traumhaft vor fich gegangen 
fein. Und hier trifft Der Dichter auf jene Schar, die bon der Anfchauung, von 
dem Genuf, von der Zergliederung der gefdaffenen Werke oder gar bon der 
überlieferten Theorie, vielleicht aud bon funftfremden Wertfegungen und Ab— 
leitungen berfommt, um ibn gu ergründen, zu beraten — eine Schar bon Quäl« 
geiftern, Die um fo peinigender auf feine empfindliche Seele wirken, als fie 
einmal in feiner eignen Bruft einen mächtigen Anwalt haben und andrerfeits 
der Künftler ohne diefe Außenwelt eben nicht ausfommen fann; denn „Dichter 
lieben nicht zu fdweigen, wollen fid der Menge zeigen.“ Grit der Genuf, 
durch verftändnispolle Lefer, erft die Iebenspolle Aufführung por einer mit- 
geriffenen Menge madt das dramatifhe Kunftwerf aud für feinen Schöpfer 
„fertig“, ja die ftete Auseinanderfegung zwijchen dem fchaffenden „Ich“ und 
dem borgeftellten „Du“ des idealen Zujchauers ift einer der madtigften Hebel 
bei der tatjadliden Ausgeftaltung des Kunftwerfes. In der „Dramaturgie“ 
aber, wie fie bon Didtern und von Philoſophen mit fehr verfdiedener Ein— 
ftellung und febr verſchiedenem Handwerkszeug betrieben wird, wie fie aud 
bon der Kritif an der Hand der Betradtung des Gingelwerfes mannigfad 
gefördert werden fann und bon der Literaturgefchichte her vielfach beleuchtet 
wird, in der „Dramaturgie“ wird die innere Berechtigung jener Anſprüche an 
ben Dichter grundfählich erörtert. Hier fucht fid) der Menfchengeift über die 
inneren Normen des Dramas Har zu werden; damit ergeben fid fofort eine 
Menge von Gingelfragen: wie fid die Bühnenkunft zu den Dichterifchen Nach» 
bargattungen verhält; wie weit fie, dank ihrer ftarfen jinnlihen Wirkungen, 
mit den Schwefterfünften der Mufif und der bildenden Kunft in notwendigen 
Beziehungen fteht; wie fie fid die allgemeinen dichterifhen Ausdrudsmittel, 
die fpradliden voran, für ihre befonderen Zwede dienftbar macht oder viel» 
mebr aus den fpradliden Wurzeln der Dichtung fortwährend neue und ganz 


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befondere Nahrung zieht; wie die dramatiſche „Idee* ihre paffende Organi- 
fation und ihre Ausführung bis ins Eleinfte erfährt und vieles andre mehr. 
Alle dieje Punkte können bom Standpunkte des Geniefhenden wie des Schaf. 
fenden, fie fönnen gang allgemein, ſcheinbar deduftiv (in Wahrheit aug einer 
Gille von Wnfdauungsmaterial heraus) oder an der Hand einzelner überra- 
gender DBeijpiele erörtert, fie fönnen auf dem Wege allgemeiner äfthe» 
tiſcher Ueberlegungen oder gejhichtlicher Ginzelbetrachtungen abgehandelt wer— 
den: feiner dieſer Wege ift ein Königsweg, der geradeaus ans Biel führte, 
jeder aber fann fi ibm auf feine Weife nähern, jedenfalls ift feiner ganz- 
vergeblich befdritten worden. 

Eine vorurteilsfreie Dramaturgie wird alfo nicht einfeitig-dogmatifch ver- 
fahren, fondern bon jedem Betrachter zu lernen verfuchen und wird fid am 
wenigften über Widerfpriide erregen, die fich zwifchen den einzelnen, bon ihr 
verbörten Zeugen auftun. Ihr fommt es nicht auf das blanke, „richtige* Ree 
fultat an (wie bei einem Rechenezempel oder einem Problem der „ezalten 
Bilfenfhaften“), fie ift zufrieden mit jeder fraftoollen, eigenartigen, neue Ge— 
jihtspunfte eröffnenden Ginftellung auf das ganze Ziel. Hier gilt Goethes 
Wort: „Was frucdtbar ift, allein ift wahr.“ Seder einzelne Betrachter naht 
fid der Norm nicht unmittelbar wie fie ift, fondern wie fie ihm unter be» 
ftimmten äußeren Bedingungen erfdeint und erfcheinen muß. Nicht Bloß an 
der „Ibdee* eines einzelnen Dramas fpreden, wie es Hebbel einmal aus» 
drüdt, alle handelnden Figuren mit, während fie feiner rein formuliert: aud 
an der Idee des Dramas überhaupt fpredhen die Dramaturgen und die zur 
Dramaturgie fid äußernden Dichter aller Zeiten und aller Zonen mit; jeder 
lüftet gleihfam den Schleier des gebeimnispollen ©öttergebildes an einem 
andern Zipfel und erfchaut etwas, das fein andrer fab, und wiederum einiges, 
was aud andre faben, nur wieder bon andrer Seite ber und in anderm Lichte; 
feiner aber vermag eine für alle Zeiten giltige Gormel des Dramas aufzu- 
ftellen. 

Sollen wir darum mit einem müden Verzicht endigen? Auch Goethes 
„Urpflanze* ift in feinem einzelnen Pflanzenförper rein und reftlos ver 
förpert, und doch ift feine „Idee“ der Pflanze fein leerer Wahn: fie ijt eine 
unbeftreitbare Realität, in jeder einzelnen Pflanze fo gut vorhanden und 
bon einem das einzelne dDurchfchauenden und die Gefamtbeit feiner wedfelnden 
Zuftände zufammenfaffenden Auge fo genau zu erfaffen wie das „Dra— 
matifche* in allen Dramen, die des Namens wert find und die eine eigene 
unvergleichbare Wirkung auf uns ausüben, wie fie von feinem (an fid nod 
fo vortrefflichen) anders gearteten Kunſtwerk ausgehen. Auch dies legte Lee 
bendige aber ift eben feine ftarre, gerlegbare und ficher zu umfchreibende, jon- 
dern eine „funktionelle“ Ginbeit, die fid in taufend Formen als durchgehendes 
Bildungsgefes immer wieder zu verwirklichen ftrebt und in ewiger ,,eftal- 
tung, Umgeftaltung des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung“ verbürgt. Wud 
das Wefen, d. h. der Lebensprogefs des Dramas ift, mit den Augen Goethes 
angefeben, wie ein magnetifher Strom, der zwifchen zwei Polen Hin und 
berflutet. Diejes Wedfelfpiel zwifchen den nicht bloß entgegengefesten, fon» 
bern aufeinander bezogenen Polen madt eben fein Leben aus, Das uns aber 
nicht an fic, fondern eben nur in feiner „Sluftuation“, in diefer „Polarität“ 
und „Rorrelativität“ erft fafbar wird. Nun zeigt fid) aud die befondere 
Schwierigkeit der Behandlung dramaturgifher Probleme und der normativen 
Beurteilung dramatifcher Schöpfungen: je nad der Ginftellung des Be— 


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trachters, je nad) ber geiftigen ®efamthaltung jeiner Zeit wird bald der eine, 
bald der andere Pol beſſer zu feinem Rechte fommen. 

Um ganz fnapp zufammenzufafjfen, was uns volfsfundlide und literature 
geſchichtliche Betrachtung, äfthetifche und metaphyſiſche Ueberlegung Iehren: 
das Drama, wie es fics feit den Tagen des Aischylos bei den wefteuropäifchen 
Völkern herausgebildet und fortentwidelt hat, ftellt Die innere Bewegtbeit des 
MWenſchen und die in ihr fich fpiegelnde Ywiefpältigfeit der Welt und des, 
Lebens dar; es bedient fic) dazu der Mittel einer bewegten, aus dem aufge- 
wühlten Innern des Menjchen aufquellenden Rede, wie der durch rhetorifchen 
Technik geſchulten Auseinanderjfegung, madt wohl aud) Anleihen bei einer 
anjdauliden, nur die Höhepunkte der Sreignijje beleuchtenden, epifhen Er— 
sählung; es wirkt aber nicht nur mit den ſprachlich⸗redneriſchen Ausdruds- 
formen, deren reine Ausbildung und Gntwidlung fdon einen hohen Grad 
geiftiger Bildung vorausfegen, fondern es zieht, feinen erften Urfprüngen ge- 
maf und unter williger Aneignung aller feit zwei Sabriaufenden erreichten 
techniſchen Zortjchritte, die ganze Skala körperlicher und außermenſchlich-ſinn— 
lider Ausdrudswerte heran, welde die Tanzkunſt im meiteften Sinne des 
Wortes, die Mufil, die Dekoration, die Beleuchtung und alle Hilfskräfte der 
Bühne ihr darbieten. Da nun jene erfte Gruppe bon Darftellungsmitteln fid 
an unjern @eift wendet, um ibn auf die innerften Bewegungen der Welt und 
der Seele zu lenfen, die andre Reihe aber unfre Sinne an die körperlichen 
Ausdrudslinien feffelt, und da fie beide zufammen erft in ewig wedfelnder 
Milhung das Leben als Ganges in feinem fteten Ineinander von Drinnen und 
Draußen erfaffen fönnen, fo fieht fid das Drama als hddft gufammengefeste 
und dod wieder von einbeitlidem Normmillen belebte Kunftform bald eine 
geengt, bald getragen und gehoben durch zwei Bielftrebigfeiten bon eigner 
Art. Auf der einen Seite durchwühlt der Blid des Dichters die Welt in ihren 
Berriffenbeit mit bohrender Dialeftif und neigt dazu, fernab von allem Sinn- 
lih-®egebenen ins Grengenlofe der Spekulation zu ſchweifen; nur zu leicht 
verliert er fid) an ein Guferlid) gwar Dramatifches, aber durchaus bühnen- 
fremdes Scheinwerf, das der fzenifchen Ballung auf der Bühne innerlich wider- 
ftrebt. Auf der andern Geite droht die bunte Fülle ftarfer finnlider Wirkungen 
den Dichter nad) der Seite des „Theatralifchen“, der gefudten und gehäuften 
Bübhneneffelte um ihrer felbft willen abzudrängen. Bwifden der Sfylla einer 
erftarrenden ©eijtigfeit und der Gharhbdis einer verfladenden Sinnlichkeit hat 
nod) jeder große Dramatiker fein Schifflein durchſteuern müffen. Lebendige 
Dramaturgie aber ift faft immer auf dem Boden der Kritif gerade porherr- 
fender und im Innerften fdon erftarrter „Richtungen“ erwachſen, die eben 
gumeift nach der einen oder nach der andern diefer beiden Seiten ausjchlugen; 
fie fördert, verfündet, ſchützt oder prüft Dann die „neue* Kunft, die gumeift 
einem Pendelſchlage nad der dem bisherigen Braude entgegengejzgten 
Seite entjpricht; freilich handelt es fic ja in der Wirklichkeit nie um gang 
„reine“, einfeitige Ausprägungen der einen oder andern Richtung, fondern um 
Annäherungs- und Brechungserfcheinungen. Meberdies war es nur ein 
» Deftfall*, den wir foeben annabmen: die „lebendige“, unmittelbar aus dem 
Kunftwollen ihrer Zeit heraus geborene oder aus den ewig raufdenden Quels 
len fünftlerifhen Mitfchaffens und Genießens fhöpfende Dramaturgie ift nur 
eine, und leider nur feltene Erſcheinungsform der Dramaturgie überhaupt. 
Als ein lebendig Gewadfenes fchleppt fie immer einen tüchtigen Ballaft des 
Gewordenen mit. Dies Gewordene aber befteht nicht bloß aus aufge» 
{peiderten Kräften, die jeden Wugenblid wieder in friſche Wirkſamkeit um— 


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gefegt werden fönnen, fondern aud) aus einer Fülle toten Materials; da 
wirfen Beobachtungen mit, die vielleiht an lebendigen Bühnenwerfen 
porgenommen wurden, die aber Zufälliges und zeitlicd Bedingtes für-ewige 
und notwendige Werte anfaben oder die durd fpätere Mißperftänd- 
niffe in Diefem Sinne ausgewertet wurden: wir erinnern nur an die Seftftellung 
des Ariftoteles, wonach) fic die Handlung einer griehifhen Tragödie ge- 
wöhnlich innerhalb eines Sonnenumlaufes abfpielte, und woraus man {pater 
die ganz äußerlihen Gormen der „Ginheit der Zeit und des Raumes“ ab- 
leitete. Dazu fommen reine (funftferne, oder Dod) bühnenfremde) Weberlegungen, 
die von richtigen Grundlagen ausgeben, aber verfehrte oder ſchiefe Fol— 
gerungen daraus ziehen, und endlid ganz millfürlihe Diftate ex cathedra 
irgendeines Schulmeifters oder Kritifers, der aus irgendwelhem runde 
eine Machtftellung ausübte und auf deffen Worte man denn aud in dDramatur- 
giſchen Dingen hinhörte. Bieles, was angeblich zum „eifernen Beftand“ ber 
Lehre bom Drama (oft freilich nur für befchräntte Zeiten und Gegenden) gee 
börte, fönnen wir am beften unter Heranziehung feiner Gntftehung und feiner 
Sortentwidlung bewerten und dann oft genug fallen Iajfen; vieles aber wird 
ohne Namen mitgefchleppt und fann nur durch ernfte Befinnung auf das 
BWefen und die Möglichkeiten des Dramas beurteilt werden. Sp entjpricht 
der inneren Bewegungslinie der Dramaturgie eine äußere; fie fpiegelt Die 
Tatſache, daß die Lehre bom Drama gerade fo wie jeder verwandte geiftige 
Zufammenhang in die allgemeine Entwidlungsgefhichte des Menfchengeiftes 
eingebettet ift und pon bier aus verftanden werden will. Alles Schmälen auf 
einen übel angebrachten, ausfchweifenden und fid in fic felbft vollendenden 
„Hiftorizismus“ Tann uns nicht gegen die Tatſache verblenden, daß wir uns für 
das Echte, dem Wefen der Gade Entfpredhende den Blid ſchärfen miiffen, 
indem wir zeitliche Bedingtheiten als folde erfennen und den darin verbor- 
genen, Die Zeiten überdauernden Wahrbeitstern herausfchälen Iernen. 

Eine mijfenfchaftlih gerichtete Betrachtung der Dramaturgie in ihrer 
dur innewohnende Gefege beftimmten Gntwidlung wird bon bornberein 
viererlei ausfcheiden Fönnen, um die Ueberficht über den ungeheuren Stoff 
gu erleichtern und den Blid auf das Wefentliche zu Ienfen: einmal die gang 
willfirliden, faum zeitlich, ftets perjönlich oder gar durch eine Clique oder 
Schule beftimmten Aeußerungen, diz der Tag verfchlungen bat, der fie gebar. 
Nur wo folde Piktate in gebeimnspoller Weife nachgemwirkt, Die Ans 
[hauungen ganzer Zeitalter beftimmt, auch wohl reifere Geifter gum Wider- 
fpruch berausgefordert haben, wie fo mande dramaturgifhe Weufferung der 
gelehrten Pbhilologen der italieniſchen Renaiffance, da muß fic auch der Hie 
ftorifer mit ihnen befchäftigen. — Gang abjeben finnen wir ferner von den 
unzähligen Wiederholungen des {don Gefagten, wie fie in Schulbüchern und 
Seitidriften oder Zeitungs-Auffägen mitgefchleppt werden; wo zufälliger- 
toeije diefe Wiederholungen und nicht die jeweils erfte Erfenntnis, auf Die fie 
guriidgeben, eine fpätere Erörterung hervorgerufen haben, da wird ein kurzer 
Hinweis in der Form einer Anmerkung und eines Inappen Zitates genügen, 
im übrigen aber die Einordnung des Berfaffers in die Schar der BWad)folger 
eines Größeren am Plage fein. — Aber aud die Gewährsmänner jener 
Geſchäftsträger der Hffentliden Meinung können wir drittens unberüd- 
fihtigt Iaffen, wo fie fic) fernab von allem fünftlerifchen Leben in reinen De— 
duktionen und Abftraktionen ergehen, die nur gleichſam durch Bufall die Gre 
Srterung der lebendigen Biihnendidtung merklich befrudtet haben. Ihnen 
ift es weniger um das Drama als foldes, als um die Vollftändigfeit ihres 


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Shftems zu tun, in das die Bühnendichtung mit mehr oder weniger Glück 
Bineingepreßt werden foll; es ift erftaunlich, wie febr es da oft an dem nötigen 
Rejpelt vor Dem Gigenleben und dem Gigenredht der Theaterdidtung als 
foldet fehlt. Ebenſo wird eine „wefentliche* Dramaturgie fih endlich gegen 
die Bühnenlehre als folche abgrenzen, gegen die (an fich ſehr verdienftlichen) 
technifchen Grörterungen aller der Fragen, die fih nur nod mit der Dars 
ftellung des dramatifchen Kunftwerfes auf den Brettern befajjen, alfo gegen 
die eigentliche Regielehre, die Mimik, die Shoreographie und g2gen alles, was 
mit dem DBühnenbau, dem Majchinen-, Deforations- und Beleudtungswefen 
aufammenhängt — foweit diefe Fragen nicht unmittelbar im Zufammenhange 
mit einer eigenartigen und fruchtbaren Auffaffung des Dramas überhaupt ere 
Örtert werden. 

Innerhalb diefes Rahmens aber muß uns jeder willfommen fein, der das 
Drama erlebt und etwas Wefentlides darüber zu jagen hat, der dramatifche 
Dichter bor allem, fodann aber aud der Schaufpieler und der Bühnenleiter, 
der Wejthetifer und der Kritiker, der Hijtorifer und der Shftematifer, foweit 
fie eben einen Hauch des lebendigen Dramas verjpürt haben. Die fonftige 
Größe oder Mittelmäßigkeit des Mannes darf uns nicht fümmern, wenn er 
etwas über das Drama gedadt Hat, was deffen Wefen erleuchtet und feine 
Entwidlung befrudtet hat oder nach unfrer ehrlichen Prüfung in nod irgend- 
einer Weife befrudten fönnte. Denn jede Arbeit diefer Art wird mehr 
anftreben als Geweſenes zu regiftrieren oder an einem ftarren Mafftabe zu 
bewerten: fie will Lebendiges in feiner Lebendigkeit erfaffen und dem Leben, 
in diefem Galle dem Leben der Bühne und dem Leben bes dramatijchen Ge— 
Danfens wiedergeben, was ihm gebührt. Robert Petſch. 


Ferdinand Apenarius. 


erdinand Wbenarius entftammt einem thüringifchen Geſchlecht: der erfte 

feine> Vorfahren, der in den Urkunden erjcheint, ift der Gijenadher Birger 
und Weißgerber Hans Habermann. Gein Sohn Matthes, während des Drei» 
Bigjährigen Krieges geboren, wurde Pfarrer und fdrieb fich als gelahrter 
Mann — da der Hafer auf lateinifd avena heißt — Avenarius. Deffen Sohn 
war der große Sheolog Iohannes Apenarius. Diefer liebte, wie ſchon der 
Gater, die edle Muficam, rührete unterweilen die funftpolle Lbra und ver» 
fertigte unterfdiedlide Poemata, fonderlid in Latein, aber auch in teutjcher 
Sprade. Die nadften Gefdledter wandten fich denen Studiis der Rechte 
gu. Sobann Ludwig aber verließ raſchen Entſchluſſes die Univerfitas Got- 
tingiae und wurde Gornet in einem Hufarenregiment. Gr ging fpäter, ald 
der Grfte dieſer Avenarii, dauernd aus den Grengen der thüringijchen Hei- 
mat heraus und wurde Steuerrat in Magdeburg. Sein Gnfel war der Buch- 
Handler WAbenarius in Leipzig. Gr heiratete 1840 die Halbfchweiter Richard 
Wagners, Gacilie Geyer. In Berlin wurde den beiden dicht vor Weih— 
nadten 1856 als jüngfter ihrer bier Söhne Ferdinand Apenarius geboren. 
Schon 1871 fiedelte bie Familie nach Dresden über. Dresden ift feine Heimat 
geworden und geblieben, aud im tieferen Ginn. Gr liebte wohl die Alpen 
mebr, und über alles liebte er Die Nordfee und die einfamen Dünen. Het- 
mat aber war ihm doch die mitteldeutſche Kunftftadt mit ihrer feinen alten 
Kultur. Denn feiner Art nad war er Grbe alter bürgerlicher Kultur. 

Der unterfegte, ftämmig gebaute Mann, der aus einer blaffen, kränklichen 


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Jugend herangewachſen war, hatte in feinem Wefen etwas DBollfaftiges und 
Derbes. Auf dem Rumpfe faß ein madtiges Haupt, deffen Hobe, lichte 
Schädelwölbung fogleih den Blic auf fic zog. Kraftig quoll das Haar, meift / 
ein wenig vermildert, um Die gebräunten Wangen und Schläfen, um Lippen 
und Kinn. Die Lippen waren voll, von unbeftimmten Konturen, feinnerpig, 
beweglich, geniefend. Die lebhaften Augen, die hell durch die Brillengläfer 
blidien, waren des mannigfaltigften Ausdruds fähig. Gs war das Gefidt 
eines Mannes von zweifellos ftarfem Triebleben. Aber die ſchönen, ſchär— 
feren Linien der Nafe und der Stirn zeugten von Intelligenz und Kultur, 
Die Hobe Stirn herrſchte. Abenarius hatte Verftändnis für dag Ars 
wiidfige und Naturbhafte, das Große und Einfache, aber es war letzten 
Endes ein — fultivtertes Berftandnis. 

Diefer Mann, der in fprudelnder Lebendigkeit erzählte, der in Mimit 
und Wort unmittelbar zündend lebte, der im vertrauten Zwiegefpräd die 
zarteften, leifeften Töne anfchlagen und wiederum in fröhlicher Umgebung die 
ganze Gejellfdhaft ftundenlang von einem Geladter ins andre reißen fonnte 
(befonders im Maufcheln und im Sadfeln leiftete er Genieftiide, aber aud 
in der majeſtätiſchen Gloquenz des italienifchen Spießers und im Lallen eines 
betrunfenen fdottifhen Kutfchers gauberte er den Zuhörern die Gebilde der 
Phantafie fichtbar Hin), diejfer Mann, aus dem die Geftaltung anjdeinend 
unerfddpflidh und unaufhaltfam quoll — fobald er gu fdreiben begann, 
fegte in faft quälender Weife der Intelleft ein. Die Fülle der guftrdmenden 
Alfoziationen wurde ftrenger Kritif unterworfen. Kein Wort, fein Nebenfinn 
fan ungeprüft und anders als gleidjam vom Lefer aus erwogen Hindurd. 
Wie oft wurde eine fdon gefekte Arbeit auseinandergefchnitten, umgeftellt, 
in ganzen Abſätzen neu gefdrieben — ein Schreden für die Druderei. Aus 
der umfichtigen Abwehr aller erdenfbaren Mißperftändniffe überlud er gue 
toeilen feine Gage; dann löfte fic der große, unbefümmerte Strom, der den 
Lejer bannt und mitreißt, in ein Gewoge von einzelnen Wellen auf. Pies 
eben ift für Wbenarius’ Dichterifches wie fulturpolitifhes Werk bon Bedeu» 
tung: der Ginn für das Urechte und LUrgewadfene ift einem flugen und 
umfidtigen Denfen unterworfen, das ihn immer wieder hemmt. Damit find 
feine Stärfen, aber auch feine Grengen gegeben. 

Aud wo die Abficht darauf geht, das Große und Grhabene auszu— 
drüden — es löft fic faft immer wieder in ein ſächſiſch-thüringiſches Mittel» 
gebirge auf. Man lefe das Stüd, das wir hinten aus einem Aufjag über die 
Winterſchönheit abdruden: es ift ein ausgezeichnetes Stiid Proſa und gee 
Hirt zum Beften von WAbenarius, aus feiner beiten Zeit (Winter 1904/05). 
Wo der Norddeutfche jedes „Du“ vergeffen würde, weil der Weg in die Gin- 
famfeit gebt, nimmt der Mitteldeutfche den Lefer vertraulid an die Hand. 
And mit wiediel adtjamer Deutlidfeit werden die Dinge gezeigt! Gs find 
gute Pragungen im Gingelnen, aber all da3 ift nicht in einem großen Strom, 
nidt in einem beherrfhhenden Gipfel gufammengefdloffen. Geſehen ift 
die Größe des winterliden Meeres, aber Dargeftellt ift fie jo, wie man den 
Winter Thüringens darftellen müßte. Darum find dem Didter auch die 
Dramen alg Dramen nicht gelungen. (Friedrich Düfels Rettung der Dramen 
im Oltoberheft des Kunftwart bom vorigen Jahr ift menjchlich ſchön, fcheint 
mir aber in der Sache nicht geglüdt.) Sopiel einzelne Schönheiten, zumal 
im „Sauft“, da find — nod) Schöneres ftedt in der Intention — fo bedeutend 
and der Bedankte des Gangen ift, es fehlt doch eben der dramatifche Strom 
und Rataratt. Wud ein Roman als Ganges würde Avenarius fchwerlich 


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geglüdt fein. Seine Gedichte aber ſchätze ich höher, als es meift gefchieht. 
Gs ijt richtig, daß man in vielen Gottfried Keller und andere (in den frü- 
beren Gedichten oft Heine) ,bindurdhbdrt* — trogdem! Gs ift eigene dich» 
terifjhe Anſchauung da, und mandes ift vortrefflich geftaltet. Gine Anzahl 
dieſer Gedichte find mir feit vielen Jahren lieb geworden und geblieben, und 
ich bin überzeugt, fie werden nod lange im Bolfe lebendig fein. („Mondauf- 
gang“, „Der Geeldhenbaum“, die beiden Kirſchbaumgedichte und fo mandes 
— Auch die Dichtung „Lebe!“ wird immer wieder ernſte Freunde 
inden. 

Wenn ich überdenke, was der tiefſte Eindruck iſt, den ich von dem 
Menſchen und Dichter empfing, wenn ich mir ſeines Reinſten und Inner- 
lichfien inne zu werden verfuche, fo fomme ich immer wieder auf jenes Welt- 
gefühl, das er in fo vielen Geftaltungen ausgedrüdt und in den verſchie— 
denften Wendungen ausgeprägt bat, und das ihn zu feinem toten Hunde 
fprecden läßt: „Warſt Halt als Nächfter zu mir gefellt 

all der andern in Wald und Teld, 

all der ftumm Brüderlichen umber 

in Wies und Bufdh und Luft und Meer — 
der großen Geele, die alles trägt, 

in dir ſchlug und in uns nod fchlägt...“ 

Das Wunder und Rätfel des Lebens mit all den Gmpfindungen, die es 
aufregt, erfüllte ihn ganz. In den Blumen, Muſcheln, Kriftallen, Schmet- 
terlingen und DBögeln, in den Gormen und Garben der Bilder bejchäftigte 
ihn das Wunder des geftaltenreiden, fid unendlich wandelnden Proteus. 
Dem Adel des geformten Lebens galt feine Ghrfurdht. Dabei ſchloß er den 
Gedanten an Senfeitiges aus. Gedidte wie „Der Tod“ wolle man nicht 
lefen als Ausdrud eines Glaubens an das „perjönlihe Gortleben nad dem 
Tode“, das Hat er felbft abgelehnt. Gs ift das Leben iin feinen unendlüch' 
reihen Erſcheinungsformen und unterirdifch-rätfelhaften Zufammen- 
hängen, das ihn rührt. Gedidte wie „Das Fünkchen“ und „Die Schichten“ 
find tieffte Zeugnifje deffen, was Avenarius innerlichjt befchäftigte*. Das 
Heine PBrofaftüd, das wir hinten unter den „Stimmen der Meifter“ abdruden, 
zeigt mit feinem fdauernden Gefühl, wie tief er das Leben dachte und empfand. 
In diefem Lebensgefühl lehnte er alle moralijhe Sinngebung des Gangen 
ab, die Moral ift ibm nur eine Seite, und nicht einmal eine unbedingte, des 
großen lebendigen Sormmillens. Gr antwortete auf foldhe Sragen nach dem 
„Sinn“ mit ironifher Refignation und beiterm Scherz; auf die Fragen, 
nit auf das Leben, bas auc in folden Fragen ringt und fid abmüht. 
Obwohl er mit rüdjichtslofem Gigenwillen fich felbft und andre in einen 
Plan einfpannen fonnte, war er Dod aus jenem Weltgefühl heraus unend- 
lider Güte fähig gegen alle Kreatur. Mit dem verftändigen Hund Tappel 
— ein Hund, der zu den ſympathiſchten Zeitgenofjen gehört, die mir je be- 
gegnet find, Friede fei aud um feinen Grabftein ber! — verkehrte er in 
beiterer Brüderlichfeit, er bejahb mit ihm japanijche Holafchnitte, geduldig 
wartend, bis der vierbeinige Aefthet, der in fünftlerifchen Dingen eine durch- 
aus eigene Meinung hatte, durch einen DBlid oder durch Klopfen mit dem 


* Grfteres in den „Stimmen und Bildern“, dag andre gab er für das „Ave— 
narius⸗Buch“. Gs ift, abermals gefeilt, im Gedadtnisheft des Kunftwart3 (Of 
tober 1923), in letter Gaffung abgedrudt. Avenarius legte auf diefe Stüde be- 
fondern Wert, wenn er aud mit der Ausformung felbft nidt zufrieden war. (Gr gab 
fih mit feinen Arbeiten nicht leidt zufrieden.) 


70 


Schwanz das Beidhen zum Weiterblattern gab. Den Kindern war Ave» 
narius Der entzüdendfte und gütigfte Onfel. Weil er fo ganz aufgehen fonnte 
im fpiegelnden Anblid des edlen Lebens und in dem Gefühl „Zrinkt, o 
Augen, was die Wimper hält, bon dem goldnen Meberfluß der Welt!“, war 
er troß allem Dunklen, Harten und Wehen in Schidjal und Geele*, wie er 
in ernften Stunden verficherte: „ein gliidlider Menjch“. 

Der Sinn für das Menfdhlid-Lebendige, für Werden und Wadfen ließ 
ihn alle Grftarrung vermeiden. So hat er den Kunftwart in Form und Inhalt 
immerfort gewandelt, felbjt das Wagnis einer Namensänderung („Deutfcher 
Wille“) heute er nicht. In der Kulturarbeit achtete er ftets auf freie Les 
bendigfeit und Beweglichkeit. Im Direrbund ſchuf er eine Organifation, 
die ein Hohn war auf das übliche Organifationsfhema mit Bureau, Gee 
ſchäftsſtunden, Refforts, Kompetenzen, Archiven und dergleichen. Die Pro- 
gramm- und Statuten-Derater waren ihm ein Gegenftand der Beluftigung, 
et Dielt fie fic) forgfältig vom Leibe. Gin „Dürerbund-Archib“ eziftierte nur 
in der Phantafie; der Hoffnung, daß es je „geöffnet“ werden finnte, muß 
fi der gläubig verehrende Deutfche, der nicht umbin fann, fic die „geiftige 
Arbeit“ als etwas bureaumäßiges vorguftellen, zu feinem Leidwefen völlig 
entſchlagen. Die Tätigkeit wurde nicht aufgrund von „Programmpunlten“ 
„planmäßig in Angriff genommen“ (wobei fie meift nicht über Papier und 
Schreibtifeh Hinausfommt), fondern man padte die Dinge an, wie das Leben 
fie heranführte. Und was getan war, war abgetan. Man nahm fid nicht fo 
wichtig, jid mit der „weiteren Bearbeitung“ des Gefdhebhenen aufzuhalten, um 
allerlei „hiſtoriſches Material“ und eine „Statiftif* der „geleifteten“ „Volks⸗ 
Bildungsarbeit“ daraus zu fabrigieren. In diefer ganz fubjeftiven, per- 
fönliden, aber immer tätig bewegten Atmofphäre ift weit mehr gearbeitet 
worden als in den Büros mit den ftupiden Fächern. Die glüdlihe Spitem- 
Iojigfeit, die der Gngländer fid aus dem germanifden Erbe bewahrt hat, das 
An-fid-heranfommenclaffen und die Entſcheidung aus der inneren Bernunft 
ber Sachlage heraus, hat auch Avenarius gehabt. Wichtig war dabei für den 
Grfolg feiner Arbeit, daß er in feinem DBerleger und Freunde Sallweh einen 
klugen, feinfinnigen und — geduldigen Mitarbeiter beſaß, der die technifchen 
Möglichkeiten bereitwillig in den Dienft feiner Abjichten ftellte. Sreilich: 
ein fo lebendig befeeltes Werk ftirbt mit dem Herzen, das es treibt. 

Ein politifher Menſch ift Wbenarius nicht gewefen. Gr behandelte 
politifhe und fogiale Dinge allzu febr als Angelegenheiten der Klugheit und 
des Geſchmacks. Dennod wirfte er politifch nicht unbedeutend, und gwar 
außerhalb des Parteitreibens, das wir in Deutjchland „politifhes Leben“ 
nennen. Gr bat durch feine Arbeit wie fein andrer zu feiner Zeit den 
Deutiden ein gefeftigtes Rulturbewußtfein gegeben. Was das für 
die Grenzlanddeutſchen bedeutete, bat Hermann llmann in feinem Ges 
denfauffag („Deutfhe Arbeit“, Oftober 1923) gezeigt... Man muß Die 
beiden letzten Sabrgehnte des vorigen Jahrhunderts aus eigener Anfchauung 
fennen, um ermejfen zu fdnnen, was Abenarius und fein Kreis für den Ge- 
finnungswandel im deutfchen Bolfe geleiftet hat. Manches nehmen wir Heut 
als felbftverftändlih bin, was damals innere und Äußere Kämpfe foftete. 
Aber wenn wir zurüdbliden, erfennen wir, daß ohne feine Arbeit die unfrige 
nicht mdglid wäre. 

* Aud Gedidte wie „Dunkel“ (in „Stimmen und Bilder“) haben einen Lebens- 
grund in feiner eigenen Geele, 


£ ral 


Sein Werk wuchs in mannigfadhen Formen über ibn Hinaus. Aber der 
Menſch WAbenarius war, wie es fein muß, wiederum größer als fein Werf. 
Seine ftarfe Perfönlichkeit in unmittelbarem Verkehr erlebt zu haben, gehört 
gum größten Gewinn unfres Lebens. St. 


Erlejenes 


Aus Hermann Claudius’ Gedidten*. 


Der Wanderer. 


Sy meiner Seele Unraft gebt 
ein birfenftiller Seidemeg. 

Die Stämme fteben weiß und rein 
und wandern leuchtend bor mir ber 


wie Säulen in ein Heiligtum, 
das wartefroh dahinten liegt. 
Ich weiß nicht wo. Dod bin ich ftill 
und wandre mit den Stämmen fort. 


Slap. 


lap, du mafft min Geel ton Got. 
Sod dor öwer, duftergrot 
bögt de Nacht ehrn Wulfenbom 


un lött lijen Drom na Drom 
— fo as Druppens fallen doht — 
rünnerfaden in den Sot. 


Wintermorgens. 


intermorgens fäum id gern nod im Bette 

bis in den Hellidten Sag mit gejdlofjenen Augen, 
fühl meinen Körper wie eine rubende Schale, 
daraus die Geele, weich und leicht, wie fie Luft Hat, 
ausjchlüpft, über mir fpielt und wieder zurüdhodt. 
And: wenn ihre firrenden Flügel die Wandung 
der umfangenden Schale zitternd berühren 
— bie die Libelle die Gonnenflade des Waffers — 
fib’ ich im köſtlichen Augenblid meine Ichheit 
wie ein riefelndes Etwas bon einem zum andern. 


DWelt- Krieg. 


rieg, Du büft nid blot Dat Grugen 
dat dorachter fteit, 
bu büft as de Steernheben, 
as de Storm, de weibt, 
as de Gee, de rullt un dunnert 
un den Dif territt 
un ehr dufterdullen Bülgen 
öwern Ader mitt. 
Wi föhlt alltohop unf’ Lewen 
lütt, fo litt vergahn. 





Awer öwer uns as Riejen 
anner Lewen ftahn, 

dat unf’ Ogen nich köönt faten, 
dat unf’ Mund nid) feggt, 
fünner Regel un Geſetzen, 
fünner God un Sledt, 

fünner Enn’ un fünner Anfang, 
naft un grell un grot — 
meift, as weer be fülwen famen, 
unfe Herr un ott. 


— Bal. dazu den Beitrag über Claudius. Das erfte Gedidt, das in etwas 


anderer Form im 
Manuffript, 


mburger Gdo verdffentlidt wurde, bringen wir nad dem 
Die folgenden beiden und die letten beiden (Slap, Wintermorgens, 
Wir, Das Gejdehen) entnePmen wir d 


„Liedern der Unruh“ (Antdus-Berlag, 


Libed), die übrigen vier (Welt-Krieg, De Barg, Müde Front, Der 9. Nox 
vember) der „Brüde in die Zeit“ (Georg Weftermann, Braunſchweig). 


72 


De Barg. 


i fünd de Bargvun {wor Gewicht, 
de grote Barg mit groff Sejicht, 
be Barg, den feen verjleepen fann, 
un fpann be dufend Peer of an: 
Dolf. 

Wi find de Barg, de jiimmer meer. 
Keen Tid un Stünn de friggt em mor. 
Keen Well un Water jpöhlt em aff, 
Wi find de Ger ehr legtes Graff: 

Boll. 
Dat lat meift fo. 


In düffen Barg, ganz deep dorbinn’, 
dor ig en Ramer, ſwor to finn’, 
dor is en Dör, dor is en Deel. 

Dor fitt en Geel, dor lurt en Geel: 
Golf. 

Sprüng all dat Slott? Ging all de Dir? 
Klüng dat all ber? Klüng dat all ber? 
Süng all de grote Mellodie: 

Stab op, ftah op, din Geel is fri, 
Bolt? 
Dat lat meift fo. 


O Dör, gab blot nich wedder to! 

De Barg be rullt. De Barg de beit. 

Lat rut dat Lewen, dat be lemt: 
Golf! 


Müde Fri nt. 


mmer der Krieg gebt immer nod 
Stehen die Siirme alle ftumm. [um. 
Stehen die Türme mit totem Gefidt, 
ftebn und ftarren und fehen nicht. 
Anten vorüber, bin und ber 
wandert, wälzt fic) das graue Heer. 


Ruppelbelme mit ſchwerem Trott 
ohne Glauben, ohne Gott, 

ohne Luft, ohne Leid, 
ohne Geftern, ohne Heut, 

ohne Willen, ohne Gebot, 
obne Leben, ohne Sod. 


Immer der Krieg geht immer noch um. 
Stehen die Türme alle ftumm. 


Der 9. November. 


ies find die Grundveſten unferes Seins: 
Himmel, Sonne, Kinder, ein Stüd Brot 
und ein paar Stunden, frei und Hod aufzuatmen, 
Warum mißgönnt ihr es uns? — 

Zofomotiven, Lofomobilen, eleftrifhe Lampen, 
Kräne, Fahrſtühle, Diefelmotore und Schwimmdods, 
Raufoertrage, Gejete, Wemter, Buftiggewalt, Kite... 
Warum drängt ihr das alles vor unfer Menjchfein? 
Warum müjfen wir immer und immer wieder 
mit aufgeftemmten Armen mibfelig daraus erheben 
unfer geborenes Ih? 

— mibjelig heben? 
Das ift aller Menfchheit tieffte Revolution. 
Das ift aud unfre: 
Himmel, Sonne, Kinder, ein Stüd Brot 
und ein paar Stunden, frei und bod aufzuatmen ... 
Warum mißgönnt ihr es uns? 


Wir. 


Wo" wir fchreiten Seit’ an Geit’ 
und die alten Lieder fingen, 
und die Wälder widerflingen, 
fühlen wir, es muß gelingen, 

mit uns zieht die neue Zeit. 


Einer Wodhe Hammerfdlag, 
einer Woche Häuferquadern 
zittern nod in unfern Adern. 
Aber feiner wagt gu Hadern: 
berrlid) ladt der Sonnentag. 


73 


DBirfengrün und Gaatengrün: Mann und Weib und Weib und Mann 


wie mit bittender ®ebärde find nicht Waffer mehr und Feuer. 
Halt die alte Mutter Grde, Am die Leiber legt ein neuer 
daß der Menfch ihr eigen werde, Srieden fih. Wir bliden freier, 
ibm Die vollen Hände bin. Mann und Weib, uns an. 

Wort und Lied und Blid und Schritt, Wann wir fchreiten Seit’ an Seit’ 
wie in uralt-ew’gen Tagen und die alten Lieder fingen, 
wollen fie zujammenjchlagen. und die Wälder miderflingen, 
Ihre ftarfen Arme tragen fühlen wir, es muß gelingen: 
unfere Seelen fröhlich mit. mit uns giebt die neue Zeit. 


Das Geſchehen. 


iB) bs Grdengefdebhen hat feine Beit. 
Alles Gefdeben ruht in der Ewigkeit. 
Ewigkeit verhüllt fic unferem Ginn. 
Alles Gefdebhen, nimm du es gläubig Din. 
DOeffne dem einen Strahl did, deffen Licht 
fiebenfaltig durch deine Geele fich bricht. 


Gedichte und Profa bon Ferdinand Avenarius*. 
Die Spagentante. 


n ber Laube Hauft ein Rotihwanzpärchen, 
Seiner Kinder froh, der fieben zarten, 
Buben vier, vermut id, und drei Mägdlein 

Gon der dritten Lieferung des Jahre. 
Sind die Eltern unterwegs, fo ſiehſt und 
Hörft du feine Kinder, denn dann däun fie. 
Dod am Neftrand nur ein Fufbetupfen, 
And es [chnellen fieben ungeheure 
Höchſt orangefarbne Trichter aufwärts 
Aeuferft dringlichen Gepieps. Die Eltern 
Stopfen das, die Schnäbel tauchen abwarts, 
Aufwärts taucht das Gegenteil, die Gegen- 
Gabe trägt man weg, und wieder ſenkt fid 
Sanftes Schweigen übers liebe Heim. 

Go bisher ging’s, und es ging gedeihlich. 
Aber drüben, wo die Spaten wohnen, 
Gab es feine Kinder, gab es Unfried, 
Bis der Gheberr, der ſchwarzkrawattige, 
Seine Gattin por die Türe ftieß. 
„Gut,“ fo rief fie, „nunmehr werd ih Tantel“ 
Rief’s und taudte auf am Rotjchwangnefte: 
„Jetzt nehm Diefer Kinder ih mid an!“ 
Web, wie fnidjten die beftürzten Eltern, 
Wippten, hüpften: Diefe Späbin jagte 
Weg die Bugebdrigen und ftopfte, 
Stopfte, ftopft’ wie irr in ihre Kinder! 
War fie da, fo warteten verzweifelt 
Auf dem nadften Buſch, den Schnabel voll von 


* Bgl. dazu die Angaben Hinten in der „Zwielprade“. 


Auserlefenem, die Eltern, war fie 

Unterwegs, fo ftopften fie mit richt’ger 

Nahrung nad, denn was verfteht denn fold ein 

Ungeſchlachtes Stiid pon Körnerfrefferin, 

Was verfteht denn die Perſon, was ihren 

Süßen Adelstinderdhen befommt? 

„Aber immer däucht ja fremde Küche,“ 

Klagt das Ghepaar, „den Kindern beffer, 

Dater, ad, fie efjen’s — efjen’s gerne!“ 

„Mutter, fieh, fie werden täglich fetter!* 

„Bater, wenn fie dapon Spaten würden?“ 

„Weg, fie fommt!“ .... Und fieben dottergelbe 

Schlünde fchoffen aus dem Neft zur Spätzin. 
Serne fet mir’s, diefes unverfchämte 

Weib aud nur mit einem zagen Hauche 

gu verteid’gen. Aber ich verftehe fie. 

Hatt ich fieben Kindermäuler um mid, 

Biergehn, zwanzig Kindermäuler — alle 

Würd aud id, das weiß ich, überftopfen. 


Benn du eingefhlummert bift... 


enn du eingejchlummert bift, mein kleiner 

Kamerad, jo leg den Kopf ich heimlich 
Dicht an deine zarte Kinderbruft 
And belaufhe mit gefchloffnem Auge, 
Was da drinnen läutet dir und fingt. 
And ich feh dein Herz, wie es mit feinen 
Rhythmen feine roten, leifen, guten 
Wogen fendet — noch Durd breitre Straßen, 
Dann durch engre Wege und auf fdmalfte 
Pfade: daß bei jedem feiner Schläge 
Durd das ganze Heine Reich ein frohes 
Zittern geht — gibt's Botſchaft doch den ernten, 
Daß bedadt der Herrjcher für fie forgt! 
Denn auf wunderzarten Sciffchen, lächelnd, 
Kommt das Leben auf der Flut geſchwommen, 
Neues Leben, immer neues Leben. 
Grüße bringt’s vom Weiten, Kraft und Bliben, 
Während ftill fid einfdifft, was nur Rube 
Nod begehrt, daß es die treuen Wellen 
Mit fic Hin zur beilgen Stätte tragen. 
Sa, fie mallen friedlid beim gum Herzen, 
Tragen leife dann die ftummen Refte 
Auf den Altar. Und in reinen Flammen 
Schmweben die hinaus ing Ungemeffne, 
Daß in fernen Welten fie, in andern 
Gormen neu gum Atmen auferftehn — 
Während weiter dir durch alle Adern, 
Menfchenkindlein, Tod und Leben Freifen 
Auf den roten, leifen, guten Wellen. 


Kind, in Andachtsſchauern fromm verehre 
Ih in dir das große Gein des Alls, 
Wie es jih in feinem beilgen Welten- 
Blute [piegelt, das aud did durdftrdmt 
Mit der fonnentftammten Lebenswärme 
Auf den roten, leifen, guten Wellen. 
And jo lieb ih dich, wie id die Menfchbeit, 
And die Erden und die Sonnen liebe, 
Die im Herzen läuten dir und fingen. 


Mondaufgang. 


eltjam in den Büfchen 
Schatten und fables Liht — 
Sie ftehen alle rings herum 
Mit fragendem Geſicht: 
Gebn alle ernft zum Monde hin — 
Der fteigt aus der Grd empor, 


Steigt wie eines toten Königs Geift 
Aus feiner Gruft hervor. 

Blidt groß und traurig um fid ber. 
Da wandelt’s bleid übers Feld, 
Wird alles eine andre, 

Wird wieder feine Welt. 


®räber. 


njre dunklen Beete 

Draußen por dem. Sor 
Sind mit rotem Blut getrantt, 
Drum ftehn fie fo im Glor, 
Drum find ihre Blüten fo ſchön 
In Duften und Prangen — 
Drum haben wir gehört, 
Daß ihre Blumen far--.. 


Laß fie uns pflegen miteinand, 
Dod Hör ihnen nicht fo zu: 
Sie fingen nicht Dir, fie fingen 
Den Scläfern drunten zur Rub. 
Singen fie ihnen von uns Dabei, 
So web es in ihren Traum, 
Als glißere nieder der Gonnenfdein 
In ihren ftillen Raum. 


Der Tod. 


a im Fiebertraum verbrannte 
Wirr der Geift im wunden Mann, 
Trat der ernfte gottgejandte 
Dunkle aus der Nadt heran. 
And er nahm die Hand, die heiße — 
Kühle fam, wie Quell vom Girn — 
And er ließ die eigne weiße 
Weilen auf des Dulders Stirn. 
„Sieht du’s ſchon? Um did verfinkt 
Langjam wie Gewölk ins Tal, [es 
And aus Scleierdünften blintt es — 
Sa, da warjt du fdon einmal! 
Kinderland!... Und gütig ftreicht ein 
Starfes längs der Stirn dir bin — 
Baterhand! ... Und nun bejchleicht 
Neues Ahnen deinen Ginn. [ein 
„Sieh denn, wie die Nebel fallen: 
Eltern! Brüder! Sa, ihr feid’s, 
Mur als Schönheit noch auf allen 
Glänzt die Spur. gemeinen Leids. 
Was fie taten, wollten, dachten, 
Hier blieb Tidtiges allein — 
Sieh, did weden die GErwachten: 
Leben, jett erft ift’s auch Dein! 


76 


„Trink's mit deinem tiefften Lau— 
Gin aus allem um dich ber, [fden 
Diejes neue freie Rauſchen 
Aus dem Quell wie aus dem Meer — 
Hin durd all die ſchwachen Gröden 
Sallt ja mit gebrochnem Klang 
StüdumStüdwerfnurpom Werden — 
Hör ihn jest, den Bollgefang! 

„Siehft du, wie bei feinem Rufe 
HH auf Höh dem Dunft entjteigt? 
Hier ift jedes Ziel nur Stufe, 

Die zu neuem ‚Ziele zeigt: 
Wie die Lander, fo die Zeiten 
Breiten, gotteslihtdurchjonnt, 
Weitend in die Gwigfeiten 
Horizont um Horizont. 

„Arbeit fteht aud bier beim Werfe, 
Schwere, daß Der Atem ringt, 

Dod zu jeder reicht die Starke, 
Und ein jeder Griff gelingt: 
Obne Srrjdlag, ohne Sdwanfen 
Schlagen wir im freien Blau 
Aus den Dingen die Gedanken, 
Und wir fügen fie gum Bau. 


„Sieh's: der Baum wird felber Le— Droben ſchritt den ftillen Reigen 
Seder Quader treibt im Geift, [ben, Stern auf Stern zur Totenwadht. 


Nehmen, Geben ift ein Weben, Und die Erde war ein Schweigen, 
Wo die Gottheit [chaffend freift. Und ein Fragen war die Nat. 
Spür der Heiligfeiten Wallen, Und ein Klagen war der Morgen, 
Wacher, jest aud did) durchziehn — Und ein Mühen ift der Tag — 
Schöpfer nun du mit uns allen: Und fo haben fie geborgen 

Wir find Sott und wirken ihn!“... Dieſes Reftlein, Das da lag. 


Das Kind,dasausdem Dunkel tritt. 


uten Zag, Kind! „Suten Tag, Grofer!* Wer bift du? „Ein Wenſch— 

lein.“ Was bift du? „Sin Seelden.“ Wo fommft du ber? „Aus dem 
Dunkeln“ Wo willft du bin? „Ins Licht.“ Närrlein, was haft du im 
Dunteln zu fteden gehabt? „Und wo warft du, eh’ du unter der Sonne warft?“ 
Narrlein, gebjt du auch wieder in die Erde zurüd? „Du nicht?“ Kind, du 
wollteft doch ins Licht! „Sroßer: alle Kräuter grünen, alle Blumen duften, 
und unter den Füßen raufdt der Lebensquell. Aber jage mir, Großer: alles 
Grünen, alles Blühen, alles Leben, alles Licht — fommt es denn nicht aus 
dem Dunkel? Sieh, ich freue mid, daß ich im Lichte bin, und bin ich im 
Dunfeln, jo freue ich mid aufs Licht.“ 


Winterfhönbeit. 


a, der Winternebel. Haft du den in den Bergen fdon einmal miterlebt? 

Das kennſt du ja ficher, wie die Stadt drin ausjieht, wenn dir beim Aus— 
gang der fpaßende Nachbar rät, das große DBrotmefjer mitzunehmen, daß 
du ibn beffer zerjchneiden fannft! Spaße du, Nachbar, was weißt du Stuben- 
boder davon? Gin paar Gtatiönlein Bahn, dann ausgeftiegen und jebt 
bergauf. Immer nod nur das graue Nichts, in dem da und dort etwas 
dunfelt und wieder derfinft. Gine halbe Stunde weit höher, fo ift es ein 
weißes Nichts, und drobend fdier treten bon rechts und links abenteuerliche 
Riefengeftalten zu dir heran und wieder zurüd. Der Pfad wird fteiler, jieh: 
ein weißer Mond zirkelt fid droben an. Nun adte wohl, denn Schritt fiir, 
Schritt jest fann das Herrliche geſchehen. Gs geſchieht — aufjaudgen willft 
du, aber der Subel löſt fid in Andadt. Gin wwallendes Meer liegt 
unter dir, brandend mit feinen gewaltigen Wogen gegen fchneeige Ufergelande, 
und in feinem Branden und Schäumen erftarrt. Was dir Sommers fo ver— 
traut, nun fcheint es fremd wie bon einem andern Stern. Weiß umbrandet 
bom Urmeere ragen felige Infeln golbumlidtet ins Blau der Unendlichkeit. 
Gerweile, dann wirft du fehn, wie mit der fteigenden Sonne in die trägen 
Maffen ein Gmpdren fommt, jest verhalten nod, dann in offnem Aufrubr, 
ein Sturm in feinen Wogen, während fid dod fein Windlein regt, ein 
Bäumen und Berreifen. Und nun ein Zerflattern. Daß die Talgriinde auf- 
leuchten und wieder iiberfponnen und überfpült werden. Und nun bleiben. 
Bleiben, indes in den äußerften Schluchten das Spufmeer mit feinen lebten 
Gegen zerrinnt. Aber in der nadften Nacht kriecht es wieder aus allen 
dunklen Stellen auf und gefpenftert fic zu Scharen und gießt fic aus den 
Schwärmen wieder zur Maffe zufammen. Kommft du früh herauf, wenn der 
abnehmende Mond noch glänzt, und fiebft du den in Ginfamleit falt herrſchen 
über dem grauen weiten, weiten Tod, du dergiffeft es nie. 

Das Waffer ift des Winters Kaifer. Das Waffer in allen feinen Formen. 
Das Waffer von dem Dunfte ab, den du als folden nicht erfennft, der Dir 


77 


"den Waffen der Grofftddte ift der Sonn- der treibenden Gorge. Es ift 


nur Sommers ungefebene Gernen Winters in blauem Dufte Herantragt, bom 
Dunfte über den Nebel gum Reif, über den Regen gum gefdwollenen 
Strom, über den mit Hunderterlei Kriftallen von mikroſkopiſcher Bierlicdfeit 
ftidenden und fdmiidenden und mit Hauben und Mänteln finderluftig mum« 
menden Schnee zum Fluß auf Fluß und Budt auf Bucht tyrannenhart bee 
zwingenden Gife, das meilenweit Durd) die Nächte Hdonnert, wenn es im 
Stofte fpringt. Willft du aber fein Reich unbefchränft fehen, fo geh Winters 
ans Meer. 

Nicht weil du dort einen der Winterftürme erleben fönnteft, deren Gre 
babenbeit gu dem größten gehört, was unfer Planet überhaupt mitzuerleben 
bat. Ih will nur bom ruhigen Meere fpreden. Der Strand, der zur 
Sommerzeit ,, Promenade“ ift, jet ift er Vorhof der See, und weiter nichts, 
ein breiter, wellig fefter Borhof, auf dem leife die langen Wogen Dinauf- 
laufen, um abzulegen, was fie nicht mehr wollen. Nichts beherrſcht ihn nad 
rechts und links ins Unendlide hin, als das Meer. Das felber ift leer von 
Schiffen, aber einfam ift es nie. Wenn du in den blaugrauen Duft darüber 
blidft, wie feltfam, fo blitt es plößlih wie ein Silbernebel am Himmel hin 
und erlifcht wieder und blitt wieder auf. Jetzt begreifft du erft, woher das 
fommt: ferne Geefdwalbengiige find’s — wenn fie fic) wenden, daß die 
Sonne das Weiß der Gefieder trifft, dann jedesmal erglangt am Himmel der 
Schimmer. Und weld) Bogelleben überhaupt. Bom Norden find die Winter- 
gäfte gefommen, in unzähligen Scharen, in all den verfdiebenen Arten die 
Enten und Gänſe und jonjtiges Gefliigeltier. Didt am Ufer fannft du die 
Enten fehn, die unermüdlich muntern Gefellen, Die fchnattern, tauchen, fid 
ganfen und fpielen, wie hier zur Hochjaifon nur die Iuftigften Menfchlein, 
während würdevoll ein Höderfhwan als Goliath zwifchen dem Kleinzeug 
tudert. Heut ift ja bier in der Bucht das Waffer noch eisfrei, nur die Stein 
blöde, die vor Uralters auf Gletidern und Gisbergen dabergereiften, haben 
fih gewaltig weiße Rapugen aufgejegt. Freilich, ſchon Eniftert es zwiſchen 
ihnen, und immer mehr ummanteln und umpanzern, umftadeln und umzapfen 
fie fid. Wohl morgen fchon ift die Glade ein Stüd hinaus bon Scholle an 
Scholle bededt, und träge nur hebt fie fid, wenn die Wogen unter der dünnen 
Schilderſchicht verlangſamt beranfriehen. UWebermorgen aber ift alles viel- 
leiht ſchon ftarr, eine fefte Gisebene meilenweit hinaus, dann bleibt nur am 
Horizonte pom Brandungsgifdt ein Streif pon Silber und, fteht die Sonne 
darüber, bon Gold. Dabin zieht aud all das Vogelvolf hinaus. Aus 
weiter Gerne hörſt du dann nadts ein Bellen wie NRüdengeläut, oder ein 
Geräuſch zum Saufden genau, als larme dort draußen eine Grofftadt. Das 
fommt bon den Saujenden und Abertaufenden bon Wildgänfen des Nord- 
lands. Plötzlich erhebt-es fid und naht und verftärkt fi und wadft und 
brauft über dir durchs Dunfel, und nun ift es gang, gang wie ein wildes 
Seer... : 


Kleine Beiträge 


Bom redhten Feiertag de3 Herzens. grauen Wellenfdlag des Alltags aufe 
Das Dritte Gebot. fteigt, frdblid, voller Gehnfudt und ver- 
1 Härt durch beimlidhe Erwartungen. G3 


riemand fönnte aus unferent Golfsle- ift der Sag, der aud fie entläßt aus 
ben den Geiertag wegdenfen. Aud dem Lärm, der immer ——— ak 

er g 

tag eine blumige Snjel, die aus dem der Sonne, der großen und Heinen Kin- 


78 


der. Und dod ift und diefer Grofftadt- 
fonntag immer eine beimlide Qual. Wer 
nidt nur die bunten Kleider und Die 
lachenden Sefidter anfdaut, wer in den 
Augen der Wandrer, die alle Wege 
füllen, nad großer quellender Lebens- 
freude fudt, nad befreiter Kraft und 
ihrem Glanz — der erfdridt immer 
wieder über die Dede und die Geelen- 
Iofigfeit diefer Feiertage. Unſer Bolf 
fann nidt mehr von Serzen, aus der 
Siefe heraus froh fein. Gs Hat den 
Sonntag verloren, der wie ein tiefer 
Brunnen mit feinem Lebenswafjer Ge- 
fundung durd alle Adern ftrömen läßt. 

Sewif, die Zahl derer, die bon einem 
tieferen Gerlangen getrieben am eier» 
tag die große Natur fuden, um fid die 
Seele weiten zu laffen, ift nidt gering. 
Aber mir fommt dabei immer das Wort 
in den Ginn, das mir an einem Gonntag- 
morgen ein edter Wandervogel zurief: 
„Oott fei Dant, Dab wir der Sretmiible 
wieder einmal entflohen find! Der 
Sonntag eine Sludt! Gin foldes Dop- 
pelleben fennt feine redte Geier. Werk 
tag und Sonntag müffen ineinander flin- 
gen wie beim DBauersmann, der am 
Sonntag durd feine Gelder gebt, froh 
der Wode mit ihrer Mühe, und der am 
Derktag die Hände faltet, wenn Die 
Beiperglode ruft. Nichts vermag fo febr 
die traurige Armut unferes Volkes zu 
verraten wie Diefe Not, daß es nicht 
mebr feiern fann. G8 ift ein Wort ®oe- 
thes: „Der LUnglaube ift dag Gigentum 
ſchwacher, Heingefinnter, zurüdichreiten- 
Der, auf fid felbft befdranfter Men- 
fchen.“ ind es ift ein fleingefinntes und 
ſchwaches, zurüdihreitendes Geſchlecht, 
das feinen rechten Feiertag verloren hat, 
das darum aud ohne wahre Sehnſucht 
nad Greude lebt. Die übertäubt es im 
Gergniigen, im „Amüfement“. Das bife 
@en Leben wird verängftet und vertan 
und finft eines Sages leer und welf ab. 


2. 

Meber uns treiben die dunflen Wol— 
fen. Gine Welt des Grauens, der Un— 
tergänge, eine Welt des ewigen Krie- 

es umgibt ung. Wer die Wirklichkeit 
tebt, und fid nicht in einem leeren Op- 
timismus der Anagft betrügt, der weiß, 
daß unfere Welt fih in Schmerzen win- 
Det und ein Neues auf feine Geburt wars 
tet. Wir reiten durd das dunfle Sal 
und feben feinen Ausgang. Aber wir 
haben den ®lauben, wir haben den Stern 
in der Siefe der eigenen Bruft. Und 
unfer eben ift ein fühnes Wagnis. 
Das ift unfer Menfchenlos und unfer 
Deutihes Schidjal. Wer das beftehen 
will, tad, nüdtern und bee getroft, 
der braudt die tiefe Sammlung, Der 


braudt die Heimat und die Rückkehr zu 
ihr. Der braudt die GSemeinjdaft des 
Ölaubeng, die ihre Kämpfer trägt. Gr 
muß fpüren, daß die rechts und links 
ftreiten, bom gleiden Brot effen und 
pom gleiden Keld trinfen. Gr braudt 
die Gegenwart ©ottes und die Erfabrung 
diefer Gegenwart. 

Nur diefem lebten und tiefften Bere 
langen erfdlieBt fih die große Onade 
des Feiertage. So wie der Leib Iebt im 
Wedjel von Sin- und Ausatmen — 
das jpüren mir erft, wenn diefer Leib 
im Kampf zur höchſten Spannung er- 
wacht — fo muß unfere ringende Seele 
tief eintauden und fi einbetten in die 
Stille und den Frieden feiernder Anbee 
tung. Sie muß immer aufs Neue ges 
boren werden aus Ddiefer Stille, in der 
der Ewige fid nabt. 

Wir wiffen darum, wie lebensnötig 
ung folde Stunden find. ind dod vere 
geffen wir e8 wieder und laffen und 
forttreiben vom Sag, verlieren den fi- 
deren @rund, den weiten Blid der ge» 
fegneten Geierftunden, die uns einmal 
durd allen Dunft, alle Sriibung, alle 
verwirrende Fülle hindurd auf die leuch— 
tenden @ipfel der Gwigfeit fhauen lies 
fen. Wir werden wieder flein und müde 
und irren in den Qiederungen unferes 
Dafeins. 

Darum fommt immer wieder der 
Sag mit feiner leifen Mahnung, will 
uns helfen und fpridt gu uns: Heute 
follft du für ®ott da fein, einen ganzen 
Sag, einen heiligen Tag. Und du wirft als 
ein anderer, neu geboren in Deine Zeit, 
in deinen Kampf zurüdfehren! Laß deine 
Seele froh werden und frei auf meiner 
Höhe! Lerne von mir, zu leben. 


3. 

Mind unfer Golf? G3 wird leben, 
wenn es feinen Sonntag, wenn ed feine 
Kirche findet. Saufdhen wir uns dod 
nidt: Aller religidje Individualismus 
diejer Sage fann uns als Bolf nidt 
belfen. Sm Gegenteil, er vollendet nur 
die Auflöfung. Gebolfen ift uns nur, 
wenn wir zu den großen Symbolen fine 
den, die uns die ewige Wahrheit des 
Lebens offenbaren und uns alle anrüb- 
ren. Grft wenn wir wieder bereit und 
fabig find, das Symbol zu uns reden zu 
lafien, fönnen wir wieder feiern in der 
©emeinfhaft de3 Glaubens und der Ane 
betung. Obne die heiligen Seiden, die 
allen das Leben deuten, gibt es feine 
wahre ©®emeinihaft. G3 gibt Zirkel, 
Kreife, Sekten, die fid um einzelne Per- 
fonlidfeiten zujammenfdließen. G3 gibt 
„Bewegungen“, aber feine Kirche. Lind 
obne Kirche fein Bolf, weil ohne Kirche 
fein gemeinfames Heiligtum, fein Inner- 


79 


ftes dieſes Volkes. Grft da ift Boll, wo 
alle vor dem gleihen Altar fnien. 
Leber uns treiben die dunflen Wol- 
fen. Wir geben durd) Sabre der Not, 
des großen Leide3, des bitteren Lebens- 
fampfes. Wo find die Menfden, Die 
nicht verzweifeln? Wo find fie, um die 
e3 wie Kraft und wie Frieden leudtet? 
Do find fie, die Menſchen des reinen 
Dillens und der frohen Zuverjiht? Man 
wird auf fie fdauen, die feiern fünnen 
und die darum das Haupt aufreht und 
die Augen Hell und Klar behalten. Gie 
bringen den Sonntag wieder. Sie werden 
die Kirhe bauen. 
Karl Bernbard Ritter. 


Neues bon Hermann Claudius. 


ermann Glaudius ift unter den le— 

benden Didtern wohl der einzige, 
dem ein Lied geglüdt ijt, Das wirflid 
pom Volke (nicht pom Operettenpöbel) 
aufgenommen wurde und Da3 von der 
SugendD draußen auf den Wanderwegen 
wie drinnen in Den Gropftadiftrapen ge- 
fungen wird. „Wenn wir jhreiien Seit’ 
an Geit’“ fang guerft die ſozialiſtiſche 
Xrbeiterjugend, heut fingt es die Sugend 
aller Schichten und Parteien. &3 ijt das 
Ried der großftädtifhen Bolfsjugend 
ſchlechthin geworden; in ibm wird klar 
und {din die Gehnjudt der in den Stad- 
ten „gefangenen“ Geelen, die Gebnfudt 
nad) Natur, Greudigfeit und Reinbeit 
ausgedrüdt und zugleich der Glaube der 
Sugend an fi jelbit. 

Der diejes Lied Der Gebnfudt fang, 
ift Der Arenkel des Matthias Glaudiug, 
Das Didterblut des Wandsbeder Boten 
regte fid) von neuem. Aber wo einft der 
Mond friedfam auf das Kirdlein im 
@riinen und auf die Gelder und Wieſen 
fhien, über die der Gngel freundlich 
wanderte, da fdeint er heut in lange 
Straßenzeilen zwifhen vielftidigen Häu- 
fern und in Luftidadtbife. Der neue 
Slaudiug, feines Berufes ein Volksſchul⸗ 
lebrer, ift ein Kind ©roß-Hamburgs. Der 
Alte war der Sänger der gotterfüllten 
Rube, der Sunge ift der Sänger der trei- 
benden LInraft. Aber, fo heftig die Nadel 
des Kompaſſes ſchwankt, fie ftellt fid 
dod immer wieder auf den Pol ein: 
„Alles Geſchehen ruht in der Ewigkeit.“ 
Da3 alte Blut will feine edle Art nicht 
verlieren. 

Zwei Gruppen von Gedichten find eg, 
die Hermann Claudius befannt madten. 
GErftlid feine fogiale Didtung: Berfe, 
in denen er Die Gmpfindungen der 
„mant Muern“ (zwifhen Mauern) ein 
gepferdten DBoltsjeele fang, ihre Ditter- 
feit und ihre Gebnjudt, aber aud Die 
ungerftdrbare Kraft des Lebende. Zum 


80 


andern die Kinderlieder: bHumore 
volle, fede, drollig-ernfthafte Verschen, 
in denen Derbhei uid Kinder‘reundlih" 
feit fib miſcht. Man darf fie nicht mit 
den Maßftäben aus de3 Knaben Wun- 
Derborn meffen; e3 find eben Großftadt- 
finder, aber dod ferngefunde, flahshaa- 
rige Hamburger Bolfstinder mit frallen 
Augen. &3 find die Kinder jener Gorte 
pon Srofftadtern, die immer nod inner» 
lid zur Hälfte Bauern find. Und deren 
Nöte zum Beil eben aus diejem Zwie— 
fpalt zwifhen Innenwelt und Umwelt 
entftehn. 

Hermann Glaudius hat mehr Derb- 
beit und „Saft“ als fein Ahn, aber aud 


“ als @rofftadter viel zerflatternde UAn— 


rube. Wohl fließt er zumeilen die 
Augen und laufjht in den „Sot“, aber 
jene ganz tiefe Allverbundenheit de3 Al» 
ten bat er nicht. Befinnung ift nod nidt 
Rube. Der Stadter ift niht eins mit 
der Natur. Gr empfindet da3 Reden- 
wollen der Natur, aber fie ,fiebt ibn 
nur „an“ „un fteit und fteit mit ftill 
Sefih'... Un ſegat dat nich. An ſeggt 
dat nich.“ Die derbere Kraft und die 
größere Wannigfaltigkeit hat er, die 
unendlide Tiefe bat der andere, Beide 
aber find edt. Der Unterfchied ift lebten 
Endes der Anterſchied der Zeit. — 

Aus feinen „Zeitgedihten“ hat Her 
mann Glaudius 1922 eine Auswahl gue 
— —* die unter dem Titel 
„Brüde in die Zeit“ bei Wefter- 
mann erfdienen ift. Die Gedichte fpie- 
geln feine Gmpfindungen vom Kriegs 
ausbrud bis zur Revolution, Gmpfin- 
dungen, Die typiſch find. Grft das Her- 
einbreden des — zugleich das 
Erlebnis der Brüderlichkeit und Kame— 
radſchaftlichkeit des Volkes. Dann das 
Grauen der Schlachten, dann die „müde 
Front“, das Nidt-mebhr-tragen-fdnnen, 
all die Stimmungen des überlafteten Her- 
gens und @ebirns. Gndlid der Schrei 
der Revolution, in dem fidh foviel Hoff» 
nung fundtat. G3 ift in diefem Beitbud 
nidt alles „®edicht“, (und unter dem 
wadfenden Drud der Zeit) viel Rhetorik 
(freilid) echte, nit verftellte, nadges 
madte) darin, ed ift viel flüchtig ge- 
formter AWusbrud der jeweiligen Stim- 
mung. Aber e3 find aud eine Anzahl 
Gedichte darin, die mehr als nur Ause 
brud find, die in frajtiger Gorm die 
Zeitftimmung geben und aud an fünf- 
tige Geſchlechter geben werden. 

3m porigen Sabr bradte Slaudius 
im Antäus⸗Verlag eine neue fleine 
Sammlung heraus: ,Lieder Der Une 
rub‘. Der Sitel darafterifiert Das 
Diidlein treffend. In all dem Mannig- 
faltigen, fowohl in dem Aeberheißen und 


Rüdfihtslofen wie in dem Gragids-gier- 
lihen (das zuweilen an iliencron er- 
innert), ift die drängende Unruhe zu fpü- 
ten. ber der Dichter befriedigt fid in 
diefem unraftigen Treiben nidt, er fehnt 
fid dod nah Ruhe. Am Shluffe heißt 
eg: „Die tief in meinem Wefen immer 
war, / fteig’, Rub’, herauf und glätte 
mir das Haar, / dag meine Hand zer- 
wühlt in ftetem Harm.“ Gr fudt nad 
den ,flaren Stufen“ zum Sempel der 
Schönheit. — Aus beiden Sedidtfamm- 
lungen geben wir porn Proben, die das 
Dielen des Dichters ae en. 

Sulegt bat uns Claudius aud einen 


Roman beidert: „Das GSilber- 
ſchiff“. (Antaus-Berlag). Das Bud 
trägt den Antertitel: „Die SGefdhidte 


einer Gebnfudt* und aus Wilhelm Meie 
fters Lehrjahren das Motto: „Aber wer 
fommt früh zu dem Olid, fid feines 
eigenen Gelbft, ohne fremde Gormen, in 
reinem Zufammenbang bewußt zu fein?“ 
Gs ift nicht bloß objektive Graäblung, 
fondern, wie die Lyrik, ein Befenntnis- 
werf. In den erfundenen Geftalten und 
Szenen fommt zweifellos ebenfo wie in 
den ®edidten eigengelebte3 Leben zum 
Ausdrud. Das Thema ift das Reif- 
werden zur echten Künftlerfhaft. In 
der Großftadst Albenburg (Hamburg) 
wächſt Harm Gtörmer auf magerm 
®rund heran und wartet auf das Gilber- 
{Hiff der Erfüllung Wir denfen an 
Karl Brögers „Held im Schatten“. Aber 
um Störmer ift nidt die grauenvolle 
Gerlaffenbeit, es ift wenn aud) prole- 
tarifhe und zumeilen fogar bös rie 
dende, fo Dod immer wieder friihe bame 
burgifme Luft um ihn ber. Gein Sdid- 
fal erfüllt fid fo: „Da ftebt, als fei der 
Selszaden Erde Weftalt getworden, er 
felbft, Harm Störmer, der Menſch, und 
bebt feine Hände zu den Gilberfegeln 
feiner Sehnfühte empor, die Hod über 
ibm freifen. Alle Lieblichfeiten feines 
Lebens leuchten darin und alles Leid, 
das zwifchen beiden fdwingt, als wäre 
e3 nun das eine und nun das andere. 


Aber feine Hände find nur wie gum’ 


Gruße erhoben. Befiten wollen fie nidt. 
Denn fie wiffen, was der alte Bater 
Harm Hinrid nod nidt gewußt: dah 
alle Gilberfdiffe des Olids fdeitern, 
wenn fie landen wollen Daf 
fie ferne bleiben, ift der Ginn ihrer 
Sendung und dag ewige Sebeimnis ihrer 
Stadt.“ DBeffer ift der Menih und 
Dichter niht zu dHaratterifieren als Hier 
mit den Herzworten feiner „Lebrjahre“. 
Aber —- wenngleih die Silberfhiffe nicht 
landen fönnen: fie haben dennod ihren 
Hafen, von dem fie — ausgefahren ree. 

t. 


Zu ben Lübeder Bildern bon Asmus 
Seffen. 


Wi find uns meift gar nidt darüber 
flar, wie ftarf wir beim SBetrade 
ten von Arditeftur und Landfhaft von 
den Künftlern abhängig find, deren Bil- 
der uns — pvielleiht pon Kind an — ala 
Bud= oder Wandfhmud vertraut find. 
Sind wir gar, wie das oft genug Der 
Sall ift, in eine beftimmte — etwa ro- 
mantiſche — MNaturanfdhauung verliebt, 
fo ärgern wir ung, wenn ein gang anders 
eingeftellter Künftler uns zwingen will, 
die Welt anders zu fehen, ebenfo, wie er 
fie fiebt. Und dod wird ein fo aus den 
gewohnten Geleifen gebradtes neues 
Schauen fiir manden überhaupt erft der 
Anlaß, fiinftlerifd fehen zu Iernen. 

G8 handelt fid dabei um viel mehr 
alg um ein reines Augenerlebnis, um 
ein Gntdeden vergeffener oder verbor- 
gener Schönheiten, um ein mehr farbi- 
ges oder mehr lineares Sehen. Gate 
Kunſt ift vielmehr immer der Ausdrud 
einer beftimmten Weltanfhauung, eines 
eigenartigen Weltgefühls in der jeweils 
befonderen Sprade, etwa der Zeichnung 
oder des farbigen Bildes. Darin liegt ja 
erft der tiefe feelifhe Wert der Kunft 
über das rein äſthetiſche ®eniefen hinaus, 
daß fie und in das oft genug tragifde 
Schaufpiel der Auseinanderfebung zwi— 
{den dem fchöpferifhen Menſchen und- 
der Welt bineinbliden läßt, uns je nad 
dem Orade unferer Grlebnisfabigfeit bine 
einreifend, bereihernd und vertiefend 
oder aud befrudtend und abftoßend. 
Der follte aud ftärfer von der inneren 
Unruhe, der Erfdiitterung einer Zeit er- 
griffen fein als der Künftler, dieſes 
freiefte, empfindlidfte Organ einer Bolfs- 
feele. Kunft ift feine rein bdeforative 
Angelegenheit. Das „Schmüde dein 
Heim!“ in Ghren. Go beredtigt diefer 
Standpunkt in feinen @rengen ift, fo 
wenig wird er allein dem Wefen der 
Kunft geredt. Gewiß, Klärung und Rei- 
nigung unseres Lebens⸗ und Weltgefühls 
ift letter Sinn der Kunft, aber dod nidt 
ängftlihes Bewahren vor jeder Erfchüt- 
terung, wenn nun dod einmal die Grund- 
feften aud unferes geiftigen Seins erzit- 
tern, nidt ſchwächliches Berubigen der phi- 
liftrdfen Inftintte, die in uns allen fteden. 
Sq fann mir nidt vorftellen, daß ®rü- 
newald und Rembrandt auf ihre Zeit 
nur „beruhigend“ gewirft haben. Es 
wäre freilid) aud feinem Bürger von 
Colmar oder Straßburg eingefallen, fich 
eine Reproduktion der G©rünewaldfchen 
Kreuzigung, wenn e3 folde fdon gegeben 
hätte, in feine gute Stube zu bängen. 
Wenn er aber in der Kirde vor diefem 


81 


Altarbilde fniete, dann wird er, wenn 
er fromm tar, einer tiefen Beunrubi- 
gung niht entgangen fein. Was bei die» 
er Wirkung fünftlerifhes, mas religi- 
öſes Wejen war, diefe Frage ftellte er 
ih nidt. Yu einer reinliden, begriff- 
lihen wie tatfählihen Scheidung der 
beiden ®ebiete Kunft und Religion haben 
wir e3 ecft gebradt, wir, die glüdlichen 
Kinder der Aufklärung und der natur- 
wiffenfhaftliden Methode. So war unfer 
Schickſal eine Kunft, die immer mehr 
Dirklihfeitsfhilderung und reine Augen- 
funft wurde ohne ein inneres, im weiteren 
Sinne religiöjes Verhältnis zu der Welt 
und den Dingen, und eine Religion, die 
ihr Bedürfnis nad großen Symbolen 
von ſüßlichem Nazarenerfitih befriedigen 
laffen mußte. 

Der Gepreffionismus ift tot und alle 
breitjpurig in feinem ®efolge marfdie- 
renden Ismen mit ibm. Go verfündeten ed 
geftern mit Genugtuung die gleichen, die 
porgeftern als Apoftel des neuen Kunft- 
evangeliums ausgezogen waren, und der 
Kritiker, der endlich feine Rube wieder hat, 
reibt fih ſchadenfroh die Hände. Nein, tot 
find diefe Ismen nicht erft feit geftern, 
fie find nie lebendig gewefen, höchſtens 
als Begriffe in den Köpfen der Theo— 
retifer und jener Apoftel. Laßt die Toten 
ihre Toten begraben. Gin Gutes hat die 
%oterflärung immerhin gehabt, daß nun 
zahlreide Mitläufer der ©rofien, Die 
neue Wege fuden mußten, zurüdge- 
funden haben zu einer ihrer eigenen Art 
gemäpen Kunft, mag fie nun groß oder 
lein fein. Die andern aber geben ihren 
Weg weiter — fiber aud nidt nur 
Große — die, in denen ein neues, ein 
frommes Weltgefühl zur Natur und zu den 
Dingen den fünftlerifhen Ausdrud fudt. 


Sie mögen im chaotiſchen Beitgetriebe - 


manden Irrweg gegangen, in mande 
Gadgafje geraten fein. Vielleicht waren 
diefe Um-⸗ und Abwege nötig, um den 
ridtigen Weg zu finden, vielleicht ift 
Diejer_ aud jest nod nidt gefunden — 
wer das Olid batte, in jabrelangem 
vertrauten Gerfehr foldem Künftler-Rin- 
gen mit innerfter Anteilnahme gugufeben, 
dem vergeht die Schadenfreude über den 
„Tod des Expreſſionismus“. 

Asmus Jeſſen iſt eine dieſer bis zur 
Selbſtvernichtung ehrlichen, puritaniſch 
ſtrengen Vaturen, Die im Ringen um 
die Gorm Wege gegangen find und 
gehen, die die Sheoretifer expreſſioniſtiſch 
genannt haben. Obgleid er ſchon mand- 
mal, fo vor allem in feinen Domgeid= 
nungen, an einem Ziel ftand, ift er dod 
nom auf dem Wege, wie die Litho- 
gtapbien im Lübeder Jahrbuch 1924 zei- 
gen. Arditeftur und Landſchaft find 


82 


die Gegenftande, durdh die er fid aus- 
{pridt, denen er die Gorm zu geben 
verjudt, die feinem Ausdrudsmwillen ge- 
mäß if. Gr gibt fid nit ausftrömend 
den Dingen hin, fondern zieht fie hungri 
in fi, erfüllt fih mit ihrer Seele, u 
gibt fie Dann, von ihr befrudtet, als Ge- 
bilde feines anfdauenden und dadurch 
formenden DBlides wieder. Go tun ihm 
die Dinge ihr Geheimnis fund, fo offen- 
bart fid ibm das Wunder des Raumes 
in den Dombildern, die Myftif des Hau- 
fes in den Lübeder Häufern. nd die 
Kraft feines formenden Blids zwingt uns 
in feinen Bann, fo nehmen wir teil an 
den beglüdenden Grlebnijfen, den un» 
beimliden Grregungen, die von einem 
gotifhen Gewölbeſyſtem, einer romani- 
ſchen Hausfaffade ausgehen. Was 3. DB. 
die Senfter für ein Haus bedeuten, bald 
freundlich lodende und Frieden verheißen⸗ 
de, bald unbeimlid drohende und bane 
nende Augen, babe id nod nie fo ftarf 
empfunden wie vor einigen Hauferbil- 
dern Seffens. Da bat jede3 feine eigene 
Seele befommen: das Hochzeitshaus, das 
Gefpenfterhaus, das Totenhaus, und es 
find dabei wirflide Lübecker Häufer, die 
jeder wiedererfennen fann, was er freilid 
nidt braudt. Belfer nod find die Dom- 
bilder, in denen das Konftruftive ſowohl 
wie das Raumbildende der Romantif 
und der ©ott, einer jeden in ihrer Wreife, 
unheimlich ftarf vermittelt wird, und zwar 
fo, daß das ſcheinbar ftarf Gubjeftive 
in Der —— den letzten weſent⸗ 
lichen, eben den religiöſen Gehalt der 
Bauart des Raumes lebendig macht. 
Wan betrachte daraufhin einmal die 
großen Originalzeihnungen der Dombil- 
der, die im Behnhaus hängen, und gehe - 
dann in den Dom felbft. Liibed, deffen 
Kirdhen und Häuſer bisher — unendlid 
oft — nad ihren malerifhen Reizen, 
nad ihrer farbigen Schönheit bin gezeigt 
worden find, das feinen auswärtigen 
Beſuchern gumeift nur durd die males 
tijden Seidnungen Ubbelohdes in Defjen 
Sremdenfühbrer lieb und vertraut ift, bat 
durch Seffen ein anderes Gefidt befom- 
men, ein weniger liebenswürdiges viel» 
leicht, aber ein’, das von der Kraft und 
@lut feiner großen Meifter umwittert ift. 
Seffen ift Nordidleswiger, in feiner 
Herbheit und grüblerifhen Gigenwillig- 
feit ganz und gar Norddeuticher, ſchwer— 
fällig und langfam im Schaffen, durd 
Die ihm eigene ftarfe Bewußtheit oft ge- 
bemmt. Gr lebt feit einem Sabr in 
Bert zwei Stunden bon Lü- 
bed, von den berufenen Kunftförderern 
Liibeds wenig beadtet, von der großen 
Menge nicht verftanden, feiner Ginfame- 
feit frob. Paul Brodhaus. 


Der Beobachter 


Der Keulenſchirm, Modell 1923, ift furg, 
did, plump und unbeftritten häßlich. 
Sede Dame, die nur ein bifjhen „von 
Welt“ ift, trägt ibn. Warum trägt fie 
ibn? Gben darum, meil er ein unbe» 
ftritten baflides ausgefprodenes ,Sai- 
fon-Modell* ift, das im nadften Jahr 
feine Dame mehr tragen fann, wenn 
fie nur ein bißchen „von Welt“ fein 
will. „Seht ihr,“ fagt die Keulenfhirm- 
trägerin, „ib fann mir einen Schirm fau- 
fen, der viel ®eld foftet und mehrere 
Sabre balt, aber ih werde ibn nur 
diefen Winter tragen und mir dann 
einen neuen faufen; febt ihr nun, dah id 
wirflid eine Dame von Welt bin?“ 
— Nichts gegen elegante Grauen! Nein, 
id will nidt den freideutfhen Bar- 
füßerinnen da3 Wort reden! Aber der 
Keulenfhirm wird nidt getragen, weil 
er elegant wäre, fondern weil er zeigt, 
daß man über den Gerdadt, fparen zu 
müffen, nod) immer erbaben ift. &benio 
trug man im Sriege unmäßig bobe 
Schuhe und Faltenröde, als die Zei— 
tungen von der Leder- und Stofffnapp- 
beit redeten. „Sebt ihr,“ fagten Die 
Damen, „wir haben jemand an der Hand. 
der uns bintenherum Leder und Gtoff 
beforgt; wir fönnen zahlen, denn mir 
find Damen von Welt.“ eute redet 
man nun bon Sparen, daher der Keulen- 
fdirm. Ad, ihr armen Damen von Welt! 
Mibfam bat der Gatte feine RKriegs- 
und Währungsgewinne por dem Ginang- 
amt perfdleiert, aber Die Mode bringt’s 
an den Sag, von wober ihr fommt! 
(Ladle nicht, liebenswürdige Leferin, die 
du feinen Keulenſchirm bejiteft; vielleicht 
bift du doch nur eine durch Seldmangel 
zeitweilig verhinderte Keulenfhirmträ- 
gerin!) & ©. 


Es ließen ſich manche „ungeheuren 
Probleme“, die den Weltverbeſſerern 
die Nadtrube rauben, fpielend leicht 
löfen, tenn jeder verantwortliche Beamte 
pon unantaftbarer fittlider @efinnung 
wäre und nur nad feinem natürli- 
en, gefunden Oefühl handelte. 
— Rirglid ging eine ftarfe Gntriftung 
durh die anftändigen Blatter wegen 
eines Feuilletons der „B. 3. am Mittag“ 
1923, 63, und e8 wurde die Preffefreibeit 
bei diefer ®elegenbeit für manden eine 
„Stage“. „Bon Wüften, Kamelen und 
Kriegen handelte das Feuilleton, in wel- 
dem folgende Gabe vorfommen: „Aud 
unfer Dafein ift ftrapagids und reid an 


Gntbebrungen. Wie groß der Prozentſatz 
an Samelen ift, die ihm fon erlegen 
lind, ift ſtatiſtiſch wohl nicht feftzuftellen. 
Man jieht immer nod fehr viele Leute, 
die mit eifernen Ketten berumlaufen, auf 
denen ftebt: Oold gab id für Gijen.“ 
Golde Feuilletons brauden uns nidt 
an der SPreffefreibeit irre werden zu 
laffen. Wir brauden nur ein wirflid 
polfs8timlides Redt. Dann würde 
id perfinlid gum Ridter gehn und den 
Schreiber wegen Beleidigung verflagen. 
Der Ridter würde auf Grund des Tat- 
beftandes in garfeinen inneren Konflikt 
fommen, fondern würde urteilen: Der 
Seuilletonift der B. 3. am Mittag be- 
fommt fünfundzwanzig binten aufgezäblt. 
Kein Menfh im Bolf würde das als 
Seblurteil empfinden, Der Schreiber aber 
würde in feiner perfinliden Sreibeit 
Durdhaus nicht befihränft; er finnte hin- 
geben und ungehindert wieder fo was 
ſchreiben — wenn er mutig ware. O. K. 


Mm fragt uns gelegentlid, warum 
wir den Didter Fri v. Unruh 
nidt würdigen. Weil wir ihn nit für 
einen Didter, fondern für einen Re d- 
ner balten. ber aud als Redner 
fönnen wir ifn nidt wwiirdigen, weil 
feine Rbetorif voll Pbhrafe if. Wir 
baben faum je fo flar und ent{dieden 
den Gindrud der Pofe gehabt, wie beim 
efen einer Rede Unruhs. Gine Gedan- 
fenentwidlung gibt er faum, immer nur 
ein Gewühl von patbetifd-unflaren Gmp- 
findungen in unflarem pee ala 
Was ift das wieder für eine Anfprade 
gewefen bei der Reihsgründungsfeier im 
großen Zefthallenfaal in SKarlsrubel 
(Sranff, 3tg. Nr. 50.) Man lefe fid 
laut Gage por wie diefe: „Wir, denen 
die Grynnien über gerbrodhene Adler und 
Seiden aufzwangen den Beugegang zu 
jenem ft paragrapbengeiler Greife. .“ 
„ns wäre geblieben fein anderes ®e- 
fühl, als das ohnmädtige Bäumen von 
getretenem ®ewürm?“ „Denn Gud fehlt 
der Schauder vor dem gefdladteten 
Menfh!" „Sein Haud ift mein Schild! 
Sein ftilles Wirken in den Kammern 
neuer Liebe mein Stab gegen den Hohn, 
der uns folgt aus dem Maul der Ber- 
neiner, die ihr „So war es, fo wird ed 
immer fein“ in den ruhigen Atem unferes 
fiheren Weges ſchleudern!“ (Man febe 
fih dieſen Gag bitte aufmerffam an. 
Das „fein“ bezieht fid auf einen „in Die 
Sphären geftofenen Schwur“, der „die 


83 


Haine der Mutter erreichte“. Der Haud 
dieſes Schwurs alfo ift Frib v. Unrubs 
Schild, das ftille Wirken dieſes Schwurs 
in den Kammern neuer Liebe ift Anruhs 
Stab gegen den Hohn, der ihm folgt.) 
Oder: „Und aller Triebe Unvernunft 
ift die Bernunft der Liebe! — Dort, two 
zwei Menſchen in dem ratfelvollen Schred 
ihrer Hingebung nist mehr fühlen — 
das Sier — dort fommt es: — das 
Neue Reid! Fritz v. Unruh bläbt fid 
in eine Rolle hinein, gu der ibm Die 
Kraft nidt gegeben ift. Die fehr befdei- 
denen @edanfen in Ddiefem wudernden 
Wortfram entbüllen fid bei näherem 
Betradten als SGdubgedanfen der Ohn— 
madt. Sludt in die Euphorie verfdmu- 
fter Grbabenbheitsgefible. G3 gibt nur 
eine Rettung: das Trappiftentlofter. 


rofeffor Georg Witfowsfi, der in 

Leipzig das deutfhe Kulturgut ver» 
walten bilft, fhreibt im Berliner Sage- 
blatt „Bon Art und Kunft der deutſchen 
Schweiz“. Er fragt: „Darf die Schweiz 
ein Deutfhes Land heißen?“ Nein, meint 
er, denn ,feit bald einem halben Sabre 
taufend befteht aud duferlid zwiſchen 
dem Deutſchen Reihe und der Schweiz 
nidt die Ioderfte ftaatlide Gemeinſchaft.“ 
Daraus, daß die Schweiz und das Deut- 
fhe Reih eben zwei Gtaaten find, 
ſchließt Witlowsfi: „Nur politiihe I ve 
ten (von uns gefperrt) fönnen bon den 
Deutſchſchweizern innigeres Mitfühlen 
unjerer Leiden, tätigere Hilfe als von 
Stammesfremden fordern.“ Wir fordern 
troß der ftaatliden Trennung dennod 
bon den Schweizerdeutſchen innigeres 
Mitfühlen und tätigere Hilfe als bei- 
fpielsweife von Herrn Profeffor Wit- 
fowsfi. Denn e3 kommt in erjter Reihe 
auf die Bolf€sverbundenbeit, in zwei— 
ter Reibe auf die ftaatlihe Organifation 
des Bolfes an. An dem Gah „Deutich 
ift deutfh“ wird die politifhe Weisheit 
des politifden Nidt-Toren Georg Wit- 
fowsfis zu Gdanden. Gottfried Keller 
und Konrad Ferdinand Mehyer find ſolche 
„politiiden Soren“ gewefen, die aud 
an den Staatsgefdiden ihres im Reide 
organilierten Volkes innigeren Anteil 
nahmen als an den Staatsgefchiden der 


Ruffen, Sngländer, Frangofen. Hübſch 
ift aud die Bemerkung Witfowstis über 
Swingli als den „geiftvolleren 
®enofjen Luthers“. Man vergleide da- 
mit Die baßerfüllte Aeußerung feines 
verftorbenen Bruders gegen Luther, über 
die der DBeobadter im vorigen Heft be- 
ridtete. Warum jüdt es diefe Leute, 
wie bon einem böjen Geift immer auf 
„das“ Thema gebannt, unentwegt über 
folhe deutfhen Dinge zu reden und zu 
ſchreiben, für die ihnen die Natur feine 
Bollmadt gegeben bat? Was drängt 
fie, immerfort eine boshafte antigerma- 
niſche Kulturpolitik zu betreiben? Warum 
läßt fih Witkowski nidt an dem Geifte 
genügen, den er begreift, 3. B. an Arthur 
Schnitzlers „Reigen“? Damit fann man 
doch aud gang anjpredend das Ber— 
liner Tageblatt und die literaturgejdhidt- 
liden Kollegs ausfüllen. 


ST Zedlitz⸗Trützſchler, erft Pringen- 
Adjutant, dann bis in den Gommer 
1910 Hofmarjhall Wilhelms des Bwei- 
ten, bat in feinem Sagebud eifrig alle 
intimen Klatfhgefhihten und häßlichen 
Szenen bom Hofe zufammengetragen. Als 
Bilhelm der Zweite nod regierte, fand 
er nidt die Kourage, öffentlih gegen 
den Höflingsbetrieb aufzutreten (wie hin 
und wieder einer e3 wagte) Gr ging 
umber und fammelte Shmub. Nadhdem 
der Löwe tot ift, fommt Graf Bedlib- 
Trützſchler berpor und traftiert ihn mit 
mutigen §uftritten. Gine ganze lite» 
rarifhe GjelSherde leiftet ihm Beihilfe. 
Nah unfrer Meinung ift dads ftarffte 
Argument gegen Wilhelm den Zweiten, 
daß Menfhen wie diejer Graf e3 bei ihm 
zum Hofmarfdall bringen fonnten. — 
Man ftelle fid vor, bei dem Prafidenten 
Gbert fdlide eine fogzialdbemofratifde 
Größe umber und notierte alles, was die 
Berjon de3 Prafidenten irgendwie ent» 
werten fönnte, um in einem QAugenblid, 
da dieſer wehrlo3 wäre, das Material 
mit beforgter patriotifher Miene (und 
für ein gute3 Honorar) ausgufdladten 
— wir find fiber, daß wir uns mit 
einem folden Menfhen nidt gemein 
maden und ibn in feinem SHandwerf 
nidt unterftüßen würden. 


Zwieſprache 


Da vom „Deutſchen Volkstum“ ſeit län- 
gerem nur gang ausnahmsweiſe 
mehr Hefte gedrudt worden find, als 
nad der Begiehergabl unbedingt nötig 
war, find die meilten Hefte vergriffen. 
&3 fommen aber fortwährend Madbeftel- 


84 


lungen, Daher bitten wir alle Refer, 
die feinen Wert darauf legen, die poll» 
ftändigen Jahrgänge aufzubewahren, die 
Hefte zur Verfügung zu ftellen. Ginige 
Wünſche find im Angeigenteil verdffent- 
licht, wir bitten um freundliche Beadtung. 


Durh den Zwang der monatlichen 
Poftbeftellung und durd die damit ver- 
bundenen JZufälligfeiten reift bei man- 
dem Lefer plötzlich unvermerft der Bee 
gugsfaden ab. Sobald er inne wird, daf 
die Hefte ausbleiben, iſt's zu fpät zur 
Nadbeftellung, die Auflage ift vergriffen. 
Darum haben wir es jest fo eingerichtet, 
daß wir gegen Ginjendung von 2 Mt, ein 
Bierteljabr, und gegen Ginfendung von 
8 ME. den ganzen Sabrgang direkt unter 
Streifband liefern. Wer nidt durd den 
Buchhandel beziehen fann, entgeht auf 
diefe Weife allen Scherereien. 

Während der Snflationsgeit bat der 
Berlag bei der Zeitichrift erheblih gu- 
feben miiffen. Wir danken allen Spen- 
dern im Ausland und Inland, die uns 
in den ſchlimmſten Monaten geholfen 
baben, Nun find wir über die Schwierig- 
feiten hinweg, wir brauden feine Gorge 
mehr vor neuen Begiebern zu baben. 
(Grither bedeutete jeder Bezieher infolge 
der ©eldentwertung eine Erhöhung der 
-— Paffivfeite.) Sede Erhöhung der Auf- 
lage ift ung jet wieder ein ungetrübtes 
Dergnügen, 

Gin paar Worte zu den Auffaben 
des Heftes. Mit Nordfchleswig haben 
wir ung, fo nahe es uns liegt, bisher 
nie ausfibrlider befhaftigt. Wir bolen 
das mit dem Aufſatz Schmidt-Wodderg, 
des Führers der Deutihen in dem ab» 
ne @ebiete, nah. Betont fei, daß 

er Aufſatz in der erften Banuarwode 
diefes Sabres gefdrieben wurde. Dah 
Sdhmidt-Wodder jede Feindfeligfeit ge- 
gen die Dänen fern liegt, hat er por dem 
Kriege dDurd die Tat bewiejen. Wir den- 
fen und fühlen heute ebenfo wie damals 
ganz mit Gdmidt-Wodder. Weil wir 
ein verftandiges Neben- und MWMitein- 
anderleben der Beutihen und Dänen 
wünſchen, bedauern mir es, Daß Die dä— 
nifhe Bolitit fih durch den Gieg der 
Gntente bat blenden laſſen. Die Gefdhidte 
wird ſchließlich nicht durch die zeitweilige 
Meberlegenbeit und Unterlegenbeit der 
Galfer beftimmt, fondern durch die fte- 
tigen, tiefen großen ®ejebe de3 Völker— 
lebens. G3 war nod immer fo, daf 
die frangdfifde Nation in ezaltiertem 
Ehrgeiz die ibm Durd feine tatfadlide 
Volkskraft gezogenen Grenzen überfprang, 
um nad furger „Öloire” wieder — ihren 
bej&heidneren natürlihen Plas einzuneh- 
men. ind e8 war nod immer fo, dah 
das zahlreihe, im @angen geduldige, 
ftarfe, arbeitiame deutſche Bolf, dag (weit 
über feine „Staatsgrenzen“ hinaus) Nit- 
teleuropa in dichter Maffe befiedelt, aud 
wenn e8 eine Zeitlang von den Feinden 
Ser wurde, am Ende dod wieder in 
er alten Größe gefeftigt daftand. Die 


biologifden Völkergeſetze können nidt 
einmal von den Schiefgewehren der nicht 
nur großen, fondern jogar vergrößerten 
tubmreiden däniſchen Armee faputtge- 
{offen werden. Geduld, ihr Eepanfions- 
giganten von Kopenhagen! Die dänischen 
Hiftorifer werden dereinft diejenigen Bo- 
litifer, die Das dänifhe Staatsfubrwerk 
an den mit Qaturnotwendigfeit ab- 
wartsrollenden franzöfiihen Triumph» 
wagen anfoppelten, vermutlid nicht 
unter die flugen und weitblidenden 
Staat3männer rehnen fönnen. ind es 
werden faum fonderlih ftolge Gefühle 
fein, mit denen man feftftellen wird, daß 
Dänemark ja aud fo hätte handeln fine 
nen, daß die deutſche Ehre unverlebt 
blieb. Wir pflegen, wenn jemand einen 
beißen Wunſch in unüberlegter, hajtiger 
Beife bereich tronifh gu fagen: Des 
Menfhen Wille ift fein Himmelreid. 
G8 wird fid zu feiner Zeit erweifen, ob 
das däniſche Himmelreih edt ift. — — 

Sq bringe nun endlid den im Oftober 
perfprodenen Oedenkaufſatz über Gerdi- 
nand Avenarius. Vom November 1911 
bis zum Schluß des Sabres 1916 war 
ih bei Abenarius am Runftwart und 
in der Leitung des Diirerbundes. Es 
war eine Lehrzeit, wie ein Schriftſteller 
fie nirgends fonft in Deutfchland fo hätte 
baben fönnen. Wan weiß, daß id im 
Gtreite pon Abenarius gefdieden bin. 
Es ift mir leid, daß es im Zorn gefdab. 
Aber darüber bin ih mir Heute nod 
flarer als damals, daß die Trennung 
fein mußte, fonft wäre ih nie zu 
meiner bejonderen Aufgabe gefommen. 
Die Bitterkeit ift längft verſchwunden, id 
denfe mit reiner Dankbarkeit an die ine 
baltreiden Sabre zurüd. 

G3 fam mir nidt darauf an, dad 
Berk des RKulturpolitifers und Dich— 
ters zu würdigen, Das habe id in dem 
Avenarius-Bud, welches id 1916 zu 
Avenarius’ fedgigftem Geburtstag ber- 
ausgab (bei Gallwey, Münden) getan. 
Zudem ift, was er geleiftet bat, aud nod 
in den lebten Jahren, jedem Gebildeten 
befannt. In vielen Auffaben ift e8 nad 
feinem Tode gejagt worden. Leben dod 
(außer Batfa) nod all die Mitarbeiter des 
„alten“ Kunftwartfreifes, Adolf Bartels, 
Karl Otto Erdmann, PaulGdulbe-Naum- 
burg, Serdinand Gregori, Leopold Weber 
uf, Gie baben mandes Dortreffliche 
über Avenarius’ Wirken gefdrieben. Im 
Oftoberheft 1923 des Kunftwarts bradte 
fein Nachfolger Wolfgang Schumann eine 
umfafjende Darftellung der Berjönlich- 
feit im Sufammenbang mit ihrem Werte. 
(Befjonders Hinweifen mödten wir auf 
einige bisher ungedrudte ®edidte von 
Avenarius in dem Heft.) Daber be- 


85 


{Oranfe ih mid auf eine fnappe Gha- 
rafteriftif der perfinliden Art des Mans 
nes, Alle Paneghrif habe id) vermieden, 
aud Kritik ziemte mir nidt. Ich bob 
berpor, was mir das Wefentlidfte ſchien, 
ohne jedod die Grenzen zu verfdweigen. 
Avenarius ift bedeutend genug, um das 
ertragen zu fönnen, Ich Deik, daß er 
felbft fic Mühe gab, nit nur feine 
Stärfe zu nuben, fondern aud feine 
@rengen zu erfennen. Gr lehnte die Hym⸗ 
nen ab und ſchätzte die Wabrbeit. 

Die Stiide, die wir vorn aus Ave— 
narius’ Schriften wiedergeben, babe id 
nad dem Avenarius-Bude gewählt. Das 
erfte und lebte Oedicht ift außer inijenem 
Bude nur im Kunſtwart veröffentlicht 
worden, die andern ftammen aus „Lebe!“ 
und aus den „Stimmen und Bildern“. 
Die „Spatentante“ gibt ein Bild von der 
perfinliden, bumorpollen Art des Er— 
aablers. So erzählte er. Und die Sdluf- 
berfe des Stüdes fagen die Wahrheit. In 
dem „od“ ſchätze id die faft goethefde 
fünfte Strophe fowie die Schlußftrophe 
ganz befonders. Es ift gleihfam Avena- 
tius’ eigenes Sotenlied. Der „Mondauf- 
gang“ ift zweifellos duch Shwinds Bild 
bon den Geiftern, die den Mond anbeten 
(Sdhad-Gallerie), angeregt. 

Als zehntes Bandden der Kunftiwart- 
Büderei gab Wolfgang Schumann eben 
eine Auswahl ,Gedidte’ pon Apena- 
tius heraus, (Callweh, Münden. 68 ©. 


Seb. 1 


Mt.) Solche Auswablen find 
natirlid fubjeftiv. Aber wie auch immer, 
es ift ein fines, gehaltvolles Bändchen, 
befonders wertvoll durd einige bisher 
unperöffentlihdte Gedidte. Die Gedidt- 
folge „Ber Leste’ und Die beiden 
Strophen ,@ottvater“, worin -fih der 
alte, vom Tode gezeichnete Mann mit 
dem Tode verjöhnt, find erfhütternd für 
jeden, der ihn gefannt bat. Das ift das 
tiefe, reine ®old, da8 aus den Sdlacden 
des Lebens geläutert ift. „Und nun id 
geb zum Gdeiden / Bon diefer Grde 
Licht, / Du Herr von Ghrift und Heiden, 
/ Bie bift du plötzlich jhlihtl" Im 
Bilde feines irdifhen Vaters tritt Gott 
ihm entgegen. — — 

Das Schleswig = Holftein= Heft der 
„Zat“, auf das Sdmidt-Wodder hin— 
weift, wird im März erfheinen. 

Die Bilder von Asmus Seffen ent- 
nehmen wir drei Mappen („Lübeder 
Schiffe“, „Häufer“, „Dom“), die je zwölf 
Blätter enthalten. Die beiden lebteren 
find in zwei verfhiedenen Ausführungen 
gu je 2 und 3 WME, die Liibeder Schiffe 
für 2 ME durd die Hanfeatifhe Ber- 
lagsanftalt zu beziehen. Wir wiffen, daß 
viele Lefer die Köpfe fchütteln zu den 
Bildern, aber eines werden fie bei einiger 
Aufmerffamteit leiht empfinden: dah 
Seffen wie faum ein andrer das Grleb- 
Bet des Raumes zu bannen ver- 
tebt. 


Stimmen der WMeifter. 


Was will das papierdünne beſchriebene Blatt Bewußtheit bedeuten, das auf den 
Weerestiefen ſchwimmt! Schichtweiſe liegt da drinnen Welt unter Welt. 
Sind fie tot, die überfluteten Zeiten? Alles bei den Vorfahren Geweſene iſt ja 
in den Golgen nod, von allem tragen wir nod etwas in uns, und wir feben e3 nicht 
jeden Tag gleidh, wir fehen es bald mit Wärme, bald in Gelaffenbeit, bald mit 
Kälte, bald zuftimmend, bald ablehnend — aud für unfre Eugen Augen von Heute 
ändert das Ginft fehr oft nod fein Gefidt: e8 lebt nod. Sede diefer Welten des 
@®ewefenen lebt noch unter ihrer eigenen fremden Sonne weiter. inter ihnen ere 
blibten die großen Gedanken diejes Ginft und jenes Ginft nidt nur und bildeten 
Saat, nein, fie tun dag immer nod. Wiffen wir, ob Körner dapon, die uns bisher 
taub fdienen, nidt heute nod feimen fünnen? Bir wiffen im Segenteil, wie oft 
folde don gefeimt haben. ind was lebt wohl alles da unten nod in den Meeren! 
In den Landen, die in fie verfunfen find, befeSdeten und befreundeten ſich Sippen, 
Stämme, Bölfer, dort mifhten und fonderten fidh die Raffen, dort fdritten 
fampfend, fiegend, fammelnd die Grofen bin — und tun e3 nod. Wir fammeln 
uns ja droben über ihren Wegen drunten. Und fühlen die — Perlen, die ſie 
fortwährend hinaufquellen machen gu Heut. Aber außerhalb der Grofen wirken 
die Familie, das Bolt, die Raffe, die Menjchheit herauf, und wirft es immer nod 
von tiefer ber — es ift fein abgrenzender Halt nad dem Dunfeln bin. Aud wenn 
wir waden, wirft all das nod in uns fort. Aber allein in der Rube hören wir 
etwas davon, und fei e3 nur in einem Geflifter, Gewifper und ®eträum. Stimmen 
aus Heidengeiten, Stimmen aus erftem WMenfdhengeifterwaden. nd es mag fein, 
daß in Rudimenten in ung fogar aufbegehrt und verfagt und wieder redet und fragt, 
was nod älter ift. Sardinand Avenarius. 








Neue Bücher 








Runftwart-Büdherei. 1. Bd. Goethe, 


Gedanteniyril, berausg. von Eva und Wolfg. 
Schumann. 2 Bd. Glifabeth Barrett. 
Browinig, Portugiefijhe Sonette. Engl. Text 


mit Uebertragung von Hans Böhm. 6. Bd. 
Mörike, Gedidte. Herausg. d. Ernft Liffauer. 
9. Bd. Drofte-Hülshoff, Gedidte. tauög. 
von Ferdinand Gregori. 10. Bd. Ferdinand 
Avenarius, Gedidte. Herausg. von Wolfg. 
Schumann. Je 68—112 ©. Geh. 1 Mi. Kunit- 
wart-Berlag Georg D. W. Callwey, Münden. 
Bon ben bisher erfchienenen Bänden der 
Sammlung bringt die Halfte Gedidt-Auswahlen. 
Diefe zeigen wir gunadft an, über die Proja-Bande 
fpäter abetes. Die Sammlung will ein ge- 
ſchloſſenes Ganzes geben, dod läßt fih aus den 
erften 10 Bandden nicht erfennen, worin das nr 
ammenfhließende liegen fol. — Die Eröffnung der 
eibe duch eine fleine Auswahl von Goethes Ge- 
danfenlyrif ift gut und würdig. Es ift nicht nur aus 
„Sott und Welt” ujw. gewählt, es find aud 
Balladen wie die „Braut von Korinth“ hinzu— 
enommen. Daß allbefannte Gedihte wie „Das 
öttlihe” und „Meine Göttin“ fehlen, mag bie 
Eigenart der Wahl daralterifieren. — Sehr fein ift 
ns Böhms Ausgabe der fog. „Pportugiefifchen 
onette” (die mit Portugal nichts gu tun haben). 
Dak der engliihe Text neben der bingebenden 


Morifes Gedichten herausgibt, überrafht. Behr 
lebrreih ijt, wie ein fo bemußter Didter mie 
Liffauer die Kunft Mörikes harakterifiert. Eins bat 


er in dieſer fühlfamen, zarten Würdigung über- 
gangen: das ee Nidt umfonft läßt Mörite 
im „Zurmbahn“ die Sonne die goldenen Namen der 
frommen Gchwabenvater Bengel und Detinger 
„noch goldener“ fiffen. Gn der Auswahl fehlt denn 
aud „Rewe Liebe”, leider aud „Auf eine Ehrift- 
Blume“, das ih zu den herrlichiten Gebilden in 
deutiher Spradhe gable. Damit foll im übrigen 
die Anerfennung des Wertes und der Eigenart der 
Wahl nit eingefhränkt werden. — Gregoris Aus. 
wahl aus den Gedichten ber Drofte famt der Ein- 
leitung ift gut und charaltervol, — Auf die 
Avenarius «Auswahl haben wir in der Zwieſprache 
bingewiejen. St 

Die Deutſche Didtung 
turelen BZufammenhängen mit qaralteriſtiſchen 
Proben. Eine Gefhihte der deutihen Literatur, 
ber. von Dr. Frang YFahbinder, Dr. Auguft Kable 
und Dr. Friedrich Kork. 1. Teil (Dihtung des 
Mittelalters). 262 &. 2. Teil (Vom Humanismus 
bis zu Goethes Tod). 252 ©. 3. Teil (Bon der 
Romantil bis zur Gegenwart). 594 & Yn einen 
Bd. geb. 14 ME. Grözahl. Herder & Co., Frei- 
burg i. Br. 

8 Werk ift gedacht als erfte Einführung in die 
Literatur, wie fie etwa ältere Schüler oder Auto— 
didaften brauden. Es ift eine febr glüdlihe Form 
der Einführung: ein fnappfter geihictlider und 
biographifher Rahmen, Inhaltsangabe wichtiger 
Werle, vor allem aber, als Hauptbeftandteil, eine 
reihe Auswahl von Gedichten, aud Proben aus 
den epifhen Bersdidtungen. Der erfte Teil gibt die 
abd. Gedichte glüdliherweife im Urtegt mit nbd. 
Ueberjegung; die mbhd. Dichtung teils im Urtext 
(mit Wörterbuch), teils in Gh den. teils beides 
nebeneinander. Yn diefem Teil faben wir Wolfram 
gern mehr beroorgehoben und gewürdigt, er ift ja 
tatfählich neben dem Mibelungendidter der Gipfel. 
Im zweiten Teil tritt bei aller erftrebten Objektivität 
dod) das katholiſche Urteil ftart hervor. Bon 


in ihren tul- 


Quthers fpradlider und didterijher Bedeutung 
nits, nur ein paar fäuerlihe Abſchwächungen des 
allgemeinen Urteils, melde die Abneigung unter 
fheinbarer Objektivität verbergen. Das wate nun 
wirllid für den feines Glaubens gewiſſen Katholiten 
nicht nötig gewefen. Gut und weit ijt die Würdigung 
Goethes im ganzen. Weithergig (mehr ala wir es 
bier und da fein würden) ift der dritte, von Faß— 
binder bearbeitete Teil, der bis zur mobderniten 
Didtung führt. Aber die mannigfaltigen Wb- 
weihungen in einzelnen Urteilen hindern nidt, den 
wen Wurf des Ganzen und feine padagogijde 
edeutung anguerfennen. Das Werk befriedigt das 
Bedürfnis, dem es dienen will. St. 

Arthur RoeRler, Schwarze Fahnen. Ein 
Künftlertotentang. 264 ©. und 54 Bildertafeln. 
Geb. 13 Mt. Grdz. Carl Konegen, Wien. 

Eine Sammlu von Zeitungsaufjägen über 
bildende Künjtler, die gelegentlich der Todesfälle und 
Jubiläen entitanden find. „Ohne vorangegangene 
„Präparation“, aljo ohne die vielgerühmte Gründ- 


lidfeit und „profunde Gelebrfamfeit”..., nur aus 
der ftimmungsftarfen Erinnerung an fehlinnlid 
wabrgenommene Erlebniſſe und einer, im Hinblid 


auf chronologiſche Falten und hiſtoriſche Tatfadyen 
nidt immer truglofen, reichen Ueberlieferung 
ſchöpfend, die fic) mir...zu lebendigem Stoff ge- 
wandelt hatte, geftaltete id, je naddem in Luft und 
Trauer.“ Das genügt für Zeitungsaufjäge, nicht 
für einen diden, gut ausgeftatteten Band. Es ift 
allerlei Yntereffantes darin, aber es ift eben fein — 
Bud. Einteilung: Deutihe Künftler, Defterreichifhe 
Künftler, Schweizer Künftler, Engliſche Künſtier, 
Franzöſiſche Künftler ufw. Beitumfang: Von Richter 
und Menzel bis zur Gegenwart. t. 

Das Neue Hamburg. Herausg. von Karl 
Lorenz. 190 ©. Gemeinfhaftsverlag Hamburgifcher 
Künftler, Hamburg. 

Wundervol gedrudt in einer etwas manieriert 
anmutenden, aber eleganten Antiqua auf gutem 
Papier. Damit find wir am Ende deffen, was wir 
loben können. Bon den gefamten Bildern bat nur 
ein einziges Eindrud auf uns gemadt: das erite 
von Karl Opfermann. Einiges andre „nimmt man 
mit in Kauf“, da bei einer Sammlung ja aud 
Schmwäderes mitlaufen muß. Uber das meifte und 
im ganzen — armes Hamburg, wenn das deine 
künſtler iſche Zukunft wäre! Es iſt aber nur ein 
wunderliches Puppenſtadium. Sollte ein Ruckteſchell 
fo enden? Die ſterile Hülle wird hoffentlich an 
einem guten Tage gejprengt. Oder aber,‘ diefes 
„neue Hamburg” verjadt in die langweiligite Ber- 
geffenbeit. Was die Gedichte betrifft, fo fragen 
wir: Warum didtet Wilhelm Niemeyer? Er kann 
es doch aud bleiben laſſen, da ihn nichts von innen 
ber dazu drängt. Er bat eine feine Technik des 
Wortes und Verſes, aber nichts Erhebliches damit 
gu fagen, jo wird die Breite quälend. Wud Paul- 
fried Martens gibt uns nichts. Karl Lorenz gu 
Ende zu lefen, gelingt uns nidt. Nah unfrer 
Meinung ift es fo: es find Anfage da, aber fie treiben 
in formlofe Wuderungen aus. Weil es an Be- 
ſchränkungskraft fehlt, wird fein Meifterftüd daraus. 
Etwas unorganijfd ift bintenan ein — man ift in 
diefer Umgebung verfudt zu fagen: braver Aufjag 
über „Stil“ von Guftan Pauli gebängt, der lejens- 
wert ift. Der Titel des Buches ijt eine Gelbft- 
täufhung. St. 

einrich Shafer, Grundlagen der agypti- 
[hen Rundbildnerei und ihre — — mit 
denen der Flachbildnerei. 38 ©. u. 10 Abb. J. C. 
Hinrihsfhe Budbhlg., Leipzig. 

Das Heft ift gleihjam . eine Fortjegung von 
Schäfers großem Werle „Bon ägpptifher Kunft“. 
Sd. zeigt, wie die von ihm für das Flachbild ge- 
fundene eigentümliche künftlerifhe Gefepmagigteit 


87 


aud für die Bollplaftit gilt. Die Berbindung wird 
überzeugend nadgemiejen. Schäfer jtellt das febr 
umfaffende Gejeg auf: „Die Rundbildwerke nad 
Menjgen und Tieren unterliegen bei allen Völkern 
und DR die nidt von der griechiſchen 
Kunft bes fünften Jahrhunderts berührt find, dem 
aus ber Art der RNaturbetradtung folgenden Ge- 
a daß die Ausgangsebene in pe Anſicht vore 
geitelt ift, und die Teile (bei Menfden Kopf, 
Rumpf und die Glieder, unter diefen vor allem 
Oberarme und Oberfdentel) fic) mit minbdeftens je 
einer ihrer geraden Wuffidten in ein Kreuz redt- 
wintlig fih ſchneidender oder gleihlaufender Ebenen 
fügen.” Man lernt bier die ftrenge Gebundenbeit 
der agyptifden Plaftit aus bem Wejen des „bor« 
ftelligen“ (nicht des griedhifhen „mwahrnehmigen“) 
Anjhauens der Dinge verftehen. Die Unterfuhungen 
Schäfers find fehr auffhlußreih und — bei feiner 
guten Sprache und deutlihen Darftelung — genuß- 
teih gu lefen. St. 

Jobann Gottlieb Fichte, Pbhilofophie 
der Maurerei. Neu Herausg. u. eingeleitet von 
Wilhelm Flitner. 83 ©. Geb. 3,—, geb. 4,50 Mt. 
Grundy. Feliz Meiner, N: 

Hier liegen Fichte® im allgemeinen wenig be- 
adtete „Briefe an Konftant” in einer forgfaltigen 
Ausgabe vor. idte wurde 1793 in Zürich freie 
maurer. Rah dem Atheismusftreit fudte er 1799 
in Berlin Antnüpfung bei Freimaurern, er trat in 
Berbindung mit Febler, einem Reformer der Frei- 
maurerei. Fichte wollte (nad Barnhagen) „biefen 
in allen Weltteilen wirlſamen Bund von Bere 
bündeten gu einem Organ ber Philoſophie machen“. 
„Sleihfam ein pythagoreifhes Ynftitut”. Er trat 
1800 in eine der Logen der Royal York ein und 
bielt dort die Vorlefungen, die {pater ald „Briefe an 
Konſtant“ veröffentliht wurden. Da Fehler und 
Fichte ſich gegenfeitig gebrauden wollten, fam es 
PR Brud. gi te fagte fid) von der Royal Port 
08. Fichtes Vorträge wurden von K. Chr. Fiſcher 
1802 veröffentlidt, leider mit erbebliden Umgeftal- 
tungen und Bufagen. Da das Manuffript verloren 
ift, wurde bier der Fiſcherſche Text, abgefehn von 
einem Einfhub, gegeben. Ym Anhang ein Brief- 
wedfel Fidtes und Feflers über Begriff und Gee 
ihichte des Freimaurerordend. Flitners ausführliche 
Einleitung ift ein intereffanter Beitrag zur Bio- 
prapbie und zum Berftändnis Fidres. Wie denn 

8 ganze Bud) für Fichtes Ethik und Erziehungs- 
lehre (er ift bier nod in feiner ftarf rationalifti{d 
beftimmten Zeit) redt aufſchlußreich ift. St. 

Ulbert leifhmann und Ridard 
Griigmadher, Der Entwidlungsgedanfe in der 
gegenwärtigen Natur» und Geifteswiffenfhaft. 188 ©. 
A. Deidhertide Verlagsbuhhlg., Erlangen. 3 

Das Bud enthält einen Ring gemeinverftand- 
lider Bortrage der beiden Erlanger Gelehrten, des 
Zoologen und des Theologen. Yleifhmann gehört 
au den wenigen, die nicht der Suggeftion des 
Darwin-Hädelihen Entwidlungsgedantens mehr oder 
weniger unterlegen find, fondern fich höhere logiiche 
Anfprühe bewahrt haben. n fnappen und fdarfen 
Zügen jest er die Ungereimtheiten der übliden Ent- 
mwidlungsphantafie auseinander und zeigt gum 
Schluß, was wirklich Entwidlung zu beißen ver- 
dient und wo fie zu finden ift. Gritgmader fegt die 
Gedantenreibe für die Geifteswitjenfhaften fort. 
Feffelnd find feine Ausführungen über bas Wefen 
der gefhichtlihen, fittlihen, religidjen „Entwid- 
lung“. Antnüpfung an Rankes Bort bom „une 
mittelbaren Bezug gum Gottliden”. Ein klares Ge- 
fühl für den Unterfchted von Wirklichkeit und bloßer 
Bhantafie und eine reinliche Logik zeichnen den Ge- 
danfengang aus. Wir empfehlen bas Bud gern 
und dringend jedem, der mit toe Problemen ringt, 
e8 bilft ihm weiter und madt ibn von gewiſſen (faft 
tödlihen) Befangenheiten unferes Zeitalter Fig 

t. 


Bolfram von Eſchenbach, Die Liebes. 
lieber des. 50 ©. Der Innere Kreis Verlag, 
GElgersburg i. Th. 

Die Texte der Tages und Minnelieder (nad 
Ladmann), gegenübergeftellt Ueberjegungen von 
Wilhelm Willige. nitialen unb ein ganzfeitiger 
Scherenſchnitt von argarete Billige. Die Ueber- 
ee vereinigt inhaltlihe Genauigfeit mit weit 
ebender Berüdfihtigung bes Klanges, fie verdient 

netfennung. Mandes ift überrafhend gut gelöft. 
(Mertwürdig ift, daß der Weberjeger den Abgefan 
der Strophen von „EB ift nun Tag” am lu 
zerftört, der bei Wolfram befonders ſchön ift.) Die 
Bildchen find hübſch, wenn aud nicht gerade immer 
wolframfden Gepräges. Wir begrüßen es, daß bieje 
Lieder in einer jo würdigen Ausftattung vorliegen. 
Möge die Ausgabe die diel gu wenig belannten 
Tagelieder bes größten unſrer mittelalterlihen 
Dihter an recht viele Menjhen bringen! Es ift 
eine wahre Labung, diefe Gaden endlih einmal 
nidt bloß als Gegenftände philologijder Uebungen 
in einer „mwiffenfhaftlihen Ausgabe” mit Zahlen am 
Rande und Lesarten unten, fondern eben einfad 


alg — Gebidte lejfen zu können. Das Bolt 
follte die mittelhochdeutſche Didtung endlid den 
Klauen der geftrengen Philologie entreigfen und 


swifhen Mund und Ohr Tebendig klingen 
laffen — das geht, geht tatſächlich! St. 


Albrecht Wirth, Deutfhe Abentenrer. 
160 ©. Deutjdher Bollöverlag Dr. E. Boepple, 
Münden. 


GSliggen zur Gefdidte des deutſchen Aben— 
teurertums, auf gründlichen biftorifhen Studien 
berubend. In den 35 furzen Abfchnitten bandelt 
es fih um die Lebensfhidfale von Männern, dte 
in ihrer Beit eine 3.2. febr bedeutende Rolle 
gefpielt haben. Aber in ihrem Wefen find fie 
Abenteurernaturen. Um einige zu nennen: im 
dreißigiährigen Sirieg der Mansfelder und Berns 
bard born Weimar. Aus fpäterer Zeit Graf von 
der Schulenburg in benezianifhen Dienften, 
Struenfee am danifden Hof, Graf Ludner, ber 
im flebenjabrigen Krieg fot und in Paris unter 
der Guillotine ftarb; dann einige Namen der 
Freibeitstriege bis in die neuefte Beit — was für 
tolle Scidfale Tann fo ein Menfdenleben er 
fülen! Wieviel in der ganzen Welt ift gerade 
von Deutſchen gefchafft und gefdaffen worden! 
Und wie oft haben fle gegen ihr eigenes Bater- 
land gehandelt, an fremde Zwecke verfauft! Biel 
und Swed beutfhen Wbenteurertum3 Tann nur 
fein, dem eigenen Wolf zu nüßen. RB. 


Hermann Wahroder, Sturmflu. Sdhid- 
falstragödie eines Volles. Herausg. vom Künftler- 
dant (Claug - Rods - Stiftung). 95 ©. Habbel und 
Naumann, Regensburg. 

„Die Handlung ereignet fic) zur Wendezeit des 
Weltkrieges, in den Abenbdftunden des 1. November 
1918 am norbdifden Wattenmeer.” Dort in ber 
Sturmnadt, wo wegen Deidbrudgefabr alle nad 
altem Gefeg dem einen Deidgrafen geborden 
müffen, verweigern die Novemberrevolutionäre, 
lauter Sleinbandwerler unter Anführung eines 
„Boltsführers“, den Schug des Deides, zerftören 
ihn fogar gemwaltfam, aus Haß gegen die Bauern und 
Befitenden. Feuersbrunſt, Bligfdlag und anderes 
Unglüd fommt binzu; ein ganzes Bolt gebt gue 
grunde, weil e8 die göttlihe (oder „natürlidhe“) 
Ordnung durdbroden bat. Lebendig, heiß, aus 
vollem Herzen eines Dichters gefdrieben, den unfere 
Zeit brauden fann. Nur hat er fi in der Form 
verfeben. Was konnte ihn veranlaffen, ein Drama 
aus Ddiefer Nopelle gu mahen? Das Beite 
daran würde ja auf der Bühne verloren geben! 
Barum erzählt er nicht dieſe Geſchichte und 
madt aus den eingeflodtenen Choren der Geifter- 
Mönde ein Dratorium? G. K. 








GSedruckt in der Hanfeatifdhen Verlagsanſtalt Altiengeſellſchaft, Hamburg 36, Holſtenwall 2. 





ASmus Ieffen, Aus dem Lübeder Dom 


Aus dem Deutfhen Volfstum 


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Aus dem Deutſchen Volkstum 





Asmus Seffen, Lũbecker Haus 





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Aus dem Deutfhen Voltstum Asmus Ieffen, Aus dem Liibeer Dom 





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Aus dem Deutfhen Voltstum 








Alfred Rethel, Der Bannertrager 


Deutiches Golfstum 


3. Heft Cine Monatsjchrift 1924 





Kleilts Robert Guiscard. 
1 


ohl ein jeder bon uns weiß, daß beftimmte Borftellungen, gedanklich 

unaufflarbare Berbindungen, halb geabnt, halb geträumt, von Kindheit 
an in uns leben. Ahnungen, die im Blut liegen und bon Äußeren Dingen, 
Worten, Bildern erregt werden. Wir bringen ganz Gernes zueinander. In 
Schillers „Braut von Mejfina“ bat mich nidts ftarfer gebannt als das nordijch 
Klingende vieler Namen diefer dumpfen Srauerfympbonie, die raunende Gre 
aäblung bon dem fremden Geſchlecht: „auf dem Meerfchiff ift es gefommen“, 
diefem ©efchlecht, das der fprudelnde Sturz feines nordifhen Blutes trieb bis 
por den ſchwarzen Katafalt im dämmernden Gaal bes Südlandes, um ‚dort 
zu verftrömen. Dann las id Kleifts Guiscardtragddie. Sie ſchuf diefelbe 
Atmofphäre, aber weit gewaltiger, furchtbar bannender. Heiße Leidenjchaft, 
traumbafter Wille, fernfte Sehnfühte zu erzwingen und traurige Klage. 
Darüber tauchen Bilder auf: die ſenkrecht wild auffteigende Drohung eines 
düfteren Wilingerftevens mit Tantigem Dradenfopf, ein ſchwarz aufgeredtes 
Riff, das von weißen Wogenfammen umfhäumt und gernagt wird, und die 
Winde heulen um den trogigen Baden. Oder der geborften Elaffende Fup 
einer ZHpreffe mit dem ſchwarzen Trauergewölf der Zweige aus fablem Gee 
leudt des Stammes, wie fie Kleift bor Guiscards Belt aufragen läßt, erregt 
die DBorftellungsfolgen und trägt fie hinüber in die gerriffenen Klagetöne einer 
Billa am Meer des germanifden Bödlin, wo eine ſchwarze Frauengeftalt 
dwijchen Setrümmer und Gefels in ihrer verzweifelten Trauer fich gegen das 
Scidjal biegt, wie die gergauften Bypreffen ihre Wipfel wild fchlagend gegen 
den Meerwind aufwerfen. Und ftets die ewige Frage: Kann denn dies 
braufende Nordlandsblut nicht ruben, muß es in SKataralten niederftürzen, 
Daft nur Die Trauer bleibt und das rätjelhaft dunkle Schütteln des Schidfal- 
bauptes? Immer wieder hängt fi das Sinnen an das trogige Guiscard— 
drama, immer ftärler wächſt aus dem halb unbewußten Träumen, das um 
diejen ruinenbaften Blod zieht, die Bewuftheit heraus: Hier, vielleicht nur 
bier wie felten wieder ift dem nordifchen Menfchenpolf das Gleidnis feines 
Weſens Geftalt geworden, das furdtbare und herrliche: wildefte Spannfraft 
und graufiger Sturz und er, der es fchuf, mußte es mitleiden, Kleift, der an 
diefem Werk verblutete, in ihm ftieg und mit ihm ftürzte, weil er das Schidfal 
hatte, ein Kind diefes Bolfes zu fein und fein Werk leben zu müſſen, diefes 
Guiscardwerf, das hod auffest und fab gerfdellt, wie immer wieder wir felbft, 
und das fie darum ein Fragment beißen. Wie aber fann unferes Wefens 
Gleidnis eine andere Gorm haben als das „Sragment“, wenn man den 
Namen denn will für Schidjalhaftes, das niemals anders fein fann, als es 
tft? Nennen wir das Schidjal des Guiscarddramas das Schidjal Kleifts und 
Kleifts Sdhidjal das Schidfal unferes Bolfes: es ift eine, fen: möchte id 
fagen mythiſche Einheit. 


89 


2. 

Dies ift Der Abſchied Kleifts von feinem Guiscard, der Abfchied eines 
todwunden Kriegers, der fid in die Schlaht geftürzt, Die Welt zu erobern: 
„Ih Habe nun ein halbtaufend Hintereinander folgender Sage, die Nächte der 
meiften miteingerechnet, an den Verſuch gefett, zu fo viel Kränzen nod 
einen auf unjere Samilie herabzuringen: jest ruft mir unfere heilige Schuß- 
göttin zu, daß es genug fei. Sie füßt mir gerührt den Schweiß bon der Stirne 
und tröftet mid, wenn jeder ihrer lieben Söhne nur ebenfoviel tate, fo 
würde unjerm Namen ein Pla in den Sternen nicht fehlen, und fo: fet es: 
denn genug. Das Sdidjal, das den Völkern jeden Zufhuß zu ihrer Bildung 
gumift, will, Denke ich, die Kunft in diefem nördlichen Himmelsftrich noch nicht 
reifen [affen... Ich trete bor einem guriid, der noch nicht da ift, und beuge 
mid, ein Iahrtaufend im voraus, por feinem Geifte. Denn in der Reihe 
der menfdliden Erfindung ift diejenige, die ich gedacht Habe, unfehlbar ein 
Slied...“ Dann der Zufammenbrud und die Dede des Todes: „Ich Habe 
in Paris mein Werf, foweit es fertig war, Durdlefen, verworfen und dere 
brannt: und nun ift es aus. Der Himmel verfagt mir den Ruhm, das 
größte der Güter der Erde; ich werfe ihm, wie ein eigenfinniges Kind, alle 
übrigen bin... ich ftürge mich in den Tod...“ Dazu der Guiscardftoff: Der 
Herzog germanifden Blutes, der mit feinem Heldenvolk zum wilden Anfturm 
auffegt, die Kaiferftadt Konftantinopel zu nehmen, der Erde gleidjam eine 
neue Geftalt gu geben, bricht von der Peft gefchlagen zufammen, fein Bolt 
ftirbt in Krankheit, Seenot, Sklaverei. Kleifts Quelle zum. Guiscard, ein Auf 
fag von Sunk in Schillers Horen endet: „mit ihm (Guiscard) fanfen alle feine 
großen Pläne ins Grab...“ In Didter und Stoff der zähnefnirfhende An- 
fprung: dies alles oder nichts! In Dichter und Stoff der grauenhafte Abfturz, 
das „Unmöglih“, die Sturheit des Schidjalhaften, Geift und Wille, die gegen 
eine ſchwarze Mauer rennen und zerichellen. 

Gundolf fpricht in feinem Buch über Kleift bei der Hermannsſchlacht von 
den „Alapismen“ im Blut Kleifts. Diefe mit leifem Bedauern erwähnten 
Atapismen fdeinen mir das Größte und Ausfchlaggebende zu fein, 
nur fie, fonnten die Sriebfraft geben, die die Bilöde des Guiscard auf- 
ftemmt. Wir müffen ung den Kataraftenfturz der „Germania an ihre Kinder“ 
durch die Seele braufen laſſen, dann faßt uns ein Grfdauern und ein Grfühlen 
des elementaren, gleihfam von Urzeiten gefammelten Kraftfttoms, der, ge» 
ftaut, gedämmt, den Guiscard auftirmt. Gin Haud von der ftürmenden 
Kraft Gottes ift darin, die über Nordmeere fährt und zugleich in Reden auf- 
ftebt, die jauchzend den ftampfenden Sciffskiel gegen diefen Sturm treiben, 
und im Wetter der Schlacht die weißen Leiber, podend bon heißem Blut, 
in den Tod werfen. Nur aus diefer Dämonie des Kampfwillens faffen wir 
Kleift, aus dem Sturmfreudigen, das die Wogen nordifder Völker gegen den 
morjden Bau der antifen Welt anbranden ließ, das Gefchlecht auf Gejchlecht 
durchzieht und, in diefem einen gefammelt, alle Dämme brechen will. Nur fo 
gebt uns aud das Verftändnis dafür. auf, daß Rleift immer wieder bon 
„Ruhm“ fpricht. Das wird gerne überjehen, denn Ruhmſucht gehört nicht in 
die Reihe der modernen Leidenjchaften. Kleift will den Ruhm, ja, er jelbit 
fieht in dem Streben nad Ruhm die einzige Sriebfeder feiner übermenjch- 
lihen Anftrengungen; man bvergleihe die angeführten Stellen. Denn der 
Rubm ift das metapbhfifhe Symbol aller Diesfeitigen, er hat die inſtinktive 
Konfequenz aller urfpriinglid) Heldenhaften. Der Held ftirbt für die Idee, er 
zerbricht vor dem Kampf mit dem Schidfal, aber als Ruhm, als das Gee 


90 


fühl für die Herrlidfeit des Kämpfens und Serbredjens, bleibt die "Idee 
lebendig und ftebt, am Beifpiel geftärkt, wieder in neuen Kämpfern auf. Eine 
einfachere und erhabenere Gewifbeit pom Sieg des Geiftes im Kampf gegen 
die Materie ift nicht denkbar. Die Worte Kleifts über Ruhm und Tod bei 
dem Zufammenbruch über dem Guiscard halte man zu den ©uiscardftellen 
felbft: „... Heilig wäre mir das Ghepaar, / das feinen Ruhm im Bette 
zeugt der Schladjt.“ Nichts anderes ift es mit Friedrich des Großen: „Ata— 
pismen“. Ruhmſucht ift das Gefühl für ihn, alles nach feinem Gewiffen beffer 
gu maden als die anderen. Für Diefen Ruhm will er fterben, aber ohne ihn 
nicht leben. Und, ganz in der Atmojphäre des Guiscard, tauchen die gornig 
gleihmütig bingehadten Berfe Hamdirs aus dem Hamdirsmal der Edda auf: 
Die beiden Brüder können nidt mehr an gegen die Webermadt, alfo ergibt 
man ſich ftolg achjelgudend in das Schidjal, aber haut doch mit dem Schwert 
um fid, folange der Arm am Leib fist, wie Guiscard peftfrant den Sturm 
befeblen wird. Das find Hamdirs Worte: „Wir ftehen auf Leichen... / wie 
Aare im Gegweig; / Heldenruhm bleibt uns, / ob aud) heut wir fterben: /, 
niemand fiebt den Abend, / wenn die Norne fprad.* Diefer Nornenfprud 
ift aud Kleifts und Guiscards Tragif, er bleibt die einzige und größte Tragif 
troß aller geiftigen Giltrierungen des literarifchen Hebbel. 

Aus diefem Urtimliden im Blut wächſt die thpifde Art Kleifts, nirgends 
größer alg im ©uiscard: die Berbundenheit mit den Weltfräften: er fühlt 
das Volk Suiscards als ein Meer, immer fehren diefe Meerbilder wieder in 
betäubendem Borftellungszwang, der peftfranfe Hüne Guiscard wird zum 
franfen Löwen, der ftöhnend die Seele aushaudt, oder er liegt fprungbereit 
„wie ein gefrümmter Tiger“ bor der Kaiferzinne pon Byzanz. Hamdir, der 
wie ein War im Gegweig über den erfchlagenen Öotentriegern ftebt, ift aus 
derfelben Borftellungswelt entftanden. Alte nordifhe Sierbilder, der Löwe 
Herzog Heinridhs in Braunſchweig tritt vor unfer geiftiges Auge. Das In— 
nerfte, aus dem wir Kleift in feinem Guiscard erfühlen, ift der elementare 
Kampfwille, mit den furdtbarften Spannungen geiftiger Kraft die Welt zu 
erfüllen und fampfend zu durchdringen. Seine weiteren Werke erjcheinen da- 
gegen faft wie eine Refignation, ein Zurüdjchrauben der Anfpannung, fie 
find weit objeftiver, gegen den abjoluten, aufs äußerfte genommenen Plan 
im ©uiscard. Gelb{t in der Penthefilea, im Prinzen von Homburg fest der 
Angriff an einer Stelle an, in einem Shmbol, in einer Geftalt werden die 
Weltkräfte gefaßt, im Guiscard ift es ein wilder, verzweifelter Anfturm einer 
einzigen riefigen, gleihmäßig vorftürzenden Gront gegen die breiten, finfter 
trogenden, uneinnehmbaren Baftionen. Dabei fann nur df düftere Pract 
bes Kampfes bleiben, ein Stürzen und Brechen und das trogige Getrümmer 
der berubigten Wablftatt, fagen wir literarifd: ein Fragment. 

„In der Reihe der menjdliden Srfindungen ift die, die ich gedacht Habe, 
unfeblbar ein Glied...“ 

Gin verwegener Plan, vorher und nachher nie wieder aud) nur gedadt: 
Kleift will feinem Golf in einem großen Wurf Inhalt und Form des Kunft- 
werfs geben, in dem es fic felbft wiederfindet. Nun gleich wieder aufs 
äußerfte gegangen: der Held diefes Kunſtwerks ift das Volk felbft. Die Art 
des Kunftwerfs aber ift das Bühnenwerf. Wir heben fehon bier Herbor: das 
Bühnenwerk, nit ein literarifhes Drama, wie es die Klaffifer gejchaffen 
haben. Alſo mit einem Sprung fett fic Kleift über alles Schidfalhafte 
Binweg: ein Bolf, das in fic zerfallen ift, das Jahrhunderte feinen Ausdrud 
eigentlich nur in der Gigenwilligfeit gegeneinander wogender Kräfte gefunden 


91 


bat, fbIl in einer Schau feines eigenen Symbols geeint werden und — diefes 
Symbol foll nicht Ginbeit fein, fondern Kampf, Spannung, Wiberftreit. 
Was erft in Jahrhunderten reifen fann, muß von dem ftürmenden Willen er- 
öwungen werden. Und dann Lommt diefe Syntheſe mit der antifen Bühnen- 
form, eine Syntheſe, Die mehr nad der Pranfe des gubauenden, erobernden 
Löwen ausjieht, als nach einem ehrfurchtvollen Betrachten eines gefeierten 
Borbildes. Gs ift alles, in jeder pſychologiſchen Vorausſetzung fo ungriechifch 
als nur möglid. Port, etwa in dem mit Guiscard oft verglidenen König 
Dedipus, ein Chor, der feine weitere Aufgabe hat, als Gegenfpieler zu fein 
und den Reflex der Handlung zu geben. Im Guiscard ift diefer Chor, das 
Bolf, aber gleichzeitig Der Handelnde und ein Stic des Helden felbft. Weiter 
das typiſch Griechiſche überhaupt der Schöpfung diefes Chors: er ift formge- 
iwordene Geftalt der Ginheit eines Bolfes, er fügt fih dem Werf, das aus 
diefer Einheit erwächſt, wie die Laute der griechiſchen Sprache ſich ihm fügen 
und ihre ſchönſte Steigerung in ihm finden. Im Chor des Guiscard aber 
Ipringen die Worte in ihrer Dynamik immer eines gegen die andern an, aud 
bier Widerftreit ftatt Einheit, fein Rhythmus ift bas Klatjchen pon Wogen 
gegen Seljen, ihr Suriidgeworfen-werden, Wieder-Anftürmen unter Schlägen 
des Orfans und unter dreinzifchenden Bligen mit nachwetterndem Donner. 
Wir müßten nicht Deutſche fein, wenn uns nicht gerade diefe Unmöglichkeit 
in allen unfern Faſern padte, diefe traurige Schönheit des Unerreidbaren, die 
gugleid alles Zukünftige in fic birgt. Iedenfalls, [hon Wieland hat es er- 
fannt, Diefer Deutfche ift der erfte und einzige, der die Bühnenform Shafe- 
[peares aus ihrer individuellen Referdation wieder erweitern will gu der völ— 
kiſchen Gemeinſamkeit der Kulthandlung. Als Lebensgefühl aber, das diefes 
neue Werk treibt, fommt weder die antife Harmonie, noch der individuelle Stolz 
Shafefpeares in Betracht, fondern ein drittes: die Spannung gwifden beiden. 
Die Spannung, aus ,,Atavismen* im Blut liegend, aus Entwidlungsmäßigem 
verjchärft, ift eben alles bei Kleift. 


3. 

Spannungen, das beißt Dynamiſches, bewegende Ströme aber finnen Die 
ihnen gemäße Wusdrudsart am nabeliegendften auf der Bühne erhalten, wenn 
man die Bühne in ihrem Wefen erfaßt. Ste ift feine fefundäre, nur aus» 
führende Dienerin der Literatur. Sie ſchafft völlig felbftändig, unter Mit» 
wirkung bon Körper, Wort, Ton, Licht den lebendigen Kosmos des bewegten 
Raumes, erhebt im Gleidnis die Kraftitröme, die die Welt bilden, in das 
fünftlerifehe Erlebnis. Alles Architeftonifche, die Malerei ift ein Teil davon 
— ift Statik, die Bühne ift Dynamik. Ebenſo wie die Mufif. Die Bühne 
aber leidet unter einer furdtbaren Feffelung. Die Muſik bleibt immateriell — 
foweit fie nicht in ihrem Wefen durd Wagner und feine Nachfolger völlig 
verfannt wird. Aber auf der Bühne verwirrt die Körperlichkeit der Darftel- 
lung, ferner das Bortäufchen eines Geſchehniſſes die Grundlagen: die Körper 
find in Wahrheit nicht um ihrer felbft willen da, fondern Diener der Bere 
geiftigung: fie müffen die Unwirklidfeit des ideellen Raumes Heraufbannen, 
das beißt an Beifpielen: die Luft um den Körper, der Zwijchenraum, die 
Spannungen aus der Bewegung find ebenfo wichtig als diefe felbft, die Paufe 
ift ebenfo wichtig als das Wort. An diefer Tragik der ftoffliden Berbaftung 
fcheitert aud Kleift, als er das Höchfte zwingen will, das völfifche Gemein 
ſchaftswerk des Suiscard. Aber gerade bei diefem Werk muß aud das Ringen 
um die Gorm der Bühne anfeten. 

Wie ſchon erwähnt, der Guiscard fett gleich mit vollem Anfturm ein. 


92 


Er wirft [don dadurd alle literarifchen Dramaturgiegefeke über den Haufen. 
Die furdtbaren Kräfte, die in dem Werk toben, fluten in der erften Szene in 
[häumender Raferei aufeinander. In immer neuer Gliederung, immer [chärfer 
und eindeutiger werdender Anftraffung zerren fic die widerftreitenden Mächte, 
bis das jähe Yerreißen fommt und die zudende WAgonie. Die Aufgabe der 
Bühne — fie muß das Werk erft fehaffen, nicht „wiedergeben“ — beftebt 
einmal darin, den Rhythmus der Spannungen zu verfinnlichen, zum anderen 
aber, diefen rafd auffteigenden Blod in den Kosmos, deffen Verdichtung er 
ift, in feine Atmofphäre eingubetten. Gs fet zu jäh an und endet zu plößlich, 
feine Welt muß im Bufdauer erft bereitet werden. 

Der Begriff „Bollendung“ ift, wenn man bon dem Kleiftifhen Typiſchen 
der Spannung ausgeht, ein Unding. Gs muß ein Riff bleiben gwifden „Ob⸗ 
jeftipation“ pon Spannungen und elementarer Urgewalt. Zum Gebilde reicht 
immer nur ein Bejchneiden; die Kraft, die bolle Entladung, bedarf des Ueber- 
fchuffes, der zugleich bildend und zerftörend ift, wie ein Gewitter. Aus 
dem Gefühl diefer Sragif fommt Kleifts Bergidt auf die fdeinbare Bol- 
lendung des ®uiscard. Sd wage die Behauptung: der Guiscard ift, fo wie 
er ift, fertig, foweit er überhaupt fertig fein fann. Gin ganzes Golf wird in 
dem Symbol des Führers, in dem grafliden Gegenfturm gegen die blinden 
Madte aus einem Shans zu einem in fich geformten Wefen — und zerfällt in 
das Geriefel der Heinen Menſchlichkeiten feiner Individuen, als es den Führer 
vernichtet fiebt. Daf Kleift über das erhaltene Werf den Guiscard weitere 
zuführen verſucht bat, ift eine Verwirrung aus literarifhen Vorftellungen; 
daß er ihn verbrannt Hat und das uns überfommene Stüd wieder fchrieb, 
gibt uns Redt. Als der Menſch des Dämons feiner Spannungen muß er 
fühlen, daß es nicht weiter zu treiben ging. Hätte er den Guiscard „beendet“ 
und Binterlaffen, dann wäre er nicht Kleift, fondern eine Wahrbeit, die in 
der Mitte liegt. Schließlih wäre doch nod eine pſychologiſche Tragif, ein 
Konflikt gwifhen Sewiffen und Müffen berausgefommen, ber den großen 
Wurf verkleinert und zerrieben hätte. Gs gibt eben nichts weiter: Held und 
Schickſal, Zufall und Wille, Geift und Materie krachen aufeinander. Bon 
Sieg oder Niht-Sieg Tann feine Rede fein, es ift bie Pract der angeftrafften 
Kräfte und das furdtbar verneinende Schütteln des Sdidjals. Was nod 
folgen fdnnte, wären eben Folgen. Der Rif, die zerflüftete Ruine ift 
Kleifts aus innerem Zwang auffteigendDe Gorm, im Guiscard wird fie als 
Ganges Wirklichkeit, in der Penthefilea hebt fie ſich aus den legten Worten 
empor; bei dem Bild der zerfplitterten Gide, die der Sturm fchmetternd 
miederwirft. 

Wir müfjfen, wie gefagt, das Werk in feine Atmofphäre einbetten. Der 
Zuſchauer muß in diefen Rhythmus der Stöße und Gegenftöße verſetzt werden. 
Diefer Vorgang ift nicht intelleftueller Art, fondern fosmifches Grleben wie 
bet der Mufil. Wir legen ein Borfpiel vor die eigentlide Handlung. Gs 
darf feine Benubung des aftionsmafigen Inhaltes oder gar Auftreten der 
Perfonen des Stüdes bringen, fondern muß auf die Spannungen, auf diefes 
Segeneinander bon Kräften einftellen. Diefe Ginftellung aber darf nicht ver— 
wechjelt werden mit einer Nerventätigfeit, fie liegt im Seelifchen, nicht im 
Gebhirn. Der moderne Schaufpieler verwechſelt diefe Unterfdiede ftets, er 
wird in böfem Sinne theatralijd. Alles Theatralifche ift am ©uiscard aber 
ein Berbreden. Gs gilt lediglich aus der Fläche des Gebildes, aus dem Stüd, 
die dritte Dimenfion zu gewinnen, die es zum Raum erhebt, zu der Quere 
die Tiefe zu fehaffen, über dem, worin Goethe den Sinn aller Kunft findet: 


93 


... Deines Geiftes höchfter Feuerflug 

bat ſchon am Sleidnis, hat am Bild genug... 
die Weite zu gewinnen: 

Du zählft nicht mehr, berechneft feine Zeit 

und jeder Schritt ift Unermeßlichkeit. 
Denn aus diefem Sphärifchen fteigt ber Guiscard auf, diefer Rhythmus der 
fämpfenden Mächte, die alles Lebens Wefen find, muß er ahnen lajfen. Bor 
diefem Gingigen, das in der Sprache Kleifts lebt, wird alles übrige zunichte, 
weil es Literatur und, auf der Bühne, verkörperte Literatur bleibt. 

Nicht allein in der Wortfolge und vielmehr dem Wortgegeneinander ftedt 
die Kraftfpannung, fondern in der ganzen Intonation. In dem Anfchwellen, 
dem Gborbaften, das aber fein griechifceher Chor ift, in dem Dreinfchmettern 
von Ginzelftimmen lebt ein Naturwunder, bas man nur mit dem empörten 
Meer im lohenden Gewitter vergleichen fann und dazwifchen ftreden fid 
langjam Worte bin, die wie die grauenbafte Paufe zwifchen Blitzſchlägen 
wirken. Man kann neben die Sprache Kleiſts, die im Guiscard fnappfte, 
gemeißelte Form geworden iſt, nur altes Germaniſches ſtellen: das Aufzucken 
der Worte in den Eddaliedern, die auch aus dem brauſenden Wirbel geballter 
Spannungen als zündende Funken wettern. 


4. 


Dann aber das Größte im Guiscard, das, warum wir ihn lieben wollen 
und in ihm leben: Aus den Geheimniſſen, die das Wunder dieſes Lebens 
kämpfend ſchaffen und kämpfend erfüllen, wird ein Gebilde: Nicht ein 
Menſchenbild, ſondern ein Bolf! Wie dag Gebirge aus dem ſtürmenden 
Kampf der Tiefe, wie das Meer aus ſchwarzen Schlünden, hebt es ſich als 
ein Wefen in diefe Welt des Lichtes. Und in der furgen Spanne des Ger 
ſchehens wird es und vergeht es, aus dem Geheimnis tauchend, in das Gee 
Heimnis zurüdfinfend. Einen Weltenprozeß umfpannen dieje furgen Szenen. 
Gin Wefen, ein Lebendiges ift diefes Bolf, chaotiſch wie das Meer, und fid 
formend wie ein Gebilde in der Hand des Künftlers. Die Kraft aber, die in 
ibm bildet, ift die Führeridee: diefes Mythiſche. Unter den Flügelfchlägen des 
furdtbaren Schidjals wählt es in Tro und Kampf zu einem lebendigen 
Organismus, aber die treibende Kraft in ihm verdichtet fid zu der einen Gee 
ftalt aus ibm und über ihm. Guiscard ift das Volk und das Bolt ift Guiscard. 
Gs gibt nicht eins ohne das andere. Bon Anfang an, von den erften geilen 
ift Guiscard da, aber fein Körperliches erjcheint erft am Schluß. Er ift wie 
die Sonne, die man nidt fieht und die doch uns allen ſcheint. Mit dem Ge— 
fühl bon Guiscards Krankheit leibet und zerfällt das Golf, unter dem Sturm- 
willen Guiscards, den lediglich einer feiner Verwandten mitteilt, ftrafft fich 
das gejchlagene, nod) eben hilflos Hagende zu einem ftoßwilden Blod, wer 
eben über den Pefttod in wahnfinniger Angft beulte, jauchzt nun: „O führ er 
lang uns nod, der teure Held, in Kampf und Gieg und Tod!“ Und dann in 
einer rätjelhaften Umkehrung: Als der peftfranfe Guiscard in verzweifelter 
Willenskraft hod aufgeridtet bor dem Bolf ftebt, fühlt dieſes feine Krankheit 
in fich, ein einziger Körper, durch den dasfelbe Blut pulft. Zu einer mythiſchen 
Dorftellung wird Guiscard: „in den Sternen glaubten wir di fdon* und 
gu dem leben: „o wärft du doch unfterblich, unfterblid) wie es deine Taten 
find.“ „Ein aufgegebenes Leben“ gibt Guiscard, weil er felbft Iebt, jeinem 
Volke wieder, die Freude diefes Lebens ftrablt auf als ein Labfal, das alle 
zugleich erquidt, den Knaben, der fieberbrennend feine Worte ftammelt, und 


94 


den Greis, der wie im Gebet bon feinem Helden fpridt. Und nun diefe Har- 
monie der Gigenmilligfeit in der Fibreridee: diefelben, die bor Guiscard fnien 
wie bor einem Gott, find trogige Männer, und der Führer weiß: „ſeine Frei— 
beit ift des Normanns Weib.* Freibeit und innere Gebundenheit, nie wird 
fie ein Gerftand enträtfeln, bier ift fie als das Naturhafte, Oottgejchaffene, 
Scidjalbafte des Wefens Bolt in feinem Führer. Aber als dann Diefer 
gütige, berrlihe Riefe Guiscard gujammenbridt — da ftirbt das Volk mit. 
Das Weſen, das Gebilde ift bin, in Heine Wellengeriefel zerſchäumender Menjch- 
Iichleiten zerftiebt der große Organismus. Der Weltprozeß ift aus, ob die 
einzelnen den förperliden Tod fterben im brandenden Meer, ob fie als 
Sklaven vegetieren, das Leben ift erlofden in dem Geſchöpf; was bleibt, find 
die Nervenzudungen einzelner Organe im Krampf der Agonie. 

And das Freudige, Bejahende diefes furdtbaren Werkes: das ift der 
Wille, der aus ihm auffchlägt, diefer Wille, im opfernden Sturm wider das 
Schickſal zu jtreiten, die graufe Herrlidfeit des Endes aber fann nur Anfporn 
zu neuem Aufbruch fein. Diefes Auf und Nieder ift unferes Wefens Kern 
immerdar, unfer Glend und unfere Größe. Auflodern und Iodernd verbrennen: 
Stirb und Werde. Ludwig Benningboff. 


Schleiermadher über Golf, Mafje und 
Berfönlichkeit. 


Ig das preußifde Bolf im Winter 1806 vor grauenbaftefter politifcher 

Ungewißheit ftand, als es mutlos und giellos einen ausfidtslofen Ver— 
teidigungstrieg wider den großen Unterdrüder führte, da ftand ein Mann auf, 
um mitzulämpfen, als alles fämpfte, zu Tämpfen gegen einen Geind, dejfen 
Anhänger er felbft war, gegen das Weltbürgertum — ber Prediger Schleier- 
mader. 

Als Iüngling aus Herrenhuterfher Erziehung herborgegangen, fühlte er 
ſich beimatlos, er liebte fein Vaterland nur, „wie Fremde es aud) lieben“ und 
in Berlin, in der Landeshauptftadt, im geiftigen Zentrum der Romantifer 
jener Sage, im gefelligen Berfehr mit geiftreihen Frauen, als Dichter unter 
Didtern, fühlte er nicht Beruf, nationalen Problemen nachzuhängen. Allein 
die Not des Krieges, die ummälzende Kataftrophe bon 1806 wedte in ihm 
plöglih den großen Patrioten. „Als einer der erften in einer getvaltigen 
Zeit,“ jagt Diltheh, „begann er für den Staat zu leben, ward eine Macht im 
Staat.“ Bon der Kanzel herab wetterte er gegen einen Geift, der den vor— 
Hergebenden Sabrgehnten fein Geprage gegeben hatte. Nun follte Einhalt 
getan werden mit diefem Uniderfalismus der Aufllärung. „Die fo nur mit 
weltbürgerlichem, nicht mit bürgerlihem Sinne erfüllt auftreten, was haben 
fie wohl hervorgebracht, als einzelne Berbefferungen in Dingen, die zur Be- 
quemlichfeit dienen, gum Erwerb, zur Sicherheit... Alle dagegen, die Gott 
zu etwas Großem berufen bat, find immer foldhe gewejen, die bon ganzem 
Herzen ihrem Gaierlande und ihrem Wolfe anbhingen und dieſes fördern, 
beilen, ftärfen wollten, folde, welche die Verbindung liebten, in der fie er- 
höhte Kraft, bereite Werkzeuge, willige Freunde notwendig finden mußten, 
folde, welche aud) in fich felbft den eigentümlichften Ginn ihres Bolfes für 
den vortrefflidhften bielten.“ Go ſprach Schleiermadher noch furg por der 
Rataftrophe. Das Präludium zu dem berrliden Werke nationalen Wirkens. 
Die Idee des Nationalen war in ihm gereift. Nur im Rahmen des Bolfes, 


95 


auf dem Boden des Baterlandes bat jede Tätigleit des Gingelindividuums 
nod ethiſchen Wert. Diefer Predigt gibt Sdleiermader die Ueberfchrift 
„Wie febr es die Würde des Menjchen erhöht, wenn er mit ganzer Seele 
an der bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört“ und jagt, daf der 
Weltbiirger ein Sremdling, der Baterlandsliebende ein Hausgenofje in Gottes 
Wohnung fei. Gr erachtet es als notwendig, daß die Menfchen zu einem Gee 
meinwefen fid) vereinigen, und die ,redte Wurzel aller folchen Vereini— 
gungen ift Die gegenfeitige Wnhdanglidfeit, das brüderlihe Gefühl derer 
untereinander, bie Gin Bolf bilden.“ Das Nativnalgefühl ift geboren und 
eingebettet in dieſem brüderliden &emeingefühl, ein gegenfeitiges Durch» 
gliben und Fördern. Der ehemalige Herrenhuter fommt in feiner Wnfdauung 
vom Nationalen wieder gum Leben. Schwer bat der junge Zögling einft 
unter jener Graiehung gelitten, er floh aus der Gemeinde, weil er fie nicht 
mehr ausbielt. Aber gerade der Kampf, den der Siingling mit den Prins 
zipien jener Gemeinde aufgenommen bat, zeigt, wie er fich innerlich mit 
ihnen auseinandergejett hatte, die Gindriide lebten in ihm weiter. Gie 
werden jpäter maßgebend und daratteriftijd für feine politijden An— 
{hauungen. Schleiermadjer felbft äußert fid gelegentlich darüber, wie febr die 
Herrenbuterfhe Erziehung fein Inneres in Beſitz genommen hatte. „Es 
gibt feinen Ort, der jo wie diefer (Gnadenfrei, eines der herrenhuterſchen In= 
ftitute) die lebendige Grinnerung an den ganzen Gang meines Geiftes bee 
günftigte, bom erften Erwachen des beffern an bis auf den Punkt, wo id 
jebt ftebe.* So fchreibt er im Sabre 1802 einem Freund, und feine Kriegs» 
predigten zeigen, wie die Gindriide weiter mirfen. Nun ftellt er, diefes 
Prinzip in den Dienft der nationalen Gade und diefe Verbindung bildet in 
ihm einen Nährboden, der empfanglid) fein follte für die Ideen eines 
Mannes, der in fonfreterer Weife den Gemeinfinn für das Volk fruchtbar 
gu maden fudte, für Die Reformen Steins. In diefe Anfchauungen vom 
gemeinfamen Schaffen, Erleben und Kämpfen Bat fid Schleiermacher immer 
mebr eingelebt, der Gedanke, daß das Volk als in feiner Gefamtbeit die 
Kulturgüter erzeuge, trat immer mehr in den Vordergrund, der romantifche 
Begriff des Bolfsgeiftes tat das feine, um in letter Ronfequeng in Schleier- 
mader’s politifher Wnfdauung das demofratifhe Glement zur Reife zu 
Bringen. Das fonftitionelle Prinzip war ja befonders durd die Stein'ſchen 
Gedanken damals nichts Neues, allein der große Prediger gab ihm mit pere 
fénlidfter Wärme einen felbftändig-lebendigen Charakter. Die Predigt „Ueber 
das redte Verhältnis des Chriften zu feiner Obrigkeit“, die Schleiermacher 
zur Ginführung der Städteordnung 1809 hielt, legt davon Zeugnis ab. Gr 
fagt, daß „in dem natürlihen Lauf der Dinge feine Obrigkeit ſich wefentlid 
entfernt bon dem Geift ihres GBolfes... daß auf eine ganz andere Weife der 
um des Gewiffens willen untertworfene der Obrigkeit zugetban ift mit feiner 
ganzen Wirkſamkeit nad) außen und mit feiner inneren ftillen Thätigfeit des 
Nadhdenkens und der Betrachtung.“ In diefem ftillen Nachdenken entwidelt 
fi aber „wieder die edelfte Kraft, mit der er dem ganzen dienen und zu 
Hilfe fommen kann, fruchtbare Wahrheiten nämlich, heilfame Winke, wol 
dargelegte Ginfidten. Gin folder nämlich... Tann wol bisweilen dahin ge- 
langen, wiewol zu feiner bon den Bergweigungen der Obrigfeit gehörig, im 
einzelnen richtiger zu urtheilen als fie ... wie follte es in einer woleingerid- 
teten Gefellfdaft an Gelegenheit fehlen, die wolgemeinte Gabe aud witk- 
lich zu opfern.“ Mit feinem Wunfde indes, daß es dem Bolfe durch geiftige 
Fähigkeiten ermöglicht werde, die Regierenden zu unterftügen, verband fid 


96 


notwendig bei ihm eine natürlihe Abſcheu por allem Konferpativen, Rüd- 
ftändigen. Gr befämpft diefe Tendenz, wo fie ihm nur entgegentritt. Im 
feiner befannten Predigt zum Gedächtnis Friedrichs des Großen am 24. Ja- 
nuar 1808 tritt diefe Tendenz in ganz eigenartiger Gorm zu Tage. 

Gr zeigt, wie der große Friedrich nur im Rahmen feiner Beitgenoffen zu 
begreifen fet. Nicht nadgutrauern gälte es Heute, fondern ihn zu ehren in dem 
DBemwußtfein, daß jeder große Führer eine aus dem Schofe des Bolfes ent- 
ftandene und gepflegte Kraft fei, daß dieſe Ehrung nur durd Umbildung und 
Anſchließen an die Bergangenbeit erwiejen werde. Schleiermadher warnt vor 
jener „verfehlten Anhänglichfeit an das vergangene“ und ftellt die Frage, „ob 
wir nicht ſchon zu lange alles gelafjen batten in feiner väterlichen Geftalt, ob 
nicht vielerfeits bei uns das äußere überlebt hätte fein inneres.“ 

Sein Gemeindegefühl neigt fic fichtlih zum Wefen der Volksſouveräni— 
tät und die romantifdhe Idee des Bolfsgeiftes ift in Sdleiermaders An- 
ſchauung ziemlich lebendig, Die große Gemeine ift das belebende 
Prinzip, die Obrigkeit aber nichts, fo fie nicht aus dem Geift ihrer Untertanen 
geboren wird. u 

Wie ftellte fi nun Schleiermader, der dem Gedanfen der Volks— 
fouveränität fo nahe fam, der felbft oft Hunderte aller fogialen Schichten in 
innere Bewegung bradte, wie ftellte er fich zur Frage der Maffe im mo- 
dernen Sinne? In feiner Predigt gum Geburtstag Friedrihs des Großen 
fagt er, „wie fchimpflich es fei für ein ganzes DBolf, fein Wohlergehen, 
feine Selbftändigfeit gu hoffen von einem einzelnen, bon Gines Art zu 
Handeln.“ Nur aus dem Bolf herausgewachſen, an ihm genährt und geübt 
wird ein bedeutender Mann groß. Saft möchte man an die materialiftifche 
Gefdhidtsauffaffung denken, an den Standpunft, daß der große Mann Durch— 
fchnitt der Maffe, ihr Produkt, ein aus der Maffe entftandener Exponent 
fei, und Doch tft dem nicht ganz fo, denn Iettlich redet doch der Theologe und 
Schüler unferer Elaffifch-idealiftiihen Beit. Alle menfdlide Ginrichtung, die 
aus dem Golfsgeift entfpringt, hat ein göttlihes Geſetz in fid, „eine Offen- 
barung göttliher Macht und Herrlichkeit.“ 

And die Mafje? Hören wir ihn in feiner Predigt, der er zum Thema 
gab: „Was nicht aus dem Glauben fommt, ift Sünde.“ Gs muß verdädtig 
fein, fagt Schleiermadher, „wenn diejenigen, welde der Menge gum Bore 
bilde dienen und fie führen follten, von ihr felbft geführt werden, ob das 
nit eine DBerführung ift. Dann muß es immer Mebereilung fein, was mir 
fo angeftedt und fortgeriffen unternehmen.* Nicht bon dem großen Haufen 
angeregt und andern zu folgen gilt es, „jondern felbft erregend porangugeben“ 
mil einer Sprache, die das Grgeugnis des eignen geiftigen Lebens ift. 

Widerfpridt fid nun Schleiermadher nicht. in Vergleich der oben ane 
geführten Predigtftellen? — Nein. — Bergeffen wir nicht, daß er in der 
Geburtstagspredigt in der Perfon des Königs ſchlechthin die Regierung, das 
Geſetz vom Bolfsgeift ableitet, hier indes den geiftigen Führer, den „Seher“ 
im Fichteſchen Sinne, meint, der jchöpferifch, felbftändig den Sdeengebalt 
poranträgt, zu dem ein Bolf erft durch lange Gntwidlung gelangt. 

„Der große Haufe des Bolfes ift noch nicht fo weit entwidelt, ein po- 
liti{hes Auge und Urteil zu haben“ meint Schleiermadjer viel fpäter einmal 
in einer feiner Alademiareden (Nov. 1822). Diefe Alademieabhandlungen 
geben nun den fchönften Auffhluß über diefe Frage. So die berühmt ge- 
mwordene Rede über den Begriff des großen Mannes am 24. San. 1826. 
Politijh ift die Maffe durchaus unreif, auf geiftigem Gebiet ohne Be— 


97 


deutung. Gr drüdt fic) darüber recht felbftverftändlih aus. ,,Gingeftanden 
wird wol bon allen werden, daß auf dem geiftigen Gebiete der Ausdrud 
Waſſe nur in einem beftimmten und untergeordneten Sinne gebraudt wird.“ 
Gr Hat die materialiftifche Begriffsbeftimmung der Perfönlichkeit, als „Durch« 
Ihnitt der Maſſe“, in feiner Weife aud formuliert, aber eben im Anterſchied 
gum Begriff des großen Mannes. „Je mehr der einzelne Hier ein Ort ift, 
wo die verjchiedenen in der Geſamtheit waltenden Bewegungen fich begegnen, 
fic Treuzgen und brechen oder verdrängen, je nachdem die Weife ift, wie, und 
die Stärke, mit welder fie zufammenftoßen, ohne daß in dem einzelnen Selbft 
ein den Grfolg regelndes Prinzip erfdeint, um defto mehr erfcheint er nur als 
ein Glement der Maffe..“ Unter folden Elementen, wo aber der Gharatter nicht 
feblen darf, befteht ein mannigfades „Berhältnis des Gebens und Gmpfangens, 
des Beftimmens und Deftimmtwerdens.“ Diefem innigen geiftigen und joziolo- 
gijmen Zuſammenſchwingen der Bolfesmenge gegenüber ftellt Schleiermadher 
mit monumentaler Wucht das Bild des großen Mannes auf. Gr hebt fich in 
feiner geiftigen, gottgejandten Größe von diefem Hintergrund gegenfeitigen 
Wirkens Herrlid) ab; erft durch feine Anfdauung vom Helden zeigt Sdleier- 
mader, wie wenig er bon der Maffe eigentlich hält. 

„Der große Mann ift der, der nichts bon der Waſſe empfängt, und ihr 
alles gibt,“ fagt er ſchlechthin. Das Wahre aber und Wefentlide, fo fährt 
er fort, ,wodurd er ift was er ift, Das find Die eigentiimliden Ausſtrö— 
mungen feines Wefens, die Idole bes Epikuros, die fic jeden Augenblid pon 
ibm Iogreißen, in alles eindringen und alles in Bewegung fegen. Der große 
‘Mann ift nur der, welder die Mafje befeelt und begeiftert, ganz heraus» 
getreten aus dem Verhältnis der Gegenfeitigfeit, er auf feine elle ihr Werk, 
fie aber auf feine Weife das feinige.“ 

Mit immer größerer Begeifterung gibt fid Schleiermadher dem Genuß 
bin, das Bild jenes feltenen Menfchheitsführers zu entwerfen. Wir fühlen 
bei der Lektüre diejfer Rede fo recht deutlich, wie er die Bedeutung jenes 
Heldenthpus immer größer, immer freier auffaßt und mit poetiſch-ſchwung— 
voller Steigerung den urfpriingliden Boden feiner Anfchauung ganz unbe- 
merft verläßt. Sein Ideal rüdt in immer höhere Regionen. „Oft ift es ein 
folder gewejen, der wie ein göttliher Haud einer nod urfpriinglid ftarren 
bewegungslofen Maffe mitgeteilt, bas mannigfaltige Leben in ihr erregt, wie 
ein bimmlifher Funfen Hineingeworfen, alle dieſe fehönen Lichter entzündet 
bat... Kurz, der große Mann ift nur der, Durd welchen in irgend einer Bee 
giebung die Maffe aufhört Maffe zu fein.“ Mit folden Worten aber nähert 
fih Scleiermader wieder den Geiftesariftofraten der Elaffifhen Periode. Gr 
fehrt zurüd zum Idealismus unferer großen Ondibdidualijten, vor allem 
Zichte und W. dv. Humboldt. In ihrem Ginne ift es, wenn er jagt, daß wir 
„bor diefem fegensreiden Bilde feltener göttliher Werkzeuge ftehen als 
nicht bor unferes gleichen, angehörend einem Damonifden Geſchlecht, hervor— 
gehend aus geheimnispoller Zeugung der Natur.“ Zu Ende feiner Abhand- 
lung Ienft er erft wieder ein, um den WAusgangspuntt feiner Ausführung ins 
Auge gu faffen. Bei aller Größe muß die geiftig führende Perfinlidfeit dod 
einer beftimmten Maffe angehören „innerhalb deren ihre eigenthümliche 
Wirkung befdloffen ift...“ Der große Mann bat eine beftimmte Heimat, 
„fei fie nun räumlich begrangt oder durch einen geiftigen Sppus.* Go betont 
er aufs Neue den Standpunft, den er fdon 1806 im nationalen Sinne ver=- 
treten bat, diejes Seftgewurzeltfein in vaterländifcher Kultur als Bedingung 
perfönliden Wirkens. 


98 


Die Berberrlihung des Bolfes als demofratifd-fonftitutionelle Tendenz 
und als romantifche Idee zieht ſich durd) Sdleiermaders politifhes Denfen 
viele Sabre — allein einmal mußte in ihm Die Kraft des alten Idealismus, 
der ein: Jahrzehnt zuvor Triumphe feierte, zum gewaltigen Durchbruch fommen. 
Es war ihm ein Bedürfnis, mit dem begeifterten Schwung, wie er ihn als 
Siingling in feinen Reden über Religion, in feinen Monologen an den Tag 
legte, die Geiftesmadt der Helden gu verehrten. 

Gr jelbft wird fid faum als einen ſolchen bezeichnet haben, wenn er aud 
bon der Wirkjamfeit feiner Predigten überzeugt war. Man fann ihn wohl 
aud nicht als eine umwälzende Kraft bezeichnen, bon fo elementarer Größe, 
wie fie nur nad) Sabrbunderten der Menſchheit geſchenkt werden. Aber all 
das, was Schleiermacdher in einem reichen, buntbewegten und fampfdurdfesten 
Leben in fic aufnahm, aufs edelfte verarbeitete und mit unerjchrodener Auf: 
tidtigfeit und Kühnheit aus fid herausftellte, war in der Tat eine „po— 
litiſche Macht“, eine foziale Kraft im fchönften Sinne, die geeignet war, im 
Rahmen religiöfer Wndadht auf das Volk, in dem er lebte, zu wirken. Sein 
Univerfitatsfreund Steffens fdrieb über ihn: „Sein mächtiger, frifcher, ftets 
frdblider Geift war einem fühnen Heere gleich in der trübften Seit. Denn 
die Kräfte, die er in Bewegung fette, waren feine vereinzelten, bejchränfter 
Art, es waren die tiefften edelften des ganzen Mtenfden in der hddften, Alle 
durddringenden Ginbeit.“ Hermann Haf. 


Die Univerfitätsfolonie im Arbeiterdiertel. 


1, 


gibt Gegenden Londons, Die man als das dunfelfte Gngland bezeichnet. 

Wirklich fonnte man dort wie unter den Negern Gntdedungsreijen madden. 
In jabrgehntelanger Arbeit ift ſchon vieles Lichter geworden. Bor uns Deut- 
[hen liegen andere große Zeile unjeres Bolfes wie eine unbefannte Welt. 
Dabei handelt es fid feineswegs nur um die DVerbrecherviertel und die 
Schicht der Allerunterften, fondern um die breiten Maffen unferes Bolfes, aud 
die äußerlich durchaus gefund erfcheinenden. Wie merkwürdig muß es Dod in 
ihren Seelen ausfeben, wenn auf einem großen ftädtifchen Friedhof die Bitte 
um den Sroft des Glaubens Jahr für Jahr häufiger wird, und dod anderer- 
feits unter denjelben Menſchen der wütendfte Haß gegen die Kirche fich zeigt. 
Melde Berriffenbeit und welde Fülle von Leid und Nöten muß da fein? 
GSelbft Eltern und Kinder werden fic fremd und feindlid. Wir find ein 
ſchlecht erzogenes Volk geworden. Aud) die proteftantifche Arbeiterfamilie, 
die nod am Jängften Stand hielt gegen die Gifte einer neuen Umgebung, 
lange nod nad) dem WAbfterben des kirchlichen Glaubens, verfagt jett. Fünf- 
gebnjabrige Sungen fdelten ihre Mütter um des Borhemdes willen, das 
Sonntags nicht geftärkt bereitliegt, und die halbwüchſigen Mädchen thranni- 
fieren Die ſchwer arbeitenden Eltern, fteben fpät abends draußen an ben 
Straßeneden mit den Burfchen. Der alte Arbeitsmann klagt, es fei nicht 
mit den jungen nafeweifen Burfden zufammen gu arbeiten, und viel Tränen 
fließen in Deutfchland über rohen Kindesundant. 

Aud darüber follte niemand fic täufchen, daß durch die Fülle bon Bor- 
trägen, Unterhaltungen, Bibliothefen, die fich wenigftens in den Großſtädten 
den breiten Maffen darbieten, eine wirklid fittlich feftigende Bildung nicht 
gefchaffen wird, es wächft im Gegenteil eine grengenlofe Halbbildung, welche 


99 


mit lautem ®efchnatter, mit Zeitungsartifeln, mit Bereinsgriindungen, fizen 
Odeen, ja fogar mit prophetifhem Pathos und Religionsgründungen fich 
awifdhen das Volk und diejenigen Schichten drängen, welche die beften 
Güter für diefes Bolf verwalten. Durd diefe Halbbildung, eine recht 
eigentlid moderne deutide Erſcheinung, wird die Entfremdung gwifden den 
Volksklaſſen nod) etwas verfchleiert; fie ift in Wahrheit wohl noch größer 
als irgendwo auf engliſchem Boden. Gs wird durch die häßlichen Charakter— 
aüge folder Halbbildung manchem verleidet, fid um unfer Bolf zu fümmern; 
es wird andererjeitS vorgetäuſcht, fo würde fittlide ſchöpferiſche „Kultur— 
arbeit“ geleiftet, und „es gefchehe fo ungeheuer viel für Volkserziehung“. 
Gir Unterricht allerdings, für die Grziehung nidt. GSelbft unfere 
Volksſchule, fleißig nad neuen Methoden fuchend, zeigt fid doch recht 
Ihwad, wo fie unter den Kindern fteht, die aus zerbrochenen Familienver- 
bältniffen fommen; es ift fon eine Riefenaufgabe, hier nur einigermaßen 
Lefen, Schreiben, Rechnen und etwas Gehorfam zu Iehren, der über Die 
®rengen des Schulhofs Hinaus dauert. Wie völlig aber mangelt die Gr- 
giebung über das Schulalter hinaus! Gratehung wird aber nicht durch Bers 
anftaltungen geleiftet, fondern erziehen fünnen nur Charaktere und eine fitte 
liche Werte ficher fefthaltende Gemeinfdaft, in welcher die einzelnen Un- 
fteten und Heimatlofen mit ihrer Seele wurgeln fönnen, fodaß Maffe durd 
Maffe erzogen wird. 
2. 

Wer aber felbft feft an feinem Poften fteht und von diefen Zuftänden 
einige Kenntnis erhält, den padt wohl eine Unruhe, eine Sorge verjaumter 
Deranttvortung. Und dod — wer unter der vollen Laft des Berufs ftebt 
und die eigenen Kinder erziehen foll, der fann nichts Entſcheidendes tun für 
die Kinder feines Bolfes, die in den Maffenquartieren der Grofftadte fo 
vielen Gefahren ausgefest find, ja ausgefegt der fchlimmften Not, die der 
Menfd in folder Zufammendrängung dem Menfchen bringt. 

Dazu müffen Pioniere ausziehen, die fih ihrem Bolfe gang bine 
geben fdnnen. Gs gehört dazu dec Glaube an den unendlichen Wert jeder 
Menfchenfeele. Das ift ein religidfes Motiv. Gs handelt fich nicht darum, 
nur die „Stände“ einander „anzunähern“, fondern es müſſen Opfer ge- 
bradt werden, um die ſchwere Schuld großer Gerfaumnis zu fühnen. 

Ein gejhichtliher Vergleich mag die heutige Lage blithell beleuchten. 
Seit den Tagen Karls des Großen befand fid unjer Volk im langfamen. 
Aufftieg. Die Güter Älterer Kultur wurden angeeignet, neue Formen gei- 
ftigen Lebens entftanden. Aber ein Stand, die Bauern, blieben unberührt 
bon diefer Gntwidlung, blieben geiftig, rectlid, militärifh zurüd. Nicht 
fo febr nagende Armut, fondern diefe Entfremdung bom Leben der Nation 
führte endlich zur furdtbaren Kataftrophe des Bauernfrieges. 

Heute nun bat fic) unfer Volk feit einem Sabrhundert mit raftlofer 
Energie immer neue geiftige Güter und technifhe Künfte angeeignet. Gin 
Wachstum geiftigen Lebens ift über unfer Land ausgebreitet, das an In— 
tenfität nur bon dem Athen des Perifles und der florentinifhen Renaiffance 
erreicht wird. Aber täuſchen wir uns nicht, weite Kreife wie der gefchäftliche 
Mittelftand, Bauerntum und die Landarbeiter hängen mit dem modernen 
Leben faft nur durch die technifhe Kultur zufammen. Wertvolles Gut Der 
Bater ift maffenbaft unbeadtet am Wege liegen geblieben, und bon dem 
Neuen, was gut und groß ift, ift nod faft nichts zu ihnen gedrungen. Und 
doch müffen fid aus diefem Stand der Landbevdlferung die Städte und fo 


100 


giemlid alle anderen Stände ftets wieder auffrifhen. Die Reform ftädtifcher 
Kulturzuftände muß darum zugleich in Land und Stadt betrieben werden. 

Aber aud durd die geiftige Beweglidfeit des großftäbtifhen Bolfes 
dürfen wir uns nicht täufchen laffen. Gs ift nur eine dünne Oberſchicht der 
Maffe, die fid der vielen ftädtifhen Bildungswege bedient. Diefe allerdings 
ſchaffen fid wirklid eine neue Bildung. Gs ift eine Freude das mit zu ere 
leben. Aber darunter liegt dumpf und ſchwer die Maffe. Diefe ift in den 
legten Jahrzehnten geiftig ärmer geworden; und troß der politifchen Parteien 
fühlt fie fic nad) dem Kriege führerlos. Politijher Wille und einige politifche 
Gedanken hat die Sozialdemokratie freilich in die Maffen gebracht und gezeigt, 
wieviel Talent zu Organifation und Disziplin in unferem Volke lebt. Aber ere 
fabrene Führer lagen über die Dumpfe Urteilslofigkeit der Maffe, die bod wieder 
gelegentlih in wilder Leidenfchaftlichfeit aufflammt. Die Sogialdemofratie, 
felbft ja jhon ein Produkt der Gntfremdung des Bolfes vom geiftigen Leben 
der raſch porwärtsfchreitenden Nation, fann aud diefe Schäden gar nicht 
beilen. Sie wird felbft mehr und mehr bewegt bon der Angft, wie fie die 
Herrſchaft über die Maffen behaupten foll, denen fie Herz und Seele doch auf 
die Dauer nicht zu ernähren vermag. 

Sp wohnt denn nun diefes Golf faft wie in einem anderen Lande. Gine 
neue Ritterfhaft muß ausziehen, diefes Land zu erforfhen und Wege zu 
bahnen, auf denen das geiftige Leben und die fittlihen Kräfte der Nation zu 
diefem Bolfe einziehen können. 

Ginige Verſuche in Deutjchland, namentlich die Hamburger Gefellichaft 
Boltsheim haben gezeigt, daß fic) Stätten wahrer Kultur in den großen 
Arbeiterquartieren fchaffen laſſen. Wenige entfchloffene Menſchen können 
Grofes wirken. Namentlich aber in England find die Gettlements, die Burgen 
folden fogialen Rittertums, zu Galtoren im nationalen Leben geworden. 
In England haben fie in den fommunalen Berhältniffen der Arbeiterquartiere 
und in religiöfer Beziehung große Wirkungen aud da erzielt, wo Die 
älteren Greifirdhen verfagten. Und in Wmerifa arbeiten fie mit intenfiver Kraft 
daran, die maffenbafte, nicht germanifhe Ginwanderung der amerifanifchen 
Nationalität einzugliedern; da lernt der galizifhe Yudenjunge ſchwimmen 
und ber Heine Pole oder Ruffe rühmt fid, ein Kind der „freieften und 
größten Nation der Welt“ zu fein. 

Das alfo gilt es: unabhängige felbftändige Trägerderna- 
tionalen Kultur Dineingumerfenin die Arbeiterquarttere, 
damit fie Anfänger eines neuen Lebeng werden. 


3. 


Am beften werden zwei ausziehen, wie Paulus und Barnabas, ein Gre 
fabrener und ein Siingerer. Zunächſt gilt es fic umgutun, um zu prüfen, 
weſſen der Stadtteil, deffen freiwillige Bürger fie werden, bedarf. 

Wenn die Anfiedler in ihrer neuen Umgebung fic umfeden, fo finden 
fie fi in einer nahezu gefdidtslofen Umgebung. Die vorhiftorifche Beit, als 
nod) Fröſche und Salamander in den Graben Hauften, liegt faum fünfzig 
Sabre zurüd. Dann hat einmal die Stadtverwaltung einen Straßendamm 
burd Bde Gefilbe gezogen. Die Bauern, die bier feit Bater Zeiten faßen, 
veiftanden fdnell den Sinn diefer Bemühung; fie verkauften ihre langen 
Ihmalen Hufen, die der Straßendamm durchſchnitt, ftüdweife. Bon dem 
guten ®eld leben ihre Kinder und Enkel, über die ganze Welt geftreut, wenn 
nicht etwa der raſch erworbene Reichtum fie gu Grunde gerichtet bat. Das 


101 


Land wanderte in den DBefit Huger Kinder der Neuzeit, die aus reiner Liebe 
zur Menjchheit graumandige Gtagenhäufer errichteten. Soweit verlief alles 
zum Beften der Befitenden, der moralifden Weltordnung, ja fogar gum Bee 
weis der fogialiftijdhen Theorie von der Sammlung des Befikes in wenigen 
Sinden und der Berelendung der Mafjen. Denn elend follen nad Bers 
fiderung der mittlerweile entftandenen fozialdemofratijhen Tageszeitung die 
Waſſen fein, die nun einzogen. Greilid) weifen andere Leute auf die Fifch- 
laden mit lebenden Karpfen, die Bäderläden mit Haufen von Süßigkeiten 
und die diden Bäuche der Gajftwirte Hin. Aber die Leute, die auf fo etwas 
binwiefen, waren natürlich Bourgeois, verftanden nidis bon dem Enurrenden 
Magen des Proletariats und hatten gar nicht mitzureden. 

Die neuen Anjiedler feben fic zunädjft fleißig um. Wenn abends in den 
düftern [angen Girafentalern wenige Laternen erglänzen, wenn die Menfden 
mit triefenden Regenfchirmen fich darin entlang {dieben, gibt das wohl Stim- 
mungsbilder für einen Nobvelliften. Aber wozu nüst das? Wir wollen mehr 
wiffen. Bei Tage erfchreden uns die ungeheuren Kinderfcharen, die laut, ner— 
ods, haſtig den fedsftidigen Häufern entjtrömen und in den engen fteinernen 
SHdfen ruhlos umberbranden. Genauere Beobadtung zeigt freilich, daß dar- 
unter doch aud viel Kraft und Begabung fid regt. Mit den Sabren fehen 
wir mande, die als erfte Stadtgeneration nod Landfraft in Gliedern und. 
Nerven haben, fid) emporarbeiten in eine beffere wirtfchaftlihe Lage. Aber 
viel innere Zerriffenheit und Unfertigfeit taufden fie ein für bie fittenfefte 
Sharaftertüdhtigfeit ihrer Väter. Wieviel Weisheit und Kraft ift nötig, um 
bier zu erziehen und zu leiten! Aber ftattdeffen ftiirgt fic ein Heer alberner, 
niedriger Bergniigungen, lärmender, quiefender Karuffels und Automaten über 
die Menſchen ber. In den endlofen, ermüdenden Straßen fdreien aus den 
Laden immer wieder bdiefelben fehmierigen Bilder und Bücher, blutgierige 
QAbenteuergefhichten und eine pornograpbhifde Literatur, welche die der Frane 
gofen übertrifft. Die Beobachter finnen ſchwanken, was verderblider auf 
Leib und Geele wirkt, diefe geijtige Dede, die einer nur bon Dornen und 
Schlangen belebten Steppe gleicht, oder das Fünftlihe Klima, in dem fie jest 
felber auch leben miiffen. Wenn es dem Anfiedler zum zweiten Male gee 
{eben ift, daß Die Bäume draußen grün geworden find, ohne daß er’s gemerft 
bat, dann fängt ein Grauen an feine Seele zu paden. Nicht nur die Luft, 
wenn er die fteilen, düfteren Treppen fich emportaftet und in die überpöl«- 
ferten Wohnungen eintritt und ibm die naffe Wäſche jede Ausficht in die 
dunftigen Räume verfperrt — nicht nur diefe Luft ift entfeblid. Aud auf 
den Straßen ift felten nod eine natürlihe Luft. Aus Läden und Lagern 
ftrömt Gerud) und Geftank; feuchte Nebel und Ruf verhüllen den Himmel 
und bededen das Pflafter mit einem felten ganz auftrodnenden Schmier. Iſt 
aber einmal heißer Sommer, fo werden Hite, GeftanE und Staub zu wahren 
Dämonen. Dagu wird die Luft nie ruhig, fondern wird felbft noch in Der 
Nacht immer aufs neue von frachenden, drdhnenden Geräuſchen, bom Rollen 
ſchwerer Laftautomobile und bon leidenfdaftliden Tönen Zanfender oder Bez 
trunfener erfdiittert. Wehe dem armen Kranken, der Hier genefjen foll! 

Das widtigfte find in diefer großen Ginjamfeit zunächſt Menjchen, treue 
Menfchen, und feien es nur zwei Dubend. 

Gs find nod) ganze Scharen vorhanden, die in feine Gemeinfdaft Hinein= 
paffen, junge Matrofen, Boten, Fabrifjungen. Diefen ift eine Bereins- 
organifation zu feft; ihnen gilt es ein Heim zu fchaffen. 


102 


Wabhridheinlid werden aud viele Lehrlinge aus WArbeiterfamilien noch 
völlig ohne Halt und rechte Heimat dabinleben. 

Die Anfiedler fommen nicht offiziell, nicht amtlich, fondern nur als 
Wenſchen. Aber fie müffen im Ginverftändnis mit den Behörden handeln 
und bon deren Organen unterjtüßt werden. Gine perſönliche Ginladung in 
einer Konfirmandenklaffe einer Schule wirft mehr als viele Reflame; eine 
zwangloſe Unterredung mit einem Arzt, einem Polizeibeamten, einem Ge— 
werlichaftler, einem Gefdhaftsmann wird in wenigen Minuten lebendige Illu- 
ftration zu vieler toter Statiftik liefern. 

Gs müſſen die Anfiedler mit Gewerbefdullehrern oder Pfarrern fic) ver- 
bünden; fie fönnen die Greund{daft der bon der Jugendbewegung ergriffenen 
DBereine gewinnen. Gine ſtädtiſche Turnhalle läßt fid mit Banken und Tifden 
wohl berridten. Und nun können die Pioniere mit wenigen beginnend eine 
Sugendgemeinfdaft jchaffen, die durch Korpsgeift und Tradition erzieht. Sie 
fönnen Bortragende, Wanderführer, Ratgeber in Rechtsjorgen herbeiführen. 
Für die anderen aber, die Burjden, Boten uf. gilt es Aufenthaltsräume zu 
ſchaffen; da muß Mild, Kaffee, Kuchen verfauft werden; Billards, vielleicht 
aud eine Kegelbahn miiffen da fein. Bon entjcheidender Wichtigkeit ift aber 
aud bier der Mann; und den müſſen jene Pioniere finden, einen älteren 
Arbeiter oder Seemann, der mit den Burjchen umzugehen verſteht und felbft 
ein an Arbeitserfahrung reiches Leben Hinter fich hat. Der muß dem Stellen- 
Iofen helfen, wenn er Arbeit fudt, muß Firmen und Gefdafte fennen. Gr 
muß eine Art Seeljorger für die Burfden fein. Ift es fo weit, fo fann fich 
aud fonft einmal ein guter Greund unter die Sungen fegen. Auch einen 
Berfauf guter billiger Schriften fann man in dem Lofal einrichten. Und es 
follen fämtliche tüchtige und bewährte Turn-, Shwimm-, Wanderdereine uftw. 
ihre Schilder in dem Lokal aufhängen. 

Sind es der Pioniere genug, dann können fie auch die Eltern laden zu 
Bortragen und Piskuffionen. Was unfer Golf in der Seele bedrüdt, das 
fann befproden werden. Anausgeſetzt müfjen die Pioniere beobachten, was 
beilend und was fchädigend auf das Bolt des Stadtteils wirkt. Davon 
miiffen fie dahin berichten, von wo fie ausgegangen find. Zugleich müſſen fie 
darauf feben, junge Menfden aus dem Stadtteil Herangubilden, die fic ver— 
anitwortlid fühlen für Die Späteren. Die Kolonie muß getragen werden bon 
einem Kreis bon Menfden, der um fie lebt. 

Alsdann werden die erften Pioniere getroft die bon ihnen gegründeten 
Bereine anderen Händen anvertrauen fünnen. Gs muß ja teils aus Gewerbe- 
ſchullehrern, teils aus Kandidaten und firdliden Diafonen, teils aus den 
Zöglingen der Sugendbvereine felbft eine neue Art Grgieher für die Jugend- 
lihen heranwachſen; folde rechten Führer der Jugend werden am beiten 
nod) in einem anderen Beruf wurgeln, Damit fie nad ein bis zwei Sabr- 
zehnten aud wieder jüngeren Blak maden, und nun grad mit ihrer Gre 
fabrung gerüftet an anderem Plage erft recht erfolgreich wirken. 

In dieſer Entwidlung müffen unfere Pioniere umfidtig wirken, Heime, 
Bereine, Turner, Schwimmer uf. des ganzen Diftrifts fennen und die überall 
zerftreuten Sraiehertalente finden, ermuntern, bilden, denn es lebt mehr als 
ein riefen im deutſchen Bolfe. Gin Wort Scharnhorfts gilt aud bier: „Man 
muß der Nation das Gefühl der Selbftändigfeit einflößen, man muß ihr Ge- 
legenbeit geben, daß fie mit fic) felbft befannt wird, daß fie fich ihrer felbjt 
annimmt; nur erft dann wird fie fich felbft achten und bon anderen Achtung 
gu erzwingen wiffen. Darauf Hinguarbeiten, dies ift alles, was wir können. 


103 


Die Bande des DBorurteils löfen, die Wiedergeburt leiten, pflegen und in 
ihrem freien Wachstum nicht hemmen, weiter reicht unfer hoher Wirkungs- 
frets nicht.“ Die Vereine und Heime müffen zu Ginrichtungen werden, die 
bon der Bolfsfitte getragen werden; fie müffen mit dem fittlichen Gefühl 
des Volkes als unentbehrlich verwadfen; und daraufhin muß unfere Nieder- 
lajfung ein ganzes Gefdledt eines Stadtteils erziehen und die führenden 
Köpfe bilden. Und die bon Hort fortziehen, müffen folde Gefinnung an 
andere Stellen des Baterlandes tragen. 


4. 


Sehr wichtig für den Erfolg einer Niederlaffung ift eine gefdidte Organi- 
fation. Eine ſolche Organifation ftellt fid folgendermaßen dar: 

Das Komitee vertritt rechtlich die Stiftung; forgt für Befdaffung 
bon Kapitalien; agitiert für die Idee, um neue Pioniere zu gewinnen; über- 
gibt die gewonnenen Mittel der oder den Niederlaffungen. 

Das Kollegium der Niederlaffung befteht aus drei Gruppen: 

Grftens: Der Leiter, dejjen Vertreter und die vollberedtigten Mitglieder. 
Gie betreiben felbftändig ihre Arbeit, berichten darüber, verfügen über die 
bereitgeftellten Räume und Gelder, berichten bon ihren Grfahrungen. 

Zweitens: HelfendDe Mitglieder aus dem Stadtteil, 3. DB. ehemalige 
Sugendbereinsmitglieber oder erfahrene Arbeiter. 

Drittens, Helfende Mitglieder, die von anderen Stadtteilen für beftimmte 
Aufgaben und Zeiten herbeiftommen, 3. B. Bortragenbe, Grteiler bon Rechts- 
austinften, Geranftalter von Borturnerfurfen ufw. 

68 ift aljo das Komitee wie das Kriegsminifterium, das die Kriegswerk⸗ 
geuge bereitjtellt, die Genoſſenſchaft der Niederlajfung aber das fampfende 
Heer, bei welchem fic aud die zielſetzende Führung befindet. 

Die Pioniere bilden eine kleine gefchloffene Geſellſchaft wie einen 
Orden. Mitgliedfhaft im engften Kreis ift nur für große perfönlidhe Leis 
ftungen zu erlangen. Wohnſitz im Stadtteil ift nötig, oder mindeftens jahre» 
lange Ginfebung großer Kraft. Ihre Zahl wird ftets Klein fein. Sie haben 
bas Redt, Biel und Grenzen fic felbjt zu feben. Gs fönnen aber aud in 
dem Stadtteil aufgewachjene, bon der Kolonie herangebildete Männer oder 
Srauen bolle Mitglieder werden. Wer volles Mitglied werden will, muß fid 
an den @riinder oder Leiter wenden, durch deffen Vorſchlag allein fann er 
dem engften Kreis zur Wahl vorgeftellt werden. Es muß diefe Genoſſenſchaft 
fein wie das Offigiersforps eines Regiments. Seder einzelne davon fann 
felbft Spike eines Vereins oder größeren Unternehmens im Stadtteil fein. 
Sie alle Halten gemeinfamen Grfabrungsaustaufd, und dieſe Berfammlung 
unter Borfig des Leiters ift die widtigfte Inftanz der Unternehmung. Um 
den engeren Kreis fann ein größerer Kreis der Helfer auf mannigfaden 
Gebieten ftehen, die auf den einzelnen Arbeitsgebieten mithelfen. Aber 
die Genoffenfdaft der Engeren beftimmt das Arbeitsprogramm, entjcheidet 
über die Berwendung des zur Berfiigung geftellten Geldes und berichtet an 
das Komitee, das fogufagen in der Heimat, in der anderen Welt eziftiert. 
Nicht diefes Komitee berichtet, fondern es Hat die Aufgabe, die Erfahrungen 
der weiteren Welt gu vermitteln, es fammelt Geld; denn feine Hauptaufgabe 
wird es fein, denen, die wie gu einer Expedition ausgezogen find, die Mittel 
gu geben, daß fie [eben und arbeiten fünnen. Ich fage ausdrüdlich ein Komitee 
und nicht ein Verein, denn ich denke mir die redtlide Gorm des Ganzen als 
eine Stiftung. 


104 


Ebenjo wie Männer follen aud Frauen ausziehen, und am beften wird 
eine männlihe Kolonie neben einer weiblichen fteben, beide zueinander in 
einem geordneten Arbeitsperhältnis. 

Wenn es Diefer Kolonie gelingt, Käufer mit Zimmern, Salen, Werk- 
ftätten und Surnballen zu fchaffen, dann werden fie allen gefunden und tüch— 
tigen Sugenddereinen, die {don beftehen, Räume für ihre Berfammlungen 
und GSitungen und Unabhängigkeit bon den Wirten bieten. Solche Nieder» 
lafjung muß eine Burg der fittlimden Freiheit fein und den Geift 
der Ginigfeii unter allen weden, die am Werke find. 

Nur dann werden wirklid intenfive Grfolge erzielt werden, wenn die 
Genoſſenſchaft des engeren Kreijes febr porfichtig ift mit der Vergebung ihres 
Mitgliedsredhtes. Auf jeden Gall müjfen ein oder zwei der Pioniere für 
einige Sabre ihre ganze Kraft, fret bon anderer Berufsarbeit, einjegen können. 
Nur wenn folde Führer, weldhe andere einführen und anweifen fönnen, bore 
Banden find, wird es möglich fein, auch eine größere Anzahl junger Aka— 
demifer oder Lehrer außerdem zu niiblider Tätigkeit in einzelnen Dienften 
Herangugieben. Wertpoll für die Grbhaltung der geijtigen Friſche und Elaſtizi— 
tät wird ein gemeinfamer Haushalt fein, wie ihn die englifdhen Settlements 
Baben. Sollte einer der Führer verheiratet mit Familie in der Niederlaffung 
leben, fo wird das für alle Beteiligten ſehr wertvoll fein. 

Wenn die befdeidenften Mittel gum Leben da find, dann können junge 
Theologen, Yuriften, Lehrer, Ingenieure fic) mehrere Jahre foldhem Werke 
widmen; man wird dann auch dazu fommen, das nicht als Spielerei zu bee 
zeichnen, fondern als trefflide Borbildung für den Beruf. Und 
fie werden aus Handwerkern und Kaufleuten fic) wieder foldhe erziehen, die 
die unentbebrliden fahmännifhen Führer und DBildner der Jugend fein 
fönnen auf Spielfeld und Surnplab, im Wald und auf dem Strom. Sold 
eine Kolonie muß eine Schule fünftiger Bolfsergieber und Sugendjfeelforger 
fein. Wie notwendig die anregende, leitende, einigende Arbeit folder Nieder» 
laffung ift, wird um fo deutlicher, je mehr wir uns vergegenwärtigen, wie wir 
mit der Grgiehung der fchulentlaffenen Jugend in diefer neuen Geſchichtsepoche 
in Stadt und Land nod in den erften Anfängen find. Wir haben ein wenig 
die Methoden erprobt; die großen Kräfte müffen erft eingefegt werden, die 
uns das gewaltige Werk vollbringen follen. 


5. 


Wer einige Sabre in folder Niederlaffung gearbeitet Hat, wird fpäter 
in feinem Beruf mit einer ganz anderen Kenntnis des Volkslebens wirken als 
bisher, der Geiftlide, der Berwaltungsbeamte, der Lehrer wie der Gelehrte. 
Die diefe Schule durchgemacht haben, werden die Bolfsfrembdbeit überwunden 
haben. Sie werden es auch [pater überall verftehen, den einfahen Menfden 
zu bewegen, daß er vertrauenspoll feine mwirflihe Meinung fagt, und fie 
werden, wenn ein Problem des Bolfslebens neu auftauchend ihnen fchwierig 
erfcheint, guriidfebren können an den alten Blab, dort alte Freunde als reife 
Männer wiederfinden, und ohne die unmdglide Rolle des Harun al Raſchid 
gu fpielen, fragen fünnen: Nun, was fagt Ihr dazu? Und fie werden aud 
felbft, wenn fie etwas Wichtiges zu jagen haben, dort die Leute finden, die 
unbeitrt durch der Zeitungen automatenbaft gudringlides Geſchrei, fie an- 
hören und ihnen glauben. 

Die zerfplitternden Kräfte zu einmütigem Wirken gu verföhnen, bon dort, 
wo die Hilfsmittel und perfinliden Kräfte reidlid vorhanden, Hilfe herbei— 


105 


führen, das Gefühl der Berantwortlidfeit in der Volksjugend felber weden 
und bilden, und ridjidtslos im Kampfe ftehen gegen Unfittlichfeit und Un— 
wahrbaftigfeit und ein Lehrer fein der rechten Volkskenntnis und Bolkspflege, 
das ift Die Aufgabe der Bolfsheime, wie ich fie fordere. Freilich wird fo 
Großes nur geleitet werden, wenn Männer und Frauen mit ihrer ganzen 
Kraft, bon den drüdendjten, nächſten Sorgen befreit, in der Arbeit ftehen und 
zwar als eine fleine, bewegliche, fefte, leiftungsfabige Organifation. Gol de 
Niederlaffung foll (aud in der Art ihrer Organifation) 
ein Fortſchritt fein gegenüber der alten Art der Bereine, 
eine fampfgerüftete Rulturfolonie, fäbig, um fid neues 
®emeinfdaftsleben gu meden und Formen fittlimer Orde 
nung neu gufdaffen,inwmeldenunfer Voll weiter mandern 


ftann auf den Wegen einer neuen Zeit. Walther Slaffen. 
Die wirtidaftlide Antinomie. 
1. 


Der Gegenſatz zwiſchen Unternehmern und Arbeitern oder, wie man poine 
tierend zu jagen pflegt, zwijchen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ift 
techt eigentlich ein Erzeugnis des Grofbetriebs. Dieſer Gegenjag ift feelifch 
gang anders geartet als der gwifdhen „Herr“ und „Geſinde“ („Wirt“ und 
„Volk“) in der Landwirtichaft, ganz anders als der zwijchen „Meifter“ und 
„Gejellen“ im Handwerf, gwifdhen ,Pringipal* und „Sommis“ in der bürger- 
lihen Handlung, wie Goethe, Stifter, Freytag fie uns jdildern, ganz anders 
aud als der zwifchen dem Staat und feinen „Beamten“. Gleichwohl jucht 
man die Begriffe „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ in alle Arbeitsver«- 
hältniffe jchematifierend Hineingutragen und tut fo, als ob alle Arbeit die 
Dienfhen ausnahmslos in diefe beiden Klaſſen zerjpalte und alg ob da, wo 
man fic deſſen „noch“ nicht bewußt ift, nur Dummbeit und Rückſtändigkeit 
die Arſache fei. Aber das ift eine begrifflide Vergewaltigung der Wirklid- 
feit. All die früheren Arbeitsverhältniffe, Die mit vollem Recht aud heute 
nod in ihrem Bereiche gelten und gelten müffen, find entweder ſtändiſche 
Gegenſätze und werden fomit als fhidjalhafte Ordnungen betrachtet, oder fie 
find nichts andres als Stufen des Aufftiegs (der Einzelnen oder der 
Geſchlechter). Grft wenn Induftrie und Handel fid gum Sroßbetrieb ent- 
wideln, ſcheiden fi die beiden „Klafjen* (nicht Stände oder Stufen) der 
Arbeitgeber und" Arbeitnehmer, und nur innerhalb des Grofbetriebs darf aljo 
pon dieſem „Klafjengegenfag“ die Rede fein. Wer einen Bauernknecht oder 
Sagelöhner ſchlankweg als „Arbeitnehmer“ behandelt, wer einen Beamten als 
„Arbeitnehmer“ des Staates vergewerfjchaftet, Handelt unfadlid. Dieſer une 
fadlide Schematismus, der die ganze Welt in dem Neb eines einzigen bee 
ſchränkten Begriffes einfangen will, fommt freilid) der Bequemlichkeit des 
menfdliden Gehirns wohltuend entgegen. Aber er ift die Ausgeburt jener 
(jebr ſtark Durd) Marz beförderten) Iogijch-mechanifchen Geifteshaltung 
(Mentalität), der fchlieglich jede Gmpfindung für die jeelijchen Gründe des 
Menjchenlebens und alfo aud des wirtfdhaftliden Lebens abhanden ges 
fommen ift. 

Wenn wir im Folgenden von dem Gegenſatz zwifchen Arbeitgebern und 
Arbeitnehmern handeln, fo wollen wir nie die Tatjache aus den Augen vere 
lieren, daß er auf Die Sphäre des Grofbetriebs bejchräntt ift. Nur von dtefer 


106 


Sphäre reden wir und lehnen jede Berallgemeinerung auf Landwirtfchaft und 
SHandwerf jowie auf allen bürgerlihen Handel und Wandel als irrig ab*. 

Der Kampf zwifchen den beiden „Klafjfen“ ift wieder einmal bejonders 
beftig geworden. Denn als die Sozialdemofratie den Staat in nicht ge- 
tingem Ausmaße budftablid „in die Hand befommen“ Hatte, fudte fie die 
Wirtf haft vom Arbeitnehmer aus umguorganifieren. Gie Hatte gwar in 
manden Dingen nicht den erhofften Grfolg; denn es fehlte ihren Vertretern 
eine zureihhende Kenntnis der Wirklichkeit. Vieles aber ,,driidte fie Durch“, 
befonders den Achtftundentag. „Das mwenigftens haben wir der Arbeiter 
{Saft errungen!“ Der Einfluß der Arbeitnehmer auf die Geftaltung der Wirt- 
{daft war alfo erheblicher denn je. Als aber die Sozialdemokratie gegenüber 
den naturhaften Gefegen des wirt{daftliden Lebens — man denfe beijpiels- 
weiſe an die faft lächerlich genaue mathematifhe Progrefjion der Marfent- 
wertung, an der ein Mathematiker und Phyſiker eine rein wijjenfchaftliche 
Steude haben fonnte — hilflos und ratlos daftand, gewannen die Arbeitgeber, 
genau an dem Punfte, wo es fommen mußte, (und man fonnte es fommen 
feben), auf breiter Gront ihre eberlegenheit zurüd. Der Adtftunden- 
Arbeitstag erbebte in den Grundfeften und barft. Die großen bunten Geifene 
blajen der Inflationslöhne gerplagten, es blieb nur ein fümmerliches „reales“ 
Reftchen Seifenfhaums. Nun tobt der Kampf um Arbeitszeit und Arbeits» 
lohn. Der Kampf um den Lohn fpielt fid ab alg Kampf um den Tarifvere 
trag und feine ftaatlide Stabilifierung. Was hilft bie moralifhe Entriftung 
über die Arbeitgeber, daß fie die wirtſchaftlich ſchwache Lage der Arbeit- 
nehmer ,ausnugen*? Vorher haben die Arbeitnehmer die ſchwierige Lage 
der Arbeitgeber — ausgenust. GSelbftverftändlih. C'eſt Ia guerre. Aus 
moralifher Sentimentalität fann man febr hübſch Theorien und Shfteme 
fpinnen, aber man fann mit diefer „Seelenfraft* nidt die Wirklichkeit meiftern. 
Nehmen wir den Klaffenfampf, wie er ift. (Wie er „fein follte*, können wir 
uns in gemadlideren Zeiten ausmalen, etwa auf einer freideutfhen Woche). 

Worum handelt es fic) in dem Kampf um die Arbeitszeit und den Tarif- 
vertrag? In einem Kampf handelt es fid meift nicht um die Dinge, um die 
anjcheinend gekämpft wird. Was Acht-, Neun-, Zehnftunden-Arbeitstag! 
was behördliche Regelung des Sarifvertrags! Ueber diefe Dinge würde man 
fih von Gall zu Gall einigen, weil man muffs. Was der gegenwärtigen 
Rampflage ihre befondere Bedeutung gibt, ift vielmehr dies: es handelt 
fih um die Gibrerftellung des Unternehmers innerhalb 
der Wirtfhaft und, damit zufammenhängend, um den Ginn der 
Birtfhaft überhaupt. 


„Was für eine Philofophie einer wähle, hängt fonad) davon ab, was 
man für ein Wenſch ift“ fagt Fichte**. Der Sag gilt nicht nur für die Philo— 
fopbie, ſondern aud) für die Auffaffung, die man vom Ginn der Wirtſchaft 
bat. Aller Logos wurgelt im Gthos, und eine Ideologie ift die logiſche 
Grideinung eines menjhlihen Sharafters. Will man fic über den Bee 
— — 1 el 

* Ausgezeidnet harakterifierende Worte über den „unperfönlihen“ Gro“betrich 
finde ih foeben in einem Auffat über die „Betriebsverfaffung des Hochkapitalismus“ 
bon dem Breslauer Profelfor Gugen Rofenftod im erften Morgenblatt der Zranf- 
furter Zeitung vom 16. Februar. 


F ** Sn der fog. „Erſten Einleitung in die Wiffenfdaftslehre*. 1797. Kap. 5. Gs 
ift ein immer wiederfehrender Orundgedanke Fidtes. 


107 


halt und Wert einer Ideologie Ear werden, fo muß man fie zurüdführen auf 
die Menfchenart, der fie ent{proffen ift. Wir können die wirtfchaftlichen Ideo⸗ 
Iogien, die uns Heute unter den Bezeichnungen „Kapitalismus“ und „Sozia— 
lismus“ in hundert Abwandlungen umſchwirren, leglid auf zwei Lebens- und 
Birtfhaftsideale zurüdführen und zeigen, daß diefe Ideale aus zwei 
grundverfchiedenen menjdliden Sharafteren erwadjen find und immer 
neu erwachſen. Eben darum find fie unaustilgbar, es fei denn, eine der beiden 
Menfdenarten werde ausgetilgt. , 

Gs gibt zwei Arten von Mtenfden: fämpferifhe und friedfame. Den 
einen ift Die feelifche Aktivität und damit der Szpanfionsdrang eingeboren; fie 
fönnen nicht in ihrem Gein beharren, fondern müſſen immerfort werden. 
Eine „Unruhe“ treibt fie zu unaufhaltfamer Tätigkeit. „Arbeit“ ift für fie nicht 
eine Angelegenheit gewiffer Stunden, nicht ein unbequemes Mittel, um das 
nun leider einmal nötige Gelb zu verdienen, fondern fie ift ihnen vielmehr 
der felbftverftandlide und unmwillfürlihde Lebenszuftand. Arbeit ift für fie 
ein inneres Muß, und gwar nit nur das Muß einer von außen ber all« 
mablid eingeübten Gewohnheit, ohne die man „nicht mehr leben kann“, fondern 
das Muß einer Sriebfraft vom innerften Kern des Wefens her. Sofern diefe 
Menden zu wirtfchaften beginnen, werden fie alsbald zu „Unternehmern“. 
Sans Luther, der Bater des großen Martin, wanderte als einfadher Bergmann 
ins Mansfeldifche, feine Satfraft madte ihn bald zu einem angejehenen 
Unternehmer. Für Menſchen diefer Art ift alles Leben und fomit auch das 
Wirt{haftsleben ein Kampf. Wirtfchaften ift erobern. Da gibt es feine 
andre Grenze als die der Kraft. Die RKampfer-Unternehmer werden die 
Führer und Herren einer ezpanfiven Wirtfchaft. Sie ftellen hidfte, berrifche 
Anfprüde an fic felbft und an ihre Mitarbeiter. Gin doppeltes charalteris 
fiert diefe wirtfchaftlihen Führernaturen: erftens dag Freiheitsgefühl 
— ihr Herrenfinn ift empfindlich gegen allen Zwang. Hemmniffe reizen ie 
zum Widerfprud, rufen die Luft wad zu überwinden und zu fiegen, zu— 
weilen nur um des Gieges willen. Man fann beobachten, daß fie etwas bee 
fämpfen, nur weil es ihnen als Hemmung und Zwang entgegentritt, während 
fie es an fic gar nicht befämpfen würden. (Der berühmte „Mangel an Klug- 
beit.*) Das andre ift das Ginfamfeitsgefibl. Diefe Menfchen meiden 
die Herde, fie find ,afogial* und erfdeinen daher leicht ,unfogial*. Sie ehren 
den andern nur, fofern er aud ein Ginfamer, ein Freier, ein Herr ijt, wie 
Goethe einen Napoleon ehrt. Gs find „abgegrenzte* Menfchen, für die es 
eine pofitive Berbindung mit den andern nur auf dem Weg über die Achtung 
gibt (jenes Gefühl, auf das ein Kant bezeichnenderweife ein fo hohes ethijches 
Gewidt legt). Wo man ihnen nidt Achtung abgewinnt, ift feinerlei „[oziales“ 
Gerhaltnis zu ihnen möglid. Sie tragen — fo befdaffen, wie fie nun einmal 
find — das Rififo: allein und auf fic felbft zu ftebn. „Der Starfe ift am 
madtigften allein“ fagt der Wriftofrat Schiller. 

Aus einer folden fampferifden, freibeitsftolzen, abgegrengten und in fid 
felbft gefchloffenen Geiftesart fann fi nur eine „Raubtierwirtfchaft“ ente 
wideln: der „Kapitalismus“. Die Führer diefer Wirtfchaft find „Herren“ und 
wollen es bleiben. Serbridt ihr „Herrentum“, fo zerbricht diefe Wirtfchaft. 

Den friedfamen Naturen hingegen ift der Wunfd nah Ruhe und Bee 
bagen eingeboren. Eine Welt des Kampfes ift eine Welt finnlofer Unruhe, 
ta ihr Tann die „Slüdfeligfeit des Menjchengefchlechtes“, die „allgemeine 
Wohlfahrt“ nicht gedeihen, die gu befördern und zu genießen doch für fie der 
Ginn des Lebens ift. Das Havtifhe Sih-abmühen und Ringen, das raftlofe 


108 





Sih-wandeln, das fchmerzhaft unangenehme „Werben“ follte endlih auf- 
hören, eg wäre an der Seit, nunmehr „volllommen“ zu fein, das heißt: fo zu 
fein, daß man niemandem mehr im Wege if. Für Menfchen diefer Art ift 
die Aufgabe des Lebens und damit aud der Wirtſchaft die „Zweckmäßigkeit“, 
die „Bollendung“, die ,barmonifde Ausgeftaltung*. Wirtfchaften beißt Der 
allgemeinen Wohlfahrt dienen. Man empfindet es als eine Stö- 
tung, fih wehren zu müfjen gegen die Eingriffe und Uebergriffe der „uner- 
fättlihen“ und „barbarifhen“ Herrennaturen, die immerfort „die Kultur“ in 
Gefahr bringen. Der Wirtfchaftsführer foll nicht ein auf fich felbft berubender, 
alles an fid reißender „Thrann“ fein, fondern ein „Diener“ des „hoben 
Ideals“ der allgemeinen Wohlfahrt. Auch diefe dem Frieden geneigten 
Woblfahrtsnaturen charakterifiert ein Doppeltes: erftens dag Geredtige 
feitsgefühl. Wie fommt ein Gingelner zu der Anmaßung, mehr fein 
gu wollen und fi gum SHerrfcher zu erheben? Gewiß, die Natur hat ibm 
befondere Gaben verliehen; aber etwa dazu, daß er fie für ſich gebraude? 
Das ware „Sigennug“ und „Selbftfucht“! Nein, der Menſch hat feine Bee 
gabung dazu, daß er fid „für andre opfert“. Aber das wäre unnatürlich? 
Nun, wenn es nidt natürlich tft, fo ift es Doch fittlid, und das entjcheidet. 
Man muß eine fol dhe Wirtidaftsordnung herftellen, in der alle Begabungen 
fo „verwendet“ werden, daß fie zum griftmigliden Nuten des Gangen, das 
beißt: zur Wohlfahrt aller, gufammenwirfen. Das ergibt dann die „gerechte 
Ordnung“. Nicht die Herrennaturen follen Führer fein, fondern die Diener- 
naturen, die nicht den eigenen Willen, fondern den Willen der Geſamtheit 
pollftreden, genauer: deren Gigenwille nicht anders will als der ©efamtheits- 
wille. So allein wird das fogiale Gerechtigfeitsgefühl befriedigt. Der Sinn 
diefer gerechten fozialen Ordnung ift das Aufblühen der „Kultur“. Kultur 
ift nicht etwa die erfämpfte Höhe des Gingelnen, fondern ein „allgemeiner 
Zuftand“, den man „herbeiführen“ fann. Die Leiter des wirtfchaftlichen Le- 
bens haben letten Endes die Aufgabe, die Kultur „herbeizuführen“ und „dem 
Volke zu bringen“. Wirtſchaftskultur und Kulturwirtfchaft ... endlich nähern 
wir uns dem vollfommenen Leben! Welch eine allgemeine Slüdjeligfeit, wenn 
erft alle Menſchen ein eigenes Urteil über die Relativitätstheorie haben und 
über das Wefen des Expreſſionismus Beſcheid wiffen können, wenn alle ab- 
ftinent leben, bodenreformerifch fiedeln, ihre Feinde lieben und jeden Men— 
{Genbruder auf Händen tragen! Gs ſchwelgt das Herz in Geligfeit. Zwei— 
tens das Sidherheitsgefühl. Man wünſcht das Leben allen Bue 
fälligfeiten zu entziehen und hält fich daher in der wohlumbegten Herde. Man 
febnt fid nad Gemeinſchaft und möchte jeden Nebenmenſchen als „Senoffen“ 
anfprechen. Die, welche die Herde umfreifend wachen oder pfabdjudend porauf- 
[chreiten, tun es als „Beauftragte“ der andern, nicht aus eigener Kraft und 
Herrlichkeit, fondern im Namen des Bolfes, das fie beruft. Unter Diefen 
Menfchen gibt es eigentlich feine führenden, fondern nur ausfühbrende 
(funktionierende, daher: Funktionäre). 

Aus einer ſolchen friedfamen, gerechten und auf ruhige Sicherheit be- 
dachten Geiftesart fann fic nur eine „Herdenwirtfchaft“ entwideln: der „So= 
zialismus“. Die Führer diefer Wirtfdaft find „Beamte“, deren Auftrag und 
Cittlidfeit darin befteht, der Wohlfahrt des Ganzen zu dienen. Berfagen 
die Wirtfchaftsbeamten, unterliegen fie dem „Eigennug“, fo zerbricht dieſe 
Wirtſchaft. 

Raubtier und witternde Herde (zuweilen furchtbar durch die tauſend Hufe) 
— bas iſt die Natur. ; 


109 


3. 

Beide Menfhenarten und beide Wirtfchaftsideale, fämpferifche und fried- 
fame, fapitalijtijde und fozialiftijche, widerfprechen einander wie Feuer und 
Waſſer. Gleihwohl können beide ihr Recht erweifen: fie erwadfen beide 
gleich notwendig aus der menſchlichen Natur. Mögen fie fic gegenfeitig immer 
von neuem wegbeweijen und „ad abjurdum führen“, mögen fie fid) moralifch 
über einander entrüften und alles gebrannte Herzeleid antun, fie find nun 
einmal da. Und Hegels Sat von der Vernunft alles Geienden ift nod Feines- 
wegs umgeftofen, wenn „man“ die Gelbftverftändlichkeit feftftellt, daß die 
meiften Dinge auf Erden höchſt unvernünftig find. Vernunft ift nit Wider- 
{prudslofigteit, fondern Polaritat der Widerfprühe. Den Blick aber, der 
die Enden der Unendlidfeit umfpannt, hat fein Menfchenauge. Darum find 
Die Widerfprühe das Schidjal unfrer Menjchlichkeit. 

Beide Arten und beide Ideale find jo notwendig wie Morgen und Abend. 
Wenn die Kämpfer erobernd vorwärts dringen, fo erwacht der Mtorgenwind' 
und es wird fühl ringsumber. Wenn fie ihr Werk getan haben und endlich. 
die Sehnſucht nad Rube alle Welt überfommt, jo fenkt fid die Dämmerung 
herab und der milde Abend naht. So wird aus Morgen und Abend immer 
pon neuem ein Tag. 

Gs fönnen weder die Bäume der fapitaliftifchen noch die ber fozialiftifchen 
Wirtfhaftsordnung in den Himmel wadfen, fondern ein jeglicher Trieb und 
Wille hat feine Beit. Ift die Wirtfchaftskraft und -Tüchtigfeit eines Volkes 
reif gum Aufbredhen, zur Gzpanfion, fo bricht fie auf, fie jprengt mit Nature 
gewalt die alten Organifationen (Zünfte, Städteverfaffungen) und fendet ihre 
Schiffe und Güterzüge um den Grdball (Weltwirtfchaft). Die Führer geben 
neue Wege und „erjchliegen“ immer neue ,@ebiete*. Endlich find alle mit 
den derzeitigen Mitteln erfchließbaren Gebiete erfchloffen, und es handelt fid 
nur mehr um bas „Ausbeuten“. Nun braudt der Wirtfhaftsorganismus 
Ordnung und Rube. Darum wadft mit Naturnotwendigfeit eine Wirtfchafts- 
organtfation heran, deren „Sührer“, da es nichts mehr zu erobern, fondern 
nur nod zu ordnen und leiten gibt, ihrem Wefen nah Beamte find. Beide 
Tendenzen, die fapitaliftifche wie die fozialiftifche, find allegeit neben eine 
ander da. Sede allein, bis zum Aeuferften getrieben, würde die Wirtfchaft 
zerftören: die eine würde fic in hemmungslofem Kampf verzehren, die andre 
würde in Bequemlichkeit und Enge verrotten. Darum wedfelt Frühling und 
Herbft aud im Wirtfchaftsleben. Sowohl das reale Wirtſchaftsleben wie der 
geiftige Kampf der Theorien ift die körperliche und geiftige „Erſcheinung“ 
jenes volksbiologiſchen Aus- und Ginatmens. 

Stellen wir nun alfo die Frage: weldhe Wirtfehaftsform ift die „befte* für 
die Nation?, fo können wir nur antworten: eine abfolut befte gibt es nicht, 
weil eben die Natur ein Werden und nicht ein beharrendes Gein ift. Kampf 
und Frieden, Unruhe und Rube, Kapitalismus und Sozialismus, beide find 
zu ihrer Zeit und an ihren Orten notwendig. Die nationale Aufgabe ift: die 
geit* zu begreifen und zu ergreifen. 

Wenn die Aefte eines Baumes abgefdlagen find, fo geht er entiweder aus 
mangelnder Lebenstraft an feinen Wunden ein oder er treibt neue Zweige 
aus den Wunden. Gs fommt darauf an, ob der Baum lebenszäh und regene- 
rationstraftig if. Wenn ein Bolt zu Boden gefdlagen und feine Wirtjchaft 





* Der Hellene würde fagen: den fairos, d. h. den Augenblid, da eine Situation 
berangereift, da „die Zeit erfüllt“ ift. Wir haben fein Wort, das den Ginn des 
fairos wiedergäbe. 


110 


gerftdrt ift, fo fiecht es entweder in pagififtifcher Stimmung matt und ergeben 
dahin, oder es beginnt, emfig wie die Ameifen den zerftörten Wohnhügel, 
die Wirtfhaft „wiederaufzubauen“. Nicht etwa fo, daß es am grünen Tiſch 
ein logiſch ſauber erflügeltes beftes Syſtem in Gedanken „aufbaut“ und dann 
die Wirtfchaftenden anweift, das Programm „durchzuführen“ — es ift eine 
grotesfe Berfennung des Lebens, wenn man meint, man fönnte Grfinden und 
Ausführen, Denken und Sun trennen; eine Idee fann nur der durdfiihren, 
der fie gehabt Hat; wer feine Ideen bat, foll beileibe nicht verfuden, Ideen 
„durchzuführen“. Eine „neue Wirtfchaft“ entſteht nur fo, daß Wirtfchaftsgewaltige 
erobernd auftreten. Die deutſche Wirtfchaft (und damit aller Sozialismus, der 
in ibt möglich ift) verfommt, wenn wir nicht die Kraft zum Kampf aufbringen, 
genauer gefproden: wenn im deutſchen Bolf nicht mehr Kämpfer-ilnter-- 
nehmer erwadjen, fondern wenn die Unternehmerfchaft in lauter Kartellen 
und Syndikaten fic verbeamtet; wenn wir nicht mehr freie „Herren“, fondern 
nur nod „Direktoren“ haben. Dies ift heute die nationale Aufgabe unjrer 
Volkswirtſchaft: Daf wir wieder einen genügenden Anteil an der Weltwirt- 
ſchaft an uns reißen. Können wir nicht Landgebiete erobern (was uns bitter 
not zur DBollseziftenz ift, feit man uns den Often geraubt), fo müffen wir 
wenigftens Wbfaggebiete erobern. Wie anders follen wir denn leben? 

Darum werden wir einer ,fapitaliftijden Gpoche* entgegengehen oder 
der volfswirtjchaftlihen Berfiimmerung. Nicht eine Theorie, fondern unfer 
Schickſal muß für unfern Willen entfcheidend fein. Die Kämpfe, die um 
Arbeitszeit und Tarifvertrag eingejegt haben, find das Zeichen, daß der 
Kampfeswille fid regt und daß der alte Stamm neue Säfte treibt Kampf 
ift Das Zeichen des Lebens. 

4. : 

Die Srfenntnis der Wahrheit befteht nicht darin, daß man einen abftraften 
„Begriff“ „entwidelt“, fondern darin, daß man die Wirklichkeit durchſchaut. 
Das Durchſchauen der Dinge macht gelafjen und überlegen. Das ift die prak— 
tifde Bedeutung der Grienntnis. Was folgt nun aus unfrer Grfenntnis von 
ben feelifhen Untergründen der Wirtſchaft? 

Gir die Arbeitgeber, die der deutſchen Volkswirtſchaft wieder ihr 
Gebiet zu erfämpfen haben, folgt daraus: 

Erftens: Die Tendenz nad) fogialer Gerechtigkeit und die WAnfdauung, 
daß alles Wirtfchaften ein „Dienft“ fei, bat ihr Recht aud im Rahmen der 
Rampf-Unjdauung. Man muß diefe Tendenz verftehen, um nidt die 
Kräfte an unredter Stelle zu ermüden. Gs gibt nod immer Unternehmer, 
die fid mit der Tatſache der Gewerkſchaften und all dem, was daraus folgt 
(Streit ufw.) nicht abzufinden vermögen und fid mit den Organifationen der 
Arbeitnehmer auch da herumfchlagen, wo es im Rahmen des Ganzen nicht 
nötig wäre. Für den Unternehmer aber fommt es (im Wefen, wir fpreden 
bier nicht von der einzelnen Situation) nur darauf an, das ezpanfibe und 
fämpferifhe Prinzip, die unternehmerhafte Auffaffung vom Wirtjchaften und 
pon der Wirtfchaftsführung in Geltung zu erhalten und alle Kraft für dag 
„nach außen gerichtete“ polfswirtfchaftlide Kampf-Unternehmen zu fammeln. 
Im übrigen aber ift es nicht nur „ungefährlich“, fondern fogar lebensnot— 
wendig, die andere Tendenz zu befriedigen; denn die Befriedigung fogialer 
DBedürfniffe ift genau fo eine Borbedingung der wirtfchaftlihen Kampffraft, 
wie die oneiata Hetoima profeimena* und ein tüdhtiger Schlaf die Borbedin- 





* Sobann Heinrid Voß überſetzt das als „leder bereitetes Mahl“. 


gungen für die Taten der homeriſchen Helden vor Ilion find. Odyſſeus — 
polytropos und polbmetis, wie er ift — bält fic) nicht für zu beroifch, um 
aud für diefe Dinge Sorge zu tragen. 

Sweitens: Unter den Raubtieren gibt es nicht nur edle Löwen, Hodflies 
gende Adler und grimmig-gutmütige Bären, fondern auch übelriehende Scha— 
fale und fable alte Aasgeier. Die Unternehmer find nicht alle nur edle, 
tapfere Kämpfer, es gibt auch Leichenfledderer unter ihnen, die in der Dame 
merung undurchſchaubarer Börfenfpefulationen ihr einträgliches Gewerbe 
treiben. Gs fommt auf die Art des Unternehmers an. Die heutige Lage 
verdanken wir nicht unwefentlid) der Tatfadhe, daß die anftändigen Anter— 
nehmer der unanftändigen nicht Herr werden fonnten. Die Selbftreinigung der 
Anternehmerklafje ift eine Aufgabe von entjcheidender Bedeutung. 

Drittens: Aud in der Arbeitnehmerfchaft werden immerfort Herren- 
naturen geboren, die vorwärts wollen. In einer Wirtfchaft, in der fie nicht 
porwärts fommen Tönnen, werden fie zu einem Glement der Unruhe und 
Störung. Gerade in ihnen wandelt fid der edle Wille, voranzufommen, in 
vergiftetes Rejfentiment, das die ganze Umgebung zerjegt. (Man beobadite, 
wie unter der Arbeiterfchaft mit altem germanifchen Dlute, fo in großen 
Zeilen der hamburgiſchen Arbeiterfchaft, das Reſſentiment eine befonders 
große Rolle fpielt. Gs tft die geftaute, verlegte Kraft, die feine Bahn finden 
fann. Gs ift die Unmöglichkeit, den GFreibeitstrieh und SHerrenwillen, der 
fi gefühlsmäßig in ihnen regt, in irgend einer Weife zur Geltung zu bringen.) 
Das Wirtichaftsleben muß daher in folder Beweglichkeit und Flüffigfeit ge- 
gehalten werden, daß fich möglichft viele Aufftiegsmöglichkeiten auftun. Dann 
febrt fic) die Drangende Kraft nad) „außen“, ftatt gegen „innen“. Gs gehört 
ja zur charakteriſtiſchen Srjdeinung des amerikaniſchen Wirtjchaftslebens in 
feiner ezpanfiven Epoche, daß man dort dem Willen gum Aufftieg menſchlich 
ftart entgegenfam. (Man führt diefe Stimmung des „Wohlwollens“ fälfchlich 
auf „Demofratie* zurüd, ihre Gründe liegen, fomeit es fic nidt einfach um 
die angelſächſiſche Lebensklugheit handelt, tiefer.) Bei uns mißgönnt häufig 
der, der's erreicht hat, Dem, der auch etwas erreichen will, den Aufftieg. Das 
Wort „er hat's erreicht“ wird faum noch mit Achtung, meift mit Ironie aus- 
aefproden. Das mürriſche Zurüditoßen fommt allguoft bet uns vor. Menjch- 
lihe Seilnahme aber für den, der ringt und Tämpft, ift ein Zeichen innerer 
Sreibeit. Worauf beruhte die Machtſtellung der alten Wikingerkönige? 
Darauf, daß fie möglichſt viele bedeutende Krieger in ihr Gefolge zogen, daß 
fie fie in freier und zugleih verantwortlicher Gtellung hielten, daß 
fie die befonderen Leiftungen bejonders Iohnten und damit die Wagefreudigen 
ermutigten. Diefes „Königlihe* und „Freie“ in einem Unternehmer verleiht 
der ganzen Wirtſchaft etwas Königlihes und Freies. Das Befte, Das ein 
Unternehmer für die Bolkswirtfchaft leiften Tann, ift, daß er die fampfe- 
tidtigen und vorwärtsdrängenden Kräfte frei und verantwortlid 
ma dt. 

Gir die Arbeitnehmer, welde die große Schar ber Ausführenden 
bilden, folgt aus unfrer Anſchauung gleichfalls ein Dreifaches. 

Grftens: Sie müſſen die Notwendigkeit des wirtfhaftlihen Kampfes der 
Nationen anerfennen und miiffen begreifen, daß im deutfchen Bolfe jet alles 
auf eine Ezpanfion unferer Wirtfchaft anfommt. Gs ift nicht die Zeit fogialer 
Theorien, fondern nationaler Arbeit. Gs ift nicht die Zeit der Beamten, 
fondern der Kämpfer. 

Zweitens: Wud unter den „Sunftionären“ der Arbeitnehmerfchaft gibt es 


112 


edle und unedle, Kriegernaturen und Gdiebernaturen, Leute mit bellem, 
freiem Blid und Leute mit verquerem, feigem, Dinterhältigem Blid. Gs gilt, 
nicht aufs Maul, fondern auf den Mann zu feben. Cine méannlid-ent- 
ſchloſſene Selbftreinigung allein vermag in den Gewerkſchaften jenen freien, 
frifhen Geift zu erhalten, der feine Berrottung auffommen läßt. 

Drittens: Die Arbeitnehmerſchaft follte fic) weniger der moralifchen Ent- 
rüftung Dingeben — „Entrüſtung“ ift immer bas Zeichen der Schwäche, 
darum findet der Entrüftungsredner mit Sicherheit den lauten Beifall der 
Bielen — fie follte ftatt dejjen fic felbft erfämpfen, was fie fich erfämpfen 
fann. Es ift ein Irrtum, wenn man glaubt, der Staat könne eine „gerechtere“ 
Wirtfhaftsordnung „einführen“ Der Staat wird fic) einer folden Aufgabe 
gegenüber ftets als impotent erweijen. Gine „eingeführte* Gerechtigkeit ift 
nichts, aber ein erfämpftes Recht, das ift etwas. Beffer als bequem aus dem 
Winkel her auf die „Herren“ zu fchelten, ift es, felbjt Herr zu werden. Warum 
ſchafft fid die Arbeitnehmerfchaft als folde nit Wege des mwirtjchaftlihen 
Aufftiegs? Statt eine {dine fozialiftifhe Wirtfhaftsordnung in Begriffen 
auszufpinnen, follte man — fic) fampfend an der Volkswirtſchaft beteiligen. 
Warum follten die Arbeitnehmer nidt aud Mitbefiter des Kapitals 
werden und durd das Kapital mitbeftimmend werden finnen? Gs fommt 
darauf an, foviel Kapital wie möglich zu erobern und in geeigneter Weije in 
die Wirtfchaft zu bringen. Befit Hat, wer Befig erwirbt, nicht, wer fid 
Binftellt und deflamiert: Eigentum ift Diebftahl. Die folidarifch gefdloffene 
Arbeitnehmerfchaft fann Beſitz erwerben, und von Hier aus fann eine innere 
Umbandlung der Wirtfehaft erfolgen, indem nun die Arbeitnehmer felbft zu 
Zeilhabern der Wirtfchaft und damit gu Mitfämpfern werden. Nidt 
daß jeder feine nad dem Prinzip der Gleichheit abgezirfelte republifanifche 
Rube und fein ihm „gerechterweife* zulommendes Stüd „Kultur“ Hat, ift das 
hddfte Biel, fondern daß er ein Mitlämpfer werde für eine wadfende deutjche 
Volkswirtſchaft. Hier ift der Weg — nicht für eine, aus reiner theoretifcher 
DBernunft zu findende und „einzuführende* Löfung der mwirtfchaftlihen Anti» 
nomie von Kampf und Geredtigfeit, fondern für eine praktiſche Löſung aus 
der praftifhen Bernunft heraus. St. 


Erlejenes 


Aus Hanns Johſts Werfen.* 


Aus dem „König“. 


König 
DD. fommft ungelegen! Ich erwarte den Hof. 
Königin-Mutter 
Gr ift abgejagt! 
König 
Du wagteft ...? 
KinigineMutter 
Gs geht um die Krone! 


* Die Bücher find bei Albert Langen in Münden erfdienen. 





113 


König 
Ic trage fie! 
Königin- Mutter 
Das Bolf ijt aufgewühlt bon deinen närrifchen Streihen... Der Hof in 
erregtejter Oppofition! Ich bin berufen, das Aeußerfte zu tun, wenn du nicht 
unverzüglich meine Bedingungen erfiillft! Deine Willfür entwurgelt Bere 
trauen und Treue. ... Miniſter, Stände, Hof und Bürgertum fordern, daß du 
alles Ungewohnte abftellft. Daß du das Geſetz erfüllft, in defjen Grenzen 
dein? Macht unbeftritten fein foll. 
König 
Gut, daß du mir das alles unter uns fagteft; denn ſonſt — was Hilfe es, 
daß ich dabei den Sohn in mir erwürgte ... id müßte dich als Meuterer bee 
bandeln. Dieſe Konfpiration hinter meinem Rüden, Haften, wird unterfudt. 
Die Leute, die Dic, Matter, irre führten, ftreng beftraft! 
Königin» Mutter 
Du mifoerftebft die Stunde. Ich bin Erbe meines Gemabls! Ih ftebe 
unverrüdbar im Geſetz. ... Ich bin das Geſetz! 
König 
Ih fude den Weg zu geben, Mutter, der dich ſchont. — jedoch 
in Gefahr pad’ id den Nädjften. Statuiere ein Geempel . 
Königin-Wutter 
Bedente, wie leicht fid gwifden uns, was du da fagft, gegen dich wendet. 
Wir ftehen gegeneinander! 
dnig 
3d glaube es nicht! 
Königin-Wutter 
@laube! 
König 
Das Aeußerftel? 
Königin-Wutter 
Fügſt du dich nicht, zerbricht dein Königtum in meiner Hand. 
König 
Serbridt mein Königtum ...? (auernd.) 
Königin-Wutter 
Gin Wort bon mir und du bift frank! 
König 
(ſchreiend) Ich Habe geglaubt, diefe Welt fei menfdlid. ... Sie fdnne 
quälen, martern, verachten und überjehen ... id — nicht, daß ſie ſo feig 
fet. ... Zu langem Zweifel läßt du mir nicht Seit . . Oft alles dies Dein 
Grnft? 
Königin-Wutter 
Wille des Geſetzes, dem ich diene! 
König 
(gedudt) Schwörel 
Königin-Wutter 
Ih ſchwöre! 
König 
(tafend) Diefer Schwur entfeffelt mid wie Did! Bloß aller Natur gebt 
es um nadte Macht! Entmündigen den Mund, ber euch nicht paßt. Das 
Saupt der Rebellion, die Mutter! Haltung! König! Jede Grregung vere 
doppelt ihr Recht! Gs gibt Worte, Wahnfinnige, die gefährlicher find wie 


114 


MeuGelmbrder! ... Haften! (Kalt) Diefe Frau ift fchuldig des Aufruhrs 
wider den König! Führen Sie fie ab! ... (Paufe) Ungehorfam? (Sieht die 
Piftole.) 
Haften 
Die Menjchlichkeit, mein König! 
König 
Schuldig des Aufruhrs wider den König! 
Königin- Mutter 
(feierlih) Wer mich berührt, ift des Todes! Wenn dir mein Auge die 
Waffe nidt aus der Hand fchlägt, ift es wert, daß es erlifcht! 
König 
Diejes Auge! (Sich felbft überbrüllend) Und dennod! Schuldig des Auf- 
ruhrs wider den König! Sehorfam! (Zu Haften) Ich ſchieße Sie über den 
Haufen wie einen tollen Hund! (Oberbofzeremonienmeifter hat bon hinten dem 
König die Piftole entrijfen.) Berrat! 
Königin-Wutter 
Füge did dem Geſetz, das wieder über dir! 
König 
Bon wem? Gibt es ein Geſetz für Meineidige? 
Königin-Mutter 
Doktor! Sie begleiten den König! 
König 
Doktor! Deuten Sie mir das alles! Wo ift Wahnfinn? Ihre Diagnofe 
will id hinnehmen wie ein Delinquent. 
Melior 
Die Königin tft im Recht. 
König 
Sind Sie Surift? ... Bin ich irrfinnig? 
Melior 
Nein! 
König 
Dann ift diejes Zimmer voll Rebellen. ... Dann tft diefe Frau, in deren 
Augen id einjhlief wie in einer Wiege, hundsgemeine Meuterei? 
Doktor 
Nein! 
König 
Nein, Nein!? Ift die Wiffenfdaft zur Mebe geworden für Gewalt und 
Madt?... Mir ift die Welt auseinandergegangen! Doktor, fönnen Sie Adern 
näben? Gie befommen Arbeit. ... Ih muß durch mich durch. ... Zu mir! 
gu mir! Und wenn es das Herz foftet! Wie diefe Augen gefräßig find... 
Aasgeier! (Reift feinen Rod auf.) Hier Leber und Herz! Nur das Bwerd- 
fell ſchont, fonft lace id) mid zu Tode! 
Königin-Mutter 
Doktor! Sehen Sie! 
König < 
(freuzt feine Hände im Gelenf und verbeugt fic.) Willft du mir Die 
Hände binden laffen? (Kniet vor der Königin-Mutter dazu bin.) 
Königin-Mutter 
Du marterft mid! (Boll tieffter Liebe) Du! 


(Die Szene erlifcht, dann Borbang.) 


115 


Aus dem „Kreuziveg“. 


n der Zeit aber geſchah diefe Nadt: 

Der Chef ließ ihn rufen. 

Während der Doktor durch die Gange nad deſſen Privatwohnung ging, 
polterten elf Schläge der Hausubr vom Dadftubl. 

Der Medizinalrat faß an einem runden Tifd. 

Se links und rechts por ihm brannte eine offene Kerze. 

Gr mußte ohne Bewegung und Atem fein, jo fteif und gläfern ftanden die 
fpigen Slammen auf dem weißen Wadsleib, den fie verzebrten. 

Zwiſchen den Kerzen Hodten drei weitbaudige, verftaubte Flaſchen Bure 
gunder. : 

On einer flachen Schale vermählte jich wie auf blauem Blute der Schimmer 
der Kerzen und die vereinzelten Züge des darüber gebeugten Gefidtes. 

Lidt und Abbild liefen ineinander über — ein magijches Geflecht von 
Schemen und Wefen. 

Die Schale atmete füßen Wohlgeruch fremdländifcher, heifer Weinberge. 

Der Chef Hob fein Geſicht, ſchwer und brüdig, rot und vderwittert wie 
Porpbor. 

Gin Stuhl ftand ibm gegenüber und ein volles Glas. 

„Setzen Sie fic!“ Seine Stimme verneigte fid. „Auf was trinfen wir?“ 
raufdte fein Atem. 

Gr hob fein Glas gegen das Lidt. ..... 

Gin Lächeln verfdeudte die Berwefung aus den Zügen des Mediginal- 
rates. 

„Mein letter Wein, Kollege!“ Die Hände umſchloſſen achtſam die Föft- 
lide Schale. 

Ein Schweigen ftieg bom Tiſch auf, breitete die Flügel und füllte das 
ganze Zimmer. 

„Wie heiße ih?“ fragte der Chef. 

Sein Gefidht wuchs por Erwartung. 

Der Doktor wurde verlegen. Seine LUnterlippe verbarg fid. 

„Berzeihen Sie, Herr Medizinalrat ...“ fagte er leife. 

Eine Hand {dob fid ihm über den Tiſch entgegen, offen und erjchüttert. 

„Ih danke Ihnen!“ fam es aus dem Schatten ‚herüber. 

Der Chef Hatte fid in die Lehne feines Stubles fallen laſſen. Gr 
atmete tief. 

Die Kerzen twebten hin und ber. 

„Mein Herzenswunſch war — mich in diefem Leben aufzulöjfen zu namen- 
Iofem Beruf ... Herr Mtediginalrat! ...* — er foftete das Wort im Munde 
wie Burgunder. — „Es war einmal, daß ich mid davor fürdhtetel ... Seltfam 
— jebt ift diefe Furcht einziger Gewinn und Befriedigung!“ Dann fuhr er fort: 
„Ih habe Sie der Direftion des Bergwerks vorgejchlagen als meinen Nade 
folger. ... Ih will nichts vergewaltigen ... aber ich ſehe Sie unterwegs zu 
ähnlichem Biel ...“ 

Gr hob die Worte wie bon einem Strande auf, an die fie eine verhaltene 
See fpülte. 

„Und nun fdenfen Sie mir die letzte Diagnofe, Kollege!“ 

Der Doktor ſah auf. Gr ftraffte fein Geficht mit gutem Willen. 

„Ölauben Sie an Gott?“ 

Oab, unbdermittelt ftand die Frage zwifchen beiden. 


116 


Bin ih Menſch, Mitmenfsh? Bin ih Arzt, Geelforger? wedfelten wie 
gebebte Rebe Fragen im Doftor. 

„Die Wabhrheit!* forderte der Chef. 

Seine Stimme legte fi um das Herz des Doftors wie eine Zange. 

„sch glaube!“ fagte der Doftor. 

„An Gott?“ fragte der Chef. 

„sch glaube an @ott!“ 

Das Wort war ausgefproden. Gs ftand nadt, keuſch und wie Helligkeit 
im Raum. 

Da erhob fich wortlos, feierlich der Medizinalrat bom Sik. Er ftand mit 
gewölbter Bruft, voller bewußter Berantwortung wie in einem großen Audi» 
torium. : 

nou Ehren des Glaubens!“ fagte er. 

Die Lider fanfen ihm über die Anbetung feiner Augen, er taumelte in den 
Stuhl zurüd. 

nod) ftebe tief in Ihrer Schuld, mein Freund!“ Iehnte er jede Hilfe ab. 
„Meine Zeit bat mich zum Atheiften werden laſſen,“ erklärte er fpäter, „alles 
Geſchehen ift für mid Alchemiften — Chemie. Gs ging nicht alles auf. ... 
Aber fenile Konvertiten peradte id. Ich Habe die Arbeit, die Pflicht ein 
wenig metaphdfijdh genommen und meinem Materialismus fo aus dem 
Sröbften geholfen ... Gs läßt fic aus einer Moral aber fein Glauben ge= 
winnen — nur aus dem Glauben eine Moral! ... Wie bin id frob, daß die 
Jugend mit erneuten Vorzeichen beginnt. ... Lieber eine törichte Religion, 
als eine rechthaberiſche Weisheit ...“ 

Der Doltor fah, wie das Gefidt des Medizinalrats zerfiel. 

Gr wollte auffpringen. 

„Aber Kollegel* berubigte der Sterbende, „Sie wiſſen dod Befdeid. ... 
Unfereiner gebt auf, wie ein Rechenezempel in der ABE-Scdule...“ 

Bitterfeit bedrohte den geöffneten Mund, aber eine unverrüdbare Ent- 
ſchloſſenheit verſcheuchte diefe Gefabr. 

Gein Geſicht öffnete fic) einem Lächeln. 

Gr nahm den Puls feiner Rechten in die linfe Hand, er nidte dem Doktor 
bedeutfam gu und murmelte die Zahl der Schläge. 

Plöglih war es dem Doktor, als ob die Uhr ftehengeblieben fei. Grauen 
[hlug mit bebaarter, fchweißiger Tate in feinen Naden. Sein Kopf dudte 
jih zwiſchen den Schultern. 

Seine Hände umflammerten die Zifchplatte, wie eine Gurgel, die fie ere 
droffeln mußten, Damit es nicht finnlos auffchrie. 

Ihm gegenüber faf ein Toter. 

Die Wände hingen wie Tücher um feinen Leib, bebten, flatterten, ente 
büllten ein fchimmerndes Gerippe. ... 





Kleine Beiträge 





Die heilige Familie. 
Das vierte Sebot. 
1 


Wi alle tun eines Sages den Giin- 
denfall und vertreiben uns felbft 
aus dem Paradies der Kindheit. Wir 


alle erwaden einmal zu uns felbft — zu 
dem Gelbft, das fidh Ioslöft aus dem 
miitterliden Boden des Lebens, aus dem 
unfer Leben aufging. Und der Gtreit 
gegen das Leben aus ſelbſtiſchem Lebens- 
willen bebt an; der Kampf des Lebens 
gegen fid felbft. 


112 


Aber wenn wir fo erwaden, finden 
wir uns fdon in einem heiligen Kreis. 
Sualeid mit dem Giindenfall hebt die 
Bildung an zum Meberunshinaus, zur 
Grfabrung eines übergreifenden, gemein- 
famen Lebens, eines beiligen Lebens, 
das uns mit unferem Gelbft aufhbebt und 
zugleih befreit. Wir werden hineinge- 
boren in die Gamilie, in einen Bezirf, 
wo das Geheimnis unferes Urfprungs 
in der Liebe und Treue von Bater und 
Mutter als eine höhere Ginheit fid dem 
ebrfiirdtigen DBlid offenbart. Sn der 
Samilie wird die Liebe als Argrund 
unſeres Dafeins, unferes Gelbft erlebt 
und ihm der Weg gewiefen zur Grlöfung 
aus der Serfpaltung des Lebens, der 
Weg zur Heimkehr. 

So ift die Zamiliengemeinfhaft der 
Anfang alles Semeinjdaftslebens und 
alfo alles fittlid-geiftigen, alles ,menfd- 
lihen“ Lebens, aller Gefdidte. In der 
Samiliengemeinfdaft und ihrer Anfor- 
derung an alle ihre Glieder erhebt fid 
der Menih über das bloß natürliche 
Dafein. Die Familie ift der wunderbare 
Uebergang bon der Natur zum Geift. 
Sie offenbart, wie die Natur auf den 
©eift angelegt ift. Die Kinder der Fa— 
milie find nicht bloß „natürlihe“ Nad- 
fommen. Gie haben an der She von 
Gater und Mutter ihren fittliden LMr- 
fprung. 

Darum ift für jedes echte und ur— 
fprünglide Gefühl die Familiengemein- 
{Haft ein Heiligtum. Der Herd des Hau- 
ſes ift Altar, Der Bater ift Priefter der 
Oottheit, (heute „überläßt“ man der Frau 
die „religiöfe Grgiehung* der Kinder!), 
die gemeinfame Mahlzeit gebeiligtes 
Mahl, Opfermabl. Wer an ihr teil- 
nimmt, fteht unter dem Schub der Sott- 
beit, die über dem Haufe waltet. 

Sn der GBerehrung der Ahnen, die ja 
für mande Völker der wefentlide Aus- 
drud der Frömmigkeit ift, ſpricht fid die 
tiefe Ahnung aus, daß zunädft und gue 
erft in den Gltern fi Gott offenbart. 


Die Eltern find Stellvertreter Gottes. . 


Jeſus weiß für Gott feinen höheren Mae 
men als den Daternamen, und das 
ſchönſte Bild der göttlihen Liebe ift feine 
Erzählung von dem Pater, der feinen 
verlorenen Sohn in die Arme fließt. 
Sind wir uns der tiefen Gerantwor- 
tung, der heiligen Aufgabe bewußt, die 
damit gegeben ift? Gltern erfüllen ihren 
Elternberuf nur, wenn fie in ihrer Gin- 
beit das wahre Leben offenbaren, das 
Leben, das aus Glauben und Lieben 
immer neu geboren wird. Damit werden 
fie allen Grgziehungsaufgaben in Ginem 
geredt. Nidt mas Eltern fagen und 
ihren Kindern beibringen, was fie find 


118 


und miteinander leben, das ift für Kin- 
der das unverlierbare Erbe, der Schatz, 
den ein Menfdh nur im Elternhaus emp» 
fangen fann und der ihm eine Wegzeh- 
tung für fein ganzes Leben bleibt. 


2. 


Gs ift ein fiheres Seiden innerfter 
Grfranfung eines Volkes, wenn, wie wir 
es jebt erleben müjfen, das §amilien- 
leben in Frage geftellt wird. Die Auf 
löfung der Familie trifft das Leben 
eines VBolfes an der Wurzel und muß 
es fchließlih zerftören. In der Familie 
wächſt die Zukunft eines Bolfes. In ihr 
wird über Des Bolfes Leben und Tod 
ent{dieden. 

gerreißt die Spannung der Oenera— 
tionen den Sufammenbang der Fami- 
lien, fo gefährdet eine ſolche Krifis das 
Ganze. Die Bugendbewegung ift aud 
eine Kranfheitseriheinung. Das ift nicht 
alg Gorwurf gegen die Jugend gemeint. 
Die Sugendbewegung ift nur ein Aus- 
drud dafür, daß die bindende und bil- 
dende Kraft des Lebens gefehlt bat, die 
Bäter und Söhne zujammenfhließt und 
fie in ein gemeinfames Wahstum hin— 
einftellt. Binden fann nur, wer felbft 
gebunden ift. Ehrfurcht fann nur weden, 
wer felbft Ehrfurcht hat. Liebe fann 
nur twadrufen, wer felbft um bas Gee 
beimnis der Liebe weif, der frommen 
Liebe, die im Du das Heiligtum ehrt. 
Gine Familie zerfällt, wo nicht das Bere 
haltnis bon Vater und Mutter, von 
Eltern und Rindern auf der Hingabe 
berubt, auf dem Gehorſam gegen Ihn, 
aus dem alles Leben fließt. 

Die ift das Gefdledht dod fo fraft- 
los und ſchwach, das nidt in der Fa— 
milie, in Stille und Frieden dieſes bei- 
ligen Bezirks aufwadft. G3 treibt balt- 
los und ridtungslo3, fortgeriffen von 
der Laune der Stunde und den Mei 
nungen der Maffen und des Marftes. 
Sein Lebensihiff ift ohne Anfer und 
ohne Hafen. Wie foll das Geheimnis 
des Lebens fid dem Menfden erjdlies 
fen, Der nie „zu Haufe“ war! 

Gin Bolf mit Menjden, die feine 
Burzeln treiben durften im Boden der 
Samilie, löft fid auf und ftirbt. An 
Stelle des frudtbaren edten Zufammen- 
bangs mit Gltern und Ahnen, an Stelle 
der bildenden Kraft dauernder Werte 
tritt das Bedürfnis des Sages, der Gee 
nufwille des einzelnen, Iosgelöften Men- 
fhenatoms, das ohne Ziel lebt, weil ed 
ohne Grbe blieb und darum ohne Bere 
antwortung ift. Die Gejhichte wird leer, 
bloße Beit, ohne organiihes, wadstiime 
lihes ©ejhehen. Das Geld, die Dinge 
und Mittel werden ihre Herriher. 


Auf Sriebfand fann fidh fein Bau er» 
heben. Gin Staat lebt nur, wenn er fi 
im Gewiffen feiner Bürger gründen 
fann. Golde Autorität madft in der 
Zudt und Treue des Familienlebens. 
„&3 ift feine Obrigfeit ohne bon Gott,“ 
{Oreibt Paulus. Das ift ein Wort, das 
heute feine Zuftimmung findet, weil fein 
Grnft und feine Wahrheit fih ſchon dem 
Kinde offenbaren muß, das einen Vater 
bat, dem es mit Ehrfurdt begegnet. Gee 
borfam gegen Gott ftreiht nicht den 
Sehorfam gegen Gater und Mutter und 
gegen die Obrigfeit, fondern bejaht und 
erfüllt ibn. 

Das vierte Gebot fließt mit den 
Worten: „auf daß es dir wohl gebe 
und du lange lebeft auf Erden.“ Belohnt 
@ott die Kindegsliebe? Gottes Lohn und 
®ottes Strafe fommt nidt bon außen. 
Gie wohnen im Innern des Lebens felbft. 
Gie find Ae Geſetz. Lohn und Strafe 
find Leben und Sod, Zukunft und Ende, 
die mit unerbittlider Solgeridtigfeit die 
Antwort geben auf den Gehorſam und 
auf die Beradtung der urjprüngliden 
Lebensordnungen. 


3. 


Mnferer Zeit war es vorbehalten, die 
Ablöjung der Familie durdh Lebens- 
formen gu fordern, die angeblid eine 
beffere „Sraiehbung“ zu fogialer Oeſin— 
nung, zu ©emeinjhaftswillen verbürgen 
follen. Die Kinder follen, in Horten ge 
fammelt, von der Allgemeinheit erzogen 
werden, die Gltern aber, insbefondere 
die Mütter, dadurch für die Anteilnahme 
am fulturellen und geiftigen Leben der 
©efamtheit frei gemadt werden. Damit 
wird alfo ein trauriger Kranfheitszuftand 
zur Norm erhoben und eine verfehlte 
Entwidlung, die unfer Leben an feinen 
innerften Wurzeln gefährdet, in ihrer 
Ridtung anerfannt. Angefiht3 folder 
Sorderungen follte um fo ftärfer die Bee 
finnung einjegen: Wir alle müffen prü» 
fen, wo in ung die Feblentwidlung ein- 
feben fonnte, die jolde Folgen zeitigen 
fonnte; die unfere Madden und Frauen 
in die Oeffentlidfeit trieb und unfer Bolt 
der Heimat beraubte. 

Was fann geihehen, um gegen die 
das Familienleben mordende Gorm unje- 
ter großftädtiihen Giedelung anzufämp- 
fen? Was fann gefdeben troß aller 
Wohnungsnot? Ihr Arditelten, Städter 
baumeifter und vorab ihr Politifer, bier 
ift eine dringlihfte Aufgabe, von deren 
Ldfung Gedeih und Berderb unferes Bol- 
kes abhängt: Ihr Shriftenmenfden, diefe 
Stage follte Gud nidt ruben lajjen und 
Ihr dürft nicht müde werden, bis bier 
der Weg zur Rettung eingefchlagen wird. 


4. 

Wir fennen alle die Gefdhidte vom 
verlorenen Sohn. G23 ift eigentlid die 
®efdhidte von einem, der fein Baterhaus 
verliert, um e3 redt zu finden und von 
einem anderen, der es nicht verliert, 
weil er es nie befeffen bat. Der ältere 
Bruder ift bloß von Natur das Kind 
des Haufes. Gr hat nie das innere Grbe 
des Gaterhaujes empfangen. Der jüngere 
Bruder aber nimmt dies innere Erbe mit 
in die Fremde. Da läßt es ihn nicht los, 
und alg der Rauſch einer falfhen Freie 
beit vertobt, da bridt dies innere Grbe 
aus dem tiefen Lebensgrund auf. Darum 
allein gibt e3 aud für ihn ein Wieder- 
finden, gibt e8 eine Grneuerung und Hei- 
lung. Auf dem Wege zu folder Gre 
neuerung fann freilih gerade das andere 
Wort gelten, das immer zur Grgänzung 
des vierten Gebotes ausgefproden wer- 
den muß: „Man foll Gott mehr ge 
borden denn den Menſchen.“ Lind viel» 
leiht fteht der befte Zeil eines jungen 
Geſchlechts, der Zeil, auf den eS an« 
fommt, beute unter diefem Wort. Wir 
müffen heute breden mit dem, was war, 
damit ein Neues gepflügt werde. Damit 
uns der Gebhorjam gegen ott die Mög- 
lichkeit Schenke, Menſchen wieder mit Ehr⸗ 
furdt zu begegnen, — — zur 
toabren, F a Samilie! 

ernbard Ritter. 


Reben. 


Preptalter Sebruarihnee fällt in wil- 
dem Wirbel auf jhmutige Straßen. 
Die Laternen in großen Abftänden leuch⸗ 
ten [hwadh... Wie man fo hingeht in 
Diefen Ginfamfeiten wenn aud belebter 
Straßen: den DMantlefragen hod, die 
Hände in den Taſchen — man fieht 
das Zufällige, überläßt fid den Bildern, 
die, bon außen angerufen, Bilder der 
Seele find. Ging bedingt verborgen das 
andere, die Bilder find immer ba als 
wie in dunflen Räumen: 63 ift nur, daß 
eine Arſache bon irgendber fie erhellt. 

Auf dem Berge jenfeits die Stadt 
wie ein dunkler Wald, mit taufend Lid- 
terblitten. Ih ftebe und febe duch 
Schnee und Regen die Schönheit blühen- 
der Alleen, freifender Reigen des Lichts 
.. . ih febe den Berg wie in Bewegung 
der Lichter hinauf: Hod oben ijt Licht 
bei Licht wie eine funfelnde Krone der 
Nat. 

Lind gehe weiter: 

Sd weiß dann, daß diefe funfelnde 
Krone der Naht die erleudtete Stadt- 
halle ift: Gin Geft? Rauſchender Gei- 
Denfleider tanzverſchlungenes Wogen im 
finftliden Olanz der Kronleudter, Wein- 
glajer, der gepflegten Scheitel und Reden? 


119 


Zyniſch erhaltener, aus blinfenden Augen 
vielleiht dennod fprehender Gedanken? 
... 3H denke, daß dies gleichzeitig ift, 
indes id den winterliden Weg Diefer 
einfamen Straße gebe.... @leidgeitig 
ftebt aud das Armutshaus redhts bier 
am Wege, danfbar der Strafenlaterne, 
die einen ſchwachen Schein in die Kühe 
wirft, die felten erhellt ift bei dem ftin- 
fenden Qualm einer alten Petroleum- 
lampe. @leidgeitig — o die Welt ift 
weit — gebiert eine Mutter ihr Kind, 
fällt der Schuß meudlerifhen Mordes 
irgendioo.. . Irgendwo ſchreibt ein Gin- 
famer Die lebten Zeilen feines Buches, 
das feines Lebens Hoffnung ift. Srgend- 
wo Schlägt ein betrunfener Vater fein 
Kind, irgendwo verfließen Liebende in 
der Geligfeit ihrer gänzlichen Bereini- 
gung... 

„Irgendwo“ — aaah? — bier 
ift nidt Bild an Bild 5 ſchaue une 
endli weit, pon unendlider Höhe und 
{daue dicht an dicht nebeneinander 
diejes Geſchehen, died eine Bild wider- 
{prudsvollen wirfliden Leben’, dag mid 
Ihaudern madt... Und ob geftern ob 
morgen.. ob in aller Zeit und Zukunft: 
Im Raum ift alle Zeit aufgelöft in 
gegenwärtiges Gein... ich febe dies: das 
Leben geballt in die Enge meines Kreis 
fes als Widerfprud, Leid und Olid, 
Sod und GSeburt.. wie bedingt eines 
im andern.. fo dafs nichts bleibt als 
mein Grfdauern, mein frierendes Grau- 
fen vor diefem Abgrund aller gequälten 
Seelen, aller Qual aller Seelen, aller 
Not, allen wejenhaften Seins. 

ind nun? 

Ih ftehe auf der Strafe bei einem 
toeinenden Kind, und indem id Dies 
erfenne, bin id uberraſcht, da ich ſonſt 
ſcheu und ängſtlich bin. ämte 
mid oft des Guten vor anderen.. und 
ging am Hilflofen vorüber, wie fie es 
alle taten. Hatte ih ein Redt, war 
ih im ganzen Wefen meines Wenfden- 
tums fo gut, daß id die anderen bee 
ſchämen durfte? 

Sq ftand bei dem weinenden Rinde 
diesmal und nahm e8 bei der Hand. 
And faufte ibm die neue Glafde mit 
Del für die zerbrodene — und als e8 
Dennod meinte, weil die Flaſche anders 
ausfab als die alte, bradte id es zu 
feinem Haus und bat den Gater, gut zu 
ibm zu fein... denn id wäre {ould an 
dem LUnglid "geweien, da ih das Kind, 
— Sahrrad ausweichend, geſtoßen 
abe 

And nun? Denn diefe Geſchichte muß 
ein Gnde baben. Obwohl fie beendet ift, 
denn id ging nah Haufe. Aber man 
fühlt wohl, daß es ein Erleben meiner 


120 


Seele ift und daß es wirflid nit fo 
wejentlih ift, daß ein Menſch Bilder 
fah und dann ein einziges Bild und 
— einem Kinde half und einen Vater 
elog. 

Ob man aus Oüte (oder aus Angft.. 
es ift gleidgilti ) lügen darf, be häf- 
tigte mid wirfl fie ni nidt... Goll id ein 
Gtid für Gabriel und Supprians Leſe⸗ 
buch ſchreiben: „Seht, es iſt doch noch 
Outes in der Welt?“ Solch ein Hund 
bin ich denn doch noch nicht, daß ich 
ſagen würde, id) hätte etwas Gutes 
getan. 

Aendern wir nichts an dem fdauer- 
vollen Bild von der Grauſamkeit des 
Lebens. Und das andere, das ihr Ou⸗ 
tes nanntet, ift aud eine grauenbolle 
Sragif. G3 ‘tonnte übrigens fein, daß in 
dem Augenblid, da ihr eud) mit Dem 
lieben @ott beruhigt, der ja für alles 
forgt (fein Haar fällt bom Haupt ... 
fein Gogel bom Dad.. .) ein Haus ab- 
brennt und ein Rind verbrennt, und e8 
fönnte euer Haus und euer Kind fein — 
und fo es niht euer Haus und euer 
Kind ware, das alfo leiden müßte. .. 
ſchlimm ... und es ift eud nidt fo 
ſchlimm ... nun, würdet ihr nidt felbft 
erihreden ob der Sraufamfeit eurer ®e- 
fühle? Aber ich felbft babe das wei- 
nende Kind und feinen betrunfenen Ba- 
ter, der es fdlagt, fhon bald wieder 
vergeffen und denfe, wenn e3 nun mein 
Kind wäre, das alfo leiden mußte... 
Und das ift der Fortgang diejer Gee 
ſchichte: daß es mid heiß durchglühte 
in febnjidtiger Liebe zu meinem Kind 
— in anderer heißerer Liebe als zu dem 
Kinde eben, dag nidt mein Kind war 
und dem id nur half — — — — 

Sind dann war id traurig in diefen 
Widerfpriiden, in diefem Chaos meiner 
Geele... denn id wußte wohl, daß alles 
dies nicht zu ändern ift. &3 ift: Zu er- 
tragen: die Graufamfeit des Seins — 
— beides, der großen Welt und unferer 
eigenen Geele... 

Und indes ich ging, batten Schnee 
und Regen aufgehört. DVerweht war 
die Schauer, und {don waren irgendwo 
fern gwifden den leiten Wolfen ein- 
zelne-Sterne... Bon des Tages Arbeit 
müde haste ih Stirn und Augen fühlen 
wollen und war zur Stadt bingegangen, 
al8 mid) die Schauer iiberrafdte, und 
dann in einem Bogen zurüd, durd mit- 
telalterlide Straße, wo die fleinen Schie- 
ferhäushen ftanden, mit den nun er- 
bellten &enftern, porbei dem platidern- 
den Brunnen inmitten dieſer fleinen 
Schlucht, der dunklen Silhouette alter 
einfader Kapelle oben am Rande,.. und 
fab hinab in die breite Straße, die zwi- 


{ben Wielen Her in den Wald führte, 
der weit und ſchwarz ſich dehnte bis an 
den Frieden der Sterne — 

Die Stille legte fid mild in meine 
Seele, und indem id das Törchen meines 
©artens öffnete (um vielleiht eine 
Stunde nod mit den Kindern zu fpielen) 
Dadte ich Died: Gott ift fein Troft.. als 
nur, daß man fid belöge mit ibm. G3 
ift nur eins, demütig zu fein und zu tun, 
was die Stunde verlangt. Aber es nenne 
niemand fein Sun gut, denn es ift Bö— 
fes in jedem, das ibm felbft wider- 
{pridt.. und es ift niemand vollfommen 
und alfo niemand gut... 

In der Stille des friedliden Haujes 
aber war mir die Grinnerung der Sleid- 
zeitigfeit alles Seins nidt geſchwunden ... 
und indes ih die Nadt binter den 
Scheiben des GFenfters fab, war mein 
Herz in belfender Gitte mehr als fonft 
meinen Kindern und meinem Weibe, in 
größerem Wollen den Menfhen und 
allem Leben ergeben. 

Grih Bodemi bl. 


Hanns Johſt. 


Ww wir durd irgendeinen Umſtand 
veranlaft werden, Umfhau zu hale 
ten unter dem dichteriſchen Nadhwuds, 
dann merfen wir mit Grftaunen, wie wee 
nige verbeifende Kräfte da wirfen. Gee 
wöhnlih laſſen wir uns täufhen durch 
die allerdings bedeutende Zahl junger 
Menfdhen, die mit einem beißblütigen 
oder gar fraftgenialifhen Grftlingswerf 
berportreten und dann gleih „zu den 
fhönften Hoffnungen beredtigen*. Gaft 
ftetS handelt es fih darum, daß junge 
Leute in der Zeit der Mannwerdung 
ihre vulkaniſchen Ausbrühe zu Papier 
ebradt baben. Das find immer Die- 
elben Siinglingserlebniffe: Auseinander- 
febung mit dem vorigen Geſchlecht (das 
ewig wiederfehrende Motiv: Bater und 
Sohnl), oder Aufbäumen gegen leber- 
lieferung und einjhränfende Formen, 
oder einfad efftatiihe ©efühlsüberquel- 
lung. Bei ihrem zweiten Werf ent- 
täufhen dann fdon die allermeiften die- 
fer „Hoffnungen“. Ginige werden aller- 
dings durch die Gunft des Beitgeiftes 
— eine Weile getragen, beſonders 
ſolche, die ſich den Empfindungsüber— 
ſchwang erhielten und alſo der Zeit der 
bod- und überfpannten Snnenerlebniffe 
entipraden; und folde, die den anderen 
Zug unjerer Zeit nutzen fonnten: Die 
©eiftigen oder Intellektuellen mit der 
Runft der feelifden Zerfajerung und Zer- 


febung. 

Seiden wir Diefe ,Salente* aus, 
fo bleiben nur ganz wenige, pon denen 
wir Größeres erwarten können, weil uns 


ihr Schaffen wirklid ſchöpferiſches Quel- 
len zu fein fcheint. Zu dieſen wenigen 
zählen wir Hanns Bobft. 

Gr hat Gedichte, Romane, Dramen 
berbffentlidt. Bon dem Dramatiker wird 
am meiften erwartet. 

Gin wefentlider Bug feiner Begabung 
tritt in jeder der genannten Didtungs- 
arten befonders ftarf hervor: der Leber. 
reihtum an Bildern und Oleidniffen in 
feiner Sprade. Die Gedidte leiden dare 
unter. Saft jeder Gab gibt ein befondes 
res Bild und feffelt darum Aufmerkſam— 
feit und Nachdenken, (denn feine Bere 
gleihe geben fid) nicht immer leicht). Da- 
Durd zerfällt aber das Gedidt in viele 
einzelne Zeilen und Gabe, und Der dich— 
teriihe Gedanke des Ganzen entgleitet 
dem Sefer oft. Das ift fhade; denn wir 
fühlen doc aud die gejunde Didtertraft 
in den Berfen, wenn er fpridt: „Du mein 
gefreugigtes Golf, ſchweige zum Spotte 
der Schäder! Giebe, die Berge ftehn 
ſchwarz. Ueber den Bergen der Spreder 
ammelt die brüllenden Wolfen, fpeidert 
en zornigen Donner, bündelt den filber- 
nen Blit. Gible, mein Golf, des Stur- 
mes Ddunfle Gerfiindigung: Wabrlid, — 
du wirft mit geballten Gauften Himmel- 
fabrt balten!“*. Dieſe ftarf bildhafte 
Sprade ift aud das bervorftedhendfte 
Wefensmal feiner Romane. Der erfte, — 
es ift „Der Anfang“,** möge aus den 
eingangs dargelegten @riinden übergan- 
gen werden. Wichtiger ift der zweite, 
„Der Kreuzweg“***. Gr prägt alle Gigen« 
art des erften nod kräftiger aus. Das 
Gerlangen nad Grfenntnis darafterifiert 
in beiden die Menjhen. Gedanklid ſtark 
belaftet find ihre Gefprade. G3 fann 
wohl nit anders fein: Romane mit Men- 
{hen aus unferen Tagen werden all das 
Guden nad Klarheit enthalten miiffen, 
das unfere Fe füllt. &3 fet gleich bier 
erwähnt, daß dieſe Neigung zum Pbiloe 
ren aud in Johſts Dramen hinein" 
reicht. 

Wieder ift es die Sprade, die uns 
aud in den Romanen reizt zur Ausein- 
—————— Folgender Sat iſt charak— 
teriſtiſch: „Er ließ die Hände in der Luft 
an ſämtliche zehn Finger zerfetzen.“ Aber 
der folgende iſt doch noch mehr, er iſt 
eine Sprachvergewaltigung: „Dem Ein— 
tritt in das Krankenhaus meldete der 
Aſſiſtenzarzt einen Fall operationsreif.“ 
Es iſt feine Laune bei Hanns Dobft, 
wenn er die ihm eigentümlihe Gabe des 
Bilderfhaueng pflegt und fteigert, fon- 

* Aus ,Rolandsruf*, Delphin-Ber- 
lag, Münden. 

** Delphin=Berlag, Münden. 

*** Albert Langen, München. 


121 


dern es ift bewufter fünftlerifher Wille 
in feiner Spradbehandlung. Sn feinen 
Bemerfungen über fich felbft, die er für 
den ©öttinger Mufenalmanad auf 1923 
ig bat, fagt er: „Mit aller Lei- 
enſchaft meines Wefens erftrebe id eine 
Kunft, die Ausdrud meines Volkes wird 
duch die Begrenzung der Sprade. Die 
Sprade nist als Stoff gefeben, fondern 
alg mütterliden Grund und gleider- 
maßen als bimmlifhes Sewslbe. Nur 
die Liebe zur Sprade erihlieft Heimat, 
Baterland, Bejinnung und Gefinnung.. 
Obne Diefe bewufte Liebe ift alles 
MenfHtum Mangel an Körper und Kraft, 
denn die Sprade ift und bleibt die Bere 
förperung der Seele.“ 

Muß man alfo feine Spradformung 
ernft nehmen, fo fann man dod über die 
Sprade feiner Romane nur fagen: daß 
wir hier nidt von einem eigentlid bild» 
baften Schauen fpreden können, jon«- 
dern daß e3 ein Gtillbalten ift bet 
jedem fleinften Gefdeben, ja bei jedem 
erwähnten @egenftand, der durd einen 
Bergleih anfdhaulider gemadt wer- 
den foll. („Sin Oberfteiger rif} die Tür 
auf, daß fie flaffte wie ein Maul.“) 

In diefem zweiten proben Roman 
Sobfts geht e3 um viel, um das Su— 
Ken von Wenfden, die über dem Durch— 
ſchnitt ftehen, nad lebten Zielen und 
Begriindungen des Lebenswegs. Nicht 
der geringfte Wert des Werfes liegt in 
der Haren und befreienden Auflöfung der 
verworrenen Ideen bei den fudenden 
Menfdhen. — 

Wir fühlen aber dod, daß nit im 
Roman, fondern wohl in der Bühnendid- 
tung Sobftens eigentlihfte Begabung 
liegt. Hier, das fühlt der geborene Dra- 
matifer inftinftiv, fann er fid nicht bei 
Dergleihen aufhalten, durch die er 
Sprade und SHandlungsfluß beihweren 
würde. Hier, im Drama, ift aud nidt 
der Plab für philofophierende Gefprade. 
Gereingelt finden wir jie gwar nod, aber 
nicht beherrſchend. Klaſſiſch find Sobftens 
Dramen nidt, denn die Klarheit in der 
Seidnung der Seelen feiner Menſchen 
fehlt. Das ift nit ein Mangel ge 
genüber der Elaffifhen Kunft, fondern ein 
Unterfdied. „Wir Deutfhen haben 
nod feine deutſche Kunft. Die Bildung 
ftand unfern ©rößten immer im Wege: 
die Antife, Die Romanen,“ fdreibt er 
im erwähnten ©öttinger Mufenalmanad. 
And an die febr ſchwierige Aufgabe geht 
er beran: den deutſchen Menfden finft- 
lerifh gu geftalten ohne die Bildungs- 
formen, die wir bon der Antike über- 
nommen baben. Daß dem Leben oder 
der Seele eines Deutſchen nicht mit dem 
Gehirn beigufommen fet, in diefem wei- 


122 


teren Befenntnis des Dichters Liegt viel- 
leit aud ein Hinweis auf die Helden 
feiner Dramen. Da3 find alles Menſchen 
mit warmem Blut und warmem Her- 
zen. Aber ihr Charakter ift niemals in 
ſchönen Gentengen ausgeprägt. Gie find 
aud nidt in einem einzelnen Wusfprud, 
nidt in einer einzelnen Handlung ganz 
oder aud nur wefentlih zu faffen. Sbre 
Ganzheit ergibt fid nur aus dem ganzen 
Drama. 

Aber wir fpüren, wie fid diefer Did- 
ter zu dem Ginen durdflärt, das ane 
tifes und Elaffifches deutides Drama ge- 
meinjam baben: zur legten dramatifden 
Srageftellung, dem Zufammenftoß des 
wollenden Gingelmenfden mit dem Schid- 
fal. Am reinften ift diefer zu innerft 
dramatijhe Kern im „König“ zu erfüh- 
len: Der König mit feinem jugendlid-fa- 
natiſchen Wahrbaftigteits- und CEhrlid- 
feit3drang gerbridt in feinem Kampf 
gegen die zwingenden Gormen, die gwar 
fittlid und etbifdh weit unter dem bon 
ibm vertretenen Ideal ftehen, die aber 
um des Wobles der Sefamtbeit willen 
nidt umgeftoßen werden dürfen. G3 ift 
ein Zerbreden am übermädtigen Gdid- 
fal, aber wieder ift dies Problem nidt 
flar beriusgeponen ins Reih des Bers 
ftandes, fondern e3 liegt verborgen unter 
der fdeinbaren Swangslaufigteit der 
WMenfdhendaraftere. Mit dem „König“ 
zufammen bilden das Lutherdrama „Pror 
pheten“ und die Komödie aus aller» 
jüngfter Zeit „Händler und Wedfler* 
eine beiondere Gruppe im Schaffen des 
Didters. (Alle drei erfhienen in Albert 
Langens Perlag, Münden) Frühere 
Werfe wie die Bauernfomödie ,Stroh“*, 
zu der unfere um gute Luftfpiele vere 
egenen Bühnen immerhin greifen follten, 
und die febr [hwade, weil an der Ober- 
flähe der Gefellfdaftstritit baftenblei- 
bende Komödie „Der GFremde“** tragen 
nod nidt den Stempel einer eigenartigen 
Didterperfinlidfeit. Dagegen erfennen 
wir, wie in der erwähnten Gruppe von 
Bühnenwerfen der Didter ftrebt nad 
„einem deutfhen Kunftwerf, das (mög- 
Lihftl) unabhängig von Bildungsein- 
flüffen der Qntife und der Romanen“ 
bleiben foll, das den deutfhen Wenſchen, 
fo wie er um uns lebt, als Robftoff 
nimmt, ihm bei der fünftlerifhen See 
ftaltung die ganze Blutwärme und Un— 
mittelbarfeit läßt, und alle Bindungen, 
Geſetze, Konflikte uf. als einen Unter“ 
ftrom durd das Werf geben läßt, den 
man mebr erfühlen als gedanflid erfajien 
foll. Lim diejes flaren Wollens und um 


* Gerlag der Weißen Bücher. 
** Albert Langen Berlag, Münden. 





der fpürbar ausreihenden Didterfraft 

willen müffen wir diefen Dichter in fei- 

nem Werden teiter verfolgen. 
®eorg Kleibömer. 


Zur Erneuerung der Bühnenkunft. 


Meiries ift im ,Deutiden Volkstum“ 
i über die mannigfaden a 
um eine neue Bühnenkunſt gefdrieben 
worden. Wie fteht e8 nun gu Beginn 
des Sabres 1924 mit den praftifchen 
Erfolgen der Reformer? 

Da die „Deutihe Bühne“ in Ham- 
burg dod wobl von allen ——— 
meinden am entſchiedenſten das gänzlich 
neue Theater erſtrebt, ſeien aus ihrer 
Arbeit zwei — herausgehoben, an 
denen ſich der ille zur Löſung klar 
erkannter Probleme beſonders gut zeigte: 
die Aufführung des „Antichriſt“ por der 
St. Georgsfirdhe in Hamburg im Suni 
1922, und des „Prometheus“ des Ais- 
chylos in der als Sheaterraum notdürftig 
bergeridteten Srnft-Merd-Halle in Ham- 
burg im Dezember 1923. 

Daß die Bühnenerneuerung aus dem 
©eifte der Volksſpielbewegung erwadfen 
muß, fteht wohl feft. Sbenfo flar find fid 
die Leiter Der Deutihen Bühne von 
pornberein darüber gemefen, daß wir 
nidt in der fdlidten Laientunft des 
Golfsfpiels fteden bleiben dürfen, fon- 
dern Darüber hinaus zur neuen Gorm 
des „großen Dramas“ gelangen miiffen. 
Das ,Sabrbud der Deutihen Bühne“ 
wies mehrfah auf dieſe Aufgabe bin. 

Durd nidts hatte wohl Harer diefer 
Bille und diefer Weg bezeichnet werden 
fénnen al3 dDurd das Spiel vom Kaijer- 
reid) und vom Antidrift. Hier hat das 
Mittelalter felbft den ftarfen Schritt über 
den DBanntreis des Bolfsfpiels hinaus 
getan. Sowohl die tiefe Idee, die Hier 
gets wurde, wie der ftrenge Stil 

e3 Dramas erfdloffen eine neue Gnt- 
widelung de8 Dramas, die dann aller 
dings ebenfo fdnell gufammenbrad wie 
das Hobenftaufifhe Raiferreid felbft. Die 
neuen Aufgaben für eine Aufführung 
diefes Spiels, bas Ludwig DBenninghoff 
ganz porzüglid aus dem Lateini}den 
überjett bat, waren dreierlei Art. Für 
eine Rolle von dem inneren und äußeren 
Amfang des Antidrift war eine Spiel- 
fraft nötig, wie fie unter den Laienjpie- 
Tern wohl faum zu finden ift. G3 wurde 
darum der Verſuch gemadt, unter den 
Berufsfhaufpielern folhe Talente auszu- 
wählen, die nod nit in Routine und 
aduferliden Formen „verfteint“ find. Ferner 
waren Ghöre nötig, da die Shriftenge- 
meinde, die Suden- und die Heidenjhaft 
duch Chöre dargeftellt werden follen. 
Gs galt alfo, Menjden zu finden, die 


nidt nur fpreden, fondern aud im 
Chor ſchreiten fdnnen. ind wo find 
die gu finden? Wo find die Schulen für 
Chorſprechen? Ebenſo fönnen wir fra- 
gen: Wo find die WMenfden, die als 
Ghor ſchreiten fbnnen? Auf dem 
fleinen DBühnenraum muß jeder Schritt 
und jede Bewegung bemeffen fein. Pie 
fleinfte Bewegung, der Eleinfte Schritt 
müffen Ausdrud für eine innere Bee 
wegung fein. Körperbewegung als fünft- 
lerifhes Ausdrudsmittel war allen 
Menihen fremd geworden. Die meisten 
fönnen nidt einmal — geben, viel we- 
niger „ſchreiten“. 

Sp war der Setinn der Antidrift- 
Aufführung vor allem darin zu feben, 
daß wir flar erkennen fonnten, was ung 
fehlte, um eine neue Bühnenkunſt fdaf- 
fen zu fönnen. — 

Yun bat ung die ,Prometheus“=Auf- 
führung um die Weihnadtszeit gezeigt, 
wie planmäßig pon der Deutrden Bühne 
in anderthalb Sabren weitergearbeitet 
worden ift. Alles, was von ihr ingwifden 
baad ag tourde, war Borbereitung. Wier 

erum ftanden bei diefer Aufführung 

die drei Aufgaben da: überragender Ein«- 
gelfhaufpie.er, Spred- und Bewegungs- 
unft der Chöre. Die Frage nah dem 
Spieler für ‘den @iganten Prometheus 
fudte die Deutfhe Bühne in derfelben 
Weiſe zu löjen wie beim Antidrift: Wie 
derum wablte fie aus den Berufsihau- 
fpielern einen, der dem neuen Geift des 
neuen Theaters erfdloffen fdien. Nad 
meinem Urteil ift damit das Problem 
nicht gelöft. Hier gilt e3, andere Wege 
und Möglichkeiten zu fuden. 

Der antife Chor wurde fühner Weife 
gecest in Gpreh- und Bewegungshöre. 

ndere Menfhen fpraden, und andere 
befräftigten die ©efühlswerte der Worte 
duch Bewegung. Die Frage bleibe da- 
bingeftellt, ob diefe Seilung nur als 
Lebergang oder für die Dauer beredtigt 
fei. Sedenfalls muß der Deutihen Bühne 
unbedingt das Berdienft guerfannt wer- 
den, daß fie mit den Sprehhören aufer- 
ordentli Schönes bot. In langer treuer 
Arbeit bat fid Grau Bilma Mönde- 
berg Diefen Chor gefdaffen, der durd 
verſchiedene Klangfarben, Tonhöhen, Stär- 
fen wundervolle Wirkungen erzielt. Bis 
zu fugenartigem Durcheinanderſprechen 
bat es Ddiefer gefdulte Chor gebradt. 
Damit wird die Aufführungsmöglich- 
feit für mande andere Dramen gegeben 
(Braut pon Meffinal). Diefe Sprechchöre 
faßen links und rehts auf der Bühne 
in Reihen übereinander, unbewegt. 

Auf dem DBühnenfeld aber flibte, 
tollte, wogte vor dem an den Gelfen ge» 
{Hmiedeten Prometheus der ftarfe Bewe— 


123 


gungshor. Rudolf von Laband Werk 
war diefer Seil der Aufführung. Wad 
der Antidrift » Aufführung batte die 
Deutihe Bühne dem bisher fo aufere 
ordentlid) vernadlajfigten Ausdrudsmit- 
tel der Körperbewegung ihre Aufmerf- 
famfeit und Pflege gewidmet. Wohl find 
uns in den beiden lebten Jahrzehnten 
durch einzelne Sanger und Tänzerinnen 
die Augen geöffnet für die Bewegungs- 
funft. Aber den erften Bemühungen, 
aud Maffen im Tange zu bewegen, 
ftand dod das Publifum verftandnislos 
gegenüber. G8 bleibt Labans Berdienft, 
bier Babnbreder gewefen zu fein. ind 
die Deutfhe Bühne hat ibn dauernd 
unterftüßt, und fie wußte warum fie es 
tat. Nun fonnte Laban in der Prome- 
theusporftellung feine Männer- und 
Srauenmaffen Durdeinanderwirbeln laf- 
fen; Das Hamburger Publifum faß nicht 
mehr fpradhlos por neuen Ausdrudsfor- 
men, die es nicht ,,berftand*. 

Se unbedingter man dem Bemühen 
guftimmt, der Bewegungsfunft den thr ge- 
bübrenden Plas im gejpielten Drama wier 
dergubderidaffen, umjo unbefangener muß 
aber aud jeder derartige Berfud kritiſch 
beurteilt werden. Nah diefer Auffüh- 
rung muß ih die Art des Tanzes, 
die Laban in feiner Schule pflegt, ab- 
lehnen. Die zerflatternden Bewegungen 
ewig Shwingender Frauenchöre find wohl 
gemäße Ausdrudsformen für phantafti- 
{he Stoffe, mögen vielleicht aud in 
Bühnenwerken mit modernen, nervös zer- 
faferten Seelen möglid fein, aber dem 
Wefen, dem Stil des ftrengen Dramas 
find fie nidt angemeffen. Mein Gefühl 
verlangt gu Ddiefer ehernen Gewalt tita- 
nifher Kraft in Wort und Gedanken une 
bedingt nur jolde Körperbewegungen, 
welche gebundene Kraft, ftraffe, berbe, 
beherrihte Bewegung und miglidft ge- 
{bloffene Körpermafjen darftellen. Eber 
würde die Gedrungenbeit fjchreitender 
äghptiſcher Statuen, eber der ftraffe 
Rhythmus preußifher Örenadiere richtig 
fein als diefe bis ins letzte und wildefte 
aufgelöfte, unrubige DBewegtbeit, bejon- 
ders der Grauen-, aber aud der Män- 
nermaljen. 

Nad meinem Urteil, das fih in Dies 
fer Prometheusvorftellung flarte, müſſen 
die Bewegungen aus anderm OSeift 
geboren fein. Wahrſcheinlich wird die 
Diedervereinigung von Sprechen und 
Bewegen in einem Ghor fdon dieſe 
Gorm zubiperen, — Bewegungen 
aus ſich ſelbſt bedingen. — 

Wir finden doch wohl nicht leicht 
unter den Bühnenleiſtungen der letzten 
Sabre ſolche, die zu fo grundſätzicher 
Kritil auffordern. Damit ift, meine id, 


124 


die Bedeutung der Leiſtungen der Deut— 
fen Bühne von felbft ausgefproden. 
Dem lebten großen Problem: den 
neuen Bühnenraum für das neue Shee 
ater zu ſchaffen, bat fid dieſe zielflar 
ftrebende Sbheatergemeinde in dieſen 
ſchlimmen wirtihaftlihen Zeiten natur 
gemäß nod nidt anders als nur theorer 
tif widmen fönnen. Sicher wird aud 
da in befferen Seiten bon ihr Wegwei- 
fendes gu erwarten fein. 
®enorg Kleibömer. 


Mufitalijhe Dolchſtoßpolitit. 


yer Deutider Lebens-Dilettantismus 
beweift fid in nichts fraffer, alg in 
unferer Gudt, Tatfählihes mit Ginge- 
bildetem, Allgemeingültiges® mit Rein 
perfinlidem zu verquiden. Und indem 
wir uns allen Grnftes einbilden, aus der 
traurigen Grfabrung der letzten Sabre 
gelernt zu haben, fteden wir dod fefter 
und gaber in alten Grbfeblern denn je. 
BSetradten wir unjer sffentlides muji- 
falijfhes Leben: haben wir hier aud 
nur einen einzigen Schritt vorwärts gee 
tan? Das Star-Linwefen, dem wir durd 
die Gelb- und Verkehrsſchwierigkeiten 
Abbrud getan wähnten, blüht ſchlimmer 
alg vordem. Statt eines einzigen aner- 
fannten Goliften pflegen heute deren mebe 
rere in einem Konzert aufgumarfdieren, 
denn der „Ruhm“ und die Ponglier- 
fünfte des einen allein genügen unjerm 
„neudeutſchen“ Publitum fdon gar nidt 
mehr. Das gottlob Hinter uns liegende 
„Balutajahr“ war ein fdlimmes Kriegs- 
jabr für die Muſik. Ausländer verjeud- 
ten unjern Rongertreflameftil, minderten 
das Niveau öffentliher Konzertleiftun- 
gen, verdrängten zahlungsſchwächere Deut 
{he Künftler, vermittelten dafür aber 
deutfhen Dirigenten Beziehungen nad 
ihrer Heimat, aus der dann aud bald 
minderiwertige Kompofitionen in unfere 
Spielpläne eindrangen. Die ftumpffinnige 
Gerehrung des Nurvirtuofen bat eher 
gus Denn abgenommen. Ih febe wohl, 
wie man Künftlerzimmer ftürmt, um den 
nidtsfagenden Namenszug eines Sän— 
gers, eines Klavierlöwen zu erbafden, 
babe jedDod zu gleidher Zeit erlebt, wie 
man Gdaffende, die aus unferer und der 
Mufifentwidlung der Welt nit mehr 
wegzudenken find, nit allein überfiebt, 
fondern, fo beifpielsweije in Ghorproben, 
ganz wie feinesgleiden, ja häufig flegel- 
baft behandelt. Den Ausländer [dist 
davor der Nimbus des Fremden. 68 
wird weiter dabei bleiben, daß dem june 
gen Komponiften, wenns Hod fommt, 
ein gnädiger Herporruf gugeftanden wird, 
während der feine Gedadtniswalge zum 
aberfovielften Male abrollende und von 


keinerlei „Dämonion“ beſchwerte Solift, 
der vielleiht eben eine ganze Reihe von 
Sünden wider den ®eift der Muſik be- 
gangen, auf ®rund eines lang audsgebal- 
tenen oben ©, einer atembeflemmend 
beruntergeraffelten Slavierpaffage fid 
Der gudringliden „Begeifterung“ (wo ift 
bier Geift?) nidt ermebren fann. Wann 
und wo ift fon einmal ein (jüngerer) 
RKomponift, dem nicht gerade Senjations- 
reflame boranging, zu „Zugaben“ ge- 
gioungen worden Merkwiirdig, oder 
vielmehr darafteriftifd, daß alle großen 
DBoltshelden im Innerften Volkshaſſer 
waren? Gäfar, Napoleon, Friedrid) der 
Große. Und was fragte dod) Paganini, 
der Abgott des Publikums, wenn einer 
Du aniprah? „Que me peut cet ani— 
mal?“ 


Aber ſchließlich iſt unfer Publifum 
eben nur unergogen. Wo aber fteden 
und was tun feine berufenen Grgieher? 
Bir baben feine, haben wohl viel für 
die Grgiehung unferer Sugend auf muſi— 
faliihem @ebiete getan, dod die Gre 
wachſenen dabei vergeffen. Und gerade 
das, wozu die moderne Muſikpädagogik 
die jüngeren erziehen mödte: Abwen- 
Jene pom Sednifdhen zum Geift, das 
ift den fogenannten „Erwachſenen“ nod 
beim alten geblieben. Da fie wohl felbft 
einmal ein wenig Klavier geflimpert, 
ein bißchen gefungen, fo erſcheint ihnen 
der, welder e3 darin zur Bravour ge- 
bradt, als ein wahres Wundertier. Daf 
etwas mehr dazu gehört, ein Rlavier- 
konzert zu ſchreiben als e3 zu [pie 
len, Diefe Binfenweisheit wird ihnen 
nie mebr eingehen. Wie fagte dod) Maz 
Reger? „Die Menfden begeiftern fid 
fo rafd für techniſche Grrungen{daften 
und brauden fo lange: um geiftige an- 
zunehmen.“ Die Rolle des mufilalifhen 
BolfSergiehers verbleibt heutzutage allein 
dem Rritifer. Wie aber fieht es in Die- 
fem Stande aus, der gar feiner ift? Wir 
baben eine Menge von Fachzeitſchriften, 
in denen fic Mufikhiftorifer und WAefthe- 
ten nad Hergensluft tummeln. Wir ha— 
ben weiter eine minimale Anzahl von 
Kunftgeitidriften, in denen der Mufif 
ein mehr oder weniger fnapper Raum 
gugeftanden wird. Wir haben ndd wee 
niger führende Tageszeitungen, in deren 
„Raum unterm Strid“ angejebene Mu- 
fifer fid zu TSagesfongerten äußern, mehr 
und minder einjeitig, aber dod von Bee 
tufsftolg und DVBerantwortungsgefühl er- 
füllt. nd wir haben endlid das Gros 
der fleineren Lofalgeitungen, in denen 
halb „ebrenamtlih“, alfo aus Gitelfeit 
und Madthunger heraus Dilettanten 
famtlider Berufe, jeden, aud des nie- 
derften Bildungsgrades ihre durch kei— 


nerlei Gadfenntni8 und DBerufsperant- 
wortung beſchwerte Meinung zu der glei» 
den der Lefermaffe fügen, nur daß die 
ihre, weil gedrudt, eine gefährliche 
Scheinautorität gewinnt. Das find die 
Leute, die jene deutſche politiide Uner- 
zogenheit befunden, bon der oben Die 
Rede war. Ihnen imponiert das dire 
tuofe Können. Wie für fo manden 
eitlen Reproduzierenden ift aud für fie 
der Schaffende nur ein notiwendiges 
Mebel, dem man um ©otteswillen nicht 
durch „porzeitige8 DBegönnern“ den nun 
einmal gottgewollten Dornenweg erleid- 
tern darf. Und für fie ift nah altem 
Deutfhen Braud der Ausländer dem 
Ginbeimifden überlegen, da er die ſchö— 
nere @efte beſitzt. Deutide finftleriide 
Grbfhwaden wie Didflijffigfeit der Sab- 
art, Gintönigfeit im Rhythmiſchen, Phi— 
liftrofitat im Humor werden triumpbie- 
rend immer neu „entdedt“ und angemerft. 
Dabei dürfen dann weit [hlimmere Man- 
gel der anderen Nationen und Rajjen: 
Oberflädlichkeit, Süßlichkeit, Poffenbaf- 
tigfeit gern und gut übergangen werden. 
Was find uns Reger, Pfibner, Haas mit 
ihrer Goliditat gegen das Amüfement, 
das ein Ghrill Scott, ein Gajella, Stra 
mwinsfi mit ihren @rotesfen zu bieten 
baben? Sn Berlin und Leipzig begann 
endlid das irregeleitete Publifum felbit 
zu proteftieren. Anſere Provingpreffe 
läuft nod im alten Trott. Die por por 
puli ift ihr vorangeeilt, ob die „Sraie- 
ber“ wohl den Anihluß nod erreiden 
werden? Gin ausländiſcher Solift fpielt, 
ein „nurdeutfher“ Komponift bringt ein 
eigenes Werf. Der ftammesfremde Bir- 
tuo8 wird als „Meifter“ gefeiert (e8 
abe taufend Deutide, die es ihm nad- 
pielten), der Scaffende, dejien Werk 
man ohne die Partitur, die man als 
„tompliziert“ bezeichnet, zu fennen (Re- 
ger meinte: „ohne fie lefen zu fünnen“) 
anhört, als unmodern abgefertigt. Man 
bat fi eben den Sefdmad an fo viel 
exotiſcher Grgentrif verdorben, daß er 
das organiſch, und darum erft allmab- 
lid ®ewadfene nidt mehr annimmt. 
Kein Bad und fein Beethoven ver— 
blüffte in jedem feiner Werke durch 
Neues, und dod waren fie größere Re- 
polutionäre als die Mehrzahl unferer 
Tages-Senfationsgrößen, deren „Srrun- 
——— als da find Auflockerung 
es harmoniſchen Zwanges und hetero— 
phone Stimmführung an ihren — heute 
zum alten Gifen (nad) Regers prophe- 
tifdem Wort) geworfenen — Vorgän— 
gern leicht nadgutveifen Wären, nur 
„ang“ bei jenen aud das Seivagtefte. 
Heute aber gilt e8 den Gnobs als Are 
mutszeugnis, flingende Mufif gu fdrei- 


125 


ben. Die tageskritiihen „Volkserzieher“ 
aljo find es, die „muſikaliſche Dolhftoß- 
politif“ verfolgen, die, wie das Berliner 
und Leipziger Beifpiel zeigt, gegen das 
fiderere Inftinftgefühl des Bolfes am 
deutfhen Kulturgut tagtaglid Verrat 
üben. Wie fagte einft Mozart? „Es wird 
boffentlih eine Zeit fommen, wo es feine 
Schande mehr fein wird, fid als deut- 
{hen Mufifer zu befennen“, und wie 
Pfigner? „Wir Deutfhe haben die Bers 
rater immer nod im eignen Haufe ger 
babt.“ Hermann Unger. 


Alfred Rethel und Heinrih von Kleift. 


Ser Bergleid Rethel-Kleift geht felbft- 
verftändlid nidt nad ©rößenmaß. 
Eher fommt fdon die gemeinjame zeit- 
lide Ginftellung beider in Betradt, ob- 
fhon ein Menfhenalter zwifhen dem 
Wirfen des einen und dem des andern 
liegt. Sie entwwadfen beide — der eine 
im Anfang, der andere im Ausgang — 
dem Deutiden Zeitgefühl, das wir mit 
der DBezeihnung „Romantif“ zu um« 
fhreiben gewohnt find. Beide ragen als 
ſcharfumrifſene, eigenwillig trobige Blöde 
über die Sphäre des Romantifden bers 
aus, verjuden, dem nfaßbaren diefer 
Bewegung eine fefte Gorm zu geben, 
{deinen dadurd faft wie Gegenfabe des 
Romantifhen und find dod darin ver- 
wurzelt. 

Man foll vorfidtig fein mit der 
fehnellen Verbindung von Perfinlidfeiten 
durch das Wörtlein „und“. Die meiften 
fdreiben fid wohl von einer tief im 
Menihlihen begründeten Luft an der 
Sweifamfeit ber, wie man zu einem Wort 
einen Reim fuht, oder das „Pendant“ 
liebt. Aeuferlidfeiten genügen als Bere 
bindungsmittel. Schiller „und“ Goethe, 
weil beide große Didter und perfinlide 
Steunde find, & $. Meyer „und“ Sott- 
fried Keller, weil fie in der Schweiz 
leben, Groth „und“ Reuter, weil fie nie- 
derdeutſch fdreiben. Bei Kleift und Re- 
thel aber wird gerade bdurd die Bere 
fdiedenbeit der Mittel ihrer feeliihen 
Offenbarungen der Wefensfern des einen 
duch das Werk des anderen ftarfer ins 
Grlebnis gehoben. 

Rethel und Kleift find biftoriih. An- 
ders als Menzel oder etwa Hebbel. Sie 
baben beide die Kraft, einem allgemein 
in ung liegenden Hang zur Bergangen- 
beit fefte Gorm zu geben. Diefes Rüdge- 
wandte ift weder Sraumerei nod Gore 
fbungsluft, fondern der Inſtinkt des 
BGolthaften, der Trieb, die geheimnisvolle 
Berbundenheit mit dem Blut derer por 
uns geftaltend zu fühlen. Wie wir mit 
der Natur die Gemeinſamkeit der Kräfte 
des All in uns und um uns empfinden, 


126 


und fo das Gefängnis der Körperlih- 
feit fprengen, hebt uns diefer Pulsfdlag 
gemeinjamen Blutes, das Wirken gee 
meinfamer Kräfte, über die Jahrhun— 
derte hinweg und befiegt die Beit. 

Das Gefühl für Geſchichte ift ftreng 
gu trennen von dem unbewußten Leben 
im Golfbaften, wie es frühere, unmittel- 
bare Seiten batten. Weder das Nibe- 
lungenlied der Deutſchen, nod die Dra- 
men der Griechen, fo weit fie aud hi— 
ftorifhe oder fagenbafte Stoffe beban- 
deln, find gefdidtlid.  Gie find un- 
mittelbar, als lebten Die Seftalten wieder 
mit dem Didter. Gefdhidtlides Fühlen 
ift Bewußtbeit. Es ſchlägt alfo in frudt- 
loſe Sntelleftualitat um, wenn das Trieb- 
bafte ihm nidt die Wage Halt. Wir 
erfennen den Begenfat: die Berirrung 
der SHiftorienmalerei und biftorijden 
Dramatik: die eigene Leere wird durd 
einen, dem Wiffen bedeutend erfdeinen- 
den Stoff drapiert. Nidt das Kunft- 
wert und die Kraft, die Gefhichte bildet, 
ſpricht⸗ fondern die gemalte Tatjahe. Da- 
gegen der geftaltende Wille: die Kräfte, 
deren Birken fid als Sichtbarkeit in 
der Geſchichte niederfhlug, find in eine 
Perea fo ftarf verfammelt, daß 

ieſe gleihfam dag ganze Werden nod 
einmal in fid und aus fid berausleben 
muß. Go ift es bei Kleift und Retbel. 
Sie offenbaren das Naturhafte der Gee 
{didte, weil in ihnen die ewigen Kräfte 
{daffen, die Gefdidte bilden. Und — 
da liegt beider Sragif: Die Bewußtheit 
des geldhidtliden Sinnes betont bereits 
das Intellektuelle, das Wiffen um das 
Zorm- Werden, das Außenftehen. Der 
Wille alfo, der Gefdhidte madt, trifft 
gufammen mit dem Geift, der Gefdhidte 
aufzeigt. Gine Knidung in der Geftal- 
tung muß die Folge fein. Beide Künft- 
ler wollen die fefte, große Gorm, das 
mädtige Sebilde, fie fühlen, daß, wie in 
der Sefdidte, fo in der Kunft immer 
nut die große Perfönlichfeit das im 
Bolf triebbaft Wachſende verwirflidt. 
Sie rüften fid) gegenüber dem lnflaren 
des Sriebbaften mit der feſten Realität 
des Hiftorifhen. Sie erzwingen in ihrem 
biftorijmen Sinn die Form nad früheren, 
toßen Borbildern: Kleift nah Aischy— 
08-Sophofles-Shafefpeare, Rethel nad 
den Stalienern der Renaiffance und den 
Deutichen derfelben Zeit. Bei beiden alfo 
eine romantijde, typiſch Deutide Täu- 
fhung. Sie fuden das Leste irgendwo 
außen, wie die @oten und Staufer in 
Stalien und breden die gerade Kraft 
ihrer Gigenart. Aber wir reden wider 
Schickſalhaftes. Bielleiht ift das Herpi- 
{de dieſes Srrtums gerade das Herrlide, 
diefe Berftridung von Kraft in Gedantk- 


lichkeit, Gebnfudt, Grübeln. Go entftebt 
im ,®uiscard“ der Brud gwifden grie- 
chiſchem und deutfhem GFormwillen, fo 
wirft in Rethels Karlsfresten der Kone 
traft awifden marfiqer ®ermanennatur 
und raffaelitifdem Rompofitionsfdema. 

Des Wefens Kern bei beiden ift dod 
die harte, zum Widerfturm bereite Kraft. 
Das Segeneinander, die Geftrafftbeit des 
Kampfes. Man muß Kleift’s Rhythmus 
in feinem Prängen, Wettern, Stürzen 
erfühlen und Rethels Linien verfolgen: 
die Größe, Härte ftedt ganz im Un- 
bewußten und es fdeint oft, als geben 
fih beide Künftler Mübe, die Herbbeit 
zu glätten. Es ift nur ein anderes 
Dort, wenn wir für diefes Wefen des 
Widerftreit3S die DBezeihnung „dDrama- 
tijd“ feben. Daher muß Kleift drama- 
tifh fein, ob er nun Dramen, Novellen 
oder Sedidte fchreibt; fo ift aud Rethel 
dramatifd und zwar am meiften, wenn 
er nidt durd die in feiner Zeit fo un- 
perfinlid gehandhabte Technik der Del- 
malerei emmt wird. Wir finden ihn 
felbft in Teiner Urfprünglichleit in feinen 
Seidnungen. Wenn Rethels Cbhriftus 
beimlos über das weite Land fchreitet, 
ift e8 nid@t Trauer, die über der Dede 
liegt, fondern ®emwitter und Sturm, und 
aud das Gchreiten des Oottesſohnes, 
das Wehen feines Mantels hat die ge- 
baltene Kraft, die fid im Sturm ent- 
feffelt. Wenn Rethel eine erbarmungs- 
reihe Wärtyrergeſchichte bildet, wie etwa 
die Zeihnung mit der Steinigung des 
Stephanus, wo der Sterbende für feine 
Mörder, die ihm den armen Leib zer- 
fchmettern, um Gergebung bittet, wird 
eine Rampfatmofphäre aus dem ©anzen. 
Selfen, Baume, Wetterwolfen und fah- 
les Geleudt türmen fid dräuend gegen- 
einander auf. Die großen Werfe Rethels 
find gang fleiftiih. Der Totentang, diefe 
größte germanifde fünftleriide Sat viel 

idt der ganzen neueren Zeit oder der 
Zod als Würger entfpreden der damo- 
niſchen Seele Kleifts; bei dem lebteren 
mag man an die Beltihilderung des 
„Buiscard“ denken, die Majeftät des 
Gerweften im Kopf des toten Karl, der 
dod ein Herrfder bleibt, por dem fid 
alles beugt, wirft wie der peftperfallene 
Normannenbergog Kleifts. Immer wie 
der ift es Der Wille, fid an anderem 
großen Wollen zum Kampf zu ftählen, 
und der Hang gerade zum Unmöglichen, 
gu dem Brud, der diefes Wollen zer» 
ftört und gugleid) verewigt. Das lebt 
bei Rethel in der Idee Des Hannibal» 
guges, in der Freude, große Herrfider 
und Helden darguftellen. Lind mit einem 
geheimnisvollen Zwang zieht ibn immer 
wieder gerade das ordifde, das fid 


im Süden verblutet: Barbaroffas „Tod 
in Kalyladnos“, „Manfreds Beftattung“ 
und, nad meinem ©efühl das Größte: 
„Der Gabnentrager®. G3 ift, als male 
Rethel fein eigenes Schidjal, dieſe zer- 
marternde Gebnfudt und Anftrengung, 
deutihe Kraft mit fidlider Gorm zu 
vereinen. Gaft wie eine Parodie endet 
diefer verzweifelte Kampf: auf feiner [eb- 
ten Stalienreife, in den Sagen des end» 
gültigen geiftigen Zufammenbrudesg, zeich- 
net er, Der Rraftvolle, Dramatifhe — 
Guido Renis Aurora nad! Und — trog 
der beginnenden Anſicherheit, wo mit 
dem @eift die Hand ftodt, ift aus dem 
weiden Borbild ein marfiger, perfinli- 
der Rethelftil geworden. — Aber der 
Sabnentrager: Das Heer der Staufen 
ift sage Die Lehten fnien, Der 
@nade des Giegers fid überliefernd, am 
Boden und legen ihre Waffen por fic 
Da fpringt von einer GFelsflippe, über 
einen Toten wegfetend, der Fahnenträger, 
der die Schande nidt überleben Tann, 
mit dem freien Reidsbanner in Die 
fhäumenden Wellen. Das Blatt ift eine 
Tuſchzeichnung. Aber man fühlt die 
Garbe, das Rot der vergifdenden, von 
Wolfenfeben umfampften Sdladtfonne 
wie Blut. Der Himmel ift ein Auf 
fhäumen und Aufraufhen wie drunten 
das Waffer, das um den dunflen GFels- 
blod fprigt. Und mitten durd das Dra- 
ma der Natur febt die Jumpfumfdlun- 
ene @eftalt des Springenden, die ein 
enſch ift und dod mehr als ein Menfd, 
eine Idee, todestrobiger und ewmiger 
Wille, der Geheimnis bleibt und über 
dem einem das Wort im Mund ftirbt 
wie über dem Wunder eines ftürzenden 
Sternes oder einer Lawine. Aber Kleifts 
Worte aus dem „lebten Lied“ Flingen 
einem ins Obr bei dem Bild: 
„ind ftärfer raufht der Sänger in die 
[Saiten. 
Der Töne ganze Macht Iodt er hervor. 
Gr fingt die Luft, fürs Vaterland zu 
[ftreiten, 
And madtlos fchlägt fein Ruf an jedes Ohr. 
nd wie er flatternd das Panier der 
[Seiten 
Sid näher pflanzen fiehbt bon Sor gu Tor, 
Schließt er fein Lied, er wiinfdt mit 
[ibm zu enden 
Mind legt die Leier tränend aus den 
[Händen.“ 
Sh müßte feine größere Apotheofe 
Kleifts auf fein Leben, Dichten, Sterben, 
als dieſes Bild Rethels. 

Der Seift des Wibelungenliedes ift 
der Oeiſt Kleifts und Rethels. Gr ift 
Damonie von Kampf, Grife, Kraft. Zu 
Kriembild gehört die Penthefilea. Kein 
Wunder, daß Rethel den Geftalten des 


127 


Liedes Gorm geben fonnte. Wie madtig 
und trauerjhwer wirft das Hodbheben 
des Leibes vom edlen Rüdeger, den die 
Helden, die ihn erihlagen mußten, im 
Sode nod ehren. Diejes Haupt des Toe 
ten in feinen mädtigen Linien ift Aus- 


drud der germanifden Seele, die lebens- 
freudig und todesfreudig ift, gut wie ein 
Kind und wild wie ein ,gefriimmter 
Tiger“, um mit einem Beifpiel aus 
dem @uiscard zu {dliefen. 

Ludwig Benning hoff. 


Der Beobachter 


Sire der wunderlidften Streitfalle ift 
der Streit um das Flaggen der deut- 
hen Botſchaft, als Wilfon geftorben 
war. Die Dinge liegen für jedes flare 
Auge flar. Wilfon hat dem deutſchen 
Bolfe das Wort gebroden, auf das es 
all feine Zufunft gefebt hatte. Gin Treu- 
brud ohne gleiden in der Weltgefdhidte. 
Gin taftvoller Menſch konnte von feinem 
Deutfden verlangen, daß er Wilfon eb- 
ren folle. Nun aber war Wilfon einmal 
amerifanifher Prafjident. Bei dem ftar- 
fen (für unfer Gmpfinden übertriebenen) 
Nationalismus der Amerifaner erwiefen 
fie dem toten Manne Ghre, der, als er 
nod lebte, dem amerifanifhen Bolfe feine 
Ehre gemadt hat. Wir Deutihen adten 
nidt Wilfon, aber wir adten das ameri- 
faniide Golf. Wir fonnten durd die 
Slagge niemals einem Wilfon, wohl 
aber dem amerifanifhden Bolte 
in feinen von ung nidt gu teilenden ®e- 
fühlen Adhtung erweifen. Daraus ergibt 
fih das praktiſche Verhalten ganz einfad. 


In Breda in Holland erſcheint eine 
Zeitſchrift „Boekenſchouw“ (ſprich: 
Bukenſchau, d. i. Bücherſchau). Sie macht 
über unſer „Deutſches Volkstum“ fol— 
gende entzückenden Angaben: „Es ſpricht 
aus dieſer Zeitſchrift eine beinahe heid- 
nijde Anbetung des deutſchen Geiftes 
und der reine Wille und es fdeint uns, 
daß diefe Wenfden der Welt nichts 
andres zu fdenfen haben als geiftige 
Barbarei und DVerwilderung.“ &3 wird 
unfern efern Vergnügen maden, zu ere 
fabren, daß unfre Zeitſchrift Den Deutiden 
©eift ,anbetet* und daß wir Barbarei 
und Gerwilderung verbreiten. Aber der 
unverwilderte Hollandsmann ift gutmit- 
tig: tro unfrer VBerworfenheit bettelt 
er uns (überflüffigerweije in hochdeutſcher 
Sprade) an, ihn „Durch LUeberlaffung 
bon Bejpredungsitiicen für Die Monats» 
{drift Boefenfdouw in die Lage zu ver 
feßen“, uns „zu dienen“. Wir warnen 
die Deutiden Berle ae vor dieſer würde» 
Iofen Bücherbettel-Ginrihtung in Breda. 
Wir maden unfre bolländiihen Freunde 
darauf aufmerffam, wie unguverlaffig diefe 
„Bücherſchau“ beridtet. Sur Ghre der 
Holländer nehmen wir an, daß die Bü- 


128 


Herihau-Holländer gar feine edt Hol 
ländifh empfindenden Menfden find, fon- 
dern zu jenen Iournaliften gehören, die, 
obne Oprgeis nad) Wabrbeit, rings um 
diefen Planeten herum die literarifche 
Berleumdung des deutihen GBolfes aus 
ganz beftimmten ®ründen betreiben. 


Yyıles foll fparen. Alfo müßten unfre 
Volksvertreter mit weithin leuchten 
dem Beifpiel porangehn. Aber — der 
GolfSvertreter bindet fid nit an Bei- 
fpiel und Braud, er fteht auferbalb der 
Dinge. Die Regierung fdlagt vor, die 
Reidhsboten mddten auf ihr Borredt, 
erfter Klaffe zu fahren, verzichten. Gin- 
ftimmig lehnen e8 die Golfsvertreter 
ab. Keinem bon ihnen fdeint es peinlich 
zu fein. — Deutfdland foll arbeiten und 
jdaffen. Beamte follen nidt unnütz be» 
zahlt werden. Die Progeffe follen nicht 
Monate liegen bleiben, bis fein Menſch 
mehr daran Verſchlag hat, was heraus- 
fommt. Alfo fdlagt der Suftizminifter 
por, daß bei den AWmtsgeridten die Gee 
ridtsferien wegfallen follen, bei den 
übrigen Gerichten follen fie nicht mehr 
bon Mitte Juli bis Mitte September, 
fondern nur den einen Monat Auguft 
dauern. Wehe, mebe! erjhallt es im 
Rechtsausſchuß des Reihstags. (G8 fiben 
nur Suriften drin.) Das Heiligtum der 
®eridtsferien foll ihnen genommen were 
den? Rechtsanwälte und Suftigbeamte 
follen nur vier oder fünf Woden {lr- 
laub haben wie aud andre Beamte? 
Nein, zwei Monatel Als ob ihnen 
dur Abfaaffung der Seridtsferien, die 
längſt ihren Ginn verloren haben, ihr 
übliher Urlaub genommen würdel So 
berreift unfereiner bei den Obergeridten 
vier Woden und die übrigen vier Wo— 
den hat er Zeit zum Nidtstun gu Haufe. 
Da ein Genat jest nur mit drei Mit— 
gliedern bejebt ift, fommen die übrigen 
Obergeridtsmitglieder gar nidt Daran, 
daß fie beihäftigt werden fünnen. Aber 
die Juriſten im Redtsausfhuß des 
Reichstags willen, was ſich ziemt. 3 


D er norddeutſche Bauer wird wach, von 
Often bis Weſten gerät das Bauern- 
tum in Bewegung. Erſt mußte die Not 


aud ibn erfaffen, ehe er fid um die 
öffentlihen Dinge kümmerte, die das 
rong Golf bedrüden. So ift der Deut- 
er wird erft politifh, wenn die Not 
Ir "dazu zwingt. Bis dahin ließen ihn 
alle Herausforderungen falt, er bee 
gnügte fid, wenn er Hof und Dorf in 
Ordnung balten fonnte. Roc böhnt man 
in Berlin über die Bauern. Einer von 
denen, die ihre Namen unter Pfeudo- 
npmen verbergen (Mid. von Linden- 
beden) didtete am 22. Sebruar im „Bor«- 
warts“ über den „Iungbauern“: „Kriegs 
ernährung blieb ihm — gottlob — gang- 
lid fremd. / Heißhungrig frißt er tags 
über zwecks vaterländ’iher / Srtüdhti- 
ng. Nadhts in Hofe und Hemd / 
Pelee er bei die Menfder.. .“ 
lid madt ,Midael von Lindenheden“ 
bald die perfinlide Befanntidaft mitden 
Menſchen, die er aus dem fideren Ver— 
fted der Anonymität befingt, damit er 
ihre Lebensart in richtiger Weiſe fennen 
lernt. — Bir find von je der Meinung: 
eine auswärtige deutfhe Politif wird 
erft wieder möglid, wenn der Bauern- 
ftolg und der praftiihe Wirklidfeitsfinn 
bes Bauern im Auswärtigen Amt re- 
giert. Seit Bismard ging, bat dort der 
Bauer gefehlt. 


Noch einer von den vielen, die im 
„Vorwärts“ deshalb pſeudonym 
ſchreiben, damit der Arbeiter nicht merkt, 
wer es iſt. Diesmal nennt er ſich nach 
dem berühmten alten jüdiſchen Hiſtoriker 
„Joſephus“. In einer Nummer, in der 
ſich der Vorwärts oben über „deutſche 
Taktloſigkeit“ entrüſtet, begeht „Joſep⸗ 
Be Solgendes: In einem Auffat plau⸗ 
erte Leopold von Wiefe über feine Ju— 
genderlebnilje in der Kadettenfhule zur 
BWablftatt. Gin Stubenältefter warf ‘mit 
tintenfeudten Stablfedern nad) den Köp- 
fen der Seztaner und beluftigte fid, wenn 
die Federn in der KRopf aut ſtecken⸗ 
blieben. Alfo eine bon jenen gedanfen- 
Iofen Sugendrobeiten, wie fie gelegent- 
lid vorkommen, nit bloß in Radetten- 
fulen. Ahl fällt dem „Joſephus“ ein, 
aud Hindenburg war Kadett in Wabl- 
ftatt. ind er fdreibt (man genieße den 
Sargon im Gabrbhythmus): „Kein pater 
landsfrommes3 Lejebud) und "teine verlo- 
gene Hiftorie von der Gitte, der Gered- 
tigfeit, der Tapferkeit, der Humanitat 
eines GeldOmarfdalls (Hindenburg) 
und eines Generals (Ludendorff) were 
den e3 mid) vergeifen laffen, daß unfere 
(jawohl: ,unfere“ fteht da) Generale, 
unjere §eldmarfdalle, unfere Führer im 
Weltirieg aud einmal Gefundaner in 
Radetten|dulen waren und mit ro fti- 
gen Stablfedern in die Kopf- 


bäute ihrer Kameraden fta- 
hen... Hier wuds jene Kafte heran, 
die uns (uns) durdh Peitfhe und Mo- 
nofel, durch Adfelflappe und nafales 
Kommando notziidtigte. Lind wir waren 
nist einmal ihre jüngeren Kameraden! 
Diefen ftedte man nur Gtahlfedern in 
die Kopfhäute, uns ftedte man mitjamt 
unferer Kopfhäute in die maſuriſchen 

Sümpfe.“ Verdient hätte es „Joſephus“ 
ob dieſer Niedrigfeit, daß er in Die ma— 
furifhen Sümpfe erniedrigt worden ware. 
Da der falſche Joſephus fo febr über 
die Radettenf{dulen fdhimpft, wollen 
wir daran erinnern, wie es zur Zeit 
des ridtigen Bofephus in den Rabe 
biner ſchulen bergi ng. Die Rulturge- 
{Hidte verzeichnet, Daß es Obrfeigen und 
©eißelhiebe fette und ein Anfahren, dah 
„dem Schüler der Speichel ins Sefidt 
flog“ Was nod peinlider ift als 
roftige Gtablfedern. Und dem Schüler 
war der Kadapergeborfam zur 
Pflicht gemadt, er mußte es fid gefallen 
lajfen. Es foll fogar fo geprügelt fein, 
daß der Sod eintrat. Aehnliches ift 
felbft heute im jofepbinifmen Freund» 
ſchaftsleben nidt ausgeſchloſſen: Weiß- 
mann und Kerr! Darüber ſchweigt das 
Geuilleton des Vorwärts. 


gyrierm Herzblatt, unferm Augapfel, 
unferm @oldfindden, unferm lieben 
Alfred Kerr ift ein Malbeur paffiert! 
Beinahe hatte er Priigel befommen! Wehe! 
Was find das für Zuftände im Lande der 
Deutſchen! Und ſchuld daran ift der preu- 
ßiſche, allerdings nidt gexabe urpreußifhe 
Gtaatsfommiffar für Die öffentlide Gi- 
derbeit, Weifmann, der obendrein Kerrs 
leibhaftiger Schwiegervater ift. Wer foll 
nod fider in dem „finftern, duftern Gru- 
newald“ wandeln, wenn nit der Schwie- 
gerfohn des preußifhen Sicherheitsfom- 
miffars? Sedes neue Zeitungsblatt aus 
Berlin bringt neue Darftellungen über 
das tieferfhütternde Greignis im Grune- 
wald. Wir aber glauben nur, was 
Alfred Kerr felber glaubt, denn wir fa- 
gen mit ©oethe: „Ich laffe mir meinen 
Alfred nicht fchelten.“ Alfred Kerr Hat 
ftreng „lahlih“ die Schaufpielerin Nil- 
fon fritifiert. Sie war allerdings gar 
nidt aufgetreten und er hatte nur neben- 
bei etwas von ,,Borftadf{daujpielerin* 
gemurmelt. Wie alfo fann fid die Dame 
über eine fo weit getriebene Sadlichfeit 
empören? Und gar ihr Befdiiber, der 
Staatsfommiffar, Der „in Spielerfreifen 
verkehrt“? Weifmanns fdwarge Geele 
aber dingt einen Gpielflubbefiter, der 
Dingt einen Greund, der dingt abermals 
einen Greund, der den Schübling des 
edeldenfenden und edeldingenden Herrn 


129 


Weifmann bandgreiflih raden foll. So 
zeugt fie fort, die böfe Sat: Weifmann 
zeugete Gijder, Fiſcher peucete Jxmann, 
Ixmann zeugete Wiedenbein. Aber alles 
De et in diefer Welt. Wiedenbein 
— fo hieß die Ganaille — bradte in der 
entjdeidenden, düfterdräuenden Stunde 
nit mehr die Geelenfraft zu der fünf- 
bundert Goldmarf ſchweren Obrfeige aur. 
Germutlid war er durd die hobeitsvolle 
Reinheit feines Opfers telepathijdh über- 
tounden. Gr 30g e3 vor, das Geld ohne 
Meudheltat zu verdienen. Nun befam der 
rüdjihtspolle Meudeltaterid von beiden 
Seiten „feine Auslagen erjegt“, die ihm 
aus feiner Gernehmung erwudfen. Bie 
leams Gjel foll weisfagen über die Gee 
beimniffe der Mordnadt, aber er ſchwankt 
gwifden den beiden Bündeln Heu. Gin 


ſchwieriger all für das Geridt. — Kerr 
telepbonierte an Stefan @®rofmann für 
den „Montag Morgen“: „Sch habe zwei 
Kinder, ich fürchtele für" mein eben.“ 
Gr bat aud heute nod zu fürdhten; denn 
wer weiß, ob nit heute nod ſchwarze 
DWeißmänner ihn blutgierig und mitter- 
nadtig umlauern? Wir fordern mit 
aller Gnergie, daß der preußiſche Staats- 
fommiffar für öjfentlide Siherheit unferm 
Alfred, diefem foftbarften Schab der peut 
fen Nation, eine Rompagnie Sipo 
leibliden Sicherheit beftellt. Alfred 
Orofe darf unter feinen Umſtänden fi 
einer Gefahr ausſetzen, er wird zur näch⸗ 
ften Premiere in Bededung von fünfzig 
Gipoleuten mit Handgranaten und ®um« 
milnüppeln erjheinen — mie es einer 
folden Majeftät gebührt. 


Zwieſprache 


Das Heft mag auf den erſten Blick et- 
was bunt äufammengefebt erj@einen. 
Aber e3 hat ein Thema: Führer und 
Boll. Womit könnte diefes Thema befjer 
eingeleitet werden als mit Robert Ouis⸗ 
fard? Sugleid wollen wir damit auf die 
Arbeit der Deutihen Bühne in Hamburg 
binweifen, die unter Benningbhoffs Leis 
tung den ©uisfard im März aufführen 
läßt. In Seiten wie DdDiefen folIte 
Kleift die Spielpläne der deutfhen Büh- 
nen beherrſchen. Ab, wir können nidt 
einmal fragen: wer beberrfdt fie? fon 
dern nur: was beberr{dht fie? Was? 
Das Geſchäft. Das Geſchäft beberridt 
die Friedensvertrage der großen Staaten, 
warum nidt aud das biſſel deutides 
Theater, das nod immer gemimt wird 
trop Kino und Radio? Geidenftriimpfige 
und nadtbufige Schaufpielerinnen tanzen, 
vor dem Parfett von Olabfipfen mit 
ibrem geiftig gu Diefer Sorte Kultur 
beran,,gereiften* weiblihen Zubehör, ums 
— Kalb, nachdem, fie fid) binder- 

Atavismen“ wie Ehr⸗ und Sdame 
— — wegkokainiſiert haben. „Keß“ lau⸗ 
tet der Jargon⸗Ausdruck im Lande Bere 
lin dafür. Gterbendes Boll. 

Aber die Zukunft fproßt da, wo klei— 
ſtiſche Leidenfhaft nod die Herzen auf 
zumwühlen vermag, wo man nod mit 
Beben den Adlerſchrei feiner ftürmen- 
den Worte vernimmt. Wie ftürmt 
die Spradhe Rleifts! Oft über ganze 
geilen leife donnernd Hinrollend, ſchlägt 
und blitzt pliglid mit gellendem Zon 
das Wort, das fih in dem Bewölf fam- 
melte, um alsbald jah aufguleudten. 
Sprade und Berfe Kleifts find gewit- 
terbaft. Und nur Scaufpieler, die 


130 


ſchweren, zäben, eifernen Zorn, aus der 
Bändigung jah berporbredend, im Blute 
baben, finnen fie fpreden. Ginige der 
berrlidften Gerfe Kleift3 aus dem Suis. 
fard beſchließen diefes Heft. Wir haben 
die Ddonnernden und blikenden Worte 
durd den Drud hervorgehoben. Zu fol- 
Ken Worten paffen nur Rethels Bilder 
vom tragifhen Heldentum. 

Neben I erfdeint der milde, 
weiblidere Schleiermader. Gr möge 
unfre beutigen religiöfen Weltbürger, 
die das GChriftentum zu blofem Pazi- 
fi8mus deprapieren, erinnern, wie „ent 
ſetzlich nationaliſtiſch“ einft ein Hriftlider 
Deltbürger, der wahrhaftig nicht ,fid- 
tiſch“ war, dadte. Wir wmeifen dabei 
auf die Ausgabe von Schleiermachers 
»Daterlandijden Predigten“ Hin, Die 
Pfarrer Shriftian Boed im Staatspoli- 
tijden Gerlag in Berlin erfheinen lief, 
fowie auf deſſen ebendort erfdienene 
Schrift: „Schleiermaders vaterländiſches 
Birken.“ Gine hübſche, umfaffende Aus- 
wahl aus den Predigten und Driefen 
bat Hans Boelter im Verlag für Volks— 
funft, Ridard Reutel, Stuttgart, ber» 
ausgegeben unter dem Sitel ,Deutfder 
Ölaube, Worte Sdleiermaders an das 
deutihe Bolt“. Das find Ginfegnung3s- 
eihenfe für den geiftigen Seil der deut- 
den Sugend in diefer Zeit. 

Die beiden lebten Auffäße geben & uf 
die Gegenwart. Claſſen za einen WD 
der Fübrerausbildung in Der nobernen 
Großſtadt: nit bloß Nationaldfonomie 
und Gogialpolitif „jtudieren“, fondern: 
Einige ind Bolf, felber febn, hören, 
beobadten und beadten. An Claſſens 
Sorderungen dadte id mit, als id den 


Reitauffag des Sanuarbeftes fdrieb. 
Das ift der Weg des Führers. 

Meinen Aufſatz bitte ih nicht zu 
überjeben, er ift mir diesmal befonders 
widtig. Ich glaube, er wird gefühls- 
mäßig bei mandem Lefer auf Wider- 
{prud ftoßen. Meinem eigenen Herzen 
find dieſe Dinge nit leidt. Aber id 
bitte, ihn beim Leſen mitgudenfen. &3 
fommt darauf an, ob die Gedanken falſch 
oder richtig, nicht, ob fie angenehm oder 
unangenehm find. 

Hanns Johſt fdeint uns bon den 
neueren Didtern, die wir nod nidt 
würdigt haben, der gu fein, der am ehe- 
ften in den Zufammenhang dDiefes Hef- 
tes gehört. — — 

Denn id mid erfenntnismäßig zu 
Anſchauungen gezwungen febe, wie id 
fie in dem Auffat über die wirtichaft- 
lide Antinomie ausfprede, fo mag ed 
feltfam erfdeinen, daß wenige Menfden 
fo ftarf auf mid gewirkt haben wie einft 
der DdDeutid-amerifanifhe Theologe Wal- 
ter Raufdhenbufd aus Rodefter. Sein 
berühbmtes Bud „Ebhriftianity and the 
Social Erifis“ bat mir außerordentlich 
viel gegeben. (Befdamend, aber wahr, 
daß fid für die Leberfebung diefes Bu- 
des einft fein deutſcher Gerleger fand, 
während jede Romanüberfegung aus dem 
Stanzöfifhen ihren Gerleger fand.) Der 
Marburger Profeffor D. Karl Budde 
befpridt in diefem Heft Raufdenbujd’ 
letztes Werf, das deutid im Rotapfel- 
Verlag erfdien. Ich felbft fonnte es erft 
„anlejen“, ih muß mid mit dem Werke 
nod) griindlid auseinanderfeben. Daß 
Rauſchenbuſch im Kriege ftarb, ift ein 
unerjeblider Berluft, er gehörte gu den 
religidfen Gogialiften des Herzens. 
Nod am 23. April 1915 fandte er mir 
fein ,Dare we be Ehriftians?“ Er fdrieb 
mir damals: „Der Krieg führt entweder 
gum Sujammenbrud oder zu notgeziwun« 
gas Tüchtigkeit, zur Zujammenfafjung 

er Kräfte, und der Kapitalismus iſt un— 
polltommene Organifation, gemäßigtes 
Parafitentum. Die großartige Tiidtig- 
Teit Deutichlands, die man bier teils frei 
teils fauer allgemein ‚au eftebt, berubt 
auf feinem Borfprung in der Aneignung 
des pofitiven ®ehaltes des Sozialismus, 
und die Konkurrenz der Völker nad dem 
Krieg wird in derjelben Linie ausge» 
fodten werden.. Gine neue DWirt- 
ſchaftsordnung muß fih meift Durd ir- 
eine Gorm des Bwanges zuerft 
urchſetzen. DBloße Bernünftigfeit ift zu 
{hwad. Deshalb ift die ,ftarfe* Regies 
tung Deutidlands den ſchwachen· Re⸗ 
gierungen in d. demofrat. Ländern por 

aus. Wir Söhne Deutfdland3 in 
Amerika folgen natürli mit ergriffenem 


Herzen dem ganzen Ringen. Wir haben 
die Gorge und den Schmerz mehr zu 
teilen gehabt alg den Stolz und den 
neuen ®eift. Deutide, die in rein ames 
rikaniſchen Segenden wohnen, fühlen fid 
vereinfamt...“ (Golgen perfinlide Gre 
lebniffe.) — — 

Sebt im März find es zwei Sabre 
ber, daß id jenen Kompler von Fragen 
der Boltsbiologie und Bolfsfittlidfeit be» 
bandelte, unter den der Reigen-PBrozeß, 
die Nadttänze und ähnliches fallen. Da- 
mals ſchrie unfer lieber Kerr im Berliner 
Sageblatt in fprigender Wut: Berflagt 
ibn! Gerflagt ihn! Aber er ging nit 
gum Kadi. Der von mir lebhaft ange» 
griffene Wolfgang Heine aud nid. 
Wobl aber folgten dem reifigen Rufe 
Grau Sertrud Eyſoldt, an die id über- 
baupt nidt gedDadt und die ih gar nidt 
genannt batte, und Herr ~Mazimilian 
Sladef. Zwar hatte ih aud ihn nidt 
genannt (id hatte Kerr, Heine und andre 
borgenommen), aber — tenn er fid 
durdaus perfönlid getroffen fühlen 
will, fo fann id ebrliderweife nicht 
umbin zu fagen: id) babe aud an ihn 
mit gedadt. Als Anwalt der Be 
leidigt-fein-wollenden trat der nid t fla- 
gende — Heine auf. Er gab an: 
nicht etwa er ſich nicht aud betrof- 
fen fühle, aber für ihn gäbe es Hem— 
mungen, die für ſeine Klienten nicht be— 
ſtünden. Im übrigen ginge das den Be— 
klagten garnichts an. Hm. Die erſte 
Inſtanz wies die anne gegen mid ab. 
Die höhere Inftanz aber dadte: warum 
foll fid das — —— nicht mit der 
Frage beſchäftigen, Herr Marimilian 
Sladek beleidigt ift oder nit? Gin neuer 
Reigen-PBrozeß ift zweifellos eine inter- 
effante Gade. Die „Tägliche Rundihau* 
hatte zwar dasjelbe wie id viel fraf- 
tiger und mit Nennung Sladefs gejagt, 
aber — Sladef (bezw. Heine) 30g es vor, 
fid durh mid beleidigt zu fühlen, 
Alfo „lief“ der Prozeß mit Terminen 
und Gcriftfäßen. Im Dezember 1923 
wurde Arthur Sdnibler in Wien ver» 
nommen. Und für den 16. Sanuar 1924 
fete dag Schöffengeriht den Hauptter- 
min an. Suftament! Senn am 15. Sas 
nuar faufte die Guillotine der Suftia- 
Notverordnung nieder, und aud der 
fine neue Reigen-Progef, der Jhon fo 
nett gediejen war, fiel diefem bethlehe- 
mitiſchen Kindermord zum Opfer. Ich 
bin nun neugierig, ob Wolfgang Heine 
im April die Wiederaufnahme des Ver— 
fahrens beantragt, damit endlich heraus— 
geknobelt wird, ob Herr Sladek ſich ya 
mir beleidigt fühlen darf oder nicht. 
ir dod unbebaglid, wenn man das nit 

weiß! — Wun war der Reidsprajident 


131 


im Suni 1922 (offenbar ein frudtbares 
Beleidigungsjabr) von dem Miindener 
Dr. Sanfer des ,Hodverrats begidtigt 
worden. Der Reidhsprajident Hagte nae 
tirlid. Wolfgang Heine, unfer intimer 
®egner, war fein Anwalt. Schließlich 
aber 30g der Reidhsprajident auf Anra— 
ten Heines die Klage zurüd, da der 
Gadverbalt aud ohne den Mündyener 
Schlußtermin hinreidhend geflart fei. Und 
„et bat fid hierzu um fo mehr entfdlof- 
fen, al3 er infolge de3 feit der Beleidis 
gung mehr alg neungebn Monate hin— 
gesouchert Gerfabrens ein Sntereffe an 
er weiteren Strafverfolgung nidt mehr 
batte.“ Das Berfahren gegen mid ift 
noch länger hingezogen. Ob in Diefem 
Sall Heine nod „ein Sntereffe an der 
weiteren Rechtsverfolgung“ bat? Oder 
ob er die Frage tae der Beleidigung 
oder Nidtbeleidigung Sladefs für wich» 
tiger halt alg die Frage, ob der oberfte 
Reiter des deutihen Staates eine Bee 
ſchuldigung ſchwerſten Kalibers ungefühnt 
bingebn laſſen darf? Wichtig fheint mir 
meine Gade nidt, aber ein bijjel neugie- 
tig bin ih bod. (Ich teile dies alles 
mit, weil id fo oft gefragt werde, was 
denn „mein Prozeß“ eigentlid) made. 
Außerdem find zwei Sabre ja ein nettes 
tleines Subilaum.) — — 

So eifrig id in unfern Sagdgriinden 
auf Drudfebler pirfhe — weiß der Him- 
mel — es bupft dod immer einmal wie- 
der ein Teufelchen Amgelehn binterm 
Bud ins Heft hinein. In dem ſchönen 
Gedidt „Der Tod“ von Avenarius muß 
e3 in der vorletten Strophe nicht heißen: 
„Der Baum wird felber Leben“, fondern 
„der Bau...“ nd in dem Zitat aus 
Hermann Claudius' „Silberfhiff“ (S. 81) 
fehlen ein paar Worte. &3 muß beißen: 
w+. und alles Leid. Lind ein Lngefann- 


tes, das gwifden beiden fdwingt. ..“ 
Wenn in dem Auffak über Apenarius 
der Gentiv „des Kunftwart“ vorfommt 
(G. 69), fo entfpridt das nicht meinem 
Spradgebraud. G3 gibt Leute, die einen 
folden Refpeft vor allen Namen haben, 
daß fie fie nidt gu deflinieren wagen, 
fondern wie unbehauene Blöde im Gag 
liegen [affen. Ih pflege aud) Namen 
zu deflinieren, alfo: de3 Runftwarts. In 
meinem Auffaß über den „Brud in der 
Sugendbewegung“ (der allerlei Wider- 
fprud fand) babe ih zwar auf den Drude 
fehler „Kleidungsmw eifen ftatt ,Rlei- 
dungs wefen gefd@offen, aber das gabe 
Bieh war nidt umzubringen. — 

Zur nordjhleswigihen Frage bringt 
Shmidt-Wodder in der Neuen Tonder- 
fhen Zeitung vom 12. Gebruar einen 
Auffa über „Schweden und die deutih- 
däniſche Spannung“. Wir fommen im 
nadften Heft darauf zurüd. Diesmal 
paßt's mit dem Raum nidt. — 

Wenn die Formulierung und befon- 
ders der Schluß meines Auffabes über 
die wirtihaftlihe „Antinomie“ an Kant 
erinnert, fo ift das natürlih nur_eine 
fohriftftellerifde Gorm. Das RKant-Subi- 
iäum wirft feinen Schatten voraus. Auf 
Rants zweihundertften Geburtstag wer— 
den wir, troß unjrer Subilaumsfeind- 
fdaft, eingehen und ein Rant-Heft ma- 
hen. Wegen Beratung fiir Kant- Feiern 
wende man fih an die Gidte-Gefellidaft. 

Eben hat der Hitler-Prozeß begonnen. 
Was wird in Deutihland angeklagt 
und was herrſcht in Deutfhland! Wir 
beneiden die Leute, die da gu Geridt 
figen miiffen, nidt um ihre Aufgabe. 
Aber am wenigiten die Tages{driftftel- 
ler, welde die Angellagten gweds par- 
teimäßiger Beeinflujfung des Bolfes auf- 
tragsgemäß herunterreißen miiffen. St. 


Stimmen der Meifter. 


Daß kühn die Rede dieſes Greiſes war, 

und daß fie ſtolz war, ſteht nicht übel ihm; 
denn zwei Gejfdledter haben ihn geehrt, 
und eine Spanne von der Gruft foll nicht 
des Dritten Giner ihn beleidigen. 
War mein das fede Bolf, das dir miffallt, 
id möcht’ es anders wabrlid nit als fed; 
denn feine Greibeit ijt des Normanns Weib, 
und beilig wäre mit da3 Ehepaar, 
das mir den Ruhm im Bette zeugt der Shladt. 
Das weiß der Guistard wohl, und mag es gern, 
wenn ihm der Krieger in den Wähnen fpielt, 

- allein der platte Naden feines Sohnes 
der fohüttelt gleih fid, wenn ibm Eins nur naht. 


Meinft 


Du, e3 fönne dir Die Normannsfrone 


nit fehlen, daß du did fo trotzig zeigft? 
Durdh Liebe, hör’ es, mußt du fie erwerben, 
das Recht gibt fie dir nicht, die Liebe fann’s! 


132 


Heinrid von Kleift. 








Neue Bücher 








Balter Raufhenbufd, Die religiöfen 
Grundlagen der fogialen Botfdhaft. Aus dem Eng- 
liihen itberjegt von Clara Ragaz. Mit einer Ein- 
leitung von Leonhard Ragaz. 332 &. Rotapjelverlag, 
Erlenbach⸗Zürich. 

Der Titel des Buches iſt leider irreführend über— 
fegt; er beißt englifh „A Theology for the Social 
Gospel”, zu deutſch „Eine Theologie für das foziale 
Evangelium“, nicht „die ſoziale Boiſchaft“, wie Ragas 
©. 20 wiedergibt. Daran irgend etwas zu ändern lag 
fein Grund vor, — Entſchuldigungen S. 20 j. 
Das Buch will die Frage beantworten (vgl. ©. 173 
den erften Gab und gabllofe Stellen), welche Geftalt 
die chriſtliche Glaubend- und Gittenlebre für das 
fogial verjtandene Evangelium anzunehmen babe, 
welche Glaubensjäge dann in den ordergrund, 
melde zurüdtreten oder gar ausfallen dürfen, und 
wie die einzelnen aufgefaßt, aus- und umgeftaltet 
werden miiffen, um für das joziale Evangelium recht 
aur Geltung zu fommen. Nach drei einleitenden Ra- 
piteln über das foziale Evangelium wird dad ganze 
Spitem durchgearbeitet, am eingehendften zu Anfang 
der Begriff der Sünde und des Böfen; dann die Er» 
Idfung, das Reid) Gottes; der Gottesbegriff; Heiliger 
Geift mit Offenbarung, Jnfpiration und Prophetie; 
Taufe und Abendmahl; Esdatologie; Berjöhnungs- 
lebre. — Daß für die fosiale Auffaffung des Evan- 
et erſt nod gefampft und um fie gerungen wer- 
en muß, möchte auffallen und erflart ſich wohl vor 
allem aus der amerilanifhen Heimat des Buches. 
Sie verfteht fic) ja von ſelbſt angefichts bes anderen 
der beiden Gebote, in denen nad dem Worte des Hei- 
lands das ganze Gefeg und die Propheten hängt: „Du 
foljt deinen Nächſten lieben als dich felbft“. €8 be» 
rührt wohltuend, daß Raujdenbujd &. 64 f. al feine 
Vorgänger die gejchloffene Reihe der größten deutiden 
Theologen der Neuzeit, Schleiermacder, Rothe, Ritfchl, 
Herrmann, Tröltſch aufführen fann, wie er denn andere 
warts Martin Luther feinesmegs vergift. Aber dak 
er mit der Forderung des fozialen Evangeliums nun 
bollen Ernft madt, daß er e8 der inbdipidualiftifhen 
Auffaffung gegenüber auf Schritt und Tritt zur Gel» 
tung bringt und überall nacweift, wie e8 das Chri« 
ftentum vertieft und erft gang ausfhöpft, das wird 
niemand Wunder nehmen, der, wie wir Aelteren unter 
den Marburger Theologen, —— — ausgereifte, 
wahrhaft beilige chriſtliche — näher kennen 
zu lernen Gelegenheit gehabt hat. Es iſt ein feſſeln⸗ 
des, ein ergreifendes Buch, das letzte Vermächtnis 
eines der Beſten, die wir unter uns gehabt haben, 
die endgültige Zuſammenfaſſung der ganzen Frucht 
feines in Nadftenliebe aufgebenden Leben’. Daß es 
bon einer wahrhaft freien, nah allen Seiten tief- 
oründenden Theologie getragen ift, gibt ihm nur 
um fo größeren Wert, wenn aud) der Herausgeber 
6. 27 f. davon ein wenig meint abrüden zu müffen. 
— Der Herausgeber widmet von feiner anjprechenden 
Einleitung einige Seiten (24 ff.) der Gegeniibere 
ftellung des Amerifanerd und des Deutichen, kraft 
Bert Abftammung, in der Perfonlidfeit Rauſchen⸗ 
uſchs. Yn diefem Buche offenbart fic) der Ameri— 
faner wohl in nichts mehr als in der grundjagliden 
und bedingungslofen Verwerfung der Monardie. Sie 
wird einfad als Böfes, als Sünde aufgefaßt, wie mir 
felbft das drüben in Amerika wiederholt begegnet ift, 
während Demofratie als das einzig Naturgemäße, 
Gittlihe, Tugendhafte erfcheint. Das Chriftentum, 
der Gottesbegriff und wie die Folgerungen fonft alle 
lauten, müffen ,,demofratifiert” werden. „Autofratie“ 
und „Feudalißmus“ treten überall als fittlide Ane 
Hagen auf. Wir haben diejer Grundftimmung, die 
drüben alles beberrjdt, ganz wefentlid die Feindihaft 
Ameritas und feine Teilnahme an dem Kriege zu 
unjrer rae Dag ncaa | zu verdanfen. Den bler 
Raufhenbufhs fann ih in aller Kürze nur bezeichnen 
alg Berwehflungpon Demofratieund 
Theofratie. Ya, wenn Gott felber, al’ Monardh 
natürlihd — bei Rauſchenbuſch nimmt er unmerflid 


pantbeiftifche Büge an — die Herrfhaft auf Erben 
wirfli in die Hand nehmen wollte, wie man je und 
je gehofft und geglaubt bat, fo wäre allem Uebel ab» 
geholfen; aber wollen Menſchen fie für ihn führen, 
fe wird fid) immer wieder zeigen, daß fie feine Engel 
ind. Die Demofratie wird nur viele Tyrannen an 
die Stelle des einen fegen, die jeder in gefteigerter 
Selbftjudt bas Ihre fuden, und immer aufs neue 
wird fich bewähren, daß, je fleiner der Tyrann ift, 
defto gefährlicher und unbarmherziger. Wie wenig 
auggefprodene Demotratien die Lehren bes fozialen 
Evangeliums befolgen, das zeigt uns heute Frankreich 
in jo überzeugender Weife, bab wir vor diejem Irr⸗ 
tum gefihert fein dürften. Raufdhenbufd fieht viel zu 
Mar und ift viel gu wabrbeitsliebend, um nicht oft 
genug einzugeftehen, daß die Wirklichkeit der Demo⸗ 
tatie febr hinter feinen idealen Borausfepungen Zus 
tidbleibt, gerade aud) in feinem Heimatlande; aber 
allem gegenüber bleibt doch fein felfenfeites Bere 
trauen auf die alleinfeligniadyende Grundlage und not« 
wendige —— der politiſchen Demokratie un- 
erjgüttert. Wer diefe Anſchauung nidt teilen kann, 
wird mwenigitens an den ——— und Erwartungen 
Raufdhenbujhs weſentliche Abſtriche machen müſſen, 
wenn auch die Grundfrage des Buches davon nicht 
unmittelbar berührt wird. — Die Ueberſetzung darf 
man vortrefflid nennen; da8 Buch lieft fic) im Gro— 
fen und Ganzen wie ein gutgefchriebenes deutſches. 
An fleinen Irrtümern fehlt ed nicht; bod find fie 
verhältnismäßig felten. Einer fei bier berichtigt, weil 
er das Lebensbild Raufhenbufhs ſchädigt. ©. 11 am 
Ende m. e3 nicht beißen: „Bevor ich dorthin (ed 
New York) ging, hatte ih an die 25 Jahre 
ftudiert.” — R. wäre dann etwa 45 Jabre gewefen — 
fondern etwa „bi gum Alter von 25 Jahren“, Ich 
nehme an, dak im Englifhen dajteht „to 25 years”. 
Der Herausgeber hätte uns mehr Zeitangaben über 
die Abjdnitte in R.'3 Leben gönnen dürfen; das 
einzige Datum, das er mennt, ift der Tag feiner 
Geburt. Es fdeint, daß R. gleih nah der Bere 
öffentlihung dieſes Buches (1918), nod vor dem Ende 
des Weltkrieges, geftorben ijt. Möchte fein legtes 
Werk viele Lefer finden. Karl Budde. 

NihardShmidt, Einführungindie 
Redhtswiffenidaft. 2. Auflage. 584 Seiten. 
10,— M. Leipzig, Feliz Meiner. 

Unjre Wifjenfhaft erftarcte bis jet unter ber 
ah ae im Gpegialiftentum, im WMilroffopismus. 
Auch bei den Geifteswiffenfdaften war e8 fo. Aud 
beim Recht: der Bivilprogeffualift durfte nicht über die 
Baune hinüberjehn gum Privatredtler, der Privat. 
rechtler nicht hinüber gum Oeffentlidredtler. Der 
NRectsftudent begann mit Feinheiten des römiſchen 
Zieitprogeiien, woher feine Brüde zur Anfdauung ber 

egenwart führte. angfam wird es anders. Be- 
gonnen werden foll im Univerfitatsftudium mit einem 
Meberblid deffen, was den Redtsjiinger erwartet. 
Dazu werden „Einführungen“ gefhrieben. Zu diefen 
Biidern gehört das vorliegende. Eine folde Ein- 
führung darf feine tote, trodene, bloß aufzählende, 
abgezogene mii gart geben, jondern muß das Rest 
anfdaulid und frifd als Wirkkraft im eben, in 
Wirtſchaft und Arbeit, im Gtaat und Vollstum 
zeigen. R. Schmidt? Werk zeichnet fic) aus durd 
eine ftarfe Betonung pbilofophifder, lebensanſchau— 
lider Gedanfengange und ftellt dadurd das Recht in 
den ganzen Bujammenbang und Wandel der Gefittun 
und Bildung, im unfres gegenwärtigen Volks un 
Staates Leben, defjen Veränderung noc feinen Ruhe— 
punft erfennen läßt. Scharf ftellt er bei den leitenden 
Gedanken der ftaatlihen Organifation den Irrſinn 
der überfteigerten Gormdemofratie dar: bas Bolt hat 
fih der Iebten acht entäußert, ber einzelne ift 
fhließlih berabgefunfen und ift nur Majdinenteil 
eines ungebeuren Abftimmungsapparates, er bat die 
Lifte gu wählen, mag er den einzelnen iftenmann 
wollen oder nicht; die Parteimafchine. der Partei» 
medantsmus, ber „Gaucuß“, bas Barteifpftem ift bas 


133 


Entſcheidende, obgleich oder gerade weil darüber die 
ee Verfafjung ſchweigt. Schmidt betont, daß 

8 Redht, wenn ed Geltung in allen Volksſchichten 
bean{pruden fol, auf einem Gegeneinanderwirfen und 
Sich-Ausgleihen der verjhiedenen Rechtsideale be- 
tuben muß. Der regelnde Gewaltentrager muß über 
den Parieien ftehn, darf nicht felbft Repräfentant nur 
einer Parteianfhauung fein. Fur etwas Erfprießliches 
alt Schmidt das Nebeneinander von zwei Kammern, 
r fommt darauf zu fprehen im Arbeitsredt, 
daß er neben bas Privatre dt ftellt: unter der 
Unterabteilung „Berufstörperfhaften und Arbeiter» 
verfiherung“. Verheißungsvoll war ihm das Zwei— 
fammer{yftem, wie es 1904 in Baden und 1906 in 
Württemberg eingeführt worden ift: das eine Haus 
ein Kollegium der fonfumierenden Gefamtheit, das 
andere das der materiell und ideell probuftiven 
Sdidten, die für daß geiftige und wirtſchaftliche Gee 
deihen vor allem bie Verantwortung tragen. Nur 
war ibm da8 Syſtem dort nidt ausgebaut 


genug, dba die Wertreter der Angeftellien, Ar- 
beiter und Kaufleute fehlten. Ueberall ent 
sieht fih der Berfaffer,  befonders aud im 


privatredtliden Teil nidt der Auseinanderjegung 
mit ber Wirllidfeit, gwifhen Sollen und Gein, und 
verhüllt nicht die Gegenjage, die nun einmal oft une 
überbrüdbar find. Das Bud ift nit nur für den 
Rechtöftudenten, fondern jeder mag danach greiien; 
er bat dadurd im Wirrſal der Gegenwart einen 
Faden, der ihn vor allgugroßen Jrrtümern und alle 
auweiten Abwegen behütet. . Deinhardi. 

Zußculum-Büder: 1. Bd. O. Horas 
tius Placcus, Carmina, lateiniſch und deuiſch. 
145 6. — 4. Bd. Publius’ Ovidius Nafo, Liebes- 
tunft, lateinif und deutſch. Ernſt Heimeran, 
Münden. 

Dieſe Bücherreihe bringt eine Sammlung lateini- 
ſcher Stlaffifer, die auf der linfen Seite den Urtejt, 
auf der rechten die Weberfegung gibt. Die Beitim- 
mung der neuen Ausgaben tut fih in dem Namen 
Tusculum fund: fie wollen dem bienen, der in ftiller, 
bebaglider Stunte — procul negotiid — fi in die 
alten klaſſiſchen Werke verfenten will. Ein ange» 
nehmes, durdhaus nidt fdulmagiges Gemand, 
Xajdhenformat, gelegentlid aud Sluftration follen 
der Tusculum-Stimmung entgegenfommen. Wir 
baben GSchulausgaben und pbilologijde Ausgaben 
enug, endlich fommen nun dieje Ausgaben, die 
ch an den gebildeten Liebbaber edler klaſſiſcher Dich- 
tung und Gchriftftellerei wenden. Die gr 
madt dem, defjen Latein von der Schulzeit her jchon 
etwas wadlig geworden ilt, bie Leltüre ohne Worter- 
bud möglid. Es ift ein Vergnügen, in dieſen 
Bandden zu lefen. Wir raten, fie mıt in die Ferien 
ju nehmen. — Der Horaz-Band enthält die Oden und 
Epoden. (Hoffentlich folgen die Gatiren bald) Die 
Meberjegung ift auf Grund von Th. Kayjer und 
Mordenfly bearbeitet von Brang Burger. Man 
wird fie nicht für fi lefen, fondern ald Vorbereitung 
auf das bdanebenftehende Original, fo erfüllen jie 
ihren Dienft. — Die berühmten drei Bücher der 
„ars amatoria” des Ovid, des ungliidliden Zeit- 
genoffen des Horaz, bringen die Hergbergihe Ueber» 
egung, von franz Burger neubearbeitet. Ein An- 
ang läßt den Aufbau des Werkes erfennen und gibt 
willlommene Anmerkungen, bejonder3 zur Erfläruug 
der mpthologifhen Namen. (Keine Xektüre für Lieb» 
haber des ,Reigens” und des ,Qunggefellen”, fie 
werden fdon nad einigen Verſen ermiiden, da man 
immerhin ar und fulturbiftorifche Einftellung 

u 


gum Gen diefes Genießerbüchleind der auguftei« 
{den Beit braudt.) — Wir würden uns freuen, 
wenn dad Tusculum-Unternehmen glüdt; denn der 


edle bumaniftiihe Geift follteqnidt ausfterben in 

Deutſchland. Aus ihm ziehen unfre Beften Kraft, die 

Klopitod, Goeiye, Schiller, Hölderlin, Mörite, St. 
Der Fränkiſche Bund. Eine Bierteljahrs- 

{rift für franfifhe Kunft und Kultur. Herause 

ge DB. Günther Schredenbah. Verlag Der Bund, 
ürnberg. 


Bwei ftarfe Hefte (176 Seiten nebft Umfhau auf 
dünnerem Bapier) liegen vor. Die Aufgabe der 
Beitidrift, Boltöfunde und Kunft der Franken zu 
pflegen, alfo dem geiftigen eben eben dieſes deut» 
es Volksſtammes zu dienen, ift in muftergiltiger 

eife durchgeführt. Es wird die rechte Mitte zwiſchen 
reiner Wiffenjdaftlidfeit und bloßem Yeuilleton ge» 
halten. Die Ausftattung ift vorgiglid in Drud und 
Bilderbeilagen. (Ym 2. Heft ein intereffantes Bildnis 
Karl Brögerd von Hans Werthner) Die Franten 
haben bier ihrer Sultur-Ueberlieferung wieder ein» 
mal Ehre gemadt. Den volfstundlidhen Teil leitet 
Prof. Dr. Perer Schneider, Würzburg, den fünfte 
leriſchen Dr. Heinrih Höhn vom German. Mufeum. 

jit ältere Literatur und Theaterwiſſenſchaft zeichnet 

t. &. ©. Wießner-Nürnberg, für moderne Literatur 
Anton Dörfler, für Mufit Anton Hardörfer. Durd 
Aufzählung einzelner beetle 1 die Zeitſchrift charak⸗ 
terifieren zu wollen, wäre ſchwierig. Sie bietet ſich 
als Ganzes und muß als Ganzes genommen werden. 
Möge fie ald Vorbild für andere Stämme wirfen, 
aud in der Art ihrer Orgenjerlon! St. 

Ju der Luft unbejiegt. Erlebniffe ım 
Weltkrieg, erzählt von —— DEE. tausg. von 
Georg Paul Neumann. it 6 Bilbnifjen. 316 &. 
Geb. 6.— M. J. F. Lehmanns Verlag, Minden. 

Das Verf fließt fi) den befannten Banden , gm 

[de unbefiegt” und „Auf Eee unbefiegt” an. Das 

eleitwort Rudendorffs ſchließt; „Möge diejes Bud 
ebenjfo wie „Im Felde unbefiegt” und „Zur See 
unbefiegt“ ung mit Stolz erfüllen über unjere Taten 
und möge es dazu beitragen, daß wir erfennen, was 
Gegenwart und Zukunft von uns fordern.“ Das ift 
der Bwed diefer Bücherreihe: den Stolz aufzuridten 
und den Willen zur Bereitfhaft gu fördern. Yn 50 
Beiträgen geben Mittampfer Zeugnis von ihren Ere 
lebniffen, von allen Fronten (aud aus dem Jordan⸗ 
tal und von Bagdad), aus allen mogliden Eılua- 
tionen, von Flugzeugen und Ballons. Welde Fülle 
bon BWagemut, Tatfraft, berrifher Selbitbezwingung, 
erfinderifher Riugheit! Und der mwilingerhafte Geiſt 
in fleinen Epifoden wie ber vom mürttembergijden 
Vizefeldmebel Schäfer. S. 82. Obne literarijdhen 
Ehrgeiz, im unbetiimmerten Soldatenton weniger ge- 
chrieben als erzählt, werden die Stüde befonders aud 
ie ältere Jugend feffein. Und dies, daß dieſe Bücher 
den fraftvollen, friſchen Geijt giindend an die Jugend 
weitergeben, ift nod wichtiger als daß fie dem Hijtorie 
fer und Kulturhiftorifer wertvolle Kunde davon bere 
mitteln, „wie es wirklich (nicht bloß nad der 
Meinung einer theoretiihen Weltanjdauung, og 
weſen ift.” t. 

Konrad Befte, Grummet. Roman, Bud- 
mud von Rudolf Sdlidter. Frang Schneider 

erlag, Berlin-Yeipzig-Wien. 191 &. Geb. 4,— Me. 

Ein im Jd-Ton gejdriebener Roman eines 
Grofftadtdidters, der aud Sehnſucht nah der 
Miuirer Erde bat und in dem ländlihen Ort, in den 
er flüchtet, feine Grau findet: ein echtes bäuerliches 
Menjdentind. Reine Freude laft das Bud trotz 
diejer gefunden Grundanfhauung und ns ae es 
mehr als Unterhaltungsleftüre geben will, nidt 
auffommen, weil die ganze Umwelt in fo merk 
würdig verzerrien und farrifierenden Linien gezeichn 
iſt. Gerade wie die beigegebenen Bilder. G. K. 

Dtio Brüning, Der Tieabend Un- 
tegungen zur Geftaltung der Jugendgeſelligkeit im 
Turnverein. Geb. 2,50 Mt. Grundpr. Wilhelm 
Rimpert, Dresden-A. 1, Marienftr. 16. 

Durd Schrift und Tat fudt Br. die von ben 
Zurnern gepflegte Gejelligleit neuzugeftalten. Die 
neue Form will er bilden aus Jahns Forderungen 
und der Xebensart, wie fie der Wandervogel unjerer 

ugend gebradt bat. Die Geftaltung der Gejellig- 
eitsabenbde („Zieabende“) der Turnerjugend mird hier 
nad allen Geiten Mar und gtiindlid) behandelt. 
Nirgends etwas Ueberftiegenes, jondern alles aufs 
geſund Praktiſche eingeftellt und ccs in unjerm 
Geift. Wir empfehlen es allen Führern der jungen 
Turner angelegentlidjt. G. &. 








Gedrudt in ber Hanfeatifhen Verlagsanftalt Wltiengefellidaft, Hamburg 36, Holftenwall 2, 


134 





Aus dem Deutfhen Boltstum Alfred Rethel, Rüdeger 





Aus dem Deutfihen Voltstum Emanuel Bardou, Kant 


Deutiches Bolfstum 


4.Heft Cine Monatsichrift 1924 





Die Tantifche Ironie. 


enn der Genius Sleifh wird, nimmt er zuweilen fonderbare Hüllen an. 

Der Genius des Philofophen, der den tiefften Stollen in den grauen 
Berg der Ewigkeit trieb, ftand in der Dämmerjtunde mit dem Rüden am 
Ofen in einer fablen getiindten Studierftube, hielt die Pfeife in der Hand, 
blidte über die Pappeln des Nachbargartens hinweg auf die Spike des Lö— 
benidter Dorffirdturms und — dadte. Als die Pappeln fo Hod) wudjen, 
daß die Turmſpitze dahinter verſchwand, fühlte fid der denfende Genius am 
Kachelofen irritiert. - Der Herr Nachbar war fo entgegenfommend, die Baume, 
die dem Glug der reinen Bernunft im Wege ftanden, oben abgufdneideni 
Da fonnte der Geift fid wieder über den Löbenichter Kirchturm und weiter 
hinaus über Raum und Veit hinweg ſchwingen zu jener geheimnispollen 
Grengpforte, Durch die der ſchmale Pfad aus der Sinnenwelt in die intelligible 
Welt Hinüberführt. 

Was hat der Kachelofen und der Dorfkirchturm mit Grfenntnistheorie 
und Metaphpfif, mit Gott, Freiheit und Unfterblichkeit gu fdaffen? Darauf 
gibt uns einer Antwort, der beffer als andre die Deutſchen fannte. Wilhelm 
Raabe fagt: „Wohin wir bliden, ziebt ftets und überall ber germanifche Genius 
ein Drittel feiner Kraft aus dem Pbiliftertum und wird bon dem alten Riefen, 
dem Gedanken, mit weldem er ringt, in den Lüften ſchwebend erdrüdt, wenn 
es ihm nicht gelingt, zur rechten Zeit wieder den Boden, aus dem er erwuchs, 
gu berühren.** Dies eben wollen wir beweifen: daß man in der Pringeffinnene 
ftraße hinterm Königsberger Schloß und auf dem Dammweg zur Feſte Sried- 
rihsberg ebenfo wie auf den Wegen zwijchen Nippenburg und Bumsdorf 
alle Welten überwinden fann, fowohl die Welt, in der die Kanonen des großen 
Friedrich Donnern und die Grenadiere marfdieren, wie die, in der Gevatter 
Dinjemeier drei Lot brafilifhen Koffee abwiegt. Die Kraft, die zu über- 
winden vermag, nennen wir: die fantifde Ironie. — 

Da träumt er, ein Eleines, ſchmächtiges Männlein mit fdmaler, einge» 
drüdier Bruft in feiner Studierftube. Auf dem fchlaffen Körper aber fist ein 
merfwürdiges Haupt, ein berrlid) gemwölbter Schädel. Unter der mächtigen 
Stirn verſchwindet faft der untere Zeil des Gefidtes. Und wie rundet fid 
der edle Schädel nach hinten! Die blauen Augen find finnend gefentt, aber im 
Geſpräch blinken fie lebhaft. Nun wirft der Herr Profeffor einen Blid auf 
die Uhr: es ift Wusgebensgeit. Gr ftülpt die blonde Periide über den Kopf, 
ein wenig chief freilid. Den Schlafrod vertaujdt er mit einem würdigen 
Rolokohabit, und alsbald fteigt er die Treppe des alten, ftillen Häuschens 
binunter und wandelt, den Stod in der Hand, den gewohnten Weg. „Der 
Herr Profeffor Kant geht vorbei,“ fagen die Königsberger und ftellen ihre 
Uhren danach. Go geht er fpagieren, gleich unbeirrt bon der grillendurch- 
irpten Nachmittagsglut wie bom naffalten Regenſchauer. Das denfende 


* Abu Selfan, im Anfang des 35. Kapitels. 





137 


Haupt fhwebt über dem Weg dahin, das Körpercdhen, gleihfam ein An- 
bängfel desfelben, eine Hilfsfonftruftion, wandert unter dem Haupte Her, da 
es Dod) wegen der Anziehungskraft der Grde eine Stüte braudt. Auf diefen 
einfamen Gängen [haut Rant, da erdämmert ihm die Klarheit der Bee 
griffe, da enthüllen fid ibm Die Spidenzen. Gr taftet der Struktur des 
Menfchengeiftes und des Weltalls nad. Sein Werk entjteht als eine innere 
Anfdauung, arditettonifd gefügt in ftolzer Logik. Diefer Mann weiß, daß 
er ein geistiges Werk errichtet aere perennius, und daß mit Diefem Werke der 
allgemeine Menjchengeift fic zu einer neuen Stufe der Grfenntnis empore 
hebt. Go wandelt Prometheus unter der Periide, die mageren Beinden in 
Kniehofen und Geidenftrümpfen, über das Königsberger Pflafter. 

Kant war mit Bewußtfein Spießbürger, um fein Genie entfalten zu können. 
Gr war wie ein DHolgiges, trodenes, ftaubiges Pflanglein, das, mit zähen 
Wurzeln im mageren Heimatboden haftend, eine den profanen Augen unfidt- 
bare Himmelsblüte entfaltet, daran Gott mit feinen Gngeln fich ftill erfreut. 
Wohl hätte Kant fi im Trubel irdifher Ehren weithin „auswirken“ fönnen. 
Der preußifhe Unterridtsminifter v. Zedlit drängte ibm eine glänzendere 
Brofeffur in der größten preußiſchen Univerfitat (Halle) faft auf. Gr fette 
ibm (nod por dem Grfdeinen der „Kritil der reinen Vernunft“) gu: es fet 
„Pfliht“ eines folden Gelehrten, den größtmögliden „Nuten zu ftiften“. 
Wie mandhes Genie würde fi) das nicht zweimal fagen Iaffen: Gelb und 
Ehren und „Auswirfungsmöglichkeiten“! Kant aber meinte: „Gewinn und 
Auffeben auf einer großen Bühne haben, wie Sie wifjen, wenig Antrieb für 
mid. Gine friedlihe und gerade meinem Bedürfnis angemeffene Situation, 
abwedfelnd mit Arbeit, Spefulation (d. 5. philoſophiſchem Nachdenken) und 
Umgang befest, wo mein febr affiziertes (d. 5. leicht erregtes), aber fonjt 
forgenfreies Gemüt und mein noch mehr launifcher, doch niemals franfer 
Körper ohne Anftrengung in Befdaftigung erhalten werden, tft alles, was 
ih gewünſcht und erhalten habe. Alle Beränderung madt mid 
bange, ob fie gleich den größten Anfchein zur Verbeſſerung meines Zu— 
ftandes gibt, und ih glaube, auf dieſen Inftinft meiner Natur 
Adht haben gu müfjen, wenn id anders den Faden, den mir die Pargen 
febr dünn und zart fpinnen, nod etwas in die Länge ziehen will.“* Gr folgte 
nit dem ehrenvollen Ruf der lauten Welt, fondern der ftillen, bangen Mah— 
nung des Inftinkts: verſchwende die wenige irdiſche Kraft nicht an das, was 
die Menfchen „dringende Aufgaben“, „ungemein wichtige Wirkungen“, „ideale 
Ziele“ uſw. nennen, fondern bewahre dir die ruhige „Unbefcholtenheit der 
Augen“ und die Hare Kraft des Iogifchen Denkens. Was du für den Tag 
wirfft, bridjt du deiner Wirkung auf das Jahrtauſend ab. So blieb er 
im fernen Königsberg fiten und — ließ die Leute gu fic) fommen, ftatt zu 
ihnen zu laufen, und fab ſich nicht einmal danad um, ob fie wohl famen 

Kant wohnte nit nur im oberen Stodwerf feines Haufes, fondern in 
einem oberen Stodiwerf, das er fich über Raum und Zeit erbaut hatte. Dort 
{ab er bon Unendlichkeit zu Unendlichkeit, und die irdifchen Dinge wurden ihm 
ganz Elein. Bon der fühlen Höhe fab er dem Spiel der Weltgefchichte mit 
wehlwollendem Sntereffe zu. Aus diefer Stimmung entwidelte er eine eigen- 
tümliche Ironie, die fich mit feiner Neigung zu trodener, unmerflider Schalf- 
baftigleit verband. Am reizpollften zeigt fie fid in feinen Altersfchriften. 
Da ift {don die Architektur der Werke pon barodem Humor. Das Büchlein, 


* Brief an Warfus Herz vom April 1778. 
138 


das die Worte aus dem „Schilde jenes Hollandijden Gaftwirts, worauf ein 
Kirhhof gemalt war“, trägt: „Zum ewigen Srieden“ ift in die Gorm eines 
hochpolitiſchen internationalen Griedensvertrags gekleidet, mit Präliminar«- 
artifeln und Definitivartifeln, fogar ein „geheimer Artikel“ fehlt nicht. Es 
fällt Kant nicht ein, fic für den Mann gu halten, der den Herren diefer Welt 
beizubringen im Stande wäre, wie fie bier und jest eine gefcheitere Politik 
maden fünnten, denn er weiß, daß die Natur ihre feltfamen Wege gebt. Gr 
will nichts andres als einerfeits den leichtfertigen Kriegserflärern das Gewiſſen 
weden und anbdererfeits den Schwärmern fagen, welche Bedingungen in der 
Weltgeſchichte erfüllt fein müßten, ehe das Ideal des wirkliden Friedens fid 
follte erfüllen fönnen. Gr fett dem Büchlein eine altfräntifh graziöfe 
„Klaufel“ voran, er wolle den hochmögenden Prattifern der Politik nicht ins 
Gehege kommen, alfo möchten auc fie ihm, dem Philofophen, nidt ins Gee 
bege fommen — „dur welde claufula falpatoria der DBerfaffer diefes fid 
dann biermit in der beften Gorm wider alle böslihe Auslegung ausdrüdlich 
verwahrt wiffen will.* (Man fühlt aus den Worten Die fcherzhafte Bers 
beugung heraus.) Dem Berfaffer ift freilich weniger das Schidjal einer bd 8- 
willigen als gutmilligen Auslegung miderfahren. Die braven und fried« 
liebenden Bürger haben ihn für ibresgleidhen gehalten, und fo gilt Immanuel 
Kant als anerfennenswerter „Borläufer* des Herrn Profeffor Quidde mit 
den fanft ftaunenden Idealiften- Augen. — Aud der „Streit der Fakultäten“ 
zeigt einen ähnlich baroden, bumorvbollen Aufbau; er ift zudem voll heimlicher, 
pbilofophifher Anmut der Begriffe. 

Aus diefer Schrift feien ein paar Gingelbeifpiele angeführt, um die 
trodene Ironie des Ausdruds zu kennzeichnen. „Man wird den Gelehrten 
nidt verdenfen, daß fie, von denen faft alle Shrentitel, mit denen fich jest 
Staatsleute ausfhmüden (das „aus“ſchmücken ift ein befonderer Hohn), guerft 
ausgedacht find, fich felbft nicht bergeffen haben.“ Die Regierung, meint der 
Schalt, „behält fid) das Recht vor, die Lehren der oberen (drei Fakultäten) 
felbft zu janktionieren; die der untern (der philofophifchen Fakultät) überläßt 
fie der eigenen Vernunft des gelehrten Volks.“ Daß man die philofophifche 
Fakultät die „untere* nenne, fomme daher: „Daß nämlich der, welder bee 
fehlen fann, ob er gleich ein demütiger Diener eines andern ift, fid Doch bore 
nehmer dünft als ein anderer, der zwar frei ift, aber niemandem zu befeblen 
bat.“ 

DBefonders gern ſchlüpft die fantifhe Ironie in anfdeinend nüchterne Bee 
griffsbeftimmungen. Der arglofe Lefer nimmt fie oft allzu bieder. Man febe 
fid beifpielsweife im dritten Stüd der „Religion innerhalb der Grengen der 
bloßen DBernunft“ die Definitionen des Unglaubigen, des Srrglaubigen, Des 
Ketzers, der defpotifchen und der liberalen Orthodozie ufw. genau an; in ihnen 
beluftigt fid) der Philofoph über die Leidenfdaften der Menfchen. 

Die geiftigfte Form der kantiſchen Ironie ift der berüdhtigte Perioden«- 
bau feiner Gage. Man vergleiche den Stil des erften Entwurfs feiner Bere 
antwortung gegenüber dem bon Woellner veranlaßten Reffript mit dem Stil 
des wirklich abgefandten Briefes. Der Entwurf, der mehr aus der unmittel- 
baren Bewegung des Gemütes entftanden ift, lieft fich ziemlich „glatt“. Dann 
aber referbierte fid) Rant und 30g fi) in fein oberes Stodwerf zurüd. Bom 
philofophifhen Olymp herab redete er mit König Friedrid Wilhelm dem 
Zweiten gwar „in tieffter Depotion erfterbend“, aber in jo wunderbaren Schade 
tel- und Schnörkeljägen, daß der König fdwerlid die Geduld Hatte, fie zu 
entwirren, und der Herr Minifter Woellner Hat fiderlidh mit angeftrengter 


139 


QAufmerffamteit an dieſen Säten gerohen. Kant hat zweifellos mit einigem 
Vergnügen zugefehn, wie die Menjchen mit fürzerem geijtigen Atem mühſam 
feine langen Perioden durchkrochen. Gr verfügte über ein weites Gedächtnis, 
er überjah die Perioden bon Anfang bis Gnde. Aber der normale Lefer Hat 
in der Mitte des Gages oft den Anfang vergeffen. Kant Fann auc anders 
ſchreiben, aber er liebt es, fi por dem gemeinen Lefepöbel zu abfentierem. 
Dieje Ingijhen Barodbauten haben eine merfwürdige Majeftät für den, der 
fie zu erfafjen weiß. 

Aus Kants majeftätifcher Ironie heraus verftehn wir es, warum er den 
Berweis bom König fo ruhig „einftedte*. Alle Welt erwartete einen „Kampf“ 
zwiſchen Kant und Woellner, das Aufbäumen der Freiheit des Menjchenger 
[chlechtes gegen die Shrannei der Fürften. Kant aber wandelte nicht auf den 
Spuren des Marquis von Pofa, er verzichtete auf Lärm und Sieg und Ruhm, 
er legte das Papier ruhig beifeite und fagte weiter nichts. Das ift den Tages- 
größen unfaßlid. „Serpilität* und „Senilität* werden aufgeboten, um Kants 
Sat oder vielmehr Nicht-Tat pſychologiſch zu erklären. Aber es ift nichts 
als die Ironie des Weifen: Gebet vorüber, Menfchenkinder, ich daure länger 
als ihr. Und die innerfte Griladrung gibt auch bier Wilhelm Raabe: ,. ... fie 
laffen fi aber gerade deshalb defto williger bereit finden, alles das, was 
man bon ihnen verlangen will, bergugeben, wenn aud nur, um fo ſchnell als 
möglich wieder Rube zu haben vor der Narrheit und Unverfchämtheit des 
laufenden Sages. Das Befte, was der Menſch im Leben haben fann, ift 
ein Stüd bon dem, was er im Tode gang haben wird, — Rube“* - 

Was aber der fantifdhen Ironie ihre Gigenart gibt, ift, daß fie mehr als 
Wi und Geift und Meberlegenheit, daß fie die Abwehrftellung einer Seele 
ift, in deren innerfter Siefe Ghrfurdt, Staunen und Grhabenheit wohnt. 
Gang felten, und aud dann nur verhalten, bricht das innere Pathos berpor, 
jene treibende Kraft aus dem Kern des Menſchen Kant, die ihn zu feinem 
Werke gegwungen und fein Werk fo gebildet hat, wie es if. Der Schluß 
der ,@rundlegung zur Metaphyſik der Sitten“ und der „Beſchluß“ der 
„Kritik der praftifhen Vernunft“ offenbaren jenes Pathos. Für die ſchärferen 
Obren Elingt Hier vernehmlih der große Ton der Gwigfeit hindurd. Gs ift 
nicht die Sprache Luthers oder Safob Böhmes, nit die Sprache Goethes, 
aber es lebt darin Derfelbe Geift, der nicht nah Wahrheiten, fondern nad 
der Wahrheit ringt. Aus ihnen allen tönt der Klang der augenflaren Wahr- 
beit. 

Meber feiner eigenen irdifhen YZufälligfeit ftebend, löſte fic der alte 
Kant aus feinem Grdenleibe im Raum und von feiner Grdenfeele in Der 
Zeit. „Was fehen Sie an mir altem, abgelebtem Manne?“ fagte er gu den 
DBeiwunderern, die ihn auffudten. Einige Tage vor feinem Tode bemerkte 
er: „Das Gefühl für Humanität (d. b. das Gefühl, nod als Menfd zu 
eziftieren) hat mid) nod nicht verlaffen.* In feiner legten Grdennadt reichte 
ihm fein treuer Freund und Pfleger, der Pfarrer Wafiansti, einen Löffel voll 
Wein, Waffer und Zuder. Der fterbende Greis flüfterte faum hörbar: „Ss ift 
gut.“ Das war der lette, ganz leife irdifhe Hauch, den der feheidende Geiſt 
bon dem Wege ins Intelligible rüdwärts in die Sinnenwelt fandte. Bald 
ebbte der Puls, das Auge brad, und endlich ftand der Iette Atem ftill. 
Das denfende Haupt der Menfchheit war ganz in jener Welt, deren Gefes es 
auf Grden erkundet und verkündet hat. Gin dürftiges, abgezehrtes Reftlein 
blieb zurüd. Diefer einfame Tod gehört auch zur „kantiſchen Ironie“. St. 


* Nadlaf. Sämtlihe Werke III, 6. S. 572. 
140 


Gom Kosmos und Metafosmos Kants. 
1. 


enn der Grfenntnisdrang im Rinde erwadht und es mit warum? und 

wiefo? die Eltern gu plagen beginnt, braucht es nur ein Wort für 
Das unbefannte Ding und alsbald „weiß“ es, was dag Ding ift. Zur Gre 
Härung eines ©efchehens braucht es nur ein Märchen. Mag das Märchen 
unwahrſcheinlich fein, wenn es nur eindru dfam ift, fo ijt der findlide 
Grfenntnisdrang befriedigt. Der Kinderftorch und der Ofterhaje find ,,Grfennt- 
nijfe“, Die für das Kind durchaus vollgültig find. Die Phantaſie mit ihren 
Ioder gereihten Affoziationen „erklärt“ dem Kinde die Welt. Nicht anders 
ift es bei den jugendliden Völkern („Naturvölfern“). Die höchfte Entfaltung 
der Grienntnis auf diefer Stufe ift der Mythos. Gs ift das myhthologiſche 
geitalter der Menfchen. 

Eines Tages beginnt das Kind zu fragen: „Ift Die Geſchichte aber aud 
wirklich fo gewefen?* Was nit „wirklich“ gefdmeben tft, fällt der Bere 
adtung anheim. Der Grfenntnisdrang des Kindes befriedigt fid nicht mehr 
in den leicht bemegliden Wffogiationen der Phantafie, er fudt nad einem 
fefteren Gefiige. Das ,Gefte* aber ift die Wirflihleit. Und wie 
das Kind fo werden ganze Völker allmablid wirklidfeitsreif. Nun ift bie 
Welt und das Leben darin nicht mehr Märchen und Mythos, fondern Wirk 
lichfeit. Ueber dem loſen Gefüge des WAffogiationsgefekes erhebt fich das ftren- 
gere ®efüge des Kaufalgefeges. Der Srfenntnisdrang ift erjt befriedigt, wenn 
der Kaujalzufammenbang eines Dinges oder Greignifjes fejtgetellt ijt; Denn 
erft was jich unter Die Kaujalgejege fügt, ijt „Wirtiichteit“; was nicht faufal= 
gejeglich erflärbar ift, bleibt ein Unding, eine Phantasmagorie. Die hidfte 
Entfaltung der Grfenntnis auf diefer Stufe ift die Kauſalwiſſenſchaft. 
Gs ift das wiſſenſchaftliche Zeitalter der Menfchen. 

And abermals bricht eine neue Blüte des Geiftes auf. Die Menjchen 
baben erfannt, was „wirklich“ ift. Aber was haben fie bamit gewonnen? Gut 
— bie Dinge find ,wirklid“, uns täufht fein Märchen mehr. Aber leije be» 
ginnt der. Grfenntnisdrang darüber Hinausguftreben, er will nicht mehr bloß 
wiffen, was und wodurd etwas ift, fondern aud, warum es fein muß. 
Die Naturwiffenfhaft erklärt, aus welden Urſachen die Dinge fo find, wie 
fie find; aber — warum müjfen fie denn fo fein, wie fie jind? Warum 
fann es nicht auch anders fein? Man will nicht mehr bloß den Kaufalzu- 
fammenhang wifjen, fondern darüber hinaus jenen Zufammenhang, den wir 
burd) das Wörtchen „müjfen“ bezeichnen. Das Seinmüjfen ijt ein noch fejterer 
Zufammenhang als das bloße Wirklid-fein. Man fudt Hinter dem Raus 
falgujammenbang den Weſens zuſammenhang. Man fudt durd die Welt 
der „Wirklichkeit“ Hindurchzudringen in das Reich der „Notwendigkeit“. Das 
Ergebnis der Grfenntnis auf dieſer Stufe ift nicht die „Wirklichleit“, ſondern 
das Spftem. (Das „Shftem“ ift nicht ein bejchreibendes Abbild der wirk— 
lihen Welt, fondern eine Aufzeigung der Wefenszujammenhänge der Welt, 
ein Nachzeichnen der „innern Struktur“) Die höchſte Entfaltung der Erkennt— 
nis auf Diejer Stufe ift die Philoſophie. Wir treten damit in das 
pbilofophifhe Yeitalter der Menfchen ein. 

Der Schritt bon der zweiten zur Dritten Stufe ift zum erften Mal, {poe 
radiſch und zufällig, aber genial, bon den riechen getan worden, damals als 
fie die Mathematik und die Logit entdedten. In dieſen „Wiſſenſchaften“ — 


141 


die viel mehr find als bloße Kaufalwiffenfchaften — griff der Geiſt zuerft 
durch den Nature und Wirklichkeitszufammenhang hindurch in den Wefens- 
gufammenbang; gum erften Male begannen fid ihm nicht nur Mythen, nicht 
nur Raufalreiben, fondern „Syſteme“ (der Mathematik und Logif) zu formen. 
Seit dieſer Entdedung tradteten die europäifchen Denker immer wieder nad 
jenem fefteren (überlaufalen wie innerwirfliden) Zufammenhang, der mit 
dem Worte „Notwendigkeit“ bezeichnet wird. Gin folder Verſuch, der aber 
nidt zum Wefen gelangte, ift das merfwiirdige mathematifch-ethifche Syſtem 
Spinogas. Grft in dem Haupte Immanuel Kants ward der Uebergang ins 
dritte Reich der Grfenntnis grundfätlidh und allgemein vollzogen. 
Kant ftieß das Tor ins philofophifche Zeitalter auf. Das ift feine Bedeutung 
für die Menfchheit. 

Die Mehrzahl auch der gelehrten Wenſchen befriedigt ihren Grfenntnis- 
drang nod immer völlig im Kaufalwiffen der Naturwiffenf{daft (wobei aud 
bie Geifteswiffenfdaft nur als ein „Gebiet“ derfelben erſcheint). Sie find 
nod nicht notwendigfeitsreif. Darum begreifen fie Kant nidt. Wie fönnte 
man eine Antwort verftehn auf eine Frage, die zu ftellen man nod nicht 
fähig ift? Wie einem Rinde die „Wirklichkeit“ gleichgiltig ift, fo einem 
Naturwiffenfaftler der Wefenszufammenhang. Grft der, dem das Herz 
heiß ift nad der Grfenntnis, warum die Dinge fo fein müffen, wie fie find, 
darf gu Kant geführt werden. Aber einmal reifen die Menjchen endlich heran, 
dann müſſen fie dur die Pforte Kants. Gs gibt fein Wusweiden. 


2. 


Taufend Geſetzmäßigkeiten hauften fie zufammen, die Aftronomen, PBhy- 
filter, Shemiler, Pſychologen, Hiftorifer, Nationaldfonomen ufw. Bujammene 
faffend malen fie uns aud wohl Theorien, wie der Kosmos etwa entftanden 
fein könnte. Wenn es möglich wäre, das Ideal dieſer Wiffenfdaften zu ere 
füllen (was in der Sat nicht möglich ift, vielmehr „muß“ die Kaufalwifjen- 
{daft ewig Fragment bleiben; es liegt in ihrem „Weſen“, Stiidwerk zu fein), 
fo hätte man ein genaues Abbild des tatfadliden Werdens der wirklichen 
Welt. Aber: was ift es, „was die Welt im Innerften zufammenhält“? 
Warum ift diefer chaotiſche Haufe bon Dingen und Gefemäßigfeiten, den wir 
als in ein großes Kaufalgewebe verflodten denken, warum ift das alles eine 
Welt, ein Kosmos? Da die Welt eben eine ift, müffen all die taufend Ge— 
fegmäßigfeiten zufammengebunden fein in einem letten, großen, durchgehenden 
Geſetz — weldes ift das? Wo finde ich den innerften Punkt, in dem das 
feltfjame ®ebilde „Welt“ fid gufammenfdlieBt? Wo fein heimlides Sejes, 
das die Sonnenfpfteme und die Atome, das Tote und das Lebendige zu— 
fammenhält zu einer ungebeuren, in ſich gefdloffenen Einheit? 

Diefen Punkt und fein Geſetz entdedte Kant in dem, was wir mit dem 
Worthen „Ih“ bezeichnen. (Erfehrid nicht, waderer Lefer, Du bift nicht gee 
meint; fo Grofes hat Kant nicht von Dir gedacht. Gs handelt fid weder um 
Dein nod um fonft jemandes „liebes Ich“.) — 

Der Kosmos wäre zweifellos aud da, wenn fein Menſch etwas von ihm 
wüßte. Als es „noch feine Menſchen gab“, tönte fdon die Sonne „nach alter 
Weife in Bruderfpharen Wettgefang“. Aber erft wenn der Kosmos mit 
Menfchenaugen gefehen und mit Menfdhengedanfen gedadt wird, ift er ein 
für Menfhen fihtbarer und dentbarer Kosmos Wiffen fönnen 
wir nur bon einem fidtbaren, fpürbaren, denkbaren Kosmos. Wovon man 
nidts wiffen fann, fanh man eben — nidts wiffen. Bei allem, was wit 


142 


wahrnehmen, vorftellen und denken, ift es alfo notwendig, daß es eben — 
wahrgenommen, vorgeftellt, gedadt wird. Wer aber nimmt wahr? Wer 
ftellt fic etwas bor? Wer dent? Immer nur ein Ih-Wefen. Dieſes „Ich“ 
ift ein fih regendes Pünktchen, ein innerfter Herzfchlag, ein lebendiges Ouell- 
den, das unaufbörlich nad der Geſetzmäßigkeit feines Herzfchlags, [eines 
Quellens ein Dinglein nad dem andern erfaßt, formt, aufbehält und zu einem 
großen Ganzen zufammenfdließt, bis endlich durch diefes Ich Hindurd und 
für Diefes Ich der Kosmos ba ift. Das Ich fdlieht Bild an Bild, Begriff 
an Begriff — endlos; darum ift der Kosmos endlos und unausforfehbar. Das 
Geſetz dieſes Quellpüntthens muß gugleid das Geſetz des ganzen von ihm 
erfaßten und geformten Kosmos fein; denn was nicht pom Ich-Pünttlein 
ergriffen und gebildet ift, ift für das Ih nidt da. Wenn wir fagen: der 
Kosmos ift aud) ohne das Ich da, Iosgelöft vom Ich („abfolut“), fo ift diefes 
„ohne»-Ich-dafein“ aud nur ein Gedanke des Ich, das ihn denkt — logiſch 
nad der Sefegmafigkeit des Ich geformt. Wo diefes rudende, zitternde 
Herzen, diefe „Syntheſis“ des Ih nidt am „Werden“ des Kosmos webt, 
wo es nicht Den Kosmos als ein Bewuftfein bom Kosmos aufbaut und in 
ein zufammenbängendes Wiffen bom Kosmos bringt, da — hört jedes Wort, 
jeder ®edanfe auf, da ift das dunkle Nichts. Alle Erfenntnis ift ichförmig. 
Das was erfannt wurde, erfannt wird und jemals erkennbar ift, muß dem Ich 
gemäß geformt fein. Die Geſetzmäßigkeit des Ich muß alfo die Geſetzmäßig— 
feit Des Rosmos fein. Wir nennen die Geſetzmäßigkeit des Ich feine ,,Ber- 
nunft“. Die Bernunftgefegmäßigteit ift alfo die innerfte Struktur des Kosmos: 
Diefes Geſetz des Ich (der „DBernunft“), das in Anfhauungsformen, Kate- 
gorien, Grundjage und Ideen zerlegt werden kann, beftimmt die gefamte 
Erfheinung des Kosmos; in ihm hängt alles ineinander. Wo aber ift dieſes 
merkwürdige Ich, wenn Du und ich und er es nicht „find“? 

Nun, die Zahl zwei „it“ nicht irgendwie „in“ zwei Bäumen oder zwei 
Striden, aber gleihwohl find es „zwei Baume“ oder „zwei Stride*. Die 
Zahl zwei gilt für die zwei Baume und Stride. So „bin“ id nicht jenes 
3h, aud Du „bift“ es nicht, aber jenes Ich „gilt“ für Did und mid und alle 
Ich⸗Weſen, feien es nun Menjchen, Engel oder Götter. Gin „Menſch“ fann 
nur dadurch „DBewußtfein“ haben, daß diefes Bewußtſein ichförmig, idbaft 
ift. Wenn etwas als Bewuftfein erfdeinen foll, muß ihm, jenes Ich, jene 
innerfte Shnthefis zugrunde liegen. In diefem Ich und feiner Gefegmäßigfeit 
ift die Struftur alles Bewuftfeins aufgezeigt. Die Struktur „it“ nicht 
bas tatſäch lide (empirische) Bemwußtfein, aber es „gilt“ für alles tate 
fählihe Bewuftfein. Ohne Ich-Struftur ift ein Bewuftfein unmöglich. 

Diefes „Ich“ bezeichnet im „Shftem“ des Kosmos Das ejgentiimlid Le— 
bendige der Schöpferfraft, burd die der Kosmos gefdaffen wird. Gs ift das 
Wefen der Aktivität überhaupt. GFreilid, zur Gejekmafigkeit des menſch— 
lihen Ich gehört außer der aktiven (Rant fagt „[pontanen“) Kraft nod Die 
Sabigkeit, Gindriide zu empfangen (Kant fagt „rezeptiv zu fein“). Das 
menſchliche Bewußtſein ift dadurch dharafterifiert, daß es niHt nur {pone 
tan, fondern zugleich rezeptiv ift, nieht nur fchöpferifh, fondern aud ge- 
{haffen, nicht nur af.iv, [ondern aud paſſiv. Gin rein fpontanes Wefen würde 
ins @renzenlofe ftrablen und fprithen, es würde ohne Widerjtand alles, was 
feinem Denfen entquillt, alsbald „Ichaffen“ — es wäre Gott. Wher der Menſch 
ift aud regeptibo und darum „begrenzt“. Der Kosmos des Menf den 
formt fid aus dem Widerfpiel von Aufnehmen und Schaffen. Der Kosmos © 0 te 
tes ift grenzenlos ftrablende, quellende Schöpferfraft — „und fo er gebietet, 


143 


fo ftebet es da“ —; der Kosmos der mit Raum- und Zeitanfhauung bebaf- 
teten Menſchenweſen aber ift nur die irdifhe Srfdeinungswelt, darin fid 
„die Gaden ftoßen“. Der göttliche Kosmos ift für Menfchen nur als ,,Ge- 
danke“ denkbar, aber nicht mehr raumegeitlid in der Anfchauung vorftellbar, 
gejdweige denn als ,,Wirklidfeit* wahrnehmbar; denn er liegt über alle Une 
fhauung Dinaus. Unfre Welt ift durch unfre Regeptivitat begrenzt. 


3. 


Sedes Ich ift immer aud ein ,fpontanes* Ich, es greift um fich, ergreift, 
begreift. Im Grgreifen geftaltet es fid den Kosmos als die gefegmäßig ge- 
ordnete Fülle der „wirflihen Dinge“. Diefes Grgreifen und Begreifen ift 
bas Gehen, Hören, DBorftellen, Denfen ufw., worin und wodurd mir die 
„Welt“ mit allem, was darinnen ift, uns aufbauen. Alfo ift das Grkennen eine 
Tatigteit des Ic. 

Aber in nod feltfamerer Weife als durch das Wahrnehmen und Denken 
ift das Ich tätig, handelnd, geftaltend. Ich bin nicht nur ein Wefen, das im 
Schauen und Denfen, fondern aud eines, das im Handeln lebt. Das Ich und 
feine ®ejegmäßigfeit („Bernunft“) ift nicht nur theoretifd (d. i. erfennend; 
theorein — anjdauen, erfennen), fondern aud) praktiſch (d. i. praftog: bane 
delnd; prattein — handeln). Ich ,erfenne“ nidt nur die Welt, fondern 
„will“ aud) etwas in, bon und mit der Welt. Ich Habe nidt nur Sinne und 
Gehirn, fondern aud) Herz, Hände und Füße; ich bin nidt nur ein Spiegel 
der Welt, fondern aud ein Brunnenfdadt, in dem Triebe und Willens- 
regungen aufquellen. Wie das erfennende Ich in die beiden Pole des Ane 
fHauens und Denfens (,,Sinnlidfeit* und ,,Berftand“) gefpalten ijt, fo ift das 
Geſamt⸗Ich gefpalten in ein erfennendes und Handelndes. Grft die beiden 
Pole des Grfennens und Handelns maden in ihrer Spannung ein volles, 
rundes Ih aus. 

Was das Ih „will“, ift fein „Zweck“. Gs Tann fic unendlich viele 
Swede ſetzen: Glück und Grfolg aller Art, wechfelnd bon Augenblid zu Augen- 
blid. Aber zuweilen regt fid im Ich ein Wollen, das mehr ift als das 
Streben nah Glück und Erfolg oder nad irgendeinem Effekt, der durch eine 
„Abficht“ angeregt ift. Gs gibt ein fonderbares Wollen, das unferm natür= 
lichen, triebbaften Wollen oft zuwider ift, das auch wohl gar gegen alles 
Glück und allen Grfolg gerichtet ift. Alsdann erhebt es fich über das Wollen 
binaus zu einem „Sollen“, bon dem wir nicht wiffen, warum? und wozu? 
Gs befiehlt nur fategorifd: tue das, oder laß das. Bei allen andern Willens- 
regungen Tann id fagen: Wenn id das und das erreichen will, fo muß id 
das und bas tun; es find alfo bedingte Willensregungen. Aber jenes 
„böbere“ fategorifhe Wollen und Sollen läßt fih auf fein „Wenn“ ein, 
fondern fordert unbedingt. Diefes Wollen ift der „gute Wille“, dies 
fes Sollen ift der „Lategorifche Imperativ“. Man nennt es aud die „Stimme 
des Gewiſſens“. Weil es fo unbedingt heifcht und antreibt, mit der Majeftät 
eines Gefeges, und weil die Form des Imperativs immer diefelbe tft, 
während der Inhalt immerfort wedfelt wie das bunte Leben, nennt Kant 
es aud) das „moralifche Geſetz“ oder „Sittengefeß“. 

Sretlid kann man verfuchen, diefen fo fchlichten, Haren und dod fo rätjel« 
haften „Imperativ“, der uns als „Pflicht“ bewußt wird und uns das Gefühl 
der „Achtung“ abnötigt, mit Hilfe einer pſychologiſchen Theorie zu „erklären“; 
aber damit wäre nur ber pſhchiſche Ablauf, nicht die Unbedingtheit des Sme 
perativs erflart. Dieſe „Unbedingtheit“, die fic) nicht weiter erklären läßt, 


144 


ift ein „Urphänomen“, eine letzte und unerflarbare Gegebendeit. Hier fließt 
etwas in uns ein, das nicht aus den Erfcheinungen des Kosmos hergeleitet und 
erklärt werden fann. 

Go ift das Ich voll frudtbarer Spaltungen und Spannungen. Ginnlide 
Anfhauung (Rezeptivität) und begrifflides Denken (Spontaneität) find die 
beiden Pole des Ich, zwifchen denen fid der Kosmos webt. Reines Denfen 
(Spontaneität) und guter Wille (unbedingtes und unmittelbares Wollen) find 
bie beiden Pole, zwifchen denen fid, unanfchaubar und nur im Denfen ere 
faßbar, der Metafosmos webt. Sinnenwelt und reine Gorm verbinden fid 
gum Kosmos der Wirklichkeit, reine Form und unbedingtes Wollen verbinden 
fim gum WMetafosmos des — Hier fehlt uns das redte Wort, im Mittelhod- 
deutſchen würde man fagen: des „Wunſches“. (Das Wort „Wunſch“ tft im 
Neuhochdeutſchen profaniert). Gin Pol nähert fic dem andern, und wenn alle 
Pole ſich deden, wenn das Sittengeſetz zum Naturgejes geworden ift — was 
freilih nur in der „Unendlichkeit“ gejchehen fann —, fo ift der Kosmos im 
Metafosmos aufgegangen und die Welt zum Reich Gottes geworden. 

So ijt im menjdliden Ich der unendlide Lauf der Geſtirne und das 
Kreijen der Atome ineinanderfließend mit dem heiligen Heifchen des Gwigen. 
Das menfdlide Ich gehört zwei Welten an: der Natur und der Webernatur. 
Das ift feine Seligteit und Unfeligfeit zugleich. 


4. 


Die Größe der kantiſchen Philoſophie ift ein Ausdrud der inneren Größe 
ihres Urhebers. Drei Werte in ihr empfinden wir als im fchönften Sinne 
deutſch: 

Grftens: Das unbedingte Streben nah Wahrheit. Nicht Schönheit oder 
Erfolg ift Kants Biel, fondern allein die Wahrheit. Mit forgfältiger Auf- 
merfjamfeit taftet er der Struktur des DBemußtfeins nad, im Kampf mit 
feinem eigenen logiſch⸗architektoniſchen Spieltrieb, immer darauf bebadt, das 
feftguftell[en, was das WAufleudten und Ginleudten der Wahrheit, den Sold- 
glanz des „So ift es und fo muß es fein“ im Gemilte entzündet. Der Dienft 
der Wahrheit ift Kants Gottesdienft.. 

‚Zweitens: Das geduldige Buriidgeben auf die Urphänomene Iſt Kant 
etwas „aufgefallen“, fo behandelt er das „Problem“ nicht etwa „geijtreich“, 
fondern er verfolgt es alsbald mit angeftrengtem Ernſt und zäher Geduld. 
Gr durdlauft alle Bedingungen, bis er zum Nidt-mehr-bedingten, zum „Un- 
bedingten“ gelangt, zum „Prinzip“ (principium — Anfangsgrund, nicht weiter 
erflärbarer Grundjag). Gr fudt nicht Hppotbefen und Theorien, fondern Prine 
gipien. Immer geht er auf das Lette und Hddfte: was ift „wahr“? 
was ift „gut“? Gr will die feftefte Seftigfeit und ficherfte Sicherheit. Daß er 
das „Unbedingte* in dem ſpezifiſch fittliden Wollen und Sollen auffpürte, 
ift an fic) {don eine glänzende Entdedertat. 

Drittens: Das Gefühl für die Polaritat alles Lebendigen. Kant zeigt 
überall die Doppelheit der Bedingungen auf, die gufammenwirfen müfjen, 
wenn ein Lebendiges fein foll. Gr philofophiert fich fein totes Sein zurecht, 
fondern er taftet Dem Werden nad. Gr erbaut nicht einen äfthetifch in ſich 
abgerundeten und abgejchlojfenen Kosmos (wie denn aud feine Werke Frag 
mente und Borarbeiten find), fondern zeigt uns ein ewiges fosmijches und 
metalosmijches Werben, das aus dem geheimnispollen Gral der Intelligiblität 
unendlich gefpeift wird. Anſere deutſche Sprade fonjugiert die Tätigfeits- 
wörter nicht nur wie die romanifhen Spraden mit „jein“ und „haben“, fone 


145 


dern aud) mit „werden“. Das Wörthen „werden“ fpielt eine merkwürdige 
Rolle in unferer Sprade. Darum ift es nicht zufällig, daß aud in unferem 
religiöfen und philofophifchen Denken das „Werben“ eine befondere Bedeutung 
bat. Anſer größter Denker baut nicht einen Kosmos des Gein 8, fondern 
einen in Unendlichkeit und Gwigfeit lebendig ſprühenden, perdämmernden Kos- 
mos des Werdens auf, in und hinter dem ein geheimnispoller Metakosmos 
„wird“. Gs geht ein Strom bon den alten Mythen über Wolfram bon 
Eſchenbach, Sdebart, Luther, Böhme zu Immanuel Kant. Gr durdflieft 
den Whthos, das AWthfterium, den ,mbdfticigmum purum“* und ergießt ficd 
endlich die reinfte, aufgeflartefte, riidfidtslofefte Philoſophie, die Doch wieder 
bebend und ftaunend por dem „ewigen Kontrarium ‚soljchen Lidt und Zinfter- 
nis“ ftebt. 

Sede künftige Philoſophie, die im edelften Sinne deutfch zu beißen ver⸗ 
dienen foll, wird diefe drei Werte bewahren müffen. St. 


Schöpfung und Geftaltung in deutfcher Lyrik. 
10. Schiller, Die Größe der Welt. 
te der fchaffende Geift einft aus dem Chaos fchlug 
Durd die ſchwebende Welt flieg’ id des Windes Slug, 

Bis am Strande 
Ihrer Wogen id Iande, 

Anker werf, wo fein Hauch mehr weht, 

And der Marfftein der Schöpfung ftebt. 

Sterne fab ich bereits jugendlich auferftehn, 

Saufendjährigen Gangs durdhs Firmament zu gehn, 
Gab fie fpielen 
Nah den Iodenden Zielen; 

Irrend fuchte mein Blid umber, 

Sah die Räume fhon — fternenleer. 

Angufeuern den Glug weiter zum Reich des Nichts 

Steur’ ich mutiger fort, nehme den Glug des Lichts, 
Neblicht trüber 
Simmel an mir borüber, 

Weltſyſteme, Gluten im Bad, 

Strudeln dem Sonnenwanderer nad). 

Gieb, den einfamen Pfad wandelt ein Pilger mir 

Rajdh entgegen — „Halt an! Waller, was fudft du bier?“ 
„„Zum Seftade 

Seiner Welt meine Pfadel 

Segle bin, wo fein Hauch mehr weht, 

And der Marlftein der Schöpfung ftebt!““ 

„Steh! du fegelft umfonft — vor dir Unendlichkeit!“ 

„„Stehl du fegelft umjonft — Pilger, aud hinter mir! — 
Gente nieder, 
Adlergedank, dein Gefieder! 

Kühne Seglerin, PHantafie, 

Wirf ein mutlofes Anker hie.““ 


* Bgl. Wilmans Brief, den want im „Streit der Fakultäten“ abdrudt: „Bon 
einer Seien Myſtik in der Religion“ 


146 





wei Gedidte des jungen Schiller, des Schiller der Räuber, find es vor 

allem, die in ihrer fchlechthin vollendeten ©eftaltung jeden Gmpfangliden 
bon feiner angeborenen Pichtergröße überzeugen müſſen. Wo haben wir — 
troß Liliencron — ein Gedidt, das uns das Bild und das Grlebnis einer 
Feldſchlacht mit fo begwingender Gewalt bor Ginn und Geele ftellt wie „Die 
Sdladht*? Das zweite aber, das, gleich vollendet in der dichterifchen Gee 
ftaltung, in feinem feelifhen Gebalt zugleich die Artung Scillerfchen Geiftes 
offenbart, die ihn früher oder fpäter zu feinem Philoſophen führen mußte, 
ift unfer Gedidt „Die Größe der Welt“. Hier haben wir „Gedankenlyrik“, 
in welder der Gedanke in Inappfter Form ganz geftaltetes Bild und mit- 
reißendes Gefühl geworden ift. Den Keim zu diefer Geftaltung eines echt 
Schillerſchen „Adlergedanfens“ finden wir offenbar in folgender Hymne an 
den Unendlichen, die in den gangbaren Ausgaben der Schillerfhen Gedichte 
fehlt. Zwiſchen Himmel und Grd, hod in der Lüfte Meer 

Sn der Wiege des Sturms trägt mid ein Zadenfels, 
Wolfen türmen 
Unter mir fic gu Stürmen, 
Schwindelnd gaufelt der Blid umber 
And ich denke did, Ewiger. 
Nidt nur Strophenbau und wörtlihe Anklange, fondern aud Bild und Gee 
Danfengebalt weifen deutlid) auf unfer Gedicht. Aber erft in ihm entfalten 
fi die hier porhandenen Keime zur vollendeten Seftalt. 

Wie finnfallig überzeugend wird uns in Wort, Bild und Rhythmus einer 
einzigen Zeile Die Schöpfung der Welt in ihrer großartigen Plöglichfeit vor 
Die Seele geftellt. Fühlen wir nicht das ftürmifhe Drängen des „Ichaffenden 
©eiftes“ im fic bejchleunigenden Anlauf des Rhythmus, der mit rollender 
Geſchwindigkeit die Silben überläuft, um in den letten beiden Worten zu 
gipfeln und alle Kraft und Wucht des niederfallenden Tones in ihnen zu 
fammeln? @lauben wir nidt den Schöpfungsaugenblid felbft zu erleben, 
die anlaufende und hammerſchwingende Geftalt des „Ichaffenden Geiftes“ 
bildhaft zu fdauen, den durch den Weltenraum ballenden Schlag zu hören, 
der aus dem Chaos den Kosmos ſchlägt? Und wie wir im gellenden Hall 
bes Wortes „Chang“ die wüfte Dede, das wilde plane und ziellofe Durch» 
einanderfluten und »ftürmen der chaotiſchen Welt glauben verfinnlicht zu 
feben, fo verbilblidt der weihe Klang und wiegende Rhythmus der Worte 
„Ihwebende Welt“ das Wefen des Kosmos, das Schweben und Kreifen der 
trog aller Bewegung in fic rubenden und gehaltenen Welt voll höherer Ord- 
nungen. Und man empfindet Diefe Rube in der Bewegung, dies Kreifen 
in feften Bahnen, um fo deutlicher, als fid dem wiegenden Schweben — im 
Klang der ftabreimenden Worte und im befdleunigt borwärtsftrebenden 
Rhythmus wieder trefflich gemalt — das den Raum pfeilartig durchfchneidende 
„flieg ih des Windes Flug“ unmittelbar anfchließt und entgegenfest. Dies 
ungeftüme, todderadtende Dabinftiirmen durchs endlofe Wethermeer nad dem 
bermeffen weitgeftedten Ziele offenbart die ganze Leidenſchaft des Iette Rätſel 
löfen wollenden Feuergeiftes, die in ihrer vollen Wucht und verwegenen 
Kühnbeit reftlos zum Ausdrud fommt in den Worten „Anfer werf, wo 
fein Hauch mehr weht, Und der Markftein der Schöpfung fteht.*“ Während 
wir in dem „Bis am Strande ihrer Wogen id Iande“ rhythmiſch mitfühlen, 
wie die Wetherwogen den Weltenfegler ans Land tragen, geftalten die legten 
beiden Zeilen im Wortfinn und in der Wucht der fi) häufenden und am 
Schluß Silbe für Silbe gleid) Hammerjchlägen niederfallenden Betonungen 


147 


die ganze ungeftüme Kraft des Adlergeiftes, dem in feinem fühnen Fluge nur 
der Marfftein der Welt, das hauclofe Nichts Halt zu gebieten vermag. 

So ijt das Biel wie lebendig gegenwärtig vorausgeſchaut und mit ftiire 
mendem Mute porweggenommen, während der Weltenwanderer nod auf dem 
Wege ijt und im Windesflug die „ihwebende Welt“ durdeilt. Im Anfang 
ber zweiten Strophe finden wir ihn {don tief inmitten Der freifenden Geftirne. 
Schon fieht er neue Sterne hinter Sternen auftauchen, die in taufendjährigen 
Bahnen die ungeheuren Weiten des Girmaments durchmefjen. Bewundernd 
folgt fein Biid dem erbabenen Schaufpiel der freifenden Welten, läßt fid 
gefangen nehmen bon ihrem wiegenden Reigen, der fie fpielend ihrem Viele 
auträgt, bis plöglih aud ihr tröftlihes Licht feinem Auge entſchwindet, das 
nun, ziellos irrend und vergeblich ſuchend, die endlofe Dede fternenleerer 
Räume durdforfht. Wie wir den verhaltenen Jubel über die Sternen- 
ſchönheit aus der erften, die Bewunderung ihrer Grhabenheit aus der zweiten 
geile herausklingen hören, fo malen Lauttlang und Rhythmus der beiden Kurz 
geilen den Iodenden Reig und die wiegende Bewegung der freijenden Gee 
ftirne, während die Schlußzeilen erfte Berwirrung, erftes Grfdreden und Er— 
ſchauern vor der Unheimlichkeit des fternenlofen Weltraums ausdrüden. Aber 
aud bor der fternenlofen Nacht des Raumes zagt und ftußt der Adlergeift 
nur einen Augenblid. Schnell rafft er fid auf und fpornt den Mut an zu 
nod rafenderem Glug: die Windeseile wird überboten Durd die Schnelle 
des Lichts. In körperlich nahfühlbarer Sinnfälligfeit malen die vier rhyth— 
milch völlig gleich gebauten fechsfilbigen Verſe 

Angufeuern den Glug / weiter gum Reid des Nichts 

Steur’ id) mutiger fort / nehme den Weg des Lidts 
den treibenden Anfporn, die porwärtsftoßende Gewalt, die bligartige Ge— 
{hwindigteit des Sluges. Unermeßlihe Weiten werden durchquert, wie Sche» 
men fliegen die wallenden Nebel des trüben Himmels rüdwärts vorüber, 
ganze Weltſyſteme, dem mit Lichtgefchwindigfeit Boriiberfaufenden minzig 
wie Strudel im Bac erjcheinend, läßt der „Sonnenwanderer“ Hinter fic. 

Da taucht in der troftlofen Ginfamfeit und Leere des Raumes plöglich 
der entgegenfommende Wanderer auf, und das „Sieh* am Anfang Der 
vierten Strophe drüdt erleidtertes Aufatmen und freudiges Staunen aus. 
Und nun folgt in dramatifcher Lebendigkeit und fparfamfter RnappbHeit das 
Zwiegeſpräch der beiden Weltenwanderer. Beftätigend, daß beide gleichen 
Adlergeiftes find, erklingt es aud) aus dem Munde des zweiten in fdniglid 
ftclgem Pathos: „Zum Geftade Seiner Welt meine Pfade* und in faft wört« 
lider Wiederholung der verwegene Ruf: „Segle bin, wo fein Haud mehr 
weht und der Warkſtein der Schöpfung fteht!“ 

Aber wie ein gebietendes „Bis hierher und nicht weiter“ erfdallt nun 
das doppelte „Steh“ aus beider Munde, ſchütternd und erfchütternd durch» 
ballt, alg ob es fein eigenes dumpfes Echo wede, das „umjonft — umfonft* 
den endlojen leeren Raum, und, die Seele bis ins Sieffte durchichauernd, 
lift jih nun das Wort „Unendlichkeit“ pon den Lippen, deſſen Sinn beide 
innerlidft und eigentlich „erfahren“ Haben. Bor diefem Wort, das uns erft 
in Wahrheit die ganze „Sröße der Welt“ erfchauernd ahnen läßt, fentt der 
Adlergedante feine Gittide, ftreicht die fühne Phantafie die Segel, wird aud 
der bimmelftürmende Menjchengeift Hein und nichtig. Wie im Gangen des 
Sedidts, fo tft auch hier wieder im Einzelnen der Gedanke bildmäßig geftaltet: 
Wir [hauen und fühlen in Wort und rhythmifder Bewegung das Herabe 
ſchweben des Adlers aus feiner ftolgen Höhe, und noch einmal weden die 


148 


Schlußzeilen das Bild des kühnen, durchs unendlide Wethermeer dahin» 
fahrenden Seglers, laffen mit der Borftellung des mutlofen aud den Gegene 
fag des mutig-verwegenen Wnferwerfens wieder auftauchen und verfinnlichen 
damit abſchließend und zufammenfajfend den Gedankengebalt des Gedichts. 
Suden wir den in unferem Gedicht geftalteten Gedanfen bei Schiller 
weiter zu verfolgen, fo drängt fid ung unter feinen Gedichten bor allem 
„Das verjchleierte Bild zu Gais* auf. Den Gwigen denfen, die Größe und 
die Grengen der Welt erfahren, die Wahrheit fdauen zu wollen — es ift 
im @runde dasſelbe vermefjene Streben des Menfchengeiftes, der letzte 
Ratfel löjen will, und — im glidlidften Fall — zur Grfenntnis der Grengen 
der eigenen Gernunft fommt. Daf diefe Gedanken fdon in dem jungen bore 
kantiſchen Schiller fo lebendig waren, daf fie eine fo vollfommene Geftaltung 
wie unjer Sedidt herporgetrieben, und dann den älteren Schiller nad einem 
eingehenden Kantftudium wieder zu fchöpferifcher Geftaltung zwangen, bee 
zeugt am deutlichften die Kongenialität des Dichters mit feinem Philofopben. 
Schiller gehörte nicht gu den Kärrnern, denen der König an feinem ftolgen Bau 
gu tun gab: Gein Weg zu und über Kant war nur ein Forte und Weitere 
fchreiten unter dem Zwange und in der Freiheit des Gefekes „nach dem er 
angetreten“. Grang Heyden. 


Dom Staate und von Staatlichen Sinrichtungen. 
Wefen und Swed des Staats. 


er Staat ift eine Schöpfung des Mannes. Grauen haben mit feiner 

Gntftehung nichts zu fdaffen. Denn Macht ift fein Wefen, und deren 
Arjprung liegt in derjenigen Gewalt, die auf männlicher phyſiſcher und gei— 
‚ ftiger Kraft berubt. Darum aud find Grauen grundfäglich nicht berufen, 
Staaten zu Ienfen. Kein Beweis gegen die Regel find Ausnahmen wie 
die englifhe Glifabeth, Maria Therefia und Katharina die Zweite. Die 
Wacht ging als wohlbegründete in ihre Hände über, und weil fie lug waren, 
gelang es ihnen, fie burd Anwendung gureidhender Mittel, — insbejondere 
dadurch, daß fie tüchtige Männer beriefen und gewähren liefen —, zu 
erhalten und günftigen Galls zu erweitern. 

Die Frage nah, dem Zwed des Staates ift feine Angelegenheit 
des Staatsmannes, fondern des PHilofophen. Ift der Staat Gelbitzwed? 
— Dorfragen: Gibt es einen Selbjtzwed? Was ift der Bwed des Lebens 
überhaupt? 

Wir fehen bon dem ab, was die Kirche Iehrt und fließen: Dem Men- 
[dengefdledt ift bon feiner über ihm ftehenden Macht ein Swed gefest. Denn 
wir fennen feine ſolche Macht. Ob es eine gibt? — Sedenfalls ift fie — 
und mit ihr jeder von außen geſetzte Zwed für unfere Grfenntnis verſchloſſen. 
Wenn wir nad dem Zwed des Lebens fragen, fo fann nur ein folder ge- 
meint fein, den der Menfd fic felbft fest. Zwed, Sinn, Biel bedeuten 
bier das ©leiche: die Quelle, aus welder der Inhalt diefer Worte gefchöpft 
wird, find die menf{dliden Bedürfniffe und Wünſche. Go verfdieden dieſe 
find, fo verfdieden müſſen die Antworten lauten. 

Der Stumpfe — die weitaus größte Zahl aller, aud) der fogenannten 
gebildeten Menfden — ftellt die Frage überhaupt nicht. Der mit einigen 
geiftigen Bedürfniffen ausgeftattete, aber in der Hauptſache materiell gerid- 


149 


tete Menfd mit unentwideltem Ethos — wir nennen ihn den niederen Men- 
{hen — begnügt fid, als den Zwed feines Lebens ein möglihft hohes Maß 
bon Bequemlichkeit, Behagen, Genuß zu ftatuieren. Die Gruppe der höheren 
Menfden gliedert fid in zwei Kategorien, je nachdem ihr Gthos mehr nad 
der Geite der Gite oder nad der Seite der Leiftung orientiert ift: jene ent- 
fckeiden fich für das Glück der Meiften, diefe für das Olid der Höchften. 
Sene wollen, fo gut es geht, den Sammer der Kreatur mildern und das 
Paradies auf Erden fchaffen; diefe argumentieren fo: Der Wachstums« 
wille in der Natur wirkt fid in der Züchtung der höchften Arten und 
— innerhalb der Art — der höchſten Individuen aus. Gie find das 
Ziel der Gntwidelung. In der Gattung Wenſch, welde den Geift her- 
borgebradt hat, find es diejenigen Individuen, welche die höchſte Stufe phy⸗ 
fifher und geiftiger Gollfommenheit erftiegen Haben. Diefe Exemplare madjen 
den eigentliden Wert der Gattung aus, und darum miiffen fie das Maß aller 
menfdliden Wertungen abgeben. Was ihnen dienlic ift, fördert die Menfd- 
beit. Das Bedürfnis, der Wunfd, das Glück, das Ideal der fo Gearteten 
ift Die Leiftung — wie Nietzſche jagt: die ſchenkende Tugend — und darum 
haben fie den Willen, fid zu höchſter Leiftungsfähigfeit gu fteigern. Für 
ihren ®ebraud find die höchſten Güter beftimmt, denn fie wiffen den beften 
Gebraud von ihnen gu machen. Gie genießen das Hohe und Schöne nidt 
im Sinne eines drohnenhaften Seniefertums, fondern als folde, die Durch 
den ®enuß bereichert und befrudtet werden, und wenn fie bom Genuf zu 
neuem Schaffen fchreiten, erftatten fie ihren Dank dadurch, daf fie die Menfch- 
beit mit neuen Werten befdenten, bereihern und befruchten. 

Dies ift unfer Ideal, der Zwed des Lebens, wie wir ihn erfennen. 
Aber wir wiffen, daß die andere Gruppe der höheren Menfchen anders, 
weicher, mitleidspoller, gütiger — bvielleicht giitiger! — denkt, und ahnen, 
daß in der Herauffommenden Gpode das Gthos der mitleidpollen Gitte, der 
Sumanitat, der „Gerechtigkeit“, der Gleichheit — es find die dem Ideale 
ber Demokratie wefensperwandten Sefühlsinhalte — mehr und mehr an 
Einfluß zunehmen werden. 

Diefe Grundanfdauungen find beftimmend aud für die Beantwortung 
der Stage nach dem Zwed des Staates. Denn er als die höchſte Form menjde- 
lider Gemeinſchaft muß berufen fein, legten Endes den Zielen zu dienen, 
tele das Menſchengeſchlecht als die höchften erfannt Hat und fid fest: 
jeder Staat in Der Befonderbeit, wie fie Durd die Gigenart des in ihm 
geeinten Bolfes charakterifiert wird. Denn Gelbftzwed ift nichts auf der 
Welt, was Wenſchen fdaffen; alles muß mit menfdlidem Maße gemejjen 
werden und menſchlichen Belangen dienen. 

Darum fagen wir: der Staat hat die Aufgabe, Firforge zu treffen, 
daß die höchſten Kulturgüter gefdaffen werden. 

Das Staatsideal bes Güte-Gthos muß es fein, der breiteften Maſſe 
des Bolles möglihft große Slidsmiglidfeit zu vermitteln. (Diefem Ideale 
würde vielleiht die Zurüdführung der Menfchheit in einen Zuftand Der 
Bediirfnislofigfeit am beften dienen.) 

Die Materiell-Befinnten (die niederen Menfhen) und Die 
Stumpfen treffen mit den Bolfsbegliidern auf balbem Wege gum Ziel 
zufammen, nur daß andere Motive beftimmend find: was jene für andere 
tollen, erftreben diefe für fid. 

Wir fürchten, daß wir mit den harten Forderungen des Leiftungs-Gthos 
fo bald feine Mehrheit in der öffentliden Meinung finden werden. — — 


150 


Ob jemand fid gu dem Gthos der Güte oder gu dem der Leiftung be- 
fennt (legten Endes ein Ausfluß des Unterfchiedes gwifden den Idealen des 
befdauliden und des tätigen Thpus), hängt nidt bon Gründen, fondern 
bom Temperament ab, ift nicht eine Gade des Berftandes, fondern der Mie 
ſchung des Bluts und des Gefiibls. So fdarf die Grenglinie beider Auf- 
faffungen in Theſi gezogen ift, wird fie doch fließend im praftifden Leben. 
Denn wie die Dinge tatjächlich liegen, zwingen fie regelmäßig nicht zu einer 
grundfäglidhen Stellungnahme. Immerhin: wer als Denker das Bedürfnis hat 
nad reinliher Klarheit über den Bau feiner Geele, wird nicht davor zurüd- 
ſchrecken, theoretifh mit unerbittlider Folgerichtigfeit den ihm durch feine 
Anlage vorgefdriebenen Weg bis gu den letten Möglichkeiten zu geben. 
Geſchieht dies, fo ift damit ein untrügliches Erfennungsgeiden gefunden für 
die Zugehörigkeit zur einen oder anderen der beiden Kategorien. 

Eine Frage, die zur grundfäglihen Stellungnahme zwingt, ift dieſe: 
SHätteft Du zu entfcheiden, ob — auf der einen Seite — der Menfdbeit ein 
neuer Genius wie Goethe oder Perifles oder Sokrates oder Rembrandt 
oder Niebsde oder gar bon der Art des Sefus von Nazareth entftände, 
während bHunderttaufende der Not und dem Sammer des Lebens aus- 
gejegt blieben, — oder — auf der anderen Seite, — ob diejen ein forglofes 
Dafein befdieden würde, ohne das WAufleudten eines neuen geiftigen Sternes: 
welde Wahl würdeft Du treffen? Das Gthos der Leiftung ergreift ohne 
Sdwanken die erfte, das der Güte die zweite Möglichkeit. Glücklicherweiſe 
wird der Menſch in Wirklichkeit niemals mit fo harter Frageftellung bedrängt; 
er würde die Berantwortung faum zu tragen vermögen. Bei den Entſchei— 
dungen, welche das praftifhe dffentlide Leben etwa im Bereiche der Sozial» 
politif verlangt, werden heute fogar regelmäßig beide Gruppen Hand in 
Sand geben; denn aud) wir, die dem Gthos der Leiftung Berfallenen, find 
der Yeberzeugung, daß mit der Hebung der unteren Klafjen aud einem GFort- 
[reiten in der fulturellen Gntwidelung am beften gedient ift, weil bon 
unten ber immer neue gefunde Kräfte dem Geiftesleben der Nation zugeführt 
werden. 

Aber jener Unterſchied ift gleihfam der Markſtein zwifchen den beiden 
widtigften Weltauffaffungen der Gegenwart, und wo diefer im dialeftifchen 
Gefprad zweier Männer aufgerichtet ift, verbreitet fich fofort Klarheit über 
Grund und Wefen der Gegenfaslidfeit in den Anfchauungen über Die 
meiften Probleme. 

Sn einem befdrantteren als dem oben angewandten Sinne fann es gee 
{Heben, daß wir dem Staate die Qualität zufprechen, Selbftzwed zu fein: 
dann nämlid, wenn fein Bau und feine Organifation die Bollfommenheit 
eines Kunftwerks erreicht haben. In diefem Galle fteht er mit den Werfen 
der großen Dichter, der großen Künftler, der großen PbHilofopHen, ja, der 
Religionsgründer auf einer Stufe. Gr befitt alfo — und das fogar nod 
nad feinem Untergang — die Fähigkeit, den höheren Menſchen, welche 
fih eine Anfchauung feines Wefens zu fehaffen vermögen und einen Ginn 
für ſolche Grfdeinungen haben, einen geiftigen ®enuß zu bereiten, der gue 
gleid; beglüdt, bereichert, befruchtet und zu neuem Wirken Die Kraft verleiht. 
Go erfüllt er neben feinen praftiihen Aufgaben einen mittelbaren, entfern- 
teren, idealen Swed, der ibn — in gewiffem Sinne — als Selbſtzweck 
erfdeinen Iaffen finnte, in demfelben Sinne, wie man Kunft, Dichtung 
und andere Kulturgüter, die feinen unmittelbaren greifbaren Zielen dienen, 
ungenau als Selbftzwede zu bezeichnen pflegt. 


151 


Polizeiftaat — Redtsftaat — Nationalftaat — Kulturftaat. 


Die Umwandlung des Poligeiftaats in den Redtsftaat, welche durch 
die Schaffung der Berwaltungsgerichte ihre Krönung erfuhr, wurde bom libe- 
talen Dürgertum als hoher Grfolg gepriefen und als großes Berdienft 
in Anſpruch genommen. Nidt ohne Grund; die Gindämmung der Willkür 
baute erft das Gundament für die frei fic) auswirfende Tätigfeit des Gin- 
zelnen. Dod darf die neue Grrungenfdaft nicht überfchätt werden. Gs 
gibt Aufgaben des Staats, die nur auf Koften wohlerworbener Redte in 
Angriff genommen werden Tönnen, und nidt immer läßt fid der Gingriff 
in die gefügten Formen der gejeslid geregelten Enteignung zwingen. Bue 
dem wird durch die allguftarfe Betonung des Rechts, insbefondere des 
Privatredts, eine kleinliche — rechthaberiide — Gefinnung gegiidtet; wie 
wir denn feben, daß die Hebre Göttin Yuftitia, die billigerweife nur in 
widtigeren Gtreitfallen angerufen werden follte, fid dazu bergeben muß, 
wie eine Dienftmagd den Schmuß aus den Gden zu fegen. — Obne dah 
fo viel wie bon jener Umwandlung darüber geredet wäre, erwuch3 Der 
Redtsftaat zum Nationalftaat. Diejer — indem er fic) darauf beruft, oder 
fingiert, in ihm fei ein Bolt von gleiher Abftammung oder dod bon aſſi— 
milierter Art geeint, — betont viel ftarfer als bisher die Gegenfage zu 
den anderen Staaten und DBöllern, erhebt weitgehende politifche und wirte 
{Gaftlide Anſprüche, gründet diefe auf Macht und fdafft fid gu ihrer 
Durdfibrung eine ungeheure militärifhe Rüftung: es wurde das Wort 
Imperialismus erfunden. 

Alle drei Phaſen der Gntwidelung haben Befugnifje ausgebildet, deren 
ber Staat unbedingt bedarf. Unferem Ideal entjpricht noch feine von ihnen. 
Was wir anftreben müffen, ift der Kulturftaat: der fic die Aufgabe fest, die 
höchſte Kulturleiftung zu zeitigen, deren das in ihm geeinte Volk fähig ift. 
Dann erft ift er in wahrem Sinne [höpferifh. Der Redtsftaat war das eigente 
lid nit: denn Redht und Geredtigfeit, deren Betonung fein Wefen be- 
zeichnet, Haben nur die — gewiffermafen negative — Aufgabe, Hindernijfe 
aus dem Wege zu räumen, die eine freie Bewegung bon Berfehr aller Art 
ftören. Der Nationalftaat hat mit woblberedtigter Selbftfucht die materiellen 
eigenen Sntereffen und die Belange feiner Angehörigen zu wahren und 
zu erweitern geſucht; fo fehr er aber aud das Wort „Kultur* im Munde 
geführt, die eigentlichen geiftigen Dinge find bei ibm nidt in gebührender 
Weiſe beachte. Was Redts- und Nationalftaat gefdaffen, wollen wir 
adten und bebiiten; aber im Gewuftfein, daß alles Materielle legten Gndes 
dem Geift zu dienen hat, aud) den Staat unferer Zulunft diefem Dienft 
weiben, und ung in aller Befcheidenheit nicht por der Erkenntnis verfchließen, 
daß der Poligeiftaat diefem Ideale gelegentlid ſchon näher geweſen ift 
als feine Nachfolger. Semotratie 


Wenn man die Worte richtig verfteht, bat Demokratie nur die Aufgabe, 
den Uebergang zwifchen Ariftofratien gu bilden. Der Demos, das Boll, ift 
nicht imftande, einen Staat zu regieren; dazu find nur die Wrijtot, die 
Beften, die Tüchtigften, bie Erfahrenften, im beften Sinne Gebildetften bee 
fabigt. Wenn fich diefe Ariftoi zu einer Kafte verfnöchert und das Charisma, 
die Begabung, verloren haben, bedarf es einer Um- und Durdfdiittelung, 
damit wieder die wirklid) Beften an die Stelle der Herrfchenden gefest 
werden. Die Demokratie ift das Mittel, um zu diefem Ziele zu gelangen. 
Denn es ift Gade bes ganzen Bolfes, daß die Auslefe gelingt. Gs ift 


152 


aber nicht die Idee der Demokratie, daß die unteren Volksklaſſen zur Herr— 
{Haft fommen follen. Die Auslefe muß aus dem ganzen Bolfe, dem Demos, 
dem Populus, nicht aus dem Odlos, der Plebs, dem Pöbel allein gemadt 
werden. Denn, mögen in diefem aud bier und da Männer mit Regenten- 
tugenden gefunden werden, fo ift und bleibt dies Dod eine Ausnahme; regel- 
mäßig geben die zum Herrſchen DBerufenen aus dem Kreife der Stände 
hervor, in welchen Bildung und Kultur json mehrere Generationen Din- 
dur) zu Haufe waren. Dies zu erfennen muß das demofratifhe Bolt Witte- 
tung genug haben. Gonft ift es feiner Aufgabe nicht gewachſen und wird 
verdientermaßen nad Zeiten der Unordnung wieder einer Gewaltherrſchaft 
verfallen. 

Wer regieren will, muß Gefdidte fennen. Gr braudt fein gelebrter 
SHiftorifer zu fein, muß fid aber fo viel mit dem Weltgeſchehen befchäftigt 
haben, daß ibm ein Begriff von den Zufammenhängen in Fleifh und Blut 
übergegangen ift. Dazu gebdrt eine Durdbilbung des Geiftes, die regel- 
mäßig nicht in einer einzigen ®eneration erworben zu werden pflegt. 


Vom Wahlrecht. 


Das Wahlrecht ift eins der Mittel, um dem Bolle die Teilnahme an der 
Regierung gu ermöglihen. Will man es grundfäglich rechtfertigen, fo müßte 
man entweder die Fiktion aufftellen, alle Wahlberechtigten hätten die Fabig- 
feit zu politifdem Urteil, oder fi auf den Standpunft Stellen, daß der 
Wille der Mehrheit — aud wenn fie zu einem großen oder dem größten 
Teil aus Ginfidtslofen befteht — für das Staatsgefchehen beftimmend fei. 
(Ware dies der Sinn der Demofratie, midte fie gum Teufel geben!) 

Aber das Wahlrecht läßt fid noch unter anderem Gefichtswintel bee 
traten: als ein Mittel, die Maffen zur Befchäftigung mit politifhen Fragen 
beranzuziehen und dadurch zu bilden, zu erziehen. Das wäre fo gu begründen: 
Ebenfo wie im gewöhnlichen können aud im politifdhen Leben die Aufgaben 
auf verjchiedene Art erfüllt werden, und es fommt dabei oft weniger darauf 
an, wie, als daß etwas gefdiebt. Wenn aud die unqualifizierten Wähler 
mande ungeeignete Vertreter ins Parlament fchiden, wird doch die in 
den Dingen liegende Bernunft forgen, daß im großen das Richtige getan 
wird; daß vernünftige Männer an die rechte Stelle fommen, deren Ein 
fluß gelingt, Die anderen bon der Notwendigkeit des Notwendigen gu iiber- 
zeugen. Go bat Bismard gedadt, als er dem deutfchen Bolfe das Reichs- 
tagswahlreht gab und boffte, Deutſchland werde, in den Sattel gehoben, 
reiten können. In Zeiten, wo der Fluß der Dinge nidt fataraftartig ift, 
trifft das gu. Set aber feben wir, wie das Schiff fteuer-, maften- und 
fiibrerlog bon den Gluten dahingetragen wird. — — 

Das preufifhe Wahlreht war nidt ganz fo fdledt wie fein Ruf. Man 
hatte mit ibm den Berfud gemadt, der Bildung einen porwiegenden Ein- 
fluß in der Zuſammenſetzung des Parlaments zu fidern. Mit dem aus- 
gleidenden Verhältnis der zweiten und dritten Klaffe war das nicht übel 
gelungen; das plutofratijde Uebergewicht der erften Klaffe gab ihm aber 
den häßlihen Zug. Dennoch mußte es fallen, weil es mit der Beradtung 
der öffentlihden Meinung allzufehr belaftet war, und es bedeutete einen 
der ſchwerſten Fehler der Krone und der vorrepolutionären Regierung, die 
Befeitigung nit durchgefeßt zu haben. 

Der wirklide Wert des allgemeinen gleiden direkten Wablredts ift 
ebenfo problematifd. Hier foll einmal gefragt werden, ob es mit der gegens 


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wärtigen DBorftellung pom Wefen des Menfden, feinen Aufgaben und vom 
Ginn des Lebens überhaupt in Einklang fteht. Diefe Frage ift zu perneinen. 
Die Idee des allgemeinen Wahlrechts ift aus den Meberzeugungen hervor⸗ 
gewadjen, welde die Epoche des Sndividualismus beberrfdten: die Menfch» 
Heit fei in Atome zerlegt, deren jedes fein Gigenleben fiir fich fibre. 
Diefer Spode ift die des Sozialismus gefolgt: fie wird von der Auffaffung 
getragen, die großen Aufgaben der Menjchheit können nur durd) Zufammen- 
ſchluß zu Arbeitsgemeinfdaften gelöft werden. Der einzelne bedeute nichts, 
die Geſellſchaft, die Genoffenfdaft, der Berein alles. Daraus würde in 
fonfequenter Durddentung des Problems folgen: nicht das Individuum, fone 
dern die Intereffengemeinfhaft muß Sragerin des Anfpruds fein, welchen 
das Golf auf Teilnahme an der Regierung erhebt. Der einzelne wird nur 
innerhalb der ®emeinfchaften, denen er angehört, feine Stimme zur Geltung 
bringen fönnen. Daraus ergibt fic ein indireftes Wahlrecht des Individuums 
und die Zufammenfetung des Parlaments aus Bertretern großer Interefjen- 
gruppen, Berufsvereine, privater und gemeinniigiger Gefellfchaften, turg aller 
auf Grreidung lebenswidtiger Zwede geridteter Verbände. 

Dod aud) gegen eine folde Geftaltung erheben fid) gewidtige Ber 
denfen. Zwei Gefahren würden beftehen: einmal, daß mehr nod als bisher 
in Die DBerufsorganifationen die parteipolitifhe Agitation ihren Einzug hält; 
fodann, daß in den Parlamenten — wie por Zeiten in den ftändifhen Lande 
tagen — Die Sonderbejtrebungen der einzelnen Grwerbs- und Berufsgweige 
fid in den Vordergrund fdieben und die allgemeinen Bedürfniffe des Staates 
in den Schatten drängen. — — 

Das Frauenwahlrecht ift ein Danaergefchent für die Bölfer. Die Frauen 
baben im allgemeinen feinen Beruf für die Politik, weil bei ihnen das 
Gefühl den Berftand mehr überwiegt als bei den Männern. GFreilid — 
bei der Unzahl von urteilsiofen Wählern männlichen Geſchlechts — was vere 
ſchlägt es, ob aud die Frauen zur Wahlurne gehen? Die Gefahr aber bee 
fteht darin, daß die Plattform, auf welder fic der politifde Kampf ab- 
{pielt, Durd ihren Eintritt nad der Seite der Gefühlsmäßigfeit verfchoben 
wird. Ginfidtige Männer find immer bemüht, dem Streit der Meinungen 
den Charakter nücdhterner Gadlidfeit zu geben; diefem Beftreben bedeutet 
das Grauenwablredht ein neues Hindernis. 

Sn der Gemeinde und in der RKirde, vor allem in der Armenpflege 
und in allen den gemeinnügigen Angelegenheiten, wo es auf eine unmittel- 
bare praktiſche Arbeit unter Betätigung menfdliden Gmpfindens anfommt, 
ift die Stau am Plate. Innerhalb folder Bereiche foll fie aud wabl- 
berechtigt fein und ihre Stimme nicht nur beratend erheben können. Hier wird 
ihr Gefühl zu einem beilfamen Gegengewicht gegen die Härten des theore- 
tifierenden mannliden Berftandes. 

Die Frau darf in der Nidt-Gleidh-Gekung mit dem Mann feine Minder- 
adtung erbliden. Die DVBerfchiedenheit liegt im Phyſiſchen begründet, das 
der Nährboden des Geiftigen if. Wer die Anterſchiede betont, diejenigen 
Gebiete abgrenzt, auf denen die Frau Tüchtiges — und gelegentlih Tiidh- 
tigeres als der Mann — leiften fann und die Veredelung der GFrauene 
arbeit auf diefem @ebiet anftrebt, ift ein größerer. und wabrerer Freund 
der Grauenbewegung als die unentwegten Frauenredtlerinnen. — — 

Eine fluge Grau fagte: folange die Frauenmode Tafden in den Kleidern 
verbietet, verdienen die Frauen nicht, als ernfthafte Mitbewerberinnen der 
Männer auf irgendeinem Gebiete betrachtet zu werden. — — 


154 


Rechtund Gerechtigkeit. 


Mit dieſen Worten wird viel Unfug getrieben. Recht und Gerechtigkeit 
— fagte ein griehifher Weifer — Haben die Menfchen erfunden, damit 
Gleich⸗Mächtige miteinander in Frieden leben können. Sie find tatfadlid 
GrfindDungen des menjdliden Geiftes, ermadfen auf dem Boden der Gee 
wobnbeiten und Grfabrungen, und bedeuteten urfprünglid Hülfen zur Auf 
rechterhaltung der öffentlihen Ordnung. Daf man fie fpäter mit den Attri« 
bruten höchſter Ehre umfleidet bat, ift ein Beweis pon edler verantwortungs- 
boller Ghrfurdt des menſchlichen Geiſtes vor fid felbjt und feinen wert. 
vollen eiftungen. 

Dorausfegung für die Gntftehung pon Redten ift das Borbandenfein 
einer über Dem Berechtigten ftehenden Gewalt — regelmäßig der Gewalt 
eines Staates —, welche die Rechte verleiht und für ihren Schuß einzu. 
treten bereit ift; Gerechtigkeit ijt die Gigenfdaft des Richters, Der unpare 
teiiſch — ohne Anjehen der Perjon — Streitigleiten entfcheidet. Weber diefe 
Begriffe hinaus follte man mit dem Gebraud der Worte vorfidtig fein. 
Bon allgemeinen Menfdmenredten gu fpredhen ift widerfinnig; wir fennen 
feine dem Menſchengeſchlechte übergeordnete Macht, die eine Gleichheit der 
Wenſchen ftatuierte; ein Recht der Konfefjionen auf gleihe Behandlung im 
Staate 3. B. befteht nur dann, wenn es die Berfajfung gewährleijtet. Gin Recht 
auf Arbeit eziftiert ebenfowenig wie das Redt der Frau auf ein Kind. Wo 
jene Borausfegungen ftaatlider Anerkennung fehlen; wo Forderungen erhoben 
werden, die fid, ohne daß fie auf folder Grundlage fteben, bdurdfegen 
wollen, fann nur bon „Anfprühen“ geredet werden, und wenn Diefe unbe« 
friedigt bleiben, ift es nicht die Geredtigfeit, die verlegt wird; nur Die 
„Billigfeit* mag angerufen werden. Die Gntwidelung bon Gewohnheit, 
Gitte und GSittlidfeit find in dauerndem Fluß: was borgeftern Utopie war, 
rüdte geftern in den Bereich der Möglichkeit; heute ijt es Wnfprud, um 
morgen Recht gu werben: man denfe an die SGleidberedtigung der Juden. 
Subjektiv ausgedrüdt: es wird eine Ungleichheit erkannt; der ungünftiger 
Geſtellte empfindet fie fdmerglid; er fragt nad dem Grunde, erfennt ibn 
nit an, wünſcht die Ungleichheit befeitigt gu feben, weil fie ihm unbillig 
erjcheint; er fucht andere, die nicht in gleicher Lage find, bon der Unbillig- 
feit ‘zu überzeugen und findet bei menſchlich Denfenden Berftändnis, welche 
ibrerfeits für die Idee einzutreten bereit find und Gefinnungsgenoffen were 
ben. So wird der Wunfh zum Anfprud, und wenn er fid durchzufegen 
bermag, zum Redt. Es ift notwendig, die Unterfdiede dieſes Progefjes im 
Auge zu behalten. Auch der Terminologie treu gu bleiben, ift wichtig. Denn 
die Anwendung des Wortes „Recht“ da, wo es nicht hingehört, verleitet zur 
Verſchiebung der Begriffe, und wir fehen täglich, wie mit Unverſchämtheit — 
die aud) Woblgefinnte verwirrt — auf „Rechte“ gepodt wird, wo — einft- 
weilen wenigftens — nur feimbaft fi zu „Anſprüchen“ entwidelnde „Wünſche“ 
geltend gemadt erden. ®uftap Sdiefler. 


Nibelungenfilmung. 


i) augenblidlide politifhe und geiftige Konftellation geitigt in Iebbafter 
Weife Nachfrage und Angebot in nationalen Stoffen. Man fann daher 
Sridericus im Film, Gridericus in der Manege, Bismard, vorgeführt von 
Gmil Ludwig auf den Brettern, Bismard im Zirkus Bufd haben. Als das 


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Neuefte werden die Kino-Nibelungen auf den Markt gebradt. Trotz Staats- 
männerreden anläßlich der Eröffnung diefes Groffilms ift die künſtleriſche 
Seite des Greignifjes zu unerheblich, viele Worte zu machen; wer bier oon 
einem bedeutenden Kunftwerf fpridt, verwechjelt den Aufwand materieller 
Mittel mit einem fünftlerifhden Wert. Wichtig aber ift, daß die Zeitpſyche, 
die Atmoſphäre, in der wir leben, fic) mit erjchredender Deutlicdfeit in diefem 
Unterfangen fpiegelt. 

Die gefilmten Nibelungen find nichts Sporadifches. Sie find typifdh. So 
fommt es aud), daß diefe Angelegenheit gar nicht ganz neu ift. Ihre erfte 
Silmung haben die Nibelungen, zwar ohne Kurbelfaften, aber im Geift 
Slimmerwand, in den legten Kriegsjahren erlebt, alg Werner Sanfen fie zu 
einem Roman verarbeitete. Die unferer Beit zu langatmigen, fagen wir 
beffer lang» und tiefatmenden Nibelungenverje widen einem furgatmigen — 
Aſthma hängt ja wohl öfters mit den Nerven zufammen — alfo einem zadigen 
Gegenwarts-Helden-Telegrammftil, der an gemogter Forſche und lapidarer 
Monumentalifierungsbeftrebung nichts gu wiinfden übrig ließ. Alles zudt, 
ftarrt, fteilt und wippt vorbei, und gibt fid in aller Gile Mühe, im Borbet- 
flirren unverlöfliden Gindrud zu maden. Der gute, fimple Lieddichter 
bat es nie recht verftanden, die Situationen feines Stoffes ausguf[dladten. 
Ihm fehlen die Nerven! Da ift fein GFibrieren! Kein Singerjpigengefühl! 
An fid mag beifpielsweife der Streit der badenden Königinnen, wie Danfen 
ihn vorführt, ein erfreulider Aſpekt für einen neugeitliden Runftbeflifjenen 
jein, nur — für Die Nibelungen erfdeint er mir unangebradt. Aber da jtedt 
des Pudels Kern! Die Nibelungen haben eine gang andere pfhdologifde 
Dorausfegung als die Waſſenpſhche unferer Tage. Meinetwegen laßt fie 
olle Ramellen fein! Langweiliges Zeug! Aber verjucht fie nicht aufzubügeln. 

Dod nun fommt das Berteufelte: Sie erfcheinen ftofflid den Modernen 
gar nit fo unbrauchbar, man muß fie nur modern maden. GSelbftverftänd- 
lich bat fic ihr Stoff jeder Zeit angeglichen, er ift immer neu geworden, aber 
die Zeiten, die an diefem Stoff bildeten, waren ihm adaequat. Gr traf ihren 
Geift, fie framten ihn nidt aus dem DBildungsrummel auf. Der heutige Aus- 
drud der Beit erfdeint im Film. Alfo wird das zeitlofe Wefen der Nie 
belungen in die geitlide Zerrung des Gilms gepadt. Gerade Diefe „Er— 
neuerung* madt den Abftand deutlih! Nicht bon der Wandlung rede ich 
— fie ift [didfalbaft und alles Lebens Wefen, fondern von unferer Bers 
fommenbeit. Wir müffen gerecht fein: fowohl Sanfen wie Thea bon Harbou 
und die Leute des Nibelungenfilms nehmen ihre Sache ernft. Sonft wäre der 
Gall gar nicht fo tragifch. „Tragiſch“ ift allerdings nicht richtig. Es bleibt bei 
der Parodie. Gin braber ann, der fid als Goethe fühlt, und hungernd und 
frierend didtet, wirft nicht tragifch, fondern tragikomiſch und erregt Mitleid. 
Die letzteren unangenehmen DBegleiterfcheinungen fallen aud) wohl bei den 
fämtliden bier in Betracht kommenden Nibelungenerneuerern weg. SKleift 
ift tragifd in feinen Irrungen, wenn er in den Ronflift des Lebensgefühls 
feiner Zeit mit dem angeftrebten Stilwillen feiner Werke gerät. Wir find zu 
flein dazu. Wir würden uns mit Tragik drapieren. 

Alfo, der Nibelungenfilm ift ernft gemeint und deshalb — langweilig. 
Wie könnte es anders fein bei dem Bruch gwifdhen dem Weſen des Films 
und dem Wefen des Nibelungenliedes. (Gs wird Hier immer bom Lied ger 
fproden, da der Film fidh im großen ganzen an dieſe Unterlage Halt.) Das 
Lied ift nicht langweilig, weil feine Kraft innen fist und fic bei jedem Bers 
verjchloffene Tore auftun. Im Film liegt alles auf der Oberflade. Er hat 


156 


feine innere Weite. Die Sntgleifungen — er befteht in diefer Hinficht eigent- 
lid) aus lauter Gntgleifungen — liegen in feinem Wejen, nicht in der faljchen 
Auffaffung feiner Schöpfer. Sie find nicht zufällig, fondern thpifdh. Gs fehlt 
die innere Konfequenz der Handlung, es fehlt jogar die äußere Folgeridtig- 
feit. Gin paar Beifpiele: Man läßt fid) das Schwertfchmieden Siegfrieds 
nicht entgehen, aber man läßt fid aud die Auffindung der Zauberſchätze in 
der Höhle Alberihs nicht entgehen, aljo Hat Siegfried zwei Schwerter. 
Damit wird der erfte Zeil zur finnlofen Gpifode. Siegfried ift Königsſohn 
bon Xanten, wadft aber in der Wildnis auf. Die Leimung der Sagenfaffungen 
ift fo oberfladlid und wird in dieſer Materialifierung fo fhonungslos bloß- 
gelegt, daß man fid an den Kopf faßt. Bei Kriemhild bimmeln immer 
@loden in Großaufnahme. Ich habe 23 mal Gloden gezählt, es können aud 
ein paar mal mehr oder weniger fein. Gs fcheint ein ſchlechter Wik, das Publi- 
fum nimmt das auc) fo auf. Was foll diefes Hineintragen des Rirdhliden? 
Bielleiht paßt es fulturbiftorijdh für die Beit der Gntitehung des Liedes, 
ift aber unfinnig beim Gedanfen an das Wefen der Nibelungen und Kriem- 
hilds. Gine Kommunion im Vordergrund, wobei der Priefter die Oblate 
bochhebt, Trönt diefe Borgänge. Der wijjende Gunther des Liedes wird zum 
betrogenen Sroddel des Films. Seine inneren Kämpfe fudt er durd ein 
froihhaftes Augenberporquellen vor der Oeffentlidfeit zu dofumentieren. 
Seine Sragif ift Einfachheit halber geftriden. Die äußeren PlumpbHeiten 
markieren mit diden Kledjen das Geblen jedes inneren Berhältniffes gu dem 
Stoff: Die Brutalität, das auslaufende Auge des Drachen in Grofaufnahme 
porzuführen, die Scheußlichkeit, das Stüd mundes Fleiſch von Giegfrieds 
Bruft, aus dem bei dem Herantreten Hagens das Blut fließt, ebenfalls 
extra in Sroßaufnahme zu bringen mit Iangjam rinnendem Blut! Siegfried, 
der mit dem Speer im Leib endlos umberrennt, und fid anfcheinend Mühe 
geben muß, zu zeigen, daß er born und hinten richtig durchbohrt ift, gehört 
dazu. Wefentlider nod ift Kriemhild in Kopfaufnahme Man fann genau 
feben, wie ein Menfdengefidt fid in hidftem Schmerz ausnimmt. Die 
Tränen friehen aus dem unteren Wugenlied Iangfam hervor. Gine nicht zu 
verpaffende Gelegenheit, das in feinem faft anatomifchen Vorgang, ruhig 
im Warmen figend, einmal feftellen zu fönnen. Aber der Film will ja 
feelifde Borgänge bringen. Gr foll die Finger davon laffen! Man marfiert 
nidt nur mit dem Gefidt Schmerz und Freude. Man Tann nicht alles 
feben, fondern muß es fühlen. Aber das Wort ift heute zu wenig 
fenfationell, es braudt ein langfames Mitklingen und Nachhallen in uns, 
wir haben feine Zeit, feine Kraft dazu, deshalb haben wir ja den Film. 
Damit find wir bei dem Wefen. Uns fehlt die Schaufraft, alfo erfegen 
wir fie durch Materialijierung des Wortes, diefes wird dadurch überflüffig, 
weil zeitraubend. Aber die Nibelungen beftehen auf diefer Schaufraft, 
die Welt mythiſcher Borftellungen läßt fich nicht vorzeigen und nicht „fehen“, 
fondern will innen erfdaut fein. Diefer Welt gehört alles im Lied der 
Nibelungen. Sie ift feine Ginheit. Die Geftalten find mehr als einzelne 
Menfchen, fie find Konzentrationen des Blutes von Jahrhunderten. Man 
fann nicht, wie im Film, auf den laufdenden Giegfred pliglid einen Piep- 
mag in Naturaufnahme folgen Iaffen, das vernichtet alle Vorftellungs- 
möglichkeit, das ijt in der ganzen Sphäre ein Kosmos für fic, mit „Nature 
aufnahmen“ fommt man dem nicht bei. Das Wort erhebt das Yeberge- 
waltige des Liedes in die Ahnung, die Slimmerwand fchlägt diefe Ahnung 
tot. „Ez wag eine Küneginne gefeggen über See“: was liegt für eine nebel- 


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bafte Gerne in den Worten! Dann heißt es von Brunbilb: „Si fchoz mit 
ftarfen Reden umbe Minne den Schaft.“ Die Ueberfteigerung des Weiblichen, 
die Ungeheuerlichkeit hebt fid) aus dem Klang der Worte auf. Im Film 
büpft ein mondänes, hyſteriſches Grauengimmer — Pſychologie; erotifche, 
Derirrung — einher. Was konnte man anders erwarten? Der graufenpolle 
Bers des Liedes, wo die ganze Welt horcht auf das Klopfen des dere 
tinnenden Blutes bei Giegfrieds Tod: „do fiel in die Bluomen / der Krieme 
Bilde Mann / dag Bluot ug finer Wunden / fad man fafte gahn“ wird zu 
einem widerliden Anblid, der Qufdauern von Gladiatorenfimpfen und 
Schlächtern ſympathiſch fein mag. Gr hat feine Weite, ift plumpe Materiali- 
fierung, wie wenn man Qufdauer einer Mefferftecherei fein muß. Was fann 
an die Tiefe des Schmerzes heran, wenn Kriemhild fleht, den Sarg ihres 
Gatten nod einmal zu öffnen: „daz ich fin ſchoene Houbet noch eins müeße 
feben“ und die Dilflofe Qual diefes heiligen Schmerzes: „fi huop fin fchoene 
Soubet mit ir vil wiißen Hant* — id mag nicht fchreiben, was jest im 
Film geſchieht. Diefe erflügelte Sentimentalität ift ungewollt infam! Genug 
des graufamen Spiels: Schaufraft im alten Lied gegen inneren Tod heute. 

Das Gute Hat der Film: Gr hebt die ungeheure Größe des Liedes durch 
feine Grbarmlidfeit in die Bewuftheit. Welde Konzentration Hat 
Dod dies endlos lange Lied! Die erften Verſe fchaffen die ganze Welt mit 
ihren grauenhaft unbeimliden, dumpfen Klängen bei der Graäblung vom 
Aebermaß der Kriembild. Diefe fuggeftive Kraft hält bis zum lebten Bers 
durd. Wie Klein find wir, daß wir nur Einzelheiten daraus erfaffen! Unfere 
Seele reicht nicht mehr aus. Wir können fein Epos mehr bauen, fo wenig 
wir einen Dom bauen fdnnen. Wir fönnen es nicht einmal mehr nade 
empfinden. Woher aber nimmt Diefes Gpigonengefdledht die Stirn, bon 
„Längen“ zu fpreden, weil unſere Nerpofität zum Durdleben des Epos 
nicht reiht? Kann man aus einem Dom Fialen, Spiten, Maßwerk heraus 
ſchlagen, weil vieles konſtruktiv überflüffig erfcheint? Was wiffen wir bon 
überflüffig? Wir follten nur wiffen, daß wir fize, elende Sappelmannden 
in der Zeit bes Autos, Telefons, Radios find! Mit diefen technifchen Er— 
rungen{daften, fie mögen an und für fi gut und niiblid fein, verdeden 
wir unfere Armut. Daher machen wir einen Film mit „Wundern der Technik“. 
Die contradictio in adjecto bei diefem ftolgen Wort geht uns nicht auf. Aber 
um die Gnttwunderung durch die Wunder der Technik zu begreifen, muß man 
den Nibelungenfilm feben. Troß Drachen, Zwergen, Höhlen, gefhidt arran- 
gierten Bildern, als da find Aufnahmen bon Domen mit Borplagen aus der 
Perfpettive, als handele es fic nicht um die Nibelungen, fondern um Bandere 
bilts Hochzeit oder Wilfons Beerdigung, photographiert für Woche und 
Slluftrierte, troß dem allem bleibt das Wunder fern, es Hodt wohl ftatt in 
dem ſchönen GFilmbaus der Stadt irgendwo im Winkel einer armfeligen 
Bauernfate in der Lüneburger Heide, wo eine frummgearbeitete alte Frau 
ihre wilden Gnfel mit Dem Grufeln pon Geſpenſtergeſchichten beruhigt. Die 
Berfibrung der Wbenteuerge{didten, die das Lied gang nebenbei mit feiner 
Ironie abtut, wäre vielleiht im Film noch ertraglid. Gr follte ſich auf fie 
befchränfen. Aber er würde aud bier die Schaumöglichkeit, die der Begriff 
„Abenteuer“ auslöft, verdrehen zu wichtig aufgetafelten Senfationen. 

Ich fenne den praftifhen Einwand der ganz Klugen und Woblgefinnten: 
Die Kunft muß national fein und das Bolf muß feine großen Stoffe fennen 
lernen. Die Snfonfequeng diefer Leute ift geradezu erftaunlih! „Politifch“ 
find fie ,®egner der Demokratie“ und reden bom Führerideal, auf der andern 


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Seite glauben fie für geiftige Dinge an eine pfuchologifche Gleichheit der 
Maffe. Sie verwedfeln Hier Golf und Maffe und finnen im praftifchen 
Sall nicht „ariftofratifh“ genug fein! Da fie bon der Grfahrung belehrt 
werden, daß ein Kunftwerf nur ſchwer zugänglich ift, gleichen fie es der 
Waſſenpſhche an. Als ob dann das Werk überhaupt noch vorhanden ware! 
Die Unnah barkeit des Kunſtwerks für ibm nit ebenbür- 
tige Seelen dDofumentiert Die Ungleichheit der Menfaden; 
wenn wir fie aufgubeben tradten, vernidten wir bas 
Kunftwerkl Was bleibt, ift ein böfes Bildungsfurrogat. Warum laufen 
wir Sturm gegen Schidfalhaftes? Die Grenzen find nicht zu überfpringen. 
Der Nibelungenfilm fchafft feinen Nibelungengeift, er Hat ja feinen. Daf 
fein Stoff im Film gebraudt wird, ändert nidts an der Tatfade; wer es 
bod glaubt, verwechfelt ©eift und Material. Kein Wunder in unferm 
materialiftifden Zeitalter! Laßt diefe Art Volksbeglückung, fie pfufht dem 
ah Gott ins Handwerk und entwürdigt uns des Grofen, das wir nod 
aben. 

Gon Intereffe ift nod die Stellung der löblichen Kritik gu dem Nibe- 
Iungenfilm. Sie findet ihn im allgemeinen großartig. Wieweit die Inferate 
in den Zeitungen dabei mitfpielen, weiß id nicht. Oder wird der Film einfach 
nicht ernft genommen? Dann läuft es auf eine Irreführung des Publitums 
hinaus. Wie wird fonft immer von der „Form“ geſchwätzt. Form und Gee 
Halt müffen eins fein! Gs gibt eigentlich gar feine Trennung zwifchen beiden. 
Sonft fommt fein Kunftwerf heraus! Gewiß fann man einem Stoff neue 
Gorm geben, aber wenn er fo wie im Nibelungenlied „geprägte Form“ ge- 
worden ift, fann man ibn nicht daraus löſen. 

Es wäre nod ein Wort über Thea bon Harbous Romanbearbeitung des 
Stoffes zu fagen. Die Idee einer Romanbearbeitung des Liedes ift an fid, 
wie aus dem vorigen erflarbar, verfehlt, es muß aber anerfannt werden, daß 
diefe Bearbeitung felbft großen Grnft und großes Können zeigt. Danad 
find die plumpften Gntgleijungen nidt auf Koften des Manuffriptes zu fegen. 
Der Geftalt einer Kriembild gerecht zu werden, fann unfrer Zeit Taum ger 
lingen, es ift auch bier nicht der Gall. Immerhin ftellt die ganze Art des 
Aufbaues: in der nachgebolten Erzählung von Siegfried durdh Kriemhild 
gegenüber dem werbenden Rüdiger — eine Art Gliederung nad homeriſchem 
Borbild — Kriemhild gang in den Mittelpuntt. 

Und nod einem muß fein Redt werden: In die Unmdglidfeit des 
ganzen Films wird natürlich die Siegfriedfigur Dineingeriffen, aber einzeln 
genommen ift Diefer Giegfried eine pradtpolle Leiftung. Wie fitt Diefer 
Menſch zu Pferde, wie trägt er das Haupt! Gegen diefe Geftalt wirkt aller» 
dings die unmöglide Kriemhild nod Fataftrophaler. 

Schließlich aber, wir find jammerlide, Heine Menfchlein geworden. Das 
bißchen Blut, das nod in ung fteden mag, muß fic entzünden an der unere 
mefliden Gewalt des Geelifchen, das aus alter Zeit zu uns herüberragt. Seid 
ebrfiirdtig, betrachtet diefe Größe und — wenn fie euch zu fern und uns 
nabbar ijt, dann taftet fie nidt an, es bleibt ein GFrevel, und Wohlge- 
meintheit entjchuldigt ibn nidt. Man kann nicht Trauben lefen bon den 
Difteln. Biel mehr aber als Difteln find wir nicht. Befcheidenheit mag lange 
fam und 245 dem müden Ader in ruhiger, treuer Arbeit wieder Frudt abe 
ringen [affen. Und diefe Befheidenbeit tut uns not. 

Ludwig Benningboff. 


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Erleſenes 


Aus Kants Werken. 


Gon dem lebten Zwede der Natur. 


TS" haben im DBorigen gezeigt, daß wir den Menfchen nicht bloß, wie 
alle organifierte Wefen, als Naturzwed, fondern auch bier auf Grden 
alg den legten Swed der Natur (in Beziehung auf den alle übrige 
Naturdinge ein Shftem bon Zweden ausmaden) nad) Grundlagen der Ver— 
nunft, zwar nicht für die beftimmende, dod für die refleftierende Lrteilstraft, 
gu beurteilen hinreichende Urſache haben. Wenn nun dasjenige im Men- 
{den felbft angetroffen werden muß, was als Zwed durch feine Verknüp⸗ 
fung mit der Natur befördert werden foll: jo muß entweder der Zwed von 
der Art fein, daß er felbft Durd Die Natur in ihrer Wohltätigfeit bee 
friedigt werden Tann, oder es ift die Tauglichkeit und Gefdidlidfeit zu 
allerlei Sweden, dazu die Natur (äußerlich und innerlih) von ihm gee 
braudt werden Efönne Der erfte Zwed der Natur würde die Slüd- 
feligfeit, der zweite die Kultur des Menjden fein. 

Der Begriff der Glückſeligkeit ift nicht ein folder, den der Menſch 
etwa bon feinen Inftinkten abftrabiert und fo aus der Zierheit. in ihm feldft 
bernimmt, fondern ift eine bloße Idee eines Buftandes, welder er den 
fegteren unter bloß empirifden Bedingungen (welches unmöglich ift) adäquat 
maden will. Gr entwirft fie fich felbft, und gwar auf fo verfchiedene Art, 
durch feinen mit der Ginbilbungsfraft und den Sinnen verwidelten Berftand, 
er ändert fogar diefen fo oft, daß die Natur, wenn fie auch feiner Willkür 
gänzlich unterworfen wäre, doch fchlechterdings fein beftimmtes allgemeines 
und feftes ®efet annehmen fönnte, um mit diefem ſchwankenden Begriff, und 
fo mit Dem Zweck, den jeder fid willf irlider Weife vorſetzt, überein- 
guftimmen. Aber, felbft wenn wir entweder diefen auf das wahrhafte 
Naturbedürfnis, worin unfere Gattung durchgängig mit fich übereinftimmt, 
berabfegen, oder, andererfeits, die Gejhidlichkeit fid eingebi Idete Zwede 
gu verichaffen noch fo bod fteigern wollten, fo würde doch, was der Menſch 
unter „Slüdfeligfeit“ verfteht, und was in der Sat fein eigener legter Natur- 
awed (nicht Zwed der Freiheit) ift, von ihm nie erreicht werden; denn 
feine Naturiftniht von der Art, irgendwo im Befite und 
Genuffe aufzubören und befriedigt gu werden. Anbdererfeits 
ift fo weit gefehlt (d. b. ift es völlig falfch), daß die Natur ihn zu ihrem bes 
fondern Liebling aufgenommen und vor allen Sieren mit Wohltun begünftigt 
babe, daß fie ihn vielmehr in ihren verderblihen Wirkungen, in Peft, Hunger, 
Waffergefabr, Froft, Anfall bon andern großen und Kleinen Tieren u. dgl. 
ebenfowenig verfchont wie jedes andere Sier; nod) mehr aber, daß das 
Widerfinnlide der Naturanlagen ihn felbft in felbfterfonnenen Plagen 
und nod) andere bon feiner eigenen Gattung, durch den Drud der Herrfchaft, 
die Barbarei der Kriege ufw. in folde Not verfegt und er felbft, fo viel an 
ihm ift, an der Zerftörung feiner eigenen Gattung arbeitet, daß ſelbſt bet der 
mohltätigften Natur außer ung, der Swed derfelben, wenn er auf die Gli d- 
feligteit unferer Species geftellt wäre, in einem Syſtem berfelben auf 
Grben nicht erreicht werden würde, weil die Natur in uns Derfelben nicht 
empfänglich ift. Gr ift alfo nur immer Glied in der Kette der Natur- 


160 


awede, zwar Brinzip (bd. 5. erfter Anfang) in Anſehung mandes Zweds, 
dazu die Natur ihn in ihrer Anlage beftimmt zu haben fcheint, indem er jich 
felbft. dazu macht, aber dod auch Mittel zur Grbaltung der Zweckmäßigkeit 
im Mechanismus der übrigen Glieder. Als das einzige Wejen auf Erden, 
das Derftand, mithin ein Vermögen bat, fid felbft willfirlih Zwede zu 
fegen, ift er zwar betitelter Herr der Natur, und, wenn man diefe als 
teleologifhes Shftem anfiebt, feiner Beftimmung nad der lette Swed der 
Natur, aber immer nur bedingt, nämlich daß er es verſtehe und den Willen 
babe, diefer und ihm felbft eine foldhe Zweckbeziehung zu geben, die unab- 
bangig don der Natur fid felbft genugfam, mithin Endzweck fein fönne, 
der aber in Der Natur gar nit gefudt werden muß. 

Um aber ausgufinden, worein wir am Menfchen wenigſtens jenen 
legten Swed der Natur zu fegen haben, miifjen wir dasjenige, was die 
Natur zu leiften vermag, um ihn dazu vorzubereiten, was er felbft tun 
muß, um Gndgwed zu fein, hberausfuchen, und es von allen den Zweden ab- 
fondern, deren Möglichkeit auf Bedingungen beruht, die man allein pon der 
Natur erwarten darf. Bon der letteren Art ift die Slüdfeligfeitauf 
Erden, worunter der Inbegriff aller dur die Natur außer und in dem 
Menfdhen mögliden Zwede desfelben verftanden wird; das ift die Materie 
aller feiner Swede auf Grden, Die, wenn er fie zu feinem ganzen Swede 
madt, ihn unfähig madt, feiner eigenen Eziftenz einen Gndgwed zu ſetzen 
und dazu zufammen zu ftimmen. Gs bleibt alfo von allen feinen Sweden 
in der Natur nur Die formale, fubjeftive Bedingung, namlid 
der Tauglichkeit: fich felbft überhaupt Bwede zu fegken, und (unabhängig 
bon der Natur in feiner Zwedbeftimmung) die Natur den Mazimen feiner 
freien Zwede überhaupt angemeffen, als Mittel zu gebrauchen, übrig, was 
die Natur, in Abſicht auf den Gndgwed, der außer ihr liegt, ausrichten, 
und welches alfo als ihr letter Swed angefeben werden fann. Die Here 
borbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wefens zu beliebigen Zweden 
überhaupt (folglid in feiner Freiheit) ift die Kultur. Alfo fann 
nur die Kultur der legte Bwed fein, den man der Natur 
in Anſehung der Menfhengattung beigulegen Urfade hat; (nit 
feine eigene ®lüdfeligfeit auf Erden, oder wohl gar bloß das vornehmfte 
Werkzeug zu fein, Ordnung und Ginbelligfeit in der vernunftlofen Natur 
außer ihm zu ftiften). 

Aber nicht jede Kultur ift zu diefem legten Zwede der Natur hinlanglid. 
Die der Geſchicklichkeit ift freilid die vornehmfte fubjeltine Bedingung 
- der Tauglichkeit zur Beförderung der Zwede überhaupt, aber doch nicht Hine 
teidend, den Willen, in der Beftimmung und Wahl feiner Swede, zu 
befördern, welder dod zum ganzen Wmfange einer Tauglichkeit zu Sweden 
wejentli gehört. Die lettere Bedingung der Tauglichkeit, weldhe man die 
Kultur der Zucht (Difziplin) nennen könnte, ift negativ, und befteht in 
der Befreiung des Willens von dem Defpotismus der Begierden, wodurd 
wir, an gewijfe Naturdinge gebeftet, unfähig gemadt werden, felbft zu wählen, 
indem wir ung die Triebe zu Feſſeln dienen laffen, die uns die Natur nur 
ftatt Leitfäden beigegeben bat, um die Beftimmung der Tierheit in uns nicht 
gu vernadjläffigen, oder gar zu verlegen, indes wir doch frei genug find, fie 
anzuziehen oder nachzulaffen, zu verlängern oder zu verkürzen, nachdem es Die 
Swede der Bernunft erfordern. 

Die Gefdidlidfeit fann in der Menfchengattung nicht wohl (d. 5. nicht 
anders) entwidelt werden, als vermittelft der Ungleichheit unter Men- 


161 


ſchen; da die größte Zahl die Notwendigkeiten des Lebens gleidfam me— 
chaniſch, ohne dazu befonders Kunft zu bedürfen, zur Gemadlidfeit und Mufe 
anderer, bejorget, welche die minder notwendigen Stüde der Kultur, Wijjen« 
ſchaft und Kunft, bearbeiten, und bon diefen in einem Stande des Druds, 
faurer Arbeit und wenig Genuffes gehalten wird, auf welde Klafje fid 
denn Dod mandes bon der Kultur der höheren nach und nach aud vere 
breitet. Die Plagen aber wadjen im Gort{[dritte derfelben (deffen Höhe, 
wenn der Hang gum Gntbehrliden fdon dem Unentbebrliden Abbruch zu 
tun anfängt, Luzus beißt) auf beiden Seiten gleich mächtig, auf der einen 
burd fremde Gewalttatigfeit, auf der andern durch innere Ungenügjamleit, 
aber das glänzende Glend ift Dod mit der Gntwidelung der Naturanlagen 
in der Menjchengattung verbunden, und der Zwed der Natur jelbft, wenn 
es gleih nidt unfer Swed ift, wird doch hierbei erreicht. Die formale 
Bedingung, unter welder die Natur diefe ihre Endabficht allein erreichen 
fann, ift diejenige Berfafjung im VBerhältniffe der Menjchen untereinander, wo 
dem Wbbrucde der einander wedbfelfeitigen widerftreitenden Freiheit gefebe 
mäßige Gewalt in einem Gangen, welches „bürgerlide Geſellſchaft“ beißt, 
enigegengejegt wird; denn nur in ihr fann die größte Gntwidelung der 
Naturanlagen gefdebhen, zu welder aber doch, wenngleih Menſchen fie ause 
gufinden Hug und fih ihrem Stange willig zu unterwerfen weiſe genug 
wären, nod ein weltbürgerlihes G©anze, d. i. ein Syſtem aller 
Staaten, die aufeinander nachteilig zu wirfen in Gefahr find, erforderlich 
wäre. In deſſen Grmangelung und bei dem Hindernis, weldhes Ehrſucht, 
Herrrſchſucht und Habjudt, vornehmlich bei denen, die Gewalt in Händen 
haben, felbjt der Möglichkeit eines folden Entwurfs entgegenfegen, ift der 
Krieg (teils in welchem fid Staaten zerfpalten und in Kleinere auflöfen, teils 
ein Staat andere Kleine mit fic) vereinigt und ein größeres Ganzes zu bilden 
ftrebt) unbermeidlid, der, fo wie er ein unabfidtlider (durd 
aligelloje Letdenjdaften angeregter) Berfuh der Menfchen, dod tief vere 
borgener, vielleidt abſichtlicher Berfud der oberften 
Weisheit iſt, Geſetzmäßigkeit mit der Freiheit der Staaten und dadurd 
Einheit eines moralifd begründeten Syſtems derfelben, wo nicht zu ftiften, 
dennoh vorzubereiten, ungeadtet der fchredlichften Drangfale, womit 
er das menfdlide Geſchlecht belegt, und der vielleicht noch größern, womit 
die beftändige Bereitſchaft dazu im Frieden drüdt, dDennod eine Triebfeder 
mebr ift, (indes die Hoffnung zu dem Rubeftande einer Volksglüchſeligkeit 
fid immer weiter entfernt) alle Talente, die zur Kultur dienen, bis zum 
höchſten Grade zu entwideln. 

Was die Difgiplin der Neigungen betrifft, zu denen die Naturanlage 
in Abficht auf unfere Beftimmung, als einer Tiergattung, ganz zwedmäßig 
ift, Die aber die Gntwidelung der Menſchheit fehr erjdweren, fo zeigt fich 
bod aud in Anfehung diefes zweiten Grforderniffes zur Kultur ein ziwed- 
mäßiges Streben der Natur zu einer Ausbildung, weldhe uns höherer Zwecke, 
als die Natur felbft liefern Tann, empfanglid madt. Das Uebergewidt der 
Mebel, welde die Berfeinerung des Gefdmads bis zur Idealifierung des«- 
felben, und felbft der Luxus in Wiffenfdaften, als einer Nahrung für die 
Gitelfeit, durch bie unzubefriedigende Menge der dadurch erzeugten Neigüngen 
über uns ausfchüttet, ift nicht zu beftreiten; dagegen aber der Zwed der Natur 
aud) nicht zu verfennen, der Robigkeit und dem ngeftüm derjenigen Neis 
gungen, welche mehr der Tierheit in uns angehören und der Ausbildung zu 
unferer höheren Beftimmung am meiften entgegen find (den Neigungen des 


162 


Genuffes) immer mehr abzugewinnen und der Gntwidelung der Menfch- 
beit Plat zu maden. Schöne Kunft und Wiffenfchaften, die durch eine Luft, 
die fich allgemein läßt, und durch Gefdliffenbeit und Verfeinerung für die 
Geſellſchaft, wenngleich den Menfchen nicht fittlich befjer, dod gefittet maden, 
gewinnen der Thrannei des Ginnenbanges febr viel ab, und bereiten dadurch 
den Menjchen zu einer Herrfchaft bor, in der die Bernunft allein Gewalt 
haben foll, indeffen daß die Uebel, womit uns teils die Natur, teils die 
unvertragjame Gelbftjudt der Menfden heim fucht, zugleich die Kräfte der 
Seele aufbieten, fteigern und ftählen, um jenen nicht gu unterliegen, und fo 
eine Tauglichkeit zu höheren Bweden, die in ung verborgen liegt, fühlen laffen. 

(Aus der ,,Kritif der Urteilstraft*.) 


Die Religion des guten Lebenswandels. 


Mes, was außer dem guten Lebenswandel der Wtenfd noch tun zu können 

bermeint, um @ott woblgefallig zu werden, ift bloßer Religionswahn 
und Afterdienft ©ottes. — Ich fage, was der Menſch tun zu können glaubt, 
denn, ob nicht über alles, was wir tun können, nod in den Sebeimniffer 
der höchſten Weisheit etwas fein möge, was nur ®ott tun fann, um uns zu 
ihm wohlgefälligen Menfden zu maden, wird hierdurch nicht verneinet.... 

Simmlijde E&inflüffe in fid wahrnehmen zu wollen, ift eine Art 
Wahnfinn, in welhem wohl gar aud Methode fein Tann, (weil fic jene 
bermeinten „inneren Offenbarungen“ dod immer an moralifche, mithin an 
Bernunftideen anfdlichen müfjen) der aber immer dod eine der Religion 
nadteilige Selbfttäufchung bleibt. Zu glauben, daß eg Snadenwir- 
tungen geben finne und vielleicht zur Ergänzung der Unpolllommendeit 
unferer Zugendbeftrebung aud) geben müſſe, ift alles, mas wir Dabon fagen 
fönnen; übrigens find wir unbermigend, etwas in Anfehung ihrer Kenn- 
zeichen gu beftimmen, noch mehr aber zur Herporbringung derfelben etwas 
gu tun. 

Der Wahn, durd religiöfe Handlungen des Kultus etwas in Anfehung 
der Redtferiigung vor Gott auszurichten, ift der religiöfe Aberglaube; fo 
wie der Wahn, diefes durdh Beftrebung zu einem vermeintliden „Umgange 
mit Gott“ bewirken zu wollen, die religiöfe Schwärmerei. — Gs ift aber- 
gläubifher Wahn, durch Handlungen, die ein jeder Menfh tun fann, ohne 
daß er eben ein guter Menſch fein darf, Gott wohlgefällig werden zu wollen 
(3. B. dur) Bekenntnis ftatutarifher Glaubensſätze, durch Beobachtung Kirche 
lider Obfervanz und Zucht u. dgl.). Gr wird aber darum abergläubifch gee 
nannt, weil er fid bloße Naturmittel (nicht moralifche) wählt, die zu 
dem, was nidt Natur ift, (d. i. dem fittliden Guten), für fich fehlechterdings 
nidts wirken können. — Gin Wahn aber beißt ſchwärmeriſch, wo fogar das 
eingebildete Mittel, als überfinnlich, nicht in dem Vermögen des Menfhen 
ift, ohne noch auf die Unerreichbarkeit des dadurch beabfichtigten überfinn« 
liden Zweds zu feben; denn diefes Gefühl der unmittelbaren Gegenwart 
des höchſten Wefens und die Unterfcheidung desfelben von jedem andern, 
felbft dem moralifhen Gefühl, wäre eine Gmpfanglidleit einer 
Anfdauung (b. h. für eine Wahrnehmung) für die in der 
menſchlichen Natur fein Sinn ift. — Der abergläubifhe Wahn, 
weil er ein an fich für mandes Subjeft tauglides und diefem zugleich mög« 
lides Mittel, wenigftens den Hinderniffen einer Gott woblgefalligen Ge— 
finnung entgegen zu wirfen, enthält, ift doch mit der Bernunft fofern ver 
toandt, und nur zufälliger Weife dadurch, daß er das, was bloß Mittel fein 


163 


fann, zum unmittelbar Gott woblgefalligen Gegenftande macht, ver- 
werflid; dagegen ift der ſchwärmeriſche Religionswahn der moralijdhe Tod 
der DBernunft, ohne die dod gar feine Religion, als welche, wie alle Moe 
ralitat überhaupt, auf Grundjage gegründet werden muß, ftattfinden Tann. 

Der allem Religionswahn abhelfende oder vorbeugende Srundjat eines 
Rirdhenglaubens ift alfo: daß Diefer neben den ftatutarifchen Säßen, deren 
er vorjetzt nicht gänzlich entbehren fann, Doch zugleich ein Brinzip in fid 
enthalten müjfe, Die Religion des guten Lebenswandels, als 
das eigentlide Biel, um jener dereinft gar entbehren gu fdnnen, herbeizu— 


Der Menfd wendet ſich gewöhnlicher Weife unter allen göttlichen mora- 
lichen Eigenfchaften, der Heiligkeit, der Gnade und der Geredtige 
feit, unmittelbar an die zweite, um fo die abjdredende Bedingung, den 
Sorderungen der erfteren gemäß zu fein, zu umgeben. Gs ift mibfam, ein 
guter Diener zu fein, (man hört da immer nur bon Pflichten jprechen); er 
möchte daher lieber ein Gaborit fein, wo ihm vieles nadgefeben, oder, 
wenn ja zu grdblid) gegen Pflicht verftoßen worden, alles durch Bermittelung 
irgendeines im höchſten Grade Begiinftigten wiederum gut gemacht wird, 
indeffen, daß er immer der Iofe Knecht bleibt, der er war...!... 

Denn der Wahn diefes vermeintlichen Himmelsgünftlings bis zur ſchwär— 
merifhen Ginbilbung gefühlter befonderer Gnadenwirfungen in ibm 
fteigt (Bis fogar zur Anmaßung der Bertraulidfeit eines bermeinten dere 
borgenen Umgangs mit Gott), fo efelt ihn gar endlich die Tugend an, und 
wird ihm ein Gegenftand der Beradtung; daher es denn fein Wunder ift, 
‚wenn öffentlih geflagt wird, daß Religion nod immer fo wenig zur 
Befferung der Menfchen beiträgt, und das innere Licht („unter dem Scheffel“) 
Diefer Begnadigten nicht auch äußerlich, durch gute Werke, leuchten will, und 
zwar (wie man nad) diefem ihrem Vorgehen wohl fordern fdnnte), bore 
züglih bor anderen natürlich-ehrliden Menfchen, welche die Religion nicht 
zur Grfegung, fondern zur Beförderung der Zugendgefinnung, die 
in einem guten Lebenswandel tätig erfcheint, furg und gut in ſich aufnehmen. 
Der Lehrer des Gpangeliums Hat gleihwohl diefe äußeren Beweistümer 
äußerer Grfabrung felbft zum Probierftein an die Hand gegeben, woran, als 
an ihren Früchten, man fie und ein jeder fic felbft erfennen fann. Noch aber 
Hat man nicht gefehen, daß jene ihrer Meinung nach auferordentlid Bee 
günftigten (Auserwählten) es dem natiirlidmen ehbrliden Manne, 
auf den man im Umgange, in Gefdhaften und in Nöten vertrauen fann, im 
mindeften zubortäten, da fie vielmehr, im ganzen genommen, die Bergleidung 
mit Diefem faum aushalten dürften; zum Beweife, daß es nicht der rechte 
Weg fei, bon der Begnadigung zur Tugend, fondern vielmehr von der 
Zugend zur Begnadigung fortzufchreiten. 

(Aus der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Bernunft“.) 


Das Begreifen der Unbegreiflidleit. 


De ſpekulative Gebrauch der Vernunft in Anſehung der Natur, führt 
auf abjolute Notwendigkeit irgendeiner oberften Urſache der Welt; der 
prattijhe Sebraud der Bernunft in Abfiht auf die Freiheit führt aud 
auf abjolute Notwendigkeit, aber nur der Gefege der Handlungen eines dere 
nünftigen Wefens als eines folden. Nun ift es ein mefentlides Prinzip 
alles Gebrauchs unferer Bernunft, ihr Erkenntnis bis zum Bewuftfein 
ihrer Notwendigfeit gu treiben (denn ohne diefe wäre fie nicht 


164 


Grfenntnis der Vernunft). Gs ift aber auch eine ebenfo wmefentlide Ein— 
ſchränkung ebenderfelben Bernunft, daß fie weder die Notwendigkeit deifen, 
was da ift, oder was geſchieht, nod deffen, was gefchehen foll, ein- 
feben fann, wenn nidt eine Bedingung, unter der es da ift oder gee 
ſchieht oder gefdeben foll, zugrunde gelegt wird. Auf diefe Weife aber 
wird durch die beftändige Nachfrage nad der Bedingung die Befriedi- 
gung der DBernunft nur immer weiter aufgefhoben. Daher fudt fie raftlos 
das Unbedingt-Notwendige und fieht fich genötigt, es anzunehmen, 
ohne irgendein Mittel, es fich begreiflid zu machen; glüdlic genug, wenn 
fie nur den Begriff ausfindig machen fann, der fid mit diefer Boraus- 
febung verträgt. Es ift alfo fein Zabel für unfere Dedulftion des oberften 
Prinzips der Moralität, fondern ein Gortourf, den man der menfdliden 
Bernunft überhaupt maden müßte, daß fie ein unbedingtes praftifches Gefes 
(dergleihen der kategoriſche Imperativ fein muß) feiner abfoluten Not— 
wendigfeit nah nidt begreiflid maden fann; denn daß fie diefes nicht 
durh eine Bedingung, nämlich vermittelft irgendeines zugrunde ge- 
legten Intereffes, tun will, fann ihr nicht verdadt werden, weil es alsdann 
fein moralifches, d. i. oberftes Gefeg der Freiheit fein würde. Und fo 
begreifen wir gwar nicht die praftifche unbedingte Notwendigfeit des 
moralifden Imperativs, wir begreifen aber doch feine Unbegreiflid- 
feit, weldes alles ift, was billigermaßen bon einer Philoſophie, die bis 
zur Grenge der menfdliden Vernunft in Prinzipien ftrebt, gefordert werden 
fann. (Aus der ,@rundlegung zur Metaphyſik der Gitten“,) 


®ebeimniffe. 


8 gibt Geheimniffe, Berborgenbeiten (arcana) der Natur, es fann Gee 
beimniffe (Geheimhaltung, fecreta) der Politi geben, die nicht öffent» 
lid befannt werden follen; aber beide fönnen uns dod, fofern fie auf 
empirifhen Yrfachen beruhen, befannt werden. In Anfehung beffen, was 
gu erfennen allgemeine Menfdenpflidt ift (nämlih des Moralifchen), Tann 
es fein Geheimnis geben, aber in Anſehung deffen, was nur © ott tun fann, 
wozu etwas felb ft gu tun unfer Bermögen, mithin aud unfere Pflicht über- 
fteigt, da Tann es nur eigentliches, namlid Heiliges Geheimnis (mbfterium) 
der Religion geben, wovon uns nur, Daß es ein foldhes gebe, zu wiffen 
und es zu berfteben, nit eben es einzufeben nütlich ift. 
(Aus der „Religion innerhalb der Grengen der bloßen DBernunft“.) 


Atung. 


Htung gebt jederzeit nur auf Perfonen, niemals auf Saden. 

Die letteren fönnen Neigung, und wenn es Tiere find (3. B. Pferde, 
Hunde ufw.), fogar Liebe, oder aud Furcht, wie das Meer, ein Bulfan, 
ein Raubtier, niemals aber Achtung in uns erweden. Etwas, was dieſem 
Gefühl ſchon näher tritt, ift Bewunderung, und diefe, als Affelt, das 
Grftaunen, fann aud auf Sachen geben, 3. B. himmelhohe Berge, die 
Größe, Menge und Weite der Weltkörper, die Starfe und Gefchwindigfeit 
mander Tiere ufw. Aber alles diefes ift nidt Achtung. Gin Menſch 
fann mir aud ein Gegenftand der Liebe, der Furdt, oder der Bewunderung 
fogar bis gum Grftaunen und dod darum fein Gegenftand der Achtung fein. 
Seine ſcherzhafte Laune, fein Mut und feine Starke, feine Macht (durch feinen 
Rang, den er unter anderen Hat), finnen mir dergleiden Gmpfindungen eins 
flößen, es fehlt aber immer nod an innerer Achtung gegen ihn. Gontenelle 


165 


fagt: bor einem Vornehmen büde id mid, aber mein Geiſt biidt fich nicht. 
Sd fann Hinzufegen: vor einem niedrigen, biirgerlid-gemeinen Mann, an 
dem id eine Redtidaffenbeit des Charakters in einem gewiſſen Maße, als 
id mir felbft nicht bewußt bin, wahrnehme, büdt fid mein Geift, id mag 
wollen oder nicht, und den Kopf nod fo hod tragen, um ihn meinen Bore 
rang nicht überfehen zu laffen. Warum das? Gein Beifpiel hält mir ein 
Geſetz bor, das meinen Gigenbdiinfel niederfchlägt, wenn id es mit meinem 
Berhalten vergleiche, und deffen DBefolgung, mithin die TSunlidfeit des. 
felben, id bdurd die Sat bewiefen vor mir febe. Nun mag id mir fogar 
eines gleiden Grades der Rechtſchaffenheit bewußt fein, und die Achtung 
bleibt Dod. Denn, da beim MWtenfden immer alles Gute mangelhaft ift, 
fo ſchlägt das Geſetz, durch ein Beifpiel anfhauli gemadt, Doch immer 
meinen Stolz nieder, wozu der Mann, den id por mir febe, deffen Lnlauter- 
feit, die ihm immer nod anhängen mag, mir nicht fo, wie mir die meinige, 
Sefannt ift, ber mir alfo in reinerem Lichte erfdeint, einen Mafftab abgibt. 
Achtung ift ein Tribut, den wir dem Berdienfte nicht verweigern können, 
wir mögen wollen oder nicht; wir mögen allenfalls äußerlich damit zurüd« 
balten, fo finnen wir doch nicht verhüten, fie innerlich zu empfinden. 

Die Achtung ift fo wenig ein Gefühl der Luft, daß man fich ihr in 
Anſehung eines Menfden nur ungern überläßt. Man fudt etwas ausfindig 
gu maden, was uns die Laft derfelben erleichtern fönne, irgendeinen Tadel, 
um uns wegen der Pemütigung, die uns durd ein foldes Beifpiel wider 
fährt, ſchadlos gu halten. Gelbft Berftorbene find, vornehmlich wenn ihr 
Beiſpiel unnahahmlich fdeint, vor diefer Kritik nicht immer gefidert. Soe 
gar das moraliihe Geſetz felbft, in feiner feierliden Majeftät, ift 
diefem Beftreben, fi der Achtung dagegen zu erwehren, ausgefest. Meint 
man wohl, daß es einer anderen Urfache zugufchreiben fei, westwegen man 
es gern zu unferer bertrauliden Neigung Herabwiirdigen möchte, und fid 
aus anderen Urſachen alles fo bemühe, um es zur beliebten Borfdrift unferes 
eigenen wohlverftandenen Gorteils zu machen, als daß man der abfchredenden 
Achtung, die uns unfere eigene Unwiirdigleit fo ftrenge vorhält, los werden 
möge? Gleichwohl ift darin dod aud wiederum fo wenig Unluft, daß, 
wenn man einmal den Gigendünfel abgelegt und jener Achtung praftifchen 
Einfluß verftattet hat, man fic wiederum an der Herrlidfeit diefes Geſetzes 
nicht fatt feben fann, und die Seele fic) in Dem Maße felbft zu erheben glaubt, 
als fie das heilige Geſetz über fid) und ihre gebredlide Natur erhaben fieht. 
Swar können große Talente und eine ihnen proportionierte Tätigkeit auch 
Adtung oder ein mit bderfelben analogifhes Gefühl bewirken, es ift aud 
ganz anftändig, es ihnen zu widmen, und da fdeint es, als ob Bewunderung 
mit jener Empfindung einerlei fei. Allein, wenn man näher gufiebt, fo 
wird man bemerken, daß, da es immer ungemwiß bleibt, wieviel das anges 
borene Salent und wieviel Kultur durch eigenen Fleiß an der Gefchidlichkeit 
Zeil babe, fo ftellt uns die Bernunft die Iettere mutmaflid als Grudt der 
Kultur, mithin alg Berdienft por, welches unferen Gigendünfel merklich 
berabftimmt, und uns darüber entweder Vorwürfe madt, oder uns die Bee 
folgung eines folden Beifpiels, in der Art, wie es uns angemeffen ift, aufe 
erlegt. Sie ift alfo nicht bloße Bewund erung, dieje Achtung, die wir 
einer ſolchen Perfon (eigentlid dem Gefete, was uns fein Beifpiel vor— 
Halt), beweifen; welches fi auch dadurch beftätigt, daß der gemeine Haufe 
der Liebhaber, wenn er das Schlechte des Charakters eines folhen Mannes 
(wie etwa Boltaire) fonft woher erkundigt zu haben glaubt, alle Achtung gegen 


166 


ibn aufgibt, der wahre Gelehrte aber fie noch immer wenigftens im Ge— 
fidtspuntte feiner Talente fühlt, weil er felbft in einem Geſchäfte und Berufe 
verwidelt ift, welches die Nachahmung bdesjelben ihm gewiffermafen zum 


®efege madt. 


Achtung fürs moralifhe Gefes ift alfo bie einzige und zur 
gleih unbezmweifelte moraliſche Zriebfeder, fo wie diefes Gefühl aud auf 
fein Objeft anders, als lediglich aus dieſem Grunde geridtet ift...... 

(Aus der „Kritik der praktiſchen DBernunft“.) 


Kleine Beiträge 


Leib und Seele. 
Das hint te ®ebot. 


Bw in lichter Klarheit, bald in Gar- 
bengluten, ein @efdmeide Gottes, 
wädft Der Rriftall gebeimnispoll im 
dunklen Schoß der Erde. Lidtfebnfudt 
baut ibn auf. Gr ift ein Ahnen der 
Sonne mitten in der finfteren Nadt. Ihm 
wird Grfüllung, wenn feine Höhle zer- 
broden wird. Dann funfelt der Strahl 
durd fein Herz, und er erlebt feine Ber- 
Härung, feine neue, wahre Geburt. 

Warum wadft der Kriftall, dag Kind 
des Lichts, im dunklen Schoß der Erde? 
Was bildet ihn gum Auge Gottes in 
lauter Naht? Iles Dergänglice ift 
nur ein @leidnis. Sa, erft im Gleid- 
nis erſchließt fich fein Sinn. Alles Ber- 
gang! ide ift ErfHeinung des einen Lee 

ensgeiftes, der fid in taujend Seftalten 

offenbart, immer neu und immer ein 
Wunder. Und in allen Wundern weht 
ung eine geheime Nähe an. Wie ift es 
dod, daß alles feine Sprade redet und 
wir verftehen fie? Wie ift Natur ung 
fo feltfam fern und dod fo nab. Weil 
in ung der ewige Geift fpridt, der in 
den Siefen der Berge waltet, uns fo 
fremd und dod verwandt, nicht wir felbft 
und dod wir felbft, der da por uns im 
Sebilde fteht und uns .erfennen madt. 

Wie haben wir fo lange gefdieden, 
baben Natur und Geift als zwei Wel- 
ten getrennt, die nidts miteinander ge- 
mein haben. Da madte fid der fluge 
Gerftand auf, Natur ohne Geift, „aus fid 
felbft zu erflaren wie einen großen Me- 
&hanismus, der feinen Sinn in fid fel- 
ber bat. Gr ift nun einmal da. 

Aber Natur ohne Geift ift unerflär- 
bar, ift ſchlechthin unbegreiflid. Alle 
Natur ift auf den Geift angelegt. Aller 
Grund und Ginn in Diefem wunderbaren 
Organismus begreift jih aus der Offen- 
barung des G©eiftes, der im Stufenbau 
der Welt ein Glied das andere ergän- 
gen und ermögliden läßt, bis er im 


leudtenden Auge des Menfden fid felbft 
erfennt. Wer will den Leib, das An- 
gefiht erklären ohne den lebendigen Seift, 
er ibn geftaltet? &3 ift der Geift, der 
fid den Körper baut. Wem nidt alle 
Erkenntnis aus der Ginbildungstraft des 
©eiftes guwadft, dem zerfällt die Welt 
in tote Zeile, ohne daß er aud nur das 
Sebeimnis eines Kriftalls, geſchweige das 
des MenfHenauges anzurühren vermödte. 
Die Welt erfennen, das beißt, etwas da- 
von erfabren: 
„Die alles fid zum Ganzen webt, 
Eins in dem andren wirft und Lebt, 
Die Himmelsträfte auf und niederfteigen 
And fid die goldnen Gimer reichen, 
Mit fegenduftenden Schwingen 
Gom Himmel durch die Grde dringen 
Harmoniſch all das A —— 
Und der Pſalmiſt ſchaut: Du machſt deine 
Engel zu Winden und deine Diener zu 
Seuerflammen. 


2. 

Wir Iefen bei Meifter Ekkehart: In 
allen Kreaturen ift Oott uns gleid nahe. 
Der weile Mann fagt: Gott bat feine 
Nebe und Stride auf allen Kreaturen 
ausgebreitet, fo daß man ihn in einer 
jeden finden und erkennen fann — wenn 
man e8 nur wahrnehmen will. 

Wenn man es nur wahrnehmen will! 
Wie beihämt uns das. Verftehen wir 
da nidt ohne viel Worte, was Paulus 
meint, wenn er im Römerbrief davon 
{pridt, daß die Kreatur der Eitelkeit 
unterworfen ift ohne ihren Willen, ge 

en ihren innerften Ginn? Wir Peut- 
den haben ein tiefes Oefühl dafür mit 
befommen, das e8 ziemt, ein jedes Ding 
feinem Sinne nad zu behandeln, aud die 
tote Gade, wie viel mehr alfo allem 
Lebendigen gegenüber voll Ghrfurdht zu 
fein. Du follft nit willfirlid und eitel 
brauden, was dir Mutter Natur immer 
neu aus ihrem Reidtum fpendet. Natur 
ift ®abe, uns anvertraut, daß wir ihren 
Sinn erfennen, erfüllen, daß wir ung in 
fie bineinleben als Olied. Das ift por 


167 


allem das Wefen deutiher Kunft, dah 
fie Gerjenfung ift in alle reihe Fülle, 
in alles befondere Leben, in alle gewad- 
fene @eftaltung; daß fie ibre Ginbeit 
nidt von außen ae aufzwingt, fie viel- 
mebr laufhend und fdauend pon innen 
ber fpitrt und ‘bt — — Leben 
offenbart. Der Liebe öffnet Natur ihre 
Geheimniſſe, aber der Willfür verfagt fie 
i 


Welde Weite und Siefe hat das Gee 
bot: Du follft nicht töten! Es tötet, wer 
nidt liebend den Sinn des Lebens fpürt 
und ihn zu erfüllen tradtet. G3 tötet, 
wer nist in allem Leben die Offenba- 
tung des Geiftes erfennt und ihr ge- 
bordt. Frage did, ob du dem Leben 
. gedient haft, in ®edanfen, Worten und 
Werfen. Warft du wadh? Haft du Hem- 
mungen und SHinderniffe fortgetan, dort, 

eben blühen wollte und feine Sonne 
nidt finden fonnte? Grage did: haft du 
den Ginn deines Lebens erfüllt? Lebft 
du denn? Offenbarft du den Geift, der 
aud did erfduf, dir Leib und Leben 
gab, lebft du ibm a Dienften? Oder 
Dat du der Gitelfeit und darin dem 

ode 


3. 

Das führt zu der anderen Grfenntnis: 
Go wie die Natur ihr Geheimnis nur 
dem Geift erfhließt, der fid in ihr be- 
greift — fo offenbart der Geift fid 
nit, ohne daß er fih im leibhaftigen 
Leben verwirklicht. 

Am tiefften bat davon Paulus ge- 
fhrieben: Durd den Tod Hindurdh fudt 
unfer eben feine wahre Geftalt. Wir 
febnen uns nad der ,Bebaufung, die im 
Himmel ift, von Gott erbaut.“ Darum 
befennen wir die Auferftehung des Flei- 
ides, die Gerflarung der Natur zur 
reinen Offenbarung des Geiftes und re— 
den nidt von der unfterbliden Geele 
im fterbliden Leib wie die, denen Natur 
und @eift zwei Welten find, einander 
ewig fremd und feindlid. Im Geift Ie- 
ben, das heißt in vollendeter Geftalt, in 
erlöfter und erfüllter Natur leben. Go 
warten wir mit aller Natur auf unferes 
Leibes Grlöfung. 

Das find freilid Gedanfen, die un- 
verftanden bleiben in einer intelleftua- 
liftifmen Zeit, der pom Geift nur der 
bloße Berftand, die bloßen Gedanfen, der 
Begriff verblieb. Die Welt der Bee 
griite | ift nur ein Schatten des Lebens. 

er der ®eift ift die Wirklichkeit aller 
Welt als Offenbarung des Grundes in 
der Wirkung, des Schöpfers am Gee 


ſchöpf. 

Gottes Wort iſt geſtaltende, wirkende 
Wacht. „So er ſpricht, fo ‚geihiebts, fo 
er gebeut, fo ftebt e8 da.“ Sarum ift 


168 


Anteil am Geift Anteil am Leben, die 
Offenbarung der Wirklichkeit in uns und 
an uns felbft. 
„Werd Gott, willft du gu Gott.“ 
Darum fendet Gott nit ein Bud, 
eine Lehre, Gedanfen, um fid zu offen 
baren. Den Bualiften, die Leib und 
Seele auseinanderreißen, genügt eine 
„Bbilofophie“ zur Grlöfung. Aber Goit 
fendet zur Grlöſung den lebendigen Nen- 
fen, den Sohn. „Das Wort ward 
Bir stellen fein Wort nicht 
daß wir feine Oedanken in uns 
aufnehmen, fondern fo, daß wir in feiner 
Semeinihaft die Wahrheit erleben. 
Die Wahrheit begreife id nur, fo weit 
fie mir im Leben Seftalt gewinnt. Alle 
Lehre fann nur Deutung, Grflarung fein, 
ig auf die Grfabrung der Wabr- 
eit im leibhaftigen Zeugnis der Lebens- 
gemeinfdaft. 


4. 

Die Grfenntnis der Wabrbeit ift Be- 
ftätigung der Olaubensgewifbeit in aller 
Wirklidfeit des Lebens. Go wird ihr 
alles, was ift, zum Symbol des einen 
Lebens, zur GErſcheinung des ewigen 
Orundes, zur ———— des Geiſtes. 
Alles Endliche iſt darum dem zuge des 
Olaubens Gleidnis des Ewigen, ©leich- 
nis im ftrengen Ginn des Worts. 

Go ift für Sefus alles in Natur und 
Menfdenleben ein Gleidnis, in dem fid 
das ewige Leben nidt nur fo abbildet, 
wie ein Bild etwas anderes, einen an 
fi fremden Snbalt bedeuten fann. In 
allem ift das ewige Leben als fein wahrer 
@rund und Sinn da, es verwirklicht fid 
im Weinftod und Reben, Hirt und Sda- 
fen, Gater und Sohn. In der verzei- 
benden, gnädigen Liebe des Vaters zum 
verlorenen Sohn ift die Oottesliebe wirk⸗ 
fam, in der Reue und Heimkehr des Goh- 
nes das Öottesreih Run. Gs ift der 
ein iebesgeift der Die Blumen auf dem 
Gelde ſchmückt, die Bagel jubilieren läßt 
ve alle unfere Schritte gum Grieden 
eitet. 

Go ift das Saframent das Gleichnis 
unferer Gemeinſchaft mit dem Sohn. &8 
ift das gleide Oeſetz des Liebesgeiftes, 
das über dem Samen waltet, der ins 
dunkle Srdreid muß, um zu fterben und 
alg neues eben aufzugeben, das reift 
in ®luten und wird als Brot gebroden 
und verteilt, Speife gum Leben. &3 ift 
das gleiche Sefet,, das da waltet, wo Gr 
fein Leben gibt, das gerbridt, um fid 
auszuteilen und in uns zum Leben zu 
werden. Go wie wit bon einem Brote 
effen und bon einem Kelch trinfen, find 
wir von einem Leben in Ihm gendbrt. 
Gr felbft ift das Symbol unferer Gee 
meinfdaft, die Wirklidfeit, in der unfer 


@laube feiner felbft gewiß ift. In der 
leibbaftigen Gemeinfdaft des Gaframents 
wird unjer Leib als Sempel und Woh- 
nung Des einen Geiftes bezeugt, der in 
Ihm uns alle verbindet. 

„Nichts ift drinnen, nichts ift draußen, 
Denn was innen, das ift außen. 

So empfanget ohne Säumnis 

Heilig öffentlich — at 


Dod ift in dem Allen das Lebte nur 
erft angedeutet und nod nidt ausge» 
fproden. Heute ift uns der Ginn für die 
Leibhaftigfeit aller Wahrheit neu auf- 
geralajlen. Bir wiffen wieder darum, 
aß Wahrbeit mehr ift als bloßer Gee 
danke, Begriff und Wort. Daf nur nidt 
der Leib als das Lebte, Die Höhe vere 
ehrt, daß nur nidt Natur vergottet 
wird! Daß nidt nur nad der Gtärte, 
daß nad Ginn und Wahrheit eines Sr- 
lebens gefragt wird! Schon ift die Gee 
fahr wieder groß, daß dem waden Oe— 
fühl und der großen Ahnung leibhaf- 
tiger ©ottesnähe die Götter der unteren 
Welt den Altar befigen. Natur hat darin 
ihre Weihe, dab fie Ausdrud und Gee 
ftalt des Geiftes wird. Zu foldem Were 
den gebt e3 immer nur durchs Sterben. 
In Prbiendo confumor et nascor. Stirb 
und werdel Das Kreuz fteht über aller 
Natur. Ueberall, wo wir dem Sefeh dec 
Lebensoffenbarung nadgeben, jehen, wie 
der Seift fid auswirft, Br Grideinung 
drängt, ba finden wir, daß erft durds 
Sterben bindDurd die wahre Seftalt fid 
entfaltet und fidtbar wird. Das Weigen- 
forn muß in die Grde und erfterben, fo 
bringt’8 Grudt. Wir warten auf un- 
feres Leibes Grlöfung durd den Sod. 
Der GChriftus gerbridt am Kreuz und 
vollendet fid im Sod zur Auferftebung. 

Wenn Paulus vom Gebnen und 
Seufzen der Kreatur redet, die frei wer- 
den will pom Dienft des vergangliden 
Wefens, fo ift damit nit nur gemeint, 
daß wir Menfhen fie ung unterworfen 
baben in Gitelfeit und Mifbraud — die 
Kreatur fehnt fid nad der herrlichen 
Sreibeit der Kinder Gottes. Die Natur 
ift nit vollendet, nidt zu ihrem Ginn, 
zu ihrer Grfiillung gefommen, fo lange 
fie nur für fi felber da ift, fo lange die 
Notwendigkeit ihres Dajeins nidt als 
Sreibeit Des Seiftes, ihr Oeſetz als die 
Wirklidfeit der — Perfinlid- 
feit erjhienen ift. Im Schmerz und im 
Serbreden ihres bloßen Dafeins verflart 
Natur jih gum wahren Angefiht des 
©eiftes. 

Schauen wir in die Gefhidte unferes 
Bolfes. G8 ift ein Brud, der bom Gere 
manentum gum deutſchen Bolfstum führt. 
Sollen wir darüber trauern? Nein, die- 


fer Brud liegt auf dem Weg zur Gre 
füllung unſeres Wefens in den Offenba- 
rungen des deutihen Geiftesd. Alle Ge 
fdidte ift ein Serbreden und ein Dabin- 
tenlaffen der bloßen Natur, und nur fo 
ift fie der a a des Geiftes. 


Sarum und nur darum gilt bas 
Wort: „Das Leben ift der Güter hddftes 
nit.“ Sn der Hingabe des Lebens bis 
zum Tode wird der Ginn des Lebens 
offenbar. Nicht in der Erhaltung der un- 
angefodtenen Eziftenz ihrer Glieder um 
jeden Preis, in dem Opfer diefer Grifteng 
für ihr wahres Leben, für die Freibeit, 
erfüllt eine Nation den Ginn ihres Da- 
fein’. Du follft nit töten — died Gebot 
fann, recht verftanden, mir das Schwert 
in die Gauft drüden. Denn es ift das 
©ebot der Ghrfurdht por dem Leben als 
der Erjheinung des Geiftes. Dies Leben 
aber will immer neu erfampft fein. 

Vom Gifen wiffen wir, daß es fid 
auf unjerer Grde nie entjchließt zur kri— 
ftallinifhen Seftalt. Aber wenn es, los⸗ 
geriffen von feinem Wahstumsgrund, als 
Meteor durd den leeren Abgrund des 
Alles gejchleudert wird, dann, in Diefer 
äußerften Bedrängnis, in diefem LUnter- 
gang, ſchießt es zufammen, findet es 
feine Gorm und verflärt fid zur rei- 
nen Gtrenge der Säule, die fein innerftes 
Dielen fpendet. 

Karl Bernbard Ritter. 


Die politifde Dummheit Europas. 


a früheren Seiten fudte man das paf- 
fende Wetter, Regen oder Sonnen" 
ſchein, durch Zauber herbeizuführen; das 
nit fonvenierende Wetter gauberte man 
weg. Sn den heutigen, aufgeflärteren Zei- 
ten fudt man die eingeborenen Lebens- 
gefebe der Völker, fobald fie einem nidt 
pafien, dur den modernen Zauber, den 
man „Bolitif“ nennt, zu forrigieren. Sh 
fürdte, der eine Zauber ift fo faul wie 
der andre. 

Srftens: Der Ehrgeiz des franzd- 
fifhen Bolfes (wenigftens der füh- 
renden Gdidten fräntifher und römi- 
{der Abkunft) ift auf Rubm und Slang 
des Staates geridtet, er ift por allem 
politifd. Schon früh fam man zur 
nationalen Geſchloſſenheit, bald zu einer 
weitgehenden ftaatliden SZentralifation. 
Alles wurde zum böheren Ruhm des 
Staates gefügt, und die Glanggeiten der 
Raben Geſchichte find die Zeiten 
der ftaatliden &rpanfion: die Zeitalter 
des viergebnten Ludwig, der großen Re- 
polution und Napoleons. 

Der Ehrgeiz des deutfhen Bole 
fes ift auf Siefe und Weite der Kul 
tur geridtet, er ift vor allem geiftig. 


169 


inter den Deutfhen wurden die Fragen 
der Religion, der Dichtung, Kunft, Mufit, 
aud der Wirtfhaft zu Fragen des bit- 
terften Srnftes, mit denen man auf Le 
ben und Zod rang. Gtaatlide Dinge 
ftanden felten im Bordergrund der all» 
"Fake Zeilnahme im den Gtaat 
ümmerte man fid immer erft dann, 
wenn e8 um der Kultur willen hand» 
— nötig war. Die Glanzzeiten der 
eutſchen Oeſchichte find die Zeiten ho— 
her „geiftiger Rultur. 

eweis: Man vergleide, wie der 
franzöſiſche Schweizer fih im Welt- 
frieg zum franzöſiſchen Staat ftellte, und 
wie der Deut{ dhe Schweizer zum deut- 
[hen Gtaate. Oder man beadte: die 
Deutihen haben ihre Freude an der ftol- 
zen fleinen Selbftändigfeit der Hollander, 
die Sranzofen aber fuden die Belgier 
unter ihren Einfluß zu ziehen. 

Solgerung: Die Deutihen ertragen es, 
in einem nicht-deutſchen Staatswejen als 
Bürger in gefdloffener Mafje ohne po- 
litijme Afpirationen zu leben. Gie find 
bon Natur feine „Irredentiften“; denn 
e8 genügt ihnen, wenn fie fulturell und 
wirtfhaftlih ihr deutfhes Weſen treiben 
fönnen. Aber fobald man fie gewaltjam 
in Sprade, Kultur und Wirtſchaft bee 
bindert, fobald man ihnen gar eine Rul- 
tur zweiter Hand aufnötigen will, wer- 
den fie „politifh“ und feben fih zur 
Behr; dann erfdallt der alte Arminius- 
Ruf: Freiheit und Ginbeit! 

Anwendung: Staliener, Rumänen, 
Polen, Frangofen, Sihehen wollen deut- 
jhe Volksangehörige in ihren Staat ein- 
gliedern. Ließe man die Deutiden in 
jenen Ländern unbebelligt ihrer Sprade, 
Kultur und Wirtidaft leben, fo gäbe es 
feine Srredenta. Die Deutfden würden 
wie in Der Schweiz, wie einft in den bal- 
tijden Ländern, wie in Brafilien, Shile 
und jfonftwo gute Staatsbürger fein. 
Statt dejfen raubt man ihnen, in An— 
fenntnis Der Deutfhen Golfsfeele, das, 
was ihnen das Anabtrennbarfte ift. Die 
Solgen werden fid zeigen. Ans im 
— Reiche kann es nur recht ſein. 

enn: 

Zweitens: Die Franzoſen ſind das 
Volk des Elans. Sobald ſie Gelegenheit 
haben, entfalten fie den Slan im Dienſte 
ihrer politifden Expanſion: mit fedem 
Shwung fjuden fie die Führung Guro- 
pas an fid zu bringen, fuden fie bon 
ihrem Winkel gwifden Mittelmeer und 
Atlantifhem Ozean aus die europdifde 
Staatenwelt gu beberrjhen. Aber nies 
mals dauert es lange. Der Glan über- 
ſchlägt jih und ebbt naturnotwendig zu» 
rüd. Sedesmal ift das Ende der Gloire, 
daß die Grangofen wieder in ihre befdei- 


170 


dene DVierzig-Millionen-Stellung im 
Winkel zwifhen Mittelmeer und Atlane 
tiſchem Ozean zurüdfinken. 

Die Deutihen find das Bolf der rue 
big, feft und breit fid) entwidelnden 
Arbeit. (Man lege den ftinfenden Shaum- 
blafen einer üblen Zeit nicht allzu ho— 
ben Wert bei. Gie fließen vorüber im 
großen Strom, der fid felbft reinigt.) 
Die Deutfhen laffen den Dingen gern 
ihren Lauf, folange ihnen der Lauf nicht 
ge:ade lebensgefährlih wird. Sie wohnen 
in breiter, didter Mafje weithin über 
die Staatsgrenzen ihres Reiches hinaus 
in ganz Mitteleuropa und erfüllen alles 
mit ihrer Arbeit. Gie nehmen mit diel 
®eduld viel Leid hin. Aber fobald die 
Quälerei an den innerften Nerd dieſes 
Golfes rührt, fobald feine „Innerlich- 
feit“ (ein in fremde Gpraden nidt über 
feßbareg, für fremdes Begreifen nicht be= 
qreiibaree Wort) erzürnt wird (wie zu 

rminius’, zu Napoleons Zeit), gebt ein 
Schüttern durd das Gange. G3 rect fid. 
Die ftill gefammelte Kraft entlädt fid 
in gewaltigem Drud, daß die Grde er- 
bebt. Dagegen Hilft feine Sednif, fein 
Slugzeug und fein Giftgas. Haben die 
fremden Völker fein Gefühl dafür, was 
e8 volkspſychologiſch bedeutet, daß deut- 
Ihe Bauern und Bürger und Arbeiter 
— deutſche, nidt etwa heißatmige 
romaniſche — im beſetzten ®ebiet die Ge- 
paratiften mit Knitteln totſchlu— 
gen? Rührt fie nidt warnend ein abe 
nungspolle8 Grauen an? Es gerollt 
dumpf im Innern des Berges. 

Fühlt ihr nicht, wie der Zorn eines 
betrogenen und in den beiligften Gmp- 
findungen gefränkten großen DBoltes 
{hwillt? Wie unter diefem Born der 
Berg fih ſchwer und [angfam hebt? Nod 
fährt der franzöſiſche Triumphwagen, auf- 
gebubt mit bunten Bändern und benga- 
{ih  beleudtet, unter fchmetterndem 
Srompetentlang über deutfhe Erde. Aber 
{hon wölbt fid dieſe Grde unter ihm. 
Gs bedarf feines „Krieges“, nicht einmal 
einer raufdenden „Srhebung“. Gs reift 
eine Zeit heran, da e3 wieder gilt: „Gin 
Wortlein fann ibn fällen.“ Das einz 
Wörtlein des Proteftes: „Nein.“ Mit Mae 
turnotwendigfeit wird der franzöſiſche 
Sriumphwagen über den zornihwellen- 
den Boden auf den rollenden Rädern 
des fallenden Granfen in die Tiefe fau- 
fen und gerfdellen. ind feine „Sanie- 
rung“ wird ibn aufhalten. Die Sanierung 
bängt von uns ab. Und ein Gridrecden 
wird über die Völker fommen, die ihr 
Geſchick an den franzöfiihen Triumph» 
wagen gefettet haben. Sie werden e3 
nidt mehr wahr haben wollen, daf fie 
je einen Deutſchen um feiner Mutter- 


{prade und feiner Kultur willen gefrantt 
haben. Fühlt ihr nicht unter den Sohlen 
das leife Beben? Hört ihr nidt das 
Wurren und Grollen und Raunen, das 
ee Die deutfhen Dörfer und Städte 

t 

Die Naturgefebe werden weder durd 
die franzöſiſchen Waffen nod durd die 
berlineriide Grfüllungsdiplomatie in 
ihrer Gntwidlung aufgehalten. Aud die 
Völker müffen „nah ewigen, ebernen, 
großen Geſetzen“ ihres ,Dafeins Kreife 
pollenden“. Diefe Gefebe find ihnen ein» 
—— ſie wirken durch die Jahrtau— 
ende. 
Quem deus perdere vult, dementat. 
Paris iſt dumm geworden. Der Boden 
bebt. Paris wankt. Die da klug find, 
machen ſich bereit und retten troß aller 
Sanierung ihr Geld in andere Lander 


inüber. 
Gs vollzieht fid. St. 
Staat und Marrismus. 


Al⸗ vor hundert Jahren Deutſchland 
das Griebnis der franzöſiſchen Re— 
volution und der Greibeitstriege in 
geiftige Werte umjduf, da wurde des 
groban Schotten Adam Smith wirtihaft- 
ide Freiheitslehre von feinen deutfden 
Schülern zur „Nationalöfonomie“ oder 
„Volkswirtſchaftslehre“‘“ nadgeftaltet und 
mit den eberlieferungen der Polizei— 
wiffenfhaft verbunden; Adam Müller 
legte Die Abkehr von aller traditionsger- 
ftörenden ©leihmaderei in einer roman- 
tijden Staatsfunft nieder; Hegel fügte 
Die bürgerlide Geſellſchaft, inmitten der 
Samilie und des Staats, feiner Redhts- 
lehre ein; Ranfe endli lehrte aud) die 
wirtfchaftlihen Borgänge im Rahmen der 
grofien Nationalförper fehen und deren 
erhalten zu den fremden Staaten un- 
terordnen. Während aber die geihiht- 
lide Anfidt der Volkswirtſchaft fid ime 
mer mehr vertiefte und Guftad Schmoller 
Ihließlih alle Grenggebiete der Wirt- 
haft zu umfaffen fudte, madte das 
ftaatsphilofophiihe Denfen keineswegs 
den Aintergrund der jüngeren DWirt- 
{daftsthenrien aus. Weder Lorenz Stein 
nod) Adolf Wagner haben eine Schule 
begründet. Bielmebr folgte das national» 
ökonomiſche Denfen neuen Sternen. Ein» 
mal DE die Sreibeitslehren des äl- 
teren Liberalismus über in ein durchaus 
unpbilojophifhes, ja fladh utilitarifdes 
„Mandeftertum“, das mit Bismards 
Uebergang zum Gdubgoll (1878) feine 


geftaltende Kraft unter der neuen Pare. 


teifonftellation einbüßte. Seither nahmen 
die Wortführer der großen Unternehmen 
und Gerbande die Parole der „freien 
Wirtfhaft“ auf. Wir find durdaus ge- 


wohnt, von ihnen die „ehernen Gefebe 
des Wirtſchaftslebens“ gegen jeden 
Staat3eingriff verteidigen zu hören; daß 
Wirtidaft unfer Schidjal ſei und ftaat- 
lide Geſundung bierpon abbange, gilt 
bi3 gu Den fonfervativen @ropgrund- 
— bin beinahe für einen ®emein- 
plag. 

Auf der anderen Seite wurde feit der 
Sulirevolution (1830) eine Kritif an der 
liberalen Wirtfchaftslehre rege, in derem 
Ablauf wir nod ftehen. Sie ermuds auf 
dem Boden jener politiihen Demofratie, 
welde den »Oriftlid-germanifden* 
Staat der Rarlsbader Beſchlüſſe, der 
Metternih und Gens, aber aud das 
Preußen der Hardenberg und Altenftein 
verwarf: Ihre Kritif verlangte parla- 
mentarifhe Ginridtungen, deren Borbild 
fie der radifalen Gerfaffung pon 1793 
fowie der radikalen Oppofition im Frant- 
rei des „Bürgerkönigtums“ entnahm. 
Sie blieb fomit nicht fteben bei einem 
Senfuswablredt und landftandifdher Mite 
beratung, fie ging über die Ideale eines 
Welder oder Rotted wefentlid hinaus. 
Die Abkehr von unferer Klaffit und von 
®oethe, deren Zeugen Heinrih Heine 
und das „Bunge Deutfhland“ wurden, 
der Kampf wider die alternde Romantik 
Schellings und die Gnttäufhung über 
Stiedrih Wilhelm IV. (1840), den „Ror 
mantifer auf dem Throne der Gäfaren“, 
führten die junge Generation der Ludwig 
Geuerbad und Bruno Bauer, der Frei— 
ligrath und Herwegh binaus über alle 
tefentlich liberalen Borftellungen. Ber 
Widerfprud, den fie nah Friedrid Wil 
Helms IV. Shronbefteigung erfuhr, er- 
tötete in ihren fortgejchrittenften Mit» 
— fogar jene nationalen Inſtinkte, 

ie bei den verfolgten Burſchenſchaftern 
fo lebendig gewefen waren. Der inter= 
nationalen „Reaktion“, die aud in 
Stantreid und in der Schweiz alle Aufe 
ftände oder @ebheimbiinde niederfdlug, 
galt e8 eine internationale $ront der 
„S&manzipation“, dem @edanfen der 
„Heiligen Allianz“ ein ,Sunges Guro- 
pa“ entgegenzufegen. Rußland namente 
lid bielten alle „Sreien“ für den Hort 
der Reaftion. Ziel einmal das Zartum, 
dann mußte PBreufen, fein „borrufjiihee 
Leibftaat“ ihm im Gturge folgen. So 
haben Karl Marz, Griedrid Gngels, 
Wilhelm Liebfneht, aber aud) die Haup- 
ter Der „reinen“ Demofratie ihr Hoffen 
mehr als einmal ausgejproden. 

In Diefen Zufammenhängen ward 
nun jene Gosialfritif vollends bedeut- 
fam, deren Wurzeln im Ancien regime 
Srantreihs liegen. Bom Pfarrer Mes 
lier, einem. Seitgenoffen des pazififti- 
{hen Abbee de St. Pierre, führt dort 


171 


eine Linie zu Babeuf, deffen „Verſchwö— 
rung für Die Gleichheit“ (1796) ihren 
Urheber auf's Schaffot bradte. Babeufs 
Anhänger Buonarotti hat den Gedanfen 
wirtfhaftliher Gleihheit jenen Radi— 
falen (um 1830) übermittelt, deren 
Sturmlauf wider das „Bürgerfönigtum“ 
wir bereits. erwähnten. Lorenz Stein, 
der Schüler Hegels, hat die ,utopifden 
Socialiften“ und ,Rommuniften* ung 
Deutihen befanntgemadt, Heinrid Heine 
in feinen Parifer Briefen auf fie binge- 
wiefen. Gourier, Gabet, Proudhon find 
uns feither wenigſtens dem Namen nad 
befannt. 

In eben diefe Kreife geriet Wilhelm 
Weitling, der Wortführer des fog. Hand- 
werfsburfjhenfommunismus; dort grün- 
deten gefliidtete Burfhenfhafter den 
„Bund der Seaddteten® und den „Bund 
der Gerechten“, aus dem der Londoner 
„KRommuniftenbund“ berporging; dort 
wurde ein Mofes Heß zum erften Kom- 
muniften. — Heß, der bezeihnenderweife 
fpäter der erfte Deutide Zionift ward und 
überdies (1871) ein Borläufer der enten- 
tiftiiden Hafpropaganda gegen Deutich- 
land. In Paris lebte damals Gried- 
rid Engels, in dem unfere Sozialdemo- 
fratie Marzens Freund und ihren gei- 
ftigen Leiter nad Marxens Tod ver- 
ehrt. Karl Marz felber wandte fid nad 

ris, alg er mit dem deutſchen Segen- 
wartsjtaat 1842/43 gebroden hatte. Ine 
dem er Weitling wie Heß und Proudhon 
an Radifalismus übertraf, wurde Marz 
gum geiftigen Bater fowohl des deutſchen 
Kommunismus wie der deutfden radi- 
falen Arbeiterparteien. Aus Paris vere 
trieben, hat er in Briffel (1847) das 
„fommuniftifde Manifeft“ verfaßt und in 
London (1863) die erfte „Arbeiterinter- 
nationale“ begründet. 

Gergebens freilid fudten Marz und 
Engels während der deutfden Märzre- 
polution (1848) zum Giege zu gelangen; 
fie mußten ſich begnügen, den linfen $lü- 
gel der adtundviergiger Demofraten zu 
ilden. Grft als Bismard das ,driftlid- 
—— Preußen im Deutſchland der 

euen Aera und des Konflikts zum Auf⸗ 
ftieg führte, fhlug ihre Stunde. Aus 
den ,fort{drittliden* Parteiwablern fon 
derten ihre Schüler Wilhelm Liebfnecht 
und Debel jene Arbeitervereine ab, wel- 
de fid ſchließlich in Gijfenad (1869) 
alg ,Gogialdempfratifhe Arbeiterpartei 
Deutihlands“ fonftituierten. Im Sabr 
bon Königgräß war das fommuniftifde 
Manifeft gum erften Mal auf deutidem 
Boden neugedrudt worden; alsbald lie 
fen die „Süddeutihe BolfSpartei*, deren 
Organ Gonnemann’s „Frankfurter Zei— 
tung“ war, fowie Liebfneht und Bebel 


172 


im Norddeutfhen Reidstag Sturm wider 
„Die Zitadelle der RKnedhtidaft*, wider 
Bismards „Säbelregiment“. Ferdinand 
Laffalle, der revolutionare Schüler He» 
geld, war (1864) allzufrüb geftorben. 
Mit allen ihren Wünſchen fir Deutid- 
lands Niederlage begleiteten Marz, En- 
gel3 und Wilhelm Liebfneht feit Gedan 
Bismards Aufftieg: die „Kaiferpoffe“, 
das „Bündnis gwifden Thron, Altar und 
®eldjad“. Der Hochverrat regiere die 
Welt, erflärte Liebinedht 1873 feinen Leip 
giger Ridtern. Nidt einmal.gu Kriegs- 
beginn bewilligten er und Sebel die 
Kriegstredite; ihre Anhänger forderten 
fie während des Kriegszuftands, mit 
dem Ruf „Es lebe die Republifl*, zu 
Straßendemonftrationen auf. Die Llebere 
tefte der Laffaleaner wurden in Botha 
(1875) den „Eiſenachern“ verfhmolzen; 
feither gab e8 feine „Bismardjozialiften“ 
mehr. In allen Ländern beftehe nur 
eine Arbeiterpartei, deren Mitglieder 
einzig „Durch den Zufall der ©eburt“ 
unterjhieden feien; Feind der deutſchen 
Gogialiften feien niemalg ein aus— 
ländifher SKlaffengenofie, wohl aber 
die einheimifhen Bolfsgenoffen auf der 
„bürgerliden“ Seite. Nun entbrannte der 
Kampf mit dem Segenwartsftaat zu vol- 
[en &lammen; erft als Bismards Gturz 
befiegelt war, fiel das „Spzialiftengejeß“ 
(1878 - 18%), fammelte die Partei ihre 
fogleih anjdwellende Anhängerzahl um 
das „Erfurter Programm (1891). 

Alle diefe Zuſammenhänge find dem 
Seitgenoffen faft ausihließlid aus der 
Parteipolemif befannt, in Mehrings „Oe⸗ 
ſchichte der deutſchen SOC DENE ROLE 
aber derart tendenziös behandelt, daß 
dem Lefer unmöglich ift zu jcheiden, was 
Quelle und was Zutat fei. Gine objef- 
tiv-fritijde Gefhidte der fozialen De- 
mofratie in Deutſchland glaube id 
alg erfter in meiner „PDeutichen 
Sozialdemokratie“ geboten zu bar 
ben.* ft das Gerbaltnis der Gozia- 
liften zu Karl Marz, und beider zum 
Staat dort ridtig gefeben, dann erflärt 
fih ohne weiteres, warum die Sage der 
„internationalen, revolutionären, pölfer- 
befreienden Sozialdemofratie“ marzifti- 
{her Objervanz bei uns gezählt find. 
Eben mit dem Bismardifden Preußen 
Deutichland, als deffen Todfeind fie er- 
ftand und deffen Bernihtung ihr oftmals 
— Ziel blieb, war ihr Gee 
{hid derart verfnüpft, daß über dem 





"Staat und Marzismus. |. 
Zeil: Die marziftifhe Geſellſchaftslehre 
(2. Aufl. 1922); Il. Seil: Die deutſche 
Sozialdemokratie (1924. Gerlag 3. ©. 
Gotta). 


Zufammenbrud fie felber den Ginn ihres 
Dafeins verlor. So feben wir fie fid 
bon dem Augenblid ab —— da die 
tötliche Kriſis des Reichs begann: der 
ee fpaltete Die Partei inner- 
» oe Niederbrud des Bartums Lief 
die „uU. 6. B. 9.“ entfteben, der Waf- 
fenftillftand gab den Rommuniften Spiel» 
raum. Wenn aud Parteien unter dem 
®efes, nad dem fie angetreten, fteben, 
dann find die Zeiten der einen großen 
Partei des Proletariat3 vorbei. Das Feld 
neu zu beftellen, ift uns auferlegt. Reine 
Aufgabe fann ſchwerer fein. Gie vorgu- 
bereiten, fordert pon ung eine Gedanfen- 
arbeit, eine innere „Selbftverftändigung“, 
die nicht geringer fein darf als jene, auf 
der Karl Marz einft den Oedankenbau 
feiner Lehren errichtet bat. 
Sriedrid Leng. 


Bismard und die Idee der 
nationalen Bewegung. 


Ocdanfen zu Garl SHweigers 
Bis —— — 


n feinem Januar-Aufſatz über „Die 
Zufunft der nationalen Bewegung“ 
fommt der Herausgeber diejer Zeitichrift 
zu dem Schluß, daß wir die nationale 
Idee und die nationale Bewegung rei- 
fen laffen miffen. Gr f@reibt: „Wir 
dürfen nidt vergeffen, daß der innere 
Deal der nationalen Idee nod feines- 
wegs zur vollen Entwicklung gekommen 
iſt.“ Wir ſtimmen dem zu und ag 
nur weiter: Wo liegt die Sicherheit 
für, daß wir ein folded Reifen erleben 
werden? Was fönnen wir dazu tun, dah 
e3 zu Diefer inneren Gntwidlung fommt? 
Stapel weift in feinem Aufſatz bin auf 
die „naturhafte Notwendigkeit“ der Bee 
wegung. Aber er felbjt gebt dann dazu 
über, geiftige Arbeit gu ihrer Alnter- 
bauung zu fordern. Und Damit fordert 
er, ohne es ausgulpreden, den Anſchluß 
an die SBefdhidte Denn dies „Ler- 
nen“, das der Bewegung nottut, ift 
immer ein Lernen an der Sefdidte und 
mit der Oeſchichte. Bon der eigenen ®e- 
Ihihte feiner Gegenwart lernt nur, wer 
bewußt aus feiner Gergangenbeit ber- 
fommt, mit ihr lebendig im Geifte vere 
bunden ift. Denn was es zu lernen gilt, 
das ift der DBlid für das Dleibende im 
Wechſel des Tages, das Dauernde im 
unjiheren Spiel des zeitlihen Ablaufs. 
Der politifde Wenſch, der fid nicht dare 
an genügen läßt, dem zufälligen und 
willfiirliden Bedürfnis des Augenblids 


* Dr. Garl Schweiter: Bismards 
Stellung zum dKriftlihen Staat. Gers 
lag von Georg Stilfe, Berlin. 





Redhnung zu tragen, der für die Bue 
funft fdaffen un bauen will, bedarf 
des lebendigen Gefühls der Ewigkeit, in 
Die alle Geſchichte eingebettet ift und aus 
der alle frudtbaren Entjheidungen ge» 
boren werden. Grudtbarer Politifer ift 
nut der fonjervative Menſch. Die nativ» 
nale Bewegung wird fonfervativ fein 
oder fie wird eine „Bewegung“ bleiben 
und nie zur Sat reifen. 

Obne den Anihluß an die tragende 
Idee unjerer Vergangenheit erliegt die 
nationale Bewegung der Gefahr, dem 
Liberalismus und Demofratismus gegen 
ihren Willen zu verfallen und um ihren 
Ginn in einer fladhen Auflöjfung betrogen 
zu werden. Man fpridt in der natior 
nalen Bewegung viel von ariftofratifden 
®edanfen des Führertums und zugleich 
droht bod die Maſſe und der Najfen- 
menfd aud in ihr duch fein Schwerge- 
wicht beftimmend zu werden. Der arifto- 
fratiide Menſch bat feine Aleberlegenbeit 
darin, daß fid in ibm die Grfabrungen 
Der Seſchichte verkörpern, daß er die 
Tradition und in ihr das Bewußtſein 
um die dauernden und bleibenden 
Dinge bat. Die nationale Bewegung lei 
det heute daran, daß der ariftofratijde, 
der fonjervative Menſch unter und fehlt. 
Das ift der Grund ihres Führermangels. 
Denn der fonjervative Wenſch hat fi 
den lebten Sabrgehnten mehr und mehr 
felbft mit dem reaftionären Menſchen ver- 
wedjelt. Gr war auf Grbaltung bedacht, 
auf bloße Grbhaltung der Gorm. Gr ver- 
gab, dab alles Grbalten nur möglich ift 
uch immer neues Werden, durd ime 
mer neue eiftung und Begründung aus 
dem beraus, was über allen Gormen ift 
und duch fie hindurch erfdeinen muß, 
aus der Sdee. Aus Der Idee handeln 
beißt aber, aus DBemwußtbeit, aus ®eift 
bandeln und nidt aus bloßem Snftintt. 
Der fih am Inftintt genügen läßt, bringt 
e8 allenfalls gur Mafjenbewegung, wenn 
die Konjunktur gerade günftig ijt, aber 
nit zum Staat. Die Sefabr der nativ» 
nalen Bewegung ift, daß fie zur Maffen- 
bewegung entartet, ftatt zur Volksbewe— 
gung zu werden, und daß fie dann eben- 
ſo ſcheitert, wenn ihr die Wacht zufällt, 
wie die Revolution 1918. 

Sp lange nidt an die Gtelle der 
reaftionären und der Snftinftmenfden der 
fonjervative Menſch getreten ift, werden 
wir immer wieder erleben, daß die diirf- 
tigen und abgebraudten Ideen des adt- 
zehnten Sabrbhunderts, von denen Die 
Mitte heute gebrt, und die ſchließlich aud 
Der einzige bewußte Beli der Revolu- 
tion waren, bei uns im ftaatliden Leben 
obenauf fein werden. Schon deshalb, weil 
beim Uebergang zur politiiden Prazis 


173 


jede nod fo reine Bewegung ohne be- 
wußtes und flares geiftigen Bild ihres 
Willens der vorhandenen liberalen Gee 
dantenwelt hörig wird. Den Beweis ha- 
ben nit nur die Sabre feit 1918, fon- 
dern zur Genüge die ganze wilhelminifhe 
Aera erbradt. &3 fteht fo, wie „Das 
Gewiſſen“ in einer Befpredhung des Auf» 
fakes bon Stapel ridtig Ichreibt: „Die 
intellektuelle Linke bat in einer folden 
aa iUnterbauung, jo zweifelhaft und 
Bgeftellt fie heute ift, immer nod eine 

Boh e, gegen die eine Redte ohnmächtig 
ift, die nur einen Standpunft beſitzt, aber 
feine Begründung dieſes Standpunftes. 
Auf diefer Rechten gibt es immer nod 
Deutide, die der Meinung und geheimen 
Hoffnung find, daß es aud) ohne die gei- 
fige nterbauung der nationalen Bee 
egung geben werde. &8 gibt fodar poe 
m Uae Parteien, die diefer Meinung 
... Aber e8 geht nidt ohne die 
mati e Redte. Immer wird die Redte 
der Vinten politijd unterlegen bleiben, 
wenn fie ihr geiftig, unterlegen bleibt. G3 
gibt feinen Gieg in einer Gade, und 
wenn es die befte wäre, ohne daß die 
Menfdhen ein Bewußtfein der Dinge 
faffen, um die es fis bei ihr handelt.“ 


Bir müffen dar Geiſt unferer Ges 
fdidte für uns gewinnen. Das beißt 
aber, wir müffen den Zufammenhang mit 
dem geiftigen Erbe Bismards aufnehmen. 
Gr ift der lebte fonjervative Staatsmann 
unferer Oeſchichte, der lebte Staatsmann, 
“per aus den Kräften der Dauer heraus 
een bat. Der Gerluft diefes Ie- 
endigen Sujammenbangs mit Bismard 
ftellt fid uns beute dar als fein Mif- 
verftändnis, das auf der Verfennung, 
vielmehr auf dem Nidtgewabhrwerden der 
gelrigen Hintergründe und LUIntergriinde 
ieſes politiihen Willens berubt. Es 
war ein reaftionares Mifverftandnis und 
ein liberales Mißperftändnis Bismards. 
Gin reaftionäres Mifverftandnis, das fo 
tat, alg feien nun mit Bismards Shöp- 
fung alle politiiden Probleme gelöft und 
alg fönne es nur nod die eine ——“ 
geben, unter Ausnußung der Madtlage, 
ie er geichaffen, zu leben und zu ge» 
nießen. ind ein liberales Mißverftänd- 
nis, das nur die Madtbilbung, aber 
nidts vom Ginn und ideellen Leben 
Diefer Madht fab. Aus dem Politifer, 
der aus tieffter Berpflidtung gegenüber 
der Idee, aus dem Manne, der aus leh- 
ter männlicher @laubigteit beraus ges 
bandelt bate, wurde der „Realpolitifer“ 
gemadt, der "nichts weiß, alg das fluge 
und millfürlide Spiel mit den Sate 
faden, der leere Willensmenfd, der die 
Madht um der Madt willen erftrebt. 


174 


Man bildete fid ein, mit einer tdeen- 
Iofen ,Realpolitif auf den Spuren Bis— 
mards zu wandeln, die duch ihr flades 
Haften an den Satfaden alle entjcheiden- 
Den Realitäten, alle treibenden Mädte 
der Gefdhidte überfab und verfannte. 
Erben Bismards wähnten fih Gpigonen, 
die dod nicht ergriffen waren bon fei- 
nem @lauben, Menſchen des Willens 
obne Geift und Intellektuelle, ohne den 
Willen, der aus der Madt des gläu- 
bigen Gewiffens geboren wird. 

Gs ift begeidnend genug, daß Die 
Hiftorifer Bismards glaubten, den Chri— 
ften und den Politifer in ibm auseinan- 
derhalten zu mitffen. Da fie von Der 
Weite und Spanntraft echter Slaubig- 
feit nidts abnten, wurde fein Sbriften- 
tum entweder nicht ernft genommen und 
alg ein vorübergehende Anpaffung an 
die Gedanfenwelt der Braut und Frau 
und ihres Kreijes, eine „Belehrung“ a 
Swed der Brautwerbung verftanden 
oder, wenn man den Seugniffen Des Ren 
bens gegenüber gu folder Deutung den 
Mut nit aufbradte, dann mußte im 
Leben Bismards ein Brud vorhanden 
fein, Dann gab es bei ihm eine religidfe 
und eine antireligiöfe Gpode. Oder Bis 
mard befdranfte fid) eben darauf, im 
Privatleben Ghrift zu fein. Als Staats- 
mann aber ließ er nicht gelten, was dem 
Privatmann, dem Ghemann heilig war. 
Man muß fid einmal die verfdiedenen 
Darftellungen der Snnerlidfeit Bis— 
mard3 auf dieſe einfachen —— — 
bringen, um zu fühlen, wie unwürdig 
und unmöglich dieſe ganze Betradtungs- 
weife ift. Sie vergewaltigt die Perfin- 
lichfeit in ihrer gefdloffenen und tiefen 
®angbeit, weil fie aus der Perſpektive 
der Aufklärung diefes Leben nidt faf- 
fen fann. Es offenbart fid aud hier die 
Sragif, die über Bismards Leben und 
Birken liegt, daß er der Iebte war, 
der den inneren Sufammenbang mit der 
Höhe und Siefe des deutiden G®eiftes 
und Deutider Iutherifher Frömmigkeit 
in einer innerlid niedergehenden, dden 
Zeit gewahrt hatte. Gin pietiftiid ver- 
— und mißverſtandenes Chriſtentum 

eine geiſtloſe Auffaſſung vom Weſen 
der Politik find die Vorausſetzungen je- 
ner KRonftruftion. 

Die Srage der innerften religidfen 
Begründung der Perjönlichkeit Bismards 
ift darum jo ungemein frudtbar, weil 
Diefer Mann uns zwingt, ganz in Die 
Tiefe zu geben, in der a lein Die Ginbeit 
gefunden werden fann, in und über allen 
Spannungen, an denen dieſes Leben der 
politiiden Sat fo reid ift. Go erweitert 
fih notwendig eine Unterfuhung über 
das Verhältnis Bismards zum Chri— 





ftentum gu einer Unterſuchung über das 
Berhältnis pon Politif und Religion, 
Sat und OSlauben überhaupt. Und es 
wird an diefem Repräfentanten deutſchen 
Weſens fidtbar, wie er als religöfer 
Menih dem größten deutſchen religi- 
öfen Genie, Luther, verwandt gewefen 
if. Der Anterſchied feiner Grimmigfeit 
egenüber dem Gbriftentum Der Men- 
hen, unter denen ihm feine Braut ent- 
gegentrat, ift der Anterſchied Iutherifcher, 
zur DWeltgeftaltung und Weltiiberwin- 
dung Ddrängender ©läubigfeit gegenüber 
dem Pietismus mit feiner negativen Ab- 
grengung bon der Welt. Da wo Luther 
ie Ginbeit fand für die beiden Geiten 
des Lebens, das Innen und Außen, das 
Leben in ©ott und das Leben in der 
Welt, im Gewilffen, da ift aud für Bis- 
mard ‘die Ginheit der Perfinlidfeit. Man 
bat oft genug darauf bingetwiefen, daß 
Bismard der Politifer gewefen fei, der 
fid nie nad Grundſätzen gerichtet babe. 
Aber diefe ,Freibeit pon Grundſähen ift 
nidt Grundfablofigkeit*. Gr hat gewiß 
nidt nad einem Programm Politik ge- 
madt, und dod ift er pon Anfang an 
bon einer Idee beberrfdt, die in einem 
lebendigen Sun entfaltet und entwidelt 
wird und aud für ibn gerade in der po— 
litiſchen Tat immer fonfretere Züge an- 
nimmt. Bismard war gewiß fein Theo— 
retifer. Aber es ift nur ein Beweis da- 
für, wie wenig man vom Wefen des 
Seiftes weiß, wenn man daraus folgern 
wollte, daß ibm ideelle Klarheit und 
Solgeridhtigteit gefehlt, daß er ohne 
Weltanfhauung geweſen fei. 

Die Bdee ift nidt ein fubjeftives 
Ideal, fondern eine allgemeine und totale 
Gorm der Welterfaffung überhaupt und 
augleich allerperjinlidfte, ſchöpferiſche Le- 
bendigfeit. Go ftellt die Idee hinein in 
die Gemeinfdhaft, in das Bolf und fein 
wejentlihe3 Werden. Die Idee bildet den 
Zufammenhang der Werfönlichfeit mit 
Bergangenheit und Zukunft. Die Idee 
madı ihren — zum Repräſentanten 
der Volkheit und des in ihrer ſchöp— 
Tangent oct ®egebenbeit fih offenba- 
renden Wertes. „Werde, was du bift“, 
das ift der Ginn der Seſchichte eines 
Volkes und darin liegt der Auftrag für 
den Staatsmann und Führer. Dazu das 
Rehte und Richtige tun fann nur, wer 
das jedesmal in einer Lage ©egebene 
nad feinem Ginn und Wert ergreift. 
„Der praftiihe Staatsmann muß auf der 
@rundlage einer allgemeinen Anſchauun 
den vorliegenden Moment ergreifen‘ 
(Ranfe). Das unterfdeidet gerade Bis- 
mard von den Ronjuntturpolitifern, den 
Liberalen aller Schattierungen, daß fie 
im ftaatliden Leben nidt nad einer 


Idee Handeln, fondern die Orundfag- 
lofigfeit gum @rundfak maden. Darum 
war für ihn ein Staat ohne religiöfe 
@®rundlage gar fein Staat, fondern ein 
Intereffengeihäft. „Sonft behalten wir 
als Staat nidts als ein zufälliges Age 
gra pon Redten, eine Art Bollwerk 

Her gegen Alle, welches die ältere Phi- - 
loſophie aufgeftellt hat.“ (Bismard.) In 
diefem Wort ift die Aufklärung flar und 
deutlich —— 


So klar, wie ſich Bismarcks religiöſe 
—— pon allem liberalen Auf⸗ 
lärertum abhebt und ihn eben dadurch 
alg verbunden mit den tiefen und ech— 
ten Lebensmädten erfennen läßt, die 
allein Staaten zu bauen und zu tragen 
vermögen, fo Har, wie darin bei ihm der 
innere Ginn und das innere Recht der 
Madtübung erfdeint, fo flar hebt er fid 
aud ab gegenüber einem Gbriftentum, 
Das an die Gtelle der „Freiheit eines 
Chriſtenmenſchen“, in der ein Luther gee 
rade den Grund und die Möglichkeit des 
Dienftes, der Tat fand, eine Gefeblid- 
feit, einen Moralismus ftellt, der den 
Menfdhen nit zur Tat befreit, fondern 
ibn feftbalt und hemmt. Gerade für alle 
Die, die Heute im Namen des Gbriften- 
tums gegen die Politik, wie fie Bismard 
gemadt bat, wie überhaupt gegen Wacht⸗ 
politif proteftieren und unmittelbar aus 
teligiöfen Oberfagen politiide Golgerun- 
en ziehen wollen, ift e8 ungemein 
ebrreid, zu feben, wie in der Ausein⸗ 
anderjegung Bismards mit Qudwig von 
©erlah und feinem Kreife nicht etwa 
Bismard pon einem undriftlihen Stand- 
punft aus gegen die driftlihe Forder 
tung Gerlads fämpft, fondern für fid, 
wie mir fdeint, mit vollem Redht dad 
tiefere und lebendigere Gerftandnis des 
Ehriftentums in Anfprud nimmt. &3 ift 
der Rampf des in der lebendigen Gpan- 
nung des praftifden Lebens um die 
Einheit pon Idee und Wirklichkeit rin- 
genden StaatSmannes gegen einen une 
ausweihlid zur Aegation treibenden 
Doftrinarismus. Die Doltrin, folgerichtig 
zu Ende gedadt, verneint jeden Staat 
und jede ftaatlihe Politif. Das ift nicht 
nur bei den Oerlachs, fondern aud heute 
nod) die Ronfequeng bei allen denen, Die 
Gwigfeit und Zeit, Gott und Welt ftarr 
auseinanderhalten, in eine nur negative 
Beziehung ſetzen und nit mit Luther 
im ®lauben den Anjagpunft finden, von 
dem aus in der DWirflidfeit der unbe» 
dingte Wert fid durdfest und behauptet. 
„Alle diefe Gruppen haben gemeinjam, 
daß fie einerfeits Staat, Politif, ge- 
Ihichtlich-perfönlihes Leben überhaupt, 
andererjeit3 die ewigen Wahrheiten des 


175 


Shriftentums und der Kirdhe ausein- 
anderhalten; daß fie dann dod beide zu 
vereinen fid) bemühen, aber nun ftatt 
zu einer organijden Ginbeit, in der beide 
Zeile zu ihrem Redte fommen, nur zu 
einer Bermifhung gelangen, die beider 
Weſen verdirbt. G3 fehlt diejer ganzen 
Anfdauung ein pofitives Verhältnis zur 
Geſchichte als der Gerwirtlidung ewiger 
Werte in Der Zeit. Gie bat feine Ehr— 
furdt bor der lebendig wirkenden Ge- 
{didte, weil ihr im Grunde der Glaube 
an den @eift fehlt, der das Leben der 
Golfer und Staaten in concreto, nidt nur 
in abftracto durchwirkt. Darum ift ihr 
alle Kultur heidniſch, darum verfennt fie 
den eminent fittliden Charakter des 
Staates.“ 

G3 führt eine große Linie von Lue 
ther über den deutſchen Idealismus zu 
dem deutiden und chriftlihen Staats- 
mann Bismard. Diefe Linie mit großer 
gedanflider Klarheit und Schärfe her— 
ausgearbeitet zu haben und damit einen 
grundſätzlich höchſt wertvollen Beitrag 
zur Klärung der Segenwartsfampfe um 
eine politiide Weltanjdhauung de3 deut- 
{hen Bolles gegeben gu haben, ift das 
Gerdienft Carl Schweiters. Gein Bud 
fei dem Lejerfreis des Deutſchen Bolfs- 
tums dringend zur Beadtung empfohlen. 

Karl Bernhard Ritter. 


Bon wem Kant Heute angefeindet wird. 


Sa Kants Werk wilffenfdaftlid um- 
ftritten wird, ift ſelbſtverſtändlich. 
Wiffenfaft ift ein Kampf der Geifter. 
Aber dab das Werk Kants (und felbft 
feine menſchliche Perfinlidfeit) ange 
feindet wird, verdient Aufmerffamteit 
in weiteren Kreijen. Denn bier handelt 
es fid unter dem Schein einer wiffen- 
fbaftliden Stellungnahme in Wahrheit 
um fulturpoliti)de Vorftöße. 

Swei Kreife verfuden es in unter 
Zeit aus zwei febr verihiedenen Mo— 
tiven, Kant und fein Werf dem deut- 
fen Volke zu verleiden. 

Grftens ift da der moralifhe Liber- 
tinismus, in dejjen Pflege ſich beftimmte 
Schriftſteller und Gelehrte (überwiegend 
jüdifher Herkunft) hervortun. In dem 
Prozeß um Arthur Schnitlers „Reigen“ 
erlebten wir es, daß der Leipziger Pro- 
feffor Georg Witfowsfi die fantijde 
Ethik als „überwunden“ ablehnte und 
por der monftröjen Behauptung nicht 
aurüdichredte, „alle hervorragenden Kan- 
tianer, alle jeine Schüler, alle, die ſpe— 
giell über Kants Ethik gearkeitet ba- 
ben, baben immer Die wendbarkeit 
der Kantſchen Ethik geleugnet.“ Wit- 
kowski weiß alſo nicht einmal, daß die 
Kantſche Ethik“ gar nichts andres iſt 


176 


als die Redtfertigung der einfahen Oe— 
wiffens- und Pfliht-Sthif des ſchlichten 
Wenfden, der Ethik, die freilid den 
Kulturgenüßlingen fo unfagbar {dal und 
reizlos if. Witlowsfi nennt fed und 
fefs Den, Der unjre „heutige Sittlidfeit* 
aus Rants Gthif ableiten will, einen 
Schwindler, — womit er redt hätte, 
wenn er unter der ,beutigen Gittlich- 
feit“ die heutige (und allzeitige) Unfitt- 
lichkeit verftünde (die er felbft im „Rei- 
gen“ protegiert). Witfowsfis Bruder, 
Öebeimrat Witting, mödhte gar die 
„praftiide DVernunft“ Kants für Den 
Deutfden Bujammenbrud mitverantwort- 
lid maden. Die harten, unbeugfamen, 
ebrenbaften, zurüdbaltenden, unnabbaren 
Pflidtmenfdhen fantifder Prägung, die 
mit Geftdielengenüffen, pompöjen Gaft- 
mälern und bereitgeftellten Dirnen — 
die politiihen Formen der Rofofozeit 
wiederholen fic) gutweilen in merfwür- 
diger Weife in Berlin — nit von ihrem 
geraden Wege abzubringen find, haben 
freilih etwas Alnangenebmes für die 
Leute, die eben — „eine andre Auf- 
faffung bom Leben“ (und von der Por 
litif) haben. Die Kreiſe, weldhe das 
deutihe Bolf, vor allem die führenden 
Schichten, in ein jchlaffes, bequem zu bee 
bandelndes ®enüßlingstum voll erotifder 
Neidtfertigfeit hineinführen möchten, 
empfinden den kantiſchen Geift als ein 
unangenehmes Hemmnis. Die fantifde 
Philoſophie zu widerlegen, fehlt e3 ihnen 
an Sntelligenz, alfo fuden fie durd 
dreifte Bebauptungen, durch „witige“ 
Sronien u. dgl. das Anfehn diefer Phi— 
Iojophie und ihres Urhebers zu ent- 
werten. (Wir bitten uns nidt antije- 
mitifch mifguverftebn. Wir meinen ganz 
beftimmte Kreife. Gs fällt uns nit ein, 
die großen Gerdienfte ernfter Gelehrter 
jüdiſcher Abfunft um Kant zu verflei- 
nern, fie gehören nidt auf das Niveau, 
pon dem wir reden.) 

Zweitens ift da ein merfwürdiger 
— —— der ſich immer in 
in einem Kulturkampf fühlt. Kants Lehre 
fand bekanntlich zu ihrer Zeit warme 
Aufnahme auch unter Katholiken (Würz⸗ 
burg). Wenn man nun aus dDogmar 
tifden Gründen fantifdhe Lehren ab- 
lehnt, fo ift nichts weiter dagegen zu 
fagen; Sogmen nimmt man an oder man 
lehnt fie ab. Wenn man aber die fan- 
tiſche Gewiſſensethik als „Subjeftivis- 
mus“ ſchmäht, fo ift das etwas andres. 
©erade dieje Gthit ift nidt „jubjel- 
tiviftij®“, fie bat feinen Raum für Will 
für, Zaune und Angebundenheit. Nie» 
mals blieb Kant im odautel- und Gau- 
felfpiel Der Relativismen fteden. Seine 
Lehre bindet den Menjden im Ine 


nerften und Snnerlidften an Oott und 
®ottes Gefeb, fie bebt den Menfden über 
alles Gubjeftive hinaus in ein ewiges 
Reid. Kants Lehre ift charakter— 
bildend und feliid mie fittlich 
feftigend. Und das ift es wohl, was 
die Halben, die Verſchwommenen, die 
undurdgebildeten Intelligenzen nicht 
mögen und twogegen fie fid auf ihre 
Art wehren. Die Auflöfung in Subjef- 
tivismus und Relativismus, die in Der 
proteftantifden Welt (aber nicht minder 
aud anderswo, man denfe an das wie» 
neriſche oder pariferiihe Geiftesleben) 
beflagt wird, ift dDurd Kant nidt geför- 
dert, jondern gehemmt worden; fie febte 
gerade mit der Abkehr von Kant und 
mit Dem Mangel an DBerftändnis für 
feine Lehre ein. Die Auflöfung gebt nicht 
pon Kant, fondern von der großftädti- 
fben Pſyche aus, für die ein Kant viel 
gu „Ihwer“, ,ernft und „gründlich“ ift. 

Beide Ridtungen, die fic troß ihrer 
Gegenfablidfeit von Gall zu Gall gut 
verftehn und verftändigen, empfinden das 
„Breußifche“ in Kant als unangenehm. 
Aber diejes „Preußiſche“ ift nidts als 
die großartige Ausprägung eines Grund- 
guges Der deutſchen, im Siefften der 
ermaniihen Geele. Die Gegner des 
antiſchen Wefens find beftimmte, in das 
deutihe Volk mit eingegangene, antiger- 
manifhe Glemente, enen Die berbe 
Gbarafterfeftigfeit jowie das flare und 
reinlide Denfen zuwider if. In Dem 
ſcharfen kantiſchen Oftieewind Halt fid 
weder Patfduli nod) Weihraud. Die, 
denen foldhe Geriidhe lebenswidtig find, 
wehren fih gegen die berbe Oftjeeluft, 
indem fie behaupten, fie fei ungefund 
und, genau geroden, riede fie eigentlich 
falgig. Wir aber wiffen, daß in Diefem 
Winde der deutihe Wenſch feft, ftolz, 
bod und troßig gedeiht. Wir freuen 
ung, wenn er ftürmt. St. 


pngelifa ten Swaart* 
bon Frank Shieh. 


Jy berflieat man die gablreiden Preffe- 
ftimmen gu dem vor Sabresfrift ere 
ihienenen Bud, fo wird neben der ganz 
einftimmigen äußerft günftigen Aufnahme 
das befonders bervortreten, daß es faft 
allgemein als ein typiſches Werf unferer 
jüngften Didtung bezeichnet wird, als 
eine „dichteriſche Sat“, die den jeelifchen 
Sortihritt der Ietten Sabre in Geftal- 
tung gebradt und fünftleriih ausgewertet 
bat. &3 wird fid aljo lohnen, das Werk 
daraufhin angufeben. 

Seder Geſchichtsabſchnitt eines Kulture 
volks trägt einen beftimmten Gbaratter 
und fordert für Diejen von der Kunft, 
befonders bon der Dichtung den ihm an- 


gemeffenen Ausdrud, um eine fein 
eigentlihes Dafein überdauernde Giltig- 
feit, dem Ideal nad natürlih ,Gwig- 
keitswert“ zu erlangen. Wir müfjen alfo 
zwei $ragen zu beantworten fuden: Zus 
nädft, welches find die Gehalte unferer 
Beit, die Franf Shieh zu geftalten hatte? 
Dann: Ift ibm Diefe ©eftaltung gelun- 
gen? Iſt die entfpredende Form ge- 
funden? 

Die erfte Frage ift, fo allgemein ge- 
ftellt, unlösbar. Wir fünnen einer ver- 
gangenen, Zeit, da aud fie einen Aus- 
ruc gefunden bat, den und den Cha— 
rafter beilegen, allerding3 immer unter 
ftarfer Gergewaltigung geiftiger Minder- 
beiten. Anfre Gegenwart aber liegt por 
uns, wie die gabllofen Rinnfale eines 
Quellgebiets; wir wiffen nicht, weldes 
ein Fluß fein, weldes verfidern wird. 
Aber wir könnens uns leichter maden: 
Nehmen wir Dod das als Hauptgebalt 
unfrer Zeit, was Thieß an Gedanfen 
und Motiven feinem Werf zugrunde ger 
legt bat, und was alle feine Kritiker 
aud als für fie widtig erflärt haben. 
Es ift, wenn ein Wort gebraudt werden 
muß, Popular-Myſtik. And wir find 
damit wohl zugleich giemlid nahe an den 
ftärkften geiftigen Strom unferer Gegen— 
wart gefommen, an Die Auflehnung der 
Menihen gegen die Rationalifierung der 
Welt, gegen Hauptnenner und Gormel. 
Sbhevfophie und Offultismus gebdren als 
Extreme ebenfowohl in diefe Reihe, wie 
das kleine Wörthen „irgend“, das unfre 
jungen Gdriftfteller faft ausnahmslos zu 
Sode beten und womit fie das Ber- 
ſchwimmende, Srrationale " ausdrüden 
wollen. Man lieft zwar nicht Ekkehard 
und Dichellal-eddin Rumi oder indijde 
Moftifer, wohl aber Bücher über fie und 
fühlt, daß fie einem aus dem Herzen 
{preden. 

Und nun die zweite, für uns widti- 
gere Grage: Sft mit der „Angelifa“ eine 
Gorm entftanden, die dieſen Gebalt be- 
wahren wird? Sit fie das Werk eines 
Dichters oder eines Literaten, der weiß, 
wie mans madt? — IH enticheide mid 
für das letztere. Dein, es ift feine 
„ewige“ Gorm geworden. Man wird ein- 
werfen, daß Dies nur eine Gntideidung 
des Gefühls fei, die fein Rest auf All- 
gemeingültigfeit babe. Aber vielleidt ift 
es Dod nicht ganz fo. Die Grfabrung 
zeigt, Daß febr oft da, wo für unfer ge- 
{dhidtlides und darum nidt mehr gang 
fubjeftives LIrteil die Geftaltungstraft ver= 
fagt, die „Pſychologie“, die Analyje fec- 
liſcher Borgänge eintritt, während deredte 
Didter je nahdem Handlung oder Iy- 
riſche Gorm fdafft. Handlung aber ift 
im DBereih der Didtung etwas Wahres, 


177 


weil Notwendige’s, ift Gorm. Pſycholo⸗ 
giide Deutung ift etwas Zufälliges, 
Billtürlihes, meiftens fogar febr Fal- 
ſches. Meberdies ift fie nicht die Arbeit 
des ſchöpferiſchen Didters, fondern des 
Anatomen. — Gewiß, e8 mag fdwierig 
fein, eine dem Myſtiſchen, gebeimnispoll 
Berfnüpften entiprehende Ausdrudsform 
gu finden. Aber man wird nidt leugnen 
fönnen, daß e3 den perfiihen Sängern 
wie dem Seili ur von Aſſiſi gelungen 
ift. Daß aud die ganze ar Tra- 
gen nichts anderes ift, als höchſte Gorm 
er Wyftif, dag mag man in Paul 
Grnfts „Zufammenbruh des deutfdhen 
Sdealismus* nadlefen. Die DBeweisfüh- 
rung ift zwingend. — Frank Shieh ſpürt 
oft jelbft, daß etwas nit in Ordnung 
ift. Ge greift zum Mittel der Tragödie 
ann verfudt, Seelifhes zu fombolifieren. 

u hierzu Natur und Muſik heran. 

es ift bedenflid. Um bei den Bei- 
en gu bleiben: Aishylos verwendet 
Naturfyombole nie, und bei den rifern 
ift e3 etwas anderes. Gie find gläubig, 
die Natur ift ihnen feiend, beilig, mit 
ihnen in Oott rubend. Für Thief ift fie 
eine Beziehung zur Seele, und wenn er 
fie nun zum Symbol des Geelifden ver- 
wendet, jo ergibt fid ein peinlider cir- 
culus. Das Symbol ‚jener Männer ift 
bon anderer Art: &3 ift Rhythmus und 
Klang, das Sieffte der lyriſchen Gorm. 
— Leber Muſik als Symbol wäre mane 
des zu fagen. Man erflärt dabei + mit 
2 Denn wer fann von Tönen ohne Um— 
— reden? Aeberdies ift die Mu- 
fit der Epik verfeindet und pflegt zur 
Erweidung der Struftur zu führen. — 
Was mit diefen Mitteln erreihbar ift, 
das erreiht Thief: Stimmung und ners 
vöſe Bewegung. Geftaltung aber und 


roße Gorm liegen anderswo. Swiges ift 
bier nidt geldatfen. 

Außer diefer typifhen Geftaltungs- 
fraft aber mangelt dem Verfaſſer nod 
etwas, das für einen Didter vielleidt 
nidt ausfchlaggebend erfheinen mag: Die 
Kraft der Gedanken, der geiftige Rang. 
Aud diefe Shwäde ift — leider! — 
feine eigentiimlide, fondern in unferer 
Seit ganz allgemeine. Wir fordern vom 
Didter Talent — fonft nidt3! Nur 
ſchade, daß unter den vielen zweifellofen 
Talenten der Gegenwart fein wirklicher 
Didter ift! Und an unferm Werf, wo 
Durd das Gerfagen der Form die ins 
nerfte Gtruftur flar liegt, wo Sdeen nur 
alg folde, nidt in ihrer finftlerifden 
Auswertung auf uns wirken müßten, Hier 
wird e3 Deutlid, wie dürftig dieſe Ideen 
letzten Endes find. Die Philofophie des 
Sode3, dem Grundproblem des Werks: 
der geheimnisvollen Verknüpfung bon 
@®eburt und Sod, innig verwandt, wirft 
nur fo lange, als fie nicht zutage tritt 
und erinnert jo — borribile Dictu! — an 
die geiftreihen Leute der Srauenzimmer- 
tomane, die fid als Idioten entpuppen, 
wenn fie den Mund auftun. (Aud in 
Thieß' umfangreidftem Werf „Die Bers 
Dammten“ geht die Geftalt des „Helden“ 
Axel Durd feine oft betonte Philoſophie 
in Die Bride.) 

Wir glauben, daß das, was bier zu 
fagen war, von allgemeiner Bedeutung 
ift. Darum mußte e3 ohne Befdinigung 
und mit Gntidiedenbeit gejagt werden. 
Daß Granf Thieß an fih ein bedeu- 
tendes Talent ift, das gu beftreiten has 
ben wir weder Luft nod Möglichkeit. 
Aber es ift unſer Redt, ja, unfre Pflicht, 
mehr bom Didter zu verlangen. 

Walter Grid Shafer. 


Der Beobadhter 


Die DER Deutfden Leiftungen ge» 
mäß dem PBerfailler Diktat betra- 
gen nad deutſcher amtlider Schäbung 
42 Milliarden. Gie beftehn zum größeren 
Zeil aus beihlagnahmtem deutfhen Pri— 
vateigentum. Der Betrag läßt fid gee 
ſchäftsmäßig flar erweifen, und zwar 
pon ung, nidt pon den Gegnern: Denn 
wir baben die Anterlagen, fie nidt. 
Wir fönnen ung nidt darauf einlafjen, 
daß die ©egner unjre Leiftungen nad 
den lächerlich geringen Preiſen anjeben, 
die fie bei der Verfchleuderung deutſchen 
Gigentums erzielt haben. Wenn bei» 
ſpielsweiſe in einer weftafrifanifden Re- 
publif eine Anzahl deutſcher Nieder - 


178 


/ 


laffungen im Werte bon vielen Mil- 
lionen @oldmarf im Sabre 1917 von 
unfern Geinden für den zehnten Zeil 
ihres wirfliden Wertes wegge jeben 
wurde, fo ift und nidt der Shleuder- 
preis, fondern der wirflide Wert gutzu- 
ſchreiben. Wenn eine afrikaniſche Pflan- 
zung, die einen DVorfriegswert von 3 
Millionen Mark hatte, für 1500) Pjund 
verfauft wurde, fo haben wir feinen An- 
laß, die 2700000 Marf fahren zu laffen, 
fie gehören als Outſchrift auf das Re- 
parationsfonto. Warum redet unfer Herr 
Außenminifter gaghaft von „DBeweiin 
für unfern guten Willen“ ftatt pon der 
Satjadhe, dag wir einen außerordentlid 


boben Teil der uns aufzubürdenden 
Summe bereits bezahlt haben? Wo in 
aller Welt ift denn ein Schuldner, der 
beffer bezahlt haben könnte und würde? 
And wir follen gleihwohl nod unfern 
„guten Willen beweifen“? Germutlid 
bält man es in Weudeutidland für „Po— 
litif’, {id die fchleimigen, unredliden 
Phraſen der Gegner zu eigen zu madhen? 
Nad der bismarddeutihen Auffafiung 
— die leider im Auswärtigen Amt uns 
befannt ift — beißt Politif: die Dinge 
der Wahrheit gemäß darftellen und beim 
ebrliden Namen nennen. 


@ ers Büchners ,Dantons Tod“ bringt 
in der Nationalfonvdents-Ggene Die 
Marfeillaife. Der „Zigeunerbaron“ fließt 
im legten Aft mit Dem Radebfy-Marid. 
— Die Nationalfozialiften in Stuttgart 
beftanden mit Grfolg darauf, dah ,Dan- 
tons Sods vom Gpielplan abgefest 
würde, wenn man nidt die Marfeillaife 
ftrihe, da die Marfeillaife nidt aud 
nod im unbefesten Gebiete gepofaunt 
und gefdmettert zu werden braude. Das 
rauf volltinige Gntriftung aller braven 
Marziften und Pazififten über die „Ber- 
gewaltigung des Kunftwerfs“. — In 
Berlin beftand die fozialdemofratifche, 
„Volksbühne“ mit Grfolg darauf, daß der 
„Bigeunerbaron“ pom Spielplan abgefest 
werde, weil der Radetzky⸗Warſch ftets 
eine nationaliftifde Geelenregung aus- 
ldfe. Darauf volltinige Begeifterung aller 
braven Marziften und Pagififten über 
die Niederringung des Runftwerfe3, das 
die Sicherheit der Republif bedrobe. 
Das Wort „Kinder“ ift für diefe Leute 
gu ſchade. 


us einem Geitartifel Ded Vorwärts 
bom 1. März über Qudendorff: ,... 
mit militärifh furzgefhorenem Gerftande 
eee) nee eines Mannes, der nidt mehr 
weiß, ob er ein Männden oder ein 
Weibdhen tft ...“, „In der Politik ift 
er ein Gfel pon Oottes Ona— 
den.“ (Im Vorwärts gefperrt gedrudt.) 
Darauf folgt fehsmal das Wort „Gelei“. 
„Gr taperte ...“ „Und nun fist er wie 
das Kind im Dred“, „plump und tape 
piſch“, ,... blamierte fid bis über die 
“ „DBlamage“ ,Ludendorff iſt 
futſchl“ „... aber in der Bolitifift 
er ein Gfel.“ (Wieder gefperrt ge- 
drudt.) „... beruntergefdnau3t.“ „... 
ganz gewiß ift er ein politifder 
Idiot.“ (Gleidfalls gefperrt.) Darauf 
fhrieb der Borwärts am 9. März: „An« 
ftändige Menfhen pflegen in der Regel 
mit der Ehre ihres Mitmenfden vor- 
fihtig umzugehen.“ Nur in der Regel? 


— Der Borwarts bat Urfade, eine po r- 
fidtige Definition des Begriffes „an« 
ftandiger Menfd“ zu geben. Wir hoffen, 
es wird ihm auf Erden wohl gelohnet 
werden. 


Hee Gords Automobile tuten un« 
geduldig an der deutihen ©renze. 
Der Xerxes des Automobils rüdt mit 
feinem unabfehbaren Heer an, um fid 
endlid aud die Proving ©ermanien 
untertan zu maden. Quousque tandem 
— wie lange nod werden die ©renzen 
balten? Dann wird unfer Bolf aus 
zwei Menfdenflaffen beftehn: die eine 
zählt nah Sebntaujenden und ftinft ftolg 
im §ordwagen umber, die andre zählt 
nad Millionen und windet fid vor— 
fidtig äugend in Gtaub oder Regen- 
ſchmutz, blauen Stank fdlucend, zwiſchen 
den ſauſenden Ketten der Autos hin— 
durch. America triumphans. Man per- 
gleiche nicht Amerika mit Deutſchland. 
Sn Amerika iſt endloſer Raum mit lane 
gen, geraden, breiten Straßen, in Deutich- 
and ift uraltbefiedelter Rulturboden mit 
ſchön gefhtwungenen Wegelinien, traulid 
engen @affen, wundervollen alten Gen 
und ©iebeln. In Amerika find die Stra- 
fen bon vornherein für den Automobil- 
verfehr gebaut mit Untergrund, Teerung 
u. dgl., in Deutfdland nidt. Wollt ihr 
die Fordautomobile bereinlaffen, fo baut 
bitte erft die nötigen Straßen Dafür. 
Sonft könnte fid im deutihen Bolfe 
der ,Automobilgeftant* in eine „Stinf- 
tout umfeßen, und wir befämen zu dem 
Antialfoholismus und Antifemitismus 
aud nod einen Antiautomobilismus und 
damit ein drittes Karnidel, das an allem 
fhuld if. Wir Haben aber fo fdon 
unfre ſchwere Not. 


Geers Bernhard hat feinem Herzen, 
was jelten gefdiebt, ebrlid Luft 
gemadt. Gr, der einft im Kriege die 
Herren Generäle umjdmeidelte, meinte: 
in jedem andern Lande würde Luden- 
dorff am — hängen. Nun find 
Die Völker gliidlidermeife felten, die der 
Pflidt der Danfbarfeit gegen geniale 
(wenn aud) unbequeme) Männer foweit 
vergeffen, daß fie fie an den ®algen 
(oder ang Kreuz) hängen. Wir wüßten 
feine Nation um uns ber, der wir das 
zutrauen möchten. Hat der Ghefredaf- 
teur der Boffifmen Zeitung fein Augen- 
maß für die Wirkung feiner Worte? 
Durd Worte diefer Art, die alle Gmp- 
findungen der perjönlich - menfdliden 
Adtung und Treue empören, bringt man 
das deutfhe Bolf in eine erbitterte Stim- 
mung, die zu Geplofionen führen muß. 
Wer andern einen @algen baut, fommt 


179 


felbft daran. Uebrigens vergefjen wir 
nicht, daß dieſer Galgen-Bernbard wäh- 
rend Der Beit des Ruhrfampfes mit 
Lächeln geftand: er made in der Bof- 
fifden Zeitung Politif gegen feine LWeber- 
zeugung, feine politiſchen Orundſätze hät- 


ten den gefdaftliden Grundſätzen nicht 
ftandgebalten. &3 ift nötig, einen Sue : 
ftand herbeizuführen, in der Leute von 
folder Qualität nidt einen Augene 
blid als Gadwalter der Deffentlichkeit 
mehr möglih find. 








Zwieſprache 








Syne Seitidrift pflegt fid nidt an 
die Zufallsdaten der Jubiläen zu 
Binden. Sn meiner Sugend war e3 nidt 
üblih, den Gintritt in diefe miferable 
Welt Sabr für Sabr feftlih zu begebn, 
und nod immer fträubt fid mein Oe— 
fühl dagegen, daß Seburtstage etwas 
Seiernswertes feien. Das ift ja nichts 
alg Widtignebmerei de3 Individuums: 
man läßt fid photographieren und hängt 
fih fein eignes Konterfei por die Nae, 
man beleuchtet geichwellten Bufens das 
liebe Ich mit feierliden Seburtstags- 
feftfergen. G3 tut fo wohll Ich möchte 
wiffen, mann und bon wem die Geburts- 
tagsfeiern aufgebradt find. Und nun gar 
die Subilare im Grad und mit weißen 
Handihuhen — es überfommt mid ein 
peony tay pon Unbehagen und gerühr- 
tem Mitleid. 

Denn wir nun aber den gweibun- 
dertften @eburtstag Immanuel Kants 
zum Anlaß eines Kantheftes nehmen, fo 
ift aud in dieſem Gall (wie ftets im 
Leben) der äußere Anlaß nidt der 
wahre. Wir feiern vielmehr die Sabre 
1781 (Kritik der reinen Gernunft), 1788 
(Kritit der praftiiden Gernunft), 1790 
(Kritif der LUrteilstraft), 1793 (Religion 
innerhalb der Grenzen der bloßen Ver— 
nunft). nd aud jener Daten gedenken 
wir nur, weil wir mödten, daß Diefe 
Werfe, die zu den wunderbarften Her- 
porbringungen des deutſchen Geiſtes ge- 
hören, endlid) der gebildeten Fübhrer- 
ſchicht unſres Volkes vertrauter werden, 
als ſie annoch ſind. Freilich erfordern 
ſie eine Verſenkung, die der ältere, in 
Geſchäften umgetriebene Mann nicht mehr 
aufbringen kann. Aber die Leute zwiſchen 
20 und 30 (natürlich nur die mit zurei— 
chender Intelligenz) ſollten dieſe höchſte 
Schule des Deutſchtums durchlaufen. Zu 
ſchwer? Oewiß. Aber es gibt Hilfs- 
mittel. Ich darf auf meinen eigenen 
Verſuch eines Kommentars hinweiſen: 
„Kants Kritik der reinen Vernunft ins 
Gemeindeutſche überſetzt“. Ich babe Ab- 
ſatz für Abſatz in geläufige Sprache, mit 
Beiſpielen durchſetzt, „übertragen“; man 
kann abwechſelnd erſt einen Abſatz meines 
Kommentars, dann, mit dem fo vorbe- 


180 


reiteten Verftändnis, den betreffenden 
Abſatz des Urtextes lefen. Bisher liegen 
zwei von den beabfidtigten fieben Bane 
Den por. Der zweite enthält das Haupt- 
und Rernftiid der fantifhen Lehre. Wann 
id zur Gortfebung fomme? Ih muß 
immergu „Auffäge“ fchreiben und Reden 
halten, immerzu. Ginen Rant-Rommen= 
tar aber ſchreibt man nidt am Fenfter- 
brett des D-Zug-Abteils; man beginnt 
aud nidt erft damit, wenn man in 
der nadften Stunde fon eine andre 
Gade „erledigen“ muß. 

Diele „Situation“ wolle man aud 
meinen beiden Aufläßen porn zugute 
halten. Sm zweiten derfelben babe ich 
den PBerfuh gemadt, gleidfam eine 
„Smpfindung“ pom Weſen der fantifden 
Weltanfhauung zu geben, mehr nidt. 
G3 foll nur Kants pbilofophijde ,,Gin- 
ftellung“ zum Kosmos umriffen werden. 

Bejonders freuen wir ung, die vor 
furgem in Halle aufgefundene Kant-Büfte 
Gmanuel Bardous, die jet im Kaifer- 
Stiedrih-Mufeum in Berlin ift, zeigen 
zu fünnen. Gie gibt das menfdlide We- 
fen des Denfers ganz ungewöhnlid) fein. 
DBardou in Berlin (1744—1818) ftammte 
aus einer Gmigrantenfamilie, er zeichnete 
fid in der Bildnisfunft aus. Ob der 
Künftler Kant felbft gefehbn hat, weiß 
man nidt. Gr fann auf einer Reife 
nad Rußland in Königsberg gemwejen 
fein, wenn aud früher als 1798 (dem 
GEnt{tehungsjabr der Düfte). Die nähere 
®efdhidte der Düfte, die 45 cm Hod ift, 
findet man in der Jubiläumsnummer 
der „Kant-Studien“ in einem Aufſatz 
pon Pireftor Dr. Demmler. 

Die Handihriftenprobe verdanken wir 
der Hamburgiihen Stadtbibliothef. Die 
Sentenz ift auf die Rüdfeite eines Holz 
gettels gejchrieben. Wir geben fie in der 
Originalgröße. Der Text ift bisher 
nur in der großen Atademie-Ausgabe 
der Werke Kants verdffentlidt worden. 
Wir wollen den Lefern das Gergniigen 
nidt nehmen, die Handihrift felbft zu 
entziffern (eb. mit Bergrdferungsglas). 

Die Worte unter den ,Stimmen Der 
Meifter“ find wohl die berühmteften aus 
dem ganzen Kant, fie ftammen aus dem 


„Beihluß“ der „Kritif der praftifchen 
Bernunft“. 

Bon den neuen Kant⸗Büchern der [ese 
ten geit begrüßen wir mit befonderer 
Sreude Hermann Kutters „Im Anfang 
war die Sat.“ Der Untertitel lautet: 
„Berfud einer Orientierung in der Phi— 
Iofophie Rants und den von ihr ange» 
regten höchſten Fragen. Für die denfende 
Sugend.“ (302 S. Rober C. F. Spittlers 
Nadf. Bafel.) Wir empfehlen das Bud 
ridbaltlos. G8 ift innerlid durdlebt und 
durchglüht. Der ſchwere Stoff ift pradt- 
doll gemeiftert. Bor allem: bier ift nicht 
das Intereffe des Fadgelehrten oder des 
Philofophiehiftorifers oberftes Ridtmaf, 
ondern das heiße Verlangen des Sue 
denden nad Wahrheit. Ferner liegt 
bon Eugen Kühnemanng „Kant“ der erfte 
Band vor (558 6. ©. H. Bedihe Ber- 
lagsbuchhandlung, Münden). Der Unters 
titel dieſes Bandes lautet: Der euro 
päiſche @edanfe im porfantifhen Den- 
fen. Aus der Borrede: „Kants Gwig- 
feitsgedanfe ift die ewige Wahrheit des 
pbilojophifhen Idealismus. Als Ide⸗ 
alismus bat Platon die abendländifche 
Pbilofophie begründet. Aber erft Kant 
bat den platonifhen Gedanken in feiner 
Notwendigkeit abgeleitet und ihn als die 
Wahrheit erwiefen.“ Die Darftellung 
gebt von Gofrates und Platon über See 
fus, die neuere Naturmwiffenfhaft und 
Metaphyſik x Spinoza, Hume, Leibniz, 
effing, Herder. — 

In diefen Tagen por der Reids- 
tagswahl wollten wir das Heft nicht 
ganz ohne politifde Beiträge binaus- 
gehn laffen, daher in dem „Kant- Heft“ 
die Aufſätze bon Landgeridtsdireftor Dr. 
Shiefler und Prof. Dr. Friedrid Lenz, 
dem Oießener Nationalöfonomen. — Zu 
Dr. Benninghoffs höchſt notwendigen 
Ausführungen über den Nibelungenfilm 
möchte id betonen, daß ich derjelben 
Meinung bin wie er. Ih fann mir zwar 
einen guten Nibelungenfilm Ddenfen: in 
der ruhigen Größe gleihmäßig fortidrei- 
tender Bilder (ohne pliglide „Oroßauf⸗ 
nabmen“, Gernbilber ufw.), alle Pere 
fonen und Gejdebniffe in gotifher Bee 
wegung in die Glade ftilifiert und fom- 
poniert (denn in Wahrheit bat der Film 
feine Tiefe), das fönnte Stil haben 
und große Wirkung tun. Uber diefe 
Sbeaterei, zumal die mit dem nerpöfen 
Sräulein Brunhild aus Berlin B., ift 
unmöglid. Die Jugend, die diefen Film 
gefebn bat, ift für das Nibelungenlied 
verdorben. Ihr wird das Lied zu „lang- 
weilig“ fein, weil fie nur Senfation ftatt 
Seele, Piyhologie ftatt Epif, Nerpen- 
fißel ftatt Berber @rdfe erwartet. G3 
war zum Grbarmen, als man all die 


frifde Sugend vor diefem verfludten 
»filmtednifden Wunderwerf“ fab. „Den 
Seufel ſpürt das Völkchen nie, und wenn 
er es beim Kragen hätte“ Nicht nur in 
Auerbadhs Keller, fondern aud im Kino. 

&3 mögen nod einige Anzeigen fol» 
gen. In der von mir herausgegebenen 
Sammlung „Unſer Golfstum“ erfdien 
ein Bänden „Deutfhes Redtsleben in 
der Berannpenbeit” bon Paul Bartels, 
einem Schüler Karl Weinbolds fowie 
@ierfes und @oededes. (56 SG. Geb. 
1,50 Mt.) Das Biidlein führt in der 
prädtigften Weife in den Geift und die 
@efinnung des alten Deutiden Rechts— 
lebens ein. Wer es gu leſen beginnt, 
legt es fobald nit wieder aus der Hand. 
— Bon unferm Freunde Ritter erfdien 
im Gerlag des Biihnenvolfsbundes in 
Sranffurt a. M. „Das Spiel pom großen 
Abendmahl“. (40 ©. Kart. 75 Pfg.) 
Ritter hat das alte thüringifhe Abend- 
mabl von den zehn Sungfrauen für die 
Aufführung erneuert, dazu gibt e8 eine 
Mufit von Gpes Gtablberg. WMande 
unfrer Leſer werden die Aufführung er- 
lebt haben, berfdiedene haben uns bon 
dem gewaltigen Gindrud erzählt. — Wir 
werden öfter nad einer zuverläſſig bee 
ridtenden Zeitſchrift über neuere Dich— 
tung gefragt. Sebt, feit dem Januar, 
fönnen wir endlid eine empfehlen, Die 
umfaffenderen Anjprühen genügt, als 
Bartels’ befannte kleinere Zeitſchrift 
„Deutihes Schrifttum“. G3 ift „Die 
\höne Literatur“, herausgegeben von 
Will Besper. Verlag von Gd. Apena- 
rius, Leipzig, Rofftr. 5. Monatlih ein 
Heft zu 50 Pig. Auffabe, Biidherbefpre- 
Hungen, Zeitfhriftenihgau, DBühnenbe- 
rihte, Mitteilungen. Wir gewinnen aus 
"den vorliegenden Heften den Gindrud 
einer forgfältigen, objektiven Arbeit. 
Für die Lefer unfrer Zeitfhrift, die fid 
eingehender mit der zeitgenöſſiſchen Did- 
tung befdaftigen wollen, alg wir es bei 
unferer @ejamtaufgabe fönnen, fommt 
„Die ſchöne Literatur“ gang befonders in 
Betradt. — 

Den Lefern, die es intereffiert, zur 
Nadhridt, dad ih gegenwärtig im 
Kunſtwart „widerlegt“ werde. Wolfgang 
Schumann beweift im Märzbeft, dah id 
mit den beiden Auffagen, die unter dem 
Sitel ,Antifemitismus?* im Sonderdrud 
erihienen find, unredt babe. Gr glaubt 
halt an Menjden mit zwei Bolfstiimern. 
„Schluß folgt.“ Wenn Shumanns Sdluf 
a fein wird, wollen wir weiter 
jebn. — 

Der Mündener Prozeß ift zu Ende. 
Das Seridt bat juriftiides Recht ge- 
{proden. Das Bolt wird bei den Wab- 
len moralifhes Redht fpredhen. Greilid 


181 


nur, foweit eg nidt den Zeitungen unter- 
liegt, fondern nod gefundes Gefühl für die 
Eſſenz der Greignijfe bat. Wer, der fid 
objektiv den Gindrüden bingibt, fönnte 
Qudendorff und Hitler den menfdliden 
Refpeft verweigern (und fid damit auf 
das niedrige Niveau eines Georg Bern- 
bard begeben)? Aber, jagt man, Luden— 
dorff fet „fein Bolitifer“. Ift der Po- 
litifer wirflih das höchſte der Ideale? 
„Politiker“ haben wir hinreihend gehabt. 
Könnte e8 einen befjern „Bolitifer“ 
geben als Strefemann? Aber wir leben 
in einer Zeit, in der ung Politifer 
nidt mebr helfen fönnen, fondern nur 


Golfsinftinft ift es, der der völkiſchen 
Bewegung eine fo elementare Wudt vere 
[eibt. Wan distutiere nod fo flug über 
die Lage — Ludendorff ift die Schid- 
falsperjönlichfeit des Deutihen Bolfes. 
Ob eine glüdlihe oder tragifhe? Das 
Schidfal geht feinen Weg. Wehe dem 
Golf, das mit feinem eigenen @enius 
nidts anzufangen weiß! Dir batten 
beute das Gdwerfte hinter uns, wenn 
die deutfhe Republié nidt — Alngft 
por Ludendorff gehabt, fondern feine 
Kraft dahin geftellt hätte, wohin fie 
duch ihre Natur gehört. So muß er 
fid eben felbft die Stelle erringen. 


nod Helden. Der ungebrodene Volks— 
inftinft febnt fid fort von den Politikern, 
die Herzen fliegen Ludendorff gu. Der 


Stimmen der Meifter. 


N bt Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung 
und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender fih das Waddenfen damit ——— 
Der beftirnte Himmel über mir, und das moraliſche Oeſetz in 
mir. Deide darf ih nidt als in Dunfelheiten verhüllt oder im — Dil gen 
außer meinem Gefidtstreife (d. h. außerhalb meines Geſichtskreiſes) fuden und bloß 
vermuten; id febe fie por mir und verfnüpfe fie unmittelbar mit dem Bewuft- 
fein meiner Geiſtenz. Das erfte fängt bon dem Plate an, den id in der äußeren 
Ginnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin id ftebe, ind 
unabfeblid-®rofe mit Welten über Welten und Gpftemen von Syſtemen, 
überdem nod in grengenlofe Zeiten ihrer periodifhen Bewegung, deren Anfang 
und $ortdauer. Das zweite fängt bon meinem unfidtbaren Selbft, meiner Pere 
ſönlichkeit, an, und ftellt mid in einer Welt dar, die wahre Unendlid- 
feit bat, aber nur dem Derftande ſpürbar ift, und mit melder (dadurd aber 
aud zugleich mit allen jenen fidtbaren Welten) ih mid, niht wie dort, in bloß 
ufälliger, fondern allgemeiner und notwendiger Perfnüpfung er 
enne Der erftere Anblid einer gabllofen Weltenmenge vernichtet gleidjam 
meine Wichtigkeit, als eines tierifhen Geſchöpfes, das die Materie, daraus 
e8 ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurüdgeben muß, 
naddem e8 eine furze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft verfeben geiwefen. 
Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlid, 
durch meine Perſönlichkeit, in welder das moralifhe Geſetz mir ein von der 
Sierheit und jelbft von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben oifenbart, wenig- 
ften3 fo viel fid aus der gwedmafigen Beftimmung meines Dafein3 durd diejes 
®efeb, welde niht auf Bedingungen und Grenzen dDiefes Lebens 

eingeſchränkt ift, fondern ins Unendlide geht, abnehmen laft. 
Immanuel Kant. 


Mud das ift wohl gut fo; denn im 
Kampfe wadft der Menſch. Gt. 





182 








Neue Bücher 








Immanuel Kants Leben in Darftel- 
lungen feiner a R. B. Jahmann, 2. E. 
Borowski, A. Ch. Waliansti. Gekürzte Ausg. von 
Paul Landau. (Lebensbilder aus deutſcher Ver— 
gangenbeit, herausgegeben von Börries Frhr. von 
Mindyaujen.) 154 Seiten. Geb. 2,10 WE. Carl 
Flemming und E. T. Wistott, Berlin. 

Nad Angabe des Verlags find „alle heut weniger 
interejjierenden Beitihmweifigfeiten“ weggelafjen, 
ferner fand „eine dronologijhe Neuordnung des 
Stoffes ftatt” und „das Wefentlide wurde bei ge- 
treuer Wahrung des urfprünglihen Textes hervor» 
gehoben.“ Wljo eine eingehende Bearbeitung der 
drei berühmten zeitgenöffiihen Sciderungen von 
Kants Leben, die einander fo glüdiih ergänzen, 
daß fait eine völlige Biographie herausfommt. Alle 
drei gekürzt zujammenzufaflen, war ein jehr glüd- 
liber Gedanfe. Das Bud) wird aud ältere Schüler 
intereffieren, denn alle drei Schriften find ja leicht 
und angiebend zu leſen. Sie geben zugleih ein 
bübjhes Kuiturbild. Die Bearbeitung am ak 
nadgupriifen, ift uns im Wugenblid nicht möglich, 
da das Bud) gerade beim Äbſchluß diejes Heftes 
anfam. ine rafde Durdfidt ergibt einen jehr 
günftigen Gindrud. Auf alle Fälle ift bas gut aus- 
geftattete Budlein geeignet, eine richtige und wür— 
bige Vorftellung von dem Leben unjres größten 
Philofophen zu vermitteln. St. 

Jatob Baza, Einführung in die romantijdhe 
Staatswiſſenſchaft. Guftad Fifer, Jena. 

Das legte Jahrzehnt ift für die Durdforfdung 
der deutſchen Romantif von ausfdlaggebender Be- 
deutung geworden. Die inneren Grundlräfte der 
Romantit — bisher gumeift nur als künſtleriſche 
Faktoren gewertet — find endlich hineingeftellt in 
das Gebiet wermen pulfenden Lebens. an hatte 
gehofft, die Romantif als Teilgebiet des Lebens 
berauszugreifen und für fic) der Behandlung zu 
unterziehen. Man hatte gebofft, ihrer unflaren 
Beherrfhung des Stoffes die Ziel- und Ridtungs- 


lofigteit einer fünftliben Betradhtungsmweife zu 
unterjhieben. Die jüngfte Forihung bat fih mit 
diefer bisher gewohnten Betradhtungsweife nicht 
mehr einverftanden erflären können. Es fonnte 


nidjt länger verdedt bleiben, daß der Geift der Ro- 
mantif in mehr als der Kunft allein fein Wefen 
treibe. Wenn er fchon als etwas Unmriffenes an- 
erfannt war, fo mußte er aud in den gefamten 
Aeußerungen menfdliden Lebens die beitimmende 
Rolle jpielen. Es ift das Werl Jakob Bazas in 
Wien, die moderne Auffaffung über das Wefen der 
Romantif, zumal in gejelliaftswiffenfhaftlider 
Hinfiht, in bhervorragendem Make ausgebaut zu 
haben. Mit überwältigender Kraft verfteht er den 
Beweis dafür zu erbringen, daß Romantif Lebens- 
inhalt bedeutet Und das Weſen diefes Lebense 
inhaltes tritt in allen Aeußerungen menſchlichen 
Dafeins in Eriheinung, aus allen Gegebenheiten 
offenbart fic) das Walten einer einbeitliden Le— 
benSauffaffung. — Die bisherige wiſſenſchaftliche 
Methode glaubte auf dem Wege der Pezentralijas 
tion zu bodfter Schöpfung zu kommen. Der Weg 
war gangbar, folange die Glieder der Gefellidaft 
ein ftabiles gleihförmiges Leben lebten. Krieg und 
Nachkriegszeit mit ihrer Fülle fic) aufdrängender 
Probleme haben dem Menfhen die Gunft erwiefen, 
Har feben zu laffen, woran es ihm fehle. Dejene 
tralifation in der Wiffenfhaft mußte notgedrungen 
zur völligen inneren Xeere führen, nirgends liegen 
fi Kräfte des Zuſammenhangs erfennen, nirgends 
wurde ein Mittelpunkt fühlbar, aus dem ewig 
neue8 Leben auf die Teile überflutete. Enger Zu- 
fammenbang mit dem witfliden Leben und der 
Zwang einer fongentrierten Lebensweife braden 
mit der alten MWeberlieferung eines medaniftifhen 
Liberalismus. Ungemein fräftig und ftärfend weht 


uns Ddiefe Auffaffung aus dem Buche Baxas ents 
gegen, troy der vielen ſchöpferiſchen Geftalten der 
tomantifhen Epoche durchzieht wie ein roter Faden 
der Drang nad Einheit das Leben und Werk eines 
jeden von ihnen. — Dieje „Einführung“ — fie ift 
ct Wirklidteic viel mehr als das; denn in rajtiofer 
Arbeit und QDucllenforihung hat der Verfafler die 
Srundfaftoren der Romantik zu beftimmen vermobt 
— tann wie faum ein zweites Bud im Xejer bie 
Freude am felbjtandigen Weiterdenfen Hier nur 
furz angeregter Gedanfen erweden. €8 fei nur 
bingewiejen auf die grundlegende Verwandtſchaft 
swijden dem franzöjifhen Naturredht der Aufllä- 
tungszeit und dem englifhen Liberalismus det 
Mandhefterjhule. Beides drang weſensfremd im 
deutſche Xebensfreife ein, vermodte fic) eine Beit- 
lang zu baltcn, mußte aber dem Gedanken deutjcher 
Wejengeit, wie er fih in der Romantik auf ebeljte 
Weije offenbart, weiden. Auch beute fann der 
Liberali8mus — und der Marxismus ift nur eine 
Abart von ihm — als abgemwirtjhaftet gelten. Denn 
bei beiden Erjheinungen mußte das deutihe Wejens- 
element zu furz fommen: jeine Smnerlichleit, feine 
Seele, und bie ließ fih auf die Dauer nicht ver» 
leugnen. Siegel. 

Zofef Windler, Trilogie der Zeit. 1546. 
Greifenverlag, Rudolſtadt. 

Inhalt: das Ferientind. 
Die Medanifierung. 

Ein Bergmannsjunge aus Bodum, der als 
Ferienfind aufs Land kommt, fann in feiner Heinen 
Seele gwijden den beiden Welten: Hungerelend das 
beim und „Reihtumsüberfülle* auf dem Lande 
feine Verbindung finden. Bei dem Bwiefpalt in 
ibm überwiegen Neid, Hab, et eg und vere 
wirren ibn feelifd-fittlid) fo ftarf, daß er des 
Bauern Bieh vergiftet. — Der zweite Teil diejer 
Trilogie gibt ein Bild von der Beit des pajffiven 
Widerftandes im Ruhrgebiet, das wahrſcheinlich als 
tünftieriih gefagtes Stulturbofument von der Ge— 
fdidte aufbewahrt werden wird. Diefe fachliche 
Schilderung der Ereigniffe, durdlebt von einer Fa— 
milie des geiftigen Mittelftandes, erzeugt beim 
Refer denfelben verzweifelnden Drud, unter dem — 
unjer Bolt in jenem Xeidensgebiet die lange Zeit 
gelebt bat. — Der erlöfende optimiftifche Glaube des 
Didters, nad dem mir bei Ra Schilderungen 
vergeblich lechzen, leuchtet dann dod) aus dem dritien 
Teil auf. Es ift die Idee, dak der Prozeß der 
Medanifierung, in den unfere Kultur fic) verjtridt 
bat, bis ans Ende durchgeführt werden muß, damit 
er durch fic) felbft überwunden wird. Yn der phan— 
taftiijhen Form von dem künſtlich hergeitellten jeelen- 
lojen Menſchen, der als Arbeitstier überall einge» 
fegt wird, wird uns gezeigt, wie die Menjchen 
wieder zur Wertfhägung der Geele lommen. — 
Gejamturteil: €8 handelt fig um ein wertvolles, 
empfehlenswertes Bud. G. 8. 

Adolf Bartels, Gefhichte der beutjchen 
Literatur. Erſter Band: Die ältere Zeit. (Gaupt- 
werte zur Deutſchen Literaturgefhichte von Adolf 


Im Hungergebirge. 


Bartels. Große Ausgabe 1.) 661 S. H. Haeffel 
Verlag, Leipzig. 
Die Sammelausgabe von Bartels’ Titeraturge- 


{hidtliden Schriften beginnt mit der dreibandigen 
großen Literaturgefhicdhte, deren erfter Band bier 
vorliegt. Diejer große Band reiht von der alt- 
germanifhen Dichtung (Götter- und Heldeniieder, 
Marden, Beowulf, pila bis gu den Klaſſikern 
in Weimar und bis gu Peſtalozzi, Hebel und Jean 
Paul. Das Werk zeichnet fic) inbaltlid) durd den 
betonten Zufammenhang von Bolfstum und Literas 
tur, formal duch die flare, fadlid) einleudtende 
Einteilung aus. Bu unſern mittelhochdeutſchen 
Dihtern haben wir heute durd) BVerfenfung in die 
Urtegte ein innigeres Verhältnis gewonnen, fo dag 


183 


wit Bartels Urteil, der Nibelungendidter habe „mit 
natürliher Kraft, aber ohne reicher ausgebildete 
Kunft“ geftaltet, nidt teilen. Wir finden: bei ihm 
eine fo ausgebildete Kunft, in Lyrif und Sprad- 
Yang, daß fie der fpäteren Stunft die Wage bält. 
Wud) würden wir die zentrale Stellung des Bar- 
gival für unjer Bollstum mehr betonen. (Boron 
ijt nad Ehretiens und Wolfram. Die Einteilung 
in die 16 Bücher ftammt von Ladmann, der leider 
die alte Einteilung der Handfdrift D. felbitherrlich 
„verbefjert“ bat.) Unjer Urteil über Schiller ijt 
anders al® das von Bartels. (Seiner wunderlihen 
Hppotbeje von dem „Eeltiihen Cinfdlag” ftellen wir 
entgegen, daß nah Gievers juft Schiller die typifd 
germanijhe Rlangturve bat.) Aber was Bartels 
über Goethe ſchreibt, midten wir befonders aner- 
fennen. Wud das Rapitel über den von andern 
gu wenig gewürdigten Terfteegen ift gut, überhaupt 
fheint uns die Behandlung des 17. und 18. Jahr⸗ 
bundert8 vortrefflihd. Jedenfalls: ein dharalter- 
volles Werf. St. 

Maria Kahle, Gekreuzigt Boll. Gedichte. 

—— ap Verlag, Raffel. 
enige nur, gang wenige Didter haben das 
Reid und ben verbiffenen Born unferer leidenden 
Landsleute an Rhein und Rubr im Lied geftaltet. 
Es ift wohl leichter, ein fchmetterndes fied im 
Krieg gu fingen, wenn nod der Glaube an Sieg 
und freiheit in allen lebt, als das ftill ertragene, 
unberoijdhe Leid eines BolfeS im Gedichte auszu- 
prehen. Maria Rabble gehört gu diefen ganz 
enigen. Wir finden in dem Gedidtband eine 
ange Reihe von Liedern, von denen wir wobl ver- 
Beiken dürfen, daß fie dauern werden. Faſt mann- 
lide Kraft tlingt in den Gonetten, die an Riiderts 
Geharnifhte Gonette beranreihen, und fraulid 
milder und doc) berber sone flingt in den ſchön⸗ 
is der Lieder: „Singe je bell nicht, Nadtigall, die 
elt ift voll von Leide~. Aus diefem Gedidtband 
empfeblen wir ausjumwählen, wenn an einem 
„Deutihen Abend“ der Rhein» und Rubrbevdlferung 
gedadt werden joll. G. &. 

Neue Bühbnenftüde: Hans von Wol— 
sogen, Longinus. Cine beutfhe Legende, — 
€. von Weitra, Blüderfieg. Ein dramatifdes 
Spiel in zwei Aufzügen. — Otto Goftmann, 
Der Ordensritter. Schaufpiel in drei Aufzügen. — 
As Band 1 bis 3 der ungdeütſchen 
Bühne im Jungdeutſchen erlag, Kaſſel. — 
Otto Brües, Das Albreht PDürer-Spiel. Yn 
der Sammlung „Spiele beutfher Jugend“ im Verlag 
des Bühnenvollsbundes, Frantjurt a. M. — 
Walter Flex, Die Bauernfubrer. Trauerfpiel 
aus dem Bauernfriege in vier Aufzügen. (Dra- 
matifhe Sfigge.) Mr. 36 der YJugendbiihne des 
Theaterverlags Eduard Blok, Berlin E. 2. 

Der Jungdeutihe Verlag will aud in der neu 
von ihm herausgegebenen Fungdeutſchen Bühne den 
Geift wehrhaften ge pflegen, wie er aus- 
Gefproden ift im tolog zum ,Ordensritter”: 
„Treu fein und deut{ ad fein, troy Kummer und 
Leid! Diefen Glauben im Herzen tragen, Sei 
unfer Troſt aud in heutigen Tagen!“ Die vor- 
liegenden drei Werke find nod aus dem Geift und 
den Bedingungen de8 beftehenden großen Theaters 
heraus erwadjen, nit aus dem Boden unferer 
Jungipielfdharen. Wolgogen führt uns in’ Deutjch- 
land des adjten Jahrhunderts. Eine reingermanijde 
häuslihe Umgebung, in der fis der germanijde 

uptmann bon Jeſu Kreuz, Ahasvar der emige 

ude und Armin» Sprößlinge gufammenfinden. 
eift des Germanentums und des Chriftentums zu 
vereinigen, ift bie Jdee des Bühnenwerks. Nicht 
gang klar wird dieſe geiftige Idee gelöft. Die Welt 
unferer Vorfahren erleben wir bier, wie bei den 
meiften Berfuhen biefer Art, mehr mie eine Er- 
jablung, die uns dargeboten wird, als wie eine 
Gegenwart, die wir von innen heraus erleben. — 
„Blücherfieg“ von Weitra gibt uns einen Ausfchnitt 


aus der Gefdidte, der unfer vaterländifhes Emp- 
finden ftarf und ftolg aufriibrt. Es ift fein Drama, 
fondern drei Szenen; fraftvolle, gut gefdaute und 
charafterifierte Bilder, aus denen gejunde Begeifte- 
tung bervorquillt. Der Schluß braudte nidt fo 
theatralifd zugejpigt gu fein; die Wirkung ware 
aud fonjt nicht ausgeblieben, eben weil die Szenen 
et find. Sehr tüdtige Laienjpieler können fid 
vielleiht an diefes Stüd wagen. — Otto Softmanns 
„Ordensritter“ ift zwar aud) mit Liebe und Wärme 
geſchrieben, aber boc) ohne Didterfraft. Die feelie - 
{hen Sonflifte und Wandlungen find gu beritandes- 
mäßig fonftruiert. Behandelt wird in diefem Sdau- 
fpiel ein Stoff aus der Geſchichte der Deutidordens- 
titter, der Konflikt eines jungen Ritters, der eine 
Polin liebt, aber feinem Gelübde treu bleibt. — Das 
Albreht Dürer-Spiel von Otto Brües bringt zwei 
Szenen aus Dürerd Leben: Yn Venedig wird ihm 
ein ebrenvolles Angebot gemadt, dort zu bleiben; 
aber Qeimatliebe zieht ibn ins Baterland zurüd. 
Jn Nürnberg dann hat Dürer Gelegenheit, in Gee 
einig mit verſchiedenen Menjhen feine nieht 
affung von der Kunſt zu offenbaren. Go vollzieht 
fid zwar die Löfung der „Bleihung von Charafter 
und Begabung“, die der Dichter eritrebt, aber bra- 
matifh werden die Szenen nicht, weil alle innere 
Bewegung jehlt. — „Die Bauernführer“ von Walter 
gie lönnen den Jugendbühnen empfohlen werden. 
iht etwa ift bier ber ganze Sdeengehalt der 
Bauernfriege, an dem fid fo viele unjerer größten 
Dichter verjudt haben, ausgejhöpft; aber es ift aus 
dem jugendliden Geijt und mit der jugendliden 
Brifhe des neunzehnjährigen Didters geſchrieben 
und trifft darum den Ton ber Sanoiviclioaren 


gut. 8. 
Strang Werner Shmidt, Strindberg 
212 S. erlag 


und feine 34 beiten Bühnenwerfe. 
Franz Schneider, Berlin. 

Die Aufgabe der Bühnenführer in Schneiders 
Verlag ift nicht leicht. Die Gefahr liegt nahe, die 
Kenntnis des Stüdes zu erfegen durd eine Ynbalts- 
angabe mit zugebörigem inneren Gehalt. Diefe 
Gefahr ift im vorliegenden Fall glüdlih vermieden. 
Der Führer durch Strindbergs Dramen ift fo be 
butfam, feine — Ergüſſe zu bringen, fon- 
dern das Gelbjtverftandlide in einer prägnanten 
und fnappen Art zugleih mit bem Inhalt heraus— 
zufhälen. Ein Lejen der Stiide erübrigt fic nidt, 
fondern man wird angeregt dazu. e ſachliche 
Art de3 Buches überläßt es dem Lefer, den Wert 
Strindbergs für uns ſelbſt einzufhähen. Worüber 
fonnen wir nidt an ibm. Er fteht auf der Scheide 
einer vergangenen, felbftherrliden Welt und ſucht 
nad einer neuen, erlöften Menjchheit. Er ijt dod 
der Einzige, bei dem dieſes Suchen nidt mwilllom- 
mene Gelegenheit zu wirfungsvoller Literatur iſt, 
fondern dämonifher Zwang. Das uns fein Werk 
jtatt mit §rieden, mit Grauen erfüllt, wer ann 
ibn darum fchelten? ine furdtbare, gnadenlofe 
Zeit kann nidt ihren Ausdrud in Harmonie und 
innerer Freudigfeit finden. Nur eins: man berfalle 
nit Strindberg! Die Gefahr ift groß. Sie führt 
zu willenlojer Entnerpung. 2.8 


Yulius Heiß, Der arme Heinrich, ein alt 
deutjhes Spiel nah dem Gediht von Hartmann 
von Aue. 66 S., 1,50 ME. Berlag bes Bühnen- 


volf3bundes, Frankfurt am Main. 

Hartmann von Aues Bersroman ift hier ſchlicht 
und einfad gum Spiel zubereitet. Man fühlt, daß 
der Didter diefe Sdhlidtheit nicht markiert und 
Naivität heudelt. Das Spiel wirft rein und herz- 
lih. Ih fcnn mir eine Aufführung durch Laien 
und Wandertruppen recht wohl denfen. Diefe Er- 
neuerung des armen Heintih für die Bühne ift 
um vieles erfreulider als G. Hauptmanns unglüd- 
felige3 Drama, das peinlidfte von Hauptmanns 
Stüden, mit feinem Berfuh, Pfychologie zu geben 
und die Gejtalt der opferbereiten Maid durch blut- 
arme Srankhaftigfeit zu erllären, L. B. 








Gedrudt in der Hanfeatiihen Verlagsanſtalt Aktiengeſellſchaft, Hamburg 36, Holftenwall 2. 


184 





Emanuel Sardou, Kant 


Aus dem Deutfhen Volfstum 


Deutiches Bolfstum 


5. Heft Kine Monatsihrift 1924 





Die gegenwärtige sehigine Lage in Deutichland. 


er Verſuch, etwas über die — religiöſe Lage in Deutſchland 

zu ſagen, kann nur ſehr ſubjektiv und ſchematiſch unternommen werden. 
Ein gewiſſes Gegengewicht indeſſen kann eine geſchichtliche Begründung bieten. 
Wie alle phyſikaliſche und politiſche Geographie ſich als Ergebnis geſchicht— 
licher Entwicklung faſſen läßt, ſo auch das, was man religiöſe Geographie 
nennen könnte. Denn alles, was iſt, iſt geworden, und alles, was einmal war, 
beſteht in irgend einer Form noch fort. Aelteſte geologiſche Perioden haben 
wir in unmittelbar ſichtbaren, wenn auch ſtark verwitterten Stellen der Erd— 
oberflähe nod vor uns. Nicht anders verhält fich die religiöfe Bergangen- 
heit zur Gegenwart. Gin religions- und ein firchengefchichtlihes Lehrbud 
liegt gleichfam in jedem Land, ja in jeder Stadt und in jedem Dorfe vor 
dem aufgefdlagen, der Bildung und Geift genug befitt, um dem Reize 
nchaugeben, den das Schauen des Bergangenen im ©egenwärtigen und 
des ©egenwärtigen im Bergangenen gewährt. Bom älteften germanifchen 
SHeidentum an bis zur modernften offultiftifchen Bewegung finden wir alle 
Gruptionen des religiöfen Werdeng, die aus wer weiß welchem Grunde aufs 
geftiegen find, nebeneinander in dem Antlitz unfrer deutfchen Religiofität 
wieder. Chriſtlich masfiertes Heidentum, maffiver Katholizismus, mittel- 
alterlide Myſtik, die Frömmigkeit beider Formen der Reformation, die Ortho- 
dozie, der Pietismus, die Aufflärung famt ihrem ©egenpol auf derjelben 
Giundlage, dem Rationalismus, der Idealismus unferer flaffifdhen eit, 
die RNomantif famt der fie begleitenden religiöfen MWiederherftellung, der 
Umjdlag in den gröbften Materialismus und Kirchenhaß; daneben die liberale 
Sheologie, Monismus und GFreidenfertum; endlich der Umfdlag in die Myſtik 
und den Okkultismus famt der Vorliebe für alles, was aus dem gebei-mnis- 
bollen Orient fommt: all dies liegt in der Breite, wenn auch mannigfad 
umgeformt und in mander Verknüpfung por ung, wie es gefdidtlid fid 
einigermaßen abgelöft bat, freilich nicht ohne daß Altes nod lange blieb 
und Neues fich langfam emporarbeitete. 

Gs entfpricht einer üblichen Ausdrudsweife, wenn wir, was in der Lange 
Bintereinander fam und in der Breite neben- und durcheinander liegt, Der Ueber 
fidt halber fo anordnen, daß wir von jenen Niederjchlägen der Gntwidlung 
des religidfen und firdliden Denkens die einen links, die andern rechts und 
wieder andere in die Mitte ftellen. Go befommen wir eine Front, die bon 
dem Atheismus und dem Greidenfertum über den naturwiffenfchaftlich gee 
gründeten Monismus zu den criftliden Kirchen und don ihnen aus wieder über 
Selten, Myſtik, Schwärmerei für die ruffifhe Frdmmigfeit nah Perfien, 
Indien und nod tiefer nach Afien hinein läuft. Ihrem Wefen nad unter- 
ſcheiden fid der linfe und der rechte Flügel febr ftarf voneinander. Das 
Wefen des linken ift Diesfeitigfeit, Hingebung an Kultur und Zipilifation, 


185 


Begeifterung für Technik und Wiſſenſchaft, zumal Naturwifjenfchaft, für 
alles, was mit dem Sntellett erfaßt werden Tann; dazu tritt nod der Sinn 
für perfinlide Sreiheit und den Gort{dritt, für ein Leben in der Gegenwart, 
abgewandt bon der Bergangendeit. Die rechte Seite weift die entgegengefetzten 
Züge auf: ftatt der Diesfeitigen Welt die Ueberwelt oder das Senfeits, ftatt 
der Natur die Gefdidte, ftatt der Wiſſenſchaft die Religion, ftatt des Tne 
tellefts die Phantafie, die Seele und das Gemilt, ftatt der Oberfläche die 
Tiefe, ftatt der Freibeit die Autorität und die Gemeinfdaft. Gang grob ge- 
{proden könnte man fagen: all jene Dinge ftammen bom Welten, alfo von 
England und Granfreidh, und find burd die Aufklärung DHereingefommen; 
dagegen trägt alles, was auf der anderen Geite ift, öſtliches Geprage und 
ftammt gulegt aus Aſien. 

Das befondere Kennzeichen der gegenwärtigen Lage ift nun Ddiefes: der 
Weften fink und der Often fteigt. In jener guerft gezeichneten gejchicht- 
lihen Linie find immer Bruchftellen, die eine oft ſcharfe Wendung genau ins 
®egenteil bedeuten; wenn fich eine geiftige Richtung erſchöpft Hat, dann 
tritt aus einem gebeimnispollen Srunde, durch einzelne Männer oder durd 
Bewegungen vermittelt, die entgegengefebte auf. So haben wir nun einen 
Grud) burdhgemadt; es geht aus der rationalen Periode in eine irrattonale 
hinein. Das begann fdon lange por dem Krieg, fon um die Jahrhundert» 
wende. Aber der Krieg und die Nachkriegszeit haben diefe Entwidlung febr 
verſtärkt. Wird dod der Krieg immer mehr als die Auswirkung jenes Geiftes 
empfunden, der im Ginn für das Diesfeits und das brutale Recht aller Natur 
fih am deutlichften offenbart hat. Angewidert bon dem graufigen Zufammen« 
brud) alles beffen, was einmal für groß galt, zieht fid nun alles innerlich 
Lebendige in die entgegengejeste Haltung zurüd. Man verlangt nad Tiefe, 
nad ©eift und Seele, nad dem Geheimnis, der Autorität, der Bindung durd 
Gemeinfdhaft, mit einem Wort gefdhidtlid gefprogen nad) einem neuen 
Mittelalter, geographifh geredet nad dem Orient. 

Mitten zwifchen jenen beiden Flügeln ftehen die riftliden Kirden, 
pon beiden Seiten befämpft, wie fie fid) auch felber einander bekämpfen. Um 
ihrer Shwäden und Febler-nidt nur, fondern auc um ihrer ganzen ®rund- 
baltung willen gelten fie beiden Seiten als ®egner, mehr natürlich der linfen 
als der rechten. Ihr Anfprud auf alleinige Wahrheit, ihre Begründung auf 
eine Gefdhidte voller Gnaden und Wunder, ihre immer nod das ganze 
Leben und aud Volk und Land mit ihren PBarochien umfpannende Organi- 
fation, ihre Verbindung mit den berrfchenden oder einft herrſchenden Gee 
walten — dag alles macht fie verhaßt. Spricht man von der Kirche, fo fällt 
aud) fie, wie faft alle geſchichtlichen Grfdeinungen, polar auseinander, und 
zwar aud zur Linken und zur Rechten, der Proteftantismus mehr nach der 
Seite der Kultur im älteren Sinne, der Katholizismus mehr nad der anderen 
Seite. Und wiederum diefe polare Neigung fest fid in die einzelnen Kirchen 
felber hinein fort. Wie der Proteftantigmus eine rechte Seite hat, fo hat der 
Katholizismus eine linke. Gs braucht nicht herporgehoben zu werden, daß, 
wie der Katholizismus von der berrfchenden Welle im Unterfhied von den 
fiebziger Sabren emporgetragen wird, fo der Proteftantismus im allgemeinen 
finkt, und aud was in ber fatholifhen Kirche pon feinem Geifte befrudtet 
ift, nur fehr ſchwer gegen die entgegengefebten Beftrebungen auffommt. 
Niemand gibt fid mehr einer Täuſchung darüber Hin, daß die Rolle wenigftens 
der evangelifhen Kirche Außerft befcheiden geworden ift. Weit davon ent- 
fernt, in der Deffentlichkeit irgendwie beachtet zu werden, ift fie aud nur nod 


186 


für wenige der Rahmen ihres perfinliden Dafeins. Gibt es aud nod abgele- 
gene Landgemeinden, die 70 b. H. Sonntags zur Kirche bringen, fo ftehen denen 
unendlich viele andere gegenüber, die es faum auf 1 b. 9. bringen. Kürzlich 
war der Durchſchnitt pon einer maßgebenden Stelle auf 3 v. 9. geſchätzt 
worden. Nur an Fefttagen fdeint die Welle der religiöfen Zeitftrömung die 
Kirhentür zu überfchreiten. Schlimmer als die Austrittsbeiwegung nad links 
And rechts ift Die Sleidgiiltigteit, die „Iatente Austrittsbewegung“ in allen 
Kreifen. Romane, Gefprade, Zeitungen weifen an diefem Punkt ein vole 
liges Gafuum auf. Gs ift viel verfäumt, es ift viel gefehlt worden; Führung 
und Waſſe haben verfagt. Ob die eifrig betriebenen Reformen auf dem Gee 
biet der DBerfaffung, des Oottesdienftes, alfo der Predigt und des fultifden 
Lebens, und die fo überaus rege auf dem des Religionsunterrichtes üben- 
haupt nur den gegenwärtigen Beftand erhalten fünnen, das muß die Bue 
funft lehren. Der Gegner und der Wettbewerber um den religiöfen Sinn der 
Bevölkerung gibt es gar zu viele. 


2. 


Die Kirche, die Botin einer YUeberwelt, gegründet auf eine vergangene 
Heilsge[hidte voller Wunder, mit dem Wnfprud auf eine Iebtgiltige 
Wahrheit, mannigfad verftridt in die Kultur, die Philoſophie und die Sitten 
einer vergangenen Zeit, dazu nod aufs engfte mit älteren privilegierten 
Ständen und Gruppen verbunden, ift der Gegenftand grimmiger Seindfchaft 
der ganzen ,infen“. Dieſe ift in fic fonft febr wenig einheitlich; aber in 
der Grundridtung und in ihrem Gegenfag ift fie einig, bon Dem ausgefpro- 
denften Atheismus an, mag der nun auf Illufionismus, Sfeptigismus oder 
Materialismus beruhen, bis zu einem Theismus des DVerftandes, der fid in 
der Beife der Aufklärung mit Moral und etwas Glauben an Unjterblidfeit 
paart. Diefe Gedanfenridtungen heben fid, wenn fie bewußt find, aus der 
Gbene der fdredliden Gleichgültigfeit heraus, die in allen Kreifen Der 
Kirhe und ihrer Botfhaft gegenüber befteht. Die Laft und die Not des 
Lebens, üble Grinnerungen, unbewußte Srundftimmungen, die jenen aus- 
geſprochenen Richtungen entfprechen, erfüllen die breite Maffe in allen Schich— 
ten, wie jeder Roman, jede Unterhaltung, jede Zeitung bezeugt. Dagegen 
ift ohne Zweifel eine ausgefprodene Feindſchaft immer nod ein Zeichen don 
Charakter und eine gewiffe Hoffnung. Mag aud Materialismus und Natura- 
ligmus grundfäglih überwunden fein, im Leben des Bolfes ift immer nod 
das Dogma herrſchend, daß die ganze Wirklichkeit mit der finnlid) wahr— 
nehmbaren gufammenfalle. Diele davon nicht befriedigte Geifter juchen in 
irgend einer der vielen Arten bon Monismus einen SGrja für die ihnen 
im. übelften Gedadtnis gebliebene Kirchenreligion. Diefe Srundauffaffung 
bindet, was ihr bon Höherem geblieben ift, bas Wahre, Gute und Schöne 
oder aud) das Göttliche, an die Natur, an das AU, den Kosmos oder wie 
man jonft den Erſatz für Chriftus und die Bibel nennt. Bald ift es eine 
fühlere DBerftandesfache, der man anhängt, bald eine ſchwärmeriſche Hinge- 
bung an das große All, in dem man die Harmonie der Perfönlichkeit und 
Ihöpferifhe Kräfte zur Beftreitung der Koften bes Lebens fudt. 

Diefe ganze Grundftimmung bat fid aud organifiert. Moniftenbund, 
Sreidenferdereine und ähnlich gerichtete Gruppen haben fich guerft zu einem 
Weimarer Kartell, dann zu einem Bund für Geiftesfreiheit zufammenge- 
Ihloffen; daneben befteht nod ein Bund proletarifher Greidenfer, weld 
legterer 400 Ortsgruppen mit 25000 Mitgliedern enthält. Die ganze Bee 


187 


wegung ijt immer nod in langfamem Wadstum. War fie im Krieg unter 
dem Grnjt der Zeit jehr zurüdgegangen, jo hat fein Ausgang und die Not 
nachher ihr anfdeinend gegen die gottesgläubige Kirche Recht gegeben. Gin 
Seiden für den unausrottbaren Zug nad Rirde ift der mehrfach unter- 
nommene Verſuch, fultiihe Berfammlungen, Weihehandlungen, ja fogar eine 
Art von Hlöfterlichen Lebensgemeinfdaften zu veranftalten. Die ganze Bee 
wegung ift ein Zeichen, wie ſehr die Kirche in ihrer Pietät oder Schwerfällig- 
feit es verſäumt bat, fid der neueren Zeit fulturell angupaffen; es fei bloß 
an ihren Widerftand gegen die Geuerbeftattung oder an ihr Fefthalten an 
dem biblifden Welt- und Naturbild erinnert. 

Auf der „rechten“ Geite ift viel „zweite Religiofität“.. (O. Spengler.) 
Abgeftofen oon der Zipilifation, unbefriedigt von der Kirche, fdaut fid 
zumal großftädtifhe Stimmung nad irgend einem Grfak oder Reigmittel 
um, wie das alternde Rom, und findet, was es fucht, in älteren Kulten oder 
im „Often“. Romantiſche Grundjtimmung, die Mode des Srrationalen, des 
©eheimnijjes, der ,Siefe“, läßt, neben manchem neuertadten ernjten Ginn 
für Seele und Ueberzeitliches, nad allem greifen, was, vor Iahrzehnten noch 
verladt, heute etwas bon Sinn und Halt und Sroft verfpridt. Durd das 
viele Gefdrei, das diefe Mode madt, darf man fid nicht darüber täufhen 
lafien, daß überaus viel fünftlihe Mache zugrunde liegt. Die Myſtiker des 
Mittelalters, zumal Gdebart, find ſehr verbreitet; darüber fann man fic freuen, 
weil diefe Dod einen ausgefproden ethifchen Zug an fich tragen und Gott und 
feine Welt mit der Seele innigft ergreifen wollen. Moderne Myſtiker, ob 
fie nun bon der Natur oder bon der Dichtung Herfommen, neigen dagegen 
ftarf dazu, den Gegenfak bon Gut und DBöfe und die felbftändige Gzifteng 
Gottes zu ftreichen, um das Individuum in feiner Selbftherrlichkeit und aud 
fleifhlihen Gier allein übrig zu laſſen. Die Jugendbewegung und viele 
andere romantifd geftimmte Kreife pflegen eine Myſtik des Alls, bon dem 
man fid) durdfluten laffen will, um jchöpferifhe Kräfte zum Aufbau am 
großen WeltendDom zu gewinnen. Das Elingt wenigftens etwas ernfter als 
das ſo meitverbreitete Schwärmen und Schwelgen einer Religion ohne Gott, 
die in heiligen Schauern und feden GSelbftüberfteigerungen aufgeht. Im Zur 
fammenhang mit politifhen Beftrebungen greifen mande Kreife auf alt» 
germanifhen Wodankult zurüd, der den Gegenſatz nicht bloß gegen Das 
Judentum, fondern aud gegen das Chriſtentum in fid fließt. Weniger 
bedenklich ift die Auffrifhung einer halb perfifchen, Halb indifhen Frömmig- 
feit, Die fi Magdagnan nennt und echt orientalifd eine ausgebildete Hy— 
giene mit myſtiſcher Verſenkung vereinigt. Aehnlich verfährt aud die weit 
verbreitete Ghriftian Science, die, ein modernes amerifanifhes Gewächs, wie 
Sefus Leib und Geele zu beilen verfpridt. Groh ift die Hinneigung zu allem, 
was ruſſiſch ift. Doſtojewsky hat Tolftoi als Urruffe abgelöft. Der grimmige 
Grnft gegen alle weftlihe Bivilifation, die Gnergie der religiöfen Hingebung 
an Öott und das Senfeits, der fefte Glaube an die Offenbarung einer ganz 
andern Welt bon Gott aus hat eine immer wadfende Anhängerfchaft dem 
öftlichen Shriftentum zuzuführen begonnen. Dabei fpielt auch der neuerwachte 
Sinn für alles, was Kultus und Liturgie heißt, eine Rolle, der in der fog. 
Hochkirchlichen Bewegung feinen jedem Reformierten underftandliden Aus» 
drud gefunden bat. 

Das eigentlihe Modeland aber ift Indien. Diefes Wort können mande 
ohne Augenauffhlag und fdmadtende Laute garnicht ausfpregen. Schon 
lange hat die ältere Theoſophie ihre Anhänger gehabt, die, aus Amerika 


188 


berübergefommen, etwas Brahbmanismus mit modernem Gpolutionismus 
mifdt. Aber feitdem Rudolf Steiner aufgetreten ift, verbreitet fic) dieſer 
©eift immer mehr. Diefer univerfale Geift verfpricht der Zeit, was fie haben 
will: wiſſenſchaftliche Grfenntnis der jenfeitigen Welt und Löfung der großen 
Lebensratfel. Sein Anhang ift immer nod im Wadjen; feine Lehre 
wendet er auf alle Gebiete des Lebens als frudtbares Prinzip an 
bis auf PWirtfhaft und Kunft und Pädagogif. Diele ernfte Kreije, 
natürlih aud) viele Dalbgebildete, fallen ibm anbeim. Pie Anthro- 
pofophie ift eine geiftige Grdfe, mit der man rechnen muß. Aud an 
ihr fann fih die Rirdhe Har madden, was fie verfäumt Dat: die Pflege 
der Grfenntnis und zumal die der jenfeitigen Welt. Dieje Geiftesridtung 
bat fic ebenfo wie die „Shriftlide Wilfenfhaft“ zu einer Art oon Kirche 
mit Rultusfeiern organijiert; der Kult Hat bei diejer einen einfacheren, am 
Wort orientierten Charakter, während die anthropojophijche SuliDung fafra- 
mentaler Art ift. 

Im ganzen ift es ein febr buntes Bild, das bon tiefer ſeeliſcher Not 
zeugt. Es ift Advent. Das Geld ift reif zur Ernte. Die epangelifche Kirche 
muß mit vielen Wettbewerbern in den Kampf treten. Sie fann ihn bloß 
wagen, wenn fie etwas Grofes und Gutes zu verfündigen Hat, und wenn fie 
mit Wort und Tat der Welt Hilft, mit ihren Nöten fertig gu werden. 

Sriedrih Niebergall. 


Gegenwart und Zukunft der Jugendbewegung. 


ern aud) die SugendDbewegung ein beliebter Gegenftand für Doftor- 
arbeiten geworbden ift, verſucht man, fie mit pſychologiſchen und fogiolo- 
gifhen Kategorien zu faffen. Dies ift nicht gelungen. Gin abgejchlofjfenes 
Gerftandnis der Bewegung wird erft möglich fein, wenn fie Geſchichte ge- 
worden ift, wenn der Hiftorifer fie völlig überfchauen und einordnen fann. 
Aber wie bei aller Bemühung um die Fragen der Beit ift auch Hier eine Gre 
fenntnis notwendig und möglich, die praftifchen Zielen dient, etwa der Ein— 
ſchätzung, die Der Graieber, der Lehrer, der Geiftlide, der Politifer gewinnen 
muß. Für eine Jol de Bewertung muß man verſuchen, ihr Weſen zu dere 
fteben. Gs fommt dabei darauf an, Die Grundlage nicht zu eng, fondern mög- 
fihft breit zu wählen. Gs ift unmöglich, fie allein bon einer ganz beftimmten 
und einfeitigen Gormulierung ber zu begreifen, etwa bon dem freideutjchen 
Autonomiegedanfen, der fid) einer unberedtigten und feltfamen Bevorzugung 
in der Literatur über die Sugendbewegung erfreut. Selbſt Univerfitäts- 
profefforen wie Natorp und Stählin find diefem Fehler nicht entgangen. Auch 
die jüngfte Arbeit von Hans Schlemmer (Der Geift Der Tugendbewegung. 
Berlag Rösl u. Gie., München. 1923. Pädagogiſche Reihe. 9. Band) ift ibm 
verfallen. Das muß den DBlid für die Gigengefeblidfeit der Zugendbewe- 
gung und die Fülle der Erfcheinungen in ihr trüben. Man muß auf die 
umfpannenden Horizonte bliden: eine neue ®anzbeit des Lebens: 
ein neuer Menfd — eine neue Welt, bas ift der einzige richtige 
Anfagpunft für die Grfaffung ihres Strebens und Wefens. Und ferner: 
die pſychologiſchen Feftftellungen über den eigenartigen Charakter ihres Sue 
- gendbewußtfeins mögen gut und richtig fein. Aber man muß die Bewegung 
in eine umfaffendere und tiefere Wirklichkeit Hineinftellen, um fie zu ver- 
fteben und ihre Bedeutung zu feben, in die des Volkes: junge Gefdledter 
eraden in einer Krifis der Bolksgefhichte und der Kultur gum eigenen Be— 


! 189 


wußtfein ihrer Jugend. Ihr Erleben heißt: Jugend verpflichtet! Die Jugend 
fühlt eine ®emeinjamfeit des Lebens und der Berantwortung dem DBolfe 
gegenüber. Gine neue Welle des Bolfslebens fteigt bod. — Bon da aus 
woollen wir die Lage und die Aufgaben, die ihr entfpringen, betrachten. 


1 


Eine jede neue Bewegung findet erft nach langem Irren und Kämpfen 
Weg und Ziele. Man darf das vor allem bei einer Bewegung der Jugend 
als folder nicht bergeffen! — Die erfte Epoche der Sugendbewegung (es 
handelt fid nit um millfürliche zeitlihe Begrengungen, fondern um innere, 
finnhafte Zufammenhänge) fann man die naibeurfpringlide nennen. 
Ueber ihren repolutionären Charakter gegenüber den Erziehungsmethoden und 
dem gejellihaftliden Aufbau der umgebenden Welt ift jo viel gefchrieben 
worden, daß wir uns dabei nicht aufhalten. Nur zwei beliebte Mifverftand- 
niffe gilt es abzuwehren. Die Jugend nimmt eine kulturkritiſche Hal- 
tung ein. Ihre letdenfdaftlid glühende Bejahung des Lebens ift nicht ein 
Sa zum Leben, wie es ift, fondern wie es fein ſoll, wie es in den lebten 
Tiefen der Seele als Zielbild und „neues Reid“ geahnt wird (Reinheit, 
Wahrheit, Schönheit, und wie diefer Idealismus der Sugendbewegung fid 
ausfprechen mag.) Sie entzieht fid der Zipilifatton, fie geht in die Walder. 
Aber diefe neue ,,tweltlide* Wskefe, wenn ich fo jagen foll, ift nicht negae 
tid, wie man behauptet bat, fondern ſchöpferiſch. Sie fdafft ein neues, 
bon der Greibeit der Natur befhmwingtes Gemeinfdaftsleben. In 
der Heimat tauden uralte Werte und Bindungen den Wandernden wieder 
auf. Was das ift: Heimat, Bolfstum, das lebt jett neu, ganz unmittelbar, 
aber ohne geiftige Gormung und gewollte Bielfebung. Das Leben felbft in 
feiner gehetmnispoll-pffenbaren Fülle zu leben und zu fühlen, ift Luft und Gebne 
ſucht diefer Jugend. Aber ſchon drängt es fie gum eigenen Schaffen. Volkslied 
und Tang, Märchen und Sage, polfstümlihes Kunfthandwerf werden neu 
lebendig. Gs ift feine Renaiffance aus gepflegten äſthetiſchen Bedürfniffen, 
fondern der Lebenstrieb, der in vorher verſchloſſenen Tiefen aus feiner Lebens- 
not heraus Gingang findet. Natur, Heimat, Volkstum find die Werte diefer 
Welt, fie umfpannen ihren Gefidtstreis, werden in ungezählten Gemeinfchaften 
erlebt und geftaltet. Die Kulturkritif wurde aud bier Zultur-jchöpferifch, 
weil fie nicht ffeptiihe Abwehr war, fondern leidenfdaftlider Angriff aus 
ber Ahnung tieferer Lebenswerte. — Und zweitens ift es falfch, immer nur, 
bom „Indipidualismus“ oder „Subjektipismus*“ in der Zugendbewegung zu 
reden. Daß er in einem Alter vorhanden ift, in dem der Wenſch erft zu 
fic ſelbſt erwacht, follte nicht wundernehmen. Allein das Entſcheidende ift, 
wie die Sugendbewegung dem begegnet: das neue Leben ift untrennbar 
pon der Gemeinſchaft. Daß der Menſch dem Menfchen, aller anderen 
Hüllen bar, Du und Du, gegenüberfteht, das ift ihr Gemeinfdaftserlebnis. 
Gs bindet und es verpflichtet irgendwie (das fann nun die verſchiedenſten 
Gormen annehmen). Im Führer faßt fid diefe Gemeinfdaft gujammen, 
ftellt fie fih dar. Wud in ihm wird eine höhere Kraft, ein ftärferes Yiel- 
bewußtfein gefühlt. Ueberall alfo haben wir ein Verlangen nad) Wert und 
Bindung, die über dem einzelnen find. Erft von ihnen aus erhält die Ginzel- 
perjönlichfeit ein neues Geprage, ja einen neuen Sebalt. 

Allein gerade dann, wenn der Weg zur Se ftaltung des Gemeinfchafts- 
lebens, zu fruchtbaren Leiftungen befchritten werden follte, mußte mit innerer 
Notwendigkeit eine Krifig eintreten. Gie ftellt fid dar in der freideut«- 


190 


[hen Jugend. Man fann von einer freideutfhen Spode ſprechen. Ss 
treten neue Kreife in die Bewegung ein. Die älteften Generationen ftehen 
por neuen Fragen. Auf der Univerfität, im Berufe öffnet fi das Chaos der 
Probleme unferer Welt, unferes Bolfs- und Staatslebens. Kine mächtige 
Problematif ſchwemmt über die älteren Kreife der Bewegung Hin. Intellek— 
tualismus und Gfepfis dringen ein. Die Kraft zur Gemeinfchaftsbildung läßt 
nad. Es war nicht anders möglid. Eine junge Bewegung, die ihren Willen 
nod nicht gebildet Hat und Ziele mehr ahnt als fieht, mußte in diefem neuen 
Zujammenftoß mit der Kultur erfchüttert werden. Gs blieb in der Tat gue 
nächſt nicht viel mehr über als die freideutfhe Autonomie, dieſe {male 
Grundlage des „Aus eigener DBeftimmung, bor eigener Berantwortung, mit 
innerer Wahrhaftigkeit“. 

In diefe Gntwidlungen fdlugen die Wetter des Krieges. Go viele 
Führer draußen blieben, fo viele ungeführte Gemeinfdaften fic auflöften — 
der Krieg entband neue Möglichkeiten und Kräfte. Die Jugendbewegung ging 
verjüngt aus ihm hervor und ergoß fid in immer größere Breiten. Die 
Sugend erwadte allenthbalben; denn das DBemußtfein, in Seiten des Bue 
fammenbrudes, der Entjcheidung zu fteben, erfaßte immer weitere Kreife. 
Das Erlebnis des Krieges und des Bufammenbruds ift begründend für bie 
heutige Lage der Jugendbewegung. Damit beginnt eine neue Spode: 
Die DugendDbewegung griff auf die großen gefdhidtliden 
Madhteunferer Kultur iiber. Gie erfaßt die Ideen, die diefe Mächte 
befeelen. Gie ftrebt nad einer Grneuerung diefer Mächte aus ihren Grund— 
fräften heraus, indem fie ihnen die Aufgaben unferer Beit borbalt und 
die ftarrgewwordenen Traditionen, die veralteten Lebensformen angreift. Wir 
haben feitbem eine fatbolifde, eine fozialiftifche, eine proteftantifche, eine 
nationale (völkifche, im pofitiven Sinne) Jugendbewegung. (Gs fann bier nur 
Darauf anfommen, die Haupttypen herauszuftellen. Gs ift ein Zeichen 
unferer Zeit, daß alle Momente, die unfer Volk und feine Geſchichte auf» 
gebaut haben, daß alle großen Männer neu erftehen, um als Borbilder zu 
gelten, daß alle Gedanken, die in der Luft liegen, leidenſchaftlich ergriffen 
werden. So ift es auc) in der Jugendbewegung. — Wir fehen Hier ab von 
PBarteijugendgruppen.) 

Gs ift nun die Frage, wie fid diefer neue Zufammenftoß mit der Kultur 
und mit der Gefdidte — denn bis dahin ift die Bewegung im wefentliden 
geſchichtslos geblieben — geftaltet. Gormt ſich aus dem Geiſte der Tugend» 
bewegung und aus der geiftigen Welt, in die er eingedrungen ift, etwas 
Neues? Wird die Tugendbewegung nicht ihrem Wefen untreu, wenn fie 
fih bon den großen gefdidtlid gewordenen und geftalteten Ideen erfüllen 
und beftimmen läßt? Hat ihr Geift irgendweldhe Bedeutung für die Gre 
neuerung unfers Bolfslebens und feiner Mächte? Das find die großen 
wirtliden Fragen, aus denen die fogenannte „Krifis der Sugendbee 
wegung“ entftanden ift. Nicht theoretifche Probleme, fondern lebendig geführte 
Kämpfe, in denen die großen Bünde und Strömungen mitten darin ftehen. Wer 
ihre Schwere erfaßt, wird nicht fragen: was hat denn die Sugendbewegung 
nun „geleiftet“? Go fann man beute nirgends fragen, Gs ift alles er- 
{[ittert; es muß alles neu werden. „Was wir find, ift nichts; was win 
fuden, ift alles.“ 


2. 
Wir wollen feine prophetifhen Ausblide in die Zufunftsmögli d= 
feiten tun. Wir haben nur zu fragen, was für Die Zufunft getan 


191 


werden muß, und mweldes die Fragen find, die Die Gegenwart ung für 
die Sufunft ftellt. 

Die urjpriinglidhe und unmittelbare Einheit der Bugendbewegung ift nicht 
mehr. Gid nad ihr zurüdfehnen, wäre bloße Romantif. Wud die Bue 
gendbewegung fann fih nidt herausſetzen aus dem ges 
[Hidtliden Werden Die Zuflunftsfragen ftellt die Gee 
ſchichte. Indem wir in ihren Orundfräften leben und arbeiten, fünnen 
wir felbft Geſchichte werden. Deshalb werden fid aus einem gefdidtslofen 
Idealismus, der nur ein allgemeines Kulturideal fieht, Löfungen der deutfchen 
Stagen nicht ergeben. Das gilt für eine ganze Anzahl von DBünden, die 
feine rechte Stellung zur Wirklidfeit finden können und im Unbeftimmien 
ſchweben bleiben. Sie finnten höchftens, fofern fie es jehen lernen, bom 
deutſchen Schidjal belehrt werden. Das Schwergewicht fällt auf die 
Dünde, die die großen Tendenzen unferer Gefdidte in ji) aufnehmen und 
etwas zu ihrer Neugeftaltung tun. 

Die Fatholifde Sugendbewegung (auf die Unterfchiede der einzelnen 
Bünde einzugeben, ift unmöglih) madt nad außen den gefdlofjenften Gin- 
Drud. Gie hat an der fatholifhen Kirche gefeftigte Grundlagen. Gine feine 
und reiche katholiſche Frömmigkeit zeichnet fie aus (Erneuerung der Liturgie, 
Saframentsmpftikl). Ihre Führer find großenteils junge fatholifdhe Geiſt— 
lide. Die „Schildgenoſſen“ find eine der beften Zeitjchriften der Jugend- 
bewegung. Die Aelterenfrage ift dort zuerft angefaßt und ein Welterenbund 
gebildet worden (wenn aud), wie überall, unter großen Schwierigfeiten). Wir 
haben hier ohne Frage eine lebendige Grneuerung katholiſcher Srömmigfeit 
bor uns. — Das Wefen des Bolfes ift tief und ſchön erfaßt; allerdings oft 
mehr nad) der äfthetifchen Seite. Die Folgerungen für den Aufbau eines 
deutſchen Staates werden nicht Elar gezogen. Gs beftebt in der Fatholifchen 
Jugend eine ftarfe Spannung zwifchen fatholifchen Konjervativ-Nationalen und 
katholiſchen Pagififten. Auch die lebendigfte Anſchauung bon dem orga- 
niſchen Lebensreidhtum eines Golfes nütt nichts, wenn wir aus dem Bolfs- 
gedanken nicht ftaatspolitifhe Folgerungen ziehen. — Die fatholifche Jugend 
findet ihre @rengen an den Grengen der Kirche. Sie Tann nicht anders, 
wenn fie im DBollfinne fatholijd fein will. Aber es ift dann die Frage, 
ob fie mehr fein wird als eine Renaifjance im Katholizismus, wie es 
folde {don öfter gegeben hat. 

Der fozialiftifhen Tugendbewegung ift durch den Zerfall des Par- 
teifogialigmus eine Lebensfrage geftellt worden. In der „Arbeiterju- 
gend“ bat troß des leidenfdaftliden Aufflammens in und nad Weimar 
(1920) der Geift der Sugendbewegung fi wohl in den Lebensformen, dem 
allgemeinen Stil der Bewegung, aber nicht in der geiftigen Führung durch— 
fegen fönnen. Die Madt und die gefdidte Taktif der Parteiorganifation hat 
ihn benugt und gugelajfen für das Leben der Gemeinfdaften, aber fie hat 
geherrſcht. Das marziftiihe Dogma ift troß Der neuen Bedeutung, Die 
der KRulturgedanfe gewann, nicht erfdiittert worden. Anders fteht es in 
der ,Sungfogialiftif{men* Bewegung, unter den Aelteren. Der Ruhr- 
fampf einerfeits, geiftige Auseinanderfegungen andererjeitS bewirften im 
legten Sabre eine neue Gntwidlung. Ueber die Wirklidfeiten der Geſchichte in 
Staat und Bolf fonnte man nicht mehr Dinwegfeben. Gine nationale Strömung, 
die über Laffalle zu Fichte zurüdging, wurde ftärfer und ftärfer. Heiße 
Kämpfe tobten innerhalb der Bewegung. Gs ift die bedeutfame Wendung 
pon einem rationaliftifhen, materialiftifhen Sozialismus zu einem So— 


192 


gialigmus Der fittlihen Gemeinſchaft. Der Weg gum deutſchen Staatsge- 
danken ift offen.*) — Wie der Kampf ausgeben wird, ift nod nicht zu jagen. 
(Gine verwandte Entwidlung ift in der demofratijchen Jugend zu beobachten.) 
Die völfif He, nationale Jugendbewegung fommt bon zwei Geiten 
ber: bon einem neuen Verftändnis des Volkes (aus dem Wanderpogel Her 
nad dem Kriege fräftig und tief in der jungdeutfhen Bewegung entwidelt, 
im Gegenfage zu den Sreideutjchen, die fic entweder fogialiftifd oder liberal- 
demofratifch einftellten) und bon nationalftaatliden Traditionen (im Bue 
fammenbange mit der allgemeinen nationalen Bewegung). Gs ift ihre Auf- 
gabe, dieſe großen Ueberlieferungen innerlid neu zu geftalten. Trotz des 
Grenglandfeuers im Fichtelgebirge fehlt ihr noch immer die Ginbeit, deren 
fie bedarf — die die vielen $ormen nicht vernichten, fondern umfchließen 
foll. Gs fehlt auch hier die große geiftige Grundlegung der nationalen Idee, 
die in der gefamten nationalen Bewegung vermißt werden muß. Bon der 
fraftpollen Einheit in einem. Öeifte ift alles andere abhängig. — Bon der 
bloßen, gefühlsmäßig erlebten „Volksgemeinſchaft“ ift aber eine Gntwidlung 
zu einem gefchichtlih begründeten deutfchen Staatsgedanfen im Gange: Der 
Staat wird wieder als die Willenseinheit des Volkes gefehen und feine Macht 
als notwendig erfannt. Allein in der Gorm des Staates gelangen Beruf 
und Sendung eines Bolfes zu lebendiger Wirkung. — Diefe Gedanken hat 
bon je der Sungnationale Bund verfodten. Der Deutfchnationale Sugend- 
bund bat mehr und mehr bom -Leben der Jugendbewegung angenommen; 
feine geiftige Struftur ift der gleichnamigen Partei verwandt. Daneben 
fteben die Wanderpogelverbände, die Ringpfadfinder, die Neupfadfinder, 
der deutjche Pfadfinderbund, die Adler und Falken. In den Wandervogel- 
bünden und bei den Neupfadfindern ift der Zufammenhang mit der Deutfchen 
Sefdidte noch nidt da und die Grfenntnis der nationalen Notwendigkeiten 
bielfad) nod nicht über die Romantik des Volkserlebniſſes hinausgedrungen. 
Die proteftantifde Jugend tritt für den erften Wnbli€ noch mehr 
aurüd, hat aber diefelbe Bedeutung zu beanfpruchen. Sie beſitzt diefelbe Biel- 
geftaltigfeit mie der deutſche Proteftantismus überhaupt. Sie bedarf por 
allem einer ftärferen Beziehung auf die Arbeit in der Kirche und der Gre 
neuerung der Kirche, wenn fie den Proteftartismus bon innen Der zu ere 
neuern ftrebt. Am ftärkften ift der Geift der Sugendbewegung im „Bund 
- Deutfcher Sugendbereine*. Wir haben bier überhaupt meiftens ältere Orga- 
nifationen bor ung, Die bon der Jugendbewegung erft langſam erfaßt wor- 
den find. Daber ift der Prozeß der Verſchmelzung des Geijtes der Jugend 
mit den Wefenstraften des Proteftantismus noch nicht fo ftark und flar her— 
borgetreten wie bei anderen Strömen der Bewegung. Im ange ijt er auch 
bier. Innerhalb der Welt des Proteftantismus hat die evangelifche Tugend 
in der Kirde die Aufgabe, neue Gefdledter ihr zu gewinnen, fie in 
ihrem Geifte religiös zu erziehen, und in der Jugend, entjcheidend in die 
Krifis der MWeltanfhauung einzugreifen. Wenn fie nidt bon Anfang an 
die repolutionäre Kraft der eigentlihen Sugendbewegung bejejjen bat, fo 
wird Doch ihr Ausgang bom Innerft-Religiöfen fie befähigen, entjcheidend 
mitzuwirken, gerade weil fie (vor allem etwa feit 1883, der Entſtehung 
der Dibelfreife) eine eigene Gntwidlung gehabt hat. 





*) Bgl meinen Auffa „Nationaler Sozialismus?“ im Gewiſſen Wr. 52 
pom 24. 12. 1923. 


193 


3. 


Die Einheit der Jugendbewegung liegt in ihren Lebensformen und dem 
Lebensgefühl, das fie durchzieht: Träger einer „neuen Zeit“ gu fein. 

Dazu fommt Heute allenthalben ein tieferes Verſtändnis für die Ginbeit 
und das Wefen des Bolfes, für feine entfheidende Bedeutung und Wire 
fung auf das Leben des einzelnen. In diefem Erlebnis findet man fid. 

Allein, es ift far, daß beides den Beftand und die Zufunft der Nation 
nod nicht verbürgen, halten und geftalten fann. Die Stellung zur Gee 
ſchichte unferes Volkes, die lebendige, fchaffende Aufnahme feiner 
geiftigen und politifhen UWeberlieferungen, das ift eine der Zufunftsfragen 
an die Sugendbewegung. Der Hiftorismus ift überwunden. Aber wir find in 
Gefabr, unbiftorifh gu werden. Gs darf nicht bei dem ftimmungsmäßigen 
Einfluß etwa des Mittelalters auf die Jugend bleiben. Gin großes Geſamt— 
bild der deutſchen Gefdidte, ihrer entjcheidenden Kräfte, Menſchen und 
Bewegungen, muß fie erfüllen. Sonft bleibt fie in romantifher Wiederholung 
bon Sedanfen und Stimmungen oder in einem utopifhen Kulturidealismus 
fteden. 

Das zweite ift die Stellung zum Staat. Nicht zum gegenwärtigen, fon- 
dern zum zufünftigen. Spengler fordert mit Recht nüchterne und harte poli— 
tiſche Arbeit: Kenntnis der Grundlagen eines Staatslebens, der mweltpoli- 
tiſchen Probleme ift nötig. *) Das Bdealbild des fommenden „dritten“ Reiches 
muß mit der politifjhen Wirklichkeit in Beziehung geſetzt werden. Einzelne 
in der Jugend beliebte Gedanken, wie die vom Ständeftaat, der Ueberwindung 
der Parteien, der Golfsgemeinjdaft, find bon Reffentiment und Sentimene 
talität gu befreien. Auch die großdeutfhen Schlagworte haben in der Jugend 
ungeheuer viel Utopifhes an fid. Zu verfennen ift natürlich nicht, daß 
die Kämpfe in den Grenglandern, an Rhein und Ruhr diel dazu beitragen, 
die Erkenntnis Mar und nüchtern zu machen. — Bor allem aber muß Die 
Jugend fi zu dem Gedanfen des nationalen Staates befennen, der Lebeng- 
träger und geftalteter Wille des Bolfes ijt, in dem fich fein Betwuftfein 
bon feinem Gigenwert und feinem Menfchheitsberufe verkörpert. Gs gehört 
nod) eine ungebeuere Arbeit dazu, das in die Herzen zu prägen und zur 
Lebenskraft jedes einzelnen zu maden. Die Begeifterung für den GFreibheits- 
fampf ift echt und gut. Allein wie fdnell fann friegerifcher Gnthujiasmus 
perraufden, und was war das politiihe Schidfal der Jugend, die in den 
Greibheitstriegen focht, obwohl damals Männer hoher Genialitat und Kraft 
führten, die heute noch nicht erfdienen find? — Gs bedarf alfo einer langen, 
ausdauernden, gründlichen nationalen politifhen Arbeit und Selbftergiehung 
der Jugend, ehe fie die Schiht im Bolfe ift, auf der das Volk freudig 
feine Zufunft ruben fiebt. 

Diefe Aufgaben hängen mit der foziologifhen Lage in der Jugend zu— 
fammen. Durd alle ihre Bünde hindurch geht zur Beit Die fogenannte 
„Aelterenfrage* Gs handelt fid) darum, daß den älteren Menfchen 
gegenüber, die in die Pflichten und Aufgaben einer Lebensarbeit eintreten, 
viele jugendlihe Formen ihre unbedingte Giltigfeit verlieren. Sollen fie den 
gemwöhnlihen Weg, den die Jugend als den des Philifters bezeichnet, geben 
und die Ideale ihrer Jugend als trügende Wunfchbilder über Bord werfen? 
Sollen fie ewig Siinglinge und Mädchen bleiben, „ewige Wandervögel“? 


*) Die politifhen Pflidten der deutfhen Tugend, Deutfhe afademifhe Stimmen 
pom 22. 3. 1924, Solge 25. 


194 


Gs gibt aud nod andere „Ewige“! Bielmebr ift die Frage, ob der Geift 
der Sugendbewegung in ihnen ftarf genug ift, im „Leben“, im Berufe fid zu 
bewähren und durchzufegen. Ob er den Wirklichkeiten gewadjen ift! — 
Diele Bünde haben erkannt, daß die Aelteren nicht auf den nachwachſenden 
Generationen der Jüngeren laften dürfen. Man geht daher an die Bildung 
bon Qelterenfreifen und -bünden mit der Ginftellung auf Die Sragen bes 
Berufes ufw. — Die Verſuche, etwa in der völkiſchen Sugendbewegung alle 
Aelteren in einer Gliederung zufammenzufafjen, find verfrüht gewefen und 
Daher gefcheitert. Se lebendiger, ftärfer und eigenartiger die einzelnen großen 
Bünde find, defto weniger finnen und dürfen fie daran denken, ihre Aelteren 
einfach auszufheiden und ins bloße Nichts zu entlafjen. Gs ift alfo das 
Biel gefest für die Bünde, zugleich möglichft gefchloffene Stoftrupps Aelterer 
in das Leben des Bolfes zu entfenden und die Graiehungsarbeit an den 
neu Hingufommenden Siingeren fortzufegen, die im einzelnen nicht einfachen 
Probleme diefer fortdauernden Sdhidtung zu überwinden. Gs gibt und wird 
da heftige Kämpfe geben. Solange die Idee eines Bundes lebt und wirkt, 
fann diefe Arbeit gelingen. Die Notwendigkeit der Zufammenfafjung foll 
nicht geleugnet werden. Aber ein allgemeiner Sammelbrei ift unfinnig. Gnt- 
{heidend ift die Gortentwidlung der größeren Bünde, die Charakter und 
Einheit in fic felbft befigen. 

Wir müffen endlid, wenn wir die Zufunftsaufgaben der Sugend ganz 
verftehen twollen, auf eine nod) tiefere Schicht guriidgeben: die lebte der 
menfhliden Wirklichkeit überhaupt. Die Krifis der Sugendbewegung ift eine 
Krifis der Welt- und Lebensanfchauung, eine religiöfe Rrifjis.*) Romane 
tif, Moftif und Idealismus — und fie haben bisher in der Weite und 
Dreite der Jugend geherrſcht — haben ſchwere Grfdiitterungen erlitten. Das 
Reid, das nit oon diefer Welt ift, ift nur dann überlegen, wenn es 
Gottes Reid ift. Allein eine aus der Ziefe erneute Frömmigkeit, die 
nicht nur ©efühle, Grlebniffe und Ideale fennt, fondern aus einem weltüber- 
Iegenen Glaubensgrund zum Handeln fommt, eine Wiedergeburt aus dem 
einzigen wirklich heiligen ©eifte, den nur Gott gibt, fann das Chaos der 
Stimmungen und Meinungen, an deren Ehrlichkeit und ftarfem Suchen nicht 
zu zweifeln ift, durchdringen und überwinden. Hier find große Aufgaben der 
religiöfen Sugendbewegung. Sie muß das Gewiſſen und die Mahnerin aller 
Sugend fein und ihr in der letzten Tiefe jene Einheit geben, ohne die Die 
Sille des Lebens verraufht und die Bielheit der Gormen fcheitert und 
birft, — das Gericht und die Erhebung aus lebendiger Erfahrung des Gottes, 
der die Macht und der Geift der Gefdidte ift. 

Heinz-Ddietrih Wendland. 


Die Bedeutung der Pfitznerſchen „Romantijchen 
Kantate bon deutjcher Seele“ 
für die deutjche Mufik. 


8 geht wohl anders, als du meinft,“ diefe Anfangsworte feines Textes 
find dafür ſchickſalweiſend geworden, in welder Weiſe Hans Pfitner 
bei der Beurteilung feines neueften Chorwerkes fahren follte. Hatten fid 


*) Bgl. das Nähere in meinem Auffat ,Oeift und Glaube. Zur Frage Sue 
Er eee Religion.“ DBannerträger, Beitidrift des Sungnationalen Bundes, 1923 
tr. 11. 


195 


{don an die Durchſetzung feiner (oder feiner Freunde) Idee der Namens- 
gebung diefes Werkes alle möglihen Hemmnijje gefnüpft, jo jollte dieſes 
Werk felbft dem Gefdid verfallen, als reines Konzertftüd unter vielen 
taufend anderen gewogen und bier und dort jogar als nicht gewidtig genug, 
empfunden zu werden. Aber feltfam: diefe Be- und teilweife Berurteilungen 
gingen nun gerade den umgefehrten Weg und betrachteten die Kantate wieder 
rein bom äfthetifchen, pom literarifchen, ja jtellenweife bom politifchen Gee 
fidtspuntte aus. Sie liefen damit entgegen der Theſe des Meifters felbit, die 
er in einer Nidtadhtung feiner eigenen Interefjen ausſprach, wie fie nur echte, 
glühende Uebetzeugung bervorbringen fann, der Theſe von der alleinjelig- 
madenden Kraft des muſikaliſchen Ginfalls gegenüber der „philoſophiſch 
literarifhen ®ejamtidee*. Wenn wir wirklich von einer „gefellfchaftsbildenden 
Madht und von einer Weltgeltung der deutfchen Mufif“ im Grnfte reden 
wollen, fo bat Pfigners Werk dod oon fic aus Anjprud auf eine Wertung 
nad) folder Seite Din. Ihre Urauffibrung in der deutſchen Reidshaupt- 
ftadt, ihre weitere Grftauffibrung in der Schweſterhauptſtadt Wien, in der 
Metropole des Heute mehr als je fulturell bedrohten Weftens, in Köln im 
Rahmen der weit und breit berühmten ſommerlichen Mufikfefte, in Eſſen, 
dem heute lebenswidtigften Landgebiet des Reiches, in Leipzig, wo der 
Danfbare und meitfchauende Univerjitätshor St. Pauli den Komponiften 
wie den Ghorleiter Karl Straube in die Reihe feiner Ghrenmitglieder wählte, 
die Namen wie Brahms und Schumann zieren, all das bleibt äußeres 
Beiwerk und halbes Stüdwerf, wenn nicht die Geſamtheit der deutjchen Kul— 
turwelt den Sinn und Inhalt der Kantate als eines über Gelegenheits- oder, 
wie man heute angefidts der fulturwidrigen Jagd nah „AUraufführungen“ 
fagen möchte, über Saifonswert ftehendDen Opus erfaffen will. 

Man hat in dem Titel diefer Kantate fdon für fid) genommen eine Art 
mufifalifh=fünftleriijher Polemik Pfitners fehen wollen. Und man vergaß 
Dabei Doch zu bedenken, wie jehr es eben heute not tue, fic feines bißchen 
Deutfhtums bewußt zu bleiben, das aus dem Bufammenbrud der jüngften 
Beit gerettet ift. Bu der bisher nicht anders gefannten Sonderart des Deut- 
jen, fid im Auslande feiner Heimatliden Gigenart zu ſchämen und nad 
tajdem Anfdluf an das fremde Bolfstum zu ftreben, ſcheint nunmehr eine 
zweite fommen zu wollen: die, foldhe Selbftdemütigung im eignen Lande vor— 
zunehmen. Der Hans Pfigner innerlich naheftehende Thomas Mann bat in 
feinen „Betrachtungen eines Unpolitifhen“ vor längerer Zeit ſchon mit jenen 
Neftbefchmugern abgerechnet, aber was will das jagen, wenn fic einer 
unferer angefebenften Dichter zu der Bemerkung Hinreifen ließ: „Ich fühle 
mid nicht mehr als Deutfcher, fondern als Europäer.“ Haben andere deutjche 
Meifter ebenjo gefproden, ſolche vielleiht gar, deren Ruhm noch diel mehr 
im Auslande begründet wurde als derjenige diejes ihres feltfamen Nad- 
fommen, etwa Beethoven, Mozart, Wagner, Schiller? Bon einem Gedanfen- 
austausch der großen und freien Geifter einer Zeit ijt ja nod ein meiter 
Schritt bis zur Selbitentäußerung des eignen Bollsempfindens. Iſt es nicht 
mehr als ein Zufall, wenn demgegenüber bei einem gottlob nicht geringen 
und unwichtigen Seile unferer fchaffenden Jugend fich das Beftreben geltend 
macht, deutfhe Dichter bon neuem der Gegenwart wiederzufchenfen, die frei 
waren bon jenem irren Weltglauben, an dem wir anjdeinend ein zweites 
Mal fcheitern follen: wenn Grabbe, Hölderlin zu unerhofften Ehren erwachen, 
wenn Männer der reindeutfhen Geſchichte pon Pichtern der Gegenwart in 
den Mittelpunft poetifchen Gefdehens geriidt werden: ich denfe an Fri von 


196 


Unruhs „Prinzen von Saalfeld“, an Hanns Iohfts Lutherdrama „Propheten“. 
Uber: Autoritätsglauben ift in unferer angeblich jo gedanfenfreien Zeit die 
Devije. Und wenn Richard Sternfeld in feinen „Mufifalifchen Skizzen und 
Sumoresfen“ fo amüfant den Zornesausbruch Beethovens gegen die ,,Beet- 
bovenmode“ des Tages wettern läßt, fo ließe fic) auf Dichterifchem Gebiete 
ein ©egenftüd dazu liefern in einem gleihen Ausfall Goethes gegen die 
Soethemanie unferer Gpodhe. Dazu gehört ja auch der Sat bon der ,Gr- 
Habenbeit des Schaffenden über die Politif“, womit man aber tatfächlidh ver— 
fteben midte: über die Fragen, die fein Bolf außen wie innen bewegen, und 
die in ihrer Mehrzahl doch eben diefes Bolfstum angeben. Pfigners Wahl 
Eichendorffſcher Texte ift darum mehr als ein Zufall, nicht nur, daß er fid 
bon jeher zu diefem Dichter Hingezogen fühlte, macht den Kern der Gace aus, 
denn es ift mehr Folge als Urjadhe. Aber es fann fein Zufall fein, daß das 
lyriſch mufifalifhe Schaffen der neueren Zeit bon der Bertonung folder im 
engften Sinne deutfher Dichter ausgegangen ift: Heine, deffen Deutſchenhaß 
feiner mehr als Pfigner als den Ausfluß verlegter Viebe erklärt, Mörike, 
dem Hauspoeten Hugo Wolfs, und Storm, zu defjen Verſen feiner fchönere 
Gingebungen fand als Brahms, fie alle find neben Gidhendorff die Nothelfer 
der deutfchen muſikaliſchen Romantit und Nachromantif geworden. Was an 
ihnen allen fpezififch deutfch erjcheint, das ift beileibe nicht das Kleinbürger- 
liche, welches ihnen hier und da ein überfluger Alleswiffer anbangt, fondern 
etwas ganz anderes: Guido Adler, der Wiener Mufifgelehrte, Hat einmal 
mit Recht darauf Hingewiefen, daß nichts verfehrter fei als die allgugetreue 
Anwendung des befannten Scillerverfes bon den „bauenden Königen und den 
dadurch befchäftigten Kärrnern“. Im Gegenteil läßt fic hiſtoriſch nahmeifen, 
daß gerade die „Könige“ der Kunft fehr wohl Sntdedungen der fleineren 
Geifter anerkennen und fogar für ihre eigene Arbeit übernehmen. Aber: 
nod) mehr: diefe fogenannten ,,fleineren Götter“ beberrfden fehr häufig ein 
Sondergebiet, das den Königen fern und fremd bleibt. So bat feiner je die 
Sphäre des Ueberjinnliden in gleich ſeheriſcher Weife erfannt und geftaltet, 
wie Hebbel, der Dichter des „Heidefnaben“. Und Pfigner wies einmal mit 
Nahdrud auf jenen der bon ihm verwendeten Gichendorfffhen Spriide hin, 
der in feiner erdhaften Myſtik ohne Beifpiel ‘ei: „Der jagt dahin, daß die 
Roffe fchnaufen, der muß im Staub daneben laufen, aber die Nadt Holt 
beide ein. Setzt jenen im Sraume neben die Roffe und den andern in feine 
Karoffe. Wer fährt nun fröhlicher: der da wacht oder der blinde Paffagier 
bei Naht?“ Das ift freilich eine Myſtik anderer Art als die mimofenbaft 
literariſche Maeterlinks, deutfh, weil aus deutſchem Naturempfinden er» 
wadfen und, weil fie echt ift, darum aud „weltgeltend“ im weiteften und 
beften Sinne. 

Aber man wendet ein: „Pfigner ift gar nicht der Gichendorffinterpret, der 
er zu fein glaubt. Ihm hängt an die Bewußtheit des modernen Nerbden- 
menfden, bie jenem fremd blieb, ihm fehlt die fatholifche Selbftaufgabe, die 
jenem eigen war.“ Wer wagt bier den Richter zu fpielen? Gtwa Der 
Dichter felbft? Grblidte nidt Goethe in dem inferioren Zelter „feinen“ 
Dichter, Lenau in dilettierenden Zeitgenoffen die ihm fongenialen Geifter? Sind 
es nicht pielmebr immer nur gewiffe Gingelgiige, welde der Mufifer am 
Didter als ihm mefensperwandt erfennt und zu ‘freier nachfchöpferifcher 
Tätigkeit mitwirken läßt, fo wie Beethoven das ,,maeftofe* Klopftods zu 
einer Zeit bewunderte, als er der Anmut feiner Borgänger das Pathos feiner 
eigenen Sonfprade hinzufügen wollte. Gudte Hugo Wolf, der Bewunderer 


197 


Wagnerſcher Riefenmaße, bei dem didtenden Landgeiftliden Mörife mehr 
als die Innigfeit und Naturfrifche, die er aud in feiner Mufif anftelle der 
„Sreibhausatmofphäre* Wagners zu fegen ftrebte? Aud Pfigner wollte 
feine Umkehr von der fafralen Grhabenheit Paleftrinas gu engromantijcher 
Tonſprache ins Allmenjchliche. Derfelbe Drang, aus der Welt des Reinperfön- 
liden, wie fie nod im Paleftrina borwaltet, in diejenige des Allgemein- 
menfdliden durchzuführen, war es aud, der Pfitner zu der Wahl eines 
choriſch⸗ſoliſtiſchen mufifalijhen Borwurfs ftimmte. Das Problem unferer 
geit: das Bollschorwerf, an dem fick ſchon fo mander dberfudt, mußte einen 
Mann wie ihn befonders reizen, der fid) des ethiſchen Wertes feiner Runft 
bewußter ift als jeder andere. Was Hermann Bilder mit feinem Bolks- 
liederfpiel in fleinem Rahmen angebahnt, das wollte Pfigner in größerem 
Mafjftabe geben: die Bereinigung bon Gmpfindungen des einzelnen wie der 
Allgemeinheit. Damit war freilich aud der Keim gelegt zu jener angeblichen 
»Unausgeglidenbeit und Unklarheit des Gefamtaufbaus“, die heute dem Tone 
dichter bon jo mandem Kritifer tadelnd vorgehalten wird: der erfte Teil gibt 
in Naturbildern und Naturphilofophie Gedanken, die uns alle bewegen, der 
zweite fet zunächſt dieſe Ideenrichtung fort, um in feiner legten Hälfte, 
dem „Liederteil* zu einzeln voneinander fic) abhebenden Stimmungsbildern 
reine Lhrif gu geben. Sreilih: aud bier wird der Zufammenhang mit dem 
allgemeingültigen Inhalt des übrigen Gefitges durch Horifhe Einfchaltungen 
feftgebalten, fo dur den „Spruch“, den „Singehor“ und den hymniſchen 
Schlußgefang. Wenn man demnad) bon einer Spaltung des gefamten Werkes 
in lyriſche und choriſch-philoſophiſche Seilftiide reden will, jo wäre bas ein 
Borwurf, der jedes andere ähnliche Werk treffen müßte, folange es nicht 
bon einer einheitlichen, das ganze bindenden Handlung hiftorifcher oder bib- 
lifer Art getragen wird. Durd die Fefthaltung der Einheit der Didter- 
perfönlichkeit ift Pfitzner jedenfalls jener Gefahr ausgewiden, in die Wal- 
demar bon Bauffnern mit feinem „Lied bom Leben und Sterben“ rettungslos 
verfiel, als er fi) Texte der verfchiedenften Didternaturen gu einem ,,@angen“ 
gufammenftoppelte. ° 

Wenden wir uns zu der rein fünftlerifch-mufifalifhen Leiftung: entgegen 
der Meinung derer, die Hier ,,Paleftrinareminifgengen* aufftöbern, dürfen 
wir, ebenfo wie bei der Biolinflavierfonate Pfigners ein Abbiegen bom 
archaifierenden Stil jenes Bühnenwerks (d. b. in feinem 1. Alt, wo dies ſti— 
Kiftifch und Hiftorifeh bedingt war!) feftftellen. Selbft in dem dem Liederteil 
angehörenden Ordefterlied: „Die Nonne und der Ritter“ ift bon einer ftarren 
Arhaifierung feine Rede: die Chromatik ift bier durhaus wie ſonſt be- 
berrfchend, nur fteht fie im Banne einer Freiheit der Stimmführung, die im 
„Baleftrina“ erft angebabnt, zum neuen Stil Pfigners gu gehören fdeint, 
toorauf auch feine foeben erfdienenen Lieder nach Heine, Goethe uf. deuten. 
Ihren Höhepunkt erflimmt diefe Souveränität der Linie in dem Ordefter- 
zwifchenfpiel „Ergebung“, wo an Rüdfihtslofigkeit der Einzelftimmführung 
guungunften ftebendDer Harmonie wohl das äußerſte erreicht wird, eine Aeber- 
rafhung für alle jene voreiligen Gefdhidtsmader, welde den Romponiften 
des „Armen Heinrich“ und der „Rofe vom Liebesgarten“ jo gern im Schub- 
fad „Nahromantif“ untergebracht hätten, und die jest erfennen müffen (wenn 
fie es nur wollten), daß der „alte Zauberer“ es noch mit den Singften, den 
„Melos“-Leuten aufnehmen fann, mit dem einzigen Unterfdiede, daß fein 
Muſikmachen getragen wird von einer glühenden Sinnlichkeit, wie fie im 
Ordefterlied „Der alte Garten“ Sriumpbhe feiert bei den Seztworten: „Da 


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gibt es einen wunderbaren Klang“, wo zu der führenden ſehnſuchtsvollen 
Streidhermelodie, den üppig weitfhwingenden Blaferbarmonien fid im tiefften 
Baf ein Glodenton gefellt, eine Stelle bon überwältigender Klangpradit. 
Meberbliden wir furz das ganze: „Menſch und Natur“ heißt der erfte 
Zeil des Werks. Gr beginnt mit einer nachdenklichen Betradtung des 
Dichters: „Es geht wohl anders als du meinft, derweil du rot und fröhlich 
fcheinft, ift Leng und Gonnenfdein verflogen, die liebe Gegend ſchwarz ume 
zogen.“ Pfigner läßt diefe Worte bom ALltfolo bezeichnenderweife zur 
gleihen Melodie vortragen, die. am Schluffe des Werkes bom Chor und 
Soliftenquartett vereint erklingt zu den aufrüttelnden Worten: „Faß das 
Steuer, laß das Zagen“, eine ,Leitmotivarbeit* fchönfter, tieffter Art! 
Gon ber Idee der „Gegend“ ifts nur ein Schritt gu der einer ,Lebens- 
wanderung“, die in den nun folgenden Stüden zum Ausdrud fommt: „Was 
willft auf dieſer Station fo breit dich niederlaffen, wie bald nicht bläft der 
Boftillon, du mußt dod alles laffen. Kaum bat der Senor diefe mahnenden! 
Worte ausgefproden, da fegt im Orchefterzwifchenfpiel der „Zod als Poe 
ftillon“ vorüber, fein fehmetternder Gignalruf, von Beitfchenfnallen unter- 
broden, Elingt bald fern bald nab durch das Jagen der Streicher. Wieder 
nimmt Der Golift feinen Gprud auf und wendet die Stimmung ins Geho— 
benere: „Allwärts fröhliche Gefellen trifft der Grohe und fein ®lüd.* Gee 
danfen, bie uns den Dichter der Wanderburfchenpoefie wieder in Erinnerung 
Bringen und an die gleide Poefie der „Menſchenwege“ bon Waldemar 
Bonjelg denken laffen. Soliften und Shor vereinigen fid) zu einem Kanon 
bei den Worten „Sinkt der Stern, alleine wandern magft du bis ans Gnd 
der Welt, bau du nur auf feinen. andern, nur auf ©ott, der Treue Halt.“ Der 
Solobaffift, gefolgt von der GSopraniftin, Iacht über den draußen tobenden 
Sturm, der im Ordefter höchſt amüfant wiitet, um in Piccolo und Bafe 
Harinette zu vertlingen. Gin wundervolles Zwifchenfpiel für Flöte, Harfe 
und Horn malt den Frieden des Abends, wobei das Sneinandermiinden fern- 
fliegenden Alforde in feherifcher Weife jene Stimmung wiedergibt, die Dehmel 
einmal treffend fennzeichnete „Das Gewohnte wird fonderbarer.* Die „Nacht“ 
fließt fid an: ein Shoral der Pofaunen, Hörner und Trompeten fingt fid 
zart aus. Ganz genial ift bier das ,iUmbdieedeflingen“ der abendlichen 
Zurmbläfer getroffen: die Trompete gibt ganz leife den „Ton daneben“ nad 
der befannten Beobadtung, daß in der Ferne jeder Ton „abrutſcht“. In die 
legten Choralflänge trillert die Lerhe ihr Lied. Der Sopran fingt „Die 
Lerde grüßt den erften Strahl ... und du willft Menfchenkind der Zeit ver» 
gagend unterliegen? Was ift dein Kleines Grdenleid, du mußt es überfliegen.“* 
Zur Lerche gefellt fid der Godelhahn, der ganz Föftlih nad den Studien 
des Meifters in feinem bayerifhen Dörfchen am Ammerfee porträtiert ift. 
Der Shor gibt ein Marfdlied „Und die Stern ziehn bon der Wade, Gott: 
behüte Land und Haus,“ wozu im Ordefter in vergrößerter Gorm der 
Hahnenſchrei humorvoll Hineingellt. Was nun folgt, ift ein Schlußgefang, 
gang analog dem des Gefamtichluffes: den Worten an diefer Stelle ,Gwig 
muntres Spiel der Wogen, viele haft du fehon belogen, mancher fehrt nicht 
mehr zurüd. Und dod wedt das Wellenfdlagen immer wieder frifches 
Wagen“ entfpridt der Schlußtert nad dem zweiten Zeil „Aufgerollt bat 
Gottes Hand diefe Wogen zum Befahren und die Sterne did) zu wahren.“ 
In die legten Sezgtworte ,mander fehrt nicht mehr zurüd“ klingen plößlich 
wieder die Harfenafforde der „Abendmufif“. Der Golotenor fpridt von 
einem Schiffer, der in Meereseinjamfeit in den Sternen die Rätfel der Nacht 


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lieft, und {don bebt im Chor der „Nachtgruß“ an, ein Choral, wie ihn 
fongenialer faum ein [chaffender Mufifer nachgefchrieben: „Weil jeto alles 
ftille ijt und alle Menjden jchlafen, mein Geel das ewge Licht begrüßt, ruht 
wie ein Schiff im Hafen.“ Nachgebildet ift die Melodie dem Nadtdoral, 
pradtooll der leere Quintenfall der Oberftimme bei den Worten „ftille ift“. 

Das Solijtenquartett führt in breiter Steigerung den Schluß diefes großen 
Abſchnitts herbei gu den Sezttworten „Gin andrer König wunderreid zieht 
herrlich ein im ftillen Reich, befteigt die ewigen Binnen.* Pfitzner läßt bier 
jeden der vier GSoliften nacheinander eine glänzende Schlußfoloratur into» 
nieren, die fid im Sopran bis gum hohem c aufjdwingt. 

„Leben und Singen“ nennt fid) der nun folgende zweite Hauptabjdnitt. 
Das poetiſche Motiv des Wanderns beherrſcht auch den Muſiker: einem breiten 
inftrumentalen DBorfpiel folgt ein weitgefponnener Chorſatz zu den Worten: 
„Wir wandern nun viel hundert Sabr und fommen doch nicht zur Stelle.“ 
Ein einziger, ſcharf afzentuierter Rhythmus trägt das ganze, im Baffe 
„wandert“ es müde abwärts, im Distant hebt fid eine gleihe Gangbewegung 
und zieht abwärts durd die Mittelftimmen. Wud im Chor fest zunächft der 
Baf: allein ein, fanonifd imitiert von den übrigen Stimmen. Zu maje- 
ftätifcher Klangfülle ſchwillt Orchefter und Shor an bei den Worten „Der Strom 
wohl raufht an die taufend Sabr und fommt Dod nicht zur Quelle“, eine 
Partie von ähnlicher innerlidher wie fünftlerifher Wucht, mie Brahms fie im 
Schidjalslied gegeben. Das Ordefter verebbt im Orgelpunft, und nun fett 
der GSolotenor ein: „Was id wollte, liegt zerfchlagen.“ In fammermufi- 
falifher Beſetzung, faft nur auf Holgblajer geftügt, beginnt das Zwiſchenſpiel 
„Grgebung“. Gin Motiv der Demut im Kampfe mit dem des eigenfinnigen 
Borwartswollens, eine Muſik Herbfter Reibungsdiffonangen ausflingend in 
einer wundervoll tröftenden Ausgleichung der beiden. Bedenfdlag und 
Paufendonner reißen uns jedoch rafd aus dem Griedenstraum: „Der jagt 
dahin,“ das ſchon einmal zitierte Gedicht bildet die Unterlage für eine wahr- 
Haft gejpenftiih „wilde Jagd“. :Schellengeflingel und Peitſchenknallen malt 
den ftolg in feiner Karoſſe einberfabrenden „Slüdlihen“, Harfen die alle, 
Reihe wie Arme ins Nichts guriidftofende Naht. Ganz genial mutet jene 
Stelle an, da Pfitner die Textworte „Wer fährt nun fröhlicher, der da wacht 
oder der blinde Paffagier bei Nacht“ fo deflamieren läßt: „oder ..., oder ...“, 
alfo kurze Paufen einfchiebt, wobei der gefamte Chor wie gebannt auf einem 
einzigen Sone haftet. Wieder brauft die Sagd, fie verflingt in den Solo— 
gefang des Baffes: „Bleihwie auf dunflem Grunde ber GFriedensbogen 
blüht, fo durch die böfe Stunde verföhnend geht das Lied.“ Wieder ſchwelgen 
Harfe und Horn in geheimnispollen Klängen und geben den fchönen eber- 
gang zum „Lieberteil“, der Schlußpartie des Werkes. „Der alte Garten“ 
zaubert ung vergangene Seiten im Bilde einer mit der Laute in der Hand 
im arf eingefhlummerten Grau. Wir denfen an Schumanns Lied oom 
Ritter, der auf der Lauer eingefchlafen die Jahrhunderte überdauerte. Nur 
ftrebt Schumann mit feiner ftarren Paffacagliabegleitung (ähnlich Schubert im 
„Doppelgänger“) öde Herbftftimmung an, Pfigner dagegen ſchenkt uns üppig- 
ften fommerliden Wohllaut. Der Chor fingt feinen ,Sprud“: „Bon allen 
guten Schwingen, zu breden durd die Beit, die madtigfte im Ringen das 
ift ein rechtes Leid.“ In den offnen Quartfeztafford des Geſangsſchluſſes 
Hingt ein Wiegenliedmotiv der Streicher, das zum nadften Orcheftergefang 
der „Nonne und dem Ritter“ überleitet. Das alte Thema vom Lebensvere 
gidt der geweihten Frau fingt diefes Duo zwifhen Alt und Tenor. Bu dem 


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leifen Saufen des Windes gefellen fid) ſchwere Pofaunenafforde bei den 
Worten des Ritters, der pom Kreuzzug beimfehrt und das Schloß der Gee 
liebten verlaffen und verfallen findet. Wieder will er ins heilige Land ziehen, 
feinen Schmerz begraben. Die Mufif malt furz das Bliken des Kreuz. 
fabrergugs. Der Chor flüftert in rätjelhaften Quartengängen: „Geht ein 
Schiff, ein Mann ftand drinnen,“ die Nonne Hagt „Welt ade, Gott woll bee 
wahren, die nod irr im Dunkeln fahren.“ Die Orgel präludiert aus der 
Gerne. Aber auch bier ftoßen die Stimmungsgegenfäge Hart aneinander: 
der Chor fährt fort, wie Kinder im Hüpfen und Springen trällern: „Wohl 
por lauter Singen, Singen fommen wir nidt recht gum Leben, wieder ohne 
rechtes Leben muß zu Ende gehn das Singen.“ Der Solofopran mahnt furz: 
„zeben! Haft du dod Flügel eben und das gewaltge Wort. Halt hod did 
über dem Leben, fonft gehts über dich fort!“ Der ,Griedensbote* beginnt 
feinen Abgefang: wie ein freundlicheres Gegenftüd zur Begegnung der Nonne 
und des Ritters erklingt bier ein Ständchen des fiegreid aus dem Kriege 
beimfehrenden Geliebten: „Schlaf ruhig, das Land ift ja frei.* Wie das 
©aloppieren des Pferdes Happert ein ungeftümer Begleitrhythmus, und ein 
feuriger Militärmarfch gibt den finndollen Uebergang zur Gndpartie, dem 
„Schlußgefang“: „Wenn die Wogen unten toben, Menjchenwig gu Schanden 
wird, weift mit feur’gen Zügen droben heimwärts dich der Wogen Hirt. Sollft 
nad feinem andern fragen, nicht zurüdihaun nad dem Land, faß das Steuer 
laß das Zagen! Aufgerollt Hat Gottes Hand diefe Wogen zum DBefahren 
und die Sterne did) zu wahren!“ Gin riefiges „Rollmotiv“ gibt das Bild 
der unabjehbaren Wogen, dazu tritt als treibende Kraft das Motiv des 
energifh Gidaufraffens, das fdon in der Ginleitungsmufif zum ganzen 
aufflang, als drittes endlich eine ſchwungvolle Gebarde des „Sichaufrichteng“, 
bie die Hauptftüge der Schlußmelodie bildet. Soliftenquartett und Chor wett— 
eifern in ÖSteigerungen, bis fie fic) vereinigen zu den Gndworten „Dich zu 
wahren“, ein dichterifch-mufilalifher Zroftfprud, wie ihn fein Volk, und 
gu feiner Zeit dringender brauchte als das unfere in unjeren Tagen. Chor, 
Soliften, Orgel und Ordefter fdliefen in dröhnendem Unifono, ein Bild 
ftärffter Ginheit und Kraft. Wo ift die Legende bon dem zeit- und welts 
ferner ,Romantifer“ Pfigner, wo das Gerede bon der zarten Saftlofigteit 
feiner Mufil. Seine „Romantifhe Kantate* ift Mufif im beften deutfchen 
Sinne, wie ihn Beethoven forderte: Feuer aus dem Wenſchen zu fdlagen 
trok aller Snnigfeit, allen Sieffinns. Möge fie ihres Amtes walten, unjer 
Golf aufzurütteln, aber auch aufguridten und fo denen recht zu geben, die 
einen Heilsweg aus der Niederung, der Dunkelheit des Tages allein ere 
bliden in unferer deutfchen Kunft, voran unferer Mufil. Hermann Unger. 


Sohann Hinrich Fehrs. 


Me die Perfinlicfeiten, in denen fic) der deutſche Geift am reinften 

ausgeprägt hat und die bon uns daher als deutlidfter Wusdrud umjeres 
Golfstums empfunden werden, wirken durch die Kraft diejes ihres Wejens 
weit in unfer Volk hinein, fchaffen dort aus dem Ungeftalteten das Geftaltete 
und entwideln aus dem Robftoff des AMurmenfdliden die beftimmte Form, 
auf bie hin unfer Golf angelegt ift: fie, nicht nur Abbilder, zugleih aud Ur- 
bilder unferes Bolfstums, bauen diefes aus und vertiefen es. Ob fie mehr 
Menſchen der Sat find und des praftifchen Handelns oder mehr Menjchen des 


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©eiftes, immer wird ihr Werl, eingefügt in die völkiſche Entwidlung, wie es 
ein Ergebnis von ihr ift, fie beeinfluffen und weitertreiben. 

Da Werk und Perfdnlidfeit aufs engfte zufammenhängen und untrennbar 
find, haben, wie es jcheint, die Menfchen des Geiftes, die Philofophen, Künft- 
ler, Mufifer und Dichter, bor den Tatmenfden einen Borgug dadurch, dah ihr 
Werk ohne fremde Ueberlieferung und unverändert durch fremde Gegenwirkung 
fid auf die Nachwelt vererbt, während das Werf des Tatmenfden fid in 
feinem einmaligen Wirken verzehrt. Aber der Tatmenſch zwingt die Menfchen 
ganz anders in feinen Bann, er wirkt viel unmittelbarer auf fie; fehneller und 
heftiger geht die Wirkung, die bon ihm ausftrablt, in das Gange der Ent- 
widlung ein. Und diefe Wirkung dauert länger, als mandem bewußt ift, und 
gang {pat noch tragen die Blatter der Gefdidte fie fort gu dem Nachfahren, 
der Geſchichte richtig lieft, indem er fid an ihr begeiftert. 

Geſammelter erfcheint das Werk des Künftlers in feinen Kunftgebilden. 
An ihnen fann die Wirkung, mag fie aud felten fo gewaltig fein wie die 
des Tatmenfden, fich ftets bon neuem mit größter Leichtigkeit entzünden, und 
bier bleibt Unmittelbarfeit auf die längfte Zeit bin möglich. Das ift in 
der Tat ein Borgug, und ihn gilt es auszunugen, wenn die Gelegenbeit fid 
bietet und es notwendig wird. 

Gelegenheit und Notwendigkeit vereinigen fic bet einem Pichter wie 
Iohann Hinrid Fehrs, weil feine Werke vor kurzer Zeit neu erfchienen find 
(bei Weftermann) und weil er nod lange nicht genug in feiner Bedeutung 
gewürdigt ift. Das bat vor allem zwei Urfadhen. Zunädjt die, daß Febrs 
die meiften und beften feiner Werke plattdeutfch gefdrieben Hat, und fodann 
die andere, daß er ein ganz ausgeprägter Vertreter unferes Bolfstums ift. 
Das müßte eigentlich) dazu dienen, ihn vollsbefannt gu machen, wenn bei 
uns auf diefem @ebiete alles feine Nichtigkeit hätte und in Ordnung wäre. 
Das ift aber nicht der Gall. So ift es nicht zu verwundern, daß Fehrs in 
den Literaturgefhichten faum erwähnt wird. Gine Ausnahme madt Adolf 
Bartels; doch fommt auc bei ihm Fehrs nicht zu feinem vollen Redte, wenn 
bie Beurteilung auch von Auflage zu Auflage günftiger wird. 

Sene übereinftimmende Nichtbeachtung fann nicht damit begründet werden, 
daß Gebrs als Dichter nicht bedeutend genug wäre, um in einer Gefdidte 
der neueren deutſchen Literatur genannt zu werden. Wir haben in Fehrs 
einen Dichter, deffen Stoffgebiet äußerlich freilich begrenzt ift, Der aber feine 
Stoffe mit einer außerordentlihen Künftlerfchaft behandelt und fie mit einem 
reihen menfdliden Gebalt durchwirkt. Febrs hat, man behauptet damit nicht 
gu viel, einen der beften Romane gefdaffen, den die deutfche Literatur in 
den erften beiden Sabrgehnten diefes laufenden Sabrbunderts berborgebradt 
bat. 

Fehrs beſchränkt fid im wefentliden auf ein engabgegrengtes Stoffgebiet; 
bie Befdrantung geht fo weit, daß die meiften feiner Gefdhidten auf deme 
felben Schauplat fpielen. Diefen Umſtand bat der Dichter felbft als will- 
kürlich bezeichnet, er ift es aber nur bis zu einem getviffen Grade. Sicherlich 
finnten einzelne diefer Gefdidten aud anderswo fpielen, als wo der Didter 
fie fpielen läßt. Aber viele feiner Graählungen find dadurch miteinander 
verbunden, daß in ihnen gum Zeil diefelben Perfonen auftreten. Das ergibt 
für diefe wenigftens die Notwendigkeit, fie auch räumlich nahe beieinander zu 
legen. Gs ift aber anzunehmen, daß aud) die anderen Gefdhidten durch ein 
gebeimes Band an den Ort gebunden find, an den der Dichter fie verpflanzt 
Hat oder richtiger: wo fie ihm aufblühen. Sedenfalls ift Das Ergebnis dies, 


202 


daß gerade aud) durd die räumliche Bereinigung der Gefdidten das, was 
fie gemeinfam barftellen, Das dörfliche Leben im zweiten Drittel des vorigen 
Sabrhunderts zu einer größeren Gefdloffenheit zufammenrüdt. Gs entfteht 
auf dieſe Weife eine defto Iebhaftere Anfchauung eines Holfteinifchen Dorfes 
zu jener Zeit, ein ideales Dorfbild, ein Typus, in dem jeder einzelne Zug 
taufend Gbnlide an anderen Orten vertritt und in dem viele Ginzelheiten 
gu einer reineren Ginbeit verſchmolzen ſind. 

Gé iſt für Die Frage, ob ein Dichter im Sinne unſeres Volkstums ſchafft, 
nebenfadlid, wd er feine Stoffe fudt. Gr fann fie bei den Antipoden nehmen 
und doch im deutfchen Geifte ſchaffen. Aber es ift für unfere Selbfterfenntnis 
und Gelbftbefinnung nicht unwefentlid, wenn ein Dichter uns das deutjche 
Bolfsleben ewig nahe bringt Durd die Zauberfraft, bie er ihm einbaudt, 
fodaß es dauernd lebendig bleibt. Fehrs hat unferem Bolfe das deutfche Dorf 
in der Geftalt, die es um die Mitte des neunzehnten Sabrbunderts Hatte, zu 
einem bleibenden Geſchenk gemadt. 

Ebenfo ift es bis zu einem gewiſſen Grade einerlei, wie umfaſſend den 
Stoff ift, den ein Pichter geftaltet. Auch im Gngbegrengten fann er hddfte 
Meifterfchaft entfalten und es gum Spiegel der Welt machen. Fehrs hat es 
faft in allen Didtungsformen, die er verwandte, zur künſtleriſchen Meifter« 
[haft gebradt. Gr bat nur einen einzigen Roman gefdrieben, Maren, aber 
diefer zählt für viele. Am gablreidften find die Heinen Erzählungen, unter 
denen fi Meifterftiide der Novelle finden wie „Shler Schoof“ und „Leben 
und Dood“. Bon feinen plattdeutfhen Gedidten Hat einmal jemand ge- 
fagt, daß fie in der Mtannigfaltigfeit der Gormen und in der VBollendung, 
die faft jede ®attung erreicht, wie eine Auswahl aus einer größeren Gamme 
lung, wie die Spiken eines im Meere verfunfenen Gebirges wirken. Nur 
im Hochdeutfchen, mit dem er begann, bat Febrs die legte Bollfommenbeit 
nicht erreicht, von Gingelbeiten abgefeben, Gin beftimmter Charakter ift da, 
aber indem die Formen der nachllaffifhen Epigonenzeit angewandt werden, 
wirken fie wie ein Togagewand, aus dem ein bolfteinifches Gefidt heraus- 
fbaut. Hier ift der lebte Bufammenflang bon Gorm und Inhalt nicht ger 
lungen, der eine Dichtung erft polllommen madt. 

Goll diefes Biel auch im engften Stoffgebiet erreicht werden, dann muß, 
und gerade umfomebr, je enger begrenzt der Stoff ift, der Inhalt mit gei- 
ftigem und feelifhem Reihtum durchwoben und gum edt menfagliden 
®ehalt gefteigert fein. Da gibt uns Fehrs in reicher Fille. Wie Die 
GSeftalten feiner Dichtung lebendige Menſchen find, mit Schöpferhänden gee 
formt, fo ift das ganze Stüd Welt, bas der Dichter uns bietet, feelifd durch» 
waltet. Hier finden wir nicht die Marionetten, in deren Gorm eine neuere 
Literaturfunft alles Menfdhlide einzuzwängen tradtet, hier waltet nicht der 
Iharfe, gewaltfam orönende, bewußt aufbauende, falte Berftand, unter deffen 
Anhaud alles Seelifhe verdorrt, fondern bier ift das ganze Bild gefättigt 
mit unmittelbarem menfdliden Gebalt, der allein die Seele des Geniefenden 
aufguregen und in Bann zu fdlagen verfteht. Gerade diefes inmwillfürliche 
und Unbetußte, das ein Kunftwerf wie ein Geheimnis ummittert, ift es, 
das das innerfte Wefen des Künftlers offenbart, weil es aus ihm gefloffen 
ift, und zugleich darüber Klarheit gibt, ob er im Geifte feines Volkes ſchafft. 

Die Welt des Bewuften reicht da zur Erklärung nidt aus. So ift es 
nidt ausfchlaggebend, ob der Dichter fic als Deutfdher fühlt und weiß. Das 
tat Fehrs perfönlih gang entſchieden. Aber befanntlid) miderfpricht es ja 
deutfcher Art durchaus nicht, fi nidt in erfter Reihe als Deutſcher zu 


203 


fühlen, fondern Bürger einer erträumten Menſchheitsgemeinſchaft fein zu 
wollen, und ferner ‚bietet ein betontes Deutſchtum nicht immer die Gewähr, 
daß es wirklich Ausdrud innerften Wefens ift. Zudem fcheidet bei der Bee 
urteilung eines Kunftichaffens die biirgerlide Haltung des Künftlers aus. 

GHer fdon würde es Hintreffen, wenn man nad dem befannten Wort 
das Deutſche darin findet, daß der Dichter feine Sache um ihrer felbft willen 
treibt. Das trifft jedenfalls bei Fehrs zu, der plattdeutfch fdrieb, weil es 
ihn innerlich dazu trieb, mochte auch der erfte Anftoß dazu bon außen ge- 
fommen fein. Gr fchrieb plattdeutfch, trogdem er fid fagen mußte, daß er 
Dadurch feinen Wirkungstreis. fehr einſchränken mußte. Das heißt gewiß eine 
Gade um ihrer felbft willen treiben. Aber fchliegli tut das jeder echte 
Dichter, der didtet, weil er muß und nicht anders Tann. 

Die Merkmale des Deutjchen an einer Dichtung müſſen wir in der, Dichtung 
felber fuchen. Sunddft in der Sormregel, der fie unterliegt. Sicherlich unter- 
fcheidet fich die germanifche Dichtung von der romanifden durd ein befonderes 
Sormprinzip. Gilt im Romanifhen die [mine Gorm über alles, fo im 
Germanijden die Harafteriftifehe. Wirkt die romanifhe Didtung mehr 
flächen haft auf ung, jo fcheint uns die germanifde eine größere Ties 
fenmirfung gu haben. Sene macht immer mehr oder weniger einen fare 
bigen Gindrud, während im Deutſchen ohne Zweifel die Linie vorherrſcht. 
Alles das, was der deutjchen Dichtung eignet, glauben wir bei Fehrs zu 
finden. Gewiß, er idealifiert etwas, aber das Charafteriftifche bleibt pore 
wiegend bei ihm, der einer der beiten Menfchendarfteller unjerer Literatur 
ift. Go Har und deutlich alles ift, was er in feinen Werfen zur Anfdauung 
bringt, es liegt Doch in der Regel mehr dahinter, als was der an der Obere 
fläche haften bleibende Blid entdedt, und oft genug bieten fic) weite perfpef- 
tiviſche Ausblide. Und fchließlich, immer Jind es flare Umriffe, in denen er 
mit fparfamjten Mitteln Gegenftande und Menfchen zeichnet. Dadurch werden 
fie uns anjdaulid, und nicht durd eine blendende Fülle gebaufter Gingel- 
beiten, die wie Garbenflede zu einem Bilde zufammengehen. 

Die Form ift fodann lebten Gndes der Ausfluß einer beftimmten 
Menjchlichkeit, einer beftimmten Berfönlichkeitsart. Wir find, es kann fein, 
in Gelbittäufhung befangen, wenn wir die Behauptung wagen, daß es Die 
Wefensart des idealen deutſchen Menjchen ijt, in fid das Sleidgewidt 
aller feelifhen Kräfte zu tragen ohne merfbares Weberwiegen einer einzelnen. 
Gir Fehrs jedenfalls ift diefe Art begeidnend, für feine Perfinlidfeit als 
Menfdh und als Dichter, in weld Ietterem jener in ganz berporragender 
Weije gegenwärtig ift. Iſt es ein Irrtum, wenn wir annehmen, daß in der 
Dichtung unferer weitlihen Nachbarn der Berftand porwiegt und bei den 
Ruffen das grengenlofe Sefühl? DBehaupten wir gu diel, wenn wir, 
andere Golfseinbeiten zum Bergleid heranziehend, bon den Juden behaupten, 
daß bei ihnen und befonders aud in ihrer Literatur, foweit fie in Ddeutfcher 
Sprade erfdienen ift und darum allgemein mit zur deutfchen Literatur ge- 
rechnet wird, der Wille vorherrſcht, der Wille, der alles nach feinen 
Sweden umbiegt und guredtriidt? Gs will uns fdeinen, als wenn mitten 
unter diefen Gegenfagen das Deutfdhe in einem ſchwebenden Gleich— 
gewidt aller Seelenkräfte verharrt und das aud in feiner Did- 
tung unwillfürlih gum Ausdrud bringt. 

An einer Gingelheit wird der Gegenfat vielleicht nod deutlicher, in 
der Art des Humors. Der Jude Hat faum Humor, er fpielt bart und 
rückſichtslos mit den Gegenftinden, die er nicht einem befreienden Laden, 


204 


fondern dem Geladter preisgibt, ihm liegt Die Satire mehr und der Kalauer. 
Die angelfähfifhen Bölfer haben in dem Herausheben des Grotesfen eine 
befondere Abart des Humors, die uns gleidfalls fremd anmutet; aud bei 
ihnen fommt der Gegenftand allzu ſchlecht weg. Das ift bei dem, was wir 
in tieferem Sinne Humor nennen und was denn wohl unfer eigener Humor 
ift, weniger der Gall. Wir lächeln über den Gegenftand der Humoriftifden 
Betradtung, aber wir tun es nicht veradtlid und nidt ohne Mitgefühl, ja 
wir find ibm woblgefinnt und lieben ibn oft. Fehrs verwendet nie den Humor 
um feiner felbjt willen, er gebraucht ihn zur rechten Zeit und an feinem Ort, 
und dann ift es jedesmal jene Art des Humors, der aus dem Medium der 
Menfdhengiite und Liebe gefloffen ift. 

Aber legten Endes läßt fid das, was deutfh an einem Didter ift und 
ihn gum Wusdrud unferes Bolfstums madt, nicht verftandesmäßig feftlegen, 
gumal da wir felber mitten drin fteben. Leben, und nun gar ein Stüd Leben, 
gu dem wir felbft gehören, fann nicht durch Yergliederung erfannt werden, 
wir miifjen es haben und fühlen. Go fpüren wir es einem Didter ab, ob 
der Rhythmus feines Blutes zu unferem paßt, ob die Seelenfhwingungen, die 
bon ihm ausgehen, in die Schwingungen unferer Seele pafjen. Wenn das 
geichieht, dann erfennen wir: bier ift Art von unferer Art und Geift bon 
unferem @eifte. Und wenn der Dichter echt und groß ift, dann wirft der 
Rhythmus feines Wefens fo, daß er unfer Wefen fchärfer ausprägt und beute 
liher den Rhythmus deutfhen Wefens herporhebt, der aud) durch uns pulft. 

So fann ein Dichter wie Fehrs zur Ausgeftaltung des deutfchen Bolfs- 
tums, Deffen Auswirkung er gleichzeitig darftellt, dienen, indem wir ibn auf 
uns wirfen lafjen. Gr fann uns in der Not unferer Zeit noch befonders helfen. 
Seine Werte, wie fie überhaupt ein Ausdrud feiner Perfönlichkeit find, zeugen 
aud) davon, daß Menfch fein Heißt ein Kämpfer fein, der fic felbft befämpft. 
Geiftige Zucht und fittlide Bildung find die Kennzeichen diefer Didterper- 
jönlichkeit. Gs ift fein Wort darüber gu verlieren, daß es das ift, was unfer 
Bolt heute am nötigften gebraucht nad all der Zügellofigfeit, der es fich hin— 
gegeben, nach diefer Ausgeflofjenheit nach allen Seiten Hin, die es faft feines 
Wefens Gorm hat ganz verlieren laffen. Da fann ein Dichter nun fammelnd, 
bildend, läuternd wirken, der wie Fehrs fo gang geſchloſſen por unjeren 
Augen dafteht, weil an feiner Perfönlichkeitsgeftaltung die beften Kräfte 
unferes Bolfstums bildend gewirft haben. Shriftian Boed. 


Grlejenes 


Aus Otto zur Lindes „Buch Abendrot“. 


6% wird fein ein Raunen im DBolf 
Bon einer neuen Zeit, die über fie fommt. 
Gs wird fein ein Staunen einer Welt 
Und eine Herrlichkeit der freien Geifter. 
Wir werden alle aufmachen aus Dumpfem Traum, 
Wir werden eine neue Sonne fteigen febn. 
Gs wird ſchwellen eine ungeheure Welle des Lidts 
Aus neuem Wort und alter Botfchaft. 


205 


G8 wird fi auftun der Gagenberg 
Des fdlafenden Kaifers wie Chrifti Grab. 
. &8 wird auf unfre Stirn berabfallen ein Stern 
Und blendend glühn als ein neues Auge. 
Ghriftus, du brannteft den Stirnen der Menfchen 
Eine Wunde der Glut, unauslöfchlih, wir fieberten — 
Milder, Lieblicher, wir ſchrieen nad Liebe, 
Wenn wir genefen find, lächelt lieblid ein Auge auf unferer Stirn. 


aria, Sunimittnadts Himmelszelt 
Ueber der traumberfentten Gommerwelt, 
Da unfer Glühn den blüh’nden Kelch aufhält, 
Daß uns ein Lieberfülltes in den Kelchgrund fällt. 
Maria, ſenk in mein verfehntes Herz 
Dein mildes Sternlidt, mit fo füßem Schmerz 
Ueber die Himmelswälder fährts 
Durd leifes Raufdhen erdenwarts. 
Ueber die Himmelswälder erhebt fid) dein Stern, 
Wandert auf Wegen wefther fo weltenfern, 
Wandert entgegen den Wegen des Weltenherrn, 
Wandelt zu Segen die Saat der Sehnſucht fo gern. 


& bör die Seele läuten, 
Die Glode ihres Leibs, 
Der Stimmentlang in weiten 
Räumen des Ginns; des Weibs 
Und Manns Befinnung ftreiten 
Nicht, leife lebt das Gein. 
Ganft Gelbft und Geele gleiten 
Sinaus, den Geift zu befrein. 
Sadt Mafhe um Mafde Iöfen 
Gie die DVerftridung; der Ginn 
Aus allem Berlornen und DBöfen 
Iſt Tiebli; ein letztes „ich bin“ 
Läutet ein Echo; Weib-Wefen, 
Mann-Möglichleit; und es ift 
Geiſts Göttlichfeit und Genefen: 
Das ſchöpferiſch fife „du Bift“. 


Das zweiundzwanzigfte Kapitel aus Fehrs’ „Maren“.* 


7m Ddefiilwige Tied hött ool Dierf-Scheper fien Sdhap in Kratt un Heid 
adtern Otterndief. He barr fif, as be geern dä, en Barg opfidt un ftunn 
dar nu en lange Sied un feef aewerall. O, de Heiloh weer fmud in ehr diifter- 
grön Sommerfleed! Nod funfel de Dau an de Schattenfiet von den Kratt, 
de Bram fdien gal, un in de Lunk lic dat flowitte Wollgras op den düftern 
Grund. ©älgöfchen fung fien trurig Leed ümmerto, man ümmerto, de Lerchen 
ftegen in’t wide Blau, un de Kudud reep un lach bon den Holtrand ber. 
Bon Ilenbed weer wenig to fehn; en par ſpitze Gäweln, en bredes Strob- 
dad mit en Hadbarneft, en Strohbiimpel, en Schofteen mit fine Roofwolten, 
de langfam ropftegen na’n Häben, fünft weer allens todedt bon dat Moeln- 
un OolIndiefsholt, von Appel- un Bärböm. Rechts, na’t Noorn to, duuk fit 


* Gal. hinten die Bwielprade. 
206 


de Moe! ünner de Hoge Dann, blenter de brede Dief un Haradter drömen 
Wiſchen un Koornfelder in’n Sünnfdien; wider hin niz as düftere Heid, Hier 
un dar en buufnadten Führn un frufen Kratt. 

Dierk munfter diiffe ftille Welt, as barr he ehr nod nie febn. He dreih 
fit darbi langfam an fien Stod un ſöch jeden Barg un jede Lunk gemadlid 
af, be barr jo Zied. Op’n mal duuf dar en Geftalt op, en Mann, de fac’ 
bon de Moel herfamen dä. Amer wo wull he Hin? Gn Weg weer dar nid, 
ni mal en Goot{tigg. Gunnerbar! De Ool ftunn lang un leet em nid ut Ong. 
Spit, de neffen em Huuf, funn fad fo wied ni fehn, awer Dierk vertell un 
DID em allens, wat be wies war. 

„As if fegg, Spis, de Mann ſöcht watt, fäler, fiekt in jeden Krattbufch 
un luurt in jede Qunf. Keen {dull dat man? Slowitte Hemdsmaun un gries- 
graue Biz un Weft, niz um’e Nad un ni mal en Handftod. So wmied de 
Heid löppt, fennt wi jeden Snurrer, Spig — wat meenft Du? Ha hal lad 
de Onl Iuud op, nu ritt be fit de Mütz von'n Kopp un fmitt ehr ſik vir de 
Sd: un ftampt darop. Dar is wat ni richtig, Spitz! De hett ſik mit fien Gee 
danfen vertörnt. Gn narrfden Keerl, ha, hal Sa, mien Goebhn, wenn de Gee 
danfen in de Mik weern, denn wull man ehr wol frigen! Ni wahr, Spis, 
de an fien ®edanten ran will, mutt fit fülben to Kopp gan. Na, He befinnt 
fit un fett de ool Klodd wedder op. Nu bett he uns fach fehn, Spis, he ftirt 
op uns to. Wat? waraftig! Spis, nu rid Di fteil op, wi friegt groten Beſök! 
De Kniesbod von Blenbed fommt, Paul Strud, de fit in ftahln Gelb be- 
raten fann! Harın em al lang kennen müßt, Spit, an Biz un Weft, fünd 
wi denn höhnerblind? Sien Madam bett em ja farreert as en Gnaf bon 
nerrn bet baben. Wat, du bellft nich, Spi, dar fommt en vol Wied, un 
Du bellft nih? Du warrft oold, Spi, findfh! Du bellft blot den Uennerrod 
an un meenft, allens ift en Mann, wat en Biz an bett, Schapstopp! — 
Awer Eloeterig füht he ut, de Ogen liggt em Holl as fien Ohm Henn Karl. 
Nu pap op, Spik, un hör, wat He op’n Stafen bett!“ 

Spi feeg gliefgüllig Dindal un fa nig — Mannsliid bell He nu mal 
nid) an. 

Paul fnoefel möhfam un unfäfer rop na den Barg un fmeet fif denn 
lingelang in de Heid, rein möd un ut’e Puuft. „Rann He mi bölpen, Dierk, 
if bed min Gru verlarn,“ fa be flau. 

„Dien Fru? Wofaten?“ 

„Se if weggan un narms to finnen. Hep de ganze Nacht fodt in Huus 
un Schün, bed fodt in Lehmlod un Moorfubl, in Soot un Bak — narms! 
Hett He ehr fehn? Giiftern ...“ 

„Wiwer ſeh if nid an!“ 

„He füht un weet Dod allens, wat Hier op de Heid paffeert, Bader Dierf 
— Hett He ehr nid von widen ...“ 

„Bün nid Dien Bader, Paul Strud! un fehn Heb if niz!“ 

„Se mutt wedder famen, mutt wedder famen, fiinft is allens ut, allens 
ut! if meet denn ni mehr, wat if do! Rann He mi’ denn garfeen Rat geben?“ 

„Rat geben? Di?“ lad) Dierk Iuud op, dat Paul fit verfdraf. De Ool 
lad felten, awer de düt Lachen mal hört barr, vergeet dat nid. Dat Hung fo 
Holl un dump un funnerbar. „Ne, Paul Strud, if fann Di ni Rat un Wink 
geben; awer if fenn een, de fann dat vellid — meenft Du nid of, Spig?“ 

Spit feef fien Herrn an un lid mit en lange Sung vewer de Nas. 

„Ut Di warr if ni Eloof, Spis! Du drömft wol von Mettwuft un Sped- 
jwart, ole Srätfad!* ! 


207 


„Wofeen is dat, Dierf? He fennt een, de mi feggen kann ...“ 

„Ja. Amer Du mußt töben bet Middag. Du fennft jo den bogen diden 
Slöndoorn an de Ed von Dien Hungerfamp. Dar mußt Du Hingan un töben. 
Mn wenn de Bedflod flan bett, denn fommt be.“ 

„Wofeen, Dierk, wofeen?* 

„ Bondag friegt wi en Middag, as he wan mutt. Keen Lufttog, teen Wolf; 
de Bradden danzt un bäpt aewer de Heiloh, de Krei jappt op’n Tilgen, Lerch 
un Gälgöſchen verfruupt fit in’n Schatten, Snak, Adder un Sünndrang liggt 
un luurt in de pralle Sünn. Allens dodenftill. Bi den legten Klodenflag 
leggt fif en blauen Daf vewer Heid un Kratt un Doornbufd, de Sinn füht 
verflapen bon den mittgrauen Häben dal. Denn fommt he, denn fommt he 
mit en fortfarigen Schritt, as be ümmer dä, da he nod lab .. .* 

„Wa wat meent He, Dierf? doch Teen Gefpenft? Gefpenft bi belligen 
Dag?“ Paul feem bald tohdd un feeg den Ooln angftig an. 

„Bi belligen Dag twifchen twölf un een. Sa! Un Du fennft em, Paul 
Strud. Uenner den olen tagen Rundhoot gloeft Di de beiden Hollen Ogen 
fewerig an, de witten Haar liggt em op de Schuller ...“ 

„Hu, mien Ohm!“ grüns Paul un floog de barben Hann vör’t Geficht. 

„Dien Ohm Henn Karf. In’t falmanfen Kamfool glinftert un lücht de 
groten Knöp as Löchen, de em ut de Rippen flat, de rode Weft brennt as 
en fürige ®loot, fwäfelgäl {dient de Hirfchleddern Büz, un de blanfen, 
Stäwelſchächten bligt in de Sünn. Keen Halm, feen Heidbult bögt fif ünner 
fien Soot; be geit Din un ber, Du hörſt fien Schritt nich, darbi wringt be de 
barden fnoeferigen Hann, wieft un winkt un handjleit, de Mund is immer in 
Bewegung, as wenn be fpridt, awer feen Ohr hört en Luud. Wenn Du em 
fühft ...“ 

Paul krieſch Iuud op un verfteef den Kopp in den Heidgrund. 

„Wenn Du em fibft, denn ga bin un frag em, wat Du waten wullt, he 
fann Di fach bedüden. Amer verpaß ni de Sied! Gen Stunm bett he man 
in Sünnfdien, de birt em. 38 de verlopen, röppt em en Stimm dremal 
bump, as fommt fe ut’n Grund. Denn wringt be de Hann, dat Kinn flüggt op 
un Dal, de Geftalt bavt, awer He mutt, be mutt bin na den Boom, den 
frummen Führn ...* 

„Is nid) wahr, deb if utrad un verbrennt!“ fdreeg Paul. 

„In de Stunn fühlt Du den Boom dar ftan, den Strid mit de Sling an 
den Aft. Du füft Dien Ohm Hinfnoefeln, duufnadt un mit en lahmen, une 
fafern Schritt, un denn fühlt Du em dar hangn as en Bagel in’n Snär, de 
Tung lang ut’n Hals, grad fo, as Du em mal funnen heft. Awer denn ward. 
be wedder ropen, un to’n drüttenmal, un mit en Ruff find Boom un Ohm 
tweg, en ftrobgale Wolf jagt aewer Heid un Kratt un Moor na de Drager 
Dannfoppel to. Und wenn Du nod ni fragt beft, ift’t to lat, de Heiloh liggt 
wedder in blanfen Sünnſchien.“ 

Paul Strud leeg an’n Grund, ftoehn Iuud un bäwer an Hann un Git. 

„Sta op, Paul Strud, un gal De Klod is ölben, Du kannſt in Komodig- 
feit Dingan. Nimm den Weg aewern Brambarg, dar meiht Kaffen Blund 
de hoge Heid, de fann Di mehr vertelln — man to, fta op!“ 

„IE hingan?“ reep Paul mit en Stimm, as wenn He ftiden fdull, „Gott 
ſchall mi bewahrn! Hu, gräfig!“* 

„Is Di dat to Hitt in de Middagsftunn. denn tiv bet to Nacht. Dat 
glüdt nic immer, be friggt nid immer Berldv. Awer is be mal fri, denn 
fühft Du em twifdhen twölf un een fafer an een Stell, in De Ramer ddr fien 


208 


@eldtift. Dar is fien Schatz, dar mutt be immer mwedder hin.“ Dierk lad 
boll op un proof wedder mit fien Hund. „Hev if Di dat ni feggt, Spit? 
Gm find fien Gedanfen ut Spoor. He ſöcht en goden Rat, un nu if fegg, wo 
be em finnen fann, wöhlt be mit’n Kopp in de Heid rinn un winnt fil as 
en Gnaf un ward grulid. Dat is de Art bon all de farreerten Lid. Dar is 
uns anners tomot, Spik, en Spöf fann uns ni bang mafen, Gruun fenn wi 
nid. Awer as Henn Kark nod de Bonapart von Ilenbed un dat halwe 
Kafpel weer — meetjt nod, Spitz?. Do Harrn wi Angft, do bögen wi em 
ut, a8 weer He en dullen Hund. Sa ja, Spit, De Keerl weer gräfig, jlimmer 
as Schinner un Sdarpridter. He fndr arm Lüd, de in fien Hann fulln, den 
Hals af, awer langſam, langſam. He leet ſik Tied. Weetft Du, wat en Hart 
is, Spigk? Dat Hart ift en litt Ramer, pon buten un binn root anfträfen, dar 
twabnt de Reed in un dat Grbarm. Henn Karf Harr feen Hart; dar, wo dat 
Hart fitten fdall, droog be en ſmädiſern Sparbüß mit en Slott bdr. In diffe 
Sparbüß fparr be de arm Geeln rin bon all de Strafels, de be den Hals 
affnört barr. Un wenn be alleen in de Ramer feet bi fien Geldfaften, denn 
müffen de arm Geeln em vörjingen, too dumm fe weft weern un wofafen De 
ehr ſchrittwies in de Sling lodt barr. So weer de Sparbüß en Art Spalubr 
for em. Du fduulft mi an, as wenn Du fragen twullt, woher if dat all weet. 
Dat is licht feggt, Spig: mien arm Geel bett dar of jabrnlang faten in Henn 
Kark jien Spälubr un mitfungn. SE weer en lichtfarigen Bengel, as if Baders 
Gewäs anfat, un en Dummbart darto, ja ja, Spig! So Harr Henn Karf en 
lit Spill, mi in de Klauen to frigen, un dar weern man en par Jahr in’t 
Land Iopen, fo feem mien nette Sladterie, Huus un Gewäs ünnern Hamer. 
Dat verdroot mien fmude Gru, de if op Hann dragen un mit Glierfram be- 
Dungn Harr as en Pringeffin, fe gung mit en Bengel bon Wittgarwer ddr 
de Lappen — if fegg, en Wien is en Satan! — Ha ha, Spit, lidft mi de 
Sand! Ga, mien Hund, Du verfteift mi! — Do weer if gang alleen. Süb, 
Spi, fo feem mien Geel in Henn Karf fien Späluhr un if fülben op denn 
foren Biert, if müß doch in de Neeg bliebn! WAwer nu hör nip to, Spi, 
verfehr Di awer nid! Henn Kark feet mal vör fien Geldfaften in de Ramer. 
Gn Lit ftunn neffen em op’n Difdh. Do tid von buten en Finger an de 
Sinfterrut. He verſchrak fif un feef tohöch un feeg en Dodenfopp ringrinfen 
un en Enaefern Arm winken — denn weer’t weg. Henn Kark ſloog trügg, de 
Stohl broof tofam, un be leeg dar as en Of, den de Schlachter dalflan Bett. 
He weer ni dood, Henn Kark weer tag as en Rott. De Poltor funn em nod 
wootdreftig wedder to Been bringn. Amer fien Späluhr meer ganz ut’t 
Spoor, de Geeln meern rebellfh un fungn all dörch'nanner un leten em feen 
gerubige Stunn. Un dat Leed meer gräfig, Spig! Memmerto fungn fe em 
en Singfang bdr, fe fungn: Hunnert heft Du de Kähl affnört, awer een läpt 
nod, de mutt nod ran! Denn is Dien Dagwarf dan, denn is de Tall voll! 
— Ge fungn un fan em ni gang düdlich, wofeen dat meer, awer he verftunn 
ehr, De wüß Dat. He wehr fit un wull nid. Awer op de Lang war He möd 
un maer. Du fennft fowat nid, Spis, Du büft to dumm darto, Di fehlt de 
Grfabrung. Amer hör man wider! Dat weer fo’n Dag as nu, ſo'n fralln 
Sulidag, Hitt, ftill, lurig. Henn Kark Harr fif de ganze Nacht in’t Bett wültert, 
un feen Ong todan. Den Morgen froop be unruhig in Ramer, Stall un 
Shün ümher. Toletz Eroepel be fit rop na de Gefdirrfamer un nehm 
dar wat bon de Wand, wunn dat tofam un fteef dat in de Taf — Rubig, 
Paul Strud! Spig mutt de Gefchicht endlich mal weten! — Dar weer nüms 
to Huus as de Koekſch, de Lid Heun nerrn in de Wifdhen. Denn nehm He 


209 


Hoot un Stod un Humpel Ins. He humpel, fegg if, Spik. Giet den grulichen 
‚Abend in de Kamer wull dat linfe Been ni mehr recht mit, de linfe Arm 
‚weer of lahm. De Koelfh, de grad en Ammer Water ut’n Hillgenbäf 
haln mull, feeg em aewer de lütt hölten Brügg gan. Se barr em fad any 
topen fdullt un trügghooIn, awer wofeen wag dat? Eben adter de Briigg 
ftunn be ftill un dreih nod mal den Kopp na fien ftatjden Hof. De Deern 
verſchrak fil, dat fe binah von't Steeg fulln weer. He barr den Hoot in’t 
aſchgrau Geſicht ſchaben. De brede Mund weer faft tofnäpen, dat be utfeeg 
as en lange Gobl, un de frumme Hafennäs ftött binah an dat fpige Kinn. 
Lang ftunn he dar, wol tein Minuten, de Deern ftütt fit mit beide Arms op 
den Ammer un wag fif nid to rögen. Denn drei he fif langſam iim un gung 
na de Moel to, rop na’n Biert. — Lat em tofräden, Spitz, wat Enurrft Du! 
Paul Strud bett iesfole Gedanken, be mutt fit fhütten un winnen, be fann 
nid anners. He bett fien Ohm von den Boum losmakt, em utlöft, in en 
Pärdäl flan un na Huus führt. Sowat is en graflide Arbeit, Spitz. Ya, 
be bett noch mehr dan an fien Ohm. — As Dien Bader ftord, Spig, da hed ifem 
in mien Kuller na Huus dragen, hed em wufden, un as he drög weer, em 
fämmt — be feeg ganz fmud ut. Denn bed if en Graff malt un dat mit 
‚blömte Heid utpulftert. Dar la if em rin, as be to flapen plegg, un ded em 
to, un op fien Graff fett if en groten Geldfteen. Un fo lang de Sommer 
‘Blomen wedt un Blöten bütt, bett he fien Kranz. Du Heft dat all ftill mit ane 
febn, Spit, un geift of nod oft na dat Graff Hin. Dar blied man bil Awer 
lat mi den Steen tofräden, Spik! Du Heft en Art, an Dien goden Bader to 
benfen, de mi ni gefallt! Scham Di wat! — Wat if awer egentlid feggn 
‚wull, Spiß: weetft Du, wofafen Henn Karf graben is? Denk Di: feen Minish 
‚wull em anrögen, ni mal en ool Wiew ut de Urmfat, ni für Geld un gode 
Wor. So is Henn Kark ni wufden un fämmt, of ni infleed, as man fiinftt 
wol deit. Us he gung und Hung, mit Stäweln un Sparn is be to Ger famen. 
Paul Strud bett em fien wittblau Kapittelmiig aewer Was un Obrn troden, 
damit he man bat grulide Gefidt ni feeg. Denn bett he em de ſülwern Kndp 
‚affnäden, em de SIoetels to de Ramer un de Geldkiſt ut de Tafch namen wn 
em in’t Sarg fmäten, dat he fülben tonagel. — So lat Dod Dien Staebnen, 
Paul Strud, Spit fann jo feen Wort verftan! — Henn Kart war graben, 
un adtern Wagen fdroefeln en Barg Lid. Dat is fünft feen Mood, Spi; 
De fif ophungen bett, föhrt alleen na’n Karkhof. Wwer diffe Lid weern em 
{@illig, fe ftunnen in fien Book. Gir Gelb fann man den Düwel dangen 
laten, feggt man. Dat is ni wahr, Spi, de Düwel deit fowat nid; awer 
de Minſch danzt iim Geld in’t pligte Land un frallen Sand, ddr Dred un 
‘Doorntnid, vewer Lifen un Leilafen bin. SE ftunn op’n fwarten Barg dicht 
an de Landftraat un feeg mi den Tog an. Paul Strud feet vir op’n Liken— 
wagen un barr dat Leit in de Hand un de Glaetels to Ramer un Geldfift 
in de Taf. Sien Potthoot wink hin un Her, Hin un Her, grad as de Wagen 
mit fien Ohm wadeln dä, fe weern fif gang und gar enig. Achter den Wagen 
wöhln de Lid in den frallen Sand, de Sweet Ieep ehr de Baden dal, de 
Stuff fteeg in griesgäle Wolfen — Paul Strud un fien Ohm mafen ehr warm 
un föhrn doch fo langfam! Do hör if op’n mal von den Hollen Bak ber Iuftig 
ropen: Rudud! Kudud! un denn lad un fdradel de Bagel adterher. Mi 
war grulid) tomoot, un dochen, Spit, if funn’t ni möten: if lad! if lach Iuud- 
hals! So’n eerften Mal na lange Sabhrn lach if, Spis, un dat adtern Lifen- 
‚wagen ber! Gunnerbar! De Lid verfdrafen fil, dat fe de Klöör verloorn 
un mi anglupen ag en Gpdt — if lad) un lad man ümmerto. Giet den Dag 


:210 


boolt fe mi bdr aewerfnappt, fir foppfranf. Lat ehr, Spis, Du perfteift mi, 
Du feegft mi dat glif an, dat mien Geel wedder to mi famen weer, mien arm 
Geel, de fo lang gefangn faten barr. Se blivt nu bi mi un föhlt ſik ganz mollig. 
Un wenn fe mal ehr vergnögten Schuurn friggt as bondag, denn fingt fe dat 
Reed, wat Henn Kark to Dood fungn Hett. Dat is en gräfig Leed, Spib, 
awer wat fdall fe? en anner fennt fe nid. Runnft Du dat mal born, Spis, 
Du warft Huuln, dat de Schap vewer Stod un Blod lepen. Amer if mutt 
laden, lachen, dat de Lid fit bang na mi ümkiekt. — Wat Heft Du, Spi? 
Hörft Du ni to? Aba, nu feb if. Dar fommt noch, een. Dat is de Schoofter 
bon Slenbed, de Dwallerhans Ritwitt.“ 

Paul Strud fprung tohdd, keek mal wild üm fif un ftörrt denn in grote 
Sprüngn den Barg bindal. 

Gn Holl Laden joog adter em Her. „Spitz, Spik, lat em! SE fa Di 
jo, dat he en ool Wied is, dar fommft Du nu eerft adter? — He fmitt fit 
den Schoofter an den Hals, ha, bal Nüdlich! Weg mit dat Ding dar!“ He 
ftdtt mit’n Stod an Paul fien Mis. „Bring den Sammerlappen dat na: 
atwer bool Di nid op, Spib, wi wüllt hier weg, dat rift bier na Henn Karf.“ 

Neels wull rop na Dierf, awer Paul Strud Heel em trügg. 

De Onl lach wedder Holl un funnerbar op un wink af. ,Romm, Spit, 
wat gluupft Du noh? De Reerl ift to trurig! Weer ung Henn Kark mal 
fo tolopen, wat? wir barrn em toräten bi lebennigen Lied un de Krein dire 
fmäten! Düſſe Stadel is to trurig, lat em Iopen! Wi wüllt den Magen wat 
Dp de Röp fmiten, en batjn Schatten finnt fit fad. Du Heft en good Gnd 
Wuſt verdeent, Heft mi de Bidt good verhört. Komm, mien Hund!“ 

De Ool drifel langjam den Barg op de anner Giet Hindal, Spit bell un 
bang vergnögt vörop. 

Neels feeg ehr na un ſchütt den Kopp newer den wunnerliden Ooln, denn 
gung be af mit Paul, de fwar an fien Arm Hung. „Du büſt jowol helliſch 
möd? Wat wuft Du bi vol Dierk?“ 

„SE ſöch Maren,“ mummel Paul. 

„Hier op'n Biert? Maren hed if funnen, dent Di, fe is bi Doortjn 
Holm, op Dien Nawerfchop!* 

„Doortin Holm?“ Paul fproof, as wenn He duun weer, 
‘Tung. 

„Du Heft lang niz äten, feggt mi Gillja, un of nich flapen. Un denn in 
fo’n Hitten op de Heid rümlopen! Gerft en gode Mtabltied, Paul, un denn 
to Bett! Nu Maren funnen is, fannft Du jo ruhig wän,“ begöfch Neels. 

Paul fa niz. As fe fort vör’t Dörp weern, floog in wide Feern de Bad- 
flod. Saul feeg fit mal ſcholu im un trod den Arm, as wenn he fit verfchraf. 

„Wat Heft? marrft Du flau?“ 

„Nix niz! lat uns gan, if fam wol hin.“ 


mit en [ware 


Kleine Beiträge 


Leben und Tod 

De Siel, das das 16. Jahrhundert, 

das Jahrhundert der ſogenannten 
Wiedergeburt, wie das 18. Jahrhundert, 
das Ja rhundert der ſogenannten Auf⸗ 
klärung, uns aufgezeigt haben, war die 
Vollendung der menſchlichen Gingelper- 
ſönlichkeit. Sie mit allem Olanz, allem 


Reidhtum zu fdmiiden war ihr Streben. 
Das neunzehnte Jahrhundert hat — das 
Ziel verflahend — das Olid der Vielen 
an die Stelle gefebt. 

Allein warum fterben wir? Warum 
währt unfer Leben nicht ewig, wenn das 
Werf der Vollendung endlid vollbradt, 
die Grundlagen des Glüdes endlid ge: 


211 


legt find? Warum muß das Leben immer 
wieder bon porn anfangen, warum das 
Weib immer wieder mit Schmerzen Kin» 
der gebären? Welder Jammer, welde 
Shmad, daß der vollendete Menfd zer- 
bridt, damit das unfertige Kind in die» 
felben Schuhe tritt, Die der Vater müh- 
jam ausgetreten battel Weld finnlofer 
Kreislauf! Wir fühlen uns gemahnt an 
die Hoffnungslofe Arbeit jener Danaiden, 
die nidt müde werden, Waffer in boden- 
lofe Gefäße zu ſchöpfen, an einen Gi- 
ſyphos, dem eine raftlos emporgemalgte 

aft immer wieder furz bor dem Gipfel 
entgleitet. Weld ein unnüß bertaner 
Aufwand ift diefe ftändig fid erneuernde 
Qual unferes Gin und Ausgangs aus 
der Welt! Wenn Glück der Ginn der 
Welt wäre, ließe er fih nidt auf une 
endlid einfadere Weife verwirfliden? 
Warum Holt wieder und wieder eine 
dunkle Madt die Seele deffen, der fein 
Haus auf Olid gebaut hat, über Naht? 

Die eine Pofaune tönt in diefe Fra— 
gen das Wort des Apoftels: „Lnfer 
feiner lebt ihm felber, unfer feiner ftirbt 
ibm felber. Leben wir, fo [eben wir dem 
Herrn. Sterben wir, fo fterben wir dem 
Herrn. Darum, wir leben oder fterben, 
fo find wir des Herrn.“ 

Letztes Biel des Lebens ift nicht 
GSelbftoollendung, fondern Dienft. Laffet 
uns nad Selbitoollendung ftreben, nus 
um beffer gu dienen. infer Leben ift 
fein ängſtlich feftgubaltender Befit, es ift 
ein wechſelweiſem ®eben und Gmpfangen 
weit gu öffnendes Herz. Jeder furge 
Atemzug, den wir ein- und ausatmend 
tun, Der lange Atem der Sefdledter, 
in dem wir, was wir bon den Vätern 
überfamen, den Kindern vererben, er 
zeigt ung, was unfer Leben fein follte, 
ift: aus Gott in Gott, wenn es möglich 
ift, Unausfpredlides in ein Wort zu 
faffen. 

Daf wir im Sode gerbreden, aud 
das ift nidts alg ein Gemabnen an 
unjeren wahren Beruf. „&3 fet denn, 
daß jemand bon neuem geboren werde, 
fo fann er das Reid ©ottes nicht feben.“ 
Weil das „bei den Menfden“, im Leben 
des Einzelnen unmöglid ift, darum muß 
®ott uns helfen. Gr läßt uns fterben, Gr 
uns in Kindern aufs neue lebendig were 
den, auf daß uns in Leben und Sterben 
der Ginn des Lebens lebendig fei. 
Sarl Lindenberg. 


Otto zur Linde. 


Es iſt weder Begrenzung noch Verklei— 
nerung, wenn ich ihn, den Menſchen 
ſtärkerer Lebensintenſität und größerer 
ſeeliſcher Breite, der das Weſen ſeines 
Stammestums ausgeprägter vergegen— 


212 


auch der Bedeutun 


wärtigt, ſchlechthin den deutſchen Men- 
ſchen nenne, ob ich ſchon in ihm den 
Menfden an ſich ſehe, wie er in den 
Sabrhunderten oder Jahrtauſenden im- 
mer einmal in feiner pollfommeneren ure 
fprünglideren ©eftalt über die Erde gebt. 
Aber in diefen Sagen deutider Schid- 
falsnot liegt e8 mir nab, von ihm als 
dem deutfdhen Menſchen zu fagen, ing 
dem id weiß, daß id ibn Damit jue 
gleid in feinem Wefen erfenne und 
feines Werkes nahe 
fomme, das wie fein anderes, namlid 
das Leben und alles geiftige Gein in 
das vorausſetzungslos Urjprünglide zur 
rüdführend, für unfer Bolt erlöjfend fein 
finnte. Man fab bisher diefen Menfden 
als Dichter und Philoſoph, jab ihn pare 
tiell immer aus dem Winfel der eigenen 
funfttbeoretifden oder religiöfen oder po» 
litifhen Parteibeengung — man fah aber 
den Menſchen nidt, der da belaftet 
ift mit dem Leid der Welt und des 
Golfes: ,Sabr um Jahr lieg ih unterm 
dumpfen Schmerz der Bolfsverfennung 
meines heiligen Werks“ — por deffen 
eid der jahrelangen Einſamkeit der Wife 
fende in Gbhrfurdt fteht wie abnend die 
Borfebung eines höheren Sinns, dem 
dieſes Werf (wie eine Srlöfung) diefes 
Leides (vielmaliger Kreuzigung) wert ift. 
Es ift die Klage der großen Indipiduali- 
tät, deren Leid und Sein Weltfeele ift: 
„Die Welt ift web, drum liebt ich fie —“ 
daraus aber fich geftaltet (aus Leid und 
Sehnſucht) die tröftlihe Harmonie, das 
Lied der ewigen Geele. 

Man muß erft diefes einmal feben, 
wie Otto zur Lindes kunſtpſychologiſches 
Denken, fein Zurüdführen der Runft ge- 

en Daturalismus und Gormalismus 
ange vor dem Warktgeſchrei des arti- 
ftifhemanirierten Expreſſionismus auf 
ihre (expreſſioniſtiſchen) Urprinzipien 
(„Zorm pon innen heraus“ — „KRunft ift 
Wenſchheitsſein“), wie fein pſychologiſches 
ſyſtemloſes Grgründen in der „Rela- 
tionenlebre“, feine religidfe Myſtik und 
Mythologie, feine Sprad- und päda— 
gogiihe Pbhilofophie....feine Denkver⸗ 
weigung in die fubtilften QAngelegen- 
Felten der Wortphyfis und der Gigen- 
bewegung des Reims und ferner fein 
Grbreitern zu den legten Peripherien des 
wirtfhaftliden Lebens ... wie alles 
dies in ibm einbeitli® not— 
wendig, wie nidts vor dem anderen 
nebenfadlider ift — — wie eben alles ift: 
Geftaltung des Seins als Zwang feiner 
Seele, Konjequenz feines Grlebens — — 
und wie er damit ift: Grneuerer aus 
Religion, Korreftiv des Lebens und der 


Welt. 
Gs ift nichts unbedeutend — und es 


fommt auf die Seele an, auf ihre Siefe 
und ihre borigontlofe Wirklichkeit, ob 
das Kleine ab ift, nämlih in den Bee 
tehungen des Alls und der Lnendlid- 
eit. Hier ift zu fagen bon Otto zur 
Lindes mythologifh-fosmifher Weltge- 
ftaltung, feinen weltbaften Bildern, in 
denen Katbar wird das Geheimnis, das, 
ob es aud nidt zu jagen ift, die be- 

adete inbrünftige Seele erjpürt. Wer 
tto zur Lindes Werf innerlich fennt, 
weiß, wie traditionslos es ift, weiß aber 
aud die feelifhe Berbindung feiner Ur- 
pifionen mit den Gddabildern, feiner reli- 
idfen Myftif mit Ekkehardſchen Berfun- 
enbeiten — weiß, wie deutih-germani- 
fhe Wefenheit in feinem DBlute freift. 
Die Seftaltungen der Dreieinigfeit (felbft 
in der Kugelphilofophie), finden fid neu, 
und obne jeglide biftoriihe oder fon- 
feffionelle Orientierung ift dag Marien 
ſymbol geftaltet in einer Fülle der An- 
fdauungen und Schönbeit der Geftaltun- 
gen wie bei feinem Dichter lebtvergan- 
gener Iahrhunderte. „Es ift geftellt feine 
griehiihe Böttin Hin, Maria ift nicht 
Seugungsfpmbol, Fleiſcherhöhung, die fo 
tiefer fällt... feines Weibes Gnade dies 
je mebr fein foll...“ Es find dann die 
Bücher der Gefammelten Werke und die 
Kugel, eine Pbhilofophie in Berfen mit 
den Ghriftusgeftaltungen und den Bildern 
der Moira, den Wurzeln des Raums 
und den Balladen vom Wann am 
Stein, mit den Liedern der Ghe und den 
Bifionen der Thule⸗Zyklen und das 
» Dud) Abendrot“, das in feiner Mannig- 
altigfeit und feiner einfahen Schönheit 
am daratteriftifdten das Weſen zur Line 
defher Dichtung dartut. Gein [ebtes im- 
merwährend nod merdendes Bud ift 
„Die Hölle“, in der der Didter und tie- 
fer: der Menſch aus Unergründlichkeiten 
ins Dafein, aus dem Nichts die Wirklid- 
feit febend die Religion der Bufunft 
{dafft. Wie überhaupt bisher ift aud in 
diefem Wort: ,Semeinfdaftsdienft durch 
Selbftentfaltung“ nur ein Hinweis zu 
dem Werf gegeben, deifen Wefen es ift, 
am Paradies zu bauen, das auf Diefer 
Erde erfüllt ift, wenn der Gingelne und 
die vielen Gingelnen aus metaphyſi— 
[hen Weſenheiten leben. Alles Glück, 
alle Schönheit ift in der abjoluten Ehr— 
lichkeit des Menfden bedingt. „Wirklich“ 
ift die unendlide Welt der Geele... 
Diesfeitig wirflidl 

Otto zur Linde, der aus Schickſal 
Wiffende, der aus Inbrunft und Treue 
inftinitjider das volfseigenfte ideelle Ere 
fennende — gugleid das fremd-Berderb- 
lide der Gntartung — erlebt, nunmehr 
bereits 50 Sabre alt, die tragifde 
Erfüllung feiner Borherfagungen in des 


Deutiden Golfes tieffter Not. Sein Werk 
aber liegt da, an uralter Weisheit reid 
und wejenbaft in dem gerade, das ein 
Golf erlöjen fann: Stark vor allem in 
den Wurzeln feines Gthos und feiner 
Religion, feiner deutſcherweiſe mweltum- 
faffenden Individualität. G3 ift nidt das 
Werk eines Dichters oder Philofophen — 
es ift das Werk eines Menfden, der be— 
gnadet ift, zu tragen das Leid der Welt 
und des Golfes, zu fingen das Lied der 
ewigen Seele... Grid Bodemühl. 


Das Elementare in der völliſchen Bes 
Wwegung. 


Yu der gegenwärtigen biftorifden 
Lage unjres Bolfes heraus mu f- 
ten, Der menfdliden Natur entipre- 
hend, zwei gegenfablide Strömungen 
entftehen: die gentrifugalen Kräfte, 
die das eigene Golf aufgeben und auf- 
löfen, und die gentripetalen Kräfte, 
die das Golf jammeln und feftigen. Die 
zentrifugalen Kräfte erfdeinen in der 
al oe doling in der Beförderung der 
Auswanderung (unter gleichzeitiger Be- 
günftigung fremdvdlfifher Gintwande- 
rung) und in der Aufldjung der Bolfs- 
fitte (Libertinismus). Die zentripetalen 
Kräfte ftellen fid dar in der „völkiſchen 
Bewegung“. 

Die zentrifugale Strömung fudt das 
Deutfhe Golf den AL anzu. 
gleichen: es foll in Berfaffung, Wirt- 
ſchaft ufw. dem Weften ähnlich werden. 
Die zentripetale Strömung will die An— 
terfheidung und Befonderung 
des deutſchen Volkes gegenüber den 
andern Völkern, fie fudt nad der „eigen- 
deutfhen Gorm“. Die einen begeiftern 
fid für Menfhheitsfultur, die andern 
für Volkstum. Die einen fehen ihr höch— 
ſtes Siel in der DBereiherung und Bere 
edelung allgemein menfdlider Rultur- 
genüffe, die andern in der unbedingten 
Golfsfreibeit. Die völkiſche Bewer 
gung ift im tiefften ®runde 
Bille zu völfifher Form. ~ 

Aber, wendet man ein: welde Bere 
mworrenheit und Unklarheit in diefer Be— 
wegung! Wo zeigt fid da Gorm! 

Alle Gorm entfteht aus einem Chaos. 
An der völkiſchen Bewegung ift das 
Bedeutfamfte gunddft dies, daß fie 
elementar ift. Gie ift nicht finftlid 
duch den Willen einzelner Männer ent» 
facht, fondern der Bolfswille fommt den 
Rufern entgegen. Gie ſchießt naturhaft 
in allen Seilen Deutfdlands empor, in 
allen Bevölkerungsſchichten, BPBarteien, 
Konfeffionen. Für die Reihstagswahl 
ift gwar eine bejondere völkiſche Zweck— 
organifation entftanden, fporadifh und 
unfeft nod, aber nidt diefe allein und 


213 


die für fie abgegebenen Stimmen find 
ein Mafftab für die Ausdehnung der 
völfiihden Bewegung. Aud innerhalb der 
alten Parteien lebt und gärt die völ— 
fifhe Idee. Eine Partei wie die deutih- 
nationale wird heute wefentlid von pöl- 
tifhen Kräften mitgetragen. 

Weil die Bewegung elementar ft, 
bat fie eine fo ungeheure Wucht. Gie 
ift zur Seit die — Kraft, welche die 
verhärteten Schranken der Parteien zu 
ſprengen vermag; alle „Neugründungen“ 
(die Republifanifhe Partei u. dgl.) er 
{deinen ihr gegenüber matt und dürftig. 
Darum bietet allein fie die Möglich- 
feit, das deutfhe Volk über alles Pare 
teiwefen und über alle fonftigen Ser- 
Hüftungen hinweg gu einer Bewegung 
— und zu einem po» 
ttifhen Willen und SKulturmwillen zu 
formen. Es gibt feine einzige Idee fonft 
im Ddeutfden Leben, die zu einer folden 
Möglichkeit nod Raum hätte. Eine „PBar- 
tei“ will „Anhänger“ gewinnen, die völ- 
fifhe Bewegung will fdledthin das 
Golf gufammenfaffen. Gine „Partei“ 
bat ein , Programm“, die völkiſche Be— 
wegung bat eine Idee. Gine „Partei“ 
ftellt einen „politifhen Kopf“ (mdglidft 
einen „beliebten“) an die Spibe, die völ⸗ 
kiſche Bewegung ftellt einen Helden an 
die Spite Gine „Partei“ ift „Hug“, 
die völkiſche Bewegung ift leiden» 
{haftlid. Einer „Partei“ „Ichließt“ 
man fih „an“, die völkiſche Bewegung, 
aber reißt mit. Damit ift die höhere 
Ebene der Bewegung gegenüber allem 
Parteiwefen bezeichnet. Damit wird gu- 
gleid aud) verftändlih, warum der brave, 
orönungsliebende Parteibiirger die völ⸗ 
kiſche Bewegung als „verwirrend“ emp- 
findet und vorwurfsvollen DBlides trop 
aller ,Ginigfeit in den Zielen“ nicht 
umbin fann, ihr feine Gntriiftung über 
die gang unnötige Spaltung feiner Par- 
tei fundgutun. 

Nun wird man begreifen, warum die 
vdlfifhe Bewegung als ein Chaos ers 
{deinen muß. Gie ift eine nob unge 
fübrte Bewegung, die mit ungebeurer 
Sabeit aus dem Bolfsinftinft hervor⸗ 
bridt und ihren Weg teils in den Par- 
teien, teil8 außerhalb fudt. Sn ihr 
ringen taujend Kräfte um die Führung, 
{hießen taufend Gedanfen auf, fterben ab, 
treiben aufs neue — ein wirres Treiben 
und Drängen. Das ift das Werden. 
Die Deutfhen find mit ihrem politifden 
Denfen nod fo im Parteitwefen befan- 
gen, daß fie für die neue Grfdeinung 
nidt die redte Ginordnung, die denfge- 
läufige Kategorie finden. Die Völkiſchen 
laffen fid) ärgerliherweife weder „rechts“ 
nod ,linfs“ nod in der „Mitte“ unter- 


214 


bringen, fie gehören überhaupt nidt in 
das Halbrund der Parteien, fie find eben 
ſchlechthin Boll. Ins Parlament drängt 
Die Bewegung nidt, um darin und da- 
bei gu fein, wo betriebfam unter den 
Parteien um die Minifterpoften gefub- 
bandelt wird, fondern um ins Bolt zu 
toirfen. Denn erft einmal muß dag 
Bolt durd eine große Idee geformt 
werden, ehe wieder aus dem Bolfe ein 
gutes politifmes DInftrument geformt 
werden fann. 

Der die völkiſche Bewegung verftehen 
will, muß an die fozialiftiihe Bewegung 
der fünfziger und Ay Sabre des 
vorigen Jahrhunderts denken. Damals 
war in der fozialiftifhden Welt ein ähn- 
lihes chaotiſches Ringen der Kräfte. Aud 
damals wandten fid alle braven Bürger 
pon Geſchmack, Urteil und Lebenser- 
fabrung von diefer entfebliden Anord⸗ 
nung ab, in der man fid nidt guredt- 
finden fonnte. Aber aus dem fogiali- 
\tifmen Chaos muds damals eine Zu- 
funft. Gie geftaltete fid im Laufe der 
Sabrgebnte, brad endlid durd, raffte 
den Bismardftaat dahin und fudt feit- 
dem pofitid einen Staat nad marzi- 
ftifden Idealen zu bauen. (Das gelingt 
ihr nidt, da Marz im Srunde unpoli- 
tifd, feine Sdeen alfo politifh unmöglid 
waren. Aber immerhin hat der Marzis- 
mus es bermodt, die fozialiftiifhe Bewe- 
gung ins Nur-Wirtfhaftliche abzubiegen.) 

Die die heute abgelebte fogziali- 
ftifde Bewegung, deren verfnddertes 
Parteigebilde nit mehr durd eine le- 
bendige Idee, fondern nur nod durd 
einen großen, foftfpieligen Parteiappa- 
rat aufredt erhalten wird, einft aus der 
fogialen Not des werdenden Sndu- 
ftriepolfes geboren wurde, fo wird heute 
die völfifche Bewegung aus der na- 
tionalen Not des deutfhen Gefamt- 
polfes geboren. Aud fie wird durd 
Sturm und Drang bindurd ihre Geftalt 
finden und dereinit die auf liberalen und 
marziftifhen Oedanken gegründete , Wei 
marer“ Republif zerbreden, um den pöl- 
kiſchen Staat an die Stelle zu feben. 
Aber freilid, aud ihr drohen Gefabren, 
aud fie fann abgebogen werden. Daher 
ift nötig: : 

Erftens, daß die ſchöpferiſchen Kräfte 
nidt durch die agitatoriſchen Kräfte er- 
ftidt werden. Agitation ift nötig, da in 
einem auf Mebrbeitsbefhlüffe geftellten 
Stagt die Bewegung immer aud nad 
Mehrheit ftreben muß. Aber die Agi- 
tation darf nidts andres als Mittel 
fein; wird fie zum Gelbftawed, fo verdirbt 
fie das Gange. — 

Zweitens iſt nötig, daß ſich über all 
die Viertels- und Halbführer hinaus, 


an denen das beutfhe Bolf und alio 
aud die völfifhe Bewegung allzu reid 
ift, eine gefdloffene große Führung 
entwidelt. G38 darf nidt jeder glauben, 
das deutfhe Bolf gehe zugrunde, wenn 
er nidt feinen Willen befäme. Die 
Seibkaudt, der von Gitelfeit nicht ge- 
trübte Blid für bas Wirflide, das 
Augen für biftorifhe Gntwidlung, 
das find die Kräfte, die einen jeden in 
jeine Sphäre zu frudtbarer Arbeit 
bannen. Wir Deutfhe wollen oft allgu- 
piel auf einmal und hemmen por lauter 
Wollen einander im ndeln. 

Drittens muß vermieden werden, dah 
die völkiſche Bewegung fih zu zeitig 
in eine organifierte rtei verpuppe. Sie 
darf nidt Partei unter Parteien werden, 
fondern muß fid ihrer Sendung für 

Bolt als Golf bewußt bleiben. Schon 
das Aufftellen von „Brogrammpunften“ 
ift nicht ohne Bedenken. Das Programm 
darf nie mehr als zeitweilige Zweck— 
febung fein. Denn ſobald etwas als 
autoritatives „Programm“ „anerfannt“ 
ift, hört das febendige Gorfden und 
Guden auf und der programmtüdtigz 
Dogmatifer verfebert den, der fudend 
vorwärts dringt. Die völfiide Bewe- 
gung braudt aber gerade porwärts drin- 
gende Gorfdung, lebendigen Geift. Sie 
entftand nit aus einem Programm, fon- 
dern aus einer Idee und aus der Lei- 
denfdaft eines glühenden Herzens. 
Darum: Das Höchſte der völkiſchen Be— 
— muß die lebendige Idee 

die geiſtvolle, herzens— 
warme Führerperſönlichkeit 
fein. Idee und Perfdnlidfeit find 
mehr als alle PBrogrammatif und Dog- 
matif, 

Biertens: Die völkiſche Bewegung 
darf nidt mitfhuldig an der parlamen- 
tarifhen Regiererei werden. Sie darf fid 
nidt durd eine forrupte Antvendung 
des Begriffes ,Berantwortlidfeit* dazu 
bringen laſſen, mit an einer Roalitions- 
fuliffe für folde Polititer fehieben zu 
belfen, die ibre Berantwortlidfeit Dinter 
die Mitfhuldigfeit einer Majorität zu 
flüchten beftrebt find. In demfelben 
Augenblid wären die Völkiſchen im 
Reidhstag nit mehr eine Schar freier, 
———— Perfinlidfeiten, 
fondern Mitglieder einer „Fraktion“ alten 
Stils. Sie hätten aud Butter auf dem 
Kopf wie die behäbigen Koalitionspoli» 
tifer und dürften aus Angft por der 
{dmelgenden Butter nidt mehr in Die 
reine, flare Sonne treten 

Endlid aber ift der völtiſchen Be⸗ 
wegung zu wünſchen, daß fie nicht all- 

u raſch wadfe. Ihre Gegner wiinfden 
anntlid, daß fie raf anfchiwelle, da- 


mit fie raf abebbe. Widerftand und 
Kampf maden feft und ftarf. Möge ihr 
der Kamp} nidt erfpart bleiben. Ot. 


@uftad Sdhmoller zur Sudenfrage. 


GShmallers »Orundrif der allgemeinen 
Volkswirtſchaftslehre“ gehört zu den 
großen repräfentativen Werfen eines 
Zeitalters, die als foldhe aud dann nidt 
veralten, wenn ihr Inhalt langft überholt 
ift. Diefe beiden ftarfen Bände find nidt 
nur bedeutend als das Lebenswert eines 
führenden Gelehrten, fondern zugleich be» 
deutfam als der wiffenfdaftlt e Aus. 
druck einer eigentiimliden Gpode une 
ferer geiftigen und wirt{daftliden Ent- 
widlung. 

Schmoller gehört zu den ganz weni- 

en feines Gades, welde die empirifd- 
Bioriige Methode foweit vorgetrieben 

fie aud das Pſychologiſche 
ace und die wirt{[daftlide Bee 
deutung der Piodologifden Golfsthpen 
mitbebandelten. In Bud über 
„Land, Leute und Seht alg Maffen- 
erfdeinungen und Glemente der Bolfs- 
wirtfhaft“ widmet er ein Kapitel den 
„Raffen und Bölfern“. Die Typen, die 
er da zeichnet, verdienen Beadtung, ftedt 
dod in ihnen die Lebenserfabrung und 
ernfte Grfenntnis eines objektiv urtei- 
(enden Wenfden. 

Da die ,Sudenfrage* die Semiiter 
lebhaft bewegt und nicht immer mit Gade 
fenntni8 behandelt wird, ift e8 wertvoll, 
nadgulefen, was ein Schmoller über die 
Juden denft. Gr fdreibt (im erften Band 
der — von 1919, Seite 153): 

„Die Semiten. . haben, allerdings im 
Anfepluß an eine “ältere, wohl mongo- 
Iotde Kultur, an das affadifde oder fu- 
merifhe Reid im ———— des 
Euphrat die chaldäiſche techniſche und 
wiſſenſchaftliche Kultur, die Grundlagen 
alles Maß⸗ und Gewichtsſyſtems ge— 
ſchaffen, ſie haben in ihrem phönikiſchen 
Zweige, dem erſten großen Handelsvolke, 
die Formen des Handels und die Bud- 
ftabenfdrift, fie haben ote drei — 
weltbeherrſchenden Religionen, den jü⸗ 
diſchen Monotheismus, das Chriſtentum 
und den Iſlam erzeugt; die Araber ha- 
ben dann ebenfo dur ihre Groberungen 
wie duch ihren Handel, ihr Wiffen und 
ihre Grfindungen eine bedeutende Rolle 
im Mittelalter gefpielt. Die Semiten 
waren fo mit ihrem leidenſchaftlichen See 
müt, ihrem energifden Mut, ihrem hart 
nädigen, 345 das Grworbene feithalten- 
den Willen, ihrem @lauben an aus« 
ſchließliche Beredhtigung, ihrem harten 
Ggoismus, ihrer fdarfen Wbftraftions- 
fraft die Mauerbreder für die höhere 
Kultur der abendländifhen Menfhheit; 


215 


fie wurden in vielem die Lehrer der 
Sndogermanen und wirfen durh die 
Suden aud beute nod überall mehr 
oder weniger als ein Leben und Rei— 
bung erzeugendes, teils $ortfchritt, teils 
Auflöfung bringendes Glement in den 
indogermanifhen Staaten fort. Wir wol» 
len ftatt der einfeitigen erurteilun 
ihrer Raffeneigenfhaften durh Erne 
Renan lieber Ghwolfon, der felbft Ge- 
mite ift, die Raſſe Harafterifieren laffen. 
Gr fagt: Der praftifche, niidterne, mathe 
matiſche, ja fpibfindige Gerftand Hat bei 
den Gemiten alle Motbologie, alle My— 
tif, alles Gpos, alles Drama ausge» 
Hloffen; er ift in Religion und Wiffen- 
{daft relativ früh zu einfaden, großen 
Grgebniffen, zu einer flaren Grfaffung 
des empirifhen Lebens gefommen; die 
fdarf ausgeprägte fubjeftive Sndividu- 
alität des Gemiten erlaubt innige Hin- 
gabe an Familie und Stamm, bat aber 
ftets ftaatlider ilnterordnung mider- 
ftrebt, troß des weichen, faft meidliden 
Ginnes für Milde und Wohltätigfeit und 
troß der raſchen Empfänglichkeit für all» 
gemeine Ideen; das Ideal des Gemiten 
war nie in erfter Linie die Tapferkeit, 
fondern die weife ©eredtigfeit;. geiftige 
Eigenfhaften überſchätzte befonders das 
Judentum ftet8 gegenüber fdrperlider 
Kraft und Öefundbeit; harte Ausnügung 
der eigenen Slugbeit, befonders gegen 
unreife Stämme anderer Raffe, fpielende, 
wißelnde, ſarkaſtiſche Selbftüberhebung, 
Habjudt und Sinnlihkeit find die nicht 
zu leugnenden Schattenfeiten des im übri- 
gen fo reid) begabten Rajfentypus. 
Baht diefe Schilderung der Gemiten 
im ganzen aud auf die feit zweitaufend 
Sabren zerftreut lebenden, überwiegend 
dem Handel ergebenen Suden, fo fragt 
fih freilid immer, was biervon auf 
den femitifhen Rafjentypus und was auf 
die Sdidjale und die Berufstätigkeit die- 
fes Zweiges guriidgufibren fei. Sicher 
ift, daß die Juden Heute allerwärts als 
Handler, Unternehmer, Bantiers und 
Sournaliften eine führende Rolle fpielen 
und daß dies ebenjo mit ihrem Rajfen- 
thpus wie mit ihrer Internationalität 
gujammenbangt; ihre große jchriftftelle- 
riſche und politifhe Tätigkeit ſchließt nicht 
aus, daß der ihnen fonft febr günftige 
De Sandolle redt hat, wenn er fagt, die 
europäifhe Kultur würde fofort von 
Barbaren vernichtet werden, wenn die 
Staaten nad ihren Idealen eingerichtet 
würden. Auch mer fonft fie als Lehr— 
meifter in geſchäftlichen Dingen anerfennt, 
wird Bismard redt geben, wenn er jagt, 
too ihre Geſchäftsleute die politiſche Lei— 
tung eines Staates beeinfluffen, wie in 
Paris und Wien, fei e8 vom Lebel. 


216 


Nidt bloß das habſüchtige, aud das 
edle Judentum ift meift unfähig, die 
ftaatliden Notwendigkeiten und Härten, 
den Mechanismus ftaatlider Inftituti- 
onen zu begreifen. Gin fdlagendes Bei- 
fpiel bierfür find die fozialen Theorien 
pon Karl Marz. Bierfandt daratteri- 
fiert die Semiten mit dem Gage, der fehr 
gut auf Marz paßt: ihre geiftigen Schöp- 
ranger erreihen die Realität der Dinge 
n 7* Fa 

Die lebten Gage enthalten eine wert- 
polle Srfenntnis. Go jehr jüdiſche Schrift“ 
fteller fid aud als die „wahren“ Poli- 
tifer auftun und fid über die angeblich 
unpolitiihe Art der Deutihen erregen, 
fie find ihrer Natur nad unpolitifd. 
Aus der unpolitiihen Natur der Suden 
erflärt fid ihr Bolfsididfal. Man führe 
nidt immer gleid einen Disraeli vor, 
der in England möglih war. Ratbenau 
war ein Mufterbeifpiel des unpolitifden 
Politifers, wie fdon ein aufmerffame- 
res Studium feiner Bücher und Auf- 
fabe lehrt. Gr ift daher das politifade 
Ideal aller Alnpolitifer, denen Politif 
eine Angelegenheit nicht des Sharatters, 
fondern nur des Geiftes ift. Das Kar zu 
ſehn, ift für die Wahl und Wertung der 
politifhen Führer widtig. 

Die von Schmoller angeführten Schrif- 
ten find: Shwolfon, Die ſemitiſchen Bile 
fer. 1872. — YW. de Gandolle, Hiftoire 
de la fcience et des favants depuis deuz 
fiecles. 1889. — PBierfandt, Naturpöl- 
fer und Sulturvdlfer, ein Beitrag zur 
Sozialpſychologie. 1896. St. 


Der Kampf um den Rhein. 


Die aus ſchöpferiſcher Siefe einft un- 
bewußt berborgebrodene Heimatbe- 
wegung bat durd die Sdidfalsidlage 
der lehten Sabre ungefannte neue Im— 
pulfe erfahren und ift zu einem der 
ftarfften Linterpfander underer wadjen- 
den Gelbftbefinnung geworden. Das 
deutfhe Volk fühlt fid heute mit Ruhr 
und Rhein, Saarland, Elſaß und Ober- 
{dlefien unlösbar verbunden, nidt aus 
ftrategifhen, madtpolitijden und wirt- 
ſchaftlichen Erwägungen — es ift das 
deutſche Gemüt, das die, durd feindliches 
Diktat dem Reichskörper entriffenen Gee 
biete in feinem Schoße unverbriidlid 
bewahrt und nidt von ihnen läßt. Der 
Feind glaubt durch Reparationen und 
Kontrollen fein Biel erreihen zu fin- 
nen, während fid das Volk ſchon feinem 
Zugriff durd eine in ihm entftandene 
Bewegung entzogen Hat, die heute nicht 
wie einft von dem geformten Denfen 
weniger, deren Pathos die Gebildeten 
der Nation aufruft, getragen wird, fon- 
dern den LUrfraften des Bolfes ent- 


fpringt, feiner Liebe zur anererbten 
Scholle, feiner Treue zu beimatlihem 
Braud und Leben. G8 ift fo, wie Herr- 
mann Stegemann in feinem neuen Bude 
„Der Kampf um den Rhein“ es immer 
wieder aufflingen läßt, daß welſche und 
deutfhe Art mit verfdiedenen Kräften 
um den Schidjalsftrom Guropas ringen. 
Der ordnenden Sewalt palmer ©eiftes, 
der feinen feiner einmal ausgejprodhenen 
politiiden Anfprühe vergißt und diefe 
felbft alsbald zu einem pollfommenen 
Spftem redtsfraftig gemadter Berbind- 
lidfeiten, natürliher Grengen, fultureller 
Durddringungen zu erheben weiß, ftebt 
die verſchwendende Fülle deutſchen Oe— 
müts gegenüber, das in ſeinen ſchickſals— 
pollen Stunden fid genialiih zum furor 
teutonicus fteigert und den Gieg an fid 
reißt, um feine Gerfolgung in läjfiger 
Grjdlaffung und verträumter Outmütig— 
feit zu verfäumen. „Auf Speeren und 
Sdilden tragen die Germanen ihr Bolts- 
tum über den Rhein.“ Der Kampf gibt 
der Landfdaft des Stromes ihre Bee 
deutung und ihren Ginn, verleiht ihr 
Schidjal und Gnade. Der Kampf ift 
der Schöpfer der ftaatliden Bildungen 
in dem Stromgebiet, wie diefes für jenen 
Maß und Grenze ift als unteilbare na- 
turgegebene Ginbeit. 

Diefe Wedjelwirfung zwifhen den 
Bee Kräften der Gefdhidte und 
en bedingenden Gormen der Landihaft 
ift der Untergrund, aus dem Stegemann 
feine urfprünglide und eigentiimlide Ge— 
{hidtsbetradhtung erwadjen läßt. Gie 
ftellt in ihren Mittelpunkt die großen 
KRampfentiheidungen. Schlachten und 
Seldzüge, in ihrer Durdfibrung von 
den natiirliden DBerhältniffen des Ge— 
ländes beftimmt, entjcheiden über Die 
Bodenherrſchaft und damit über das Lex 
ben der Dilfer. Der eherne Gang der 
KRampfentiheidungen um das Stromland 
ift Die ordnende Geftaltungsfraft von 
zwei Sabrtaujenden rheinländifher Ge— 
jdicdte, ihm unterwerfen fid alle ande- 
ren Einzelzüge. Sm Kampf offenbart 
fih Kraft und Gigenart der Bolter, im 
Wiirfelfpiel des Krieges fällt ihr Los. 

Mur einer folden großartigen und 
ſchickſalhaften Betradhtung gefdhidtliden 
Werdens fonnte e8 vorbehalten fein, 
einen Stoff bon unerhörter Fülle und 
Ausdehnung zu einem Gefamtbilde zu 
formen. Go entftand ein Werf aus einer 
dem Wandel der Zeiten gegenüber fi 
gleihbleibenden Berjpeftive feines Schöp- 
fers, Der die twertende und ordnende 
Arbeitsweife des Gelehrten mit der nad- 
Ihaffenden Schau des Künftlers gu ver- 
binden wußte. Nie verfagt fid ibm 
bei aller oft beängftigenden Stoffülle 


die ordnende Sewalt der fdreibenden 
Hand. Unterftügt von einer feltenen ma- 
lenden Betwwegtheit der Sprache und 
einer neujhöpferiihen Kraft des Aus» 
drucks geftaltet ſich Bild auf Bild. 
Mandes unter ihnen beftet fid une 
auslijhbar ins Gedächtnis, 
der Derfajfer dapon fpridt, 
Mainlauf mit feinen Winkeln und Hafen 
gotifhen Schriftzügen gleiche, die fid 
als politifde Runen in die SGejdhidte 
der Deutſchen eingegraben batten. Gpi- 
foden wie die Schilderung des Kampfes 
zwiſchen Gaefar und Ariorift oder wie 
die Gefdhidte der Schweizer Söldner— 
ſchlachten verdienten eine DVBerbreitung 
aud) über den Rahmen des Buches Hine 
aus und dürfen einen Platz in der erften 
Reihe deutſcher Gefdidtsdarftellung be- 
anjpruden. 

Die fraftbolle Zufammenfaffung und 
Begrenzung des Themas, die allein 
feine Durchführung ermöglihte, mußte 
erfauft werden duch das Zurüdtreten 
des beftimmenden Anteils, das Dem 
Wirfen der Gingelperfinlidfeit wie dem 
des Staates in der Sefdidte gufommt. 
Der diplomatifhe und fulturelle Kampf, 
der um den Rhein fpielt, deffen Wacht— 
entfaltung fid nit auf den Schladtfel- 
dern feiner ilfer, fondern in den Haupt» 
ftädten feiner Rivalen vollzieht, ver— 
bleibt am Rande des Bildes, das bier 
an Plaſtik und Garbengebung verliert, 
um ſchließlich mandmal in einer er- 
müdenden Aufzählung von Namen und 
Daten zu erblaffen. An diefem Punfte 
ergeben fid) Schwäden der von Stege- 
mann befolgten, von Kiellen und Albert 
bon Hofmann vorgebildeten geopolitijden 
Methode in ihrer Anwendbarfeit, wie 
andererjeitS nicht zu verfennen ift, daß 
fie gegenüber der politiiden Geſchichte 
großen Stils und ihren feit Jahrzehnten 
feftgelegten Gormen in vielen Puntten 
eine fritifhe Bereiderung bedeutet. 

Dies gilt insbejfondere aud für die 
beute allgemein iiblide heimatgeſchicht— 
lide Betradtungsweife, für die Das Ste- 
gemannſche Bud) einen neuen Aufſchwung 
bedeuten follte. Gs ertweift, daß wie 
Waffentat und §reibeitsjinn die edel- 
ften @iiter der Heimat, fie aud not- 
wendig den Rerngebalt ihrer überlie- 
ferten ®efdhidte bilden follen, die nur 
fo dem Ganzen der Weltgefhidte fid 
einzufügen vermag. Sein DBerdienft 
mödte id) aber bei Gtegemann höher 
anfhlagen alg feine Darftellung deffen, 
was ein Golf vermag im Kampfe um 
die Freiheit, im Bilde der ſchweizeriſchen, 
flandrifhen wie elſäſſiſchen Geſchichte. 
Diefe Bilder deutihen VBolfsfampfes um 
den Rhein, voreilig vergeffen in einer 


217 


Zeit fleindeutider Geſchichtsſchreibung, 
wirfen am nadbaltigften auf unfre Her- 
zen. In ihnen liegt Die einzigartige 
biftorijde Sendung dieſes Buches, fel- 
ber eine Waffe um den Rhein zu fein, 
denn es lehrt die Deutfchen, daß ein Bolf 
für feine Gefdhidte nirgends einen bef- 
feren Anfprud ableiten fann als aus 
der Geſchichte felbft. 

Heinz Dabnbardt. 


Su den Bildern von Otto Illies. 


Das vorliegende Heft bringt zwei Bild- 
beilagen nad) Gemalden des Malers 
Otto Illies. Diefer Maler gehört zu 
den SKünftlern unferer Sage, die troß 
der berrfdhenden Runftridtung des Gee 
—— der letzten Jahre — deſſen 
Bedeutung wir dabei keineswegs unter— 
ſchätzen — vom Beginn ihres Schaffens 
an unbeirrbar ihre eigenen Ziele aus 
dem Weſen ihrer künſtleriſchen Veran— 
tagung heraus verfolgten. Dieſe Treue 
des Malers gu fich felbft und zu feinen 
Anlagen, fein bebarrlihes Durdbalten, 
das Ringen um feine eigene Handfdrift 
zeugt von hoher Verantwortung vom 
Schaffen eines Künftler8 und nötigt uns 
bon vornberein größte Hohadtung ab. 

Otto Illies wurde 1882 im fernen 
Often, in Iapan, als Sohn eines Ham— 
burger leberjeefaufmanns geboren. Dort 
verlebte er jedodh nur wenige frühe Ana- 
benjabre, ſodaß von einer Beeinflufjfung 
durd japaniſche Kunft — es ift das felt= 
‚lamerweije zuweilen bei einigen Früh— 
arbeiten des Meifters gefchehen, die von 
hoben malerifhen Reizen find — dod 
wohl nidt gut die Rede fein fann. Bon 
frith auf 309 es Illies zur Malerei. 
Die Kunftihule in Weimar vermittelte 
aber nicht viel mehr als das Handwerf- 
lide feines fünftigen Malerberufes. Meh— 
rere Sabre zeichnete und malte er bei 
Ludwig von Hofmann. Das Feftlihe und 
die Poefie im Schaffen diefes Meifters 
zogen Illies an, während er zu 
der Kunft van de Beldes fein wärmeres 
Gerbaltnis gewinnen fonnte. 

Einen beftimmenden Ginfluß auf das 
KRunftihaffen unjeres Malers bat Die 
Weimarer Zeit nidt ausgeübt. Grft die 
bolfteinifhe Heimat war dazu berufen, 
alle fhlummernden Kräfte feines eigen- 
ften Wefens auszulöfen: Illies fudt das 
große @ebeimnis des Lebens in der 
Poefie der ftillen Garten, wie in den 
berben, von Knids durdgogenen Weiten 
der holſteiniſchen Landſchaft. Ruhige 
niederdeutfhe Dorfſchaften mit ihren 
ftrodgededten DBauernhäufern, Snnen- 
räume mit ihrem SHelldunfel finden in 
Illies ihren treuen Künder. Dann wie- 
der verjenft fic) der Maler mit tiefer 


218 


Ehrfurcht und unermidlidem Bemühen 
in die Welt des norddeutihen Waldes, 
die er vortreffli wiederzugeben vermag: 
bier das Lichte des Budenwaldes mit 
feinem Moosgrund, in dem die durd- 
fallenden Gonnenftrablen eine freudige 
Seierlidfeit fhaffen, Dort das geheimnis- 
volle Dunkel des düfteren Sannenwaldes. 
Aud den malerifhen Reizen der Warſch— 
landidaften mit ihrer waffergefattigten 
Luft, die Die Fernen verihwimmen läßt, 
ift Illies mit großer Liebe nadgegangen. 
Sn gablreihen Studien — fie wären eine 
Sonderausftellung wert — bat der Mas 
fer den Wechſel der abendliden Stim- 
mung über dem breiten Glbftrom feftge- 
balten. An feinen Ufern, auf einer be- 
waldeten Höhe in der Umgegend Blane 
fenejes baute er fid) aud fein Künftler- 
beim. Weit blidt es über den majeftä- 
tijden Strom binüber ins hannoverſche 
Warſchland hinein, grüßt manden nie- 
derfähliihen Marſchenhof und die fernen 
Kirhtürme des alten Burtehude. 

Nur im Winter Iodt es den Künftler 
beraus aus feiner Heimat: in gablrei- 
hen Gemälden hat er die Schönheit 
des oberbayriihen Winters fejtgehalten. 
Weiter nad Süden zog es ihn nidt. Es 
mag fein, daß der Schnee, deſſen taux 
fendfältiges Garbenfprithen im Sonnen— 
liht er jo febr liebt, mandes zudedt, 
was der Künftler nad feiner Wejensart 
als Niederfadfe wohl fonft nidt malen 
würde. 

Das Wefentlide der Kunft unferes 
Malers ift damit wohl am beften ges 
fennzeichnet, wenn wir feine Arbeiten 
als folde einer in Der Tiefe des Heimat- 
bodens wurzelnden Perfinlidfeit anfpre- 
den: Wir jpüren eine ernfte, mannlide 
Gefdloffenbeit in der Linie, beobadten 
ftarfes, maleriijhes Gmpfinden, zumei- 
len aud) den gewinnenden Bug einer 
liebevollen intimen Auffaffung, die be— 
fonders bei feinen Innenräumen zur 
Geltung fommt. Aus jeder Arbeit jpricht 
eindringid Grnft und Größe als 
Gharaftergug feines fünftlerifhen Schaf- 
fens. Gir Illies ift die Kunft ein Sym— 
bol: er gibt nidt lediglih Die Amriſſe, 
die Glemente des landfdaftliden Vor— 
wurfs wieder, er erlebt feine Heimat, 
fhaut ein neues innerlides Bild, das 
er mit erftaunlider Kraft und Reinheit 
wiederzugeben vermag. 

Illies bat nur febr wenig Runftaus- 
ftellungen bejdict, ift Daber weniger be- 
fannt geworden. Wer ihn fennen lernen 
will, der muß ibn in feiner Werfftatt 
auffuden. Der Befuder wird iberrajdt 
fein bom Können unferes Heimatliden 
Malers, pon den Hoben Zielen, die er 
feinem Schaffen zugrunde legt. Der 


Meifter bietet eine durch und durd ge- 
funde SHeimatfunft, die es zu fördern 
gilt, denn wir mwijjen, nur eine folde 


Kunſt fann fowohl das nationale mie 
aud) das fittlide Gmpfinden unjeres 
{wer fampfenden Golfes fördern belfen. 

Hans Shröder. 


Der Beobachter 


Da⸗s „Sachverſtändigengutachten“ ift Die 
eiſerne Jungfrau, in die das zu tor— 
quierende deutſche Volk eingeſperrt wer— 
den ſoll. Dieſes „Outachten“, das eigent- 
lich ein Bösachten iſt, ſtellt ſich als ein 
ungeheuer verwickeltes Gebilde dar. Es 
verlangt nicht nur eine ſorgſame Lek— 
türe, ſondern auch langwierige Erwä— 
gungen zahlreicher Folgen. Gewöhnliche 
Sterbliche vermögen nur, entweder 
es aus grundſätzlichen politiſchen Erwä— 
gungen von vornherein abzuweiſen, oder 
aber fid) zunädft ſchweigend auf ein 
gründlihes Studium des Angeheuers 
einzulaffen. Anders unfre Parlaments- 
größen, die zu der auswärtigen Po— 
litif, Die die andern mit uns Deut— 
{den treiben, die nötigen deutſchen 
Begleitreden maden. Guftap Strefemann, 
geboren zu Berlin ausgerednet im 
Sabre 1878, das parlamentariihe in- 
genium ingeniofijfimum, batte mit 
einem DBlid durh das Gouvert, in dem 
das große Sfriptum ftaf, die Situation 
erfaßt, und Die ganze in Berlin ver- 
fammelte ®olitiferihaft ließ fid an Oe— 
nialität nicht [umpen, aud fie erfannte 
fofort das „Wefentlihe“ Des „Outach— 
tens“; man trat feierlich zufammen und 
madte drei tiefe Biidlinge in die Rid- 
tung, in Der Die fhmunzelnden Abjender 
des „Gutachtens“ daheim find. Nun hat 
merfwürdigerweife ausgerechnet Herrn 
Dr. Guggenheimer, dem befannten In— 
duftriellen, „ein Durch Zufall verurfadtes 
raſches Erhalten des Parifer Tertes“ 
— folde Zufälle find intereffant — „An— 
laß gegeben“, fid) den Test genauer 
angujeben. Gr fdreibt über den Inhalt 
allerlei Grbaulides in der Deutihen All- 
emeinen Zeitung vom 8. Wai. Dir 
eben aus dem Aufſatz zwei Stellen 
beraus, die über Die geniale Firigfeit 
Der Berliner Gtaatsmänner bandeln: 
sod) nehme feine Tendenz bei der fal- 
[hen Wiedergabe und zwar weder pon 
der einen oder anderen Geite an; wohl 
aber ift der Borwurf beredtigt, daß dod 
tedt weitgehende bindende Aeuferungen 
gu dem Vorſchlage der Sadverftändigen 
in einem Seitpuntte abgegeben wurden, 
in Dem ganz fider die volle Beurteilung 
der Gorlage nod gar nicht möglid war.“ 
„Aud die Weuferungen unferer „Staats= 


männer“ (®uggenbeimer verziert Herrn 
Strefemann mit diejen Ganfefiipden, nicht 
wir), Die fid beeilten, fofort pon einer 
„geeigneten ®rundlage“ zu ſprechen, ſchie— 


nen mir nidt zu febr ins Sewidt zu 


fallen, denn man fonnte diefen Herren 
ja nadrednen, daß fie das Gutad= 
ten nod gar nicht gelefen und 
verftanden baben fonnten; denn 
im Zeitpunfte ihrer welterſchütternden 
Grfldrungen lag ein deutiher Text noch 
gar nidt vor, und über ihre GFabigfeit, 
en fremd{pradigen — übrigens aud bon 
den Spradfundigen durdhaus nidt ganz 
einfad) aufgufaffendDen — Text in ih auf- 
zunehmen, babe ih ganz eigene Grfab- 
tungen gemadt.“ Man beadte den aus- 
gefudten Hohn des Herrn Dr. Ouggen— 
beimer, der, wie männiglich befannt und 
wie fon der Name anzeigt, feineswegs 
„völtiih“ ift und der das ©utadten 
lediglid als Geſchäftsmann behandelt. 
Das find die „Staatsmänner“, die unfer 
Gertrauen in Anjprud nehmen. 


II die Amerifaner, Gnglander und 

Grangofen, Die ihre lebhafte Gnt- 
rüftung über die vielen Deutſchen in Sta- 
lien fundtun, vergeffen eines: daß viele 
Deutihbe aus Sparjfamfeit nad 
Stalien fahren, weil fie dort billiger 
[eben als in Peutihland. Wenn ein 
Schriftfteller oder Künftler, der für deut— 
{hes Geld arbeitet, in Italien lebt, fo 
ift das fein „Luxus“, fondern eine Gr- 
fparnis. Dasfelbe gilt für viele Gre 
bolungsreifende. Alſo in Baufh und 
Bogen von den vielen Deutiden in Sta- 
lien auf einen deutſchen Wohlftand zu 
ſchließen, iſt ein Fehlſchluß. Leute, Die 
fparen müjfen, haben das Beftreben, fid 
die billigfte Gegend ausgufuden. Als 
die Galuta PDeutichland billig madte, 
ergoffen fih Scharen von nidt fonderlid 
bod fultivierten Wmerifanern, Gnglän- 
dern und §rangojen über PDeutjchland, 
um mit ihren Dollars, Bfunden und 
Sranfen bei uns bejjer zu leben als in 
der Heimat. Wenn die Baluta nun Sta 
lien und §ranfreid zu billigeren Län— 
dern madt als Deutſchland, fo ift es 
ganz natürlih, daß die Deutfden fid das 


. billigere Leben nicht entgehn lajjen. Man 


foll mit moralifher Gntrüftung nidt zu 
219 


verihiwenderifh umgebn, fondern fie für 
den Hausgebraud aufheben. 


3) Immanuel Kants zweihundertfter 
®eburtstag juft in die Beit eines 
deutfhen Reidhstagswabhlflamaufs fiel, 
war es nit zu umgehen, daß irgend- 
einer, der's nicht lajjen fann, den alten 
Smmanuel por feinen Parteifarren 
fpannte. Der Detektiv und Journaliſt 
Hellmuth Falfenfeld ließ fein erfinderi- 
ſches Galfenauge bliten und begab fid 
auf die SHimmelsbibne, ‘um Kant zu 
interpiewen. Gr bradte Hellen Mutes 
ein Sntervie auf die ,Weltbiibne* mit 
berab. Danad hat fid Kant im Himmel 
über Gidtes Reden an die deutidhe Na- 
tion lebhaft „geärgert“. Hegel babe ibm 
„Magenjhmerzen gemadt“. Ueber Marz 
fagt er weiter nichts. Ginftein preift er 
natirlid als Genie. Sn Bezug auf die 
Reidhstagswabhl habe ſich Rant folgender- 
maßen vernehmen lafjen: „Das Sittenge- 
feß fordert — id) babe mid da in meinen 
Schriften mandmal nod etwas undeut- 
lih ausgedrüdt —: daß wir die Würde 
aller Menfden für gleid eradten. Alfo 
wählen Gie die Partei der unbedingten 
Gerechtigkeit. Sh bin im Augenblid faft 
Der Anſicht, daß die nur bei den ent- 
{dhiedenen Sozialiften, wenn nidt gar bei 
den Rommuniften gu finden ift.“ Da das 
gagbafte „faft“ und „wenn nidt gar“ 
durchaus nidt der fantifdhen Sprehmeife 
gemäß ift, da aud der Inhalt des In— 
terviews Die üblihe Unkenntnis kan— 
tiſcher Gedanfen verrät, wurden wir mif- 
trauifd und begaben uns gleidfalls in 
den Himmel. G8 gelang uns, Herrn Pro» 
feffor Kant zu treffen. Wir ftellen feft, 
daß die Bebauptung Falfenfelds, Rant 
wohne in einem fleinen Gartenbaus, frei 
erfunden ift. Gbhenfowenig wie der irdi- 
(he, bält fih der himmliſche Kant in 
feinem @arten auf, er bewohnt nad wie 
por feine Gtudierftube und verfammelt 
im Eßzimmer feine Freunde zwar nidt 
mehr um den geliebten englifhen Rafe, 
wohl aber um gefäuerten Neftar und 
Ambrojia. Kant ipfiffimus bat uns zu 
folgendem Dementi ermädtigt: Der pp. 
Salfenfeld babe ihn überhaupt nidt ge- 
fproden; es fei ein febr eiliger, windiger 
Herr gewefen, der ibn mit dem jüngft 
berftorbenen Geheimrat Witting vertwed- 
felt und deffen Auslaffungen über Rant 
{dledhtweg, als fantifhe Auslaffungen no- 
tiert babe. Witting gehöre, mangels zu=- 
reihender Gertrauenswirdigfeit, nidt 
gu Kants himmlifhen Tijdgaften, fei alfo 
nidt qualifiziert, aud nur über Kant zu 
{predhen. Wenn das Gefeires über ihn 
(3. B. aud in der Kant-©efellihaft) nod 
lange fo weitergebe, werde er oftentativ 


220 


zu den Völkiſchen übertreten; denn 
{dlieBlid habe aud er wie alle Menſchen 
das Redt, einfad für das genommen zu 
werden, was er fei. 


Ser Grfolg der verfilmten Nibelungen 
bat aud die Liförinduftrie zu ent» 
{predhenden Taten animiert. Go bringt 
eine große Likörfabrik in Worms jest 
folgende neue Marten heraus: §afnirs 
Blut, DWalfüren-Preis,  Brunbildens 
Neid, Wormjer Domſchatz, Nibelungen- 
®old, Kriemhilds Sroft. Heil dem Zeit. 
alter der nidt nur verfilmten, fondern 
aud verfdnapften Nibelungen! Merk» 
würdig, daß es zu König Gunthers Zeit 
in Worms nod feine profperierende Li- 
förfabrif gab. Dann hätte die Witwe 
RKriembild, dem Beifpiel der frommen 
Helene folgend, fih mit der Flaſche 
Kriembhilbs Troft im Eckſchrank getröftet 
und die ganze Ghelei und Mebelei wäre 
niemals eingetreten. Dann hätte Gri 
Lang feinen Roloffal-Welt-Reford- Film 
daraus maden fünnen. Weld ein Gegen 
für die Filminduftriel Alſo feien wir 
dem Schidfal dankbar. Bei mir: Fafnirs 
Blut — Prdftden! 


Ted! Gin graufes Unglüd ift geihebn! 
Das deutſche Volk wird nun endgiil- 
tig und zum unwiderruflid legten Male 
aus der Reihe der Kulturnationen ge- 
ftriden. Gelbft Alfred Kerr, der fid vor 
den fdmergbaften Anfdlagen feines 
Schwiegervaters im DVerborgenen balten 
muß, wird durd die Alngeheuerlichkeit 
der Greigniffe auf die Rampe der „Kul- 
turfundgebung“ im Dlüthner-Saal ge» 
trieben (ohne Gollbart freilich, den hat er 
fih vorfidtigerweife abnehmen laſſen). 
&3 gebt „ egen die nationaliftifden The- 
aterffanDdale“ und „gegen die jefuitifche 
Staatsgewalt“. George Groß, Frik Kort- 
ner, Arthur Holitiher, Sulius Bab, Paul 
Levi, alle, alle, die ganze „radifal-repu- 
blikaniſche Arbeitsgemeinihaft des re- 
publifaniihen Sugendbundes Schwarze 
Rot-©old“ hat fie) aufgemadt, um zu 
ſchreien, fHreien und zu geftifulieren, bis 
felbft die Marsbewohner von Beradtung 
gegen die deutfhe Kultur erfaßt werden. 
Zubören und zujehn darf man gegen Gre 
legung von drei bis fünf Mark. Sft man 
„Mitglied einer fulturfortihrittliden Ore 
ganifation“, fo darf man fih fdon für 
eine Warf — merffte was — eine Karte 
im Büro des Republifanifhen Jugend» 
bundes erfteben. Was ift los? In Dres- 
den bat es einen Sfandal um Tollers 
„Hintemann“ gegeben. Man ftelle fid 
bor: in Amerifa wäre ein Stüd aufge- 
führt worden, in dem die amerifanifde 
Nation in einem (budftablid) entmann- 
ten armen Teufel fpmbolifiert worden 


wäre — gegen den Skandal im Lande 
des Teerens, Federns und Lyndens wäre 
der Dresdener Terror ein Kinderipiel. 
Soh wir fommen auf die Sade mit 
Hinfemann nod zurüd. Bleibt der ver— 
urteilte George Groß. Groß bat Quali- 
täten. Bei weitem nidt fo große, wie 
ihm (infolge feiner fommuniftifhen Ten— 
Deng und feiner Abftammung) angedidtet 
werden. aber immerhin. Alſo mag er 
feine Runft, aud) in abftoBenden Sormen, 
unbebelligt ausüben. Etwas andres ift 
es, ob fih ein Golf nun aber gefallen 
laffen muß, daß mit dieſer Runft ein 
breites öffentlihdes Geſchäft gemadt 
wird, daß diefe Kunft aus beftimmten 


Abfidten ganz fapitaliftifd ins Volk hin- 
einagitiert wird. Das ift feine Frage der 
Sreibeit der Runft, fondern der Grei- 
beit des Geſchäfts. Wir bedauern an 
dem irteil gegen Groß, daß es nidt 
bon der unmigliden Grageftellung 
„Kunſt und Gittlichkeit“ loskommt, da es 
jid dod um die Frage „Kunſt und Gee 
{Haft handelt. Kunftfreibeit ift nicht Gee 
ſchäftsfreiheit. Hier unterfdeidet fid die 
Mentalität zweier Völker. Der Repu- 
blifani{fhe Sugendbund Schwarz-Rot- 
Gold wird unfere Trennung von Kunſt 
und Kunftgefhäft nie begreifen. Gir ihn 
ie Agitation, Kunft und Gefdaft eine 
auce. 


Zwieſproche 


Baran, daß das RKantheft nidt zum 
Tage Kants erfdien, bin ih un- 
{huldig. Die Reihstagswahl wirkte mit 
ihren eiligen Drudaufträgen in die Druf- 
ferei hinein. Immanuel Kant Hat mit 
fantifher Ironie auf Das ©etriebe herab- 
ejehn. Mit der löblichen Beicheiden- 
eit, welche die Frucht diefer Ironie ift, 
bat er den Dichtern und Denfern der po- 
litifhen Slugblatter (fie find meift mehr 
Dichter als Denker) den Bortritt gelaffen. 

Aud meine Arbeit wurde fdlieflid 
ein wenig pon den Wahlen disturbiert. 
Es war fünf Minuten vor Mitternadt, 
ih j{drieb gerade an den lebten Zeilen 
der April⸗Zwieſprache, da Donnerten 
unten an der Haustür ein paar Männer» 
fäufte, die Treppe fnarrte, und dann vers 
nahm id) in Dem veriwunderten grünen 
Lidte der Schreibtiihlampe aus dem 
Munde der nadtliden Abordnung, id 
folle für den völkiſch-ſozialen Blod den 
zweiten Hamburger Reidstagsfandidaten 
maden. (Liftenverbindung mit Schles— 
wig-Holftein. Grfter Kandidat auf beiden 
Liften Graf Grnft zu Reventlow, der 
Herausgeber des „Reihswarts“.) Nad 
langen leberlegungen babe id aus 
@riinden, die man in meinem Beitrag 
über die völfiide Bewegung nadlefen 
mag, zugeftimmt. Der Wablausfall war 
fo, daß id nicht „heran“ braude. Das 
gereist mir zur Befriedigung. Aud fade 
id. Wir wollen froh fein, daß die völ— 
kiſche Bewegung nicht zu raſch und leicht 
und Hod aufflammt. Sie muß langjam 
und ftetig ſtark werden. ‘ 

Nod ift das deutſche Golf nicht mit 
den Parteien fertig. Bon der So— 
ee rn Bartei bis zur Deut- 
hen Volkspartei haben fie fid gleich- 


fam abregiert. Iebt ift die Frage: wird 
die Deutjchnationale Partei mit Grfolg 
regieren und dadurd das Parteifyftem 
und den Parlamentarismus retten oder 
wird fie fid aud abregieren wie Die 
andern? Daß Helfferich gerade vor den 
fommenden Sntiheidungen hinweggeriſſen 
wurde, ift ein ſchwerer Berluft und — 
nit ein günftiges biftorifhes Aufpicium. 
Würde die Deutfchnationale Volkspartei 
den Weg der Deutihen Bolfspartei gehn, 
fo würden alle Parteien „ausprobiert“ 
fein, e8 blieben nur nod die „Bewe— 
gungen“ übrig: Die fommuniftifhe auf 
der einen, Die völfifhe auf der andern 
Geite. Deren Kampf ware nidt mehr 
eine parlamentarifde Angelegen- 
beit. Sedenfalls tut die ganze völkiſche 
Bewegung (aud fomeit fie in den alten 
Parteien ftect) gut, die Möglichkeit nicht 
aus dem Auge zu verlieren, daß fie 
einmal beftimmt fein fann, letter Rüd- 
halt der nationaldeutfhen Kräfte zu fein. 
Sir die völfiihe „Fraktion“ im Reichstag 
ift diefe zufünftige Aufgabe pon höherem 
Wert als die fogenannte „parlamenta= 
riſche DVerantwortlihkeit“. Sie darf ihr 
Anfehn zwar nidt in läppifhem Obftruf- 
tionslarm, aber aud nidt in widtigneb- 
merifhen Rompromifjen und Koalitionen 
verwirtihaften. Gbhrlidfeit und unbe» 
Dingte Treue zu ihrer Idee wird ihre 
befte „Bolitif“ fein. Dieſe Fraktion bat 
den großen Gorgug, weil fie eben nicht 
Ausdrud einer Partei, fondern einer 
Golfsbewegung ift, in ungebrodener Ehr- 
lidfeit unverrüdt bebarren zu fönnen, 
ein @®ewifjen für alle nationalen Poli» 
tifer. Wod ift ihre Aufgabe nicht po- 
litif, fondern ethiſch. Möchte fie fid 
allmabli® etbijd fo feftigen, daß fie 


221 


einmal ebrlide Bolitif — nad fo viel 
„Barteipolitif* — treiben fann. Damit 
die völkiſche Fraktion ihre Ginftellung 
gegen alle Parteien bildhaft aus— 
dDrücte, wäre es pſychologiſch glüdlicher, 
fie fette fid nicht mitten unter den alten 
Parteien nieder, fondern ginge an das 
Ende des Halbrunds im Reichstag, 
gegenüber den Rommuniften. Gin ©eg- 
ner, der fic) einordnet, wird nidt fo 
deutlih als grundjäßliher Gegner emp- 
funden. — — 

Nod einige Worte zu den Auffaben 


Diejes Heftes. Sch felbft bebellige unjere - 


Leſer in diefem und dem nadften Heft 
nicht mit längeren Ausführungen — „Ser 
rien bom Ih“. Ih hatte in den lege 
den vier Heften unfern Mitarbeitern all» 
zuviel Raum weggenommen. Diesmal 
herrſcht Holftein vor: der Dichter Johann 
Hinrih Fehrs aus Mühlenbarbeck (1838 
bis 1916), dazu der Maler Otto Sllieg, 
der in Galfenftein bei Blanfenefe Iebt. 
Nicht zu verwedfeln mit dem unfern Lez 
fern aus früheren Dilderbeilagen und 
Auffaben befannten Arthur Sllies. 
G3 gibt eine Gebrs-Gilde, die das 
Andenten des Dichters pflegt. Näheres 
erfährt man durch Pfarrer Chr. Boed 
in Bramfeld bei Hamburg. Die unferes 
Wiſſens lebte Verdfjentlidung der Gilde 
ift „Bon Groth gu GFebrs. Wege zur 
niederdeutfhen Kultur.“ (Weftermann, 
Braunfhweig.) Darin unverdffentlidte 
Gedichte von Klaus Groth, perjönliche 
Grinnerungen an ibn, ein Gti aus 
Sehr!’ Nahlaf, widtige Auffäge über 
@®roth und Fehrs. Als ih fürzlih Die 
Novellen von Fehrs gu lefen begann, 
war ich itberrajdt über Die hohe künſt— 
lerifhe und menfdlide Qualität. Hier 
ift einer, Der rubige, in ſich gefdloffene, 
innerlih reihe Wenfden von feiner Ab— 
gewogenbeit lebenswahr Darguftellen ver— 
mag. G3 ijt jene edle Art der Dorfge- 
Ihichte, deren erfter Vertreter der allzu— 


wenig gefannte Weldior Mehr ift. Diefe 
Runft fteht an Qualität weit über der 
zeitläufigen @rofftadtfunft, die in allen 
Seuilletons prangt. Gie ift reif und 
weltüberlegen. Sd perjönlih ſchätze bei 
Sehr3 mebr die ganz gefammelten, ver— 
baltenen Stellen, weniger die Darftel- 
lungen des Damonifden. Wenn wir 
gleichwohl gerade eines der erregteften 
Kapitel aus „Maren“ wiedergeben, fo 
begründet unjer Mitarbeiter Ghriftian 
DBoed das folgendermaßen: 

„Kurz nad) Erſcheinen des Romans 
fchreibt Der Dichter an einen befreundeten 
Kritiker: „Leid bat mir’s getan, daß 
Sie das 22. Kapitel nicht‘ recht Leiden 
fonnen. Gs enthält die Generalbeidte 
de3 alten Dierf-Sheper, deffen Frauen- 
baß, feine Gludt in die Ginjamfeit ufw. 
fortan zu verftehn ift, und es beſchwört 
den graufigen Schatten Des Obms von 
Paul Strud, der jid entfekt abfehrt von 
Dem @eldfaften und feinen bedenfliden 
®eldgefhaften. Als ih dies Kapitel zu 
{Oreiben hatte, war meine $reude groß, 
id hielt und halt es mit zu den ge- 
lungenften des Buches. Dod id beſcheide 
— der Vater des Kindes irrt ſich in 
ſeinem Arteil über dasſelbe gar zu leicht.“ 

Unſre oberdeutſchen Leſer werden ſich 
ſchwer in die Sprache hineinfinden. Aber 
es hätte eines kleinen Wörterbuches be— 
durft, um alle ihnen auffallenden Bil— 
dungen zu erklären. G8 gibt für 30 Pfg. 
eine „Worterflärung zu den plattdeut« 
ſchen Werfen pon Fehrs“ (bei Wefters 
mann in Braunſchweig). Sie tut gute 
Dienfte beim Ginlefen. Fehrs' Redt- 
fOreibung mußten wir leider aus Wane 
gel an den ihm eigentiimliden Laut— 
darafteren ändern, wir fonnten die ſpe— 
zifiſch plattdeutiden Laute nidt befon- 
ders bezeichnen. . 

Das nadfte Heft wird fid mit der 
deutihen Familie bejchäftigen. Ot. 


Stimmen der Meifter. 


Sat weer buten (draußen) fo ftill as in de Kart, de Häben (Himmel) weer aewer- 
bär (überher) mit Steerns beftreit, fe plinfern mi an, as baren je mi ganz wat 
Heemlihs to vertelln (erzählen); in’t Often ſpömm voll un rund de Maan (Mond) 


un jeeg gerubig in De mide Well. 


Go'n wunnerflare Steernhimmel is dod Dat 


grötfte, wat uns Herrgott for uns opftellt hett! Den Minjhen mutt ic beduurn, 
de diffe Pradht anjehn fann, abn dat em en Toon ddr de Geel Flingt ut en anner 


Welt. 


Wenn mi mal de Kleenwelt hier op Gern mdd un mdr (mürbe) malt, denn 


feeg (febe) if immer geern na baben (oben) in dat Gewimmel. Denn fommt mi dat 
bier nörrn all jo litt pdr un iS mi tomoot, as harr if Flümfen (Sliigel) un funn 
vewer all den Kroepelfram (Kleiniram) roewer flegen na baben op en jchönen Öteern. 
De wide Häben fteit nu al all de dufende von Sahrn un ünner em ftiggt een Min- 
fhenwell na de anner un duuft (taucht) wedder ünner — wat bett dar fo'n Bettel 
to bedüden, De uns mal en par Dag drüden un plagen Deit! 


222 


Sobann Hinrid Fehrs. 


Neue Bücher 


Johann Hinrigd 
Lid. 138 ©. — Jebann- 
158 S. — Ehler Schoof. 
mann, Braunjdiweig. 

om "stg ijt Fehrs eine ganz wunder- 
volle Gejtalt gelungen: in fic) reich, geſchloſſen, bei 
aller jeeliihen Tiefe dod) ausgeglichen, eine Bereini- 
gung von zarter, weicher Güte und gereifter Männ- 
lidfeit, jo daß man fih in feiner Gejfellihaft wie 
in der Hut eines Schutzgeiſtes fühlt. Und gwar 
gerade da, wo er nidt Hauptperfon ilt, 3. B. in 
der menjhlid tiefen Novelle von dem unglüdlihen 
Bimmermann Ebler Sdoof. mmer führt uns 
Fehrs durch edie, ernjte menſchliche Not hindurd, 
immer jcheiden wit innerlih nit nur bemegt, 
DR bereihert von ihm. Dabei ift dieje Scan 
eit fi in Natur, Duft und Atmojphare des all» 
täglihen holſteiniſchen Dorfes eingebettet, dak merf- 
mwürdigerweife gar fein Zwieſpalt fühlbar wird. 
Fehrs ijt, wie jeder echte Dichter, ein Lebenshelfer, 
der uns getrojt macht im Lebensfampf. — Schade, 
daß das Papier der Ausgaben nicht beffer ijt. St. 

Fobann Hinrih Fehrs, Anna Moeſch 
un if. Bertelln ut de Stinnertied. Ut fien nalaten 
Bapiern, tutgeben von Karl E. Febrs. 70 Seiten. 
Georg Weftermann, Braunfdweig. 

Eine nadgelafjene, unfertige Arbeit, aus Yugend- 
erinnerungen gewoben. Der Sohn hat das Beite 
aus den Papieren zujfammengeitellt und zwei Ge- 
ſchichten felbftändig zu Ende geführt (die Stüde find 
in der Einleitung bezeichnet), um ein Ganzes zu 
bieten. Das Bändchen jtellt man gern neben die 
vollendeten Novellen. St. 


Karl Anguft Meifinger, Sant und 
die deutihe Aufgabe. 
200. Geburtstage. 100 ©. Kart. 2 ME. 

u. Schloſſer, Frankfurt a. M. 

Das Buch ijt zu leihtbin gejchrieben. Der Unter» 
titel follte beißen: Kants Anjdauungen in deutſch— 
demofratifher Auffaffung. ie pbilojopbi- 
{den Gedanfengange Kants find flüffig und ange- 
nehm lesbar dargeftellt, zum Teil in interefjanter, 
eigenartiger Weife. Aber jobald Meifinger auf „die 
deutihe Aufgabe” kommt, fdiittelt man den Stopf. 
Was joll diejes Altuellemahen Kants? Wenn fon, 
dann dürfte man es wenigſtens an fantifher Gründ— 
licpteit nicht fehlen Iaffen. Was da zu dem Thema 
Sosialismus-Rapitalismus yefagt wird, ijt dürftig. 
Was über, vielmehr gegen die ,,v0lfifde) Frage” gee 
fagt wird, tft fomobl von Sant aus wie von der 
volfijden bee aus oberflächlich wie ein Wabiflug- 
blatt. Und wenn jchlanfweg behauptet wird, der 
„erite Definitivartifel” Kants „zum ewigen Frieden” 
fordere den Parlamentarismus des 19. ahrhun⸗ 
derts, ſo fann man nur erſtaunen. Die Weimarer 
Verfaffung würde nämlich fur Kant unter den Bee 
ariff der Dejpotie fallen — bitte genau zujehen. 
Derartige „Anwendungen“ Kants find immer be- 
dentlich, jte bedürfen auf jeden Fall der größten 
Selbitentäußerung. St. 


Isländiſche 


ehrs, Allerhand Slag 
hm. 147 ©. — Eittgrön. 
74 ©. — Georg Wefter- 


Englert 


Vollsmarden. Ueber 
fett von Hans und Yda Naumann. 317 S. Pappbd. 
6, Halbl. 10 Mt. Eugen Diederichs, Leipsig. 

in Band aus den ,Mardhen der Weltliteratur“, 
der 71 islandifde Marden und 8 von den Fardern 
enthält. 10 Marden find der alten Saga-Literatur 
entnommen. (Die Gefdidte von Thorftein aus der 
Batnsdoela ga madt freilih nur ſehr mittelbar 
den Eindrud eines Mardhens.) Die große Maffe 
des Buches enthält aljo neuere Bolf3märden, die 
freilich viel uraltes Gut bewahren. Ganze Partien 
de3 Buches wirken wie Beifpiele für Naumanns 
Lehre vom Präanimismus. Bejonders auffallend ijt 
die nicht geringe Zahl der Medtermardhen — wobei 
die ag tet, der Aechter leicht ins Totenreid- 
mäßige biniberfpielen — ber Riefinnenmarden und 
Hfldrenmärhen. Merfwiirdig ift Rr. 38: „In 


Eine Handreihung zu Kants, 


Deutihland war ein Ritter...” Eigentümlich ſchön 
find die Seehundsmarden 30, 31 und 72. Spegifi- 
ide Dümmlingsſagen finden wir nur zweimal: 
Ne. 3 (Tritt, Littl umd die Vögel), Nr. 50 
(Hwelt), wovon nur die erfte den typiſch deutſchen 
ähnelt. Das Ganze bildet eine reizvolle, im fich 
gefhloffene Welt, eine le — von Rea— 
lismus und Traumhaftigkeit, herber Nüchternheit 
und Dämonentum. Wer die Sagaliteratur ſchätzt, 
ſollte ſich dieſen Band als Ergänzung nicht enigehen 
laſſen. St. 

Robert Budzginsti, erdinand Avena— 
rius. rg ee Bildgr. 22 x 32cm, 
Vom Künftler figniert, 5 ME. Georg D. W. Call« 
wey, Münden. 

Das Blatt deigt Avenarius in dem Turmraum 
feines großen Arbeitszimmers, im Seffel vor. dem 
großen runden Tiſch. Durchs Fenfter fieht man ins 
Elbtal. Es ift der alte Avenarius in rubender 
Stellung, mut raſchen, flotten Striden La el 
ohne Eingehen aufs Detail (das fic) bei Avenarius 
bejonders lohnen würde). ür uns, die wir ihn 
fennen, ein willfommener Anhalt für die Erinnes 
rung; für die andern gibt es eine Seite feines 
Weſens, freilich die, welhe für den Stunftwartlefer 
alg bejonders wejentlih in Betradt kommt: die des 
ruhig Sinnenden. Gamberger gibt mehr, am mei» 
ften gibt Bleefers Porträtbüfte. Bei Budzinsfi tritt 
das Ehrwürdige des refignierenden, aber immer 
nod lebendigen Alters hervor. Die PVerehrer des 
Mannes und feines Werkes feien auf das Blatt 
aufmertjam gemadt. St. 


Erid Lilienthal, Die Toten Magen an. 
Des deutfchen Volkes Freijprud. 64 ©. 1,— Mt. 
Pyramidenverlag Dr. Schwarz u. Co., Berlin. 
Das ware ein feines Aufflärungsmaterial, dieje 
eds fleinen Bilder. at da die Menſchen in der 
Welt nicht mehr fo aufgeregt find, würden jie durch 
diefe Meinen Szenenbilder das deutjhe Voll, wie 
alles war im Strieq und alles wurde, verftehen 
lernen! Statt wertlofer Brojhüren und Flugblatter 
follte man dieje Meinen Hefte recht weit ver) a 


Arthur Mabraun, Ueber die Einführung 
der allgemeinen gleihen Arbeitsdienftpflimt. Yung« 
deutjher Verlag, Kaffel. 2 ©. 0,40 Mt. 

Hinter diefen furgen und fadliden Darlegungen 
über Zmwed und Möglichkeit der Arbeitsdienitpflicht 
ftebt der Wille des Jungdeutihen Ordens. Erſtaun— 
lid) raſch und weit bat fi unter unjerer Jugend 
die Begeifterung für diefen Erjaß der Heeresdienit- 
pflicht verbreitet. Ich glaube allerdings, dak wit 
eher die allgemeine Heeres- als die Arbeitsdienit- 
piliht haben werden, würde mich aber freuen, wenn 
ih ins Unrecht gejegt würde und die Jugend aus 
fic) dieſe wirkliche „Tat“ vollbradte. Mahraun 
bietet auf wenigen Seiten eine flare Ueberſicht über 
den heutigen Stand der Angelegenheit. Er jtellt 
feinen Plan fürs erfte ganz auf Oedlandfultur ein, 
um die Gelbitverforgung Deutſchlands zu fichern, 
will aber die Sleinfiedlung (Gartenfultur) viel mehr 
alg die Bauernjiedlung pflegen. Finanzieren will 
er den großen Apparat auger durh einen erjten 
Staatsfredit durd) die „Arbeitsmart”, die geſtützt 
wird durh die zu fdaffenden Werte. Das vor 
allem fdeint mir der neue Gedanfe zu fein. Wefent 
lich ift bei der Mahraunfhen Arbeit auch, dak er 
die fittlihen und ethiſchen Werte ftarf betont, die 
in dem Gedanten der Wrbeitsdienftpflicht Liegen, 
Ich vermiffe aber aud bier noch wieder eine Aus- 
einanderjegung mit folgenden Einwendungen, die 
gegen die A. erhoben werden: 1) den Ginmwurf der 
Gewerffdaften, daß ein fo riefiger Arbeiterapparat 
in der Hand einer Regierung diejer einen jtarfen 
Einfluß auf den Ausgang mirtihaftliher Span» 
nungen und Kämpfe geben würde; 2) daß die Be- 
ihaffung von Wohnungen, Kleidung ujw. für die 


223 


Arbeiterheere gerade jest unerſchwingliche often ver» 
urfahen würde; 3) daß die Abſicht, auf Grund der 
Bübrungszengnille freie ober verbilligtes Land an 
die Wrbeitsjoldaten zu geben, ein fittlih fo eine 
wandjreies Beamten- und Borgejegtenheer voraus- 
eben würde, wie e8 in unjerer moralijh verwil- 
erten Zeit niemand für möglih halten würde; 
4) daß ein Bmwangsarbeitögejeg einen mit Macht- 
mitteln ausgerüfteten Staat vorausſetzt, den wir 
nidt haben, G. K. 


Arthur Mahraun, Der Weg für Deutid- 
lands Zukunft. 15 ©. 0,50 Mt. Jungdeutſcher 
Verlag Kaffel. 

Eine jehr erquidlihe Anjprade des Hochmeiſters 
des Jungdeutſchen Ordens. er den gejunden Geift, 
ber diefe Gemeinjdaft leitet, fennen lernen, wer 
Ballen will, worin die pofitive Arbeit des Ordens 
beftebt, der leje die kurze Rede. Nichts Ueberitiege- 
nes im Programm, jondern edhtes deutſches Leben 
wird da gepflegt. G. K. 

Bilbelm € Gerſt, Gemeinſchaftsbühne 
und Jugendbewegung. Sammelband 1924, Beit- 
rift des BiihnenvolfSbundes. Gebd. 3,50 Mi. 

tanffurt a. M. 

Diefe Yabresgabe des BiihnenvolfSbunde3, die 
don in reid) bebildeter, gut ausgeftatteter zweiter 
uflage vorliegt, gibt eine umfaffende Weberficht 
über alles Streben nad Bühnenerneuerung, jomweit 
e8 aus dem Geift der Jugendbewegung gejdiebt. 
Außer mehreren grundlegenden Aufjägen find die 
Gebiete „Vom Spielen der Yugend“, „Zugendfpiel 
und Stegreiffpiel”, „Heimatjpiele”, „Bom Spielplan 
des deutſchen Theaters“, „Die Neformarbeit am 
Theater” u. a. m. jo ausführlich behandelt, daß 
jeder, der irgendwie an diefen ze beteiligt ijt, 
reihe Anregung darin findet. 8 iſt augenblidlid 
das Bud über die Beitrebungen zur Bübnen- 
teform. G. 8. 

Hermann Krieger, Not-Wende Vom 
Aufitieg des germanifhen Wbendlandes. 298 ©. 
Verlag Georg Weltermann, Braunjchweig. 

Man wird ſchwer fertig mit dem Bud. Auf den 
erften Anhieb gelingt es wohl überhaupt feinem. 
Dazu find die vielen gigantifhen Yoeen, die es ent- 
hält, zu fehr in einer unferm Gefühl durchweg 
mwiderfprehenden Form dargeftellt. Wir mehren ung 
innerlich gegen mandes, was Strieger fagt, obgleich 
wir fühlen, daß wir ihn nicht widerlegen fünnen. 
Am Ende loft fih uns aber dod wohl auf, was uns 
lange widerftrebte: wenn wir nämlid merfen, daß 
wir im Grunde die legten Gefege, die bei Rrieger 
fo drüdend wirken, in freundliderem Gewande an- 
erfennen Lönnen. Die dee „Satan Natur” ift 
dod gleihzufegen mit Goethes Gefeg „Hammer 
oder Amboß“. Andere großartige Gedanten, die uns 
wiſſenſchaftlich nicht fiher genug gegründet zu fein 
fheinen, fann man ald Dichtung nehmen; wieder 
andere fann man ablehnen. Gewinn bringt die 
Beihäftigung mit ihnen immer. Go mag dieſes ges 
baltvolle Sud, da8 uns bet der Ergruͤndung 
unſeres germanifd raſſiſchen Weſens einerfeits bis 
gu den Urzellen führt und uns anbdererjeits die 
Reifen großer Gebirge jo gut wie ganzer Völker er- 
leben läßt, und das dabei unjer heutiges Leben 
ges fo unerbort aufrichtig beleuchtet wie das der 

olfer in Urzeiten, ernten Menfden zur häufigen 
Beihäftigung mit großen Ideen und Hypotbejen 
warm empfohlen fein. 8. 
Cornelius Tacitus, Roms Geſchichte 
feit Auguftus’ Tod. 1.—6. Bud. (Annalen.) atei- 
nijh mit gegeniibergeftellter Ueberjegung von Lud— 
pig, Maenner. (Tusculum- Büderei I. u. IH.) 
2 Bände. Ernit reg Münden. 

Wie bei den früher angezeigten Bänden von 
Ovid und Horaz find Iateinifher Text und deutjche 
Ueberjegung gegenübergeftellt. Die Bändchen ent» 
balten die Gefdidte des Tiberius und damit ein 
gut Teil Germanengeſchichte. Wünſchenswert ware 
ein Inhaltsverzeichnis und Namensregijter gewefen. 


Die a fonnen wir leider nicht loben, und 
zwar, weil jie zu anjprudsvoll ijt. Erſtens fagt fie 
mebr, als im ert fteht (mit ohne Tendenz), gum 
andern bat fie einen ergwungenen Gtil, der dem 
gedrungenen Stil des Tacitus denn dod nicht ent. 
ſpricht. Schon im erjten Sag heißt ed: „Im An- 
jang lafteten auf Rom Sonige... Nur Monate 
fliidteten fi zur Diktatur“. Wo fteht bet Tacitus 
etwas von ,laften” und as Seltſam die 
Einführung direfter Rede ohne Grund: „Vier Keile 
werden gejpalten!” erweiterte ber Cäſar den lüjter- 
nen egionen die Verheerung“. „Es fprad ber 
Senat: Nicht mit nädtigen Lijten ftidt das rächende 
Rom nad jeinem Feind, — feine Klinge brandet 
bellauf.“ Es fteht von Stlinge und branden gar 
nichts da, jondern nur „palam et armatum ulcisci.” 
(I. &. 109.) Den Stil erträgt man ein Feuilleton 
ang, aber nidt einen Band bindurd. ud wird 
die Lektüre des Urtextes durch folde Variationen 
taum erleidhtert. Schade. - St. 


Alfred Brehm, Haustiere. Auswahl aus 
der 1. u. 2. Aufl. von Brehms Tierleben. 264 ©. 
eb. 6 Mt. — Wildtiere. Auswahl aus den erjten 
uflagen von Brehms Tierleben von Dr. Walther 
Sable. 393 ©., geb. 8 ME. Bibliographifhes In— 
ftitut, Leipzig. 

Das alte Brehmſche Tierleben mußte in wiffen- 
ſchaftlichem aaa von Auflage zu Auflage um» 
geftaltet werden. abei ging der urfpriinglide Text 
allmählih verloren. Aber Brehm war nicht nur 
Forſcher, fondern aud Tierliebbaber, Yager und 
vor allem, unbewußt und unabfidtiid, eın munder- 
voller Volkserzieher. Yn der Art und Weije, wie 
er bon ben Xieren ergablt, Bet eine Teilnahme 
für die Streatur, eine Liebe und freude, die ane 
ftedend wirkt. Ich ſelbſt verdanfe dem alten Brehm, 
deffen Bande ih als unge bei einem Onkel ent» 
dedte, für mein Verhältnis zur Natur ungeheuer 
viel. Darum gab id aud gleih nad dem Freie 
werden des Werles die Eleine Sammlung „Bom 
Hofftaat des Königs Nobel“ heraus. Ich begrüße 
es, daß bier zwei umfangreihere Auswablen aus 
dem Brehmjden Tee vorliegen. Der Band ,,Haus- 
tiere“ bringt: Hund, — Pferd, fel, ind, 
Büffel, Schaf, Ziege, Schwein, Kamel, Renntier. 
Der Band „Wildtiere“: Affen, Raubtiere, Sterfjäger, 
Nager, Beuteltiere, Wiederfauer, Elefanten, Nase 
börner, Schweine, Flubpferde, Seehunde. Dazu die 
alten Holsihnitte. Die Wuswablbande aus Brehm 
ebören auf das Bücherbrett jedes deutjhen Jungen. 
Sie erfüllen die ſchönſte und reinfte Qungensfebn- 
fudt. Obne Brehm aufzumahfen will mir wie 
eine feelijdhe Berarmung erjcheinen. Brehms Tier- 
freundjdaft ift ein Stüd deutfhen Vollstums. St. 

Smillers Werte. weite, kritiſch durch⸗ 
geſehene und erläuterte Ausgabe. 15 Bände. Verlag 
des Bibliographifchen a in ny : 

Pe des deutſchen Ausverlaufs fehlten im 
Buchhandel felbjt die Ausgaben unferer erjten Klaffi« 
fer längere Sell, Inzwiſchen hat Cotta eine neue 
G@oethe-Ausgabe herausgegeben, die gwar der Yubi- 
laumsausgabe nicht gleidfommt, indes für wiljen- 
ſchaftliche Arbeit im allgemeinen ausreidt. ür 
Schiller hat nun das Bibliographiſche Inſtitut mit 
der vorliegenden Neuausgabe von „Meyhers Klaſſi— 
fer-Ausgaben” hervorragend gejorgt. Die Namen 
der Herausgeber Ludwig Bellermann, Robert Petſch, 
Albert Leigmann und Wolfgang Stammler bürgen 
für die Sitte der Leiftung. Der Lömwenanteil fallt 
Robert Petſch zu, der fi mit der ihm eigenen 
Gewiffenbaftigfeit bejonders des dramatiſchen Nad- 
laffes (Demetrius!) angenommen bat. Die Einfüh- 
rungen, die erlauternden, textliden und gejhicht- 
lihen Anmerfungen, gute abresüberfihten und 
ein länzendes Perjonen- und Sadregifter am 
Schluſſe erleichtern die Benugung ungemein und 
fihern diefer Ausgabe heute den erjten Plak. Dag 
die „Gedichte“ (Bd. I) die übliche Einteilung in 8 
Perioden nicht mehr beibehalten haben und rein 
aeihichtlih nad der Entjtehungszeit angeordnet find, 
fei bejonders hervorgehoben. 9. 6. 








Gedrudt in der Hanfeatifhen Verlagsanftalt Aktiengejelichaft, Hamburg 36, Holftenwall 2. v 


224 





Otto Illies, Buchenwald 


Aus dem Deutihen Volkstum 


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Aus dem Deutfhen Volfstum Rudolf Shafer, Heimatfrieden 


Deutiches Bolfstum 


6. Heft Eine Monatsichrift 1924 





Die Gefährdung der deutjhen Familie. 


as Gamilienleben der Gegenwart ift uns eine ernfte Sorge. Aus den 

engen Wohnungen und gedrüdten Gefjidtern fchaut uns die Not an, auf 
den Rummelplagen und an den VBergnügungsftätten lacht uns der Hohn ente 
gegen, in Wort und Schrift madt fidh Frivolitat und Schwärmerei breit. Die 
Sablen unferer Ghee und Geburtsregifter aber bejtätigen ſolche Stimmungs- 
bilder in erfchredender Weiſe. 

Wir nehmen das fehr [hwer. Niht aus Gründen der Bepöl- 
ferungspolitif. Gie ift vielmehr gerade mit fduld daran, daß fo viele 
gegenwärtig die Berantwortung für ihr Gamilienleben von fic abjchütteln. 
Man Hat den Leuten immer eingeredet, fie batten die „Pflicht“, für den Staat 
Ehen zu fließen und Kinder aufzuziehen — nun, dann foll der Staat e8 
einem erjt einmal möglid maden. Wir Hatten nicht halb fo diel Bitterfeit 
und Gtarrjinn in unferem Gamilienelend ohne diefen bevölferungspolitifchen 
Gedanfengang der GBolfsmaffen. Der Staat aber fteht verlegen da, denn ihm 
find es nun mit einem Male zwanzig Millionen Menfchen zu viel, für die 
er forgen foll. 

Ans befümmert bie Gefährdung der Familie aus gang anderen Gründen. 
Die Ghe ift Der befte Sradmeffer für die Volksſittlichkeit. 
Mag es gleich vereinzelt Männer von hidfter DBerufstüchtigfeit geben, bei 
denen das Gefdledtsleben ganz in das Gebiet des Natürlichen fällt und von 
fittliden Grundjagen faum berührt wird — fürs Ganze urteilt unfer Bolfs- 
Empfinden Doch richtig, wenn es beim Wort „unfittlich“ zunächſt an geſchlecht— 
lide Zudtlofigfeit denkt. Hier ift der Punkt, an dem fi nun einmal beim 
Mann die Beherrjdhung und Sei der Frau die Bejeelung des Trieblebens ent- 
ſcheidet. Ebenſo wichtig aber ift uns der Gedanke an die Rinder, denn die 
Samilie ift und bleibt Der Midtigfte Sraieber für dasnadfol- 
gende Gefdledt. Seder, der mit der Sugendgeridtsbilfe in Fühlung 
ftebt, wird das beftätigen. 

Trogdem lehnen wir das Gejammer und die Entrüftung des moralifchen 
Spießbürgers ab. Gr tut, als fei das Gamilienleben zu feiner Zeit überall 
ideal gewefen. In Wirklidfeit hat es aber immer neben dem gefunden Fa— 
milienleben aud) unentwideltes und entartetes gegeben! Diefe biologijche 
Unterfdeidung erft führt über bloße Stimmungsurteile hinaus. 

Beim gefunden Familienlebm denkt faft jedes unmillfürlich 
ans eigene Glternhaus. Gewiß, es ift nicht alles fo ideal gewejen, wie wir 
in unferer findliden Unbefangenheit meinten, aber wenn wir aud im friti- 
fen Jugendalter und in reiferen Jahren nod den Gindrud haben, es fei nicht 
bom beutigen Gerderb angefränfelt gewejen, Dann war es — nun meinthalb 
nicht ideal, aber doch gefund. Vater und Mutter hatte die Liebe zufammen- 
geführt und der Segen diefes Bundes war eine Schar frifcher, fröhlicher Kin- 
der. Man hat daheim fchaffen und fparen müffen, aber man bielt fic die 


227 








geit frei für ſchöne Sonntage und vergnügte Feierabende; Krankheit und 
Gorge blieben nidt aus, aber die Eltern ftanden treu zufammen und eines 
trug des andern Laſt; aud Trübungen und Spannungen fehlten nicht, aber 
wie wir unfere Eltern fannten, hatten fie fic) bereits ineinander eingelebt und 
die Krifis der GFlegeljabre hat dem Zufammenleben bon Eltern und Kindern 
[hließlich Doch nur tieferen Gehalt gegeben. Auf diefem Hintergrund hebt fich 
tdyllifeh die Grinnerung an Samilienfefte und Berwandtenbefude, dramatijch 
bie Auseinanderjegung der alten mit der neuen Generation, Ihrifd Die Liebes- 
geſchichte des Sefchwifterfreifes ab — furgum: die Familie war das Sammel- 
beden, in das alles floß, was jedes erlebte, Die Quelle, aus der Heute nod 
Slüd und Kraft ftrömt. 

Ein folhes Familienleben ift eine natürliche Lebensgemeinfchaft, befeelt 
durch die Liebe. Sie ift aber nie der Normalfall gewefen, zahlreicher waren 
ftetS die unentwidelten Familien. Statt der völligen Lebensgemein- 
{aft gewahren wir bier nur drei Berührungspunfte: Standesgemeinfdaft, 
Sefdhledhtsgemeinfdhaft und Arbeitsgemeinfhaft — und begeidnenderweife 
führt gerade der erjte, oberfladlidjte Berührungspunft zur Eheſchließung. Die 
beiden Gamilien und ihre Güter paffen zufammen — alſo pajjen auch die 
beiden Menfchen zufammen. Sie heiraten ſich ohne tiefere perfinlide Neigung, 
aber ohne daß fie auch nur ein deutliches Gefühl für die Roheit folchen Ge— 
ſchlechtsverkehrs hätten, ftellt der Naturtrieb die ebelidhe Verbindung ber; 
fame nicht zur Standes- und ©ejchlechtsgemeinfchaft die Arbeitsgemeinjhaft 
Binzu, jo würde fic jchwerlich je ein menfchenwürdiges Verhältnis ergeben. 
Aber merkwürdig: fobald die beiden Haus und Hof zu verwalten haben und 
in der Kindererziehung den Grnft der Verantwortung fpiiren, wadft ihnen von 
da aus fo viel Pflichtgefühl zu, daß die She an fittlidem Gehalt das Map 
befommt, das fie braudt, um in Treue und GHrbarfeit beftehen zu könnem. 
Wenn man fo will, entjteht aud hier etwas wie eine Lebensgemeinfdaft, nur 
ift fie fo unentwidelt wie die Menfchen, die fie bilden: es fehlt ihr Die Seele, 
weil die Liebe fehlt. Eine ſolche She wird nicht unglüdlich fein — die Leute 
wiffen gar nicht, wie viel ihnen mangelt — aber fie wird meiftens freudlog 
bleiben. In allen Bolfsfhichten, in denen Stand und Befik ausfchlaggebend 
Jind, alfo bor allen in Adel, Sefhäftswelt und Bauerntum, find ſolche Shen 
die Regel, an der die Jugend nicht zu rütteln wagt. Da aber das Herz des 
jungen Menſchen aud in diefen Kreifen eine andere Berbindung ahnt, fo 
wird die Poefie der Liebe por der Ehe im freien Verhältnis porweggenommen, 
ehe man mit dem Hochzeittag die öden Repräfentationspflichten und Werk- 
tagsjorgen auf fid nimmt. Und gegen diefe Sitte find nun die Alten machtlos. - 
Sn diefen Kreifen fann nod gar fein rechtes Familienleben gedeihen, weil über 
den perfönlihen Beziehungen unverrüdbar die dingliden fteben. 

Die entarteten Familien fönnen genau nach demfelben Schema 
dargeftellt werden — bis auf einen einzigen Heinen Unterfchied: an die Stelle 
der Arbeitsgemeinfdaft ift bier die Giitergemeinfdaft getreten. In dem 
Augenblid aber, wo ftatt der Arbeit der Genuß den Lebensinhalt bildet, be— 
fommt die She fozufagen ftatt des pofitiven Borgeidens ein negatives, jo 
daß aud die an fic indifferente Standes- und Geſchlechtsgemeinſchaft unfittlid 
wird. Innerhalb diefer Gruppe gibt es felbftverftindlid eine ganze Reihe von 
Abftufungen, wobei die entfcheidende Frage ift, ob die Familienglieder wenig- 
ftens nod gemeinfamer Genuß verbindet oder ob jedes unabhängig bom an» 
dern oder gar auf Koften des andern fein Leben zu genießen jucht; immer 
aber hat der Genuß die Tendenz, die Gemeinfdaft zu Iodern oder zu fprengen. 


228 





Solde Ehen findet man bon jeher unter den oberen Zehntaufend wie im 
Zumpenproletariat. 

Nun ift Die Lage die: bisher waren die gefunden Ghen das unbeftritteme 
Ideal, weldes — ohne daß man biel darüber geredet hätte — bie unent- 
widelten anzog und über fic hinauswies, die entarteten dagegen der verdien- 
ten Beradtung der Gefellfchaft preisgab. Daraus ergab fich fürs Ganze eine 
fteigende Kurve. Geit einigen Jahren aber ift eine verhängnispolle 
Berfdiebung eingetreten: die entarteten Shen find nad Zahl und Einfluß 
in rajhem Wachstum begriffen, die gefunden aber gleichzeitig in folche 
inneren und äußeren Schwierigkeiten gefommen, daß fie aufhören, die maß- 
gebende Rolle zu fpielen. Wollen wir diefe Verfdiebung verftehen, fo müffen 
wir unferer Zeit ins Auge fchauen. 

Die Sünde der Zeit ift die Genupfudt. Sie ift in den verweichlichen- 
den Stiedensjahren groß geworden, war im Krieg voritbergebend zurüdge- 
drängt, erhebt aber feit Zufammenbruh und Repolution Anfpruh auf 
Schadenerfag und gleihes Recht für alle. Dadurd erft wirkt die Genußſucht 
fo leidenfcaftlid und brutal. In der Schwindelzeit der letzten Jahre konnte 
fie fic zunächft befriedigen: erft war der Tang Mode, dann das Kino, jchließ- 
lid der Lilör; und immer waren Weibergefhichten mit im Spiel. Das ift nun 
feit der Berarmung der meiften wieder unmöglich geworden, aber die Sudt ift 
geblieben. Und gerade die gefdledtlide Genufjudt wird von den Drabte 
giebern der Gefellfdaft am meiften gereizt und ausgebeutet. Wir brauden gar 
nidt an einzelne Sfandalfälle wie Schnitlers „Reigen“ zu denfen, fdon 
die Iandläufigen Kinos und Wikblatter, Schundhefte und Schandjtüde peit- 
{den die fezuelle Phantafie ftändig auf. Und fie verlangt nun ihre DBefrie- 
digung. Gewiffen? Bab! Sp madens alle! Golgen? Dummer Junge, 
das fauft man dod in jedem Srifeurgefhäft! — Man muß nicht 
meinen, fo raffiniert fet nur die @rofftadtjugend. Seit dem Krieg 
ift jeder Mann „gewitt“ und in den Arbeitergiigen lernen aud Die 
Mädchen verftehen, was das Wochenblättchen meint, wenn es immer wieder 
die Anzeige bringt: , Bei Regelftörung verwende man...“ War früher der 
Hobe Prozentſatz unebhelider Geburten ein Zeichen fittlider Zuchtlofigkeit, 
fo ift feit einigen Jahren das Seltenwerden diefer Fälle aud) auf dem Land 
ein nod viel bebenflideres Anzeichen geworden. Man fann hören, wie 
junge Gurfden und Mädchen fi in der Gifenbabn über folde Nittel mit 
einer Kaltblütigfeit unterhalten, als handle es ſich um Huftentropfen. Das ift 
auch gar fein Wunder. In der modernen Sezualwiffenfchaft und im modernen 
Drama erhält ja jeder den Freibrief, fic geſchlechtlich auszuleben. Die Sünde 
gebärdet fid) als Natur, die Ungudt wird Ideal. Maffenverfammlungen for» 
dern das gefeblide Recht, von jedem Raffenargt die Tötung des feimenden 
Lebens vornehmen laffen zu dürfen, und im Entwurf zu einem neuen Seuchen» 
gefeß, das nur hygieniſche Gefidispuntte fennt, erfcheint die Gewerbsungudt 
bereits als ehrliches Gewerbe, die Ausftellung und Anpreifung bon Borbeue 
gungsmitteln als erwünſcht. 

Daß diefe Strömung gerade Menfchen aus unentwideltem Gamilienleben 
gefährlich wird, liegt auf der Hand. Die jungen Arbeiter und Arbeiterinnen 
mit ihrem lange Zeit übermäßigen Berdienft, die jungen Kaufleute und Bere 
fäuferinnen in ihrer oft verderblihen Umgebung, aber aud die Alten, die in 
Spekulation und Schiebertum hineingeraten find, fie alle find einer übertriebenen 
Lebenshaltung und — was ſchlimmer ift— einer genießerhaften Lebensanſchauung 
verfallen. Weil ihnen bei ihrer feelifhen Zurücgebliebenheit dabei die Kraft 


229 


einer ftarfen, perfinliden Liebe fehlt, die fie berausriffe, fo ftebt auch ihre 
Ehe unter dem Zeichen der Genufjudt: man will fie in der Ehe befriedigen, 
jedenfalls nicht durch fie beeinträchtigen Iaffen. Eben dies ift nun aber im 
höchſten Maß der Fall! Wer heute feine Familie auch nur notdürftig durd- 
Bringen will, muß feine ganze Kraft dafür einfeben. Daher die verbitterte, 
gereigte Stimmung fo mander GFamiliendater. Irgendwie muß in dieſe 
Kreife die Ahnung echter Freude und wahrer Liebe fommen, irgendwie muß 
ihnen die Grkenntnis werden, daß Genießen gemein madt. Gs müßte ein Fen- 
fter aufgeftoßen werden, durd) das fie in das bisher unbefannte Sebnfudts- 
land eines reineren, ſchöneren Lebens fdauen. 

Das wäre viel leichter, wenn mehr gejundes Familienleben als lebendiges 
Ideal unter uns zu finden wäre. Aber das ift die eigentliche Urfache der 
Krifis, daß diefe Familien durd die Not der Beit gedrüdt und durd den 
Geift der Zeit germiirbt find. 

Bei der Not der Zeit denfen wir por allem an die Wohnungsnot 
und Dienftbotennot, hinter Der aber beidemal zugleich die Geldnot fteht. Gin 
junges Paar will heiraten. Ratfelbafterweife hat es troß der verlorenen Gre 
[parniffe noch irgendwie zu einer Ausfteuer gereicht. Aber nun beginnt die 
Schwierigkeit: „375 Bordermanner“. erflärt adfelgudend der Wohnungsbe- 
amte, der fie bormerft. Sie müfjfen fid trauen lafjen, um nur überhaupt 
Anredht auf DBerüdfichtigung zu erwerben; nah Sabr und Tag fiten fie, 
iwenn’s gut gebt, in einer Zweizimmerwohnung mit Gasherd oder Küchen- 
anteil, ohne Keller und Holglege. Das ift an fic) ſchon für Mann und 
Grau eine ftarfe Nerbenprobe, jeder weitere Menfch aber ift einfach zupiel. 
Daher der üblihe Gang des Paares zum Spegialargt: „Wir wollen heiraten, 
fönnen aber feine Kinder brauchen. Wie follen wir's madhen?“ Die ere 
wartungspolle jorgliche Freude, mit der man früher dem erften Kindlein ent- 
gegenfab, ift der Gurdht por dem Kind gewiden. Und in den älteren Fa— 
milien, die ihren Hausftand in den befferen Zeiten gegründet haben? Da ift 
die Hausmutter durd die Dienftbotennot zur Magd geworden und der Hause 
bater zieht mit Dem Handfarren zum Kohlenplatz. Schaffen, forgen und fparen 
wird der einzige Inhalt des Gamilienlebens. Gewif, fo hat man es in Ar- 
beiter- und DBauernfreifen ſchon immer gehabt — wir verftehen mit einem 
Male den Drud, der auf ihrem Gamilienleben lag! — aber die Sragik ift bier 
doch größer, weil es fih um Menfchen handelt, die gewaltfam auf die Stufe 
der bloßen Arbeitsgemeinfhaft herabgedrüdt werden, obwohl fie innerlich 
zu etwas Höherem reif wären. ’ 

Womit follen fie fid tröften? Die Not ift einfad da und fann dur 
nichts aus der Welt gejchafft werden. Das deutfche Volk gleiht einem Baum, 
der im Gaft fteht und treiben möchte, dem aber unbarmbergig immer wieder 
die Aefte abgefdlagen und die Schoffen zurüdgefchnitten werden. Das muß 
als unertraglide Not empfunden werden. Aber verloren ift der Baum erft, 
wenn ber Saft ftodt, das DBolf, wenn es feinen Lebenswillen aufgibt. Ehe— 
ſcheu und Kindermord find diefe Gelbftaufgabe. Mit ihnen gibt aud die 
Liebe alle Unmittelbarfeit und Unbefangenbeit auf. Gs liegt ein Bann auf 
dem Bamilienleben. 

Gs muß nidt fo fein. Unfer Volk hat früher aud fdon [were Zeiten 
erlebt. Aber wenn wir in alten Lebensbefdreibungen aus den Zeiten des 
großen Griedrid) oder Napoleon blättern, fo ftoßen wir auf Leute wie den 
gelehrten Profeffor Pfaff in Sappers „Frau Pauline Brater“, der in 
einer Gde der Wohnftube, nur durch einen RKreideftrid von der lärmenden 


230 


Kinderſchar getrennt, fein Sanstritwörterbuch fchreibt, oder auf Beate Paulus, 
die Enkelin des berühmten Slattich, die wie eine Bauernmagd auf ihren Pfarr- 
ädern fteht, um aller menjhliden Berechnung zum Trog ihre feds Söhne 
ftudieren laſſen zu fünnen. Wie viel Lebensmut hatte doch jenes Geſchlecht, 
einen Lebensmut, der Herauswuds aus Anfprudslofigfeit und Gottvertrauen! 
Man madte nidt die heutigen Anſprüche an Bequemlidfeit und geficherte 
Sufunft, fondern wagte das Leben — und gewann. Gaft alle die Großen in 
unferem Bolt baben in einem folden Glterns und Gefdwifterfreis ihre 
Lebensenergie empfangen. Giner der wenigen, der aus gefiderten Verhält— 
niffen ftammt, Mörife, klagt: 
Ih bab müffen die Liebe, die Freude, 
[die Gite 
Für fo viel Kinder allein auseffen! 
Das will ih mein Lebtag nicht ver— 


Ich bin meiner Mutter einzig Kind, 
Und weil die andern ausblieben find 
— was weiß id, wie viel: die feds [geffen! 


[oder fieben — Es hätte mir aber wohl mögen frommen 

Sft alles an mir allein hängen blieben. pote if ane oud matinee th fecbfe 

[befommen! 

And nod eins fällt uns an jener Zeit auf. Man madte weniger Anſpruch 

an Geift, mehr Anſpruch an Gemüt. Ich rede nidt von den Salons der Roe 

mantifer, fondern bon den Familien. Man träumte nicht von geiftiger 

Kameradſchaft mit gemeinfamer Lektüre u. dgl., fondern fand fein Glück in der 

Liebe, die die Laft des Tages erleichterte, und an dem froben Lachen der 
Kinderftube. Matthias Claudius und Ludwig Richter find dafür Zeugen. 

Man fann nicht mehr einfach zurüd in „die gute alte Zeit“. Aber wo 
Diefer Lebensmut heute wieder erwacht, wie in unferen Werfftudenten und 
Siedlern, wo das finnige Gemüt warme Gemütlichkeit fchafft mitten in der 
Dirftigfeit unferer Haushaltungen, wo Gottesfurdt und Gottvertrauen wurzel- 
echt aus der Not Herauswadjen, da ift die Not aud ſchon gebrochen, die Zu— 
funft gewiß! 

Go bat uns die Not der Beit bisher fhon auf den Geift der Zeit 
adten gelehrt. Bon zwei Erſcheinungen muß aber noch gang befonders die 
Rede fein. Was die Beften für ein gefundes Gamilienleben innerlich ver— 
dorben bat, ift die geſchlechtliche Aufflärung und der gefteigerte Sndividualis- 
mus. Ueber das Recht der Aufflärung gegenüber heuchlerifcher Prüderie und 
dem Schmuß der Gaffe ift fein Wort zu verlieren; aber weil es Aufklärung 
war, 30g fie gefühllos Dinge ans Licht, von denen nur die Liebe den Schleier 
hätte lüften dürfen. Daher der kraſſe Naturalismus und fable Rationalismus 
in unferem gefdledtliden Denfen und Gmpfinden bis hinein in die&he. Man 
hatte uns nidt über das GSefdledtsleben aufflären, ſon— 
dernin dieMpfterien dDerLiebe einweiben follen, jo daf wir 
dem Gros mit Ghrfurdt und Berantwortlidfeit gegenübergeftanden wären, wie 
fic’s gebührt. Statt dem „zurüd zur Natur“ hätte man uns viel eher ein 
anderes „zurüd“ gurufen follen: „zurüd zur Religion!*, zurüd zu der heiligen 
Scheu por den Gebeimniffen des Lebens, welche ein Grundgug jeder echten 
Stömmigfeit ift. 

Saft noch verhängnispoller ift aber für unfere Jugend der gefteigerte In« 
dividualigmus geworden. Und gwar deshalb fo gefährlich, weil er zunächſt 
recht hat mit feinem Ideal der Wahlverwandtihaft. Bon Platons Sympo— 
fion bis gu Schleiermadjers Bertrauten Briefen und Ellen Keys Eſſahs um- 
treift die erotifhe Phantafie immer wieder diefes romantifhe Ideal. Seder 


231 


fühlt, daß unter diefem Ruf der Liebe die Knofpe feines Wefens auffpringen 
müßte und daß jede andere Ehe nur ein fimmerlider Erſatz fein fann. 
Aber je beftimmter und höher die Erwartungen find, die wir auf einen ge- 
liebten Menfchen fegen, der uns ganz entſprechen foll, defto empfindlicher, une 
fiderer und ent{dlupunfabiger werden wir. Aufgelöfte Berlobungen und ent» 
täuſchte Shen bezeichnen den Leidensweg der romantijden Liebe alter und 
neuer geit, wenn fie nicht bon vornherein [don in den Srrgarten der „freien“ 
Liebe gerät. Und wohlgemerkt: diefer Sndividualigmus wirkt nicht erft in 
feelifch überfeinerten Kulturfhichten fo zerjegend — Mud-Lamberth 3. DB. 
ift Drechjlergefelle. Noch febe ich einen ftruppigen Bauern bom Säntis bor mir, 
der mir in der Gifenbahn bon dem Olid vorſchwärmte, das er im Anſchluß 
an Sutter und an Ragaz gefunden, und vor dem Ausfteigen ander» 
traute, er wolle fi bon feiner Frau ſcheiden laffen, weil fie ihn nicht mehr 
verftehe. Dabei ftand fie bor der Geburt feines neunten Kindes! Gs wird 
gu diefer Scheidung nie gefommen fein, aber bezeichnend ift bet jolchen indi- 
vidualiftifhen Schwärmern, wie die Lebensenergie, die zur Weberwindung der 
®egenfake aufgeboten werden müßte, in frudtlofem Grübeln und Sinnen 
vielmehr die Fäden auflöft, die fich bereits herüber und hinüber angefponnen 
batten. Wie viel mehr Schuß por foldhen Stimmungen und Berftimmungen 
lag in dem unverrüdbaren „Du follft“, mit dem man fic früher an das Treu- 
gelübde hielt, oder in folden fprihwörtliden Abſchiedsworten der Brauteltern: 
„Du darfft jederzeit zum Befuch heimfommen, aber nie zum Klagen.“ Mit 
diefem „Du follft* famen die Alten beffer guredt als wir Jungen mit 
unferem „ih midte*. Luthers Berlegenheitsebe 3. B. — denn um eine folde 
handelt es fic) bei ibm nad unferen heutigen Begriffen — Tann por dem romans 
tiſchen Ideal nicht beftehen, aber mit feinem Willen zur Ehe Hat er dod 
in Wirklichkeit etwas aus ihr gemadt, was die tatfidliden Ehen der Ro— 
mantifer tief befchämt. 

Allein das ift es eben: die inneren Kräfte fehlten uns bisher, um den An« 
forderungen und Berfuhungen gewadfen zu fein, und deshalb war jede Ehe 
in Gefabr, auf die nadftniedere Stufe Derabgufinfen. Wenn nicht alles trügt, 
ift Diefe finfende Tendenz Heute gum Stillftand gefommen. Man Hat nicht mehr 
den Gindrud des widerftandslofen Dabingleitens, fondern es ift wieder der 
Ginn für bie einfadhen, großen Grundbedingungen des Lebens erwadt, gu 
denen aud) Ehe und Familie gehört. Diefen wird die neu erwwadte Kraft zugut 
gu denen aud) Ehe und Familie gehört, fo wird diefen bie neue Kraft zugut 
fommen. Die meiften Männer haben ihr Familienleben bisher in tragifcher 
Gerblendung einem Götzen geopfert. Nun aber beginnt einer um den andern 
eingufeben, daß die Familie die ficherfte Möglichkeit gibt, der Gegenwart frob 
zu werden und auf die Zukunft zu wirfen. Das madt uns Hoffnüng, daß 
wir die Krifis überftehen. Ostar Pland. 


Zamilienmüdigfeit. 

m Mittelpunkt des Kampfes zwifchen der alten und der jungen Generation, 
der Heute um uns und in uns tobt, fteht das Problem der Familia 
Alle Anflagen, die bor allem bon der Jugend gegen diefe Bindung ins. 
Treffen geführt werden, laffen fid auf das eine Grundmotid reduzieren, daß 
die Familie infolge des Mangels an Gleidhgeftimmtbeit zwifchen den einzelnen 
Gliedern die ſeeliſche Entwidlung des werdenden Menfchen behindere. Alles 
Lob, mit dem befonders das Alter die Familie bedenkt, läuft fchließlich darauf 
binaus, daß fie inmitten der Unraft des Lebens einen fideren Rubebafen bilde, 


232 


io der Grmattete „im Kreife der Seinen“ neue Kraft und neuen Mut ſchöpfen 
fünne. 

DBegrifflih lapt fic diefer Streit nicht fdlidten. Denn die Antinomie 
gwifden dem Lebensgefühl des Alters und der Jugend ift ihrem Wefen nah 
ewig. Immer wird der junge Menfd mit dem Gefühl an die Welt heran- 
treten, er miiffe fie bon Grund auf neu aufbauen. Immer wird das Alter 
dieje Anmaßung belädeln. Die Grfenntnis der „Zeitlofigfeit dieſes Rone 
fliftes darf man fid aud nicht dadurch trüben laffen, daß der Kampf gwifden 
alt und jung in der jegigen Phafe unferer Zipilifation und aus der Bejonder- 
beit unferer Diftorifdhen Lage heraus fdeinbar ganz neuartige Gormen ane 
genommen bat. Sugendbewegungen hat es zu allen Zeiten gegeben. Man 
braudt nur an den Sturm und Drang oder an die Romantik zu denken. Und 
wenn uns heute unfere Bäter als faum zu überbietende Mufterbeijpiele der 
Arterienderfalfung anmuten, fo dürfen wir nicht vergeſſen, daß fie fich einft 
erbittert mit ihren Vätern hberumfchlugen und daß wir vorausfidtlid den— 
felben Borwurf der Ueberalterung von unferen Kindern hören werden. 

Der Kampf der Generationen ift fo alt wie die Welt. Sein lester Inhalt 
ift immer die Grfenntnis, daß fein Menſch für einen anderen „Lebenserfahrung“ 
fammeln fann. Wechſelnd hingegen und dadurch der logiſchen Analyſe 
zugänglich find die Formen, die Argumente, mittels deren dieſer Kampf ge» 
führt wird. Und in der Art, wie Heute Ankläger und Verteidiger das Thema 
„Samilie* behandeln, fdeinen mir beide Parteien — Repolutivnäre wie 
Patriardaliften — in einem fundamentalen Irrtum befangen. 

Zunädft ift die Familie fiderlid — und das ift der Irrtum ihrer Lobe 
redner — feine friedliche, fondern eine eminent Triegerifhe Inftitution. Und 
gwar gerade wegen ber abfoluten Srrationalitat ihrer Zufammenfegung. Feinde 
maden wir ung, Greunde und Haustiere fuchen wir uns aus. Die Wahl 
mag oftmals qualvoll fein, immer ift fie frei. Dieſe Freiheit hört aber ſchon 
bei der Shefchließung auf. Sede Ehe — ganz gleich, ob es fid um eine Bere 
nunfte oder um eine Liebesheirat handelt — ift ein Abenteuer, Denn Mann 
und Weib find zwei ganz verſchiedene Welten. Und wie fic dieſe beiden 
Welten ineinanderfügen, wie fie fi) zufammen- oder auseinanderleben, das 
entzieht fid, als Leben, jeder Berechnung. Die Mtathematif hat Recht, wenn 
fie das Aziom aufftellt, daß zwei mal zwei gleich vier ift. Falſch ift da- 
gegen der Gab, daß eins plus eins gleich zwei ift. Eins plus eins fann 
taufend, fann aber aud null fein. Der Sprung von der Ginfamfeit 
zur Sweifamfeit ift immer ein Sprung ins Duntfle. 

Gin nod größeres Abenteuer als die Eheſchließung ijt aber das Geboren— 
werden. Denn mit diefem völlig paffinen Akt plagen wir in eine Welt hinein, 
auf deren Zufammenfegung wir nicht den geringften Einfluß gehabt haben, 
und der wir Dod für lange Sabre unferes Lebens hilflos ausgeliefert find. 
Zu einem fo heroiſchen Entſchluß aber ift nur ein gänzlich unbewußtes Wefen 
fähig. Selbft der fühnfte Springer würde bor einem Sprung zurüdichaudern, 
deffen Ziel in undurddringlides Dunkel gebillt ift. Die Geburt aber gleicht 
einer Reife im fliegenden Koffer mit dem erſchwerenden Umftand, daf der 
Koffer, nidt fein Befiger das Reifeziel beftimmt. 

Anfer moderner bon Zwedmäßigfeitsporftellungen beherrſchter Geiſt löckt 
begreiflierweife gegen den Stachel diefer Irrationalität. Der Kampf gegen 
den „Zufall“ der Geburt ift das Schlagwort, unter dem einft das Bürgertum 
die privilegierten Stände befiegte. Gr ift das Feldgefdrei, unter dem Heute 
der Sozialismus über das Bürgertum zu fiegen hofft. Satfadlid ift es aud 


233 


der modernen Zipilifation gelungen, eine große Anzahl der alten Bindungen 
zu zernagen. Begriffe wie Sippe und Stamm, Stand und Zunft, find für uns 
ldngft leere Worte, deren ehemalige Bedeutung wir uns mühfam aus einem 
Lezifon gufammentlauben. Auch die Straße, der Nachbar haben wenigftens 
für den modernen Grofftadter den Charakter des Schidfalbaften, des Aben- 
teuerlichen verloren. Nur das unentwirrbare Geflecht von Eltern und Kindern, 
@rofeltern und Gnfeln, Onfeln und Tanten, Bettern und Bafen hat 
felbft unfere moderne Wiſſenſchaft nod nicht zu rationalifieren vermocht. 
Nirgends tritt die völlige Ginfluplofigfeit technifcher Grfenntniffe auf unfer 
Lebensgefühl fo grotest in Grjdeinung wie in diefem Punkte. So wenig fid 
der DBerliebte durch die Entdedung des Kopernifus daran gehindert fühlt, 
Sonne und Mond als Privatveranftaltungen zur Beftrahlung feiner Emp- 
findungen zu betrachten, jo wenig ift es der Pſhchoanalhyſe mit ihrer wider- 
finnigen Neigung, fidh das Unteilbare durch Yerlegung angueignen, bisher 
gelungen, aud nur einen Zipfel des Schleiers zu lüften, der das Gebeimnis 
des DBlutbandes verhüllt. 

Mußte die moderne Zivilifation fo den Kern der Familie unangetaftet 
lafjen, fo ftrebte fie doch nad einem Seilfieg und bemühte fich, dieſe unheim- 
ih irrationale Bindung, die fie nicht gertriimmern fonnte, nad Kräften zu 
lodern und gu umgehen. Zahllos und nad Ort und Zeit fehr verfdieden 
find die Mittel und Mittelden, die zu diefem Zwed zur Berfiigung ftehen. 
Der familienmüde Gnglander gebt in den Klub oder nad Indien auf die 
Zigerjagd. Der Deutfche gründet einen Gerein. Der Gffekt ijt immer der 
gleihe. Immer wird die irrationale Bindung durch eine überfichtliche, zweifel- 
bafte erfebt. Sfatjpieler fteht gegen Sfatjpieler, nicht Seele gegen Geele. 
Selbft die Beziehung zwifhen Tiger und Tigerjäger ift beruhigend eindeutig 
im DBergleih zu der zwifchen Onkel und Neffe. Ob fi ein Verein Die 
Berforgung der Sudanneger mit Badehojen nder die deutſche Weltherrſchaft 
zum Ziele fest, immer ift er feinem Grundrhythmus nad eine pazififtifhe Gin- 
tidtung. Denn mit der Garderobe gibt der Herr Aftuar Meder auch fein 
Menſchentum ab, um das Bereinslofal als fleifhgewordene Idee Des 
Imperialismus, oder was fonft verlangt wird, zu betreten. 

Schade nur, daß der Slüdsraufch, fich unter gleidhgeftimmten Nidt-Geelen 
gu befinden, fo furg ift. Nad Faſſung vieler nügliher Beſchlüſſe taufcht Herr 
Meher gegen feine Garderobemarfe Mantel, Hut, Regenihirm und Menjchen- 
tum wieder ein und fehrt — wie unfere Gentimentaliften fo [hön jagen — in 
den „Schoß der Gamilie* zurüd. Dort aber findet er feine Tochter Emma 
in wildem Disput mit ihrem Bruder Frit. Die theofophifch veranlagte Gmma 
erwartet die Rettung der Menſchheit bom Nufeffen, der beidnifch geftimmte 
Fritz bat fi in der Hike des Wortftreits zur begeifterten DBerfechtung des 
Kannibalismus durchgerungen. Beide Teile appellieren an die väterliche 
Autorität. Und vor der erdrüdenden Schwere des Problems: „Nüffe oder 
Menfchenfleifh?“ finten alle die weichen Hüllen, Aktuar und Imperialift, zu 
Boden. Nadt und bloß fteht Herr Meder da, nur nod) Vater, inmitten des wilden 
Agons der Familiengwifte. Denn bier tobt der zügellofe Rampf des Lebens, 
in dem ein jeder fich felbft für den Rechtgläubigen, den Gegner aber für einen 
Ketzer hält. Hier feffeln eiferne Klammern den Berfdwender an den Geighals, 
den Sragen an den Ghrfiidtigen, den Graufamen an den Grbarmenden. Hier 
ftebt Seele gegen Seele unverhüllt, unverftanden und verftändniglog. 

Um dieſer agonalen Struftur, nicht aber um ihrer angeblichen Friedlidfeit 
willen haben fich alle gefunden Zeiten zur Familie befannt. Der Unraft des 


234 


modernen Zipilifationsliteraten blieb es vorbehalten, diefe Bindung zu 
befritteln oder zu fentimentalifieren. Beide Betradtungsmeijfen verfälfchen das 
Problem, weil beide das Produkt einer durchaus unfamiliären Grundlage find. 
Der rationaliftifhe Kritifer, der unter dem Vorwand der Erweiterung feines 
geiftigen Horizonts durd Vereine, Klubs und PDfchungel raft, gewahrt nicht, 
daß alle diefe Ausflüchte lediglich ein Daponlaufen vor dem eigenen Ich dar— 
ftellen. Der Sentimentalift aber fteht der Urtatfache des Blutbandes mit der- 
felben DBlödfichtigfeit gegenüber, wie das Naturgefühl des modernen Groß— 
ftädters dem Faktum: Natur. 

In der fraglofen Bejahung der Familie ftimmt dagegen der geiftige 
Menfsh mit dem natürlichen, ftimmt das Genie mit Dem Demiurgen überein. 
Goethe hat feiner Ahnen mit demfelben Stolze gedadt wie der weftfälifche 
Bauer, der den Pflug über die Scholle feiner Bater führt. Ilias, Nibelungen- 
lied und König Lear find Samiliendihtungen. Weder Homer nod Shafejpeare 
aber denken daran, die Familie in einen Rubehafen umgulügen. Sie fpreden 
es unberbillt aus, daß die ſchwerſten Sragddien Samilientragödien find, und 
beugen ſich der Weisheit des Alten Teftaments, das dem vierten Gebot als 
eingigem unter allen eine Verheißung beifügt. 

Wider den Stachel des DBlutbandes lödt nur das Halbgenie. Denn es 
berfennt den Umftand, daß der Krieg der Bater aller Dinge, daß felbft der 
Saf; ein Ausdrud tieffter Zufammengebörigfeit ijt. Vereine, Klubs und Welt 
reifen find fiinftlide Zufammenballungen bon Individuen unter einem Zwed- 
gedanken. Die Familie Hingegen ijt die letzte fosmifche Gemeinfdaftsform, die 
uns Die moderne Zipilifation gelaffen Hat. Nur aus dem Mutterboden des 
Kosmijhen aber fann die phantaftifche Blume der Perjönlichkeit erblühen. 
Denn nur in diefer Luftfhicht geht der Kampf aufs Ganze, find Seilent=, 
{Heide und Halbheiten unmöglid. Der Bruder fann den Bruder bafjen oder 
lieben, er fann fic aber nicht gleichgültig ihm gegenüber verhalten. 

Daber ift vielleiht das ernftefte Symptom unferer feelijden Grfranfung 
die repräfentative Stellung, die wir zwei wefenhaft unfamiliären Lebensformen 
einräumen: dem Schaufpieler und dem Hiftorifer. Beider Wirfungsmöglich- 
feiten beruhen auf einem abfoluten Relativismus, Dd. h. einer völligen Charakter— 
Iofigfeit. Se mebr der Schaufpieler fein eigenes Ih ausldjdt, deſto 
größer wird der Kreis feiner Rollen. Bon Natur Keter und Bagabund 
flieht er inftinftio die brutale Realität der Familie, die feinem Antlig fcharf 
umtrifjfene Züge geben und ihm damit die Wandlungsfähigfeit rauben würde. 
And in einer ganz gleichgearteten Welt des Scheins atmet der Hiftorifer. Um 
fih dem feligen Wahn bingeben zu fünnen, er verftehe Luther und Bismard, 
muß er gunddft einmal bergeffen, daß er nidt das geringfte bon dem 
Seelenleben feines leiblihen Bruders zu begreifen vermochte. Das Streben, 
die Grinnerung an dieſe erfte und entjcheidende Niederlage feiner Ein— 
fühlungsfähigfeit zu übertäuben, nötigt ihn, um das Schlachtfeld der Familie 
einen borfidtigen Bogen zu fchlagen. 

Geſunde, aktive, dogmatifhe Zeiten — alle drei Adjektive find gleich“ 
bedeutend — verfehmen deshalb dieſe beiden Typen des Alleserfühlens als 
©aufler. Mittelalter und Aufklärung haben troß aller Gerfdiedenbeit ihrer 
@laubensinhalte eines gemein: fie find gutiefft unhiftorifh und unſchau— 
ſpieleriſch. Aus dem Kampfinftinkt ihres Ganatismus heraus find fie familiär. 
Unfere Zeit aber ift frank. Ihre Kritif und ihre Sentimentalität entjpringt 
derfelben Wurzel: der Familienmidigfeit als Sonderform einer allgemeinen 
Kampfesmüdigtfeit. Peter Rihard RoHhden. 


235 


Rhythmus oder Kunjtbewegung? 


usgangspunft oder Biel unzähliger Beftrebungen fcheint gegenwärtig die 

Unterweifung in Kunftbewegungen zu fein, weldhe zum Grlebnis und 
zur Grfenntnis des rhythmiſchen Geſchehens führen follen. Diefer in immer 
neuer Gewandung wiederfehrenden Bemühung um das Wefen des Rhythmus 
ftebt ein erhebliher Zeil unferes Bolfes fremd oder ablehnend gegenüber; 
es macht fid) fogar eine Srmüdung bemerkbar, diefe Beftrebungen zu fördern, 
in der Annahme, daß alles ſchon zu oft und ohne Erfolg verfudt worden fei. 
Daß es aljo mit dem RbHythmifden eine eigne Betwandtnis haben miiffe, 
ahnen einige dunfel, ohne aber die Kraft aufzubringen, felbft nachzufpüren, 
weldes die Arſache der Grfolglofigfeit der fich oft widerfprechenden Lehre 
methoden wohl fet. 

Man fann Rhythmus weder lehren nod Iernen, fo wenig, wie man das 
Leben und Weben in der Natur lehrt und lernt; man muß ihn beſitzen und 
die geheimnispolle Kraft fpüren, wenn man den ſchüchternen Berfud madden 
will, anderen Menfden dazu zu verhelfen, das zitternde Pulfieren und feine 
Schwingen in fic Durch fic felbft zu erleben. 

Betrachten wir die Naturentfremdung der Stadtbepölferung und die ge- 
fundbeitlihe Gntartung unferer Jugend. Gs vererben fic leiblide und 
geiftige Schäden, die durch die Lebensweife bedingt find; unharmoniſch und 
verframpft reden Körperbewegungen und G©efichtsausdrud eine erjchredend 
deutlihe Sprade bom verlorenen Naturzuftand. Das Sedeiben der Pflanzen 
zeigt jedem aufmerkſamen Beobadter, daß Unkraut aud unter ungünftigften 
Bedingungen nod fröhlich blüht und fic vermehrt, während edleres Gewads 
ber bebutjamften Pflege bedarf. Ebenfo ift es beim Mtenfden. Auch bier 
[hießen Shwäden und Fehler luftig ins Kraut, fdiidterne Knofpen der Gee 
fundbeit und feelifhen Schönheit überwucdhernd, wenn liebevolle Fürforge fehlt. 

Diefe Not gebar die Körperkulturbewegung, die nun Stadt und Land 
überfhwemmt. Unendlich groß ift die Zahl der auf Abhilfe Sinnenden und 
ihre Syſteme treten in verlodenden Garben an Suchende heran. Nad 
ſchwerer Wahl bleibt es dem Zufall überlaffen, ob das erwählte „Syſtem“ 
hilft, nicht hilft oder — ſchadet. 

Da man im allgemeinen von der Annahme ausgeht, daß das Eleine 
Kind noch im glidliden Beſitz urfprünglicher Empfindungen ift, fudt man 
meiftens erft nad Abhilfe, wenn die Schäden bedenklich geworden find, anftatt 
porgubeugen. Goethes Wort: , Web dir, daß du ein Enkel bift,“ fann nicht 
bedeutfam genug aufgefaßt werden. Satfadlid beſitzt mandes kleine 
Kind nod ein Ausdrudspermögen mittels elementarer Körperbewegungen, das 
uns mit ftaunender Ehrfurcht erfüllt — aber man bedenke, daß der Grad 
biefer inftinftiven, überwältigenden Gefühlsäußerungen abhängt von der Bere 
erbung feit Generationen, und daß die Stärke urfpriinglider Seelenregungen 
durchaus abhängig ift von der Gefundheit oder Entwidlungsmdglidfeit körper— 
lider und feelifher ©efühle. 

Sind aber die Srofftadtmenfden im Zeitalter des Materialismus und 
Sntellefiualismus überhaupt im Stande, die Urkräfte, Rhythmus und Schwung 
zu ahnen und zu begreifen, weshalb fie den meiften abhanden famen? Nicht 
allen Kindern bleibt der feeliihe und leiblide Rhythmus unverfümmert, 
fet ihre Abftammung hoch oder niedrig. — Gine höhere Intelligenz oder eine 
feitig intelleftuelle Bejchäftigung der Eltern hat unzweifelhaft ebenſowohl 
Abtötung oder ungünftigfte Beeinfluffung inftinktiver Körpergefühle und 


236 


Geelenregungen zur Golge, wie die mechanifche Berridtung eines Fabrik— 
arbeiters. 

Die Frage der Bererbung auf diefem Gebiet follte Gltern und Lehrer 
wahrlich lebbafter bejchäftigen und man follte fid Verſtändnis zu verfchaffen 
fuden, was dieſe neue Bewegung will. Wem der Dienft am Rhythmus 
Lebensbediirfnis (leiblihes und geiftiges), aber nicht nur Beruf oder Geſchäft 
ift, Deffen Arbeit wird bon belebendem Einfluß auf feine Umgebung fein 
müffen durch die eigne starte Perfönlichkeit*; — nur foldhe Menjchen fönnen 
als Führer diefer neuen Beftrebungen in Grage fommen, wenn man auf Ab- 
Hilfe rechnet. „Alle guten Dinge find über die Maßen Zoftjpielig auf Erden 
und immer gilt das Geſetz, daß, wer fie Hat, ein anderer ift, alg wer fie 
erwirbt. Alles Gute ift Grbjdaft; was nicht ererbt ift, ijt unboll- 
fommen, ift Anfang.“ „Eine Raffe, ein Gefdledht fann, wie fonft irgend- 
ein organifches ®ebilde, nur wadjen oder zugrunde geben; — es gibt feinen 
Stillftand,“ (Nietzſche). Können nod Zweifel Herrfden, mann und wo es 
gilt, Gejundbeitspflege bes Volles zu treiben? 

„Das Reich der Kunft nimmt zu, das der Gefundheit und Unfchuld nimmt 
ab auf Erden; man follte, was nod) davon übrig ift, aufs Sorgfältigfte kon— 
ferdieren und man follte nicht Leute, die viel lieber in Pferdebüchern mit 
Momentaufnahmen Iejen, zur Poefie (d.h. Kunft) verführen wollen.“ 
(Thomas Mann). 

Liegt Zwed und Ginn einer Geredlung des Gefdledts in der „Fünftler- 
ifchen“ Körperausbildung des Bolfes? Se inniger die Verbindung der Bes 
griffe „Eünftlerifeh“ mit Körpererziehung fic geftaltet, defto gefährlicher wird 
der Einfluß, den eine entartete, naturfeindlide Strömung bereits gewonnen 
bat. Durd berüdende Aufmahung wird es der Arhythmie gelingen, den 
Kampf gegen die Wiederbelebung des Rhythmus erfolgreich fortzufegen, 
wenn die Liebe zum Bolf uns nicht Hinreift zu fraftiger Gegenwebr. 

Raft euch nicht betdren, deutfhe Mütter. PHrafen und Ideen, welche 
eurem Wefen fremd find, fremd bleiben müffen, wenn anders ihr deutjches 
Bolfstum ſchützen und erhalten wollt, finnen ebenfowenig Erſatz bieten für 
fehlende Gemiitstiefe und -marme, wie bor der Geburt oder im erften Kindes» 
alter verfäumte förperlihe Gefundheit durch Tanzſchulen und „Lünftlerifche“ 
Körpererziehung in fpäteren Jahren ergänzt werden können. 

Sollte uns unfer - Inftinkt, unfere Urfprünglichkeit und Ehrlichkeit fo weit 
verlaffen haben, daß wir verleitet werden fönnten zu der Anficht, die Kunft 
fet ein höheres Ziel als edelftes Menſchtum? Wenn Peftaloggi por Hundert- 
fünfztg Sabren ausruft: „Der Menfch muß zu innerer Ruhe gebildet werden. 
Fühlſt du's nicht, Erde, wie die Menfchengefchlehter bon dem reinen Gegen 
ihrer Hausliden Berhältniffe abweichen und ſich allenthalben auf milde, 
[himmernde Schaubühnen bindrängen, um ihr Wiffen zu fpiegeln, ihren 
Ehrgeiz zu figeln?“ dann follten wir heut uns fragen: wo finden wir Die 
Quelle innerer Rube? Gtwa in „Lünftlerifcher* Betätigung, in Fünftlerifcher 
‚Körperkultur? — 

Thomas Mann gibt flare Auskunft; er läßt feinen Künftler befennen: es 
ift widerfinnig, das Leben zu lieben (d. b. Geſundheit, Kraft, Sreude) und 
Dennod) beftrebt zu fein, es auf feine Seite zu ziehen, es für die Fineſſen und 
Melandolien, den ganzen franfen Adel der Literatur (Kunſt überhaupt) zu 
getinnen.“ 

Sa, es ift widerfinnig, bon Bolfsgefundung, von der Hebung der fittlichen 


gt. Heinz Marrs Aufſatz über „Beruf“ im Sanuarbeft. = 


Kräfte zu reden, körperliche Graiebung zu fordern, um ein fernigeres, 
inftinkiftarfes Geſchlecht zu züchten und in demfelben Atemzug „Lünftlerifche 
Körperfhulung“, alfo die Gineffen der Künfte, fei es nun Dichtung, Muſik 
oder Malerei, mit Hineingugieben in eine Reformbeftrebung, bei welcher es 
fid um ,@efundheit und Anſchuld“ unferer Jugend handelt. 

Gin Vergleich gwifden neugeitlider künſtleriſcher Körperfchulung und der 
por fünfzig Sabren erträumten Rückkehr zur Natur fällt kläglich genug aus. 
Wir follten diefe Neubelebung der Künfte durch Körperfultur getroft 
den Künftlern überlaffen, denn fdrperlide Geſundheit ijt bier ebenfowenig 
das Ziel, wie es auf einem Irrtum beruht, daß das Nadtturnen in unjerm 
Klima, tweldes dauernde Bekleidung verlangt, eine Borbedingung fei für 
rhythmiſches Erleben oder Wiederbeleben. Man vergegenwärtige fid Die 
Grrungenfdaften des Eisſports; aufs höchſte gefteigerte, vollendete Beberre 
{hung des Körpers: Schwung, Rhythmus tro Bekleidung. 

Die Borfiibrungen unzähliger männlicher und weiblicher im Tang Aus» 
gebildeter lajfen den elementaren Ausdrud, das Ginfadhe und Schwungpolle, 
das rhythmiſchen Bewegungen eignet, faft gänzlich vermiffen. Man wird 
nidt durd Ausbildung und Technikbeherrſchung Tanger. Tanzen können ift 
göttlihe Begabung, ift Naturangebinde, Erbſchaft. 

„Die Natur auffaffen und fie unmittelbar benugen, ift nur wenigen 
Menjchen gegeben: zwijchen Grfenntnis und Gebrauch erfinden fie fid gern 
ein Quftgejpinft, das fie forgfaltig ausbilden und darüber den Gegenjtand 
mit der Denußung vergejjen.“ (Goethe). Das ift es! Gegenftand ift und 
bleibt die. Gefjundung des Bolfes. Während nun einerjeits die Wohle 
fabrigeinridtungen überhand nehmen, 30g man anbererfeits die Körpererzie- 
bungsfrage auf eine fchiefe Gbene; ftatt für Wrterhaltung und Grtidtigung 
in raffebpgieni{her Hinficht, für Wiederbelebung elementarer Gefühle und 
Kräfte zu ftreben, verläuft die Idee abfeits der Natur in verwaiferte, 
fünftlihe Sreibhausfultur. Die afthetifhe Wirkung wurde Ausgangspunft 
und Ziel — bierin liegt die Gefahr. „Das Wahre ift immer fdlidt einfad, 
haarſcharf, es verträgt fein aufgebaujdtes Gewand,“ jagt Feuerbach, aber 
eben „das verdrießt die Menjchen, daß das Wahre fo einfach ijt: fie follten 
bedenfen, daß fie nod Mühe genug haben, es praftifd zu ihrem Nuten an- 
zuwenden.“ (Goethe). 

Auf Koften des Rhythmus herrſchen Borderhirnprodufte und verfuchen, 
die Natur in die Enge zu treiben. 

Was bedeutet die Wiederbelebung des Rhythmus? Unter Rhythmus 
verjtehen wir das Fließende, Sich-ewig-Wechſelnde, in fteter Bewegung 
Befindlide, wie es im Kreislauf unferes Blutes, im Raufden des Windes, 
in der Gewalt der Strömung des Wajfers, in Ebbe und Flut fid uns offen- 
bart — alfo: was einen Gegenjaß bildet zum Bebarrliden, Beftändigen, zeitlich 
Mefbaren. Urfjprünglide oder rhythmiſche Bewegungen entjpringen der 
Sotalitat eines Körpers, wie man fie im Lauf und Sprung der Tiere be- 
obadten fann, folange fie nicht durch Dreffur und andere menfdlide Beein- 
fluffung ihre Natürlichkeit eingebüßt haben. Den Gegenjat bilden durch 
zeitliche Ginteilung in beftimmten Grenzen fid abjpielende, gebemmte, unfreie, 
edige Bewegungen des Menfchen, d. 5. einzelner Zeile oder feines ganzen 
berfteiften Organismus. Bewufte Berfteifung und Mechanijierung der 
Bewegungsfunttionen ift eine Frucht gegenwärtiger Syſteme. Mit viel Pathos 
borgetragene Gorderungen zeitigen abfonderlide GSrfolge; es erwedt den An— 
fein, alg wolle man abfidtlid alle Gefühlsſtrömungen, alle inftinktive 


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Bewegungsfreude und unbewußte Hingabe an den Rhythmus abtöten, als 
veraltet abtun oder lächerlich maden. Durch pantomimijde, grotesf wir— 
fende Arm- und Beinhaltungen (futuriftiiher Gzprejfonismus), wird Grfag 
für Sefühlsäußerungen durch elementare Gebärde geboten. Anmut und Gine 
falt ftehen Elagend abjeits. „Wer die Menfden betrügen will, muß bor allen 
Dingen das Abjurde plaufibel machen.“ (Goethe). 

Seblt es den deutſchen Männern und Grauen an Mut, Kraft oder Ein- 
fit, gegen dieſe fchleihende Gefahr rüdhaltlos aufzutreten? Einen Teil der 
Schuld an dieſer Duldjamfeit trägt die faljhe Deutung und Anwendung der 
Begriffe bom Rhythmus und Taft neben der Forderung einer „bewußten“ 
Spannung. Mangel an „richtiger“ fdrperlider, d. h. Musfel-Spannung, ift 
angeblih Urſache der üblen Körperbefchaffenbeit; infolgedeffen gerät man in 
einen Zuftand bon Dauerjpannungen, weldhe abjurde, gehemmte Bewegungen 
erzeugen; unfähig, einem Impuls zu folgen, wirken diefe Bewegungen geradezu. 
lähmend auf den ganzen pſycho-phyſiſch bewegenden, bewegten Organismus. 
Wer lehrt die Tiere die richtigen Spannungen? Dur) „Raumeinftellung“, 
„Sormbeberrfhung“, „geometriſche Sefegmafigkeit der Bewegungen“, durch 
„den Willen zur bewußten Spannung“ wurden unferer Jugend bon der fünft- 
leriſchen Körpererziehbungslehre weit bedenflihere Feſſeln gefdmiedet, als 
jemals durch die ftraffe Zucht des jest bon allen Seiten angegriffenen deutjchen 
Turnens. 

Die Beobachtung der Siere führt uns mitten hinein in das Berftandnis. 
für den Rhythmus; felbft in langer Rerferhaft bewahrt fid das wilde Tier 
nod) Gelaffenbeit und Anmut durch ftete Bewegung im engbemejfenen 
Raum. Der Auffaffung eines befannten Hamburger Schulmannes, das Kind 
fei nur ,Rohmaterial*, welches der formenden Hand des Lehrers bedürfe, und 
das bewegungsdurftige, lebhafte, biegjame Pflänzchen fei in überfüllten 
Schulklaſſen wohl aufgehoben, um zur Kultur zu gelangen durch ftundenlange 
Bewegungslofigkeit, widerfpridt bie Beobachtung, die uns jeder zoologifche 
@arien ermidglidt. — Spalierobft ziehen und Tazusheden befdneiden zur 
Steigerung des Grtrags und aus Raummangel ift fein Grgiehungsideal. Wir 
wellen unfern Kindern die lieblihe Anmut erhalten oder ihnen wieder dazu 
verhelfen, und fie ſchützen vor GEinflüffen, welche ihrer Ieiblihen Freiheit 
und ſeeliſchen DBertiefung binderli oder feindlid gefinnt find. Einfachſte 
allgemein anwendbare Uebungen fünnten ohne viel Belehrung das Gefühl 
und DVerftändnis für Natürlichkeit und Abſcheu gegen Biereret und Fünftliche 
Drejjur weden. Diefes Ideal würde nur erreicht Durch vorbildlich wirkende 
Körperbeichaffenheit und -bewegungsmöglichkeit des Lehrenden und oft nur auf 
Koften höchfter geiftiger Erträge. Was hülfe es dem Menjchen, wenn er Die 
ganze Well gewönne...? „Die Wachheit des Geiftes“ fieht der bedeutendite 
Erforfher des Rhythmus, Luwig Klages, als den Grund der überhandneh- 
menden rhpthmusfeindliden Erziehungsverſuche an. Das weibliche Geſchlecht 
müßte bor allem gefchüst werden bor der regelnden Kraft des Geſetzes durch 
den Geift, denn in den Müttern rubt Die Quelle der Bolfsfraft und in ihnen 
wird die organifhe Ginbeit der verfchiedenen Anlagen des Herzens, des 
Körpers und Geiftes am unerbittlidften geftört; bier trägt dieſe Berftdrung 
die erjchütterndften Golgen. 

Der Kampf auf diefem Gebiet fceint fid zu rbhftallieren um die Vee 
deutung und Anerfennung des Wertes des Bital-Pfydifden gegenüber dem 
Logifdh-Geiftigen und es nimmt nit Wunder, wenn einfeitig intelleftuelle 
Gefhöpfe ihre Natur verleugnen und mit dem meffenden Berftand Dinge be— 


239 


urteilen zu können glauben, welde eben nicht durch Logik, fondern nur durch 
Sefiible und Empfindungen Hhingenommen — geabnt werden fönnen. 

Aus der angeftrebten Wiederbelebung des Rhythmus (Bode, „Der Rhyth⸗ 
mus und feine Bedeutung für die Erziehung“. Diederichs, Bena) erhoffen wir 
eine ftarfe belebende Strömung der Volkspſyche. Ss bedarf hierzu feines 
foftfpieligen, großen Wpparates. Wie fdon erwähnt wurde, dienen eine 
fadfte, dem täglichen Leben der Menſchen entnommene Bewegungen und 
Uebungen diejem Ziel, fobald fie einer einzigen grundlegenden Gorderung 
genügen: mit dem Schwerpunft zu gehen. Man fpricht in der Körpererziehung 
bon einem fogenannten aftiben oder angefpannten Mustelzuftand im Gegen» 
fab zur paffiven, d. 5. nad Möglichkeit entfpannten Muskulatur. Der höchſte 
®rad von Entſpannung löſt ohne weiteres das Gefühl für die Schwere der 
&ztremität aus und zugleich ift biermit die Mmichtigfte Borbedingung für 
jeglide Körperfchulung gegeben. Das Schwunggefühl fommt lediglid aus 
der Fähigkeit, bewufte Entſpannung ausnugen gu können durch impulfive 
Bewegungen. 

Die Erkenntnis dieſer Theorien führt aber nicht zum Erwachen des 
Körpergefühls bei der Allgemeinheit; man muß ſogar bedauerlicherweiſe immer 
wieder erfahren, daß das Fleiſch willig, der Geiſt aber zu ſtark iſt, um dem 
Rhythmuserlebnis Bahn frei gu geben. 

Kleifts ftarfer, urfpriinglider Gmpfindung verdanken wir folgenden Aus» 
{prud in der Abhandlung vom Marionettentheater: „Wir fehen, daß in dem 
"Maße, als in der organiſchen Welt die Reflezion dunkler und ſchwächer wird, 
die Gragie darin immer ftrablender und berrfchender Herbortritt... fo findet 
fih aud, wenn die Grfenntnis gleihfam durch ein Unendlides gegangen ift, 
bie Gragie wieder ein, fo daß fie zu gleicher Zeit in demjenigen menſchlichen 
Körperbau am reinften erfdeint, der entweder gar feins, oder ein unendliches 
DBemußtfein bat, dD. h. in dem Gliedermann oder in dem Gott. Mithin müßten 
wir wieder bon dem Baum der Grfenntnis effen, um in den Stand der Un— 
ſchuld zurüdzufallen.*“ — Smma Goldige Wortmann. 


Ottilie Wildermuth. 


Nicht unfer Hirn, fondern unfer Herz denft den größten 
®edanfen. Anſer Herz aber oder unfere Seele oder der 
Kern unferer Perfinlidfeit ift ein Gunfen aus dem Lebens- 
lihtmeer Sottes. Sean Paul. 


Clit die ältere Generation in Schwaben wedt der Name Ottilie Wilder- 

mutb eine Fülle von anmutigen Bildern und bunten Geftalten; er ver— 
fegt fie zurüd aus einer harten und ſchweren Beit in eine verjunfene Welt 
bürgerlichen Friedens und beiterer Hauslider Behaglichkeit. Da wandelt ein 
flanger, bagerer, lederfarbener Gnglander durch die Gaffen Mtarbadhs und 
wirft fic, während er fchreitet, Zuderpaften, die er in feinem weiten Aermel 
verborgen hält, in den Mund. Das Fräulein bom Greihof fteht por uns 
-auf, Die fich als blühende, gefeierte Schönheit einft von einer Zigeunerin wahr» 
fagen ließ: „Kein anderer als ein Kaifer wird dich heimführen. Kommt er 
aud) jpät, jo fommt er doch gewiß,“ Die daraufhin einen Freier um den andern 
bon ihrer Tür weift und ſich das Warten nicht verdriefen läßt, bis fie, Die 
Neunzigjährige, fchließlih vom Leichenkutſcher Raifer zu ihrer legten Rube 
beimgeführt wird; da erfcheint der humoriſtiſche Pfarrer, der fein Frühſtück 


240 


in der Aurorahalle einnimmt und deffen Buben mit goldenen und filbernen 
Pfeilen jhießen; der knöcherne Hafelnußpfarrer, der feinen großen Garten mit 
lauter Hafelnußftauden bepflanzt, um des Abends in feiner Studierftube bei 
Wein und Nüffen und dem dumpfen Ton feiner Bafgeige einfame Orgien zu 
feiern; die geigige Pfarrfrau mit den Dettbezügen aus Trauerfattun und, 
ihrem: „Ich effe nichts mehr, der Papa mag nichts mehr, der Herr Vikar 
begebren nichts, das Hermannden friegt nichts, und Die Magd braudt 
nichts mehr;“ oder jener freundlide Heilbronner Stordenwirt, der, wenn 
eine reifende Dame mit Kindern [hücdhtern eine Suppe beftellt, fie mit den 
Worten unterbridt: „Gut, Madame, ja, ja; haben recht fräftige Nudelfuppe, 
werden aud) noch ein wenig Deffert übrig haben für die Kinderlein, das geht 
drein“ — eine Figur, die uns Heutige anmutet, als wäre fie einem alten 
Märchen entjtiegen. Noch hundert andere könnte ich anführen, an denen fid 
die Herzen unferer Mütter und Großmütter ergdst und erquidt haben. Und 
die fpätere Generation? Sie lehnte Ottilie Wildermuth mit einem mitleidigen 
Achſelzucken ab: den nad unbefdranfter Freiheit Dürftenden erfdien fie als 
die Bertreterin einer enghergigen, moralijierenden, leicht pietiftifch gefärbten 
Spießbürgerlichkeit, die mit Recht als ein veralteter, übertwundener Stand- 
punkt angefeben werden dürfe. Diefes Bild haben heute nod viele von ihr, 
die meiften freilich, ohne fie recht zu fennen. 

Go hätten fic alfo die Zeitgenoffen in ihrem bewundernden Urteil über 
das didterifhe Schaffen diefer Frau getäufht? Der ernfte Uhland, in dem 
der „Stadtjchreiber“* ein fold) inniges Bebagen, ein fold berglides Lachen 
auslöfte, wie es in Jahr und Tag fein anderes Buch getan; der Philofoph 
Shelling, der befennt, daß er faum jemals |, Lieblideres“ gelefen**; die Dichter 
Adalbert Stifter, Seremias Gotthelf, Bodenftedt und taufend andere mit be- 
rühmten und unberühmten Namen, fie alle batten es nidt vermocht, den 
©eift Heinbürgerlicher Enge, der mit bedrüdendem Haud Durch diefe Schriften 
toeben foll, zu verjpüren und ihre literariſche Wertlofigfeit zu erfennen? Ehe 
wir ein foldes Urteil fällen, wäre es wohl der Mühe wert, ung einmal zu 
fragen, was denn eigentlid den Wildermuthſchen Schriften den gerügten 
bausbadenen, fpießbürgerliden Sharafter verleihe? Und ferner, ob in ihren 
Werken jenes ſchwer definierbare Etwas ftede, das ihnen ein Recht geben 
würde, ihre eigene Zeit zu überdauern und auch einem fpäteren Geſchlecht nod 
etwas zu jagen? 

Einfache, befcheidene, wenn man will [pießbürgerlihe Berhaltniffe find 
es zweifellos, in denen fich die meiften der Wildermuth’fhen Helden und 
Heldinnen bewegen. In ſchwäbiſche Pfarrhäufer werden wir geführt, in 
alte, gediegene Beamten- und ehrbare Bürgerhäufer und in die Hütten der 
Armut. Das Alltagsleben wird ung gemalt, nicht in rofa und Himmelblau, 
fondern mit viel gefundem, oft derbem Realismus. Aber auf dem Boden 
diefes Alltagslebens wachſen die mannigfaltigften Originale, wunderliche 
Käuze, deren Gebaren und Einfälle fid bunt von der grauen Folie der fie ume 
gebenden Spießbürgerlichkeit abheben; fraftpolle Manners und aufopfernde 
willens- und glaubensftarfe Grauengeftalten, die ihre bejchränften Berbalt- 
niffe nicht als drüdende Geffel empfinden und abwerfen, fondern die innerhalb 
diefer DBerhältniffe ihr Leben nad) ihrem Sinn und Willen zu geftalten 


» Bilder und Sefdhidten aus Schwaben, Band I. 


** ‚Ottilie Wildermuths Leben“ (nad ihren eigenen Aufzeihnungen zufammen« 
geftellt und ergänzt von ihren Töchtern). 





241 


wiffen. Alles was lebensfabig, gefund und tiidtig, was froh und beglüdend 
in Heinen Verhältniſſen ift, wird von der Didterin ans Licht gebradt. „Der 
einfache Grundgedanke aller meiner fleinen Berfude*, fo fchreibt fie felbft an 
eine Sreundin, „ift Der Wunfch, zu zeigen, wie reich und mannigfaltig aud 
das alleralltäglichfte Leben in feinen verfchiedenen Erjcheinungen ift, wiepiele 
erfreuliche, . ergögliche und poetifche Seiten jede Zeit und jeder Lebenstreis 
Bieten, wie Quellen zu barmlofem Lebensgenuß in jeder Stellung liegen.“ 
Der befannte Literaturbiftorifer Bilmar fchreibt einmal der Didterin: „Ihnen 
ift Die wunderbare ®abe verliehen, nicht etwa die Wirklidfeit zu vergolden 
— bas fönnen andere aud) — fondern das Gold der Wirklichkeit an den Tag 
gu legen; und wieder ift dies nicht bloß irdifches Gold, fondern das Bold, das 
an den Schwellen des PBaradiefes gefunden wird.“ — Spießbürgertum, fo 
wie ich es verftehe, ift ein trübes Altwaffer, an dem der Strom des Lebens 
porüberzieht, ohne dem trägen Glement Bewegung mitzuteilen. Die Schriften 
der Wildermuth aber find ein Waffer, das munter dabinraufdt und das ‘im 
goldenen Gonnenglang ihres Humors taufend bligende Lichter wirft. Kein 
Strom, der ftolg und madtig das Land durchzieht und unfere Phantafie in 
fabelbafte Gernen Iodt, aber ein klarer Bad, der durd die heimiſchen Fluren 
eilt, an deffen Ufern alles grün und frifh und frudtbar ift, und der den 
Wanderer bei jedem Schritt por neue Freuden und Ueberrafdungen führt. 

And der moralifhe Ginfdlag, die pietiftifhe Färbung der Wilder- 
muthſchen Schriften, an denen mande fo großen Anftoß nehmen? Die 
fdlidte Lebensweisheit, von der Ottilie Wildermuth ausgeht und zu der fie 
wieder und wieder guriidfebrt, ift: der einzige Weg, gliidlid zu werden, ift, 
glidlid zu maden. Das einfadfte Leben, ja fogar ein Leben in Armut und 
Not, in Kummer und Krankheit bietet uns die Möglichkeit, durch ſelbſtver— 
gefjende Liebe andern wohl zu tun und fo zu dem Frieden zu gelangen, 
welden die Welt nicht geben fann. Diefe Lebensweisheit aber hat ihre Wur— 
geln nicht in einem engbergigen Pietismus, fondern in einer lauteren, find« 
liden Frömmigkeit, in jenem echt chriſtlichen Geift, ber die Menfden, die uns 
nahe fommen, gang befonders aber Die Armen und Bedriidten und Glenden, 
mit verftehender Liebe umfaßt. — Nur eines ift Ottilie Wilbermuth in der 
Seele zuwider: das Blaffe, Siflide und Gentimentale, alle Unnatur und 
falfde Romantik. Gegen ſolches Unwefen find denn aud die einzigen [harfen 
Pfeile gerichtet, die fie verjendet. In diefem Stüd ift fie Schwäbin durch 
und Durd, und fie zeigt fid bier nicht nur ftammes-, fondern aud geiftes- 
verwandt mit dem ihr befreundeten flaren, nüchternen, maßpollen Ludwig 
Ubland. Diefer fteht als eine Geftalt voll Kraft und Friſche ja aud in aus— 
gefprodenem Gegenſatz zu dem unmännliden, verſchwommenen und phan« 
taftifchen Wefen manches andern Dichters der romantifhen Schule — wenn 
man Uhland überhaupt zu diefer Schule rechnen will. Daß Ottilie Wilder- 
muth im Ausdrud ihrer Abneigung gegen romantifhe Stimmungen und Gee 
fühle aud je und je zu weit gebt, fo 3. B. wenn fie den jungen: Wertber, 
„etwas ärmlich“ findet, ijt freilich nicht gu leugnen. 

Nun zu der Frage, ob die Schriften der Ottilie Wildermuth einen frudt- 
bringenden Keim aud) nod für unfere Zeit enthalten. Gang abgejehen davon, 
daß fie als ſehr beadtenswerte Kulturdenkmäler por ung ftehen, find einige 
der „Bilder und Gefdidten aus Schwaben“ rein äfthetifh gewertet Kunft- 
werfe auf dem Gebiet humorvoller Kleinmalerei, und wenn fich die [pater 
erfdienenen Gefdidten nicht immer auf diefer Höhe halten, fo finden fich dod 
auch unter ihnen nod Perlen von hellem Glanz, wie 3. B. der entzüdende 


242 


„SHerbfttag bei Weinsberg“*, der uns unwillfirlid Gottfried Rellers Gre 
gablungstunft in den Sinn ruft. 

So viel Rühmenswertes aber auch von einzelnen Sefdidten gejagt werden 
mag, fo ift der eigentlide und tieffte Wert der Wildermuthſchen Schriften 
Dod wohl nidt auf rein äfthetifchem Gebiet zu fuden. Der bereits genannte 
Vilmar fchreibt, daß ihm die Werke der Didterin „nicht nur ſchöne, fondern 
gute Stunden bereitet haben“. Alle die ernjten und heiteren Gefdidten find 
im legten Grunde dod nur Ausdrud der Perſönlichkeit der Dichterin. 
einer Perfdnlidfeit, wie fie in ihrer vollfommenen Harmonie fdiner und 
feelenpoller faum gedadt werden fann. ‚„Nicht die Schriftitellerin fei gee 
priefen, fondern die Grau, deren Seele gefdaffen war, fo liebliche Erfchei- 
nungen in ihrer ganzen Ginfalt nicht bloß aufgufaffen, fondern fo rein Dare 
auftellen, ohne einen unredten oder ftörenden Ton einzumifchen,“ fdreibt 
Schelling. Die Kunft ift für Ottilie Wildermuth nicht Selbftgwed, fondern 
ein Mittel, aus dem Reichtum ihrer Natur andern mitzuteilen; den ſchmerz— 
lichen Konflikt zwifhen Kunft und Leben, an dem {don fo viele Größere zu- 
grunde gegangen find, wußte fie für fic felbft in beglüdende Ginbeit auf» 
guldfen. Sie war die liebevollfte, aufopferndfte Gattin und Mutter, die ihre 
fchriftftellerifjchen Arbeiten nie in den Bordergrund ftellte. Stets war fie be 
reit, Die Feder oder Die Nadel aus der Hand zu legen (fo erzählt ihre Tochter 
in ,Ottilie Wilbermuths Leben“), wenn ihr Mann ein Anliegen an fie hatte, 
und ihre Kinder famen fich bei ihrer vielfeitigen Tätigkeit nie verkürzt vor. 
Sie hatte ein offenes Herz für alle, die ihr nahe famen, und nahm fich ihrer 
nit nur mit Rat, fondern auch mit der Tat an. Wieviele verliefen nicht 
das gaftlide Wildermuthſche Haus in Tübingen geftarft an Leib und Geele! 
Da taudt einmal „ein armer Grangos“ mit „abenteuerliher Bergangenbheit* 
auf, der weder Freunde noch Geld hat, und um den man fid annehmen muß; 
ein andermal ift’s ein ſchwindſüchtiger Engländer, der fo notwendig Pflege 
braudt, und obgleid Ottilie Wildermuth felbft in recht beſcheidenen Bere 
Haltniffen lebte, glaubt fie Dod, daß wir „viel mehr bon Gott empfangen als 
wir gerade zum Leben nötig haben.“ Nad) ihrem Tode erzählte der Anftalts- 
geiftlihe eines Zuchthauſes ihren Töchtern von einem gang befonders vere 
härteten und verftodten Sträfling, der nur Haß und Bosheit bon den Menfchen 
erfahren haben wollte. Als aber der Geiftlide nicht nachließ mit Fragen nad 
feiner DBergangenbeit, ging in dem düfteren Geſicht plöglic ein Licht auf: 
Sa, ein Menjch babe ihn einmal mit unverdienter Güte behandelt; es fet 
eine Grau in Tübingen gewefen, Frau Wildermuth Habe fie gebeifen. 

Wie Ottilie Wildermuth über die Ehe und über das Verhältnis gwifden 
Mann und Frau’ denkt, fpridt fid in den Worten aus, die fie als Sungver- 
mählte an eine Greundin fdreibt: „Es ift eben nichts Schweres, ein paar 
liebevolle Worte, ein freundliches Gefidt, eine Liebfofung für den Mann zu 
haben; aber die beftändige ftille Wufmerffamfeit und unveränderte Gorge für 
feine Heinen Bedürfniffe und — Gigenheiten, für die man nicht einmal einen 
Dank erwarten fann als des Mannes unbewußtes Wohlbehagen, das ware 
wohl das eigentlihe Reich der Frauen ...* Gine fold felbftlofe, beinahe 
unterwürfige Gefinnung läßt fic) fehwer mit dem Freiheitsdrang modern 
denfender Frauen vereinen, und manche möchte es der Wildermuth vielleicht 
gum DBorwurf maden, daß fie, die ihren Gatten an geiftiger Bedeutung wohl 
weit überragte, fic befdeiden in allen Lebensfragen feinem Willen unterwarf. 
Auffallend erfcheint mir, wenn wir fie auf ihrem Gang durchs Leben bez 


* Mus dem GFrauenleben, Band II. 26 
2 


gleiten, nur, daß wir gar nie den Gindrud gewinnen, als babe fie in der Ehe 
ihre Greibeit und Gelbftändigfeit aufgegeben, als habe ihre Perfönlichkeit 
das Geringfte von der ihr innewohnenden Kraft eingebüßt. 

Wenige Tage vor dem Tode Ottilie Wildermuths fam ein fremdes junges 
Mädchen in ihr Haus; es wäre ihr, fo fagte fie, ein Troft, Frau Wildermuth 
gu feben, ehe fie einer ſchweren Operation entgegengebe. Ich weiß gewiß, 
daß auch mandem bon uns heute Lebenden ein Licht auf den dunflen Weg 
fiele, den wir geben müffen, wenn er diefe Frau fennen und lieben lernte. 

Marie Knapp. 





Erleſenes 


Ottilie Wildermuth / Die drei Zöpfe. 


s gibt unterſchiedliche Zöpfe.“ Das wurde auch die ſelige Ururgroßmutter 
* mit Staunen gewabr, als ihre drei Buben, die man alleſamt bei einem 
auswärtigen Präzeptor untergebracht hatte, der befonders berühmt in der 
Drefjur war, in der erften Bafang nad Haufe famen. — Hatte jie doch alle 
Drei bor der Abreife eigenhändig gewajchen und geftrählt, eigenhändig ihre 
widerfjpenftigen Haare mit Puder, Talg und Wachs behandelt, bis fie nach 
Hinten geftriden und dort zu einem fteifen Zopf vereinigt waren, mit einem 
nagelneuen ſchwarzen $loretband ummwunden, fo daß fie der Garde des Königs 
Stiedrih Ehre gemacht hätten, wie fie abzogen, gleich gekleidet in glänzenden 
geftreiften Gternell, und die Zöpfe auf ihren Rüden tanzten. 

Sa, es gibt unterfchiedlihe Zöpfe; wie verfdieden fahen die Buben jest 
aus! Der ältefte, der Heinrich, der gar ein hübſcher Burfd war und allzeit 
gern den Herrn fpielte, der hatte fid nimmer mit dem jimplen Sopf nad 
päterlider Weife begnügt, fondern er hatte eztra ein paar Budeln born, die 
gar zierlich ins Gefidt ftanden, und an dem Zopf noch eine befondere Schleife 
mit flatterndem Band als Bierrat; fo hatte er’s bei der Suite eineg durd- 
reifenden Girften gefeben, und jo hatte er’s mit der Hilfe bon Prageptors 
Heinrife zuftande gebradt. Chriftian, der Züngfte, machte mit feinem dünnen 
Schmwänzlein feine folhe Pratenfionen, Das war nach wie por fäuberlih nad 
Binten geftrichen, nur das floretfeidene Band hatte er an den Heinrich ver- 
bandelt, und ftatt deſſen ein altes Sadband mit Dinte ſchwarz gefärbt und 
ihn damit umwidelt. Der Zweite aber, der didbadige Gottlieb, der allezeit 
bas Bequeme liebte, der hatte die Haare nur oben zufammengebunden und 
ließ fie nach unten frei, wie er fold fliegendes Haar ſchon bei Leichenbeglei- 
tungen geſehen; er meinte, fo tue ſich's aud. Was hatte die gute Mama für 
eine Not, bis fie Die drei Zöpfe wieder zurechtgefalbt und in den normalen 
Suftand gebracht hatte; aud) gab man ihnen am Schluß der Ferien ein Geleit- 
ſchreiben an die Frau Präzeptorin mit, worin diefelbe höflich erfucht wurde, 
dod aud auf die Zöpfe der ihr anbertrauten Jugend zu adten und fie 
nimmer in fo ffandalöfem Zuftand nad) Haus zu [chiden. 

Ob die Zöpfe bon nun an in Ordnung geblieben find, das weiß ich nicht; 
fo viel aber weiß ich, daß jene Vakanzzöpfe bereits den finftigen Sharafter 
der Buben vorbildlich darftellten. Der Heinrich, der war und blieb der Gle- 
gant; der Ehriftian fümmerte fich juft nicht darum, ob fein Zöpfchen did oder 
dünn, in Florettfeide oder in Sadband gewidelt war, wenn er nur fonft fein 
Schäfhen ins Trodene bradte; der Gottlieb aber, der wollte nidts als es 


244 


gut haben auf der Welt, und weils einmal ohne Zopf nicht ging, fo wollte. 
er fic) den feinen wenigftens fo bequem maden als möglid. Wenn der Herr 
Pate jedem der Buben einen Marftgrofchen verehrte, jo durfte man gewiß 
fein, daß fich der Heinrich eine unechte Stednadel und Gottlieb eine Wurft 
faufte, der Ehriftian hingegen ftedte den feinigen in einen Sparhafen, einen 
irdenen von der {innreiden Sorte, die nur eine Deffnung oben hat und bie 
man zerfchlagen muß, wenn man den Inhalt wiederhaben will. 
* 


Mit ftattlid gediehenen Zöpfen wurden die Herangewadfenen Knaben zur 
beftimmten Zeit nacheinander auf die Mniverfität fpediert, um allda ihre 
Studien zu oollenden; der Heinrid) und der Chriſtian famen ins berühmte 
Stift, allmo jede Honette Familie wenigftens einen Sprößling haben mußte; 
der Gottlieb hatte eigentlich feine Laufbahn durch verſchiedene Schreibſtuben 
gemadt, follte aber doch nod die gemeinen Redte und etwas Humaniora 
ftudieren, um für ein ftädtifhes Amt tauglich zu werden. 

Die Zöpfe haben fie mitgenommen und redlich wieder heimgebradt. Keiner 
ift gewichen aus dem Gleis der angeftammten Zucht und Gitte, wenn es aud 
da und dort fleine Abfchweifungen gab. Heinrih war ein febr ftrebfamer 
©eift, aber troß feiner Begabung bradte er es zum Sammer bon Papa und 
Mama niemals zum Primus. Gr trieb allezeit Nebenftudien, Italieniſch, Grane 
zöfifeh, Heraldik und andere Allotria, und verlegte, wo er konnte, die heilige 
Stiftsordnung, um mit etliden „Jungen bon Adel“ Bagdpartien und Fedte 
übungen mitgumaden, und nur feiner Rednergabe und, wie die böſe Welt 
fagt, den auserlefenen Weinproben in Gafden, mit denen der Papa die 
Herren Profefforen beehrte, hatte er’s zu danken, daß er noch mit Ehren feine 
theologifhen Studien abfolvierte, und nidt mit dem Rainsgeiden eines 
binausgeworfenen Stiftlers durch die Welt ſchweifen mußte. 

Gottlieb, der band fich feinen Zopf bequem, er ftudierte fo viel ihm 
gutraglid, aß und trank fo viel ihm jchmedte, ohne es in beiden Stüden 
gu übertreiben. So oft die regelmäßige ©eldfendung bon Papa anfam (der 
alte Herr bielt ftreng auf fefte Termine, obwohl er die Söhne nicht knapp 
hielt), ſchaffte ſich Heinrich eine bordierte Wefte, ein zierlihes Cachet oder 
irgend fonft einen Artikel an, mit dem er, troß der ftrengen Kleiderordnung, 
die den GStiftlern Kutten vorſchrieb, in feinen adeligen Birfeln Staat machen 
fonnte, oder reichte es die Miete für ein Reitpferd oder ein weltliches Bud. 
Der Gottlieb aber, der lud feine Brüder zu einem Abendeſſen ein, wobek 
drei fette Gnten verfpeift und in edlem Uhlbacher des Papa’s Gefundbeit 
getrunfen wurde; er lachte dabei den Gbriftian berzlih aus, der fich die 
Schlegel und Flügel der Ente fein fauberlid in ein Papier widelte, um nod 
etlihe Sage daran zu gehren. Gein Geld hatte der forgfam verwahrt zu 
fpärlihftem Gebraud; er hatte feit feinen Rnabenjahren bereits den dritten 
Sparhafen fo weit gefüllt, daß nichts mehr hinunter fiel, unverfehrt ftanden 
fie mit ihren biden Bauden in einem geheimen Schiebfach feines Pults und 
ladten ihn mit ihren fdiefen Mäulern an. 

Aber den Bopf behielt er bei und auch das Gloretband; feine äußere 
Grfdheinung blieb jederzeit anftändig, wenn fie gleich immer dünner und 
{pigiger wurde. 

* 

„Es gibt unterſchiedliche Zöpfe.“ Das zeigt ſich klärlich, wenn man die 
Bildniſſe der drei Urgroßonkel aus ihren reifen Jahren betrachtet. Da 
ift zuvörderſt der Heinrich, der hübſche Mann mit den feingefchnittenen Zügen, 


245 


Deffen Zopf als eleganter Haarbeutel ſchalkhaft zwifchen den fin geordneten 
Budeln berporblidt. Der feine dunfle Rod ift mit einem Orden gejhmüdt 
und nur ein paar zierlihe Priefterfräglein bezeichnen nod den Theologen; 
mit fpigen Fingern nimmt er eben eine Prieje aus der goldenen Tabatiere 
mit einem vornehmen Bildnis in feiner Hand, und ſchaut lächelnd nach dem 
fürjtlihen Luftfchloß, das feitwärts durch ein Fenfter zu feben ift. 

Der Heinrid) war immer ein etwas leichtes Blut; der Weftwind, der oon 
jeber fo viel Unſamen von Frankreich zu uns herüberwehte, hat ihn befonders 
ftarf angebaudt und gar manchmal war er nahe daran gemwejen, des rejpef- 
tablen Namens feiner Bater unwert gu werden. Gr hatte es verſchmäht als 
ebrbarer Vikarius unter den Fittihen des Papas fic zum gleichen Beruf 
vorzubereiten; feine hübſche ©eftalt, feine feinen Manieren und die fran- 
zöſiſche Spradfenntnis hatten ihm eine glänzende Stelle als Hofmeijter von 
zwei jungen Prinzen verfdafft. Diefer Beruf führte ihn an fremde Höfe, in 
‘Bader mit Spielbanken, in die Salons ſchöner Damen, ebenfo viele Klippen 
für den welts und lebensluftigen jungen Mann, und gar mande Kalypfo hätte 
den Mentor beinahe eber als feine Selemads feftgebalten. 

Aber der folide Geiſt des Baterhaufes, die Zucht der geftrengen Mutter» 
band, die ihm den erften Zopf gebunden, hatte ihn nie gang im Stiche gee 
laffen, und er trug jest feinen Haarbeutel mit Ehren als wohlbeftallter Ober- 
fonjiftorialrat. Go war er nun der Stolg und der Glang der Familie, der 
Herr Pate von allen Neffen, Nidten, Grofnidten und Gefdhwifterfindsfindern; 
feinen Gltern wurde bei den damaligen Reifefdwierigfeiten nur einmal die 
Greube, ihn zu bejuchen, aber diefer Befucd und die huldvolle Audienz bet 
ben allerbidjten Herrfchaften blieb aud) der Lidtpunkt ihrer Grinnerungen. 
Ih wollte Gud nun gern die Details aus dem Leben des Heinrich ſchildern, 
die gierliden Unterhaltungen, die er mit der Frau Fürftin und dero Hod- 
frifierten Hofdamen gepflogen, die geheimen, diplomatifhen Sendungen, mit 
denen ihn der burdlaudtigfte Herr beebrt hat, die franzöfifhen Luſtſpiele, 
die ihm die Hoffitte, unbefchadet feiner geiftliden Würde, zu dirigieren ge- 
ftattet hatte; aber id muß die Ausmalung folder Szenen denen überlaffen, 
die mehr daheim find auf den Parkettböden der Hoffäle, als ich. 


Nun aber betrachtet Onfel Sottliebs Bild und fagt, ob Guch dabei nicht 
das Herz ladt, wie er da fist, mit vergnüglidem Lächeln auf feinem wobl- 
bäbigen breiten Gefidt, den ſchön gejchliffenen Kelh mit funfelndem Wein 
in Der Hand, während ein Altenftoß zur Seite und das Rathaus im Hinter- 
grund ibn als ftädtifhen Beamten bezeichnen. Was hätte die Mama, die 
es nimmer erlebt hat, wie er Bürgermeifter der guten Stadt H. wurde, was 
hätte fie für eine Greude, wenn fie fabe, wie er jebt fo guten Muts den diden 
ftattliden Zopf den Rüden hinunter hängen läßt, von dem er fid nun nicht 
mehr beengt fühlt. Gr hatte es auch nicht nötig, {id etwas beengen zu laſſen; 
es war ihm nad feines Herzens Wunſch ergangen, er fonnte fich und andern 
das Leben leicht madhen. Wie behaglich [baute einem ſchon von weitem feine 
Bebhaujung auf dem Markt entgegen, mit bem blankpolierten Türfchloffe, den 
fpiegelhellen Scheiben, durch die man reidbefrangte Borhänge jab. Da war 
alles Fülle und Wohlbehagen, die gaftlihe Tafel des Herrn Bürgermeifters 
war weit berühmt in Stadt und Land. Gr ließ fic niemals mit ausländifchen 
Produkten ein: Auftern, Kaviar und Champagner wurden in dem foliden 
ſchwäbiſchen Haufe nicht vermißt, aber alle guten Landeskinder, delifate Spar- 


246 


geln, feine Pflaumen und Aprifofen, Krebje, Forellen und ale, auserlefene 
Srauben und reine Landweine von den edelften Gahrgangen zierten die Tafeln 
und erfreuten der Menſchen Herz; der Hühnerhof nährte Geflügel aller Art, 
Kapaunen, welfhe und deutfhe Hühner, Tauben und Ganfe, die jederzeit 
bereit waren, ihr Leben im Dienfte der Menfchheit zu verhauden. Gs war 
fein Wunder, wenn angejichts diefer Herrlichkeit ein Bäuerlein meinte: wenn 
er der preußifch’” König wär’, er tat’ jid nicht lang plagen mit dem Krieg, 
fondern gufeben, ob er nicht aud fo ein „Deinftle* (Dienst) befommen könnte. 
* 


Aud der jüngfte, der Ehriftian, war gu Ehren und Würden gefommen; 
auf feinem Bildnis hat ihn der Maler mit großen Buchstaben als feine Hoch» 
würden den Herrn Spezial M*** bezeichnet. Befagtes Bildnis wurde ure 
{priinglid auf Koften des Stiftungsrats für Die Saktiftei im Akkord gemalt, 
den Mann a 2 fl, und ift daher fein künſtleriſches Meifterftüd, doch foll es 
bortrefflid getroffen fein. 

Demnad ift der Onkel Spezial juft feine beaut é geweſen, erftaunlich lang 
und fchmal, fein Gefidt bat die gelblihe Farbe und die fpigen Linien, wie 
man fie borgugsweije bei Leuten findet, die für „ziemlich genau“ (ein milder 
Ausdrud für geizig) gelten; jogar der Bopf entfpriht dem übrigen, er ift 
auffallend lang, dünn und fpib. 

Ich babe es noch nicht berausgebradt, ob die Leute oft reid) werden, weil 
fie geigig find, oder geizig werden, weil fie reich find, es wäre eine logijche 
Aufgabe für's philologifhe Samen. 

Dei dem Onfel Spezial fdien beides in angenehmer Wedfelwirfung zu 
ftehen, reich war er unbeftritten, und geigig ebenjo gewiß, ſoweit fich folches 
mit Anftand und Schidlichleit vertrug. 

Das Zehentwefen hatte er bei feinem Bater daheim recht gründlich ftu- 
diert und fo weit war er, bei feiner natürlihen Begabung zum Sparen, bore 
trefflich befähigt zum Betrieb auch der materiellen Seite des Defanatamtes. 
Yebrigeng ging er im Erwerben und Sparen niemals fo weit, daß er feinem 
geiftliden Anfehen gefchabet hätte, „der Bopf, der Hing ftets Hinten.“ Die 
große Liberalität des Bruders Gottlieb war ihm ein Gräuel; war er dod ficher, 
wenigftens gwangigmal des Sabres bei den jeweiligen Pifitationen einen 
ausgefudten Schmaus zu genießen, woran die Grau mit den lieben Kleinen 
aud) Anteil nahm, und wovon jedesmal eine vollgepadte Schachtel mit Bik- 
tualien, gar oft nod ein Schinken, ein Sädchen dürres Obſt oder ein ge- 
füllter Schmalzhafen bei der Heimfahrt in die Shaife gepadt wurde. Da jede 
Frau Pfarrerin die befte Köchin fein wollte, jo waren diefe Schmaufereien fo 
reidlid, daß man gar lang aus der Grinnerung zebren und fid daheim mit 
Semis und Kartoffeln bebelfen konnte. 

Ein Spezial war damals nod eine gang andere Refpektsperfon als 
heutzutage; den Pfarrern lag fehr viel daran, in Gunft bei dem Hodwiir- 
digen Herrn zu bleiben, damit ein günftiges Zeugnis dem Bericht an’s Kon- 
fiftorium beigelegt werde, darum hatten die Bötinnen bom Dorf faft all» 
widentlid ein Küchengrüßlein für die Grau Speziälin im Korb, aljo daß 
Diefe unter der Hand einen Kleinhandel mit Spargeln, Safelobft und fettent 
Seflügel in die Refideng trieb, da folde Lederbiffen zu foftbar für Die 
eigene Safel erfunden wurden. Gin Wochenbett, das fagte Onfel Sbriftian 
im Bertrauen feinem Bruder Gottlieb, fonnte er allegeit zu dreißig Gulden 
Reinertrag anfdlagen...... 


* 


247 


Der Herbft ift der eigentlide Schwabenfrühling. Das laffe ih mir night 
nehmen, fo abjurd es Elingen mag. Gs fteht dies gewiß im Zufammenbang 
mit Der Sage, daß dem Schwaben der Berftand erft mit dem vierzigften 
Sabr fomme. Wir Schwaben haben zwar recht frühlingswarme Herzen und 
fönnen gar [dine Lenggedidte machen mit den verpönten Reimen: ziehen, 
blühen, Rofe, Schofe, Mat, frei oder Treu; aber das muß ich doch im 
Bertrauen fagen, daß id im Schwabenland felten einen Frühling erlebt 
babe, in dem Die Kirfchenblüte nicht erfroren und die Aepfelblüte nicht ver— 
regnet worden ift. 

Srühlingsluft, recht allgemeine volle Srühlingsluft paßt für ein füd- 
lid) Bolf, deffen milder Boden ohne Müh und Arbeit feine Früchte fpendet. 
Was aber weiß unfer Landmann von Maienwonne und DBlütenluft, der eilen 
muß, feinen Dünger auf die Wiefe zu bringen, und deffen Winterporräte 
gu Gnde find. Auch die lieben Kinderlein, die man in Srühlingsbildern und 
Liedern im Ringeltang auf dem Rafen abbildet, find des Beildenpfliidens 
gar bald jatt, und feufzen nach der Zeit der materiellen Naturgenüffe: der 
Kirfhen und Pflaumen und Birnen. Aber wie gefagt, id bin weit entfernt, 
dem Frühling zu nahe zu treten, mit dem ich perfinlid febr intim ftebe,. nur 
das müßt ihr mir zugeben, daß das erft recht Freude ift, an der jung und alt, 
reid und arm teilnehmen fann, wo bon allen Hügeln Schüffe fnallen und 
Schwärmer glänzen, wo der Segen bom Himmel aud die bärteften Herzen 
mildtätig gemadt bat, und wo der ärmſte Bettelfnabe dod mit ein paar 
Aepfeln im Sad an einem Raine liegen und fidh einen ſchönen Abend machen 
fann mit einigen balbausgebrannten Grifden, die er von einem Herbftfefte 
erbafdt bat. 

„Es geht in Herbft“ ift ein ſchwäbiſches Troft- und Entfhuldigungswort 
bei Eleinen Mängeln, in die man fid) mit Humor fügen muß, das felten feine, 
Wirkung verfehlt. „Der fieht aus, als ob ihm der Herbft erfroren wäre,“ bee 
zeichnet einen hohen ®rad von Trübſal und Niedergefchlagenbeit; kurz, der 
Herbft ift der rote Faden, der ſich durchs Schwabenleben zieht, darum laft’s 
euch nicht zu viel werden, wenn in diefen Bildern der Herbft eine häufige 
Rolle fpielt. 

Macht mir nidt den Einwurf, daß in einem großen Teil pon Schwaben 
feine oder faure Trauben wachen, Herbft muß doch fein! Die mit den fauerften 
Trauben jubilieren am lauteften, und die, fo gar feine haben, halten Kar» 
toffelberbfte und pugen adt Sage zuvor fdon ihre alten Piftolen und neuen 
Büchſen, um fie recht laut krachen zu lafjen. 

Sm Herbft allein fieht man feine neidifhen und verhungerten Sefidter, 
im Herbft braucht feine Hand müßig zu fein, die fich rühren fann, das kleinſte 
Mädchen fchneidet ihr Kübelein mit Srauben, der Eleinfte Bube trippelt 
mit den Füßen und lacht ſchelmiſch hervor aus der Bütte, in der er auf und 
nieder tanzt. Im Herbft zieht der fröhliche Burfde in die Serien beim und 
Bringt ein frifhes Leben in das verroftete Philiftertum Heiner Städte. 

Darum liegt für ein ſchwäbiſches Herz ein füßer, geheimnispoller Reiz 
in Dem Duft des feuchten Herbftnebels, wenn er zum erften Male wieder fid 
in die warme Sommerluft wagt, eine Grinnerung an fröhlide Herbitnächte, 
too auflodernde Sugendluft und fife Wehmut wie Mondenfchein und Facel- 
glanz ihre magifhen Lichter in junge Seelen werfen. 

Aud die drei Brüder hatten fich von ihren Knabenjahren an des Herbites 
gefreut. Sie haben als Buben Berftedens in den Bütten gefpielt und ab- 
wedjelnd des Baters Trauben zu Wein getreten, bon denen fie gubor im 


248 


Gebeim reidliden Bebenten gezogen, fie hatten als Student um das Iodernde 
Sadelfeuer das Gaudeamus igitur angeftimmt, nicht einmal den Onkel Chri— 
ftian ausgenommen, der fogar an einem Herbftabend das Herz feiner nad- 
maligen „Stau Liebften“ erobert hatte. Go dachten fie denn als Männer: 

Sp hab’ ich’S gehalten bon Jugend an, 

And was id als Ritter gepflegt und getan, 

Nicht will ich's als Kaifer entbebren. 

Der DBürgermeifter hatte jich den beftgelegenen Weinberg gefauft und ein 
{dines Lufthaus darein gebaut; da wurde denn der Herbft in Bergnügen und 
Herrlichkeit gefeiert, daß man weit und breit davon ſprach, und bon den bore 
nehmften „Regierungsberren“, die dazu gebeten wurden, bis zu dem niedrigften 
Schütenbuben, der fid um die Bebiitung des Weinbergs VBerdienjte erworben, 
wußte jeder zu rühmen bon dem fröhlichen Abend und dem freigebigen Herrn 
Dürgermeifter. Auch Onkel Shriftian, zu deffen Stelle ein ſchöner Weinberg, 
gehörte, tat ein übriges; es wurde ein Schinken abgefotten, und Käfe angerührt 
zu der Weinlefe, ja, es durfte fich jeder feiner Knaben ein halb Dutend 
Schwärmer dazu anjchaffen. 

Wie aber follte der arme Heinrich den Herbft feiern in feiner fandigen 
Refideng, wo faum Kartoffeln wuchſen? Wohl fervierte man an der Hofe 
tafel Die und da Trauben in Gewadshaufern gezogen, aber was war das 
gegen eine Platte voll heimifher Silvaner, Rotweljh und Mustateller? Die 
erlefenen Trauben, die ibm Bruder Gottlieb einmal in einer Schachtel ge=- 
{didt, waren auf den ſchlechten Wegen bei dem Mangel an ordentlider Trans— 
portgelegenheit als ungenießbarer Moft angefommen, fein Amt aber gee 
ftattete ihm nie, zur Herbftzeit eine Reife in die alte Heimat zu machen. — Da 
{prac er denn einmal feine Herbſtſehnſucht recht wehmütig in einem Brief 
an den Bruder DBürgermeifter aus, und der wußte Rat zu fchaffen. 

Gs war in einem gefegneten Herbftjahr, als der Oberfonjiftorialrat eben 
mit feiner Grau beim Kaffee faß und ihr bom ſchwäbiſchen Herbft erzählte, 
da fam ein plumper, ſchwerer Tritt die Treppe herauf, und eine derbe Stimme 
fragte: „Sind der Herr Konfeftore daheim?“ Nod ehe er nachfehen fonnte, 
wer draußen fei, Elopfte es mit der Fauft an die Tür und herein trat ein vier— 
ſchrötiger Mann in der württembergifchen Bauerntradt, mit einem fogenannten 
Reff auf dem Rüden, das vollbepadt war mit Schadteln, und an der. 
Seite mit funftreich verpfropften Krügen behängt. „Öotenobend, Herr Kon= 
feftore, en {dine Gruaf bom Herr Burgamoafter, und do follet fe au d’Trauba 
und da füaße Mohft verfuada.“ 

Nun war’s eine Freude! Da lagen fie wohlgebettet und unverfehrt im 
grünen Rebenlaub: Silvaner und Rotwelfche, Gutedel, Belteliner und Muska— 
teller, daneben füßer Moft in den Krügen, der juft den Heinen „Stich“ Hatte, 
mit dem er am angenebmften zu trinken ift, über Berg und Tal, über hol» 
perige Pfade und Flußfähren fider getragen auf dem breiten Rüden des 
Matthes, des Leibweingärtners bom Bruder Gottlieb, der fich gegen reichliche 
Bergiitung dazu verftanden hatte, feine Zöglinge felbft gut an Ort und Gtelle 
gu bringen. Der Konfiftorialrat, der feine Hofmann, vergoß belle Freuden- 
tränen über dies Stic briiderlider Liebe; die Frau Fürftin felbft mußte mit 
böchfteigenem Munde die Grftlinge diefer füßen Schwabenfinder foften, und 
bei einer fröhlihen Abendgefellihaft wurde in altem und neuem Wein die 
Gefundbheit des freigebigen Bruders getrunfen. Der Matthes, der der Mei- 
nung tar, er fei faft bis ans Weltende gereift, fo daß er nadftens Hinunter- 
gefallen wäre, wurde fo herrlich verpflegt und reichlich befdenft, daß er gern 


249 


derfprad, im nadjten Sabre wiedergufommen, als er nad drei Tagen ab» 
30g, feine Schadteln gefüllt mit den feinen Würften, die das pornehmite 
Produkt der neuen traubenarmen Heimat des Heinrich waren. 

Seitdem zog Sabr für Sabr der ehrlihe Sendbote durch drei deutfde 
Lande, um dem Heinrich den Herbftliden Brudergruß zu bringen, dem aud 
der Shriftian fein Scherflein beifügte, und es hat die Herzen der Brüder warm 
‚erhalten und das Gedächtnis an die Heimat jung und grün. 

Wenn Geres und Proferpina durd) Samen und Blüten fid Grüße gee 
fandt haben, warum follten ein württembergifcher Bürgermeifter und ein fürjt- 
lider Oberfonfiftorialrat nicht durh Trauben und Würfte in Rapport mit» 


einander treten? 


Das ift das nettefte Stüdlein, bas id) euch zu erzählen weiß bon den. 
Drei Urgrofonteln mit -den unterfdiedliden Zöpfen. 


Kleine Beiträge 


Geiſt und Fleifd. 
Das ſechſte Gebot. 


1; 
Das Fleiſch gelüſtet wider den Oeiſt 
* und der Geiſt wider das Fleiſch.“ 
Was Paulus damit als eine Grundtat- 
ſache alles menſchlichen Lebens behaup— 


tet, erſcheint vielen unter uns als eine . 


unwahre, unerträgliche Verkehrung ihres 
Lebensgefühls. Heißt das nicht, nichts 
ſpüren von der innerſten Schönheit und 
Kraft der Natur und ihrem göttlichen 
Sinn? Sft das nidt eine Anſchauung, 
‚geboren in einer Zeit des Alntergangs, 
in einer fterbenden, müden und darum 
unreinen, weil unfräftigen Welt? Steht 
diefe Anihauung des Paulus nidt in 
einem unlösbaren Oegenſatz zu unferem 
beften deutfhen Wefen und &mpfinden? 
Gerfennt fie nidt den reinen fittliden 
‘Adel des natürliden Lebens? 

She wir folder Zurüdweifung Raum 
‚geben, wollen wir hören, was Paulus 
weiter fdreibt: „Diefelbigen find wider 
einander, daß ibr nidt tut, was ihr 
wollt.“ Was willft du? Was ift dein 
Ziel? Nennen wir gleid das höchſte: 
Ootteskindſchaft. Gotteskindſchaft aber 
beißt Freiheit, heißt Klarheit und Helle, 
Güte, Die überwunden hat, heißt ein gan- 
zes, Wades, gutes Dafein, heißt eine lebte 
Sicherheit und eine völlige Offenheit gu- 

leid. Und nun frage did, ob dieje Frei- 
Beit nidt bedroht ift durch das, was 
Paulus hier Fleifh nennt? Bift du 
immer ganz du felbft? Herr, oder wahrer 
~nod: Diener des Lebens in freier Hin 

abe an die Wahrheit? Gs gibt ein 
Baberes alg das Olid des Raufdhes 
und als die lette und innigfte Steige- 
rung alles Gefühls, ein höheres als 
Lebenserhöhung und jelige Befriedigung 


250 


aller Gebnfudt Leibes und der Geele, 
das ift Die ftille und reine Klarheit eines 
Herzens, die Gottes Liebe wiederfpie- 
gelt, und dag — Herrſchertum des 
Geiſtes, das in der Zucht tiefſter De— 
mut und freudigen Gehorſams reift. 

Nicht darum handelt es fid, dab dag 
eine gut, das andere böje fei, der Geift 
im ©egenfat gum Leib. Die Anfdauung 
einer fpäten Pbilofopbie der antifen 
Welt, die Geift und Fleifh, Seele und 
Sinne, Innen und Außen einander ent- 
gegenjeßte; der alles Leiblih-Natürliche 
als foldes fündhaft war; die darum in 
der Entleiblihung, in der Entfernung bon 
der Natur, in der Weltfludt, in der 
Derleugnung des Geihlehts den Weg 
der Grlöfung zu finden glaubte, fie ift 
fein Oedanke des —— 

Wohl aber iſt das die Frage: wer 
herrſcht? Wo iſt das Ziel deines Le— 
bens? Iſt es zuletzt die Befriedigung, 
die Steigerung, die Verzückung, das Glück 
und die Lebenserfüllung deines irdiſchen 
Daſeins? Gebt dieſem Dafein feinen höch⸗ 
ſten, feinſten Sinn. Nehmt die Anbetung 
und Verehrung aller Götter bis hin zu 
dem, den die Alten Dionys nannten, dem 
Oott der letzten Begeifterung und des ers 
babenen Raufdhs und innerften Traums 
der Liebe. Weitet diefes Dafein aus bis 
gu den ©renzen der Schöpfung und bis 
zur Höhe der ftrablenden Sterne — — 
und Das alles verjinft Dod vor der Herr- 
lichkeit eines Lebens, das im Angefidt 
der Gwigfeit gelebt wird, verjinft por der 
Madt und Tiefe eines Lebens, das fid 
in jedem Augenblid bon einem unbeding- 
ten und heiligen Willen berufen eih. 
ift Armut und Nidts vor der Kunft 
einer letzten Freiheit; die alles Hat, als 


hätte fie nichts, die alles haben fann 
und fid Dod nidt verliert; die darum 
freie Liebe, Bitte ift; die nichts bedarf 
und fid bod zu allem neigt und fid 
freut an jedem zitternden Gonnenftrabl. 
Die Bötter des Bluts und der Tiefe 
find groß, und durd alle Sabrtaufende 
bindurd haben fie mit VBerzüdung und 
verwirrenden Wundern ihre Diener be- 
lohnt. Aber zulett find fie Dod bettel- 
arm und obnmädtig und ein großer 
Trug, eine ewige Lüge und Täuſchung. 
Seder reine und flare Strahl der ewigen 
Sonne des Geiftes enthüllt ihr Nichts. 
Haben wir in unjerer Zeit den Blick 
dafür verloren, wie auf dem Wege zu 
folder Greiheit aud die Strenge und 
Abgeihlojfenheit bes Menſchen Tiegen 
fann, der um feiner geiftigen Aufgabe 
willen, um Oottes willen alles läßt, was 
fih ihm duch die Entfaltung feines na» 
türlihen Lebens erfdliefen fünnte? Im 
Matthausevangelium fpridt Jeſus da- 
pon: ,G8 find etlide verſchnitten, die 
find aus Wutterleibe alfo geboren; und 
find etlide verfhnitten, die am Menfden 
perfdnitten find; und es find etlide 
perfdnitten, die fid felbft verfdnitten 
haben um des Himmelreids millen. 
Wer es faffen mag, der faſſe es.“ 
Wo ift dein Biel, du WMenfdenfind? 
Wohl dem, über den die unteren Mächte 
nidts mehr vermögen! 
„und jene bimmlifden Seftalten, 
Sie fragen nidt “> Wann und Weib!“ 


Die befte, die ſchönſte Schule folder 
Sreibeit aber ift die Ehe. „Wandelt im 
@eift, fo werdet ihr die Lüfte des Flei— 
{hes nicht vollbringen,“ ſchreibt Paulus. 
Diefer Wandel, diefe Befreiung von der 
Sudt nah fics felbft, nad Selbftgenuf 
und Gelbfterhöhung ift nidt der Gnt- 
ſchluß eines Augenblids. Bon der Gelbft- 
ſucht erlöft nicht eine glüdlihe Stunde. 
„Wandelt im Geiſt“, gu diefer Kunft 
führt nur die bebarrlidhe Hebung wah- 
ter Liebe und Treue. She ift ja nidt 
das Sih-haben-wollen und Sich-genießen- 
wollen. Go lange fie das nod ift, ift fie 
nidt She. „Du follft nidt ehebrechen!“ 
©eftehen wir es dod einmal gang offen: 
fo lange Liebe das fid nehmen und ge- 
nießen ift, fo lange der Ginn und Wert 
des Lebens in der größtmögliden Stei- 
gerung und Grfüllung des Dafeins, der 
Selbftbefriedigung der Perſönlichkeit ge- 
funden wird, folange man den Reid- 
tum des Gelbft über alles ftellt — — 
fo lange- wird diefes Gebot eines Tages 
zur Selfel, gum finnlofen, lebenswidrigen, 
furdtbaren Gefeh. Da madt es die She 
dur Züge, zur unwahren Gorm. Oder es 
zwingt die Menſchen zur Stumpfbeit, 


gen Gerfinfen und fid Begniigen mit 
er ®ewobhnbeit. &3 läßt die Menſchen 
fih eines Sages im Rerfer finden. 

Solange einer alles für immer baben 
und nidts Laffer will, fo lange ift die 
Ehe für ihn der LUnfinn. Solange einer 
aus bidfter Stimmung heraus, aus der 
Bewegtheit der Sinne und der Geele her- 
aus leben will, jo lange ift für ihn She 
die Gefahr der Enttäufhung. Alber fo 
lange ift für ibn aud der Weg zum 
Lande der Freiheit und des Geiftes ver- 
eloffen. 

Gewiß ift die She ein Befenntnis zum 
Geſchlecht, ein Befenntnis zur atur, 
zu ihrer Schönheit und Freude. Aber in 
ihr ift gugleid alle Natur aufgehoben zu 
einem Höheren. Ihre Treue ift die Ghr- 
furdt vor dem Leben, das mehr ift als 
die Süße und die Fülle, fei ed nod fo 
geweibter Stunden. Ihre Treue ift die 
Ehrfurcht vor der heiligen Berufung des 
Lebens, ift der Dienft am göttlichen 
Sinn des Lebens. 

Nur fo, fo aber ganz gewiß, öffnen 
fid in der Ghe immer neue Wunder 
des Lebens, wird in ihr das Leben ein 
immer freiere8 und gütigeres Gidjlaf- 
fen — und gerade fo ein immer innigeres 
und näheres Sichhelfen und Sichbeglüden. 
Ad, das Geſchlechtserlebnis ift nidt das 
Wunder, das erlöft und befreit, wie ung 
beute von fo vielen Propheten in my» 
ftifhen und anderen @etwandungen er- 
ablt wird. Mehr als alles hidfte Ge— 
POL der Liebe ift die edle Zucht, in der 
die Greibeit der oar i die Witte, reift. 


Aud die She ift nur ein Weg. Aud 
über diefem Weg fteht das Kreuz. Mit 
feinem Schmerz, aber aud mit feiner 
Verheißung. Gs gibt ein altes Wort: 
Eheleute follen einander in den Himmel 
bringen. Lind dasjelbe fagt unjere 
Sprade: fie freien einander. Sie befreien 
einander durch die Liebe, die voll Ehr— 
furdt an den wahren anderen, dag Got» 
tesfind im anderen glaubt. Sie befreien 
einander zu der berrlidften Sreiheit der 
Kinder Sottes. 

Sagen wir e3 gang {dlidt: fie befreien 
einander zum Leben. Gie maden ein- 
ander bon fic felber frei für das Leben. 
Sh las das ſchöne Wort: Ehe ift die 
ftaunende Freude am Kind. She ift die 
Sreude an dem Leben und die Shrfurdt 
por dem Leben, das unfer Leben ift und 
das dod größer ift als wir felbft, vor 
dem Leben, dem wir dienen. 

She, fo könnte id aud jagen, führt zu 
der Rube, der Gefdloffenbeit, die frei 
madt für die wahre, die große, die 
Öottesliebe; für die Liebe, mit der Gott 
feine Welt und feine Menjhen umfängt, 


251 


und pon der wir alle ein Sröpflein 
in unfer Herz einfangen dürfen. 

„Regieret Gud) aber der Geift, fo feid 
ihr nidt unter dem Geſetz.“ Ad, da erft 
ift Ehe gefdloffen, wo fie aufhört, Geſetz 
gu fein. Darum ift fie und ihre Wahr- 
heit ein Bild und Oleidnis, ein Weg 
und eine ®eftalt des wahren Lebens. Gie 
ift Symbol der Gottesgemeinfdaft. 

Unter Midelangelos Bifionen an der 
Sirtinadede findet fih ein Bild, wie 
Adam fih fhwer und mühfam löſt aus 
der Erde, aus der er gemadt ift. In 
feinen ausgeftredten Ginger fpritht 
®ottes Hand die Glut des Lebens über. 
Seine Augen aber fdauen ftaunend auf 
Spa, die, eingebillt in Gottes Mantel, 
durhbebt bom Wunder des Geiftes, ihm 
entgegenjiebt. Go erwadt in Der Ehe 
eines am anderen zur Grfenntnis der Gee 
genwart Sottes. 

©ott ift gegenwärtig. Das uns zum 
Griebnis werden laffen, das einander 
{denfen — ob in der She, ob ohne fie — 
das ift Freiheit und Frieden, das madt 
frob. Da ift das Land der Berheißung, 
da ift Himmelreid. 

Karl Bernbard Ritter. 


Die Mutter. 


edes Kind fommt mir wie ein Seelen⸗ 

fäftchen por, darinnen der Schmud der 
Swigfeit liegt. Die Mutter nimmt den 
Schmud heraus, betrachtet ihn und ftrablt 
poll Glück. Und wenn fie etwas findet, 
in der Stube, auf der Wiefe oder im 
Walde, fo etwas ganz Schönes, fo legt 
ſie's mit in das Geelenfäfthen hinein, 
gu den ewigen Dingen, die Gott por ihr 
bineingelegt bat. 

Da ift fo manderlei, was fie findet. 
Sie erflärt Dem Kinde das Leben eines 
Käfers ſo wunderherzlich, daß die Kinder 
nie mehr einen Käfer zertreten... Oder 
fie fpridt bon den Blumen mit fonniger 
Stömmigfeit, daß die Kinder in den 
Blumen die bunten Lichter der Land- 
{daft feben und fie nicht auszulöfchen 
wagen. 

Mandmal denft fie fid aud fraufe 
Gefdhidten aus von den Bildern, die in 
Steinen {dlafen, oder bon einer Margiffe, 
die die Helle des Waldbahes tranf, bis 
fie fih jelber wie der Waldbah fühlte. 
Oder fie erzählt den Kindern bom Sraume 
des Dorfteides, den die irren Libellen 
Davontragen und in Schalen aus Opal 
legen. 

Oder fie Elopft ihnen Pfeifen aus 
Weidenruten und erzählt dann, was der 
‘Wind in fo einer Pfeife denkt, wenn er 
hineingefroden ift. 

Bom Geſang der Aderfdollen weiß 
252 


fie zu erzählen, von den Wandergefühlen 
der Sterne. Und das alles legt fie ins 
Geelenfaftdhen binein. Und das ſchimmert 
dort drin und fingt dort drin. 

Mutter, du trägft ja den Himmel auf 
den Händen! Maz FSungnidel. 


Elternſchaft. 
die 


GerbeifBung Sfaats, des Sohnes, 
ift e8, an die der Gott des Alten 
Seftaments Seine Verheißung, die Ber 
beißung des Bundes fnüpft. Das ift fein 
Zufall. Wenn etwas uns des Waltens 
überperfönlider Mädte inne werden 
läßt, dann ift es die Folge der See 
f&hlechter, die in geheimnispollem Wellen- 


flag die Kinder der Menfden an den 


Strand des Lebens fpült, um die Greife 
wiederum binwegzunehmen. Nie find wir 
frommer, alg wenn wir in. Ghrfurdt 
zu den Borfabren auffhauen. Nie fühlen 
wir uns dem nnennbaren verwandter, 
alg wenn uns das Grlebnis der Gltern- 
{Haft ward. So nennt Chriftus Gott 
Bater. Go haben reine Herzen oft den 
Gindrud gehabt, Dad die Stau gött- 
liheren efens fet alg der Wann: 
Mutter ift mebr nod als Bater fein. 
Die Kinder der Welt fpreden: „Laſſet 
ung effen und trinfen, denn morgen find 
wir tot.“ Und fie glauben damit etwas 
Kluges zu fagen, der Wirklichkeit der 
Dinge ins Geſicht zu feben. Allein die 
Wabrbeit ift, daß „der Menfh nidt 
Rie Brot allein lebt“, daß jedes Leben 
felbftifhen Genuffes ein Leben der jelbft- 
— Beſchränkung, der Abſon— 
erung, der Sünde iſt und darum den 
Sod, „der Sünde Sold“, nicht nur als 
zufünftige äußere Golge mit fid bringt, 
nein, gegenwärtig im Herzen trägt. 
G3 ift ©ottes Ginger, daß ein in Gee 
nuß entnerptes ®eihleht die Bürde zu 
ſcheuen beginnt, die Slternfdaft auferlegt. 
Der Gott des Lebens will nit, daß wir 
Kindern ein Leben geben, das aud fie 
dem Tode weiht. Gr will, daf wir es 
erft dann tun, wenn Gbrifti Kreuz uns 
der Sieg ward, der den Sod überwindet. 
Grft dieſes Kreuz birgt die Kraft, der 
dem fommenden Gordledt gegenüber ob» 
liegenden Aufgabe geredt zu werden. 
Denn diefe Kraft wird gefpeift aus der 
Sreude am Geben und nidt am Nehmen, 
am Opfer und nidt am Genuß. Wir 
müffen das Leben mit Gbrifti Augen 
feben lernen, damit die Berheißung, pon 
der die erften Blätter der Schrift bee 
ridten, die Gerheiffung des Sohnes an 
Abraham uns nidt Laft, fondern Gegen 
wird. Nur wer fein Leben Dingibt, nur 
der „bat das Leben“, und „in ibm 
werden gefegnet alle Gefdledter auf 
Grden“. Karl Lindenberg. 


Was eine Mutter Tann’. 

©! beißt der ilntertitel einer Lebenss 
befdreibung, die von dem belden- 
baften Ringen einer ſchwäbiſchen Pfarr- 
frau por hundert Sabren erzählt. Es ift 
Beate Paulus, die Tochter des geift- 
und wortgewaltigen Grwedungspredigers 
bilipp Matthäus Hahn und GEnfelin 
e3 Pfarrers Johann Griedrid Flattid, 
eines heute nod) durd zahlreihe Anek⸗ 
doten befannten fdwabifhen Originals 
von darafterfefter derber Offenheit 
und Natürlichkeit: Ihr Mann ftammte 
im Unterſchiede dapon aus einer 
feingebildeten NHofratsfamilie und hatte 


in Sena im Haufe feines Detters, 
des berühmten Aufflärungstbeologen 
Paulus, bei Schiller, Goethe und 


Herder feine fhöngeiftigen Neigungen be- 
friedigen dürfen. Hernad fudte er fid 
eine gerubige Xandpfarrei aus und über- 
ließ Die Gorge für den mühevollen Haus- 
halt und die beftändig wachſende Kinder- 
{dar feiner Grau. Shr Hauptbeftreben 
war, dur GSelbftbewirtihaftung aus den 
Pfarrgütern fo viel berauszubolen, daß 
fie ihre Söhne ftudieren laffen fonnte. 
Diefe wurden denn aud Hervorragend 
tidtige Männer. Die Mutter aber 
fampfte Sabre lang einen fdier über» 
menſchlichen Kampf gegen die von allen 
Seiten andringende Not. Gin pflidtge- 
{hulter unbeugfamer Wille und ein une 
gebrodener, bergeverfegender ®laube hal» 
fen ihr bindurd. Sn Ddiefen zwei Ge- 
ftalten fteben zwei Typen unferes Volks 
por der Lebensprobe, und Beate Paulus 
beftebt beffer als ibr Wann. Wir ent- 
nehmen der Biographie ein paar Tage— 
budeintrage und Familienerinnerungen. 

Aus dem TSagebud vom Hungerjahr 
1817: „Nun fommen nod meine Kinder 
von Leonberg in die Bafang und zwei 
Knaben von Herrn Dr. Nid mit und 
ift feine Hand voll gut Mehl im Haus, 
und der Heuert nod dazu. Ich hatte 
nod) einige Gimri eigenen Kernen; aber 
weil mein dod nidt gut ift, fo batte 
man nidt fo viel gute Plage, um alles 
unverdorben zu erhalten. So war alfo 
die Frucht ganz fdhwarg und nah, daf 
man dabon faft nicht foden und baden 
fonnte. Als id den Brief befam, daf 
die beiden Nid aud mitfommen, fo 
fonnte ich fein Wort mehr reden, big id 
mid am Morgen gefaßt hatte. Den 
erften Tag, da fie da waren, mußte id 


* Beate Paulus geb. Hahn, oder Was 
eine Mutter fann. Gine felbftmiterlebte 
Samiliengejdidte. Herausg. pon Philipp 
Paulus. Belferide agsengbenblung 
Stuttgart. 7. Aufl. 1921. ©. 93—95, 
03, 109. 





baden von meinem fdledten Mehl. Sh 
fonnte das Brot faft nidt in den Ofen 
bringen und bat Oott immer, er mödte 
nur foweit feinen Segen geben, daß man 
es effen könne. Zum effen war es aud 
gut, aber ganz dünn, fohlihwarz. Aber 
nah adt Sagen war aud das wieder 
gar. Ih buf dann wieder etlide Laibe 
aus Wurgelmebl, weldes nod rauber 
war, und dann war das eigene Mehl 
aus. Nun ging es ans Kaufen. Sch 
faufte einen Scheffel, der aber aud) nur 
2!/, Simri Kernen gab und aud nidt 
gut war. Da war man gar nidt mehr 
{o fed, daß man Brot buf. Ich dörrte 
Srefter und Birnen, mablte es im Mabl- 
trog und ließ e3 nod in der Mühle 

nahin. Aber was geſchah? Bh nahm 
balftig Bohnenmehl und einen Teil Ker- 
nenmehl dazu für mein Gefinde. Als id 
aber dem Gefinde davon gab, fagten fie, 
das effen fie nidt. Nun war guter Rat 
teuer. Für eine Dauebartung pon fo 
viel Perſonen (nämlih 17!) alles Mehl 
faufen, und da wir ohnehin ohne Geld 
waren, womit bezahlen? Sd fonnte 
einen ganzen Tag faft fein Wort reden 
und nidts mehr bejorgen. Für die zwei 
Nid war es mir befonders fo leid, dah 
ih ihnen weder gutes Brot nod etwas 
®utes von Mehl foden konnte, und nod 
bin id in großen Sorgen, was ihre 
Eltern fagen werden, daß man ihnen 
nidt mehr Liebe erwiefen habe, da fie 
fo viel an Fri getan haben. Ih madte 
deswegen mit ihnen eine Reife nad 
Schaffhaufen, um einige Sage herumzu— 
bringen. Go ging id mit ihnen und 
meinen eigenen gwei Knaben und nahm 
außer einer feinen Summe Geld nur 
zwei kleine Laibe Brot mit, weil id 
nidt mehr hatte gum mitnehmen. Ich 
faufte dann aber unterwegs Brot, dazu 
tranfen wir Bier und des WittagsMild. 
Außerdem nabm id nod einen Krug 
Bein mit, weldhes unfer Labjal war. 
Der Bers Heiterte mid auf dem ganzen 
Weg auf: 

Was id nur will, 

Sft da die Fill’; 

Mind wo id mid binwende, 

Da find’ ih Freud’ obn’ Ende!“ 

„Die Mutter wollte die Kleinen unter» 
ridten und war dagu_allerdings — 
befähigt, da ſie in Münch — beim 
alten Flattich Lateiniſch und andere 
©pmnafialfäher ziemlid gut gelernt 
batte. Gie fing daher mit ihnen Die 
lateinifden Deflinationen und Konjuga- 
tionen an, dabei aber mußte fie zugleich 
ihre Hausbaltungs- und Feldgeſchäfte be- 
forgen, und fo fam e oft vor, daß, wenn 
fie gerade ein Gefdhaft auf dem Gelde 
gu verrichten hatte, das ihr erlaubte, 


253 


nebenher zu reden, fie fofort die Knaben 
pom Spiel wegrief und mit auf den 
Ader nahm, um ihre Deflinationen oder 
Konjugationen mit ihnen durdgugeben, 
während fie zum Beifpiel Kartoffeln felgte, 
oder daß, wenn fie am Suber ftand und 
wufd, die Knaben in ihrer Nähe fid 
aufftellten und ihre Deflinationen auf 
fagen mußten.“ 

„Am Sonntag ging fie mit dem Hi- 
ftorienbud) unter dem Arm zu den Kine 
dern (der Bauern) in ihr Haus und bee 
fudte fie von Haus zu Haus, fo daß fie 
oft an einem Sonntag in fünf oder feds 
Häufer fam, freilid aber aud oft 3 bis 
4 Stunden braudte. Da aber die Kinder 
diefe Grgablungen an der Hand des Hi- 
ftorienbuds febr gern hörten, fo geſchah 
es faft regelmäßig, daß, wenn fie ein 
Haus verließ, um in ein anderes zu 
geben, fämtlihe Kinder mit ihr gingen, 
um im nädften Haus Die Sortjegung 
zu bören. Das war denn freilid ein 
ganz eigener Anblid, wenn fie wie ein 
Hirte unter feinen Schäflein durd die 
Straßen 309 und aud wabrend Ddiefer 
Wanderung auf der Straße nod fortfuhr 
Mi reden und Die Lernbegierigen gu bee 

bren. G3 war dies in der Tat nidts 
anderes als eine wandernde Sonntags- 
{dule, wie fie die Welt bis dahin viele 
leiht nod nie gefeben hatte. Allein fie 
war gefegnet im höchſten Grade und 
atte den befonderen DBorteil, daß fo 
immer aud den Alten Gelegenbeit ge- 
boten wurde, etwas Outed zu hören.“ 
Ostar Pland. 


Bedürfen wir der Sitte? 


G ift Die große und verhängnisvolle 
©efahr der Srofftadt, daß fie wur- 
gellofe Menſchen erzeugt. Die enge Woh⸗ 
nung — in” Gegenden, wie Berlin-Oft 
und -Norden, oft genug für mehrere Fa— 
milien gleichzeitig berednet — die Ent— 
bebrung eines trauten Heims, die Fabrif- 
arbeit, die fein perfinlides Verhältnis 
zwiſchen Menfh und Arbeit auffommen 
läßt, der Mangel an Beziehungen zur 
Natur, das ganze entnerbende und auf 
Genfation eingeftellte Alltagsleben der 
@rofftadt, find Lmftände, die der 
Bodenftandigfeit, Wurgelbaftigfeit, Ent- 
widlungstraft ungünftig find. Wir werden 
unter ſolchen VBerbältniffen weder Za- 
milienglüd nod) Heimatliebe nod pater- 
landifhe Gefinnung obne meiteres er=- 
warten dürfen. Tragen wir Berlangen 
nad) Grneuerung deutidher Bolfstraft, fo 
werden wir unjre Blide dorthin ridten 
müffen, wo der Menfd nod in gefunden 
Gerbaltniffen lebt, wo er gebunden ift 
an die Mutter Erde, too er feine Wur- 
geln nit nur bildbaft, fondern unmittel- 


254 


bar in Deutfden Boden fenft. Für den 
Menfdhen, der feine Beziehungen zu der 
Umgebung bat, in der er lebt, in der 
feine Vorfahren wirkten, bat aud die 
®egenwart nur fo viel Bedeutung, als 
fie ibm Genuß und Befriedigung feiner 
materiellen DBedürfniffe gewährt. Gin 
Wenſch ohne Sefdhidte ift wie ein Iofes 
Blatt, das der Sturm vom Baum abe 
getrieben bat. Gin Golf, das in feiner 
Öefamtheit ftädtifh, ungebunden, losge— 
löft von feiner Gergangenbeit, nur dem 
Augenblid und feinen Bediirfniffen lebte, 
müßte mit aturnotwendigfeit unter- 
geben. Man bat Berlin-Oft die fterbende 
Stadt genannt, weil man beobadtet bat, 
daß eine Familie fid unter rein ftäd- 
tifhen Verhältniſſen nidt über die dritte 
Generation hinaus ausdehnt. 

Unſere Blide lenken fid darum natur- 
gemäß auf das Land und feine Be- 
twobner. Gon dort ber erwarten wir 
neue Kräftezufubr für unfer armes, zer. 
riffenes und leidendes Gaterland. er 
aud dort madt fid eine bedenflide Neir 
ung zur Uebertragung ftädtifher Gere 
Bältnifte geltend. Wirtſchaftliche Schwie⸗ 
rigkeiten, aber auch gemeine Geldgier 
treiben zur Spekulation und in ungeſunde 
Bahnen. Die teufliſche Göttin Mode, 
die dem Landmann eingureden fudt, dah 
das, was etwa in der GFriedridftrafe in 
Berlin bewundert wird, aud das Land 
gieren müffe, ftädtiihe Gewohnheiten, die 
erjehnt werden, weil fie fo „fein“ und 
„gebildet“ ausfeben, Gergniigungs- und 
Senfationgluft, Die nur die innere Ge— 
Iaffenheit aufpeitiden und den Wenfden 
unruhig maden, ftreden ihre Sangarme 
aud dorthin aus, wo fraftpolleg, ftetiges 
Leben ein Bolf bilden foll, das allen 
Stürmen gewadfen fein, das neue Men⸗ 
{den fdaffen foll, Menfhen, die neue 
fing große Aufgaben zu löſen beftimmt 
ind. 

Wir fehen uns nad Möglichkeiten um, 
diefer Stetigfeit fördernd zu dienen, und 
wir finden einen Weg dorthin in der 
Ara ee Ih wiee 
derbole e8: Ein Menf ohne Gefdhidte ift 
mwurzellos. Sradten wir danad, unjerm 
Golf Wurzeln zu geben, fo erhalten wir 
ibm feine Geſchichte. Diefer Hof, diefes 
Haus, diefes Grbftiid ftammt von den 
Batern! Weld ein ftolges Bewußtfein! 
Aber aud: Diefe Gewohnheit, diefe Sitte 
wird bei uns von altersher hodgebalten! 
Unſere Gorfabren taten das gleiche, 
unfere Kinder wurden damit groß, unfere 
Gnfel werden es ebenfo halten. Nicht 
wahr, wir fühlen, daß das Kraft be» 
deutet, daß unter folden G@edanfen in 
unfere Taten etwas Dineinflingt von ur- 
eigenfter Golfsfeele, von deutidem Wee 


fen, deutfher Sreue. Wir wollen mit 
beiden Füßen auf der Erde ftehen, gu der 
wir gebören, wir wollen nidt verwehen 
wie der Haud im Wind. 

Die deutſche Bolfsfitte! Sie drüdt fi 
in den verfdiedenften Gormen und Gre 
feinungen aus. Im allgemeinen wird 
fie den Gbarafter beftimmter Golfseigen- 
timlidfeiten und beftimmter Naturein- 
Driide wiedergeben. Der fröhlihe Nhein- 
länder unter den Rebenftiden wird 
andere Gitten haben als der ſchwer— 
fällige Fiſcher pon der Oftfee oder gar 
der wortfarge Rartoffelbauer des Sand- 
bodens im’ Herzen Deutſchlands. Aber 
es ift nit bon befonderer Bedeutung, 
welhes Sefidt die Sitte bat; ob man 
ihr perfinlid DBerftändnis en ve 
bringt, oder fie gar ein wenig be Sell. 
©enug, daß fie Gitte ift, daß fie viel- 
leicht fon Hunderte von Sabren in dem 
Dorf, in dem Haus, das wir bewohnen, 
lebt. ®enug, daß wir jedes Mal unter 
ihrem Gindrud ein Stüd Geſchichte Ie- 
bendig werden lafjen, daß wir mit ibr 
einen Gaden ziehen bon Bahr zu Sabr 
und von Sefdledt zu Seidledt. 

Da find die alten Familienfitten; 
etlihe, die wir bon alters ber ererbt 
baben, etlide, die wir neu begründet 
baben, alg wir unfer eigenes Heim 
ſchufen. Sie ftellen fid dar in der Art, 
wie wir unfere Gefte feiern, wie mir 
unfere Speifen bereiten, wie wir Gore 
derungen an unfere Hausgenoffen ftellen, 
wie wir felbft dieſe ungen erfüllen. 
Gin barmonifhes Familienleben ift un- 
denkbar ohne Gitte. Glidlid und reid 
wird es durd die ©ebräude bei unfern 
Seiern, die den Schab von Grinnerungen 
BET, der Die Augen des Sreifes nod 
aufleudten und feine Lippen lebendig 
werden läßt, wenn er ihrer gebdentt. 
Wichtig ift im Wefen der Gitte, daß fie 
nit eine einmalige Grfindung ift, fon- 

dab fie jedes Jahr wwiederfebrt. 
Ser. gleide Weihnadtsbaumfdmud, der 
gleihe Geburtstagsfuden, das gleiche 
Seftlied. Grft durd die Wiederholung 
befonderer Srlebnifje werden fie zur Gitte. 
Wir haben zweierlei Aufgaben: wir 
müffen alte Gitte, wie fie ung als bee 
ftehend überliefert wurde, feftbalten, und 
wir dürfen neue Gitten fdaffen — 
Braude einführen, die durch unfere 
Pflege und gewiffenhafte Treue zur Gitte 
werden. 

Da find die DVolksfitten, die oft nod 
aus der heidniſchen Zeit ſtammen mögen, 
die aber immer dem Zweck dienen, 
Volksgemeinſchaft zu bilden. Raft 
fie uns nidt mit Geringſchätzung be- 
bandeln, fondern ihnen unfre ganze Auf» 
merffamteit zuwenden. Sobald unfer 


Auge dafür gefdharft ift, werden wir 
bundert Anſätze dazu bemerken, die wir 
unterftüßen und pflegen fünnen. Immer 
follte uns por Augen fteben, daß wir, fo 
piel an uns ift, das Sun und Treiben 
einer Dorfgemeinſchaft lebendig beein- 
fluffen follten. Es dürfte 3. DB. feinen 
Ort geben, der nidt ein Grntefeft feiert, 
Diefe nabeliegende und pietätpollfte Sitte 
für Landbewobner. Die Grntefrone, die 
gelanädien Harfen, das Kranzgedidt, 
er Grntegug, die Geftrede, der bis in 
den Morgen ausgedehnte Sang... Gie 
gehören an den Schluß des Grntejahres 
wie der Punkt auf das i. 

Und dann die firdliden Sitten! Sie 
tragen aud ein Stiidden göttlihes Leben 
in ſich. Nicht jeder einfadhe Menſch ift 
dazu berufen, ein Hod entwideltes gei- 
ftiges Leben zu führen. Für viele befteht 
die Bindung an das Gattlide darin, dah 
die Art unferer Tauffeier, der Ginfeg- 
nung, der Trauung, des Begrabniffes 
ihnen das Heilige vermittelt. Zerftören 
wir niemals willfürlih eine alte fird- 
lide Gitte; wir laufen Gefabr, gleich» 
zeitig Der Gemeinde etwas zu nehmen, 
was fie an @ott bindet. Linfere epan- 
gelifhe Rirdhe hat im legten Sabrbundert, 
wenn aud gewiß aus innerften Motiven, 
die Betonung der Grfenntnis für ihre 
@lieder reidlid ftarf in den Border- 
‘thas geftellt. Aber es find ihrer viele, 
die nicht gar zu weit denfen und auffaffer 
fönnen, Die beim Anfdauen des bren- 
nenden Baumes das Wunder von dem 
Kind in der Krippe beifer begreifen, als 
duch eine tiefgründige Predigt, die das 
Gaframent des Abendmahls nur dadurch 
verftehen, daß die ehrwürdigen, heiligen 
Worte gefproden werden, während die 
Gemeinde mit ibrem Pfarrer auf den 
Knien liegt; für die der Himmel {id 
öffnet und einen Ginblid in die Ewigkeit 
gewährt, wenn bas madtoolle Wort: 
„Bon Erde bift du genommen, zu Erde 
follft du werden; unfer Herr Sefus Chri— 
ftus wird did am jüngften Tage auf- 
erweden bon den Toten“ — über dem 
Sarge ertönt. Die Pa ee im 
Halbdunfel der RKirde, die erften Früh— 
lingsblumen auf dem Altar am Aufer- 
ftehungstage des Herrn, die grünen 
Maien, die Oarben und Früdte des 
Geldes unter dem RKrugifiz und das am 
Schluß des Sottesdienftes unter Oloden- 
läuten ftebend gefungene „Nun danfet 
alle Gott“ — ift es nicht Weihnadten, 
Oftern, Pfingften, GErntedanffeft, wie es 
der Gemeinde im Bilde baftet, wie ed 
fie erhebt und mit @ottesnabe erfüllt, 
wie e8 fie das Heilige erleben läßt und 
wie es fie nod taufendmal fefthält und 
bindet an das, was vielleiht fonft zu 


255 


en und vergefien zu werden 
Drobt. 

Samilienfitte, Dorffitte, firhlide Sitte, 
Bindungen für deutſches, bodenftändiges 
Bollstum — pielleiht nur ein Gandforn 
zu neuem Qufbau, aber Ddennod be- 
deutfam für das, was unferm Volk zum 
Heil dient: Wurzelbaftigfeit. 

Ruth von Kleift-Rebom. 


Die Berglehre im Matthaus-Eoangelium. 


ene Sammlung bon fdarf geprägten 

Sefus-Worten im fünften bis fie 
benten Sapitel des Matthaus-Goange- 
liumg, die wir mit dem Namen ,,Berg- 
predigt“ zu bezeichnen gewohnt find, ift 
im europäifhen Rulturfreis zweifellos 
der am meiften „erflärte“ Text. Gr 
ift dementfprehend unerflärt. Zwar der 
{blidt-findlide Berftand wird leicht mit 
ihm fertig: er lieft ih das heraus, was 
er verfteht. Aber je wiffen{daftlider der 
PBerftand wird, um fo mehr ift ibm der 
Text verfiegelt. Unter den vielen Gr- 
flarungen gibt es febr {dine und fluge, 
aug denen man allerlei lernen fann, aber 
meines Wiffens nicht eine, bei der man 
über die Gmpfindung binausfäme, daß 
fie eben — Die fubjeftive Auffaffung des 
Erklärers fei. 

Mit einem Male ftupft Rolumbus 

das Gi auf den Tiſch — das Gi ftebt. 
Mit einem Male geht einer mit der 
felbftperftandliden Ginftellungan 
die „Bergpredigt“ — der Text wird flar. 
Karl Bornbhaufer, der Marburger Sheo- 
Inge, bat die Frage geftellt: wie haben 
eigentlid die Zeitgenoffen Jeſu die 
„DBergpredigt“ verftanden, wie haben fie 
fie aus ihrer Sprade und Zeit heraus 
berfteben müffen? Und dieſe Frage 
beantwortet er mit fleißiger, flarer Gore 
hung, fo reinlih und nüdtern, daß alle, 
die auf den Kothurnen der „Religions 
pbilofophie“, der „Ethik des Ghriften- 
tums", der „biftorifhen Auffaffung“ uf. 
einherwandeln, mit den bodpbilofopbi- 
iden Denferftirnen in die Wolfen ra- 
end, ein wenig degoutiert und unbe» 
— auf das, was da auf dem ganz 
reellen erdigen Grdboden por ſich geht, 
hinabblicken werden. Ic meinerſeits 
Habe por Bornhäuſers Bud die Gmpfin- 
Dung: Warum haben wir denn feit Sabr- 
gebnten eine ,biftorifde Theologie“, wenn 
nun erft ein „orthodoxer“ Theologe 
fommen muß, um fold eine Frage zu 
beantworten? 

Diefe Geltfamfeit fdeint mir — id 





* Karl Bornhäufer, Die Bergpredigt. 
Berfud ae zeitgenöffifhen Auslegung. 
198 ©. Geb. 7.50, geb. 9.— ME. C. Ber- 
tel8mann, Gütersioh. 


256 


bin nidt Theologe, fondern urteile aus 
der Analogie anderweitiger biftorifcher 
Forſchung — nur fo erflärbar: unjre 
kritiſchen Hiftorifer und Philologen find 
a priori davon überzeugt, daß jie, die 
Kinder des fortgefdrittenften Saeculums, 
die Sezte viel ſchärfer und eindringender 
beurteilen fönnen als die „naiven“ 
Sammler und Redaftoren der alten 
Schriften. Die baben eben nod nicht 
den „biftorifhden Standpunft“ gebabt. 
Nein, den haben fie nidt gehabt. Aber 
fie batten fiderlid EHrfurdt por 
ihren Sezten, mehr als mander Kon» 
jefturenfhufter. {Ind warum fie Dümmer 
gewefen fein follen als ein heutiger Pro— 
feffor, vermag id — bei allem jchul- 
digen Refpeft por der gefdeiten Segen- 
wart — nidt eingufeben. Unſre Sezte 
fritifer meinen, fobald ihnen etwas 


ſchwer verftandlid erfdeint, aus ihrer 
Ueberlegenbeit heraus: da bat ein un- 
verftändiger Redaftor, Schreiber ufm. 


etwa verpudelt, das müſſen Wir mit 
unjrer @ejdeitheit wieder in Ordnung 
bringen. Und dann wenden fie jcharf- 
finnige Methoden an — Methoden, nad 
denen e8 {dledhterdings unmöglich wäre, 
daß der zweite Zeil des Fauſt vom 
Dichter des erften Teils ftammte. Pro— 
feffor X beweift, daß der Dichter des 
zweiten Seils ein unfähiger Fortjeßer 
des erften Teils war, der leider fogar 
in den erften Seil hineinpfufhte. Pro— 
feffor BB bemeift, daß der Dichter des 
gweiten Seils der erfte und wahre Did- 
ter war (der ältere Dichter ift bei den 
Textkritikern — erweiſe immer 
der beſte) und daß der des erſten Teils 
nur eine törichte Vorgeſchichte erfunden 
den zweiten Teil mit ein paar brü— 

eigen Slidzeilen daraufhin gugeftubt 

e. Brofeffor 3 beneit: daß beide 
a einer gemeinjamen verlorenen Quelle 
ſchöpften, die fie beide mißperftanden 
haben und Die erft Profeffor 3 wieder 
in ihrer „Reinheit“ refonftruiert. Das 
nennt man Philologie. IH bin dafür: 
auzugeftehn, daß die alten Herrenaud 
geſcheite Leute waren. Sobald wir etwas 
nit verftehn, wollen wir zunädjft ein- 
mal, ehe wir mit unfern abfpredenden 
Kritifen dreinfahren, gerade das ſchwer 
Begreiflihe pon den Redaftoren und wo» 
möglich von den Zeitgenoffen aus zu be» 
greifen fuden. 

Bornhäuſers Frage ift natürlich längſt 
geftellt worden, fie ift bisher nur nidt 
— mit fopiel Gelbftverleugnung geftellt 
und mit fopiel Sorgfalt verfolgt worden. 

Bornhäujer geht pon dem rabbinifhen 
Schulbetrieb und von der in ibm ge- 
bräudliden Sprade aus. Die &pan- 
gelien find in der belleniftijden ®emein- 


fprade (Koine) überliefert. Die Koine 
hatte aber in verſchiedenen Gegenden und 
Lebenstreifen ihre befondere Auspra- 
gung. Wer Jeſu Sprade verftehen will, 
darf nidt einfad mit einem Lezifon der 
Koine daran geben, fondern muß da- 
Binter zu fommen fuden, wie die den 
—— nahe ſtehenden Kreiſe, unter 
enen Jeſus wirkte, ſich in der Koine 
ausdrückten, was ſie ſich bei ſeinen Wor— 
ten vorſtellten, was alfo der unausge- 
{prodene, felbftverftändlihe Hintergrund 
der Reden Jeſu war. nd nun ftudiert 
Bornhaufer die auf jene frühe Zeit 
zurüdgebende rabbiniihe Literatur. Fer— 
ner muß man aramäiſch fünnen, da Sefus 
aramäiſch fprad; denn mandes „grie- 
chiſche“ Wort wird man in der Rüd- 
iiberfebung ins Aramäiſche deutlicher 
verfteben. 

Das Grgebnis ift: Die Bergpredigt 
ift gar feine „PBredigt“ ans Bolf, jondern 
eine „Süngerlehre“ für den engften Kreis 
der Schüler Sefu. Jeſus warf eine 
Stage auf, disfutierte fie mit feinen 
Schülern eine halbe, eine ganze Stunde 
und länger. Zum Schluß faßte er das 
Grgebni8 in eine Formel gufammen. 
Diefe Formel wurde von den Schülern 
auswendig gelernt und überliefert. Mat- 
thaus, der feinen Stoff nicht dhronifalifd, 
fondern fadlid ordnete, ftellte eine gri- 
Bere Zahl folder Formeln in einer finn- 
vollen Golge — und gab ihr 
den Hintergrund des Berges, weil Jeſus 
oft im Freien lehrte. Daraus folgt: Die 
„Bergpredigt“ enthält keine allge— 
meine Gthbiffiralle Wenſchen, 
ſie enthält Anweiſungen für den engſten 
Kreis der Jünger, Die in der Gemein- 
{daft der Gnade leben. Die , Feindes- 
liebe“, das Badenbinbalten ufw. ift fein 
„unerfüllbares Ideal“, das der „Menih- 
beit“ zum Anfporn vorgehalten wird, 
feine „Szaltiertheit“, fondern erklärt fich 
alg fonfrete Anweifung für die Zwölf. 

Dabei flären fid nun faft amüfante 
uralte Mißverftändniffe auf. Das „Salz 
der Grde“ wird einem deutlicher, wenn 
man weiß, daß man einft die Thora mit 
dem Salz verglid (wie die Mifchna mit 
dem Pfeffer), Daß das neugeborene Kind 
mit Salz gebadet wurde, weil man Salz als 
Reinigungsmittel nahm, daß man 
das Gleijh vor dem Gebraude mit Salz 
pom DBlute reinigte. Die Borfdriften 
über das Schwören, Ghebrehen, Töten, 
uſw., die uns fo viel Kopfzerbreden 
maden, fdliefen fid, fogar in der 
Reihenfolge, an die alten givilredt- 
liden Borfdriften an. „Wer zu feinem 
Bruder fagt: du Narr...“ ift das nicht 
übertriebene Gmpfindlidfeit? Die Wör- 
ter find falfd verftanden: es Handelt 


fid um Bann formeln, von der leichten 
zur ſchwerſten anfteigend; entſprechend 
fteigt Die Inftanz vom Dreimannergeridt 
bis gum höchſten Geridt. Die Wantel- 
und Rod-Gefdhidte wird faft humorvoll 
verftändlih, wenn man die alten Pfan- 
dungsporiäriften fennt. Der Schlag auf 
den ,redmten Baden“ — ja, wenn id 
jemand obrfeige, fo treffe ih dod feine 
linfe Bade? Man muß eben wiffen, 
daß der Rabbiner feinen Schüler am 
ſchlimmſten franfte, wenn er ihn mit dem 
Rüden der redten Hand obrfeigte: das 
Drüdte tieffte Verachtung aus. Der 
„breite“ Weg a nidt der des Lafters, 
fondern gerade der ,fdniglide Weg“ der 
Pharifäer, die Thora; der ,fdmale 
Weg", den Sefus empfiehlt, ift der Weg 
der praktiſchen Liebe. 

Als Ganges ergibt fid: Jeſus vere 
fündet feine „neue Ethik“, er verlegt 
nit die Gittlidfeit pom äußern Tun in 
die „Befinnung“ — das haben die alten 
Rabbiner längft aud getan. Das „Neue“ 
beftebt darin, daß Jeſus für feine Jün— 
ger den Kreis des fittlid-religidfen 
Handelns fprengt. Was bei den Rab» 
binern nur gegenüber dem Bolfs- oder 
ger Raftengenoffen getan zu werden 
raudt, follen feine Sünger im Berfebr 
mit allen Menfden tun. ind ftets be- 
tont er die Liebestatigfeit, die gemilut 
dajadim, gegenüber Sora und Aboda 
(Sefeb und Kultus). 

Indem fo die „Bergpredigt“ zu einer 
ſchlichten, Durdaus praftiid möglichen 
Siingerlehre wird, füllt fie fid zugleich 
mit der eindrüdlihften gefdidtliden 
Wirklichkeit. Was fo feft in der All— 
täglichfeit eines beftimmten Lebenskreiſes 
wurgelt, ift nicht „erdichtet“. All die ge» 
{Heiten Deduftionen, daß Sefus „nicht 
gelebt“ Haben fönne, und gar Arthur 
Drews’ ausjchweifende Phantaftik fällt 
por folder Satfadlidfeit einfah ins 
Laderlidhe ab. Weil es fid um Dinge 
Bandelt, die jeden Gbriften angebn, 
Danfen wir es Dornhäufer befonders, 
daß er feine an fih nicht leidten Anter— 
Judungen in fodlidter, verftändlicher 
Gorm portragt; man braudt nidt he— 
bräifh, faum griedifd zu fünnen, da er 
meift Die deutſche Bedeutung binzufügt. 
Obne jedes geiftreihe Betun ift bier 
der Weg befdritten, der allein zum 
Siele führen wird: der Cae MAND: 

t. 


Soziallohn oder Leiftungslohn?* 


95 die Arbeiter Leiftungslohn fordern 
follen oder Gogiallohn, wird nod 
immer verfdieden beantwortet. Sm gan- 
zen gilt der Gogiallohbn als das Wün- 
{dhenswerte, aber die Durdfibrung in 


257 


ber Wirklichkeit ftößt immer wieder auf 
Schwierigkeiten, denn jeder Betrieb, der 
viele Gater großer Gamilien einftellt, 
belaftet fein Lohnfonto tatfadlid® fo ftarf, 
daß er in den Preifen feiner Waren 
fhließlih mit dem Konkurrenten nicht 
mehr metteifern fann, der weniger So— 
ziallöhne zu zahlen bat. Den Betrieben 
ift daher ihre Abneigung gegen den So— 
giallobn gar nidt gu beritbeln, und es ift 
für den Gogialpolitifer vielleicht ſchmerz⸗ 
lich, aber Dod verftandlid, dah der Go- 
ziallohn hier und da wieder abgefdafft 


ift. 

Dielleiht fann man die Grage erft 
dann gang befriedigend löfen, wenn man 
fid ganz Har darüber ift, wer das größte 
Intereſſe am Gogiallohn hat. Die grund» 
fabliden Gegner des Gogiallohns ver- 
werfen ihn ja deshalb, weil fie im Hei- 
raten und im Aufziehen von Kindern 
eine Angelegenheit nur der Gingelperfon 
erbliden. Das ift ein Stüd jener Welt- 
anfhauung, die alle Menfden als glei 
anfieht und in der Entwidlung der Gin- 
gelmenfden die höchſte Aufgabe alles 
menfhliden Dafeins empfindet. Die ent- 
gegengefeste Anfiht Halt den einzelnen 

enfden für ein unfelbftändiges Wefen, 
das erft in der Gemeinjdaft gum Men- 
{den wird. Die höchſte Gemeinschaft, die 
wir bis jebt als organifiertes Wefen 
fennen, ift das Bolf. Goldes Gefamt- 
toefen ift weniger ein förperlihes Ding 
als ein geiftiges, und feine Grbaltung 
rubt daher mehr auf der Pflege der 
Sittlihfeit als auf Der des Körpers. 
Das Sefdhledhtsleben ift eins der wich⸗ 
tigften Kapitel in diefer Sittlidfeit, und 
darum ift es für den Politifer, der fein 
Golf erhalten will, aud fo aufer- 
ordentlid wichtig, daß er das Gefdledts- 
Ieben im weiteften Sinne gelund, inne” 
Lich gefund erhält. Für diefe Auffaffung 
ift e8 feine Privatangelegenbeit, fon- 
Dern eine widtige dffentlide Gade, ob 
Die Slieder des Bolfes eine Ehe idlie- 
Ben können und ob in der She Mann 
und Frau viele Kinder großziehen fin 
* nen oder nidt. 

Das Gingehen einer Ehe und die Er- 
giebung einer Rinderfdar ift aber neben 
allem Gittliden aud eine wirtidaftlide 
Grage und fordert daher von unferm 
vollsorganifhen Standpunkt aus Beriid- 
fidtigung in der Wirtſchaftspolitik des 
Volkes. Bon diefem Wirtidaftliden zu 


* Reiftungslohn: der Lohn, der nur 
nad der geleifteten Arbeit berechnet wird. 
Gogiallohn: Der Lohn, der Has fogiale 
Bedürfnis des Arbeitenden, feine Ya» 
milie, fein Alter u. dgl. beriidfidtigt. 
(9. Schrift. 


258 





reden, verlangt unfer Thema, aber es 
fol bier gefdeben immer: unter dem 
Obergedanfen, daß es fid dabei um eine 
der Grundlagen handelt, aus denen unfer 
Volk feine fittlide Gefundungstraft giebt. 
Die Werte, die eine Ghefrau über Die 
„möblierte Wirtin“ hinaus erzeugt, find 
et nur zum Seil materieller Art, wie 
ie forgfältigere Pflege aller Ginrid- 
tungs- und Berbraudsgegen{tinde, und 
find zum größeren Zeile ideeller Art, 
wie die Schaffung eines wirfliden Heims 
und die Pflege innerer ®emeinihaft zwi- 
{hen den Mitgliedern der Familie. Aber 
die Volkswirtſchaftslehre ift ja längft 
darüber hinaus, daß fie nur die Gre 
geugung materieller Dinge als Schaffung 
bon Werten anfieht. Sie fett die gei- 
ftigen Werte den materiellen gleidh. ind 
da die Arbeit der Hausfrau die Kraft 
eines Menjden völlig beihäftigt, muß 
ihr der Wirtſchaftspolitiker aud den 
wirtidaftliden Lebensunterhalt dafür be- 
willigen oder — auf dieje ideellen Güter 
verzichten, und das geht eben nidt, ohne 
die Gefundheit des Bolfes zu fchädigen, 
wie oben dargelegt war. Und daß eine 
roße Kinderzahl im Bolfe ganz abge» 
eben von anderer Bewertung aud rein 
wirtfhaftlih für die finderlofen Eheleute, 
den Sunggefellen und die Sungfer nötig 
find, davon überzeugt ſchon ein ein- 
aiger Sedanfengang: die alt gewordenen 
Beamten haben von ihrer Penfion, die 
alten Arbeiter pon ihrer Gogialrente, der 
Mann des freien Berufes von feinen 
Grfparniffen nur dann etwas, wenn fie 
für das Geld aud Waren kaufen können. 
Denn nidt vom Gelde leben wir, fondern 
bon Waren. Und alle Waren werden 
durh Arbeit erzeugt. Die alten Leute 
find felber ja arbeitsunfabig getworden. 
Darum muß die Arbeit, die zur Gre 
zeugung diejer Waren nötig tft, eben von 
der jüngeren Generation verrichtet wer- 
den. Dazu muß aber eine a @®ene- 
ration überhaupt da fein, das beißt 
eben: Kinder! Dem alten Sunggefellen, 
den alten finderlofen Leuten nübte ihr 
Geld zur Altersverforgung gar nichts, 
wenn nit wenigftens andere Leute Kin- 
der batten. In einfachen Berbaltniffen 
treten die Kinder für ihre alten Eltern 
ein; in unferer heutigen Volkswirtſchaft 
die ganze junge Öeneration für die alte. 
Nebenber bemerkt: es ift aud in diefem 
Sufammenbange fraglid, ob beim Bore 
berrjden des Gin- oder Zweikinder⸗ 
ſyſtems in einem Bolf die jüngere ®ene- 
ration allein fhon zablenmäßig ftarf ge- 
nug ift, um diefe Arbeit neben der 
eigenen Grbaltung zu übernehmen. Wahr- 
fheinlich ift das nicht der Fall, und dann 
müßte ein Bolf Rentenpolitif treiben, wie 





Sranfreid mit Rußland, oder, wenn das 
nidt mehr gebt, Grprefferpolitif, wie 
Sranfreidh jest mit Deutichland. 

Das Same ift alfo Dies: Gheihlie- 
fung und Kinderzahl ift unter wirtihaft- 
lidem und unter fittlidem Sefidtspuntt 
nidt nur Privatfade der Gingelnen, fon- 
dern eine Angelegenheit der Gefamtbeit. 
Die Begründer einer Ghe und die Bater 
und Mütter leiften etwas febr Wert- 
volles für die Gefamtbeit des Volkes. 
Diefe Leiftungen haben neben anderen 
Borausfebungen aud wirtihaftliche. Sind 
diefe nicht erfüllt, fo find die Leiftungen 
nidt möglid. Darum ift e8 Gade der 
BolfSgemeinfdaft, dafür gu forgen, daß 
diefe Leiftungen aud wirtſchaftlich aner- 
fannt werden, daß fie bezahlt werden. 
Diefe Bezahlung wäre der ,,Sngiallohn“! 
Der ift alfo aud ein Leiftungslohn wie 
jeder andere „Leiftungslohn“, nur ift der 
Empfänger der Leiftung nist der ein- 
m Betrieb, fondern die Volksgemeinde, 

et Staat, und der muß naturgemäß 
daher aud diefen Lohn zahlen, denn nur 
wer die Leiftung empfängt, bat den Lei- 
ftenden zu entidadigen. Der Sogiallohn 
ift bisher alfo an falſchem Ort gefordert: 
nit der Gingelbetrieb, fondern die Gee 
famtbeit, der Staat, ift der richtige. Grft 
wenn man die Frage des „Soziallohnes“ 
von diefem Zuſammenhange aus zu bee 
antworten fudt, wird man zu vernünf- 
tigen und bdurdfibrbaren Grgebniffen 
fommen. 

Zunächſt müßte der Staat alles be- 
- feitigen, was in feinen Ginridtungen den 
Sheihluß geradezu beftraft. Bei der 
DBermögensfteuer war und ift es wobl 
n fo, daß ein gewmiffes Vermögen 
fteuerfrei ift, in der Seit por dem Kriege 
einft 6000 Warf. Hat ein Mann diefe 
Summe und eine Grau aud, fo find fie 
beide fteuerfrei. Heiraten fie aber, fo 
gelten die beiden Vermögen als eins 
pon 12000 Warf und find fteuerpflidtig. 
— Die Witwe eines Beamten oder eines 
Kriegers erhält pom GStaate eine Pen- 
fion. Vielleicht vermietet fie, um beffer 
auszufommen, einen Seil ihrer Wohnung 
an einen Herrn ab. Heiratet fie diefen 
Herrn aber, fo verliert fie ihre Penfion 
und die beiden Menfden find ftatt auf 
gwei nun auf ein Ginfommen angewiefen. 
Das wirkt geradezu als Prämie auf das 
Berbältniswefen und all das, was als 
ſchädlich für die fittlide Bolfsgefund- 
beit zu befämpfen ift. — Gine Beamtin 
erhält neun Zehntel vom Gehalt ihrer 
männlihen Kollegen und daher ibre 
Benfion (hddftens 80 v. %. des Gee 
balts) faft genau fo wie der Mann. Die 
Witwe des Beamten aber, die „nur“ 
Hausfrau war, erhält drei Fünftel nidt 


etwa des Gehalts, fondern der Pen— 
fion ihres Mannes, alfo aud nur etwa 
zwei Giinftel der Penfion der Beamtin. 
Go bewertet bis jebt der Staat die 
Arbeit feiner Hausfrauen und Mütter! 
nd da wundert man fid über Eheſcheu 
bei Mann und Grau? Sa nad unferm 
®edanfengange über die Grbaltung der 
älteren @eneration burd die jüngere 
zwingt der Staat alfo die jüngere, in 
der Steuergablung für die unverheiratete 
penfionierte Beamtin mehr zu leiften als 
für Die eigene Mutter! — Das 
alles find nur ein paar Beifpiele, die fid 
bequem nod) vermehren ließen, und alle 
zeigen, wie die BolfSgemeinfdaft bis 
jeßt recht viel tut, was die Gheleute 
{dledter ftellt als die unverheirateten 
und was daher unbedingt abgeftellt wer- 
den muß, wenn das Bolf fid nicht felbft 
zugrunde richten will. 

Aber das Volk muß aud durd neue 
Ginridtungen den Soziallohn, zu dem 
wir es moralifh verpflichteten, {daffen. 
Dagegen darf fih aud nidt das übliche 
Geſchrei derer erheben, die bon Volks— 
wirtſchaft nidts Derftehen: woher foll 
der Staat das Geld nehmen! G8 handelt 
fih ja nur um eine andere Verteilung 
des Ginfommens, das fdon da ift. Die 
Art, wie Has grundfaglid am flarften 
und gugleid tehniih am einfadften ge 
ſchehen fann, bat Berthold Otto in feinen 
pollswirtihaftlihen Büchern gezeigt, im 
„Zukunftsſtaat als fogialiftifde Monar- 
hie“ und in „Mammonismus und Mir 
litari8mus“. Aber aud innerhalb unferer 
beftebenden Wirtihaftsverfaffung bieten 
fid einem ernfthaften Willen feine un- 
überwindliden Schwierigkeiten. Die fo 
giale Gerfiderung, gar nod auf genoffen- 
fdaftlider Grundlage, ift freilid von 
pornberein und im Grundſatz falfh. Aud 
Sunggefellen- und Sungfrauenfteuern find 
mißlich. Das einfadfte ift dies: die Gin 
fommenfteuer wird febr ftarf erhöht und 
den Gerbeirateten als Grauen- und Kine 
dergelder nad der Zahl ihrer Familien- 
mitglieder wiedergegeben. Auf Diefe 
Weife erhielten nidt nur die Beamten 
des Staates ſolchen Sogiallohn, fondern 
eben jeder Angehörige des Bolfes. Die 
Höhe der Gelder muß nun aber fo 
bemeffen werden, daß das volfsjitt- 
lide Biel wirklich erreiht wird. Die 
Srauengelder dürfen alfo nidt wie jebt 
ein Paar Gtiefelfohlen im Monat wert 
fein, fondern mitffen fo bod fein, daf 
zwei Ghegatten im wefentliden auf dere 
felben Kulturftufe leben fonnen, als wenn 
die Grau in einem andern Berufe bliebe. 
Dazu ift nidt medhanifhe Addition ihrer 
früheren Ginfommen nötig. Aud die 
Srage wäre zu erörtern, ob die Frauen- 


259 


gelder für alle Stände gleich fein follen. 
G3 ſpricht vieles für eine mäßige Un« 
leichheit. Der Kernpunft ift dod immer 
Ber: Die Höhe des Frauengeldes muß 
bewirken, daß eine Heirat die wirtichaft- 
lide Lage zweier Wtenfden nidt vere 
{dledtert, wie e8 heute tatfadlid der 
Sall ift, fondern auf derfelben Höhe er- 
halt. — Ebenſo müfjen die Kindergelder 
fo bemeffen werden, daß die materiellen 
Koften der Kinderpflege im wefentliden 
wirklich gededt werden. Man rede nicht 
davon, daß damit fo viel „Idealismus“ 
aus der Familie ausgetrieben werde. 
G8 war nod nie ideal, wenn finderreide 
Samilien weniger für die Wohnung aus- 
eben finnen ‘als finderlofe, wenn Die 
inderreide Mutter fid niemand zur 
Hilfe nehmen fann, und die finderlofe 
dagegen e8 tut, wenn Gltern bungern 
müffen und vorzeitig altern, um ibre 
Kinder ernähren zu fünnen. G38 ift Sde- 
alig8mus genug, wenn Bater und Mutter 
mande Naht ihre Rube für die Kinder 
opfern, auf manden nod fo edlen Genuß 
verzihten, um fid ihren Kindern zu 
widmen und deren Entwidlung zu pfle- 
gen. Wud die Ausbildung des Kindes 
gu einem Berufe muß durch Kindergeld 
ermiglidt werden, und darum muß die- 
fe Geld fo lange gewährt werden, wie 
unter gewöhnliden DBerbältniffen die 
Ausbildung für Diefen Beruf dauert. 
Der Aufgaben find e3 alfo nod ge- 
nug. Die Reidsverfaffung erfennt fie 
in ihrem Xrtifel 119 ausdrüdlih als 
folde an. Ob wir eine ernfthafte Lö» 
fung diefer Aufgaben aud wirflid ver- 
Juden, das ift geradezu der Priifftein 
dafür, ob wir unfer Bolf wirklid nod 
einer Zufunft entgegenfiibren wollen oder 


ob wir nur jhöne Redensarten maden. 


Denn. wenn in einem Bolfe die gefdhledt- 
lide Sittlidfeit erft verdorben ift, fo ift 
aud das Golf ganz und gar verdorben. 
Deshalb arbeiten alle äußeren und inne- 
ten Geinde eines gefunden deutichen 
Volkstums daran, uns unfere Phantafie 
über gefdledtlides Leben gu verderben 
und unjer Handeln auf den Weg gum 
Abgrunde gu loden. Dem gilt es mit 
flarer Grfenntni8 der Oefahr und der 
migliden Abwehr entgegengutreten, aber 
aud mit dem feften Willen zur Tat. 

Benno Menzel 


Reform der darſtelleriſchen Kunft 
in der Oper. 


Es mutet wie eine tragiſche Ironie der 
Oeſchichte an, wenn man bedentt, 
wie Wagners Idee eines Sefamtfunft- 
werfs eigentlih erft Dadurd zu reiner 
Wefensbeftimmung und Zweckerfüllung 
gelangen fonnte, daß die Generation nad 


260 


Wagner alle jene Künſte, welde der 
Bapreuther Meifter mit einem einzigen 
@®riffe gufammengubalten glaubte, im 
einzelnen, jede bon Der andern getrennt, 
ur Reife entwideln mußte, ehe mir 
aran denfen durften, ihre Vereinigung 
erneut herbeizuführen. Das dramatijfde 
Glement, dem Wagner zu endgültigem 
Siege verholfen zu haben meinte, brad 
es jih nicht erft in der der Wagnerfchen 
@dtterwelt abſichtsvoll entgegengeftellten 
periftiihen Ridtung freie Bahn? Gre 
fannte man das, was der Bayreuther 
Meifter an choreographiſcher, an mimi- 
[her Symbolik erftrebt, nidt erft an Hand 
der nadwagnerijdhen rhythmiſchen Gym⸗ 
naftif des Genfers Jacques Dalcroge? 
Haben wir uns nidt über die ins Opern= 
mäßige übertragene „Meiningerei“ Bay- 
reuth3 den Weg freimaden müffen zu 
einer der Mufif des Meifters endlich 
wahrhaft angemeffenen Gtilfunft der 
Szene? Die Neueinftudierung des ,, Pare 
fifal* als Gröffnungsfeier des Duis- 
burger Opernbaufes ebenfo wie die Wag- 
nerfeftfpiele in Budapeſt waren bier 
Marffteine auf neuem Wege. Diefen 
Weg hatte Wagner zwar gewiefen, hatte 
das Ziel erfannt und in feinen Werfen 
alle Möglichfeiten geboten, den Weg 
weiterzufchreiten. Aber wie fo oft: nidt 
in der Nadfolge, getreu feinen mahnen- 
den Worten ,Madht Neues, Kinder“ 
fudte man das Heil der Kunft, fondern 
man madte feine Werfe zu dden Pa— 
radeftiiden, denen man dies oder jenes 
DWirfungsmittel entlieh, ohne die See 
famtbeit feiner Ideen im Auge gu be- 
balten. Go ift es die Aufgabe erft un- 
ferer allerjüngften Zeit geworden, bier 
flarere Grfenntnis und zielbewußte Lme 
fehr vorgubereiten. 

‘Was an diefer Aufgabe nod ungeldft 
verblieb, das ift por allem die feftumrij- 
fene Een des Begriffes „Spiel“. 
Nachdem felbft die Dod „realiftiih“ fein 
wollende neuitalienifhe muſikdramatiſche 
Ridtung und ihre deutihe Gefolgſchaft 
dem gefprodenen und gefungenen Worte 
immer und immer nod nidt dazu ver- 
bolfen, fid neben dem aus dem Riefen- 
apparat der neudeutfhen Tondidtung 
gefpeiften Ordefter zur freien ©eltung 
gu bringen, naddem in der — jener 
veriftifhen Sondergattung entgegengejeh- 
ten — Märden- und Legendenoper zu 
dem alles umnebelnden Bollflang der in=- 
ftrumentalen Begleitmufif nod die den 
Wortfinn felbft einhüllende mehr oder 
minder, meift minder Ddeutlide pbilofo- 
phiſche Nebenbedeutung des Seztes trat, 
ſchien die Möglichkeit, jemals dem Worte 
wiederzugeben, was ibm zufam, weiter 
alg je in die Gerne gerüdt. Nun bieß 


e8 für die Oper, die alte wie die mo- 
derne, doppelt eingedent zu bleiben des 
QMrelements aller Worttonbibnenfunft: 
der Pantomimif Es mag nabe 
liegen, bier eine bedingungslofe Annä- 
berung an das obenerwähnte Dalcroze- 
fhe Spftem predigen zu mollen. er 
dem ftebt eins erigegen: wie Rudolf 
Gabhn-Speper, der Berliner Mufiffdrift- 
fteller und Romponift in feinem Schrift 
den „Zur Opernfrage“ fdon por einer 
Reihe pon DSabren richtig betonte, fällt 
der Mufif hierbei die Aufgabe zu, den 
pom PDarfteller ausgedrüdten ©efühlen 
eine erhöhte Sntenfitat zu verleihen, d. b. 
Die motivifhe „Oebärde“, wie fie Nieb- 
{be febr feinfinnig nannte, der fdau- 
{pielerijden angugleiden. Während nun 
die Sharafteriftit der rein fchaufpieleri=- 
{den Runft in der Brägung immer neuer, 
fid raſch ablöfender Bewegungen und 
©ebärden beftebt, bedarf die Muſik zur 
Entfaltung ihrer eigenen Gebärdenkunſt 
einer gewifjen Zeit, einer beftimmten 
Abfolge einzelner, fid) aus einer zur ane 
deren immer Deutlider herausentwideln- 
den Seilbewegungen. Hier wäre es 
durchaus verfehrt und aud dem mufifa- 
lichen Leitgedanfen der Dalcrozeſchen 
Lehre zuwider, den Sänger zum Träger 
einer „pointilliftiihen“ Zappelrhythmik zu 
maden (wie fie Alezander Jemnitz un- 
längft einmal nannte). Die Stilifierung 
der Gebardenfprade wird Hier zum une 
ausweidbaren Zwang. 

Aud das betont Semnib mit vollem 
Redte: daß das Mienenfpiel des ſpre— 
chenden Schaufpielers nidt ohne weiteres 
maßgebend fein fann für das des durd 
die Rüdfiht auf feine ©efangsorgane 
gebundenen und zur Hälfte ganz einge» 
{dranften Opernfangers. Dagegen t 
diejer [ebtere gegenüber feinem Kollegen 
pom Schaufpiel den Vorteil, Dolmetich 
Der ordeftralen Rhetorik zu fein und fo- 
mit Seften fid zu eigen zu maden, Die 
innerhalb der nüchternen Rezitation des 
Schaufpielers übertrieben wirken würden. 
Mur jo fann und wird ein inniger Sue 
fammenbang zwifhen Bühne und Or- 
efter herguftellen fein, ein Wechſelſpiel 
im Sinne des antifen Sufammenwirfens 
von Agonift und Shor, ein Zufammen- 
bang aud, welder der gefteigerten moti- 
{den Beteiligung unferes modernen 
Opernordefters wirflid) gu entſprechen 
permag und der weit hinausweiſt über 
die alltaglide Auffaffung, als fei jener 
Inftrumentalförper einzig und allein da— 
für da, die zur Oberftimme gebörige 
@®rundbarmonie anzugeben, eine Auffaf- 
fung, die nidt einmal dem primitivften 
Stand des begleitenden Weneralbajfes 
aus der Zeit der Entftehung der floren- 


tiner Oper ent{prade. Damit ift der 
Opernfanger aud) endlid einmal aus der 
jämmerliden Rolle erlöft, ab- und in 
den Hintergrund treten zu möüjlen, fo- 
bald feine Phrafe ausgefungen. Denn 
bier gerade wird er in idealer Arbeits- 
gemeinfhaft mit dem ihn — 
Orcheſter Uebergänge auszufüllen, Un— 
ausſprechbares durch Gebärden Hand in 
Hand mit dem motivifdh weiter ent- 
widelnden Ordefter auszudrüden haben. 
Aus diefer Satfadhe jedoh ergibt ſich 
zugleih für den Komponiften die Pflicht, 
einer folden Wedfelwirfung porzuar- 
beiten und, was ebenfo bedeutjam, ge 
fanglide Höhepunkte nicht mit jolden 

Sebadrdenfpradhe zufammenzulegen, um 
dem Sänger Freiheit gegenüber dem 
Spieler in einer Perfon zu gewährleiften. 

Damit wird nicht allein die Zeit por» 
über fein, wo trefflide Sänger mäßige 
Spieler fein und fid mit den jattfam 
befannten, „opernhaften“ Stumpffinns- 
— begnügen konnten, um immer in 
em Augenblicke, wo die Reihe mit dem 
Singen wieder an ſie kam, mit wuchtigem 
Bühnenſchritt nach vorn zu ſchreiten, um 
von der Rampe aus ihr ſängeriſches 
Licht leuchten zu laſſen. Die Zeit wird 
auch vorüber eth Da zwiſchen Sänger 
und SKapellmeifter eine ,gottegewollte“ 
Seindihaft, ein Sichmeiden bis zum 
Augenblid der Hffentliden Aufführung 
Plas hatte. Es wird nun aud dem- 
jenigen Hörer, der nidt im Befite eines 
Tertbuches, möglid fein, an Hand der 
por feinen Augen fid) abfpielenden Gee 
bardenfpradhe Berftändnis für Handlung 
und für DBegleitmufif zu finden. Und es 
wird eine reinigende Wirkung ausgehen 
pon Diefem Zujammenarbeiten der pla 
ftifden wie der rhetorifchen und panto- 
mimifhen Runft: alle überflüffige Pbi- 
lofopbafterei, alle verlogene Symbolik, 
alle unnatürlide Anbäufung realiftifder 
Handlungsmomente wird nad und nad 
aus den Partituren der neuen bübnen- 
mufifalifhen Schöpfungen verfdwinden, 
mögen fie fid nun Wufifdbrama oder 
mögen fie fid) Oper nennen, Legenden- 
fpiel oder —— 

Damit endlich würde der Weg ge— 
funden ſein zurück zu Wagner, d. h. zu 
einer idealen Vereinigung aller Künſte 
zu einem „Oeſamtkunſtwerk“, wie es der 
Bayreuther Weiſter erträumte, wie es 
aber feiner Zeit gum Verftändnis nod 
zu früh erfhien. Hermann Unger. 


Zu den Bildern bon Rudolf Schäfer. 


gyre Heft, das dem Jungborn deut- 
{men Gamilienlebens gewidmet ift, 
baben wir mit Zeihnungen Rudolf Schä— 
fers gefdmiidt, der fein feines Können 


261 


in befonderem Mafe in den Dienft einer 
deutfhen Hauskunſt geftellt und fid mit 
gablreiden Arbeiten viele Greunde er- 
toorben bat. Gaft fünnte Schäfers Kunft 
ein Abbild eines ſchönen Familienlebens 
fein, das fid am fdftlidften dort gibt, 
wo es nad außen bin unfidtbar bleibt 
und bleiben muß. Wer mödhte dies une 
fidtbare Wohltun zwiſchen Gltern und 
Kindern permiffen? Wer möchte auf 
die vielen Heinen beglüdenden Züge des 
Samilienlebens verzihten? Etwas ähn- 
lies ift in den Arbeiten unferes Künft- 
fers zu fpüren. Nah außen bin drängt 
fi feine Kunft nidt auf, hat fie fo gar 
nidts Prahleriſches, gibt fie fid be- 
ſcheiden und einfad. Dod verweilen wir 
bei ibr, dann verfpüren wir den ftarfen 
Herzihlag, den der Künftler im Innern 
bergen muß. Gs ift eine Greude, den 
vielen Einzelheiten auf Schäfers Blättern 
nadgugeben, die er zu einem eindruds- 
pollen @angen zufammenzufaffen weiß, 
zu einer Runft, die fo redt fürs Haus 
geſchaffen ift. 

Sreilid, der Kunftfritifer bleibe beim 
Betradten einmal beifeite; bier fann er 
nidts ausridten mit dem übliden Bere 

leihen mit Werfen anderer Künftler, 
Bier läßt fid nit fragen nad Ginflüffen 
und DBeziehungen, wenn aud) fdon bin 
und wieder ‘bei Schäfers Arbeiten pon 
einer „Zudwig-Rihter-Schule“ gefproden 
fein mag. Rudolf Schäfer ift aber durd- 
aus ein Gigener, ift fein Nacdahmer. 
Denn man ibn wirflid mit Ludwig 
Ridter, Otto Specter und Graf Frang 
Pocci zufammen nennen wollte, fo fonnte 
man allenfall3 jagen, daß Schäfer wohl 
mit dem gleiden Herzen wie feine Bore 
gänger fdafft, nidt aber die Art ihrer 
Seidhenweife aufgenommen bat. Wie jene 
Meifter zeichnet Schäfer mit fdarfen 
Augen und mit fiderer Hand, dazu mit 
einem andadtigen Semiit. Aus dem 
legten @runde bat Schäfer bald eine 
große Gemeinde gefunden, daher bleibt 
es nidt aus, daß je länger man fid in 
feine religiöfen Zeichnungen vertieft, umfo 
ftärfer feine Kunft an die Pforten des 
®emiits des Beſchauers flopft. 

Eine Entwidlung bat Rudolf Schäfer 
unftreitig Durdhgemadt; man könnte ſchon 
an feinen Blättern verfolgen, wie fid 
der Strid des Künſtlers allmählich 
feftigte, wie der Seidenftift immer 
fiherer zur Geftaltung des erftrebten 
Ausdruds gelangte. Dod fdhaben wir 
immer wieder, daß Rudolf Sdafers 
Zeichenweije bon Anfang an fo gar nichts 
@®efiinfteltes bat. Seine Zeichenart bat 
vielmehr etwas Arjprünglides, etwas 
Reines — in Rube fließen die Linien 
gumeift dahin. Zuweilen lafjen die Strich- 


262 


lagen aud) wieder große Beweglichkeit 
erfennen, {afft der Künftler mit großen 
Lidt- und Sdattenmaffen überaus ftarfe 
Wirkungen. Aber nie wird die Technik 
der Zeichnung, die Gtridfibrung zum 
DBorberrihenden feiner volkstümlichen 
Kunſt. Aehnlich ſchuf aud einft Ludwig 
Richter, der einmal feine Abfichten, aller- 
dings im Holgidnitt, mit den Worten 
fund gibt (1835): „Ich ging nidt auf 
malerijhe Soneffefte aus, fondern auf 
Reihtum der Motive, flare Anordnung 
und Schönheit der Linienführung.“ 

Der Reidtum der Motive, der uns 
in Rudolf Schäfers Schaffen entzüdt, 
ift in der Sat erftaunlid. Zu bewundern 
ift aud die Ausdrudgfraft, die im eins 
fadften Borwurf angeftrebt und erreidt 
wird, zu bewundern der große Fleiß, 
mit dem der Künftler an die Öeftaltung 
der fleinften Aufgabe berangebt, um eine 
würdige Kleinkunſt dem deutiden Haus 
auf den &amilientifch legen zu fönnen. 
Daraus ſpricht gleidfalls ein Wunid 
des Altmeifters Ludwig Ridter, der ein- 
mal mabnend in jets Sagebud (1825) 
eintrug: „Man follte wirflid auf die 
gewöhnlihen Bolfsfalender mehr Fleiß 
verwenden, und id babe wohl Luft, 
nod fünftig Die Kupfer dazu zu maden, 
wenn ſich nur ein Gleidgefinnter für die 
Wahl des Textes fände, man fönnte 
viel Gutes damit ftiften. Gerade in 
folden geringen und niedrigen Dingen 
liegt oft viel Segen.“ 

Golder Segen ift pon unjerem Künft- 
ler in reidem Maße ausgegangen. Schon 
feine erften Mappenwerfe, im Stiftungs- 
verlag in Potsdam erfdienen, beweijen 
es durd Die febr hohe Zahl ihrer Auf- 
lagen. Die mannigfadften Gebiete be- 
herrſcht Sdhafers Beidenftift. Wie föft- 
lid {dilbert er bald bie deutſche Fa— 
milie, das Olid der Mutter und der 
®rofeltern. Wir fingen und jubilieren 
mit ibm (§rau Wujila), erfreuen uns 
an der Schönheit unferer deutſchen Hei— 
mat (drei vaterländiihe Zeichnungen), 
laffen ung bon dem Künftler in trau- 
lide Garten (Allerlei Garten) führen 
und auf das Reizpolle des Lichterſchei— 
nes (Allerlei Lichter) aufmerffam maden. 
And fteben wir ſchon in diefen Blättern 
mit ibm in der Schönheit der ©ottes- 
welt, fo vergißt er Dabei nie, unfere 
Dlide aud nad oben zu lenken, heim- 
warts zum Schöpfer. Gr fennt febr fein 
den „Wanderfchritt des Lebens“, fdrei- 
tet uns den Weg eines Sbhriftenmenjden 
voran. Möchten fid redt viele an diefen 
®aben Schäfers, den Schilderungen eines 
gemütpollen und religidfen Innenleben, 
in ftillen Seierftunden erfreuen! 

Am die Wahl eines geeigneten Textes 


bat Rudolf Schäfer nidt zu forgen 
brauden. In feinen Blättern beweift der 
Künftler, in weld) innigem Verhältnis 
er zum ewig jungen Born der heiligen 
Schrift ftebt, den er voll ausgefhöpft 
und uns in reidem Mafe zugänglid 
gemadt Hat. Seine religidfe Runft ere 
meift fid aber aud eindringlid in feinen 
Seidnungen zu den Liedern des Gottes- 
fänger® Baul Gerhardt (Berlag ©. 
Schloefmann, Hamburg), die den Künft- 
ler wohl am befannteften madten und 
in denen Schäfers religiöfes Gefühl wohl 
am ftärfften zum Surdbrud gefommen 
if. Das find Blatter, die den Runft- 
freund aus jedem religidfen Lager ere 
quiden fönnen. Hier geht Schäfers Kunft 
weit über die üblihe Art einer Illu— 
ftration hinaus: es find fleine Predigten, 
in denen Schäfer zu uns fpridt. „ind 
hättet der Liebe nidt...“, diefe Worte 
fpüren wir tief in dieſen Andadts- 
blättern über Schöpfer, Shöpfung un) 
Oeſchöpf. 

Einen köſtlichen Text lieferte dem 
Künftler der getreue Asmus, der Wands- 
beder Bote Matthias Claudius, mit dem 
er den gleiden Hergensfdritt einzuhalten 
weiß, wie etwa Sobann Abraham Peter 
Schulz, der die feinfte Vertonung für die 
Lieder fand. Schäfer fudte die ſchönſten 
®aben des Boten Asmus heraus (Bom 
Wandsbeder Boten. Bei ©. Schloeß⸗ 


mann in Hamburg) und fduf dazu über- 
aus wertvolle Zeichnungen, die man ime 
mer wieder aufs neue betrachtet. Im glei- 
den Berlage erjdienen 1913 aud Illuſtra⸗ 
tionen zu deutſchen Bolfsliedbern unter 
dem Sitel ,Rofen und Rosmarin“, von 
denen ein feiner Duft deutfher Inner» 
lichfeit ausgeht. Der eben genannte Ber- 
lag verantftaltete ferner aus alten und 
neuen Seidnungen in den [ebten Jahren 
Mappenwerfe in größerem Gormat, in 
denen Schäfers Griffelfunft eigentlich nod 
ftärfer zum Ausdrud fommt als in den 
oft verfleinerten Wiedergaben. "Wir 
nennen die Mappen: „Made deinen 
Leuchter belle“, „Laßt uns geben nad 
Bethlehem“, „Jeſu Herrlichkeit“. Alle 
diefe Blatter bedeuten reihe Lebens- 
gaben für die deutſche Familie, die wohl— 
feil zu erwerben find. 

Dieje wenigen Zeilen mögen zu einer 
Einführung in das Schaffen des Künft- 
ler8 genügen. 

Der Kunft Rudolf Schäfers barren 
aber nod) viele Aufgaben, denn es gilt 
mebr als bisher, das religiöfe Leben in 
der deutſchen Familie mit Hilfe aud 
feiner Kunft zu beben, einer religiöfen 
KRunft, die fih bewußt von zu großer 
©efüblsfeligfeit und von falfhem Pathos 
fern hält, jondern einzig durd die ftille 
Schönbeir und den reihen Wedfel der 
Pbhantafie gewinnt. Hans Schröder. 


Der Beobachter 


9) 28 deutihe Parlament joll ein Mit- 
tel fein, die politifhen Intelligengen 
an die Führung zu bringen, es ift aber 
nidts andres als ein Spiegelbild der 
perworrenen Mafjenmeinungen. Hier zeigt 
fih far das Grundgebreden des reinen 
Parlamentarismus: er fest die Auswahl 
der Führung und den Ausdrud der im 
Golfe vorhandenen Meinungen in eins, 
während beides feinem Weſen nad 
grundverfhieden if. Das hilfloſe Hin 
und Her der Parteiverhandlungen im 
Reidhstag ift der augenfdeinlide und 
Handgreiflide Beweis für die Unmög— 
lidfeit, aus einem bloßen Parlament 
eine Führung zu bilden. (Man wende 
nicht Gngland vor. Geit Gngland fid 
dem reinen Parlamentarismus zu nähern 
beginnt, gebt e8 aud) dort bergab. Lloyd 
®eorge bat den Abrutih Englands er- 
öffnet, Macdonald befördert ihn. Immer» 
bin: Macdonald regiert nit, fondern 
man läßt ihn regieren; man [aft die 
„dritte“ Partei fid ab- und ausregieren, 
um fo vielleiht gum alten Zuftand zu- 


rüdzufehren) Wir PDeutfhen bemühen 
uns ebrlid und eifrig, aus dem Par- 
lamentshaos, das ein getreues Spiegel- 
bild des deutſchen Waſſenchaos ift, durd 
Addition und Gubtraftion eine „Regie- 
rung“ berauszuftellen. Wir durdfdauen 
den Shwindel no} nidt und find 
alfo nod nidt „reif“ genug, den Schwin- 
del zu überjhwindeln. Solange wir 
deutih bleiben, werden mir nie „reif“ 
dafür werden. &8 bleibt ung nichts 
übrig, als der Natur der Dinge zu ge 
Borden und die Führerauswahl (Ree 
eng, pon der Reprafentation 
er Mafjenmeinungen (Parlament) wieder 
u trennen... Das Golf wird am Ende 
N egreich fein, das zuerft den Irrweg 
des Parlamentarismus verläßt und zu 
einer vernünftigen, in fid beftändigen 
Sübrung gelangt. 


Se Gall Heifer („Mutabor“) Hat eine 
der {Hauerlidften moraliſchen Nöte 
unfrer Seit im Bliblidt gezeigt. Nicht 
weniger als elftaufend Kinder foll diefer 


263 


Menih aus ,,Menfdenfreundlidfeit* im 
Werden erdrofjelt haben. Die ganze Rei- 
gen-Breffe und jene verrudte Sorte von 
Gadperftandigen, deren 
Magnus Hirjdfeld ift, benugen den Fall, 
um Gtraffreibeit für Wbtreibungen zu 
fordern. Die fogialdemofratifde Partei 
gibt fid dazu ber, diefe Gorderung als 
„moraliih“ und ,fogial gu propagieren. 
Moralif® und fozial wäre e8, Die 
gefdledtlide Selbftdilziplin zu fordern 
und zu fördern. Das fällt jenen Lite 
raten nidt ein. Sie propagieren in 
einem ane die Abtreibung und 
die „Reigen“- Aufführung. Wo immer 
eine Spur von Puritanismus fid zeigt, 
fallen fie mit Hohn darüber ber. Rein 
Wunder: diefe Leute verteidigen unter 
der Waste des fozialen Mitleids im 
@runde nidts als ihre eigene geile 
Amüfierfrehbeit. Wir aber wollen uns 
das Gewiffen nidt wegagitieren laffen: 
die fittlide Forderung ift durd feinerlei 
foziale Nöte zu modifizieren, denn fitt- 
lide Gorderungen find nidt empirifder 
Art, fondern fategorifh. Das Sewiffen 
fordert: entweder Gelbftdifgiplin oder 
Ronfequeng gegenüber dem werdenden 
Rinde. Aber erft fid „feruell ausleben“, 
dann das Kind im Wutterleibe ab- 
murffen, ift eine fdmubige, unappetit- 
lide ©emeinbeit. Darüber fann gar feine 
Distuffion ftattfinden. Wenn aber Die 
Großſtadt moralifdh fo abgejunfen iſt, 
daß fie nidt mehr die Kraft aufbringt, 
ihre Kinder reifen zu laffen, fo liegt fein 
Anlaß vor, diele großftädtiihde Shwäde 
zur Norm des ganzen Bolfes 
gu maden Wan teile dann die 
Menfden in zwei Klaffen: erftens in 
folde, die fittlih ftarf genug find, für 
ihre Taten einguftebn, zweitens in folde, 
die dazu nidt mehr fähig find. Wer 
ein Sind abtreibt, finft in Die zweite 
Klaffe hinab und ftellt fid damit 
unter das Redt der zweiten 
Klaffe: er mag oder will minder- 
wertiger fein, alfo foll er aud nicht mehr 
die Hffentliden Ehren haben, foll nit 
mehr zu öffentlihen Wemtern wählen 
und wählbar fein uf. Im übrigen mag 
er ftraffrei feiner minderen Moral Leben. 
Damit ift das Gift ausgefdieden. Kann 
ein Golf als Ganges die Moral nidt 
mehr balten, fo muß e8 Die oral 
wenigftens in einem Stande halten, 
fonft reißt der Amüfierpöbel und der 
Glendsproletarier das Volksganze in den 
Abgrund. Gin andrer Weg ware: zur 
— des Altertums zurückzukehren und 
ie Kindesausſeßung wieder zu 
geſtatten. Gs iſt immer nod humaner, 
ein eben geborenes Kind auszuſetzen, als 
es, unter Oefährdung der Mutter, im 


264 


Prototyp der - 


Mutterleibe zu ermorden. Mord ift bei- 
des — will man durdhaus Mord, fo 
wähle man wenigftens den bumaneren. 
Bielleiht rührt mandes Kind, wenn es 
nur erft geboren ift, das Glternberg und 
bewahrt e8 vor Schuld. Wenn nidt, 
nun — fo finfen wir menigfteng nicht 
nod unter die Moral des Altertums. 


AY hy geht zur Beiprehung das Probe- 
beft einer neueren Wonatsſchrift 
„Das Xeben“ zu. Aber fdon die erfte 
Durdhfidt zeigt, daß fie nidt befpro- 
ben, fondern beobachtet werden 
muß. Der Beobadter ftellt feft: Diefe 
Zeitfhrift fpefuliert mit großem Raffine- 
ment auf bürgerlihes Publifum. Gie hält 
fid in Text und Slluftrationen geihidt 
in den Swifdenregionen zwiſchen Kitſch 
und Kunft, zwiſchen Wervenfibel und Kaf- 
feetiſch, zwiſchen pifanter Grotif und an- 
geregter Biirgerlidfeit, zwifchen exotiſcher 
@raufamfeit und deutidem „Gemüt“. 
Wir führen als &haralteriftiihe Proben 
folgende „Aphorismen“ an: „Wirklich 
wahre, edle Grauen find für uns Männer 
gewöhnlih Iangweilig.“ „Sünde ift ge- 
wöhnlih das, was man gerne tut.“ Wel- 
der „Wit“! Gute Mitarbeiternamen, die 
fid aud darin finden, deden die Hefte 
egen etwaige Vorwürfe. Das Genre die 
er Zeitſchrift ift in Deutfchland neu, in 
weftlideren @egenden unfres Planeten 
findet man Borbilder. Am merfwür- 
digften find jedoh in dem uns zuge» 
fandten Hefte die Anzeigen, die Moſſes 
Annoncenezpedition gefammelt bat: es 
find ungemein viele — Anzeigen 
darunter. Herr Ephraim Löbl in Pra— 
bat das Bedürfnis, im Deutſchen Rei 
feine Seide zu empfehlen. Die Böhmische 
Union-Bant in Prag bietet ung ibre 
Dienfte an. Gine Sriefter Lebensverfi- 
@erung, „Direktion für die tihehojlowa- 
tifhe Republik“, erwartet, dah wir ung 
auggerednet bei ihr verfidern Iaffen, 
uf. ufw. Das madt uns auf den Bere 
lag neugierig — fiebe da: Leipziger Ber- 
lagsöruderei ©. m. b. 9. Das ift bee 
tanntlih Diefelbe G©efellihaft, die das 
Beippiger Tageblatt verlegt. Wir haben 
es alfo zum erbebliden Zeil mit tidedi- 
{hem Kapital zu tun. Wir begreifen, 
wober der Stil der Monatsſchrift fommt: 
Wiſchkultur zwifhen Paris und Balkan, 
ein wenig auf deutfhe Sentimentalität 
abgetönt. Man wendet fid nidt mehr 
bloß an die Gents und jene Weiblid- 
feiten, Die ihr geiftiges Gutter nur in 
den DBahnhofsbuhhandlungen und Set 
tungsbäushen erftehn, man nimmt eine 
ewiffe Haltung an, um in die deutfche 
vt eingudringen. Deutſche — Ad 
tung 


G* gibt Geſchäftsleute, die jede Rone 
Pg ftur ausnugen — Warum nidt 
aud die Konjunktur einer nationalen 
oder religiöfen Bewegung? So feben 
wir denn ſchlecht gemimte Griderifuffe 
und Bismards in der Zirfusmanege auf 
treten. Der alte Kaifer und andre ge» 
{hidtlide ©eftalten werden mit verar- 
beitet. Wan bat fein ®efühl dafür, dah 
folde Helden nit banalen Darftellern 
anvertraut und daß fie nit an Diefen 
Ort gefdleift werden dürfen. Die Zirkus- 
Sriderifuffe und Birfus-Bismards find 
niht ein Ausdrud der nationalen Stim- 
mung, fondern ein Ausdrud der Ehr— 
furdtslofigfeit unferes Seitalters. Für 
ben großen §riebdrid, für Bismard ift 
nur die bddfte, reinfte und edelfte dra- 
matifhe Runft gut genug, Man made 
im Zirfus Sapfenftreidh, Parademarfd, 
biftorijhes Sdhladhtenpanorama mit Are 
meemarjden, fopiel man will, aber man 
tafte nidt mit Gefhaftsfingern unfre ge- 
fhidtliden Helden an. Gie Dürfen 
nidt mißbraudt werden in einer At— 
mofphäre, der die Weihe, Würde und 
Ehrfurdt fehlt. Das Zollfte ift, daß nun 
aud Sefus Ghriftus im Birfus vorge 
führt wird. Im Birfus, wo die circe bs a 
der Menge dargeboten werden. Mit 
Programmbeften, die der Gitelfeit der 
Darfteller dienen. America triumpbans. 
Oroße Kirhenlichter empfehlen, laut Bro- 
fpeft, die Ehriftus-VBorführung im Sire 
fus. Wir verftehen das nidt. Wir be» 
Baupten, daß dem, der einen Manege» 
Ehriftus fördert, das zartere Gefühl für 
beilige Dinge abgeht. Oder daß er ein 
gedanfenlofer Menſch ift. Troß Titel und 
Würden. Wenn eine Diktatur fommt, 
fordern wir im Namen völkiſcher Mo» 
tal: erften3 die Ausmiftung der Bahn- 
bofsbudbandlungen bom erotifhenShmuß 
os erliner Leben, Sunggefelle, Sd und 
ie Großſtadt, Luftige Blätter, Reigen, 
Buntes Leben, Die ohne), zweitens aber 
aud ein ftriftes Gerbot, fürderhin die 
nationalen und religidjfen G@eftalten in 
der Zirfusmanege zu entweihen. LInfre 
deutfhe Kultur ift bor der Repolution 
ohne folden Klimbim gut ausgefommen, 
fie wird daran nidt Schaden nehmen, 
daß man die ©efchäftsfreiheit und Bo- 
gelfreiheit der höchſten Oemeinſchafts- 
werte wieder aufbebt. 


Pt folgen Alfred Kerr ins gelobte 
und nod durd) mehrere Geuilletons 
tweitergulobende „Yanfee-Land“. Alfred 
der Große, der von dem Weismann 
verfolgt wird, meidt den dhnaftifden 
Kämpfen aus und enteilt mit abgefdnit- 
tenem DBarte nah Amerifa. Bräfident 
Coolidge empfängt den Ruhmreichen. Line 


finn? Nicht dod, Alfred Kerr teilt es 
(in befdeidener Parentheſe) felbft at 
(B. 3. Wr. 259): „Dann: Waſhington 
(wo der Prafident Coolidge im Weißen 
pase nec ny und ſchlicht genug war, 
den Plan der Reife mit mir forgfam 
gu befpreden). Dann ging er, duch Bire 
— Teneſſee, Alabama —“ Was mag 
er Prafident Coolidge für Borftellungen 
bon Deutſchland haben, daß er den Kerr 
im rg Haus empfängt? Lind wer 

ibm zu diefen Borftellungen ver- 
Ha ig Sollte Deny Gord Dowd nidt 
ganz unredt Haben Das Hiibjdefte 
aber ift, daß Alfred Kerr auf dem 
Schiff einen — Oorilla antraf: „Sch bab’ 
ihn bejudt und war erſchüttert. Gr ift 
ja ein ſchwarzer Negermenih. Gin tief- 
{Hwargnadter Nigger, etwas bhaarbe- 
wadfen. Gr hat einen ernften Menfden- 
fopf. Als er mir entgegentritt, fag’ id 
faft: „Angenehm; mein Name ift ...“ 
Anerforſchter Hine. Mehr breitbrüftig 
und musfelftar— als irgendein „©ottes«- 
fohn“. Dozerhaftes Rätfelgefhöpf. 
Dann legt er einen Arm um meinen 
Hals, berührt mit dem Mund meine 
Stirn. Es ift wie ein Gruß. Schauer- 
lid... Wenn er, nad zwei Millionen 
Sabren, den Beruf eines Journaliften 
ausübt und mein @egner in redts- 
ftebenden Blättern ift, wird alles das 
verfladt und verfleint und befdeiden 
und miefrig geworden fein.“ Der „etwas 
baarbewadjene“ @orilla gibt dem ra- 
fierten Alfred Kerr einen Ruf — Diefe 
rührende Bruderſzene ift bedeutend. 
Weld ein Symbol! Verwandte Seelen 
haben fid auf dem großen Waffer ge» 
funden. 


Die engliſche Rundfuntgefellihaft bat 
eine Gepedition ausgerüftet, die in 
einer nadtigallenreiden @egend mit 
Hilfe eines empfindliden Mifrophons ein 
Nadtigallenfongert aufnimmt. LUnmittel- 
bar nad diefem Wondſcheinkonzert fpielt 
Miß Beatrice Harriton eine Gellofonate, 
damit Sir George Plumpudding im 
Rlubfeffel „die Naturtöne mit den Tönen 
des Inſtruments vergleihen Tann.“ 
Sollen wir Deutiden auf diefem Gee 
biete guriidbleiben? &3 eröffnet fid bier 
ein ſchönes Geld für die „deutſche Gründ- 
lichkeit“. Wir fchlagen por, neben den 
Schulkinos auch Schulradios einzurichten 
Es wäre ein neuer Triumph des Er— 
ziehungsweſens, wenn die Klaſſe im 
Klaſſen — je nach Gelegenheit das 
Tuten der Schiffe im Hafen von Canton, 
das Herdengeläut auf der Alm, einen 
Teppichhandel im Bazar von Beirut, 
das Orillengezirp des Zuli-Nahmittags 
in der Küneburger Heide und „zum Ver— 


265 


gleih“ ein Konzert von Mud (der Diri- 
gent erfdeint dabei auf der Flimmer— 
wand) vernehmen könnte. Aud fdnnte 
man den Radiofunt in den Dienft des 
DBeamtenabbaus ftellen. Wieviel Pfar- 
rer, Profefforen, Lehrer würden gejpart 
werden, wenn man die Gade einfad 
per Radio madte. Warum müffen an 
awangig LUniverfitaten Gorlefungen über 
Weltgeſchichte, Philoſophie ufw. ftatt- 
finden? —— Det kann von einer 
„Akademiſchen Vorleſungs-Organiſation“ 
(Apo) aus jemacht werden. 


erlag und Redaktion des „Borwärts“ 
ließen am 18. März am Grabe der 
— tenet einen Kranz niederlegen 
mit dem Gers: „Der Schrei nah Frei- 
beit, einft mit Blut erftidt, / Starb nit 
mit Gud! Es wuchs fein wild Begehren! 
/ Das Volk ward frei. G3 Halt fein 
Schwert gezückt. / Um jedem Feind, der's 
knechten möcht', zu wehren!“ Zwiſchenruf: 
Aud um den Franzoſen zu wehren? 
(Pſychologiſches Problem: warum fdwel- 
gen die pringipiellften Pagififten fo gern 
in den blutrünftigften Verſen?) 


Bwiefprade 


Dicies Heft befdhaftigt fid) infonderbeit 
mit einer ®emeinjdaft, die juft bon 
den größten Gemeinihaftsihwärmern am 
meiften vernadlaffigt wird. Gs fcheint 
mir faft wie ein pfpdologifhes Gefes: 
Der in allgemeinfter Menjchenliebe eine 
allgemeinfte Menſchheitsgemeinſchaft or- 
ganifieren will, wird auffallend oft nicht 
mit Der engften und einfadften aller ®e- 
meinjfdaften, mit der She, fertig. Gs ift 
die ewige Sludt der ſchwächlichen See— 
[en aus der fonfreten Wirklichkeit, in der 
man fih bewähren muß, in die leere 
AUbftraftion, in der man fid nit zu be- 
währen braudt. Wer zu fiimmerlid ift, 
um gegen feinen Nebenmenfhen im 
Raum, fobald es darauf anfommt, gütig 
gu fein, falviert fih durd billige Phan— 


tafiegitte, die er an eine pbantaftifde 
Wenſchheit verfdhwendet. Wieviel groß- 
artiger und edler fcheint es, eine Refo- 


lution für die endgültige Whfdaffung des 
Krieges zu faffen, als — aud nur die 
eigene She zu pazifizieren. Bei den 
Bazififten (wenigftens bei den deutſchen) 
ift mir immer Der Mangel an Humor 
aufgefallen. Und der Mangel an praf- 
tiſcher Kameradfhaft. Humor und Ka- 
meradjdaftlidfeit geht immer aufs Un⸗ 
mittelbare, auf das, was bor Handen ift. 
Die „Liebe“ aber ift durch die vielen 
Philofophen und Theologen verdorben 
worden, die fie definiert und zum Mittel» 
punft ihrer moralifhen Syſteme gemadt 
haben. (Kant ift eine Ausnahme, für 
ihn ift die Liebe nicht Gthos, fondern 
Pathos; das allein erwedt fdon Ver— 
trauen zu feiner Philoſophie.) Liebe ift 
ebenfowenig ein Pauerzuftand wie Be- 
geifterung. (Die ewig Begeifterten und 
die immerfort bon Liebe LUleberfliefenden 
ftellen große Anfpriide an den Humor 
derer, die mit ihnen ausfommen miiffen.) 
Aber tapfere Rameradfdhaftlidfeit ift et- 
was, das ein vernünftiges Ziel unfres 
vernünftigen Willens fein fann. 


266 


Um der bumorvollen Kameradſchaft⸗ 
lidfeit willen mödten wir mit diefem 
Hefte gugleid Ottilie Wildermuth (1817 
bis 1877) wieder zu den verdienten Ehren 
bringen helfen. Wir haben von ihr meift 
nur nod die dunkle Borftellung, als fei 
fie eine in Ehren verfloffene Dugend- 
jriftftellerin. Da dankte ih e3 Pfarrer 
Pland in Nufdorf, daß er mir einen 
alten ftocfledigen, aus dem Dedel ge- 
riffenen Band der „Bilder und Gefdhid- 
ten aus Schwaben“ vermittelte. SH Habe 
mit großer Greude darin gelefen. 
bringen als Probe daraus (nur an einer 
Stelle gefürzt) Die Sefdhidte von den 
drei Zöpfen. Kann fo etwas je veralten? 
Befonders eingenommen bat mid ein 
Porträtftih porn in dem Bande. Weld 
ein reines, gütiges, dharafterpolles Ant- 
lib! Gin Adel fondergleihen. ind wenn 
man dann an Schnitzlers kaltherzig ge⸗ 
boſtelten „Reigen“ und dergleichen, das 
—— Ritteratur“ gu fein beanfprudt, 
enkt 

In ein Heft der deutihen Familie 
paßt unter den lebenden Künftlern faum 
einer fo gut wie Profeffor D. Rudolf 
Schäfer in Rotenburg in Hannover, der 
Gobn eines Altonaer Pfarrers. Die herz- 
lihefräftige Zeichnung porn ift das Titel- 
bild zu einem Heftdhen „Meine Heimat 
du“, wir verdanfen fie dem Gerlag des 
Gpangelifden Preßverbandes in Stutt- 
gart, Tübinger Gtr. 16. Der „Bauern- 
garten“ ftammt aus der Mappe „Aller 
lei ®ärten“, die, wie andere Schäfer— 
Mappen, im Stiftungsperlag in Pot3- 
dam erfdienen ift. Preis 1,50 ME. 

Hier möhte ih binweifen auf den 
„Bericht über den Erjten Deutihen Afa- 
Demifer »- Tag, Potsdam, April 1924“ 
eig = Dr. Karl Moninger, Greifswald. 

48 G., g.). Die Tagung war von 
der there haft des Deutihen Hod= 
ſchulrings veranftaltet, ihr Grgebnis ift 
zufammengefaßt in den Potsdamer 
Srundfägen“. (G. 11.) Das Heft enthält 


Anfpraden und Bortrage, u. a. den 
pon Prof. Othmar Spann „Kritik der 
Demokratie und der wahre Staat“ in 
furgem Auszug, den von Prof. Rein- 
hold Geeberg über „Die Bildungshöhe 
des Afademifers und ihre Pflichten“ poll» 
ftändig, von meinem Bortrag über die 
„Entwidlung des Volkstums“ die Thefea. 

In einem Auffaß über jene Tagung, 
der im Hochſchulblatt der Sranffurter 
Zeitung ftebt, fdreibt Dr. Grid Trof: 
„Nie dürfen wir (das fei vor allem Wil— 
helm Stapel gejagt) das Befondere deut- 
Ihen Wejens, die „Kraft“, die „Macht“, 
das ,,Nordifdh-Herbe* als das Leste an- 
beten: denn fo vertwedfeln wir Weg und 
Ziel.“ Ih frage die Lefer unfrer Seit- 
{rift, die Hörer meiner Bortrage: wo 
babe id) je die Kraft, die Madt, das 
Nordifh = Herbe oder aud felbft das 
Bolfstum als Letztes angebetet, 
ja aud nur bezeichnet? Gerebrter Herr 
Dr. Troß, id made den Anfprud, auf- 
merffam gelefen und gehört zu werden. 
G8 wäre fdade, wenn Gie aud fdon 
den „Dreh“ „raus hätten“, einen An— 
dersdenfenden mit flüchtigen Klifchee- 
Borftellungen zu entwerten. Ich webre 
mid gegen eine folde Sr-Troßelung. — 

Im Runftwart entdedte id, wie {oon 
mitgeteilt, eines Tages nicht ohne Der- 
gnügen, daß ein recht betradtlider Teil 
meiner zwei Auffabe zur paper teas 
(die unter dem Sitel „Antifemitismus 
erſchienen find) abgedrudt war. Nicht 
zwar ohne einiges Lob, aber mit der 
Ankündigung, daß diefer Abdrud gleid- 
fam nur als dunfle Folie für die glan- 
zende Widerlegung durch Wolfgang 
Schumann dienen folle. Die Widerlegung 
wölbte fid durch zwei Kunftwartbefte 
bin, auf zehn Geiten. Goll id nun ein 
entiprehendes Gegengewölbe aufführen? 

ch mödte meine Zeitſchrift nidt gern 
mit umfangreider Polemik belaften. 
Darum will id,.was zu antworten nötig 
ift, gelegentlid in eine weitere Behand- 
lung der Grage mit bineinarbeiten. Hier 
fei nur folgendes gejagt: 

Grftens fadlid: Wenn wir von den 
weniger widtigen Ausführungen Schu- 
manns abjeben, geht feine Argumenta- 
tion auf zweierlei aus: er jeßt ©emein- 
fbaft und Geſellſchaft gleid. Gr ftellt 
unbefangen eine „Stufenfolge“ auf wie 
diefe: Gamilie, Gemeinde (Dorf, Stadt), 
Stamm, Staat. Wie foll ih nun mit 
jemandem diskutieren, der Tönnies’ Un— 
teriheidung bon Semeinfdhaft und Gefell- 
{daft vielleiht gelefen, aber nichts daraus 
gelernt bat? Der Heinz Marrs Unter- 
Iheidung von Organifation und Organis- 
mus nidt durchdacht bat? Schumanns 
Belebrungen über Gemeinfdaft find für 


mid unzulänglide Berfude über Dinge, 
die id in meinen Aufſätzen voraus- 
ſetzte, zumal ich mich damit in meiner 
„Bol tsbürgerlihen Erziehung“, befonders 
in der zweiten Auflage, beihäftigt babe. 
Uebrigens ift das Wefentlide der Unter— 
fdeidung ſchon deutlid genug bei Fichte 
ausgedrüdt. Sd möchte faft glauben, die 
immer wieder erfolgende Verwechſelung 
der prinzipiell „unwillfürlihen“ und 
prinzipiell „willfürlihen“ Lebensformen 
berubt darauf, daß es eben Menjden 
gibt, denen die Anihauungs- 
grundlage für bie Unterfdeidung 
fehlt; denn an Intelligenz fehlt ed 
bei Schumann ganz or nidt. Sum 
andern: Schumann behandelt das Bolf 
und das Bolfstum wie eine Abftraftion. 
Auf abnlide Weife hat Wyneken einmal 
die Grifteng der deutſchen Sprade aufa 
get; es gäbe „eigentlih“ nur Dialefte, 
er Oberbaher veritebt den GFriefen nicht 
ufto. Wo fei alfo die fogenannte ,,deut- 
Ihe Spradhe*? Tableau! Gin Gebilde 
ift etwas andres als ein Begriff, 
eine Struftur etwas andres als eine 
Abftraftion. Go etwas follte man 
eigentlih „im ®efühl“ haben. Gonft vere 
fällt man eben darauf, wie Schumann, 
ein Golf durd „Merkmale“ beftimmen 
zu wollen. Damit fommt man freilich 
nur zur QAuflöfung der Gorm, zur Tri— 
vialität der utilitariihen Willkür, letz— 
ten Endes zu nidts. Unfruchtbare 
©eiftigfeit. Ueber diefe Dinge bandle 
id in einer nod nicht vollendeten Schrift, 
welde die Morphologie und damit die 
innere Gtruftur des deutſchen Volkes 
zum ®©egenftande hat. 

Zweitens perſönlich: Schumann findet 
meine Ausführungen „eng“, er wirft mir 
a aie ——— Ueberregtheit por. 
Beſonders, daß pon @ott ſpreche, 
gebt ihm auf die N das 
fei ,nidts alg ein Ausfluß fubjeftiver, 
ſektiſch überreizter Dogmatif*. „Seine 
ganze Diftion ift die des Reberridters“. 
Da hab’ ich's. Ich ftelle meine „Diktion“ 
getroft (deutliher gejagt: nidt ohne 
Schmunzeln, dem Urteil des Lefers an— 
beim. Und erinnere mid dabei an die 
Diftion jenes Zeitungsartifels, in dem 
Wolfgang Schumann (in „flammenden 
Worten“, wie man das nennt) die Are 
beiter auf die Barrifaden rief und ihnen 
das Herz mit dem Srofte ftarfte, daß die 
Sntelleftuellen hinter ihnen ftünden. Ich 
denfe ferner an das zwar nidt feltijde, 
aber hektiſche Pathos, das ihn fo oft be- 
fällt, wenn er bon Rathenau redet. — 
Gin ernftes Wort zum Schluß (faft zu 
ernft, alg daß man’s ausfpreden follte, 
aber — was Dilft’8?) Was Wolfgang 
Sdumann als „Seftendogma“ empfindet, 


267 


ift etwas, das ihm fremd ift: das Gee 
meinſchaftsbildende. Sch babe von bier 
aus eine ©®emeinfhaft bauen helfen. 
Er bat die Gemeinfdaft, die Avenarius 
einft gebaut Hatte, zerftört. Hierin ift 
der leßte Grund dafür zu finden, daß id 
ſynthetiſch denfe, er aber analytiih; daß 
id ihn verftehe, er aber nicht mid. Wie 


Sft das wieder ,Hodftolg* und 
„ueberregtheit“? Sd lege feinen “Wert 
darauf. 

Die Worte Luthers am Schluß mögen 
das Heft abrunden. Sie ftammen aus 
der Predigt „Bom ebheliden Leben“ von 
1522. Die Gribliden werden fie mit 
freundlidem Lächeln Tefen, die Mürri— 


gejagt: unfrudtbare Geiftigteit. Gin {den werden fid darüber ärgern. Gin 
Schickſal. jeder, wie er — es verdient. St. 


Stimmen der Meiiter. 


PR: fiebe gu: Wenn die fluge Hure, die natürlihe Vernunft (welder die Heiden 

x gefolgt haben, da fie am klügſten fein wollten), das eheliche Leben anſiehet, fo 
rümpft fie die Najen und fpridt: Ach, foll id das Kind wiegen, die Windel wafden 
Bette maden, Stanf rieden, die Naht waden, fein’s Schreiens warten, fein Grind 
und Blattern beilen, Darnad des Weibs pflegen, fie ernähren, arbeiten, hie forgen, 
da forgen, bie tun, da tun, das leiden und dies leiden, und was denn mehr LUnluft 
und Mühe der Sheftand lernet? Gi, follt’ ich jo gefangen fein? O du elender, armer 
Mann, haft Du ein Weib genommen — pfub, pfub des Sammers und Anlufts! Es 
ift bejjer frei bleiben und obn’ Sorge ein rubig Leben geführt. Ih will ein Pfaff 
oder Nonne werden, meine Kinder aud dazu halten. 

Was jagt aber der Kriftlih Glaube hiezu? Gr tut feine Augen auf und fiebet 
alle diefe geringe, unluftige, beradte Wert im Geift an und wird gewahr, daß 
fie alle mit göttlihem Wohlgefallen als mit dem fdftlidften Gold und Gdelfteine 
geziert find, und fpridt: „Ach Gott! Weil ich gewiß bin, daß du mich ein Mann 
geldaffen und bon meim Leib das Rind zeuget Haft, fo weiß id aud gewiß, daß 
Dir’s aufs allerbefte gefället, und befenne dir, dah id nicht würdig bin, daß id das 
Rindlein wiegen folle, nod feine Windel wafden, nod fein oder feiner Mutter 
warten. Wie bin id in die Würdigfeit ohn’ Berdienft fommen, daß ich deiner 
Kreatur und deinem liebften Willen zu dienen gewiß worden bin? Ach wie gerne 
will ich folds tun, und wenn’s nod geringer und deradter ware! Nu foll mid weder 
Froſt nod) Hie, weder Mühe nod) Arbeit verdriefen, weil ih gewiß bin, daß dir’s 
alfo wohl gefället.“ 

_ Alfo foll aud das Weib in feinen Werfen denken, wenn fie das Kind fauget, 
wieget, badet und ander Werf mit ihm tut, und wenn fie fonft arbeitet und ihrem 
Mann hilft und gehorfam ift. Gs find alles eitel güldene, edele Werf. Alfo foll 
man aud ein Weib tröften und ftärfen in Kindesnöten, nidt mit St. Margarethen 
Kegenden und anderm närrifhen Weiberwerf umgehen, fondern alfo jagen: „Oedenk, 
liebe Greta, daß du ein Weib bift und dies Werf Gott an dir gefället. Tröfte did: 
feins Willens frdhlid und laß ihm fein Redt an dir. Gib das Kind ber und tu 
dazu mit aller Madht — ftirbft du drüber, fo fahr bin — mohl dir! Denn du 
ftirbeft eigentlid im edlen Werf und Gehorſam Gottes. Sa, wenn du nidt ein Weib 
wäreft, fo follteft du itt allein um diefes Werks willen wiinfden, daß du ein Weib 
wäreft und fo föftli in ©ottes Werk und Willen Not leiden und fterben. Denn 
bie ift Gottes Wort, das did alfo gefdaffen, folde Not in dir gepflanget hat.“ 
Gage mit, ift das nidt aud (wie Salomon fagt) Woblgefallen von Gott ſchöpfen, aud 
mitten in folder Not? 

Au fage mir: Wenn ein Mann Hinginge und wüſche die Windel oder tate fonft 
am Sinde ein verädtlih Werf, und jedermann fpottet fein und bielt ihn für ein 
Maulaffe und Frauenmann — fo er's dod tät in folder obgefagter Meinung und 
SHriftlihen Glauben: Lieber, fage, wer fpottet bie des andern am feinften? Gott 
lat mit allen Engeln und Kreaturn, nidt daß er die Windel wäſcht, fondern dah 
er’8 im Ölauben tut. Sener Spötter aber, die nur das Werk fehen, und den 
@lauben nicht jeben, fpottet Gott mit aller Kreatur als der größten Narrn auf 
pies Sa, fie fpotten fih nur felbft und find des Teufels Maulaffen mit ihrer 

ugbeit... 

Das jag’ id) darum, daf wir lernen, wie gar ein edel Ding es ift, wer in dem 
Stand ift, den Gott eingefest hat und da Gottes Wort und Wohlgefallen innen ift, 
dadurch alle Werf, Wejen und Leiden foldhs Stands Beilig, göttlih und föftlich 
werden, daß wohl Salomon eim folden Mann Glüd wünſcht und fpridt Proverb. 4: 
Sreu did mit dem Weib deiner Sugend. Martin Luther. 


268 








Neue Bücher 








Zeremias Gotthelf, Geld und Geift oder 
Die Berfühnung. 397 S. Pappbd. 3,80 Mt. Wolts- 
ausgabe. Eugen Rentſch Verlag, Erlendach ⸗ Zürich 
u. München. 

Mit dieſem Bande wird die „Vollsausgabe“ der 
Hauptwerfe” Gotthelfs eröffnet, die auf 11 Bände 
beredynet ijt. Sie bringt den Text auf Grund der 
neuen von Hunzifer und Bloejd herausgegebenen Ge- 
——— * die ihrerſeits auf die Wanujfripte, 
ezw. auf die Eritdrude zurüdgeht. Sie enthält = 
das ungeglättete Schwizerdütih, das Gotthelf jo 
pradtvoll einfließen läßt und das den Rbythmus 
und Gagbau in jeiner herrlichen Kraft a tect 
offenbart. Gin [eines Wörterverzeichnis rt die 
Mundartformen ift beigegeben, das aber (ih ſpreche 
vom Standpunlt des Worddeutihen aus) erbeblid 
erweitert werden müßte. Das Papier ift gut, der 
Drud angenebm Wer fih nicht die große Ausgabe 
leiften fann, dem fei vor allen andern Ausgaben diefe 
empfohlen. Sie enthält freilid nur die geben 
Werke. — Unter Geld ift hier Bauernhof und Bauern» 
vermögen, unter Geift der driftlide Geiſt der Näch- 
ftenliebe und Gilligfeit zu_verftehn. Berner Bauern 
werden uns vorgeführt. Der brave Bauernhof oben 
in Liebiwyl und der ſchlimme — drunten 
mit dem geizigen, didlöpfigen Rabenvater ſtehn gegen- 
einander. Eigentlich jind's zwei Gefdidten. Die 
erfte fpielt unter den Eltern des Hofes in Liebiwyl, 
die andre zwiſchen den Stindern der beiden Höfe; alfo 
eine ganze Sippengeihichte. Breit ausladend — feine 

redigt des Pfarrers, feine Erörterung über die 
rbfolge im Familienrat wird uns geſchenkt. Nichts 
2 Ir eilige Lefer. Und die Moral wird dem Lefer um 

ie Ohren gefdlagen, alg ob er ein hartes Bauern- 
fell batte. Ich bab’ laden miiffen, als ich neulich 
einen Wiener Literaten in einer Berliner Zeitung 
ben Gottbelf hab’ loben jehn. rüber haben fie ihn 
nicht gemodt. Der Auerbad, ja der war es, aber 
der u — pfui Teufel. Ich mein’, das Herrlein 
ſchreibt mehr der Gejamtausgabe als dem Gotthelf 
gu Liebe. Wer den Heujdnupfen nicht zu fürdten 
braudt, wen's nicht efelt, wenn ibm im ilchtopf 
eine Fliege zappelt, und wer in dem etwas dumpfigen 
Dorflirhengewolbe gang gern ein wenig Beit ver— 
drufjelt, der rette i aus all den literarifhen Ston- 
ditoreien in Gotthelfs Bauernpfarre. St. 

Jeremias Gotthelf, gai meg Oy 

erausg von Bruno Gols. 373 S. Halbleinen. 4 Me. 

. Boigtlanders Verlag, Leipzig. 

Die Auswahl enthält: Elfi, die {feltjame Magd; 
Kurt von Koppigen (eine Gejhichte, die id) befon- 
ders liebe); Die ſchwarze Spinne; ons Joggeli, der 
Erbvetter; Die ie Pfarrerin. lſo lauter Titel, 
die den Mund fdledern machen. Papier und Aus— 
ftattung gut. enugt ift der gereinigte Text der 
großen Gefamtausgabe. Die Einleitung von Golz 
tt ganz vortrefflich, der Hinweis auf die innere Bere 
wandtihaft Gottbelfs mit Luther wertvoll. Diefer 
Band ift vorzüglihd zum ,,Cinlefen” in Gottbelf ge- 
eignet, die furgen Geſchichten ftellen nicht jo große 
Anforderungen an bas zerfahrene Grofftadtgemut 
wie die bomerijhe Breite der großen Srpeblangen., 
Hoffentlich folgt bald ein zweiter Wuswablband. St. 

Jeremias Gotthelf, Uli ber Pächter. 
Mit Vorwort von Bruno Gols. 415 S. Halbl. 5 Mt. 
Hanſeatiſche Verlagsanjtalt, Hamburg. 

Das ift der zmeite der beiden berühmten Uli» 
Romane, bier in einer faubern, anftändigen Ausgabe 
dargeboten. Der Text ift —— je daß ber 
norddeutſche Lefer nicht alle Augenblid verlegen fragen 
mug: Wat fegat be? Golz ſchreibt: „Was Balzac 
und Zola für die Romanen, Dojtojewsli und Tolftot 
für die Slaven bedeuten mag, bedeutet für die Ger- 
manen und zumal für uns Deutſche Yeremias Gott» 

elf.“ Go ih es. Wenn irgend ein Kreis von Gee 

Ideten im deutſchen Wolfe nod fähig ijt, das recht 
aus dem Herzen heraus zu bejaben, fo dürfte es der 
Kreis unfrer Volkstumsleſer fein. Wenigitens aed i 
ih das von ibm verlangen. t. 


Qouife von Francois, Meiftererzählun. 
gen. Her. von Bruno Golj. . Halbleinen 
4,— WDE, Gangleinen 4,50 Ml. R. Boigtlanders 
Verlag, Leipzig. 

Enthält: Die Gefhidhte meines Urgrokvaters; Der 
Poften der Frau; Fraulein Muthdhen und ihr Haus- 
meier; Das Yubilaum; Die goldene Hochgeit. 
eine warmberzige Einführung von Coll. Es find 
fernige Gejhichten, bejonders die von der Gräfin 
int (Poften der ory) und von Fräulein Muthden. 

ie Erzählung vom „Poſten der Frau”, die vor und 
während der Schlaht von Roßbach jpielt und worin 
der große König, zunädft unerfannt, auftritt, follte 
von allen heranwadfenden Mädeln ausmwenbdi 
werden. Gold) eine Gejdidhte madt tapfer und 
efund. Die „goldene Hochzeit“ ijt ein RKabinettftid 
lit einen feinen literariihen Gejhmad. Aud fpielt 
in all die Geſchichten mehr oder weniger der Humor 
hinein. Nachdem die Sana abgelaufen, wird 
die Francois hoffentlih befannter im Wolf, biefe 
Auswahl aus den weniger befannten fleineren Er- 
zählungen wird ihr fiher weithin Freunde gewinnen. 


——— Nr. 6436—39.) 382 ©. Geb. 1,80 Mt. 


Er beiten 


panze Anzahl weife Verleger das Manuffript abge» 
ebut, die Dichterin hat lange fuchen miifjen.) Der 


e auf polafeetem Papier, die man leidht in der 
aſche mitführen fann. St 

Qouife von Francois, Fräulein Muthdhen 
und ibe Hausmeier. Mit Nachwort von Hermann 
Hoßfeld. (Reclams Univerjalbibl.) 74 &. Geb. 60 Pig. 
Philipp Reclam jun., Leipsig. 

Ein jhmaler Pappband, oe en auf bolzfreies 
Papier as mannlide Fraulein Erdmutbe, 
das die Franzoſen haft, ihr „Hausmeier“, der teutjche, 
wunbderlide, aber fernige Schulmeiſter Polylarpus 
und der tapfere Student und Soldat, der Napoleon 
ſchlagen hilft und die fhöne Erdmuthe gewinnt, da- 
tum herum tobt da8 Getiimmel des Jahres 1813. St. 

Thomas Mann, Tritan. Mit Nahmwort von 
Rudolf K. Goldihmit. 74 ©. Geh. 30, geb. 60 Pig. 
Bhilipp Reclam jun., Leipzig. 

Mit diefer berühmten Titelnovelle hält Thomas 
Mann feinen Einzug in Reclams Univerjalbibliothet. 
Die Sanatoriumsgefhichte, die zwijchen den menjch- 
liden Gegenjägen des Herrn SKloterjabn und des 
sivilifierten „Geiſtigen“ Spinell jpielt, ift entzüdend 
ie lefen in ibrer funjtvoll gehämmerten Sprade. 

ber anjtelle des Humors ift nur Sronie da, anitelle 
der tief aufquellenden Spradgewalt (wie wir fie bei 
einem Stolbenbeyer finden) nur die feine Künſtler— 
band. Jd glaube nicht, wie Goldjd@mit, dak Thomas 
Mann „eine ende abſchließt“, er ift vielmehr Ber- 
treter einer geiltigen Strömung, die eher als mance 
andre der Xiteraturgefhichte verfallen wird, weil 
fie „dem Bolfe* nichts zu fagen bat. St. 

Hermann Claudius, Lidt. Ein Sonnen» 
wendjpiel. Mit Federzeihnungen von Ilſe Claudius. 
19 S. 30 Pig. Arbeiterjugend Verlag, Berlin. 

Das hübſch ausgejtattete Heine Heft gibt ein in 
fraftigen, Inappen Zügen und Berjen gebaltenes 
fymbolifhes Spiel, in dem der Jüngere, der Idealiſt, 
egen den Welteren, den banalen eltläufigen und 

eltflugen, ſteht. Die Jugend fiegt mit dem herein. 
bredenden Licht, das von einem Jugendchor aus der 
Tiefe emporgejhürft wird. (anise Einwand wäre: 
Licht fommt nie aus der Tiefe, fondern immer aus 
der Höhe, darum wadjen wir von „unten“ nad 
„oben“, nicht ———— n ber Tiefe iſt nur 
geftorbenes Licht, das fFürnftlich wieder ein wenig 


269 


edrudt. 


gum Brennen gebradht werden fann. Ferner: das 
ehte Licht fheint nicht, von wannen wir wollen, 
eng von mannen e3 will. Licht wird nicht durd 
tbeit erworben, fondern durh Gnade. Und: „Wär’ 
nidt da8 Auge fonnenbaft...” Darum: wir ar- 
beitenum Qobhn, um Qigdt aber beten wir. 
Licht ift nicht Belohnung, fondern freie Gottesgiite.) 
wei jupendlidi-frtide onnwendgedidte find dem 
piel beigegeben. St. 

Charlotte Niefe, Als der Mond in Doro- 
theen8 Zimmer fdien. Erzählung. 155 ©. Richard 
Hermes Verlag, Hamburg. 

AS der Mond in Dorotheens Bimmer fdien, fing 
er an, mit allerlei altem Hausrat, der da gufammen- 
Bed von früheren Zeiten zu erzählen. nd aus 

ee Geplauder des Stubhls, der Sruenels ber Bor» 
ellanfigur an. erfahren wit die Geſchichte einiger 
[range her Emigranten, die vor ber Revolution aus 
rem Baterland flohen und in Altona freundliche 
ufnabme fanden. Es liegt fo viel Güte, reife 
Menjhenmweisheit, wohltuender Friede und eine edle 
Gefinnung, die ihren ftarfen Halt in warmer Bater- 
Iandsliebe bat, in diefer Erzahlung. Ohne Leiden 
ſchaft, ohne große Probleme, wohltuend ſchlichte Er- 
gablung. Der Verlag Hermes hat dieſes nicht neue 
Wert der Didterin au ihrem 70. Geburtötag neu 
aufgelegt. €8 verdient, befonders als Gejchent, a 
fleißig gefauft gu werden. 8.8. 


Urjula Mepynhart: 
Emil Perters, Konftanz. 

In tagebudpartigen Hafieihaungen erzählt die 
junge Baltin von dem bumpfen Widerftreit zwiſchen 
Staatsbirgerpflidt und nattonalem Gewiffen, der 
ihren Stamm feit bem Tode Alexanders II. bedrüdt. 
Bir hören von den Schreden der eriten Revolution 
1905, von dem glüdlihen Stilleben in den eng vere 
bundenen deut{den Rreifen in ben friedliden Jahren, 
bon der inneren und äußeren Not des Kriege unter 
der Zarenherrſchaft, von den fürchterlichen Tagen ber 
Vogelfreiheit unter dem Bolfhewilenregiment. Wir 
erleben den Jubel der Befreiung mit und das furdt- 
bar nieberbrudende Ende der deutſchen Herrfdaft. 
Die Schilderung perfönlicher Erlebnifje hört hier auf. 
Ein Bericht über bas Ende der Dorpater Geifeln im 
Januar 1919, erjhütternd in ſachlicher Kürze, fchließt 
das Bud: Ave, Germania, morituri te falutant. — 
Aber es hinterläßt Feine troftlofe Stimmung. 8 
fündet nicht nur don Not; nod mehr von notüber- 
windender Kraft. Diefe Menſchen leben mit ihrer 
Vergangenheit. Die Ueberlieferung ift ihnen feine 
tote Form, fie leben in den eiftigen Sdhagen bes 
deutihen Bolfes, im Volkslied, in Quther, 
Goethe, Fichte; Berufsleben, Bolitif, perfün- 
lie Intereffen, Gefelligteit, das fällt nidt augein- 
ander. Rot ſchmiedete die Staribe gufammen. Das 
ere Band aber ift ihre evangelifde Kirche. Keine 

aftorentirde, feine Staatstirhe, nein, im Gegenſatz 
um orthodogen Staat fließt er alles Streben des 
olfes nad —— un flege ſeiner Eigenart 
zuſammen. Darum fonnte dieſe Kirche die Führer 
des Bolfes ſtellen. Eine Geftalt wie ben Dorpater 
Märtyrer Profeſſor Hahn follte unfer Volk nicht vere 
gellen fonnen. WolfSgeift und chriftliher Glaube 
urchdringen in vollfommenem Ein ang Freude und 
Not und Alltag. Das gibt eine Sicherheit, eine 
freudige Stärke, die ung im Reid fait zur Sage ge- 
worben if. Aus Urfula Meynbarts Bud konnen 
wir fie fennen lernen. Wenn uns bas gelingt, dann 
verfteben wir aud, warum rhe be Geift fid feine 
(peu fo und nicht anders fuden mußte, fo ans 


Sterbende Heimat. 


uchslos, mandmal altväteriih. Wir dürfen nicht 
apftäbe anlegen, die wir von Werfen ganz andrer 
+91 dee erholen. Wir müffen fragen: „Iſt das 
Belenntnis echt? Greift uns bie Mahnung ans Herz?“ 
Beides fordert feine eigne Form, und die ift aera 
v. d. G. 


zb. von der Pfordten, Die Tragif des 

deali8smus (Schriften aus dem Eudenfreis. Heft 14.) 
Hermann Beyer u. Söhne, Langenfalga. 

Der Berfaffer gehört zu denen, die auf dem 

Obdeonsplay in Münden fielen, als Kahr und Loſſow 


auf die Nationalfozialiften ſchießen ließen. Der Bore 
trag v. d. Pfordtens zeichnet die verſchiedenen Typen 
von Idealiſten, den, der die Welt verfennt, ben, 
der eben dadurd fdeitert, daß er fic) einordnet und 
fo bon feiner Linie abbiegt, den zurüdbleibenden, 
en unteinen und ſchwachen, den naiven. „Die Tragit 
des Idealismus wird in feiner Form erjpart bleiben. 
Aber die Erkenntnis dieſer Tragif wird die Kleine 
Gemeinde von bealiften nie bejtimmen, die Segel 
zu ftreihen.“ bv. d. Pfordten bat danad gehandelt 
und feine Erlenntnis mit dem Tode befiegelt. jeder 
Tod eines Ydealiften erwedt eine Schar von neuen 
Idealiſten. St. 


Bang, Vollswirtihaft und Vollstum (Schriften 
zur politifhen Bildung. Heft 7.) 65 ©. 80 Big. 
Hermann Beyer u. Söhne, Langenfalza. 

Das Heft liegt in 3. Auflage vor. Oberfinang- 
rat Bang hat das Verdienft, ir bei ben wirt{daft- 
liden Dingen immer wieder auf die politifhen Ur— 
ongee und Wirkungen pHa we denen 
ie alles „nur vom wirtfdaftliden Standpuntt aus 
betradhten und furieren wollen. Daß Heft ift ent“ 
ftanden aus zwei Vorträgen, welde die a Be 
Gedanken über die — — bon Vollstum 
und Volkswirtſchaft zuſammenfaſſen. Es iſt nicht eine 
Schrift, die die Erkenntnis erweitert, ſondern die die 
Ergebniſſe in knapper, leicht faßbarer Form darbietet. 
Daher aur Einführung und Propaganda fehr geeignet. 
Gelegentlich verliert en die tal Schluffigkeit, 
is ift auf &. 35 ber Schluß nicht swingend: weil der 

eift nur in ber Differenzierung lebt, im Gonbdere 
tum, im Bollstum, „deshalb gibt e8 aud edte fitte 
lide Gemeinſchaft nur zwiſchen —— — Damit 
iſt die Gewiſſensfrage nicht erledigt. ener ſcheint 
mir bei der Wertung der „Werkgemeinihaften“ ein 
Irrtum vorzuliegen. Um ihn darzulegen, müßten 
wir freilid auf die jonstssijte Struktur des pt 4 
betriebes eingehen. U. E. waren Gewerkſchaften au 
dann entftanden, wenn Mary nie gelebt und eine 
margiftiihe Sbdeologie” nie gemwefen ware. Aber 
Freilich umgebogen worden find die Gemwerlichaften 
burd) den Marxismus. Das etwas derbe Bild ©. 57 
oben follte gefttiden werden. Dod das find Einzel» 
beiten; bie Sarift als ganze i{t anregend, feffelnd 
u lefen und geeignet, aud folde an die Probleme 
si bie ſich bisher mit den Dingen noch 
nicht beſchäftigt haben. St. 

Traub, Das Recht auf Obrigfeit. ere 
gut politifden Bildung. Heft 15.) 29 ©. 45 Pig. 
Hermann Beyer u. Söhne, Langenfalza. 

Pfarrer D. Gottfried Traub ba in diefem 
Bei bie Frage, ob Beige: auf bloßer Macht oder 
auf Recht berube. Er befampft die heute Iandläufige 
Anfdhauung, bag allein bas Yn-die-Gewalt-nehmen 
eines Amies genügt, um ,Obrigfeit” au ftatuieren. 
Das richtet fig gegen die Statuierung der Republit 
von 1918. „Wofür die Obrigkeit fih einfegt, bas 
allein gibt oder nimmt ihr das Daſeinsrecht.“ „Nicht 
Mahtbefig, fondern Mahtperwertung tft 
das Entfcheidende.“ Weil das „Wofür“ ber Republik 
problemas sia ift, ift auch ihre Autorität problematifch. 

raub bat mit jener ormulierung zweifellos die 
ridtige Frageftelung getroffen. Hieran ſcheiden & 
die Grifter. t. 


Der Piperbote für Kunft und Literatur. 
brq. 1, Heft 1. Gingelbeft 25 Pig. Münden, 
. Piper u. Co. 3 G 
Der Verlag Piper in Münden hat fih nun aud 
eine eigene Zeitfchrift geihaffen, bie viermal im 
abre erjheinen foll, atürlih will ein Berlag 
immer bor allem für fic) felbft werben mit folder 
geitiärift, fo daß fie nicht mit einer anderen bere 
gliden werden fann, die ihren Xefern nad gen 
einer Richtung hin etwas Gefdloffencs, Einheit ides 
bringen will. Wber cin Verlag, der ah viel und fo 
Wertvolles zu bieten hat, wie ber Piperfde, Tann 
allerdings eine ganze Fülle des Guten bringen. So⸗ 
wobl die Heinen Auffage, wie die vorzüglihen Bild» 
beigaben geben bem Sefer reihe Angaben und lohnen 
die 25 Pfennig, die für das Heft au zahlen find. ©. K. 








Gedrudt in der Hanfeatifhen Verlagsanftalt Altiengefelichaft, Hamburg 36, Holftenwall 2. 


270 


Aus dem Deutihen Voltstum 





RudolfShäfer, B uerngarten 


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Hugo GFriedrid Hartmann, Dom zu Bardowiel 


Aus dem Deutihen Voltstum 








Deutiches Bolfstum 


7. Heft Eine Monatsichrift 1924 





Klopftod. 


ayn erbaute man fid in der vielen freien Seit, die man hatte, an dem 
„Irdiſchen Bergnitgen in Gott“ des Herrn Senators Barthold Heinrich 
Brodes zu Hamburg, erluftierte fid moralijfh mit Herrn Handelsjefretär 
Sriedrid bon Hagedorn dafelbften und Herrn PBrofefjor Ehriftian Firdtegott 
Gellert aus Hainiden. Der fromme und patriotifhe Landridter Iohann 
Peter Uz in Wnsbad und der RKonreftor Dafob Immanuel Phra bom Kölle» 
niſchen Gymnaſio zu Berlin edierten ihre fHhagenswerten Poefien. Wilde und 
empfindungsreide Seelen ſchwärmten mit Ewald Ehriftian von Kleift, Seiner 
Majeftat des Königs von Preußen tapferem Offizier. Auch griff man mit 
Begierde zu dem artigen „Verſuch in ſcherzhaften Liedern“ des hallifchen Stu- 
denten, nadmaligen balberftädtifhen RKanonifus, Sobann Wilhelm Ludwig 
Öleim. 

Mitten unter den wohlgejegten Berjen, die von würdigen Sünglingen und 
Männern in ihren Mußeftunden mit Kunſt und Wit verfertiget wurden, rauſch⸗ 
ten plöglih im Sabre 1747 die Worte daher: 

„Willft du zu Strophen werden, o Lieb, oder 

Anunterwürfig Pindars Sefängen gleich, 

@leid Zeus’ erhabenem trunfenen Sohne 

Srei aus der fchaffenden Seele taumeln?“ 
Was war das für ein Klang? Weitete fid nicht unwillfirlid die Bruft? 
War es nicht, als würde die Zunge bon einem ſchweren Bann gelöft? „rei 
aus der fdaffenden Seele taumeln!* Wie Elingt das! Gs bebt durch den 
innerften Nero, es ftrömt groß und ftolg daher, es ift, als würde Der ganze 
Menſch zur flingenden, braufenden Sprade. Nicht mehr bloß diefes oder 
jenes Gefühl, nicht mehr bloß ein erwedlicher Gedanke wird metriſch ausge» 
prägt, fondern bie ganze übervolle Seele ergießt fid mit ftrömender Gewalt 
in die Sprache. Hier wird nicht mehr nur etwas durch die Spradhe mitge- 
teilt, bier wird etwas in der Sprade offenbar. Die Sprade ift plöglich 
tönende Seele geworden. 

Die deutfhe Dichtung war, unter dem Einfluß des Humanismus jowohl 
wie der Roi-foleil-Rultur, eine Angelegenbeit der Mußeftunden gewore 
den, bei Klopftod wurde fie eine Wngelegenbeit tiefften Grnftes. Gr war 
nit ein dichtender Senator, Offizier, Profeffor, fondern Dichter. Das 
fonnte er fein, weil er nicht bloß {dine Berfe machen wollte, um die Mit- 
Bürger zu erfreuen und aufguridten, fondern weil er ein höheres Ziel als das 
literarifhe hatte: er wollte Gott dienen. Gr fand wieder zu einem Stoff 
bin, der die ganze Kraft eines Menfdenlebens bean{pruden fonnte. Den Mej- 
fias und die Grldfung der Menfchheit gu fünden — dag war die Aufgabe 
des von Gott berufenen und begabten Priefters. Als Stimme Gottes fang 
er das Werk des Erlöfers. Gr befennt: „Ich fleh’ um feinen Lohn: ich bin 
fon belohnt durch Gngelfreuben, wenn id) Dich fang, (ich bin belohnt durch) 


275 


der ganzen Geele Bewegung bis Din in Die Siefen ihrer erften 
Kraft, (durch) Srihütterung des Innerften, (fo) daß Himmel und 
Erde mir ſchwanden, und, flogen die Flüge nicht mehr des Sturms, (belohnt) 
burd fanftes Gefühl, das, wie des Lenztags Frühe, Leben fäufelte.“ * Das ift 
bie Grfdiitterung des Släubigen. Klopftod glaubte das, was er Dichtete. 
Gr war fein „Neuromantifer“, der, um der literarifehen Produktion willen, fid 
fo ftellte, alg ob er glaubte. Gein „Meffias* war ihm nicht bloß {dines Spiel 
der PbHantafie, fondern ein heiliges Werk. Er fang eine Wahrheit; daher 
fein Grnft. 

Aus diefer Tiefe allein erklärt fid aud feine merkwürdige, meines Wif- 
fens nicht beadtete innere Verwandtſchaft mit dem (gleichfalls aus niederfäch- 
fiidem Stamm entfproffenen) Helianddichter des neunten Jahrhunderts. In 
der Literaturgefchichte pflegt der unbekannte Gadfe, der den Heliand fchrieb, 
als ein geiftlich gebildeter Herr zu erfcheinen (mutatis mutandis als Theo— 
Iogieprofeffor mit poetifhen Neigungen), der fic zu feinen barbarifchen 
Stammesgenoffen Herablaft, um ihnen das Evangelium mittels Stabreim und 
Angleihung an das germanifhe Milieu populär zu maden. Gine edt rationa- 
Kftifhe Borftellung! Aber der Helianddidter glaubte, was er fang. Der 
Grlöfer war für ihn fo, wie er ihn darftellte. 

Für Klopftod ift ebenfo wie für den Helianddidter der Meffias der 
gdttlide Herr. Bet dem einen ein König inmitten feiner Degen, bei dem 
andern der Gott in Menfchenhülle, por deffen Blid Satan ergittert. Das 
Königliche, nidt die Grniedrigung wird betont. Der Meffias ift ein Held. 

Beide Dichter haben die Ianghinflutende Sprache. Der Sänger des Hee 
liand ftrömt oft über die Versenden hinweg (Enjambement) und fchließt Die 
Periode mitten im Bers. Ebenfo löſt Klopftod die Hezameter auf. Seine 
„Hezameter“ haben nichts bon der gemeißelten Architeltur der Antike, fie find 
nur ein untergelegtes taftuelles Schema, über das die Sprache mie eine 
Mufit frei hinflutet in mannigfaltigftem Rhythmus, in unerhört fühner Klang- 
malerei. Man lefe jene Berfe, in denen Klopftod den Weg vom Himmel 
zur Erde befchreibt: Iett find an jenem Wege nicht mehr 

n. « . Die fohattigen Lauben, wo ehmals die Menfden, 

MeberwallendD von Freuden und füßen Gmpfindungen meinten, 

Daß Gott ewig fie fhuf; — die Erde trug des Fluches 

Laften jest, war ihrer vordem unfterbliden Kinder 

Großes Grab. .. .“** 
Wie erdbenfdwer, dunfel und mühfam ſchleppend (unbefümmert um die metri- 
fe Quantität) fintt der Klang dahin: „Die Erde trug des Fludes.. .“ 
And der Abflang der Periode ift wie ein auffchlagender Fall: „Großes Grab.* 
Bon folhen Feinheiten des Rhythmus und des Klanges ift der Meffias (die 
berühmte Schlußzeile des zehnten Gefanges!) voll, dieſe Feinheiten maden 
aud den unfterbliden Reig der Oden aus: Der Abklang „Seiernd in mad- 
tigen Dithhramben“ — ift das wirklih nur das Syſtema Alcaicum der 
alezandrinifhen Metrif? Es ift ein Abklang, wie ihn ſchon der Helianddichter 
fennt, geboren aus dem Wefen unfrer deutfhen Sprache: „adhalordfrumo 
allomachtig.“ Weil Klopftod aus feiner feelifhen Struftur heraus den ine 





* Aus der Ode „An den Grlöfer“, die Klopftod nad der Vollendung des „Mef- 
fias in wenigen Minuten tieffter Grgriffenheit niederfchrieb. Wir haben abfidtlid 
die Bersteilung unterdrüdt. Das Gingeflammerte ift der logiſchen Deutlidfeit halber 
eingefügt, da wir die geilen als Selbftzeugnis anführen. 

* Meffias I, 217 ff. 


276 


nerften Nerd unfrer Sprade traf, wirkte er zu feiner Zeit und wirft er nod 
Heute löfend auf das Sprachgefühl. Goethe und Schiller hat er fpradlid ere 
wedt. Und wer bon uns hat fid nicht in feiner Jugend einmal an flopftod- 
fen Verſen ,,beraufdt*? Luther war der erfte Baumeifter des Domes unfrer 
Sprade, Klopftod der zweite, Goethe war der Bollender. — 

Gs heißt mit Recht, daß der Sinn im Bilde, die Seele aber im 
Klang offenbar werde. Bei Klopftod ift das Höchfte der Klang, das „See⸗ 
life“. Wohl zeichnet er zuweilen gewaltige Bilder. Man denfe an das Gee 
witter in der „Srühlingsfeier“: 

„And die Gewitterwinde? fie tragen den Donner. 

Wie fie raufden, wie fie mit lauter Woge den Wald durdftrdmen! 

And nun f{dweigen fie. Langfam wanbdelt 

Die ſchwarze Wolfe.“ 
Das „Langfam wandelt die ſchwarze Wolfe“ ift bon unerhörter Größe. Eben⸗ 
fo der nädjfte Whang: „Und der gejchmetterte Wald dampft.“ Oder Iefen 
wir das himmliſche Gewitter im erften Gefang des Meffias (um bas ſchul— 
mäßige Klappern der Hezameter zu vermeiden, druden wir die Berfe ohne 
{Hematifhe Abteilung; um fo fadlider fann man fie Iefen): 

„Nah bei der Herrlichfeit Gottes, auf einem himmliſchen Berge rubet des 
Allerheiligften Naht. Lichthelles Glangen wacht inwendig um Gottes Gee 
beimnis. Das heilige Dunkel dedt nur das Innre dem Auge der Engel. Bis- 
weilen eröffnet Gott die Dämmernde Hülle durch allmadttragende Donner vor 
dem DBlide der bimmlifden Schar. Sie feben und feiern... Aber ist 
füllte des Gwigen Blid der Himmel von Neuem; jeder begegnete feiernd 
und ftill dem gdttliden Blide. All’ erwarten die Stimme des Herrn. Die 
himmliſche Zeder raufdte nicht, der Ozean fHwieg am hohen Geftade. Gottes 
lebender Wind bielt gwifden den ehernen Bergen unbeweglid und wartete 
mit verbreiteten Gligeln auf der Stimme Gottes Herabfunft. Donnerwetter 
ftiegen gum Wartenden Iangfam das Allerheiligfte nieder. Aber noch redete 
Gott nit. Die heiligen Donnerwetter waren Berfündiger nur der nabenden 
göttlihen Antwort... .. Giebenmal hatte der Donner das heilige Dunfel ere 
öffnet, und die Stimme des Gwigen fam fanftwandelnd hernieder.“ * 

Ober nehmen wir ein Bild wie diefes: „In dem ftillen Bezirk des unbe» 
trachteten Nordpols ruhet die Mitternacht, einfiedlerifch, faumend; und Wolfen 
fließen bon ihr, wie finfendes Meer, unaufbörlich herunter.“ ** 

„Bilder“ find das, aber eigentümlich verſchwimmende, verfehimmernde. Sie 
löfen fid in Geahntes, Hintergründiges auf, in — Geelifhes. Geht man 
dem Gejamtaufbau des „Meſſias“ nach, fo ift es nicht anders. Reine plaftifche 
„Argiteltur“, die „in fid) gefdloffen* wäre (Dante), fondern eine mädtig 
wogende „Mufit“. 

Nun gehört gu den häufigften Wörtern im Meffias das Wörtchen ,fdau- 
en“ — anfchauen, durchſchauen, anfehen. Ebenſo begegnen wir oft dem 
„Iinnen“. Aber niemals ift es plaftifdes Schauen, fondern immer das 
„Iinnende Schauen“, das an die Stelle des Denkens tritt. Aber Klopftod ift 
aud fein dDenfender Dichter. Nirgends logiſch feft geihloffene Form. Der 
„Gedankengehalt“ feiner Dichtung, rein intelleftuell genommen, ift arm. Statt 
dejfen finden wir ein weites, ſchauendes Sinnen: jene eigentiimlide Bere 
einigung bon Gegenftand und Seele, die uns Deutfchen befonders zu „lie— 
gen“ ſcheint. Die Grenzen zwifchen Welt und Seele, Ding und Empfindung, 


* Meffias I, 300-335. 358—367. 395—396. ** I, 587-589. 
277 


Draußer und Drinnen, Objeft und Subjekt verſchwimmen; die Seele reißt 
die empfundene Welt in ihren Strom dahin: Mufif. Daher find alle ,,Bil- 
der“ feelifch gefärbt: voller Sntzüden, voller Schreden, boll fanfter Trauer, 
boll füßer Liebe uſw. Gin herrliches metaphyſiſches Beifpiel des klopſtockiſchen 
„Schauens“ ift feine Iette Ode aus dem Februar 1802: ,Die höheren 
Stufen.“ 

Mit dem Mtufifalifden geht das Motorifhe zufammen. Wir wiffen, 
wie fehr Klopftod die förperlihe Bewegung liebte — reiten, fpringen, wan- 
bern, Schlittſchuh laufen. Gr liebte aud das Tanzen. Das Tanzlied ber 
Thusnelda in „Hermanns Sdladt* ift von wunderpoller Gindringlidfeit* *: 

„Komm, Sdgerin, fomm bon des Widerhalls Kluft! 
Das Wild ift erlegt, das Wild ift erlegt. 
And fpült’ in dem Gad von des Riefen Helme das Blut. 
Die Jägerin fam bon dem Gelfen herab. 
a Das Wild lag im Tal, das Wild lag im Tal. 
Gr fpült’ in Dem Bad bon des Riefen Schilde das Blut. 
Sie fprang zu ihm hin wie im Sluge des Pfeils, 
Weit über das Wild, mit wehendem Haar: 
Da fant in den Bac ihm des Riefen Panzer voll Blut.“ 
So etwas ift Hanggewordene Bewegung. Gerade für motorifd begabte Men- 
fen werden Klopftods Verſe ihren Reig am längften behalten. — 

Ein Mann, der fo gang Priefter und aus innigfter Gottesliebe Dichter 
war, hat unfre deutfhe Dichtung aus der Sphäre höfifcher Beluftigung und 
birgerliden Beitbertreibs erhoben. Gr gab der Dichtung ihre eigene Rdnigs- 
würde. Das fühne, freie, gotttrunfene Herz, die hohe Gefinnung, das reine 
eben erfüllten ihn mit einem gerechtfertigten Selbftgefühl. Das Bolt emp- 
fand wieder etwas von der Berufung und dem Beruf des Dichters. So er- 
tang Klopftod dem Dichter im fogialen Gefüge des Bolfes feine hohe Stel— 
lung. Das war auch eine Bedingung dafür, daß Goethe und Schiller möglich 
wurden: „Der Menfdbeit Würde ift in eure Hand gegeben...“ Und Heute? 

St. 


Die Oberrealjdule als humanijtijdhe 
Bildungsanjtalt. 


ine Oberrealfdule pflegt ihre Schüler in den Oberklaſſen aus verjchiedenen 

Realfdulen zu übernehmen. Sunddft verfammelt die Oberfefunda folder 
Schule eine Reihe von Biinglingen, die frifch und frei ins Leben Hinausfeben, 
willig zum Lernen. Die Kameraden fteben nun als Lehrlinge ſchon irgendwo 
im Beruf. Sie hier dürfen — ehe fie als Ingenieure, Offiziere, Aerzte, Kauf 
leute, Beamte an die unmittelbare Berufsausbildung denken, noch drei Sabre 
lang ihren Geift ausweiten. Deutfhe Bürger, die mit Betwuftfein einft an 
berantwortliden Stellen ftehen werden, follen erzogen werden. 

Drei Tatjachen, auf denen unfere heutigen Weltzuftände beruhen, foll der 
Schüler fennen lernen: Wie die Indogermanen in Europa die führende Raffe 
wurden, wie das Shriftentum entftand, wie Die Germanen durd die Befrud- 
tung mit der antifen Kultur zu einem Geiftesleben erwachten. 

Hier läßt fic) der Deutfchunterricht ohne Bezugnahme auf den Gefdidts- 


* Das ganze Lied: Ausgabe von Diingker bei 5. A. Brodhaus, Leipzig, 1876. 
Seite 88 f. 


278 


unterricht nicht Befpreden. Man wird im Deutfhen von der großen indo- 
germanifhen Spradfamilie fprechen, die Wandlung der Spraden durd ine 
nere Gefege und durch Äußere Einflüſſe erflaren. In der Gefdidte ift zu 
zeigen, wie auf Steinzeit und Bronzezeit dasjenige folgt, was wir erfte Bölfer- 
geſchichte nennen fönnen; und zwar beginnt für Guropa dieſe Zeit zufammen- 
bängender Gefdidte mit dem Auftreten der Indogermanen. Diefe haben von 
Norden einwandernd die griehifche und Iateinifhe Nation begründet —, aber 
auf dem @runde einer viel älteren, bochentwidelten Kultur. Schon dies ift 
eine Bölferwanderung, der ein Mittelalter, Neuzeit und Zeit der individuellen 
Hochkultur folgen. Unfere heutige chriftlich-germanifde Welt Hat wiederum 
jene erfte indogermanifhe am Mittelmeer beerbt. 

Diefem Gefchichtsbild entjprehend muß aud der Deutf{dunterridt ver- 
fahren. An die Behandlung der Sprachgeſchichte ſchließt fih am beiten eine 
Wiederholung der germanifchen Götter» und Heldenfage. Sind Hebbels Nibe- 
lungen nod nicht befannt, fann man fie jest leſen; diefes dine, aber nicht 
leihte Thema ift ganz geeignet dazu, daß der Lehrer mit der neuzufammen- 
gefebten Klaſſe warm werde. 

Mittlerweile fchreitet der Gefdidtsunterridt aus der DBefprechung der 
Eiszeit, Stein- und Bronzezeit heraus zu den Griechen. Nun hat der Deutfch- 
unterricht die Aufgabe, die Schüler erleben zu laſſen, wie die deutſche Haffifhe 
Literatur aus der Antife Formenfraft und Anfchauungsfülle gewonnen hat. 
Gs ift eine reine, fine Luft, in der die Schüler nun einige Monate atmen. 
Ilias und Odpffee foll fennengelernt werden in der Ueberfegung, teils durch 
gemeinfames Lejen, teils durch freie Bortrage. Dann ftehen zur Berfiigung 
aus unferer Dichtung: Braut bon Meffina, eine Reihe Schillerfher Balladen 
(bon denen auch nod eine oder zwei gelernt werden follen), Goethes Iphi— 
genie. In Schillers Leben muß die große Wendung zum Studium der Philo- 
fopbie und der Antike befproden werden; Goethes Gntwidlung ift gu bee 
ſprechen bis zur italienifden Reife, die Rückkehr nad Deutfhland, das lange, 
nun beginnende jchöpferifche Arbeitsleben. Bon Leffing fteht zur Berfiigung 
zur Srläuterung griedhifden Wefens: Lanfoon oder: Wie die Alten den Tod 
gebildet —, oder jenes merfwiirdige Fleine Werk aus griedifd - deutfchem 
Geifte: Philotas. Auf Leffing fann in diefem Zufammenhang nur wenig Beit 
verwandt werden. 

Die Antike foll aber auch felbft fennengelernt werden in einem oder zwei 
Dramen des Sophofles. Und noch bon einer anderen Seite. Die Griechen ha— 
ben die Wiffenjdaft um ihrer felbftwillen gepflegt. Die Gefdidte muß bon 
den jonifhen Philoſophen und von Gofrates berichtet haben. Die Wpologie 
oder der Kriton fönnen gelefen werden. Eine begabte Klaffe Tann aud {don 
verftehen, wie der Menfd dazu fommt, zu fragen: Was ift denn Grfenntnis, 
und was ift erfennendes Gubjeft? Und diefe Fragen laffen fih am Phaedon 
(in Schleiermadhers Ueberfegung) vorzüglich behandeln. 

Die Gefdhidte muß fo behandelt werden, daß fie die Grundlage zu ſolchem 
Deutfchunterricht biete. Das griehifhe Mittelalter mit feiner Kolonifation, 
Dichtung und erwachenden Wiffenfdhaft als Kulturfhilderung; die Staaten der 
Spartaner und Athener; der Kampf für Guropas Gelbftändigfeit gegen Alien. 
Die Kataftrophe des peloponnefifhen Bruderfriegs. Die Kriege gwifden 
Athen und Sparta in der Mitte des fünften Iahrhunderts werden gang kurz 
behandelt; hingegen wird die Bedeutung Gigiliens, Grofgriedhenlands und 
Karthagos erklärt. Ausführlich das makedoniſche Volkskönigtum und Alezan« 
ber als Ausbreiter der griehifhen Kultur! Die Diadodenftaaten als Borbe- 


279 


teitung des Römerreichg und Borbedingung der Entwidlung des Chriftentums 
werden darafterifiert. 

Gon Rom ift die innere Gntwidlung fo zu behandeln, daß dies große 
Mufterbeifpiel wirtfchaftlider Kämpfe und politifcher Organifation wirklich 
berftanden wird. Im Uebrigen fann die römiſche Sefdidte bis zum Beginn 
des II. Bunifhen Krieges ganz kurz behandelt werden —, feine Namen- und 
Sablenlaft wird aus diefer Epoche mitgenommen. Dann wird die Gründung 
des Weltreihg und die Entftehung der Monardie im einzelnen behandelt. 

Nad dreiviertel Jahren fteht die Klaffe bei Auguftus. Gs bleibt ein 
Bierteljabr, um den Kampf des Rimerreids mit den Germanen zu behandeln. 
Sp fehrt am Abſchluß des Sabres der Schüler gu den Germanen zurüd, Die 
er [don am Anfang im Nebel der Borgeit erblidte. Der Urgefhichte germa- 
niſchen Golfstums ift nun eine liebevolle Sorgfalt zuzuwenden. 

Der Religionsunterridht muß es der Gefdidte abnehmen, einige anjdau- 
lide Bilder der frühorientalifden Völker zu geben. Das Größte an ihnen ift 
dod ihre Religion — die Pyramiden und die Ofirisreligion der Weghpter, Die 
Kalenderfunft der Babplonier, nod Heute uns täglich niiglid, aus ihrer Ree 
ligion entftanden, die völferordnende Königsarbeit der Achämeniden als ein 
Dienft für den reinen Gott Ormuzd. Das Intereffe der Schüler für verglei- 
ende Religionsgefdidte ift groß. Um fo mehr gilt es, dem fo gewedten In«- 
tereffe nun gu zeigen, wie das melthiftorifch folgenreichfte Greignis der alt» 
orientalifden Gefdhidte im lebten Grunde dod ebenfo ein erhabenes ie 
wunderbares Greignis bleibt: Wie dem israelitifhen Bolfe durch feine Pro— 
pbeten unter den Stürmen der völfervernichtenden Affyrier der ethiſche Mono» 
theismus gefdentt wird. Gs wird gezeigt, wie Durch dies Greignis das Alte 
Seftament entftehen mußte. Größere Partien der Propheten, der Pfalmen und 
ber fo oft bernadlaffigten nacdhezilifhen jüdifhen Literatur werden gelefen. 

Dafür ift die Auswahl aus der Bibel fehr gut, wo die Sprade Luthers 
nur etwas unferer Sprade angenäbert ift. Auch müßte gerade in den fo 
{Hwierigen Büchern der Propheten die Ueberfegung wirklid dem heutigen 
Berftändnis der Sprachforſchung genügen. Schon befigen wir heute folde Bü- 
der. An das Alte Seftament ſchließt fid im 2. Halbjahr eine eingehende Bee 
. fpredhung des Lebens und Kampfes Sefu und der Laufbahn und Gedantenwelt 

des Paulus. 

Go fteht der Religionsunterridt im letzten Vierteljahr mit dem Gefhichts- 
unterricht in der gleichen Spode, der römifhen Kaiferzeit. _ 

Diefe jo merkwürdige und große Epoche Iernt der Schüler fogufagen mit 
der urdriftliden Gemeinde fennen, — der Brand Roms, der Untergang Serue 
falems, die Entjtehung des Neuen Teftaments, der Gemeindederfaffung, des 
®laubensbefenntniffes werden ihm feffelnde, höchſt wichtige Greigniffe inmitten 
einer nun völlig anfdauliden, verftändliden Welt. 

Sowohl orientalifhe Geſchichte, wie Bibel, griehifche und deutfche Literatur 
bieten Stoff zu freien Bortragen der Schüler, 3. B. die Sternenfunde der 
DBabplonier, das Buch Tobias, der Philoktet des Sophokles oder Goethe in 
Straßburg, das Leben der großen deutfchen Mufifer, 3. B. Beethovens u. a. 
Auf ein nicht deflamatorifcheg, aber flares und ſchönes Lefen der [hwierigeren 
Gedichte Schillers und Goethes ift zu achten. Diefe Altersftufe hat nod bon 
der Friſche des Jungen und fdon viel bom Ahnungspermögen des Jünglings. 

Am Ausgang der Ila oder fofort.beim Eintritt in Ib wird das Mittel» 
hochdeutſche wieder aufgenommen. Dazu werden die Sagenfreife, die ältefte 
Poefie der Germanen befproden. Vom Geiftesleben unferer Borfahren foll ein 


280 


Bild gewonnen werden. Hier nun muß von der Germaniftif noch viel Arbeit 
geleiftet werden. Wie anders find dod die Hilfsmittel, die zur Verfügung 
fteben, um die Propheten Amos und Sefajas, um Paulus und das Urdriften- 
tum verftändlih und anfdaulid zu maden? Gtwas derartiges fehlt uns nod 
für unfere großen germanifden Gpen und überhaupt für Leben und Geſchichte 
ber ®ermanen. Ich wage zu bemerken: Was ein Wilamowit - Möllendorf, 
Eduard Meher, Harnad, Wellhaufen, gewaltige Provingen und Länder der 
Forſchung beherrſchend, leifteten, das muß für die Germaniftif noch gefdeben. 
Wer aus der Methode der vergleidenden Religionsforfhung Herfommt, ver 
wundert fid, eine angelfähfifche, flandinapifhe und deutſche Forſchung neben- 
einander zu finden. Die große, zufammenfaffende Erkenntnis, die ein Darfteller 
der Dinge — alſo der Lehrer — braudt, fehlt nod. 

Gs Hat einmal eine große, frühgermanifde Welt gegeben. Beo— 
wulf und SHeliand find Werfe eines olfsgeiftes, ja, müßte man 
nit fagen, desfelben Bolfsftammes? Siingere Edda, Saxo Örammaticus, 
Paulus Diafonus find gleichwertige, man müßte vielleicht fogar Jagen, gleich» 
artige Quellen der germanifhen Sagenwelt; aud Widulind und Adam bon 
Bremen gehören in gewiffer Beziehung noch hierher. 

Wie verwirrend wirft es, wenn der Literarhiftorifer dem Heldenliede ein 
tein äfthetifches Intereffe an der Sharattergeftaltung gufpridt, der Hiftorifer 
aber den Swed des Heldenliedes darin findet, Königsgeſchichte zu überliefern. 
Nun erft gar die fühnen Konftruftionen der Archäologen über germanifche 
Bölkerfhidjale und die Hypotheſen der Raffenforfcher! 

Die ordnende Herrfderin über all diefe Erkenntnis muß die Germaniftif 
fein; die Sprachforſchung fommt doch dem lebendigen Geifte am nadften; aber 
bie ®ermaniftif darf nicht die anderen verachten, fondern muß ihre Arbeiten 
fih nugbar und dienftbar machen. 

Eine Fülle wiffenfchaftliher Arbeit muß unferem Unterridte nod Bore 
arbeit leiften. 

Wir ftehen nod gang am Anfange der Aufgabe, die Gefhichte des ger- 
manifchen ©eiftes zum Mittelpunkt unferes Unterrichts zu maden. 

Während fo Sage und Heldenlied behandelt werden, hat der Gefdidts- 
unterricht das Mittelalter erreicht; nun wird Walther von der Bogelweide 
mit Liebe gelefen und andere Proben mittelhochdeutfher Poefie. 

Gs ift nun fehr wichtig, daß aud) der Religionslehrer mit dem Deutfch- 
und Gefdidtslehrer zufammenmwirkt. Das Bild von unferes Bolfes Früh— 
zeit wird völlig chief und falfd, werden nicht aud die tiefen Wirkungen des 
Ehriftentums erfannt. Die Lebensbilder der erften großen germanifden Chri— 
ften müffen den Deutſch- und Gefhichtsunterricht begleiten. Wichtiger als 
der Parteifampf por und nad den Nikanifden Konzil ift für uns folgendes: 
Auguftin, der legte große Menſch der Antike, ein gang moderner Menſch, Sohn 
einer fompligierten Kultur, und Doch ift er eg, der die Weltanfchauung des 
Mittelalters in der „civitas dei“ geftaltet; Die Lebensbilder: Ulfilas, der 
Germane, Severin, der altdriftlide Mind unter den Hereinbredenden Gere 
manen, Öregor der Grofe, der erfte mittelalterliche Romane, Bonifay, Karl der 
Grofe, der Bolfsergieher Anfdar, Adaldag, Adalbert bon Bremen, Hame 
burgs große Srabifchöfe, die Samilienge[didte der Ottonen, die deutſchen 
Rreuggiige gegen Wenden und Preußen, Frangiscus, Waldenfer, Myſtiker, 
Sorreformatoren. 

Ift Dod dies ein gang wefentlider Inhalt früher deutfcher Gefdhidte: See 


281 


waltige Menfden verfuchen mit großartiger Energie, die driftliden Ideen im 
Leben der Völker durdgufihren. 

Darum foll der Religionsunterridt der Gefdidte, die rüftig der Neuzeit 
gufdreiten muß, viel abnehmen —, das Meifte des Borgenannten. Und er 
muß das Bild, welches der Deutfchunterricht pom altdeutihen Geiſtesleben 
gibt, ergänzen. 

Der Deutfch- oder der Religionsunterricht endlid muß dem Schüler zeigen 
den Grnft der romanifchen und die erhabene Schönheit der gothiſchen Architek⸗ 
tur, als Offenbarungen des germanifden Geiftes, dazu die feelentiefe bil» 
dende deutſche Kunft von den rührenden Heiligengeftalten der Gotik bis zur 
Lebensfiille Dürers. 

Dod nicht zu lange darf der Deutfchunterrigt in Prima beim Mittelalter 
verweilen. Die befte Kraft ift doch der klaſſiſchen Periode unferer Dichtung 
guguiwenden. Goethe, Schiller, Leffing. Dies der wefentlide Stoff. 
Literaturgeſchichte — mit oder ohne Lehrbud — genügt nidt. Gewiß muß 
gezeigt werden, wie die deutſche Sprade, nach dem Sturz des Preißigjäh- 
tigen Krieges, durch einen Opis und andere pädagogiſch behandelt wird, aber 
Diefer Fiterargefchichtlihe Standpuntt ift zu niedrig. Die deutfhe Klaffit muß 
behandelt werden in ihrem Verhältnis zu Reformation und Renaiffance. 

Die Renaiffance befreit ben Menfden aus den feften Formen des Mittel- 
alters, indem fie ihn auf fic felbft ftellt; fie iſt egozentriſch — von ihr leitet 
fim ber die Aufflärung, dann der wirtfchaftliche, äſthetiſche und ethifdhe Indi- 
pidualismus des neungehnten Sabrbunderts bis zur Mandhefterjchule, zu 
©erhard Hauptmann und Niebfde. 

Die Reformation befreit den Menfden des Mittelalters, indem fie ihn 
durch das Erlebnis des den Menfden ergiehenden Gottes zur felbftändigen 
Perfdnlidfeit madt —, das ift Luthers Werk. Diefe Perfönlichkeit bedarf der 
®emeinfchaft der Frommen — nur auf fich geftellt, wird auch fie egoiſtiſch —, 
nit in ©ottvertrauen, fondern in rechthaberifcher Herrſchſucht. 

Die reformierte Kirche hat die Gemeinfchaft früher und glüdlicher gepflegt, 
darum ihre Kraft in firdhlider Organifation. 

Der deutſche Pietismus hat die Aufgabe der Gemeinſchaft am tiefften ere 
faßt. Gr hat die Seelen verfeinert und geadelt —, wie das Freytag in feinen 
„Bildern“ an der deutfhen Familie des 18. Jahrhunderts fo wundervoll 
zeigt. Aus der pietiftifchen Familie, die troß aller Freude an der Aufflärung 
eines „vernünftigen Zeitalters“ in der Frömmigfeit ihre befte Kraft hatte, find 
unfere Klaffifer fämtlich ermadjen. j 

Gp find denn aud) das geiftlide Lied und die deutſche Muſik die Fünft- 
leriſchen Erzieher der Deutſchen geweſen, aud für die Literatur. 

Anfere RKlaffifer find Weiterbildner der Reformation —, Gegner ber 
egozentrifchen, atheiftifchen Weltbetradtung. Diefer Gegenſatz muß den Shü- 
lern eine heilige Grfenntnis werden. 

Die Humanitat in Leffings Nathan ift etwas viel Größeres als Die de— 
mofratifche Gleihmaderei der Franzoſen. Fauft ift nicht das Gpangelium des 
Egoismus, fondern Gauft ift in allem wahr und edht — aud in der Rüd- 
fehr des irrenden und fampfenden Menfden zu Gott. Goethe ift in feiner 
biftorifhen Laufbahn zweimal mifbanbdelt worden — einmal dur Die 
„Muder“* —, das ift durch jenen aus der Romantif herfommenden Meus 
pietismus, der Goethe faum fannte, aber ihn für den böfen Heiden erklärte; 
diefe Mifhandlung hat Goethe jest überftanden. Noch aber gejchieht die viel 
ſchlimmere durch die Literaräfthetifer, die Goethe gu dem fdinen Heiden 


282 


machen, und das deutſche Bolt im Namen Goethes zu einem genießenden 
Egoismus befehren möchten. 

Das Bild unferer deutſchen Geiftesgefhichte nad der Wahrbeit zu ge- 
ftalten und in die Herzen eingupflangen, ift das Hidfte Ziel unferer Schule. 

Srogdem follen wir auf der Oberrealjchule nicht für das germaniftifche 
oder Hiftorifhe Studium begeiftern. Denn dafür gibt dod nun einmal das 
alte Humaniftifde Gymnaſium in den alten Spraden das nötige Riiftgeug. 
Unfere Schule foll finftigen Naturwiffenfchaftlern, Wergten, Ingenieuren, 
Offizieren, Kaufleuten, höheren Berwaltungsbeamten bor ihrer Berufsbildung 
die Grundlage einer humaniftifchen Bildung geben. Darum muß im deutſchen 
Anterriht und im Religionsunterriht aud eine Fühlung mit den Natur» 
wiffenfdaften gemonnen werden; das Problem: Worauf beruht die Sider- 
beit unferer Grfenntnis? muß gezeigt werden; Kants Bedeutung in der 
Gefdhidte des menſchlichen Geiftes fünnen die Schüler wenigftens {don ahnend 
erfennen. Gr gehört mit hinein in die deutfchen Klaffifer, welche den Grden- 
pölfern für Jahrhunderte Die Bahnen des Denfens vorgezeichnet haben. Gin- 
fade Uebungen des Urteils, fo wie fie etwa Kants Einleitung in die Logif 
in die Hand gibt, müffen im Unterricht porfommen; die Kategorien Kants 
tönnen erklärt werden. Aber aud der Begriff der transgendentalen Grenge 
des Grfennens wie die pofitive Gültigkeit unferer Grfenntnis gerade in der 
Naturwiffenfhaft nad den notwendigen Formen unferes Grlebens fann bon 
ben Schülern erfaßt werden. Die Begabteften müffen Luft befommen, Kants 
Kritif der Urteilstraft, der praftifhen Bernunft und die Prolegomena der 
Metaphyſik felbft zu lefen — wenigftens im erften Semefter. Die [este Voll— 
endung (joweit eine ſolche für werdende junge Menfchen überhaupt möglich 
ift) fann aud hier nur der Religionsunterricht geben —, oder beffer gejagt: 
Gr foll die Siinglinge mit der höchſten praftifchen Aufgabe ins Leben Hinaus- 
fenden. Das Ringen um Gott ſchenkte dem Deutfchen die Reformation. Aber 
bolle Befriedigung wird er in diefem Ringen nur finden, wenn er Gottes 
GErziehung in der Menfchengemeinfchaft erlebt. 

Nun foll der Unterricht zeigen, wie der Pietismus in Speners und 
Stanfes Tagen diefe fromme Lebensgemeinihaft zu ſchaffen fudt. In der 
Samilie wird fie wieder lebendig — wunderbare fittlide Kraft bewährt aus 
biefer Erziehung das deutſche Volk in den Freiheitsfriegen. Diefe Kraft wirkt 
nod weiter in der gelehrten bürgerlihen Familie und zum Teil im Klein» 
Bürgertum. Aus diefem Geifte haben deutfhe Maler im neungehnten Iahr- 
hundert gefdaffen — die mir jebt erft wieder entdeden — feelentief und 
berzerfreuend — damals unberftanden bon ihrem Zeitalter. Um die Mitte des 
neunzebnten Jahrhunderts verſucht ſowohl proteftantifcher wie katholiſcher 
Idealismus durch die innere Miffion aud das Bolfsleben mit diefem Gemein- 
THaftsgeift zu durchdringen. Derfelbe Idealismus will für diefe Gemeinſchaft 
der Liebe aud) die Heidenvddlfer gewinnen (äußere Mtiffion). All dies bleiben 
nur Anfänge. 

Dielmehr hat im öffentlihen Leben der abfolute Individualismugs ge- 
fiegt, im DWirtfchaftsleben, in der Politik, fogar in der Kunft — der Geift 
bon Mandefter, wie Garlhle fagte — oder der brutale Individualismus Fried» 
tid Niebfches. 

Dereinfamung und tiefftes feelifhes Elend des einzelnen, Wtomifierung 
der Gefellfdaft ift die Folge. Aufbau neuer Gemeinfdaft aus den ererbten 
@eiftesfräften unferes Volkes — Chriftentum, Reformation, Klaffit — das 
ift die Aufgabe. 


283 


Bemerken muß id nod: Wm diefer Zufammenfafjung all unferes Unter 
richts — Deutſch, Gefdidte, Religion einerfeits, Naturwiffenfchaft anderer- 
feits — zu genügen, bedürfen wir noch einer Darftellung unferer deutfchen See 
ſchichte, wie wir fie bis jet nod nicht befigen, nicht nur einer politifd- 
militärifchen, nicht nur einer fulturgefchigtlichen, fondern einer Gefdidte des 
Lebens unferes Volles. Lamprechts Berfud ift groß — aber hier fehlt bod 
die ganz große flare Weltanfhauung. Lampredt ift felbft Dod fo febr Sub- 
jeftivift, daß er — darin Kind des neueften eigenfinnigen Deutſchtums — dod 
gu wenig den großen Batern bat vertrauen und folgen wollen. Gr wollte zu 
Hug fein. Ihm fehlt die große gotterfüllte Weltanfhauung des Klaffiters unter 
ben Hiftorifern, Ranfes. Ihm fehlte, fo viel wir aus ihm lernen follen und 
finnen, die lette Dinreifende, feelenbildende Kraft der in einem großen Glau— 
ben lebenden Perjönlichkeit. 

Unſer Unterricht foll deutfche Siinglinge mit Glauben und Wnfdauung er» 
füllen. 

Die Jungen werden auf diefer Stufe lang und unpoetifd, fagt man; das 
Befte des inneren Lebens wird verborgen. Der Berftand wird miftrauijd 
und kritiſch. Dies lettere darf nicht vergeffen, ja, es muß benußt werden. Bore 
ausgeſetzt und gefordert wird, daß gemilfe Tatſachen, Namen und Daten 
bon den Unter- und Mittelllaffen ber ſchon feftfigen, oder Dod leicht aus der 
Grinnerung gewedt werden können; die eigentliche Kraft der Arbeit foll im 
Unterricht felbft liegen, und gwar im Denken. Wer gum Denken wedt, wird bie 
Schüler gewonnen haben. Wenn der Schüler fühlt, daß feine Urteilskraft fid 
bildet, der Horizont fich weitet, die Welt feiner Grfenntnis fic wirklich öff- 
net, Dann wird die Freude daran aud) jene Begeifterung weden, bon der ein 
frudtbarer Unterriht getragen werden muß. 

Nun denfe man fid, daß die fo in Gefdhidte und Geiftesleben der Na» 
tion Gingeführten viele Stunden der Woche Mathematif und den Nature 
wiffenfchaften widmen und mit der Realität des Lebens gründlich vertraut 
werden, den Automobilen und eleftrifdhen Mafdinen in die innerften Gee 
därme fdauen, wopon wir armen Humaniften älteren Stils nidts vere 
fteben. Go dürfen wir hoffen, Menfchen zu erziehen mit rechten Herzen, Die 
feft auf den Süßen ftehen und Haren Auges ins Leben fchauen. Nur ein ges» 
tinges Maß täglich genau zu leiftender häuslicher Arbeit, aber viel felbftan- 
Dige Arbeit, praftiihe Uebungen in Phyſik und Chemie, Lefen, Hören und 
Spreden einer oder zweier neuerer Spraden gehört zu den Aufgaben Diefer 
Schule. Es muß aud die Geographie forgfam gepflegt werden. Gs ift nämlich 
aud) Durd die Naturwiffenfchaften nidt möglich, in der Grofftadt fern von 
Wald und Wiefe Kenntnis der lebendigen Natur gu vermitteln. Aber der 
geographifhe Unterricht foll die Beobadtung weden, ebenfo wie der gee 
{Hidtlide in die heimifhe Landſchaft Hinausfenden. 

Sir Zeichnen und Gefang läßt die Schule Raum genug. Endlich muß ein 
leßtes den Menfden vollenden: Turnen, Spiel, Rudern, Wandern. Das gibt 
die Bollendung der Form, den rechten Stil. 

Allerdings, diefe Schulform bedarf immer, und gwar unbedingt für den 
Sefdhidts- und Religionsunterricht, in einzelnen Vertretern aud der Mature 
wiffenfhaften Männer, die felbft die griechifch-Iateinifhe Schulung durchge» 
madt haben. 

Und Hier fehe ich prattifd eine Frage nod ungelöft: Zum theologifden, 
biftorifhen und meiner Meinung nah — aud zum germaniftiihen Studium 
gibt die Oberrealfdule feine Borbereitung. Der Gymnafien werden weniger. 


284 


Mander zu jenen Studien Berufene und Geeignete gerät auf die Ober- 
realfdule. Wie forgen wir, daß mir die organifhe Weiterentwidlung Der 
Geifteswiffenfdaften felbft nicht bedrohen? Walther Slafjen. 


Seele als biologifher Begriff. 


n das eigene Geelenleben hat der Menfch geblidt, folange und foweit er 

zum Nachdenken über fic felber gefommen ift. Man könnte meinen, daß 
wir über die menf{ lide Geelenfunde längft im flaren fein müßten. Und 
dod treten immer wieder neue Richtungen in der Piychologie auf. Heute 
berrfcht, gefördert dur) die „ezalten“, das heißt meffenden und zählenden 
Naturwiffenfchaften, die „Szperimental-PBiyhologie* por. Aber Meffen und 
gählen Tann uns wohl eine genauere Kenntnis der phyſiologiſchen Erſchei— 
nungen unferes Vervenſyſtems bieten, an dem das individuelle Geelenleben 
baftet, aber feinen Ginblid in das Wefen der Seele felber, an der nichts zu 
mefjen und zu zäblen ift, weil Raum und Zeit erft dur das Erleben 
bon außen an fie Derantritt. 

Einen Einblid gibt nur die innere Gelbftbeobadtung. Da tritt nun ein 
unzünftiger Piychologe, Dr. Ludwig Klages, auf den Plan mit der Bee 
hauptung, daß die herkömmliche Geelenfunde „Seele“ mit ,,Geift* verwechjelt 
und, weil nur die Seele wirflides Dafein habe, nur mit Giltionen, willfür- 
lihen Annahmen, arbeite, die, durch uralte UWeberlieferung gebeiligt, als be— 
ftebende Satfachen gelten. Diefe in feinem Bude „Bom kosmogoni— 
[den Gros?) in fünftlerifher Darftellung, anfniipfend an die Erforfchung 
des tieferen Ginnes alter Kulte, gegebenen Anjichten entwidelt er in wiſſen— 
ſchaftlicher Gorm in feinem Werke „Bom Wefendes Bemwußtfeins“?) 
Klages fagt bon den metaphyſiſchen Denfern: „Nachdem fie erft einmal die 
Wirklichkeit gu einer Art Widerfchein des Geiftes verflüchtigt, blieb es nicht 
aus, daß fie, fid auf die Seele befinnend, ftatt ihrer nur das Bewußt- 
fein fanden und fich forthin erſchöpften an der Hoffnungslofen, um nicht zu 
fagen wahnhaften Aufgabe, aus dem Bewuftfein herauszufpinnen aud deffen 
Grmöglihungsgrund: das Grleben!* — Rages wendet fi fdarf gegen 
den Ideologismus, der die Welt als bloße Borftellung auffaft: „Sin anderes 
ift Das Wahrnehmen und wieder ein anderes das Borftellen, Sichvergegen- 
wärtigen, Darandenten.“ Gs gibt Trugwahrnehmungen und Halluzinationen; 
„aber nod nie hat jemand fein Wahrnehmen mit feinem Borftellen verwechjelt“. 
„Würde Borgeftelltes fic ftets augenblidlid verwirklichen, fo müßten 
wir nidts bon einer Tätigkeit des Gorftellens; und erfdiene uns Wahrge- 
nommenes wie etwas Borgeftelltes, fo wiederum nichts bon der Wirklid- 
feit.* — Bei der Grorterung des ,,Grlebens“ folgert Klages aus der Tatjache, 
Daf wir 3. B. Farbe nicht in unferem Ropfe wahrnehmen, fondern außerhalb 
unfer, daß das Grleben nicht in gegenftändifhen Körperporgängen, Mole- 
fularbewegungen im Gebnerben, beftehen Tann: „Der Begriff der Rote 
ift allerdings ein Geiftesergeugnis; aber er meint eine Wirklichkeit, die weder 
bom Geift erzeugt, noch jemals bon ibm gedanflid) durchdrungen wird.“ 
Ohne DBeifa eines Erlebnisftoffes gibt der Geift (der Berftand) unmittelbar 
nur den in jedem Begriff mwiederfehrenden Gedanfen der Ginbheit des 
bon ibm gemeinten und, da die Sebung der Ginbeit ſich wiederholt, mittelbar 


1) Berlag Georg Müller, Münden 1922. 
) Berlag Sob. Ambrofius Barth, Leipzig 1921. Preis geb. Mi. 4—. 


285 


aud den Begriff der Zahl. Ding und Ginneserlebnis ift nicht dasfelbe. 
Denn das Ginneserlebnis fließt und verändert fid in jedem Augenblid, Tann 
alfo nit die Ginheit bes Dinges begründen: „Keine Aneinanderreihung 
bon Glementen des Gindruds würde die Ginerleibeit des Dinges erwirfen, 
hätte ein erfter und einziger Blid nur nicht fdon „gegeben“ jene feiende Ging, 
in Anſehung deren alles Bergleihen (wie Unterfcheiden) allererft einen Sinn 
befommt.“ 

Der WAuffaffungsatt des Dinges gehört nicht der Welt des Gefchehens 
an, fondern bedeutet eine in der Zeitftelle erfolgende geiftige Sat. Klages jagt 
mit Nieblde: „Wir haben Einheiten nötig, um rechnen zu können: deshalb ift 
nidt anzunehmen, daß es folde Einheiten gibt. Wir haben den Begriff 
der Ginbeit entlehnt von unferem Ichbegriff ... Wenn wir nidt uns für 
Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff ,Ding* gebildet.* — Das Ich— 
gefühl aber ift lediglich das Gefühl des Borhandenfeins und des Bebarrena 
im Seitverlauf. Gs behauptet fih gegen die Widerfahrniffe der 
Semütsbewegungen und gibt uns damit das Mufter des Wirkungspermögens 
der Dinge und damit der „Urfahe“ und der „Kraft“. 

Diefe pon Klages mit beiwunderungswürdiger Schärfe gezeichneten Gee 
danfengänge entfprechen durchaus dem, was ich in meiner „Allgemeinen 
Biologie als Örundlage für MWeltanfhauung, Lebensführung und Po— 
litif“ *) in der Einleitung unter „Mechanifches und biologifches Denken“ und 
im Abfchnitt „Leben und Befeelung* bom biologifchen Standpunkte ausge» 
führt Habe. Bei dem Ietterwähnten Punkte möchte ich aber fcheiden: Das 
36, dur die Sinneswahrnehmung mittels der zentripetalen Nerven erregt, 
empfindet fid) den Dingen gegenüber als Objeft und die Dinge als „Ur«- 
fade“ der eigenen Gmpfindungen. Mittels der zentrifugalen Nerven auf bie 
Muskeln einwirtend, empfindet es fid als Subjekt, als Urfache oder diel- 
mehr als frei beftimmender Urbeber und damit als Träger einer der 
äußeren mechanifhen gegenüber final wirkenden „Kraft“, deren Ziel 
immer die Selbftbehbauptung ift. Die Denkformen der Kaufalität 
wie der Ginalitat wendet der Geift dann aud auf die Dinge unter fih am. 
Daher hat „Sinalität* nur Sinn als „Zwedhaftigfeit“ und ift nur anwendbar 
auf das Leben, in dem „Indipidualität* gugleid) Selbftzwed ift. Indie» 
pidualität, Wefenseinheit, ijt eine feelifme Wirklichkeit, nämlich der 
Wirfungsbereidh der Zwedhaftigfeit; im Unleben gibt es nur 
Dinghaftigfeit als mögliherweife porauszufebendes Ergebnis phy- 
fiider Kräfte Die Ridtung diefer Kraftwirfungen auf ein beftimmtes 
Ergebnis, etwa die Bildung eines Kriftalles aus einer verdampfenden Ldjung, 
die Abtragung eines Gebirges dur den Kreislauf des Waffers oder nod 
allgemeiner die Gntropie, ift feine Finalität, fondern nur umgefehrte, bon der 
Urſache, ftatt bon der Wirkung aus betradtete Kaufalität. Und der ich— 
bewußte Geiſt oder das Denkvermögen ift nur ein formales Mittel oder eine 
Sabigteit der Seele, um das Grlebnis mit rafcherer und genauer eingeftellter 
Gegenwirfung zu ermwidern, wie es insbefondere im Gefellfdaftsleben des 
Menſchen gegenüber dem gemadlider ji abmwidelnden Naturleben nötig 
geworden ift. : 

Durd diefe Fähigkeit ift die Seele in den Stand gefest, fich felber zu 
beobadten. Die phyſiologiſche Unterfuhung läßt feinen Zweifel, daß das 
förperlihe Organ diefer ſeeliſchen Zätigfeit das Großhirn ift, deffen Nerven- 


3) Berlag I. 5. Lehmann, Münden 1919. Preis ME. 4.50. 
286 


verbindungen mit ben übrigen Hirnteilen deren Zuftand, feelifch gedeutet, 
gum Demwußtfein bringen, wie Die Sinnesnerven den YZuftand der durd die 
Borgänge ber Außenwelt beeindrudten Sinnesorgane. Wie die Borgange 
in den Ginnegorganen nidt als Molefularbewegungen aufgefaßt erden, 
fondern in der feelifhen Form der Farben, Töne, Geriide ufw., fo gefchieht 
es auch mit den zum Bemwußtfein fommenden Borgängen im Gebirn, woe 
bei wir fie als Begriffe und Urteile, Gefühle und Wollungen unterjcheiden. 

Suridfebrend zu Klages bemerfe id, daß ich bei ibm die Betonung 
der Ginalitat in dem bier gedachten Sinne bei der Seelentätigleit permiffe. 
Wenn Klages die Seele den Ginn Des Lebens nennt, fo ift das dasjelbe, 
was id als den Lebensplan bes Naturwefens bezeichne. Aud ich 
febe den ichbewußten Geift nur als einen an fic leeren Spiegel an. 
Klages jagt in einer Anmerkung zu feinem „Rosmogonifhen Gros“: „Man 
verfolge die Geſchichte des Geiftes und insbefondere der Wiffenfhaft durch 
alle Zeiten und Bölfer; oder man denfe aud nur ein Problem zu Gnde, fo 
wie es uns die fpätefte Wiffenfchaft, diejenige bon Heute, darlegt: etwa, was 
ift der Stoff, was die Kraft, was die Außenwelt, was die Seele ujiw., und 
man endet zulegt unweigerlich beim abfoluten Nichts. Alle Richtungen des 
Srfenntnistriebes fonbergieren auf das Nidts, das ift auf die Projektion 
des aktiven Nichts, des Beiftes.“ — Die Seele aber lebt und fie ere 
ſcheint in der Wirklichkeit der fid wandelnden Bilder, die wir als ihren 
einzigen Inhalt an ung felber wahrnehmen. Wenn Klages aber beifpiels- 
weife fagt: „Sarbe, Wärme, Raumeigenfdaften ufw. taugen nur deshalb 
zur Befdreibung befeelter Perſönlichkeiten, weil fie felber befeelt 
find“, fo fdeint mir diefe Ausdrudsweife weniger treffend, als wenn wir 
etwa fagen: „weil fie Wefenszüge der Seele find“. 

Der bewußte Zeil bes Geelenlebens, der als ,,Bernunft* oder „Beilt“ 
bezeichnet zu werden pflegt, bedeutet die bom Menſchen im Rulturleben 
erworbene Fähigkeit, bie Bilder des Grlebens, die den Inhalt der Seele ause 
machen, mit Merkzeihen (dem gefprochenen oder gefhriebenen Wort) gu ver 
feben, die als „Begriffe“ gemeinfam-wefentlide Züge verfchiedener Bilder 
bedeuten, ohne daß die Begriffe felber als DBilder er- 
[meinen und eigenes Leben gewinnen, mie bas die Ideen» 
Iehre Platos fälfhlih annimmt. Die Begriffe werden im „mechanifhen 
(logifhen) Denfen“ in den eingewöhnten Beziehungen angewandt, ohne daß 
fie dabei irgendweldhen anfdauliden Inhalt hätten. Diefen erhalten fie 
erft, wenn man im „Denken“ eine Baufe madt und Bilder der Seele gue 
tiidruft, die zu ihrer „Ableitung“ im eigenen Erleben den Anlaß gaben. 
Dazu Hat man aber im gewöhnlichen Leben feine Beit. Der Philoſoph, oder 
wer ihm folgt, muß fie fid nehmen, fonft madt oder hört er aud nur 
Worte. Die Vertiefung des Denfens befteht darin, daß die Geele Die 
Bilder raſch und vollftändig auffaßt, fider fefthalt und leicht wieder vere 
gegenmwärtigt. 

Auf den Fortgang des Lebens kommend, fagt Klages: „Wenn 
weder das Gigenwefen erhalten bleibt, nod) aud ber Stoff, aus dem es 
befteht, was ift es denn eigentlich, das durch Abertaufend bon Geſchlechtern 
ununterbroden bindurhreiht? — Die einzig möglide Antwort lautet: ein 
Bild! Das Bild der Eiche, das Bed Der Föhre, das Bild des Fiſches, das 
Bild des Hundes, das Bild des Menſchen fehrt in jedem einzelnen Trager der 
©attung wieder.“ — Das ift dasfelbe, was ih den „Qebensplan der 
®attung genannt habe, Der bor und über feiner indipiduellen 


287 


Berwirklichung ftebt. „Sortpflanzung“, fagt Klages, „heißt der phyfi- 
Talifch ewig unzugängliche Borgang der Weitergabe der Urbilder der Gattung 
bon Ort zu Ort und bon Zeit gu Zeit. Niht die Materie lebt, fone 
dern das im Kreislauf des Geſchehens von Körper zu 
Körper wandernde Bild“ 

Damit fommen wir auf die binlogifme Auffaffung der Seele, 
über die wir nun einen Gadbivlogen zu Rate ziehen wollen. In feinem Buche 
bom „Begriff der organifmen Form), das er als eine furge, 
möglihft einbeitlide Darlegung feiner Gefamtanfidt bon, der ,organifden 
Gorm bezeichnet, ftellt Profeffor Hans Driefd, ausgehend von einer 
Iogifhen Grirterung des Begriffs der Gorm überhaupt, den Sag auf, daß, 
wenn aud) der Organismus als „ein Shftem materieller Lebtteile (Atome)* 
aufgufaffen ift, „oon denen jeder einzelne in jedem Zeitpunkt eine durch drei 
Raumesfoordinaten beftimmte Lage einnimmt“, er dod nicht als „mechaniſches“ 
Spftem gefaßt werden fonne. Denn er unterläßt es, mit ausdrüdlich be- 
tonter Abficht, die Worte hinzuzufügen: „und in welchem Die Aenderung 
(Bewegung) jedes Lebtteils, abgefehen bon der Geſchwindigkeit in jedem Zeit- 
puntt, Iediglid bon den Raumeskoordinaten der übrigen Legiteile abhängt“. 
Sn dem Beweis für die Wirkfamfeit eines nidtmedanifden Faktors vermeidet 
er jede pſychologiſche Ausdrudsweife. Gr jagt, daß „die Teile der organifhen 
Gorm Funftionspermögen befigen“, aber nicht, daß fie „da feien für Die 
Sunftionen“, und ftellt feft, daß alle „Angepaßtbeiten“ im Wege ber reinen 
Embryologie entftanden find, unbefimmert um das Medium. Die Bore 
gänge, die zu ihnen führten, feien alfo nicht „Anpafjungs“-DBorgänge: „Die 
organifhe Form als dynamiſche Gorm inmitten des abfoluten und rela 
tiben Mediums ift eine Gorm mit, fowohl der Gonderausgeftaltung als aud 
den Gunftionen nad, gangbeitserbaltendDen Bermögen.“ Aber 
mehr als das, muß nad Driefh aud ein Vermögen, neue Gangbeiten zu 
bilden, bon vornherein Dem Leben gugefproden werden: Sede organifde 
Gorm innerhalb der phbhHlogenetifhen Kontinuität „trägt in fid gleidjam 
eine Anweifung auf alle diejenigen mutatid anders geftalteten Gormen in 
der Kette der Nachkommenſchaft, welde einmal im Laufe der PhHlogenefe 
als echte Mutationen entftehen werden.“ 

Sd fann Driefh in diefer Auffaffung nidt gang folgen. Wenn fdor 
die tatfählihen Wandlungen in der Gefdidte des Lebens auf der Erde 
Dafür fpredhen, daß die Fähigkeit fpäterer Wandlung im voraus beftimmt, 
alfo aud befchränft ift, fo bleibt doch für die Anwendung diefer Fähigkeit 
zur Gntjtehung einer neuen Gorm die Möglichkeit der Wahl zwifchen ver» 
ſchiedenen Fähigkeiten, wie aud die Möglichkeit, fie nicht anzuwenden, wie 
denn viele organifhe Formen durd lange Zeiträume fic) unverändert ere 
balten haben, wenn bie Umwelt, oder, mit Driefd gu reden, das „Medium“ 
feine der Erhaltung ungünftige Wandlungen aufwies, während andere, mit ihnen 
aufammenlebende Formen fid nah verfhiedenen Ridtungen abwan- 
delten. Hier bleibt alfo Spielraum für die „Freiheit“ und damit für Die 
pſychiſtiſche Auffaffung des Organismus, der aud nad Driefd ,,Gigen- 
fbaften im Sinne bon Vermögen und Potengen Hat, weldhe nicht Reful- 
tanten.... ber Gigenfdaften der Relativteile find.“ Driefd leitet diefe 
Gigenfdaften aug einem unraumbaften Faktor ab, der den zureichenden Grund 
für die Gntwidlung abgibt, und nennt ibn ,Gnteledie*. Gr nennt ihn 


4) Berlag Gebr. Borntrager, Berlin 1919. We 3.—. 
288 


nicht. „Seele“, weil er diefen Begriff für die „Eonftitutiv-logifche Erfaſſung 
bon Natur“ ablehnt. Deshalb vermeidet er aud) das Wort „zwedmäßig“ 
für gangbeitsbegogene Zeile oder Yuftände und „zielftrebig* (teleologijch) 
für gangbeitsbegogene Vorgänge. 

Da aber Driejd die Einheit des Gefamtlebens anerfennt, müßte er 
folgerichtig das ganze Geelenleben des Menſchen als Auswirkung der „Ente— 
lehie* annehmen. Dann ware freilich nicht eingufeben, warum er nicht ein- 
fad ftatt Entelechie „Seele“ fagt, da er doch die Gntelechie als dag Wirf- 
lide anerfennt, „das fid an materieller Ausprägung der Perfonen, welche 
poneinander abftammen, realifiert“, wenn es nidt etwa der Widerfprud 
gegen die berrfchende Auffafjung bon „Seele“ als individuell gefonderter 
unmaterieller Gubftang ift. Dazu fehlt aber der Anlaß, wenn wir 
erfannt haben, daß das Bewußtwerden der auf die eigene Ganzheit 
gerichteten Sielftrebigfeit der eigenen Seele an deren Wefenheit nichts ändert. 
Und wenn nad Drieſch „Das fidtbar Geformte mit allen feinen Sonder- 
potengen“, alfo aud) den individuell feelifchen, „nur das vergänglide Wire 
tungsproduft der Gnteledie als der eigentliden Subftanz in die Wirklid- 
feit hinein“ ift, fo ift die Gingelfeele nur die inbividualifierte Enteledie, die 
für das eigen? Leben in gleihem Sinne richtunggebend für die phyſiſchen 
Kräfte felbftändig weiter wirft. Gnteledhie wäre alfo „Urſeele“ oder 
„Allfeele*. 

Gs ift das Wefen des Geelifchen, Individualität (Wefenseinheit oder 
Gangbeit) zu geftalten, wie im Gefamtleben der Natur, fo aud) im ein- 
zelnen Menfchen, mag es fih nun um geiftiges Schaffen handeln, bon der 
Bildung der Begriffe an bis zur Kunft und Wiffenfchaft, oder um Körper- 
liches bei der Geftaltung der einfadften Gerdte wie der gufammengefesteften 
Mafdinen. Aber es ift der Grundfebler der Piychologie, deswegen „Seele“ 
als unförperlihes Ginzelweſen aufzufafjen. Alle großen Gorfder, Gre 
finder oder Künftler find fic) bewußt, die Ideen ihrer Werke nicht aus fich 
gefdaffen, fondern in fid gefunden zu haben. — Wenn wir aber mit 
Klages die idbewufte Bernunft nur als ein mechaniſches Hilfsmittel des 
Geelenlebens betrachten und dies nad den Grgebniffen der Bererbungsfor- 
{hung als brudjtiidweife bon den Borfabren überfommen erkennen, unbee 
fbadet der „Ganzheit“, zu der fie fi im Ginzelwefen vereinigen, fo ift 
im ®runde nit mehr die Bndividualfeele, fondern die 
Gattungsfeele und das überindipviduelle Geelenleben 
iberbaupt der eigentlide Segenftand der Pſychologie, die 
Damit iberibre formale Natur binausfommt und zur bio— 
logiſchen Forſchung wird. 

Denn die allen biologiſchen Tatſachen widerſprechende, aber gleichwohl 
vorherrſchende Auffaſſung iſt nicht mehr haltbar, daß die Individualſeele als 
für ſich beſtehende ſeeliſche Weſenheit mittels des Nervenſyſtems die körper— 
lichen Verrichtungen zu leiten habe. Dieſe werden vielmehr durch die 
gattungsmäßig organiſierte Zuſammenarbeit aller Zellen ſeeliſch beſtimmt. Die 
harmoniſche und zweckhafte Zuſammenarbeit iſt da, auch wenn es bei den 
Organismen, Pflanzen und niederen Tieren, noch keine Nerven gibt. Dieſe 
ermöglichen nur, wo ſie auftreten, eine beſchleunigte Reizübertragung, ſozu— 
ſagen „Verſtändigung“ unter den Zellen, ſo daß in den vermittelnden Hirn— 
zellen raſcher zum Ausdruck kommt, was das einzelne Erlebnis dem Ge— 
ſamtweſen bedeutet. Wenn mit dem Großhirn das Bewußtſein erwacht iſt, 
wird dadurch der Individualſeele ermöglicht, in den Vorgang der Gegenwir— 


289 


fung zügelnd einzugreifen. Deſſen feeliiher Antrieb liegt im Urgrund 
bes unbewußten, durch die Generationen zufammenhängenden Seelenlebens. — 
So ift aud das Gebirn nit der Sit der Seele, fondern nur ein Organ 
des Körpers, mittels dDeffen die Sattungsfeele indipiduali- 
fierte Reaktionen berpvorbringt. 

Das Geelenleben der Tiere als Borftufe des menjchlihen gewinnt mit 
diefer Grfenntnis eine befondere Bedeutung, weil bei den Sieren das indi- 
biduelle Seelenleben noch mehr als beim Menſchen gattungsmäßig beftimmt 
if. Damit ift nicht gejagt, daß fie weniger befeelt wären. Alle Lebeweſen 
find vielmehr in gleihdem Maße befeelt, das heißt für die befondere 
Stelle, die fie im Gefamtleben ausfüllen, pvollflommen organifiert. — 
Wenn neuerdings Prof. Dr. Baftian Schmid in den „Abhandlungen 
zur tbeoretifhen Biologie“ bon den „Aufgaben der Tierpſhcho— 
Iogie“ redet°), fo fucdt er fie allerdings Teineswegs in diefer Richtung. Er 
tadelt vielmehr in der heutigen Pſychologie, daß fie ein „feelifches Subftrat“ 
ablehnt. Trotz grundfäglicher Anerkennung „pfuhifcher Realitäten“ im Tier, 
verwirft er Dod den Anthropomorphismus als unwiffenfchaftlihe Voreinge— 
nommenbeit und redet von dem „Zurüdtreten des Pſychiſchen in abfteigender 
Linie bis herunter zu den Protogoen“. Das ift nur folgerichtig, wenn er 
„Seele“ nur als Sndividualfeele fennt und der Des Menfden eine befondere 
Stellung vorbehält. Diefe Hat er allerdings dur die Ausbildung feiner 
Laut» und Scriftfprahe gewonnen, die der Weberlieferung für fein 
Leben und feine geiftige Gntwidlung neben der Bererbung eine erhöhte Bee 
Deutung verleiht; aus der Naturgefeglidfeit bes Gefamtlebens ift er aber damit 
nidt herausgehoben. Wer die Ginheit bes Gefamilebens anerfennt, muß 
das Geelenleben der Tiere, aus dem fid Doch das menfdlide herausgebildet 
bat, grundfägßli als gleidartig annehmen. Aud der Menfh verſtändigt 
fih übrigens mit feinesgleiden nidt nur durd die Sprade und fann in 
einfadhen Gallen aud) ohne fie ausfommen. Mit der menfdliden Sprade 
als dem Ausdrud ,,begriffliden Denkens“ laffen fid im der Seele anderer 
bedeutungspolle Züge der „Bilder“ herporrufen, die den Inhalt der eigenen 
Seele. darjtellen, aber nur indirekt die daran fid) fnüpfenden Gefühle und 
Wollungen, die erft der Berbildlidung bedürfen, um überhaupt ausgedrüdt 
werden zu fdnnen. Die Biere verftändigen fid darüber in viel einfaderer 
Weiſe durh Beachtung der fSrperliden Begleite und Folgeerfheinungen 
der feelifchen Zuftände, in den „Ausdrudsbewegungen“ bei den „Augen- 
tieren“, in den chemifhen Wmfegungen bei den „Nafentieren“. Der Kultur- 
menfd hat die Fähigkeit zu diefer Art der DVerftändigung durch einfeitige 
Bevorzugung der Sprade immer mehr verloren und damit an Lebensfabig- 
feit ebenfopiel eingebüßt, wie er auf der anderen Seite Durch Die Sprade ge- 
iwennen bat, die eine notwendige Anpaffung an das Gefelljdaftsleben ift: 
Dei allen Lebewefen geben ihre Fähigkeiten nit über 
die Notwendigfeiten ihrer Erhaltung hinaus. Das verlangt 
das urfeelifch bedingte „biologifhe Sleihgewiht“ des Gefamtlebens. 

Hermann Suftad Holle. 


5) Berlag Gebr. Borntrager, Berlin 1921. ME. 1.50. 
290 


Heinrich Sohnreh als Srgabler. 


1. 
urd) die ganze deutſche Kunft zieht fid ein eigentümlih „volkskundliches“ 
Ontereffe, eine Freude an der Darftellung des in beftimmten Sitten und 

Brauden Hinlebenden Menfdhen. Gs ift ein Zug zum „Ständifhen“. Die 
Bejdreibungen des ftändifhen Bolfslebens find bei ung, die wir uns ja feit 
Alters das „Deutfche“, d. 5. pollsmäßige Volk nennen, ungeheuer reid. Diefe 
Dorliebe für das im Riehlſchen Sinne „Soziale“ ift mit dem Grwaden des 
Realismus in der bildenden Kunft vorhanden: man findet es auf den Bild- 
tafeln der jpätgotifchen Schnitaltäre, bei dem Hausbudmeifter, bei Dürer, 
Hans DBaldung, {pater bei den Niederländern. Ghenfo fteden die alten Lane 
derbejchreibungen, Chroniken, Abhandlungen aller Art voller „Volkskunde“. 
Aud der deutſche Noman wmeift gleich bei feiner Entftehung diefen Zug auf: 
Grimmelshaufens Simplizifjimus wirft faft wie eine große DBolfsdarftellung. 
Diefes Bolfs- und Grönahe, das fid mit Worten nicht ausdrüden läßt, ift 
wie der Gerud alter, durch Generationen bewohnter Stuben, es gibt der deut- 
[hen Literatur weithin einen eigentiimliden Charafter. 

Nidt mit dem Humanismus, aber mit der Aufflärung, mit dem Grane 
gofentum und ©riechentum tritt jener Charakter zurüd, doch dringt er bon 
Zeit zu Beit immer wieder bor. Die Sphäre diefes „volfhaften“ Gerudes in 
unfrer Literatur aufzuzeigen, wäre eine ſchöne Aufgabe, die freilich eine feine 
Witterung für das Golfedte, insbefondere auch für Stammescharaftere er— 
fordert. 

Die fonferdativ-fogialen „volkhaften“ Kräfte offenbaren fid auch in jener 
„Richtung“ unfrer zeitgenöffifchen Literatur, die man als „Heimatkunft“ (Adolf 
Bartels) zu bezeichnen pflegt. Sie ift fogial nicht im Sinne des Sozialismus, 
fondern in einem tieferen Sinne: fie geht auf die gewachfenen Lebensgemein- 
ſchaften der Sippe, des Standes, des Stammes. Gs ftedt in diefer Literatur 
eine fogiale Grfenntnis, die der wiffenfdaftliden Mationaldfonomie zu ihrem 
und des Bolfes Schaden meift fremd geblieben ift. 

Bei feinem ift dieſe Berbindung bon Didtung, Bolfstum, Bolfsfunde 
und fogialer Teilnahme (Luther driidt eine folde Teilnahme mit den Worten 
aus: „es jammerte ihn des Volkes“) inniger als bei Heinrich Sohnrey. Er 
ift Das, was wir einen „Bollsmann“ zu nennen pflegen: jelbft aus dem ,,Bolfe* 
fommend arbeitete er in unermüdlidher Tätigkeit bis bor wenigen Jahren für 
den DBauernftand, nod fpridt und erzählt er für die Bauern und bon den 
Bauern. Seine Gefdidten find Schatzkammern der Bolfsfunde, und die 
Kunft feiner Erzählung felbft ift in ihren Mitteln fo urecht ſchlicht und eine 
dringlid, fo zart und wieder fo maffid, wie fie eben nur bei einem Dichter 
fein fann, der felbft, troß feiner „Indipidualität“, noch unerſchöpfte Volkhaf— 
tigfeit in fi hat. Schon der Menſch Sohnrey in feiner Grfdeinung ift ein 
Stüd Volksnatur. Seine gelehrte ftädtifhe Bildung bat die Arwüchjigfeit 
und Unbefangenbeit feiner Natur nicht gebrochen. In feiner Geſellſchaft er» 
gebt es uns, wie es unter echten Bauern und Handwerkern zu gehn pflegt: man 
wird warm, das Herz geht einem auf. Mit ihm fann man nod „ein Herz 
und eine Seele“ fein. Gr hat nod die alte Kraft der Gemeinfdaft. 


2 


Heinrich Sohnrey wurde am 19. Suni 1859 als Sonntagsfind in IJühnde 
bei ©öttingen, alfo im füdlichen Zeile Niederjachfens, geboren. Gr wuchs „in 


291 


Heinen DBerbältniffen* auf und mußte bon Kindheit an Feldarbeit tun. 
Dem Paftor fiel er durch feine große Bibelfenntnis auf. (Sonft war er fein 
Licht der Schule, nur die Gefdidten der Bibel Hatten es feiner Phantafie 
angetan.) Auf des Paftors Veranlaſſung fam er nad der Ginfegnung in 
eine PBräparandenanjtalt (Ahlden an der Aller). Als Giebgehnjabriger ging 
er ins Lehrerjeminar zu Hannover. Was eigentlich zum Lehrer-werden gee 
bört, intereffierte ihn nicht, wie ibm denn auch fpäter das Lehramt eine leis 
dige aft war. Aber ſchon als geplagter, ſchlecht behandelter Seminarift 
ſchrieb er Gedichte und Erzählungen. Bon 1879 bis 1885 war er Lehrer in 
Nienhagen im Kreije Northeim. Dort fammelte er Sagen und Bolfslieder 
und ſchrieb feinen erften Roman: „Hütte und Schloß.“ Dann nahm er einen 
zweijährigen Urlaub und ftudierte in Göttingen Philoſophie und Geſchichte. 
In Gottingen vollendete er fein 1886 erfdienenes „Sriedefindhen“. Auf Wunſch 
feiner Mutter verſuchte er es nochmals mit dem Lehramt, und gwar in einem 
entlegenen Dorfe im Kreife Gronau, bis 1888, Da fdrieb er wiederum einen 
Dorfroman: „Verſchworen — verloren“ (jet lautet der Titel: „Bhilipp Du- 
benfropps Heimkehr“). Endlich befreite er fi bom Amt und wagte es, mit 
Grau und Kindern als freier Schriftfteller zu leben, in Northeim. Bon 1890 
bis 1894 war er Redakteur an der „Freiburger Yeitung“ in Freiburg im 
Dreisgau. Bon dort aus gründete er die Heute nod bejtehende Zeitjchrift 
„Das Land“, die zuerft im Januar 1893 in Berlin berausfam. Bald fie- 
delte er felbjt nach Berlin über und begann bier feine befannte foziale und 
kulturelle Arbeit, die unendlich viel Segen ins Land gebradt hat. Wie man- 
den Gedanken, der heute weithin Gemeingut geworden ift, hat er durchge- 
fampft! Minifterialdireftor Dr. Thiel förderte feine Beftrebungen. Wan 
gründete 1903 den befannten „Deutſchen Berein für landlidhe Wohlfahrts- 
und Heimatpflege*. Neben diefer Wohlfahrts- und Kulturarbeit hat Sohn- 
teh immer aud) Gefdidten gejärieben, wenngleich viele literarijhe Pläne 
unausgeführt bleiben mußten. 


3. 


In dem Eritlingswerf „Hütte und Schloß“ überfteigt das Wollen nod 
Das Können. Die Anlage ift groß: das joziale Gemälde der Oefonomifierung 
und $Proletarijierung eines Dorfes. Scharf ijt Licht und Schatten verteilt, 
{arf wie in Reuters „Kein Hüfung“. Aber die Gefchichte endet, obwohl fie 
bis in die heftigſte Dramatik gefteigert wird, verjöhnlid: der Wohlfahrts- 
und Heimatsgedanfe findet in einer grafliden Familie Boden, fie arbeitet 
der Proletarijierung, Die bei den „Eleinen Leuten“ mit der Aufhebung der 
dörfliden Semeinbheitsredte einjegte, entgegen und erhält den Bedrangten 
SHeimat und Lebensfreude. Um der fogialen Grfenntnis willen ift diefe Gee 
{bidte nod immer lejenswert. Darum ift es gut, daß Sohnrey das Werk 
{pater, ohne es in der Anlage gu verändern, überarbeitet bat, bejonders 
ſprachlich. 

Mit „Friedeſinchens Lebenslauf“ erreicht Gobhnreh ſogleich einen Höhe— 
punft feines Schaffens. Inhaltlich ift die Erzählung von Friedeſinchens Sue 
gend eine Art Vorgeſchichte zu „Hütte und Schloß“, aber fie ift dod ein in 
fih gefchlojfenes Meifterwerf. So oft id das „FZriedefinhen“ gelejen Habe, 
es ijt mir immer lieber geworden. Diefes arme Dorfmädchen und Dienft- 
mädchen, das bei aller Weichheit fo lebensftark ift, gehört zu den rührendften 
Geftalten, die überhaupt gefdaffen wurden. Wie ein Menſch diefes Bud 
aufnimmt, das ijt geradezu eine Herzensprobe. Obne „Kunft“ ift bier ein 


292 


Kunftwerf rein aus dem armen, Dergliden ®emüt Sohnreys entjtanden, 
das dauern wird. Die arme, leidende Kreatur, die doch fo voll gefaßter, 
ftiller Tapferkeit ijt, ftebt in einer Lebensjelbftverftändlichkeit vor uns, daß man 
fie atmen bört und den fonntagliden Duft ihres Weſens ſpürt. Das ift 
mehr als Kunft, es ift Liebe und Ehrfurcht. 

Mit „Philipp Oubentropps Heimkehr“ verläßt Sohnreh feine engfte Hei— 
mat und erzählt ung -eine Dorfgefdhidte aus dem MWeferberglande. Das 
Golfstundlide tritt hier fehr ftarf hervor: Pfingftbier und Spinnftube. Gin 
tüchtiger, ſchlichter Burſche findet einen Rivalen an einem bösartigen, aber 
überlegenen Kameraden und gerät jchließlich unter deffen Einfluß. Gr wird in 
eine Mordgeſchichte verwidelt und fommt um des dbermeintliden Freundes 
willen ins Zuchthaus. Die Gefdidte ſchließt verſöhnlich mit der „Heimkehr“. 

©emaltiger ift „Der DBruderbof“, der zweite Höhepunkt in Sohnreys 
Schaffen. Zwei Brüder ringen nach des Gaters Tode um den armjeligen Hof, 
auf Bauernweije mit Bauernleidenfdaft. Der ältere ift wie eine ftruppige 
SHainbude, der jüngere wie eine glatte Rotbuche. Der „weltjinnige“ Zün- 
gere gewinnt dem innerlich ftarf gebemmten Qelteren Hof und Braut ab. 
Der Betrogene verfommt, aber der Betrüger fümmert aud im Elend Hin. 
Die Tragif ijt bis auf die duferfte, erbarmungslofe Spike getrieben. Das 
Werk ift wie ein alter ftrenger Holgfdnitt, der mit wenigen einfaden Linien 
auf engem Raume eine Welt darftellt. Gs gibt nur wenige Bauernromane 
bon folder Schtheit, man riecht hier geradezu das Bauerntum. 

Im Sabre 1911 gab Sohnrey heraus: ,,Grete Lenz, ein Berliner Mädchen. 
Erlebniſſe, bon ihr felbft erzählt.“ Gine ländliche, heruntergefommene Ga- 
milie zieht nach Berlin; der Gater, ein Srinfer, verfommt. Die lebenszähe, 
tapfere Tochter ringt fic aus aller Trübfal und durch den häßlichſten Sumpf 
ftarE und fauber empor. Der Lefer ift nicht fider, wieviel Anteil Sohnrey, 
wieviel die Grgablerin felbft — „ich verfichere, daß bier nur wirklide Lebens- 
gefhichte erzählt wurde“ — an dem Werfe bat. Hier und da empfindet 
man Längen. Nimmt man das Werk bon der fogialen und volkspſychologiſchen 
Seite, fo wird man biel daraus lernen. 

Dagegen ift der lebte Roman „Pie Lebendigen und die Toten“ (1913) 
ein fehr bewußt aufgebautes Kunftwerf. Gobnreh ftellt fchärffte Gegenſätze 
gegeneinander: Wiffenfdaft und Proteftantismus bier, volfSmafigenaiver 
Katholizismus dort, Deutfchtum bier, Polentum dort, innere Freiheit bier, 
dumpfe abergläubifche Befangenbeit dort. Beide Welten ringen miteinander: 
die düftere, tiefe, urwüchfige mit der Hellen, aber gerade durch ihre Bewuft- 
beit ebenfalls befdrantten. Gin quälendes Hin und Her, das tragifch endet. 
Die Gefdidte fpielt an der Oftfee, wo Deutſche und Polen nebeneinander 
wohnen. Außer feinen, bewußten Meeres- und Strandftimmungen enthält 
fie febr viel Golfsfundlidhes, und gwar aus einer ganz primitiven Schicht. 

BOwifden den größeren Werfen hat Sobnreh viele Skizzen und Heine Gee 
ſchichten gefchrieben, fie erfhtenen in einigen Bänden unter wiederholt veränder- 
ten Siteln (jiehe die Notiz am Schluß). Sie find febr verfdieden an Wert. Gee 
legenheitsarbeiten, die in 3ufammenbang mit Sohnreys Kulturarbeit ftehn, 
wechjeln mit vortrefflichen Erzählungen. (Aus der Sammlung „Die hinter den 
Bergen“ heben wir folgende Stüde hervor: „Als die Oroßmutter fterben 
wollte“, „Die Tränen der jungen Bauerswittwe“, „Wie die Dreieichenleute um 
ihren Hof famen“.) Gs wäre zu wünfchen, daß die bedeutendften Stüde ein- 
mal gefammelt in einem Bande zufammengefaßt würden. 

Bon den volfstundliden Berdffentlidungen Sohnreys müffen die 1923 


293 


erfchienenen „Sollinger* aud als erzählendes Werk gewürdigt werden. 
Sohnrey hat bon feinen Lebrerjabren ber den Golling geliebt (auch feine 
Grau holte er dorther). Aus dem durd) Iahrzehnte gefammelten Stoff bat 
er als erjten Band diefe „Bolksbilder aus dem Gollinger Walde“ (fo lautet 
der Untertitel) geftaltet. Gs ift eine leider verfinfende Welt. In furgen Gee 
fbidten wird der Lebens- und Sabhreslauf mit feinen Geierlidfeiten darge— 
ftellt, dann folgen Bräuche, Sharaktergeftalten, örtliche Scherze, zum Schluß 
Spridmwörter und Redensarten. Sobhnreh gibt nidt eine troden aufreihende 
» Bolfstunde“, er gibt mit dem Stoff zugleich die Seele. Gs find prächtige 
Skizzen in dem Bude. 


4 


Das Befondere der Sohnreyſchen Kunft hat Hans von Lüpfe in feinen 
Ausführungen „über den inneren Zufammenbang des Dichters und des Re- 
formators Sohnrey“ unübertrefflich gefenngeidnet. (In dem bon Küd her— 
ausgegebenen Geburtstagsbud „Heinrih Sohnrey“. Bor allem Seite 54 ff.) 
Sohnrey erzählt „jo einfah und objektiv, als erzähle das Volk felbft 
fein Dafein und als erzähle es das wider fic felbft“. Gr „erlebt dieſes 
Leben für die, die es leben, d. h. gang in deren eigener Sphäre, er geftaltet 
es, ohne fie durch einen frembartigen Ton zu ftören. Gs fdaut fein Zug 
aus dem Bilde heraus, fein Blid nad dem SIntereffe des Gebildeten hin.“ 
Geftalten und Greignijje find echt, ohne Sentimentalität, Herb, ja graufam, 
und Doch wieder voll Zartheit. Wie Eommt es, daß aud) der Gebildete durch 
diefe Erzählungen gefeffelt wird? Daß er fich nicht Heruntergegogen fühlt? 
Das madt weniger die bewußt geftaltende „Kunſt“ — jedes WAefthetentum 
liegt Sohnrey weltenfern — als vielmehr die Liebe, in der er mit feiner 
DBauernwelt verbunden ift. Gs ,fommt aus dem Herzen“ und darum rührt 
es ans Herz. 

Die Romane haben alle einen bdramatifhen Bug. Aud das ift edt 
bauerlid. Starke Kontrafte, Zufpigung auf einen großen Zufammenftoß bin 
liebt das Bolf. (Man denfe an die alten Heldenlieder.) Im „Bruderhbof“ 
bäuft Sohnrey ſchließlich Greignis auf Greignis, es „kommt alles zufanı- 
men,“ als ob es ihm nicht kraß genug werden fünnte — Nerven fennt der 
Bauer nicht, je grufeliger, defto beffer. Der Gott der Bauern ift der 
wunderbare Helfer, aber er ift auch ein graufamer, radender Gott. Wo eine 
faule Stelle ift, fegt er den Teufel gum Bernidtungswerfe an. Wehe dem, 
der fein lauteres, feftes Herz bat! Gr muß Dinab. Und wenn der Satan 
ihn aud erft in der Todesftunde ereilt, er padt ihn, daß der Stamm fradt 
und fplittert. Aber ein Friedeſinchen behält den Sieg. St. 


* 


Romane: Hütte und Schloß. 4 Mk. Friedeſinchens Lebenslauf 4 ME. Phi— 
lipp Dubenfropps Heimkehr. 2 WE. Der Bruderhof. Halbleinen 4, Gangleinen 6, 
Halbleder 9 ME. Grete Lenz. 4 ME. Die Lebendigen und die Toten. 4 Mt. Ge = 
fammelte Grzgablungen: Fürs Herzbluten. 2 ME. Die binter den Beer 
350 Mi Bolfsfundlides: Die Sollinger. Halbleinen 5 ME Gangl. 7 Mt. 
— Zu des Didters fünfzigften Geburtstag erfdien, von Prof. Dr. Küd beraus- 
gegeben: ,Heinrid) Sohnrey“. 1909. Kart. 1 ME. Darin zwei Bilder Sohnreys und 
eine AR { Auffäße über den Mann und fein Werf Dem Auffakh Küds haben 
wir die Angaben über Sohnreys Leben entnommen. Alles im Berlag der Deutiden 
Landbudbandlung in Berlin. 


294 





Grlejenes 


Aus Heinrid) Sohnrehs Schriften.* 
Gott und die Bolter. 


ie Gaaten verdurften in fengender Slut, 
Die Aeder liegen zerjpalten, 

Und weite Länder ſchwimmen in Blut, — 
Wo bleibt da das göttlihe Walten? 

Sie pred’gen, es wäre des Himmels Born, 
Der über die Erde gefommen, 
Der Baume und Gaaten ließe verdorrn 
And der uns das Liebjte genommen. 

D beiliger Himmel, o Herre Gott, 
Was finnt id mit allen Qualen, 
Mit Sranenbaden, mit Bergen Not 
Gir eine Schuld dir bezahlen? 

Bift du noch Jehova, der rotes Blut 
Gordert zur heiligen Sühne, 
Dem unſer Liebftes als Opfergut 
On Iodernden Slammen diene? — 

Ih wandle ftill durd) das Aebhrenfeld, 
Die Seele poll Kummer und Klagen. 
Die Sonne wirft Garben Gold in die Welt, 
Und zur Grnte rüften die Wagen. 

Auflöfen ſich alle Schatten der Nacht, 
Ich höre die Lerche wieder, 
Und Gottes Stimme ergreift mid mit Macht 
Im Jubel der Lerchenlieder: 

Ihr tdridten Menfchlein im Grdental, 
Ihr werdet mich nimmer begreifen; 
Ihr fetid meine Saat und müßt allzumal 
In Glut und Blut erft reifen. 

Kommt in die Stille der Heimatflur, 
Hier findet ihr leife mich wieder: 
Alleins ift Gott und Menfdh und Natur, 
Alleing wie Haupt und lieder. 

Der Lerche gab ich den perlenden Ton, 
Dem Felde die Kraft und die Farben; 
Gab nichts zur Strafe und nidts gum Lohn, 
Kein Gattfein und fein Darben. 

Ih gab euch alles in eure Hand, 
Das Glücklichſein und das Leiden, 
Und gab euh Herz und Sinn und Perftand, 
Im Glücke euch zu befdeiden. 


* Das Sedidt ift den Sungdeutfhen Stimmen oom 21. Febr. 1919 entnommen. 


ne Biider find im Verla 


&ienen. 


g der Deutſchen Landbuhhandlung in Berlin er- 


295 


Und wies euch des Lebens ewigen Grund: 
Mir nah fein im Denken und Lieben — 
Ad, auf dem weiten Grdenrund 
Seid immer ihr fern mir geblieben! 

Ihr madtet die Erde zum Krämerftüd, 
Nun ift fie vom Blute gerötet, 
Eine ganze Welt voll Glauben und Glück 
Geſchändet und getötet. 

Sd bin fein alter, fein neuer @ott, 
Od bin der ewige Gine 
And Harr’ auf eud) trog Schand’ und Spott, 
Go fern ih euh aud foeine! 


Wie Friedefinden in die Welt fam. 
(Aus „Sriedefindens Lebenslauf*.) 


8 ift gerade in der Slachsrupfezeit geweſen und genau dreizehn Sabre nad 
der Schlacht bei Waterloo, die unjfer Bater mitgemacht hatte, als mid die 
Bademutter oon Hilgenthal aus dem Brudborn holte und in das liebe Haus- 
den auf dem Lindenberge brachte, auf dem die alte Linde noch immer fo prade 
tig raufdt. 

Wie ein Kiidlein unter der Gluce fteht das teure alte Häuschen mit dem 
trauten Baume und wird darum gemeinhin nur die Lindenhütte genannt. Gines 
ohne das andere fann ich mir nicht denken, gerade wie ich mir den Himmel nidt 
denken fann ohne Sonne, Mond und Sterne. Obne die Linde wäre die Hütte 
nicht, was fie ift, und ohne die Hütte wäre der Baum nicht, was er ift. 

Nur einmal fhön und heimiſch ift’s da oben! Keinen Plak wüßte ich 
in der Welt, der fchöner wäre. 's Herz lacht mir im Leibe, gude ich dem herr— 
lichen alten Baume in feine grünen Augen. An ihm hab’ ich die grünen Augen 
gern; nur bei Menfchen mag ich fie nicht: denn es ftedt oftmals Fuchsfalſchheit 
dabinter. Ich hab's erfahren. 

68 ift in der Flachsrupfezeit gewefen, wie id auf die Welt gefommen bin, 
allein es hat damals auch nicht einen Stengel zu rupfen gegeben. Gin grau- 
figes Hagelwetter ift plöglich Dabergebrauft gefommen, Hat alle Gewächſe der 
Seldmarf wie mit Keulen zu Boden gefdlagen, und wie es nun nichts mehr 
zu rupfen gab, fo gab’s auch weder was zu mähen, noch was zu fchneiden, nod 
was eingufabren, kurz, es war eine troftlofe Zeit. 

Den Lindenhüttenleuten fonnte nicht viel verhagelt fein, fie batten ja nur 
ein paar fehmale Streifen Land. Schlimm genug war’s aber doch: denn haben 
die Grofen fein Brot, fönnen die Kleinen auch feins fchneiden. 

Als Hatten nun die armen Lindenhüttenleute in diefer dDrangjalspollen Zeit 
an ihren bier lebendigen Kindern noch nicht genug, gebt eines ſchönen Tages 
die alte Iuftige Bökerſche, die Bademutter nämlich, zum Brude hinauf, fließt 
in gänzliher Unbedachtſamkeit die Kinderfammer im Brudbrunnen auf, ere 
wifcht einen weißhaarigen Knirps und trägt ihn woblgemut in die Linden- 
bütte. Die Lindenhüttenleute machen wohl erft ein ängftliches Geficht, taufhen 
dann aber einen Blid mit unferm Herrgott im Himmel und laffen es rubig gee 
Iheben, daß die Bademutter den Brunnenfifch, der ganz gegen die Gewohnheit 
der Gifdhe einen recht hergbaften Schrei ausftößt, in die Hobel legt, die der 
Gater etwa eine Stunde zuvor in feiner Arglofigfeit vom Habnebalfen her— 
untergebolt bat. 


296 


Wie der Knirps aber gar zu jämmerlich fchreit, tut der Bater, als würde 
er unwirſch und fagt: „Si, Bökerſche, was madft du aud für Streihel Haben 
wir etwa nicht der Schreihälfe genug, daß du uns nod einen dazu bringft? — 
Hätteft den Fiſch dod in die Pfarre bringen können! Warum gebft du an der 
immer vorbei? Da würde man fich mehr gefreut haben als in der Linden- 
bütte. Greilid) heißt’s ja: Wer da Hat, dem wird gegeben... Und da wir 
Kinder haben, fo fommen Kinder zu. Hätten wir taufend Taler, jo fämen 
gewiß aud) taufend Taler zu; aber wer weiß, was beffer wäre... .“ 

Dann {dob er das Genfter auf und rief hinaus: „Linde, Linde, es ift 
wieder eins da, ein gang, ganz weißes!“ 

Geladht ward, worauf der Lindenbiittendater herzlich und zufrieden fagte: 
„Sollft Dod) ſchönen Dank haben, Bademutter! Gs fommt bon Gott: Biel 
Kinder, viel Segen! Und ich könnte wahrhaftig das liebe kleine Schreiding 
nidt bon mir geben, böte aud) einer taujend Dufaten dafür!“ 

„Das ift ein gutes Wort, Hanfrieder!“ antwortete die Bademutter und 
madte ein fo recht verjchmigtes Gefidt, als wollte fie jagen: „Könnteſt dir 
die taufend Dufaten dreift auszahlen laſſen, denn du wirft die Hotel in Bue 
funft [don nod einmal bom Salfen Derunterholen müffen.“ Ginen 
Schalk hatte fie ja immer im Naden, die Bademutter, und die Wege, die fie 
einmal gewohnt war, ging fie gern immer wieder, wie fie fagte. 

Als nun die Leute unferer Freundſchaft, Frohnhöfers und Bornriefens, 
bernahmen, in der Lindenhütte ware wieder was Junges angefommen, ließen fie 
Stod und Stengel fteben und eilten herbei, um die Eltern zu beglüdwünfchen und 
den neuen Weltbürger zu befichtigen. „Si ſeht — was für gralle Augen — wie 
ferngefund — und weld fräftiger Schreil Wird ein langes Leben haben!“ 

»Unberufen!“ fügten die Eltern vorfidtig bei. 

Altem Herfommen gemäß holte der Bater die für diefen Gall bejonders 
aufgefparte „Bameumenwurſt“ von der Raudfammer, wette das Meſſer und 
nötigte „Sett euch nur gleich alle zufammen an den Tiſch, Leute!“ Solange 
madte die Wurft die Runde, bis fein Zipfel mehr übrig war. „Nun wird das 
Kind einen ſchönen Tag haben“, meinten die Säfte und wifdten fich vergniigt 
den Mund... ..!... 

Als fie aus der Kirche guriidfamen, legte die Pate den Täufling der 
Mutter in den Schoß mit den Worten: „Ihr habt mir gegeben ein Heidentind, 
id bringe Gud wieder ein Ehriftenfind. Und wenn Ihr’s wollt mit Namen 
nennen, fo nennt es — Friedeſinchen!“ 

„Stiedefinhen! Mit Gottes Rat und Segen!“ befräftigten die Gltern 
feierlih und drüdten der Gedatterin die Hand. Dann hielt mid der Bater 
ins offene Genfter und rief hinaus: „Segne aud) du das Kleine, alter guter 
Lindenbaum!“ 

Und die Zweige neigten fic gegen das Genfter, und es fäufelte wie ein 
Segen Gottes in das Stübchen, wie meine Mutter oft erzählte. 

Mit einem Gefangbude unter dem Kiffen mußte das junge Chriſtenkind 
feinen erften Shriftenfchlaf tun. Derweile feste man fid zu Tiſch und war 
tro des fargliden Feftmahles fröhlich und guter Dinge —, hatte man dod 
den lieben Herrn Ghriftus mit gu Gafte geladen. 

Klein-Friedefindhen tat einen gefegneten Schlaf, und da fic feine Mienen 
oft wie zu einem Lächeln verzogen, meinte die Pate, die Engel im Himmel 
fpielten mit ihm. — 

Als es endlid) die Aeuglein wieder auffdlug, fagte die Mutter: „Nun 
wollen wir doch mal hören, wie unferes Griedefindhens Lebensgefang lauten 


297 


mag!“ Sie nahm das Gefangbud, ließ die Blatter willfürlih auseinander- 
fallen und las unter gefpannter Aufmerkſamkeit des Eleinen Feftkreifes die 
Berfe, die fid jo gleichjam jelbft aufgejchlagen hatten: 

„Wie Gott mid führt, fo will ich gehn. 

Gs geh’ durd Dorn und Heden. 

Gott läßt fid nicht bon Anfang fehn; 

Der Ausgang wird entdeden, 

Wie er nad feinem DBaterrat 

Mid treu und wohl geführet Hat. 

Dies fet mein Glaubensanker.“ 

Wabrlid, einen zutreffenderen Gefang hätte die Mutter nicht auffchlagen 

fönnen. Ich babe mich feiner in meinem Leben oft getröftet. 


Bäterliche Lehre. 
(Aus „Sriedefindens Lebenslauf“. 


&" Meile fchritten wir in völligem Schweigen nebeneinander ber. Da 
ging die Sonne auf, und nun nahm mid der Bater an die Hand und 
fagte: „Sriedefindhen, alles, as du tuft, halt’ did) danad), daf du jedermann 
fannft gerade ins Gefidt feben. Hüte deine Augen, daß feine Gleden bin- 
einfommen, leicht ziehen die Sleden ins Herz. Berftopfe deine Ohren und jpite 
fie nicht, wenn dir jemand arge Reden fagen will; leicht dringt der Schall da= 
bon in dein Herz. Bor allem, Kind, vergifs den lieben Gott nicht — börft du, 
Friedeſinchen, das Beten vergiß nicht! Gin rechtes Gebet Elingt im ganzen 
Himmel wieder. Dann wird auch deine Mutter hören, wo du bift und wie 
du bift. Gin junger Menſch, der feinen feften Halt im Glauben an Gott hat, 
ift wie eine Wehre im Sturm, die gefnidt wird, ehe fie reifen fann. Schäme 
dich nie deiner Armut, denn der arme Mann muß die Welt ernähren. Ver— 
leugne nie, daß du in der Lindenbiitte geboren bift, fie enthält föftlichere Schäße 
als mander Palaft. Se weniger du braudft, defto dauerhafter ift das Slid. 
Hänge feinen Glitter an dein Kleid und trage.feinen Hut mit Federn. Dein 
wohlgefämmtes Haar und dein weißer Scheitel fei deine fehönfte Bier. Halte 
did am Zaun, der Himmel ift bod; Früchte, die man nicht haben Tann, läßt 
man figen. Und im übrigen, Friedefinden, halt’ dich darnad, daß du Fein bun- 
tes Gerfel nad) Haufe bringft.* ... * 


Der Hedetaler. 
(Aus dem ,BruderDHo f*.) 

3)" war mal,“ begann fie {don gang von felbft zu erzählen, „da war mal 
„ in Hildesheim eine Frau, die hatte einen Alraun, den ließ fie 'n Sabr 
lang in ihrer Gabe liegen, da gudte fie nach), und da hatte er ’n Hecetaler bei 
fih. Den fonnte fie nun nehmen und nahm ihn aud und bezahlte alles, was 
fie faufte, mit dem Hedetaler. Wenn fie aber nah Haufe fam, war der Hede- 
taler auch ſchon wieder da. Das ging denn auc ’ne ganze Beit gut; fein Menſch 
merfte, daß der Taler wieder mit ihr wegging. Sie aß den ſchönſten Kuchen, 
den fetteften Braten, trank den füßeften Wein, den ftärkften Kaffee, fonnte beim 
wärmften Ofen figen und wurde Eugelrund. Kein Menfch merkte was. Aber 
einem Schlädhter fam es doch mit der Beit kurios vor, denn er wollte reid 
werden und merkte, daß er immer ärmer wurde, wenn diefe Frau bei ihm ein- 


* 9. h.: Zauf nidt vor der Zeit aus dem Dienft weg. 
298 





gefauft hatte. Sollft doch mal ordentlich aufpaffen, nahm er fic) vor. Und als 
die Frau wieder mal jo 'n ſchönen Happen faufte und wieder mit dem ſchönen 
blanfen Taler bezahlte, dachte er fich gleich, es miiffe wohl etwas mit dem 
Taler fein. Aber er ließ fich nichts aus, gab der runden Grau auf den Taler 
beraus, legte ihn in den Kaften und paßte mit beiden Augen auf. Und fieh did 
dal Kaum ift die Grau zur Ladentitr raus, wird aud der Taler im Kaften 
unruhig und will fidh auf die Reife maden. Mein Schlädter nicht faul, padt 
did den Taler mit feiner diden GFauft, hält ihn mit feiner ganzen Schlädhter- 
fraft umflammert, holt geſchwind 'n Klopfhammer und nagelt did) den Taler 
auf den Hackeklotz .. .“ 

„OH, den Düwell“ rief Steffen und fchabte fic) das Hofenbein, als wäre 
da der Nagel durchgegangen. 

„... nagelt did) den Saler auf ’n Hadellog,“ wiederholte Annefathrine 
nochmals mit tönender Bafftimme, worauf fie fortfubr: „Da wurde dich dann 
aber der Sadeflog auf einmal rattentoll, hüpfte und fprang, daß es gang 
[chredlih anzufehen und anzuhören war. Als jemand die Tür aufmadt, was 
meinfte, da nimmt fid der Klo auf und tanzt holterdipolter hinter feiner 
lieben Grau Her. Da iſt's denn am Tage gewefen, und fie hat zur Strafe all 
ihr Hab und Gut hergeben müffen, den Altaun mit dem Hedetaler natürlich 
aud. Bebielt fein Hemd auf ’m Leibe und mußte nun Holz tragen und Hungern 
und durften wie unfereiner aud.“ 


- Wie der Tote befragt wurde. * 
(Aus dem ,Bruderho f*.) 
A uf dem Friedhofe lag filberglangender Mondenfdein und erdgrauer Sdat- 
ten, jener in unregelmäßigen, vielfach zerrifjenen und zerjtüdten Flächen, 
diefer in den fcharf ausgeprägten Formen bon Kreuzen und Hügeln, Ringen 
und Pfeilern, Stämmen und Zweigen. 

Der Wind hatte, glei der Droffel im Buſch, den Kopf zwiſchen die 
Slügel geftedt, und unter dem wolfenlofen, ftrablenden Sternenhimmel lagen 
Liht und Schatten, obgleid von Natur widereinander, in regungslos fried- 
lidem Berein, wie fie alle da unter den grünen Hügeln, die Biertelhufner, die 
SHalb- und Bollhufner, die RKotfaffen und Häuslinge, die Tagelöhner und 
Knedte, mit ihren Frauen, Mägden und Kindern. 

Der Nadtwadter, der mit gebeugtem Rüden und einem furgen Fuße am 
Kirhhofe voriiberftapfte, blies dreimal ins Horn, rief: „Die Glode hat zwölf 
geſchlagen — zwölf ift die Glod’!“ und fang mit eintöniger Stimme die alten 
Reime bon den zwölf Siingern des Herrn, deren einer ihn verriet. 

Als Oppermann hinter dem nädjften Gehöfte verſchwunden war, löften 
fi) aus dem Schatten der Kirhhofsmauer zwei Geftalten. Die Pforte fnarrte, 
und der Rademacher, an der Hand feine Tochter, trat fadhten Sdrittes auf den 
bügelreihen Öottesader. 

‘Gn Iangen und furgen Reihen, in großen und Eleinen, hohen und einge- 
fallenen Hügeln lagen fie da rund um die Kirche her, an ber das Mondenlicht 
leife binunterglitt —, die Bauern mit ihren Angehörigen für fi auf der 
Sommerfeite, die Häuslinge, Tagelöhner, Knechte und Mägde mit ihren Angee 
börigen auf der Winterfeite. 


* Rademader Drewes bat feinem verftorbenen Nahbarn, dem Vater Oelfers, 
auf dem Gterbebette gelobt, dem Steffen Oelfers feine Tochter zu geben. Nahdem 
diefer verſchollen ift, will er feftftellen, ob er feine Sodter dem zweiten Sohne, 
Marten Oelfers, geben dürfe. 


299 


Modte aud) die Bedeutung des Standesunterjchiedes im Dorfe nidt gar 
fo groß fein, jo gebot dod die Gitte ein orönungsgemäßes Auseinanderhalten 
der Schranken, wie im Leben jo im Tode. Der Tod war für die Woldhäufer 
nod nicht der Allerweltsgleihmagder, eben weil er für fie nid@t Tod, jondern 
Sortleben bedeutete. 

On diefer Nacht aber lag der größere Zeil des Lichts auf der Winters 
feite und der größere Teil des Schattens über den Bauerngräbern, denn das 
Licht fragte ebenfowenig wie der Schatten, welches Standes die waren, Die 
unter-diejen Gräbern jchliefen. 

Die beiden Lebenden gingen, bon ihren gedrungenen Schatten begleitet, 
ein paar Schritte auf dem Kirchhofsſteige bin und bogen rechts bei den Bau— 
erngräbern, wo der breite, wilde Hagedorn ftand, bom Wege ab. 

Ein zarter Beildhenduft ftieg wie ein Atembolen aus dem jungen Hiigel- 
grafe auf. 

Sophie empfand den feinen Duft in dem Schauer der Nadt wie einen 
heimlich freundlichen Sroft, während der Vater faum darauf adtete. 

Licht und Schatten über den Toten, Licht und Schatten über den Lebenden! 

Drewes dachte, während er feiner Tochter voran mit hHodgehobenen Beinen 
über die Graber fchritt, an den einen und den andern. Go viele hatte er ge— 
fannt, als fie nod in den Stürmen des Lebens ftanden, hin- und hergeweht, 
als nod Licht und Schatten in ihre offenen Augen fielen. Allerlei Stimmen 
zogen bor feinem Obre hin, belle und grobe, Iuftige und gornige, bittende und 
drohende, betende und fludende. Wie Licht und Schatten voneinander abe 
bängig, aneinander gebunden, hatten fie miteinander gelebt, in Lieben und 
Haſſen, in Dulden und Widerftreiten, in Gmpfangen und Entfagen, in Hoffen 
und DBerzweifeln, in Jauchzen und in Stöhnen —, bis jählings die Nadt Here 
einbrad und fie fo ftill, fo ftill wurden wie dies Mondlicht und diefer Kreuzes— 
ſchatten. — 

Sie waren in eine nod unbollendete Reihe gefommen und blieben vor 
einem nod faft unbewachfenen, aber bereits halb eingefallenen Grabe fteben. 

„Hat nicht lange Stand gehalten, der Raftelaften,* murmelte Drewes und 
ärgerte ſich über den Sifchler, daß er fo jchlechtes Holz gu Dem Garge verwandt 
batte. Gr trat an bas Kopfende des Grabes, wo der derbe vieredige „Leichen 
pfabl* mit dem kreuzfoͤrmigen Kopfe ftand, nahm die Mütze ab und betete mit 
leifer, Dumpfer Stimme ein VBaterunfer. 

Eng an den Bater gedrüdt, hielt Sophie die Hände feft ineinanderge- 
ſchlungen und betete aus tieffter Seele mit, vermochte aber, im Grauſen faft 
erftarrend, Die aufeinandergepreßten Lippen nicht zu rühren. 

„Amen!“ fagte Drewes und fah um fic und über fich. Bei der Kirchentür 
glaubte er eine dunkle Geftalt wahrzunehmen, und es drängte fid ihm das 
alte Gagenwort in den Sinn: „Bon twölwen bet einen find alle Geijter te 
Deinen.“ Gr faßte die regungslofe Tochter feft bei der Hand, erfannte aber 
bald, daß es nur der Schattenwurf des alten runden Grabjfteines war, der eine 
Urne trug. 

Der Mond fah rubig auf den Kirchhof herab, der Sterne Heer ſchimmerte 
aus der Unendlichkeit, und in Gilberftrablen flutete das Licht durch Die 
Nacht um die alten Kirchturmsmauern. Kein Laut vernehmbar, fein Schatten . 
bewegte fic. 

Der Rademacher beugte fid zum andern Male über das Grab und betete 
ein zweites Baterunfer. — 

And wieder fah er um fic und über fid. Nicht ein Haud war zu ver— 


300 


fpiiren, außer dem eigenen Atem. Der Waldberg im Often, gu dem die DBlide 
{Gweiften, lag unter dem Sternenhimmel wie ein Garg, auf dem die ruhig 
brennenden Lichter ftehen — regungslos, unbeimlid. 

Da neigte fid Drewes zum dritten Male und rief mit leijer, tiefer Stimme: 
„Xaber, ich ftehe mit meiner Tochter hier an deinem Grabe, wie wir an 
deinem Sterbebette ftanden. Siehſt du uns, wie Gott Hod über den Sternen 
uns fiebt, fo fag’ uns an: Ijt Steffen, dein Sohn, bei den Toten oder ift 
er noch bei den Lebenden? — Die Frauen, die an jenem frühen Oftermorgen 
gum Grabe des Heilandes gingen, famen mit der großen Gorge: Wer wälzet 
uns den Stein von des Grabes Fir? Mit fold einer Gorge ftehen wir aud 
an deinem @rabe. Eine große Schuld liegt gwifden uns. Du weißt es wohl, 
und id muß fragen: wer walget fie ab bon uns? Henderk Oelfers, der du 
dur) das Grab in den Himmel gingeft, fiebft du uns, wie Gott über den 
Sternen ung fieht, und fannfte meine Sodter um deines zweiten Sohnes willen 
bon ihrem Derjprechen entbinden, die Schuld unferer Kinder vergeben, wie 
wir aud unjern Schuldigern vergeben, fo gib uns nad) unjerm dritten Bater- 
unjer ein Zeichen, fei’s Dod am Himmel, fei’s unten auf der Erde.“ 

Lind er betete das Heilige Baterunfer zum dritten Male — langjam und 
feierlich. 

Grabesjtille war nad wie bor, aber als die Betenden nun über fic faben, 
{of ein glängender Strahl bom Himmel — mitten zwijchen dem Delfersjchen 
und dem Drewesſchen Gehöfte — herab. 

» Sater!“ flüfterte das Mädchen. 

„Komm, Kind!“ fagte Drewes tief ergriffen, und Sophie ging rafd voran. 

Bei den Eichen blieb er aufatmend fteben, jab über fein Gehöft bin und 
murmelte zufrieden: „Der Sternfunfen muß dorthin gefallen fein, wo der Steg 
fein foll.“ 


Der Tod der alten „Lieb Gottche“. 
(Aus den ,Lebendigenund den Toten“) 
G" Wort feines alten Studienfreundes Dr. med. Plenge fiel ihm ein, der in 
feiner draftifchen Weife mit dem ihm eigenen leichten Achfelzuden einmal 
fagte: ,Sod? Was ift der Tod? Eine Grholungspaufe des Lebens auf dem 
Wege zur Swigfeit.“ 

Nun, wenn fo ein armes Menfchenfind wie „Lieb Gotthe* neungig Sabre 
gelebt bat, follte man ibm wohl aud die Erholung bon Herzen gönnen, dadte 
er bei fid. Und am felben Sage nod ging er hin und befudte „lieb Gottche“. 

Das Bild, das fi) ihm diesmal bot, war nod grotesfer und ergreifender 
als jenes, das ihn bei feinem erften Eintritt in das wadelige Haus überrafchte: 
In einem niedrigen Stibden mit gertretenem Lehmboden, zerbrödelnden Wän- 
den und zwei Fenftern, die mit Papier und Fliden an Stelle fehlender Schei- 
ben ausgeftopft waren, Iag „lieb Gotthe* zwiſchen allerlei Geriimpel und 
Gerät im — Sarge, wahrhaftig im Sarge, dem neuen gelbgeftrichenen, der an 
der Wand unter Heiligenbildern und dem gefreuzigten Grldfer auf dem Erd- 
boden ftand. Aber fie war nicht tot, fondern lebte, fah noch munter um fi 
und nidte dem Doktor fichtlih erfreut zu. 

„Ad, Herrdhe, ah Dokterche,“ fagte fie und verfuchte fich etwas aufzu- 
tidten, „wie gut Sie doch find, daß Sie fo ein altes Graudhe nod einmal 
beſuchen —, acd, und dak Sie mir auch zu dem ſchönen Sarge verholfen haben. 
Lieb Gottche, es ift doch fchade, daß fo 'n gutes Herrche nicht unfern Glauben 
bat; — aber ich werde bei lieb Gottche ſchon fürs Dofterde bitten.“ 


301 


Gs dauerte einige Zeit, eh’ der Doktor fic bon feinem Schreden erholt 
hatte. Gine Tote im Sarge, meinte er bei fic, hätte ihn nicht fo erfdreden 
fönnen wie dieſe lebendige Alte. Seine ganze Borftellungswelt wurde von 
einer Art Ummwälzung erfaßt und erjchüttert. 

Die Alte, als fie fein Grfdreden bemerkte, lächelte überlegen und ließ den 
Kopf in das fnitternde Seegrasfiffen guriidjinfen. „Ich babe mich {don gleich 
in den Sarg gelegt, daß mid andere nicht erft bineinzulegen brauchen, wenn 
id tot bin. Was man tut, folange man noch Tann, ift getan, wenn man nicht 
mehr fann. Mein Oroßtochterhe Tann mid allein nicht heben, und andere 
Leutche,“ — fie madte mit ihrer dünnen Hand eine wegwerfende Bewegung — 
„ja, wer mag denn fo eine Altche nod) anfajjen, wenn fie tot ift!“ 

Der Doktor fab fic) verwundert nad allen Seiten um und fragte: „Iit 
denn Ihre Groftodter nicht bei Ihnen?“ 

„Ad, Herrde, die ift mit ihren Kinderche ins Holz nad Preifelbeeren, um 
Geldche zu verdienen .. .“ 

@ruber f{diittelte den Kopf. „Sroßmutter Konka, es muß doch aber jee 
mand bier bleiben, der Ihnen hilft.“ 

Sie madte eine abwehrende Bewegung. „Dann pflüden die andern die 
Preifelbeeren alle ab; es find {don nicht mehr viele da. Iſt aber aud nidt 
nötig, daß wer bei mir bleibt. Wenn ich geftorben bin und die Kinderche tome 
men, brauden fie mir nur die Augen zuzudrüden und für mein Geelde zu 
beten — und es ift alles fertig und gut.“ 

Gin müdes Ladeln ging über das verfnitterte Gefidt, fie Schloß die Augen, 
öffnete fie wieder und fab den Doktor verwundert an. 

Wie eine gang neue Entdedung fdien ihm dies armfelige Leben —, arme 
felig und doch von weld rührender Ginfalt und welder Größel 

Gr griff in feine Tafche und gab ihr all fein Geld. „Damit aber Dod 
die Groftodter oder eines ihrer Kinderchen bei Ihnen bleiben fann, folange 
fie frank find, Großmütterchen.“ 

„Aachche, aadde, fo ein gutes, gutes Dofterchel* ftammelte fie, ftreichelte 
das Geld und war ganz glüdjelig. 

Tief ergriffen ging der Doktor gwifden den Heinen ftrohbededten Fijcher- 
bäufern hin der großen See zu. Eine frifhe Brife wehte ihm entgegen. Je 
weiter er Durd das Dünengehölz fam, defto ftarfer wurde das Rollen und 
Raufden des Meeres. Aber immer noch tönte die Stimme der alten Frau in 
ibm nad, und wohin er fab, immer wieder ftand bor ihm der gelbe Sarg mit 
dem verfnitterten und nod fo lebendigen Gefidt. Weld eine ftarfmütige Men- 
fchenfeele! Sie legt fid in den Sarg wie in ihr Gett und wartet gang ge 
troft und ohne Grauen auf das Hereinfommen ihres Erlöfers. Eine tiefe Bee 
ſchämung befdlid ihn, nun er fein eigenes Fühlen und Denfen und Tun 
mit dem ihren berglid. Mußte er nicht zu diefer alten Grau auffehen? Griff 
diefe in neunzig Sabren gehärtete Menfchenfeele nicht mit einem fühlbaren 
Rud in fein weichmütiges, überempfindfames Leben? Der Tod, ob er nun 
gu unferen Lieben oder zu uns felbft kommt, foll ung nicht ſchlaff und weich“ 
lid) finden, nicht fröftelnde Troftlofigfeit über uns bringen, fondern ein Weder 
für uns werden, ein Weder der Heldenmütigfeit, die Gott Dod wohl in den 
Grund einer jeden Menfchenfeele gelegt hat. Sich richtig einftellen zu ihm, 
beißt, fic abfinden mit der Unabänderlichkeit des menfdliden Seins. Ka— 
pitän Krüßfeld fiel ihm wieder ein, der mit feinem Schiffe in der Bucht von 
Sfhringshael untergegangen mar. 

„Sterben ift Ieidt für denjenigen überhaupt, der fid) mit feinem Tode 


302 


vertraut gemadt hat“ — hieß es in dem Briefe, den der Kapitän im Ane 
gefiht des Todes an feine Gattin fchrieb. 

War nidt die Neunzigjährige in ihrem Denken, Fühlen und Handeln 
ebenfo ein Held wie Kapitän Krübfeld? 

Sa, der Sod läßt ſich nicht rühren, aber er läßt fid) imponieren, ſetzte 
Dr. Gruber fein Nachdenken fort und ging durch den mahlenden Sand weit 
am Strande hinaus. Wud ein Wort Martin Luthers fiel ihm ein, deffen Ge— 
danken diefe gum Sterben gerüftete bochbetagte Katholifin praftiih fo nahe 
fam: „Wir find alle zum Tode gefordert, und es wird feiner für den andern, 
fterben; fondern jeder muß in eigener Perfon geharniſcht und gerüftet fein, 
mit dem Tode zu kämpfen... .“ 

Öleihmäßig rollten die Wogen, ledten die Wellen nach dem Strande; 
manchmal ein Gludjen wie aus einer Riefenfeble. Gin grauer Farbenton lag 
auf dem Waſſer. Hinter den Wogen aber erfdien das weite Meer glatt und 
bimmelblau und weich glänzend wie Seide. Die Sonne war im Ginfen, und 
unter ihren ſchrägen Strahlen jdillerten die Wogenfamme, als wären fie von 
feinem Silber. Bon den winzigen GFifdlein aud, die unbarmbergige Wellen 
auf den Strand geworfen hatten, ging ein filberiger Schimmer aus. Ging, bas 
noch leife gudte, bob er eilig auf und warf es in das Meer zurüd. Gin feifter, 
prallrtunder Tümmler lag tot auf dem Strande, der fich vielleicht noch vor 
einer Stunde tief im Meere gütlich getan, dann wohl auf der Jagd fid zu 
weit porgewagt hatte und elendiglich geftrandet tar . . . Da war der Waſſer— 
fafer doch glüdliher daran, der fachte über den trodenen Gand frod, den 
die Wellen vorhin befpült hatten. Gr zeigte fid) zwar betroffen, als er bier 
zurüdblieb und ftand eine Weile wie verdugt ftill, befann fic aber, fehrte 
um und frabbelte dem Meere wieder zu, bis eine neue Welle fam und thn 
freundlih wieder in ihren Schoß nahm. 

Plötzlich erfdien das ganze Meer in blafbläulide Farben getaudt, Die 
fi immer weiter ausbreiteten; über den weißen Strand floffen fie wie über 
die Dünen und Kiefern.. Gruber meinte zu fühlen, wie ibn felbft der blaß- 
bläulihe Abglanz des Meeres bon oben bis unten überftrömte und als wunder» 
fames Strablengewebe über feine Füße riefelte. 


Spenneweih bom Rathaus. 
(Aus den „Sollingern“.) 

E⸗ iſt vierzehn Tage por Oſtern. Das Grau der erſten Morgendämmerung 

lagert ſich um den ehrwürdigen Rathausturm der alten Sollingsſtadt 
Aslar, und fdon hallen von feinem eifenbefchlagenen Tore Hinaus auf die 
Hauptftraße wunderbare Töne. Gin Heiner Haufen Jungen bat fid dort 
aufgeftellt, unermüdlich rufend: „Spenneweih bom Rathaus, Spenneweih bom 
Rathaus !* 

Nad furger Zeit naht fic ein zweiter Srupp, unterwegs Hier und da 
verftärkt, und richtet merfbar aufgeregt feine Schritte ebenfalls auf das Rate 
haus zu. Verdutztes Stehenbleiben, als fie die anderen gewahren. Doch furz 
entfchloffen eilt der Srupp in die Nebenftraßen, und nun hört man, wie fie 
zu den Genftern der Häufer Hinaufrufen: „Heinrich, Wilhelm, fehnell, ftebt 
auf, die Neuftädtfchen haben die Kleppel* Bald ift der Srupp erheblich an- 
geſchwollen und rüdt im Sturmfdritt die Dobe Rathaustreppe Hinauf. Gin 
furzes Gemenge, und fie haben den Plas beſetzt — die anderen entweichen. 

Bon neuem erfdallt es: „Spenneweih bom Rathaus, Spenneweih vom 
Rathaus!* Melodifh abgeftuft: erft im Sturmmarſchtempo, dann langjam 


303 


“= 


Hagend, abwechjelnd mit hoher Stimme, oder fo tief es die Kinderftimmen vere 
mögen. Plislid Stille — nichts fidtbar als ein wirres Durdeinander von 
Heinen Fäuſten, die aufeinander [osarbeiten. Aber die Neuftädter find zu 
ſchwach, die Eroberer aus der Altftadt (die Langenfträßer) halten, mögen die 
Ginger von Hieben fehmerzen, die meffingjche Türklinke (Kleppe), die Trophäe 
des Tages. Dann aber erhebt fid bon neuem der Schladtruf, einig ftimmen 
ae und Feind ein: „Spenneweih vom Rathaus, Spenneweih vom Rate 
aus |“ 

Sind an diejer Tür die älteren Jungen bis zu vierzehn Jahren ver= 
fammelt, jo halten an dem Nebeneingange die Mädchen und das fleinere 
Volk, die nad und nad erjcheinen und bon ferne die Schlacht bewundern. AMuf 
den Armen trägt man Die Eleinften heran. Go find in der Morgenfrühe die 
Kinder verfammelt, als wären fie dem meiland Rattenfanger bon Hameln 
gefolgt. 

Was aber foll der Hader der Parteien? Nun, feit unnordenklicher Zeit 
— man fagt feit 1342 — ift von viel ehrbaren Rittern und Sunfern den Us— 
larern ein Ader, genannt die Spendehufe, zum ewigen Vermächtniſſe geftiftet 
worden, aud) nod bor einigen Sabren, ehe verfoppelt war, im Befite der 
Stadt gewejen. Dabraus, jahrein wird nun feither — weder der Dreifig- 
jährige Krieg noch der Weltkrieg hat etwas daran geändert — aus den Gine 
fünften des Bermadtniffes an jedes Kind, ob arm oder reid, ein Weden 
verteilt, der von der Stiftung den Namen Spendeweden (plattdeutjch „Spenne= 
weih“) erhalten bat. ; 

Ginft Hatten die Uslarer Ratsherren das Vermächtnis vergefjen und 
den Spenneweih nicht baden laffen; oder mochte es auch fein, daß. fie dem 
alten Braud in Wegfall fommen Iaffen wollten. Da erfchien eine weiße Taube 
in der Stadt, die beftändig rief: .„Spenne, Spennel* Davon erfdredt, führ- 
ten die Ratsherren bie Spende gemäß dem GBermadtnis wieder ein. Nah 
einer anderen Grzählung erſchien an dem vergefjenen Spenneweihtage plöß- 
lid eine Henne mit ihren Küchlein auf dem Rathausfaale und lief den 
Ratsherren zwiſchen den Beinen herum, ohne daß man fie meggutreiben 
vermochte, noch daß man ein Riidlein hätte befhädigen können. Auch darin 
erblidte man die Mahnung, das alte Bermadtnis in Ehren zu halten und 
den Spenneweih wieder heraujtellen. 

Nicht der Wert der Gabe, fondern das gleiche Recht, fie ſich Holen zu 
dürfen, bildet für die Kinder eine Freude, die die regelmäßige Wiederkehr 
eher erhöht als abſchwächt. Gs ift einer der ftandhafteften alten ®ebräuche, 
deſſen unjchuldige Greude nie verfiegen möge. 


Kleine Beiträge 





Meber Heimatmufeen. 

ine Arbeit, die unmittelbar in das 

Leben bineinführt, Begiehungen zu 
allen Sreifen der Bevdlferung Katt, 
diefe in eine wobltatige Wedfelwirfung 
zueinander fett und ihnen zugleih un— 
merflih, nidt mit dem aufdringliden 
Ton des Belehrens, reihes Willen ver- 
mittelt, ift die Arbeit am Heimatmufeum. 
Gs ift nidt zu viel gefagt, wenn man 
ihr guerfennt, daß fie Baufteine zu einer 


304 


Gertiefung und Bereicherung des Welt 
Bildes berbeiträgt, daß fie, wie faum et» 
was anderes geeignet ift, die Liebe zur 
Heimat und zur eigenen Art zu weden 
und zu feftigen. Dabei ift fie wie ein 
lebendiger Organismus, vermag miibe- 
los fid) immer neue ®ebiete anzugliedern 
und mit ihrem Gedanfengebalt zu durch— 
dringen. Die Grenzen ihrer Wirkſamkeit 
find faum abgufteden und werden je- 
weils immer nur gezogen werden fünnen 


nad dem Gorbandenfein oder Nidtyor- 
Bandenfein lebendiger Perfinlidfeiten, die 
fih in ihren Dientt ftellen. Geblen diefe 
gang, wird das Heimatmufeum freilich 
in einen Dornröschenſchlaf verfallen, nur 
daß jeden Sag der Prinz erfdeinen fann, 
der es gu neuem Leben führt. 

Die Heimatmufeen haben um ihre Da- 
feinsberedtigung harte Kämpfe führen 
müffen. Unter dem Schlachtruf ,3en- 
tralifation“ haben die großen, baupt- 
ftädtifhen Mufeen verſucht, ihre Wirk- 
famfeit zu befdneiden und zu unter- 
binden. Der Wiſſenſchaft follte gedient 
werden. Seder Fund bon einiger Bedeu- 
tung follte in Die riefenbaften Depots 
der ftaatliden Mufeen wandern, damit 
Profefforen und Studenten bequem ihr 
Material beifammen hätten. Das flade 
Land wäre ausgeplündert, des Denkmals 
feiner Gergangenbeit beraubt, guriicdge- 
blieben. Ueber unfdagbare- fittliche 
Werte wollte man adtlos fort{dreiten. 
Die Brandenburgijmen Heimatmufeen 
haben fid einmütig dagegen erhoben. Gie 
haben fid zu einem Bund zufammen- 
geihloffen, der würdig feine Redte ver— 
tritt und in dem bei den jährlich zwei— 
mal ftattfindenden Gerfammlungen Gr- 
fabrungen und Anregungen auf dem 
®ebiet der Heimatpflege ausgetaufdt 
werden. Bei dem Mangel eines bran- 
denburgifhen Propinzialmufeums — das 
Markifhe Mufeum in Berlin ift ftadtifh 
— miffen diefe Heimatmufeen in ihrer 
©efamtheit als Erfah für ein foldes 
galten. Ganz ungeftört in ihrer Wirffam- 
eit find fie freilid aud jebt nidt ge» 
blieben. Geſetzlich ift jedem ein bee 
ftimmtes Schußgebiet mit genauen Ab» 
grenzungen zugewiefen. Golde ftaatlide 
Bevormundung Hat nun bei einer Arbeit, 
die fo ganz auf Freiwilligkeit geftellt ift, 
ihre zwei Seiten. Sind dod fleinen, 
faum lebensfähigen ®ebilden große See 
biete zugewiejen, die mit Blut und 
Wärme zu durddringen ganz außer ihrer 
Wacht fteht, lebendigen, wirffamen Orga- 
nismen aber fo enge Örenzen gezogen, Daß 
der Pulsihlag ihres Lebens weit dar- 
über hinausgeht. Noch fdlimmer aber 
mödte fdeinen, daß nun, wo alle See 
biete bon einer hoben Obrigfeit verteilt 
find, das ſchöpferiſche Moment, das 
fiegbaft Neues fdafft, unterbunden ift. 
Die Gatten, Befibenden werden wohl 
aufpaffen, daß da, wo fie ftaatliden 
Schub und Rechte genießen, fein Fremd— 
ling ihre Kreiſe ftört. Der wohltätige 
Kampf ums Dafein, der die Kräfte zu 
ihrer höchſten Steigerung anfeuert, ift 
unterbunden. Immerhin bleibt den flei- 
nen Mufeen nod genügend Raum zur 
Betätigung, befonders wenn fie fid 


ihrer volfserzieheriihen Aufgaben bes 
tuft bleiben. 

Am nun zu zeigen, was ein Heimat- 
mufeum in feiner Gegend zu bedeuten 
vermag, erzähle id) wohl am beften die 
Gefdhidte der Sntitehung und des Wer- 
dens unferes eigenen. @riinder unferes 
Heimatmufeums war Paul Quente, ein 
junger, bohbegabter Maler. Im Sabre 
1910 begann er, indem er eine eigene 
fleine Sammlung zur DVerfügung ftellte, 
bier fein Werf. Im Oftober 1915 fiel 
er am SHartmannsweilerfopf im Sturm 
gegen franzöſiſche Schübengräben. In 
ieſen wenigen Jahren bat er unſer 
Heimatmuſeum geſchaffen, wie es im 
roßen und ganzen unverändert noch 
* beſteht, achtzehn Räume füllend, 
und wie es gu einer Hauptſehenswürdig— 
feit Des Rreifes geworden ift, mie es 
aber aud in der wiffenfdaftliden Welt 
fid einer hoben Anerfennung erfreut. 
Es ift natürlid nur einer Perfinlidfeit 
mit feltenen Anlagen, ungeftümem Wol- 
Ien, der Fähigkeit, Dinge und Menſchen 
zu meiftern, gegeben, ein foldes Werf 
in fo furzer Zeit auszuführen. 

Borbildlih ift, wie Paul Quente fid 
Mitarbeiter aus allen Kreijen zu ſchaffen 
wußte, und gerade dadurd Lebendige 
Werte vermittelte. Die Anfänge waren 
mehr zufällig. Bon feinen Wanderungen 
auf Rügen hatte der junge Künftler, 
der von früher Sugend an fid für prä- 
biftorifde Dinge interefjierte, allerhand 
Steinwerfzeuge mitgebradt, die er mit 
©enehmigung der Aebtiffin in dem Ka— 
pitelfaal unferes alten Klofters aufftellte. 
Da zeigte es fid, daß mande von 
unferen Bauern und Landleuten ein ähn- 
fides Stüd, das auf ihrem Ader ge- 
funden war, bei fid zu Haufe liegen 
batten. Gie bradten es bei ihrem nad- 
ften Befuh mit. Aus den Mitteln der 
Alebtiffin wurde ein fleiner Schaufaften 
beihafft und die Keimzelle, aus der das 
Heimatmufeum erwadfen follte, war da. 

Glückliche Umſtände famen freilich 
bingu. Das Klofter bot in den alten Ka— 
pellen, die nad dem Klofterhof gu der 
Kirche angegliedert waren, Räume, die 
für andere Swede nit dienen fonnten, 
und deren fhöne, gewölbte Deden, deren 
Spitbogenfenfter fie nod befonders ane 
ſprechend madten. Bor allem aber, Die 
Aebtiffin des Klofters erfannte, daß fid 
bier ein Werf anbahnte, das für die All— 
gemeinheit von größter Widtigfeit wer- 
den fonnte, und unterftüßte es mit allen 
ihren Kräften. 

Paul Quente madte nun mit einigen 
Lehrern, die er zu intereffieren wußte, 
gen über das Land, ging zu den 

euten, von den Büdnern bis zu den 


305 


®rofgrundbefibern, mußte ihre Seil- 
nahme zu weden, fie für feine Gee 
Danfen zu begeiftern. Niemals fehrte er 
guriid, ohne den Rudjad vollgeftopft zu 
baben mit allerhand  altertiimliden 
Stüdfen. Bald verging faum ein Tag, 
daß nidt folde Altertiimer angebradt 
wurden. Die Leute waren ftolz darauf, 
wenn fie etwas geben fonnten. Der eine 
Raum genügte nidt mehr. Das Geburts- 
tagsgeſchenk he den Künftler beftand in 
einem Ausftellungsihranf. Sorglid wur- 
den Die Sachen geordnet, iiberfidtlide 
GSrläuterungen wurden beigefügt. Neben 
jedem Stüd ftand der Name des Gebers, 
der Ort, woher es ftammte. Das ftellte 
alle gewiffermafen mitten hinein in Die 
Mufeumsarbeit. LMrnenfunde wurden ge- 
mat, Ausgrabungen begannen. An einer 
folden Ausgrabung nahm die ganze Ort- 
fdaft teil. Wenn die Schule vorüber 
war, ftellten fid) Lehrer und Kinder ein. 
Der Bauer, dem der Ader gehörte, half 
mit feinem Rnedt beim Graben, }tellte 
das Fuhrwerk zum Fortſchaffen der 
Sunde. Sedes Stüd wurde beftaunt und 
beiproden. In umfaffender Weife wurde 
die fleine Preffe benubt. Seder Gund 
wurde verdffentlidt, alle Gaben und Ge— 
ber aufgeführt, jede bedeutende Neuer- 
werbung befproden. Dann bielt Paul 
Quente Lidtbildervortrage. Kein Ort war 
ibm zu Elein, zu weit entlegen. Wenn 
fid nur Sntereffe zeigte, fo fuhr er bin. 
Bald war das Mufeum zu einer Ane 
gelegenbeit der ganzen Bevölferung ge- 
worden. 

In jene Beit fiel die Ausgrabung, 
die dem Mufeum feinen Ruf in der 
wiffenfdaftliden Welt begründet hat, die 
Ausgrabung des langobardifhen Urnen- 
friedbofes von Dahlhaufen. Hundertfünf- 
zig Orabftellen wurden freigelegt, ein 
bodbedeutfamer Opferftein in der Mitte 
des Alrnenfeldes gefunden. G8 wurde 
nadgetviefen, daß Langobarden bei uns 
in der Prignig in großen Bauernfied- 
lungen feft anjajjig gewefen find. Die 
gabllofen Beigaben erzählten von einer 
reihen, bodenftändigen Kultur. Die bau- 
erlide Gemeinde von Dahlhauſen aber 
beihloß, dem Mufeum um feines ho— 
ben Kulturwertes willen eine jabrlide 
Zuwendung zu maden. 

Nun trat Paul Quente dem Ge- 
Danfen näher, einen Mufeumsperein zu 
gründen. On ibm follten fih alle 
Stände zu gemeinfamer Arbeit an Die- 
fem WMujeumswerf zufammenfinden. Sein 
Aufruf hatte ungeabnten Grfolg. In 
furzer Zeit zählte der Mufeumsperein 
gegen taujendD Mitglieder, in der Haupt- 
fahe DBüdner, Handwerker, Arbeiter, 
Bauern. Zugleih wurde eine Mufeums- 


306 


zeitfhrift gegründet, die nod) heute er— 
{deint. Sie diente fhon damals dem 
deutſchen Gedanfen. Unſere große Ver— 
gangenheit ſollte zu einer lebendigen 
Kraft in den Wenſchen unſerer Zeit 
werden. 

Nad dem Kriege fudten wir das 
wertbolle Grbe lebendig zu erbalten. 
Biele Mitglieder Hatten wir verloren. 
Die Alngunft der Beit legte uns Feſ— 
feln an. Und dennod dürfen wir füh— 
len, daß wir an lebendigem Werfe 
fteben. Heimatfefte, Bolfsfpiele haben 
Scharen von ®äften zu uns geführt, und 
fie mit unferem Denken und Wollen ver- 
traut gemadt. Bor allem, die Samm- 
lungen felbft find nod immer täglich 
geöffnet, werden taglid gezeigt, find im 
Sabr für etwa 3000 Befuder, für etwa 
fünfzig Volksſchulen eine Sprade der 
Heimat. Die Schulen werden geführt. 
An Hand der Sammlungen wird Den 
Kindern in großen Zügen ein Bild ihrer 
Heimat gegeben. 

Diefe Zeilen möchten dazu anregen, 
ob etwa bier und da fid aud Die 
Möglichkeit zu folder Arbeit fände. Ich 
denfe, feine Bauernhochſchule mit ihren 
Vorträgen fann das geben, was fold 
ein organifh gewordenes Ganze an Bil- 
dungswerten ausftrömt, unmerflid, felbft- 
verftandlid, darum um fo tiefer baftend. 

Annmarie pon Auerswald 


Sur Dresdner Sertilfdau. 


De⸗ dritte Jahr der „Dresdner Jah— 
resſchau“ iſt das geſegnetſte. Hier 
kommt die gute Idee endlich ſo rein her— 
aus, wie ſie dem Hirn ihrer Erzeuger 
entſtiegen war: Textilien in hiſtoriſcher 
Pradt, im Olanz der Oegenwart und 
in der wirklich unerhörten Spontaneität 
ihrer Gntftebung durd Riefenmafdinen. 
Swar hatte das Urſprungsland bisher 
nod immer verpflidtet: 1922 war es 
Keramik („Deutfde Erden“ in mißper- 
ftändlihdem Idiom betitelt), 1923 Sport 
und Spielwaren; fo gut beides in der 
— —— ſeinen Nährboden fand 
und die Berechtigung heimiſch anmuten— 
der Ausſtellung: Das Urſächſiſche, das 
Waſchechte heimatlichen Erdgeruchs haf— 
tet nun doch erſt der Textilbranche an. 
Und fo konnte dieſe dritte Schau ein 
von allen Seiten vollfommenes und er- 
freulides Bild ergeben, und bloß das 
Plakat, das traditionelle Schmerzenstind, 
rutihte ein wenig abfeits mit der une 
felig afioziationsbeladenen Spinne, Die, 
troß webetechnifcher GStilifierung immer 
ein Gdreden der Damen, eber ans 
Satale der achtfüßigen Kerbtiere denn an 
Athenens Liebling Arahne erinnert. 
Gor allem find diesmal die unbehag- 


lihen Hallen der Großen Ausftellung 
an Der Lenneftrafe reftlos bewältigt; 
bisher war immer ein fhnöder und pein- 
lider Reft unaufgeteilt geblieben. Der 
unbdermeidlide riefenbafte Mittelraum ift 
durch Seppide und fafrale Vertifal- 
tücher geradezu vornehm gemadt wor— 
den; etwa wie der ſchöne Seppidfaal 
im Berliner Wertheimhaus. Rechts und 
linfg die fabelbaften Waſchinenſäle. Es 
ift fider das Gebenswertefte, mas man 
zur Zeit in Dresden hat: diefe diffigilen 
exaften ungebeuren und bis ins AUller- 
legte mit fpinnwebfeinem Detail über- 
riefelten Wafdinen für Spinnerei und 
Weberei, für Herftellung unbegreiflid 
entlegener Hilfsmecdhanifen, und ihre 
Sreiten- und Langsridtung bis ins An— 
gemeffene: Der Laie, wozu wir uns dod 
reftlos zählen miiffen, ftebt einfad faj- 
ſungslos und voll unbegrengter Gbr- 
furdt por fo viel Materie gewordener 
©eiftesfomplifation. Ind dieſe rattern- 
den, fchnurrenden, fpazierenfahrenden 
Riefengeftelle nod in Gunttion zu je- 
ben, benimmt einem armfeligen Sntel- 
leftuellen den letzten Reft pon Oottähn— 
lidfeitsgefiibl. Wer einmal fo eine 
Baumwollfpinnmafdhine gefeben bat, 
weiß, was gemeint ift, und wers nidt 
fennt, dem ift Dies organifierte Gifentier 
überhaupt nidt flar zu maden. Deden- 
falls fühlt man aber hier, daß wir nod 
ziemlih weit bon dem Inftinft der ,,Gi- 
ganten“ aus Döbling letztem (grandiofen) 
Roman entfernt find; daß wir in fcheuer 
Entfernung diefe horizontal gelagerten 
Lingetiime anzubeten geneigt find, Die 
ung fleiden, betten und verſchönern. Auf 
feinen Gall mödten wir der Neigung 
begidtigt werden, bineinzufpringen, um 
fie unfhädlih zu maden, oder fie gar 
pon Staats wegen zu fprengen. (Aller- 
dings bat Döblin diefe Perfpeftiven fo 
fehs bis fieben Jahrhunderte nad 
unfrer Oegenwart verlegt.) 

Nicht unbedingt die gleihe Begeifte- 
rung wie den Mafhinen (und, Refpelt, 
ihren Grbauern und Grfindern) fann man 
allen Produkten entgegenbringen, welde 
die LUnfduldigen gu Sage und auf den 
Warkt fördern. Das ift nun das Sebeim- 
nis Der alten Wamfell, fogufagen: in- 
dem leider nod) immer nidt der jugend- 
fide und unbefledte Menih die Mode 
angujagen bat, jondern der mehr oder 
minder übel beratende Kommis und afa- 
Demijd eingebildete Mufterzeichner. Wir 
haben febr jhöne Apahenihals, Her- 
renfoden, Bademäntel, Sportweften und 
mandmal bezaubernde Pyjamas; man 
fann jagen, daß man auf dem Jung— 
fernftieg {don redht gut angegogenen 
Herren und Damen jeden Alters bee 


gegnet. Komifherweije aber fommt das 
und vieles andere unter dem Gieges- 
zeihen der Dresdner Teztilipinne nicht 
ret heraus. Die langen Gerien der 
Wirk- und Gtoffabrifate, die Schleier, 
Leinwand, Sapifferien, Kleiderftoffe, 
®ardinen, Strümpfe, ®arne und fo wei- 
ter wirfen nicht erjchütternd; fie laffen 
ob ihrer techniihen Fertigkeit baß er- 
ftaunen, aber fie find meift nidt allzu 
günftig ausgewählt und nod) ungünftiger 
zu Klumpen geballt, um zu dem Ghr- 
geiz funftfritijder Ginftellung verführen 
zu fönnen. Aber fahlih ift das alles 
tiidtig, bandwerflid und faufmannifh 
fauber und meift mit Ddeforatibem ®e- 
\hmad und traditionell dresdneriſchem 
Ausftellungsgefhid gujammengebunden 
und abgeteilt; faft nirgends entjteht das 
peinlide ©efühl eines vollkommen ver- 
fagenden Iobbergefhmads, wie bei den 
meiften Kabinen der unfeligen Porgellan- 
mwüften bei der erften Jahresſchau. 

Und man findet denn aud, und dies 
ift der erfte und fundamentierte Gin- 
drud, eine Reihe pornehmer und aus- 
gezeichneter Gingeldarbietungen, die das 
notwendige Abjolutum an Qualität in 
jeder Beziehung aufweifen. Da ift das 
mardenbaft eingeridtete Haus der Pill- 
niger Seppidmanufaftur (Wisligenus-Bi- 
browicg); der ifolierte, höchſt anmutige 
Raum der Dresdner Werfftatten, ein 
luftiges Gebilde von Hellen Rofentönen 
und begebrenswerten Rleidungs- und 
Wohngegenftänden; die vollfommenen 
Webereien des Bauhauſes in Weimar 
(Klaffe Mude), leider nur ein ſchwacher 
Abglanz der verfdwenderijhen Pradt 
aus vorjähriger Bauhaus - Ausftellung: 
dennoh wird man vergeblid nad Ver— 
wandtem an tednifder, künſtleriſcher, 
farbiger Originalität in jeder Gorm der 
Webefurft juden. Das einzige, was fid 
diefen beften Handarbeiten am Tritt» 
und @obelinwebftubl zur Geite ftellen 
läßt, find die Handwebereien von Möge- 
lin in @ildenball und die Wollftoffe der 
Werkftatt Hablif-Lindemann in Itzehoe; 
gemufterte jhwere Wollftoffe für Wände 
und Möbel, die wohl das Befte diefer 
Art von Beztilien darftellen; ftreifig oder 
zweidimenfional gemuftert und von mo- 
numentaler Pract. 

Daneben gab es nod allerhand reig- 
volle Dinge wie die fapriziöfen und aus 
dem Ginn des Materials geiftreih emp- 
fundenen Spibenfombinationen bor 
Margarethe Naumann in Plauen („Mar- 
garethenfpite“), die fladgemufterten Go- 
belin8 Der Werfftatte Giebichenftein 
(Hallenjer Kunftgewerbeichule), die treff- 
liden Leiftungen der fadfifden Gade 
fhulen und die GStreifenmufter bon ©. 


307 


von Weed (Münchner Bund). Wunder- 
lid und begeidnend genug: daß alles 
wahrhaft Gute in diefer urälteften Hand- 
fertigfeitsfunft aud) beute nod Hand- 
arbeit if; daß der wundervollen 
Künftlihfeit der Maſchinen nod feine 
Qualität ihrer Grgeugniffe fünftlerifch 
entfpridt. Oder es ſchien wenigftens fo. 


Der Bedankte: daß aub mafdinell 
begebrenswerte Stoffe entfteben fönnen, 
Konkurrenz den Handarbeiten — Ddiefer 


Gedanke ift leider faum aufgetaudt, oder 
wenn fdon, dann verfungen und vertan 
im Alltagszudrang der beteiligten und 
@arantiefonds zeichnenden Firmen. 

Aber dies ift das Los aller Sabhres- 
fOauer. 

Reftlos einverftanden fann man wie- 
der mit der biftorifhen Abteilung fein, 
die vor allem mannigfaden Mufeen und 
Sammlern zu danfen ift; an erfter Stelle 
dem Völkerkundlichen und dem Hiftori- 
hen Mufeum Dresdens. Aegyptifde, 
foptifhe, chineſiſche Stoffe; ein fom- 
plettes türfiihes Teppichzelt von etwa 
1650, Webereien aus Wmerifa, Oge- 
anien, Afrifa, europäifhe Bolfstradten 
und mittelalterlide bieratiihe Prunkge— 
wänder tetteiferten an Schönheit, Die 
wahrhaftig unverganglider ift als die 
weit foliderer Stoffe, und mußten die 
Konkurrenz einer praftifabeln Klöppel- 
ftube aus dem Gragebirge aushalten, in 
der lebendes Material arbeitend zur 
Schau geftellt war und aud nod Bolfs- 
weifen mit Klampfe gum DBeften gab. 

Seztilien intereffant auszuftellen ift 
eine ſchwere Kunft. Hier ift der Deut- 
hen Jahresſchau endlid einmal ein 
Treffer untergefommen; man bat die 
Gade ridtig angepadt und am Ende je- 
dem etwas auf den Weg gegeben zum 
Nachdenken und zum Genuß. 

Paul Ferdinand Sygmidt. 


Ein Briefwedfel awifden den 
Rebolutionen. 4. 

Sie baben zu meinen beiden Briefen 

im Sanuarbeft Stellung genommen 
und dabei meine Gedanfen weitergejpon= 
nen bis gu SKonfequenzen, die id fdon 
mandmal bejorgt durdgedadt babe. Sie 
fragen mid: ,Sreibt nidt ‚die Wirt- 
ſchaft' aus fid felbft die Planmafigfeit 
Hervor?“ Sie jhildern die wirt{daftlide 
Sntwidlung fo, daß die Planwirtihaft 
eben nidts als eine Reifeerfheinung der 
Wirtidaft fei, ein Zeichen des heran- 
rüdenden Alters, das an Gtelle von 
Wagemut und Initiative ein Manda- 
rinentum febt, welches ſich einridtet und 
die Kompetenzen ordnet. Und fie ironi-« 
fieren die Autfaffung, die in dieſer „ru= 
bigen, abgeflärten und bequemen Grei— 


308 


fenbaftigfeit ein Sdeal fieht, dem nadgu- 
ftreben fittlide Pflicht fei“. In den Kar- 
tellen, induftriellen Fachverbänden und 
in den ®roßbanfen und abnliden Wirt 
ſchaftskörpern feben Gie mit Redt „eine 
nidt auf Grund von Doftrinen orga- 
nifierte, fondern organiih heranwadfende 
Planwirtſchaft“. Weld unheimlihe Ber- 
wandtidaft befteht doch zwiichen der fo- 
gialiftifden und fapitaliftifhen Welt! Mit 
weld) zwingender Sicherheit hat die Sed- 
nit Unternehmer und Arbeiter in den 
Bann derjelben Auffaffungen gezwungen! 
Lind wie recht bat Marz, wenn er jagt, 
daß der Sozialismus im Schoße der fa- 
pitaliftijden Wirtidaft beranwadfe! Das 
Bild der alternden Wirtſchaft, das fid 
aus Ihren Andeutungen entwideln läßt, 
gleiht in beängftigendem Maße dem, 
welches Dr. Heinz Marr in feiner pradt- 
pollen Schrift „Das proletarifde Ber- 
langen“ als das Wunfchbild der Ar- 
beiterjhaft darftell. Gn der Sat, der 
Kampf zwifhen Kapitalismus und So— 
zialismus fieht fo feltfam aus, weil in 
Diefer alternden Wirtſchaft der geiftige 
Gegenſatz ſchwindet und nur nod der 
Streit um die Verteilung der Altersrente 
mit denfelben Schlagworten geführt wird, 
die früher eine tiefe innere Gegenſätz- 
lidfeit bezeichnen follten. Sind es nit 
die erwähnten fapitaliftifden Organifa- 
tionen gewefen, die — unter der Regie 
pon Staatsfefretär Profeffor Hirfh — 
in der Nachkriegszeit den planwirtidaft- 
lihen Ideen von Wiffel den Leib ge- 
fieben haben? Obne Diefe fapitaliftifde 
Gorarbeit und praktiſche Beihilfe — 3. B. 
auf dem Gebiete der Außenhandelsrege- 
lung — wären die Ideen Wiffels und 
vd. Möllendorf3 troß aller Verordnungen 
ebenfo auf dem Papier geblieben, wie 
die ,, Wirtidhaftsverfaffung* des deutiden 
Reides, pon der nur die Spitze, der — 
immer nod — vorläufige Reidswirt- 
ſchaftsrat porbanden ift und in einem 
Hinterhaufe der Bellepueftrafe auf den 
fehlenden Anterbau wartet. 

And wenn Gie die Planwirtidaft als 
greijfenhaft bezeichnen, jo war diefe pom 
Kartellfapitaligmus und Gewerkſchafts- 
fogialismus geſtützte Planwirtidaft da- 
gu nod ein Liederlider und fdmubiger 
@reis, ein richtiger Luftgreis, der Die 
@ier des Kapitalismus mit der Dlut- 
Iofigfeit des Sozialismus vereinigte. 
(Hirſch übrigens, der mit Wirth im rid- 
tigen Augenblid abging, um die bereits 
in $aulgärung übergebende Hinterlaffen= 
{daft der Grfüllungspolitif dem unfe- 
ligen Guno angudreben, hat jebt ein Bud 
eſchrieben, worin er dartut, wie er alles 
abe fommen feben und nur bon böjen 
Menfhen gebindert worden fei, alle 


Mebel abguftellen. Sas Berliner Tage 
blatt ift unter dem Titel „Die Kaffandra 
der Währungsfataftrophe“ ftarf von die» 
fer Prophetie poft feftum beeindrudt. 
Sh aud. G3 will mid bedünfen, als ob 
man den gepflegten Qffprerbart von 
Herrn Profeffor Hirſch nod einmal in 
Dem ehemaligen Sumberland=- Hotel feben 
würde, das % ſchäbig geworden ift, feit 
das Reihswirtfhaftsminifterium dort 
feinen Sit bat. 

Srogdem fann id an das Greiſentum 
der deutſchen Wirtihaft nidt glauben. 
G3 fommt mir eher fo por, als ob wir 
e3 mit einer porgeitigen Gridlaf- 
fung der gefunden BWirtihaftsenergien 
gu tun batten, die nun eine Reihe uns 
eigentümliher Anarten bat ind Kraut 
{dieBen laſſen, begünftigt duch die un- 
natürliden DVBerhältniffe der lebten zehn 
Sabre. Aber die Grfdlaffung ift das 
Primäre, denn {don vor dem Kriege bee 
— in der Induſtrie jene Zujfammen- 
allungen und Rompetengverteilungen, bei 
denen die Altiengeſellſchaften die letz— 
ten Gingelunternebmer einfreiften, um 
dieſes unruhige Element aus ihrer fid 
ordnenden Welt auszumerzen. In dem 
Kampf zwifhen Adolph Woermann und 
Ballin bat das Ringen gwifden Unter— 
nehmer und Generaldireftor faft ſymbol— 
bafte Deutlidfeit angenommen. Aber 
dieſe Gntwidlung diente nod Der 
Sch —— einer Wachtſtellung, nicht 
ihrer Ausbeutung. nd das, 2. 
eben der folgenden Spode den Stem ig 
fteriler Greiſenhaftigkeit aufbdritct, ift 
Umſtand, daß die errungene Kraft über- 
wiegend zur Niederhaltung der Konfur- 
tenten benüßt wird, und daß der ju- 
riftiihe Beirat des Llnternehmens, Der 
Syndikus des Verbandes, die Initiative 
übernimmt. Senes feltfame Neb abftraf- 
ten Madtbefiges in Seftalt pon Altien=- 
mebrbeiten wird immer dichter und ver 
widelter gefponnen, immer häufiger wird 
ftaatlider Einfluß ausgeübt oder in Ane 
{prud genommen. Wollen bier neue 
Wirtſchaftsformen fi) bilden oder ſchoſ⸗ 
fen in Der tropifhen Atmoſphäre der 
Inflation nur die $arnfräuter zu Baue 
men auf? 

Der eijige Wind der jebigen Krifis 
wird bier Klarheit fdaffen. Gr wird 
aber aud viele Anarten weaf en er 
fid in dem warmen SHalbdunfel 
Papiermartfalfulation haben breit — 
können. Dazu gehört die Tendenz, junge 
aufſteigende Konkurrenz nicht durch ge— 
ſchäftliche Ueberlegenheit, ſondern durch 
Abmachungen der Verbände, gar unter 
Zuhilfenahme der ſtaatlichen Autorität 
zu bekämpfen. Ferner die Neigung, Die 
Warenſeite der Wirtſchaft gegenüber der 


Geldſeite zu vernachläſſigen, wie ſie ſich 
darin zeigt, daß weit über die Kreiſe des 
eigentlichen Geldhandels hinaus Geſchäfte 
gemacht werden, bei denen die Ware ent- 
weder gar feine oder eine untergeord- 
nete Rolle fpielt wie bei den Franfen«- 
Sermingefhäften in Blei. DBefonders 
unwirtſchaftlich ift endlich der Bug, lieber 
wenige Geſchäfte mit großem, als viele 
mit geringem Nuten zu maden. (Da 
fönnte eine Snbafion von Gord Grfreu- 
fides bewirfen!) Alles in allem beob- 
adtet man ein Nadlaffen der faufe 
männifhen Entſchlußkraft, wie etwa in 
diefer Krife die bitterften Gerlufte da— 
durd entftanden find, daß man fid nicht 
überwinden fonnte, rechtzeitig mit ge- 
tingem Gerluft zu verfaufen, jondern an 
der Ware fleben blieb, bis die drän— 
genden Sablungsverpflidtungen zu mafe 
fenhaften plögliden DBerfäufen zwangen, 
Die eine viel größere Ginbufe bedeu- 
teten. 
Bielleiht wird die böje Beit, die por 
uns liegt, die wendigen und itberfidt- 
lihen Privatunternebmungen gegenüber 
den organiſatoriſch komplizierten und viele 
fad biirofratijierten Riefengefellihaften 
begiinftigen und unferm Wirtſchaftsleben 
wieder eine einfadere und fonfretere Gee 
ftalt verleihen. Auf jeden Gall muß fid 
unfre DWirtfhaft verjüngen, denn der 
bevorftehende Kampf fann nur vom 
Kaufmann, nidt vom Wirtfhaftsbeamten 
geführt Beiden, 
Albredt Grid Oünther. 
Errungenſchaftliches. 
1. Radiofunk. 

Nu erft vollendet ſich Die Drabtfultur. 

Gin Gpinngewebe bon Drähten 
fpinnt fid zwiſchen den Dadern und 
Schhornfteinen unjres Stadtteils bin und 
ber. Mit gefnidtem Gelbftbewußtjein 
{dleidhe id) unter dem drabtdurdfurdten 
Himmel hin: ih bin nod ein Menfdh 
ohne Antenne. Denn id habe feine Gee 
baltgerbibung in Radio anzulegen. Der 
Schriftjteller fteht wie Schillers Dichter 
bei der Seilung der Erde dabei. —— 
nörgelt er und bemüht ſich, Unzufrieden- 
beit in diefe berrlid tortichreitende Welt 
zu bringen. 

Nein, id ſchwöre: auch wenn ich 
Goldmarkmillionär wäre, id würde eher 
dag ‚ftille Saufen anfangen, vergraben 
in einem bolagetäfelten Simmer binter 
dem Römer und der Slaſche rheiniſchen 
Weines, als daß ich mir ein Radio— 
geweih aufs Haupt ſchnallte. Ich habe das 
Radio probiert. Beim nächtlichen Wein— 
glas hat die Seele wenigſtens von jenſeits 
des Trommelfells her Ruh, das Radio 
aber — es gibt nicht Ruh bei Tag und 


309 


Naht. Man muß immer nad der Uhr 
Ihaun, wann’s Iosgeht, um das Abonne- 
ment auszunußen. Und nadber ift man 
dem Potpourri verfallen. Das ganze Ge- 
birn wird zu Potpourri. G38 beginnt 
das Ende der Welt: die Auflöfung der 
Wenſchheit in Radiopotpourri. ©efähr- 
lid ift ein Klavier im Nahbarhaus, 
verderblih der täglihe Beitungsgraus; 
Dod) das ſchrecklichſte, das Die Menſchheit 
errung, ift der Radiofunf. 

Mein Schufter ift aud Radiat ge- 
worden. Mit der Gebirnfdnalle fist er 
auf feinem Gdemel und fdlagt mit dem 
Hammer auf dem Goblleder den Saft 
zur Sannbaufer-Ouvertiire. Mit dem 
Didten und Philoſophieren der Schufter 
ift es vorbei. Hans Sachs und Safob 
Böhme — altertiimlide Zeiten! Wir 
find ins Radiogeitalter fortgefdritten. 
Der Schufter hatte aber troßdem nod 
ein gutes Herz, er ließ mich probierens- 
halber an der Grrungenjdaft teilnehmen. 

Ich befenne, daß id zu dieſer afu- 
ftifden Abftraftion nicht fähig bin. Man 
bört die Töne, hört fie flar und deut- 
lid, genau fo wie fie gefungen und ge- 
fproden werden. Aber es fehlt ihnen die 
Raumlidfeit. Sie Hingen nidt durch den 
Raum, fie hängen nidt im Raum, fie 
find in irgend einem abftraften, dünnen 
Nirgendwo. Aud die vifuelle Begie- 
bung zum Spredhenden, Singenden, Mu- 
De RD fehlt. ollendete Ginjinnig- 
eit. 


Der Zortichritt der Kultur befteht 
darin, daß Die Ganzheit des Wenſchen 
als eine in fih geichloffene Ginbeit ge- 
fördert und erhöht wird. Der Fortſchritt 
der Bivilifation beftebt darin, dah 
der Menſch in lauter ,Gader“ und „Oe— 
biete“ gerftiidelt wird. Im Kino bat 
der Menfh nur die Augen zu. be 
nugen, die Obren find abgujdnallen und 
in der ©arderobe abzugeben (Zumider- 
Bandelnde werden durch Kinomufif be- 
ftraft). Am Radio Hat der Menfh 
Die Gehnerden abzufnipfen und das Ge— 
bir angudrebn (die Strafe für Zumider- 
bandelnde ift erft nod im Stadium der 
Grfindung. Verſchiedene Radioptifer find 
dem §ernfeben {don auf der - Spur). 

Kino und Radio bedeuten alfo Gort- 
f&hritte der Zipilifation. Sie find dazu 
da, allmählih die Kultur zu givilifieren. 
Das Theater war befanntlid einft eine 
Rultureinri@tung, aber mit Hilfe des 
Kinos haben wir es fdon ganz gut 
Seinen Siehe Sternheim, Hafenclever, 

eorg Kaifer. Der Reft ift teil Opes 
rette, teils expreffioniftijde Kuliffe und 
Jeßnerſche Sreppenbiihne. Lange werden 
fih Schiller, Kleift, Grillparger, Hebbel 
nicht mehr webren, ihre Kultur ift nur 


310 


nod) ein ganz Klein bißchen lebendig, jo 
wie ein in zwölf Stüde zerjchnittener 
Aal nod lebendig ift. Sie werden bald 
nidt mehr die Zipilifation durd Grre- 
gung eines ſchlechten Gewiſſens ftören. 
Nod ein bißchen Grrungenfdaft, und 
wir werden mit reinftem GOewiſſen über- 
zeugt fein, das Theater fei eine Stüm— 
perei gegen dag Kino gewwefen. 

Die das Kino die Zufhauer aus 
dem Theater geholt bat, bis es fid 
faum nod lohnte, viel auf der Bühne 
bergumaden, jo holt nunmehr das Radio 
die Zuhörer aus den Konzertfälen, Bor- 
tragsräumen und Kirchen. Wozu nod 
die Beine in Bewegung fesen, wenn man 
all folden Rulturfram billig zu Haus 
im Scaufelftuhl oder im Bett haben 
fann? Ordefter, Sängerinnen, Profeſ— 
foren, Kanzelredner — Radiofunf liefert 
alles prompt ins Haus. Keine teuren 
Gintrittsfarten mebr, fein Warten an 
der Garderobe, feine Enttäuſchung über 
den Blab. Früher, wenn der Redner am 
Dortragspult uns allzu gelehrt Tang- 
weilte, wagte man fic nit durd GFort- 
laufen aus dem Gaal zu blamieren, aber 
beim Radio — bumms, tilge id den Kerl 
mit einem Handgriff aus, id ſchmeiße 
ihn gleihjam verädtlih von mir. Der 
foll fih wohl in Adt nehmen. Hier 
find wir Herr. 

Das Kino bat die Sheaterfultur zer- 
trümmert. Das Radio wird die Konzert» 
fultur und PVortragskultur zertrümmern. 
Der Fortſchritt raft mit Wutomobileseile 
porwärts. 

Aber nod immer ift das Ende der 
nendlichkeit nicht zu febn. Die nadften 
Gtappen, die dem Fernhören folgen, find 
erftens das Gernfjeben, zweitens das 
Serntaften. 

Das optijhe Radio wird uns ferne 
Greigniffe leibhaft vor Augen ftellen. 
Es fommt die Zeit, da fann jeder Deut- 
fhe auf feinem Sofa nidt nur dem 
Reihstag zuhören, jondern er fann 
zugleih telenptijd den ganzen Reidhs- 
tag vor fid febn, er fann fid dabei 
amitfieren, wie feine Grwählten fid prü— 
geln, würgen und mit Tintenfäfjern be- 
werfen. Dadurd wird das politiihe 
Sntereffe weitefter Kreife angeregt. Un— 
fere Devife ift: Jedem Deutiden fein 
Reidhstag. Ebenſo fann man fid telenp- 
tif an den amerifanifd-japanifden 
Krieg anjhließen Laffen. 

Aber das ift nod gar nichts gegen 
das Ferntaften, das durch das „taf- 
tifde* Radio (Sango-Radio) ermöglicht 
wird. Da fann id nidt nur hören 
und feben, was hundert oder taufend 
Kilometer von mir fid ereignet, fondern 
ih fann es fogar berühren und an- 


~ Tanten, 


faffen. Im Programm des Tango- 
Radios würde gum Beifpiel ftehn: 8 Uhr 
15: Reichsminifter Strejemann fdiittelt 
den Teilnehmern die Hand. 8 Uhr 20: 
die Maſſary gibt allgemeinen Rundfuß 
aus. Da würde ich aber vorher ab- 
hängen. St. 


Aus der republifanifden Gefellfdaft. 
in „führender“ Berliner Seitungs- 
mann, beriidtigt durch feine ſchludrig⸗ 

felbftgefällige, aufdringlide Politifafterci, 
die der Gntente gerade dann immer ge- 
legen fommt, wenn es für Deutidland 
am ungelegenften ift, der im übrigen aber 
febr ungebalten wird, wenn man ihn 
nidt als Deutfden Führer gelten 
lajfen will, fißt in Berliner Sefellidaft. 
Wan glaubt unter fid gu fein, ein une 
bedeutender „Sremder“ wird überjehen. 
Mit Hand und Mund verfidt der große 
Mann eben wieder eine feiner mehr 
geiftreihen als gewiffenbaften Theſen; 
ein Ginwand, der von deutjchnationaler 
Seite ftammt, wird ihm aus der Gefell- 
ſchaft entgegengebalten. Da entihlüpft 
ibm das geflügelte Wort: „Das fann id 
fhon gut leiden, wenn e Goi will ge- 
{heiter fein als unfereiner.“ (VBerbürgt 
wahr.) > 
Sn dem Parteiberidt der GB. S. P. D. 
wird aud ftolg verfiindet, daß man wie— 
der ein BWibblatt babe, und zwar ein 
„republifanifches“, das „Lachen Links. 
Man kann fih ſchwer etwas Wib- und 
©eiftloferes vorftellen als diefe gequäl- 
ten und geſchwitzten Kalauer und zum 
Seil ſchweiniſchen Schmierereien. Bon 
einigen Börſenſchmonzes abgefeben, die 
man offenbar für bejonders angemeffen 
hält, um fie dem Proletarier vorgufeben 
und Die immerhin ein wenig auf Das 
„Milieu“ fchließen Laffen, aus dem die— 
jes „Witzblatt“ hervorgeht, herrſcht troft- 
Iojefte Langeweile. Wir nehmens den 
V. S. P 9.- Leuten (Kuttner zeichnet) 
aud) nidt übel, wenn ihnen der Humor 
ausgeht und der jüdifhe Gifer allzu febr 
das Konzept verdirbt. Aber eins über Die 
Singer gen jenen Piamantenfabri- 
ie aus Mangel an anderem 
Stoff gegen den § 218 (Srudtabtreibung) 
„Dichten“: 
So dient ein Weib, ee PD aes auf 
U ’ 
Teils’ der Moral und teils dem 
Nationalen, 
Wer wahrhaft driftlid ift, der braudt 
fein ®eld, 
Der Himmel wird die Alimente gablen.. 
Was weiß fold ein Geiftesbliber bom 
„Shriftlihen“? Die Republifaner von der 
„Öermania“ find da in einer netten Ge— 


fellfdaft. 2 


- auf: 


Raum ift Bofel etwas im Ginfen, 
Caftiglioni ein wenig verblaft, da fteigt 
ein neuer Stern am jitdijden Himmel 
Midael. Gein „Konzern“ ift 
Käufer für alle gefunfenen Altien, der 
neuerlide große Fiſchzug gegen Den 
Reft des mittelftändifhen Beſitzes fließt 
wieder in die ridtigen Taſchen. 
Schon bat das berüdtigte 12-L1hr-Mii- 
tagsblatthen, ein DBörfenanimierblatt 
{hlimmfter Sorte, eine Reflamenotig für 
Michael Iosgelafjen. Das erfte, dunfelfte 
Stadium ift überwunden; er wird groß 
genug, um Reflame und ,,Literatur* zu 
wagen. Bis por furzem war es nod nidt 
gan angenehm, mit diefem „Konzern“, 

er mit Induftrien handelte wie mit 
alten Gtiefeln, je nad) Konjunktur ftill- 
legte oder „produzierte“, Geſchäfte zu 
maden. Die Methoden waren zu neu- 
berlinifd. Smmerhin: die unbegreiflid 
weithergige Kreditpolitif der Reidsbanf 
u Beginn des Sabres fam dem Konzern 
Febr zugute. Dann fam ein befonders 
feines Geſchäft. Die Gelder der Poft 
wurden einer Banf anvertraut, die Mi» 
dael zu diefem Swed gegründet batte. 
Was jagte der Herr Reihspoftminifter 
Höfle dazu? In einer Beit, in der für 
taglides Geld 30 v. 9. gegeben wurde 
und die Zandwirtihaft fowie die wirklich 
produzierende Snduftrie an Kreditnot gu- 
— gebt? Das Geſchäft wurde dann 
od bemerft, freilich nicht, ohne daß das 
Reih reidliden Gewinn — wem? — 
abgeworfen hatte. Sebt fauft Michael 
alles. Die Ronfursmaffe ift ja jo herrlich 
groß. Häufer, $abrifen, Banken, Güter 
— ein neuer Raubzug ift im Gange. Der 
wiepielte feit der glorreihen Revolution? 


Hugo Friedrih Hartmann. 

Frame und Runft Hugo Griedrid Hart- 

manns ift aufs engfte mit Bardo- 
tief verbunden, der alten Zangobarden- 
ftadt, Die einft Heinrid der Löwe fo 
zerftörte, daß fie fid) nicht wieder erholte. 
Seit etwa drei Sabrgehnten wohnt Der 
Künftler dort. Geboren ift er freilich fern 
im Often in Marienwerder, aufgewadfen 
ift er in — Berlin. Seine fünftlerifche 
Ausbildung fand er in Dresden unter 
®otthard Kuehls Leitung. Nahdem er 
innerlich felbftandig geworden war, fudte 
er fih feine Heimat, und das Blut, 
das durd) die Sabrbhunderte wirkt, zog 
ihn in den deutſchen Nordweften, in 
die Landſchaft, die zu feiner Art paßt. 

Gine mannigfaltige, reizvolle Natur 
verbindet fid in Bardowief mit großen 
geihichtlihen Grinnerungen. Gs ift heut 
ein Dorf mit niederfadfijden Strobdad- 
häufern, aber der alte Badfteindom und 
der Nikolaihof zeugen von ftädtifcher 


311 


DBergangenheit. Nur eine Stunde ent- 
fernt ragt die getürmte Lüneburg mit 
ihren gotifhen Kirchen, dem ſchätzereichen 
Rathaus und den alten Giebelhäufern. 
Mitten zwifhen Aedern, Wiefen, Hei- 
de, Moor, Kiefernwäldern und der wei- 
ten grünen Ddeidhumagogenen Elbmarſch 
liegt in unendlider Ruhe das Dorf. Die 
Ilmenau trägt die Fradtfabne pon Ham— 
burg nad Lüneburg vorüber. Wie 
Träume des Sdlafenden gleiten fie da- 


in. 

Grnft, tief, verhalten, aber nicht gleid- 
förmig, fondern unerfhöpflihd reid) an 
ftimmungsoollen „Winkeln“ und Wo— 
tiven ift Die Randichaft. In einer wei- 
ten, ferngefunden Natur lebt eine ftille, 
alte, echte Kultur. Wie das Wefen die- 
fer’ Landihaft ift das Wefen des Künft- 
lers, der fie fand. 

Die Wirfung der „impreſſioniſtiſchen 
Walerei“ wird heute immer geringer: 
Nidt duch die Gegenwirfung des „Ex— 
preffionismus“, onen Burd die zeit“ 
lide Entfernung. Bilder, die einft gro- 
fen Gindrud auf ung ’madten, laffen 
uns heute fühl. Das ift der natiirlide 
Ztuglelepenneh: die $ülle der ,Begabun- 
gen mit ibren taufend Bildern ver— 

inft, e8 bleiben nur wenige Werke und 

wenige Künftler. Zugleich verjdieben ſich 
die Wertungen. Wie in der Literatur 
der einft geringfhätig behandelte Jere— 
mias Onttbelf ung immer gewaltiger em- 
porguwadjen beginnt, fo in der Ma— 
lerei Leibl. Daher treten heute die Aus- 
ftellungsfüller und Runftgebandelten des 
impreffioniftijden Seitalters mehr und 
mehr zurüd, während Künftler, die frü- 
ber verhältnismäßig wenig genannt wur- 
den, nidt nur bleiben, fondern uns 
bedeutender erfdeinen. Hartmann bat 
in den Ausftellungen der Berliner Se— 
aeffion wohl die Aufmerkſamkeit auf fid 
gezogen, Durdgedrungen aber ift er nicht. 
Gr fand wohl feinen Kreis, und fein 
Atelier in Bardowief war immer wieder 
das Biel von Kunftfreunden; aber eine 
Größe in der Welt des Kunfthandels 
und Mufeumsbetriebs wurde er nit. Er 
rangierte unter „Heimatfunft“. Weder 
pifant nod aufregend. 

Aber während id manden Größen 
des Impreffionismus gegenüber Heute 
nur @leidgiiltigfeit empfinde, fpreden 
mid Hartmanns Bilder lebhaft an. Die 
Sreilidtmaleret mit ihren Problemen, 
fehr reihe, feine und frifhe Farbigfeit, 
fider empfundener Aufbau — dergleichen 
trifft man aud bei andern. Geit e8 
„erreiht“ wurde, feit es nur nod abge» 
wandelt zu werden braudt, intereffiert 
es uns faum. Bet Hartmann aber ift 
außer dem feinen Künftlerauge und 


312 


der feinen und feften Künftlerband_ 
nod mehr: Charakter. Wir mögen nidt 
mehr bloß äſthetiſche Augentiere fein, 
feitdem wir die Schule des Lnglids 
Durdhgemadt haben, wir fuden aud in 
der Kunft menfdliden Gharatter. 

Hartmann ift aud nidt „Spezia- 
lift’, der nur eine beftimmte Gade „ann“. 
Oewiß, die Pferde auf feinen Bildern 
werden febr geſchätzt, und zweifellos ift 
er ein berporragender Maler des Pfer- 
des. Aber er malt aud SKaben -und 
Hunde, Waldinneres, Arditeftur, Still» 
leben, Heide, Meer, Watten, Menſchen 
— alles — und nod nidt „alles“. Es 
geht ihm ftet8 um die norddeut- 
{he Natur. Keine Kruzifige und Ma- 
Donnen, die Heute fo beliebt find, aud 
feine „Stätten der Arbeit“ mit SGdorn- 
fteinen und OR feine gal wr i 
Grofftadtftrafen — das würde nidt * 
nem harakter entſprechen. Aber 
was er mäßlt, iſt ſehr mannigfaltig, 
immer wieder neu erfaßt, immer wieder 
„anders“ und eben dod Hartmann. 

Dir zeigen in diefem Heft auf drei 
Blättern drei verfdiedene Geiten feiner 
RKunft. Bunaddft einen Holzſchnitt. 
Dasjelbe Motiv (Dom zu Bardowiek) 
bat Hartmann aud gemalt, aber der 
Schnitt gibt in der Reproduftion mehr. 
Zugleih haben wir damit ein DBeifpiel 
feiner fräftigen, feften Art im Se Schnitt. 
Das Blatt ift omalerifd, es wirft „far⸗ 
big“, nicht „linear“. Aber die Linie iſt 
nicht ausgeſchaltet ſondern ſpielt inner⸗ 
halb der großen GOegenſätze pon Schwarz 
und Weiß ihre Rolle. Den. dunflen 
Kern bildet der Dom. Nun beadte man, 
wie das Weiß pom Gröboden über die 
Wände und Dächer binaufgebt, fid in 
den Bäumen aufwölbt und verliert, wie 
ibm das Helle des Himmels Widerpart 
Halt, und wie bas Gange von vorn nad 
binten fid aufbaut, umwölbt vom Raum. 
Der Himmel wirft madtig Burd die 
Wolfen. Dod das Kompofitionelle ift 
nur widtig für den Künftler, 
gebt uns nidts an. (Der Teufel Hole 
Die Kunfterzieherei mit ihrer äſthetiſchen 
Analpfe, dem Laien ziemt nur Qualis - 
tätsgefühl.) Wir fragen, ob das Bild 
nidt nur ,gefonnt* ift, fondern ob es 
ung etwas ift. Da ift uns der Dom das 
dunfle Geheimnis, hingelagert, faft wie 
ein Zier bingefauert. Die Dunkelheit iſt nicht 
tot, ſondern in den gotiſchen Fenſtern 
glimmt verborgenes Leben. Sp liegt ed 
wudtig zwiſchen Abendfonne und Regen 
fdauer. Die Haufer der Menjhen ume 
eben das heilige ngetüm wie eine 
las muntere Gnfelfdar den greifen, 
wiffenden Abn. 

Bon den bemwunderten „Pferdebil- 


dern“ Hartmanns gibt der „Seierabend“ 
ein Beifpiel. Mit weld feinem Oefühl ift 
Erde und Himmel gegeneinander auf- 
— und wie ſicher ſteht die Oruppe 
arin! Wer mag, verfolge die Stellung 
der Pferdebeine, ihre „Bedeutung für 
den Aufbau“, Die Gegenbewegung Des 
Gggenden im Hintergrund, die Abge- 
wogenbeit bon Hell und Dunfel, der die 
Abgewogenheit der Farben entipridt. 
ins aber intereffieren Die beiden Pfer- 
Dewefen, die mit diefer Kunft dargeftellt 
find. Ihre Grmattung, ihre Rube, das 
mit Worten nidt auszufagende müde 
Ropfbangen und leife Schnaufen, das 
Pferdhafte in Berbindung mit Acer und 
Himmel. 

Gndlid geben wir eine rafhe Far- 
benffigge wieder, die mit vielen andern 
in den lebten Jahren an der Nordfee 
entftanden ift. Hartmann bat dort das 
„werdende Land“, die Watten, Die 
Priele ftudiert. Hier haben wir anges 
Ihwemmte Warſch. Schon ift der Schlid 
bon faftigem Gras überzogen, fdon find 
ein paar Kühe binausgetrieben. Sn dem 
Priel (natiirlide Bafferrinne im Schlick) 
fteht nod) das Salzwaſſer, das bon der 
Glut zurücdgeblieben ift. Gern über dem 


@®elb und Grün der Wiefen ift der fhma- 
fe violette Schein des Meeres fidtbar. 
In dieſe Skizze ift die Ginſamkeit und 
Mrwiidfigfeit des fid bildenden feften 
Landes zwifhen Erde und Meer binein- 
emalt. Es ift nicht bloß „Wiedergabe“ 
er gejehenen Natur, fondern — das, 
was ſich nit ausfpreden läßt, was aud 
niemand pbotograpbieren und ume 
ſchreiben fann, fondern was der Waler 
aus feinem Anblid und feiner Stimmung 
eben nur malen fann. — 

Meift leitet man den „deutſchen Im— 
preffionismus“ von ,frangdfifden Bore 
bildern“ ab. Daß mande deutihe Ma- 
ler fid) Anregung und malerifhe Tech— 
nif aus Paris geholt haben, ift befannt. 
Aber aud) ohne Paris wäre eine im- 
preffioniftiihe Malerei bei uns entftan- 
den. Gin Werf wie das Hugo Friedrich 
Hartmanns ift in Sedhnif und Gehalt fo 
aus einem ®ufß, daß e3 ganz deutid 
ift; ein SHinüberbliden auf franzöfifhe 
Meifter bilft uns nichts gum befferen 
Gerftandnis. Hartmann fann nur ver— 
ftanden werden aus feinem deutſchen 
Weſen in diefem beftimmten Zeitalter 
deutfher Kultur. St. 


Der Beobachter 


Der General Berthold von Deimling 
veröffentlicht in der Frankfurter Bei- 
tung einen ganz gemütlichen Schrieb von 
wegen: der Wilitärkontrolle. Im Stil 
einer Bugendigriftftellerin aus den adte 
iger Sabren beginnt er: „Liebe Leferin 
und lieber Lefer!* Und dann erzählt der 
gute, liebe ®eneral der guten lieben Lee 
ferin, daß er in®enf beim guten, lieben 
Bölkerbundsrat geweſen fet und — nun 
hau mal einer! — „aud GSelegenbeit 
gebabt babe, mit Bundesratsmitgliedern 
über die allgemeine politifde Lage zu 
{preden.“ Na nu ja dod, da ham fe 
den guten, lieben ®eneral alle febr nett 
angehört und find aud alle gut und 
lieb getvefen mit der verdienftvollen und 
würdigen Szcellenz. Und Gzcellenz glau- 
ben es ihnen auf Wort: „Die ganze 
Welt febnt fid nah Frieden und er- 
bofft ibn durch Zufammenwirfen im 
Völkerbund. Nur Deutſchland 
ſteht noch abſeits! Nein; wir 
dürfen uns den Eintritt in den Völker— 
bund nicht verbauen laſſen durch eine 
Geiftesridtung, die zum Fluche Deutſch⸗ 
lands troß der blutigen Lehren des Welt«- 
frieg3 nod) nicht begriffen bat uſw. uſw. 
(folgt die üblide liberale Phrafe)... 


Nad meiner Meinung müffen wir jebt 
den Alliierten fagen: ,Rommt und 
fontrolliert und febt nad, 
wasundfoviel Shrwollt. Wir 
wollen Gud alle Kiften und 
KRaften öffnen! — Was ift denn da» 
bei, wenn fie wirflid) Waffen finden? 
Bird die franzöfiihe Politif in Zu— 
funft in ein anderes @eleis gelentt, 
dann werden aud Gertragswidrigfeiten 
gang von felbft aufhören. Alles 
werden die Alliierten einfeben und 
begreifen und werden froh fein, 
die Kontrolle fobald als möglich in die 
Hände des Völkerbundes legen zu 
fonnen.“ Hat der gute, liebe Profeffor 
Wilſon nidt aud „eingefehen“ und „be= 
griffen“, ift er ſchließlich nidt aud febr 
„froh geweſen“? In dem Augenblid, da 
die Nolletiften Hinter jeder Ddeutfden 
Sagdflinte einen neuen Weltfrieg wit- 
tern und da Granfreid, England, Ame- 
rifa, Polen, Tſchechoſlowakei und felbft 
Dänemark (entgegen den Worten von 
Gerfailles) rüften, rüften, rüften, mutet 
man uns zu, den gewappneten Gewal- 
tigen vertrauenspoll im Hemd entgegen- 
augehn und ihnen mit feelenvollem blauem 
uge Ddeimlingsbaft an die eberne Bruft 


313 


zu finfen? Aber im Grnft, Gecelleng! 
Wenn Sie wiinfden, daß Leute, deren 
berglide Beforgnis mit den von Ihnen 
beliebten Scheltworten über den Natio- 
nalismus nicht abgetan ift, in Ihren 
Worten mebr fehn follen als den Aus- 
drud einer bebagliden Laune am Raf- 
feetifd, fo müffen Sie Ihre innere Gtel- 
lung zu den Dingen zuvor flar und offen 
duch die Beantwortungder folgenden bei- 
den Gragen begründen: Grftens: warum 
glauben Gie, daß es genügt, wenn 
Deutſchland abgerüftet bat? Warum 
verlangen Gie nidt, daß die andern 
Bölfer in gleider Zeit und in 
gleidem DMaßftab abrüften? 
Die ift Bertrauen ohne Gegenſei— 
tigfeit möglihb? Zweitens: Halten 
Sie die Wegnahme Glfah-Lothringens, 
Danzigs, des preufifhen Oftens und der 
Deuter Kolonien für einen Wi der Ge- 
redtigteit und find Gie bereit, end- 
gültig auf Glfaf-XSothringen 
ufw. zu vergidten? Sa oder 
nein, Herr General bon Deim— 
ling? Und wenn Gie nidt ja oder 
nein jagen mögen, jo follen Ihnen auf 
Ihrem Sterbebette diefe drogen ſchnei⸗ 
dend in die Ohren gellen und im Jen— 
ſeits ſollen Ihnen die Väter, die für 
die deutſche Freiheit gefallen ſind, mit 
dieſer Frage entgegentreten. 


Sr Seift, den man „marziftiih“ nennt, 
fommt in flaffifder Reinheit in 
einem gewerffdaftliden Pfingft-Auffat 
im „Borwärts“ pom 8. Suni zum Aus— 
drud. Die driftliden Worte werden fo 
unbefangen ing Marziftiihe umgedeutet, 
daß wir diefe an fih unbetradtliden 
geilen als Kulturdofument und Mufter- 
beijpiel aufheben: „Der Heilige Geift... 
bildet fid in uns, getragen von der Er— 
fenntnis, daß in der fapitalifti- 
{hen Wirtſchafts- und Gefellfhaftsord- 
nung die Sntereffen der großen befit- 
Iofen Maffe des Bolfes in durdaus un- 
ureihendem Maße berüdjichtigt wer— 
en,... daß die privatfapitali- 
ftifde Broduftionsmeife nidt 
bon ewiger Dauer, fondern nur eine 
Stufe in der Gntwiclungsgefdhidte der 
Menfchheit ift, pon der aus eine höhere 
Stufe zur ſozialiſtiſchen Wirtfhaftsord- 
nung führt. Dieſe Grfenntnis in Bere 
bindung mit der Gmpörung ob der 
gegenwärtigen zwiefpältigen Ordnung der 
Dinge, dem Mitleid mit ihren wehr- 
Iofen Opfern, führt zum inneren 
a tek mitzuarbeiten an dem großen 
Werfe der Menfchheitsbefreiung aus dem 
Sode diefer egoiftifhen, ungeredten und 
recht unvollfommenen Geſellſchaftsord— 
nung... Der Geiſt des Sozialismus 


314 


beihwingt die Herzen, erhellt die Hirne 
und befeuert die Zungen der Apoftel, 
die in allen Ländern Das Gpange- 
lium des Sozialismus verfünden 
und ibm duch ihr Wirken die Bahn 
bereiten. Gein Wunderwerf ift, daß er 
Die Arbeiter, die fid im Weltfriege 
jahrelang in feindliden Lagern bewaff- 
net — wieder geeint bat.“ 
— uch ein Heiliger Geiſt, eine Er— 
kenntnis, ein Zungenreden, ein Apoitel- 
amt, ein Gpangelium, ein Wunder. Etwa 
fo, wie ein Kino „aud“ ein Theater ift. ~ 


Geors Bernhard, auch einer, der ſich 
„an Klugheit von feinem Goi über— 
treffen läßt“, redet uns zu, den Grane 
gojen Die derzeitige Weftgrenge zu ga- 
rantieren. Die Gljajfer feien ja nun dod 
einmal nit deutſch, fondern frangdfifd 
gejinnt. Das ift nun zwar falfd, aber 
aud wenn es ridtig wäre — Elſaß-Loth— 
ringen ift nidt eine Frage des Willens 
der einen oder andern Partei, fondern 
eine Grage Ded Redts. Das Redt 
ift nicht beftimmt durch den Willen ir- 
gend welder einzelnen, aud nidt durd 
den Willen der Ginwobhner des Landes, 
fondern es ift eine Angelegenheit der 
®ejfdhidte , 


bilipp Scheidemann bat auf dem ſo— 

zialdemofratifhen Parteitag eine 
feiner gefdmalgten Gettdrucdreden losge— 
lajjen. Nad dem Berliner Tageblatt 
\hloß er mit folgendem ©lanz- und 
Kraftwort (man le daß wir nidt 
in begeiftertem Gettdruc zitieren): „Die 
Rrrepublif muß verteidigt werden — fofte 
e8, was es wolle — mit Leib und Lee 
ben.“ Nad dem Vorwärts fagte er: 
„Die Gerpflidtung wollen mir eine 
geben, unbejhadet unferer fonftigen 
Pflidten, die Republik zu retten, fofte 
e8, was es wolle, und zu fampfen für 
die Republif mit Leib und Geele.“ — 
Bir ridten an den mit dem ehrwürdigen 
Oberbürgermeifterleib für feine Repus 
blik fämpfenden Philippum zween Fra— 
gen. Grftens: Will er für die Republik 
nur gegen feine deutſchen Bolfsgenoffen 
oder aud) gegen Die — Bel⸗ 
ier ufw. mit dem Leibe und der Seele 
ämpfen? Zweitens: Sft der Leib- und 
Geelenfampf nur für die Republit 
oder aud für das Baterland zu- 
laffig? 


n irgendeinem Prozeß gwifden zivei 
Deutihpöltiihen erfdeint der völfi- 
Ihe Abgeordnete Henning mit einem 
Hafenfreuzabzeihen wor Geridt. Der 
Almtsgeridhtsrat, Der fid) diefen fetten 
Happen nicht entgehen läßt, ift juftament 


Herr Friedlander. Gr weiß zivar, 
erften3, daß der Abgeordnete Henning 
völtifh ift, zweitens, daß das Haken— 
freug das Abzeichen der völkiſchen Partei 
if. Gleichwohl gerät er beim Anblid 
des hübſchen fleinen Kreuzes mit den 
böfen Hafen in Wallung. Gr hat nidt 
die Shipp BAA ein allbefanntes 
Abzeihen ruhigen Blutes anzufehn oder 
darüber binwegzufehen. Das Reffenti- 
ment bringt fein ®emüt zum Sieden, er 
poltert, daß ein foldes Abzeichen auf 
einem Rod „die Ehre und Würde des 
Gerichtes verlege“. Warum verlegt e3? 
Was hat das Reffentiment des unfried- 
lihen Herrn Friedländer mit Ehre und 
Würde des Geridtes zu tun? — Mande 
Leute fönnen die blonden Haare nidt 
ohne Reffentiment anjehn. PVielleiht ver- 
langt einmal ein Amtsridter, daß Klä— 
ger und Zeugen zur Ehre des Gerichts 
mit jhmwarzgefärbtem Haar erfdeinen? 
Wer fist uns vor den Laderlid- 
feiten folder Hyſterie? — Sd habe nie= 
mals ein Hafenfreuz oder fonft ein Ab— 
ricer getragen. Aber id) möchte eben 
arum betonen, daß id) die wilde Wut, 
mit der viele aufgeregte Suden das 
Hafenfreug berühmt gemadt haben, als 
dumm empfinde Gelaffenbeit ſcheint 
nidt die Tugend unferer verehrten jit- 
difhen Mitbürger zu fein. — Aehnlid 
liegt e8 bei Dem Kampf gegen das 
„Borfum-Lied“. Es ift eine fhauderbafte 
Boefei — ein @affenbauer wie viele 
andre. (Mander antigermanifde Saffen- 
bauer jüdifher Provenieng ift pöbelhaf- 
ter.) Die Leute in Borfum wollen 
eben unter fih fein. Wenn man mid 
irgendwo nicht haben will, gebe id nicht 
bin. Die aufgeregte jüdiihe Seele will 
nun aber gerade hin. Man muß 
Swiebeln und Rnoblaud auf die Wunde 
legen. Iſidor der Allgewaltige febt den 
Minifter, den Oberpräfidenten uſw. bis 
zum Landrat für feine bedräute Frei=- 
zügigfeit in Bewegung. Die Borfumer 
werden auf alle Weile fchilaniert. Der 
Landrat muß das Lied verbieten — eine 
grotesfe Amtshandlung. Die Gdupo 
muß anmarfdieren und eine Sdladt ge- 
oy Die Borfumer Rurfapelle fchlagen, 
i8 das Borfum-Lied tot am Boden 
liegt und der letzte raffenbaffende Trom— 
petenton bafraffelnd im abendliden Ze— 
phyr verflingt. Gndlid) aber ftellt das 
Gericht feft, daß in der freien deutſchen 
Republif die Landräte fid den Teufel 
um @affenbauer zu fümmern haben. 
Ein Landrat fei fein Rabbi. Die 
Rurfapelle jchmettert wieder vergnügt 
ihren Raffenbaf in den Nordfeeabend 
Binein und der Landrat ftebt beladelt 
am WMeeresftrande. ©algen = Bernhard 


mwütet mit der Feder. „Was denfen jih 
eigentlih folhe Ridter in Preußen?“ 
{dreit e8 aus feiner verwundeten Seele 
auf. O Iſidor — o deutihe Republif! 
— Nadtrag: Landrat Bubert in Em— 
den hat foeben in republifanifhem Land— 
ratggorn den Badedireftor weggejagt. 
Schneid muß ein Landrat haben. Das 
Ladheln ſchwillt zu einem Geladter. Hof- 
fentlid) wird ibm bald deutlich gemadt, 
Daf republifanifhe Landrate ihre Amts— 
befugnis niht dazu veriwenden follten, Be- 
weismaterial für das Schlagwort bon 
der ,udenrepublif zu liefern. 


Wi baben eine Freude gehabt, die 
wir durdaus nidt bei uns behalten 
fönnen. lle, die mit Golfsbildbung zu 
tun haben, mödten wir Anteil an unfrer 
innigen §reude nehmen lafjen. Namlid: 
es gelangte ein Grofpeft zu uns, in dem 
Dr. R. v. Grdberg und Dr. Werner 
Pidt mitteilen, daß fie die beiden Zeit- 
I&riften ,, GBolfsbilbungsardio* und „Ars 
beitsgemeinfhaft“ in ein ,Ardiv für 
Srwadjenenbildung“ zujammengelegt bat- 
ten. Man babe den Aufgabenfreis er- 
weitert „entiprehend der Wandlung, die 
fih im freien Golfsbildungswefen über- 
Haupt vollzogen hat“. Was foll das für 
eine Wandlung fein? Lies, Lefer: „Die 
freie Bolfsbildungsarbeit muß heute nati- 
onal (wennaud gewif nicht nationaliftifd) 
betont fein, wenn fie ihre Aufgaben er- 
füllen will, die geiftige Bolfsgemeinfdaft 
alg Borausfebung der politiiden zu ver— 
wirklichen.“ — Subilate, cantate im na- 
tionalen Himmel! Aber mit dem leiſen 
Bedenken: Heute muß die Bolfsbil- 
dungsarbeit „national betont“ fein, wie 
aber, o Sreunde, muß fie morgen bez 
tont fein? 


gx Gorjdhlag des Beobadters, den 
Radiofunf in den Dienft des Univer- 
fitatgabbaus zu ftellen, hat die begei- 
fterte Zuftimmung aller fort{drittlid ge- 
finnten Lefer gefunden. Welde Erleich— 
terung des Studiums! Go ließe fid bei- 
ipielsweife Früh- und Dammerfdoppen 
auf das angenebm{te mit dem Borle- 
fungsbefuh verbinden: man erftebt beim 
Kellner eine Hörmarfe, jdnallt fid die 
Weisheitsijpange um das von Wiffens- 
durft bdurddrungene Hirngewölbe und 
birt — etwa Friedrih Meinede über 
die „Sntwidlung vom bimmelblauen 
Deltbürgertum auf dem Umweg über 
den Nationalftaat zum rofenroten Welt- 
Bürgertum“ oder was man grad’ zum 
Gramen braudt.  Bwifdhendurdh Tann 
man „borfommen“, ,nadfommen“, „aufs 
Spezielle“ — furz, man verbindet das 
Nüslihe mit dem Angenehmen. Sämt- 


315 


lide Bierdirfer würden fid natürlich 
Weisheitsantennen zulegen. Der Fort- 
ſchritt der Sednif ift gar nidt fo un- 
bebaglid, man muß ibn nur ridtig zu 
gebrauden wiffen. 


om amerifanifhen Theater gibt Were 
ner Krauß im B. T. einige Gin- 
drüde wieder, die wohltuend fadlid find. 
„Das amerifanifhe Theater in feiner 
heutigen Gtruftur fönnte dem deutſchen 
in vieler Hinfiht Vorbild fein. (SH 
fann das wohl fagen, ohne in den Ruf 
eines Moralpredigers zu fommen.)“ ind: 
„gablreih find in Newyork die Repue- 
theater, Die man mit den Deutfden nicht 
in einem Atemzug nennen fann. Port 
herrſcht nicht die derbe Bote, im Grunde 
find diefe Repuen furdibar harmlos, 
aber die ſchönen Frauen, die fid darin 
bewegen, überhaupt der ganze gejhmad- 
volle Rahmen, find von jo auserwählter 


Anmut und Gragie, daß man reftlos 
begeiftert Diefe Theater verläßt.“ — 
Sleihwohl wird der Wolfgang Heine, 
der alte Gorfampfer für nuditäre Runft, 
nit aufhören zu behaupten, die Deut- 
fen madten fid durd Ablehnung goten- 
durdfebter Kitſchkunſt „por den andern 
Völkern laderlid“. 


Au der großen engliſchen Wembley- 
Ausftellung ift zu febn: das Dent- 
mal des Prinzen von Wales mit Pferd, 
lebensgroß aus Butter gefnetet. Zu 
befidtigen in einem Kühlraum. Darunter 
ftebt zu leſen, daß des Bolfes Liebe 
zu diejem Prinzen „nie fchmilzt“. Be 
pretty — is’ nt? Ob Gatberland! J 
braude mid Deiner Hausgreuel und 
Sünden wider den Geift des Diirerbune 
des fürder nicht mehr zu fhämen. Wir 
find aud) auf dieſem G@ebiete ruhm- 
poll bejiegt worden. 


Zwiefprache 


SS). diefes Heft in die Ferien eines er- 
freulid warmen Sommers fällt, bale 
ten wir es für angemeffen, dem Lefer 
eine bunte Schüjfel Allerlei vorzufeben, 
daraus jeder fih einiges entnehmen 
mag. Wir bringen einen „Bücherbrief“, 
der, in Gortfebung der einft regelmäßigen 
BDiidherbriefe, eine nod nicht bei uns be— 
handelte Bidergruppe zufammenfaßt.“ — 
Claſſens Aufſatß ift gunadft für päda- 
ogijd intereffierte Kreife beftimmt, ent- 
alt aber aud etwas für Nidtfadleute. 
Dabei weijen wir darauf hin, daß Glaf- 
fens „Werden des deutſchen Bolfes“ 
bald abgefdloffen fein wird. Das vor— 
legte Heft ift das 13/14: „im Gine 
beit und Sreiheit“, 208 Seiten. Geheftet 
2,50 ME Darin wird die Zeit pon 1812 
bis 1858 behandelt. Zunädft der Frei— 
beitsfampf, dann die Biedermeiergeit 
(„Stilles Wadfen“), gulebt Die Rebo— 
Tution bon 1848 mit ihren Nadwirfungen. — 

Kunft und Literatur im vorliegenden 
Heft ift diesmal niederfählifh, wenn— 
gleid) Klopftod und Gobnreh febr weit 
auseinanderliegen. Klopftods Zweihun— 
Dertjabrfeier wollte ih nicht übergehn, 
nad@dem wir uns mit feinem Sabres- 
und Seitgenoffen Kant im April fo aus- 
führlih bejdajftigt hatten. Zudem find 
Klopftods Oden Freunde meiner Sugend, 
id babe fie einft alle gelefen und in 
ihnen geſchwärmt. Aud gehöre id zu 
den wenigen Wenfden, die den Meſ— 
fias zu Ende gelefen haben. Abfidt- 
lid) babe id nidt über Rlopftods Stel- 
lung zur politifdhen Zeitgeſchichte ge- 


316 


ſchrieben; denn es ſcheint in Deutidland 
Mode zu werden, aud die Klaſſiker dar- 
aufbin angufebn, wie fie wohl zum 
Reihstag gewählt haben würden. Der 
„Vorwärts“ führte feinen Lefern zwar 
Riopftods Antityrannentum und Degei- 
fterung für Die franzöſiſche Revolution 
por, Dod verihiwieg er Dabei die Ode 
pon 1793: „Mein Irrtum“. Schon 1792 
Didtete Klopftod Strophen gegen „Die 
Sacobiner“. Und dann folgen die bittern 
Oden „Das Neue“ (1793), „Das Bere 
fpreden“ und „Zwei Nordamerifaner“ 
(1795). Ferner denfe man an die im 
„Vorwärts“ gleidfalls verfhwiegenen 
Gaterlandslieder und Bardiete. Klopftod 
Dadte groß und frei, aber Motive und 
Ziele feines politifhen Denfens Hatten 
nichts mit auffläreriihem frangdfifden 
Sanatismus zu tun, fondern waren von 
vornehmſter Deuifdbeit. Warum die par- 
teipolitiihe Plafatierung und Verſchmie— 
rung der Klajfifer? 

Sohnrey zu würdigen fommt gerade 
unjrer Zeitihrift vor allen zu. Geine 
praftiihe und feine literariſche Arbeit 
fteben gang im Dienfte des Golfstums; 
ibm baben wir befonders viel gu dane 
fen. Wilhelm Heinridh Riehl ift freilich 
umfaffender und geiftiger, dafür aber 
fteht er den von ihm fo bod gemerteten 
Bauern fdon faft mit äfthetijhem Inter- 
effe gegenüber; Gobnret dagegen ftebt 
felbft nod mitten im Bolf, [ebt und fühlt 
wie das Bolf, er denkt und fdreibt nicht 
über die Bauern, fondern aus une 
mittelbarem Zuſammenhang mit ihnen. 


Leber Hugo Friedrid Hartmann bat 
das Deutfhe Bolfstum fon por meiner 
Seit einen Auffat von Grnft Linde» 
mann gebradt, dazu eine Anzahl Bilder 
(September 1917). — 

Im porigen Heft beobachteten mir, 
dad Alfred Kerr nur in beideidener 
Parenthefe feines Gmpfanges duch den 
are Coolidge gedadte. Aber er 
at's nicht laffen finnen: ingwifden lie- 
ferte er eins feiner umfangreidften B. T.⸗ 
Geuilletons über dieſes Greignis. Kerr 
quittierte, feiner Natur gemäß, mit Sro- 
nie. Aber fo vorfjidtig, daß Soolidge 
e3 nidt merft, zumal wenn er es in 
guredtgemadter Lleberfebung lieft. Wenn 
wir Kerr die ®rabrede zu halten hätten, 
würden wir jagen, er fet ein ungemein 
vornehmer Geiſt gewejen. — 

Su meinem Beitrag über DBornhäu- 
fers „DBergpredigt“ im vorigen Heft 
midte id nod ausdrüdlih Hinzufügen, 
daß mit diefer Erklärung der Sefusworte 
die Berufung der Bazififten auf Die 
Worte vom DBadenhinhalten, pom Rod 
und Mantel, von der Geindesliebe hin— 
fällig werden. Es handelt fid um eine 
Apoftellebre für die Zwölf, nidt um 
eine Gthif für die Menſchheit. Tene 
Worte feben die Gnade voraus, fie find 
nidt G©efeh einer gnadelofen Welt. — 
Man weift mid auf Sobannes Willers 
Bergpredigt Hin. Aber dieje ift andrer 
Art. Millers Grfenntnis ift intuitiv, 
Bornhaufers Arbeit ift fHlidt wiffen- 
{haftlidh. Müller, der gerade in feiner 
Srläuterung der Bergpredigt febr eines 

ibt, fann man annehmen oder ab- 
ehnen, Bornhäuſer fließt das Gub- 
jeftive aus. — 

Leber die wieder einmal „entiheiden- 
den“ politiſchen Borgange dieſes Mo— 
nats werden wir im nächſten Hefte ſpre— 
chen, wo wir des Kriegsausbruches ge— 
denken. Wir find der Meinung: Mace 
donald fowohl wie Herriot find den 
iibliden liberalen ®edanfengängen ver- 
fallen. Aber Macdonald fann nidt, wie 
er mödte. Gr hat feine Najorität. Die 
Gnglander werden mit dem liberalen Go- 
talismus fertig werden: fie laffen ihn 
fig abregieren. Wud Herriot fann nidt, 
wie er möchte. Der fluge, harte Poin- 
care hemmt ibn. Aber — Herriot bat 
bis zu einer gewiffen ©®renze immerhin 
eine Wajoritat. In Frankreich bat ein 
Ringen eingefebt zwifhen der nationalen 
©ruppe, die vor allem GFranfreihs Gloire 
will, und der internationalen @ruppe, 
Die vor allem eine ruhige gefdaftlide 
Gntwidlung will. Reine von beiden 
Gruppen hat zur Beit die völlige Ober- 
band, es gibt Rompromiffe und „Ausle= 
gungen“, Wbhmadungen und Ableugnun- 


gen. Damit bat Granfreid Diefelbe 
Spaltung in fid, die uns ſchwächt. 
Denn jest in Deutſchland ein Politifer 
mit einfahem Bauernverftande regierte, 
er würde dem — —— Li⸗ 
beralismus eine iederlage bereiten 
fönnen, daß die Jahrhunderte Laden. 
@erade jest ift die Zeit für einen deut- 
{hen ®olitifer. Den Liberalismus fann 
man immer bineinlegen; denn er ift 
leßten Endes dumm. Aber — der deut- 
fhe Reichskanzler fagt: unfre größte Sor— 
ge fei die wirtihaftlihe Schwierigkeit. ° 
Sir einen liberalen ®ejhäftsmann mag 
das wohl der Gall fein, für einen Po— 
litifer ift Die deutſche Freibeit 
die größte Sorge. Wir hätten nichts da- 
gegen, daß unfer Reidstangler folde 
Worte redete, wenn wir nur nidt an- 
nehmen müßten, daß er — felbft in aller 
Unſchuld von ihrer Wahrheit durch— 
Drungen fei. Gr felbft denkt ganz in 
liberal=-demofratiihen Gedanken und ar- 
beitet mit liberaler Logif. Gr fagt: wir 
erftreben „die Freiheit und Gleidbered=- 
tigung des deutſchen Bolfes3 im Kreije 
der Nationen, und fagt im felben Atem- 
zug: wir erftreben nichts andres als die 
genaue Erfüllung des Gerfailler ,Ber- 
trags“. Alſo wenn wir das DBerjailler 
Diktat erfüllen Dürfen, find wir eine freie 
und gleidberedtigte Nation. Der Par- 
lamentarismus bringt wunderbare Lo— 
gifer an die Führung des Staates. Aber 
Die Majorität bemerkt dergleihen nidt. 
Solange bei uns die Majorität Die 
@rundlage des Staates ift, werden wir 
das Schidjal aller Majoritaten haben: 
entiwveder die Knute oder den Unſinn. 

Bisher zeichneten alg Mitredafteure 
des „Deutihen Volkstums“ Herr Dr. 
Benninghoff von der Deutfhen Bühne 
und Herr Kleibömer von der Fidte-Ge- 
fellihaft. Beide waren durd ihre Tätig- 
feit jo febr in Anſpruch genommen, daß 
fie praftif® nur als Mitarbeiter 
belfen fonnten. Aber es follte die Gin- 
beit der Arbeit in den innerlid zuſam— 
mengebdrigen Organifationen betont were 
den. Dod bat zumal die Deutihe Bühne 
eine Gntwidlung ganz für fid genom- 
men. 68 ift nun für die Mitarbeit inner- 
Halb der Redaktion Herr A. ©. Giin- 
ther eingetreten, den Die Lefer aus dem 
„DBriefwechfel gwifden den Revolutionen“ 
fennen. Diefe Beitrage mußten feiner- 
zeit leider ausgefebt werden, da der Ber- 
taffer ſchwer erfranfte; der „Briefwech— 
fel“ wird nun weitergeführt. 

Die Worte am Schluß des Heftes 
find der Graählung „Der Poften der 
Stau“ entnommen, auf die wir das 
porige Mal bei der Bejpredung der 
®olgidhen Ausgabe von Luiſe von Fran- 


317 


cois „Meiftererzählungen“ (Boigtländer, 
Leipzig) bejonders hinwiefen. — 

Wir laden unjre Greunde ein zu der 
„zagung für deutſche Nationalerziehung“, 
Die von der Fichte⸗Oeſellſchaft anfangs 
Oktober in Hamburg, im Auditorium 
mazimum der Univerſität, einberufen 
wird. Am 2. Oktober Begrüßungsabend. 
Herr Profeſſor Dr. Felix Krueger, der 
zweite Vorſitzende der Geſellſchaft, hält 
die Begrüßungsanſprache. Am 3. und 4. 
Oktober finden drei Vorträge, mit Aus— 
ſprachen, ſtatt. Herr Profeſſor D. Dr. 


Otto Scheel-Kiel wird ſprechen über die 
Entwicklung vom fpätmittelalterlihen zum 
modernen Staat, Herr Profefjor Dr. Othe 
mar Spann-Wien über den Staat als 
Schöpfer und Geſchöpf des Bolfstums, 
ich felbft fprede über deutſche National» 
erziehung. G8 find nod) weitere Ber- 
anftaltungen in Ausficht genommen. Die 
Seilnehmerfarte ift für 6 ME. durd das 
Arbeitsamt der GFidte-Gefellfdhaft (Ham- 
burg 36. Poſtſchließfach 124) zu haben. 
Alles Nähere wird von dort befannt- 
gegeben. St. 


Stimmen der Meifter. 


„Ein Kind gehört ſeinem Vater und eine Frau unter das Dach ihres Ehemannes.“ 
„Und wenn ihr die Ehre verbietet, unter dieſem Dache zu weilen?“ 
„Die Ehre? Gine Frau bat feine Ehre, die ihr etwas verbietet, Madame.“ 


Anverſchanmt IE 


tief die Grafin in höchſter Gntrüftung. 
Der Preuße verjette defto gelaffener: 


„Beruhigen Sie fid, Grau Gräfin; was Ghre ift, wiffen nur Männer, denn 7s 
allein wiffen für fie einzuftehen. Bei den Weibern heißt das Ding anders.“ 

„And wie beißt eg, wenn id fragen darf?“ 

„Es beißt Reufchheit und Treue, Madame.“ 

"And welche ©enugtuung foll aus diefem Quiproquo für eine beleidigte Frau 


deduziert werden?“ 


„Die Genugtuung einer übereinftimmenden Pflicht. 


Denn gleihiwie der Mann 


pon Ehre feinen Poften nidt verlaffen darf — wie, zum Exempel, id den meinigen 
nit verlaffen dürfte, bis der Wachtmeifter Lehmann mid ablöft —, gleiderweife 


verpflichtet die Treue au 


dh die Grau, auf dem ibrigen ftandzubalten.“ 


„Und was nennen Gie den Poften der Frau, mein Herr?“ 

„Allemal das Haus, in weldhem ihre Kinder erzogen werden miiffen.“ 

„And wenn fie auf diefem Poften beleidigt worden ift?“ 

„Mag fie Hand über Herz legen und fein Gefdrei erheben. Gin jeder Wade- 


Dienft hat feine Laft. 


„Eine bequeme Moral für die hoben Herren, die ihre Beleidigungen raden 


dürfen.“ 


„Au contraire, Madame, eine bequeme Moral für Die Ihönen, Damen, die fie 
nit" raden, eventualiter ih auf einen Gerteidiger berufen Dürfen.“ 
„®anz gut, mein Herr, infofern der berufene Berteidiger ‚nit zugleich der Be⸗ 


leidiger ift.“ 


„Madame, ein Mann, der feine Frau beleidigt, ift ein Poltron, und Hat alle 


Shancen, ein Pantoffelheld gu werden. Zu feinem Nub und §rommen, verftebt fid, 
und dur eine räfonable Grau. Möge fie denn in Gottes Namen die Hofen an- 
ziehen an feiner Statt und weder er nod fie und ihre Schußbefohlenen werden fid 
zu beflagen haben.“ .... 

„Aud die Treue hat ihr Heldentum wie die Ghre, junge Srau, und vielleicht 
find es nit die fhwerften Kämpfe, die mit dem Schwert in der Hand zum Austrag 
fommen. ‚Zum Gbeftand gehört mehr Herz, als in die Schlaht zu ziehen,’ hat eine 
Königin gejagt, die freilich nur bewiefen, daß fie feins bejaß.“ 

Gr wendete fid nad) dieſer Rede der Türe zu, Gleonore folgte ihm in unaus- 
{predlider Bewegung. 

„OD Sott, Sie geben!“ rief fie unter bervorbredenden Tränen, „alles verläßt mid, 
was "Toll id tun?‘ 

„Standhalten, Haushalten, Ihr Haus Balten, Gräfin Fink,“ verfebte zurüd- 
fehrend der Preufe. „Einft lautete der Shrenfprud einer Grau: Gafta pizit, lanem 
fecit, domum fervabit, das beißt auf deutſch — 

„Ih weiß, was es beißt,“ fiel die Dame unter Tränen lächelnd ein, „aber wir 
find feine Römerinnen.“ 

„Schlimm genug, Madame, denn wir brauden wieder Römer,“ fagte der Preufe, 
indem er die Hütte verlief. vuifepon Francois. 


318 








Neue Bücher 


Für die Beit des Wanderns und pee ftellen 
wir die folgenden uns zugegangenen fieben Bücher 
gufaminen: 

Guftav Wolf, Das norddeutiche Dorf. Bil» 
der ländliher Bau» und Giedlungsweife im Gebiet 
nördlid bon Mojel und Lahn, Thüringer Wald wnd 
Sudeten. Mit 141 Neg- u. 26 Stridagungen. ~ 222 
Seiten. R. Piper u. Co., Münden. 

In derjelben Bücherfolge, in der Wolf die nord» 
deutjhe und mitteldeutjhe Stadt, Rebensburg das 
ſüddeutſche Dorf behandelt hat, erfdeint nun diejer 
abjhliegende Band. Wolf geht nah einem furgen 
allgemeinen Kapitel über die Grundformen des land» 
lihen Hausbaues die verſchiedenen Haustypen durd 
von Oſtdeutſchland bis Friesland, dann in der zwei— 
ten Hälfte Ynnenraume, Einzel» und gejellige Sied- 
lung, Dorflichen und Gejamtbild des Dorfes. Wir 
haben bier eine flare, überfihtlihe Einführung, die 
dem Wanderer die Augen für das arditektonifche 
Wejen des norddeutfhen Dorfes öffnet. Ein folider 

übrer durch ein nicht einfaches Gebiet, man fann 
ih ihm anvertrauen, eo oftdeutihen Haus ware 
wohl nod auf Hans Naumanns Theorie über das 
litauijhe Haus — ,Primitive Gemeinfhaftstultur” 
S. 148 ff — binzumeijen.) 

Arthur Fabhlberg, Das deutſche Ordens- 
land Wejtpreußgen. Mit 62 Bildern im Text und 
auf Tafeln. 84 ©. u. 32 Tafeln. Deutjher Kunft- 
verlag, Berlin, 


8 umfaßt das ganze ehemalige Weftpreußen. „Wir 

aber, die wir die Erben unjerer Väter auf ange- 
ftammtem Boden jteben, wir mögen bieraus die 
Mahnung vernehmen, alle Straft diefer Grengmart 
des Reiches, der teuren Heimatproving zu widmen.” 
Möge das Buch mit feinen fchönen Bildern das 
Gedadtnis für die zum größten Teil uns geraubte 
Proving wadbalten, 


Paul Shulgke-Naumburg, Vom Vere 
fteben und Genießen der Landjdaft. 152 S. Geb. 
2 Mt. Greifenverlag, Rudolftadt. 

Ein Büchlein in Meinem Tafhenformat. Nad 


einleitenden Gedanken über den äjthetiihen Genuß 
der Landſchaft folgt eine Betrahtung der hauptjäch- 
lihen fosmijden Geftaltungen: Himmel, geologiſche 
Erjheinungen, die Flora, und endlich der Bedeutung 
des u und jeiner Arbeit für die Landjdait. 
Dann folgen einzelne Erörterungen, 3. B. über die 
Fortbewegungsmittel und ihre Bedeutung für den 
Naturgenuß, über Starten, über hi Lak tet gab one 
turdidtung u. a. Es ijt febr wertvoll, von einem 
fe fahverftändigen Manne über diefe Dinge zu 
dren. Er bringt uns manden guten Gedanfen. 
(Mit einzelnen Ausführungen find wir nidt immer 
einverjtanden. So jdeint e8 uns allzu bequem, 
die jozialen Bedenfen gegen den henmungslojen 
Automobilismus einfah als „Neid“ abzutun. Nicht 
nur der Neid, fondern auch die brutale Nichtachtung 
der Mitmenjchen um der eigenen Bequemlichkeit 
willen ift „eine der übelften und niedrigiten Leidene 
ihaften“.) 

Das Wandervogelbud. weiter Teil. 
Senats: von Sarl Dieg und Willi Er 180 
ilder auf 126 S. Greifenverlag, Rudolftadt. 

Ein foldes Bilderbudy gibt in der Tat mehr vom 
Bien des Wandervogels als biltorifhe und pbilo- 
opbiihe Abhandlungen. Der erite Teil führt das 
andervogelleben (aud) das Striegsleben) vor, der 
zweite zeigt, wie der Wanbdervogel die Landſchaft, 
wie er Wolf und Kunſt fiebt. Die Landfdafts- 
bilder find befonders angiehend, man fiebt fie immer 


wieder mit Genuß. 
Wilhelm Hhafer, Der Niederrhein und 
das bergifde Land. 112 ©. Greifenverlag, Rudol- 


ftadt. 


Buerft 1907 berausgelommen, jegt neu aufgelegt, 
um in der Beit der „bejegten Gebiete“ für den 
Rhein zu werben. Das Büdlein beginnt mit einer 
allgemeinen Rheinfahrtbetrahtung, jchildert dann die 
„Neſter“ Bons, Neuß, Kaiferswerth, Kleve. Köln 
bat ein eigenes Stapitel. Es folgt eine Wanderung 
durd das Wuppertal (eine ler ers gut gelungene 
Del. dann: das bergijde Land, das Ruhr— 
ebiet, Düfjeldorf, Benrath, Brühl und Bonn. Das 
lidlein bat doppelte Angiebungstraft, man Lieft ed 
fowobl des Inhalts wie Wilhelm Schäfers wegen. 
Möge es Nadfolge finden! Landſchaftscharalteriſtik 
ijt eine Ian unft; ich ziehe eine feine Land— 
ihaftsdarjtellung einer Erzählung vor. 

Werner Meyer-Barkthaujen, Alte 
Städte zwiſchen Main und Wejer: Corbadh. 56 ©. 
mit Text u. 45 Wbb., dazu 30 Bildtafeln. H. BW. 
Urjprud, Corbad. 

„Ein Städteführer, wie ihn fih der Kunſtfreund 
münfdt. Im Umfang den Langewiejhe-Bücdern 
entipredend, gibt dad Bud gunadjt geſchichtliche 
Notizen, behandelt dann den Stadtplan, die Mauern 
und Türme, die Straßen und Plage, die alten 
Biirgerbaujer, endlid) eingehend die Kirchen Kilians— 
und Nifolaificche mit ihren ungen. Der Text 
ijt mit großer Liebe und Sadfunde gejchrieben. 
Die Abbildungen geben reizvolle, in weiteren Kreijen 
faum befannte Gaden. Wir empfehlen das Bud) 
den Liebbabern alter deutſcher Kunſt. Möge die 
Aufnahme des Bandes jo fein ha der Berlag bald 
die weiteren Bünde folgen lafjen fann und dag an- 
dere Stleinjtädte dieſem Borbilde folgen! 

J. BV. Lafleben, Wellen und Wiefen. Eine 
Wanderung duch bas Tal der Schwarzen Laber. 
Bilder von Max Schulte. 114 S. Midael Laf- 
leben, Kallmünz, 

Nah dem Titel erwartet man Landjhaftsjchilde- 
rungen, dod erhält man vielmehr Angaben darüber, 
was man alles fieht, wenn man das Tal durch— 
wandert, befonders aud gejdhidtlide Angaben, p 
daß das Buch eigentlid mehr ein Banderführer ijt 
Die gelegentlihen furzen Schilderungen erheben fich 
nidt zu fünftlerifher Bedeutung. Hübjch find die 
vielen eingeftreuten Bildchen, St. 


May Maurenbredher, Glaube und 
Deutfhtum. Gottesdienfte, Andachten, religiöje Aufe 
füge. Neue Folge. Bierteljabrlid 7 Hefte zu 2 Mt. 
Einzelheft 50 Pig.). Heft 1: Das Wort vom Kreus. 

oethes Altersweisheit über den Gefreuzigten. 
Heft 2: Gottentfremdung — Gotterlebnis. Berlag 
Ölaube und Deutfdtum, Berlin-Lichterfelde, Elifa- 
betbitr. 29. : 

Damit jegt Maurenbreder die Hefte fort, die cr 
früher in Dresden herausgab, ehe er die Leitung 
der Deutihen — übernahm. Er gibt Betrad- 
tungen, die nad Umfang, Inhalt und perjönlihem 
Gehalt über Zeitungsaufjage hinausgehen. Die vor— 
liegenden Hefte find jehr anregend, bejonders fein 
ijt, was Maurenbreder über Goethe ausführt. Die 
Aufgabe, Goethe für das Chriftentum auszufhöpfen, 
ijt febr dankbar. Das echte Bild des alten Goethe 
ift unjerm Wolfe ja, trog oder gerade wegen der 
vorhandenen Biograpbien, völlig fremd. Wir boffen 
nad diejen Heften, daß Maurenbreder Wejentlides 
für die deutjhe Ausprägung des Chrijtentums Er 


tragt. t. 

Theo errle, Die deutfhe Jugendbewegung 
in ihren kulturellen Zufammenhängen, 8. umgearb, 
Aufl, Geb. 3 Mi. Friedrich Andreas Perthes, Gotha. 

Herries Buch ijt ſehr umiftritten. Begreiflider- 
weiſe; der Berfud in etwa 130 Geiten das Kultur» 
milteu der Yahrhundertwende als den Hintergrund 
der Qugendbewegung zu zeihnen und dann diefer 
felbjt von ihren Quellen bis in das Chaos der 
Bünde, Gruppen und Grüppden zu folgen, dabei 
nod) die Realtion und den Einfluß der Gejellihaft 
auf die Jugendbewegung zu berüdjichtigen, nötigt 
den Verfaffer zu einem atemberaubenden Tempo, 
in dem gerade das Feinſte, Innerlidite nicht dar— 


319 


gr werden fann. Deffen if er fih aber = 
ewußt 6 S. 122) und gleicht dieſen Mangel dur 
eine geſchickte Auswahl von darakteriftiihen Selbſt- 
zeugniffen aus. Ueberdies ermögliht er es dem 
Rejer, duch erftaunlid reichhaltige iteraturnad- 
weife fi über jede Gruppe, jede Phaje ein eigenes 
Urteil zu bilden. Durh die außerordentlih an- 
regende Thefe bon der Yugendbewegung als ein- 
maligem Sulturpbanomen feaff zuſam⸗ 
mengehalten, entſteht A eine Inappe Entwidlungs- 
geihichte, mit dem illen zur Gerechtigkeit, aud 
in der Kritik nie ohne Liebe und völlig frei von der 
pathetifh verſchwommenen Galbaderei, die fonft 
meift den Zugang zum Schrifttum der Se rt 
sung fperrt. . €. ©. 

manuel Hirſch, Die Liebe zum Bater- 


Iande. 31 Seiten. angenjalga, Hermann Beyer 
u. Söhne. 
Die Heine Schrift des bedeutenden Göttinger 


Theologen ragt weit über das hinaus, was fonft über 
diefeS Thema geredet und gejchrieben zu werden 
pflegt. Hier ift die Gace einmal wirklich bis gu 
Ende durdgedadht und aus legten Tiefen begründet. 
Edler und mwahrhaftiger al8 bier ift wohl felten über 
die Ethik der Politif gehandelt worden. An diefer 
Shrift, die fo unbedingt zur Bertiefung unjerer 
Liebe gum Baterlande führt, darf niemand BEER 

W 


geben. . BW. 
Georg Kor N , Reltenwerden, Weltenende, 
Der fommende Chrijtus. 115 Seiten. Zwei Welten- 
Verlag, W. Heimberg, Stade. 
Das ijt die alte Gnofis des zweiten Jahrhunderts 
n. Ehr., wie fie leibt und lebt. Der Syntretismus 
in ſchönſter litte.  Weltenwerden, Weltenwende, 


der Logos-Chrijtus ein kosmologiſches Prinzip. Diefe 
Abirrung von der Höhe wahrer Religion möge mit» 
Maden, wer will. Das, was das Yohannisevan- 
elium den „Logos“ nennt, ift eben gerade nicht 
osmologiſch veritanden, fondern ift ein für allemal 
die Ueberwindung aller Gnofis und Tbeofopbie K. W. 

Franz von BWendrin, Die a rei 
des Paradiefes. Mit 43 Abbildungen im Tert un 
2 Karten. Seiten. Berlag Georg Weftermann, 
Braunſchweig. 

Otto Gigftid Reuter, Das Rätfel der 
Edda und der Urglaube. 2 Bande. Mit zahlreihen 
Abbildungen. 276 Seiten. Verlag Deutihe Gemein- 
ſchaft, Berta. 

Wer die Abbildungen der {owelti en Felsbilder 
befhaut bat, der wird verjtehen, daß eine üppige 
Phantafie in biefer Beit aufſchießen muß, gegen 
welche die Verleger etwas zurüdhaltender fein follten. 


Br verftehen ift folde Phantafterei wohl! Die Bor- 
Ken von der nur 2 Yabre alten gemani- 
en 


ultur wird durch dieſe Felsbilder er 
Wir fehen mit Augen, daß weit davor eine bobe 
nordiihe Kultur beftand, und nun verſucht bie 
bantajie, in biefen geſchichtsleeren Raum eine 
elt bineingubauen. Daß dabei aud) die jchöpferifche 
Phantafie nicht wertlos fein wird, ift gugugeben. 
Um fo mehr muß man auf der Hut fein, daß wahre 
Wiſſenſchaftlichkeit und wiſſenſchaftlicher Schein nicht 
aero durcheinandergeraten. Wenn eine fo hane- 
üchene Leiftung wie Wendrins „Entdedung“, daß 
das Paradies in Medlenbur, gelegen bat, mit dem 
Anfprud der Wiffeniaftliatert er Deffentlichleit 
übergeben wird, fo fommt man ftark in Berfudung, 
feiner Berärgerung in Journes Worten Luft gu 
mahen. Nur das Gefühl, daß ber Berfaffer felbft 
von jeiner Entdedung ehrlich begeiftert ift, hält 
einen davon ab. Er hatte uns lieber die mebrfadh 
angefündigte Cntgifferung der Felsbilder vorlegen 
follen als dieſe Pbantafterei, die fic) gumeift auf 
nidt nadpriifbare Angaben ftüßt. 

Um etwas wejentlid) Underes hanbelt es fic) im 
weiten Band von Reuters ,Ratjel der Edda“. Aud 
er zieht die ſchwediſchen Seiser häufig zu Rate. 
Aber wir find dod) imftande, im, einzelnen N fein 
wiſſenſchaftliches Rüſtzeug zu prüfen, und wir were 
den in mandem Einzelfall feine Ergebniffe als nicht 
Seid gegründet bezeihnen. Die große bee 

euterd aber, dag wit die mythologifhen Erzählun« 


gen unferer Vorfahren an den Sternhimmel verjegen 
müffen, um fie richtig zu verfteben, öffnet uns eine 
neue Welt, und fehr vieles davon ſcheint uns fo 
unabweislih wahrjdeinlih, daß mir der meiteren 
ernjtliden Erforfhung gejpannt folgen ENT 


Joadim Kurd Niedlid, Der Heiland, 
eine deutiche Iefustragödie. Erfter Teil. 152 ©. 
Leipzig, Dürrſche Buchhandlung. 

So ernithbaft und beadhtlih die Arbeiten ded 
Verfaffers auf dem Gebiet der „deutichen Kirche“ 
find, fo fehr bedeutet diefe Jefustragödie eine Ent- 
täufhung. Der vorliegende erfte Teil zeigt den 
Kampf Jeſu, in dem er fics bon feiner Familie 
und dem bisherigen Lebenskreiſe losreißt, um 
feiner großen Aufgabe gu leben. Aber das mutet 
alles fo blutleer und boltrinär an. Un diefem 
Iefus ift nists Großes. Man begreift nit, daß 
diefer Mann nun der Heiland ift. Es bleibt ihm 
nichts an Schwierigleiten erfpart, bids ibm zulegt 
nod) der eigene Vater flucht (bei dem Jeſus der 
Evangelien ein unbollgiehbarer Gedanfe!); aber 
den Kampf bebt nichts über die allgemeinen Kon— 
flilte jedes felbftindigen Geifted hinaus. Man 
balte dagegen etwa nur das eine Wort Marc. 3, 35 
„Wer ift meine Mutter, wer find meine Brüder? 
Wer den Willen Gottes tut...“ Darin leben 
ganz andere Spannungen, darin ftedt aber aud 
fiegbafte Löfung. Da ift eben das echte wahre 
Leben aus Gott, bas fish nicht in Romane und 
Tragödien faffen läßt, fondern Hidftens in 
Evangelien. RB. 


Jürgen Brand, Yugendweihbe. 24 Seiten. 
Preis 0,30 Mi. Berlin, Urbeiterjugend-Berlag. 
Gang abgejehen davon, daß es {ehr betrüblich ift, 
wenn aud % tüchtige Arbeiterjugend den Weg zur 
Religion nod nicht findet, fondern ſich mit Reli- 
gionserjag („Jugendweihe“ ftatt „Einfegnung be» 
qniigt, tut einem die Enge webe, in der ſich das 
Denten felbft fo tiidhtiger Naturen wie Jürgen 
Brand bewegt. Neben armen Arbeiterfindern kennt 
er nur die Söhne und Töchter reicher Leute, denen 
alles durch das Geld der Eltern leiht gemadt wird. 
Bom ganzen Mittelftand weiß er nichts, von uns 
allen, die wir nod ärmer al8 viele Arbeiterfinder 
aufgewadjen find und dod feine internationale 
Proletariers,tlaffe” wurden. Wo der unbeſchwerte 
Geift der Jugendbewegung in diefem Heft fi burd- 
tingt, finden fih ſchöne Wbfdnitte. Das Bete iit 
das Sdhlubgediht „Der Vater fpriht”, in weldem 
der Dichter Jürgen Brand alle gedanfliden Scheu- 
tlappen abgeworfen hat und ganz als Menſch ba- 
ftebt. G. K. 
Erig Lilienthal, Ein Mann geht den 
Weg. Roman. 322 Seiten, gebd. 5 Mt. erlin, 
Pyramiden-Verlag. . 
Wie in feinem vorigen Roman „Der Bollstonig” 
entnimmt ilientbal den Stoff nicht der Gefdidte 
bon geftern oder ebgeftern, jondern von morgen und 
übermorgen. Die fommenbe Revolution wird in 
außerorbentliher Xebendigfeit bdargeftellt. Edel und 
pence. gut und böfe, bablig und ſchön wirbeln 
ie Bilder durcheinander, alle oefant mit den on a 
nungen, in denen beute unfer Bolt lebt. In nr 
Umwelt binein ftellt Lilienthal nun wieder wie im 
feinem Te, eine „Wunfchgeitalt”: Den Dil- 
tator. Ein Fabri fherr, tlater Geijt, raftlofer Ur- 
beiter, ber feine Kräfte nicht in unfrudtbaren Eit- 
gungen berzettelt, fondern abjeits der Biirgerfampfe 
I Arbeiterheer er und wartet, bis mit dem 
rand der Hauptitadt fid) der innere Zündftoff im 
Volt entladen bat, fo dak mun bie Befreiung des 
Vaterlandes von den äußeren Feinden beginnen 
fann. Während die Geftaltung der Revolution m 
der Hauptitadt als eine glänzende Leiftung bewertet 
werden muß, wirkt die Hauptgeftalt nidt ri 
genug; fie bat menfdlid niht das Gewidt un 
aud nicht die Tiefe, um als berufener Diktator von 
ung zwingend anerkannt gu werden. Der Bolkslönig 
gab in der Hauptperfon mehr. ® 8. 





Gedrudt in der HYanfeatifhen Verlagsanftalt AWttiengefellidhaft, Hamburg 36, Holfienwall 2. 


320 





Aus dem Deutfihen Volfstum Hugo Friedrid Hartmann, Feierabend 





Aus dem Deutfhen Volfstum Hugo Sriedrid Hartmann, An der Nordfee 


— — 


28 





Karl Thylmann, Der Verwundete 


Aus dem Deutfhen Voltstum 


Deutiches Bolfstum 


8. Heft Kine Monatsichrift 1924 





Die Abrechnung der Sdiikengrabenmenjden. 
1. 


eS ee Sabre find vergangen, daß das deutſche Geſamtvolk auf der Grde 
plöglih aus dem Saumel iiberhebliden Slides in die Beit fdwerfter 
Prüfungen eintreten mußte. Der Webergang wurde nicht fo jah empfunden, 
wie er war, weil viele im Saumelguftande verbarrten, indem fie in der 
Legende des fiebgiger Krieges und im Gedanken eines Gieges, wenn Die 
Blatter fallen, lebten. Dagegen empfinden wohl Heute alle, die in der Wirk— 
lidfeit ftehen, den Zufammenhang dieſes Iahrzehnts, in dem Waffenftill» 
ftand und fogenannter Friedensſchluß nur oberfladlide Einfchnitte Bilden. 
Gs ift ein ungebeuerlides Leiden von hundert Millionen Menjchen, das 
durd Jimmh-Klänge und Feinkoftauslagen nicht widerlegt, fondern nur be= 
ftätigt wird. Gallen auch feit Movember 1918 die Berluftliften — nicht die 
Berlufte an geborenen und ungeborenen Bolfsgenoffen — weg, fo dod auch 
jede Größe, jede Tat, jede Erhebung. Vielleicht befteht der einzige wefent- 
lide Unterfchied gwifdhen dem Leiden por und nad dem Kriegsende nur 
darin, daß es damals einen Sinn hatte, alfo ein Gut war, während es) 
beute für die meiften finnlos und deshalb ohne Förderung ift. Die zehn— 
jährige Wiederfehr des Kriegsbeginns bedeutet fein Haltmaden, fondern 
nur ein Gidbefinnen auf dem Wege. Unabfehbar dehnt fich nod vor uns 
die Leidensgeit aus. Wie lange noh? Gs wäre ein Irrtum gu boffen, 
daß irgendein Außenftehender fie bon uns nehmen fdnnte. Leid verzehrt 
fih entweder felbft und damit feinen Träger — Dann ware es aus mit 
einem deutſchen Volke und einem deutjchen Reiche — oder es läutert, indem 
der Träger felbft es überwindet. Gewiß ift die Leidenszeit als eine Schidung 
über uns gefommen, und wir tun gut daran, fowohl die des Krieges wie 
des Nachkrieges als verdient angufeben. Aber fie ijt nicht unabwendbar. Gs 
ift in unferen Willen gelegt, ein Ende mit ihr zu maden. Nicht in den der 
einzelnen. Wie das Leid zugleich über alle Deutfchen gefommen ift, fo 
fönnen wir es nur gemeinfam bon uns wegwälzen. Und ehe wir nicht zu 
folder gemeinfamen Leiftung fähig find, wird alles Mühen jedes einzelnen 
umfonft fein. Daraus ergibt fic als oberfte Grienntnis bei Rüdblid und 
Ausblid in diefem Monat, daß das Fähigwerden zu gemeinfamer Leiftung 
die ®rundvorausfegung für die Beendigung des Leidensguftandes ift. 

Gs wird uns in diefen Woden, die uns ja zugleich die jechsjährige 
Wiederkehr der Wendung des Kriegsglüdes bringen, nicht an Betradtungen 
darüber fehlen, wie fich unfere Lagen 1914, 1918 und 1924 zueinander vere 
balten. Immer noch glauben die meiften bon ung, indem fie den Schein 
für die Wahrheit nehmen, daß die Zeit por dem Kriege, nehmen wir als 
Seitpuntt etwa das filberne Regierungsjubiläum Wilhelms des Zweiten, 
einen Höhepunkt der bdeutfchen Entwidlung darftelle. Jeder tiefere Blid 
in Das Innere des deutfchen Menſchen bon damals, jeder weitere Blid auf 


323 


europäifche und meltpolitiihe Zufammenhänge finnte Hier eines Befferen 
belehren, wenn nicht immer wieder die Abficht, politifche Geſchäfte damit zu 
maden, einen fiinftliden Nebel por die Tatfaden legte. Sicht und Auf- 
fafjung darüber ijt durchaus nicht gleichgültig. Bor jedem fteht ein Bild 
des, das er werden foll. Wir können das Leiden nur überwinden, wenn wir 
einen Suftand jenfeits des Leidens feft ins Auge faffen und ihm mit aller 
uns zur Verfügung ftehenden Kraft zuftreben. Gs wäre fehr bequem, wenn 
wir alg diefen Zuftand nur den vor zwölf Iahren zu nehmen brauchten, 
wenn mir, als notwendige Folge davon, diefe gehn Jahre einfad nur ala 
ein uns bon anderen zugefügtes Unrecht anjehen würden. Manche Leute 
fügen fogar hinzu, man müſſe diefe Aufgabe gerade ob ihrer verhältnis- 
mäßigen Leichtigkeit in Angriff nehmen, da die Deutfchen zur Löfung einer 
{Hwierigeren gar nicht fähig wären, fondern ihr gegenüber in vollfommene 
Pajjivitat verfallen würden. Hier fehlt jeder innere Grnft, jedes Bers 
ftändnis aud) für den Grnft unferer Lage. Der Auguft 1914 bedeutete eine 
endgültige Seitenende. Iedes Verfennen würde uns zu einer weiteren 
Selbittäufhung führen. Die nötige Deutlidfeit vermittelt uns vielleiht die 
Anwendung zweier geläufiger Begriffe: Gegenüber dem Vorfriegszuftande, 
der ja nur der Idee nad nod vorhanden ift, bleibt ſchärfſte Repolution ge— 
Boten, muß jeder Reaftionsverfuh im Keime befämpft werden. Damit ift 
übrigens nod nichts über die revolutionären Mittel gefagt und niemand be- 
fugt, eine Reaftionshandlung nad) feinem Belieben feftzuftellen. Nein, Die 
zu löfende Aufgabe ift eine unendlich viel fehwierigere. Der bon uns pus 
nächſt bildhaft zu erfaffende Zuftand in der Zukunft ift nur aus uns felbft 
gu fdaffen. Aus dem, was wir uns in unferem harten Leben felbft erworben 
haben und aus unferem Erbgut heraus, in dem das Bismardreidh nicht 
lebendiger ift als das alte Reich der drei deutſchen Kaifergejchlechter. Diefes 
Bild läßt fic nicht fonftruieren. Gs fann nur bon Menfden, die im Bee - 
fibe folches Grbgutes find und fid den Ginn für die Gegenwart erworben 
haben, gefdaffen werden. Wer dazu berufen ift, läßt fich nicht feftitellen. 
Möge jeder mache Deutjche durch die Uebernahme einer Arbeit in dieser 
Richtung an fic felbft feftjtellen, wie weit feine eigenen Kräfte zu diejer 
Aufgabe reichen. 
Ueber die Bewertung dejjen, was fid das deutſche Bolf 1918 angetan 
Hat, dürfte Heute bei allen, die überhaupt werten wollen und fönnen, die 
gleihe Meinung vorherrſchen. Wenn das nicht überall in Worten zum 
Ausdrud fommt, fo liegt das zum Teil an dem Glauben an die Lüge, zum 
Zeil an der ficherlich trügerifchen Ginbildung, man fönne auf diefe Weiſe 
die drohende Reaktion aufhalten. Nah dem Bufammenbruc batte der 
Marzismus in Deutfchland völlig freie Bahn. Gr fonnte fic) verwirklichen, 
wie er wollte, auf demofratifcher oder diktatoriſcher Baſis. Wie viele unter 
feinen Gegnern waren bereit, ihm zu folgen, wenn er nur feine Kraft und: 
feine Lebensfähigfeit bewies. Wenn er es nicht tat, fo zeigte er damit, dah 
fowobl fein Lehrgebäude wie fein politifches Ziel wie fein fittlicher Wille 
faul waren. Der Beweis ift unwiderleglid. Als Weltanfhauung, als 
politiihe Möglichkeit ift der Sozialismus für uns tot. Wenn trogdem Heute 
Die Zahl der fogialiftifchen und fommuniftifchen Stimmzettel nod) fo hoch 
ift, jo find dafür ganz andere Gründe maßgebend, als fie einft zur Bildung 
der jozialdemofratifhen Organifation geführt hatten: das bei den Deutfchen 
mebr als bei anderen Völkern aud in geiftigen Dingen geltende Gefet der 
Trägheit, die gegenwärtig nicht ausgeglichene Begebhrlidfeit der Mtenfden, 


324 


die um fo bedenflider ift, wenn die Menfden zu Waffen geworden find, und 
bor allem der Umftand, daß die Gebhnfudt diefer Wenfden von feiner 
anderen Stelle befriedigt wird. Die Feftftellung eines Tiefftandes im Herbft 
1918 befagt nichts über die Dauer des Buftandes. 

Die Auguft-Betracdhtungen jeder Richtung werden fic zum mindeften 
am Schluſſe mit der Frage befafjen, ob und wieweit „es“ feit dem Auf- 
hören normaler Yuftände vor zehn Sabren „allmählich“ „beifer“ geworden 
fei. Nichts wird die Sroftlofigfeit unjerer Lage deutlicher maden als Die 
Derjhiedenheit der gegebenen Antworten. Sehr viele hätten nad der Cine 
führung der Rentenmarf eine andere Stellung eingenommen als in der Kredit- 
not des Borjommers. Andere meinten in den hundert deutjchnationalen 
Mandaten den befannten Lichtftreifen am Horizont zu feben, der ihnen erft 
wieder verſchwand, als fie von den Vorgängen bei der Bildung des zweiten 
Kabinettes Marz erfuhren. Die einen weifen auf das überſchwengliche Ge— 
baren, das frampfartige Berlangen nah Führung durch Männer von Leiftung 
und fittlidem Ernſt Din, das fih auf den „deutſchen Tagen“ Männer wie 
etwa Ludendorff gegenüber zeigt, Die anderen fehen in der widerjtandslos 
durchgeführten Ginengung Diefer Sage die Wiederberftellung der Staats- 
autorität. Hier oder in allen anderen nicht aufgezählten Fallen eine Ent— 
ſcheidung treffen zu wollen, wäre ein nublofes Unterfangen. Denn jeder 
Urteilende fommt bon anderen Wiinfden und ftrebt nach anderen Vielen hin, 
obne ji darüber Har zu werden, daß ein treffendes Urteil nur bei einer 
Gemeinjdaft von Wunſch und Biel gegeben fein fann. Wir unfererfeitd 
midten unfere Stage befdeiden umgrengen und fie auf uns felbjt beziehen, 
Hart und ftreng und gang unter dem vollen Gindrud folder zehn Sabre, 
die uns auf die Höhe unferes individuellen Lebens führen mußten. Das 
„wir“ find in Diefem Galle die jungen, aufnahmefähigen, aber {don reifen 
Männer, die 1914 ahnend oder wiffend hinauszogen, um in der Not des 
Krieges die Schladen wegzubrennen, die uns auf dem Wege zu unferer- 
Bolfheit hemmten. Wir fragen die Schügengrabenmenfchen, ob fie mit gutem 
Sewifjen befennen fönnen, daß fie die ihnen allein und in befonderem Maße. 
auferlegte Pflicht, wie fie ihnen in den erften vier Jahren flar werden 
mußte, in den folgenden feds Jahren treu erfüllt haben. 


2. 

In jenem Heinen Büchlein, das id) nad) der Heimkehr nidt bon mir 
aus, fondern als Sprecher für diejenigen, die nicht mehr fpreden fonnten, 
als Bertreter der in ganz befonderer Weife bom Kriege erfüllten Heimfehrer 
gejchrieben habe, ftehen die Aufgaben der Schügengrabenmenjchen wohl ver- 
zeichnet *. Nichts Hat fic) an ihnen verſchoben oder geändert. Selbjt wenn 
fie erfüllt fchienen, fo wären fie damit nicht aus Der Welt gejhafft. Denn 
es handelt fid) um Aufgaben, die jeder immer wieder bon neuem an fid 
und feinem olfe zu erfüllen bat. Prüfen wir, wie es mit uns in be» 
ftimmten einzelnen Gallen fteht. 

Der Krieg hatte uns gelehrt, daß nur das Gdte in uns, nur das une 
mittelbar zu uns Gehörige Beſtand Hat, daß alles andere angejidts des 
Sodes abfiel, wie der Ralf in den ſchlecht gebauten franzöfifchen Häuſern, 
wenn in der Nähe die Batterie arbeitete. Sollte das angeſichts des Lebens, 
das wir unter der Laft der uns von den gefallenen Kameraden überfommenen 


* Mannbhardt, Schütengrabenmenjhen. 53 Seiten. 30 Pfg. Hanfeatifde Ben 
lagsanftalt, Hamburg. 





325 


Gerantwortung zu führen haben würden, anders fein? Wir mußten Zrie- 
densjoldaten werden, wie wir Kriegsfoldaten geworden waren. Wir mußten 
fein, was wit geworden waren und danad ftreben, einfach Durch unfer 
{dlidtes Sofein und Dafein, nicht durd haftig por uns Hergetragene An- 
fidten die anderen fowohl bon der Beredtigung, als aud von der 
Notwendigkeit und der Allgemeingültigfeit unferer Haltung gu überzeugen. 
Schon der Krieg hatte gezeigt, daß nicht alles Lebendige jich unter die ein- 
fachen Formeln von Befehl und Geborjam bringen lief. Nun nad dem 
Sujammenbrud fdienen mehr denn je alle Schranten gefallen zu fein. Die 
fogenannten Forderungen des Sages traten überwältigend an die Schüßen- 
gtabenmenjden heran, bald auf ein Mehrverlangen, bald auf ein Nachgeben 
gegenüber dem, was ridtig war. Go fam es denn bielfad anfangs zur 
Hilflofigteit, dann zu Kompromiffen, ſchließlich gum Berlaffen der Sahne, 
zur Berleugnung des Kriegserlebnijfes. Die jüngeren Männer zumal waren 
nod nicht gefeftigt genug. Gs fehlte untereinander die Tuhfühlung Nur 
wer aus Gigenem oder mit Hilfe anderer zu der Grienntnis gefommen tar, 
daß zwar bas tägliche Leben immer auf Geben und Nehmen d. b. auf Ver— 
ftandigung beruhen muß, daß es aber einen Kompromiß auf dem im Graben 
gewonnenen Lebensgrunde und in der Idee nicht geben durfte, fonnte fid be- 
baupten und die im Kriege gefundene echte Perle weitertragen. Wir haben 
wohl diefe Aufgabe zu leicht genommen, wir ausgewacdhjenen Deutfden, 
denen ſchon der einfahe Widerftand fo fdwer wird, unabhängig bon Der 
fittliden Gorderung, die fih daran fnüpft. Unfer Straucheln Hat uns ger 
ſchwächt. Aber die Gefeiten dürfen darob nicht müde werden. Gie dürfen 
Die Abgeglittenen nicht dauernd aufgeben, fondern müſſen jie wieder zu jich 
heranziehen. Gerade die tätige Liebe der unbedingt an fich felbft und an 
ihrem Grlebnis fefthaltenden Schügengrabenmenfhen untereinander wird fie 
der Durchfegung ihres Willens, Sauerteig für das ganze Bolf zu werden, 
näberbringen, 

Vielleicht finnte man das deutſche Schidjal als ein dauerndes aber ver— 
geblides Ringen um die Form anfeben. Für diejenigen aber, die jich inner- 
balb einer vita activa nicht mit dem ,anfeben* begnügen fünnen und wollen, 
ergibt ſich aus dem DBlid auf die Vergangenheit die Grfenntnis für die 
Zufunft, daß unfer Volk nicht zur Vollendung fommen fann, wenn es nicht 
augleih aud zu feiner Gorm fommt, die nad) den Worten des Nleijters 
fein foll „geprägte Gorm, die lebend fic entwidelt*. Zu der Form im ganzen 
gehört im einzelnen auch die des Umgangs mit Bolfsgenoffen und mit Frem- 
den. Hier tut fid) der Deutfche fo ſchwer wie faum ein Angehöriger irgendeines 
anderen Bolfes. Wir glaubten im Schügengraben den rechten Ton gelernt 
gu Dbaben, ſowohl dem Borgefesten, dem Gleichgeftellten und dem Anter— 
gebenen als aud) dem elteren und Vüngeren gegenüber, den Ton, der fid 
swanglos aus dem Dienft an der gemeinjamen Gade unter Hintanfebung 
und dod) zugleich auch Beriidjidtigung perſönlicher Gmpfindlidfeiten ergab: 
Deutlid, naddriidlid, warm, würdig, bindend. Diefer Ton mußte aud 
weiterhin der rechte fein; denn weder der gemeinfame Dienft nod die natiir- 
lide Unterordnung follte im Nachkriegszuftande aufhören. Auch bier haben 
wir uns alg ſchwächer erwiefen als es unferem Willen entjprochen bätte. 
Wie oft haben wir es bei anderen, namentlich bei Welteren erleben müffen, 
daß fie fih im Ton vergriffen, obwohl fie niemanden Eränfen wollten. Das 
gejchieht namentlich, fobald der eine eine Andersartigfeit feines Gegenüber 
Hat entdeden können. Nod) ſchwerer wiegt die aus der Gormlofigfeit und 


326 


dem dauernden Ringen um den Inhalt fic) ergebende Unſicherheit, Die durch 
den Ton, die „ftramme Haltung“ das Fehlende, eben die Sicherheit, erfegen 
möchte. Das fuabiter in modo, fortiter in re* wird ung fo unendlich ſchwer. 
Man gebt faum zu weit, wenn man behauptet, daß bier auf diefem Gebiet 
ein gut Zeil unferer Hemmungen zum völkiſchen Zufammenfchluß, zur Gin- 
Heit und Ginigfeit gelegen ijt. Und dod, troß dieſer Grfenntnis, troß des 
eigenen Griebniffes haben die Schützengrabenmenſchen bier faum etwas an 
fi) felbjt und an den andern ändern finnen. Gewiß wird bier eine Bef 
ferung nit von einem Gejchleht zum anderen eintreten fünnen. Aber die 
Not und das Gmpfinden der eigenen Unzulänglichfeit müſſen in Bufunft 
gründlicher helfen, als fie es bisher getan haben. Se mehr wir dadurch einen 
inneren Salt befommen würden, um fo ficherer wäre dann auch unfer Auf- 
treten nach außen. Immer por dem Kriege, vollends jet aber binterber, 
ift die Haltung der Deutſchen im Auslande überaus Fläglich gewefen. Ver— 
dedten wir damals unjere Schwäche durch hochfahrendes Wefen, fo beute 
dur Die übelfte LUnterwürfigfeit. Beides wird bon den Fremden als unedt, 
als Masfe empfunden und deshalb die mannigfaltigfte Side hinter uns ver- 
mutet oder in uns hineingelegt. Unfchuldig-[huldig werden wir zum Gegen— 
ftand des Deutfchenhaffes. Diefe uns felbft zugefügte Erſchwerung jeder 
Politik unfererfeits fann nur durch ein Anderswerden unferer felbft behoben 
werden. 

Sdiikengrabenmenjden find nicht durd Dichten und Denfen, fondern 
durch gemeinfames Leiden und gemeinjame Taten geworden. Gie Maren 
fim, als fie beimfamen, darüber flar, daß fie die ihnen zugefallene Aufgabe 
nidt durch Projeftemaden, durch Reden und Schreiben, fofern es nur Reden 
und Schreiben ift, fondern ausjchließlich durch ein Sun, durch ein ihr Leben 
in ihrer Art ganz ausfüllendes Werk würden löſen können, das eben ein Zeil 
des ganzen Werfes, ein Mittel auf dem Wege unferer Bolfvollendung 
werden follte. Diefer Beruf ift fdhon unter den Schügengrabenmenfchen 
felbft vielfach mißperftanden worden. Manche nahmen die Aufgabe zu leicht 
und fchätten zugleich fic zu Hod ein. Gie Dielten fic) berufen, bereits 
DBaumeifter am Gangen zu fein und waren doch nur geeignet, als treue Hand» 
langer oder als Herfteller von Gingelwerf, das fpäter einmal am Hauptbau 
SGerwendung finden mußte. Go faben wir mande Sfarusfliige, jaben das 
Entftehen von Gefellfchaften, Kreifen, Bünden, Ringen, Orden, deren Sinn 
nur darin beftehen fonnte, aufs ®anze zu gehen. Sobald die eigene Schwäche 
bei Beginn der Ausführung des Planes erfannt war, erfolgte jofort die Re- 
fignation. Die die Grldjung batten bringen wollen, wurden gum Klüngel. 
Und einer reibte ſich an den anderen, muds und zerfiel, nachdem er fich im 
Kampf mit den anderen erjchöpft hatte. Der Geiſt des Schügengrabeng 
entwid, und man borgte feine Ideologie bon den Zeiten Jiegreicher Kriege 
und bon den Kriegervereinen der Vorfriegszeit. Sa, wir find wieder im 
richtigen Gleiſe der deutfchen VBereinsmeierei drin. Das ift die ganz, ganz 
bittere Wahrheit, aber die Wahrheit, mag das Herz darüber auch bluten. 
Ih weiß, daß viele edle Männer mir bier widerfpreden. Aber ich bes 
haupte, daß fie durch eine rofa Brille fehen und die Ausnahmen für Die 
Regel nehmen. Wo ift die Bufammenfaffung der Schügengrabenmenfcen, 
der Bund der beimlid) Berfhworenen? Wo find die regional getrennten 
@ruppen, in denen BolfSgenoffen jeder Art und Herkunft im Dienft der 


+ Mild im Benehmen, feft in der Gade. 
327 


reinen Notwendigkeit zufammenftehen? Wo gefdieht die Heranziehung ber 
Jugend durch Gorderungen an fie, nicht durch Verſprechungen oder jonftiges 
Gidbeliebtmaden Hurd) Gewahrenlaffen? Wo feben wir die Anfänge der 
in Ordnung aufgebauten Ppramide, in der fi Bol! und Staat vollenden 
follen? Kürzlih bat in Halle ein Redner gejagt, daß ein Staat, in dem 
die Mehrheit berr{de, immer zum Untergang verurteilt fei. Darin liegt fo« 
wohl die größte Wahrheit wie die größte Lüge. Gewiß find überall nur die 
wenigen zur Führung berufen, gewiß fann die letzte veranttwortlide Ent— 
fheidung nur bei Ginem liegen. Aber in unferem Zeitalter wird nur dann 
für Führung und Herrfhaft die Möglichkeit beftehen, wenn fie bon der 
Gefamtheit bis zum Letten und Aermften getragen werden, wenn zwifchen 
Herrfher und Mehrheit jenes innere Band von Führer und Sefolgsmann 
beftebt, das die Minderheit einfach mitreißt. Auf diefem weiten Felde liegt 
die Arbeit der Schügengrabenmenfchen, auf dem jeder bei der feinigen ane 
fangen muß. Möge fid auf Grund der befcheidenen Leiftung jeder zu 
einer höheren Stufe rufen Iaffen. In der Gefinnung und im menſchlichen 
Werf find alle gleih. Zür die höhere Arbeit entjcheidet allein befjeres 
Können und größere Tüchtigfeit. Ob unter uns ein fo großes Können vor— 
handen ift, daß es die höchſte Gewalt in Bolf und Staat einnehmen fann, 
das entjcheidet Gott allein. 

Andere Schügengrabenmenjden find an ihr Werk gegangen, bas fie fid 
im Rahmen des Ganzen Iangfam oder fchnell, groß oder Klein, je nah Um— 
ftänden und Vermögen aufgerichtet hatten. Daß fie dabei dauernde Kämpfe 
mit ihren Widerfadhern, mit den Feinden des Schügengrabengeiftes, zu 
beftehen haben würden, war als felbftberftindlid porauszufehen. Darüber 
fonnte es fein Grmiiden geben; denn Kampf war man gewohnt. Wenn 
aber fo manches boffnungspolle Werf, das der tätigen Mitarbeit getreuer 
MWenſchen bedurfte, nicht gedeihen wollte oder gar dahinfiehte, fo waren 
es zumeijt die eigenen Kameraden, die die Wurzel des Werkes bedrohten. 
Wie wenig hatte der Krieg felbft die verändert, die er im OSnnerften ges 
fohüttelt hatte. Immer nod find wir der Hagen, der Giegfried erjchlug. 
Immer nod lafjen wir durch unfere unfrudtbare Kritif das Werk hinter 
feine Gebler zurüdtreten und zerftören es mit heiligem Gifer, ohne etwas 
Befferes an die Stelle fegen gu können. Befonders ärgerlich find dabei Die, 
die hinterher mit Krofodilstränen in den Augen erklären, wie febr fie ane 
fänglih an das Werk und feinen Urheber geglaubt hätten, und wie tief fie 
pon beiden enttäufht worden feien. Hier müffen wir die Trennungslinie 
ziehen: Das find feine Schüßengrabenmenfchhen mehr, die den Willen, etwas 
felbft beffer zu machen, nicht mit der Ghrfurdht por dem Werke des andern 
verbinden Tönnen. 

Gon vornherein mußte es fraglich fein, ob und wieweit die Schüßen- 
gtabenmenfden felbft während ihres Lebens in die Lage fommen würden, 
das Deutſche Reid) der Zukunft mit zu errichten. Sicher mußte aber ihre 
Hauptaufgabe darin Liegen, ihr Gein, ihre immanente voll» und ftaate 
bildende Kraft fruchtbar zu maden, weiter zu vermitteln und auf das nadfte 
Geflecht zu übertragen. Hier lag die befondere Pflicht der Schüßengraben- 
menfden als Graieher. Diele find mit Liebe und Gefdid an die Arbeit 
gegangen, zu denen, die während des Krieges nod Kinder waren. Die Gre 
gebniffe find aud bier zunächft nicht befriedigend. Man darf nicht glauben, 
daß die nad dem Kriege ftärfer einfegende Sportbewegung die Aufgabe 
irgendwie erleichtert hätte. Durd die junge Generation geht beute eine 


328 


deutlich erfennbare Sceidungslinie: die einen find irgendwie, wenn aud 
noch fo oberfladlid, bon der fogenannten Sugendbewegung ergriffen; Die 
anderen wollen nichts damit zu tun haben. Die Scheidung gebt durch alle 
Stände und Schichten bHindurd. Die Iettere Gruppe umfaßt die an jis 
Unbewegliden, die jugendlichen Greife, die Pringipienmenjden, die Lauen 
und Die Realtionare, alfo Menfchen, die unter ſich wenig Gemeinjames 
haben. Zu dem Wenigen gehört die Abneigung gegen das lebendige Geis 
ftige, alfo auch gegen den Geift des Schützengrabens. Damit ift nicht gejagt, 
daß fie und ihresgleichen nicht dod, wenn die Zeit des großen Werkes er- 
füllt ift, gut brauchbar find. Aber fie taugen weder als Fadelträger: 
nod als Kleinodienbewahrer. Bei der Sugendbewegung befteht die akute 
Gefahr, daß wir in ihr eines Tages nichts weiter als die übliche Deutide 
SugendD mit all ihren lieben Tugenden und Feblern, nur in anderer Auf 
madung, bor uns haben. Diefe Gefahr fann nicht bon uns, fondern nur bon 
der Sugend felbft abgewandt werden. Gang unabhängig davon ftebt Die 
Stage ihrer Stellung zum Schügengrabenmenfhentum. Die Borausfesungen 
find bei denen, Die nod feft in Heimat und Bollstum wurzeln, nidt ungünftig. 
Aber eines erjchwert die Arbeit fo außerordentlich, ja, macht fie faft unmöglich: 
Dasift der Mangelan Dijziplin Hier liegt der Grhfehler 
Der Deutſchen, der felbft durch die Dienjtpflicht nicht gebeilt if. Was 
fol! werden, wenn felbit dieſe fehlt? Gs hängt mit den oben berithrten 
Seiten des deutfhen Wefens zufammen, daß wir, mögen wir auch Heute 
lauter denn je nad) dem Führer fchreien, autoritätsungläubig find. Diefer 
Mangel fann nur dur) Difgiplin, ja, vielleicht fogar nur bdurd) erzwungene 
Difziplin geheilt werden, mit der fic felbft unfere Autoritäten haben durch 
fegen müffen. Gs ift deshalb fein Wunder, daß Hier aud) die Sdiigen- 
gtabenmenfden vielfach fic einer einfachen Unmöglichkeit gegenüber geſehen 
haben. Dabei finnen fie fic aber nicht beruhigen. Hier handelt es fid 
vielleicht um die Kardinalfrage unferer Zukunft, und wir finden gerade bier 
die Männer des Schütengrabens befonders bereit, mit allen in Betradt 
fommenden fittlichen Kräften in Deutfchland an diefer Aufgabe gujammen- 
auarbeiten. 


3. 

68 ließe fid) nod mandhe Aufgabe der Schügengrabenmenfchen und ihre 
Durdfibrung befpredhen. Die Hier furz behandelten brennen aber am meijten 
auf den Nägeln, und das Grgebnis ift überall das gleiche: bas Biel bleibt 
alg unverändert, unverrüdbar und ſchlechthin notwendig beftehen. Der gute 
Wille der dahin Strebenden ift ebenfo unleugbar wie die noch vorhandene 
Schwäde. Der Erfolg bleibt hinter den eigenen Grwartungen zurüd. Gs 
ift müßig, darüber nachzudenken, ob das an den Menfchen felbft oder den fie 
umgebenden Berbältniffen liegt. Wir tun auf alle Galle gut daran, Die 
@riinde in uns felbft gu fuchen. Andererfeits liegt nicht die geringfte 
Beranlaffung por, die Flinte ins Korn zu werfen. Wir haben {chon vor fünf 
Jahren davor gewarnt, die Aufgabe zu leicht zu nehmen und die note 
wendige Beit zu gering anzufchlagen. Der DBerftoß dagegen fdeint uns 
ebenſo menſchlich erflarlid, wie tatſächlich verhängnisvoll. Vielleiht mußte 
aber aud) die Zeit felbft wiederum Die Lehrmeifterin fein. 

Der verlorene Krieg darf uns nicht niederdbrüden, nadhdem wir ibn fo 
lange mit Ghren geführt Hatten. Niederlagen an fic verbauen den Weg 
nicht, wenn die Betroffenen ihn fic nicht felbft verbauen. Niederlagen 
nehmen die Völker in harte Zucht. Schnellfuren helfen da aber nicht. Das 


329 


zeigt uns unfere eigene Gefdidte: Der Auftrieb der Sabre 1808 bis 13 hat 
faum über die $reiheitsfriege hinausgereiht. Das Jahr 1918 bat aber nicht 
nur eine Niederlage, fondern Durch die Art des Zufammenbruhs unfaglide 
Schmad über uns gebradt. Sie brennt gewiß in niemandem fo ſtark wie 
in den Schügengrabenmenfchen, und es ift ihr felbftverftandlides Berlangen, 
daß fie fie fo fehnell als möglich abwafden möchten. Sie rubt zugleich 
auf dem ganzen Volke wie auf dem einzelnen. Der legtere fann fid von, 
ihr logmaden, eben indem er das Leben des Schüßengrabenmenfchen führt. 
Das verpflichtet ihn, auch dabei zu helfen, das ganze Bolf bon der Schmach 
frei zu maden. Aber frei wird es erft, wenn es fich felbft frei macht. Dabei 
ift derfelbe innere Prozeß notwendig, wie bei der Ueberwindung der Nieder- 
lage. Mad menfhlihem Grmeffen werden wir nur beides zugleich von ung 
nehmen fönnen und erjt, wenn unfer Golf bereit ift. 

Dieje Auffaffung begegnet oft dem Borwurfe des „Nur-warten=lafjen- 
Wollens“, der Pajfivitat. Gr ift völlig ungeredt. Auch die Schüßengraben- 
menfden wiffen gang genau, daß nur die Tat und das Deifpiel, niemals 
die Betradtung und das Geſchehenlaſſen das Kommende zeugen fann. Aber 
fie wollen nur ihre Taten tun, nicht die anderer Menjchen, die oftmals nur 
im Wunfhbild vorhanden find, als ob es einen „Sührererfag“ geben fdnnte. 
Al unfer Sun fann nur auf der realen Tatſache aufgebaut fein, daß Deutich-. 
land heute unter den Grofmadten außerordentlic” wenig bedeutet, daß man 
es in Diefem YZuftande belajffen will, und daß im Innern immer nod das 
Chaos herrſcht. Wir können uns des Gedanfens nidt erwebren, daß alle 
„Saten“ der letzten Sabre, die Kapp- und Hitlerputfche, die Attentate, die 
@riindungen, die Tagungen nur aus äußerer, nicht aus innerer Berufing 
heraus in die Wege geleitet find. Gs genügt nicht, das Surchtbare unferer 
Lage zu empfinden und zu erfennen und dann „auf Deubel fomm raus“ da- 
gegen anzugehen. Gewiß ijt auch das einmal nötig. Aber ein foldhes Vor— 
gehen muß bon einer geeigneten Gibrerqualitat und bor allem von einem 
einfichtigeren Urteil über die realen Unterlagen getragen fein. Der wahre 
Führer befigt alle diefe Gigenfchaften zugleich, ja er fann, wenn es nötig ift, 
fih fogar die notwendigen realen Unterlagen felbjt jchaffen. Der Ginn der 
Schützengrabenmenſchen befteht Tettlih darin, den mirklic Starken und 
Stärfften unter ihnen dies Schaffen zu ermöglichen. Meint man, fich ent» 
gegen dem bier Gefagten auf den Standpunft ftellen zu Dürfen, daß Die 
großen Führer wohl vorhanden feien, daß es ihnen aber an der nötigen ©e- 
folgichaft fehle und fie deshalb Gchiffbrud erlitten hätten, fo beweiſt das 
eben nur die Richtigkeit unferer Befiirdhtung, daß gunddft einmal mit Hilfe 
der vorhandenen Führer die Bereitichaft hergeftellt werden muß. 

Weift man auf den Ausgang diejer Taten und auf den wenig fidtbaren 
Grfolg der Schügengrabenmenfchen Hin, und erinnert etwa noch an das Fidte- 
wort, daß feine Lehre hundert Sabre wirken müſſe, um die Deutfden zur 
DBolfheit zu maden, dann wird man oft eines trübfeligen Peſſimismus ge- 
gieben, der die Sreudigfeit und den Mut der Jugend lähme und fie tatenlos 
made. Wir fhäten unfere Jugend nicht fo gering ein, daß wir ihr Miß- 
berfteben befürchten müßten. Gewiß Hordt fie gern auf leichte Worte und 
und auf die Schalmei, deren Echtheit fie nicht nadpriifen fann. Aber gute 
Jugend will {dliehlid nur die Wahrheit wiffen. Wie por dem Kriege der 
Sugend aller Schihten das Rect auf Lebensgenuß gepredigt wurde, jo 
wollen wir ihr jett die Notwendigkeit und den Ginn des Leidens verkünden, 
auf daß fie daraus den Beruf für fich entnehme, unfer Bolt dur die 


330 


beroifhe Sat von diefem Leiden zu befreien, wobei die heroifhe Tat nicht 
in einem einmaligen DBorftürmen unter äußerfter Lebensgefahr, fondern in 
einem vielleicht lebenslänglihen Opfergang und in einem dauernden Sich— 
verzehren im Dienfte des Ganzen befteht. Solches aus Leiden aufftehende, 
finnpolle und treue Tun, das des Grfolges gewiß ift, ohne ihn vielleicht 
beobadten zu fdnnen, bringt die größten Greuden, deren frohbgemute und 
aufunftsgläubige Menfden teilhaftig werden können. 

An die Schügengrabenmenfchen ergeht bei unferm furgen Ginbalten in 
dem Laufe der Zeit einfad der Zuruf „Weitermadhen“. Und das beißt 
» Seffermaden*. Die Berfude und Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre 
müjfen den folgenden zugute fommen. Was jagen wir aber den anderen 
und namentlich den jüngeren, die den Krieg draußen nidt mehr miterlebt 
Baben, wenn fie uns fragen, was fünnen wir für Deutfchland tun? Wir 
find feine Nachweifungsftelle für Arbeit und Beruf. Und im Geifte des 
Schüßengrabens leben zu können, bedarf es feines befonderen Plages, jondern 
jeder bis zu dem geringften ift gerade recht dazu. Denn es handelt fid 
darum, eine beliebige Arbeit aus einer beftimmten Gefinnung heraus zu tun. 
Se beffer diefe Arbeit ift, je mehr in diefem Sinne gearbeitet wird, je enger 
dadurd zugleich der Zuſammenſchluß der deutfhen Menfchen wird, um fo 
eher fallen all die Mängel weg, bon denen hier die Rede war, um fo eber. 
find die VBorausfegungen fertig für die innere DBereitfchaft, für die Befreiung 
und die Greibeit in Ginigfeit, die der Sinn und das Ziel unferes Lebens ijt. 
Alte und junge Kameraden, wenn wir alle Heftigfeit und vorzeitige Unzu- 
länglichfeit ablehnen, wenn wir euch bitten, alle Grneuerungs- und Reform- 
plane auf euch felbft zu fongentrieren und euren Wirfungswillen auf eure 
Reichweite zu befchränfen, wenn wir fogar empfehlen, das heutige Staats- 
leben auf fic) beruhen zu laffen, um nad) der durch den Äußeren Drud ver— 
mebrten inneren Sammlung aufs Ganze gehen zu können, fo gefdiebt das, 
weil wir wollen, daß „die große Tat“ ein entfheidender Schritt auf 
dem Wege zur Bollendung unferes Bolfes fei, und weil wir glauben, daß 
er auf diefem Wege aud) am fdnellften getan werden fann. Richten wir, 
unfer Leben in dieſer Weije ein, Dann mag aud der Sag des neuen Reiches 
aller Deutfden und der Tag des Führer-Kaifers nicht mehr fo fern fein, als 
wir es aus unferer Gegenwart heraus zu fehen permögen. 

Sobann Wilhelm Mannbardt. 


Das deutſche Bolf und der Krieg. 


tieg und Niederlage jind Proben des Sdidjals; ihre ftarfe aufbauende 

Kraft wird frei, fobald fie von einem geiftigen Gtandpuntt betrachtet 
und nad ihrem höheren Sinn gewürdigt werden. Gie fteben in diefem Fall 
über jeder Kritif. Zwar ijt das deutſche Volk in ihrer Folge wehrlog ge- 
worden inmitten der Rüftungen anderer Völker; einer gefunden foldatifchen 
Tätigkeit ijt eine ergwungene Pauſe gejegt, doch fann diefe Pauje eine neue 
Kriegstüchtigfeit begründen, wenn fie nur eine jolhe des Naddenfens und 
der Gelbjtprüfung ift. 

Aud das politifche Urteil braucht den gefunden Zieffinn des deutjchen 
Wefens. Die Bolitik ift eine fo Hobe und fdwere Kunft, undenkbar ohne 
tiefere Kenntnis der gebeimeren DBorgänge in der menfdliden Geele; 
zu ihr gehört die fadlide Leidenſchaft echter Wiffenfchaftlichkeit. Mit 
dem Haren, felbftlojen GSpürfinn der Liebe muß fie als gründliche 


331 


Wiffenfdaft den Erſcheinungen auf den Grund gehen. So jchöpfen politijde 
Menjchen aus der Seele des ganzen Bolfes, feltner in Deutfchland als in andern 
Landern, weil bier diefe Seele fo unergriindlid und ſchwer zu faffen ift. 

Das redhte Handeln der Gegenwart ruht auf dem Ginbli€ in das Gee 
worbdene; flares Berftändnis von Krieg und Niederlage find die Grundlagen 
einer neuen Wehrkraft; auf geiftigem Weg müffen alle Kreife des Bolfes 
einer natürlichen Kriegstücdhtigfeit wiedergemonnen werden. 

Gs braucht dazu politifhen Taft und eine fchöpferiihe Geſchichtsbe— 
tradtung, die wirklid) dem fdeinbar Ginnlofen wieder Sinn gibt, denn 
am gefährlichften für die Gefundheit des Volkes ift eine Kritik, die vernichten 
fann. Die wahre völfifhe Kraft findet den Sinn und den guten Kern felbft 
in den DBorgängen, die gum Ungliid des VBaterlandes geworden find, fie 
bereitet fogar den Gliedern des Bolfes, die fid) vergangen haben, den Rüde’ 
weg zur rechten Geſinnung, weil ein Stüd urjprünglicher Bolfstraft nod in 
dem Iegten Sohn eines guten Volkes Iebt. 

Wir brauden für eine neue Wehrkraft eine grundfaglide Klarheit. Wir 
müffen bor allem wifjen, wie ji das deutſche Boll zum Kriege verhält, 
was es früher friegstüchtig gemacht bat und auf welde Weije es trotzdem 
gu einer Gabotage des Krieges fam. Gs muß hierbei von dem deutfchen 
Bolt als einer organifchen und befeelten Einheit gefproden werden, felbft 
wo man nur einzelne Sreibende oder Schuldige feben Tönnte; jedenfalls 
fann in feinen entfcheidenden Augenbliden ein Golf nur als Ganges handeln; 
gwifden Sun und Gefdebhenlaffen ift dann fein Anterfchied. 

Sn der urfpriingliden Form des Krieges fpielt die Metaphyſik eine 
große Rolle; hier lebt das Unberedhenbare des Schidjals in aller urfpriing- 
lihen Starfe. Im Kampf entfalten ſich neue Kräfte, Die immer gefdlafen 
haben, es entftebt ein gleichjam nerpiges und durddringendes Feingefühl 
als eine erhöhte Aktivität der Seele. 

Der Deutſche fudt gern das Abenteuer des Krieges oder beffer gejagt, 
deffen erhöhte feeliihe Tätigkeit. Gr ift friegerifd in einer bon jeher jtarf 
entwidelten Seelenfraft, die fic) immer wieder betätigen will. Das tägliche 
Leben ift ihm leicht zu fein und zu eng, dann fuchen die mannigfaltigen 
inneren Kräfte eine intenfipe Betätigung. Seine Gefdhidte ift eine Gee 
ſchichte der Raftlofigkeit, die fid in ſchweren Aufgaben ftillen will. So ift 
der Krieg dem urfprünglichen Deutſchen nur ein natiirlider Gnergiever- 
braud des drängenden Innenlebens. 

Rraftlofe Menfchen fdnnen den Krieg nicht verftehen; fie feben nur 
Mord, Sinnlofigfeit und Zerftörung; in ihrem Leben fehlt jeder Aeberſchuß. 
Sie ahnen aud nicht, daf gerade das Unfichtbare, der feelifche Ueberſchuß, 
früh oder {pat das wahre Schidjal der Menfchheit ausmadt. 

Der reine Krieg fommt nun aus diefem Ueberfluß wie der meifte Kampf; 
er ift ein Ringen um feelifches Gleichgewicht, eine Gntladung und Reini» 
gung, die fic) die Menjchheit felber auferlegt. Könnte ihn nur die Bernunft 
befeitigen! Go ift er aber ein Stüd natürlichen Lebens, ja gefteigertes Leben 
felbft. Gr verbraudt ja nicht nur die feelifhen Kräfte; wie jede gejunde 
Tätigkeit verbraudt er im Gleihmaß die leiblichen, feelifchen, geiftigen. 
Zwiſchen den Bölfern bringt er das innere Krafteverhaltnis ins Gleichgewicht, 
das volflide Leben der Kämpfenden klärend, beruhigend und ftarfend. 

Freilich ift hier von dem Arbild des Krieges die Rede, von feiner Idee, 
wie eine folhe auch von Pflanze, Tier und Wenſch befteht. Die Erſchei— 


332 


nungsformen diejfer Idee find unendlich wandelbar. Dod fann jede einzelne 
an dem Urbild gemefjen werden. 

Im Deutjchen lebt die reine Idee des Krieges und die ift es aud, Dia 
er immer gejudt bat; im ideellen Ginn ift er friegerifh, um des Urbilds 
willen ſucht er den wirkliden Krieg. Gs geht bon ihm ein Geift der Une 
tube aus, den die gedämpfteren Seelen der anderen Völker faum verftehen 
fönnen. G8 wird ihm deshalb auch fchwer, auf natürlidem Weg Form, 
Gleichgewicht, Gleichmaß zu finden. Die Natur hat den anderen Völkern 
ein gebalteneres Innenleben gegeben; bon ihrem Standpunkt haben fie wohl 
das Recht, uns Barbaren zu nennen. Gs ift auch verftändlich, geben fie uns 
wegen unjerer Unruhe die Schuld am Krieg. 

Betrachtet man aber den Krieg als Schidjal, als ein Verhängnis, dag 
über die Völker fommen muß, fo ift diefe Schuldfrage herzlich gleichgültig. 
Sie gehört der Sagespolitif; por der Gefdidte ift fie bedeutungslos. 

Sedenfalls haben die Deutfchen einmal auf den Ausbruch des Krieges 
eine heimliche Hoffnung gejeßt; es war eine innerlide, nur Halbbewufte 
Hoffnung auf Wiedererlangung des inneren Gleidhgewidts. In den tieferen 
Gründen ift alle Gejdhidte Seelengeſchichte. 

Wie fprunghaft hatte ſich die Gntwidlung Deutfchlandg feit einem halben 
Jahrhundert vollzogen! Wie unorganifdh ging die Gntwidlung, die plötzlich 
aus einer Summe von Heinen Staaten ein Weltreid) bildete! Der rafde 
äußere Aufftieg mar für die meiften diefer entwidelten Seelen ein tiefes 
Ungliid, obwohl er zuerft von ihrer eigentümlichen Raftlofigfeit genährt war. 
Sie fudten etwas in diefer materiellen Betätigung, das fie nicht finden 
fonnten; die DBefehrung zum Materialismus vollzog fich im fdnellen Puls- 
flag des feelifchen Giebers. 

Alles das bradte die Feindſchaft, ja die Mißachtung der Völker mit 
einem befferen inneren Gleichgewicht. 

Wer wird die Deutfchen jemals verftehen, wo fie fich felbft ein Rätſel 
find? Gie lebten [chließlich ein materielles und betriebfames Leben und nur 
das Anfchwellen des Sozialismus, ftärfer als in jedem anderen Land, 
mochte verraten, wie tiefe Unzufriedenheit Dem ganzen Bolt an der Seele 
fraß. 

So hat es fidh in dem ausgebrodhenen Krieg 1914 zu entladen gejudt. 
Seit Jahrzehnten war feine Seele in einem mechanifierten Leben gefeffelt, 
nun war da auf einmal der Krieg, in dem der Wert des Perfdnliden, alle 
feelifhen Tugenden, freie, fchaffende Sat wieder gelten follten. 

Die Grinnerung an Diefe Zeit erfüllt Heute unwillfirlid mit Trauer. 
Die DBegeifterung und die Ezpanfionskraft der Heere in diefer erften Zeit war 
die vergehende Gnergie des Abſtoßes vom gewöhnlidhen Leben. Noch fab 
man Damals ein freies, perfönlich bandelndes Dafein im Krieg. Die Deutfchen 
flüchteten aus dem Gefängnis der Seele, aus Geſchäft, Fabrif und Betrieb, 
ja aud) aus der Schule, wo überall und fo oft aus dem lebendigen Menfden 
ein Ding gemadt worden war. Für das beutjche, diefes perfönlichfte aller 
‘Dilfer, war der Krieg ein Wiederbeginn des Lebens, das nun bon aller 
Mechanik frei war. 

Aber in diefer Borftellung lebte das Urbild und nicht die Erfdeinungs- 
Kan: ein für allemal ſchien der Krieg ein Triumph von elementaren Grleb- 
niffen. 

So muß ein Bolf in die ſchlimmſte Enttäuſchung feiner Gefdidte hinein- 
geben. Gs erwartet bon einem Krieg die Befreiung aus einer medanifierten 


333 


Welt und erlebt ftatt deffen den graufamen Sieg der Materie über den 
lebenden Menjchen. 

Man könnte aus diefem Gefichtspunft eine ganze Gefdidte des Krieges 
fchreiben, ja, boffentlid) wird fie nod einmal gefchrieben werden. Dielleicht 
war die Niederlage der erften Marnefdladt, was aud immer Die rein 
militärifhen Gründe gewefen fein mögen, ein erftes Gingeftändnis Der 
innerlihen Gnttäufhung. Sedenfalls fest der Grabentrieg, bie Starrbeit 
der Front, die dann begonnen: hat, einen ganz beftimmten Zuftand der Gegner 
voraus. Gie beherrfehen nicht mehr den Kampf, die Mechanif der Kampf 
mittel beberrfcht nun fie. Sm Often blieb der Kampf immer öftlicher, Dort 
fam es nie zu jener weftliden und medanifden Starrheit der Front; lebendige 
Menfden fämpften noch miteinander. 

Warum ift die Pſychologie diefes Krieges nom ungefdrieben? Gie 
finnte Dinge entbiillen, die wie ein Geftandnis das ganze Leben der Bölfer 
erleichterten; fie öffnete die verborgenen Leiden und Freuden der deutfchen 
Soldaten, die felber bis Heute nod ſtumm und über fich unflar geblieben find. 

Die Unterfchiede des Kampfes in Oft und Weft find Unterfdiede der 
Weltanſchauung; feine Berfdiedenheit reicht bis in den Bezirk der höchſten 
menfhlihen Dinge War es ein Bufall, daß die Deutjchen im Often fieg- 
reid) geblieben find? Waren fie deshalb nur fiegreich, weil die Ruffen fo 
ſchlechte Soldaten und fdledt geführt worden find, oder weil ihnen fdom 
der fommuniftifde Geift in den Knochen jaß? 

Wir können an diefer Stelle auf foldhe Fragen nicht eingehen. Gs ift 
nur darauf zu berweifen, daß der Kampf im Often bei allen Truppen, 
die aus dem Weften gefommen find, als eine feelifche Auffrifehung gegolten 
bat. Die oberfte Heeresleitung hat fic diejes Wechfels der Kampffront nicht 
nur aus ftrategifhen ®ründen bedient. 

Denn im Weften geriet die deutfche Seele immer mehr in Gefangen{daft, 
in die graufame Haft der toten Materie. Notwendig zieht die Starrheit 
der Gront die Materialfhlaht nad fid. Gerade die Maffen der In— 
fanterie, die bas Gefedt entfcheiden foll, werden als lebende Wefen immer 
mehr unterdrüdt; fie werden Kanonenfutter, Nummern und Zahlen ohne 
Rüdficht auf perfönliden Wert. Ihre größte Tapferkeit ift das Wusbarren, 
ihre größte Leiftung die ftumpfe Preisgabe ihres Körpers. 

So muß man von diefer Zeit ab erleben, daß die Soldaten die Truppe bere 
lafjen, wenn fie in Stellung gebt, diefelben Soldaten, die dann im Often die 
tühnften Gingeltaten verrichten fdnnen. 

Gs ift gewiß, daß unfere Gegner im Weften nicht in dem gleichen Grad 
unter diefer Mechanik des Krieges gelitten haben; es will faft fcheinen, als 
wären fie auch auf diefem Gebiet mit der Materie auf vertrauterem Fuß ge- 
ftanden. Wie handhabten die Franzoſen 3. B. die Heinen Schilanen der Grae 
bengefhüte, Gewehrgranaten und Minen! Unfere Truppe war diefen Mitteln 
wenig freundlich gefinnt, fie erfdienen fo unperfinlid, ihre Handhabung 
fo anftrengungslos und billig. Was die Widerftandsfähigften aufrecht erhielt, 
war die Hoffnung auf eine Gingeltat, auf eine perfinlide Leiftung. Darin 
befreite fich immer wieder der Trieb der Seele zum fchaffenden Handeln. 

Aber auch davon foll Hier nicht weiter die Rede fein; all das verdient 
eine bejondere pſychologiſche Würdigung. Gs bleibt nur feftzuftellen, daß 
gerade der Deutfche, der freudig und tapferwillig den Krieg begonnen hatte, 
in feiner entwidelten, tätigen Seele am meiften unter dem Krieg gu leiden. 
anfing. 


334 


Ja, es entwidelte fich ein unbefchreibliher Haß in der Seele des Bolfes 
gegen die blinde Mechanik des Krieges. Und diefer Haß war geboren aus 
- einem gefunden und natürlichen friegerifden Inftinkt. Gr entftand wohl aud 
bei den andern Völkern, doch wußte fich deren entwidelter materieller Sinn 
immer neue und raffiniertere Mittel zu fdaffen wie die mechaniſchen Un— 
getüme der Tanks. Die Deutfchen aber haben ihre Erfindungen fchlecht und 
gdgernd ausgenüßt, als empfänden fie ihre Seindfeligfeit gegen das Urbild des 
Krieges. 

Unter einem foldhen Gefidtspuntt dürften wir uns getroft zu einem Haß 
des Krieges befennen. Gin folches Bekenntnis wäre nicht gegen die natürliche 
Zapferfeit, denn unfer Gefühl, das fi das Urbild, die reine Idee, zum 
Mafftab genommen hat, richtete fid ja dann nur gegen die entfeelte und ent«- 
geiftigte Gorm. Wollten dod einmal die ehrlichen Deutfchen, die Pazififten ge- 
worden find, unter dieſem Gefidtspuntt ihre Empfindung ſchärfer prüfen! 

Die oberfte Heeresleitung hatte wohl die Gefabr des medanifden 
Krieges erfannt. Man ahnte, daß die feindliden Heere nicht mit einer folden 
inneren Not zu fampfen Hatten, die größer war als die materielle. So fam 
der organifierte vaterländifhe Unterricht, den übrigens gute Truppenführer 
{hon lange pflegten. 

Die Idee des vaterländifhen Unterrihts mar feelifche, geiftige 
Stärkung, um ber innerliden Zerftörung der Kriegsmechanif entgegenzuwirfen. 
Es war die Idee eines wahren GFeldherrn. Aber zu ihrer Berwirklihung 
hätte es {don im Frieden einer intenfiven Grgiehung des Offigiersforps bee 
durft. Hier genügte feine medanifdhe Fertigkeit in den äußeren Dingen des 
Sandwerks, es bedurfte der wahren Kriegskunft, die aud mit Geift und 
Seele der Menſchen Iebendig umgeht. 

Dod war die beutfche Seele nod ſtark genug, um auch ber Mechanik des 
Krieges ftandgubalten; fie ift ihr nicht unmittelbar unterlegen. Doch verloren in die⸗ 
fem Wüten des Materials Sieg und Niederlage jeden urfprünglichen, lebendigen 
Ginn. Gefühlsmäßig wußte das jeder Frontfoldat, daher aud) feine Gleich— 
gültigfeit gegenüber dem Ausgang des Krieges, im Durchſchnitt wenigftens. 
Gr tat feine Pflicht, foweit ihm das feelifh noch möglich war; aber innerlich 
grimmig enttäufcht bon der Umkehrung aller Begriffe, hielt er ſchließlich die 
ganze Welt für Schwindel. 

Warum follte eine foldhe Tatſache den deutſchen Soldaten entehren? 
Gs war die natürlihe Reaktion der Bolfsfeele. Immerhin war diefe Bolks- 
feele an der Front nod) immer durch Kampf gebunden, in der Heimat vere 
Dielt fie fich anders; in der Heimat empörte fie fic. 

Aber es ftünde uns fchlecht, würden wir in der Sabotage bes Kriegs 
dur das Hinterland nur Kriegsmüdigfeit und Geigheit fehen. Dies gäbe 
ſchlechte Ausfichten für den Aufbau des neuen Heeres. Gs entſpricht aber 
aud gar nidt den Zatfachen. Oft waren die Bannertrager des Umfturzes 
Derftümmelte, die fic einft an der Front fanatifch gefdlagen Hatten. Auch 
in der Sabotage des Krieges zeigten fie fid als gute Soldaten, wenn auth 
gleihfam ohne die Budt des Handwerks. Vielleicht erinnert man fih aud 
der ,,Seefdladt* von Goering: aus den guten Matrofen wurden wirklich gute 
Meuterer. Wer diefe Matrojen nod im Mai 1919 fechten gefeben Hat, dem 
wird um den friegerifchen ©eift unferes Bolfes nicht bange. 

Gs ift zu unferem Oliide anzunehmen, daß fid die deutfche Seele gegen 
die Medhanif des Krieges empört Hat, nicht gegen den Krieg felbft. Un— 
bewußt mußten Dod die Gmpdrer und Saboteure das ftumme Ginverftändnis 


335 


des großen Gangen befiten, fonft brauchten wir nicht zu fragen: wo blieb 
damals der Widerftand? Der Krieg entjchied langft nicht mehr über den 
wahren Wert und die Kraft der Völker, deshalb wehrte fic aud die Front 
nicht mehr gegen die Niederlegung der Waffen, da es ja eigentlich nicht mehr 
die ſoldatiſche Ghre anging. 

Wohl haben ſich volfsfremde Menfchen der deutſchen Empörung gegen 
die Mechanik des Krieges bedient; durch diefe gewaltige Seelenfraft hielten 
fie fic) des rebnlitiondren Gieges für fider, aber fie fannten die wahren 
Regungen nicht, deren fie fich bedienten; fie wußten nicht, daß diefe Gmpdrung 
aller Mechanik gegolten hat. 

Der Sozialismus marziftifher Richtung ift aber eine mechaniſche Welt- 
anfhauung. Go lange er nur das Recht des freien Menjchen verfündetg, 
bejaß diefe Idee, aber ins Deutjche umgedeutet, eine unbergleidlide agi— 
tatorifhe Kraft. Heute ift die Kraft zu Ende. Der Kampf gilt ibm. Durch 
Krieg, Empörung und äußere Niederlage führt ein gerader Weg zum eigen- 
tiimliden deutfchen Wefen. 

Die Deutfchen befämpfen fic nod untereinander; wahrſcheinlich ift aud 
Dies zur Klärung und Beruhigung der Seele notwendig. Die Hajfiihe Gin- 
Deit ift ihnen ewig fremd. Wie das Leben ift diefes Volk reich, bunt, von 
den mannigfaltigjten und entgegengejegten Farben. Aber leije fängt es jdon 
an fic felbft gu verftehen, fich wieder zu adten und wert zu ſchätzen. Gs 
wird fid Iangfam zu einer feelifhen Wehrfähigfeit erziehen, die ftärker ift 
als alle mechaniſchen Rüftungen. Wilbelm von Shramm. 


Die nationale Bewegung in Indien und bei uns. 


ir find ein Golf des Kontinents. Leichter verftehen wir die Expanſion 

des ruffifhen Agrarreiches. das Landitrede um Landftrede an jich rif, 
alg den Bau des britifchen Imperiums, der die Meere überwölbt. Die 
Stage, ob ein Land bäuerlich befiedelt werden fann, jpielte für die volks— 
tiimlide Bewertung der Kolonien bei uns eine entfcheidende Rolle; für das 
Weſen angelſächſiſcher Weltherrfhaft ging unſerm Volk nod nidt 
einmal das DBerftändnis auf, alg wir — gum zweitenmal in unfrer See 
ſchichte — der weltbeherrſchenden Zivilifation zum Kampfe gegenübertraten. 
Kaum heute fehen wir den Gegner deutlich, der im Dawes-Gutadten das 
Sazit aus der diesmal verlorenen Hermannsjchlacht zieht und uns dem bdiel- 
fad) abgeftuften Spftem bon Abhängigkeiten angliedert, mit dem er den Erd- 
ball überzogen bat. Das Waffenrafjeln Frankreichs fiziert unſern Blid auf 
den feftländifchen Feind: — mit diefem uns auf greifbare und unferm Weſen 
gemäße Art auseinanderzufegen, find wir ohnehin feit Jahrhunderten ge» 
wohnt. Aber der unfaßbare Widerjader drüben auf feiner Nebelinfel, mit 
feinen maritimen Kajtellen an den Küften aller Meere und feinen Heerftraßen 
zu Waffer, mit feiner Macht, die Meinung der Welt zu formen, mit moralith 
und DBlodaden und mit feinem Bündnis mit dem Ginangfapital, deffen Ber 
treter heute den Staaten ihre Politik porfdreiben, — diefer Widerfacher loft 
nit wie Frankreich Hellen Haß aus, fondern ratlofe Grbitterung. 

Waren wir nicht weltpolitifher Ausblide jo wenig gewohnt, fo müßten 
wir längft mit größter Spannung das Werk jenes Mannes verfolgen, der den 
Kampf mit diefem Gegner aufgenommen bat: das Werk Mahatma Gandbis. 
Aber unfer Wiffen befchränfte fich meift auf einige feuilletoniftifche Zeitungs- 
attifel und gelegentlihe Reutertelegramme, die uns faum Die Bedeutung, 


336 


Diefer Bewegung für uns ahnen ließen. Sekt Hat Romain Rolland ein Buch* 
über Gandhi gefchrieben und eine Auswahl feiner Auffäße ** herausgegeben. 
Nur von diefen ijt im folgenden die Rede. Dadurch, daß der große franzöſiſche 
Bazifift, daß Upton Sinclair in Giegfried Jacobſohns Weltbühne, daß 
unsre demofratifcheinternationale Preſſe fic für Gandhi begeiftert, entfteht die 
Gefahr, daß nationale Kreife Gandhi für einen pagififtiihen Ideologen 
halten und ihn ebenjo ablehnen, wie den — ingwifden rubmlos verjchol«- 
Ienen — Smporte-rtifel Rabindranath. 

Aber die Gründe, aus denen unfre Pagififten Gandhi propagieren, find 
etwas anderes, als der tiefe Grund, aus dem Gandhi die Kraft jchöpft, gehn 
Millionen Menſchen zu gewinnen, die bereit find, für ihr Land zu leiden. 

Now ehe man die Gedanfenwelt diefer Aufjäse überblidt, fühlt man, 
daß bier andere Luft weht als in den Schriften unfrer Pazififten: man fpürt 
den heißen Atem eines Bölkerftreites, Blutopfer fallen und immer deutlicher 
bört man aus den Haren und fühnen Worten den Öotteszorn des Propheten 
reden. Selten find ftolzgere Worte gewedfelt worden, als zwijchen Gandhi, 
dem Sprecher der indifhen Millionen, und den Herren der halben Welt. 

Gandhi fampft ohne Gewaltanwendung. Aber nicht aus Mangel an 
nationaler Würde, nicht aus meinerlicher Leidensfcheu, nicht aus Sorge um 
bie zipilifatoriihe Wohlfahrt ift feine Idee der Gewaltlofigfeit entfprungen: 
fie entftammt feiner humanitären Wurzel. 

Gr fieht fein Land, zerriffen von dem tiefen Religionshaf, der achtzig 
Millionen Mohammedaner zweihundertzwanzig Millionen Hindus gegenüber- 
ftellt, Die wiederum durch Kaften und Stämme in vielfahem Gegenſatz grup- 
piert find. Gr ſieht das britifhe Weltreich, das durch Hunderttaujend aus- 
erlefene Männer diefes Bolf in Hörigfeit erhält. (Kiplings „Kim“ gibt eine 
einzigartige Slluftration diefer Berhaltniffe.) 

Gandhi erkennt die Methoden diefer Verſklavung, ihre teuflifche Genialitat 
— und ihre ®rengen. Gr fieht, wie durch die Zerftörung der indifhen Haus- 
tweberei Ddiefes Land, das mehr Baumwolle erzeugt, als es verbraudt, ge 
zwungen wird, an der Ginfubr von Belleidungsftiiden zu berarmen. Gr fieht ein 
lüdenlofes Shftem brutaler Unterdrüdung, das Straßen, Gifenbabnen, Schulen, 
Geridte nur fdafft, um der Ausbeutung die Wege zu ebnen. Aber er fieht 
aud, daß dieſes Shftem nur Iebensfähig ift durch die Mitarbeit der Inder 
felbft: die Berwaltung, die Bahnen, die Armee brechen in dem Augenblid 
gufammen, in dem fein Inder mehr im Dienfte der Briten fteht. Diefen 
Augenblid herbeizuführen, ift das Biel Gandbis. 

Dazu judt er die entnervende Armut zu lindern, die Profitgier Man— 
defters zu enttäufchen, indem er die Arbeit am Gpinnrade, das Tragen 
Hausgemwebter Stoffe zur Pflidt madt. Darum fordert er gum Austritt aus 
dem englifhen Dienft, zur Bermeidung englifcher Schulen auf. Gr fiedt, daß 
die Engländer diefe Entwidlung erkennen und fürdten; daß fie verfuchen, Die 
Bewegung durch DBrutalitäten und Provofationen zum offenen Aufftand zu 
treiben, dejfen fie mit Tanks und Mafchinengewehren Herr zu werden hoffen: 
er weiß, daß dann die „Ihwäcdhlihen reiseffenden Millionen Indiens“ 
„dem Löwen“ nur als „angenehme Spenden“ dargebracht werden. 


* Romain Rolland, Mahatma Gandhi. 152 ©. Geb. 2.50. Geb. 3.50. 


** Mabatma Gandhi, Sung Indien. Auffabe aus den Jahren 1919—1922. 
540 ©. ®eb. 7.—, geb. 8.50. Beide Bände im Rotapfel-Berlag, Erlenbach-Zürich, 
Münden und Leipzig. 


337 


An diefem Punkte fest jene Kraft ein, die Gandhi auszeichnet. Gr ſchöpft 
wie fein Volk feine Stärke aus den religiöfen Tiefen des Hinduismus, der 
Gerehrung des heiligen Rindes. Im Hinduismus aber Iebt die Idee der 
Gewaltlofigteit, nicht als Negation, jondern als eine grundlegende pofitive 
Wacht: als die Art, in der die Welt erfaßt, umfaßt wird, — wir würden 
Liebe jagen, wollte man nicht jenes diftangloje ſchlampige ©efühlsungefähr 
darunter verftehen, das bei perfönlicher Herzensdürftigkeit blaffe Empfin— 
dungen auf allumfajfende Abftrafta wendet. Gandhi fühlt jich als orthodozer 
Hindu, und zu den Greueln der Zipilifation rechnet er neben den Gifenbahnen 
aud die — Rranfenhaufjer. Man fiebt, man befindet fic) auf fremdem 
Boden, nicht in einem ideologifchen Nirgendsheim, fondern auf national ge- 
formtem Gelande mit fejten charakteriſtiſchen Umriſſen, die nicht der Aller- 
weltsſchablone internationaler Moral nadgegeidnet find. Sa, daß die Stämme 
und Kaften untereinander heiraten und miteinander fpeijen, will er dem ent» 
gegengefesten Empfinden feiner Landsleute nicht aufzwingen: die europäifchen 
DBerhältniffe Haben ihn nidt davon überzeugt, daß die Berwifdung volks— 
tiimlidher Abgrenzungen den Grieden gewährleifte. — Wie haben unjre 
empfindfamen Pagifijten nur diefe „Barbareien“ jchluden fönnen? und wie 
fann Siegfried Iacobjohn folden „völkiſchen Raſſenfimmel“ propagieren? 
Daraus erhält eben diefe Bewegung ihre Wudt, daf fie aus der ftärfften 
nationalen Eigenart ihre Richtung, Farbe und Gorm gewinnt. Nur wenn 
die innerften Kräfte aufgerufen find, vollziehen fic foldhe Myſterien, wie fie 
Gandhis Kampf begleiten. Pilgergiige, — Sikhs find es, frieqserfahrene 
Kämpfer von der Weftfront — die in ftummem Gebete Iangfam in das Mas 
fhinengewehrfeuer bineinfchreiten, während Tauſende mit teilnehmender Liebe 
der furdtbaren Opferung als einer Rulthandlung beiwohnen, — das find 
Grfdeinungen von fo tiefer Srrationalitat, wie fie nie auf dem Boden der, 
„Menſchenwürde“, der humanitären Gmpfindjamfeit, der „religiös“ retu- 
{dierten „Geiſtigkeit“ wachjen. Diefer Kraft ift England auf die Dauer nicht 
gewachſen: wenn die Greuel von Amritfar * aud in ihrer Wiederholung Die 
feelifhe Widerftandstraft Indiens nicht brechen, fo müffen fie der Freiheit 
den Sieg bereiten, denn nidt nur wird eine Armee, die fich daran gewöhnt, 
Betende mit Keulen zu erfdlagen, für ehrlihes Waffenwerf unbraudbar 
und eines Sages nicht mehr in der Hand ihrer Führer fein, fondern vor allem 
reißen diefe Vorgänge die Kluft zwiſchen den Gngländern und den Indern 
immer tiefer auf: der mit diefer Blutfchuld belafteten Regierung entgleitet 
die Würde und es wird ihr immer fchwerer, gerade die beiten des ers 
bitterten Volkes in ihren Dienft zu ziehen. Damit rüdt jener Augenblid 
gwangslaufig näher, Der Bandhis Biel ift: die Non-Kooperation, die Ber» 
weigerung der Mitarbeit an der Unterdrüdung, die fofort den Zufammenbrud 
der engliſchen Herrichaft bedeutet, denn mit überläuferifhem Gefindel Tann 
der Sndiendienft, der Englands befte Männer beanfprudt, feine Aufgabe 
micht fortführen. i 

Grfidtlih handelt es fih nicht nur um paffive Refiftenz, die Gandhi 
vielmehr als Waffe der Schwachen verwirft; fein Plan, obwohl gewaltlos, 
ift aggreffiv, fpitt den Konflikt zu, treibt ihn aufs äußerfte, und wird bei 
der religidfen Leidenfdaftlidfeit des Bolfes immer wieder gu Sewaltaus- 
brüchen führen. Das weiß Gandhi; in der denfwiirdigen Berhandlung, die 


* Man leje den erfdittternden Beridt pon Revad Prafad Misra in der Deut- 
{den Rundfhau, Suli 1924. 


338 





feiner Verurteilung voranging, hat er — anders als unſre Regierung im 
Rubrfampf! — die Mitverantwortlichfeit an den Gewalttaten feiner An— 
Hanger auf fid) genommen, obwohl jene feinen Befehlen zuwidergehandelt 
haben. 

Für Gandhi ift eben Gewaltlofigkeit nicht das Biel, fondern der Weg: 
das Ziel ift die Freiheit. Gr kämpft midt nur für Die Wohlfahrt, 
fondern um die Seele feines Bolfes. Darum ift es Selbftverftandlidfeit 
für ihn, niemals aus taftifher „Klugheit“ irgend etwas zu tun oder zu dulden, 
was die Reinheit des nationalen Willens trübt: fein die Nation entehrendes 
Geſetz des Gegners darf befolgt, fein nod fo borteilhaftes Kompromiß gee 
Ihloffen werden. Denn ift einmal das Srrationale dem Rationalen gewiden, 
fo ift feine Abſolutheit gerftdrt und der Kampf fteigt aus dem Bereiche des 
©laubens in das Gebiet des Zwedhaften bernieder; bier aber, auf feinem 
eigenften Boden, dem britifhen Imperium trogen zu wollen, wäre Berblene 
dung. . 
Gandhis Werk hat zwei Gefabrzonen: eine afiatifhe und eine europäijche. 
Gr verfuchte, indem er für die religiöfen Rechte der Mohammedaner in der 
Kalifatsfrage eintrat, die Brüde gwifdhen den Mohammedanern und den Hin- 
dus zu fdlagen. Aber weil fein Kampf die tiefften religiöfen Kräfte auf- 
rief, belebte er auch die Gegenfage aufs neue: zwifchen den beiden Gruppen 
brechen Kämpfe aus, und mit einem Geufger der Erleichterung läßt England 
feine Tanks auf beide feuern. Dies ift die afiatifhe Gefahrgone; die euro— 
päifche droht bon Home Rule aus. Die ,,aufgeklarten* Nativnaliften haben 
fid von Gandhi getrennt, um auf parlamentarifdhem Wege Indien in ein Do— 
minion zu verwandeln. Nad der Art Auftraliens etwa, diefem Lande, das 
nit Gott gefdaffen bat, fondern die Engländer: ohne Kultur, ohne Ver— 
gangenbeit, ohne den Lichtfehimmer einer Würde, die nicht Bufinef ift. 

Seder wird fühlen, daß diefe Sache uns angeht, und daß fie nicht gue 
fällig in diefem Hefte behandelt wird, das dem Kriegsgedenfen gewidmet ift. 
Die angelfähjifhe Raſſe podt darauf, daß fie die Methode der ziviliſato— 
tijden Weltregelung meiftert, wie fein anderes Boll. Daß uns diefe Me» 
tbode nicht einleuchtet, weil uns das Ziel nicht befriedigt, Fann der Brite 
nicht einfehen, weil er fih nidt vorftellen fann, daß man eines anderen 
gieles bedarf. Man taufdhe fid nicht; felbft Die Quaker, mögen fie aud mit 
lauterer Herzenswärme die Härten der weftlichen Zipilifation mildern wollen, 
fteben im DBanne Ddiefes Ddürftigen Ideals. 

Hätten wir Waffen, fo würde uns fein fejtländifcher Feind fchreden; 
aber gegen Gngland genügen fie nidt. An Indien fehen wir, wefjen wir bee 
dürfen: unjre tiefften irrationalen Gründe allein geben die Kräfte ber, mit 
denen wir dem Reiche des Nur-Zwedhaften den Kampf anfagen fdnnen. 
Sreilid find es andere Mächte, die fic) bei uns als die tiefften erweijen were 
den; die Idee der Semwaltfojigfeit ijt bei uns nicht im Urgrunde verwurzelt. 
Den Hindus gab der Uebergang zum friedliden Aderbau die Berehrung des 
Deiligen Rindes mit der GHrfurdht vor allem Lebendigen; uns fteigt in dev 
entfprechenden Epoche die Geftalt des jiegjpendenden Wodan, fpäter des 
Helden Heliant auf. 

Gerade weil Weg und Ziel die gleichen find, muß unjre nationale Bewee 
gung anders ausfeben als in Indien; denn indem fie gum Greibeitsfampfe fid 
auf ihre letzten Kräfte befinnt, muß die völkiſche Sonderart mit aller Schärfe 
berbortreten. Aber aud) wir werden unfre „barbarifche“ und unfre euro» 
päijche Gefahrzone haben: die felbitzerftörenden Triebe in der Tiefe des deut— 


339 


[hen Weſens werden neu belebt werden, und jene „aufgellärten“ Nationa- 
liften, melde die deutfhe Seele ,parlamentarifd vertreten“ wollen, fehlen 
uns aud nicht. ! 

Aud wir werden den Weg zu unfern irrationalen Kräften nur finden, 
wenn wir uns den DBlid für das Wefentlide nicht durch Opportunitäten trü- 
ben Iaffen: nur „unbefcholtenen Augen“ erjchließt es fic. Darum ijt das 
Kriegsfchuldbelenntnis nicht nur ein juriftifcher Nachteil, fondern fommt einer 
feelifhen DBerftümmelung gleid: nidt daß wir zu Unrecht für fduldig 
gelten, ift das Glend, fondern daß wir uns einer feigen Lüge ſchuldig ge» 
madt haben, lähmt unfer Herz. 

Daf wir uns von Frankreich Hypnotifieren laſſen, rührt nit nur Don 
den gewalttätigen Greignifjen im Rubrgebiet ber, fondern auc bon der 
Scheu, der welthiftorifchen Aufgabe ins Auge zu fehen, die uns durch die 
Gegnerfchaft der angelfähfifhen Welt geftellt if. Wir fdauern vor der Bes 
tufung zurüd, die nidt nur unfere Ddiesjeitigen Kräfte prüfen wird; eine 
dumpfe Geelenangft berührt uns: haben wir unjer ewiges Teil bewahrt? 
Werden wir da verfagen, wo nur feine Kräfte wirken fünnen? Werden 
wir einmal, ,,fartoffelefjende ſchwächliche Millionen“, vaterlandslos im Domi- 
nion Deutfchland der angelfähfifhen Welt angehören? Sind wir berufen, aber 
nicht auserwählt? Albrecht Grid Günther. 


Aus einem amerikaniſchen Geſchichtswerke des 
Jahres 1974. 


Aus der Ginleitung. 


addem die Menfchheit fid in Sahrtaufende währender Verwirrung abge- 

müht hatte, ihre bernunftgemafe Ordnung zu erreichen, nachdem die bare 
bariſchen Fehden der Sippen abgelöft worden waren bon den zügellofen 
Kämpfen der Stämme und diefe wiederum bon den furchtbaren Kriegen der 
givilifierten Großmächte, erlangte Amerika eine folde wirtjchaftliche und mora- 
lifhe Macht über die Völker diefes Planeten, daß es auch die widerftreben- 
den zur Anerkennung der Grundfäge der Geredtigteit und Menfchlichfeit be» 
wegen fonnte. Nun endlich reift die Grntegeit Der Mtenfdbeit heran, und unjer 
Geſchlecht ift bon der Vorſehung gewürdigt, das mit Augen zu fdauen, was 
die edelften Geifter der Bergangenbeit in ihren reinften Stunden erjehnt 
haben. Nicht mehr als Sraumbild, fondern als eine Wirklichkeit, die wir zu 
vollenden im Begriff find, fteht die demofratifhe Föderation der Menjchbeit 
por ung; ja wir feben bereits die Wege, auf denen fie zu einer einzigen (großen 
und gerechten, bon den weifeften Geiftern der Menjchheit geleiteten Zentral» 
demofratie fortjchreiten wird. : 

In Amerika vereinigten fid Die materiellen und moralifhen Bedingungen, 
die ein jolches Grgebnis herporbringen mußten. Bon den äußeren Urfachen 
find vor allen zwei zu würdigen. Eritlih: Aus den Landern der alten Welt 
ftrömten hierher die tatfräftigften und unternehmungsfreudigften Glemente, die 
für ihre Gabigfeiten in den engen Verhältniſſen der Heimat feinen Raum 
fanden, zufammen. Nachdem das Land oberflächlich gefüllt war, erzielte 
Amerifa durch eine weife, Sinwanderungspolitif, welche aud die biologijden 
Geſetze berüdjichtigte, jene eigentiimlide Miſchung feiner Nation, die, wenn- 
gleid) einige Fehler der früheren Zeit nicht wieder getilgt werden fonnten, im 


340 


ganzen doch den elaftifchen Geift der efficiency Herborbradte, der bon allen 
Beobadtern Wmerifas bewundert wird. Zum andern floß infolge einer glid- 
lichen Bolitif, die fid) weife in den Dienft großer wirtfchaftlicher Ziele ftellte, 
das Kapital der ganzen Welt hier zufammen, und Amerifa fonnte die wohl«- 
erworbene mirtfchaftlihe Macht in den entjcheidenden Stunden zugunften der 
Seredtigteit und Menfchlichkeit verwenden, indem es als willlommener 
Schiedsrichter in den Streitigkeiten der Welt auftrat. 

Die geiftigen Urfachen erkennt man in den hohen Idealen, die das ameri- 
kaniſche Volk erfüllen. Nirgends in der Welt ijt das Ideal der Demo— 
fratie fo vollfommen durchgeführt worden wie in Amerika. Unjere demo— 
fratiihe Verfaſſung, unfer dDemofratifher Lebenszufchnitt, unfre bon echt Demo» 
kratiſchem Geift erfüllte Bolitif wurden zum Borbild aud der älteren Völker, 
die, mit den Hemmniffen einer langen Gefdidte belaftet, die Autofratie nicht 
leicht überwinden und nidt einen fo gliidliden Anfang machen fonnten wie 
Amerifa. Nicht weniger bedeutjam ift das Ideal des Fortſchrittes, dem 
wir Amerifaner mit Greudigfeit dienen. Weil wir porurteilslos uns Dem 
Geifte des Fortjchrittes öffneten, brachten wir es zu der vollfommenjten Ore 
ganifation der Arbeit, der Wirtfhaft und der Erziehung, und unfere Spfteme 
wurden bald von den übrigen Gdlfern nachgeahmt. 

Das find die Urfachen, die das amerilanifhe Volk zum führenden Bolt 
in der Welt machten. Ihm fiel daher die Rolle zu, die Organifation Der 
Welt, den Traum der Sabhrtaufende, zu verwirklichen. 


Aus demneunzebnten Kapitel. 


Da aber wurde die Wufmerffamfeit des amerifanifhen Bolfes pon der 
pazififhen Küfte pldglid) nach Often abgelenkt; denn in Guropa brad ein 
großer Krieg aus, der auch die amerifanifchen Intereffen berührte. Deutjch- 
land hatte die Brandfadel an den feit mehr als einem halben Jahrhundert 
aufgebauften Sprengftoff gelegt. 

Die deutjchen Stämme, die bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts 
fid gwar bon jeder Fremdherrſchaft freigubalten verftanden, fonft aber feine 
größeren wirtfchaftlichen und politifchen Ziele gefannt, fondern bor allem den 
Wiffenfdaften und Künften gelebt hatten, waren bon den Preußen unter der 
Führung Bismards, eines brutalen und Eugen Staatsmannes, gum größten 
Zeil in eine Monarchie der Hohenzollern zufammengezwungen toorden. Diefer 
neue Staat entwidelte feine Wirtfchaft in überrafchender Weife und begann, 
an verfchiedene Stellen des Planeten porgefhobene Madtpoften zu er» 
richten. Deutfchland behielt nunmehr feinen Volksüberſchuß für fic felbft; 
ftatt Menjchen führte es Waren aus. Wohl niemand mißgönnte diefem Bolfe 
feinen Aufſchwung, aber der Wmftand, daß es autofratifch regiert wurde und 
daß die Autofratie fi aus den beiten Kräften des Bolfes ein furchtbareg 
Heer gefdaffen hatte, das in der Hand feines „Kriegsherrn“ als eine Waffe 
des Ehrgeizes und der Willkür dienen fonnte, ftellte eine fo große Bedrohung 
der allgemeinen Greiheit dar, daß die benachbarten demofratifhen Völker 
bon tiefem Mißtrauen erfüllt wurden. Da Frankreich und England allein 
der wadjenden deutfchen Macht auf die Dauer nicht hätten Widerftand leiften 
fonnen, verfchmähten fie es nicht, fid mit der ruſſiſchen Autofratie zu ver 
bünden, die eine Ausdehnung nad) dem Südweſten erftrebte und dabei auf 
die deutfchen Intereffen ftieß. So wurde die deutfche Gefahr rings bon einem 
Ball umfdloffen. Eine gefdidtere europäifche Diplomatie hätte es wohl gue 
ftande gebracht, die ebrgeigigen Pläne der deutfhen Monarchie auf friedliche 


341 


Weife in die Grenzen der Geredtigfeit zurüdzumeifen und das Volk zu reis 
neren Idealen zu erziehen; aber die ruſſiſche Autofratie fonnte ihren Aus- 
debnungstrieb nicht zügeln und Sranfreich fonnte das ihm durch feine Nieder- 
lage angetane Unrecht nicht verſchmerzen. Gine ruſſiſche Ungefdidlidfeit gab 
dem Kaiſer Anlaß, feine furcdhtbare Heeresmafdine nad Often und Weften 
in Bewegung zu fegen. i 

Die eine Hälfte des Faiferlihen Heeres walgte fich mit taufend Schreden 
über das fleine neutrale Belgien dahin bis tief nach Nordfranfreidy hinein, 
die andere Hälfte zerfprengte und zermalmte die großen ruffijden Armeen, 
bis die Kräfte diefes ungebeuren europäifch-afiatifhen Reiches erjchöpft 
waren. Der Kaifer fchredte nicht davor zurüd, von der tüdifhen Waffe des 
Unterjeebootes einen Gebraud zu machen, der fogar die Freiheit der amerifa- 
nijhen Seefahrt bedrohte. Immer gigantifder ftieg Die Gefahr einer preu- 
Bilden Hegemonie in Europa empor. Mit feuchendem Atem fampften die 
Demofratien des Weftens, denen fid) Italien angefdloffen hatte, um ihre be— 
drohte Freiheit. 

England und Granfreidh Hatten fi) fhon von Anfang an nad Amerika 
gewandt, deſſen Sympathie ftets auf der Seite der Freiheit und Gerechtigkeit 
gewefen ift; Amerika hatte den beiden fämpfenden Ländern feine Induftrie 
und fein Kapital nicht verweigert. Mande haben ihm daraus einen Borwurf 
gemadt und es der ftillen Teilhaberſchaft am Kriege geziehen. Demgegen- 
über muß betont werden, daß Amerika als neutraler Staat feine Induftrie 
und fein Kapital aud) den Deutfden nicht verfagt haben würde, wenn dieſe 
nit, in ihrem Stolz und Trotz verblendet, es verjhmäht hätten, zu Ame- 
tifa zu fommen und fich ihm zu verpflichten. 

Im Sabre 1917 erreichte der deutfhe Uebermut feinen Gipfel. Hatten 
Die deutſchen Unterfeeboote ſchon vorher harmloſe neutrale Schiffe nicht ver» 
font, jo gingen fie jet auf das brutalfte gegen die gejamte Schiffahrt der 
Welt vor. Amerika fah fic Dadurd auf zwiefache Weife einer Bedrohung 
ausgejest. Grftens mutete man ihm zu, feine private Schiffahrt, die der In— 
duftrie und dem Berfehr diente und die, wie es gu geben pflegt, bon dem 
Kriege der andern den Borteil hatte, ſchutzlos zu laſſen. Das war eine Bee 
drobung feiner nationalen Ehre. Zum andern wäre durch die näher rüdende 
Niederlage Englands die amerifanifhe Wirtfchaft aufs tieffte getroffen wore 
den. Gin fiegreiches Deutjchland hätte zum mindeften feine Kriegsjchulden 
aus dem Tribut der Befiegten bezahlt und feine Wirtfchaft zu neuer Blüte 
gebracht. Wmerifa aber hatte bon den Befiegten fdwerlid) die Berginjung 
der geliehenen Werte herausholen fünnen. Deutjchland hatte die Vorhand in 
der Gntwidlung der Dinge befommen. Go verfnüpften fic bei uns unlös— 
bar das private und öffentliche Sntereffe. 

Wilfon, der nie nach blutigen Lorbeern geftrebt hat, erfannte, daß in 
Europa durd den deutjchen Sieg eine nationale deutfhe Wirtfchaft entftehen 
würde, die, autofratifch regiert und auf eine unüberwindliche Heeresmadt ge» 
ftüßt, fid) mit der in ihr vereinigten wirt{daftliden und militärifhen Kraft 
nidt nur der bon Amerika Her fic bildenden großen internationalen Wirt- 
{daft entzogen, fondern fogar bon fic aus ein neues internationales Wirt» 
ſchaftszentrum gebildet hätte. Gs handelte fich nicht mehr um die befonderen 
Angelegenheiten Guropas, fondern um die große Frage, ob das internationale 
Spftem Amerikas, das auf Freiheit und Demofratie gegründet war, oder das 
deutſche Shftem, das auf der militärifchen Autofratie und dem fogenannten 
Staatsjozialismus berubte, zum Mittelpunkt der künftigen Weltorganifation 


342 


werden follte. Das teutonifhe Shftem drohte das angelſächſiſche Shftem zu 
überholen. Wilfons mutiger Entſchluß entſchied das Schidfal der Menjchheit. 

Nahdem durd den Sieg der Alliierten die wefentlihe Entſcheidung ge- 
fallen war, glaubte man das übrige der natürlichen Gntwidlung der Greig- 
nijje überlafjen zu können. Darum bielt fi) Wmerifa von allen nur europä- 
iſchen Streitigkeiten fern. Gs ijt freilich gugugeben, daß Wiljon durch Die 
vierzehn Punkte in gewiffer Weife moralifch verpflichtet war, für ihre Durd- 
führung die amerifanifche Autorität einzufegen; aber man darf nicht vergeſſen, 
mit was für einem Gegner man es zu tun hatte, Wer gab uns Sicherheit, daß 
Deut{dland, in deffen Grenzen durch die Repolution alle Staatsautorität in 
Stage geftellt war, irgend einen Bertrag halten würde? Mußte man nicht 
annehmen, daß es feine inneren Schwierigkeiten durch eine nationaliftifche 
Wendung nach außen zu löſen verfuchen würde? Darum war es Elug, Deutjch- 
Iand mit einer ftarfen realen Feſſel gu umgeben, bis es bon feiner Raferei und 
feinem Weltmadhtswahn völlig geheilt wäre. Und man fonnte es den Fran- 
zofen, die im Kriege am fdwerften gelitten hatten, wohl gönnen, daß fie aus 
dem amerifanifden Siege einen möglichſt großen Nuten für fich Herausgu- 
bolen fudten. 

Ausdemeinundgwangigften Kapitel, 

Sranfreid) verfuchte nunmehr, obwohl es der amerifanifdhen Hilfe nicht 
weniger als alles verdantte, ein eigenes nationales Syſtem zu entwideln. Es 
befeftigte die Superiorität feiner Wirtfhaft auf dem europäifchen Kontinent, 
und zwar nidt auf der Grundlage der Freiheit, fondern, dem Syſtem des 
faijerliden Deutjchlands folgend, auf der Grundlage einer drohenden Heeres- 
madt. Man fudte ein felbftandiges wirtfchaftlich-militariftiihes Zentrum 
gu bilden, deffen ®efährlichkeit freilich durch Demokratie gemildert war: man 
hätte durd) Aufllärung des franzöfiihen Bolfes den übermütigen Leitern 
feiner Gefdide den Boden entziehen fünnen. Aber das wäre ein umftand- 
lihes Unternehmen getwefen. Amerifa war nicht darum gegen Deutſchland 
in den Krieg gezogen, daß Frankreich die Rolle Deutfdlands übernähme. Dar- 
um fenlte es den Wert des franzöfifhen Franken und ließ auf diefe Weiſe 
die franzöfifhen Machthaber fühlen, daß Amerika das Wiedererftehen der 
alten Gefahr in einer neuen Gorm nicht dulden würde. 

Da England, durch ungeheure Anftrengungen und durch eine nicht fehr 
borfidtige Bolitif Lloyd Georges geſchwächt, nicht mehr imftande war, Franks 
teihs Machthaber in den Grenzen der Gerechtigkeit und Billigfeit zu halten, 
mußte Wmerifa zum zweiten Mal in die europäifhen Verhältniſſe eingreifen. 
Gs fette eine Kommiffion durd, die unter General Dawes’ Führung ‘die 
Grundzüge für eine gerechte Ordnung der europäifchen GStreitigfeiten vorſah. 
Das Biel war, eine exemplarifhe Beftrafung Deutſchlands mit einer Feſſe— 
Tung des franzöfifhen Ghrgeiges zu verbinden. Das fogenannte Dawes-Gut- 
adten wurde zur Grundlage einer Reihe von Konferenzen, deren erfte in 
London ftattfand und die im Laufe der Sabre die Entgiftung und Beru- 
higung Europas durdfiihrten. 

Mit der Annahme des Datwes-Gutadtens war der Sieg des amerifa- 
nifhen Syſtems endgültig gefichert. Unter der Leitung der amerifanifchen 
Banfen entwidelte fid ein Syſtem der internationalen Wirtfchaft, unter 
deffen Segen die einzelnen Völker beffer denn je leben. Die Menfchheit fdrei- 
tet Dem einen großen Reich der Arbeit und Greude entgegen; die religidfen 
Streitigkeiten des Mittelalters, die nationalen SKonflifte des vergangenen 
Sabrhunderts find überwunden; es herrſcht allgemeine Duldung, fo daß ein 


343 


jeder ungeftört feinen Ontereffen [eben fann. Religion und Nationalität 
find Privatangelegendeiten geworden, Wirtfchaft ift die weife und ſegens— 
reihe Macht, die für alle forgt. In allen Zeilen der Welt erklingt aus allen 
Srammophonen, aus allen Radiv-Apparaten, auf allen Sportplagen und 
bei allen Zeftverfammlungen die neue völkerverbindende amerifanifde 
Hymne: DBufineß, Bufineß über alles, über alles in der Welt! 

Aus dem Schlußkapitel. 

Aber nod glimmt in den befiegten Bölfern die dunfle Glut veralteter 
Gorurteile. Gs gibt noch immer Schichten bei ihnen, weldhe nicht einfehen, 
daß fie frei geworden find, fondern einem andern, underftindliden Freiheits— 
begriff anhangen. Die ruffifhen Volksmaſſen werden bon fanatifhen Bolks- 
predigern und bon einer niederträchtigen Literatur gegen das fegensreide 
ametifanijhe Shftem aufgehett, und in den großen induftriellen Werfen, die 
wir zu ihrem Wohle finanziert haben, murrt ein heimlicher Aufruhr. Wir 
wurden bereits gezwungen, mehrere Bolfsprediger in die fibirifhen Staats“ 
gefängnijje zu fteden. 

Nod ernfter faft ift eine geiftige Bewegung in Deutfchland zu nehmen, 
die aus Der fogenannten „völkiihen“ Bewegung entftanden ift. Dieje fam gue 
erft in die Höhe, als das deutfhe Volk zwifchen der Sowjet-Republif und dem 
Bertrag von Berfailles eingeflemmt war; man erklärt fie aus einem eigens 
timliden deutſchen Ehr- und Greibeitsgefibl. Die völkifhe Bewegung ver— 
braudte fid in einigen Putſchen und zerfloß allmählich in unbedeutende Geft- 
begeifterung. Aber fie war in giemlidem Umfang aud in die geiftigen Schich— 
ten des Bolfes gedrungen. Hier erzeugte fie eine gerfekende Kritif der Demoe 
fratifhen Sdeale und ftellte den demofratifchen Ideen feltfame andre Ideen 
entgegen. Man behauptet, die Nationalität fei nicht eine Privatangelegen- 
beit, fondern fie fei die Wurzel aller wahren Kultur, und verfteigt fid zu 
dem tollen Sat, daß Amerika feine wahre Kultur habe; man müffe die Welt 
bom amerifanifhen Shftem „befreien“, damit wieder Volkskulturen erblühen 
fönnten. Allerlei religiöfe Gedanfen und Antriebe follen fic) mit diefen Ideen 
verbinden. Gs wird Sache des amerifanifchen Bolfes fein, diefe dunklen, irra» 
tionalen Strömungen, die aus der merkwürdigen Vergangenheit des deutſchen 
Volkes gefpeift werden und die den Beftand der amerifanifch-internationalen 
Demofratie, wenn aud zunächſt nur geiftig, bedrohen, fdarf im Auge zu Hal- 
ten und geeignete Bropaganda-Mittel gegen fie zu befchaffen. Denn bei dem 
deutfhen Bollscharafter, der, wenn der teutonifche Furor Herborbridt, Der 
verwegenſter Ideen und Taten fähig ift, fönnen wir es nicht für ausgejchloffen 
erachten, daß bon neuem eine deutfche Gefahr über die Welt heraufzieht. St. 


Grlefenes 


Aus Snorris Königsbudh.* 
Nordifhe Königsgeftalten. 
Grid Blutazt 933—934. 
&® war ein großer und ftattliher Mann, ftarf und höchſt mannhaft, ein 
großer Krieger und der Giege gewohnt, aber gewaltfamen Ginneg, 
graufam, unfreundlid) und wortfarg. Seine Grau Gunnhild war ein fehr 








* Seberfebt von Geliz Niedner, drei Bände, im Verlag pon Gugen Diederidhs, 
Sena. Bgl. den Beitrag ,Nordifhe Könige“. 


344 


ſchönes Weib, Hug und zauberfundig. Sie redete gern und gut, Doch war fie 
febr Hinterliftiger Gefinnung und äußerſt graufam. 


Hakon der Gute 934-961. 
Hakon war ein duferft frobfinniger Mann, fehr wortgewandt und leut— 
felig. Auch war er fehr Hug und zeigte großen Sinn für Gefebgebung. 


Sarl Halon der Madtige 975—995. 

Sp groß war das Mah an Feindfchaft, die die Drontheimer gegen Sarl Hafon 
‘Degten, daß ihn niemand anders nennen durfte als den „böſen Sarl“. Diefen 
Beinamen bebielt er noch lange in der Folgezeit. In Wahrheit aber muß 
man von Sarl Hafon fagen, daß er vieles für einen richtigen Häuptling in 
{id vereinigte. Zuerft ftammte er aus hohem Gefdledt, dazu beſaß er Klug- 
beit und tidtige Begabung zur Führung der Herrfchaft, endlid fam dazu 
feine Beherztheit in Schladten und daneben fein Glüd bei der Gewinnung 
pon Siegen und bei der Erſchlagung der Zeinde. 


Olaf Tryggvisſohn 995—1000. 

König Olaf war der größte Meifter in allen Zertigfeiten bon all den 
Leuten, über die man in Norwegen berichtet hat. Gr war ftarfer und gee 
wandter als jedermann. Darüber find mande Erzählungen verbreitet. Eine 
berichtet, wie er die Klippe Hornelen erftieg und oben auf dem Gelfen einen 
Schild befeftigte. Ferner erzählt man, wie er einem feiner Gefolgsleute 
half, der vorher auf die Klippe geflommen war und nun eder weiter 
nad) oben noch wieder herunter fommen fonnte. Da ging der König gu ihm 
Dinauf, griff ihm unter den Arm und bradte ihn bon oben wieder auf ebene 
Grde herab. 

König Olaf ging außerhalb der Ruderbänfe auf dem Sciffsrand enta 
lang, wenn feine Mannen auf dem Wurm ruderten, und er fpielte mit drei 
Dolchmeifern, fo baß eins immer in der Luft war und der Griff eines immer 
in feiner Hand. Gr fodt gleich gut mit beiden Händen und ſchoß mit awed 
Speeren auf einmal. König Olaf war beiteren Ginnes wie wenige Männer 
und gern zu Scherz aufgelegt. Gr war leutjelig und umgänglidh, febr bee 
triebfam in allen Dingen, höchſt freigebig, ſehr gewählt in ſeiner Kleidung, 
allen Männern an Kühnheit in Kämpfen über. Dod war er äußerſt grau- 
fam, wenn er in Zorn geriet, und feine Feinde ließ er ſchlimm Martern. Teils 
ließ er fie im Feuer brennen, teils durd) wütende Hunde zerreißen, teils aud 
verfiümmeln und bon hohen Zelfen berabftürzen. Deshalb hingen ihm feine 
Sreunde in großer Liebe an, feine Seinde Hingegen fiirdteten ihn. Seine 
Erfolge waren deshalb fo gewaltig, weil die einen aus Liebe und Anhäng- 
lichkeit, die andern aus Gurdt taten, was er wollte. ‘ 


Olaf Ber Heilige 1015—1030. 

Als König Olaf Haraldsfohn herangewachſen war, war er fein hoch— 
getwadfener Mann. Gr war nur bon Mittelgrdfe, dod von ftämmigem 
Ausfeben und voll Leibestraft. Er hatte lidtbraunes Haar und ein breites 
Seficht. Sein Antli war frifh und von gefunder Farbe. Gr hatte gan 
tounderfame Augen. Seine Augen waren glänzend und durddringend, fo 
daß es ein Schreden war, ihm ins Geficdt zu fdauen, wenn er in Wut 
war. Olaf war ein Mann, der fich auf viele Fertigfeiten verftand. Gr 
mußte wohl mit dem Bogen umzugehen und war ein guter Schwimmer. Gs gab 
feinen bejjern Handſchützen als ihn, dazu war er gefdidt und umfidtig bei 
jedem Handiwerf, ob er es felbft ausübte oder durch andre. Man nannte ihn 


345 


„Dlaf der Dide* Gr wußte Hug und Ear zu reden, frühzeitig mar er in 
allem gereift, an Kraft wie an Weisheit. Alle feine Berwandten und Bee 
fannten liebten ihn. Gr war ein Meifter in jedem Spiele und wollte jtets 
der erfte fein, wie ihm das ja aud zufam bei feinem Rang und bei deiner 
Abftammung. 

Magnus der Gute 1035—1047. 

König Magnus war ein Mann von mittlerem Wuchs gewefen, von 
regelmäßigen Gefidtsgiigen und lidten Antlitzes. Gr hatte helle Haare. 
Gr war redegewandt und leicht zu ftiirmifd, tatkräftig und fehr freigebig. 
Aud war er ein gewaltiger Kriegsmann und fehr waffentiidtig. Bon allen 
Königen war er der meijtbeliebte, und Freund und Feind pries ihn. 


Haraldder Harte 1045—1066. 

Allgemein fagte man im Bolfe, König Harald Habe alle Leute an Klug- 
beit und Ratficherheit übertroffen, ob er nun einen fdnellen Entſchluß faffen 
oder einen weitausfchauenden Plan entwerfen mußte für fi oder andere. Gr 
war waffentüchtiger als irgendeiner. 

König Harald war ein fddner und ftattlider Mann, mit gelblidem 
Saar und gelblidem Bart. Gein Schnurrbart war lang, die eine Braue 
böber denn die andere. Gr hatte lange Hände und Füße, war aber dod 
fonjt wohlgewachſen. Fünf Ellen maß feine ©eftalt. Er war graufam gegen 
feine Geinde und jeden Widerftand beftrafte er unerbittlich. 


Die Brüder Dlaf der Heilige und Harald der Harte. 

SHalldor, der Sohn bon Brynjolf Kameel, war ein fluger Mann und ein 
mächtiger Häuptling. Der fagte fo, wenn er die Reden der Männer börte, 
wie fie behaupteten, die Gharaftere der Brüder, König Olafs des Heiligen 
und Haralds, feien febr verfchieden geweſen — dann pflegte er gu fagen: 
„Ich ftand bei beiden Brüdern in hoher Gunft, und ich fannte die Sinnesart 
beider gut. Ich fand nie zwei Männer mit fo ähnlicher Sinnesart. Gie 
waren beide höchſt Eluge und wmaffentiidtige Männer, beide begierig nad 
Gelb und Macht, ftolgen Sinnes, nicht gewöhnlider Art, zum Herrjchen ge- 
boren und hart in ihren Strafen. Olaf führte das Bolf im Lande zum 
Ghriftentum und zum redten Glauben, und er abhndete es graujam, wenn 
jemand für diefe Lehren taub war. Die Mächtigen im Lande wollten feinem 
billigen und unparteiifhen Richterfpruch fic nicht fügen. Sie erhoben fid 
wider ihn und töteten ihn in feinem eigenen Reihe. Daher wurde er heilig 
geſprochen. Harald aber beerte, um feinen Ruhm und feine Macht zu 
mehren, und er unterwarf fi alles Bol, foweit er fonnte. Gr fiel aud in 
eines andern Königs Lande. Beide Brüder waren im Alltagsleben wohl 
gefittet und von guter Lebensführung. Sie waren auch beide weit herum— 
gefommen und Männer von gewaltiger Satfraft. Und beide wurden dadurd 
weithin berühmt und angefeben.* 


Magnus Haraldsjohn 1066—1069. 
König Magnus war leicht zu erfennen, da er größer war als die meiften. 
&r batte ein rotes Wams über der Briinne. Gein Haar, flachsgelb wie 
Seide, flutete über Die Schulter herab. 
Gin Ausfprud Magnus Haraldsfohnes. 


Die Leute wiffen von folgendem WAusfprud des Königs zu fagen: als 
feine Greunde meinten, er fei häufig febr unvorfichtig, wenn er außer Landes 


346 


heerte, da fprad der König: „Ginen König foll man zum Rubm haben 
und nicht zu langem Leben.“ 
Olaf Ber Stille 1067—109. 

König Olaf war gewaltig in feinem ganzen Wuds und {din geftaltet. 
Alle jagen, man Habe nie einen jchöneren und ftattlider anzufehenden Mann 
gejhaut. Gr Hatte goldenes Haar wie Geide, das wunderbar ſchön war, 
und einen blühenden Körper. Keiner hatte fo {dine Augen mie er. Geine 
Sliedmaßen waren mwohlgeformt. Gr war meift einfilbig und fein Redner 
auf Ehingen. Beim Bier aber war er vergnügt. Gr hielt gerne Trinfgelage 
ab, und Dabei war er geſprächig und unterhielt fid gern. Gr war friedlid 
gefinnt feine ganze Regierung bindurd. 

GpHftein 1103—1122. 

König Ehftein war ein fehr finer Mann. Blaue und ziemlich große 
Augen hatte er. Sein Haar war gelblih und fraus. Gr war faum bon 
guter Mittelgröße, flug und verftändig, in jeder SHinfiht bewandert, in 
Geſetz und Redtipredhung wie in Menfdenfenntnis, fehr rat» und rede- 
gewandt und fpradgewaltig. Gr war der fröhlichfte und leutfelig/te Mann, 
im ganzen Wolfe beliebt und woblgelitten. 

Sigurd der Jerufalemfabrer 1103—1130. 

König Sigurd war Hod an Wuds und hatte rötlihes Haar. Gr war 
tidtig, nicht fchön, aber woblgewadjen, ungeftümen Weſens, wenig ge- 
ſprächig und oft unwirfch, aber gut gegen feine Freunde und energijch im Ent» 
IHluß.- Gr war fein Redner, hielt aber auf gute Lebensführung und Ruhm. 
König Sigurd war ein ftolger Herrfcher und bart in feinen Strafen. Die 
Geſetze hielt er gut. Gr war freigebig, madtig und weit berühmt. 

Harald ©illi 1130—1136. 

Harald Gilli war ein hoher und fchlanf gewadfener Mann. Gr hatte 
einen langen Hals und ein ziemlich langes Gejidt. Seine Augen waren 
ſchwarz, fein Haar dunkel. Gr war flint und fdnell gu Fuß. Gr trug ganz 
iriſche Tracht: furge und leichte Sewandung Die norwegifhe Sprache 
wurde ihm ſchwer. Gr ftieß oft an bei den Worten, und mancher bänfelte 
ihn gern deshalb. 

Harald Gilli war ein recdtidaffener Mann, fröhlih und zu Scherzen 
geneigt, Ieutfelig, freigebig, jo daß er feinen Greunden gegenüber nicht fargte, 
und zugänglich für Beratung, fo daß er auch anderen gern allen ihren Willen 
ließ. Dies alles verfdaffte ihm Freundſchaft und einen guten Namen, 
fo daß fic viele Mächtige im Reich zu ihm nicht weniger hingegogen fühlten 
als zu König Magnus. 

Magnus der Blinde 1130—1139. 

Magnus war fchöner als alle Männer, die damals in Norwegen waren. 
Gr war ein ftolger und graufamer Mann. Greilid) war er ein Mann von 
großer Tüchtigfeit, Dod die Freundſchaft für feinen DBater verfdaffte ihm 
Bauptfählih die allgemeine Anhänglichkeit im Bolfe. Gr war ein großer 
Seder, geldgierig, unfreundlih in feinem Wefen und wenig umgänglid). 


Sigurd 1136—1154 und Ghftein Haraldsfohn 1142— 1156. 


König Sigurd wurde ein fehr ungebärdiger und wenig umgänglidher 
Mann, als er herangewachſen war, und zwar waren beide fo, er wie Eyſtein. 
Dod war Eyſtein immerhin gemäßigter, aber der war überaus habgierig 


347 


und fniderig. König Sigurd wurde ein großer und ftarfer Mann. Gr war 
ftattlid) von Ausfehen, hatte bellbraunes Haar, aber einen häßlichen Mund. 
Dod war im übrigen fein Gefidt fdin. In feiner Rede übertraf er alle 
durch Gewandtheit und Fertigfeit. 

König Spftein hatte ſchwarzes Haar und dunkle Hautfarbe. Ungefähr 
bon Mittelgröße war er, ein Zuger und wohlverftändiger Mann. Das aber 
tat feinem Anſehen Abbrud, daß er fniderig und geldgierig war. 


Ingi 1136—1161. 

König Ingi war ein Mann, fehr [din von Antlit. Gr hatte gelbes und 
etwas dünnes, ziemlich gefräufeltes Haar. Bon Wuchs war er Fein, und 
{wer fonnte er allein gehen: fo war der eine Fuß well, Rüden und Bruft 
aber höderig. Gr war freundlich und Ieutfelig gegen feine Freunde, freigebig 
mit Gelb, und ließ fich leicht bon anderen Häuptlingen in der Landesvera 
waltung beraten. Gr war beliebt bei den Leuten, und alles das zog das 
Land und die Menge des Bolfes auf feine Geite. 


Aus Ingis Anfprade 1161, bor dem Fall. 

Ih war erft im zweiten Jahr, als man mid zum König in Norwegen 
machte, und jest bin id) wohl fünfundzwanzig. Ich glaube, ich habe mehr 
Unruhe und Sorgen gehabt während meines Königtums als Kurzweil und 
Greude. Ih babe viele große Schlachten ſchlagen miiffen, bald mit mehr, 
bald mit weniger Truppen als die Seinde, und das war immer mein größtes 
Slüd, daß id mich niemals zur Flucht zu wenden braudte. Gott [dike 
mein Leben, folange es noch währen foll, aber niemals werde ich mich zur, 
Flucht entfchließen. 


Hakon Breitfmulter 1156—1162. 

König Hafon war ein gar fddner und wohlgewachjener Mann gewefen, 
hod) und ſchlank. Er war ziemlich breit an den Schultern. Deswegen nannten 
ihn feine Gefolgsleute Hafon Breitfdulter. Und da er nod jung an Lebens- 
alter war, halfen ihm die andern Häuptlinge mit ihrem Rate. Gr war 
munteren Sinns und gewinnend in feiner Rede. Gr fdergte gern und hatte 
ein jugendlides Wefen. Bei allen Leuten war er wohl beliebt gewefen. 


Grilling, der Vater König Magnus’ SGrlingsfohnes. 1162. 


Grling war ein mädtiger und Huger Mann, ein gewaltiger Krieger, 
wenn Unfriede berrfchte, ein tüchtiger Landesperwalter und ein geborener 
Herrſcher. Man bezeichnete ihn als ziemlich graufam und bartherzig, aber 
bauptfächlich deswegen, weil er nur wenige bon feinen Feinden im Lande 
bleiben ließ, fo febr fie ihn darum baten, und daher f{dlofjen fic viele bon 
ihnen fofort Banden an, wo fi) folde wider ihn erhoben. Grling war ein 
hoch⸗ und ſtarkgewachſener Mann, etwas furabalfig. Gr hatte ein Tanges 
Geſicht und fdarfe Züge. Seine Hautfarbe war licht, fein Haar fdon fehr 
ergraut. Gr trug fein Haupt etwas fchief und war freundli im Umgang 
und anfehnlih in feinem Wefen. Altmodifh war feine Sradt. Gr Hatte 
lange Bruftftüde und Wermel an Hemde und Rod und trug welfdhe Mäntel 
und Hobe gefchnürte Schuhe. Diefelbe Kleidung ließ er den König tragen, 
folange er jung war. Als der aber felbftändig wurde, Fleidete er fich fehr 
ſtattlich. 

König Magnus war leichten Sinnes und ſcherzhaft, ein gar fröhlicher 
Mann und fehr Hinter den Frauen ber. 


348 


Shormods Ende in der Schlacht bei Stiflaftad. 1030. 


Aus den „Shwurbrüdern“, iberfegkt von Walter Baetfe*. 


bormod fuhr mit dem König aus dem Lande und ertrug mit ihm die 

ganze Berbannung. Gr fubr auch mit ihm guriid nah Norwegen. Denn 
es dünfte ihn bejfer, mit ihm zu fterben als nad ihm gu leben. 

Als aber der König nach Drontheim fam in das Tal, das Beradal heißt 
und bon dem Hinterhalt der Drontheimer gegen ihn erfuhr, da fragte er Thor— 
mod im- Scherz und fprad fo: „Was wiirdeft du jebt tun, wenn du Der 
Sührer der Heerihar wart, die wir jest haben?“ Da fprah Thormod 


bie Weife: „Brennen wir alle Bauern 


Binnen, die wir finden 

Im Hofe, wenn fie die Heimkehr 
Dem Heere wollen wehren. 
Drontheims Volk follte freifen 
Feuer in ihren Häufern, 

König, zu Kohle fie brennen, 
Kalter, hätt’ ich bier zu walten!“ 


König Olaf fagte: „Wohl möglid, daß das richtig wäre, wenn man jo 
verführe, wie du fagjt;, aber wir werden zu einem andern Mittel greifen, als 
unfer eigenes Land zu verbrennen; wir trauen Dir aber zu, daß du fo handeln 
mwürdeft, wie du fprichft.“ 

An dem Sage, an dem die Schlacht bei Stiflaftad war, bat König Olaf 
Thormod, ihnen etwas vorzutragen. Gr aber fang das alte Bjarlilied. Der 
König ſprach: „Das Lied ift gut gewählt, um der Dinge willen, die fich heute 
gutragen werden; und fo nenne ich das Lied „Mannenermunterung“. 

\ Gs wird erzählt, daß Thormod an dem Tage por der Schlacht ziemlich 
niedergefchlagen war. Der König merkte es und fagte: „Warum bift du fo 
ftill, Shormod?* Gr antwortete: „Darum, Herr, weil es mir nicht fider 
{Heint, daß wir Heute abend dasjelbe Nachtquartier beziehen werden. Wenn 
du mir nun verſprichſt, daß wir beide dasjelbe Nadtquartier nehmen, werde 
ich froh fein.“ König Olaf fprad: „Ich weiß nicht, ob mein Wille das gue 
wege bringen fann; wenn id aber etwas dazu tun Tann, fo follft du heute 
abend dahin geben, wo ich Dingebe.* Da wurde Thormod fröhlihd und 


tea bie Ziele: „Es ſchwillt zu wilden Sturme 
Die Sdhladht nun mit RKraden. 
Nicht beben foll in den Briinnen — 
Berften fie gleih — das Herz uns. 
Wir liegen Hier oder leben — 
Was liegt dran, ihr Krieger! 
Raften wir nicht, den Raben 
Reidhes Mahl zu bereiten!“ 


Der König antwortete: „So wird es fein, Sfalde, wie du fagft; Die 
Männer, die hierher gefommen find, werden entweder mit dem Leben dabone 
fommen oder bier liegen bleiben.“ 

Die Leute Haben es doch gerühmt, wie mannbaft Thormod fid bei 
Stiflaftad ſchlug, wo König Olaf fiel; denn er hatte weder Schild nod 





* Aus der Sammlung „Bauern und Helden“, Hanjeatiihe DVerlagsanftalt, 
Hamburg. Bgl. den Beitrag hinten. 


349 


DBrünne Gr ſchwang immer mit beiden Händen feine Breitazt und ging den 
feindlichen Reihen entgegen — und feiner bon denen, auf die er traf, verſpürte 
Luft, unter feiner Azt fein Nachtlager zu finden. 

Es wird erzählt, daß, als der Kampf zu Gnde war, Shormod nicht ver— 
wundet war. Darüber Harmte er fic jehr und fagte: „Ich glaube jest, daß 
id) heute abend nicht zu demfelben Nachtlager fommen werde wie der König; 
aber {dlimmer dünft es mid) nun zu leben als zu fterben.“ Und in dem 
Augenblid, wo er dies fagte, flog ein Pfeil auf ihn zu und traf ihn vor die 
DBruft, und er wußte nicht, woher er fam. Ueber die Wunde ward er froh; 
denn er glaubte zu jpüren, daß fie ibm den Sod bringen würde. 

Gr ging gu einer Scheune, in der viele verwundete Königsmannen lagen. 
Eine Frau warmte Waſſer in einem Kefjel, um die Wunden der Männer zu 
waſchen. Shormod ging zu einer Rohrwand und lehnte fich dagegen. Die 
Stau fagte zu Thormod: „Bift du ein Königsmann? Oder biſt du vom 
DBauernheer?* — Shormod fprad die Weije: 

„Wir waren, Weib — du fiehft es 
Wohl — bei König Dlaf 

Im Kampfe — es EHafft die Wunde. 
Der Sfalde wehrte den falten 
Schneefturm mit rotem Schilde. 
Befdhieden ward ibm Unfriede. 

Ganz faft haben die Gegner 

— @laubs — des Lebens beraubt mid.“ 


Die Frau fagte: „Warum läßt du deine Wunde nicht verbinden, wenn 
du verwundet bift?* Thormod antwortete: „Ich Habe nur folde Wunden, 
die des Berbandes nicht bedürfen.“ Wieder fragte die Frau Thormod: „Wie 
ging der König Heute bor?“ Thormod fprad die Weife: 

„Sreigebig war Olaf — der Giirft ging 
Mutig vorwärts — yon Blut rot 
Schnitten die Stablflingen 

Bei Stillaftad — id erblidte 

Keinen als nur den König — 

Am fibnften ftritt er — der mit dem 
Schilde in den fdarfen 

Speerftürmen fid nicht ſchirmte.“ 

In der Scheune lagen viele Männer, die ſchwer verwundet waren, und 
aus den Hohlwunden drang lautes Geräuſch, wie es bei Wunden natürlich ift. 

Als nun Shormod jene Weifen gefproden hatte, da fam ein Mann von 
dem DBauernheere in die Scheune hinein, und als er hörte, daß es in den 
Wunden der Männer laut röchelte, fagte er: „Es ift doch nicht gu verwundern, 
daß der Kampf mit den Bauern für den König nicht gut abgelaufen ift — 
fo weidlid wie das Kriegspolf ift, das er geführt hat; denn das glaube ich 
jagen zu fönnen, daß die Männer, die Hier drinnen find, faum ihre Wunden 
ertragen fönnen, ohne zu ftöhnen.“ Shormod antwortete: „Scheint es dir fo, 
als ob die Männer nicht ftandhaft find, die Hier drinnen find?“ Gr ante 
wortete: „Gewiß jcheint es mir fo, daß bier viele matthergige Männer zu— 
fammengefommen find.“ Shormod fprad: „Es fann wohl fein, daß bier 
in der Scheune jemand ift, Der fein großer Held ift — und meine Wunde 
wird Dir wohl unbedeutend vorkommen.“ Der Bauer ging zu Thormod hin 
und wollte feine Wunde befehen. Aber Shormod bieb mit der Axt nad ihm 


350 


und flug ihm eine tiefe Wunde. Sener frie laut auf und ftöhnte fehr. 
Da fprad Thormod: „Das wußte ich, daß Hier ein Mann drinnen war, der 
feinen Schneid bat; es fteht Dir fchlecht an, andern den Mut abgufpredhen — 
denn du Bift felbft ein Schwädling; bier find viele fdmerderwundete 
Männer, und feiner pon ihnen ftöhnt; dafür aber können fie nichts, daß es 
aus ihren Wunden laut tönt; du aber ftöhnft und jammerft, obgleich du bloß 
eine fleine Wunde erhalten Haft.“ 

Als Shormod dies fagte, ftand er gegen die Rohrwand gelehnt, die in 
der Scheune war. — Und als ihr Gefprad beendet war, da fagte die Grau, 
bie das Wafjer wärmte, zu Thormod: „Warum bift du fo bleih, Mann, und 
farblos wie eine Leihe? Warum läßt du denn deine Wunden nicht vere 
binden?“ Thormod f{prad die Weife: 

„Rot nicht bin id) — wohl rötern 
Gatten — riet ich's? — hatteft 
Stau, du. Gorn in der Bruft mir 
Seft fit das Gijen. Den Schügen 
Der Dänen — dit flogen Pfeile — 
Dank ich's; tief ein drang die 

Waffe. Der Schmerz der Wunde 
Will — id fpür’s — fi nicht ftillen.“ 

Da ftarb er an der Wand ftehend und fiel tot zur Erde. Harald, Si— 
gurds Sohn, ergänzte den Gers, den Thormod gefproden Hatte; er fügte 
das Wort „tillen“ Hinzu — fo wollte er gewiß fagen: „Will, ich fpür’s, 
fih nicht ftillen.“ 

So ſchloß das Leben von Shormod Schwarzbrauenffalde; und damit 
endet die Gefdidte, die wir zu erzählen wußten bon Thormod, dem Streiter 
des Königs Olaf des Heiligen. 


Kleine Beiträge 


Friedrich der Oroße als politifcher 
Dichter. 


Soin Golf fennt den großen König als 
Mann der Sat, es weiß, daß er der 
Philoſoph von Sansſouci und ein fluger 
Denferfopf war, aber es fennt faft nichts 
‘pon feiner Poeſie. Der febr einfade 


Das tritt nod Leudtender als in 
feiner Profa in feinen Gedichten Hervor. 
Seit ein paar Sabren haben wir in den 
zwei Schlußbänden der zefnbändigen 
deutſchen Ausgabe der Werke Friedrids 
des Großen, Die bei Reimar Hobbing, 
Berlin, erfdienen find, die ganze poeti- 


Grund ift, daß diefer Neugeftalter Preu- 
Ben-Deutihlands franzöſiſch fdrieb und 
dDidtete. Lm zu begreifen und zu be» 
gründen, warum das in den Jahren, da 
fein reicher Geiſt ſich fultivierte, min- 
Deftens rer verftändlihb war, braudt 
es einer bejonderen Abhandlung Wir 
feben Bier nur das Galftum, das aud 
bon guten Menfden oft mit fanfter Gnt- 
rüftung ausgefproden wird. nd felbft, 
wenn man außer dem Spradliden nod 
gusugeben bat, daß Friedrichs Geiftesart, 
er fühle Olanz des Wibes der Auf- 
flärungszeit ftarf unter Boltaires Gin- 
fluß ftand — die Gefinnung des Kö— 
nigs ift fo feft preußiſch-deutſch-germa— 
nij®, wie ſich's unfere Gaterlandsliebe 
nur irgend wiinfden fann. 


fhe Produftion des Königs in recht gue 
ten “Llebertragungen von Oppeln-Broni- 
fowsti, Eberhard König und anderen bei 
fammen. Und die zwei Bände „Auge 
gewählte Werke“, fowie die einbändige 
Auswahl „Der große König“ des glei» 
hen Gerlages enthalten davon wenig. 
ften3 einiges Widtigfte. 

Sriedrid der Große war fein Dichter 
im Bollfinne des Wortes und wußte das 
aud felbft. Aber er fonnte dod febr 
ftattlide didterifhe Kräfte entwiceln. 
Da ift ein Luftfpiel, das im Dialog und 
der Führung der Handlung redt fau- 
bere Arbeit ift und dem immer nod die 
Mraufführung fehlt. Da find die Gpi- 
fteln an feine §reunde, die liebenswürdig 
geiftreihen Spiele des vornehmen Wane 


351 


nes, denen wir dod viel Grfenntnis fei- 
ner feelifden Stimmungen verdanfen. Da 
fpottet er, alg er Goubife bei Rofbad 
en binter den Grangofen drein: 
tlaubt, daß id eud im Vertrauen fage, 
Dah ih, nahdem fo vieles mir era. 
Den jhönen Lorbeer diejer Nieder 
Den id bei der Begegnung mit eud 
fliicte, 
Gerdanfe eures Körpers fhönften Seil, 
Berdanfe eurer Rüdwärtsfonzentrierung, 
Solange e8 der hbimmlifhen Regierung 
®efallt, mir folde Helden auf den Weg 


u fenden, 

O mögt ihr ftets das Antlitz von mir 
wend 

Dem menſchlichen Geſchlecht 


en, 
um Olid 
und SHeill 
Mer Kraft, Feuer und ftählerner 
@lang fommt erft in feine Berfe, wenn 
fie mitten in angefpannter Gabrtgeit ent» 
fteben, wenn @efabr ibn und fein Land 
umdroht, wenn beroifher Lebens- und 
Sodesmut ibn durdglibt. In Strophen 
feiner „Ode an den Prinzen Heinrich“. 
die mitten im Siebenjährigen Kriege ent» 
ftand, bridt diefer Herovismus in ftolgem 
Selbftgefühl heraus: 
„Hobe Seelen, fie entfalten 
Grft im Drange der Gefahr 
Sbrer Mannbheit Trubgewalten, 
Weifteswebrfraft wunderbar; 
Dann erft wird ihr Mut geboren! — 
Wer, von Todesnot ummittert, 
Im Öeheul des Sturmes zittert, 
Nur der Feigling ift verloren! 
Starrem Sroge gibt die Welt 
Endlih dod die Wege frei! 
Iſt's verzweifelt denn beftellt, 
Go verzmweifle, aber fei 
Die ein Held! '3 muß alles enden, 
Aeufserftes lebt niemals lang; 
Oft dem Leidensborn — 
Schon erſehnteſtes Vollend 
Sind wir da nicht plötßzlich tief bin- 
eingeriffen in die Grundnot unferer 
Sage? Nur daß, der diefe Zeilen fand, 
aud) der war, der fie wahr werden 
ließ. Wir aber, wir ftehen ohne einen 
großen Führer, verzweifelt und als Gin- 
gelner der Sat nit madtig, por dem, 
was Griedrid der Große aud fon vom 
Deutihen febr gut wußte und was = 
1760, als er in fhwerfter Not faß, in 
feiner „Ode an die Deutihen“ Heraus- 


ſchrie: 
Ihr eee deutfhen Stämme, ftets in 
ruderfampf entzweit, 

Ihr RP Unrubgeifter. —* dem An⸗ 
tergang geweiht! 

Ewig Wehgeſchrei erſchüttert eure Lüfte 
allerenden, 

Langer Kämpfe Sdrecdensmale 
Heimatboden fdhanden, 


euren 


352 


Eure Gluren Wüfteneien, eure Städte 
Haufen Sduttes, 

Minter eurer Waffen Wüten rinnen 
Ströme roten Blutes; 


Ad, ein ar aus der Hölle, Bwietradt 
mit den toutentflammten 

—— fie entfachte dieſen Haß 

, den verdammten, 

Diefe Mordluft, euch zerftörend, inein= 
ander zu verbeißen, 

— — mit den Händen euch 
das Innre zu zerreißen. 


Schmählich ſind ſie abgefallen von dem 
Wanneswert, dem alten, 
AU ihr Freiheitsſinn, von frecher Here 
renfauſt in Schach gebalten, 
Hat gelernt, die Stirn zu beugen, ſich ins 
klavenlos zu finden. 
Unterm Fuße won Thyrannen ſich zu 
ſchmiegen, ſich zu winden! 
Ja, ſie Taffen ſich bedrüden 
Obne jede Gegenwehr! 
Ihre Feigbeit wird fid büden, 
Sih gewöhnen und fidh ſchicken 
In der Kettenlaft Beſchwer. 

Aber er findet dod den Auftaft. Gr 
ruft zur Sammlung 
Seht die vielen Bile te, alle, be fi wider 

uns pe 
Die vor diinfelbafter Shriudt völlig den 
erftand verloren; 
nverzagt nur, meine Helden! Srefft fie 
mit dem Wetterfdlage 
Eures Bornes, eurer Hiebe, daß die 
Menfhheit fünft'ger Tage 
Diefem Sturmlauf obnegleiden, diefem 
Sieg der Minderzahl 
Wider eine Welt pon Neidern türm’ ein 
bleibend Ghrenmal! 

Waren die Worte urjprünglid fran- 
zöſiſch, ihr innerfter ang ift deutſch und 
follte heute dröhnen! 

©pethe -war in feiner Jugend 
„fritziſch“· Gr bat zu feinem Großen 
feiner Zeit fo verebrungspoll aufgeblidt, 
wie zu dem Alten $rib. m fab 
er den großen Deutſchen, der die typi⸗ 
ſchen deutſchen Schwächen in ſich be— 
zwungen und uns emporgeriſſen hatte. 

Gib Schickſal, gib uns einen ſolchen 
Mann! Garl Meißner. 


„Das dritte Reid *.“ 
ist das dritte Reid der Myſtiker ift 
gemeint, fondern das dritte Reid 
der Deut{den. 
Die Deutihen Haben viele Staaten 
gegründet und gründen helfen. Monar- 


* Moeller van den Brud, Das 
dritte Reid. 262 S. Kart. 5 ME. Ringe 
Gerlag, Berlin. 





bien und Republifen. Aber nur zwei 
Reihe gelten als die eigentlid deutſchen: 
das Heilige römifhe Reid deutſcher 
Nation und das Bismard-Reidh. Das 
erfte Löfte fid) auf, dag andere ward zer- 
broden. Sft nun aud bas deutide Bolt 
aufgelöft und gerbroden, oder wird der 
alte Stamm von neuem einen ftarfen 
Wipfel Herdorireiben, ein drittes Reich? 
m diefe Grage handelt es fid in dem 
- Bude Moeller van den Bruds. G3 wird 
fein Wunſchbild gezeichnet, fein politi- 
{hes Programm aufgeftellt, fondern es 
werden Die thpifden politifhen Kräfte 
unfrer Zeit dargeftellt und auf ihre Be— 
deutung für die Sufunft bin abgewogen. 

Es find fieben Kräfte, die in unjrer 
Sagespolitif miteinander um Die Bue 
funft ringen: Die repolutionäre, fogiali- 
ftifhe, Tiberale, bdemofratifde, proleta- 
rifde, reaftionäre und fonfervative Kraft, 
und Diefe fieben Kräfte laffen fid zu 
drei Gruppen ordnen. Myſtice? Nein, 
ganz realiter. 

Moeller gi — und das fpridt man 
zuweilen tadelnd aus — nidt Satfa- 
den, nicht Zeitgeſchichte. Er „gibt uns 
nichts Feſtes in die Hand“. Das iſt ride 
tig. Aber man muß ſeine Abſicht ver— 
ftebn: er will nidt Geſchichte fdreiben, 
Jondern will die ſeeliſche Struk— 
tur der gegenwärtigen politiiden Welt 
bloßlegen. Gr zeichnet die thpifden in- 
neren Haltungen der Leute, die zur Zeit 
Politik maden. Darum jebt er das Tat- 
jadlide voraus. Die politiihen GOei— 
fteshaltungen (Mentalitäten) erfaßt er 
mit pfpdologifher und ſgoziologiſcher 
Meifterfhaft. Die Darftellung ift [hledt- 
bin glänzend (wie fein „Preußifcher 
Stil“ glänzend gefdrieben ift). Ich fenne 
wenige Bücher, die einen fo vollendeten 
Stil haben. Das ganze Bud) ift wie eine 
Sammlung eleganter Gormulierungen, es 
drängt von Pointe zu Pointe. Darum 
läßt fid das Bud nur abfabwmeife leſen 
— nur barte Kubmäuler finden feinen 
Unterſchied zwifhen einer leuchtenden 
Dlumenwiefe und einer grünen Gras— 
weide. 

Moeller fpannt einen großen Bogen 
bon der revolutionaven zur fonferba- 
tiven Gefinnung, er ift repolutionar und 
konſervativ zug eich. Gr erkennt die Re- 
volution an, aber fie muß wirklich voll» 
endet werden, ihre Bollendung und Rube 
findet fie erft in einer rechten fonfer- 
vativen Bolfsgefinnung. Hier trifft 
Moellers politiiher Injtinft eine ewige 
Wahrheit — alle mirflid revolutio- 
nären Männer waren fonfervativ: Lu— 
ther, Stein, Bismard. Gelingt es, den 
Bogen gwifdhen „repolutionär“ und ,,fon- 
Tervativ“ zu fließen, fo bat das deut- 


fhe Golf fein drittes Reid getoonnen. 
Die tauben, blinden und lahmen Sabo— 
teure der Repolution, die fid felbft irr- 
tümlih für Rebolutionare hielten und 
dod wilbelminifdh bis ing Snnerfte find, 
fonnten, aus Mangel an fonferbativer 
Weite des Horizonts und fonfervativer 
Siefe des Gefibls, nidts als ein bißchen 
verplempernde Aufregung berporbringen. 
+ Innerhalb diejer großen bipolaren 
Wahrheit gibt Moeller eine Fülle von 
einzelnen Grfenntniffen, von denen wir 
drei als die Wertoollften hervorheben. 
GErftens feine Kritik des Sozialismus. Gr 
zeigt, wie die Sozialiften nie den eigent- 
iden GOrund aller wirt{daftliden und 
fozialen Entwidlung: das Wahstum des 
Golfes, in den Bereich ihres Denkens ge 
zogen haben. Das Lebervölferungspro- 
blem, als das politiihe Grundproblem, 
baben fie nie begriffen. G3 ift ein bee 
weisihwerer Beleg für die geiftige Ber- 
ödung des Sozialismus, daß ſich feit nun 
faft einem Sabre fein marziftiiher See 
lehrter oder Schriftfteller gefunden bat, 
der ſich mit der lebensgefährdenden Kris 
tif Moellers beihäftigt hatte. Zweitens: 
ein @lanaftiic ift die Charakteriſtik des 
Liberalismus, „an dem die Völker zu 
@®runde geben“. Aud fie ift ohne 
Antwort geblieben, obwohl fie das in- 
nerfte Leben der fogenannten „gebildeten 
Shit“ angeht. Gndlid ift von bejon- 
derem Werte die Feftftellung des Anter— 
{hiedes zwiſchen „realtionär“ und „fon 
fervativ“, es ift eine enticheidende 
Scheidung. „Der reaftionäre Menſch bat 
eine ebenio oberfladlide Auffaffung von 
der Gejdhidte, wie der fonfervative eine 
vertourgelte von ihr hat. Der Reaftionar 
ftellt fid) die Welt fo por, wie fie ge» 
wefen ift. Der Konfervative fieht fie 
fo, wie fie immer fein wird. Gr ift 
erfabren im Seitliden. Und er ift er- 
fabren im Gwigen. Was war, das wird 
niemalg mehr fein. Aber was immer 
in der Welt ift, das fann immer wie- 
der aus ihr berportreten. Reaftionare 
Politik ift Heine Politik. Ronfervative 
Politif ift große Politif. Gejdhidte, die 


flein ift, hat die Politik, die ihr ent» 
fpridt: folde Politif wird bald ver- 
geffen. Bolitif wird erft groß, wenn 


fe Seididte ſchafft: Dann ift fie unver- 
lierbar.“ 

Kritiihe Anmerkungen hätten wir nur 
zu Gingelbeiten zu maden, fo zu Der 
merkwürdigen Wertung des „Raumes“ 
gegenüber der „Yeit“. Die mächtigsten 
Dinge find nur in der Zeit und räum- 
lih überhaupt nit zu vollziehen. Hier 
fheint ung Moeller für einen wahren 
®edanfen ein falijhes Bild gegriffen zu 
haben. Gerner rejerpieren wir uns ge- 


353 


gen die Kritik Ludendorffs (Seite 193 
ff.). G38 ift fonferdativ, den Tag nidt 
por dem Abend zu loben und aud nidt 
por dem Abend zu tadeln. (Desiwegen 
pflegen fonfervative Hiftorifer ungern 
Zeitgeſchichte gu fchreiben. Das rafd fer- 
tige Urteil des Zeitgenofjen ift eine üble 
liberale Gewohnheit.) 

Demgegenüber aber fteht eine Fülle 
gut geformter Wahrheiten. Gtwa auf 
Geite 246 die Beftimmung des Ratio» 
nalen: „eben im Bewuftfein feiner Na» 
tion beißt Leben im Bemwußtfein ihrer 
Werte. Gine Nation ift eine Wertungs- 
gemeinfhaft.“ Oder auf Geite 227 Die 
Worte über die Monardie: „Es ift feine 
Königlichkeit und feine Shriftlidfett mehr 
in der Welt: deshalb ift fein König da. 
Und e8 ift feine Kaiferlichfeit mehr in 
der Welt: deshalb ift fein Kaifer da.“ 
And dann all die entzüdenden ®lanz- 
lihter auf dem polierten Werfe: „Der 
revolutionäre Menih gebt von feinem 
Siele aus — eine unmöglihe Sebweife, 
wie wir meinen.“ „Das Plaufible wurde 
das Berderben der Menſchen.“ „Die In- 
dipiduen, aus denen ein Golf fih gue 
fammenfeßt, unterfdeiden fid nidt nur 
duch die Bedingungen, unter denen fie 
arbeiten, fondern aud durd die Bega- 
J mit der ſie arbeiten.“ Aſw. 

s ift ein Bud, das man mit ei— 
nem Worte harafterijieren fann: adlig. 
Dornehm in der ©ejinnung, edel in der 
Gorm. Daf ein foldes Bud in Diefer 
wiiften Zeit, da Der RKlatfhmohn der 
Plattheit die dürren Gelder überwuchert, 
geſchrieben wurde, zeugt bon der imma— 
nenten Gormfraft des deutiden Genius. 
Gpidemien find anftedend, Formkräfte 
aber find erwedend. Gpidemien toben 
fih aus, Gormfrafte aber geftalten etwas 
aus. Das ift unjre Hoffnung. St. 


Nordifhe Könige. 

3° dem = gefdhidtliden DBewußtfein 

unfres Golfes ftehn die Auseinan- 
derfeßungen mit den welfden VBölfern 
im Süden und Güdmweften voran, die 
Aluseinanderfebungen mit den Slawen 
treten zurüd, am wwenigften aber find 
die Zujammenhänge fowie Zuſammen— 
ftöße mit den Nordgermanen befannt. 
Man bat einiges von den Normannen 
gehört, von Suftad Adolf von Schweden 
bat man fogar ein giemlid feftumriffenes 
Bid, im übrigen ift der Norden uns 
biftorifjh meift eine terra incognita. Es 
ift ja in der Sat fo, daß unjer ganzer 
biftorifher Bug von Norden nad Sü— 
Den gebt, felten von Weften nad 
Often, nie gen Norden. Dem Norden 
gegenüber haben wir nur das G®efühl 
des dunklen Arſprungs; daß er politifd 


354 


wichtig fein fönne, der Gedanfe liegt ung 


ern. 

Und bod ift der Norden für uns in 
tieferem Grunde bedeutend, wegen der 
naturbaften und uraltfulturellen Sufame 
menbange, die uns mit ihm verbinden 
und die unfer Sdidfal, aud das poli- 
tifde, innerlich fehr weſentlich mitbeftim- 
men. Wenn wir uns auf unfer „Wefen“ 
(als den Urquell unfres Schidjals) bee 
finnen wollen, fünnen wir nidt ume 
bin, ung dag altnordifhe Leben zu vere 
gegenwärtigen; denn bier haben mir 
Seugniffe, die wir im Süden nidt 
haben. Und wenn wir aud die Gere 
manen des Südweſtens mit denen des 
Nordens nit einfach gleidfeben dürfen, 
fo fdnnen wir dod durch begründete 
Analogie unendlich vieles aus dem Nor- 
diſchen erfdliefen, nicht gum wenigften 
in bezug auf Rebensanihauung und 
Rebensfiibrung. 

Darum ift die „Sammlung Thule“ 
für jene Geiftesridtung, die auf „Selbft- 
befinnung“ gebt, eine fo überaus wert- 
volle Quelle Hier lernen wir Orund— 
lagen unfres Lebens fennen, die nirgends 
fonft fennen zu lernen find. Der umfaf- 
fenden Saga-Sammlung, die wir im Sas 
nuar 1923 wiirdigten, hat Selig Nied- 
ner nun eine dreibändige Ausgabe des 
„Königsbuhes“ Des isländiſchen Ge— 
ſchichtsſchreibers Snorri Sturlasfohn fol» 
gen lafjen *. Gntftanden ift Gnorris Werf 
in den Sabren 1220 bis 1230, es enthält 
die Gefdidte der norwegifhen Könige 
von den Urzeiten bis 1177. 

Snorri erzäht Durdhaus im Saga-Gtil. 
Gon jedem der wefentliden Könige gibt 
er die „Saga“. G8 ift aljo die anein- 
anbdergereibte Darftellung pon Gbaraf- 
teren, die in ihren Taten gezeichnet wer 
den; nicht das, was wir Heute „Ge— 
ſchichte“ nennen. Aber das Werk liegt 
auf dem Weg zur Gefdidte, gibt fi 
Dod) Gnorri jhon fritifhe Rechenſchaft 
über feine Quellen. 

Im Mittelpuntt des Werkes fteht die 
Grgablung von König Olaf dem Piden 
(nadmals „der Heilige“ genannt). Gr 
ift Der eigentlidhe Held des norwegifden 
Golfes. Der ganze zweite Band, der zu- 
dem der ftärffte ift, ift bon feiner Oe— 
{Hidte, die nur fünfzehn Sabre umfaßt, 


per: Warum wurde er Der 
Bolfsliebling? Gr bat das Ghriftentum, 
das Schon fein Vorgänger einführte, 


mit Nahdrud durchgeführt. Gr ift bee 
rühmt Durd fein „Slüd“, auf „König 





* Thule. Bd. 14. 15. 16. Bd. I. geb. 
7, geb. 11 Mf. Bd. II. geh. 8, geb. 12 
Marf. Bd. III. geb. 8, geb. 11,50 Mt. 


Olafs Olid wagt man vieles. (Olüdhaf- 
tigfeit galt als Gigenfhaft des Charak— 
ters.) Gr ift ein Arzt. Seine Leiche wird 
gue Reliquie, an der viele Heilung fin- 
en. Seine Augen haben es den Men— 
{hen angetan. G8 ift eine fraftoolle Ge— 
ftalt, von Myſtik umtmittert. 

Der erfte Band enthält die Gagas 
der früheren Könige. Der ältefte  ift 
Odin, der in Alien Aftlid vom Doa 
Häuptling war, Afenheim feine Haupt- 

adt. An den Ponmündungen ſitzen 
die Wanen, mit denen Odin Krieg führt. 
Nadhmals zieht Odin an den Mälarjee, 
alg Sdwedenfinig, er gibt den Schweden 
Gefebe. Nah feinem Tode wird Nidrd 
Alfeinherrfher über Schweden, darnad 
Sreh. Den Öötterfönigen folgt die große 
Menge der Gagenfdnige, bis wir mit 
Halfdan dem Schwarzen (etwa 830 bis 
860) in hellere Zeiten gelangen. Gr ift 
der Bater Harald Schönhaars, der die 
norwegifhen SKleinfönige befeitigt und 
fih zum Herrfher eines großen Reiches 
aufſchwingt (Schlacht im Hafsfjord 872). 
Aus feinem Gefdledte ftammen die fol- 
genden Könige, Deren bedeutendfter vor 
Olaf dem Heiligen Olaf Tryggvisſohn ift. 

Der dritte Band gibt die Gagas der 
fpäteren Herriher aus Olafs Blut. Es 
perrinnt und verfidert mehr und mehr. 
Bei dem lebten ift der Zufammenhang 
fon febr zweifelhaft. Durchſetzt ift die 
Srzählung immer wieder mit den Wun— 
dertaten des toten Olaf. Seine Geftalt 
gibt dem ganzen Werfe einen funftpollen 
Zufammenbalt. 

Sehr ergiebig ift diefe Gefdidte für 
das, was wir heute das „Führerpro— 
blem“ nennen. @erade weil es fid um 
„primitivere“ Verhältniſſe handelt, tritt 
das Iebte Menfalide fo plaftiih her— 
por. Man fehe daraufhin die Stellen 
durd, die wir unter „Erlefenes“ anein- 
anderfügen. Das find nidt Könige, wie 
der Artus und Karl der Gage, Die nur 
Mittelpunkt eines Kreifes pon Paladinen 
find, fondern es find vorangehende Füh— 
rer, die mit Schwert und Sdild und 
„Blüd“ an der entjcheidenden Stelle 
fampfen. Da fie oft fdon als Kinder 
Könige fein müffen — Die politiidhe 
Führung war damals eine duferft Ie- 
bensgefährlihe Gade, die Könige wur— 
den jelten alt — müſſen fie fhon als 
Kinder in die Sdhladt. Der zweijährige 
Sngi muß gegen Magnus den Blinden 
giebn, es fommt zum Kampf. „Es beißt, 
daß Thjoftolf Alisfohn den König Ingi 
in feinem Schoße trug, während Die 
Schlacht tobte und er unter dem Banner 
ging, und daß Sbhijoftolf da durch das 
Andrängen und den Anfturm der Feinde 
in große Not fam. Man erzählt, dah 


Sngi dort die Gebreften befam, an denen 
er jein ganzes Leben litt.“ 

Seffelnd find die Berührungen der 
nordiihen mit der byzantinifhen Welt — 
das Mittelmeer, von Island aus gefehn! 
Da find Wege der Politif und der Kul- 
tur, die mitten durh Deutfdland füh- 
ren; wir fennen fie heute faum, und dod 
find fie für unfre Gage und Didtung 
bon großer Bedeutung. Piefe Gebiete 
barren nod der Durchforſchung. — 

Das madtige Werf ift feine leichte 
Leftüre, e8 erfordert nidt wenig Auf. 
merffamfeit und ®edädtnis. Die Bere 
armung PDeutihlands |deint uns aud 
darin fidtbar zu werden, daß dieſe 
Bande nidt mehr fo reidlid wie die al- 
teren Thule-Bände mit Hilfsmitteln des 
Gerftandniffes ausgeftattet find; Das 
Kartenmaterial ift dürftig, Stammbäume 
fehlen, bor allem vermißt man ein Na- 
mensregifter. Was die Leberjehung felbft 
betrifft, fo befriedigt der fpradlide Wus- 
drud nidt immer, zumal in der Wieder- 
gabe der eingeftreuten Gfaldenverfe. Man 
würde es vorziehn, Niedner verzichtete 
auf die Nadhabmung der fdwierigen 
Gorm und gäbe nur getreu den In— 
balt der Berfe. Bwangvolle Bildun- 
gen wie „Kühnem Wann ob totem Kö- 
nig/Rommt eb’r zu die Zähre“ oder 
,Oorg’ in der Bruft: dem Bafte, / Bleid 
Antlit mein, gleihft dul ärgern den 
Lefer fo, daß jedes poetifde Gefühl ver- 
fliegt. Warum nidt lieber unter einiger 
BOT DERSOI LER: nes . ziemt ie 
Sabre eher“ und „Bange forg’ id: dem 
Bafte/Gleidt mein bleihes Antlig“? 
Dod diefe Kleinigkeiten follen den Dank 
für die Gefamtleiftung nicht herabmin- 
dern, wir fpreden fie nur als Anre— 
guages für boffentlih bald nötig wer- 
ende neue Auflagen aus. Und nod den 
Wunſch hätten wir freilih, daß in einer 
Einleitung oder als bejonderes Bändchen 
eine fnappe, weitgefpannte ®efamtdarftel- 
lung der altnordifhen Sefdhidte von 
Heute aus gegeben würde, die dem Lefer 
gleihfam einen Rahmen für die alten 
Darftellungen lieferte. — 

Gewiffe Dinge liegen in der Zeit. 
Während Niedner Gnorris Königsbud) 
überjehte, fdrieben Arthur und Beate 
Bonus „das Dlafbuh*. G3 ift eine 
freie Naderzählung der Gaga von Olaf 
dem Heiligen, in hohem Stil gehalten, 
überjihtlih geftaltet und dem Bedürfnis 
heutiger Lefer angenähert. Go fann aud 
{hon die ältere Sugend von dem nore 
Difhen Ghriftenfönig und feinen Taten 
lefen. G38 ift ein Bud, das GFeftigfeit 

* Thienemanns Berlag, Stuttgart. 
Seb. 5 ME. 


355 


und hohen Ginn zu erweden vermag; 
möge e3 die Blide wieder Ienfen zu den 
falten Bergen und Weeren, pon denen 
uns Der Geift unferer Gorfabren zu 
Hilfe fommt. Ot. 


„Bauern und Helden.“ 


Be is Sanuar vorigen Sabres, als wir 
die Sagas der Sammlung Thule ane 
zeigten, gaben wir aud eine Probe aus 
Walter Baetfes neuer Leberjebung der 
Gaga von Biga-Glum, die Damals ge- 
rade gedrudt wurde. Geitber find nun 
die erften beiden Bände der Baetfefden 
Sammlung „Bauern und Helden. Gee 
{Hidten aus Alt-Island“ in unferm 
Gerlag erfdienen; der erfte enthält die 
Gaga von ,@lum dem Totſchläger“, der 
zweite die bon den „Schwurbrüdern“. 
Seder der bübihen Pappbände foftet 
zwei Marf. 

Während die Sammlung Thule einen 

oßen leberblid über die altnordifde 

rzählungsfunft gibt und für Den, Der 
tiefer in diefe Welt eindringen will, 
unentbebrlid bleibt, wendet fid Die 
Sammlung „Bauern und Helden“ an 
die größere Menge der Lefer. Ihre 
Aufgabe ift, die tiefen ethifhen Kräfte 
jener nordgermanifden Meifterwerfe, die 
nod allzu wenig befannt find, frudtbar 
zu maden. DBaetfe hat mit feinem Bor- 
wort redt: „Wenn heute das deutſche 
Volk in feiner äußeren und inneren Not 
nad Sroft und Stärkung Ausfdau hält, 
- fo fann ibm weder japanifhe Kunft nod 
indijde Weisheit frommen. Wohl aber 
fann es fid aus den alten islandifden 
Gagas Sefundbeit trinken; denn fie kom— 
men aus den Tiefen zu uns berauf, in 
die die Wurzeln unſres eignen Bolfs- 
tums, unfrer deutfden Seele binunter- 
reihen.“ Da nun aber die eigentiimlide 
nordifhe Graählungsfunft nidt geringe 
Anforderungen an den Lefer ftellt, fucht 
DBaetfe in feinen Ausgaben die Schwie- 
rigfeiten binwegzuräumen. Die Ginlei- 
tungen geben das nötige fulturgefdhidt- 
lide Wiffen, das die Gaga vorausfebt, 
Bilder veranfdauliden Das GSefagte, 
Stammbäume geben uns den Ueberblick 
über die Gippenzufammenhänge, Pere 
fonen=- und Ortsregifter ermöglichen es, 
nachzuſchlagen, wo ein Name eingeführt 
wird (eine der widtigften Sedadtnis- 
bilfen!), Plane zeichnen die gengraphifche 
Situation. In der — iſt genealo⸗ 
giſches Rankenwerk, das mit der Gade 


nichts zu tun hat und nur dem perſön— 
lichen Intereſſe der alten Erzähler ent— 
ſtammt, weggeſchnitten. Der größte 


Wert aber iſt darauf gelegt, den Stil, 
ſowohl den proſaiſchen wie den poeti— 
ſchen, zu treffen. Wir ſind der Meinung, 


356 


daß Baetkes Uebertragung ſprachlich die 
der meiſten andern übertrifft. So wird 
dieſe billige Sammlung ihrer Aufgabe 
portrefflid gerecht, dem gebildeten Lefer 
(aud) der älteren Jugend) eine Welt 
nahe zu bringen, die von unfern Vor— 
fahren ber in uns felbft nahmirft. 

Die Sammlung wird nidt endlos 
fortgefebt werden, fie bringt nur eine 
Auslefe der finftlerifh und ethifh bee 
deutendften Stüde der Gaga-Literatur. 
Die Gefhidte von Slum dem Sotidlager 
gibt eine piyhologiih febr fein gezeich- 
nete Gharafterdarftellung des gum Hel- 
Den und Führer emporwadjenden Bau— 
ern, aud) die Sragif ift in dem Sharafter 
angelegt. — ,Gtarf, {din und wilde,“ 
dieje Worte des Nibelungenliedes fünnte 
man auf die Gefdidte pon den beiden 
Schwurbrüdern Sbhorgeir und Thormod 
anwenden. Als Probe daraus druden 
wir unter „Srlefenes“ das Schlußfapitel 
ab — weld eine ®ewalt des Willens! 
Wir denfen von diefer Szene weg be- 
\hämt an den Herbft 1918. Mebrigens 
erzählt aud) Gnorri Sturlasfohn den Sod 
Sbormod3, der ein bevorzugter Gfalde 
König Olafs des Heiligen war, in feinem 
„Königsbuch“ (Heimskringla). Nur 
Raummangel hindert uns, Snorris Dar— 
ſtellung zum Vergleich abzudrucken. Man 
findet ſie im zweiten Band des Werkes 
(Thule. 15. Bd.), Seite 379 bis 383. Die 
Borgänge find im Einzelnen anders er- 
äblt, der Gharafter Shormod3 im Gter- 

en ift derjelbe. (Bgl. aud Bonus’ 
Olafsbud Seite 151 ff.) 

In all diefen Gefdidten ift die All- 
tagswelt des germanifmen Bauern um 
das Jahr 1000 ganz realiftifch dargeftellt. 
Aus diefer Welt wadfen Harte, ftarfe 
Führer auf und mit ihnen eine heroiſche 
Ethik. Sollen wir uns dieſe Bauern- und 
Heldenethif von einem niedrigeren Ge— 
fdledht zu Unehren ſchwätzen laffen? 
Wir denfen an des alten Arndt bittere 
Worte: 

„Könnt ih Löwenmähnen fdittteln 
Mit dem Born und Wut der Jugend, 
Die gewaltig wollt’ id rütteln 

An des Sages blajfer Tugend, 

An dem Trug der Feigen, Matten — 
Wer will ihre Namen nennen? 

Die der Bäter Heldenfdatten 

Nur als Leihenfhatten fennen*“ Gt. 


* Als Illuftration dazu: Eben er- 
folgte (in Berlin) die Gründung eines 
»Wanderbogels vegetarifher Art“. Pro- 
gramm: „Wir trennen uns grundjählid 
pon allen Anwendungen der Gewalt und 
des Dlutvergießeng (Anwendung des 
Dlutvergießeng — was ift das?) im 
Menihen- und DBölferleben und haben 


Uttiengefellfhaften und Zaifune. 


aR en gefunden Zeiten werden 
die Hemmungen des Lebens 
ſchmerzlich. Tod, Krankheit, Anglück der 
Menfdhen und Völker. 

&3 gibt aber aud Zeiten, in denen 
das Leben an fid ſchmerzlich und 
fraglich iſt; in denen es ſelbſt als eine 
einzige Hemmung, als Tod, Krankheit, 
Unglüd erfdeint. 

eben mir in einer folden Zeit? 
Nie nod, will uns fdeinen (weil wir 
ja nur ein febr geringes Gnddhen Ge— 
{didte überfhauen), war die Frage nad 
dem Ginn Diefes unferes Lebens fo 
dringlid, fo unbefriedigend dringlid wie 
jebt. 

Da fißen die Madtigften der Welt, 
die Scheinbar und die wirflid Made 
tigften, die Politifer und die Bantiers, 
wochenlang beifammen und beraten über 
ein höchſt verwideltes, höchſt fünftliches 
Spftem bon Anleihen, Zinfen und Kon— 
tributionen, und „die Welt“ Halt den 
Atem an, um den  weltgefdhidtliden 
Augenblid nidt zu verfaumen, two Diefe 
Bermwaltungsratsmitglieder und General 
direftoren, dieſe Interejfenvertreter und 
Marionetten unperfinlider Kapital 
zufammenballungen „einig“ geworden 
find. Und fo finftlid, fo naturfern ift 
unfer Leben geworden, daß wirflid un- 
fer Schidfal und das „der Welt mehr 
davon abhängt, ob und wann dieſe Sn- 
tereffenten mit ihrer A. O. zur Wusbeu- 
tung eines befiegten Golfes, mit diefem 
fünftliden Spftem, mit dem man tod- 
franfe Staaten und Wirtſchaften gu hei— 
fen vorgibt, fertig werden, als davon, 
ob die Roggenernte in unferem Heimat- 
gau gut oder fhleht wird. Und da’ man 
gegen Hagelfhlag und Feuer verfichert 
ift, fo gibt's faft feinen Schaden mehr 
alg den, den die Wenfden, zur Unzahl 
auf dieſer engen Erde anwadfend, die 
ihr in ihrer arbeitsfheuen Senuf- und 
Raubgier eng wird, fid gegenfeitig an- 
tun. Der Menfdh fiebt nur nod Menſch⸗ 
fides. Wenn nidt einmal ein Grdbeben 
oder ein Saifun ein wenig von aufen, 
bon jenfeits aller Menfdenfenntnis und 
mop anflopft und befdeiden 
mahnt 


den @lauben, daß — Verſte⸗ 
hen, Achtung und liebevolle Hilfe die 
Wenſchheit paberfiibren, alg es Kampf 
und Wadt vermögen.“ Wit einem fol» 
den Olauben ftürzt man fid nidt in 
Alnfoften und mit einer fo bequemen 
Moral läßt ſich's bequem dafein. Wir 
ſchätzen, daß fid) BHinreihend fdmalg- 
Gugige Wundervögel finden, die daran 
ein feelenbdolles Gefallen finden. 





Alles Glementare ift verfdwunden 
aus unferem Leben. Saft fdeint es, als 
wäre diefer Krieg ein [estes Aufbäumen 
der elementaren Kräfte im Menſchen gee 
weſen gegen die furdtbare Weltmafdi-e 
nerie, Die uns alle zu erfaffen und zu 
zähmen droht. 

Die letzte? Gott braucht aud ſolche 
Seiten der Waſchinenherrſchaft, der Uni— 
form und des Zentralismus, wie ſie uns 
pon den Beld-Weltmädten ber droht. 
Sie allein erzeugen Widerftand und in— 
neres Wadstum der natürlihen Gigen- 
fräfte in den WMenfden und Bölfern. 
Sie allein erproben die Bölfer und Wen- 
fen und ihre tiefften Kräfte Wir aber 
freuen uns. Wer nod fo vergiftet wäre 
von dem Gift der Gerbitterung und der 
Müdigkeit, der Fragefudt und der Ziel- 
unfiderbeit: bie und da in irgendeiner 
Gefpradswendung, in einem Knabenblid, 
mitten im Toben des ftumpfen ohnmäch⸗ 
tigen Maffenraufhes einer Berjammlun 
oder in ftillen Näcdten, da er in id 
bineinlaufht — fühlt er Dod dad ferne 
ungeduldige Poden und Herandrangen 
einer braufenden Brandung, einer elee 
mentaren Gmpdrung, eines Orfans, eines 
Grdbebens oder eines Saifuns, der wie- 
der einmal befdeiden, von jenfeits aller 
Menfhenerfenntnis und Menfdhenmade, 
anflopfen wird. Aus den Siefen der 
DBölfer und der Menfchennatur heraus, 
die ,nod nie“ fo gefejjelt, gezähmt und 
„befriedigt“ war wie jebt. 

Wir wiffen: Gott duldet aud Aktien» 
gefellfdaften, aber er offenbart fid in 
den Q@etvittern und dem natürlichen 
Wahstumsfegen, der aus Gewittern 
quillt. Hermann Ullmann. 


KultursSeremiaden. 


G 3 mag ioe unfreundlid a ee aber 
mandmal fann man es wirflid nicht 
mehr mitanhören, wie fie alle feufzen: 
über den Berfall des Handwerks, die 
Gerwabhrlojfung der Jugend, die Gntfeee 
lung der Arbeit, die Gntartung der 
Kunft, die DVerflahung der Denen 
und wie alle die traurigen — Au 
faptbemen heißen. Das ift nämlid 
das Grbitternde, daß dieſe gewiß; beach— 
tensiwerten und beängftigenden Erſchei— 
nungen zu den ergiebigften und belieb- 
teften Auffatthemen des gebildeten Deut- 
{den geworden find. Namentlihd wenn 
der Privatmann zur Feder greift, liebt 
er e8, ein Klagelied über die Gerderb- 
nis der Zeit anguftimmen. Gin Rum- 
melplag, ein großftädtifhes Kaffeehaus 
gibt ihm dazu das anregende Aergernis, 
Das mag fehr woblgemeint fein, aber 
mir will e8 Dod verdadtig erſcheinen. 
Man fann fid nidt des Gindruds ere 


357 


wehren, daß diefe Klagen mit einem ge- 
willen Behagen vorgebracht werden. Es 
muß ein ſchönes ©efühl fein, fid fo viel 
beffer als feine ſchlechte Zeit zu wiffen 
und ihr, die uns ohnehin ärgert, une 
angenehme Dinge ins Gefidt zu fagen, 
wobei man der Zuftimmung aller ®ut- 
gefinnten fider fein darf. 

Aber offenbar bin id fein ©utge- 
finnter. Denn id ftehe nidt an, mid 
über dieſe Rulturfjentimentalitaten zu 
ärgern. Das Kino, die Grofftadt, die 
Zipilifation, die Sednif, welche meinem 
fOreibenden Privatmanne nur ©reuel 
find, dünfen mid berrlide Summelplage 
Br den gu fein, welder unjer Bolfstum 

ebt. 

Nicht als ob id mid von der Bivi- 
lifation blenden ließel Ich weiß, wie es 
mit ihr beftellt ift: wenn die Müllkutſcher 
adt Sage ftreifen, fängt fie an zu ftin- 
fen. (nd die Müllfutfher verfäumen 
nicht, auf dieſe Weife einer AUeberſchät— 
zung der Zipilifation vorzubeugen.) 

Aber ein gefunder Men fann einen 
Buff vertragen und ein fräftig veranlag- 
tes Golf aud. Nicht ohne Narben davon- 
guiragen, gewiß nicht; aber ſolche Schön- 
beitsfehler brauden uns nidt zu ent» 
mutigen. Wenn man bei hundert Men— 
ſchen den Bruftforb durdleudtet, wird 
man bei neunzig Spuren von Quber- 
fulofe finden, aber bei mindeftens adtgig 
baben die natürlihen Widerftandsfräfte 
auggereidt, um die eingedrungenen Ba- 
zillen einzufapfeln und unjhädlich re 
‚maden. Und die lebten zehn Sabre foll- 
ten gezeigt haben, daß die Widerftands- 
fraft eines Golfes größer ift, als jede 
me — zu fagen vermodt 

ätte. 

Und darum glaube id, daß der ge 
beime Bauplan unjres Volkes nidt por 
den Broblemen der Snduftrialifierung 
und der Großſtadt Halt madhen wird. Im 
®egenteil, wie Heinz Warr im Februar 
beft unfrer Zeitihrift gezeigt hat, gerade 
am WMaffenmenfden unjtes technifchen 
Seitalters erweift fid die Unzerſtörbar— 
feit völfifher Gigenart — freilid nur 
dem, der jid) duch das Schlagwortverhau 
gu den lebendigen Realitäten durdge- 
rungen bat. 

Dahin fommt man freilih nicht mit 
fulturellen Schäferfpielen; man muß berz- 
baft Dred anfaffen können und e8 mag 
billig fein, daß dies Gefdaft uns Jün— 
geren itberlaffen bleibt, die wir ohnehin 
alg Kriegsteilnehmer Dergleiden ge- 
wohnt find. 

Die Oroßftadt und die Zipilifation 
find uns als eine Aufgabe auferlegt: das 
merfen wir nun, naddem wir uns zu— 
erft an dem Pfefferfudenbaus gefreut 


358 


batten. Hagenbed afflimatifiert Strauße 
in Gtellingen; follte fih unfer Bolfstum 
in der Gisgeit der Bivilifation nidt er— 
halten fünnen? §reilid wird es manden 
Schnupfen abſetzen, aber deswegen ift ed 
Dod verkehrt, in grüne Giedlungen zu 
entweihen und bon einer wärmeren Der- 
gangenbeit zu träumen. Sas madt nur 
webleidig und läßt die Diffonangen des 
modernen Lebens fo {drill erfdeinen, dah 
man glaubt, fid die Obren gubalten zu 
müffen: daher rührt dann Rulturfenti- 
mentalität und Linfenntnis auf allen den 
®ebieten, von denen man nidts willen 


mag. 

Darum fehlt e8 dann bei jeder Arbeit, 
die unferm Volkstum dient, an welt- 
Eundigen Helfern, darum ftellen ftatt 
ihrer fid) gutgefinnte Gigenbrödler und 
Querföpfe ein, die über jedes praftifche 
Hindernis ftolpern und fid von den Ge— 
riffenen übers Ohr bauen lajfen. 

Man überprüfe einmal das völkiſche 
Schrifttum; wieviel Konjunfturmaderei, 
wieviel feelifd DVerbogenes, wieviel 
myſtagogiſch aufgepubte Kurpfufcherei 
wird Da bon Kreifen aufgenommen, Die 
Dod eine Gefundung aus unfrer nationa- 
len Gigenart heraus anftreben. Offen ge- 
fagt, mehr als Kino, Kabarett und Opes 
rette bedrüdt mid die Snftinftlofigfeit 
unfres Volkes in feiner eignen 
Gade fogar in den Kreifen, die fid auf 
die völkiſchen ©rundtriebe befinnen 
wollen. 

Wie fann man fid von ſolchem Kraft» 
meiertum imponieren laſſen? Ich fürchte, 
gerade unfern fulturell bedeutfamften 
Gdidten fehlt es vielfad an einer ge- 
wiſſen Wefensfeftigteit, ja Wefenshärte, 
wie fie aus einer mutigen und verant- 
wortliden Hingabe an den Alltag 
erwächſt. Gmpfindjame und weidlide 
Naturen, die ganz zu LUnredt als , ideali- 
ſtiſch“ von dem „groben Materialismug“ 
abrüden, find ebenfo dem porlauten 
Kraftmeiertum wie der fentimentalen 
Weltflictigfeit ausgefebt. Diefe beiden 
ſcheinbar fo verfchiedenen Stimmungen 
beweijen denn aud ihre Berwandtihaft 
Durd das beiden gemeinfame Refjenti- 
ment gegen die Zipilifation. 

Reffentiment ift aber die unglüdlichfte 
Gerfajfung, in der man an eine mib- 
felige und unangenehme Aufgabe beran- 
geben fann. G8 fdeint den Blid zu 
\härfen, aber es falfdt ihn. Gs er- 
regt und madt Dod fraftlos. G3 des— 
illufioniert und madt dod nicht niidtern. 
Die Wirklichkeit Heinlih und erbarmlid 
gu finden, ift nod fein Seiden von 
Größe; die Zeit anguflagen, fein Beweis 
der Unſchuld. 

Der nidt den Mut Hat, feine Seele 


rüdjihtslos dem ultravioletten DBogen- 
lidt der Bivilifation auszufegen, wer 
fid nidt zutraut, mitten in die moderne 
Welt — — ohne ſich an ſie zu 
verlieren und wer ſich ſcheut, Trübungen 
und Schädigungen ſeines Weſens beim 
Sprung in die Welt auf ſich zu nehmen, 
der findet wohl noch genug Aufgaben im 
ſtilleren Kreiſe. Aber er fehlt, und fehlt 
fühlbar in dem Kampf, den unſer Volk 
um die Weiſterung der Ziviliſation führt. 

Albrecht Grich Oünther. 


Kerricht. 

Wir blättern in Zeitſchriften, die vor 
zehn Jahren geſchrieben wurden. 
Die ſah doch S. Fiſchers „Neue Rund— 
ſchau“ damals aus? Das Auguſtheft 
zeugt nod von tiefſtem Frieden. Sue 
nius der Pieudonyme redet in feinem 
politijden ,Sagebud“ boffnungsfreudig 
davon, daß in Granfreid) „der Femi— 
nismus der erwerbtätigen Stau fid an 
die Oberflähe arbeitet und die Abſchwä— 
ung der militärifhen Snftinfte der 
Rafje verurjadt.“ In Frankreid fei nidt 
Poincare maßgebend, Frankreich „Icheint 
beftimmt, als erftes Land in Guropa 
die unheroiſchen Ideale einer egalitären 
©efellihaft zu verförpern und uns alten 
Europäern (man wiege diefen WAusdruc) 
einen DVBorfhmad von den Realitäten 
der Sfdandala-Werte zu geben, Die 
Niebihe fo beflommen heraufkommen 
fab.“ Aber „Bunius“ beugt fih „vor 
Diefer Logif der Tatſachen williger und 
freudiger, alg por dem Heroismus einer 
fapitaliftiihen ®ejellihaft...“ Sm Sep— 
temberbeft ift dann Der Krieg da, und 
Samuel Gaenger fdiebt den einen Arm 
unter Treitſchkes, den andern unter Fid- 

tes Arm. 
Der fizefte aber ift unfer Freund 
Alfred Kerr. Gr tritt im September- 
beft auf den Plan mit dem „Kriegstage- 
bud eines Hirnwefens“. Alfred ergablt: 
„Als id an das Begirfsfommando, Oe— 
neraleBape-Straße, fdrieb: ‚Der Anter— 
zeichnete meldet fid) biermit freiwillig 
um Gintritt in das Heer. Gr ift Land- 
Kom mit Waffe, von Beruf Schrift— 
fteller. Körperlih gewandt uf. (Wasmag 
binter diefem ufw. geftanden haben?) Gr 
mödte nidt bis zu feinem fpäteren 
Aufgebot warten — und bittet ibn an» 
aunebmen’, lagen zwei Regungen binter 
mir. Gin Gefühl des Abrüdens von 
einer Menfhengattung, die Befferes nicht 
elernt bat als mit ſolchen Mitteln bie» 
ige Dinge zu ordnen. Habe nichts mit 
ihnen zu Schaffen; in Gwigfeit, in Gwig- 
feit; in Gwigteit. Der andere Ruf jagt: 
- fie dürfen diefem edlen Bolf nichts tun. 
Nichts Diefem ‚Deutihland’ benannten 


©efühl, das wir im Blut haben. Man 
bat die Fredbeit, uns am Atmen hin— 
dern zu wollen. Schluchzende Wut pact 
einen.“ Gr fhludst, wenn er wütend ift. 
Gthnographijd intereffant. 

Und weiter: „Unfrer Haut miiffen 
wir uns wehren — unfrer heut nod 
podenden Herzen. Ich juble fhon über 
einen Brud) des Völkerrechts.“ Aber 
Alfred! So etwas ift nidt nur „Lör= 
perlih gewandt“! Dod es ift fein 
Zweifel — furz darauf fdreibt er: 

„Das Bezirksfommando weift mid an 
ein Regiment. Im Regimentsbiiro (aus- 
gerednet „Büro“ fdreibt er) die Weie 
fung: das Aufgebot abzuwarten. Saft- 
volle Menſchen, jebt völlig frei von be— 
tonter Strammbeit. Hundertfünfzig 
Ueberzählige fdon eingeftellt. Antunlich. 
Bei andren Regimentern ebenfo. Als id 
im zweiten Gejud von meiner mittleren 
Schießfähigkeit fpreden will, im Kahn 
und im Walde zur Not bewährt, ftocdt 
etwas in mir; id) ſchreibe den Gab nicht 
bin. Menſchenköpfe. Gee dafür Die Mit- 
teilung, daß id Franzöſiſch wie ein 
Srangofe fpreden und fdreiben fann. 
Selber nidt ans Sterben gedadt. Man 
glaubt ja feft an fein Schwein. Hat Bee 
tehungen gum Himmel. Wenn im Did» 
fen Geſchoßhagel Neun fallen, bin id 
der Bebnte.“ 

Allmählih ftodt nod) mehreres in 
ihm. Rleifts Gab „Was braud id La- 
tier, die mir Outes tun?“ ift „einer pon 
Den allerfdwerften Stürzen“, Die Die 
Menidbeit „feit der Gntwidelung des 
DBeuteldahfes zu der Gruppe Woſes, 
Ehriftus, Marz“ (wir genießen edteften 
Kerr!) getan bat. Aber: 

„..mwie dem dreimal fei: zu Haufe 
ftirbt man und erftidt, wenn fie einen 
nit mitnehmen. Wir wollen fampfen: 
für Deutihland... Wir treten Bin, 
Mann für Mann, feft in dem Sdwur: 
Wir wollen helfen bis zum lebten Heme 
de; bis zum lebten Gingernagel; bis 
zum [ebten Wurf Speichel: aber nicht 
bergeffen, was uns angeht — inmitten 
diejer Weltbrande... Gs gibt nur einen 
Herzihlag in diefer Stunde: Deutfd- 
land, Deutfdland über alles. Wenn der 
Sriede fommt, fommt eine Abrednung. 
Habt Ihr verftanden? Dann erft be- 
ginnt es. Im Grieden ein Dreifigiab- 
tiger Krieg. Das wird fein: der Welt- 


frieg. 

Der .,,fdrperlid gewandte* Alfred 
mit der „mittleren Schießfähigkeit“, der 
fid im Gertrauen auf „fein Schwein“ 
porfjidtigerweife als Dolmetſcher refom- 
mandiert, bat feinen Rampfidwur ge- 
halten: gang ohne Hemde ftebt er da, 
ohne Fingernägel. Sogar ohne Bart; 


359 


aud fein Bart ift abgefämpft, im Rampfe 
mit dem fdwargen Weismann. Nur — 
Gpeidel hat er nod. Und fpudt ganze 
Rastaden. Gr fpudt freili nicht mehr 
im SRampfe für das „©efühl Deutich- 
land“, das er „im Blute bat“, fondern 
fiir die Entwidlungslinie Beuteltier-Go- 


Damals, im Dezemberbeft der 
„Neuen Rundfhau“ begeifterte fid Oskar 
Bie für — Goldatenmufif und fand in 
den Liedern „Sh bab mid ergeben“, in 
LUblands ,@utem Kamerad“, in Hauffs 
„Morgenlied“, Arndts „Was blafen die 
Trompeten“ ujw. „alle, liebe, deutide 
Seele.“ Ob, fie arbeiteten mit Hohdrud 
in „Seele“. Arthur Gloeffer batte fid 
Br Thema erforen: Worf und Bohen. 

r gebt für Hindenburg ins Gefdirr, als 
ob er Ginftein zu propagieren bätte: 
„Wer fid ein wenig mit Kriegsgeihichte 
befaßt bat (Arthur Gloeffer bat es; zum 
Swed der Gabrifation deutfher Kriegs- 
literatur), der febt das Kunftwerf der 
Schlacht bei Sannenberg neben und über 
das klaſſiſche Mufterbeifpiel der dop- 
pelten Umgebung bon Gannäd.“ Alfred 
Döblin fohreibt einen wahrhaft alttefta- 
mentliden Palm gegen England (aus 
Anlaß des Gefdreies über Reims). Dare 
in die denfwürdige Stelle: 

„Als zwei Bilfer ftöhnend Bruft an 
Bruft miteinander rangen, da wagten es 
Wenſchen, fid DHinzuftellen und zu 
{Oreien: ‚Halt, die Spike pom Turm 
bridt ab. Du warft, der Deutſche war 
eg. Um Gottes willen, er fiebt fid 
nidt por, zwei ©lasfenfter aus dem 
zwölften Sabrhundert hat er gerbroden. 
Runft, wo bleibt Runft! Barbarei, man 
fieht es, nadtefte, brutalfte Barberei!’ 
Die beiden Kämpfer würgten fid, awei 
mädtige Bölfer beteten und zitterten 
binter ihnen, — die Kulturfreunde rann- 
ten, {dlugen die Lezifa auf und lajen 
nad.“ — Gebr hübſch. Alfred Döblin, 
wir beloben Gie. — 

Dann liegt da ein ganzer Stoß 
„Kriegszeit, Rinftlerflu blätter“. Deriin- 
ternebmer dieſer Lithographien ift der 
fpätere Galonfommunift Baul Gajfirer. 

auptzeichner ift fein Teilhaber az 

iebermann. Gr, der nadmals auf einem 
Albumblatt aus fiherem Hinterhalt die 
„wißige“ Saftlofigfeit gegen Luden— 
dorff beging *, zeichnete (7. Sept. 1914) 


* In das Stammbud der Dorothea 
KR. ſchrieb Ludendorff: „Der Dienft für 
das Baterland ift für jeden Deutfden 
bas vornehmſte Geſetz.“ Dorothea KR. bat 
Maz Liebermann als zweiten. Gr, der 
—— Patriot, zeichnete auf das 
nächſte Blatt einen erſchoſſenen Soldaten 


360 





einen friſchfröhlichen Kriegsreiter und 
lithographierte darunter: „Jetzt wollen 
wir fie dreſchen!“ Derfelbe Maz Lieber- 
mann zeichnete den „Hercules Hinden- 
burg“, der den ruffiihen Bären ere 
fhlägt. Damals (24. Deg. 1914) ver- 
breitete Gaffirer einen Paneghrifus auf 
Hindenburg: „Wir erleben jebt den gro- 
Ben Geldberrn als eine Grideinung, die 
nidt nur der Kriegsfunft und ihrer Gee 
{hidte gebdrt... Wir empfinden ibn 
alg einen dem großen Diplomaten, dem 
Staatsmann, ja dem Bolfsfibrer Bere 
wandten und fie alle — Ueberragen- 
den!“ (Was für Wahrheiten die dunfle 
Gorge aus dem Wenſchen berauspreßt!) 
Aud Sudermanns „Kaiferlied“ Lief Gaf- 
firer lithograpbieren und verbreiten, nam- 
lid: „Der freie Mann, der deutide Mann 
liebt feinen Kaifer, wie er fann, und 
balt ihn bob und wert. Gr Haut die 
Seinde fefte man, Gr ift und bleibt der 
befte Mann, denn Gr fodliff uns bas 
Schwert.“ Was wollen Ge, hat er nidt 
ejagt: wie er fann? Rann mer 
eut? — 

Wir laffen die falfmen Brillanten, 
die von gen Sabren blind geworden 
find, naddenflid duch die Ginger glei- 
ten. SBröftlihes Ergebnis: Die repu- 
blifanifhen Brillanten, die heut von 
Denfelben „Oehirnweſen“ in Der zere- 
bralen Retorte fabrigiert und bon den 
alten Brillanthändlern gebandelt wer— 
den, tragen aud die ſchnelle Grblin- 
dung in fid, fie werden ebenfobald trüb 
fein wie die militariftijden Brillanten. 
Halte die Augen offen, daß fie did nit 
triigen! Gs ift ein ftille8 Vergnügen, 
fie in ihrer Ankraft zu erfennen und 
auf den Rerridt zu werfen. Go oft es 
aud wiederferrt — es ift immer derfelbe 
tröftlide Rerraus. St. 


Fris Hab. 

Es ift dem Deutſchen, ſofern er wirf- 

lich einer iſt, nicht gegeben, ſich mit 
dem ſchönen Schein der Dinge zu be— 
gnügen und an ihrer Oberfläche zu haf⸗ 
ten. Er wird immer verſuchen, in ihre 
Tiefe zu dringen und zu ergründen, was 
die ſichtbaren Hüllen verbergen und was 
jenfeit8 der Griheinungswelt ift. 

Diefer auf das Geiftige und Gee- 
life gerichtete Grfenntnisdrang ift aud 
vielen Malern eigen. Lind Künftler mit 
diefem Trieb, der nist zu unterdrüden 
ift, fönnen unmöglich dauernd Realiften 
oder Smpreffioniften fein. Pie Runft 
hat für fie einen höheren Zwed als nur 





und einen verredten ®aul und fdrieb 
darunter: „Der Reft ift Schweigen!“ Das 
ift der ,liebermannfde Bit“. 


den, die Wirklichkeit mao tt getreu 
widerzufpiegeln. Sie wollen etwas fas 
gen, ausdrüden, wollen einem Gefidt 
oder Traum, einer Sehnſucht ©eftalt ge- 
ben und allerlei Wunderbares aus den 
Abgründen der menfdhliden Seele ans 
Licht Holen. Das fann nun freilid auf 
zwei verjdiedene Arten gefchehen. Bue 
nadft in einer Weife, daß ohne Rüd- 
fiht auf Gorm und Farbe nur dem ab- 
ftraften @edanfen eine abftrafte Seftalt 
gegeben wird. Das ift die Art, die der 
natürlid Gmpfindende ablehnen wird, 
und nidt gulebt aud) deshalb, weil fie 
fih zu weit pom Künſtleriſchen entfernt. 
Eine zweite Art aber gebt ftets, aud 
bei Geiftigftem, von der Gorm und der 
farbigen Grideinung aus. Diefe primär 
malerifde rg aang! eines DBildgedan- 
fens ift wohl die richtige Art, weil ihr 
Sundament das Künftleriihe if. Auf 
ihr beruht aud) das Schaffen des Mün- 
chener Malers GFrib Haß. 

Es fann ſchon fein, daß viele anders 
empfinden, und daß es ihnen feinen 
will, als fei bei Haß der Gedanfe, die 
Idee zuerft dagewefen und die finftleri- 
fhe Form fpäter um fie herum gebildet 
worden. Dem fteht aber entgegen, daß 
diefe Gorm unmöglich fo elementar male- 
rifh, aus Licht und Farbe geboren fein 
fönnte, wenn fie nidt das Arſprüngliche 
eiwefen wäre. §Greilid: wer fann Die 
ebten Arſachen Der Entſtehung eines 
Runftwerfes ergründen und nadtraglid 
genau feftftellen, in welder Region der 
Seele fo ein Schöpfungsaft feinen An— 
fang genommen bat? Man wird da im- 
mer nur auf Anzeichen, das beißt alfo 
auf etwas mehr als auf DBermutungen, 
angewiejen fein. Dieſe „Indizien“ aber 
weifen bier fo deutlih in die Richtung 
auf das WMalerifhe, daß ein Zweifel 
ausgefdloffen ift. Und außerdem erklärt 
Srib Haß felbft den Borgang der GEnt- 
ftebung feiner Bilder auf diefe Weife. 
Tun ift gwar ein Künftlerzeugnis nidt 
immer ein vollgiiltiger Beweis. Es fann 
aud auf Gelbfttaujdung beruhen. In 
diefem Galle aber bat e8 die Kraft einer 
autbentiihen Urkunde. Denn Haff ift in 
allem, was feine Perfon angeht, eben- 
fo Bellfidtig wie in der viſionären Be— 
tradtung des LUniverfums. 

Die ftarfe Betonung der Oeburt der 
Bilder von Hab aus dem Geifte der 
Malerei finnte übrigens den Anfdein 
erweden, als folle damit ihr Sdeenge- 
halt nah Möglichkeit entſchuldigt 
werden. Das iſt aber keineswegs der 
Fall. Es ſoll vielmehr nur der allein 
richtige Standpunkt für ihre Betrachtung 
gewonnen werden. Und von dieſer Baſis 
aus ift gerade aud das Geiftige, das 


diefen Bildern ihr Befonderes und lebe 
ten Endes aud ihre Bedeutung gibt, am 
flarften erfennbar. Es wird Dann 
dDeutlid, daß die Kunft von Haß eine 
Kunft der Liebe, jener Alliebe name 
lid, die das fleinfte Wefen wie den 
Kosmos mit gleider Kraft umfaßt, die 
aus peffimiftijder Grundftimmung unter 
taufend Schmerzen fid gum Pofitivismus 
dSurdgerungen bat und in der Unendlich» 
feit des Weltgangen allerorten das Wire 
fen idealer Kräfte fpiirt. Wud eine Kunft 
des ©laubens ift fie, des Glaubens an 
den Gieg des Lichts über die Finfter- 
nis, Des Geifts über die Materie, des 
Göttlich-Gwigen über das Zeitlihe und 
des feligen Befreitfeins von Leid und 
Schmerz. Das alles ift in feiner Kunft; 
und jedes feiner Bilder ift wie ein Pro— 
pbet, der als Heilsfünder und Lidte 
bringer durh die Welt gebt und den 
®emiitern und Geelen gum Grieder wer- 
den möchte. 

Bielleiht wäre es Haß nie möglich 
ewejen, mit foviel Lebergeugungsmadt 
urd feine Runft gu den pettabunaviaen 
Menfdhen zu reden, wenn fein Lebens- 
weg mübelog und ohne Steine und Dore 
nen gewejen wäre. Das Sdidfal pflegt 
MWenſchen, durd deren Mund oder Hand 
es Der Welt irgendeine Botſchaft ver 
mitteln will, erft im Feuer des Leids 
zu {dmieden, fo daß fie wie Stahl bart 
und dod elaftifd werden. Aud Haß bat 
mandes Schwere zu tragen und feine 
liebe Not mit dem Leben gehabt. Aber 
nichts bat feinen Mut verringern und 
feinen Willen zur Eünftleriihen Offen» 
barungs- und Befenntnistat lähmen fin 
nen. Und fo ift fein Leben und Schaffen 
ein Beifpiel dafür geworden, was deut- 
{her Idealismus und deutihe Babigfeit 
u leiften imftande find. Wander wird 
fi gerade in diefen trüben Zeiten daran 
aufguridten vermögen. 

Haf ift 1864 zu Heiligenbeil in Oft- 
preußen als Sohn eines proteftantifden 
©eiftlihen geboren. Gr ftudierte an den 
Kunftafademien in Königsberg und Mün- 
den, allerdings, infolge chroniſchen ®eld- 
mangels, unter erfdwerenden Umftänden. 
Sedenfalls ift er als Maler Autodidatt. 
Gein Brot mußte er mit SIlluftrieren, 
Panoramamalen und dergleiden ver 
dienen. Und fhon damals hatte ihn ein 
ſchweres Fußleiden befallen, gegen das 
er bei Pfarrer Kneipp Hilfe fand. Als 
im Sabre 1893 die Münchener Gezejlion 
ihre erfte Ausftellung veranftaltete, war 
aud Haß mit einem Bilde vertreten, 
das feiner modernen Tendenz wegen ftare 
fen Gindrud madte. Aber es war dod 
nidt das, was Haß eigentlid wollte. 
Gein Ziel war bereits in jenen Sabren 


361 


das myſtiſche Bild. Und diefem Ziel ift 
er mit den Bildern „Die Naht“ und 
„Die große Babylon“, die 1895 und 
1896 in der Gegeffion ausgeftellt waren, 
fon febr nahe gefommen. 

Gin ſchweres Augenleiden, das ibn 
furz nad feiner Gerbeiratung (1896) be- 
fiel, behinderte ibn dann wieder jahre» 
lang in der normalen Gntwidlung. Gr 
illuftrierte und malte gelegentlid Rin- 
derbilder — aber fein Ziel verlor er nie 
ganz aus den Augen. nd als er {pater 
dur einen Freund in die Welt Richard 
Wagners eingeführt wurde und Rudolf 
Steiner fennen lernte, da wußte er, daß 
fein Grleben fünftig feinen andern Zwed 
mehr haben fünne als die Sidtbarma- 
ung der myſtiſchen Bifionen feiner ins 
Ueberfinnlide ftrebenden Geele. Er ift 
zwar beute, fozujagen im DNebenberuf, 
aud) ortratmaler (mit dem Ziel, das 
©eiftige im Menſchen fdhaubar zu mas 
@en!). Aber die eigentlihen Dokumente 
feines künſtleriſchen Wollens find eine 
Anzahl Bilder, die in fehönen farbigen 
Reproduftionen in einer bei Otto Wil- 
Helm Barth in Münden erfdienenen 
großen Mappe vereinigt find. 

Sn allen diefen Bildern fpielt das 
Licht als fiegende Madt eine widtige 
malerijde und myſtiſche Rolle, gleidviel, 
ob e8 von einem weifgliibenden Körper 


ausftrömt, por dem die ©eifter der Fin- 
fternis in die Tiefe ftürzen, oder von 
dem Öelreuzigten auf Golgatha. Gs bricht 
in der grandiofen Bifion ,,Ganttus“ mit 
jubelnder ®ewalt Durch rofafarbene 
Woltenbögen. In Milliarden von glü- 
benden Sternpuntten umfreift es als feu- 
tiger Sphärengefang die Weltenfeele. 
Gelautert zu perlmutterig ſchimmernder, 
ftrablendDer Reinheit umweht es in lo— 
Dernden Stürmen das Gigantenbaupt ded 
Lidtbringers. Seine höchſten Sriumpbhe 
aber feiert es in dem ungebeuren, menſch⸗ 
fides Faſſungsvermögen faft iberfteigen- 
den Gefidt pon den Grgengeln, die als 
faum erfennbare Lichtkörper verflärt, 
fegnend und unbeweglid im fternüber- 
fäten, zartbunt jchillernden Weltenraum 
ſchweben. Diejes Bild gibt vielleiht das 
Höhfte an myſtiſcher Ausdrudstkraft, was 
mit den Mitteln der Malerei überhaupt 
zu erreichen ift. Und zugleich ift es, wenn 
aud nur als fünftleriihe Viſion, die Gr- 
füllung der Gebn{udt fo mandes from- 
men Schwärmers, der mit brennenden 
Augen nadtelang am Sternenhimmel das 
Angejiht Gottes gefuht hat. Sp fann 
der Künftler — und wohl nur er — 
eine unmittelbare Antwort auf Fragen 
geben, Die auc) der Weifefte unbeant- 
mwortet laſſen muß. : 
Ridard Baumgart. 


Der Beobachter 


Weil man e8 uns nidt glauben 
würde, wenn wir's fjagten, wollen 
wir berjegen, was Lloyd ®eorge 
in einem Pfingft-Artifel über „den Gin- 
fluß großer Männer auf die Geihichte“ 
(Deutihe Allgemeine Zeitung pom 8. 
Suni) ſchrieb; denn wie follte man ihm, 
der es am beften wiffen muß, die Gadh- 
funde abftreiten? Lloyd George alfo 
meint: „Was ware gefdeben, wenn 
Deutihland im Sabre 1918 einen Glee 
menceau berborgebradt hätte — einen 
Mann von unbezwingbarem Willen, fä- 
big, feine Landsleute in der Stunde 
der Not gujammengubalten? Gr hätte 
niemal8 dem Novemberwaffenftillitand 
gugeftimmt — der Krieg ware um 
ein weiteres Jahr verlängert worden — 
die Deutſchen Hatten ihre zufammenge- 
brodene Front hinter dem Rhein wie- 
der aufgebaut, und Deutfdland hätte 
nad Räumung bon Belgien und Gljaß- 
Nothringen einen ebrenvollen Frieden 
erzwungen. Weder Frankreich nod Gnge 
land würden den Berluft einer weiteren 
halben Million WMenjden gewagt ba- 
ben, um den Krieg nad PDeutichland 


362 


bineinzutragen, nur zu dem Swed, feine 
Kolonien zu anneftieren und gewaltige 
Reparationszablungen berauszuprefjen.“ 
— Im Sabre 1918 flopfte Profeffor 
Quidde einem jungen Manne beruhigend 
auf die Schulter: „Wenn wir nur Ber- 
trauen haben auf die GEntente, fo wird 
das Dertrauen nidt getäufht werden.“ 
Lloyd George aber fagt: Warum babt 
ihr nit Gertrauen zu euch felbft 
a Aud jest beim Gadperftin- 
igen, gut“adten ftehen fid) wieder ge- 
genüber die, welde auf- das deutſche 
Golf vertrauen, und Die, welde auf die 
Gntente vertrauen. Vielleicht fchreibt 
Lloyd George nad fünf Sabren eine 
neue Sonntagsbetradtung: „Was wäre 
gejhehen, wenn Deutihland im Sabre 
1924 einen Glemenceau berporgebradt 
und ftandhaft nein gejagt hätte —?* 
8) er weftlid-Denfende Graf R. N. Sous 

Denhove-Ralergi ridtet in der Bof- 
fiiden Zeitung (8. Sulit) einen ,, Appell 
an §ranfreih“. Mit dem Sdematis- 
mus ungefdhidtlider Menfden, die nicht 
innig mit einem Bolt und Vaterland 
verwachſen find, fiebt er einerfeits das 


Britiſche Welt-Imperium, anderfeits das 
afiatijde, chaotiſche Rußland. Bwifden- 
inne mödte er die Gereinigten Staaten 
bon Guropa gegründet wiffen. Frank— 
reid) foll diefe Staatenvereinigung führen. 
G3 möge fid entſcheiden, ob es ala Füh— 
rer afrifanifher DBölfer Guropa be— 
zwingen oder als Führer der euro- 
päifhen DMationen Guropa einigen 
wolle. So ſympathiſch es ift, daß 
@raf Goudenhove den „deutihen Hah“ 
toenigftend nicht als urfadlojfen und un- 
beredtigten Ausfluß einer böfen Seele 
ehandelt, fondern vier ®ründe für ibn 
(ungelöfte Reparationsfrage, unwürdige 
Behandlung, Befebung deutfher Pro- 
vinzen, offene Oſtgrenze) anerkennt, ſo 
ſcheint uns dod, er mute Frankreich eine 
biftorifh wie pſychologiſch unmöglidhe 
Aufgabe zu. Granfreid fann nur herr— 
ſchen, nidt fibren. Das liegt in 
feiner pera IH EDEN Art. Man vere 
gleide deutſche und franzöfiihe Rolonial- 
politif. Der Grangofe fühlt ftets fid 
als den überlegenen, der pon den andern 
beivundert zu werden verdient; der Deut- 
Ihe ift feiner geiftigen Struftur nah im 
allgemeinen bereit, den Webenmenfden 
und das Nebenvolk zu adten. Deutih- 
land zu „führen“, würde den $ranzofen 
fo viel Selbftverleugnung foften, daß es 
zuviel von ihnen verlangt wäre. Darum 
berjuden fie ja, Deutihland zu be— 
herrſchen — es ift ihnen bequemer. 
Nur fragt fid, wie die Beherrſchung 
eines großen Golfes durd ein Eleineres 
Bolt jhlieglih ausläuft. — Graf Sou- 
Denhove will eine ,ftandige deutſch-fran— 
zöſiſche Kommiffion für Den Abbau des 
Nationalhajfes einjegen“. Gr gerät mit 
folden Borfdlagen aus der Sphäre des 
pollfräftigen fittliden Lebens in Die 
dünne Luft intelleftueller Ronftruftionen. 
„Diefer Kommiffion foll das Recht gue 
ftehen, jede nationaliftiihe Hebe und 
Kriegspropaganda in Schule, öffentlicher 
Rede, Literatur und Preffe als Hodper- 
rat an Guropa durd ein gemifdtes Gee 
ridt unter neutralem Vorſitz zu be- 
ftrafen.“ Wan ftelle fih die bedauerns- 
werten Männer por, die immerfort über 
moralifhe Impulfe ihrer MWebenmenfden 
gu GSeridte fiten miiffen! Gine olde 
Kommiſſion“ ift der Tod alles edten 
fittliden Lebens, eines freien Gewiffens, 
das zwifhen Abneigung und Buneigung, 
Liebe und Haf lebt und webt. Gin Sn 
quifitions- und Kebergeriht, das ſchlim— 
mer ift alg das religiöfel Woher fommt 
es, daß der Pazifismus fo lebensfremde, 
fittlih unertraglide Vorſchläge ausbrü- 
tet? Es fommt daber, daß in den ties 
feren (fittlihen) Wurzeln des Pagifis- 
mus ein Irrtum ftect. 


ermann Müller-Sranlen, deſſen Na— 

menszug unter dem Diktat bon Ver— 
faille3 in ſchwarzer Tinte glänzt, bat 
nod nidt genug von Politik. Er ift fo 
unbefangen, fid unter andre Menſchen 
gu begeben und ihnen feine politifhen 
Anfihten vorzutragen. Im „Borwärts“ 
pom 8. Suli fordert er im demofratifden 
Sigarrendunftmaffenton das „Ddeutiche 
Golf auf: ,Hinein in den Bölferbund!“ 
Dann trägt er in dem iibliden Rota- 
tionsdeutid — taujend Abzüge fürn 
Groſchen — folgendes vor: „Wenn ein- 
mal ein neutrales, mit größter wiffen- 
{dhaftlider ®enauigfeit arbeitendes Rol- 
legium eingefjebt wird — wir hoffen, daf 
das bald gefdiebt, damit den Haß- 
predigern, die in Deutfdland den 
Kampf gegen die Schuldlüge führen, das 
Handwerk gelegt werden fann — fo 
würde ein foldes unparteiifhes Gericht 
fiher zu dem Arteil fommen, dah 
Deutfhland feineswegs die Al- 
leinjhuld am Ausbrud des Welt- 
frieges trägt, daß aber eben fo fider die 
Politi€ des faijerlidhen Deutihland von 
1914 und bon vor 1914 wegen ihrer Sa- 
ten und ibrer Alnterlaffungn mit- 
Yhuldig ift an dem Ausbrud der 
größten Kataftrophe der Weltgefdidte. 
Möchte (1) ein ſolches Urteil für Deutſch— 
land fo günftig ausfallen als denkbar, 
fo würde (!) damit nidts geändert, daß 
das deutſche Volk nad feiner Leiftungs- 
fabigfeit zahlen müßte fiir Die Kriegs- 
ſchäden, weil es Den Krieg verloren 
bat.“ Der feiner Gmpfindende fühlt aus 
Diejen Sätzen das gerbrodene Oewiſſen 
des Gerjailles-Gangers heraus, der fid 
felbft mit der Borftellung zu tröften 
fudt, daß Das deutfhe Bolf ja aud zah— 
len müßte, wenn er, der Müller-$ran- 
fen, nidt den Pertrag unterfdrieben 
hätte. Als ob's nur ums Zahlen, nicht 
um die Wahrheit und die Ehre ginge! 
Der Berfailler Gertrag fteht nicht auf 
der „Mitfhuld“, fondern auf Der 
„Schuld“ des deutſchen Volkes. Müller 
Sranfen bat, obwohl er’s beffer wiſſen 
fonnte und ficherlich beffer gewußt bat, 
„die Schuld“ des Deutihen Bolfes an« 
erfannt und unterfdrieben. Oleidwobl 
ftellt er fih bin und befpeit die, welde 
jid um die Berbreitung der Wabhr- 
beit bemühen, als „Haßprediger“. 
Denn er fdweigend in einen Winfel 
fröhe, würde man ihm mitleidig feine 
voreilige Sat alg aus der Verwirrung 
entiprojfen vergeben. Nun aber die foe 
— —— Partei ſich nicht geniert, 
ieſes Menſchenkind ans Tageslicht zu 
ſtellen, ſogar mit Schimpfen auf ge— 
wiſſenhaftere Leute, wollen wir doch 
deutlich ſagen, daß dieſer Müller-Fran— 


363 


fen für weitefte Kreife des deutfden 
Volkes moralifd nidt mehr ertraglid ift. 


Sie Amerifaner find das Bolf der 
felbftbewußten Moral, der Demo— 
fratie und des Pagifismus. Ihre Zei— 
tungen verurteilten ung Deutſche ohne 
Kenntnis der Gejdhidte, Beographie und 
Statiftif, aber poll Gntriiftung, weil wir 
die Bolen, Dänen, Sranzojen „unter 
drückt“ und das noble little Belgium 
„tuhlos“ überfallen batten. Sarum ift 
e3 für uns intereffant, die Moral der 
Moraliften in ihrem eignen Lande zu 
ftudieren. Wie fieht amerifanijdhe Oe— 
redtigfeit und amerifanifher Pazifismus 
zu Haufe aus? Alice Salomon, eine febr 
fein empfindende und redlide Grau, 
[hreibt aus Amerifa über „Amerikas 
Indianer“ (Boff. Ztg. Nr. 328) folgen» 
des: „Teils ausgerottet, teil durch die 
Not zu freiwilliger Anfruchtbarkeit ver- 
urteilt, grenzenlos degimiert, haben die 
Ueberlebenden ihre eigene Art dod bee 
wabrt, und erft in neuefter Zeit haben 
fulturelle Affimilierungsverfuhe einge» 
febt. Die geographifhe Abfonderung Bat 
fie bor der fozialen Bedrüdung bewabrt. 
Sie find nidt wie die Neger, die man 
im Often der Staaten an ihre Stelle ge- 
febt bat, zu abhängigen, untergeord— 
neten, unfreien Qrbeitsfraften gemadt 
worden.“ Die berporragend moralifde 
Begriindung für die Ausrottung der In- 
dianer lautet: „Pie YZurüddrängung 
der Indianer ift ftet8S damit begründet 
worden, daß ein fid) bevölfernder Erd- 
teil eine von Sagd lebende Gruppe nicht 
ertragen und ernähren fann; daß die 
Beihränfung der Indianer auf die Re- 
ferbationsgebiete fie zwingen jollte, zum 
Aderbau iibergugeben und auf gerin- 
gerer Slade ihre Nahrung zu erzeugen.“ 
Alfo: Rüde bei Seite, Menfchenbruder, 
damit id Platz finde, da die Natur mid 
fetter gebildet bat als did. Go prefite 
man die Indianer in ,Referdationen“ 
binein, „die faft alle in dürftiger, un— 
frudtbarer Gegend liegen.“ Da mögen 
fie Aderbau treiben — „bis fie zum 
Schluß in faft unbebaubaren @egenden 
Rube fanden“. Aber die Indianer haben 
fid nidt unterworfen und aſſimiliert. 
(G8 gab feine Partei der „indianischen 
Demokratie“ unter ihnen, wie es unter 
ung eine Partei der „deutſchen Demo» 
fratie* gibt.) „Ihnen fehlt der ‚Infe- 
rioritatsfomplez’, der den Neger nad 
fultureller Affimilierung ftreben Tief.“ 
(nd der fo viele Leute in Deutſchland 
a Affimilierung treibt.) Der Indianer 
lieb feiner Art und feiner Kultur 
treu. Nun ſchlägt hinterher dem Ame- 
rifaner das Getiffen, er will ,Gered= 


364 


tigfeit“ üben. Natürlid amerifani- 
{he ©eredtigfeit: „Das bedeutet unter 
amerifanifdem Gefidtswinkel zunädft 
die wirtſchaftliche, geiftige und fittlide 
Angleidhung der Indianer an die übrige 
Bevölkerung. Eine biologiijhe WAffimilie- 
rung ift felbftverftändlih nicht beabfich- 
tigt.“ Alfo nimmt man den Indi— 
anernibre Kinder und ftedt fie in 
Internate, wo fie auf Gtars and 
Stripes gedrillt, in Aniformen geftectt 
und mit gedanfenlofer Berehrung für 
democrach infiziert werden. ,,Giele Ame- 
tifaner find auf diefe Maßnahmen fehr 
ftolg. Rein Wunder, daß fic) bei den 
Indianern religiös = meffianifhe Frei» 
beitshoffnungen regen. — Wir haben 
bor Dem freiheitsftolgen Indianer 
mehr Hodadtung als vor dem Ame- 
rifamann, der, mit der Bfeife im 
moralinfauren Mundmwinfel, ung feine 
morality, humanity und demdcrach preift. 
©ott bewahre die Welt in Gnaden vor 
der Amerifanijierung. 


Bi einem Aufſatz über „Politik und 
Konjunftur* im ,@ewiffen* vom 
14. Sult heben wir ein paar lebrreiche 
Gabe heraus: „Am 17. Sanuar fprad 
Dr. Strefemann zum erften Male das 
bedeutungspolle Wort: „Der Währungs- 
verfall, der bon Often nad Welten vor- 
dringt, läßt fid duch währungstechniſche 
Mittel und Verordnungen nit aufbal- 
ten, wenn die Politif jedes Mittel zer. 
Ihlägt.“ Gr ſprach es als ernfte Ware 
nung an das unglüdlide Granfreid... 
Die Spekulation auf Franken-Baiſſe fei- 
erte aud) in Deutihland wahre Orgien! 
Bis Morgan mit dem währungstechni— 
{hen Mittel eines Kredits pon 200 Mil- 
lionen Dollar der Valutapolitik Poin- 
cares zu Hilfe fam und Der gejunfene 
Grant innerbalb von vierundzwanzig 
Stunden um 50 bv. 9. geboben wurde. 
In diefem Augenblid hatte die deutide 
Wirtſchaft, wie fid erft ſpäter ſchätzungs— 
weife berausftellte, nidt weniger als 
drei Milliarden Goldmarf verfpefuliert. 
Nur diejenigen Häufer, die fid guter 
Beziehungen erfreuten, fonnten ihre En- 
— vierundzwanzig Stunden vor 
em amerikaniſchen Eingriff liquidieren, 
wie beiſpielsweiſe das Haus War Ware 
burg u. Co. in Hamburg.“ 


ans Bauer — canis a non canendo 

— ſchreibt in einem ſeiner vielen 
Feuilletons, die er als Mitarbeiter der 
gefamten Reigenpreffe verftrömt (dies- 
mal im DVBorwärts): „Der deutſche Adel 
ift allenfalls in Einem groß: im 
Raufen und SKriegeführen. Das Wort 
Deutih bat er zu handhaben gewußt, 
das DdDeutide Wort nicht.“ Börries oon 


Mündbaufen, Liliencron, Pring Gmil 
von Schönaidh-Garolath, Stradhwib, die 
Drofte-Hilshoff, Kleift, die Humboldts, 
Alrich pon Hutten, Bombaft pon Hoben- 
beim, Nagifter, Edebart, Wolfram, Wale 
ther uf. — um nur einige befanntefte Nas 
men zufammenzuraffen — find große 
Raufbolde und -boldinnen. Der verbredee 
riſche Kriegeführer Friedrih pon Ho- 
Hengollern Hat nidt einmal ordentlich 
deutſch fpreden fünnen, Bliider verwech— 
felte mir und mid. Der Freiherr pom 
Stein, Bismard, Moltfe würden nie ein 
Seuilleton guftande gebradt haben, das 
Maz Hoddorf im Borwarts angenom- 
men hätte. Wohin wäre die Deutide 
Gprade geraten, wenn fid nidt endlid 
die Heinrich - Heine » Sünger ihrer er 
barmt batten? 


Der deutſche Michel im Schlafrock iſt 
ein ſo altes und verbrauchtes Bild, 
daß Leute bon Geſchmack es nicht mehr 
verwenden. Gs ift fo abgegriffen und 
veridliffen, daß jebt der große Schrift 
fteller Georg Bernhard im  poffifden 
Allerwelts-Srödelladen damit zu han— 
deln beginnt. Ginen Aufſatz, in dem er 
fih für die liberale Bolitit der Herriot 
und Macdonald ereifert und die Riffe 
im liberalen Snternationaligmus mit 
Schleim. zu verfleben fudt, überfchreibt 
er: „Michel im Sdlafrod.“ Galgen- 
Bernhards ftarfe Geite war immer der 
Salt. Darum würde er fid beftig er- 
eifern, wenn ein deutſcher Redakteur 
feinen Leiter überfchriebe: ,Sbig im 
Raftan.“ Gleichwohl: unter dieſer De- 
vife würden fid feine Ausführungen weit 
pifanter ausnehmen. 


Zwieſprache 


RB: zehn Sabren fuhren wir mitten aus 
dem fonnenheißen Gerienfrieden durch 
die aufgeregten Golfsmaffen heim. Die 
Kriegsbereitihaft wurde erflart. Diz 
Menichen fammelten fid um die Mauer- 
anjdlage. Das Wort Krieg hing wie ein 
ungebeures fables Gewitter über dem 
Bolfe. Wenige nur hatten einen „Krieg“ 
gefeben. Der Waffentod aus Gewebren 
und Kanonen war etwas Fernes, voll 
unbeftimmten ®rauens. Was in China, 
Oftfibirien, in Der Siirfei porfommen 
fonnte, follte über das fultivierte Guropa 
fommen. Glug{diffe und Flugzeuge wae 
ten nod) Merkwürdigkeiten. Alles Bolf 
rückte eng zufammen, drängte, gum erften 
Male ein Shidful fiblend, in bie 
Rirdhen. Freundlichkeit und Hilfsbereit- 
{aft brad) aus den Wenjfden hervor 
wie nie bisher. Gine Weihe lag über 
dem ganzen Golf und felbft über der 
Landfdhaft. Durd) Gefangniffe fogar und 
Zudtbäufer ging das Wehen des Geiftes. 
Aus den Straßen tönte Gefang der mare 
ſchierenden Sruppen, die gum erften Male 
in „Seldgrau“ erjdienen, endlofe “Ro- 
Tonnen, ungeber von den ebrfiirdtigen 
und liebevollen Blicen einer Wenge, die 
gum Bolfe geeint war. Nichts hat je- 
mals unfer Bolt fo gut und gütig ge- 
madt wie der Ausbrud des furdtbaren 
Krieges. In vier Sabren vergehrte fid 
diefer Geift, und als die Revolution 
fam, war unter dem Worte des Friedens 
ringsum Haß, Wut, Anklage, Gelbftzer- 
fleijdung, Habgier. nd es ift bis heute 
nit beffer geworden. 

Geltjame PBaradozie des Lebens: der 
Alusbrud des Krieges trieb Die Güte, 
der Anbrud des Friedens die Niedrig- 


feit aus den Herzen der Menfden Her- 
por. An diefer Paradozie wird alle ab- 
ftrafte Moralphilofophie gunidte. Gin 
Bolf, das den Auguft 1914 in folder 
Weiſe erlebte, fann erfhöpft fein, aber 
nit erfhöpft werden. Tief im Grunde 
der Bolfsfeele fammeln fid leife die 
reinen, heiligen Gewaffer. Ginmal wird 
ein neuer §riibling im deutihen Bolf 
erblühen. Nicht aus der Kraft des Ra- 
pital3, mit dem Amerika die Deutide 
DWirtfhafı tranft, fondern aus der Kraft 
der Geele, mit welder der Schöpfergott 
das zerbrodene und gefdlagene Men— 
ſchenvolk tranft. Dies ift Die einzige 
Hoffnung, die id für unfer Volt nod 
babe. Wie ich die Dinge febe, wolle man 
born in dem „amerifanifhen“ Auffat 
nadlefen. Die Yiterarifche Ginfleidung ift 
mit AWbfidt gewählt; man muf die Dinge 
aus der geitliden und räumlichen 
Gerne zu feben fuden. Ih braude 
nicht erft zu jagen, daß der Auffas nit 
eine Prophezeiung, fondern eine Ware 
nung geben will. Der Lefer wird nidt 
fo töricht fein, die Ironie in den Aus- 
führungen zu verfennen. 

Wir find dankbar, daß wir unferm 
Kriegsgedenkheft den Holzihnitt Karl 
Thylmanns „Der DVerwundete“ poran- 
feben Dürfen. Thylmann felbft ift als 
eins der edelften Opfer geblieben: Saat, 
bon ©ott gefäet. Wir haben im April» 
beft 1919 mebrere Holafchnitte von ihm ge- 
bradt, haben ibn im März 1921 als 
Dichter gewürdigt. Möge nun Dies Fleine 
Dlatt aud unsre neuen Lefer zu ihm lei— 
ten! Sd erinnere mid feines Bildes, das 
fo tief wie diefes den Geiſt Der erften 
Krieg3monate ausdrüdt: die große Gitte, 


365 


das reine Opfer. Es ift fein beabfid- 
tigte8 „Symbol“; ganz realiftifd mit 
ſchwerem Schritt — erinnern wir uns der 
erften Berwundeten auf den Straßen! — 
fommt der Wann daher. Aber was liegt 
in der Neigung des Körpers und was 
por allem in dem Antlik! Wo find je 
Augen wie diefe gezeichnet! Gie haben 
etwas Hintergrundiges, ein ſchweres Gre 
lebnis, das verfonnen hinter ihnen liegt. 
Sugleid fpridt Feſtigkeit, Zuverſichtlich— 
feit, Würde und eine große, - willige 
Sreundlidfeit aus ihnen. Mir ift diefes 
Bild feit Sabren ein Sroft. Wenn man 
mid fragte, wie id) mir den Deutiden 
der Zukunft wiinfde, fo wüßte ich feine 
beffere Antwort als: fo wie Karl Thyl— 
mann ibn bier gezeichnet bat. Das fei 
aud meine Antwort an alle die, welde uns 
als ,SHafprediger“, als „Wodansanbe- 
ter“, alg „&haupiniften“ ufw. verleum- 
den, nur weil wir die Ehre unfres Bol- 
fes nicht für ein gutes FSriedensgefhäft 
verfauft wijfen wollen. — Wenn jemand 
einen Originalabzug von dem Holzſchnitt 
wünſcht, leiten wir die Beftellung gern 
an Stau Joanna Thylmann weiter. — 

Mit den Blattern nad) den großen 
®emälden von Haß zeigen wir zum erften 
Male Bilder, die der thenfophifden 
(oder anthropoſophiſchen — ich fenne mich 
da nidt aus) Gmpfindungs- und Ge— 
Danfenwelt entftammen. Ih bin im all- 
gemeinen ffeptifd gegen ſymboliſtiſche 
Bilder, fie finfen leiht ins Kitichige. 
Aber die von Michael Georg Gonrad 
bevorwortete farbige Friß-Haß-Mappe, 
die bei Otto Wilhelm Barth in Mün- 
den, Schellingftr. 61, erfdienen ift, fef- 
felte mid. Man findet darin aud unfre 
beiden Bilder in größerer, farbiger Wie- 
Dergabe. Und im Atelier des Künftlers 
überzeugte id) mich, daß bier das Können 
eines tüchtigen Malers im Dienft der 
Gade ftebt. Hab bat aud) vortrefflide 
Bildniffe gemalt. Die Anſchrift des 
Künftlers ift: Minden, Zieblandftr. 9. — 

Su der Befpredhung von Moeller van 
den Bruds „Drittem Reich“ Hatten wir 
gern Proben gebradt, aber es fehlte an 
Raum. Die meiften deutſchen Schrift— 
fteller brauden viel Raum und geben 
nidt darauf ein, daß bei uns ein „klei— 
ner Beitrag’ höchſtens zwei Seiten, ein 
großer höchſtens fünf Geiten lang fein 
fol. Wenn wir bei einem alten Mite 


Stimmen 


arbeiter wie Dr. Mannbardt einmal eine 
Ausnahme maden, fo bitten wir, aus 
Diefer perfönlih begründeten Ausnahme 
feine Regel berleiten zu wollen. Für 
Das nädite Heft, das, aus Anlaß der 
Haupttagung der Raabe-Gefellfdhaft, die 
diesmal in Hamburg ftattfindet, wieder 
ein Raabe-Heft wird, find die Mitarbei«- 
ter mit unferm bißchen Raum nidt fpar- 
fam umgegangen. Ih werde in Zufunft 
alle längeren Auffäte hartberzig abwei- 
fen. Man fann auf furgem Raum alles 
fagen, was zu fagen ift. G3 liegt am 
Können, nidt an der Gade, e8 liegt am 
Auswählen, Aufbauen, Befdneiden, Zur 
fammengieben. — Aud daß Ritters An« 
dachten⸗Reihe unterbroden wurde, liegt 
nur an unjeren Raumfdwierigfeiten. Se 
weniger Raum wir DeutfHen in der 
irdifhen Welt Haben, um fo mebr, 
ſcheint's, fuden wir das Bebagen der 
Ausdehnung in der geiftigen Welt. Aber 
ne da ift die Quantität bedeutungs- 
D8. Ich werde auf diefe Gabe bei der 
Suriidjendung oon Manuffripten vere 
weiſen. — 

Diefes Heft glauben wir am beften 
abzufäließen mit den naddenfliden 
Worten eines großen Kriegsführers, der 
zugleih ein großer Men} war. Der 
erite Seil ftammt aus Woltkes Brief an 
einen Herrn Goubareff, der zweite aus 
dem befannten Brief vom 11. Dezember 
1880 an Qebeimrat PBrofeffor Br. 
Blunt{dli. Darin fommen jene vielzitier- 
ten Worte por, die fid die Pazififten 
ausfuden, um ©ehäffigfeit, Hohn, Gnt- 
rüftung und dbnlide friedfertige Gmp- 
findungen, mit Denen fie fo reid) gefeg- 
net find, daran aufgubangen. Wan [efe 
aber das ®anze, um den Sufame 
menbang gu haben, und urteiledann. 
Das Dritte Stüd ftammt aus der Gin- 
leitung der ,@efhidte des deutſch-fran— 
gdfifhen Krieges pon 1870/71“. Wir be» 
nuben die Gelegenheit zu einem Hine 
weis auf das fhöne Werk „Helmuth von 
Moltfe. Gin Lebensbild nad feinen Brie- 
fen und Sagebiidhern. Herausgegeben bon 
Hanns Martin Glfter. Mit 16 Abb. 
375 Geiten. Strecker und Schröder, Stutt- 
gart.“ Eine gute Auswahl aus Woltfes 
Selbftzeugnijjen, mit verbindendem Sezt. 
Gin Hausbud von hohem ergieherifden 
Wert. St. 


der Meifter. 


6 erfldren den Krieg bedingungslos für ein Berbreden, wenn aud ein in 
Berjen bejungenes; id) halte ihn für ein letztes, aber vollfommen gereätfer- 
tigtes Mittel, das Beftehen, die Unabhängigkeit und die Ehre eines Staates zu bee 


baupten. 


Hoffentlid wird dies lebte Mittel bei fortidreitender Rultur immer feltener in 


Anwendung fommen, aber ganz darauf verzichten fann fein Staat. 


366 


Sft dod das 


Leben des Wienfden, ja der ganzen Natur ein Kampf des Werdenden gegen das Bee 
ftebende, und nidt anders geftaltet fid das Leben der Bölfereinheiten. Wer möchte 
in Abrede ftellen, daß jeder Krieg, aud der fiegreide, ein Unglück für das eigene 
Bolt ift, denn fein Landerwerb, feine Milliarden können Menfdenleben erjegen und 
die Trauer der Familien aufwiegen. 

Aber wer vermag in diefer Welt fih dem Unglüd, wer der Notwendigkeit gu 
entziehen? Gind nicht beide nah ©ottes Fügung Bedingung unferes irdifhen Da- 
feins? Nidt den Wallenftein, fondern Maz läßt unfer großer Dichter fpreden: 

Der Krieg ift fhredlih, wie des Himmels Plagen, 
Dod ift er gut, ift ein Geſchick wie fie. : 

And daß der Krieg aud eine fine Seite hat, daß er Tugenden zur Ausführu 
isi de die fonft fhlummern oder erldfden würden, fann wohl faum in Abrede geftellt 
werden. , 

Gewiß ift es viel leichter, das Glid des Friedens zu preifen, als anzugeben, 
wie er gewahrt werden foll. Um die vielleicht fid) freugenden Intereffen der Na- 
tionen ausgugleiden, ihre Streitigkeiten zu {dlidten, fomit die Kriege zu verhindern, 
wollen fie an Stelle der Diplomatie eine dauernde Berfammlung von Auserwählten 
der Völker. Mehr Bertrauen als zu diefem Areopag babe ih zu der Ginfidt und 
der Madt der Regierungen felbft. Die Beit der Kabinettsfriege gebört der Bere 
gangenbeit an, und es gibt heute ſchwerlich einen Staatslenfer, welder die Ihwer- 
twiegende Berantwortung auf fid nimmt, ohne Not das Schwert zu ziehen. Möchten 
nur überall die Regierungen ftarf genug fein, um zum Kriege drängende Leiden- 
(haft der Völker zu beherrſchen. 

Shr Memorandum betont die befonders friegerifhe Neigung der germanijden 
Raffe; id bitte Sie, die Gefdhidte unferes Jahrhunderts durdgumuftern und zu ur— 
teilen, ob bon Deutfchland die Kriege ausgegangen find. 


Der ewige Friede ift ein Traum, und nicht einmal ein finer, und der Krieg 
ein Glied in Gottes Weltordnung! In ibm entfalten fid die edelften Tugenden des 
Menfden, Mut und Entjagung, Pflichttreue und Opferwilligfeit mit Ginjebung des 
Nebens. Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus verfumpfen. Durdaus 
einverftanden bin ih ferner mit dem in der Gorrede ausgefprodhenen Sab, daß die 
allmablid fortidreitende Gefittung fih aud in der Kriegführung abfpiegeln muß; 
ader id gehe weiter und glaube, daß fie allein, nicht ein fodifizierted Rriegs- 
recht, dies Biel zu erreihen vermag. 

Sedes Geſetz bedingt eine Autorität, weldhe deffen Ausführung überwadt und 
bandhabt, und diefe Gewalt eben fehlt für die Einhaltung internationaler Berab- 
tedungen. Welche Dritten Staaten werden, um deshalb zu den Waffen greifen, 
weil von zwei friegfiibrenden Mädten durd eine — oder beide — Die [vis de la 
guerre verlegt find? Der irdifhe Ridter fehlt. Hier ift nur Erfolg zu ere 
warten von der religiöfen und fittlihen Grgiehung der einzelnen, von dem Ghrgefühl 
und Redtsfinn der Führer, welde ſich felbft das Gefe geben und danach handeln, 
foweit die abnormen Suftande des Krieges e8 überhaupt miglid) maden. 


Solange die Nationen ein gefondertes Dafein führen, wird e8 Streitigkeiten 
geben, welde nur mit den Waffen gefdlidtet werden können, aber im Sntereffe der 
Menidhbeit ift zu hoffen, daß die Kriege feltener werden, wie fie furdtbarer ge- 
worden find. 

Ueberbaupt ift e8 nicht mehr der Ehrgeiz der Fürften, es find die Stimmungen 
der Bilfer, das Unbehagen über innere Zujtände, das Treiben der Parteien, be- 
fonders ihrer Wortführer, weldhe den Frieden gefährden. Leichter wird der folgen- 
{Hwere Entihluß zum Krieg von einer Gerfammlung gefaßt, in welder niemand 
die volle Verantwortung trägt, als von einem einzelnen, wie hoch er aud geftellt 
fein möge, und öfter wird man ein friedliebendes Staatsoberhaupt finden, als eine 
BolfSvertretung von Weifen! Die großen Kämpfe der neueren Zeit find gegen 
den Wunfh und Willen der Regierenden entbrannt. Die Börfe bat in unjeren 
Zagen einen Einfluß gewonnen, welder die bewaffnete Wacht für ihre Sntereffen ins 
Seld zu rufen — Wexiko und Aegypten find von europäiſchen Heeren heim— 
eſucht worden, um Die Forderungen der hoben Finanz zu liquidieren. Weniger 
ommt es heutzutage darauf an, ob ein Staat die Mittel befist, Krieg zu führen, 
alg darauf, ob feine Leitung ftarf genug ift, ihn zu verhindern. Go bat das ge- 
einigte Deutihland feine Macht bisher nur dazu gebraudt, den Frieden in Europa zu 
wahren, eine ſchwache Regierung beim Nadbar aber ift Die größte Rriegsgefabr. 

Helmuth von Moltte. 


367 











Neue Bücher 








Otto Heinele, Jrminheid. Ein Kampf 
um das niederfähfifhe Bauerntum. Roman. 
92 ©. Wolf Wlbredt Adam ag Hannover. 

Irminheid ift ein ftolger alter Bauernhof, der 
feine Geſchichte . Rist nur Familiendronif 
und Balleninfhriften fondern auch ein alter 
Steinaltar und Runengeiden auf alten Stein» 
fegungen berbinden die lebenden Bewohner mit 
den uralten Gefdledtern, die bor ibnen da 
waren. Und nun pflegen die augenblidliden In— 
baber des Hofes in unfern Tagen einen neuen 
Germanentult, find nicht das, wads Wir unter 
„Bauer“ verftehen, fondern Gelehrte, die den 
legten Fragen und Ratfeln der Welt nachgehen. 
Romantifh. unbäuerlib ift ibr Tun; die Men- 
{en und ihre Art fommen uns wie lauter Fidus— 
Geftalten dor. Als „Noman“ muß man das Werk 
nehmen, dann bat man feine Freude dran; denn 
eine Reinheit geht durch das Ganze, die wobltut, 
und die felbft der Geſchwiſterehe alles Abſtoßende 


benimmt. G. K. 
Karl Immermann, Der Oberhof. 384 
Seiten. Geb. Grdpr. 2 MI. Verlag Joſef Köſel 


und Sriedrich Puftet, Regensburg. 

Um eine billige Boll3ausgabe in bdiefer Zeit 
Bringen au fönnen, mußten natiirlid größere Ans» 
fprüde an Papier und Drud guritdgeftellt werden, 
Zrogden ein anfehnlides Bud. Der Berfud, 
duch ſchreiende äußere Aufmadung des Schuß. 
umfdlags die wirlfamen Mittel, denen fonft die 
Schundliteratur ihre Erfolge gum guten Teil ber» 
danlt, aud der guten Boll3literatur nutzbar zu 
madden, ift anerfennenStwert; obwohl diefer „meit- 
fäliſche Hofſchulze“ einem Struwwelpeter ber- 
zweifelt ähnlich ſieht. Als Ausſchnitt aus Immer— 
manns „Münchhauſen“ muß ia die Handlung der 
Erzählung etwas zufammengeftrihen werden. Das 
ift in gelungener form gefchehen. G. K. 

Gottfried Keller, Der grüne Heinrich 
2 Bde.), üriher Novellen, Das Ginngedidt, 

ieben Legenden (je 1 Band). Mit Einleitungen. 
Verlag Gebrüder Stiebel, Gej. m. b. H., Reidenberg 
in Bohmen. 1922. 

Der deutihböhmiihe Berlag Stiebel in Retdhen- 
berg gibt unter dem Titel „Bücher der Deutſchen“ 
eine Sammlung heraus, welche das Befte unferes 


ergablenden tifttums bringen will und in ber 
Tat aud bringt. Wir finden bisher Morife, Storm, 
Eichendorff, Reuter, Stifter, Angengruber, Gotthelf 


und von Steller die vier oben genannten Werte. 
Diefe Bande find auf gutem Papier Peis gedrudt 
und gut, wenn aud nidt fjonderlid gefdmadvoll 
ausgeltattet; das fieht man beſonders an dem Buch— 
hmud, der genie belanglo8 und zu den Sieben 
egenden jogar höchſt abfitopend ijt. Dagegen find 
die Einleitungen, mit Ausnahme derer zu den Zü— 
riger Novellen durdgebend auf einen ruhigen, 
Haren Ton geftimmt, laffen alles unmejentlihe Ge- 
rede beifeite und weiſen auf den wahren menfdliden 
Grundgehalt der Werte hin. D. 

Ludwig Herpel, „Weltgefühl“ und Politil. 
Ein Entwurf, zugleih eine Antwort auf Julius 
@oldftein: Rafe und Politif. 16 ©. Zwei Welten- 
Verlag W. Heimberg, Stade. 

Sehr gedrangt, flar die leitenden Gedanfen her— 
ausgeboben, wird dem Weltgefiihl der Guden das 
deutfde, abendlandifdhe Weltgefühl petaegengetelty 
und aus diejem legteren wird deutſches Recht (Be— 
figreht, Bodenredht, Arbeitsrecht) und deutfcher Staat 
(auf Stämmen und Standen gegründet) und jchließ- 
lid eine die Grenzen überwindende abendlandifde 
Werfgemeinjhaft gefordert. Ein far erdadtes Pro- 
gramm, das leider wieder nur die geſchichtlich ge- 
re (gewadjenen!) Berhaltniffe eS 
aft. K. 


Jogeph Silbermann, Sulturfragen. 
Drei Borträge. ——— vom Verbande der 
weiblihen Handels- und Büro-Angeftellten E. 8. 
Sm. 0.75. BerlineWilmersdorf, Kaifer-Allee 25. 

nhalt: Kultur und Staat. Kultur und Wirt» 
haft. Kultur, Kunft und BWifjenfdaft. Eine freund- 
id-verftandige Einführung ohne neue Gefihtspuntte, 
aber aud ohne Sdhwulft und Phrajen. Eignet fid 
vorirefflid) als Grundlage für Diskujfionsabende, 
an denen man nicht frei über Seele pbantafieren, 
fondern der inneren Armut und Sehnſucht unjerer 
Beit ins Auge feben will. A. E. ©. 

Friedrich Wilhelm Bopyen, Die 
Wangen. Taten und Meinungen des Marquis de la 
Vidange. Mit 8 Beihnungen von O. v. Kurfell. 
166 ©eiten. — 

Zwei Bücher, die wieder einmal zeigen, daß wir 


verſtehen. 1 f b 

——— Beſtreben, mit den Mitteln der Satire 
ie —— au bekämpfen; beide aber fonnten 
nidt, was fie wollten. Der Gung-Fauft ift ein jehr 
matter Berjud einer ,Parodie” des Fault: ein deut» 
fer Jüngling wird durch Nadtlofale, Spießerlaffee- 
ärten, Vereinäverfammlungen ufw. bindurdgeführt, 
leibt unbefriedigt, bis ibn der Rubreinfall der 
Frangofen zu vaterlandifder Tat aufruft. Go wenig 
der Giingling etwas Fauftiihes an fi hat, fo wenig 
ift das Parodiftijdhe in der Zeihnung fait aller 
genen gelungen. 

Wenn man Flöhe oder Wanzen ihre Abenteuer 
erzählen läßt, fo jegt man fic) der Gefahr aus, daß 
man dabei in dem zweifelhaften Milieu verjaden 
tonnte. Boyen bat fic in feinem Werl „Die 
Wangen” diefer Gefahr ausgejegt und ift aud wirl- 
lid darin umgefommen. ® K. 

Yours aron bon Galtenftetn, 
Bliidher und York 1818—1815. — eed von 
Artur Mahraun. 192 Seiten. ungdeutſcher Ber- 
lag, Eafjel 1923. 

Stanz Johannes Beinrid, Das 
Telljpiel der Schweiger Bauern. 60 ©. 1,50 Mt. 
Verlag des Bühnenvolfsbundes, Frankfurt a. Main. 

Weinrihs Kolumbus“ hat burd die Aufführung 
im GtaatStheater Berlin viel Staub aufgemwirbelt. 
Die Ableynung des Stüdes hat fics fait zu einer 
Propaganda für den Kolumbus ausgewadjen. 
finde die Bedeutung, die man durdh Fir und Gegen 
diefem Stüd beigemeffen hat, übertrieben. Es wirkt 
unteif und ungefonnt, ein paar jpradlihde Schön- 
beiten bleiben Dafen. Die Erneuerung bes alten 
Tellfpiels duch Weinrich bingegen ift jehr glüdlic. 
Das alte Spiel febjt wirkt ſchon durd die Gerad- 
Tell wird durch feine Tat 


Stüdes, das nur eine auf verjhiedene Perjonen 
verteilte Erzahlung ift, gum Gpiel geftaltet. Da- 
bei bat er — ein fait einzig baftehender Gall, die 
Gefahr des üblihen Dramas glüdlid vermieden 
und ftatt deffen durch die ganze Anlage eine Unter- 
lage für die Bühne gefdaffen, die dieſer Aufgaben 
fteut, die mwefentli find. Sein Einzug der Lands- 
{necte, feine Reigenbewegung um den Mittelpunkt 
des Hutes find wirflige Aufgaben der Biihnenfunft. 
Der Schluß mit dem fresloartigen BZujammenraffen 
gum Schwur und der aktive Borjtok aus diefer 
Glade nah vorne unter den Klängen bed Bater- 
lands» und Greibeitsliedes ijt prachtvoll. Ich finde, 
daß in diefen Unteriagen für ein neues Bühnenjpiel 
mehr aufünftige Werte für das deutſche Bühnenjpiel 
fteden, alg in der Wichtigkeit, mit der die neue 
literarifhe Dramenproduftion auftritt. 2. B. 


Gebrudt in ber Hanfeatifhen Verlagsanftalt Altiengefelliyait, Hamburg 36, Holitenwall 2. 


368 








Aus dem Deutfhen Volfstum Fritz Haß, Golgatha 





Aus dem Deutfhen Volkstum Fritz Haß, Untergang der Finfternis 





Aus dem Deutihen Volfstum Brautbild 





Deut] ches Bolfstum 


9. Heft Cine Monatsichrift 1924 





Der Gegenjak der Welt bei Raabe. 


si" an dem Wert und der Beredtigung der Literaturgefchichte irre gu wer- 
den, braudt man nur nadgulefen, was in deutſchen Literaturgefchichten 
über Wilhelm Raabe gefdrieben ſteht. Gr felbft hat darüber einmal ironiſch— 
gelajfen feine Meinung gefagt; es fonnte ihn nach den Grfabrungen, die er 
mit dem Verftändnis feiner Yeitgenoffen fozufagen am eigenen Leibe gemadt 
batte, nicht mehr berühren. Seinen Freunden mag eine literarhiftorijche Blüten- 
lefe eine Stunde der frdblidjten Heiterkeit bereiten. Grnft aber wird die Sache, 
wenn man daran denkt, daß auch redlid Juchende Geelen und befonders junge 
fih fo gern der Führung der „berufenen“ Kenner der Literaturgefchichte an— 
vertrauen, um fic auf ihrem für alle heute unüberjehbar gewordenen Gelde 
guredtgufinden. Ich rede garnicht bon den Schreibern, denen (wie Richard 
Mofes Meher) die Berftändnisiofigfeit für Raabe fogufagen in die Wiege gee 
legt war; fie fchrieben fic felber gum Geridt. Was aber wiffen denn die 
andern, und felbft die beften unter ihnen, dem beutfchen Bolf über ibn zu 
fagen? Daß er zu den großen Realiften des neungehnten Jahrhunderts ge- 
hört, daß er groß war in liebepoller Kleinmalerei, daß er eine Borliebe für 
fnurrige Käuze und Sonderlinge hatte, daß er oft dunfel und verworren 
und daß er im übrigen ein Humorift war, der als folder gleidwertig neben 
Reuter fteht. Ob das nun im einzelnen richtig oder falfch ift — wie wenig 
trifft das alles den Kern der Sache, das heißt der Raabeſchen Perfönlichkeit 
und feiner Stellung im deutſchen Geiftesleben! Gs wird an dem DBeifpiel 
Raabes befonders deutlid, wie verfehlt die ganze literariſche Geſchichts— 
ſchreibung bisher gewefen ift. 

Die Stellung des Dichters in der ihm durch feine Lebensfdidjale gege- 
benen Umwelt, feine literariſchen VBerwandtfchaften und Beziehungen, 
die Wahl feiner Stoffe und Gormen, die Ginflüffe pon Menjchen und Be— 
gebenheiten, feine eigenen menfdliden Gigenfdaften und Gigenbeiten: alles 
das ift ja nidt das Wefentlide an ihm, wenigftens nidt an dem großen 
Dichter, über den ſich Literaturgefhichte überhaupt zu fdreiben lohnt. Gs ift 
die irdifhe Hülle feines ewigen Wefens, in die er wie alle göttliche Erſchei— 
nung auf Erden gebannt war, ift die ibm in das Grab feines Grdendajeins 
mitgegebene Speife, an der fich feine Seele genährt hat, die aber das ihr 
wefentlide Dafein in einem Reich gelebt hat, das nicht von diefer Welt und 
nicht an geitlide und räumliche „Umftände* gebunden war. Wer durd alle 
menfdliden, gefdidtliden und literarifhen Hüllen und Haute nicht bis zu 
dem ewigen Kern der dichterifchen Perfdnlidfeit hindurdhgudringen vermag, 
tötet Leben, wenn er über fie fpricht, ftatt es gu weden, und verfündigt fid 
wenn nicht an dem Dichter, fo an dem Bolfe, dem er gejchentt war. — 

Wir haben von Wilhelm Raabe felbjt ein Wort, das wie mit Adlers- 
fittid über die Niederung der ganzen literarifch-gefchichtlich-äfthetifhen Be— 


369 


trachtungsweiſe emporhebt: „Es fommt für den wirklichen Menfchen die Zeit, wo 
er in den Werfen der Autoren nicht mehr die Kunft, das Aeſthetiſche fucht, 
um fid felber Rube zu fchaffen im Sturm des Lebens, fondern die Gingergeige, 
wie jene fid in dem großen Kampf guredtgefunden haben. Da werden in 
alle Zukunft Dinein alle 40 Bände Goethe die große Panacee bilden, und 
die armen Schluder laßt die Nafe rümpfen über den Gebeimratsftil uf. darin.“ 
Das Wort hat um fo tiefere Bedeutung, als es ung gleichzeitig einen Finger 
geig gibt, um zum Verftändnis bon Raabes eigener Dichtung zu gelangen. 
Sedenfalls wiffen mir ihn felbft auf unferer Seite, wenn wir in ihm bor allem den 
Sechtmeifter im Lebensfampfe feben und in feinen Werfen die Waffen, die er 
an alle diejenigen meitergibt, die im Sturm des Lebens nicht die Ruhe fuden, 
fondern den Gieg. 

In den Werfen feiner großen Dichter und Denker entfaltet fic die einem 
jeden Volke eigentümliche fittlide Idee; fie ift der Urquell, aus dem fie alle 
fhöpfen, und nur diejenigen, die bis zu feiner Siefe Hinunterreiden, haben 
ihrem Volke wirkliches Lebenswaffer zu geben. Dagegen ift es gleichgültig, 
ob ein philofophifches Syſtem por der Logi oder eine Dichtung por der 
Aeſthetik beftehen kann. Höchftes Denker- und Didtertum wird immer dort er- 
blühen, wo in einem begnadeten ®efäß bie geiftig-fittlide Kraft eines Volks— 
tums fic frei und bon fremden Ginfliffen unbehindert auswadfen Tann. 
Gs ift das Schidfal gerade des deutſchen Geiftes gewesen, daß ibm diefe Frei— 
beit bisher nur felten gewährt worden ift. Um fo tiefer bat der Deutfde 
immer diejenigen geliebt, die im Kampf gegen eindringende fremde Gee 
walten Sieger blieben und in echten Schöpfungen ihm ein reines Spiegelbild 
feines eigenen Weſens fchenkten: Walther von der Bogelweide, Luther, Sdil« 
ler, den Dichter Faufts und Götzens, Fichte, Niebide und Wilhelm Raabe. 
In ihnen brad jedesmal wie in einem Geuerftrom die Glut des dem deutfchen 
Volke eingeborenen fittliden Weltgefühls Hurd die Dede der fremden Kulture 
einfliffe Dindurd, um ©ebilde der eigenen Art zu geftalten; die Werke feiner 
großen Geifter find im deutfchen mehr als in einem andern der großen euro— 
päifhen Bölfer — es fei denn dem ruffifhen — nationale Befreiungstaten, 
und es ift fein Zufall, fondern liegt in feinen geiftigen Schidfalen begrün« 
det, wenn feine politifhen Groftaten immer erft im Gefolge großer philoſo— 
phiſcher und Literarifher Leiftungen auftreten. 

Sp viele Raffen- und Kultureinflüffe im Laufe der Iahrhunderte an der 
Bildung der deutfchen Seele geformt haben mögen, fo ift Dod das Grund- 
gefühl, aus dem heraus fie fi) zur Welt und zum Leben einftellt, unver- 
ändert geblieben. Gs ift die Sittlichfeit des germanifhen Menſchen, wie fie 
am reinften aus der älteften Dichtung zu uns fpridt, den Heldenliedern und 
den Sagas. Diefe Weltanfhauung ift heldifcher Art; fie fieht bas Leben unter 
dem Bilde des Kampfes und mift den Wert des Menſchen danad, wie er fid 
in diefem Rampfe behauptet. Wir finden in der Edda und im Nibelungen- 
lied, wenn mir tief genug graben, das gleiche Doppelfundament der deutfden 
Weltanfchauung, das Kant in den beiden Begriffen Notwendigkeit und Sreibeit 
ins philofophifhe Bewußtſein erhoben hat. Gs gibt ein Schidfal, das unent= 
tinnbar, mit eherner Notwendigkeit daherſchreitet, „welches den Menſchen zer- 
malmt,“ aber es gibt eine Greiheit, die ihn inftandfett, es unerfchüttert zu 
tragen und ihn über es Dinausbebt in ein intelligibles Reid, wo es feine Ge— 
walt befist. 

Wenn Raabe in den Werken der großen Autoren por allem den Sdladt- 
bericht über ihren Lebensfampf fucht, fo fpridt er damit feine germanifde 


370 


Weltanfhauung und das Thema feiner eigenen Dichtung aus. In der Tat 
bat feiner der neueren Dichter die uralte Frage: wie befteht der einzelne 
Menſch im Lebensfampfe im Sturm des Schidjals? fo in ihrer Tiefe gepadt 
wie Raabe. Das madt, er hat diefen Kampf felbft gefampft, und feine Dich» 
tung ift nicht nur wie bei andern der Niederfchlag davon, fondern fie ift der 
Giegespreis, den er fid) in diefem Kampf gewonnen Hat: „meine Bücher ge- 
monnen, mein Leben verloren,“ mit diefen Worten Hat er felbft einmal bas 
bitter-ftolge Sazit gezogen. Sünfzig Sabre lang hat er fogufagen unter Tage 
gearbeitet, um den Nibelungenfchat feines Dichtertums zu gewinnen, im Dune 
fein, unbefannt oder bergeffen, während draußen die Sonne des Tages die 
„andern“ mit ihren Rubmesftrablen vergoldete. Wer will ermeffen, was das 
bei einem jchöpferifchen Geifte erften Ranges, der wie fein zweiter mit ſei— 
nem Werfe eins und der fid über den Wert feines Werkes fo vollfommen 
far war, zu bedeuten hatte. Man fann es nur ahnen, wenn man etwa das 
DBorwort zur zweiten Auflage des „Horns bon Wanza“ lieft, das er mit 
fiebgig Sabren gefdrieben hat: „Hoffentlich ift die Gefdidte in den zwanzig 
Sabren feit ihrem erften Erſcheinen nicht fo febr veraltet, daß das heutige 
Publifum eine nodmalige Ausgabe als eine Unhöflichkeit auffajfen finnte!“ 
And dazu nehme man das andre Befenntnis: „Wenn ein Frangofe fo das in— 
nerfte franzöfifche, ein Engländer das innerfte englifhe Wefen gefannt und 
bejchrieben hätte, wie id) das deutjche, wie würden denen ihre Golfer mit 
Sauchzen zugefallen fein! Die Deutſchen wollen bon dem, was fie felbjt ha— 
ben, nichts wiffen.* Indem das deutfhe Bolf ihm feine Werfe mit Bers 
adtung Iohnte und ihm fagen ließ, es habe genug bon ihm, zwang es ihn, 
fih mit der Stage: wie fteht es um die wahren Werte in der Welt? für ſich 
allein auseinanderzufegen. Dies und dies allein bildet den Inhalt feines 
Lebens und Schaffens. Die ſchwerſten und die entjcheidenden Schlachten auf 
diefer Erde find immer in den Tiefen der menfchlichen Bruft gefchlagen wore 
den, ob ihre Helden nun Sefus, Luther oder Bismard hießen. Ss ift Raabes 
©röße, daß er den ihm bon der Welt aufgegwungenen Kampf in feiner 
Weife aufgenommen und fein Erlebnis in „wunderpoll erleudteter, in lichter 
Seele zum Austrag gebracht“ hat. Gr war fich felbft bewußt, dadurch, daß er 
in balbhundertjähriger Probe den Sieg über den Widerftand der ftumpfen 
Welt errungen, eine Sat pollbradt zu haben, die ihn unter die Heroen der 
Menfchheit reihte: „Im 34. Sabre ift der Opfertod nod Linder und faum 
der Rede wert. Aber alt geworden zu fein und feine Ideale Hodgubalten und 
feinen Opfermut dafür zu erweifen: das madt den Heros, den Menfchheits- 
erlöfer.“ } 
Weldhes war nun diefes eigentlide und einzige Raabeerlebnis? Gr ift 
nidt nur „die heiße Hand an der Gurgel mit der Frage: was wird mit Dir 
und den Deinen morgen?“ fein Lebenlang nicht [os geworden; er Hat aud 
bor der furdtbaren Hamletfrage geftanden: Sein oder Nidtfein —. 

Denn wer ertrüg der Zeiten Spott und ©eißel, 

Des Madt’gen Drud, des Stolgen Mißhandlungen, 

Verſchmähter Liebe Pein, des Rechtes Auffchub, 

Den YUebermut der Wemter und die Shmad, 

Die Unwert ſchweigendem Berdienft erweift? 

Gr hat den bittern Kelch, den Niedertracht, Wnmafung, Underftand, Ge— 
meinbeit und Gelbftjudt ung zu trinfen geben, bis zur Neige geleert und das 
troftiofe Wort gefprochen, daß zulegt doch immer die Kanaille Herr Bleibt. 
Man glaube aud nicht, daß die Bitterfeit, ja die Menfchenveradhtung, die 


371 


aus Werfen wie dem Schüdderump, den drei Federn, dem wilden Mann 
oder den Alten des BVogelfangs zu uns fpridt, Ausfluß einer porübergehen- 
den düſteren Stimmung fei, die er jpäter „überwunden“ Habe. Wer Raabes 
Humor fo verfteht, daß er fchließlich Die nicht megguleugnenden Schwächen der 
menjdliden Natur mit dem Mantel der Liebe gugededt und feinen Frieden 
mit der Welt gemadt habe, um fich in einer behagliden Heiterkeit zu fonnen, 
der — verfteht ibn eben nicht. Raabe ift bis zu feinem Ende bimmelweit ent- 
fernt gewefen bon jenem rofenroten Optimismus, der da glaubt, dah wir 
{[HlieBlidh doch in der beften aller Welten leben, und einem allgemeinen 
Menfdhenfreunde wird es niemals wohl werden beim Lefen feiner Bücher, aud 
der ,bumoriftijdften* nicht. (Mebrigens einer der Gründe, warum fopiele 
Leute nit an ibn ,,beranfommen“.) Nein, in diefer Beziehung ift Raabe 
reiner, rüdjichtslofer Realift geblieben und Hat weder fich nod andern etwas 
borgumaden verſucht. Ich weiß nicht, ob es unter den mancherlei Definitionen 
des „Humors“ eine gibt, die ihn aus einem Kompromiß zwijchen der guten 
und der fdledten Anfidt von der Welt erwachfen läßt; wenn aber, dann war 
Wilhelm Raabes Humor jedenfalls nicht von diefer Sorte. Gr hat fid nicht 
abgefunden, er hat aud) nicht, wie felbjt ein Hans Hoffmann meinte, „Das Bers 
fühnende und Tröſtende im einzelnen, im Heinen gefunden und fich mit 
den Eleinlichen, ſonſt verädhtlihen Philiſtern als mit pojfierliden Käuzen aus- 
gejöhnt!“ Wenn das wahr wäre, wäre fein Humor nidt weltüberwindende 
Sat, nidt Srlöfung für alle, die mühfelig und beladen und mit leider- 
fülltem Herzen gu ihm fommen. Gs wäre feine Antwort, fondern ein Hohn 
auf die Hamletfrage, und Raabe wäre fein Großer im Reiche des germa- 
niſchen Geiftes, als deffen Grundſatz man geradezu bezeichnen fann, daß er 
feine Rompromiffe, fondern nur reine Löfungen fennt. Nein, Raabe Hat die 
®emeinheit, die furdtbare Gemeinheit der Welt und die menfdlide Gre 
barmlidfeit alg Tatſache unter feine Füße genommen und auf ihr fußend 
feinen Standpunkt zu den Dingen gewonnen. Gs war fein Urerlebnis, dah 
die wahren Werte an der Börfe diefer Welt nicht notiert werden; nur Die 
leidige Griedensfeligteit des Philifters, der fi) die großen Ueberwinder (bor- 
an Sefus) lieber mit der Palme als mit dem Schwert malt, das fie gebracht 
haben, fann den trogigen Grimm verfennen, mit Dem Raabe der nüchternen, 
brutalen Wirklidfeit ins Auge gefehen hat. Man braudt ja nur den Ane 
fang — und den Schluß des „Wilden Mannes“ zu lefen, um zu erfahren, bon 
welchem Eiſeshauch, aus Urgründen auffteigend, feine vielgerühmte „Semüt- 
lichkeit“ ummittert ift. 

Die Raabefdhe Sat, durd die er die Löfung feines Welträtfels, [eine 
Antwort auf die Hamletfrage gefunden Hat, war nicht Refignation, nicht ein 
feiger Sriedensfhlug mit der Welt auf der mittleren Linie — es war Die 
entjdloffene Sat des Glaubens, der die Welt überwindet. Das 
Reid, in dem fid ihm die Diffonangen des Lebens, die er fchneidender ge- 
‚fühlt und dargeftellt Hat als irgendein andrer deutſcher Dichter, auflöften, 
war nicht bon diefer Welt. Gr hat die unerbittlide Kritik, mit der er Diefer 
in feinen „tragifchen“ oder „peffimiftifchen* Büchern das Urteil gefproden 
bat, in feinen Alterswerfen weder zurüdgenommen nod gemildert (es ift 
das, was bon ahnungspollen Gemiitern oft als „Hohn“ in feinen Büchern 
empfunden wird), aber er hat, den Fuß auf fie fegend (wie Kant auf jeine 
Kritil der reinen Vernunft) fich über fie hinausgeſchwungen in eine Welt, in 
der andre Geſetze und andre Werte gelten und in welder dem, der das Bür- 
gerredt in ihr befigt, die Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geſchicks nichts 


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anhaben finnen. Im Gegenteil, in diefem Reich der Freiheit, Rube und 
©elaffenheit „hält man den Sieg gerade dann am fefteften, wenn die Wider- 
fader am lauteften Sieg über uns kreiſchen“. In ihm find all diejenigen zu 
Haufe, die wie Hagebuder, Belten Andres, Peter Uhujen, Philipp Krifteller, 
Phoebe und Stopfluhen in Diefem Leben Sdiffbrud und Anfechtungen ere 
leiden, aber einen Adelsbrief in der Bruft tragen, der ihre Niederlagen in 
Siege wandelt und fie frei durchgehen läßt durd alle Widerwartigfeit des 


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Dajeins, durd Not und Tod, wie der Sonnenftrahl den Sturm burd{dneidet, 
der Giden bridt. . 

Durd alle Werte Wilhelm Raabes zieht fid) wie ein roter Faden ‚der 
Gegenſatz zwifchen den zwei Welten und den Menfchen, die hüben oder drüben 
ihr Heimatredt haben. „Es ift was Gewaltiges um den Gegenſatz der Welt“ — 
dies Wort Leonhard Hagebuders fünnte man als das Grundmotid der gan« 
gen Raabefchen Dichtung bezeichnen. Gs handelt fid in feinen Büchern faft 
nie um irgendeine äußere Handlung mit einem Ziel, um das der Kampf 
zwiſchen Spielern und Gegenfpielern geführt wird — und wenn, fo ift das 
nur der Pflod, an dem die eigentlihe Raabifhe Handlung aufgehängt wird; 
diefe dreht fid immer und überall, bon der Sperlingsgaffe bis Haftenbed, 
um den ®egenfat gwifdhen Zeit und Gwigfeit, zwifchen Schein und Wefen, 
Lärm und Stille, gwifdmen den ruhigen und den unrubigen Gäſten in diefer 


373 


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Zeitlichfeit. Gr ift das eine große Thema, das er mit Hddfter Fünftlerifcher 
Meifterfchaft in allen Tonarten, bom mutwilligen Scherz wie in den Gänſen 
bon Bützow, ja der Poffe wie in Pedlin, bis zur tiefften, erfchütterndften 
Sragif in den Alten des Bogelfangs behandelt hat. Und einen Gipfel deut- 
fer Kunft bedeuten gerade diejenigen unter feinen Werfen, in denen er auf 
eine äußere Handlung fogufagen gang verzichtet Dat, um jenes Thema mit 
fomphonifher Reinheit und Stärke herauszuarbeiten, wie „die Alten des 
DBogelfangs“, „Die unrubigen Gäſte“ und „Stopfluhen“, um nur die drei 
größten unter ihnen zu nennen. Namentlich die letzten beiden find bon jenem 
Dualismus fo ftark beherrfcht, daß er in der Raabe eigenen tiefen Symbo— 
lif fich in einer Zweiheit des Schauplates einen Ausdrud gefchaffen hat, durch 
die der Unterfdied zweier Lebensauffaffungen und Lebensführungen ſcharf 
und wirkungsvoll berborgeboben wird. In ihnen können wir daher aud am 
beften über das Wefen jener beiden Sphären und ihr Verhältnis zueinander 
Klarheit gewinnen. 

Sn dem „Roman aus dem Gaefulum“, den unrubigen Gaften, haben wir 
auf der einen Seite den larmbollen, unrubigen Kurort mit feiner Ziviliſa⸗ 
tion, dem gefell{daftliden Leben und Sreiben, den Zerftreuungen der „Sais 
fon“, furzum dem Getriebe Der ganzen fogenannten großen Welt — und auf 
der andern das ftille Bergdorf mit feinen Wäldern und Wiefen, feinen armen 
Bewohnern, dem freudlofen Pfarrhaus und der elenden Hütte am Waldes- 
tand. Raabe gibt uns feine Schilderung des modernen Badelebens — 
„andere haben diefes alles häufig und mit Talent bis ins einzelne ge» 
[hildert und werden es uns noch oft befchreiben!* — aber niemand fann bers 
nidtender die Nichtigkeit Diefes Lebens darftellen als er es in der kurzen Gin- 
gangsfzene tut, wo Fräulein Lili inmitten ihrer Iuftigen und lauten Reife» 
gejellfchaft jene Hütte — „o wie hübſch—“ — in ihr Sliggenbud aufnehmen 
möchte, aber durch den Hinweis, daß dort dag Fledfieber herrſche, famt ihren 
Kavalieren erniidtert und entrüftet in die Flucht gejagt wird. Die Hauptber- 
treter diefer Welt find der Profeffor Beit von Bielowm und Valerie, „der 
unruhige Gaſt“, „die Yeitlichkeit als Weib, in all ihrer Liebenswürdigfeit und 
Schönbeit.“ Man fann nicht fagen, daß der Dichter ihnen nicht in jeder Be- 
ziehung bolle Geredtigfeit zuteil werden ließe, er tut es im Gegenteil fo febr, 
daß der gewöhnliche Romanlefer feine Teilnahme vielleiht Phoebe und Beit 
bon Dielow zu gleihen Zeilen ſchenkt und am Ende bedauert, daß fie fid 
nicht gefriegt haben. Wer in des Dichters Meinung eindringt, weiß, daß der 
ſchöne und gelehrte Mann für ihn zu der Welt gehört, die bon jener, in der 
Phoebe Iebt, durd eine Kluft getrennt ift, über die es fein Hinüber gibt. „Gr 
geht“, wie die alte Dorette in ihrer Ginfalt begriffen bat, „mit der Stunde 
und was darin mit ihm ftimmt, wie meines feligen Bruders Freund, der Oberft 
aus Brafilien, der Don Agonifta.“* Indem fie ihn mit diefem gewiffenlofeften 
aller Sgoiften in Raabes Werfen in einem Atem nennt, fpridt fie des Dichters 
wahre Meinung über ihn aus; ja, fie urteilt nod härter über den „lieben, 
freundliden und böflihen Mann,“ als über den Berderber ihres eigenen 
@lids; „denn meines feligen Bruder Filipps Freund tatſchte Doch nur in unfer 
tägliches Auskommen, aber deines Bruders Prudens Freund hätte dir nod 
biel Schlimmeres angetan, ohne daß er eine Ahnung und alfo 
ein Gewiſſen hatte.“ Man muß begreifen, daß weder Beit pon Bielow 
nod Don Agonifta im „Wilden Mann“ Böfewichter im gewöhnlihen Ro- 
manfinne find; es fehlt ihnen gänzlich das Bemwußtfein deffen, was fie tun; 
fie ziehen den andern „in SHerglidfeit und Vergnügen“ das Gell ab, zer- 


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ftören ihr Glück und ihren Frieden und „denken fid garnidts Schlimmes 
dabei.“ Sie find beides in ihrer Art liebenswürdige Menfchen, und fie ge- 
niefen den Beifall und die Bewunderung der Leute. Sie ſind eben über- 
haupt nidt, wie wieder Dorette in tieffter Lebenseinfiht am Ende ihrer 
Sage erkennt, „ein Ausnahmsfall pon Menſchen und Menſchenwerk und Tun 
gegeneinander“, fondern „fie find bie Regel, und die Ausnahme fommt alle 
Hundert Sabre nur einmal!* In ihnen manifeftiert fid, mit Schopenhauer zu 
reden, der blinde, nadte Wille gum Leben, der nichts von fic felbft weiß, jo- 
aufagen in feiner givilifierten Gorm. „Was kümmert einen“, fo ruft Beit fel- 
ber aug, „der leben — leben — leben will, das, was die andern wollen?!“ 
Sie wollen alle das Ihre, Beit und Balerie, Agonifta und — felbft aud 
Dorette, fo lange fie befümmert und verbittert ihrer geraubten Lebensbehag- 
lidfeit nadtrauerte. Sie mögen fonft fein, wie fie wollen, ftarf wie Balerie 
und Auguftin oder ſchwach wie Herr von DBielow; es hilft ihnen aud nichts, 
daß ihnen gelegentlich felbft ein Licht aufgeht über fid, daß fie feufgen — 
„was für ein Egoismus in dem Menfchen ftedt, erfährt er erft ganz genau 
nad fold einem Schritt bom Wege und fo mit dem Zerlegemeffer in der Hand 
am Werke an feinem eigenen Gelbjt!* Sie find gefangen im Dunfel ihrer Welt, 
gu der fie gehören und — aus der fie nicht herauskönnen. 

„Das ew'ge Licht geht dort Herein, gibt der Welt einen Hellen Schein.“ 
Das ift der Gindrud, den Phoebe auf alle macht, denen fie auf ihren Wegen 
begegnet. Als fie den alten wadern Badearzt inmitten des gefellichaftliden 
Srubels und der Sommerluft auf der Rurpromenade anfpridt in ihrer Angft 
um den erfranften Beit bon Bielow, den zu retten ihr einziger Gedanke ift, 
da fcheint es ihm, „als ob jenes alles nicht fei und nur die ſchmächtige, ſchweig- 
fame Geftalt im grauen nonnenhaften Kleide an feiner Seite wirklides Dafein 
und wabrbaftige Bedeutung in diefem farbigen Schein und Setiimmel habe.“ 
Wie ein ruhiger Gaft aus einer andern Welt geht fie durch diefe unruh— 
bolle Seitlidfeit; allen, die Augen haben zu fehen, wie Spörenwagen, Dr. 
SHanff und Dorette, erfcheint ihr Wefen als Offenbarung, alg Gnade des 
Himmels. Wo fie erfdeint, da ift es, „als ftinde alles, was ung Die 
Beit mißt, auf der Grobe ftill, und als fei nur ein einziger 
tubiger Pulsfdlag durd das Weltall.“ Gie hat das, was den 
Kindern der Welt fehlt: den Geelenfrieden, die Gottesftille; fie ift gefeit und 
fist im Schatten ihres Glaubens am beißeften Grdentag, wie Dr. Hanff 
bon ihr fagt. „Sie ift die einzige Gewappnete unter alle den Rüftungslojen, 
die einzige Ruhige unter all den Aufgeregten, die einzige Gefunde unter all 
den Kranken. Ohne ihr Zutun hat fie Die Gabe, die Gnade — und weiß nichts 
davon, als wie ein Menſch nidts bom Hunger verfpiirt, wenn er fatt ift.“ 
Go feben die andern fie, als eine, die vielen Beiftand tut — und der nie» 
mand ein Leid antat. Und doch fehen aud fie nicht alles. Auch Phoebe 
ift ein ,redtes Weib“, auch von ihr gilt, daß Menfch fein heißt, Kämpfer fein. 
Aud in ihrer Seele bligken Schmerz und Zorn auf, fie fieht ihrer Feindin 
und Nebenbublerin ftreng und Hart ing Gefidt, und ihre Stimme fann klar 
und hart Ellingen. Sa, ihr Kampf ift der eigentliche, wefentlihe Inhalt des 
Budes, wenn aud in Worten wenig bon ihm zu lefen ftebt. Aber das ift eg, 
daß fie diefen Kampf in fic allein ausfämpft, nicht mit andern, fondern mit 
fic) felbft; fie zieht fi mit ihrer Angft und ihrer Unruhe in ihr Stibden 
aurüd, „um ohne Hilfe aus der Nähe und mit wenig Beiftand aus der Ferne 
aud weiterhin mit fic felber allein fertig gu werden und ihren Öottesfrieden 
mit dem Saefulum aufrecht gu erhalten.“ Sie bolt fid) ihre Waffen aus einer 


375 


Rüftlammer, bon der die andern, aud die ihr nadften, nichts wiffen; fie bat, 
um gerüftet zu fein für die Anfechtungen diefes Lebens, die Kraft im Bufen, 
welde nie verfagt. Was fie mit fid durdhmadt und ausmacht, ift wahrlich 
nichts Leichtes und Geringes — „es mochten recht fdlimme Kämpfe an dies 
fem Sage in der Welt ausgefodten werden, fie waren nicht härter und Hatten 
vielleiht weniger gu bedeuten als der Kampf diefes jungen Mädchens“, jagt 
der Dichter felbft bon ihnen. Sie trägt ihr Schidfal nicht unerfchüttert, aber 
in heißem Kampf überwindet fie es, das heißt fich felbft, mit den Waffen, die 
ihr die ©nade des Herrn, wie fie felbft es empfindet, aus jener andern 
Welt zureicht: dem Glauben und der Liebe. So ift fie, die Ueberwundene, 
aulegt dod die Siegerin, die YWebertwinderin aus eigener Kraft; fie ift im 
Frieden, während Galerie weiter in Unruhe durds Leben gebt und — nidt 
verzeihen Tann. 

Die Grf[diitterung, mit der uns dieſes Buch entläßt, troßdem eigentlich 
nidts gefdieht in ihm, fommt daher, daß uns aus ihm die Schauer einer jens 
feitigen Welt anwehen und wir zutiefit empfinden, Daß es etwas Heiliges 
gibt, an das der Menfd mit profanen Händen nicht rühren darf. Der Grabs 
fauf Beit pon Bielows ift deshalb Sünde, weil es ihm im tiefften Sinne nidt 
„beiliger Grnft* damit ift, weil er nur mit einem Fuß in jene Welt, bon der 
ibm durd Phoebe eine Ahnung aufgegangen ift, Hinübertritt, fowie er einen 
Abftedher aus dem Modebad in das Gebirgsdorf madt. Gs gibt aber hier nur 
ein Entweder — oder. Und fo ift auf der andern Seite Phoebes Kampf und 
Sieg, wie alle Selbftüberwindung, gulebt — Gelbftbebauptung. Ihr 
®efühl für Beit bon Bielow war ein Schritt pon ihrem Wege, wie es dag 
feine war. Die Semeinheit Baleries, die ihren eigenen wirklichen frome 
men @lauben als felbftfidtiges Raffinement verdächtigt, Öffnet ihr einen 
gtauenbollen, erfchütternden DBlid in jene Welt, die ihr bisher fremd ge- 
blieben, und bringt fie zur ,,Befinnung*. Die beiden Lebensfreife, die fid 
einen Augenblid berührt haben, entfernen fid wieder — ſymboliſch wird das 
am Schluß des Buches durd die Abreife der Badegäfte verdeutlicht —, nad)» 
dem die Menfchen in ihnen als tiefftes Grilebnis die Kluft erfannt haben, die 
zwiſchen hüben und drüben befeftigt ift. 

Weiter nod und ftrenger voneinander gefdieden als in den „Anruhigen 
Gäſten“ find die beiden Welten, um deren Gegenſatz es fich für uns bier han» 
delt, im „Stopfkuchen“, — fo weit, wie die rote Schanze draußen im freien 
Selde bor und über der Kleinftadt liegt. Gs führt faum nod ein Weg von 
der einen zur andern. „Gine Römerftraße, auf der bor, während und. nad der 
Völkerwanderung Saufende totgefhlagen worden waren, fonnte im laufenden 
Saefulo nicht mehr überwachen und von Grasnarbe überzogen fein, wie Die 
alten Radgleife und Fußſpuren, die über den Graben des Prinzen Xaverius 
pon Sachſen auf dem Dammiwege des Bauern zu der roten Schanze führten.“ 
And die Frage, die Freund Eduard an Heinrid) Schaumann, genannt Stopf- 
fuchen, richtet, ob er denn überhaupt noch notwendige Gänge nad dort unten 
babe, ob er wahrhaftig nod nicht mit allem, was für unfereinen. 
fo draußen berumliegt und beforgt werden muß, abgefdloffen habe, ob alles 
das nicht draußen vor feinen wundervollen Wallen liege, trifft nur zu febr 
ganz das Richtige. Stopfkuchen fist, wie einft der Pring bon Sachen, der 
bon dort mit feinen Kanonen die Stadt zur Unterwerfung gegtoungen bat, auf 
feiner roten Schanze als Sieger über die Welt da draußen, und niemand bere 
mag mehr den Frieden gu ftören, den er nad feinem bon Kindesbeinen an 
mit ihr geführten Kriege — fich felbft errungen hat. Raabe Hat auf die 


376 


Stage, welches er felbft für das befte von feinen Werfen halte, ftets mit 
Deftimmtheit geantwortet: Stopffuchen! und gelegentlich als Begründung die 
Worte Hinzugefügt: „Da babe ich die menfdlide Kanaille am fefteften gepadt 
gehabt.“ Das läßt uns beffer als alles in den Sinn feines Werfes — und 
feines Lebenswerfes überhaupt — einen Ginblid tun. Gewiß iſt „Stopfluden“ 
ein Bud poll göttlihen Humors; das, was wir Raabefhen Humor nennen, 
fann man aus feiner andern bon feinen Gefdidten beffer fennenlernen, 
aber es ift dennod ein Bud nidt des Friedens, fondern des 
Krieges, nidt der Berfdpnung, fondern des Grimms, nicht der 
Gergeibung, fondern der Anklage. Ich wenigftens fenne feins, in dem bie 
lieben Mitmenfchen, wie fie gewachjen find, die „edle, driftlide Menſchheit“, 
ſchärfer, unerbittlicher unter die Fritifche Lupe nicht nur, nein, unter die gore 
nige Gudtel genommen werden. Bon den lieben „eingefchrumpfelten, zaun« 
fönighaft-nerpös-Iebendigen Eltern“ Stopfluchens in ihrer pbiliftrijen Bee 
{branttheit, insbefondere dem Bater mit feinen „dürren Subalternbeamten- 
gefühlen“, über feinen ungliidliden Schwiegervater, den er „einen duds 
nadigen, mürrifhen, wider» 
wärtigen Patron, furg einen une 
angenehmen Wenfden* nennt, 
bis zu Kienbaums Mörder, dem 
unglüdfeligen andbrieftrager 
Störzer, der in erbarmlider 
Schwäche nidt den Mut findet, 
fih zu feiner Sat zu befennen, 
deren Golgen er ein Lebenlang 
tagtaglid) por Augen fieht, pon 
der graufamen, findliden 
Quälerbande, die Sinden ihre 
Jugend vergiftet, bis zu dem 
{buftigen DBauernfänger-Ge- 
findel, das das Unglüd des 

: - alten Quafat ausbeutet, und 
nidt gulebt dem ganzen felbftgeredten, klatſchfrohen Pbiliftertum, für 
den der Mordverdbadt, in dem jener fteht, zu einem angenehmen und 
unentbehrlihen Lebenskitzel wird — was für ein Abgrund bon Gee 
meinbeit, Geigheit, Selbftjuht und Niedertraht eröffnet fi Dem, der 
da binunterblidt! Was will das fagen, daß der eben fdulentlaffene Stopf- 
fuden im Anblid des Propinzialgefängniffes feinen Freund fragt: „Hätteft du 
wirklid nie das Bedürfnis gefühlt, deinen greulichen Alten, fo wie ich den 
meinigen, hinter einem jener Gitter unſchädlich gemadt, in Sicherheit figend 
zu wiffen?!* Und was liegt für ein gepreßter Ingrimm in der Fauft, die er 
„den grauen Sünder, dem alten Weltwanderer und Wegfchleicher“ Störzer 
auf das Kopfende feines Sarges legt! Nein, hier wird es ganz deutlich, der 
Raabefhe Humor, wenn man ihn denn fo nennen will, nimmt dem Leben 
nichts bon feiner Bitterfeit und Gurdtbarfeit, er vergoldet und verſchönt es 
nidt. Gs ftedt im „Stopfluchen“ nicht weniger Sragif als in den „Alten des 
Gogelfangs“ oder dem „Schübderump“, die doch zu den bitterften Tragö— 
dien der Weltliteratur gehören. Der Humor, den er enthält, ift ohne dieſe 
Sragif garnicht denkbar. Gr beruht, wie fie, auf der Spannung zwijchen der 
Welt der Wirklidfeit und — jener andern Welt, die wir philoſophiſch die 
Welt der Werte nennen mögen, auf Dem Pathos der Diftanz, dem 


377 





Reider an dem Abftand zwifchen beiden, und ift darum um fo tiefer, je weiter 
diejer Abftand fid vor uns auftut. Wenn der Dane Harald Höffding in feinem 
übrigens nicht nur geiftoollen, fondern auch weifen Buch über „den großen 
Humor“ jagt: „Zeit und Swigfeit find für den Humoriften nidt abfolute Gee 
genfage, fodaß notwendigerweife ein fchmerzpolles Spannungsperhältnis awi- 
fen ihnen vorhanden fein müßte,“ fo bat er, wie die meiften, den Raabefden 
Humor in feine Definition nicht mit einfangen fönnen, da er eben aus dem 
Schmerze über jenes „Spannungsperhältnis* erwachjen ift. Nur daß, während 
Raabes tragifhe Bücher der Ausdrud diefes Schmerzes find, fein Humor der 
Ausdrud dafür ift, daß er, für fid, ihn überwunden, daß die Gwigfeit den 
Sieg über die Beitlidfeit Dabongetragen Hat und der Dichter fid in ihr ge» 
borgen weiß. Wud die Tragödie bringt ja diefen Sieg zur Darftellung (nir- 
gends reiner und fchöner als in den „Alten des Bogeljangs“); im Humor fehrt 
der Dichter den Spieß nur um, indem der Sieg nun nicht mehr am Schluß der 
Erzählung, fondern fozufagen ſchon an ihrem Anfang liegt. Dak Stopftuden, 
als der fichere Sieger im Lebensfampf, bon der Höhe feiner Weltbetradhtung 
aus, feine und Sinden Quafakens Kämpfe und Leiden erzählt, madt den 
Humor feiner Gefdidte aus — eben der Abftand alfo macht ihn gwifden 
denen und dem, worunter er gelitten bat, und feinem jebigen freien und ho— 
ben Standpuntt, wo ihm das alles, tro& underminderter Gegenmwärtigfeit und 
Wirklichkeit, nichts mehr anhaben fann. Hier ift die Antwort gegeben auf die 
Samletfrage, daß zwar nicht im Nidtfein, fondern im Dajfein, im Trogdeme 
fein, eine Rettung vor den ird'ſchen Schreden zu gewinnen ift, daß im Men— 
ſchen, bon den meiften unentdedt, eine Kraft wohnt, durch die er fid — eine 
rote Schanze erobern fann, wo die Gee von Plagen, das Herzweh und Die 
taujend Stöße, die unfres Fleifches Grbteil find, ihn nicht erreichen. 

Mögen die großen germanifchen Tragdden, por allen Shafefpeare, das 
bittre Leiden diefer Welt in ihren Werfen erfchütternder gefchildert Haben — 
die menſchliche Freiheit, die Kraft und Herrlidfeit des Yeberwindertums bat 
nirgends in der Weltliteratur einen großartigeren Ausdrud gefunden als im 
„Stopfkuchen“. Hier hat Raabe nicht nur die menfdlide Kanaille, hier Hat 
er, und darauf fommt es an, aud) den Gieg über fie am fefteften gepadt — 
„in bligender Rüftung fteht der Menfch, der vor einem Augenblid nod im 
Erdendred und Zumpenbehang fid verfommen fühlte, und alles ift Freibeit, 
und alles ift Kraft, und alles ift Grhebung — alles ein Wohlduft, ein Rau- 
[hen jungen FSrühlingsgrüns, ein blaugolönes Leuchten und Funkeln auf allen 
Seiten, und flare Gee und freie Fahrt bis in alle Gernen!* So wadft in dies 
fem Bude, das man nur unter berzbrechenden Tränen — beladen fann, 
der behäbige, dide Iateinifhe Bauer, der frühere Großknecht auf der roten 
Schanze, unter feiner Erzählung bor uns zu ungeheuerlicher Größe auf zu einem 
Reden und Ritter ohne Gurdt und Tadel, da wir ihn am Ende, wie Gduard 
bom borbeifabrenden Zuge aus, auf feinem Walle ftehen fehn, aber nidt 
mehr im gemiitliden Schlafrod, fondern in fhimmernder Wehr und das blit- 
gende Schwert in der Hand, mit dem er den Drachen — das Leben felbjt — 
befiegt und fid das Sinden an feiner Seite gewonnen hat! Gs ift fein Scherz 
bon ihm, wie Gduard meint, fondern tieffte Gelbfterfenntnis, wenn er jagt, 
er Habe für — den „göttlichen fiebenjährigen Krieg und den wundervollen 
alten Gtreithabnen, den alten Fritz, immer feine ftillfte, aber innigfte Su- 
neigung gehabt.“ „Bitte, nenne mir einen andern aus der Welt Haupt- und 
Staatsaftionen, der für unfereinen etwas Spmpathifcheres als der an 
fih haben fann.“ Gr ift fein Mann, weil er an ihm gelernt Hat, aus eignet 


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Kraft und ganz für fich allein mit der ganzen Welt fertig gu werden und mit 
allem, was fie ung zu unferer eigenen Lebensmablgeit einbroden und auftifden 
mag. — „Sein Appetit. Tadellos! Gut in feiner Kindheit, in feiner Jugend; 
aber über alles Lob erhaben bei zunehmendem Alter. Hätte id wo ein Wort 
gu berlieren, fo wäre es bei diefer Betrachtung, fo wäre es hier. Der Mann 
berdaute alles! Derdruß, Propinzen, eigenes und fremdes Ped und 
bor allem feine jeden Sag eigenhändig gefjchriebene Speifefartel“ Was fann 
der Menjdh im Leben mehr gewinnen als daß — er mit ihm fertig werde, 
daß er feine ihm bom Schidfal gugemeffene Portion, und fei fie noch fo muffig 
und widerwärtig, verdaut, wie Heinrich Schaumann, der verfradte Student, 
die feinige. Darum ift „Stopfluchen“ fein rechter Name und fein Ghrenname 
und darum ift es ibm Scherz und bitterer Grnft zugleich, wenn er fagt, man 
finne ihm feinetwegen feinen Wahlſpruch „Friß es aus und friß dich durch“ 
in Goldſchrift auf feinen Grabftein fegen laffen. Gewif, es gibt feinen andern, 
um durchs Leben zu fommen, aber ebenfo gewiß freilid aud, daß der Löffel, 
mit dem Stopfkuchen fic bdurdgefreffen bat, aus einem Holz gefdnist ift, 
das nicht auf diefer Erde gewadfen ift. Der dide Schaumann und die zarte 
Phoebe, die Schweſter bon Schmerzhaufen, haben gewiß auf den erften DBlid 
wenig WAehnlidfeit miteinander. Und doch find fie Genoffen, Rampfgenoffen, 
Bürger desfelben geheimnispollen Reiches, von denen Raabe fagt, daf fie fich 
immer und überall als Brüder und Schweftern erfennen, wo fie fich im 
Alltag diefes Grdenlebens begegnen. Denn man verfenne nidt, was freilich 
gutiefft in ,Stopfiuden* fim den Bliden verbirgt: daß aud, wenn das Leben 
feines Helden die Sat war, ihr Wefen dod wie das der Heldin in den 
„Unruhigen ®äften“, die Liebe ift, jener „Dimmlifche Strahl, der in jedes 
Menfdhenherg bon Gottes Gnaden eingefdlofjen ift.“ Sie ift die Kraft 
aus der Höhe, die ihn feinen Weg in redtem Sinne geben und ihn die Auf- 
gabe finden läßt, durch die er feinem zeitlichen Leben einen ewigen Inhalt 
gibt. Darum erfüllte fid feines Freundes erfte Befiirdhtung, daß „das Gras 
aud Dinter Ihm wieder aufgeftanden“, daß er erft veradtet, nun ein Bers 
Gdter geworden fei, nicht. Stopfkuchens Aufgabe, fein Swed und Biel im 
Grdendafein, beißt: Sinden Quakatz. Gine ſchöne Menjdenfeele finden, ift 
Gewinn. Aber aus einem verfhüchterten, berfommenen, hülf- und mutterlofen 
Bauernmadden, einer verfolgten hageren Wildfage eine bebaglide, reine, 
gierlide, gebildete und glidlide Frau gu machen, „einem vermwilderten Tier 
zur Rube und ins Menfdlide Hineingubelfen,“ ein bon Haß und Blutgerud 
erfülltes, berbittertes, Dundeelendes Dafein in ein Leben voll Behagen, Sonne, 
Friede und gläubigem ©eborgenfein gu verwandeln, das ift eine Tat, bon der 
wenigftens die Frage geftellt werden barf, ob der Menſch Höheres, Wert- 
bolleres auf diefer Erde guwege bringen fann. Diefe Tat ift jedenfalls das 
Gegenteil oon allgemeiner Menfchenliebe, fieift -— Nächftenliebe in einem 
befonders tiefen und aufſchlußreichen Sinne. Wir rühren hier an den innerften 
Kern der Raabefden Sittlidfeit und feiner ganzen Weltanfdauung. Gr bat, 
fo wenig das den meiften Obren Heute noch wird eingehn wollen, im „Stopf- 
kuchen“ dem deutſchen Bolfe feinen „Fauſt“ gefdentt. Auch feinen Heinrich 
führen Mächte, die das „Recht zu haben glauben, etwas anderes aus ihm 
gu machen alg was in ihm ftedt,“ in die Irre, doch er bleibt fich in feinem dun— 
keln Drange feines rechten Wegs bewußt — und madt aus fid, was aus 
ibm zu maden ift. Aber feiner Weisheit Ietter Schluß ift ein andrer: nicht 
„eröffnet er Räume vielen Millionen, nicht fider gwar, doch tätig-frei zu 
wohnen,“ fondern er — bebt einen Menfden auf, den ihm das Schidfal, 


379 


bon dem menfdliden Raubtiergefindel zerfchunden und gefdlagen, vor die 
Süße geworfen bat, und madt ihn glidlid. Gs wird vielleicht noch 
lange dauern, ehe dem deutſchen Bolfe diefe einfache Weisheit tief genug ere 
fdeint, damit es „Stopfludhen“ neben „Sauft“ und „Iphigenie* einen Plas 
auf feinem klaſſiſchen Bücherbrett einräumt. Aber Raabe hat den Sroft, der 
aud) darin Liegt, fich felbft gegeben: „Man muß Bücher fdreiben, die ge- 
innen, wenn das Gefdledt, das fie fpäter lieft, andre Röde und Hofen 
trägt.“ Walter Baetke. 


Der metaphhHfifche Einfchlag bei Wilhelm Raabe. 


Sen das Grftlingswerf Raabes, die wehmütig-tiefe „Chronik der Sper- 
lingsgaffe“, ift neben aller realiftifchen Sicherheit in Handlung und Sdil- 
derung, in fluger Geinbeit der Hronifgemafen Kompofition, [hier durchleuch⸗ 
tet bon jenfeitigem Grfühlen. Oleic auf den erften Blättern begegnet uns 
der Zug des Todes. Marie Ralff, die fonnige Gee der Sperlingsgaffe, die 
geliebte junge Grau und Mutter, die einft auch Heimlidgeliebte Iohan- 
nes Wachholders, des Berfaffers der „Chronik“, gebt ihren legten Erden- 
gang. Langfam ſchwankt der Sarg auf den Schultern der Trager daher — 
„die junge Braut im porüberrollenden vornehmen Hochzeitswagen birgt zit- 
ternd ihr juwelengefhmüdtes Haupt an der Bruft neben ihr, der arme Are 
beiter am Wege läßt das Beil finfen und fieht ftier dem Zuge des Todes 
nad. Sein Weib liegt zu Haufe fterbend...“ Aber was ift der Tod dem, der 
bereits ein ewiges Leben in fic fühlt! Der an der boriibergiehenden, fetten» 
flirrendDen DBerbrederfhar nur das Dereinftige Herabfinten der Ketten ere 
[haut angefidts des Todes! „Der Tod zieht vorüber! Gr wird aud eud 
einft bon euren Ketten befreien! Geugt das Haupt, ihr armen Geſchöpfe der 
Nacht, der Tod zieht vorüber, und auch eud hebt er einft, den erborgten Glitter- 
pub, den armen beſchmutzten Körper, die Sünde der Geſellſchaft euch abjftreie 
fend, rein und heilig empor aus der Dunfelheit, dem Schmuß und dem Glend.“ 
Der bittere Tod birgt ein köſtliches Geheimnis — nur der Spötter ift nicht 
wert, es zu erahnen. 

Dafür trauern die leeren Aefte der Bäume wehmütig mit, ja, eine Meife 
fliegt bon Aft zu Aft bor dem Zuge her. Soll man folde feinen Gingelgiige, 
aud wenn fie nicht weiter ausgeführt find, bei Wilhelm Raabe gefliffentlich 
überfehen oder überfhlagen? Wud wenn fpäter gar das Motiv wiederfehrt 
und damit alfo betont wird? In der ,@rabrede bom Jahre 1609* klingt eg 
ähnlich, aber fröhlich lächelnd an: „Die Sonne wußte wohl, warum fie über 
die törichten Menfchen lächelte... fie wußte wohl, daß der alte Rektor Rollen«. 
Hagen nod lange nicht tot fei, und „Doktor Sperling“, der „bunte Kirchjper- 
ling“, welchen Herr Georg Rollenhagen fo trefflich befungen, hatte aud eine 
Ahnung davon. Weber dem Grabe, zu Häupten des ſchwarzen Sarges fang er 
auf der ausgeftredten Hand des WApoftels Paulus an der hohen Säule und 
zwitjcherte fo freudig und Iuftig feinen Glauben an die Unfterblidfeit Der 
Dichter, der Sänger und an feine eigene Unfterblidfeit aus, daß fi) mand 
ein geneigt Haupt auf fein Helles Rufen erhob.“ 

Unſere Fuge Beit wird derartige „Pbantaftereien“ faft durchweg belä- 
dein — aber hat Franz bon Affifi wirfli gang umfonft gelebt, er, der den 
Schwälblein predigte und fchnabelfrohe, flügelfchlagende Antwort bon ihnen 
befam, er, bon dem es heißt: „Singend war er in die Gwigfeit eingegangen. 
Als ein letter Gruß jedoch an den dabingegangenen Sänger Gottes ertönte 


380 


in demfelben Augenblid über dem Haufe und darum herum ein ftarfes und 
plöglides Zwitſchern — es waren die guten Freunde des heiligen Franz, 
die Lerden, die ihm das legte Lebewohl darbradten* —? Legenden! Ob 
Legende und Täuſchung, d. 5. Lüge, wirklid) fo ſchlechtweg dasfelbe ijt? 
Man denfe an Ernſt Woritz Arndts, dieſes ehrlichen, kernfriſchen Mannes er— 
ftaunliden poetifhen Bericht bon dem Lerchengruß, den der daheim, auf Rü- 
gen, fterbende Bater dem damals in Schweden meilenden Sohne fandte im 
taufdweren Frühmorgen: 

„Wimmerndes Böglein, du famft ein Bote der Sehnſucht und Treue: 

Alfo fendet der Geift Boten der Liebe dem Geift. 

Denn mein Bater verließ die irdifhe Heimat und grüßte, 

Wandelnd die himmliſche Fabhrt, noch den Gntfernten durch dich.“ 

Meint man wirklich, es gäbe nicht auch Heute noch feine und gottesinnige 

Geelen, die bon ähnlichen Grlebniffen zu berichten wiffen? Das Geheimnis, 
das zwifhen Menſch und Tier und Ueberwelt obwaltet, ift ja noch lange nicht 
ergriindet! Was Raabe {don wenige Seiten {pater in der „Chronik“ jagt: 
„Wir alle find Sonntagskinder, in jedem liegt ein Keim der Fähigkeit, das 
Geiſtervolk zu belaufchen, aber es ift freilich ein garter Keim, und das Pflänz- 
hen fommt nicht gut fort unter dem Staub der Heerftraße und dem Lärm des 
Marktes,“ das gilt aud) bon den Beziehungen zur Natur. Geifterwelt wie 
Naturbefeelung find unferem Auge nod) derfdloffen, trogdem find fie und 
ſuchen Gelegenbeit, fic zu offenbaren. Das Kind Marie Ralffs erfchaut im 
Traum die nie gefebene „erdentote* Mutter. „Mama,“ flüftert das Kind 
leife, und ein heiliges, glüdjeliges Lächeln gleitet über das Gefichtchen. Wer 
taunt der Waife das fife Wort zu? Die alte Martha hat die Hände gefaltet 
und betet leife...ift es ein Traum, oder fommt die erdentote Mutter zurüd, 
über ihrem Rinde zu fdweben? Dann fällt wohl ein Mondftrahl glänzend 
durd das Gfeugitter auf das Bild Mariens, der 
Kanarienpogel zwitſchert aud wie im Traume 
auf...“ Gin dreifahes freudiges Grfennen! O 
Wilhelm Raabe, wie zart glitten deine Ginger bon 
je über die Saiten des rätſelvollen Lebens! 

And wie warft du ber heiligen Uebergeugung 
fo ficher, daß einft alle Rätfel fic Iöfen werden in 
dem Uebergang, den wir Tod nennen, und der dod 
nur der Eingang zu einem wahreren Leben ift! Das 
DBüblein der armen Tänzerin liegt im Sterben. „Das 
Kind ftöhnt im unruhigen Schlaf; die Hand bes 
Todes drüdt ſchwer und fchwerer auf bas Fleine 
unwiffende Herz, dem fich gleich ein Geheimnis ent» 
büllen wird, vor weldhem alle Weisheit der Welt 
ratlos ftebt.“ 

„Die Toten fommen nicht zurüd, Hans! Ich 
wollte, ich wüßte alles fo genau wie das,“ ertönt 
es dagegen fchrill aus dem Munde Mofes Freuden- 
fteins im ,Sungerpaftor“. Gr ift der geiftige Iuzi- 
feriſche Widerpart des gotteshungrigen Johannes 
Unwirrfh. Ihm muß daran liegen, daß die Toten für 
immer ausgelöfeht find — böfes Zeugnis würden fie 
ablegen fünnen und müffen gegen ibn, das ents 
artete Kind eines zeitlebens nur für den Sohn be- 





dacht gewejenen, an der SHerzensperderbnis des Sohnes geftorbenen Vaters. 
„Die Toten fommen nicht wieder!* Hans Unwirrfch aber glaubte, als er beim 
Ordnen des Nadlaffes dem „Freunde“ treu zur Seite blieb, in dem Schatten 
des Freudenſteinſchen Haufes oft nod einen anderen Schatten zu feben: „es 
war ihm, als ob der tote Mann nod nicht ganz fortgegangen fei — er war 
ja aud) der Baſe Schlotterbed begegnet, und die Gute hatte bedenklich den 
Kopf gefdiittelt, alg man fie näher darum befragtel“ 

Sa, die Bafe Schlotterbedl Im „Hungerpaftor“ ift fie die fattjam befannte 
Krongeugin des Ueberfinnliden. Und fie bleibt einzigartig auf dieſem Gebiet 
durd) den ganzen Raabe. Gie fieht die Geifter. „Die Berftorbenen waren 
für fie nicht abgefchieden bon der Erde; fie fab fie durch die Gaffen fchreiten, 
fie begegneten ihr auf den Märkten... Damit war für fie nicht der geringjte 
Saud von Unheimlidfeit verbunden... Selbft den Bekannten der Bafe Schlot- 
terbed erregte die „Gabe“ derfelben fein Grauen mehr... Auf den Sharafter 
des guten Weibleins felber hatte die hohe BVergiinftigung feinen verſchlechtern— 
den Einfluß.“ Die Bafe nahm ihre Gebergabe „wie eine unberdiente Gnade 
Goties.“ Daf ihr zwifhen Weihnachten und Spiphanias, alfo in den aud im 
Dollsglauben als befonders bedeutjam geltenden zwölf heiligen Nächten, die 
Schatten vieler Geftorbener zu begegnen pflegten, erwähnt Raabe aus- 
driidlid. „Sie ſchritten in den Gaffen einher oder traten mit ihr in die Kirche 
und umfchritten den Altar.“ Die Tageszeit fpielte bei diefem ihr ganz natür— 
lichen Schauen feine Rolle. Als Hans Unwirrfdh fein Maturitäts-Szamen 
beftanden hat und glüdfelig daheim immer und immer wieder der Mutter, deny 
Onfel Griinebaum, der Bafe Schlotterbed zärtlich dankt, bricht er ſchließlich 
in die Worte aus: ,O Mutter, wenn dod der Vater nod Iebtel* O, er lebte 
und fab! Für die Bafe fiderlid! Die Mutter brad) freilich in lautes Weinen 
aus; „aber die Bafe legte nur die Hände im Schoß zufammen, nidte mit dem 
Kopfe und lächelte vor fid bin... auf einmal aber erhob fie fid fchnell bom 
Stuhl, faßte den Rod der Frau Ghriftine und deutete geheimnispoll nach 
dem Genfter. Seder folgte der Richtung ihres Winfes. Aber niemand außer 
ihr ſah was. Die Kröppelftraße lag im vollen Mittagsfonnenfdhein...“ 

„Sie fünnte einen am hellen lidten Sage aus der Kontenanffe bringen“ 
murmelt da der Oheim Griinebaum mit einem fdeuen Seitenblid auf die Baje. 
Sie leben immer in einem fröhlichen Kleinkrieg, diefe beiden. Sie hat ibn 
ganz hübſch unter der Knute und weiß ihm derb die Wahrheit zu fagen, dem 
mehr politif- als arbeitshungrigen und allegeit durftigen Schuhmachermeifter 
— wie ergdblid z. B. ift das auf Seite 447 * gejchilderte Redegefedt der bei- 
den, in dem natürlich die draftifhe und humorvolle Schlagfertigfeit der Bafe ies 
gerin bleibt. „Sür diesmal habe ich genug von ihr.“ Sa, diefe Geifterfeberin ift 
nichts weniger denn eine PBhantaftin. Refolut, praftifch, ficher, ftets Flug hilfsbereit 
ftebt fie im Leben und im Haufe Unwirrfh. Dem Heinen Hans ift fie zweite 
Mutter und frühe Lehrerin, dem Obeim ein moralifher Halt. Als fie ge» 
ftorben ift, will er „ihr nad.“ Gr ſaß im Winkel und verlangte nad der Baje. 
„Ad, die Bafe, die Bafel Sold ’ne furafdierte Perfdon mit foldem Ine 
ftinft für Riode Zehn und’s richtige Zubettegehen! Ich Tann nicht ausfom- 
men ohne die Bafe...* Und am Abend ihres Begräbnistages ftirbt er ihr 
witklid nad. Man fieht: es liegt Raabe daran, diefe Geifterfeherin als 
prächtigen, vollwertigen Menfden zu erweifen. Gwigfdine blaue Wunders 
augen trägt fie in einem Napoleon-Gefidt durch diefe Welt. Erſchaut fie nicht 
aud) im Geifte ein univerfales Menſchheitsreich, und gehört nicht Tapferkeit 


* Sefamtausgabe. 
382 


ae 


dazu, davon gu zeugen unentwegt? Nur: ihr Reich ift des Gottes poll, der 
in ihrem Auge widerftrahit. Gs gibt aud) Dämonenwerf, böfe Geifter, die 
am finfteren Reid Iuziferifher Machtbegier bauen! Nur wer „im Lidtkreis 
der glänzenden Kugel“ Iebt, die der Hungerpaftor über feinem Arbeitstifch 
in Grungenow aufgehängt bat, d. 5. im Stande der Öottverbundenheit, wie 
Safob Böhme fie lehrte, nur der hat die richtigen Waffen gegen das Reich 
der Ginfternis. Bon diefer Gottberbundenheit, bem Gebeimnis der Myſtik, wider- 
ballt das dem Hungerpaftor unmittelbar folgende Raabewerk: „Abu Telfan“. 

Bor diefer überwältigenden religiöfen Grunderfabrung, der mbftifden 
Neugeburt, erblaßt im perfinliden Leben zunächſt alles andere, aud die 
Welt der überfinnliden Phänomene. Denn die „zweite Geburt“ ift das Wun- 
der aller Wunder. GSelbft der „helle Schein“, der in befonders marfanten 
Gallen diefes Grlebnis begleiten Tann, die Lichtüberflutung bon oben, die den 
ganzen Menfden bis ins innerfte Mark durddringt, wird von dem Gmpfane 
genden felbft zunächſt faum mit beiwertet, obwohl, erfchauernd, bis ins Tiefſte 
empfunden. Dem erften Betäubtfein, dem „Schlag por den Kopf“, folgt, oft 
Woden, Monate andauernd eine Greudeniiberflutung des ganzen Menfchen, 
die unbergleidlid und unbefdreiblid ift. Denken und Wollen fdeinen auf- 
geldft in Wonne — alles drängt dem Geelengrunde, der Geburtsftatte des 
neuen „Kindes“ in uns zu, und der Jubel, der hier aufquillt, ergießt fid 
wiederum befeligend durd alle Regionen des ganzen Menſchen. „Wohldem, 
der feines Menjchentums Kraft, Macht und Herrlichkeit fennt und fühlt durch 
alle Gibern des Leibes und der Seelel* Gs ift die Wonne diefer neuen myſti— 
{ben Menſchwerdung, die Raabe durch Leonhard Hagebuders Mund im Abu 
Selfan mit diefen Worten fchildert. Myſtik ift das Grundwort in Abu Telfan, 
ift die alles andere überfchattende Geift-Erfahrung. Gs nimmt daher nicht 
Wunder, daß grade Abu Selfan an einzelnen metaphyſiſchen PBHanomenen faft 
nichts aufweift. Daß eine feine, bis in die umgebende Natur hinüberſchwin— 
gende Magie die abgellärte Welt der Frau Glaudine durchgeiftet, ift natürlich 
durchweg fühlbar. Dasfelbe gilt vom Schüdderump. Antonie Häußler Tebt 
durchweg in einer höheren Welt, fie ift ein ,Befud bom Himmel“, und alle 
Schönheit, aller Reichtum desfelben ſchwingt verflärend um fie. Wo bas 
Wunder Iebendig gegenwärtig ift, braucht es fid nicht in einzelnen PHanoe 
menen zu offenbaren. Aber Hanne Allmann fieht das Kind nadts im Traum 
mit goldenen Slügeln. 

Aehnlid liegt es in den Unruhigen Gäften. Auch Hier gruppiert fich das 
Ganze um das efoterifhe Grlebnis, diesmal ausgefprodhen driftlid beleuch- 
tet, in Phoebes lieblidher Geftalt fich offenbarend, die die „Gnade“ Hat. Bon 
metaphyſiſchem Einſchlag faft feine Spur. 

Weld’ gewagten Ausflug in die Romantik bedeutet dagegen das feine, 
bon deutfhem Weh und deutfhem Bieffinn durchgogene geitbild „Nach dem 
großen Kriege.“ Hier werden alle Wunder der Romantik lebendig: Elfen 
und Nizen treiben ihr Wefen. Irrlichter tanzen. Geifter und Gejpenfter üben 
prophetifhen Vorſpuk durd Klopfen ufw., andere fteigen aus dem Boden und 
zeigen ihre Wunden. An dem „wüften Ort“ haben die Toten „bis heute noch 
feine Rube in ihren ©räbern, fie geben um und umfdweben in nächtlicher 
Weile, manchmal aber aud am hellen, lidten Sage, den wüften Ort; und mand 
einer hat Grfahrung davon.“ „It nicht der Sufanne am hellen Sage, im 
SHerbit des Tahres 1809, mittags um zwölf Ahr, als die Sonne hell fdien, 
ein folder Spuf begegnet? Ift nicht der Paftor des mwüften Dorfes vor ihr 
bergegangen, — ein alter Mann im fdhwargen Predigergewand mit weißer 


383 


Salstraufe und Blutfleden darauf? Ift nidt das Gefidt der Erſcheinung 
weiß gewefen, wie ein Totengefidt, und ift nicht der Priefterrod zerriffen und 
poller Brandflede gewejen? Hat der Spuf nicht die Bibel im Arme gehalten, 
und ift er nicht Iangfam dur) den Wald gegangen bis gu der Stelle, wo einft 
die Kirche des verlorenen Dorfes geftanden hat? Hat er da nicht Sufanne 
gang ftarr angefeben und mit der Hand gewinft, und ift er nicht verſchwunden 
darauf, als ob ihn die Erde oder die Luft berfdlungen hätte? Halb wahn- 
finnig vor Angft ift die Sufanne durd den Wald geftürzt.“ Das ift „das 
redte Sachſenland, nicht die Proving der Meißner und Leipziger.“ Raabe 
hat recht, altgermanifches Denken und Schauen lebt in feinen Bewohnern viel» 
fach bis heute nod und wirkt fid in ungewöhnlichen Begabungen aus. Dahin 
gehört 3. B. das Wandeln im Geift, von dem in dem „Lebensbud des Schul. 
meifterlein Michel Haas“ äußerſt anfdaulid berichtet wird, das Sidmani- 
feftieren in die Ferne durd Wort, Bild, Laut, am häufigften von Sterbenden 
ausgeführt, wie es in den Kindern bon GFinkenrode, in Meifter Autor fo herzbe⸗ 
weglid) gefdildert wird. „Hier war wahrlid Magie,“ betont Raabe ausdridlid, 

Daf in den Kräbenfelder Gefdidten, bejonders in den drei lebten: Frau 
Salome, die Gnnerfte, Bom alten Proteus, ganz gewagte Spaziergänge in 
das Land des Ueberfinnliden gemadt werden, habe id an anderer Stelle 
mehrfach dargelegt. „Wer nicht zwei Leben hat, ift ein armfeliger Hund; der 
Genius aber hat deren neun und Hettert an den Hausmauern herauf und 
geht auf den Dadfirften wie die Kate.“ Suft neun, Wilhelm Raabe? Gi, wie 
fein das zufammenklingt mit den „Himmeln“ und Devahan-Abftufungen alt= 
indifHer Weisheit, Freund Raabe! Wußteft du davon? Und bon der neun» 
faden individuellen Entſprechung im irdifchen Sein? Nun, fo oder fo — 
perjuden wir es, mit dir auf metaphyſiſchen Dadfirften gu geben wie Ma- 
dam Kate. GS madt augenweit und berzensjelig, dieſes erdüberhobene und 
fternennabe Geiltangen. des Seiftes! 

Dod, was frage id, ob, neben der eigenen Grfahrung, aud die alte in» 
diſche Weisheit dir ihren Gruß entboten habe, fie, bon der Freund Sdopen- 
bauer einft befannte, fie fei die &reude feines Lebens geweſen und werde 
der Sroft feines Sterbens fein! Weißt du nicht aud) bon dem mbdftifmen Om 
des Brahmanen? Die „Weihnacdhtsgeifter* verraten es uns, diefe in Yeber- 
mut, Sieffinn und Höhenflug erfunfelnde Skizze oon einigen gwangig Seiten, Die 
einen glänzenden Stirnreif, will jagen ein nedijhes Motto trägt: „Quand 
les gens d’efprit fe mélent d’etre béêtes, ils Ie font énormément.* Daß es 
dir, Du Gigant aus eigenen und fremden Gnaden, nicht an Geift gebrach, wiffen 
wir alle. Du bift ein Gigener — und Haft zudem allen Seiten tief ins Auge 
geihaut. Und daß du in diefer Weihnachtsplauderei ganz tidtige Purgel- 
bäume fchlägft und dem, ber fie dir als ſolche glaubt, ein Schnippdhen dazu 
— das merfen wir aud. Barodfter Humor erfdeint auf dem Plan und ift 
dod tieffter Grnft: ein Chriftabend-Ausflug in das Weihnadhtsmbdfterium. 
Weitenweber infgeniert ihn — er weiß bereits mehr davon als der behäbige 
Hinfelmann, der einer durch Weitenwebers Schuld zunichte gewordenen Weih- 
nadtseinlabung nadtrauert, einer Ginladung gar in ein ganfebliimden-poefie- 
vergoldetes Geheimratshaus. Den echten Weihnadtsgruf hätte diefes ge- 
Heimratlide Haus ja doch nicht zu bieten bermodt. „Liebe Brüder zu Babel“ 
gitiert Weitenweber feinen Safob Böhme, „tanzet doch nicht alfo bon außen 
ums Myſterium.“ Wo tanzt man in diefer bon Scheinfreude durchſetzten Welt 
nicht von aufen ums Mpfterium, dag allein die echte Freude birgt? Wher 
Stimmen, die zu diefer wahren Greude rufen, gibt es genug. „Es ift mander- 


384 


lei Art der Stimmen in der Welt, und ift doch feine undeutlich“ zitiert wieder- 
um Weitentweber den Apoftel Paulus und — erfchließt feinem Freunde Hinkel 
mann eine der Stimmen: die Stimme der Stadt. 

Nichts geſchieht bon ungefähr. Hinkelmann bat juft ein ziemlich abgegrifa 
fenes Büppchen auf einer nadbarliden Auftion gefauft — weiß er warum? 
Aber fein „Dämon“ weiß es... Das Piippden liegt auf dem Tijd por den 
beiden Freunden, neben der Punfdterrine, und Freund Weitenweber fennt das 
Zauberwort, ihr geiftiges Urbild zu beſchwören. „Diefe Welt ift ein großes 
Wunder! Wir wollen über die Weihnadhtswelt wandern, Karl Theodor Hine 
felmann! Fülle die Glafer! Diefe Puppe foll uns führen! Ich erfenne eine 
alte Sefannte in ihr — Dolla, fpiritus biarum — daemon ambulatorius! 
Srwade, Liebdhen!“ 

Ift in Geftalt diefes zerzauften Püppchens wirklid) eine Fee über die 
Schwelle des weihnadtsbaren Tunggefellenftübchens getreten? „Wir haben 
feinen Namen, wir find ein großes Gefdledht. Wir in den Gaffen, wir find die 
©eifter der Gaſſen — ber da fennt uns.“ „Ia, id fenne euch.“ 

Alles wird lebendig unter dem Zauberftab diefer Fee. Selbft der vergol- 
dete Apfel, das Piippdhen am Baum, der fühe Honigkuchen- und der ſchwarze 
proletarifhe Pflaumenmann. Wud der Streit diefer Welt... Aber dann er» 
Hingen allmählih Gloden in die ftille Nacht. Und damit kündigt fid ein gang 
neues Leben an. Gin Leben in Harmonie, in Friede und Freude. Ginft ward es 
ſchon Wahrheit, neu fol es Wahrheit werden in jedem von ung. Chriſt ward 
einft geboren ins Fleifch, neu foll er hineingeboren werden in unfer fleifchliches 
Sein! Nie hört diefes Wunder auf. Der es in fich erlebt, tanzt wahrlich nicht 
mehr bon außen ums mbdfterium magnum, er lebt mitten darin. „Wenn es nur 
fon fo wäre* wünſcht Weitenweber. 

Daf diefe Weihnachtsfeier, elfengeführt, Durch eine fefundare Puppenwelt 
wandernd bis gum höchften primären Leben, bor dem alsdann Die ganze 
Puppen-Grfdheinungswelt verfinkt, nicht als Humoresfe gemeint fein fann von 
Wilhelm Raabe, ift woh! Har. Man lefe den feierlihen Ausklang, in den 
Urworte unferer weihnadtliden Weihegefänge bon Dom und Kirche ber Hine 
eintönen. Man höre den Gubelgefang der mehr und mehr in ©eift, Schönheit 
und Weihe fich verflärenden Elfe: „Shrift ift geboren! Ehrift ift geboren!“ 

Wir haben eine metaphyſiſche Höhenwanderung por uns. Mandhem fider 
eine Sorbheit, eine Burlesfe. Schon, weil die Punfdbowle eine Rolle dabei 
fpielt. Da will Raabe-Schalkheit uns einen Streich [pielen. Aber — Freund 
Weitenteber tut der Punſch ohnehin nidts. Der „Rauſch“ aber, der um 
Hinkelmann feinen Zauber wirft — finnte der nicht vielmehr eine Sraum-GEnt- 
rüdung fein? Der junge efthetifprofeffor in ,,Gulenpfingften“ Hat feinen 
Tropfen getrunfen, er fagt aber doch gu fic felber: „Das Wahre in der Welt 
. ift dod, halb betrunfen gemadt zu fein — guerft natürlich durch Entzüden ... 
und die Welt verfchleiert zu feben. Der ridtige Menſch, und por allem der 
deutſche Menſch gehört nur in den Nebel hinein, und in folden Nebel!* — 
Alfo: ni@tinrationale Nüdternheitl — — — — 

Ih glaube in Borftehendem leidlid ertwiefen gu haben, dah ein metae 
phyſiſch orientierter Raabe nicht grade meine Grfindung, fondern eine Tate | 
face ift. Möglichft find ja feine eigenen Worte als Belege gebradt worden. 
An feiner Bedeutung als fdaffender und geftaltender Künftler rüttelt das 
nicht — im G©egenteil. „Wahre Dichtungen halten der Zeit den Spiegel nur 
infofern nützlich por, daß fie die Zeit in der Gwigkeit fich fpiegeln laſſen,“ 
fagt er felbft. Daf diefes Ewigkeitslicht in der heutigen Beitlidfeit weiten Krei- 


385 


fen ein ©reuel ift, daß man es Hier und da aud in Raabe am liebften tot- 
ſchweigen midte, das darf uns nicht hindern, dem Beften feiner „Raabenweis- 
beit“ nachzugehen. „Dem einen wadfen die Adlerflügel, wo dem anderen 
brecherlich gumute wird,“ erklärt er draftifch felbjt einmal. 

Und grade heute ift Raabes Lebensbotſchaft an fein deutjches Bolt 
gang befonders wertvoll nad diefer Gwigfeitsfeite hin. Gr Hat, wiederum 
feinem eigenen Wusfprud) nad, das innerfte deutfhe Wefen gefannt und gee 
{dildert, in ſchier beifpielslojer Schönheit, Liebe und Tiefe. Und augenblid- 
lid ift das deutfche Volk bitter franf. Grade an feinem innerften Wefen. Ma- 
terialigmus, Rationalismus, Mammonismus, Internationalismus Haben es 
zerfrejfen und durdgiftet. Die einft Jo mächtige Bewahrerin und Darbieterin 
idealer Werte, die Kirche, ijt machtlos geworden und fteht fdier ratlos in 
ſchwerem Kampf. Sie verſucht es, ihre Lehre durch Seilreformen wieder 
ſchmackhaft zu maden; fie baftelt an Neugeftaltung des Kultus, des Dogmas, 
baut an neuen Liturgien — dod in die Tiefe dringt fie mit ihren Reformen 
nidt. Noch wirkt ein verflachender Liberalismus fich viel zu ftarf in ihr felbft 
aus. Hier aber ift, mas fie retten fann: Myſtik und Metaphyhſik, wie fie 
in Wilhelm Raabes fünftlerifher Verkündigung fid die Hand reichen. Beide 
find ja bereits zur Stelle auf dem heutigen Geiftesfampfplag. Gin neues lites 
rarifches Erblühen der Myſtik ift da — id nenne nur Namen wie Lagarde, 
Sobannes Müller, Arthur Bonus, Friedrid Lienhard. In auferfirdliden 
Selten (wie in der „Semeinfchaftsbewegung“) ift fie ja nie erloſchen. Man 
nehme fie neu und tapfer auf in die Verkündigung der offiziellen Kirche. Sie 
ift der eigentliche Herzpunft der Religion; fie allein fchafft lebendige und hero— 
iſche Shriften. Mit der üblihen ,andadtigen DBeriefelung“, wie Johannes 
Müller einmal fagt, ift’s nicht mehr getan. 

Myſtik ift gebeimnispolles zentrales Grleben; fie „zielt ins Herge 
Gottes“. Metaphyſik ift überfinnlihes Grkennen. Aud fie, bon der eban- 
gelifhen Kirche bon je gang befonders vernadlajfigt, erlebt ein neu Grfteben 
Heute, u. a. in Spiritismus, Offultismus, Sheofopbie,- WnthropofopHie. Die 
Kirche follte nicht zögern, den Wahrheitsgehalt auch diefer Beftrebungen ber» 
auszuheben und ihrer DBerfündigung zuzuführen. „Das alte Wahre, faß es 
an!“ Wilhelm Raabe bat’s gewagt, und darin liegt das Geheimnis feiner 
©enialität und feines nie auszufhöpfenden Reidtums. Helene Dofe. 


Die innere Zorm in Raabes Werfen. 


1. 


G* gehörte zu den Errungenfchaften des auf Die Höhen des adtgehnten und 
neunzehnten Sahrhunderts gelangten Geiftes, daß er fid die verworrene 
Welt fäuberli in „Gebiete“ eingeteilt und organifiert hatte. Gr gaunte mit 
dem ſchönen Begriff „Religion“ beftimmte verdäcdhtige Erſcheinungen des Ler 
bens ein, er pferchte fie mit porfidtigem Gadperftand fo feft in die befannten 
anderthalb Sonntag-Bormittag-Stunden, daß fie nicht mehr ausbreden und 
die übrigen ©ebiete, die ihre Stunden und Tage hatten, in Unordnung brin- 
gen konnten. Der errungen{daftlide Geift bildete den Begriff „Wirtfchaft* 
und feßte gelehrte Begriffshütehunde bor das Gebiet, die den Unbefugten 
aus den Gebieten der Ethik ufw. den Zutritt verwehrten. Giner der pornehm- 
ften Begriffe war der der „Kunſt“. Wer fid in diefes hochgelegene Gebiet, in 


386 


dem viel Hungergras wadft, begeben hatte, war „Künftler* und Hatte auf 
den anderen Gebieten nichts mehr zu fuden und zu wirfen. Hatte er troß- 
dem ein menfdlid-religidjes Erlebnis, verfpürte er ettva fogar eine „neue Ge— 
burt“, jo hatte das lediglich eine fünftlerifche neue Geburt zu fein, oder, 
um es in der Sprade des neungehnten Sabrbunderts auszudrüden: er ere 
lebte fie „nur“ „in Hinblid auf fein Künftlertum“. Dagegen war nidts zu 
maden, denn es war Grrungenfhaft. Wie war es denkbar, daß ein Dichter 
feiner Würde fo vergäße, daß er fi) zum Berfiinder des Göttlichen hergäbe? 
Dafür waren doch die fadhgemaf für das religiöfe Gebiet porgebildeten Pa- 
ftoren da! 

Die Muttergottesbilder ſchienen im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr 
zur Anbetung, fondern für die Kunftgefhichte gefdnikt zu fein. Die Dich» 
tung war nidt mehr zur Berfiindigung der großen Wahrheiten des Lebens 
und Ueber-Lebens, fondern für die Literaturgefhichte gedidtet. Kleift ver- 
meinte, fein Golf mit der Herrmannsſchlacht zum Freibeitsfampfe aufgupeit- 
fen, der Literarbiftorifer wußte es beffer: Kleift war ein „Dichter“ und bat 
„nur“ ein „KRunftwerf“ guftande bringen wollen. Das Mufeum und die Gee 
fammelten Werte — das war die Hauptſache und die hidfte Ghre. 

Aber das neungehnte Bahrhundert ift nicht nur die Epoche der Runft- 
und Literaturgefchichte, fondern aud) die Spode der Piychologie. Der Gottes- 
mann, der Staatsmann, der Dichter, der Künftler wurde „pſychologiſch bee 
tradtet*. Gs wurde ein beliebter Sport, „in die Gntftehung des Kunſtwerks 
einzudringen“, und man drang mit all der Auf» und Budringlidfeit des Sae— 
culums ein. Die ,,Gntftehung eines Kunſtwerks“ „begreifen“ gu wollen, war 
eine der vielen törichten Aufgaben, die fic) Die Beit geftellt Hatte. Wie ein 
Kunftwerf entfteht, weiß jeder, der eins gefchaffen hat (nämlich fo wie der 
Gebende bon feinem Sehen, der Denfende von feinem Denfen weiß). Die an- 
dern werden es nie wiffen, es geht fie aud nidts an. Da Hat man jämtliche 
Geuerbrande zufammengeftellt, von denen Wilhelm Raabe in der Zeitung oder 
bei Goethe gelefen haben fann — wiffen wir nun, warum Raabe am Schluß 
feiner Gefdidte bon der Grau Salome das Glammengeiden des Werkſtatt— 
brandes errichtet hat? Wer nicht mit den Augen der Bolba die Götterdäm« 
merung fdauen fann, dem hilft fein Zitat zum Berftändnis des Feuers, das 
aus jener Werfftatt bridt und die Hütten der Menſchen in Aſche legt. Was 
er im fertigen, runden Werke des Dichters nicht findet, findet er aud nicht 
auf dem Schreibtifh und im Papierkorb des Dichters. 

Wir unferfeits grenzen uns gegen das neunzehnte Jahrhundert mit folgen 
den beiden Behauptungen ab: Daf ein Künftler die Kunftmittel als Künftler 
beberrfche, ift die Borausfegung, nidt der Sinn feines Schaffens. 
Sinn und Zwed desfelben ift vielmehr das, was er ausdrüden will und fann. 
Gin Dichter, der uns nicht eine echte, ewige Wahrheit zu verfündigen bat, ift, 
und fei er nod fo „Eunftpoll“, nur ein Unterhalter des laufenden Publifums. 
Gs fommt für uns alfo nicht darauf an, die (ewig unbegreifliche, nur tätig 
auszuübende) „Runft“, fondern die Berfündigung zu verftehn. Zweitens: 
Uns gebührt nur, die Gabe des Dichters zu empfangen; allein das Werf, wie 
er es uns gibt, geht uns etwas an. Wir fragen, was in dem Werk ift und 
was nicht. Der Gehalt eines Werkes ift feine Befonderbeit, ift das, was 
uns nur durch diefes Werk und fonft nicht gegeben werden fann. Darum fuchen 
wir die „DBefonderheit* des Werkes, nicht feine „Zufammenhänge*. Die 
Sündleinsphilologie mit ihrem Zitätleskram führt bom Werfe ab, nicht zu 
ihm Din. 


387 


2. 

Das Geheimnispolle am Kunftwerk ift feine Lebendigfeit Gs ift 
Leben darin gebannt, das fortzeugend neues Leben zu entzünden vermag. In- 
fofern das Kunftwerf „lebendig“ ift, fteht es unter den Gefegen alles 
Lebens: es wird nicht abfihtspoll durd den menfdliden Organifations- 
willen ,gemadt“, fondern es „wädlt“. Was „gemacht“ wird, hat einen 
„gwed“; was „wählt“, hat eine „Struktur“. Gewadfen fein heißt: eine Struk— 
tur haben, durd die bon einem innerften „Punkt“ Her die innere’ und äußere 
Gorm gleicherweife beftimmt ift. Diefe Struktur ift die in fich berubende Gee 
fegmäßigfeit, die das „Innere“ und „Aeußere“ ineinanderbindet, es durch- 
waltet und geftaltet. Wir fragen alfo bei einem echten, d. 5. „gewachfenen“ 
und „lebendigen“ Kunftwerf nad jener einheitlich gefchloffenen Geſetzmäßig— 
feit, die uns das Aeufere und Innere, die Form und den Gebalt, als eine 
organifhe Einheit verjtehen läßt. 

Es ijt befannt, daß Raabe feine Werke als ganze („Sanzbeiten“) fongi- 
pierte. Diefes Ganze wurde mehrmals, immer fid erweiternd und verän- 
dernd, entworfen, ehe das ,endgiltige*, das „reife* Werk niedergefchrieben 
wurde. Infolge Diefer Gntftehung weifen gerade Raabes Werfe eine er- 
ftaunlid gefdloffene Struftur auf. Inneres und Weuferes hängen bei ihnen 
unlösbar, bon einem Leben durchpulft, zufammen. Wenn wir den äußeren 
Aufbau richtig erfchauen, jo erfchließt fid uns darin zugleich der innere „Sinn“, 
die „Bedeutung“, das „Lebendige“ des Werkes. 

Git das Heraustaften der finntragenden Struftur fommt por 
allem das fertige Gebilde in DBetradt. Frühere Entwürfe des Werkes 
fönnen nur einzelne Merkwürdigkeiten erklären. (Wie das Wefen eines Man- 
nes aus ihm felbft in feinem Mannesalter erflärt werden muß, nur aus— 
bilfsweife fommt für einzelne Züge eine Grflarung aus dem Kindes- und 
Jünglingsalter in Betradt.) 

Aber ift eine aufgezeigte Struktur nicht fchließlih ein bloßes Begriffs- 
gerüft? Und fol ein DBegriffsgerüft, ein „Schema“, ein „Schatten des Lee 
bens“ follte als ,,G@rflarung* eines Kunftwerfes gelten? Wir betonen: wenn 
wir die Struftur eines Werkes Herausftellen, fo wollen wir damit nur das 
Kunftwerf verdeutlichen, es fällt ung nicht ein, bie Struktur an die Stelle 
des Werkes zu feben. Auch die Sprache, als lebendiges Gebilde des menfch- 
liden Geiftes, hat eine Struktur: ihre Grammatif. Ich Tann eine Sprache 
{predhen, ohne ihre Grammatik zu fennen. Will ich fie aber bon ihrem Grunde 
aus, als einen gefdloffenen Organismus, verjtehen, fo muß id) Grammatik 
treiben. Wollen wir eine Dichtung nicht eben „nur“ lefen und aufs Serate- 
wobl „genießen“, fo müffen wir — ganz entjprechend — ihren Herz» und 
Ouellpuntt ausfinden und von ihm (als dem „Aziom“) aus ihren gefegmä- 
Bigen Aufbau ertaften. Sp erfafjen wir den „Sinn“ der Dichtung, der nichts 
andres ift als das fchöpferifche Geſetz, das fie geftaltet Hat. Nun werden wir 
das Werf voller, reiner, erwedter genießen, wie wir die Räumlichfeit eines 
gotifhen Domes voller, reiner, erwedter genießen, fobald wir ihn in Grund- 
rif und Aufriß fennen und die haotifhen Einzelanſichten im Bewußtſein des 
®anzen erfaffen. Alles Berftehen ftrebt zu einer Gangbeit. 

Wir behaupten durchaus nicht, daß der Didter die Struftur feines Wer- 
fes beim Schaffen bor Augen bat. (Gr darf es faum in voller Bewuftbeit, 
weil er fonft in die Gefabr des bloßen Konftruierens fame.) Als das DBolf 
feine Sprade ſchuf, wußte es nidts bon Grammatif und dennoch bildete 
es die Sprade grammatifh. Gs handelt fid eben um die ſchöpferiſche Ge— 


383 


ſetzmäßigkeit, die teils völlig unbewußt in reiner Aktivität, teils Dämmernd 
und ahndevoll ihrer felbft bewußt im Schaffen geftaltet. Hat fie fid aus» 
gewirkt, fo läßt fie fid im fertigen Gebilde aufweifen. 

Da jedes Raabefhe Werk ein Individuum für fid ift, fo bat ein jeg- 
liches fein befonderes Geſetz. Wir fünnen alfo nicht anders vorgehen, als 
daß wir die einzelnen Werke auf ihre Struftur Hin unterfuden. Grit wenn 
das geleiftet ift, finnen wir auf die durchgehende Gefamtftruftur binzielen 
und damit das urfprünglide und allgemeine Geſetz des Schaffenden, Die 
Struftur feiner Perſönlichkeit zu verftehen fuchen. 

(Aus den Werfen Raabes, die ich bisher analbfiert habe, wähle ich im 
folgenden drei als Beifpiele aus, den „Abu Telfan“, den „alten Proteus* 
und die „Stau Salome“. Gine pollftändige Analyfe würde ein Buc erfor» 
dern. Ich fann bier nur gleihfam kurze Hinweife geben, aus denen der bere 
ftandniswillige und intelligente Lefer fic) das Uebrige felbft erjchließen mag.) 


3 


Im „Abu Selfan* bringt ung Raabe die Berfiindigung bon der alles 
überwindenden Geduld als der innerften und gabeften Kraft des Lebens. Wir 
fönnen den „Abu Selfan* das Buch der „Heimgefehrten“ nennen, denn es 
bandelt fic um drei Heimfehren. Im Mittelpunft ftehbt Frau Claudine: Unſre 
liebe Grau bon der Geduld. Ihre Katenmühle, obwohl und gerade weil 
fie abfeits der Welt liegt, ift ber ruhende Mittelpunft in der freifene 
den Gludt der Grjcheinungen. In ihr ift die Zeit und die Beitlidfeit über— 
tounden. In ihr finden die Lebensfämpfer, die gerfdunden aus der Sdhladt 
heimkehren, Sufludt und Heilung; denn bier ift die heilige Quelle, wo das 
Gwige ins Zeitliche einftrömt und das Zeitliche im Ewigen verebbt. 

Die fehsunddreißig Kapitel des Werkes find in drei Gruppen geteilt, je 
zwölf Kapitel gehören zufammen. Diefe Zwölfergruppen zerfallen wieder je 
in zwei Hälften. Das achtzehnte Kapitel als die Mitte der mittleren Gruppe, 
Bringt die große Rede Leonhard Hagebuders über Tod und Leben. Im vier» 
undgwangigften, dem Sclußfapitel der Mittelgruppe, verfündet Hagebuder 
die „beldenhafte Geduld“ als die tieffte Kraft des „nicht tot zu Friegenden“ 
Lebens *. 

Sede der drei Zwölfergruppen enthält die Gefdidte einer Heimkehr. 
Der erfte, der zur Grau Glaudine heimfehrt, ift Leonhard Hagebuder, der 
zweite ift Frau Glaudines Sohn, Biktor Fehlehfen (van der Monk). Die lebte 
und fchauervollfte Heimkehr ift die der Nikola von Ginftein. (Die Heim- 
fehren find nad dem Grad ihrer Schwierigkeit geordnet. Se öfter man den 
„Abu Selfan* lieft, um fo höher madft die Geftalt der Nikola, während 
die des beredten Leonhard Hagebucher, der immer mit dem rechten Wort bei 
der Hand ift und dem Raabe viel humoriftif{he Umgebung zugemefjen bat, 
aurüdtritt.) 

Die Heimkehr Hagebuders ift pom fommerliden Licht umfloffen, Bik- 
tor fehrt im Herbft heim, Nikola aber im Winter. Auch das läßt die Abficht 
Raabes erfennen. Dazu beachte man: Hagebuders Heimkehr ift ein Idyll, 
Viktor ift eine epifche, Nikola eine tragiſche GSeftalt. 

Seder der Heimfehrer hat fein befonderes Kampfgefilde. Leonhard fteht 
gegen das verftändnislofe Spießertum. Sein Kampf ift voller Komik (der Fae 


* Bol. Dr. Hermann Sunge, Wilhelm Raabe. Studien über Gorm und In— 
halt feiner Werfe. Sunge und id find unabhängig voneinander auf die Einteilung 
der Kapitel gefommen. 


389 


milienrat), aber hinter der fomifhen Maske ftedt dod die ernftefte Bruta- 
lität des Lebens. Biltor durchirrt die Welt der raftlofen Unrube, er eilt ziel» 
los von Tat zu Sat, aber fein Abenteuer gibt ihm Rube. Nikola fampft den 
{redlidjten Kampf, den Kampf gegen die Ganaille in ihrer ſchlimmſten 
Gorm: fie lebt in der Welt der Lüge **. 

Sedem der Lebenstämpfer ift ein andrer gegenübergeftellt, der in feiner 
Weiſe (und zwar auf einer niederen Stufe) mit der betreffenden Welt fer- 





Nicola von 
Einstein 


tig geworden ift. Der Better Waffertreter Hat in weltiiberlegener Wurftig- 
feit und nicht ohne reidliden Alkohol die Spießerwelt mit feftem Griff ge- 
padt und fogar die Grau Slaudine entdedt. Täuberih Pajda, der abenteuer- 
lihe Schneider, lebt ein blofes Pbhantafieleben, abgeftorben den Realitäten 
des Lebens. Die Welt der Lüge aber erzeugt als ihren Ueberwinder den grau- 
figen Räder, den Leutnant Kind. Grau Glaudine hält ihn auf feinem Wege 
nit auf, er muß feinen furdtbaren Weg gehn. 


** Gon der „Sanaille“ bei Raabe handelt ganz vortrefflid) Dr. Max Adler 
im Schulprogramm des Salzwedeler Oypmnafiums über ,Raabes Stopffuden*. 


390 


Das Prinzip einer jeden der drei Welten ift jedesmal in einer Haupt- 
perjon verkörpert. Der Hauptvertreter der Spieferwelt ift der alte Hagebucher, 
in der Welt der Abenteuer ift die phantaftifche ſchwarze Hauptperjon Die 
Madame Kulla Gulla im Mondgebirge. In der Welt der Lüge ift der größte 
Birtuofe der Baron bon Glimmern. (Man beadte den daratterifierenden 
Klang der Namen.) Die drei Welten freifen: Leonhard fam aus der Welt der 
Abenteuer, bom Mondgebirge, Biltor fam aus der Welt der Lüge. Nikola 
ging aus Angeduld durd eigenen Entſchluß aus der Welt der JdHlle. — 

In diefen drei Welten mit ihren dreimal drei Perfonen, die alle um die 
Grau Glaudine reifen, ift die Struftur des „Abu Telfan“ far gelegt. Daraus 
gebt der Ginn des Gangen eindeutig hervor. Gs handelt fid um mehr als 
eine bloß moralifche, es handelt fih um eine religiöfe WAngelegenbeit: wie 
fönnen wir das Leben durchfämpfen und ertragen, diefes Leben, über dejjen 
Ginn wir nidhts Mebreres und nichts Höheres zu erfennen imftande find als 
das, was Leonhard Hagebuder im adtgehnten Kapitel ausfpridt? Man bee 
adte ferner das Symbol des Brotes, das Grau Glaudine der Nikola auf 
ihren fchweren Gang mitgibt. Man wage Wort um Wort die Schlußfäge des 
bierundgwangigften Kapitels: „Der Sturm, welden wir nur aufhalten, nicht 
verbieten können, wird ihr fines Haupt tief beugen, Dod den Baum des 
Lebens wird er nicht entwurgeln. Ginft bat fie mir bon einem Bürger- 
redt in einem Reihe, von dem die Welt nichts wiffe, ge- 
{proden. In der redten Stunde wird fie diefen Freibrief pormweifen, und 
alle da draußen werden ihn widerwillig und freudig anerkennen miiffen, und an 
diefem Tiſche wird fie niederfigen und fprechen: Mutter, ich danke dir, Dein 
Brot bat mid erhalten!“ Dazu nehme man die faft zerreißende Iebte Span- 
nung auf der lebten Seite des Buches: der Dodt glimmt nur nod ganz wenig 
in der ungebeuren Ginfternis — wird Gr den glimmenden Dodt ganz aus- 
löfhen? It das „KRunft“, oder ift das — Götterbämmerung, oder ift bas — 
Evangelium? Gs ift alles zugleich. Schreibt das einer, der „als Künftler“ 
neu geboren wurde? Nein, hier gibt einer Zeugnis von feiner neuen Seburt 
gum Leben, bon jener Kraft, die ihn alle Gnttäufchungen bis in fein hohes 
Alter mit Reinheit und Geduld ertragen ließ. Und diefe Kraft ift nicht eine 
gute nur, fondern eine heilige. Aber der Taube Hirt immer nur feine Taub- 
beit und nimmt die Stimmen, welche die andern hören, für Halluzinationen. 


4, 


Im Sdlupfapitel des „Abu Selfan* fagt Leonhard Hagebuder: „Die 
andern alle, die mit Lift oder Gewalt den äghptiſchen Proteus, das Leben zu 
überwältigen und zu ihrem Willen zu zwingen fuchen, und mit ibm ringen 
müffen bis an den Sod...“ Das war im März 1867 gefchrieben. In den 
erften Monaten des Iahres 1875 ſchrieb Raabe die Gefdidte „Bom alten 
Proteus.“ Proteus ift das ewig wechjelnde Leben, das immer anders ift, 
alg man es im Augenblid gu fehen bermeint, es verwandelt feine ©eftalt un— 
ter den zugreifenden Händen. Ift diefes Leben bloß täufchender Schein ohne 
fefte Wahrheit? Schale ohne Kern? Blüte ohne Grudt? Weſſen Herz rein 
ift und feft — Innocentia, die Unfchuld, und Gonftantius, der Fefte, Bee 
ftändige, Setreue; „der ftäte Gefelle* jagt Wolfram —, der finkt nicht, fondern 
fteigt, er ſchrumpft nicht ins Wefenlofe, fondern wadft empor. Gs gibt taube 
Dlüten, aber auch Blüten, die Frucht treiben. Unferm irdifhen Blid freilich 
entſchwindet „das lieblide Wunder“ wie „ein filberner Klang“ oder entſchwebt 
als „lite Geftalt im Morgenglang*. Aber — es zieht uns Dinan. — 


391 


Die zwölf Kapitel des „alten Proteus“ zerfallen in vier Gruppen zu je 
drei Kapiteln, und zwar bilden die beiden mittleren Dreiergruppen wiederum 
eine höhere Einheit. In den erften drei Kapiteln wird uns die banale Rear 
lität der Dinge vorgeführt, die brabe Welt der Piepenfchnieder und die böfe 
Welt der Püteriche. Mit dem vierten Kapitel aber geraten wir in den Bereich 
der Geifter. Rofas Geift beherrſcht die Szene und treibt das Liebespaar 
nin das Wunder“. Im fiebenten Kapitel ziehen fie Hinein, er zuderfichtlich, 
fie aufgeregt, und widerwillig als eine Gans. Im achten Kapitel, dem lieblidften 
und reizendften des ganzen Werkes, erfcheint Innocentias fichernder Geift. Mit 
dem neunten Kapitel verlafjfen wir den wunderliden Wald und die Geiſter— 
welt und fehren mit Pater Gonftantius in die reale Welt guriid, aber feine 
Realität ift nicht mehr gemein und banal, fondern eine höhere Lebensitufe. 
Gr ift Herr über das Leben geworden. 

Die Gefdidte zerlegt fic, fobald man ihre Gorm zu erfchauen fudt, in 
zwei Gefdidten, die nur durch die beiden ©eiftererfcheinungen verbunden 
werden. Die eine fpielt in der Gegenwart: zwiſchen dem fehr alltäglichen 
Liebespaar Hilarion und Ernefta (zu deutſch: Heiterfeit und Ernſt). Man bee 
adte aber aud den Klang der beiden Nachnamen: Abwarter Flingt hart, 
Piepenfdnieder Hod und zart, in jenem liegt zugleich ein Yögerfames, in 
diefem eine blanke, rettungslofe Banalität. Die andere Gefdidte hat vor 
Sabrgehnten gefpielt, von ihr find nur nod zwei am Leben, die beiden dazu 
gehörigen Toten agieren als Geifter. Die erfte Gefdidte fpielt in bürger- 
lichen, die zweite in abdligen Kreifen. Die erfte ift eine werdende, wir were 
den nur bis zur Krife geführt und dann mit einem Gragegeiden entlafjen, 
die zweite ift eine fic pollendende. 

Die Bergangenheitsgefhinhte ift diefe: Der oortrefflide Baron, 
der [pater als Pater Eonftantius in der Ginfiedelei Haufte, liebte die zarte 
Roja oon Krippen, eine Jungfrau, die fid nie im Leben getraute, robuft fie 
felbft zu fein. Das Biel ihrer Wiinfde ift der elegante Lebemann Baron 
Püterich. Diefer wieder jagt der Schaufpielerin Innocentia nad, die ibm für 
feine Begierde ein lederer Biſſen zu fein ſcheint. Innocentia aber bemüht fid 
vergeblid um den Baron, deffen Namen wir nicht erfahren, fondern der uns nur 
als Pater Gonftantius befannt wird. Die zueinander gehören, find einander 
abgewandt, aber fie jagen dem nad, was nidt gu ihrem Wefen paßt. So 
entjteht der Kreis des irrenden Lebens: der Ring der Selbſttäuſchung, in 
dem die Grjdheinungen des Scheinlebens wefenlos freien. Nur die Tänzerin 
Innocentia hat den rechten Willen. Darum ift ihre Buße nichts als eine 
breißigjährige ©eifterfröhlichkeit, fie Tann nicht anders als fröhlich fein. Weil 
fie „der Welt Stöhlichkeit“, die „gute Seele* ift, darum ift fie der Erlöfung 
am nadften und entſchwebt heimwärts zu den Urgründen des Lebens, zum 
» Sater TSaufendfinftler“ und „Pſamothe, dem Mütterchen“. Pater Conſtan— 
tius muß durd die Buße der felbftbereiteten Bein Hindurd, aber fein feftes 
Herz läßt ihn alles überwinden. Gr ift aus dem Sraumerwagdt. Das 
ift es, es ift die oberfte Stufe des irdifchen Lebens, bon der aus er der Gna 
nocentia folgen wird. Wiederum eine Stufe tiefer fteht Roſa, deren Geift 
zwiſchen den Wangen Binter der Tapete laufchen und den in feiner realen 
Widerwartigfeit fehen muß, zu dem es fie heimlich zog. Aber: „Der mag denne 
nod wefen geil (mag dennoch genefen, wand an ibm find beidü Zeil, des 
Himmels und der Helle* (Wolfram von Gfdenbad.) Rofa wird durd die 
Buße bon ihrem halben Wefen geheilt. Wher gang der ſchwarzen Farbe vere 
fallen ift der Onfel Lump, der Baron Püterich, der gemeine Sinnenmenid. 


392 


Den beiden Gegenfpielern Conftantius und Piiterid fefundieren zwei Ka- 
tifaturen ihrer felbft: dem Pater Gonftantius der rotnafige Forftauffeher 
Oppermann, der auch ein waderes, feftes Herz Hat, aber aud) fehr realen, 
biesfeitigen — DBranntwein; Hinter dem alten Püterich fteht fein Freund 
Magerftedt. Piterid ift wenigftens noch des Grauens fähig, er ift noch zu 
zerſchmettern; Magerftedt aber ift fo ausgelocht und hartgefotten, daß er durch 
nists mehr aus der Gacon gebracht wird. 


| Wy 


—— : 
Zinnackntiz 





H 
Opper. Piter Hılarıon Ernesta —* ies 
—— ⸗ >>> — — 
waar Abwarter Pepensdanieder Poterich Maser. 
sted? 


In der Gegenwartsgeſchichte wird die ,ernfte* Spießbürgerin 
Grnefta fiderlid der Welt des Märchens und Wunders, die ihr höchſt unbe» 
haglich ift, entfliehen, fie wird ihren Hilarion figen laffen und den jungen 
Bankier „nehmen“. Der „heitere* Spießbürger Hilarion aber, der fid willig 
den Geiftern bingibt, der jedoch annod ein „Träumer im Traum der Welt“ 
ift, wird aus der Täuſchung durch die fdmergende Ent-täuſchung erwachen, 
wie einft Sonftantius, und dann: denfelben Weg geben. In ihm wird das 
Wort des Paters Conftantius, das er auf dem abendliden Friedhof fpricht, 
zünden. Und wird fie nicht Die Seinige, fo „bift Du morgen der Meinige“, 
Das ift die Krifis, die Ent⸗ſcheidung. 

Die Struktur diefer Geſchichte ift Außerft geiftvoll in ihrer Berfdlingung 
bon Gegenwart und Zukunft, von Realität und Spiritualität. Was die jen- 
feitige Welt betrifft, fo weifen wir auf das Wort Hin, mit dem Raabe ause 


393 


gerechnet das vierte Kapitel einleitet: „Wir, der Autor, gebekt mit allen 
Hunden der Kultur des neungehnten Jahrhunderts, wiffen das und geben den 
Nerpen der beiden alten Herren reht und niht dem Faffungsper- 
mögen ibrer logiſchen Denkfähigkeit; wobei wir uns die Ans 
merfung geftatten, daß die erfteren immer nod eine Realität find, während 
das legtere Dann und wann eine ſchöne Redensart ift und auch bleibt.“ Der 
wandeljame Proteus erfchöpft fid nicht in den Geſchöpfen dieſes Lebens, fon- 
dern dahinter fteht das fchaffende Geheimnis des Gangen. (Wir erinnern 
uns der Worte Leonhard Hagebuchers im achtzehnten Kapitel des „Abu Tele 
fan“.) In diefer Welt wechfeln die Erſcheinungen eine nach der andern. Aber 
quer durch diefe Welt wachſen und fteigen die edlen Kräfte aufwärts, ent» 
quellend dem dunfeln Schoße des ©eheimniffes, „ſich verflüchtigend* im — 
„Morgenglanz“ der Gwigfeit, Licht pom unerjchöpften Lichte. Die „Hunde 
der Kultur des neunzehnten Jahrhunderts“ können — in den Morgenglanz 
nur Dinausbellen. Gin jedes Wefen begrüßt den Morgen auf feine Reife. 


5. 


Ueber die „Stau Salome* möchte id nur einiges nadtragen, was nicht 
Jon in unferm erften Raabe-Heft (September 1921) ausgeführt ift. 

Der Aufbau der Sraählung gleidt dem Aufbau des „alten Proteus* (und 
der ,Onnerfte“). Die zwölf Kapitel zerfallen wieder in vier Gruppen zu je 
drei Kapiteln. Auch Hier bilden die beiden mittleren Gruppen, welde die 
Gilife in ihrer Qual bis gum „Durchgehen“ zeigen, eine höhere Einheit. Die 
erften drei Kapitel gehören dem alten Scholten, er wird uns bis gum Zufam- 
mentreffen mit der Grau Salome gefchildert. Die legten drei Kapitel gehören 
Querian. Am Schluß des dritten Kapitels heißt es: „Sp denn hinein ins Ge- 
heimnis!“ Das erfüllt fid) in einem tieferen Sinne, denn in Scholtens Duar« 
tier treffen wir Gilife, um die fid nun alles dreht. Das neunte Kapitel, die 
Mondnadt, in der Gilife auf dem Dade der päterliden Werkſtatt fteht, ift 
ein Höhepunkt fowohl in diefer Erzählung wie in Raabes Schaffen über- 
Haupt. Aber das „Durchgehen“ erhöht nur die Spannung. Während im „alten 
Proteus* die Entſcheidung (die Grldfung) näher der Mitte liegt, ift fie bei 
der „Stau Salome“ ans Ende gerüdt. Jene Gefdidte ift idylliſch, diefe dra- 
matiſch fongipiert. 

Die drei Geftalten Scholten, Querian, Schwanewede ftehen in einem Kreife 
gujammen: der praktiſche Menſch und Richter, der fünftlerifch-prometheifche 
Wenſch, der myſtiſche Menſch. Alle drei find Freunde aus derfelben Heimat, 
in ihnen find typiſche deutfche Charaktere ausgeprägt. Sie ergänzen fid ge- 
genfeitig. Was ich früher darüber ausgeführt babe, bleibt beftehen. Der 
SHerzpunft der Erzählung aber ift Gilife, das tumbe Mädchen, eines jener 
dumpfen, traumwachen Kinder, die niemand fo wie Raabe dargeftellt Hat. 
Gie gehört in die Reihe des Horader Lottchen, Tonie Haufler. In ihr ift all das 
ftumme, fdmerglide, drängende Sehnen mit feiner SHilflofigfeit und feinem 
hellſeheriſchen Scharfblid, in ihr ift die Werdensnot des Menſchen be» 
ſchloſſen. In ihr ift, vielmehr: fie felbft ift das ewige Lebensgebeimnis: das 
Edle, das Geftalt wird: „Was Safob Böhme fah und fühlte und wovon er 
gu jchreiben berfudte, bier mar’s und fongentrierte fic in dem Herzen des une 
verfiändigen verwahrloften Geſchöpfes, der Gilife Querian! das ewige Kon— 
trarium zwifhen Finfternis und Licht — die „Quall* im Univerfo. Was diel 
leicht Peter Schwanewede zu Pilfum am Pilfumer Watt in diefer Mondichein« 
naht aus den Bildhern des myſtiſchen Philofophen mit adgenden Hebe- 


394 


baumen und fnarrenden Ketten des Geiftes aufguwinden tradtete: hier lag es 
auf den Lippen des Kindes, unter den Zähnen, die diefe Lippen blutig preß- 
ten!“ (In diefen zwei Säßen des neunten Kapitels ift jede Silbe durchleuch— 
tet bon Snnerlidfeit und umweht von Ewigkeit.) 


N \ I ⸗ 
= Peter 






NN 
Shane wede 
1 \\NS 


Karl Ernst 


Queria n 





Scholten Salo lome 


In Gilife regt fidh der Tropfen Ichor, Götterblut, der in die irdifchen 
Adern verflößt ift, der Die Menſchen gegen die Welt treibt, der ihnen die 
Augen aufgeben läßt in hellſeheriſcher Bitterkeit. (Gilife: „Die Welt ift fo 
weit, fo weit. Die Wege find fo lang, fo lang, und in den Wäldern geht man 
in die Irre. GS find auch viel zu viele Mtenfden in der Welt... “) Dann feben 
fie den Vachtraubvogel niederfdiefen und halten den Atem an. Und — 
löſen fid und — wandern, auf der mondbefdienenen Straße, ihrer Sehn- 
fudt nad. Das Ichor unterfcheidet die, in deren Adern es eingegangen ift, 
bon der Ganaille. Wer Ichor Hat, verblüht nicht, fondern bringt hervor 
die Frucht der Gwigfeit. Die Not des Herzens ift das Reifen der Frucht. 
Immer treibt das Ichor die Menfden aus der Welt hinaus und über die Welt 


395 


Hinaus. Peter Schwanewede thront über der Welt wie eine taufendjährige 
Krdte im Stein, wie ein alter gotifher Dom über dem Trödelmarkt zu feinen 
Süßen. Scholten und Frau Salome, die wie ein Komet zwifchen die andern 
bineinfährt und bei der fich die Gegenſätze zufpiten, ziehn dem toten Schwane- 
wede nad. Querian aber, der „begabtefte*, zerbricht. Gr, der fchöpferifche, 
wollte, was nur Gott kann: ein Lebendiges fchaffen, und über dem Feuer der 
Werkftatt vergaß er das Lebendige, das aus ihm gefdaffen war, fein eigen» 
ftes und nadftes Leben. Ihn trieb das Götterblut, das aud [wären und fich 
zerfegen fann, in die Irre. Gr wird bon feinem eigenen Feuer verzehrt, 
wie die fduldig gewordenen Götter im Weltbrand untergehn. Gr felbft bat 
diejes Feuer entzündet, nidt der Blitz, und die Hütten derer, die an ihn 
glaubten, müjfen mit verbrennen. Raabe fdrieb die Gefdidte — fi zur 
Warnung. 

Das ift die Berfündigung von der Damonie Des Lebens, das aus dem 
Grunde quillt zugleich als Quell und Qual des Liniderfums. Und es ift des 
Menjden, ob es ſich zur Geligfeit oder LUnfeligfeit wendet. Das Ichor bee 
fruchtet das elementarijhe Leben mit dem unruboollen Geift des ewigen Lex 
bens, daraus das Quellen und Wachfen anhebt, das die bitterfte Not bringt, 
aber aud die heilige Frucht reifen madt. In der „Frau Salome“ ift die Not 
und das Werden, im „alten Proteus“ die Ueberwindung und die Reife *. 

6 


Raabe beginnt den „alten Proteus* mit dem Wunfche, daß er [einem 
Lefer recht glaubwürdig erjcheinen möchte. Nicht den Lefern überhaupt, fone 
dern fei,nem“ Lefer. Wer ift diefer Lefer? Gr verrät es uns bald, nod im 
felben Sabre im ,SHorader“, im Anfang des zweiten Kapitels. Nämlich: 
wenn die Leute gujehen, wie ein neues Haus gebaut wird (pder wenn fie eine 
Geſchichte Iefen), fo fritifieren fie äfthetifch, oder fie überlegen, wie fie fid 
in dem Haufe praftifh anfiedeln und einridten würden. Giner bon tau— 
fend aber „lehnt die Stirn an die Fenfterfcheibe, die dünne Glaswand, die 
ihn bon dem Driiben trennt, und denkt an Geburt, Leben und Tod, an die 
Wiege und an den Sarg, und für diefen einen fchreiben wir Heute und haben 
wir immer gefdrieben.* Denken wir alfo, wenn wir Raabe lefen, getroft an 
Leben und Tod, an diefes Aufleudten in der unendliden Finfternis, das dod 
nie ftirbt, fondern Blitz um Blitz, Stern um Stern entzündet und die Gwige 
feit des Lichtes gegen die Gwigleit der Nacht behauptet. Lefen wir alfo Raabe 
getroft in — @ottes Namen. Wer aber glaubt, Raabe habe mit der Bee 
fbreibung feines Lefers die Literarhiftorifer und Philologen gemeint, * 
irrt. t. 


Kunſt und Schönheit in Raabes Erzählung 
„Des Reiches Krone“. 


GC weiß mit Schreibers Kunſt Befdeid und Hat wohl etwas zu fagen, was 
= aud feine Macht behalten mag, ob allem Schall und Farbenfpiel der 
Erden.“ So fpridt der Dichter am Schluß der kurzen Einleitung der Erzäh- 
lung bon dem „greifen Mann“, den er feine Gefdidte bon der Krone des 
deutfchen Bolfes und des deutfchen Reiches, bon dem leidvollen Heldenfchidjal 
Medtildes, der Groffin, niederfchreiben läßt. Wir wüßten fein zweites Wort, 


* Wir ftimmen Frau Helene Dofe in der Behandlung und Bewertung der drei 
legten „Kräbenfelder ®efhichten“ zu, wie der Kundige bemerken wird. 


396 





das Sinn und Wefen pon Raabes Dichtkunft treffender zeichnete als dies fein 
eigenes. An feiner Stelle aber fteht es mit größerem Recht, gewinnt es 
inhaltsſchwerere Bedeutung, als hier am Gingange dieſer „Eleinen“ Raabe» 
fen Erzählung, die immer in der Reihe der großen und größten Werke des 
Meifters mitgenannt werden wird. 

Man hat Raabe wohl den Ruhm des großen Künftlers ftreitig machen 
wollen, wenn man ihm aud) den bes großen Gthifers und Seelenfünders nie 
nehmen fonnte. Freilich liegt das eigentlid) Gormfiinftlerijhe und Bildne- 
tifche bei Raabe nie fo offen zutage, daß es aud dem oberfladliden Blick 
fogleich deutlih ift. Aber ift es nidt das Zeichen aller großen und vor— 
nehmen Runft, daß ihre Schönheit zunächſt mit der Selbftverftindlidfeit 
natürlider DBildungen wirft und die formende Künftlerhand vergeffen läßt? 
Lind ift nicht diefe Künftlerhand ſchließlich aud nur Dienerin, die das geftaltet, 
was aus dem freiquellenden Born der Schöpferfeele berauffteigt? Kommt es 
nidt letzten Gndes doch darauf an, daß der Künftler „etwas zu jagen hat“? 
Das freilid wird dann um fo bollfommener zutage fommen, je beffer jene. 
bildende Hand „mit Schreibers Kunft Beſcheid weiß“. Diefe feinnerdige Künft- 
lerhand aber finden wir bei Raabe im Bau und Öliederung der ganzen Gre 
zählung bis herab gu der jedes einzelnen Sates am Werle. Zeugt nidt da- 
für [don der von uns zitierte Sat, der wohl des „Schreibers Kunſt“ zuerjt 
und gebührend berporhebt, aber das Schwergewicht der G©efühlsbetonung 
mit den Worten „und Hat wohl etwas zu fagen, was aud feine Mtadt be- 
balten mag ob allem Schall und Garbenfpiel der Erden“ dod fo naddriid- 
lid auf den feelifhen Gehalt der nun beginnerden Graählung legt, daß es fie, 
Stimmung gebend, weittragend durchhallt? 

And ift nicht diefe Einleitung als foldhe ſchon ein Meifterftüd für fich? 
Auf dem Raum einer einzigen Drudfeite fchließt fie, einftimmend und vor— 
deutend, die ganze Erzählung feimbaft in fid. Der feierlih umftandlide Ein- 
gangsfag, der fie in feinem funftboll periodifhen Aufbau gleich als „ein finft- 
lih Schreibmwerf“ fennzeichnet, ftimmt uns fdon durd feinen nun durch die 
ganze Erzählung wmeiterflingenden Ton ein auf ihren erhabenen Gehalt, und 
{aft uns fie nicht nur als eine hiftorifche erfennen, fondern gemeinfam mit 
den zu diefem Gingangsfak fein abgewogenen und abgeftimmten drei Säßen 
der zweiten Abſchnittshälfte verjfett es ung zugleich in die Weiheftimmung des 
weltgeſchichtlichen Augenblides und läßt uns die ganze Wucht der biftorifchen 
Sdidjalsftunde fühlen. 

Go kunſtvoll durdhfomponiert aber wie diefer erfte ift Abfchnitt für Ab— 
fchnitt der ganzen Graählung, und man lieft fie erft recht, wenn man das, 
wenn aud nicht bewußt erfennt, fo doch mitfühlend fpürt. Wiepiel mehr 
aber als trodene Orts- und Zeitangaben fdon Diefe Enappen Ginleitungs- 
worte geben, wie fehr fie bis ins Kleinfte Dichtung find, dafür zeugt wohl 
am bdeutlidften der folgende Sat: „Das Stüblein ift fahl und ohne jeden 
Schmud, aber über dem Garten liegt die Sonne, und der Tag ift Heiter und 
der Himmel blau.* Wie in einem Symbol liegt hier wieder Kern und Gehalt 
der Erzählung feimbaft umfdloffen, und mit welder rührenden Wärme und 
Snnigfeit Elingt aus der zweiten Hälfte des Gages alle Lieblidfeit und Schöne 
des aus der Erinnerung auftauchenden und nun für die Graäblung vorge- 
fhauten Jugendidplls in feinem Gegenſatz zu der entfagenden Alterseinjam- 
feit des „greifen Mannes“ heraus. Bor allem aber, wie lebendig fteht uns 
nad den wenigen Säßen Diefer Ginführung die Geftalt des greifen Schrei- 
bers bor Aug’ und Seele, der wohl dann und warn auffhaut gum Himmel 


397 


und Dinbordt auf das „wunderliche Getin, das durd die Lüfte ſchwirrt,“ aber 
die Seder dod nicht aus der Hand legt und ,,fid nicht wirren läßt.“ Wie deut- 
lid) feben wir nit nur Gemad und Hausgärtlein, fondern aud) Nürnberg 
mit feinen „alten tapferen hohen Schugmauern und Türmen“, die den Schall 
„gar eigen“ zurüdwerfen. Der bedeutungspolle Blid aber über den Garten 
nad) dem Himmel und der Sonne, das Hinhorden auf das wunderlide Getön 
wiederholen fi durch die ganze Erzählung und rufen uns immer wieder in 
die gegenwärtige Stunde und zu dem „grauen Mann“ zurüd. 

Go ftellt ſchon die Einleitung die ©ejtalt des Schreibers nahdrüdlich in 
den DBordergrund, und wir fpüren, daß fie für die Dichtung eine wichtigere 
Aufgabe zu erfüllen hat als die eines anderen GHroniften. Raabe wählt aud 
in mandem andern feiner Werke die Gorm der Rahmenerzählung und er 
liebt es, einen Greund bom Leben und dem Schidjfal des Helden erzählen 
gu laſſen. Auch Hier ift es der Freund des tapferen Ritters Michel Groland, 
der die Geſchichte oon feinem ergreifenden Schidfal niederfchreibt. Aber nicht 
diefe Freundſchaft por allem, fo innig fie ift, beftimmt hier die Geftalt des Ere 
gablers und feine bedeutfame Stellung in der Dichtung. Beftimmend für bie 
Rolle des Schreibers ift vielmehr, daß das Schidjal der beiden Hauptgee. 
ftalten, bedingt und gekrönt durch die Liebe der Mechtild Groffin, ibm zu dem 
für fein eigenes Leben entjcheidenden Erlebnis geworden ift. Daß dies Gre 
lebnis die Wende feines Lebens bedeutete, daß es ihn gleich einer göttlidhen 
Stimme umrief auf feinem Wege ins Leben, daß es ihm „der Welt Wirre 
warr deutete und ihm den Frieden gab,“ das ftellt ihn in feiner Doppelgeftalt 
fo bedeutend in den Bordergrund der Dichtung. Weil das eigentlide Greige 
nis, der Stoff und Vorwurf der Erzählung mit feiner niederfchmetternden und 
erhebenden Gewalt Lebensfdidjal, Lebensführung und por allem die Lebens- 
anfdauung des Erzählers beftimmt, darum Hat der Dichter in ibm aud die 
Geftalt gefunden, die, indem fie erzählt, zugleich das ganze Boll- und Gold» 
gewicht des ethifhen Gehalts der Erzählung ausfdiitten und offenbaren fann 
und muß. Damit gewinnt aber aud) der Pichter die volle Freiheit, in dies 
fer dureh Seite und fonftige Lebensperhältniffe miglidft ferngerüdten ©eftalt 
die eigene Lebens- und Weltanschauung in fo tiefem Grnft, in fo unmittel- 
barer Offenheit und runder Gefdloffenheit zu enthüllen, wie faum in einem 
andern feiner Werle. Dabei ift diefe Geftalt fo feft umriffen nicht nur in zeit- 
und örtlicher, fondern aud in ihrer zeit- und ortsgeſchichtlichen Bedingtheit, 
daß wir feinen Augenblid das Gefühl haben, als dränge fich in ihr der Dichter 
felbjt in den Bordergrund. Wie fie aber dem Dichter Gelegenheit gibt, feine 
Welt- und Lebensanfchauung in ihrer ganzen Eigenart und Siefe zu offen« 
baren, fo hält fie damit zugleich bie beiden Hauptgeftalten, deren Liebes- und 
Lebensſchickſal den Gegenftand der Graählung bildet, völlig frei bon jeder ge- 
danflihen Reflezion, fo daß fie in der vollen, fhönen Unmittelbarfeit und 
Mnbefangenbeit ihres Lebens und Griebens durd die Dichtung fdreiten als 
ganz freie Geftaltungen rein dichterifcher Schöpfungs- und Bildfraft. Gs ift 
wahrlich ein geniales Meifterftüd höchſter Kunft, wie der Dichter die Rollen 
und Aufgaben unter die vier Geftalten feiner Erzählung verteilt hat. Denn 
aud) die Teidpolle Geftalt des heimatlofen griedhifhen Meifters Theodoros 
Antoniades, der mit feinem und feines Volkes Schidfal wie eine lebendige Mah— 
nung in der Dichtung ftebt, ift mit feinftem PDichterfinn erfunden und mit 
wahrer Meifterhand an ihren Plab geftellt. 

DBeftimmend für den befonderen Son und Stil der Erzählung aber ift Die 
Geftalt des greifen Erzählers felbft. Das ,,Tolle! Tegel“, die fanfte Stimme, 


398 


die der heilige Auguftinus als eine göttliche Stimme deutete, wird ihm zum 
beherrſchenden Thema und Leitmotiv, mit dem er anhebt und das immer wie— 
der da aufflingt, wo er an den tragifhen Kern der Dichtung rührt. Ehe die 
Graählung pom Sdidjal der fdinen Jungfrau Medtilb Groffin und des. 
tapferen Ritters Michael Groland, das jene Stimme fhmbolifiert, felbjt ein- 
fest, berichtet der Grgabler im lyriſch-hymniſchen Stil und Ton einer Bekeh— 
rungsgefhichte, einer großen Konfeffion, bon der Bedeutung diefes ,,Tolle! 
lege!“ für fein Leben. Weil jenes tragifdhe Gefdid, das er niederfchreiben 
will, entfcheidend für fein Leben und feinen Glauben geworden ift, muß er 
gleihfam erft ein Lebens- und Glaubensbefenntnis ablegen, ehe er es erzählt. 
Die gewaltige Bußpredigt des feurigen Mönches Iohannes Kapiftranus auf 
dem fteinernen Predigtftubl pon St. Sebald, die die Gloden übertönt und das 
Bolf pon Nürnberg in die Knie zwingt, fann jene fanfte Stimme, die ihm 
pordem erflang, nicht übertönen. Ihm, der ein [anges reiches Leben lang auf 
den Höhen der Menfchheit gewandelt ift, hat der Bruder Iohannes nichts zu 
fagen. Gr weiß, „daß die Spiele der Erwachſenen Geſchäfte genannt werden,“ 
und Hat nun aud) diefe Gefdafte wie einft die Spiele der Jugend bon fich 
getan, er ift „zur Ruhe gefommen, durd die Gnade Gottes.* Aber nod freut 
er fid in der Grinnerung aller Schönheit feines reichen Lebens, noch freut 
er ſich „feiner großen und treffliden Gaterftadt“, über alles preift er „Die 
Stadt feines Gaters und feiner Mutter, die Stadt, welche Mechtilden, die 
Groſſin, geboren werden fab.“ 

Durd das einfache Stilmittel der Wiederholung ftimmt der Dichter feine 
Erzählung auf den weihenollen Ton, der gang der fdlidten Größe und Gre 
habenheit ihres Inhalts entfpridt. Man beachte, wie hier fon am Anfang 
dag feierliche Ichbefenntnis durch dies Stilmittel zuſammengeſchloſſen und ge- 
fteigert wird, bis es auf feinem Hdbepuntt mit dem alles übertönenden Nas 
men Mechtildes, der Groffin, in die eigentlide Erzählung einmündet. Immer 
wieder erflingt es „Ich höre... — id höre..., Ich fcreibe...—id fdreibe..., 
Ih bin... — id bin..., Ih babe... — ich habe..., Ich freue mid... — 
id freue mid),...* um dann im legten Aufſchwung diefe Apotheofe zu krönen 
mit dem breit und gewichtig ausladenden „Ich preife..., ich preife hier an 
diefer Stelle und zu diefer Stunde die Stadt, welche Mechtilden, die Grojfin, 
geboren werden fab!“ 

Damit ift dann mit allem Naddrud und aller Feierlichfeit das Stichwort 
gefallen, welches die Geftalt herporruft, bie dem Erzähler bom erften Wort 
an bor der Seele ftand, Die nun als weit überragende Heldin die Dichtung be- 
herrſcht, in der fid ihre leuchtendfte Schönheit wie im edelften Kriftall jammelt 
und offenbart. Gs ift ſchier ein Wunder um die herrlihe Kunft, die diefe holde 
und hehre Geftalt in all ihrer Lieblichfeit und Hoheit herdorgugaubern ver— 
modte, und es ift rührend und ergreifend, dies Schöpfungswunder nachzuer- 
leben, ſoweit es aus dem fertigen Werk hervorleuchtet, die lichte Geſtalt zu 
fdauen, wie fie in ihrer aufblühenden Liebe, in ihrer liebliden und hoben 
Schöne durd die Dichtung fchreitet. 

Zweimal erklingt der Name Mechtilde Groffin vor den der beiden andern 
Geftalten, die neben ihr und der Sugendgeftalt des Graählers in der Dichtung 
ftehen, viermal wird er genannt, bevor fie felbjt in die Graäblung eintritt. 
And immer, wenn Ddiefer Name erklingt, fühlen wir das Herz des Graählers 
höher fchlagen. „Es ift mein Garten und der, in dem Medtilde Groſſin als 
ein Hein Mägpdlein fpielte und als Jungfrau Iuftwandelte, die mich zu fich her— 
übergezogen haben.“ Wie dort in dem Preislied auf feine ftolge Baterftadt 


399 


im höchſten Aufſchwung des Gefühls fid dem Erzähler der Name ihrer hebrften 
Tochter zum erjtenmal auf die Lippen drängt, fo bezeugt er hier mit der webs 
mütigen Innigfeit rüdfchauender Grinnerung, welde hohe Macht fie über feine 
Seele gewonnen bat. — Nun erft führt der Erzähler Michel Groland in feine 
Geſchichte ein und ſchlingt das Band um diefe drei Geftalten mit dem einfachen 
Cag: „Der wilde Sunker Michel ift mein Freund gewefen, und Mechtilde Srof- 
fin die Braut des Junkers.“ So wird das Sdidfal der Jungfrau zuerft mit 
dem des Sunfers Michel Groland verknüpft, und in den Worten: „Auch ihre 
Stimmen find verſtummt, ihre Fußtritte verhallet: Tollel lege! — tolle! legel“ 
— ſtellt ſich der greiſe Erzähler den ganzen Ernſt und göttlichen Ginn ihres 
Schickſals und des Wenſchenſchickſals überhaupt por feine einſame Seele. Un— 
mittelbar darauf aber weiß er dreimal in einem furzen Abfchnitt die Schönheit 
der Medtilde Groffin ins Licht zu rüden. „Keine ſchönere Blüte als 
Mecdtild Groſſe“ ift an dem ,ftarfen Baum mit hundert Aeften“ des ftatt- 
lidften aller Nürnberger Geſchlechter aufgebliht, ein Wunder fcheint es ihm, 
daß er heute „welf und grau über der [hönen Dirne fommerliden Garten 
in ihr Senfterlein“ fieht, in ihr Stüblein, aus dem fie einft „der Liebe gee 
Hordend und des Ahnherrn Winfe folgend in aller Iugendfhöne“ 
Hinmegging. Und aud Hier wieder fühlen wir das „Zollel Iegel“ aus bewegter 
Seele Deraufflingen, wie eS dann aud in dem Gage: „Anno Gbrifti 1400 
ift Mechtild Orojfin in unferem Nadbarhaufe in diefe Welt des Leidens Hin 
eingeboren worden“ ſtark mitfchwingt. 

Sp ertönt immer wieder die fanfte göttliche Stimme, die mabnend auf 
Sinn und Biel der Erzählung Hindeutet, gleihfam die ganze Handlung vore 
wegnehmend, und dod die Seele des Lefers von Mal zu Mal höher fpan- 
nend, nicht zwar in müßiger Neugier, aber in der Kraft innigfter Anteilnahme 
und tiefften Miterlebens. Und wenn nun in fhöner Verflechtung und reiz» 
vollem Wechſel der Lauf des Lebens der beiden jugendliden Geftalten, die 
eradende und wachſende Neigung ihrer Herzen bis gu der höchften Liebe. 
über Seit und Tod hinaus an uns porüberzieht, fo kann man faft von Ab- 
ſchnitt gu Abfchnitt verfolgen, wie der epifche Ton in der hochgeftimmten Seele 
des Graäblers fich immer wieder zu Iyrifcher Befdwingtheit fteigert, und wir 
fühlen mit, wie er fich bei jedem neuen Ginfag der weiterführenden Gre 
zählung erft wieder zur epifhen Rube zwingen muß. 

Grftaunlid aber ift die Kunft des Aufbaus und der wechfelreihen Glie- 
derung, Durch welche der Dichter fid immer neue Gelegenheit verjchafft, dia 
Heldin in immer neuer und höherer Schönheit und Liebe leuchtend in den Bore 
dergrund zu ftellen, und daneben zugleich die Geftalt des thpifd deutjchen 
Ritters Michel Oroland in aller individuellen Lebendigkeit und plaſtiſchen 
Rundung berportreten zu laffen. 

Nad dem erjten Zöftlihen Sugend- und Kinderidpll, in dem fid ſchon 
die herzliche Neigung gwifdhen „dem Kinde* und „dem wilden Sunfer* offen» 
bart, läßt der Dichter Michel Groland dreimal — als Studenten, als vere 
fchollenen Abenteurer und als Kämpfer um des Reiches Krone — in der 
Serne weilen, und bei jeder Heimkehr tritt ihm und uns Mechtilde Groffin in 
der alten und Doch wieder neuen, immer wadfenden Liebe und Schönheit ent 
gegen. Als das Kind, als gebnjabrig Mägdlein, als erblühende Sungfrau, 
alg ummorbene Geliebte, als ftolge Ruferin zum Kampf um des Reiches 
Krone, als Harrende Braut, als mächtige Heldin — fo wächſt fie in ihrer 
Liebe gu dem wilden Sunfer, dem tapfern, dem treuen, dem guten, dem armen, 
dem rechten Ritter Michel Groland in immer neuen Geftalten zu immer grös 


400 





. 


Berer Herrlidfeit empor, und die Schönheit der Bilder und Szenen, in denen 
fie ung erſcheint, ijt nicht auszufchöpfen. 

Als der griehifhe Meifter den Graähler feine Sprade Iehrt und fie 
aud) den Sunfer Groland lehren will, jo wäre aud dies „vielleicht angegangen, 
wenn das Kind nicht fein lodig Häuptlein in die grüne Laube geftedt hätte. 
Der Meifter Theodoros malte uns eben mit einem Stüd Kreide das erfte 
Gamma auf den Sifdh, da fam das Kind, und das Griechiſche war verloren 
für den wilden Sunfer Michel Groland von Laufenholz. Gr fing das Kind 
mit Laden und hob es fofend in die Luft und ftörte uns mächtig. Ich halt 
ibn ernftlich, dod er lachte nur mehr und hat es um das Dirnlein nicht über 
das Alphabet hinausgebradt: da aber {con bildete fic fein Schidfal her— 
aus und das meinige.“ Diefes Brudjtiid aus der erften jener Szenen gibt nicht 
nur ein in feiner rührenden Lieblidfeit föftliches Bild, es zeigt uns zugleich 
die vier Hauptgeftalten in ihrer Verbundenheit und jede in begeidnender Bee 
leuchtung, während im rührend liebevollen Ton, in dem unbefdreiblid) ine 
nigen „das Kind... das Kind... das Kind...“ und in dem 
mahnend ernften Schlußfaß der greife Erzähler, gleichſam als fünfte Geftalt, 
mit feiner ganzen Geele dabei ift. Das Bild der Kleinen Mechtild aber er- 
gänzt und verbollftändigt die fic unmittelbar anjdliefende Szene, wo fie „bei 
den Leftionen auf des Freundes Knie fist, aufmerfjam und ftill genug’ zu» 
bört, und mit großen ernften Augen auf das fummervolle Gefidt des weifen, 
berbannten Lehrers fieht“. Den Sagden aber, die „das junge Kind“ und „das 
erwachſene Kind“ durd den Garten um Bufh und Baum halten, fdauen 
alle Nachbarn aus den Fenſtern zu und felbft die Grundberrin, die uralte 
Mutter, in derem Haufe zum Schilde Kaifer und Reich über die güldene Bulle 
zu Rate faßen, als fie ein jung Gheweib war, fommt „auf ihren Stab und ihrer 
Enkelin Arm geftügt an den Zaun und Hat ihre Luft an der Jugend Luft.“ 

Diefe Geſtalt der Altmutter, der großen Anna Grundherrin, dient dem 
Dichter nicht nur dazu, die Wirkung diefer Szene feelifch zu vertiefen und der 
GErzählung einen hiſtoriſchen Ginjdlag zu geben, fie wedt aud) wieder das 
Leitmotiv, das ,,Solle! legel* Denn „fie ift der erften Mater Leproforum, 
der erften Mutter der Sonderfiehen... Helferin gemefen.* Und neben das 
belle Licht des fonnigen Zugendidylls wird nun als dunkler Schatten die 
Erzählung bom Glend der Sonderfiehen geftellt. Immer aber leuchtet aud 
aus diefem Dunfel das Licht der Liebe, der „milden Grauen“, die fich der 
Sonderfiehen erbarmen, und fo wirft das Geſchick Michel Srolands und der 
Medtilde Groſſin nidt nur feinen Schatten, fondern auch fein ewiges Licht 
borauf. 

Der Schilderung des Leprofenwefens folgt die Erzählung, wie der Sunfer 
mit dem Greunde auf der Unipverfität „ein.jeder auf feine Weife verharret“, 
und nad ihrer Heimfehr finden fie Medtild Groffin, „als ein zebnjährig 
Mägplein..., und bon neuem Hat das Spiel zwijchen dem Kinde und dem 
Sunfer Groland angehoben.“ Und wieder wird mit ein paar ficheren Striden 
{dftlid die neue Art des alten Spiels, die leife Gntwidelung in der Herzens» 
neigung der beiden gezeichnet, des „tollen Studenten und Kriegsmannes“, der 
alle „mit faft Iuftiger Giferfucdt von feinem erwählten Liebling wegdrängt“, 
und des „Lieblings“, der fich „mit ganzem Herzen und allem zierlichen Gigen- 
willen an den ftattliden Freund hängt.“ 

Nah fünf Gahren, in welder Zeit „die tunderlide Neigung...von Tag 
zu Sag wuds, fic) veränderte und doch diefelbe blieb..., viel Liebliches wäre 
darüber zu jagen“, muß der Sunfer die Nürnberger Gefandtjchaft „als Füh— 


401 


ter des ©eleits“ auf das Konzil nad Koftnig begleiten, und erft nad fünf- 
jährigem Abenteuerleben fehrt er unerwartet und auf eigene Weife nad 
Nürnberg zurüd. Sowohl feine Abweſenheit als aud feine Heimfehr weiß 
der Dichter zu benugen, um uns Mechtild Groffin, die erblühende Jungfrau, 
in immer neuem und Derrliderem Glange ihrer Schönheit zu zeigen. Hier 
erweift fid ibm wieder die Doppeltolle des Graählers und Freundes als 
befonders fruchtbar und ergiebig. In der Geftalt des daheimgebliebenen 
Sreundes fieht und erlebt er felbft, wie fid) die Knofpe zur Blüte entfaltet, 
und in der Geftalt des alten zurüdblidenden Erzählers fieht er fie im Lichte 
ihres fpäteren Heldentums und hebt ihre Schönheit dadurch noch höher, daß 
er bezeugen fann, wie er feinem ganzen langen Leben, fo weit feine Augen 
reichten, feine Knoſpe fid zur Blüte entfalten fab, „die fchöner und fifer 
war denn Die, fo in des Nachbars Sroffen Garten unter den Schweftern auf- 
wuchs, und auf die Erfüllung ihres Lebens wartete.“ Bon ganz erlefener Kunft 
und Schönheit aber zeugt die Darftellung, wie die Liebe des Sunfers Gro- 
land und der Medtild Groffin, das, „was alle bis zulett für ein Kinder 
{piel genommen batten“, fid „in der Naht auf Simon und Suda im Sabre 
1420“ als ein „ſüßes Myſterium unter Feuerfdein und Waffenlärm offenbart.“ 

Auch aus diefer Schilderung des Tanzes und Waffentanges auf dem 
Rathausfaal zu Nürnberg leuchtet vor allen anderen die Schönheit der Med)» 
tild Groffin Herbor. „Mit den ſchönen Jungfrauen der Stadt find wir auf- 
gezogen, und id habe die Wechtild, die Allerfhönfte im Reihen, geführet.“ 
Aber aud bier wieder drängt fid das Iette Bild der Heldin, mit feinem 
nod) höheren Giang, aber auch mit feinem „Tolle! lege“ bor die Geele des 
greifen Grgablers. Dann aber fieht er fie wieder „in der freudigen Pracht 
der Jugend“, in der fie auf dem Gefte erfcheint, und weiß fie uns mit 
einem einzigen Sat in einem Bilde bon unendlidem Liebreig por Aug’ und 
Seele zu ftellen. „Und als fie unter dem Schein der Lichter und Fadeln durd 
die Windungen des Reigens ladelnd und ftattlid fdlupfte, da ift wohl fein 
Auge gewefen, weldes nicht mit Freude und Stolg dem holdfeligften Kinde 
bon Nürnberg nadfolgte.“ Man fofte die vor allem burd die rhythmiſche 
Spradbewegung erzielte plaftifhe Schönheit diefes wahrhaft fdftliden Bil- 
des mitfühlend durch, um aud im einzelnen die hohe Kunft dichterifcher Ge— 
ftaltung zu erfennen. 

Aber aud das zeugt wieder von feinftem Didterfinn, daß bon dem Augen» 
blide an, in dem beim plötzlichen Grfdeinen des Ritters Michel Sroland im 
Rathausfaale der Arm der Mectildis im Arm des Freundes erzittert, fie 
keuſch guriidbaltend wird. Und wenn fich der Ritter „in das Herz des Kindes 
Medtild faft wie in die Nürnberger Burg gefdliden hatte, fo mußte er Doch 
nun um das Herz der Jungfrau Medtildis eine neue und lange Belagerung 
anfangen, ehe es gefteben mochte, daß es fic) ihm [don feit dem Kinderfpiel ge- 
geben babe.“ Wie ſchalkhaft wird nun die Berliebtheit des werbenden Sune 
fers gezeichnet, und wie uniibertrefflid) fein wird die Geftalt der Jungfrau 
Mechtildis der des Kindes Medtild wieder in einem Bilde von feltenfter Köft- 
lichteit gegenübergeftellt. „Die Sungfrau blieb fittfam im Bereich ihres Gare 
tens, verborgen durch dichtes Gegweig, und nur felten erglänzte ihr Gewand 
pon ferne dur das Grün.“ Welder äfthetifhe Feinfdmeder weiß uns in der 
ganzen deutfchen Profa einen Sat zu nennen, der mehr als diefer und der 
vorhin zitierte vom Reigen im Rathausfaal aud feinen Gefdmad zu be- 
friedigen vermag? 

And bod fpiiren wir fdon in der nun folgenden Szene, in welder die 


402 


Jungfrau die im Bebagen ihres Beifammenfeins vergeffenen Greunde zum 
Kampf um des Reiches Krone aufruft, daß Raabeſche Didtfunft noch höherer 
Schönheit mädtig if. Es wäre eine Berfiindigung an der vollendeten Gee 
{bloffenbeit diefer Szene, wenn wir aud nur einen Gag unterfdlagen woll- 
ten, und wir fegen fie darum in ihrem vollen Wortlaut hierher. Auf dem 
Reichstag ift der Kreuzzug wider die Huffiten ausgerufen worden. Der Kaifer 
hat die aus der Hand des papftliden Legaten empfangene Fahne des Kreu- 
ges in die Hände Friedrichs des Erſten, des Kurfürften pon Brandenburg, 
gelegt, „auf daß er des Reiches Heer führe und des Reiches Krone erlöfe“:, 

„Das war ein ®eläut der Gloden in Nürnberg! Und unter dem Klingen: 
und Dröhnen in den Lüften hat fic die verborgene Pforte geöffnet, die aus 
des Vachbars Sroffen Garten in den unfrigen führte, und Durch den engen eine 
gefriedeten Weg ber ift die Jungfrau, die als klein Mägblein fo viel lieber 
unter dem Gezweig der Heden durchſchlüpfte, aufgerichtet, ernft und ftolz ber- 
gefdritten und Dat uns aufgetrieben bon unfern Gigen, wie eine Gricheinung 
der Engel des Herrn. Im Born ift fie por ung geftanden und Hat geredet ohne 
Scheu. Der Ritter Groland und id haben uns Inapp auf den Füßen gee 
balten; aber der griehifhe Heimatlofe, der Meifter Theodoros Wntoniades, 
bat balde das Gefidt mit beiden Händen bededet, und die Tränen find ihm 
zwiſchen den Fingern niedergerollt. 

„Wiffet ihr nicht, wie es gehet um des Reides Krone?“ Hat die Sung. 
frau gerufen. „Was figet ihr und treibet Kurzweil mit fremder Völker toten 
Zeichen und Schriften, weil bas eures eigenen lebendigen Bolfes Krone, Zep- 
ter und Schwert fo hart berannt und bedränget wird bon dem Feinde, port 
dem man nidts wußte, ehe wir ihn groß madten burd unfere Schuld! Um 
was werbet ihr, während Kaifer und Reich und alles Golf um Hülfe ruft für 
die Krone, die der große Karl in Aachen auf feinem heiligen Haupte trug? 
Meifter Theodor, faget Ihr es ihnen dod, daß man Heute im eifernen Har- 
nif bleiben muß, wenn man fein Weib, feine Kinder und fein Haus vor 
Shmad, Tod und Verwüftung hüten will, wenn man nicht heimatlos ume 
fahren will, ein $remder in der Fremdel Wie lange glänzt nod der goldene 
Reif des Kaifers Konftantin, ihr Männer bon Byzantium? Habet ihr nicht 
geftritten für die Krone, wie es fich gebührte, ihr griehifhen Leute? Wehe 
euern Grauen und Töchtern, wenn fie eud) das Schwert nidt in die Hand 
drüdten, da es noch Zeit war!“ — — 

Da brad die Jungfrau ab mit [autem Weinen; aber der wilde Freund, 
der tapfere Ritter Michel, lag zu ihren Füßen und füßte aud mit Tränen in 
den Augen den Saum ihres Gewandes; fie aber legte ihm Ieife die Hand auf 
das Haupt und entfloh. Mit zitternden Händen fudte der Berbannte, der 
heimatlofe Griede, feine Schriften zufammen, feine Knie bebten; gleich einem 
bom Armbruftbolz Getroffenen fah er auf uns und rief: 

' „Wehe eud, wenn ihr nicht höret, was die Kinder, die ſchwachen Mägd- 
lein und die Graber eurer Borfahren euch in die Ohren gellen, — webe euch!“ 

And aud er entwich in taumelnder Eile aus der Laube; und fo ture 
den ber Ritter Michel und ich gewonnen für den Kampf um des Reiches 
Krone. — —“ 

Zweimal im Berlauf der ganzen Erzählung, bier und auf ihrem lebten 
und höchſten Gipfel, als Medtilde Groffin ihre „ſchöne bleihe Wange“ an die 
„bärene Rutte“ auf der Bruft des Wusfagigen legt, als fie ihm die lebte und 
höchſte Liebe ermweift, gibt der Dichter der Heldin feiner Erzählung felbft das 
Wort, und beide Male erfdeint fie als wirklide Heldin. Wie madtooll er- 


403 


haben fteht fie in unferer Szene über den drei Männern! Aber mehr nod 
faft als in ihrem ftolgen Auftreten und in ihren hohen, berrliden Worten 
müjfen wir die undergleidlide Runft bewundern, mit welder der Dichter nach 
den Worten der Mechtild Grofjin den ergreifenden Abſchluß der Szene geftal-, 
tet Dat. Dies gartefte Berldbnis der Liebenden in der Flücdhtigfeit des weihe- 
bollften Augenblids, dies Hinwegeilen der Jungfrau, dies Echo ihrer Worte 
aus dem Munde des verbannten, Heimatlofen Meifters und fein Gntweiden 
„in taumelnder Gile* — das zeugt bon nicht genug gu beiwundernder Meifter- 
Ihaft. — 

Und als nun die drei bor dem Aufbruch der beiden Freunde in den Kampf 
„zum legten Mal in Hoffnung und Glüd“ beifammenfigen, da wird ung 
gleihjam die erfte jchöne Frucht jener Weiheftunde in den nur diefer Liebe 
ganz entjprechenden und dod zugleich für das heimliche Liebesglüd des. deut- 
{den Bolksliedes typiſchen Worten offenbart. „Was aber der Michel und die 
Medtilde einander verfproden haben, das wurde gar leife gejagt; aber fie 
beide Hatten die allerlichteften Gedanken und verfpradhen fid das allerfeligfte 
©lüd, wenn des Reiches Krone von dem fchlimmen Feind erlöft fein würde.“ 
Dann jehen wir „die holde Maid“ noch einmal, wie fie neben dem ſchmerzens— 
reihen Meifter Theodoros Antoniades von der hohen Stadtmauer den in den 
Kampf daponreitenden Freunden mit wehendem Siidlein den Wbjdied nad- 
winkt. 

Gs folgt nun die ein kleines Kunſtwerk für ſich bildende Erzählung vom 
Kampf um die Krone des Reiches und ihrer Grrettung vor den Huffiten bis 
gu einer in der fich fteigernden Macht der dichterifchen Darftellung [hier atem- 
taubenden G©ipfelung in der Karlfteinfzene, die Wilhelm Brandes mit tref- 
fendem Wort „eine Szene bon faft myſtiſcher Erhabenheit“ genannt hat. 

Als danad) der Freund Michel Grolands allein zurüdfehrt, da ruft er am 
Sore „der um des Freundes Abweſenheit erbleihenden Freundin die frohe 
Mar vom Roß zu, daß Michel Groland nit in der Huffitenfdladt ver- 
Ioren gegangen fei...“ und „Die Jungfrau neigete fich mit der Hand auf dem 
Herzen.“ 

Und nun weiß der Dichter fid nicht genug zu tun, ung die ,liebesfrohe 
Maid“ in immer neuer Schönheit und der rührenden Bertrauensfeligfeit ihres 
hoben Liebesgliids por die Geele zu ftellen, des Slides, welches durch das 
dem Greunde mitgegebene Wort von „des deutſchen Volkes allerhidfter Kron“, 
das Michel Sroland im Allerheiligften, in der Kirche zum heiligen Kreuz auf 
dem Karlftein vor des Reiches Krone gefproden, feinen höchſten Gipfel er- 
‚reicht hat. Als der Freund ihr fein Geheimnis verrät, „da find wahrhaftig 
aus den weißen Rojen auf den Wangen der Jungfrau gar rote geworden; 
und rote Rofen blieben es um den Schwur, fo bor des Reiches Krone getan 
worden war, und rote Rofen blieben es durch Winter, Frühling und Sommer, 
und es war eine Herrlidfeit Gottes um die Sreude und den Stolz der jungen 
Tiebesfrohen Maid.“ Jetzt, da fie „ein fo lieblid) Geheimnis“ miteinander tei- 
len, fühlen fid der Freund und die Freundin „mit goldenen Ketten“ aneine 
ander gebunden, „....und fein Märlein, feine goldene Legende war der Wune 
der voller, alg das Reich der Geligfeit, welches die Sungfrau in der Gtille 
auferbauete.“ 

Wir können nicht alle herrlihen Worte hier wiedergeben, mit denen der 
Dichter uns der Jungfrau höchſtes Glück vor die Seele zaubert. Aber wir 
müjfen doch zeigen, wie er nun den goldenen Ring rundet, in welchem er alles 
Glück und alle irdifhe Schönheit der Mechtild Groſſin gefaßt bat, indem er 


404 


mit einer Szene abſchließt, die jener entjpricht, in der „Das Kind“ zum erften- 
mal durch die Hede in den Garten ſchlupfte und fie lebhaft in unferer Grinnes 
rung wadruft: „Wiederum haben wir im Sommer in der Rofenlaube an der 
ihirmenden Mauer der Stadt Nürnberg unjern Studiertifch gehabt, der Mann 
pon Chios und id, und jetzo hat fih die Maid wie in den Kindertagen nicht 
mehr gefdeuet, zu uns herüberzukommen aus den Blumen, dem Grün, dem 
Gonnenjdein des eigenen Gartleins, und bat neben uns ftill gefeffen und dem 
Beridht bon den Kämpfen des edlen Hektor, des unverſehrlichen Achilleus, des 
biedern Aias gelaufchet und bat des ritterlihen Freundes im fingenden Here 
gen gedacht, und feiner Heimfunft bon der neuen Heerfahrt in Liebe und Treue 
gewartet. Die Baume haben ihre Blüten über unfere Schriften herabgeſchüt— 
telt; ich habe das Pergament weggeworfen, um mit der Mechtild einem bunte 
farbigen Schmetterling nachzujagen, und felbjt der Weifter, der alte graue 
Lehrer, der Gerbannte, bom heidnifhen Feinde Bertriebene, der Heimat» 
loſe, deffen [ete Burg und glorreidhe Stadt Konftantinopolis von dem Bere 
derben nod) fdlimmer und beftiger bedrohet war, als unfere Heimat, bat 
an unferem Mutwillen feine Greude und über unfer leicht und glüdlih Herz 
fein Lächeln haben mögen.“ Wir überlaffen es dem Lefer, fid) der Schönheit 
diefer Worte und Bilder und durch den Vergleich mit jener erjten Garten— 
{gene der Entjprechungen zwijchen beiden im einzelnen bewußt gu werden. Nur 
auf die feine Bariation wollen wir hinweifen, daß bier nicht der Greund und 
die Freundin einander. jagen, wie dort der Junker und Die Eleine Mech» 
tild, fondern daß beide dem buntfarbigen Schmetterling nadeilen. Wud bee 
adte man, wie der Geftalt der Altmutter, der Örundberrin, dort, die des 
alten grauen Meifters Theodoros hier entjpricht, wie aber darin zugleich eine 
Steigerung liegt, die auch in der Häufung der vielen, das ſchwere Geſchick des 
Meifters umfchreibenden Attributen nahdrüdlih zum Ausdrud fommt. 

Gin doppeltes ,,Solle! lege! — Tolle! Iege!“, das gewidtigfte Der ganzen 
GErzählung, und die vollausge{driebenen Worte des heiligen Auguftinus, mit 
denen er feine Niederfchrift anhob, fett nun der greife Schreiber auch bor den 
folgenden Schlußteil der Erzählung, in dem fic das tragiihe Sdidjal der 
beiden Liebenden erfüllt und offenbart, das als Ginn und Biel feines Berichtes 
von Anfang an dem Erzähler vor der Seele ftand. Vom Gipfel des hddften 
@lids werden wir in den Abgrund des tiefften Glends geftofen: Die Gre 
sählung von der legten Heimfehr Michel Grolands aus „Hungarn“ hebt an. 
Wer fann fic der zwingenden Gewalt, der unheimlihen Wucht diefer Dare 
ftellung entziehen, die uns erfchauernd mitfühlen läßt, wie Der Freund bon dem 
Sdidjal des Freundes Schlag auf Schlag getroffen wird, bis es ihn buchftäb- 
lid zu Boden fchmettert! Wer weiß aus unferer ganzen Literatur Gewal— 
tigeres zu nennen als das ftumme Bild unter dem Kreuze por dem Siechfobel 
bon St. Johann? Herzzerjchneidend Klingt der Schrei „Michell Michel!“, dem 
„nur der fcharfe zifhende Wind in den dürren Gräfern antwortet“, und 
dann das entjprechende „Mechtildel Mechtildel* Wir erleben „die tiefite Sr 
niedrigung* des Freundes mit, wir erleben mit, wie ihm alles, was er lieb 
hatte, feine ftolze Baterftadt, die ganze Welt zum Spott und Hohn wird, 
wie „nichts überblieben bon dem Menfchen, der vor zwei Stunden ausge» 
gangen.“ — Wir fühlen bis ing Innerfte mit, wie es ihm durch die Seelefchneidet, 
daß er „dem fchönen lächelnden Mädchen, das in feinem füßen Vertrauen 
auf Gottes Güte fürder wandelt“, Die Hand gum Tange bieten muß, während 
Dod überall das Schwert Michel Grolands „in den Boden geftoßen“ vor ihm 
ftebt. Gr muß es erleben, wie die Jungfrau in der Erwartung der baldigen 


405 


glüdlihen Heimkehr des Geliebten ihm „Itrablend in der Fülle ihres Glüdes 
...mit dem Ginger auf dem Munde“, die große Neuigfeit zuflüftert bon der 
Rüdkunft der Krone des Heiligen Römifchen Reiches nad Nürnberg, und es 
fommt der Augenblid, wo er mit dem griechiſchen Meifter und der Stoll- 
boferin, der Mater Leproforum, zu der Berlobten Michel Grolands geben 


- muß, wo fie ihr „das Buch des Todes aufgefchlagen und auf die Stelle 


gedeutet haben, die ihr Gefdid in flammenden Scriftzügen wies. — —“ 

In dem fideren Gefühl, wo Hier die Grenze realiftiicher Darftellungstunft 
liegt, überläßt es uns der Dichter, den unfäglihen und unfagbaren Schmerz 
der Medtilde Groſſin an dem des Freundes zu ermeffen, und fie tritt uns 
erft wieder entgegen, nachdem fie überwunden bat, wieder in Schönheit, aber 
in einer neuen Schönheit, die alle jene irdifhe weit hinter fich läßt, in einer 
Schönheit, die nicht von dieſer Welt ift. Es verfagt fid uns das Wort, aud 
nur einen ſchwachen Gindrud zu geben bon der fdlidten, hehren Größe der 
Szene, die der greife Erzähler „mit pochendem Herzen“ niederfchreibt, von der 
Szene, in welder der Dichter feine Heldin und uns auf die legte Höhe führt. 
Hier ift ,jeglide Macht nichtig“ gegen fie, Hier tritt fie uns entgegen in der 
großen, edlen Rube der Siegerin. Auf diefer legten Höhe ift Mechtild Groffin 
Jungfrau, Braut, Weib und Mutter gugleid — aller Grauen Krone — 
Mater Leprojorum — ja, in ihrer über jedes Leid erhabenen Liebe, in der 
Liebe, die alles verträget, die nimmer aufhöret, „die aud ihre Macht bee 
halten mag, ob allem Schall und Farbenfpiel der Erden“ — ift fie Die Hel- 
din ſchlechthin. 

„Das war die Nacht, in der fich mein Leben ——— Durch den Klage— 
geſang bon Sankt Johann habe ich die ſüße kindliche Stimme gehört, wie Sank— 
tus Aurelius Auguftinus fie aud) vernommen hat.“ So ſchreibt der Graäbler, 
nachdem er uns bat miterleben lajjen, wie er mit dem hoben bygantinifden 
Meifter „bis über die falte dunkle Mitternacht hinaus“ fdweigend por dem 
Giedfobel bon St. Iohann gejejfen, „der Alte und der Junge, und es war 
fein Anterſchied gwifden unfern Seelen.“ „.. Aus dem großen Leid ift die 
große Ruhe erwadfen...“ Und nun wiederholt fid, aud bier den Kreis 
ſchließend, das Ichbefenntnis, aber nicht in jener gefpannten Grregung des 
Anfangs, fondern in der großen Rube des Ausflangs. 

Und in diejer großen Ruhe Hingt aud die Erzählung aus. Noch einmal 
sieht der Freund aus wider die Huffiten, und bei feiner Heimkehr hat er „den 


Freund und guten Ritter Michel roland... nicht mehr in der Grdennot 


funden.“ „Der Braut“ begegnet er in den Gaffen, „die ging aufrecht in der 
Seelnonnen Gewand...und grüßte ftill hinüber“, und er weiß noch bon ihrem 
ſchönen Leben und ihrem ſchönen Herzen zu jagen. 

Wir haben nur eine Linie durch die Erzählung hin verfolgen und ihre 
Kunfi und Schönheit nur foweit zeigen können, als fie fid in der Geftalt der 
Heldin unmittelbar fundtun. Gs würde den Rahmen eines Zeitfchriftenauf- 
fages fprengen, wenn wir nur annähernd ausführli auch den übrigen Ge- 
ftalten der Dichtung nadgeben wollten. Wir würden die große Kunft be- 
wundern müffen, mit welcher der Dichter jede in ihrer Art feftumriffen vor 
uns Dinftellt. Den Michel Groland als den typiſchen deutſchen Ritter, den 
„jungen Adler“, den tumben Michel, der aufs Geratewohl auf Abenteuer aus- 
sieht und doch das Befte heimbringt, den tapfern, den treuen, den guten, den 
ftarfen, den armen, den rechten Ritter, der fein ſchreckliches Geſchick trägt und 
allein tragen will. Ihm gegenüber fteht der Freund, der Patrigierfohn mit fei- 
ner bumaniftijden Bildung aus erfter Quelle, der ohne den griedifden 


406 


Meifter Theodoros nicht gedacht werden fann. Bis ins Kleinfte werden die 
beiden Hauptgeftalten in ihrer reinen Deutfchheit pon jenen beiden unter» 
fdieden. Se einmal reden Michel Groland und Medtilbe Groffin den grie- 
Hifhen Meifter an und beide fagen „Meifter Theodor“, während er oom 
Grgabler ftets Meifter Theodoros Antoniades genannt wird. — Wir mußten 
darauf verzichten, Die Welt- und Lebensanfchauung, wie fie in der Geftalt des 
Graählers zum Ausdrud fommt, rein herauszufchälen und zu zeigen, wie der 
Dichter den gefhichtlihen Hintergrund malt, wie meifterhaft er das Gefdhidt- 
lide mit dem Grfundenen zu verweben weiß, wie gewiffenbaft er das Difto- 
riſche Quellenmaterial berwendet, und wie er es dichteriſch umfchmilgt. * 

Die feine Kunft der dichterifchen Sprachgeftaltung mag man aus den ge» 
gebenen Proben erfennen. Wir weifen nur noch darauf Din, wie ftarf der 
Dichter durch Klang» und Gefühlswert eines einzigen Wortes zu wirken ver— 
mag. Als zum erftenmal die legte Heimkehr Michel Grolands erwähnt wird, 
da beißt es: „Sıft im Sabre 1423 ift er bon Ofen guriidgefebrt gu gräß- 
lihftem Wehe“ Und als nah der Riidfehr die Stollboferin zu dem 
Freunde bon der fehredtichen Entftellung des Ritters fpricht: „Seine leibliche 
Mutter würde ihn nicht mehr fennen. Ich babe ihn nicht erfannt, du würdeft 
ibn nicht erfennen,“ da wiederholt fie nad Diefen furgen Sägen, in derem 
Rhythmus wir nod die RKeulen{dlage des Schickſals nachgufiiblen glauben, 
in diefer Stimmung und in ihrer Sprache jenes Wort in der mit ftärkfter'Sinn=- 
fälligfeit malenden Wendung: „SOottes Hand greifetgräßlid.“ Und 
wie bezeichnend ift es, daß Der Dichter erft in jener faft überirdifh erhabenen 
Szene uns das Antlig des Wermften bon der Hand der liebenden Medtild 
ſelbſt enthüllen läßt. 

Themen für fich wären es, dem ftarfen Gormelement des funftoollen Paz 
talleligmus der einander entfprehenden Szenen und Wotive durch die Erzäh— 
lung nachzugehen, den fünftlerifchen Aufbau bis zur legten Höhe zu verfolgen, 
gu zeigen, wie in der dichterifchen Geftaltung auch das Kleinfte bis zum {ware 
gen Tropfen, der dem greifen Schreiber aus der Feder fließt, ſymboliſche Be— 
deutung gewinnt, die große Meifterfchaft des Dichters, die hiſtoriſche Illufion, 
die Illufion der erfundenen Handlung und der gegenwärtigen Stunde neben=- 
einander wachzuhalten und vieles andere mehr. 

Das alles aber müßte in dem Sinne und gu dem Ende gefdeben, des 
Meifters Hohes deutfches Lied von des Reiches Krone feinem deutjchen Bolfe 
tief und unaustilgbar ins Herz zu prägen. Man lefe die Dichtung wieder und 
immer wieder. Grit beim wiederholten Leſen wird man gang in ihre Tiefe 
eindringen und fid bom erften Aufflang des ,,Solle! legel“ ab tieffter Gr- 


griffenheit nidt erwehren können. 


Stanz Hehden. 


Kleine Beiträge 


Gon Arbeit und Eigentum. 
Das fiebente, neunte und 
SER eee: 


Du follfe nicht fteblen. Du follft nicht 
‚> begebren deines Nadften Haus. Du 
foltft nidt begebren deines Nadften 


* Siehe dazu „Wilhelm Gebfe, Aus 


Weib, Knecht, Magd, Vieh oder alles, 
was fein ift.“ 

Laut und — — erhebt ſich in 
unſerer Zeit der Widerſpruch gegen die 
Oeſinnung, die aus dieſen Sätzen zu uns 
gu {preden fdeint. Habt ihr nidts an- 
eres, nidts Widtigeres gu fagen über 


Wilhelm Raabes Didterwerfftatt. Des 


Reidhes Krone“ (Raabe-Ralender 1914) und „Wilhelm Brandes, Allerlei Raabe- 
quellen“ (Mitteilungen f. d. Gef. der Freunde Wilhelm Raabes 1913 No. 3). 


407 


Eigentum und Wirt{daft als dies? Gre 
ſchöpft fih darin eure fittlide Weisheit, 
daß ibr das Gigentum „heilig“ fpredt? 
Schütt ihr dadurh nidt mit dem Ane 
fprud einer höchſten Autorität eine ganz 
beftimmte ®efellihaftsordnung, die in 
ihren Auswirfungen den Menjden ver— 
gewaltigt, die zur Ausbeutung und Un- 
terdrüdung, zur Gerfflapung der Men⸗ 
{den getiipet bat? Herrſcht nidt im Na- 
men Des ,gebeiligten Gigentums“ die 
furdtbarfte Ungerechtigkeit und Lieb— 
lofigfeit? Hat diefe Gefinnung des 
„Rechts“ nidt fraffe Selbftfuht und den 
barten Willen gum Kampf aller gegen 
alle zu ihren Kindern? Sft nidt das 
Gigentumsredht längft und taufendmal 
unter dem höheren Gedanken der menſch— 
liden ®emeinjhaft und der Berpflid- 
tung, Die fid) aus diefem Oedanken er- 
geben, zum böfen Anrecht geworden? 

Soweit diefer Widerfprud bon denen 
erhoben wird, die nur dag fremde 
Eigentum als Ungerechtigkeit empfinden, 
deren Denken und Wollen zulett felbft 
auf Befit, Genuß, Wohlergehen gerid- 
tet ift, joweit braudt er uns nidt nad- 
dentlih zu ftimmen. Du follft nicht be- 
gebren — das Wort bleibt immer wahr. 
Denn die Begierde maht gemein und 
verfflavt. Neid ift eine niedrige Empfine 
dung, ob fie nun den einzelnen oder eine 
Waſſe beberrjht. Einer Zeit, die den 
Wert des Lebens in dem Anteil an den 
@iitern diejer Welt fieht, Hält dies Wort 
bor, wie veradtlid fie if. Daran fann 
feine Wirtjdhaftsordnung irgend etwas 
ändern. Nidt das Gigentumsredt, aud 
nit eine beftimmte Berteilung des Bee 
fißes ift Der Grund des Mebels. Ihre 
Aenderung fann darum feine Hilfe brine 
gen. Die Geſinnung, die Geld und Gut 
mißbraudt, die Gefinnung, die den Wen- 
fen an die Dinge bindet, ihn gum Knedt 
der toten Dinge madt, ift die tribe 
Quelle des Anheils. Gebunden ift aber 
nidt nur der, der Hat; gebunden ift 
ebenfo, wer begehrt, oft genug erniedri- 
gender alg jener. Der „Mammonsdienft“ 
madt unfrei und böſe. Gr madt den 
Befiger verantwortungslos, er madt den 
Armen gudtlos. Gr nimmt allen die 
Sabigfeit, den anderen und feine Welt 
zu adten, die ihren äußeren Ausdrud 
im Gigentum findet. 

&3 gibt feine „chriſtliche Wirtſchafts⸗ 
ordnung“, fo wenig es ein ,,driftlides 
Schneiderhandwverf“ gibt im Gegenfab 
zu einem heidniſchen Schneiderhand- 
werk. Wohl aber gibt es dhriftliche 
Schneider, die aud in ihrem Beruf den 
GhHriften nicht verleugnen, fondern bee 
währen. Die Ordnung der Wirtfdaft ift 
feine Grage, die fid unmittelbar 


408 


pom driftliden Gewiffen löſen ließe. Die 
redte Ordnung der Wirtihaft zu fine 
den ift eine Aufgabe des Gadperftan- 
des. Diefer Gadperftand muß freilich 
durch die redhte Gefinnung geleitet wer- 
den, die um Ginn und Biel aller Wirt- 
{daft weiß. Aud die Wirtidaft ift feine 
„Sade für fih“. Die Wirtihaft ift eine 
Ordnung der äußeren Mittel des Lebens 
und ihrer Grgeugung, die, ihren eigenen 
Bedingungen entipredend, fadhgemap ge- 
ftaltet fein will. Aber fie ift eben nur 
eine Welt der Mittel. Wer das ver- 
ißt, Der wird aud nicht ſachgemäß wirt- 
haften fönnen, denn zum ſachgemäßen 
Berhalten gebört, daß id dem Sinn einer 
Gade geredt werde. Sefinnung und Sad- 
verftand durchdringen einander, eines ift 
nidt ohne das andere Man fann fid 
darüber nur vorübergehend taujden. Da- 
rum wehe, wenn die Wirtjhaft fic felber 
zum Swed wird. Dann bört fie auf, 
Ausdrud und Hilfe des Lebens zu fein 
und führt gu dem Chaos einer Zeit der 
bloßen Wirtfhaft, wie wir fie heute er- 
[eben müjfen. ,Bernunft wird LUnfinn, 
Wobltat Plage.“ Wehe, wenn die See 
febe der Wirtfhaft als Beftimmungen 
des Lebens mit dem Anfprud auf un- 
bedingte Geltung ausgerufen werden. Die 
Wirtidaft und ihre Gefebe haben es 
immer und allegeit nur mit dem Bee 
dingten zu tun, das dem Unbedingten 
unterworfen bleiben muß. Die Wirt 
{aft dient dem Leben, oder aber fie 
vergewaltigt e8 und taubt ihm feinen 
Sinn. Wieder gilt das Wort: Du follft 
nit begebren! nd Hinter dem Verbot 
leuchtet das Gebot auf: Du follft dienen! 


2. 


Du follft nit begebren! Dies Wort 
erhält aber im Urdriftentum einen neuen, 
unmittelbar religidfen Klang, den ihr 
„Shriften“ unferer Zeit gefliffentlich über- 
bört, fo lautet der zweite, febr viel ernft- 
gner Einwand gegen dieje Gebote vom 

igentum und feinem Shut. Wir finden 
bei Sefus und in der Siingergemeinde, 
in der Apoftelgeit, ja, in den ganzen 
erften Sabrbunderten der driftliden 
Kirche eine völlige Whwendung von al» 
lem, was zu diefer Welt gehört und eine 
ungebrodene Hinwendung zum Senfeits. 
Gs liegt über dieſer Zeit eine Stimmung 
der Weltabgewandtheit. Diefe Welt vere 
gebt, es fomme das Reid! Sefus preift 
die unbefdmerten Armen felig, er warnt 
por den ©efabren des Reidtums, der 
die Menihen an das Hier feffelt. Wenn 
ihr Nahrung und Kleidung habt, fo laßt 
eud) genügen, fo beißt e3 bei Paulus. 
Die Apoftelgefhihte erzählt, wie in der 
erften Gemeinde alle beitrugen zu dem 


gemeinfamen Anterhalt und dafür ibr 
Eigentum bingaben. Wie gleihgültig, 
wie vorübergehend ift das alles, mas die 
anderen fo widtig nehmen; wie zieht es 
nur bon dem Einen ab, das Not ift! Gebt 
Dem SKailer, was des Kaifers ift, und 
®ott, was Gottes ift — dies befannte 
Wort Jeſu ift doch por allem ein Aus- 
drud dafür, daß Jeſus die Frage, die 
ibm die Juden ftellen, als völlig une 
wejentlih zur Seite fdiebt. Und je mehr 
wir in die Geſchichte der Kirche hinein- 
fommen, um fo ftarferen, unmißverftänd- 
lideren Ausdrud fdafft fid diefe Stim- 
mung, bis zu dem uns heute ganz unfafe 
liden, für die $römmigfeit jener Zeit 
aber ein gefeiertes, gewaltiges Symbol 
Darftellenden Sreiben der Gäulenhei- 
ligen. $ür @ott, für die andere, jens 
feitige Welt, für die wahre Heimat da- 
fein und darum den Dingen diefer Welt 
eine fo geringe Aufmerkſamkeit zumwen- 
den, al8 es nur irgend möglich ift, das 
ift die Gefinnung, die fid in der Hal- 
tung diefer Asketen ein weithin ficht- 
bares Denkmal f{dafft. Das Leben bier 
unten auf der Erde ift nur eine vor— 
übergebende furge Seitfpanne der Prü— 
fung. Alle @lut des Herzens, alle ine 
brünftige Gebhnfudt gehört dem Droben. 
Das ift e8, was uns in den erften 
edten Zeiten des Ghriftentums entge- 
genleudtet. ind immer wieder ift es 
Dieje Stimmung, die in religiös=leben- 
digen Zeiten der Rirdhe durdbridt, in 
der Myſtik, im Pietismus. In fo vielen 
unjerer Rirdenlieder flingt fie an. Seht 
nad Indien und auf feine Wsfefe, wenn 
ibr Heute nod Iebendige, echte Reli» 
gien finden wollt, ſo ſagt man uns. In 
em Chriſtentum des Abendlandes iſt ſie 
längſt geſtorben. 

Iſt nicht das Chriſtentum unſerer Zeit 
in der Sat nur allzuweit entfernt von 
diefer Stimmung? Sft es diefer Welt 
nidt allzufehr zugewandt? Sft die Reli- 
gion nidt völlig zu einer Begleiterfdei- 
nung, einer gemüthaften, äfthetifchen oder 
weltanfhaulihen Gergierung eines Lex 
bend geworden, das mit feinem ganzen 
Dillen und Grnft dem Inhalt dieſes 
irdijden Dafeins zugewandt ift? Und 
ift nidt im runde genommen die Ree 
ligion durch dieſe nicht zu leugnende 
BWillensridtung der abendländiihen Kul 
tur geftorben? Wir haben Kultur und 
Religion miteinander zu verbinden * 
ſucht. Aber was haben in Wirklichkeit 
Religion und Kultur miteinander zu 
tun? Sind nicht wahrhaft religiöſe Zei— 
ten für die Dinge der Kultur blind? 
Was fab Paulus in Athen, in Korinth 
bon der munderbaren Sunft diejer 
Städte, von der Blüte ihrer großen Kul— 


tur, Die wir Heute nod anftaunen? 
Nidts! Er fah das Lafter, die Sott- 
lofigfeit, den Zerfall. Sit es nidt fo, 
daß der Blid entweder nad innen oder 
nad außen gewandt ift? Können wir 
aber beute nod ernftbaft leben, ohne 
die Welt ernft zu nehmen? Kann uns 
Die Religion wirflid etwas fagen zu 
unferen §ragen der Arbeit und des 
Eigentums? 

G3 ift ganz gewiß fein Zufall, daß 
gerade Da folde Gragen laut werden. 
Wir leben in einer Zeit der umfaffen- 
den und tiefgreifenden Kriſis unferer 
Kultur; einer Krifis, die eben darin 
ihren @rund bat, daß unfere Kultur 
mit echter Religion wirflih nichts mehr 
gu tun bat. ®enau fo wie die grie- 
Hilde Kultur, die Paulus in Korinth 
fand, wie die ganze fterbende Antike, 
in deren Welt das Ehriftentum eintrat, 
mit ®ott nidts mehr zu tun hatte. Un« 
fere Kultur ift ohne Geele, ift gottver- 
laffen. Die Welt ift leer und, {dal gee 
worden. Gie jagt nichts mehr, fie bee 
deutet nidts mehr. Sie hat ihren Sinn 
verloren, den einzigen Ginn, den Die 
Kultur haben fann, Symbol zu fein für 
das, was über aller Kultur if. Wo 
darum Gott heute wahrhaftig erlebt wird, 
da wird er erlebt als der, der Diefe 
Welt gerbridt. Gein Leben offenbart 
ih als die Rataftrophe der Zeit. Gr 
fommt und zerftört den babplonifden 
Surmbau. 


3. 

Dies fann und muß zunädft gejagt 
werden. Es muß gejagt werden gegen« 
über all der Religiofität unferer Zeit, 
Die fih fo wichtig nimmt, der aber je- 
ner wurgelbafte Grnft fehlt, der aus der 
Gerfflapung [dfen, der frei maden 
fönnte, weil er ein entfdloffenes Nein 
aufbringt zu dem, was ift, und ein ech— 
tes gläubiges Sa für Den ridtenden 
®ott. Der Heilige tritt uns gegenüber 
mit einem unbedingten Anfprud. Gr ift 
uns alles, oder er ift uns in Wahr— 
beit nichts. In der Oewißheit des Got- 
teserlebniffes find wir über alle Kultur 
und alles irdiſche Oeſchehen hinaus. 
Der Seift des Glaubens hebt uns über 
allen Streit und alle Problematik der 
®efhidte empor, in eine letzte Hingabe 
des Lebens, eine lebte Verſöhnung, in 
den §Grieden, der höher ift als alle Bere 
nunft. „Sie wandeln auf Grden und Ie- 
ben im Himmel“, das ift das unper- 
lierbare und unentbebrlide Kennzeichen 
echter Frömmigkeit. Der Religion geht 
es um Öottesgemeinfhaft. Lm nidts ane 
deres. 

Aber gerade von da aus gewinnt die 
Kultur einen neuen Ginn. Nicht nur die 


409 


Wirtfhaft, alle Kultur ftebt unter dem 
Wort: Du follft dienen! Gie dient, und 
das beißt, fie meift über fid hinaus; 
oder fie zerftört das Leben. Wo fie 
bindet, wird fie Oötzendienſt und madt 
uns zu Rnedten des Todes. Gie bee 
freit und dient dem Leben, wo fie fid 
begreift alg Symbol. Gdte Kultur ift 
wie der Turm des Domes, der den Blid 
auffteigen läßt in die Gwigfeit. Das ift 
die große Frage, die in ihrer Krijis der 
Kultur geftellt ift: wird fie durch das Gee 
richt, das heute über fie ergebt, gapurge 
werden, in aller ausgebreiteten Seilhaftig- 
feit ihres Lebens den Ginn zu finden, 
ihren Beruf zu erfennen, und fo aus 
einer Welt des Todes fih gum Dienft 
am Leben zu wandeln? Zu einem 
Dienft, der nur fo ang und fo weit Dienft 
ift, alg er fih willig diefem Gericht 
untermirft, das immer wieder in dem 
unbedingten Anſpruch Gottes über Als» 
les ergeht, was if. Dennod und ge» 
rade fo zu einem Dienft, der gebeiligt 
ift, weil er getan wird in der gläu- 
bigen und verjöhnten ©ewißheit der 
®ottesgemeinfdaft, in der Gewißheit der 
»Seilbaftigteit*? Ihr feid Chriſti, Chri- 
ftus aber ift @ottes, fagt Paulus, und 
darum ift alles Euer. Go fann man 
„baben, als hätte man nit“. Das ift 
Steiheit pon der Welt, gugleid aber 
Sreibeit zum Dienft in der Well. 

Gine Sreibeit, die weiß, daß alles 
@ott gehört, daß darum „alle Kreatur 
auf die Offenbarung dieſer Freiheit der 
Kinder Gottes wartet“. Chriſtlich und 
deutfh ift es, in allem was ift, ebr- 
firdtig nah dem zu fuden, was Die 
Gade will, auf den Kern zu ſchauen. 
Grft das ift Kultur, die fid als Gottes- 
dienft begreift, ift „ſachliche“ Kultur, ift 
finngebendes Berbalten. Gine Gade um 
ihrer felbft willen tun, was das beißt, 
weiß nur, wer fie um Gottes willen 
tut. 


4. 

Bon da aus wird unfere redhte Stel» 
lung zu Arbeit und Gigentum, diefen 
beiden Grundformen unferes Anteils an 
der Kultur, Mar. Arbeitskraft und 
Eigentum find anvertraute Pfunde, die 
wir verantwortlich, als Dienftleute und 
Lehensmänner Sottes, zu veriwalten ha— 
ben. Seglide Arbeitsfraft, von der 
Gtarfe der Arme bis zur Schöpferkraft 
des begnadeten Künftlers. Arbeit ift 
®ottesdienft. Wo fie ed nidt ift oder 
nidt fein fann, da beginnt die Not. Das 
ift der innerfte Kern der ,fogialen 
Grage“. Arbeit foll Beruf fein fönnen. 
Gie fann es nur fein, wo die Arbeit 
ihren letzten Ginn darin finden darf, 
Dienft zu fein am Leben. Aber der 


410 


Beruf wird zerftört, die Fron beginnt, 
wo die Arbeit Mammonsdienft ift, Herr- 
(haft der Dinge über die Geelen. Der 
Mammonsdienft madt alle „fachliche“ 
Leiftung unmöglid. Da ift ron nidt 
nur beim „Arbeiter“ zu finden, feelen- , 
mordende Fron ift dann aud das Tun 
des Sabrifberren. 

Gigentum aber ift um der Gerantwor- 
tung willen; ein Leben, das wir finn- 
gemäß zu verwalten haben. Das ift der 
tiefe Ginn des Gigentumsredts, von 
feinem Volke fo tief verftanden wie von 
unferem Ddeutiden Golfe. Wenn Mie 
@ael Kohlhaas gum Empörer wird, fo 
wird er es wahrhaftig nidt aus Gigen- 
fudt, fondern weil er in feinem Redts- 
anjprud) das Redt felbft, das göttliche 
Recht verteidigt, pon dem aud fein Redt 
fih ableitet. Gr fteht im Kampf um fein 
Gigentum nidt für fic, er ftebt für das 
@ange, deifen Lehnsmann er als .Gigen- 
timer ift, das er im Anfprud auf 
fein Recht verteidigt gegen ſchnöde Will- 
für und felbftifde Begier. Wehe dem 
Golf, daß diefen Sinn des Gigentums 
und des Rechts verfehrte. Ihm wird 
in einem ganz tiefen Ginn das Gigen- 
tum ,entbeiligt* und damit die Berant- 
wortung der anmafenden Willfiir geop- 
fert und die Ghre des Mannes der Gaffe 
preisgegeben; der Sudtlofigfeit find alle 
Sore geöffnet. 

Darum ift die Gigentumslofigfeit brei- 
ter Schichten eines Volkes eine große Not 
und fittlide Gefahr. Nicht, weil dadurd 
viele bon dem ,geredten Anteil“ an den 
@iitern des Lebens ausgefdloffen find. 
Sondern weil fie ausgeſchloſſen find von 
der Ehre und Würde der Berantwor- 
tung, die im Leben des Gigentums den 
Menſchen gegeben wird. Und nur zu 
leiht wird der Menih ohne Eigentum 
zum Gflaben feiner bedürftigen Natur. 
Darum ift äußeres Glend allen, die ed 
anjeben, ohne nad ihren Kräften zu 
belfen, ein fhwerer Vorwurf. Aud der 
Nadfte ift zur Freiheit berufen. 


5. 
Du follft nit begehren. Aber du 
follft dienen. {ind darum follft du did 
bineinftellen in diefe Welt. Darum follft 


2 als bätteft du nit. Aber die Ab- 
febr von der Welt, die Flucht ift, fie 
ift aud) Glaubenslofigfeit; ift Schwäche; 
oder eine Gelbftjudt feinerer Art. Sie ift 
nit das tapfere und vertrauende Denne 
nod des Slaubens, fie ift die Bergweif- 
lung, die obnmadtig dem GSeridt des 
Heiligen über die Welt zufieht und fid 
felbft diefem @eridt zu entziehen fudt. 
Wehe uns, wenn der müde Geift des 


OSndertums uns unferem Beruf untreu 
machen follte. Wieviel Eitelfeit lebt inaller 
Askeſe, wo fie nicht ganz eindeutig nur ein 
Mittel der Erziehung, oder eine Pree 
digt der Sammlung und Gerinnerlidung 
fein will; wo fie nicht Dienft ift, fon- 
dern Heiligkeit gu fein beanfprudt. Wohl 
preift Sefus die Armen felig, aber webe 
den Armen, die fid daraus einen Titel 
der Geredtigfeit und Gottwobhlgefalligfeit 
maden. Alles ift Guer; Ihr aber feid 
Ehrifti, Shriftus aber ift Gottes. Dienet 
mit Gurer Arbeit und dienet mit Eurem 
Reidtum! 

Sröftet Gud aber allein der ewigen 
@nade! 


Bom didterifden Schaffen. 


a) Dramen und Romane, ja Novellen 
aud und Balladen ihrem Didter 
nidt fir und fertig in den Schoß fale 
fen, das wird aud der Lefer wiffen, 
der fonft über dichterifhes Schaffen nie 
fonderlih naddadte. 

Aber Gedihte? Nun, die jchreibt 
man eben bin. Dafür ift man bod 
Dichter. Und der Lefer ftellt fid in dies 
fem Augenblid mit gütigem Lächeln den 
Herrn Poeten in einem Buftande gelin- 
der Berrüdtheit por. 

Sa — allerdings gibt es Gedidte 
(foweit man überhaupt über deren Ent— 
ftebung orientiert ift) die blank und ſchier 
aus der Geele fpringen wie die Nuß 
aus der Schale, die alfo gleih endgitl- 
tig und einmalig zu Papier  fteben. 
Wie lange fold Gedidht aber im Kopfe 
des Autors fid) wandelte, bevor er es 
niederfdrieb, ift nod eine zweite Gade. 

Denn Gedidte wadfen wie jede 
Srudt wadft, müffen wie dieſe erft 
Spelzen und Hülfen fprengen, um rund 
und reif berborgutreten. Sa, der ure 
{priinglide Kern vermag fih zu fpalten 
und eine Doppelfrudt erfdeint. 

Aehnlides will das Nadfolgende 
(bisher LIngedrudtes) ohne großen Kom- 
mentar einmal deutlid madden. 

Sh weiß nidt, warum bier etwas 
gefliffentlih gu — wäre. 


And faß id — Hände, 
faß id mein ander Id. 

&3 wadfen meine Wände 
—— über mich. 

Das endrot entſchwindet. 
Komm, ſchau mit mir hinein: 
Was innen tief uns bindet, 
muß ewig ſein. 

II. 


Mit verändertem Anlauf entſteht 
noch am ſelben Tage das folgende fer— 
tige Gedicht: 


Karl Bernhard Ritter. 


nd wenn id Deine Hände faffe, 
fo ift’s, alg ob der Berg erbebt 
und feine erdenftarre Maife 
gewaltig fid gum @ipfel Debt. 

Es fteigt die Olut der tiefften Brände 
Binauf in Wolfenbheiligen{dein. 
Das ift das Wunder Deiner Hände. 
Und Deiner ae nur allein. 


Seht ward an Tage — aus 
der allg fallen gelaffenen 2. Strophe 
von I: 

Der Abend fteht in Feuer 

Wir fhauen ftumm binein. 

And morgen wird ein neuer 

Morgen wieder fein. 

Dazu als nadtraglider Auftaft (al- 
fo voran guftellen!): 

Der Sag, der geht zur Riifte. 

Hat jeder feine Plag. 

nd immer fo, als wüßte 

fein Tag — ER Sag. 


G3 ändert fid: 

Wir fdauen ftumm hinein, 
das nod als Nadbleibfel des ungeteilten 
erften @edidts Zurüdblieb, in: 

G3 Iodert rot ae Schein. 


Nad ein paar Zagen fommt das fo 
geociebene Gedidt mir in die Hände 
und obne weiteres fdreibe ih darunter: 

Da böre id ein Rufen: 

Da feh id eine Hand: 

Du weißt nur von den Gtufen. 

Der Tempel ift dir unbefannt. 

Das war am 23. Suni. Und Heute 
(1. Suli) änderte id endgültig wie folgt: 
Der Tag, der geht zur Riifte. 

Hat jeder feine Plag. 

nd immer fo, als wüßte 

fein Sag vom andern Tag. 

Der Abend fteht in euer. 

&8 Iodert rot fein Schein. 

Und morgen wird ein neuer 

Morgen wieder fein. 

Da fordert mid ein Rufen. 

Da weift mid eine Hand. 

„Du fiebeft nur die Stufen. 

Der Tempel felber ift dir unbefannt!“ 

Hermann Glaudius. 


Die Berfladung unferes Spradgefühls. 


Unlere Ohren ſind grob und taub ge— 
worden; wir hören garnicht mehr, 
was alles in RSS immer nod febr 
— — und bildkraftvollen 

prache klingt. Es ſind darum in letzter 
Zeit viele Schriftſteller darauf verfallen, 
uns dieſe Oegenſtändlichkeit der Sprache 
durch das Sinneswerkzeug zu vermitteln, 
das nod) am ſchärfſten arbeitet: das Auge. 
Bei Oundolf fand ich zuerſt den Einfall: 
zuſammengeſetzte und abgeleitete Wörter 


411 


ourd DBindeftrihe auseinandergugerren. 
Seitdem baben’s ifm viele andere nad 
gemacht: Bielfah mit erftaunlicher BDir- 

ung. Das Wort ,bertwerfen“ 3. B. gebt 
durd unjer Obr, "pinterlaft einen Gine 
drud abftrafter Art, mehr nidt. Wird 
aber dasjelbe Wort unferm Auge darge» 
ftellt in Der Gorm „per-werfen“, fo wird 
uns pliglid die febr fonfrete Handlung 
des ,, Werfens bewußt, die in dem Wort 
liegt, und die Borfilbe „ver“ empfinden 
wir dann dod aud wieder in ihrer 
eigentliden Bedeutung als „weg, in fal- 
{der Richtung“. Das Wort „Enttäu- 
fhung“ mit Bindeftrid „Sntstäufhung“ 
gefdrieben, regt zu weiterem Nachdenken 
an. Gine „Täuſchung“ ift eine nidt rich» 
tig erfannte Wirklichkeit, Tatſache, Wahr- 
beit. Ginem zu tiefft wahren Wtenfden 
müßte alfo eine Täufhung immer ein 
Anluftgefühl erregen. Die „Ent-täu- 
{dung dagegen, die uns aus der Täu— 
{hung Herausreift, müßte uns das Ge— 
fühl der inneren Befreiung erregen. Da- 
gegen vergleihe man aber, was wir 
wirklid bei einer „Snttäufhung“ emp- 
finden! — Hermann Krieger bat ein Bud 
gef@rieben: „Not-Wende“. Aus den bei- 
den zufammengefoppelten Wörtern fpridt 
eine Fülle ernfter Gedanfen, leidt ver- 
ftändlih für jedermann. Wenn Krieger 
nun in Diefem Bud das Wort „not 
wendig“ gebraudt und es mit einem 
Bindeſtrich „notwendig“ fdreibt, fo gebt 
unjerm Spradgefibl plislid auf, weld 
ein vollgewidtiger Inhalt in diefem Wort 
ftedt. Wir werden wahrſcheinlich ftoden, 
wenn uns nun einmal ein gleidgiltiger 
Sat über die Lippen fahren will wie 
etwa: „Sch muß heute notwendig nod 
in Die Stadt.“ Uns ift dod wohl, als 
brade das Wort „notwendig“ mit feiner 
Kraft und Tiefe heraus aus dem inhalt- 
lid leeren Gab. — 

Ih babe an mir und andern beob- 
adtet, dab wir duch diefe Bindeftrid- 
manier wieder aufmerffam ge eiworden find 
auf unjere Sprade und Daß wir mit 
großer Freude beginnen, uns ihrer Bild- 
baftigfeit wieder bewußt zu werden. Aber 
tief betriiblid ift Dod die hierdurch feft- 
geftellte Satfade, daß unfer vielleidt 
edelfter Sinn: das Gehör, abftumpfte. 
Als weitere beweijende Tatſache gehören 
dazu die Verfilmungen klaſſiſcher Wort- 
dramen. Nathan der Weije, Minna von 
Barnhelm, Sbfens Dramen, Hamlet, alfo 
lauter Werke, deren Gwigfeitswerte Doch 
im Bort liegen, verlieren diefes Befte, 
und nur das bißchen, was für die Augen 
beftimmt ift, wird den Schauenden por- 
geführt. 

Mehr Spradverwirrung als Sprad- 
verflahung bedeutet eg, wenn unfere 


412 


Kinokultur eigenmädtig den Sinn eines 
Wortes ins Gegenteil umbiegt. Was hat 
fie aus dem feftumriffenen Begriff 
„Sitte“ gemadt? Wenn von fdreienden 
Plataten das am fetteften gedrudte eine 
Wort „Sitten“ uns entgegenfdreit und 
in Heinem Drud- darunter ftebt: „Film in 
fo und fo viel Akten“, fo befagt in diefem 
Salle das gute Wort „Sitten“, daß in 
diefem Film das Gegenteil, namlid „in 
fitten, Gittenlofigfeit* dargeftellt wird. 
Und wir nehmen die Umwertung oder 
Entwertung des Wortes „Sitte“ ruhig 
hin. Wie wir überhaupt unfere Sprade 
nit hüten und pflegen als das Kleinod, 
das fie Dod if. Georg Kleibömer. 


Allmer3 bei den Kleiderfellern. 


3 Zufammentreffen und vollends 
den näheren Umgang mit bedeu- 
tenden Männern babe id von früh auf 
für einen befonderen Vorzug der Lee 
bensführung gebalten und deshalb die 
Gelegenheiten zu folder Auszeihnung 
geiwiffenbaft genugt, ja, wohl aud) ge- 
fudt. Ih darf freilid nidt verſchwei— 
gen, daß id einige aus Ungeſchick oder 
Sahrläffigfeit aud) verpaßt oder ver- 
fäumt babe. er nidt von foldem 
GEntidliipfenlaffen glüdhafter Umſtände 
will id bier ſprechen, ſondern von der 
Bereicherung, die mir durch die Be— 
kanntſchaft mit Perſönlichkeiten größeren 
Zuſchnitts zuteil geworden iſt. In dieſem 
Sinne bin ich lebenslänglich meinem ver- 
ehrten Freunde Wilhelm Brandes, der 
fürzlih als Oberſchulrat i. R. feinen fieb- 
gigiten Geburtstag in Wolfenbüttel feie 
ern durfte, zu größtem Danfe verpflid- 
tet, weil er mid in — Jahren in 
die Geſellſchaft der ehrlichen Kleider— 
ſeller in Braunſchweig einführte. Die 
Verkehrsformen dieſes Kreiſes waren dae 
angetan, den guten geſelligen An— 

agen Vorflut zu verſchaffen und une 
nützen Hemmungen der Entwicklung vor— 
zubeugen. 

Es iſt ſchon oft die Feder angeſetzt 
worden, dem Fernſtehenden das eigent- 
lide BWefen diefer merfwiirdigen Bere 
brüderung, die durd ihr pornehmftes 
Mitglied, Wilhelm Raabe, in die Litera- 
turgeſchichte gefommen ift und darin eine 
erfte Stelle zu behaupten einftweilen 
alle Ausfiht hat, flar zu maden; aber 
das ift febr ſchwer, um fo fdmerer, als 
bei dem wedfjelnden Mitgliederftande 
und bei dem Nidtftilleftehen der Zeit 
felbft in Diefem Kreiſe die vorwalten- 
den Wefenszüge nicht eindeutig geblie- 
ben find. Gin fhöner Zug war es je- 
Denfalls, daß ein irgendwie bedeutender 
Bejud, der einem Mitgliede widerfubr, 
fofort der Gefamtbeit zugeführt wurde. 


Dieje eingeführten Fremden fpielten bei 
den Sujammenfiinften im Laufe Der 
Sabre eine große Rolle, und ihrerfeits 
nahmen fie mehr oder weniger bedeu- 
tende Gindriide mit nah Haufe. . 
Nun hatte ih im Juli 1891 von Lü- 
neburg aus, wo id auf dem dortigen 
GStadtardive einiges gearbeitet hatte, an 
Hand von Hermann Allmers MWarfden- 
bud, für das id mid Damals auferor- 
dentlich begeiftert hatte, eine Fußreife 
emadt. Zunädft ging die Reife am 
infen Glbufer flußabwärts bis nad 
Cuxhaven und dann, indem id die Halb- 
infel bSurdquerte, an die Wefer und 
Durd die dortigen Marfhen auf Bree 
men zu. Hier nun wartete meiner ein 
wahrhaft mardenbaftes Slid. Sh durfte 
in dem ſchönen Safthof zu Smftein, im 
Lande Wurften, unmittelbar am Wefer- 
deih, an einer Tagung der „Männer 
bom Morgenftern“ teilnehmen. Ganz ab- 
fihtslos fchneite ih in Diejes Feſt, das 
dem vom Dürgermeifter pon Geeſte— 
münde zum Leiter der Hanfeati- 
fhen DVorführung in Lübeck beru— 
fenen Braunſchweiger Gebhardt zu 
Ehren gegeben wurde, hinein. Den 
Hdbepuntt des Abends bildete das 
Eintreffen Hermann Allmers'. Nachher, 
bei feiner temperamentvollen Abfahrt, 
wollte mid Allmer3 gleid mit auf feinen 
Hof zu Redtenfleth entführen. Da ich 
mir aber batte verraten laffen, daß es 
infolge der unbegrenzten Oaſtfreundſchaft 
des Dichters auf dem einft fo blühenden 
Hof nidt mehr gum beften ftebe, febte 
id der ftürmifhen Ginladung ausrei— 
Genden Widerftand entgegen und blieb 
im Sreife Der ausdauernden Männer 
bom Morgenftern urüd. Aber die 
Sreundfhaft war gefdloffen. Und nidt 
lange, fo führte fie den ftets reifeluftigen 
Gdlenderer nad Draunfhweig und in 
das Heine Gartenhaus am Petritore, das 
id Damals mit meinen Schweftern be- 
wohnte. Die friegten feinen kleinen 
Gdreden, als fid ihnen, wie fie vor 
der Türe faßen, unerwartet die gewal— 
tige @®eftalt des damals etwa fiebenzig 
Sabre alten Didters nabhte. Nicht to 
wohl das etwas eigenartige Weuffere war 
e8, das fie einigermaßen in Derlegen- 
heit fette, als die unartifulierte Sprach— 
weife, der der Befuder nad mir 
fragte. Denn befanntlid batte diefer 
Mann, bei dem alles nah Mitteilung 
drängte und der eine bedeutende Bered- 
famfeit entfalten fonnte, einen fogenann- 
ten Wolfsradhen mit Hafeniharte, jo daß 
fih feine Worte nur unvollfommen forme 
ten. Wan mußte fih erft in feine Redes 
weife bineinhören. Bei einer Taſſe Raf- 
fee ftellte fid dann die Bebaglidfeit ein. 


Tur über eins wunderte fid Allmers 
immer wieder, daß id bei der Anfün- 
A des Befudhs durd) meine Schwe- 
fter gleih gewußt hätte, um wen es fid 
bandle. Daß er aud auf die gedräng- 
tefte Bejhreibung bin fofort wiederzu- 
erfennen fei, davon fdien er feine Ah» 
nung zu baben. — Run folgte eine 
Wanderung durch die Stadt. Es madte 
den Straßenjungen Braunfhiweigs viel 
Gergniigen, Dem Gremden, der in etwa 
an den Reifeanzug Hoffmanns pon Fal— 
lersleben erinnernder Sradt neben mir 
berfdritt, in einiger Gntfernung zu fol» 
gen und den Aeuferungen feiner Gin- 
rüde gu laufhen. Namentlih auf dem 
Schloßhofe hatte id einige Mühe, fie 
guriidgubalten. Im Gdloffe wohnte da- 
mals Der Regent des Landes, der 
Pring Albrecht bon Preußen. Aad def- 
fen Beliebtheit fragte mid der Gaft mit 
lauter, Gottlob ſchwer verftändlidher 
Stimme. An meine Antwort, die einiger- 
mafen zurüdhaltend gefaßt war, fnüpfte 
er die umftändlihe Erzählung von einer 
Begegnung mit dem Prinzen in den Ka- 
tafomben Roms. Dies Grlebnis bat er 
aud in feinen römifhen Schlendertagen 
mitgeteilt, dort mag es gewiß am Plage 
fein. Hier aber, unmittelbar unter den 
Senftern des hoben Herrn, batte- die 
Wiedergabe des Begebnijjes etwas Pein- 
lihes. Denn in durhaus nidt gewähl- 
ten Ausdrüden fdilderte er, wie er dem 
damals nod jungen Prinzen feine an« 
gefidts der ebrwiirdigen Stätte unan- 
ebradten Scherze und Späße verwieſen 
Babe, und auf den Hinweis des Beglei- 
ters, daß er es mit einem preufijden 
Prinzen zu tun babe, in die entrüftete 
PBerfiherung ausgebroden fei, daß ihm 
diefe Sigenihaft gänzlich einerlei fei. Sh 
war in Diefem QAugenblide fo {dledt, 
daß ih mid über den Spradfebler des 
aufgeregten Mannes freute; Denn obne 
dieſen wäre die Ggene auf dem Sdlof- 
bofe vielleiht nidt fo harmlos verlau- 
fen, wie e8 troß der allmablid ange- 
wachſenen Zubörerihaft der Gall war. 
Nunmehr fprad Allmers das Berlangen 
nad einem Glaſe Bier aus. Ich führte 
ibn in die Hagen{denfe, die für die Er— 
füllung diefes Wunfdes wie gefdaffen 
war. Der große GOaftraum war nod 
giemlid leer. Merfwürdigerweife trafen 
wir dort meinen älteren Freund und 
Mitfleiderfeller, Profeffor Schlie, an, der 
duch irgend einen Zufall um dieſe 
Stunde dorthin geführt worden war. Nod 
merfwürdiger war, daß gleichfalls der 
Oberfhulrat Eberhard um diefe Zeit hier- 
ber feine Schritte [enfte Da ich bee 
forgen mußte, daß das immerhin auf- 
fällige ®ebahren meines Gaftfreundes in 


413 


den Augen des damals allerdings nidt 
mebt allgemaltigen Gdulmannes zu aller- 
band Mifdeutungen Anlaß geben fönne, 
fo ſchien e8 mir das Weratenfte, die bei» 
den Römer, den Humaniften und den 
Schlenderer, miteinander befanntzu- 
maden. Das war denn aud febr wohl- 
getan. Aber, wenn id gedadt hatte, den 
®egenftand der Anterhaltung zwifchen 
ihnen würde das ewige Rom bilden, 
fo Hatte ih mid febr getäufht. Denn 
Eberhard war mit der Beit fo fehr von 
feinen BHumaniftifden Sntereffen abge» 
fommen und in den Schulverwaltungs- 
betrieb Hineingeraten, daß er den Frem- 
den Iediglid pon feinen unmittelbaren 
Sorgen, der DBejehung eines eben frei 
gewordenen Direftorpoftens, unterhielt. 
Diefe Gade hatte ihn denn aud in Die 
Hagenſchenke getrieben, weil er eine 
Stunde {pater einen in der Vachbarſchaft 
wobnenden darin mit zuftändigen Herren, 
der nidt gu Haufe gewefen war, treffen 
follte. Immerhin war das Gefprad im 
@ange, und id fonnte die für mid dar 
dur gewonnene Gntlaftung bam, bes 
nugen, durch furge enzykliſche ittei⸗ 
lung die durch Dienſtmänner 
baren Kleiderſeller für den Abend in 
das Gewandhaus zu beſtellen. Denn ich 
hatte nach meiner Rückkehr von jener 
Reife und meiner Begegnung mit All« 
mers foviel in deren Rreife erzäblt, dah 
ihnen der Befud nicht vorenthalten were 
den durfte. Namentlid Wilhelm Raabe 
mußte ihn fennenlernen und Allmers ibn. 
&3 wurde ein ganz anfebnlider Kreis, 
der fid in der fleinen Dönje neben dem 
Hauptgaftzimmer zufammenfand. Der 
Kellner, der uns firforglid wie immer 
betreute, ift jet DBrodenwirt; er fönnte 
meinen Beridt von diefem Teile Des 
Allmersfhen Befudes in Braunfhweig 
beftätigen. G3 läßt fid faum ein grö- 
ferer Gegenfab denfen, als fid zwiſchen 
dem felbftfideren Iateinifhen Bauer aus 
der Marfdh und dem balb-ffeptifd, balb- 
ſchüchtern zurüdhaltenden Wilhelm Raabe 
offenbarte. Gine eigentlide LUnterbal- 
tung entwidelte fid nidt, wenn man 
darunter den Austaufd von Witteilun— 
gen und die Ausldjung von Gedanfen 
und Ginfallen auf beiden Seiten verftebt. 
Denn Allmers entlud fid, ungebemmt 
durd feinen Gpradfebler, in breiter Mit- 
teilfamfeit einer Menge von Grlebniffen 
feines langen Lebens, das ihn in DBezie- 
bung mit vielen WMenfden aller Ord- 
nungen und ®rade gebradt hatte. An— 
erfhöpflid mar er in Vorführung von 
Leuten, die mit irgendeinem Anliegen 
auf feinem Hofe anlangend, dort wochen⸗ 
lang getweilt batten, einer fogar in der 
Abjidt, für fein Marfhenbud die Mu- 


414 


erreich- | 


fit zu {reiben. Offenbar batte er viele 
diefer ®efhichten {don unzählige Male 
zum beften segenen und war des bei fei- 
ner Greigiebigfeit verftandliden und ge- 
wohnten Beifalls gewärtig. Raabe hörte 
dem Alten mit einer gewiffen nadfid- 
agen Aufmerffamfeit gu. Obgleid er 
felbft einen hübſchen Vorrat bon netten 
Schnurren in petto hatte und id ibn 
felbft gelegentlih welche recht wirfungs- 
poll babe erzählen hören, fdien er nidt 
auf den ®edanfen zu fommen, mit dem 
@afte etwa den Wettbewerb aufzuneh- 
men. Ih war — ein bißchen ent⸗ 
täuſcht über die Einſeitigkeit der Unter⸗ 
haltung und hätte ae den Häuptling 
der Männer bom Apenfeen gegen«- 
über mit dem Sleiderfellerfürften Staat 
gemadt. Nadträglih ift mir aber das 
Serbalten Raabes aufgegangen. Der 
breiten Dingegebenbelt an bie äußere 
Welt, die den Warſchbewohner neben 
feiner Gdwarmerei für die allgemeine 
Bildung und den Fortſchritt fenngeid- 
nete, hatte diefer ausgefprodene Innen⸗ 
menſch, der fid) feine Welt nah den Bee 
dürfniffen feines Gemüts eigengejeblid 
formte, nidts Rommenfurables entgegen- 
ufeben. Daber redeten fie oder ſchwiegen 
fie aneinander vorbei. — 

Raabe bat denn aud fein lrteil 
über den Abend, als ih mit dem Fremd⸗ 
ling gegangen war, um ihn in fein Gaft- 
haus zu geleiten, in die Worte gefaßt: 
Der Kerl hatte gar nidt zu fommen 
brauden: Wollenhauer hat ibn in feinen 
Grgablungen viel beffer gefannt. 

Karl Mollenbauer. 


Lebenserinnerungen des Alten Mannes. 


aabe ift einer der wenigen Peut- 

fden, Die, ohne von politiihem Ref- 
jentiment geleitet zu fein, nidt in dem 
neuen Saijerreih, aber in den neuen 
faiferliden Deutihen die feeliide Ber 
änderungen empfanden, die ein Men- 
ſchenalter jpäter zu jener tiefen Grfran- 
fung des deutſchen Wefens führte, wel 
de wir die milhelminifde Wera und 
in ihrem beutigen Stadium die deutihe 
Republif nennen. Im Borwort zu jei- 
nem „Chriſtoph Pechlin“ fpriht er bie 
Pein aus, die ibm diefe Ginfidt berei- 
tete; der ſchroffe und ſchmerzliche Wider 
{prud gegen den Feftlärm feiner griin- 
dungsfrohen Beit entladt fid in jener 
Erzählung, deren feltjamer Humor aus 
diejer Not fommt. In faft allen Grzäh- 
lungen, die in feiner Gegenwart fpielen, 
erfdeinen Geftalten aus der Epode, die 
diefer Veränderung vorberging. Ihnen 
und den fleinen Fürftenftädten, in deren 
fdattiger Stille fie reid und wunderlid 
aufwuchſen, galt feine Liebe; in ihnenbörte 


er das, was wir heute in feiner Kunft 
bören: das Boden des deutihen HKer- 
ens, jenes zarten und kraftvollen, wei- 
en und unrubpollen Dinges, an dem 
alle Galfer des Erdballs Aergernis neh⸗ 


men. 

&3 ift ein fhöner Glidsfall nidt nur 
der Literaturgefhihte, daß die Zeug- 
niffe aus jener Gpode fid um einen 
wertpollen Beitrag vermehrt haben, daß 
gu den ,Sugenderinnerungen eines alten 
Mannes“ ein per Band getreten ift, 
ufammengeftellt aus den Briefen Wil- 
heim bon Rigelgens an feinen Bruder 
®erbard *. Greilid find Die ,Sugend- 
erinnerungen“ ein bon ihrem Perfaffer 
forgfam gefeiltes, abgewogenes Werf, die 
‚„xebenserinnerungen“ dagegen bon freme 
den Bearbeitern aus bebagliden Briefen 
durch Streidungen und Zufammenlegun- 
gen guredtgefdnitten, aber beide Werke 
erhalten fo wenig von der literarifden; 
fo febr von der perfinliden Seite ber 
ihren Wert, daß diefer große formale 
Ainterfdied für die Bedeutung der bei- 
den Bande nidt ins Sewidt fällt. Im 
Segenteil, die Linmittelbarfeit diefer brü- 
derliden Briefe wiegt mindeftend Die 
geringere Durdarbeitung durd ihren 
Serfaffer auf. Zwar fann man ohne 
Ginfidt in die Originale den Einfluß 
der Bearbeiter nidt abſchätzen, aber die 
von ihnen ausgewählten Zitate unter den 
gablreiden Bildern erweden Zutrauen 
u ihrer Tätigkeit; fie zeugen davon, daß 
fie nidt nur mit Lmfidt und Sewiffen- 
baftigfeit, fondern aud mit wirflider 
Ginfiblung das ihnen anvertraute Out 
verwaltet haben. inter diefen Bildern 
findet fid ein Porträt eines jungen 
Mädchens, das im Haufe Kügelgens wie 
ein eigenes Kind galt. Die Herausgeber 
fegen darunter eine Briefftelle: „In Die» 
fem jungen Mädchen, das weder {din 
nod geiftreid ift, lebt etwas, das id 
nidt nennen fann, das aber einen Sau- 
ber übt, den alle Menfden fühlen.“ 
Kügelgen fann ibn nidt nennen, aber 
zeihnen. Gr, der leidpolle und rin- 
gende Menfdh, auf den fih das Shae 
rigma, die Gnade, nur in  feltenen 
Alugenbliden berabjentt, er fennt fie 
Dod, und ift imftande, fie ins Bild zu 
bannen. Dazu peidbige ibn nidt nur 
malerifhes Können. Genes Bild Hat die 
Kieblidfeit einer Geele, die in innerer 
Heiterfeit das Leid erwartet, an dem fie 
reifen wird, mit folder Reinheit wie- 


* Wilhelm von Kügelgen, Lebensere 
innerungen des Alten Mannes. 8 
Köhler Verlag Leipzig. In Pappband 
ME. 3.60, Halbl. ME. 4.80, in Gangleinen 
auf bolzfreiem Papier Wf. 10.—. 





dergegeben, daß wir fühlen, was der 
arten, bon böfen Humoren geplagten 
atur Kügelgens die Kraft gab, mit der 
er auf feine Umgebung und auf uns 
wirft. Mathilde Balentiner, fo heißt je 
nes junge Mädchen, ift die „Frau bon 
der ©eduld“, ehe fie vom Sdidfal erfaßt 
wird, in findlider Grwartung und dod 
für den Lebensweg gerüftet, der fie in 
die Kabenmühle führen wird: das im 
Leiden gejegnete deutſche Herz, traume 
vg und {dicdfalsbereit. 
on bier aus muß man den Weg zu 
Kügelgens erfonlidfeit fuden. Was 
aus Ddiefem Bilde fpridt, ift das worum 
er ringt, — nidt was er befitt. Aber 
e8 lebt in ihm als Gebnfudt. Deutlider 
wohl als in den „Sugenderinnerungen“) 
die in den Slang einer glüdlihen Kind- 
beit getaudt find, fpricht fid dieſes Rin- 
en in den Driefen aus. Zwei Fragen 
ind e8, in denen der Lebensfampf Dies 
fer verwundbaren und dod unbefiegliden 
Natur fi Eriftallifiert: die Religion und 
die Politif. 
Bei Kügelgen — wie übrigens gele- 
gratis bei abe — finden wir jenen 
iberalismus, an den ganz gu Unrecht 
die beutige Demofratie anzufnüpfen 
glaubt. Diefer Liberalismus ift bon dem 
Aingeifte de8 modernen Liberalismus 
ebenfo prinzipiell unterfdieden, wie die 
ftolge und fühne „Aufllärung“ Griedrids 
des Großen und Leffings bon der Grei- 
geifterei, wie fie der geiftige Kleinbürger 
aus Haedel entnimmt.: Gs ift ein Anter⸗ 
fhied des Ranges, nidt der Ideo— 
logie, und darum unferm Zeitalter, 
weldem Nietzſche ohne Nuten gelebt bat, 
unfaßlih. Bei Kügelgen erleben wir nun 
den denfwürdigen Zufammenprall zwi- 
{den dem „proteftantiihen“ Liberalismus 
und Der beroifden Politif, die in der 
Oeftalt Bismards in Die deutihe See 
ſchichte wieder eintritt. Sener Liberalis- 
mus ift ein Zuſtand deutfch-nationalen 
Strebens — das Worthatindiefer Zeit eine 
bon Arndt und Sabn Herfommende Bee 
deutung, die wir heute faum nod heraus- 
bören —, in dem das deutſche Wefen 
abnungspoll nad feiner politiihen Gorm 
fudt, die feine ftaatliden Kräfte binden 
foll. Die Reden in der Paulstirde hal— 
len wider pon Diefer Gebnfudt, aber 
nur Hellbörigen ift es vergönnt, in den 
Worten des Landtagsabgeordneten und 
Minifters v. Bismard den Klang wieder gu 
erfennen, auf den fie warteten. Zu dieſen 
Hellhdrigen gehört Kügelgen; abgeftoßen 
bon dem Geſchwätz der Revolution, er- 
fennt er in Bismard die Führernatur, 
die dem Drange zur Tat verhilft, der als 
DBollen die ,deutihe Frage“ aufge» 
worfen hat. Dem fdeuen Maler ermög- 


415 


lidt das Gertrauen feines Fürftenhau- 
fes, als Mittler zwiſchen der alten und 
der neuen Zeit zu wirken. 

Diejes Gertrauen erwirbt fid Kügel- 
an durch eben jene Gigenjdaft, wegen 
er wir ihn heute lieben: durd eine ftille 
und ergreifende Gite, die bon dem Wee 
fen echten Humors faum zu trennen ift. 
Sie madt ibn zum Freunde feines ver- 
blödenden Herzogs und deffen tapferer 
@attin. Der Wahnfinnige vom Schloß 
Hoym hängt an ibm wie Täuberih Pa- 
{ba an Leonhard Hagebuder; die Ge- 
{prade, die Riigelgen wiedergibt, er- 
flären, warum der franfe Giirft in Diefer 
Geſellſchaft fih wohl fühlt; zwiihen dem 
mit feiner Zeit zerfallenen Irren und 
dem zeitlofen Künjtlerherzen befteht eine 
Gerwandtidaft, die nur zwiſchen dem 
— und wahrem Humor möglich 
t. 

Dieſer Humor kommt aus den tiefen 
Schichten, aus denen die letzten Fragen 
aufſteigen. Man fühlt, bier iſt man in 
der Luft, die Raabes Graählungen ate 
men. Aus dieſer Welt ftammen feine 
melandolifh=heiteren Weijen, feine alten 
Lbrmader und Erfinder und feine Anti 
quariatsbudbandler. Kügelgen gehört zu 
ihnen. Wud über ihm liegt jene Stim- 
mung, die das landläufige Urteil als 
Relignation bezeichnet. er das Wort 


vermag die beitere und Leiddurdwebte 
Stille nidt auszudrüden, die nidt aus 
einem Mangel, fondern einer Fülle des 
ar berfommt. Diefer Zuftand der 
Seele ift aud) das Ergebnis der religidfen 
Kämpfe, die Kügelgen durdgemadt hat. 
infere modernen ,@ottfuder“ und Die 
Prediger, deren Gemeinde fie bilden, tä- 
ten gut, diefe ebrliden Befenntniffe zu 
Iefen. Sie rühren an das, was die Re- 
ligion jenfeits der Menjchenfeele ift, an 
das Mpfterium, das wir ahnen und füh— 
len und dod nicht erwerben fönnen, 
wenn es fih uns nidt jhenft. Kügelgen, 
der feine tiefe und innige Srömmigfeit 
nie verliert, bat Dod ein jchmerzendes 
Wiffen pon einer lebten Wirklichkeit, 
Die fid ihm verſchließt, nadhdem fie fid 
at in Stunden der Begnadung gezeigt 
at. — 

Siebenundzwanzig Sabre umfafjen die 
Briefe. Nehmen wir die „Dugenderin=- 
nerungen“ binzu, fo überbliden wir faft 
ein ganzes Menfchenleben. Leber Die- 
fes Herz „ift mandes Ungetüm getram- 
pelt“. Aber im Reifwerden der Perjön- 
lihfeit bleiben ihre @rundlagen unver- 
ändert; jie dauern im Wandel, wie eine 
Landidhaft, über die die Jahreszeiten hin— 
geben. Lind diefe Landfdaft ift ein Stüd 
Heimat der deutſchen Geele, 

Albredt Grid Öüntder. 


Der Beobachter 


Borries Freiherr von Münchhauſen 
regt in der Frankfurter Zeitung an, 
man folle, wie einft da3 Bolfslied, fo 
jest den ©afjenhauer fammeln, ehe er 
ausfterbe. Der richtige alte Gajfenhauer 
(„Sm Grunewald ift Holzauftion“ ufw.) 
„Itirbt an feinem Nadfolger, dem Shla- 
ger, denn: Das deutihe Golf ſucht 
ih niht mehr aus einer Anzahl von 
Liedern das ihm entfpredendfte aus, fon- 
dern eine fleine einflußreihe Gruppe 
bon Operettens und Schwanffabrifanten 
beftimmt alljährlih in Wien, neuerdings 
aub in Berlin, welche Lieder, welde 
Operette als „Schlager“ des Sabres zu 
gelten haben. Diefe werden dann in Der 
nötigen Aufmadung allen Phonographen 
und ®rammopbhonen und in allen Stimm» 
lagen und Begleitungen allen Sortimen- 
tern zugefertigt und bald fann feine 
Damenfapelle und fein Tanzabend, feine 
Drehorgel und fein Gaffenpfeifer mehr 
ohne den Schmarren fein. Da aber die 
Lieferanten gleid) ihren ©ejinnungsge- 
noffen bom SHausvogteiplah immer neue 
Nouveautés freieren und auf den Markt 


416 


werfen milffen, fo fommt das einzelne 
Lied nist mehr, wie etwa vor gwangi 
Sabhren, zur wirfliden Auswirfung un 
fozufagen organifhen Ausbreitung, fon- 
dern die Hebjagd wird immer wilfter 
und baftiger. Nur nist zur Rube fom- 
men lafjen! ,Sarara — bumdiäh“ fang 
nod ganz Deutidland felig gleichzeitig, 
beute faut Altenburg nod am Gaffen- 
bauer von vorgeftern, Leipzig Leppert 
am geftrigen, während Berlin ſchon aus- 
gerehnet Bananen fdnuppert. Aber in 
Wien werden derweil die Tips für den 
fommenden Winter ausgegeben.“ 


3: einer Polemik gegen die „Kölniſche 
BDolfsgeitung*, die den „©eift von 
London“ als ,@eift des Guropdismus“ 
preift, ihreibt „Der Deutihe“: „Wir ha- 
ben weiß Gott verzweifelt wenig Ane 
laß, Die Londoner Konferenz, auf der 
falte und vollfommen unidealifti- 
{fhe Intereffen miteinander, ringen 
und fubbandeln, mit Begeifterung und 
Ueberfhwang der Gefiible zu beobadten. 
Was dort fid ereignet, ift alles andere 


alg dazu angetan, in uns den Olauben 
an eine etbifde „Entwidlung“ der 
„Menjhheit“ zu ftärfen. Gs handelt fid 
einfah um die Begründung einer Aktien⸗ 
gefellfdaft zur Ausbeutung Deutidlands 
und politifden Beruhigung Guropas, wo- 
bei man fid nidt verſagen fonnte, im 
Prine um des Sefdhaftserfolges wil- 
en einige gene nwahrbeiten wie die, 
daß Deutfhland durd den Krieg und den 
„Stieden“ wenig gelitten habe, mit unter- 
laufen zu laffen. Daß dieje Aftiengejell- 
ſchaft, wenn wir den ridtigen &influß 
bei ihrer ®ründung mit ausüben, und 
unfere Gertreter fid nidt vom Olanz 
rein finanzpolitifder Utopien Blenden 
laffen, einige politiide Vorteile unter 
Amftänden für uns bedeuten fann, ftebt 
auf einem anderen Blatt und ift gewiß 
nidt einem bejonderen Gthos der Lon- 
doner Konferenz zuzujhreiben.“ — Wenn 
fid die deutfhen Iournaliften dod von 
der fubalternen Haltung ,fleiner Leute“ 
fretmaden fönnten, daß die Moral der 
Sremden ohne weiteres über die Moral 
zu Haufe gefebt werden müfjel 


ct fürzlih erfolgreih ausgefodtene 
Kamp! Tidudis pe en Maz Lieber- 
manns Gerfud, Ginf of auf Die Natio- 
nalgalerie zu gewinnen, gehört zu den 
pifanteften und naddenflidften republi- 
fanijden Erſcheinungen. Der Streit gab 
dem §reiberrn Leo v. König Anlaß, in 
der 9.2.3. vom 15. Juli einen „Offe- 
nen Brief an Marz Liebermann“ zu 
verdffentliden, der merfwürdige Blice 
ins Innere der Unnatur tun läßt. Wir 
en diefes deutfhe Kulturdofument wie- 
er, da eS nicht mit dem Tage verwehen 
follte: „Sehr geehrter Herr Profeffor! 
Seit Sie durh Ihre Amtsführung vor 
ungefähr 13 Jahren das Werk Leifti- 
fows, die Berliner Gegeffion, zerftörten, 
und id unter Proteft meine Mitglied 
{daft im Borftand niederlegte und das 
morfhe Schiff verließ, haben wir nichts 
voneinander gehört. Ih hatte fein Inter 
effe, Ihre Amtsführung in der Afa- 
demie anzugreifen, da id der Anfidt bin, 
je rafher Gie dieſes Inftitut berunter- 
wirtidaften, defto beffer ift e8 für die 
Sntereffen der Kunft. Denn diefe Außer- 
lihe Würde giidtet nur falfhen Ehrgeiz 
und bequeme Gattheit. Go entfpraden 
Sie gang meinen Wiinfden, als Gie den 
Kreis Ihrer einftigen ®egner mit Gin- 
ladungen gu Ihrer Ausftellung ver- 
fhonten. Heute aber greifen Sie, wie die 
Sama gebt, weiter, und Shr Madtappe- 
tit verlangt, auf das Wert Tihudis und 
Suftis Sinfluß gu gewinnen. Um dies zu 
verhindern und Ihr „Papfttum“ zu be» 
fämpfen, würde id meine Thefen an 


Shren Kunfttempel fdlagen, wenn id 
nidt hoffte, daß Ihre Ginfidt feit 1911 
probes geworden ift, und id Sie durd 
iefen Brief von Ihrem Vorhaben ab- 
bringen fann. Sd verjudte, Ihnen fdon 
damals in der Gegeffion flargumaden, 
daß zur Führung por allen Dingen 
Mebergeugung, Glaube an die Dinge, die 
man tut, gebört. Sie aber glaubten nur 
an Ihre eigenen Bilder, und alles an- 
dere war Der befannte „S...dred“! 
Bei der Auswahl der Bilder entjchieden 
infolgedeffen die perfinliden Shmpatbien 
für geborjame Adepten oder eine duper- 
lide Ginftellung, die Sie in die Worte 
gu fleiden pflegten: „id finde det fcheiß- 
id, aber det mijfen wer haben“. Den 
einen wie den andern Standpunkt ver- 
traten Gie mit viel Dib, oft mit Geift, 
fo daß es für Gie bei der Machtitellung, 
die Sie fhon damals batten, nidt ſchwer 
fiel, Ihren Willen durchzuſetzen. Gie 
wiffen heute, wohin das geführt bat, 
und erleben nun wieder bei Ihrer Lei- 
tung der Akademie, welde negativen Gr- 
folge falte Routine immer, zumal in 
der Behandlung von RKunftfragen, mit 
fih bringt. Gin Fünkchen Liebe 
ift bier wie überall im Leben 
BERgBanSTUbIgtn als aller 

erftand. Gie find fid bod flar, 
daß Gorinth, Slebogt und fo mander 
andere nit mit Ihrem Willen, fondern 
gegen ibn vorwärts gefommen find. Da- 
zu gehört, daß der fedgigiabrige Co— 
tint gegen Shren Wunſch Mitglied 
Sbrer ademie wurde. — Der hodge- 
lobte Liebermann ift, wie uns heute jcheint, 
febr bod gelobt. Gin figer Könner ift 
er, Das find andre nicht minder. LUner- 
reiht find nur fein Mundwerf und feine 
Beziehungen. 


Br den demofratifhen Sentrumstrei- 
fen — alfo aus jener wolfenverban- 
enen Gegend, wo Bentrumsbonge und 
fosialiftiféer Bonge einander verftänd- 
nisinnig Die Hände reihen und fid vor— 
fihtig über Brofeffuren, Beamtenftellen 
und Dergleiden wichtige politifhde Dinge 
einigen — wird neuerdings eine ſyſtema— 
tiſche Hebe inauguriert gegen einen „Na- 
tionalismus“, wie er fid) in der Don⸗ 
Quidote-Phantafie jenes fehr, febr flein- 
ftädtifhen Redtsanwaltes malt, dem 
beim Worte „pölfifh“ übel wird. Ir— 
endwelde Alebertriebenheiten belang- 
ofer fleiner Kreife werden aufgegriffen 
und dem harmlos ftaunenden Bolfe als 
wotanifde ©ötenanbetung vorgeführt. 
Selbft ein Sooft fieht eine ,,Bergottung 
der ation“ drobend emporfteigen. 
(Weftdeutihe Arbeiterzeitung Wr. 31.) 
Gbenderfelbe fdleppt mid als einen 


417 


„Heiden“ durch feine Wahlverfammlun- 
gen. Wenn das ein Iooft tut, den id nie 
für verbonzbar hielt, was werden fid Die 
eringeren @eifter Der Partei erlauben? 

fteht denen, Die mit ausgefprodenen 
Atheiften Seite an Geite kämpfen, febr 


hübſch zu Gefidt, wenn fie bewufte Chri- 
ften als Heiden befdimpfen. Wir gra- 
tulieren Ihnen, Herr Sooft, zu dem gro- 
ben Bummdarah der Parteipaufe, Die 
dröhnen zu maden Ihr derzeitiger Ge- 
ſchmack Ihnen offenbar nidt — 

t. 


Zwieſprache 


Wi bradten zu Raabes neungigftem 
®eburtstag im November 1921 ein 
Raabe-Heft heraus, das viele Freunde 
— at. Wenn wir nun nad drei 
ahren abermals ein Raabe-Heft brin- 
gen, fo ift der äußere Anlaß die Haupt 
tagung Der Raabe-Befellihaft, die am 
fedften und fiebenten September in Ham- 
burg ftattfindet. Gin weiterer Grund 
ift, daß wir möglihft in jedem Jahr 
ein „ftilles“ Heft ohne Aktualität ein- 
fügen, zur — des Leſers wie 
der Schriftleitung. hat aber auch 
einen tieferen ®rund, wenn wir uns fo 
ftarf für Raabe einfeben. Seine Bedeu- 
tung für das Beutide Bolf wird Sabhr- 
gebnt um Jahrzehnt wadfen. Die Lite- 
raturmodifhen fdmarmen heute für 
Doftojemsfi und mürdigen ibn als 
Bertreter des Ruffentums. Diefelbe Bee 
deutung für das Peutihtum hat Raabe 
und in andrer Weile Seremias Sottbelf. 
Wir behaupten, daß man überhaupt erjt 
anfängt, Raabe zu verftehen. Grit 
Krieg u Revolution haben uns reif 
gemadt, Die Probleme in ihrer Tiefe 
gu begreifen, die der reife, alte Raabe 
— feiner Zeit weit voraus, wenn aud 
natirlid von der Ausdrudsweife feiner 
Zeit abhängig — unerfannt und einfam 
in ſich durdfampfte. 
Gs ift nod immer Die Regel, daß 
man Raabe als „Schriftfteller“ oder 
„Dichter“ „würdigt“, äſthetiſch und Lite» 
raturgeſchichtlich. Wir wiffen ja: Storm; 
Keller ufw. ufw. Gines von den „gro- 
fen Erzählertalenten“ der zweiten Hälfte 
des uf. uf. ins aber enthüllt er 
fi heute als etwas anderes: als ein Le- 
bensführer innerlichfter Deutider Art, als 
einer, Der die Berbindung mit den „ilr- 
mädten“ des Lebens, Die Hinter, über 
und unter allem irdiſchen Leben Liegen, 
gehunden hat, und der darum all denen, 
ie Obren haben zu hören, ein Pſycho— 
pompos zum Sartaros wie zum Olymp 
if. Gr rang mit dem „alten Riefen,' 
dem Sedanfen“, und das Schaudern war 
ifm Der Wenſchheit beftes Teil. Wir 
ringen mit ihm um den TeptenGinn 
des Lebens. Romane und Novellen 
lieft man zum Zeitvertreib, Bibel und 
©efangbuh aber aus andern ©®ründen. 


418 


Aud Raabe lefen wir nit gum Zeit- 
vertreib, fondern aus andern @riinden. 

Die weifen Leute aber, denen das 
Gdaudern nidt ihr beftes Seil ift, fon- 
dern nur eine Sorbeit — 
Seelen, die der wiſſenſchaftlich Gebildete 
ſich ſchamhaft abgewöhnt hat, werden 
uns ablehnen und ihren Raabe weiter— 
bin literarhiftorifh und äfthetiih „genie- 
Ben“. Wie fie aud Bibel und Gefang- 
bud in den DBereih ihrer literarhiftori- 
fen Studien ziehen. Wir laffen fie gern 
nad ihrer Gacon — auf die Seligfeit 
vergidten, die unfere Unruhe ift. Gie 
haben den Borgug, gedanfengefund zu 
bleiben. Das einzige, was wir wiinfden, 
ift, daß fie gegen ung ,@edanfenfranfe“ 
— nidt lieblos find. Und wenn fies 
find, madt’s aud nidts. Gs ift uns 
gottlob eine ftahlihte Schale gemadfen. 
Zudem baben wir immer unfer Ber- 
gnügen daran, wenn uns einer — zwi— 
jen die Finger gerät. 

G8 gibt fogar Leute, die in Raabe 

por allem den „verehrten Meifter“ feben, 
der fdledht gewafden und piinftlid zum 
Stammtifh fam und feinen verehrungs- 
würdigen Schnurrbart tief ins Wein- 
las hängen ließ, fie begeiftern fid für 
en „bumoroollen“ „Schilderer des Klein- 
lebens“, für den guten Rumpan, zu dem 
man gemittlid an den Sifd rüden fann. 
Aud diefe waderen Leute wollen wir 
bleiben lafjen, was fie find. Wir prei- 
fen fie fogar als die über allen Zweifel 
erhabenen @edanfengefundeften. Es ift 
nötig, daß es in der Welt etwas gibt, 
was nidt ausftirbt. — 

Bir find der Tochter Wilhelm Raa- 
bes von Herzen dankbar, daß wir aud 
Diesmal wieder Zeichnungen Raabes 
bringen fönnen. Anſre Dichter zeichne- 
ten und malten ja meiftens gern: Woetbe. 
Stifter, Keller, Mörife, Reuter (wie 
unfre großen Seidner gern ein wenig 
dDidteten). Die Ergeugniffe aus Raabes 
Stahlfeder haben einen höchſt eigentiim- 
liden Reiz. Sie find nidt „Uebungen“, 
fondern abfidtslofe „Kribeleien“ aus 
einer finnenden Phantafie heraus, oft 
auf Manuffripträndern —— (wie 
der kleine Reiter, den wir bringen). Von 
ben beiden größeren Handgeidnungen 


zeigt die eine Raabes Zimmer in Wol«- 
fenbüttel, das er nad feiner Rüdfehr 
aus Berlin in aller Stille bezog (er 
wohnte wabrideinlid bei Klingenberg); 
die andre zeigt ein Neben- und Nad- 
einander bon allerlei Phantafien, in die 
fih der Dichter in Schreibepaufen verfpon- 
nen haben mag. — Das Brautbild des ein- 
unddreißigjährigen Raabe, das zum erften 
Male in dem von uns mehrfah emp- 
fohlenen ,Raabe-Gedenfbud“ (Berlags- 
anftalt Hermann Klemm, Berlin-@rune- 
wald) erfdien, hat mid ftets befonders 
gefeffelt. Weld ein Antlib ſchon damals 
im Sabre 1862! Wieviel Jugend und 
zugleih wieviel Tiefe! 

An den Schluß fehen wir ein Stic 
aus dem 24. Kapitel des „Abu Selfan“. 
Warum, das fagen die drei vorderften 
Auffähe des Heftes. 

Su meinem eigenen Auffat möchte id 
nod) anmerfen, daß id als drittes Bei- 
{piel Lieber eine andere Graäblung als 
die , Grau Salome“ genommen hätte, da 
id die felbe Gefdhidte in unferm frü- 
heren Raabe-Heft behandelt babe. Aber 
in jener Arbeit bin id einem wefent- 
liden Irrtum verfallen, id batte nob 
nidt erfannt, daß in der Gilife der 
eigentlide Herzpunkt der Erzählung liegt. 
Durdh den Titel geleitet, fudte id ibn 
bei der Frau Salome, ohne felbft befrie- 
Digt zu fein. Die genauere Analyfe bat 
mid, boffe id, weitergeführt, und davon 
wollte id) Redenfdhaft geben. 

Wir maden unfre Lefer nochmals 
auf die Tagung für Deutide National- 
erziehung aufmerfjam, die von der Gidte- 
Gefellfhaft pom 2. bis 5. Oktober veran- 
ftaltet wird. Die Verhandlungen finden 
im Auditorium mazimum Der LUniverfi- 
tät am 3. und 4. Oft. (Greitag und 
Sonnabend) ftatt. Die Seilnehmerfarte 
(zu beziehen von der Sefdaftsftelle der 
Sidte-Sefellidaft, Hamburg 36, Poft- 
{hlieffad 124) foftet fehs Marf. Na- 
heres [efe man in der Anzeige nad. 
Willfommen find alle, die fid in den Gee 
Danfen der Reden Fidtes an die deutide 
Nation — nines vermögen. Es 
foll die Frage des Verhältniffes von 
Golf und Staat und die Frage der Na- 
tionalerziehung behandelt werden, ohne 
jede Agitationsabfiht und ohne Partei- 
geift. Wir mddten eine Stelle fchaffen, 
an der man der innerpolitifden Atmo- 
\pbäre mit ihren alles beberrfdenden 
Parlaments- und Propaganda-Riidfid- 
ten entboben ift. {Im ein wejenlojes ®e- 
rede in der Wusfprade zu verhindern, 
werden die Redner von der Tagungs- 
leitung aus der Zahl der Seilnehmer 
aufgefordert werden; Wiinfde bittet man 
frühzeitig an die Tagungsleitung zu 


bringen. Die Vorträge und Ausf{praden 
werden ftenograpbiert undals Heft beraus- 
gegeben; das Heft wird den Lefern unfrer 
Seitidrift gu einem Gorgugspreis zur 
Derfügung ftehn. — : 

Gon unferm Freunde Dr. Ritter er- 
{dien jüngft in unferm Berlag eine Aus- 
legung des Grften Briefes St. Soban- 
nis unter dem Sitel: „Die Gemeinfdhaft 
der Heiligen.“ (110 Seiten, fartoniert 
3 ME.) &8 find einige der Andadten 
Ritters, mit denen wir den zweiten Beil 
unfrer Hefte einleiteten, bineingearbei- 
tet. Ferner weifen-wir die Freunde dar- 
auf bin, daß Ritter one mit 
Heinrih Wolfgang Seidel (die Lefer er- 
innern fic) feiner aus dem Gebruarbeft 
Des vorigen Sabres) ein monatlides 
fleines @®emeindeblatt unter dem Titel 
„Der Deutide Dom“ Herausgibt. Seidel 
und Ritter find beide Pfarrer an der 
Neuen Kirche zu Berlin. Ihr Blatt ift 
nidt von der Art der üblihen Oe— 
meindeblätter, fondern fett Lefer voraus, 
wie fie das Deutſche Bolfstum — bof- 
fentlid bat. („Der Deutidhe Dom“ ift 
gu beziehen durch das Cidendorff-Haus, 
Berlin WW. 8, Sharlottenftraße 52, jähr- 
lid 2,60 ME.) — 

Wir wiefen neulid auf den Pots- 
damer WAfademifer-Sag bin, auf dem 
Othmar Spann und Reinhold Geeberg 
gefproden haben (aud id felbft Batte 
dort einen Bortrag). Grgdngend teilen 
wir mit, daß von Dr. Schöning berid- 
tende ,Betradtungen gum erften Deut- 
{hen Afademifer-Tag in Potsdam“ er- 
fcienen find, erbaltlid bei der Kanzlei 
Der Altherrenfdaft des Deutidhen Hod- 
ſchulrings, Berlin, Sdellingftr. 1. — 

Und endlid: Wolfgang Schumann 
bat, wie unfre Lefer wiffen, im Runft- 
wart meine Ausführungen über Anti» 
femitismus widerlegt. Ich hatte nur furz 
in Der Swiefprade —— Que 
fällig finde ih nun einen Auffab von 
Schumann über ,,Golfstunde, Boltstum, 
Völkiſch‘ im , Berliner Börjen-Gourier“ 
pom 12. und 13. Auguft, der nidt ohne 
Beziehung auf meine Antwort ift. Dar- 
um feien unfre Lefer der Bollftandigfeit 
balber aud) darauf aufmerffam gemadt. 
Mein Hinweis auf die fogiologifde 
@rundverfdhiedenheit einer „©®emein- 
Ihaft“ und einer ,@efellfdaft* veranlaft 
ihn nur, von „Myſterismus“ zu reden. 
Mein Hinweis auf den Strufturbegriff 
ift ohne jede Spur geblieben, Schumann 
fpridt unbefümmert aud jetzt nod pon 
Golfstums,merfmalen“. Der eindruds- 
vollfte Sat (der mich freilid weniger 
trifft) ift: eine bon ihm befämpfte ⸗ 
ſchauung über die Bedeutung des Bau- 
erntums fei „fein feriöfer fogiologifder 


419 


®edanfe“. Da Schumann fehr von oben von ihm ift mir derartiges bisher nicht 
berab aud jest wieder von „Dilettantise befanntgeworden. Die Leftitre von aller- 
mus“ der andern redet und für fid Wif- let Büchern über allerlei garantiert feine 
fenfdaftlidfeit in Anfprud nimmt, muß Wiffenfchaftlichfeit, man gelangt Damit 
id betonen: Wiffenfdaftlidfeit erwirbt nur zu ,,feridfen ſoziologiſchen Gedanken“; 
man durch forgfältige methodifhe Schu- die im Berliner Börfen-Gourier — ihren 
lung fowie Durd tatfählihe wiſſenſchaft- richtigen Plab haben. St. 
lide Arbeit. Beides habe ich geleiftet, 


Stimmen ber Melfter. 


ter ftehen wir zwei von allen Wettern zerzaufte Männer; der eine gu Land 
~J und zur Gee, im Kriege und in den Wäldern gebartet und pooteuntct und in 
jeder Ockabr, welde die Materie dem Menfden droht, [adend; der andere in 
der Knedtidaft gum Mann gefdmiedet, wohlbewandert in der Logik der Satfaden, 
mit allen Waffen zum Kampf des Geiftes gegen die Geifter ausreidend ver- 
feben, und dod) — beide wie ſchwach und ſchwänkend, wie hinfällig und nichtig 
in all ihrem Sun und Urteilen, in all ihrem Wollen und Bollbringen. Wohin wir 
ung wenden, ftoßen wir gegen die Mauern, welde die dunfeln Hände gegen 
uns errichten. Bergeblid mühen wir uns in Zorn und Angft knirſchend und atmend 
ab und ftemmen uns wider die Madte, die unfer fpotten. Wir ringen nah Atem, 
Licht und Luft, und es gelingt ung aud) wohl, von der Höhe eines Trümmerhaufens 
einen Blid in die Weite gu werfen und die Welt im goldenen Lichte der Sdhinbeit 
und des Griedens liegen zu feben. Dann dünfen wir uns groß und gewaltig, rufen 
Sieg und merken nidt, wie hinter unferem Rüden die [hwarzen Walle während un- 
feres eitlen furgen Triumphes höher emporftiegen, und wie wir nun da die Nadt 
baben, wo uns por einer Stunde nod der belle Tag leudtete. Wir riefen Sieg 
pon der Höhe eines Trümmerhaufens, und aus den Spalten und Riten zu unfern 
Süßen Elingt ein höhniſches Laden; in unfern Triumph binein wählt es aud por 
ung wieder auf: hinab, hinab, wieder in die Tiefe gu neuer vergeblider Arbeit, 
aur Redten oder zur Vinten, bis in den Sod feudend und ringend! Nun febt auf 
diefe Frau und wagt e8, Guern Gewinn vor ihr zu —— ie lag unter berg- 
hohem Sammer verihüttet, die Feinde waren in ihr llerheiligſtes gedrungen, fie 
war vernichtet in ihren Gefiiblen als Gattin und Mutter, aus ihrer Heimat war 
fie in die Wüfte gejagt und dort allein gelaffen worden, und fie braudte nicht, wie 
wir, an die Bruft zu fdlagen und zu fagen: es ift nur mein Redt, was mir wider- 
fährt! Wie fteben wir ihr gegenüber, Viktor Feblepfen? Die Welt hat ihr nichts 
gelaffen, und heute weiß fie ihres Schabes fein Ende. Wir find die Bettler, fie 
ift die Reihe. Mit leeren Händen fommen wir zu ihr und fie allein fann uns 
geben, twas wir bedürfen: die Kraft, den Mut, den unerfhütterlihen Willen. Ad, 
wie feige find wir gegen ibre heldenhafte Beduld! Sie lag tiefer gebeugt 
alg wir alle, aber leife richtete fie fid auf und füllte die Wüfte mit ihrer Hoffnung. 
Sie faß ftill in der Ginfamfeit, redtete mit niemand und wies nur den Born, den 
Haß und die Rade bon ihrer offenen Tür fort. Sa, ihre Tür war offen, und die 
Sage zogen an derjelben vorüber und fahen fremd und befremdet hinein; die Grau 
Glaudine aber lächelte ihnen entgegen: Was wundert ihr euh? Freilid fie 
id bier und lebe und fpinne an meinem fhönften Geiertagsgewande; — ihr kommt, 
fudt eine ®eftorbene und findet eine Lebende; ja, ih lebe und will Ieben; — wie 
die Zweige des Waldes mir in mein Genfter wadfen, fo drängen fid die lichten 
Gedanfen in mein Herz; — id baue für meine Kinder, die in der wilden Welt 
umberirren, ein neues Haus, einen neuen Herd, an weldem fie einft niederfiben 
werden, mir von ihren Mühen und Leiden zu erzählen; — was follte daraus wer- 
den, wenn id nicht ftill bliebe und den armen Wanderern, den Gejagten und Ber- 
folgten eine §Greiftatt offen Bielte?! — Wabrlid, eS ift nicht allein der Helden 
und Könige Gade, zu rufen: Sonne, ftebe ftill und leute der Vollendung unferer 
Siege! Aud der Shwädfte, der Aermfte, der Geringfte fann den glangpollen 
Stern über feinem Haupte und Herzen fefthalten, bis alles vollbradt ift und Die 
Srau Claudine fonnte e8. Dest, wo die Naht um uns dunkler denn je zuvor ift, 
fommen wir zu ihr und bitten um ein Ginflein Lidt; — wie finnen wir gerettet 
werden, wenn nidt ihr Mut gu unferem Mut, ihr Olid zu unferem Olid wird: 
wenn wir uns nicht zu ibr, auf ihr Feld ftellen und in dem milden Scheine ihrer 
Sonne ihre Götter anrufen?!“ BWilbelIm Raabe 


420 








Neue Bücher 








Georg Mollat Unfere nationalen Ex— 
ieher von Luther bis Bismard. Ein Hausbu: ee 
as vestige Bolt. 577 S. Halbleinen 10, 

i. &@. B. Ficigd Oſterwieck. 

Eine neue Anthologie Mollat. Sie will dem 
nationalen Denken dienen. Das Werk h4 m im 
engeren Ginn polittih, fondern weſentlich fulturell 
eingeftellt. Go findet man aud Stide aus Diirers 
Schrifien, aus Rant, Selling ufo. (Aus Rants 
am ewigen Tim, follte nicht bloß der furge 

ortlaut der „Artikel“ abgedrudt werden, die ber 
ungejdulte Lefer gum Teil mißveritehen muß, fon- 
dern aud) Stüde aus dem eigentlihen Test.) Der 

auptteil bes Werkes enthält ,Rernftiide anus den 
hriften unferer nationalen Erzieher“, der zweite, 
fürzere Teil enthält „Eharalteriftifen unferer nattos 
nalen Erzieher“, 3. B. Strauß über Hutten, Ranke 
über den großen NKurfürften, Schmoller über Fried- 
tid Wilhelm den Erften, Humboldt über Rant 
ufo. Das Bud ift ungehener reichhaltig und feffelt, 
wo man e3 aufſchlägt. Ein gutes Gefhentwert. St. 

Edel Noth, Verträumte Winkel aus Weimar. 
Bertraumte Winkel aus bem Thüringer Wald, von 

Imenau bis Oberhof. — Berträumte Winkel aus 
ürnberg. — 3 Mappen mit je 8 bandgetinten Ure 
fteingeihnungen. Jede Mappe 6 ME. Der Ynnere 
Kreis Berlag, Berdtesgaden-Sdhinau. 

Im vorigen Jahr re wir die Rothenburger 
Mappe angezeigt, mun find drei meitere in derfelben 
ſchönen Ausftattung erfdienen. Die Saden find fo 
fabelbaft billig, bag id vagaries rate. Die Litho 
tapbien, die ſehr reigvoll mit ber or übertufcht 
finb, find nit nur auf den erften Blid entgiidend, 
fondern man blättert fie immer wieder mit Ber- 
qniigen durch. Moth bat ein febr deutſches Emp- 
finden für „Winkel“ in alten Städten und für „Auß«- 
ſchnitte“ aus der Natur. 


3 © Klopftod, Der Tod Adams. Ein 
Trauerfpiel. Neubrud, mit 5 Originalradierungen 
von Ludivig Meidner. Pontos-Berlag, Freiburg im 
Breisgau. 

Gin hübſch in Leder gebundener, die Ausgabe 
bon 1757 getreu fopierender Neubrud ed or⸗ 
fabpapier im Stil bes 18. Yabhrh.). Ein Nachwort 
von FIritz Stich verteidigt mit fehr guten Gründen 
den Wert bes Klopftodihen „Zrauerfpiel3”, das frei- 
lid tein „Drama“ ift und fein fol. Es gewährt 
einen eigentümlichen Genuß, ein ſolches ert in 
feiner reigvollen alten Gorm ftatt in irgend einer 
Sammelausgabe zu lefen. Das Leſen diefes einit 
ſehr berübmten Werlleind lohnt ſich heute nod, 
befonders für folde, die fih Gebdanfen über die Ent- 
widlung bes Mpfterienjpield machen, St. 


Yobann matinee. von Goethe, 
Bon bdeutfher Baufunit. ierter Reuchlindrud. 
15 &. Sarl Raub, Deffau. 7 

Ein fehr fhöner Drud auf Biitten. Ein wiir- 
diges Gewand jenes berühmten bt den ber 
junge Goethe dem Straßburger Münſter widmete, 
unfern Qefern zweifellos befonders willfommen. 


Goethes Briefwedjel mit Heinrig Meder. 
erausg. bon Max Heder. 8 Bd. an, 1821 bis 
arg 1832. a ften der Goetbe-Befellicaft. 
35. Bd.) 262 &. Berlag ber Goethe-Gejelidait, 


Weimar. 

Damit liegt ber Schußband des Briefmechjels mit 
dem Kunft-Deyer vor. (Regifter und Anmerkungen 
erjheinen gefonbert.) Sur Goethe-Spegialiften. 
Biele Heine Billette zwiſchen den größeren, belang- 


reiheren Briefen. 

Kohn Beder, Goethe und die Brüberge- 
meinde. Mit Geleitwort von Friedrid) Lienhard. 
3 S. Friedrich Yanfa, Neudtetendorf i. Th. 

Eine Spenche ung und Grorterung ber 
Beuaniie, ie Goethe in feinen Schriften, bejonders 
im Wilhelm Meifter 


über feine Berührungen mit 
den Herrenhutern gibt. St. 


Johannes BWuttig,  Willebalm von 
Orange. Nad Wolfram von Efdenbadhs Didiung 
153 &. Geb. 2.50 Mt. Alegander Köhler 


mit dargeſtellt ift. 


Ueberblid über den Ynbalt. 8 ift befonders für 


die ältere Jugend gefdrieben, für die ed eine will» 
tommene Ein —— in die Sagenwelt um Aliſchanz 
und in BWolframs Geiſt iſt. Für dieſe Zwecke recht 
empfehlenswert. St. 

Abolf-BViltor von Koerber, Der 
völliſche Lubendorff. 168 S. Geh. 1.90, Gangleinen 
3 Deutfher Vollsverlag Dr. E. Boepple, 
Münden. 


tijden Kundgebungen und Briefen. Bum Schluß 


die 
bat. * 
Ernft 38 nger, In Stablgewittern. 13.—15. 
S. he au 4 mt. 

Mittler & Sobn, Berlin. 


ee en Szenen der Materialfdhladt: bligerbellte 


Iligen ‚modernen Menjden 


feltaubalten mit ben bizarren Einzelheiten, die traum- 


Ernft Baafd, Gefhihte Hamburgs 1814 bis 
1918. Erfter Band 1814—1867. Geh. 7 ME. Ganj- 
leinen 9 ME. Verlag Friedti Andreas Perthes 
A.⸗G., Gotha-Stuttgart. 

Eine Stadtgefhihte hat einen befonderen Reis 
durch die enge ofale hg fy ni in ber die Ereig- 
niffe burd die Sonderart der Bevolferung eine eigene 
Farbung belommen. Und gerade Hamburg mit feinem 
eigentümlichen "Stammesharafter. bas als jelbftän- 
biger Organismus weit in bie Vergangenheit zurüd- 
reiht und in biefer Tradition feine Eigenart ent- 
widelt bat, muß ben su und Gefdhidtsfreund 
in bobem Maße anziehen. Baafd, der von der 
Stadt nah dem Umſturz im Gro efdieden ift, 
bietet in feinem Suche viel Yntereffante3; eine 
Menge intimes Material ift zufammengetragen, — 
und dennod fcheidet man ohne rechte Befriedi ung 
von dem Werke. Die den Alten folgende Darftellung 
läßt die handelnden Perfonen und die Triebtrafte, 
die in ihnen wirffam find, nur ahnen. Das Bild 
eines lebendigen Stadtweſens, deffen charakteriftifche 
Büge deutlid) heraustreten, ſucht man vergeblid 
in diefer gewiffenbaften Arbeit. Die Darftellung bes 
eiftigen und Zulturellen Lebens famt dem Hanbdel 
n einem Schlußkapitel anzuhängen, tft eben ein Bere 
fahren, da8 uns heute nicht mehr befriedigt. a 
deffen als Nachſchlagewerk und wiffenfdaftlides 
+ fsmittel für den, der von dem eben ber Hanja- 
tabt ein amfchaulihes Bild bereits befit, iit das 
Bud von hohem Werte. A. €. ©. 


421 


Louis Baron von 
Blüher und PYorf 1813—1815. 
Artur Mahraun. 192 Seiten. 
lag, Caffel 1923. 

Perfonlide Erinnerungen von Faltenfteins, Anel- 
dotenhaft gefhrieben. Ein prächtige Buch, ungemein 
plaftifh und lebendig. won nah lommt man an 
die beiden Deran, ben alten Slider und feinen alten 


Falfenftein, 
erausgegeben von 
ungbeutijder Ber- 


Iegrimm, den General po faft als man fie 
ieibbaftg vor fid und jpürte ihren Atem. Mehr, 
man begreift unmittelbar das Geheimnis ihrer Per- 


Onlidfett. Man verfteht, dak dad Heer ber Be- 
reiungsfriege unter folden Yührern Bun mußte, 
teil feine Seidheren zugleich große Menjhen waren, 
von Genie und Charakter, von unbedingter fittlider 
Ueberlegenbeit. Rg fann man überhaupt lernen, 
was e3 um den Geift ber Freibeitstriege war. Hatten 
wir nur etwas davon! Auf das Bucy fei nad. 
dritdlid) bingewiefen. K. B. 


Paul Benndorf Weimars  dentwiirdige 
Sine ces ann aa i ai A or des 
alten Friedhofs. Leipzig, H. Haeffel Verlag. Papp- 
band Mt. 8.—, Halbl. nk. Fm 

Anf 56 Seiten Text werden in gedrangtefter Form 
die Grabftätten bei den Rirden Weimars und die 
wichtigſten des neuen Friedbofs befdrieben und dagu 
biographifhe Angaben über die Toten gegeben. In 
einem Anhang werben 32 jehr Hare Abbildungen 
berühmter Graber gezeigt. Das vorzüglich ausge- 
ftattete Werf ergänzt jede Weimar-Bücerei aufs 
befte, ba bier viel Material zuſammengebracht ift, 
nach dem man fonft lange vergeblich fucht. Gang 
bejonder8 danfbar wird man bathe fein müffen, daß 
bier die „Geſchichte“ von Schillers eriter Rubeftatte 
einfah durch tnappe Aneinanderreihung bofumenta- 
rifher Radridten Marer dargeftellt wird als in faft 
allen Biographien. G. K. 


Franz Fromme, ait en Wullenwever unde 
Maris Meyer. Een platt un Spill ut dat ole 
Ribed. 1. Band der „Lübeder Bücher“, raus. 
N Paul Brodhaus. Berlag H. ©. Rabtgens, 
übe 


Bei diefem Werk jheint ed mir widtig, auerft auf 
das Spradlihe hinzumeifen und alle an Freunde 
der plattdeutfhen Sprache auf das „Spill“ aufmerf- 
m zu maden. Das rege Bemühen bier in Norb- 
entihland, bas Niederdeutfhe wieder zur Sprade 
einer ernit zu wertenden Literatur zu maden, ſcheint 
mir duch Frommes Drama eine ftarfe Forderung 
au erhalten. ine fo tourgeledte, ftraftige platt« 
deutfche Sprache, die ſich nicht nur etwas altertiimlid 
aibt, fondern aud wirklich ed ga tft, fon. 
nen m. ®. nidt viele andere plattbeutjde Werle 
anfwetfen. 

Die dichterifhen Werte diefes Revolutionsbramas 
liegen außer in der Geftaltung edter niederbeutfcher 
Vollsart, die durch ihre derben Redensarten aller- 
dings vielleiht manden „peinlih“ werden mag, be- 
fonders in ber fdarfen und Flaten Zeihnung bon 
Charatterfiquren, Nebengeftalten, die nur einfeitig 
beleuchtet zu werben brauden. 

Der echte Revolutionsftoff aus der lübeckiſchen 
Geſchichte und der „Vollsheld“ Jürgen Wullenweber 
haben nod nie eine überragende dichteriſche Ge— 
Aare erfahren. Das läßt dod vermuten, daß 

ullenmweber fein eigentlid dramatifder Held ift. 
Uud in Frommes Drama fommen nit die been 
der Revolution und aud nicht die treibende Leitung 
von Wullenweber her; er erſcheint vielmehr als der 
Befonnene in der erregten Menge, der die Vernunft 
möchte fegen laffen. Solche Naturen find im all- 
gemeinen feine wirlſamen Dramenhelden. Das tra- 
giſche Schidjal Wullenwebers ift nur angedeutet und 
oll in einem zweiten Zeil weitergeleitet werden. Die 

evolution jelbit als —— hat durch das 
Erlebnis „unferer” Revolution eine reihe Fülle 
lebendigiter Züge erhalten, fo dah die Unmittelbar- 
teit ded Erlebens für den Lefer fofort hergeftellt ift. 


Ronis M. % Berbed. 1. Die driftliden 
Gegner Rudolf Steiners und der Anthropofophie durch 
fie ſelbſt widerlegt. 2. Die wiffenfdaftliden Gegner 
Rudolf Steiners in der Anthropologie durd fie felbit 
widerlegt. 2 Bande (131 u. 212 Seiten), 1924. Der 
fommende Tag A. G., Stuttgart. 

Hinter den —— ro Titeln verbirgt fid 
ein ganz dürftiges Hwerl. Der Berfafler hat es 
fih febr bequem gemadt; er bat einfah aus allem, 
was nur irgend gegen die Anthropofophie gejchrieben 
ift — Bitate gefammelt, bat aljo dasfelbe getan, was 
er feinen Gegnern fo heftig vorwirft, einzelne Sate 
aus dem BZufammenhang herausgerifien und bas 
Ganze dann fo geordnet, daß allerlei Widerſprüche 
berausfommen. (m erjten mb find es 211, im 
jweiten 432 Zitate.) Als ob jahlih damit irgenh 
etwas gewonnen werden fönnte! Als ob man nidt 
dasſelbe Experiment mit gutem Refultat bei 
Steiner aud) machen könnte! Man vergleihe nur 
feine zweite und britie Periode miteinander, F 
wenn es ſich um fachliche, weſentliche Widerſprüche 


innerhalb der gen — und philoſophiſchen Sy⸗ 
fteme handelte, bas gabe eine ernithafte — — 
— „mit guten 


Iehung- Aber davor drüdt fic) Werbed 
Gründen”. Er befcaftigt fie nur mit einander 
widerjprechenden a dar in der Beurteilung der 
Anthropofophie. Durd diefes Täufhungsmandper 
wird nur der Blid vom Wefentlihen abgezogen. Der 
eigentlihe Kampf der Geifter liegt auf einer gana 
anderen Ebene. fo: ein Bud nur für oberfladlide 


Refer. 
I Sie Kampfesweife des Berfaffers ift niet erade 
bornehm, und im übrigen — bon ihm f aral- 
terifiert Bd. 1, S. 104, „Das ift der geheime Richter 
im Menfdhen...., der die außerfahlihen Motive 
bes fdretbenden Rritifers — und feien dieſe nod fo 
fein verfponnen — durdfdaut und ihm bas Un- 
bebagen an feiner unflaren SER. einflößt, fo dab 
et in verftedter Furcht vor dem Durchſchautwerden 
feine Zuflucht zu allerhand Selbftentihuldigungen 
und feinen Trübungen de3 Bewußtſeins feiner Lefer 
und — feiner felber nimmt.” RB. 


Unfer Beg. Bericht des Verbandes ber So- 
staliftiihen Arbeiterjugend über das Jahr 1923. 
Berlin, Arbeiterjugend-Berlagg. 56 S ME. 0.50. 

Das vierte Jahrbuch ber Sogialiftifhen Arbeiter- 
jugend. Es bringt Berichte über Organifation, Preffe, 
Verlag, „Unfere Arbeit”, den 3. Deutjchen Arbeiter- 
jugendtag, den Ausfhuß der Deutſchen Jugendver- 
banbe ps Mandes lieft man mit frohem Gefühl, 
wie eben in allen Bmeigen ber N le a 
immer biel Hergerquidendes zu en ift; be 
manden Beridten fchütteln mir bann wieder ben 
Kopf über fo feltjame Unklarheiten und Widerſprüche, 
die einer Wohl immer dann nicht fieht, wenn er 
parteipolitiſche Scheuflappen trägt. S. 48: „Die Be- 
antwortung hängt gufammen mit der anderen Frage, 
die ja ebenfalls in unferen Reiben 
noch umftritten ift, ob die Arbeiterfchaft mit 
dem Schickſal des deutſchen Volkes verbunden  ift 
oder nicht. Solange die eigentlich ſelbſtverſtändliche 
Auffaſſung ſich in unſeren Reihen nicht durchgeſetzt 

Welch ein betrübliches Selbſtzeugnis! 
Eine weltanſchauliche Bewegung, die 50 Jahre be- 
fteht und feit 5 Jahren fid zur Leitung des großen 
deutfchen tes “beredtigt und befähigt balt, muß 
in ihren Reiben nod um „felbftverftandlihe Auf- 
faffungen” herumftreiten! Und wie klingt das, 
wenn über den Ruhrlampf gefagt wird (6. 49), da 
ein ſchwediſcher Genoffe in einem „ausgezeichneten 
Artikel die „aftipe Abmehr des rechtswidrigen 
Vorgehens ber famafiigen und belgifhen Regie- 
tungen” (immerhin „Regierungen“, die nicht in der 
Luft ſchwebten, fondern dod) vom „Wolf“ getragen 
wurden und werden!) gefordert babe. Wenn's ein 
ſchwediſcher Genoffe fordert, dann iſt's „ausgezeich- 
net“, und wenn ein deutſcher Ydealift wie Schlageter 
leiher Anficht ift, wie urteilt man dann bei ben 

zialdemofraten darüber? ® &. 








Gebrudt in ber Yanfeatifden Verlagsanftalt Altiengeſellſchaft, Hamburg 36, Holftienwal 2. 












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Aus dem Deutſchen Voltstum Wilhelm Leibl, Ausfhnitt aus dem Kirchenbild 


Deutjdhes Bolfstum 


10. Heft ine Monatsichrift 1924 





Zur Geſchichte des Gewiſſens. 


1. 


2) dem europäifchen Feſtland fann entweder Granfreid vorherrſchen mit 
einem gewiſſen Ginfluß bon Gngland, der eine völlige Unterjochung der 
europäifgen Bölfer verbiitet, oder Deutſchland mit einem gewifjen Einfluß 
der dftlid ſlaviſchen Völker, der auf Deutfdland felber wirkt. Die Bore 
herrſchaft ift politifch, wirtfchaftlih und geiftig; und fie erftredt fich auch auf 
die Völker, welche fcheinbar recht abfeits liegen, wie denn etwa in den 
ſchwediſchen Schulen nad dem für Deutfchland verlorenen Krieg die fran- 
zöſiſche Sprade an die Stelle der deutfchen Sprache getreten ift. 

Man weiß wohl fo ungefähr, was die politifche Vorherrſchaft bedeuten 
fann, obwohl {don ein fehr großes gefdiditlides Wiffen und Berftehen 
dazu gehört, um diefe Bedeutung ganz zu erfaffen; fdon weniger madt 
man fid Har, weldhe Folgen die wirtjchaftlihde Vorherrſchaft bat, weil man 
nur felten die Bedeutung der Wirtfchaft für das gefamte Leben betrachtet; 
faft gar nichts aber weiß man über die geiftige Vorherrſchaft. 

3d mödte nun an der Gefdidte eines Wortes zeigen, was Diefe 
geiftige Vorherrſchaft des einen oder andern GBolfes in Europa bedeutet. 

Am bas Folgende zu verftehen, muß man fich zuerft die fittliden und 
religiöfen Urguftände ins Gedächtnis zurüdrufen. 

Die europäifchen Völker erfcheinen zunächſt als Friegerifche Gefamtbeiten, 
die als folde wirken, in denen der Einzelne {id bon den Mebrigen in andrer 
Weiſe abhebt, alg wir das heute fennen. Die friegerifhe Geſamtheit be- 
tradtet die ®efamtheiten und Einzelnen außer ihr nicht als Gegenftande der 
Sittlichkeit, fondern nur der Intereffen, etwa wie nod Heute wenigftens in 
unfrer Rechtsauffafjung, wenn aud) nicht mehr in unfrer Gittlichkeit, die Tiere 
nur Öegenftände des Rechts find, nicht Träger: man fann rechtlich nicht ein 
Zier franfen, fondern nur feinem Befiger einen Schaden zufügen. In ihrem 
Innern wird dieſe Geſamtheit durch fefte Regeln beftimmt, die nicht, wie 
wir Heute leicht denken, ji) aus dem Gefühl ergeben, fondern aus der Logit. 
Wir können das wieder im Recht am beiten beobadten. Wenn ein Mann 
einen andern tötet, fo fann das nach heutiger Auffafjung ein Mord oder ein 
Totſchlag fein. Gine foldhe UnterfHeidung macht der Menfch früherer Zeiten 
nicht. Gr fennt deshalb aud nicht unfern Begriff der Strafe. Durd die 
Tötung ift die Sippe des Getdteten um einen Menſchen geſchwächt; es erjcheint 
als logiſche Forderung, daß aud) die Sippe des Tdters um einen Menjchen 
geihwädht werden muß, wobei durdaus nicht etwa der bewußte ©edanfe 
borhanden zu fein braudt, daß ein Gleichgewicht erhalten werden mülfe. 
Bei weiterer Gntwidlung fann die Forderung der Blutradhe durch eine Geld- 
‚ablung abgefauft werden: das wird Dann ausdrüdlih „DBeilegung“ ge- 
nannt und nicht „Strafe“. 


425 


Gs ift für uns Heutige febr ſchwer, diefe Dinge zu erfennen, aud wenn 
wir noch bei lebenden Bölfern die alten Yuftände betrachten fünnen, weil 
wir notwendig unfere heutigen Worte und Begriffe zu diefer Erkenntnis 
anwenden. Im Gall der Tötung ift die Sade ja einfach, und Niemand be- 
aweifelt Heute, daß die Sachen fo lagen, wie fie eben dargeftellt wurden. 
Aber eine Tötung ift immerhin ein feltener Borfall. Wir werden heute im 
tagliden Leben in den geringften Kleinigfeiten durch fittlide Erwägungen 
geleitet. Wir müffen uns flar maden, daß es Diefe für den früheren Menſchen 
nicht gibt. B 

Das Leben diefer Menjchen bot viel weniger mögliche Lagen dar, als das 
Leben der heutigen, und für diefe beftanden fefte Regeln, die aber nicht die 
Natur bon fittlihen Borfdriften hatten, wie fie heute haben würden, jondern 
« einfach bon unbderbriidliden Regeln und weiter nidts. Man fann dag am 
beften fich fo Har maden, wenn man an Inftinkte der Tiere denkt, an ans 
geborene und noch mehr anergogene.. Die Erziehung eines jungen Kriegers 
der alten Zeit ift vielleiht am erften mit der Erziehung eines Sagdhundes 
gu vergleichen. : 

Was wir heute „Gewiſſen“ nennen, das liegt der Möglichkeit nad in 
diefen Snftinften. Aber nur der Miglidfeit nad: aus dem Snftintt 
fann fid — wir müffen das nad unfern menfdliden Borjtellungen fo 
ausdrüden — das Gewiſſen entwideln. 

Eine foldhe Gntwidlung wird notwendig, wenn fid die alten, feften 
Zuftände auflöfen und nun nicht mehr die Regel gültig ift, fondern in jedem 
Gall eine Ueberlegung nötig erfdeint. 

Es wird nie möglid) fein, diefe Gntwidlung wiſſenſchaftlich zu erforfihen, 
denn fie geht nicht in der Zeit vor fid. In manchem der Gittlidfeit leben 
wir noch heute inftinftmäßig, in mandhem ift {don in der graueften Borgeit 
eine Spur unferes Gewiffens zu beobachten. Bielleiht Tann man fid fo aus- 
drüden, daß feit den älteften Zeiten eine Bewegung in der Menfchheit auf 
Bildung des Gewiffens vorhanden ift, in welder wir nod Heute ftehen; ich 
glaube, daß im heutigen Europa, vor allem in Deutichland, das Hier immer 
führend war — die Urfadhen werde ich zeigen — die Bewegung febr fchnell 
geworden: ift. 

Solde Bewegungen drüden fih in der Sprade aus. Wenn etwas — 
Innerlihes oder Aeußerlihes — aus irgend einem ©runde wichtig für den 
Menjhen wird, dann bildet er dafür ein Wort. Die Erſcheinung Tann 
{don lange dagewefen fein, ausgebildet oder fich erft ausbildend. Erſte An- 
zeichen deffen, was mir heute Gewiſſen nennen, waren gewiß fdon längſt 
borbanden: zu einer beftimmten Zeit wird es für die Menfchen notwendig, 
die Erſcheinung mit einem Wort gu bezeichnen. 

Iſt eine Grfheinung mit. einem Wort bezeichnet, jo wirft das Wort nad 
furzer Zeit wieder auf die Erſcheinung zurüd. Das gilt fon von dem 
Außern Dingen und Borgangen, nod mehr natürlich bon den innern. Das 
Wort ift die Form diefer Borgange. 

Wir müffen ja mit der Sprache denfen, wir müfjen deshalb das un- 
trennbare Band der Erſcheinungen zerfchneiden. Gs gibt „in Wirklichkeit“ 
feine „Wirklichkeit“; aud das „Ding an ſich“ ift nur ein Grengbegriff. Wir 
fönnen aber nicht denfen und mitteilen, ohne daß wir fo fagen: die innere 
Wirklichkeit wird mit einem Wort bezeichnet; dieſes Wort gibt für uns ihre 
Gorm ab; und nun ift diefe innere Wirklichkeit diefe Form. 

Bom Wort hängt aljo bas weitere Schidfal einer Grfdeinung ab. 


426 


Ift eine Grjdeinung fo bedeutend, wie das Gewiffen, Dann hängt bon dem 
Wort alfo etwas gang Ungeheures ab. 

Innerhalb unferes europäifhen Kulturfreifes haben die Griedhen als 
die Erſten ein Wort für „Gewiſſen“ gebildet. Wenn wir das betrachten, 
fo müffen wir vorher ung nod einmal Ear maden, daß das griechifche und 
deutſche Wort ſich nicht deden: eben, weil die Worte verfchiedene Bedeutung 
haben, maden wir ja diefe Unterfudung. 

Gs muß ein griehifhes Wort eido angenommen erden, das dene 
felben Stamm hat, wie das lateinifhe Wort video, id fehe. Bon diefem 
fommt eine Perfectform vida bor, in der Bedeutung „ih weiß“ urfprünglich 
nid) babe gefehen“. Diefe findet fic fdon bei Homer. Bon diefem vida 
wird eine Zufammenfegung ſyn⸗-oida gebildet, die [id fdon bei Herodot 
findet . Das Adverb fhn bedeutet „zugleich“, „zufammen“, befonders bom 
Zufammentreffen zweier oder mehrerer Handlungen in einem Zeitpunkt. Bei 
Demofthenes fteht einmal das vida „ih weiß durd Hören“, dem ſynoida, 
„ih weiß dabdurd, daß ich felbft dabei war“ entgegen; die alte Bedeutung 
vida = „ih habe gefehen“ ift {don längſt vergejfen. 

Aus diefem Berbum ſynoida wird ein fubftantiviertes Partizip gebildet 
„to ſyneidos“. Das ift alfo gunddft Mitwiffen mit Andern, dadurd, dah 
mar dabei war, ein ganz genaues, untriiglides Mitwiffen. 

Sp weit ift es, als es nötig wird, ein Wort für „Sewiffen“ gu finden. 
Man nimmt to ſyneidos: es wird Hier in ausgezeichneter Weife die wunber- 
bare Spaltung der Perfdnlidfeit im „Gewiſſen“ dargeftellt; es wird aus— 
gedrüdt: „Ich bin zwei Wefen, das Wefen A und das Wefen B. Das 
Weſen A tut etwas, das Wefen B ift dabei und weiß daber ganz genau, 
was das Wefen A tut.“ Ich finde in meinem Wörterbuh (Paſſow) das 
Wort zuerft bei Demofthenes. 

Nun ift die Zeit der großen religiöfen Bewegung in Griedenland, aus 
welder, verftümmelt und vielfach verderbt, dann das Gbriftentum hervor— 
gegangen ift, welches wir aus dem Neuen Teftament fennen. In diefer Zeit 
bildet man bas Wort he fhneidefis. Das ift ein richtiges Abftractum, eine 
fräftigere Subftantivbildung, eine Art Berfelbftändigung; während in to fone 
eidos nod) die DBorftellung ftedt, daß es fi um einen Vorgang handelt, ift 
[pneidefis entfchieden ein Subjekt, welches der Träger des Borganges ift. 

Aud diefe Entwidlung ift fehr merfwürdig. Die Srifhe und Lebendigfeit 
des erften Gefühl-Gedankens ift fort, es ift ein grammatifalifcher Gedanfe an 
die Stelle getreten: ein Ding wird untergef{doben; und man fann {don feben, 
daß einmal Denker fommen können, welche fagen: diefes Ding ift gar nicht 
vorhanden. — Gs ift aud nicht vorhanden; man ift einer allgemeinen Richtung 
der Sprade gefolgt. 

Die griehifhe Sefittung war im Wefentliden organifch entwidelt. Die 
Sefittung der Römer ift aus zweiter Hand, fie ift bon den Griechen über» 
nommen. 

Bei einer foldhen Mebernahme fann es gefchehen, daß Begriffe aus 
der Sremde fommen, denen überhaupt nod nichts entfpricht. Das ift ein febr 
häufiger Borgang. Man fann ihn fid anfdaulid maden durd das Bild 
des Negers, der in Lendenfdurg und Bblinder ftolgiert: der Bblinder wird 
ibm bom Händler gebracht, es wird ihm gefagt, daß man den Gegenftand 
auf den Kopf fest, und nun ift der Bblinder ein erftrebter Gegenftand fir 
ihn, obwohl er eigentlich gar feine Berwendung für eine foldhe Kopfbededung 
bat. Gs ift Har, daß ein derartiges Herübernehmen ſchlimme Folgen haben 


427 


muß: es fann fi in dem Volk die Srfdeinung nicht felbftändig entwideln, 
und das Herübergenommene muß bald entarten und zu etwas gang Ane 
derem werden, als es urfpriinglid) war. 

Als die Römer die griedifhe Gefittung annahmen, waren fie nod 
nicht fo weit, daß fie ſyneideſis hätten ganz verftehen können. Aber fie hörten 
das Wort bei den Griedhen und überjegten es fid mit „conscientia“. 

Was das bedeutet, will ih an einem Beifpiel Har maden. Das indiſche 
Golf bat im Seelenwanderungsglauben eine Gorm gefunden, welde etwa 
unferm @lauben an das perfönlihe Fortleben im Senfeits entſpricht. Das 
Senfeits fann man fic nicht porftellen, und die mehr oder weniger uns 
gulangliden Bilder, durd die man es fi malen will, haben den großen 
Nachteil, daß das gewöhnliche Bolf, welches etwas Feftes braucht, nicht mehr 
an fie glauben fann und will .So find einige Leute auf den Gedanfen ge- 
fommen, den Mythus der Seelenwanderung bei uns an Stelle des Mythus 
bon Himmel und Hölle einzuführen. Der Verſuch muß immer mißlingen, 
weil „Seele“ für ung etwas ganz anderes ift wie für den Inder. Damit ein 
Golf von dem Geelenwanderungsglauben Nuten baben foll, muß es ihn 
fim felber gebildet haben; bei uns fann der Mythus nur religiöfen 
Schwindel erzeugen. 

„Sonscientia“ ift die Ueberfegung des {don grammatifd gewordenen 
foneidefis; es ift nicht felbft erlebt, fondern aus der Fremde herübergenommen; 
und gang begeidnend ift, daß in den Stellen, welche das Wörterbuch anführt, 
uns [don ein DBegriffswandel entgegentritt: es ift im Befonderen das „böje 
Sewiffen*. 

Das bedeutet eine Berfladung. 

Wir europäifhen Bölfer von Heute ftehen ja nod immer unter dem 
Bann der lateinifhen Sprade, aud wenn nur nod Wenige Latein lernen: 
dur) die Kirche, aud die proteftantifhe. Soweit wir über „Gewiſſen“ durch 
die Religionslehre erfahren, befommen wir einen Begriff, der viel flacher 
ift, als der griehifhe war — auch diel flacher als der in den germanijden 
Spraden ausgedrüdte und deshalb in den germanijden Bölfern Iebendige. 
Die Berflahung geht jdon auf die Bildung von ſyneideſis guriid: es ijt da 
immer bon Wirkung die Rede, plump von Gegenwirkung des „Sewijjens“ 
als eines Dinges gegen die Handlungen des Menjchen; und da ich diefe 
Gegenwirfungen bauptjächlich bei den böfen Handlungen zeigen, als quälende 
Segenwirfung: das „ſchlechte Gewiſſen“ erfdeint als Gewiſſen fchlechthin. 
Gyneidos aber ift fein Ding, weldhes wirkt, fondern es ift nod jelber 
Geſchehen. 

Das Gewiſſen hat eine gang leife Sprache, man muß fie ſehr aufmerkſam 
bören; nur felten fpricht es laut. Durd die Bildung des Wortes conscientia 
bat der Lateiner fich die Fähigkeit zerftört, auf dieje leiſe Sprache zu hören, 
er bat nur nod die lauten Worte vernommen. Diefe lauten Worte aber, 
naddem fie den Zufammenhang mit den leifen Worten verloren haben, find 
nicht mehr verftändlich, fie find nur nod finnlofe Qual. 

Die katholiſche Kirche ift eine Gorm, weldhe die Menfchen des Wortes 
eongcientia fdufen, um diefe Qualen loszuwerden, und fie ijt eine in ihrer 
Art ausgezeichnete Form. 

Aber wie wird diefe Gorm auf die Menfchen wirken, die nicht „conscien- 
tia“ haben, fondern organifh aus fi heraus das Wort ‚Gewiſſen“ ent- 
widelten? 


428 


2. 

Das Ehriftentum ift die bis heute höchſte Religion der Menjchheit. Gs 
bildete fid im griehifhen Volk aus als Leben, gewann bei ihm und im 
Hellenismus feftere Formen — wir fahen fdon das Wort fhpneidefis — 
verlor dabei aber ſchon früh die Hobe ©eiftigfeit, die es urfpriinglid) gehabt 
haben muß, und ift in den älteften, vollftändigen Zeugniffen, die auf uns 
gefommen find, den Schriften des Neuen Teftaments, ſchon durch Schichten 
des Volkes gegangen, die nicht imftande waren, es auch nur geiftig voll 
zu erfajfen. Gs gibt ein Herrenwort, das außerhalb des Neuen Teftamentes 
aufbewahrt ift: „Ich babe immer Menſchen gefudt, welche diefe Worte ver— 
ftanden, aber ich babe fie nicht gefunden.“ In diefem Sat ift das furdtbare 
Sdidjal des hddften Geiftes ausgedrüdt, welder je auf Erden gewandelt ift, 
zugleich das Schidfal feines Glaubens: er ift ung überliefert durch Menfchen, 
welde ihn felber nicht verftanden. 

Geſchichtlich-politiſche Erſcheinung wurde das Chriſtentum durch die katho— 
tholifhe Kirche. Gs wurde dadurch wieder etwas anderes. An diefer Stelle 
wollen wir nur hervorheben, daß für ung feine Sprade lateiniſch wurde. 

Was das bedeutet, Haben wir an dem Wort conscientia gefeben. Man 
fann allgemein fagen, daß bie lateinifhe Sprache fid entwidelt hat für Bes 
dürfniffe politifher Gormung — wie man fie im Altertum verjtand, alſo 
zum großen Seil mit rhetorifhen Mitteln — und daß fie den Einfluß der 
Digtung auf ihre Gntwidlung zurüdgedrängt Hat: die Dichtung wird aud 
{pradlid immer mehr äußerlihe Nachahmung der griechiſch-helleniſtiſchen 
Didtung und fommt aud) fpradlid nidt mehr aus dem innern Gefühl. Das 
beißt, daß die Worte und Giigungen fefte und Elare Begriffe ausdrüden, aber 
nit mehr das Schwebende des Gefühls und der Anfdauung. Damit gebt 
gugleid) die maflofe Ueberſchätzung des Begriffs, unter welcher wir nod 
Heute leiden, die romanifhen Völker am meiften, dann die Gnglander, dann 
die Deutfden, und am menigften wohl die nordgermanifchen Bélfer. 

Sn der Bölferwanderung drängten ®ermanen in die fiidliden Lander und 
bildeten bier mit den Gingefeffenen die romanifden Bölfer. Weber deren 
Schidfal naher. Die Deutfhen und die nordgermanifden Völker hätten 
ſich aus fich felber organifch weiterbilden fünnen, wie die Griechen, wenn nicht 
das SHriftentum zu ihnen gefommen wäre. Gs fam in der Geftalt der fatho- 
liſchen Kirche, und in der lateinifhen Sprache, da der WArianismus bers 
nidtet war. 

Zu den nordgermanifhen Völkern fam es ſpäter als zu den Deutfden. 
Die Nordgermanen waren dahin gelangt, daß ihre alte Religion nicht mehr 
genügte; man fann das an deren LMeberbleibfeln fehen. Aber auch bei den 
Deutfhen muß das Heidentum am Ende gewefen fein. Der Webergang 
bom Kriegervolf gum Bauernbdolf war fdon gemadt. Das Bauernvolf aber 
fann mit den Göttern und mit den Lebensformen einer kriegeriſchen Geſellſchaft 
nidts mehr anfangen. 

Wir wollen bei unferm Wort bleiben. Natürli fann man feine Gee 
{hidte des Gewiffens fchreiben. Aber man darf vielleicht Folgendes als 
Dehauptung aufftellen. Neue Gefühle können nur entftehen bei neuen Bee 
giebungen. Man fann etwa nicht erwarten, dah pliglid ein „Gewiſſen“ da 
ift, welches den „Mord“ verbietet. Der Mord ift Tötung und unterliegt den 
Regeln der friegerifhen Sefellfhaft auch weiterhin. Aber es entwidelt fid 
nun eine neue Art Eigentum. Früher waren nur die Waffen und der 
Schmud (Uebergang gum Schatz: die edlen Metalle) Eigentum der Gin- 


429 


zelnen; jebt ift es die Seldfrucht, der Obftbaum und das Haus, bald aud der 
Ader, der die Frudt trägt. An diefem neuen Eigentum fann fid ein neues 
Gefühl entwideln, das dann fpäter aud) auf Die früheren Beziehungen 
übergreifen fann. Aber wenn wir das bedenfen, fo dürfen wir nie ver— 
geffen, daß wir im Denken felber fdon einen Fehler machen, weil wir in 
Begriffen denfen. Was ein Menſch der höchſten Art Heute Gewiſſen 
nennt, das ift nicht das, was ſich bei den Deutfchen etwa um 600 bilden 
fonnte. Das Hat noch viel mehr Aehnlichkeit mit dem, was bier für die- 
friegerifhe Gefellfhaft als „die Regeln“ bezeichnet ift. Bwifden gefell- 
ſchaftlichem Inftinkt, Regel und Gewiffen find überhaupt feine Schnitte zu 
maden. Gins entwidelt fid aus dem andern, wie die Berhältnijje verwidelter 
werden und die Menſchen nicht mehr mit einfachen Handlungen aus Reflez 
und Gewohnheit ausfommen, fondern prüfen miiffen. 

In die Umwandlung der Deutſchen fam alſo das fatholijde, in latei- 
niſcher Sprade gelehrte Shriftentum. 

Gs wirkte zunächſt auf die Priefter und Mönche. Die müffen da doch in 
zwei Welten gelebt haben: in ber deutfden Welt ihres täglichen Seins und 
beimifchen, geiftigen Lebens, und in ber Iateinifchen der Religion und des 
bald ihr folgenden fremden geiftigen Lebens. Diefen Zuftand fünnen wir uns 
Heute ſchwer vorjtellen. Man muß fich denken, daß die Perfönlichkeiten jich 
richtig geitlid und räumlich teilten: gu beftimmten Stunden, an beftimmten 
Orten waren fie lateinifch und zu andern waren fie deutjch. 

Was bon den Laien religiös verlangt wurde, fonnte nur fehr wenig fein: 
faum mehr als das Halten von Fajten, das Berbot der VBerwandtenehen, 
der Gebraucd der Saframente — furg, eine Einordnung in Die Magie der 
Rirdhe; diefe Magie, damals die Hauptjache, ift bei uns Proteftanten faft 
ganz verfchwunden und daher ſchwer verſtändlich. 

Aber es mußte auch verjucht werden, den geiftigen Gehalt des Shriften- 
tums den Vertretern der Kirche in ihrer ganzen Perfönlichfeit nahe zu bringen, 
nidt nur als lateinifches Wijfen, und aud die Laien mit ihm befannt zu 
maden. Man verfudte deshalb Bearbeitungen der Heilsgefchichte in deutſcher 
Sprade wie den Heliand und Otfrieds Spangelienharmonie und richtige 
Ueberfebungen. 

Da mußte man nun aud conscientia fiberfegen. 

Scheinbar war man in der Lage, wie die Römer, als fie ſyneideſis über- 
feßgten. Aber nur feheinbar. Die Römer Hatten fhon Gefühle, welche in den 
Begriff eingehen fonnten. Diefen pflangte man das neue Wort auf und leitete 
dadurh ihre Gntwidlung auf einen Weg, den fie fonft nidt eingefchlagen 
hätten. Die Deutſchen Hatten faum folde Gefühle Für fie war conscientia 
etwas eigentlid Unverftändliches. 

Wenn man conscientia überfegen mollte, jo mußte man „Mitwiffen“, 
„Mitwiffenfhaft“, „Mitwiffentum“ fagen. Das deutſche Wort ,,Gewiffen“ 
Dat den Stamm „wiffen“, aber es drüdt nicht das „Mit“ aus, fondern etwas 
andereg. , 

„Sewiffen“ war bor Luther ein Femininum; es ift Partizip des Praeteri- 
tum bon „Wiſſen“, nad der älteren ftarfen Gorm gebildet, während wir 
Heute die ſchwache „gewußt“ haben, und Hat zugleich aftive und paffive 
Bedeutung. 

Um das gu verftehen, müjfen wir uns flar maden, was das Praeteritum 
bier bedeuten fann. Wenn ich bilde „ich ſchlug“ von „ich fdlage“, fo heißt 
das: ich ſchlug in der Vergangenheit, in der Gegenwart fchlage id nicht mebr. 


430 


Dielleicht liegt bier eine falfde Anwendung der lateinifhen Grammatik auf 
die deutfhe vor. Das Praeteritum „gewijfen*, wie wir es grammatilalifch 
nennen müffen, drüdt nicht eine Vergangenheit, fondern eine Dauer aus, 
es meint, ®egenwart, Bergangenheit und Zulunft: man fann es mit dem 
griehifhen Aoriſt gleichftellen. „Gewiſſen“ ift immer da. enfeits des 
Srammatifalijhen wird etwas gemeint, das die Griedhen mit ſyn meinten. 

Wir müffen uns aud) Har maden, was es bedeutet, daß Gewiſſen zu- 
glei aktiv und paſſiv fein fann. Gin ,getiffener Mann“ ift ein Mann, der 
Kenntnis oder Wiffenfdaft hat. „Du bift getreu, gewiffen, weife* heißt es 
in einem alten Gedicht. Gs heißt aber aud in einer alten Mönchsregel: „Die 
durd Schur gewiffen find“, die durd das Gefdorenjein erfannt werden. 

Diefes Partizip wird durch VBorfegen des Femininartifels ein Subftantiv. 

Das Wort hat nun gunddft alle die Bedeutungen, die es fo haben fann, 
und behält fie lange bei. Die find gang allgemein, und im Lauf der Zeit fom- 
men Dana Derengerungen, durch die ja in der Regel ein Wort für 
einen notwendig getwordenen Begriff gebildet wird. Sp nannte man im 
Mittelhochdeutfchen einen Gewiffenen einen Mann, der wußte, was er andern 
in den mannigfaltigen Lebenslagen fehuldig ift, mas man heute mit dem inter- 
national gewordenen Wort Gentleman ausdrüdt (man beadte den Unters 
ſchied: das engliide Wort nimmt einen auf Raffgnunterfhied rubenden 
Klaffengegenfat an). So fommt aud die Berengerung auf unjern Begriff 
„Gewiſſen“. In dem Maße, wie die Deutfchen fic berinnerliden und die 
Gade befommen, verwenden fie aud) das Wort in der fo verengerten Bee 
Deutung. 

Nun fommt aber der Bruch mit der römifchen Kirche. 

Was „Reformation“ ijt, das ift, wie jedes gejchichtliche Greignis, nicht 
mit Begriffen zu bezeichnen. Aber wir fönnen den feelifchen Urjprung der 
Bewegung in der Perfönlichkeit Luthers feftftellen: es war die Gewiſſensangſt, 
welche durch die firdhliden Redtfertigungsarten nicht befhwichtigt würde. 

„Sonscientia* ift ein fefter firchlicher Lehrbegriff. Wenn ein Menſch etwas 
fühlt, das wir „Sewiffen“ nennen, fo fagt die Rirdhe: „das ift conscientia. 
And für die Beruhigung der conscientia Habe ich bie guten Werfe und meine 
magifhen Mittel“. Bielleidt fühlt der eine oder andere, daß da etwas in ihm 
ift, das nicht durch diefe Beruhigung getroffen wird. Aber das ift gang unbe- 
ftimmt, unfaßbar, denn er hat dafür ja fein Wort, denn unter „conscientia“ 
fällt eS nicht, und fo wird diefes Gefühl nidt gefaßt und geformt, und zer- 
tinnt, wie alles in uns zerrinnt, das nicht geformt wird. Luther aber hatte 
das Wort „Gewiſſen“. 

Der Streit Luthers entbrannte bei Gelegenheit des Ablaßhandels. Diefer 
Sandel ift logifch richtig begründet, und es läßt fid bom firdhliden Stand- 
punkt gar nidts gegen ihn jagen. Gin Menfch beichtet feine Sünden, der 
Beidtiger legt ihm eine Buße auf, und diefe Buße fann in Geld umgewane 
delt werden, wie etwa eine Gefangnisftrafe noch Heute in Geld umgewandelt 
werden fann. Das ift ein Gedanfengang, wie er bei den lateinifhen Worten 
und Sabfiigungen, die immer mit feften Begriffen arbeiten, ſehr einfach ift. 

Aber Luther fühlte: was ich im Gewiffen habe, das fann id ja gar nidt 
in Begriffe und Worte faffen, „Sünde“ ijt nicht etwas, das ih in Sätzen 
ausdrüden, das id andern Menfdhen mitteilen fann. Gelbft wenn id 
alle guten Werke tue, welde vorgejchrieben find, mein Gewiffen wird da- 
durch nicht um das geringfte erleichtert. Diefe ganze Lehre der Kirche iſt 
fal{m, id) muß auf andere Weife erlöft werden. 


431 


Die Sefhide der Völker werden gum Zeil durch ihre großen Männer 
beftimmt, und zwar durch deren perfinlides Grleben. Das ift der wertvollfte 
Zeil der Gefhichtsichreibung, daß fie die Zufammenhänge der großen Ein— 
zelnen mit ihrem Golf ar madt. Das Griebnis Luthers war fein Erleb— 
nis. Aber er fonnte es nur haben, weil er Deutfder war. Und nun fommt 
das Wunder, das immer in der Geſchichte im Grunde liegt: die deutſche Na- 
tion erlebte fein Grlebnis mit. 

Gin Zeichen davon ift die Sprache. Luther fagte: „Das Gemwilfen“. Gr 
Batte in feinem beimatlichen Dialekt eine Verwechslung einer verftärkten Gorm 
bes fubftantivierten Infinitivg, der ein Beutrum ift, mit jenem fubftantivier- 
ten Partizip des Praeteritum, das ein Semininum war. Und durch ibn befam 
nun die deutfhe Sprade das Wort „Das Gewiffen*. Man fann die Wand- 
lung bei Melandthon verfolgen: in feinen früheren Schriften fagt er nod 
„die Sewiffen“, in den fpäteren „das Gewiſſen“. 

Eine jede Nation hat in ihrer Gefdidte Borfommniffe, in denen ihr 
Wefen, ihr jenfeitiges Ziel, ihr gottgewolltes Sein befonders zum Ausdrud 
fommt. Die Grinnerung an fie madt das Herz der Volksgenoſſen höher ſchla— 
gen, in Tagen der Not und Bergweiflung denkt die Nation an fie. 

Gin foldhes Borfommnis ift das Wort Luthers auf dem Reichstag zu 
Worms, als der Bergmannsfohn bor dem Kaifer und den Fürften des Reiches 
ftand. Die Deutfchen find fein dreiftes Bolf, fie find fehüchtern, und Luther 
war ein ganzer Deutfcher, er muß fdiidtern gewefen fein in der glänzenden 
Berfammlung. Aber fein Gemiffen hielt ihn. Gr fagte: „Hier ftehe ich, ich 
fann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!“ Es fann wohl nur ein Deutfder 
diefe Worte ganz nadfiblen; und jeden wirkliden Deutſchen rührt es ans 
Herz, wenn er an Luther in Worms dentt. 

Galvin war ein Grangofe, er hatte außer „conscientia* nur „conscienje“. 
Man fann vielleidt nun verftehen, daß er etwas ganz anderes ift, als Luther. 
Auf ihn gebt zum großen Zeil die Reformation bei den angelfadfifden 
Bölfern zurüd: ich glaube, daß die lutherifhen Völker den katholiſchen näher 
ftehen wie den calbinifden. Und der deutſche Katholik fteht dem deutfchen 
Proteftanten näher wie etwa dem franzöfifhen oder italieniſchen Katholiken: 
als Menjch, wohl gemerkt, in der Art, wie das Chriſtentum auf fein Leben 
wirft. 

„Das Sewiffen“ ift viel mehr als conscientia und ſyneideſis, es ift aud 
mehr wie fpneidds. Die Praeteritalform bezeichnet Hier in Wirklichkeit die 
geitlofigfeit, die Senfeitigfeit, fie ift eine Gorm wie der Xorift, während 
to ſyneidos im Diesfeitigen bleiben fann. Das eine muß notwendig religiös 
fein, das andere fann es fein. Dadurd, daß es zugleich aktiv und paſſiv ift, 
wird es der DBeftimmtheit entzogen, die für fpneidefia und conscientia verhäng⸗ 
nispoll wird: es muß nicht notwendig als ein Ding aufgefaßt werden; das 
wirft; es fann aud eine Kraft fein, eine Gefdeben, eine Beziehung, ein 
Werden, ein Tun: das Gewiſſen drüdt, jchlägt, erwacht, ift eng oder weit, 
man fann es verhärten, es ift rein oder unrein, es ift Teidht, gut, fchlecht, 
böfe, unverlegt, unanftößig, erfdrocden, betrübt, ſchwach, frank, man reinigt © es, 
man [dont es, man hat Sewiffensbiffe. 

So fagt Goethe einmal: „Was hat denn der Mathematiker für ein Ber- 
hältnis gum Gewiſſen, was dod das höchſte, das wiirdigfte Grbteil bes 
Menfden ift, eine incommenfurable, bis ing Feinfte wirkende, fic felber fpal- 
tende und wieder verbindende Tätigkeit? Und Gewiffen ift’s vom Höchften 


432 


bis ins Geringfte. Gewmiffen ift’s, wer das kleinſte Gedicht gut und bore 
trefflih madt.“ 

Die romanifhen Völker und die Gnglander haben ihr Wort aus consci- 
entia entwidelt. Was wird ba bei ihnen gefdeben fein, was muß Heraus- 
fommen, wenn fie in Kampf mit den Deutfchen geraten; und was wird es für 
Europa bedeuten, wenn die Deutfchen auf den europäifchen Geiſt beftimmend 
einwirfen oder die andern? Paul Srnft. 


Nationalismus, Gnternationaligmus und 
Religion. 


1. 


G* mag eines pifanten Beigefchmades nicht entbehren, wenn wir Diefe für 
uns als deutſche Sbhriften fo wichtige Frage an dem Modell des Bolfes 
Israel in feiner Haffifhen Gefdidts- und Religionsurfunde zu klären ver— 
fuden. Allein wir haben in ihm ein unvergleichlihes Modell — nicht 
Borbild — zur Löfung diefer Frage. Liegt doch Hier eine Gefdidte in ihrer 
ganzen Ausdehnung bor uns, in der das Verhältnis der drei genannten Kräfte 
eine große Rolle gefpielt bat. Nicht nur, daß das typiſche Erlebnis Aliens, 
der Ginn für das Allgemeine und Unendliche, das ganze nationale Leben tief 
in die ewigen Fundamente von Leben und Welt hat eintauchen helfen; nicht 
nur, daß fich unfer ganzes deutſches Gefdid mit Aufftieg, Höhepunkt, Nieder- 
gang und Beradtung dur die Welt mehr in jenem fpiegelt, als mande 
unter uns Wort haben möchten; eine bon der Herrfchaft der Affekte frei ge— 
baltene Bildung wird immer anerfennen, daß unfere ganze Kultur an einem 
Strome liegt, der aus dem griehifeherömifchen und dem israelitifch-hriftlichen 
Zufluß guftande gefommen ift. In den beiden grundlegenden Zeiten, in Der 
Entftehung des Chriftentums und in der Reformation, hat diefer ©eift des 
Alten Seftamentes mittelbar eingewirkt, dem in der großen Dölferfuge auf» 
gegeben war, den Ton bon dem einen geiftigen, perfdnliden und heiligen Gott, 
beizutragen. Das darf man nicht vergefjen, wenn man die übernationale Bee 
deutung jenes Golfes mit einem bitteren Lächeln um feiner Gebler und 
verhängnispollen Wirkungen willen angweifelt. An die Stelle der befchränften 
Kenntnis des Alten Teftaments, die die Schule vermittelte, der zufolge man 
fih für israelitifhe Siege und Stammbäume, für unmdglide meffianifde 
Weisfagungen und Wunder begeiftern follte, trete bie Ginfidt in das Weſen 
biefes Buches: es ift ber Niederfchlag der Gefdidte eines Bolfes, das eine 
fraftoolle Golfsreligion mit men{dbeitlidem Ginfdlag gepflegt Hat, die nicht 
Bloß ge{dhidtlid, fondern auch immer nod) praftifch wichtig für uns ift. Denn 
in ihren tiefften und beften Gründen, in ihrer Gnteledie ruht etwas bon dem 
Beften, das uns gefchaffen und getragen hat und auf das zu befinnen einen 
Teil unfrer Kräftigung bilden fann. Wm nur eins zu nennen: allem matten 
und verfhtwommenen Moftizismus und Offultismus vermag ber Geift diefer 
Religion mit feinem befondern Charisma, der nüchternen, fittlid-fogialen Gin— 
ftellung wirffam entgegengutreten. 
2. 


Wenn wir zuerſt die Frage beantworten, wie Israel gu einer Nation 
geworden fei, fo wollen wir uns auf zwei Arten von Geſchichtsſchreibung 
befinnen. Neben die quellenmäßig begeugte tritt die Fülle pon ganz fub- 


433 


jeftiven ®ebilden, Sage, Mythus, Poejie und Legende. So haben wir für 
Israel neben den Gefdidtsurfunden von den Telamarna-DBriefen an bis zu 
dem Leudter auf dem Srajansbogen andere, bie bon der genannten ct, 
die man jenen gegenüber zurüditellen würde, wenn Greigniffe und Zahlen 
das Befte der Gefdhidte ausmadten. Wird dazu aber das Geelifde, alfo 
3. DB. das Gelbftgefühl eines Bolfes oder feiner Idee, alfo der Gedanke Sottea 
mit ihm, feine Gnteledie, Dann gewinnen die fubjeftiven Zeugniffe den Bore 
gug des Lebendigen bor jenen andern. Auf jeden Fall find fie gefchichtliche 
geugnijje für Die Zeit, da fie entftanden find, was damals an Ueberzeu- 
gungen und Hoffnungen in dem Volke gelebt bat. In diefem feelifchen 
Beſitz bricht herbor, was eine Nation fonftituiert. Denn diefer Begriff gehört 
ebenfo in den Bereich der Kultur, wie der des Bolfes nod in dem der 
Natur mwurzelt. Freilich ragt diejer ſchon dadurch über die Begriffe Stamm, 
Raffe, Horde Hinaus, daß er den Einfluß der Gefdhidte in Rüdfiht zieht. 
Golf ift Israel durch politifde Greigniffe geworden. Die Befreiung 
bon Aegypten, der Einzug oder vielmehr Ginbrud in das Land Kanaan, 
eignes Land, eignes Redt, der Anfang bon ftaatlihem Leben und ftaat- 
lider Macht hoben Israel auf eine Stufe des Bolffeins empor, die durch 
den alles gufammenfaffenden Kultus ſchon dem Charakter der Nation gus 
ftrebte. Männer waren es, die ihm fein ®epräge in ihrem eignen gaben. 
Moje und David bedeuten die großen Schöpfer des israelitiihen Volks— 
tums und feiner Nationalität. Mag es eine ſachgemäße oder nur eine bild» 
lide Redemeife fein: aus einem „Ur“ heraus geftaltete eine Idee einheitlich 
und mächtig diefes nationale Wefen. Hatte Mofe diefer Offenbarung zuerft 
vielleiht nur ftammelnde Worte verliehen, fo gab ihr David den Nahdrud 
der ftaatliden Macht, wie er diefer mit thr Sinn und Füllung verlieh. Der 
israelitiihe Nationalftaat wölbt ſich über dieſe Kultur, wie jie aus dem 
Geheimnis der Tiefe gerade Hier aufgebrochen war, und darum fieht dieſes 
Volk immer nod in jenem großen Namen den Grund zu all feinem Selbft- 
gefühl. Als es mit dem Staatswefen abwärts ging, trat diefe Idee zuerft 
nicht zurüd, fondern in ihrem ganzen lange ans Licht. Die Propheten waren 
eg, Die, fet es um den Staat trogdem zu erhalten, fei es um wenigftens Die 
Perle bei dem Tod der Mufchel gu retten, ihre Bufludt nahmen zu dem, 
was mehr ift als der Staat. Unter der Hand ward das Mittel zum Bwed 
und der Swed zum Mittel: Gott, der Schutpatron des Staates, ward zum 
abjoluten Herrn und das Bolt, wenn es überhaupt feinen verdienten Untere 
gang überlebte, gum Srager der Botſchaft pon diefem Gott. Hier ift eine der 
Stellen in der Weltgefhichte, ba Ewiges verflößt wird in die Zeit. Der Gee 
danfe an @oit ringt fi ganz bon der Natur Ios und vermählt fic mit ber 
Geſchichte; er ringt ſich los bon dem Dienft der einzelnen und ihres Staats. 
wefens und ſchwingt fid auf zu den Hdben fittliden und fogialen Gmpfindens, 
Das Morgenrot des Perfinlidfeitsideals und gugleidh der Menfchheit erwacht, 
und es wird gum umftrittenen Grbe der ©eiftesgefhichte, was in beftimmter 
gejdidtlider Lage aus dem Genius des Volkes geboren wurde. Als jenes 
tragende und ſchützende Gewölbe bes ftaatliden Lebens gänzlich zerfiel, legte 
fim das Volk den harten und abftofenden Panzer einer ausſchließenden Kirche 
an, bie ihm den Dienft tat, fein Beftes zu verwahren, wie die Hülle des Kor» 
nes den Samen bewahrt, bis er aufgeben foll. Odium generis humani — im 
tätigen und im leidenden Sinn des Wortes, bald verdientermaßen, bald fraft 
tragifhen Berhangniffes, ift und bleibt dDiefes Volk ein Bolt der Berheißung, 


434 


beftimmt, das Ideal eines fraftpollen, fittlid gerichteten Glaubens in die Welt 
gu tragen — troß allem. 

Kraft diefer feiner Entelechie hat es das vorderaſiatiſche Sagengut in feine 
geiftig-fittlide Gigenart umgedadt und umgedidtet. Aus ihr ftammen Die 
Lieder, die in unferen Shorälen nadtinen und fo viel pom Geiftesleben des 
Golfes geftaltet haben, wie unfre Beften von den hoben Geftalten und Ge- 
danfen lebten, die unter vielem Schutt und aud) Schmuß aufgeblüht find. 
Mögen fie aud etwas bon ihrem Beften in fie hineingelegt haben, fo ift dieſes 
bod nicht ohne jenes geworden. Aug jenem Geift ftammt aud das Zehngebot, 
das im Aufbau unjres feelifchen Bejiges fo wichtig geworden if. Was Wun— 
der, wenn fich ein ftarfes Selbftgefühl in diefem Bolf regte, das ibm auc 
bas Recht zu geben [dien, feine Anfänge an die der Welt anzufchliegen? Mies 
mand urteile über das Alte Teftament, der fich nicht vertieft hat in die Stim- 
mungen und Uebergeugungen der erften elf Kapitel der Genefis. Hier taucht 
Menfhlihes und Menfchheitlihes auf. Hoher Weltglaube und tiefe Mes 
landolie ftehen dicht nebeneinander. Wenn man den Wahn überwunden bat, 
als müffe das Geſchichte fein, oder es fei Srug, dann tun fics die Tiefen 
der Seele bor einem auf. Hier faut das Allgemeine aus dem Befonderen, hier 
Ihaut das Ewige aus dem Ginmaligen heraus. Gs ift wirklich fo, wie U. Hore 
see gejagt bat, daß fic diefer Sagenwelt feine andere zur Geite ftellen 
ann. 

Erhebt feine Kultur ein Volk zur Nation, fo Hat feine Religion diefes 
Bolf, das feine Kunft, feine Philoſophie und feine Wilfenfchaft befaß, um 
einen Mittelpunkt gefammelt und thm die Beftimmung gegeben, eine Idee zu 
verwirklichen, die feinen Beitrag zur Kultur der Menfchheit darjtellen follte. 


3. 


Wie Hat fid) Israel gu den andern Völkern geftellt? 

Auf feinem Mari in das Land feiner Beſtimmung und erft recht auf 
Diefer Landbrüde gwifdhen Aſien und Afrika hat es fein Dafeinsrecht fid in 
beftändigem Kampf mit den gegnerifchen Völkern erringen und verteidigen 
müfjen. Aeghpten, Gbom, Moab und jpäter die Pbiltfter, Haben ihm fein Recht 
auf Freiheit und Herrſchaft ftreitig gemadt; Shrien, Ajfprien und Baby— 
Ionien ftrebten nach dem aud im lebten Krieg umlämpften Borlande an der 
Küfte. Alte Gefdhide der porderafiatifchen Landftriche Hat es geteilt, bis es 
endlich dauernd feine Freiheit an die Römer verlor. Durd die Jahrhunderte 
feiner Geſchichte zieht fic der leidenfchaftlihe Kampf um die Güter, die jedem 
Bolt teuer find: Land, Ausdehnung, Freiheit, Macht und Herrſchaft über die 
Nahbarn. Bis zum Wahnfinn hat es im oft tollfühnen Glauben an fich felbit 
fih gegen die großen Weltmadte aufgelehnt und jeden feiner Grofen ver» 
dädtigt, der wie etwa Seremia zur Unterwerfung riet, um das Befte des 
Doltes, feine Religion für die Zukunft vor der Zerftörung durch die eberne 
Gewalt der Feinde zu retten. Geredtfertigt war jenes Streben nad Macht 
und nad) Selbfterhaltung durch das Selbftgefühl eines fruchtbaren und fraft- 
vollen Bolfes, wie aud) diefer Verzicht auf ftaatlide Selbftändigfeit durch 
den unerfchütterlihen Glauben an ein göttliches Sondererbe, bas es für die 
Sufunft zu erhalten galt. 

In all diefen politifchen Gefdiden vollzog fic eine bedeutfame Ausein- 
anderfegung mit der Kultur der anderen Nationen in gegenfeitigem Nehmen 
und Geben. Immer hat Israel fich losgeldft von der Kultur feiner Beherrſcher 
und immer hat es Wertpolles bon ihr übernommen. Das ift feine innere Gee 


435 


{hidte von feiner Befreiung von Aegypten an bis zu feinem Freiheitsfampf 
gegen die Römer. Dem Wüftenvolf Midian hat es fider mandes entnommen, 
was fpäter, innerlich angeeignet und umgewandelt, gum Beften feiner Ree 
ligion geworden ift. Als Nomadenpolf in das Bauernland Palaftina ein- 
gebrochen, verfiel es bald nad der Regel, daß der Befiegte dem Sieger Gee 
fege gibt, den Ginflüffen der älteren Kultur mit ihren Licht- und Schatten- 
feiten. Dagegen aber erhob fich der fraftige nationale Rüdjchlag aus der Tiefe 
des Bolfstums von Glia an bis zu den großen Propheten Amos, Sefaja und 
Seremia. In dem Kampf wider den Baal handelte es fich nicht um einen 
Namen, fondern um den Inhalt des Gottesbegriffs: Naturgottheit mit hei— 
liger Ungudt und Zauberei oder geiftige Gottheit mit Gehorjam und Gerech— 
tigkeit. Später mußten die Nachfolger diefer Propheten den Einfluß des fo 
berführerifhen Sterndienftes zugunften des Gottes abmebren, der als Herr 
Himmels und der Erde feinen heiligen Willen in feinem Geſetze offenbart hat. 
Der Kampf gegen den Diadoden Antiohus Gpiphanes, der Verzweiflungs— 
fampf der Maffabäer, der durch das Oratorium weiteren Rreifen befannt ift, 
als es ſonſt diefe Gefdidte zu fein pflegt, hat den Gigenfinn eines Bolfes 
gum Beweggrund, das eher untergehen als feine angeftammte Religion auf- 
geben will. Diefer gegnerifhen Bewegung gebt aber auch eine andere zur 
Seite. Es ift {hon bon dem Sagengut die Rede gewefen, das Israel aus dem 
Schatz der vorderafiatifhen Kultur übernahm, um es gang und gar mit fei- 
nem Geift zu durchdringen. So hat es aud fpäter mande Borftellungen, wie 
etwa die bom Teufel und der Hölle, die bon der Auferftehung und’ dem 
ewigen Leben übernommen und in feinen Geift eingetaudt. In Abwehr und 
Uebernahme hat es fo feine nationale und religiöfe Gigenart ebenfo bewahrt 
wie bereichert. Bielleicht ift es fo überhaupt die Grice geworden, auf der 
wertvolles afiatifhes Gut feinen Weg in die Kultur des Abendlandes hinein 
gefunden bat. 

Das fittliche Selbftgefühl Israels den andern Bölfern gegenüber ift fid 
ftets gleich geblieben. G8 war immer auf Grund feiner Borzüge diefelbe Ueber» 
bebung, wie fie aud die Grieden den Barbaren und alle andern reich be— 
gabten und fraftbollen Bölfer ihren Nachbarn gegenüber hegten. Das zieht 
fid dur die ganze Sagenwelt und die ganze Gefdidte hindurd. Wie 
beſchwört Abraham feinen Knecht Gliefer, feinem Sohn fein Weib aus den 
andern Stämmen, nur eines aus feiner Freundfchaft zu nehmen! Weld ein 
Sriumph fpricht aus der Sofeffage, daß einer bon Israel diefe hohe Stellung 
in Aeghpten eingenommen habe! Weld) ein Uebermut erfüllt die Sagen 
bon Safob und Gfau, den Stammpätern des eigenen Bolfes und der Edo— 
miter! Dem Gremben gegenüber ift alles erlaubt, Lüge, Unterfchlagung und 
graufame Ausrottung. Unfagbar leidenfdaftlider Haß gilt dem Anterdrücker. 
Ridjidhtslos werden nad dem Ezil die Mifchehen auseinandergeriffen: nd 
der Traum bon der Freiheit verbindet fid) immer mit dem bon der Herre 
{daft über die anderen Nationen, die dem Bolt Gottes Unterwerfung und 
Tribut fchulden. Aber das ift Doch nur die eine Seite. Aus dem humanen 
propbetifchen Geift, wie er im fünften Bud) Mofe fpricht, Eingt auch dem 
Srembling ein freundliches Wort entgegen; das Wort Sefu, bas den Sama- 
riter um feiner Barmberzigfeit über den Priefter und Leviten ftellt, ift freilich 
eine Höhe, zu der im Alten Seftament felbft Feine erfennbare Stufe hinauf» 
führt. 

Aber es ift doch aus dem Geift der Propheten, die Gott alg den Herrn 
aller Golfer zu erfennen angefangen haben. Damit traten fie freilich allem ent» 


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gegen, was die Srundüberzeugung des Bolfes bildete. Wir wiſſen defjen 
Ölauben, das auserwählte Bolt Gottes zu fein, als Ausdrud einer Ueberzeu— 
gung zu deuten, die die eigene Beftimmung tief in dem Untergrund der Welt, 
aljo metaphyſiſch veranfert wußte. Gs läßt fic) fein idealer Wert ohne eine 
folde Ueberzeugung allen Widerwärtigfeiten gegenüber halten. Die enge Ber- 
bindung mit dem eignen Bundesgott, der der mädhtigfte unter allen @dttern 
fei, ift Ausdrud und Halt gugleid für dag nationale Gelbftgefühl und den 
unbedingten ®lauben an die eigene Beftimmung. Aus feiner Hand empfing 
das Golf das Anrecht auf das Land der Berheifung, fein Geſetz, Sieg und 
aud) Niederlage, daher war fein Gefdid umleudtet mit dem einen Ginn, der 
ibm nie erlaubte, ®lauben und Hoffnung fahren gu laffen. Wieder haben die 
großen Propheten aus der Grundtiefe ihrer fittlid gerichteten Ueberzeugung 
heraus dem Begriff bon G©ott Freiheit und Weite gegeben. Gott ijt aud 
der andern Völker Gott; er ift nicht nur feines Bolfes Schußpatron, der ihm 
Sieg und Gedeiben zu geben hätte, er ftraft es auch und fucht es beim um 
feiner Sünden willen. Hier ſchwingt fid die nationale Religion Israels über 
die bisherigen Grenzen hinaus zu dem Glauben an den Gott der Bölfer und 
der Welt. Aber niemals gibt einer der Propheten den nationalen Anſpruch 
damit auf. Bald ift es der niedrigere Gedanke der Herrfdaft über die Völker, 
bald ift es der hohe der Milfion, mit der Israel um feines religiöfen Sonder- 
gutes willen in der Welt betraut ift. Die Höhe diefer Ueberzeugung bildet 
der in feiner gefdidtliden Bedeutung um feiner üblichen mejfianifchen Aus— 
Iegung viel zu wenig gefannte Gedanke bon dem leidenden Knechte Sottes: 
von den Völkern veradtet um feiner, wie fie meinen felbjt verjchuldeten 
Leiden willen, wird er endlich in feiner Unſchuld erfannt und, weil er fich treu 
geblieben war, mit der Aufgabe betraut, die Bölfer gu Gott zu führen, wo- 
für fie ihm ihre Huldigung darbringen werden. In diefem Gedanfen hat der 
Anfprud Israels auf Herrjdaft über die Nationen feine höchſte Berklarung 
gefunden; bier ift feine Gnteledie herborgebroden und der tieffte Ginn feiner 
nationalen Eigenart ift in feiner Bedeutung für die Welt offenbar. 


4. 


Nun bedarf es nur nod einiger zufammenfaffender Worte über unfer 
Modell und das, was wir uns an ihm baben anfdaulid maden wollen. 

Was bat Israel der Welt als feinen Beitrag gu ihrer Kultur guge- 
bradt? Man mag darüber fpotten, wenn man nur an die Juden und nicht 
an Israel denkt. Gs ift nichts Geringeres als die Moral, die religiös ge- 
gründete und fozial und geiftig gerichtete Moral. Daf wir fromm und gut 
nidt auseinanderreißen, daß wir Unrecht als Sünde und Sünde als Unrecht 
empfinden, ftammt aus biefem Erbe Israels. Ferner der heiße Drang nad) 
einem Reid) der Gerechtigkeit, fozialer Gerechtigkeit, ift der tiefe Grund der 
befannten Beteiligung der Juden an allen politifchen und fogialen Revo» 
Iutionen. Gs ift fein Zufall, daß Marz, Laffalle und Landauer aus diefem 
Bolfe ftammen. Endlich ift auch der Mefjiasgedante ein Stüd diefes Grbes, 
der Gedanke alfo, daß ein jedes felbjtbewußte und fraftvolle Bolf den An— 
jprud babe, feine Eigenart in der Welt durchgufegen und bas Redt von der 
Weltgejdhidte ber, ihr feinen Stempel aufzudrüden. 

Diefen Beitrag zur Kultur der Welt hat Israel aber nur leijten fönnen, 
weil es fich felber treu geblieben ift, allen Abfällen zu andern ®öttern zum 
S108. Daf es fich fo hartnädig auf feine nationale Gigenart verjteift bat, 
Das allein hat ihm feine übernationale Bedeutung gegeben. Wäre es auf- 


437 


gegangen in dem porderafiatifhen Bölferbrei, dann wäre es uns jebt wie 
Moab und Ammon. Nur das Bolf gewinnt übernationale Bedeutung, das 
fih national treu bleibt. Damit ift nicht gejagt, daß es die andern verachten 
folle; zwiſchen dummer Beradtung und elender Selbjtwegwerfung liegt der 
edle Stolz, der fid nicht zu gut dünkt, auch die andern fennenzulernen und 
gelten zu laſſen. Nur fo wird eine Menfchheit. Sie befteht nie aus gleichen, 
fondern wie der Leib aus ungleiden ©liedern. „Die Idee der Menfchbeit, 
@ott gab ihr Ausdrud in den verfhiedenen Völkern.“ Die Völkerfuge befteht 
aus verſchiedenen Stimmen. Jedes Volk hat feinen Tag in der Weltgefchichte. 
Die Menfchheit fommt zuftande, wenn jedes Bolt, bas etwas gu geben bat, 
im Nehmen und Geben mit den andern in Wustaufd tritt, aber immer nur um 
fi in Widerfprud und Angleichung felber treu gu bleiben und immer mehr zu 
werden, was es ift. Wir Deutſche müjfen wiffen, was uns anvertraut ift: es 
ift das Hobe Gut des Idealismus, das wir aus dem beiten Erbe Griedhen- 
lands und der biblifhen ©eifteswelt uns gefchaffen haben. Unfere Bedeutung 
für die Welt, bie uns nicht untergehen lafjen fann, an die wir glauben müffen, 
verwirfliden wir, wenn wir dem Geift nachfpüren, aus dem wir ftammen und 
wenn wir ihn immer mehr im Berfehr mit andern Geiftern zu feiner Reinheit 
und Fülle ausgeftalten. Friedrich Niebergall 


Wilhelm Leibl. 


Ss)" größte deutfhe Maler der lebten Jahrzehnte des vorigen Sabr- 
bunderts ift Wilhelm Leibl, einer unfrer größten Maler überhaupt. 
Diefen Sat ftellen wir voran als eine Grfenntnis, die, feit langem unbeftimmt 
gefühlt, uns allmählih im Sehen und Vergleichen zur feften Gewißheit ge— 
worden ift. Sene Bewegung in der Malerei, die auf die Dingegebenfte und 
innigfte Gerfenfung in die Natur ausging — Plein air, Smpreffionismus 
und alles, was dazu gebirt — Dat in ibm ihr Haupt. Gr gehörte zu feinem 
Klüngel, fondern ftand mehr und mehr „abjeits*. Gin Ginfamer. Trogdem 
ift er der $ührer. Se mehr der Schwarm der Zeitberühmtheiten in die Bere 
geffenbeit finkt, um fo eindrudfamer tritt die Kunft Leibls hervor. Wir, die 
wir uns zu Wilhelm Raabe, Seremias Gotthelf und Adalbert Stifter bee 
fennen — wir wählen diefe Namen mit Bedadt —, geben Heute an vielen 
Bildern vorüber, die nod immer, und gum Zeil mit Recht, berühmt find, 
und finden unfres Herzens Troft bei Wilhelm Leibl. — 

Die Familie Leibl ftammt aus der Bayriſchen Pfalz. Der Bater, ein 
begabter Mufifer und trefflider Komponift, wurde Domfapellmeifter in Köln. 
Die Mutter war eine Kölnerin, die Tochter eines Gymnafialprofeffors. Wil- 
beim Leibl, geboren am 23. Oftober 1844, war das fünfte bon fehs See 
{wiftern. Die Familie hielt in großer Treue zu einander, Wilhelm Leib! 
Ding mit inniger Berebrung an feinen Gltern*. Gr wuds auf in einem ehren- 

*) Wir betonen das und meifen darauf bin, daß dies bei unfern Oroßen die 
Regel ift: Dürer, Luther, Kant, Goethe. Aud im ,fapitaliftifhen Zeitalter“: 
Brahms, Hans Thoma ufw. Gegenüber etliden Apofteln, die in Aufrubrmaden 
reifen und den „Kampf“ gegen die „alte Generation überhaupt, fowie gegen die 
„bürgerlide Familie“ und die Sltern insbejondere in genialiidem Baufh und Bogen 
lehren und die in der LUnwiffenbeit mander bewegten Jugend ein leichtes Abfahfeld 
Dr ihre Irrtümer finden, muß man die Augen auf die natürlide Wirklichkeit 
enien. 


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haften, redlichen, gütigen und gebildeten Kreife, der bürgerlid war im 
ſchönſten Sinne. 

Körperlih und geiftig war Leibl von ausgeprägt germanifcher Art. Gin 
großer und ſchwerer, herrlich gebauter Körper, ein edles Gefidt, von braunem 
Haar und Bart umjfdloffen, mit begwingenden blauen Augen. Kraftübungen 
waren feine Greude, er liebte Turnen und Athletik. Die große Gifenftange 
und ein Anbderthalbzentner-Stein zum Stemmen durften ibm nidt fehlen. 
Schlug er mit der Fauſt auf den Gidentifd, fo brad) die Kante fplitternd ab. 
Wenn auf dem Ammerfee der Sturm einfegte und die GFifder mit ihren 
Booten das Land fudten, ldfte er fein Segelboot und fuhr in den Sturm bin» 
aus. (In der Sugend hatte er „Maler oder Seemann“ werden wollen.) 
Seine Ueberfraft und feine YUeberanftrengung ließen ihn nur fechsundfünfzig 
Sabre alt werden. Gaft die Hälfte feiner Zeit widmete er der Jagd. Nicht 
aus Freude an der Schießerei, fondern aus Freude an dem einen treffenden 
Schuß und aus Freude am — Hund. Die Sicherheit feines Schuffes war 
berühmt. Zuweilen lag bie Büchſe neben dem Malgerät, um eine porüber« 
fliegende Gnte Heruntergubolen. Die Hunde wählte er mit forgfamfter Bee 
obachtung und zog fie felbft auf, er hielt fie ftreng und farg, lenkte fie mit 
Inapper Gefte und furgem Wort. Gr hatte por den Tieren unter Umftänden 
mehr Adtung als bor den Menſchen. Brehms Sierleben lag ibm ftets zur 
Hand. Den Darwinismus tat er mit Der ironifhen Bemerfung ab: Hätte 
diefe Theorie recht, fo würde fich der Menfch gegenüber dem Tier nicht vor 
warts, fondern rüdwärts entwidelt haben. 

In der Unterhaltung war Leibl wortfarg. Was er an tieferen Dingen 
zu fagen Hatte, gab er in feinen Bildern, nicht in Worten. Aber wenn er 
etwas jagte, fo „jaß“ es. Auch fdweigend beberr{dte er die Menfchen. 
Im Umgang war er bon einer getwiffen edlen Unbeholfenbeit, wußte aber in 
den Kreifen des Adels fo gut zu verkehren wie bei den Bauern. Geriet er 
unter Schwäßer oder reichgewwordenen Pöbel, fo wurde der Unterfchied zu Un— 
gunften der anderen rafd bon felbft offenbar. Die wenigen Freunde wählte 
er mit eindringendem Auge. An diefen Freunden Hing er mit underbriidlider 
Treue Bor den Frauen bielt er fic zurüd, obwohl er aud wundervolle 
Stauenbildniffe gemalt hat. Die Tochter des Schondorfer Wirtes (er bat 
fie auf dem Bilde, das unter dem Titel „Ungleihes Paar“ bekannt ift, als 
Modell gewählt) war fein einziges „Abenteuer“. Gebheiratet hat er nicht. 

Obwohl Leibl in den Monaten por dem fiebziger Kriege umgeben von 
Anerkennung und Reidtum in Paris lebte, kehrte er nad dem Friedens— 
ſchluß nicht dorthin guriid, fondern ging aufs oberbayrifhe Land fernab der 
Eifenbahn. Gr bradte fein Leben nacheinander in Graflfing, Unterfchondorf, 
DBerbling, Aibling, Kutterling zu, in Moor und Wald und mit Ausblid 
auf die Berge (nicht im Gebirge felbft). Doch bebielt er meift aud eine 
Wohnung in Münden oder wenigftens in dem Gleden Aibling. Gr baufte 
in bäuerliden Stuben, und lebte wie ein Bauer unter Bauern, ohne daß 
ihn feine gab feftgebaltene fölnifhde Mundart darin behinderte. Für Die 
Bauern ift ein Künftler im Allgemeinen ein mißtrauifch betradteter halber 
Tagedieb und Springinsfeld. Aber wenn „der Herr Leibl“ fam, fo ging 
ihnen das Herz auf. Bor feiner Malerei Hatten fie Refpeft. Als er ar 
feinem ,Rirdhenbilb“ („Drei Grauen in der Kirche“) malte, berichtete er 
(am 20. Mai 1879) in einem Brief an feine Mutter: „Letthin waren mehrere 
Bauern davor und falteten unmwillfürlih die Hände. Einer fagte: Das ift 
Meifterarbeit. Auf das Urteil der einfachen Bauern habe ich von jeher mebr 


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gehalten, als auf dasjenige der fogenannten Maler und foll mir diefe Aeuße- 
tung des Bauern ein gutes Omen fein.“ Das Bild, das der Berblinger Bauer 
„Meifterarbeit* nannte, nannte bernad) Lenbad in Münden „Zuhthaus- 
arbeit“ ... 

Diefer fraftftrogende, ſchwerbewegliche, langſam denfende Künftler, Sager 
und Bauer, der zwar zuweilen in hellem Zorn auflobte, aber doch vor allem 
die überlegfame Rube [häßte, war zugleich ein Menſch von tieffter Innerlichkeit 
und Sartbeit. Wie fdonfam ging er mit den Menfhen um! Wenn er 
fih aud) nicht zur Kirche hielt, fo wußte er es doch fo einzurichten, daß fein 
mangelnder Rirdhenbefud den Bauern fein Wergernis gab. Seinem ehrfürch— 
tigen Gemüt war jeder Spott über religiöfe Dinge zuwider. Als er in einer 
Scheune einem DBauerntheater („Ritter Kuno oder der Schwur um Mitter- 
nadt am Garge“) beiwohnte und das Laden über die „Tragik“ nicht halten 
fonnte, ging er hinaus: „Es ift eine Ungegogenbeit, da gu lachen, wo fid 
andere erbauen.“ Zoten fonnte er nidt vertragen — das ficherfte Kennzeichen 
inneren Adels. 

Mit diefen Zügen ift zugleich der Künftler charakterifiert: eine Bere 
bindung berber Kraft und zartefter Innerlichkeit. Beides einigt fid in der 
Ehrfurdt. Alles von Menfdhen Zurechtgemadhte, Geſchönte, Bdealifierte ver— 
adtete er. Die Ghrfurdt vor der bon Menſchenwitz und Menjchenwillfür 
nicht verdorbenen Natur, der unbedingte Wille zur Wahrheit und Gadlidfeit, 
der Ginn für das Handgreiflid-Wirklihe bilden den innerften Grund feines 
Künftlertums. Man folle fidh fein „Seelifches“ ausdenfen und das dann ' 
malen, man male das Körperliche, wie man es mit ebrliden Augen febe, 
dann babe man „das Geelifche ohnehin dabei“. Das ift nidts andres als 
jene alte germanifhe Anſchauung, die mit dem Worte „Leib“ Körper und 
Seele als Einheit erfafte. 

Der Natur, als dem Grunde und der Heimat alles Lebens, gab er fid 
gang bin. Gr ging nidt aus der Stadt, wenn es ibm paßte, in die Natur 
binaus, um fie zu „jtudieren“ und in Gfiggen beimautragen. fondern er lebte 
in ihr. Was er tat, tat er eben immer ganz. Diefe umftandlide Sediegen- 
beit und Griindlidfeit gibt feiner Kunft das Altmeifterliche, jodaß feine Bilder, 
die aud in der Technik dauerhaft find, die Nachbarſchaft der alten ober— 
deutſchen und niederdeutijchen Meijter vertragen fönnen. Diefe Hingabe an die 
wirklide Natur madte ihn freilih abhängig bom Modell. Gr malte nichts 
aus der Phantafie, fondern immer nur aus der Wirklichkeit. Seine „Phan- 
tafie“ ift eben nicht ein Grfjinnen, fondern ein Auswählen; feine PbHantafie 
ift ungelöft bon der Realität, er bewährt fie darin, daß er fic) die Modelle 
ausfudt. Und hier offenbart fic fein eigentiimlides Auge und fein Herz. 
Seine Sinne find fo fein und wählerifch, daß er Bildnisauftrage nur unter 
der Bedingung annimmt, daß der, den er malen foll, ihm nicht unſympathiſch 
fei. Leere oder unangenehme Gefidter anzufehen ijt ihm faft phyſiſch peinlich, 
er wendet fid ab. Das Tiefe, Sharafterpolle, Schte und Edle (bon „Schön« 
beit“ hält er fo wenig wie unfre Alten) fcaut er als das Grundiwirkliche aus 
der Natur heraus. Als er ein Lieblingspferd des Grafen Sreuberg malte, ere 
ftaunte der gufdauende Graf: der Maler, der von Pferdezucht nichts ver— 
ftand, traf mit verblüffender Sicherheit gerade die Merkmale der edlen Rajje. 
Gs fommt eben aufs Sehen an, und ein häufiger Wusfprud) Leibls war: 
Die Menſchen können nicht fehen. Der fdarfe, helläugige “Blid des agers, 
der Blid des rafjigen Menfden für das Gdle, das ift nadft der Ehrfurdt 
und ©ediegenheit das dritte Merkmal feiner Kunft. 


440 


Sehr begeidnend ift die Art, wie er malte, wie die Fauft des Hünen 
mit den empfindlidften Nerven den feinften Pinfel regierte. Mit ausge» 
ftredtem Arm ftand er da, viele Stunden — {don das eine erftaunliche Kraft- 
leiftung. Gr malte alla prima, ohne Untermalung. Das Bild wurde mit 
großen Kobleftrichen angelegt, dann begann er irgendwo, an einer Schulter, 
einem Auge und madte nun ein Feldchen nad) dem andern fogleich ganz 
fertig. Daher war feine größte Sorge, das Gemalte lange genug feucht zu 
halten, rafd trodnende Farben mied er. Gnt{[prad ein Stüd feinen Anz 
forderungen nicht, fo bob er es mit einem Rafiermeffer heraus und begann 
bon neuem. Sp bat er einmal an dem „Kirchenbild“ die Arbeit bon mehr als 
zwei Monaten befeitigt und neu begonnen. Gs ftedt eine ungeheure Mühe in 
Leibls Bildern. An jenem DBerblinger Kirdenbild mit den drei Frauen 
bat er faft vier Sommer gemalt, immer in dem dämmrigen Kirchenraum, 
zuweilen im Spätherbft in großer Kälte, im Halbdunfel fein Auge faft über» 
anftrengend. Die „Wildſchützen“, die ibm die größte Mühe gemadt batten, 
zerfägte er in drei Stüde, weil er, zu nahe am Modell ftebend, die Größen» 
veıhältniffe der Figuren zu einander nicht recht getroffen hatte. Und diefer 
Seblgriff erfchütterte ihn fo, daß er feither nie wieder eine größere Rompo- 
fition unternahm. Der Sager ſchoß nicht zum zweiten Mal auf ein vere 
febltes Wild. 

Techniſch ſchätzen wir an Leibls Bildern die für unfre eilfertige Zeit un- 
erhörte Gediegenbeit, äftbetifch die meift uniibertrefflide Farbenfeinheit. Aber 
Das find nur die Bebifel für die tieferen Werte, eben für das „Seelifche“, 
bas zu malen er ablehnte. Durd die ehrfürdtige Hingabe, die gediegene 
Sadlichkeit und den Blid für das Echte holte er die mbftifde Urtiefe aus 
dem Naturgewadjenen und Snnermenfdliden heraus. Wo haben wir in der 
ganzen neueren Runft Augen und Hände wie die bon Leibl gemalten! Diefe 
Gefjidter und Hände find individuiert bis aufs Aeußerfte, und Doch Liegt 
in ihnen Sabrtaufende altes, Generationen durchzitterndes Leben. Bei Leibl 
vereinigt ſich höchſter Indipidualismus mit Gwigfeitsblid. Gr gibt uns Die 
Wirklichkeit, die uns erfchauern läßt und zur Andacht zwingt. (Nichts ift Iehr- 
reicher, alg pon einem Leiblſchen Bilde weg vor die Bilder andrer hervorra— 
gender Realijten, etwa Menzels oder auch Liebermanns, zu treten. Der Unter- 
ſchied der feelifhen Haltung und Tiefe ift verblüffend.) 

Leibls Bedeutung wurde früh empfunden, fdon als er nod in München 
bei Ramberg war. Aber er ift in eigentlidem Sinne weder Rambergs nod 
Piloths „Schüler“ gewefen, fondern ging bon Anfang an ftrads feinen eigenen 
Weg. Die Darftellung, als fei er nad Paris gegangen, um fic dort gu voll» 
enden, Die Begeidnung Leibls als Sourbet-Schüler ift unwahr. Courbet er- 
fannte in München Leibls Bedeutung, die Grangofen holten fi den 
jungen deutſchen Maler nah Paris, weil er etwas fonnte. Seine Kunft 
ift eigendeutſches Gewächs. Als er in Paris die „Kokotte“ mit dem bee 
rühmten goldigen Kolorit malte, jah ihm Gourbet bewundernd bei der Arbeit 
gu. Auch fpäter blieb ihm die Bewunderung der Parifer Kunftfreunde treu. 
In Deutfchland aber hatte Leibl Jahre der Nicht-Beachtung, ja Berfennung 
durchzumachen, und es ift nicht bloß DBitterfeit, fondern nur allzu tribe Wahr— 
Heit, wenn er den Neid eine „Haupttugend der Deutſchen“ nennt. Gs gibt 
in Deutjchland fo viele Halb- und Biertelsfinner, die mit befferwifferifchem 
Adjfelzuden, um ihren Platz zu behaupten, die geborenen Meifter zu ent- 
werten ji bemühen. Gelbft ein Lenbad gab fi dazu ber, Leibl zu 
verkleinern und ihm den Verkauf eines Bildes zu verderben. 


441 


Heut aber, ba wir nicht mehr in den Tageskämpfen um den Bmpreffionis- 
mus fteben, fondern die Gpode als ein Ganges in den ©efamtleiftungen über» 
fhauen, löfen fi für unfern Blid aus den vielen Hügeln die wenigen hohen 
Berge heraus; ſchroff und ftolg ragt über ihnen ein granitner, aus dem Grd- 
innern auftoadfender Gels: Leibls Werk. Und faft ſymboliſch mutet es an, 
daß diefer größte Maler feiner Beit weder bon den Nieder- noch bon den 
Oberbdeutfchen, weder von den Kölnern nod bon den Bayern ganz beanſprucht 
werden fann, fondern eine ſchlechthin deutſche Erſcheinung ift. Wie er in 
politiſchen Dingen zu Bismard bielt (und die ftille Bornehmbeit des alten 
Kaifers, befonders aber die unbeirrbare Gadlidfeit Moltkes ſchätzte), fo ift 
aud feine Kunft ohne jeden Partifularigmus. Sie ift in Wahrheit weder 
Iandfchaftlih nod ftändifch eingefchräntt. Gs ift vielmehr fo, daß in Leibl 
der germanifhe Ginfdlag der deutfhen Bolfheit fo rein wie felten fonft 
erfcheint. Das läßt fid an der Struktur feiner Perjönlichkeit wie feiner 
Kunft aufzeigen. Bor allem darin, daß ihm die Wahrheit (nicht die Schön«- 
beit) und die felbftberrlide (autonome) Freiheit (nicht die Kultur) als höchſte 
Werte gelten. Das heißt ins Künftlerifche übertragen: Realismus und Sach» 
lichkeit. Indem Leibl diefe Gadlidfeit bis zur duferften Hingabe treibt, 
erfaßt er in jedem Stüd der Natur zugleih „das Ganze“ und im Ginnliden 
zugleich das Seeliſche. So gewinnt der Naturalismus eine myſtiſche Tiefe. 
Diefes unpathetifhe Pathos, diefe lichtklare Schattentiefe, dieſe mbftifde 
Sadlichkeit bannt den Befdauer fo, daß vor einem Leibliden Bilde des 
Schauens fein Ende ift. St. 


Paul Ernſt. 


er fih bom Stadtbild bon Weimar erträumte den Abglanz Haffifcher 

Tage, wird enttäuſcht; aud bon der ausdrudslofen Monotonie der 
Gront des Goethehaufes. Selbſt die beflemmende Hinfalligfeit des Schiller» 
Haufes übt faum eindringlidere Reize aus, ſodaß wohl mander an ihm in 
unmiffender Achtlofigfeit porüberwandelt und fi fo einen nachdrüdlichen 
Aufruhr der Gefühle verfagt. Und die äußere Schlichtheit des doch von 
Wundern vollen Wittumspalais atmet davon wohl für den wadfam weiss 
lichen Suder, nichts aber für den flüchtigen Befuder aus. Doch wenn du 
droben bom „Horn“ Hinabfhauft auf die heimlich flüfternden und dod fo 
verfchwiegenen alten Buchen und Eichen des Parks und auf die blattgrüne 
@irlande der eilenden Sim, und wenn du dann berniederfteigft gum „Stern“, 
dann fiebft du Goethes Gartenhaus fi an die Senke fufdeln, bon der du 
famft, und vor ihm Die Wiefe gebreitet, das niedere, Eleinfenftrige, hoch— 
dDadige Häuslein, auf dem ein Rebengitter rechtedig fid) zeichnet, ſchmuck— 
Iofefte, Holdefte Anmut von naturhafter Reinheit, umbhegt von dem heiligen 
Srieden vollendeter Harmonie, — dann Haft du das alte Weimar, dann 
jpürft du die Unfterbliden, dann abnft du Goethe. 

Droben, „Am Horn“, in altertiimlidem Patrigierhaufe, por twunderlid 
berwildertem, romantifhem und melandolifch traulidem Garten, mit tröftlich 
labendem Blid auf den lieben Park, haufte viele Sabre Paul Grnft. Gr 
ftand in reifem Mannesalter, als er dorthin zog. Dort erft, im Schatten der 
Titanen, fand er fic felbft, erfaßte er fein ewiges Gelbft und ficherte es, 
dort fühlte er fic) gefeit gegen deffen Berluft, fern von der überreizten Anraſt 
feiner Zeit, dort fudte er über Weimar hinaus den Weg zu neuer fittlicher 


442 


Weltanfhauung, dort wollte er, der Neufantianer, die fittlihe Freiheit des 
Menfden wiederfinden und fo zu einem neuen nationalen Drama gelangen. 

Seine dramatifhe Kunft will Natur und Prunf, Sbenmaf und Wirrfal 
zugleich fein, des Lebens Taumel und Betörtheit priefterlich gefammelt Elären. 

Während die Dichtung feiner Zeit noch befangen war im Ab bilden des 
Alltags, ſchritt Paul Grnft — und bas ift feine große, wegweifende, feine 
Altweimar würdige Tat — zu didterifher Schöpfung feiertägiger Bore 
bilder. Und fein erfter dramatifcher Sedanke wurde einer der Gwigen und 
Allmädtigen Weimars, Demetrius, mit dem Sciller in feinem Todesfampfe 
sang und dem Hebbel ein halbes Jahrhundert fpäter in Weimar zugeführt 
wurde. Dod eigenfchöpferifch ift fein „Demetrios“. Aus den ftumpfen, fturm« 
gepeitfchten Steppen des rauhen Ruflands entführte er den falfhen Fürften 
in des Taygetos großartige Gebirgslandfchaft im ſchönen, fruchtbaren Guro- 
tastal, aus dem fiebzehnten Jahrhundert nad, ins zweite Jahrhundert 
bor Chriſto. Der lakoniſchen Welt entſpricht die lakoniſche Kargheit und 
©eftrafftheit der epigrammatifch-Haffiziftifhen Sprache Ernſts. Dies vor 
nun annähernd zwei Jahrzehnten entftandene Drama ift Heute bon aufs 
fälliger Zeitwirkfamteit. Der biftorifhe fpartanifhe Staatsftreichler Nabis 
wird bon dem Baftardfohne des bon ihm vertriebenen legten Herafliden ent- 
thront. Im @lauben an feine Legitimität madht fi der Baftard zum 
König. Als berufener Reformator will er aus dem verlotterten Bolf, das 
feine Scheu und feine Ehrfurcht und fein gleides Wollen fennt, in dem einer 
dem andern fchadet, um fich felbft zu niigen, ein neues Volk erfchaffen mit 
den Trümmern alter und den Scherben neuer Zeit. Doch wer Herrfden will, 
bedarf ftarfen Grundbaus und fefter Pfeiler. Da er fic, ohne fie zu befigen, 
fühn und edel über die Parteien ftellt, wird er deren Spielball und abhängig 
por des Pöbels ewig unbeftändigem Ginn. Def Art ift es, an Geelengröße 
ftets zu zweifeln; des Helden Art, glaubend fic felber treu zu fein. Gin Bere 
tiefterer alg Schillers und als Hebbels Demetrius, geht Demetrios nicht an 
feiner Zufallswiege gu @runde, fondern an feinem Abſcheu por dem ©arftigen 
der Politik, vor der Grbarmlidfeit der eigenfiidtigen Parteien, nachdem er 
längft den Demetrius-Menfden überwunden batte zugunften Der Deme— 
trius-Sdee, zugunften der Idee des Schaffens für das Bolfsgange. Das aber 
ift, nad Grnfts Standpunkt von 1905, vergeblide Liebesmüh. So ift Denn 
Ernfts „Demetrios* in Wahrheit eine Tragödie, bie Tragödie bon der Une 
möglichkeit, edel zu herrſchen in unedler Zeit. 

Es ift ſchon Größe in diefer Dichtung; fie hat Fülle, Gewicht und 
äußere Wirkfamfeit, Szenen von ethijd großer Empfindung, Szenen dunflen 
Erſchauerns; und eine feltfam farge, recht fpartanifhe Lprif. ft freilich 
der Zodbereite, der Todfreudige, der Weltverefelte nod) Tragddienheld? 
Demetrios ftirbt nicht um feiner hohen Ziele willen, fondern als ein am 
Grgielen Bergweifelter. Ohne ein neues Biel den eberlebenden zu binter- 
laffen, gebt er aus dem Leben. Altweimarifhe SKlaffizität ift bier neu. 
weimarifd nietzſchiſch amalgamiert. Wud in feiner „Brunhild“ ftirbt Sieg- 
fried mit Dank auf den Lippen für den Sodbringer. In „Canoſſa“ fiegt der 
Untreue über den Zreuen, ber ins Geil wandert. Ninon de Lenclos wird 
durch den Tod ihres reinen Sohnes befreit zu neuem Leben in wilden Lüften. 
Lebensfeindlid) wurde bag lebensfreudige Altweimar. 

Klarer und klüger als feine Mitftrebenden fdritt Grnft den „Weg zur 
Gorm“, zur hohen Tragödie der Alten. Mit eiferner Zähigkeit meiftert er 
zielgefhärften Blides die Form, bewußter Schüler der Wntife. Alles ift 


443 


teftlos durchdacht, Big zum Ende alles gefonnt, fein I-tüpfel zu wenig, feines, 
aber auch gar feines zu biel, alles rund und ohne Tadel, alles tunftoolles 
Gleichmaß. Und dod) — dieſe in ihrer Tiefe und Schönheit unerfhöpflichen 
Dramen ergreifen wohl, löfen im Lefer das Gefühl menfchliher Größe und 
Würde — aber fie paden fein Publifum, fie reißen niemanden hin, machen 
fein Blut wallen. Nicht etiva, weil die Geftalten nicht Fleifd und Blut wurden 
— einzelne wurden eg, bod wer ſchert fid heute darum — nidt um der 
fühl fcheinenden Kargheit, um des Gkels am Allgumenfdliden willen. Der 
Nahfühlfame greift ins Leere, der da lechzt nad Meberfülle und nad LMeber- 
maß. Grnfts bewußt betonte Kargbeit ift gewiß zum Zeil felbftauferlegter 
Swang, weife Selbftbefchränfung, Bändigung — dod aud merflider Mangel 
nidt etwa an Ueberjhuß, fo dod an Ueberfhwang, an überwältigenden 
‘Seuersbriinften. 

Denn nicht ein Stürmender, ein paroxyſtiſch Rafendre, in feelifchen Sumul- 
ten Braufender, in Gergiidungen Beraufdter, ein (wie etwa Strindberg und 
Wedekind) Leidenfchaftsgepeitfchter und fid Yerfleifchender, fondern ein Bee 
berrfchter, zu weimariſch⸗klaſſiſcher ſittlicher Seelenruhe und zu Seelenadel 
gekommener Seelenretter, einer, der das menſchliche Tagesleid überwand und 
vom großen Leid der Welt und feines deutfhen Bolfes tief erfüllt ijt, ſchuf 
diefe Dramen im SHochgefühl feiner Heimliden Krone apollinifher Ge» 
Taffenbeit. 

Der Theoretifer Grnft hat gewiß recht: nidt ein Menſch, der, Spielball, 
dem Schidjal blindlings unterliegt, fondern einer, der Dem Schidjal kämpferiſch 
gewachſen ift, der ihm mit Größe troßt, vermag dauernd im Drama zu feffeln. 
Das aber ift die Sragif im Schaffen des Sragddiendidters Ernft: daß zwiſchen 
feinen Theorien und feinen dichteriſchen Schöpfungen ein abgründiger Wider- 
ſpruch Hafft. Seine in ihrer edelfchönen Kunftform am höchſten ftehende, 
monumental hodragende „Brunhild“* ift ein bilb- und gleichnisreiches dialo⸗ 
giſiertes Sinngedicht von geiſtvoll zugeſpitzter Kürze, vergleichbar einem mit 
Beckerathſchen Fresken ausgemalten Gewölbe, innerlich erfüllt von dem zu 
Starrheit gepanzerten, unbeugſamen Sittengeſetz. Die, Ideenmenſchen dar— 
ſtellenden Bildſäulen Ernſts ſind ins Beiſpielmenſchliche zeitloſer Art ge— 
fteigerte und nur zu ſcheinbarer Körperhaftigkeit gefügte Abſtraktionen, unter- 
liegen, zur Vollkommenheit ſtrebend, in zwangvoller Ausreifung ihres eigenen 
begrenzten Selbſt einem ſtrengen, gebieteriſchen, eiſenharten Schickſal und 
tragen das Gefühl der Abhängigkeit als irdiſche Notwendigkeit, als Unum- 
gängliches in ſich, als ein Gebot des Weltwillens. Reine Hirnweſen, ſchauen 
ſie nur allzu bewußt und allzu gefaßt das Kommende voraus. Gegen 
die menſchliche Unfreiheit gibt es bei dem Dunkelſeher Ernſt feine Appella- 
tion einer aufrührerifhen Bebemeng. Seine dramatifhen Helden find nie 
nur MWerdende, find im mefentlihen Gewordene, Gefdloffene. Indem er 
3. B. dem deutjchen Bolfsepos eine neue Deutung gab, ward ihm in feiner 
aus der trüben Gegenwart ber verfnechteten Deutjchheit erwachjenen „Chriem— 
bild“ Hagen zum tragifchen Symbol des mit untwandelbarer, ebrenfejier, allen 
Gefahren tollfühn trogenden Treue willig einer fanftionierten Idee fic) untere 
orönenden deutfhen Wefens. Ernfts denktüchtige Menjchen find, nicht unähn- 
lid dem ihm fo minderwertig fdeinenden „Suhrmann Henſchel“ Hauptmanns, 
Haglos, ergebungs- und entjagungspoll untergangsbereit, zäber, unlöglicher 
Bindung ausgeliefert; durd die Gewalt des Gewiffens fie, Durch feinen 
Stumpffinns-Rurablid er. Das ift der Unterfchied. In unentrinnbarer Bere 
{dlingung nehmen die (zuweilen gliederlofen) Höhenmenjhen Grnjts ihr Los 


444 


mit adliger Gefinnung und Haltung auf fid, um, weder in vergiidter Inbrunft 
nod in glühender Grregtheit, fondern mit Kaltblut geftablt untergutauden 
in den erlöjenden Born unendlichen Gottesfriedens. 

Alles retardierende epifodifche Beiwerk hat er ebenfo wie alle Erdſchwere 
abgeftoßen, nur die moralifhe Perfönlichkeit ift in unbededter Schuglofig- 
feit dem Schidfal gegenübergeftellt zur Selbftforreftur, oder, wie er fid) aus 
drüdt, „zur Integration des Guten“ in Stolz und Bornehmbeit fittlider und 
religiöfer Denfart. 

Ernſts Hiftorijhe Geftalten, bon denen mande uns faft den franzöfifchen 
Klaffiziften näher zu fein fcheinen als den alten Griechen, würden fic wohl 
fügen in den ftrengen Stil einer Reliefbühne, vielleiht aud in ein des Ko— 
thurns wieder bedürftiges Amphitheater oder eine Bühne überlebensgroßer 
Marionetten. 

Der Primitivismus in Grnfts mit ftarfem Intelleft gezeugten und bedach— 
ten Sragddien, der eine merkwürdige Parallele hatte in den dem malerifden 
Gzpreffionismus unmittelbar poraufgehenden romantiziftifchen Gotikern, den 
SHodler, Lehmbrud, Hoetger, Ludwig bv. Hofmann, Gaspar und Gefährten, 
blieb in formaler Konftruftion und ftofflider Gedrungenbeit das Aeußerfte, 
Legte, die unüberfchrittene Grenze in der Gerpflidtung der Dramatik zu ethi- 
ſcher UIntelleftualität. Die neue Beit ſchlug neue Wege ein. 

Die Mehrzahl unferer Theater pflegt an dem dramatiſchen Gefamtwerke 
Grnfts, das die Fünftlerifchen und fittliden Durdhdnittswerte der die Spiel- 
plane beherrfchenden Bühnenftüde weit überragt, felbft an feiner tieffidtigen 
und zweifellos bühnenwirkfamen fdftliden Komödie „Der heilige Grispin“, 
adjelgudend vorüberzugehn. Und doch verdient Ernfts wenn aud erftarrtes, 
fo dod unentwegt hochzieliges dramatifches DBeftreben por vielen Anerfen- 
nung und Würdigung durch feine Nation. 


* 


Grnfts Weg nah Weimar ift wunderlid gewunden gewefen. Gr ift ein 
Sohn des Harges, wo drei deutſche Stämme fic berühren und mifden, die 
Thüringer, die Gadfen und die Franfen, ein Sohn eminent Hiftorifmen Bo- 
dens. Sn dem Städtchen Glbingerode fam er zur Welt, wo die Grafen von 
Wernigerode großen Waldbefiß haben, als Sproß einer frommen und bibele 
belefenen DBergmannsfamilie, die, einft begütert, gu Gnde des fünfzehnten 
Sahrhunderts aus Antwerpen eingewandert war. Giner feiner Aelterpäter hat 
mit Luther in freundfdaftliden Beziehungen geftanden. In feinem Bater- 
Haufe waren durch die Liebe der Vorfahren reine Ehre, ftrenge Pflicht und 
ein gartes Gewiſſen von Alters her heimifch. Seine angeborenen Triebe nah- 
men diefelbe Richtung wie bei Bater und Großvater, doch feine Art wurde 
nod) ftarfer, wie die feiner Borfabren gewefen war. Was ihm fein friede- 
umbegtes ftilles Glternhaus mit auf den Lebensweg gegeben Hat, das fpiegelt 
fein erfter Roman „Der fdmale Weg zum Glüd“ am innigften, doh aud 
andere feiner Schriften in vertiefter Weisheit wider. Als er noch in gartem 
Kindesalter ftand, wurde fein Bater Podfteiger in dem Hodgelegenen Klaus» 
thal. Die Natur ift in diefer Gegend arm und öde, die Erde fo fdledht und 
das Wetter fo raud, daß Aderbau nicht mehr getrieben werden fann. Da 
erwachfen denn Grübler, die das Leben von der jchwerften Seite nehmen, Die 
unaufhörlih die Bibel ftudieren, um die Probleme des Lebens zu ergrün- 
den. Da ift aud) der Nährboden für Träumer, die fid in eine unwirfliche 
Welt einfpinnen und fritifd und miftrauifd allen Wirklidfeiten gegenüber- 


445 


fteben. Der Unterfchied zwifchen diefem Aufenthaltsorte und dem früheren 
war offenbar und ergreifend; er lehrte den Knaben nachdenken und vergleichen, 
fich felbft mit neuen Augen betradten und fich feines Weſens bewußt werden, 
das den Grübler und den Träumer in fich vereinte. In Klausthal und jchließ- 
lid in dem einftmals reichsſtädtiſchen Nordhaufen, wo bor Zeiten feine Fa— 
milie die herrfchende gewefen war, verbradte er feine Gymnaſialzeit. Zum 
Theologen beftimmt und fic aud berufen fühlend, bezog er, treufinnige Ge- 
fangbudberfe im Herzen, die Univerfität. Fünf Semefter bat er, pornehm- 
lid in Berlin, fleißig dem Studium der Gottesgelahrtheit gewidmet. Doch 
nichts war natiirlider, als daß den leicht formbaren, weichherzig mitfühlfamen 
Siingling die Gindrüde des Grofftadtlebens ftärfer ergriffen als die meiften 
feiner Mitftrebenden, daß das viele Faule und Gntartete dort ihn tief be— 
fümmerte, daß die Mifbildungen und Zerfegungserfcheinungen im Großſtadt— 
getriebe ihn nicht nur feelifd, fondern auch intelleftuell gu befchäftigen be- 
gannen, daß er den immer ftärfer werdenden Ginflüffen fozialiftifcher Ideen 
erlag. Nahhaltigften Einfluß übten auf ihn ferner die Theoreme Tolftoig, 
des weltabgefehrten Gdelgeiftes, Berherrlichers der unteren und Berhafliders 
der oberen Stände, Schwärmers bon menfdlider Allgüte und höchſte Kunft 
ausübenden Beradters der Künfte. Der Kreis jugendlicher Stürmer und Prän- 
ger, dem er, anfangs durch Zufall, {pater mit Abficht fid angefchlofjen hatte, 
tat ein Uebriges zur Seftigung feiner politifhen Gugendmeinungen. Hatte 
Grnft {don feither mehr philoſophiſche als theologifche Gollegia gehört, fo 
wandte er fid nun, nad langem inneren Rampfe und Kämpfen mit dem 
Baterhaufe, gang und gar dem Studium der Bollswirtfchaft zu, feiner eigent- 
lihen Neigung für die Künfte zum Trog in aufraufhendem Kunfthaß. Und 
in feinem fedften Semefter promobierte er prompt mit einer Unterfudung 
über „Die gefellfhaftlihe Reproduktion des Kapitals bei gefteigerter Produk— 
tivitat der Arbeit“. In feiner edlen Lebensauffaffung glaubte er ein Führer 
des Bolfes aus Srren und Wirren werden zu follen und wandte fid dem 
fozialdemofratifhen Sournalismus zu. Gin Sabr lang redigierte er in Berlin 
eine Heute längft verfchollene fozialiftiiche Tageszeitung, fette aber feinen 
Gerfehr mit Arno Holz und anderen jungen Poeten fort und geriet jo, fait 
unberfehens, in den Strudel der Literaturredolution und der naturaliftifchen 
Dichtung jener Tage. Und ijt doch Damals ein noch zu jugendlider Roman» 
tif neigender Dämmerungsmenfh gemwejen von ftiller Weichheit eines groß 
empfindenden ®emüts, der fi mehr bon Anderen, Gnergiedolleren treiben 
ließ, als‘ daß er felber trieb. Seiner innerften Veranlagung nad) war er 
nidts weniger als ein politijder und literarifher Revolutionär, bewahrte 
vielmehr, der Tradition im Glternhaus gemäß, in feinem Herzen, ganz fcheu, 
ein Gdden poll frommen Glaubens an Gott und an die Notwendigkeit von 
obrigfeitlihen Gewalten. Seine Freundſchaft mit dem konſervativen Volks— 
wirtfchaftler Rudolf Meyer führte ihn zur Befdaftigung mit Agrarpolitik 
und längerem Aufenthalte bei diefem im Böhmifchen, wo er nach Biftorifchen 
Studien und publiziftiiher Zufammenarbeit mit Meher den Giiterdireftor 
eines böhmifhen Magnaten fennen lernte. Auf diefen fowie zwei mitteldeut- 
fen Giitern hat er dann anderthalb Sabre polontiert. 

Sp vollzog fid denn Mitte der neunziger Jahre feine offene Whwendung 
bon der Sozialdemokratie, nahdem er fie weder als wahrhaft fogial noch 
als wahrhaft fittlid erfannt hatte. Gr wollte fih nun dem fommunalen Bere 
waltungsdienfte widmen. Am Tiebften Hätte er einen Bürgermeifterpoften 
irgendwo in Mitteldeutfchland erlangt. Beim Magiftrat in Nordhaufen, der 


446 


Sodburg der bürgerliden Demokratie der Proving Sachfen, arbeitete er 
1894/95 als Golontar. Mit feinem feinen Chriſtuskopfe, feinen zarten Ma» 
nieren, feiner zurüdhaltenden, fenfitiven, faft menfdenfdeuen Art erhielt er 
aber allenthalben, wo er auch bei hochmögenden, der Bolfsgunft wohl be- 
fliffenen Stadtpätern anflopfte, freundlich ablehnenden Befdeid, trotz befter 
Empfehlungen des große Stüde auf ihn haltenden Hugen damaligen Nord- 
bäufer, fpäteren Sharlottenburger Oberbürgermeifters Schuftehrus. Im übrigen 
betätigte er fich damals eifrig als foziologifcher Schriftiteller. Seine von aller 
Barteipolitif nunmehr freien Auffäge erfchienen zumeift in Hardens „Zukunft“ 
fowie in ftatiftijden und Handelspolitifhen Beit{driften des In- und Aus- 
landes. 

Als er ſah, daß alle ſeine Hoffnungen auf einen Stadtherrſcherpoſten 
vergeblich waren, wohl aud) um feiner jüngften ſozialiſtiſchen Bergangenheit 
willen und feiner ununterbrodenen Mitarbeit an der fozialiftifhen Tages- 
preffe, fehrte er nad) Berlin zurüd, nicht nur bon der Sogialiſtik und der 
Deomofratie, fondern von jeder politifhen Parteinahme gründlich genefen. Gr 
30g mit Arno Holz zufammen, der fic damals auf der Gude nad einer neuen 
Gorm der Lprif befand. Unter dem Titel „Polymeter“ veröffentlichte Grnft 
1898 im Doppelfinne des Wortes ungereimte Gedichte fowie ein paar Gin- 
after, die an frajfem Naturalismus in jenen Jahren wohl unübertroffen 
daftehen. Sie befriedigten weder ihn noch fonft jemanden. 

Dod um die Jahrhundertwende vollzog fi mit ibm und in ihm eine 
tiefgreifende Wandlung. Gr hatte fich ingwijdhen (gum zweiten Male) ver» 
beiratet (feine erfte, furg nach feiner Univerfitätszeit gefchloffene Ehe mit 
einer Ruffin war ſchon nach einem Sabre getrennt worden und jene Frau 
bat [pater mit dem Namen Grnfts manchen Unfug getrieben), und gwar mit 
einer Tochter Robert v. Bendas, des 1899 auf feinem Gute Rudow bei 
Berlin verftorbenen befannten nationalliberalen Parlamentariers und Freun- 
des Wilhelms des Grften, und war fo zu bebhagliden materiellen Berhält- 
niffen gefommen. Die Periode des raft- und friedlofen, immer Aprilmettern 
ausgefegten, unftet fuchenden und vieles verſuchenden Bohemiens war nun 
für immer überwunden, geendet hatte die emfige und aufreibende publigiftijde 
Tatigteit für den Tagesmarkt und den Tagesbedarf. Nun fonnte er feine in- 
nigften Herzenswünſche erfüllen, Italien befucden, wo den tiefften Gindrud 
auf ihn Giottos maleriſcher Monumentalftil madte, eine prächtige Bibliothek 
fim anfdaffen, befonders reid) an Werfen aus der Antike, des deutfden und 
italienifhen Mittelalters, der italienifchen Renaiſſance und der deutjchen 
Romantik, und tiefgreifende literarifche Studien treiben. Gr durchforſchte mit 
Inbrunft die altitalienifhe Novellendidtung und fand in der verallgemei- 
nernden und zujammenraffenden Kunftform der Novelle, daß fie, unter Bere 
fnüpfung von Schidjal und Charakter und dem ewigen Problem ihrer gegen- 
feitigen Beftimmtbeit, wie die Tragödie Weltanfdauungsdidtung ift. Gr 
verbreitete fich darüber auch theoretifch und gab 1902 eine gar feine Ueber- 
tragung altitalienifcher Novellen in zwei Bänden heraus. 


me 


1903 fiedelte er nad) Weimar über. Dort, an geweihter Stätte, gelang es 
ibm, in ſich ganz fic gu verfenfen. Wie Goethes Wilhelm Meifter entdedte 
er das Gittlide als feine Lebensregel, erfannte er es als feine anerfdaffene 
und angeborene Natur. Dod nicht die Herven bon Weimar, fondern Giotto 
wurde der große Lehrmeifter feines dramatiſchen Stils, eines Stiles, durch 


447 


deffen geballte Bündigfeit die Natur in ihrer madtigen Ureinfachheit zum 
Ausdrud kommt. Grnft erreidt als Dramatifer wie aud als Nobvellift 
bei aller DBändigung feiner Gefühle zu fdeinbar unerregter Der- 
ftandesfühle zuweilen eine priefterlide innere Würde, bor deren ges 
finnungsbober und einfidtsreider Weisheit wir uns millig beugen. 
Dod läuft da eine gewiffe Laubeit für den Lefer feiner Novellen mit 
unter, der für die ungewohnte Strenge des geftrafften Stiles unzugänglich 
ift, befällt ihn wohl befremdende Groftigfeit und verftimmt ibn fo etwas 
wie trodene, monotone Sadlichkeit. Gs ift zu betonen, daß die Natur Paul 
Ernft mit lyriſchen Gaben nicht gerüftet hat. Die Kunft, ein Gefühl im Ton 
des Wortes zur vollen Blüte aufbrechen zu Iaffen, ift ihm verfagt. Nie Löfte 
fih im Liede feine Seele. Mitfchwingende Organe mit den leifen Regungen 
der Natur find ihm nicht gegeben. Nidt die Melodie der Dinge führt feine 
Seele, nicht der natürlihe Duft der Worte, nidt einfame, gebeimnispolle 
Schönheiten der Natur oder der menſchlichen Seele oder der Mutterfprade ent- 
facen in ihm geheime $euerbrände, die Schöpfertum aufflammen laſſen. Bon 
Begebenheiten mannigfadfter Art vielmehr wird fein Gemüt fo bewegt, daß 
es ihn drängt, in möglichft Enapp gefaßten Novellen fie fpannend und charak— 
teriſtiſch und insgeheim belehrend darzuftellen, meift in ihrer nadten Tatjad- 
lichkeit, eben nad italienifhen Muftern. Damit aber verurteilt er fich felbft, 
wie als Dramatiker, der eigenwillig nur der Antife nachhorcht, als Novelliſt 
mit gleicher Babigfeit zu formalem Rückſchritt. Die Berfdlungenbeiten und 
zarten Geinheiten gegenwärtiger Seele in allen ihren Gefühlsftufungen nad- 
zumittern und fie allmählich abgutaften unterläßt er bewußt, indem er Die 
Pſychoanalyſe mit hartnädiger Konfequenz immer wieder für „ſpezifiſch un- 
fünftlerifch“ darzulegen fich beeifert, fo daß feine „Novellen“ Anekdoten (oft 
Haffifh in ihrer Art), Schwänfe, Schnurren — oder Sagen und Mären wurs 
den. Unerſchöpflich ijt er auf dieſem Gebiete als Erfinder. Gs gibt wohl an 
die zehn Bände feiner kurzen Gefdidten, darunter einige Meifterwerfe. So die 
romantiſche Hiftorie bom reuelofen Rauber „PBapedöne*, feinem Weibe und 
feinen fieben Söhnen, die in ihrem fparfamen Zeitfolorit und ihrem mit Deli- 
fateffe leiſe myſteriös durchwitterten Unheimlichfeit wie eine graufige mittel» 
alterlide Mär fi ausnimmt. Bon nahezu gleicher erzählerifher Meifter- 
[haft find in demfelben Bande („PBrinzeffin des Oftens“) „Der Tod des 
Oſchinghiskhan“, „Die Gefdhidte des Abul Haffan“, „Der Gefangene“, wäh- 
rend „eine Gefdidte aus dem Dorfe“ an Gntfegen erregender Schidjals- 
Surdtbarkeit in der deutſchen Novellenliteratur ihresgleichen fudt. Bon Iaunig 
liebenswürdiger Kurzweil und einer bei Grnft überrafchenden jchalkhaften 
@ragie find, mehr nod als die bald nedifch Humorgewiirgten, bald in feiner 
Melandolie erzitternden „Romödiantengefhichten“, die „Spitzbubengeſchichten“ 
gewichtlog aufflatternde Kleine Ledereien, für Schneiderfeelen unausftehlich 
in ihrer aufgeräumten Gulenfpiegelhaftigfeit, bon denen „die Uhr“ und „das 
fpigenbefegte Wäfcheftüd“ geradezu Haffifch find; bon ſchwermutsvoll⸗ſüßer, 
faft Inrifher Bartbeit ein paar feiner ,Occultiftifden Novellen“, die den 
in das Menfchenleben Hineinragenden verborgenen Mächten feinfüßig folgen. 
In dem Nopvellenfranze „Die Taufe“ erfchüttert die Leine — „Skizze“ würs 
den wir fagen — „Der Bruder“, ift „Die Grau des DBahnmwärters“ von 
gewichtiger Sinnſchwere durch das mit Inappfter Bündigfeit geftellte Problem 
des Kampfes zwifchen Pflicht und Liebe in einem Gater und einer Mutter und 
deren verfhhiedene Handlungsweife, und die Ausdeutung diefes Problems durch 
den Gthifer Grnft. In diefem Novellenbande befonders dringt Ernft fieghaften 


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Geiftes zum letzten Ende feiner Motive, zur Deutung letter menfdlider Rätfel» 
fragen. Die Rahmenunterhaltungen feiner großen Novellenfrange find fo 
{barfgeiftige wie fharfzüngige Abrechnungen mit den berrfchenden fogialen, 
religidfen und politifhen Zuſtänden aus der Gefinnung eines fonferbatiden 
Mannes, wenn man diefe „Sefinnung nidt im JIafagen zu zufällig beite- 
benden Ginridtungen ... oder im Hochhalten der Grundrente fuden will, 
fondern in einem @eifte, der für ein Golf die ihm angemeffenfte Art eines 
ruhigen und naturgemäßen Lebens wünjcht, in deffen Berlauf es das ibm 
bon Gott gefeste Ziel für die ganze Menjchheit erreichen fann“ („Der Nobel» 
preis“.) Dod Ernſt philofophiert tief und fchön, erzählt wundervoll Har und 
Hug, veranfhaulidt und erfdlieht Probleme — aber geftaltet nur felten. 
Wiederholt findet man Wendungen wie „Die Freude ift nicht zu ſchildern“ 
oder „Ich Tann ihren Gedanfengang nicht wiedergeben“. Ja macht das nicht ge- 
rade mit den Dichter aus, feeliihe Regungen und Gedanfenginge nachzu- 
bilden, Die der Nidtdbidter nur dunkel ahnt und nie zu formen vermag? 

Grnfts erfter Roman „Der ſchmale Weg zum Glüd“, der viel von des 
Autors eigenem Sntwidelungsgange gibt, ift teHnijd nur gu einem Drittel 
gekonnt. Grnft meint, das liege nidt an ihm, fondern an der „Halbfunft“ 
des Romans. Während das Wachen und Werden des Heinen Hans im väter“ 
liden Forfthaufe mit viel feelifher Zartheit zum Ergötzen des mitfühlenden 
Leſers geftaltet ift, mißlingt es ihm, die fpäter in Hanfens Leben tretende 
Dielheit bon Figuren in eine fortfchreitende einheitlihe Handlung irgendwie 
kunſtvoll eingugliedern, zerfällt vielmehr das Buch weiterhin in faft ausnahms» 
log Zunftlofe Berichte bon unbderbunden aneinandergereihten Gingelborfallen. 
Trotzdem ift es ein gar gutes und kluges Buch für ftille Stunden der Einkehr. 
Gin Menfd bon tiefem Gemüt, bon einer feufhen und gagen Subtilitat des 
feelif{hen Gmpfindens, von ergriffenfter Religiofitat, bon einer nad langen 
und harten Kämpfen mit fic felbft und Dem wandelbaren Leben zu {diner 
innerlider Beruhigung und Ausgeglidenbeit gelangten edlen Weltauffafjung 
[pridt daraus. Gs gelingt ihm aud) im zweiten Teile etwa die poeſieumwehte 
Zeichnung eines rührend unfduldigen Menfchenbildes, eines friedhaft freund- 
liden Idylles (Peter und Luife). Sein Stil ift ba nod (1904) ein wenig 
gewollt borbaterlid, lutheriſch fimplifigiert, nicht ohne wehdurchzitterte, fanft 
melodifhe Untertöne. 

Techniſch gemeiftert ift fein zweiter Roman, „Die Saat auf Hoffnung“. 
Hier ift die Sprade bon naturhafter Reinheit und Schlichtheit, gierlos und 
unmanitiert; einiges überflüffige berichtende Kleinwerf, dag er im Drama 
fo peinlich meidet, ftört nur. Es ift bie befennerifhe Ergießung einer alles 
ernft und groß und ſchwer nehmenden, Menfdlides, Allzumenſchliches nach— 
ſichtsvoll verfühnenden Seele. Saat auf Hoffnung fäen heißt aus gütigem 
Herzen in Elarer vollswirtfchaftliher Ginfidt und Menfchentenntnis Gutes 
tun bei unabläffiger Arbeit an fich felbft für die Allgemeinheit, wodurd wir 
uns Öott mühevoll erarbeiten. Gs ift ein eminent foziales Bud, das unfern 
Söhnen und Töchtern in die Hände gegeben werden follte. Ridtet es doch 
unbefangen, befonnen und fadlid über die zweifelhaften Werte der triftigen 
Lebensfafte unferer Zeit, ift es doch ein tiefes, ernftes, frommes, ja in manchen 
Partien feierlides Bud der Reife, ein Buch des Ausgleichs, ein Buch zu 
weifer, unmerflider Führung der Maffe Menſch, das den Frieden der Seele 
fordert und fördert, das Den hohen Wert des Leides und — Solftoiifdh — 
fo gu leben Iehrt, alg ob wir das Leben eines anderen führten, nicht unfer 
eigenes; ein Bud, das, 1912/13 gefdrieben und 1916 erfdienen, wie Burtes 


449 


„Wiltfeber“ in Gerbindung mit großen meltpolitifhen Rataftrophen furdt- 
baren Zuſammenbruch propbegeit, vornehmlich weil durch den Weltlauf der 
unterfte, der nabrendDe Boden der Nation vernichtet ward. 

Gon feinem ,Gpos in drei Zeilen“, „Das Kaiferbud~, liegt 
bisher nur der erfte Teil vor. Gs ift ein gar ftolges Unterfangen, die deutſche 
Kaifergefhichte in die Form eines Gpos zu bannen, in ein Gpos, entftanden 
aus dem erbliden Befik des deutſchen Volkes an Kaiferfagen und dem 
dvefiß der deutfhen Geſchichtswiſſenſchaft an Wiffen bon den deutfden 
Saifern, und geformt mit plaftifher Kraft, malerifher Garbenfiille und 
roetifher Anfdauung zu einem Tempel voll tiefer göttliher Grleudtung, 
Einfiht in die deutſche Seele und andadhtspoller Vorbereitung des Volksgeiſtes 
für die ibm beftimmte fittlide Höhe. Inwieweit ihm dies gelingt, bleibt noch 
abzuwarten. In diefem erften Zeile findet fic vieles von höchſter Anſchau— 
lichkeit, imponiert die Gnergie und Größe der Hauptgeftalten, Heinrichs des 
Doglers und Ottos des Großen. Kritifche Ausblide in Gegenwart und Zukunft 
des deutſchen Bolfes machen befonders aufhorden. Die Form ift bon jener 
primitiven Sdlidtheit und Simpligitat, wie fie Die Abfiht des um Bolfs- 
aufflarung ringenden Didters verlangt. Diefer Wbfidt aber widerfpricht 
bedenflid) der geplante Umfang des Achtung gebietenden Werkes. Schon 
jest würde fid) die Mebernahme befonders eindrudspoller Partien, wie der 
bom Mäufeturm u. a. in Schullefebüher und volfstimlide Schriftenfamm- 
lungen empfehlen. 

* 

Ernfts Eſſaybände find Ausjpraden und Auffchlüffe. für geiftige 
Wenſchen, die nad Ganzheit ftreben, denen es daran gelegen ift, des Dafeins 
Tiefen gwedbedadt zu erfdiirfen. Am bedeutendjten {deinen mir feine aus 
der Zeit für die Zeit entftandenen und doch aus zeitlos wahren und erjprieß- 
lihen „Erdachten Gefprade* zwiſchen Gipfelmenſchen der Weltgeſchichte und 
Weltliteratur. Was den durch menjdlides Ginzelgefchehen umhüllten Wurzel» 
boden feiner Dichtungen ausmadt, das ift hier rein begrifflidh fin geformt 
in gehobener, inbrünftiger, feeleerfüllter, feierwürdiger Rede und Gegenrede 
nad ſokratiſcher Methode. Unverfchleiert offenbart fid Hier Grnft als weit 
über feinen DMeifter Tolftoi binausdringender wahrbeitswilliger Gdelgeift. 
Sn Dergangenheit und Bufunft fehend und der großen Sormen des Lebens 
adtend, Dogiert er überzeugend feine flare Ginfidt bon der Relativitat des 
Wertes und Unwertes der Dinge. Sr fündet im tiefften ergriffene Duldſamkeit, 
Nädjftenliebe, Arbeit mit der Seele um den Grlöfer in uns felbft als Ginn 
des Lebens der Menjchen, die unbefledt vom Weltliden in ihrer Freizeit 
mit dem ihnen angemefjenen Höheren fid bejchäftigen follten, auf daß fie 
innerhalb ihres ftets nad) Begabung verfchieden bleiben müfjenden Standes 
und Berufes Hidftes leijften fünnen und wollen und fo innerlich, por Gott, 
gleich werden. 

Sn feiner Eleinen Schrift „Der Zufammenbruh des Marzismus“ verfolgt 
er Marz’ Lehre in feine legten Schlupfwinfel und leuchtet ihr mit genialer 
Klarfiht in jo untwiderftehlider Weife heim, wie das bisher wohl nod faum 
je bei irgend einem Volke gefdeben fein dürfte. Seine Geiftesfreibeit ftrebt 
mittelalterliden Zunftidealen zu. Die mwohlgeformte Artigfeit und geiftige 
Geſchliffenheit diefer 200 Seiten Srnfts ift ein Sondergenuß für geiftige Fein- 
ſchmecker. 

Paul Ernſt ward — nach langem Taſten, nach endlichem tiefſten Erkennen 
der inneren Hohlheit unſerer Zeit, der Lieb⸗ und Treuloſigkeit ihrer Menſchen, 


450 


der fozialen und politifhen Verworrenheit und Zerriffenheit infolge kranker 
Staatsordönung und mangelnder Staatseinfiht — der deutſche Priefterfänger 
unferer Zeit, der fein feeljorgerifches Didteramt mit bewegtem Grnft und 
Empfindungsftärfe ausübt für die deutſche Bolfsgefamtheit. Wie er fid 
entwidelte, jo ift fein Biel feines Golfes Selbjtbefinnung zu der ihm ſchickſal— 
beftimmten Höherentwidelung. Sein dichterifhes Werk will er geiftig und 
feelifch das Deutſche umfaffend, die Weite des deutſchen Wefens foll es er— 
ſchließen. Seine Kunft formt nicht das Leben nad, Jondern fie jelbft will 
bas Leben formen, das Leben eines neuen fittliden deutfchen Wtenfden. Wenn 
er dabei aus innerlid) Grlebtem fddpft, dann fühlt man das Beben feines 
warmen Künftlerherzens. Als Trager bon Ideen, als ftrebender Geiſt, als 
Spradformer überragt er weit das zeitgenöffifhe Didtertum. Gr ift das 
Mufterbild des fogialariftofratijdhen Gdelmenfden als Künftler. 

Das aber ift das Grfdiitternde in unjerm Didterbilde: Weil es unferer 
unfeligen eit gebridt an den ftarfen Wallungen und Strebungen einer 
geiftig und feelifh eng verbundenen Volksgemeinſchaft, blieb refigniert die 
Kunft Paul Grnfts, der nur nad diefer Gemeinfdaft gewiſſenſchärfend 
lechzen, nicht fie fuggeftiv gum Erwachen bringen Tann. Geine Stoffe, bei 
deren monumentalem Ausbau er Gedanken und Gorm dem beißen Erleben 
überordnet, das antik-klaſſiſche Ueberperfinlide feines wahrhaft großen Stiles, 
feine unbolfstimlidhe DBildungshöhe, fein Mangel an Gntflammungsfräften 
bielten ibn dem Bolfe fern, dem dod) fein ganzes Schaffen dient. 

Gein Werk aber ward doch zulegt höchſte und zugleich einfadjte Bere 
térperung der deutjchen Geiſtigkeit diejes Zeitalters. 

Aus dem Werke diefes einjamen Säemanns, Pfadfinders und Wegweiſers 
möge die deutſche Jugend fid den Willen [höpfen zur Wiedergewinnung und 
Sujammenballung der wahren Werte deutſchen Wefens. Paul Wittfo. 


GErlejenes 


Aus Paul Srnfts Novellen *. 


Der Sefangene. 


olgender Borfall ereignete fid nad einem alten Schriftfteller in der letten 

Hälfte des fiebzehnten Sabhrhunderts. Gin junger fhwedifcher Offizier 
aus pornebmem Geſchlecht machte eine Reife dur) Deutjchland, um Städte 
und Länder zu feben und fremde Menfden wie neue Berhaltniffe fennengu- 
lernen. Gr fam in eine Eleine Refidenaftadt, deren Natur und Bewohner ihm 
recht zufagten, denn fie lag am Abhang eines Gebirges, das mit Dichten und 
ſchwarzen Fichtenwäldern bededt war, und Badlein fprangen durch die grünen 
Diefen, Eifenhämmer podten im Walde und madten des Nachts einen fidt- 
baren Schein, und die Menfden waren frdblider und zutulicher Art. Das 
alles erinnerte ihn fo an feine Heimat, daß ihm wei) ums Herz wurde. Und 
da es auf die Frühlingszeit ging, fo verfpürte er ein unbeftimmtes Sehnen 
im Herzen. 


*) Die erfte Novelle ift aus dem Bande ,,Pringeffin des Oftens“, die zweite 
aus dem Bande „Die Taufe“ entnommen. Grnfts Werke find bei Georg Müller in 
Münden erjhienen, nur das „Kaiferbuh“ bei Marz Hueber, Münden. 


451 


Am Sonntag ging er in die Kirche und erbaute fid an dem frommen 
Gejang und der ebrenfeften Predigt. Nad der Predigt wurde das heilige 
Abendmahl gefeiert. Da öffnete ſich der Stuhl der fürftlihen Herrfchaften, 
und ein junges $räulein fohritt hervor, mit züchtig gefenften Augen, das fniete 
auf dem Bänkchen vor dem Altar, faltete Die Hände und ſchaute gläubig zu 
dem weifbaarigen und hochgewachſenen Priefter in die Höhe, dejjen Augen 
Hell und gut leuchteten. Gs gefdhah dem Fremden, als ftehe ihm plislid das 
Herz ftill; und er betrachtete mit ftarren Augen das Flare und reine Antlit 
der Jungfrau. 

Nun war ihm wie im Traum, daß er im Wald ging und in der Ferne 
bammerte ein Spedt. Dann hörte er auch, daf feine Geliebte die einzige Toch— 
ter des Giirften war; bon dem Fürften erzählten die Leute, er fei roh und 
gewalttätig, die Prinzefjin leide; das machte ihm aber geringe Gedanken. 
Immer zog es ihn dahin, wo er fie feben konnte, und doch hatte er gar feinen 
bewuften Willen, in ihre Nähe zu fommen. Ginmal fuhr fie an ihm vorbei 
mit Bligfdnelle, vier Pferde waren vor ihrem Wagen. Gr grüßte, als fie 
ſchon vorüber war; aber fie blidte zurüd; vielleicht hatte fie auch nicht zu— 
rüdgeblidt. 

68 flopfte an einem fpäten Abend an feine Tür. Als er öffnete, drüdte 
ibm ein Mann ein Briefden in die Hand und lief eilig und polternd Die 
Stufen hinab. In dem Briefden ftand, er folle einen Yufluchtsort in feiner 
Heimat vorridten, den Wagen für die Flucht bor der Stadt bereithalten und 
zu beftimmter Nadtitunde an einer Kleinen Tür des Schloffes warten. Bere 
wunderung fpiirte er gar nidt. Aber er wußte, daß jest alles fo fommen 
mußte, wie es beftimmt war über ihn; glüdlid war er, daß er nur tun follte, 
was ihm aufgetragen wurde. Schnell fdrieb er in feine Heimat, beftellte 
einen Wagen. Gs fiel ihm auf, daß ihm die Leute nicht nadjaben, wenn er 
duch die Straßen fdritt. Wud wärmende Deden und Pelze beforgte er. 
Als der Abend fam, verſah er fich mit Piftolen, loderte feinen Degen, ging 
ohne Mantel. Lange wartete er unter der dunklen Wölbung der Eleinen Tür. 
Zumweilen hörte er aus weiter Entfernung, wie ein harrendes Pferd auf Stein- 
platten fdlug. Aber das waren nicht feine beftellten Pferde. Einen fallen- 
den Stern fah er einmal. Und wärmend durdriefelte ihn das Olid. 

Da warfen fid plöglih mehrere Männer auf ibn, hielten feine Arme an 
den Leib gepreßt und verftopften ihm den Mund. Gr wurde fchnell gebunden 
und durh Gäßchen gefdleppt, durd Türen und ein Tor zu einem Wagen. 
Zwei Männer ftiegen mit ihm ein, der Kutfcher ſchlug auf die Pferde. 

Auf eine Hohe Burg bradten fie ibn, da befam er ein Turmſtübchen. Wie 
auf einen moofigen Waldgrund blidte er Hin über weite Wälder. Oft zogen 
unter ibm Wolfen, die fic wunderlid anhalten an Bergfpigen und fic ver— 
gerrten gu frembartigen Figuren. Lautlos war es, und nur felten drang more 
gens bei günftigem Wind ein leifer Ton von DBogelgezwitfcher an fein Obr. 

Weil er erft zwanzig Sabre alt war, und bier follte er fein ganzes 
Leben gefangen bleiben, fo dachte er, Hier könne er wohl fechzig Sabre leben, 
und das war doch eigentlich ebenfo, als wenn er ſechzig Tage lebte oder fech- 
gig Stunden. Gang weit zurüd lag ihm alles, feine Kindheit und fein Dienft, 
feine Kameraden, feine Reife, als feien fdon die ſechzig Sabre um; aber er 
war nod ein junger, bartlofer Mann mit Heller Stimme. Ieden Tag riste 
er mit dem Nagel ein Kreuz in die Wand; dreihundertfünfundfehzig Kreuze 
bedeuteten ein Jahr, bas war eine lange Reihe von der Dede bis gum Boden, 
und dann nod eine halbe Reihe. Wenn er fedhgig Yahre lang täglich ein 


452 


Kreuz rigte, fo reichten die Wände gerade aus, denn es war ja dod aud 
der große Ofen da und die Tür. Hart war es doch wohl, daß er ein folches 
Leben führen follte. Nun dadte er nad, ob es ein Zufall gewefen fei, daß 
ihn dieſes Gefdid traf. Stwa, er hätte doch einen anderen Reifeweg eine 
{Hlagen können und die Pringeffin nie gefehen; oder an jenem Sonntag hätte 
er können die Kirche verfäumen; dann hätte er feine Reife beendigt, wäre nad 
Haufe guriidgefehrt, und vielleiht wäre Krieg gelommen, und er hätte fid 
ausgezeichnet und wäre ein berühmter Heerführer geworden. Alles lag biel 
leiht an einem getbrodenen Rade oder einem zufälligen Kopfſchmerz. Dann 
wäre doch eigentlid das Leben ein bloßes Spiel. Viele Jahre hatte er por 
fih, über diefe Frage nachzudenken; und er beſchloß allen feinen Berftand 
anguftrengen, um fie zu löfen. Gr ging auf und ab in feinem Gtübchen, bie 
Hände auf dem Rüden, immer vom Genfter gum Ofen und bom Ofen gum 
Senfter. Sp vergingen Sabre, und er hatte an feiner Stelle ſchon einen Gang 
in die Dielen eingetreten. Ginmal empfand er ein großes Mitleiden mit fid, 
als er diefen Gang fab. Da wurde ihm Klar, daß unfer Schidjfal aus unferm 
Innern fommt, und deshalb gibt es feinen Zufall im Leben. Gr war fo 
ein Menſch, der ein foldhes Schidfal haben mußte, und überall bätte ibn 
das gertoffen. Sa, vielleicht war die äußere Ausgeftaltung nur ein Schein oder 
ein Traum, wie wir ja im gewdHnliden Traume felber Gefdidten bilden gu 
einem ®eräufch oder einem ©efühl von außen. Denn was war das Wefent- 
lide? Daß er Hier auf und ab ging und naddadte, und Krümchen ftreute 
für einen Zeifig, der an fein Genfter fam, und um den Zeifig batte er viele 
Sorgen, daß der nit bon einem Raubvogel gefrefjen würde. 

Aud hatte er den alten Burgwart gern und fein Sidterhen. Das Kind 
fam an den Nachmittagen zu ihm herauf, erzählte ihm, und er felbft erzählte 
dem Heinen Mädchen aud. Immer diefelben Gefdidten befpraden fie, wie 
er bon feinem König einmal. eine goldene Denfmiinge erhalten, und welde 
Sarben fein Regiment hatte; er holte auch wohl feine Uniform aus dem 
Schrank und erflärte die Ligen und Schnüre. Sie fprad bon ihren Hühnern, 
und wie vor Jahren einmal ein Fuchs in den Hof gefommen war. So wurde 
das Kind allmählich größer und fam dann feltener; endlich verheiratete fie 
fih und erfdien in des Gefangenen Stiibden mit ihrem Mann, um ihn zu 
zeigen; der Mann drehte verlegen feine Mütze, fie fprach mit großer Schnel— 
ligteit. Gr fdentte ihnen einen großen Doppeltaler, den er noch bejaß. Und 
dann Hatte die Grau ein Kind und fam mit dem Kinde zuweilen zu ihm, 
und bald fam das Kind allein die Treppe Heraufgefroden, und bald jah das 
Kind fo aus, wie die Mutter ausgefehen hatte, Damals, als er hierher geführt 
ward in dieje Burg. So lange war das fchon ber, er wunderte fid febr dare 
über; zuweilen verwechjelte er das Kind mit der Mutter. Noch fdneller gee 
{bah es, daß diefes Mädchen ihm vorbeiging, heiratete, und wieder befuchten 
ihn die Kinder. Da erzählte ihm ein Kind, eine bornehme Dame fei vor dem 
Burgtor gewefen, ganz in ſchwarze Seide gekleidet, auf einem foftbaren Roß, 
und ein Diener fei bei ihr geweſen, und fie habe dem Bater viel Geld gee 
Boten, er folle fie gu dem Gefangenen laffen, der Bater aber habe gejagt, 
das gehe gegen feinen Eid, da habe der Diener eine Piftole in der Hand 
gehabt, und aus dem Gebüſch feien andere Leute getreten, mit Gewehren, der 
Gater aber habe die Brüde hochgezogen, da feien die Fremben wieder fort» 
geritten. 

Als der Gefangene die Geſchichte gehört Hatte, ging er gum Gchrant, 
nabm die alte Uniform heraus und zog fie an; fie pafte noch genau; nur 


453 


madte es ihm Mühe, daß er aufrecht gehen mußte, wegen der Halsbinde. 
Dann öffnete er das Fenfter und feste fid ans Fenfter. Es war aber Winter 
und eine febr falte Luft zog Herein und bewegte feine weißen, dünnen Haare. 
Lange Stunden faß er fo am Genfter in feiner Uniform, bis es dunfelte. Da 
30g er die Uniform wieder aus, legte fie ſorgſam in ihre alten Galten und 
bängte fie fort. In der Nacht aber erkrankte er ſchwer, denn er hatte fid eine 
beftige Srfältung der Lunge zugezogen, und weil fein geſchwächter Körper 
den Stoß nicht vertragen fonnte, fo verfiel er in eine Iangfame Abnahme 
der Kräfte und ftarb nad einiger Beit. Auf dem Totenbette aber fagte er: 
„Die vielen langen Sabre der Gefangenfchaft find verfunfen in meiner Geele, 
und id muß mir erft bie Reihen der Kreuze anfehen, die ich in die Wand 
gerigt habe, wenn id will, daß ich überhaupt etwas bon ihnen weiß. Aber 
den Tag in Der Kirche habe ich behalten, und den Tag, da fie mir vorbeifuhr, 
und wie id) ihren Brief befam, und daß fie meiner nicht vergeffen hat, fon- 
dern mich jegt bat befreien wollen. Diefer Dinge gedenfe id mit großer 
Sreude, und einer größeren Greude bin ich gewiß nicht fähig. Deshalb fterbe 
id als ein fehr glüdliher Menſch; denn es ift gewiß das höchſte Slid, zu 
wiffen, daß ein anderer an uns denkt in Liebe und ohne Falſch. Außer dieſem 
aber erinnere id) mid nod an die Heinen grünen Blatter der Bäume im 
Frühjahr, welche klebrig find.“ 


Die Frau des Bahnmärters. 


& faß mit meinem Greunbde auf dem Balkon vor meinem Arbeitszimmer. 

Im @arten unter uns begannen die Griibapfel an ben Bäumen zu 
ſchwellen, bie Zweige der Stachelbeerjträucher bogen fic ſchwer zur Erde; an 
den Stangen blühten Iuftig weiß und rot Die bochgefletterten Bohnen. 

Ueber der Balfontiir niftete ein Rotſchwänzchen. Die Jungen waren 
fon recht groß und drängten fid in dem Neft; fleißig flogen die Alten 
ab und zu; wenn fie ankamen, festen fie fid erft auf den Dadrand ung 
gegenüber und faben mißtrauifch zu uns, ob wir fie aud nidt beobachteten; 
wenn fie uns in unfer @efprad vertieft bemerften, dann bufchten fie eilig 
auf den Rand des Neſtes; ein allgemeines Schreien ber Sungen begann; das 
eine Junge wurde befriedigt, alle verftummten, und die Alte flog wieder 
davon, um neue Nahrung zu holen. 

„Wie friedlih das alles ift,“ fagte mein Greund; „und Doch ift jede 
Raupe, jede Fliege, weldhe der Bogel den Kleinen bringt, ein lebendes 
Weſen gleid ihm; wir hören den Jubel der Jungen, fehen die Liebepolle 
WAengitlichfeit der Alten; aber der Sammer des zerriffenen Inſekts dringt 
nidt an unfer Ohr, feine verzweifelnden Windungen fehen wir nicht. Alle 
drei Minuten etwa fommt das Männchen oder Weibchen mit Beute; pom 
Morgen bis gum Abend fucen fie für die fünf Jungen, deren gelbe Schnäbel 
wir bon unten auf dem Rande des Neftes liegen feben; wie viele Leben 
fallen im Laufe eines Tages qualpoll diefen Tieren zum Opfer; und wir 
glauben ein anmutiges, Deiteres Bild zu feben, wenn das Männchen dort 
ängftlih mit dem Schwanz wippend und einen dünnen Ton ausftoßend mit 
feiner Gliege im Schnabel auf der Dadrinnenede jitt.“ 

Obne einen Uebergang zu machen, und dod offenbar durd die Bigelden 
veranlaßt, erzählte mein $reund mir nun folgende Gefdidte. 

„Wir haben oft darüber gefproden, wie wenig bedeutend für unfer 
eigentlides Leben die Moral ift, deren angeblide Geſetze gewöhnlih als 


454 





fo wichtig bingeftellt werden; und wie die Lehren unferer Rirdhe in dem 
{Hwankenden, vieldeutigen und umfaffenden Begriff der Sünde fo febr viel 
tiefer find, wie diefer bürgerlihe Moralglaube. Wir haben einmal von der 
Lehre über die Sünde wider den Heiligen Geift gefprochen, die uns fo dunfel 
und fdauerlid) erfdien. Ich babe nun einen Borfall erlebt, bei dem mir 
Har geworden ift, wie wir uns für unfere heutigen DVorftellungen dieſes 
firdterlide Dogma deuten können. 

Etwa eine Diertelftunde bon meinem ©utshof, gerade wo die Strede 
giemlid ftarf bergab gebt, liegt, wie du weißt, ein Bahnwärterhäuschen. 
Der Warter hat eine Weiche zu beforgen, welde etwa zwanzig Schritte von 
dem Häuschen entfernt iſt. Gleid nad Mittag fommen furg hintereinander 
zwei Züge, ein gewöhnlicher Perfonengug und ein Schnellzug. Der Mann muß 
den Perfonengug vor feiner Tür ftehend erwarten, der auf ein totes ©leis 
fährt, dann fchnell die paar Schritte laufen und die Weide umiftellen 
fic den Schnellzug; der Perfonengug Halt, bis der Schnellzug porübergefahren 
ift; der Wärter ftellt die Weiche wieder anders, läuft zu dem Perjonengug, 
winkt, der Perfonengug fährt zurüd und rangiert wieder auf das große 
@leis, um binter dem Schnellzug Hergufabren. Wenn der Mann die Weide 
nicht umftellt, fo fährt der Schnellzug auf der abjchüffigen Bahn mit aller 
Wucht auf den Perfonengug, und Hunderte bon Menjchenleben werden 
vernichtet. 

Die Leute in dem Wärterhäuschen, ein junges Ehepaar, Hatten einen 
dreijährigen Knaben. Der Bater war ängftlih mit dem Kind und ließ es 
um die Zeit, wo die Züge famen, nie bor Das Haus. An einem Sonntag 
bettelte der Knabe, er wolle feine Sahne nehmen und aud) bor dem Haufe 
den Zug erwarten, wie der Bater. Auf das Zureden der Mutter erlaubte 
es der Mann; als der Perfonengug langſam beranzog, ftand er in feiner 
@artentir, in der linfen Hand die Sahne fdulternd, mit der Rechten den 
anmutigen Knaben baltend, der mit der anderen Hand die Sahne hielt 
wie der Bater. Aus dem Genfter fab, die Hand über die Augen gelegt, die 
Mutter dem bheiteren Bilde zu; Führer und Heiger des langfam rollenden 
Perfonenguges nidten und riefen einen Gruß berüber; Reifende ladten und 
winften Dem Kinde zu, bas ernft und feft wie ein Erwachjener mit der 
Sahne daſtand. 

Während die legten Wagen rollten, hörte die Grau in der Küche ihre 
Raffeemild überkochen; fie eilte bom Genfter, rüdte ihre Mild ab und 
ftreute Salz auf die Herdplatte. Inzwifchen hatte der Mann die Hand des 
Knaben Iosgelaffen, rief der Grau zu, daß fie fommen folle, um ihn zu 
halten, und lief zu feiner Weihe. Im Laufen fab er fich, getrieben durd 
irgendeine Angft, indeffen fdon der Raud des Schnellzuges vor ihm auf- 
gualmte, einen Augenblid um; da fab er, wie das Kind Hinter einem bunten 
Schmetterling gerade in den Gleiſen des Schnellguges lief. Gr rief aus 
Kräften nad feiner Grau und lief dann weiter gu feiner Weiche; wie er 
niederdrüdte, jah er fic) wieder um; die Grau hatte das Rufen nicht gehört, 
das Kind lief weiter. Nun rief er dem Kinde zu, ſchrie in feiner Angft; das 
Kind erfdraf, blieb fteben und wußte nicht, tas es tun follte; die Mutter 
ftürzte aus dem Haufe; da raffelte ſchon die Lofomotive flirrend über 
die Weide. 

Man bat Dem Manne nachher eine WAnerfennung zuteil werden Iaffen. 
Ih finde das falfh, denn er hatte ja nichts getan, wie feine Pflicht, 
Gs gehört mit gu den bürgerlichen Sentimentalitäten unferer geit, daß man 


455 


eine ſolche Selbftverftändlichkeit für etwas Befonderes Halt. Ih will ja 
nicht fagen, daß jeder Mann fo gehandelt hätte wie diefer, der fein Kind 
gum Opfer bradte; aber wer nidt fo bandelte, der hätte fid einer Pflächt- 
vergeſſenheit ſchuldig gemacht. 

Für den Bahnwärter war das Stellen dieſer Weiche ſein Lebenszweck 
und ſein Lebensgrund. Er durfte nur leben, weil man ganz ſicher war, 
dieſer Mann wird unter allen Umſtänden die Weiche ſtellen. Hätte er ein» 
mal einen Menſchen ermordet, jo wäre er ein Mörder gewefen, natürlich. 
Aber Gott fann einem Mörder vergeben. Hätte er aber, um fein Kind zu 
retten, Die Weide nicht geftellt, jo hätte er eine Sünde begangen, Die Gott 
nicht vergeben fann, denn er hätte gegen den Grund gefrevelt, der ihm das 
Zeben erlaubt. Das wäre die Sünde gegen den Heiligen Geift gewefen.“ 

Sd verſuchte, eine Ginwendung zu maden. Gr fdnitt meine Worte mit 
einer Handbewegung ab und fuhr fort: 

nod) weiß, du willft mir fagen, daß meine Deutung nicht mit der üblichen 
Erklärung der Lehre übereinftimmt, weldhe bon einem Sichperhärten gegen 
die Wirkung der göttlichen Gnade auf uns fpridt. Aber man faßt da den 
‘Begriff der gdttliden Gnade zu eng.“ 

Sd fab fein Gefidt, als er die folgenden Worte fprad: „Ein jeder 
bon ung lebt, darf Ieben, nur durch eine befondere göttliche Gnade. Slidlid 
der Menfd, der weiß, daß er eine Weiche gu ftellen Hat, damit ibm die 
Gnade zuteil wird, der nicht zweifeln muß, ob er die Gnade nicht mißbraudt.“ 
Sein Geſicht war fahl geworden, die Augen fdienen tief gefunfen zu fein. 

Nah einer Paufe fuhr er fort. 

„Bis jebt ift meine Gefdhidte ja nicht fehr neu. Wehnlides ift fchon 
borgefommen. Aber nun folgt das Merkwürdige. 

Der Mann wurde aljo wegen feiner Sat belobt und bon allen Leuten 
gepriefen. Ob ihm diefe Anerfennungen nicht ſchmerzlich oder peinvoll ge- 
wejen find, fann ih nit jagen. Gr war ein ftiller Mann, der nicht aus 
fih berausging. 

Aber nad einigen Woden fam die Frau zu mir. Sie verlangte meinen 
Rat. Ich kann ihren Gedanfengang nicht wiedergeben; bas ift aber aud 
nit nötig. Gs fam alles darauf hinaus, daß fie nidt mehr mit dem Manne 
aufammenleben fönne, der por feinen Augen das Kind Habe überfahren laſſen, 
ohne ihm zu belfen, und daß fie fic bon ihm fcheiden laſſen wolle. 

Sd verſuchte auf die Frau zu wirken; ich fagte ihr: ‚Gr hat doch feine 
Pfliht getan. Die Frau fchüttelte den Kopf, zupfte an ihrem Schürzenzipfel 
und fab dann ftill zur Erde. Endlich fagte fie: ‚Ih fann ja fdon nicht an 
einem Tiſche mit ihm figen. Wenn er fommt, fo ftehe ich auf. Ich habe feinen 
Haß gegen ihn; aber ich fann nicht.’ 

Gs wurde mir pliglid Har: was dieſe Frau trieb, bon ihrem Mann gy 
geben, das war dasfelbe, was den Mann getrieben hatte, feine Pflicht zu 
tun. Es wäre eine Sünde wider den Heiligen Geift gemefen, wenn fie bei 
ihm geblieben wäre. Und fo ging fie denn bon ihm. 

Was mit dem Mann werden joll, weiß ih nidt. Er ift ja Bodh nod 
ein junger Menfdh. Vielleicht fängt er an gu trinken; ich weiß feinen anderen 
Ausweg für ihn; denn ich glaube nicht, daß er genug Klarheit bat, um an 
Gott zu glauben. Sa, wenn er an Gott glauben könnte, Jo wäre ihm wohl 
geholfen. 

Die Rotſchwänzchen fliegen ab und zu und bringen Würmer, Raupen, 
Käfer und allerhand andere Tiere für ihre Jungen. Wenn wir fdhwad jind, 


456 





Frauen in der Kirche 


Wilhelm Leibl, Drei 


Aus dem Deutfhen Volfstum 


dann denken wir wohl: das Schidjal diefes Bahnmwärters hat feinen anderen 
Ginn, wie das Schidfal diefer Tierchen, die bon den jungen DBögeln ber» 
gebrt werden. Aber wenn wir gang unferer madtig find, dann wiffen mir: 
das ift faljh. Gs hat dod einen Ginn, daß der Mann feine Pflicht tut, 
daß die Grau von ihm geben mußte. Sie haben beide recht gehandelt.“ 

„Die Frau Hat fider unmoralifch gehandelt,“ fagte id; „Dennoch glaube 


aud id, daß fie im Redte war.“ 


Kleine Beiträge 





Gom Leben in der Wahrheit. 
Das adte und lebte Bebot. 


©? wie das erfte Gebot in der Ehr— 
furdt die Quelle aller Gittlicfeit 
bezeichnet, fo faßt dies adte Gebot, das 
pom ©eborfam der Wahrheit fpridt, den 
Ginn alles fittliden Gerbaltens in einem 
gujammen: Lebt in der Wabrbeit, tut die 
Wahrheit! Gs hat feinen tiefen Ginn, 
daß dies ®ebot nidt einfad, entipredend 
dem fünften, fedften und fiebenten, lau— 
tet: „Du follft nicht lügen“, fondern daß 
e8 pon dem Schaden jpridt, den Die 
Lüge der Gemeinfhaft zufügt. Pie 
Wahrheit ift die Grundlage aller ®e- 
meinſchaft, fie ift das heilige ©efeb, das 
den fittliden Kosmos durdwaltet und 
trägt. In ihr find alle Gebote bee 
ſchloſſen. 


1. 

Unſere Zeit ift geneigt, bon der 
Wahrhaftigkeit zu fpreden, aber bon der 
Wabrbeit zu ſchweigen. Gie ftellt Die 
fubjeftine Wahrhaftigkeit febr bod, ohne 
gu bedenfen, daß dieſe Wabhrbaftigfeit 
nur fo viel für das Leben wert ift, als 
die Perfdnlidfeit, die fie übt, lebendige 
Werte, Wahrheitsgebalt in fih trägt. 
Das nüst die Wahrhaftigkeit der Un— 
reife oder des —— Herzens? Iſt der 
Anforderung des Lebens damit gedient, 
daß die Verkehrtheit ſich darauf beruft, 
einem wahrhaftigen Oefühl und Willen 
entfprungen zu fein? 68 gibt eine Wahr- 
baftigfeit, die fruchtlos und vergeblich 
ift, ja die nur fchadet, weil dem, der fie 
übt, Die Reife des gütigen Herzens fehlt. 
Wahrhaftigkeit fann ein Deckmantel fein 
für den Gtarrfinn des LUnbelehrbaren, 
und viel Gelbftbetrug beruft fid auf 
das Redt der „perjönlihen Aleberzeu- 
gung“. Aber nits ift darum {don wahr, 
meil irgendjemand davon überzeugt zu 
jetn behauptet. Wahr fein fann nur, wer 
ih Der Wahrheit beugt, ihrem Gericht 
und ihrer @nade. Ueberzeugt ift nur, 
wen Die Wahrheit duch ihr Zeugnis 
überwunden bat. Wahrhaftig ift nur der 
Demiitige und Sebor)ame. 


2. 
Dod was ift Wahrheit? Wir wagen 
e8 Heute nicht mehr, die Wahrheit zu 


bezeugen. Wir wiffen nur von Mei- 
nungen und laffen jede gelten, wenn 
Das ift ein 


fie nur — iſt. 
deutlicher Beweis dafür, daß uns eine 
echte, unbedingte Lebergeugung fehlt, eine 
Gewißheit, die in der Wahrheit wohnt, 
die immer und für alle Zeit gilt. O 
nidt ein Hauptgrund für diefen Rela- 
tipismus unferer Sage darin zu finden 
ift, daß wir die Wahrheit für eine Gade 
des Gerftandes, des Wiffens halten, die 
doch eine Gade des Lebens ift? Für den 
Berftand ift freilid alles relativ, gilt 
alles immer nur „bis auf weiteres“. 
Die Wahrheit aber erfennt nur, wer fie 
tut und lebt. Jeſus fpridt davon, daß 
er die Wahrheit „ift“, nit daß -er fie 


„weiß“. 

Darum ift die Wahrheit aud nicht 
mit Worten zu faffen. Alle Worte find 
immer nur ein Hinweis, ein Deuten in 
die Ridtung, in der die Wahrheit gu 
fuden ift. Gntfdheidend ift und bleibt, 
ob dir das Leben aufgeht, das hinter den 
Worten fteht. Was wahr ift, entfcheidet 
darum nidt der Berftand, fondern das 
Sewiffen. 


Weldhes Bild ift wahrer: die Photo- 
rapbie oder das Oemälde eines Riinft- 
er3? Obne Zweifel das Bild, das der 
Wirllidfeit des Oegenftandes näher 
fommt. Dieſe Wirklichkeit aber ift nicht 
der zufällige Schleier, das Angefidt 
eines Augenblids, fondern das Bleibende, 
Dauernde, das Wefen, das Hinter der 
Grfheinung wohnt. Die Wahrheit ift 
die ag ak Wirklidfeit der Welt. 
Wabr fein beißt wefentlid Leben, aus 
der wahren Wirklichkeit heraus, aus dem 
@runde! Wahr handeln heißt, die Dinge 
alg dag nehmen und behandeln, was 
fie „in Wahrheit“ find. Das Leben zu 
feiner Wahrheit erheben, heißt alfo, es 
zu feines Weſens Grund zurüdführen 
und aus ibm neu gewinnen. 


457 


Luthers Erklärung des adten Gebots 
fließt mit der Aufforderung: wir follen 
alles zum Beften febren. Berftehen wir 
es ganz umfaffend: wir follen alles zu 
feiner wahren Ordnung bringen, zu der 
Einheit, die in der Tiefe wohnt, im 
Wefensgrund. Wahr leben beißt, der 
Ordnung der Liebe dienen. 


4. 

Die lebendige Wahrheit Tann nie 
trennen. Worte trennen, „Leberzeugun- 
en“ verfeinden. Die Wahrheit madt 
ebendig und eint. Wahrheit ift immer 
aud Liebe. Die Oberfladlidfeit hindert, 
daß man fid näher fommt. Oder fie baut 
eine ee auf, die auf Dul- 
dung geftellt ift und die feine ernftbhafte 
Probe befteht. Neutralität ift der Sod 
aller Gemeinfdaft. Neutralität ift das 
©egenteil von Liebe. Liebe ift nidt ohne 
die Madt und das Redht der Wabrheit. 

Die Wahrheit verbindet aud da, wo 
fie tebe tut. Denn fie ift das Zeugnis 
Des Lebens, das Liebe ift und aus dem 
einenden Grunde fließt. Gs gibt feine 
Wahrheit, die nidt im Siefften Liebes- 
offenbarung wäre. Licht ift Liebe und 
Licht ift Leben. Wer aber die Wahrheit 
tut, fommt an das Lidt. 

Obne Wahrheit gibt es feine Gemein- 
ſchaft. Da nur herrſcht Vertrauen, wo 
die Wahrheit regiert. Darum ift der 
Teufel der Bater dem Lüge, der Teufel, 
der immer zerftört, zerreißt, der zum Sa 
des Lebens immer das Nein der Selbft- 
fudt fpridt. Gott aber dient, wer zum 
Organ der Wahrheit wird. Die Wahr- 
beit ift die Heimkehr aller Kreatur zur 
®ottesgemeinfdhaft. Die Welt ift aus 
@ott und darum Martet fie auf Gott. 
Bien Wahrheit ift der lebendige Wott 
elbit. 


Der Wahrheit dienen, das Wahre tun 
fann nur, wer glaubt. @lauben beißt, 
binter allem „No nit“, durd alle 
Schleier hindurd das Bollfommene und 
das Wefen — und feſthalten. Wir 
leben alle in dem „Nod nicht“, in einer 
Welt, in der die Wahrheit nod nidt er- 
fdienen ift, und die dod nichts anderes 
ift alg eine Offenbarung der Wabrbeit. 
Glauben beißt, folder Offenbarung trauen. 
@lauben heißt, aller Züge, allem Wahn, 
allem Irrtum, aud) des eigenen Lebens, 
das Dennod entgegenbalten, das nicht 
fiebt und Dod glaubt, das die Wahrbeit 
weiß, aud wo fie nod im Gerborgenen 
wohnt. Die lebte Wabrbeit ift immer 
nur im innerften Gebeimnis, im verbor- 
genen Dunfel der Seele gu faffen. Aber 
aus diefem tiefen Grund gebt ihre Kraft 
bervor und überwindet die Welt zu 
ihrem Heil. 


458 


Die Quelle aller Gittlidfeit ift Ehr- 
furdt. Ihre Bollendung ift die Offenba- 
tung der Wahrbeit. Shr Weg ift der 
®eborjam und die Demut des Gewiffens. 
Ihre Kraft aber ift der Glaube, der die 
Welt überwunden bat. 

Karl Bernbard Ritter. 


Das politifhe Ende des deutſchen Bolles. 


G? verlohnt fid faum nod, die Feder 
angufeben. Das Befte ift, feitab gu 
geben und zu ſchweigen. Sie haben ge 
liegt, Die Allguvielen, die fleinen Seelen, 
fie, die die Welt nad dem Bebagen 
der Sdhwidliden und der Befdrantten 
regieren und dabei auf ihrer Seele und 
ihres Leibes Koften fommen. Das Hoff» 
nungslofefte ift, daß diefe Leute ebrlid 
überzeugt find, ihre Gade brad gemadt 
gu haben, daß fie glauben, aus der Im— 
poteng werde ein neues, wohl gar bef- 
fered Leben entftehen. Go weit ein 
Menfdhenauge ſehen fann, ift das deutſche 
Golf — troß allem Triumph über die 
„gewahrte Ginbeit* — als Golf tot. Der 
Kadaver wird nod einige Sabrbunderte 
weiter vegetieren. Und mit dem Rae 
daver wird der tidtige Haufler, der 
Gdle bon Haufenbleib, fogar treffliche 
®efdhafte maden. Was liegt daran? Nur 
allzu wahr ift das nadtidmere Wort 
Des Ritters von Olaubigern: „Das ift 
das Schrednis in der Welt, ſchlimmer 
als der Tod, daß die Kanaille Herr 
ift und Herr bleibt.“ Der Göle von 
Haufenbleib erfdeint, wenn er triume 
pbiert, felbftperftindlid) niemals anders 
alg im Mantel der fhimmerndften Moral. 
Ob, die Moral der braven und wohl«- 
meinenden Triumphatoren, die in Genf 
am @®edeiben der Wenſchheit arbeiten, 
ftinft unerträglid um den ganzen Pla 
neten berum, fo daß eine empfindlide 
Naje und ein ebrlides Gemüte fein fau- 
beres Plätzchen mehr findet, es fei denn, 
daß man feines Stübchens Fenfter dicht 
verfdliefe. 

Wan foll nidt fo daberreden und 
dem Bolfe nit „den letzten Mut“ neb- 
men? Wenn dem deutfhen Bolfe 
iberbaupt nod zu helfen ift (was id 
bezweifle), fo nur dadurd, daß man ihm 
den Mut nimmt, diefen verrudten, ober» 
fladliden, dummen, optimiftifden „Mut“, 
Der den Blid von der todſchwangeren 
Wirklichkeit abwendet und in euphorifher 
Schwäche darauf „vertraut“, daß „man 
{don durdfommen werde“, daß „es fid 
{don maden laffen werde“ und wie fonft 
diefe unperfinliden Redensarten einer 
{Hmugglerifden und fupplerifhen Weis- 
beit lauten. Was follte uns bindern, 
diefem DBolfe die Wahrheit gu fa- 


gen? 3d fenne fein höheres Geſetz als 
die Wahrheit — und dies ift das Befte, 
was id dem ©enius meines Bolfes vere 
danke: Luther und Kant. Wenn man 
die Wahrheit „aus Politik“ oder „aus 
Pfydologie* nidt fagen foll — was 
ift dann nod das Leben? Gin Golf, das 
an der Wahrheit zugrunde gebt, foll 
Kagründe gehn. Ob, wären wir Deutfden 
endlid alle tot! G8 find unfrer nicht bloß 
gwangig, e8 find unjrer fiebzig Mil- 
lionen zuviel in der „Welt“. Aber wir 
fünnen ganz ruhig fein, wir fünnen Die 
bitterfte Wahrheit fagen, Diejes Bolt 
verftebt fie „glüdlicherweife“ nidt. Es 
gudt die Adfeln, es lacht, es Iebt und 
bat — größere Sorgen. 

Die Lnterzeihnung des Friedens von 
Gerfailles war die Befiegelung einer 
Niederlage, die Annahme des Lone 
doner „Vertrags“ ift die Befiegelung 
einer Unterwerfung. Die Nieder- 
lage ift nur ein militäriſches Greignis, 
die Unterwerfung ift ein moralifdes Gr- 
eigni8. Man erleidet eine Nieder- 
lage, aber man unterwirft fid: das 
erftere ift nur ein Paffiv, das andre aber 
ein Medium. Wad einer Niederlage ride 
tet man fih wieder auf. Nah einem 
Gid-Linterwerfen bleibt man liegen. Wie 
wenig bedeutet Berfailles gegen London! 

Ich will auf niemand von denen, die 
mit 3a geftimmt haben, einen Stein wer- 
fen. Sie haben zum Seil einen ſchweren 
Sewiffensfampf gefampft. Und was liefe 
fih aud) Gerftandiges auf die Frage ant- 
worten: „Wie follen wir eine dunkle Zu- 
funft wagen mit — dem Deutiden Volk 
hinter ung ber?“ Gs ließe fid auf 
Diefe §rage nur eine „unverftändige“ 
Antwort geben. Gine unverftändige Ant- 
wort zu verfteben, fann man aber nur 
einem ®enie zumuten, und es foll beileibe 
niemand Genie fpielen, der feins ift. Die 
Leute mit dem Sa haben ein Schidfal 
vollzogen. Sie baben die Ronfequena 
aus dem Zuftand des gegenwärti- 
gen Ddeutiden Bolfes gezogen. Nur ein 
®enie hätte die Konfequenz aus dem 
Zuftand eines zufünftigen deutiden 
Bolfes gezogen. Kein Genius führte uns 
in den Stunden der Entſcheidung. Alfo 
ift aud feine Zukunft. 

Sener „Mut“ rechnet fo: Wir müffen 
erft wieder „wirtihaftlih gefunden“, 
dann „arbeiten wir uns frei“. Das ift 
eine Gerfennung des Wefens der „Ar 
beit“. Als ob fid je ein Bolf frei ge- 
arbeitet batte! Wie man fid ine 
nere Freiheit nidt durh Lernen und 
Iedernen Fleiß erwerben, wie man fid 
zu ihre nur ,durdringen“ fann, fo fann 
ein Golf feine Golfsfreibeit nur er- 


fampfen. (Rein, Herr Pagifift, wir 
reden nidt bon einem Waffentampf, wie 
Sie das zur bequemen Behauptung Ihrer 
Pofition annehmen, wir reden nidt von 
Blücher und Moltfe, fondern von Stein 
und Bismard.) $rei werden durd die 
BWirt{[ daft (alfo dur arbeiten) fann 
ein Golf nur, wenn es feine Golfswirt- 
{haft alg einen Kampf auffaßt. Wenn 
es, wie einft militäriſche Macht, jo jebt 
wirtfhaftlide Macht im Dienfte der Na» 
tion anbäufen würde. Aber das wird 
das deutſche Bolt nidt. Die Wirtſchaf— 
tenden in Deutſchland denfen nur an 
fid, nidt an Die Nation. Das 
ift das Sntfheidende. And hin- 
gufommt, daß die Grundlagen zu ſchwach 
find, um ein von Amerifa unabhängiges 
wirtfhaftlides Machtzentrum in Deutſch⸗ 
land zu fdaffen. Die Optimiften möchte 
ih daran erinnern: Deutſchland hat feine 
gewaltige Wirtfhaftsmadt vor Dem 
Kriege nidt in einem unbewehrten, pon 
jedem feindliden Atemguge umzupuften=- 
den und durdeinanderzupuftenden Zu- 
ftande gefdaffen; Deutihland ware nie 
jo wirtjchaftsftark geworden, wie e8 war, 
wenn es nicht guerft das preußifche Heer 
und nadber das Reihsheer als Rüden- 
ftärfung gehabt hätte. Die Wirtidafts- 
größen follen fid) nit mebr Berdienft 
gumeffen, als fie wirflid haben. Gie 
glauben ohne eine nationale Heeresmadt 
im Rüden eine nationale Wirtfhaft auf- 
bauen zu finnen? Weld eine — LUnter- 
{habung Amerikas! Unſre eifrige Arbeit 
und Wirtſchaft wird uns beftenfalls da- 
zu verhelfen, eine blühende Wirtidafts- 
proving Amerifas zu werden, zur Frei- 
beit wird fie uns nicht verhelfen. 

Srei wird eine Nation nur, wenn die 
einzelnen, erfüllt pon Trotz und Frei— 
beitsmwillen, all ihr Sun und Laſſen in 
den Dienft der Nation ftellen. Die Deut- 
ſchen ftellen ihr Sun und Laffen aber 
nur in allerlei andere Dienfte. Der 
nadfte „Schritt“ wird der Gintritt des 
Deutihen Reiches in den „Bölferbund“ 
fein, Der erfolgen wird, nidt wann es 
uns paßt, jondern wann es den ane 
dern nüblih erjheint und wenn fie 
uns fdeuden: Kufh! willft du hinein» 
geben, verfludter Bode?! Und Bode 
wird mit eingefniffenem Schwanz in den 
Balferbund f{dleiden. 

Grft wurde das deutſche Oftreidh unter 
die Botmäßigfeit der vereinigten Sieger 
gebradt, dann das deutihe Bismard- 
reid. Wem foll man darob einen Bore 
wurf maden? Niemand wird beftreiten, 
daß Seipel fowohl wie Marz von den 
lauterften Motiven getrieben wurden und 
die befte eberzeugung Hatten, "haben 


459 


und ftetS haben werden. Wer fann aus 
feiner Haut heraus? Onfel Gam ftredt 
in Grwartung guter Geſchäfte den beiden 
wohlwollend die goldgewidtige Hand 
entgegen. War es einft unfer Gtolz, 
Seppeline für Deutfdland zu bauen, fe 
ift e8 heute ein „deutiher Triumph“, für 
Amerifa the largeft Zeppelin of tbe 
world liefern zu dürfen. Das deutide 
ublifum ift zufrieden und frabt von al» 
en Dächern den „deutfhen Sriumph“ 
fih felbft in die Obren. Lind wenn die 
Barteien fih verfammeln, fraben fie Sri- 
umpb über ihre „großen Staatsmänner“. 
Das Oftreid wurde eingefeipelt, das 
Bismardreih wurde vermarzt. Dabei 
fönnen wir ganz unbebelligt effen, trin- 
fen, ſchlafen und arbeiten „as ufual“. &8 
tut nit fo web wie ein Krieg. Mit die- 
fem ſchönen und triumphierenden Be» 
wußtjein fließen wir die Spode des 
deutfhen Bolfes ab, aus der die drei 
großen Sterne Friedrich, Stein und Bis- 
mard nod eine Weile in der Finfternis 
nadleudten werden. 
- Warum wir unter fotanen Umſtänden 
nod) fdreiben und reden? Das — wiffen 
wir felbft nidt. Der Wenſch bat fid, 
folange er lebt, dem Schidfal zur Bere 
fügung zu balten. Wud der glimmende 
Sunfe in einem großen Haufen Aide 
fann nod zu einem Brande beftimmt 
fein. Wehe jedem, der in Dem Aue 
genblid, da Gott ibn zur Gntideidung 
ruft und zwingt, verfagt. Gs ift Nadt. 
Die Stunden rinnen dunkel, müde und 
{dlaflos. Ob diefer Naht je eine Däm- 
merung folat? G8 bleibt uns nichts als 
die ,beldenbafte Geduld“. St. 


Redht und Geredtigheit 
unferer ®egner. 


Bizmar ſagte am 25. Oftober 1871 
im Reihstag über die Behandlung 
des befiegten Granfreid: 

„Wir halten es nidt für unfere Wuf- 
abe, unfern Nahbarn mehr zu ſchä— 
igen, als zur Giderftellung der Aus- 
führung des Friedens für uns abjolut 
notwendig ift, im ©egenteil, ibm zu 
nüßen und ibn in den Stand zu feben, 
fih bon dem Unglüd, das über fein Land 
gefommen ift, zu erholen, foviel wir ohne 
®efabrdung der eigenen Intereffen das 
zu beitragen fönnen.“ 

Bismard war fein Verfünder von 
„Brogrammen“. Gr handelte. Gr behan- 
delte den Befiegten, bei aller Wahrung 
der Redhte des Giegers aus dem Gefühl 
nenn Anftandes heraus, er hatte 

Adtung vor dem ilnglüd des Befiegten, 
er wollte ihm Gelegenheit geben, 
gu erbolen, er dadte nidt einen Augen- 


460 


blid daran, Granfreid den nötigen Lee 
bengraum gu beengen, im @egenteil, 
feine Politif verfolgte das Biel, den frane 
öfifhen TSatendrang nur von der deut» 
Ken Weftgrenge weg, auf foloniale Be- 
tätigung_ binzuleiten. Der Grieden, den 
er 1871 ſchloß, ift wohl ein Mufter- 
beifpiel für einen anftändig, aus [ee 
bendigem Gefühl aud für die Lebens- 
redte des andern gefdloffenen Friedens. 

Dabing en der vor fünf Jahren ge- 
ſchloſſene Berfailler „Srieden“, der in 
Wirklichkeit den Kriegsguftand auf nun- 
mehr zehn Jahren verlängerte. Gein 
Kenngeihen ift unanftändigfte Ausnüt- 
zung der Lage des Wehrlojen, die Nei- 
gung, den Linterlegenen immer tiefer ing 
Unglüd zu ftoßen, er ift die Krönung des 
bon vornherein unfittliden Kriegsziels 
der Gntente, einem anftändigen fleißigen 
Golf, das an Ueberpölferung fdon por 
dem Kriege litt, deffen politiihe Schwie- 
rigfeiten aus der Tatſache des zu ger 
ringen Bodenraumes famen, Ddiefen Lee 
bensfpielraum nod) weiter auf das Gmp- 
findlidfte zu befdranfen, und nod dazu 
unerfüllbare iibermenfdlide  Leiftungen 
zu verlangen. Gebt man die fitt- 
liden Werte, die in dem Griedens- 
ſchluß von 1871 nod) oH gu lebendiger Aus⸗ 
twirfung famen, aßftab an, fo er 
mißt man erft ie Größe des fittliden 
Abſturzes, der fid von 1871 bis 1919 
in Guropa pollgogen batte. Bom Stand- 
punlt menf{ Olid fiiblender Gerechtig⸗ 
keit iſt der „Frieden“ von 1919 das 
furchtbarſte Unrecht, ein Verbrechen an 
dem unveräußerlichſten Recht eines je— 
den Volkes, frei zu leben und zu atmen. 

Noch größer ſcheint der Abſtand zu 
fein, wenn man an die „Verſprechungen“ 
und die Grwartungen denft, mit denen 
die Völker dem als Kriegsziel der Ene 
tente verfündeten ,Redtsfrieden* ent- 
gegengeichen batten. Der §Friede, der 
en Weltfrieg beendete, follte fein gee 
wodbnlider Frieden fein, er follte nicht 
nur diefen Krieg, fondern alle Kriege bee 
enden, er follte auf den Grundſätzen 
des Rechts und der Geredtigfeit, nicht 
auf Macht beruhen und darum von gül- 
tiger Dauer fein. 1871 batte niemand 
an folde Anſprüche gedadt, niemand ab- 
ftrafte Griedensprogramme, vierzehn 
Bunfte aufgeftellt, feierliche Orundlähe 
verfündet, und es war bod ein Friede 
geworden, der geredt der damaligen 
Gadlage entiprad. Bei dem Berfail- 
ler Gertrag flafft der ungeheure Wider- 
fprud zwiſchen den hoben Gripartungen 
auf einen „Frieden Der Geredtigfeit* 
und der fdauerliden Wirklichkeit voll 
Unredt und Gewalt. Daher ftammen Die 
DBorwürfe, die namentlid und fehr vere 


ftandliderweife deutfcherfeits gegen den 
Berfailler Gertrag und gegen Wilfon 
erhoben werden, „Betrug“, „VBertrags- 
brud“, die in dem Waffenftillftand „ver- 
einbarte Bafis des Redtsfriedens“ fei 
verlaffen worden. Wilfon babe feine 
„Berfpredungen“, die er dem deutichen 
Volk gemadt babe, nidt gehalten, uf. 
Der AWotenwedfel, der 1919 gwifden der 
Gntente und der deutfhen Wbordnung 
unter Graf Broddorff-Rantau ftattfand, 
bewegt fid pornebmlid in den Grör- 
terungen über den „vereinbarten Rechts— 
frieden“. Die Deutihen verfuhten Punt 
für Punft nachzuweiſen, wo diefe Srund- 
lage verlaffen fei und die gablreiden 
Widerfpriide zu den Wilfongrundfaben 
aufzudeden. Die Gntente dagegen bee 
barrte auf dem Standpunft, der Bertrag 
ftimme mit den Grundſätzen Wilfons 
überein. Die letzte Antwort auf die 
deutſchen Ginwände erteilte fie im Alti— 
matum und der begleitenden Mantel 
note am 10. Suni 1919. Hier an einer 
nod wenig in ihrer Bedeutung bead- 
teten Stelle fteht die Begründung, wes- 
halb die Gntente den vorgelegten Gries 
den als einen „Redtsfrieden“ angejehen 
wiffen wollte. 

„Die all. und aff. Mächte glauben 
demnad, daß der Friede, den fie por« 
geihlagen batten, feinem ®rundme- 
fen nad ein Redtsfriede ift.... Der 
Vertrag ftellt einen ehrlihen und bewuß- 
ten Verſuch dar, jene „Herrihaft des 
Rechts, gegründet auf der LMebereinftim- 
mung der Regierten und erhalten durd 
die organifierte öffentlihe Meinung der 
Menfhheit zu fdaffen, melde als 
®rundlage e8 Griedens vereinbart 
wurde.“ 

DasRedt, gegründet auf undher- 
Recetas aus der ,organifierten öffent 
iden Meinung der Menihbeit“, das 
war das Kriegsziel der Entente tatfad- 
lih gewefen. Wilfon hatte fid in feiner 
Rede von Mount Vernon am 4. 7. 1918 
ebenfo ausgedrüdt: 

„Diefe gewaltigen Griedensaiele laſ— 
fen fid) in einem einzigen Gab aus— 
Ddriiden. Was wir elite: ift Die 
Years des Gefebes, gegründet auf die 
‚guftimmung der Regierten und getragen 
pon dem vrganifierten Willen der 
Wenſchheit.“ 

Tatſächlich iſt nun, wenn man ſich ein— 
mal ganz genau vergegenwärtigt, daß 
dieſes unter dem Schlagwort ,,Redts- 
frieden“, unter dem SKriegsziel „Herr— 
{daft des Rechtes“, verftanden werden 
muß, der Gerfailler Gertrag in diefem 
ententiftiihen Sinne ein „Redtsfriede“. 
Denn es ift nicht zu leugnen, mit allen 
feinen (menfhlih gefeben) Scheußlih- 


feiten, ftimmt er mit der „organifierten 
öffentliden Meinung der Menſchheit“ pon 
dem „Ihuldigen“ und „verbrecheriſchen“ 
Deutidland überein. ,@eredtigfeit ift 
das, was die Deutidhe Delegation ver- 
langt und von dem Diefe Delegation 
erflart, man babe e8 Deutſchland ver 
fproden. Geredtigfeit foll Deutſchland 
werden.“ 

„Recht“ und „Geſetz“ gründen fid 
nad ententiftifder Auffaffung auf die 
»dffentlide Meinung“, find gewabrleiftet 
durch formelle lebereinftimmung mit 
Diefer. Gir diefe Grundfabe der Formal- 
demofratie Hat Wilfon gefampft, den 
„Kreuzzug“ gegen Deutfdland geführt, 
und Diefe halten geiftig die ,Gntente“ 
zufammen, und laſſen fid aud in den 
einzelnen Beftimmungen des Berfailler 
Bertrags nadweifen. Am  deutlidften 
in der elfaf-lothringifden Frage. Das 
„Anredt, das Granfreid 1871 binficht- 
lid Elſaß⸗Lothringens“ angetan worden 
ift und „wiedergutgemadt“ werden follte, 
(Wilfons vierter PBunlt!) umfdrieb die 
Gntente in WAbfdnitt V Art. 51 des 
Gertrags folgendermaßen: 

„In Anerfennung der fittliden Bere 
pflidtung, das Anrecht  wiedergutgu- 
maden, das Deutfchland im Sabre 1871 
fowohl dem Rechte Franfreids als dem 
Willen der troß des feierlihen Proteftes 
ihrer Bertreter.. von ihrem Baterland (|) 
getrennten elfaß=lotbringifhen Bevölke— 
rung ans begangen bat“, fordert 
Artifel 51 die bedingungsloje Riidgabe 
des Landes an Franfreid. Lind als die 
Deutihen betonten, daß eine LInterlaf- 
fung der Bolfsabftimmung jest ein nod 
größeres AUnrecht fei, antwortete die En— 
tente wiederum bon ihrem formal ab» 
ftraften ReHtsbegriff aus, daß alle 
Beftimmungen nur den Bwed Hatten, 
„Perfonen und Gaden wieder in den 
Redhtszuftand zu verjegen, in dem fie fid 
1871 befanden.“ Gine neue Bolfsabftim- 
mung fet darum überflüffig. Hier ftebt 
wiederum fittlides Redt gegen ab- 
ftrafte formale Ret sbegriffe. 
Wer feinem natiirliden Redhtsgefihl 
folgt, fann in der Wiedererwerbung von 
Gljafp-Lothringen nad einem ehrlichen 
Sieg 1871 fein Anrecht feben. Glfaf- 
Lothringen ift deutiches Land dem Wee 
fen nad und der Revandegedantfe 
Stantreihs ein Kriegsziel ohne jede ties 
fere fittlide Beredtigung, wenn aud bon 
franzöfifcher Seite die Wiedergewinnung 
bon Elſaß-Lothringen als identifch mit 
der Wiederherftellung des Redhts im 
abjoluten Sinn empfunden wird. Ich fand 
einmal den eigentiimliden ®edanfen 
vertreten, daß Elſaß-Lothringen feit der 
franzöfifhen Revolution, feit der Bers 


461 


fündigung der Menfdhenredte, zu innerft 
und unbderduferlid dem franzöfiihen 
Staat einverleibt worden fei. Auf diefe 
Weiſe geht die Gormaldemofratie über 
die mehr als zweifelhafte Art hinweg, 
wie feinerzeit Das Land im fiebzehnten 
Jahrhundert an Frankreich fam und läßt 
das Gefühl für dieſe fittlihe Rechts— 
widrigfeit erlöfchen. 

Man wird geiftig nidt fertig mit dem 
Gerfailler Bertrag und mit der Schuld— 
frage, wenn man nidt beide aus der 
abftraften formaldemofratiiden Rechts— 
auffaffung begreift, die ententiſtiſch ift 
und aus der jener furdtbare inquifito- 
riſche Haß fogleih ftammt, mit dem in 
Deutihland das „böje“ Pringip befämpft 
wurde. Hinter den ideologifden Schlag- 
worten des Weltfrieges ,Redt gegen 
Wacht“, „Rampf für den Redtsfrieden“, 
„Dauerfrieden der ®eredtigfeit“, „für 
Sortfhritt und Zipilifation“, für Die 
„Grundſätze (!) der Wenſchlichkeit“, fteckt 
eine geiftige Wirflidfeit, Die 
wir jogar in Gaben, wie Die oben ans 
geführten, dofumentarifh faſſen fönnen. 
In der RKriegsideologie war Deutid- 
land das böſe Prinzip, das Prinzip des 
Krieges, des Militarismus, und Der 
Krieg wurde fo zum Kreuzzug. 

Ganz fdarf fajlen wir den geiftigen 
Oegenſatz zwiſchen Deutfdland und Der 
Gntente, wenn wir einmal näher unter- 
fuden, was denn nun das wilfonglau- 
bige Deutijhland unter den Orundſätzen 
Wilfons verftanden bat. „Da fam aus 
Amerifa ein Glang in die dunfle Welt, 
daß mandem Guropäer zumute ward, 
alg ginge die Sonne im Weften auf. 
Wilſon hatte verfündet: feine Gefhidte 
mehr nad dem alten ®rundja „Macht 
gebt bor Redt“, feine a ee 
mebr, eine Geſchichte fortan, Die fih ent- 
widelt aus ©eredtigfeit und Dilligfeit, 
aus Gerftandigung, VBerbündung, Bere 
brüderung, ein Aufblüben der Golfer, ein 
jedes aus eigenem Boden in freie Luft 
binein, bis feine bejonderen GFridte reif- 
ten.“ 

Nehmen wir diefe Worte als Doku— 
ment, lajjen wir Die Deifle Grage, wie 
e3 denn möglih war, daß man Diejes in 
Die Wilfongrundjäße bineinlegen fonnte, 
Die demjenigen, der niemals aud nur 
den Drudteil einer Gefunde an Wil- 
fon „geglaubt“ bat, immer wieder zu 
ihaffen madt. Der Wejensunter- 
ſchied deutſcher und ententiftijder Gei— 
ſtesart iſt hier für jeden, der auch nur 
einiges Gefühl für derartige Dinge bat, 
fo greifbar, wie es nur möglich ift. Se- 
des Wort hat eine andere geiftige Gar- 
bung, einen anderen Ginn, fo unwilſoniſch 
wie möglid. „Geſchichte, die fid ent- 


462 


widelt“, niemals bat Wilfon an Ge 


bite in diefem Ginn gedadt, für ihn 


gab es nur ©rundjähe 
formal, ,@eredtigfeit, in diefem Sinne 
etwas ganz anderes, als die falte grau- 
fame @eredtigfeit des Verfailler Pil- 
tat8, die ihre Gorderungen an das „ver- 
brecheriſche“ Deutfdland ftellt. Gs ift 
eine andere ®eredtigfeit und Billigfeit, 
die den Lebensnotwendigfeiten der Böl- 
fer Rechnung trägt, ihre Entfheidungen 
aus der Gadlage trifft, und nidt nad 
leeren @rundfagen, die bier vorſchwebt. 
Gin „Aufblühen der Bilfer aus eigenem 
Boden in freie Luft binein“, das fann 
nur ein Seutfder fagen und meinen, 
dem fcematijf und zerftörend anges 
wandten Nationalitätenprinzip weftlider 
Prägung ift diefer Gedanfe unfaßbar. Die 
nbefonderen Früchte“ jedes Bolfes ge- 
bören nidt in eine Welt ,demofratifden 
Gort{dritts", fie werden von deſſen 
plumpem Tritt, der lebendige GEntwid- 
lung baft, zu Boden getreten. 

»@Oewalt, Oewalt bis ans Ende, Ge- 
walt ohne Grenze und ohne Ende, die 
redtmapfige und triumpbierende Oewalt, 
welde das Redht gum Gefeh der Welt 
maden und jede Herrfdaft, deren Ziele 
felbftfühtig find, in den Staub ftreden 
wird“, jo predigte Wilfon am 6. April 
1918. Gewalt ohne Grenzen und ohne 
Ende ift das Zeihen aud des Berfailler 
Alnfriedens, gerade weil er mit dem 
Anjprud auftrat, ein allgemein giiltiger 
Ret sfrieden zu fein. Im Namen 
eines für allgemein gültig gebaltenen 
abftraften Prinzips wurden Die Dlut- 
ftrdme der franzöſiſchen Revolution ver— 
goſſen, wütete heute der Bolſchewismus, 
predigte Wilfon den Kreuzzug gegen 
Deutihland. Die Gewalt des Berfailler 
Diftats gründet fih auf die Redtsauf- 
fafjung, welde das Redt von der Leber- 
einftimmung mit der öffentliden Mei— 
nung berleitet. Auf deutſcher Seite ftebt 
fein abftraftes Programm, Deutſchland 
vertritt ein anderes Redt, das des Lex 
bens und feiner Wirtlihfeit. Die 
Gertreter des abftraften Prinzips haſſen 
darum Deutichland. Der Krieg gebt wei- 
ter gegen das Deutſchtum, gegen die 
fittliden Werte, denen zur Madt zu ver- 
helfen, deutide Aufgabe im Krieg ge- 
wejen ware. 

Gerfailles und die „Entente“ werden 
elaumnengepe niht zum letzten durd 

iefe eigentiimlide abftraft-moraliftijde 
©eiftigfeit, fie werden überwunden fein, 
wenn wieder fittlide Werte gelten, die 
Recht und Geredtigfeit aus der 
menfhliden Wirklichkeit ber 
leiten. Dieſe ,Gntente* beftebt aud in 
Deutihland; foweit in den Gntentelän- 


ftarr abftraft, 


Dern Menjfden find, die aus menfdlidem 
Oefühl das Linredht von Berfailles vere 
urteilen, find fie Bundesgenofjen in dem 
Kampf, den Deutidland zu führen immer 
noh die Aufgabe hat. 

Smmp Voigtlander. 


Bolitit und Ethik. 


St Rolffs führt in einem weit über 
den Durdjdnitt der diesbezüglichen 
Literatur binausragenden größerem 

Werte über das DBerhältnis von Ethik 
und PBolitif* aus: 

Se mehr der Berftand die ihm ge- 
febten ®rengen vergißt und fid zur letz⸗ 
ten Autoritat des Lebens madt, um 
fo mehr ift alles wahre Leben gefähr- 
det. Beſchränkt und ebrfurdtsl[os, aber 
febr von fid überzeugt, zerſetzt er jedes 
®ebeimnis, alles Gwige und DBleibende. 
Rationalismus ift immer Vergewaltigung 
des Lebens. Aus allem Organifchen löft 
er Die Seele und verfehrt es in Mecha— 
nismus. Die Kultur wird zur Bivili- 
fation, die Religion endet in Sfeptizis- 
mus, die Gthif wird zur platten Olück— 
feligfeitsmoral. Dieſer Rationalismus 
blüht gegenwärtig in der Welt wie faum 
je gubor, aud unter uns Deutſchen, als 
bätte es für uns niemals einen deutſchen 
Idealismus gegeben. Beweis: Amerifa- 
nismus, weftlide Demofratie, Interna- 
tionalismus, Pazifismus, Marrismus, 
das Lmfidgreifen des Rationalismus in 
der Wiffenfdaft und der Kunft. 

Aber es ift wie eine Ironie des 
Schickſals, wie ein Hohn des wahrhaft 
lebendigen G©ottes, daß der Rationalis- 
mus, gerade wenn er Die Sade wieder ein- 
mal gefdafft zu haben meint, an Madten 
zerjheitert, die gänzlih außerhalb feiner 
Berednung liegen. Das ift das Srratio- 
nale alg die ſchlechthinnige LMebergewalt, 
unbegreiflid, unabwendbar. Ihm gegen- 
über find wir madtlos. Man denfe etwa 
an große Naturfataftropben oder an die 
Wirklichkeit des Lebels und des Böen 
in der Welt, die immer wieder dem 
Traum einer Aufwartsentwidlung der 
Menfhheit ein Ende madt. 

Das Srrationale ift das Hemmende, 
gerftörende, Widerfpiel des Vernünfti— 
gen, Knedtung des Geiftes. Darum fann 
e3 das Lebte nicht fein. Immerhin wäre 
der irrationaliftifhe Peffimismus wahr- 


* Politifhe Ethik und ethiſche Welte 
anfhauung bon Grnft Rolffs. 359 Gei- 
ten. Hinrihs, Leipzig. Vergl. aud-den 
Rolffsfden Aufſatz „Vom Erleben des 
Srrationalen in Oeſchichte und Religion“ 
im Sulibeft 1923 des Deutiden Bolfs- 
tums. 





baftiger als der optimiftifhe rationalı- 
ftifde Spolutionismus. Dennod wird die 
Kulturmenfhheit aller Ginnlofigfeit des 
Oeſchehens zum Trotz den Slauben nidt 
laffen, daß die Bernunft die Gefdhidte 
regiert. @egen das Srrationale tritt 
das Ueberrationale in den Kampf. Die 
Sriheinungsform des Leberrationalen ift 
der ©enius: „Mit dem Genius tritt ein 
Ueberrationales in den Gang der Ge— 
{hidte ein, aus deffen Kampf mit dem 
Srrationalen die rationale Gntwidlung 
refultiert“ (6. 192). Ranke bat einmal 
gejagt: „In großen Oefahren fann man 
wohl getroft dem Genius vertrauen, der 
Guropa nod immer por der Herridaft 
jeder einfeitigen und gewaltfamen Rid- 
tung befhübt, jedem Drud von der einen 
Seite nod immer Widerftand von der 
anderen entgegenfebt und bei einer Ber- 
bindung der Sefamtbeit, die bon Sabre 
zehnt zu Iahrzehnt enger geworden, die 
allgemeine Greibeit und Gonderung gliid- 
lich gerettet bat.“ Go vollzieht fid der 
wahre Sefdhidtsverlauf pom LMeberratio- 
nalen ber, die Aeberwelt ift die Domi- 
nante der Welt. : 

Dies find in großen SBiigen Die 
Orundgedanken des Rolffsfdhen Budes. 
Wir haben bier den großen Wurf einer 
feft in fih gefdlofienen Gefdhidtspbhilo- 
fophie por ung, die für die Politif eben- 
io bedeutungspoll gu werden verdient, 
wie „Das Heilige“ von Rudolf Otto 
für die Theologie. 

Dennod bat fid mir gegen Gnde 
des Werfes die Frage aufgedrängt, ob 
der „bervarhiihe Supranaturalismus“, 
wie Rolffs feine Pofition nennt, nicht 
dod) wieder — pielleiht, wenn man jo 
fagen fann: ein tranfzendenter, durch 
die fräftige religidfe Wärme und das 
Berftändnis für dag Srrationale gemil- 
derter — Rationalismus ift. Die Leber 
welt fteht als Zweites, Selbftändiges ne- 
ben der Welt; aus dem Kampf des Lee 
berrationalen mit dem Srrationalen er- 
gibt fid die rationale Gntwidlung. 
Wenn es aud unmiglid ift, Die Gee 
genfabe je gang aus der Welt gu ſchaf— 
fen, fo foll dod ihre Milderung ange- 
ftrebt werden. „So bleibt alfo die religidfe 
Gorftellung des Gottesreides die not- 
wendige Gorausfebung für den politi- 
fhen Gedanfen des Bölferbundes.“ „Um— 
gefehrt, wer als Gbrift das Gottesreid 
will, muß fid für die Grridtung des 


Bölferbundes einfehen.“ (CG. 346 / 47.) 
Das find unverfennbar rationaliftifhe 
Beftandteile. Rolffs Hat redt, wenn er 


die fortgefegten Spannungen, die aus 
dem Widerftreit des Srrationalen mit 
dem leberrationalen entjpringen, für 


463 


niemal3 gang lösbar erflärt. Aber es 
bleibt dod die Frage, ob fie nicht in 
einer höheren Syntheſe gwar nicht aufge- 
löft, aber dod überwunden werden. 
Rolffs fagt S. 321: „In voller Schärfe 
madt fid die Spannung im Kriege er 
tend, wenn die allgemeine Wehrpflicht 
alle Bürger nötigt, die Waffen gegen 
Dürger feindlider Staaten zu richten, 
die als Menſchen zu lieben ihnen ihre 
Shriftenpflicht gebietet. Hier bleibt nidts 
anderes Abel, alg entweder die drift- 
lide Gittlidfeit Der ftaatsbürgerlichen 
®efinnung überzuordnen.... oder aber in 
der Grfüllung feiner ftaatsbiirgerliden 
Pfliht die Moral der Bergpredigt zu 
verleugnen.“ Das ift ein unertraglides 
„Sntweder — oder“. Hier fdeint den 
Berfaffer aud das Aleberrationale im 
Stid zu laffen. Gs gibt aber eine Gr- 
fabrung des Gewiſſens, die im Olaubens- 
erlebnis liegt, aus der heraus wir gwar 
nidt die Gegenfabe aus der Welt fchaf- 
fen, aber Dur d die Gegenfäge mit einem 
ruhigen Gewiffen und einem reinen Her- 
zen „frei hindurchgehen“ fönnen. 
(Raabe) Go ift e8 im Kriege erlebt 
worden. Bon der Welt des Gewiſſens 
lefen wir bei Rolffs fo gut wie nichts. 
Bei ihm ift das Entideidende das Genie. 
Darum ift bei ihm die Religion aud nur 
ein Lebensgebiet neben vielen anderen. 
Grft die Einführung des Gewiffens in 
den Sefhidtsverlauf erreidt eine edte 
Gerbindung von Gthif und Gejdhidts- 
pbilofopbie. Hier fommt die Sinngebung 
des Geſchehens aus der ſchlechthin 
pon niemand gebotenen frei- 
en Sat, die das Gewiffen wagt, und 
die die Borausfebung aller höheren Gitt- 
lidfeit if. Für das Gewiffen ift die 
Religion die alles umfpannende Lebens- 
wirklidfeit. Grft bei dieſer Betradh- 
tungsweife erfcheint mir der Rationalis- 
mus ganz überwunden. Gie muß als 
notwendige Ergänzung den Rolffsfden 
Ausführungen binzugefügt werden. 
Karl Bitte 


Die Grimmſchen Marden plattdeutich. 


ie Gorwort zum erften Bande der 
Kinder- und Hausmarden vom 
Sabre 1812 fdreibt Wilhelm Grimm: 
„Wären wir fo glüdlih gewefen, fie in 
einem redt beftimmten Dialekt erzählen 
zu fönnen, jo zweifeln wir nidt, würden 
fie viel gewonnen haben; es ift bier der 
Sall, wo alle erlangte Bildung, Geinbeit 
und Kunſt der Gpradhe zu Schanden 
wird, und wo man fühlt, daß eine ge» 
läuterte Schriftfprade, fo gonad fie in 
allem andern fein mag, beller und durd- 
fidtiger, aber aud Ichmadlofer gewor- 


464 


den und nidt mehr feft an den Kern fi 
ſchließe.“ Saft diefelben Worte werden 
im Gorwort zur erften Ö©efamtausgabe 
pon 1819 wiederholt und bedauernd hin- 
zugefügt: „Schade, daß die niederbeffijde 
Mundart in der Nabe von Kajfel, als 
in den Grengpuntten des alten fadfifden 
und franfifen Heffengaues, eine unbe- 
ftimmte und nidt reinlid aufgufaffende 
Mifhung von iederfadfifdem und 
Hoddeutihem ift.“ 

Diefe Worte und die Tatfade, daß 
die Brüder Grimm die wenigen Mare 
den, die ihnen bon Freunden für ihre 
Sammlung mundartlid niedergefdrieben 
wurden, immer gerne und unverändert 
aufgenommen baben, bezeugt naddrüd- 
lid, wie febr fie empfanden, daß zum 
Bollsmärden die BolfSmundart geböre. 
Aud fie felbft Haben die Marden, Die fie 
unmittelbar aus dem Volksmund fchöpf- 
ten, offenbar nur in der Mundart ge» 
bört, in der allein dag Marden als 
miindlide eberlieferung im Bolfe lebt. 
Daß aus dem Zwang, ihre Warden 
troßdem in Der boddeutihen Sdrift- 
{prade erzählen und literarifh geftalten 
u müffen, ein Segen wurde, der Gegen, 
aß nun jedem deutſchen Kind feine 
Marden in einer allen verftändlidhen 
Gpradhe gejdenft wurden, ift ein rechtes 
deutihes Märdenglüd, deffen wir uns 
immer freuen wollen. 

Doppelt und dreifad aber fdeint der 
Plattdeutihe mit Wärchenglück gefegnet 
u fein. Denn wurde ibm burdh Wil- 
elm WWiffer, Hundert Sabre nad den 
®rimmjden, nod fein eigenes plattdeut- 
{hes Marden befdhert, unmittelbar aus 
Der Quelle geſchöpft, in der reinen und 
urfpriingliden Volksmundart, fo gebt 
nun aud) nod der pon uns faum ge- 
wagte, von den Brüdern Grimm ftill ge» 
begte Wunfd, den von ihnen gehobenen 
Märdenihag in der Mundart zu bee 
fißen, wieder uns Plattdeutiden in Gre 
füllung. 

Wilhelmine Gieffes erzählt 
uns in ihrem im §Griefen-Gerlag er- 
fdienenen Büdlein „Dort was ins 
mal" dreiundgwangig Srimmfde Mär- 
den in ihrem oſtfrieſiſchen Plattdeutſch; 
und — twas das Gnt{deidende ift — 
felbft die von Wilhelm Grimm befon- 
ders fein geftalteten Marden haben durch 
diefe Neugeftaltung in der Mundart in 
dem bon den Brüdern erwarteten Sinne 
gewonnen. Go uniibertrefflid und un» 
übertroffen Wilhelm Grimm die Aufgabe, 
das Volksmärchen aud im Hochdeutſchen 
naiv zu erzählen, durd feine aus feinem 
didterifhen Empfinden und Können ge- 
borene, dem findliden Hörer angepaßte 
Grgdblweife gelöft bat, jo wird dod 


durh den Bergleidh mit der plattdeut- 
fen Seftaltung Wilhelmine Gieffes über- 
geugend flar, daß bier wirflid der Gall 
ft, wo „alle erlangte Bildung, §ein- 
beit und Runft der Spradhe gu Sdan- 
den wird“. 

Die Llebertragung Wilhelmine Gief- 
fes, die felbftverftändlih feine wörtliche 
leberfegung ift, fondern eine Umbdidtung 
in den ®eift und die Gormen des Platt- 
deutſchen fein mußte, zeichnet fic — bei der 
ungewöhnlihen Kraft der überall ber- 
porleudtenden dichteriſchen Geftaltungs- 
gabe — durd eine rührende Treue in der 
Wiedergabe des Inhalts aus. Gomeit 
es, unbefdadet des mit unbeirrbar fide 
rem Gefühl erfaften plattdeutihen Er— 
gablftilg nur — war, wird faſt 
Sat für Sab inhaltlich getreu den Brü— 
dern Grimm naderzählt. Wo aber durd 
eine freiere @®eftaltung die Darftellung 
plaftifher und gefühlsmäßig eindring- 
lider wird, wie 3. B. im Gingang 
bon „Askenpuddel“ fdridt Wilhelmine 
Gieffe3 aud vor einer bedeutenderen Ab» 
weidung nidt zurüd, wobei jedod die 
inbaltlide Treue ftets gewahrt wird. 

Gin eingehender durch vergleidende 
Gegeniiberfiellung überzeugender Wad- 
weis, daß Wilhelmine Gieffes Marden 
neben den Grimmfden volle Dafeinsbe- 
redtigung haben, fann im Rahmen die» 
fer erften Anzeige nidt gegeben werden. 
&3 bedarf aber nod einer furgen Be- 
gründung, warum mir in ihnen aud eine 
willfommene Grgangung der Wifferfden 
Marden fehen. 

Sn der WifferfHen Mardenfamm- 
lung, auf deren nidt leicht zu über- 
Ihäßenden Wert die Bolfstumslefer wie- 
derholt bingewiefen worden find, ver- 
miffen wir faft alle die fih durch be— 
fondere Naivitéat und Gemiitsinnigfeit 
auggeidnenden Lieblinge unjerer Kind» 
beit. Gie waren, wobl gerade wegen 
ihrer findliden Waivitat, faft ganz aus 
der lebendigen Lleberlieferung verſchwun— 
den, während fid) die mannlideren und 
derberen Warden und Schwänke, die 
den größeren Raum in Wiffers Samm- 
lung einnehmen, bis in unjer Sabhr- 
bundert erhalten batten. Bei Wilhel- 
mine Gieffes finden wir nun fon in 
diejer fleinen Sammlung Sneewittje, As- 
fenpuddel, Doornrooske, Frau Holle, Fan 
de füwen Rawen und eine ganze Reihe 
anderer Warden, die jhon Wilhelm 
®rimm durd die Aufnahme in die fleine 
Ausgabe der Kinder- und Hausmärden 
ausgeidnete. Lind Wilhelmine Gieftes 
wetteifert mit Wilhelm Grimm in der 
liebe- und gemiitvollen Darftellung diefer 
feiner und Der Kinder und offenbar aud 
ihrer Lieblinge. Aus dem Bergleid zwi— 


fhen der Grimmiden und der Wiſſer⸗ 
{den Märdenfammlung muß man fdlie« 
fen, daß im Laufe des zwiſchen ihnen 
liegenden Jahrhunderts dod eine ge- 
wife feelifhe Berarmung des Bolfsmar- 
dens ftattgefunden bat, und wir danfen 
es Wilhelmine Gieffes befonders, daß 
fie durch die von ihr getroffene Aus- 
wahl für unfer plattdeutihes Bolfsmar- 
den aud in dieſem Sinne einen will- 
fommenen Ausgleid) geihaffen bat. 

Sir die Verbreitung der Warden 
Wilhelmine Gieffes mit allem Nahdrud 
einzutreten, ift Ehrenpflidt jedes Platt- 
deutfden und jedes Märdhenfreundes. Die 
oftfriefiihe, aud für viele Plattdeutide 
ungewobnte Mundart madt eifrige Wer- 
bearbeit nötig. Das Ginlefen in died 
edel flingende Plattdeutſch fann jedoch 
durch feinen Stoff leichter gefdeben, als 
an dieſen allbefannten, findlih einfachen 
Marden. Aus eigener Erfahrung fann 
ih jagen, daß mir, der ich bisher fo gut 
wie nichts in friefiiher Mundart gelejen 
babe, die gunddft unverftindliden Vo— 
fabeln und Wendungen nad der ein- 
maligen Leftiire des Biidleins faft aus- 
nahmslos vertraut waren. Seder Lefer 
aber wird fih für die leihte Mühe 
des Ginlejens reich belohnt fühlen. Wil- 
belmine Gieffes Warden verdienen e$, 
fünftig mit den Grimmfden und Wiſſer— 
ſchen gugleidh genannt gu werden. Uns 
find die Grimmjden Warden neu ge 
ſchenkt worden. Stanz Heyden. 


Hintemann. 


Der Spektakel legt ſich allmählich. Viel» 
leicht kann man nunmehr eine ruhige 
Meinung an den Wann bringen. 
Wir haben Tollers „Tragödie“ nach 
allen Seiten gewendet, um dem Ding 
etwas abzugewinnen. Aber — es iſt 
nichts. Es iſt wirklich nichts. 
Erſtens: Iſt der Hinkemann ein Ten- 
denzſtück oder nicht? Ih Habe nichts 
gegen eine Tendenz. (Sind nicht Wolf- 
rams Parzival und Kleiſts Herrmanns- 
ſchlacht Sendengwerfe?) Tollers Gtüd 
endigt mit Achſelzucken, es ift als Sane 
3e8 fein Sendenaftiid. Aber ihm ift 
ftrecdfenweije eine Tendenz angeflebt. 
Die Szenen, in denen der entmannte Hin» 
femann aus rührenden Motiven den 
„deutſchen Helden“ in der Schaubude 
mimt, find mit tendenziöfer Ironie über 
„Deutihes Heldentum“ vollgeftopft. Aber 
Diejer Spott wählt nicht aus den Cha— 
rafteren oder der Situation. Gr fönnte 
fehlen, und an dem Gang der „Tragödie“ 
ware nidts geändert. Alſo fällt der 
Spott nidt dem „Budenbefiter“ und dem 
„Peter GOroßhahn“ zur Laft, fondern dem 


465 


Autor ganz perfinlid. Gr Hat feinen 
Ginfall für fo wichtig gehalten, daß er 
e3 fid nicht verfneifen fonnte, ihn zu 
verwerten. Nidt die Tendenz, fondern 
das Angeflebte der Tendenz wirkt 
peinlid. So arbeitet fein Künftler, fon- 
dern nur ein Agitator mit mangelnder 
Seftaltungstraft. 

Smweitens: Das Werk ift ftillos. Teils 
bemüht ſich Soller naturaliftiih zu fein, 
teils judt er, wie man das nennt: den Na⸗ 
turalismus zu überwinden“. Se naddem 
es der mangelnden Geftaltungstraft des 
Autors gerade bequem if. Im Hinke— 
mann foll ein deutſcher Arbeiter nad 
feiner innerften, erdbenfhiweren Natur gee 
ftaltet fein. Soller felbft weift den Schau—⸗ 
{pieler an: „Immer bat feine Sprade 
das Ausdrudsihwere, Dumpfe der eler 
mentarifhen Geele“ ind wie fpridt 
nun Diefe „elementarifhe Seele“? Der 
deutfhe Arbeiter Hinfemann fagt in der 
Wohnfühe zu feiner Frau: „Spürft du 
nidt, wie eine große Ginfternis fid) über 
Did wirft?“ „... und deine Lungen 
pluftern fid, dein Baud follert fid por 
Laden. „Und wenn id gleid mid 
duden müßt wie ein Tier.“ Oder fpater: 
„Wachs ift in den Ohren, Wadhs — aus 
®eladter gefnetet und aus Spott.“ Wo 
baben wir dod diefen Tonfall gehört? 
Bei deutfhen Arbeitern nie, aber — in 
jüdifhen Feuilletong und in der Anter— 
baltung mit Suden. Pardon! Ih will 
nicht verlegen, aber id will eine Wahr— 
beit nidt verſchweigen. Hinkemanns 
Deutſch ift ſchlecht überfehter Sargon. 
Benn Grete Hinfemann eine Deutſche 
ware, fo würde fie allenfalls jagen: „Es 
ift zum Gergweifelni* Bei Soller 
aber jagt fie: „Am Gergweifeln bin id!" 
(Man fprede beides laut. Motorijd ver 
anlagte Sefer werden fofort den vere 
fhiedenen Körper- und Bewegungstyp 
berausfpiiren. Beide Sätzchen erzwingen 
ethnothpifd verfdiedene Geften.) Gin 
{pradlides Pradtbeifpiel für den Unter 
Ihied eines edten Deutih und eines 
überfetten Sargon ift der Schluß des 
erften Aktes. Grete Hinfemann, allein 
auf der Szene, jagt: „Man ift nur ein 
armes Weib. Und bas Leben ift fo 
bertworren.“ Go joll eine deutihe Are 
beiterfrau fpreden! Nein, fo fpricht die 
geiftreihe Sarah in einem literarifchen 
Salon. Ih bedaure jeden A bee 
gabten Schauspieler, der deutihe Arbei- 
ter auf Grund eines folden Tertes dar- 
ftellen foll. Die pom Autor beabfidtigte 
Sharafteriftif und die pon ibm gejpros 
dene Sprade find infongruent. Gin Wa- 


466 


ler, der die Garben nicht beherrſcht, fann 
niht malen. Gin Autor, der die Sprade 
nit beberriät, fann nit deutſche Tra- 
gödien jchreiben. 

Drittens: G8 ift unbegreiflid, warum 
die ebenfo bedauerlide wie unwahrſchein⸗ 
lide Begebenbeit Hinfemanns eine „Ira 
gödie“ fein fol. Gon Tragik reden 
wir, wenn tragiſche Sbharaftere gegeben 
find, oder wenn ein Schickſal finntief 
tragifd fih auswirkt. Hier aber ift Grete 
Hinfemann nur eine unmöglide Sans. 
Ware ihre Frömmigkeit pom Didter 
ernft gemeint, fo fiele fie nidt fo flaglid 
dem Großhabn anbeim. Da fie aber 
fo jammerlid ift, begreift man nidt, 
warum fie fid felbft mordet. Denn by- 
fterifh foll fie nicht fein, fondern eine 
geegde Arbeiterfrau. Gie mordet fid, 
amit eine ,Sragddie* gum Aufführen 
berausfommt. Denn zu einer Tragddie 
gener balt ein Sotmaden. Und ift durd 
iejen Sod ein Schidfal erfüllt und ir- 
gend etwas offenbar geworden? Hinte- 
manns lette Weisheit ift: „Wie ift das 
ſinnlos!“ An der Leide pbilofophiert 
er: „Warum aber trifft es mid, gerade 
mid? Wahllos trifft eds . . . Was wif- 
fen wir? Wober? Wohin?“ Sragit? 
Wenn Soller uns weiter nidts gu vere 
fünden bat als eine Gentimentalitat, 
warum madt er fid die Mühe, Tras 
gödien zu fdreiben? Zweckloſer Ehrgeiz. 

G8 ftebt hinter dem Werf nidt eine 
gureidende menſchliche Qualität. Der Ber- 
faffer ringt fentimental und darum bere 
eblih mit dem Problem des Leides. Gr 
Bolt die miglide Sragif nidt aus dem 
Stoff heraus. Lind er hat nicht einmal 
fo viel Ghrfurdt vor feinem Problem, daß 
er e8 vermeidet, fein Werf mit allerlei 
agitatorifher Ironie zu tapezieren. Es 
ijt durhaus nidt zu verwundern, wenn 
ebrlide und biderbe deutſche Gemüter 
fihd über dag Gewibel ärgern. Denen 
aber, die fih ibrerfeits wiederum über 
den Aerger aufregen, fagen wir: Ihr 
fönnt ja nidt einmal den Suden in 
Riderts „Bom Bäumden, das andre 
Blatter hat gewollt“ vertragen, fondern 
merzt ihn aus. Wenn Ihr den braven 
Rüdert wegen Raffenhaß verfolgt, wa- 
rum nidt den Soller? Könnt Ihr wirk- 
lid nidt objektiv fein? 

Im beige: laffen wir den belieb- 
ten Strom der Zeit aud diejes Zeugs 
verſchwemmen. Gs ift zu belanglos für 
Grregungen. Die armen Literaturhiftori=- 
fer, die aus lauter Wewiffenbaftigfeit 
aud das nod in ihren Literaturger 
ſchichten mitfdleppen werden! 


Der Beobachter 


oder ift das Wort „Abbau“ gefom- 
men, das heute gu den meiftge- 
braudten Wörtern gehört? Früher gab 
e3 nur ein „Bauen“ und „Aufbauen“. 
Das Gegenteil davon war „niederneh- 
men“, „abtragen“, „abreißen“, „nie= 
derreißen“ ufw. durch mannigfaltige 
Abjihattungen. DBauen fann man 
immer nur in die Höhe, in Die 
Breite, in die Siefe, alfo ins Orö— 
Bere, man fann durh „Bauen“ nichts 
fleiner maden. Bauen ift ein pofi- 
tiver, nidt ein negativer Begriff. Alfo 
ift „abbauen“ eine twiderfinnige Wort» 
bildung. &8 ift eben fo, wie wenn man 
das Wort „ihrumpfen“ oder „abiter- 
ben“ (alg den Gegenſatz von ,,wadfen“) 
duch das Wort „abwachſen“ erſetzen 
toollte. Der Birnbaum ftirbt nidt 
mehr ab, fondern wmadft ab. Groß- 
pater fdrumpft nidt mehr gufam- 
men, fondern wächſt gleidfalls ab 
oder in nod zeitgemäßerem Deutſch: 
„er ift dem Moreadien anbeimgefallen“. 
Daß ein fo blödfinniges Wort wie „Ab- 
bau“ ganz unbefangen von Mund zu 
Mund fliegt, ift ein Zeugnis für das 
„Abwachſen“ des finnenfriihen Sprad- 
gefühls im deutihen Bolte. 


n der Monatsihrift „Das Evange— 

lifhe Deutihland“ finden wir eine 
Mifhehen-Statiftik, die ein Licht auf die 
zunehmende Mifhung im deutihen Bolfe 
wirft. Gpangelifd-fatholifhe Mifchehen 
wurden gefdloffen: 1919 — 82033, 1920 — 
89144, 1921 — 73207, 1922 — 72349. 
Berhältnismäßig betradtet bildet dieſe 
abfolute Abnahme jedod eine Zunahme; 
denn auf 1000 Eheſchließungen fommen 
1919 — 97,16; 1920 — 99,60; 1921 — 
100,11; 1922 — 106,10 evangelifd-fatho- 
liſche Mifchehen. Evangeliſch⸗jüdiſche 
Miſchehen (wobei lediglich die Ronfef- 
ſion, nicht die Volksangehörigkeit beach— 
tet iſt) wurden geſchloſſen: 1919 — 1368, 
1920 — 1529, 1921 — 1322, 1922 — 
1363. VBerbältnismäßig bedeutet das 
eine Zunahme; denn auf 1000 GEheſchlie— 
fungen fommen 1919 — 1,62; 1922 — 
1,71; 1921 — 1,81; 1922 — 2 evange- 
liſch⸗jüdiſche Miſchehen. 


Einen ®egner au verleumden ift be- 
quemer, als ihn zu widerlegen. So 
malt man jebt in manden Kreijen, die 
nidt fonderlid durd Intelligenz ausge- 
zeichnet find, der andadtigen Gemeinde 
Den völkiſchen Sedanfen als heidniſche 
Wotansanbeterei vor. Eine bequeme Me— 


thode: man rupft aus dem politijden 
Wirrwald einige Auswüchſe ae 
und beizt damit die religiöfe Empörung 
an. So ift man des weiteren überboben. 
Was fümmerts diefe Gtreiter, ob die 
Engel im Himmel oder die Teufel in der 
Hölle über foldhes Werk laden? Iſidor 
findet diefe Methode ebenfalls ungemein 
prattiid. Gr madt immer mit, wenn 
e8 den Deutfden etwas am Zeuge zu 
fliden gibt. — Heute wollen wir unfern 
Leſern eine ganz befondere Dreiftigfeit 
ur frdbliden Beurteilung vorlegen. Bon 
onen ®umbel, deffen “Bud über die pon 
ibm ausgewählten politifden Morde 
weithin verbreitet worden ift, bat ein 
neues Bud im Malil-Berlag Heraus- 
gebradt: „Verſchwörer“. ‘Diefes mit 
einem imitierten Blutfpriber gefdmad- 
voll gebud{dmiidte Werk ift bevorwortet 
worden bon Herrn A. Frehmuth, Senats- 
präfidenten am Rammergeridt zu Berlin 
in Preußen. Sn dem fammergeridts- 
präfidentlih bevorworteten Werle befin- 
Det fih auf Seite 220 ff. ein „Literatur- 
verzeihnis“, das alfo beginnt: „Ich lege 
gre en Wert auf die Feftitellung, dah 
en vorliegenden Zeilen feine trüben 
Quellen zugrunde liegen.“ nd dann 
ftellt der quellenreine & 9. Gumbel 
feft: ,Deutide Volkstum, Das. Wonats- 
{drift für deutſches Geiftesleben. (Gnt- 
hält: Raffentheorien, Blutunterfudungen, 
Artifel über Wotan und andere völkiſche 
Götter und Anterſuchung, inwiefern Je— 
{us von Nazareth der deutſchen Sade 
ſchaden fann . . )“ Grinnern ſich unfre 
Leſer, je einen Artikel über Raffetheo- 
rien, eine DBlutunterfuhung, einen Auf» 
fat über Wodan, Donar ufw. oder über 
die Schädlichkeit Jeſu in unfern Heften 
gefunden zu haben? Wer etwas derarti- 
ges bei uns findet, foll bon der GEntente 
gum Borfibenden der militarifhen Kon— 
trollfommiffion gemadt werden, denn er 
fann mehr feben als gewöhnliche Sterb- 
lide. — Gumbel ... nun, er ernährt 
fih vermutlih mit der Fabrikation fol» 
der Bücher. Darum muß er wohl mit 
Sirigfeit arbeiten. Aber daß ein Senats- 
präfident am Rammergeridt feine Perfon 
und feinen Titel por ein derartig „zur 
verläffiges“ Material fpannt, das tut 
der Würde des preußiſchen Kammerge- 
ridts, von dem man peinlide Exaktheit 
und Objektivität erwartet, nidt gut. An 
was alles werden wir uns nod gewöh- 
nen müffen im Dollarifden Dominion 
®ermanh? 


467 


Wr lefen, nad den itbliden natio~ 
nalen §eften müffe man annehmen, 
„daß Deutihland ein hoffnungslofer Fall 
ift: verbohrt in militariftiidem Wahn- 
finn, verfallen der blutigen, brüllenden 
Phrafe und ein verbafter Stein des An- 
ftoßes für Die Gntwidlung der Welt. 
G3 wimmelt in Deutfdland oon Offi- 
ieren und ®emeinen, e8 herrſchen Ans 
etung der Lehre, daß Der Staat 
mebr fei, denn Chriſtus, und 
daß jeder Gidbrud gottgewollt fei, wenn 
es gefdiebt zum Leide der Republif und 
zur Serfdmetterung der ‚Seinde‘.“ Und: 
„Niemals war mir die deutfhe Wonne 
und Begier am Kriege, Sdladten, Gie- 
gen und Zertreten fo flar wie am Gonn- 
abend im beflaggten Braunfhweig. Sie 
wollen brennend gerne das Schwert gies 
ben ufw.“ Wo ftebt das? Im Matin? 
Nein, in einer deutfhen Zeitung, im 
Braunſchweigiſchen Golfsfreund. Gor 
lauter Bolfshaß vergißt der brave 
Sozialdemofrat den angeftammten Shri- 
ftusbaß, ein gelehriger Schüler der 
„Koalition“. Wenn das Bebauptete 
wenigftens wahr wäre; aber dies eben 
ift das Gdlimme, die baffpribende Bere 
dadtigung ift nidt einmal fadlid rid- 
tig. Und ein Golf, in dem fo etwas 
gejdrieben, gedrudt, gelefen wird, follte 
ein anderes Gdidfal baben fünnen als 
den Untergang? In deiner unje- 
ligen Bruft find deines Schidjals Sterne! 


Jehzt wolln wa mal zur Erholung ins 
Kino gehn. Da entkeimt der ge- 
funden Natur mit jedem Programmwech— 
fel immer nod) aufs neue eine unange- 
franfelte Kultur. Uns ift eine fin ge- 
drudte Ginladung zugegangen, die ift 
noch verlodender als ein PBrügelbericht 
aus dem deutihen Reichstag: „Sröff- 
nungs-Programm.“ „Am Ihnen etwas 
ganz Befonderes zu bieten, habe id die 
Grftauffibrung der nadftebend näher be— 
zeihneten Filme abgefdloffen.“ „Carlos 
und Glifabeth. Gin Drama von Liebe 
und Giferfudt in zwölf Kolofjalaften.“ 
„Man fennt die Hiftorie, man hat feinen 
Schiller im Kopf und fieht Gingewurgel- 
tes pliblid) verändert. Die alten ver- 
trauten Perfonen zeigen ein neues Gee 
fidt. Da a e8, Borgefaftes zu uns 
terdrüden, Literatur und Theater zu ver» 
geffen und das neue Werf unbefangen 
auf fic wirken zu laffen. Nur fo wird 
man feinen inneren Werten geredt ... 
Dann dDidtet der GFilmmann — mit ei- 
nem Geitenblid über den Ozean — fei- 
nen großen nervenfpannenden Schluß— 
effekt: Snquifitionsurteil gegen Don Care 
Ios. Liebesabſchied im Rerferverliefs. 
Aus den Armen Glifabeths auf den 


468 


Ridtblod. Das Haupt des Geliebten 
fällt zwei Gefunden por der pe 
gung. Ale Pulfe ftoden. Das Sdid- 
fal auf dem Gilmband läuft weiter: Sli— 
fabeth wird vom Gdlage gerührt. In 
Reue zerfließt Philipp an ihrer Babre. 
Sm SKlofterfrieden fudt er Bergeffen. 
Die bittere Krone überläßt er dem pier- 
jährigen Zödterlein. — O VBötter, o 
Menidengefhid — — !... Das Spas 
nien der Snquifition erftebt mit Pomp 
und Prunf, mit Reifrdden und Spiben- 
fraufen, mit Thronfälen und Palaftge- 
mädern, mit Palmengarten und Tazus- 
gängen. Belaspuez und Marillo (!) er- 
toaden zu neuem Taontineiben eben. 
Werndorffs Bauten und Koftüme find 
pon troßend deforativer Pradt. Em— 
pfindungen ſchweigen fonft in diefer ftei- 
fen und falten Orandezza. Aber Eugen 
Klöpfers Grimm und Schmerz Iodern 
brennend durch den filbernen Harniſch, 
Conrad Beidts Fladerauge kündigt Ek— 
ftafen, die fein junges Herz flammend 
verzehren. Und Glifabeth? Go glut- 
äugig und heiß wie Dagnh Servaes blidt 
feine teilnamslofe andalufiihde Königin. 
Nur Egede Niffen als Eboli, Dieterle 
als Pola, Kühne als fdleihender Sefuit, 
por allem Klein als Grofinquifiteur, 
mit der fteinernen Maske, find mebr als 
Koftiimpuppen in der Welt leeren Schau- 
gepränges. Hauptdarfteller: Dagny Ser— 
paes, Aud Egede Niffen, Gonrad Beidt 


. uf.“ „Zu diefem Film bringe id 
ein ganz entzüdendes Luftfpiel: Das 
Lieben ift fhredliih! Zwei Alte Gie 


werden faum ein fo originelles Luft{piel 
gefeben baben. Sranen werden Gie la- 
hen!“ — Da müffen wir hin, Auguftel 
Grft fuden wir zu, wie Don Garloffen 
fein Kopp runterfullert und nadber 
laden wir Tränen. — Hier, meine Herr- 
(haften, feben Gie tiefer ing Innere 
der Natur des Bolfes hinein als in ir» 
ge einem Bud oder Schaufpiel. Wir 
ruden das nidt, damit Sie in Kultur» 
trauer verfallen oder in Kulturentrüftung 
fprühn, fondern damit Sie — fid aud 
mal amüjfieren. 


Gr Negertenor fingt deutihe Lieder. 
Sn Berlin. Das 8 Whr-Wbendblatt 
fbreibt dazu ſchmelzend und ſchmalzend: 
„Mit welder Anmut weiß die ſchwarze 
Hand die blaue Blume der Romantik zu 
reihen. Seien wir aufridtig. Schumanns 
‚Sb bab’ im Traum geweinet’ wird aud 
pon Deutſchen faum ftimmungspoller ge- 
fungen als von diefem Mobren, der weit 
mehr als feine Schuldigfeit tat, bevor er 
geben konnte... Schon wegen des Borur- 
teils, das bier in fpmpatbifdher Gorm 
entfräftet wird, foll man Hayes gehört 


haben. Der Beifall ftieg bis zur Se 
bite an. Denn wenn ſchon ein weiße 

Senor Grauenbergen böber — 
macht, um wieviel mehr ein fdhmare 
ge rt!“ Insgefamt: ,Gine Ginfiblung in 
ie Seele des Deutfden Liedes, die ein 


fad ftaunen madte“ Wenn ein Neger 
fih in die Geele des deutfhen Liedes 
einfühlen fann, warum bringt e8 dann 
das 8 Ubr- Abendblatt partout nidt fer- 
tig, fid in die Geele des deutihen Bol- 
kes einzufühlen? 


Zwieſprache 


Penn diefes Heft an die Lefer gee 
langt, wird die von der Fichte⸗Ge— 
fellfdaft veranftaltete Tagung für deut- 
{he Nationalerziehung in Hamburg ftatt- 
finden. Wir hoffen, nad den Anmeldun- 
gen, daß es eine frudtbare Tagung wird. 
Die Vorträge von Prof. 9. Dr. Otto 
Scheel, Prof. Dr. Othmar Spann und 
mit jowie die Ausipradhe werden furz- 
{Oriftlid aufgenommen und unter dem 
Sitl „Bolfstum und Staat“ 
berdffentlidt. Das Bud, das nod vor 
Weihnadten berausfommt, wird fider 
nidt über drei Marf foften. Da feine 
Hobe Auflage gedrudt wird, ift es am 
beften, daß die, die fid für dieſe Dinge 
beſonders intereffieren, fogleid beftellen 
durch Budhandlung, durdh die Hanje- 
atiſche Gerlagsanftalt oder durch die 
SichtegefelHaaft). 

Sn den beiden vorigen Heften find 
mehrere Drudfebler fteben geblieben, pon 
“ denen wir die belangreideren bier an— 
geben wollen: Seite 343, Zeile 13 v. u.: 
entwarf ftatt vorſah. Seite 349, Zeile 4 


b. u.: Bod ftatt dod. Geite 361, rechte 
Spalte, Zeile 5 bv. o.: hinter Liebe ift 
eingujdalten: ift. Seite 362: der Auffat 


über Grig Haß ift nidt von Baumgart, 
fondern von Braungart in Minden (wie 
auf dem Umſchlag richtig ftand). Geite 
392, Zeile 10 b. o.: zehnten ftatt neunten. 
Seite 417: rechte Spalte, Seile 37 v. o.: 
müffen binter wurde Anführungsftride 
ftebn, um das Zitat abzugrenzen. Gben= 
da Zeile 3 b. uw: hen | e3 Joos ftatt 
Sooft beißen. 

Unſre Bemerfung gegen den Abge- 
ordneten Idos, daß er mid wegen Hei- 
dentums in feinen Wahlverfammlungen 
angegriffen babe, ftühte fih auf einen 
als Seiter gebradten Beridt des Clever 
Golfsfreundes. Da id auf Nadfrage 
pon Herrn Boos feine Antwort erbielt, 
nahm id den Beridt als zutreffend an. 
Nunmehr erfahre id) von Herrn Joos, 
e3 babe fid nidt um eine „Wahl- 
verfammlung“ (wie id aus der Auf» 
madung ſchloß), fondern um eine „Ka 
tholifenverfammlung“ gehandelt. Der Bee 
ridt im Glever Bolfsfreund fei ihm nie 
gu Geſicht gefommen. Ih habe jest den 


Gindrud, dat Herrn Boos’ Bemerkungen 


nidt verlebend gemeint waren. Das ift 
mir angenehm, es entfällt mir damit 
der Orund zur Schärfe und Ditterfeit. 
Daß ih mid nidt gern als undriftlich 
binftellen laffe und nidt etwa gar unter 
das Stidwort „Ber — der Nation“ 
geraten möchte, werden die Lefer unfrer 
Seitidrift verftehen. Leber die neuefte 
Diesbegiiglide Leiftung (von Gumbel) 
fiebe porn im „DBeobadter“. — 
Wilhelm Leib! würde im Oftober 
adtgig Sabre geworden fein (und damit 
nod nidt das Alter Hans Thomas er- 
reiht haben!) Das zufällige Datum gibt 
ung Anlaß, endlid einmal — wir 
wollten es ſchon längft — mit Naddrud 
auf ibn binzuweifen. Leibls Bilder zogen 


‘mid in den Bilderfammlungen ftets be- 


fonders ftarf an, und ihre Kraft wadft, 
je länger man fic) mit ihnen befdaftigt. 
Gin Bild wie das der drei Frauen in 
der Kirche iſt nicht auszuſchöpfen. Wenn 
wir einen Ausſchnitt daraus bringen, 
ſo, um die feine Einzelarbeit deutlicher 
zu machen. Uebrigens pflegte Leibl bei 
Bidern, die ibm nicht gelungen fdienen, 
die unanfedtbar guten Seile herauszu— 
fOneiden und aufzubewahren, die andern 
aber zu vernidten. Aud er madte alfo 
„Ausſchnitte“. Als Beifpiel der faft hol— 
beinifhen Bildniskunſt Leibls bringen 
wir das Bildnis des Arztes Dr. Rauert. 
Wie wundervoll ift e8 aud farbig! Das 
belle, zarte Fleiſch, der rötlihe Bart, 
der bräunlide Hintergrund, der graue 
Anzug. Und wie ift die ganze Art 
Diefes Menfhen in Haltung und Blid 
gegeben! Beide Bilder hängen in der 
Hamburger RKunfthalle. Die biograpbhi- 
{hen Angaben, die id für die Charak— 
teriftif verwendet babe, ftammen zum 
Teil aus einer VBorlefung von Profeſſor 
Karl Goll, zum größten Teil aber aus 
Dr. Sulius Mayrs „Wilhelm Leibl. Sein 
eben und fein Schaffen.“ (Bruno Gajfi- 
rer, Berlin). Mayr hat feinen langjäh- 
rigen Greund auf das Anziehendfte dar- 
geftellt. Schade, daß der Berlag ein fo 
— Werk ſo lieblos ausgeſtattet 
at. — 

Im Maibeft wiejen mir, gelegentlich 
der Würdigung Sobann Hinrid Febrs’, 
auf die Gebrs-Gilde Hin. Wir mödten 


469 


nadbolen, daß diefe Gilde nidt nur 
Fehrs' Andenken pflegt, fondern „ein 
niederdeutfher Kulturverein ift“. „Sie 
bat fid für das niederdeutfhe Stammes- 
tum Gbnlide Ziele geftellt wie die Fichte» 
©efellihaft für das deutihe Volkstum.“ 
Das Hegelide Wort am Schluß über 
den Anwert einer abftraften Gitt- 
lichkeit ftammt aus den „aosleiungen 
über die Philofophie der Geſchichte“, die 
obwohl bon DBrunftäd bei Reclam im 
Sabre 1907 gut und ug herausgegeben, 
im gebildeten Deutfhland wenig befannt 
find. Man rede nidt unbefeben Scho- 
penbauers Urteil nah — HegelB Gee 
ſchichtsphiloſophie geboet gu fen geift- 
pollften Büchern, die ih fenne Dah 
vo. einem Werf von folder Höhe nod 
eine „materialiftiihe Gefhihtsauffaffung“ 
möglih war, gehört zu den ratfelbaften 
— des Geiſtes. — 
das Wenige, was ich vorn zur 
politifden Lage {drieb, den Meiften „zu 
düfter“ porfommen wird, weiß id. Aber 
e3 ift wahr. Leute, Die vor allem wirt- 
{daftlid denken, feßen ihre „Hoffnung“ 
auf das „Wiedererftarfen der deutiden 
Wirtfhaft“. Sie wird nur als ameri- 
fanifhe Proving erftarfen, und je ftarfer 
die Wirtfhaft wird, um fo fetter und 
bebaglider wird das Leben und um fo 
mehr gebt — der Wille zur Nation 
flöten. Wenn es den Deutfden allzu 
gut gebt, verlumpen fie allzu leicht: 
fiehe die deutfhe Oeſchichte. Andre, die 
an eine „Menjhheitsentwidlung“ glau« 
ben, feben ihre „Hoffnung“ auf den 
Bölferbund. Man febe fid dod die 
Bölferbündelei in Genf an: da fuden 
die Siegervölfer die unterlegenen Völker 
mit ewigen Retten zu binden. {Ind 
dabei bofieren und fomplimentieren fie 
famtlide heilige Sugendgdttinnen: die 
Wabrbeit, die Geredtigfeit, die Frie- 
Densliebe, die Menfdenliebe, die Auf- 
ridtigteit. ®efund, ftrahlend und ohne 


Sham, an jedem Arm eine beilige 
Göttin, präfentieren fid die Vertreter 
der bom Weltenjammer. fid mäftenden 
Giegernationen auf der Bühne am lacus 
Lemannus römifh-cäfariihen Angeden- 
fens. Der Völkerbund in Genf — man 
mag fid über das folgende Wort em- 
pören, aber e8 foll Ddaftebn, denn es 
ift wahr — ift ein abfdeulides mo- 
raliihes Bordell, in dem die Sieger fid 
mit den Tugenden amüfieren. Und auf 
diefes ſchamvergeſſene ©etriebe foll man 


„Hoffnungen“ gründen? Gin fauler 
Baum bringt in alle Gwigfeit nur arge 
Srüdte. 


Die deutfhe Politif oder vielmehr: 
der deutſche Verzicht auf Politik ift für 
abjehbare Zeit feftgelegt. Wer fann ete 
was daran Ändern? Das politifhe 
Leben Deutſchlands ift in einen wmeiten, 
ftagnierenden Sumpf gemündet, aus dem 
fein Abfluß ift. Es bat gar feinen Sinn, 
in Diefem trüben Sumpf ein Geplemper 
zu maden: tut man’s, fo verfadt man 
nur um fo tiefer. Daß dem fo ift, muß 
eine SIrfade haben. Gine folde po— 
litifhe VBerfumpfung wäre unmiglid 
ohne einen von tief ber mirfenden 
Örundirrtum. G8 gilt alfo, zunädft den 
Irrtum aufzudeden, aus dem alles Uebel 
unleres Rage fid berleitet. Es muß ein 

adlider Irrtum fein, denn fonft 
Bären die Folgen nidt eingetreten. Nur 
wenn man den Srrtum erfennt und be» 
bebt, fann man den Strom. aus dem 
Seblbett wieder in das richtige Bett 
leiten. Aus all meinem Nachdenken 
ergibt fid) immer gender der Grund— 
irrtum ift as Wajoritats. 
pringip. Diejes Prinzip ift der große 
@rundirrtum der weſteuropäiſchen Rul- 
tur, an dem fie gugrunde geben wird, 
wenn feine Herrfdaft nidt durd Die 
redtzeitige Grfenntnis — wird. 
Darüber werden wir Stinftig nod 
Wefentlides zu fagen haben. St. 


Stimmen der Meifter. 
D etwas Leeres, wie „Das Gute um bes Guten willen“, hat überhaupt in der 


lebendigen Wirflidfeit niht Plab. Wenn man bandeln 


will, muß man nidt 


nur „das ©ute“ wollen, fondern man muß wiffen, ob Diefes oder jenes das 


@ute ift. Welder Inhalt aber 
ift für die gewöhnlichen Galle des 


ut oder nidt gut, redt oder unredt fei, dies 
ripatlebens in den Gefeben und Sitten eines 


Staates gegeben. Das Hat feine große Schwierigkeit, es zu wiffen. Jedes Indie 
piduum bat feinen Stand, es weiß, was rechtliche, ebrlide Handlungsweife über- 
baupt ift. Wenn man es für die gewöhnlichen Privatverbaltniffe für fo ſchwierig 
erklärt, bas Redte und Gute zu wählen, und wenn man für eine vorgitglide Mora- 
lität hält, darin viele Schwierigkeit zu finden und Skrupel zu maden, fo ift dies viel 


mehr dem üblen oder 


böfen Willen gugufdreiben, der Ausflühte gegen feine 


Pflidten fudt, die zu fennen eben nicht ſchwer ift, — es pH wenigftens für ein 


Müßiggeben * reflektierenden Gemüts zu halten, 
das ſich alſo ſonſt in ſich zu tun macht und ſich in der 
®eorg Wilhelm Friedrich Hegel 


viel zu tun und 
moraliſchen aboblactalligtett ergebt. 


470 


dem ein fleinlider Wille nicht 








Neue Bücher 








Die Herdflamme. Sammlung ber gefell- 
hafts-wiffenihaftlihen Grundwerfe aller Zeiten und 

Ol fer. — von Othmar Spann. Ver or 
Fifher, Jena. Bd. I: Adam üller, Die Ele 
mente der StaatStunft. Herausg. von pees nt 
Bwei Halbbande zu 475 u. 608 Seiten. Geb. 10,50 Mt. 
— Bd IE: Adam Müller, Berfuhe einer neuen 
Theorie des Geldes. Mit erflärenden Anmerfungen 
bon Helene Liefer. 332 Seiten. Geb. 3,50 Mt — 
Bd. IV: Auguftinus, Der Gottesftaat. Bon 
Karl Bolter. 194 ©. 

Die Sammlung Herdflamme will die von der 
individualifti{den ernten af vernadläffigten 
„Srundmwerfe der univerfaliltiihen Meifter zu neuem 
Leben erweden“. Während Smith, Ricardo, Malthus, 
Comte leiht zugänglih find, mußten jene andern 
Plato, Auguftin, Thomas, Adam Müller, Hegel, 

taufe) gurudfteben, waren gum Teil geradezu une 
augänglid. Die Herbflamme will, fchreibt Spann, 
„die Funken des Gemeinjcaftsgedantens von über» 
aller jammeln und zu einem heiligen Feuer empor« 
ſchlagen lafjen“. — Gunadi wurden zwei Hauptwerfe 
von Adam Heinrich Müller, dem oft gerühmten, aber 
faum gefannten, neu herausgegeben. Die 36 Bore 
lefungen über „die Elemente der Staatäfunft” (1808), 
in denen Müller, auf den rig ee Scellings und No» 
valis’ fomwie des Englanders Burke die Idee des „or. 
aniſchen Staates” ausführt, enthalten: 1: Idee und 
egriff des Staates. 2. Ydee des Redıtes. 3. Geiſt der 
Gejeggebungen im Altertum und Mittelalter. 4. ee 
des Geldes und des Nationalreihtums. 5. Die ofo~ 
nomifhen Elemente des Staates und der Handel. 
6. Verhältnis des Staates zur Religion. Dr. Baza 
a außer den Anmerfungen eine kurze a 

fillers fowie eine Fülle von Dokumenten zu Müllers 
Leben binzufügt. (Anmerkungen, Dokumente uſw. 
über 300 Seiten.) Born ein Bild Müllers von Ger- 
bard v. Kügelgen. — Sodann hat Dr. Helene Liefer 
die „Geldtheorie” (von 1810/11) in ähnliher Weife 
herausgegeben. Beide Werle find für den Aufbau 
völfifher Gedanken von unfhäsbarem Wert. Wir 
werden eingehend auf fie zurüdlommen. Die „Ele- 
mente” empfehlen mit aud) den Nidt-Fadhleuten zu 
Genuß und Anregung. — Aus dem berühmten 
„Bottesftaat” des Auguftinus (413426, alfo bald 
nahdem Alarih Rom erobert hatte, gejchrieben), hat 
Prof. Dr. Boller die ftaatswiflenfhaftlihen Teile 
berausgefchnitten und (mit verbindendem Text) über- 
fest, bei den widtiaen Partien hat er unterm Strid 
den lateinifhen Text hinzugefügt (eine fehr glitdlide 
Methode). Go fann man Pe leihte Weife einen 
Ueberblid über das vielberufene große ert bee 
fommen. St. 

Othmar Spann, Bom BWefen des Bolts. 
tums. Was ift deutfh? 7.—15. Tauſend. 24 Seiten. 
Johannes Stauda, Augsburg. 

Die dburdgefehene neue Auflage des Vortrags, 
den wir [don vor längerer ae ausführlih gewuͤr⸗ 
digt haben. Wir bitten unjere Lefer um fleißige 
Verbreitung bes Heftes. t. 

Heinz Marr, Bon ber Arbeitsgefinnung 
unfeter induftriellen Maffen. Ein Beitrag zur Hp dt 
Menſch und Mafdine. (Frankfurter gelehrte Reden 
und Abhandlungen. 1.) 17 Seiten. 50 Pfg. Englert u. 
Schloſſer, Frankfurt a. M. 

Das ift etwas, das unfere Lefer befonders angeht. 
Dr. Marr ftellt vergleihend nebeneinander die Are 
beitögefinnung der Romanen, Englander und Deut 
per. Er gebt alfo vom Menden, und gwar von 
em duch fein Bollstum beftimmten Menſchen aus. 
Gegen die fentimental-romantifhe Arbeitsauffaffung, 
gegen die „Arbeitsphbilofophen a la Levenftein“ ftellt 
er die (fait fanatifhe) Gadlidteit als das 
eigentlih Deutihe bin, zeigt aud ben pesifiid 
preußifhen Einfluß auf das deutide Arbelisethos. 
Der deutſche Arbeiter verzichtet qu auf ben „per- 
onalen Eigenwert der Arbeit“, das Lantijche Pflicht» 
deal, das „der außerdbeutfhen Welt ftets unverftand- 


lid, ja unheimlich bleiben wird“, waltet aud in dem 
eigentiimliden Arbeitsethos des deutſchen Proleta- 
tier’. Dies glangende Werflein, das einen reihen 
Inhalt in befter, angenehmiter Form gibt, empfehle 
ih all unjern Jungdeuiſchen und QJungnationalen 
auf das angelegentlidfte. St. 

Charies X Hartmann, Wer trägt bie 
Schuld am Welttrieg? Mit bisher unbefannten Doe 
tumenten aus den ruffiihen Urdhiven. 27 6. Bere 
lag der ,Deutiden Rundſchau“, Berlin. 

Die in diefem Heftchen entbaltenen Tatſachen find 
burd ihre Beröfientlihung in der „Deutihen Runde 
ga guerft befannt geworden und dann raſch durch 
ie ganze Brle gegangen. Uber biejes aterial, 
wie bie Beitehungsliite der franzofiiben Beitungen 
die Berichte Raffaloviths und Ysvolstys ujw. mu 
man befigen, denn mer nur, wer den Srieg 
gemadt bat, fondern vor allem, wie er gemadt 
wurde, ift aus den Imappen fonfreten Urkunden er- 
fihtlid. „Man lernt täglid von neuem die Bere 
adtung diejes Gefindels“ ſchreibt jelbit der ruffiiche 
„Auftaufer” der franzöfiihen offentliden Meinung. 
Da das Heft, das die Bedrohung der Nationen durch 
eine wiriſchaftlich beeinflugbare Preſſe zeigt, von 
vielen Zeitungen —— — werden wirb, jet 
bier nahdrüdiih darauf hingewieſen. A. €. G. 

Die deutſche if FES ALF Bielif- 
Biala. (Heft 1 der Schriftenreihe der beutfchen 
Gemeinfdhaft Bielig „Deutihe Gaue in Polen“, here 
ausgegeben von Biltor Kauder.) 96 Seiten, mit 
Bildertafeln und einem SKärthen. Verlag: Das 
junge Wolf, Plauen i. Bogtl. 

Für den Binnendeutfhen ift die Meine Schrift 
eine ausgezeichnete Einführung in dad ins flawifde 
Meer hineingebettete Oſtdeutſchtum. Wir lernen feine 
eiſtig⸗ſeeliſche Lage an einer beftimmten Stelle 
ennen, wo ji die Verhältniffe bejonders günftig gee 
ftaltet haben. Und doch weld ein ſchweres, unermüd«- 
liches, ftilles und nur felten waffentlirrendes Ringen 
burd die Jahrhunderte hin! So geht e8 — wie weit 
nah Often binein! — feit weit mehr als einem 
balben Gabrtaujend. Das Heft enthält Beiträge von 
berfdiedenen Berfaffern. Es berichtet von den heute 
nod) lebendigen Sorgen, von dem Brauchtum, ber 
Geſchichte, der heutigen Lage jener völfiihen Inſel- 
menfhen. Wir lernen den Volksſplitter als ein 
Ganzes, al8 einen fih immer wieder berjüngenden 
Helden len Bir fehen Ihre heutige Aufgabe 
von den berufenen Trägern erfaßt. Wir fpüren es: 
fie find Altiviften in unferem Sinne, find Jugend⸗ 
bewegte, deren Denen, Fühlen und Wollen dem 
unferigen im beutfhen Mutterlande ganz entſpricht. 
Sie find feine „Schriftfteller“, fondern wirkliche, 
lebendige Brüden, wie fie das fünftige er 
in feinen Rindern außer Landes braudt. J. W. M. 

Hans Friedrid Blund, Stelling Rote 
finnfohn. Die Gejhichte eines Verkünders und feines 
Volle, Mit 7 Holzfhnitten von ns are. 303 
Seiten. Geb. 7, geb. 9 Mt. Geor, filler, Münden. 

Der „Stelling“ gibt dem „Bernd Fod“, jener 
„Mär vom gottabtrünnigen Sdhiffer”, nicht® nad 
es ift ein Werf, das lange bleiben wird, Blund 
greift bier zurüd in die legten Jahre Karla des 
Großen, in die Beit Ludwigs des Frommen und 
feiner ftreitenden Söhne. (810—850.) Ort: die Gee 
gend von Itzehoe, Segeberg, — dazu Wilin- 
ger- und Raufmannsfabrten über die ganze Nordſee. 
Das täglihe germanifhe Bauern-, SKriegere und 
Handelsleben in Feld und Wald und zur See erhält 
ine Farben aus den alten Sagas. Die Franken 
aben die Sahfen wnterworfen, thre Grafen fuden 
die alten Götter auszurotten. n den Wäldern, 
todumlauert, lebt nod der alte Kult, mit ihm ber 
Greibeitswille, die Bereitfhaft zum Aufftand. Gere 
manifhe Meffiashoffnungen vom „weißen König“, 
bom miederfehrenden Balder geben um. In bieje 
Rett binein wird dem Abbo Rotfinn, dem geadteten 
reibeitsfampfer, fein letzter Sohn Stelling von 


471 


& 


einem Waldmädchen geboren; er hat von der Mutter 
die Gabe des Traumgejidhts. Die Erzählung get 
nun das Sdidjal Stelling’ und in und mit ihm bas 
der fähfifhen „Norbleute”. Die erften vier Kapitel 
erzählen bie Kindheit und Jugend Stellings, bie 
jweiten vier Kapitel führen über bas Liebeserlebnis 
bis gum Wilingeriode des Vaters und dem Wunder 
der Rettung Steliings. Ym dritten Viertel ber Gee 
gi te beginnt die Mejjtashoffnung ded Bolles ja 

telling gugudrangen. Er geht in bie Ginfamfeit 
des Waldes, bis es ihn endlih zur Verkündigung 
feiner Myſtik — wir denfen an Edebart — hinaus 
gum Wolfe treibt. Das legte Biertel bringt den 
Kampf. Stellings inneren Kampf mit Thioda, den 
Kampf gegen die Wunderjucht des Volks, den neuen 
Kampf der Nordleute gegen die Franfen. CEndlid 
der ee: Ein großes Fragezeihen am 
Schluß: die Erdfremde des „weißen Knechts“ (Stel- 
lings), der „wohl ein Herzog hätte fein follen und 
ein Wunderiraumer war“. Das Bud, das uraltes 
Leben erneuert, ift bid gum Berften mit der feelifchen 
Atmofphäre unferer Beit geladen. Es ift geradezu 
das Bud der beiten heutigen A ok Szenen, die 
fic) unvergehlih einprägen: das Rind Stelling und 
der Wijent im Urwald, Gtelling Verfolgung der 
Idrut über das Eis, Stellings und Thiodas Flucht 
vor den Wolfen ufm. Das Buc trifft überraſchend 
mitten in die innerften QYntereffen ber Lefer des 
Deutfhen Bollstums hinein! t. 

Sreifentalender 1925. Herausg. Bilt 
Geißler. Greifenverlag, Rubolftadt. 

n bdiefem Jahrgang des aus ber Yugendbetwe- 
ung entftandenen Wbreiffalenders foll „alles inner- 
Paik der zeitgenöfjijhen Kunft Bedeutungsvolle 
Niederfhlag finden“. Das ift eine unmöglihe Auf- 
abe, darum ift fie felbjtverftandlid auch nicht er- 
fin, Das innerlid Ergwungene gibt dem Ganzen 
die Signatur: die Signatur der Beit! Das innerfte 
Wefen bdiefer Zeit offenbart Hallerftedes „Der Er» 
bangte (fünftleriih gut!) Gutes von Hans Groß, 
Gelbe, Tilgner, Wendling, Pape (aber nichts Beſſeres 
als fonft), Giginger u. a. Schmidt-Rotluff — nein, 
Dak man Ganfens „Anklage“ und Hoerles „Zeit- 
glofje” eine Woche lang vor der Naſe hängen haben 
fol... ?! babe Janſens Sprud „Quatſcht 
nicht, helft” befolgt und mir geholfen, indem ic) fein 
Blatt berausrif. Für die von Windler gewählten 
Gedichte gilt Aehnliches. Gutes von Kolbenheyer 
(bas bejte im ganzen Kalender fein „Ueber Nadt“), 
von Rötiger, Heffe, Lerſch (aber nur das eine: „Grell 
tnallen...“), vielleiht aud Kneipe Chriftophorus. 
Die andern bebe ih mir nicht auf. 
fie alle: Mombert, Liffauer, Toller, Heynide, Ed— 
mid — was tas Lerg begehrt. Wie fonnte man 
ie fchreiend unedhte Lins-Jmitation des (fenti- 
mentalen) Toller wählen. Weber Armin FT. Wegners 
„Welt, du fanujt much nicht vermunden!“ mußte id 
unwillkürlich laden, und ih babe diefelbe Wirkung 
prompt bei jeder Borlefung erprobt. Das war aber 
dod wohl nicht der Bwed des Yung-Sciller-PBathos. 
„Meine Seele hat in Blut gebadet, aus der Welle 
fteigt fie unbefdadet.” (Weil „unbeſchädigt“ fi) nicht 
reimt, muß man ſchnell „ſprachſchöpferiſch“ werden — 
unbefdabet feines Didterrubms.) Am begeidnendften 
für unjere Zeit ift das Cindrud-maden-wollen mit 
„ſprachſchöpfetiſchen“ Geiſtesblitzen. Was einem 
Goethe in zehn Gedichten einmal gelang, macht der 
heutige in jedem Gedicht dreimal. eynide: „Des 
Lebens rundraufdende pon birft bic) mit Leben 
voll.” (Pfui dom!) Liffauer: „Aus allen Gärten 
ftürzen Vogelſchälle.“ (oot Gewolt und nicht 
gefonnt! Das Schwerfte ift dod der Verzicht auf 
Unerreichbares. St. 

Deutjhes Land. 1925. 2 ML. Hermann 
Cidblatt, Leipzig 

Der Abreiflalender hat den Vorteil, zu einem be- 
ftimmten Zweck dazufein: er will bas Gedadtnis an 


Bertreten find 


entriffenes und bejegtes deutſches Land ‚feitbalten _ 
fein abftrafter Bwed wie „die Kunft“! Es find 
hübſche, meift {dlidte Landſchafts- und Architektur 
bilder, darunter einige rect feine. Baterländiſche 
Gedihte und Spriihe von verfdiedenem Wert 
eingeftreut. Go wird auf fultiviercte Weiſe ein Bee 
dürfnis befriedigt 

Gefundbrunnen. 1925. 160 Seiten. Geb. 
0,70, geb. 1,20 Mt. Georg D. W. Callwey, Münden. 

Dak der Diirerbundfalender aud nad Avenarius’ 
Tode feinen alten Charafter treu bewahrt, ift erfreu- 
lid) in einer Zeit, wo ae die Fliegenden Blatter 
ihre tiidtige alte Art aufgeben „mußten“. Der Band 
bringt Avenarius’ Bild von Gamberger und einen 
ausgezeichneten Wuffag von Dr. Ullmann über ibn. 
Dazu eine Anzahl Gedichte und allerlei avenarianijde 
Weisheit durd den ganzen Kalender hin. Der zweite 
De der in dieſem Jahrgang herrſcht, ift 
ean Paul. Ym übrigen find all die Gebiete be- 
rüdfihtigt, die man im „Gejundbrunnen“ fudt. St. 

ua Leander Gampp, Gottfried. 
Keller-Büchlein. Ollmanh u. Hinge, Berlin- 
Qriedenas, 

Dem Morife-, Storms und Cidhendorffbidlein 
folgt mun ais viertes dieſe Seller-Musmabl, ge- 
ſchrieben, y„ezeichnet, umfonnen und durdjponnen 
bon Gampps feiner RKunjt. Der Künftler bat bier 
ein Gebiet merfbar erweitert. Das „Zrintt, o 
ugen...” und die Rize unterm Gis, fo völlig fie 
aud Gampp find, haben neue Töne. Das Büdlein 
bat ein ge Format als die andern, mwas ber 
Wiedergabe der Gamppſchen Zeichnungen fehr zugute 
fommt. Der Einband ijt entzüdend. Etwas für die 
Herzens- und RMleinodien-Ede des Bücherſchrankes, 
ein foftlihes Gejdentlein für Brautleute, deutſche 
Familien, Gefreundete aller Art. St. 

Paul Lutdec, Jugend heraus! 289 Seiten. 
Wilhelm Meifter Verlag G. m. b Berlin. 

Wer in der Sammlung „Ih will in die Sonne 
m Kraft und Troft eines Starken gefunden bat, 
er wird aud nad diefem neuen Bud Baul Zutbers 
greifen. Mit feurigen Heroldsrufen wendet er fid 
an die reife deutſche Jugend. Vorbei ift die Warte- 
zeit, die Zeit des Traumens und Bur-Seite-ftebens. 
Sie foll es fein, die als erfte wieder dienen lernt und 
ihmeigende Taten tun. Darum Jugend beraus aus 
Weltſchmerz und Welttändeiei, heraus zum Dienft 
am Bolfe! „Die Menfdbeit ift etwas Bequemes, 
aber da8 BolfStunn fordert, dag ih mich verzehre 
in feinem Dienft.” Dienft aber ſchließt ein die Ehr- 
furdt bor dm, bem man dienen will. „Wer über 
das Alltägliche fic) emporredt, wer felber dem Großen 
und Echten guftrebt, oer beugt fic vor allem Großen, 
das einft deutjhem Leben den Gluthaud der Kraft 
gegeben bat.” Nur wer auf der Väter Werken baut, 
wird aud im tiefften Sinne Zufunft bauen fönnen. 
Darum murzele die Jugend im Mutterboden natio« 
naler Geſchichte! reife Treue gegen die Bere 
angenbeit aber bedeutet nichts als Werantmortun 
lic die Gegenwart. Allein die Gewißbeit, daß au 
unfere Beit Gottes ift, der immer im Sturm fort» 
fhreitet, fcentt uns den unerjdütterlihen Glauben 
an den künftigen Tag des Deutjhen. Wenn unter 
Führung der Jugend unfer Volk den Weg zu feiner 
angeborenen Art mwiederfindet, dann bridt der Tag 
an. Denn „aus der Kraft ber Jungen wird bie 
große Nauterung deutfhen Lebens fommen. Lakt uns 
in thre leuchtenden Augen ſchauen, damit Ofterlidt 
über unfere Seelen fpielt”. Das find die Hauptgedan- 
fen des Buches, umrantt von Liedern aus der Gegen- 
watt und Gtimmen der Meifter Goethe, Arndt, 
ichte, Jahn, Raabe. Bismard u. d. a. Als Shmud 
ift dem Buche außer bem fymbolifhen Titelblatt 
eine Reihe vin Wiedergaben nah Originalradieruns 
gen bon Gerba Luther beigegeben. öchte es für 
viele unſerer Jungen ein Anſtoß zur u ar 

is laer. 





Gebrudt in ber Hanfeatifchen Verlagsanftalt Attiengefellihaft, Hamburg 36, Holftenwall 2. 


472 





Aus dem Deutiden Vollstum Wilhelm Leibl, Bildnis 


ulvꝙſquvjaauigð "1411 312411 wunsnog. uapijnag wag eng 





Deutiches Bolfstum 


11. Heft Cine Monatsjchrift 1924 





. Yacob Böhme und das Wort. 


oD LS fons wir heute bon den Grfenntniffen und der Lehre Jacob Böhmes wiffen, 
wifjen wir aus feinem Wort. Die Klarheit feiner Lehre und das Gee 
heimnisvolle feiner Grfenntniffe tritt in immer neuen erftaunliden Bildern 
uns entgegen. Das Wunderbare feiner Sprade läßt Böhme für viele ein 
Dichter fein, hinter dem fich der Denker verbirgt, und es ift eine zünftige Gee 
mwohnbeit, den Dichter, der Grfenntniffe übermittelt, nicht ernft als Dichter und 
nicht ernſt alg Denker zu nehmen. Go können nur Menſchen urteilen, denen 
der Denfoorgang die höchſte Stufe menfdlider Grfenntnisart ift. Aber fdon 
Dichten ift mehr als Denfen. Denn die Dichtung fammelt und ordnet die 
®edanfen zu einem rhythmiſchen Lautgebilde. Und jede Dichtung ift ein 
Spiegel der ganzen Welt im Kleinen, während der Gedanfe nur einen Aus- 
{Hnitt der Welt umfaßt. Der große Myſtiker Böhme fonnte nicht anders als 
Didten. Denn es ift mbftijhe Grunderfenntnis, daß das fchöpferifche 
Werf des Mtenfden eine Entjprechung der großen Weltſchöpfung fein foll, 
daß jedes menfdlide Werk, wenn es fchöpferifch ijt, eine Heine Welt, ein Whe 
bild der großen Welt fein muß. Bet folder Grfaffung und Darftellung der 
Greenntnijfe ijt der Denfovorgang nur eines der verjchiedenen GErfenntnismittel 
des Menfden, ein hohes, aber bei weitem nicht das höchſte. Aud der all» 
taglide Menſch weiß, was Gingebung bedeutet, und daß die Gingebung une © 
mittelbarer Grfenntnijfe vermittelt alg das Denken, und daß, wo Gingebung 
und Denken einander widerfpreden, die Gingebung mit größerer Sicherheit 
arbeitet. Wir wiſſen, daß Diefe intuitive Kraft die wahrhaft fhöpferiiche ift. 
Der Intelleft arbeitet analptijdh, die Intuition ſynthetiſch. Sp unterfcheiden 
fih der Gorfdher und der Philofoph. Böhme wurde bon feinen Zeitgenojjen 
der „deutſche Philoſoph“ genannt, und es fcheint, als ob faum ein Deutjcher 
diefen Namen mit mehr Recht getragen habe als Böhme. 

Die Legende erzählt von ihm, der als Schufter in Görlit lebte, daß er 
feine anderen Bücher befeffen habe als die Bibel und ein Werk des Theo— 
pdraftus Paragelfus. Hierin ift ausgedrüdt, wie er Die Bibel fah: als ein 
Dofument der Mpftil, und wie er das Leben fah: als das lebendig gewor- 
dene Wort diejes Buches. Denn das Leben des Parazelfus, defjen über- 
tegende Bedeutung erft heute wieder Har zu werden beginnt, ift Der unbeirrte 
Kampf eines ritterliden Charakters um die eigene Gerwirllidung des Evan— 
geliums. Spielt fich bei Parazelfus diefer Kampf auch im äußeren Leben auf 
das beftigjte ab, fo vollzieht fid Böhmes Drama der Menfchwerdung in der 
‚Stille. Bon dem inneren Streit in Diefer äußeren Stille erzählen feine Werke 
mandes Mal. Wendet fidh die Gewalt der Rampfworte bei Paragelfus meift 
gegen feine Gegner in Wiffenfdaft und Kirche, jo fämpfen Böhmes Worte 
meift gegen feine eigene Unzulänglichkeit. Gin ftetes Ringen mit fich felbft 
und ein unabläfjiges Bemühen um die Darftellung feiner Erkenntniſſe fteigert 
die DBildhaftigkeit und Klarheit feiner Werfe von der Aurora bis zu den 


473 


furzen Schriften der letzten Sabre. Gs bat die Zeitgenoffen am meiften 
erftaunt, daß diefer Mann weder Latein noch Griedijdh fonnte und dod 
Bücher fdrieb, an denen fi Gelehrjamfeit und Theologie die Köpfe ein- 
ftießen. Uns ift es eine tiefe Sreude, Daß er die deutjche Sprache zum Werkzeug 
einer wahren Bhilofophie fduf. Wer heute feine Schriften lieft und fie nicht 
verjteht, der gebe nicht der Sprache oder fogenannten Abfonderlichkeiten in 
den Anfhauungen Böhmes die Schuld, fondern fuche, bis ibm ein Wort 
Böhmes den Schlüffel eingibt. Denn ein Schlüffel gehört zu jeder müftifchen 
Schrift. Wer aber den Sclüffel nicht nur Hat, fondern aud) zu bereiten 
weiß wie Böhme, der verfteht auch alle fremden Gpraden, wenn er fie hört. 
So erzählt die Legende von Böhme, daß er jede fremde Sprache, wenn fie 
gu ihm gefproden wurde, verftand. Böhme gibt uns den Schlüffel zu feinen 
Schriften, und damit den Schlüfjfel des Wortes überhaupt. 

Böhme lehrt uns die Naturfpradde. Wer fie beherrfcht, begreift durch fie 
die Natur, das Fleifeh gewordene Wort, und ergreift durch fie das Wort, 
Gott. Böhme fagt: „Sp du diefelbe Sprade verftehen willft, fo merfe im 
Sinne, wie fid ein jedes Wort bon Herzen im Munde faffet, was der Mund 
und Die Zunge damit tut, ehe es der Geift wegjtößet: wenn du dies bee 
greifeft, fo verftebeft du alles in feinem Namen, warum ein jedes Ding alfo 
beißet (aber den Begriff der drei Prinzipien mußt du haben zur Naturfprade), 
Denn ihrer find drei, Die das Wort bilden, als Seele, Geift und Leib.“ (Dreif. 
2. 5.85.) * Wir follen alfo die Gntftehung des einzelnen Wortes recht „im Sinne 
merfen“, d. 5. den organifchen Vorgang der Wortbilbung bewußt erleben. 
Gs ift allerdings eine und die fchwerfte Borausfegung an dieſes „im Sinne 
merfen“ gebunden. Wir follen einen Begriff bon den drei Prinzipien haben, 
und das Bewuftfein muß die Dreibeit, die das Wort bildet, Seele, Geift 
und Leib, umfaffen. Die drei Prinzipien find: die Lichtwelt, die finjtere Welt 
und gwifden beiden die Welt der offenbarten Erſcheinung. Die Wort— 
bilbner Geift, Seele, Leib entſprechen diefen drei Prinzipien. Der Geift ent» 
{pridt der Lichtwelt, die Seele der offenbarten Sricheinung, der Leib der fine 
fteren Welt. Die Wortbildung geht nun fo vor fid, daß der Geift durch das 
Mittel der Seele in der Finjternis der Körperwelt das Wort gebiert. Wie 
{wer dieſe Geburt des Wortes ijt, die fid in jedem Wort des Alltags voll» 
ziehen foll, drüdt Böhme folgendermaßen aus: „Es wird in aller Bölfer 
Sprachen alfo erfannt, ein jedes in der feinen. Und eben an dem Orte liegt 
der jhwere Fall Adams, daß wir verloren haben, was wir in der Unfchuld 
batten, aber in der Wiedergeburt Sefu Ehrifti nach dem neuen inwendigen 
Menjchen wiedererlangt haben.“ (Dreif. 2. 5.86.) Die Naturfprache beherrſcht 
nur der Menfd, der nad dem neuen inwendigen Menſchen wiedergeboren ift. 
Der Fall des Menfden bat den Menfden die Sprachverwirrung gebradt. 
Und wir verftehen die eigene Mutterfprache untereinander nicht. Der Bank 
der Meinungen fommt aus diefem Aneinandervorbeireden und Mißperftehen. 
Und das alles Hat feinen Grund in der Mifbilbung der Worte: „Denn ein 
jeder Buchftabe ift ein ©eift“, jagt Böhme. Die Verwirrung der Öeijter bringt 
die Berwirrung der Worte, und die Berwirrung der Worte erzeugt wieder den 
zerftörenden Geift. Se mehr wir uns felbft bon dem zerftörenden Geiſt abwen- 
den, je mehr wir im inwendigen Menſchen uns der Wiedergeburt näbern, 
defto verantwortungspoller bilden wir das Wort. Und wenn wir unfer eigenes 


* Sacob Böhme, Bom dreifahen Leben des Menfhen, neu herausgegeben 
von Lothar G@reher in Wilhelm Stapels Sammlung „Aus alten 
Bücderfhränten“, Hanfeatifhe VBerlagsanftalt Hamburg 1924. 


474 


Weſen Geift — Seele — Leib geordnet haben, finden wir das Wort, das 
Ihöpferifch ift, das der Grfenntnis die rechte Sprachgeftalt gibt. Diefes Bere 
hältnis und Diefe Kraft ftellt fic oft intuitiv beim Dichter ein. Aber Die 
meiften Dichter verlieren ihre Kraft und die Ordnung ihres Wefens wieder, 
weil fie die Gabe, mit der fie begabt wurden, nicht zu halten vermögen. Dann 
verwandelt ji der Gott in den Damon und zeritört das Schöpferijche im 
Menfdhen. Aber auc in jedem anderen Menſchen fann diefe Kraft erwaden. 
Gs geht dann, wie man fagt, bon feinen Worten ein Zauber aus. So ift 
jeder Menſch oor die Verantwortung der Wortbildung gejtellt. Im Wort 
gibt das Wefen des Menfchen fich felbjt Antwort, damit er erfenne, was er 
ift. So tft jeder, der ein Wort ausjpricht, Schöpfers eines Gebilbdes, einer Tate 
fade, eines geiftigen Komplexes, einer unmittelbaren Wirkung, eines Werfes. 
Böhme jagt: „Der Geift gibt jedem Dinge Namen, wie es in der Geburt 
in fic felbft ftehet, und wie es fich im Anfang bat geformt in der Schöpfung; 
alfo formet’s auch unfer Mund: wie es ijt aus dem ewigen Wefen erboren 
worden und zum Wefen fommen; alfo gebet auch das menjhlihe Wort aus 
dem Gentro des Geiftes in Gorm, Qual und Geftalt hervor, und ift nichts 
anders, alg machte der Geift ein fold) Wefen wie die Schöpfung ijt, wenn 
er die Geftalten der Schöpfung ausjpricht. Denn er formte das Wort des Na- 
mens eines Dinges im Munde, wie das Ding in der Schöpfung ijt worden: 
und daran erfennen wir, daß wir Gottes Kinder und aus Gott geboren find.“ 
(Dreif. 2, 6. 3. 4.) Je mehr wir wiedergeboren find, um fo mehr nähern wir 
uns der Schöpferfraft. Se weniger wir wiedergeboren find, um jo mehr nähern 
wir uns dem Deus inverjus, dem Zerſtörer. Was Schöpfer fein bedeutet, 
fonnen wir aus der rechten Lautbilbung des Wortes erkennen. Böhme jagt: 
„So fagt die Vernunft: Was ijt Gottes Schaffen gewefen? Das Wort ſchuf 
hat's in feinem eigenen DBerftande nach der Naturfprade ... Merfe, ob es 
wahr fei, was id dir bon der Naturfpradhe fage; verjuche es und denfe ibm 
nad, nicht allein mit diefem Worte ſchuf, fondern mit allen Worten und 
Namen aller Bölter Sprachen, ein jedes in feinem Berftande.... Wenn du 
fageft ſchuf, fo fafjet fic der Geift im Munde, und macet die Zähne zu— 
fammen, und ziſchet durd die Zähne als ein angezündetes Feuer, dag da 
brennet, und madet aber die Lippen auf, hält fie offen, alsdann gebet der 
Drud vom Herzen, da ſchmiegen fid die oberen Zähne in die unteren Lippen, 
und die Zunge verfreucht fid, und fdmieget fic in unfern ®aumen, und der 
Seift ftößet die Silbe [Huf durdh die Zähne aus: und das Wort des Unter 
Ihiedes, welches die Silbe [uf von fich ftößet, bleibet in feinem Sig im 
Herzen... Wenn wir fpreden: im Anfang ſchuf Gott Himmel und Erde, fo 
nennen wir alles das, woraus Himmel und Erde ijt gefchaffen worden, und 
nennen aud) die @eftalt und Gorm, wie fie ift gefdaffen worden, und das 
verftehet alleine der Ginn im Lichte ©ottes... Wenn der dreifache Geiſt 
des Menfchen fpridt [huf, fo merfet der Sinn auf die Form und Geburt 
des Wortes... Wie der Mtund das Wort fj duf formet, alfo ijt die Schöp- 
fung aud) geformet worden: denn die Lippen tun fid auf, und der Obera 
gaumen mit ben Zähnen faffet fid mit der untern Lippe und zijchet der 
Geift durch die Zähne; das ift alfo: wie fic die Lippen als der äußere Um— 
fang auftun, alfo bat fic aufgetan die Matriz der Gebärerin verjtehe in der 
Entzündung: das Ziſchen ift das Feuer und aus dem Feuer die Luft als ein 
©eift der Matriz, welder jest ermedet und gubor im Gentro nicht erfannt 
ward, fondern allein in der Weisheit bor der Dreigabl.“ (Dreif. 2. 5.) 

Das ganze Lebensproblem Böhmes beruht in der Grgreifung und Bee 


475 


herrſchung des Wortes. Das Wort ift gugleidh Mittel und Ziel eines Lebens 
in der Liebeordnung. Der tönende Menſch ift der harmoniſche Menſch, deffen 
Milrofosmos abgeftimmt ift nad der Harmonie des Mafrofosmos. Wort, Ton 
ift das Symbol jener großen Wefenheit der Natur, die Böhme unter feinen 
fieben Quellgeiftern der Natur als „Schall“ bezeichnet. Gs ift der Merkur 
der Aldemiften, das Quedjilber, die hemifhe Form der Glemente, die am 
nächften dem Gold fteht. Darum lehrte das ,finftere* Mittelalter aud die 
Sransmutation des Quedfilbers in Gold, eine Erkenntnis, die für die jüngfte 
®egenwart foeben wieder einmal durch die Grfolge Mtiethes bejtätigt worden 
ift. Den Wldemiften aber bedeutete Quedfilber, Merkur, Schall, der fie- 
bente Quellgeift Gottes und der Natur mehr als das chemifche Glement. Gs 
war das Symbol des gereinigten Wortes, des Liebewortes, das feine Gre 
füllung im Gold, in der Sonne, in ber Liebestat findet. Hier ruht der Stein 
der Weijen. Das Zauberwort, das ihn fchafft, tft das Liebewort, der tdnende 
Wenſch im Gleidflang mit Der Harmonie der Schöpfung. Diefer Menfch redet 
mit „feurigen“, d. 5. gereinigten, Haren und verflärenden Zungen. Diefes 
Wort ift der Heilige Geift der chriftlichen Lehre, der gebeiligte und Heiligende 
©eift, der fic im Menjchen verwirklicht. 

Sede Religion gibt dem Menfden ein Mittel, fid abguftimmen, um in 
Sarmonie zu fein mit den Geiftern Gottes und der Natur. Dieſes Mittel ift 
wieder das Wort, und gwar in einer befonders gearteten Wortperbindung, 
dem Gebet. Die großen Religionsftifter haben ftets ein bejonderes Gebet 
angeordnet, das für die jeweilige Gntwidlung der Menfchheit am geeignetiten 
war, das Inftrument Menſch abguftimmen nad der Harmonie der Welt. 
Das Gebet, das Shriftus gab, ift das Gaterunfer. Böhme widmet den Worten 
des Daterunfers in feiner Schrift bom dreifachen Leben des Menjchen ein 
umfangreidhes Kapitel. Durch diefe Auslegung frönt er feine ganze Schrift. 
Denn das Baterunfer handelt bom dreifadhen Leben des Menfchen und ver— 
kündet Die Harmonie des Menſchen und der Welt. Wm Wortfinn erfennen wir 
das nicht ohne wmeiteres, jondern erft, wenn wir die Worte nidt nur mit 
dem Berftand, fondern allen äußeren und inneren Sinnen aufzunehmen fuden. 
Nach der myſtiſchen Lehre ift jeder Budftabe ein Geift und das Wort eine 
ungeheure geiftige Kraft. Das Wort felbjt ift ftets eine Vermittlung zwi— 
fen dem gröberen und feineren Stoff, der fogenannten Materie und dem 
fogenannten Geift. Die rechte Budftabenbderbindung wedt geiftige Kraft und 
verbindet uns mit geiftigen Kräften. Go wendet fid der Menſch im DBater- 
unjer an die geiftige Welt, die Kräfte des Mikrokosmos ſuchen die unmittel= 
bare Gerbindung mit den Kräften des Makrokosmos. Grft, wenn wir fol» 
es wiffen, verftehen wir die Gigenart, in der Böhme das Baterunfer ere 
flart. Gr erklärt das -Baterunjer nad Silben. Gr fagt uns nicht, was das Wort 
DBater bedeutet, fondern was die Silbe Ba und die Gilbe ter bedeuten. Es 
ift eine bewußte Aufdedung der Buchftabenfrafte. Gines Buches für fid 
würde es bedürfen, die Harmonie folder Kompojfition intelleftuell gu erklären. 
Gs fei hier nur angedeutet, in welchen Richtungen fich die Kräftenerbindungen 
der Budftabenfompofition der einzelnen Bitten bewegen. Die Anrede ftellt 
die Berbindung der geiftigen Welt und der Körperwelt Her. Nach der myſti— 
fen Lehre Böhmes ift die geiftige Welt eine dreifache und die Körperwelt 
eine dreifache. Für die Dreiheit der geiftigen Welt gebraudt Böhme die 
Worte: Wejen, Schall, Liebe. In der chriftlihen Lehre, die Böhme in einer 
bon den Dogmen der katholiſchen und proteftantifchen Befenntniffe freien Gorm 
lehrt, entſpricht Weſen dem Bater, Schall dem Heiligen Geift, Liebe Dem Sohn. 


476 


Die dreifahe Körperwelt nennt Böhme Härte, Betwegnis, Angft und unter- 
fbeidet Hiermit die Drei verjchiedenen SHauptzuftände der Körperlichkeit. 
Die Härte finnen wir uns bergleichsweife als die Memifhe Welt, 
die DBewegnis als die vegetabile Welt, die Angft als die ani- 
maliſche Welt vorftellen. Der Menfdh umfchließt Körperwelt und Geiftes- 
welt, er ift die Offenbarung der ®eiftwelt in der Körperwelt, die Sicht— 
barmadung der Dreieinigfeit in der Dreiheit der Materie. Da die Ma— 
terie als eine Spiegelung des ®eiftes, als der Schein des Seins betradtet 
wird, entfprechen fid der Bater und die chemiſche Welt als der obere und der 
untere ®rund der Welt, die vegetabile Welt und der Heilige Geift als das 
Prinzip des Lebens, des Ausſprechens der Schöpfung, und es entfpreden 
{ih die animalifde Welt und der Sohn als das Reich des Geborenfeins zum 
Erlöferwerf. Durch die Bitten des Baterunfers bittet die menſchliche Seele 
bej dem dreifachen Geift für den dreifadhen Körper. Und es wird ftets die 
geiftige Kraft der Welt des Seins gebeten um Hilfe für die entfprechende Kraft 
der Welt des Scheins. In der fiebenten Bitte bittet der Menfchengeift zum 
Schluß für fich felbft. Diefen Menfchengeift, der als der vierte unter den Quell» 
geiftern der Natur erfcheint, nennt Böhme Feuer, Blit. Gs ift der leuchtende 
Dliß, der ©eift und Materie bindet, entzündet und erleuchtet. Das Reid) diejes 
Geiftes, das eigentlide Menfchenreich, Eönnen wir mit der intellektuellen Welt 
bezeichnen. Wenn nun der Menfch fich an feinen Intelleft wendet mit der Bitte 
„Srlöfe ung vom Uebel“, fo bedeutet das: die Losldfung des Blites der Gre 
fenntnis vom Angftfeuer der animalifh-menfhliden Natur und die Berbin- 
dung des Blikes der Erfenntnis mit der intuitipen Welt des Liebefeuers des 
Sohnes. Die intuitid-menfhlide Natur ift Kern und Mittelpunkt diejes Gee 
betes. Hierdurch ift dem Menfden felbft die Macht und die Verantwortung 
gegeben, ſich die Gnade der erfüllten Bitten zu erringen. Der Menfd muß 
fi felbft bom Uebel erlöfen, aus den Geffeln der animalifchen Welt befreien, 
um fie gu beberrfchen, er muß fic felbft den Kräften der intuitipen Welt ein» 
ordnen, fie erfennen und ihnen geborden lernen, wenn er die Grfiillung der 
Bitten des Gebetes erreichen will. 

Die Grmahnung zu diefem Gebet wiederholt Böhme mit immer neuen 
Worten. Und fein Wort ift immer mit Buberfidt und Troft erfüllt, wenn er 
aud) nod fo ftreng ſpricht. Gr fpridt zu jedem Menfchen, daß er in fid 
Gott fude. 

Zum Gedächtnis an folde Mahnungen und folde Tröftung diene nod 
ein Wort Böhmes, das er zu jedem Menfden gefagt haben will: „Siebe, du 
liebe Seele, merfe es dod, es ift die teure Wahrheit: wenn du alſo in did 
geheſt und fucheft deine Greuel und fieheft an der Teufel und der Welt 
Sraber, bie du lange Beit gefreffen haft und erinnerft did) Gottes und feiner 
Barmbergigfeit, fo fehre ja nicht wieder um in Säuftall, und fprich ja nicht: 
ih ſchäme mich meines alten lieben Vaters, ich darf ihm nicht unter Augen 
treten bor großem Spott und ©reuel, denn ich war ein herrlicher Sohn und bin 
jegt ein nadender Säuhirte; fondern denke, daß fich bein Vater ebenfo wohl 
um dich befümmert als du um feine Gunft und Liebe, die du mutwillig ver- 
f&herzet haft. Gaffe dir nun einen freundliden demütigen und untertänigen ge= 
borfamen Willen, und fomm, gehe bon den Säuen aus, laß die Traber der 
Welt ftehen, laß fie Die Säu freffen und fich felber weiden; gehe du in dich 
und flopfe an, an bein böſes Herge, brid) durch Türen und Toren ein, und 
wenngleid alle Säue und Seufel um ihren Hirten Heulten, fo fomm du gum 
ater mit folden Gebärden und Worten, die du nicht darfft ſchmücken, wie 


477 


fie fein follen, und ob du nicht gleich mehr als des armen Zöllners Worte 
hätteft, es lieget nichts an dem. Nur ernfter Beftand ohne Nachlaß, und folle 
die Hölle gerfpringen, oder Leib und Seele vergeben, fo ftebe ftille und gehe 
nicht wieder aus der Tür des Gaters; fobald du wirft die Tür aufmachen in 
deiner Seelen, und wirft aus dem Kot gegen den alten Bater gehen, daß er 
dich nur erkenne, daß du fein Sohn bift, daß du zu ihm eingewandt bijt, fo 
faget er: Das ift mein verlorener Sohn, um den fid mein Herz befümmert, 
und ift in die Menjchheit eingegangen in dieſe Welt und hat ihn gefuchet, jest 
babe ich ihn wiedergefunden.“ (Dreif. 2. 16. 15.) Lothar Schreyer. 


Knut Hamfun“ 


Jr id an diefen größten lebenden Dichter germanifchen Blutes dente, 
fo fteben mir immer als befonders fenngeidnend feine Retfebilder 
bor Augen. Reifeglüd und Reifeeinfamfeit: Das ift Hamjuns Lebensftimmung. 
Fremd und dod allem aufs innigfte vertraut, Befdauer und Doch mit- 
leidender Freund der Welt, abjeits Wandelnder und doch mitten in den 
Dingen Lebender, heiß, wild, liebevoll und doch tief befonnen Lebender: Das 
ift Hamfun. Das Leben ift ein Spiel, aber ein Heiliges. Nichts ift ganz ernft 
zu nehmen. Was ift por Gott (mit dem er durdhaus night wie andere „im 
Reinen ift“) ernft? Aber alles ift heilig. Das Moos im, Walde und die 
Wolfe im Blau genau fo wie die gefunde Glut eines fremden Liebespaared 
oder der Sod eines von gebeimen Mächten, bon „Myſterien“ ins ewige 
Dunkel Gelodten. Gs gibt faum ein dichterifches Lebenswerf, das fo bon Gott 
erfüllt wäre wie diefe fpröden, ironifden, fpielenden, Gottes Namen keuſch 
verhüllenden Reifebilder aus der Menfchenwelt. Er font und vertufcht nicht, 
o nein. Gr fieht die Menfchen in ihrer ganzen Schwachheit und Rleinbeit, 
fein ,@rofer“ befteht Iegten Endes vor ihm (wieviel größer wären Ddiefe 
Großen, wenn fie fid nicht fo ernft nähmen!) — aber in Gottes un» 
begreiflide ®röße (von der nur in befdeidenften, demütigſten Träumen die 
Rede ift, in Wald- und Wadtraumen, aus tieffter Ginfamfeit geboren) 
mündet alles: „Größe“, ob Weltgröße oder die Herrn Mads, die aus einer 
norwegiſchen Rleinftadt emporragt, oder der SelegrapHift Baardjen oder 
ein diebifher Kirchendiener oder ein vor Alter unwirllider Armenhäusler. 
Aus Gott ftrömt, in Gott mündet alles. Bloß die Länge und Art des Weges 
madt einen Unterfchied. Und der Weg felbft ijt fennens- und fdauenswert, 
um bes Urfprunges und Gndes willen, der ihn verflärt. Aber von all dem 
ift nidt die Rede, es lebt in Hamfuns Geftalten und Bildern, und fobald 
man darüber redet, ift’s eigentlich ſchon zupiel. 
4 


Gs ift das germanifhe Weltgefihl, unfagbar verfeinert, oft überfeinert, 
oft geradezu überfteigert und verzettelt. Es ift da ein Mitfchwingen bis gum 
Wahnwig wie in ,Hunger“ und „Mofterien“, oft ift’s aber aud ein ge- 
laffenes, bewußtes Strömenlaffen der Weltjtröme durch das goldene Didter- 
fieb. Unendlich überlegen, wo ſich's um Menfdlides handelt, dDemütig-ratlog, 
ehrfurchtsvoll farg, wo es um mehr geht: fo ift Spradhe und Darftellung. 





* Sefammelte Werfe bei Albert Zangen, Münden. Bisher erfdienen: Bd.1 
Hunger, Mofterien. Bd. 2 Redakteur Lynge, Neue Erde. Bd. 3 Pan, Viktoria, 
Schwärmer. Bd. 4 Benoni, Rofa. Bd. 5 Unter Herbftfternen, ®edämpftes Saiten- 
fpiel, Lebte Freude. Bd. 6 Im Wardenland, Unter dem Halbmond, Kinder der Zeit. 


478 


Eine fabelhafte Kunft des Beobadtens, ein Scharfblid, der bis ins 
Zieffte dringt und feine äußere Gingelheit überfieht. Diefe unbeftedlid falten 
und Dod leidenſchaftlich ſuchenden Augen ruben einen Augenblid auf einer 
neu eintretenden ©eftalt, auf diefem jungen Mädchen, das den Weg zur 
Stadt wandelt, diefem Welthandelsmann, der eine Diamantfchnalle in feinem 
weißen Hemd trägt — und fchon find fie bis in ihre letzten Schidfale voraus— 
geahnt. Eine Sdidfalsahnung, eine ſchwere, bedeutfame Lebenswitterung 
liegt über faft allen Geftalten diefer Profagedichte, die fic zu Romanen, 
gu Ketten bon Romanen zuſammenſchließen. Biele feiner Menfchen ftreden 
gleihfam ihre Hand dar und wir leſen in ihnen die Linien ernfter und 
wechjelpoller Borausbedeutung. Denn alles ift bedeutfam, alles gee 
hört zueinander, zufällig tft fein Wort und feine Gebarde. 

Das ift bie tiefe, Bie einzige Geſetzmäßigkeit in Hamfuns dichterifcher 
Welt, die oft fo verworren, fo bunt fic zeigt. Abenteuer? Die wildeften und 
fremdeften, wenn ihr wollt. Aber meift in der Gebärde eines Alltags, mit der 
Atmofphäre jener Gommernadt oder jenes Herbftmorgens um fid, an die 
aud Die fremdeften Abenteuer gebunden find. Dadurd werden fie nicht 
nüchterner, nur defto natiirlider und gwingender. Man folgt dem Eheſchickſal 
einer blonden verehrten Grau durch zwei Romane („Unter Herbſtſternen“ 
und ,@ebdampftes Saitenjpiel“) mit atemlofer Spannung, und dod fpielt es 
fih in norwegifhen Kleinftädten, auf ®utshöfen ab, die nichts Romantifdes 
haben. Aber wozu die „Romantit“ fdildern, wozu fie maden? Iſt dod die 
Seele des Menfchen felbft bunt und feltfam genug. Ueberall find wir im 
„Märchenland* — nit nur in Raufafien. 


x 


m all diefe Meberfülle bon Natur und Geelenleben gu faffen, dazu bedarf 
eg natürlih einer unendlich verfeinerten, geradezu raffinierten Technik. 
Es wäre eine Aufgabe für fic, diefer Technik, die oft nahe an Manier 
gu grenzen fcheint, der man oft gefeffelt, aber beinahe mit leifem Widerwillen 
folgt, im einzelnen nachzugehen. Man würde freilid finden, daß es fid 
nicht fo jehr um eigentlide Sednif, d. b. um durchdachte und planmäßige An— 
wendung beftimmter fpradlider und dichterifher Mittel Handelt, fondern um 
febr echten, troß aller Rompligiertheit fehr unmittelbaren Ausdrud eben des 
inneren Wefens diefer Dichtung. Eins ift vor allem Kar: während die 
meifien deutfhen Didter, etwa pon Sean Paul und Raabe abgejehen, um 
die möglichfte Objektivierung, um möglichſt weiten Abftand von ihrem ©efühl 
fampfen und in Diefer „objeftinen* @eftaltung geradezu das Biel ihres 
Schaffens fehen, gebt Hamfun mitten burd fein Gefühl, feine eigene Bewegt- 
beit bindurd bis an die Dinge heran. Man fieht alles bis ins Sieffte und 
Einzelne fo ungeheuer nahe, weil man es durch ein andringendes, immer 
bewegtes Temperament Hindurd fiebt. Der Graähler ift Vermittler, aber 
felbft mitlebender, erregter, oft tief in Die Schidjale der Hauptperfonen ver» 
ftridter. Gin Wanderer fehrt in einem Gaſthof ein und fchildert zwei Bücher 
hindurch das Ghedrama der Befiger. Aber nicht ohne die Gutsherrin felbft 
feu und leidenfdaftlid zu lieben. Man weiß nicht: ob als Weib oder 
alg Greignis, alg Stüd der Welt. Und was das Wirkfamfte, das fo bee 
fonders feltfam Grregende ift: Diefer Wanderer ift Knut Hamfun felbft. Pere 
fonlides, vielleicht fogar Biographifches flingt hindurch, man mittert innere 
Zuſammenhänge gwifhen den Hauptperfonen und dem Didter. Man fühlt, 
daß aud fie, diefe ganz lebendigen Menfchen aus der norwegifchen Gegenwart, 


479 


nur irgendwie Figuren auf der Bühne feiner eigenen Seele find, und die See 
ftalten, die fo fichtbar find, als wandelten fie bor uns und wir fönnten zu— 
gleih durch fie ganz bindurdfeben, find fo febr bon Stimmung umflojfen, 
in Atmofphäre aufgelöft, daß der Hauptgegenftand der Dichtung geradezu 
diefe Atmofphäre, diefe Stimmung fcheint. 

Man riecht in „Unter Herbftfternen“ die Herbftlide Wald- und Ader- 
erbe, in „Ban“ die Tiebestrunfene Gommernadt, in „DBenoni“ und den 
dazugehörigen Romanen die von Fiſchgerüchen und falgiger Meerluft durch» 
witterte Atmofphäre bon Girilund, halb weltmeerweit, Halb ftuben- und 
menfdendumpf. Und daneben, neben diefer unbefchreiblich ſchweren, bezau— 
bernden, dieſer Traum» und Reijeftimmung, diefer Schidjals- und Fatums- 
luft, Die naturhaft durh Frühling und Sommer zu Herbft und Winter, durch 
Srwaden zum Tag und Abend und Dunkel gebt, verfchwinden die Menjchen. 
Senes andere bleibt bor allem im Gedadtnis und läßt geradezu eine Sehn— 
ſucht nad diefen Profagedidten zurüd, wie man fie nad intenfid und traum» 
Daft auf der Reife gejchauten großen Landſchaften empfindet. 

Kennzeichnend ift aud, wie fouperän, wie überlegen er feine Geftalten 
aufleben und abtreten läßt. Durch zwei Bücher hindurch fieht man „DBenoni“, 
diefen norwegifchen, unvermwüftlichen, dummfchlauen, gutmütigen, ftreberhaft 
eitlen, reic;werdenden und innerlich immer unficher bleibenden Bauernjungen. 
Man fiebt ihn durh zwei Brillen: durch die des Graählers und durd die 
eines jugendlid mitfhwingenden Studenten, der in Rofa, Benonis Frau, 
verliebt ift. Wie genau man ihn fennt! Und dod nicht müde wird, ihn zu 
betrachten. Denn er ift in all feiner Menfchenbegrengtheit ein Stüd Natur. 

Oder gar jene Mads, die in fo vielen Hamfunfhen Büchern wiederfehren. 
Diefe Gabelfürften im Kontor des RKramladens, diefe Beherrſcher von 
Sirilund und Segelfoß, mit ihren unglaublichen Herrenlaftern und ihrer fieg«- 
baften YWeberlegenbeit, undurddringlid und dod) bor jener großen Ironie, die 
bier alles Menſchliche umſchwebt, die Kleinften. Biel Heiner als die Iebens- 
unfunbigen, verjchwenderijch-hilflofen Leutnants und Gutsbefiger aus altem 
Herrenblut, die jo gut um ihre Abhängigkeit Befdeid wiffen, daß es ein 
Sammer ift, und obnmädtig diefer neuen Zeit erliegen. Biel Heiner vor 
allem als etwa der Knecht Nils, der dem Kapitän und feiner armen gnä- 
digen Grau bis zur GSelbftentäußerung dient, ohne ein pathbetifches Wort, 
aus felbjtverftändlicher Treue, ein Stüd Volk, bet deffen Schilderung Hamjun 
nur ſchwer feine Liebe und feinen Jubel verbirgt. 

Aber diefer Dichter fümmert fid im übrigen den Teufel darum, ob ung 
feine ®eftalten ſympathiſch oder zuwider find. Sie find ja nicht Selbftzwed, 
nit um ihrer felbft willen da (oder gar um des Lefers willen!). Der gang 
naive Lefer wird bei ihm nie auf feine Roften fommen, denn felbft bei den 
Leuten, mit denen der Dichter fehr zufrieden ift, läßt er fich’S nicht merken, 
im übrigen find fie bei ihm febr felten. Nichts ift, wie es bei einem wirk— 
liden Didter fic eben bon felbft verfteht, ganz „gut“ oder ganz „böfe*. 
Die Menſchen find ſchwach, ſehr ſchwach, nur beadtenswert als Träger jenes 
Außermenſchlichen, jener Weltftröme, jener Weltfeele, die in Herbitfternen» 
nadten und Wintereinfamfeitsmorgen Dod) nod) dbernehmlider wird als in 
der Penfion Toreginnen oder fonft unter Menfden. 

Auf fie fommt’s an und nur auf fie. Die Mtenfden find nur die unter 
uns Grödengejchöpfen gangbarjte Sprache, die die Weltfeele fpricht. Freilid 
aud) die verworrenfte und dunfelfte. 


* 
480 





Hamfun hat viele Länder durdwandert. Seine in wohltätiges, den Phi— 
Iologen feindlides Dunkel gehüllte Biographie ift voller wirklicher Abenteuer 
und Wechjelfälle, denen eine weniger elementare Natur nicht gewachſen ge— 
toefen wäre. Seine Gefdhidten aus amerifanifhen Prärien und Kolonijtens 
ftädten, aus dem Leben verzweifelter und fraftftrogender „Tramps“ find nicht 
ganz erfunden. Aber Amerika ift ja befanntlich fehr nahe an dem Schifferland 
Norwegen, und das alles gehört bis zu einem gewijfen Grad mit zu Ham» 
[uns Heimat, in der er mit feinem Schaffen wurgelt und bleibt. 

Diefes Land germanifcher Urnatur und modernfter Seelenverfeinerung, 
Derbitterung und innerer Ronflifte. Wbenteuerndes Blut bom Meere ber 
miſcht fih hier und da in den ſchweren Fluß bäuerlich-altväterifchen, Fein» 
bürgerlich»erftarrten Lebens. In abgelegenen Ginjamfeiten figen tiefjinnige 
@riibler, denen fic) das Leben in Probleme auflöft. Die Enge des Landes, 
dag trogdem über fo viel Breitengrade reicht wie Mitteleuropa, die Gnge des 
Lebens preßt die Riejenfräfte, die in diefem Boden wurzeln, nach innen. 
In düfterem oder gejhidt Lächelndem Schweigen fpielen fic gewaltige Tras 
gödien und feinfte Komödien, voll aller Ironie der Weltordnung ab. Wir 
fennen Diefe Welt aus der nordifchen Literatur, die unfere deutihe am Ende 
bes vorigen Jahrhunderts fo entjcheidend beeinflußt Hat, und bon Reifen ber, 
gu denen uns die gewaltige Natur lodt, ift uns die Landſchaft wie ein Stid 
mbhtbhifder Urheimat in Grinnerung. Knut Hamfun ift der Lette aus der großen 
nordifhen PDichterreihe und, außer Heidenftam, dem Schweden, ber freilich 
nidt fo elementar ift, außer ber Lagerlöf nod, die mehr Gabuliererin ift, 
weiblides Grgablergenie, als Dichter im umfaffend-mpthijhen Weltjinn — 
neben diefen beiden großen fehwedifchen Begabungen ijt Hamſun die tieffte 
und nordifchfte. Gr reicht viel tiefer in die Urerde feiner Heimat hinab. mit 
feinen Wurzeln als der ſtark wefteuropdifd-demofratifd befrudtete, rationa= 
Iiflifcherobufte Prediger mit der Pofaunenftimme, der Paftorsjohn Björn» 
ftjerne Bjornfon; viel tiefer als der an „Suropa“ (und das bie damals 
noch zu neun Zehntel: Paris) leidende, es nordifd zergrübelnde Problems 
mifher Ibfen. Sie hat Hamfun nicht etwa übertvunden, nein, faum erlebt. 
Gr weiß natürlih bon ihnen und ihrem Wirken in der Nation fehr genau, 
aber fein Weg ging anders als der ihrige. Gr ging aus der Natur in die 
Natur, neben der Zipilifation, die er mit Ingrimm auch fein Land erobern 
fiebt, bald trogig, bald vollkommen gleichgültig ber. Gs fehlt ibm bas 
nationalenorwegifche, fabnenfdwenfende Pathos Bjdrnfons, aber aud die 
im Snnerften landfremd gewordene Nationalproblematif und Nationalfritil 
Ihfens. Und dennod) ift er in tieferem Sinne national alg die beiden. Ginfad 
ein Stüd Norwegen, bas feiner nicht dadurch bewußt wurde, daß es fid 
außerhalb feiner felbft ftellte, fonbern das fich immer tiefer in fic) verjenkt 
und durch fich felbft Hindurchdringt zur weltweiten Aufgefchloffenheit. Da ift 
nicht ein Wort, nicht eine Geftalt, die nicht norwegifch, nordgermanijch ware. 
Aber es ift nirgend dazu gejagt, nirgend betont. Blüte der Nationalliteratur. 
Selbftverftändlichkeit des Nationalen, innerer Zwang gum Nationalen. 

Wir Deutſchen haben ein entferntes Segenftiid, wenigftens foweit wir 
Niederdeutfhe find: Raabe. Gs fönnte reizen, die beiden zu vergleichen, 
fo weit fie augeinanderliegen. Denn fie find verfchieden wie die nordgerma- 
nifhen Ginfamfeiten endlofer Wald- und Schneegebirge und die Spöken— 
tieferlandfchaft niederdeutfcher Heidedörfer. Aber dafür haben die Kleinftädte 
im Guferften Norden und im Niederdeutfchen fdon eher etwas Berwandtes. 
Gs ift vielleidt aud) fein Zufall, daß Raabe der Aeltere und Altväteriſche 


481 


ift, Hamfun der Modernere und Nerpöfe. Nicht, daß der eine gum andern 
hinüber gewirkt hätte, aber Deutfchland ift eben früher in jene Auseinander- 
febung geraten, die Knut Hamſuns Welt durchfchüttelt, und es ift weniger eles 
mentar in fie geraten — „gemütlicher“, matter, mittelbarer, ohne fo viel Urs 
widerftand und Urkräfte, wie fie im Norden noch aufgefpeichert find. Kurzum: 
Da ift fo viel Unterfchied wie zwifchen einem Boll, das feit einem Sabrtaufend 
in bunteften Rafjen- und Kulturmifhungen und »berftridungen gelebt, feine 
älteften Rafjenfräfte nur auf engem Raum rein bewahrt, im übrigen in aller 
Welt verzettelt Hat — und einem Bolf, das in düfterer, fampfreidher Ein- 
famfeit das Sabrtaufend vertrogt und nun der vdlferausgleidenden Welt 
givilijation gegenübergeftellt if. Der Unterfchied ift ungeheuer. Aber das 
Ginigende ift etwas fehr Tiefes, etwas im Blute Liegendes. Was bei Hamjun 
und vielen heutigen Nordifden fo ſtark mitwirkt, das Elingt auch bei Raabe 
nod, trog allem gebeimnisvoll auf: die nordgermanijhe Gabe des „zweiten 
Gejidts“. Sener Zufammenhang mit dem Ueber- und Unterfinnliden, jene 
fchöpferifch-fehberifhe Weltverbundenbeit, die wir wohl als unfer Gigenftes 
und Siefftes in die abblaffende europäifche Kultur und Bivilifation mit hinein— 
tragen. Wer Raabes Welt durchforſcht Hat und zu Knut Hamfun fommt, 
der wird etwas wie ein urweifes, geheimnispolles Grüßen über verfchüttete 
Sahrhunderte hinwegfpüren. 
s 

Aus diefem Weltgefühl heraus, mit biefem Zwang zum Beobadten und 
Durddringen behaftet, mit diefer fünftlerifehen Technik zur Bewältigung Hiefes 
Swanges ausgerüftet, tritt er aus autodidaltifcher Ginjamfeit, von ländlicher 
Sittenjugend genährt, von Hungergequälten, mettergefchüttelten Lehre und 
Wanderjahren ausgelocht, der heutigen Welt, dem heutigen Norwegen gegen- 
über. Und ba er fic vorzugsweife mit heutigen Menfchen bejchäftigt (die 
freilich über die heutigen Zuftände hinaus fraft der ihnen innewohnenden 
ewigen Heimatlräfte leben werden), fo ergibt fic neben dem Dichter Hamſun 
ein fehr elementarer, weniger denferifcher als inftinktftarfer, für feinen Inſtinkt 
fih webrender Rulturfritifer. 

Hamfun ift durdhaus fein Demokrat im gegenwärtig furfierendDen Ginne. 
Ueberhaupt haben die Schlagworte, an denen Guropa hängt, bei ihm nicht Den 
geringften Kurswert. Immer und immer wieder bohrt er Hartnadig nad: 
was geben uns „Bildung“, „Technik“, „Sortfchritt“, „Zipilifation“, „Verkehr“? 
Was hilft uns diefes über die Erde gefpannte Syſtem von Zelegraphen- 
dräbten, Borfenberidten, Abhängigkeiten und Mafchinenbequemlichkeiten ? 
Was hilft es unferem Leben, unferer inneren Gefundbeit, dem Wefentliden 
in uns? Wir können es nicht abfdaffen; aber man laffe uns um Gottes 
willen mit diefen Lobpreifungen bon Dingen in Rube, die uns an und für fid 
nun einmal nidt die geringjte wirkliche Sreude machen können. 

Realtionär? Negativ? Romantijh? Gr verneint nur, was nicht zu 
bejaben ift, und reagiert nur auf eine übermäßige Berberrlidung von höchſt 
aweifelhaften Werten. Und nidt um zu berneinen, fondern um ungehindert 
Wefentliches bejahen zu können. 

Diefer Sohn des Bolfes, durch foziale Tiefen Hindurdgegangen, ift 
fonjervatip. Nicht aus birgerlidem Wefthetentum, aus Snobismus, aus 
anergogenen Wertfegungen heraus; fondern aus dem Grbgut feines Blutes, 
aus Ehrfurdt por dem Gwigen, aus Yeberlegenheit über das Berganglide, 
wie fie im echten Volke überall und immer nod Iebt. Und Diefer Konfer- 
bativismus in ihm wehrt fich gegen die gottlofe, die eitelüberhebliche, falfche 


482 


Sortfhrittsphrafe, der. man ringsum die unerhörteften Opfer bringt. Um 
ihretwillen Halt er ®ericht über Größen wie Ibſen und Tolftot (Dichter, die 
leider verfuchten, Denker zu fein). Um ihretwillen find ihm Storthingabge- 
ordnete verdädtig, ihr Heim ift lieblos und ohne die alte Geelenfultur der 
einfadhen Hütten, bom Zeitungsgeſchwätz und politijden Ausſatz zerfreifen. 
Da gehen diefe armen Dinger bon Mittelftandstöchtern Hin und ftudieren fich 
bleichſüchtig und wiffen die Iateinijden Namen von Pflanzen und werden 
Lehrerinnen und fallen aus lauter Lebensfehnfudt und Lebensfremdheit 
irgendeinem Gbharlatan bon Verführer zum Opfer. Laßt fie einen tüchtigen 
und etwas fomifden Handwerker heiraten und Mütter werden — das ijt 
mehr wert. Ihre Kinder find einem einfamen Wanderer und Bufdauer 
„Letzte Freude“. Und diefe widernatiirlide Sremdeninduftrie. Sie bringt hoch— 
mütige Gnglander mit all ihren fdmugigen Laftern ins Land und madt 
naibe Landftreidher zu lifternen Hallunfen, ftolge Bauern zu fi wegwerfenden 
SHaustnedten. Hamſun befommt einen roten Kopf, wo ihm diefe Fremden- 
induftrie, Die aus Norwegen eine zweite Schweiz maden will, begegnet. 
Selten find Deudlerifhe und anmafende Albionsfühne mit ergdsliderem 
Garfasmus gefdilbert worden. Sein zweitftärkfter Zorn gilt den „Künft» 
lern“, diefer aus Paris eingeführten Boheme, die bom „Brand“, dem Lites 
raturcafe Shriftianias aus, das Land verſeucht, gediegene Kaufleute ausfticht 
und diefes Golf bon Bauern und SKleinftädtern mit einem Hauch bon bere 
Iogener Liederlichkeit, fälfhlih für Romantik gehalten, überziehen möchte. 
Gdelftes Seelengut gebt dabei zu Bruce, andre retten fid noch eben auf feſtes 
Land, auf „Neue Erde“. 

Seine gelafjenfte und überlegenfte, dadurch auch vernichtendfte Satire hat 
er aber am Journalismus ausgelaffen. Redakteur Lunge ift wohl der vor— 
züglichfte Repräfentant jener glorreiden Bivilifation, die allen „Segen der 
Erde“ verramjdt. Redakteur Lunge ift aud fo ein bäuerlicher Gtreber, ein 
[hlauer Schwimmer auf den Wogen der Genfation, der Volksmeinung, ein 
Intrigant und ©enüßling, der immer wieder feiner Frechheit die Rettung 
aus beiflen Affairen, fteigende Grfolge dankte. Lüge, Schwindel, Berrat, 
ftrupellofe Wusnugung der Gutglaubigfeit ijt fein Lebenselement. Gr ift eine 
Macht, den alle bis zum Minifterpräfidenten hinauf fürchten, — nur durch 
bie ungebemmte Beweglichkeit eines ungebildeten, ehrfurchtsloſen, aus fozialen 
Tiefen emporgefdleuderten Geiftes. Gr benimmt fid genau wie ein aus 
bem Ghetto allzufchnell Aufgeftiegener. Und indes Hamjun ihn immer neue 
©emeinbeiten begeben aft, ihm durch die niedrigften Zumutungen ins Gefidt 
fpeit, Iäßt er ihn immer höher fteigen und triumpbieren, fo daß am Schluß 
nicht er, Zunge, fondern die Welt gerichtet ijt, die ſolche Talente züchtet und 
(gedeihen Jäßt. 

Aber legten Endes fieht Hamfun über die Literaten und die Zunge und 
all die Schwindler und Beitgenoffen hinweg — auc diefe Zeit ift nur ein 
Stüd Gwigfeit, aud fie wird überwunden und neue Konflifte werden ere 
wadjen. Wir würden vergebens ein politifches Glaubensbefenntnis erwarten. 
Politi, Bivilijfation ift nichts. Die urfprüngliden alten Volkskräfte, Die 
Natur ift alles. Herren und Knedte leiden und fiegen. Im Knechtsgewand 
geben Ariftofraten einher wie Nils, verwunfchene Prinzen des Bolfes. Aber 
laßt fie da. Sollen fie fid „binunterarbeiten* zu Schulmeiftern und Paftoren? 
Das ift mehr als ein Paradoz, irgendeinem Myſtiker oder romantiſchen Guts— 
befiger und Leutnant in den Mund gelegt. Das ift Glaube an das Leben, 
das ohne menſchliche ,,Berbefferung* gut ift. Dem rationaliftifd-naiven oder 


483 


gottlos-fribolen Gort{drittsglauben ftellt fic jene im Siefften Fromme 
Stepfig entgegen, die den Blid freimaht auf das Wefentlide und Gwige. 
* 7 


Daher aud) diefe ftarfe geheime Liebe gum Orient, zu Rußland. „Freilich 
fennt der Kaufafier nicht die Hauffe und Baiffe der New-Vorker Börſe, fein 
Leben ift fein Wettlauf, er hat Zeit zu leben und fann fich feine Nahrung 
bon den Bäumen fchütteln oder fein Schaf fdladten, um davon zu leben. 
Uber find nicht die Europäer und die Bankees doch größere Menfden? Gott 
weiß es. Gott und fein andrer weiß es, fo zweifelhaft ijt das...“ 

Sreilich ift da ein Brud. Wenn die Natur wudtiger und größer ift als 
alle Zivilifation — warum febren wir denn nicht zu ihr und ihrer Ginfachheit 
zurtüd? Warum maden wir nicht entfchloffen Schluß mit all diefen vere 
feinerten Konflikten, diefen aus lauter Zartgefühl und Stolz und Scheu Bere 
brodenen Shen, diefen Grübeleien, die noch tiefer ins Dunkel führen, diefen 
QRubelofigfeiten und Sünden gegen uns und die Nächiten, die uns immer 
mehr mit der Natur, mit ®ott entzweien? 

Immer ftärfer, immer tiefer, immer eindringlider fpridt die Natur 
zu uns. Wälder, in denen Woden wie Stunden verrinnen, Berge, in deren 
Anbli€ wir uns „ohne Halt auf der Grde fühlen“, „als ftänden wir Auge 
in Auge mit einer Gottheit“, das Meer, die nordifhe Gommernadt — alles 
umbillt ung wie ein Braufen. Wir werden mit fortgerijfen in den Strömen 
bes Kosmos und vergeſſen das Fragen. Die Denker verfuden zu antworten 
und fid außerhalb des Wirbels zu ftellen. Dichter find felbft Natur und 
[&öpferifcher Strom. Lebensbereiderung, Naturnähe und Einheit mit dem IL 

Und es ift ein bergebliches Beginnen, fie jchildern, umfchreiben, bes 
f&hreiben, mit Worten erfaffen zu wollen. 

Befdreibt einen Baum im Walde, in all feinem Leben! Ihr müßt gue 
frieden fein, wenn ihr nur eine Ahnung feines Raufchens erwedt Habt. 

Hermann Ullmann. 


Neuere Schriften über das Turnen. 


n Schulfreifen, in denen man um die Stundenzahl jedes Faches marftet 

wie der Krämer um den Wert und Preis feiner Ware, fämpft man nod 
immer um die tägliche Stunde für Leibesübungen der Jugend gegenüber einer 
fünffahen Zahl bon Stunden rein geiftiger Arbeit. In Turnlehrerkreiſen 
fordert man immer dringender eine vollakademiſche Turnlehrerausbildung und 
die Anerfennung des Surnens als eines Hauptfaches gleich ben wiſſenſchaft— 
lihen Studienfadern der ftaatliden Oberlehrerprüfung. Ift es nit fiir Die 
Rüdftändigfeit unferes gefamten Graiehungswefens fenngeidnend, daß um folde 
Selbftverftändlichkeiten in Deut{dland immer noch gefeilfcht und gerungen werden 
muß? Kennzeichnend aud für die Ginftellung weiter Kreife gegenüber der all» 
gemeinen Golfsnot, bie bor allem eine Sugendnot ift, daß man alles Körper 
lide fo weit hinter das Geiftige zurüditellt? 

Leibesübungen find Lebensfitte und nicht ein Sdulfad, das wie Bie 
meiften Lehrfächer in bomöopathifhen Gaben verabreicht werden darf. 
Der Menfch ift ein förperlich-geiftig-feelifhes Wefen; daher ift Körperbildung 
ein unldslider Zeil der Gefamtbildung. Wiffenfchaftlider Ginblid in Wefen, 
Mittel und Ziele der Körpererziehung und unmittelbare Erfahrung in ihr 
find nicht lediglich Aufgaben eines neben den anderen ftehenden „Lehrfaches“, 
obwohl der Fachturnlehrer nicht zu entbehren ift, fondern unerlaplide Bore 


484 


Bedingung jeglichen echten Graiehertums. Man bedenfe dod, wie Sahn die 
deutſche Turnfunft als eine Braudfunft für das Leben gegründet Hat und 
wie planboll er fie in den Dienft einer allgemeinen Volkserziehung und Volls— 
erneuerung bat geftellt wiffen wollen! Aber in der Gefdidte der Jugend» 
und BDolfsergiehung des neungebnten Sabrbhunberts ftößt man immer wieder 
auf die Gefahr, daß gum Schnedengang herabzuſinken droht, was Adlerflug 
nehmen follte. Grft mußte der fchwelende Brand fSrperlider Gntartung, 
{oon feit länger als einem Menfchenalter bon Graiehern und Wergten, Bolfs- 
wirten und Bolfsfreunden als ein Raub an unfrer Volksgeſundheit und Volks— 
fraft erfannt, durch Den Sturmwind des Weltkriegs und der Nachkriegszeit zu 
gefräßiger Lobe entfadt werden, ehe der Geuerfdein die deutſchen Gewiſſen 
wedte. Heute, wo es für unfer Golf um Sein oder Nichtfein gebt, finden die 
Bolfs- und Sugendwarte willigeres Gehör, die, wägend und wmwagend, in 
Wort und Tat eine Gefamtergiebung bon Geift und Körper fordern. 
Trotz der erhebliden Schwierigkeiten des Büchermarktes ift die Zahl 
der Neuerjcheinungen zum Schrifttum der Leibesübungen nach der Gbbezeit 
der Kriegsjabre bedeutend geftiegen. Und die bittere Not der Gegenwart 
Hopft fo dringlih an die Tore, daß die Turnfchriftfteller die turngeſchichtliche 
Forſchung ziemlich beifeite laſſen und fich lediglich auf das Gebot der Stunde 
einftellen. Das entjpriht gwar dem ungefhichtlihen Sinne eines Ueber 
gangszeitalters, das fid bon dem überfommenen Alten abe und einem ers 
febnten Neuen guwendet. Trogbdem bleibt das Fauftwort „Was du ererbt von 
deinen Bätern haft“ im Werte. Da ift es gu beflagen, daß die Meifter- 
werfe der Begründer des Turnens fo ſchwer zugänglich find. Wo findet man 
nd Guts Muths’ „Symnaftif*, das Grundwerk? Selbft Friedrich 
Ludwig Iahns Werke, die Garl Guler bor vierzig Jahren fleißig 
gefammelt und herausgegeben bat, find vollftandig vergriffen. Sein „Deut- 
{bes BGolfstum“ und „Die deutfhe Surnfunft* find allerdings bei Reclam 
erjdienen, und fürzlih bat die Hanfeatifhe Berlagsanftalt in der Samm- 
lung „Aus alten Bücherfchränfen“ einen Auszug des für unfre Beit Wert- 
vollften, was Jahn gefdrieben, herausgegeben („Sriedrih Ludwig 
Iahns Srbe* von Heinrich Serftenberg, Hamburg 1923). Indejjen 
ift eine neue Gefamtausgabe der Werke Jahns um fo dringenderes Bedürfnis, 
je näher er dem Deutſchen der Gegenwart gerüdt ift und je mehr er ung 
aud für die deutfche Zukunft zu fagen bat. Auch eine heutigen Anſprüchen 
genügende Lebensgefhichte Jahns fehlt nod und ebenfo die Gefdidte des 
beutfhen Turnens und der Deutfhen Turnerſchaft überhaupt. Ift Dod Die 
deutſche Turngeſchichte ein twefentlider Teil der deutſchen Bolksgefchichte, mit 
ihren Wellenbergen und Siefen ihr innerlich und äußerlich aufs engjte ver— 
bunden. Grfennt man, zu welchen wertoollen volls- und fulturge{didtliden 
Grgebniffen die griindliden Unterfuchungen befonders Paul Wengdes zur 
Geſchichte der deutſchen Burfdhenfdaft, die die gleichaltrige Schwefter der Tur- 
nerei ift, geführt haben, fo wird man es als eine Ghrenpflidt nicht nur der 
Zurnerfchaft, fondern der deutfchen Gefhidtsforjdung anerfennen müffen, daß 
die Gntftehung und Gntwidelung des beutfhen Turnens im Bufammenbhange 
der deutſchen ®efchehniffe von allgemein völfifhem Standpunkte aus über- 
haut und dargeftellt werde. Garl Gulers „Oeſchichte bes Turn» 
unterridts* (3. Auflage von Garl Roffow. Gotha 1907) ift nicht diel 
mehr als eine fleifige Sammelarbeit, gewiß verbienftpoll, aber nicht 
ausreihend. Wertvoll ift Woolf Shieles „Die neue Grgiehung, 
Werden und Wefen der Leibesübungen“ (Leipzig, ©rethlein u. Go. 1919). 


485 


Der Obertitel weift auf die Bufunft bin. „Die neue und dod fo uralte Gre 
giebung ift bie, bie fih auf die Erziehung des Leibes aufbaut, die bom 
Leibe ausgehend unbermerft den Geift, den Willen nad ſich zieht“. Thiele 
gibt bor allem einen umfajjenden Yeberblid über Werden und Wefen der 
Leibesübungen bis in den Weltkrieg Hinein, würdigt die mafgebenden Rich» 
tungen und ihre führenden Männer und läßt fie aud in ausfihrlideren Bee 
legftellen felbft zu Worte fommen. Als Stadtjcehularzt in Chemnitz ift ihm ein 
reiches Grfabrungsmaterial zugefloffen, fo daß er über die Stellung feines 
Standes zu der förperlihen Ausbildung entfcheidende Forderungen aufftellen 
fann. In feinen Leitfägen verlangt er daher eine pofitive, fürdernde 
Mitarbeit des Arztes. Erzieherſchaft und Aerzteſchaft — das gibt eine viel- 
berfprehende Bundesgenoſſenſchaft, deren Früchte Die Jugend ernten wird. 
Nur follen es die fünftigen Aerzte als einen wefentliden Beftandteil ihrer 
fahliden Ausbildung betrachten, ſich Durd eine turnerifhe Betätigung und 
dur Seilnahme an Turnlehrgangen mit Wefen und Wegen der Leibeserzie- 
bung innig vertraut zu machen. Da fehlt es heute nod vielfach. Immerhin ift die 
Aerztefhaft in dieſer Ridtung im Warſche. An ihrer Spike ftebt als 
Senior der Bonner Arzt 5. A. Schmidt. Sein Handbud der Anatomie, 
PhHfiologie und Hygiene der Leibesübungen „Anjer Körper“ (R. Boigt- 
landers Gerlag in Leipzig) ijt bereits in fedfter Auflage erfdienen. Die 
Höhe der Auflagen erübrigt ein Wort des Lobes über das feiner Zeit bahn- 
bredende Werf. Auch feine „PPhyſiologie der Leibesübungen“ 
(in demfelben Gerlage) liegt bereits in dritter Auflage por. Sie ift befonders 
dadurh fo Mertvoll, daß fie die Ginwirfung ber Leibesübungen auf die 
einzelnen Organe und ihre Funktionen und den phyhſiologiſchen Uebungswmert 
der verſchiedenen Arten von Leibesübungen nachweift und den Aebungsſtoff 
auf die Lebensalter nach deren Uebungsbediirfnis verteilt. In gemeinverftänd« 
lider Darftellung für weitere Kreife behandelt Schmidt denfelben Gegen— 
ftand in feinem anfpredenden Büchlein „Wieerbalteih Körperund 
®eift gefund?“ (Aus Natur und Geifteswelt Bd. 600. B. ©. Teubner, 
Leipzig 1921). Gndlid Hart Schmidt in einer Heinen ergebnisreiden und 
anregenden Schrift ,Ceibesiibungen und Geiftesbildung* (Gdt- 
tingen 1920, bei Bandenhoef und Rupredt) die Wechjelwirfungen bon Körper 
und G©eift. Gr geht hier bon dem Zufammenhang gwifden der Sntwidlung 
des findliden Gehirns und ber DBeherrfhung des Bewegungsapparates 
(Koordination) aus und meift dann an manderlei ftatiftiihem Material 
nad), wie in den verjchiedenen Lebensaltern durch regelmäßige Leibesübungen 
die fdrperlide und geiftige Gntwidelung in inniger gegenfeitiger Beziehung 
gefördert wird. Gr betritt damit ein ©ebiet, für deffen Durchforſchung die 
Wiffenfdhaft erft in den Anfängen ftebt. 

Meberall fpridt aus Schmidts Büchern der gediegene Wiſſenſchaftler, 
der reid) und ſcharf beobadtende Arzt, der praftifde Turner. Neben feinem 
Hauptwerf „Anfer Körper“ fteht, inbaltlid ihm nahe verwandt, Soe 
bannes Müllers Werk „Die Leibesübungen. Ihre biologifch- 
anatomifden Grundlagen, PhHfiologie und Hygiene. GErfte Hilfe bet Une 
fällen (Leipzig und Berlin 1924 bet B. ©. Teubner). Die foeben erjchienene 
dritte Auflage bedeutet einen fehr betradtliden Schritt porwärts, da 
die neueften wiffenfdaftliden Grgebniffe verwertet find. Ueberall in Dem 
Gude begegnet man dem erfahrenen Prattifer. Denn dem Berfaffer fteben 
alg Lehrer an der Preufifdhen Hochſchule für Leibesübungen das reichte 
Beobadtungsmaterial und eine Fülle von GForfdungsgelegenbeit zu Gebote. 


486 


Ar die theoretijch-wijfenfhaftliden Darlegungen knüpft er unmittelbar in 
Solgerungen und Forderungen praftiihe Hinweife für die Gejtaltung des 
Detriebs der Leibesübungen und ijt dadurch für Arzt und Erzieher ein treff- 
lider Ratgeber. 

Neu ijt das Lehrbudh von Walter Schnell „Biologie und Hy 
giene der Leibesübungen“ (Urban und Schwarzenberg, Berlin und 
Wien 1922). Gs ift aus Borlejungen hervorgegangen, die im Rahmen eines 
Zurnlehrerausbildungsfurfus gehalten find, und trägt daher den Bedürfnifjen 
des Schulturnens und des Turnlehrers unmittelbar Rechnung, indem es 
weniger die anatomifhen und phyſiologiſchen Tatbeftande Iehrt, als in die 
Biologijchen Erſcheinungen und hygieniſchen Sorderungen einführt, immer von 
dem Sejidtspuntte aus, dem denfenden Turner und Surnlehrer ein tieferes 
Berftandnis des Ginfluffes planmäßiger Körperübungen auf die funktionellen 
DBorgänge zu erweden.. Das gelingt ihm auf dem Wege, daß er in den 
einzelnen Abjchnitten nad der allgemeinen Ginführung in ein ©ebiet, 3. B. 
in der Bewegungslehre, deſſen bejondere Beziehungen zur Leibesiibung bes 
[prit und daraus die Folgerungen für die Geftaltung der aftiven Leibespflege 
und der Körperausbildung zieht. Durch folhe Berbindung von Theorie und 
Prazis gibt er dem Gachlebrer der Leibesübungen in biologifcher und hy— 
gienifcher Richtung das geijtige Rüftzeug für feinen Beruf. Die reichlihe 
Beigabe eines vortrefflichen Bildermaterials erhöht den Wert des Werkes. 

Das Bud bon Friedrih H. Lorentz „Sporthygiene“ (Iulius 
Springer, Leipzig 1923) ift ber Niederjchlag und die Berwertung der ume 
fanglidhen Beobachtungen, die der Verfaſſer als Leiter der fporthygienijden 
Unterfuchungsftelle des Hamburger Ausfchuffes für Leibesübungen aus dem 
befonders vielfeitigen und reichhaltigen Prüfungs- und Tatfachenmaterial des 
{portfreundliden Hamburg gewonnen hat. Lorenk erweift fid indejjen nicht 
als einjeitiger Sportsmann, fondern erfennt der Gymnaſtik ihre volle Bes 
tedtigung neben dem Sport und ihre Unentbehrlichkeit por ihm und für ibn 
gu. Da er den Betrieb eines Sports erft dem Lebensalter der Reife gugeftebt, 
betont er, wie der volle Grfolg in der mehr oder weniger einfeitigen Sport- 
leiftung bon einer vorhergegangenen allgemeinen Durdbildung des Körpers 
alg notwendiger VBorausjegung abhängt, wie aber aud neben 
dem Sportbetriebe, getwifjermafen als Grgänzung und zum Aus 
gleid, die Ausbildung derjenigen Muskeln und Körperteile nicht 
bernadlaffigt werden darf, die bon der Gonderart der einzelnen 
Sportbetätigung nicht getroffen werden. Mit anderen Worten: der Sports- 
mann bedarf täglicher allgemeiner Gymnaſtik, mindeftens eines ergänzenden 
Wechſelſports. Da Loren diefe Gorderungen vertritt, fo enthält fein Buch 
nicht nur für den Sport und den Sportlehrer, fondern auch für den Surnbetrieb 
und den Zurnlehrer wertvolle Anregungen. 

Zufammenfaffend dürfen wir daher fagen, daf fic das fteigende Bere 
ftändnis der deutſchen Aeratefdaft für die Bedeutung und die Pflege der 
Leibesübungen im Schrifttum der letzten Sabre deutlich widerfpiegelt. Be— 
fonders aud) bon der 1920 gegründeten „Deutfhen Hochſchule für 
Leibesübungen“ in Berlin, deren Rektor der Geh. Medizinalrat Prof. Dr. 
Bier ift, darf eine immer erfolgreidhere wiffenfdaftlide Forjhungsacbeit 
erwartet werden. 

Diefe Deutfhe Hochſchule tritt mit dem großzügig angelegten Unter- 
nehmen eines „Handbudhs der Leibesübungen“ (Herausgeber ©. 
Diem, A. Mallwit und © Neuendorff, Weidmannſche Buchhand— 


487 


lung, Berlin) hervor, bas in mindeftens 30 Bänden alle Zweige der Leibes- 
übungen und alle Wifjensbeziehungen umfaffen foll. Bisher find folgende 
drei Bände erfdienen: 1. Garl Diem, „Bereine und Berbände 
für Leibesübungen (VBerwaltungswefen)“. Das Bud berichtet über 
Bereinswefen und Vereinsrecht und bringt dann eine gründliche Zufammen- 
ftellung der einzelnen in Deutfchland beftehenden Verbände aller Arten bon 
Leibesübungen und ähnlicher ausländifcher und internationaler Verbände, der 
Spitenorganifationen und ftaatliden Ginridtungen. Gs ift das unentbehrliche 
Nadhjdlagebud, um fih über irgendeine verwaltungstehnifhe Frage oder 
über vorhandene Ginridtungen ſchnell und fider Rat gu bolen. 2. Julius 
Sparbier „Deutfhe Turn» und Kampffpiele, ihr Wefen, ihr 
Betrieb, ihr Werden“. Giner der griindlidften Kenner und erfolgreidften 
Sörderer bricht Hier eine Lange für Die deutſchen Kampfipiele, unter denen 
das Schlagballfpiel die Krone verdient. Die klaren Darlegungen der Spiel 
regeln und des Spielbetriebs werden Hurd vortrefflide Aufnahmen wichtiger 
Spielporgänge veranfhaulidt. Gin kurzes Schlufwort „Bon der Kultur 
bei den Spielen“ meift dem deutſchen Kampffpiel feinen fideren Stand im 
Volksleben und feinen Beruf zur Schaffung des deutſchen Menfchen der Zu= 
funft zu. 3 Ludwig Deppe „KRörperlihe Grziehung des 
Säuglings und Kleinfindes“ Hier weift ein Arzt in Wort und 
Bild das Elternhaus darauf Hin, daß die förperlihe Erziehung des Kindes 
nicht erft mit feiner Ginfdulung beginnen darf, fondern {don im Saduglings- 
alter durch Spiele und dem Alter ent{predende Leibesübungen einjegen muß, 
damit durd eine gute förperlihe Berforgung aud) die geiftig-feelifde Gnt- 
widlung bon früh auf beeinflußt werde. Das Buc gehört in die Hände 
junger Gltern, denen es um ihre Pflidten dem Neugeborenen gegenüber 
ernft ift. 

Biel mehr als der Site! verfpricht, Bringen Rihard Wehls „Nedhts- 
Fragen aus dem Gebiete der Leibesübungen und der Jugendpflege“ (Leipzig 
1922 bei B. ©. Teubner). Sie geben nicht nur Auskunft in rein praftifchen Fragen 
über Vereinsrecht, Haftpflicht und deren Verſicherung u. dgl. fondern klären 
aud den Wanderer und Wanderführer, Ruderer, Jugendpfleger über Fragen 
des unmitielbaren Betriebs, über das Betreten bon GForften und Waldwegen, 
über das Befahren pon Geen und Zlüffen, die nicht ohne Unterfchied jämtlich 
fürs Ruderboot frei find, über das Abkochen im Freien, über die Auswirkung 
des neuen Iugendwohlfahrtsgefeges auf. Unmittelbar aus dem Leben gee 
griffen, ift Daher dies Büchlein nicht nur nützlich, fondern aud höchſt anregend. 

Ueber den Stand der Leibesübungen por allem im Kreife der Deutjchen 
Zurnerfchaft berichtet feit nunmehr fiebzehn Sabren Rudolf Gaſch in 
feinem bei den Zurnern überall eingeführten ,Sahbrbud ber Turners 
ſchaft“ (Dresden, Wilhelm Limpert), das über die turnerifchen Geſchehniſſe 
alljährlich vorzüglich auf dem Laufenden Halt, jedoch auch allgemeinere Auf- 
faze bringt. Als ähnliche Grfdeinungen find zu nennen das bom Deutjchen 
Reigsausfhuf für Leibesübungen herausgegebene ,Sabrbud der 
Leibesübungen 1919“ (Leipzig, Grethlein u. Go.) und das vonXotbar 
Berger im Auftrage des Deutfhen Hochſchulamtes für Leibesübungen bee 
arbeitete Handbuch für den deutſchen WAfademifer ,Leibesibungen an 
deutfhen Hochſchulen“ (Hochſchulverlag, Göttingen 1922). Mit Gee 
nugtuung Tann man in biefem Iegten Bude verfolgen, wie die ftudierende 
Sugend jich immer Harer auch ihrer auf dem Gebiete der Körperbildung lie- 
genden Aufgaben bewußt wird und an den Hodfdulen planmäßig Die ent» 


488 





Adolf Sdhinnerer, Landungsbrüde 


Aus dem Deutihen Volfstum 


{prehenden Einrichtungen einführt. Hoffentlich fehlt der Grfenntnis und dem 
guten Willen nicht die Auswirkung durch die Sat, fo ſchwer es unter den 
herrſchenden wirtjchaftlihen Nöten, die das Werkftudententum gegeitigt haben, 
für viele Studierende fein mag, aud) für regelmäßige Körperübungen all» 
taglid Zeit und Kraft gu erübrigen. Ginen guten Meberblid über den heu— 
tigen Stand des Sports bietet © Diems „Sport“ (Aus Natur und 
Geifteswelt 551. Leipzig 1920. B. ©. Teubner), Gndlidh ift bier Gd— 
‚mund Neuendorffs ,Sugendturnerfpiegel. Gin Lebensbud 
für jugendlide Turner und Turnerinnen* (Berlin 1923, Weidmann{de 
Buchhandlung), zu nennen. Der warmbergige Greund der Jugend und bee 
geifterte Borfämpfer ber Turnfade wendet fic hier als Sugendwart der Deut 
{hen Zurnerfhaft mit der ihm eigenen Unmittelbarkeit und Zrifche, . mit 
warmem bvaterländifhen Empfinden und beiligem Grnfte an die deutſche 
Jugend, um fie in das Werk Sahns und der Deutſchen Turnerfchaft, fowie in 
die Sugendbewegung einzuführen und ihr ihre deutſchen Brüder und 
Schweſtern beim Turnen und Spielen, beim Singen und Tanzen, auf der 
Wanderfahrt und im Landheim recht anſchaulich zu zeigen, auf daß fie 
Luft befomme, es ihnen gleichgutun in allen Künften des Leibes und in der 
Deutfches Bolt und Land umfdlingenden Liebe, auf daß unferm armen 
DBaterlande aus feiner Jugend die Kräfte zur Gefundung zuftrömen. Das 
ift wahrhaftig ein lebenspolles Buc zur rechten Zeit *! 

Endlich nod ein Wort über Hilfsmittel für den eigentlichen 
Zurnunterridt. Deren gibt es natürlihd eine große Zahl, fo daß 
die Gefahr befteht, wenn man einzelne nennt, anderen nicht mine 
der treffliden durch Verſchweigen Unrecht zu tun. Hier verdient vor 
allem darauf bingewiefen zu werden, daß das deutfhe Turnen, ohne feine 
auf Guts Muths, Jahn, Spieß, Yäger, Maul berubende Gigenart und Selb— 
ftändigfeit aufzugeben, immer wieder bon der ſchwediſchen Spmnaftif nügliche 
Anregung erhalten hat. Der fdon genannte Bonner Arzt F. A. Schmidt 
ift im legten Menfchenalter einer der eifrigften und erfolgreichiten Befürworter 
der Bereidherung des deutfhen Surnens durch gewiffe [hwedifhe Uebungen 
gemwejen (3. B. in feinem Bude „Die ſchwediſche Shulgymnaftif“, 
Berlin 1912). Die deutfhe Zurnlehrerfhaft und die Deutfhe Zurnerfchaft 
haben nidt ohne Widerfprud in ihren eigenen Reihen Wefen, Betrieb 
und Uebungsformen der ſchwediſchen Gymnaſtik, die auf einen Zeitgenofjen 
Sahns, Behr Henrik Ling, zurüdgeht, fid aber unter dem Ginfluß 
des deutſchen Turnens neuerdings wefentlid weiterentwidelt Hat, geprüft und 
eine Anzahl Uebungen, die für Stellung, Haltung und Atmung bejonders 


5 A Nadträglih find eingegangen aus dem Berlage bon Wilhelm Limpert in 
resden: 

1. Sri Edardt „Tr 2 Sahn. Cine Würdigung feines Lebens und 
DWirkens“ — eine febr verdienftlihe Arbeit des Jahnforſchers, der in einer Reihe 
bon Auffaben das Bild Jahns als eines Streiters für PVolfstum und Vaterland, 
für Deutide Freiheit und Ginbeit, deutihe Sprade und Gitte, als Erziehers der 
poy hia und des ganzen Bolf8, als eines aufredten deutiden Mannes liebevoll 
zeichnet; 

2. Otto Brüning „Dertie-Abend“. Das don Jahn wieder aufgenommene 
Wort „Zie“ erflärt er als Derfammlungs-, Grholungs-, nterhaltungs- und Ger 
fellfchaftsplat. Das Bud führt treffli in die Sugendarbeit der Deutjhen Turnere 
{daft ein, indem e3 zeigt, wie zu den turnerifhen Uebungen geiftige Anregungen 
in Geftalt von Bortrag und Lefen, Lied und Bolfstang, Spiel und Spaß, Wan- 
— und Feierſtunden hinzutreten ſollen, um die Jugend allſeitig berangu- 
ilden. 


489 


wertvoll find, übernommen. Gs fommt alfo auf ein gegenfeitiges Geben und 
Nehmen hinaus. Darum fet bier für den, der fic) über die ſchwediſche 
Gymnaſtik eingehender unterridten will auf 2. M. Torngreeng „Lehr— 
bud der ſchwediſchen Gymnaſtik“ (überfegt pon Gg. A. Schairer, 
3. Aufl. Eßlingen 1921 bei Wilh. Langguth) bingewiejen. Bon dem ſchwe— 
difhen Turnen Hat das däniſche unter ftrenger Auswahl des Wertvollften 
manderlei übernommen. Hier ift ein aud für die deutfhe Körperfhulung 
wichtiges Bud die ,Surnerifde Hebungslehre* von &. A. Knude 
fen (überfegt bon Ane Iperfen, herausgeg. bon Karl Möller; Leipzig 1915, 
DB. ©. Teubner), das in Deutfdland vollfte Beachtung und meite Bers 
breitung verdient. Das Erbe Lings bat in neuefter Zeit der Dane Niels 
Buh verwaltet und in feiner Weife gemehrt. Obne ein neues Shftem zu 
entwideln, was leicht zu Starrbeit und Tod führt, bat er in Ollerup auf 
Sünen eine Hodjdule für Gymnaſtik gegründet, die 1923, im dritten Sabre 
ihres Beftehens, bereits über taujend Schüler vereinigt bat. In feiner gym— 
naſtiſchen Arbeitsweije betont er gewifje grundlegende Uebungen („primitive 
Gymnaſtik“), um in der Jugend den allgemeinen Menjhen-Eyp, in dem Gee 
[Hmeidigteit, Kraft und Gewandtheit in harmoniſcher Schönheit vereint find, 
auszugeftalten. Saft in allen Ländern des europäifchen GFeftlands bat Bulb 
mit unleugbarem Erfolge feine „Srundgymnaftif“ gezeigt; fest ift fein Lehre 
bud) aud in deutſcher Sprade erfdienen: „Srundghpmnaftii“ von 
Niels Buh. Auf deutjch herausgegeben bon Anna Giebers und 
Karl Möller (Leipzig und Berlin 1923 bei B. ©. Teubner). Gs ift 
ernftefter Beachtung wert, ba es bejonders zur Befämpfung typiſcher Hal- 
tungsfebler fidere Wege meift. 

Auf die verſchiedenen Shfteme für Leibesübungen, die in letter Zeit unter 
ftärferer oder geringerer Anlehnung an die nordiſche Symnaftif in Deutjchland 
bejonders für das Grauenturnen aufgefommen find, und auf die durd) Die 
DBerbindung mit dem Sang Heute zur Mode gewordene rhythmiſche Gym— 
naftif Tann bier nicht näher eingegangen werden. Alle dieſe verjchiedenen 
Spfteme enthalten wertbolle Gntwidlungen nach gewiſſen einzelnen Rich 
tungen, eignen fid aber, wenigjtens auf ihrer heutigen Stufe, noch nicht zur 
allgemeinen @rundlage einer neuen deutſchen Körpererziehung, wie bon 
tuander Geite begeiftert behauptet wird. Diefe ift uns durch das unter nors 
diſchem Einfluß bereicherte und gefichtete deutfhe Turnen in Berbindung mit 
Spielen, Wandern, Schwimmen, Rudern und Winterfport für die Gegenwart 
und nadfte Zukunft vollauf gemwährleiftet. — 

Hat der vorliegende Bericht gu der Beobadtung geführt, daß der Arzt an 
der Begründung und Bervollfommnung der Leibesübungen einen mejentliden 
Anteil haben foll und neuerdings bat, fo fei zum Schluß auf ein Bud) Hine 
gewiefen, in dem ein Phyſiker das Wort ergreift: Bruno Mahler, „Die 
©®rundlagen praftifher Leibesübungen“ (Leipzig 1920,beiTiheod. 
Thomas). Daß unfer Körper mit feinen Knochen, Muskeln und Bändern bei 
den Bewegungen des täglichen Lebens und der bewußt betriebenen Leibes- 
übungen nad phyſikaliſchen Geſetzen arbeitet, ift feine neue Gntdedung; doch 
ift man erft in letter Zeit gu eingebenderen Unterfuhungen und Berechnungen 
der einzelnen Bewegungen gefommen, die durch Bergliederung einfader 
Uebungen neue Ginblide in ihr Wefen und neue Hinweife für ihre Durch— 
führung und für die Leiftungsfteigerung ſchaffen. In diefer Ridtung wird 
mander, der fi durch mathematiſch-phyſikaliſche Konftruftionen und Be— 
technungen nit abſchrecken läßt, in Mablers Bud willfommene Aufſchlüſſe 


4% 


finden. Mebrigens wird aud die finematographifhe Aufnahme mit Hilfe 
der Zeitlupe es ermöglichen, in das Wefen der einzelnen Leibesübungen tiefer 
einzudringen. Dieſe neue Erfindung, fo vielber{predend fie ijt, ift indesu. W. 
in dem Schrifttum über Körperbildung noch nicht zufammenhängend verwertet 
worden. Da laffen neue Methoden neue Auffchlüffe, Erkenntniſſe und Fort- 
{&ritte erhoffen. Heinrid GSerftenberg. 


Mufif in der neuen Jugend. 


G* find nun etwa fünfzehn Sabre her, daß ein females graues Büchlein 
feinen Siegeszug durchs deutfhe Land antrat. Gs war der „Zupfr- 
geigenbanfl* Hans Breuers. Was jahrzehntelanges Bemühen der Schule 
und der Öefangvereine nicht bermodt hatte, das echte Lied im Bolfe wieder 
lebendig zu machen, dem Wanderdogel war es gelungen, und der Bupfgeigens 
hanſl war ein Zeichen für bas Leben diefer neuen Jugend. Gleichzeitig mit 
dem Liede wurden Laute und Gitarre die Begleiter der Jugend auf ihren 
Fahrten, Feften und Heimabenden. Wenn aud von vornherein nicht immer 
fürftlerifch mufiziert wurde, fo erfaßten doch alle innerlich Die gemeinjchafts- 
bildende Kraft der Mufil. Gs entitanden neben Frank Fiſchers „Wander- 
prgelliederbuh“* fo manche Liederblätter der verſchiedenen Zandjchaften, Die 
bon dem eifrigen Gammelwillen ihrer Herausgeber zeugten, wie bas der 
Thüringer, Brandenburger, die Jenaer Liederblatter uſw. 

Nad und nach festen an verjchiedenen Orten Beftrebungen ein, die das 
Wufilleben der Jugend auf eine höhere und Fünftlerifhe Stufe bringen 
wellten. Nod im Kriege entftand die Zeitfhrift „Die Laute“, Monatsjchrift 
zur Pflege des deuifchen Liedes und guter Hausmufif (Herausgeber Richard 
Möller), die das planloje Mufizieren der Jugend nicht mehr dem Bufall über- 
laffen, fondern zielbewußt an der Weiterentwidlung des Lauten» und Öitarre- 
fpieles, des Liedes ujw. mitwirken wollte. 

Us nad) Möllers plöglihem Tode die Leitung der Zeitfchrift in die 
Hände Fritz Iödes fam, da wuds mit einem Male etwas hervor, was 
nidt nur um Lautenmufif und Lied ging, fondern aufs Ganze, auf die Mufik 
gielte. Jödes Srundeinjtellung geigte fich jener Beit in Dem Schriftchen 
„Mufil“ (Cin pädagogifher Berfuh für die Jugend. Sm Berlag von 
Zwißler, Wolfenbüttel. 30 Pf.) Das Biel war: Befreiung der Mufif aus 
fadlider Gage burd den Geift der Jugend. 

Bald wurde der Schritt getan zur alten polbphonen Chormuſik (Laute 
I. Jahrgang, 5/6), zur Rammermufif (II, 9/10), es erwachjen Mitarbeiter 
weit über die eigentlichen Kreife der Jugendbewegung binaus, vor allem 
in Den Mufiflehrern der Landesergiehungsheime, wie Auguft Halm, Hilmar 
Hödner, Martin Schlenſog, und andere Langſam fommt es an vielen 
Orten des Reiches zu Zufammenjchlüffen junger Menfchen, die in Gemeinſchaft 
der Muſik ihre Dienfte weiben wollen. An der Zeitjcehrift „Die Laute“ wird 
fleißig gearbeitet, Auffäge grundſätzlichen Snbaltes wedfeln mit folden über 
die Oiganif der Mufil, der Melodie, Harmonie, über Mufilerziehung ufw., 
die reichen Notenbeilagen geben den pradtigften Anlaß zum gemeinfamen 
Wufizieren, kurz: ganz organifh wächſt Hier etwas empor, das Gorm und 
Seftalt anzunehmen beginnt und vielverheißend in die Zukunft weift. 

Schon bald gab Sdde neben der Zeitfchrift „Laute“ als DBeihefte eine 
Sammlung „Hausmufif* (Zwißler) heraus, die in zwangloſer Folge den in 


491 


gemeinfamer Arbeit ftehenden Kreifen geeignete wertvolle Muſikwerke bieten 
wollen. Auf dem Boden einer neuen Gefinnung follte verjucht werden, 
gu einer Erneuerung der Hausmufif bon Grund aus zu gelangen. Bisher er» 
fhienen Heft 1. Karl Gofferje, Ein Gingebüdlein (alte Volkslieder 
in Ddreiftimmigem Gag); 2. W. A. Mozart, Stüde für Geige und Gitarre 
(bearb .von Yöde); 3. KR. Gofferje, Alte deutfche Kirchenlieder zur Laute 
(eine tüchtige Arbeit); 4/5. Auguft Halm, Drei Serenaden (Geige, Bratjche, 
Cello); 6. M. Schlenſog, Zwölf Gefänge (mit Geige und Laute); 7/8. 
G. Duis und Th. Storfebaum, Gantareetfonare (fleine Haus- 
mufifen, vofal und injtrumental); 9/10. Auguft Halm, Drei Sonaten 
für Die @eige allein; 11/12. 8. Gofferje, Gin Spielbidlein für die 
Laute (allen Lauteniften gu empfehlen); 13. M. Schlenſog, Kleine Haus- 
mufifen für Geige und Laute (herrliche Melodien); 14/16. F Bide, Alte Ma- 
drigale (hervorragende Sammlung bon Chören des fechszehnten Sabrhunderts); 
17. SH. Reichenbach, Mein Gambenbiidlein; 18. Aug. Halm, Soe 
natine in B-dur (Geige, Bratjche, Sello); 19. W. Nein, Alte VBolfslieder 
für Heinen Grauendor, Flöte, Geige, Bratſche (mit Stimmen und Partitur); 
20. Martin Shlenfog, Geiftlide Hausmufif (Streichtrio und Quartett); 
21. W. Rein, Neue Madrigale (Alte Weifen mit neuem Sab zu 4, 5 und 6 
Stimmen. Gang pradtige Chöre). Weitere Hefte follen demnächſt erjcheinen. 
Allen Sugendfreifen und Hausmufiffreunden feien diefe Hefthen warm 
empfohlen (Preis 1.— Mi. bis 1.75 Mt). 

Eine fehr bedeutende Arbeit leiſtet Hans Dag. Bruger, als 
er bei Zwißler die Originalfompofitionen Sob. Seb. Bachs für die Laute 
- herausgab. Wer fich diefe Werke, die, ähnlih Bachs Violins und Celloſonaten, 
eine hohe Schule des Lautenfpiels find, pornimmt, der fpürt, wieviel am 
Lautenfpiel noch gearbeitet werden muß, damit dieſe Schäte gehoben werden 
fönnen. Gie fdnnen allen Lautenfpielern nicht dringend genug empfohlen 
werden, die über das dumme Shrumm-Schrumm hinaus der wirkliden Lauten» 
Zunft näher zu fommen tradten. Gin erfreuliches Zeichen diejes Strebens 
ift es ficherlih, daß das Werk ſchon in fo furger Zeit die zweite Auflage‘ 
erlebt hat. Kürzlich erſchien, ebenfalls bei Zwißler, eine neue wertvolle 
Leiftung Brugers, ein Quartett von Sofeph Haydn für Laute, Seige, 
DBratfche, Cello. Die Streidherftimmen find leicht, die Laute verlangt tüchtige 
Spieler. Alle Spieler werden große Freude an diefem Werk haben, ift es 
Dod ein richtiger Heiner Haydn. Ferner befindet fid von Bruger im Prud: 
„Schule des Lautenjpieles* für gewöhnlide Laute, Baflaute, Doppelddrige 
und tbeorbierte Laute. Nad Lehr und Art der alten Meifter. I. Teil 
„Für den anfabenden Schüler“ (Heft 1 und 2); II. Seil „Der FZunftreiche 
Lautenſchläger“ (Heft 3 und 4). Nah Brugers Tüchtigfeit zu urteilen, 
ſcheint es, als ob diefe Schule die entfcheidende zu werden verjpricht. Sie baut 
{bftematifd auf der blühenden Lautenfunft des jechzehnten und, fiebgehnten 
Sabrbunderts auf. Die Uebungsbeifpiele find durchweg den wertvollen Bee 
ftänden alter Qautenmujif entnommen. Diefe Schule erftrebt über den Rahmen 
einer folden hinaus ein unentbehrliher Ratgeber und ein zuperläjjiges 
Nachſchlagewerk für die Laute und alle einjchlägigen Tragen zu fein. 

Der Berlag Gimrod bradte bon Brugers Arbeiten nod: Alte Lauten 
funft aus drei Sabrbunderten. Heft 1: Sechzehntes Jahrhundert; Heft 2: 
Giebgehnies bis achtzehntes Jahrhundert; ferner: Sohn Dowlands Soloftüde 
für Die Laute (1562—1626) und Altengliſche Madrigale zur Zaute bon Sohn 
Dowland (1597). Wem es ernft ift mit feinem Lautenfpiel, der arbeite einmal 


492 


recht aufmerkſam diefe Werke durch, die Brugers Fleiß uns bier bietet. Gr wird 
reichliche Greude finden und der Kunft des Lautenfchlageng ein weit größeres 
Stüd näher fommen, als wenn er fid dauernd mit den Duisſchen und ähnlichen 
Saden abgibt. 

Seit 1921 erfcheint jabrlid) im Greifenderlag (Rudolftadt) als Jahrbuch 
der Neudeutfchen Künftlergilde „Die Mufilergilde*. Sie bietet nichts über Mus 
fit, fondern Muſik felbjt. Wenn man die drei bisher vorliegenden Hefte ver» 
gleicht, fo ift ein erfreulicher Sortjchritt in der Gefamthaltung feftguftellen. 

„Kammerlieder“ (Ginige alte Golfslieder für Singſtimmen mit beglei- 
tenden Inftrumenten) nennt K. Oofferje feine im gleichen Berlage erjchienene 
Arbeit; er tritt warm dafür ein, daß Lieder nidt nur bon Akkord-, fondern 
aud) bon Melodieinftrumenten (Flöte, Geige, Bratſche, Gambe, Cello) 
begleitet werden finnen. Herrli find daraus zum Beifpiel: „Wie ſchön 
leucht uns der Morgenstern“ für Alt, Geige, Bratſche, Gello, oder „Das 
Trierſche Chriſtkindlein“ für Sopran, Alt, Senor, zwei DBratjchen, Cello. 
Wir wiffen im Dank für feine ftarfen Anregungen. 

Als äußerſt wertvoll muß id das op. 1 bon Walter Nein bezeichnen: 
Liebesgefange nad altdeutihen Texten für Daritonfolo und Grauendor 
(Sreifenverlag). Diefe Lieder, feinem Lehrer Erwin Lendpai gewidmet, find 
im polyphonen Gag gefdrieben und wohl nur bon recht guten Sängern aus— 
zuführen. 

Bei Bwifler erfdienen oon Rein außer Hausmufif 19 u. 21 (f. oben) 
„Deutfhe Lieder vergangener Jahrhunderte“ für drei Stimmen in poly— 
phonem Sat. Gr fchreibt im Geleit dazu: „Wer die jüngfte Entwidlung ber 
Ehorliteratur aufmerkſam verfolgt bat, der wird erkannt Haben, daß mir 
an der Schwelle einer neuen a capella-Beriode ftehen. Ihre Kraft faugt 
diefe Bewegung aus dem großen Können Boh. Seb. Bads. Die zur Dire 
tucfität ausgeartete Homophonie mußte fie über Bord werfen. Damit Hört 
die Herrfchaft der Oberftimme und die dapon abhängige Verſklavung der 
Unterftimmen mit ihren gleichen, melodifch nichtsfagenden, erftarrten Ton» 
ſchritten auf. Statt deffen fommt die Har zeichnende Architektonik der Poly» 
pbonie zu ihrem Rechte. Sede Stimme wird Trager der Idee und fchreitet 
in aller Selbjtherrlichfeit vorwärts. Weld ungeahntes Leben erjchließt ſich 
damit! Hart ftößt auf Hart! Der Kampf der Stimmen entbrennt. Die Diſſo— 
nang ift Die lebendige Kraft, bie alles in Bewegung bringt und die Rone 
fonang erft in ihrem wahren Werte, als Rube, als Grldjung erfdeinen läßt. 
Aus dieſem Geifte find die vorliegenden Bearbeitungen entjtanden; fo 
wollen fie aufgefaßt und gefungen werden.“ 

Gin Werf von weittragender Bedeutung, bor allem für die Sefangs- 
lehrerfchaft ift Sides „Muſik und Graiehung* geworden. Gin jeder, der 
empfänglich ift für pulfierendDes Leben, wird feine belle Freude daran haben, 
wie der DBerfaffer mit feinen Schulfindern mufigiert, wie er nicht nur vers 
fudt, ihnen tednifde Dinge beizubringen, fondern fic bemüht, fie das melo— 
diſche Walten, den Rhythmus der Muſik fpüren zu laffen und ihm nachzugehen. 
Dies Buch Hat auferft umgeftaltend auf den Schulgefangsunterricht einge- 
wirkt. 

Wohl die bedeutendfte und viele neue Wege weifende Arbeit Iödes ift 
hie Herausgabe eines neuen Liederbuces für die Schule: Der Mufifant, 
Lieder für die Schule. 6 Hefte. (Verlag Zwißler.) Hier wird gum erften Male 
der wirklide Berfud) unternommen, die Kinder teilnehmen zu laffen an 
dem, was wir mit Ehrfurcht unfere Mufif nennen. Wer diefe Hefte ernftbaft 


493 


durdjfieht, dem wird es vielleicht jest erft Har und bewußt, was der bisherige 
Mujifunterridt an den Kindern, aud an uns, verfäumt hat. 

Die erften beiden Hefte find der Unterftufe gewidmet. Gnthalt das 
erfte Heft Kinderlieder und -fpiele, bei denen der Lehrer durchweg die Me» 
Iodie auf einem beliebigen Inftrument mitjpielt (außer einigen prächtig 
frifhen Kanons), fo treten im zweiten Heft (Bunte Lieder, hin und wieder 
mit freien zweiten Stimmen und mit Inftrumenten) felbftändige Begleitungen 
der Inftrumente auf. Die oft den Liedern beigefügten Tangweijen geben, wenn 
fie den Kindern recht vertraut geworden find, ein recht luſtiges Mufizieren 
(etwa das Widele, wedele mit einem ber Beethovenfden ländleriſchen Tange). 
Hier tritt aud zum erften Male als Begleiter des Schulfingens die Laute 
auf. Wer es miterlebt hat, wie gerade Diejes Inftrument Menjchen zum ge- 
meinfamen @efang zufammenzufcließen vermag, wird es mit Freuden bee 
grüßen, daß die Laute endlid) Gingang in unferen Schulen finden foll. 

Das dritte Heft (alte und neue Lieder für Gingel-, Wedfel- und Chor— 
gefang, einftimmig, zweiftimmig und mit Inftrumenten) dient in der Haupte 
fahe dem guten Bolfsliedbe. Bom jüngeren Bolfsliede ausgehend, gebt es 
largfam über zum älteren, an beffen melodifchen Kräften die Sugend fid 
nicht früh genug erfreuen fann. Inmitten nimmt der Minnegefang einen 
befonderen Plaß ein. Gr foll zeigen, wie die ganze Mufifergiebung in der Er— 
giebung zur Melodie veranfert liegt. Hören wir Iöde felbft einmal: „Wenn 
neben der recht eindringlich fein wollenden Anregung zu feiner Pflege (des 
Chorgejanges) in diefem Heft im bunten Reigen der Inftrumente die Laute 
den erften Platz einnimmt, fo ift das aufs engfte verfnüpft mit der bier ere 
ftrebten Pflege des Volksliedes und foll daneben immer aufs neue den Lehrer 
daran erinnern, daß er der erfte Borfänger feiner Singgemeinde zu fein bat. 
Weber aber Flöten, Braten, Schlagzeug und gar Hörner zu nehmen find, 
das fei der Gindigfeit und Regfamfeit der einzelnen Mufilantengruppen 
als bejonders reizvolle Aufgabe geftellt. Wo bier ein Wille ift, dürfte in 
den meiften Gallen aud ein Weg fein.“ 

Das nadfte Heft (4. Heft: Bolfsliedber und Kunftlieder meift in poly— 
pbrnem Sag mit und ohne Inftrumentalftimmen) foll langſam den Uebergang 
gum Runftliebe vorbereiten. In der Schlußbemerfung heißt es: „Diejes Heft 
ftebt unter dem Zeichen der Wiederermedung der Melodie. Sroffreie Melo- 
Dif, Die uns lange fremd gewefen ijt, weil wir ihr fremd waren, beginnt uns 
aufs neue in ihren Bann zu ziehen und foll dur) Tradition dem ganzen Bolfe 
wieder vertraut werden. Darum feten dieſe Lieder einftimmig ohne jede Bee 
gleitung an; darum nimmt das Melodieinftrument bier einen breiten Raum 
ein; darum fteht im Bordergrund der polyphone Stil Alles das, an dieſem 
Ort und in dieſer Geftalt, ift Neuland. Gin Einzelfall vorerft in der Lite- 
ratur für den Schul» und Sugendgejang. Aber bitte fein Streitfall. Keine 
DBrandfadel wird geworfen; fondern aus Freude foll zur Greude aller um 
Schönheit gerungen werden. ®laube nun niemand, dem die vorgejchlagenen 
Snftrumente nod nicht zur Verfügung ftehen, er müffe darum auf Die be= 
treffenden Lieder verzichten. Gr finge fie ruhig einftimmig ohne Begleitung. 
Wir müjfen die Schönheit ihrer einjtimmigen Melodie überall erft wieder- 
finden, ehe wir den Ginn des Snftrumentalgefanges begreifen, der ihnen zur 
Seite tritt.“ 

Das fünfte und fedfte Heft find dem Mufilleben der Oberftufe beftimmt. 
Das fünfte Heft (Lieder und Gefange von Praetorius, Scheidt, Schütz, Han- 
del, Mozart, Beethoven, Schubert, Reger und anderen Meiftern mit und 


494 


‘ 


ohne Snftrumentalmufif) will in feiner Anordnung gleichzeitig einen Weg durd 
die verfchiedenen Mufikftile unferes Volles zeigen, zum anderen aber in je» 
dem Werk unmittelbar als Kunftwerf vor den jungen Menfden treten. GS 
fann natürlich in einem Heinen Heftdhen nur ein Bruchteil bon dem geboten 
werden, was vorhanden ift. Diefen muß der Lehrer nad eigenem Grmejfen 
ergänzen, por allem auf dem Gebiete der Inftrumentalmufil. 

Das legte Heft ift pollftändig Soh. Seb. Bach gewidmet (eine und mehr- 
ftimmige ®ejänge mit und ohne Inftrumentalbegleitung). Geben wir Ddde 
noch einmal das Wort: „Wo dies legte Heft des Mufifanten Eingang fin» 
det, wird es durch feine Art aufs neue das Band zwifchen Vokal- und In— 
ftrumentalmufif fchließen belfen, das fo lange und fo zu unferm Nachteil 
zerriffen war. Laßt nur überall die Inftrumente mitfingen, wenn ihr fingt! 
Scheut eud nicht, den Schritt vom Schulfingen zur Schulmufif wirklich zu tun! 
Ih rechne da febr ftarf auf die junge Lebrerfdaft, die Durch ihr eigenes 
neues Mufizieren in Greundestreifen diefem Wollen fdon beträchtlich näher» 
gerüdt ift. Denn es ift notwendig, wenn diefe Gefänge wirklich lebendig were 
den follen, daß fie von Lehrern in die Schule getragen werden, denen fie in 
ihren häuslihen Mufiftreijen vertraut geworden find, und daß die Jugend, 
die fie aufnimmt, fie wieder mweiterträgt in ihre Kreife außerhalb der Schule 
und in ihre eigene Hausmufif. Dazu in meiteftem Umfange anzuregen und 
zu Zufammenfclüffen in neuer Mufifarbeit gu ermuntern, foll nicht der letzte 
Wunſch des Mufilanten gewefen fein. — Um eins aber fei gebeten: Seid nicht 
fo unbeweglid, daß ihr fragt, woher man denn in der Schule für gemijchte 
Chöre Baßftimmen und woher Geiger und Gelliften nehmen folle. Grft ein- 
mal wird in der Jugend viel mehr Inftrumentalmufif getrieben, als die Schule 
Heute weiß, ferner ift es ja gerade Abjicht des Mufilanten, diefes Mufizieren 
um feiner felbft und unferes Golfes willen zu pflegen und für die Schule nuß- 
bar zu machen, und fchließlich: ift eg nicht eine der berrlichften Aufgaben der 
Schulmuſil, daß fie Lehrer und Schüler zu gemeinfamem Dienft zufammen- 
führen kann? Was muß das für eine Zeit fein, wenn überall in den Schulen 
Lehre: und Schüler miteinander mufigieren!* 

Wer einmal fold ein Schulmufizieren miterlebt hat, wie es mir jüngft 
bei den Kindern des Landwaijenheims Bedenftedt am Harz vergönnt war, 
dem wird Dies unbedingt der Weg fein, wie wir gu einer Grneuerung der 
Muſik bon Grund auf gelangen fönnen. 

Als eine redht gute Srgangung für die Ginführung in bas polbphone 
Singen feien Zödes „Altdeutfche Lieder“ zweiftimmige Lieder im poly» 
phonem Gag im Berlag bon Bwifler) genannt. Gs find zwei Hefte, bon denen 
das eine geiftlide, Das andere weltlide Lieder bringt. 

Seit Herbft 1922 erfdeint die Laute unter dem Titel „Die Mufifanten- 
gilde, Blatter der Erneuerung aus dem Geifte der Jugend“. Als Beilage 
zu ihr gibt es feitbem die „Muſik im Anfang“, die die Verbindung mit denen, 
bie am Anfange ihrer Mufilarbeit ftehen, aufrecht erhalten und pflegen foll. 
Gs foll nit fo fehr das Nachdenken über Mufil vermehrt werden, fondern 
mit aller Arbeit zur Muſik ſelbſt geftrebt werden. Der Hauptteil find Noten; 
guter, ernfter Muſikſtoff wird zur Grarbeitung bereitgeftellt. Der Zeztteil foll 
der Bertiefung der gebotenen Mufif dienen. 

Gs fann nit genug auf Diefe beiden Zeitfchriften hingewieſen werden. 
On ihrer ganzen Grundeinjtellung, mit ihrem reichen Notenmaterial, find fie 
wie feine andere Mufikzeitfchrift dazu berufen, vor allem Führer der jungen 
Generation zu fein und gu werden. Hier bieten Pädagogen, wie es fie leider 


495 


nur wenig gibt, Einführungen in Muſik, fo daß man bitter werden könnte, 
weil einem in feiner Schulzeit folde Dinge vorenthalten find. Greudig be- 
grüßen wir es, daß endlich einmal ernft gemadt wird mit der Erziehung zur 
Muſik! 

Nod einige Büchlein verdienen Erwähnung: Iöde, Goethes Lieder zur 
Laute (Lieder von Schubert, Zelter, Reichardt, Beethoven ujw.) und Armin 
Knab, Lautenlieder. Knabs Lieder find wohl mit das Befte, das je an Lie— 
dern zur Laute gefdrieben wurde. Beide Sammlungen werden. fid recht 
viele Freunde erwerben. Gin in Sugendfreifen recht befanntes Buch ift der 
„Iungfernfranz“ von Georg Götſch. Gs enthält über Hundert der ſchönſten Volks— 
lieder, zum ‚größten Teil mit Flöte, Geige, Laute ufw., ebenfo die „Sröhlichen 
Shorlieder“ pon Götſch. Alle diefe Sammlungen werden in der Schule recht 
gut gebraudt werden fünnen. 

Es ift ficherlich fein Zufall, fondern von tiefer Bedeutung, daß nicht nur 
in Deutfchland, fondern aud bei unfern Grenzland- und Auslanddeutfchen, vor 
allem bei der Jugend, in ähnlicher Weife für die Grneuerung des Gingens 
und der Mufif überhaupt eingetreten wird, wie es Side und fein Mitarbeiter» 
freis tun. 

Dies find por allem in Böhmen Walther Henfel und feine Grau, 
deren Wirken fo leuchtend vorangeht. Wer einmal das Büchlein „Die Finfen- 
fteiner Gingwode* (Bärenreiterverlag, Augsburg) gelefen Dat (ein Bericht 
der Teilnehmer an diefer Woche, wo junge Menſchen feitab vom Getriebe des 
Alltags einmal 8 Sage nur der Muſik dienen durften), dem wird es verjtänd« 
lid, welde Wirkungen Henfel auszuüben vermag. Dazu fommt nod das Bee 
mwußtfein, daß er und feine Greunde an gefährdeter Stelle des Deutſchtums 
fteben und für bdeffen Grbaltung kämpfen müffen. 

Gang pradtig ijt Henjels Werk „Wach auf“, in dem er außer manchen 
alten Chören viele alte Melodien in neuen Sätzen von ihm felbft bringt. Gr 
giebt die polyphone Schreibweife der Homophonen, vertifalen durchaus por 
und tritt für eine neue Bielftimmigfeit, Die jeder Stimme einen Ginn gibt, ein. 

Wenn man fein anderes Werk „Aufreht Fabnlein, Liederbuc für Stu» 
denten und Volk“ anjieht, fo wünſcht man aufridtig, es würde wirklih Gin- 
gang in Studentenfreifen finden. Doch wer diefe fennt, bleibt Beffimit! 

Ein. bisher weniger gut gelungener Verſuch, das echte Lied wieder zum 
Volksgut zu maden, find Henfels ,Ginlenfteiner Blätter“. Gie find troß 
des einen oder anderen guten Gages nicht biel über das Niveau der alten 
Liederblätter Hinausgefommen. Es ware zu wiinfden, daß Henfel, defjen 
Arbeit fonft recht vorzüglich ift, fid) bemüht, den fünftlerifchen Gefidhtspuntt 
feiner anderen Werke aud den Finfenfteiner Blättern zugrunde zu legen. An» 
dernfalls fann man fid des Gindruds einer VBerflahung nicht erwehren. 

Zur geiftigen Durdarbeitung find dagegen den Sugendfreifen zu emp» 
fehlen: Henfel „Lied und Bolf“, fowie fein „Singftreit“, der Ridtpuntte zum 
Wettftreite im Singen gibt; dazu aud) das Büchlein feiner Grau Olga Ja- 
niczef (Henfel heißt eigentlid Dr. I. Sanicgef): ,Hausmufif* (mit Anhang: 
Walther Henjel, Ratgeber zur Hausmufil). 

Schließen möchte ich dieje kleine Ueberjicht, die feinen Anfprud auf Boll» 
ftändigfeit erhebt, mit einem Worte aus Iödes neuftem Buche Anſer Muſik⸗ 
leben, Abſage und Beginn“ (Zwißler). 

„Wenn aber alles nicht mehr bedeutet als ein legtes Aufleuchten einer 
untergebenden Welt, und wenn zehnmal die allgemeine Schlappheit der Zeit 
über die friſchen Sriebe fommt und Gemeinfdaft zum Unterhaltungsmittel 


496 


und Geift zur Ware unter Menfchen degradiert, fo foll uns das alles nicht 
Hindern, gu verfuden, das Leben aus dem Geifte der Wufif neu gu veran— 
fern. Und ob zwar für mich die Frage an die Zulunft aus einer anderen 
Quelle als all mein Sein und Tun entjpringt, fo will id zum Schluß dod 
fagen — eben für die, die mit Sorgengefichtern dreinſchauen und meinen: Die 
Botſchaft Hör’ id wohl, allein mir fehlt der Glaube —: nit wahr, wenn 
wir denn einmal untergehen follen, laßt uns wenigſtens berfuden, in Schön» 
beit untergugeben. 

In diefem Sinne laßt uns unfere Hände regen, da wir es nun dod einmal 


nicht laffen können.“ Albert Küfter. 
Erleſenes 
Aus Srita Spann⸗Rheinſch' „Buch der Einkehr“ *. 
®ebet. 


Nis um ein rubebolles eben bitte ich dich, 
OD Herr der Welten, 

Sondern um ein ruhevolles Herg! 

Nidt um ein forglofes Leben bitte ich did, 

Sondern um ein forglojes Hera! 

Nidt um ein gefahrlojes Leben bitte ich Dich, 

Sondern um ein furdtlofes Hera! 

Nidt um Reichtum bitte ich Dich, 

Sondern um ein freigebiges Hera! 

Nicht daß mein Nadbar arm fei wie ich, möge mir gefallen, 
Sondern gib mir ein neidlofes Herz! 

Nicht um die Fefttage der Welt bitte ich did, 

Sondern um ein fingendes Herz! 

Nicht Daf du die Unredliden bon meinem Pfad entfernft, 
Sondern das Miftrauen aus meinem Herzen, 

Darum bitte ich did! 

Nicht um den Slauben bitte ich did, der da weiß, 

Du bift über den Wolfen, oder überall, 

Sondern um den Glauben an deine Hilfreihe Allmadt, 

Xm den ©lauben, der Berge verfest! 


®ertruds Lied vom Tode. 
ie wohl wird’s allen meinen @liedern tun, 
Wenn ihnen nichts mehr bleibt als ausgurubn! 
Die Hände, müdgewerlt bon mancher Laft, 
Sind dann gefaltet und in fich gefaßt; 
Die Süße, ſchwer bon langer Wanderfabrt, 
Sie liegen ohne Schuhe, leicht und zart; 
Gin Blumenftrauß verwelft an meiner Bruft 
Wie eine lebte, unbewußte Luft; 
Go lind lag nie mein Haupt auf einem Pfühl 
Als dann auf jenem Kiffen, rein und fühl — 


*' Dr. Strohmer Verlag, Wien und Leipzig. 
497 


Wie eine Mutter auf ihr Kindlein fieht, 
DBlidt auf den Leib die Seele, vor fie flieht — 
Die Morgenflügel fpannt fie aus im Nu 
And wiinfdt ibm gute Naht und ewige Rub. 


Oedslein und Gfelein. 

obt aud, ihr Gngel, mit eurem Gloriafdall, 

Das Oedslein und das Gfelein in Ehrifti Stall! 
Gie, bon den ftummen Wefen in Feuer, Luft, Waffer und Erdenflur, 
Durften zugegen fein am Brauttag der Natur. 
Ihre großen Augen fahn Gottes flares nächtliches Licht, 
war, fie waren wie blind und begriffen es nicht, 
Dod fie fahn und erfannten mit unfaßbarer Luft 
Ein neugebornes Knäblein, bas lag an der Mutterbruft. 
Sie ftredten die Hälfe, es näher und beffer zu febn, * 
War ihnen nie ſo wohl und tiefinnig weh geſchehn. 
— Als ſie dann ſtarben nach vieler dumpfer Beſchwer, 
Nicht mehr als Tiere fanden ſie Wiederkehr. 
In Heiligen und Seligen von Sankt Franziszi Art 
Haben ſie ſich auf Erden den Brüdern offenbart. 


Aus Jacob Böhme, Bom dreifachen Leben des Menfchen *. 
©®ott überall. 

ir” fügen dem gottliebenden und fuchenden Lefer, diefes bon Gott zu 
erfennen, daß er nicht fein Gemüte und Sinnen zufammenraffe, und 
bie pure @ottheit allein hod über den Sternen fuce, in einem Himmel allein 
wohnend, welder aljo nur mit feinem Geifte und Kraft in diefer Welt regiere, 
gleihwie die Sonne in der hoben Ziefe ftehet, und mit ihren Strahlen allent- 
halben in der ganzen Welt wirfet: Nein. — Die pure Gottheit ift überall 
ganz gegenwärtig allen Orten und Gnden: es ift überall die ®eburt der 
heiligen Dreigabl in einem Wefen; und bie englifhe Welt reichet an allen 
Enden, wo du Dinfinneft, auch mitten in der Gröden, Stein und Gelfen: alfo 

aud die Hölle, oder das Reid des Borns Sottes ift auch überall. 


Ohne GStrengbeit feine Natur. 
Syn du fieheft in allen Kreaturen Bosheit und Gift, und dann aud Liebe 
und Begierde: fo Denfe nur, wie die Natur alfo ein ernftlih Wefen fei. 
— Aber gleihwie das Herze Gottes den ftrengen ater in feiner Natur 
fänftiget und freundlid) machet, alfo aud das Licht der Sonnen in dieſer 
Welt alle Dinge, welches alles aus der ewigen Natur feinen Urftand hat. — 
Denn wenn die Strengbeit nicht im ewigen Willen erboren würde, fo ware 
feine Natur, und würde auch ewig fein Herge und Kraft Gottes erboren, 
fondern wäre eine ewige Stille. Go aber die Ewigkeit das Leben, begebret, 
fo mags anders nicht erboren werden: und fo es dann alſo erboren wird, jo 
ift es ewiglid das Liebfte: darum fann und mag die ernftliche ftrenge Geburt 
in Gwigfeit nicht aufhören, wegen des Lebens, welches ift der Geift Sottes, 
— Darum fiebe dich und alle Kreaturen an, und betrachte dich; aud betrachte 
Simmel und Hölle im Born und Grimm Gottes, du findeft es aljo und gar 
nicht anders: wiewohl mir allbier eine Gngels-Zunge bediirften, und du ein 
englifd Licht im Gemiite, fo wollten wir einander wohl verftehen, diefe Welt 
begreifts nicht. 
* Herausgegeben von Dr. Lothar. Schreyer. Hanfeatifhe Berlagsanftalt. 
®ebunden 8 Mt, a 


498 


Lit in der Finfternis. 


5 eek du ftebeft alfo als ein Licht im Sentro mit der Ginfternis umgeben, 
und bift ein Gewächſe im Leben Sottes, aus der finftern ftrengen Natur. 


Das gläferne Meer. 


enn da febet ihr ein gläfern Meer por dem Stuhl des Alten, welder ift 
Gott der Gater: und das Meer ift der fiebente Siegel, aber aufgetan 
und nicht verfiegelt, denn Darinnen ftebet die engliihe Welt; aber die fechs 
Siegel find die Geburt der ewigen Natur, welche in des Vaters erften Willen 
erboren wird, aus weldem das Herze oder Wort SGottes von Ewigkeit immer 
geboren wird, als ein eigen Gentrum, in bem Sentro der fieben Geifter Gottes: 
und wie wohl es ift, daß bas fiebente Siegel aud im Bater ift, und gehöret 
gum Gentro, jo wird es doch Durd Wort gum Wefen gebracht, denn die eng- 
lijde Welt ftehet Darinnen. — Darum, mein lieber Lefer, wiffe, daß alles was 
bon Gott gefchrieben oder geredet wird, das ift Geift, denn Gott ift Geift: er 
wäre aber in ſich nicht offenbar, aber die fiebente Geftalt madt ihn offenbar, 
und darinnen ift bie Schöpfung ber englifhen Welt ergangen, denn fie heißet 
Sernarius Sanctus; denn die Dreizahl ift unbegreiflid. Aber das Wort madet 
bas gläferne Meer, darinnen die Begreiflidfeit wird verftanden; und wird eud 
in der Figur des Bildes in der Offenbarung recht vorgeftellt. 


Die Apoftel. 


atten fie aber gefeffen, und nur die Pharifäer ausgeedet, ihrer gejpottet, 
fie beradtet, und ein höhniſch Spiel aus ihnen getrieben, der Heilige 
Geiſt wäre nicht fo fräftig unter ihnen gewefen 
3@ will. J 
it lange Ddisputieren, nur Grnft: dann der Himmel muß zerfpringen, 
und die Hölle ergittern, und es gefchieht aud. Du mußt alle Sinnen 
mit Gernunft, und alles was dir in den Weg fommt, darein fegen, daß du 
nicht wolleft bon ihm Iaffen, er fegne dich denn, wie Safob die ganze Nacht 
alfo mit @ott rang: wann gleich dein Gewiſſen fagt lauter Nein, Gott will 
deiner nicht, fo ſprich, fo will id aber feiner, ich laſſe bon dir nicht ab, man 
trage mid) dann ing @rab; mein Wille fei dein Wille, ich will was du Herr 
willft: und wann gleich alle Seufel um did ftünden, und fprächen, verzeuch 
es ift auf einmal genug; fo mußt du fagen: Nein, mein Sinn und Wille foll 
nidi außer Gott fommen; er foll ewig in Gott fein, feine Liebe ift größer als 
meine Sünde: habt ihr Seufel und Welt ben fterbliden Leib in eurem Ge— 
fängnis, fo bab id meinen Heiland und Wiedergebärer in meiner Seelen, 
ber wird mir einen Dimmlifden Leib geben, der ewig bleibet. 


Sreuet eud. 


ie Kinder find unfere Lehrmeifter, wir find in unferer Wike Narren gegen 
ihnen: Wenn die geboren find, fo ift Das ihr erftes, daß fie lernen mit 

fic felber fpielen; und wenn fie größer find, fpielen fie miteinander. Alfo hat 
Gott von Gwigfeit in feiner Weisheit in unferer findifhen Berborgenbeit 
mit ung gefpielt: da er ung aber in Die Wie fchuf, da follten wir miteinander 
und untereinander fpielen; aber Der Teufel mißgönnete uns das, und madete 
ung in unferm Spiel uneing. Darum ganfen wir nod. Wir haben jonft nichts, 
daß wir könnten ganfen als in unferm Spiel: Wenn das aus ift, fo legen wir 
uns in die Rube und geben beim; dann fommen andere zu fpielen, und ganfen 
fid aud bis an den Abend, bis fie fchlafen geben in ihr Land, daraus fie 


499 


gegangen find: denn wir waren im Lande des Friedens, aber der Teufel 
beredet ung zu geben in fein unfriediges Land. — Lieben Kinder, was machen 
wir bod, daß wir dem Teufel gehordhen? Warum ganfen wir uns um ein 
SHöfglein, das wir nicht gemadt haben? Iſt doch dies Land nicht unfer 
und aud dies Kleid nicht unfer: es ift unferer Mutter, und der Teufel hat das 
befudelt; wir wollen das ausziehen, und zur Mutter geben, daß fie ung ein 
ſchönes anziehe, jo dörfen wir nicht um das NRödlein, das befudelt ift, ganfen. 
Wir ganfen allhier um einen Rod, daß ein Bruder ein ſchöner Rödlein hat 
als der ander: Seudt doch die Mutter einem jeden feinen Rod an; warum 
ganfen wir mit der Mutter, die uns geboren hat? Sind wir dod alle ihre 
Kinder; laffet ung nur fromm fein, fo wird fie uns allen und einem jeden 
einen neuen Rod faufen, fo wollen wir ung freuen, wir wollen des befudelten 
alle vergejfen. + Wir geben im Rofen-Garten, ba find Lilien und Blumen 
genug, wir wollen unferer Gdwefter einen Kranz machen, fo wird fie fid 
bor uns freuen: wir haben einen Reihen-Tanz, daran wollen wir alle hangen; 
Iaffet uns Dod fröhlich fein, ift doch feine Nacht mehr da, unfere Mutter forget 
für ung. Wir gehen unter dem Feigen-Baum: wie ift feiner Srüchte fo viel, 
wie {din find die Tannen im Libano! Laffet uns freuen und fröhlich fein, 
daß unfere Mutter eine Greude an ung hat. — Wir wollen fingen ein Lied 
bom Sreiber, der uns uneins madete: wie ift er gefangen! Wo ift feine- 
Madht? Ift er doch nirgend da. Dazu Hat er das befudelte Rödlein nicht 
gefriegt, da wir uns um gantten, die Mutter hat's im Behälter, wie ift er 
fo arm! Gr berrfchete über uns, und nun ift er gebunden: wie Bift du große 
Macht alfo zu Spott worden! Schwebteft du doch über die Gedern, und 
liegeft nun zum Füßen und bift fo unmächtig: freuet euch ihr Himmel und ihr 
Kinder Gottes! der unfer Treiber war, der uns plagete Tag und Nad, ift 
gefangen, freuet euch ihr Engel ®ottes, die Menfden find erlöfet, die Bosheit 
ift gefangen! 
Die Turba. 

in Ding, das aus einem Anfang wadfet, das hat Anfang und Ende, und 

wachſet nicht höher, als ein Ding in feiner Zahl hat, daraus es gewadfen 
ift: tas aber in Einer Zahl ift, das ift ungerbredlid, denn es ift nur eines 
und nichts mehr; es ift nichts in ihm, das es gerbrede, denn fein Ding, 
das nur eins ift, feindet fich felber. Wenn aber zwei Dinge in einem find, 
fo ift [hon Widerwärtigfeit und Streit, denn eins ftreitet nicht wieder in 
fic felbft, fondern zeucht fid in fi und aus fic, und bleibet eins: und ob 
es mehr in fic fuchet, fo findet es doch nidt mehr, und das fann nimmer- 
mehr mit ihm felbft uneins werden, denn es ift ein Ding, wo das hingehet, 
fo gebet es in einen Willen. Denn wenn zween Willen find, fo ift Trennung, 
denn einer will öfters in fid, und der ander aus fid, und fo das Ding 
dann nur einen Leib Dat, fo ift das Regiment im felben Leibe uneins: und 
fo dann eines ins ander gebet mit Anfeindung, fo ift der Widerwille (der 
ing ander gebet, und Darinnen wohnet) die dritte Zahl; und diefelbe dritte 
Zahl ift ein vermifhet Wefen aus ben erften beiden, und ift wider alle 
beide, und will ein Gignes fein, und hat dod aud zween Willen in fid 
bon den erften zweien, da auch einer zur Rechten, und der ander zur Linfen 
will. Alfo fteiget das Ding auf bon zweien in viel, und ein jedes Hat einen 
eigenen Willen: und fo es nun in einem Gorpus ift, fo ifts mit ihm felber 
uneinig, denn es Hat viel Willen, und bedarf einen Richter, der da fdeide, 
und die Willen im Zwange halte. So aber die Willen ftarf werden, und fid 
den Richter nicht wollen bändigen laffen, fondern fahren über aus, fo 


500 


werden aus einem Regiment zwei: denn das Ausgefahrne richtet fic felber 
nad feinem Willen, und feindet das erfte an, Daf es nicht in feinem Willen 
ift, und ift alfo ein Streit, da eines das ander begebret gu dämpfen, und 
fim alleine in einem Wefen zu erheben: und fo es das nicht vermag zu 
dämpfen, wie heftig es aud) darwider ftreite, fo madfet ein jedes in fid 
felber, bis in feine bidfte Zahl, und ift immer im Gtreite wider das ander. 
And fo es dann fommt, daß es in feine höchſte Zahl gewadfen ift, daß es 
nidt weiter fann, fo gebet es in fic felber, und fdauet fid, warum es 
nicht mehr wadjen fann, fo fiebet es der Zahl Ende, und feet feinen Willen 
in der Zahl Gnbe, und will das Ziel gerbredhen: und in demfelben Willen, 
welden es in Der Zahl Ende feet, damit es zerbrechen will, ift der Prophet 
geboren, und der ift fein eigener Prophet, und mweisfaget bon den Srrungen 
im Willen, wie daß der nicht mehr por fic geben fann, und bon der Bers 
bredung; denn er wird in der höchſten Zahl in der Krone, am Gnde des 
giels, geboren, und redet bon der Turba in feinem Reiche, wie fic dasfelbe 
enden foll, und was die Urfaden find, daß es nicht aus feiner eigenen Zahl 
[reiten Tann. 


Kleine Beiträge 


breitete ihren Mantel über das Oras 


Sobannistag. 
Gir {males Bogengitter führte auf und fete fid) darauf nieder, als wollte 
den alten Griedbof. Lidtfunfen fie fagen: nun bin id geborgen. Gie 
tanzten unter dem Laubdad feiner faß da aud wie eine traurige Pringeffin, 


Allee, und von Diefer fonnenflüffigen 
Aber zogen fid feine Aederchen nad 
allen Seiten. Die Oebüſche waren inein- 
andergewadfen und DBlütendolden und 
Ranfen gojfen fid auf verfallende Grab» 
tafeln, ala wollten fie in den Stein hin- 
eindringen und liebend erfüllen, was 
mandes Herz unter den fühlen Platten 
fein Leben lang vergeblich erjehnt hatte. 
Oder blühten fie aus dem Stein heraus, 
Diefe ſchwanken Lilien und Winden, diefe 
@lutrojen und wiegenden Kelde, neue 
®ebauje der fdlummernden Geelen? 
Schlanke ſchwarze Vögel fhlüpften zwi- 
{men den Blättern hindurch, ſeidige 
Schlänglein ſonnten ſich und Gräſer zit- 
terten in grüner Dämmerung. Keine 
Menfdhenfeele — aber Geflüfter vieler 
Stimmen in der düftefhweren Stunde. 
Die Gräber waren vergeffen, nur ein 
alter Wächter beforgte fie und muds mit 
ihnen binüber in ein Leben, das Die 
ftrengen ®rengen des Sages fanft über» 
tanfte. Selten fam eines Menſchen Fuß 
aus Der fernen Stadt in diefe Wildnis. 

Gingefriedigt zwiſchen  gegoffenem 
@itterwerf lag ein fleiner Glec grünen 
Rafens zu Füßen einer alten Gtein- 
platte. inladend und lieblih fab er 
aus, wie ein gepflegtes Giland zwifchen 
der Wirrnis. Das modte aud das 
Mädchen denfen, das fid von den ge- 
wundenen Wegen hatte führen laffen, 
bis es auf dieſes Gledden fam. Gie 


die alles was fie hatte, auf dieſes Stüd- 
lein gebreitet hatte, namlid ihr ftilles 
Geſicht und den fhönen fdlanfen Körper, 
preisgegeben dem @ebliibe und Getier, 
Das jie umgab. Gie war in dem’ Zu- 
ftand bierber gelaufen, in dem ung plöß- 
lih alles, twas wir tun und leben, un- 
wirflih erfdeint, und alles was in ung 
ift, in einem tiefen bobrenden Schmerz 
begehrt zu Gottes Brunnen. Hier ftörte 
fie nidts, ja, was fie umgab, fdien ihr 
vertraut. Ihr Kopf fant auf die Stein- 
platte, die gang im Gdatten lag. Go 
{hlief fie ein, oder vielmehr ihre Geele 
fenfte fid in Die Stille der taufend 
Ranken, die fie in ihre Arme nabmen. 
Sie glitt leiht durch die Steinplatte und 
ſchlüpfte durh die Wurzeln einer weißen 
Winde in das Grdinnere, wo fie in einem 
©ehäufe ein armes Herz fand. Das 
bub an zu flagen und zu feufzen, ald 
wollte e8 ein Meer aus fid heraus— 
weinen, und was es nidt erfüllt, das 
bob fid) auf wie ein Gels, der alles er- 
drüden wollte, und — mas es nidt 
pet, das ftieg wie ein Brand herauf, 
er alles begraben wollte. Sa umarmte 
Die Geele das arme Herz und war ihm 
fo bereitet, wie die Wiele dem fdlafen- 
den Mädchenkörper. In großer Not und 
Schmerzen zudte es nod einmal auf 
und vereinigte fid mit der Geele, wie 
zwei Lichter, die ineinanderfinfen. 
Als das Mädchen aufwadte, wußte 


501 


e8 pon nidts. Aber in feinem Herzen 
war eine große brennende $lamme, und 
e8 ging und tat, was Tier und Pflanze 
tun: e3 fnüpfte das unfertige Gnde des 
armen rubelofen Herzens unter der Stein» 
platte an die Kette des Lebens an. 
Grna Behne 


Zu Erika Spann Rhein’ 
„Bud der Einkehr“ *. 


238. Harnads „Wefen des Shriftentums* 
findet fid "inbe ug auf das ater 
unfer das Wort, „Daß diefes Gebet nur 
griproges werden Tann in tieffter Samm- 
ung des Oemüts und bei bollfommenfter 
Sammlung des Geiftes auf das innere 
Verhältnis auf das Gerhatnis zu Ott.“ 
Diefe ernfte Mahnung gilt aud der 
inneren Haltung, mit der wir das , Bud 
ber Ginfebr“ aufidlagen. Wang wad, 
gang bereit miiffen wir fein, febren wir 
Dod) ein bei Dem, den wir im Webet 
des Herrn anrufen. 
nod glaube an einen @ott, ja das 
ift ein fchönes, löbliches Wort, aber 
©ott erfennen, wo und wie er fid offen- 
bart, das erft ift die wahre Geligfeit 
auf Gröden“, fagt Goethe. Und von diefer 
„wahren Geligfeit auf Erden“ ift dieſes 
Bud ein einziges jubelndes Zeugnis. 
Klar und rein wie felten in der See 
{didte der Sprade — und in der heu- 
tigen Zeit faum zu begreifendes Gpange- 
lium — darf bier menihlihes Wort 
Träger göttliher Wahrheit fein. Aus 
jedem Gers fpridt der Gingige mit Ber- 
beißung: 
„SH bin der Lebende, der fchafft und liebt, 
IH bin der Gebende, der ganz vergibt.“ 


„Da hilft dir nichts, du mußt fie über- 


ammen, 
@laub mir, die Hölle felber —— kühl, 
Schlüg Menſchenliebe über ihr zuſammen.“ 

Wunderbar eindringlich kommt das 
Ewige des Augenblicks zum Ausdruck: 
„Nichts erfährſt du nur zum Spott, 
Sede Stunde kommt von Gott.“ 

Diefes „Nihts erfährft du nur zum 
Spott“ umfdliebt bas Geheimnis des 
Lebens, das in diefen Liedern fic felbft 
einen Pfalm fingt. ,@ott ift gegenwär- 
tig“, in jedem fleinften Ping, in der 
„Stille durchs Gemüte“, in den Weg- 
genoffen des Kindes, die fid »Bieje“, 
„Nacht“, —— „KRirchlein“ nen» 
nen, überall tönt e3: 

„Srfennft du 
Mid, den Gingigen, in fieben Lichtern, 
Mid in meinen taufend Angefihtern ?“ 

Gin folhes Herz aber, das wie Sde- 

bart fagt, „oon der Zorm feines berglid 


* r. mteobaer=<Besksgs Reipzig, 
Wien. 1923 


502 





gebegten ©ottes durdformt und mit fei- 
nem ganzen Wefen fo in ihm verwur- 
zelt ift“, das fpricht die Erfahrung aus: 
„Das Auge, auf den Hddften eingeftellt, 
Das fladert nit mebr im Getrieb der 


Welt. 
Ihm wird, wenn es fid oft in Gott 
verfentt, 
Der ftille reine Kinderblid gefdentt, 
Der Blid, der sa ot Mutterantliz 


Und wie ein Wunder. Abed Ding 
empfängt.“ 

Diefem reinen Blid taudt fid Leben 
und Welt in göttlihe Heiterfeit; in aller 
tiefften Anbetung vermag er rein und 
underworren „Sonne, Mond und Sterne, 
deine en) fleinen ®efdwifter® zu 


dau 
36° blattere Hin und ber. Mein der 
tut einen §reudenfprung, da dunkel un 

dumpf erfüllter ®eborjam plötzlich ſei⸗ 
nen „irzufammenbang“ erfährt. Stehe 
id nicht immer vor meinen Büchern, 
wenn „id nicht weiß, was ich leſen ſoll“ 
und febe gefpannt und gelaffen meiner 
Hand zu, weldhes Bud) fie ergreift, da 
fie immer da3 Bud nimmt, was id 
gerade leſen foll? Nun werde id be 


lehrt, da 
ihtes Meer Leudttiirme fteben, 

Der Welt als Meifter Gdebart, 
Laotſe und Novalis zart, 
Als Safob Böhme offenbart. 
Blidt ihrer einer erdenwärtg, 
Dann löft fid bier von Luft und Schmerz 
nd febrt ins Wefen beim ein Herz.“ 

Go muß id von nun an nidt mehr 
dumpf warten; bon nun an werde id 
auffeben, wer von den feligen Geiſtern 
mid anblidt, um mid zu erlöfen. 

Aber am tiefften weht Oöttliches um 
„Das Dlatt“: 
„Dies grüne Blatt — ein Epheublatt — 
Sft aller Lehr und Weisheit fatt. 
In feinen fieben Sternenzaden, 
®eftaltet ohne Fehl und Schladen, 
In feine Adern, reingetrieben, 
Ift Gottes Ratidluf eingeſchrieben. 
Nidts anders fteht Hod über Firnen 
®ebeimnispoll in den GSeftirnen, 
Und was die Sonne wandelnd tine, 
&3 birgt dies Blatt in feiner Schöne. 
IH halte did, du grünes Beiden 
Und fann did finnend nicht erreichen, 
Nur der did ſchuf, fhaut mein Geſchick 
nd dein’ mit einem ewigen DBlid!“ 

Ih fann aud finnend nit erreiden, 
wie wunderbar tief und daa dag tn 
das Leben fich offenbart. Ich hole das 
andere zärtlihd geliebte und gebütete 
Blatt mit dem fremden Namen „aus 
dem Often“ und halte fie nebeneinander, 
das fefte Deutide, das gräberhüllende 


Spheublatt und das fe tie feine, das in 
fih felbft fid) febnende de3 Oingo Bi- 
Ioba, deffen Namen und Geftalt wie 
traurige8 Warden find. Wud bier ant- 
toortet nur erjchüttertes Bekenntnis: 
„Wie wunderbar, Herr, find Deine Ge- 
danfen, id fann fie nidt begreifen.“ Aber 
ih fann an fie glauben und ihnen dienen, 
und das ift der Ginn dieſes Buches: es 
ruft gu der feften, Gerantwortung be» 
touften Haltung, die „immerzu gu Öott 
und Wenfd das Band fühlt“, es ruft 
den treuen Menfden, der in der Mitte 
fteht. Mit der einen Hand Halt er fid 
feft an @ottes Hand und läßt fie nicht 
— nein, fie läßt ihn nidt — mit der an- 
deren aber, mit ber freien Hand hilft 
er, gibt, entwirrt, ftreidelt er, tut Wohl. 
Möchten viele treue Menfhen aus der 
Einkehr in diefes Bud) Betätigung und 
Kraft empfangen, dann wird Die Ber- 
beißung des Wächterliedes fih erfüllen: 
„&3 nimmt das Alte berrlih neu 

Den feurigen, verjüngten Lauf, 

Die alte Kraft, die alte Treu 

Bringt Lieb und Glauben mit pera” 


Zu Spenglers Heinen politifden 
Schriften. 


Gs gehört zu Gpenglers Auffaffung 
bonv wiffenf-hattlib ſchöpferiſchen 
Geiſte, daß fein Träger nur ein gan— 
ager Wann fein fönne; in wem nidt 
ein natürliches ©efühl für die realen Lee 
bensfämpfe feiner Zeit und der Drang, 
in fie einzugreifen, lebendig und 
wirffam fei, der Ri nidt zum Philo— 
fopben, fondern nur gum Sednifer feiner 
Wiſſenſchaft berufen. Senes Berrbild des 
Philoſophen, deffen Anfprud auf diefen 
Namen eben darin begründet ift, daß er 
weltabgewandt und weltfremd jede Bee 
rübrung mit den Kräften der Zeitlichkeit 
vermeidet, bat fid leider der populären 
Borftellung eingeprägt. Dabei fonnte 
man 3. DB. in der die lebten Jahr— 
zehnte beberrihenden Nationalöfonomie 
in voller Deutlidfeit erleben, welden 
Schaden die Wiljenfhaft felbft duch 
dieje Lebensfremdbeit erleidet, ohne der 
befonders peinlihen Fälle zu gedenfen, 
in denen fogialiftifher Syſtemglaube fo 
gelebrten Naturen große praftiihe Auf» 
gaben anbvertraute. Philoſoph feiner 
Wiffenfdhaft zu fein, bedeutet nicht ihr 
Spftematifer zu werden, fondern um dies 
fen Namen zu verdienen, muß man ihre 
Idee als Ganges in ſich tragen, fid über 
ihr Seilwerf erheben und jenen freien 
Blid wiedergewinnen, der das Kenn» 
—— gemeiſterter Erkenntnis iſt. 

rkenntnis aber erhält ihre letzte Reife 
erſt in der Tat, fo wie ſich die Gin- 


fiht in diefe Welt des Geſchehens nidt 
dem arithmetifhen Fleiß des Statiftifers, 
fondern dem Zugriff des Wollenden ere 
fließt. 

Darum ift e3 folgerichtig, daß Speng- 
ler aftiviftijd über die Zone der See 
lehrfamfeit hinausgreift und fid mitten 
in den politiſchen Kampf _ bineinftellt. 
Bon diefen Schriften gilt dasfelbe wie vom 
„Untergang des AUbendlandes“: Die 
„Richtigkeit“ oder ,iUnridtigfeit’ der 
Gingelbeiten tritt guriid gegen die Wirk- 
famfeit des Oejamtmwillens, der aus 
Spenglers Arbeiten fpridt. Die Gewöh- 
nung de3 ©ebildeten an entmannte ,Ob- 
jeftivität“ madt ibm das Berftandnis 
für aftiviftijdes Schrifttum fo ſchwer, 
wie er gewöhnlid ja aud Bismards 
»Sedanfen und Grinnerungen“ — wenn 
überhaupt — als Memoirenwerf lieft und 
fih nidt flar maden fann, daß Bis- 
mard feine geile gu fdreiben vermochte, 
pie Seftftellung und nidt Handlung fein 
ollte. 

Die „Bolt'iihen Pflichten der deutſchen 
Bugend“ * find bereits in weiteren Kreifen 
befanntgeworden. Die Schrift enthält 
viel intereffantes hiftorifhes Material in 
ne Sormulierung. Der Gedante, 
er, dem Anlaffe ihres Grfdeinens ent» 
fpredend, Der Schrift den Namen ge- 
geben bat, ift nur ein Brudftid aus 
Den Grgziehungsgedanfen, die im „Neu= 
bau des deutſchen Reiches“ * entwidelt 
werden. Dort ſteht aud jenes Kapitel 
„Der Sumpf“, wegen deifen die Links— 
preffe Spengler als DBerleumder ange 
griffen hat. Man verlangte geridtliden 
Nachweis, welder der Mader von Wei- 
mar bei einer ent{deidenden Gibung 
der Nationalverfammlung betrunfen ge- 
wejen fei u. dgl. G3 gibt aber Dinge, 
die —— — unſer Arteil be» 
ſtimmen und doch nicht ee 
notoriſch zu maden find, 3. DB. 
Empfindung, die ung — und felbft bie 
Sranffurter Zeitung — befhleiht, wenn 
Dr. Ouſtav Strefemann eine Politik der 
Ideale fordert. Hiervon aber, von wee 
der geridts- nod parteinotorijden Din» 
gen handeln Spenglers Schriften über- 
baupt. 

Spengler fudt die politiihe Wirk— 
lichkeit darzuftellen, wie fie ausfiebt, ehe 
fie die Mühle des Leitartifels paffiert 
bat. Gr ſucht die ftillihiweigende ideolo— 
gifhe und phrafeologifhe Konvention zu 
Durdbreden, die troß aller Oegenſäte 


* Oswald Spengler, Politifde ee 
ten der deutſchen Jugend. Geb. M 
Neubau des dDeutiden Reiches. 285 
Mk. 2.50. Beide Schriften bei C. H. 
Beck, München. 








503 


die Teilhaber am politifhen Oeſchäft ver- 
bindet, fo wie er im „Untergang des 
Abendlandes“ die Konvention hee euro“ 
paifden öffentlihen Meinung zu durd- 
breden fudte. Deutihland bat jest die 
— freilid) ſchlecht benütßte — Gelegen- 
beit Beant, den Bau und die Wirkſam— 
feit Der „organifierten öffentlihen Mei— 
nung der Welt als etwas fennengu- 
lernen, was nidt nur Täufhung oder 
Lüge, fondern eine politifhe Wefenbeit 
ift, und hätte darum Anlaß, Spenglers 
Durdhbrudsverfuden mehr als Literari- 
{Hes Intereffe zuzuwenden. Diejer Gigen- 
{daft von Spengler Schriften midte ich 
die größte Bedeutung beimeffen. Bes 
el find die pofitiven Bore 
lage Spenglers alle an diefem Kampfe 
orientiert. Gie follen, wenn fdon Die 
Maffen dem Banne der zipilifierten 
Konvention nidt mehr zu entreißen find, 
den Führer der Wirklichkeit felbft, nicht 
ihrem agitatorifhen Zerrbild gegenüber» 
ftellen. Denn das ift eben das finn- 
verwirrende in Deut{dland, daß jene 
Phrafeologie, mit der man den angel» 
ſächſiſchen „Mann von der Straße“ Ienft, 
bei ung zum @laubensbefenntnis politi» 
{der Sührer wird, das Werkzeug alfo 
zum Siel. 

Obwohl Spengler nidt afthetifd, fon- 
dern politiijh bewertet werden foll, darf 
der ftiliftiihe Reiz feiner Schriften nidt 
unerwähnt bleiben. Ginen glänzenden 
Stil = ſchreiben, ift freilid im nationa— 
Ien Sager faft verpönt, aber es ift im- 
merbin ein Irrtum, daß eine plumpe 
und ungeiftige Wusdrudsmeife die Ehr— 
lihfeit verbürge oder ihr unvermeidlich 
anbafte .. . Das ift eine bequeme Mei- 
nung, Die unfere Trägheit ungerne preis» 
gibt, die ſchwächliche GOutmütigkeit als 
Sdealismus, ungefüges Poltern als 
Kraft und die ganze unmanierlide Forme 
Iojigfeit unfrer Oeffentlidfeit als die 
galliidem Glitter abgeneigte deutſche 
Aufridtigfeit pramiiert. Die feindlichen 
Schlichen nie gewachſene Arglofigfeit des 
Deutfden Michels, deren man fidh als 
einen edlen Geblers rühmt, mddte einem 
im Zeitalter des Dawes-Gutadtens do 
in einem andern Lidte erfcheinen. G3 
gibt feltjame Geiglinge, die leihter das 
eingetroffene Unglüd ertragen, alg dem 
Drobenden entgegenfehen, das fie zur 
peinliden Verantwortung eines Ent— 
{dluffes nötigen würde. 

Diefer behagliden Pflege unfrer nas 
tionalen Schwächen treten Spenglers 
pojitive Borfhläge auf dem Gebiete des 
Rests und der Ergiehung entgegen. Gr 
tradtet fidtlid danad, das Leben unge» 
miitlider = geftalten. Nod ungemiit- 
lider, in Der Sat. Man fann fid, im 


504 


Beftreben, fid im Völkerſturm einen Reft 
von Behaglichkeit zu erhalten, in eine 
fehr ungemütlihe Lage bineinmandpe- 
rieren. Um berauszufommen, muß nidt 
nur zeitweilig bas Bebagen, fondern vor 
allem der Hang zur Gemiitlidfeit über- 
tounDden werden. In verzweifelten Situ- 
ationen bedarf es eines berben männ» 
lihen Oeiſtes, deffen WMaßftab für 
das Glück ein anderer ift; folde Kämpfe 
müffen von Soldaten, nidt von DBürger- 
militars gefämpft werden. 

Diejenigen, die fid bisher mit Feuille- 
ton-Lirteilen über den „Kulturpeffi- 
miften“ begnügt haben, werden füh- 
len, daß das nist gu der Borftellung 
paßt, die fie fih haben anfertigen lafjen. 
Sreilid, ob man aus feinen Gdriften 
Mugen zieht, hängt davon ab, ob man 
geiftig felbftändig if. Denn Spengler 
vermittelt fein Haben, fondern ein 
Germigen. Ob man bon ibm erfaßt 
ift, merft man an dem peinliden fhwin- 
delerzeugenden Rud, der unausbleiblid 
mit Der Anei Be einer neuen Methode 
verbunden ift, Die nidt anderes 
Biffen, fondern eine andere Art 
anzuſchauen bedeutet. 

an jagt, daß die nationale Bewe— 
gung im Segriffe fei, ihre geiftigen 
Örundlagen zu gewinnen. Die Beobad- 
tung dieſes Vorgangs erinnert nidt we» 
nig an die Art, in Der die nationaldeut- 
{den Bereine von 1848 die Grundlagen 
für das Deutihe Reid zu Ihaffen tra» 
teten. Mit den geiftigen Golgen Diefer 
»dorgeburtliden Erziehung“ Des Deut 


- [hen Reiches hatte Bismard während 


feine8 ganzen Lebens zu fämpfen; fie 
feinen heute nod) nit überwunden. 
Sreilid) werden Denker in dem uner- 
ſchöpflichen deutfchen ©eiftesihate eine 
Sormulierung finden, die der fpontanen 
und als Lebensporgang zunädjt ,,worte 
Iofen“ nationalen DBewe ung als ibr 
„Wort“, als ihre Parole dienen fann. 
Aber die Aufgabe ift nicht, den Weift 
diefer Bewegung zu formulieren, 
fondern ihn zu formen, wenn aus 
einer Grregung ein Wille werden foll 
Auf diejes Biel ift Gpenglers Arbeit 
gerichtet. 

Albredt Grid ®üntber. 


Deutfhe Dichtung und deutfches Geiftess 
leben in Amerila. 


Wr bon deutider Didtung in Ame- 
tifa die Rede ift, jo müffen wir 
gleih von vornherein feftbalten, daß es 
fid bier um feine Literatur für fid 
bandelt, nidt einmal um einen befon- 
deren Zweig der deutfden Literatur, fo 
wenig wie bei der deutihen Literatur 
in der Schweiz, in Oefterreid und über- 





haupt in der Welt außerhalb des Deut- 
{den Reidhes. Die Annahme folder 
Sonderliteratur bat Gottfried Keller ein 
für allemal abgetan mit den derben 
Worten: „Ich bin gegen die Auffaffung, 
als ob es eine fdweigerifhe National» 
literatur gäbe. Bei allem Patriotismus 
verftebe ich Hierin feinen Spaß; jeder bat 
fih an da3 große Spradgebiet zu halten, 
dem er angehört.“ 

Das iſt einleudtend: der Dichter wur⸗ 
gelt mit feiner Seele in fpradlidem und 
völfiidem Boden, wo in der Welt er 
aud) [eben mag. Die geiftige Gntwicde- 
lung der Bildungsvölker unferer Zeit ift 
die Frudtentwidelung jahrtaufendelanger 
Arbeit.‘ Die bildet die Grundlage für 
das gefamte geiftige Leben der zu einem 
Bolfstum gehörenden Menſchen, und zwar 
durch das Mittel der völfiihen Sprade. 
Eine äußere Trennung vom urfprüng- 
liden GBolfstum, fet fie nun perfinlider 
oder ftaatlider Art, bildet nod feine 
Trennung auf geiftigem Gebiete, jo lange 
die Nutterfprade ibr Recht bewabhrt. 
Die Sprade ijt das Handwerkszeug des 
Dichters: damit ift feine Zugehörigkeit 
gu feiner völkiſchen Literatur entſchieden. 

Dir Dürfen alfo nist von einer 
deutſchamerikaniſchen Didtung fpreden, 
fondern nur von deutſchen Didtern in 
Amerifa. Diefe Deutide Didhtung in 
Amerifa ift fo alt wie die deutfdhe Gin 
wanderung. Das deutide Lied hat unfere 
Volksgenoſſen, wie überallhin, fo aud 
in die Vereinigten Staaten begleitet, ein 
treuer Greund in Arbeit und Erbauung, 
in Greud und Leid. Das deutihe Lied 
bat die deutiden Ginwanderer und einen 
Zeil ihrer Nadhfommen geiftig frifh er- 
halten und ihnen geholfen, im fremden 
Lande beimifh zu werden und fid bei- 
mifh zu fühlen. &3 ift recht woblfeil, 
über Deutidhe Didtung in Amerifa die 
Nafe gu rümpfen und fie nit für voll 
gu nehmen. Nicht alles, was da Berfe 
madt, bat ja Anfprud auf den Didter- 
namen, allein zur Grhaltung und Pflege 
unferer Mutterfprade und all des Schö- 
nen und Herrliden, was darin gefdrie- 
ben ift, zum Grwerb der Erbſchaft unferer 
®rofen, Hat es viel beigetragen. Alle 
diefe Berjemader find ja aud) Oenießer 
der Literatur und vermitteln das Deutide 
Bud ihren Stammesggenoffen. Das ift 
immer die Grfüllung eines Stückchens 
Bildungsaufgabe. 

Die deutſche Geiftesarbeit in den Ber- 
einigten Staaten zerfällt in zwei Abtei- 
lungen: SZeitungswefen und freies 
Schriftwefen in Didhtung und Wifjen- 
ſchaft. Das Zeitungsweſen fteht mitten 
im öffentliden Leben und bat die Auf- 
gabe, das eingewanderte Deutihtum in 


das amerifanifhe Leben überzuleiten. 
Zugleid muß es den Gingetpanderten 
die deutihe Literatur des Heimatlandes 
vermitteln und ihnen gute Bücher der 
Literatur Deutſchlands empfehlen. Das 
ift aud ſchließlich die Aufgabe aller, die 
fid dort mit Literatur genießend und 
{dhaffend abgeben. Die Pflege der deut- 
ſchen Sprade und Literatur durd das 
DeutjHtum Amerifas ift ja dod por- 
zugsweife eine genießende, der Geiſtes— 
bildung des einzelnen wie weiterer Kreife 
Dienend. 

Halten wir daran feft, daß alles 
Singen und Sagen der Deutiden Ames 
rilag eine Bedeutung für die Pflege 
unferer Wutterfprade und Literatur und 
damit für die geiftige Entwidelung des 
einzelnen wie weiterer Volkskreiſe bat; 
daß wir deshalb all dieſes Singen und 
Sagen mit freundliden Augen anfeben 
wollen; daß wir aber aud an alles, was 
Anjprud auf fünftleriihe Bedeutung er» 
bebt, einen finftlerifden Maßſtab an- 
legen miiffen, fo fönnen wir nicht leicht 
irre gehn und werden aud nicht leicht 
einem Inredt tun. G3 braudt uns 
gar nidt fo darauf anzufommen, Die 
Zeiftungen abzufhäten und die Oröße 
der Begabung feftzuftellen, als vielmehr 
darauf, die Richtlinien für eine weitere 
Entwidelung auszulegen. 

Gigentlide Berufsdidter in deutſcher 
Sprade gibt es in den Bereinigten Staa- 
ten nidt, wie Rattermann in feinen 
Schriften zur Oeſchichte des Deutſchtums 
bemerft. Indeſſen bat die dichterifche 
und ſchriftſtelleriſche Tätigkeit deutjcher 
Gingewanderter, befonders in früberen 
Zeiten, einen kulturgeſchichtlichen Wert. 
&3 ftanden da fraftvolle entſchloſſene 
Männer hinter dem Singen und Sagen, 
und ihr Reden und Tun war dem Leben 
gewidmet. Die fpätere Didtung ift im 
allgemeinen nidt öffentlih portretend, 
meift auf beftimmte Kreije befhränft und 
deshalb aud nidt allgemein befannt. 
Aus den beiden größeren Sammlungen 
„DeutfheAmerila“ von G. U. Zimmer- 
mann und „Bom Lande des Gternen- 
banners“ von ©ottbold Neeff läßt fid 
weder über den Wert der dichterifchen 
Arbeit des Deutihtums im allgemeinen, 
nod) über die dichteriihe Begabung der 
einzelnen ein Arteil bilden. Golde Blu- 
menlefen bilden ja einen ganz hübſchen 
Schmud des Büdertifheg, ein Literatur- 
bild geben fie uns aber nidt. Wir 
dürfen e8 aber aud ruhig dabingeftellt 
fein Laffen, wer von Diejen etwa 200 
Didtern, die Neeff verjammelt hat, ein 
wirfliher Dichter ift und wer nidt. 

Ih fagte, die deutſchen Didter in 
Amerifa find nidht Berufsdidter. Sie 


505 


leben nidt bom Erlös aus ihren ar 
beiten und find aud, mit gang wen len 
Ausnahmen, nidt in der Lage, is ein 
ihrer Runft gu leben. Gie find in 
Hauptfahe in einem andern, tren 
eigentliden Lebensberufe tätig, als Leh⸗ 
rer, Aerzte, Geſchäftsleute, Oeiſtliche, in 
techniſchen und handwerklichen Berufs- 
zweigen, auch als Fabrikarbeiter; einige 
ind im Zeitungsweſen tätig, in Sdrift- 
eitungen angeftellt wie als Mitarbeiter; 
einige wenige haben fogar Romane für 
Seitungen gefdrieben und — bezahlt bee 
fommen. Zum eben aber reiht das 
nit, und Sedidte werden nicht bezahlt. 
Redhnet man dazu die Pflege der 
Didtung in literariihen und gefelligen 
Gereinen und im Haufe, die Pflege des 
deutſchen Liedes, vor allem de3 Bolfs- 
Tiedes, in den Öejangpereinen, fo fommt 
ein ret hübſches Guthaben für die gei- 
ftigen Beftrebungen des Deutſchtums in 
den Pereinigten Staaten heraus. Bei 
aller Sorge ums taglide Brot, im fteten 
Kampfe ums Dafein, im unausgefetten 
Wehren um dufere und innere Freibeit 
und Gelbftändigfeit, bat das Deutiche 
Bolfstum in Amerika fih die lebhaftefte 
Seilnahme für deutihhe Literatur bewahrt 
und das deutſche Bud gehört zu einem 
feften Beftandteil * deutſchen Hauſes 
drüben. Karl Gundlach. 


Zur Einführung tn die vierte originals 
graphifhe Mappe der ZichtesBefellfchaft. 


We fid in die Schriften Safob Böh- 
mes verjenft, mag fid bisweilen an 
den tieffinnigften und tiefinnigften Rup- 
ferftih Albrecht Diirers erinnert fühlen, 
feine „Melandolie“. Aber aud zu dem 
beihaulihen „Hieronymus im ®ehäug“ 
und dem trußigen „Ritter, Tod und Teu- 
fel“ laufen von dem wundervollen Schu. 
fter magifhe DVerbindungsfäden. Wie 
fönnte e8 aud anders fein! Deutſche 
Graphif und deutide Pbhilofophie hängen 
von jeher eng zuſammen, weil fie jenem 
Bereide unjrer Geele entftammen, in 
dem fid Geift und Gemüt berzinnig an- 
einander fdmiegen. ; 

Die unerfddpflide Tiefe deutſchen 
Seelenlebens befundet aud die neue gra- 
phiſche Mappe der Fichtegefellfchaft. Gie 
ift ihren Gorgdngerinnen vielleiht nod 
infofern überlegen, al3 fie nod mannig- 
faltiger ausgefallen ift. Zehn Blatter und 
zehn verichiedene, ungebrodene Strahlen 
unjres Volkstumes! Wir fühlen ung 
wunderfam angebeimelt, ob uns nun 
Broebl zu einer Ruine am Rheine ente 
rüdt oder Thiel zu den Stufen des Köl- 
ner Domes, Otto Zifher uns in den 
Hamburger Hafen verfest oder Quante 


506 


an das Wattenmeer, ob Grabl den Wine 
fel eines lieben deutfhen Neftes humor⸗ 
voll wiedergibt oder Bolfert ein ſchweres 
Lebensfdidjal im Antlig einer alten 
Stau fid fpiegeln läßt, ob bei Pottner 
über einen Waldfee Wildenten flattern, 
bei Golfmann Kühe unter Beiden 


am WWaffer mweilen oder bei Ratel- 
bin der WMéardengauber des Ddeut- 
{hen Waldes uns umfängt. Berfdie~ 


dene Sednifen (Radierung, Steindrud, 
Holgfhnitt) erhöhen nod den Reig 
diefer Mannigfaltigfeit. 

Eine Probe möge von der ®üte der 
neuen Mappe zeugen. Gibt es ein fhlich- 
tered Motiv als einen Durdblid durch 
{hattende Baume auf eine weite Waſſer⸗ 
flähe? Was aber hat Sdinnerer bier- 
aus gemadt! Gr erhebt das Licht zu 
einer Offenbarung überaus garter, Duftig 
verflingender Seelenſchwingungen. Sogar 
die im Bordergrunde des Bildes ſchwe— 
benden Lampen find befeelt. Welche ent- 

üdende Anmut! Bedeutet aber die Fü— 
Bigteit, aus einem dürftigen Motive fo 
viel Schönheit berporzuloden, nit eine 
ähnliche ®ottesgabe wie die unfres Safob 
Böhme, in einer —— — bimm- 
nies Olanz zu entdeden?! 

Der Himmel auf Gröden bleibt freilih 
behaftet mit Materie. iind fo bat denn 
aud) die neue Mappe eine weniger er- 
freulide Seite: fie foftet Geld. R. Voigt 
landers Gerlag ift jebod bereit, — 
lungen entgegenzunehmen. Auch ſei ar⸗ 
auf hingewieſen, daß jedes Blatt ein für 
ſich beſtehendes Kunſtwerk iſt und daß 
deshalb der Inhalt der Mappe unter 
verſchiedene Perſonen verteilt werden 
kann. Man erwäge nur, welche Summen 
noch immer für mehr oder minder kit— 
ſchige Oeſchenke verausgabt werden, und 
bedenke: acht Wark für ein ſigniertes, 
zwei Warf für ein unſigniertes, aber 
vortrefflid gedrudtes, jeder Wohnung, ja 
Sammlung zur Bierde gereihendes Ori- 
ginal eines bedeutenden deutiden Gra— 
pbifer3! Den Preis tiefer zu fenfen, war 
nidt möglid, weil fo  ausgegeidnete 
Künftler Anſpruch auf ein Honorar hae 
ben, das ihr wirtidaftlides Dafein 
fidern Hilft. 

Abfihtlih find gu den Mappen ber 
Fichtegeſellſchaft feine der gumeift maßlos 
überſchätzten WModegrifen herangezogen 
worden. Wer durhaus Liebermann, Co— 
tinth, Glevogt oder Meid befigen will, 
wende fih getroft an einen modifhen 
Gerlag. Gr wird prompt bedient werden, 
und wenn er tiidtig bezahlt, friegt er 
vielleiht als @ratisgabe einen empfeb- 
lenden Hinweis auf Daumier und Ga- 
parni. Wir haben nur Künftler berüd«- 
fidtigt, bie mit allen Gafern ihrer Seele 





am deutfhen Bolfstum hängen. Nicht 
verfhweigen fönnen wir aber, daß unfer 
Ainternebmen fdwer bedroht ift. Gelingt 
e3 nidt, die bundertundzwanzig Exem⸗ 
plare Der fignierten Ausgabe und unge» 
fabr die gleihe Zahl der unfignierten 
abaufegen, wird diefe Mappe vermutlich 
die lebte fein. Darum belft, einen Hort 
deutfher Kunft por dem Gdidfal bes 
Unterganges zu bewahren! 

Bruno Ooly. 


Albert Birkle. 


Sy maoergangene Woden einer italieni- 
{hen Studienfahrt, auf der ich gu den 
mir befannten nod viele neue Gekreu— 
sigte fab, baben mir beftätigt, mas id 
{hon zuvor für richtig bielt: die Idee 
des erften großen Bildes, mit dem der 
junge Albert Birfle vor zwei Wintern 
guerft auf fid aufmerffam madte, ift 
wirtlid neu! 

Diefe madtige Leinwand zeigt im 
dunklen Vordergrunde die beiden Schä— 
&er groß am rohen Stammholz, das oben 
fid verbindet, zeigt ihre gepeinigten 
Körper naturaliftiih unverlindert. Der 
Krampf fladert oben aus in ein wildes 
Ornamentgewirr ihrer verzerrten Hände. 
In diefem dunflen wilden Rahmen ganz 
irdifher Schmerzen wadft eine Bifion im 
Lidt. Leber einer Landihaft, die mit 
fombolifh wirfenden Garbmaffen den 
Raum ordnet, wadft ein glattes, ftilles 
Kreuz. on geftredt hängt daran ein 
Gbriftus, der das ,G8 ift vollbracht!“ 
gefproden bat. 

Gs ift fon etwas für einen jungen 
Künftler, wenn er im erften großen Werf 
und das als Preiundzwanzigjähriger 
einem fo taufendfad gebraudten und 
mifbraudten Stoffe ein Neues abge- 
winnt. Aber aud die FGarbengebung 
war fider und löſte fid tro großer 
Wudt in Harmonie. Gormal famen — 
um Die Art des Bildes zu bezeichnen — 
Grinnerungen an ©rünewald, blieben 
aber ganz im Aeuferliden. Die gang 
eigene Grundempfindung ift mit „heroiſch 
fatbolifh“ fo ungefähr begeidnet. Das 
Grfaffen einer alten Tradition über viel 
Schwächliches hinweg war mit einer aus- 
drudsflugen Modernität verbunden. 

Was Albert Birfle im vergangenen 
Winter im Künftlerhaufe, der SGegeffion, 
der Afademie und nun wieder der Ser 
geffion in Berlin an Gemälden und 
Zeichnungen zeigte, bat ihn bei Kritik 
und SKäuferpublitum merfwiirdig rafd 
und fider in den Sattel gefebt. Der 
Großſtadtmaler Birfle iftganzmodern, 
wenn man will, fogar mit Anführungs- 


ftriden! 
Das troftlos unbarmonifhe Oewirr 


verfnäulter und ſich durcheinanderſchie- 
bender Menfhen und Wagen. — Zum 
Himmel gefpibte Brandmauern über den 
Hinterhäufern der Grofftadt, por denen, 
windgetrieben, ein wenig Leben eilt. — 
Glendsweiblein, die aus dem Dunfel am 
ftumpfen Waffer in die jabe Helle der 
Bogenlampen bineintaften. — Ueber dem 
Gdimmern des glatten Afphalts gleiten 
— nur die Hufe flappern — zwei Droid- 
fen aneinander vorbei — unbeimlid ent- 
wirflidt — eine Geifterei! tind unfere 
Zeihnung: Arbeiter, müde Durd Die 
Dämmerung nad Haufe trottend, in den 
grotesk gezerrten Gefidtern die Srihlaf- 
fung, die ftumpf und gedanfenlos den 
Lebensfinn verloren geben will. Dabin- 
ter unent{pannt das Sugtier und faufende 


Stadtbabngiige. - 
Immer: qualended Getriebe, fdin- 
beitslos! Arbeit, Haft,  Gridlaffung. 


Wohl „Kritit am Zuftand“, aber nichts 
bon fozialer Predigt! Mit einem erreg- 
ten Auge, das Sonderwert in $arbe und 
Gorm fudt, padt bier ein faft bartes 
Temperament den RHythmus diefes tief- 


gefannten aber ungeliebten SXebens- 
trubel3. 

Sft bier alles tad, faft qualvoll le— 
bendig, fo ift in Albert Birfle, dem 


Zandihafter, viel mehr Rube und Traum. 
Der Künftler, der in Berlin aufwuds, 
bat fi in der fhwäbifchen Slternbeimat, 
um den Hohenzollern, bei Klofter Beuron 
und im oberen Donautal tief eingebeimt 
und bat fid nun aud ſchon mit der ſchleſi— 
fhen Bergwelt und dem Harz fünftlerifch 
auseinandergefeßt — wofiir man ja 
eigentlid) ,ineinandergefebt fagen müßte. 
Zur gedebnten Glade, zu Ebene, Heide, 
Meer ift Birfle nod nicht gefommen. 
Gein rita fuht immer bewegtes Land; 
er fühlt den Rhythmus der Bodenwoge, 
das „gedrängte Meer“, von dem Gott- 
fried Keller jpridt. Und bier ift alles 
pofitiv, bier ift ein fo guter, ganzer 
deutfher Grnft, daß man gern an Gafpar 
David GFriedrid denft. Ob er nun Weie 
ten öffnet und das Bild reid gliedert 
oder wie auf unferem Bilde mit den 
„legten Häufern“ die Gipfelempfindung 
einer fih rundum ausdrudsihwäder ab- 
bauenden Landſchaft gibt, es ift immer 
Sprade, wohl überlegt in jedem Klang, 
aber dod aud poll und fraftig aus 
lebendigem Naturgefühl heraus tönend. 
Dem Maler religiöfer Stoffe und dem 
Land{daftsmaler Birfle gebe ih am 
meiften Qufunft. „Das Negative iſt 
nichts“ donnert Goethe, als er mit Gere 
mann pon Lord Byron fpridt. And 
dod haben wir Heute fehr intereffante 
Maler — benfen wir an George Orof, 
Mar Bedmann und Artur Diz, die ihr 


507 


Gigentlides in diefem Negativen baben. 
Berlorener @laube an Menfchenwert 
führt zum Nihilismus in der Kunft, der, 
fo „intereffant“ er fein fann, doch aud 
fo unfäglih fterblid if. Wud Birfle 
bat vor allem als Bildnismaler, der ftatt 


Wenſchen farifaturiftifde 
der Zeit Tribut gegollt. 

Hoffen wir, daß er fic ganz findet, 
um einer unjerer Wefentliden zu wer— 
den. „ind im Wabhren, Guten, Schönen 
refolut zu leben“! Garl Meißner. 


Sppen malt, 


Der Beobachter 


In England, deſſen Demokratie nach— 
zuahmen heiligſte Pflicht für alle 
fotfheittichen deutfhen ®emüter  ift, 
gibt e8 — einen Zenſor für Bücher. 
Stefan Zweig, deutiher Schriftſteller 
wienerifcher Provenienz, war im Begriff, 
eine Auswahl feiner Novellen in London 
berauszubringen. Der engliide Bücher- 
genige aber — verbot den öffentliden 
erfauf. Gr fette das Bud auf die Ree 
ferved Lift. Wohlgemerft: nit der Bere 
fauf überhaupt wurde verboten — 
Liebhaber folder Literatur dürfen die 
Novellen perjönlid beftellen und er- 
werben. Uber das Bud darf nicht 
öffentlih feilgeboten werden. 
Man madt namlid in Gngland den 
Unterſchied zwiſchen „unfittlih“ und 
„littengefährdend“. Unfittlihe Bücher 
werden ftrads fonfisgiert. Sittengefähr- 
dende Bücher von Kunftwert dürfen zwar 
an Liebhaber abgegeben, nidt aber hem— 
mungslos in der Oeffentlidfeit ange» 
priejen und feilgeboten werden. &3 bane 
delt fih nidt um „Sittlichfeit“, ſondern 
um den Schuß der Gitte. Wir er 
innern uns: alg man dem Ddeutiden Bolfe 
den „Reigen“ aufzuzwingen fudte, log 
die intereffierte Preſſe unferem Bolfe 
por: Deutihland made fih vor der Welt 
laderlid, wenn es nicht diefen ing Lite» 
rarijhe gehobenen Mitofh-Geift applause 
dierend aufnebme. Germutlicd Liigt dies 
felbe fenalites gefdriebene) Preſſe jetzt 
den Engländern vor, daß „man“ ſich 
„logar in Deutfhland“ über das Bore 
geben des Zenſors empire. Im ©egen- 
teil, wir wünfhen aud in Deutfdland, 
daß die Republik endlich begreifen lerne, 
was Bolfsjitte bedeutet. Wahre 
Demofratie ijt nicht möglih ohne Gitte. 
Staatspuritanismus! 


Ri Geptemberbeft des „Oftwarts“ 
einer bom DBübhnenpolfsbunde bere 
ausgegebenen Seitfdrift, lefen wir unter 
der inhaltfhweren Aeberſchrift „Arthur 
Schnitzlers Ethik oder grundſätzliche Bee 
denken von 1000 Mk. abwärts“ das 
Folgende: „Man erinnert ſich, wie ſich 
im Reigenprozeß die Grbpädter Der 
Kunftfritit fpaltenlang entrüfteten, als 


508 


hygieniſch empfindende Menfden gegen 
ferienweife Genfationsauffibrungen des 
Reigens Ginfprud zu erheben wagten. 
Aus beftunterridteter Quelle erfabren 
wir, daß ein Theater, das mit Reigen- 
ipeftafel ein wenig verfpätete Lorbeeren 
ernten wollte, vom Verlage, als es das 
Aluffiibrungsredht einholte, den Beſcheid 
erhielt, der Gerfaffer fei aus grund» 
fabliden Bedenken fiinftlerifher Art ge- 
gen weitere Aufführungen. Nad folden 
GrjHeinungen eine Revifjion des Reigen- 
progejfes zu beantragen, wäre verfrübt 
ren denn Herr Arthur Schnibler 
rabtete denen, Die fic über fo plößliche 
DEE unger einigermaßen wun⸗ 
derten, daß er gegen 2000 ME. 
TSantiemeporihuß Diefe Be— 
Denfen guridfteden wolle und 
auf eine weitere etwas berunterhandeln- 
de Anfrage, daß er ev. aud gegen 
1000 ME. Tantiemevorſchuß 
mit fid reden Iaffen würde...“ Wie 
wir bören, find die Seleqramme nod 
vorhanden. In einem Termin in Gaden 
des neuen Reigenprozeifes, den Sladek 
feit mehr als zwei Jahren gegen mid 
„führt“, fagte Schnibler aus, für ihn fet 
zwar das wirtſchaftliche Intereſſe ,aud 
mit“ in Betracht gefommen, aber aus» 
{HlaggebendD dafür, daß er entgegen 
feiner früheren Stellungnahme die Auf- 
führung des. Reigen geftattet habe, ſeien 
Dod künſtleriſche Motive gewefen. 
Tja, es ift nur ärgerlich, da der Wech- 
fel in Schnitlers Anfhauung über die 
Aufführbarfeit des Reigens juft mit der 
Gntwertung der öfterreihifhen Krone zu- 
fammentraf. Es wäre porfidtiger ge- 
toefen, einen weniger verdädtigen Seit- 
punkt zu wählen. Wie will Schnißler 
ih fonft vor dem allgemeinen Ladeln 
über die Tauſend-Wark-Ethik hüten? 
Alles wäre in Ordnung, wenn er ine 
nerlich fo frei wäre, ein Geſchäft Gefhaft 
fein zu laffen, ftatt fein Gewiſſen mit 
„Lünftleriiden Motiven“ und „neuer“ 
oder gar „höherer Gthif“ einzuwideln. 
Go etwas fann man fid felbft vor- 
maden, aber nidt andern. Denn bee 
fanntlid ift man felbft immer gut, und 
„die andern find immer béfe. 





aul Nathan, Leitartiller des Bere 

liner Tageblattes (wenn es die ihm 
am Herzen liegenden Sntereffen ver- 
langen, aud) Seitartifel des Borwarts) 
foreibt im B. 3. (2. Oft. Abendausg.) 
„Bon der politiiden Begabung der 
Deutihen“. Da befanntlid die Juden 
eine politiih ziemlih unbegabte Na» 
tion find und nur felten einen bedeuten- 
deren Politifer berporbringen — ihre 
Stärfe liegt in anderen als den ei- 
gentlid politiihen Fähigkeiten —, fo ift 
Herr Dr. Nathan für diefes Thema be- 
fonders guftandig. (Wilhelm Buſch: 
„Denn immer, wo man nichts verfteht, 
der Schnabel um fo leichter gebt.“) Wir 
wollen von dem ridifülen Rationaligsmus 
der Ausführungen Natbans über den 
„tügften Bolitifer“ abfebn; aber daß 
folgender Sat im zwanzigften Sabrhun- 
dert gejdrieben werden fonnte, verdient 
Dod Die Aufmerffamtleit der Kulturhifto- 
tifer und Gthnologen: „Sm allgemeinen 
wird nidt genügend beadtet, daß die 
®ermanen fid in Guropa an jener Stelle 
feBbaft gemadt haben, die politifa 
fih etwa als die allerungünftigfte, als 
die allergefährdetfte in unferem Erdteil 
erwiefen bat; ein Mißgriff, der 
nur gu entfhuldigen ift durd 
die mangelnden geographi- 
{den Kenntniffe jener Beit 
der Metgelage* Daf Mofe und 
Sofua das israelitifhe Bolf an die ,po- 


litiſch allerungiinftigfte Stelle‘, die fid 
„als Die allergefährdetfte erwiefen hat“, 
plazierte, nämlich mitten hinein zwijchen 
die Sroßmädte des Nils und des Bwei- 
ftromlande3, war ebenfalls ein Mifsgriff, 
und zwar einer, für den e3 — nidt ein- 
mal den Milderungsgrund eines Met— 
gelages am Berge Horeb gibt. Der nas 
thanifhe Orundſatz lautet: Mangelnde 
Kenntniffe find duch witzige Dreiftigfeit, 
fahlihde Grwagungen duch Berbliif- 
fungstaftif zu erjeßen. 


Ri einer. Zeitung — daß es zufällig 
der Vorwärts ift, tut nidts zur 
Gade — finden wir auf der eriten 
Seite unmittelbar untereinander folgende 
Nadridten: „Die Reparations- 
leiftungen. Aeberweiſung weiterer 
5 Millionen Goldmarf durch die Rhein» 
fandfommiffion ...*“ ,Die Blut 
berrfdhaft in ®eorgien. Paris, 
2. Oftober. Die georgiihe Delegation 
veröffentliht ein Gommuniqué, daß in 
®eorgien von den Sowjettruppen 9000 
Aufftandifhe hingerichtet worden find, 63 
Geijeln find in einem Gifenbabnguge nie— 
Dergemadt worden...“ „Die DBörfe 
tubiger. Die Börſe ftand Heute im 
Seiden rubigeren Geſchäfts .. .“ Giebe 
da: der Griede der Nie-wieder-Krieg- 
Reute. Der Friede, den die friedlichen 
Gertreter der Durch Bankintereſſen ins 
nigft verbundenen und verbrüderten 
Menichheit in Genf hüten und bewahren. 





Zwieſprache 


Dicies Novemberheft foll wie das vor» 
jährige der Bücherberatung dienen. 
Da wir aber gleihwohl an Sacob Böhme, 
dem vielgerühmten und wenig gefannten, 
an feinem Grinnerungstage — fein Leib 
wurde vor dreibundert Sahren ins ®rab 
efenft — nidt voriibergeben wollen, fo 
aben wir ihm den beften Platz gegeben. 
Da dadurch ein Gontrarium zwiſchen 
©eift und Leib in diefem Heft entftanden 
ift, wird der Reinfte und Innigſte aller 
Deutiden im Paradiefe mit Freundlid- 
feit gutbeißen. Sd midte wohl, daß die 
Zarteren und die Aelteren unter unjern 
Lefern den Grinnerungstag zum Anlaß 
nähmen, fid mit Sacob Böhme zu bee 
Ihäftigen. Freilih: man fann ibn nidt 
ohne tiefe innerlide Rube, in der man 
bellbörig ift für Unausſprechliches, leſen. 
Man muß feine Gage oft Lefen, mandes 
laut-leife, und immer Dorden auf das, 
was Dahinter ift. G8 ift wie Traum, 
der aus dem Tiefften unfres Wefens 
aufdämmert. Gdrehers Ausgabe des 


Budes „Vom dreifahen Leben des 
Menfdhen* in den Schriften „Aus alten 
Bücherſchränken“ gibt eine bequeme Mög- 
lidfeit, einmal eines der fpäteren Haupte 
werfe (von 1620) des pbilofophus Teuto- 
nicus gang Ddurdgulefen. Gonft ift febr 
beliebt die fleine gute Auswahl „Jacob 
Böhme“ von Bofeph Grabifh in der 
Sammlung „Die Fruchtſchale“ (Berlag 
pon Grid Lidtenftein, Gena) und Die 
gré bere Auswahl in den Dom-Bänden 
es Injel-Berlags. In der Injel-Aus- 
gabe findet man aud den Hauptteil des 
Myfterium magnum. — 

Aud den „Meifter Foahim Paufe- 
wang“ von Kolbenheyer wolle man fid 
nidt entgehen lajfen. In diefem Roman 
begegnet uns Sacob Böhme als Gefelle. — 

Gon unjerm Mitarbeiter Dr. Heinrich 
Höhn, aus deffen jhönem Gpiel „Die 
Drei Könige“ wir im vorigen Jahr eine 
Ban bradten, follen im DBerlag von 

udwig Spindler in Nürnberg, Burg» 
ftraße 6, Gedidte erfdeinen. Man fann 


509 


darauf fubffribteren (unter 20 b. H. Preis- 
nadlafs) im Laufe dieſes Monats. Wer 
das Dreiföniggipiel und „die Kirche Got- 
tesgüte“ von Höhn fennt, weiß, daß er 
etwas eines erwarten darf. 

Gon Walther Slaffens „Werden des 
deutiden Volkes“ erfdeint eben das lebte 
(zwölfte) Heft. Damit liegt der dritte, 
abichließende Band des Werfes (gebunden 
6 ME.) fertig vor. 63 ift Die Gefdhidts- 
darftellung, die unfre Lefer am meiften 
intereffieren wird. 

And nun nehme id einen fleinen An- 
lauf und wage das Gingeftändnis, daf 
aud von mir zu Weihnadten ein Bud 
— nein, ein Büchlein erfdheint. G3 find 
nod) immer nicht „Die drei Stände“, fone 
dern es ift erft ein Andadtsbud: „Das 
DBüdlein TShaumafia“, und enthält „drei— 
Big Andadten por den Wundern des 
Lebens“. Ich gebe darin — mie foll ich 
fagen — fo etwas wie die Örundzüge 
meiner pbilofophifhen und 
Weltanfhauung. Die fattelfeften Natur» 
wiffenfafter unfrer Zeit werden, hoff 

‚ den Kopf zu den Dingen fdiitteln, 
die ich gejchrieben babe. Späterhin, dag 
boff id aud, werden fie verftändiger 
über die mehr phänomenologiſche Be— 
trachtungsweiſe, die ich anwende, urteilen, 
wenn fie erft mehr aus ihrem derzeitigen 
pbilofophifhen Sattel gehoben find und 
wieder das gute deutfhe Flügelroß des 

- Paracelfus und des Jacob Böhme au bee 
fteigen wagen. Das Buch erfdheint im 
®reifenverlag in Rudolftadt (der die 
Herausgabe anregte) und foftet ge 
bunden 4 Mt. 

Die ,Dorffirhe* Hans von Lipfes, 
die ung in der Gefinnung nabeftebt, laft 
feit dem vorigen Monat eine Seilaus- 
gabe unter dem Titel ,Rirde und Volks— 
tum“ erfdeinen, die über die Kreife der 
©eiftlihen hinaus bie Beziehungen zwi— 
[hen Kirhe und Bolfstum erfennen und 
pflegen will. (Berlag der Deutfden 
saabous paneling, Berlin, Preis viertel- 
jabrlih 150 WE) Wir weifen unfre 
evangelifhen Lefer darauf bin; e3 bane 
delt ſich um eine Gade, die fowohl für 
te Kirde wie für das Bolfstum wichtig 
1 — 

Der „neue Reigenprozeß“, den Maxi— 
milian Sladef und Gertrud Eyſoldt unter 
dem PBeiftande Wolfgang Heines wegen 
meines im März 1922 erfdienenen Auf⸗ 
fates über das Reigen-Öeihäft gegen 
mid führen, foll am 13. Dezember im 
Amtsgeridt Alt-Moabit in Berlin zur 
Berbandlung fommen. Endlid wird Herr 
Gladef aus dem Zweifel’erlöft, ob er fid 
feit bald drei Sabren mit einer von mir 
beleidigten oder nicht beleidigten Ehre 
im beiligen Dienfte jener Art Kunft auf- 


510 


etbifden - 


opfert, bei der Die Beteiligten mit Gifer 
gu berfihern pflegen, daß „dem Reinen 
alles rein“ fei. Der halbverwefte Prozeß 
wird alfo endlih auf den Obduktionstiſch 
geboben. Als der Reihspräfident ein- 
mal beleidigt worden war, fagte fein 
Berteidiger Wolfgang Heine, nad ein- 
dreiviertel Sabr fei das Sntereffe daran 
erlofhen. Herrn Sladeks Ghre ift weit 
bartnädiger als die des Reihspräfiden- 
ten. Ich glaube nidt, daß es gelingen 
wird, den „Reigen“ neu aufzuladieren 
und intereffant gu maden. Sogar die 
Berliner „Repüen“ beginnen ihre Dare 
ftellerinnen fhon wieder anzuziehen. Ar- 
thur Gdnibler wird dem Anzug der Zeit 
permutlid bald folgen. Die allgemeine 
Ablehnung, die er fid mit feiner „Romö- 
die der Verführung“ gugog, war deutlich 
genug. Garl Weichhardt ſchrieb in einer 
guten Befpredhung des Stüdes in ber 
Sranffurter Zeitung: „Als die Frau des 
Bantpräfidenten ihren @atten im Gee 
fängnis glaubt, jubelt fie, daß fie mim 
ſchlafen fann, wo und bei wem fie will; 
vom Schlafen in diefem Ginne fpreden 
die Grauen bier bis zur Grmüdung, und 
diefe Atmofpbhäre der Anſau— 
berfeit — man muß das Wort bei- 
nahe aud rein phyſiſch verftehen! — bee 
rührt darum fo undelifat, weil der 
Didter nidt fühlen läßt, daf 
er über ibr ftebt.“ „So redet und 
lebt fie fi in das von Galfenir und — 
Schnitzler ihr eingeimpfte und auf- 
fonftruierte Dirnentum hinein.“ Niemand 
aber bat den Reigen fo trefffider gefenn- 
zeihnet wie Herwarth Walden in ein 
paar ironifhen Worten im „Sturm“ (wo- 
bei wir ung darauf Dinguweifen geftatten, 
daß Walden in feinen fritifmen Sronien 
im „Sturm“ zuweilen ganze Abfchnitte 
von Literaturgeſchichten überflüffig madt; 
das Gergniigen, dag man beim Lefen von 
Literaturgefhihten nidt bat, bat man 
dabei obendrein.) Wir führen aus Wal- 
dens „Sinn und Sinne“ (Mat 1923) an: 
„Die Kultur ift für die Ginnlidfeit. Woe 
runter fie einen Schlafzimmerſchmarren 
pon Herrn Sdnibler verfteht. Obne Def- 
fous einer Weltfirma. Unter folder 
Ginnlidfeit firmiert in dieſer großar- 
tigen Kultur die Welt. Eine Kultur, ge- 
madt von Leuten, die Deffus für Def- 
fous balten und denen Deffous das Le- 
ben der Sinne ift.“ Weiter ift nidts zu 
fagen. — Man „darf“ jebt wieder an- 
ftändig fein, ohne als Muder und Spie- 
fer zu gelten, Herr Sladef. Warum alfo 
Ihre Bemühungen? Geien Gie dod nidt 
fo pride. — 

Lefer, die auf eine woblgelungene 
Bildnisbifte Alfred Kerrs Wert legen, 
maden wir auf Wr. 32 des Simplicijji- 





mus pom 3. November aufmerffam. Da 
bat Karl Arnold den zarten Heros in 
®ips gezeichnet und diefes Denfmal mite 
ten in dad reigpollfte Afrika gefebt. Je— 
ber Sug des Antlites ift edel wie Gips. 
Der befannte @orilla naht fid dem Rule 
turträger brüderlid pom Stamm der 
Palme ber. 

Bir hatten im Yuliheft zwei Fragen 
an Herrn ©eneral von Deimling (einen 
jener @enerale, die gefunden zu baben 
unfre Demofraten fo überaus glidlid 
find) geridtet und ibm dad Heft guge- 
{hidt. Keine Antwort. Nirgends bat er 
die angeregten Gragen bebandelt. Sept 
wiffen wir, daß er fie nicht einmal in 
feinem Getviffen behandelt bat; denn — 
Sräulein Glifabeth von Deimling bat bas 
unbequeme Papier abgefangen. Als Herr 
v. Reibnis einen eingeihriebenen Brief an 
den General richtete, antwortete ibm Pa- 
pas gutes Rind, fie babe ihrem Pater 
den Brief nidt gu lefen gegeben. „Mein 
Gater bat gute Schubgeifter, die ihm 
folde ‚Biftfpriger' fernhalten.“ (Man 
bört aus dem Sonfall diejes Gages forme 
lid den fauerliden Gdelmut tropfen.) So 
ift es redt. Wer im öffentliden Leben 
ftebt, darf nie Kritif gu hören befommen. 
Sonft fönnte er in feiner Gefinnungstid- 
tigkeit Schaden leiden. Fräulein von 
Deimling erinnert fehr an die brave 
Märdenfrau im Walde, die den guten 
Däumling vor dem böfen Menfdenfreffer 
befdiibte, der ihm zu Leibe wollte. Die 
Rolle des großmädtigen Generals und 
lorreidhen Hererobefiegers wilhelmini- 
fipen Angedenfens ift in Ddiefem Galle 
Ban aer deimlingshaft als däumlings- 

t. — 

Inzwiſchen iſt der Reichstag aufge— 


Wer die Waſſen leiten will, muß ſich auf 
Situationen für die Maſſe verſtehen. Der 
Reihspräfident Hat dieſes Berftandnis 
aus langer Schulung, feine ®egner nicht. 
Die einzige Bedeutung, welde dieſe 
Wahl Haben Tann, ift, daß fie eine 
Stappe auf dem Wege zum Zweipar- 
teienfpftem wird. Wir fteuern — une 
ausweihlih — auf die Parteien Shwarz- 
mweiß-rot und Schwarz-rot-gold gu. Da- 
wifhen werden die Belanglofigfeiten 
— Irgend etwas geihiht- 
lid bedeutfames Neues aber wird aus 
dem Parlament, fei e3 fo oder fo, nicht 
erwachſen. Das fann nur nod außer- 
balb des Parlaments und gegen das— 
felbe erftehen. Da das bei den Shwarz- 
mweißeroten am Odeutlidften empfunden 
wird, werden diefe parlamentarifh am 
ebeften im Nadteil fein. Zumal Sfidor 
dad nötige Kattun für Schwarz-rot-gold 
aus feinem Warenhaus gratis zur Der- 
fügung ftellt — e3 trägt'3 wieder ein. 
Das Befte, was dem deutſchen Bolf zu 
Weihbnadten gefdentt werden fönnte, 
wäre ein Reichstag, der aus zweihundert 
didtenfetten, penfionsberedtigten Gozia- 
liften und gweibundert aufgeregten fom- 
muniftijhen Suden mit mebender Haar- 
tolle beftiinde. Das ware ein herrlicher 
Anblid. Das müßte einmal durdhgemadt 
werden. Man muß fie fid „bewähren“ 
laffen. Aber man madt’3 bei uns (im 
Oegenſatz zu den Gngldndern) fo: man 
läßt Die Internationalen die Situationen 
fbaffen und dann — übernimmt man 
aus nationaler Gemiffenhaftigfeit die 
Gerantwortung für die von den andern 
geihaffene Lage. Was foll man folder 
politijder Weisheit gegenüber andres 
tun als die Achſel zuden? Im übrigen 


lft worden. Der damit erftrebte3med ift Das eigentlid Widtige Die 
wird im allgemeinen erreiht werden. Reidsprafidentenwabl. St. 


Stimmen der Meifter. 


Und geben euch dies hoch und ſcharf zu erkennen, daß Oott alles ans Licht 
hat geſchaffen, und nicht in die Binternis: Denn dem Tode im Gentro, als 
dem Leibe, oder dem fdrperliden Wefen der Erden, bat er erwedet die Sinctur, 
das tft ihr Slang, Schein und Licht, darinnen ftehet ihr Leben; und der Tiefe über 
Dem Gentro bat er gegeben die Sonne, welde ift eine Sinctur des Feuers, und 
teidet mit ihrer Kraft in die Freiheit außer der Natur, in welder fie aud ihren 
@lang erhält, und ift des ganzen Rades der Sternen ihr Leben, und ein Auf- 
(hliehen de3 Todes in der .Angft-Rammer, denn alle Sterne find ihre Kinder: 
nidt daß fie derer Gffentien babe, fondern ift ihr Leben, und aus ihrem Gentro 
Be fie am Anfang gangen; fie find das Gentrum des Obern in der Greibeit des 
ebeng, und die Grde ift das Gentrum de3 Antern im Tode, und da dod fein 
Sterben in feinem ift, fondDern Berdnderung des Wefens in ein anders. — Denn 
diefe Welt ftürbet nicht, fondern wird verändert werden in ein Wefen, fo es vor nicht 
war, verftehe die Gifentien: aber der Schatten aller diefer Wefen bleibet 

ewig fteben, alg eine Figur zu Gottes Ehre, Freude und Wundertat. 
Sacob Böhme, 


511 


Bücher und Bilder für unfern Kreis. 








Aus der Ernte des legten Jahres. 
Bon Or. Wilhelm Stapel. 


We niht gerade beruflid oder aus 
Riebbaberei feine Teilnahme einem 
beftimmten Rulturgebiet zumwendet, wird 
immer in der Wabl Feine: Reftüre 
dem Zufall ausgeliefert fein; ihm fehlt 
der fefte Wittelpunft, pon dem aus er, 
feine Ontereffen erweiternd, in die vere 
{diedenften ®ebiete eindringt. Aber aud 
wer einen folden feften Bunft bat, von 
dem aus er „weiterarbeitet“, wird bei 
der Wahl der allgemeinen Lektüre oft 
genug vom Zufall beftimmt. Daber ent» 
fteht das Bedürfnis nad einer fadliden 
Beratung für die Budwabl, und es wird 
ganz bejonders rege zu der Zeit, da der 
Deutide, alter Volksſitte gemäß, am 
bäufigften Bücher allgemeineren Inhalts 
fauft, in der Gorweihnadtsgeit. Man- 
derlei ,,Weihnadtsfataloge* voller 
„Waſchzettel“ und manderlei „Literarifhe 
Berater“ mit mehr oder weniger ftrengen 
„genfuren“ haben in diefem Bediirfnis 
ihren Urjprung. 

Gir den Kreis um das „Deutſche 
Golfstum“ und die Fidte-Sefellfdaft 
baben wir im vorigen Sabr eine Zur 
fammenftellung folder Bücher begonnen, 
die „man zu Weihnadten faufen fann“. 
Bir bringen nun jabrlid als Fortſetzung 
eine Ausleje aus den Neuerfheinungen. 
DBollftändigfeit wird nidt erftrebt. Wir 
arbeiten vielmehr fo: was ung an guten 
oder dod braudbaren Werfen, pon denen 
wir meinen, daß fie unfern Leferfreis 
angeben, unter die Hand fommt, heben 
wir aus der Slut des Boriibergleitenden 
auf. Der Lefer Hat die Giderbeit, daß 
die bejprodenen Biider nidt aus ge 
{aftliden oder unfadliden Griinden 
auggelefen find, fondern daß ibm ein 
ebrlides Urteil geboten wird. Zenfuren 
über die Bücher erteilen wir nidt, da 
wir uns der Gubjeftivitat unferer Gtel- 
lung bewußt jind und weder uns nod 
andern eine anjprudspolle Objektivität 
pormimen mödten. Ehrlich fein ift ein 
möglihes Siel, objektiv fein ijt ein une 
möglihes Biel, ohne BegriindDung ab» 
ae urteilen ijt eine Anverſchämt— 
eit. 

Dies für das Folgende vorausgefebt, 
eben wir einen leberblid über etwa 
Fiber Bücher, die in der Mehrzahl in 
diefem Bahr erfdienen find. Hin und 
wieder greifen wir auf Aelteres zurüd, 


512 


das wir im vorigen Sabre itberfeben 
hatten. Die Preife geben wir an, foweit 
wir fie ermitteln fonnten. Sie gelten für 
die einfad gebundenen Gremplare, es 
gibt von manden Werfen aud beifer gee 
bundene Ausgaben, worüber man fid 
beim Buchhändler erkundigen mag. Sft 
das Bud nur gebeftet zu haben, fo wird 
das ausdrüdlih angegeben. 


Sir die Jugend. 

Bon den Kreidolfihen Bilderbiidern, 
die wir ftets in erfter Reihe empfeblen, 
find die „Alten Rinderreime* neu ber- 
— darin einige der ſchönſten 
Bilder Kreidolfs wie das Nadtbild. 

Für das allerfdblidtefte Rinderthe- 
ater im Haufe (Kinder im erften Schul- 
jabr) fönnen wir jest Grid DBodemühls 
„DWeihnadtsipiele“ empfehlen. Die 15 
Stüdlein ſind bon einem wirfliden Did- 
ter im engften 3ufammenbang mit der 
Sugend gejdaffen worden und fteben den 
Kleinen wirflid gu Geftalt und zu 
Munde Aud die Lehrer werden viel 
Anregung von dem Bude haben. — 

Sur Einführung der heranwadfenden 
Sugend in Die Gagenwelt hat Leopold 
Weber nun aud den großen Sagenfreig, 
der fih um die Seftalt Dietrids gebil- 
det bat, in einer zufammenbängenden Gre 
pablung dargeftellt. Die Sprade ift ähn- 
id wie in Webers „Midgard“. Das 
Bud enthält: Dietmars Tod, Iungdiet- 
rid, Sm Glend, Der Nibelungen ot, 
Heimkehr. Wijfenfhaftlide Beherrihung 
des Stoffes, Stilgefühl und formftarfe 
Gpradhgewalt zeichnen die Graäblung 
Webers aus. — Die Jugend (etwa 
Zwölfjährige) zu Wolfram von Eihen- 
bad binzuführen, unternahm Wuttig in 
einer Enappen und ſchlichten Nadherzäh- 
lung des „Willehalm“. — Wer ,altmo« 
dif“ genug ift, feinem Sungen eine 
tedte Bolisgeihihte zu geben von einem 
tapferen Knaben, der Hujar wird und 
den fiebziger Krieg mitmadt (mit Bil- 
dern dazu), ridtig „für Sungens“ er- 
zählt, dem fet Sohnreys „Hirfchreiter“ 
empfohlen, der eben neu berausgefommen 
ift, um ein Weltfrieg-Rapitel vermehrt. 

Um Die Ratucaniecuntiy anguregen 
und zu bilden, find immer nod die Na- 
turftudien Des alten Mafius am aller- 
geeignetjten. Seine Skizzen find wohl 


das Befte, was in der Nadfolge Alerane 
der von Humboldts in diefer Hinfidt ge- 
{dhrieben ift. Sch babe in einer Auswahl 
feine ſchönen Landfdaftsbilder unter dem 
Titel „Norddeutihe Landihaft“ neu ber» 
ausgegeben. Wer Almfaffenderes will, 
pele a OGrubes „Sharafterbildern deut- 
den Landed und Lebens“. Bom „alten 
©rube“ ift in den neueften Auflagen frei» 
lid wenig mehr übrig geblieben, feine 
Darftellungen find erſetzt durch mander- 
lei Auffäße pon verjchiedenem Wert, die 
aber als ne einen guten Meberblic 
geben über Landfdaft und Menfden- 
leben. Zu den Darftellungen der deut- 
fhen Landfhaft nehme man eine gut les— 
bare deutſche GefHidte hinzu für die ältere 
Sugend. Wir empfehlen die von Wal- 
ther Glaffen, deren dritter (und Iebter) 
Band foeben fertig wird. 


Aus alten Zeiten. 


Die Sammlungen altnordiihen Schrift- 
tums, die wir im vorigen Sabre emp" 
fablen, find inzwifhen um mebrere 
Bande weitergeführt worden. Die Samm- 
lung „Zhule“ bringt in ihrer zweiten 
Reihe Ueberjegungen romanbaft ausge 
fiibrter nordijder Heldenfagen, die im 
Anſchluß an die alten Gagas und in 
ihrem Gtil entftanden. Und zwar ent- 
halt der Band „Isländifhe Heldenro- 
mane“: die Wölfungengefhihte (die für 
die Nibelungendidtungen widtig ift), die 
Gefdhidten von —— Lodbrok, von 
Nornageſt und von dem berühmten Dä- 
nenfönig Hrolf RKrafi. Gin befonderer 
Band enthält „die Sefdhidte Thidrefs 
pon Bern", die nordifde, auf niederdeut- 
{he Quellen urüdgehende Faſſung der 
Dietrichlage, ie wir für unfre Ddeutfde 
Heldenfage, aud für das Nibelungenlied 
(vgl. Heusler, Nibelungenfage und Nibe- 
lungenlied) gum Berftandnis beranziehen 
müffen. Insbefondere der Thidrefjaga 
wünfhen wir aufmerffame Lefer. 

In der Sammlung „Bauern und Hel- 
den“, die Walter Baetfe Herausgibt, ift 
der Geihihte bon „Olum, dem Tot 
Ihläger“ die berrlide Gaga von den 
„Shwurbrüdern“ Shorgeir und Thormod 
gefolgt. Blutsfreundihaft, Blutrade, 
Sfaldentum poll heroiſcher Wildheit. 
Das Bändchen ift mit Einleitung, Karte 
und Bildern fo ausgeftattet, daß man 
ugleid eine gute fulturgefhihtlide An- 
I chauung gewinnt. Wud) für die heran— 
twadjende Sugend vortrefflid geeignet. 

Dem es zu fdwierig ijt, die Nibe- 
lungen im Lrtert zu Tefen, der greife 
u der wieder neu aufgelegten freien 
Deofarübertragung des treffliden Soe 
annes Gderr. Ich ziehe fie den dich— 
teriihen Aeberſetzungen por. Man fann 


das Bud aud benuten, um fid mit fei- 
ner Hilfe in den Artert einzulejen. Bor- 
trefflih ift Der Bildihmud (Bendemann, 
Retbel ufw.). 

Ginen erlefenen ®enuß bietet die bon 
Wolfsfebl und v. d. Leyen herausgege- 
bene Sammlung ,eltefter deutfder 
Dihtungen“. Links fteht der Lirtert, 
redts Wolfskehls fid glücklicherweiſe 
meift eng an den Wortlaut anjdliefende 
Ueberjepung. Das Nadwort gibt, was aus 
Literaturgeihihte ufw. zum Berftandnis 
nötig ift. Die Sammlung beginnt mit 
dem Hildebrandglied und ſchließt mit 
dem Grgolied. Dazwiihen Zauberiprüde, 
Liebeslieder uſp. Merfwiirdig, wie tief 
uns heute die altdeutide chriſtliche Dich- 
tung padt — nidt nur poetifd, fon» 
dern aud) religiös. LInglaublid ſchön ift 
das Marienlied der Welker Handicrift. 
Möchten wir für diefe Dinge wieder 
bellhörig werden! 


Gom deutfden Volkstum. 


Als ein ag Werf nennen 
wir vor allem „Pie nordiihe Geele“ 
pon Glauß, weil fi dieſes Bud in 
eigenartiger Weije mit den grundlegen- 
den Begriffen wie Artung und Shidjal 
beihäftigt. Gin fühnes, in die Probleme 
eindringendes Bud, mit dem ſich aus- 
einanderzufegen Gewinn bringt. 
Wertvoll ift Weigerts „Religiöfe 
Volkskunde“. Was Pfarrer [’Houet in 
feinem pradtvollen Bud über die Piy- 
Hologie de3 Bauerntums begann: dads 
Berftdndnis volfstimlider Religion, 
wird bier in fnapper, flarer Weife von 
einem fatbolijmen Pfarrer gum Thema 
gemadt. Das Biidlein bat in feinem 
Wefentliden Bedeutung über die Gren- 
gen der SKonfejfion binaus. — Ginfhs 
Heftlein „Der Ahnenhorft“ ift geeignet, 
das Verſtändnis für den Familien- und 
Bolfsgufammenbang und das Gerantwor- 
tungsgefühl für alles, was Die Bers 
erbung uns auferlegt, zu weden. 
Volkstum und Landjdhaft gebören 
aufs engfte zufammen. Das tritt deut— 
lid) berpor in den beiden Bänden „Das 
{dine deutſche Dorf“, insbefondere in 
dem von Guſtav Wolf verfaßten Bande 
„Das norddeutihe Dorf“, das nidt nur 


äfthetiihe, fondern gerade aud volts 
fundlide Intereſſen befriedigt. Gine 
Fülle wundervoller Bilder Bft das 


Auge öffnen für Das, worauf e3 an« 
fommt. ud die oben erwähnten Stu— 
dien von Mafius über die norddeutiche 
Landſchaft mit ihrer feinen Kunft des 
Wortes fommen in Betradt. Gin volfs- 
fundlih reigvolles Bilderbud (mit dem 
man Der Jugend Freude maden wird) 
ift Das Wanderpogelbud, deffen zweiter 


513 


Band zum großen Teil auf Bolf und 
SD eingeftellt ift. 

Dah das Redt eigentlih nidt eine 
Angelegenbeit der Suriften, fondern des 
Dolfes ift, bat unfre Zeit ganz vergeffen. 
Gin Büdlein wie Paul Bartels’ „Deut- 
fhes Redtsleben in der Bergangenheit“ 
follte jeder lefen, nicht bloß, weil e3 eine 
reizvolle Lektüre ift, die den Lefer bis 
gem Schluß feftbält, fondern aud, um fid 
Tar zu werden, was das Redt urfprüng- 
lid und eigentlich it. 

Damit fommen wir fhon in die volfs- 
fundliden Stoffe felbft hinein. Wir nen- 
nen Haldys intereffante Sammlung ber 
„Deutihen Bauernregeln“ (mit entzüden- 
den Monatsbildern pon ®ampp) und — 
ein ebenfo eigenartiges wie liebevolles 
Werf — Fraengers ,Bauern-Bruegel 
und das deutidhe Spridwort*. Pieter 
Bruegel der Aeltere war ja der Maler 
des Sprichworts. Fraengels reid illu. 
ftrierte Grilarung ift ein rt ge 
Beitrag zur Sprichwörterkun — Die 
Kajperfpiele find darge behandelt 
bon dem Hamburger Johs. G. Rabe in 
„Kafper Putſchenelle“, deffen zweite, ers 
beblid überarbeitete und vermehrte Aus- 
gabe neulid) berausfam. Rabe zieht das 
ganze Abendland in feinen Bereid, den 
Hauptteil nimmt jedod der Hamburger 
Kafper ein, der in einer Reihe von 
volksechten Stüden vorgeführt wird. Da- 
u fet nod auf den mit vielen Bei- 
f, ielen gefpidten ,SHamburger Bolfs- 
bumor“ von Paul Wriede —J— 
lehrreich und vergnüglich für alle Lieb- 
haber plattdeutſchen Schmunzelns. 

Hierher können wir aud Karl‘ Bud- 
des „Das alte deutſche Weihnachtslied“ 
ſtellen, das ja in ſeiner Oeſamtheit beſtes 
Volksgut iſt. Budde gibt ſorgfältig die 
alten Texte. Dazu die Noten. 


Oeſchichte, Politi 
8eſeilſchaft; ietisaft 


Das Sefdhidtswerf, das wir für 
unfern Kreis befonders empfeblen, ift 
Walther Glaffens » Werden des Deut- 
fen Volkes“, das nun in drei Banden 
(der dritte Band führt bis zur Grrid- 
tung des Deutiden Reiches) abgefdloffen 
vorliegt. G3 ift nidt eine wiffen- 
{haftlide Leiftung, fondern, auf dem 
Grunde miffenfhaftliher Studien, eine 
voltspädagogifhe Arbeit. Slaffens Teil- 
nahme gilt überall dem Bolt im höch— 
ften Sinn des Wortes. — Bon gefdhidts- 
wiffenfdaftliden Werfen beben 
wir Griedrid) Meinedes foeben erjchie- 
nene „Idee der Staatsräfon in Der neue» 
ren Oeſchichte“ hervor, ein großes ideen- 
gejdhidtlides Werf, das von Madie 
avelli ausgeht, bis gu Ranfe und 


514 


Treitidfe reicht und mit einem Dlid auf 
die Gegenwart fließt. Das Bud bat 
bie DBorzüge und Schwächen des be- 
rühmten Werkes über „Weltbürgertum 
und Nationalftaat“: forgfältiges Gindrin- 
gen in die Gntwidlung des Sdeellen, 
aber ohne die fefte Bertniipfung mit 
dem tatfadliden Gefdheben. Go gibt es 
piel Grfenntni8, aber wedt nidt den 
Willen. Wer nad tieferer biftorifcher 
Grfenntnis ftrebt, wird fi mit Diefem 
Werfe ebenfo auseinanderjegen miiffen 
wie mit dem älteren Werle. Man muß 
freilich felbft politifhen Inſtinkt mitbrin- 
gen, da Meinede wobl ein gelebrter, aber 
nicht ein inftinftiv-politifher Menſch ift. 
Gir den, der Hiftorifden Sinn hat, ift 
nidts genufreider als dag Studium pon 
Quellenwerfen in guten Ausgaben. Ne- 
ben Die altbefannte Sammlung „Aus 
deutfher Vorzeit“ tritt jest eine neue, 
glänzend ausgeftattete, mit zum Teil zeit- 
gendilifden ildern: „Das alte Reich“, 
die Quellenwerfe aus dem Heiligen 
Römiſchen Reid deutfher Nation bringt: 
Die buntbewegte, zum Teil Augen- 
zeugen naderzählte „Oeſchichte des erften 
Kreuzzugs“ pon Albert pon Aachen 
in zwei, von SHefele gut aus dem 
Lateinifhen überjegten Bänden; dann 
die berühmte „Limburger Shronif“ (Zeit- 
alter Karls IV. und Wenzels) mit aus- 
fibrlider Ginleitung von Otto §. Brandt; 
endlid „Die Wiedertäufer zu Münfter 
1534/35. "Berichte, Ausfagen und Aften- 
ftüde von QAugenzeugen und Beitgenof- 
fen“, ausgewählt und itberfebt pon Kle— 
mens Löffler. — Wer fulturge[hidtlide 
Belebrung in angenehmer Gorm fudt, 
greife gu der neuen großen Ausgabe bon 
en „Bildern aus der deutſchen 
— die mit einer Fülle gu— 
61 —— ——— Bilder ausgeſtat⸗ 


ere politiiden Bildung nennen wir 
gunddft Die Neuausgaben zweier bee 
rühmter alter Autoren: Adam Müllers 
Borlejungen über die ,Clemente der 
Staatstunft* (vor allem nationalifono- 
mifh), herausgegeben von Safob Bara. 
Es ift ein Hauptwerk der Romantik mit 
ihrer organiihen Staatsauffafjung. Zum 
andern Paul de Lagardes „Schriften 
für das Deutfhe Bolf“, herausgegeben 
von Paul Gilder. Diefe Ausgabe, de— 
ren erfter Band die „Deutihen Schrif— 
ten“ enthält, befriedigt endlid die Ane 
{priide des Gebildeten an Ausftattung 
und Gollftandigfeit. Wir empfehlen fie 
uneingefhränft jedem Deutfden, der 
felbftändig über politiihe und religiöfe 
Dinge zu denfen vermag und der ge 
wohnt ift, dabei aud auf literarifche 
Qualität zu adten. G3 dürfte feinen ge- 


bildeten Deutiden welder „Richtung“ 
aud immer geben, der diejen in gewiffer 
Deife „vollftändigen“ Lagarde nidt mit 
Sewinn und GFreude Lieft. 

Neuere umfaffende Schriften zur Po- 
litif: Soeben beginnt ein bon Berens- 
mann, Stablberg und Roepp herausge- 
gebenes „völkifhes Handbuh“ unter dem 
Titel ,Deutide Politif in Lieferungen 
zu erfdeinen, das nad dem vorgelegten 
Orundrif ein wiffenfhaftlid folides, um- 
faffendes Werf für das Studium fowre 
gum Nadfdlagen gu werden fdeint. Die 
erfte Lieferung (Greihberr bv. Berfduer 
über „Rafje“) zeugt von vorfidtiger und 
dod flarer chohanbling des Segenftan- 
des. Die „Schriften zur politiihen Bil- 
dung“, die von der Gefellfdaft „Deut- 
fher Staat“ herausgegeben werben, be- 
bandeln in billigen Heften teils allge- 
meine, teils aftuelle politifhe Fragen, 
man lieft fie durhweg mit ®ewinn. Die 
Zendenz ift „rechtsgerichtet“, aber einige 
Hefte ftehen geiftig fo hod, daß ihnen 
gegenüber Begriffe wie „rechts“ und 
„lints“ wefenlos werden. — Da von der 
geltenden „Weimarer Gerfaffung* oft mit 
piel Ankenntnis gefproden wird, empe- 
fehlen wir die umfaifende Darftellung 
und Sritif, die v. Freytagh-Loringhoven 
ibt: „Die Weimarer Gerfaffung in 
Zebre und Gegenwart.“ 63 ift dringend 
notwendig, daß die Gebildeten fid inten- 
fiver mit der Berfaffung, in welder 
der Orund zu unfern unmögliden poli- 
tijden Zuftänden liegt, befajfen. — Gin 
gang porzügliches, zugleich pojitines wie 
itiſches, Schrifthen ift Wilhelm Stah- 
lind „Die völtiihe Bewegung und unfere 
Verantwortung“, dem id große Berbret- 
tung wünfche unter all denen, die über- 
Haupt nadgudenten gewillt find. — Gin 
foasertogo ifhes Bud, das aud zu 
politiih beadtliden Ginfidten perbiltt, 
ift Baſchwitz' Behandlung des ,,Maffen- 
wahns“, der Pſychoſe, welche faft die 
ganze Welt gegen die Deutiden einge- 
nommen batte. — Gndlid fet noch auf ein 
Werf der indifden nationalen eae 
bingewiefen: Mahatma Gandhis „Jung 
Indien“. Die Aufjabe Oandhis müjfen 
freilih gelefen werden mit Berftandnis 
für die Gigenart des indifden Wefens. 

Gon fogialen Dingen wird unendlid 
piel geihrieben, aber wenig, bas weiter 
führt. Was follte man aus der afademi- 
{hen Literatur einem größeren, nicht 
fadlid intereffierten Rreife empfehlen? 
Wir empfehlen in erfter Reibe Die 
Schriften pon Heinz Marr. Seine $ranf- 
furter Antrittsporlefung „Bon der Ar- 
beitsgefinnung unferer induftriellen Maf- 
fen. Gin Beitrag zur Frage: Wenſch 
und Majfdine* tft zugleih überzeugend 


und daraftervoll. Diefes Sindringen in 
die feelifhen (und fittliden) Grundlagen 
des Wirtfdaftslebens fheint nur allein 
weiterzuführen. In diefer Richtung lie» 
en aud Die wertpollen Schriften von 
ugen Rofenftod, fowobl fein großes 
Bud über „Werfftattaugfiedlung. Unter- 
fuhungen über den Lebensraum des In— 
duftriearbeiter3“ als aud die fnapp gue 
fammenfaffenden Aufſätze in „Induftrie= 
polf“. Aus der nationalen Oewerkſchafts⸗ 
beivegung find zwei Schriften entftanden, 
die weit über Die Oewerkſchaftskreiſe hin- 
aus gelefen gu werden verdienen: Hans 
Bedhly „Bolt, Staat und Wirtidaft™ 
und Maz Habermann ,Die Erziehung 
eee deutſchen Menſchen“. Sener beban- 
elt die wirtichaftspolitifchen, Diefer die 
polfserzieherifhen Sragen nidt nur pom 
rein gewerffhaftlihen Gtandpunft aus, 
fondern mit Ginftellung auf das Volks— 
ange, alfo mit bidfter Verantwortliche 
eit. — SHingewiefen fei nod auf eine 
fpezielle Abhandlung, auf Gerhard Oün⸗ 
thers „Das Hamburger Bolfsheim 1901 
bis 1922. Die Geſchichte einer fogialen 
Idee“. Es iſt nidt eine Gefdidte der 
perfinliden Bemühungen, fondern der 
fogialen Idee, die fih im Hamburger 
Boltsheim, das einft auf Walther Glaf- 
fens Anregung entftand, ausmwirfte. 


Beltanfhauung. 

Das Beftreben, tiefer in den Ginn 
und Zufammenhang des Lebens einzu- 
— iſt in unſerem im übrigen recht 
troſtloſen Zeitalter zweifellos ſtärker por- 
handen als in jenen Jahren, da die Phi- 
lofophie in Gefdidte und die Theologie 
in den Kämpfen um ortbodor und liberal 
aufging. Die religidje und philofophiiche 
Literatur gewinnt an Tiefgang, und das 
erftredt fid aud auf die Pfydologie. 

Begeidhnend ift fon, daß jest alte 
Werke von großer religiöfer und pbilofo- 
pbifher Bedeutung, Die früher in den 
Hintergrund gerüdt waren, neu bervor- 
euer und einer größeren Leferfdaft 

argeboten werden. Martin Lutbers „de 
ſervo arbitrio“, die gegen Grasmus von 
Rotterdam gerichtete Streitihrift, die zu 
dem Siefften gehört, was der Reformator 
überhaupt geihrieben bat, wurde unter 
dem Titel „Bom unfreien Willen“ naw 
der alten Ueberfegung des Suftus Ionas 
neu herausgegeben bon Griedrid Oogar— 
ten. Daß diejes Meifterwer~ von Bere 
ftandesihärfe und Hergenstiefe fo febr 
vergefjen werden fonnte! Mandes fdiefe 
Alrteil über Luther fdien mir auf man- 
gelnde Kenntnis diefes Werkes, das nicht 
weniger widtig ift als das von der 
babplonifhen Sefangenfdaft der Kirche, 
zurüdzugehn. — Das Iacob-Böhme-Iahr 


515 


bat uns die von Lothar Schreyer bee 
forgte Neu-Ausgabe des Werfes „Bom 
dreifahen Leben des Nenfhen“ gebradt, 
eins der fpäten Hauptiwerfe. (Die meiften 
Tefen immer nur die Aurora oder Aus» 
wahlen.) Böhme erfordert ftillfte, tieffte 
Hingabe, fonft ftebt der Lefer ratlos vor 
berrlid) Elingenden, aber unverftandenen 
Gaben. Wer aber darauf und Ddabinein 
zu hören verfteht, wird fo tief innerlich 
erwedt, wie nirgends fonft. Den De- 
tinger fennen die meiften nur aus Mö— 
tifes „Turmhahn“ als einen der „from« 
men Schmwabenpäter“ (1702—82). Sebt 
hat Otto Herpel eine Auswahl aus fei-e 
nen Werfen, Briefen und Aufzeihnungen 
berausgebradt unter dem Sitel „Die hei— 
lige Philoſophie“. Gin hiftorifch wie reli- 
giös ungemein fejjelndes Bud. (Brief- 
wedfel mit Bengel, Zinzendorfl) Ih 
empfehle dieſes innerlid reihe Bud 
nahdrüdlid. Aus folhem Boden ere 
toudfen ja dod Goethe und Kant! Ohne 
die Kenntnis der ehten Srömmigfeit des 
adtgebnten Jahrhunderts fann man wee 
der den einen nod den andern verftebn; 
id mödte geradezu fagen: von bier 
ftammt, wenn zum Seil aud unbewuft, 
ihr Beftes. — Als legten in diefer Reihe 
nennen wir einen ganz Andersartigen: 
Lagarde. Auf die Neu-Ausgabe feiner 
Schriften wiefen wir oben fdon hin. 
Bon den Zeugniffen unſrer Sage nen 
nen wir Karl Bernhard Ritters „Oe— 
meinfdaft der Heiligen“. In der Form 
einer Auslegung des erften Johannis- 
briefes gibt Ritter feine Theologie, loci 
communes fönnte man das Bud nad 
altem Gpradgebraud nennen, nur daß 
die loci in neue Gorm und Ordnung ge» 
bradt find. Gin Bud zu ftiller Andacht 
und zum Borlefen. — Zum ‘Berftandnis 
der Bergpredigt balten wir für unum- 
ganglid Karl Bornhäufers „Die Berg- 
predigt. Gerfud einer zeitgenöfliihen 
Auslegung“. Bornhäufer zeigt, wie die 
Zubörer Jeſu feine Worte aus dem 
Gpradgebraud der Zeit und des Ortes 
beraus verftehen mußten, und räumt fo 
mit uralten Mißverſtändniſſen in gerade» 
zu befreiender Weije auf. Man fann das 
Bud gegenüber einem allzu haftigen Hi- 
ftorigismus geradezu als eine „Rettung“ 
Sefu bezeihnen. — Wer etwas fudt 
über die Verbindung von Bolfstum und 
Religion, Deutfhtum und Ghriftentum, 
fei auf die Heinen Hefte hingewiejen, die 
Mar Maurenbreder regelmäßig beraus- 
gibt unter dem Titel „Ölaube und 
Deutihtum“. — Grwähnen mödte id 
zum Shluß „Die religidjen Grundlagen 
der ſozialen Boifhaft“ des Deutfh-Ame- 
rifaners Walter Raufhenbufh, die Clara 
Ragaz iiberfebt bat. ins, die wir vom 


516 


Weltkrieg ringsum eingefdloffen waren, 
ift e8 unmöglid, mit dem Problem der 
Sünde ebenjo fertig zu werden wie Rau- 
ſchenbuſch. Es ift aber für jeden, der Gee 
richt über fih balten will, lehrreich, fein 
Gmpfinden und Denken an diefem reinen 
und warmen Bude zu meffen, in dem 
{id deutfhe Denkkraft mit amerifanijder 
Atmofphäre merfwiirdig vereinigt. 

Sehen wir von der Theologie zur 
Philoſophie über, fo ftoßen wir zunädft 
auf die Bücher, die das Rant-Subilaum 
ung gebradt hat. Eine jhöne Zuſam— 
menftellung über „Kants Leben“ aus den 
Aufzeihnungen feiner Beitgenoffen Sach» 
mann, Borowsfi und Waliansfi bringt 
Paul Landau. (Aud für ältere Sugend 
geeignet.) Gine gute, verftändlide Gin» 
führung in Kants Syſtem gibt Auguft 
Meifer in „Smmanuel Kants Leben und 
Philoſophie“. Die befte Frucht des Kant 
Sabres aber fheint mir Hermann Rut- 
ters „Im Anfang war die Sat“. Hier 

ebt es nidt um hiſtoriſche Kenntnis des 
antiſchen Spftems, fondern bier ringt 
einer mit Kant und aus der Tiefe Rants 
um die höchſten und lebten Wahrbeiten. 
Das ift, wonad ehrliche junge Studenten 
fuden: mwortgewaltiger innerfter Grnft. 

Die lebendig Gidte in unjfrer Zeit 
ift, erweift fid an zwei großen Beröf- 
fentlidungen: Die berühmte, lang vers 
griffene Gejamtausgabe feiner Werfe, die 
fein Sohn J. H. Fichte veranftaltet hatte, 
ift in elf Bänden photographiih genau 
neu gedrudt worden. Gerner ift Hans 
Schulz mit feiner Sammlung der Briefe 
Sidtes fertig geworden — ein monumen- 
tales Werf, das uns zweifellos ein ties 
fered Gindringen in Gidtes Leben und 
Denfen ermögliden wird. 

Gine philoſophiſche Anthologie, weldhe 
die wefentlid Deutf aden Züge aus den 
Werfen unfrer großen Denfer herausar- 
beitet, hat Weidel unternommen, das 
Bud foll nod zu Weihnachten vorliegen. 

Bon den neueren philoſophiſchen Bee 
mübungen mödte id vor allem auf „die 
Philofophie der Individualität“ pon Rie 
dard Miüller- $reienfels hinweiſen, weil 
fie widtig ift für eine methodifde Gre 
fenntnis des Golfstums. Das Bud ift 
für jeden ©ebildeten angenehm lesbar. 

Abſchließen möchte id dieſen Abſchnitt 
mit einem Hinweis auf mein Andachts⸗ 


-bud „Das Büchlein Thaumajia“. In 


dreißig furgen Betradtungen, die fid, 
wie id hoffe, in einer guten Mitte zwi— 
{hen dem Konfreten und Abftraften hal 
ten, babe id) fosmifhe und ethiſche Pro— 
bleme bebandelt. Sd babe verfudt, in 
diefer Gorm meine Weltanfhauung und 
mein Lebensgefühl mitzuteilen. 





Lebenserinnerungen. 

Swei der berühmteften deutfden 
Lebenserinnerungen baben eine unver— 
boffte Grgänzung erfahren. Ludwig 
Ridters , Lebenserinnerungen eines deute 
[hen Malers“ waren, wie fid Heraus- 
ftellte, von feinem Sohn Hans überarbei- 
tet worden. Mar Lehrs hat nun den ure 
fprüngliden Text nah der Handihrift 
wieder hergeſtellt. Zu Wilhelm v. Kür 
gelgens „Bugenderinnerungen eines alten 
Mannes“ ift gar ein ganz neuer Band 
„KXebenserinnerungen des alten Mannes“ 
bingugefommen, namlid Briefe an Wil- 
beims Bruder Gerhard, die in ihrer Un— 
mittelbarfeit von der wundervollen Per- 
fonlidfeit ihres Gerfaffers zeugen. Die 
Liebhaber jenes merftwiirdigen brieffeli- 
en Seitalters möchten wir außerdem 
Pinioeifen auf „Sin Lebensbild in Brie- 
fen aus der DBiedermeierzeit“, das die 
Geſchichte einer Altfrankfurter Gamilie in 
den Jahren von 1780 bis nad der 
"Reihsgründung darftellt. Die Haupt» 
briefichreiberin ift Gleophea Banfa geb. 
Schmid (1793—1875.) Herausgeber ift 
Otto Banja. Das Bud ift fehr würdig 
ausgeftattet. Dieje Spiegelung der Gee 
{hidte im Leben eines woblgebildeten 
Samilienkreifes, gruppiert um eine Ieb- 
bafte, edle Grau, ift fiir jeden Greund 
fulturgefhihtliher Dinge ein Genuß. In 
diefem Zufammenhang weifen wir aud 
auf die Auswahl Hin, die Walther „aus 
den Sagebiidern und Iahresheften Lud 
wig Richters“ veranftaltet hat. ine 
folde Auswahl ift bei der häufigen 
Breite der Ridterfden Aufzeihnungen 
willfommen. 

In eine gang andre und dod ver- 
wandte Welt führt uns aaa Winnigs 
„Frührot“, die Jugendgeſchichte des bee 
fannten fozialdemofratiihen Führers. 
Daß die Partei einen Mann, der fo von 
einer foldhen Sugend fdreiben fann, nit 
gu balten vermodte, zeugt nidt gegen 
en Wann, fondern gegen die Partei. 
Gin Bud von bleibendem menfdliden 
wie fulturgejhidtliden Wert. 

Sum Schluß nod ein Bud, das ei- 
gentlid {don in den nadften Abſchnitt 
gebirt: ,@ottfried Keller. Briefe und 
Gedichte mit lebensgefhidtliden Ver— 
bindungen von Grnft Hartung“. Briefe 
und eingeftreute Lebenserinnerungen find 
mit dem biographiihen Text zu einer fol- 
den Einheit verwoben, daß man faft in 
einem richtigen Grinnerungsbude zu le⸗ 
ſen vermeint. Eins jener Bücher, in dem 
man zu leſen nicht aufhören kann, ſo— 
bald man irgendwo darin begonnen bat. 


Gon den Didtern. 
Glaus Groth, über den bisher Adolf 
Bartels’ Schrift als Die befte galt, ift 


nun in umfaffender Weife dargeftellt 
worden bon Weert Geelig, den der Did- 
ter einft jelbft dazu beftimmt hatte. Der 
Wenſch und der Dichter mit feiner Am— 
welt ift behandelt worden, die Alrteile 
find forgfältig und geredt, die Darftel- 
lung ift flar und fejjelnd. Dem Inhalt 
entſpricht die vortrefflide Ausftattung 
mit reihem Bildermaterial. 

Ueber Wilhelm Raabe liegen zwei 
neue Bücher vor: Heinrich Spiero, einer 
der Freunde des Dichters, ftellte „Leben, 
Werf, Wirkung“ dar. G3 ift ein liebe» 
volles und lebendiges Bud, das freilid 
nidt in die Abgründe des Dichters ein- 
dringt, in jene jeelifhen Tiefen, die fein 
andrer Didter fo durdmeffen hat wie 
Raabe. Darum nehme man Helene Doſes 
„Aus Raabes myſtiſcher Werfftatt“ hin- 
zu. Grau Ooſe ift in ihren QAuffäßen 
wirflih auf entiheidende und lebte Dinge 
der Raabefhen Welt eingegangen. 

Gon Rojegger hat Emil Ertl, der be- 
fannte öſterreichiſche Grgabler, zwar 
feine Biograpbie, aber ein rechtes Sreun- 
desbud gefdrieben. Man erfährt in un- 
terbaltjamer Weife foviel Perjönliches 
von Rofegger, daß man am Gnde meint, 
man babe ihn felbft gefannt. 

Lienhard fand fdon jebt einen Bio» 
gtapben in Paul Bülow. Das umfang- 
reihe Werf, das zugleich eine apologeti- 
fhe Sendeng bat, bringt mandes ilnbe- 
fannte, darunter fulturpolitiih fo inter» 
effante Stüde wie Lienhards „Erfahrun⸗ 
gen mit deutſchen Bühnen“. 

Bon den Literaturgeigichten fommt 
für uns (troß einiger Abweidhungen wie 

B. in Gaden Seitiers) die große „Ge⸗ 
Pinte der Deutſchen Literatur“ von 
Adolf Bartels vor allem in Betradt, 
weil fie ebrlid und daraftervoll ift. 
Der erfte Band, der von den Anfängen 
bis zu Weimar und den „Mitflafjilern“ 
Hebel und Sean Paul führt, liegt fertig 
por, der zweite Band wird in Diefen 
Tagen ausgegeben. 

Hier moddten wir aud nachdrücklich 
auf ein Bud binweifen, das nidt we- 
niger unter den Abjdnitt „Weltanihau- 
ung“ gehört: ©ottfried Sittbogens „Res 
ligion Leſſings“. Gine eindringende, ob» 
jeftive Arbeit, welde viele Iandläufige 
Urteile umftößt. Fittbogen faßt Leſſing 
als Borlaufer Kants und Begründer 
des „Neuproteftantismus“. 


Didtungen und Grzäblungen. 

Zunädft eine Anzahl Neu-Ausgaben 
älterer Werfe. Die Alemanniſchen Gee 
Didte Johann Peter Hebels Liegen in 
einer würdig-[hlihten Ausftattung por 
mit Zeihnungen bon Rudolf Dürriwang, 
die mir ſchlechthin meifterhaft in ihrer 


517 


Bereinigung von beutliher Oegenſtänd⸗ 
lichkeit mit Lidt- und Luftftimmung er- 
ſcheinen. (Gigirlides fcheint ihm nidt in 
leider Weife zu gelingen, und bier 
iegt ein Widerfprud zum Inhalt des 
Budes.) Gabe e8 pon Hebels Biblifden 
Sefhidten und Schapfäftlein gleich gute 
Ausgaben! — Zu den Romantifern führt 
uns DBenninghoff3 neu bearbeitete zweite 
Auflage von ,Romantif-Land“. — Den 
Sridericus-Roman pon Willibald Alesis: 
„Sabanis“ follte man nidt nur aus der 
Literaturgefhihte fennen, er liegt in 
einer guten neuen Ausgabe por. — Sere 
mias @ottbelf erlebt fo etwas wie eine 
Auferftebung. Dagu trug fider die 
gehe ®efami-Ausgabe von Hungifer und 
löſch bei. Die neue Bolfsausgabe, die 
auf elf Bande angelegt ift, ermöglicht 
es allen ®ebildeten, fid die Hauptwerfe 
des appaltiqen Gpifers angufdaffen. In 
diefen Gefdhidten lebt bas Bolf fo leib- 
baftig wie nirgends fonft. — Aud die 
Stancois fommt allmablid zu ibrem 
Redt, nadhdem fie dreißig Sabre im 
®rabe darauf gewartet bat. „Die lebte 
Redenburgerin“ gibt es jebt in allerlei 
Ausgaben. Aber über dem allgemad 
berühmten großen Roman foll man ihre 
kleineren ®efhihten nidt vergeffen. Bru- 
no @olg bringt eine vortrefflide Aus- 
wahl in dem von ihm herausgegebenen 
Bande „Meiftererzählungen“ mit einer 
guten Ginführung. — Den fdlidteren 
franfifden Heimaterzäbler Heinrid 
Schaumberger zu lefen lohnt fid immer 
nod, wenigſtens in feinen Hauptwerfen 
wie ,Bater und Sohn“. — Aus Bof- 
dorfs bod- und plattdeutihen Oedichten 
und Graählungen hat Albredt Jansſen 
eine angiebende fleine Auswahl im „Her- 
mann⸗Boßdorf⸗Buch“ (mit einigen Beid- 
nungen des Dichters felbft) gegeben. 
Ueber neuere Graäbler werden wir 
fpäter einmal einen zufammenfaffenden 
Meberblid bringen. Hier nur einige Hin- 
weife auf etlide Bücher, die mir gerade 
zur Hand liegen. Da find drei Hambure 
ger: Hermann Glaudiug, der fo ganz ane 
ers erzählt als fein Urgroßvater Wat 
tbias, gibt im "Siberihit “ die Gntwid« 
lung eine3 Kindes, Knaben und Jüng- 
lings in Hamburg, das Reifen zur Künjt- 
lerfdaft. Aus mander Troftlofigfeit und 
mander Sritbung läutert fid die Gre 
fenntnis pom Wefen der Gehnfudt. Bon 
Albert Peterfen erfdheint foeben ein 
Budbandler-Roman, der in Leipzig und 
Hamburg fpielt: „Der junge Perthes", 
wiederum ein ftreng hiftoriiher Roman. 
Gine neue Auflage des „Arnold Ame 
find“ fommt in befferer Ausftattung her— 
aus. Hans Griedrid Blunds „Stelling 
Rotkinnfohn“, der um die Witte Des 


518 


neunten Jahrhunderts an ber Niederelbe 
(Rampf der Niederfadfen gegen Die 
Franken) fpielt, behandelt, obwohl ein 
biftorifher Roman, Gwigfeitsfragen, die 
uns gerade beute befonders angeben: 
Gaterglaube, fremder Glaube, Boltsfrei- 
beit — ein Werf von mädtiger Spann« 
weite. 

Kleinere Graäblungen: Bindlers 
„Zrilogie der Zeit“ behandelt in ſchroffer 
ARE das Wefen unferer Seit. 

udwig Bate gibt im „Mond über Nip- 

penburg“ eine Anzahl ſehr ftimmungs- 
voller Skizzen, Die ung niederdeutide 
Meifter, insbefondere Dichter, in ihrem 
Wefen nahe bringen. Gr zeigt, wie über- 
all der Genius fid aus dem Pbiliftertum 
emporringt, ein ehtes Raabe»-Thema. In 
Diedrihd Speckmanns neueftem Bande 
„Wolfen und Sonne“ finde id einige 
portrefflihe Srzäblungen (Ser Stamm« 
baum, Das Feft der Alten u. a.). Zieb- 
baber derben und guten Humors feien 
bingewiefen auf Garl Geeligs „Nadhtge- 
ſchichten aus der guten alten Bent", die 
bewußt in Der Vachfolge Hebels, des 
großen Spradmeifters, entftanden find. 
Reihlih hundert ganz furze Anefdoten 
und Scherze, wie man fie in alten Ra- 
lendern findet. Wir freuen uns des Zu- 
falls, da diefer Abfchnitt, der mit Hebel 
an mit einem Hinweis auf Hebel 
fließen fann. 1 


Büder über Kunft 
und Runftmappen. 


Zur Deutung des Genter und des 
Sfenbeimer Altars gibt Rudolf Günther 
in zwei Heften eindringende Forſchungen 
mit reidem Material. Benen bezieht er 
auf die Allerheiligenliturgie, bas Iſen— 
beimer Mittelbild deutet er als Gponja 
Shrifti. — Willy Paftor fudt in „Rem- 
Brandt der Geufe* Rembrandt aus der 
©eufengefinnung — das Weſen des Bau- 
ern gegen das Weſen des Gdelmanns — 
gu veritehen. So ſchroff wird fid Die 
Theſe faum halten lafien, aber fie gibt 
der Geftalt Rembrandts mande neue 
Beleudtung und erfdlieht mandes in 
feinem Wefen. — Auf Fraengel3 Bud 
über die Sprichwörter Bruegels haben 
wir im Abſchnitt über „Volkstum“ bin» 
gewiefen. 

gu den beften Brieffchreibern unter 
den Künftlern gehört Moris von Shwind. 
Perfdnlidfeit, Kunft- und Literaturge- 
fhidte, Kultur der Zeit — ein feffelndes 
Bild, das fih in der fehr umfaffenden 
Auswahl von Otto GStoeffl (mit einer 
Anzahl Schwindfher Bilder) por uns 
ausbreitet. Das Bud gehört als drittes 
neben Ridters und Rigelgens Grinne- 
rungen. — Gine Biographie Rudolf 


D 


Schäfer wird vielen willfommen fein. 
Konrad Wad, ein Greund des Künft- 
ler, hat ung Werden und Wefen Schä- 
fers gefdildert. Sas Werf ift mit einer 
Hülle guter, zum Zeil farbiger Wieder- 
—— geſchmückt und enthält auch ein 

erzeichnis aller Veröffentlichungen von 
Bildwerken Schäfers. 

Die kleinen Dichterbücher nach den 

— und der Handſchrift Joſua 

eander ®ampps find um ein wunder⸗ 
Ihönes Gottfried-Keller-Büdlein ver— 
mebrt worden. Gin Geſchenkbüchlein, wie 
es deren wenige gibt. 

Kreidolfs DBilderbüher ſcheinen mit 
wenigen Striden und Farben ſchlicht bin- 
geivorfen zu fein. Gon dem Gtudium, 
das Dahinter liegt, gibt die Mappe 
„Bergblumen“ eine Gorftellung. Da find 
eine Anzahl Blumenftudien vereinigt, die 
der Künftler für feine Alpenblumenmär- 


den madte — diefe „Studien“ find Bil- 
der, die bis ing Rleinfte durd — 
ſind, man meint die Blumen förmlich mit 
den Fingerſpitzen fühlen zu können. Es 
find in der Sat die ſchönſten Blumen— 
bilder. 

Der zu einem verhältnismäßig billi- 
en Preije zu einer Mappe mit ausge 
At guter Originalgrapbif fommen 
mödte, den verweijen wir auf die von 
Bruno Golz berausgegebene grapbijde 
Mappe der Fichtegefellidaft mit Blat- 
tern bon Hans vd. Bolfmann, Schinne- 
rer u. a. 


®ute, ftimmungsvolle Originallitho- 
grapbien, bandgetujdt, enthalten Die 
appen von Gdel oth, die allerlei 


„DBerträumte Winkel“ aus Rothenburg, 
Weimar ufw. fefthalten. Es find Bild» 
hen, die bei jedem Durdhblattern aufs 
neue erfreuen. 


Alphabetiſches Verzeichnis der beſprochenen Bücher. 


Albert von Aahen, Geſchichte des erſten 
Rreugguges. Ueberfegt und eingeleitet von Her- 
mann Hefele. 2 Bde. Diederige, Jena . 14.— 

Aleygis Willibald, Cabanis. 2 Boe. Hanfeatiiche 
Berlagsanftalt, Hamburg 

Bartels, Adolf, Seigisie der deutichen —— 
1 : Die ältere Beit 9. Haeſſel, Lpz. . 14.— 

Bartels, Paul, Deutſches Reis eben 4 "der Bere 
gangenbeit, ant. — Hbg. Geb. 1.50 

Ba } Hwig, Kurt, Der enwahn, feine Wire 
ung und, feine Beherrſchung. C. 9. ehr 


Bite, Ludwig, Mond über Rippenburg. = 


Schünemann, Bremen . 
Baette, Walter, Die Sd wurbriider. * (Bauern 
und „gelben. 2) anlage Beclagsouhialt, 
"Staat und svi, 


amburg . 
Iy, ‘fend, Boll, 

* Sanfeatif e Fegusanhen, Hamburg BE: 
Benningbof I Romantıl-Land, 2. Aufl. 5.— 
Berensman te Wilhelm, u. Bolfgang Stable. 

ei | u. Friedrich Koepp, Deutihe Politit. Ein 

vol: ifches gennent: Erfheint in Lieferungen. 

Englert & Schloſſer, ee a. M. 

ede Lieferung 0.50 bis 1.50 

Biedbermeierzeit, Ein Lebensbild aus der —. 

gut Geſchichte einer Witfrantfurter Senn. 
nglert & Schloffer, Franffurt a. M. 

Blund, Hans Friedrich, Stelling Kotkinnfohn. ‘Die 
Geſchichte eines Verkünders und ſeines Volkes. 
Georg Müller, Münden . . 9.— 

Bodemühl, Eric, Weignaghtsfpicte "für Rinder 
in Schule u. Haus. Fr. U. Perthes, Gotha 3.— 

Böhme, Jacob, Vom dreifachen Leben bes Men» 
er. "Herausg. von Lothar Schreyer, panjentiine 

erlagsanftalt, Hambur 8.— 
Bornbhaufer, Sarl, Die’ Bergprediat. verfuch 
einer geitgenoffifehen Auslegung. € . Bertelsmann, 

G@iitersloh . 

Bokdorf-Bu o, "Ausmabl aus Hermann Bobe 
dorf Werfen von Ablredht Jansfen. a 
Hermes, Hamburg . 

Budde, Karl, Das alte deutiche Weihnaditalien. 
Mit Noten. Hanſeatiſche Snne weer 


burg . . — 
Bilow, Paul, Friedrich Lienhard re Meni 
und fein Werl, Max Rod, Leipzig. . . 12.— 
Claffjen, Walther, Das Werden des deut den 
Volles. 3 Bde. 


Hanſeatiſche Berlagsanitalt, 
ambur 


— Bleibe, Heft i2 "einzeln (Das * geiaie Bis- 
mards) . 
Elaudiuß, Germann, Das Siberfsift.. 


Anräus- 
Berlag, Qiibed . "4.50 


Elauß, Ludwig Ferdinand, Die nordiihe Seele. - 
„Yetung, Prägung, Ausdrud. Niemeyer, Halle 5.— 
Helene, Aus Wilhelm Raabes moftifder 
serfitatt, Hanfeatijhe Verlagsanſtalt, —— — 
Eiwa 4.50 
Ertl, Emil, ae? Nojegger. Wie id — fannte 
und liebte. Staadmann, Leipzig . . ae 
Fichtes ämtliche Werle. Herausg. von J. 
Fichte. 11 Boe. Mayer PY Müller, Lpz. Fr 
Fichtes Briefmedjel, Gefamiausgabe. Herausg. 
von Hans Schulz. 2 Bde. Haeffel, Lpz. 50.— 
Fichtegeſellſchaft, inte originalgraphiſche 
Mappe der —. eraußg. bon Bruno Gols. Grae 
phiſche Blatter. Voigtlanders Verlag, Leipzig. 
Signiette Ausg. für itglieder 80 f. Um 
fignierte Ausg. 20 Me. Ym freien Handel erjt 
Anfang 1925 zu haben. 
Finchh, Ludwig, Der WIReRösEh, 
Rudolftadt F 
Bittbogen, Gottfried, Die Religion Senn. 
Mayer & Müller, Leipsig . . etwa 9.— 
Francois, Louiſe, v., Die legte itedenbutgerin 
Philipp Reclam jun., Leipzig . 1.80 
Francois, Louije von, Meiftererzählungen. Her- 
ausgegeben von Bruno Gols. R. Voigtländers 
erlag, Leipsiqg . - 4.50 
Braenger, Wilhelm, Der Bauern-Bruegel und 


‚Seeitenvering, 


das deutide Spridwort. Mit 49 Abb. Eugen 
Rentſch, Münden . . . etwa 6.— 
Freytag, Guftav, Bilder aus der deutſchen Bere 
gangenbeit. Illuſtt. — 6 Bde. Paul ar 
Xeipzig f 
Brevtag- Qoringboven, Axel Fehr. “be, 


Die Weimarer Verfafjung in "Lehre und Wirklich⸗ 
keit. J. Lehmann, Münden . 9.— 
G@ampp, ofua Leander, Ein Gottfried-Keller- 

Bidlein. Ollmann & Hinge, Berlin-Friedenau. 


50 
Gandhi, Mabatma, Jang Indien Rotapfel- 2 
lag, Münden 2 
Gottbelf, Jeremias, Werke. ‘wotthauspate, 
11 Boe. Pappband. €. Renifh, Münden. Je 3.80 
— Meiftererzäblungen. Herausg. von Bruno Gols. 
N. Boigtlanders Verlag, Leipzig 
— Uli der Pidter. Ganteatiioe 
Samburg CE ROR MONS ok Te Me EN) Foe 
@Brube, Mugu Wilhelm, Charafterbilder deutfchen 
Landes und Lebens. Herausg. von Georg Dreßler. 
17. Aufl. Mit 37 Bildern. Friedri ara 
ftetter, Leipzig . 
Gintber, Gerhard, Das Hamburger Goltspeim 
1901—22. erlag ber Arbeits emeinſchaft 
Berlin. Geb. 3.60 


519 


Berlagsanitalt, 


Günther, Rudolj, Die —2 des Genter und 
des Iſenheimer Altars. efte. ——— 
Verlagsbuchhandlung, ed. Heft etwa 1.50 

Habermann, Dax, Die Erzieygung zum beute 
{den Menfden. Hanf. Verlagsanft., Hbg. —.30 

Haldy, Bruno, Die deutichen Bauernregein. Mit 
Monatsbildern von SUR — RR. 
spa os Diederids, pe 


Heldenromane RR 
Ueberjegt von Paul Herrmann. Eugen 
Diederihs, Jena . . 6.— 
Kants Leben in Darftellungen feiner Beitgenoffen, 
Gefiirgte Ausg. von Paul Landau. —— 
Wistott, Berlin . . 10 
Keller, Gottfried, Briefe "und "Gedichte ae 
lebendge[dhidtliden Verbindungen. Bon Ernit 


Hartung. Wilhelm Langewiefdhe-Brandt, Eben- 
Daihen. —— att. 3.—. Geb. 5.— 
Kreidolf, Ernft, Bergblumen, Studien. Erfte 


olge. Hotapfel- »Berlag, München 
— Ülte Kinderreime,. Herm. Sdaffi tein, Köln 7.50 
Kügelgen, Wilhelm von, Lebenserinnerungen 
des Alten Mannes. 8. 8. Köhler, Leipzig. 
Pappbd. 3.60. albieinen 4.80 
Kübnemann, Eugen, Kant. 1. Bd.: Der europ. 
Sedante im vortamiſchen Denken. 2. Bd.: Das 
Werf Kants und der ER Gedanke. 
Münden ... Bd. I: 11.—. ‘ 
Rutter, Hermann, “gm Anfang war die Tat. 
Verfud einer Orientierung in der spalolopbte 
Kants und ben von ihr angerenten höchſten oe 
en. Für die denfende Jugend. Sober C. 
pittlers Nachf., Bajel a 
Sagarde, Paul be, Schriften für das —*— 
olf. 1. Bd.: Deutihe Schriften. 2. Bd.: Aus- 
gewählte Schriften. 3. F. Lehmann, ange. 


Je 6.50 
Eingeleitet von Otto 
Eugen Diederigs, Jena . . 7.50 
zöffler, Klemens, Die Wiedertaufer zu Münfter 
1534/35. Berichte, Ausfagen und —— 
Ausgewählt u. überſetzt. iederichs, Jena 9.-- 
Qutbher, Martin, Vom unfreien Willen. Nach der 
Weberfepung bon Juftus Jonas herausg. und mit 
einem Nachwort verjehen von Friedrich Gogarten. 
Chr. Kaifer, Münden . — en: 
Mad, Konrad, Rudolf Safer. Mit 66 teils far- 
bigen Bildproben. Guſtav Schlößmanns Verlags- 
budbandlung, Leipzig . 8.— 
arr, Heinz, Bon der Arbeitsgefinnung unferer 
induftrielen Maffen. Englert & Edloffer, Grant. 
furt a. M. . Geh. —.50 
Mafius, Hermann, Norddeutiche Land haft. Mit 
Bildern von Carus, Hänfelich, orgenftert, 
©. Epedter u. a. herausg. von Stapel. Hanjea- 
tiſche *Berlagsanftalt, Hamburg . etma 2.50 
Maurenbredher, Max, Glaube und Deutſch— 
tum, Bierteljährlich 7 Hefte. — Glaube 
und Deutſchtum, Berlin-Licterfelde, Sear 


ſtraße Je 
Meinecke, Friedrich, Die Idee der” Etantsräfon 
in der neueren Gefdhidte. R. Oldenbourg, 
Münden. 13.— 
Med tots Auguft, Immanuel Kants Leben und 
ilofophie. Streder & Schröder, Stuttgart. 5.50 
Müller, Abam H., Die Elemente der Gtaatd- 


Limburger Chronit. 
9. Brandt. 


kunſt. Berausg, von Dr. Jakob Bara. (Samm- 
poe: Die Herdflamme.) 2 Bde. Guftav Bilder 
ena 


Müller-Sretenfels,. Richard, Die Bho. 


ophie der Individualität. 2. Aufl. Belt 
einer, Leipsig . . 
Roth, Ebel, Verträumte Winkel aus Beimar.. _ 


Verträumfe Wintel aus dem Thüringer Wald. — 
Verträumte Winfel aus Nürnberg. 3 Mappen 
mit je 8 bandgetönten Urfteinzeihnungen. Der 
Innere Kreis Verlag, RIESEN NENNE, 


Detinger, Yaseen. Chriftoph, Die heilige 
bilojophie. usgew. bon > Herpel. Chr. 
aifer, Münden . . . „etwa 3.— 








Wily, Rembrandt ber Geufe. ae 49 a 
Haeffel, Leipzig 


sd ta 


Pererfen, Albert, Der junge Perthes. "an ta 
tiſche Veria Sanftalt, Hamburg . . Etw 

— Arnold Amind. 3. Aufl. Ebendort. Etwa B= 

Rabe, Jobs. E., Kafper Putfdenelle. Duidborn» 
Verlag, amburg A 1.— 

Raufhenbufjd, Walter, “Die teligiöfen Grund- 
lagen der fogialen voiſchaft Einl. v. Leonhard 
Ragas. Rotapfel-Verlag, Münden . etwa 6.— 

Richter, Ludwig, Lebenserinnerungen eines deut- 
fen Malers. erausg. von Maz Lehrs. = 
pyläen»-Berlag, Berlin . 


— Tagebücher und Jahreshefte. "Auswahl bon Ri. 
Walther. Hanfeatifhe Verlagsanft., Hog. . 3.— 
Ritter, Karl Bernhard, Die Gemeinjdaft ber 
gi. Eine Auslegung des Eriten Briefes 
Seh Panjeceine ——— Ham- 


Rojenttod, "Eugen, 

arolus-Druderei, Frankfurt a. P 

— u. Engen May u. Martin Grünberg, Berfftatt- 
ausfiedlung. Julius Springer, Berlin. . 

Shaumberger, Heinrith, Bater und Com 
Martin Warned, Berlin . 

Scherr, Johannes, Die Nibelungen. yn "role 
überfegt u, eingeleitet. Heſſe & Beder, Lzg. 2.50 

Schriften zur politifhen Bildung. Herausg. bon 
der Gefe ent „Deutiher Staat“, Hermann 


Snduftrievolt. werlag der 


Beyer & Söhne, — rn 3a. 
3. Schwarz, Ethik der Vaterlandsliebe. 
Geh. 1.10 
4. Althaus, Staatsgedanle und Reich 
Gotted . rp 
12. Hiro, Die Liebe zum Baterlande . —.80 


13.0. Below, Die Hemmniffe der poli- 
tifchen Befähigung ber DentiOoen und 
ihre Befeitigung . 
Sh wind, Morig von, Briefe. Herausg. von Dite 
Stoeſſl. Bibliograpb. Snftitut, Leipig . 5.— 
Seelig, Earl, Nachtgeihichten aus der guten alten 
Bent. Greifenverlag, Rudolftadt . . 3.— 
Seelig, Geert, Klaus Groth. Sein Leben und 
Werden. Alfter-Verlag, antbur . . . 12,— 
Söhle, Karl, Die letzie Perfettionierung. Cine 
Bah-Novelle. Fr. Kiltner u. C. T. B. Biegel, 


Leipsig - 
Sobhbnrenp, geinzie, "Der Sirſchreiter. veuſc; 
n 


Sandbuhbandlung, Berlin 

Spiero, Heinrih, Raabe. Ernft "Hofmann & Fa 
Darmitadt . 6.50 

Stablin, Wilhelm, Die voͤltiſche Bervegung Ber 
unfere Verantwortung. Buchverlag des Bundes 
deutfher Jugendvereine, Sollitebt . . Geh. 1.10 

Stapel, Wilhelm, Das Büdlein Zbaumafı. 
Oreifenverlag, Rudolitadt . . 

Khidref von Bern (Sammlung Thule). chen 
fept bon Fine Erichſen. Diederihs, Jena 11.— 

Bandervogelbud. Bweiter Teil. Heransg. 
von Karl Dieg u. Willi Geißler. ker. 


Rudolftadt . . 
Weber, Leopold, Dietrich von Bern. 8. — 


mann, Stuttgart . 
Weidel, Karl, Deuiſche Weltanſchauung. Mit 


21 Kunſtdrucktafeln. Hanſeatiſche ——— 


Hamburg twa 8.— 
We : 8 ert, Jofeph, "Religiöfe Boltstunde. Br & 
Freib urg 3.20 

Bi : ji Lex, Soret, "Trilogie der” Beit. "Sheifen 


verlag, Audolftadt ad 
Vinnig, Auguft, Frithrot. Cotta, Stuttgart 5 


Wolf, Guftav, Das EI Dorf. NR. Piper & 
€o., Münden . 4.— 
Wolfstehl, Karl, u. Friedrich v. d. Qeven, 


Aelteite deutfche Dichtungen. Meberfegt und here 
ausgegeben. 3. Aufl. Injel-VBerlag, Leipzig 7.— 
Wriede, — Hamburger Vollshumor. (Quid- 
born-Biider. 30.) QDuidborn-Berlag, Ham» 
burg .—T 
Buttig, ” Johannes, Willehalm von ‘Orange. Nah 
Wolfram bon si REDE, IE 
Leipzig é 2.50 





@edrudt in der Hanieatiihen Verlagsanftalt Attiengefelichaft, Hamburg 36, Holitenwal 2. 


520 





Albert Birkle, Großftadt 


Aus dem Deutihen Volkstum 


17 DI a 
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Aus dem Deutihen Voltstum Matthias Schieftl, Heilige Naht 


Mit Genehmigung des Verlages Hermann A. Wichmann, München 


Deutiches Bolfstum 


12. Heft Cine Monatsichrift 1924 





Die beiden SGeheimniffe. 


1 


e weniger die Menſchen von der Nacht wahrnehmen und je weniger fie 

Ginfternis empfinden, um fo weniger find fie jenem Gefühl zugäng- 
lich, das wir „Shrfurdht“ nennen (und das fowohl bei Kant wie bei Goethe 
gu einem zentralen Lebensgefühl wurde). Denn die Nadt ift bas Symbol des 
Gebeimnifjes, Ghrfurdt aber ift Gefühl eines hohen Gebeimnifjes. Darum ift 
der Großſtädter notwendig ehrfurdtslos; denn faum je lernt er die Nacht als 
etwas Glementares fennen, immer ijt Licht oder doch die Möglichkeit Des 
Lichtes um ihn, Nacht ift etwas Weites, Drohendes, Anbeherrſchtes, das liebt 
er nicht. Gr wil alle Dinge fehen und überfehen fünnen. Darum neigt er 
einer WWeltanfdauung zu, die das Geheimnis erhellt oder wenigitens nicht 
beadtet, Der Großſtädter ift aus innerfter Neigung rational. Gelbft feine 
Myſtik wird zur Gnofis. Die Lihtfuht des Grofftadters (und des Klein- 
ftädters, deffen Ideal die Grofftadt ift) gebt fo weit, daß er die altem goti- 
fben Dome mit elektrifhen Lampen knallhell erleuchtet wie einen Hörfaal. 
Aus allen Winkeln und Gewölben muß die Dämmerung vertrieben werden, 
denn „man muß doch feben fünnen“. Die Theologie im Dom und die Philo- 
fophie im Hörfaal, beide müffen fnallhell fein. Die Ginjternis ift „barba- 
tif“, und für den erbellten Großſtädter wäre es ein böfer Vorwurf, wenn 
man ihn für einen „Barbaren“ bielte. Die „Lichtftadt* und das ,,Lidtere 
meer“ find feine Grrungenfdaft, in ihnen lebt er mit Sicherheit und Stolz, ver 
geffend, daß draußen fic) dunkle Wälder, Wülten und Meere dehnen. Ob, 
er wird die ganze Grde mit Draht umfpinnen und mit Licht umflimmern, 
Herrſchaft der Zipilifation über die Natur — Herrfchaft des Geiftes über die 
Materie — Herrihaft des Berftandes über das Gebheimnisvolle — Herr 
fbaft und nichts als Herrfchaft ift fein Begehren. Aber der Dämon der Fin- 
fternis höhnt: Eure Lichtftädte werden wüfte fein, Wälder werden darüber 
wadjen, Meere darüber ftrömen. Die Finfternis war immer und wird immer 
fein, das Licht glüht nur auf und verglübt. Das Licht entiteht und vergeht, 
aber die Ginfternis ift ohne Gntfteben und Bergehn. Wie Kein ift das Bivi- 
lifations- und Herrjchaftsgefühl im Angeficht der ewigen Nacht! Groß und 
weit aber ift die GHhrfurdht, welche die Finjternis in ihrer Yngeheuerlichkeit 
empfindet und fic bejcheidet por dem Geheimnis der Nacht. — 

Bon jeher gilt das Licht, das entfteht und vergeht, als das Symbol des 
Lebens. Licht ift Leben, Finfternis ift Tod. Licht ift Bewußtſein, Finfter- 
nis ijt Bewußtloſigkeit. Jacob Böhme fagt: „Du ftebeft als ein Licht im 
Centro mit der Finjternis umgeben.“ Das Licht des Bewußtjeing fendet feine 
Strahlen bon einem Piinktchen aus nad allen Seiten in die Finjternis des 
Unbefannten, Aus dem Piinktdhen „Ich“ bricht das Sehen, Hören, Fühlen, 
Denfen hervor — ich ſehe, ich höre, ich fühle, ich denfe — und umftrablt und 
burdleudtet, was es findet. Wie die Strahlen einer Kerze berdämmern, 


521 


je weiter fie fid bon ihrem glühenden Quell entfernen, fo berdammert die Gre 
fenninis, je weiter fie fid von ihrem Quellpuntt, dem Ich, entfernt. Des 
Menfhen Bewuftfein ift wie ein leuchtender Strahlenfranz, die Strahlen 
fahren nad allen Seiten aus und taften in die Dämmerung hinein, werden 
müde und erlöfchen leife in der Dunfelbeit, die rings um das Licht ber ift. 

Das Ich ift das Glutpiinktden, das fo Hell und beifend gleißt, daß wir 
es nicht erfehen können. Nur was rings um diefes Ich-Zünklein ber ift, er» 
fennen wir: die Gefühle und Gedanken, den Leib mit feinen Gliedern, und 
um ibn ber den Kosmos bis zu den ſchwindenden Unendlichkeiten fernfter Gee 
ftirne. So lebt ein jedes Ich gleihfam in einer Lidttugel, die fid in die Une 
endlichfeit wölbt, 

Sedes Ih-Fünflein glänzt allmählich auf, brennt ftärfer, verzehrt fid und 
glüht aus, Se ftärfer es ftrablt, um fo weiter dringt fein Licht in Die 
Sinfternis des Unerfannten hinaus, Se mehr es verglühend in fid) zufammen- 
finkt, um fo {wader und trüber wird das Licht, um fo feltfamer und wundere 
lider werden die Schatten, Wenn die lebte Kerze am Weihnadtsbaum vere 
glüht, wachfen die Schatten ins Unbeimlide. So ſinkt das menfdlide Bee 
mwußtjein in die Allmutter Nacht zuräd, s 

2. 

Die Lichtkugel des menſchlichen Bewußtfeins ſchwebt zitternd zwifchen den 
Unendlidfeiten, Ob wir uns ins Große oder Kleine, ins Vergangene oder 
„Zukünftige wenden, überall ftarrt uns die Unendlichkeit, die Leere, bie Fine 
fternis entgegen. 

Unſre Gedanfen fahren über Länder und Meere dahin, erheben fih in 
die Lüfte, fteigen auf durch den Wether. Die Erde ſchrumpft unter uns zur 
angeleuchteten Kugel zufammen. Bon der Sonne aus ſehn wir die Sterne 
freijen. Wir laffen die Sonne Dinter ung und fahren an immer neuen Sonnen 
mit mirbelnden Grbden vorüber, Nidt nur Welten, fondern Weltſyſteme 
fHrumpfen unter uns zufammen und verfinfen — endlos. Nirgends erreicht 
unfer Gedanke ein Gnde: immer dehnt fid vor ihm Unendlichkeit um Une 
endlidfeit, Die ftärkfte Schwinge ermattet und ſinkt zurüd. So [chlagen wir 
den umgefehrten Weg ins Kleinere ein, Wir ziehen uns zufammen, bis der 
Wajffertropfen uns als ein Meer erfdeint, und fehen die Meeresungeheuer 
des Sropfens einander befämpfen und derfdlingen. Und ins immer Klei— 
nere fahren wir, bis wir die Atome feben. Aber aud) fie find nicht das 
Lette, fondern find wiederum Weltſyſteme. Wir erfdauen fie und — fin- 
den abermals noch wingigere Kleinheiten, So eilen wir endlos dem Aller- 
Heinften gu und ergreifen es nicht; denn immer liegt bor ung eine neue Un— 
endlichfeit des Kleineren. Grmattet hebt fid der Gedanke ins menſchliche Maß 
guriid und rubt in feinen eingeborenen Abmefjungen. 

Oder wir eilen rüdwärts in die Vergangenheit, Durch die Gefdidte der 
Menſchheit gelangen wir in die bormenfdlide Zeit der Tiere und Pflanzen, 
der glühenden Grde, der freifenden Sonne, des wirbelnden Nebels, des une 
endliden Chaos — immer rüdwärts, Aber da ift fein Ende, es taucht eine 
Borgeit bor der andern auf, Gbenjo vergeblih ift die Fahrt in die Zu— 
funft, dur) die Geſchichte der Menjchheit in die der Nachmenjchheit, in das 
Derglühen oder Grftarren des Weltalls, in dag neue Chaos, das da fommt. 
Immer dehnt fid nach der durdmeffenen Beit eine andre Zeit. Hinter une 
ferm Pfade ſchlägt die Nacht zufammen. Bor unferm Pfade dehnt fid ime 
mer neue Naht. Wo du auch feift, du „ſteheſt als ein Licht im; Centro mit 
der Ginfternis umgeben“, , 


522 





Nun ift es freilich fo, daß unfre Erkenntnis, die wir als „Wiffenfchaft“ 
organifiert haben, ununterbroden daran arbeitet, die Ginfternis des Uner- 
fannten guriidgudrangen. Die Wiffenfdaft greift hinaus in die Welt der 
Sterne und hinein in die Welt der Atome; fie bellt die Zeiten der Bere 
gangenbeit auf und zieht Folgerungen in die Zukunft hinein. Immer ftarfer 
glänzt das Licht, immer Heiner wird die Welt des Unbelannten. Da Gott 
im Unbefannten thront, verfündet der Menfd mit Stolz: Gottes Plab in 
der Welt wird täglich enger, wir treiben den Schöpfer Schritt für Schritt 
aus der Schöpfung zurüd, Wie der Großſtädter in feinem Lichtmeer der fer- 
nen dunfeln Wüften und Meere faum noch adtet, da er fie „prinzipiell“ 
bereits erleuchtet hat und „es nur noch eine Frage der Zeit ift, daß...“, 
fo adtet der Wiffenfdaftsfrohe faum nod) des Dunfels, das jenfeits der 
Mildftrafe und jenfeits der Atome, jenfeits des Urnebels und jenfeits der 
fommenden Dinge ltegt. Auch die Aufbellung diefes „noch“ übrigen Dun- 
fels ift „nur eine Grage ber Zeit“. Aber der Demiurg umlauert in feiner 
geheimnisvollen Naht das hHellprahlende Licht des menfdliden Wiffens. 
Kühn tritt Der Menſch dem Gott entgegen: er fet durch die Naturgefege 
gebunden und fönne nicht gegen fie handeln. Aber wenn der Schöpfer more 
gen aus der Nadt feiner Unendlichkeit eine glühende Sonne in „unfer“ 
Weltipftem DHineinwalgte und in braufendem Feuerbrand unfre Sonne und 
Erde verlohen ließe — was für ein Sroft wäre es, daß aud diefer Welt— 
brand „naturgefeglich“ fei? Solange nod ein Geheimnis ift, folange um- 
droht ung ein Unberedenbares. Wer will fagen, welde „Geſetzmäßigkei— 
ten“ fe und je aus der ewigen Nacht Herborbreden fdnnen? 

Dennod, der ftolge Menſch Tann fagen — und wer wollte ihm wider- 
fpreden? —: Unfre Grfenntnis dringt Stic für Stüd ins Unbefannte hin» 
aus, jede neue Generation bellt ein neues Geld des Raumes und der Zeit 
auf. Du wendeft ein: Aber hinter jedem aufgebellten Felde liegt eine neue 
Unendlichkeit! Nun gut, aud) die Generationen werden in die Unendlichkeit 
anfgubellen fortfahren. Ginft in der Unendlichkeit: werden fie die Unend— 
lidfeit gang erhellt haben. Dann wird dem erfennenden Geifte nichts mehr 
zu erfennen übrig fein, die Welt ift gang voller Licht, und nirgends bee 
ſchmutzt mehr ein irrationaler Schatten die vollfommene Rationalität. 

Damit fämen wir zu dem Grgebnis: Wenngleih das Sebeimnis und 
bie Nacht unendlich find, fo können fie doch [chrittweis in die Unend- 
lichkeit fort aufgededt und erhellt werden. Geht die Grfenntnis in die Un- 
endlicdfeit weiter, fo wird endlich alles Geheimnis offenbar fein. Arbeiten wir 
fröhlih und emfiglid im Dienfte der Grienntnis! Damit wäre die Kultur» 
moral unjres Seitalters hinreichend gerechtfertigt. 


3, 

Aber alle Grfenntnis „entquillt“ einem „Ich“. Soll ih von der Mild- 
ftraße und dem Atom, bon der Vergangenheit und Zukunft, kurz, foll id 
bon etwas wiffen, fo muß ich eben als ein Ich dapon wiffen. Die Welt 
mag ohne mich bafein, aber ein Wiffen von der Welt ift nicht möglich, 
ohne daß ein Ich bon der Welt weiß. Sobald man ,,Wiffen* fagt, fest 
man damit zwei Pole: ein Ich, das weiß, und ein Gtwas, das gewußt wird, 
ein Wiffendes und ein Gewußtes. Bwifden den beiden Polen „Ich“ und 
„Stwas“ webt und zittert der eigentiimlide DBorgang, den wir „Wiſſen“ 
nennen. Wir haben bisher nur als möglich eingefeben, daß alles, mas ge— 
tuft werden fann, aljo das Weltall in feiner Unendlichkeit, fich in allmäh- 
lidem Fortſchritt der Grfenntnis reftlos muß aufbellen laffen. Was wir 


523 


bon der Natur noch nicht wiffen, ift nit feinem Wefen nad unwifbar, fon- 
dern es ift nur eben „noch nicht gewußt“. Was „noch nicht“ ift, fann in Que 
tunft fein. Wie aber fteht es nun mit dem andern Pol, der dem „Etwas“ 
‚gegenüberftebt, mit dem „Ih“? 

Wenn ih „etwas“ mabhrnehme — den blauen Himmel über mir — 
fo weiß ich in diefem Anblid nur bon dem, was ich erblide, alfo von dem 
Himmel, Davon, daß ich den Himmel febe, weiß id im Augenblid des Hin- 
gegebenen Sehens nichts. Das Wahrgenommene (der Himmel) ijt mir bee 
wußt, das Wahrnehmende (id) ift mir nicht bewußt. Gbenfo, wenn ich eine 
matbematifde Aufgabe rechne, fo weiß ich während des Rednens nur bon 
dem, was id rechne, nicht bon dem Rechnen und dem rechnenden Ich felbft. 
Das Ezempel ift mir bewußt, des rechnenden Ich bin ich mir nicht bewußt. 
Das Wahrnehmen und Rechnen (Denfen) gefdiebt alfo unbewußt. Nun 
aber will ih den Ich⸗Pol erfaffen und richte meine Aufmerffamleit von dem 
Wabhrgenommenen und Gedadten (von dem Himmel, von der mathemati» 
fen Aufgabe) weg auf „mich“. Ich denke plöglid — nicht mehr an den 
Himmel oder das Geempel, fondern — „mid“. Was halte ih da? Nichts 
als den Begriff „mich“. Wooon „weiß“ id in dem Augenblid, da ich den 
Begriff „mich“ denfe? Bon dem Gedachten, alfo dem Begriff, aber 
nichts bon dem Ich, das den Begriff „mich“ denkt. Bewußt ift mir nur! das 
gebadie „mich* (wie vorher der wabrgenommene Himmel, bie gerechnete 
Aufgabe), aber unbewußt bleibt das Ich, das den Begriff „mich“ denkt. Das 
Wahrnehmen, das Denken, furz alle geiftige Tätigkeit, hat einen unbe» 
wußten Pol. Ein geheimnispolles „es“ denkt durch mid, und ich vermag 
diefes im Unbewußten tätige „Cs“, das ich als ein „Ich“ denfen muß, wenn 
ih es denke, nie zu fajfen. Ich faffe immer nur ein Objeft (den Akkuſativ 
nmid“), nie das Gubjeft (den Nominativ id“), Ich denke und ergreife nicht 
„ich“, fondern nur „mi“ (Gin „Ich“ fann fid nur tätig „[egen“, nicht 
denfen) Wie die Kinder hinter dem Regenbogen berlaufen, Hoffend, 
Dinter den Hügeln werden fie bor dem bunten Pfeiler ftehen und ihn ane 
faffen fönnen, fo laufen wir hinter dem „Ich“ ber und greifen immer nur 
„mi“. Das greifende Ich fteht jedesmal im Unbetwußten Dinter dem ere 
griffenen und begriffenen „mich“. Dies eben ift der LUnterfdied zwiſchen 
den beiden Polen des Bewußtjeing, zwijchen dem Ich und dem Gtwas, zwi- 
fen dem Subjekt und dem Objekt: das Objelt Tann id greifen, das grei— 
fende Gubjeft aber fann fich niemals felbjt greifen. Anftatt des Lebens Halt 
es immer nur das @elebte, anjtatt des Seins immer nur die Grf[deinung 
in Der greifenden Hand. Wie Münchhaufen fid nicht felbft an feinem Schopf 
aus dem Sumpf ziehen fann, fo fann aud das Ich fich nicht felbft aus 
dem Dunkel des Unbetouften Derborgiehen. Das gleihfam meißglühende, 
gleißende Ich⸗Fünklein ift die ftrahlende Kerze der Erkenntnis. Wir „wijfen“ 
nur bon dem, „was“ die Strahlen anleudten, alfo aud bon dem Dodt 
und dem Zalg, aus dem das Licht entbrennt (Seele und Körper), aber das 
brennende, glänzende Ginflein felbft ift nicht „Wiffen“, fondern ſprühende 
Tätigkeit. Gs ift das ewig unwißbare Subjekt, das Hinter allem wißbaren 
Objekt fteht. Gs ift die geheimnisvolle Wandlung. 

Aljo: wenn die unendlide Welt in Raum und Zeit aud grundfäglich 
bon der fortfchreitenden Grfenntnis erhellt werden fann, fo gibt es Dod außer 
diefem ,Objeft* ein ewig Subjeftives, das grundfäglich unerfennbar ijt: jene 
bon ung als „Ich“ bezeichnete, merfwürdige Altivität, die da madt, daß es 
ein Grfennen überhaupt gibt. Aus dem „Ich“ quellen immerfort die Gre 


524 


tenntnisftrablen und erfüllen die Welt mit ihrem Lit. Unter all den 
„Dingen“, die ich in diefem Lichte febe, erfenne th aud das Ding „mich“, 
ſowohl den bloßen Begriff wie den pſhchologiſchen Komplez, als den id 
den Begriff „mich“ anjchaulid „begreifen“ Tann; aber ich erfenne eben nur 
„mich“, nicht „ih“. Ih Habe Grfenntnis, aber id bin nit Grfenntnis. 
Das Ich ift der lebendige Brunnen, dem alles Wiffen, aud dag Wifjen um 
mich felbft, entquillt, Die Grfenntnis fteigt und quillt aus einem ewigen Gee 
beimnis, das feinem Weſen nad nicht entdedt und erfannt werden Fann. 
Aus dem dunfeln Brunnen des Lichtes ftrömt bie Kraft des Bewußt-werden- 
wollens empor, und plößlich, da fie hervorbricht aus dem Schadt, entzündet 
fie fih als ein Lidt und Bewuft-fein und fdeidet nun rings um fid Der 
das Dunkle vom Hellen, das Endlide bom Unendliden, das Gubjeft pom 
Objet, das Berftandene pom Geheimnispollen. 


4, 


Sacob Böhme fagt ferner: „Du bift ein Gewadfe im Leben Gottes, 
aus der finftern ftrengen Natur,“ Nicht minder alt als das Shmbol des 
Lichtes, namlidh dak die Welt ein Kampf fei gwifden Licht und Finfternig, 
ift Das Shmbol des Baumes, nämlich daß die Welt ein Baum fei. Der 
„Weltbaum“ twurgelt in einem dunkeln, geheimnisvollen Grund und treibt 
Stamm, Aeſte und Zweige in gewaltigem Wipfel durch alle Himmel. Die 
Geſchöpfe entjpriefen dem Weltbaum wie Laub und Blüten. Beide Bore 
ftellungen aber find vereinigt in dem Lihterbaum: aus dem Sebeimnis 
hervorwachſend ragt er in die Unendlichkeit, und feinen Zweigen entblühen 
und entjprühen leuchtende Lichtblumen, welde die Ginfternis umber erbellen. 
Diefes Bild der heilig erhellten heiligen Naht ift wahrlich das vollkommenſte 
Symbol der Welt, 

Aus dem ewig unerfennbaren Grunde, wo „die Mütter* wohnen und 
die dunfeln Wurzeln fic ſchaurig dehnen, fteigt das Leben, aud) der Gre 
fenntnisdrang, im Unbewußten aufwärts; an den Spiten ber Zweige ent- 
fprüht der Trieb als bewuftes Leben in die geheimnisvolle Naht des Welt» 
allg hinaus. Der Weltbaum ift umgeben bon zwei Gebeimniffen: dem 
Wurgelgehbeimnis und dem Wipfelgehbeimnis Das Wurzel» 
gebeimnis ift feiner Offenbarung fähig; denn wenn man es „wüßte“, fo 
fönnte es fein ,WWiffen* mehr geben; der Begriff des „Wiffens“ verlöre 
feinen Sinn, da alles Wiffen nur dadurch möglich ijt, daß ein Nidt-Wiffendes 
fih etwas bewußt madt. Grfennte das Wiſſen feinen eignen Quell und feine 
eigene Wurzel, fo wäre der Pol des Unbewuften ausgelöſcht und es bliebe 
nur nod) Sewuftes, nur nod Objelt. Es wäre fein Quell und feine Wurzel 
mehr. Das Wipfelgeheimnis aber ift wifbar. Gs dehnt fich als ungeheure, un= 
endlide Finfternis um den ragenden Baum. Die Lichtblüten erhellen diefes 
Gebeimnis, und je fraftiger fie blühen und leuchten, um fo klarer erbellen fie 
die Zinfternis, Wadft der Baum in die Unendlichkeit und ftrahlt er in Boll» 
fommenbeit, fo wird das Wipfelgeheimnis enthüllt und die ganze Welt 
wird gewußt fein. — Das Wurzelgeheimnis ift ewig geheim, das Wiſſen 
fann nicht nad innen dringen; das Wipfelgeheimnis aber liegt dem Sts 
offen, das Wiffen fann endlos nad außen dringen. 

So ſchwanken wir Lichtblüten des Weltbaumes auf den wiegenden 
Sweigen zwiihhen dem Wurzelgeheimnis und dem Wipfelgeheimnis. Aus der 
Wurzel auillt uns die Kraft des Lebens und Grfennens, über die wir nicht 
Serr find, da wir fie uns nicht felbft gumeffen können, fondern fie hinnehmen 


525 


miffen, wie fie ung gugemeffen wird. In die Nacht aber, die rings um den 
Wipfel des Weltbaumes fic dehnt, leuchten wir mit ftaunendem Grfennen 
Hinein und erbliden uns mitten zwiſchen unzähligen andern aufbligenden und 
wieder verglühenden Lidtern, und um uns dehnen fid Wälder und Wüften, 
Dörfer und Städte, wogende Meere und ziehende Wolfen, funfelnde Sterne 
und unergriindlide Nadte. Weld ein feltfames Bild vor unfern aufgetanen 
Augen! Gs fchauert uns bis ins Innerfte, und wir möchten die Augen 
{dliefen, wurzelwärts zu finnen und zu ruben, zu finfen in den grundlofen 
Grund des Lebens, aus dem wir ohne unfer Wollen und Wilfen auffteigen 
und aufblühen — mußten, ‘Ot. 


Das Gewiſſen der ——— Weſtvölker. 


De Franzoſen und Engländer ſind — aber die Deutſchen ſind es 
auch. Zum mindeſten ſind ſie eine Miſchung von Germanen und Slaven, 
Kelten und Finnen, wenn man die andern Beſtandteile vergeſſen will, und 
es iſt ſchon die — natürlich unbeweisbare — Behauptung aufgeſtellt, daß nur 
etwa zehn bom Hundert der Deutſchen germaniſchen Urfprungs ſeien. Ich vere 
mute, daß bereits die alten Germanen der Bölferwanderungszeit eine Mifchung 
waren. 

Völkermiſchungen haben natürlich immer gewiffe Ergebniffe, die nad 
dem Standpuntt des Beurteilers günftig oder ungünftig find. Man follte ein- 
mal die Gngbergigfeit der rein biologifhen Betrachtung verlaffen und untere 
fuden, welche Grgebniffe zu erwarten find, wenn die Bedingungen des Mi— 
fens fid ändern. Eine der Hauptaufgaben wird da fein, zu unterfuchen, 
was fich ergibt, wenn die Völker, welche fid mifchen, auf verfchiedenen Höhen 
der geiftigen Gntwidlung fteben. 

Das deutſche Volk hat fid im mefentlihen aus Bölfern von ungefähr 
gleicher Sntwidlungshöhe gemifht. Bei den Franzoſen fann man den Gin» 
{blag der Weftgoten und Burgunder wohl vernadläffigen als unbedeutend 
im Verhältnis zur vorhandenen Bevölkerung. Aber die Franken haben den 
heutigen franzöfifhen Nationaldharafter wefentlich beftimmt. Die gugiehenden 
Franken waren weniger geiftig entwidelt als die romaniſchen Ginwohner des 
Landes. Die heutige franzöfifche Sprade ift aus der römifhen Provinzſprache 
entftanden mit geringen Zufhüffen des FSränfifhen. Die Franfen nahmen 
aljo Worte und Wendungen auf, für die fie noch nicht reif waren. 

Was das bedeutet, fönnen wir am beiten im heutigen Engliſch betrachten, 
das entftanden ift durch die romaniſche Eroberung. Die Goncreta find faft 
famtlid germanijden Urfprungs, die Abftracta romanifden. Die Abftracta 
waren eher da, als bei einem großen Zeil des Bolfes das Bedürfnis nad 
ihnen und die Fähigkeit, fie jelbftändig zu bilden. Man muß fich nicht wundern, 
wenn da denn etwas Herausfommt, was uns Deutf{den als Berlogenbheit er- 
ſcheint. Kein Deutſcher fann meines Gradtens umbin, die franzöfifche und die 
engli{he Sprache als verlogen zu empfinden, jeder Deutfche Halt, wenn er 
bewußt ift, jeden Grangofen für einen Lügner, jeden Gnglander für einen 
Heuchler. Ich rede dabei natürlich nicht von den platten Dummtöpfen, die über- 
haupt nichts merken und aud nidt von den febr feltenen Männern, welche 
eine Kenntnis vom geiftigen Mechanismus haben und die Beziehung vor 
Wort zu Begriff und Gefühl unterjuden können, fondern von der Waffe der 
gebildeten und Eugen Männer ohne Borurteil. 


526 








Die Groberung Gnglands durch die Normannen ift im vollen Licht der 
Gefdidte vor fid gegangen, und hier können wir denn jene merkwürdige 
Derfhiebung der Begriffe und Worte im Augenblid des Borganges felbjt 
beobachten. Das Domesday- Boot ift gwar lateinijch gefchrieben, aber für diefen 
Swed madt das nichts aus; ich möchte den Vorgang nad) einem Beifpiel aus 
der Mineralogie (ein Kriftall zerfällt, es bleibt fein Hohlraum zurüd, der 
nun bon einem andern Mineral ausgefüllt wird, fo daß es fo fcheint, als ob 
diefes bier plöglih einem andern Kriftallioftem angeböre) Pfeudomorphofe 
nennen. Etwa: „Raul bat injufte (ungeredter Weije) dem Neel fünf Morgen 
Land genommen, die bewiefenermafen einen Teil der Erbjchaft (haereditas) 
des DBorgängers (anteceffor) des Neel waren.“ Die Groberung war ein Zug 
zur Ausplünderung der Gadfen gewefen. Der Antecefjor, defjen Haereditas 
Neel in Anſpruch nimmt, war ein Gadfe, den er ermordet oder verjagt bat. 
Snjuftum wird es genannt, daß Raul einen Seil des Raubes, den Neel ge- 
madt bat, für fid in Wnfprud nimmt. Die Normannen hatten nod die alten 
Anſchauungen des RKriegervolfs: Menſchen, welde man befiegen fann, haben 
feine Rechte. Man nimmt ihnen alles weg. Aber die Wegnehmenden dürfen 
einander nicht ins Gehege fommen. Raoul fam Neel ins Gehege. Neel 
fonnte das mit einem beimifden Wort bezeichnen, dann war alles Elar, und 
bas beimifhe Wort konnte fid im Laufe der Zeit mit den Beradnderungen 
der ®efittung weiter entwideln. Aber er redete eine Sprache, welche einer 
neueren ®efittung entfprah und nannte das Borgeben Raouls „injufte*. 
Das Wort blieb nun im Geift diefer Leute. Gs bedeutete für fie das Abnehmen 
des Raubes durch einen andern Räuber. Wohin follte bie Sprache aber jest 
geben, als fich neue fittlihe ®efühle bilden wollten, als wirflide „Ungerech— 
tigfeit“ gefühlt wurde und es Zeit war, dafür die Worte zu finden? Der 
Weg zu ihnen war abgefdnitten, und es konnten fid) Gefühle und Begriffe 
nicht bilden, weil fic feine Gorm für fie fand. 

Ich erinnere mid, an einer Wirtstafel in Italien einmal mit einem Eng- 
länder gufammengefeffen zu haben. Gs fam die Rede auf ein Land, das als 
febr wertvoll gefdildert war. Der Engländer fragte: „Weshalb ift es nicht 
englifehes Eigentum?“ Gr hatte die fefte Uebergeugung, daß nad der Gerech- 
tigfeit alles gute Land in der Welt englifch fein mitffe. 

Sm Gejfprad mit Frangofen oder Gnglandern fommen wir Deutſche 
ftets jchnell an jolde Grengen. Wir halten dann die andern Bölfer für dumm, 
diefe ibrérfeits verftehen uns Deutſche nicht und halten uns für unflar und 
nebelbaft und außerdem aud für dumm. So wird jeder nur einigermaßen 
verftändige Deutfhe Wilfon für einen dummen PbHrafendrefder halten. Aber 
die Deutſchen ibrerfeits find auf die dummen PbHrafen bHineingefallen und 
baben fie für bare Münze genommen. 

Alle germanifhen Völker haben auf einer Stufe geftanden, wie die 
Normannen — mit romanijierten Galliern und Bretonen gemifdte Dänen 
und Norweger, welche franzöfifch fprachen — bei der Groberung hatten. In 
England fanden fich damals außer den Sachfen aud viele Dänen por, alfo 
die nadften Berwandten der Normanen. Aber wenn die germanifchen Böl- 
fer ungeftört fic) entwideln, dann fommt aus Der friegerifhen Härte eine 
eigentümlide Weichheit, ja Gmpfindjamfeit; man fann fie Heute als bee 
fondere Gigenfchaft der Norddeutfhen und Schweden bezeichnen. Die ſäch— 
fifh-dänifhe Bevölkerung Englands war offenbar im Begriff, diefe Gigen- 
Ihaft zu befommen; durch die Eroberung und die fremden Worte wurde das 
verhindert. 


527 


Das franzöfifhe confcience ift weniger wie das lateinifhe confcientia. 
Dei dem lateinifhen Wort hat man immer nod die ganze Fülle des Begriffs 
feire „wilfen“; und das Wort wird nicht nur in der engen Bedeutung ,Gee 
wiffen“ gebraucht, fondern aud) nod in der allgemeinen, die fid aus dem 
Mitwiffen ergibt; man weiß alfo, daß „Gewiſſen“ nur eine Seilbezeichnung 
ift, ein Herausheben aus einem allgemeinen Zufammenhang: die Beziehung 
des Gewiſſens auf die Taten des Mannes, bon dem die Rede ift. Das ift 
im Franzöſiſchen alles verfhwunden. Gonfcience fteht unerflärt und unerflär- 
lich für fih da. Das Wörterbuch) der Akademie gibt nur die Bedeutung „in- 
neres Licht“ an. Gs gibt ja nod das Wort Science, Wiffenfdaft; aber ſchwer⸗ 
lid) denkt der Franzoſe im Leben daran, daß Gonfcience damit zufammen- 
hängt. Das deutfhe Gewiſſen ift ein Ding, eine Kraft, ein Gefdeben, eine 
Begiebung, ein Werden, ein Tun; das franzöfifche Gonfcience ift nur ein Ding; 
fo mifberftanden wird es als Ding, daf es als „tribunal“ bezeichnet wird. 

Oft es fo weit gefommen, dann bat man einfach eine unverftändlide Gre 
{deinung vor fi, nicht mehr eine Gorm des inneren Seins, Dann ift das 
Gewijfen nicht mehr das eigene Leben, nur bon einem beftimmten Gefidts- 
puntt betrachtet, wie bei Goethe das innerfte Leben des Didters; fondern 
eine oft unangenehme Macht, mit der man gu paftieren berfuden muß. 
Gs gibt eine franzöfifhe Redensart „faire une dofe pour l’aquit de fa 
confcience“. Acquit ijt Quittung. Gs wird alfo ein Verhältnis angenommen, 
daß man etwas bezahlt, das man fduldig ijt, und dafür eine Befdeinigung 
erhält, daß nun alles in Ordnung ift. Wir faben, daß der Leste Sinn des 
deutſchen Sewiffens ift, daß das Verhältnis bom Menfden aus nie in Ordnung 
ift, daß Luther Gott braudte, der es durch feine Gnade in Ordnung bringt. 
Man fönnte mir einen Gers von Schiller entgegenhalten aus dem Sell: 
„Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt“. Das ift ein Ausdrud, der 
nod aus den mittelalterlid) katholiſchen Borftellungen ftammt, den Schiller 
vielleicht in feiner Sugend nod im Volk gehört hat. Heute könnte ihn fein 
Dichter mehr verwenden, wenn er nicht etwa mittelalterlihe Anfchauung 
geben will. j 

Die Engländer haben „confcience* bon den Normannen übernommen. 
Wenn es miglid war, ift dadurch das Wort nod mehr entwurzelt. Leider 
kann ich nicht, da die Sprade nod nicht fo gründlich unterfucht ift, das durch 
die Wendungen nachweifen. Man muß aber an die Gefdebhniffe des Lebens 
denen. 

Seber Fremde, der Englander beobachtet, wird finden, daß fie es ver 
fteben, ihr Gewiſſen fo einzurichten, daß es immer vorteilhaft für fie fchlägt. 
IH will mid auf ihre eigene Dichtung berufen: man denfe an die verſchie— 
denen Puritanerfiguren bei Walter Scott. Walter Scott ift gewiß fein großer 
Dichter, der uns in die legten Gefdebniffe der menfdliden Seele einführt, 
aber er bat immer richtiges Gefühl und ebrlide Darftellung. Nun, er gebt 
fo weit, daß er in einem Roman einen für unfer ©efühl rein teuflifchen 
Wenſchen darftellt, der ein puritanifcher Held tft. Das Teuflifche ift bei ihm in 
SHodhmut und Radfucdt verwurzelt. 

Nun denfe man daran, daß die Deutfchen den Begriff des „dummen 
Seufels* haben, aud) Mephiftopheles ijt Dod Fauſt gegenüber dumm, troß- 
dem er unleugbar gefcheiter ift, und fo ift er denn ſchließlich auch der Bee 
trogene. Die Engländer haben den Begriff des ftolgen, intereffanten Teufels, 
der zwar aus Hodmut gefallen und nun radfidtig ift; aber das verzeiht 
der englifhe Dichter thm dod gern. Der Satan Miltons ift der Ahn yon 


528 


Scotts Puritaner. So ift auch bei den Deutfchen der Teufel ftets häßlich, 
bei den Gnglandern ift er „Dämonifch ſchön“. : 

Bei dem geringften Naddenfen wird man diefen englifden Teufelsbes 
griff rein lappifd finden. Gr ift ja denn aud burd den Kanal oon Bhron 
[Hlieglih in die Unterhaltungsliteratur gefommen, wo vernünftige Begriffe 
fih nie aufhalten können. 

Bölfer haben eine Lebensdauer wie die Einzelnen. Eine der wichtigsten 
Mächte, welde diefe Lebensdauer beftimmen, ift die Sprade. Wenn ein Volt 
mit feiner Sprache gu Gnde ift, wenn es nicht mehr die Möglichkeit bat, 
Gefühle, Empfindungen und Gedanken, weldhe ihm bei Höberentwidlung 
fommen, ſprachlich zu formen, dann muß es abjfterben. Diefes Abfterben ijt : 
ein jenfeitiger Borgang, es ift nicht zeitlich zu beftimmen, und es ift möglich, 
daß geftorbene Völker in der Wirklidfeit fcheinbar noch leben. Bon den 
großen europäifhen Völkern find Heute die Deutfhen und Rujfen die eins 
igen, die eine fic) Iebendig weiter entwidelnde Sprache haben. Beide Böller 
find {wer bedroht; aber dDurd Äußere Unglüdsfälle ijt nod nie ein Volk zu- 
grunde gegangen. 

Solange ein deutfches Bolf ift, können die Ruffen ja nie die geiftige Bore 
berrfdaft in Guropa gewinnen. Gs Handelt fich für Guropa darum, ob Deutfch- 
land oder England und Frankreich fie haben werden: welcher Fall der gün- 
ftigere ift, braudi wohl nicht befonders gejagt zu werben. 

Boz allem die Eleineren germanifhen Völker müffen bier die Sntjcheidung 
ihres Schidjals feben, denn Kleine Völker finnen ja überhaupt nur als 
geiftige Gingelwefen leben und müffen viel fdneller zugrunde geben als die 
großen, wenn fie fein geiftiges Leben haben. Die nordgermanifden Völker 
und die Hrlländer haben in den letten Jahrzehnten eine bedeutende Dich» 
tung bertergebradt. Das war möglich dadurd, daß der franzöjifche geiftige 
Einfluß auf Europa durd die klaſſiſche Dichtung und Philoſophie ber Deut- 
Then zurüdgedrängt war. Zu derfelben Zeit ftand das geiftige Leben in 
Deutjchland ja fehr tief, und es ift fraglich, ob Deutfchland den mit den 
‘Waffen fiegreihen Weftmadten einen Geift gegeniiberftellen wird, der den 
übrigen Bölfern wertvoll genug ift, daß fie ihn gu verfteben fuchen: denn das 
‘Verftandnis des deutſchen Geiſtes ift für die andern Völker ja viel jchwerer, 
wie der des franzöjifchen oder englifchen. Deutichland fann es, nach feinen 
Gabigkeiten, durch den Geift feiner Sprache. Berfagt es aber, dann kommt 
über Europa die Roheit und Dummheit Amerikas. 

Das Srimmfhe Wörterbuch hebt einen Sat bon Hegel heraus, der Die 
Heute in Deutſchland herrſchende Anſchauung ausdrüdt: „Allein diefer Unter» 
fied des allgemeinen Bewußtſeins und des einzelnen Gelbjts ift es eben, der 
fic aufgehoben, und dejjen Aufheben das Gemijjen ijt. Das unmittelbare 
Wiffen des feiner gewiffen Selbſts ift Geſetz und Pflicht; feine Abſicht ift 
baburd, daß fie feine Abficht ift, das Rechte; es wird nur erfordert, daß es 
dies wiſſe und daß es die Uebergeugung davon, fein Wiſſen und Wollen fei 
bas rechte, fage. Das Ausgefprodene dieſer Berficherung hebt an fic felbft 
die Gorm feiner Befonderheit auf; es anerkennt darin die notwendige Allge» 
meinbeit des Selbſts; indem es fi Gewiffen nennt, nennt es fich reines 
Sidh-Selbft-Wiffen und reines abftractes Wollen... „wer alfo jagt, er handle 
fo aus ®emwijfen, der fpridt wahr, denn fein Gewiffen ijt das wiffende und 
wollende Selbft“. 2. 

Die Quäker ſind gewiß der wertvollſte Teil des amerikaniſchen Volks. Als 
ſie ihre Speiſungen in Deutſchland machten, waren einmal Männer von ihnen 


529 


bei uns, die uns als ihre Führer genannt wurden. Soweit man in Diefen 
feinen Dingen fi auf Aeußeres verlaffen darf, fann man fagen, daß diefe 
Männer die feelifh am höchſten ftehenden Perfonen aus Wmerifa waren. 

Drei Freunde von mir befpraden fich mit ihnen. Zwei waren ein Phi— 
lofoph und ein Dichter, welche zufammen einer allgemeinen Berfammlung beis 
wohnten und einer war ein junger Mann, einer der Führer der Jugendbewe— 
gung, febr Hug, aber nicht berborragend wie die beiden andern. 

Der Dichter ftellte in der Berfammlung Anfragen. Gr erzählte mir felber 
davon. Neben ihm faß der PbHilofoph. Der Philofoph fannte natürlich die 
©renzen der Quäler, der Dichter, der feine philoſophiſch fhulmäßige Bildung 
hatte, fannte fie nicht. Gr bat deshalb den PbHilofopben, ihm ein Seiden zu 
geben, wenn, er mit feinen ragen zu weit gehe. Gr fragte über Sewiffen, 
Pflidt, Sünde und die andern Begriffe, die für uns im Mittelpunkt der Re- 
ligion fteben. „Immer, wenn id fo weit war, daß bas entjcheidende Wort 
gefragt werden mußte, ftieß mich mein Freund an“, erzählte mir der Dichter. 
„ueber das Wefentlide fann man mit den Leuten nicht reden, bas verftehen 
fie nicht“. 

Der junge Mann war mit den Quälern bei einer andern Gelegenheit 
gujammen. Ich fragte ibn nad feinem Ginbdrud. Gr lächelte: „Sehr gute 
Leute, aber fie haben fidh eine Technik der Gittlidfeit gemadt. Ueber das 
Wefentlide fann man mit ihnen nicht fprechen“. 

Wir find heute in einer Weltwende. Gewiß find die Sozialiften aller Rich» 
tungen platt und gemein; aber daß es Heute unter den Menfchen, die über- 
haupt denfen, fo viele Sogialiften gibt — man fann feine Verhältniszahlen 
fagen, da man nicht beftimmen fann, bei welchem Teilungsſtrich des geiftigen 
Gradmeſſers bas Denfen anfängt; ich möchte aber annehmen, daß der weit- 
aus größere Zeil der annähernd felbftändigen Menſchen Heute Sogialiften find 
— bas ift fider ein Seiden dafür, daß wir in einer großen Wmgeftaltung 
aller Verhältniſſe begriffen find. Die bürgerliche Geſellſchaft gebt zu Ende, 
und mit ihr die bürgerlichen Gormen der Religion, der Ehe, des Staats, des 
Eigentums, der Gittlichfeit — Des ganzen geiftigen und feelifhen ©erüfts 
unjrer Geſellſchaftsordnung. Das Neue, das fic bilden will — oder foll — 
fennen wir nod nicht: die Plattheit der Gogialiften befteht eben darin, daß 
fie Diefes Neue zu fennen behaupten, indem fie ein Gebäude mit Neid, Miß- 
gunft, Feigheit, Pöbelfinn und andern Ähnlichen feelifhen Kräften errichten 
wollen. In einer folden Zeit wird nun aud das Gewiſſen fragwürdig. 

Shafefpeares Richard der Dritte fagt am Schluß, nachdem fein Gewiffen 
ibm in Träumen feine Berbreden vorgeführt hat: . 

Net not our babbling Dreams affright pur fouls; 

GSonfcience is but a word that cowards ufe, 

Devis’d at firft to feep the ftrong in awe; 

Our ftrong arms be our confcience, [words our lab. 
Die Geelen foll uns Traumgeſchwätz nicht fchreden; 

Gewiſſen ift ein Wort für Duder nur, 

Grdadt, in Furcht den Männlihen zu halten: 

Gewiſſen fei der Schild uns, Recht das Schwert. 

„Soward*, gewöhnlich Feigling überfegt, ift ein franzöfifhes Wort „Sour 
ard“. Gs Hat einen fogialen Nebenklang: „Coward“ war früher der unter- 
worfene Gadfe. Der normannifhe Herr bezeichnet „Sonfcience* als einen 
Begriff, der für den veradteten Hörigen paßt. Man fann bier wieder Die 
Berbindung mit dem Satan Miltons feben. 


530 





Ridard Hat recht mit feinem Ausfprudh. Für Gngland ift das Bere 
Haltnis fo gewefen. 

Aber die Deutfchen, bei denen es nicht ein Grobererdolf gab, haben ihre 
Worte „Gewiſſen“ und ,Feigheit* anders gebildet. 

Bei uns hat Nietzſche von einer Sflabenmoral gefproden, und vielleicht 
hätte er das Wort Ridards nicht als Ausdrud einer beftimmten gefdidt- 
liden Lage, fondern als allgemein gültig angenommen. In Nietzſche fommt 
die ge{dhidtlide Umwandlung, bon der wir fprachen, teilweife gum Bewuft- 
fein in einer Kritit der biirgerlid-fittliden Werte. Diefe Kritik hat viel Rich» 
tiges, aber noch mehr Galfdes. Die Urſache liegt in Der Sprade, die ihn 
irreleitet. Sehr merkwürdig, Niebfhe war Philologe, aber nie ift ihm Die 
Grfenntnis des Philologen geworden, die eigentlih Dod) das widtigfte Gr» 
gebnis des Handwerks ift: daß die Gefühle, welche Hinter den Begriffen 
fteben, fic entwideln; daß die Worte, welche die Begriffe ausdrüden, der 
Entwidlung folgen müffen, und daß dadurch Begriffswanderungen, Begriffs- 
fpaltungen, neue Begriffe entfteben; daß aber das Wort nicht gleichmäßig 
in feiner Gntwidlung der GEntwidlung des Gefühls folgt, und daß, wenn da 
eine zu große Spannung entftebt, bie einzelnen und Die ganzen Völker 
gerftirt werden. Richard hat Recht für Sonfcience, Das ift ein Wort für Co— 
wards, und er ift fein Goward. Aber er weiß nicht, daß ihm ein Wort fehlt: 
das Wort, das fid aus der Kriegerfitte neu hätte entwideln müffen, das fid 
nidt entwideln fonnte, weil die nordländifchen Krieger in Frankreich das 
Wort confcience porfanden. 

Wir wollen an die geiftreihen Sake Hegels denfen. Heute ift es nicht 
mer fo, daß der Anterſchied des allgemeinen Bewußtſeins und des einzelnen 
Gelbft fid) aufgehoben hat. Der Gab, daß diefes Aufheben das Gewiſſen ift, 
gilt uur da, wo eine große Schicht in einer beftimmten Beit ihre Ruhe ge» 
funden bat und ihre Stimmung ber gefamten Nation mitteilt. Sie galt aljo 
etwa für das PDeutjchland von 1830. In folden Zeiten fann denn ein fo 
auffalliges Wort geprägt werden, daß ein gutes Gewiffen das befte Ruhe— 
- Tiffen ift. 

Als Luther in Worms ftand, da hatte er fein gutes Rubeliffen. In 
Seiten der Zerſetzung und eubilbung mögen die ftumpfen, gleichgültigen 
MWenſchen bis zu einem gewiffen Grade gut ruben: die wertvollen Menjden 
Haben dann ein Gewiffen, das fie nicht ruben läßt. 

Ih darf mich hier felber anführen als einen Dichter, der in einer folden 
Zeit lebt. In meinem Luftjpiel „Der heilige Grifpin* wird dem Helden gee 
fagt: „Dein Gewiſſen war deine Zeigbeit“. In „Ariadne“ fagt die Heldin, 
als fie ihren ©ott gefunden bat, zu dem Mann, der im bisherigen Sinn ein 
Held ift: „Ich fenne... die feige Wage des Gewiffens nicht“. 

Das ift etwas ganz anderes als der Ausſpruch Richards und gelegentliche 
andere ähnlihe Wendungen bei Shalefpeare. Gs ijt hier gemeint: „Was Ihr 
Gewiſſen nennt, das ift die feelifhe Spiegelung der bisherigen YZuftände. 
Aber diefer Zuftand ändert fid. Gr fann fic nur durd Menfchen ändern. 
Diefe Menfden, weldhe ibn Ändern, haben dieſes Gewiſſen nicht, das nur 
Spiegelung ijt, fie Daben etwas anderes. Gs gibt Heute fein Wort dafür: wir 
müſſen es aud Gewiſſen nennen. 

Gs gibt fein Wort dafür: die Ratlofigkeit unferer Zeit wird durch diefen 
Mangel eines Wortes erzeugt. Das Wort muß gebilbet werden. Wer es 
bildet, der wird die Beit erlöfen. 

Nur in Deut{dland fann es gebildet werden, denn die Eleineren germas 


531 


nifhen Völker, in denen man fid diefe Bildung aud denken finnte, wenn 
man nur die Möglichkeiten der Sprache betrachtet, führen ein glüdliches ge— 
ſchichtliches Stilleben: auf uns laftet die Feindfchaft der ganzen übrigen Welt, 
und wir müffen um das nadte Dafein Tämpfen. Das führt uns an die legten 
fittliden Fragen. 

Der eine der Graberger-Mörder ftammte aus einer alten und frommen 
katholiſchen Familie. Gr hat lange fittlid mit fid gerungen. Gs wurde ein 
Brief eines Gerwandten gefunden, in dem es hieß: „An erfter Stelle ftebt 
die Kirche“ (im katholiſchen Sinn wird fie genannt, wo wir Proteftanten 
die Religion nennen), „an zweiter das GBaterland. Die Kirche hat den Mord 
verboten. Aber du mußt felber wiffen, was du zu tun haft“. 

Der Mann bat den fittliden Kampf durchgekämpft. Bei ihm war das Gea 
wiſſen nicht mehr eine Spiegelung; er hatte die andere Art bon Gewiſſen, 
welde das Neue ſchafft. In vielen Dingen des Lebens müffen wir Deutfche 
Heute neu fühlen: man denfe nur, daß der Staat Durd die Revolution eine 
unfittlide, ja, verbrecheriſche Macht geworden ift. Wir müffen fuden, daß 
wir ein neues Wort finden, und wir werden es finden. Die Franzoſen haben 
die Abjicht, aus uns fo etwas zu maden, wie die Normannen aus den 
Sadjen madten, und der Baterlandsperrat der Sozialdemofratie hilft ihnen 
Dabei. Das wichtigfte Mittel ift Die Vernichtung der geiftigen Schicht, bon der 
Sozialdemokratie Der Bourgeoifie gleidgefekt oder als bon ihr abhängig bare 
geftellt. Der Kampf eines waffenlofen Bolfes gegen einen bewaffneten Feinb 
muß natiitlid nocd) viel mehr bon den geiftig Hodftebenden geleitet werden, 
als der Kampf mit den Waffen. 

Es war der Irrtum des Deutfhland por der Revolution, daß es als 
geiftige Macht tatfählih nur die Wiffenfchaft anerkannte und die Dichtung 
unbeachtet zur Seite ſchob. Wiffenfchaft aber fann nie leiten, fie fann nur 
. begleiten: leiten fann die Dichtung, wenn man fie recht verfteht, nämlich 
als die Darftellerin der Gefühle eines Bolfs und die Bildnerin der Sprade. 

Die deutfhe Sprade ijt auf einem gefährliden Punkt angelangt. Sie 
far bor dem Dreißigjährigen Krieg lebendiger, entwidlungsfähiger, fchmieg- 
famer, finnlider, als nad dem Krieg. Durd den Krieg wurde die Bevöl— 
ferung Deutfchlands von zwölf Millionen auf fünf gebradt, bon denen gewif 
ein Drittel obdadlos im Land umberirrte. Die Sprache war mit Fremd» 
worten und fremden Wendungen fo überladen, daß man fie faum noch als 
deutfch bezeichnen fonnte; felbjt die Syntax war ftarf beeinflußt. Die Are 
beit Der Sprachreiniger ift bewundernswert; daß fie in fo hohem Mafe glüdte, 
ift gewiß ein Zeichen für Die geiftige Kraft des gertretenen Bolfes. Aber es 
find damals viele Fäden abgeriffen, die nicht wieder gefnüpft werden fonn- 
ten; es gefdab etwas, das doch eine gewiffe Aehnlichkeit mit dem Vorgang 
des heutigen iriſchen Bolfes hat, das die fremde englif{he Sprache aufgeben 
möchte und dazu feine alte erſiſche Sprache wie eine fremde neu lernen müßte. 

Ih mödte nun einen Vorſchlag wagen, der vielleicht abenteuerlich er» 
fcheint, der natürlih aud nur ein ®edanfe ijt, den man überhaupt nicht fo 
ohne weiteres ausführen fann; der doch aber als eine Möglichkeit betrachtet 
werden follte, wenn die politifhen Zuftände fich ändern. 

Die beutfche Schweiz hat gwar nicht unmittelbar unter dem Dreißigjährigen 
Krieg gelitten, ift aber doch durch ihre geiftige Gemeinfdaft mit dem deut=- 
[hen Volk mit feinem Schidfal aufs innigfte verbunden gewefen. Sie betrach- 
tet ihre Gprade als Dialeft und Hat das Deutſche als Schriftipradhe. Ihr 
weitaus bedeutendfter Dichter ift Seremias Gotthelf; und die didterifhe Bea 
532 on tak oe 


~~ 4 


* 





deutung bes Mannes ift untrennbar mit ber ftarf dialektifchen Färbung feiner 
Werfe verbunden. Man fann das fofort feben, wenn man Die zurechtge- 
machte Berliner Ausgabe mit den guten Druden vergleicht. Holland und 
bie nordgermanifhen Völker haben eigene Sprachen gebildet. Aber es ijt 
für ung fehr leicht, dieſe Sprachen zu verftehen, und diefe Bölfer müſſen notge» 
brungen Deutjch Iernen, wenn fie im großen We.t;zufammenhang bleiben woilen. 

Man könnte das Verhältnis ähnlich auffajfen, wie das des Bonifden 
und fpäter des Attiſchen zu den übrigen griehifhen Dialeften. Wüßten 
wir mehr bon ber Sprade, welde in Mazedonien gefprochen wurde, fo 
fänden wir wohl etwas, das an das Schwedijche im Verhältnis zum Deutſchen 
erinnerte. Gs wird ja ſchwer zu Jagen fein, wo ein Dialelt in eine neue Sprache 
übergeht; noch im fiebzehnten Jahrhundert war man fid nicht durchaus bes 
mußt, Daf das Hollandijde eine andere Sprache ijt, man begriff es mit unter 
das Niederdeutfche. 

Die griehijche Sprade hat aus der Lebendigleit ihrer Dialekte einen guten 
Zeil ihrer Kraft gefchöpft. Wenn die germanifdhen Völker in eine engere gei«- 
ftige Gemeinfdaft fämen, fo könnte die deutfche Sprache einen neuen Antrieb 
gewinnen, der allen zugute fame. Gs müßte fo fein, wie es fid ja von jelber 
bereits angebabnt bat, daß das Deutjche die allgemeine Sprade der Biljen- 
fchaft diefer Vöolker würde, und daß die Dichtung die heimatlihe Sprache 
benugte. Gs würde dann fofort bei ung das Plattdeutfche wieder an feine 
Stelle fommen, die Hocdeutfhen waren gezwungen, das Plattdeutfche zu 
lernen und wären gezwungen, ſich mit den nordifchen und der holländifchen 
Sprade fo vertraut gu maden, daß fie deren Dichtung verjtehen fönnten. 
Dadurh würden fene gerrifjenen Faden wieder angelnüpft, die hochdeutſche 
Schriftjprahe würde wieder mehr Ginnlidfeit befommen und würde eine 
piel größere Beweglichkeit gewinnen; und die andern germanifchen Bölfer 
würden ihre Sprache bereichern, indem fie einen viel engeren Anteil an 
der abftraften Weiterbildung des Deutjchen hätten als Heute, wo es ihnen 
gefühlsmäßig eine fremde Sprade ift. 

Ich weiß wohl, daß nicht folhe Erwägungen die Gefdide der Spraden 
und damit der Bolter beftimmen, fondern Die politiihe Macht. Gs [cheint 
Heute, daß die politiij he Macht nicht bei den Bölkern fein wird, die „Ge— 
wijjen“ haben, fondern nur bei den DBölfern mit „Sonfcience*, Aber der 
Weltkrieg war nur der erfte Teil der allgemeinen Weltummalgung, und bon 
Welterneuerung, die ja denn doch im legten Teil fommen muß, ijt noch nichts 
gu fpüren. Lloyd George Hat erklärt, daß die Gefdide der Völker ja dod 
nur durch den YZufall geleitet würden — eine trefflide Ginfidt für einen 
Staatsmann bon Heute, in welcher die Nichtigkeit der bisher führenden Männer 
gum Gelbftbewußtfein fommt. Gs wird fdon nod eine Zeit erfcheinen mit 
Staatsmännern, welde wilfen, daß die Gejchide der Völker von Gott gee 
leitet werben. 

Woher dieje Staatsmänner fommen werben, fann noch niemand wiffen. 
Nur eines ijt fiher. Gin Bolf in der Lage des Deutſchen fann nur am 
Leben bleiben, wenn es an Gott glaubt; und die Menfden gelangen ja nur 
dann zu Gott, wenn fie müjfen, wenn ihre Obnmadt ihnen Har geworden 
ift. Gott ift außerhalb der Welt, denn er leitet die Welt; aber erfannt wird 
er in ung, und er fann nur erfannt werden bon Völkern, welche das Werkzeug 
des Grfennens haben, die Sprache. Paul Srnft. 


533 


Luther und die Myſtik. 


m folgenden ift Luther der Myſtik gegenübergeftellt, obwohl es Luther 

oft gerade als Borgug angerechnet wird, daß er auc) Myſtiker geweſen 
fei. Greilid, wenn man jede Bereinigung mit Gott Myſtik nennt, dann ift 
eben alle echte Religion Myſtik, und dann ift Myſtik das Lewte und Höchfte 
in der Religion. Aber das Glaubenserlebnis Luthers widerfpridt in allen 
entfcheidenden Punkten dem, was man im eigentliden Sinn Myſtik nennt. 
Gs liegt darum jenfeits der Myſtik, und ift dennoch lebendige Bereinigung 
mit @ott. ! . 

Gewiß Hat Luther die Theologia deutfh Herausgegeben. Aber gerade 
diefe eine myſtiſche Schrift jenes Unbekannten fdeint mir auf ber 
Scheide zweier Zeiten gu fteben. In ihr fteden Gabe, die alle Myſtik 
fprengen, fo myſtiſch fie fonft aud ift. 

Unſere Frage ift übrigens nicht nur ein theologifches Streitobjeft, fondern 
ein @®egenwartsproblem von großer praftifher Bedeutung. Wie wird die 
innere Haltung des deutſchen Menjchen für die folgende Zeit beftimmt werden 
— bom Glauben ber, oder pon der Myſtik? 


1. 


Das entfcheidende Erlebnis der Myſtik ift die Geburt Gottes in der 
Seele. Sie geſchieht in jener lebten, einbeitliden, unbeweglichen Natura 
tiefe, im Seelengrunde, viel zu tief, als daß Berftand und Sinne hinab» 
gureiden bermddten. Im Grunde der Geele ift Gott. „Es ift etwas in der 
Seelen, das Gott alſo Sippe ift, daß es Ein ift und nicht bloß vereinet“ 
fagt Ekkehart. Freilich, es ift eine verſchüttete Quelle, finnlides Begehren, 
Schutt und Serdll des Lebens haben fie zugededt. Aber darauf zielt ja 
gerade alle Mühe und Uebung des Myſtikers, fie wieder freigulegen, fid) bom 
„äußeren Menjchen“ ab ganz dem „inneren“ guguwenden. Der Sinne Unter» 
gang ift der Wahrheit Aufgang. Leer fein bon allem Grfchaffenen beißt 
Gottes voll fein. „Was ift eines gelaffenen Menſchen UWebung?* fragt 
Zauler und antwortet: „Das ift ein Gntwerden.* Wenn man auf einer Tafel 
{Hreiben will, muß man zuvor auslöfchen, was darauf ftebt. „&benfo, folk 
Gott in das Herz in vollendeter Weife fdreiben, fo muß alles, was ,diefes’ 
und ,jenes’ heißt, aus dem Herzen fort.“ (GlEebart.) Das heißt „abgejchieden“* 
fein: fic fern halten von allen Menfchen, ungetrübt bleiben bon allen auf» 
genommenen Gindrüden, frei bon allem, was dem Wefen eine fremde Zutat 
gibt, ans Irdifhe verhaften und Kummer über uns bringen könnte, „und 
das Gemül allegeit auf ein heilfames Schauen richten, bei weldem man 
Gott im Herzen trägt als den Gegenftand, von dem die Augen nimmer 
wanken.“ In diefen Worten liegt Ekkeharts großartiges Gefammeltfein: eine 
Seele, die auf nichts weiter wartet als auf Gott allein. Die Theologia deutfch 
fagt es nod) [härfer: „Da muß Kreatürlichkeit, Sefchaffenheit, Ichheit, Selbftheit 
und dergleichen alles verloren und zunichte werden; die Seele muß gang lauter, 
ledig und bloß fein von allen Dingen.“ Hier wird gang deutlich, worum es 
gebt, um nichts anderes, als um die Zertrümmerung des Ichbewußtfeins. Dem 
Gedanken der Einheit alles Seins ift jede Selbftändigkeit, jede Befonderung 
unertraglidh. Gottgefühl und Ichgefühl find unvereinbar. Darum muß das 
Id als das Nidtefein-follende zernichtet werden. 

Wenn die Abgefhiedenheit fid vollendet hat, dann geſchieht der Durch— 
brud Gottes. 


534 





4A 


„Oft Deine Seele ftill und dem Geſchöpfe Nacht, 

fo wird Gott in dir Menfch und alles wiederbradt.* (Angelus Sileſius) 
Das Geheimnis iſt unausſprechlich, man kann es höchſtens andeutend ume 
ſchreiben. „Geburt Gottes in der Seele“ — „Einswerden mit dem Anend⸗ 
lichen und ewig fein in einem Augenblid“ — „Es wird die Seele wunder— 
lih begaubert, fie weiß nicht, daß fie ift, fie wähnt, fie fei Gott, fo gar 
fommt fie aus fid felber.* — „Das göttlihd Minnegefprinc das fließet auf 
die Seele und tredet fie aus ihr felber in das ungenannte Wefen, in ihr 
erften Urfprung, das Gott ift alleine.* Die Sprade ift zu arm. Hier ift die 
Myſtik, die fonft fo beredte, eben ftumm, entbildet und überbildet von Got— 
tes Gwigfeit. „Was das für ein Triumphieren in dem Geifte gewefen, das 
fann ich nicht ſchreiben noch reden; es läßt fic) auch mit nichts vergleichen, 
nur mit dem, too mitten im Sode das Leben geboren wird: mit der Auf- 
erftehung der Toten“ jubelt Jacob Böhme. 

Alle Befonderung hört auf; Gott ift in der Seele mit feinem Wefen und 
feiner Natur. Billige Ginung. Abſolute Geligfeit. 

Und Luther? Gr weiß nichts von einem rubenden, unberührten Seelens 
grund, in dem Gott fic felber liebt, in dem wir immer die Möglichleit haben, 
in ©ott einzugehen. Luther findet in der Tiefe unfres Wefens als das Zen- 
trum des Lebens den Willen. Und der Wille liebt fid und eben nicht Gott. 
Alſo gerade da, wo der Myſtiker fich göttlich weiß, entdedt Luther den Bene 
tralpunft der Selbftbehauptung gegen ©ott. Für den Myſtiker ftedt die Ab- 
fonderung, die Sünde, nur im äußeren Wenfden, und diefe Kreatürlichkeit 
muß in der Abgefchiedenheit zunichte werden, damit der Goldgrund der Seele 
aufleudten fdnne. Gir Luther fließt die Sonderung aus dem innerjten Men- 
fen. „Der Wille ift das allertiefft und größt Uebel, darum weil er fid 
felber liebt und ſucht.“ 

Luthers Gott ijt nicht die Ginbeit alles Seins, fondern Heiliger perfin- 
lider Wille, der die Hingabe des Menfchen fordert zu freiwilligem, freue 
bigem Gebhorjam. Am Anfang und Ende aller Religion fteht das erfte Gee 
bot. Religion erfüllt fich nicht im Grlebnis der Harmonie mit dem Unendlichen 
und Der Dergottung, fondern in der Pflicht des Dienftes, den der Menjh 
Gotte ſchuldig ift, in der Hingabe des Willens an die großen Anliegen 
Gottes. Aber das ift ja nun gerade Luthers furdtbare Gntbedung, die die 
Qual feiner Klofterfämpfe ausmadt, daß er die unbedingte Forderung Sottes 
nidt erfüllen fann. Alle natiirlide Frömmigkeit fucht felbft in ihren beften 
Werken fich felbjt und ftrebt in eigener Willensridtung. Das Pflichtverhält- 
nis zu ©ott ift überall verlegt und durchbrochen; „der Menſch findet nichts 
in fid, damit er möge fromm werden“ Gr fühlt nur den ungebeuren Ab— 
ftand und zerbricht bor dem Unbedingten. Der Myſtiker mag zum Geelen- 
grund flüchten; Luther bleibt auch diefer Ausweg verfperrt; gerade dort im 
Geelengrunde ballt fic) ja alle Selbftbehauptung gujammen. Das Nein Sottes 
trifft den innerften Lebenskern; der Menſch ift vor Gott fdledthin ſchuldig. 
Und Luther ift ehrlich genug, fid dem Gericht zu ftellen. 

Uber Hier hebt nun aud das Geheimnis lutherſchen Glaubenserlebniffes 
an, wahrlich ebenjo tief wie jenes der myſtiſchen Ginung, gang und gar nicht 
Theologie, fondern eine zarte, innerlihe Gefdidte des Gewiffens. Die 
„Seburt Gottes in der Geele“ ijt ein Widerfahrnis, wir nennens Gnade. 
Die Seburt des BVertrauens ift nicht minder Widerfahrnis und Gnade. 
Sie ijt ebenfo irrational; in der Gorm, in der Luther fie erfährt, vollendete 
Paradozie. Er weiß nur um eine zerbrochene Gemeinfdaft und ,,fann es nicht 


535 


glauben, daß er jemals wieder angenommen werden könne“; er bejaht das 
Seridt und will es, weil er wahrhaftig bleiben muß. Aber gerade da und 
dann gefdiebt das Unglaublide, Unerhörte: er muß Burd den Born Hine 
burd bis an deffen Ende und ftößt gulegt auf — Liebe; zulegt hört er „über 
und unter dem Nein das tiefe heimlihe Sa.“ Der gerechte Zorn ift das Lei« 
den des Gaters um die Sünde des Kindes; wie umgelehrt alles redhte Bers 
geiben damit rechnet, daß die Tiefe des Riffes vom Rinde in ernithafter 
Reue durdlitten wird. Grft fo ift das Bergeben eine fittlide Tat. Der 
Weg gum Herzen Gottes führt durch das Bericht Hindurd: „Durchhin wider 
©ort gu Gott dringen“, jagt Luther. ,,Gs gilt nicht fliehen bor dem, der Did 
ſchlägt, fondern fid) nur fdledhts in Spieß und Stich geben, fo geudet er 
Dinter fid.“ 

Nichts ift dem Menſchen fehwerer zu glauben, als daß ihm die Schuld 
feines Lebens vergeben fei. Und dod ift „die göttlid Vorheiſchung und 
Zufagung“ da „und ſpricht: fiebe da, glaub in GHriftum, in weldhem ich dir 
gujag alle Gnad, Geredtigfeit, Fried und Freiheit. Glaubft bu, fo Haft du, 
glaubft du nit, fo baft du nit.“ Auch jest, und jest erft recht, gilt das erfte 
Gebot, Gott ernft zu nehmen und nicht zu zweifeln „er fei fromm und wahr- 
baftig in allen feinen Worten“. Ift der Glaube zum erften ein Widerfahr- 
nis, fo ift er zum andern ein Wagnis, eine „VBermefjenheit“, „wider alle 
Gernunft*, ſchlechthinniger Gehorſam „ohne Sicherheiten oder Wiffenbeiten, 
fondern ein frei Grgeben und fröhlid Wagen auf Gottes underjudte, une 
empfundene, unerfannte Güte“. Aber diefes wagende Vertrauen gewinnt bei» 
bes, Die Sreiheit des Gewiffens und die Gewißheit Gottes. Die Myſtik fühlt 
fi) gerade im Augenblid des Ginswerdens fogleich wieder abgeftoßen und 
aurüdgeworfen und muß das Gntwerden bon born beginnen. Die Gefdidte 
bes DBertrauens verläuft nad ‚anderen Geſetzen; Luther „bat“ Gott. 

Myſtiſches Gotteserlebnis und Tutherifhe Glaubenserfabrung — awet 
verfchiedene Kreife mit völlig anderem Mittelpuntft. 


2. 

Diefe Gegenſätzlichkeit läßt fid nun bis in alle Einzelheiten hinein auf 
zeigen. Wir greifen einige marfante DBeifpiele heraus. 

Angelus Gilefius fagt im Sherubinifhen Wandersmann: 

„Sch bin fo groß als Gott, er ift als ich fo Hein: 
er fann nicht über mid, id unter ihm nicht fein.“ 
oder: 
„Ih weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu fann leben; 
werd’ ich zunidht, er muß bon Not den Geift aufgeben.“ 

Bei diefer Gleichſetzung ,@ott ijt Dasfelbe Gin, das ih bin“ — melde 
Myſtik ijt je ganz frei von pantheiftifhen Gedanken! — werden für Luther 
beilige Geſetze der Diftang verlegt, Die eben nicht verlegt werden dürfen. 
Der Myſtiker nennt fic) unbedenklid Gottes „Freund“; Luther fpridt von 
feinem „Herrn“ Chriſtus. Die myſtiſche Bereinigung ift felbftverftändlich 
Ginung mit Gott; vielleicht zeigt nichts fo jehr Luthers Gefühl für Reinheit 
innerhalb der Religion, als die Tatjadhe, daß feine „Myſtik“ — genau wie 
bei Sobannes und Paulus — eben nidt Gottess, fondern „Chriſtusmyſtik“ 
ift. „Der @laub...vereiniget bie Seele mit Chrifto als eine Braut mit 
ihrem DBräutgam,...das was Cbriftus Hat, das ift eigen der gläubigen 
Geele, was die Seele bat, wird eigen Chriſti.“ Das Bild, das er wählt, 
die Art, wie er es deutet, zeigt wiederum, daß er an Gertrauensgemein{daft 


536 


“ 


= — — 


denft und nidt an Bergottung. Man überfieht Entjcheidendes, wenn man 
das nicht beachtet. 

Zweitens: Bei Luther hängt alles am „Wort“. Die Schrift ift ihm Nein 
und Sa Gottes. Ohne das Wort wäre Gott ftumm. Aber Gott fpridt. 
Der flühtige Hauch, der gefchriebene Buchftabe wird Träger geiftiger Reali- 
täten, Ausdrudsmittel eines Willens, der fordert und begnadet. Mehr, „das 
Wort ward Sleiſch“; der Unbedingte bedingt fid, „in unfer armes Gleifd und 
Blut verkleidet fid das ew’ge But“. Sejus durchleidet den Rif, Gottes 
Menjfdbeitsnot und der Menſchen Gottesnot, offenbart Geridht und Bers 
gebung @ottes. Wort Oottes ijt für Luther alles, „was Ghriftum treibet“. 
Für die Moftif Hat weder Sefus zentrale Bedeutung, nod hat fie ein inneres 
Berhältnis zur Schrift. Sie duldet feine Autoritäten, ihr Grleben ift unmite 
telbar, das innere Licht ift mehr als die Bibel. 

Gffehart hat gelehrt, daß Abgejchiedenheit überhaupt nicht beten fdnne. 
Für Luther ift das Gebet der Urlaut des Vertrauens, das unausfprecdhliche 
Seufzen des Geiftes; „fein Geift gibt Zeugnis unferm Geifte*. Hier ijt 
mehr als das Schweigen der Myſtik. 

Drittens: Was hat unfre deutſche Moftif für tiefe Gedanken über Die 
Schönheit des Leidens, weitab von buddhiftiihem Peffimismus! „Das 
ſchnellſte Roß, das euch zur Bollfommenbheit trägt, ift Leiden. Nichts ift fo 
gallebitter mie Leiden und nichts fo bonigfüß wie Gelittenbaben,.... denn 
weifen natürlicher Geift bier in der tiefften Niedrigfeit Friecht, deſſen Geift 
fliegt empor zur höchſten Höhe der Gottheit. Denn Luft bringt Leid und 
Leid bringt Luft“. (Ekkehart.) 

— Leid bringt Luft, es wird Mittel zum Hddften Zwed, zur Bollfommen- 
Deit. 

Gir jedes echte Glaubens- und DBertrauensperhältnis bedeutet das Glück— 
feligfeitsftreben den Tod. Darum darf das Leiden nie Mittel für eigene 
Swede fein. Leiden ift vielmehr die Aufgabe, in der Ueberwinderfraft des 
@laubens die Herrlichkeit Sottes offenbar zu maden. Die Seligpreifung für 
die Leidetragenden ift nicht die Erfüllung ihres Strebens, jondern trifft fie 
genau fo unerwartet, wie den Geridteten das Ja Gottes. 

Damit haben wir an die innerfte Schwäche jeder Myſtik gerührt: fie ver- 
ſchmäht die Welt, damit fie Befferes gewinne; „jie verjagt fic allen Gee 
nuß, um fic felbft für feine böchfte Steigerung aufgujparen“, nämlich die 
myſtiſche Ginung, das heißt: fie fucht im tiefften Grunde doch nur fic jelbft. 
— Und Luthers Kampf ift gerade das Ringen um die Reinheit des Slau- 
benserlebnijjes, um die Ausjcheidung aud der leiſeſten Regung eines Glück— 
feligfeitsftrebeng. 

Bei der Stellung zur fozialen Frage zeigt fich Dasfelbe. Gewiß hat Ekke— 
bart das Ideal der Martha über das der Maria geftellt. Aber alles Dienen 
und Wohltun ift ja Iegten Endes aud nur Mittel, um zum myſtiſchen Gre 
leben zu fommen. Im entjcheidenden Augenblid ijt der Myſtiker allein und 
abgejchieden, „verdrießt ibn alles, was nicht Gott oder Gottes ijt“. Und 
der Glaube — empfindet gerade da, wo er am reinften erlebt wird, am ftark- 
ften die Pfliht zum dienen, ohne Lohn, einfach weil er muß. Glaube und 
Liebe find ein- und dasjelbe Man fann geradezu fagen, daß die Liebe die 
geſchichtliche Srfcheinungsform der Lebenshingabe an Gott fei. Damit ift 
dann ein durchaus pofitives Verhältnis zur Kultur, gum Staat und zum 
Nächſten gewonnen. 


537 


Moftifhes Erleben und religiöfer Glaube — an allen REDE 
Puntten ein Gegenſatz zueinander. 
3. 


Die gegenwärtige religiöfe Bewegung in Deutfchland tft gum allergrößten 
Zeile eber eine Grneuerung der Myſtik als des Glaubens. Man denfe an 
Waldemar Bonfels, an Rainer Maria Rille, Stefan George ufw.; es ijt eine 
lange Reihe von Namen, die da zu nennen wäre. Die Myjtik bat ja fo weiten 
Spielraum. Bom ati ıwana bis zur Harmonie mit dem Unendliden, bom 
Aphroditefult bis zur Klarheit der Theologia deutfch, von allem fann man 
gegenwärtig etwas finden. Nur daß der moderne Myſtizismus Hinter der 
echten deutſchen Myſtik weit zurüdbleibt; er hat ja faum mehr ihre Grlebe 
nijfe, fondern eigentlich nur nod ihre Dogmatik, den Sat bon der Ööttlich"- 
teit Der menſchlichen Naturtiefe, bas Ablehnen jeder Autorität in religiöfen 
Dingen, den abjoluten Individualismus. Darüber fann alle Schönheit und 
Wortfiille der Sprache — oft allzu gedanfenleer — und die Stärke oder Fein— 
beit gefühlsmäßigen Gmpfindens nicht hinwegtäufchen. Unjre Beit bat nicht 
bie Kraft, eine große Myſtik zu pflegen, aber fie ijt [wach genug, an den 
Klippen der Myſtik zu, fcheitern. 

Ich febe in der Myſtik eine Gefahr für unfer nationales Leben. Ihr 
Indipidualismus madt fie gleichgültig gegen jede Gemeinjchaft; darum wirkt 
fie zerſetzend und zerftörend. Nationale Not ift gwar ungewollt ein För— 
derer moftifcher Neigungen, aber die Myſtik ift niemals eine Ueberwindung 
der nationalen Not. Dazu verharrt der Myſtiker viel zu febr in einer legten 
Paffivitat. 

Grft das Glaubenserlebnis gebiert bie Freiheit des Gewiffens, des Gee 
wiljens, das in feiner Zuverſicht gu Gott ein Herr aller Dinge ijt. „Findet 
es fein Herz in der Suberjidt, daß es Gott gefalle, fo ijt das Werk gut, 
wenn's aud) fo gering wäre, alg einen Strohhalm aufheben; ijt die Zuper- 
fit nicht ba oder Zweifel daran, fo ijt das Werfenidt gut, ob es {don alle 
Toten auferwedt und fic) der Menfch verbrennen ließe.“ Grit das ift die 
rechte Freiheit, in der das Gewiſſen fic felbitändig feinen Weg in der 
{hledhthin von niemand gebotenen freien Sat fucht und doch nur aus letter 
Sebundenbheit entjcheidet und auf Gott hin wagt. Hier wird das fittliche 
Handeln zur fchöpferifhen Tat. Glaube ijt höchftgefpannte Aktivität; weil 
bödjfte Sreiheit zugleich ftärffte Berantwortung ift. Der Glaube findet die 
Syntheſe bon Gemeinſchaft und Perfönlich!eit, deren die Myſtik nicht fähig ift. 

Die Trage bleibt, ob wir die Kraft zu diefer Syntheſe haben, ob wir 
glauben fdnnen, wie unfre Bater geglaubt haben, oder ob wir beim bloßen 
religiöfen Grleben ftehen bleiben. 

@laube oder Mpftit — aud eine Schidjalsfrage. Karl Witte 


Hans Zriedrih Blund. 


3 ) ha ber Siefe des Gemütes quillt die Lprif. An den Dingen ftreift fie 
nur, läßt bon Geſchehnem die Gefühlskraft widerflingen. Der Romane 
Dichter fündet Gefdebenes, hinter dem er zurüdtritt. Dinge, Begebenheiten, 
Ideen bilden ben Kern des Romans, deren Mund der Dichter ift, der fie gee 
treu und ſchön geftaltet und darftellt. Der Lyriker offenbart fein Menſchen— 
3d, feine Gonderbeit, fein Luft» und Schmeragefühl, feine perfönlide Gmp- 
findung des Griebens, der Wahrnehmungen, BVorjtellungen und Reize. Seine 
Seele fpricht, wie fie in ihrer Ginmaligfeit die Welt in fid) aufnahm, fie ftrablt 


538 


ihren Gindrud bon der Schöpfung aus. Der Romandidter gibt ein mittelbares 
Spiegelbild gelebten Lebens. Der Lyrifer enthüllt fein Verhältnis zum Inbegriff 
der Welt, unter Außeradhtlaffung bon Einzelheiten und ©eringfügigfeiten. Der 
Romandicter fieht die Welt durch ihre Ginzelheiten und ©eringfügigfeiten, 
Der Lyriler gibt feine innere Weit, der Romandichter immer eine äußere Welt. 
Sie fann ins Sitanijde ragen, wie bei Doſtojewski und Balgac. 

Die dichteriſche Welt Hans Griedrid Blunds, des Romandidters und 
Lyrilers, ift nicht genügfamer. Wohl befcheidet er fic) auf eine, feine hei— 
miſche Landſchaft. Dod mehr denn nur Inrifh reiher Romandidter ijt 
Blund Boll-Gpifer, dejfen Impuls feinem Bolfstum entjpringt, den Diefes 
mit feiner Gigenart, feinen Trieben, Neigungen, Stimmungen, Sehnjüchten, 
mit allen feinen Sinnen und Fähigkeiten, allen feinen Kräften und denen der 
beimifhen Natur trägt, dem es feine Stoffe im ganzen porgearbeitet hat. 

SHeimifhe Landfdaft und heimiſches Bolfstum find für Blunds Didter- 
tum das Gntjcheidende: die ibm (oder bon ihm) befeelte Niederelblandichaft 
als Trägerin unausjpredhlid inniger Symbole, ihre Tiefe, Gerne, Strenge, 
Herbigleit, Wolfen, Wind und endlofe Ebene — dieje Landichaft, und aud 
jene: Heimat, der weite niederdeutfche Bezirk mit den Menfchen darin, dem 
ebenjo tiefen, ftrengen und berben Golfstum. Go ftanden fchon feine erften, 
feine Ih-Helden, Gerd im „Ritt gen Morgen“ und Gord im ,,Sotentang*, 
in Diefer Landfchaft. Beide brüderlich verwandt mit Wind und Waffer, Wol- 
fen und Wetter, beide fchon fauftifhe Ringer ums Menſchentum mit mephiſto— 
pheliſchem Einſchlag, Zwiefpältige, Grübler, entzündliche Stürmer und Dran- 
ger, bon immer neuen Wnfedtungen beimgejudt. „Jan ®ünt“ ift der Hei- 
mate, der DBaterlands-Abtrünnige, der bornehme, fühle, überragende, lebens- 
gierige Halbhanjeat, den dod der Meerwind, der feine Jugend umtofte, fteifte 
und ftarfte; der nur einen ethijchen. Lebensleitgedanfen bat, daß die ein- 
sige Gewißheit, die wir haben, über alle Religionen hinaus Die ift, daß wir 
in unjern Kindern leben und meiterleben; daß Der Tod nur eine Gorm bes 
Lebens ift, wenn wir die Gndlichkeit in unfern Kindern befiegen. Oble, in 
„Peter Obles Schatten“, ift wieder ein fchwerblütiger niederdeutſcher Träumer 
pom Sdlage der Gerd und Gord. Daß er, in laftender Grlebnisfchivere, zu 
Kaltherzigfeit vereifte, daß er ein feelifhes Doppeldafein führt, madt ihn zu 
einer befonderen Spielart Blundfcher Künftlerlaune. „Peter Ohles Schatten 
enthält fdon erfte Anſätze von Blunds MWlardendidtertum. „Hein Hover“ 
bat das hochſtämmige Herz des Niederdeutfchen, feine marfige Mannbeit, 
tft zugleich unbändig und gemeffen, leidenfchaftspoll und gelaffen, ift Sinnbild» 
fülle deutfcher Treue zur Heimaterde. „Berend God“ ijt prometheifher Him- 
melftürmer, aus Menfchheitsftols und Uebermenfchenfraft, potengierter Bere 
treter eines ganzen Geſchlechtes vollendeter Sündhaftigfeit gegen Gott, ift 
gefteigerte Seelenwirflidfeit in Realität und Märchen, ijt, wie die Schlange 
des Paradiejes, brennender Schmerz, ätender Hohn, liftiger Doppelfinn von 
Mopftit und Wetaphyſik, ift fiebenfach exgentrifdhes' Ungeftüm, Damon 
Aufllärer und DBerführer, fiegfroblodender Herausforderer Gottes, Lucifer- 
Satanas und Lucifer-Anticrift; fchließlih in Sinnenglüd und Seelenfrieden 
erſchöpfte Demut; ift tief vertourgelte Hingegebenheit des Niederdbeutfchen zu 
ben dunfeln, geheimnisvollen Naturmaddten, die im Sagen» und Märchen- 
baften fic verfinnbildet. And endlich „Stelling Rotlinnfohn“, in dem heißes, 
beiliges Bauernblut rinnt, ift der Wegfucher feines Bolfes, der inbrünftig 
Hoffnungsdurchleudhtete, der gern fefthalt am Alten mit Zleiß und Treue, 
bod) aud) bes Neuen, des Werdenden Werte erfaßt, in fic ein von beiden 


539 


erfülltes Rommendes entfeimen fühlt und [dlieflid zu höchſter Opfertat für 
fein Golf fähig ift. In feinem Leben wiederholt fid das Walten und Wallen 
des Lebens des Täufers Johannes, aber aud, in etwas, Das Leben Sefu. Gr iftder 
Schlichtgläubige an die Bejtimmung feines Volkes, an einen höheren Zwed 
und Sinn des Grdendafeins, der Klarhirnige mit dem Herzen ohne Galjd, 
der Seele poll Gite und Andacht, der da Handelt aus dem Herzen um der 
Semeinjhaft willen, nidt um Lohn; der entflammte Künder einer befferen 
Beit; ein lihtpoller Held, der das Dunkel erhellt, in dem die Mitmenſch— 
beit Iebt. — Sie alle, von Gerd bis zu Stelling, find famt und fonders Boll- 
föhne der niederdeutfhen Landichaft. 

Dlunds große drei Romane aus niederelbifher Gefdhidte — „Hein Hover“, 
„DBerend Sod“ und „Stelling Votkinnſohn“ — ift feine jener Erſcheinungen, die 
die Gegenwart bejtriden, in der nadften Zukunft aber fdon verfdollen und 
verjchüttet find. Wpmit bier Blund das Deutſchtum bejchenkte, das wird 
dem ficheren Beftande der deutſchen Dichtung zugezählt werden. Und es 
wird immer Rreije geben, Die bon dieſer niederdeutfchen Dreiherrenjpite nicht 
ablajjen werden. Den Mangel an Begriffen über das gejdidtlide Wer- 
den feines niederdeutfchen Volksſtammes, der bei der hoch- und niederdeutfchen 
Doppelfultur im Rahmen des Reiches immer eine gefonderte Stellung ein- 
nahm, empfand Blund. Darum verſuchte er diejes Werden feines Volks— 
ftammes mit dichteriſchen Mitteln zu formen, indem er fich jene eben gefenn- 
jeichneten Männer Herausjudte, die ihm bejonders wejentlich erſchienen für 
Art und Eigenſchaft des niederdeutidhen Menſchen als foldhen. Hein Hover, 
der Landsinedt des vierzehnten Babrhunderts, muds empor zum jchidjals- 
fräftigen Staatsmann; der zur Sagengeftalt gewordene Blanfenefer Schiffer 
Berend God, als Seefahrer Borbote des Hamburger Handels, war der une 
tubig ſchweifende Phantaſt, den die Niederdeutjden in ihrem Lande immer 
wieder jah auffpringen feben; in Gtelling fab er den geiftigen Führer im 
ältejten deutſchen Bauernfriege in der Mitte des neunten Jahrhunderts, 
jenem Rampfe der (niederſächſiſchen) Nordleute um die Wiedererlangung der 
alten vorkarolingiſchen Sefegke und Freiheiten aus den Zeiten des Heiden- 
tums. In diefen drei hiſtoriſchen Geftalten hat der Didter die tiefften, aus- 
gepragteften und eigentümlichften Grundzüge niederdeutfchen Wefens aus den 
beadtlidjten und bedeutjamften gefchichtlihen Zeiträumen herausgefühlt und 
mit ihnen berausgehoben. Neben ihnen ftehen drei niederdeutfhe Frauen- 
figuren: die Avelke Hohers, ein Mädchen von der Herben, blumigen Süße 
eines edlen RHeingauweines, dejjen amagonijdhes Heißblut ihre fchmelzende 
Zartfühligfeit gebeimbalt; die holde, liebmiitterlide Imme Gods, die Mitt- 
lerin und Grlöferin. des Mannes; die Hodjinnige Thioda Gtellings, die fid 
in ihrer Tochter zu verführerifcher Hoffart variiert. Sp zeitferne Menjchen 
und Geſchehniſſe der Dichter in diefem Dreibund bon Romanen vorfiibrt, jo zeit- 
wirkſam ift Dod feine bom Beit geift geführte Ginftellung. Die Kämpfe 
feiner drei Helden find die ewigen Kämpfe der Menjchheit um Selbjtbehaup- 
tung, um @ott, um das Gute, um der Heimat Erde und der Heimat Art, 

Aus ftarfer Innenwelt, die aber, ins Bedeutende, gar ans Yebernatür- 
lide dringend, in ihren großen Zügen unperfinlid, gegenftandlid, porurteils- 
frei wirkt, ſchuf Blund feine drei großen Romane. Die nicht durchaus günftigen, 
vielfach unfinnlihen Stoffe fudte er durch tiefes Gindringen in menjchliches 
Lieben und Hafjen dem Lefer mundgeredter gu maden. Nidt immer gee 
lingt ihm das vollflommen. So werden wir 3. B. in „Berend Fod“ guweilen 
auseinandergeworfen Durd die Art, wie die Gefdidte des Helden und Die 


540 


Phantafiegefhöpfe des Dichters Durcheinander fpielen. Dod je mehr er die 
Gelegenheit dazu ergreift, defto fejfelnder wird fein Werf. War in feinen 
beiden erften Romanen er felbft — cum grano falis — der Held, fo find die 
Helden feiner großen Roman-Dreieinigfeit wenn aud gefdidtlid, jo dod 
dichteriſch ganz originale Gorm geworden und zugleich Iyrifch foloriert — 
legten Gndes ihm im wefentliden Mittel, feinem religiöfen Ringen um einen 
im beutfhen Bolfstum twurgelnden deutſchen Glauben Ausdrud zu verleihen. 
Gs bleibt nidt aus, daß er, namentlich in „Berend God“, den breiten epifchen 
Strom verläßt und fid nicht nur auf lieblide Binnenteihe der Subjeftipität 
und der Lprif, an mardenbafte Weiher im Ueberjinnliden begibt, jondern 
aud an die Brunnentiefen des rein Begriffliden. Dies aber ift den Geſtal— 
tungen des Romans (weniger denen der eigentliden Epik) nicht förderlich, 
fondern Täuft ihnen entgegen. Die Amkreiſe feiner drei großen Romane bee 
greifen eine Bielheit und Mannigfaltigfeit, infonderheit in „Berend Fod“, daß 
fie mit den großen Bolfsepen wetteifern fönnten. Doch nicht durchaus gee 
lingt es dem Dichter, den Umfang dem Inhalt anzupaffen. Wohl ent» 
widelt er feine Stoffe im wefentlichen aus fpärlichen Quellen zu bildnerifcher 
Meifterfchaft. Dod manches Spürchen bleibt, in den beiden erften großen, Ro» 
manen bom GHronifhaften, das aud) faum noch ungewöhnliche Borgänge mand- 
mal etwas breit verzeichnet und liebepoll aud an nicht Handlungsförderndem 
haftet; bleibt manches bon gelebter Gefdicdte und überlieferter Sage ungeftaltet. 
Mit Borliebe greift nicht nur der Märchendichter, fondern aud der Romane 
dichter Blund in das Reid zwifchen Himmel und Erde. Wenn er dadurd 
{deinbar den Bufammenbang mit den hiftorifchen und den eigentlihen Romans 
Begebenheiten verliert, jo gewinnt er um fo innigere Berbindung mit uralt 
bertourgelten Volksvorſtellungen und dem Bolfsgefibl. So find God, dem 
Sauftifchen, Ueber» und Unterirdifde dienftbar, ein Heer von Unbolden, 
in Die menfdlide Handlungsſphäre übergreifende Mächte vberwandlungs- 
fabiger Spufgeftalten — erfinnbildlidungen bon Naturerfcheinungen der 
Niederelblandfdaft. Gs gelingt ihm die Gefddpfgeftaltung von Angeſchöpf— 
lidem, die Berperfinlidung pon Unperfinlidem, die Intelleftualifierung bon 
Unintelleftuellem. In den beften Teilen verbinden fic ®efühlshöhe, Sn- 
brunft, lyriſche Leidenfdaft mit epifcher oder märcdhenhafter Bewegtheit. 

Blunds drei niederdeutfjhe Proſa⸗Epen follte namentlid die nab 
ibm berauffommende, jüngfte Didtergeneration leſen. Sie könnte dienen, der 
trüben Gegenwart die Blide auf große Seelen zu ridten. Wir haften Heute 
überfchwer am Boden der Wirklichkeit und ihren Kränfungen. Aud Blund 
fußt auf ibm, aber er madt nicht furze Sprünge darüber wie viele Poeten 
unferer Tage. Man lerne von ihm, wie er ihn, in ferne Zeiten fliegend, über- 
windet. Seine Werke weifen auf unfere Wunden. Dod mag man fehn, für 
was die Männer fterben. Nod wirkt ein Göttliches im deutfchen Wefen, noch 
treten die Gedanfen, die der Menſch als hidfte achtet, ins Leben ein, in— 
mitten unfrer wild berworrenen Zeit. 

Aud in Blunds ,Marden oon der Niederelbe* raunt des Dichters hei- 
matlide Slur, rauſcht der heimatlihe Fluß mit feinen Bäumen und Büfchen, 
woran das Herz der Menfden von der Niederelbe feit Kindesbeinen mit 
ftiller Liebe hängt, Iebt Die Seele feiner unterelbifhen Heimat, deren züch- 
tige und biedere Gittenhaftigfeit und deren willentlid) geballte Sief- und 
Schmwerfinnigfeit, die fid gar oft Hinter falgig derber und herber Hergens- 
frifhe und ausgelaffener Sröhlichkeit verbirgt. Der alte Uhland hat in einem 
„Märchen“ betitelten Spätgedichte die in feiner Zeit fich breit machende füm- 


541 


merige alte Sante Stubenpoefie mit blinder Rake im Schoße weidlid ver 
fpottet, doch die Wiederkehr eines rotgoldenen Morgens deutfcher Natur«- 
poefie prophegeit. Diefe, zumeift wohl dem engen und doch mit reigdoller 
Sormenmannigfaltigfeit gejhmüdten Rundblid des holſteiniſchen Bier» 
bergen-Landhäushens Blunds nachgeträumten Märchen find Naturpoefie, 
find Greiluftpoefie, Die Das Unbefeelte perfonifigiert. Die beften bon ihnen — 
fie find nicht alle gleichwertig, ich ftelle die von fidernden Humoren ge» 
tränfte „Boppenbütteler Wafjermühle* am Hhidften und weitere fieben ihnen 
zur Seite — vereinen mit naiver Urfprünglichkeit, Ginfalt und raffiger Nature 
widjigteit wettergehärtete Sefühlswärme und innig bebergte Männlichkeit, 
mit verwegener Phantaſtik onfelhaft vorforgende flare Verſtändigkeit. Go 
find fie denn zugleich feltjam erdecht und unirdifd, zeitbürtig und überzeitlich. 
Aud Hier werden, wie in „Berend Fod“, „Unterirdijche“, unter der Erdober- 
fläche betriebfame Naturfrafte, Wejen von Fleifh und Blut; bauen LUnter- 
grundbahnhöfe; unterhalten fic mit jenen fonderbaren einbeinigen, langen, 
Dünnen Käugen, die in Reih und Glied an den Straßen ftramm ftehen, 
viele Drähte bon Rüden zu Rüden jchleppen, Heine weiße Köpfe haben und 
jedem Windzug nachſingen; und haben ihren Spaß daran, den Menjchen bald 
Hilfreich beiguftehen, bald fie zu foppen. Leidenfchaften, Schalfheit, Scharf» 
finn, Grfahrungen, Weltweisheit werden anſchaulich, ergdglid und gefällig, 
und bieten, in den Mittelpunkt der Märchen geitellt, der Phantafie des 
empfängliden Erwachſenen wie des helläugigen Kindes reichen Spielraum. 
Neuen Sinn erhält wieder einmal des Weilen Nathan Wort: „Nicht die 
Kinder nur fpeift man mit Märchen ab.“ — Ein neuer Mardhenband Blunds 
ift in Borbereitung. 

In feinem Aeußeren hat Blund graniten DBerhülltes, geheim Sdlume 
merndes, charakterfeft Bedächtiges. Da ijt etwas wie in hohem Wogenwind 
Gewordenes, ſcheu Zurüdhaltendes, Weltflüchtiges. Die nahe Nordjee flutet 
Herb in ibm. Und dod ift zugleich in feinen Zügen ein Weiches, Gefühls— 
feliges, erwärmt und fänftigt fie ein nad innen gerichtetes, dod) wachſames 
Auge. Gang gewiß ift er nicht nervös, aud dann nicht, wenn ihn Gefühlſam— 
Feit padt. Bei ihm findet man feine Spur jener übermäßigen Verfeinerung, 
der fo viele weft» und füddeutfche Poeten unjerer Tage verfallen find. Will 
man DBlund recht verfteben, muß man fic deſſen immer bewußt bleiben, 
daß er Nordmärfer ijt. Hier gilt fo recht das Wort Soethes: 

Wer den Dichter will verſtehen, 
Muß in Dichters Lande geben. 

Wenn der Frühling ing Land zieht, dann bededt die den madtigen Elbftrom 
begleitenden weiten Wiejen reicher Blumenfhmud, find die Lande längs der 
Deiche ein einziger Obftblütengarten, luftwandelt man zwijchen üppigen Knids, 
auf anheimelnder Heide und in liebliden Gehölzen, während im Hafen Hame 
burgs das Jahr hindurch das Leben der Welt brauft, das Geld rollt, geiftes- 
ftarfer Weltwille fid Außert. Doh im Herbft und Winter hüllen undurd- 
dringliche Nebel die Landjdaft ein, toben und wüten Stürme von hoher Gee 
ber. Wohl gibt fie reichliche, vielen überreihlihe Nahrung, bringt aber 
aud manches Unbeil. Da fteht neben dem nüchtern rechnenden, weltgewand« 
ten und die Welt fennenden königlichen Kaufmann der Spefulant, deffen 
Träume ins Riejenhafte geben, neben dem phantaftifhen ©lüdsjäger (in 
Berend God, einem G©egenftüd zu Peer Gynt, zur duferften Potenz ere 
Hoben) der fühl wägende ſcharfſinnige Saktifer (Hein Hover), der nad der 
Bolisjeele forfhende Wahrheitsſucher (Ctelling). Hier erwächſt der Hart 


542 





arbeitende Bauer, der kritiſch und mißtrauifh allen Gefdebhniffen gegen«- 
iberftebt; der tief verfonnene ©eifterfeher, Wunder- und Abergläubige, der 
Dinter die Wirklidfeiten fchaut und fic in eine Märchenwelt einfpinnt. Die» 
fem olf, diefer Erde entjtammt Blund. 

Sein erftes Gedichtbändchen war bereits erfter Auftakt zu feinen jpäteren 
didterijhen Bemwältigungen, des Wefenslernes niederdeutfhen Bolfstums und 
feiner Geſchichte. Schon in ihm leibte und lebte die Schwermut der fargen 
Landſchaft. Mit dem Ungeftüm des Jungmannes -in feiner Natur und dem 
Liebevcllen in feinem Sinne fühlte er fic) mit den in Balladen eingefan«- 
genen Sagengeftalten tief verwandt, die fo Bart find und doch im Innern 
ein Füllhorn großer Gefinnungen tragen. Die niederdeutjdhe Natur offen 
bart jih ſchon hier im blutigen Schimmer der in der Nordfee ertrinfenden 
Sonne. Ueber des jungen Dichters Worten ſchwebt der Düjtere Zauber von 
Heide und Moor, verdämmert alles Gefdeben in der Landſchaft. Schon bier 
ift lebendige Naturpoejie. 

Alle Borzeitnordmärler Blunds haben übrigens des Dichters gefühls- 
feinen Naturfinn. 

Der Heute ein großer Profaepifer ift, meifterte als junger DBalladen- 
fänger (3912) noch nicht Die Form. Geine fpätere, reine Lyrif („Sturm 
überm Land“, 1916, „Der Wanderer“ ‘und „Hart, warr ni möd“, 1920) 
ift gemidiig und wertvoll. In „Sturm überm Land“ eifert, flammt, grollt 
grimmig heiß erlebtes Deutjchtum, brodelt aus tiefitem Born ftrdmendes 
daterländijches Gefühl. Da ift ftählern geftaltete Inbrunft. Blunds Bild— 
traft leuchtet bier jhon auf und ed treiben ibm DBijionen gu bon malerijicher 
Köftlichkeit, mit ſchlichteſten Mitteln geformt, und binausgefchmettert in eben» 
fo abwehr- wie angrijfsfreudiger, pangerbarter und doch jeelenvoller, form« 
finer Melodif, die tieferen Schwingungen innigen deutſchen Bolfs- und 
LZebensgefühls widerflingend. 

And dod, wenn man heute des erft fechsunddreißigjährigen Dichters 
bisheriges Geſamtwerk überblidt, erjcheint es berftändlich, daß die Lyrik im 
Laufe feines weiieren Schaffens zurüdtrat. Die Ueberfü.le feines Grfindungs- 
reidtumes wies ihn zu den unendlichen Weiten der Gpif, auf dem die ftärfften 
Ausjagen feiner Dicdterfraft wohl noch ausitehen, bon denen wir zunädjft 
größere Konzinnheit und Konzisheit erwarten, als Die drei legten Bande 
zeigen. Möglich, daß fie das Leste offenbarten, was Blund fünjtlerifch ere 
ſchüttert. Wahrfcheinlih, daß er das Tiefſte nod in fich findet. 

Paul Wittlo. 


Grlejenes 


Aus Hans Friedridh Blunds „Stelling Rotlirnfohn“*. 


SS” wollen die Drachen redh.s und Lin's und wiediel find ihrer? Wäre 
der Morgen dod nicht fo Hell! Wher der gibt feine Gnade, tweithin 
leuchtet die Gee von brennendem Grwaden: grünjilbern über dem Schwall 
der Wogen und wieder wie Blut, wo die Frühe fie grüßt, 


* Gerlag von Georg Müller, Münden. Geb. 9 Mt. — Zum Berftandnis des 
Sufammenbangs fei gefagt: Abbo der Rotfinn tft mit feinem Snaben Stelling dem 
Witten auf See. Gr wird oon feindliden Dänen auf Dradenfdiffen verfolgt, die aud 
troh dem Sturm nidt von ibm ablaffen. Der Rotfinn bat im Sturm feine beiden 
andern Schiffe verloren. Rorororo: Sejang der Ruderer, 


543 


Rorororo, Da lächelt Abbo Rotkinn mitten in der Not. Wie mag er 
nur lächeln? Ginige fdauen feinem Blid nad, Gine Nadel hebt fid im 
Weften weiß umfpült aus dem Wafer, Ginmal fällt Sonne, darauf und läßt 
fie aufgliiben, Der Votkinn fdreit die Nuderer an. Sie heben die Rüden 
und fuden nod einmal die lette Kraft aus der Zunge zu feuchen. Uber es 
ift gut, daß Das Gegel fie mit vollem Rüden auf das Land zutreibt, Die 
Draden haben den Schwan erfannt, fie fommen zu beiden Seiten neben 
ibm auj, vier, fünf find es jest, Rein Alftad nod Bobbe ift zu feben. 

Abbo Rotkinn lächelt. Gr gibt das Leben nicht auf, ehe fie’s ihm: nicht 
aus den roten Fäuften reißen. Gr fühlt, dies Schiff ijt verloren. Laßt es 
fahren, gu Haus bauen fie an einem neuen; ift es aud Hart genug, den 
Nodgifell einzubüßen, Gr will heut nur fi und die Männer bergen, die 
ibm folgten, Und er will Stelling in die Wälder retten, er foll mit feines 
Gaters Atem zum andern Mal zu feinem Golf gehen — ja, das foll er! 

Die Nadel wird unten breiter, oben dunfler, fpiker. Klippen fteden - 
redts und linfs aus den Rammen der Seen, flahe Beden dagwifhen. Was 
ift das für ein Land? Niemand weiß es. Sie fehnen fid nur darnad), als 
fei es Das Gnde aller Meerfahrt und Beginn einer neuen fetigen Stille, Hate 
ten fie erft Gels unter den Füßen! 

Der Rotlinn wird unruhig Warum umfreifen die Draden ihn nidt? 
Ob fie felbjt gejagt werden? Niemals, wann wurden Dänen zur Gee gee 
jagt? Gs ift ein anderer Gludh am Werf und einmal, wie die Sonne bon 
einem Nebelflug bejchattet wird und die weiße Giſcht erlifcht, fieht Abbo 
Rotlinn, daß fein Nodgifell fteil gegen eine Halbinfel fliegt, ſchon bahnen 
zwei Dänen fich rechts und links einen Pfad in die Buchten, Nur die hin» 
ter ibm verhalten, und der Starfe erkennt, daß ein letztes Spiel um Sod 
und Leben beginnt. 

Die Landung gelingt. Wunderlid — als lächelt ihnen ein abenteuer- 
lihes Slüd, ſchäumen fie an Eleinen Klippenbudeln vorbei und geraten in 
einen Strudel, der fie bei vollem Segel um eine Felswand faugt. Dann 
ftrandet der Nodgifell, der Abbo Rotlinn wohl fünfzehn Sabre trug, berftend, 
mit EnatterndDem Leinen gegen einen halbnadten Strand. 

Die Männer heben fich mit letter Kraft, werden über Bord gefchleudert 
oder Elettern bon Hed und Bug und wagen den Sprung in dem Ebbeſchwall. 
Diele werden weggerijjen, den andern gelingt es, fie ziehen einander bod, 
ftügen fic und laſſen fid Schild und Waffen reichen. 

Dann arbeiten ji die Nordleute in ein Moor hinauf, das im Keſſel 
inmitten der Snfel liegt. Gin Gehöft, ein Haus mit vier Eleinen Strohbadern 
tagt in feiner Mitte. Gin einfamer Bauer tritt daraus hervor, er gebt 
Schonung flebend mit einem Brot auf Herrn Abbo zu. Aber die Leute find 
todwund, fie werfen fid in das Haus und berrammeln es, Inapp fann 
Gtelling hinein, Einige brechen Pfetllider in die Wände, legen Ohnmäch— 
tige an die Herdafche, ſchlagen zwei Schafe und legen fie halb ausgeweidet 
in die Glut. Und fie trinfen Waffer und Bier, was fie nur finden, als 
hätten fie ein Leben lang in einem Durſtfeld verbringen miiffen. 

Abbo Rotfinn und Gtelling wollen zum Moor, um DBottiche gegen den 
Brand zu füllen, Aber es ift fdon zu fpät. Auf den Klippen figen die 
etften Drachenmänner und fdiden zitternde Pfeile herüber. Da treten fie 
zurüd, ſehen fic ftill an und bliden nod einmal in das Land hinaus, ehe 
fie die Sir ſchließen. GS wird ein Harter Tag werden, vielleicht nod eine 
Naht dazu, 


544 


Aber der Witte weiß, fein Bater hat ein Gefek überwunden, ein Une 
gebeuer fcheint er ibm, einer, der mit dem Schickſal zu ringen wußte, 

Rorororo, Hingt es nod) in den faufenden Ohren. Die Männer heben faum 
bie Köpfe, liegen: wie tot umber. 

Nur Abbo Rotkinn fann laden. Gr geht die Banke entlang und bat 
ein gutes Wort für jeden, das wie Wein in die Glieder rinnt, „Slinf, meine 
Wolfe, wacht auf, daß wir uns wehren!“ 

Einige erheben fic endlich, Himmen ins Strohdad und fdiden Pfeile 
gu den Klippen zurüd, Gut, daß fie es taten, die Dradenleute meinten, 
fie könnten wie zum Tanz anfommen. Nein, jest fegen fie fic lieber gededt 
nieder, zünden Geuer an und beraten oder drohen hinüber, etwas ärgerlich, 
daß die andern das Gehöft gewannen. ' 

Was wird fommen? Der, Rotfinn Iugt nad draußen und nimmt einem 
Sodmilden die Wadht ab, Gr fann dem Borausdenfen nicht wehren, obs 
wohl er weiß, Daf es ſchwach madt, Das Gefühl des Umpingeltfeins zwingt 
dazu. Zwei Dinge haben fein bäurifch beldhaftes Leben beherrſcht: das 
Schidfal feines Golfes und das Ratfel des Dunfels, das einft über ihn fome 
men wird, Es ift das Leid der Nordleute, diefe Zwiefpältigfeit zwijchen 
Sandeln und Grübeln von Jugend auf, 

Ginmal wedfelt er mit Stelling einige Stunden Schlaf. Gr traut kei— 
nem andern mehr. Könnte er dem Burfden dod Flügel anbinden, denkt 
er, und es Dauert ihn bitter feinea Jugend, Danad fiken die beiden am 
halb abgededten Dad) Hinter rajd aufgehobenen Brettern. Der Himmel 
wird blaffer und die Dämmerung lähmt den Mut. Wunderlich zu wiffen, 
daß der nadfte Tag den andern gehört. 

Draußen am überquellenden Woorgraben ftehen gelbe Trollblumen, die 
Die Köpfe der Sonne nadheben. Grasbebangene Weiden reden fid bier 
und da, ein paar gabnende Erdlöcher, die der Bauer aushub, ftarren ſchwarz 
nad) oben. Gs ift Frühling über Schottland, das Moor fingt. 

„Was werden fie jest tun, Bater?“ 

„Hörft du die Werte?“ 

nod) böre fie wohl“ 

„Sie {lagen Schilde gegen uns, es wird bald fp weit fein,“ 

Der Burfdh ſchweigt. Wie dunfelt das Moor, wie dunfelt der Hime 
mel, Was wird morgen fein? 

Bon den Klippen fommen halblaute Rufe berüber und fpannen Die 
QRuderer an, Kopf an Kopf laufen fie. 

Kleine Feuer glimmen rundum. Die Männer oon fieben Schiffen ware 
ten darauf, den Nordleuten ihre Stunde zu bereiten, 

Das Moor fingt. „Hör,“ fragt Abbo noch einmal aus feinem Traum, „Du 
Haft Gejidter gehabt, id jpürte e8 wohl. War Herr Ubbema bei mir?“ 

„sa, Bater!* Eine Weile jchweigen fie. 

„Wo Hatte er feine Wunde, daß ich ihn rafd erkenne?“ 

„Sein Haar blutete, mehr jah id nicht.“ 

„And id, Stelling, mein Stelling!“ 

Da ftöhnte der auf. „Mein Gefidt Iog, Vater! Du famft aus der Gee, 
aber du bift ftärfer als die Seel“ 

Der Rotlinn fchüttelte den Kopf, er glaubt nicht daran, 

„Sahſt du mich nidt umkehren, Stelling, mein Stelling?“ 

„Woher umkehren? Warum fragft du danach, Bater?“* 

Abbo fieht bon unten auf den Sohn, noch nie fprad er mit ihm davon 


545 


+ 


„Ih will dabei fein, wenn der Geredte unferm Golf aufbilft,“ 

„Der Geredte, Bater?“ 

„Der nach der Beilzeit fommen wird, Stelling!“ 

Sie ſchweigen wieder. Dunkel fchweifen die Schatten ber Klippen über 
das Selb. Schneehühner rufen im Schalm. „Wem foll man glauben, Bater, 
wenn einer fagt: Ich bin es!“ 

„Sie werden ihn alle erfennen, wenn er fommt,“ 

„And wer ruft ihn?“ 

Der Witte will pon ©®islamöhmes drei Wundern hören. Aber Abbo 
weiß nichts davon. „ES werden Männer kommen, dünkt mid, die bon 
ihm verfünden,* 

Sa, pon ihm verkünden! Der Witte denkt nicht mehr an ben Tod, er 
fühlt nur den Raujd feiner Liebe zu jenem Geredten, Berfiinden will er 
Don ihm! 

Das Dämmern wird zur Nacht, die Moorwajfer tragen ein ſchwarz⸗ 
grünes Glimmen, Letter Salgwind klagt bie Klippen entlang. 

SHörte er, wie die dänifhen Männer Iangfam bon den Klippen ftiegen 
und mit Sturmböden und glimmenden Sceiten die Moorwege betraten? 
Dorfidtig, auf daß niemand fih eine DBlöße gäbe, ſchreiten einige Dinter 
SHolzwänden voran, Die andern folgen unjidtbar und fdirmen fid nod. 

Zautlos wird die Nacht. Der ſchwere Rud des Frühlingsmoors ftrömt 
bon der Grde auf, Duft des Schaumfrguts ift dabei und Fäule bon totem 
Gras, das aus Dem wärmenden Waſſer aufitieg. Duntel ift die Weite rund» 
um; mitunter nur ein fabler Widerſchein aus dem blauen Leuchten der 
Nacht, oder eine Helle von verwejendem Holz, oder weitab ein Irrlicht, 
Das über einen Graben tanzt. 

Was fchreitet Durchs Dunkel? Was lat und flüftert drohend und ftapft 
f&wer über die gurgelnden Gumpffanten den Weg gu Mac Neils Gehöft? 
Blutrache ift’s, Gericht gegen Gericht, 

Wie dunfel die Naht wird! Und kann dod das fehnfühtige Singen 
nicht beilen, das aus ihrer Siefe fommt und die Arme müde nad einer 
fernen @liidfeligfeit madt. Wie der Frühling doch duftet, wie warm aus 
dem Herd die Slamıge nad oben fchlägt, wie auch die Sterne aus der Höhe 
funfeln und ihr Licht aller Erde fpenden werden! 

Hord, im Röhricht ſchwirren erfchredte Enten auf. Die Gindde ants 
wortet, Nadtitimmen werden wad. Nod klingt das fremde Lied gleich 
einem Loden aus dem Lebendigen, tiefer als das Meer, höher als der Hime 
mel. Wo werden die Männer gum Morgen fein? 

Da nimmt Herr Abbo Stelling den Bogen aus der Hand, feine Augen 
funfeln, er will Weggenoffen haben. Die Sehne fdwirrt, ein röchelnder 
Aufſchrei reißt fih aus der Schwärze des Bufdhes, Drüben brüllen Bee 
feble, Schilde Heben fich Höher, fchreiten dunkel und wie der Weg fo breit gum 
Gehöft. Bolzen praffeln auf Wand und Gebüfh, Laden und Glide ante 
worten, Da verhalten die Schilde, Feuer leuchten hinter ihnen auf, fie geben 
gute Siele, Aber aus ihren Spalten pfeifen brennend Pfeile ins Dad, 
ue gitternd feft und kniſtern. Wahr did, Whbo Rotlinn, die Brander 
ommen! 

Die Gingefdloffenen näffen das feudte Schilf und ziehen mit den 
Sinden das Feuer heraus, 

Ya fommen neue Schilde quer übers Moor, glühen auf und fenden 
sifhend Ped und Feuer zum Hof. Und von rüdwärts fdreien fie nad 


546 








Waffer. Gs Iniftert und praffelt wie niederfaufendes Reet. Brandiger Naud 
glühı durch das Gebälk. Wahr did, Rotkinn, du ſtehſt mitten im Feuer— 
fein! 

Wahr did, Rotfinn! Sieh, bon allen Seiten nahen rotumrandete Schat- 
ten. Gin Sturmbod dröhnt von rüdwärts gegen die verrammelte Tür. 

Sie fdiitten alles Waffer ins Gebalf; einige ftürgen dabei, aber es 
bilft noch einmal, Dann naht es fi, als ftanden ſchwarze Mauern rund- 
um, wohin fie aud fpähen. Flammen fpringen dahinter auf, jagen das 
Dunkel in die Klippen zurüd, 

Was rufen fie? „Göttrik der Junge ift bier? Kommt heraus, Ruderer 
ber Sajjen, warum verkriecht ihr euch?“ 

Herr Abbo ftöhnt vor Kampfgier, feine Zähne Inirfhen. „Der Rotfinn 
ift bier, Komm gum Holmgang, Ööttrilfohn!“ 

Wie die von drüben den Namen des Rotkinn bören, heulen fie por 
Wut und fdmahenden Worten, Segt Hilft es nicht mehr, mit Waffer zu 
fommen, Die Pfeile bohren fic zifchend und fnijternd in alle Gden ein. 
And der Sturmbod rammt am Hoftor, was hilft’s, daß fie die Pfoften , 
aujbreden und Davor legen, Schon fällt brennendes Stroh bom Dac auf 
die Senne, die Männer drängen fih um Schuß in die engen Winkel, heben 
Schilde über fid und fchreien vor Schmerz. Gs wird Zeit gum Ende. 

Da jieht Abbo Rotlinn noch einmal fdweigend den Witten an, wens 
bet fich und wirft mit einem Schlag das Sor aus den Pflöden Die Knechte 
fteigen über, drängen fic rafend vom Feuer nach draußen. Die Prachen- 
leu.e weichen zurüd, werfen ihre Speere, Dann dringen die Nordferle wie 
ein Keil vor, alg wollten fie den Wall der Männer von fieben Schiffen 
ſprengen. 

Wie lange dauert der Streit? Die Nacht brennt und brüllt. Gs iſt, als 
hätten zwei vielföpfige Riefenleiber einander gepadt, rängen rafend um 
Atem und Licht. Dumpfes Schreien Hallt daraus hervor, Stdhnen, Stampe 
fen, gellender Hilferuf und verzüdte Kampfgier, Wut und fdrilles Angft- 
geſchrei. 

Aber es werden ihrer zu viel, Die Drachenleute umzingeln Abbo Rot- 
finns Männer langjam von allen Seiten. Die Dichte Löjt ſich, Berjprengte, 
Heine verfolgte Rotten eilen gegen die gnadenlojen Wände. Nod einmal 
erbebt fi das Geſchrei zur Wildheit, wo Abbo der Starke fampft. Gr bat 
einen Pfeil im Naden, aber er fteht wie ein Stier, Die Bruft porgebeugt, 
bie linfe Gaujt vorfintend auf den Schild geftügt, wirbelt er den blinfenden 
Saß im Kreis, Wieder und wieder fpringen fie gegen ibn, fallen gegen die 
Knechte, die feinen Rüden ſchützen. Aber Schlag um Schlag wirft er nod 
bie Dunklen Leiber nieder, beugen fie fih vor ihm zurüd, der nicht ge» 
fällı werden fann, 

Da tritt ein ſchwerer Gifengefchienter aus den Drachenmännern berpor, 
die legte Not fommt, 

„Rotlinn, id will ein Ende machen.“ 

„Herr Hardang,“ ſchreit der Bauer auf; es ift, als wollte er die Hände 
gum &leben aufwerfen, Aber er hebt nur mit letzter Kraft das Schwert mit 
beiden &äuften, 

Sein Schlag Elirrt gegen die eiferne Sdildfante. Herr Abbo ftürzt von 
ber Wudt vorniiber, mitten in Hardangs Hieb. Blut ftrdmt über feine Stirn 
und leuchtet im Feuerſchein. 

Da verläßt die legten Nordleute der Wut. Sie ftirgen blind ausein- 


547 


ander, bon den Dänen verfolgt, umringt oder aus den geöffneten Wane 
den mit Todeslachen aufgefangen. Gin junger Burſch ftolpert dagwijden. 
Gr wehrt fic, fo gut es geht, gegen einen graubärtigen Dänen, der ihm 
folgt und zu jedem feiner müden Streiche in Laden fällt. Bis in die Wände 
fommt er, nod trafen fie ibn nidt, Da ftellt ihn der Graubart, ſchlägt 
ibm mit einem furdtbaren Hieb den Schild aus der Hand und wirft ibn 
in Die Knie, daß die furze Waffe Elirrend zur Seite fliegt. Aber wie der 
Graue ihm den Sod geben will, gefdiebt es, daß feine Hand vorm Fallen 
anhält. Des Burfchen Gefidt leudtet im Fackelſchein, betäubt bom Sturz, 
das Schwert im DBlid, das ihn treffen will. Aber feine Augen tragen- 
nidt Beit, nit Furt; wunderlid fern blinkt die Gadel mitten hinein. Der 
Dane läßt den Arm finfen, er hebt dem Geftiirgten den Kopf auf. 

Der junge Geefdnig ftürzt auf ihn gu. „Was tuft du, Thorgrimm?“ 

Das Dunkel larmt, Schatten und Flammen fpringen gefpenftifh bin 
und ber, gleih als wiirfelten fie zwifhen Höhe und Siefe. „Laß diefen,“ 
fagt der Graubart und ſchiebt Göttriks Sohn zur Seite, „Gr ift ein Uebers 
fichtiger!* 

„Sr wird fid rächen,“ fchreit der junge Dane, Aber der Alte tritt gue 
rid, „Laß ibn! Diefer nimmt feine Rade, er bat nidts mit Menſchen zu 
tun.“ Gr ftiigt den Halbbetäubten mit feinem Schild bod und ftößt ibn ins 
Dunkle, Die Blide der Knedte folgen ihm mordluftig, aber niemand wider- 
{pridt. Dann wenden fie fih gum brennenden Kampfplat, wo der Tod 
den letzten Schrei erlöfcht. 

Was fingt in der Luft? Was flattert in Der Luft? Ob, viele Geelen, 
die zur Nacht erfdlagen wurden, Was ift für ein Gntjegen über dem Burſch, 
der das Moor durdirrt? Bater, wo bift du? Ad, Abbo Rotkinn ift weit; 
Herr Hardang hebt Erde auf das blutige Haupt, um ibm die Rube zu 
geben, die er im Leben nicht fand, 

Serner ballen die lebten Schreie bom Kampfplag; blaffer wird Der 
Schatten des Brandes, weicher die Klippe, die nadt und blaß unter den 
Sternen liegt. 

» ater, wo bift bu?“ Aber feine Antwort fommt, Da finft der müde 
gebebte Leib des Ruderers ohne Macht zu totengleihem Schlaf gufammen. 


Hans Friedrich Blund, Awenödftill*, 


u is ’t fo ftill un fachen, 

deep in den Daak de Wichel flöpt, 
de Gee eer glönig Laden 
to Rimpeln kröpt. 

In't Schummern ftarwt de Waggen, 
bat fingt un fichelt, ruufdt un dropt, 
wietaf in’t Spill een Draggen 
lies gnurſcht un ftopt. 

Alns Swerhen een Stwigen, 
an ’n Strand gait 't ag een Wegenleed, 
de Newels lücht bi 't Stigen 
ut Bees un Reet, 


> Aus: „Hart, warr ni mdd. Nedderdütihe Gedidten.* Berlag von Konrad 
Hanf, Hamburg. 


548 





Kleine Beiträge 


Durdhbrud*. 

ind er fprad das Wort: C8 werdel 

Da erflang ein ſchmerzlich Ad! 

Als das All mit Madtgebarde 

In die Wirklidfeiten brad. 

Ooethe, Weft-dftlider Divan. 

Die Welt ift voller Stoßen und Stamp- 

fen, Berften und Breden. Wir 
unterfdeiden dabei das zufällige pom 
notwendigen Serbreden. Wenn der 
Slik einen Baum zerfchmettert, wenn 
der fallende Baum einen Straud ver— 
nidtet, wenn der Löwe eine Gazelle 
gerreißt, wenn der Wagen über einen 

enihenförper rollt und ihn zerfett, 
fo bätte das alles aud anders fein 
fönnen. G38 ift ein Gebilde zerftört, 
nidts weiter. Wir fagen: es ift Zur 
fall, daß es gerade dieſes oder jenes 
Weſen trifft. Gs könnte aud _,ebenfo- 
ut“ ein andres getroffen haben, und 
a wäre fein Unterſchied als allein der, 
daß es eben ein anderes ift. Wir nen- 
nen e8 „Zufall“, und erflären das Bue 
fällige für „Sinnlos“. Die aufgeflärte 
Bernunft erträgt folde Ginnlofigfeit 
ſchwer und redet von der „Ungerechtig— 
feit“ in der Welt. Der Schöpfer muß 
fih por ihr verantworten, weil er feine 
beffere Welt zuftande gebradt bat. 
(Sheodicee.) j 

Ein anderes Zerbreden ift es, wenn 
eine Knoſpe, pon inneren Gäften ge» 
ihwellt, aufbridt und wenn aus dem 
Spalt hervor ein neuer Sproß ,ent- 
Iprießt“. Oder wenn die Blüte in ihrer 
feujhen Gefdloffenbeit pon der Kraft 
der Reife gefprengt wird und wenn der 
Keld fih den Lüften und der Sonne 
erjhließt. Oder wenn ein Menfdentind 
im Mutterleibe, plöglih von Anruͤhe er- 
faßt, nit mebr bleiben fann und une 
ter Schmerzen und Blut fih in die Welt 
hinaus zwängt. Wie oft geht die Mut- 
ter an Diefem Gtofen und Breden zu 
@runde! Aber foldes Berbreden ift ein 
Durdbreden, und in diefem „Durch“ 
bat e8 einen „Sinn“: den Ginn des 
Lebens Gs ift unter dem alten 
Leben ein neues, unter der alten Gee 
ftalt eine neue erquollen und will nun 
ein neues, eigenes Leben werden. Die 
fes neue Leben „bricht“ rud- und ftoß- 
weife mit einer gewiſſen Plötzlichkeit her- 
vor und erfdiittert dadurd das Leben, 
aus dem es wird. 


* Mus Gtapel, Das  Biidlein 


Thaumafia. @reifenverlag, Rudolftadt. 
Bgl. Bwiefprade, 


Nidt anders ift es im feelifhen und 
geiftigen Leben. Langfam reift im UAn— 
terbewußtfein eine neue Grfenntnis, ein 
neues Ziel, eine neue Sat. Mehr und 
mehr fpitren wir die gärende Anruhe. 
bis in Kämpfen und Zudungen unerwar- 
tet fid) unfer inneres Auge auftut und 
das Neue gleihfam aus uns hervor— 
bridt. Oder wir ringen um einen Gnt- 
ſchluß, der aus taufend unbewuften und 
balbbewußten Regungen endlid mit 
einem flaren, heftigen „Ih willl in 
die Wirklichkeit hineinbridt. Aud das 
innere Werden ift ein Durdhbreden, das 
nidt obne Anruhe, Schmerz und Zer— 
ftörung des Gewohnten und Geltenden 
abgebt. Immer erjdeint das Neue zu- 
nadft als ein Chaos; man fieht wohl 
ringsum Zerftörung, aber nod nidt das 
neue Gormwmerden, bis endlid die neue 
Gorm fid berausjondert und dem Blick 
enthüllt. 

Die jedes einzelne Leben in die 
Wirklidfeit hervorbridt, fo aud das Gee 
famtleben de3 Kosmos. Alles Wetwore 
dene ift in vergangenen Zeiten einmal 
nod) nidt gewejen. Diefer Gidbaum war’ 
vor fedgig Sabren nod nidt; da war 
nur eine Gidel. Sn ihr rubte die Mög- 
lihfeit des Gihbaumes, fie war aber 
nidt die Wirklichkeit des Baumes. 
Gin Pünktlein „reifte“ in der Sichel her— 
an, plößlih zu feiner Zeit begann das 
Pünktlein allerlei Stoffe, die um es Her 
waren, „lih anzueignen“ und baute aus 
dem Geienden ein bisher nod nicht Sei— 
endes, ein „neues“ Stic Wirklichkeit. 
Es zerjprengte die Sichel, der feimende 
Stengel Durdbrad die Erde. Nun wuds 
das neue @ebilde aus der Welt der 
Möglichkeit in die Welt der Wirklichkeit 
Hinein. 

Sp war aud der gefamte Kosmos 
einmal ,nod nidt* Wirklidfeit, fondern 
nur Möglichkeit. Da war nur der dan- 
tifhe Stoff, den die raubende Kraft des 
Lebens an fid rif, um daraus den Kos— 
mos zu geftalten. Diefe Kraft aber war 
— wo? In einer Welt, die nodh nidt 
„Wirklichkeit“ war, die für unfern Blid 
nidts als eine bloße Möglichkeit ift, in 
der nod nidts „wirkte“ und nidts ,ge- 
wirft war“. Wir feben immer nur das 
®ewordene, nidt den Urfprung; wir fe- 
ben nur das Ende, nidt den Anfang; 
wir feben nur die G©eftalt des Lebens, 
niht das Leben felbft. 

Warum aber ift das Werden ein 
Durdftofen und Durdbredhen? Warum 
nidt ein fanftes, leidtes, gleitendes Gide 


549 


geftalten? Warum „wird“ ein Wefen 
nidt nur duch ftilles Reifen ohne je- 
den „DBulfanismus“? Dann wäre feine 
gerftörung und feine ſchmerzende „Un— 
eredtigfeit’ in der Welt. Alles würde 
id, reifend von Seftalt zu Geftalt, fanft 
wandeln. Aber durh das Reifen al» 
lein wird nichts geboren. Immer, wenn 
ein Neues werden will, febt pliglid 
eine Unruhe und alsbald eine Katar 
ftropbe ein, bis die neue Seftalt „mit 
Madtgebarde* fid) Hhervordrangt. So— 
lange etwas „reift“, bleibt e3 dasjelbe 
Leben, das es ift. Grft mit dem ,Durd= 
breden“ wird e8 ein „anderes“ Leben, 
das fid vom mittterliden Leben ſchei— 
det und alfo von ihm gefdieden und vers 
fdieden tft. Das Reifen bleibt in der 
Ginbeit befdloffen. Das Durdhbreden 
aber zerreißt die Ginbeit und jchafft die 
Anderheit. Daher muß, um der Man- 
nigfaltigfeit und Anderheit willen, ein 
Becbreden in der Welt fein. 

(Adalbert Stifter preift in feiner herr» 
liden Gorrede zu den „DBunten Stei— 
nen“ Den „rubigen Gilberftrom’ der 
Gntwidlung, da3 fanfte, unmerflide Rei- 
fen. Die tobenden Gewitter, die Lander 
verfditttenden Grdbeben erfdeinen ihm 
flein und nidtig gegenüber der Größe 
des Heimliden und langfamen Sih-Wan- 
delns. Dennod ift wahr, daß der bren- 
nende Blig, das ſchmerzliche Zerreißen 
und Serdreden notwendig und darum 
groß find. Wer das ewig gleide Gein 
will, der wird die Größe des Lang» 
famen und Linmerfliden preifen. Wer 
das ewig, fid erneuernde Werden will, 
wird nidt minder die Grdfe der Durd- 
brüde und Rataftrophen preifen.) 

Das Gid-ablifen eines werdenden 
Neuen gelcbtebt immer durch eine Ich— 
Kraft, Die ſich befreit und fid felber 
alg unabhängig vom andern Ich febt. 
&3 ift immer eine Scheidung und ein 
Schmerz für das, was reif gemadt bat, 
nidt für das, was reif geworden ift. 
Die Mutter leidet Not, das Kind bat 
die Luft. Das neue, hervorbredhende Le- 
ben jebt mit Madt und Triumph fid 
Int und freut fich feiner Neuheit und 

raft. 

Weld ein Schmerz der Swigfeit, als 
aus der reifenden Rube ihrer Ginbeit 
die Anderbeit der Welt berporbrad in 
die Wirklidfeit! Welh ein Jauchzen, 
da die Kraft des Gormenden binein- 
brad in die barrenden Möglichkeiten des 
Sormlofen und in leuchtenden Sonnen 
und ftrömenden Bahnen bes Lichtes den 
Kosmos wirfend verwirflidte poll une 
endlid malmialahigee ®eftalt! Lind im- 
mer drängt bon igfeit gu Gwigfeit 
und durd alle Alnenbdlidfeiten hin der 


550 


Strom der Geftaltung und ſchäumt auf 
in ftürzenden Gebilden über Gebilden — 
e8 ift ein Breden, Stoßen und Kraden 
der „Jubelchöre der Söhne des Lichts“, 
ein Sriumpbieren bes Lebens, und Du 
— Hagft das dämoniihe Leben an, weil 
e8 voller Schmerzen ift und web tut? 
weil e8 ungeredt allein der Kraft 
um Giege But? Bahrlid, wer müde 
Labinfintt, vermag den Ginn des Lebens 
nit zu faffen, er geht unter in bitteren 
Moralismen und matten Anflagen. Gr 
zieht ſich zurüf in die ftarre Shatten- 
welt der Abftraftionen. G3 ift aber fein 
Leben als im Durdbredhen zur Wirk 
lichkeit. 

Wenn wir einmal aus der Wirflid- 
feit wieder hinaus- und hindurchbrechen 
in die Gwigfeit, wabrlid, du vermagft 
e8 nicht mit fauren Anflagen über dad 
Böfe in der Welt und mit den dürren 
Moralismen des aufgeflarten, in fid 
felbft verfangenen Berftandes. Aud der 
Durchbruch durh die Wände dieſes Lee 
ben8 in die Freiheit des Reidhes Got- 
teS und in die LUeberwelt des a 
Geiftes ift eine Sat der jchiwellenden 
Kraft und ift eine Madtgebirde. Mit 
leudtenden Augen und erbob:nen Hän« 
den [affeft du die Welt in ihren Schmer- 
en binter Dir, und das himmliſche Lidt 
—* in der Fülle ſeines GOlanzes dir 
entgegen über did. und rauſchend von 
feinem goldenen Stuhl erhebt Gr fih und 
tritt Gr dir entgegen, der ewige ott. 


Sur „Eheoloyia Deutfh*. 


G bat einen einentümlihen pornehmen 
Sauber, dies Büchlein deutfher Shee 
ologie eines Granffurter Ordensherrn 
aus der Zeit um 1350. Weniger wohl 
deshalb, weil es die reinfte $ovm einer 
deutiden Frömmigkeit darftellt, wie 
einer feiner beiten Neubearbeiter, Her- 
mann Diüttner*, meint; aud wohl nidt 
feines theologiihen Lehrgehalte3 wegen, 
der den jungen Reformator Luther mit 
dem Werke fo eng und herzlich verband. 
Die Frage ded Theologiſchen und ded 
Gbriftentum3 darf einmal ruhig ausge» 
[haltet werden, wenn wir nidt bon Hi» 
ftorifhen Bedingungen, fondern von un- 
mittelbarer — org 8 fpreden. &3 
bandelt fid für un3 bei der ,,Sbeologia 
Deutih“, einem der edelften Geftirne der 
Moftil, um den Glanz der Religion 
überhaupt und um den Aufgang unjfrer 
unerfüllten Sehnfuht nah der metaphy⸗ 
ſiſchen ri oe des Lebens. 
Naturwifienfhaft und Technik haben 
tief und wiffend die Saugwurzeln der 


* Ausgabe bei G. Diederihs, Tena, 


Zebensporgänge Bloßgelegt und freiges 
fpült, aber fie haben damit aud ſchmerz⸗ 
li@ genug in den Dafeinsquell des 
Wadjens und Nährens eingegriffen. Das 
ſchützende GErdreich ift fortgeriffen, das 
quellende Waffer hat fid in unbefannte 
Tiefen zurücdgezogen, und unbarmherzig 
brennen die Strahlen der Wiffenszerglie- 
derung auf zarteftes Gewebe nieder. Kein 
Wunder, daß der Organismus dürftet. 
Wir haben im tiefften Sinne die Bere 
Bindung mit unfern Quellen verloren. 
Sehr ernft gemeint und entfdloffen ift 
pon einflußreiher Geite der neuen deut» 
{Hen Sugend geraten worden: Habt den 
Mut, ohne Religion zu leben; die Re» 
ligion ift tot; eine fudende Seit hat feine 
Religion. Bugleid wird die Religion 
des @eiftes und die Metaphyfif (im 
Sinne Schopenhauers) als neues Heil 
gereidt. Nun weiß id zwar, daß jener 
Ruf zur religiöfen Abkehr mehr mißver— 
ftanden als begriffen wurde, daß er im 
@runde die Gelbftbejinnung de3 feelifchen 
und geiftigen Menſchen auf feine Ur— 
fprünge bedeutet, gegenüber der Medani-« 
fierung des äußeren Dafeins und der Ber- 
flahung religidfen Lebens in der Kirche. 
G3 ift aber wohl bod verhängnispoll, 
das Guden nad religiöfem Sebalt preis- 
zugeben. Schopenhauer erlöft nidt vom 
Proteftantismus oder irgendweldhem Lire 
päterglauben, der fid in Berduferlidung 
tot gelaufen bat. Gine gallige Meta 
phyſik ift um feinen Deut beffer als ein 
rofenfarbener @laube. Die Tiefen der 
Religiofität und der Metaphyfif werden 
ineinander münden: ihr letztes Wort ift 
nidt DVerföhnung, fondern Leiden und 
Sragif, heldiijde Haltung und Anbe— 
Dingtbeit por dem igen. 

Die Moftik ift dahin mifverftanden 
worden, daß fie Grlöjung, Auslöſchen 
der ®rengen, Aufhebung der Spannungen 
wolle Da wo Moftit das will, foll 
man ihr entfagen. Die tiefften Bezie— 
hungen de8 Menjhen vertragen am toes 
nigften eine Schönfärbung. Myſtik foll 
nur gelten im berbften und flarften 
Sinne, den Meifter Gdehart und eben 
aus feinem @eifte die Deutihe Theolo— 
gia umfdrieben haben. Bei ihnen ift 
jene Metapbpfil, mit der fid unfere 
Zeit meffen fann. lebernahme der My- 
ftit aus fremder Geingart in die unfre 
binein, gebt nidt an. Wohl aber dürfte 
unfer Ziel in einer verwandten Ridtung 
liegen. 

G3 gibt wenige europäifhe Bücher 
über Religiofität, die in einer fo reinen 
Linte und von fo bedeutender, verget- 
ftigter Ebene aus über Religion etwas 
wiffen. &3 ift ein Zug von wirklicher 
Srhabenheit und Größe, wie bier alle 


porletten Entiheidungen abgetviefen wer- 
den gegenüber tem einen Lebten, in 
bedingten durch das paulinifhe mäd- 
tige eitmotiv: „Wenn das Bollfome 
mene fommt, fo berwirft man das Un— 
pollfommene und das Stückwerk“ oder 
burd die ftete Befinnung auf den Schluß: 
Eins ift not! Nicht im Gyftem wird 
das durchgeführt, fondern immer von 
neuen Geiten au3, fo wie alle queren 
Shliff-Ebenen des Diamanten dod ihren 
gemeinfamen Mittelpunftt haben. Die 
Sbheologia ift uns die Berheifung eines 
neuen WMenfden, der vielleiht nie fein 
„Iſt“ erreiht hat und immer nod als 
ein „Soll“ vor ung fteht: der Menſch der 
unbeirrbaren Mitte, der Menſch der han- 
delnden Geiftigfeit und der milden 
Gtarfe, die beberrihend und ſchöpferiſch 
if. Ga ift ein Wenſch, der in ſich einen 
Arquell unverfieglider Kraft befist, die 
ibn unbefümmert läßt um die Angriffe, 
den Trug und die Wichtigkeit äußerer 
Mächte. Dieſer MWenſch gleiht nicht dem 
gebrochenen Sünder des Mittelalters, er 
iſt aud) nicht der Narr feiner Perjinlid- 
keit wie der Zeitgenoſſe, ſondern es iſt 
der ſich ewig aus feinen innerſten Kräf— 
ten verjüngende Wenfh. Gr hat den nur 
äußeren Schein des Menfdfeins hinge 
geben fix die Grfenntnid des göttlichen 
Alrerlebniffe3, das er fortwährend in fei- 
nem eben zur Darftellung bringt. Oe— 
enüber fündigem Bewuftfein, Gigentwil- 
en, felbft Gigentum fennt er das Gee 
beimnis der Gemeinfdaft, und died ein- 
mal als ein a ie Wort gemeint: „Im 
wahren Lidt und in der wahren Liebe 
ift feine Stätte für ein SH und Mein, 
ein Du und Dein und dergleichen.“ Ien- 
feit8 von Gut und Böſe — ift die Lo» 
fung; nur nidt allein durch Abſchaffen 
des DBöfen und den Abzugsreft einer 
freundlid dämmernden guten Welt, fon- 
Dern durd die Abſchaffung des DBöjen 
als Schidjal der Schöpfung und die Ber- 
drängung des Guten durd das Bollfom- 
mene. 

Es ift bas erfhütternde Bild des ver- 
gotteten Menfhen, auf deſſen Lippen 
nicht nur das heilige Ladeln der Mühe 
Iofigfeit Liegt, fondern ſchmerzliche und 
wiflende Grfenntnis. G3 ift Jugend und 
Alter, Güte und Strenge vereint in einer 
neuen @eftalt. Nidt Der Trager einer 
Rehre, fondern der Srfüller eine Rufes 
und eines Lebens. Es gibt feine Bors 
fdriften und lernbare Wege dahin. Der 
große Menfd, der neue Menſch handelt 
nidt nah Regeln, fondern er weiß fid 
eins mit dem Lirgefeb. Go ift bier be» 
reits das losmifhe Bewußtfein, nad dem 
wir verlangen, in einem hohen Bilde ge 
(haut. „Wers nicht ift, der fanns nidt 


551 


fagen, denn er weiß davon nichts; und 
wer es ift und weiß, der fann es aud 
nicht verworten oder jagen! Darum, wer 
eg wiſſen will, der warte, mie er’s 
werdel“ 

Der Frankfurter gibt Meifter Edebart 
——— nichts nach: „Oäb es 

as Beſſeres als Gott, das müßte ge— 
liebt werden por Oott!“ Diefe Liebe 
ift aber nicht jene blaffe und flaue Gee 
fühlsverdünnung, die aus dem „lieben 
©ott“ einen Gamilienpapa gemadt bat, 
fondern fie ift die ftrenge Güte des Wei— 
fen und die große Leidenihaft des Gre 
fillten. Mag Js daß Gdebart fühner 
in feinen Schlüſſen und wagebalfiger, 
verblüffender in feinen Ableitungen ift, 
— es ift das fchlieflih ein Erbe pon 
ſcholaſtiſchem Sntelleftualismus —, der 
Deutſchherr der Theologia ift abgerun- 
deter, faft lebensmwärmer in feiner Spra— 
de und Darftellung. Gr ift ein geiftiger 
Menſch von hohem Range, aber nidt von 
jenem falten Typus der neugeitliden 
Bernunftwifjenfhaft: ,Lidt oder Gre 
fenntnis taugt nidts ohne Liebe“ Gr 
beftreitet nidt das Dafein einer liebe» 
leeren Grfenntnis, wohl aber ihren Wert. 
©rade diefe Gorm der Grfenntnis, die 
nidt objektiv vernünftelnd, fondern ine 
tuitid und wiffend fortfdreitet (ohne in 
Srrgarten von Gefühlswillkürlichkeiten 
oder perfinlider Neigungswiinide abgu- 
irren) ift wohl geraten für Das, was 
wir metaphyſiſche Erfenntnis nennen. Sie 
baut im @runde dann aud die neue 
Religiofität auf, die nidt immer aus 
dem Mythos der rzeit oder der Ger 
{didte, fondern aud einmal aus den 
©ebeimnisgründen unfers Geiſtes aufe 
wadjen fann. Alfred Shrentreid. 


De Mufil in der Rirde. 

Dia Strom volfSentiproffener Mufil, 

defien bisher verſchüttete Quellen von 
den zahlreichen, im Zeichen demokrati— 
ſcher Volksbildung entſtandenen Vereini— 
gungen neu gewedt werden ſollen, floß 
einft vereint mit dem der firdlid-reli- 
— Muſik. Faſt unlösbar erſcheint 
ie Aufgabe, feſtzuſtellen, in welchen 
Fällen Kirche oder Volk der nehmende, 
der gebende Zeil geweſen. Mit der Ent- 
fremdung des Golfs von der Renaij- 
fance-Runftmufif Hand in Hand ging die 
Entfremdung der deutſchen Bolfsmufif 
pon der Kirche. Durd Luthers perjön- 
lide hausmuſikaliſche Betätigung, durch 
Badhs Feftwurzeln im Bolfsempfinden 
feiner Zeit wurde die proteftantifche 
Kirche por dem Schickſal ihrer Schweſter⸗ 
kirche bewahrt: jenen Zuſammenhang 
gänzlich zu verlieren und dadurch ihrer 
beſten Näbrquellen beraubt zu werden. 


552 


Aber aud fie ift heute nur nod im Bee 
fite Der Nadwirfungen jener guten al 
ten Zeit, und Reger hatte redt, den 
nt gugurufen: „Ihr verdient 

en Schatz an ſchönſter alter Choralmuſik 
nicht“, pe nad ©oethes »Srivirb, was 
du ererbt, um es = befigen“. Und wenn 
die Entiheidung, ie in unferen Tagen 
fid der proteftantifden Kirche auf» 
drängt, die Entideidung über ihre fünf- 
tige Gerfaffung dahin fallen follte, wo- 
bin der von den Kirchenvätern vorgelegte 
Entwurf zielt: eine Nahahmung des 
katholiſchen Biſchofweſens zu werden, fo 
wird fie in mujifalifher Beziehung ihr 
Gdidjal teilen mijffen. Im Gegenteil: 
fie wird jenes Schickſal fic) felbft auf- 
bürden zu einer Zeit, wo innerhalb ihrer 
Schwefterfonfefjion der Oedanke fid 
Bahn bridt: die Mufif der Kirche miffe 
wieder Anſchluß fuden an das zeitgendj- 
ſiſche Schaffen, das ja feinerfeit3 eben- 
falls enge Gerbindung mit der Dolfs- 
feele erftrebt. Gin DBenediktinerpater 
wie ein Sefuit (Kreitmaier, der 
Gerfajjer einer tühtigen Wogartbiogra- 
pbie) treten feit einiger Zeit entidloffen 
für eine Modernifierung der katholiſchen 
liturgifhden Mufif in die Schranken. Der 
BSenediftiner, Pater Fidelis aus Beu— 
ron, weift Toner auf Marz Regers Bee 
deutung für Die katholiſche RKirhenmufif 
bin. Lind es berührt wie ein Spiel der 
Geſchichte, wenn zur gleihen Beit von 
dem Gremium einer proteftantifhen Kir— 
de der Antrag, Regers Orgelwerfe in 
den Räumen einer der ihm unterftellten 
Kirchen vortragen zu lafjen, mit dem Bee 
merfen abgelehnt wird: ,Regers Mufif 
eigne fih nidt für den ernften Rahmen 
eines Gotteshauſes.“ Dies fagt ein Deut- 
{hes Kirdhenfollegium von der Mufif des 
gleihen Mannes, der in den lebten Sab- 
ren feines Lebens von der amerifanifden 
Landeskirche beauftragt wurde, ihr litur- 
giſche Gottesdienftmujif zu fdreiben. 
Was der Sefuitenpater feiner Grörte- 
rung voranjebt, dürfen aud wir zum 
Neitgedanfen unjerer Betradtung ma- 
den: „Alle äftbetifhen Künjte, die im 
riftliden Tempel entfaltet werden, find 
nidt Selbſtzweck, fondern dem religiöfen 
Nuten der Glaubigen Ddienftbar.“ Wie 
anders ift die Pruntliebe der katholiſchen 
Kirche zu erflären und in unferer Zeit 
der Armut des Staates zu rechtfertigen 
(der fonft febr wohl nad bolſchewikiſchem 
Borbild die RKirdhenfhabe der Allge- 
meinbeit nußbar maden ODiirfte, ja 
müßte!) als durch jene dee von der 
Mitbelferrolle der Künfte. Denn nur ein 
echtes Kunftwerf darf Anfprud auf wert- 
pollfte Materie erheben! 

Kreitmaier prägte einen Gab, deffen 


Lehre die Kirchen beider Richtungen an 
guerfennen und nubbar zu maden batten: 
„Die Hauptbeftimmung des Ootteshauſes 
wird in feiner Weile Schaden leiden, 
wenn jemand die Kunftiwerfe einer Kirche 
einmal unter rein äſthetiſchen ®efichts- 
punften betradtet, oder Wenn etwa 
außerhalb der Zeit des Oottesdienftes 
eine ganze Gdulflaffe in die Kirche gee 
führt wird, um über die Schönheiten 
des Bauwerks und feiner Ausfhmüdun 

belehrt zu werden. Und wer wollte fi 

daran ftoßen, wenn id am Gonntag, 
naddem id meiner Pflicht genügt habe, 
ein Hodamt bloß der Mufif wegen bee 
fude? Ware die Mufif nidt ihrer 
Natur nad etwas Flüchtiges, wäre fie 
ebenfo in Stein und Farbe verewigt 
wie die bildenden Künfte, dann fünnte 
dh gu jeder beliebigen Tagesftunde in 
Die Kirche gehen und mid an der Mur 
fit ebenſo äfthetifh erfreuen wie an den 
übrigen Kunjtwerfen. Da dies nidt 
möglich ift, bleibt nichts übrig als eine 
Reproduktion mufilaliider Werke außer- 
balb des Sotteshaufes (foll wohl heißen 
„außerhalb des Oottesdienftes")., Das 
aber ift bereit3 Wefen und Kern des 
Rirdenfongerts. Gewiß: die Kirche ift 
nid@t der Ort äſthetiſchen Genuffes im 
Sinne ihrer Hauptbeftimmung, fie fann 
aber, ohne diefe zu bindern, aud ein 
Ort äſthetiſchen Oenuſſes fein. 

Der Aufenftehende fann troß aller 
Anerfennung des LMebergzeugungsmutes 
Diejes Sefuiten faum den Gindrud los— 
werden, al8 würden bier Binjenwahr- 
beiten ausgefproden. Aber der Ginge- 
weibte eth, twelde —— Wider⸗ 
ſtände bier noch aus längft überholter 
Zeit wegzuräumen ſind: Kreitmaiers Ar— 
tikel iſt nur eine Abwehr einer charak— 
teriſtiſcherweiſe anonym erſchienenen 
Auslaſſung, in der u. a. Kernſprüche 
aufgetiſcht werden mie dieſer: „Kunſt— 
genuß iſt ein ſinnlicher, materieller Ge— 
nuß“, Kirchenkonzerte werden vom tap— 
feren Anonymus mit Armenbällen uſw. 
gleichgeſtellt und ihnen als Leitidee das 
(innliche, ſchlagt drei Kreuzell) Ver— 
gnügen unterſchoben. Und wer die zähen 
Kräfte kennt, welche ſich der Einfüh— 
rung von Frauenſtimmen in Kirchen— 
chören entgegenſetzen, der ſieht hier ein 
neues — zur Verdammung 
der Kirchenmuſik überhaupt heraufdäm— 
mern, eins, das im Gegenſatz zu Pfib- 
ners legendärem Sridenter der wahren 
Satjählichkeit entſprechen wird. 

Dat das Bolf fih längft ein eigenes 
Urteil gebildet, beweilen taufend Bei- 
fpiele: Kreitmaier fpridt pon einem böh— 
mifhen Dorf, wo fid didte Scharen zu 
dem im Anſchluſſe an den mäßig bee 


judten Gottesdienft ftattfindenden Orgel- 
fonzert drängten. Manchem wird bas 
immer ein „böhmifhes Dorf bleiben, 
aud wenn er hört, daß gleides aller- 
orten gefhieht. Hier hatte die Kirche 
einzugreifen, nicht bindernd, fondern för- 
dernd. Und fie hätte dafür zu — 
daß dabei wirklich Erbauungsmuſik ger 
fpielt werde, nidt  Kiebentalorsnis 
wie fie fon den jungen Beethoven gu 
autofratijdem Ginfdreiten. bradte. Denn 
wie gu Beethovens Zeiten italienifde 
Sagesihmadtarien fid in die nadhgot- 
tesdienftlihen Smprovifationen der Ore 
ganiften einfdliden, fo tun das heute 
ern Wagnerſche Weijen. Pater Fidelis 
öjer aus Beuron gebt bier mit beftem 
Beifpiel voran, wenn er auf Regers fire 
denmufifalifhe Bedeutung binweift, 
eines Mannes, zu deffen Lieblingsworten 
der Gas gehörte: „Mozart fonnte nur 
darum fo berrlid fomponieren, weil er 
im tiefften Herzen fromm war.“ Frei— 
lid: weder Mozart nod Reger hat man 
* hat vor allem die Kirche) ihre Re— 
igioſität glauben wollen und ſich ſelbſt 
dabei, d. h. die Kirche und ihre An— 
ehörigen, ihrer wertvollſten Mithelfer— 
räfte zum Preiſe Gottes beraubt. 
Profeffor Dr. Abert, der bedeutende 
Nadfolger H. Kretzſchmars, wies une 
längft gelegentlid eines Bortrags im 
Rabmen Der Kilner Schulmuſikwoche 
darauf bin, daß es verfebrt fei, fid von 
der Wiedereinführung der Badfden 
Kantaten in den offiziellen Gottesdienft 
etwas zu verjprehen, da jene ja dod 
teztlih wie geiftig inbaltlid zu fehr zeit“ 
lid gebunden und darum nur nod als 
abjolute, alfo nidt angewandte Kunft- 
werfe zu verwerten feien. Aljo aud hier, 
auf der „anderen“ Seite erklingt der Ruf 
nad neuer Kirchenmuſik. 

Steilih: das ſetzt voraus einmal, daß 
das Schaffen unferer Beit foldem neuen 
Bedürfnis entgegenfomme und zum an« 
dern, daß die Kirche geneigt fei, ihre 
amtliden mufifaliihen Organe fo in Mu. 
torität wie wirtidaftlider Lage gu ftel- 
fen, daß fie gern und eifrig fold neue 
Pflidten auf fih nehmen. Was das 
erfte anlangt, fo müßte eine Rompo- 
niftengeneration wie die unfere, zu de— 
ren Leitſpruch das Wort von der „Ent- 
materialifierung der Mufif und von ihrer 
Ridfehr zum edten Volkstum“ gehört, 
gang bejonders jolhem Verlangen ente 
gegenfommen. Die beute angebrodene 
„Renaiffance der Kammermufif“ müßte, 
der wirflihen Bedeutung diefes Begriffs 
nad aud) zu einer Yerftärkten Pflege der 
„Oebrauchsmuſik im höchſten und weite» 
ften Sinne“ führen. at die Kirche, 
vielmehr mögen beide Kirchen diefem 


553 


ebrliden Trieb —— und ihn 
dadurch befruchten, daß ſie Aufgaben 
ftellen! Dazu gehört aber auch, daß fie 


„ ihre mufifaliiden Beamten, Ghorleiter 


und Organiften wirtihaftlih auf eine 
Stufe heben, die ihnen Leben und Arbeit 
zur Greude madt! Bisher hat es hierin 
mebr als erlaubt, gefehlt, wie die ewig 
erneuten Klagen diejer Beamten bewei- 
fen, bon denen fo mander an Gehalt 
dem niedrigften Küfter oder Türſchließer 
nadftebt! DBielleiht folgt aus der Neu- 
geftaltung des höheren Muſiklehrberufs 
aud eine Reform des Rirdhenmufifer- 
tums. G8 find Fälle, nahzumeifen, wo 
jüdiſche Synagogen proteftantifde Mur 
fifer beranziehen, deren Siidtigfeit fie 
erfannt baben und deren Griftengforgen 
fie grofbergiger entgegenfommen als die 
Rirge, die folhde Männer ihre „Söhne“ 
nennt. 

Alle Weltweisheit unferer Zeit er» 
ftrebt gang im Ginflange mit der Politik 
die Stärkung des ©emeinihaftsgedan- 
fens: der ungarifhe Philoſoph Palaghj 
und fein deutſcher Gadgenofje Klages 
baben der alles zerjegenden, alles Den- 
fen und Gmpfinden feiner Halteftiiben 
beraubenden Relativitatslehre Ginfteins 
ein Gpftem des Dualismus: Geift und 
Leben entgegengefest, um fo der jedem 
Menſchen innewohnenden rfeele ihre 
— verlorengegangene Bedeutung 
wi ugeben. Die Kirchen hätten heute 
mehr denn je die Miſſion zu erfüllen, 
die Menſchheit zu einigen zu neuen Frie⸗ 
denswerfen und neuem ®eiftesglauben. 
Weldhe Helferin wäre bier hilfreicher, 
welde madtiger als die Runft, voran 
die Mufit? Will die Kirdhe wieder Gee 
meinfhaftstirde werden, fo muß fie, wie 
der rheiniihe Dichter Safob Kneip dies 
fo treffend ausgefproden bat, pon neuem 
gum Volke berabfteigen, aus dem Kle— 
tifer muß wieder der Bolfsprediger wer- 
den, wenn man wirren Sdwarmgeiftern 
die Heute mehr denn je blühende Kunft 
des „Menihenfangens“ aus der Hand 
reißen will. Zu foldem innigen Sus 
fammenfinden mit der Bolfsfeele dient 
por allem die Muſik, die Kunft der 
Segenftandslojigfeit, der einfachen Seelen- 
regungen. Nod ift es Zeit, fie zu rufen, 
ehe fie fih in neues Artiften- und 
Xefthetentum verliert und ihre wert» 
pollen Kräfte verzettelt anftatt fie der 
Semeinfhaft nugbar zu maden. Ob die 
Kirchen die Beit zu nüßen wiffen wer- 
den? Hermann Unger. 


Das Paffir. 
XQ 2° non eft in actis non eft in 
mundo, fo hieß die Prozeßvorſchrift, 
die nod zur Beit der Aelteften unter 


554 


uns galt. &3 muß eine dem Deutfden 
utiefft innewohnende Sharattereigentiim- 
idfeit fein, welche dem ſchriftlichen Ber- 
febr über dag Geridtsverfabren hinaus 
feinen gewaltigen und verderbliden Gin 
fluß einräumen fonnte. 

G3 liegt auf der Hand, daß der 
{Hriftlide Verkehr feine ihm eigentüm- 
liden Formen fdaffen mußte. Das Here 
porftehende Merkmal erblide id darin, 
daß der Schreiber, der fiir feine Pare 
tei, feine Behörde vortragt, berichtet oder 
meldet, die Sdhform meidet. Die unper- 
fonlide Form des Bortrages, die diel- 
leiht aud) heute nod) den Anfdein er- 
böbter Gadlidfeit erweden foll, bat nun 
eine befondere Stilform hervorgerufen, 
pon der man pdielleidt fagen fann, daß 
fie nidt nur einen Rückſchluß auf die 
Denfart des Schreibers geftattet, fon- 
dern dab der Menih der Sklave feines 
Stil3 wurde. 

Gage wie: „für die Berfammlung mie» 
tete ih den Saal“ oder „ich eröffnete die 
Gibung um 10 Uhr“ Lauten in diefem 
Aftendeutfh: „für Die Berfammlung 
wurde der Gaal gemietet“, „die Sitzung 
wurde um 10 Uhr eröffnet“. Aber dar 
mit nod nidt genug! Für den DBeherr- 
{her — oder miffen wir nicht beffer 
fagen: Sklaven — diejes Stils ift aud 
nod) die Borfilbe „ge“ ein @reuel, ift 
fie Dod aud das Kennzeihen des Pers 
feftum Aktivi. Wieviel beifer flingt 
ihm: „für die Berfammlung wurde der 
Saal ermietet, das Brot wird er- 
baden, das Simmer wird er heizt“. In 
der gleiden Weife überfteigert er die an 
fid ſchon paffive Gabfonftruftion „der 
Betrag wurde ausgelegt“ in „der Bee 
trag wurde zur Gerauslagung gebradt”. 

3h welt nidt, wieviel Deutide 
beute in einer Schreibftube groß werden. 
Giderlid find es aber fehr viele und 
alle diefe Hunderttaufende denfen, fo» 
bald fie die Feder in die Hand neb- 
men, nidt im Altivum, fondern im Paf- 
fioum. Wer könnte daran zweifeln, daß 
diefe Gorm des Denkens nidt nur ein 
Seiden der Zeit, fondern gugleid aud 
eine Grflarung für unfere Lage ift? 

Bie maden e8 die anderen? Nichts 
ift Iehrreider als ein Blid in den An 
eigenteil eines engliihen, eines ameri- 
aniihen Magazine. „Wenden Gie fid 
an Ihren Drogiften; er führt, was Sie 
brauden“, „Warum fragen Gie nidt nad 
unferer PBreislifte; wir jhiden fie Ihnen 
gern“, fo heißt e8 dort. Und bei und —: 
„Sn jeder AWpothefe erhältlih“, „Pie 
Preislifte wird auf Wunſch zugeſchickt“. 
Welde Blutleere des Sedanfens (wer 
wird wohl in der Umgangsfprade fa- 
gen, eine Ware ift „erhältlih”?). In 





der heutigen Morgenzeitung lefe id in 
einer Anzeige: ,Durd die felbfttätige 
An ts a dae — wurde ein Sroffeuer 
Ber ert’. Wenn id die Anzeigevor⸗ 
tidtung gu verfaufen hätte, würde id 
fagen: „Unfere felbfttätige Anzeigepor- 
ridtung verhinderte den Wusbrud eines 
Sroffeuers“, und mir dabei einbilden, 
daß der Anterſchied nidt nur in den 
Worten liegt. 

G8 ift nicht immer fo bei ung getwefen. 
Gor einigen Jahren drudte eine Ber- 
liner Zeitung Anzeigen ab, die in der 
gleiden Nummer vor Hundert Jahren 
geftanden batten. Mir ift lebhaft in der 
Grinnerung geblieben, wie ungefünftelt 
in der Gorm der Wortlaut war. Dae 
mals fagte man nod: „Ih habe einen 
— —— zu verkaufen“ und nicht 
„Sin Kinderwagen iſt zu verkaufen bei“. 

Ih behaupte, der Anterſchied ift nicht 
nur eine Srage des Gefdmads und des 
Spradgefihls. Wir ſchreiben und denfen 
im Paſſivum, die Engländer und Ame— 
tifaner denken und fdreiben im Al 
tipum. 

Aufgabe der Schule ift e8, die Wand- 
lung zu fchaffen. Kampf bis aufs Meffer 
der paffiven Sabfonftruftion. Gin Doll, 
das aftiv denkt, wird aud handeln und 
nit leiden. Herbert Edyl. 


Der Lnbermetdlide. 

Er ſtammt natürlich aus Budapeſt. In⸗ 

direkt nod viel weiter aus dem Süd- 
often. Nie follt ibr mid befragen... 
Der Bater handelte erfolgreih. Womit? 
©ott, womit man fo handelt. Der Sohn 
wurde „©elehrter“. Mit viel Geld und 
Aufwand drängte er fich einer fehr fon 
fervatiben Alniverfitätsftadt auf. Port 
ereignete fic) allerlei Bemerkenswertes. 
Minter anderm folgendes: G8 befteht in 
jener Stadt eine febr alte, febr merf- 
würdige, febr patrizifhe Gitte. Wenn 
ein alter Patrigier zu einem @aftmabl 
einlädt, dann läßt er fi, bevor allge» 
mein aufgetragen wird, einen Seller 
Suppe allein reihen, den er bor dem 
Beginn des Mahles feierlih auslöffelt. 
Der Saft aus dem Often lädt zu fid ein, 
was fommen mag. Gr thront feierlich 
an der Gpibe der Tafel und lapt fid 
feinen Zeller Suppe auftragen... 

And fo bat er’3 immer gehalten. Die 
‘Landesfitten muß man ehren, man muß 
fih anpaffen. Zwar bat jene fonfer= 
pative Stadt merkwürdig wenig Tere 
ftändnis für folde Salente gehabt. Sie 
bat alles daran gefebt, diefe Leudte der 
Wiffenfdaft wieder loszuwerden. Ia, e8 
geht fogar die Rede, dab man in befagter 
Stadt einen patriotiihen Berein mit dem 
einzigen Swed gründete, den Unverſtan⸗ 


denen wegauefeln, und daß diefer Verein 
fih feftlihd auflöfte, alg der Swed er- 
reiht war. Aber mein @ott, es gibt 
fo viele weniger fonferdative Städte. Zum 
Beifpiel: Berlin. 

Berlin. Schon die lebte Kriegszeit bot 
bier ungeheure Möglichkeiten. Im Häu- 
ferfdieben wie im Seitungs- und poli- 
tiſchen „Betrieb“. Man arrangiert DBor- 
träge, man lädt ein — man hat's ja 
— man bringt e8 durch unermüdlide 
„Öefälligfeiten“ dazu, daß alle jene hin- 

eben, die überall dabei fein miiffen und 
ie „ganz Berlin“ ausmaden, man bat 
Gerbindungen und ſchließlich wagt nie» 
mand mebr, dem man fid gefällig er- 
weifen will, die fleinen journaliftifden 
Dienfte zurüdzumeijen. Gin Diner beim 
©efandten X, das wundervolle Abend- 
fleid Der Frau WMinifter B, dte (ftillen) 
Gerdienfte des (allgubefdheidenen) Poli- 
tifers 3 — sure die Hand, die in jener 
fonfervativen Stadt niemand jhütteln 
wollte, fand bier, in Berlin, dem fo um— 
und zugängliden, viele Schüttler, eifrige 
Schüttler oder zum mindeften vorfidtig- 
böflihe — man fann nie wiffen —. 

Aber fo redht wurde man dod ae 
feiner Talente und feines Lebens fro 
nad der glorreiden Revolution. Da 
—— man den — fogufagen — Ritter⸗ 
ſchlag. Da war man — endlich — poll» 
wertig. Da fonnte man fid voll ent- 
falten. Wan ging morgens in die Hotels 
und fragte nad den git gba ae Frem⸗ 
den, ließ ſich melden, und vermöge der 
internationalen Verbindungen, vermöge 
des wiſſenſchaftlichen Namens gab's dod 
immer wieder ein Interview, eine be— 
ſcheiden⸗ſchmeichelhafte Szene in der Zei⸗ 
tung, in Der fid unfer eg Sftlider 
Sreund in angemeffen vertraulider Ber- 
einigung mit Mifter Cor aus New-York 
(dem befannten Groffinangier) oder Wr. 
Goque aus Paris (dem befannten Po- 
litifer) zeigen fonnte. „Es ift natiirlid 
nicht möglich, aus der etwa drei Biertel- 
ftunden wabrenden vertrauliden Unter— 
redung Ginzelheiten mitzuteilen...“ Bon 
den Hotels geht man zu den Wefandt- 
f&haften, in denen man wie zu Haufe ift. 
Wan trägt Neuigkeiten bin und ber — 
weshalb man aud den Titel „Austaufh- 
profefior“ bon boshaften Zungen erhält 
— man madt fid teils nützlich teils un« 
bermeidlid. Man unterftüßt geivefene 
Minifter, d. 5. folde, die zu den inter- 
nationalen Beziehungen pafjen, man fine 
det alle Türen offen und füllt außerdem 
Die Spalten eines (aud) zu den inter 
nationalen Beziehungen paffenden) Zei- 
tungsfongerns mit manierlih aufgemad- 
ten böflihen, befdeiden » welthiftorifchen 
Notighen. ,Sefprad mit dem Präfiden- 


555 


ten...“, „Ein Abend bei dem Mini- 
fter...“. Rurgum — man ift der Ho— 
mer diefer Helden des Beitalters der 
Reparationen, Konferenzen und parla 
mentarifhen Schiebungen, zu Haufe und 
in der Welt. 

Das waren felbft diefe — obne 
einen Homer? L. H. 


Matthias Schieſtl. 

ern in früheren Zeiten — id denfe 

por allem an die Jahrhunderte um 
1500 — ein Maler aus freien Stüden 
oder im Auftrag ein religidfes Bild ge- 
malt bat, fo war das mindefteng eben- 
fofebr eine religiöfe Handlung wie eine 
fünftlerifhe Angelegenheit. Dem Maler 
war ein foldes Bild nicht nur ein 
willfommener Anlaß, irgendein Problem 
der Löfung entgegenzuführen, fondern 
aud) @laubensfade. Sa, man fann 
fagen: Da der Künftler ganz von dem 
duchdrungen war, was er malte, und 
da ibm das den höchſten geiſtigen 
Lebensinhalt bedeutete, ſo war für ihn 
das Malen ſelbſt, dieſes Mittel zum 
Zweck, nur eine Sache von geringerem 
Belang. Es war ſelbſtverſtändlich, daß 
er dieſes Mittel in jeder Hinſicht be— 
herrſchte; denn ſonſt hätte er es, in 
ſeiner frommen Einfalt, gewiß als einen 
Frevel —— ſich überhaupt an eine 
ſolche Aufgabe zu wagen. Ind ebenfo 
felbftverftändlih war es, daß er, im 
Dienfte des Himmels, als Künftler das 
Kette aus fic) Herausholte, zur höheren 
Ehre Gottes, Marias oder der Heiligen. 
Daber allein fommt die wundervolle Ab» 
geflärtheit der Bilder aus jener Zeit, 
dieſes fogufagen ewige Leben, das als 
Atmofphare um fie ift, und die faft 
unbegreiflihe Harmonie des Geiftigen 
und Siinftlerijden, der dee und Der 
Ausführung. 

Die gang anders ift dagegen der 
Gindrud der meiften religidjen Bilder, 
Die in unferer Zeit entfteben! Bor allem 
bat man faft immer das Gefühl, daß der 
Maler das religiöfe Motiv nur gan 
bat, weil e8 das bequemfte, billigite 
und verftandlidfte if. Alfo nidt aus 
Antrieb von innen heraus, und weil ed 
dem Maler eine tiefe Befriedigung ge- 
wabrte, fid) mit göttlihen Dingen aus- 
einander zu feben, fondern im ©runde 
eigentlih nur aus ©edanfenfaulheit und 
legten Endes zu dem Hauptgwed, irgend" 
ein malerijdes &;periment auszuprobie- 
ten. &3 ift flar, daß der religiös ge- 
ftimmte Wenſch jolde Bilder, foweit fie 
den Anfprud erheben” religidje Malerei 
zu fein, ablehnen muß. Und dazu gehört, 
wie bemerft, der größte Teil Der moder 
nen Bilder mit Motiven aus der Bibel 


556 


und por allem mit folden aus der 
Lebens“ und Leidensgeſchichte Shrifti. 
G3 gibt aber gliidliderweife aud 
Ausnahmen. Lind unter diefen ift Der 
Mündener Maler und Grapbifer Mat- 
thias Schieſtl eine der erfreulichſten. 
Schieſtl ift ja nicht ausſchließlich reli— 
giöſer Maler. Er hat auch Landſchaften, 
mit weltlichen Stafſagen oder ohne ſolche, 
gemalt reizende GStilleben, mei mit 
Ipenblumen, und Porträts. er der 
überwiegende Seil feines Schaffens, an 
den wir zunädft denfen, wenn wir den 
Namen Matthias Shieftl bören, ift reli» 
gidfe Kunft. Und es dürfte wohl feinen 
geben, er fet religiös oder nicht, der 
por diefen Bildern und Zeihnungen nicht 
fofort empfände, daß ihr Schöpfer an 
das glaubt, tas er gemalt hat. Diefer 


Künftler — das fpürt man — ift nidt . 


nur als Gtilift ein Arcdhaift; er bat 
aud) nod den innigen, ftillen, ‘ftarfen, 
alles durdleudtenden und erwärmenden 
@lauben der Alten. Und fo wirken feine 
Bilder ganz ähnlih wie die der ober- 
und niederdeutifhen und der holländiſchen 
Maler etwa des 15. und 16. Jahr— 
Hunderts. Mit einem Worte: Sdieftls 
Kunſt ift echte religidje Malerei. Und 
außerdem eines der wenigen modernen 
Beijpiele für eine Runft, deren Gefin- 
nung unantaftbar und die außerdem 
a an unbeftreitbarer, hoher Quali- 
ät ift. 

Matthias Shieftl ift am 27. März 
1869 in @nigl bei Salzburg geboren, wo 
fein ater, der Bildtgniger Matthias 
Scieftl, vorübergehend Aufenthalt ge- 
nommen hatte. Gein älterer Bruder 
Heinz lebt als Bildhauer in Würzburg, 
der jüngere, Rudolf, ift Profeſſor an 
der Kunftgewerbeihule in Nürnberg. Die 
eigentlide Heimat der Familie ift das 
Sillertal in Sirol, wo die Sdieftl von 
alters ber beimifd find. Und es ift des- 
balb verftandlid, daß Matthias Schieſtl, 
obwohl er feine ganze Jugend in Würz- 
burg, dem fpäteren Wohnort feines 
Gaters, verlebt bat, Dod feinem Weſen 
nad mehr ein Siroler als ein Granfe 
geworden ift. Sedenfalls liebt er Die 
Siroler Berge und die Wenfden diefes 
Landes, und im beimatlihen Zillertal, 
wo er, in der Nähe von Zell am iller, 
zufammen mit feinem Bruder Rudolf ein 
bejdeidenes, bebaglid-bauerlihes Blod- 
baus bejitt, ift er faft alljährlih ein 
regelmäßiger Gaft. Das merft man aud 
an feinen Bildern und Zeichnungen, 
deren Landjdaftlide Hintergründe meift 
Siroler Motive find. Den hidft foliden 
©rund feines Könnens bat atthias 
Schieſtl bei feinem ausgezeichneten Vater 
gelegt, in deffen Würzburger Werfftatt 


* = 


er zehn Sabre als Bildfehniger gear- 
beitet bat. Dann fam er nad Münden 
an die Afademie, zu Wilhelm von Piez 
und Später, nad einem furgen Aufent- 
balt in Snnsbrud, zu Löfftz Und in 
Münden, bon wo er mande eindruds- 
reihe Reife nad Holland, Italien, 
Aegypten ufw. gemadt bat, Iebt und 
ſchafft er heute nod, in einem Atelier, 
das viele Aehnlidfeit mit einer alten 
Rlofterwerfftatt bat. 

Man Hat Matthias GSdieftl den 
Maler des Weihnahtswunders genannt. 
Das trifft. wohl zu. Aber man fönnte 
ihn vielleiht mit nod mehr Redt einen 
Marienmaler nennen. Sedenfalls ift das 
Sentralproblem vieler feiner Bilder das 
Leben Maria. DBerfündigung, Anbetung 
der Hirten und der heiligen drei Könige, 

ludt find die Hauptmotive. Am 
äufigften fehrt das Motiv wieder, das 
Maria, die jungfräulide, die Scieftl 
wie mander alte Meifter als ein äußerft 
zartes, mäddhenhaftes, ja faft findlides 


Geſchöpf von rührendfter Hingabe fdil- 
dert, alg Mutter des Jeſuskindes zeigt: 
alfo das Weibnadtsmotiv oder Maria, 
das Rindlein wiegend, wartend oder mit 
ibm fpielend. 

Hier ift in der Sat BVolfstimlidftes, 
und nur folded, in foblidter und dod 
unendlih gefühlsreiher Gprade jedem 
ur Greude und zur Grbauung ausge» 
erben Sn Matthias Shieftl ift eben 
einer der vielen, wahrhaft frommen, 
ftillen Maler des 15. Sabrbunderts 
wieder erftanden. Gr ift ein berufener, 
{pater Heelan der Memling, Syd, 
Dürer und vielleiht aud des Fra An— 
gelico. And in feiner Runft, Die troß 
ihrer vielen Beziehungen zur Bergangen- 
beit dod [eben iger, wahrer und unmite 
telbarer wirft als fo mandes, was um 
jeden Preis modern fein mddte, bewährt 
fih erneut die über Raum und Zeit 
triumpbierende Madt des religiöfen Ge 
Danfens, der in ihr Gorm gewonnen hat. 

Ridard Braungart 








. Der Beobadter 








Das aus der Kunſtgewerbeſchule her⸗ 
vorgegangene Staatliche Bauhaus in 
Weimar hat ſich durch Kommunismus, 
Expreſſionismus, Vacktbeinigkeit, Maz⸗ 
daznan und ähnliche ſchöne Dinge vieler- 
orts unbeliebt gemacht. Schade. Denn 
die ſtachlicht⸗exotiſche Schale birgt einen 
guten Kern: das Beftreben, aus der 
Runftgefdhaftelbuberei ing Gut-Handwerk- 
lide zurüdzufehren und von bier aus 
einen neuen Anfang zu nehmen. Nur, 
fheint ung, entfprad der guten WAbfidt 
nit die Kraft. Sollte die Gade gelins 
gen, fo hätte man eine wirkliche Lehr— 
und Lerngemeinſchaft größeren Stils gu- 
ftande bringen mitffen. Wie ift das aber 
möglih mit Künftlern, die, fo febr man 
bor jedem einzelnen von ihnen Refpeft 
haben mag, dod nad ihrer Herkunft, 
ihrer menfdliden Art, ihrer Kunft und 
ihren Sdeen fo grundverfdieden find wie 
die Baubaus-Meifter? Wie follen diefe 
individualifti{dten Sndividualiften unfres 
Planeten eine Oemeinſchaft bile 
den? {Ind gum andern: wie follen mife- 
rabel befoldete Meifter, die nebenbei 
ihren Lebensunterhalt durch freie fünft- 
lerifhe Arbeit erwerben müffen, die nd- 
tige Kraft und Zeit für die pädagogische 
Aufgabe, wie fie im Programm. ftebt, 
aufbringen? So war das Bauhaus abne 
lid) wie die Demokratie: eine gutgemeinte 
Sdee und eine fhlimme Realität. Nun 
geht es im thüringifhen Landtag um die 


Stage: foll das Bauhaus aufgelöft wer- 
den, foll man die Künftler vor die Tür 
feben? Wir meinen: Entweder — oder! 
Entweder: man forgt für eine gwecent- 
{predhende Sufammenfebung der Meifter- 
jhaft als eines Lehr körpers und gibt 
den WMeiftern ein vernünftiges Gebalt, 
fo daß fie ihre Stellung nit bloß als 
einen Kleinen Zufhuß zum Leben und als 
Redht auf ein billiges Atelier. zu ber 
tradten brauden; oder: man [sft dag 
Bauhaus auf und gibt den Künftlern 
ihre Greibeit zurüd. Kunft- und Rinft- 
lerpflege fann man auf andere Weife 
würdiger betreiben als durd fhöne Pro- 
gramme, fdledtbefoldete Stellungen und 
unmdglide Zumutungen. Auf feinen Fall 
oe fönnen die Dinge bleiben, wie fie 


G3 ift pon je fo gewejen, daß „der 
Sänger mit dem König geht“. Did- 
ter aber, die mit einer grundfaglid un- 
beldifhen und unföniglihen Demofratie 
eben, bat erft das Zeitalter des Ameri- 
anismus bervorgebradt. Da wird der 
Dichter zu einem firforgliden Betuer der 
„Kulturwerte“, der fis auf den ertrag- 
reihen Boden der Satfaden ftellt und 
die dide Banalitat mit den Flittern fei- 
ner Runft verziert und, wenigftens der 
Abjidt nad, verihönt. Homer verhöhnte 
den pagififtifden und antimonardifden 
Demofraterih Therfites; Ariftophanes 


557 





munterte feine Mitrepublifaner gegen 
den Demotratenhduptling Kleon auf: 
»Paie, paie ton panourgon!“ (Aufreizung 
zur Gewalt, Beradtlidmadung der athe- 
nifhen Republik.) Gr bezeichnete ihn mit 
dem berrliden Worte Borborotararis — 
fann man einen um die Majorität wer- 
benden Wahlredner onomatopoetifder 
und fadgemafer (e8 bedeutet namlid: 
Schlammaufwühler) benennen? Platon 
bielt fid die Nafe zu, dachte über die 
Difaiofyne nad und entwarf eine reaf- 
tionäre Politeia mit Dreiklaſſenſyſtem. 
Raffenbygiene und einem höchſt fultur- 
widrigen Gerbot der Sdniblerjmen Dra- 
men. Im Dominion Germany ift ed 
gang anders. Da arbeiten die beiden 
größten Didtersmanner fleißig mit am 
Schuß der Republif. Gerhart Haupt» 
mann, der einft friegsdichtete, ftellt lid 
unter „Die, die belebrbar find“ und be- 
lehrt alsbald die andern. Der andere 
Mann (ohne Haupt-) ftellt fi, eben- 
fallg belehrt und belebrend, auf das 
Dienftfertig pom Berliner Tageblatt hin- 
gamohene Podium und madt feine 

ännden für die Demofratie. Den Bogel 
(in Ddiefem Gall: die Taube) hat aber 
diesmal unzweifelhaft der Haupt-Mann 
abgeſchoſſen. Ginige hochwohlbeſitzende 
Demokraten, denen es auf Geld nicht an— 
kommt, wollten den verehrten Weiſter 
aus dem Parkhotel in Lugano durch 
die Luft in eine Deſſauer Demofraten= 
verfammlung fliegen laffen. Der verehrte 
Meifter aber zog die Gefurität und Be- 
baglidfeit des Parkhotels dem In⸗die⸗ 
Luft-fliegen por. Immerhin war er 
dankbar und überjandte „mit den ange» 
legentlidften Smpfehlungen“ feine edel- 
mütigen @®edanfen brieflid. Diefer für 
die Literatur der Republif ewig denk» 
würdige Brief fließt: „Da ein Glug- 
eug für fie (diefe Zeilen) einen unver- 
ältnismäßigen Aufwand bedeuten wür— 
de, fende ih fie mit der üblichen Brief» 
taube, aud weil es mir gut foheint, daß 
man binter politiihem Lärm immer wie 
der den Fittih der Friedenstaube ein 
wenig raujden hört. Mag fie mit ihrem 
Slügelihlag, inmitten aller fturmbaften 
Energien des Wahltampfes, auf das hin- 
weiſen, worin die weitaus meiften Deut- 
{hen einig find: die Liebe zu Volt und 
Gaterland.* Die demofratifmen Tauben 
find balt gang befondere Sremplare. Gie 
baben einen fo foloffalen Gittid, daß 
man ibn fogar durd die fturmbaften 
Energien des Wablfampflarmes raujden 
hort. Der Sliigelidlag bejagten Zittichg 
zeigt außerdem augleid ridtunggebend 
auf die Liebe gu Bolf und Vaterland 
bin. Mein Lieber, das ift edelftes Dee 
mofratendeutih, Erzeugnis des geebrte- 


558 


ften Boeten der Republif. Will hat fei- 
nen Homer und der Kitjchpolitifer hat 
feinen Kitfhdihter. Denn alle Schuld 
radt fih auf Erden. (Ob dem forgfalti- 
gen Thomas Mann nidt die Schweiß. 
perlen auf die Stirn treten, wenn er je 
zuweilen das Deutfdh feiner beiden de— 
mofratifhen Didterfollegen Hauptmann 
Mur: ls böfliherweife Dod wohl leſen 
mu 


ie Tageszeitung Germania, 
Re: Stern Sofeph Wirth aus 
Sreiburg ift, fteht befanntlih in Dem 
Ruf, unter den größeren deutiden Zei» 
tungen bon den Lefern das geringfte 
Quantum Intelligenz gu bean}pruden. 
Den mürriſchen Kleinbürgern und Sdlau- 
bergerlein, die dort „große Politik“ trei- 
ben, gelingt es nidt, die völkiſche Idee 
vas gu bewältigen. Sie vereinfachen 
fd as erfabren gegen Leute, die 
ihnen irgendwie unbeimlid find: fie 
ſchüren für ihre politifden Parteizwede 
die religiöfen Gmpfindungen an. Zur 
Zeit wird diefe Methode gegen die völki— 
fhen und nationalen Kreife gehandhabt, 
die nidt fo wollen, wie Sojeph Wirth 
will. Wir lefen in der Germania: „Wir 
fteben nidt an, das Völkiſche, wie es 
jid heute in Deutfdland entwidelt bat, 
alg eine ausgefproden anti- 
Hriftlide Harefie zu bezeichnen, 
alg neugermanifdes Heiden- 
tum, das wahrhaft driftlider Gefin- 
nung unwürdig ift und gu ihr im 
ſchärfſten Widerfprud fteht.“ In Baufd 
und Bogen — baftal Was foll man 
fid mit LUebelwollenden ftreiten? Wir 
warten in ®eduld das Jüngſte Gericht 
ab. Da werden ja aud alle fatten und 
felbftgeredten Wuguren por dem Weltene 
ridter erfdeinen müffen. Dann wird fid 
berausftellen, wie @briftus über die 
Keberrihter della Germania denkt, und 
wie über ung Gerfegerte, die wir immer- 
bin überzeugt find, mit unferer Liebe 
und Gorge um das deutſche Bolf die ung 
von @ott gefebte Aufgabe zu erfüllen. 
DBerumtamen in mundi fluctibus, 
ubi nemo mundus a fordibus, 
quod dicitis in veftris cordibus 
conpungendum eft in cubilibus. 


deren 


Das „Lachen links“ erfordert, daß man 


es ein wenig beobachte. Hier kann 
aud der Harmloſe den Unterſchied zwi— 
ſchen wirklicher Satire und gemeiner ®e- 
poliigrett ftudieren. Man vergleide etwa 
den Borfriegs-Simplizijfimus mit diefem 
„tepublifaniihen“ „Wißblatt“. Gang abe 
gefeben bon dem erbebliden Begabungs- 
unterjhied (das ,Laden links“ ift gum 
Gähnen wiblos, die Zeichnungen find 
gumeift erbärmlide Schmierereien): im 


Simpliziffimus fprad gornige Liebe, ent- 
täuſchte Sebnjudt, febriudtabolle Deutſch⸗ 
beit in den meiſten Karikaturen, vielleicht 
pon Sh. SH. Heine rea in dem {don 
eine Note von ironiſch⸗ſchadenfrohem Ab» 
feitsftehen war. Im Simpliziffimus war 
außerdem Oppofition, zum “Seil, 
wie wir wiffen, febr gefabrlide und gee 
wagte. In Ddiefem  ,republifanifden 
Wibblatt’ aber herrſcht der beroifche 
„Witz“ des Sfelsfußtritts. Der tote Löwe 
(das niedergebrodene deutihe Golf) wird 
bon allen den mutigen Feinden, die ebe- 
mals nidt zu muden wagten, ftramm 
verböhnt. Das ift nit zornige Liebe, 
wenn man fid aud in verlogen-feurigen 
Befenntniffen zu Sdhwarg-Rot-Gold fo 
frijiert — das ift gang gemeiner, gei- 
fernder, nadjtragerifder, feiger Haß, der 
den äußeren Feinden unbedenflid Waf- 
fen liefert, der überhaupt nurinnere 
Seinde fennt und lebten Endes jeden 
wirfliden Bluts- und Gefjinnungsdeut- 
fden als Geind anfiebt. — Hier fann 
man in aller Deutlidfeit ftudieren, mit 
welden Mitteln Außenftehende, inners 
lidft Fremde, Ohetto-Entfprungene, Frei- 
gelaffene jeder Art, fid in die inneren, 
die Weltanfhauungs- und Stammesge- 
genfabe des deutſchen Bolfes einmifden, 
fie ausnüben, fiir fid) verwenden. Das 
ift einmal ein bis zur Unvorfidtigfeit 
offener Gerfud, im Trüben zu fifden. 
Was in den LinkSparteien und in der 
„demokratiſchen“ Breffe ſchlau und por 
litiſch betrieben wird: bier zeigt fids 
plump und unverfhämt. Diefe Typen 


pon SHafenfreuglern find George Groß 
oder Raemaefers abgefebn, plump nad- 
geäfft; die übelfte belgiſch-franzöſiſche Ra- 
rifatur war, als feindlide affe, ane 
ftändiger als mande diefer Gudeleien 
und Sedidte. Ohetto, das fid austobt. 
Nur gwifhendurd das idealifjierte Antlitz 
Hugo Preuß’ oder ähnlicher Bater der 
Republi, die dem a fo abnlid 
fehn wie Griedrid Schiller aus Marbadh 
dem Griedrid) Schiller aus Tarnopol. — 
Auf dem Titelblatt aber blonde, idealifti- 
fhe Sugend unter wallenden ſchwarz⸗rot⸗ 
goldenen Fahnen. Das ift die ſchlimm— 
fte Verhöhnung: deutſche Sugend, die, 
pon alten, umgefälſchten großdeut- 
ſchen, demofratijd-deutiden Idealen ge- 
lodt, zu ſehr undemofratifchen, febr un» 
Deutfden, zu internationalen, gbettoge- 
borenen, in Berlin W fid auslebenden 
Sweden mifbraudt wird. Ia, dies 
feds , Wibblatt* ift republifanifh. Wer 
Die Methoden einer gewifjen, in diefer 
Republif feit ihrem Beginn wirklid herr- 
ſchenden Glique, wie fie fid gewiſſer— 
mafen in einem unbewadten Augenblid, 
in einer ſchwachen Stunde gibt, ftudieren 
will, der fann’3 in ein paar Nummern 
Diefes neuen Erzeugniſſes der jogialde- 
mofratifhen Parteifultur. Am beiten in 
jenen Nummern, in denen fid der Frei- 
gelaffene „national“, ſchwarz-rot⸗gold, 
„Demofratifh“ anftreiht und ftatt „Hoc 
Die Internationale“ ſchreit: „Frei Heil.“ 
Mimicry war von jeber die befte und 
feinfte Kunft der reife, die wirklich 
Dinter Diefem Sreiben fteben. &. 9. 





Zwieſprache 


S!#? Sabre Arbeit liegen binter uns. 
Nad dem erften ftarfen Aufſchwung 
1919 und 1920 fam die Zeit der Infla- 
tion. Smmerbin blieb ein nicht geringer 
Zeil unferer Lefer uns felbft in Den 
ſchwerſten Monaten des vorigen Jahres 
treu. In diefem Jahr nun ging's fo 
ftetig aufwärts, daß der Berlag Die 
Örundlage für feft genug Halt, die Seit- 
ſchrift auszubauen. Das Gormat wird 
ein wenig bandlider werden, jedes Heft 
wird etwa 80 Geiten bringen; zu Den 
Bilderbeilagen, die boffentlih allmählich 
wieder vermehrt werden können, fommen 
regelmäßige Notenbeilagen. Go werden 
die einzelnen @ebiete, insbeſondere die 
der Kunft, bedeutend mehr Raum haben 
als bisher. Der Erweiterung muß natiire 
lid eine Erhöhung des Preijes entfpre- 
den, aber mit einer Warf monatlich 
gehören wir nod) immer zu den billigften 
Rulturgeitidriften. Wenn uns fo febr 


an einem folden Ausbau unfrer Zeit- 
{rift Liegt, fo ift das nit Freude am 
Diderwerden, fondern die Abficht, auf 
folde Weife ftärferen Ginfluß im öf- 
fentlihen Leben zu gewinnen. In dies 
fem DBeftreben töten wir uns eins mit 
unfern Mitarbeitern und Lefern. 
Unfer beuriges Weihnadtsbheft ift 
weniger weihnachtlich als mandes frü- 
bere. G8 wurde eben juft in der lärmen- 
den Wablgeit gemadt, da aus allen 
Seitungsblattern und mit taufend Wahl- 
plafaten und Werbezetteln Giftgafe auf 
Den füßen Demos Iosgelaffen wurden. 
Der „Wahltampf“ ift die hohnvollſte 
Widerlegung der demofratiihen Theo— 
tie. Damit, daß man nad dem Mufter 
der Odol- und Rufirolreflame die wäh- 
lende MWenſchheit von allen Geiten ber 
anbrüllt: „Wählt Lifte +1“, bekundet 
man bandgreiflid, daß man die Wähler 
für Rindvieh Halt. Ginen verftändigen 


559 


Menfdhen fudt man zu überzeugen, ein 
Rindvieh Ienft man mit brüllenden Bue 
tufen: gu Hoi! Kp! Und das Rind» 
pieh gebordt dem, der es am lauteften 
anbrillt. Oder welchen Swed haben die 
ee und der Gpeftafel fonft? Lind 
as ift die — „Örundlage des Staates“. 
Auf joldem Zundament tuben die mo» 
dernen @rofftaaten! Auf dem Sutter» 
inftinft und auf den Schredoorftellungen, 
mit denen man Rindvieh fheudt. Die 
Wiſſenſchaft pom Staatsreht nennt Die» 
fes die „DBolktsfouveränität“. In Wirk- 
lichkeit ift ba weder Bolf nod) Souverä— 
nität, fondern nur Rindvieb, das teils 
mit Heu gelodt, teils mit einem Rniip- 
pel verihredt wird. Wenn die liberalen 
und fozialiftifhen Demokraten nad ihrer 
Sbeorie handelten, müßten fie nit bril- 
fen, jondern überzeugen. Aber juft fie 
arbeiten am meiften mit ®Plafaten und 
Rarifaturen. Diefer gange wefteuropäi« 
{he Schwindel muß ja einmal quia: 
menbreden. Wir unfrerfeit3 wollen in 
einer Reihe von Aufſätzen im naddften 
Sabrgang mit Rube und Sorgfalt unter» 
fuden, too denn die Irrtümer im Spftem 
liegen, die fold einen Hexenſabbat zur 
notwendigen Folge haben 

Dennod: die Beilige * Nadt ift felbft 
in Wefteuropa und Amerifa nidt tot- 
zufriegen. Die alten Berfe erflingen im- 
mer aufs neue, Wir geben am Schluß 
zwei Lieder aus den „Alten deutiden 
Beibhnadtsliedern“, die Geheimrat Prof. 
D. Karl Budde-Marburg für unjre 
Sammlung „Aus alten Bücherſchränken“ 
zu einem ſchonen Oanzen gerundet hat. 
Dem Text ſowie den Noten ift die größte 
Sorgfalt gewidmet. &3 fcheint mir, daß 
Budde das Weihnadtsbiidlein gelun- 
gen ift, ee gerade unfer Kreis bedarf. 
G3 ift das Gdte, Herbe, Bolltönende 
gegeben, alle Berfühlihung und Gers 
niedlidung der Weibnadt ift ferngebal- 
ten. Zu folden Liedern gehört Mat- 
thaus Schieftl. Wir bradten 1922 Bil- 
der von feinem Bruder Robert Sdieftl 
in Nürnberg. Der in Münden wohnende 
Matthäus ift recht eigentlid der Weih- 
nadtsmaler. „Weihnadtlih ift Schieftls 
ganze Kunft... Und je älter und ftiller 
er wird, um fo lieber und öfter ftellt er 
fid beim Kripplein ein, buldigt dem 
dttlihen Kind und feiner jungfräuliden 

utter, freut fid) mit dem bl. Sofef und 
den treuen Hirten.“ Go jhreibt Gajetan 
Opwald in feinem ſchönen Bude , Mate 
thaus Gdieftl* (Geſellſchaft für rift- 
lide Runft, Münden. In Leinen geb. 
13,50 Mk.). Das Bud mit feinen vielen 
vorzüglicen. Bildern und feiner liebe» 
pollen Sinführung in Leben, Art und 
Runft des edt volfstümlichen Meifters 


560 


ift ein mwunderfchönes Hausbuch. AUnſer 
en Bild ift ihm entnommen. Gin 

ergleih der beiden Bilder, die den- 
felben Stoff abnlid und Dod fo vere 
fhieden behandeln, ift auferft reizpoll. 
Dir raten, fid einmal die @riinde ‚zu 
Demwußtfein zu bringen, warum das eine 
Bild fröhlich, Lieblih und heiter wirft, das 
andre aber ftill, zart, verfonnen. Bis 
in den Aufbau (Stellung der Maria und 
des Kindes vor dem Hinter rund) Din 
ein fann man den UAnterſchied verfolgen. 

Zu meinem Auffaslein „Durchbrüch“ 
bemerke ich, daß er eine Probe ift aus 
meinem Andachtsbuch ,Sbaumafia“ (d. 
h. zu deutfh: Wunder). G3 foftet vier 
Mark und fommt bHoffentlid wirflid 
bor per see Der Berleger alt mir 
mit, daß es jeden ie der Bin⸗ 
derei fommen fénne. eine Auswahl 
aug Mafius’ Naturftudien wird leider 
faum nod gum Feſt aus der Budbin- 
derei fommen. Geber und Binder find 
Heuer ftarf überlaftet. — Zu dem Auf- 
fa Karl Wittes, des Leiter unfrer 
Hamburger Fidtehodidule, madhe id 
auf das lebte Heft der Mitteilungen 
der Luthergefellfhaft in Wittenberg 
(1924. Heft 4/5) aufmerffam. Gs enthält 
neu aufgefundene Qutberbilönilfe, und 
gwar ende eidnungen, die ein Witten» 
berger Student Reifenftein 1545/46 ge» 
madt bat. Gr hat Luther offenbar im 
gezeihnet. Die unmittelbare Na- 
turnähe wirft auferordentlid reizvoll. — 

Nun nod einige einzelne Nadridten. 
Zunädft: unfer Greund Dr. Hermann 
Allmann in Berlin gibt von Sanuar ab 
eine neue Zeitihrift, die „Politiſche Wor 
chenſchrift· heraus. Sie wird ftaatspoli» 
tifd und fozialpolitiih etwa dem „Deut- 
ſchen Boltstum“ entjprehen. Als Woe 
Henfdrift bat fie, was für politijde 
Dinge notwendig ift, die Möglichkeit grö- 
ferer Aktualität. Allmann {dreibt: „Wir 
brauden eine Partei oder Parteigrup- 
pierung der pverpflidtenden 
Selbithilfe. Gin Volk in unjerer 
Lage fann nidt durch fremde Hilfe ge» 
rettet werden. Mißtrauen gegen fremde 
Hilfe, Vertrauen auf eigene Kraft zu 
weden: das ift die Aufga e einer ftaats- 
politijden Redten in Deutihland.“ Am 
beften fann man den Geift der Woden- 
{rift vielleiht umfdreiben, wenn man 
auf den $reiherrn vom Gtein hinweift: 
was er für feine Zeit wollte, will man 
bier für die heutige Zeit. — (Probe- 
nummern erhält man foftenlo8 pom Ber- 
lag der Politiſchen Wodenfdrift, Ber— 
lin W.35. Potsdamer Gtr. 27a. Der 
Bezug foftet vierteljährlih 4,50 ME, 
monatlich 1,80 Mk., Einzelheft 50 Pfg.) — 

Mein guter alter Reigen » Progefs 


fommt leider aud) am 13. Dezember nod 
nidt zur Rube. Wolfgang Heine bat 
die DVerfhiebung des Haupttermins bee 
antragt, da er in jenen Degembertagen 
in Magdeburg fein muß, um zufammen 
mit Landsberg den Reichspräfidenten 
gu verteidigen. Diefer Progefs war im 

ovember angefebt, wurde aber auf den 
Dezember ver}doben. 

Unter den Bücherbeſprechungen bat- 
ten wir bor einiger Zeit die „Sntdedung 
des Paradiefes* eines angebliden Franz 
bon Wendrin — fagen wir höflih: ab- 
gelebnt. Landrat a. D: v. Herbberg Hat 
in der Deutihen Zeitung vom 13. Sept. 
(Nr. 409) und vom 29. Nov. (Nr. 538) 
nadgewiefen, daß diefer Autor eigentlich 
Stang Whydrinsti beißt und aus Ra- 
tibor-Studzienna ftammt. Gr wurde por 
nidt langer Zeit von einer Anklage we- 
ger Heblerei freigefproden, weil er nad 
em @utadten von Gadperftandigen an 
beginnender Paralyfe leide, deren Ans 
fänge fid bereits im Sanuar 1920 ge» 
zeigt haben. — Wir fönnen nicht umbin, 
gu bemerfen, daß wir weniger über den 

anfen Wydrinski erftaunt find als über 
den = altangefebenen Weftermannfden 
Gerlag, der ſich nicht ſcheute, feine ehren- 
werten Autoren in die ©ejellfhaft Herrn 
Wydrinskis zu Bringen. 63 gebt mit dem 
Qualitätsgefühl in Deutihland reifend 
abwärts. — 

®egen unfre Oloffe über den „Ab- 
bau“ (im Oftoberheft) wendet ein Gad- 
mann aus dem Bergbau ein: das Wort 
werde aus dem PBergbau übernommen 
fein: man „baut“ Kohle, Metalle ufw. 
„ab“. Hier hat das Wort nod den al» 
ten Ginn, nämlih: Erde bearbeiten (da- 
ber: Bauer = Adermann). Aber id 
glaube nicht, daß die Herren in den Mi- 
nifterien bei ihren WbbausBerordnungen 
an Dergbaulides gedacht haben. m 
Bergbau wird das abgebaut, was zu wert» 
vollen Sweden benubt werden foll, das 
nidt zu Verwendende aber läft man 
liegen. Der Beamtenabbau wollte bin- 
gegen grundfäglih das Unverwendbare 
abbauen, aber das für die Staatsziwede 
Notwendige und Braudbare an Ort und 
Stelle laffen. Nein, man bat wirflid an 
Bauen im Ginne bon Hausbauen ge» 
dacht, und bat die Gade nur durd ein 
unlogifhe8 Wort zu verfdleimen ge» 
fudt, unbewußt natürlid. &3 gebt mit 
dem G©efühl für Logif in Deutſchland 
reifend abwärts. — 

3m Oftoberbeft hatten wir die Ver— 
leumdungen gegen ung, die fid ein Herr 
®umbel in feinem Malil-Buh „Ber- 
Ihwörer“ aus feinen wenig fauberen 
Singern gefogen hatte, feftgeftellt. In— 


zwiſchen erfuhren wir, daß diefer Gumbel 
— Privatdozent in Heidelberg fei. Hei- 
delberg liegt in jenem vielgerühmten 
Mufterlandle, das dem deutſchen Bolfe 
die größten VollSmänner der Neuzeit 
befdert bat: Konftantin Febrenbad, Jo⸗ 
feph Wirth, Pring Marz von Baden, 
Berthold Deimling. (Das „von“ Deime 
ling ift thm erft bon feinem früheren 
Kriegsherrn verliehen worden; von dem 
Treuſchwur bat ihn der Kaifer ja wohl 
entbunden, von dem Adel offenbar nidt. 
Der Kaifer ftürzt, fein Reid zerfällt. So 
gebt es eben in der Welt. Man fist am 
Kaffeetiſch und denkt: Sekt nehm’ id ihn 
nidt mebr gefdentt. Dod) was er ein- 
ftend mir verlieh, das bleibe feft und 
wanfe nie! 63 bleibt das „von“, der 
Shwur entfällt, fo fommt man weiter 
durd die Welt. Man paßt fid an dem 
Augenblid, erft Kaiferreih, dann Repu- 
blik. Stolz weht die Flagge ſchwarz⸗ 


rot⸗gold — weiß; Gott, wir baben’s nicht 


ewollt, Die Welt ift febr veranderlid. 
rft ftand man ftill, nun rührt man fich. 
Rührt eud! ſchnarrt Herr von Deimling. 
Da rührt fid mander Sdleimling: Mit 
Riibren, ja mit Rühren, wird er uns 
aufwärts führen! Der gute Menfd wird 
angeführt, der böfe Menſch bleibt unge» 
rührt.) Bir bitten um Gntihuldigun 
für die Abſchweifung. Wenn alles fi 
rührt und wadelt und alle Begriffe ing 
Gdaufeln gebraht werden, gerät aud 
Poefie und Proſa durdeinander, und 
man treibt auf ungemollten Bahnen. 
Stillgeftanden! Zurücd marſch marfd in's 
Mufterlandle! Heidelberg liegt dort, wo 
der Wind aus Mannheim weht. Da tut 
man am beften, wenn man den Mann- 
beimer Wind mit dem Mantel auffängt. 
Dann fommt es auf Wahrheit und abn 
lihe produftionsverlangfamende Ideale, 
an denen die reaftionare bourgeoife Wif- 
fenfdaft Teidet, nidt fo febr an. Giz 
mußt du fein, Gindrud mußt du maden, 
Auffeben mußt du erregen, damit 
fommft du nicht nur beim Rabbi voran, 
fondern aud in einer parlamentarifchen 
Demokratie. Dann kannſt du werden wie 
der Bernhard, der darf die Deutiden 
fogar fdon obrfeigen. — Uebrigeng: 
Herr Genatsprajident Frepmuth vom 
Berliner Rammergeridt, dem wir unfre 
Darlegung über die falfden Angaben 
feines Schützlings Gumbel fandten, bee 
folgte das berühmte Deimlingſche „Rührt 
eud!“ nicht, fondern bielt fih ganz ftill, 
Denn dir ein Menih was Böfes will, 
und dieſer Menih hat Redt, fo drüde 
did) und denke ftill: nicht jeder ift fo 
ſchlecht. Die Welt ift gut, die Welt vere 
ane Bald krähſt du wieder Hod vom 

T — 


561 


Sn dem Gedidt ,Oedslein und Eſe— 
lein“ von Grifa Gpann-Rbeinfh (im 
Novemberheft) find in der fünftletten 
geile zwei Wörtlein verfehentlid aus- 
gefallen, e8 muß beißen: War ihnen 
nod nie fo wohl und fo tiefinnig weh 
geihehn. — 

Gndlid mödten wir nod darauf bins 
weifen, daß für nadftes Sabr Lienhard- 
Seftiptele geplant find, zu Ghren des 
Sedgigiabrigen. Gs follen im Harzer 
Bergtbeater aufgeführt werden: Gott 
fried bon Straßburg, König Arthur, 
Wieland der Schmied, Heinrid von 
Ofterdingen, Münchhauſen, Sill Gulen- 
fpiegel. Auch Gbafefpeares Gommer- 
na@tstraum und Sleifts Herrmanns- 
ſchlacht. Im Zeftausfhuß find Friedrid 
Düfel, Rudolf Guden, Slifabeth Förfter- 
Vietzſche, Pfigner, Lilienfein, Hans vb. 
Wolgogen u. a. Die Sefhaftsitelle ift 


bei Greiner und Pfeiffer in Stuttgart, 
Gbhriftianftr. 40. — 

Hans Thomas, des jiingft Verftor- 
benen, zu gen {dlieBen wir bas 
Heft und den Sapegang mit einigen 
Worten aus feinem bei Diederidhs er- 
fdienenen Bud „Im Winter des Lex 
bens. Aus adht Sabrgehnten gefammelte 
Grinnerungen.“ Leber Thomas Kunft hat 
Dr. Ridard Beng im Oftoberbeft 1919 
bei ung gefdrieben. Wir dürfen bier 
darauf verweijen. Hans Thoma gehört zu 
dem felbftverftändlihden inneren Beſitz 
unſres SKreijes. Das Nadterlebnis des 
Kindes, das er erzählt, möge den dunf- 
fen Schauer der Naht, bon dem wir im 
Reitauffab handeln und der aud durd 
DBlunds Schilderung des nächtlichen 
Nordmannenfampfes ebt, in fanfte 
Reinheit ausklingen lajfen, um überzu- 
leiten zur heiligen RNadt. 


Stimmen der Meifter. 
©’ will id nun erzählen und zwar wortgetreu, denn Liſa war inzwifchen zwei- 
einbalb Sabre alt geworden und fonnte fhon redt viele Worte gebrauden, wie 
Stare wast entdedt bat, und wie fie in ihrem Bettlein im Dunkeln ein Nadtlied 
gedidtet bat. 

Zu der Zeit, da die Gommertage anfangen fürzer gu werden, war fie länger auf. 
Das Lidt brannte im Zimmer, die Tür, die direft in den Garten gebt, ftand offen, 
da fab fie auf einmal in die Dunkelheit hinaus und fagte veriwundert, faft fragend: 
prtladt draußen! Sfa feben, wie Naht ift.“ Damit watfdelte fie zur Türe hinaus, 
ntebrte gleih wieder um: „Draußen Naht, im Warten Naht, überall Nadt!“ 
Sie trippelte wieder hinaus bis an das ©ittertor des Gartens, zu feben, ob vor dem 
Sor im Wald aud Nadt fei, fie fam wieder und verfündete uns: „Draußen überall 
Naht, im Wald aud Naht, was ift aud das? — ganz Nadel“ Gie wollte aber 
fehen, ob auf der andern Geite des Hauſes aud Nadt fei, und id nahm fie auf 
den Arm und trug fie duch das dunkle Gebüfh ins Gemüfegärtlein. Da war aud 
Nadt, aber fie fah den Himmel über fid und die Sterne fo bod droben: „Da 
Gternlein, dort aud Gternlein, große Gternlein, Heine Sternlein,“ fie entdedte 
immet mebr, fie war poll VBerwunderung und voll Staunens: „Naht, überall Nadt! 
Was ift denn das? Biele Sternlein.“ 

Sie wurde zu Bett gebradt. Sie war ganz ftill. In der Naht wadte fie auf 
und fing an zu fpreden, meine Schwefter hörte ihr gu. Lifa fühlte fid aber ganz 
allein. Zuerft von ihrer Puppe, der Frieda, dann auf einmal: 

„Nacht, überall Naht — Die Baume f{dlafen, 

Naht — bier Nacht, Der Wald fdlaft, 
Draußen aud Nadt, Die Sternlein ſchlafen, 
Im Garten Nadt, Der Mond fdlaft, 

Sm Wald aud Nadt, Alle Leute fdlafen. 
Ueberall Nadt, Schlaft wobl! 

nd Sternlein bod oben am Himmel, Schlaf wohl, Wald! 
©Orofe Sternlein, fleine Sternlein. Schlaf wohl, Garten! 

Alle ſchlafen, Schlaf wohl, Naht! — 

Der Brunnen fdlaft, Lieber Gott, mad mid fromm, 
Dah id gu dir in Himmel fomm!“ 

Sft das nit, als ob man ein Quellen riejeln hörte, bon dem aus die Poefie 
ihren LUrfprung nimmt? Senfeits von aller Literatur und ihren VBorratsbehältern? 
Gin Quellden, aus dem aud die tofenden Sturgbade und die ftolg binwandelnden 
Ströme der Poefie ihren Anfang nehmen. Die DVBerwunderung und das Staunen 
find die lebendigen Quellen der Poefie. Der DVerftand freilich ift immer dahinter 
ber, fid die Berwunderung abzugewöhnen. G8 ift wohl feine Aufgabe, und id 
will fie ibm nidt abfpreden. Was ift ibm die Nadt! Da ift dod nidts zu 
bertpundern. Das fommt, weil die Sonne auf der andern Geite der Grde fteht. Bon 
diefem Standpunft aus wird freilid feiner ein Nadtlied fingen oder ein Aadtlied 
perfteben. Hans Thoma. 


562 





Neue Bücher 


Während wir unfere Ueberfidt für das 
vorige Heft fihrieben, famen immerfort neue 
Biker heran, die borgeftelt und gum Gefte ge- 
laden fein wollten. Die Verleger baden in dies 
fem Jahre offenbar meift fehr lange überlegt, 
ehe fie fchließlihd zu einem Entſchluß famen, und 
fo find Bruder und Bucbinder in den beiden 
legten Wortweibnadtsmonaten bis ſpät abends 
und über Gonntag angefpannt, während fie bore 
dem bergeblid nah Arbeit Iugten. Manches 
lommt nicht mehr rechtzeitig. Bon dem, was nod 
bis Unfang Dezember gu und gelangte, gebe id, 
fomweit Blag ift, in olgendem einiges, was ings 
befondere als Weihnactsgeihent in Frage 
fommt, und danad nod etlihe Saden, bie faon 
eit längerem anftehn. Das Meiſte, aud die 
abrbud-Literatur, fann erft im Januar drans 
lommen. St 

Sriedrid Rienbard, 

Werle, in drei Reihen. Erſte Neihe: Erzählende 
Werle. 4 Bde. Gangleinen 30, Halbfrang 50 A. 
Greiner & Pfeiffer, Stuttgart, 

Rienbard wird im fommenden Jahr zu ben 
Sedaigern gehören. Da ift es rect, bab der 
Verlag feine Werle in einer Gefamtausgabe her» 
ausbringt. Es ift aud rictig, dab die Eraäh- 
lungen und Betradiungen guerft Iommen. Die 
äweite Reihe fol die Gedichte und Dramen 
(5 Bande), die dritte das eigentlid Gedantliche 
(6 Bände) bringen. Bis gum lommenden Herbit 
wird daS Ganze fertig borliegen. Die Ausitat« 
tung ift febr fauber, ſchlich und würdig. Erfter 
Band: Die weiße Frau. Helden. Wasgaufahrten. 
Abiiringer Tagebudh. Zweiter Band: Gberlin. 
Dritter Band: Der Spielmann. Weftmarf, 
Vierter Band: Jugendjahre. Der Einfiedler und 
fein Boll. Wer gulegt ladt.... Diefe vier 
Bande bilden an fish ion ein Lebenswert. Werle 
wie Oberlin, Wejtmar! und die Wasgaufahrten 
find ein nationales Gut, daS zu Iennen heute 
faſt eine Pflicht genannt werden muß. 

Brehms Tierleben. Qn Auswahl her- 
ausgegeben und bearbeitet von Carl W. Neumann. 
6 Bde. mit 150 Bildtafeln. Leinen 30, Halbleder 
45 A. Philipp Reclam jun., Leipzig. 

Durd diefe Ausgabe wird der alte Brehm 
in weiterem Umfang al3 in den früher angeacige 
ten Qusmahlbänden „gerettet“. Zugrunde gelegt 
ift die zweite Auflage, die nom den echten Brehm- 
fen Text tte. Der Herausgeber Hat ausge 


Gefammelte 


merat, was Heute als unridtig gelten muß. Hine 
gugetan gum Text ift nidts. (Was hinzugefügt 
wurde — bor allem zwei Abſchnitte über Men 


fGenaffen und Haushunde — ift als folded Iennt- 
lid gemacht.) Werner find die vielen Zitate, die 
Brehm in größter Ausführlichleit bradte, teils 
ausgelaffen (wie ih eS in dem bon mir beraus- 
gegebenen Bändchen auch getan hatte), teils ein» 
eihräntt, Auf diefe Weife tritt Brebms Dar» 
tellung tar berbor. Diefe Grundfage des Her 
ausgebers find nit nur gu billigen, fondern au 
loben. MeumannS Worten über Brebm3 Tiers 
befeelung mödten wir nadbdritdlid) guftimmen. 
Bedentliher finden wir die Veränderungen in 
der Reibenfolge, die aus verlagStednifden Grün 
den borgenommen wurden. Es follte wenigſtens 
ein genauer Ueberblid über Brehms Anordnung 
mitgegeben werden. Auch Hatten wir die alten 
Holafhnitte borgegogen. Die von Neumann ges 
bradten Bilder, meift nad photographifgen Auf- 
nahmen, find zwar redt inftruftiv und fachlich 
fehr mwillfommen, aber es ift doch wohl mit nur 
Pietätsgefühl und Jugenderinnerung, wenn id 
Brehm am liebften mit braven alten ——— 
illuſtriert ſehe. Doch ſoll dadurch der Dant an 
Herausgeber und Verleger nicht geſchmälert wer 
ben. tiefer alte Brehm gebirt wie Goethe, 
Schiller, Shulefpeare, Uhland, Ranle uf. in jede 
Yamilienbibliothel. Er muß den Jungen immer 
zur Hand fein. Das ift ein fehr wichtiges Stid 


deutfher BollSergiehung. Jungen, die fic midt 
eibe Baden darin lefen, find gar feine richtigen 
ungen, fondern find berdddtig, Problemgriibler 
und Literaten gu werben, die auf jugendbewegten 
Woden dem lieben Gott feine Welt durh Re 
formprogramme verbeffern möchten, ftatt bie 
bunte Welt fennen gu lernen. Much ift Brehm 
wunderbar geeignet gum Worlefen am Gamiliens 
tifm. Er ift ein wirtſames Hausmittel gegen 
die pbilofopbifm«moralifm-politifme Broblemjegerei 
unferer Tage. Tatſachen, Forſchung, nidt Gee 
ſchwäßs! — Die erjten drei Bände bringen die 
Säugetiere, die nadjten beiden bie Vögel, der 
Iegte die Kriechtiere, Lurhe und Gilde. 

u. € Brehm, Papageien. Her. v. C. W. 
Neumann. Geb. 60 3. Ph. Reclam jun., Leipaig. 

Ein Abſchnitt aus dem oben angezeigten Wert, 
und gwar ein recht unterhaltfamer. 

Ernft Kreidolf, Ein Wintermärden. 
Geb. 8.25 A. Notapfel-VBerlag, München. 

In Umfang und Drud den „WUlpendlumen- 
märchen“ gleih. Das [lichte Gefwidtlein er 
zählt, wie drei Broerge fic gu ben fieben Zwergen 
aufmaden, um das Rotläppchen au fehn, das alle 
fieben Jahre auf einen Wintertag bei ihren Net» 
tern au Befud fommt. Die Bilder find voll mune 
derbarer Eisblumenftimmung. Die Farben a 
fo gatt und lieblih, daB man von einem Ent 
aliden ins andre fält. Schnee im Sonnenfgein, 
Schnee in der Nadt, und das Schneewittchen und 
die bergnügten Zwerge und die Eichhörnchen und 
die Gimpel bei den derf{dneiten Bogelveeren — 
es ift gar nicht augsgufagen. Das 3 orfagpapter 
wollen wir aud nidt bergeffen, das ijt stret- 
dolf wieder einmal zum Verwundern gut gelun- 
gen. &3 ift der reinfte, gartefte, liebfte Meifter, 
und das deutide Voll muß ihn auf Händen 
tragen. . 

Georg Blifhle, Bon Englein und 
Bmwergen und fonft allerlei, bie Dtorgenfonne ift 
aud dabei. Bilder und Reime. 24. Berlag 
Deutſcher Kulturderband, Prag. 

Pliſchles Scherenſchnitte find weiteren Streifen 
duch den Gefundbrunnen und den Kunftwart be» 
fannt; Avenatius, der für Scherenſchnitte ein 
feıne3 Urteil hatte und bas Meifte ablehnte, was 
gefd@nipfelt wurde, freute fih immer wieder an 
Pliſchles Sadhen. Das borliegende Heft enthält 
in Leporello-Sorm einen te Kinbderfries, den 
man auseinanderfalten umd über die ganze Wand 
fpannen lann. Ein billige Ding, das den Stine 
bern biele und dauernde Freude machen wird. 
Sehr flott gefchnitten, ed ift eine tangende und 
webenbde, derbgarte Stinderbergnügtheit darin. 

Bertha Heller, Blumen, 10 GScherene 
ſchnitte. 3M. Greifenverlag, Rudolftadt. 

In der Art Kreidolfs (der 3. B, im „rauen 
flachs“ deutlich bereinwirlt) werden Blumen in 
menfhliden Gejtalten dargeftellt. tta Qüthie 
bebt im Vorwort zu den Blättern die Bartheit 
hervor. Dod fheint mir eher eine gewiffe fräf- 
tige Derbheit, nicht eigentlid Geinbeit charalteri- 
ſtiſch. Das feingliedrige der Pflanze, etwa beim 
Hirtentafmel, und das Gchleierzarte fehlt, ftatt 
deffen fühlt man mehr das wiefenhaft Saftige der 
Simmelsiglüffel. Bgl. aud den Fingerhut! 

M. E Boigt, Adht Zeichnungen gu Löns 
Webrwolf. 4.50 M. Der Innere Kreis Verlag, 
Berchtesgaden-Schönau. : 

Den Holafhnitten, die wir im borigen Jahr 
anzeigten, folgen bier atveifarbige Dfffetdrude 
nah SHandzeihnungen (Blattgröße 34 X 49 cm), 
die fehr gut gelungen und erftaunlid) billig find. 
Boigt lebt offenbar ftarl in fpdtefter Gotif und 
Barod; fo etwa würde ſich Barod entmwidelt 
baben, wenn die Renaiffance nicht bineingeloms 
men wäre. Gerade beshalb werden diefe Blatter 
dem er —— ber Beit des Dreißigiäh- 
ya Krieges in hohem Mae gerecht. Sie paden 
e 


c ftarl, 
563 


Ernft Liffauer, Das SKinderland im 
Bilde der beutfhen Lyrif bon den Anfängen bis 
gut Gegenwart, Mit 13 Federzeihnungen und 
farbigem Umfdlag bon Jofua Leander Gampp. 
216 Seiten. Geb. 6 A. Deutfhe Berlagsanftalt, 
Stuttgart. 

Eine Sammlung, bie bon großer einbring- 
lider Arbeit zeugt. Wohl in feinem anderen 
Wer! .nichtwiffenfchaftlider Art findet man eine 
folde Fülle bon SKinderliedern und Liedern bom 
Iindliden Leben, Alteftes Vollsgut und neuefte 
Didtung bis bin au Dehmel, Sindh, Werfel und 
Liffauer felbft. Yn dem Buche find zwei Arten 
bon Dichtung aufammengefügt: eigentlide Kin 
dergedidte, und folhe „in denen Kind und Kind« 
beit befungen, ABER. angefhaut wird.” Und 
gebt Liffauer aumeilen über das RKindeSalter Hine 
aus in3 Rnabenalter. Co ift ein Buch nist für 
die Kinder felbft, fondern für die Eltern ent 
ftanden. Auch bat man durch dieſes Verfließen 
der Grenzen den Cindrud einer gewiſſen über- 
reihen Bormlofigleit. Wiederum: die Feſte find 
biel zu furg teggelommen; fie beginnen, redt 
unfindlid, mit Neujahr ftatt mit Weihnadten. 
Das bängt nun freilid mit dem Grundfaß aus 
fammen, den Liffauer im Nachwort (GS. 206/7) 
entividelt, daß man bem Stinde feine Gottesbor- 
ftelung beibringen folle, die bor der madfenden 
Einfiht nicht, beftehen Yonne. Das ift aber eine 
Scheinwahrheit; forveit fie gilt, gilt fle nad mei— 
nen Erfahrungen nur für wenige intelleftuell 
veranlagte Kinder und allenfalls für mande aus 
atheiftifhen Elternhäufern. €8 gibt Altersftufen 
der Religion nist nur in der Weltgefhichte, ſon— 
dern aud im Leben der Cingelwefen. Gerade 
das Rind ift au Beiten in feiner Art eminent 
religiös — e3 wird nur ben meiften Erwadfenen 
nicht offenbar. Cin normales Kind enttvidelt 
feine religiöfen Vorftelungen aus dem Marden: 
baften bon felbft in „erwadfene“ Vorftellungen, 
wenn e3 wächſt. (Uebrigens beftreite ih es 
Liffauer als einen Irrtum, wenn er fagt, bie 
Gottheit fet eine ,fiberperfinlide Macht“, fie ift 
Perſönlichkeit fat’ eroden.) Was ferner die Aus— 
wahl betrifft, fo läßt fim natürlich viel darüber 
diöfutieren. Von Matthias Claudius vermißt 
man einiges, fein Urenlel Hermann Claudius 
bätte nicht feblen follen. Daß Eichendorff ganz 
ausfällt, hundert mid. Seine Gedidte „Auf 
meined Kindes Tod“ find das Tiefite, was je 
über ein tote3 Kind in deutfher Sprache gefchrie- 
ben wurde. (Wenn man‘ mir nicht glaubt, 
laubt man es bieleicht Abenarius, der gemißlich 
onft Yeine Qorliebe für Eichendorff hatte.) Dann: 
Parzibald Jugend bei Wolfram von Eſchenbach! 
Eine Gruppe fehlt gang: Gedichte, bon Rindern 
felbft gemadt. Es gibt da allerlei wertvolles 
Material. (Bgl. Hand Thomas Worte in diefem 
Heft unter „Stimmen der Meifter”.) DaB Liffauer 
ein oſtiüdiſches Kinderlied aufnahm — das übri— 
gens febr intereffant ift, man bätte gern mehr 
dabon — Wirkt wie ein Algent, und zwar tie ein 
gaghafter. Entweder: ein ganzer Abfchnitt folder 
Rieder, ober gar feines, ber nicht: ein bißchen 
druntermifhen. Gegebenenfal3 durften dann 
flämifche, holländiſche Saden uſw. nit fehlen. 
Doh all das find Anregungen für weitere Wufe 
lagen. Daß ein Buch zu folder Auseinander- 
fegung beranlaßt, zeugt für feine Bedeutung. Die 
Dilder Gampps find fehr reigvoll, echtefter Gampp 
(bi3 auf das Geſicht in „Gaffe und Garten”, das 
zur Familie Kreidolf gehört). Es ift ein Rei- 
mende3 und ein zarted Werden in biefen Zeich- 
nungen ausgedrüdt, und alles bol Tieblicher, 
frifher Symbolik. 

Carl ®. Neumann, Das Paradies ber 
Tiere. Mit Bildern bon Willy Pland. 272 ©. 
Quelle & Meber, Leipzig. 

Eine bunte BZufammenftelung bon Fabeln, 
Heinen Gefdhidten, Gedichten aller Art, alten und 
neuen. Auch einiges, deffen man ſich aus alten 
Lefebühern erinnert und da3 leider bon ben 
fuperpädagogifhen  Lefebucdh-Aeftheten beſeitigt 
wurde, obgleih e3 uns Jungen Spaß madte. 
Das Baumbahfhe Lied bom Rofenftraud und 


564 


Sint hätte aber nicht aufgewarmt werben follen, 
folder Kitſch gebt auf die Nerden. Hingegen tft 
de3 alten Hagedorn „Rabe und Fuchs“ gang Löfte 
lid. Go etwas fonnten die Gagedorn und Gellert 
unnadabmlid.  Hagedorns „Adler, Sau und 
Rage” ift ber ee N nit mwürbig. Ber» 
blüffendermeife fehlt das Meifterftüd biefer Art: 
Goethes „Adler und Taube". Ym Ganzen: Gee 
danke und Plan des Buches (mit den eingeftreu- 
ten Gtridgeidnungen, meift am Rande) tit bor 
trefflih, aber es wird bet der Wahl für Tünftige 
Auflagen feinere8 Abwägen bedürfen. 

Dentfhe3 Knabenbuch. Ein Yahr- 
bud der Unterhaltung, Beleh mg und Beſchäftl⸗ 
gung. 33. Bd. 302 ©. Geb. 7.50 M. K. Thiene- 
mann3 ®erlag, Stuttgart. 

Ein woblgelungener Jahrgang, mit dem man 
zwölf⸗ bis biergebnidbrigen Jungen diel Freude 
maden wird. So etwas tie ber alte „Gute 
Ramerad“, den wir einft verfdlangen, im Niveau 
geboben. orn ein bortrefflides, Terniges Gee 
leitwort bon Leopold Weber, binten Spriide bon 
Gottfried Meller. Dazwiſchen  Reifeabenteuer, 
biftorifhe Erzählungen, Belehrendes aus Natur« 
efhichte, Vorgefhichte und Technif, allerlei „Hos 
n3polus“, eine Adleriandgefhihte bon egerleh- 
ner uf. Sei dem Auffat und den Abbildungen, 
die das Nino betreffen, hätte man u. €. das, 
was Manuffript, Regie u. dgl. argebt, weglaffen 
und bafür mehr Tehnifhes geben miiffen. 
Sonft ift das nicht? für Qungens. Dem Sammel» 
trieb hätte man wohl auch gerecht werden lönnen: 
Verfteinerungen, Botanifches. Erziehung zur 
Pflangenliebe fdeint mir febr nötig! Uber ed 
fann nicht alles auf einmal fommen. Wir lönnen 
den Band, wie er ift, recht empfehlen. 

Wilbelm Schreiner, Im Bauber ber 
Südſee. Mit 20 Offfetbilbern bon Robert Henrb. 
190 ©. Geb. 7.504. RK. XThienemanns Verlag, 
Stuttgart. 

In unliterarifhem Ton gefhrieben. Es fom 
men Gate bor tie diefer: „Kaum angelangt, mar 
er aber bon feinem Better Hammann breitgefdla- 
gen worden, am nächſten Tag auf den Greiffen« 
ftein mitgufommen.” Weftheten werden alfo die 
Stirn rungeln. Gleichwohl empfehlen wir das 
Buch mit beftem Gewiſſen. Es tft fahlih und 
abenteuerlih gugleih. Wir geben mit einem 
jungen Deutfhen auf eine Forſchungsfahrt: In— 
feln der Südfee, Samoa, die Robinfon-Anfel. 
Tieffee-Lebewefen, Eingeborene — alles munber- 
bar und bod jugendlih flar erfaßt. Die Jugend 
bat reiche fadlide Belehrung und die ihr gebüh- 
rende Spannung. Die Bilder find in ihrer Fare 
bigfeit ausgezeichnet. 

Germanifde3 Wefen der Früb— 
zeit. Eine Auswahl aus Thule mit Einfüh— 
tungen. Bearbeitet bon Guftad Nedel. 278 ©. 
Eugen Diederihs, Jena, 

In derfelben Reihe, in der die Lagarde- und 
Niebl-Ausmwahl erfhienen ift, ift mun diefe Aus— 
mahl aus der Sammlung Thule berausgelommen; 
wir wünſchen ihr die gleihe Verbreitung und 
Mirlung. Sein befferer Herausgeber alB Nedel 
hätte gewonnen werden fönnen. Das 
zeigt fhon fein Imappes, gute3 Vorwort. Die 
Einführungen in die einzelnen Gtiide find bore 
trefflid. Es find ausgewählt Stüde aus dem 
Köniasbuh Snorris, aus größeren Sagas (den 
Reuten bom Lauterfee, der Niala u.a., vor allem ans 
Grettir), die Gisli-Saga bom 6. Rap. an, bie 
Slum-Saga in den SHaubtitüden, gum Schluß 
einige3 aus den Heldenromanen, bon Siaurb, 
Atli, bon Hilde und Hedin, fowie ein Stüdlein 
bom Rolf Rrafe. Das Buch tft geeignet, aud 
die Ältere Qugend in die Welt ber alten Nord» 
germanen einzuführen. 

tnft Morik Arndt, Katechismus für 
Deutfche. Eine Auslefe bon Julius Burg. 104 ©. 
Meverfhe Hofbuchblg. Detmold. 

„Diefer Ratehismus iſt gefchrieben, in ber 
Stille gelefen zu werben, um die ftille, ftets wache 
Beaeifterung für die Tat au fcaffen.” MIS Ein» 
leitung ein furger Ueberblid über Arndts Leben. 
Dann folgt eine Anzahl meift kurzer Worte ans 


Arndts Schriften: Von den Alten; bom beutfhen 
Dienfhen und der Pflicht zur Eintradt; vom 
Deutſchen Reich; von Freiheit und Baterland uſw. 
Ein Andadhtsbiidlein, das man vor allem älterer 
Jugend bei mancher bee ate mit auf den Tiſch 
legen lann. Wud die wiirdige Ausftattung macht 
ed dazu geeignet. 

Der Ruf. 366 Gedanlen und Gedichte deute 
fer Denker und Dichter, ausgewählt bon «Gerhard 
Merian. („Du und die Welt” 3. Folge) 138 ©. 
Steif geh. 1 Mi. Verlag von Gerhard Merian, 
Berlin-Zehlendorf. 

Für jeden Tag des Jahres einen Sprud oder 
ein Gediht. (Für den Scalttag einen Bonfels.) 
Von Goethe und Hölderlin bis zu den Autoren 
bes heutigen Tages reicht die Wahl. Nur ders 
eingelt wird auf ältere wie Edehart, Geufe, 
Ruther guriidgegriffen. Drud und Papier bes be» 
quemen fleinen motes find gut, Es ift gleich- 
fam ein profaneS Gegenftüd au den Serrnbuter 
Lofungen. Es wird mandem eine Freude fein, 
eS auf bem Tiſch liegen gu haben und morgens 
nachauſchlagen. 

A. Shmidt, Die Weiſen aus dem Morgens 
land. Srippenfpiel in fünf Bildern. Mag Hanfen, 
Glüdftadt. 

Bon einem Lehrer für Schulzwecke gedidtet 
und folden Lehrern, die über gewandte Echüler 
verfügen, gu empfehlen. Nicht die Chriftgeburt, 
fondern da8 Zufammentreffen ber drei Weifen, 
ihre Erlebniffe in Jerufalem und an der Strippe 
in Bethlehem bilden den Inhalt. Etwas ftörend 
wird wobl allen auffallen, daß bad Bild des 
Stale3 in Bethlehem mit dem fdon aweijäh- 
rigen Sefus in der Krippe erfceint. Der Ber- 
faffer folgt nicht der Weife unferer BollStrippen- 
fpiele, fic) die Begebenheiten naiv ind Heimatlich- 
Deutfihe zu übertragen, fondern gibt Bilder bon 
orientalifihem Wefen, die aber dod klar und 
fhlibt genug find, um aud einfaden Menſchen 
eingugeben. er das Gpiel aufführt, muß fid 
aber bor der VBerfuhung hüten, fic) durd au 
ftarfe Betonung diefes Iheaterhaften bon der eins 
fahen Frömmigleit des Spielend anlenfen a 


laffen. a Se 

belm G@reiner, Auf Weibnadt3s- 
wegen, ein Chriftfeftipiel. 56 Seiten — Deutfde 
Weihnadt, ein Krippenfpiel. 52 Seiten. — Beide 
bei Hellmuth Weftermann, Braunfchmweig. 

Endlid zwei Weibnadtsauffiibrungen, mit 
denen man etwas anfangen fann. G8 gibt deren 
leider fehr, fehr wenig, aber diefe beiden genügen 
aud boben Anforderungen. Dabei find fie fo ein» 
fad, dab fie in der Heinften Porflirhe zu fpielen 
find. Und dod haben fie Tiefe und Gehalt. Das 
ganze Weihnachtsweben und »Leben ift in ihnen; 
aber fie reden aud) bon unfter deutfchen Not, und 
dadurch werden fie gegenivartswitllid. Sehr 
elüdlih ift die reihlihe Verwendung des Weih— 
Nadtsliedes, wodurd die ganze Gemeinde zur 
altiven Beteiligung gebradt wird. Praltifche 
Unmeifungen und Noten find beigefügt. K. W. 

Treblin, Was follen wir fpielen? Ratgeber 
für das Laienjpiel 2. Aufl. 23 Seiten. Verlag 
Evangel. Preßverband, Berlin-Breslau. 

202 Spiele für alle Yahreszeiten und Feit, fröh- 
lide und Marden-Spiele find zufammengeftellt; durch 
verjhiedenen Drud find die febr guten und bie 
mittelguten Stüde fenntlid — Gedacht iſt in 
erſter Reihe an die ſpielfreudigen ehe Pre Que 
gendvereine, ohne jede Engberzinkeit. Aus den „10 
Geboten für die Spielleiter“ ift durd Sperrdrud 
der Gag herausgehoben: „Du haft feine BVerpflid- 
tung gegen das Stüd, nur gegen die Sache, deren 
Ausdrud das Stüd ift und gegen die Gemeinjchaft, 
der du dienen follft.” Das if natürlih ein Grunde 
fag, der nicht den vollwertigen Kunftwerfen, fondern 
nur den mittelmäßigen ahmerfen gegenüber er» 
laubt fein darf. Wir empfehlen bas Heft allen Ber- 
einen und Familien, in denen bei feitlihen Gelegen- 
beiten Theoter gefptelt „wird, G. K. 

belm Loew, Goethe al3 religidfer 

Charafter. 87 ©. 1.50 M. Chr. Kaifer Verlag, 
Münden. 

Immer wenn ein Problem die Deutfhen ftart 


befhäftigt, taudt bie Frage auf: Was fagt 
Goethe bazu? Sein Wunder alfo, dab man ſich 
an biefen unferen Führer heute aud in ben le 
bendigen religiöfen Nöten wendet. Wander Ber- 
fud, Goethes Religion {lar erfaffen und dar» 
auftellen, ift in den legten Seren gemadt wor⸗ 
den. Loews Arbeit ftellt eine erfreuliche Bereiche 
tung diefer Literatur dar. In flarer Erlenntnis 
deffen, was fi überhaupt erreihen läßt und wads 
nit, bergidtet er auf den frudtlofen Berfud, 
Goethe vielfahe aber * unaufammenhängende 
Aeußerungen auf einen furgen Generalnenner, 
auf ein Schlagwort au bringen. Er behandelt fie 
alg das, was fie find: Randbemerlungen gu fei- 
nem eben, aus denen fid fein „Shitem“, fein 
Lehrgebäude maden läßt. Das Bud gibt des 
halb feine aufammengefaßten Mefultate, fondern 
fugt mit dem Riiftgeug einer außerordentlih um: 
faffenden Kenntnis des Materials in ſechs Ab- 
fonitten (Weltweisheit; Ehrfurdht; Sadlicleit; 
Geift und Gorm; Stirb und Werde; Welt und 
Gott) bon den bderfdiedenften Geiten ber den 
teligidfen Eharalter Goethes zu erfaffern. Es 
bringt dem Lefer reihen Gewinn. ® K. 

Chriftian Geyer, Die Religion Stefan 


Georges. Heft 5 der Reihe zeitgemäßer Schriften 
eens und Religion“. Greifenverlag, Rudol⸗ 
adt. 

Eine bornebme und gerechte Würdigung for 


wohl der Didterperfinlidfeit Stefan Georges als 
aud bor allem des in feinen Didtungen gum 
Ausdrud lommenden en Erlebniffes. Fret. 
li im Bergleih der Religion Georges mit dem 
Chriftentum urteilt Geber, es fei die Tragif aller 
der Geifter, „die ohne das Kreuz leben wollen“, 
bab fie in ihrem SHinausftreben über das Chris 
ftentum „mit innerer Notwendigfeit, weil fih nun 
einmal das Grundgefeg des Lebens nicht umgehen 
läßt, auf eine feiner Vorftufen aurüdfallen.“ 
Wenn das ein Mann wie Geyer fagt, bat es 
fon feine Bedeutung. Der Wert der Schrift be- 
iteht eben gerade darin, daß fie nicht nur eine 
{dhine, aus tiefem Verftehen berausgeborene Eine 
führung in Georges Dichtungen, fondern gugleid 
aud Fritifhe Mabftäbe religionsgeſchichtlicher Ber 
urteilung gibt. RK. W. 

Auguft Meffer, Oswald Spengler als 
Pbilofoph. 239 ©. GStreder & Schröder, Stutt- 


gart. 

Unlängft befpraden wir die in demfelben Ber- 
lage erichienene bedeutende Arbeit bon Heinrich 
Srid ,Unthropofophifhe Schau und religiöfer 
Glaube“. Diefed Gegenftüd des Giebener Philo⸗ 
fopben, das eine Kritif Spengler3 darftellt, fcheint 
und ebenfo wertvol. Man follte diefeS Buch 
fennen und aur Hand haben, wenn man baran» 
geht, etwa den Untergang des Abendlandes durch— 
auarbeiten; man wird Spengler felbftindiger ge- 
genitberfteben und mit größerem Gewinn leſen. 
Meffer behandelt in drei Abfchnitten Spenglers 
Metaphyſit, Erfenntnistheorie und Ethif: und der» 
fudt in allen drei Zeilen Spenglerd Unzuläng— 
lichleit nachzuweiſen. Namentlich in der Erfennts 
nistheorie und Ethif wird die Schwäche der 
Spenglerfden Pofition aufgezeigt, aber auch die 
Hnpotbhefe der ifolierten Stultucfeelen, ,,herausges 
boren aus einem einfeitigen Naturalismus” tft 
ibm nicht mehr, als „ein geiftreider Einfall“. 
Meffer Hat für die Auseinanderfegung mit Epeng- 
ler, die ja mod längft nicht abgefchloffen ift, 
Wefentlihes zu fagen. & W. 

Niederbrudm und AWufftieq, Wege 
gu Deutfslands Erneuerung, bon einem Staat 
mann. 280 S. Quelle & Mever, Leipzig. 

„Es muß eine fittlihe Wiedererneuerung unfe- 
re3 ganzen Volles eintreten. Wir milffen zurück— 
Iehren zu dem BPflihtgefühl gegen den Staat, 
wieder emporfteigen au der fittlihen Höhe unferer 
Verborderen.“ (S. 125). Wir Iefen bei Goethe 
in den Zahmen Xenien: - 

Es ift mit zu ſchelten, man laff’ e8 gelten. 
Sch aber bin fein Haar weiter, ald ih war. K: W. 

Helmuth Schreiner, Das Gebeimnis 
de3 dunllen Todes. Neue Wege zur Weltanfchaus 
ung. -150 ©. Sriedrih Bahn, Schwerin. 

565 


„Aus Denfen und Wollen ber Gegentwart ber» 
aus, aus völliſchem Scidfal und perfönlicher 
Lebensfehnfuht möchten diefe Blätter den Weg 
mweifen gu dem Geheimnis de3 dunflen ores, 
das in Schmerz, Tod und Wunden die Lichtherr- 
lichfeit einer höheren Welt enthüllt: daS Leben 
des emigen Geiftes.“ Man braudt nur die Ka, 
pitelüiberfchriften gu Tefen (Bonfeld, der „Pro» 
phet” — Das Rolf des Fluches — Der Glaube 
des beutfhen Menfchen — Das Reich der Geifter 
und Tämonen — Dee Erlenntnis höherer Wel« 
ten — Der ewige Geift), um gu erfennen, daß e3 
fic um böchſt aftuelle Fragen handelt. Bor allem 
aber tft e3 ein Buch, das zu führen vermag. Aus 
einer ftarfen Rofttion heraus gefchrieben, wiſſen— 
ſchaftlich fattelfeft, fharf und gereht in feiner 
burdhaus nidt im Negativen ftedenbleibenden 
Kritil, ermweift e3 die allen Gegentwart3problemen 
gewachſene ſachliche MUeberlegenheit chriſtlicher 
Weltanſchaunung. RK. W. 

Guftab Maaß,D bu Heimatflur! Gedichte. 
4 © 1 M. Mar Apnert Verlag, Caffel. 

Otto Sartmann, Das deutfhe Hera. 
Gedichte. 56 S. 1 ML. Ebendort. 

Zwei Tleine fchlihte Gedichtbücher. Das erfte 
enthält Gedichte, die aus der norddeutſchen Hei— 
mat (Samburg, ber Heide uftv.) ertoachfen find. 
Am heiten find die ftifen Stimmungen wie 
„Abendfrieden”. Eigentümlich berührt des öfteren 
das Wenlaffen des Artifeld vor dem Hauptmort. 
Im übrigen gilt für die Eharafteriftif dtefes Bänd⸗ 
dens dasſelbe, was für die beiden erften Bändchen 
gefnat wurde. Hartmann Gedichte fpieneln 
mannigfaltine Stimmungen wieder. Die eigent- 
lihe Burdfchlagsfraft fehlt. Man ann fagen: 
„richt übel.“ Ein Kreis bon Menfchen wird feinen 
Gefallen daran haben, ohne baß man an bie Lite- 
roturgefhichte denten muß. 

G U. Rüppder3-GSonnenberg, Bom 
Wrademifer gum ae Abenteuer und Erleb- 
niffe. 235 6. Geb. 3—M. Deutſche Land⸗ 
buchhandlung, Berlin. 

Ein alademifh gebildeter Kriegsteilnehmer, 
der in der erſten Kriegszeit ein Bein verlor, er⸗ 
zählt, wie fein Wandervogelgeiſt ihn in die Lines 
burger Heide treibt, wo er ein Stüd Boden urbar 
madt, fih eine Wohnhütte baut, heiratet, fein 
erfte3 Kind in feiner erften Entwidlung beobachtet. 
Seine Erzählung aibt die ganze Romantil wieder, 
die tm Bon-borneanfangen liegt, denn bis aur 
Tagebuchgenauigkeit lernen mir dies NRobinfon« 
leben mit feinem Sauber und feinen aften 
fennen. inter ber Erzählung lieat aber biel 
mehr: AU die Irrungen und Wirrungen, die dem 
echten Wanderbogel aus feiner Abneigung gegen 
unfere Kultur erwadfen, treten bier zutage: Der 
Bndividualismus wird durch den Zwang des Les 
bens überwunden; die Geringſchäßzung ber bor 
bandenen Kultur läßt Ah nidt aufrecht erbalten; 
eine Ahnung bom Wert ber bindenden Gitte ge! H 
den Giedlern auf. Und das alles mifcht fih mit 
dem gefunden neuen jugendlichen Geift, fo dab 
als Letztes das Kind alS Mittelpuntt der Familie 
aud) rein Außerlih im Bud den größten en 
einnimmt, 

Werladt da? Ein Rasch ger. —8 
Poincarés, herausgeg. i. Auftr. usſchuſſes 
für vaterländiſche Arbeit an * Techniſchen 
Hod{dule Darmftadt (fo die Anſchrift für Be— 
ftelungen!), bon Richard wereiffer: 64 S. Gut 
audgeftattet Preis 2,50 Mt., bei Beftellung bon 
mehr ala 25 Etüd mur 1,50 Mr. 

Adenarius‘ Gedanle daß wir die Wirkung der 
Karrifatur auf die Giller viel höher einſchätzen 
und fie darum als politifhes Kampfmittel werten 
lernen miiffen, wirft erfreulicherweife melter. Hier 
find aus den Seitfdriften und Tagesblättern der 
berfchtedenften Nationen mare hundert Karrila⸗ 
turen zuſammengetragen, bie fi a den Ein 
brud der Frangofen in unfer Ruhrgebiet beziehen. 
Ein die Bilder berbindender Text gibt nod ein- 
mal einen Weberblid über die wefentliden Ereig- 


niffe des Ruhrkampfes, und ein Schlußaufſatz 
mahnt eindringlid, die Propaganda al 
politifhes Mittel allgemeiner AN, Diefer 
Aufruf fann nicht oft und laut genug bem einzel» 
nen wie den Regierungen gugerufen werden; wir 
baten in friedliden Zeiten die Müke zu tief über 
die Obren gezogen ‚gebnbk, fo daß wir nicht merl- 
ten, wie die Druckerſchwärze als übended Gift 
gegen uns überall in ber Welt gebraudt murrbe, 
Nicht aulest die Rarrifatur Hat gegen uns gee 
arbeitet, ie die borliegerde Sammlung zeigt, 
bat in biefem 1 aud Frankreich erfahren 
miiffen, wie fein Anfehen in ber Welt burch folche 
Zeichnungen untergraben wurde. Vielen im Lande 
wird dieſes Heft die Augen öffnen über den Wert 
eine3 bisher berfannten Kampfmittels; befonders 
aber oe die Verbreitung im Ausland i? es 
empfohlen. 8. 
Die Garbe. Eine Bücherreihe bes Berlanns 
Carl Sdiinemann Bremen. Bänden in anges 
nebmem Tleinen Gefchenfformat. 60—90 Geiten 
ftarf, billig. Die Verfaffer find echte Niederdeutſche, 
die aud Wlattdeutfh in ihre Erzählungen ein- 
fließen Iaffen. Ludwig Sinrigdfen nennt 
feine fünf Novellen „Abfeit3 bom Wege". Men» 
fchen, die nicht in ber Reibe der großen Menfhen- 
fhar geben finnen, weil fie au3 ber Geſellſchaft 
ausgeftoßen find. Ein bermwilberter Junge, ein 
„Löwe“ einer Hafenftadt, ein mild triebhaftes 
Naturmenfhenfind; derart find die Menfchen, 
bon denen Hinrichfen erzählt. Er findet in ihrem 
Leben das Schidfalhafte, wodurch fie ibm Tieb 
werden. Und biefe Liebe für bie abfeit3 bom 
Wege Gehenden wedt er aud bei und. Auch 
Jben Arufe malt in feine Inappen Bilder 
Menfhen aus Holftein hinein, bie ebenfo berb 
und derb find wie bas’ Gchmarzbrot, bas man 
bier ißt. PBielfah find e3 nur Sfigaen ober Tleine 
Genrebildden, bie er gibt. Aber alle find voll 
bom eigenartigen Duft der Heimat, bie Kruſe 
mit ebenfo eindringliher Freude am Sleiniten 
und Schlichteſten befchreibt mie Hinridfen. Her» 
mann Eide, Stedingen. Cine Kekercronit. 
Hter iſt's eine aufammenbängende Ergiblung aus 
bem Mittelalter. Die Bauern bon Gtedingen 
werden tegen Ketzerei in Acht und Bann ges 
tan und ein Kreuzzug wird gegen fie aufgerufen. 
Trotzig und mannbaft fegen fich dieſe niederdeut« 
fhen Bauern zur Wehr, bis fie alle erfihlagen 
liegen. Stnapp, eifern find bie Zatfaden. Die 
Sprade berfucht, diefer inneren Wucht gerecht zu 
werden. Baul tiedrid Juels, Tobias 
Traddl. Wndere Luft umwebt uns bier. Wir 
üblen die Sleinftadt mit ihrem Reig idhlliſcher 
ube, in der ein „Stiller“ Teben fann. Ein be 
deutender Dichter, ber nur unter Dednamen ben 
Menfchen befannt tft, lebt unerlannt im Städt- 
den, gang für fic. Eine fpäte Liebe gu dem 
Mädchen, das ihm lange fhon treu feinen Haus» 
halt führt, wird mit der milden Wärme feptem- 
berliher Sonne erzählt. Daswilhen Täuft eine 
vergnügte Gefdidte bon einem etwas feltfamen 
literarifhen -Preisausfdreiben. — Cin Biidletn, 
wie man e3 gern bat für eine ftille Stunde ded 
Ausrubens und Entipannens. G. 2 
Snnenrtäume beutfher Bergan: 
ger beit. Aus Shlöffern und Burgen, —— 
ürgerbauten und Bauernhäuſern. 80 ee O Mt. 
Karl Robert Langewieſche, Königftein + fy Bass 
Das neue blaue Langewiefche Buch bringt 
76 Bollbilder mit einer guten, Inappen Einleitung 
Wilhelm Pinders. ES find nicht intimere, Ileine 
Näume, fondern meift Sale (nur vereinzelt In— 
tımere3d wie das gotifhe Domftiftzimmer in Frit- 
lar, Dürerd Zimmer oder Bauernftuben bon ber 
Nordfeelitite), und gwar aus Gotif, Menaiffance, 
unb einiges aus Barod. Die Bilderauswahl zeugt 
bon Sefhmad und Sorgfalt, Einwendungen haben 
wir nur gegen die allgu unfbftematifd-bunte An— 
ortnung und gegen den Ausflug der Schweiz — 
was bat bie Staatögrenze gt bem Bollstum und 
der Kultur gu tun? 


Gedrudt in der Yanfeatiihen Verlagsanftalt Aftiengefellidatt, Hamburg 36, Holftenwall 2. 


566 





Notenbeilage gum „Deutfden Volkstum“. 
Zwei Weihnachtslieder.* 
I 


Puer natus in Bethlehem. 


ge = born zu 


Hie leit es in dem Krippelein, 
obn Ende tft die Herrfchaft fein. 
Alle-Alleluja | 


Die Konig’ aus Saba famen dar, 
Gold, Weihrauh, Myrrhen brachten * 
Alle-Allelu ja! [da 


Sein’ Mutter tft die reine Mago, - 
die obn ein’n Mann geboren bat. 
Alle-Alleluja! 


Die Schlang thn nicht vergiften kunnt, 
tft worden unfer Glut ohn Sünd. 
Alle-Alleluja! 


„Das alte deutfhe Wethnadtslted’, 





Leifentritt 1567. 


Beth - le - bem, wi. Beth- 


Er tft ung gar gleich nach dem Fleifch, 
der Sünden nach uns gar nicht gleich. 
Alle-Alleluja I 


Damit er thn uns machet’ gleich — 
und wiederbrächt’ zu Gottes Reich, 
Alle-Alleluja | 


r folche gnadenreiche Zeit 
ei Gott gelobt in Ewigfeit! « 
Alte-Alleluja ! 


Gelobt fet die heilt hate 
von nun an bis in Ewigkeit. 
Alle-Alleluja | 


Babftijhes Gefangbuch 1542, 1545. 


Eine Auswahl. Mit den Weifen im Klavierfag 


ferausge 38 8 R or tH Budde und Arnold Mendelsfohn, Hanfeatifche Verlagsanftalt, Samburg. 


in Gangleinen © 


II. 


Weife: Ich dank dir fehon Durch deinen Sohn (1610). 
En! mi-rae pul - - - cri - tu - di-nis eyn 
Ruhig. Sn wun-der-ba = D - rer Schön-heit Kranz ein 





blom-fe is & = = fprun - gen a 
Blüm-lein iſt ent - - fpun = gen bod 


Se 





thro- no al - - ti - tu - di - nis, Der 
aus des Him - mels - thro - nes Glanz, dem 


4 
4 — — eS —— — — — — — — 


fan SP — =e — 
—— —— 








Originem recepit flos Dies Blümelein entſproß der Au 
alhir upp duſſer erden, allhier auf dieſer Erden, 

ut gratiae permisit ros, wie's ihm beſchied der Gnade Tau, 
vom Jeſſe dem vel werden. von Jeſſe dem viel werten. 

O junckfraw fyn, fe gnaden ferpn, D Jungfrau fein, der Gnaden Schrein, 
rogamus mente pia: wir flehn mit frommen Sinnen, 

Warff uns den toon des fyndes dyn mwirf ung den Schein des Kindes dein 
caelesti hierarchia! von Himmels heilgen Sinnen! 


Mittelniederdeutfh, Wolfenbütteler Handfchrift, 15. Jahrh. 


— 








Aus dem Deutihen Voltstum 


Matthias Schieftl, Heilige Nacht 


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