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Full text of "Deutsches Staats-Wörterbuch"

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Deutſches 


Staats-Wörterbuch. 


In Verbindung mit deutschen Gelehrten 
herausgegeben von | 


brkomi — Gochor | Sarı 
Dr. J. €. Bluntichli und Dr. 8. Brater. 


Eifter Band. (Schluß.) 


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Stittgart und Leipzig, 1870. 
Egpedition des Staats⸗Wörterbuchs. 





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2 Verfiherungsanflalten. 


und Kreditkriſen, Verſchlechterungen und unvortheilhafte Verkäufe hypothezirter 
Guter, Verbrechtn gegen Perſonen und Eigenthum immer vorkommen. Die durch 
die genannten und andere ähnliche Vorkommniſſe herbeigeführten Bermögensver- 
luſte find ein nicht zu vermeidendes Webel. Es leuchtet von felbft ein, daß ſolche 
Vermögensverlufte denjenigen, über bie fie hereinbrechen, unter Umſtänden fehr 
verberblich werben, ſich für fie zu einer Quelle dauernder Verarmung geftalten, 
und ihnen für ihre ganze Lebenszeit die Fähigkeit nehmen können, wieder zu 
einem nährenden Erwerbe zu gelangen. Da der Berluft ein unabwenbbarer iſt, 
fo gibt e8 bier nur eine Hülfe: die Entſchädigung. Wer fol dieſe aber leiften? 
Bei den durch dolofe oder culpofe Handlungen Dritter angerihteten Schäden gibt 
es wohl einen Erſatzpflichtigen und es verfteht ſich von felbft, daß ber Beſchädigte 
fi) an dieſen zu halten umb bei ihm wegen bes erlittenen Schabene feine Er- 
holung zu fucden hat. Wie aber dann, wenn der Beſchädiger unvermögend ift, 
feiner Erfagpfliht nachzulommen ober ſich nidt ermitteln läßt? Wie bei jenen 
Bermögensverluften, die durch Elementarereigniffe unb andere Zufälle herbeigeführt 
werben? Hier muß der Beſchädigte feinen Schaden felbft tragen, unb foll ihm 
derfelbe abgenommen werben, fo ſcheint dies nur durd einen Wohlthätigkeitsalt 
geſchehen zu können. Auf folde Hülfe it num aber nicht zu rechnen, weil fie eine 
freiwillige Leiftung iſt und ein Anſpruch hierauf nicht erhoden werben fann, weber 
gegen bie Mitbürger noh auch — bie Fälle der öffentlihen Armenunterftägung 
abgerechnet — gegen den Staat. Es wäre auch bevenflih, wenn fie regelmäßig 
zu Theil würbe, weil die individuelle Selbſtändigkeit ernftlich dabei gefährdet wäre. 
Zum Glüd eröffnet ſich inbeffen noch cin anderer Weg, jene Berlufte zu erſetzen; 
das menſchliche Geſellſchaftsleben leitet auf ihn hin, inbem es eine Art von Hülfe 
vermittelt, die mit ber Selbſtachtung des ſie Empfangenden verträglid ift, die 
Selöfthälfe. Ein Schade, ber ſich unter Viele vertheilt, wird von dem einzelnen 
Theilnehmer leicht getvagen, ja faum empfunden. Wenn baher bie vom einer be 
ſtimmten Gefahr bedrohten Perfonen in größerer Anzahl zufammentreten und ben 
dem Einzelnen von ihnen hieraus zugehenden Schaben für eine gemeinſchaftliche 
Angelegenheit, d. i. für eine fie alle gleihmäßig trefiende Laft erklären, fo ift das 
Mittel gefunden, Jedem vollen Erſatz zu gewähren. Derſelbe ſetzt fih zufammen 
aus ben Antheilen fämmtliher Genoffen an dem kraft ber eingegangenen Berbin- 
dung ald gemeinschaftlich zu behandelnden Schaden. Mit der Uebernahme bes auf 
ihn fallenden Anthelis erwirbt jeder Genoffe- fih das Recht auf vollen Erſatz für 
ven Fall, daß ihn der fragliche Schade treffen follte. Es ift das ein geringes von 
ihm Teicht zu verſchmerzendes Opfer im Verhältnig zu dem bamit erfauften Bor- 
theil, der nicht felten in der Abwendung feines gänzlihen dkonomiſchen Ruins be- 
ſteht. Der Beſchaͤdigte verdankt daher die Dedung feines Berluftes nicht einem 
AR fremder Liheralität, fondern fi ſelbſt, feiner eigenen durch die Vergeſellſchaf ⸗ 
tung mit Andern potenzirten Kraft. Die Hülfeleiftung hat vie Natur einer wirth- 
ſchaftlichen Thätigkeit und beruht demnach auf Gegenfeitigleit. Das einzelne Ge⸗ 
fellſchaftsglied Hilft die Uebrigen mit entſchädigen und wird bafür wieder von 
ihnen entihäbigt. Es iſt das heutzutage zu jo großer Bedeutung und Ausdeh - 
nung gelangte Berfigerungswefen, In welchem biefe wechſelſeitige Hülfleiftung 
in die Erſcheinung tritt. Die Sache iſt fo einfach und der ihr innewohnende Ger 
danke liegi fo nahe, daß es auffallen muß, wenn wir ben Anfängen bes Ber 
fiherungswejens erft im Mittelalter und nicht fon im Alterthum begegnen, unb 
die eigentliche Ausbildung und verbreitete Anwendung besfelben erſt in ber neueren 
und neneften Zeit vorfinden. 


Derfiherungsanflalten. 8 


II. Gegenſtand der VBerficherung. 

Wir haben denfelben wohl oben im Allyemeinen bezeichnet, aber er bebarf 
noch einer näheren Beftimmung und Begrenzung. Nicht jeder unmittelbare oder 
mittelbare Bermögendverluft der bemerkten Urt ift zur Verfiherung geeignet. Bor 
allem darf der Beſchädigte den Verluſt nicht felbft abfichtlih herbeigeführt haben, 
er muß ein zufälliger fein. Bor einem ſich vorfäglih felbft zugefügten Schaben 
kann fih Jeder felbft fihern, er braudt die betreffende Handlung nur zu unter: 
laffen. Die Berfiderung ift bier kein Bedürfniß und ohne Sinn. Auch fan 

. andern Gejellichaftsgliebern nicht zugemuthet werben, die Haftung für einen folchen 
Schaden zu übernehmen. Daß Übrigens der Schaden ein abfolut zufälliger fet, tft 
nicht nothwendig; e8 genügt, wenn er es für den Beſchädigten iſt, nämlich nicht 
von ihm jelbft gewollt, fondern durch Handlungen Dritter, die er nicht hindern 
fonnte, veranlaßt worben if. Es macht dabei keinen Unterſchied, ob die fremde 
Handlung, welche den Schaden verurfachte, mit Vorbedacht oder aus Unachtſam⸗ 
feit ober in Unkenntniß der Folgen unternommen wurde. Hat man fi doch ſchon 
mit dem Gedanken getragen, die Verfiherung der durch Diebftahl, Raub, Betrug 
und andere Eigenthumsverbrechen bewirkten Bermögensverlufte zu einem eigenen 
Berfiherungszweig herauszubilden, und dieſen Gedanken felbft auszuführen gefudht. 
Uebrigens fließt auch der durch eigene Bahrläffigkeit, wofern viefelbe nur feine 
grobe ift, entflandene Verluſt von der Verfiherung nicht aus. Die reine Zufällig- 
teit des Schavens iſt daher fein weſentliches Erforderniß der VBerfiherung. Gleich 
wohl ſpielt der Zufall auf der Stufe der Entwidlung,, auf der heute das Ber- 
fiherungswefen angelangt ift, entjhieden die hervorragende Rolle und es ift bei 
der Verſicherung zunächſt und zumeift auf ihn abgefehen. Der Schade, der Ge⸗ 
genftand der Verfiherung jein fol, erfährt aber nod eine weitere Beſchränkung. 
Er darf nicht fo beſchaffen fein, daß er, wenn er eintritt, gleichzeitig ſehr viele, 
wenn nicht alle Beflger der von ihm bedrohten Vermögensobjelte trifft, ober daß 
überhaupt nur ein beftimmter engerer Kreis von Perfenen ihm Häufig, Andere 
gar nicht oder höchft felten ausgejegt find. Wäre Erfteres der Fall, fo würden 
die auf die Einzelnen entfollenden Beiträge zur Entſchädigung der Uebrigen eine 
ſolche Höhe erreichen, daß es beffer gethan ift, wenn Jeder feinen Schaden jelbit 
trägt. Träte aber noch die zweite Borausfegung hinzu, fo wäre nicht nur bie 
Wirkung diefelbe, e8 würde überdies aud die Zahl ver Theilnehmer, da die von 
dem fraglihen Unglüdsfall gar nicht oder nur fehr felten Bedrohten ſich nidt 
anfchliegen würden, zu gering fein, als daß durch Vertheilung des Schabens eine 
merklich erleichternde Ausgleihung erfolgen könnte. Hieraus erflärt es fich, daß bie 
buch Ueberſchwemmungen, Erbbeben, vulfanifhe Eruptionen, Lawinenſtürze, Heu: 
ſchreckenzüge, Kriege berbeigeführten Verluſte fih nicht zur Verfiherung eignen 
und and bie Hagelverfiherung nicht recht gedeihen will. Der zu verſichernde 
Schade muß ferner ftatiftifch berechenbar fein, er muß mit einer gewiflen Megel- 
mäßigfeit eintreten, die Gründe und Veranlaſſungen feines bald häufigeren, bald 
jelteneren Vorkommens mäflen befannt fein, und wenn biefe ſich auch nidht gerade 
auf beftimmte Naturgefege zurüdführen Iaffen, fo muß auf ſie doch jedenfalls das 
Geſetz der fogenannten großen Zahlen Anwendung finden, und bie hiezu erforderlichen 
längeren und umfafjenden Beobachtungen, Erhebungen und Vergleihungen dürfen 
feinesfalls unterlaffen werden. Außerdem würde es an jedem Anhaltspunkte zur 
Beurtheilung über die Ausführbarkeit der Verfiherung, ob und wie weit fie vor- 
theilhaft ift, fehlen und das Verfiherungsgefhäft der erften und wejentlidften 
Grundlage entbehren. Die Statiftit ift daher für das Verfiherungswejen von 


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4 Derfiherungsanflalten. 


großer Bebeutung. Mit ihrer Fortbildung werden nicht nur die bereits beſtehenden 
Berfiherungszweige einen fefteren Beftand und eine größere Verbreitung gewinnen, 
fie wird ohne Zweifel auch die Inangriffnahme neuer bisher noch nicht betriebener 
ermöglihen. So dürfte bei fernerer Pflege der jest fo eifrig bebauten Statiſtik 
der Berbrehen und Vergehen die Berficherung gegen Diebſtahl, Raub, Betrug 
u. f. w. eine Zufunft haben, während es ambrerfeits Hauptfähli ver zur Zeit 
noch mangelhaften flatiftifhen Grundlage zuzufchreiben iſt, daß die Hagel- und ' 
Biehverficherung bisher noch nicht in dem Maaße Fuß gefaßt und nicht die Ber- 
breitung gefunden hat, wie die euer“, Lransport- und Lebensverſicherung. End⸗ 
li muß der Schabe, um die Verfiherungsanftalt gegen mißbräuchliche Benägung 
und Bevortheilung zu fidhern, möglihft leicht zu fontrolliren fein, fowohl was bie 
Art feiner Entftehung als feine Größe anlangt. Die genaue Ermittelung ver Ent- 
ftehungsurfadhe des Schadens ift befonvers dann am Ort, wenn biefer vom Ber- 
ſicherten ſelbſt mit Leichtigkeit willfürlich herbeigeführt werben kann; auch dieſem 
Erforderniß entfpricht die Biehverfiherung nur fehr unzureichend. 

Nah der Anſicht Einiger handelt e8 ſich bei der Verfiherung nicht immer 
um Verſchaffung des Erfates eines erlittenen Berluftes, fondern .fie bezwedt mit- 
unter für den Verſicherten oder feine Erben einen Vermögenserwerb, einen Ge: 
winn. Als Beifpiel wird die Lebensverfiherung angeführt und biefe deßhalb auch 
aus ber Zahl ver eigentlichen Verfiherungsanftalten ausgeſchieden. Allein auch bei 
der Lebensverfiherung, mag fie nun eine Rente oder ein Kapital in Ausficht 
ftellen, tft es im runde auf die Dedung eines peluniären Verluſtes abgefehen, 
welcher entweder für ben Berficherten ſelbſt durch bie in Folge von Altersgebrech⸗ 
lichkeit, Krankheit oder andern Unfällen verminderte ober völlig gefhwundene 
Urbeitsfähigkeit oder durch Ausftattung feiner Kindek u. f. w. oder aber durch 
feinen Tod für feine hinterbliebenen Familienangehörigen entfteht, indem dieſe num 
ber werfthätigen Fürſorge bes Vaters und Gatten beraubt find. Es iſt baher 
fein genügender Grund zu obiger Ausſcheidung und einer Sonberftellung der Le⸗ 
bensverfiherung neben den übrigen Verfiherungszweigen vorhanden. 


III. Die BVerficherungsprämie und deren Maßſtab. 


Die Berfiherung ift, wie fchon bemerkt worden, kein einfeltiges Nechtsgefchäft, 
bei dem blos der eine Theil gibt, und ber andere empfängt, kein Alt ver Wohl- 
thätigfeit. Ste beruht auf Leiſtung und Gegenleiftung, fie ift ein zweifeltiger Ver⸗ 
trag. Die Leiftung bes Berficherten, mit der er den Anfprud auf Schabenver- 
gütung erwirbt, nennt man die Verfiherungsprämie. Sie ift der Antheil, 
den der einzelne Verfiherte von ven In Berfiherung genommenen wirklich einge- 
tretenen oder durfchnittlid angenommenen Schäden ſämmtlicher Berficherten zu 
übernehmen bat, beziehungswelfe der zur Vergütung dieſer Schäden ihm oblie- 
gende Beitrag. Die Prämien müſſen aber außerdem aud die Mittel bieten, bie 
Berwaltungstoften der Berfiherungsanftalt zu deden, die erforverlichen Reſerven 
anzufammeln, die etwa verwendeten fremden SKapitalien zu verzinfen und, falls 
bie Verfiherung gewerbsmäßig betrieben wird, den Berfiherungsgebern einen an- 
gemeffenen Unternehfmungsgewinn übrig zu laflen. Es leuchtet von felbft ein, daß 
der Betrag der Prämie nicht für alle Verficherte berfelbe fein kann; er wird ſich 
bei jedem einzelnen Berficherten nad) dem eventuellen Bortheil zu richten haben, 
den die Berficherung ihm gewährt. Maßgebend ift Hier zunächſt der Werth des 
Verſicherungsobjektes. Je werthvoller dieſes iſt, deſto größer ift der Schade, ven 
der Verluſt desſelben dem Beſitzer bereitet und deſto größer daher der Vortheil, 





Derficherungsanflalicn. 6 Be 


ben Letzterer aus ber DVerfiherung zieht. Es tritt aber noch ein zweites Moment 3 
hinzu. Die verſicherten Gegenſtände find der Gefahr, von dem fraglichen Unfall TR 
getroffen zu werden, nicht in gleihem Grade ausgefegt, der eine mehr, der andere - 

minder. In jenem Falle wird ber Berficherte eher und After in die Lage kommen, 
die Dienfte der VBerfiherungsanftalt in Anfpruh zu nehmen, als in diefem, woraus 2 
folgt, daß auch ſeine Leiſtung, die Prämie, hiermit wird in Einklang gebracht 8 . 
werden müſſen. Demnach iſt der Maßftab ver Prämie ein doppelter und befteht re: 
in bem Werth des verficherten Gutes und in dem Grade der Gefahr, von der : 
es bedroht iſt. Nur dann, wenn die Prämie nach diefen beiten Momenten abge- Eu. 
Auft if, treten Leiftung und Oegenleiftung zu einander in ein entfpredhenves Ver⸗ Br. 
haltniß. Bei einem für Alle gleihen Prämienfage wären bie Beflger ber werth⸗ B*; 
volleren und mehr gefährveten Berfiherungsobjelte bevorzugt und die fih im ent» En 
gegengefegten alle Befindenden überbürbet. Der Werth des verficderten Gutes J 
läßt ſich in der Regel leicht erheben und es Tann die Angabe desſelben wegen der 7% 
Leichtigleit der Kontrolle auch dem Berfiherten überlaflen werben. Da die Prämie BR. 
fi nad) dem verfiherten Werth richtet und in Procenten des letzteren ausgedrückt tz 
if, folglich die Steigerung der Prämie ſchon als Abhaltungsgrund gegen eine zu 
hohe Werthangabe wirkt, fo liegt in obigem Zugeftänbniffe nichts Bevenfiches, 
wofern nur flrenge darauf gehalten wird, daß durch vorſätzliche Selbſtzerſtörung 
des Berfiherungsobjeftes der Berficherte jeden Anfpruh auf Erfag verliert, und 
daß die bezahlte Vergütungsfumme in einem Falle mehr als der wirklich erlittene 
Schade und bei zu geringer Werthangabe nur ven entiprechenden Bruchtheil des⸗ 
jelben beträgt. Schwierig iſt es dagegen, den Grab der Gefahr zu ermitteln. Er 
hängt von verſchiedenen nicht immer vorherzufehenden und erfaßbaren Umftänden 
und Berhbältnifien ab; und wenn auch biefelben befannt ſind, fo iſt ihre Wirfung 
häufig wieder eine fehr ungleiche. Am genaneften läßt fi noch der Grad ber 
Gefahr bei ver Lebensverſicherung beftimmen, da er bier auf dem Sterblichkeits⸗ 
gejeg beruht, von dem wir Dank den durch mehrere Generationen beharrlich foris 
geſetzten flatiftifchen Arbeiten ſchon eine nähere Einficht erlangt haben. Bei ben 
anderen Berfiherungdzweigen ift man lediglich auf das Geſetz der großen Zahlen 





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angewiefen, deſſen genauere Feſtſtellung noch längere vielfältige Beobachtungen en 
erfordern wird nnd daher ver Zufunft vorbehalten bleibt. Werner iſt noch zu be⸗ 3 
merken, daß, je nachdem die Verſicherung eine vorübergehende, d. 1. blos auf einen —* 
beſtimmten einzelnen Unglücksfall ſich beziehende oder eine bleibende gegen derartige & 
Unglüdsfälle überhaupt gerichtete ift, auch die Bemeflung ver Berfiherungsprämie R 
eine verjchiedene fein wird. Bei vorübergehenven ober gelegenheitlichen Ver⸗ KH 
- fiherungen richtet fih ihr Sag blos nad der Summe ber wirklich erfolgten ober 
muthmaßlihen Schäden in dem beftimmten einzelnen Falle, bei bleibenden Ber- Re: 


fiherungen dagegen nah ver Zahl und dem Umfange ver fraglihen Schäben 
während eines längeren Zeitraumes, gewöhnlich eines Jahres. Die Prämie ift 
daher bei bleibenden Berfiherungen eine zeitliche und zwar jährlide und wird in 
Jahresterminen fo lange fort entrichtet, als vie Verſicherung befteht. Die Prämie 
fteht übrigens, wie-bie Bezahlung jeder andern Xeiftung, unter dem Geſetze ver 


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Konkurrenz, welches fich fofort geltend macht, wenn rivalifitende Verſſcherungs⸗ A 
unternehmungen einander auf demſelben Felde begegnen. Erfparungen bei der Ber: F 
waltung, große Ausdehnung des Verſicherungsgeſchäftes, die eine mehrere Aus- J 
gleichung der Verluſte mit ſich führt, Genauigkeit und Umſicht bei der Uebernahme ER 
in die Berfiherung und bei ver Schadenerbebung, forgfame Berädfihtigung bes X 
Grades der Gefahr und Zurückweiſung allzu gefährlicher Verfiherungen, lffen ... 


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6 Derficherungsanftalten. 


eine Ermäßigung der Prämie zu, ohne der Anftalt die Fähigkeit zu nehmen, bie 
volle Schabenvergütung zu leiften. . 


IV. Syfteme der Verficherung. 


Der Gedanke der Berfiherung kann auf mehrfade Art ausgeführt und ‚praf- 
tif verwerthet werben. Dan unterſcheidet hiernach verſchiedene Syſteme der Ber- 
fiherung. Vorerſt läßt fi die Verſicherung entweber ald Stantd- ober als 
Privatunternehmen benten. Als Stantsunternefmen erſcheint gewiſſermaßen 
auch, ober iſt ihm doch nahe verwandt, die von politifchen Korporationen, wie von 
Landftänden, größeren, namentlich ſtädtiſchen Gemeinden oder Gemeindeverbänden, 
unter Aufſicht, vieleicht aud unter Mithaftung des Staates eingerichtete und be- 
triebene Berficherung. Ob das Syſtem ber Stantsverfiherung oder jenes der Pri- 
vatverfiherung den Vorzug verdient, mag hier einfimellen auf fi beruhen biei- 
ben; die Antwort hierauf wird in einem fpätern Abſchnitte dieſes Artikels folgen, 
wo von ber Stellung des Staates zum Verſicherungsweſen die Rebe fein wird. 
Die Verſicherungsanſtalten ſcheiden fid) ferner in reine Gegenfeitigfeits- 
anftalten und in gewerbömäßtg betriebene Unternehmungen. Man 
nennt bie letzteren auch Aktien- oder Brämiengefellfhaften. Une will 
weder die eine noch bie andere Benennung zutreffend erſcheinen. Wohl wird die 
gewerbsmäßige Berfiherung in der Megel von Aktiengefelfchaften betrieben; allein 
es fteht nichts entgegen, baß aud; einzelne mit großen Rapitalmitteln verfehene 
Perfonen (wie dies bei der Seeverfiherung in der That nicht felten geſchieht) 
oder der Staat ober politiſche Korporationen ſelbe unternehmen. Prämien aber 
fommen bei beiben Arten der Verfiherung vor, bei der gegenfeitigen ebenſowohl 
als bei ber gewerbamäßtg betriebenen. Auch iſt unfers Bebünfens die Bezeichnung 
„Gegenfeitigkeitsanftalt” für die erfigenannte Art nicht glüclich gewählt. Jede 
Verfiherung, aud wenn fle einen gewerbsmäßigen Charakter hat, beruht auf Ge- 
genfeitigkeit. Ohne Annahme des Gegenfeitigfeitsprinctps läßt ſich eine Verſicherung 
nicht durchführen, ja nicht einmal venfen; denn nur auf dieſem und feinem andern 
Wege kann der Schade des Einzelnen zu einem gemeinfchaftlichen für alle Theit- 
nehmer werben, worin eben das Wefen der Verſicherung beſteht. Es ift nur die 
eigenthümliche Art der Durchführung des Gegenfeitigteitöprincips, wodurch ſich die 
gewerbsmäßig betriebene Verfiherung von ber fogenannten gegenfeitigen unter- 
ſcheidet. Während bei diefer jeder Theilnehmer zugleich Verſicherter und Verſicherer 
if, die Gegenfeitigteit ſich alfo unvermittelt vollzieht, geſchieht dies bei der ge- 
werbsmäßigen Verfiherung durch eine Mittelsperfon, ben BVerfiherungsunter- 
nehmer, der den Verſicherungſuchenden bie Rolle ber Verſicherer abnimmt und 
als der Verſicherer Aller auftritt, dafür aber von ihnen die Vergütungsbeiträge 
empfängt. Berfierer und Verficherte ftehen bier auf Grund einer vor ſich ge» 
gangenen Arbeitötheilung einander gefonbert gegenüber. Unftatt daß bie Beſiber 
der Verſicherungsobjelte ſich gegenfeitig den Dienft ver Verfiherung felbft leiſten, 
laſſen fie ſich ihn burd einen Dritten feiften, ver daraus ein Gelhäft macht und 
den fie hiefür bezahlen. Das eigentliche Unterſcheildungemerkmal zwifchen ben beiden 
in Rede ſtehenden Arten der Berfiherung liegt in dem fpefulativen Charafter, den 
die gewerbsmäßig betriebene Verfiherung befigt und befigen muß, der aber der 
fogenannten gegenfeitigen fehlt. Man follte daher der Eintheitung ber Berfiherungs- 
anftalten in Uftiengefellfchaften und Gegenſeitigkeitsgeſellſchaften jene In fpefufative 
und nicht fpefulative Verfiherungsunternehmungen fubftituiren. Gewöhnlich wird 
tie rein gegenfeltige ober nicht fpefulative Verfiherung tn eine Staats · und Pri- 


Derficherungsanflaiten. 7 


vatverfiherung abgezweigt. Allein auch bier unterläuft ein Irrtum. Die Einthei- 
lung in Staate- und Brivatverfiherungsanftalten ift feine Untereintheilung der 
rein gegenfeitigeh oder nicht fpelulativen Verfiherung, fondern eine felbftänvig für 
ſich beſtehende. Auch die vom Staate eingerichteten Verſicherungen, wenn fie aud) 
in Wirklichkeit vielleicht ausnahmslos reine Gegenfeitigkeitsanftalten find, können 
gewerbsmäßig, jomit in fpelulativer Abficht betrieben werben. 

Die reine gegenfeitige Verfiherung bedarf keines Betriebslapitals. Die Mittel 
zur Vergütung der Schäben fließen lediglich aus den Beiträgen oder Prämien ver 
Mitglieder. Bermehren fih die Schäden, fo muß, um vollen Erjag leiften zu 
können, die Prämie erhöht werben, wie viefe mit der Verminderung jener ſich aud 
umgefehrt wieber verringert. Die Prämie iſt daher wandelbar und wird durch die 
jeweilig zu vergätenden Schäden beftimmt. Da ein Gewinn nicht beabfichtigt wird, 
deden fid) beide vollftänvig bis auf jenen geringen Zufchlag, der zur Prämie hin⸗ 
zugelegt werten muß, um die Berwaltungskoften der Anftalt zu beftreiten. Die 
rein gegenfeitige Verfiherung wird am einfachften in der Art burchgeführt, daß 
nach Ablauf eines beftimmten Zeitabjchnitts, gewöhnlich eines Jahres, die während 
besfelben vorgelommenen Schäden berechnet und bie zu deren Vergütung erfor- 
derliden Summen anf die einzelnen Theilnehmer nah Maßgabe des Werthes ver 
von ihnen verfiherten Bermögensobjelte und des Grades der Gefahr, der bie 
felben ausgefegt find, vepartirt, bie Prämien alfo fowie die Schabenvergätungen 
nachgezahlt werden. Bon einer Wahrfcheinlichleitsrehnung bezüglich des Eintritts 
der fraglichen Unglädsfälle wird daher bier gänzlich Umgang genommen; bie Prä- 
mie richtet fi) immer genau nad) den wirklich erfolgten Schäpen. Es können aber 
auch mit Nüdfiht auf den murhmaßlichen Durchfchnitt ber innerhalb eines Jahres 
zu leiftenden Entſchädigungen auf Grund einer Wahrjcheinlichkeitsrehnung fefte 
Jahresprämien bemeflen werven, die von den Verſicherten vorauszuzahlen find. 
Ueberfteigen dieſe feften Prämien ten Bedarf eines Jahres, fo wird ber Ueber: 
ſchuß entweber zur Dedung fpäterer Ausfälle refervirt over ald ein Gewinn fänmt- 
liher Mitglieder behandelt und ihnen allenfalls für bie nächſte Prämienzahlung 
gut gefchrieben. Betragen aber die. in einem Jahre zur Vergütung gelangenden 
Schäden mehr als die Summe der eingezablten von vornherein beftimmten Prä⸗ 
mien, fo wird das Abgängige zunähft aus ben etwa vorhandenen Referven ge- 
nommen und wenn biefe nicht zureichen oder ganz mangeln, haben die Thellnehmer 
verhältnigmäßige Nachſchüſſe zu leiſten. 

Bei der gewerbsmäßig betriebenen Verſicherung ift die Prämie jederzeit in 
einem feften Betrage beftimmt, durch deſſen Zahlung der Berfiherte unter allen 
Umflänten den Anſpruch auf volle Erfaglelftung, aber aud auf nichts weiter er- 
langt. Nahzablungen finden von Seiten der Verſicherten ebenjowenig ftatt als 
Gutſchreibungen für diefelben. Wenn mehr an Prämien eingeht, ald zur Schaben- 
vergätung und Dedung des Berwaltungsaufwandes erforbert wird, fo fällt dieſe 
Mehreinnahme ausichließlich dem Berfiherer ald Unternehmer zu, fie ift fein Ge⸗ 
winn, defien Erzielung ihn allein beftimmen konnte, vie VBerfiherung als Geſchäft 
einzurichten und zu betreiben. Dafür muß er aber au, wenn bie empfangenen 
Prämien zur Beftreitung der oben erwähnten ihm obliegenden Ausgaben nicht bin: 
reichen, den DVerluft als Berfiherungsunternehmer allein tragen und es wird da— 
durch in feinen Verpflihtungen gegenüber ven Berficherten nicht das mindefte ge- 
ändert. Ob viele ober wenige folder Unglüdsfälle, gegen welche vie Verſicherung 
geleiftet wird, ſich ereignen, ob der dadurch angerichtete Schade groß oder gering 
iR, berührt bei ‘ver gewerbsmäßig betriebenen Verfiherung die Berfiherten nicht, 






































8 Derfiherungsanflalien. 


fondern einzig nur den Verfiherer. Die Haftung bes letzteren für bie Berlufte 
macht bei diefem Syſteme ver Verfiherung ein Kapital zum Bedürfniſſe, welches 
gewöhnlich durch Aftien aufgebracht wird. Die gezeichneten Beträge pflegen jedoch 
nicht voll, ſondern nur bis zu 10 höchſtens 20 Procent eingezahlt zu werben. 
Zu einer mehreren Einzahlung liegt in ber Regel feine Nöthigunz vor; denn für 
die laufenden Berwaltungstoften und bie Zahlungen der Entſchädigungsſummen 
am bie Berfiherten müffen vie Prämien die Mittel liefern; ber baar erlegte Theil 
des Attenfapitald wird blos zu den erften Einrichtungen verwendet und was dann 
noch übrig bleibt, dient als unveränderlicher Garantiefond. Es müßten ganz außer 
ordentliche Verluſte eintreten, wenn diefer Garantiefonb zur Dedung berfelben 
nicht hinreichen ſollte und, zu diefem Zwede angegriffen, nicht alsbald wieder ergänzt 
werben Könnte. Mafius verfihert, es fet während eines Zeitraums von 40 Jahren 
nur einmal bei einer Feuerverſicherung und zweimal bei einer Hagelverfiherung 
vorgefommen, daß weitere Nachzahlungen nothivendig wurden. Um inbeſſen bes 
pünftlihen Eingehens berfelben für den Fall des Bedarfs ficher zu fein, werden 
die Altien, abweichend von andern Induftrie-Aftien, gewöhnlih auf ben Namen 
der Aktionäre, die ſich überbies zur Leiftung ver Nachzahlungen burch Wechſel ver- 
pflihten, ausgeftelt. Das eingezahlte Aftienfapital muß felbftverftändlid feinen 
Inhabern bie üblichen Zinfen gewähren. Die Prämie ift baher fo zu bemefien, daß 
fie, abgefehen von ben aus ihr zu beftreitenden Gefhäftsunfoften und Schaben- 
vergütungen, dieſe Verzinfung ermöglicht. \ 

Da bie gewerbsmäßige Verfiherung einen Gewinn anftrebt und ihn auch 
erlangen muß, um beftehen zu können, da fie ferner zu ihrer Geſchäftsführung 
ein Kapital benöthigt, welches fie zu verzinfen bat, fo ſcheint fie nicht im Stande 
zu fein, dem Verfiherungsbebürftigen den begehrten Dienf zu bemfelben mäßigen 
Preife zu leiften, zu dem ihn bie rein gegenfeitige Verficherung, die weder auf 
einen Gewinn ausgeht, noch ein Kapital braucht, verrichtet, und ſcheint fomit ber 
Befähigung zu entbehren, mit diefer zu konkurriren. Daran zu zweifeln dürfte eben- 
fowenig erlaubt fein, als es gewiß ift, dag Niemand, ver zwifchen einer theuereren 
und wohlfeileren Waare bei gleicher Güte zu wählen bat, der erſteren den Bor- 
zug geben wird. Gleichwohl fehen wir, daß bie gewerbsmäßig betriebene Ber- 
fiherung überall die Konkurrenz der rein gegenfeitigen nit nur befteht, fonbern 
ihr gegenüber felbft fortſchreitend an Terrain gewinnt. Dies erflärt fi dor allem 
ſchon daraus, daß bei jener bie Prämie feft, bei biefer aber wandelbar ift. Sehr 
viele Menſchen ziehen, wenn zu irgend einem Zwed periodiſch wiederkehrende Ber- 
wenbungen gemacht werben müſſen, beftimmte Ausgaben biefür überhaupt den 
unbeftimmten vor, weil fie dann ein für allemal wiſſen, welchen Betrag ſie bier- 
wegen aufzufparen und in Bereitihaft zu halten haben. So iſt es denn auch 
Vielen erwünſcht, wenn das jährlihe Opfer, welches die Verſicherung exhelicht, 
von vornherein in einem feften Belrage bemeſſen iſt und fie zahlen biefen gerne, 
wenn er aud höher wäre, als ber Durdfchnittsfag ber wanvelbaren Prämie bei 
ber rein gegenfeitigen Verſicherung; fie haben dann bod in ihrem Ausgabebubget 
einen ſchwanlenden Poſten weniger und entgehen den läftigen Mebrzahlungen, 
deren Höhe ſich nicht vorausberedinen läßt. Aber es gelingt ben fpekulativen Ber- 
fiderungsunternehmungen trog ber Gewinnfte, bie fie maden, und trog der Ber- 
zinſung ihres Betriebsfapitals, ihre fefte Prämie dem Mittelfage der wandelbaren 
der reinen Gegenfeitigfeitsanftalten nicht nur gleich, oft fogar noch niebriger zu 
ftellen. Sie eröffnen fi) die Möglichkeit dazu, wenn fie ihre Verwaltung einfach, 
zwedmäßig und möglihft fparfam einrichten, wenn fie bei Annahme ber Ber- 





Derfiherungsanflalten. 9 


fiherungen mit befonderer Vorfiht zu Werke gehen, Objelte von greßer Gefähr- 
lichkeit ganz von der Berfiherung ausfchließen, fehr werthvolle nur mit einem 
Theil ihres Werthes in viefelbe übernehmen, und ſich namentlich bei ber Tyeuer- 
verfiderung an einem Orte nur auf eine gewiffe Anzahl von Gebäuden und auf 
eine beftimmte Werthfumme der Mobilien bejchränfen, wenn fie ferner die einge⸗ 
gangenen Prämiengelver fofort zinsbar zu machen fuchen, wenn fie einen Theil 
ihrer Berfiherungen andern Anftalten in Rüdverfiherung geben und dadurch dieſe 
zur Mithaftung beranziehen. Uebrigens ift die fpefulative Verſicherung kleineren 
Gegenfeitigfeitsvereinen gegenüber fchon infofern im Bortheil, als bei dieſen bie 
Schäden fi nit in der Art ausgleihen, um die Antbeile der einzelnen Mit- 
glieder mäßig erfcheinen zu laſſen. Kurz es zeigt fi aud hier, wie In vielen 
andern Fällen, daß ver Dienft, den uns ein Dritier gewerbsmäßig gegen Be: 
zahlung leiftet, häufig mohlfeiler ift, als ver, ven wir uns felbft Leiften. 

Es iſt vielfach darüber geftritten worden, ob der gewerbsmäßig betriebenen 
Berfiherung ober der rein gegenfeltigen der Borzug gebührt. Wenn Manche ſich 
für legtere wegen der Wohlfeilheit der Leiftung entfcheiden, die fie von Ihr er- 
warten, jo haben wir foeben gejehen, vaß es ſich damit nicht fo verhält, und bie 
gewerbsmäßige Berfiherung ihr in dieſem Punkte nicht blos gleich ſteht, fondern 
fie nicht felten nod übertrifft. Bon ftärferem Gewichte fcheint zu fein, wenn zu 
Sunften der gegenfeitigen Berficherung geltend gemacht wird, daß in ihr das 
Princip der Gegenſeitigkeit in voller Unmittelbarfeit und ungetrübt von dem Streben 
nach Sewinn zur Darftellung gelangt, daß fle, indem die Berfiherungsbebürf- 
tigen fi hier den Dienft ber Verfiherung felbft Teiften und ihn nicht von einem 
Dritten in Anſpruch nehmen, ein Inftitut der Selbfthülfe im wahren Sinn des 
Wortes ift, und nicht dem berechnenden Eigennug, fondern den humanen Regungen 
bes Semeinfinnes ihr Daſein verdankt. Doch auch der hierans abgeleitete Vorzug 
der gegenfeitigen Berfiherung verliert bei näherer Betrachtung viel von der Be⸗ 
bentung, die man auf den erften Blid ihm beizulegen fi verſucht fühlt. Die 
Berſicherung hört nit auf ein Inftitut der Selbſthülfe zu fein, wenn ver Ber- 
ſicherte ſich den Dienft der Berfiherung von einem Dritten leiften läßt, ſobald er 
biefen dafür bezahlt; er ſchafft fih ven Hieraus für ihn erwachſenden Vortheil 
auch hier durch feine eigene Kraft, obgleich in anderer Form. Nur dann würde 
ihr jener Charakter genommen werden, wenn ber Verficherte fich diefen Vortheil 
von Jemandem unentgeltlich bieten ließe, wie das bei ven Stantöverfiherungs- 
anftalten der Fall iſt. Auch verliert eine Berficherungsanftalt dadurch nichts von 
ihrer Gemeinnützigkeit, wenn bei ihrer Einrichtung der Eigennug zu Hülfe gerufen 
wird; ja ber Beiſtand des letzteren kann ihre Semeinnügigfeit fogar erhöhen, wo- 
fern es durch ihn gelingt, fie zur Erfüllung ihrer Aufgabe gefchidter zu machen 
und ben Berfiderten eine ftärkere Gewähr für den Genuß ber Vortheile zu ver- 
ſchaffen, auf bie fie Anſpruch Haben. Daß tiefe Wirkung in der That eintritt, 
beweist der gewaltige Aufſchwung, den die gewerbsmäßige Verſicherung genommen 
bat; Denn wie hätte fie fonft fi vafcher verbreiten und eine größere Geſchäfts— 
ausdehnung erlangen können als die gegenfeitige? Man thut Unrecht, von bem 
menfchlihen Eigennug fo gering zu denken und fo verädtlich auf ihn herabzu- 
bliden. Er kann fidh reicherer Früchte rühmen und hat die Menfchheit mit mehr 
Bohithaten überſchüttet, als fein eblerer Bruder, der Gemeinfinn. Er ift auf ven 
Gebieten des focialen und namentlich des wirtbfchaftlichen Lebens entſchieden ber 
Kärkfte Faltor; alle gemeinnügigen VBeftrebungen find zur Sicherung ihres Er- 
folges anf ihn gewiefen und ziehen aus ihm ihre befte Kraft. Es liegt dies ein- 


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10 Derficherungsanflalten. 
mal in der menfhlihen Natur; mag fi ber Idealif noch ſo ſehr gegen dieſe 


Thatſache ſträuben, es hilft ihm nichts, er muß fie gelten laſſen. Sich vor ihr 


zu verſchließen, wäre eine jchäbliche Selbſttäuſchung, die jedes gemeinnützige Wirken 
lähmen würde. Wenn man ferner noch einen Borzug der gegenfeitigen Verſicherung 
darin erblidt, daß fie jedem Theilnehmer, va derielbe in einer Perſon Verſicherter 
und Verſicherer ifl, einen Einfluß auf ven Gang der Verwaltung verftattet, fo 
wird biefer Vorzug ebenfo fehr überfchägt, wie jener, daß die gegenfeltige Ver⸗ 
fiherung wegen ber fo eben bemerkten Doppeleigenfhaft der Mitgliever vie mög- 
lihfte Berminderung der Schäden jedem einzelnen Mitglieve als durch fein eigenes 
Interefie geboten nahe legt. Diefe beiden Erfolge kann die gegenfeitige Verfiherung 
nur haben, wenn unter. ven Berfiherten das Bemußtfein der Zufammengehörigkeit 
lebendig tft, was fich aber blos bei kleineren und mehr lokalen Berfiherungs- 
vereinen erwarten läßt. Ie mehr der Kreis der Verficherten ſich erweitert, befto 
mehr tritt jenes Bewußtſein zurüd; dieſe Erweiterung tft aber nothwendig zu 
einem gebeihlihen Beſtande der Anftalt und zur befieren Erreihung bes Ber- 
fiherungszwedes mit möglihft geringer Belaftung der Theilnehmer. Gewiß iſt es 
übrigens, daß bie gegenfeitige Verficherung der Gefahr der Ueberftürzung und 
Ausartung des Spefulationsgeiftes nicht ausgeſetzt iſt, dagegen verfinft fie aber 
auch wieder leicht in Schlaffheit und trägen Stillſtand. Man fieht, die Vorzüge 
der gegenfeitigen Verſicherung find mehr ſcheinbar als wirklich und keineswegs fo 


bedeutend, um bie gewerbsmäßige Verfiherung in Schatten zu ftellen. Im Gegen⸗ 


theil läßt ein Blick auf den bisherigen Entwidlungsgang des Berfiherungsweiens 
feinem Zweifel darüber Raum, daß die gewerbsmäßige Verfiherung berufen ift, 
dort, wo fie nicht ſchon jest die erfte Stelle behauptet, dieſelbe jedenfalls künftig 
einzunehmen. Wünfchenswerth bleibt e8 dabei aber immer, daß Gegenſeitigkeits⸗ 
vereine neben ihr beftehen, indem deren Konkurrenz nicht verfehlen fann, einen 
wohlthätigen Einfluß auf fie zu äußern. Jene werden fi) auch bei freier Bewe— 
gung auf dem ©ebiete des Verſicherungsweſens finden, fobald bie fpefulativen 
Unternehmungen fi bei Verfolgung ihrer Gewinnfte zum Nachtheil der Ber- 
fiherungsbebürftigen Webertreibungen zu Schulven kommen lafien. 

Den beiden bisher beſprochenen Verfiherungsfuftemen bat ſich in neuerer Zeit 
noch ein drittes angereibt, das fogenannte gemifchte Syſtem. Dasfelbe kommt 
in einer zweifadhen ©eftalt vor: entweder es nimmt eine gegenfeitige, d. 1. nicht 
fpefulative, zu wandelbaren Prämien verfihernne Geſellſchaft auch Verſicherungen 
gegen fefte Prämien an, wobei fie aber zu folhen Berficherten in die Stellung 
einer fpelulativen Unternehmung tritt, fo daß dann bie gegen wandelbare Prämie 
Verſicherten blos den Gegenfeitigkeitöverein varftellen und ven Gewinn ober Ber- 
luft aus jenen Verfiherungen unter ſich theilen; oder es geftehen bie Unternehmer 
einer gewerbsmäßig betriebenen Berficherung einem Theile der Verſicherten und 
zwar jenen, tie Berfiherungen auf mehrere Iahre nehmen, einen Antheil am Ge- 
ſchäftsgewinn zu, indem fie ihnen geftatten, einen eigenen Verband zu gegenſei⸗ 
tiger Verſicherung, jedoch gegen bie allgemein angenommene fefte Prämie unter ſich 
zu ſchließen, und fi zur Dedung ver biebei vorfallenten, die Prämieneinnahme 
überfteigenden Berlufte verpflichten, wogegen fle aber auch an dem fich ergebenden 
Gewinn theilnehmen, der im Uebrigen den Mitgliedern des Verbandes zufällt und 
ihren obenerwähnten Antheil an den Geſchäftserträgniſſen bildet. Das gemifchte 
Berfiherungsfyftem ift bisher im Ganzen nod wenig verfucdht worden, und aud) 
ba, wo man ed anwanbte, hat man ſich zum heil veranlaßt gefehen, es in ber 


Folge wieder aufzugeben. Es hat fi weder in der einen noch in ber andern Ge⸗ 


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Derficherungsanftalten. 11 


alt bewährt und ſcheint daber kaum eine Zukunft zu haben. Dieſer Mißerfolg 
Ian nicht befremden. Zwiſchen dem fpekulativen Verficherer und dem bei Annahme 
des gemifchten Syſtemẽ fd, bildenden beſonderen Verbande der auf längere Zeit 
Saficherten beftcht fein Verhältnig der Gleichheit; jener muß den Verluft, ber 
ans den eingezahlten Prämiengelvern nicht gebedt wird, ganz und allein tragen, 
von dem Gewinn bezieht er aber nur einen Antheil; der übrige Gewinn fließt 
tem im engeren Berbanbe ftehenden Verficherten zu, vie ihrerſeits ſich blos ber 
Gefahr des Gewinnentganges ausfegen. Es iſt hiernach begreiflih, daß die von 
vem fpefulativen Berfiherer bei folden Berfiherungen zu bringenden Opfer nicht 
feten größer find, als bie ihm hievon zulommenden Gemwinnantheile. Bedient ſich 
aber eine gegenfeitige ‚Berficyerangsgefefiäaft des gemifchten Syftems, jo Tann ihr 
vie für die gegen fefte Prämie Verfiherten übernommene Haftung, wenn unter 
legteren zu einer gewiſſen Zeit fid die Unglüdsfäle häufen, große Gefahr bringen, 
da fie kein Betriebötapital und überhaupt nicht die Fonds einer Aftiengefellicaft, 
welche vie Verſicherung gewerbsmäßig betreibt, befigt und nur bucd eine nam- 
hafte Erhöhung ber wandelbaren Prämie für die im eigentlichen Gegenfeitigfeits- 
verbande begriffenen Mitglieber, die aber leicht viele von ihnen zum Austritt be- 
Rimmen dürfte, die erforberlichen außerorbentliden Mittel beizujhaffen vermag. 
Rur bei einem fehr großen Betriebsumfang ver Geſellſchaft, ber eine mehrere 
Unsgleigung der Schäden mit ſich führt, droht folhe Gefahr nit. Uebrigens ift 
wicht zu überfehen, daß "die Annahme des gemifchten Syftems notwendig eine 
Bermehrung der Gefäftslaft und fomit auch der Berwaltungsfoften nach ſich zieht, 
da die Anftalt fi dann im Grunde in zwei Unternehmungen. auflöst, deren Ein- 
nahmen und Ausgaben auseinander gehalten werben müſſen. 


V. Zweige ber Berficherung. 


Die Berfiherung ſcheidet fi in mehrere Zweige, wobei die Art des Un- 
ädsfalles, gegen den fie gewährt wird, zum Theil auch der gefährdete und ver- 
jerte Gegenfland den Eintheilungsgrund abgibt. Die Berfiherungszweige, bie 
dauernden Beftand gewonnen haben, find: 1. bie Feuerverſicherung, 2. die Ha- 
gelverfijerung, 3. die Viehverficherung, 4. bie Transportverfiherung, 5. bie Le: 
bend- und Rentenverfiherung, 6. vie Hhpothefenverfiherung, 7. die Glasver- 
fiherung, wozu noch 8. die den übrigen Berfiherungszweigen dienende Rüdver- 
fiderung kommt. 

1. Die Senerverfiherung. Die Berfiherung bezieht fih bier auf jene 
Beihädigungen des Vermögens, welche durch die zerftörenden Wirkungen des Feuers 
herbeigeführt werden. Doch gibt nicht jede Feuersbrunſt dem Berfiherten, der hie- 
durch einen Bermögensverluft erlitten, Anſpruch auf Erfag. Iſt der Feuerſchaden 
durch Erdbeben oder andere ungewöhnliche Naturereigniffe entftanben, ober durch 
kriegeriſche Gewaltanwendung oder Aufruhr veranlagt worden, fo wirb feine Ber- 
gätung geleiftet, und ebenfowenig wird fle ſelbſtverſtändlich demjenigen zu Theil, 
der den Brand felbft vorfäglid oder durch grobe Wahrläffigfeit herbeigeführt hat. 
Dagegen werben aber, fobald fi bie Feuersbrunft zur Entihäbigung eignet, nicht 
blos die vom euer zerftörten Bermögenstheile, ſondern auch die gelegentlich des 
Rettens entftandenen Beſchädigungen und Verlufte erfegt. Mit Rüdfiht auf bie 
Beſchaffenheit des zu verfihernden Bermögens zweigt fich die Fenerverfiherung in 
eine Gebäude» oder Immobiliarverfiherung und Mobiliarverfigerung 
ab, deren Gegenftänbe außer ver in den Wohnungen befindlichen fahrenden Habe fi 
and Wertzenge, Maſchinen, Borräthe von landwirthſchaftlichen Erzeugniffen und 


12 | Derficherungsanftalten. 


Waarenlager find. Manche Unftalten befaflen fih mit beiden Arten ber Ver⸗ 
ſicherung, manche nur mit der einen oder der anderen. Gewiſſe Gegenftänbe pfle- 
gen, theils wegen zu großer Yeuergefährlichkeit, theils wegen ver Schwierigkeit, 
bie Anſtalt gegen Betrug zu fchligen, von der Berficherung ausgefchloffen zu 
werden, wie Pulvermählen, Schmelz- und Glashütten, Schaufpielhänfer, baares 
Geld, Werthpapiere u. dgl. Die Prämie richtet fi wie bei jeder andern Ber: 
fiherung nad dem Werthe des verficherten Gegenftandes und dem Grade ber 
Gefahr. Für den Werthanfchlag find bei Gebäuden blos die Koften maßgebend, 
welde zur Wieverherftellung verfelben im Yalle der gänzlihen Zerftörung aufge- 
wendet werben müflen. Es kommen daher die durch das Teuer nicht zerftörbaren 
Theile, wie 3. B. der Baugrund, biebei nicht in Betracht. Bei fhon älteren 
Gebäuden iſt an den Baufoften eiu ber bereitd vor ſich gegangenen Abnützung 
entfprechender Abzug zu machen. In Bezug auf ben Werthanſchlag des verficherten 
beweglihen Eigenthums bat der mittlere Verkehrswerth vie äußerſte Grenze zu 
bilden. Auf dad Maaß der Yeuergefährlichkeit bei Gebäuden haben mehrerlei Um⸗ 
ftände Einfluß, und zwar: die Bauart, je nachdem dieſe mehr oder weniger feuer- 
ſicher ift; vie Beſchäftigung, die darin betrieben wird; die Befchaffenheit der darin 
aufbewahrten Gegenjtände; ferner der Bauzuftand und bie Art der Verwendung 
ber benachbarten Gebäude; dann die Tage, beziehungsweife Entfernung von andern 
Gebäuben, wobei die zu weite Entfernung, weil fie vie Hälfeleiftung verzögert, 
bie Gefahr nicht minder erhöht wie die allzugroße NähE,; endlich ber Zuſtand ber 
Veuerpolizei und insbefondere der Löſcheinrichuungen. Mit Berüdfichtigung dieſer 
Umftände werben von den Berfiherungsanftalten die Gebäude in mehrere Klafjen 
gebracht und darnach die Prämie abgeftuft. Was das bemeglihe Eigenthum an⸗ 
langt, fo iſt bei ihm, abgefehen von teffen Befchaffenheit, ver Grad ver Gefahr 
ſchon durch bie größere oder geringere Gefährlichkeit des Gebäudes, in dem es fid 
befindet, mitbeftimmt. Ueber biefe beiden ver Bemeſſung der Prämte zu Grunde 
liegenden Momente müffen die VBerfiherungsanträge erſchöpfenden Aufſchluß geben, 
weßhalb in die von den Berfiherten auszufüllenden Antragsformularien alle in 
biefer Beziehung wifjenswerthen Punkte aufzunehmen und in beftimmte Sragen ein 
zulleiden find. Die Berfiherungsanträge haben daher ihre nicht zu verkennende 
Wichtigkeit, und die forgfältige Prüfung der darin enthaltenen Angaben ift für 
bie Anftalten eine Lebensfrage. Diefe Prüfung ift ein Gefchäft ver lokalen Ver⸗ 
fiherungsagenten, welche im Namen der Gefellfchaft, von der fie aufgeftellt find, 
bie Berfierungsanträge entgegennehmen; auf eine glüdliche Wahl verfelben kommt 
bemnady fehr viel an. Zu mehrerer Sicherheit verlangen die Berfiherungsanftalten 
gewöhnlich noch außerdem eine behördliche Beſtätigung der Richtigkeit des In⸗ 
halts der Verfiherungsanträge. Befonders gilt es zu verhüten, daß vie Anftalt 
durch einen zu hohen Werthanſchlag des verficherten Gegenſtandes ober burd) 
mehrfache Verfiherung eines und desſelben Werthes bei verſchiedenen Anftalten 
einer Verkürzung audgefegt wird, die ihr nicht nur durch den an fidh fchon 
unerlgubten Gewinn, den die Berfierten aus folhen Berfiherungen zögen, ſon⸗ 
dern aud durch die damit ihnen nahe gelegte Verfuchung zur Brandſtiftung 
an der eigenen Sache zugehen würde. Der BVerfiherung über den Werth wird 
übrigens ſchon dadurch entgegengewirft, wenn die Anftalt niemals mehr ale 
ben wirflid erhobenen Schaven vergütet und die verfiherte Summe nur in fo 
meit für den Betrag der Schatenvergütung maßgebend erjcheint, als fie dem Werthe 
ber durch euer zerftörbaren Theile des verficherten Objektes gleich ift oder weniger 
als er beträgt. Manche Anftalten fuchen fih auch in der Art zu ſchützen, daß fie 








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verſicherungsanſtalten. | 13 


die Berfiherung auf einen Theil des Werthes befchränfen, daher Teinen vollen 
Erfag leiften. Diefe Vorfihtsmaßregel hat dabei noch die heilfame Wirkung, bie 
Berficherten zu beflimmen, ihrerſeits nichts unverſucht zu laffen, was zur Ber- 
hütung oder Verminderung des Schadens dient, während fie aber audy wieder den 
Nachtheil mit fih führt, daß dann der Berfiherungszwed nur unvollſtändig erreicht 
wird. Eine Doppelverfiherung besfelben Gegenſtandes entzieht nach den Statuten 
wohl aller Tenerverficherungsgefellihaften dem Berficherten jeden Anſpruch auf 
Entſchaädigung. Was die Dauer der Berficherung betrifft, fo wird viefe bei den 
reinen ©egenfeitigkeitsanftalten gewöhnlich auf ein Jahr, mindeflens auf ein Halb- 
jahr abgefhloffen. Die fpelulativen Berfiherungsunternehmungen nehmen aud 
Berfiherungen auf Monate an, fordern jedoch dann eine höhere Prämie, wogegen 
fie bei Berfiherungen auf mehrere Jahre, wenn zugleih die Prämie für bie ganze 
Zeit vorausgezahlt wird, ein Freijahr und bei jährlicher Zahlung einen Nachlaß 
an der gewöhnlichen Sahresprämie zugeftehen. Nach jedem Brande, der verfichertes 
ut getroffen, veranlaßt die Anftalt ungefäumt die genaue Erhebung des Unglüds- 
falles, Es ift dabei nicht blos auf die Ermittelung der Größe des Schadens ab⸗ 
gefehen, um darnach den Betrag der zu lelftenden Entſchädigung bemeffen zu kön⸗ 
nen: jene Erhebung bezwedt zugleih auch bie Weltftellung ver Entftehungsurfade 
ber Fenersbrunft, da wie ſchon oben bemerkt worven, bei gewiflen Feuerſchäden 
überhaupt kein Erfat geleiftet wird; deßhalb ift e8 vor allem wichtig, darüber 
Gewißheit zu erlangen, ob der Brand nicht etwa von dem Verſicherten felbft ober 
von ſolchen Berfonen, deren Handlungen er gefeglih zu vertreten hat, mit Abſicht 
oder durch grobe Bahrläffigkeit herbeigeführt wurde. Iſt die Erfagpflicht der Anftalt 
richtig geftellt, jo wird die Entſchädigung dem Verunglüdten ohne Verzug aus⸗ 
gezahlt. 

2. Die Hagelverfiderung. Diefelbe ift ver Feuerverſicherung gegenüber 
infofern im Bortheil, als der Unfall, gegen ven fie Verſicherung gewährt, ein 
reines Elementarereigniß ift, fie daher nicht nöthig hat, fi gegen ven böfen 
Willen und die Nachläſſigkeit der Menfhen zu fügen und zu biefem Ende bei 
eingetretenem Unglädsfall dem Entftehungsgrunde vesfelben nachzuforfhen. Dagegen 
ift ihr wieder der Umftand binverlid, daß es an einen Anhaltspunkte zur 
Beurtheilung des Grades der Gefahr fehlt. Die Hagelſchläge vertheilen fih höchſt 
ungleih auf bie einzelnen Jahre. Die bisherigen ftatiftifhen Beobachtungen haben 
blos zu der Wahrnehmung geführt, daß gewilfe Gegenden dem Hagel mehr aus- 
gefegt find, andere weniger und mande faft gar nidt von ihm getroffen werben, 
wobei fi} heransgeftellt hat, daß vie höhere Lage Über ver Meeresflähe und bie 
weit vorgefcehrittene Entwaldung der Berge die Gefahr vermehrt. Durch biefe Er- 
fahrung wird aber der Hagelverfiherung eine neue Schwierigkeit bereitet. Es be⸗ 
theiligen fih nur vie Bewohner der von Hagelihlägen häufiger heimgefuchten 
Gegenden an der Hagelverfiherung, während die Grundbeſitzer in den weniger 
gefährbeten und durd längere Zeit ganz verſchont gebliebenen Landestheilen fid 
von ihr ferne halten. Daraus entfteht der Uebelftand, daß wegen ver ſich häufenden 
Schadenvergütungen die Beiträge der Berfiherten hochgeſtellt werden müſſen ober, 
wenn man legteres vermeiden will, den Berunglädten feine vollſtändige Entſchädi⸗ 
gung geleiftet werten fann. Nur bei fehr großer räumlicher Ausdehnung entgeht 
die Hagelverfiherung dieſer Aiternative; denn es gleichen fi dann jedenfalls vie 
Schäden unter den Berficherten mehr aus, da der Hagel aud In den mehr von 
ihm bebrohten Gegenden, wofern fie weit von einander liegen, doch nicht gleich 
zeitig aufzutreten pflegt. Gegenſtand ver Hagelverfiherung find die auf dem Felde 





14 Derficherungsanflalten. 


fiehenden Früchte, nicht blos Getreide und Futterfräuter, auch Wein, Obſt und 
Handelspflanzen. Ihr Werth bemißt zunächft die Prämie und den Entihäpigungs- 
anfprud des Berficherten und bildet daher die allererfte Grundlage für den abzu- 
ſchließenden Berfiherungsvertrag. Es liegt auf der Hand, daß biefer Werth fowohl 
duch die VBefchaffenheit ver Frucht als durch die Größe des damit bebauten Grund- 
ftüds beftimmt wird. Die Werthangabe kann bier mit geringerem Bedenken als 
bei jeder anderen Berfiherung dem Verſicherten überlaffen werden. Eine Ueber⸗ 
verfiherung iſt ſchlechterdings nicht zu beforgen, ba ber in Frage ſtehende Unglüds- 
fall ver menſchlichen Willfür völlig entrüdt if. Das Moment der Gefahr findet 
wenigftend annähernd dadurch feine Berüdfichtigung, daß nad der Tage der Grund⸗ 
ftüde, die fie der Erfahrung zufolge mehr oder weniger dem Dagel ausſetzt, meb- 
rere Prämienfäge aufgeftellt werden. Zu einer weiteren Wbftufung ver Prämie 
aus gleihem’ Geſichtspunkte Teitet die Beichaffenheit ver Früchte, indem manche 
Fruchtarten entweder ihrer Natur nad) mehr dur den Hagel leiden ober, weil 
‚fie mehr Zeit zu ihrer Reife brauchen, ihm länger preisgegeben find als andere, 
Die Berfiherungen werben felbftverftändlih auf feine kürzere Zeit als auf vie 
Dauer eines Erntejahres abgefchloffen. Verſchiedene Schwierigfeiten bietet bie 
Schadenerhebung dar. Fürs erfte thut bier die größte Befchleunigung noth, weil 
fih nur unmittelbar nach dem Unfall vie Größe des hiedurch angerichteten Scha- 
dens richtig beurtheilen läßt. Schon tiefer Anforverung zu genügen tft nicht leicht, 
fobald, wie es nicht felten der Fall ift, der Hagelſchlag fi über einen größeren 
Bezirk verbreitet hat. Zuweilen muß vie Schavenerhebung aud wiederholt werben, 
nämlich dann, wenn Ausficht ift, daß pie Früchte, die noch fern von ihrer Reife 
vom Hagel getroffen wurden, ſich ganz oder zum Theil wieder erholen ; die zweite 
Abſchätzung wird bier kurz vor der Ernte vorzunehmen fein. Zeigt ſich bei ber 
Schavenerhebung, daß das Grundftüd durch eine zweite Ausfant noch in demfelben 
Sahre einen Ertrag gewähren kann, fo wird biefer zweite Ertrag und zwar bei 
ftattgefundener Benützung der wirklich erzielte, außerdem der muthmaßliche abzüg- 
ih der erforberlihen Beftelungstoften von ver Entſchädigungsſumme abgerechnet. 
Ueberhaupt mindert fi legtere durch jeden Bortheil, der dem Befiger aus dem 
vom Hagel getroffenen Grundſtück noch bleibt oder in vemfelben Jahr zugeht, da 
die Verfiherung nur die Entſchädigung, nicht aber die Bereicherung bes Verficherten 
zum Zwed hat. Noch ift es eine mißliche Sache bei der Schavenerhebung, daß 
die Berficherungsanftalten Mitglicber der betreffenven Gemeinden als Schätzleute 
verwenden müſſen, bie nicht immer die erforderliche Unbefangenheit befigen. Bei 
der Schägung fich ergebende Streitigkeiten werden am zwedmäßigften durch Schieds⸗ 
richter beigelegt. Die Bezahlung der ausgemittelten Entſchädigung erfolgt bei-deu 
gegenfeitigen Gefellfchaften in der Negel in Raten; einen Theil erhält der Ber- 
unglüdte fofort, den Reft gewöhnlich erſt nad der Ernte. 

3. Die Viehverſicherung. Diefer Verfiherungszweig, ber fi die Auf- 
gabe ftellt, die durch Viehſterben herbeigeführten Verluſte an Haus⸗ und Nup- 
thieren, zunädhft an Rindvieh und Pferden, dann aud an Schafen, Schweinen 
und Ziegen zu erfegen, bat mit noch größeren Schwierigkeiten zu kämpfen, als 
die Hagelverfiherung. Er theilt mit diefer ven Mangel einer ſtatiſtiſchen Grund⸗ 
lage für die Beftimmung der Gefahr, da es eine verläßliche Statiftif der Kranf- 
heits⸗ und Sterbefälle untgr den Haustbieren zur Zeit noch nicht gibt und daher 
bie Kenntniß der mittleren Lebensdauer verfelben fehlt; er. entbehrt aber den ihr 
eigenthümlichen Vortheil, dagegen gefihert zu fein, daß der Verſicherte den Ein- 
tritt des Unfalls ſelbſt in gewinnfüchtiger Abſicht veranlagt oder durch feine Nach 





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Derfiherungsanflalten. 15 


Läffigkeit verſchuldet. Vielmehr ift es gerade bie Viehverficherung, welche ganz be- 
fonder® dem Betrug und Leichtſinn der Berficherten ausgefegt iſt und fih nur 
ſchwer dagegen verwahren Tann. Diefer Umſtand bat zugleich die nachtheilige Folge, 
daß die Biehverfiherung nicht wie die Hagelverfiherung in der Lage iſt, ben 
Mangel einer ftatiflifhen Grundlage durch große Ausdehnung des Verfiherungs- 
gefchäftes weniger fühlbar zu machen. Größere Landwirthe, die einen zahlreichen 
Biehftand befigen und ihr Vieh gut halten, tragen nämlid häufig Bedenken, fid 
bei Biehverfiherungsvereinen zu betheiligen, weil vie Prämie im Hinblid .auf vie 
große Zahl der minder forgfältigen Heineren Biehbefiger, die durch die Verſicherung 
gewinnen wollen, in zu hohen Sägen bemeflen werben muß, als daß fle dabei 
ihre Rechnung finden könnten. Sie würden, da ein großer Viehſtand ſich gewiffer- 
maßen felbft verfidhert, bei der Höhe der Prämie um fo leichter in den Fall kom⸗ 
men, mehr an Bergütungsbeiträgen zahlen zu mäflen, als ihr durchſchnittlicher 
Berluft beträgt, und ziehen es deßhalb vor, unverfidhert zu bleiben. So barf daher 
die Biehverfiherung gerade von der Eeite nicht auf Theilnahme rechnen, wo fie 
für ihre Gedeihen am wünfchenswertheften wäre. Das ift aber nit das einzige 
Hinderniß ihrer Ausdehnung auf weitere Kreife. Schon an ſich wegen ber nöthigen 
Kontrolle zu ihrer Sicherung gegen Unterfchleife mit einem unverbältnißmäßig 
großen Berwaltungsaufwand bejchwert, würde biefer bei fortfehreitender Erwei— 
terung ihres Geihäfts ſich ftätig vergrößern, weil dann jene’ Kontrolle an Stärke 
und Umfang zunehmen müßte; die unausbleiblihe Yolge davon wäre eine Erhöhung 
der Prämie, wodurch der Vortheil einer mehreren Ausgleihung ber Verlufte wieder 
verloren ginge. Die Heineren Berficherungsvereine haben nun allerdings den Vor— 
zug einer einfacheren und moohlfeileren DBerwaltung, da hier ein Mitglied‘ ver 
Wächter des anderen iſt. Dafür wird aber der Berfiherungszwed, vie Entſchädi⸗ 
gung der Berunglüdten, häufig nur fehr mangelhaft erreiht. Macht fi dies ſchon 
bei ſporadiſchen Sterbfällen der Thiere geltend, ſobald ſie in größerer Zahl in 
einem kürzeren Zeitraume vorkommen, ſo natürlich um ſo mehr bei Biehſeuchen, 
bei deren Eintritt jene kleineren Vereine geradezu unvermögend ſind zur Erfüllung 
ihrer Aufgabe, und ſelbſt größere Geſellſchaften nicht ſelten ihre Thätigkeit ein⸗ 
fielen. Iu der That könnten in Folge der Allgemeinheit ver Kalamität bie Ent- 
ſchädigungen nur in fo geringen Theilbeträgen erfolgen, oder e8 müßten bie Prä- 
mien dermaßen erhöht werben, daß es am Ende für den Einzelnen vortheilhafter 
erjcheint, wenn er feinen Schaden felbft trägt. In diefer Unverinögenheit dort zu 
helfen, wo die Hälfe am meiſten noth thut, liegt nun aber eine weitere ſchwache 
Seite der Biehverfihernng, die es allein ſchon erflärlih macht, daß biefer Ber- 
fiherungszweig bisher fo geringe Verbreitung gefunden hat. Die gefchilderte Eigen- 
thümlichleit der Viehverſicherung bringt e8 mit fih, baß bei Uebernahme in die 
Berfiherung allerlei Vorſichten zu beobachten find. Es wäre vor Allem bedenklich, 
bie Angabe des Werthes des zu verfichernpen Viehes dem Berfiherungsnehmer zu 
überlafjen, weil eine Ueberſchätzung ihm die Mögiichkeit eröffnet, auf Koften der 
Anftalt einen unerlaubten Gewinn gu erlangen. e MWertbbeftimmung erfolgt 
durch einen Thierarzt, allenfalls mit Beiziehung einiger ſachkundigen und ver- 
trauenswürbigen Mitglieder ver Gemeinde. Sie bat individuell zu gefchehen und 
außerdem ift das geſchätzte Vieh nad der Gattung, dem Alter und Geſchlecht zu 
verzeichnen und zu faffifieiren, va darnach fi die Prämie richtet. Junges Vieh 
im Alter bis zu einem Jahre wird zur Verſicherung nicht zugelaffen, ebenjo- 
wenig franfes, weßhalb der Thierarzt auch den Gefunpheitszuftand ver Thiere zu 
erheben und zu atteſtiren bat. Da es, wenn ver Eigenthümer nur für einen Theil 


ÄA__ 





16 Verfiherungsanftalten. 


feines Viehſtandes Berficherung nimmt, leicht vorkommen Tann, daß gefallene un- 
verfiherte Thiere für verfiherte ausgegeben werden, fo ift die Beſtimmung geredht- 
fertigt, daß jeder Biehbefiger fein ſämmtliches Vieh perfihern laſſen muß. Die 
verficherten Thiere durch andere zu erfegen, ift geftattet; nur muß von jedem fol 
hen Wechfel die Anftalt benachrichtigt werten, welche mit dem an die Stelle bes 
abgegangenen tretenven neuen Stüd ebenfo verfährt mie bei einer neuen Ber- 
fiherung. Ein Viehſtand jebod, ber wie jener ver Viehhändler einem regelmäßigen 
Wechſel unterworfen {ft, wird nicht in Berfiherung genommen. Die Berfiherung 
gilt in der Regel nur für ein Jahr; fie ift daher jährlich zu erneuern und babel 
immer auch die Verzeihnung und Abfchägung des verficherten Viehſtandes zu wie- 
derholen. Erkrankt oder verunglüdt ein verfihertes Thier, fo muß hievon unver- 
züglih dem Agenten oder bei Tleineren mehr Iolalen Verſicherungsvereinen dem 
Ortsausſchuſſe die Anzeige erftattet werden. Dasfelbe bat aud zu gefchehen bei 
bem Ausbrud einer Seuche, wo die Berfiherten zugleih die davon befallenen 
Thiere von den übrigen fireng abzufonbern haben. Im Falle der Erkrankung ift 
fofort ärztliche Hülfe anzuwenden; finden die Organe ter Anftalt es für zwed- 
mäßig, das erkrankte Thier tödten zu laflen, weil die Haut und das Fleiſch bes- 
ſelben augenblidlih befler verwerthet werben können, als fpäter nach längerer 
Krankheit und Eintritt des natürlichen Todes, fo darf der Berficherte ſich dem nicht 
wiberfegen. Die dem Berfierten zu leiftende Entfhädigung richtet fi nach dem 
Werthe, ven das gefallene Thier unmittelbar vor Eintritt der Todesurſache gehabt 
bat, darf jedoch in keinem alle die BVerfiherungsfumme überfhreiten. Der Erlös 
aus den Ueherreften bes umgelommenen Thieres wird dem Verſicherten, wofern er 
ihn bezogen, dabei in Anrehnung gebracht; hat ihn vie Anftalt für ſich verwendet, 
wirb natürlich feine Erfagforderung dadurch nicht gekürzt. Die meiften Berfiherungs- 
anftalten vergüten nur 2/, oder 3/, des erhobenen Schabens, um die Berficherten 
zu größerer Aufmerkſamkeit auf ihren Viehſtand zu beftinmen. Grfolgt der Tod 
bes Thieres fchon binnen 14—28 Tagen nad Abſchluß der Berfiherung, fo wird 
fein Erſatz geleiftet, höchſtens die eingezahlte Prämie rüderftattet. Der Berficherte 
verwirkt jeden Anſpruch an die Anftalt, wenn er gegen viefelbe durch Ber- 
ſicherung desſelben Viehes bei nod einer andern Anftalt, durch Nichtverfiherung 
eines Theiles feines Viehſtandes und Unterfhiebung nicht verficherter Thiere oder 
fonft in irgend einer Art betrügeriſch handelte oder ven Tod des verficherten 
Thieres felbft verfehuldete, indem er dasfelbe fchlecht behandelte ober es doch bei 
ihm an der nötbhigen Wartung. und Pflege fehlen ließ und bei deſſen Erkrankung 
feine ärztliche Hülfe fuchte. ' 

4. Die Transportverfiherung. Sie fcheivet ſich in eine Seeverſicherung, 
und in eine Yluß- und Landtransportverfiherung, wobet zu bemerken ift, daß die 
Vlußtransportverfiherung ſich auch auf den Transport auf Landſeen und bie 
Landtransportverficherung fih auch auf jenen auf Eifenbahnen bezieht. Die Eee- 
verfiherung ift der bei weiten ältere und um vieles ausgebildetere Zweig, bie 
Fluß⸗ und Landtransportverfiherung ift erft ein Kind des gegenwärtigen Jahr⸗ 
hunderts und fteht nod in den Anfangsftadien ihrer Entwidlung. Gegenftand ver 
Seeverfiderung iſt die ganze oder theilmelfe Waarenladung des Echiffes, fowie 
auch das legtere ſelbſt; fie iſt gerichtet gegen vie Unfälle, welche Schiff und La— 
tung während der Seereife treffen können. Die ferner oder näher liegende Gefahr 
folder Unfälle hängt ab von der Länge des zu machenden Weges und ver zur 
Zurücklegung desfelben erforderlichen Zeit, von deſſen größerer ober geringerer 
Gefährlichkeit, von der Jahreszeit, in der die Reife ftattfinbet, von der Befchaffen- 


Derfiherungsanftalten. 17 


beit des Schiffes und feiner Bedienung und von dem Grabe ver Sicherheit vor 
Kaperei. Eine mehrhunvertjährige Erfahrung hat den Seeverficerungsanftalten 
eine genane Kenntnig von dem häufigeren oder felteneren Vorkommen der Schiff- 
brüche nnd ihren Urſachen in ven verſchiedenen Meeren, ſowie von dem Einfluß 
der Jahreszeit auf das Eintreten folder Unfälle verſchafft. Was aber die Be— 
ſchaffenheit der Schiffe betrifft, fo beftehen in London und Paris fogenannte 
Lloyd⸗ Geſellſchaften, welche in den meiften Häfen der Erde Sachverſtändige unter- 
halten, die beauftragt find, jedes einlaufende Schiff in Bezug auf feine Dualität, 
feinen Bauftand und feine Seetüchtigkeit zu unterfuhen uud den Befund an fie 
einzufenven. Auf rund diefer Befunde werden dann bie Schiffe mit Rüdficht auf 
ihre Beſchaffenheit von jenen Geſellſchaften alljährlich in beftimmte Klaſſen einge- 
reißt. Die von ihnen hierüber geführten Bücher und Regifter find den Seever- 
fiherungsanftalten gegen Entrihtung gewiffer Gebühren zugänglih und werben 
von bemfelben auch allgemein benügt, fo daß jede Anftalt Immer genau unterrichtet 
iſt von der Qualität fämmtliher den Wanrentransport beforgenden Schiffe. So 
fehlt es alfo nicht an verläßlihden Anhaltspunften, die Prämie dem Grabe ver 
Gefahr anzupaffen. Im erfler Line wird die Prämie aber immer nad ber Ver- 
fiherungsfumme beftimmt, deren Höhe fich wieder nach dem Werthe der verficherten 
Segenftände richtet. Bet Feftftellung der VBerfiherungsfumme wird, foweit es ſich 
um das Schiff handelt, wofern dieſes zugleih Objelt der Verficherung iſt, nicht 
nur der Werth vesfelben und feiner gefammten Einrichtung, fondern auch ber zur 
Anerüftung gemachte Aufwand zu Grunde gelegt. VBezägli der Ladung fest fich 
bie Berfigerungsfumme zufammen aus dem Faklurapreis der Waaren, dem Fradıt- 
Iohn für felbe dis an ihren Beftimmungsort, ven BVerfiherungstoften und andern 
Spefen, wozu nicht felten noch ber von ber Ladung erwartete fogenannte imaginäre 
Gewinn bis zur Höhe non 10 Procent fonımt; endlich können aud noch auf 
Grund befonverer Verabredung die Bodmerei- und Havereigelder hinzugefchlagen 
werden. Die Berfiherungsfumme darf ven Verfiherungswerth nicht überfteigen ; 
foweit dies der Fall ift, hat bie Berfierung keine rechtlihe Geltung. Letzteres 
gilt aud bei der Doppelverfiherung vesfelben Gegenftandes auf biefelbe Zeit und 
gegen dieſelbe Gefahr bezüglich der fpäteren BVerfiherung. Die Haftung des Ver- 
ficherers erftredt ſich zunaͤchſt auf die eigentlichen Seegefahren, denen Schiff und 
Ladung durch Wind und Waſſer ausgeſetzt ſind, als: Strandung, Schiffbruch, 
Sheiterung, Anſegelung, Beſchädigung durch Eis u. ſ. w.; dann auf die Kriegs- 
gefahr, wie Plünderung, Embargo, Blokade, Anhaltung, Aufbringung, Nehmung; 
ferner anf Diebfiahl, Serraub und andere Privatgewaltthätigkeiten; weiter auf bie 
Tenerögefahr, vie durch Blig oder einen anderen Zufall ober durch höhere Gewalt 
entſtanden iſt, wie auch auf bie durch Erplofion, Erbbeben, oder den Zufammen- 
ftoß von Schiffen herbeigeführten Schäden; endlich auf die durch Seeunfälle ver 
anlaßten Koften, als Bergelohn, Rettungsaufwand u. |. w. Dagegen fallen dem 
Berfiherer außer ganz unbebentenden Schäden aud jene nicht zur Laſt, welche 
durch Seeuntüchtigkeit, unzureichende Ausräftung und Bemaunnung, dann durch 
gewöhnlihe Abnützung, Alter, Fäulnig ober Wurmfroß bes Schiffes, durch die 
uatärlihe Befchaffenheit, inneren Verderb, Gelbftentzändung, Schwinden ober. 
mangelhafte Berpadung der Waaren, buch Veiſehen oder Arglift des Schiffers 
ober der Schiffsmannfchaft, und durch Verſchulden des Verſicherten felbft oder 
einer britten Perfon, fir die er zu haften hat, entſtanden find. Wohl aber hat ber 
Berſicherer für den Berficherten bie vieſem obliegenden Veiträge zur großen Ba- 
verei (havarie grosse) zu leiften, worunter alle Schäben, welche dem Schiff oder 
Bluntfgliun Brater, Deutſches Staate⸗Worterhuch. Xi. 2 








18 Derfiherungsanftalten. 


ber Ladung oder beiden zum Zwecke der Errettung beiver aus einer gemeinſamen 
Gefahr von dem Schiffer vorfäglich zugefügt wurden, und bie zu gleichem Zwecke 
anfgewenbeten Koften verftanden werben, und wofür Schiff, Fracht und Ladung ge» 
meinſchaftlich haftbar find. Ueber den Umfang ber viesfälligen Verpflichtung des 
Berficherers gibt die fogenannte Dispache, d. i. jenes Dokument Aufſchluß, welches 
über die Berechnung und Bertheilung ver Haverei ausgefertigt wird. Mehr als 
den in der Dispache berechneten Betrag zu forbern, bat der Verſicherte, ber einen 
zur großen Haverei gehörigen Schaben erlitten hat, fein Recht. Der Verſicherer 
muß aber für viefen ganzen Betrag in jedem Falle einftehen, auch wenn berjelbe 
ben Berfiherungswerth überfteigen follte. Ueber ven Begriff der großen Haverei 
und die Haftung ter Seeverficherungsgefellihaften biefür weichen zum nicht ger 
singen Nachtheile ver legteren und des gefammten Verkehrs vie Geſetze und Han- 
belögebräude in ven verfchiebenen Staaten zum Theil fehr von einander ab. 8 
dürfte daher bier am Orte fein, in Kürze ver in jüngfter Zeit in England zur 
Derbeiführung gleihförmiger VBeftimmuugen über bie große Daverei hervorgetre⸗ 
tenen Beftrebungen zu gedenken, welche von dem 1860 in Glasgow abgehaltenen 
Seeverfiherungfongreß ihren Ausgang nahmen. Anfänglich war beabfichtigt, nad) 
ben Grundſätzen, über die man fi auf diefem Kongreß geeinigt hatte, einen Ge⸗ 
fegentwurf über bie große Haverel ausarbeiten zu laflen, ver den Handelskor⸗ 
porationen aller handeltreibenden Völker der Erde zur Begutachtung mitgetheilt 
und mit den auf Grund biefer Gutachten vorgenommenen Veränderungen ſodann 
den geſetzgebenden Körperfchaften verjelben zur Annahme empfohlen werben follte. 
Diefen Gebanten hielt auch der nachfolgende Kongreß, der 1862 in London tagte, 
noch feft. Doc der von ihm zur Abfaflung eines zweiten Gefegentwurfes, nad. 
dem der erfte nicht annehmbar gefunden worden war, niebergefegte Ausſchuß be 
Ihränfte fi darauf, einen ſolchen zunächſt blos für England auszuarbeiten. Er 
batte nämlich die Ueberzeugung gewonnen, daß das Haupthinderniß der Gleich 
förmigleit in den Beftimmungen über die große Haverei nit im Auslande, deſſen 
Geſetze diesfalls im Ganzen nur geringe Verfchienenheiten barbieten, fonvern tm 
der englifchen Geſetzgebung zu fuchen fei und daß es ſich daher vor Allem varum 
handle, den neuen Örundfägen in England Eingang zu verſchaffen. Der in biejer 
Beſchränkung abgefaßte Gefegentwurf wurde von dem 1864 in VYork verfammelten 
britten Kongreß mit einigen Veränderungen angenommen und befchloffen, durch 
Gründung von Bereinen dahin zu wirken, daß er in Eugland gefegliche Geltung 
erlange, worauf dann bie nöthigen Schritte gethan werben follen, auch bie übrigen 
Staaten für ihn zu gewinnen. In dem Entwurf gibt fi Im Vergleich mit dem 
bisherigen Zuftand der Dinge, namentlich in England, ein bedeutender Yortfchritt 
fund. Er bat fih faft durchgehends die bezüglichen Beftimmungen des allgemeinen 
deutſchen Handelsgeſetzbuches angeeignet, und wo er von ihnen abweicht, gebührt 
biefen und nicht ihm der Vorzug. Kür Deutſchland iſt demnach bie durch ihn an⸗ 
gebahnte Reform unmittelbar von keiner Bedeutung, wohl aber ift fie im allge 
meinen Intereffe des Verkehrs und Verfiherungsweiens höchſt wünfchenswerth und 
injofern aud für Deutſchland von mittelbarem Vortheil. Uebrigens ift noch zu 
bemerken, daß der Berficherer auch für den außer dem alle der großen Haverei 
zur Rettung ober Abwendung größerer Nachtheile gemachten nothwenbigen ober 
zwedmäßigen Aufwand, fowte für die zur Ermittelung und Feſtſtellung ber von 
ihm zu vergütenden Schäden erforverlihen Koften ohne Beſchränkung auf ben 
Betrag der Verfiherungsfumme zu haften hat. Wenn das Schiff verfhollen oder 
unter Embargo gelegt, von einer kriegführennen Macht oder von Serräubern an- 





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Derfiherungsanftalten. 19 


gehalten, aufgebracht ober genommen und nad Ablauf einer beflimmten Friſt nicht 
frei gegeben ift, hat ber Verfiherte das Recht auf den Abanbon d. i. er kann 
gegen Abtretung der ihm in Betreff des verfiherten Gegenſtandes zuftehenven 
Rechte an den Verficherer fofort von viefem die Zahlung der Verfiherangsfumme 
im vollen Betrage verlangen. 

Die Transportverfigernng auf Flüffen und Tanpfeen 
folgt im Allgemeinen den Grunpfägen ver Seeverfiherung. Nur in einigen 
Bunkten beftehen Abmweihungen, die kurz angebeutet werben follen. Der Gegen« 
Rand der Berfiherung ift hier in der Regel nur vie Ladung, nicht das Fahrzeug. 
Die Berfiherung erftredt fih nicht auf Beſchädigungen, die durch Raub, Dieb- 
ſtahl, Aufruhr, Ueberfall, Plünverung und Konfiokation entftehen. Die Berfiherung 
des imaginären Gewinnes unterbleibt bier häufiger, als bei der Seeverfiherung. 
So wie die große Haverei iſt auch die Haftung des Verficherers biefür der Natur 
der Sache nad ausgeſchloſſen. Wenn der Schaden Fein totaler iſt, pflegen die ver- 
fichernden Geſellſchaften fih die Wahl vorzubehalten, entweder vie befchäpigten 
Bearen zu Übernehmen und dem Verficherten die ganze verfiherte Summe zu 
bezahlen, oder ihm die Waaren zu laſſen und nur den Schaden zu vergüten. 
Dagegen wird dem Berficherten nicht das Recht zugeftanden, vie befhätigten Waa⸗ 
ren dem Berficherer zu überweifen. Die Schabenvergätung barf auch in natura 
d. i. in Baaren derfelben Gattung und Güte gefchehen. 

Die Landtransportverfiherung kommt faft nur bei dem Eiſenbahn⸗ 
verfehr vor und hat das Gepäd der Reiſenden und die Frachtgüter zum Gegen⸗ 
Rand. Die Berficherumg bezieht fih auf alle Beſchädigungen und Berlufte, melde 
das verfiherte Gut während feines Transportes durch Eifenbahnunfälle erleivet, die 
durch Feuer, Blitz, Ueberſchwemmungen, Berg: und Erdfälle, Einfturz des Bahn- 
lorpers oder ver Bauwerke der Bahn, Zerfpringen oder Beſchädigung der Dampf» 
keſſel, Zufammenftoß, Umfchlagen ver Wagen, Entgleifung, Achſen⸗ und Räder⸗ 
bruche entfichen. Wurde jedoch der Unfall, der das Gut beſchädigte oder deſſen 
Berluft bewirkte, durch Triegerifhe Ereignifſe, bürgerliche Unruhen, Erdbeben und 
andere ähnliche Naturereigniffe ober durch eigene Abficht oder Verfehen des Ver⸗ 
ſicherten herbeigeführt, fo tft der Verſicherer zur Erfagleiftung nicht verbunden. 
Ferner muß das But, um für den DVerfiherten einen Entſchädigungsanſpruch zu 
begränden, feft verpadt und genau bezeichnet fein, Neifegepäd insbeſondere mit 
dem Namen des Befitzers. Bet Berfiherung des Reifegepäds wirb für den ein- 
zelnen Reifenden nur ein beftimmtes Gewichtsmarimum als verfiherbar zugeftanven 
und ber Berficherungswerth für das Pfund von dem Verſicherer in mehreren 
Koffenfägen beftimmt, unter denen ber Verfiherte zu wählen hat, über bie er 
jedoch nicht hinausgehen darf. 

5. Die Lebens- und Rentenverfiherung Man nennt bas Ber 
figernugsgefchäft Lebensverfiherung, wenn ver Anſpruch des Berfiherten auf ein 
im Boraus feſtgeſetztes Kapital gerichtet ift, welches der Berfiherer nad dem Tode 
des Berfiherten deſſen Erben oder einer befonvers benannten dritten Perſon, wohl 
auch den Berficherten felbft bet feinen Lebzeiten nah Eintritt in ein beftimmtes 
Alter auszuzahlen bat. Es lieg auf der Hand, daß die Bezeichnung nicht glück⸗ 
lich gewählt iſt, da nicht das Leben, ſondern ein Kapital verfichert wird; man 
follte daher bier von einer Kapitalöverfiherung reden. Hat dagegen das durch bie 
Bafiserung für den Berfiherten erworbene Recht eine Iahresrente zum Gegen⸗ 
ſtand, in deren Genuß entweder ber Verficherte felbft nach Erreihung eines bes 
ſtimmten Lebensalters oder mit Eintritt eines gewiffen Ereignißfalles ober aber 


2* 


20 Derfiherungsanflalten. 


nad feinem Tode beftimmte britte Perfonen treten, fo ift bie VBerfiherung eine 
Rentenverficherung. 

Die Lebensverfiherung Der gewöhnlihe Fall der Lebensverfiherung 
ift ‚ver, daß die Leiſtung des Verficherten in einer jährlich zu entrichtenden Prä- 
mie befteht und bie Auszahlung des verficherten Kapitals mit deſſen Tode erfolgt. 
Es wird dabei die Verfiherung entweder auf ein einzelnes oder zwei verbundene 
Leben genommen. Die Verfiherung auf ein einzelnes Leben kann wieber eine blei- 
bende fein, wenn fie fi auf die ganze Dauer desſelben exftredt, oder eine vor⸗ 
übergebende, wenn fie nur auf ein ober mehrere Jahre oder ohne Beltimmung 
einer Zeit blos im Hinblid auf eine beftimmte Lebensgefahr, 3. B. aus Anlaß 
einer Reife, abgeſchloſſen wird. Die Verfiherung auf zwei verbundene Leben (Ueber- 
lebensverfiherung) findet in der Art ftatt, daß das verficherte Kapital nur dann 
zur Auszahlung fommt, wenn von beiden bezäglihen Perfonen die im Voraus 
bezeichnete die andere überlebt. Es kommen aber auch Ueberlebensverfiherungen 
vor, bei denen das Kapital ohne Beftimmung einer Reihenfolge der Perſonen nad 
dem Tode der zuerftfterbenden jevesmal an die Überlebende oder erſt nad dem 
Tode beider ausgezahlt wird. UWebrigens kann mau nit nur fein eigenes Lehen 
verfihern; es ift auch geftattet, auf das Leben Dritter VBerficherungen abzuſchließen. 
Do wird dabei immer vorausgefegt, daß der Verfiherungsnehmer an dem Leben 
des Dritten, das den Gegenſtand der Verſicherung bildet, vermöge der ihm aus 
dem Titel der nahen Verwandtſchaft obliegenden Unterflägungspflicht oder als 
deſſen Gläubiger oder Bürge erweislich ein mäheres Intereffe hat. Die Lebens- 
verfiherung nimmt aber auch nod andere Formen an. Der Berfiherte kann mit 
der Zahlung ver jährlichen Prämie auch bie Einlage eines Kapitald verbinden, 
bie jedoch nur einmal, und zwar bei Abſchluß des Verfiherungsvertrags zugleich 
mit der Entrichtung der erften Jahresprämie flattfindet; oder feine Leiſtung kann 
fi überhaupt auf die einmalige Einzahlung eines Kapitals befchränfen. Der 
Berfiherte Tann fih ferner vie Auszahlung des ihm zugeſicherten Kapital aud) 
ſchon bei feinen Lebzeiten nah Erreihung eines beftimmten Alters oder nah Ein- 
tritt eines beftimmten Ereignifies, 3. B. des durch Alterögebrechlichfeit oder durch 
einen Unfall herbeigeführten völligen und bleibenden Verluftes feiner Arbeitsfähig⸗ 
feit, und nur für den Fall, als er vorher fterben follte, nad feinem Tode be- 
dingen. Auch kann für einen Dritten eine Verfiherung in der Art eingegangen 
werben, daß biefem mit dem Eintritt in ein gewifjes Alter oder unter einer andern 
Bedingung ein beftimmtes Kapital Lebzeitig zufällt. ine berartige Verſicherung 
gewähren vie Kinderverforgungs> und Ausſteuerkaſſen; auch erſcheint als ſolche bie 
fog. Mititärverfiherung. Die Kinderverforgungstaffen übernehmen von 
Familienvätern einmalige Kapitaleinlagen oder auch jährliche Beiträge, welche bie- 
felben für ihre Kinder in der Regel gleih in deren erften Lebensjahren Leiften, 
und fihern den legtern dafür eine im Voraus feftgefegte Kapitalfumme zu, vie 
ihnen nad Erreihung eines beftimmten Alters, gewöhnlich ber Volljährigkeit, aus⸗ 
gezahlt wird. Die Einzahlungen, bie für die bis dahin verftorbenen Kinder ge- 
macht wurden, verfallen der Kaffe, wodurch diefe in den Stand gefegt wirb, bie 
verfiherten Summen für die Ueberlebenven zu erhöhen. In gleicher Weife ver- 
fahren vie Ausfteuerfaffen, nur daß bier die Auszahlung bes verficherten 
Kapitals in dem Zeitpunkte der Verehelichung des Verficherten und bezüglich ber 
Lediggebliebenen, nachdem fie ein beflimmtes Lebensalter erreicht haben, erfolgt. 
Die Militärverfiherungsanftalten haben ben Zwed, In Ländern, wo die 
Militärpflicht durch Stellvertreter erfüllt werben kann, dem Verficherten, ben vie 








Derficherungsanflalten. 21 


Aushebung trifft, das zur Bezahlung eines Stellvertreter erforberlihe Kapital zu 
verſchaffen. Die Einzahlungen werben hier ganz in berfelben Art geleiftet, wie bei 
den Kinberverforgungs- und Ausſteuerkaſſen und werben auch wie bei dieſen nicht 
wiedervergütet, wenn der Verficherte vor Eintritt in das Alter der Mitlitärpflicht 
ſtirbt. Wird der Verficherte bei der Wushebung für untauglich erklärt, fo zahlen 
die Anftalten gemeiniglih das, was fie für benfelben an Kapitalseinlage oder 
Jahresbeiträgen empfangen, jedoch ohne Zinfen zurüd. Bon den genannten brei 
Inftituten haben die Militärverfiherungsanftalten die geringfte Verbreitung ge 
finden, was ſchon daraus erklärlich ift, daß der Vortheil, ven fie bieten, fich ebenfo 
gut durch Theilnahme an einer Kinberverforgungsfafle, die zugleih noch andern 
Bedürfniſſen dient, erreichen läßt. Auch legt Ihrem Wirken bie Verſchiedenheit und 
ter häufige Wechfel der gefeglihen VBeftimmungen über Umfang und Dauer ber 
Militärpflicht, ſowie Aber Tanglichleit und Untauglichkeit zum Dienft in den ein- 
zelnen Staaten allerlei Schwierigfeiten in den Weg, wozu nod kommt, daß Wohl- 
babenbe, bie die Koften der Stellvertretung felbft tragen können, ver Hülfe ber 
Anſtalt nicht bedürfen, Unbemittelte aber fie nicht ſuchen, weil fie es gewöhnlich 
vorziehen, den Militärbienft perſönlich zu leiften. Andere Kombinationen der Le 
bensverficherung übergehen wir, um uns nicht in ein zu großes Detail zu ver- 
lieren und bemerken nur noch, daß fich deren im Ganzen gegen 40 unterſcheiden 
laſſen, We man alle mehr oder minder auszubilben verſucht bat. 

Der Einzelne wäre ohne den Beiſtand einer Verficherungsanftalt nicht im 
Stande, fih ein Kapital in dem Betrage anzufammeln, wie es ihm durch deren 
Bermittlung zu Theil wird. Huch Sparkaſſen und andere Arebitinftitute, mittelft 
dern aud Feine Erfparnifie fofort in zinstragende Kapitalien verwandelt werden, 
Binnen ihm die Dienfte jener nicht‘ erfegen. Da er nicht weiß, wie lange er lebt, 
fo weiß er auch nicht, wie viel er in jedem Jahr zurüdlegen muß, um den Gel- 
nigen ein Kapital von beftinmter Größe zu binterlafien. Wenn er aber auch auf 
eine lange Lebensdaner rechnen könnte und fehr früh zu fparen anfienge, fo iſt es 
noch fraglid, ob er fo viel Charakterſtärke befigt, die Auffparungen in ber begon- 
nenen Weiſe fortzufegen, fie nicht zu befchränten oder völlig einzuftellen und das 
angefammelte Kapital unter feinen Umftänden anzugreifen. Dan tft nur zu leicht 
dazu verfuht, da man das freie Verfügungsrecht über feine Erfparniffe hat und 
ſich durch die Verwendung eines Theiles derſelben ober durch teren unterlaffene 
Bermehrung feinen anderweitigen Berluften ausfegt. Man tröftet fi dabei mit 
ver Hoffnung, bald wieder im Stande zu fein, den Wbgang zu beden und bezüg- 
fi der Auffparung das Verſäumte nachzuholen. So tft daher felbft nach einem 
langen Leben die Frucht ter Sparfamfeit des auf feine eigene Kraft gewiefenen 
Einzelnen nit felten unverhältnigmäßtg gering; noch um vieles geringer und 
völlig unzureichend für den Bebarf der Hinterbliebenen muß fie natürlich bei jenen 
fein, venen nur eine kurze Lebensfriſt gegönnt iſt. Ueber alle dieſe Schwierigkeiten 
hilft die Lebensverfiherung hinaus. Sie gibt dem Ginzelnen dadurch einen Erſatz 
für die fehlende Lebensgarantie, daß fie ihn, in eine Lage bringt, in ber ihm bie 
mit ber mittleren Lebensdauer verbundenen Vortheile gefihert find, und daß fie 
mit Rädfiht darauf feine Leiftung feftftellt; fie Hält ihn ab, bie gemadten Er» 
Marniffe anzugreifen, indem fie ihm die Herrſchaft varüber entzieht; fie nöthigt 
iin, da fie an die Unterlaffung einer einzigen Iahreszahlung ven Verluft der bie- 


ber geleifteten Beiträge und ver hiedurch erworbenen Anſprüche knüpft, in feinen - 


Aufiparungen nicht nachzulaflen; fie bietet ihm endlich für die gebrachten Opfer 
In dem verfiherten Kapital einen Lohn, der das durchſchnittliche Maß jener be 


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22 | Derficherungsanftalten. | 


deutenb überfteigt. Die pekuniären Mittel, den eingegangenen Verpflichtungen zu 
genügen, fließen einer Lebensverfiherungsanftalt ans mehreren Quellen zu. Sie 
ichöpft diefelben vorerft aus den Prämien ſämmtlicher Verſicherten, die ihre Ber- 
ſicherungsanſprüche bisher offen gehalten haben; dann aus ben ihr aus vorüber- 
gehenden Berfiherungen, wenn ber Verfiherte der beftimmten Lebensgefahr ent- 
gangen iſt, oder aus Ueberlebensverſicherungen wegen des Vorfterbens ver Perfon, 
der nur für den .Ueberlebensfall ein Kapital zugefihert war, ohne Gegenleiflung 
zugefloffenen Geldern; ferner aus Beiträgen jener Mitgliever, denen gegenüber fie 
von ihrer Verbindlichkeit frei wird, weil viefelben vie ihnen obliegenden Zahlungen 
nicht fortgefetst oder ihren Anfprud auf das verficherte Kapital durch Selbſtword, 
Tod im Zweikampf, Hinrichtung, oder durch Liederlichleit, Trunkfucht, betrügerifche 
Berfiherung, Ergreifung eines ihr Leben in höherem Grave gefährbenven Berufes 
verwirkt haben; weiter aus dem Müdlaufe ver Policen foldger Berficyerten, welche 
die Berfiherung nicht länger fortfegen können ober wollen und ber Anftalt ihre 
eingezahlten Prämtengelver gegen Herauszahlung bes A. ober 3. Theiles, höchſtens 
ber Hälfte derſelben überlaflen; enblih aus ven Zinfen ber eingegangenen Prä- 
mien und fonftigen Empfänge, va dieſe fofort fapitalifirt werden. Noch iſt zu be 
merfen, daß es immer einige Verficherte geben wird, welde in Folge langjähriger 
Mitgliedſchaft an die Anftalt mehr zahlen, als fie beziehungsweiſe ihre Erben von 
ihr empfangen. Auch dieſe Mebreinzahlungen erhöhen vie Leiftungsfähigfeit der 
Anftalt und kommen fomit den Übrigen Berficherten zn Gute, 

Die Leiftung des Verſicherten, die Prämie, richtet fi nad ber Höhe bes 
verſicherten Kapitals und nach dem früheren oder fpäteren Eintritt bes Zeitpunftes, 
wo felbes zur Auszahlung gelangt. Da dieſer Zeitpunft in ber Regel der Tod 
des Verſicherten iſt, fo kommt bier alles darauf an, zu wiffen, wie groß die Zahl 
ber Jahre tft, vie der BVerfiherte vom Abſchluß der DBerfiherung an gerechnet 
wahrſcheinlich noch durchleben dürfte. Entſcheidend iſt hiebei in erfter Tinte das 
Wer, in weldem der Berficherte fteht, da ver Jüngere durchſchuittlich nocd eine 
längere Lebenszeit vor fi hat, als der Aeltere. Die Lebensverfiherungsanftalten 
mäflen daher genaue Kenntniß von der mittleren menſchlichen Lebenspauer auf ven 
verfchledenen Alteraftufen haben. Diefe Kenntniß, ohne die ihre ganze Wirkfam- 
feit in ber Luft ftände, verfchafft ihnen in befriedigender Weiſe die Statiftil, bie 
auf diefem Gebiet fi größerer Erfolge rühmen kann, als vielleiht auf jevem 
anderen, und ber Lebensverfiherung eine Grundlage gegeben hat, wie keiner ber 
übrigen Berfiherungsaweige fie befigt. Die ftatiftiichen Beobachtungen über bie 
Sterblicleit in den einzelnen Altersklaſſen und über die mittlere Lebensdauer ſind 
in den Sterblidkeitstafeln niedergelegt, welche von einer beftimmten Anzahl Gleich⸗ 


“ alteriger ausgehend, für jebes Jahr vie Zahl der unter ihnen vorlommenden 


Sterbefälle und vie mittlere Lebensdauer der Ueberlebenden verzeichnen. Der erften 
von Halley 1693 aufgeftellten Sterblichleitstafel find im Laufe der Zeit noch 
mehrere andere nachgefolgt, unter denen bie Rebensverficherungsanftalten die Wahl 
haben. Neuere Tafeln find aber ſchon darum vorzuziehen, weil in dem Sterblidy- 
keitsverhältnig und der davon abhähgigen mittleren Lebensdauer ſeit Ende des 
vorigen Jahrhunderts entſchieden eine Veränderung im günftigen Sinne eingetreten 
ift. Viele Anftalten bevienen ſich der fogenaunten Siebzehnerlifte, welche fih auf 
bie Erfahrungen von 17 englifcgen Lebensverfiherungsgefellfchaften in dem Zeit- 
raum von 1762 bis 1840 fügt und der nicht weniger ala 83905 beobachtete 
Sterbefälle zu Grunde liegen. Mit-Hülfe einer ſolchen Sterblichkeitstafel läßt fid 
bie Prämie, foweit die muthmaßliche Zeit des Todes des Berfiherten dabei in 











Derficherungsanflalten, 28 


Frage kommt, für jede Witeröftufe mit faſt mathematifcher Genauigfeit beftimmen. 
Das allgemeine Sterblichkeitsgeſetz erleidet aber allerlei Modifikationen durch ven 
Sejunpheitszuftand, die Lehensweife und die Beſchäftigung der einzelnen Perſonen. 
Es Handelt fi aljo darum, abgejehen von dem Alter des Berfiherungswerbers, 
auch dieſe Momente von Yal zu Gall richtig zu ftellen. Schwädlihe und kränk⸗ 
lie Berfonen, namentlicd wenn fie mit chronifchen Leiden ober bevenklichen organifchen 
Fehlern behaftet fino, fowie Jene, die eine die Geſundheit zerftörende Lebensweife 
führen ober eine Beſchäftigung treiben, die das Leben und bie Geſundheit befon- 
dern Gefahren ausfest, werben fehr zwedmäßig von der Verfiherung außgefchloffen. 
Es ergibt ſich daraus, daß bei dem Abſchluß der VBerfiherungen außer ven Agenten 
au Aerzte zur Mitwirkung herangezogen werben müſſen und babei eine gewicd- 
tige Stimme haben. In neuerer Zeit haben fi in England einige Geſellſchaften 
daranf eingelaffen, aud das Leben kranker Perſonen, natürlich gegen höhere Prä- 
mie, zu verfihern, und aud in Deutichland murben bereits berartige Verſuche 
acht. Es iſt außer Zweifel, daß durch ſolche Verfiherungen fi das Riſiko der 
nfalt beveutend vergrößert und dieſe damit einen Theil ihrer follden Bafls auf- 
gibt. Das verfiherte Kapital iſt in ven Statuten ver Lebensverfiherungsgefell- 
(haften gewöhnlich auf ein Maximum und Minimum begrenzt, um einerjeits 
durch die zufällig fehr früh eintretende Auszahlung einer unverhältnigmäßig großen 
Summe oder durch das ſchnell auf einander folgende Fälligwerden mehrerer folder 
Summen den Beftand der Anftalt nicht zu erſchüttern, und anderſeits der mit ber 
Berwaltung vieler Heiner Beträge nothwendig verbundenen Vermehrung des Dlühe- 
und Koftenaufwandes zu entgehen. 

Ein Gegenftand von befonderer Wichtigkeit für die Lebensverfiherungsanftalten 
iR die Prämienreſerve. Die lebenslänglih oder auf mehrere Jahre Berficherten 
zahlen die Prämie, die bei ihrem Eintritt mit Nüdficht anf ihr Alter feftgeftellt 
warde, während der ganzen Zeit ihrer Mitgliedſchaft Jahr für Jahr unveräntert 
fort. Eigentlich follte ihnen, da im jüngeren Alter die Wahrfcheinlichkeit des Todes 
ferner liegt, im höheren aber fort und fort näher rüdt, eine von Jahr zu Jahr 
fteigende Prämte anfgelegt werden. Die Annahme einer gleihmäßigen Prämie, bie 
id als der Durchſchnittsſatz ihrer jährlichen Leiftung herausſtellt, für vie ganze 
Berfiherungspauer bringt es daher nothwendig mit fi, daß fie in den erften 
Jahren mehr, in ven fpäteren dagegen wieber weniger zahlen, als ihnen nad) dem 
Sterblichleitsgefeg obliegt. Damit tritt nun aber die Forderung an die Anftalt 
beran, das in den früheren Jahren mehr Empfangene zur Dedung ber Minder- 
einnahme in ben fpäteren Jahren, wo das Riſiko ſich fteigert, zu referviren. Dan 
nennt biefe Ueberfparungen die Prämienreferne. Keine folive, die Bedürfniſſe der 
Zukunft erwägende Anftalt kann fich ihnen entziehen, fie find ein Gebot der Selbſt⸗ 


ng. 

Das Gebiet der vorübergehenden auf Keftimmte Gefahren befhränften Lehens⸗ 
verficherung hat feit Entftehung ver Eifenbahnen eine Erweiterung erhalten. Es 
werden nun auch Reifende gegen Unfälle während und aus Anlaß der Eifen- 
bahnfahrt verfihert, und bereits haben fih für dieſen Zweig ver Lebensver- 
fichernug eigene Gefellfchaften gebildet. Die Verfiherung wirb entweber blos für 
eine beftimmte Neife auf einen over mehrere Tage, oder auf längere Zeit bis zu 
einem Jahre und darüber abgefhloffen. Die jährliche Verſicherung lommt befon- 
bers den Bahnbebienfteten zu Statten, bie aber, weil fie derartigen Unfällen mehr 
ausgeſetzt find, eine höhere Prämie zahlen müflen. Der Anſpruch des Berficherten 
richtet ſich nach der Schwere des Unfalls. Hatte dieſer die bleibende völlige Arbeits- 








24 Derfiherungsanflalten. 


unfähigkeit des Verfiderten oder wohl gar den Tod besfelben zur Folge, fo wird 
die volle Verfiherungsfunme, bei dem Verluſte einzelner Körpertheile dagegen blos 
eine der Wichtigkeit derfelben entſprechende Duote ausgezahlt. Bei geringeren Ber: 
legungen bat der Verſicherte nur die Kur⸗ und Verpflegungstoften und außerdem 
einen Theil verfelben als Erfag für den entgangenen Erwerb anzuſprechen. Nach 
dem Vorgange der VBerfiherung gegen Eifenbahnunfälle entftanden bald auch An« 
ftalten, melde ſich die Berfiherung gegen alle perfänlihen Unglüdsfälle als Auf- 
gabe ftellen und die Prämie nah Maß ver größeren ober geringeren Lebensge⸗ 
fährlichkeit des Berufes ber verficherten Perfonen mehrfach abftufen. Eine Art von 
Lebensverficherung gewähren envlih aud vie Krankenkaſſen, welche hauptſächlich 
für den Arbeiterſtand berechnet find und ihren Mitgliedern gegen Zahlung ber 
ftimmter Beiträge in Krankheitsfällen entweder die ärztliche Hülfe und die nöthige 
Verpflegung koſtenfrei verſchaffen ober ein beflimmtes Krankengeld während ber 
Dauer der Krankheit Bezahlen. Die Berträge find In den älteren Anftalten ohne 
Beachtung des Momentes der Gefahr gewöhnlich für alle Mitglieder gleich ange- 
ſetzt; erft neuerlich hat man angefargen, viefelben nad dem Alter, dem Gefund- 
heitözuftand und der Beihäftigung der Theilnehmer in verſchiedenen Sätzen zu 
beftimmen. Ste werben, um ben Zutritt zu erleichtern, in kurzen Terminen, häufig 
wöchentlich entrichtet. 

Die NRentenverfiherung. Dieſelbe fteht in zweifacher Beziehung in 
einem Gegenſatz zur Lebensverfiherung. Während biefe die Bildung neuer Kapi⸗ 
talien vermittelt, werben durch jene vorhandene Kapitalien in Jahresrenten auf« 
gelöst und dadurch ver Verzehrung zugeführt. Sodann tritt bei der Lebendver- 
fiherung die Leiftung des Verſicherers in ber Regel mit dem Ableben bes Ver- 
fiherten ein, bei der Nentenverfiherung Hört fie mit demſelben auf; der frühzeitige 
Tod des Verfiherten ift daher bei erfterer ebenfo fehr gegen das Intereſſe ber 
Anftalt, als er bei leterer für fie wünfchenswerth erfcheint. Auch die Rentenver- 
fiherung läßt verſchiedene Kombinationen zu, deren nicht weniger ald 20 gezählt 
werben. Die einfahfte Art der Rentenverfiherung ift die Beftellung einer Leib- 
vente, bie den Berficherten für feine Perſon gegen Einzahlung eines Kapitals, dae 
der Berfiherungsanftalt anheim fällt, gewährt wird und mit beffen Tode erltfcht. 
Der Verſicherte tritt entweder fofort in den Bezug der Rente oder erft in einem 
fpäteren Zeitpunkt, gewöhnlih nah Erreihung eines beftimmten Lebensalters. 
Die fpäter zahlbare Rente heißt aufgefchobene Rente und wenn fle erſt im höheren 
Alter, wo die Arbeitsfähigkeit ſchwindet, flüffig wird, Alterspenfion. Der Anſpruch 
auf eine Rente ber letztern Art Tann Übrigens auch durch jährliche Beiträge, die 
zu der bei Abſchluß der Berfiherung zu leiftenden Kapitaleinlage noch hinzutreten, 
erworben werben. Der Betrag der Nente hängt ab von der Größe des. bezahlten 
Kapitals und der etwaigen Jahresleiftung, von der Höhe des Zinsfußes, von ber 
Zeit, die bei aufgefchobenen Renten zwiſchen ihter Beſtellung und dem Beginn 
ihrer Auszahlung liegt, enblih von der mahrfcheinlihen Dauer des Rentenbezugs, 
welde, da dieſer mit dem Tode des VBezugsberechtigten endet, durch das Sterb- 
lichkeitsgeſetz beftimmt iſt. Es kann aber auch eine Nentenverfiherung für zwei ober 
mehrere verbundene Berfonen abgejhloffen werden, und zwar entweder in ber Art, 
daß die Rente nach dem Tode der Erftfterbenden unter ihnen, gleichviel welche 
ed ift, oder ber im Voraus beflimmten over erft nach dem Tode beider aufhört; 
ober fo, daß fie mit dem Tode der erfifterbenden Perfon oder im Falle des Vor⸗ 
fterbens der von vornherein bezeichneten für die Überlebende beginnt. Diefer Tet- 
tere Modus einer Weberlebungsrente fommt am bänfigften vor und tritt in An⸗ 








Derficherungsanftalten. 25 


wendung bei der Berfiherung von Wittwen- und Watfenpenflionen. Die 
Berfon, deren Borfterben ven Bezug diefer Penftonen eröffnet, iſt ver Gatte und be- 
ziehungaweiſe Bater ver Bezugsberechtigten, welcher gewöhnlich aud bie zur Erwer⸗ 
bung erforberlihen Einzahlungen leiftet. Da die Rente bier eine aufgejhobene tft, 
fo können diefe Einzahlungen, wie es meiftens auch gefchieht, außer dem Erlage 
eines Kapitals auch in jährlichen Beiträgen beftehen. Die Überlebende Gattin hat 
nur als Wittwe auf die Penſion Anſpruch; biefe iſt daher nur dann eine lebens⸗ 
laͤngliche, wenn jene im Wittwenftande ſtirbt. Die Berfiherungsanftalt handelt 
aber in ihrem Intereffe, wenn fie den ſich wieberverehelihenden Wittwen eine 
Abfindungsſumme zahlt oder ihnen den Wiederbezug ver Benfion für den Ball, 
daß fie abermals Wittwen werben follten, zufichert, weil ohne ſolche Begänftigung 
wegen des eintretenden Berluftes ver Penflon nicht felten die zweite Ehe unter- 
bleiben würde, wo die Anftalt die Penfton fortzuzahlen hätte, und ber zweite 
Winwenfall doch nicht fo Leicht mwahrfcheinlih if. Die Waifenpenflonen find 
immer nur auf eine beftinmte Zeit befchränft und erlöfchen mit bem Eintritt 
in jenes Wlter, tin welchem Jedem bie Fähigkeit zugetraut werben kann, für fi) 
ſelbſt zu forgen, bei ſchon früher flattgefundener Berforgung mit diefer. Nur gei⸗ 
flige und korperliche Gebrechen, die ven Verwaisten erwerbsunfählg machen, kön⸗ 
nen eine Ausnahme begründen und den Penſionsbezug über jene Witerögrenze 
hinaus verlängern. Bon felbft folgt hierans, daß biejenigen Waifen, bei denen bie 
Boransfegungen, die das Aufhören ver Penfion bewirken, beim Tode bes Vaters 
(don vorhanden find, gar nicht zum Genuß ver Penflon gelangen. Zu den oben 
beſprochenen Momenten, vie bei Beftellung einer einfachen Leibrente berädfichtigt 
werden müffen, um zwiſchen Leiftung und Gegenleiftung das entſprechende Ver⸗ 
haltuiß Berzuftellen, treten bei der Berfiherung einer Wittwen- und Walfenpenfton 
noch einige weitere hinzu. Die Höhe der Einzahlungen, um der Wittwe eine be- 
ſtimmte jährliche Penſion zu fichern, richtet fi nach dem Alter, dem Geſundheits⸗ 
zuftend und der dadurch bebingten ferneren durchſchnittlichen Lebensdauer beiber 
Ehegatten; von befonderer Wichtigkeit iſt dabei das gegenfeitige Ultersverhältniß, 
dba die größere oder geringere Wahrfcheinlichkeit des Penfiensfalles, ber frühere 
ober jpätere Eintritt desfelben und die Türzere oder längere Daner bes Penfions- 
bezugs davon abhängt. If die Frau bedeutend jünger als ver Mann und biefer 
vielleicht gar noch Mränflich, fo erfcheint es rathſam, die Berfiherung ohne weiteres 
abzulehnen. Die Watfenpenfionen anlangend, fo fommen bier wieder die Durch⸗ 
ſchnitiszahl der auf eine Ehe entfallenden Kinber, das muthmaßliche Alter der⸗ 
ſelben bei dem Tode des Vaters, worauf das Alter des letzteren bei ihrer Geburt 
wmb defien Geſundheitszuſtand von Einfluß iſt, und endlich der Geſundheitszu⸗ 
Rand der Kinder felbft in Betracht. 

Sowie einzelnen Perfonen, kann auch einer Gefellfhaft eine Rente verſichert 
werben. Geſchieht dies in der Art, daß die Rente des einzelnen Mitgliedes ver 
Geſellſchaft nach deſſen Tode immer den übrigen Überlebenden Mitgliedern zuwächst 
und erſt mit dem Tod bes leuten Mitglieves, weldes die Renten aller in fi 
vereinigt, erliſcht, fo heißt die Rente Tontine. Diefe Rentenverfiherung hat nun 
anch In den beftehenden Rentenanftalten Eingang gefunden. Die Gefellihaftökreife, 
innerhalb deren die Renten der verftorbenen Mitglieder ſich an die überlebenden 
vererben, bilden bier die Jahresgefellihaften, melde vie dm Laufe eines und des⸗ 
jelben Jahres eintretenden Mitglieder in fih begreifen und fih mit Rückſicht auf 
das Alter derfelben wieder in mehrere Altersfiafien theilen. Die höheren Alters⸗ 
Nafien beziehen von vornherein höhere Renten, bie jüngeren nievrigere. Der Zus 





26 Derfichernngsanftalten, 


wachs ber Rente findet zunächft bis zn einem gewiffen Miarimalbetrage innerhalb 
der einzelnen Altersklaſſen ſtatt. Nach dem Ausfterben einer Altersklaſſe erbt bie 
nächft jüngere verfelben Jahresgeſellſchaft dad durch ben bisherigen Rentenbezug 
noch nicht aufgezehrte Vermögen, und nad dem Ausfterben ſämmtlicher Alters- 
klaſſen geht ver noch vorhandene Vermögensreſt an die nächſtfolgende Iahresgefell- 
[haft über. Auf dieſe Welfe können einzelne Mitglieder, vie ein hohes Alter er- 
reihen, in ihren fpäteren Lebenstagen in ben Genuß unverhältnißmäßig hoher 
Renten treten. Die geſchilderte Einrichtung der Verſicherung bringt es mit fid, 
daß bier vie Verfiherten bie gleichen Beträge einzulegen haben. 

Die Rentenverſicherung fegt den Berjicherten in den Stand, von feinem Ka- 
pital entweber fogleih oder in feinem fpäteren Alter bis zu feinem Tode eine 
höhere Rente zu beziehen, als die Ianvesäbliche Verzinfung vesfelben fie ihm bietet, 
oder nach feinem Tode feiner Sattin und feinen Kindern ein Einkommen zu fihern, 
welches die Zinfen des Kapitals, das er für fie anzufammeln und ihnen zu hinter 
laffen in ber Lage tft, in der Regel nambaft überfteigt. Aus eigener Kraft ver 
möchte er nicht fich dieſen Vortheil zu verichaffen, die Nentenanftalt gewährt ihm 
benfelben, allerdings um ben Preis des Berluftes des Kapitals, das In ihr Eigen- 
thum übergeht und befien Erwerb fie zu jener Hülfeleiftung befähigt. Die Mittel, 
bie den Nentenanftalten noch fonft zu Gebote ftehen, um Verpflichtungen über- 
nehmen und erfüllen zu Können, denen bie Eingelfräfte nicht gewachſen find, fallen 
im Weſentlichen mit jenen der Lebensverfiherungsanftalten zufammen, von denen 
fon oben die Rebe war. 

6. Die Hypothekenverſicherung. Der Kapitalift kann mit Sicherheit 
auf Hypotheken blos bis zur Hälfte, höchſtens 2 Dritttheilen ihres Werthes Dar- 
Iehen geben. Sobald er bei deren Beleihung dieſe Grenze überfchreitet, ſetzt ex ſich 
allerlei Gefahren aus. Er ift ſchon nicht fiher, von einem fo ſtark verſchuldeten 
Hppothelenbefiger aud nur die Zinfen immer voll und veditzeitig zu erhalten, 
noch weniger kann er aber anf pünltlihe Rüdzahlung des Kapitals felbft rechnen, 
wenn er fi veranlaft fieht, vasfelbe zu kündigen, da ein folder Schuldner fie 
in ver Regel nur durch eine neue Geldaufnahme, vie in feinen Verhältniſſen ſehr 
ſchwierig ift, zu leiften vermag. Jede Werthuerminderung des Grundſtücks, das als 
Hypothel beftellt ift, jeves Weichen ver Preife der Grundſtücke überhaupt ver- 
fhlimmert bie Lage des Kapitaliften, fo daß er, wenn es zu einer Zwangäver- 
fteigerung fommt, Gefahr läuft, mit feiner Forderung ganz öber zum Theil Leer 
anszugehen und fi an die Perfon des Schuloners halten zu müffen. Grund⸗ und 
Häuferbeftger, deren Befigungen in dem obengenannten Maße bereits mit Schulden 
beihwert find, innen nur dann auf weitere Darlehen hoffen, wenn ſich ein 
Dritter findet, der den Kapitaliften gegen die damit verbundenen Gefahren fidher 
ſtellt. Diefen Dienft leiften die Hypothekenverſicherungsgeſellſchaften, indem fie bei 
Darlehen auf Hypotheken bis zu 70 und felbft 80 Procenten des Werthes derſelben 
gegen eine beflimmte Prämie nit nur den Zinfenbezug und bie Kapitalsrüd« 
zahlung garantiren, fondern auch für die Verlufte einftehen, die durch Verſchlech⸗ 
terung, Subhaftation oder Erpropriation der Hypothek für ven Gläubiger erwachfen, 
und diefem allenfalls vie Einleitung der Zwangsveräußerung dadurch eriparen, 
bag fie ihm gegen Ceſfion feiner Forderung das gelünbigte unt bereitd fällig ge- 
wordene Kapital Baar ums voll bezahlen. Die VBerfihernngsprämie wird mit Hin⸗ 
zurechnung ber Zinfen des verficherten Kapitals fi unter jenem höheren Binfen- 
fage zu halten haben, auf den der Gläubiger ohne Verfiherung, wo ihn vie Ge⸗ 
fahr träfe, beftehen müßte. Hieraus ergibt fi auch bie Nothwendigkeit eines feften 














Derficherungsanflalten. 9 


Satzes der Prämie, weil außerdem Blänbiger und Schuloner nicht zu beurtheilen 
vermöchten, ob vie Berfiherung in ihrem Interefle if. Die Verfiherung laun ent- 
weder vom Scnibner oder vom Gläubiger eingegangen werben; bie Prämie wird 
aber immer dem Schuldner zur Laſt fallen, da der Gläubiger, wenn er fie zahlt, 
um ihren Betrag feine Zinsforberung erhöhen wird. Da bie Hypothekenverſicherungs⸗ 
anftalten öfter in den Fall kommen, die verfiherten Kapitalien an fi zu Löfen, 
fo macht fidh bei ihnen das Bedürfniß geltend, fi wegen Beichaffung ver biezu 
wÖtbigen Geldmittel mit Krebitinftituten in Verbindung zu fegen, und fo gelangen 
fie leicht dahin, mit dem Verfiherungsgeichäft jenes einer Hypothelenbank zu ver- 
einigen. Es hat nicht den Anſchein, daß die Hypothekenverſicherung, anf die man 
exft in jängfter Zeit verfallen ift, je eine größere Ausdehnung erlangen werde, 
Denn jene Hypothefarforberungen, welche durch die erſte Hälfte ober doch durch 
bie erfien 2 Drititheile des Werthes ber Hypothek gebedt find und die weitaus 
überwiegende Mehrzahl bilden, bevürfen einer Berfiderung nicht; bie übrigen aber, 
die ihrer bebärfen, find, wenn fie ohne Unterfhieb zur Verfiherung augelaffen 
werben, zum Theil wieder fo fehr gefährbet, daß eine hohe Prämie nicht umgangen 
werben faun. Zieht man aber, um eine mäßigere Prämie zu ermöglichen, eine 
Grenze, wie dies in der That au der Fall ift, und befchränkt bie Verſicherung 
anf jene Forderungen, welche bie Hypothek nur bis zu 70—80 Brocenten ihres 
Werthes belaften, fo iſt die Summe ber verfiherbaren und der Berfiherung zu- 

bebürfenden Forderungen nicht bedeutend genug, um auf zahlreiche Ver⸗ 

enntröge rechuen zu können. 

7. Die Ölasverfiherung. Die Beranlaflung zur Entflehung dieſes Ber- 
fiherungszweiges gab die in größeren Stäpten um ſich greifende Sitte, in Laden 
und bei Schaufenftern Spiegelfheiben von mitunter außerorbentliher Größe anzu- 
werben. Die Leichtigkeit ihrer Befchäpigung und ihr hoher Werth mußten Bald 
ihre Berfiherung als wünfchenswerth erfcheinen laſſen. Diefem VBebärfniffe warb 
auch in ber That entſprochen und der neue Berficherungszweig übernahm es, außer 
den Spiegelſcheiben auch noch anderes Glas, wie Spiegel, Tafelglas und ſelbſt 
gewöhnliche Scheiben gegen eine Prämie & verfihern und den Schaden, den biefe 
Gegenſtaͤnde erleiden, zu erfetzen. Die Ölasverficherung hat das Eigenthümliche, 
daß bie Befhäpigungen, für welche fie Erſatz leiftet, weit weniger vom Zufall 
herrühren, als durch menfchlihe Handlungen herbeigeführt werben, und für bie 
Statiſtilk noch nicht fo erfaßbar waren, um auf fie das Geſetz der großen Zahlen 
enzuwenden. Gleichwohl hat fie in Kurzer Zeit eine große ftetig wachſende Ver⸗ 
breitung gevonuen, j 

8. Die Nüdverfiderung. Hier bildet bie von einer Berfiherımgsanftalt 
bereit® eingegangene Verſicherung entweber ganz ober zum Theil den Gegenſtand 
ber Berfiherung, die von einer andern Anftalt bald unter den Bebingungen ber 
erſten Berfiherung, bald unter andern übernommen wird. Der zweite Verficherer 
iR dann Rückverſicherer und der erfte wird zum Rückverſicherten. Das Rechtsver⸗ 
bältnig zwilchen dem urfpränglichen Verſicherten und feinem, d. i. dem erften Ver⸗ 
ſicherer wird durch bie Nüdverfiherung nicht berührt; jener hält fi bezüglich 
feiner Berfiherungsanfprüde nur an diefen. Die Veranlaffung zur Nüdverfiherung 
laun barin liegen, daß einer VBerfiherungsgefellihaft die zur Verfiherung über 
nommene Summe im Ganzen over an einem beftimmten Ort zu groß erſcheint, 
am ganz und allein ohne Bedenken die Haftung biefür zu übernehmen; ober daß 
ber in einem einzelnen Falle zur VBerfiherung angetragene Werth das fiatuten- 
mäßige oder übliche Marimum überſchreitet, bis zu welchem vie beixeffende An⸗ 


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28 -  Verfiherungsanflalten. 

ſtalt geht, und dieſe doch den Verfiherungsantrag nicht zurückweiſen will; ober 
daß eine Berfiherungsgefelfichaft in einem beftimmten Staate nicht Toncefftonirt 
tft, und eine andere dort erlaubte für fte, jedoch ohne fle zu nennen, Verſicherungen 
übernimmt. In viefem legteren Fall liegt übrigens keine eigentliche Nüdverficherung 
vor; der erfte Verficherer ift bier blos Mandatar des zweiten, der ſich als ber 
eigentliche Berficherer, nicht aber als Rückverſicherer varftellt. Nach dem bisher Be⸗ 
merften fcheint die Rüdverfiherung nur die gegenfeitige Unterflügung der Ver⸗ 
fiherungsanftalten, fomit nur deren Bortheil zu bezweden. Allein fie gereicht auch 
dem Berfiherten zum Bortheil, da ver ihm verhaftete erfte Verſicherer durch fie 
offenbar befähigter wird, die von Ihm übernommenen Berpflihtungen zu erfüllen. 
Auch wird dem Berficherten noch dadurch ein nicht geringer Dienft erwiefen, daß 
er bei einem Berfiherungsobjelte von höherem Werth dann nicht genöthigt iſt, bie 
Berfiherungsfumme zwifchen mehrern Anftalten zu theilen und fomit mehrere Ver⸗ 
fiherungsverträge abzufchliegen. Wohl könnte ihm ohne Rüdverfiherung vieler 
Dienft auch in der Art geleiftet werden, daß bie Berfiherungsanftalt, an bie er 
ſich wendet, binfichtlich des Mehrbetrags dihm vie Verficherung bei audern Anftalten 
vermittelt; allein er hätte dann doc mit mehreren VBerficherern zu thun, an jeben 
von ihnen eine befondere im Betrage vielleicht verſchiedene Prämie zu entrichten 
und müßte ſich bei ihnen, wenn ihn der fraglihe Schaven träfe, feine Bergütungs- 
fumme zufammenfuchen. Die Rüdverfiherung kommt am häufigften bei der Feuer⸗, 
See- und Lebensverfiherung zur Anwendung. Es liegt in der Natur der Sache, 
daß fie nur von gemwerbsmäßig betriebenen Berfiherungsunternehmungen gefucht 
und gelelftet wird. 


VI. Die voltöwirtbfchaftliche Bedeutung des Verſichernngs⸗ 
weſens. 


Es wäre eine chimäriſche Vorſtellung, wenn man von ben Verſicherungs⸗ 
anftalten erwarten wollte, daß fie das Werk ver Zerſtörung ungefhehen machen, 
die vernichteten Werthe wieberherftellen und die hieduich im Bollövermögen ent⸗ 
ftandene Lüde fofort wieder ausfüllen. Das vermag keine Macht der Erbe. Was 
zerftört iſt, bleibt zerftört; geſchehene Dinge laſſen ſich nicht ungeſchehen machen. 
Es Tann ſich bier immer nur um einen Erſatz für das zu Grunde Gegangene 
handeln, nur diefen erlangt man burd bie Verfiherung. Aber viefer Erfag kaum 


nur aus dem vorhandenen Bollsvermögen genommen ‚werben, erzeugt baher an 


anderen Stellen wieder Lüden. Der entſtandene Berluft 1äßt ſich nur durch andere 
Berlufte veden. Darin befteht nun aber die große Bedeutung des Verficherungs- 
weiens für die Volkswirthſchaft, ver nicht Hoch genug anzufchlageude Dienft, den 
es biefer leiftet, daß mit feiner Hülfe es gelingt, jenen Erſatz berbeizufchaffen, 
ohne das vorhandene in der Probuftion verwendete Kapital anzugreifen. Die Er⸗ 
fagmittel liefern die Prämien und dieſe find ihrem Betrage nad für ven Ein- 
zelnen fo gering, daß er fie ganz leicht aus feinem laufenden Einfommen auf- 
bringen kann. Zu Grunde gegangene Kapitalien werben ſonach unter dem Bel⸗ 
ftande der Berfiherungsanftalten durch Heine Erübrigungen vom Einfommen, burd) 
Heine Erfparungen bei den Ausgaben für bie täglichen perfönliden Bebürfnifie 
wieber erftattet. Es werben mithin jene tiefgreifenden Störungen vermieden, welde 
der Berluft dieſer Kapitalien im Volkshaushalte herbeigeführt hätte, da nur im 
feltenen Fällen der einzelne auf fi gewiejene Beſchädigte im Stande iſt, viele 
Berlufte ohne Heranziehung eigener ober fremder erborgter Rapitalien zu beden, 
und in Ermangelung verfelben ſich genöthigt flieht, feine Brobultion zu beſchränken— 


Derficherungsanflalten, 29 


Allerdings wird durc dieſe Art der Beilhaffung des Erſatzes die Bildung neuer 
KRapitalien verzögert, indem bie zur Prämienzahlung verwendeten Erfparnifie außer- 
dem kapitalifirt worben wären. Allein es ift ſchon ungemein viel erreicht, wenn 
uur die vorhandenen Kapitalien undermindert erhalten werben. Iene Berlufte kon⸗ 
nen dann den Stand der Kapitalsrente nicht afficiren, beziehungsweiſe ihn wicht 
erhöhen. Die Produktion erfährt um ihretwillen keine Einſchränkungen und es 
findet demnach Teine Verminderung ber Ürbeitsgelegenheiten Statt, was von nicht 
zu verfennendem Vortheil für die arbeitenden Klafien ift., Weiter bewirkt die Ver⸗ 
fiherung, da der Berluft des in den verſchiedenen Unternehmungen angelegten 
Kapitals durch eine geringe Auslage abgewendet werben Tann, eine namhafte Ber- 
minderung bed geſchaͤftlichen Nifilos und folglich des Unternehmergewinns, trägt 
hiedurch zur Vermehrung der Tonfurrirenden Unternehmungen bei und führt fomit 
zu einer Ermiebrigung der Waarenpreife. Dies gilt beſonders von ben aus welter 
Gerne herbezogenen Handelsgütern, bie ohne Berfiherung nimmermehr fo wohlfeil 
geliefert werden könnten. So ziehen aljo Produktion und Konfuntion ſchon aus 
der Urt und Weiſe, wie die VBerfiherungsanftalten die Erfagmittel für die zer- 
Körten DBermögenswerthe beifhaffen, große kaum zu überſehende Vortheile. Ohne 
bier weiter ins Einzelne einzugeben, fei nur nod daran erinnert, daß unter allen 
Produktionszweigen die Verfiherung wohl dem Handel, der Schifffahrt und ber 
Landwirthſchaft den größten unmittelbaren Gewinn bringt. Handel und Schifffahrt 
Hätten nie den riefenhaften Aufihwung nehmen können, von dem man im Alter 
thum und im Mittelalter keine Ahnung hatte, wenn ihnen nicht die Transport⸗ 
verfiherung zur Seite geſtanden wäre und die Haftung für die Schiff und La- 
bang ſtündlich bedrohenden Gefahren bis in die entlegenflen Meere übernommen 
hatte. Was aber die Landwirthſchaft betrifft, fo find es zwei Verficherungszweige, 
He ihr ausſchließend dienen, vie Bich- und die Hagelverficherung. Iene nimmt 
einen fehr wertboollen und wichtigen Beſtandtheil des in der Landwirthſchaft wir- 
kenden Kapitals, viefe pas landwirthſchaftliche Produkt durch alle Stapien feines 
Wachsthums bis zu feiner Reife und Einerntung unter ihren Schutz, worauf bis 
zu feinem Verbrauche over Verkaufe vie Yeuerverfiherung dieſen Sicherbeitspienft 
fertfegt, während fie zugleich die Wohn- und Wirthfchaftsgebäude des Landwirths 
behũtet. Doch der Nuten ver VBerfiherungsanftalten ift mit vem Gefagten nod 
nicht erfchöpft, er reicht : weiter. Indem fie bie verlornen Kapltalien wieber 
erfegen, und dadurch die Probultion in ihrem Gange erhalten, tragen fie aud 
jar Erweiterung des Krebits bei, der die Kraft des Kapitals potenzirt, dieſes auch 
ber befislofen technifhen Intelligenz zugänglid macht und die Probuftion über 
das Maß der vorhandenen Kapitalmittel ermöglicht. Der Verſicherte wird durch 
die Berfiherung kreditfaͤhiger und für den Krebitgeber die Gefahr bei der Kre⸗ 
bitirung geringer. Angenfällig zeigt ſich dieſe Wirkung bei Befipern von Gebäuden, 
die gegen Feuer verfichert find; noch deutlicher tritt fie hervor, wenn der Krebit 
fetbft der Segenfland der Berfiherung ift, wie bei der Hypothekenverſicherung, 
welche den Grundbeſitzer in den Stand fett, feinen Realkredit bis an die Außerfte 
Grenze auszunügen. Die Berfiherung beſchraͤnkt fih aber nicht auf Ber 
gätung von Kapitalsverluften, fie ftellt fi in einem ihrer bervorragenpften Zweige, 
in der Lebensverfiherung, aud die Bildung neuer Kapitalien als Anfgabe und 
vollfährt fie in der glänzeubften Weife. Allerdings könnte man ſich verfucht fühlen, 
ver Lehensverſicherung als Kapitalienfommierin die Nentenverfiherung als Kapi⸗ 
telienzerfiörerin entgegen zu halten, welche die heilfamen Exfolge jener wieder auf 
hebt, Allein wenn auch. fo mancher Schatten auf die Rentenverfiherung fällt und 








80 Ä Derfiherungsanftalten. | " 


fie, namentlich bei Anwendung ver Tontine, leicht in ein Roßes Glüdeſpiel ans- 
arten kann, fo hat fie doch and ihre nicht zu verkennenden nützlichen Seiten und 
erſcheint in mehr als einer Hinfiht als ein Bedürfniß. Es wird Immer eine nicht 
geringe Anzahl von Menfchen geben, für die ungleich befier geforgt iſt, und bie 
viel wirkfamer vor dem Nothſtande bewahrt werden, wenn ihnen flatt eines Ka⸗ 
pital8 eine lebenslängliche Rente verfihert wird. Was fol einem Erwerböunfähigen, 
Altersgebrechlichen, wirtbfchaftlich Unzuverläffigen und häufig auch einer Wittwe 
der Befig eines Kapitals nüten, wenn es nicht fo groß iſt, um von den Zinfen 
Ieben zu können? Sie können es doch nicht verwenden nnd fie befinden ſich befier 
im Genuß einer Rente. Wenn ferner die Zinfen des Kapitals, pas Jemand befitt, 
nicht hinreihen, feinen Lebensunterhalt zu beden und er in Ermangelung eines 
andern Einkommens gendthigt Ift, das Kapital anzugreifen, fo iſt eine georbnete 
Unfzehrung des letteren, wie fie durch eine Rentenanftalt vermittelt wird, für ibn 
entſchieden vortheilhafter, weil fie ihm höhere Zinfen bis zu feinem Top fichert, 
während er ohne folden Beiftand bei ber Ungewißhelt der menfchliden Lebens- 
bauer der Gefahr ausgefett ift, dad Kapital vorzeitig aufzuzehren und im höheren 
Alter in Noth zu gerathen. Die Lebens-, fowie vie Rentenverfiherung äußern über⸗ 
dies wohlthätige Wirkungen, die über den Kreis des Wirthichaftsiebens hinaus⸗ 
reihen, mittelbarer Weife aber auch für diefes von unbeftreitbarem Gewinn find. 
Der Familienvater wird durch fie der quälenden Gorge entriffen, den Seinigen 
die Armuth und Entbehrung als Erbtheil zu hinterlaſſen oder vielleicht ſelbſt im 
feinem fpäteren Alter, wenn die Arbeitsfähigkeit verfiegt, varben zu müſſen. Gr 
fann durch verhättnigmäßig geringe jährlihe Einzahlungen, die er von feinem 
Einkommen erübrigt, ober durch eine Heine Kapitaldeiniage in eine ſolche Anftalt, 
feinen Angehörigen nad feinem Tode ein Kapital ober eine Rente verfchaffen, 
wodurd fie der Roth entrüdt werben, ober auch ſich jelbft eine Alterspenflon fichern. 
Diefe Ausfiht erhöht das Seldftvertrauen, ermuhtert zum Fleiß und zur Spare 
famfeit, hält von unnügen Ausgaben ab und nährt den haushälterifihen Sinn, 
So tragen ddie Lebens- und Rentenverfiherung wefentlich dazu bei, das Glück und 
bie Zufriedenheit in ven Familien zu befeftigen und den Familiengeiſt, dieſen 
Grundpfeiler aller focialen und ftantlihen Ordnung, zu ſtärken. Diefer verfitt- 
lichende Einfluß iſt aber auch den Abrigen Verfiherungszweigen nicht fremd, ba 
jede Berfiherung auf dem Princip ver Selbfthülfe beruht, bie ihren nicht zu leug⸗ 
nenden fittlihen Werth bat, nicht nur um ver foeben angeventeten perjänlichen 
und ſachlichen Borausfegungen willen, die Derjenige, der ſich ihrer bebienen will, 
in und um ſich realiſiren muß, fondern aud in Hinblid auf pie Wirkungen, bie 


fie für denſelben hat. Ste enthebt ihn der traurigen Nothwendigkeit, fi in Nothe ' 


fällen an die Barmherzigkeit und Milpthätigkeit feiner Mitmenſchen zu menden 
and erfpart ihm das damit verbundene demüthigende Gefühl. Wer von Unvern 
Almoſen empfängt, hat damit feine Selbftverantwortlicleit, in ber allein die 
wahre Menſchenwürde befteht, aufgegeben und kann fih im Verhältnifſe zu ihnen 
nicht mehr als gleichftehend betrachten. In dem Bewußtſein der Gleichheit und 
Seföftverantwortlichkeit Liegt aber die reichte Duelle fütliher Erhebung. Das Ber- 
fiherungswefen, da es auf einem weiten Gebiete bie Wege zu einer wirkſamen 
Selbſthülfe eröffnet; geftaltet ſich ſomit zu einer fittliden Bildungsfchule und zu⸗ 
gleich zu einer politifhen, indem ein freies Staatsweien, wenn es von Dauer fein 
fol, nothwendig felbftoerantwortliche, fich felbft helfende Bürger vorausfegt. Mehr 
als die fittliche Seite diefer Selbfthülfe tritt aber die wirthſchaftliche an bie Ober⸗ 
fläche, die nicht weniger umfre Beachtung verdient. Sie zeigt und das Verficherungse 








Derfiherungsanflalten. 31 


weien als eine Einrihtung, die der Entftehung der Armuth mit einem Grfolge 
entgegenwirtt, wie kaum eine zweite. In zahliofen Fällen rührt die Verarmung 
von folhen Unglüdsfällen her, die den Gegenſtand der Berfiherung bilden nnd 
deren Folgen durch Benütung berfelben völlig abgewenvet werben können. Bei 
allgemeiner Betheiligung an den verfchievenen Zweigen der Verfiherung würden 
die Opfer, welche bie Unterflägung der Armen der efenfgaft auferlegt, ih um 
ein Bedeutendes vermindern und namentlich die Öffentliche Armenpflege, die ohne⸗ 
bin nicht geringe Bedenken mit fi führt und darum von fo mandyen entfchiebenen 
Bertretern des Rechtsſtaates und der wirtbfchaftlihen Freiheit im Princip ver- 
worfen wird, würde zum großen Theil entbehrlich werben. Ja fon das bloße 
Vorhandenſein der Berfiherungsanftalten in folcher Zahl, daß fie jedermann leicht 
zugänglid, find, dürfte den Staat berechtigen, in allen linglüdsfällen, für welche 
fie die Erfagleiftung übernehmen, jede öffentliche Unterftügung zu verfagen, denn 
der davon Betroffene, der die Berficherung unterließ, verſchuldet dann feinen Noth⸗ 
Rand ſelbſt. Ermwägen wir nun noch weiter, daß wir ter Feuerverfiherung einen 
befieren Bauzuftand der Gebäude, allerlei zwedmäßige Borlehrungen zur Verhütung 
der Brände befonders in gewerblihen Lofalitäten und weſentliche Berbeflerungen 
des Tenerlöfchweiens, das mitunter, wie in London, von den Verſicherungsgeſell⸗ 
ſchaften felbft in die Hände genommen wird, verbaufen, baß bie Zrausportver- 
fiherung die Konſtruktion der Schiffe und anderer Transportmittel, fowie die Ret- 
tungsanftalten bei Schiffbrüchen vervolllommnete und daß die Viehverſicherung 
zu einer befieren Behandlung und forgfameren Pflege der Thiere, zu größerer 

amkeit auf das Vorkommen von Biehſeuchen und hänfigerem Suchen ber 
thierärztlichen Hülfe hinleitet, fo kann es nicht dem mindeften Zweifel unterliegen, 
dag bie Verfiherungsanftalten zu ven fegensreihften Einrichtungen in vollöwirth- 
ſchaftlicher und focialer Beziehung, überhanpt zu ven gemeinnügigfien gehören, bie 
der menſchliche Geift erſonnen hat. | 


VIEL Berfiderungd:Politit uud Polizei. 


Wenn es fi darum handelt, die Stellung zu. bezeichnen, melde der Staat 
dem Berfiherungswefen gegenüber einzunehmen hat, fo iſt die erſte Frage, die ſich 
biebei aufprängt, die: Sol vie Verfiherung ein Staatsunternehmen fein? Die 
Frage nad dieſer allerengften Beziehung, in die der Staat zu dem Berfiherungs- 
wefen treten kann, liegt um fo näher, als namentlidy bei uns in Deutichland einer 
der wichtigften Verfiherungszmweige, vie Weuerverfiherung, hauptſächlich durch bie 
Regierungen eingeführt wurbe und e8 unter ven heute beftehenben Feuerverſicherungs⸗ 
anftaften eine große Anzahl von Stantsanftalten gibt. Diefe Frage muß nun aber 
entſchieden verneinend beantwortet werben. Was Brivatkräfte mit gleichem Erfolge 
leiten, wie ber Staat, damit hat fi) biefer nicht zu befaſſen. Dieje ans dem 
Weſen des modernen Rechtsſtaates hervorgehende Forderung iſt zugleih ein Fun⸗ 
bamentalfag ver Nationaldlonomie. Eine mehrhundertjährige Erfahrung belehrt nnd, 
daß Verfiherungsanftalten von Privaten errichtet und zur vollen Zufriedenheit 
der Berfiherungsbepärftipen verwaltet werben können. Die Privatanftalten haben 
fih überall, wo mit ihnen Staatsanftalten auf demfelben VBerfiherungsgebiete kon⸗ 
kurrirten, neben dieſen troß aller Hinderniſſe, bie ihnen vielfach in den Weg ge- 
legt wurden, nicht nur behauptet, fondern fie fort und fort anf engere Kreije zu- 
rüdgedrängt. Es Tanıı dies auch nicht befremden. Die Verficherung gewerbdmäßig 
zu betreiben, iſt der Staat ſchon darum nicht geeignet, weil ihm alle jene Eigen- 
ſchaften fehlen, welde der vorthelihafte Betrieb eines jenen Erwerbsgefhäftes vor⸗ 








32 derſicherungsanſtalten. 


ausſetzt. Das einen Privatunternehmer beſeelende Streben, mit möglichſt geringen 
Mitteln große Erfolge zu erzielen und zu dieſem Ende ohne Verzug jeden tech⸗ 
nifhen Fortſchritt, jede Betrieböverbefferung fi) anzueignen und zu feinem Vor⸗ 
theil zu verwerthen, ift dem Staate fremd und ebenfowenig bat er das forgfame 
Auge auf vie Bepürfnifie des Publikums wie jener. Da der Gejchäftsbetrieb durch 
Miethlinge beforgt werden muß, deren läffiger Eifer einer unausgeſetzten Kontrole 
bedarf, fo prägt fi allem, was ber Staat auf gewerbligem und kommerziellem 
Felde unternimmt, der Charakter der Umſtändlichkeit und Schwerfälligfeit auf, es 
gewinnt alles flatt eines Taufmännifhen einen bureaufratiihen Zuſchnitt. Der 
‚Staat bat Überall mehr Koften und geringere Refultate. Eben deßhalb ift er auch 
einem Privatverein gegenüber, der ohne fpefulative Abſicht durch Begründung einer 
reinen Gegenfeitigfeitsanftalt das Verſicherungsbedürfniß zu befrienigen ſich vorfeßt, 
im Nachtheil. Denn aud ein Privatverein kann ſich freier bewegen nnd bat einen 
geringeren Berwaltungsaufwand. Hieraus geht hervor, wie fehr diejenigen im Irr⸗ 
thum find, welde von Staatsanftalten eine beflere und wohlfeilere Bedienung der 
Berfiherten erwarten und ihnen darum den Borzug geben. Indem wir uns aber 
grundfäglich gegen die Verſicherung ale Staatdunternehmung erflären, wollen wir 
damit nicht behauptet haben, daß es nicht Verhältnifie geben könne, unter denen 
vom Staat eingerichtete und verwaltete Berfiherungsanftalten ſich entſchuldigen 
lafſen, ja felbft geboten erfcheinen. Wenn in der Bevölkerung eines Landes ber 
Gemeingeiſt und Vereinstrieb noch wenig entwidelt find, der Sinn für weitaus⸗ 
ſehende Unternehmungen nod nicht erwadt iſt, und zugleih die Einfiht in bie 
Bortheile des Verſicherungsweſens bei der überwiegenden Mehrzahl nech fehlt, kurz 
alle Boransfegungen für die Errichtung von Berfiherungsanftalten durch Privat- 
fräfte mangeln, jo thut die Regierung wohl daran, die Initiative zu ergreifen und 
mit der Gründung von Staatdanftalten voranzugehen. Auf fih felbft gewiefen 
müßte das Volk da vorausfichtlih noch durch längere Zeit der Wohlthaten ber 
Berfiherung entbehren. Das war der Ball in Deutſchland im vorigen Jahrhun⸗ 
bert und es haben ſich daher die deutfhen Regierungen ein unleugbares Bervienft 
erworben, daß fie das Feuerverſicherungsweſen in ihre Hände nahmen und größere 
Lanbesverfiherungsanftalten einvichteten, die außerdem wohl noch lange auf fi 
hätten warten laſſen. Es iſt aber dann bie Pflicht der Regierung, ihrerſeits alles 
x tbun, was dazu beitragen Tann, die Privatlräfte zu befähigen, den Dienft ver 

erfiherung fich ſelbſt zu leiften und ihnen bie Wege zu ihrer Bethätlgung zu 
ebnen, und fie bat fi allmälih in eben dem Maße als dem Verfiherungäbe- 
bürfniß durch Privatanftalten genügt werben Tann, von einem Gebiete znrüdzu- 
ziehen, welches fie nur zeitweilig einzunehmen berufen war. 

Mit der Verwerfung des Syſtems ver Stantöverfiherung iſt auch ber Ver⸗ 
fiherungszwang verurtbeilt, ba diefer jenes Syftem zur VBorausfegung hat. Der 
Verfiherungszwang, ber in Bezug auf die Immobiliar-fenerverfierung In manchen 
Ländern, mo Staatsanflalten beftehen, noch heute angewendet wird, iſt aber an 
ſich ſchon verwerflich, weil er dem Rechte widerftreitet. Da die Berfiherung auf 
Gegenfeitigkeit beruht, fo bedeutet der Zwang, fein Eigenthum zu verfihern, nichts 
anderes als Jemanden nöthigen, fi) von Andern entſchädigen lafien, vie ihn nicht 
befchäbigt haben, und wieder Andere, die er nicht befähigt hat, entſchädigen zu 
beifen. Ein folches Gegenſeitigkeitsverhältniß Tann nur durd einen Vertrag be 
gründet werden; zur Gültigkeit eines Bertrags wird aber vor Allem auf Seiten 
berjenigen, die ihn eingehen, freie Willensentihliegung, alfo die Abweſenheit von 
Zwang erfordert. Wer von der Verfiherung leinen Gebrauch macht, [gibt aller 


Derfiherungsanflalten. 33 


dings einen Bortheil auf, entfchlägt ſich aber zugleich auch einer Lafl. Ob für 
ihn diefe oder jener mehr ins Gewicht fällt, darüber muß man ihm das Urtbeil 
überlafien. Bräcte ihm aber aud die Verſicherung unzweifelhaften Gewinn, fo 
kann doch Jeder auf feinen Vortheil verzichten. Da er dadurch Feinen Dritten ver- 
legt und auch den Anderen die Bortheile der Berfiherung, deren Beſtand und 
Wirkſamkeit ja nicht durch die Theilnahme Aller bebingt ift, nicht entzieht, fo ift 
nicht einzufehen, woher das Recht Tommen fol, ihn von folhem Verzichte durch 
Zwang abzuhalten. Manche meinen zwar, bie Gemeinnügigfeit der Feuerver⸗ 
fiherung, ihr Einfluß anf Verbefferung des Bauzuftandes ver Gebäude, Sicherung 
des Kapitals, Erhöhung des Krevits, Erhaltung der Steuerfähigfeit u. |. w. gebe 
das Recht zum Zwang. Wäre dem fo, dann müßte, va die übrigen Berfiherungs- 
zweige nicht minder die Eigenfchaft ver Gemeinnügigkeit befigen, auch bei Ihnen 
die Theilnahme erzwungen werben können. Aber es läßt ſich durch bie Verufung 
auf fie die Berechtigung zum Zwang weber bier noch dort erweilen, weil burdy 
das Bernbleiben Einzelner die Verficherung ihren gemeinnügigen Charakter nicht 
verliert und man überhaupt Niemanden nöthigen kann, gemeinnügig zu handeln. 
Uebrigens ift bei den heroorgehobenen gemeinnügigen Seiten ber Feuerverfiherung 
überall, uud zwar in erfter Linie, auch der eigne Nuten des Berfiherten mit im 
Spiel. In Hinblid auf diefen erfcheint aber der Verficherungszwang überfläffig, 
denn auf feinen eignen Vortheil ift Jeder ſchon felbft bedacht, befonderd wo er fo 
nahe liegt wie bier; und follte der Eine over Andere ihn dennoch außer Acht 
laſſen, fo werben dabei betheiligte Dritte, 3. B. feine Gläubiger, deren Intereffe 
befonders zu wahren für den Stant durchaus Feine Veranlaſſung vorliegt, es nicht 
verfäumen, ihn daran zu mahnen. Ebenſo unſtatthaft wie der Verſicherungszwang 
iſt die hie und da vorkommende Verpflichtung des Verſicherten, die bei einem Feuer⸗ 
ſchaden empfangene Vergütungsſumme zur Wiederherſtellung bes niedergebrannten 
Gebäudes zu verwenden. Die Schadenvergütung iſt fein Geſchenk, an deſſen Ver⸗ 
abreihung Bedingungen gefnüpft werden könnten. Der Verſicherte hat auf fle einen 
rechtlichen Anſpruch, den er fih durd eine Öegenleiftung, durch Zahlung der Prä- 
wie erworben; fie ift fein freies Eigentyum, in das durch jene Verpflichtung ein⸗ 
gegriffen wird. Findet ver Berficherte die Wienererbauung des Gebäudes in feinem 
Intereſſe, fo wird er von ſelbſt dazu ſchreiten; die Zwangevorſchrift iſt dann ent- 
behrlich. Sie hindert ihn aber, ſeinem Vermögen einen höhern Ertrag abzugewinnen 
und wirkt dadurch wirthſchaftlich ſchädlich, wenn er eine andere Verwendung ber 
Bergätungsfumme für vortheilhafter bält. 

Sowie vom Standpunkt des Rechtes und der Volkswirthſchaft für bie Ber: 
ſicherten binfihtlih der Benügung der Berfiherungsanftalten und ver Verwendung 
der Erfagbeträge die volle Freiheit in Anſpruch genommen werben muß, fo auch 
für die Verſicherer in Bezug auf ihren Gejchäftsbetrieb. Die Berfiherer haben ein 
Recht auf diefe Freiheit, gleichviel ob hie Verſicherung auf der Grunblage der 
reinen Gegenſeitigkeit ohne ſpekulative Abficht gewährt oder ob fie gewerbsmäßig 
betrieben wird. In jenem Fall gebührt fie ihnen als Ausflug des freien Vereins⸗ 
rechtes, das zu den erſten Örundrechten eines freien Volles zählt und einen we⸗ 
jentlihen Beſtandtheil einer jeden volksthümlichen Berfaffung bildet; in tiefem 
aber aus dem Titel der Gewerbefreiheit, die ſowol eine Forderung des Rechtes, 
als eine Lebensbebingung ver Volkswirihſchaft ift und daher ebeufo wenig von 
einem freien wirthſchaftlich fortfchreitenden Volke entbehrt werben kann. Dieſer 
freien Bewegung erfreut fi nun aber in umferem deutſchen Vaterlande trotz 
unferer konſtitutionellen Berfafjungen und ver im Laufe des legten Jahrzehents 

Dlantſchli un Brater, Deutſchet Staate⸗Wörterlbuch. Xl, 8 


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24 


34 derſtcherungsanſtalten 


in den meiſten Staaten eingeführten Gewerbefreiheit der Verſicherungsbetrieb 
leider bis zur Stunde noch immer nicht. Das Verſicherungsweſen ſteht in 
Deutſchland nicht unter dem allgemeinen Rechte, ſondern unter zahlloſen ge⸗ 
häſſigen Ausnahmsvorſchriften, die ihm bei jedem Schritt und Tritt Feſſeln an⸗ 
legen. Wenn man die lange Reihe von Borfihtömaßregeln, Kontrolen, wider⸗ 
ruflihen Erlaubniſſen, vorbehaltenen Genehmigungen, Beſchränkungen und Verboten 
überblidt, melde die Regierungen gegen bie Berfiherungsanftalten ins Werk geſetzt 
haben, fo follte man glauben, es gelte einen einbrechenden Feind unſchädlich zu 
machen ober es handle fi) wenigſtens um ein Gewerbe ver gefährlichften und be⸗ 
denklihften Urt, nicht aber um eines ver fegensreihften und gemeinnägigften In⸗ 
ftitute. Die Regierung entfcheidet über bie Bebürfnißfrage, wenn eine neue Anftalt 
fih bilden will; fie prüft und genehmigt vie Statuten und orbnet die Befeitiguug 
der ihr gefährlih oder gemeinſchädlich erſcheinenden Beflimmungen berfelben an; 
fie ertheilt die Konceffion zum Betriebe. Ste gewährt nad Gutbefinden auswär- 
tigen Geſellſchaften, die im Lande Verfiherungsgefchäfte betreiben wollen, die dazu 
nothwenbige befondere Erlaubniß; fie macht ferner die Einholung einer ſolchen 
auch überhaupt den Agenten, den wichtigſten Organen der Verfiherungsanftalten, 
zur Pflicht und unterwirft deren Wirkſamkeit noch außerdem einer Menge von 
veinlihen und zum Theil lächerlichen Beſchränkungen. Wahrlih mit Ausnahme 
der Preßgewerbe hat fein zweiter Beihäftigungszweig in dem Grade das Miß- 
trauen der Regierungen erwedt und die Ungunft derſelben erfahren, wie das Ver⸗ 
fiherungswefen, und man muß fi nur wundern, daß basfelbe unter folden mehr 
als beengenden Verhältniffen ſich fo kräftig entwideln und eine fo große Verbrei- 
tung gewinnen konnte. Die Übergroße Yürforglichleit der Regierungen, alle Nach⸗ 
theile und Gefahren, zu denen das Verfiherungswefen möglicherweife Anlaß geben 
könnte, und denen eine jebe ſolide Berfiherungsanftalt ſchon in ihrem eigenen 
Interefie zu begegnen bemüht ift, von der Bevölkerung abzuwenden, bat übrigens 
dahin geführt, dieſe in eine falfche Sicherheit einzuwiegen, und ſich felbft von 
jeder Vorſicht entbunden zu glauben; fie bat ihr fomit nur einen neuen nod 
größeren Nachtheil bereitet, währenn andrerſeits das allerwirkſamſte Schugmittel 
gegen Mißbräuche, die Deffentlichleit der Verwaltung ber Berfiherungsanftalten, 
wieder viel zu wenig, häufig gar nicht beachtet wurde. Seit einer Reihe von Jahren 
tritt In der Prefie, in vollewirthichaftlihen Vereinen und Kongrefien die Forderung 
immer lauter und eutſchiedener hervor, das Berfiherungswefen von dem drückenden 
Bann des Konceſſionsſyſtems und den Quälereien der Polizei zu befreien und im 
ben vollen Genuß der Vereins⸗ und Gewerbefreiheit einzufegen. Gelang es ihr 
auch bis jett noch nicht, fi Gehör zu verſchaffen, fo iſt doch an ihrem endlichen 
Erfolg nit zu zweifeln. Die Berfiherungs-Politit und Polizei, die unferer heu⸗ 
tigen politifchen und wirthſchaftlichen Entwicklungsſtufe ‚entfpriht, hat ber anonyme 
fehr gebiegene Aufſatz in der Zeitfchrift d. k. preuß. ſtatiſt. Bureau Jahrgang 
1863 Nr. 8: „Ein Beitrag zur Geſchichte und Statiftil der Feuerverſicherung im 
preußifhen Staate“ in wenigen Sägen völlig erſchöpfend formulirt, die wir zum 
Schluſſe bier folgen laffen: 

„1) Es wird varauf verzihtet, von Staatswegen eine unmittelbare Auf⸗ 
fit über ale Berfiherungsanftalten zu führen. 2) In Folge deſſen wird die Er» 
rihtung neuer oder die Aenderung beftehenver Verfiherungsanftalten nicht mehr 
an eine ftaatlihe Genehmigung gebunden. 8) An Stelle der Vorprüfung und fort⸗ 
laufenden Auffict der Behörden tritt eine ſolche Deffentlichkeit der Geſchäftsgrund⸗ 
lagen und Gefcäftsergebniffe, daß dem Publitum die Möglichkeit des eigenen 





Derficherungs anflalten. 38 


Urtheils gewährt iſt; die Kontrole ber; Behörden wird nur in fo weit vorbehalten, 
als dies nothwendig iſt, um die Erfüllung ver ebengebachten Berpflihtung, alfo 
bie Oeffentlichkeit der Gefhäftsgrundlagen und die Veröffentlihung richtiger und 
vollſtändiger Rechenſchaftsausweiſe zu überwachen. 4) Die auslänviihen Ber: 
fiherungsanftalten haben fidh derſelben Deffentlichkeit, der Errihtung einer inlän- 
diſchen Gefchäftsniederlaffung und dem inländiſchen Gerichtöftande zu unterwerfen; 
im Uebrigen wird von jeder Einwirkung auf die Gefhäftsführung derfelben, von 
Kautionsleiftung un. f. w. Umgang genommen. 5) Handelt es fi um Errichtung 
einer Aftiengefellihaft oder werden die Rechte einer juriſtiſchen PBerfon für eine 
Serfiherungsanftalt nachgefucht, fo Bleiben die befondern Bedingungen zu beftim- 
men, von deren Erfüllung dieſe Nechtswohlthat abhängig iſt.“ 

VIII. Sefchichte des Berfiherungsweiens. 

Es ift nicht nachweisbar, daß den Alten das Juftitut der Verſicherung in 
irgend einer Geftalt befannt gewefen ſei. BE dh ſpricht in feiner „Staatshaushaltung 
der Athener“ (2. Ausg. 1851, 1. Band, S. 102) mit Berufung auf eine Stelle 
im 2. Buch der Oekonomik von Ariftoteles (S. 1352 u. 1353 im 2. Band ber 
griechiſchen Ausgabe des Ariftoteles von Immanuel Belt, Berlin 1831) zwar ven 
einer Stlavenverfiherung, welche zu Alexanders Zeit Antimenes ver Rho⸗ 
bier, eimer der makedoniſchen Großen, in Babylon in der Art übernommen habe, 
daß er ſich verpflichtete, dem Eigenthümer eines beim Heere befinvlihen Sklaven 
für den Fall des Entweichens des legteren gegen Zahlung eines jährlihen Be: 
trage von 8 Dradmen den Preis desjelben zu erftatten. Allein diefer Vorgang 
taun nicht als ein Verfiherungsaft betrachtet werben, er iſt nichts weiter als eine 
von jenen umlauteren Finanzkünften, deren fi Gewalthaber bevienten, um fi in 
Notfällen Geld zu verfhhaffen, und von denen das 2. Buch der Delonomil noch 
verſchiedene andere Belfpiele anführt. Darauf deutet nicht nur die weitere Erzäh⸗ 
lung, wornach Antimenes den Satrapen befahl, den Sklaven, ver in ihre Provinz 
gelaufen war, entweber ins Lager zurückzuſchaffen over den Werth desfelben zu 
bezahlen, ſondern auch bie vorangehende Mittheilung einer andern Finanzmaß⸗ 
regel desſelben Antimenes, nämlich der Wiebererhebung eines in Vergeſſenheit ge- 
rathenen Zehents. Auch in dem bei den Griechen üblichen Darlehen gegen See— 
zins Tiegt, wie Bödh (ebenda S. 184 u. 190) annimmt, noch feine Berficherung 
weder der Ladung, noch des Schiffes, noch des Fähr- und Frachtgeldes in unferem 
heutigen Sinne. Nur fo viel mag zugeftanden werben, daß dieſes Rechtsverhältniß, 
ba e8 die Bertheilung eines durch einen zufälligen Schaden erlittenen Berluftes 
anter Mehrere bewirkt, ven Keim des Verficherungswefens enthält. Dasjelbe gilt 
and) von ber pecunia trajectitia und dem foenus nauticum der Römer, fowie 
bon ber lex rhodia de jactu. Jedenfalls kam ber Berfiherungsvertrag bei den 
Alten nur als acceſſoriſcher, nicht aber als Hauptvertrag vor. Wenn ferner Stellen 
von Eicero, Livius und Suetonius zum Belege angeführt werden, daß die Ver: 
fißerung bei den Römern in Anwendung gewefen fet, fo bat fhon Bedmann 
(Beiträge 3. Geſch. d. Erfogen., Leipzig 1786, 1. Bd., Artikel: Affeluranz S. 204 
bi8 222) und nad ihm Pardessus (Collection de lois maritimes, Paris 1828 
tom. I p. 72) überzeugend nachgewieſen, daß in Feiner diefer Stellen von einer 
Berfiherung bie Reve if. Nicht anders fand es nod im früheren Mittelalter. 
Auch nad) der Rhodiſchen Sammlung von Seegefegen aus dem 9. Jahrhundert, 
dem Consolato del mare, einer zum Theil im 11., zum größeren Theil aber im 
13. und 14. Jahrhundert wahrfcheinlih in Barcelona entftandenen Sammlung 
ven Seegeſetzen und Seegebräudhen, den Statuten von Trani vom Jahr 1063 

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36 Derfiherungsanflalten. 


und von Venedig vom Jahr 1255 und dem germanifchen Bodmereivertrag, bie 
als Ausgangspunfte für die Seeverfiherung allgemein angenommen werden, hatte 
biefe noch benfelben engen Kreis und bezog fih nur auf die Eigenthümer eines 
beftimmten Schiffes und der hierauf befinpliden Waaren, und Iene, die hierauf 
Gelder geliehen hatten, im Berhältniffe zu einander. In den Rooles ou juge- 
mens d’Oleron, einer franzöſiſchen Seerechtsſammlung aus dem 12. Jahrhundert, 
und in dem Wisby'ſchen Seerechte, welches von Katfer Lothar II 1163 beftätigt 
wurde und auf der ganzen Oſt⸗ und Norbfee Geltung hatte, wirb aber der See⸗ 
verfiherung überhaupt nicht einmal gedacht. Dagegen gab es in Island nad, einem 
Geſetzbuch aus dem 12. Jahrhundert fhon in jener Zeit und vielleicht noch früher 
eine wechfelfeitige Berfiherung gegen Feuerſchäden und Viehſeuchen, indem fi zu 
biefem Ende die fleuerfähigen Bürger in Gruppen von je 20 Berfonen (Repps) 
vereinigten (Pardessus, collection I, p. CXXIII und Roſcher, Syſt. d. V., 
1. 3b. 1860, ©. 440). Dieſe Einrihtung im hohen Norden fcheint jedoch im 
übrigen Europa unbelannt geblieben zu fein; denn bier begegnen wir den erften 
Spuren der Feuer⸗ und Viehverfiherung nicht vor dem 16. Jahrhundert, wo die 
Seeverſiche rung nicht nur eingeführt war, fondern auch ſchon in weiteren Kreifen 
Eingang gefunden hatte. Diefe Iegtere ift daher der am früheften zur Ausbildung 
gelangte Verfiherungszweig. Die älteften Nachrichten hierüber ftammen aus dem 
14. Jahrhundert und werben uns von Pardeſſus in feinem ſchon oben citirten 
Werfe: Collection de lois maritimes VI Tom., Paris 1828 —1845 mitgetheltt. 
Es findet fih da (Tom. I, p. 356) vorerft die einer alten flandriſchen Chronik 
entnommene Nachricht, daß der Graf von Blanbern auf Anfuchen ver Bewohner 
von Brügge 1310 die Erlaubniß zur Gründung einer Affeluranztammer in dieſer 
Stadt ertheilt habe, bei der vie Kaufleute ihre Waaren gegen See- und andere 
Gefahren mittelft Zahlung einer feften Prämie (moyennant quelques deniers 
pour cent) verfigern können, und daß der Graf, um diefem Inftitute einen 
bauernden Beſtand zu geben, zugleid allerlei Vorfchriften erlaffen habe, welche vie 
Berfiherer und Berficherten zu beobachten hatten. Ferner erzählt Parbefius (VI, 
p. 302 et. 80q.), daß nad der Chronik von Ferdinand Lopds, welche die Re- 
gierungszeit des Königs Werbinand von Portugal (1367— 1383) ſchildert, bie 
mechjelfeitige Seeverfiherung in Portugal fhon In der zweiten Hälfte des 14. Jahr- 
hunderts eingerichtet gewefen ſei. Nach der Verfiherung von Pardeſſus ift es jedoch 
bisher nicht gelungen, die Geſetze aufzufinden, auf die ſich in ven beiden Ehronifen 
bezogen wird, Die ältefte vorhandene Aſſekuranzordnung iſt die von Barcelona aus 


d. 3. 1435, deren Inhalt aber fhon auf frühere derartige Geſetze ſchließen läßt. 


Ste wurde 1436, 1443, 1458 und 1461 duch verſchiedene nachträglich erflofiene 
Beſtimmungen modificirt und erweitert und erlangte 1484 ihre definitive Feſt⸗ 
ftellung. Ihr reihen fi der Zeit nach zunächſt die Gefege ber Republit Venedig 
über das Verfiherungsmefen, die mit 1468 beginnen und das Statut für Florenz 
von 1523 mit Zufägen von 1526 und 1528 an. &8 folgten hierauf bie Geſetze 
und Verorhnungen von Karl V. und Philipp II. Über die Seeverfiherung von 
1537, 1549, 1563 und 1570 für die Niederlande, und von 1582 insbefondere 
Antwerpen, dann von 1538 für Burgos, von 1552 für Sevilla, von 1556 für 
die ſpaniſchen Kaufleute überhaupt und von 1560 für Bilbao, Unter Philipp II. 
wurde 1568 auch ſchon ein Verbot der Berfiherung erlaffen, 1570 aber auf Bore 
flellung der Untwerpener Kaufleute wieder zurüdgenommen. ferner fallen no in 
bas 16. Jahrhundert die Seeaffeluranzflatute von Ancona (1567), von Genua 
(1588), wo die Geeverfiherung übrigens ſchon zu Anfang des 15. Jahrhunderts 





Derficherungsanftalten. 97 


befannt gewefen fein foll, von Lucca und Savona, dann bie in dem Guidon de 
la mer, einer gegen das Enbe des genannten Jahrhunderts entflandenen Samm- 
Inng, die hauptfähli das Aſſekuranzweſen zum Gegenſtande bat, enthaltenen Be- 
fiimmungen, enblih in Amfterdam 1598 die Errihtung einer Aſſekuranzkammer 
und bie mit ihr beginnende Reihe von Verordnungen über diefen Gegenſtand. In 
ber zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bürgerte fi vie Seeverfiherung durch 
Niederländer auch bereits in Hamburg ein. Aus dem 17. Jahrhundert erwähnen 
wir blos das engliihe Statut von 1601, woraus fi der ſchon viel frühere Be⸗ 
land der Seeverfiherung in dieſem Lande ergibt, in Frankreich das Edikt von 
1668, wodurch die Seeverfiherung eine befonvere Verfaſſung erhielt, und bie 
Ordonnanz Über das Seewefen von 1681, die auch Vorſchriften über die See- 
verfüherung enthält, die Affefuranzgefege für beide Sicilien (1622 und 1623), 
Portugal (1660 u. 1684), Schweden (1667), Hamburg (1677), Dänemarf (1683) 
und Norwegen (1665). In Frankreich konſtituirte fi 1686 in Paris vie erfte 
große mit allerlei Privilegien ausgeftattete Seeaffeluranzlompagnie. In England 
entftand erft 1720 die erfte große auf Aktien gegründete Seeverfiherungsgefell- 
daft. Bald aber und noch in der erften Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde 
England als die erfte Handelsmacht der Hanptfig der Geeverfidyerung und iſt es 
bis auf den heutigen Tag geblieben. Ihm verdankt man. vorzüglich bie weitere 
Ausbildung dieſes Verſicherungszweiges und deſſen fleigende Verbreitung namentlich. 
im nörblihen Deutſchland und in den flanbinavifhen Ländern. Am fpäteften, erft 
unter Katharina II, fand die Seeverfiherung in Rußland Eingang; zu größerer 
Aufnahme kam fle aber dort nicht vor Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts. 
Mehrere Aſſekuranzgeſetze wurden in viefer Zeit erlaflen, theil ganz nene, wie 
bag preußifche von 1766, nachdem vorher 1765 die Seeaffeturanzlompagnie in 
Berlin mit einem 30jährigen Privilegium für den ganzen Staat errichtet worden 
war, und bie ruffiihe Schififahrtsordnung von 1781, in der das 10. Hauptftüd 
von den Aſſekuranzen handelt, theild um an die Stelle älterer zu treten, wie bie 
Afleluranzordnung für Hamburg von 1731. Noch zu Anfang des 19. Jahrhun- 
derts wor alle Zransporiverfiherung nur Seeverfiherung. Nun trat zu biefer 
noch die Berficherung der Waaren gegen die Gefahren hinzu, die fie beim Fluß⸗, 
Landſee⸗ und Landtransport treffen Finnen, und verbreitete fi raſch in allen 
Kulturländern. 

Die Anfänge der Fenerverſicherung reihen, abgefehen von Island, 
wovon ſchon oben die Rede, nicht über das 16. Jahrhundert zurüd. Die erften 
Fenerverfiherungsanftalten follen in London (1530) und in Paris (1545) ent- 
Nanven fein, aber nur eine kurze Dauer gehabt haben. Es ift ſehr wahrſcheinlich, 
daß fie von den Städten ihren Ausgang.nahmen, wo das enge Nebeneinanber- 
wohnen den Gedanken an eine Vereinigung zur gegenfeitigen Hülfeleiftung und 
gemeinfhaftlichen Tragung bes durch eine Feuersbrunſt erlittenen Schadens be- 
ſonders nahe legen mußte. Die Feuerverfiherungsanftalten hatten jedoch bei ihrem 
früheften Auftreten feinen gejchäftlichen Charakter; fle beruhten auf dem Princip 
ver Wohlthätigkeit und waren bloße Unterflügungsvereine bei Brandunglück, 
wobei e8 anf ’eine volle Entfhäpigung des Verunglüdten nicht abgefehen war. Zu 
Anfang des 17. Jahrhunderts finden wir jedoch ven Gedanken der Feuerverfiherung 
ſchon in weiteren Kreifen verbreitet und aud mehr durchgebildet. So enıpflehlt 
Georg Obrecht, einer der nambafteften deutſchen Publiciften und Oekonomiſten 
jener Zeit, in zwei feiner Schriften, in: „Ein politifch Bedenken und Discours 
von Verbefferung, Land und Leut, Anrichtung guter Polizei u. ſ. w.“ 1609 und 


' 


38 Derficherungsanflalten, 


in „Constitutio von nothwenbiger und nützlicher Anftellung eine® aerarli sancti 
1610" vie Bereinigung mehrerer Ortfhaften zu Berfiherungsgefellihaften, um 
fi gegenfeitig den Durch unverſchuldete Unglüdsfälle, namentlih dur Raub, Dieb- 
ftahl und Feuersbrünſte erlittenen Schaden zu erfegen. Die Verfiherung follte 
fih alfo außer den Feuersbrünſten auch noch auf andere Verlufte erftreden. Was 
bie Feuerverfiherung insbeſondere betrifft, fo fol nach Obrecht jeder Beſitzer für 
jeden Brand eine beftimmte Summe entrihten und aus den eingefammelten Bei⸗ 
trägen der Schäden vergütet werben. Der etwaige Ueberfhuß fol vem Aerarium 
zufließen, wogegen aber aud wieder aus diefem, wenn jene Beiträge nicht hin- 
reihen, Zuſchüſſe zu leiften ſeien. Ferner ift bier no des dem Grafen Anton 
Günther von Oldenburg 1609, alfo gleichzeitig gemachten Vorſchlages zu gedenken, 
die Häuſer feiner Unterthbanen für eine jährliche Grämie von 1 Procent des taririen 
Werthes gegen Feuersgefahr zu verfihern, welchen Bedmann im 1. Bande 
feiner fchon oben citirten Beiträge zur Geſchichte der Erfindungen, in dem Artikel: 
Aſſekuranz S. 219— 222 aus „Wintelmanns oldenburgiſchen Friedens⸗ und ber 
benahbarten Derter Kriegshandlungen 1671" mittheilt. Bei biefem Vorſchlage, 
ben ter Graf ablehnte, theils um nicht in den Verdacht der Habfucht zu verfallen, 
theils weil er fürchtete, mit einer ſolchen Einrichtung Gott zu verfuchen, tfl meh⸗ 
reres bemerkenswert. Vorerſt iſt darin, und zwar in den Worten: „mann ein 
Ueberihlag könnte gemacht werden, wie viel Häufer innerhalb 30 Jahren durch 
Teuersbrunft dieſes Ortes verborben” fchon das Bedürfniß einer ſtatiſtiſchen Grunb- 
lage für die Verfiherung erfannt; außerdem findet auch fchon das Moment ver 
Gefahr Beachtung, Indem es nicht für räthlich erklärt wird, in Städten alle Häufer 
in Berfiherung zu nehmen, fondern nur „etliche und gewifle Häufer zuzulaffen” ; 
enblih muß damals bereits das PVerfiherungswefen in Deutihland Fuß gefaßt 
baben, weil es dafelbft heißt: „wie denn auch gemeine PBerfonen unter fich felbft 
eine Geſellſchaft zur Erfeßung eines oder des andern fich ereignenden Schadens 
aufzurichten pflegten.” Im Uebereinftimmung biemit fteht die von Hübner in 
feiner Berfiherungszeitung Nr. 1, Jahrgang 1853, ohne Duellenangabe mitge 
theilte Nachricht, daß eine allgemeine Brandfafle für ganz Deutfchland ſchon vor 
Ausbruch des 30jährigen Krieges projektirt gewefen ſei und nur der Krieg bie 
Ausführung gehindert habe. Gewiß iſt, daß fi noch während ber erften Hälfte 
bes 17. Jahrhunderts, unbeirrt durch die Stürme des 3Ojährigen Krieges, in ven 
preußifhen Weichfelnieverungen mehrere Verbände von benachbarten Ortfchaften 
zur gegenfeitigen Unterflügung und Erjagleiftung bei Feuersbrünſten bildeten (Ja⸗ 
tobi, Beitrag zur Geſchichte u. Statiftif der Feuerverſicherung im preuß. Staate 
‚ind. Zeitſchr. d. k. preuß. ftatift. Bureaus Jahrgang 1862, Nr. 6 und 1863 
Nr. 4). Der ältefte diefer Verbände, ver noch heute befteht und deſſen Statut 
1842 zulegt vevidirt wurde, ift die 1623 entftandene Tiegenhof’fhe Yeuer- 
‚ordnung, die den Theilnehmern beftimmte Entfehädigungen in Branpfällen nicht 
nur für Öesäube, auch für Erntevorräthe und Vieh nad der Zahl der Bufen 
zuſicherte. An fie reihte fih 1637 zunächſt die Nehrung’sche Brand- und Teuer: 
ordnung an. Es folgten dann nod 1640 die Brandorbnung für den Heinen Ma⸗ 
vienburger Werber, die 1669 erneuert wurbe und gleihfalls beftimmte Eatſchädi⸗ 
gungen nach der Morgenzahl und der Zahl ber Stüde de? zu Grunde gegangenen 
Diehes gewährte, 1642 die Kohling'ſche Brandorbnung für 6 benachbarte Dörfer, 
bie fhon vie Zahlung fefter Beiträge (20 Gr. jährlih von jeder Hube) In bie 
Brandlade beflimmte, woraus der Abgebrannte für jegliche Hube 100 Mark er- 
hielt, und 1670 ober 1672 vie noch gegenwärtig beftehenve Tenerfocietät ber 


Berficherungsanflalten. 39 


Merienburger Niederung. Im übrigen Deutſchland iſt ans jener Zeit bloß bie 
Brantverfigernugsgefelliaft oder Fenerkaſſe in Harburg bekannt, welche nad 
Berg (Odb. d. dentſch. PoL R. IH. Bd. 1803, S. 70) 1677 erridtet und 
1733 erneuert wurde. Dagegen ſcheint in England die Feuerverſicherung gegen 
das GEude des 17. Jahrhunderts ſchon fehr verbreitet geweſen zu fein. Als vie 
ältefte emglifche Fenerverſicherungẽgeſellſchaft wirb bie „Band in Hand“ bezeichnet, 
deren Grundung in das Jahr 1696 fällt. Während in England im Laufe bes 
18. Jahrhunderts die Fenerverfiherung lediglich durch Privatthätigleit einen großen 
Aufſchwung nahm, waren e8 gleichzeitig in Deutſchland die Regierungen und ein- 
flußreiche politifche Korporationen, wie Yandflände und größere Stabtgemeinden, 
weiche fih um bie Einführung und Berbreitung dieſes Berficherungszweiges be- 
mühten, und dies mit nicht zu leugnendem Erfolg. Durch ihr Eingreifen traten 
za ven Meineren blos örtlihen Vereinen nun aud größere Landesanſtalten hinzu, 
theild vom Staate unmittelbar, theils umter flaatlicher Auffiht und Mithaftung 
verwaltet, häufig mit Derfiherungszwang für alle Hausbefiger, fo daß bie nad 
den Berfiherungsfummen vertheilten Beiträge die Natur von Brandſteuern er- 
Iangtem. Norddeutſchland und namentlich Preußen ging hierin vorau. Die preußifche 
Regierung begann ihre Thätigkeit auf biefem Gebiete 1701 mit der Grlaffung 
einer Femerorbunng für das platte Land der Mark Brandenburg, welde beftimmte, 
daß immer je 6—10 nahegelegene und fonft zufammenpaflende Dörfer eine Feuer⸗ 
foctetät zu gegenfeitiger Erfagleiftung in Naturalien und Geld zu bilden haben — 
ſonach die Berallgemeinerung ver beftehenven örtlichen Verbände bezwedte. Hierauf 
wurde 1705 ein Feuerkaſſen⸗ und 1706 ein Generalfeuerkaflen-Reglement erlaffen, 
nad welchem in der Refidenzftant Köln an der Spree eine Generalland- und eine 
Stabtfeuerkafie errichtet wurten. Da jedoch bie Bermwaltung biefer Generalfeuer⸗ 
Kaffe, die fh über den ganzen Staat erfiredte, mithin ſämmtliche Gebäubeeigen- 
thämer in demfelben zu einer Verfigerungsgefellihaft vereinigte, ſich fehr ſchwer⸗ 
fällig und koſtſpielig erwies, jo wurde diefe centraliftifche Einrichtung ſchon 1711 
wieder aufgehoben. Es bildeten fi nun nad und nach beſondere Feuerſocietäten 
mit landesherrlicher Genehmigung in ben verſchiedenen Provinzen für einzelne Yan- 
bestheile, Stäbtegruppen, ja auch für einzelne größere Städte. Die erfte biefer 
Sorietäten war jene ber Stadt Berlin auf Grund des Reglements vom Jahre 
1718, ver 1722 vie ſtädtiſche Feuerſocietät in Stettin und dann andere folgten. 
Dald wurden nun auch außerhalb Preußen's im nördlichen und mittleren Deutfch- 
land folde Lanvesverfiherungsanftalten mit amtlihem oder doch halbamtlichem 
Charakter eingerichtet, wie die kurfächfiiche Brandkaſſe auf freiwilligen im ganzen 
Lande gefammelten Beiträgen beruhend 1729, die kurbraunſchweigiſche 1750, bie 
Nafſan ⸗ Weilburg'ſche 1751, die Generalfeuerordnung in Altona 1759 n. a. m. 
In Süppeutfhland machte Würtemberg, wo 1726 eine derartige Anftalt gegründet 
wurbe, die Immobillen für eine Prämie von 1/, Procent des Werthes gegen 
Feuner verfierte, den Anfang, 1754 entflanb bort eine zweite von einer Privat. 
geſellſchaft eingerichtete Anftalt, nad in demfelben Jahre eine in Ansbach; hierauf 
1758 die Baden⸗Durlach'ſche und 1777 vie Hefien-Darmftäntifhe Branpfafle. 
Auch wurde 1784 in Schwaben von ber Reichsritterfchaft die Gründung einer 
Branblaffe angeregt, kam aber nicht zur Ausführung. Nur in Baiern und Oeſter⸗ 
reich traten Leine ſolchen üffentliche Verfiherungstnftitute ins Leben. Doch pflegte 
in Balern ver Landesherr bei Feuerfhäpen den Abgebrannten ein Kapital zum 
Bieveraufbau vorzufchießen, welches ex fi von dem Lande mittelft einer nach dem 
Grundſtenerfuße auferlegten Brandſteuer zurüderftatten ließ, wobei er noch gewöhn⸗ 


40 Derfiherungsanftalten. 


ih Gewinn hatte, indem bie Branbfteuer verbältnigmäßig Höher ansgefchrieben 
wurde (Biedermann, Dentihland im 18. Jahrhundert 1854 I. Bb., ©. 384). 
In diefen öffentlichen Feuerſocietäten oder Landesbrandkaſſen waren anfänglich bie 
Beiträge ber Theilnehmer blos nad dem Werth bes verficherten Objektes, ohne 
bie Gefahr zu berüdfichtigen, bemeflen. Erft nachdem neben ihnen Privatver- 
fiherungsanftalten ſich aufgethan hatten, eigneten fie ſich das von dieſen im Hin- 
blid auf die größere oder geringere Yeuergefährlichleit angenommene Klaſſifikations⸗ 
foftem an. Die Privat-Feuerverfiherungsanftalten gewannen aber erſt im legten 
Biertel des 18. Jahrhunderts in Deutfhland Eingang. Die Ältefte diefer An» 
ftalten ift die 1779 auf Aktien gegründete noch jett beftehenve 5te Aſſekuranz⸗ 
tompagnie in Hamburg. Die erfte größere gegenjeitige Privat-Berfiherungs- 
gefelihaft entftand erſt 1801 in Neubrandenburg. Später famen hinzu 1812 
bie Berlinifhe und 1819 die Leipziger Yenerverficherungsgefellihaft, beide Attien- 
unternehmungen, dann die von dem Kaufmann Arnoldi 1820 in Gotha ins 
Leben gerufene gegenfeitige Yeuerverfiherungsbant für Deutfchland. Die Privat« 
Veuerverfiherungsanftalten, die fih in Deutfchland feit den zwanziger Jahren 
von Jahrzehent zu Jahrzehent in fteigenver Progreffion vermehrten, hatten anfäng- 
lih mit allerlei Schwierigfeiten zu kämpfen, die fie in ihrer Entwidlung aufbielten 
und ihnen von den Regierungen in ihrem Bevormundungseifer theils aus über- 
großer Borforglichkeit für das Publikum, theild im Interefle der äffentlihen Socte- 
täten gelegt wurden. Mehr noch als die auf Gewinn ausgehenden Altiengefell- 
haften hatten die gegenfeitigen, insbeſondere in Preußen, darunter zu leiden, weil 
man die Nivalität diefer für bie öffentlihen Societäten, die gleichfalls ohne einen 
Gewinn zu beabfidhtigen, rein auf dem Princip der Gegenfeitigkeit beruhten, mehr 
fürchtete als die der Altiengefellfchaften und daher ihnen gegenüber einen ftärkeren 
Schug für geboten hielt. Es lehrte jedod bald die Erfahrung, daß in Wirklichkeit 
bie Konkurrenz der Aktiengeſellſchaften fi als vie gefährlichere darſtellte. Dieſe 
Schwierigkeiten beftehen, wenn aud in geminbertem Maße, noch heute und fie 
werben nicht eher völlig verſchwinden, als bis das BVerfiherungsweien von den 
Feſſeln des Konceffions-Spftems befreit fein wird. 

Bet ben deutſchen ftantlihen VBrandverfiherungsanftalten des vorigen Jahr⸗ 
hunderts war es einzig ober doch vornehmlid auf die Immobilten abgefehen. Zwar 
leifteten mehrere ber älteren Heineren Berbänbe in Preußen auch Entſchädigung, bei 
Mobiliarfhäden, aber nur nebenbei und nur denjenigen, die ihre Immobilien ver- 
fihert hatten. Ebenſo geftattete das preußifhe Generalfeuerfaffen-Reglement von 
1706 blos den verfiherten Gebäubebefigern, zugleich ihre bewegliche Habe mitzu- 
verfihern. Nur die fhon oben erwähnte Feuerſocietät der Marienburger Niederung 
hatte fi gleih urfprünglih außer der Immobiliarverfiherung auch die Mobiliar- 
verfiherung als Aufgabe geftellt und ſich fpäter für beide Arten der Verfiherung 
in zwei befonbere, jedoch unter berfelben Berwaltung ftehenve Gefellfchaften getrennt. 
Defondere Anftalten zur Berfiherung des beweglihen Vermögens gegen Feuers⸗ 
gefahr feinen erft zu Anfang des 18. Jahrhunderts in England entftanden zu 
fein, wo in Folge des großen Aufihwunges des Handels und ber Gewerbe vie 
Mobiliarverfiherung bald als ein Bedürfniß erfannt wurde. Es waren hier Aktien- 
gejellichaften, die fih auf dieſen Verfiherungszweig warfen und 1710 die sun- 
fire-office und 1720 die Royal-exchange gründeten. In Deutſchland erlangte 
zuerft die bis 1791 beftandene Berliner See-Affeluranzlompagnie von der Regie- 
rung 1770 das ausfchliegliche Recht, Mobilten, jevod blos Fabrikgeräthſchaften 
und Wanrenlager gegen Feuer zu verſichern. Außerdem bildeten fi in Preußen: 


Derficherungsanflalten. | 41 


mehrere kleinere Berbänve von Bernfsgenoffen für Mobiliarverſicherung, der erfle 
1759, die Feuerſocietät ſaͤmmtlicher evangelifcher Prediger in ver Kurmark, dem 
dann bis 1800 noch zwei weitere Brebigervereine und zwei Schullehrervereine in ber 
Mark Brandenburg und in Pommern nadhfolgten. Die erfte Anftalt in Deutſch⸗ 
land, welche bewegliches Gut ohne Unterfchten und für Jedermann verficherte, war 
die 1779 entflandene fünfte Afleluranzlompagnie in Hamburg; die Theilnahme 
war jedoch Anfangs eine geringe. Es war einer englifhen Geſellſchaft, dem Lon- 
boner Bhöniz, der 1786 ein Bureau In Hamburg errichtete, vorbehalten, ber Mo⸗ 
biliarverfiherung in Deutfchland Boden zu verfhaffen. Nachdem dies geſchehen, 
machte auch bie Hamburger Aſſekuranzkompagnie beflere Geſchäfte. Auch eine 
Staatsanftalt trat 1784 Ins Leben, die ſächſiſche Mobiliarbrandverſicherung, bie 
aber geringen Erfolg hatte und 1818 wieder einging. Defto befler gebichen bie 
Anflalten ver Brivatgefelfchaften, vie dieſen VBerfiherungszweig gewöhnlich mit 
der Immobiliar-Feuerverfiherung verbanden, zum Theil fit) auch ausichlieglich mit 
ihm befoßten. In Preußen wurbe durch das Gefen vom 8. Mai 1837 die Mo⸗ 
biliar-Feuerverficherung völlig ber Privatinduftrie unter gehöriger ſtaatlicher Ueber- 
wachung anheimgegeben, feit 1863 aber and mehreren Öffentlichen Societäten ge- 
ſtattet. Indeſſen fteht fie, was die Zahl der Theilnehmer und bie Höhe bed ver- 
fiherten Werthes anlangt, in Deutſchland noch immer hinter der Gebäubener- 
figerung beventenp zuräd. Bemerkenswerth ift, daß in Frankreich, wo bie Bethei⸗ 
ligung an der Fenerverfiherung jett entſchieden ſtärker ift, als in Deutſchland, 
biefe fo wie die andern Berfiherungszweige, mit einziger Ausnahme ber Geever- 
fiherung, erft ſeit 1816 eigentlih Eingang gefunden haben. 

Die Biehverſicherung iſt wahrfceinlih eben fo alt wie die Feuerver⸗ 
ficherung. Darauf deutet ſchon ihr gleichzeitiges Vorkommen in Island; aber auch 
im nördlichen Deutfhland laſſen fih ihre Spuren bis in das 16. Jahrhundert 
zurück verfolgen. Wir finden da unter dem Namen Kubgilden Kleine Vereine be= 
nachbarter Viehbefiger, fi häufig nur Über den Kreis einer Gemeinde erftredenn, 
zur gegenfeitigen gewöhnlich nur theilweifen Erfagleiftung bei Vichfterben. Diefe 
Meinen nachbarlichen Verfiherungsvereine verbreiteten ſich dann auch in anderen Ge⸗ 
genden Deutihlands. Größere Berfiderungsanftalten viefer Art bildeten fi erſt in 
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und zwar in Schlefien, wo Friedrich ber 
Große 1765 vie Gründung mehrerer Viehverficherungsvereine veranlafte, dann 
1782 in Oſtfriesland, benen fi 1802 noch der Verein im Kreife Solingen im 
Regierungsbezirt Düffeldorf zugefellte.e Zu Anfang ver 30er Jahre bemühte fich 
ver um bie Entwidelung des bentfchen Verſicherungsweſens hochverbiente Direktor 
Mafius, die Biehverfiherung auf eine rationelle Grundlage zu ftellen, deren fie 
bis dahin noch entbehrt hatte, und gründete in Leipzig die gegenfeitige Vlehver⸗ 
fiäferungsanftalt für Deutfchland, die ſich jevodd nur bis 1840 behauptete. Anch 
aubere vor und nad ihr entftandene größere Anftalten hatten nur einen Turzen 
Beftand. Die Erfahrung lehrte, daß diefer Verfiherungszweig feiner Natur nad 
mit größeren Schwierigfeiten zu fämpfen bat, wie jeber andere. Es Tann daher 
nicht befremden, wenn es, abgefehen von ven ihren Zweck gewöhnlih nur fehr 
mangelhaft erfüllenden Brtlihen Bicehverfiherungsvereinen, nur wenige größere 
Anftalten dieſer Art gibt, die beftehenven jüngeren Urfprungs find und bie Theil⸗ 
nahme daran gering if. Es gilt dies nicht blos von Deutſchland, fondern auch 
von Großbritannien, Franfreih und Holland, wo übrigens erft feit den vierziger 
Jahren der Bichverfiherung größere Beachtung geſchenkt wurde. 

Belt jünger als die biöher befprochenen Berfiherungszweige iſt bie Hagel⸗ 


42 = Derficherungsanftalten. 


verfigerung. Wir begegnen ihr erſt in ber zweiten Hälfte des 18. Jahrhun⸗ 
derts faft gleichzeitig in Frankreich, das ihre Geburtsftätte fein fol, nnd in Eng⸗ 
land. Die Verbefierung des landwirthſchaftlichen Betriebes und das Häufigerwerben 
ber Hagelichläge in Folge ver fortfchreitenden Entwalbung ber Berge leiteten auf 
fie. Die Ernte» und Herbftaffefuranz, von der Berg in feinem ſchon oben citirten 
Handb. d. dentſch. Pol. R. und ſchon vor ihm Juſti in feiner „Darſtellung d. 
gef. Polizeiwiſſenſchaft 1760” fprechen, und bei der bie Berfiherung fih auf alle 
ſchädlichen Zufälle erftredt, denen die ſtehenden Früchte ausgeſetzt find, feheint der 
Öngelaffelurang vorangegangen zu fein. Roch vor Ablauf des 18. Jahrhunderts 
warb die Hagelverfiherung nah Deutſchland übertragen. Der mellenburgifche 
Outöbefiger von Müller regte 1795 zuerſt den Gedanken berfelben an, indem 
er dem Landtag ven Plan eines Hagelverfiherungsvereins für Meklenburg vor⸗ 
legte, der jedoch nicht zur Ausführung fam, weil der Landtag die feinem engeren 
Ausſchuſſe zugenachte Direktion der Anftalt ablehnte. Hierauf trat der Kandidat 
Drepper 1797 mit einem zweiten Plane hervor, der einer Berfammlung von 
Outsbefigern mitgetheilt wurde und 1797 die Grändung ber erften deutfhen Ha⸗ 
gelverfiherungsanftalt in Neubrandenburg zur Folge hatte, die fich bis auf den 
heutigen Tag erhalten bat. Ihr folgte nad einem mißlungenen Verſuch ber Ritter- 
fchaft des Meißniſchen Kreifes, eine ſolche Anftalt in Sachſen ins Leben zu rufen, 
zunächſt 1812 die Hagelverfiherungsgefellfehaft in Köthen, bie aber fon 1821 
wieber zu Grunde ging. Bald traten noch meitere Anftalten hinzu. Die bis 1822 
gegränbeten waren durchaus Gegenjeitigkeitsnereine, in biefem Jahre entſtand in 
Berlin vie erſte Atienunternefmung auf dieſem Berfiherungsgebiete, lange vie 
einzige, und e8 haben, auch in ber Folge, als ſich deren noch einige anreihten, 
bie gegenfeitigen Geſellſchaften entſchieden bie Oberhand behalten. Wenn von biefen 
Anftalten, die fih fort und fort vermehrten, auc viele ſpäter verunglüdten, fo 
wurbe deren Stelle doch fchnell wieder durch neue erfegt, und es bat dieſer Ver⸗ 
fiherungszweig dermalen in Deutſchland eine viel größere Ausvehnung erlangt, 
als vie Viehverſicherung. 

Die Lebensverſicherung wurzelt augenſcheinlich in jenen verſchiedenen 
mittelalterlichen Rechtsinſtituten, welche die Beſtimmung hatten, einer Perſon für 
das höhere Lebenéalter, oder für ven Fall des Vorſterbens des Gatten, ober auch 
überhaupt den Lebensunterhalt ficher zu ftellen, wie der Altentheil, vie Leibzucht 
oder das Ansgebinge, das Witthum ober Leibgebinge, der Renten- und Gülten- 
Yauf, und Leibrentenvertrag. Diefe Arten der Verforgung trugen jedoch durchweg 
einen inbivinuellen Charakter. Der Einzelne gewährte fie dem Einzelnen. Die Na- 
tur einer gemeinfamen Angelegenheit für bald größere, bald kleinere Geſellſchafts⸗ 
treife erlangte bie Verforgung aber bereits in ben eben aud ſchon im Mittelalter 
vorkommenden Wittwen- und Vegräbnißlafien der Handwerkerzünfte, in den ben 
legteren nachgebilveten ſtädtiſchen Begräbnißlaflen, an denen alle Ortsbürger theil- 
nehmen konnten, dann in den ZTontinen, beren Entftehung iu das 17. Jahrhun⸗ 
pert fällt, und in den Wittwenfaflen der Staatsbeamten, Geiftlihen und Schul⸗ 
lehrer, vie ebenfalls feit vem 17. Jahrhundert theils mit, theils ohne Zuthun ber 
Regierungen Ins Leben traten. Die genannten Einrichtungen zeigen uns tie Lebens» 
verfiherung in ihrer erften allerdings noch fehr entwicklungsbedürftigen Geftalt. 
Aber auch in noch anderen Formen finden wir fie oder doch ben Gedanken der⸗ 
felben ſchon fehr früh. Beſonders nahe lag die Verbindung der Tebensverfiherung 
mit der Seeverfiherung und es muß ſchon im 16. Jahrhundert vorgefommen fein, 
bei Gelegenheit der Verfiherung ver Schiffe und deren Ladung gegen Sergefahren 


Derficherungsanftalten, 43 


auch das Leben ber Reifenden mitzuverfihern. Died beweifen bie Verbote der Ver⸗ 
fiderungen des Lebens von Perfonen in der Orbonnanz Philipp IL. von 1570 für 
bie Niederlante, in dem Guidon de la mer Cap. XVI, art. 5, in dem Affe 
Inranzflatut für Genua von 1588, lib. V, cap. 17, in der Orbonnanz für 
Amſterdam von 1598, Art. 24 und in der berühmten franzöfifchen Ordonnanz 
über das Seeweſen von 1681, Tit. 6, Urt. 10. Werner trat der bereitd genannte 
Dbrecht in der erften feiner beiden oben amgeführten zu Anfang des 17. Jahr⸗ 
hunderts erfchtenenen Schriften mit dem Vorſchlage der Gründung von Kinder: 
verjorgungsfaflen hervor, welche die Regierungen einzurichten und zu verwalten 
hätten und als Finanzquelle benüten könnten. Ieber Untertban, dem ein Kind ge⸗ 
boren worden, fol glei nach deſſen Geburt eine von ihm zu bezahlende Summe 
Gelves in die landesherrliche Kammer zahlen, welde Summe, wenn bas Kind er⸗ 
wachen, der Sohn nämlih 24 und die Tochter 18 Jahre alt geworben ift, mit 
den bis dahin gelaufenen Zinfen von 4 oder 5 Procent zurüdgezahlt werden foll, 
bei defien Borfterben aber der Kammer heimfällt; voch follen im letzteren Valle, 
wenn noch andere Kinder besfelben Vaters vorhanden wären, biefe in vie Stelle 
des Berftorbenen treien und den biefem zulommenven Betrag erhalten. Nach Ob⸗ 
recht's Meinung liege ſich mit diefer Einrichtung, wenn fie mit dem Verbote ver 
Kinbtauffhmänfe in Verbindung gebradht würde, zugleich auch ein luxuspolizeilicher 
Zwed erreichen, fowie fie außerdem ber Negierung Gelegenheit gäbe, von ben ime 
Lande vorgefallenen Geburten Kenntnig zu erlangen. An eine Entwidlung und 
an einen dauernden Beftand der Lebensverficherung war jedoch nicht eher zu den⸗ 
ten, als bis für fie eine verläßliche fkatiftifche Grundlage gewonnen war. Solches 
—* erſt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, wo in England durch 

rannt, Betty und Hallehy die politifche Arithmetik, welche die Einfiht in 
die Geſetze der menſchlichen Lebensdauer eröffnete, begründet wurde. Hieraus iſt 
es erklaͤrlich, daß England auch die Heimath unſerer heutigen Lebensverſicherung 
iſt. Als die erſte derartige Anſtalt wird allgemein die 1706 in London gegründete 
amicable society for the insurance of life bezeichnet. Ihre erſte Einrichtung war 
jedoch noch fehr mangelhaft und unterfchien fih wenig von ben älteren Leichen- 
oder Begräbnißkaſſen. Nur Berfonen im Alter unter 45 Jahren wurden aufge 
nommen; Alle zahlten die gleichen Beiträge, 71/2 Procent der verfiherten Summe 
als Antrittsgeld und 5 Procent als Iahresprämie, Obwohl die Lebensverſicherung 
fi in England fhon um das Jahr 1720, nad einem Spottgedicht aus jener 
Zeit zu fliegen, in weiteren Kreifen Eingang verfhafft haben mußte, fo gewann 
fie doch erſt mit der 1762 erfolgten Gründung der auf rationellen Grundſätzen 
beruhenden equitable nociety in London, bie noch heute eriftirt und die größte 
ver beftehenden englifhen Anſtalten viefer Art ift, größere Thellnahme und 
Berbreitung. Indeſſen zählte zu Ende des 18. Jahrhunderts England erft 10 
größere Berfiherungsanftalten, 1850 aber fchon über 120 und gegenwärtig trotz 
des Unterganges von ungefähr 150 Unftalten in Folge unfoliver Verwaltung im 
Laufe der fünfziger Jahre, gegen 200. Bon England wurde die Lebensverſicherung 
zunähft nad Frankreich verpflanzt. Engliſche und franzöſiſche Geſellſchaften mad 
ten dann Deutſchland mit diefem Verfiherungszweige befannt, indem fie bafelbft 
Agenturen errichteten; eine einheimifche Anftalt gab es abgefehen, von den Ton⸗ 
tinen in Hamburg und Nürnberg, die aber faum mehr als Lotterien waren, wäh- 
rend des 18. Jahrhunderts in Deutfchland noh nidt. Dagegen entftanden um 
biefe Zeit vornehmlih in Norddeutſchland zahlreiche auf dem Princip der Gegen- 
feitigleit beruhende Sterbekaſſen, auch Tobtenpfennig- oder Sterbethaler⸗Geſell⸗ 





=“ u 


44 Derfihernungsanftalten. 


ſchaften genannt, vie fi, obwohl ihre Mitgliederzahl gewöhnlich eine geſchloſſene 
war, nicht wie die ältern Begräbnißfafien blos auf bie Angehörigen . einer Zunft 
over Ortſchaft befchränkten und der eigentlichen Lebensverſicherung ben Den bahuten. 
In Berlin bildeten fi allein in den Jahren 1776-1779 12 folder Berbände, 
Die Einrichtung derfelben war höchſt einfach: beim Tode eines Mitgliedes zahlten 
die Uebrigen einen Beitrag und bie Summe ver eingegangenen Beiträge wurde 
dann den Hinterbliebenen des Verftorbenen übergeben. Die Beiträge waren für 
alle Mitgliever gleih; vie Hildesheimer Geſellſchaft war bie erfte, welche 1783 
diefelben nah dem Alter der Beitragenden abflufte, Den Sterbelaffen reihten ſich 
bie Vereine zur Betheilung ber Wittwen und Waiſen mit Penfionen an, bie in 
ber zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutſchland eine große Verbreitung 
erlangten und hauptfählih von Beamten und Prebigern, hänfig auf Anregung 
und zum Theil auch mit Unterflügung ber Regierungen, errichtet wurden. In 
Berlin zählte man 1779 nicht weniger als 14 derartige Anftalten für proteftan» 
tiſche Seiftliche, darunter 5 durch Privatftiftungen entftandene. Diele von biefen 
Bittwen- nnd Waiſenkaſſen giengen nad kurzem Beſtande wieder zu Grunde, ba 
fie einer rationellen Einrichtung entbehrten. Lettere ähnelte fehr jener der Sterbe- 
kaſſen; vie von den Theilnehmern eingezahlten jährlichen Beiträge, bie gewöhnlich 
für Ale ohne Nüdficht auf Alter gleich bemeflen waren, wurben unter die Witt⸗ 
wen und Waiſen von Jahr zu Jahr vertheilt, fo daß die Penfionen mit jebem 
Jahre wechfelten und im Laufe ber Zeit immer geringer werben mußten. Erſt bie 
Wittwenkaſſen für die preußiſchen Civilſtaatsdiener und für die Hildesheimiſchen 
Beamten festen Penfimmen in beftimmten Beträgen feft und forgten für Anſamm⸗ 
Iung eines Nefervefondes. Auf den Altersunterfchten zwiſchen dem Verſichernden 
und der Perfon, für welche verfihert wird, nahm zuerft die allgemeine Berliner 
Dittwenlaffe Nüdfiht. Außerdem beftanden noch Ausftenergefellidaften oder Hei⸗ 
rathskafſen mit gleich mangelhafter Einrichtung und ebenfo unficherem Beſtande. 
Einzelne Inftitute vereinigten auch mehrere Zwecke in fi, wie die 1778 gegrün- 
bete und in ihren Grundzügen noch gegenwärtig beftehenve allgemeine Berforgungs- 
anftalt in Hamburg, welche zugleich Sparkafle, Leibrentengelellihaft, Wittwen-, 
Waifen- und Sterbelaffe war und als bie befteingerichtete derartige Anftalt jener 
Zeit gerähmt wird (Biedermann, Deutfhland im 18. Jahrhundert, 1854, 
J. ®., S. 380—384). In Hamburg fam envlih aud 1806 durch Benede, 
ben Verfafſer des Syſtems des Afſekuranz- und Bodmereiweſens, bie erfle deutſche 
Lebensverſicherungsanſtalt nach englifchen Muſter zu Stande. Das Unternehmen, 
von einer Aktiengeſellſchaft begründet, fchlug jedoch fehl, weniger wegen ber Nen- 
beit der Sade, als wegen ber Ungunft der vamaligen Zeitverhältniffe. Die Ge- 
ſellſchaft ftellte 1814 die Annahme weiterer Verfiherungen ein und löste fich 
[Hlieglih wieder auf. Ebenfo mißlang der zweite 1822 in Elberfeld genrachte Ver» 
fuh, mit ber Feuerverſicherung die Rebensverfiherung in Verbindung zu fegen. 
Um fo glänzend:r war der Erfolg des dritten Unternehmens, der von dem Kaufe 
mann Arnoldi in Gotha 1827 errichteten auf Gegenfeitigfeit beruhenden Lebens» 
verfiherungsbant für Deutfchland, die 1829 eröffnet wurde und mit ber. pie Le— 
bensverfiherung fih dauernd in Deutſchland einbürgerte. Ihr folgte fhon 1828 
die auf Aktien gegründete deutſche Lebensverfiherungsgefellicgaft in Lübeck, die noch 
in demfelben Jahre, aljo noch vor der Gothaer Lebensverfiherungsbant, ihre Wirk⸗ 
famteit begann und wie biefe, wenn auch ihr an Bedeutung nicht gleihlommend, 
fih in ftätig wachſender Blüthe bis heute erhalten hat. Im Jahr 1830 traten 
zu Leipzig und Hannover zwei weitere Gegenfeitigkeitsanftalten Hinzu, denen bis: 


Verficherungsanflalten, 45 


1850 fi in Trieft, Berlin, München, Wien, Braunſchweig, Frankfurt a / M. und 
Hamburg noch acht andere, meiftens Altiengeſellſchaften anjchloffen, die zum Theil 
mit der eigentlichen Lebensverfiherung die Nentenverfiherung verbanden und von 
benen eine einzige, bie Dammonia in Hamburg, fpäter (1858) verunglüdte. Der 
eigentliche Aufſchwung ver Lebensverfiherung in Deutfhland fällt aber erſt in bie 
Zeit nach 1850, in welcher bis 1864 mehr ald 20 derartige Unftalten entftanden, 
darunter einige, welche wie die Concordia in Köln (1853) und die Germania in 
Stettin (1857) ſehr raſch zu einer großartigen Geſchäftsausdehnung gelangten. 
Das Jahr 1865 fah noch 3 weitere (2 in Berlin, 1 in Hamburg) in Thätigkeit 
treten und zu 2 andern (1 in Berlin und 1 in Wien) vie Projelte entfliehen. Zu 
einer beſonderen Art von Lebensverfigerung gab nenerlih das Reifen auf Eifen- 
Bahnen Beranlafiung. Der Gedanke, Eifenbahnreifende gegen perfönlide Unglücks⸗ 
fälle, die fie währenn ber Fahrt treffen, zu verfihern, ging von Deutſchland, und 
zwar von Maftus in Leipzig aus, der um die Mitte der vierziger Jahre damit 
hervortrat. Er fand jedoch feine Berwirklihung zuerft, und zwar 184850, in 
England, wo man alsbald dieſe Art der Verfiherung auf alle perfönlihen Unfälle 
ausdehnte, und In Frankreich. In Deutihland kam die Berficherung ver Eiſen⸗ 
babnreifenden erſt 1856 durch die Thuringia in Erfurt und die allgemeine Eifen- 
bahnverfiherungsgefelihaft in Berlin zur Ausführung. Die mit der Lebensver- 
fiderung verwandten Krankenkaſſen, auch Geſundheitsafſekuranzen genannt, 
waren in ihrer erften Einrichtung vorwaltend Wohlthätigleitsanftalten und haben 
erft in jüngfter Zeit, hauptfählih dur die von Schulze⸗Delitzſch Ins Wert 
geſezte genofienfchaftlihe Bewegung, ven Charakter einer auf Gegenfeitigleit ges 
gründeten Berfiherung angenommen. Bon ebenfo jungem Datum iſt die rationelle 
Brundlage verfelben, die ihnen Finlaifon und Nelfon in England und Heym 
in Deutichland durch flatiftiiche Beobachtung der Krankheitsfälle namentlih unter 
ber Arbeiterklaſſe, für die jene Kaſſen zunächft beſtimmt find, und durch Entwer« 
fung von Morbilitätstafeln mit Rückſicht auf Altersftufe und Befhäftigung gegeben 
haben. Mit Benugung dieſer ftatiftiichen Erfahrungen gründete Heym 1855 bie 
Kranken⸗, Invaliden- und Lebensverfiherungsgejelfhaft „Segenfeitigteit” in Leip⸗ 
zig, die bedeutendſte unter den in Deutfchland beſtehenden Anftalten diefer Art. 
Die Berfiherung der durch Ueberſchwemmung herbeigeführten Vermb⸗ 
gensfhänen wurde 1846 von ber Feuer⸗, Transport⸗, Hagel- und Lebensver- 
fiherungsgefellichaft Azienda assicuratrice in Zrieft verfucht, jedoch, wie leicht 
begreiflich mit ungünftigem Erfolg, Der Verſuch wurde ſeitdem nicht wiederholt. 
Erſt 1865 tauchte in Nürnberg wieder das Projelt einer Hochwafjerverfiherungs- 
auſtalt auf, das jedoch zu den tobtgeborenen zu zählen fein dürfte, da von ihm nichts 
keiter vernommen mwurbe. Dagegen bewährte ſich in ber Ausführung ein anderer, 
in neueſter Zeit in Angriff genommener Berfiherungszweig, die Spiegelgla®s- 
verfiherung, bie von ber Londoner euerverfiherungsgefellihaft Times 1857 
ins Leben gerufen wurde und bald in Holland, Frankreich und Deutſchland Nach- 
ahmung fand. Aelter ift ver Gedanke der Hypothelenverfiherung und ge 
Ingte auch, zwar nicht in Deutſchland, wo er zuerft angeregt wurde, ſchon vor 
ver Spiegelverfiherung in England und Frankreich zur Ausführung. Bereitd 1801 
ktat der preußifche Kammerratb Wildegans mit dem Borfchlage hervor, daß 
Ye Grundbefitzer, welche Pfandbriefe auf ihre Güter aufgenommen haben oder 
aufnehmen wollen, fi wechjeljeitig ven Erſatz des bei Subhaſtationen durch Ver⸗ 
Une unter dem landſchaftlichen Schägungswerth veranlaßten Schadens verſichern 
ſellien. Diefer Vorſchlag blieb lange unbenchtet; erft in ben dreißiger Jahren ent» 





et 


46 Derficherungsanflalten. 


and In Parts eine societ6 d’assurance des cr&ances hypothecaires, die aber 
—RXRVR nur die Sicherung des Hypothekengläubigers für den Fall der Be 
EN ung des verpfänbeten ndſtücks durch Feuer bezwedte. Hierauf bildete 
afius in Leipzig den Gedanken der Hypothekenverfſicherung in einem Projekt 
weiter aus, welches er mehreren großen bentihen Berfiherungsgefellihaften mit- 
tbeilte , ohne damit bei ihnen Anklang zu finden. Eine englifche Geſelſſchaft 
elgnete ſich jedoch dasſelbe an und führte es in London mit glädlihem Erfolge 
In® Leben. Endlich fhidte man ſich 1849 auch in Deutfchland und zwar in 
Breußen an, eine „Berfiherungsbant für ſtädtiſche Grundftäde und Hypotheken“ 
einzurichten, allein nun verfagte fich die Regierung, indem fie dem vorg 
Statute die Genehmigung uicht ertheilte. Die Sache blieb jetzt ruhen bis 1858, 
wo der berühmte Statiftiler Engel, damals noch in Dresten, bie Hypotheken⸗ 
verſicherung in einer eigenen Denffchrift angelegentlihft empfahl und noch in dem⸗ 
elben Jahre die Gründung ver fächfifhen Hypotheken ˖ Verſicherungsgeſellſchaft anf 
ftien in Dresden, die erfte deutfhe Anftalt in dieſem Berficherungszweige, zu 
Stande brachte. Faſt gleichzeitig entwarf ein anderer tüchtiger Statiſtiker, Hüb- 
ner in Berlin, den Plan zu einer Hhupothelenverfiherungs-Afttengefellihaft für 
Breußen. Es gelang jedoch aufängli nicht, hiezu die Konceffion ber Regierung 
u erwirten; fie wurde auf wieberholtes Anfuhen nah langen Zögerungen und 
Berathungen erft 1862 gewährt, worauf die preußiſche Geſellſchaft fofort ihre 
Wirkfamkeit begann. Mittlerweile Hatte fi 1860 in Wien bie Bindobong, gleich- 
falls eine Aktiengefelichaft für Hypothekenverſicherung, gebildet. Diefen drei Au⸗ 
ftalten Hat ſich bisher feine weitere angereiht. Die Verfiherung des Mobiliar- 
und namentlich des Handelskredits brachte erft der Attienfchwindel um bie 
Mitte der fünfziger Iahre nah Deutfhland, nachdem ſchon längere Zeit vorher 
in England mehrfach der Berfuch gemacht worden war, ſchlechte Schulden zu ver⸗ 
fihern. Im Jahr 1856 allein wurden nicht weniger als 4 foldher Berfiderungs- 
gefellfchaften, theils Aftien-, theils Gegenfeitigfeits-Anftalten, zu Köln, Magde- 
burg, Berlin und Mannheim projeltirt, von denen jedoch feine einzige in Thätig- 
feit getreten zu fein fcheint. Zu einem länger bauernben Gefhäftsbetriebe ge» 
langte blos die 1857 gegründete Krebitverfiherungsgefellfchaft für den Handels⸗ 
kredit in Bremen; aber aud vor ihr war in den legten Jahren nichts mehr zu 


hören, 

Die Rüdverfiherung fest zu ihrer Entftehung eine fchon höhere Ent- 
widlung und größere Verbreitung des Verſicherungsweſens voraus, weil fie fich 
erſt da als ein Bedürfniß geltend macht. In England finden wir fie bereits im 
17. Jahrhundert bei ber Seeverficherung, dem ausgebildetſten und verbreitetften 
Berfiherungszweig jener Zeit, in Anwendung. Gegen die Mitte des 18. Jahr» 
Hunderte muß fie ſchon fehr häufig vorgelommen fein, da durch ein Geſetz von 1746 
ihre Zuläffigkeit auf die Fälle der Infolvenz und des Todes des Berficherers 
befhränft wurde. Nach Deutfhland kam die Rüdverfiherung erſt vor etwa 3O 
Jahren; fie marb zunächft bei der euerverfiherung eingeführt, wo ſich bamals 
ſchon eine ſtärkere Konkurrenz fund gab, und dann auch auf die Transport- und 
Lebensverfiherung übertragen. Die Rüdverfiherung wird theils von verfchiedenen 
für andere Berfiherungszmeige beftimmten Gefellfhaften als Nebengefchäft, theils 
aber auf) von befonveren fi eigens mit ihr befaffenden Anftalten betrieben. So⸗ 
wie bie Rüdverfiherung überhaupt, fo iſt auch die Zahl dieſer letzteren Anftalten 
in neuefter Zeit in Deutfchland in einer ftetigen Zunahme begriffen und es ver- 
seht faſt kein Jahr, welches nicht einen Zuwache verzeichnet. 





—— —— 


Derfiperungsanalten. 47 


IX. Statiſtik des Verfiderungswefens. 

.Die Berſicherungsſtatiſtik befindet ſich noch in den Anfängen und bat mit 
großen Schwierigfeiten zu lämpfen. Wir begegnen in den Schriften unferer Ver⸗ 
fiherungsftatiftiter Mafius, Hübner, Engel, Sasti u. a. ſtets wiederkeh⸗ 
enden Klagen über die geringe und unzureichende Unterflägung, bie fie bei ihren 
Arbeiten von den VBerfiherungsanftalten erhalten; nicht nur ber Vorwurf der Ge⸗ 
heimnißkrämerei, der Säumigteit bei Einfenvung ber exbetenen Mittheilungen, ver 
Ungenautgleit und Lädenhaftigkeit der letzteren wird gegen fie erhoben, and jener 
des Mangels an gutem Willen. Diefe Klagen lönuen nicht befremben, benn bie 
periobifchen Rechenſchaftsberichte der Berficherungsanftalten, die erfte und wichtigfte 
Grundlage der Berfiherungsftatiftil, laſſen Vollſtändigkeit, Klarheit und die vor 
Allem für den Statiftiter wünſchenswerthe Gleichförmigkeit fehr vermiſſen; über⸗ 
dies erfheinen fie nicht Immer regelmäßig. Wir entbehren namentlich in Dentf- 
land noch eines Inftitutes, welches von ſämmtlichen Verſicherungsgeſellſchaften all- 
jährlich vetaillirte Gefhäftsausweife empfängt, dieſelben veräfientliht nnd ver- 
gleichende Ueberfichten hieraus anfertigt, wie es bie Vereinigten Staaten von Nord⸗ 
Umerita in den insurance-departements befiten. . Bielleiht werden bie auf dem 
internationalen flatiftifden Kongreß im Berlin 1863 gepflogenen Verhandlungen 
and gefaßten Befchläffe Über die Anforverungen, welche bie Statiſtik an die Ver⸗ 
fifermgsanftalten und biefe an jene zu ftellen haben, und bie von demſelben für 
jeden Berficherungszweig bezüglich der zn erhebenden Daten entworfenen Formu⸗ 
lare für die Folgezeit dazu beitragen, jene Uebelſtände zu befeitigen oder doch zu 
vermindern. Angenblidlih find nod feine Früchte davon wahrnehmbar; was bie 
Berfiherungsftatiftit jett bietet, ift unvollftändig, ungenau, und beruht zum Theil 
anf bloßen mehr oder weniger unſicheren Schätzungen. 

Bir befhränfen uns bei unfern flatifiifhen Mittheilungen hauptjählih auf 
Deutſchland und beginuen mit der Geuerverfiherung, bie unter allen Ver⸗ 
figerumgszweigen bei uns weitaus bie größte Verbreitung erlangt bat, woran ber 
von ben zahlreihen Stantöverfiherungs-Immobilier-Anftalten früher faft allge» 
mein und theilweiſe noch jegt geübte Verfiherungszwang nicht geringen Autheil 
hat. Nah Mafius (Lehre v. d. Verf. 1846) gab es 1844 in Deutfhland 45 
Privatanftalten für Feuerverfiherung, und zwar 24 Gegenfeitigfeitövereine, 19 Altien- 
oder fpefulative Unternehmungen und 2 gemifchte, in denen ein Werth von nahezu 
1932 MIN. Thalern (faft 584 Mill. Thaler in ven Gegenfettigfeitsvereinen, 
1251 Mill. Thaler in ven Altienunternehmungen, 97 Mill. Thaler in den ges 
miſchten Anftalten) verfihdert war. Mit Hinzurehnung ber bei auswärtigen Geſell⸗ 
ſchaften und bei Stantsanftalten vwerfiherten Werthe, jene zu 200, dieſe zu 
3500 MIT. Thlr. angenommen, fchlägt Maftus bie in Deutfchland gegen Feuers⸗ 
gefahr verfiherte Summe für das Jahr 1844 im Ganzen auf 4632 Mil. Thlr. 
an. Im Jahr 1855 betrug nah Hühner (Iahrb. f. Volksw. u. Stat. V.) ver 
verficderte Werth in 19 Attiengefellihaften 4468 Mill. Thlr., in 13 gegenfeitigen 
Privatvereinen 604 Mill. Thir. und in 29 unter flaatlicher Aufficht und Leitung 
ſtehenden, zum Theil reinen Staatsanftalten bios für Immobiliarverfiherung 
22366 Mill., zufammen aljo 7338 MIN. Thlr.; 1857 aber (Jahrb. f. Vollew. 
ı. St. VI.) in 24 Utiengefellihaften 6185 Mil. Thlr. und in 13 Privatgegene 
feitigleitsanftalten 773 DRIN. Thlr. Hiernach kann man, wenn zugleich die Staats⸗ 
anfalten und die hier nicht verzeichneten Privatvereine berüdfichtigt werben, dag 
in Dentſchland 1857 gegen Feuer verfiherte Vermögen ohne Uebertreibung ganz 
wohl auf 10,000 Mill. Thaler [hägen, und basfelbe hat fich fomit binnen 18 








| Zuimerungeanflaiicn. 

..n Aue üelfie Zunahme weifen in biefer Beziehung bie 
zuiger iR fie bei den Privatgegenfeitigkeite- und noch 
te Vei allen ten vorflehenben Angaben iſt Dentfd- 
u 1383 nimmt Saski (Die vollsw. VBebeutg. des Ber⸗ 
op RE in Deutfhland mit Aueſchluß von Defterreih 75 
u ar Semattanflalten, 23 Altienunternehmungen und 18 größere 
u zuebahete Brivatgeſellſchaften an. Ungleich größer ift die Zahl 
3 ine, blos für Dobiliarverficherung befchen beren 
er Mefiiberangsfumme wird von Emminghans (Artikel: Fener⸗ 
“ 8 der Bolfswirthichaftslchre von Renutzſch, Leipzig 
Tr BR Thlr. angefchlagen. Sie ift zwar viel beventender, als in 
me fie Suminghaus im Ganzen auf etwa 2400 Mil. Thlr. ſchaͤtt, 
5 dr Immer noch hinter jener in England, Frankreich und in verfchlebenen 
ce ze merbamerllanijchen Union zurüd. In bem britifchen Reiche betrug 
us 1509 der gegen Feuer verfiherte Werth 756 Mill. Pfd. St., 1856 aber 
I wor 1861 ungefähr 1224 Min. Pfo. St., in Frantreich 1860 50,504 MI. 
—***— ; in dem Staate Maffahufetts, der ungefähr die Größe von Württemberg 

ur wie Bevölkerung von Baden hat, 1860 faft 349 Mill. Dollars, 

Ueber die Entwidlung, welche vas Penerverfiherungswefen insbefondere in 

in den legten Jahrzehnten genommen hat, geben folgende Daten Auf- 
die wir dem Aufſatze von 8. Jacobi: „Beitrag z. Geſch. u. Statifl. der | 
°  Senerverfiherung im preuß. Staate“ in d. Zeitſchr. d. 8. preuß. ftatifl. Bureaus 
Jahrgang 1862, Nr. 6 und 1863, Ar. 4 entnehmen: 
Zahr: Verficherungow. i. Gz. pr. Kopf. bei öff. Soc. pr. Kopf. b. Priv.⸗Geſ. pr. Kopf. 
1828 1020Mill. Thir. 80 Thir. 711,1 M. Thl. 66 Thl. 308,9 M.ThL 24 Chl. 
1837 1637 „ „ 16 u 8909 nn 8, DT... 58, 
1853 2345 „ „ 138 „ 11217, „ 67.0 1233. „ a, 
1854 2473 „ „ 145 „ 11338 „ „ 68 „ 133892 „u 7. 
1860 3381 5 „ 186 „ 13794, u 76 „ 20016 „ „ 110, 
1861 3980 5 u 215 „ 1480 5 „ 80 u 2500 un 135 „ 

Es erhellt hieraus, daß bei den Privatgefellihaften die Erweiterung ver Ge« 
fchäfte in einem viel ftärkeren Grade flattgefunden, als bei ven Bfjentlichen Socie⸗ 
täten. Bon dem gefammten Berfiherungswerth entfielen 

1828 auf vie öff. Soc. 69 9/,, auf die Privat⸗Geſ. 31%, 
1837 u un „ dd, nn n 46 „ 
1853 u un n 48 „ nn " 52 „ 
1854 u un „ 86 „ nn " 54 „ 
1860 u u u „ 4. "m n 59 „ 
1861 um» nn nn Tun n 63 „ 

Stellt man die fänmtlichen Gegenſeitigkeits⸗Geſellſchaften (vie öffentlichen und 
privaten) den Attiengefellfchaften gegenüber, fo famen 1861 auf jene 1910 Mid, 
Thlr. und auf diefe 2070 Mid. Thlr. Berfiherungswerty. Bel den öffentlichen 
Societäten ging von 1849—1855 ver verfiherte Werth merklih zurück; 1849 
war er 1201 Mill. Thlr.; bis dahin hatte er fi flätig gehoben, 1855 aber war 
er auf 1090 Mil. Thlr. herabgefunten. Dei einzelnen Societäten war biefer Rück⸗ 
gang ungleich ftärfer. Bel der Tanpfenerfocietät der Provinz Schleften fiel er von 
100 Mid. Thlrn. (1846) ſchon 1848 auf 78 Mill. und 1853 auf 27 Mil. — 
bei der weſtphaͤliſchen Provinz-ffenerfocietät von 187 Mill. Thlm. (1847) auf 


£ 


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Derfiherungsunflalten. 49 


107 (1855) — bei der weſtpreußiſchen Randfeuerfocietät von 25 Mill. (1849) 
auf 16 (1856) — bei der altpommerifchen Stabifeuerfoctetät von 17 (1849) auf 
6 Mil. (1856). Seit 1856 aber zeigt fi wieder ein allmähliges Steigen bed 
Berfigerungswerthes bei ihnen. Der Aufwand für die Feuerverfiherung von Seite 
ber Berfiherten ſtellte fih 1860 in Preußen auf circa 9 Mil, Thlr,, wovon 
3,3 Mil. für die Berficherung bei öffentlichen Sorietäten und 5,7 Mill. bei Pri- 
vatgefellfchaften. Im Jahre 1862 war nah Brämer (Beitr. 3. Statift. d. Ver⸗ 
ficherungsw. im prenß. Stante, Jahrgang 1864 d. Ziſchr. d. k. preuß. flat. B. 
©. 85—95) in den 98 Gegenſeitigkeitsanſtalten (öffentlichen und privaten) ber 
Berfiherungswertb 1999 Mi, Thlr. und in ven 23 Aftiengefellfchaften 2353 
MIN, Thlr.; zufommen 4352 Mil. Thlr. Die Verfiherungsbeiträge betrugen bei 
erfieren 4,158,000 Thlr.; bei dieſen 5,200,000, zufammen 9,358,000 Thlr. 
Faßt man die AO äffentlihen und halbamtlichen Societäten und die 81 Privat- 
gejellihaften zufammen, fo waren bei erfteren 1515 MIN. Thlr. gegen einen Bei- 
trag von 3,267,493 Thlrn. und bei legteren 2837 MIN. Thlr. Werth gegen einen 
Beitrag von 6,090,607 Thlrn. verfihert. Nach neueften Mittheilungen von Brä- 
mer (Das Feuerverſicherungsweſen im preuß. Staat in d. 3. 1863-65 in d. 
Ztſchr. d. k. preuß. flatift. B. Jahrgang 1866, ©. 283— 294) erreichte in Preußen 
der gegen Teuer verfiherte Werth 1863 den Betrag von 4597,48 Mil, Thlrn., 
der fi 1864 anf 4890,2 Mil. Thlr. erhöhte An Prämien wurden in jenem 
Jahre 9,624,600 Thlr., in diefem 9,970,400 Thlr. bezahlt. Die auf den Kopf 
entfallende Berfiherungsfumme, vie 1862 235 Thlr. betragen hatte, war 1864 
auf 254 Thlr. geftiegen. Bon jenen Summen famen In ven beiden gebadhten 
Jahren auf die öffentlichen und halbamtlichen Societäten 1615 und 1697,4 
Mil. Thlr. Verfiher.-®., 2,625,400 und 3,585,200 Thlr. Pr.:Ein. — auf 
die Privatanftalten 2962, und 3192,8 Mil. Thlr. Verſicher⸗W., 5,999,200 
und 6,385,200 Thlr. Br.-Ein.; ferner auf die Gegenfeitigkeitsvereine 2138, und 
2270, Mil. Thlr. Verſicher⸗W., 4,401,200 und 4,436,500 Thlr. Pr.⸗Ein. — 
auf die Altiengeſellſchaften 2459,1 und 26199 Mil. Thlr. Berfiher.-W., 
5,223,400 und 5,533,900 Thlr. Pr.Ein. Es war demnach aud wieder in den 
Jahren 1863 und 1864 die Zunahme bei dem Gefchäftsbetriebe ver Privatanftalten 
Rärfer als bei jenen der Bffentlidhen; dagegen zeigte ſich bei dem gegenfeitigen und 
Altien⸗Geſellſchaften faft ein gleihes Zuwachsverhältniß. 

Unter den deutſchen Privatfeuerverfiherungsanftalten, die Altienunternehmungen 
find, nimmt in Bezug auf Gefhäftsumfang und langen, wohlbegründeten Beſtand 
bie Aachen⸗Münchener Feuerverſicherungsgeſellſchaft den erften Play ein. Sie 
wurde 1825 gegründet und begann 1826 ihre Wirkſamkeit mit einem Verſicherungs⸗ 
wertb von 34,8 Mil. Thaler, einer Prämieneinnahme von 122,000 Thlın. 
und mit einer Ausgabe für Schavenvergütungen und NRüdverfiherungen von 
103,000 Thalern. Bereits 1835 war der Verfiherungswertb 116 Mil. Thlr., 
vie Bräneneinnahme 228,000 Thaler, die Ausgabe für Schavenvergütung und 
Rädcerficherung 130,000 Thaler; 1847 Berfiherungswerth 505 Mill. Thlr., 
Brämieneinnahme 988,000 Thlr., Schadenvergütung und Rüdverfiherung 846,000 
Thaler; 1859 Berfiherungswerth 845,6 Mill. Thlr., Prämieneinnahme 1,5 Mil. 
Thlr., Schavenvergütung und Rüdverfiherung 1,3 Mil, Thlr.; 1863 Verfiherungs- 
wertb 1062 MIN. Thlr., Prämieneinnahme 1,8 MU. Thlr., Schadenvergütung 
und Rüdverfierung 1,3 Mill. Thlr.; 1864 Verſicherungswerth 1038,9 Mil, 
Zhlr., Prämieneinnahme 1,8 Mill. Thir., Schadenvergätung und Rüdverfiherung 
860,000 Thlr. Während der 39 Jahre von 1826—1864 nahm fie an Prämien 

BinutfGliund Brater, Deutſchet Staate⸗Woͤrterbuch. Al, 4 


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50 Derfiherungsanflalten. 


foft 32 Mill. Thlr. ein und gab für Schabenvergätungen unb Rüdverfickerungen 
gegen 25 Mil. Thlr. aus. 

Andere beventenve Altiengeſellſchaften find: Die Berliniſche Feuerverſicherungs⸗ 
anftalt, 1812 gegründet mit einem Berfiherungswertb von 134 Mil Thalern 
und einer Prämieneinnahme von 260,000 Thalern; bie Leipziger Geuerverfigeruugs- 
anftalt gegründet 1819 mit 687,000 Thalern Främieneinnahme (ber verficherte 
Werth ift in den Rehnungsabfchlüflen nicht angegeben); die vaterländiſche Feuer⸗ 
verfiherungsgefellfichaft in Eiberfeld, gegründet 1824 mit 435 MIN. Thlm. Ver⸗ 
ſicherungswerih und 840,000 Thalern PBrämieneinnahme; bie Feuerverſicherungs⸗ 
anftalt der bayerifhen Hypotheken- und Wechſelbank, gegründet 1836 mil 374,5 
MIN. Gulden Verfiherungswertt und 692,000 Gulden Prämieneinnahme; die 
Colonia in Köln, gegründet 1839, mit 671,8 DIN. Thlrn. Berfiherungswerh und 
1,1 Mil. Thlen. Prämieneinnahme; der deutſche Phönix in Frankfurt a. M., ge 
ründet 1845, mit 727,6 Mill, Gulden Berfiherungswerth und 1,3 Mit. Gulden 
Främieneinnafme ; die preußifhe Rationalverfiherungsgefelihaft in Stettin, die 
fih auf die See⸗ und Stromverficherung erftredt, gegründet 1845, mit einem gegen 
Feuer verfiherten Werth von 422,3 Mil. Thlrn. und 496,000 Thlrn. Prämien- 
einnahme; vie fchlefifche Feuerverſicherungsgeſellſchaft in Breslau, (zugleich für 
Zransportverfiherung) gegründet 1848, mit 293,5 Mil. Thlrn. Berficherungswerth 
und 761,000 Thlen. Prämieneinnahme. Alle diefe Angaben beziehen ſich auf das 
Jahr 1864. Den raſcheſten Aufſchwung unter den deutſchen Altienunternehmungen 
nahm bie 1844 gegründete Magdeburger Feuerverſicherungsgeſellſchaft. Im erften 
Sahre ihres Beſtehens 1845 hatte fie einen Kapitalgwerth von 22,7 Mill. Thlrn. 
gegen eine Prämteneinnahme von 89,000 Thlrn. verfihert; 1852 erreichte der 
verfiherte Werth ſchon 110 Mill. Thlr. und die Prämieneinnahme 526,000 Thlr. ; 
1859 betrug jener 370 Mil. Thlr., diefe 1,5 Mill. Thle.; 1861 war bie lau- 
fend geweſene Berfiherung bereit auf 1063, 1863 auf 1408 und 1864 auf 
1417,5 Mi. Thlr. geftiegen, die Prämteneinnahme betrug in diefen 3 Jahren 
2,7, 3,4 und 2,3 MIN. Thaler. 

Was die auf Gegenfeitigfeit gegründeten PBrivatanftalten betrifft, fo iſt bie 
1821 in Thätigleit getretene Feuerverficherungsbank für Deutſchland in Gotha 
die bedeutendſte. Urſprünglich blos auf den Handelsſtand der Städte Gotha, Ere 
furt, Arnftadt, Eiſenach und Langenſalza beſchränkt, dehnte fie aber bald Ihre 
Wirkſamkeit auf alle Stände und ganz Deutſchland aus. Im erflen Geſchäftsjahre 
1821 betrug die Summe ber bei ihr verficherten Werthe nur 13,5 MIN. Thaler, 
die Prämieneinnahme 56,000 Thlr. und vie geleiftete Schabenvergätung 15,000 Thlr. 
Im Jahre 1830 war der Berfiherungsmwertb ſchon auf 100, Mill. Thlr., bie 
Pıämimeinnahme auf 353,000 Thlr. und ber Betrag der gezahlten Schadenver⸗ 

ütungen auf 143,000 Thlr. geftiegen; 1840 flellten ſich diefe Zahlen auf 261,8 

il., 944,000 und 288,000 Thle.; 1850 auf 340,6 Mill., 1,2 Mil. und 
311,000 Thlr.; 1860 auf 400,1 Mill., 1,2 Mil. und 187,000 Thlr.; 1863 
auf 445,1 Mil, 1,4 Mil. und 210,000 Thlr.; endlich 1864 auf 474,9 Mill., 
1,5 Mil. und 284,000 Thlr. Die Anftalt bat feit ihrer Gründung bis zum 
Jahr 1864 einfchläfftg nahezu 38,5 Mil. Thlr. an Prämien eingenommen und 
139 Mil. The. an Ehabenvergütungen geleiftet; bie während dieſes Zeit- 
raums an bie Verficherten zurligefioffenen Ueberfchüffe oder Dividenden erreichten 
ben Betrag von 21 Mil. Thalern. Im Jahre 1863 beliefen fi diefe Ueber- 
ſchüſſe allein auf 1,065,000 Thaler und ergaben eine Dividende von 75 9%, 
ber eingezahlten Prämien, die bisher blos nod in den Jahren 1860 und 1861 


x 


Mn du Sir DE 


Derfiherungsanftalten. 61 


erzielt wurde, während ihre jährlicher Durchſchnittsſatz in dem In Rede ſtehenden 
Zeltranm ſich anf etwa 58 9/, ſtellt; 1864 betrugen die Ueberſchüſſe 1,068,000 Thlr. 
amd die Dividende 72 %/,. Nur ein einziges Mal, nämlih 1842, wo die Anftalt 
bei einer PBrämteneinnahme von 905,000 Thalern in Folge des Hamburger Bran- 
des Bergätungen im Belaufe von 1,832,000 Thalern zu leiften hatte, ift bisher 
bie Dividende ausgefallen nnd eine Nahjhußzahlung Seitens der Theilnehmer 
notbwendig geworben, bie 923,000 Thlr. betrug. 

Außer der Gothaer Feuerverſicherungsbank haben unter den Privatgegenfel- 
tigleitsanftalten den größten Gefchäftsumfang bie Hamburger Feuerkaſſe, 1864 
mit einem verficherten Werthe von 122,8 MIN. Thlrn., die felt 1826 beſtehende 
Mobiliorbrannverfiherungsgefelfchaft in Schwert, 1864 mit einer Berfiherungs- 
famme von 72,5 Mil. Thalern und bie 1828 errichtete Privat⸗Feuerverſicherungs⸗ 
— in Stuttgart, bei der 1862 ein Werth von 147,5 Mill. Gulden ver⸗ 

ext wear. " 

Unter den öffentlichen Gegenfeitigfeitsanftalten, die ſich in der Regel blos mit 
der Immobiliorverfiherung befaflen, weiſen vie allgemeine Brandverficherungs⸗ 
anftalt in Bayern und die Ranvesverfiherungsanftalt im Königreih Sachſen bie 
größten Berfiherumgsfummen auf, jene (1863) 869 Mil. Gulden, viefe (1862) 
320,5 MIN. Thaler. In Preußen, wo e8 31 größere öffentliche Inftitute dieſer 
Urt gibt, ragen hervor: Die Fenerſocietät der Stadt Berlin (1864 verficherter 
Berth 228,7 Mil. Thlr.), die weftphältfche Provinztalfenerfocetät (1864 ver⸗ 
fiierter Werth 206 Mil. Thlr.) und vie rheiniſche Provinzial-Fenerfocietät (1864 
verf. W. 286 Mil. Thaler). 

Bon den andländifhen Feuer⸗Afſ eturanzgefelfäaften, die in Deutſchland Ver⸗ 
fiherungsgefchäfte betreiben, tft die Liverpool-Xonboner die geſuchteſte; der bei ihr . 
von deutſchen Berfiherungsnehmern verficherte Vermögenswerth belief fih 1863 
auf 620 Mil. Thaler. 

Die Ergebniffe ver Hagelverfiherung ftehen jenen ber Fenerverfiherung 
bedeutend nad. Sie kann ſich mit biefer weder in Anfehung der Zahl ver An⸗ 
ſtalten noch der verficgerten Werthe meflen, und ein nicht geringer Theil der mit 
geben Ermwartimgen gegründeten Vereine iſt wieder eingegangen, wa® für bie 

efaͤhrlichkeit dieſes Verſicherungezweiges fpricht. Maftus zählte 1844 in Deutſch- 
land mit Einfhluß von Deutfhöfterreih 15 Hagelverfiherungsanftalten, 14 gegen- 
feitige und 1 Altiengeſellſchaft (die neue Berliner), bei denen ein Werth von 
71,6 MU. Thlen. verfidert war. Im Jahre 1853 waren nah Hübner in 17 
Geſellſchaften in Deutfhland und Defterreih etma 103 Mil. Thaler verfichert. 
Sasti nimmt für 1864 in Deutfhland ohne Defterreih 6 Altien- und 19 Ge- 
genfeitigteits-Gefellfchaften an und veranfchlagt den bei 11 dieſer Anftalten ver- 
ficherten Kapitalswerth 1862 auf 143,4; 1863 auf 152, und 1864 auf 150,8 
Ri. Thaler. Unter ven Altiengefellfhaften find die Neue Berliner, 1832 eröffnet, 
aub die feit 1854 in Thätigfeit getretene Magdeburger, bie Anfangs mit ber 
dortigen Feuerverſicherungsgeſellſchaft in Verbindung ftand, die bedeutendſten. Der 
bei der neuen Berliner Hagelaffeluranggefelihaft 1863. verficherte Werth betrug 
25 MU. Thaler, die Prämieneinnahme 330,000 Thaler und die gezahlte Scha- 
denvergätung 236,000 Thaler; 1864 waren diefe Zahlen 26,1 Mill., 319,000 
uud 103,000 Thaler; 1865: 20,2 Mill., 234,000 und 160,000 Thaler. Die 
nene Berliner Gefellfhaft und ihre Vorgängerin, die von 1823—1830 beftandene 
Bertiner Hagel⸗Afſekuranzgeſellſchaft haben von 1823—1865 einſchlüſſig, alfo 
während 42 Jahren, zufammen einen Vermögenswerth von 702,3 Mil. Thaler 


49 








52 Derficherungsanflalten. 


verfidert, 6,9 Mil. Thlr. Prämien eingenommen und Cchabenvergütungen im 
Betrag von 5,3 Mill. Thlr. geleifter. Die ältere Geſellſchaft begann ihre Wirk. 
famfeit mit einer Berfiherungsfumme von 9,3 Mil, Zhien., die fi 1828 und 
1829 auf 16—17 Mill. Thlr. erhöhte. Die neue Geſellſchaft verſicherte im erften 
Jahre ihres Beſtehens (1832) einen Werth von 5,5 Mill. Thalern. Das Mari⸗ 
mum ber Berfiherungsfumme fällt in die Jahre 1854 und 1855 und erreichte 
31,2 und 30,5 Mill. Thlr. Die höchſte Schabenvergütung fand 1853 flatt und 
betrug 677,000 Thaler, vie geringfte 1832 und 1833 mit je 190,000 Thlen. Die 
Magveburger Hagelverfiherungsgefelihaft hatte Anfangs mit großen Schwierig- 
keiten zu ringen und erlitt in ben Jahren 1855 und 1856 beträchtliche Verluſte; 
erſt 1860 geftalteten fich ihre Geſchäftsverhältniſſe günftiger. Ste verfiherte im 
dem erften Jahrzehent ihrer Wirkfamfeit von 1854—1863 im Ganzen einen 
Werth von 267,5 Mil. Thalern, bezog dafür eine Prämieneinnahme von faft 
3 Mil. und gab für Entihäpigungen den Betrag von 2,3 Mil. Thalern aus. 
Im Jahr 1863 insbeſondere erreichte der bei ihr verfiherte Werth die Summe 
von 45 Mill, Thlrn., die Prämieneinnahme 516,000 und erforderte die Schaden» 
vergätung 385,000 Thaler. 

Unter den gegenfeitigen Hagelverfiherungsgefellfchaften ift vie ältefte, vie ſchon 
1797 gegründete mellenburgifche in Neubrandenburg, zugleih auch die hervor- 
ragendfte; file verficherte 1863 einen Werth von 18,7 Mil. Thlrn. und ihr Be⸗ 
darf für zu erfegende Schäden und Koften betrug 126,000 Thaler; 1864 war 
ber Berfiherungswerthb 19,5 Mill., ver Bedarf 106,000 Thaler und die Prämien⸗ 
einnahme 105,000 Thaler. Ihr ſtehen zunächſt: die Hagelverfiherungsgefellfchaft 
zu Schwert (gegründet 1826) 1864 mit einer Verfiherungsfumme von nahezu 
‚ 14,5 Mill., einer Prämteneinnahme von 121,000 Thlrn. und einer Ausgabe für 
Schäden von 73,000 Thlrn., dann jene zu Greifswald (gegründet 1841) 1864 
mit einer Berfiherungsfumme von 12, Mill. und einem Bedarf für Koften und 
Schäden von 37,000 Thalern. Eine der älteften beftehenden Gegenfeitigkeitsanftalten, 
bie Leipziger, die 1823 gegründet wurde, iſt in Bezug auf den Umfang ihres 
Geſchäftes in den legten Jahren beträchtlich zurückgegangen. Während bei ihr in 
der Zeit von 1845—1852 jährlih ein Werth von 10—15 Mill. Thalern ver- 
figert war, Kank biefer zu Ende der fünfziger Jahre auf 7 und in ven Jahren 
1862—64 auf 5—6 Mill. Thaler herab. Auch die in Erfurt 1845 entſtan⸗ 
dene Hagelverfiherungsgefellihaft, deren Verſicherungsſumme in den erſten 18 
Jahren ihres Beſtehens zufammen 164,6 Dil. Thir. betrug und 1853 auf 
19,3 Mil. Thlr. geftiegen war, verficherte 1857—59 jährlid nur nod einen 
Werth von 6—7 und 1862—64 gar nur von 5—6 Mill. Thalern. 

Die Viehverſicherung hat in Deutſchland bisher nur eine fehr mäßige 
Verbreitung gefunden. Es gibt wohl mehrere hunderte Kleinere Verbände, häufig 
von blos Örtlidem Charakter, die zum Theil einen fehr alten Beftand haben, 
namentlih in Hannover, wo 1852 allein 474 folde Feine Viehverſicherungs⸗ 
vereine gezählt wurden, in Holftein-Rauenburg, Braunſchweig, Weftphalen, Schle- 
fien, vann au in Bayern, Württemberg und Baden; fie gewähren aber teine 
volle Entihäpigung und find mehr nur Unterftägungsvereine. Größere Ber- 
ſicherungsgeſellſchaften, deren Thätigkeit fih über eine ganze Provinz oder über 
mehrere Länder erfiredt, haben fi nur in geringer Zahl gebildet und bie meiften 
von ihnen find nach kurzer Dauer wieder eingegangen. Insbefondere waltete ein 
Unftern über den Altiengeſellſchaften, die ſich auf dieſen Verſicherungszweig warfen; 
fie lösten ſich in der Regel wieder auf, nachdem fie kaum gegründet waren. Noch 


a. 


Desficherungsanftalten, 53 


eher behaupteten ſich die größeren Gegenfeitigfeitsnereine Die Biehverfiherung 
übertrifft aber aud im Punkte der Gefährlichkeit noch weit bie Hagelverfiherung. 
Reh Mafins gab es 1844 in ganz Deutſchland blos 3 größere Vichver- 
fiherungsanftalten, die im Ganzen einen Werth von nicht ganz 1,8 Mill. Then. 
verfihhert Hatten, von denen aber ſchon nad wenigen Jahren feine einzige mehr 
aiftirte. Hühner gibt für 1853, wobei er jedoch den 18647 gegründeten Pote- 
damer Verfiherungsverein übergeht, 4 größere Vereine an, von denen heutzutage 
noch einer, bie erft 1852 ins Leben getretene Braunſchweiger allgemeine Bich- 
verſicherungsgeſellſchaft, befteht. Auch haben 2 noch nachher um bie Mitte ver 
fünfziger Jahre zu Magdeburg und Kiel errichtete größere Gegenſeitigkeitsanſtalten 
feither ihre Thätigfeit wieber eingeftellt. Im Jahre 1864 beftanden nur drei größere 
anf Gegenfeitigteit gegründete Biehverficherungsvereine in Deutſchland, nämlich 
der bereits erwähnte Braunfchweiger, dann ver Potsdamer und bie 1857 in Berlin 
entftandene Biehverfiherungsbant für Deutfhland. Der bei diefen vrei”Anftalten 
1863 verfiherte Werth betrug nicht mehr ala 2,361,000 Thlr., wovon 1,050,000 
Thaler auf die Berliner, 927,000 Thaler auf bie Braunfchweiger und 384,000 
Thaler auf die Potsdamer kamen; 1864 war bei der Berliner Gefellichaft ver 
Berfiherungswerth 1,3 Mill. Thlr. und bei der Braunſchweiger 923,000 Thaler. 
Letztere hat von 1852 —1864 einen Werth von 8,5 Mil. Thlrn. verfihert und 
an Entſchädiguugen 170,000 Thaler bezahlt. Seit 1864 iſt noch ter gegenfeltige 
Biehverfiherungsverein Veritas in Berlin binzugetreten, der urfpränglid blos für 
Berlin und defien nädhften Umkreis bis auf zwei Meilen beftimmt war, jebod 
fpäter beſchloſſen Hat, feine Wirkſamkeit, über pie jenoch noch Feine Berichte vor⸗ 
liegen, auf ganz Preußen auszudehnen. Mehr als in Deutſchland fcheint die Vieh⸗ 
verficherung in der Schweiz Boden gefaßt zu haben, wo außer mehreren kan⸗ 
tonalen Anftalten auch eine allgemeine, die ſchweizeriſche Viehaſſekuranz zu Bafel 
beſteht, die einen guten Anfang genommen hat und alle Ausfiht auf einen 
dauernden Beſtand bietet. 

Die Transportverfiherung war zu Anfang des gegenwärtigen Jahr- 
bunderts in Deutſchland, wie anderwärts, lediglich auf den Zransport zur See 
befchräntt, die Fluß⸗ und Landtransportverſicherung kam erft in den letten Jahr⸗ 
zehnten hinzu. Welchen Auffhwung die Seeverfiherung in Deutfchland in Folge 
der Ausdehnung des überſeeiſchen Handels feit 1815 genommen hat, zeigt ein 
Bid auf die Entwicklung dieſes Verfiherungszweiges in Hamburg, dem erften 
bentfchen Seeplage. Der tafelbft gegen Seegefahren verficherte Werth betrug noch 
1815 nur 431/, Mill. Thaler; 1830 war er ſchon auf 95 Mill. Thaler ge- 
fiegen, 1840 auf 133; 1850 anf 166 und 1856 auf 287 Mill. Thlr.; 1863 
erreichte er mit Einrehnung ber von auswärtigen in Hamburg vertretenen Gefell- 
ihaften gegebenen Verfiherungen die Summe von 370 Mil. Thalern. Auch 
Bremen, der zweite deutſche See» und Hanbelsplag, iſt nicht zurüdgeblieben. 1847 
wor bei den bortigen Seeverfiherungsgefellihaften, Privataſſekuradenrs und 
Agenten auswärtiger Anftalten ein Werth von ungefähr 32 Mill. Thlrn. ver 
ſichert Derfelbe fant dann zwar 1848—50 auf 24—28 Mil. Thlr., bob fid 
aber 1851 und 1852 wieder auf 33 Mil. Thaler, war 1854 48, 1856 70 
und 1863 94 Mill. Thaler. Im Jahre 1864 war in Yolge des ſchleswig⸗hol⸗ 
ſteiniſchen Krieges in Hamburg die Berfiherungsfumme auf 314 Mill. und in 
Bremen auf 661/, Mil. Thaler gefallen. In Lübeck ſchwankte die Berfiherungs- 
funme in den Jahren 1849—55 zwiſchen 8-11 Millionen Thlrn. In Stettin 
bob fie fi von 1854 bis 1857 von 16 auf 42 Mill. Thale. Saki ſchätzt 





54 Derficherungsanflalten. 


bie Zahl der in Deutfhland mit Ausſchluß von Oeſterreich operirenden Altien⸗ 
gejellichaften, die die Transportverfiherung betreiben, auf mehr als 100; die Zahl 
der gegenfeitigen läßt fi nad feiner VBerfiherung felbft nicht annähernn ermitteln. 
Hievon befinden fih allein in Hamburg 26 und in Bremen 22 Semwerfiherungs- 
eſellſchaften theils auf Aktien, theils auf Gegenfeitigfeit gegründet. Allgemeine 
Fransportverfigerungsgefellfcjaften zählt man 6, für Lanbtransportverfiherung 
insbefondere 2 und für Flußtransportverfiherung 12. Nur von einem Theil diefer 
Anftalten (außer den Hamburgern und Bremern) find bie Verfiherungsfummen 
befannt. Unter ihnen verficherte 1863 die fchon feit 1818 beſtehende Rheinſchiff⸗ 
fabrtaflefuranzgefellihaft in Mainz 19,3 Mi. Gulden, vie 1857 in Stettin ge- 
gründete Union für Gee- und Flußverfiherung 20,2 MIN. Thaler, die erſt 1861 
ins Leben getretene allgemeine Berfiherungsgefellichaft für See-, Fluß⸗ und Land⸗ 
transport in Drespen 55,4 MIN. Thaler, endlich die 1858 gegründete allgemeine 
Berfiherımgsgefellichaft Helvetia in St. Gallen, veren Wirkſamkeit ſich and auf 
Deutihland erfiredt, 323,7 Mil. Franken. 

Die Kebensverfihderung, vie 1840 in Deutſchland af durch acht 
Auſtalten — darunter zwei Öfterreihifge — vertreten war, zeigt ſeit Anfang ber 
fünfziger Jahre das erfreuliche Bild eines unausgeſetzten vafchen Fortfchritts wie _ 
ſich aus nachſtehender auf Grund ber bezüglichen lungen in Hübners Jahr- 
bug f. Bolksw. u. Stat. und im Bremer Handelsblatt angefertigter Tabelle 
ergibt: 


.  Bahl der Derficderungsbefland zu Ende Ausgabe für zahlbare 

Jahr —28 des —5 — —— 
Verſ. Perſ. Verſ. S. Perſ. Beträge. 

1852 12 46,980 57,5 Mil. Thlr. 876 1,1 Mil. Thlr. 
1868 13 50,019 61,2 „ n ” 946 12 „ " 
1854 14 52,816 64 " " ? 13 „ n 
1855 18 61,832 72 u " ? 15 „ . 
1856 18 71,169 804 „ " 1289 16 „ " 
1857 19 81,348 90,2 „ " 1510 17 " 
1858 20 90,128 100,7 „ " 1900 21. n 
1859 - 20 101,758 1105 „ " 1934 21. " 
1860 24 129,589 1375 „ " 2062 23 n 
1861 25 152,121 154,7 „ " 2366 26 „ n 
1862 26 183,812 1768 „ n 8063 27 u " 
1863 27 194,818 208,3 „ " 3408 3 „ n 
1864 27 230,394 234,9 „ n 3852 36 „ . 


1865 30 280476 276 u 777 u 423 3— 

Die hier verzeichneten Anftalten haben biernad binnen 14 Jahren, vie Zahl 
der Sterbefälle für die Jahre 1854 und 1855, wo beren Angabe fehlt, zu je 
1000 angenommen, in 29,759 Sterbefällen den Betrag von nicht weniger als 
31,8 Mil. Thaler ausgezahlt. Hiebei ift noch zu bemerken, daß fi unter diefen 
Anſtalten 1852 drei, von 1854—1858 vier, von 1869—64 fünf, 1865 aber 
acht öſterreichiſche und ſeit 1858 auch eine ſchweizeriſche — die Züriher — bes 
finden. Dagegen find aber auch wieder einige deutſche Anftalten, von denen feine 
gehörig detaillirten Nechenfchaftsberichte eingegangen find, in der Fifte unberüd- 
fihtigt geblieben. Saski nimmt für 1864 in Deutfhland 30 aktive Lebensver- 
fiherungsanftalten an, 8 Altienunternehmungen, 17 Gegenfettigleitsgefellfchaften 
und 5 gemifchte Anftalten. Dazu kommen aber noch Hunderte von bald für engere, 


Derficherungsanflalten. 5 


bald für weitere Geſellſchaftskreiſe beftimmten Wittwen- und Waifenlaflen, dann 
von Sterbe⸗ over Leichenkaſſen großentheils mit blos lokalem Wirkungstreis. Aber 
and mehrere vor den eigentlichen Lebensverfiherungsanftalten nehmen Berficherungen 
auf Begräbnißigelver an. Den größten Umfang haben dieſe Verſicherungen bei der 
ziger Teutonia und ber Stettiner Germania, von denen jene 1865 etwas 
über 1 Mill. Thaler an Begräbnißgelvern verficderte. Unter den deutſchen Tebens- 
verſicherungsanſtalten nimmt die Lebensverfiherungsbant für Deutfchland in Gotha, 
vie 1827 errichtet und 1829 eröffnet wurde, entfchieben bie erfte Stelle ein. Die 
fortſchreltende Ausbreitung, welche dieſes fegensreihe Gegenſeitigkeitsinſtitut im 
Kaufe der Jahre gewonnen hat, veranſchaulicht die nachfolgende Zuſammenſtellung 
feiner Geſchäftsergebnifſe von 5 zu 5 Jahren. 
Zu Ende d, Jahres Berl. Perf. Berl. Summe Sterbefälle Bezahlte yore 
1,285 5 . 


1829 2,0 Mil. Thir. 12 15,000 

1834 556935 98 67 109,000 „ 
1839 9808 163 „ 127 210,000 „ 
1844 13249 213 5 200 355,000 „ 
1849 16,047 26 „ 337 572,000 „ 
1854 18,858 299 „ 374 608,000 „ 
1859 22100 359 „ 492 782,000 
1864 26,609 462 „ 581 937,000 „ 
1865 28493 501 5 590 958,900 


Die Gothaer Lebensverfiherungsanftalt bat während Ihres nun 37jährigen 
Beſtehens in 10,483 Sterbfällen die Summe von 17,366,100 Thalern bezahlt. 

Nach ven bei der Gothaer Lebensverfiherungsbant, deren Mitglieber über 
ganz Deutſchland zerfirent find, gemachten Erfahrungen zeichnen fi bie norb- 
dentichen Länder vor den ſüddeutſchen, bie proteflantifhen vor den katholiſchen, 
bie dichtbevölferten vor ben ſchwachbevolkerten durch ftärkere Betheiligung ans. 
Der Gothaer Anftalt kommt in Bezug auf Gefhäftsauspehnung am nächſten bie 
Bermania in Stettin, eine Atiengefellichaft, die 1865 50,904 Perfonen mit 
einem Gefammtbetrag von 35,1 Mil. Thlen. verfiherte, in 478 Sterbfällen 
289,323 Thaler auszahlte und an Prämien 1,096,340 Thaler einnahm. Die 
mit der Gothaer Anftalt faft gleichzeitig entſtandene deutſche Lebeneverfiherungs- 
eſellſchaft in Lübeck, gleichfalls eine Aktienunternehmung, wies am Schluß des 
Sahres 1865 19,776 verfiherte Perſonen mit einer Berficperungsfumme von 
16,173,283 Thalern, eine Prämieneinnahme von 610,866 Thalern und eine 
Ausgabe von 249,152 Thlrn. für 308 Sterbfälle auf. 

Ueber ven Umfang der Benügung der Lebensverfiherung in Preußen 
Insbefonvere finden fi in dem trefflihen Auffag von Brämer (Ziſchr. d. k. preuß. 
Ratift. Bureau, 4. Jahrg., 1864, ©. 153—170) folgende Angaben: 

In Breußen waren in 10 preußifhen, 9 außerpreußiſchen beutfchen und in 
7 nichtdentſchen Anftalten verficdert: 


1861: 1862: 

57,500 Perſouen auf den ZTobesfall in gewöhnlicher Yorm 69,800 

3,10  „ gegen Berunglädung 8,300 
101,40 ° „ auf Begrähnißgelver 122,500. 


Die in Preußen verfiherten Summen betrugen: 
auf ven Todesfall gegen Berunglädung an Begräbnißgelvern 
1861 70,776,000 Thir. 2,600,000 Thlr. 2,346,000 Thlt. 
162 83,257,000 „ 2,730,000 „ 2,899,000 


— 











56 Derfiherungsanftalten. 


Betreffend die Kapitalienverfiherung anf ven Lebendfall, fo betrug bie Zahl. 
der bei 13 Anftalten (6 preußifhen, 5 außerpreußifchen deutſchen und 2 außer» 
deutfchen) verficherten Perſonen 1861: 25,124 und 1862: 27,500, die Summe 
ber verficherten Kapitalien 1861: 1,046,000 Thlr. und 1862: 1,360,000 Thlr. 
Endlich die Rentenverfiherung anlangend, fo waren in 17 Anftalten (8 preußifchen, 
7 fonftigen deutſchen und 2 nichtveutichen) 1861 in Preußen 62,934 und 1862: 
63,426 Perfonen verfihert, die erfteren mit einer Rente von 506,000 Thalern 
und die legteren mit einer Rente von 521,000 Thalern. 

Die Spiegelglasverfigerung iſt trog ihrer Neuheit und ver Spe- 
cialität des Berfiherungsobjeftes in Deutſchland nah Saski bereits durch 7 An- 
ftalten vertreten, 5 Aktienunternehmungen und 2 Gegenſeitigkeitsgeſellſchaften, neben 
denen noch zwei ausländifche Gefellfchaften, eine englifche und eine niederländiſche, 
bie in Deutſchland Agenturen haben, Geſchäfte machen. Ueber ven Umfang ihrer 
Thätigkeit fehlen vie Berichte, aber fo viel im Allgemeinen verlautet, gedeihen fie 
alle gut. 

Spärlier ift die Vertretung ver gleichfalls erft in ber jüngften Zeit in 
Ungriff genommenen Hypothelenverfiherung, obwohl hier ver Ver—⸗ 
fiherungsgegenftand ſich in vielen Händen Befindet. Der erftien durch Dr. Engel 
1858 in Dresven begründeten fähftihen Hypothekeuverſicherungsgeſellſchaft 
haben fih bis jest erft zwei weitere Anftalten beigefellt, 1860 die Vindobona 
in Wien und 1862 vie preußifche Hypothekenverſicherungsgeſellſchaft in Berlin. 
Die bei der ſächfiſchen Geſellſchaft verfiherte Summe betrug am Schlufle bes 
Geſchäftsjahres 1862/63 7,366,000 Thaler, ihre Prämieneinnahme während 
vesfelben 16,827 Thaler und der von ihr zu bedende Verluft nur 343 Thaler. 
Bis dahin waren feit dem Beftehen ver Anftalt 41 Subhaftationsfälle vorgekom⸗ 
men, von denen 13 ohne Verluſt für viefelbe abliefen. Zu Ende 1864 war ber 
Beſtand ver bei ihr verfiherten Summen 9,2 Mil. Thaler; die Prämienein- 
nahme mit Einfluß der Prämienreferven betrug in diefem Iahre 37,755 Thlr. 
und bie Verlufte 1976 Thaler. Die bei ver Geſellſchaft feit ihrem Beſtehen an- 
gemeldeten Verſicherungen erreichten bi8 Ende 1864 den Betrag-von 25,3 Mill. 
Thlrn. Die Berliner Geſellſchaft hat in ven erften 17 Monaten nad ihrer Er- 
öffnung 9,8 Mil. Thlr. Hypothekenforderungen verfihert und hiefür an Präwien 
154,000 Thlr. eingenommen. Am Schluffe des Jahres 1864 ftellten fi} die ver- 
fiherten Summen auf 8,6 Mill. und die Prämien fammt Neferven auf 118,000 Thlr. 
Ueber die Gefchäftsergebniffe der Vindobona ift bicher nichts Verläßliches befannt 
geworben. | 

Unter ven verſchiedenen um bie Mitte der fünfziger Iahre projektirten Anftalten 
zur Berfiherung des Mobiliar- und insbeſondere Handelsfrebits if, fo 
viel befannt, blos 1857 die Bremer Krebitverfiherungsgefellfchaft ins Leben ge- 
treten. Während des Jahres 1859 wurden bei ihr 1,247,000 Thaler verfidhert, 
bie laufenden Riſikos betrugen am Jahresſchluſſe 456,000 Thlr., vie. Prämien- 
einnahme 16,335 Thlr., die von ihr gededten Berlufte 13,156 Thlr. Auch diefe 
Geſellſchaft fheint nicht mehr zu beftehen, da in dem Jahrbuche für das gefammte 
Verſicherungsweſen von Saski ihrer nicht weiter erwähnt wird. 

Für die Rüdverfiderung enblih gibt es vermalen 6 befontere An⸗ 
ftalten in Deutfhland, ſämmtlich Aktiengejellihaften. Nur zwei von ihnen, jene 
zu Weſel und Köln, datiren ſchon aus ven vierziger Jahren, die übrigen find 
fpäter, zum Theil erft nach 1860 entfianden. Die bedentendſte Rüdverfiherungs- 
geſellſchaft ift die Kölnifche, die 1868 eine Summe von 405 MIN. Thaler in 





Derfiherungsanflalten. 57 


Rädoerfiherung genommen hatte. Außerdem verbinden aber auch viele andere Ber- 
fihermgsanftalten mit ihren eigentlichen Geſchäften jewes ber Rückverſicherung. 
Betreffend das Verfiherungsweien in Defterreich, fo befanden nad dem 
ſtatiſtiſchen Handbüchlein für die öfterreihiihe Monarchie von Treibern von 
Czörnig (Wien 1861) 1859 in Defterreih 7 große Gegenfettigkeitsanftalten 
(6 Feuer⸗ und 1 Kapitale und Rentenverfiherungsanftalt) mit einem Berfiherungs- 
wertb von 297,382,935 fl., jährlichen Beiträgen von 1,647,618 fl. und geleifteten 
Bergütungen von 1,491,135 fl., dann 27 Atienunternehmungen (5 Feuer⸗, 
Zransport-, Hagel⸗, Lebens⸗ und Rentenverfiherungen, 1 Zransport-, Feuer⸗ und 
Hagelverficherung, 20 6108 für Transportverfiherung — davon allein 18 in Triefl — 
and 1 für Lebens- und Rentenverfiherung) mit einem verfiherten Kapital von 
3063,916,029 fl., einer Prämieneinnahme von 19,167,293 fl. und bezahlten 
Entfädigungsfummen von 11,207,819 fl. Nah neueren Mittbeilungen von 
Sasti gibt es in Defterreidh, abgefehen von den nicht zu zählenden Triefter See 
verfiherungslompagnieen, 12 Altiengefelfchaften, von venen fi} 2 ver Rebensver- 
fiherung, die andern aber der ener-, Hagel- und Transport⸗, zum Theil auch 
ber Lebensverfiherung winmen. Neuerlich find noch 8 Nüdverfiherungsgefellichaften 
und 2 größere Biehverficherungsvereine hinzugetreten. Gegenfeitigleitsanftalten zaͤhlt 
Defterzeich ſehr viele; die bedeutendſten finb 14 Feuerverſicherungsvereine, von denen 
3 auch die SHagelverfiherung betreiben, und 4 Lebensverfiherungsgejellichaften. 
Außerdem beftehen viele fogenannte Bauernverfiherungsvereine zur gegenfeitigen 
Bergätung von Brandſchäden und ländliche Biehverfiherungsvereine; Stuben- 
rauch führt in feiner Bereinsftatiftit (Wien 1857) von erfteren 59, von legteren 
8 auf, die ſich großentheils in Nieveröfterreich befinden. Unter den öfterreichiichen 
ktien-euerverfiherungsanftalten if die 1823 gegründete Azienda assicuratrice 
in Trieſt, die zugleich auch See-, Fluß⸗ und Lanbtrausport-, dann Lebene- 
und Hagelverfiherungsanftalt if und 1864 einen Kapitalwerth von 1340,* Mill. fi. 
bei einer Prämieneinnahme von 1,1 Mil. fl. verfiherte, die bedeutendſte. Ihr 
zunächft fliehen bie assecurasioni generali gleihfalls in Trieſt, gegrünbet 1831, 
die gegen alle Elementarſchäden Berfiherung gewährt und dabei auch Lebensver⸗ 
-fiherungsanftalt if, 1864 mit einem verficherten Kapitalwerih von 726,4 DRIN. fl. 
und einer PBrämieneinnohme von 5,7 Mi. fl., und die erfte öſterreichiſche Ver⸗ 
fiherungsgefellfiehaft in Wien, gegründet 1824, auch zugleich Hagel-, Transport» 
und Lebensverfiherungsanftalt, 1864 mit einer Berfiherungsfumme von 539,9 Mid. fl. 
und einer Prämieneinnahme von 1,3 Mid. fl. Unter den wechfelfeitigen Fenerver⸗ 
fiherungsanftalten ragen durch ven Umfang ihres Betriebs hervor: bie Brands 
fabenverfiherungsanftalt in Wien, 1864 mit einem verfiherten Werthe von 
83,2 Mill. fl.; die innerbſterreichiſche Brandichadenverfiherungsanftalt in Gratz 
1864 mit einem verfiherten Werthe von 71,8 Mi. fl. und vie Brandſchaden⸗ 
verfidderungsanftalt für Oeſterreich ob der Ens in Linz 1864 mit einem verficherten 
Werthe von 83,5 Mit. fl. Hansner (Vergleichende Statiftil von Europa, Lem⸗ 
berg 1865, Br. II, ©. 345350) gibt für die Jahre 1862 und 1863 bie 
Zahl der Berfiherungsanftalten in Defterreih im Ganzen zu 67 an, morumnter 
20 für Fenerverſicherung mit einem Berfiherungswertbe von 2107,2 Mill. fl., 
20 für Transportverfiherung mit einem Verfiherungswerthe von 900 Mil. fl., 5 
für Lebens⸗ und Mentenverfiherung mit einem Berfiherungswerthe von 82 Mil. fl., 
10 für Hagelverfiherung und 2 für Vichverfiherung. In ganz Europa zählt der⸗ 
ſelbe Statifliler 928 Berfiherungsanftalten, und zwar 398 Feuerverſicherungs⸗ 
anfltalten, 299 Zransport-, 156 —* und Renten, 64 Hagel⸗ und 17 Vieh⸗ 


3 


58 Derficherungsanftalten.. 


verficherungsanftalten. Nach feinen weiteren Zahlangaben iſt das Verficherungs- 
weien am verbreitetften in Großbritannien, Deutſchland (ohne Oeſterreich), Frauk⸗ 
reih, dann im Verhältniß zu dem geringen Umfang ber Ränder in den Nieber- 
Landen ef in ber Schweiz, wie fi aus der folgenden darnach angefertigten Ta- 
elle ex 


Feuer- Transport Lebens. u. Renten- Hagel⸗ Vieh⸗ Zufammen 
BA B BR. 


BR. a. A. V.A. q 
1. Großbritannien 1 90 75 3 5 282 
2. Deutſchland 131 ° 57 30 28 6 252 
3. Frankreich 66 31 20 14 2 133 
4. Nieberlande 16 9 8 — 1 2 
5. Schweiz 19 1 2 4 1 


27 
Das große Rußland befigt dagegen blos 19, Griechenland 2, Rumänien 1 
und bie Türkei gar feine Berficherungsanftalt. 


X Literatur. 


Die Literatur des Verſicherungsweſens ift nicht fehr reichhaltig; mehr iſt noch 
das Verficherungsrecht bearbeitet als die technifche Seite des Berſicherungsweſens, 
und biefe wieder mehr als die vollswirthichaftlihe und polizeilihe. In den 15 
Bänden des Archivs für politiihe Dekonomie und Polizeiwiſſenſchaft finden fi 
blos 2 Unffäge über Yenerverfiherung von Rau (II, 408 und III, 142) und 
einer über Hagelverfiherung von Walz (N. F. IX, 325) und in ben bisher 
vorliegenden 22 JIahrgängen der Tübinger Zeitfchrift für vie gefammte Staate- 
wiffenfchaft aur einer über Hagelverfiherung von Helferich (IV, 243) und einer 
über Öhpothefenverfiherung von Emminghaus (XIV, 395), der übrigens nur 
zum Beineren Theile von dieſem Thema und außerdem noch von ber heutigen 
agrarifher Entwidiung und dem Ianbwirthfchaftlichen Krevitwefen handelt. Bon 
Werten allgemeineren Inhaltes find beachtenswertb: W. Benede, Syſtem bes 
Affefuranz- und Bodmereiweſens, 5 Bände, Hamburg 1805—1821 (der erfte 
Band erfchten 1810 In einer 2. Auflage; im vierten wird auch von ber Feuer⸗ 
und Lebensverfiherung gehandelt; der fünfte enthält blos Zufäge zu den früheren 
Bänden). Nolte, Benedes Suftem des Aflekuranz- und VBobmereimefens, 2 Bände, 
Hamburg 1851 und 52 (ift blos eine neue Bearbeitung. des vorgenannten Wer⸗ 
tes); Bernoulli, Vorzüge ber gegenfeitigen Aflefuranzen, Bafel 1827. Ma» 
fius, Lehre ver Verfiherung und ſtatiſtiſche Nachweiſe aller Berficherungsanftalten 
in Deutſchland, — 1846. Derfelbe, ſyſtematiſche Darſtellung des geſammten 
Verſicherungsweſens, Leipzig 1867. Knoblauch, Fehler und Mängel des veutfchen 
Berfiherungsrechtes, Magdeburg 1865. Saski, Die vollswirthfchaftlihe Bedeu⸗ 
tung des Verficherungswefens, Leipzig 1866. — Unter ven Schriften, bie fih auf 
einzelne Berficherungszwetge befchränten, heben wir außer den fchon oben erwähnten 
Auffägen Im Archiv für politifche Delonomie und Bolizeiwifienfhaft und in ver 
Zübinger Zeitfchrift für Pie gefammte Staatswiflenfhaft noh hervor: Hell- 
muth, Ueber ven Zwed und die Nothwenbigleit, Hagelverfiherungsanftalten zu 
errichten, Braunſchweig 1823. Brüggemann, Die Mobiliar (feuer) Bere 
fiderung in Preußen, Berlin 1838. Tecklen borg, Syſtem des Seeverſicherungs⸗ 
weiens, Bremen 1862, Tittrom, die Tebensverfiherungen und andere Berforgungs- 
anftalten, Wien 1832. Baily, die Theorle ver Lebensrenten, Lebensverſicherungen 
u. f. w. bentfh von Schnufe, Weimar 1839. Hopf, die Lebensverfiherungs- 
anftalten Deutſchlands, in ber deutſchen Bierteljahrfihrift 1852 Heym, über 








Derfiherungsanftalten. 59 


bie Einrichtung der Krankenkafſen, Leipzig 1855. Nobad, über Krebitverficderung, 
Ehemnig 1857. Eugel, vie Hypothekenverſicherung ale Mittel zur Verbeſſerung 
der Lage des Grundkredits, Dresden 1858. Derielbe, tie Unfallverfiherung 
(in d. Zeitſchrift d. k. preuß. ftatifl. Bäreaus, Jahrgang 1866, ©. 394—298), 
— Ueber Geſchichte und Statiftit des Verfiherungsweiens geben vorzüglich Be⸗ 
lehrung: Bedmann, Beiträge zur Gefchichte der Erfindungen I. Band, Leipzig 
1786, Artilel: Aſſekuranz, ©. 204—222. Pardeſſus, Collection de lois 
maritimes, VI Tom., Paris 1828— 1845 (Hauptwerk für pie Geſchichte der See⸗ 
verfiherung). Hübner, Jahrbuch für Bollewirtbichaft und Etatiftit, bisher acht 
Jahrgänge, Leipzig 1862—1863. (Sämmiliche Jahrgänge mit Ausnahme bes 
legten enthalten ſtatiſtiſche Mittheilungen Über das deutſche Verſicherungsweſen in 
allen Zweigen, die von Jahr zu Jahr reichhaltiger werden und zum Theil von 
kritiſchen Bemerkungen und theoretiſchen Exrörterungen begleitet find; es ſei bier 
beſonders auf vie belehrende und gründliche Abhandlung von Hopf: Ergebniſſe 
der Gothaer Lebensverfiherungsbant in dem erften Bierteljahrkunbert Ihres Ve⸗ 
ſtehens im 4. Jahrgang, ©. 164-205 aufmerffam gemadt). Jacobi, ein Bet- 
trag zur Geſchichte und Statiftil der Feuerverſicherung im preußiſchen Staat (in 
der Zeitfchrift des k. preuß. ſtatiſtiſchen Bureaus, vebigirt von , Jahrgang 
1862, Nr. 6 und Jahrgang 1863, Nr. 4). Ebenda Jahrgang 1863, Nr. 8: 
Ein Beitrag zur Geſchichte und Statiſtik der Feuerverſicherung im preußiichen 
Staate von einem andern, ungenannten Berfafler (verbreitet fich zugleich über die 
ſaͤtze der Verſicherungspolitik und Polizei mit befonderer Rückſicht auf Preußen). 
Brämer, Beiträge zur Statifiil des Verfiderungsweiens im preußtichen Stante, 
(Genewerfiherung und Lebensverfiherung), ebenda Jahrgang 1864, Ar. 4 und 6. 
Derfelbe, dad Fenerverfigerungswefen tm preußlichen Staat in den Jahren 
1863—65, ebenda Jahrgang 1866, ©. 283 — 394. Ferner beziehen fih auch auf 
Berfiderungsweien die dem 1863 in Berlin abgehaltenen internationalen flar 
tiſtiſchen Kongreß betreffenden geblegenen Artilel von Engel in verfelben Zeit- 
fprift, Jahrgang 1863, Nr. 5 und 1864, Nr. I und 2. Eine Haupiquelle 
die Berfiherungsflatifil N noch: Saski, Jahrbuch für das geſammte Ber- 
fiherungsweien, bisher 3 Jahrgänge, Frankfurt a/M. 1864—66. Unter den 
neneſten allgemeinen fiatiſtiſchen Werken bringt Hansner’s vergleichende Stati⸗ 
RE von Europa, 2 Bände, Lemberg 1865 bie meiften Daten über Berfiherungs- 
anfalten. Ben Fachzeitſchriften, deren es mehrere gibt, feien hier genannt: 
Berfiherungszeitung von Mafius, Leipzig 1846 — 1849; Rundſchau 

ver Berficherungen, gleichfalls von Mafins, feit 1851 erſcheinend; Berfigerungs- 
xitung von D. Häübuer, zuerſt als Beilage ber von bemfelben 1853 heraus. 
gegebenen „Radrichten ans dem Gebiete der Staats⸗ und Vollswirihſchaft“ uub 
bau beide in Berbindung mit dem Bremer Haudelsblatt von 1854—56, woran 
erſcheinen aufhörten; das Bremer Haudelsb 


j 


8 
* 


& 
& 
2 
i 


60 Derwaltung und Derwaltungstecht. 


Tübingen 1866 II. Band, ©. 85—108, 88. 123 und 124 (über Lebensver⸗ 
fiherung und Rentenanftalten); dann ©. 145—159, 88. 132— 135 (über Feuer⸗, 
See, Hagele und Biehaffeluranzen); Rau, Lehrbuch der politiihen Defonomie, 
II. Band, 5. Ausgabe, Heivelberg 1. Abtheilung 1862 und 2. Abtheilung 1863, 
88. 24—29 (Feuerverfiherung) 88. 105—108 (Hagelverfiherung) 8. 109 (Vieh⸗ 
verfiherung) 8. 272 a (Seeverfiherung) und 88. 368— 370 (Menten= und Lebens⸗ 
verfiherungsanftalten); und Roſcher, Syſtem ber Volkswirthſchaft II. Band, 
Stuttgart 1860, 13. Kapitel, 88. 164—168 (Brand-, Hagel- und Viehver⸗ 
figerung). Diefe drei allgemein gefhägten Lehrblicher geben nicht nur gebrängte 
Darftellungen ver verſchiedenen VBerfiherungszweige, fondern auch noch weitere 


Literaturnachweiſe. 3. atowiczta. 
Verſorgungsanſtalten, ſ. Waiſen⸗, Findel- und andere Ber- 
ſorgungsanſtalten. 


Vertheidigung, |. Strafrehtspflege. 
Vertrag, f. Staatenvertrag. 


Verwaltung und VBerwaltungsrecht. 


1. ®a8 heißt Verwaltung? 

Der Ausdruck Berwaltung wirb in dem bentigen Öffentlichen Rechte in ſehr 
verfchiebenem bald weiteren, bald engeren Sinne verftanden. Man bezeichnet damit 

1. im weiteften öffentlicherechtlihen Sinne ven Gegenfat zu Berfaffung und 
Geſetz ald der allgemeinen ruhenden Staatsorbnung, und meint damit bie Staat 8- 
thätigkeit im Einzelnen. Die Art der Regierungsform, pie Grundlagen ber 
Bollsrepräfentation, vie Gerichtsverfaſſung, felbft die Feſtſetzung des Budgets werben 
dann als Einrichtungen der erftern Art angefehen, dagegen bie Ernennung beftimmter 
Mintfter, pie Einberufung und die Berathung ver Kammern, vie Leitung des Schwur⸗ 
gerichts, die Herftellung einer Straße als Verwaltungsakte betrachtet. 

Seit Rouffeau, dem hierin auch noch Stein folgt, wird diefer Gegenfaß oft dar⸗ 
-  geftellt als der Gegenfag zwiſchen Wille und That und damit pſychologiſch zu er- 
flären verfudt. „La nation veut, le roi fait.“ &s läßt ſich zwar nicht beftreiten, daß 
in dem Geſetz vorzugsmelfe der allgemeine Staatöwille offenbar wird, und daß in den 
Verwaltungsakten die thatfächlihe Erfcheinung in konkreter Geſtalt zu Tage tritt. 
Über die Erlaſſung eines Gefeges ift doch zugleich Ausſprache des Willens und eine 
That des Gefeßgebers. Und in den meiften Berwaltungsaften zeigt fih zugleich eine 
Willensäußerung und eine Handlung. Wille und That find in beiden vereint. 
Der Gegenfat ift alfo nicht der von Wille und That, fondern vielmehr der von allge- 
meinem, grundfäglihem Willen und That einerfeits und von befonberen 
in tontreten Fällen erjheinenden Willenshbandlungen und 
Staatsalten anbrerfeits. Verfaſſung und Geſetz beftimmen dann die Orbnung, 
weldhe die Verwaltung zu beachten hat, jene find eine Grundlage und eine Schranfe 
für biefe; aber es war ein höchſt unglüdlicher Gedanke von ben verberblichften 
Folgen, daß die Verwaltung nichts fet als der Bollzug des gefeßgeberifhen Wil- 
lens. Die ganze Regierung wurde darin zu einem willenlofen Diener des Geſetz⸗ 
geber8 herabgewürbigt, währen gerabe in ber Leitung der Polttit und ver eigent- . 
lien Berwaltung der wecfelnden Stantsgefhäfte ein felbftbewußter und entſchie⸗ 
dener Wille die unentbehrlichfte Eigenfchaft guter Regenten und tüchtiger Beamten 
if. Die Mannigfaltigleit des Lebens erfordert konkrete Entſchlüſſe und Be» 





Derwaltung und Derwaltungsredt. 61 


ſchläſfe, vie etwas ganz anberes find als die Logifchen Konfequenzen der allge 
meinen Geſetze. Wie die Beachtung der Grammatif für den Scriftfteller nöthig 
it, aber die grammatijche Korrektheit noch kein Kunſtwerk bervorbringt, jo muß 
auch die Berwaltung zwar gefeglih untadelhaft fein, aber ihre Handlungen und 
Wirkungen find nicht einfache Anwendungen der Gefege, fondern fie erhalten ihre 
konkrete Geſtalt erft in Folge ber Beachtung der befondern Umſtände und Be⸗ 
dürfniſſe. 

Uebrigens Laffen fi nicht einmal alle Geſetze als Willensakte erklären. Ein 
großer Theil der beftehenden Rechtsordnung ift mit einer zwingenden Nothwen⸗ 
bigfeit gegeben und daher von dem Willen des Geſetzgebers nicht abhängig. Die 
Gormulirung und die Ausiprache des Geſetzes kann freilich nicht zu Stande kom⸗ 
men, ohne daß der Geſetzgeber mit Willen und Willen hanbelt. Uber das ent- 
ſcheidende Moment iſt bei allen in der Natur der Verhälinifie gegrünbeten Ge⸗ 
fegen doch eher die Ertenntniß ihrer nothwendigen Ordnung als der freie 
geftaltende Wille, der Regeln ſchafft. Und mande Einrihtungen und Rechts⸗ 
regeln find nicht einmal in Gefegesform bargeftellt, fondern lebiglih aus ver 
Bollsäbung zu erkennen, welche nicht duch den Willen, fondern eher durch das 
Gefühl oder Bewußtſein der Nothwendigkeit beftimmt wird, 

Noch mehr gilt das von den Verwaltungsatten. Die Verwaltung ber 
Rechtspflege voraus hat es weniger mit Willensakten zu thun als mit Urteilen 
und Erfenntniffen, und bie Sinanzverwaltung befhäftigt fi mehr mit ma- 
thbematifhen Rehnungsaufgaben und Schlüffen ale mit willkürlichen Ent- 
ſchlüfſen. Wenn daher auch dieſe Handlungen die äußere Form dee — freilich 
gebundenen und ver Nothwendigkeit folgenden — Willens annehmen, was gar nicht 
immer geſchieht, fo finden fie ihre piuchologifhe Erklärung doch nicht in dem Wil 
lm. Der Staat wird wie der Menſch von verjdiedenen Kräften beflimmt und 
bewegt und es ift ein Mißgriff, feine Ordnung und feine Thätigfeit- aus ber 
Einen Eigenfhaft des Willens oder auch aus Willen und Willensvollftredung 
erklaͤren zu wollen. 

In diefem weiteften Stun umfaßt der Ausprud Verwaltung auch bie gefeß- 
geberifche Arbeit und die gefammte politifche Leitung. Engere Borftellungen wer- 
den gebildet: . 

2. duch die Ausſcheidung der Geſetzgebung, weil viefelbe auch als 
Zhätigleit fi auf Herftellung einer bleibenden allgemeinen Ordnung bezieht. Der 
Gegenſatz wird dann bezeichnet: Geſetzgebung und Verwaltung. 

3. Durch Unterſcheidung der eigentlichen politifhen Stantsleitung im 
Großen und Ganzen, Regierung im engern Sinn (gouvernement politique), 
von der Bejhäftsbeforgung im Einzelnen und Kleinen, ver Admini⸗ 
fration, DBerwaltung im engern Sinn, Der Unterſchied iſt von großer prafti- 
fer Bedeutung. Ienes ift die Aufgabe ver wenigen Regenten und Staatsmänner, 
biefes der meiften Beamten und Techniker. Freilich ift dieſer Gegenſatz zwiſchen 
Regierung und Verwaltung ein fließenver. Die Polizetthätigleit wird in ben 
meiften Fällen ven Charakter der Adminiſtration haben, aber in der eigentlichen 
politiſchen Polizei, wo die Sicherheit oder Wohlfahrt des Staates felbft ein Ein« 
greifen erheifcht, erhebt fie ſich zur Regierung. Die Sorge für das Unterrichts» 
weien und bie Kultusverhältniffe wird, fowelt letztere ſtaatlich zu handhaben find, 
durchweg als Verwaltung in viefem Sinne zu bezeichnen fein, aber bie Kouflikte 
des Staates mit der Kirche erfordern die pofitiofte Thätigfeit der Megierung. Die 
Sinanzverwaltung wird gewöhnlich durch techuifche Regeln und wirthſchaftlichen 


62 Derwaltung und Verwaltungsrecht. 


Fleiß beftimmt, aber in großen Krifen wird au da die Verwaltung nicht aus⸗ 
reihen, fonbern die politifche Regierung einwirken müſſen. 

4. Noch enger wird der Begriff der Verwaltung, werm er auch ber 
Rechtspflege entgegengefegt wird. Auch die Rechtspflege ift Verwaltung im 
obigen Stun, aber fie hat einen fo eigenthümlichen in der Proceßlehre bargeftell- 
ten Charakter umd iſt organiſch von der Übrigen Verwaltung fo ſcharf getrennt, daß 
biefe letztere wieber ald Verwaltung im engern Sinn von jener unterſchieden wir. 

5. Endlich Hat die Ausbildung einer befondern Rechtspflege für Berwaltungs- 
recht den Begriff der Verwaltung no mehr verengert, indem dann ſogar alle _ 
Theile der Berwaltung, foweit in ihnen gewiſſe techniſche oder fonft berufsmäßige 
Rüdfichten überwiegen, davon ausgeſchieden werben, aljo bie Militärverwaltung, 
bie Finanzverwaltung, die Straßen- und Waflerbauveriwaltung, die Schule . ſ. f. 
und nur infofern nod vom Verwaltungsrecht im engften Sinn die Rebe ift, als 
die Öffentlichen Rechte und Pflichten der Bürger und Körperfchaften in frage ftehen. 

I. Staatsverwaltung und Brivatverwaltung (Selbftverwaltung), 
Beamtenverwaltung und Repräfentationerwaltung (Selbftverwaltung). 

Der Ausdruck Berwaltung wird zuweilen in einem, über das Gebiet des 
Gemeinlebens hinaus reichenden Sinne gebraucht, fo daß es überhaupt die Be⸗ 
forgung der eigenen ober fremden Intereflen und vie Ausübung von Rechten be= 
deutet, mögen biefelben einen privatrechtlihen oder einen Öffentlichen Inhalt Haben. 
Kur In diefem Sinne kann von Privatverwaltung gefprohen und biefe der 
öffentlihen ober Staatsverwaltung entgegen gefegt werben. “Die letztere 
nur wird von der Öffentlichen Pflicht erfüllt, in der erfteren offenbart fi) bie 
Willkür oder auch die befonvere (3. B. Familien⸗) Pflicht der Privatperfonen. 
So weit das öffentliche Recht reicht, fo weit iſt die öffentliche Verwaltung, in dem 
ganzen Gebiete des Privatrechts ift die Privatverwaltung die Regel. Aber es gibt 
einzelne Stellen, wo aus allgemeinen Rüdfichten jene in biefe eingreift und hin⸗ 
wieder Webergänge von dieſer zu jener. Die vormundfchaftlihe Berwaltung z. ®. 
it weientlih Privatverwaltung, aber die Staatsverwaltimg übt eine fortgefette 
Aufficht darüber aus und die ganze Obervormundfhaft erſcheint als eine dffent- 
liche Amtspflicht. Die Berwaltimg des Berfiherungswefens iſt Privatſache, aber 
es gibt auch Feuerverſicherungen, die von Staats wegen geleitet werben. Die 
Schulen find zumelft öffentliche Anftalten und ihre Verwaltung ift eine öffentlich“ 
rechtliche. Wber daneben kommen auch Privatſchulen vor. Die Civilrechtspflege ge- 
hört der Öffentlichen Verwaltung an, aber in den Schledsgerichten nimmt auch fe 
den Charakter ver Privatverwaltung an. So ftehen ven Staatspoften die Privat- 
poften, den Staatsanftalten überhaupt die Brivatanftalten derfelben Art gegenüber. 

Us Grunpfäge laſſen fi über diefe Unterſcheidung ausſprechen: 

1. So weit die obrigkeitliche Autorität entſcheidet und deshalb auch 
ber Zwang gerechtfertigt ift (in dem Gebiete alfo des Imperium und der juris- 
dietio), da ift ausfhließlih vie äffentlihe Verwaltung am Plag. Dahin 
gehören außer Polizei und Militärverwaltung die gefammte Strafrechtspflege und 
Civilrechtspflege. Sobald das fchiensrichterlihe Berfahren zum Zwange führt, be⸗ 
darf e8 wieder der dffentlihen Verwaltung. Ä 

2. Soweit nit das Recht der Staatögemeinfhaft zur Anwendung und nicht 
die öffentliche Wohlfahrt zur Beachtung kommt, fondern die Privatwirthſchaft als 
Ausübung des Privatredhts erſcheint, da iſt auch die Privatwirthſchaft allein 

eeignet. 
— Würbe auf jenem erſten Gebiete die Privatverwaltung zugelaſſen, fo wäre 











Dermaltung und verwaltungsrecht. 63 . 


das Barbarei. Im, Mittelalter, fo lange noch die Race (zumal die Blutrache), 
das Fehderecht, die Selbftpfändung im Schwange waren, fo lange war auch ber 
Staat noch roh und umentwidelt. Würbe umgelehrt die Staatöverwaltung ſich 
auch be3 zweiten Gebietes bemächtigen, wie es bie Kommuniſten und einige ſocia⸗ 
liſtiſche Syſteme wünſchten, fo würde varüber vie Privatfreiheit gu Grunde geben. 
Hatte das Mittelalter zu wenig öffentliche Verwaltung gelannt, fo daß die allge 
meinen Interefien vernadläffigt blieben, fo litten die Zuftände in dem legten 
Jahrhundert an einer verkehrten DVielregiererei auch in ben Dingen, wo bie Pri- 
vatwirthſchaft ſich frei bewegen fol. 

“ 3. Auf den Zwifchengebieten der Kultur und der Wirtbfchaftöpflege, wo fid 
öffentlihe und Privatinterefien berühren oder durchkreuzen, da ift die Frage, ob 
Sffentlie oder Privatverwaltung, ſchwieriger zu entſcheiden. 

Im Allgemeinen läßt fi wohl fagen: je nachdem die öffentlichen ober bie 
Privatintereffen überwiegen, ift eher öffentliche ober Privatverwaltung am 
Plage. Aber varüber ſchon, in ver Schätung des Uebergewichts, gehen vie Anfichten 
weit aus einander. Am ſchwächſten tritt der Gegenſatz hervor in den verſchiedenen 
Anffefjungen einerfeits der Franzoſen, welche eine umfaflende Staatsverwaltung vor- 
ziehen und andererſeits der Engländer und Norbamerilaner, welche eher ber Pri- 
votverwaltung zugethan find. Die deutſche Verwaltung ift im Ganzen mehr vem 
franzöfiichen als dem angloſächſiſchen Vorbilde gefolgt. 

Jedes der beiden Syſteme bat feine Vorzüge und binwieder feine Mangel. 
Die Staatöverwaltung iſt allgemein und gleihmäßig, vie Privatverwaltung ört- 
li begrenzt und verfchiedenartig. Dort laflen fih eher Sarantieen ſchaffen für 
gehörige Ausbildung der Verwalter, eine geſchickte Technik, eine gefiherte Kon⸗ 
trole, aber es ftellen fih aud die Gefahren ein einer blos formellen, bureaukra⸗ 
tiſchen Erledigung der Gefhäfte und einer berriihen Willkür. Hier iſt die Ein- 
wirkung ber Intereifirten befler gefihert und jeder Einzelkxaft freie Entwidlung 
offen, aber e8 Tann audy die Gefahr ber allgemeinen oder theilweiſen Vernachläſ⸗ 
gung wichtiger Interefien nicht verfannt werden. Dort ift mehr für die Ordnung 

gt, Hier befier für die Freiheit; dort mehr Machtentfaltung, welche bie größten 

el in der Einen Hand der Stantsgewalt zufammenfaßt, hier eine reichere Steige⸗ 
rung der individnellen Tüchtigkeit und Betriebſamkeit, welche ſchließlich auch der 
Geſammtheit zu Gute kommt. Dort wachst die Verantwortlichkeit mit der Macht, 
am ſchwerſten Iaftet fie auf den leitenden Gentralbehörben, aber dieſe prüden hinwieder 
auf die ferneren Lokalbehörden und gewöhnen dieſelben an knechtiſche Unterwärfig- 
tet. Hier kann leichter der Ortspatriotismns feine Opferwilligkeit bewahren, aber 
anch eine bornirte Philifterei fi einniſten. Es ift ein Zeichen eines männlichen, 
gefunnen und civilifirten Volkslebens, wenn In einem Lande viefelben Zwede auf 
dem Wege ber Privatverwaltung zu erreichen find, melde anderwärts ter Thä⸗ 
tigleit der Stantsbeamtung nicht entbehren können und es ift ein Zeichen einer 
trefflicgen Staatseinrihtung und Staatspraxis, wenn dieſe eben fo gut und all 
gemeiner zu forgen weiß, als vie beffere Selbfiverwaltung in freieren Staaten e8 
zu thun pflegt. | 

Die neuere Zeit zeigt mancherlei Verſuche, biefen Gegenfag zu vermitteln 
uud das Repräfentatiofuftem auch in die Staatsverwaltung einzuführen. Dadurch 
wird ein neuer Gegenſatz ber Beamtenverwaltung und ver Repräfentatioverwals 
tung hervorgebracht, Der Grundgedanke ver Repräfentatinvverwaltung befteht 
in der Berbindung ber Amtsthätigfeit von Staatsbeamten und mitwirkenden 
Privatperfonen. Wie in der Geſetzgebung Regierung und BVollsvertretung zuſam⸗ 


3% Nermaltung und Derwaltungsrecht. 


warte, 9 a de Merealtung Beamte und Bürger. Man fucdht auf folde 
DENN: Berges ker Staats- und ber Privatverwaltung zu lombiniren umb bie 
Was Nu ce ya wermeiben. 

Ru ne Wer waren ſchon früher in der Rechtspflege die Schwurgeriägte und 
wu NE Schöffengerichte in geringern Straffällen. Dazu kommen mun für 
u Nougal, Depariemental- und Kreisverwaltung bie Provinzial- und Gene⸗ 
sat, ir Mreisperfammlungen und Krelsausichffe, für bie Pollgeiverwaltung 
x Near und Bezirksräthe, für die Armenpflege der Zuzug von bürgerlichen 
a ern und Armenvätern, für das Schulwelen die bürgerlihen Schulräthe 
w ff Huch die Ehrenämter im Gegenfag zu ben Soldämtern gehören Neſer 
Nrtang an, weil die Perfonen, welche zu jenen berufen werben, ihre Hanptftel- 
tang im bürgerlichen Leben haben und nur einen Theil ihrer Zeit und Kraft dem 
Sirenamt widmen. Der Kaftengeift der Beamtung kann ba weniger auflommen. 
Freilich tangen die Ehrenämter nur da, wo nicht die fortgefegte Verufsthätigkeit 
des ganzen Mannes erforbert wird. 

III. Berwaltungsreät. 

Man kann alles Bffentlihe Recht im Einzelnen und Kleinen Berwaltungs- 
recht im weiteren Sinne nennen, wenigftens fo weit e8 vie Verwaltung regulirt, 
wie man das Öffentliche Net im Großen und Ganzen, jo weit dadurch die Or⸗ 
gantfation des Staates beflimmt wird, Verfaflungsrecht Heißt. Die in Rechtsregeln 
und Inftitutionen offenbar gemworbene Grundlage und Beſchränkung ver Verwal⸗ 
tung bildet dann, foweit nicht ſchon bie Berfaffung das nähere beflimmt, das 
Verwaltungsrecht. Diefed und das Verfafſungsrecht gehören dann zuſammen als 
die organiſche öffentliche Rechtsordnung. 

Nenerlih dat Bähr („Der Rechtéſtaat.“ Kafiel 1866) es als eine Forde⸗ 
mng des Rechtsſtaats ausgeſprochen: „Bel jeder Handlung ber Staatsgewalt 
dürfen die dadurch berührten Perfonen die Entſcheidung über die Rechtefrage vor 
ein Gericht bringen.” Die Rechtsfrage in concreto würde dann jeder Zeit auch 
in der Behandlungsweiſe ſcharf unterſchieden von der Zwedmäßigkeitöfrage. Ueber 
jene würden bie Gerichte, über biefe die Regierung und Berwaltungsbehörden 
entſcheiden. 

Allerdings iſt es eine Aufgabe ver zukünſtigen Rechtsbildung, für beſſeren 
Schutz des öffentlichen Rechts überhaupt zu forgen, als gegenwärtig gewährt wird. 
Aber es wäre meines Erachtens doc eine unglüdlihe Richtung dieſer Reform, 
wollte man die Borftellungen und Einrichtungen des Civilprocefied übertragen 
auf den Proceß Aber öffentliches Recht und gar bie Kompetenz ber Clvilgerichte 
dahin erweitern, daß fie auch über öffentliche Aechtöftreitigkeiten verhandeln laſſen 
und urtbellen. Das Öffentliche Recht gehört feinem Wefen nad voraus dem 
Staate an und befteht um des Staates willen. Nicht die Einzelnmenfchen, 
die Bürger find daher zunächſt dabei betheiligt, fondern das Ganze iſt es. Daher 
darf die Frage auch nicht ausfchließlih oder auch nur vornehmlich von dem Stand- 
punkte der duch eine Handlung der Staatögewalt berifßrten Perfonen, ſondern 
fie muß vielmehr voraus aus dem Geflhtspunfte des Staates erwogen und ent- 
ſchieden werben. 

Offenbar war das Mittelalter, in welchem jever Meine Herr, jeder Vaſall und 
jede Körperfchaft ihre öffentlichen Rechtsanſprüche felbftäntig, theils In Proceßform, 
theils in Form der Selbfthülfe verfechten konnten, der Verwirklichung jener For⸗ 
derung viel näher als die heutige Stantenbildung, welcher eine einheitliche, gleich» 
mäßige und energifhe Regierung und Verwaltungsthätigfeit eben fo unentbehr- 








Derwaltung und Derwaltungsredt. 65 


lich erſcheint, wie die volle Entfaltung der bürgerlihen und der Volföfreiheit und 
welche daher eine Lähmung ver Verwaltung beforgt, wenn es lediglich von ber 
Beſtreitung eines einzelnen irgendwie Betheiligten abbinge, ob eine Sache als Ber- 
wultungs- ober als Verwaltungsrechtsfrage zu behandeln fell), Wie gefährlich bie 
Ueberfpannung ver juriftifhen Elemente im Staate fet, das zeigt am beflen bie 
Geſchichte des Mittelalters und der Uebergangsperiode in die neue Zeit. Der mo: 
derne Rechtsſtaat iſt doch noch in höherem Sinne Volksſtaat, politifcher 
Staat und Kulturſtaat. 

Die künftige Organifation von öffentlich-rechtlichen Gerichtshöfen, 
bie andy ich als eine Aufgabe der Zukunft betrachte, muß jedenfalls eine andere 
fein, als die unfrer heutigen Clvilgerichte, oder felbft unferer Staatsgerichtshöfe. 
Soll nit der Staat Schaden leiden und fowohl die Staatsautorität als das 
Staatswohl der Streitfucht einzelner Bürger ober der gefährlicheren Streitfucht 
ver politifchen Parteien geopfert werben, fo ift in der Zufammenfegung berfelben 
das flaatsmännifche Element mehr ald das juriftifche zu beachten und das 
Beduͤrfniß ber freien Bewegung des Ganzen forgfältig vor den Hemmnifien ſtarr 
geworbener Rechtsformen zu ſchützen. Würde heute aller Streit über öffentliches 
Reht an Gerichte gebracht werden, fo würde ber Heutige Staat auf den Kopf 
geftelt und die heutigen Välfer würden jehr bald wieder einem unfruchtbaren 
and formenftcengen Juriftenregimente, welches dann zur Geltung käme, vie unge. 
jägelte aber den gemeinen Nuten fördernde Regierungswilltür vorziehen. 

Die meiften Gebiete des öffentlichen Rechts entbehren in unjerer Zeit noch 
einer befondern Rechtspflege, und werben dem Schug theild der Megierungen und 
Berwaltungsbehörben, theils der repräfentativen Körper überlaflen. 

Das gilt insbeſondere: 

1. von ben völlerrehtlihen Streitigkeiten größten Theile. Ordentliche 
völferrechtliche Gerichtshofe gibt e8 nicht und die Schiedsgerichte ſetzen eine beſon⸗ 
dere Uebereinkunft der Parteien voraus. Selbft vie Prifengerihtshäfe und ähn« 
Ihe Gerichte über völferrechtlihe Dinge gehören, wo fle vorfommen, dem befon- 
35 an und. bieten inſofern ungenügende Garantieen für eine unparteiiſche 

pflege. 

2. Die Souveränetätsfragen, insbefondere au die dyn aſt iſchen An- 
frühe auf Landesregierung, werden wieder nicht von irgend einem Gerichtshof 
ta Form der Proceßverhandlung, fondern gewöhnlich durch ben größeren Proceß 
ver Volkergeſchichte erlevigt. Nicht felten gibt die Macht ven Ausfchlag, in welcher 
freilich auch ein ſtaatenbildendes Moment zu Tage tritt, und es folgt dann In 
ven Befchläflen der repräfentativen Körper, in den Abftimmungen ber Bürgerſchaft, 
im der Unterorbuung ber Beamtung und in der Huldigung des Volls die Aner⸗ 
lennung nad, in welcher fi; das Bewußtſein der ftetigen politiſchen Nothwendig⸗ 
kit, d. h. des Rechts ausſpricht. 

3. Die ftreitigen Berfaffungsfragen überhaupt werben ebenfo durchweg 
nicht Durch gerichtliche Urtheile, fonbern durch die polttiihen Partellämpfe, durch 
die Berhandinngen der Regierung mit den Kammern, buch Kammerbeſchlüſſe und 
Regierungsdekrete erlebigt. 

In allen dieſen drei Gebieten erweist fi die hohe Politik mit ihren Macht⸗ 
mitteln meiftens mächtiger als alle Nechtsmittel und fie Hält durchaus feſt an dem 





ie) die weitere Ausführung bei Bluntſchli, Verwaltungsrecht und Verwaltungepflege in 
der 24. — — B). vi. S. 279. 19 “ 
Bluntfliunn Brater, Dentſches Staate⸗Worterbuch. Xi. 5 


U d 


— — 


66 Derwaltaung und Derwaltungsredt. 


Sat: Salus populi suprema lex. Das Heißt die Rechtspflege bleibt bier im gün⸗ 
ftigften Fall der Sorge für die Staatswohlfahrt untergeorbuet, zuweilen fogar ent 
ſcheidet tie felbfithätige Gewalt, ohne daß man ihr mit Erfolg begegnen over 
widerſtehen kann. Gewiß iſt das ein unvollkommener Zuftand, welcher vie Eriftenz 
des Öffentlichen Rechts ſelbſi in den widhtigften Beziehungen unfiher macht. Aber 
Jedermann flieht andy, daß hier viel zu große Interefien des Bölferlebens in Frage 
find, als daß man deren Entſcheidung der blos juriftiihen Erwägung eine Ge⸗ 
richtehofes anheim geben dürfte Es könnte das nur dann anderd werben, wenn 
zureichente Garantieen dafür geboten würden, daß bie gerichtlihe Entſcheidung 
ſelbſt alle ſekundären Rechtsregeln jenem oberften Stantengefeg allezeit unterzuorbnen, 
und die beſtehenden Rechtsanſprüche mit den Anforderungen ber öffentlichen Wohl 
fahrt in Einklang zu bringen verftünde, fowie dafür, daß ein folder Sprud zum 
Bollzuge käme. | 

4. Über auch Innerhalb des Gebietes der Militärverwaltung und ebenfo 

5. in dem Gebiet ver Bolizeiverwaltung im eigentlichen Sinne entfcheidet 
regelmäßig biefelbe Stelle, welche einen Befehl oder ein Verbot erläßt, zugleich 
über die Frage der Rechtmäßigkeit und der Zwedmäßigkeit folder Berfügungen. 
Man beforgt von einer Trennung der beiden ragen eine Lähmung ver militärt- 
ſchen oder polizeilichen Aktion. Ob die Truppen in Kriegszeiten eine Verbindung 
zu hemmen ober abzubrehen, ob fie ihre Geſchütze auf Häufer zu richten haben, 
ob bei einer Weuersbrunft ein Haus wegzureißen, bei einer Epivemie Menfchen 
längere Zeit abzufperren ober Thiere abzufchlachten jeien, das find offenbar nicht 
bloße Zwedmäßigkeitsfragen. Sie dürfen nur bejaht werben, wenn bie Noth es 
rechtfertigt, d. 5. wenn zugleih die Rechtefrage bejaht werben muß. ber über 
viefe Nothwendigkeit nrtheilt nicht ein Gericht, fondern biefelbe Behörde, welche 
bie Ausführung nad Zweckmäßigkeitsrückſichten leitet. Und dennoch wirb Niemand 
beftreiten, daß dieſe Berfügungen einen ſehr ſtarken Einfluß üben fogar auf die 
Privatrechte und den Privatverfehr. Man nimmt an, daß die Nüdfiht auf das 
allgemeine Wohl gebieterifh ein entfchlevenes und durchgreifendes Handeln erfor- 
dere und eine Berwelfung ver Rechtsfrage an ein Gericht das Heer entmannen 
und bie Polizei unwirkſam maden müßte. 

Erſt wenn entweder die Frage der Entfhäbigung ber verlegten Privaten 
ober bie Berhängung einer Polizeiftrafe zur Beurtheilung kommt, dann iſt das 
neuere Staatsrecht geneigt, im erften Fall die Kompetenz der Sivilgerichte, im zwei⸗ 
ten tie der Strafgerichte anzuerkennen, und dadurch den Privatperfonen Oaran- 
tieen zu gewähren gegen übermäßige ober ungerechfertigte Belaſtung ihres Vermö⸗ 
gend oder ungeeignete Strafen. So weit das Bffentliche Net, das von den Be⸗ 
hörden verwaltet wird, in Frage iſt, find wohl Rechtsmittel innerhalb ber Verwal⸗ 
tungsbehörbe felber geftattet bie hinauf zu der Megierung ober dem Staatsrath, 
aber es iſt ein gerichtliches Proceßverfahren eröffnet. 

Das Berwaltungsredht im engern tehnifhen Siun, für weldes in 
manden Staaten eine befonbere Verwaltungsrechtspflege eingerichtet ift, erſtreckt 
ih alfo nit fo weit als das öffentliche Recht überhaupt, nicht einmal fo weit, 
ald die Berwaltung felbft nach befondern Rechtsgrundfägen zu verfahren bat 
und auf bie Geftaltung ter öffentlihen Verhältniſſe einwirkt. 

Dosjelbe wird nad dem gegenwärtigen Stand ber Dinge vornehmlid be⸗ 
ſchränkt auf den ziemlich engen Kreis derjenigen öffentlichen Rechte oder Pflichten, 
welche eine relativ felbftändige Geftalt mit Bezug auf einzelne Betheiligte 
erlangt und daher als Rechte ober Pflichten einzelner" Körperichaften oder Bürger 





Derwaltung und Derwaltungsrecht. 67 


eine ahnliche Konfiftenz wie Privatrehte erhalten haben. Nur in biefen Fällen 
nämlich gibt e8 Parteien im eigentlichen Sinne, bern Rechtsbehauptungen 
einander widerftreiten und welche baher in ber Tage And, einen Proceß vor Ge⸗ 
riht durchzuführen. 

Freilich bleibt der Charakter des Bffentlihen Rechts auch bier gewahrt, Indem 
dieſe einzelnen Parteien doch nicht ein abfolnt-perfönliches, ihnen ausſchließlich 
zugehöriges Net, auch nicht wider alle Welt und inshefondere nicht wider den 
Staat befigen, aber verfelbe tritt doch, um jener befonvern Beziehung willen 
auf beſtimmte berechtigte oder verpflichtete Perſonen nicht fo lebhaft hervor, 
nie in ben ambern öffentlichen Rechten und Pflichten, deren Unterorpnung unter 
be Staatsgewalt eine abfolute iſt, fie können doch wie Sonberredte be- 
hanptet oder vertheinigt werden. Das Gemeinde⸗ und Staatsbärgerrecht, die Aus- 
dehmung ber Stenerbefugniffe der Gemeinde, die Steuerpflicht überhaupt, foweit 
fe nicht nach privatrechtlihen Grundfätzen zu bemefien ft, die Auseinanverfegung 
ber Gemarkungen der verfchievenen Gemeinden und ihrer Bffentlichen Güter, bie 
Unterbringung von heimatlihen Perfonen, die Zufammenlegung von Grundftäden, 
die Benutzung der Bffentlihen Wege und bie Unterhaltungspflicht verfelben, vie 
Benutzung der äffentlichen Gewäſſer mit Bezug auf die öffentlichen Benürfniffe, 
ver Unterhalt der Dämme, Wuhrungen, bie Reinigungspflicht des Flußbettes, bie 
Beupfliht für Kirchen, Schulen und andere Bffentlihe Gebäube, vie Beſchrän⸗ 
fung der Privatbauten aus Gründen der öffentlihen Wohlfahrt, vie Uebernahms⸗ 
pliht von Gemeinde- oder Staatsämtern, die Ausdehnung der militärtfhen Dienft- 
pflicht, Eifenbahn-, Telegraphen-, Poftverhältniffe, ſoweit die Bffentlicherechtliche 
Seite ale entſcheidend hervortritt, die Nothwendigkeit der Outsahtretung aus 
Gründen der öffentlichen Wohlfahrt find Fälle der Urt, welche ſchicklich verwal⸗ 
mugsrechtlich und nicht blos verwaltungsmäßig behandelt werben. 

Das franzöſiſche Berwaltungsreht hat in Vermögensjahen ven Gegenſatz 
wiihen öffentlih-rehtlihen Bermögensbeziehungen und rein privatredht« 
ligen forgfältig, bis ins Einzelne ausgebildet. Dan kann ber Meinung fein, 
daß dasſelbe das Gebiet des öffentlichen Rechts an manden Stellen zum Schaden 
ver Privatfreiheit allzn weit erftredt habe, aber ber Unierſchied ſelbſt darf nicht 
äberfehen werben. Auch der Staat Tann reines Privatvermdgen haben, Ei- 
genthum an liegenden Gütern und an fahrender Habe, Forderungen und Schul« 
den, die ſich durch nichts von dem Vermögen der Privatperfonen unterſcheiden 
ud daher den gewohnten Regeln und Gefchäftsformen des Privatverlehre unter 
legen. Infofern erfcheint der Staat entllelvet von aller Majeftät und Souveräne 
tät, lediglich wie ein Privatmann. Die Franzofen nennen das domaine de l’Etat, 
wir Können es Privatgut des Staates heißen. Die Sachen, die dazu gehören, 
find res privatae nnd das Recht baran ober darauf iſt jus privatum. 

Über es gibt au ein flantlihes Vermögensrecht von weſentlich öf⸗ 
fentlich⸗rechtlichem Charakter, öffentlihes Gut (Staatsgut); und zwar in 
koppelter Beziehung: 

1. indem gewiffe Sachen entweder von Natur ober ihrer fortvauern- 
ven Beſtimmung nad der Privatberrfchaft entzogen find und der Gemeinſchaft 
zudienen. Die Franzoſen faffen dieſes Vermögen zufammen mit dem Ausprud 
domaine public. Theils gehören dahin vie Sachen, welche wie die öffentlichen 
Gewäffer, die Straßen, bie läge u. ſ. f., fo lange fie dieſe Natur haben, aus⸗ 
qließlich der Gemeinſchaft dienen und gar nicht des Privateigenthums fähig 
fad,res publioae, quae extra oommercium et publici juris sunt, im eigentlichen 


— — 


66 Derwaltung und Derwaltungs, u 


Sat: Salus populi suprema lex. Das heißt ti: gern Beſchaffenheit nad wohl 
ftigften Fall der Sorge für die Staatswohlfa: :re Befimmung dem Privatredt 
ſcheidet die felbftthätige Gewalt, ohne dat: sffentlihen Gebrauche vorbehalten 


widerftehen kann. Gewiß iſt das ein un’ nen, Löſchgeräthſchaften u. |. f. 

des Öffentlihen Rechts felbfl in den ' ind Hoheit aud über das Privat- 

Jedermann fieht auch, daß bier vi:' ındete ausübt, wie Insbefondere in 

find, als daß man deren Entid . oder in Form der flaatsredhtlichen 

richtshofes anheim geben tür’ 

zureichende Garantieen to en Güter, beftehen fie num in öffent 

felbſt alle ſekundären Rec a, eignet fi vorzüglich zu verwaltungs- 

und vie beftebenven * i 

fahrt in Einklang : 

Bollzuge käme, waltungsredts im engern Sinne ala bie 
4, Aber mi hängt wefentlih ab von der Eimidhtung einer 
5. in dan „»ystehtöpflege, im Gegenfage fowohl zu bloßer Ber⸗ 

vegelmäß;, . . u Givilgerihten. Man kann zweifeln, was für das öffent- 

über... . oder umb verberblider fel, ob eine übermäßige Autorität ber 


Ma.. ar in Willkür und Despotismus ausartet, ober eine cioiliftifche 
ng de Üentlichen Rechts, welde den Staat auflöst unb feine Bewe⸗ 
a. Wan fchen der Handelsſtand für handelsrechtliche Streitigfeiten fein 
eaauen ſaſſen kann zu den gewohnten wit Iuriften befegten Eivilgerich- 
sand Madeltgerichte verlangt, in benen Kaufleute als Urtheiler mitwirken, 
nu: ua ib miht verwundern, daß die Männer der Verwaltung und bie 
sauna ie Dandbabung des öffentlihen Rechts unſern Civilgerichten nicht an⸗ 
‚ug wellen, Die Handelsleute bezweifeln uicht die Unparteilichleit ver Civil⸗ 
ua ach ihre Fähigkeit aus gefeglichen Rechtsvorſchriften richtige Schlüſſe zu 
ru, der fie find der Meinung, dieſe Eigenſchaften genügen nidt, um bas 
Nadxveqht zu fihligen, vielmehr liege gerade in dieſer juriftifchen Kunft, logiſche 
Trutionen aus abfiralten Sägen zu machen, wenn fie nit von dem Einblid 
va dir Wetürfniffe des Sandelsverfehrs und in den Sinn der Taufmännifchen Ge⸗ 
‚te erleuchtet und geleitet werde, die große Gefahr für das lebendige Hanbels- 
ar daß es der logiſchen Formel geopfert werbe. 

Ganz ähuliche, nur fehr viel ſtärkere Gründe ſprechen dafür, bag bie Ber: 
waltungerechtöftreitigfeiten nicht an die Cioilgerichte gebracht werben, beum das 
Rırwaltungsreht iſt nicht ein Theil des Civilrechts, fondern gehört einer grund- 
verfchlevenen Rechtsordnung an, und würde nod ſchwerer gefährbet, wenn e3 ohne 
Einblick in tie wandelbaren Bedürfniffe des öffentlichen Lebens lediglich durch 
logiſche Schlußfolgerungen aus abſtrakten Gefegen auf behauptete Thatfachen ge= 
dandhabt würde. Die naive Unbefangenheit, welche nichts flieht, als was In den 
Wten iſt oder von ben Parteien vorgetragen wird, pie hohe Unparteilichkeit, welche 
in dem Staate nur einen Gegner einer andern völlig gleichberechtigten Partei er- 
blidt, die Feinheit ber Unterſcheldung, welche die Thatſachen in ihren einzelnen 
Momenten zerlegt, und unter die hergebrachten juriftifhen Begriffe unterbringt, 
der Meine, zumellen milroftopifche Scharffinn, welcher aus der Form auf ven Wil⸗ 

len ſchließt, und die logiſche Strenge und Unerbittlichleit find fehr ſchärenswerthe 
Cigenſchaften eines Givitricgters, aber für den Richter In Sachen bes dffentlihen 
Rechtes Höchft gefährlihe Eigenſchaften, vie ihn mißleiten Bunen gerade bad zu 
überfehen und zu mißachten, was bier die Hauptſache If, ven Zufammenhang aller 
Iffentlihen Rechte mit dem großen Staateganzen, dem fie angehören und zubienen, 





Berwaltung und Dermaltungsrecht, 69 


Es Hat einen Sinn, wenn der Eivilrichter fich auf das Sprihwort beruft: 
fiat justitia et pereat mundus, benn bad Privatrecht befteht gegen alle Welt, 
alt auch nur deßhalb einen Sinn, weil e8 ganz unmöglich iſt, daß ver Ente 

it Über einen einzelnen Civilproceß die Welt aus ben Angeln hebt, aber es 
völlig finnlos zu fagen: fiat jus publicum et pereat res publica. 

ne Untauglichkeit der blos civiliſtiſchen Bildung und Berufsübung für bie 

ngöredhtspflege wird auch von ben franzöflihen Publiciften wohl erfannt, 
ertrefflichen abminiftrativen Stubien ſpricht fi Vivien darüber fo ans: 
iftrativgefege find wefentlih verſchieden von ben GEivilgefegen; fie er- 
rere Studien und beruhen auf allgemeinen Principien einer ganz 
ng. Um biefelben mit Verſtändniß nnd ihrem Geifte gemäß anzu- 

es nicht die Schule des Rechtsanwalts durchgemacht und mit ben 

ıgen bes Civilproceffes ſich vertraut gemacht zu haben, man muß 

: bes Öffentlichen Lebens eingeweiht fein und an den öffentli- 

.. heil genommen haben. Was den Clvilrichter auszeichnet, das wird 

‚.t zum Fehler. Ienem iſt der Staat nur eine abftrafte Perfönlichkeit, für 
den er weniger Interefle empfindet, als für bie lebendige Privatperfon, deren In⸗ 
terefien der Anwalt verfiht. Nur zu oft-fieht er den Staat wie einen Unterbrüder, 
biefe wie fein Opfer an.‘ | 

Wenn fi diefe pfychologiſche Erfahrung fogar In Frankreich zeigt, fo If 
biefelbe Gefahr noch größer für Deutſchland, denn ber Deutfche iſt von Natur 
weniger auf den Staat angelegt als der Franzoſe, er iſt weniger geneigt fi dem 
Staate unterzuorbnen und legt einen größeren Werth auf die individuelle Eigen» 
art und die Privatfreiheit. An ber mittelalterlichen Weife, alle öffentlichen Fragen 
wie Broceffe über Eigenthum zu behandeln, hatte biefer germanifhe Grundzug 
einen erheblihen Antheil. Deßhalb wird es ber beutfchen Nation fo ſchwer, ben 
modernen Staatögeift in fi zu entwideln und praftifch zu bethätigen. 

Würde das Verwaltungsrecht in ciotliftifcher Weife gehandhabt, was kaum 
ju vermeiden wäre, wenn die Civilgerichte darüber urtbeilten, fo würbe baher ber 
öffentliche Geiſt vesfelben nicht zu voller Anerkennung gelangen. Die inbivipnelle 
Rehtbaberel und ver logiſche Formalismus befämen zu viel Macht, die Staats⸗ 
verwaltung würbe gelähmt und bie Befriedigung ver öffentlichen Bedürfniſſe viel- 
Altig erfchwert. Wer gewohnt iſt in dem Recht nichts anderes zu fehen, als ein 
Enftem von formulirten Regeln, von abſtrakten Vorſchriften, von Gefegen im 
weitern Sinne, gleichviel ob er biefelben wie Stahl im theofratifhen Geiſte als 
eine göttliche, oder wie andere in menſchlich freierem Sinne, als eine aus dem 
Soltswillen entfprungene ſtaatlich Ordnung über den Menfchen betrachtet, 
dem wirb es nicht leicht zu verftehen, weshalb denn die Gefege des öffentli— 
Gen Rechts einen anderen Charafter haben, als die Geſetze Über das Privat- 
vet. Obwohl dieſe ideologiſche Auffaflung des Rechts überall unzureichend iſt, 
fo werben ihre Mängel doc im Privatreht weniger empfunden. Diefe Privat- 
perfonen, die mit einander ftreiten, müſſen ſich einer Gefetantorität unterorbnen, 
nelche als eine fittlihe und ftaatlihe Macht über Ihnen ift und fie Ihrem Willen 
unterwirft. Uber daß die äffentlihe Rechtsordnung, wenn gleich ebenfalls in Ber- 
fefung und Gefeg in Form des Volkswillens formulirt und ausgefprochen, nicht 
alt eine abfixakte, unveränderliche Orbnung über dem Voll und bem Staat zu 
begreifen fet, das iſt nachgerade durch die Stantswiffenihaft Mar geworden. Das 
Siaaterecht ift nicht ein Gedankending außer und über dem Gtaat, ſondern es 
MR der organiſche, Lebendige Staat felbft in feinen nothwenbigen Verhält⸗ 


— 





— un 


68 Verwaltung und Derwaltungsrr „ 


Sinn. Theils gibt e8 Sachen, welche zwar ihrer 1, entwidelt und wanbeit 
bes Privateigenthums fähig find, aber durd ih »eihes als abftrafte Macht 


dennoch ganz oder theilweife entrüdt und dem ‚talteten Privatrechte, welche 
find, wie 3. B. Rathhäuſer, Feſtungen, Kaſe dem Grade unveränderlich, 
2. Inſofern der Staat ſeine Macht öffentlichen Rechte viel ent- 
vermögen als eine ſtaatsrecht lich b s, das nie ftille ſteht, mit 
dem gefammten Steuerredt bes © x Privatrechte in der Regel 
Regalien. Form desfelben zu erkennen 
Diefes ganze Gebiet ver öff rde eine derartige nur zuräd» 
lien Sachen ober in Finan ingsrechts, welche den Zuſam⸗ 
rechtlicher Ausbildung und Be' ichen Lebens nicht beachtete, 
IV. Verwaltungsre einen unleidlichen Widerſpruch 
Sowohl die Ausbildu 
Sicherung desfelben im e! nad Umſtänden flrenger und 
befondern Berwalt: Kriegs, gefährlicher Bewegungen, 
waltung als zu de— . „;unpiebder freier und laxer in friedlichen 
liche Leben geführt ; zus gar nidt anders fein, weil dad Verwaltungs» 
Regierung, me‘. nz des Öffentlichen Lebens losgetrennt werden Tann. 
Handhabung “ Heriese die Bedingungen nnd Schranken des Vermaltungs- 
gung lähmt wmurſſen biefelben eben fo treu und aufrichtig tem Urtheil 
rechtes Ver verden, wie bie Geſetze über das Privatrecht. Aber gewöhnlich 
ten, ſopd ‚a Xerwaltungsftreitigleiten innerhalb jener geſetzlichen Schran- 
fo der 5, werten Spielraum offen, innerhalb deſſen er die Anfprühe ber 
Tor "5 Rueterumgen bes Staats im Geifte des gegenwärtigen Lebens 
I Besurmafe gu märbigen, auszugleichen und mit ber Bewegung ber 


‚zug ya bringen hat. Der Richter ver Bermaltungsftreitigleiten wird 

rs a8 ber Givilrichter in der Lage fein, neben der Frage der Geſetz⸗ 

a matıgfeit aud bie der Zwedmäßigteit mit in Betracht zu ziehen 
ap mt blos rüdwärts, fondern aud vorwärts ſchauen müſſen. Der 
oa Apr veſe Rüdfichtsnahme anf das Zwedmäßige ziemlich felten aus, wie 

"Ro Teeiange nub Grenzregnlirungsklagen, ver Berwaltungsrichter wird 

u. wearale in erfter Linie nad dem Rechtmäßigen fragen, aber er würbe bie 
Nu.cr ia Verwaltungsrechts verfennen, wenn ex nicht in ſoweit bie Elafticität 
sure Wodhtete, als es nöthig erfcheint für die Bedürfniſſe des Gefammtlebens, 
Ian wirt er nicht Iemandem das Stimmrecht deßhalb abſprechen, weil er über- 
wagt iR, daß derfelbe einen ungwedmäßigen Gebrauch davon machen werde, denn 
a ur Die Bedeutung der Wahlfreiheit trog ihrer Gefahren wohl zu ſchätzen, 
ma wenn die Gültigkeit einer Wahlverhandlung in Frage iſt, jo wird er viefelbe 
zu wit in terfelben formellen Weife beurtheilm, wie wenn über bie Gültigkeit 
nd Teſtaments geflritten wird, ſondern viel freier auch den möglichen Einfluß 
wer gerügten Formfehler auf den Wahlgang und bie gegenwärtige Bebentung ber 
Rage für die allgemeine Tandeswohlfahrt in Erwägung ziehen. Wenn ferner in 
ser mit einer Gemeinde Streit iſt über die Ausgaben zu Gemeindezwecken over 
aber das Beitragsverhältniß der Nebenorte zu gemeinfamer Straßenverbeflerung, 
aber vie Leiftungen für Schulbanten, über die Ausdehnung der Schulpfliät, über 
Wipdrauc der kirchlichen Autorität u. f. f., fo find alle dieſe Fragen richtig nicht 
zu beantworten, wenn nicht Rüdfiht genommen wird auf die gegenwärtigen Be- 
tärfaiffe, die wirthſchaftlichen und Rulturverhältniffe ber betreffenden Ortfcaften 
oder Klaffen, die Entwidlung des gefammten Geiftesiebens. Das Gemeindebürger- 





ET 


Dermaltung und Derwaltungstect. 71 


unb das Heimatrecht fcheinen auf dem erften Blick gerade fo fefte Rechte zu fein, 
wie etwa das Privatrecht eines Mltionärs, oder ver Familienſtand, und dennoch 
eiß jeder Geſchafiskundige, daß jene viel größeren Veränderungen ausgeſetzt find, 
viefe, und daß, wenn in einem Lande die freie Niederlaffung und die Ge— 
reiheit eingeführt oder die Umwandlung ber Bürger in die Einwohner: 
* vollgogen over auch nur vorbereitet wird, bie darauf bezüglichen Rechts- 
einem ganz anderen Lichte erſcheinen und auch anders behandelt werben 
bevor diefe Wandlung des öffentlichen Lebens erfcheint. Auch auf das 

on bat das Einfluß. Vivien äußert fih darüber fo: 
-mwaltungsftreitigleiten ertragen wohl eine geregelte richterliche Be⸗ 
fie find der Art, daß fie nicht demfelben Gerichte zugewiefen wer- 
tie Eivilfachen. In den gewöhnlichen Proceffen über Civilrecht 
mit benfelben Rechtstiteln und Proceßvortheilen fich gleichmäßig 
age des Richters hält das vollkommene Gleichgewicht zwifchen 
„erwaltungsftreitigfeiten dagegen erfordert das öffentliche Intereſſe 
.tje wohlmollende Berüdfichtigung (certaines facilites, certuins tempéra- 
ments), welche zwar das Recht nicht mißachtet oder verlegt, aber feine Anwenpung 
und die Art feiner Handhabung mohificht. Eines Tages hatte der Präfident eines 
tönigligen Gerichtshofes das Geſuch der Stantsanwaltihaft abgefchlagen, daß eine 
Proceßſache des Staats, betreffend Erpropriation eines Haufes, weldhes in bie 
öffentliche Straße hineinragte, vorweg behandelt werde und bemerkt: „Diefes Haus 
wird als Zeuge dafür ftehen bleiben, daß in Frankreich das Recht für alle gleich 
iſt· Das ift der Geift der Eivilgerihte. Vor einem Gerichtshof über Verwal⸗ 
tungs ſtreitigkeiten hätte das Öffentliche Interefie, daß der gemeine Verkehr nicht 
werde, unbebenklich veranlaßt einen derartigen Proceß fofort zu erlebigen. 


Das iſt der Geiſt der Verwaltungsgerichtsbarteit." 


Die Berbindung der Verwaltungs⸗ und der Civilrechtspflege in Einer Be 
hörbe gefährdet alfo nad zwei Seiten bin die Rechtspflege. Entweder behandeln 
die Gerichte die erfteren Streitigkeiten in verfelben formalen Welfe und ohne Rück⸗ 
ficht auf die äffentlihen Bedürfniſſe der Gegenwart und daher wiber die Natur 
des Berwaltungsrechts, oder wenn fie bei Behanplung dieſer Fragen fi daran 
gewöhnen, nad freierem Ermeſſen und mit Rüdfiht auf die Staatsinterefien zu 
verfahren, fo geräth hinwieder die Privatrechtöpflege in die Gefahr, ähnlich und 
daun der Natur des Privatrechts zuwider behanvelt zu werben. Die Miſchung 
von beiden Procefien ift alſo unzwedmäßig. 

Als ganz entſcheidend muß aber vie Erfahrung betrachtet werden. Wir fehen, 
daß die moderne Staatsverwaltung fi eine von Ihe wejentlid unabhängige Ber: 
waltungsretspflege gefallen läßt, und einwilligt, daß nad und nad die Zuftän- 
digkeit derſelben erweitert werde, dagegen überall, wo es feine befonderen Ber- 
waltungsgerichte gibt, aufs Außerfte beftrebt iſt, die Streitigkeiten über Verwal⸗ 
tungsredht als bloße Berwaltungsjade in Ihren eigenen Händen zu behan- 
deln und mehr ober weniger willfürlih zu entjcheiden. Die praftifche Folge ber 
Berneinung der Berwaltungsrechtspflege ift alfo nicht die, daß nun das Verwal⸗ 
tungsrecht unter den Schuß der Civilgerichte geftellt werde. Sogar wenn Gefege 


das vorfchreiben, fo hindert die Macht der Regierung, die fi, bier in ihren eigen- 


hen Intereſſen bevroht fühlt, vielfältig den Vollzug, und auf manderlei Wegen 
und Umwegen wiffen vie Berwaltungsbehörben doch die Sache in ihrem Sinne zu 
entſchelden. Das ift im Großen die Entwidlung des 18. Jahrhunderts in Frank⸗ 
sch und des 19, Jahrhunderts in Deutſchland. Die Folge iſt vielmehr die, daß 

















E Dierter Stand. 


UN Ri ysutsagdeedtepflege, welche ben Vethelligten die Garautieen 
SO VER SEHE FRGEN vie Berwaltung entfcheivet, weldye ihnen biefe Ga⸗ 
. BDeo iſt es in den meiften deutſchen Staaten, und deßhalb if 
aan de eigentliche Berwaltungsrecht weder wiſſenſchaftlich 
me grundfalſche Vorſtellung, daß bie Berwaltunggrechtepflege 
Nu edernaß der Regierungsgewalt entſprungen ſei, und daß die Sicherheit 
x em Kechts durch ihre Beſeitigung gewiunen würde. Im Gegentheil, 
sa 3...När ver Berwaltung wird durch fie vermindert und die Freiheit ge⸗ 
una, wenn die Bormundſchaft der Verwaltungsbehörden ſich in ven Rechtsſchutz 
a Qerwaltungsgerichte umwandelt. 

Sehr reich und burdgebitbel ift die franzöfifche Litteratur über Berwaltungs« 
wet mehr noch als über Verwaltung. Einige der bebeutenbften neueren Schriften 
fat: Dufour, trait6 general de Droit administratif applique. IV Bänte. 
Paris 1843—45. Macarel, Cours de droit administratif. IV Bde. Paris 
1844. 45. Cabantous, R£petitions 6erites sur le droit public et adminisira- 
tif. Paris 1863 (vritte Auflage). Vivien, Etudes admin. II Be. Paris 1859. 
Dareste, bhistoire de l’administr. 2 Bde. Paris. Bock, Dictionnaire de 
P’administration frangaisc. Paris 1856. Batbie, trait€ de droit public. Paris . 
1862. 63. Für Deutfhland find hauptſächlich bie allgemeinen Schriften von 
Majec, Verwaltungsrecht, Tübingen. Gerfiner, Grundlagen der Staatsverwal- 
tung, Würzburg 1862. Stein, Verwaltungslehre, Wien 1865. 66. Bis jegt 
2 Bde. und dann bie Hanptwerfe über die Verwaltung und das Verwaltungs» 
recht einzelner veutfcher Staaten, ganz befonders die Bücher von Rönne (Preußen), 
NR. dv. Mohl (Würtemberg), Pözl (Bayern) und bie Blätter f. atm. Pr. (Bayern) 
zu beachten, Binntfält. 


Bierter Stand. 


Der Ausdrud „Bierter Stand” iſt zunähft in Deutfchland aufgelommen, 
und zwar in der Abfiht, den Gegenſatz gegen den fogenannten „Dritten Stand“ 
(f. d. Urt.) zu bezeichnen. Diefer Gegenfag felber iſt freilich früher ſchon in ver 
franzöfifhen Revolution der Neunzigerjahre anfchanlid geworden, damals, als ber 
Sironde, In welder vorzugsweiſe der dritte Stand vertreten war, bie VBergpartei 
- entgegen trat, welche fi vornehmlih auf vie untern Boltsklaflen ſtützte. Indefſen 
ganz beutlih wurde der Unterfhieb damals no nicht, weil vie politiſche Partei- 
richtung eher als der fociale Gegenfag die Maſſen zu trennen ſchien. Robespierre 
felber, der Hauptführer der Jakobiner, war perfönli ein Mann des pritten Standes 
und von dem Gedanken der bürgerlihen Gleichheit fo ſehr beherrſcht, daß er einen 
wefentlihen Unterfchied innerhalb der Vollsklaſſen nicht begriff. Er fah nur bie 
Parteiunterſchiede, und die focialen Gegenfäge nur da, wo bie Erinnerung an bie 
vornehme Ariftofratie feinen Haß reizte. In dem erften Napoleoniſchen Kaiferreicy 
hatte man fi) entwöhnt, von befondern politiſchen Stänven und Klaffen zu ſprechen. 
Die Uebermacht des großen Kaifers hinberte jede Reibung unter benfelben. Er 
jelbft ſtützte ſich indeſſen vorzüglih auf die Zuſtimmung und die Zuneigung der 
großen Volksklaſſen. Die Neftauration ftellte die großen Volksklaſſen ganz in den 
Schatten und nur die altberechtigten Stände ſchienen wieder politiſch von Bedeu⸗ 
tung. Aber die Iulirevolution von 1830 war hauptfählih das Werk des britten 
Standes. Der neue König Lonis Philipp erſchien gleihfam als die Perfonififatton 
des dritten Standes, mit dem er fich in die Herrfchaft von Frankreich theilte. Dex 








Dierter Stand. 73 


gange vierte Stand war währen der Petiobe ver Charte von 1814 von allem 
Stimmrecht und von jeder Theilnahme an ven öIffentlichen Angelegenheiten bes 
Landes ausgefchloffen. Aber der Groll Über dieſe Ausichließung lag Ihm ſchwer 
im Magen und verbitterte feine Stimmung. Ex erinnerte ih, daß es in den 
Nennzigerjahren anders gewefen ſei. 

Da brach plöglih die Februarrevolution von 1848 aus. Ein häuslicher 
Streit zwifchen dem „Bürgerkönig“ und ben liberalen Reformfreunden des dritten 
Standes in der Kammer gab ven Anlaß. Aber fofort ging die entbundene Revo⸗ 
Intion Aber den dritten Stand hinweg. Der vierte Stand bemädhtigte fi für 
vn Moment ver Gewalt. Er wollte die Republit, vie Demokratie wieder her⸗ 
Rellen, welche ihm zuerſt politifche Rechte gewährt hatte. Über er war in fid 
ſelber meins; die unterften Schichten beöfelben waren bie heftigften, die kom⸗ 
muniſtiſch gefinnten Proletarier verfuchten fogar eine fociale Umgeftaltung, Indem 
fie für die Arbeit und den Arbeitslohn vom Stante Garantien verlangten. Alles 
Eigentfum, aller Kredit, die ganze Civilifation ſchien nun von den wilden Leiden⸗ 
Khaften ver Menge bedroht. Für diefe Güter wagte der General Cavaignac den 
bitigen Kampf. Er flegte in der breitägigen Juniſchlacht in den Straßen von 
Paris, indem er gefhidt aus dem vierten Stande felber feine mobile Garde 
shirt hatte. In der gefeßgebenven Verſammlung, welde nen gewählt warb, 
fielen die meiften Stellen wieder den Männern des britten Etanves zu, die ja 
allein die Muße und die Fähigkeit hatten, die Stantögefhäfte zu betreiben. Der 
vierte Stand, welder alle feine Zeit und Kraft auf die tägliche Arbeit und ven 
Broderwerb verwenden mußte, machte die Erfahrung, daß die repräfentative De- 
mehratie — wenigſtens in Frankreich — nothwendig ven britten Stand erhebe, 
ven er nicht ohne Mißtrauen betrachtete. Da unternahm der Prinz Napoleon, der 
verzäglih von dem vierten Stande zum Präftdenten erwählt worben war, geftägt 
auf ven Glauben der Maflen an die Napoleonifhe Begabung und Tradition, 
ven Kampf gegen den dritten Stand, der zugleih ein Kampf war gegen bie ve» 
piöfentative Demokratie. Bon dem Iubelruf der großen Bollsmaflen, der Bauern, 
ver Kleinbürger, der Arbeiter begrüßt und unterſtützt, beftieg er ben erneuerten 
Keiferthron. Lange Zeit grollte ihm darüber der beleibigte und aus bem Beflg ber 
Öffentlihen Gewalt verbrängte britte Stand. ber das allgemeine Stimmredt, 
welches das entfcheinende Gewicht in vie Maflen legte, war und blieb die natür- 
He Bofis der kaiſerlichen Macht, und feinem Schwergewicht vermochte der britte 
Etand nicht zu widerftehen. 

Diefe Ereigniffe feit dem Iabre 1848 hatten ein helles Licht auf die ſocialen 
Örgenfäge geworfen, welche in Frankreich ven politiihen Kämpfen zur Unterlage 
dienten. Auch In Deutſchland wurden ähnliche Gegenfäte fihtbar, und ihre Ve- 
ahtung führte zu dem Begriff eines vierten Standes, welcher von dem britten in 
feiner focialen Stellung und in feinem politiichen Charakter verſchieden ſei. Der 
Rame freilich iſt fchledht gewählt, denn unfer hentiges Berfafiungsreht beruht 
alt mehr auf Ständen, fonvern eher noch auf Klaffen (f. Art. Kaften, Stände, 
Hafen). In Deutfhland find die großen Vollksklafſen zwar beffer geſchult, aber 
in fodaler und politifder Hinficht weniger aufgewedt und weniger gebilvet, als in 
Fraukreich. Ganzen und Großen find fie auch mehr geneigt, der Leitung der 
höher gebildeten Bürgerklaſſe mit Berteauen zu folgen. Über immerhin übt bie 

ber Regierung, der Beamten und ver Kirche auf diefelden eine weit flär- 
er Mag aus, als auf den felbftändigeren und zur Kritik geneigten britten 





72 Dierter Stand. 


flatt der Berwaltungsrehtspflege, weis. _::ratifchen Reihen erkannt wor⸗ 
ver Rechtſprechung gewährt, die Bermalt‘ Sctiften bes berühmten chineſiſchen 


rantieen nicht gibt. So ift e8 in den v - st das: „Die Einen arbeiten mit 
bis zur Stunde noch das eigentlich: Die mit ihrem Kopfe arbeiten, regieren 
noch praftifch ausgebildet. ..ten, werben von ben Menfchen regiert. 

Es iſt alfo eine grundfa en biefe; die, welche bie Menſchen regieren, 
aus dem Uebermaß der Regi as allgemeine Weltgefeg". 
bes öffentlihen Rechts dur ze der Kopf» und Handarbeit, der geifligen 
bie Willkür der Verw . zer Unterfchled, der aud für die Organifation 
winnt, wenn bie Bor. bes Leben von großer Bedeutung if. Freilich 
der VBerwaltungss: .Seluter; auch der Schufter und der Holzhacker 

Sehr rei .....3 arbeiten, und der Denker kann die Hand nidt 
veht mehr mn“ Gedanken nieberfehreibt. Aber im Großen unterſcheiden ſich 
find: Duke. Zcaaien, je nachdem bie gelftige oder die leibliche Thaätigkeit über- 


Paris IR " . Zaalen Berufe des britten Standes ift eine höhere Budung ein 
1844. snerermiß, und gemöhnlich haben daher aud nur dieſe Perſonen 
ECHT Tu nar wie Muße, für den Staat geiftig zu arbeiten. Den großen, 

u. ne marteriellen Bebauung bes Bodens, mit bem Handwerk, bem Klein 

u nu guteiterbeit beſchäftigten Klaſſen fehlt es dagegen durchweg an ber 
us Witany umb an ber Muße, um fih den Staatsgefchäften zu widmen. 
wur 8 Daher Aberhanpt mehr daran gelegen, daß gut verwaltet werbe, als daß 

“se za der Mütverwaltung beigezogen werben. In dem alten Europa wirb 
x Ne med lange fo fein, daß nicht blos die Beamienftellen, ſondern auch bie 
zunegeren Reprüfentativämter in ber Vollsvertretung und in ben Kreis- und Be 
yatsaerjammlangen und Räthen vornehmlich von den Männern bes britten Stan 
dea Iefeffen werben und ber Antheil des vierten Standes an ber Berwaltung nur 
um untergeorbneter, bauptfählich auf die Gemelnveverwaltung und etwa noch bie 
Spllnahme an Schwur- und Schöffengerichten beſchränkter fei. Eben weil das 
wdatſochlich fo if, and trotz aller verfaffungsmäßiger Mechtögleichheit, nicht anders 
Kin han fo darf diefer Unterſchied zwiſchen den höher gebildeten und den großen 

affen, den wir als Unterſchied des britten und des vierten Standes be- 
zeichnen, nicht überfehen werben. 

Diefer Begriff des vierten Standes umfaßt alſo alle großen Bollsklafien, 
foweit nicht aus ihnen ber höher gebilvete dritte Stand hervorragt. Seine Kraft 
Uegt In der Maſſe der Kleinbürger in den Städten, der anfäffigen Handwerker, 

er, kleineren Induſtriellen, Lohndiener in den Stäbten und der Bauern auf 
dem Lande. 

Das PBroletariat iſt nur der Abfall vornehmlich des vierten Stanves, 
aber auch ber andern Stände und barf nicht mit jenem verwecfelt werben. Es 
gibt ein abelihes und ein hochbürgerliches Proletariat, wie ein Proletariat bes 
vierten Standes. Das Proletariat ift ein unvermeidliches Uebel, welches fi allen 
Klaffen und Schichten der Geſellſchaft anhängt und zerfegenb und flörend auf bie 
gefunden Zuſtände einwirkt. Es bildet feinen Stand für fi. 

Der Ausprud Proletariat iſt bekanntlich von ber altrömifchen Genfusver- 
faffung entlehnt. Die nicht anfäfftgen und vermögenslofen Römer, genauer bie weniger 
als 1500 Affe ſteuerpflichtiges Vermögen hatten, wurben nicht in bie fünf Klaffen 


.. 


1, Angeführt von Plath, Rede über die Dauer und Entwidluma des . Reiches in 
——— Atademie. en “ - 





Dierter Stand. 15 


aufgenommen und waren alfo nicht ebenfo fteuer- und Friegspflichtig, wie bie an- 
fäfigen Bürger (assidui), wenn glei fie zu untergeorbneten Dienften aud für 
das Heer angehalten wurben. Ihr Vermögen beftand hauptſächlich in ihren Kin- 
bern (proles) und daher befamen fie ven Namen. Auch die heutigen Proletarier find 
sermögenslofe Leute, glei viel, welchem Stande und welcher Vollsklaſſe fie im 
‘rigen durch Geburt, Erziehung, Beruf angehören mögen. Uber die Vermögens⸗ 
:feit für fih allein iſt nicht entſcheidend, und nichts wäre gefährlicher, als vie 
»mte Bevölkerung in VBefigende und Nichtbefigende zu fpalten und feindlich 
:inander aufzureizen. Die Söhne der wohlhabenven Eltern find, wenn fie 

onen Hausſtand gründen, durchweg ohne Vermögen, aber durchaus nicht 

‘. Nur dann find die vermögenslofen Leute Proletarier, wenn fie deß⸗ 

»alb des geficherten Familienverbandes ſtehen — nur dann, wenn fie 

‚;jelung und unfihern Erwerb in eine gefährliche Lage verſetzt find, 

‚..gre ganze Eriftenz in der Geſellſchaft unfiher erfcheint. Die politifche Auf- 
yabe ift daher, dahin zu wirken, daß es möglihft wenig Proletarier im Lande 
gibt. Das aber geſchieht, wenn den vermögenslofen, vereinzelten Individuen 
möglihft viele und gangbare Wege eröffnet werden, um fi an eine andere ge- 
fiherte Wirthſchaft anzuſchließen, oder durch Gründung eines felbftändigen Haus⸗ 
Randes fich unter bie anfäffigen Klaſſen hinauf zu arbeiten. 

Der vierte Stand ift die Grundlage des modernen Staates und zugleich der 
Öanptgegenftand feiner Sorge. Aus dem vierten Stand zieht der Staat hauptfäd- 
ii feine finanziellen und militärifchen Kräfte. Der vierte Stand bezahlt ven 
größten Theil der Steuern und liefert die große Menge der Soldaten. Aus fel- 
nem dunkeln Grunde fteigen immerfort eine Anzahl Individuen auf und erwerben 
fh Bildung, Namen, Rang in ver Geſellſchaft. Er ift vie Duelle, aud der alle 
höheren Klafien zulegt wieder ihre Erfriſchung und Erneuerung fhöpfen. So lange 
ver vierte Stand eines Volkes gefund und Träftig ift, fo lange iſt das Leben bes 
Volles gefichert; es lann fi von den ſchwerſten Krankheiten und ‚Berluften wie⸗ 
ber erholen. Wenn aber der vierte Stand in der Verweinng begriffen ift, dann 
gibt es auch für das Volk feine Rettung mehr. Der Staatsmann wirb baber 
immer bie Zuſtände dieſer großen Boltsklaffen im Auge behalten und feine Auf- 
merkſamkeit und Sorge ihnen zuwenden müffen. 

Der vierte Stand bedarf auch diefer Sorge mehr als alle andern Klaffen, 
die von Hauſe aus günfliger geftellt und befähigter find, fich felber zu helfen. 
Im Einzelnen freilich müſſen aud die Perfonen des vierten Standes für ſich fel- 
ber forgen durch ihre Privatarbeit und Privatwirthichaft. Aber es Ift natürliche 
Stantsforge, daß die Grundbedingungen des gemeinfamen Lebens und ber gemeinen 
Behlfahrt wohl beftellt feien. Zu biefem Zwecke vorzüglich bedarf das Land guter 
Gelege und Anſtalten und einer tüchtigen Staatsverwaltung. Das Tann fich der 
Bere Stand nit felber verfhaffen. Dafür müflen bie höher gebildeten Klaffen 

en. 

Zum Regieren und fogar zu der höheren Verwaltung bat der vierte Stand 
weber die Faͤhigkeit noch die Neigung. Er bat aber das Verlangen und Bedürf⸗ 
niß, Find regiert und verwaltet zu werben. Gefchteht das, fo iſt er zufrieden und 
von fe aus nichts weniger als neuerungsſüchtig oder gar revolutionär. Es 
zibt keinen gröberen Irrthum, als den Stahls, der meint, der vierte Stand ſei 
von Ratur begierig, bie obrigfeitliche Gewalt und vorans die Monarchie zu flärzen 
und eine demokratiſche Herrfchaft aufzuridten. Ganz im Gegentheil Die Ari« 
ſtekratie iſt von Natur geneigt, fi mit der Monarchie in die Gewalt zu teilen, 


— 





76 Dölkerredt. 


der dritte Stand iſt von Haufe ans geneigt, Kritik und Kontrole zu üben, und ' 


bewegt fih am liebften in repraͤſentativ⸗demokratiſchen Formen. Der vierte Stand 
dagegen hat In Europa einen natürlihen Zug, nicht zur Ariſtokratie, die ihn 
allzu lange veradhtet, gedrückt und ansgebeutet bat, auch nicht zur repräfentativen 
Demokratie, an deren Hauptarbeit er fi doch nicht betheiligen Tann und berem 
Anſchauungsweiſe ihm großentheild unverftänblih ift, fondern zur Monarchte. 
Richt blos die alten Nömifchen Kaifer haben ihre Katfergewalt voraus auf bie untern 
Volksklafſen geſtützt und mit der Hülfe verfelben die mißmuthige Ariftofratie über- 
wältigt. Auch die größten Monarchen der neuen Zeit haben es immer begriffen, 
daß zwiſchen ver breiten Baſis der mit dem Arme arbeitenden Volksklaſſen und 
der Krone ein unmittelbarer Zuſammenhang fei und biefe vorzüglid dann umer- 
fhütterlich ficher fei, wenn ihre Autorität die Zuneigung und Zufimmung jener 
gewonnen hat?). Wenn ein Monarch in dem vierten Stand nicht die ihm verläffigfte 
Stüge, ſondern eine feindliche Gefinnung findet, fo iſt das meiftens feine eigene 
Schuld. Ohne Neid und ohne Eiferfudht fieht der vierte Stand zu dem Staats» 
haupt anf und iſt ſchon deßhalb weit Leichter zu regieren, als alle andern Klaffen. 
Der vierte Stand iſt keineswegs unempfänglih für die idealen Güter ber 
Menichheit und er iſt rafcher, als jeder andere Stand bereit, für viefe Güter zu 
wagen und zu opfern. Aber ihn ziehen nur die hohen Ideen an, nicht bie mitt« 
Ieren, er hat nur ein Verſtändniß für die großen Linien des Verhättniffes, nicht 
für den feineren Detail. Die Weltgeſchichte Kat unmiderleglich gezeigt, daß viele 
großen Bollsflaflen, welche gewöhnlich nur an ihren. täglihen Verdienſt denken, 
und ausfchließlih den materiellen Arbeiten hingegeben fcheinen, bald für reli⸗ 
giöfe oder Kirchliche Interefien, in neuerer Zeit mehr für politifche Ipeen und 
Ziele mit opferwilliger Entſchlofſenheit eingetreten find und oft den Ausſchlag ge= 
geben haben durch ihren rüdfichtslofen Andrang. Niemand wirb ihnen ein erreg⸗ 
bares Gefühl für die Ehre und ven Ruhm des Baterlanves, eine oft bis zur 
Ueberfpannung getriebene Treue gegen ihre Dynaftie, niemand aud die Empfäng- 
lichteit abfprecden, für die modernen Ideen der Rechtögleichheit, der Freiheit, ber, 
Nationalität. Nur die Gejchäfte und den Ausbau des Staats überlaffen ſie lieber 
Andern, das Staatsgefühl hat auch fie ergriffen und umgewandelt. Bluntfgti 


Bolt, f. Nation und Bolt. 


Bölkerrecht. 


I. Begriff und Grundlage. 


Das Völkerrecht, ſchon in feiner gegenwärtigen Geltung nit mehr auf 
Europa beſchränkt, trägt feine geringere Beſtimmung in fi, als alle Individuen 
und alle Staaten, das ganze Menfhengefchledht in Eine große Rechtsgemeinſchaft 
zufammenzufchließen. Es umfaßt die Grundfäge für die Rechtsverhältniſſe ſowohl 
der Staaten unter einander (internationales Staatsrecht), ald auch der Ein- 
zelnen zu fremden Einzelnen und zu fremden Staaten (internationales Pri- 
vatrecht). Nur indem wir in jebem fremden. Volle und felbft in jedem fremben 
einzelnen Menſchen das überall fich felbft gleiche Menſchenthum anerkennen, 
treten wir zu den fremden Staaten und Individuen in ein völferrechtlihes Ber- 
haltniß. 


2) Friedrich Rohmer: Der vierte Stand und die Monarchie 1848. 


* 





ie 


Dölkerrect. 77 


Denn wir die Grumbioge ber fiaaisrehtlihen Ordnung mit der Grund⸗ 
lage ber völkerrechtlichen Ordnung vergleichen, fo kann uns, bei genauerer Prü- 
fung, ein wefentliher Unterſchied nicht entgehen. 

Die ſtaatsrechtliche Ordnung rubt auf einem feft geglieverten ſtaatorecht⸗ 

lichen Organismus. Es iſt eine Staatögewalt ba, die von den einzelnen 
Staatsangehörigen unabhängig ift und der fie alle gehorchen müſſen. Die 
Regterung iſt eine felbftändige Macht gegenüber den Regierten, eine Macht ru⸗ 
hend auf einer feften Organtfation. ” 

Anders fteht es mit der völlerrehtlihen Ordnung. In gemiffer Bezie- 
bung zwar verhalten ſich die Staaten zum Völkerrechte ähulich, wie bie einzelnen 
Staatsbürger zum Staate. Wie nämlich die einzelnen Bürger dem Staate gehorchen 
ſollen, fo find die einzelnen Staaten dem Völkerrechte Gehorfam ſchuldig; wie der 
Staat eine höhere Ordnung ift über den einzelnen Bürgern, fo foll das ð lkerrecht 
eine höhere Ordnung fein Über ven einzelnen Staaten; wie die einzelnen Bürger im 
Staate eine höhere Autorität erbliden, welde ihr Verhältniß unter einander gefeglich 
regelt, fo follen die einzelnen Staaten das Völkerrecht ald die Norm anfehen, durch 
welche ihre internationalen Berhältnifie geregelt werben. 

In anderer Beziehung aber Hört die Aehnlichkeit volifiänpig auf. 
63 gibt nämlich keine Tonftituirte Böllerrehtsgewalt, welche über den 
Staaten In ähnliher Weife unabhängig pa Hände, wie pie Stants- 
gemalt über den einzelnen Bürgern ſteht. Wenn es fi darum handelt 
das Völkerrecht durchzuſetzen, fo können ſich die Stanten nit an eine Über ihnen ſte⸗ 
hende Macht wenden, wie die einzelnen Bürger nöthigenfalls die Zwangsgewalt des 
Staates anrufen. 

Die Stellung der Staaten zum Völkerrecht, ihr Berhältniß zur völlkerrechtlichen 
Intorität, ift vielmehr fo aufzufaflen: Obwohl die Staaten vom Völkerrecht beherrſcht 
werden und ihm gehorden follen, fo find voh nur fie ſelbſt vie freien Träger, 
Stügen und Berwirfliher bes Bölkerrechts, — nur ſie ſelbſt, nach 
freiem Gutdünken, die völlerrehtlide Macht. Es ift nicht vorhanden 
ein großer völlerredhtliher Centralkörper, der vie vielen Staatskörper in Ihren völler- 
rechtlichen Bahnen fefthält, etwa wie bie Sonne bie Planeten um fich her kreifen läßt; 
ver herrſchende Schwerpuntt des Völkerrechts Itegt nicht in einem abgejonverten ſelb⸗ 
ſtaͤndigen Organismus: die Verwirklichung des Völferrehts ift vielmehr aufzufafien 
geihfam als das Ergebniß der gegenfeltigen Einwirkung der Schwerkraft der einzelnen 
Staatsförper jelbft. Ift es erlaubt in dem aftronomifchen Bilde fortzufahren, fo kann 
an die Doppelfterne erinnert werben, die ſich nicht um-einen dritten Körper, nicht um 
äne Sonne, ſondern einer um den andern drehen und ſich fo ein gemelnfames ibeelles 
Centrum fegen. Ein folder iveeller Mittelpunkt für vie Staaten iſt das Völker⸗ 
recht: ein herrſchender Mittelpunkt allerdings; aber doch nur ein foldyer, der beftänvig 
duch Die Wechſelwirkung ver einzelnen Staaten gefegt wird und in jedem Augenblide 
bie That ihrer eigenen Kraft und Wirkfamteit ift. 

Dies hat man nach zwei entgegengefetten Seiten verfannt. Manche nämlich, 
wie der Bhilofoph Wolff, überſehend daß bie oölterrehtüige Macht in den ein- 
zelnen unabhängigen Staaten felbft ruhe, gründete das Völferreht auf einen Uni⸗ 
derſalſtaat (Civitas maxima). Andere hingegen, wie Hegel, indem fie den 
Gedanken der Souveränetät der einzelnen Staaten auf die Spige treiben, be 
ttahten das Böllerreht nur als Äußeres Staatsrecht. Ste beachten nicht ge 
herig, daß das Volkerrecht, obwohl es eines felbftändigen Organismus ermangelt, 
doch Über ven einzelnen Staaten ſteht. Nach Hegel iſt das Volkerrecht nur bie 


— 





78 Völkerrecht. 


nad außen gewenbete Seite des Staates und bat Im Stante feinen Mittelpnnft. 
Und allerdings, zu dem pofitiven Rechte des einzelnen Staates gehört aud fein 
nad) außen gewenbetes Recht, fein „äufßeres Staatsrecht”, d. i. die Geſammtheit 
ber völferrehtlihen Beſtimmungen und Verträge, welches das Nechtsverhältnig die⸗ 
je8 Staates zu anderen Staaten ausprüden. Jeder einzelne Staat hat fein inne⸗ 
res Staatsrecht und fein Äußeres Staatsrecht; und dies Äußere Staatsrecht iſt 
ein Städ des Völkerrechts. Das Völkerrecht aber zieht alle viefe einzelnen äuße⸗ 
"ren Staatsrechte erft um feinen eigenen felbfländigen Mittelpunft zufammen und 
liefert und erft das Princip, ans welchem, als der centralen Einheit, alle jene 
einzelnen äußeren Staatsrechte aufzufaflen und zu beberrichen find. Jedes einzelne - 
äußere Staatsrecht if nur ein Stüd ans der Peripherie des Völkerrechts. Der 
Irrthum bei Hegel befteht darin, daß er das Centrum biefer Peripherie in den einzel⸗ 
nen Staat legt, d. h., daß er das völkerrechtliche Prineip nit vom Staate emancipirt. 

Es könnte nun aber die Frage anftauden, ob nicht der Mangel einer in 
einem felbfländigen Organismus gegründeten völferredhtlihen Madt und bie da⸗ 
mit zufommenhängende Abwefenheit einer über den ftreitenden Staaten ſtehenden 
Zwangsgemwalt, die das Recht mit höherer Autorität anszufprehen und durch⸗ 
ufeßen vermöchte, dem Völkerrechte alle Eriftenz raube und bie vbllerrechtlichen 

ormen in einen Kranz von angenehmen, aber ver Wirklichkeit entbehrenven Träu⸗ 
men verwanble. 

Allein die Exiſtenz des Rechts iſt keineswegs eine beftänbige bloße Zwangs- 
eriftenz, und aud innerhalb des einzelnen Staates hat vie Regierung durchaus 
nicht unausgefegt Zwang zu üben, um das Recht zu verwirklichen. Die Eriftenz 
des Rechts fügt fih auch im einzelnen Staate wefentlih auf die Mat der 
Bernunft. Das Recht eriftirt im Großen und Ganzen deshalb, weil es das 
Recht tft und als ſolches von den Geiftern erkannt wird. Auch wenn bie Zwangs⸗ 
gemalt weggenommen wird, flärzt der Rechtszuſtand noch nicht zuſammen. Es 
fommen dann wohl, wie man dies bei Aufſtänden fieht, mannigfache Erxceſſe vor, 
aber die allgemeinen Begriffe von Recht und Unrecht ftehen immer noch feft, als 
nnerſchütterliche Säulen, die keineswegs nur anf dem Fußgeſtell eines obrigfeltlt- 
hen Zwanges ruhen. Und man überzeugt fi gerade in großen Krifen der Ge- 
ſellſchaft, wo troß der Lähmnng der obrigkeitlihen Zwangsgewalt das Eigenthum 
und das Recht im Allgemeinen oft ganz unangefohten bleiben, mit wie geringen 
Zwangsmitteln eine verfländige Regierung, die die Geifter zu gewinnen und bie 
Macht der Bernunft gehörig zu nutzen weiß, auszureihen im Stande fel. So 
herrſcht auch das Völkerrecht im Allgemeinen, weil e8 der Ausdruck der Vernunft 
der Nationen ift, dem fie fich freiwillig unterwerfen; und in taufenden von menfh- 
lichen Handlungen find die vertragsmäßigen wie die nicht vertragsmäßigen Gefete 
des Böllerredhts bei allen gebildeten Völkern in unangefochtener täglicyer Hebung. 
Aus dem Mangel einer organifirten völferrechtlihen Zwangsgewalt würde aljo 
immer nur folgen, daß in den einzelnen Ausnahmsfällen, wo dem Rechte 
wideriprochen wird, die Eriftenz des Vöolkerrechts aufgehoben jet; aber im Großen 
n ji d ‘ augen würbe dennoch die Eriftenz bes Volkerrechts nicht In Wrede zu 

ellen fein. 

Wir müfjen aber noch weiter gehen und müfjen behaupten, daß auch in jenen 
Ausnahmöfällen, wo Unvernunft oder Eigennug fich gegen dad Recht auflehnen, 
das Völferreht durchaus nicht fofort ſchutzlos fei und daR es meiſtens aud dann 
nicht von der phyſiſchen Uebermacht des einzelnen Staates abhänge, ob er das 
Bölterrecht befolgen ober verlegen will, Es find aud in folhen Bällen nicht ganz 





er 
* 


dölkerrecht. 79 


ohnmachtige Burgſchaften für die Aufrechthaltung des Völkerrechts vorhanden. Die 
gegen das Recht anftrebende Gewalt hat es nicht blos mit der vielleicht ſchwäche⸗ 
von Gewalt des Gegners zu thun. Das Necht des Schwächeren fteht vielmehr unter 
ver Aegide ſowohl moralifcher, als auh materieller Zwangsmittel 
E find die folgenven : 

1. Durdy einen Bruch des Völkerrechts fett fi der Staat bem allgemeinen 
Berwerfungsurtbeil ans und leidet Schaden an feiner Ehre. 

Wir dürfen dieſe erfte Bürgfchaft des Rechts nicht gering veranfchlagen. Wir 
wiſſen, welchen mächtigen moraliihen Zwang das Gefeh der Ehre in allen fittli- 
den Gemeinſchaften ausübt; ber Einzelne fegt fein Leben daran, um feine Ehre 
ja reiten. In der großen Gemeinfchaft der Staaten fpielt die Ehre wahrlich keine 
geringere Rolle. Es gibt wohl keinen Staat, deſſen Arm fi nicht mehr oder weni⸗ 
ger gelähmt fühlte bei einer That, durch bie feine Ehre gefchäpigt werten könnte. 

2. Ein Staat, der das Völkerrecht verlegen wollte, würde fich ſelbſt der 
Vortheile vdesfelben berauben. Ex würde ſich felbft aus der vortheilhaften vbl ⸗ 
lerrechtiichen Gemeinſchaft ausſchließen. Und er wärbe fi dadurch beben- 
tende materielle Nachtheile zuziehen, — Nepreflalien aller Art, Lähmung 
feines Welthandels zc. 

Afo auch ein materielles Kompelle zur Erfüllung des Völkerrechts. Die Nicht 
erfuͤlung zieht Berlufte, gleihfam Bermögensftrafen nad ſich. 

3. Der Staat könnte fi freilich über dies Alles binwegfegen, um nur feine 
rechtswidrige Abficht durchzuführen. Allein dann fehen wir in ver Megel ein birel- 
tes Zwangsmittel gegen ihn in Bewegung gerathen. Es pflegen fi nämlich gegen 
emen ſolchen frechen Berächter des Rechts Staatenbünpniffe zu bilden, die 
Karl genug find, das Unrecht zu Boden zu werfen. 

4. Wenn man num gegen diefe durch augenblickliche Rechtsnoth hervorgeru⸗ 
fenen Bünpniffe einwenden wollte, daß fie dody immer nur etwas mehr oder we⸗ 
ziger Zufälliges und Vorübergehendes felen und aljo dem Böllerrechte keinen zu⸗ 
verläffigen und bauernden Schug gewährten: fo läßt ſich letztlich noch verweiſen 
af die Pentarchie. Seit geraumer Zeit bilden bie füuf Großmächte that« 
ſachlich eine Art Bolkertribunal und überwachen vie Beobachtung der großen Staa⸗ 
lervertrãge und ber völkerrechtlichen Gewohnheiten. 

Es find demnach unſtreitig mannigfache Bürgſchaften und Zwangsmittel für 
de Aufrechthaltung bes Bolkerrechts vorhanden, und es wäre Uebertreibung, weıtn 
an die Befolgung der völferredhtlichen Pflichten eines Staates ber Befolgung 
bloeßer moraliſcher Liebespflichten gleichfegen wollte. So ſchlecht iſt es mit dem 
green Staatenſyſteme nicht beſtellt, daß der widerrechtliche Wille eines einzelnen 
Staates beltebig die Grundſätze des großen Ganzen niedertreten könnte. 

Dennoch läßt ſich nicht leugnen, daß alle dieſe Buͤrgſchaften des Vöolkerrechts 
oft unzulänglich find. 

In den meiften Fällen nämlich veruneinigen fih die Staaten deshalb, weil 
äber dieſen oder jenen Gegenſtand verfhiedene Recht San ſichten von ihnen 
zeſſend gemacht werben. Wohl nur felten wirb ein Staat dem anderen ein ganz 
sfienbares Unrecht zufügen; allerdings, In einem ſolchen alle frechfter 
Ichtöveracdhtung würde ein großes Staatenbünbniß gar bald anftreten, um das 
Unreht im Namen des mit beleibigten Staatenfyflems zurüdzuwerfen: aber die Fälle 
bloßer Nechtsfirettigleiten unter ven Staaten find jedenfalls ungleich häufiger. 

Wie ficht es alddann mit den Schugmitteln, die das bedrohte Völlerrecht 


aufrecht halten follen ? 


u 
. ‘+ 





64 Derwaltung und Derwaltungsrect. 


menwirken, fo in der Verwaltung Beamte und Bürger. Man fucht auf folde 
Weiſe die Bortheile der Stants- und der Privatverwaltung zu kombiniren und bie 
Mängel verfelben zu vermeiden. 

Bon der Art waren ſchon früher in der Nechtöpflege die Schwurgerichte und 
namentlih die Schöffengerihte in geringern Straffällen. Dazu kommen nnn für 
die Provinzial-, Departemental- und Kreisverwaltung die Provinzial- und Gene⸗ 
ralräthe, die Kreiöverfammlungen und Krelsausfchüfie, für die Pollzeiverwaltung 
bie Präfektur und Bezirksräthe, für die Armenpflege der Zuzug von bürgerlihen 
Armenpflegern und Armenpätern, für das Schulweſen die bürgerlichen Schulräthe 
u. ſ. f. Auch die Ehrenämter im Gegenfag zu den Solvämtern gehören Yiefer 
Richtung an, weil die Perfonen, weldhe zu jenen berufen werden, ihre Hauptſtel⸗ 
lung im bürgerlichen Leben haben und nur einen Theil ihrer Zeit und Kraft dem 
Ehrenamt widmen. Der Kaftengeift ver Beamtung kann da weniger auffommen. 
Freilich tangen die Ehrenämter nur da, wo nit die fortgefegte Berufsthätigkeit 
des ganzen Mannes erfordert wird. 

III. Berwaltungsredt. 

Man kann alles Bffentlihe Recht im Einzelnen und Kleinen Verwaltungd« 
recht im weiteren Sinne neunen, wenigfiens fo weit es die Berwaltung regulirt, 
wie man das ffentlihe Net im Großen und Ganzen, fo weit dadurch die Or⸗ 
ganifation des Staates beftlimmt wird, Verfafiungsredt heißt. Die in Rechtsregeln 
und Inflitntionen "offenbar geworbene Grundlage und Beſchränkung der Verwal⸗ 
tung bildet dann, ſoweit nit ſchon bie VBerfaffung das nähere beftimmt, das 
Verwaltungsrecht. Dieſes und das Verfaffungsrecht gehören dann zufammen als 
bie organifche öffentliche Rechtsordnung. 

euerlih bat Bähr („Der Rechtsſtaat.“ Kaſſel 1866) es als eine Forde⸗ 
ınng des Rechtsſtaats ausgefprohen: „Bel jeber Hanblung der Gtaatsgewalt 
bärfen die dadurch berührten Perfonen die Entſcheidung über die Rechtsfrage vor 
ein Gericht bringen.” Die Rechtsfrage in conoreto würde dann jeder Zeit audh 
in der Behandlungsweiſe ſcharf unterjhieben von der Zwedmäßigfeitsfrage. Ueber 
jene würden die Gerichte, über viefe die Regierung und Berwaltungsbehörben 
entſcheiden. 

——— iſt es eine Aufgabe der zukünſtigen Rechtsbildung, für beſſeren 
Schutz des öffentlichen Rechts überhaupt zu ſorgen, als gegenwärtig gewährt wird. 
Aber es wäre meines Erachtens doch eine unglückliche Richtung dieſer Reform, 
wollte man die Borftelungen und Einrihtungen des Eivilprocefies übertragen 


anf den Proceß Über öffentliches Recht und gar bie Kompetenz der Civilgerichte 


dahin erweitern, daß fie aud über üffentliche Rechtsſtreitigkeiten verhandeln Iaffen 
und urtbeilen. Das Öffentliche Recht gehört feinem Weſen nad voraus dem 
Staate an und beſteht um des Staates willen. Nicht die Einzelnmenjchen, 


“die Bürger find daher zunächft dabei betheifigt, fondern das Ganze ift ed. Daher 


darf die Frage auch nicht ausfhlieglich oder auch nur vornehmlih von dem Stand⸗ 
punkte der durch eine Handlung der Staatögewalt berifßirten Perfonen, fondern 
fie muß vielmehr voraus aus dem Geſichtspunkte des Staates erwogen und ent⸗ 
ſchieden werben. 

Offenbar war das Mittelalter, in welchem jever Meine Herr, jener Bafall und 
jeve Körperfchaft ihre öffentlichen Rechtsanſprüche feldftänvig, theils in Proceßform, 
theils in Form der Selbſthülfe verfechten konnten, der Berwirklihung jener For⸗ 
derung viel näher als die heutige Staatenbilbung, welcher eine einheitliche, gleich- 


mäßige und energifhe Regierungs- und Berwaltungstbätigleit eben fo unentbehr- 











Derwaltung und Derwaltungsredt. 65 


lich erſcheint, wie die volle Entfaltung der bürgerlichen und ber Vollsfreiheit und 
welche baher eine Tähmung der Verwaltung beforgt, wenn es lediglich von ber 
Beſtreitung eines einzelnen irgendwie Bethelligten abbinge, ob eine Sade als Ber- 
waltungs- oder als Vermwaltungsredhtöfrage zu behandeln fell), Wie gefährlich die 
Ueberfpannung der juriftifden Elemente im Staate fel, das zeigt am beften vie 
Geſchichte des Mittelalters und der Uebergangspertobe in die neue Zeit. Der mo- 
derne Rechtsſtaat iſt doch noch in höherem Sinne Volksſtaat, politifcher 
Staat und Kulturfinat. 

Die künftige Organtfation von öffentlich-rechtlichen Gerihtshöfen, 
bie andy ich als eine Aufgabe der Zukunft betrachte, muß jedenfalls eine andere 
fein, als die unfrer heutigen Eivilgerichte, oder ſelbſt unferer Staatsgerichtshöfe. 
Soll nidt der Staat Schaden leiven und fowohl die Staatsautorität als das 
Staatswohl der Streitfucht einzelner Bürger oder ver gefährliceren Streitfuct 
ber politifhen Parteien geopfert werben, fo ift in der Zuſammenſetzung berfelben 
das flaatsmännifche Element mehr ald das juriftifhe zu beadhten und das 
Bedurfniß der freien Bewegung des Ganzen forgfältig vor den Hemmnifien ſtarr 
geworbener Rechtsformen zu ſchützen. Würde beute aller Streit über öffentliches 

Recht an Gerichte gebracht werben, fo würde ber heutige Staat auf den Kopf 
geſtellt und vie heutigen Vöolker würden fehr bald wieder einem unfruchtbaren 
und formenftrengen Juriſtenregimente, welches dann zur Geltung fäme, bie unge- 
zügelte aber den gemeinen Nugen fördernde Regierungswillfür vorziehen. 

Die meiften Gebiete des Bffentlichen Rechts entbehren in unferer Zeit noch 
einer beſondern Rechtspflege, und werben dem Schuß theils der Regiernugen und 
Berwaltungsbehörven, theils der repräfentativen Körper überlafien. 

Das gilt Inshefondere : 

1. von den völlerrehilihen Streitigkeiten größten Theils. Orbentliche 
völferrechtliche Gerichtshofe gibt es nicht und die Schiedsgerichte fegen eine befon- 
dere Uebereintunft der Parteien voraus, Selbft die Priſengerichtshöfe und ähn- 
liche Berichte über völlerrechtlihe Dinge gehören, wo fle vorfommen, dem befon- 
bern Staate an und. bieten infofern ungenügende Oarantieen für eine unparteiifche 
Nechtspflege. 

2. Die Sonveränetätsfragen, insbeſondere auch die dyn aſtiſchen An- 
fprüche auf Landesregierung, werben wieder nicht von irgend einem Gerichtshof 
in Form der Proceßverhandlung, fondern gewöhnlich durch den größeren Proceß 
ber Vollergeſchichte erledigt. Nicht felten gibt die Macht den Ausfchlag, In welder 
freilich auch ein ſtaatenbildendes Moment zu Tage tritt, und es folgt dann in 
den Befchläffen der repräfentativen Körper, tin den Abftimmungen der Bürgerſchaft, 
in der Unterorbuung der Beamtung und in ver Hulbigung des Volls bie Aner- 
kennung nach, in welcher fih das Bewußtfein der fletigen politiihen Nothwenbig- 
keit, d. h. des Rechts ausſpricht. 

3. Die ftreitigen Berfafiungsfragen überhaupt werben ebenfo durchweg 
nicht durch gerichtliche Urtheile, fonbern durch die politifchen Partellämpfe, durch 
bie Berhandiungen der Regierung mit den Kammern, durch Kammerbeſchlüſſe und 
Regierungsvelzete erlebigt. 

In allen diefen drei Gebieten erweist fi die Hohe Politik mit ihren Macht⸗ 
mitteln meiftens mächtiger als alle Rechtsmittel und fie Hält durchaus feſt an bem 


1) Die weitere Aus bei Bluntſchli, Derwaltungsreht und Verwaltungspflege in 
der 24. — — — ve S. 279. i 
Bluntſqchli und Brater, Deutfes Staate⸗Wörterbuch. Al. 5 


+ 














64 Derwaltung und Derwaltungsrecht. 


menwirfen, fo in der Verwaltung Beamte und Bürger. Man fucht auf folde 
Weiſe die Bortheile der Staats- und der Privatverwaltung zu kombiniren und bie 
Mängel verfelben zu vermeiden, 

Bon der Art waren ſchon früher in der Rechtöpflege die Schwurgerichte und 
namentlih die Schöffengerihte in geringern Straffällen. Dazu fommen nun für 
die Provinzial-, Depariemental- und Kreisverwaltung die Provinzial- und Gene- 
rafräthe, die Kreisverfammlungen und Kreisausfchäfie, für die Pollzeiverwaltung 
bie Präfektur⸗ und Bezirksräthe, für die Armenpflege ver Zuzug von bürgerlichen 
Armenpflegern und Armenpätern, für das Schulwefen die bürgerliden Schulräthe 
u. f. f. Au die Ehrenämter im Gegenfag zu den Solvämtern gehören Ylejer 
Richtung an, weil die Perfonen, welche zu jenen berufen werben, ihre Hauptſtel⸗ 
Inng im bürgerlichen Leben haben und nur einen Theil ihrer Zeit und Kraft dem 
Ehrenamt widmen. Der Kaftengeift der Beamtung kann ba weniger auflommen. 
Grellih taugen die Ehrenämter nur da, wo nit bie fortgeſetzte Berufsthätigkeit 
bed ganzen Mannes erforbert wird. ' 

II. Berwaltungsredt. 

Man kann alles Bffentlihe Recht im Einzelnen und Kleinen Berwaltungs- 
recht im weiteren Sinne nennen, wenigftens fo weit e8 bie Verwaltung regulirt, 
wie man das Öffentliche Net im Großen und Ganzen, fo weit baburd die Or⸗ 
ganiſation des Staates beftimmt wirb, Berfaffungsrecht heißt. Die in Rechtsregeln 
und Inftitntionen offenbar geworvene Grundlage und Beſchränkung der Verwal⸗ 
tung bildet dann, ſoweit nicht fhon bie Verfaffung das nähere beftimmt, das 
Verwaltungsrecht. Diefes und das Verfaffungsreht gehören dann zufammen al& 
die organiſche öffentliche Rechtsordnung. 

euerlih hat Bähr („Der Rechtsſtaat.“ Kaflel 1866) es als eine Forde⸗ 
ınng bes Nedtsftants ausgeſprochen: „Bet jeder Handlung der Staatsgewalt 
dürfen bie dadurch berührten Perfonen die Entſcheidung über die Rechtsfrage vor 
ein Gericht bringen.” Die Nechtöfrage in conoreto würde dann jeder Zeit auch 
in der Behandlungsweiſe ſcharf unterjchieven von der Zwedmäßigfeitsfrage. Ueber 
jene würben vie Gerichte, über dieſe die Regierung und Berwaltungsbehörven 
entſcheiden. 

Allerdings iſt es eine Aufgabe der zukünſtigen Rechtsbildung, für beſſeren 
Schutz des öffentlichen Rechts überhaupt zu ſorgen, als gegenwärtig gewährt wird. 
Aber es wäre meines Erachtens doc eine unglüdlihe Richtung biefer Reform, 
wollte man die Vorftellungen und Einridtungen des Civilproceſſes übertragen 
auf den Proceß über öffentliches Recht und gar die Kompetenz ber Civilgerichte 
dahin erweitern, daß fie auch über öffentliche Nechtöftreitigkeiten verhandeln laffen 
und urtbeilen. Das öffentliche Recht gehört feinem Weſen nad voraus dem 
Staate an und beſteht um des Staates willen. Nicht die Einzelnmenfchen, 
“die Bürger find daher zunächft dabei betheiligt, jondern das Ganze iſt es. Daher 
darf die Frage auch nicht ausfchlieglih oder auch nur vornehmlih von dem Stande 
punkte der durch eine Handlung der Staatsgewalt beriirten PBerfonen, fondern 
fie muß vielmehr voraus aus dem Geſichtspunkte des Staates erwogen und ent- 
fchieden werben. 

Offenbar war das Mittelalter, in welchem jever Feine Herr, jeder Bafall und 
jede Körperfchaft ihre öffentlichen Rechtsanſprüche felbftänvig, theils in Procekform, 
theils in Form der Selbfthälfe verfechten konnten, der Verwirklichung jener For⸗ 
berung viel näher ala bie heutige Staatenbildung, welcher eine einheitliche, gleich- 
mäßige und energifche NRegierungd- und Berwaltungsthätigleit eben jo unentbehr- 














Derwaltung und Derwaltungstect. 65 


lich erſcheint, wie die volle Entfaltung der bürgerlichen und ver Volfsfreiheit und 
melde daher eine Lähmung der Verwaltung beforgt, wenn es leviglih von ber 
Beſtreitung eines einzelnen irgendwie VBetheiligten abbinge, ob eine Sache als Ber- 
waltungs« oder als Verwaltungsredtäfrage zu behandeln fell), Wie gefährlich die 
Heberfpannung der juriftiiden Elemente im Staate fei, das zeigt am beſten vie 
Geſchichte des Mittelalters und ver Uebergangspertode in die neue Zeit. Der mo- 
derne Rechtsſtaat iſt doch noch in höherem Sinne Volksſtaat, politifcher 
Staat und Kulturftaat. 

Die künftige Organifation von öffentlich-rechtlichen Gerichtshöfen, 
die auch ich als eine Aufgabe der Zukunft betrachte, muß jedenfalls eine andere 
fein, als die unfrer heutigen Civilgerichte, oder felbft unferer Staatsgerichtshöfe. 
Soll nit der Staat Schaden leiden und fowohl die Staatsautorität als das 
Staatswohl der Streitfucht einzelner Bürger oder der gefährlieren Streitfucht 
ber politiſchen Parteien geopfert werben, fo ift in der Zufammenfegung berfelben 
das ſtaatsmänniſche Element mehr ald das juriftifche zu beachten und das 
DBebärfniß der freien Bewegung des Ganzen forgfältig vor den Hemmniſſen flarr 
geworbener Rechtsformen zu ſchützen. Würde heute aller Streit über öffentliches 
Recht an Berichte gebracht werben, fo würde ber heutige Staat auf den Kopf 
geftelt und die heutigen Völker würden fehr bald wieder einem unfruchtbaren 
und formenftrengen Juriſtenregimente, welches dann zur Geltung fäme, bie unge- 
zägelte aber den gemeinen Nupen fördernde Regierungswillfür vorziehen, 

Die meiften Gebiete des öffentlichen Rechts entbehren in unferer Zeit nod 
einer befondern Rechtöpflege, und werben dem Schuß theils der Negierungen und 
Berwaltungsbehörben, theild ber repräfentativen Körper überlafien. 

Das gilt Insbefondere : 

1. von den vdllerrehtliden Streitigfeiten größten Theils. Ordentliche 
völlerrehtliche Gerichtshoͤfe gibt es nicht und die Schiebsgerichte ſetzen eine befon- 
dere Uebereinfunft der Parteien voraus. Selbſt die Prifengerihtshöfe und ähn- 
liche Berichte über völlerredhtlihe Dinge gehören, wo fle vorfommen, dem befon- 
bern Staate an und. bieten infofern ungenügende Öarantieen für eine unparteitiche 
Rechtspflege. 

2. Die Sonveränetätsfragen, Insbefondere auch die dynaſtiſchen An- 
fprliche auf Landesregierung, werben wieder nicht von irgend einem Gerichtshof 
in Form der Proceßverhandlung, fondern gewöhnlih durd den größeren Procep 
ber Volkergeſchichte erledigt. Nicht felten gibt die Macht ven Ausfchlag, in welcher 
freilich auch ein ſtaatenbildendes Moment zu Tage tritt, uud es folgt dann In 
den Befhläffen der repräfentativen Körper, in den Abftimmungen der Bürgerjchaft, 
in der Unterorbuung der Beamtung und in der Huldigung des Volle die Aner⸗ 
kennung nad, in welcher fi das Bewußtfein ber fletigen politiihen Nothwendig⸗ 
keit, d. h. des Rechts ausſpricht. 

3. Die fireitigen Berfaffungsfragen überhaupt werben ebenſo durchweg 
nicht durch gerichtliche Urtheile, fondern durch die politifchen Partellämpfe, durch 
bie Verhandlungen ver Regierung mit ber Kammern, durch Kammerbeſchlüſſe und 
Regierungsbelrete erledigt. 

In allen dieſen drei Gebieten erweist fi die Hohe Politik mit ihren Macht⸗ 
mitteln meiftens mächtiger als alle Nechtsmittel und fie Hält durchaus feſt an bem 


rung bei Bluntſchli, Verwaltungorecht und Vermaltungspflege in 


3) a die weitere Ausfüh 
der Krit. Nierteljahrsfärift Br. VI. ©. 279. 
Bluntfliun Brater, Deutſchet Staate⸗Wörterbuch. Al. 5 


Ed 














64 Derwaltung und Verwaltungsrecht. 


menwirten, fo in der Verwaltung Beamte und Bürger. Man fucht auf folde 
Weiſe die Bortheile der Staats⸗ und ber Privatverwaltung zu Tombiniren und bie 
Mängel verfelben zu vermeiden, 

Bon der Art waren ſchon früher in der Rechtspflege die Schwurgerichte und 
namentlih die Schöffengerihte in geringern Straffällen. Dazu fommen nun für 
die Provinzial:, Deparıemental- und Kreisverwaltung bie Provinzial- und Gene- 
ralräthe, die Kreisverfammlungen und Kreisausfchäfie, für bie Pollzeiverwaltung 
bie Präfeltur- und Bezirksräthe, für die Armenpflege ver Zuzug von bürgerlichen 
Armenpflegern und Armenvätern, für das Schulwefen die bürgerlichen Schulräthe 
u. f. f. Auch die Ehrenämter im Gegenfag zu den Soldämtern gehören viefer 
Richtung an, weil die Perfonen, welche zu jenen berufen werben, ihre Hauptftel= 
Inng im bürgerlichen Leben haben und nur einen Theil ihrer Zeit und Kraft dem 
Ehrenamt widmen. Der Kaftengeift ver Beamtung kann da weniger aufkommen. 
Freilich taugen die Ehrenämter nur da, wo nicht die fortgefegte Berufsthätigkeit 
des ganzen Mannes erforbert wird. 

II. Verwaltungsredt. 

Dan kann alles dffentlihe Recht im Einzelnen und Kleinen Berwaltungs- 
recht im weiteren Sinne nennen, wenigftens fo weit e8 die Verwaltung regulirt, 
wie man das Öffentliche Net im Großen und Ganzen, fo weit dadurch die Or⸗ 
ganiſation des Staates beftimmt wird, Berfaffungsrecht heißt. Die in Rechtsregeln 
und Inftitutionen "offenbar gewordene Grundlage und Beſchränkung der Verwal⸗ 
tung bildet dann, foweit nit ſchon die Verfaſſung das nähere beftimmt, das 
Verwaltungsrecht. Dieſes und das Verfafſungsrecht gehören dann zufammen ale 
die organifche öffentliche Rechtsordnung. 

Neuerlich hat Bähr („Der Rechtsſtaat.“ Kaſſel 1866) es als eine Forde⸗ 
rung des Rechtsſtaats ausgeſprochen: „Bel jeder Handlung der Staatsgewalt 
dürfen die dadurch berührten Perſonen die Entſcheidung über die Rechtsfrage vor 
ein Gericht bring." Die Rechtéfrage in conoreto würde dann jeber Zeit auch 
in der Behandlungsweiſe fcharf unterſchieden von der Zwedmäßigleitöfrage. Ueber 
jene würben die Gerichte, über viefe die Regierung und Berwaltungsbehörhen 
entſcheiden. 

Allerdings iſt es eine Aufgabe der zukünſtigen Rechtsbildung, für beſſeren 
Schutz des öffentlichen Rechts überhaupt zu ſorgen, als gegenwärtig gewährt wird. 
Aber es wäre meines Erachtens doch eine unglückliche Richtung dieſer Reform, 
wollte man die Vorſtellungen und Einrichtungen des Clvilproceſſes übertragen 


auf den Proceß Aber üffentlihes Recht und gar die Kompetenz der Civilgerichte 


dahin erweitern, daß fie aud über äffentliche Rechtsſtreitigkeiten verhandeln Laffen 
und urtheilen. Das öͤffentliche Recht gehört feinem Weſen nad voraus dem 
Staate an und beſteht um des Staates willen. Nicht die Einzelnmenfchen, 


“die Bürger find daher zunächft dabei betheiligt, ſondern das Ganze iſt es. Daher 


darf’ die Frage aud nicht ausfchließli over auch nur vornehmlih von dem Stande 
punfte der durch eine Handlung der Staatsgewalt berifßieten Perfonen, fondern 
fie muß vielmehr voraus aus dem Geſichtspunkte des Staates erwogen und ent- 
ſchieden werben. 

Dffenbar war das Mittelalter, in weldem jever Heine Herr, jeder Vaſall und 
jeve Körperfchaft ihre öffentlichen Rechtsanfprüche feibftännig, theils in Proceßform, 
theils in Form der Selbfthülfe verfechten konnten, der Berwirklihung jener For- 
derung viel näher als die heutige Staatenbildung, welcher eine einheitliche, gleich“ 
mäßige und energifche Regierungs- und Berwaltungsthätigleit eben fo unentbehr- 


Derwaltung und Derwaltungstedt. 65 


lich erſcheint, wie die volle Entfaltung der bürgerlichen und ver Volfsfreiheit und 
welche daher eine Lähmung ver Verwaltung beforgt, wenn es lediglich von der 
Beftreitung eines einzelnen irgendwie Betheiligten abbinge, ob eine Sache als Ver⸗ 
wultungs- oder als Berwaltungerechtöfrage zu behandeln fei!). Wie gefährlich bie 
Ueberfpannung der juriftifhen Elemente im Stante fel, das zeigt am beften bie 
Geſchichte des Mittelalters und der Uebergangsperiode in bie neue Zeit. Der mo- 
derne Rechtaſtaat ift doch noch im höherem Sinne Volksſtaat, politifcher 
Staat und Kulturftaat. 

Die künftige Organifation von öffentlich-⸗rechtlichen Gerihtshöfen, 
die and ich als eine Aufgabe der Zukunft betrachte, muß jevenfalls eine andere 
fein, als die unfrer heutigen Civilgerichte, oder felbft unferer Staatsgerichtshoͤfe. 
Sell nicht der Staat Schaden leiven und fowohl die Staatsautorität als das 
Staatswohl der Streitfucht einzelner Bürger oder ver gefährlicheren Streitſucht 
ber politifhen Parteien geopfert werben, fo ift in der Zufammenfegung verfelben 
das flaatsmännifhe Element mehr ald das juriftifhe zu beachten und das 
Bevürfnig ber freien Bewegung des Ganzen forgfältig vor den Hemmniflen flarr 
geworbener Rechtöformen zu fügen. Würde heute aller Streit über öffentliches 
Recht an Gerichte gebracht werben, fo würde ber heutige Staat auf ven Kopf 
geftelt und die heutigen Bölker würden fehr bald wieder einem unfruchtbaren 
und formenftrengen Juriftenregimente, weldes dann zur Geltung fäme, die unge- 
zägelte aber den gemeinen Nutzen fördernde Regierungswillkür vorziehen. 

Die meiften Gebiete des Öffentlichen Rechts entbehren in unferer Zeit noch 
einer befonvern Rechtspflege, und werden dem Schuß theils der Megierungen und 
Berwaltungsbehörben, theils der repräfentativen Körper überlafien. 

Das gilt insbeſondere: 

1. von den vblkerrechtlichen Streitigkeiten größten Theils. Ordentliche 
völferrechtliche Gerichtähöfe gibt es nicht und die Schiebsgerichte fegen eine befon- 
dere Uebereintunft der Parteien voraus. Selbft die Prifengerichtshöfe und ähn- 
liche Berichte über völlerrechtlihe Dinge gehören, wo fie vorkommen, dem befon- 
dern Staate an und. bieten infofern ungenügende Garantieen für eine unpartelifche 
NRechtopflege. 

2. Die Sonveränetätsfragen, insbeſondere auch die dynaſtiſchen An- 
fprüche auf Landesregierung, werben wieder nicht von irgend einem Gerichtshof 
in Form der Procefverhanvlung, foudern gewöhnlich durch ven größeren Proceß 
ber Vollkergeſchichte erledigt. Nicht felten gibt die Macht ven Ausſchlag, in welder 
freilich aud ein ſtaatenbildendes Moment zu Tage tritt, und es folgt dann In 
den Beſchlüſſen der repräfentativen Körper, in den Abftimmungen ber Bürgerjchaft, 
in der Unterorbnung der Beamtung und in der Hulbigung des Volle bie Aner- 
kennung nad, in welcher fi das Bewnßtfein der ftetigen politiſchen Nothwendig- 
keit, d. h. des Rechts ausſpricht. 

3. Die ftreitigen Berfajfungsfragen überhaupt werden ebenfo durchweg 
nicht durch gerichtliche Urtheile, ſondern durch die politiihen Parteilämpfe, durch 
bie Verhandinngen der Regierung mit den Kammern, durch Kammerbeſchlüſſe und 
Regierungsbelzete erledigt. 

In allen diefen drei Gebieten erweist fi die hohe Politik mit ihren Macht⸗ 
mitteln meiftens mächtiger als alle Rechtsmittel und fie hält durchaus feft an dem 





1) die weitere Ausführung bei Bluntfchll, Berwaltungsredht und Dermaltungspflege in 
der 20. Wiertetiabrhlärik Ferp S. 279. iſch 
Bluntſchli und Brater, Deutſches Staate⸗Wörterbuch. Al. 5 


v 








64 Derwaltung und Verwaltungsrecht. 


menmwirfen, fo in ver Verwaltung Beamte und Bürger. Man fudht auf folde 
Weiſe die Vortheile der Staats⸗ und ber Privatverwaltung zu fombiniren und bie 
Mängel verfelben zu vermeiden. 

Bon der Urt waren ſchon früher in der Nechtöpflege die Schwurgeridhte und 
namentlich die Schöffengerichte in geringern Straffällen. Dazu kommen nun für 
die Provinzial-, Departemental- und Kreisverwaltung die Provinzial- und Gene- 
ralräthe, die Kreisverfammlungen und Kreisausfchüfie, für die Polizeiverwaltung 
die Präfektur und Bezirksräthe, für die Armenpflege der Zuzug von bürgerlichen 
Urmenpflegern und Armenvätern, für das Schulwejen bie bürgerliden Schulräthe 
u. f. f. Au die Ehrenämter im Gegenfag zu den Soldämtern gehören viefer 
Richtung an, weil die Perfonen, weldhe zu jenen berufen werben, ihre Hauptſtel⸗ 
lung im bürgerlichen Leben haben und nur einen Theil ihrer Zeit und Kraft dem 
Ehrenamt widmen. Der Kaftengeift der Beamtung kann da weniger auflommen. 
Freilich taugen die Ehrenämter nur da, wo nicht die fortgeſetzte Berufsthätigkeit 
des ganzen Mannes erfordert wird. 

IH. Berwaltungsredt. 

Man kann alles Öffentliche Recht im Einzelnen und Kleinen Verwaltungs⸗ 
recht im weiteren Sinne nennen, wenigſtens fo weit e8 bie Verwaltung regulirt, 
wie man das öffentliche Recht im Großen und Ganzen, fo weit dadurch die Or⸗ 
ganffation des Staates beftimmt wird, Berfafiungsredht heißt. Die in Rechtsregeln 
und Inflitntionen offenbar gewordene Grundlage und Beſchränkung der Verwal⸗ 
tung bildet dann, ſoweit nit ſchon bie Verfaffung das nähere beftimmt, das 
Verwaltungsrecht. Diefes und das Verfaflungsredht gehören dann zufanımen als 
die organifche öffentliche Rechtsordnung. 

Nenerlih hat Bähr („Der Rechtsſtaat.“ Kaflel 1866) es als eine Forde⸗ 
rnng des Nechtöftaats ausgefprohen: „Bel jeder Handlung der Staatsgewalt 
dürfen die dadurch berührten Perfonen die Entſcheidung über vie Rechtefrage vor 
ein Gericht bringen." Die Rechtsfrage in concreto würde dann jeder Zeit auch 
in der Behandlungsweiſe ſcharf unterfchieden von der Zweckmäßigkeitsfrage. Ueber 
jene würden die Berichte, über dieſe die Regierung und Berwaltungsbehörben 
entfcheiven. 

Allerdings iſt e8 eine Aufgabe der zukünftigen Rechtsbildung, für befleren 
Schuß des öffentlichen Rechts überhaupt zu forgen, ald gegenwärtig gewährt wird. 
Über es wäre meines Erachtens doch eine unglüdlihe Richtung viefer Reform, 
wollte man die Vorftellungen und Einrichtungen des Civilproceſſes übertragen 
auf den Proceß Aber öffentliches Recht und gar die Kompetenz der Civilgerichte 
dahin erweitern, daß fie auch über Bffentliche Rechtsſtreitigkeiten verhandeln Laflen 
und urtbeilen. Das Öffentliche Recht gehört feinem Weſen nad voraus dem 
Staate an und befleft um des Staates willen. Nicht die Einzelnmenfchen, 
die Bürger find daher zunächft dabei betheiligt, fondern das Ganze tft es. Daher 
barf die Frage auch nicht ausfchlieglih oder auch nur vornehmlih von dem Stand⸗ 
punkte der durch eine Handlung der Staatsgewalt berifßrten Perfonen, fondern 
fie muß vielmehr voraus aus dem Geſichtspunkte des Staates erwogen und ent- 
ſchieden werben, 

Offenbar war das Mittelalter, in welchem jever Meine Herr, jeder Vaſall und 
jede Körperfchaft ihre öffentlichen Rechtsanſprüche felbftänvig, theils In Procekform, 
theils in Form der Selbftbülfe verfechten fonunten, der Verwirklichung jener For⸗ 
derung viel näher als die heutige Staatenbilbung, welder eine einheitliche, gleich⸗ 
mäßige und energifche NRegierungs- und Verwaltungsthätigleit eben fo unentbehr- 











a 2 ce Se nn 


Derwaltung nnd Derwaltungstedt. 65 


lich erſcheint, wie die volle Entfaltung der bürgerlichen und ver Volfsfreiheit und 
melde baher eine Lähmung ver Verwaltung beforgt, wenn es Iebiglih von ver 
Befireitung eines einzelnen irgendwie Betheiligten abhinge, ob eine Sache als Ber- 
waltungs- oder als Verwaltungsrechtofrage zu behandeln fell), Wie gefährlich bie 
Ueberfpannung der juriftifden Elemente im Staate ſei, das zeigt am beften vie 
Geſchichte des Mittelalters und ver Uebergangsperiode in bie neue Zeit. Der mo- 
berne Rechtoſtaat iſt doch noch im höherem Ginne Volksſtaat, politiſcher 
Staat und Kulturftaat. 

Die Lünftige Organifation von öffentlich-rechtlichen Gerichtshöfen, 
bie auch ich als eine Aufgabe der Zukunft betrachte, muß jedenfalls eine andere 
fein, als die unfrer heutigen Civilgerichte, oder felbft unferer Staatsgerichtshöfe. 
Soll nicht der Staat Schaden leiden und fowohl die Staatsantorität als das 
Staatswohl der Streitfucht einzelner Bürger oder der gefährlicheren Streitfucht 
ber polttiihen Parteien geopfert werden, fo ift In der Zufammenfegung berfelben 
das flantsmännifhe Element mehr ald das juriftifche zu beachten und das 
Bevürfnig ber freien Bewegung des Ganzen forgfältig vor den Hemmniffen flarr 
geworbeuer Rechtoformen zu ſchützen. Würde heute aller Streit über üffentliches 
Recht an Gerichte gebracht werben, fo würde der heutige Staat auf den Kopf 

geſtellt und die heutigen Bölker würden fehr bald wieder einem unfruchtbaren 
und formenftrengen Jurifteuregimente, welches dann zur Geltung käme, die unge- 
zügelte aber den gemeinen Nutzen fördernde Regierungswillfür vorziehen, 

Die meiften Gebiete des Öffentlichen Rechts entbehren in unferer Zeit noch 
einer beſondern Rechtöpflege, und werden dem Schuß theild der Megierungen und 
Berwaltungsbehörven, theils der repräfentativen Körper Überlaflen. 

Das gilt inshefoudere : 

1. von den völlerrehtlihen Streitigkeiten größten Theile. Ordentliche 
vollerrechtliche Gerichtshoͤfe gibt es nicht und die Schiedsgerichte ſetzen eine befon- 
dere Uebereintunft der Parteien voraus. Selbft die Prifengerihtshöfe und ähn- 
liche Gerichte über völlerrechtliche Dinge gehören, wo fie vorfommen, dem befon- 
dern Staate an uud. bieten infofern ungenügende Öarantieen für eine unparteiifche 
Rechtspflege. 

2. Die Sonveränetätsfragen, insbeſondere auch die dynaſtiſchen An⸗ 
ſprüche auf Landesregierung, werden wieder nicht von irgend einem Gerichtshof 
in Form der Proceßverhandlung, ſondern gewöhnlich durch den größeren Proceß 
ber Vollergeſchichte erledigt. Nicht ſelten gibt die Macht den Ausſchlag, in welcher 
freilich auch ein fiaatenbildendes Moment zu Tage tritt, und es folgt dann in 
den Beſchlüfſen der repräfentativen Körper, in den Abftimmungen der Bürgerichaft, 
in der Unterorbnung der Beamtung und in der Hulbigung des Volls bie Aner⸗ 
fennung nad, in welcher fi das Bewußtſein der ftetigen politiihen Nothwendig⸗ 
keit, d. h. des Rechts ausſpricht. 

3. Die fireitigen Berfaffungsfragen überhaupt werben ebenfo durchweg 
nicht Durch gerichtliche Urtheile, ſondern durch die politiichen Parteilämpfe, durch 
die Verhanblungen ver Regierung mit den Kammern, durch Kammerbeſchlüſſe und 
Regierungsbefrete erlebigt. 

In allen dieſen drei Gebieten erweist ſich die Hohe Politik mit ihren Macht⸗ 
mitteln meiftens mächtiger als alle Rechtsmittel und fie Hält durchaus feft an dem 





1) Bol. die weitere Ausfü bet Bluntfehli, Berwaltungsrecht und Verwaltungspflege in 
der Kit, Gierteiabeafäri a 
Bluntf@liunn Brater, Deutfes Staate⸗Woͤrterbuch. Xi. | 5 


ld 








66 Derwaltang und Derwaltungsredt. 


Sat: Salus populi suprema lex. Das heißt die Rechtspflege bleibt hier im gän- 
ftigften Fall ver Sorge für die Staatswohlfahrt untergeorbnet, zuweilen fogar ent. 
ſcheidet vie felbftthätige Gewalt, ohne daß man ihr mit Erfolg begegnen ober 
widerftehen kann. Gewiß iſt das ein unvolllommener Zuſtand, welcher die Eriftenz 
des Öffentlihen Rechts felbfl in den wichtigften Beziehungen unfiher macht. Aber 
Jedermann flieht auch, daß hier viel zu große Intereffen des Völlerlebens in Frage 
find, als daß man deren Entfheidung der blos juriftiichen Erwägung eines Ge⸗ 
richtehofes anheim geben dürfte Es könnte das nur dann anderd werben, wenn 
zureihende Oarantieen dafür geboten würden, daß die gerichtliche Entſcheidung 
ſelbſt alle ſekundären Rechtsregeln jenem oberften Staatengeſetz allezeit unterzuorbnen, 
und die beſtehenden Rechtsanſprüche mit den Anforderungen ver öffentlichen Wohl⸗ 
fahrt in Einklang zu bringen verſtünde, ſowie dafür, daß ein ſolcher Spruch zum 
Vollzuge kame. | 

4. Über auch innerhalb des Gebietes vr Militärverwaltung und ebenfo 

5. in dem Gebiet der PBolizeiverwaltung im eigentlihen Sinne entſcheidet 
regelmäßig dieſelbe Stelle, welde einen Befehl oder ein Verbot erläßt, zugleich 
über die Frage der Rechtmäßigkeit und ber Zweckmäßigkeit folder Berfügungen. 
Man beforgt von einer Trennung der beiden Fragen eine Lähmung der militärt- 
hen oder polizellihen Aktion. Ob die Truppen in Kriegszeiten eine Verbindung 
zu hemmen oder abzubrechen, ob fie ihre Gefüge auf Häufer zu richten haben, 
ob bei einer Yeuersbrunft ein Haus wegzureißen, bei einer Epivemie Menſchen 
längere Zeit abzufperren oder Thiere abzufchlachten feien, das find offenbar nicht 
bloße Zwedmäßigkeitöfragen. Sie dürfen nur bejaht werden, wenn bie Noth es 
rechtfertigt, d. h. wenn zugleich vie Nechtefrage bejaht werben muß. ber über 
diefe Nothwendigkeit urtheilt nicht ein Gericht, fondern diefelbe Behörde, welche 
bie Ausführung nah Zwedmäßigkeitsrüdfihten leitet. Und dennoch wird Niemand 
beftreiten, daß diefe Verfügungen einen fehr ftarten Einfluß üben fogar auf die 
Privatrechte und den Privatverkehr. Man nimmt an, daß die Rüdfiht anf das 
allgemeine Wohl gebieterifch ein entfchievenes und durchgreifendes Handeln erfor- 
dere und eine Verweiſung ver Rechtöfrage an ein Gericht das Heer entmannen 
und bie Polizei unwirkfam machen müßte. 

Erſt wenn entweber die Frage der Entſchädigung ber verlegten Privaten 
oder bie Berhängung einer Polizeiftrafe zur Beurtheilung kommt, dann iſt das 
neuere Staaisrecht geneigt, im erften Fall vie Kompetenz ber Civilgerichte, im zwei⸗ 
ten tie der Strafgerichte anzuertennen, und dadurch den Privatperfonen Garan« 
tieen zu gewähren gegen übermäßige ober ungerechfertigte Velaftung ihres Vermö⸗ 
gens oder ungeeignete Strafen. So weit das dffentliche Recht, das von den Be⸗ 
hörden verwaltet wird, in Frage iſt, find wohl Rechtsmittel innerhalb der Verwal⸗ 
tungsbehörbe felber geftattet bid hinauf zu ber Megierung oder dem Staatsrath, 
aber es ift kein gerichtliches Proceßverfahren eröffnet. 

Das VBerwaltungsreht im engern tehnifhen Sinn, für weldes in 
manden Staaten eine befondere Berwaltungsrechtspflege eingerichtet iſt, erſtreckt 
ſich alſo nicht fo weit als das Bffentliche Recht überhaupt, nit einmal fo weit, 
ald die Verwaltung jelbft nach beſondern Rechtsgrundſätzen zu verfahren hat 
und auf bie Geftaltung ter öffentlichen Berhältniffe einwirkt. Ä 

Dasfelbe wird nad dem gegenwärtigen Stand ver Dinge vornehmlich be= 
ſchränkt auf dem ziemlich engen Kreis derjenigen öffentlichen Rechte over Pflichten, 
melde eine relativ ſelbſtändige Geftalt mit Bezug auf einzelne Betheiligte 
erlangt und daher als Rechte ober Pflichten einzelner Körperfhaften ober Bürger 





Derwaltung und Derwaltungsredht. 67 


eine ähnliche Konfiftenz wie Privatrechte erhalten haben. Nur in biefen Fällen 
nämlich gibt es Parteien im eigentlichen Sinne, dern Rechtsbehauptungen 
einander widerftreiten und welche daher in der Lage And, einen Proceß vor Ge⸗ 
richt durchzuführen. 

Freilich bleibt der Charakter des öffentlichen Rechts auch Hier gewahrt, indem 
dieſe einzelnen Parteien doch nicht ein abfolut-perfönliches, ihnen ausſchließlich 
zugehöriges Recht, auch nicht wider alle Welt und insbeſondere nicht wider den 
Staat befiten, aber verfelbe tritt doch, um jener befondern Beziehung willen 
auf beſtimmte berechtigte oder verpflichtete Perfonen nicht fo lebhaft hervor, 
wie in ben andern Öffentlichen Rechten und Pflichten, deren Unterorpnung unter 
bie Stantögewalt eine abfolute ift, fie können doch wie Sonderredte be- 
banptet oder vertheinigt werben. Das Gemeinde⸗ und Stantöbärgerreiht, die Aus- 
dehnung ber Steuerbefugniffe der Gemeinde, die Steuerpflicht überhaupt, ſoweit 
fie nicht nach prioatrechtlichen Grundſätzen zu bemefien ift, die Auseinanberfegung 
ver Gemarkungen der verfchtenenen Gemeinden und ihrer Bffentlihen Güter, die 
Unterbringung von heimatlihen Perfonen, vie Zufammenlegung von Orunpftüden, 
die Benugung der äffentlihen Wege und die Unterhaltungspflict verfelben, vie 
Benugung der öffentlichen Gewäſſer mit Bezug auf die öffentlichen Bedürfniſſe, 
ber Unterhalt der Damme, Wuhrungen, die Reinigungspflict des Flußbettes, bie 
Baupflicht für Kirchen, Schnlen und andere Öffentliche Gebäude, die Beſchrän⸗ 
fung der Privatbanten aus Gründen der öffentlihen Wohlfahrt, die Uebernahms⸗ 
pfliht von Gemeinde⸗ oder Staatsäimtern, die Ausdehnung der militäriſchen Dienfl- 
pflicht, Eifenbahn-, Telegraphen-, Poftverhältniffe, ſoweit die öffentlich⸗rechtliche 
Seite als entſcheidend hervortritt, die Nothwendigkeit der Gutsabtretung aus 
Grunden der öffentlichen Wohlfahrt find Fälle der Urt, welche fchidlih vermwal- 
tungsrechtlich und nicht blos verwaltungsmäßig behandelt werden. 

Das franzöfifhe Verwaltungsreht hat in Vermögensſachen ven Gegenfag 
zwiſchen öffentlih-rehtlihen Bermögensbeziehungen und rein privatredte 
lihen forgfältig, bis ins Einzelne ausgebildet. Dan fann ver Meinung fein, 
daß dasfelbe das Gebiet des öffentlichen Recht? an manden Stellen zum Schaden 
ver Privatfreiheit allzu weit erſtreckt habe, aber ber Unterfchied felbft darf nicht 
überfehen werben. Auch der Staat kann reines PBrivatvermögen haben, Ei» 
genthum an liegenden Gütern und an fahrender Habe, Yorberungen und Schul⸗ 
den, die fi durch nichts von dem Vermögen ber Privatperfonen unterſcheiden 
und daher den gewohnten Regeln und Geihäftsformen des Privatverlehrs unter« 
Itegen. Infofern erſcheint der Staat entlleivet von aller Majeftät und Souveräne- 
tät, lediglich wie ein Privatmann. Die Franzofen nennen dad domaine de l’Etat, 
wir Tönen es Privatgnt des Staates heißen. Die Sachen, die dazu gehören, 
find res privatae und das Recht daran oder darauf iſt jus privatum. 

Über es gibt auch ein ſtaatliches Vermögensrecht von weſentlich öf⸗ 
fentlich⸗ rechtlichem Charakter, Bffentlihes Gut (Staatsgut); und zwar in 
boppelter Beziehung: 

1. Indem gewiffe Sachen entweder von Natur ober ihrer fortbauern- 
den Befimmnng nad der Privatherrfhaft entzogen find und der Gemeinſchaft 
zubienen. Die Franzoſen faflen diefes Vermögen zufammen mit dem Ausprud . 
domaine public. Theils gehören dahin die Sachen, melde wie bie öffentlichen 
Gewäfler, die Straßen, vie Pläge u. f. f., fo lange fie dieſe Natur haben, aus⸗ 
ſchließlich der Gemeinſchaft dienen und gar nicht des Privateigentbums fähig 
find, res publicae, quae extra commercium et publici juris sunt, im eigentlichen 


68 | Yerwaltung und Verwaltungsrecht. 


Sinn. Theils gibt e8 Sachen, welche zwar ihrer äußern Beichaffenheit nad wohl 
bes Privatelgenthums fähig find, aber dur ihre Beltimmung dem Privatrecht 
bennod ganz ober theilweife entrüdt und dem öffentlichen Gebrauche vorbehalten 
find, wie 3. B. Rathhäuſer, Feftungen, Kafernen, Löſchgeräthſchaften u. f. f. 

2. Infofern der Staat feine Macht und Hoheit aud Über das Privat- 
vermögen als eine flaatsredhtlih begründete ausübt, wie Insbefondere in 
dem gefammten Steuerreht des Staats oder in Form der ſtaatorechtlichen 
Regalien. 

Diefes ganze Gebiet der öffentlichen Güter, beftehen file nun in öffent» 
lichen Saden ober in Finanzrechten, eignet fi) vorzäglid zu verwaltungs- 
rechtlicher Ausbildung und Behandlung. 

IV. Berwaltungsrehtöpflege. 

Sowohl die Ausbildung dieſes Verwaltungsrechts im engern Sinne als bie 
Sicherung desfelben im einzelnen Falle hängt wefentlih ab von der Einrichtung einer 
befondern Berwaltungsredhtspflege, im Gegenſatze fowohl zu bloßer Ver⸗ 
waltung als zu den Civilgerichten. Dan kann zweifeln, was für das äffent- 
liche Leben gefährlicher und verberblicher fei, ob eine übermäßige Autorität ber ' 
Regierung, welde in Willkür und Despotismus ausartet, oder eine civiliſtiſche 
Handhabung des öffentlichen Rechts, welche den Staat auflöst und feine Bewe- 
gung lähmt. Wenn ſchon der Handelsftand für handelsrechtliche Streitigkeiten kein 
rechtes Vertrauen faffen fann zu den gewohnten mit Juriften befegten Civilgerich⸗ 
ten, ſondern Handelsgerichte verlangt, in denen Kaufleute als Urtheiler mitwirken, 
jo darf man fi nicht verwundern, daß bie Männer ver Berwaltung und bie 
Publichften die Handhabung des öffentlichen Rechts unfern Civilgerichten nicht an⸗ 
vertrauen wollen. Die Handelsleute bezweifeln nicht die Unparteilichkeit der Civil⸗ 
richter, nod ihre Fähigkeit aus gefeglichen Rechtsvorſchriften richtige Schläffe zu 
ziehen, aber fie find der Meinung, dieſe Eigenfchaften genügen nidt, um das 
Handelsrecht zu fehlten, vielmehr liege gerade in diefer juriftifchen Kunft, logiſche 
Deduktionen aus abftraften Sägen zu machen, wenn fie nit von dem Einblid 
in die Bebürfniffe des Handelsverkehrs und in den Sinn der kaufmänniſchen Ge- 
ſchäfte erleuchtet und geleitet werde, die große Gefahr für das lebendige Handels⸗ 
recht, daß es ber logiſchen Formel geopfert werbe, 

Ganz ähnliche, nur fehr viel ftärkere Gründe fprechen dafür, daß bie Ber- 
waltungsrechtöftreitigleiten nit an die Eivilgerichte gebradht werben, benn das 
Berwaltungsreht ift nicht ein Theil des Civilrechts, fondern gehört einer grund- 
verfchiedenen Rechtsordnung an, und würde noch ſchwerer gefährdet, wenn es ohne 
Einbltd in die wandelbaren Bebürfniffe des äffentlichen Lebens lediglich durch 
logiſche Schlußfolgerungen aus abftraften Gefegen auf behauptete Thatfachen ge= 
handhabt würde. Die naive Unbefangenheit, welche uichts fieht, als was in den 
Alten iſt oder von den Parteien vorgetragen wird, bie. hohe Unparteilichleit, welche 
in dem Staate nur einen Gegner einer andern völlig gleichberedhtigten Partel er⸗ 
blidt, die Feinheit der Unterſcheidung, welche die Thatfahen in ihren einzelnen 
Momenten zerlegt, und unter die hergebrachten juriſtiſchen Begriffe unterbringt, 
der Heine, zuweilen mikroſkopiſche Scharffinn, welcher aus der Form auf den Wil- 
len ſchließt, und die logiſche Strenge und Unerbittlicleit find fehr ſchätzenswerthe 

Eigenſchaften eines Civilrichters, aber für ven Richter in Sachen des öffentlichen 
Rechtes höchſt gefährliche Eigenfchaften, die ihn mißleiten können gerade das zu 
überfehen und zu mißachten, was bier die Hauptſache Ift, den Zuſammenhang aller 
öffentlichen Rechte mit dem großen Stantsganzen, dem fie angehören und zubienen, 





Berwaltung und Verwaltungsrecht. 69 


Es hat einen Sinn, wenn ber Civilrichter ſich auf das Sprichwort beruft: 
fiat justitia et pereat mundus, denn das Privatreht beſteht gegen alle Welt, 
freilich auch nur deßhalb einen Sinn, weil es ganz unmöglich if, daß der Ent- 
ſcheild über einen einzelnen Civilproceß die Welt aus den Angeln hebt, aber es 
wäre völlig finnlos zu fagen: fiat jus publicum et pereat res publica. 

Jene Untanglichkeit der blos cioiliftifchen Bildung und Berufsübung für bie 
Berwaltungsrehtspflege wird auch von ten franzöflihen Publiciſten wohl erkannt. 
In den vortreffliden abminifirativen Studien ſpricht fih Vivien darüber fo ans: 
„Die Aominiftratiogefege find weſentlich verſchieden von den Cioilgefegen; fie er- 
fordern befondere Studien und beruhen auf allgemeinen Principien einer ganz 
anderen Orbnung. Um biefelben mit Verſtändniß und ihrem Geifte gemäß anzu= 
wenden, genügt es nicht die Schule des Rechtsanwalts durchgemacht und mit den 
Gerihteverhanblungen des Civilprocefies ſich vertraut gemacht zu haben, man muß 
In die Bebingungen des öffentlichen Lebens eingeweiht fein und an den äffentli- 
Gen Sefchäften Theil genommen haben. Was ven Civilrichter auszeichnet, das wird 
bier leicht zum Fehler. Ienem iſt der Staat nur eine abftrafte Perfönlichkeit, für 
ben er weniger Interefie empfindet, als für die Iebendige Privatperfon, deren In⸗ 
terefien der Anwalt verfiht. Nur zu oft-fieht er den Staat wie einen Unterbrücder, 
blefe wie fein Opfer an.” | 

Wenn fi diefe piychologifhe Erfahrung fogar In Frankreich zeigt, fo ift 
viefelbe Gefahr noch größer für Deutſchland, denn der Deutfhe iſt von Natur 
weniger auf den Staat angelegt als der Franzoſe, er iſt weniger geneigt fi dem 
Stante unterzuorbnen und legt einen größeren Werth auf die individuelle Eigen⸗ 
ort und die Privatfreiheit. An der mittelalterlihen Weife, alle öffentlichen Fragen 
wie Procefie Über Eigenthum zu behandeln, Hatte dieſer germaniſche Grundzug 
einen erheblichen Antheil. Deßhalb wird es der deutſchen Nation fo fchwer, ben 
modernen Stantögeift in fih zu entwideln und praftifh zu betätigen. 

Würde das Verwaltungsrecht in civiliſtiſcher Weiſe gehanphabt, was kaum 
zu vermeiden wäre, wenn bie Civilgerichte darüber urtheilten, fo würde baher ber 
öffentliche Geift vesfelben nicht zu voller Anerkennung gelangen. Die individuelle 
Rehthaberei und ber Logifche Formalismus befämen zu viel Madt, die Stants- 
verwaltung würde gelähmt und die Befriedigung der öffentlichen Bedürfniſſe viel- 
fältig erfchwert. Wer gewohnt ift in dem Recht nichts anderes zu fehen, als ein 
Syſtem von formulirten Regeln, von abſtrakten Vorfäriften, von Geſetzen im 
weitern Sinne, gleihviel ob er biefelden wie Stahl im theofratifchen Geifte als 
eine göttlie, oder wie antere in menfchlich freierem Sinne, als eine aus dem 
Bollswillen entfprungene ftaatlihe Ordnung über den Menſchen betradtet, 
tem wird es nicht Leicht zu verftehen, weshalb denn die Geſetze des öffentli— 
hen Rechts einen anderen Charakter haben, als vie Gefepe über das Privat- 
tet. Obwohl dieſe ideologiſche Auffaffung des Rechts überall unzureichend if, 
fo werben ihre Mängel doch im Privatrecht weniger empfunden. Diefe Privat- 
perfonen, die mit einander fireiten, müſſen ſich einer Gefetautorttät unterorbnen, 
welche als eine fittlihe und flaatlihe Macht über ihnen ift und fle ihrem Willen 
unterwirft. Uber daß die öffentliche Rechtsordnung, wenn gleich ebenfalls in Ver⸗ 
faffung und Geſetz in Form des Bollswillens formulirt und ausgefprodhen, nicht 
als eine abfirafte, unveränverlihe Orbnung über dem Boll und bem Staat zu 
begreifen fei, das iſt nachgerade burd die Stantswiffenfchaft Mar geworben. Das 
Staatsrecht ift nicht ein Gedankending außer und Aber dem Staat, fondern es 
iſt der organifhe, lebendige Staat felbft in feinen nothwenbigen Verhält⸗ 


— — 


70 Derwaltung und Derwaltungsrecht, 


niffen. Indem der Staat fi entwidelt und fi wandelt, entwidelt und wanbelt 
fih fein Recht, und es gibt Fein öffentliches Recht, welches als abftrafte Macht 
wider den Staat beftehen könnte. Sind ſchon die feftgeftalteten Privatredhte, welche 
gänzlich der Willkür der Individnen zubienen, nicht in dem Grabe unveränverlid, 
wie die meiften Juriften glauben, fo werben daher die öffentlichen Rechte viel ent- 
fhiedener von der Strömung des Öffentlichen Lebens, das nie ftille fteht, mit 
fortgezogen. Wenn e8 bei ber Beurtheiluug freitiger Privatrechte in der Regel 
genügen wird, die in der Bergangenheit entflandene Form vesfelben zu erlennen 
und gegen Verletzung durch andere zu ſchützen, fo würde eine derartige nur zurüd- 
ſchauende und blos formelle Auffafjung des Vermwaltungsrechts, welche den Zufam- 
menhang mit der allgemeinen Bewegung des Öffentlichen Lebens nicht beachtete, 
“mit den Öffentlichen Bebürfniffen ver Gegenwart in einen unleivliden Widerſpruch 
gerathen. | 

Ganz diefelben Verwaltungsgefege werben je nad Umſtänden firenger und 
enger interpretirt und gehandhabt in Zeiten bes Kriegs, gefährliher Bewegungen, 
oder einer allgemeinen Landesnoth, und hinwieder freier und larer in friedlichen 
und glüdlihen Zeiten. Es kann das gar nicht anders fein, weil das Berwaltungs- 
recht nicht von der Bewegung des öffentlichen Lebens Losgetrennt werden Tann. 
Allerdings foweit die Gefege die Bebingungen und Schranfen des Berwaltungs- 
rechtes feft beftimmen, müſſen viefelben eben fo treu und aufrichtig tem Urtheil 
zu Grunde gelegt werben, wie die Gefege über das Privatrecht. Uber gewöhnlich 
bleibt vem Richter in Verwaltungsftreitigleiten innerhalb jener gefeglihen Schran- 
fen ein ziemlih weiter Spielraum offen, innerhalb deflen er die Anſprüche ver 
Parteien und die Forderungen des Staats im Geifle des gegenwärtigen Lebens 
- und feiner Bebürfniffe zu würdigen, auszugleigen und mit ber Bewegung ber 
Zeit in Einklang zu bringen hat. Der Richter der Berwaltungsftreitigleiten wird 
baher viel öfter als ver Givilrichter in der Lage fein, neben der Frage ver Geſetz⸗ 
oder Rechtmäßigkeit aud die der Zwedmäßigkeit mit in Betracht zu ziehen 
und folglich nicht blos rückwärts, fondern auch vorwärts ſchauen müſſen. Der 
Civilrichter übt diefe Rüdfichtenahme auf dad Zweckmäßige ziemlich felten aus, wie 
3. B. bei Thellungs- und Orenzregulirungsflagen, der Verwaltungsrichter wird 
freilich ebenfalls in erfter Linie nah dem Rechtmäßigen fragen, aber er würde bie 
Natur des Verwaltungsrechts verlennen, wenn er nicht in foweit bie GElaftichtät 
desſelben beachtete, als es nöthig erfcheint für die Bedürfniſſe des Gefammtlebens. 
Gewiß wird er nicht Iemandem das Stimmrecht deßhalb abfpredhen, weil er über- 
zeugt iſt, daß verfelbe einen unzwedmäßigen Gebrauch davon machen werde, denn 
er weiß die Bedeutung der Wahlfreiheit trog ihrer Gefahren wohl zu fchägen, 
aber wenn bie Gültigkeit einer Wahlverhandinng in Frage ifl, fo wird er viefelbe 
doch nicht im derſelben formellen Weife beurtheilen, wie wenn über vie Gültigkeit 
eines Teſtaments geftritten wird, fonbern viel freier auch den möglichen Einfluß 
ber gerügten Formfehler auf ven Wahlgang und die gegenwärtige Bedentung ber 
Frage für die allgemeine Landeswohlfahrt in Erwägung ziehen. Wenn ferner in 
oder mit einer Gemeinde Streit tft über die Ausgaben zu Gemeinbezweden ober 
über das Beitragsverhältnig der Nebenorte zu gemeinfamer Straßenverbeflerung, 
über die Leiftungen für Schulbauten, über bie Austehnung der Schulpflicht, über 
Migbraud der firchlichen Autorität u. ſ. f., fo find alle biefe Fragen richtig nicht 
zu beantworten, wenn nit Nüdficht genommen wird auf die gegenwärtigen Be⸗ 
bürfniffe, die wirthichaftlihen und Kulturverbältniffe der betreffenden Ortfchaften 
ober Klaffen, die Entwidlung des gefammten Geiftesiebens. Das Gemeindebürger- 





Verwaltung und Derwaltungstecht, 71 


und das Heimatrecht feinen auf den erften Blick gerade fo fefte Rechte zu fein, 
wie etwa das Privatrecht eines Wltionärs, oder ver Yamilienfland, und bennod 
weiß jeder Gefhäftsfunbige, daß jene viel größeren Veränderungen ausgeſetzt find, 
als diefe, und daß, wenn in einem Lande vie freie Nieverlaflung und die Ge— 
werbefreiheit eingeführt oder bie Umwandlung ber Bürger- in die Einwohner: 
gemeinde vollzogen ober auch mur vorbereitet wird, die darauf bezüglichen Rechts⸗ 
en in einem ganz anderen Lichte erjheinen und auch anders behanvelt werben 
mäflfen, als bevor dieſe Wandlung des öffentlichen Lebens erfcheint. Auch auf das 
Proceßverfahren bat das Einfluß. Vivien äußert fi darüber fo: 

„Die Berwaltungsftreitigleiten ertragen wohl eine geregelte richterliche Be⸗ 
handlung, aber fie find ber Art, daß fie nicht vemfelben Gerichte zugewiefen wer- 
den dürfen, wie bie Civilſachen. In den gewöhnlichen Procefien über Civilrecht 
leben die Parteien mit venfelben Rechtstiteln und Proceßvortheilen fich gleihymäßig 
gegenüber und die Wage des Richters hält das volllommene Gleichgewicht zwifchen 
ihnen. In den VBerwaltungsftreitigleiten dagegen erfortert das äffentliche Intereffe 
eine gewifle wohlwollende Berüdfichtigung (certaines facilit6s, certains tempera- 
ments), welche zwar das Recht nicht mißachtet oder verlegt, aber ſeine Anwendung 
und die Art feiner Handhabung mobificirt. Eines Tages hatte der Präfivent eines 
Königlichen Gerichtshofes das Geſuch der Staatsanwaltſchaft abgefhlagen, daß eine 
Proceßſache des Staats, betreffend Erpropriation eines Hauſes, welches in vie 
öffentliche Straße hineinragte, vorweg behandelt werde und bemerkt: „Dieſes Haus 
wird als Zeuge dafür ftehen bleiben, daß in Frankreich das Recht für alle gleich 
iſt.“ Das iſt der Geift der Eivilgerihte. Bor einem Gerichtshof Über Verwal⸗ 
tungsftreitigleiten hätte das öffentliche Interefle, daß der gemeine Verkehr nicht 

_ gehemmt werde, unbedenklich veranlaßt einen derartigen Proceß fofort zu erlebigen. 
Das iſt der Geiſt ver Berwaltungsgerichtsbarteit.‘ 

Die Verbindung der Berwaltungs- und der Civilrechtspflege in Einer Be 
börbe gefährbet aljo nad zwei Seiten bin die Rechtöpflege. Entweder behandeln 
die Gerichte die erfteren Streitigfeiten in berfelben formalen Weile und ohne Rück⸗ 
fiht auf die dffentlihen VBebürfniffe der Gegenwart und daher wiber die Natur 
des Berwaltungsrehts, oder wenn fie bei Behandlung dieſer Fragen fi daran 
gewöhnen, nad freierem Ermefjen und mit Rüdficht auf die Staatsintereffen zu 
verfahren, fo geräth hinwieder vie Privatrehtspflege in die Gefahr, ähnlich und 
dann der Natur bes Privatrehts zumider behanvelt zu werben. Die Mifchung 
von beiden Procefien ift alfo unzwedmäßig. 

Als ganz entfcheidend muß aber die Erfahrung betrachtet werben. Wir fehen, 
daß Die moderne Stantöverwaltung fi eine von ihr weſentlich unabhängige Ber: 
waltungsrechtspflege gefallen läßt, und einmilligt, daß nad und nad) die Zuftän- 
digkeit derfelben erweitert werbe, dagegen überall, wo es Feine befonveren Ber- 
waltungsgerichte gibt, aufs Außerfte befirebt if, die Streitigkeiten über Verwal⸗ 
taugsrecht ala bloße Berwaltungsfahe in ihren eigenen Händen zu bebhan- 
bein und mehr oder weniger willfürlich zu entſcheiden. Die praftifche Folge ver 
Berneinung ver Verwaltungsrechtspflege ift alfo nicht die, dag nun das Berwal- 
tungsrecht unter den Schuß der Givilgerichte geftellt werde. Sogar wenn Gefege 
das vorfchreiben, jo hindert die Macht der Regierung, die ſich bier in ihren eigen- 
ſten Intereſſen bebroht fühlt, vielfältig den Vollzug, und auf manderlei Wegen 
und Ummegen wiſſen die Berwaltungsbehörben doch die Sache in ihrem Sinne zu 
entſcheiden. Das iſt im Großen die Entwidlung des 18. Jahrhunderts in Frank⸗ 
sei und bes 19. Jahrhunderts in Deutſchland. Die Folge ift vielmehr die, daß 


— 





72 Dierter Stand. 


ftatt der Verwaltungsrechtspflege, welde den Vethelligten die Garantieen 
der Rechtſprechung gewährt, die Verwaltung entfcheivet, welche ihnen viefe Ga⸗ 
rantieen nicht gibt. So iſt es In den meiften beutfchen Staaten, und deßhalb ift 
bis zur Stunde noch das eigentlihe Verwaltungsrecht weder wiſſenſchaftlich 
noch praltiih ausgebilvet. 

Es iſt alfo eine grundfalſche Vorftellung, daß vie Vermaltungsrechtöpflege 
aus dem Uebermaß ver Regierungsgewalt entfprungen fei, und daß die Sicherheit 
des Öffentlichen Rechts durch ihre VBefeitigung gewinnen würde. Im Gegentheil, . 
bie Willkür der Verwaltung wird durch fie verminbert und bie Freiheit ge- 
winnt, wenn die Vormundſchaft der Verwaltungsbehörden fih in ven Rechtsſchutz 
der Berwaltungsgerichte umwandelt. 

Sehr reich uud durchgebildet iſt die franzöflfcge Litteratur über Verwaltungs⸗ 
recht mehr noch als über Verwaltung. Einige der bebeutendflen neueren Schriften 
find: Dufour, trait6 general de Droit administratif applique. IV Bänte. . 
Paris 1843—45. Macarel, Cours de droit administratif. IV B®be. Paris 
1844. 45. Cabantous, Re£petitions 6erites sur le droit public et administra- 
tif. Paris 1863 (dritte Yuflage). Vivien, Etudes admin. II Bde. Paris 1859. 
Dareste, bistoire de l’administr. 2 Bde. Paris. Bock, Dictionnaire de 
l’administration frangaisc. Paris 1856. Batbie, trait6 de droit public. Paris 
1862. 63. Für Deutfhland find Hauptfählih die allgemeinen Schriften von 
Majec, Verwaltungsredht, Tübingen. Gerfiner, Grundlagen ber Staatsverwal- 
tung, Würzburg 1862. Stein, Verwaltungslehre, Wien 1865. 66. Bis jest 
2 Bde. und dann die Hauptwerle über vie Verwaltung und das Verwaltungs» 
recht einzelner deutjcher Staaten, ganz befonders die Bücher von Rönne (Preußen), 
N. v. Mohl (Würtemberg), Bözl (Bayern) und die Blätter f. adm. Pr. (Bayern) 
zu beachten. Blnutfalt. 


Vierter Stand. 


Der Ausdrud „Bierter Stand" iſt zunähft in Deutſchland aufgelommen, 
und zwar in der Abficht, ven Oegenfat gegen den fogenannten „Dritten Stand“ 
(f. d. Art.) zu bezeichnen. Diefer Gegenfag ſelber ift freilich früher fchon in der 
franzöſiſchen Revolution der Neunzigerjahre anſchaulich geworben, damals, als der 
Gironde, in welcher vorzugsweife ber dritte Stand vertreten war, die Bergpartei 
- entgegen trat, weldhe fi vornehmlich auf die untern Vollsklaſſen ſtützte. Indeſſen 
ganz deutlih wurde der Unterſchied damals noch nicht, weil die politiiche Partei- 
richtung eher als der fociale Gegenfag die Maflen zu trennen jchien. Robespierre 
felber, der Hauptführer der Jakobiner, war perfönli ein Mann bes dritten Standes 
und von dem Gedanken der bürgerlichen Gleichheit fo fehr beherricht, daß er einen 
weſentlichen Unterſchied innerhalb der Bollsflafien nicht begriff. Er fah nur die 
Parteiunterfchiebe, und die ſocialen Gegenfäge nur da, wo bie Erinnerung an bie 
vornehme Ariftofratte feinen Haß reizte. In dem erften Napoleonifchen Kaiſerreich 
hatte man fi entwöhnt, von befonbern politiſchen Ständen und Klaffen zu ſprechen. 
Die Uebermacht des großen Kaifers binverte jede Reibung unter benfelben. Gr 
ſelbſt ſtützte fich inbeffen vorzüglih anf die Zuftimmung und die Zuneigung der 
großen Volksklaſſen. Die Reſtauration ftellte die großen Vollsflafien ganz in den 
Schatten und nur die altberechtigten Stände ſchienen wieder politifh von Bedeu⸗ 
tung. Über die Iulirevolution von 1830 war hauptſächlich das Werk des britten 
Standes. Der neue König Louis Philipp erſchien gleihfam als die Perſonifikation 
des dritten Standes, mit dem er ſich In bie Herrfchaft von Frankreich theilte. Dex 


Dierter Stand. 78 


ganze vierte Stand war während der PBerlobe ber Charte von 1814 von allem 
Stimmrecht und von jeder Thellnahme an ven öffentlichen Ungelegenheiten ves 
Landes ansgefchloffen. Aber der Groll über diefe Ausſchließung lag ihm ſchwer 
Im Magen und verbitterte feine Stimmung. Er erinnerte ſich, daß es in ven 
Reunzigerjahren anders gewefen fei. 

Da brach plöplih die Februarrevolution von 1848 aus. Ein häuslicher 
Streit zwifchen dem „Bürgerkönig“ und den liberalen Reformfreunden bes dritten 
Standes in der Kammer gab ven Anlaß. Aber fofort ging die entbundene Revo⸗ 
Intton über den dritten Stand hinweg. Der vierte Stand bemädhtigte fih für 
ven Moment der Gewalt. Er wollte die Republik, die Demokratie wieder her⸗ 
fielen, melde ihm zuerſt politifche Rechte gewährt hatte. Über er war in fi 
jelber nneins; die unterften Schichten beöfelben waren bie heftigften, die kom⸗ 
muniftifh gefinnten PBroletarier veriuchten fogar eine ſociale Umgeflaltung, indem 
fie für die Arbeit und den Arbeitslohn vom Stante Garantien verlangten. Alles 
Eigenthum, aller Krebit, die ganze Civilifation ſchien nun von den wilden Leiden⸗ 
ſchaften der Menge bevroht. Für diefe Güter wagte der General Cavaignac den 
Biutigen Kampf. Ex fiegte in der breitägigen Juniſchlacht in den Straßen von 
Paris, indem er geihidt aus dem vierten Stande felber feine mobile Garde 
rekrutirt hatte. In der gefeßgebenven Berfammlung, welche neu gewählt ward, 
fillen die meiften Stellen wieder den Männern bes dritten Etandes zu, bie ja 
allein die Muße und die Fähigkeit hatten, die Stantsgefchäfte zu betreiben. Der 
vierte Stand, welder alle feine Zeit und Kraft auf bie tägliche Arbeit und den 
Broberwerb verwenden mußte, machte die Erfahrung, daß die repräfentative De⸗ 
motratie — wenigftens in Frankreich — nothwendig den dritten Stand erhebe, 
ven er nicht ohne Mißtrauen betrachtete. Da unternahm der Prinz Napoleon, ver 
vorzüglich von dem vierten Stande zum Präflventen erwählt worden war, geftütt 
auf ven Glauben der Maſſen an die Napoleoniſche Begabung und Erabition, 
ven Kampf gegen ben dritten Stand, ver zugleich ein Kampf war gegen bie re⸗ 
präfentatiue Demokratie. Bon dem Jubelruf der großen Vollsmaſſen, der Bauern, 
ver Aleinbürger, der Urbeiter begrüßt und unterftägt, beſtieg er ben erneucrten 
Kalferihron. Lange Zeit grollte ihm barliber der beleibigte und aus dem Beſitz der 
Öfientlihen Gewalt verbrängte britte Stand. Über das allgemeine Stimmredt, 
welches das entſcheidende Gewicht in vie Maffen legte, war und blieb die natür- 
liche Bafis der kaiſerlichen Macht, und felnem Schwergewicht vermochte der britte 
Stand nicht zu widerfichen. 

Diefe Ereignifie ſeit dem Jabre 1848 hatten ein helles Licht auf die foctalen 
Gegenfäge geworfen, welche in Frankreich den politifchen Kämpfen zur Unterlage 
bienten. Auch im Deutſchland wurden ähnliche Gegenſätze fihtbar, nnd ihre Ve- 
achtung führte zu dem Begriff eines vierten Standes, welcher von bem dritten in 
feiner focialen Stellung und: in feinem politifhen Charakter verſchieden ſei. Der 
Razıe freitich iſt ſchlecht gewählt, denn unſer heutiges Verfaſſungsrecht beruht 
nicht mehr auf Ständen, fondern eher noch auf Klaffen (f. Art. Kaſten, Stänte, 
Kafien). In Deutfchland find die großen Volksklaſſen zwar beffer gefchult, aber 
in fodaler und politifcher Hinſicht weniger aufgewedt und weniger gebildet, als in 
Fraukreich. Im Ganzen und Großen find fle auch mehr geneigt, der Reitung ber 
höher gebilbeten Bürgerklaſſe mit Vertrauen. zu folgen. Aber immerhin übt bie 
Antorität der Regierung, der Beamten und ber Kirche auf dieſelben eine weit flär- 
a rad aus, als auf den felbftänbigeren und zur Kritik geneigten britten 


7% diiierter $tand. 


Biel früher iſt derfelbe Gegenfag "in den oflaflatiichen Reichen erkannt wor- 
den. Eine merkwürdige Stelle aus den Schriften des berühmten chineſiſchen 
Staatsphilofophen Men-Then (I. 5)1) beweist das: „Die Einen arbeiten mit 
dem Kopfe, die Andern mit den Urmen. Die mit ihrem Kopfe arbeiten, regieren 
bie Menſchen; vie mit ihren Armen arbeiten, werben von den Menſchen regiert. 
Die von Andern regiert werben, ernähren dieſe; die, welche die Menſchen regieren, 
werden von biefen ernährt. Das iſt das allgemeine Weltgeſetz“. 

In ver That, auf dem Gegenſatze ver Kopf- und Handarbeit, der geifligen 
und der leiblihen Thätigkeit beruht der Unterfchieb, ver auch für die Organifation 
bes Staates und für deſſen politifhes Leben von großer Bedeutung iſt. Freilich 
ift jener Gegenſatz ſelbſt Fein abfolnter; aud der Schufter und ber Holzhacker 
arbeiten ſchlecht, wenn fie kopflos arbeiten, und der Denker kann bie Hand nicht 
entbehren, welche feine Gedanken nieverfchreißt. Aber im Großen unterſcheiden ſich 
dennoch die Berufsweifen, je nachdem die geiftige ober vie leibliche Thätigkeit über 
wiegt. Für bie liberalen Berufe des dritten Standes ift eine höhere Bildung ein 
unerläßliches Erforberniß, und gewöhnlich haben daher auch nur dieſe Perjonen 
bie Fähigkeit und die Muße, für den Staat geiftig zu arbeiten. Den großen, 
mehr mit der materiellen Bebauung des Bodens, mit dem Handwerk, dem Klein- 
banbel, der Fabrikarbeit beſchäftigten Klafien fehlt es dagegen durchweg an ber 
nöthigen Bildung und an der Muße, um ſich den Staatsgeſchäſten zu widmen. 
Ihnen iſt daher überhaupt mehr daran gelegen, daß gut verwaltet werbe, als daß 
fie felber zu der Mitverwaltung beigegogen werben. In dem alten Curopa wird 
es baher noch lange fo fein, daß nicht blos die Beamtenſtellen, ſondern aud bie 
wichtigeren Nepräfentativämter in ver Bollsvertretung und in den Kreis⸗ und Ber 
sirtöverfamminngen und Näthen vornehmlich von den Männern des britten Stan- 
bes befefien werden und ver Autheil des vierten Standes an der Verwaltung nur 
ein untergeorbneter, hauptfähli auf die Gemeindeverwaltung und etwa noch bie 
Theilnahme an Schwur: und Scöffengerichten befhränfter fei. Eben weil das 
thatſächlich fo iſt, und trog aller verfafiungsmäßiger Rechtsgleichheit, nicht anders 
fein kann, fo darf dieſer Unterfchied zwifchen den höher gebildeten unb ven großen 
Volksklaſſen, den wir als Unterſchied des britten und bes vierten Standes be» 
zeichnen, nicht Überjehen werben. 

Dieſer Begriff des vierten Standes umfaßt alfo alle großen Bollsklaflen, 
foweit nicht ans ihnen der höher gebildete dritte Stand bervorragt. Seine Kraft 
liegt in der Mafle der Kleinbürger in den Stäpten, ber anfäffigen Handwerlker, 
— kleineren Induſtriellen, Lohundiener in den Städten und der Bauern auf 
dem Lande. 

Das Proletariat iſt nur der Abfall vornehmlich des vierten Standes, 

aber auch der audern Stände und darf nicht mit jenem verwechſelt werden. Es 
gibt ein adeliches und ein hochbürgerliches Proletariat, wie ein Proletariat bes 
vierten Standes. Das Proletariat ift ein unvermeidliches Uebel, welches fi allen 
Klaffen und Schichten ver Geſellſchaft anhängt nnd zerſetzend uud ſtörend auf bie 
gefunden Zuftände einwirkt. Es bilvet keinen Stand für ſich. 

Der Ausdruck Broletariat iſt befanntlih von ver altrömifhen Cenfusver- 
foffung entlehnt. Die nicht anfäffigen und vermögenslofen Römer, genauer bie weniger 
als 1500 Affe ftewerpflichtiges Vermögen Hatten, wurben nicht in bie fünf Klafien 


1, Angeführt von Platb, Rede über die Dauer und Entwicklung des chineſ. Reiches im 
den Abb. br Münchner Alademie, 8 ’ u 


Dierter Stand. 76 


anfgenommen und waren alſo nicht ebenſo ſteuer⸗ und kriegspflichtig, wie bie an- 
fäffigen Bürger (assidui), wenn gleich fie zu untergeordneten Dienſten auch für 
das Heer angehalten wurben. Ihr Vermögen beftanb hauptfädhlich in ihren Kin- 
bern (proles) und daher belamen fie den Namen. Auch die heutigen Proletarier find 
vermögenslofe Leute, glei viel, welchem Stande und welcher Volksklaſſe fie tm 
übrigen durch Geburt, Erziehung, Beruf angehören mögen. Über die Bermögens- 
Iofigleit für fi allein ift nicht entſcheidend, und nichts wäre gefährlicder, als bie 
geſammte Bevölkerung in Beflgende und Nichtbefigende zu fpalten und feindlich 
wider einander aufzureizen. Die Söhne der wohlhabenden Eltern find, wenn fie 
einen eigenen Hausſtand gründen, durchweg ohne Vermögen, aber durchaus nicht 
Broletarier. Nur dann find die vermögenslofen Leute Proletarier, wenn fie deß⸗ 
halb außerhalb des geficherten Yamilienverbandes ſtehen — nur dann, wenn fie 
durch Bereinzelung und unfihern Erwerb in eine gefährliche Lage verfekt find, 
wenn ihre ganze Eriftenz in der Geſellſchaft unſicher erfcheint. Die politifche Auf- 
gabe iſt daher, dahin zu wirken, daß es möglihft wenig Proletarier im Lande 
gibt. Das aber gefhieht, wenn den vermögenslofen, vereinzelten Individuen 
möglichft viele und gangbare Wege eröffnet werben, um ſich am eine andere ge- 
figerte Wirthſchaft anzufchließen, oder durch Gründung eines felbftänpigen Haus- 
ſtandes fi unter die anfäffigen Klaffen hinauf zu arbeiten. 

Der vierte Stand iſt die Grundlage des modernen Staates und zugleich der 
Hauptgegenſtand feiner Sorge. Aus dem vierten Stand zieht der Staat hauptfäcd- 
li feine finanziellen und militäriihen Kräfte. Der vierte Stand bezahlt den 
größten Theil der Stenern und liefert die große Menge der Solvaten. Aus fei- 
sem dunkeln Grunde fteigen immerfort eine Anzahl Individuen auf und erwerben 
id Bildung, Namen, Rang in ver Gefellichaft. Er ift die Duelle, aus der alle 
böberen Klaffen zulegt wieder ihre Erfriſchung und Erneuerung ſchöpfen. So lange 
ver vierte Stand eines Volles gefund und kräftig if, fo lange iſt das Leben bes 
Volle gefichert; ed kann ſich von den ſchwerſten Krankheiten und „Verluften wie- 
ver erholen. Wenn aber ver vierte Stand in der Berweinng begriffen ift, dann 
gibt es auch für das Volt keine Rettung mehr. Der Stantemann wirb baber 
immer bie Zuſtände biefer großen Vollsklaſſen im Auge behalten und feine Auf- 
merkſamkeit und Sorge ihnen zuwenden mülffen. 

Der vierte Stand bedarf auch dieſer Sorge mehr als alle andern Klaflen, 
bie von Daufe aus günftiger geftellt und befähigter find, fich felber zu helfen. 
Im Einzelnen freilih müſſen auch die Perfonen des vierten Standes für ſich fel- 
ber forgen durch ihre Privatarbeit und Privatwirtbfchaft. Aber es tft natürliche 
Staatsforge, daß die Grundbedingungen des gemeinfamen Lebens und der gemeinen 
Behlfahrt wohl beftellt feien. Zu dieſem Zwede vorzüglich bedarf das Land guter 
Gefege und Unftalten und einer tüchtigen Staatsverwaltung. Das kann fi ver 
dierte Stand nicht felber verfchaffen. Dafür müflen bie höher gebildeten Klaſſen 

en. 

Zum Negieren und fogar zu der höheren Verwaltung hat der vierte Stand 
weder bie Faͤhigkeit nod die Neigung. Er bat aber das Verlangen und VBerürf- 
niß,- Find regiert und verwaltet zu werden. Gefchieht das, fo iſt er zufrieden und 
don je aus nichts weniger als neuerungsfüchtig oder gar revolutionär. (8 
gibt feinen gröberen Irrthum, als den Stahls, der meint, der vierte Stand ſei 
von Ratur begierig, die obrigfeitliche Gewalt und voraus bie Monarchie zu flürzen 
and eine demokratiſche Herrfchaft aufzurihten. Ganz im Gegentheil. Die Ari- 
Rofratie iſt von Natur geneigt, fi mit der Monarchie in die Gewalt zu theilen, 


— — 





76 Völkerrecht. 


der dritte Stand iſt von Haufe aus geneigt, Kritil und Kontrole zu üben, und ' 


bewegt fi) am liebften in repräfentativ-vemofratifhen Formen. Der vierte Stand 
dagegen hat in Europa einen natürlihen Zug, nicht zur Ariſtokratie, die ihn 
allzu lange veradhtet, gebrädt und ausgebentet bat, aud nicht zur repräfentativen 
Demokratie, an deren Hauptarbeit er fi doch nicht betbeiligen kann umb berem 


Anſchauungsweiſe ihm großentheils unverſtändlich iſt, fondern zur Monardie. 


Nicht blos bie alten Römiſchen Kaifer haben ihre Kaifergewalt voraus auf die untern 
Volksklaſſen geſtützt und mit der Hülfe derfelben die mißmuthige Ariftofratie über- 
wältigt. Auch bie größten Monarchen der neuen Zeit haben es immer begriffen, 
daß zwifchen ver breiten Baſis der mit dem Arme arbeitenden Volksklaſſen und 
der Krone ein unmittelbarer Zufammenbang fei und viefe vorzüglich dann ımer- 
ſchütterlich ficher fei, wenn ihre Autorität die Zuneigung und Zuflimmung jener 
gewonnen hat?). Wenn ein Monarch in dem vierten Stand nicht die ihm verläffigfte 
Stäge, fondern eine feindliche Gefinnung findet, fo iſt das meiftens feine eigene 
Schuld. Ohne Neid und ohne Eiferfucht fieht der vierte Stand zu dem Staats» 
haupt auf und iſt ſchon deßhalb weit Leichter zu regieren, als alle andern Klafien. 

Der vierte Stand ift keineswegs unempfänglih für die idealen Güter der 
Menſchheit und er iſt vafcher, als jever andere Stand bereit, für biefe Güter zu 
wagen und zu opfern. Über ihn ziehen nur die hohen Ideen an, nicht die mitt- 
leren, er hat nur ein Verſtändniß für die großen Linien des Verhältniffee, nicht 
für den feineren Detail. Die Weltgefchichte Kat unwiderleglich gezeigt, daß dieſe 
großen Bollsklaffen, welche gewöhnlich nur an ihren. täglichen Berbienft denken, 
und ausſchließlich den materiellen Arbeiten hingegeben ſcheinen, bald für reli⸗ 
giöfe oder kirchliche Intereſſen, in neuerer Zeit mehr für politiſche Ideen und 
Ziele mit opferwilliger Entfchloffenheit eingetreten find und oft den Ausſchlag ge» 
geben haben durd ihren rüdfichtslofen Andrang. Niemand wir ihnen ein erreg- 
bares Gefühl für die Ehre und den Ruhm des Vaterlandes, eine oft bis zur 
Ueberfpannung getriebene Treue gegen Ihre Dynaftie, niemand auch die Empfäng- 
lichteit abipreden, für die modernen Ideen der Rechtsgleichheit, ver Freiheit, der 


Nationalität. Nur die Gejhäfte und den Ausbau des Staats überlaffen fie lieber 


Andern, das Stantsgefühl hat auch fie ergriffen und umgewandelt. Biunifäli 
Bolt, f. Nation und Bolt. 


Völkerrecht. 
I. Begriff uud Grundlage. 


Das Völlerrecht, ſchon in feiner gegenwärtigen Geltung nicht mehr auf 
Europa befhränft, trägt feine geringere Beſtimmung in fi, als alle Individuen 
und alle Staaten, das ganze Menſchengeſchlecht in Eine große Rechtsgemeinſchaft 
zufammenzufcließen. Es umfaßt die Grunpfäge für die Rechtsverhältniſſe ſowohl 
der Staaten unter einander (internationales Staatsreht), ald aud der Ein- 
zelnen zu fremben Einzelnen und zu fremden Staaten (internationales Pri— 
vatrecht). Nur indem wir in jedem fremven- Volke und felbft in jedem fremben 
einzelnen Menſchen das überall fih jelbft gleihe Menſchent hum anerkennen, 
treten wir zu den fremben Staaten und Individuen in ein völlerrechtliches Ver⸗ 
haͤltniß. 


: 3) Friedrich Rohmer: Der vierte Stand und bie Monarchie 1848. 








Dölkerredt. 77 


Wenn wir bie Grundlage der ſtaatsrechtlichen Ordnung mit ver Grund» 
lage der völkerrechtlichen Ordnung vergleihen, fo kann uns, bei genauerer Prü- 
fung, ein wefentliher Unterſchied nicht entgehen. 

Die ſtaatsrechtliche Ordnung ruht auf einem feft geglieverten ftaatörecht- 
lichen Organismus. Es ft eine Staatsgewalt da, die von den einzelnen 
Staatsangehörigen unabhängig iſt und der fie alle gehorchen müſſen. Die 
Regierung iſt eine ſelbſtändige Macht gegenüber ven Regierten, eine Macht ru⸗ 
hend auf einer feften Organifation. 

Anders fteht e8 mit der völkerrechtlichen Ordnung. In gemiffer Bezie- 
bung zwar verhalten fi die Staaten zum Völkerrechte ähnlich, wie vie einzelnen 
Gtaatsbürger zum Staate. Wie nämlich die einzelnen Bürger dem Staate gehorchen 
follen, fo find die einzelnen Staaten dem Völkerrechte Gehorſam au; wie der 
Staat eine höhere Ordnung iſt über den einzelnen Bürgern, fo fol das Völlerrecht 
eine höhere Ordnung fein über den einzelnen Staaten; wie die einzelnen Bürger im 
Gtaate eine höhere Autorität erbliden, welche ihr Verhältniß unter einander gefeglich 
zegelt, jo follen die einzelnen Staaten das Vöolkerrecht ald die Norm anfehen, durch 
welche ihre Internationalen Berhältniffe geregelt werben. 

In anderer Beziehung aber hört die Aehnlichkeit voliftänpig auf. 
Es gibt nämlich Feine konſtitnirte Völkerrechtsgewalt, melde über den 
Staaten In ähnliher Weife unabhängig da fände, wie die Stants- 
gewalt über den einzelnen Bürgern ſteht. Wenn es fid darum handelt 
das Völkerrecht durchzuſetzen, fo können fi die Staaten nicht an eine über ihnen fte- 
hende Macht wenden, wie die einzelnen Bürger nöthigenfalld die Zwangsgewalt bes 
Gtantes anrufen. 

Die Stellung der Staaten zum Völkerrecht, ihr Verhälmiß zur völlerrechtlichen 
Autorität, ift vielmehr fo aufznfaflen: Obwohl die Staaten vom Völkerrecht beherrſcht 
werden und ihm gehorihen follen, fo find vo nur fte felbft pie freien Träger, 
Stügen und Berwirklicher des Vöolkerrechts, — nurſie ſelbſt, nach 
freiem Gutdünken, die volkerrechtliche Macht. Es iſt nicht vorhanden 
ein großer vbllerrechtlicher Eentrallörper, der vie vielen Staatslörper in ihren völler- 
rechtlichen Bahnen feftbält, etwa wie vie Sonne die Planeten um fich ber reifen läßt ; 
ber herrfchende Schwerpunkt des Völkerrechts Liegt nicht in einem abgefonderten ſelb⸗ 
Rändigen Organismus; die Verwirklichung des Völkerrechts ift vielmehr aufzufaflen 
gleihfam als das Ergebniß der gegenfeitigen Einwirkung ver Schwerkraft der einzelnen 
Gtaatslörper felbft. If es erlaubt in dem aftronomifchen Bilde fortzufahren, jo kann 
an bie Doppelfterne erinnert werben, bie ſich nicht um einen dritten Körper, nicht um 
eine Sonne, fondern einer um den andern drehen und ſich fo ein gemeinfames ideelles 
Gentrum fegen. Ein folder ideeller Mittelpuntt für die Staaten iſt das Völler- 
recht: ein herrſcheuder Mittelpunkt allerbings; aber doch nur ein folcher, der beflänbig 
buch die Wechſelwirkung ber eiuzelnen Staaten gefegt wird und in jedem Augenblicke 
die That ihrer eigenen Kraft und Wirkſamleit ift. 

Dies dat man nach zwei entgegengefegten Seiten verkannt. Mande nämlich, 
wie der Philoſoph Wolff, überfehend daß vie a en Macht in den ein- 
einen unabhängigen Staaten felbft ruhe, gründete das Völferreht auf einen Uni⸗ 
verfalftant (Civitas maxima). Andere hingegen, wie Hegel, indem fie den 
Gedanken der Souveränetät der einzelnen Stanten auf die Spige treiben, ber 


trachten das Völkerrecht nur ald Kußeres Stantsreht. Sie beachten nicht ger 


hörig, daß dad Volkerrecht, obwohl es eines felbftändigen Organismus ermangelt, 
bob über den einzelnen Staaten ſteht. Nach Hegel ift das Völlerreht uur bie 


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78 dölkerrecht. 


nach außen gewendete Seite des Staates und hat im Staate ſeinen Mittelpunkt. 
Und allerdings, zu dem poſitiven Rechte des einzelnen Staates gehört auch fein 
nah außen gewendetes Recht, fein „Äußeres Staatörecht”, d. I. die Geſammtheit 
der völkerrechtlichen Beftimmungen und Verträge, welches das Rechtsverhältniß die⸗ 
ſes Staates zu anderen Staaten ausprüden. Jeder einzelne Staat bat fein ‚Inne 
res Staatsrecht und fein Außeres Staatsreht; und dies äußere Staateredht ifl 
ein Stüd des Völkerrechts. Das Völkerrecht aber zieht alle dieſe einzelnen Aufße- 
"ren Staatsrechte erft um feinen eigenen ſelbſtändigen Mittelpunkt zufammen und 
liefert uns erft das Princip, aus welchem, als der centralen Einheit, alle jene 





einzelnen äußeren Staatsrechte aufzufafien und zu beherrfchen find. Jedes einzelne - 


äußere Staatsrecht if nur ein Stüd aus der Peripherie des Vöolkerrechts. Der 
Irrthum bei Hegel befteht darin, daß er das Centrum dieſer Peripherie in den einzel 
nen Staat legt, d. b., daß er das völkerrechtliche Brincip nicht vom Staate emancipirt. 

Es konnte nun aber die Frage auftauchen, ob nicht der Mangel einer in 
einem felbftändigen Organismus gegründeten völferrehtlihen Macht und die da⸗ 
mit zufammenhängende Abwefenheit einer über den fireitenden Staaten ftehenven 
Zwangsgewalt, die das Recht mit höherer Autorität anszuſprechen und durch⸗ 
ufegen vermöchte, dem Volkerrechte alle Eriftenz raube und die völferrechtlichen 

ormen in einen Kranz von angenehmen, aber der Wirklichkeit entbehrenden Träu⸗ 
men verwanble. 

Allen die Eriftenz des Rechts Ift keineswegs eine beftänbige bloße Zmangs- 
eriftenz, und and innerhalb des einzelnen Staates hat vie Regierung durchaus 
nit unausgefegt Zwang zu üben, um das Recht zu verwirklichen. Die Eriftenz 
des Rechts ftügt fih auch im einzelnen Stante weientlih auf die Macht der 
Bernunft. Das Redt erxiftirt im Großen und Ganzen deshalb, weil e8 das 
Recht tft und als foldhes von den Geiſtern erklannt wird. And) wenn bie Zwangs⸗ 
gewalt weggenommen wirb, ftürzt der Rechtszuſtand noch nicht zufammen. Es 
fommen dann wohl, wie man dies bet Aufftänden fleht, mannigfache Erceffe vor, 
aber vie allgemeinen Begriffe von Recht und Unrecht ftehen immer noch feit, ala 
nnerfchätterlihe Sänlen, die keineswegs nur auf dem Fußgeſtell eines obrigkeitli⸗ 
hen Zwanges ruhen. Und man überzeugt ſich gerade In großen Krifen der Ge⸗ 
ſellſchaft, wo troß der Lähmung der obrigfeitlihen Zwangsgewalt das Eigenthum 
und das Recht im Allgemeinen oft ganz unangefochten bleiben, mit wie geringen 
Zwangsmitteln eine verfländige Regierung, bie die Geifter zu gewinnen und bie 
Macht der Vernunft gehörig zu nugen weiß, auszureichen im Stande fel. So 
berrfcht auch das Völkerrecht im Allgemeinen, weil e8 ver Ausdruck der Vernunft 
der Nationen ift, dem fie fich freiwillig unterwerfen; und In taufenden von menfch- 
lien Handlungen find die vertragsmäßigen wie die nicht vertragsmäßigen Gefege 
des Vollkerrechts bei allen gebildeten Völkern in unangefochtener täglicher Hebung. 
Aus dem Mangel einer organifirten völferrechtlichen Zmangsgewalt würde alfo 
immer nur folgen, daß in den einzelnen Ausnahmefällen, wo dem echte 
widerſprochen wirb, die Eriftenz des Völkerrechts anfgehoben ſei; aber im Großen 
R ji db Ganzen würde dennoch die Exiftenz des Volkerrechts nicht in Abrede zu 

ellen fein. 

Wir müflen aber noch weiter gehen und müfjen behaupten, daß auch in jenen 
Ausnahmefällen, wo Unvernunft oder Eigennuß ſich gegen das Recht auflehnen, 
das Völkerrecht durchaus nicht fofort ſchutzlos fe und daß es meiftens auch bann 
nicht von der phyſiſchen Uebermacht des einzelnen Staates abhänge, ob er das 
Bölferrecht befolgen oder verlegen will, Es find au in ſolchen Bällen nicht ganz 





Dölkerredit. 79 


ofumädtige Bürgfchaften für vie Aufrechthaltung des Bölferrechts vorhanden. Die 
gegen das Recht anftrebende Gewalt hat es nicht blos mit der vielleicht ſchwäche⸗ 
ron Gewalt des Gegners zu thun. Das Recht des Schwächeren flieht vielmehr unter 
ver Aegide ſowohl moralifher, als auh materieller Zwangsmittel, 
Es find die folgenden : 

1. Durch einen Bruch des Völkerrechts ſetzt fi der Staat dem allgemeinen 
Berwerfungsurtbeil aus und leidet Schaden an feiner Ehre, 

Wir dürfen dieſe erfte Bürgfchaft des Nechts wicht gering veranfchlagen. Wir 
wiffen, welchen mächtigen moralijchen Zwang das Geſetz der Ehre in allen fittli- 
den Oemeinfchaften ausübt; der Einzelne ſetzt fein LXeben baran, um feine Ehre 
zu reiten. In ber großen Semeinfhaft ber Staaten fpielt die Ehre wahrlich Feine 
geringere Rolle. Es gibt wohl keinen Staat, defien Arm fi nicht mehr ober went: 
ger gelähmt fühlte bei einer That, durch die feine Ehre gefchäbigt werten Könnte. 

2. Ein Staat, der das Bölkerrecht verlegen wollte, würde ſich ſelbſt ver 
Vortheile nesfelben berauben. Er würbe ſich ſelbſt aus der vortheilhaften völ- 
lerrechtiichen Semeinfhaft ausſchließen. Und ex würde ſich dadurch beben- 
tende materielle Nachtheile zuziehen, — Reprefialien aller Art, Lähmung 
feines Welthandels zc. 

Alſo auch ein materielles Kompelle zur Erfüllung des Völkerrechts. Die Nicht: 
erfüllung zieht Berlufte, gleihfam VBermögensftrafen nach ſich. 

8. Der Staat Tönnte ſich freilich über dies Alles binwegfegen, um nur feine 
chtewidrige Abſicht durchzuführen. Allein danu fehen wir in der Megel ein birel- 
te8 Zwangsmittel gegen ihn in Bewegung geratben. Es pflegen ſich nämlich gegen 
einen folhen Frechen Berächter des Rechts Staatenbünpdniffe zu bilden, bie 
Rark genug find, das Unrecht zu Boden zu werfen. 

4. Wenn man nun gegen diefe durch augenblickliche Rechtsnoth hervorgeru⸗ 
fenen Bändnifle einwenden wollte, daß fie doch Immer nur etwas mehr oder we⸗ 
niger Zufälliges und Borübergehendes feien und alſo dem Völlerrechte keinen zu⸗ 
verläffigen und dauernden Schuß gewährten: fo läßt fih letztlich noch verweifen 
auf die Pentarchie. Seit geraumer Zeit bilden die fünf Großmächte that« 
Khlih eine Art Vöolkertribunal und überwachen vie Beobachtung der großen Staa- 
tenverträge und der völferrechtlichen Gewohnheiten. 

Es find demnach unftreitig mannigfache Bürgfhaften und Zwangsmittel für 
bie Aufrechthaltung des Völkerrechts vorhanden, und es wäre Uebertreibung, wenn 
man die Befolgung der völlerredtlichen Pflichten eines Staates der Befolgung 
bloßer moraliſcher Liebespflichten gleichfegen wollte. So ſchlecht iſt e8 mit dem 
wegen Stantenfufteme nicht beftellt, daß der widerrechtliche Wille eines einzelnen 
Staates beliebig die Grundfäge des großen Ganzen niebertreten Tünnte. 

Dennoch läßt fi nicht leugnen, daß alle dieſe Bürgfchaften des Völlerrechts 
oft unzulänglich find. 

In den meiften Fällen nämlich veruneinigen fih die Staaten deshalb, weil 
äber biefen ober jenen Gegenſtand verſchiedene Rehtsanfidhten von ihnen 
N gemacht werben. Wohl nur felten wird ein Staat dem anderen ein ganz 
otfenbares Unrecht zuflgen; allerbings, in einem foldhen Falle frechfter 
Fechtsverachtung würbe ein großes Staatenbündniß gar bald auftreten, um das 
Unreht im Namen des mit beleivigten Staatenſyſtems zurückzuwerfen: aber bie Fälle 
bloher Rechtsſtreitigkeiten unter den Staaten find jedenfalls ungleich häufiger, 

Wie ficht es alsdann mit den Schugmitteln, die das bedrohte Böllerreht 


aufreht halten follen ? 











| 


80 Dölkerredt. , 

Well derjenige, ver bier im Unrechte ift, ehrlich im Nechte zu fein glaubt, 
fo braudt er eine Schmälerung feiner Ehre, oder gar eine Ausſchließung 
aus der völferrechtiihen Gemeinſchaft nicht zu fürchten. Auf Bündniſſe zum 
Schutze eines nicht Haren Rechts wird man nicht rechnen können. Die Pent⸗ 
archie endlih müßte fi doch and erſt Über die Sache einigen, ehe fie entjchei- 
ben und eingreifen könnte. Es beſteht aber feine Einrichtung, durch welche eine 
folde Einigung gefichert würbe. Es befteht Kein bindender Abſtimmungsmodus unter 
ben fünf Mächten, keine verfafiungsmäßige Form, wonach etwa die Entſcheidung 
der Mehrheit als Entfcheivung der Pentarchie felbft anzufehben wäre. Ohnehin 
können ja die Großmächte felbft In einem Internationalen Rechtsſtreite die fireiten- 
den Parteien fein. Und außerdem iſt e8 doch offenbar eine Beeinträchtigung ber 
übrigen Staaten, unter denen es noch fehr mächtige gibt, wenn fie der richterli« 
hen Gewalt der fünf Großmächte unterworfen fein follen. Es müßten Abgeord- 
nete ber Heineren Staaten ebenfalls an der Entfheidung der völkerrechtlichen Strei- 
tigkeiten Theil nehmen, damit der Orundfag der Staatengleichheit gewahrt 
bleibe. Es mäßten Vertreter aller bedeutenden Nationen Theil nehmen, damit das 
Urtheil nicht in einem national beſchränkten Sinne erfolge, fondern aus dem wah- 
ren ans des Vöolkerrechts hervorgehe, aus der allgemeinen Menſchen⸗ 
vernunft. 

Hier hat der Ban des Völkerrechts offenbar eine Lücke, durch die nod oft 
verheerende Stürme hereinbrechen werben. Kongrefie, Schievsgerichte und mit be= 
grenzter Zuſtändigkeit felbft ein dauerndes Völkertribunal könnten wohl vieles Un⸗ 
beil verhindern und manche Kriegsfrage Im Wege der Vernunft und des Friedens 
erledigen. Darüber indeß darf man fi nicht täufchen, daß die Kriege hierdurch 
nur feltener werben, nicht aber ganz verfhwinden würben. Denn ridhterlihe Ur⸗ 
theile Tönnen immer nur beſtehendes Recht anwenden, nicht über vie Geftaltungen 
ber Zukunft entfcheiven, die der in der Geſchichte waltende und umgeftaltende Geift 
ber Menfchheit im Laufe der Zeiten beraufführt. So find die großen Fragen der 
Nationalitäten Fragen des Wachdthums weltgefchichtlicher Botenzen, die durch den 
Arm der Rechtöpflege nimmer gebänbigt werben können. Bet jever großen gefhicht- 
lihen Krife des Staatenlebens arbeitet fih ein neuer Rechtszuſtand aus dem alten 
hervor, der den alten zerflört und aus dem Geſichtspunkte des alten als illegitim 
erfcheint. Im Wege der Rechtsiprehung, die nur auf der Bafls des beſtehenden 
Nechtszuftandes denkbar iſt, den neuen Rechtszuſtand verurtheilen, well ex gegen 
ben Buchſtaben des geltenden Rechts ftreitet, hiee den Gang der Geſchichte hem⸗ 
men und den Geiſt der Menfchheit zur Mumie machen wollen. 

Möge denn alfo immerhin eine Lücke bleiben, die den Völkern und Staaten 
ben frifhen Zuftzug der Zukunft zuführt und vie Atmofphäre im alten Bau rei⸗ 
nigt und belebt! 


11. Gefchichte. 

Denn feit den älteften Zeiten, über welche bie Geſchichte berichtet, Volker 
und Staaten in irgend einem Verkehr mit einander geftanden haben, und wenn 
jeber menſchliche Verkehr mit Nothwendigkeit ein mehr oder weniger rechtliches 
Berhalten mit fih führt: fo bat es and zu allen Zeiten eine Art von BVöller- 
recht gegeben und man kann fogar von einem Völkerrechte ver Wilden ſprechen 1). 








1) Zagatt Keime des Völkerrechts bei wilden und halbwilden Stämmen, in der Tü⸗ 
birger Jeitſchrift für Staatswiſſenſchaft, 1850, S. 150 ff. 


Dölkerredht. 81 


Das Heutige Völkerrecht ift aber ein Erzeugniß des chriftlichen Europa. Es 
ficht in feinem merkbaren Zuſammenhange mit dem alten Völkerrecht wilder Stämme, 
over mit dem Böllerreht der Orientalen und felbft mit dem ver alten Griechen 
und Römer. 

Eine Geſchichte des heutigen Völkerrechts hat ſich deßhalb auf das chriftliche 
Enropa und auf die von ihm geiftig befruchteten Länder zu befchränfen. Leber 
ven Orient, über Griechenland und Rom find nur Anventungen am Orte, An- 
dentungen zu bem Zwecke, einerfelts den Charakter jenes alten Völkerrechts 
afennbar zu machen, andererfeits ven Gegenſatz besfelben zum heutigen Völker⸗ 
tchte nachzuweiſen. 

Bahre Religion erzeugt eine die ganze Menſchheit umfafiende Weltliebe, reißt 
vie feinblich trennenden Schranken der Bölfer niever und führt zur Völfergemeinfchaft. 

Im Driente iſt die Religion Alles. Sie verfchlingt Recht und Staat. Sie 
iR aber no ftarre Nationalreligion, mit der größten Feinpfeligkeit gegen 
völferrechtlihe Gemeinfamfeit gewafinet. So betrachteten bie Juden fi) als das 
anserwählte Volk, dem Jehovah ven Troft ertbeilt, daß es alle benachbarten Völker 
ausrotten, alle Völker freffen werbe, die ihm der Herr, fein Gott, geben 
nole?), Die Einrichtungen viefes Volkes find auf Abſchließung von anderen 
Bölfern berechnet. Und wenn aud im Mofaifhen Rechte geboten ift, den Fremden 
alt zu fhinden?), ja wenngleich felbft angeorbnet wird, es folle dem Juden und 
dem Fremden dasſelbe Recht fein‘): fo finden ſich doch ſehr harte Zurüdjegungen 
der Fremden*) und es wird ber Wucher gleichzeitig gegen den judiſchen Bruder 
verboten und gegen ben Fremden erlaubt®). 

Den Völkern des Haffifhen Altertbums iſt ver eigene Staat der⸗ 
geflalt das Höchſte, daß fie ihm das ganze Privatgebiet, vie Religion und bie 
fremden Bölfer zum Opter bringen. 

Dies gilt befonders von ven Griechen, zur Zeit ihrer Blüthe. Wir fchmeigen 
vn Sparta, das dem Moloh des Staates alle menſchlichen Gefühle opferte. 
Aber and das Ideal Atheniſcher Sittlichkeit, wie es in Platos Republif aus- 
geipuohen wird, ift ein Staat, der alle anderen fittliden Gebiete aufzehrt. Ein 
äber die Staaten hinausgehendes Menſchenthum iſt den Griechen unbelannt. Ihr 
Vahlſpruch, anderen Völkern gegenüber, Iautet: Ewiger Krieg den Barbaren ?)! 





5 B. Mofe, 7. V. 1 und 16. 
3. B. Mofe, 19, 33, 
3. B. Mofe, 24, 22. — 4. B. Mofe, 15, 1416. . 
1. * B. 3. B. Moſe, 26, V. 45, 46. 
õolkerrecht der Orientalen haben bearbeitet Haelschner, Diss. de jure gen- 
um, quale fuerit apud gentes Orientis, Hal. 1842; Pütter, Beiträge zur Volkerrechts⸗ 
beſchichie und Wiffenichaft, Keivz. 1843; Müller-Johmus, Geſchichte des Völkerrechts im 
Mertbum, 1848. Diefe Echriften werden aber weit übertroffen durch das große Werk von 
Laerent (in ®ent): Histoire du droit des gens et des relations internationales, 
Tome I, L’Orient 1850. | 

N) Livius I, 29: »Cum alienigenid, cum barbaris, aeternum omnibus Graecis 
bellem est.a Heffter, Döllerreht &. 6. Ward, Enquiry into the foundation and 
kistory of the law of nations in Europe, from (he time of Greeks and Romans to Ihe 
%e of H. Grotius, London 1795, 2 vols. Wachsmuth, Jus gentiom quale obti- 
sat apud Graecos, Berol 1822. Heffter, Prolegomena de antiguo jure genlium, 
Bonn 1823, Ginen befonderen Band (den zweiten) widmet dem Bölterrechte der Griechen 
tautent in feinem bereits angeführten Werke, Dal. quh Henry Wheaton, Histoire des 

du droit des gens 3me 6d. 1853, Tome I, p. 1A—17; und &. de Wal, Inlei- 

ng tot de Wetenschap van het Europesche Volkenregt, Groningen 1835, 


Blantfgii un Brater, Deutfches Staatt⸗Wörterbuch. Al. 6 


ẽ 


84 Dölkerrect. 


Unterwerfung nah Römiſchem Rechte. Selbſt bie germanifhen Volksrechte 
nehmen eine mehr oder weniger römiſche Färbung an. Auch das Gebälk der 
römiſchen Prooinzialverfaffung ließen die Germanen auf dem ehemals 
römifhen Boden zunächft ftehen. In vielen heilen des ehemaligen Römerreiches, 
wie 3. B. in den burgundiſchen und weftgothifchen Thellen des fräntifchen Reichs, 
erhielt fih au die römifhe Stäpdteverfaffung. Der Untergang des abend- 
ländifchen Kaiferreihes hinterließ demnach ſehr bedeuten de Spuren tö- 
mifher Einrigtungen und römifher Gefege. 

Rom und Byzanz lebten überdies in ver Phantafte der jugendfrifchen erobernden 
Völker, die das römifche Reich zerftört Hatten. Ein germanifch-byzantinifcher Dua⸗ 
lismus durchzieht bereit® die ganze alte fränkiſche Hofverfafjung, die ſich theile 
auf Germaniſches Gefolgsweien, theild auf Einrihtungen des Byzantiniſchen Hofes 
zurüdführen läßt. In Alarich, Ataulph, Theodorich arbeitet ſchon die Idee des 
aten Nömerreihes. Zum vollen Durchbruch kommt dieſe Idee in Karl dem 

roßen. 

Neben dem Röomiſchen Einfluffe zeigt fi, gleichfalls ſchon fehr früh, bei ven 
nenen Völkern die Einwirlung des Chriftenthbums und der Kirche. 

Die Humanttätsidee iſt ein Kind des Chriftenthbums, das die ganze 
Menſchheit zu einem Brudervolke verbinden will And in jedem Menſchen 
bie menſchliche Perfönlichleit für heilig erklärt. Chriſtenthum und Völkerrecht, beide 
gehen über das Nationale hinaus und haben die Beftimmung, bie ganze 
Menfchheit zu verbinden. Während vor der Zeit des Chriſtenthums jede Nation 
nur ihren befonbern großen Führern, in denen fie das perfonifizixte Urbild ihrer 
Nationalität anjchaute, nachgehen konnte, war in Ehriftus der ganzen Menſchheit 
ein gemeinfames Urbild und ein einiger Mittelpunkt gegeben, und damit jede na⸗ 
tionale Scheivewand im Voraus niebergerifien 13), Eben damit wurde aud ber 
geiftige Boden zubereitet, aus dem ein Völferreht emporwachſen konnte, Freilich 
darf bier ein wichtiger Gegenfag nicht überfehen werben. Das Völkerrecht nämlich 
fol nur eine äußerlich rechtliche, das Chriftenthum dagegen eine innerlidhe 
Gemeinſchaft des ganzen menſchlichen Geſchlechtes begründen. Allein das Auge der 
Menfchheit mußte fih erft allmälig öffnen, um bie rein innerlide Größe ber 
chriſtlichen Idee allmälig zu erfaflen, und fo verwandelte fih dann das rein 
geiftige Univerfalreih des Chriftentbums bei dem Klerus des Römiſchen 
Reiches in ein äußeres Univerfalreih, das dem alten Römerreiche nicht 
unähnlih war. Es wächst der mächtige Bau der Römiſchen Hierarchie empor. In 
ben Concilia oecumenica und im Papftthbum gewinnt die Kirche ihren einheitlichen 
Abſchluß. Mit der Verfaſſung, die fie im Römiſchen Reiche gewonnen bat, tritt 
die Kirche dann auf den Boden der Germaniſchen Völker und zieht diefelben im 
die große: bierardifche Einheit hinein. Endlich ſchließt ſich der Dom des Mittel- 
alters zu einem geiftlich weltlihden Öanzen zufammen, mit feinen beiden 
hochragenden Thürmen des Papſtthums und bes Kaiſerthums. Die Chriften- 
heit ift ein einziger, feft zufammengefügter Leib. Gott hat ihr zwei Schwerter ge 
geben, ein geiſtliches und ein weltliches; ja die Kirche faßt bie große Einheit noch 
tiefer, leugnet den Dualismus der beiden Schwerter und läßt alle Gewalt, auch 
bie Verleihung des weltlichen Schwerte, aus dem einen geiftlichen Mittel- 
punkte bervorgehen. 


13) Brief an die Salater, Kap. 3, V. 28. Au 1. Korinther, Kay. 3, V. 21—23 
und Kap. 12 u. 13. Schleiermader orlän fi) über diefen Punkt treffend aus. 





Dölherrenht. 85 


Die antife Auffafſung, wonach alle fremben Völker Barbaren und Feinde 
find, war jest, troß ber fonftigen Unbildung der Zeit, überwunden und ein höherer 
Standpunkt erreicht. Der Gedanke einer durch das Chriſtenthum zu begründenden 
Ginheit des menfchliden Geſchlechts, die in dem Papſtthum und dem Kaifer- 
thum ihre feften Stützpunkte finden follte, war feit der Kalferfrönung Karls des 
Großen eine lebendig treibende Kraft in den Völkern geworben. Das Reid Karls 
des Großen, ſich erſtrecend vom Ebro bis zur Raab, vom Tiber bis zur Norb- 
ee, vereinigte überdies die großen zulunftreigen Völker bes mitt- 
leren und weftliden Europa, nnd gab ihnen fogar in ben Kapitnlarien 
geniffe gemeinfame Gefege. Die Eigenthümlichkeiten der Bölfer wur⸗ 
den in demfelben anfrecht erhalten, jedem Volle fein beſonderes Volksrecht 
gelafien; und das im Fränfifhen Reihe geltende Syſtem der perfünliden 
Rechte, wonach jeder Angehörige eines Volkes aud bei einem fremden Volke nad) 
feinem angeborenen Bollsrechte benrtheilt wurde, enthielt eine für die völferredht- 
lie Entwidelung bedeutſame gegenfeitige Anerkennung fremder Nationalrechte. 

Allerdings zerfiel Karls Reich bald nad dem Tode feines Gründers. Die 
Germanen waren nody nicht reif, ein fo großartiges Staatsleben in feinem jelbft- 
Räntigen objektiven Gange zu erhalten; fie bedurften dazu einer mächtigen herrſchenden 
Berfönlichkelt, und eine folche fehlte feit Karl dem Großen. Obnehin. hatten inner- 
halb dieſes Reiches vie Nationalitäten ſchon ein zu verſchiedenartiges Gepräge 
engenommen; insbeſondere hatten fi die Romanifhen und bie Germanifhen Ele⸗ 
mente in dem verfchievenen Theilen bes weiten Reiches ſchon fo feft und eigen- 
tämlich gemifcht, daß die neueren Nationalcharaktere mit ihrer gegenfeitigen Abe 
ſtoßung Hervortreten. Die zufällige äußere Wiedervereinigung des großen Reiches 
unter dem ſchwachköpfigen und feigen diden Karl im Jahre 884, vermag biefe 
[don übermächtig geworbenen Gegenfäge nidyt mehr zu überwinden. Die einzelnen 
Theile des Frankenreichs erhalten jegt ihre eigene Gejchichte und namentlich erreidht 
vie Bereinigung Deutſchlands mit Frankreich ihr vollſtändiges Ende. Nicht minder 
verlieren die Kapitularien mit der Auflöfung des Reiches, auf das fie berechnet 
woren, den Boden ihrer Anwendbarkeit und ihre formelle Geltung. Über jene 
große Böllergemeinfhaft des Fränkiſchen Reiches iſt für das fpätere 
vellerleben Europas eben fo wenig ohne dauernde Nach wirkung geblieben, als 
vr Sturz des Römiſchen Neiches die Römifchen Ideen zu töbten vermochte. Die 
ler waren nun einmal in enge Verührung gelommen und hatten gewifle ge 
neinfame Anfhauungen von Recht, Staat und Kirche erlangt. Die Kapitularien 
teten zum Theil im Gewohnheitsrechte fort, ſowie ſich denn auch, trog des Zer⸗ 
fallens der Gentralregierung , zahlreiche übereinftimmende lokale Einrichtungen er» 
hielten. Ueberhaupt aber blieb denjenigen Ländern, in weldhe das Germanenthum 
eingedrungen war, eine gewifie Einheit der Dentwelfe und der Lebens: 
efaltung, bie fpäter zur Grundlage eines Vöolkerrechts und eines Europäffchen 

yſtems werben konnte. 

Mit der Auflöfung des Reiches Karls des Großen hörte ver energiſche weltliche 
Aftelpunft für die Europätfchen Völker auf. Das Kaiſerthum der Deutfchen war 
ven geringerer Bedeutung, als das Karolingifhe Frankenreich. Kaifer Heinrich II 
en 1002—1024) erhält zwar noch vom Papfte den goldenen Reichsapfel, eine 
Kagel mit einem Kreuz, als Sinnbild einer Weltherrſchaft unter dem Schutze 
ver Ariftlichen Kirche; doch verbanft er dies weniger feiner Träftigen Behauptung 
der Veltſtellung des Kaiferthums, als feiner Nachgiebigkeit gegen den Papft und 
fegen den Klerus, und es war das Sinnbild auch weniger darauf berechnet, dem 


86 dölkerrecht. 


Kaiſer die Weltherrſchaft, als vielmehr den Schutz der Kirche in Erinnerung zu 
bringen. Die Kirche freilich bedurfte ſchon der Reform. Kaiſer Heinrich III. be- 
gann biefelbe, indem er ber Simonie, ber Sittenlofigfeit des Klerus und dem Par- 
teienwejen in Rom dadurch einen Damm entgegenfette, daß er felbft tüchtige deutſche 
Biſchöfe auf den päpftlihen Stuhl beförderte, die mit ihrer ganzen Kraft dem 
alten Unmwefen zu fleuern fuchten. Die Päpfte erlangten nun wieder eine beben- 
tende Autorität, vie fie theils perfönlich, theils durch ihre Legaten geltend machten. 
Das erneuerte päpftliche Anfehen fründete fih auf die Macht des Kaifers, dem 
bie Päpfte ihre Stelle verbanften und ohne ven fie vielleicht fofort in vie früheren 
Uebel zurüdgefunten fein würden. Aber diefe Abhängigfeit vom Kaifer währt nicht 
lange. Je größer durch die eigene Mitwirkung bed Kaifers die päpftlide Macht 
innerhalb der Kirche felbft wird, vefto entſchiedener ift ver Papft beftrebt, fi auch 
gegen den Kaiſer unabhängig zu ftellen. Die von Heinrich III. begonnene Kirchen⸗ 
reform nimmt daher alsbald eine dem Kaiſerthum felbft nachtheilige Wenpung. 
- Seinem Nachfolger, dem Kaifer Heinrih IV., tritt in Gregor VII. ein Papſt 
entgegen, ber den kühnen Anlauf nimmt, auf Koften des Kaifertbums Europa 
in eine einige große Theofratie zu verwandeln, um auf dem Gipfel der 
theofratifhen Weltpyramive das Papſtthum throuen zu lafflen. Das Papftthum 
greift immer gewaltiger in bie Staaten ein, beeinträdtigt ihre Souveränität, führt 
bie verberblichften Reibungen unter ihnen herbei, während vie Idee des kaiferlichen 
Dominium mundi verblaft. Die Staaten werden durch das Papftthum aus ihrem 
felbftändigen Schwerpunkte gehoben, durch unausgefegte päpftlihe Einmifhungen 
in ihrer Koncentration gehemmt und in ihrer Entwidelung geftört. 

Allerdings bat, in einem gewiflen Sinne, die Römifche Hierardie die 
Völker Europas zu einem großen Ganzen verbunven. Allerdings ift ber 
Papft mitunter für die flreitenden Staaten ein chriſtliches Völkertribunal 
gewefen. Allerdings hat die Kiche duch ihre Gottesfrieden mandes Blut- 
vergießen erfpart. Doc herrfchte gerade unter den Aufpicien des Papſtthums 
wenig Friede unter ven Staaten, und der päpftlide Stuhl war hieran 
keineswegs unfchulbig. Diefe Doppelherrſchaft, diefer päbftlihe Mitftant in 
allen Staaten bewirkte überdies, daR die Staaten fih nicht felbft erfaffen und 
fi nicht innerlich befeftigen tonnten. Die felbftäudigen Staaten aber find bie 
Träger des Völkerrechts, und wo ed an autonomifhen Staaten fehlt, da kommt 
es nimmermehr zu einem völkerrechtlichen Staatenfyftem und ba fehlt e8 der völler- 
rechtlihen Idee an den Organen, durdy bie fie ſich entfprechend verwirklichen kann. 

Eben daher rührt die Erfcheinung, daß das Völlerreht der Pri- 
vaten, die Anerkennung des einzelnen Menfchen in feiner rein menfchlichen, 
überall gültigen Beredtigung, im Mittelalter dem Völkerrechte der 
Staaten vorauseilte,. Die Biſchöfe, getrieben durch den Geift des Chriften- 
thums, nahmen Bedrängte in ihren Schuß, hemmten den Menfchenhanvel, Tauften 
Sklaven 103, öffneten den Menſchenrechten das Kirchliche Aſyl, während bie großen 
Chriftennationen niht ohne Schuld der Kirche fih in wilden Kämpfen an ein- 
ander rieben. , 

Im Rittertbum und in den Kreuzzügen vermögen wir eine Anbah- 
nung des Völferreht3 nicht zu finden. Das Ritterthum konnte es wohl zu einem 
Fauft« und Fehderecht bringen, nicht aber: zum Völkerrecht. Die Kreuzzüge aber 
haben tie hriftlihen Völker in einen antivöllerrechtlihen Gegenfag zu den Un⸗ 
gläubigen gebracht, haben mweber die Humanität gefördert, noch neue Handelswege 
eröffnet, noch ein engeres und rechtlicheres Verhältui unter den Völkern Europas 


Dölkerredt, 87 


gegründet. Dieſe angeblich Heiligen Züge begannen mit einem furchtbaren Blut: 
bade der Juden, verwäfteten einen großen Theil Europas und zertraten die fchönften 
Keime der Öumanitätsentwidelung. Eines allerdings muß man ihnen einräumen: 
das iſt ihre Untverfalität, ihr Europäifher Charakter. Ganz Europa 
iß dabei betheiligt, von Einem Gefühle befeelt, zu Einer Handlung verbunden. 
Es zeigt fi in dieſer erften Europäiſchen Bewegung, daß es ein großes gemein- 
ſames Europälfches Völkerleben giebt. 

Bon wohlthätigen Yolgen waren der Handelsgeift und die buch ihn 
bervorgerufenen Städtebündniſſe, „zulegt ein Handelsſtaat, ver über das 
Schwarze, Mittelländifche, Atlantifche Meer, über Nord» und Oftfee reichte. In 
Deutihland und den Niederlanden, in ven norbifhen Neihen, Polen, Preußen, 
Rußland, Livland Ingen diefe Städte, deren Fürſtin Lübeck war, und bie größten 
Handeldoxte in England, Frankreich, Spanien und Italien gefellten fi zu ihnen. 
Sielleiht der wirkſamſte Bund, der je in der Welt gewejen. Er bat Europa mehr 
zu einem Gemeinweſen gemadt, als alle Kreuzfahrten und Römifchen Bebräude; 
veun Über Religions⸗ und Nationalunterfchiede ging er hinaus und gründete die 
Verbindung der Staaten auf gegenfeitigen Nugen, auf wetteiferuden Fleiß, auf 
Redlichkeit und Ordnung. Städte haben vollführt, was Priefter und Edle nicht 
—38 konnten und mochten: fie ſchufen ein gemeinſchaftlich wirkendes 

pa” 14), , ® 

Unter Innocenz II, dem größten Danne feiner Zeit, ver von 
1198 big 1216 vie päbftlichen Angelegenheiten mit eben fo großer Feſtigkeit 
as Schlauheit leitet, vafft jih das Papſtthum noch einmal zu feiner 
vollen Größe empor. Er fpriht das Prinzip aus, daß Deutſchland 
und Italien nidt unter Einer Krone vereinigt fein dürfen, — ein Grund⸗ 
hs, deſſen flrenge Durdführung zu einer felbfländigen Bedeutung Italiens ge- 
führt Haben würde. Mit kühner Hand greift er in bie weltlichen Händel Eu- 
topas ein. Aber ſchon erftarkt, dem gegenüber, da8 Bewußtſein der eigenen 
Berehtigung der Staaten. Zwar geht feit dem Interregnum (1256—1273) 
das Deutſche Neich feinem Berfalle entgegen, und die Habsburger vermögen bie 
Zrennung der Schweiz vom Reihe (1308) nicht mehr zu hindern. Allein dem 
dapſtihum gegenüber, nimmt man eine männliche Stellung ein. Frankreich 
hingt den Papſt ganz in Branzöfifhe Abhängigkeit (Avignon'ſches Eril 
105—1378). Und Dentfhland iſt nicht mehr gewillt, einem von Frank⸗ 
ih gelnechteten und dennoch anmaßenden Bapfte Eingriffe in feine polttifchen 
Angelegenheiten zu geftatten. Der denkwürdige Kurverein von Renfe (1338) 
aflärt die Unabhängigkeit der Deutfhen Königswahl von der Beſtätigung und 
Könung durch den Papſt, und Deutſchland ſpricht es feierlich vor ber ganzen 
Belt ans, daß es die geiftliche Gewalt auf das geiftliche Gebiet beſchränkt wiſſen 
BL Auch das Bafeler Konzil von 1431 bis 1444, das ven Grundſatz 
emenerte, ein allgemeines Koncil ftehe über dem Papfte, ift bier zu erwähnen. 

Ueber den Inhalt des dem Kaifer zuſtehenden Dominium mundi war man 
ſich nicht Mar und der ganze Gedanke hatte zu allen Zeiten etwas Phantaſtiſches; 
indeg wird ein Borrang bes Kaiſers vor allen anderen Herrſchern felbft noch 
während des Berfalles des Kaiſerthums anerkannt, und dem Kaiſer ſtand bas 
Reht zur Verleihung des Königstiteld zu, wie denn vie Polniſche und. vie Böh— 
wilde Königswirrde aus kaiſerlichen Privilegien entflanden find. Doc fühlte man 





%) Herder, Werke, zur Phil. und Geſchichte, Band 7, Seite 296. 


88 Ä Dölkerredtt. 


fih in anderen Reihen, und wohl nicht blos in Branfreih und England, vom 
Kaiſer no weit unabhängiger als vom Papſte. 
Als ſtarke Hebel des Kortfchrittes wirkten die Magnetnadel, das Schieß⸗ 


pulver und die Buchdruckerkunſt. Die Magneinavel öffnete dem Handel den 


weiten Ozean und machte ihn zum Welthandel. Das Scießpulver machte 
bem Gemetzel bes perſönlichen Kampfes ein Ende und vermenfhlidte bie 
Kriegführung. Die Buchdruckerkunſt endlich bewirkte einen lebhaften Euro- 
pätfhen Gedankenumtauſch und verallgemeinerte bie wohlthätigen Wir- 
tungen der friſch emporwachſenden Wiſſenſchaften. 

Drei mächtige Strömungen hatten ſich ſeit dem Beginn des Mittel- 
alters Über ganz Europa ergoffen und überallhin ähnliche geiftige Elemente ver- 
breitet: die Römifhe Strömung mit der Idee des Reiches, der provinziellen 
und flädtifhen Einrichtungen, des gefetlich geregelten Verkehrs; die chriſt⸗ 
lihe Strömung mit ver Sumanitätsidee, mit der Ibee der allgemeinen Brü⸗ 
derlichkeit und den Begriffen reiner Sittlichkeit; endlich die Germanifde Strö- 
mung mit den Ideen der perfönliden Treue und Ehre, Insbefondere aber ver 
individuellen Freiheit und ber Selbftregierung. Als die großen Ablagerungen biefer 
Strömungen auf dem Rechtögebiete erfcheinen das Corpus juris civilis, das Corpus 
juris canonici und das Corpus juris Germanici, alle drei von Europäiſcher 
Bedeutung. 

Ganz beſonders aber wurde durch die ernenerte Verbreitung des Romiſchen 
Rechts Über einen großen Theil Europas und dur die Brundfäge des Ehri- 
ſtenthums eine gemeinfame Europäifche Rechtsgrundlage gewonnen. Die Bibel 
und das Iuftinianifche Geſetzbuch wurden Gemeingut aller gebilveteren Völker 
und bradten die zur völlerrehtlihen Vereinigung und Verftändigung nöthige 
Harwonie der fittliden und rechtlichen Begriffe zu Stande. 

Mit der Reformation, der erften Europälfchen geiftigen Kataſtrophe, vie 
von Deutſchland ausgeht und fih dann dem ganzen Norden und Weſten mit⸗ 
tbeilt, wird das Mittelalter auch auf dem völferrechtlihen Gebiete zu Ende ge=- 
bracht. Die Neformation nämlich macht ſelbſtändige Staaten, diefe Träger und 
Drgane der völkerrechtlichen Idee, erft möglih, indem fie den Dualismnd ber 
geiftlichen und weltlihen Macht auflöfet und die Staaten von der Mitherrfchaft 
bes Römiſchen Stuhls emancipirt. Ein Uebergewicht der Kirche konnte ſeitdem 
von den Staaten nicht mehr gefürchtet werben. Wohl aber konnte ein Staat über 
ben anderen ein gefährliches Webergewicht erlangen. 

In der That treten feit dem 16. Jahrhundert zwei Ideen immer entfchie- 
bener in den Kampf: die Idee einer Univerfalmonardhie und die Idee des 
politifhen Gleichgewichts. Der Gedanke der Univerfalmonarchte war eine 
Hinterlaflenfhaft des unvölkerrechtlichen Altertbums. Ex batte fih auf das Frän⸗ 
fifche, dann auf das Deutfche Neich vererbt, und feit der Schwäche des Reiches 
firebten aud andere Staaten ihn auszuführen. Durch ven Gedanken des politifchen 
Je tzoewiqhts ſuchte ſich dagegen das neuere vblkerrechtliche Princip zu verwirk⸗ 
lichen. 

Daß aus dem Geſichtspunkte der Entwickelung des Europäiſchen Staaten- 
ſyſtems der dreißigjährige Krieg als eine Gegenwirkung ver Gleichgewichts⸗ 
idee gegen die Habsburgifche Uebermacht anzufehen fei, und wie fih ſeit dem 
Weſtphäliſchen Frieden bis zur Gegenwart die Staatenverhältnifie 
völferrechtlich geftaltet haben, berichtet der bier ergänzend eingreifende Artikel 
„Kongreffe und Friedenoſchlüſſe der neueren Zeit.” Ueber vie Fort⸗ 


Dölkerrecht. | 89 


entwidelung ber Theorie des Bölferrehts werben in biefem Artikel unter 
„Litteratnr” einige Andeutungen gegeben werben. 

Trog der Nevolutionen und Kriege, welche in neuefter Zeit Europa aufe 
gerührt haben, hat die Humanität fichtlih gewonnen; das Bewußtfein ber Zu- 
ſammengehörigkeit der Völker iſt erftarkt, bie geiftigen Grundlagen bes Völkerrechts 
find fefter und breiter geworben, und zahlreiche Spuren eines rohen Internationalen 
Zuſtandes, die wir bei ven völkerrechtlichen Schriftftellen noch als geltendes bar- 
bariſches Recht verzeichnet finden, zerichmelzen vor den immer belleren und Immer 
wörmeren Strahlen der höher auffteigenden Sonne des Chriftentbums. Ein re⸗ 
dendes Zeichen des auch auf dem völferrechtlihen Boden vorgefchrittenen Geiftes 
ver Gegenwart ift ver Parifer Kongreß von 1856. Wenn gleidy derſelbe die 
Drientalifche Frage, die ihn eigentlich zufammenführte, nur mangelhaft gelöfet bat, 
fo bleibt er doch für den Fortſchritt des Völkerrechts denkwürdig dur die Auf⸗ 
nahme Der Türkei in das politifhe Syftem Europas, durd bie 
Önmanifirung des Seekriegsrechtes und durd den, obfchon nicht zur 
völligen Geltung gelangten, doch feterlih vor ganz Europa. von den Mächten aus⸗ 
gefprohenen Wunſch, bei internationalen Streitigleiten, fo weit es 
bie Umftände erlauben, ſich erſt an die guten Dienfte oder an die Ber- 
mittelung eines befrenndb.eten Staates zu wenden, ehe man zur 
rohen Gewalt fhreitet. Wer fein geiftiges Auge nur öffnen will, der kann 
von bier aus die von der Sonne der Zukunft befchienenen hohen Bergesgipfel 
bee Ideen der Neuzeit ſchon deutlich erbliden. 

III. Zitteratur. 

Die völlerredtlihe Theorie bat fih fett der Reformation entwidelt. 
Son ber Reformation felbft, melde erft ſelbſtändige Staaten möglih madıte und 
mit bem Prinzipe der geiftigen Freiheit auch der politifhen Freiheit den Boden 
einete, erhielt fie ihre erften ſtarken Impulſe 18). 

Anfangs behandelte man das Völkerrecht als einen Theil des Na- 
turrechts, indem man tie Römiſche und die moberne Bedeutung des Jus gen- 
tum vermifchte. So Oldendorp, Juris naturalis, gentium et civilis isagoge, 
Coloniae 1537; ferner Hemming, De lege naturae methodus apodictica, 
1550; endlich Winkler, Principiorum juris libri quioque, Lipsiae 1615. 
Unger ihnen ift vor Grotius, dem DBater der Bölterrechtswiffenichaft, noch zu 
amnen Albericus Gentilis, geb. 1551 in ver Mark Ankona, wegen feiner pro- 
teſtantiſchen Anſichten nad England geflohen, 1611 in Orforb geftorben. Er 
ichrieb 1585: De legationibus, 1588: De jure belli, 1590: De justitia bellica. 
Begen der Verwandtſchaft jener Ideen, und felbft feiner Eintheilungen und Ka⸗ 
piteläberfchriften, mit denen des Grotius nimmt man an, daß Orotius aus 
ihm viel gefchöpft habe 16), 


15) Mart, Huebneri orat, de immortalibus Mart. Lutheri in imperia meritis, 
Hafo, 1761. Ereuzer, Luther und Hugo @rotius, Heidelberg 1846. 

w) Die Litteraturgefchichte des Völkerrecht baben bearbeitet De Wal, Inleiding tot de 
Wetenschap van het europesche Volkenregt, Gron. 1835. Kaltenborn, Kritif des 
Böllerrechtö, nach dem jegigen Etandpunfte der Wiſſenſchaft, Leipz. 1847. Robert Mobl, 

und Litteratur der Staatöwiflenfhaften, Band I, 1855. Eine umfaflende Litteraturs 

jiebt fih au durh Henry Wheaton, Histoire du droit des gens, 3me ddit., 

1853, von der die vierte Auflage im Erfcheinen begriffen ifl. — Unter den Bor: 
länfern des Grotius darf übrigens auch der Spanier F. Suarez (geb. 1538, geſt. 1617) 
ziht überichen werden. Er fchrieb De legibus ao de legislatore. Vgl. Kaltenborn, bie 
Berläufer des H. Grotius, Halle 1848. 


90 Dörkerrecht, 


Grotius aber ift ber exfte, der im Böllerrechte etmas Bedeutendes geleiftet 
bat. Wir vermweifen im Allgemeinen auf den fhönen Artikel, den ihm H. Ahrens 
in diefem Wörterbuche gewidmet hat. 

Als tie Spanier von den unabhängig geworbenen Niederländern forberten, 
daß fie nicht ferner nah Indien Handel treiben follten, verfaßte Grotius 1609 
fein Mare liberum, seu de jure quod Batavis competit ad indica commercia; 
Lugd. Bat. Später nad Paris geflohen, jchrieb er hier fein Hauptwerk De jure 
belli ac pacis, 1625, in welchem fi naturrechtliche und völferrechtliche Anfichten 
no Häufig miſchen, obwohl Grotius offenbar kein Naturrecht, fondern ein Völler⸗ 
recht im neueren Sinne geben wollte. Groß war der Einfluß diefes vom Geifte 
des Chriſtenthums und der Humanität durchweheten, dem Macchiavellismus ein- 
fahe Rechtsgrunpfäge entgegenftellenten Buches, das Guſtav Adolph beftändig bei 
fi führte, auf das alle Diplomaten ber nächftfolgenden Zeit wie auf ein Geſetz⸗ 
buch zurüdgingen und das als erſte Urkunde des Völkerrechts durd die Jahr» 
buuberte fortleben wirb 17). 

Gegen die rein naturrechtlihen Anſichten des Grotius polemifirt der Eng- 
länder John Selden: De jure naturali et gentium juxta disciplinam Ebrae- 
orum, 1629, Dem Mare liberum bed Grotius trat er burdh fein Mare clausum 
entgegen. 

Einen höheren Schwung nimmt der Engländer Richard Zouch h (Zouchaeus), 

ber das erfte Lehrbuch des Bölterrechts ſchreibt, unter dem Titel: Juris et judicli 

— pe juris inter gentes, et quaestionum de eodem explicatio, Lugd. 
at. 1651. \ 

Pufendorf, ber erfte Lehrer des Naturrehts in Heidelberg und fpäter in 
Lund, geb. 1631, geft. 1694, geht von der Anfiht aus, daß bie Lehren des Na- 
turrechts und die des WVöllerrechts identiſch feien, in der Welfe, daß biejelben 
Lehren in ihrer Anwendung auf Einzelne das Naturredht, in ihrer Anwenduug 
auf Völker und Staaten das Völkerrecht bilden. Dabei fließt er fih an Hob- _ 
bes, De cive, Cap. 14, 6 4. Er beftreitet im Allgemeinen dem Böllerrechte 
den Eharalter eines pofitiven Rechts. Sein jus naturae et gentium erfchien zuerft 
1672, ſodann verbeflert 1684. Er fand einen Anhänger in Chriftion Thoma- 
fins, geb. 1655, Profeflor in Halle, geft. 1728, ber dem Völkerrechte deßhalb 
alle Pofitivität abſpricht, weil es keine gefeßgebende Gewalt über den Staaten 
giebt. (Vrgl. tie Artikel Pufendorf und Thomaſius.) 

Diefer naturrechtlihen Richtung gegenüber drangen mehr auf das Pofitive 
Samuel Nadel, geb. 1628, geft. 1691, Profeſſor in Halberftabt und hernach 
in Kiel, auch Gefandter beim Nimwegenſchen Friedenskongrefſe, — und Johann 
Wolfgang Tertor, geb. 1637, Profeffor in Altdorf und in Heibelberg, geft. als 
Protofynditus in Frankfurt 1701. Rachel ſchrieb De jure naturae et gentium 
dissertationes duae, 1676; Tertor eine Synopsis juris gentium, 1680, 

Chriftien Wolff, geb. in Breslau 1679, geft. als Kanzler ver Univerfität 
Halle 1754, wendet feine berüchtigte leverne mathematifche Methode auch auf das 
Völkerrecht an. So verfaßt er fein umfangreihes Jus gertium methodo scien- 


17) Hartenftein, Darſtellung ter Nechtephllofophie des H. Grotius, in den Abhand⸗ 
lungen der philoſophiſch⸗hiſtoriſchen Klaſſe der K. Sächſ. Geſellſchaft der Wiffenfchaften, Leipzig 
1850. Van Hogendorp, Commentatio de juris gentium studio in patria nostra post 
H. Grotium, Amstelodami 1856. Auguft Bulmerincq, die Syſtematik des Bölterrechts, 
erfter Theil, Dorpat 1858, Seite 14 ff. Kommentare, Auszüge und leberfegungen des Gros 
tianifchen Werkes erfchienen in großer Anzahl und fleigerten deſſen Einwirkung. 


Dölkerredit. 91 


tißea pertractatum 1749, und 1754 einen Auszug besfelben, unter dem Titel 
Institutiones juris natura et gentium. Für die Syftematifirung bes Böllerrechts 
bat er Manches geleiftet. Nach feiner Grundauffaffung ftehen die Böller und 
Staaten in einer ähnlichen Gemeinfhaft, wie vie Glieder eines Leibe. Die 
Rechtegemeinſchaft aller Bölfer und Staaten nennt er eine Civitas maxima. 
Damit verwandelt fih ihm, mag er immerhin aud von der Unabhängigkeit der 
Staaten reden, die freie Gemeinſchaft der Staaten doch faft in vie unfreie Ein- 
keit eines Yniverfalftantes 18). 

Ueber Wolffs berühmteften Anhänger Battel handelt ein befonderer Artikel. 

Johann Jakob Mofer (f. diefen Artikel) verfchmähet zwar auf eine unge- 
bährlide Weile das Philofopbifche, ſpendet aber dafür maflenhaft pofitiven Stoff 
uud ſchafft damit der Theorie des Völkerrechts eine fihere poſitive Grundlage. 
Zu tabeln iſt freilih, daß er fat nur aus ber neneften Zeit geichichtliche Ereig⸗ 
aiffe in Betracht zieht, flatt die pofitiven Grundſätze in ihrem allmäligen Wachen 
und Werden zu verfolgen. Bon ven völferrechtlihen Schriften, die er auf feiner 
foft —— litterariſchen Laufbahn (von 1732 — 1781) verfaßte, müffen 
wir nennen: Grundſätze des jetzt üblichen Europ. BR. in Friedenszeiten (zuerſt 
1750) — in Kriegszeiten (zuerſt 1752); Erſte Grundlehren des jetzigen Europ. 
DR. in Friedens⸗ und Kriegszeiten, 1778; Verſuch des neueſten Europ. VR. 
in Sriedens- und Kriegszeiten, vomehmlidh aus den Staatshanblungen, 
ver enzopälfhen Mächte, auch anderen Begebenheiten, fo fi feit dem Tode 
Kaiſers Karl VI., 1740, zugetragen haben, 10 Theile, 1777—1780; endlich 
Beiträge zu dem neneften Europ. DR. in Friedenszeiten (5 Theile, 1778—1780), 
in Rriegszeiten (3 Theile, 1779— 1781). 

Das geiammelte pofitive Material fucht man alsbald zu fyflematifiren, 
wenngleich bie Syſteme noch den Charalter des Willkürlichen tragen 19), 

8. G. Süntber, ein Sächſiſcher Archivbeamter, der fhon 1777 anonym 
einen Grundriß des Böllerrechts herausgegeben hatte, Tieß erfcheinen ein Euro⸗ 
päifhes DR. in Friedenszeiten, nad) Dernunft, Verträgen und Herlommen, mit 
Anwendung auf die deutſchen Reichsſsſtände, Thl. I, 1787, Thl. II, 1792. 8. ©. 
von Römer, der die Eriftenz eines allgemeinen Europ. Bölterrechts leugnet, will 
vorzugsweife deutſches Völkerrecht barftellen, vermifcht aber pabei die Verhältuiſſe der 
teutfchen Fürſten zum Kaifer mit den wahrhaft völferredtlichen Verhältniffen und 
bietet fo ein Miſchwerk von Staatsreht und Vöollkerrecht in feinem Bude: Das 
Bölferrecht der Deutſchen, 1789. Auf dem Höhepunkte biefer das Pofltive will- 
a atifrende Richtung ſteht Georg Friedrich von Martens (fiche 

en” 

Kant behandelt das Bölferreht am Schiuffe feiner 1797 zuerft erſchie⸗ 
nenen Rechtslehre. Der Unterſchied des internationalen Staatsrechts vom inter- 


*8 Wheaton, Histoire (1853) Tome I, page 227. Kaltenborn, Kritik. &. 66 ff. 
dei dem lepteren auch Notizen über Kahrel (ſchrieb ein Bölferrecht 1750), A. F. Glafey 
(geb. 1682, gef 1754 als Archivar in Dresden, fehrieb ein Völkerrecht „nach dem echte der 
— 3 . Aufl. 1752), T. Rutherforth, Institutes of natural laws being the 
substance of a course of lecture on Grotius, De jure belli ac pacis, Lond. 1754, Bur- 

una wi, defien Principes du droit de la nature et des gens urfprünglich in Yverdon 
rg in 8 Bänden erſchienen, und Gerard de Rayneval, deflen Institutions du droit 
—* la natare et des gens 1832 und 1851 in Paris mit Anmerkungen neu herausgegeben 


werden 
un) Bl. Kaltenborn, Kritit des OR, ©. 103 ff. 





99 Dölherrecht. 


nationalen Privatrehte, ven er in ber Trennung des eigentlichen Bolkerrechts vom 
Beltbürgerreht offenbar erfaßt bat, wird von ibm nicht fireng feflgehalten. Er 
geht aus von ber naturrechtlichen Fiktion eines Naturzuflandes, wie ver Einzelnen, 
fo der Völker. Diefer Naturzuftand ſei ein Zuſtand des Krieges, des Fauſtrechts; 
ex müfle überwunden werben, und zwar auf völferrechtlihem Gebiete durch einen 
Staatenbund, zum Schuge gegen äußere Angriffe. Ein univerfellee Staaten- 
buud, der alle Völker umfaßt, fei nun freilich nicht möglid. Bei einer Mehr⸗ 
-beit der Staatenbünde trete aber wieder für diefe unter einander der Raturzu- 
ftand und die Möglichkeit des Krieges ein. Darum fei der ewige Friede un- 
erreihbar. Doch könne man fi ihm annähern durch Bereine einzelner Staaten, 
die ven Zwed haben, den Frieden unter fi aufrecht zu erhalten. (Darüber wird 
weiter gehandelt in Kants befonderer Schrift „Zum ewigen Yrieden“.) Unter 
dem Weltbürgerrechte verfteht Kant nur das Recht eines jeden Menfchen, 
fih jedem Bolke des Erpballs zum Berfehre anznbieten. 

Unter den deutfchen Kantianern im Völlkerrecht find Pölitz und der ältere 
Zachariä nambaft zu machen. Pölig, geb. 1772, geft. 1834 als Profeflor in 
Leipzig, räumt in feinen „Staatswiffenfchaften im Lichte unferer Zeit” dem Völfer- 
rechte einen ziemlich breiten Play ein?) Karl Salomo Zadariä, geb. 1769, 
get. 1843 als Brofeffor in Heidederg, „ein geiftreicher aber bizarrer Mann“, 
behandelt das Böllerreht in feinen „Bierzig Büchern vom Staate”, im Band IV. 
Er führt den Kantiſchen Gedanken eines Staatenvereins, zur Verhinderung ver 
Kriege, weiter ans, giebt auch dem Begriffe des Weltbürgerrehts mehr Inhalt. 

Eine ausführlide Erörterung des Völkerrechts auf Kantifhem Standpunkte 
lieferte au Baroli, Lehrer der Philofophie in Pavia, im 5. und 6. Bande 
feiner Rechtspbilofophie: Diritto naturale, I— VI, Cremona 1837. Minder be- 
deutend iſt, was Tolomei, Corso elementare di Diritto naturale, I—IIl, 
Padua 1848 über Völkerrecht fagt 21). | 

Johann Gottlieb Fichte (f. d. Art.) lieferte einen Grundriß bes „Böller- 
und Weltbärgerredhts" als zweiten Anhang feines 1796 und 1797 in 2 Bänben 
erſchienenen Naturrechts. Er fchließt ſich ziemlich eng an Kant, ſtellt aber feine 
Lehre im firengften methobifchen Zufammenhange dar, während Kant im Böller 
rechte nur abgeriffene Säge bietet. 

Die neuefte Epoche der Rechtswiſſenſchaft charakterifirt fih durch vie Auf⸗ 
bebung der früheren Feindſchaft von Philofophie und Gefchichte, eine 
Richtung, die durch Hegel ihren philofophifhen Ausdruck gefunden hat 22). Ohne 
ſich dieſen Standpunkt immer völlig Mar zu mahen und anzueignen, berädfid- 
tigen die neueren völferrechtlichen Autoren wohl alle ſowohl das Bofitive, als aud) 
die daran anfnüpfenden und darauf ruhenden, oft aber andy darüber hinausgehenden 
philofophifhen Theorien; und es erflärt fih weniger aus einer Verfchienenheit der 


39) Das „praftifche Völkerrecht” nebft „Diplomatie* und „Staatenpraxis“ bildet den Bd. V 
in dem Pl Werke von Pölig. Sehr fireng urtbeilt über die „Armieligkeit umd Unzuläng⸗ 
lichkeit dieſes Vielfchreibers” R. Mohl, Geſchichte u. Kitteratur I, S. 393; milder Kalten» 
born, Kritik ©. 189 ff., auh Bulmerincq a. a. D. ©. 93 ff. 

31) Dal. Mohl a. a. DO. ©. 388, 389. 

33), Nicht ohne Bedeutung find für die Auffaffung des Völkerrechts, abgefehen von den be 
fonderen Arbeiten über Rectephilofonbte, manche neueren Syſteme der Ethik, unter denen 
bie pbilofopbifte und die chriſtliche Cthit Schleiermachers, die fpefulative Cthik von 3. U. 
Birth und die des jüngeren Fichte hervorzuheben find. 

2) ©. Robert Mohl, Geſchichte und Litteratur L, 5. 390. 


Dölkerredt. 983 


Standpunkte, als aus ber Verſchiedenheit ver geiftigen Eigenthümlichkeit und An- 
Inge, wenn einige von ihnen vorzugsweife das Philoſophiſche unter Anerkennung 
und Berüdfihtigung des Hiftorifchen behandeln, während andere den Hauptfleiß 
auf das Hiftorifche legen und dem Philofophifchen nur eine ſekundäre Stelle ein- 
räumen. 

Örundriffe: Kolderup-NRofenvinge, Grundrids af den poſitiv Fol⸗ 
feret, 2. Ausg., Kopenhagen 1835, — giebt furzen Text, in ben Noten aber viele 
Erläuterungen, Beifpiele und Litteratur-Nahmelfe. Winter, Systöme de la 
diplomatie, Berlin et Paris 1830. Michelſen, Grundriß zu Vorlefungen über 
pofitives Völkerrecht, Kiel 1840. Europ. VR., Münden 1852. Robert Mohl, 
treffliche kurze Darftelung bes BR. auf 96 Seiten, in ver 1859 erſchienenen 
Enchklopädie der Staatswiffenichaften. 

Syſteme und Lehrbücher: Saalfeld, ein Anhänger von Martens, 
ſchreibt 1833 ein kurzes „Handbuch des pofitiven VR., nit fir Männer vom 
Fach, fondern für Gebildete aller Klafien. 1809 wer fhon von ihm ein Grund 
riß des BR. erfchienen. Theod. Schmalz, Europ. DR., Berlin 1817. Julius 
Sähmelzing, ſyſtematiſcher Grundriß des Europ. VR., 3 Theile, Rudolſtadt 
1818, 1819, 1820; fehr verdienſtlich; doch bald verdunkelt durch den Glanz der 
Arbeiten von Klüber, geb. 1762, in Badiſchen und fpäter in Prenßiſchen 
Dienften, praftifcher Staatsmann und Gelehrter, 1807 Brofefior in Heidelberg 
und zugleich Geheimer Referendar, fpäter Geheimer Rath in Berlin, feit 1823 
mabhängiger Privatmann, geft. 1835. Bon feinen zahlreichen Werken nennen wir 
bier nur fein Droit des gens moderne de l’Europe, Stuttgart 1819, Paris 1831, 
2 vols.; auch deutſch vom Berfafier felbft bearbeitet unter vem Titel: Europ. DR., 
Stuttgart 1821; davon im Jahr 1847 eine nit eben forgfam revivirte, kom⸗ 
mentirte und bis auf die Gegenwart ergänzte Ausgabe von Morftadt in Heidel⸗ 
berg. Heffter, das Europ. DR. ver Gegenwart, erfte Aufl, 1844, fünfte 1866; 
ind Franzöftiche übertragen von Jules Bergson. Le droit international public 
de l’Europe, Berlin et Paris 1857, neue Aufl. 1866. Weit lüdenhafter, aber 
niht ohne Geiſt wird das völferredhtlihe Dlaterial dargeboten von Oppenheim, 
Syſtem des VR., Frankf. 1845. Eine „vollsthämlihe Darſtellung“ des BR. ſucht 
zu geben E. H Th. Huhn, Leipz. 1868. 

Bon den Franzofen iſt mande gute Monographie, aber feine bedeutendere 
Gefammtparftellung des BR. ausgegangen. Gerard de Rayneval, Institutions 
du droit de la nature et des gens, 1832 und 1851 nen herausgegeben von 
dem Sohne des Berfafiers, ein geiftreihes und bei ven Diplomaten belichtes Buch, 
bietet fehr wenig Pofltives. Das in Belgien erfchienene Wert von Destri- 
veaux, Trait6 du droit public, Brux. 1849, liefert im Band I, ©. 263—412, 
‚ ine kurze und lebendige, aber der Gelehrſamkeit ganz entbehrende Darftelung ver 
dölferrechtlichen Gäte auf Kantifcher Grundlage 22). 

Engiänder und Nordamerikaner haben mehr geleiflet: J. Macken- 
tosh, Discourse on the study of the Law of Nature and Nations, Lond. 
1800. Oke Manning, Commentaries on the Law of Nations, Lond. 1839. 
Beionders der Norpamerifaner Henry Wheaton, Elements of International 
Law, zuerft erſchienen in Philabelphia 1836, ein mit Recht überall geſchätztes, 
unmittelbar für die diplomatiſche Praris beflimmtes Werl. A Polson, Prin- 
eples of the Law of Nations, Lond. 1848, 2 Ed. Lond. R. Wildman, 
Issttutes of International Law, I, II, Lond. 1850. Der Berfaffer, ein Lon« 
dener Mbuofat, iſt ber Rechtsphiloſophie ganz abgeneigt, befigt aber dafür einen 


94 | dölkerrecht. 


um fo tieferen Reſpekt vor Prajudicien und Rechtsgewohnheiten. — Sehr beven- 
tend: Rob. Phillimore, Commentaries upon International Law, 5 Vols., 
Lond. 1854—1861. 

Auch die Spanier find recht thätig geweſen. J. M. Pando, Elementos 
del Derecho Internacional, Madr. 1843. E de Ferrater, Codigo de De- 
recho Internacional, J., II, Barcel. 1846, 1847. A Riquelme, Elementos 
de Derecho publico internacional, con explicacion de todas las reglas que 
constituyen el Derecho internacional espanol, I, II, Madr. 1849. Daneben 
nennen wir ten Sübameritaner Andr. Bello, Principios de Derecho de 
Gentes. Opera public. en Santiago de Chile, reimpr., Par. 1840; nueva edie. 
Madr. 1844; ferner den geiftreihen Portugiefen Pinheiro-Ferreira, Cours 
de Droit Interne et Externe, Paris 1830; enblid bie Italiener A de Bi- 
moni, Saggio storico e filosofico sul diritto di natura e delle genti, Mil. 
1822, 4 vol. L. Taparelli, Saggio teoretico di diritto naturale, Palermo 
1840—1841, 5 vol. Napoli 1844—1845, 3 vol., aud bie ſchon angeführten 
Baroli und Tolomei, ale nur Medtsphilofophen, nicht Kenner des pofitiven 
Böllerrechts. 

- Monographien über völkerrechtliche Gegenſtände führt das Staats⸗ 
wörterbud in feinen zablreihen völferrechtlihen Artikeln an. \ 


IV. Quellen, 


1. Den erfien Rang unter den Quellen des Bölkerrechts nehmen die Staa⸗ 
tenverträge ein. Siehe „Staatenverträge” und die daſelbſt angeführten Sammel 
werfe. | 
2. Eine zweite wichtige Duelle bilden die Altenfläde aller Urt, in 
denen die Staaten ihre völferrehtliden Meberzeugungen auß- 
ſprechen. | 

Hierher gehören a) die Protofolle der Kongreffe und inter- 
nationlen Minifterfonferenzen. Meiftens find burd fie wichtige Staa» 
tenverträge vorbereitet worden. Dann find fie allemal ein beachtenswerthes Hülfs⸗ 
mittel zur Ermittelung des wahren und vollftänpigen Sinnes der durch fie ange 
bahnten Verträge und daher mindeftens eine Quelle des fog. beſonderen (nur 
die kontrahirenden Staaten bindenden) Völkerrechts. Daneben aber enthalten fie 
oft anch den Ausdruck der gemeinfamen Rehtsüberzeugung aller gebilveten Staaten 
und bieten dadurch aud dem allgemeinen Böllerrechte ein erhebliches Material. 

Hierher gehören b) Erklärungen der großen Mädte, Noten, Ma- 
nifefte, Korrefpondenzen, felbft Proteftationen ber Staaten. Erklä⸗ 
rungen ber großen Mächte über ihre Rechtsanſichten, wie fie 3. B. 1856 in 
Betreff des Seerechts gegeben worden find, machen fi, fobald fie die Vernunft 
auf ihrer Seite haben, bald mit ähnlicher Kraft geltend, wie wenn fle von einer 
gefeßgebenden Gewalt ausgegangen wären. Manifefte, Noten, Korrefpon- 
denzen find oft der unbefangene Ausdruck von Rechtsüberzeugungen, deren Gel- 
tung für das vbllerrechtliche Beben von feinem Stante mehr in Abrede geftellt 
wird. Selbſt Proteftationen einzelner Staaten gegen die Rechtsverletzungen 
anberer können als eine Duelle für das Völkerrecht betrachtet werden, wenn fie, 
weil im Rechte gegründet, die Zuftimmung der unparteitfchen Staaten oder der 
unpartetifchen Nachwelt gefunden haben. 

Keine diefer beiden Kiaffen von Altenſtücken hat indeß bie verbindliche Kraft 
der Verträge, So wenig bie Wiſſenſchaft fie unbeachtet laſſen darf, fo wenig barf 


dölkerrecht. 96 


fie den Inhalt derſelben ohne Weiteres aufnehmen; fie ift bier vielmehr zur 
freieften Prüfung berufen. 

Das Material vieler Altenftüde findet man in den zahlreihen Schriften über 
Friedensſchlüſſe, die unter dem Titel der Negotiations, Negotiations secrätes, 
Actes et Me&moires, Pidces officielles zu erfcheinen pflegen; ferner in ven Bor- 

an Tonftitutionelle Kammern und in den Blaubüchern; nit minder in den 
Sammelwerten, die als „Staatsarchiv“, „politiihes Archiv“, „Staatskanzlei“ 
erſcheinen; beſonders in den umfangreichen Englifchen „Portfolios“. 

3. Geſetze und Berordnungen einzelner Staaten kommen auf man⸗ 
nigfache Weiſe als Duelle des Völkerrechts in Betracht. Einmal namlich läßt ſich 
äberhaupt ſchon aus übe reinſtimmenden Geſetzen der Staaten über Ber- 
hältniffe, die ebenfomohl Gegenftand völkerrechtlicher als privatrechtlicher Streitig- 
keiten fein innen und wo einer analogen Anwendung ber privatrechtlichen Gefege 
anf das Völkerrecht Nichts im Wege fieht, eine maßgebende Europäifche Rechts⸗ 
überzengung herleiten. Sodann aber iſt mander rein völkerrechtliche 
Rechtsſatz, 3. DB. Über pas Beuterecht, über die Blokade, "über den Sklaven⸗ 
handel auf der See, in die Geſetzbücher der einzelnen Staaten aufgenommen 
worden; entweder fo, daß die Geſetzgebung des einzelnen Staates damit den Be- 
fimmungen des allgemein anerlannten Bölferrehts vorauseilte,,wie 3. B. vie 
Engliſchen Geſetze gegen den Sflavenhantel und das Franzöfifche Dekret vom 
28. März 1852, das den Nachdruck fremder Werke auf Branzöfifhem Boden 
ſchlechtweg verbietet; ober fo, daß die Geſetzgebung des einzelnen Staates ſchon 
allgemein anerfannte Beftimmungen bes Bölferrehts nur fanktionirte Vor⸗ 
zäglidh bemerfenswerth find die Geſetze und Verordnungen ber Staaten zur Re: 
gelung der Seeprifen in Kriegszeiten. Jeder Staat nämlich läßt 1... 
eigenen Gerichte über die Gültigkeit der durch feine Schiffe gemadten Seeprijen 
entſcheiden. Seinen Gerichten giebt er natürlich biefür Gefege, die indeß nicht ein 
Ansflug der Willfür des Staates, fondern der Ausprud der allgemeinen völker⸗ 
rechtlichen Grundfütze fein wollen und follen. 

Befonders gern ſchöpft man aus den alten Quellen, welde die ge- 
meinfame gefhihtlide Rehtsgrundlage des gebildeten Europa 
find, ans dem Römiſchen, aber auh aus dem Kanonifhen Rechte, fo 
weit beide noch das Rechtsbewußtſein der Gegenwart ausprüden. Bon einer ge- 
jeglichen Berbindlichkeit diefer beiden Rechte ift natürlich nicht die Rede, fondern 
fie fommen nur als ratio scripta in Betracht. 

Ueber die befondern Quellen des internationalen Seerechts |. „Seerecht“. 

4. Eine ähnliche Bedeutung, wie fie den Präjudicien als einer Quelle des 
Privatrechts zukommt, befigen für das Völkerrecht die Rechtsſprüche inter- 
nationaler Gerichte, der fog. gemiſchten Kommiffionen, ver Prifengerichte; 
an die Rehtsgutachten, die von ten Staaten mitunter in völkerrechtlichen 
Streitſachen eingeholt werben. 

Eine Hohe Bedeutung haben die Ausſprüche der gemifhten Kom» 
niffionen, die aus Schiebsrichtern verſchiedener Staaten über deren Internationale 
Streitigkeiten zufammengefegt find. Schon dur eine ſolche Zufammenfegung wird 
bie nationale Beichränttheit des Rechtsbewußtſeins anfgehoben und dem allgemein 
Gernänftigen die Bahn gebrochen. 

Urtheile der Brifengerichte haben freilich, va die Prifengerichte immer nur 
von der einen oder andern Partei eingefegt find, die Vermuthung voller Unparteilid- 
keit nicht für fih und find daher mit Vorſicht und mit beftänbiger Kritik zu benutzen. 











96 dölkerrecht. 


Rechtsgutachten Über völkerrechtliche Fragen holt mitunter ein Staat von 
feinen eigenen Rechtskundigen, auch von fremden angefehenen Rechtögelehrten 
ein, um darnach fein Benehmen zu regeln. Ste haben bejonvers dann Gewicht 
und die flärkfte Vermuthung der Unparteilichkeit für fih, wenn fie dem Interefie 
des eigenen fonfultirenden Staates wiberfprechen; um fo geringer ift freilid ihre 
Bedeutung im entgegengejegten Falle. - 

5. Bei der Lückenhaftigkeit der pofitiven Sagungen des Völkerrechts geniehen 
die Schriften der Rechtslehrer im Völkerrechte einer fehr hohen Autorität. 
Die Staatsmänner binden fi gern an den Inhalt verfelben. Nicht als ob die 
Rechtslehrer unbedingt fachlundiger wären, als die Staatsmänner. Über ber in 
zahlreiche Interefien eingefponnene einzelne Yall, deſſen Beurtheilung dem praf: 
tiihen Staatsmanne obliegt, macht leicht befangen und einfeitig, und da iſt es 
denn allerdings für die Unparteilichkeit und Gerechtigkeit weientlih, die Stimme 
berer zu vernehmen, die in unbefangener Bearbeitung der Wiffenfhaft nur bie 
reine Natur der Sache audzufprehen ftreben. Das Gewicht der Ansprüche ber 
Rechtslehrer wird "vermehrt, wenn bie Scriftfteller verſchiedener, vielleicht gar 
aller gebildeten Nationen übereinftimmen, fo daß ein barmonifches Zeugniß der 
Völker vorliegt. 

Das internationale Gewohnheitsrecht läßt fich im Allgemeinen nur 
aus den Schriften der Rechtslehrer ſchöpfen, die hier nicht als bloße Theoretifer, 
fondern als Zeugen gefchichtliher Thatſachen auftreten. 

Man unterjheidet dabei internationale Sitten und internationale Ob- 
fervanzen. 

Die internationalen Sitten werben erfannt aus gewifien gleichmäßig wieber- 
kehrenden Thatſachen, in denen fih ein beharrendes, ven Völkern gemeinfames 
Rechtsbewußtſein ausfpridt. Nicht die bloße Wiederkehr ver äußeren Thatfadyen 
entfcheivet bier, fondern es ift der Beweis nöthig, daß der Grund ber Wieder 
kehr in der That in einem fich gleich bleibenden Rechtsbemwußtjein der Völker ruhe. 

Unter Obfervanzen verfteht man vie blos äußere, formelle Gewohnheit, 
nicht die Oeftaltung der Formen des internationalen Verkehrs, die ohne innere 
Nothwendigkeit iſt. Sie können meift als wirkliches Recht geforbert werben ; fie 
find aber nicht Recht fchledhtweg, fondern nur wegen des Herkommens. Auf folde 
blos Außere Gewohnheit ftügt fi ein großer Theil des internationalen Gere 
monialrechts; nur Weniges ruht auf Uebereinktunft; darum ift auch Vieles ftreitig. 

Wo bie Rechtslehrer nicht als Zeugen des hiſtoriſchen Rechts, fondern als 
Zheoretiler fpreden, da Tommt es auf Prüfung ihrer Theorien, auf eine 
jelbftändige Unterſcheidung fubjektiver Unfichten und objeftiver Wahrheiten an. 
Unbebingten Anſpruch auf Geltung bat indeß jeder theoretifhe Sag, der Nichts 
als eine Yolgerung aus einem bereits zur völkerrechtlichen Anerkennung gekom⸗ 
menen Prinzipe ift, und die Kunft der theoretifchen Fortbildung des Völkerrechts 
befteht weſentlich darin, ſolche Principien zu erfaflen und frudtbar zu machen. 

Berner. 


Bolköbewaffuung, f. Heer. 

Volksſchule, ſ. Säule. 

Volksſouveränetät, |. Souveränetät. 
Volksverſammlungen, ſ. Vereine und Verſammlungen. 


Volkswirthſchaſt, Dolkswirthichaftsichre, 97 
Volkswirthſchaft, Volkswirthſchaftslehre. 


I. VBirthſchaft, Volkewirthſchaft. II. Zur Methodik ver Volkewirthſchaftelehre. 
U. Bolkawirthſchaftelehre. IV, Zur Geſchichte der Bolkswirtbfdhaftslchre. 


I. Mit dem Ausprude Wirthfchaft bezeichnet man die Xhätigkeit, welche der 
Menſch entfaltet, um die ihn umgebende Außenwelt feinen Bepürfniffen möglichſt 
entfprehend zu geftalten. Ihr entgegen fteht tiejenige Thätigkeit, welche fich nad 
innen, auf die eigene Perfönlichkeit richtet und theils die in biefer enthaltenen 
Anlagen nnd Fähigkeiten auszubilden, theils die Empfänglichkeit gegen leiden und 
Entbehrungen abzuftumpfen fucht. Nennen wir die legtere Kultur, fo können wir 
auch fagen: beide Arten von Thätigleiten gehen darauf aus, tie möglichſt voll- 
tommene Harmonie zwifhen dem Menfchen und der Welt, in welder er lebt, her⸗ 
zuftellen, die Kultur aber hält fi zu dieſem Behufe an den Menfchen, vie Wirth- 
ſchaft an vie Außenwelt; die erftere fegt jenen für das Leben und Wirken in 
diefer, die legtere viefe für das Leben und Wirken jenes in Bereitſchaft. Zwei 
Momente find es mithin, welche die Wirthſchaft darakterifiren, nämlich einmal 
vie Abfiht, die Befriedigung der Bedürfniſſe zu fihern, und ſodann die Nic- 
tung der Thätigkeit nad) außen. Der erftere Punkt unterſcheidet die Wirthſchaft 
von derjenigen Thätigleit, welche unmittelbar die Befriedigung der Bedürfniſſe 
zum Zwede bat, infofern jene nur in vorbereitender Weiſe wirft. Die Bedürf— 
nißbefriedigung felbft ift zwar von großem Einfluffe auf das Verhalten der Wirth- 
haft, da dieſe von ihr ihre Aufgaben und Impulfe empfängt, aber fie gehört 
nicht zur Wirthſchaft felbft. Daß ich eflen und trinten muß, legt mir vie Noth⸗ 
wendigkeit auf, für Speifen und Getränke zu forgen, und indem ich zu biefem 
Behufe thätig werde, wirtbfchafte ich. Wenn ich aber die Speifen und Getränfe 
wirklich genieße, habe ih aufgehört zu wirthſchaften, ich vollziehe, um mit Haus⸗ 
bofer 1) zu reden, nur noch eine animalifche, Feine wirthſchaftliche Funktion. Ferner 
aber trennt fi) zufolge jenes erften Punktes die Wirthſchaft von der auf Sicherung 
ber Bedürfniſſe gerichteten Thätigkeit der Thiere, Infofern fie als eine abſichtsvolle, 
überlegte, nur dem Menfchen zukommt. „Bei ven Thieren, fagt Glaſer?), geht 
nicht nur alle Thätigkeit von den VBerürfniffen aus, fondern die Bedürfniſſe ent- 
halten auch den Grund und die Urfache der Thätigfeit. Der Menſch handelt zwar 
ebenfalls angetrieben durch feine Bepürfniffe, aber nicht angetrieben zur That, 
fondern angetrieben zur Meberlegung. Die Thätigkeit felbft begründet fich erſt 
auf einen durch Ueberlegung herbeigeführten Entſchluß. Selbft auf der unterften 
Stufe feiner Entwidelung ift dieſer Unterfhied vorhanden. Der Menfh muß 
wählen und zu biefer Wahl Überlegen und einen Entihluß faſſen“. — Das 
andere, oben angeführte charakterifirende Moment der Wirthſchaft, die Richtung 
da Thätigkeit nad) außen, grenzt diefelbe gegen vie Kultur ab. Es liegt darin in 
ver That, daß alle Wirthſchaft in materieller Weife wirkt, denn bie Außenwelt 
modificiren wir nur durch Einwirkung auf den Stoff im Raume. Allein mit bie» 
jem Zugeftändniffe find wir von der Auffaffung Derer, welche die Wirthſchaft auf die 
derftellung und Bearbeitung fogenannter Sahgüter beſchränken wollen, nod weit 
entfernt. Wir müſſen bei der Wirthſchaft freilich immer materielle Mittel in Bes 
wegung ſetzen, aber das beabfichtigte Reſultat kann fehr wohl ein immaterielles 
fein, Es Handelt ſich ja fchlieglich vielfach nur darum, in Anderen gewiffe gei- 





2) Die Zukunft der Arbeit. München 1866. 
N, Algemeine Wirthſchaftolehre Bo. 1. Berlin 1858. 
Dluntſchli und Brater, Deutſches Staats⸗Wörterbach. Xi 7 


98 Dolkswirthfchalt, volkswirthſchaſtslehre. 


ftige Zuſtände, Einfihten, Entſchlüſſe hervorzurufen; und wir können das nicht 
ohne irgendwie uns der Materie zu bevienen; minbeftens die Lufttheilchen müflen 
wir in Schwingungen verfegen, um uns verftänplid zu machen. Kein Arzt vermag 
ohne das feinen Rath, kein Lehrer feine Kenntniffe mitzutheilen. Nicht dieſe ma- 
terielle Bermittelung aber ift es, auf die 28 uns ankommt, wenn es ſich darum 
handelt, ob eine Thätigkeit der Wirtbfchaft zuzurechnen fei oder nicht, ſondern 
lediglich die Aeuperlichleit des beabfichtigten Refultates für die Handelnden. Anders 
Diejenigen, welche nur da Wirthichaft fehen wollen, mo vie Verforgung mit 
Sachgütern in Betracht kommt. Sie machen die Zugehörigkeit einer Handlung zur 
Wirthſchaft davon abhängig, nicht daß materielle Mittel dabei gebraucht werben, 
fonvdern daß das bezwedte Ergebniß felbft in einer Modifikation der Materie von, 
wie nicht zufällig hinzugefügt zu werben pflegt, minveftens einiger Dauer beftehe. 
Wir können uns diefen Gefihtspuntt nicht aneignen nad) dem allgemeinen Grund⸗ 
fage, daß in eine Begriffsbeftimmung nit mehr Merkmale aufgenommen werben 
bürfen, als erforderlih find, um vie Aufftelung des Begriffes zu rechtfertigen. 
Nun bedarf die Nothwendigkeit, vie Wirthſchaft in dem oben feftgeftellten Sinne 
von den übrigen Thätigleiten des Menſchen zu unterfcheiven, wohl feiner Aus- 
einanderjegung; wenn wir aber nod) weiter hinzufügen wollten, daß ihr Ergebniß 
ein materielles fein müſſe, ſo würde dies eine Einfhränfung fein, deren Erfor- 
derniß fpeciel zu begründen wäre. Und hierzu eben eradıten wir uns außer 
Stande, denn obwohl diejenigen wirthichaftlichen Anftrengungen, die auf materielle 
Ergebnifje gerichtet find, bievon allerdings mande Eigenthümlichkeiten empfangen, 
jo haben fie antererfeitd mit den auf ein nicht materielles Ergebniß gerichteten, 
welche man gewöhnlich als perfönliche Dienfte bezeichnet, doch fo viele Züge ge 
meinfam, daß ed zunächſt darauf ankommt, den Begriff der Wirthichaft in einer 
folden Austehnung zu faflen, daß er beide Arten von Thätigkeiten in fich ſchließt. 
Am deutlichften zeigt fih das Bedürfniß an biefer weitern Auffafjung feftzubalten, 
vielleiht in Anbetracht folder Fälle, wo eine materielle und eine immaterielle 
Produktion unlösbar mit einander verbunden find. Ein Unternehmer, fagen wir 
beijpielsweife, liefert gewiſſe Sachgüter, und darauf beſchränkt fich nach der Anficht, 
bie wir befämpfen, feine wirthichaftlihe Thätigkeit. Indem er aber fein Publikum 
fortwährend in zufriedenftellender Weife mit diefen Gütern verforgt, ruft er in 
ihnen die Gewöhnung, ſich zur Befriedigung der betreffenden Bepürfniffe an ihn 
zu wenden, hervor; er erwirbt fi eine Kundſchaft. Soll man nun biefe Kund- 
haft, die zu erringen fein eifriges Bemühen war, an beren Erwerbung er bei 
jedem einzelnen Berfaufe mit dachte und die unter Umftänden einen fehr pofitiven 
Werth für ihn hat, blos darum nicht für eine Frucht feiner Wirthſchaft anfehen, 
weil fie nichts Materielles ıft, ſondern Iebigli in einer geiftigen Beeinfluſſung 
feiner Abnehmer befteht? 

Zwei Begriffe, vie fi nahe mit dem ver Wirtbfchaft berühren, find bie ber 
Haushaltung und ber Arbeit. Wirtbfchaften und Haushalten befagen in ber 
That das Nämliche, nur mit einer gewiffen Verfchievenheit ver Accentuirung. Bei 
jenem ftellt man mehr die fortfchreitende Verbeſſerung, bei diefem die Bewahrung 
des Zuftandes, welcher bie Befriedigung der Bedürfniſſe ficdert, in den Vordergrund 
des Gedankens. Die erftere Bezeichnung ift fo zu fagen mehr fortfchrittlich, bie 
legtere mehr konſervativ gefärbt, und was damit zufammenhängt, mit jener weist 
man vornehmlid auf die für den Zwed zu entfaltende Thätigkeit, bei diefer auf 
das Ziel, welhes man im Auge hat, die Orbnung der wirthſchaftlichen Verhält⸗ 
niſſe hin. Der Begriff der Arbeit ift weiter als der der Wirthſchaft, infofern er 


Dolkswirthichaft, Dolkswirthfcaftslehre. 99 


jede um bes erwarteten Erfolges willen ausgeübte Thätigkeit, alfo auch bie 
Kultur umfaßt. — Vigl. ven Artikel Arbeit im erften Bande. — Im engern 
Sinne iſt Arbeit — wirthſchaftliche Arbeit — die zum Zwecke eines äußeren 
Erfolges ſtatihabende Thätigkeit und fällt daher dem Inhalte nad mit der Wirth- 
[haft zufammen. Der Unterſchied beider Ausprüde bezieht fih nur auf vie Auf- 
foffung, von welder man bei der Betrachtung der Thätigleit ausgeht. Faßt man 
dieſe ala eine Hfoltrte, auf ein beftimmtes fpecielles Ziel gerichtete auf, fo nennt 
man fie Arbeit; Wirthſchaft dagegen, wenn man’ bie Xotalität der auf die Si⸗ 
derung der Befriedigung der Bepürfniffe abzielenden Beſtrebungen zufammenfaflen 
will. So fagt man von dem Handwerker, der eine beftimmte gewerbliche Operation 
vornimmt, oder von dem Landmanne, der pflügt ober fäet, er arbeite; fobald man 
aber an die Gefammtheit ihrer auf die Berforgung mit Gütern gerichteten Thä- 
gleiten denkt, bezeichnet man diefe mit Wirthichaft. Die Wirthſchaft fegt ſich aus 
einer Reihe einzelner Arbeiten zufammen und zerfällt in eine ſolche. Bei ber 
Arbeit, können wir auch fagen, faffen wir die Thätigkeit des Menſchen in ihrer 
tonfreten Erfcheinung, bei der Wirtbfchaft in ihrer allgemeinen Zwedbeziehung 
anf. Daraus erflärt es ſich zugleih, daß bei dem erfteren Ausdruck die Nüdficht 
auf das perfönliche Opfer, welches man fi mit der Thätigfeit auferlegt, bei dem 
letzteren das Berhältniß zu dem Zwecke, um deſſen willen man fih in Bewegung 
jest, vorzugsweife zum Bewußtfein kommt. Ich habe gut gewirtbfchaftet heißt: ich 
Bin mit dem Ergebniffe meiner Thätigkeit zufrieden, ich babe wader gearbeitet, 
bedeutet: ich habe mid ſtark angeftrengt. 

Noch häufiger als das Wort Arbeit wird das Wort Wirthfchaft von ver 
Zhätigkeit auf das Ergebniß derſelben übertragen. Ju dieſem Sinne bezeichnet e8 
bald das Bermögen felbft, bald die Geſammtlage einer PBerfon in Bezug auf die 
Mittel, die zur Befriedigung ihrer Bebürfnifje zu Gebote ftehen, und ſtimmt mit 
dem überein, was man mit einem andern Ausorude auch als Hausweſen bezeich- 
net, Es iſt unndthig, ſich hierbei weiter aufzuhalten. 

Die Wirthihaft empfängt ihre Geftaltung von zwei dem Menſchen innewoh- 
nenden, einander entgegengefegten Trieben, dem Triebe nad) perſönlicher Un- 
abhängigkeit und Selbftänpigkeit einer, dem Triebe nah gemeinfhaft- 
lidem Zufammenfhluß, nad gejelliger Bereinigung anbererfeits. Wie in 
allen andern Nichtungen das menfchlide Leben durch dieſe beiden Tendenzen be- 
fimmt wird, welde iu der moralifhen Welt eine ähnliche Bedeutung haben, wie 
die Gentrifugal- unt die Eentripetalfraft in ber phufifchen, fo wird basfelbe aud in 
wirthſchaftlicher Beziehung durch fie regulirt. Aus dem erſten dieſer Triebe erklärt 
fich das Auseinandertreten verschiedener felbftändiger Haushaltungen, aus dem Iettern 
ifre Verbindung untereinander durch Bereinigung und Thellung der Arbeiten. Es ift 
Gier nicht der Drt zu unterfuchen, ob man bie vollkommene Gemeinfhaft der Wirth- 
ſthaft al8 den urſprünglichen Zuftand anzufehen hat, au weldem die einzelnen 
Haushaltungen fich erft Herausentwidelt haben, ober ob man umgefehrt auszugehen 
dat von einem urſprünglichen Nebeneinanverbeftehn völlig iſolirter Wirthſchaften, 
zwiſchen denen erft im Laufe der Zeit gewiffe, mehr oder minder innige Be- 
siehungen des Verkehrs, der gegenfeitigen Dienftleiftungen, ver gemeinfchaftlichen 
Berfolgung wirtbichaftlicher Zwede entftanden find. Sicher aber ift jevenfalls ſoviel, 
daß fi Fein vorgefchrittenerer, d. h. kein eine nur irgend reichlichere Befriebigung 
der Bepürfniffe fichernder wirtbichaftlicher Zuſtand findet, welcher nicht auf eine 
ganifie wechfelfeitige Abgeſchloſſenheit einer- und auf eine gewifle gegenfeltige Ber- 
bindung verfchlevener Wirthichaften andererfeits, gegründet wäre, Das will ſagen: 

| 7* 


100 Dolkswirthfehaft, Voikswirthſchaſtslehre. 


es wird fein höherer Wirthſchaftszuſtand erreicht, ohne daß zwiſchen dem Zriebe 
nah wirthſchaftlicher Abſonderung und dem nah wirthſchaftlichem Zuſammen⸗ 
wirken eine gewifle Ausgleichung ftattgefunden hätte, der wirthſchaftliche Kortfchritt 
befteht wefentlih in nichts Anderem, als in einer Behandlung der Außenwelt, bei 
weldyer jedem jener beiden Triebe immer vollftändiger entjproden wird, ohne daß 
darunter die beredhtigten Anfprüde des andern zu leiden haben. 

Was wir hier von der Wirthſchaft jagen, das gilt ja eben auch von allen 
andern Seiten des gefellihaftlihen LXebens. Auch auf jedem andern Gebiete ſtellt 
fih die Entwidelung in ver immer vollftändiger ſich herſtellenden Webereinftim« 
mung zwiſchen der Befreiung der Perjönlidyleiten einer- und ihrer Förderung 
durch das geſellſchaftliche Zuſammenwirken andererjeits dar. Es weist das auf den 
natürlihen inneren Zufammenhang aller Seiten des menſchlichen Lebens und ihre 
gegenjeitige Wechfelwirtung bin. Wie das wirthſchaftliche Verbundenfein die Men- 
jhen aud in andern Beziehungen einander näher bringt, ihre Uebereinftimmung 
in Bezug auf fittlihe und redtlihe Anſchauungen, in Gejhmad und Empfin- 
bungen fördert und ihnen die Ausbildung einer gemeinfamen Sprade, einer 
gemeinfamen Kunft und Wiſſenſchaft, gemeinfamer öffentlicher Einrichtungen er- 
leichtert, fo geſchieht e8 auch umgefehrt, daß fich überall, wo ſich geſellſchaftliche Be⸗ 
jiehungen anderer Art gefnüpft haben, wirthſchaftliche Verbindungen regelmäßig 
anjhließen. Die Wirthichaften der Einzelnen werden nad Form, JInhalt und Rich- 
tung mwejentiid durch die gefelfchaftlihen Umgebungen beftimmt, in welchen fie leben. 
Es bildet fih eine wechfeljeitige Abhängigkeit der Wirthſchaften von einander, 
welche es zuläffig erfcheinen läßt, fie als eine Geſammiheit aufzufaflen, welde 
gemeinfhaftlih einen gemeinihaftlihen Zwed verfolgt. Dean kann, wenn man 
einen gegebenen gejellichaftlihen Kreis ins Auge faßt, die Dinge fo anjehen, als 
arbeite jedes lied desfelben für die Befriedigung der Bepürfniffe ver Gefammıt- 
beit in einer beftimmten Richtung: die Landwirthe für die Verforgung mit Nab- 
rungsmitteln, die Forftwirthe für die mit Holz, die Bergleute für die mit Kohlen 
und Metallen, die Gewerbtreibenden für die mit allerhand Manufalten u. f. w. 
In je vielfältigeren Beziehungen eine Mehrheit von Menſchen mit einander ver- 
bunden ift, je näher fie fih in Folge deſſen fteht und je deutlicher fie ſich als 
ein in fi abgerundeter und ſich anderen felbftändig gegenüberftellenver gejellfchaft- 
licher Körper darftellt, defto näher Liegt dieſe Auffaſſung. Nun ift unter allen 
Principien, welhe Menjhengruppen vereinigen und von einander ſcheiden, das 
Volksthum unzweifelhaft das gewaltigfte und beveutfamfte und hat deßhalb auch 
auf die Öeftaltung der Wirthſchaft den durchgreifendſten Einfluß. Alles, was ein 
Volk zu einem folhen madt: die Gemeinſchaft des Territoriums, der Abflanımung, 
der Sprade, der religiöfen, fittlihen, rechtlihen und äfthetifchen Anſchauungen, 
ver politiſchen Form, in welder es fih zufammenfaßt, muß die Menfchen aud 
wirthichaftlih zufammen führen und gegen anders ©eartete mehr oder minder 
abſchließen. Es ift Sade der Politik, zu unterfuhen, welde und wie viel jener 
Einheitsmomente wegfallen können, ohne daß dadurd der Begriff des Volkes auf- 
gehoben wird; das aber Äft nicht zu bezweifeln, daß überall, wo er noch gilt, 
auch die mädtigften Motive eines wirthſchaftlichen Zufammenhanges vor⸗ 
handen find. Bedürfte es hierfür eines befondern Beleges, jo möchten wir auf bie 
Juden hinmeifen, die überall, wo fie ſich noch nicht mit der übrigen Bevölkerung 
verfhmolzen haben und nod als ein abgefondertes Volk erfcheinen, trog dem 
Mangel eines einheitlihen Territoriums und einer politiihen Organifation fich 
durch enge wirthichaftliche Beziehungen zufammenzuhalten pflegen. — So erllärt 


dolkswirthſchaſt, volkswirthſchaſtslehre. 101 


es fi, bag, ſobald man anfing, fi wiſſenſchaftlich mit der Wirthſchaft zu be⸗ 
ſchaftigen, man dieſe als eine Geſammtthätigkeit der Völker auffaßte. Bon dieſem 
Geſichtspunkte aus wurde bei Engländern und Franzoſen, welche gewöhnt waren, 
Ah ihr Volk ſtaatlich organiſirt zu denken, die Bezeichnung politiſche Oeko— 
nomie gebräuchlich. In Nachahmung derſelben bedienten fi die Deutſchen An⸗ 
fangs vorzugsweiſe des Ausdrucks Staatswirthſchaft; bald aber wurde dieſer 
durch die Bezeichuung Volkswirthſchaft verdrängt. Dies beruhte theils darauf, 
daß man den erſtern Namen ſprachlich richtiger für die Eigenwirthſchaft des 
Staates, die Finanzen, vorbehalten wollte, theils und vornehmlich auf dem ung 
Deutſchen durch die Mangelhaftigkeit unferes Staatswefens doppelt nahegelegten 
Berärfniffe, fchon in der Benennung hervorzuheben, daß bie wirthſchaftlichen 
Zuftände eines Volkes nicht von der Regierung gemacht werben, fonbern fich 
großentheils unabhängig von biefer entwideln. In neuerer Zeit, wo man mehr 
und mehr darauf aufmerkſam geworben ift, daß die Einzelnen im Volke und 
Staate nit atomiſtiſch neben einander ftehn, fondern in mannigfadhe, durch 
bie verfchiedenften Einigungspunfte zufammengehaltene, vielfach ſich kreuzende 
Gruppen fich gliedern, und daß diefe Gruppen, wie fie regelmäßig felöft eine 
wirtbichaftliche Seite haben, fo auch die Wirthichaftsverhältniffe ihrer Mitglieder 
jowohl, wie außer ihnen Stehender, zu denen fie in Berührung treten, in mannig- 
faltiger Weiſe beeinflufien, begegnet man häufig den Bezeichnungen Gefellfhafts- 
wirtbfhaft oder Nationalöfonomie. An fich thut der Name wenig zur Sache. 
Bas man durd den Zuſatz zu dem Worte Wirthſchaft in allen viefen Zufammen- 
fegungen ausprüden will, ift der Gedanke, daß in einigermaßen civilifirten Zu— 
Händen fein einzelner Haushalt vollfommen abgejchloffen für ſich befteht, daß viel- 
mehr ein jeder aus der VBerbinduug mit anderen Anregung und Yörberung em- 
Mängt, ſowie er feinerfeits auf dieſe zurüdwirft und damit auch allgemeinen In⸗ 
terefien dienftbar wird. Die Bezeihnung Geſellſchaftswirthſchaft hebt es deutlich 
hervor, daß jeder gejellfchaftlihe Zufammenhang eine Bedeutung für die ©eftal- 
tung der Wirtbichaft haben kann und meiftens auch wirklich hat. Infofern jedoch 
vie wätionale Zuſammengehörigkeit in dieſer Beziebung, wie geſagt, von ganz be» 
ſonderer Wichtigkeit ift, mag es immerhin gerechtfertigt erfheinen, nad dem Grund⸗ 
he: a potiori fit denominatio bei der Bezeichnung Volkswirthſchaft zu beharren. 
Benn man biergegen geltend gemacht bat, daß zum Wirthſchaften nothwendig ein 
Birth, d. 5. eine Perfönlichkeit von individuellem Bewußtſein gehöre, daß dieſes 
aber dem Volke als folhem fehle, fo daß man es nicht als Subjelt der Wirth> 
(daft auffafien könne, wie es eben bei dem Ausdrude Volkswirthſchaft gefchehe 3), 
jo läßt ſich, wie uns ſcheint, diefer Einwand, der fih übrigens natürlih aud in 
ganz gleicher Weiſe gegen vie Bezeihnung Geſellſchaftswirthſchaft richtet, durch 
vie Betrachtung wiberlegen, daß man aush in vielen andern Fällen, ohne Anftoß 
zu erregen, dem Volke Perfönlichkeit und perfönlihe Thätigkeit zuſchreibt. Wir 
ſprechen nicht nur von nationaler Empfindung, Begeifterung, Bildung, fonvern 
wir lafien das Bolt aud Forderungen ftellen, feine Sprache bilden, jein Recht 
haften u. f. w. Im Grunde genommen find es freilich nur die Einzelnen, auf 
deren Thätigkeit dieſe Ergebniffe beruhen, allein fie wirfen bewußt und unbewußt 


3, So neuerdings namentlih Lindwurm, Brundzüge der Staats und Privatwirtbichaftss 
Iehre. Braumfchweig 1866. „Wirtbfchaft, beißt es u. A. dort ©. 64, iſt bloß da, wo Willens» 
einheit iſt. Das, was man PVelköwirtbfchaft nennt, ift nichts als eine unvollkommene Vorſtellung 
der Besiehungen der Privatwirtbfchaften unter einander.” 


103 Veibswiriäfhaft, Dolkswirihfchaftsichre. 


in cimer Wufe snfummen, daß fie als eine große ideale, nad eigenen Geſetzen 
nd ntuxdenm Schmrmtperlönlichleit erfcheinen, welche wir eben Bolt nennen *), 
Jruge Aurteffungen deſſen, was man dem Volke an Tendenzen und Beftrebungen 
gegen ut mögen fehr nahe liegen, aber dieſe Erfagrung ermahnt uns nur 
wur Wordt un muferm Urtheil, fie nöthigt uns noch nicht, die ganze Auffaffung 
des Bockes aid einer lebendigen Einheit aufzugeben. 

Vei tiefer Gelegenheit fei es erlaubt, Verwahrung gegen einen Barbarismus 
anzuiegen, weicher in neuefter Zeit, bauptfählih nah dem Vorgange der volls⸗ 
wiridſchaftlichen Kongreffe bei uns eingerifien if. Es machte fih das Bedürfniß 
geitend, für die Leute, welche fi) theoretifch mit der Volkswirthſchaft befcyäftigen, 
äne Bezeichnung zu haben, und man nannte fie kurzweg Volkswirthe. Nach ri: 
tigen ſprachlichen Grundſätzen aber fann man unter einem Volkswirthe nichts Anderes 
verſtehen, als einen Wirth tes Volkes, alfo etwa den Unternehmer der Reftan- 
vation bei einem großen Volksfeſte. Hier hingegen handelt es fih um Männer, 
die nichts weniger als das Volk bewirthen wollen, die vielmehr nur dadurch fid 
auszeichnen, daß fie den volfswirtbfhaftlihen Zuftänden ihr Nachdenken widmen 
und das Volk über biefelben aufzuklären bemüht find. Es wird daher eine Auf- 
gabe des guten Gefhmads fein, jenen Austrud wieder fallen zu laffen; vie 
Schwierigkeit für denſelben einen kurzen und allgemein gefälligen Erfag ausfindig 
zu machen, tarf daran nicht hindern, . 

11. Mit dem Zwede, vie wirthihaftlihen Thatfahen und Erfcheinungen zu 
erfiären,, ihre Urfadhen und Folgen und ihre Wechſelwirkung untereinander, mie 
mit den Vorgängen auf andern Lebensgebleten zur Erkenntniß zu bringen, bat 
ſich in neuerer Zeit die Disciplin der Volkswirthſchaftslehre herausgebildet. 
Wenn wir wiffenfhaftlid von den einzelnen Thatſachen abftrahirend, den Zufam- 
menbang zwiſchen Urſache und Wirkung in feiner Allgemeinheit auffaffen, bezeich⸗ 
nen wir ihn als ein Geſetz; deßhalb kann man aud furz die Volkswirthſchafts- 
lehre die wiffenfhaftlih georpnete Darlegung der Gefege der 
Volkswirthſchaft nennen. Aus der Definition der Wirthfchaft folgt, daß der 
Kernpunkt der ganzen Wifienfchaft in dem Begriffe der Arbeit zn fuchen iſt. Wel⸗ 
cherlei Kräfte die Menſchen, durch das Mißverhältniß zwifchen ihren Bedürfniſſen 
und der fie umgebenden Außenwelt getrieben, in Bewegung fegen, in welder 
Weiſe diefe Kräfte wirken, von welchen Bebingungen ihr Erfolg abhängt, und 
weldhe Mittel geeignet find, dieſen Erfolg in möglihft vollem Umfange ficher zu 
ftellen; das find im Wefentlihen die Fragen, um welde es fih handelt. Dabei 
betrachtet die Volkswirthſchaftslehre zunächſt die menſchlichen Bedürfniſſe, wie bie 
Beſchaffenheit ver Außenwelt als gegebene Vorausſetzungen und ſtützt ſich inſofern 
auf die Wiſſenſchaft vom Menſchen als natürlichem und als geiſtigem Weſen und 
auf die Naturwiſſenſchaft. Allein dieſe Vorausſetzungen ſind doch keineswegs unter 
allen Umſtände die gleichen noch zu jeder Zeit unveränderlich. Die Natur, wenn 
ſie auch überall den gleichen Geſetzen folgt, iſt doch in den verſchiedenen Ländern 
ſehr verſchieden geſtaltet. Die Zuſammenſetzung und Konfiguration des Bodens, die 
klimatiſchen Verhältniſſe, der Umfang und die Vertheilung der Gewäſſer ſind in dem 
einen Lande anders, als in dem andern. Und ebenſo ſind die Menſchen bei aller 
Gleichmäßigkeit in den Grundzügen ihres Weſens doch geiſtig und körperlich mannigfach 


*), Anm. d. Red. Die politiſche Wiſſenſchaft betrachtet das Volt (d. h. die zum Staate orga⸗ 
nifirte Geſammtheit), in wiefern es wirkliches Rechtsſubjekt iſt, als Perſon, nicht aber die Na⸗ 
tion, die nicht Rechtsſubjekt iſt. Vrgl. die Artikel Nation u Volk: Geſellſchaſt. 





Volkswirthſchaſt, Dolkswirthiaftslehre. 103 


verfhteden geartet, und dieſe Verſchiedenheit in Verbindung mit ver eben erwähnten 
Zerjchiedenheit ihrer natürlichen Umgebung begründet einen abweichenden Charafter 
ihrer Bebürfniffe, der wirthſchaftlichen Aufgaben, welche fie fich ftellen, und der Art 
und Weiſe, wie fie viefelben zu Iöfen fuchen. Die Volkswirthſchaftslehre hat daher 
zu ermitteln, wie dieſe Verſchiedenheiten auf die Geftaltung ver Mirthichaft ein- 
nirten. Und noch mehr. Die Natur, wie der Menfh, feine Bebürfniffe und bie 
Mittel, über welche er zur Sicherung ihrer Zefriedigung verfügt, verändern ſich 
im Laufe der Zeit. Zwar die Veränderungen der Natur, welche ohne Zuthun ver 
Menſchen vor fi gehen, das Sichheben und Senken der Küften, bie Berwit- 
terung der Gebirge, das Vorrücken und Zurückgehen ver Eisfelver, die Erfal- 
tang der Erbrinde kommen hauptfädhli wegen ihrer großen Allmäligfeit wirtb- 
(daftlih weniger in Betradt; von um fo größerer Wichtigkeit find biejenigen 
Beränderungen an ihr, welche vie beabfichtigte oder unbeabfichtigte Folge menſch⸗ 
fihen Handelns find, die Ausrodung der Wälder, der Anbau des Landes, die 
Eindämmung des Meeres und der Flüſſe, die Verfolgung und Vernichtung ſchäd— 
licher Thiere 2c. mit allen mittelbar und unmittelbar ſich hieraus ergebenden Kon- 
ſequenzen. Weitaus die größte Bedeutung aber haben für vie Wirthfchaft vie 
Veränderungen, welche mit den Menfchen felbft und ihren perfönlichen Berhältniffen 
vor fih gehen. Die GSeflttung hat andere Bebürfnifie, als die Barbarei; die Bil⸗ 
beng verfügt über andere Mittel zur Bewältigung ber Natur, als die Rohheit, 
und darf fich deßhalb auch andere wirthſchaftliche Aufgaben ftellen, als viefe. 
Hierbei num zeigt fi vorzugsweife der Einfluß der gefellfchaftlihen Zuſtände auf 
vie Wirthſchaft und die Nüdwirkung dieſer auf jene. Die größere oder geringere 
Eiherheit der Perfonen und des Eigenthums, die Beſchränkung oder Ausdehnung 
der Freiheit der perfönlichen Bewegung, bie größere oder geringere Innigfeit der 
Beziehungen, welche fi) aus der Gemeinſamkeit oder Verſchiedenheit der Spraden, 
der Sitten, ber Religion, aus der nähern oder entferntern Nachbarſchaft der Wohn- 
fee, ans der Straffheit oder Lockerheit der politifchen Verbänte ꝛc. zwifchen den 
Menfhen ergeben, erleichtern oder erſchweren die Thellung und Bereinigung ber 
Irdeiten, die Bildung des Kapitals, die Begründung von Unternehmungen, bie 
Anfnäpfung und Ausbildung eines Taufchverkehrs, wie umgefehrt das wirthſchaft⸗ 
ide Zufammenwirken zur Vervielfältigung und Feſtigung, bie wirthfchaftliche 
gegenfeitige Abgefchloffenheit zur Verminderung und Loderung ver fonftigen ge 
klichaftlichen Beziehungen wefentlich beiträgt. So muß die Volkswirthſchaftslehre 
es ih zur Aufgabe machen, auch den Einfluß der Modifikationen des gefellichaft- 
lichen Zuſtandes und feiner einzelnen Elemente auf die Geftaltung der Wirthſchaft 
m unterfuhen. Bon biefem Gefihtspuntt aus erfcheint das wirthfchaftliche Zufam- 
mens und Beieinanderleben nur als ein Theil, eine Seite des Zufammen- und Für- 
änanderlebens der Menfchen überhaupt, oder, wenn wir dieſes nady feiner wichtigften 
Erfheinungsweife als nationales Leben bezeichnen, des nationalen Lebens. In diefem 
nationalen Leben aber hat uns die Betrachtung der Geſchichte gelehrt, nicht blos 
ine regellofe Folge verfchievenartiger Wandlungen zu erbliden. Die Vergleichung 
ver Vorgänge bei verſchiedenen Völkern zeigt uns vielmehr bei aller Verſchiedenheit 
im Einzelnen eine Uebereinftimmung gewifler Grundzüge. Wir fühlen uns dadurch 
berechtigt, eine Gefegmäßigkeit im Berlanfe der Gefhichte ver Völker anzunehmen, 
and indem wir den Gedanken hinzufügen, daß biefer Verlauf zu einer fortfchrei- 
tenden Bervolllommnung der gemeinfhaftlihen Eriftenz führe, fprehen wir von 
Geſetzen der nationalen Entwidelung. Der Volkswirthſchaftslehre fällt hiernach bie 
Darlegung dieſer Geſetze, infowelt fie fih auf vie Wirthſchaft beziehen, zu; fie 


102 Dolkswirthfäaft, Dei, ulsvitthſchaſts lehre. 


in einer Weiſe zuſammen, daß ſie a" .., Gutwidelungegefegem der Bolts- 
fih — —— = She Huffeffung möglich els erh die 
Irrige Auffaffungen deſſen, mas man — —— * ie erchen und ihrer 
zugefäheieben hat, mögen fehe nahe tum, me ne ar sohn 
zur Vorſicht in unferm Urtheit, ir „Bir glanben, fagt Dablmann, an 
bes Bolte als einer lebendigen "- tet, zu melhem das einzelne Gtontenlisen 
Bei dieſer Gelegenheit fei = auch äuferlide Bollentung ber menfählichen 
einzulegen, weldjer in neueftz: . Ezımäß ſuchen wir, tie einzelnen geſchichtlichen 
minihtchatttihen Ranaree br  _.— Srittöpumfte zuſammenfaſſend, den Plan ver 
ja erfennen, tie wir mit einer uns fan 
erbebung tie Weltzefhichte ober die Ge 
Bir bemühen ung mit einem Worte cine 
und zu begränten. Die Bolkswirthfdafts- 
ft bezůglichen Theil tiefer Anfgabe zu Iäfen. 
Birthihaftegefhicte dar. 
iedenen Definitionen ter Volkewirthſchaft 
fe ift, daß fie fich gegemfeitig nicht and 
Aufgaben, welche zufelge derſelben an bie 
entern jete fpätere Zefinition fügt, zu ber 
ern Bertiefung ber gewonnenen Erkenntniß 
ſcheint e8, anf Grund ter erften Definition 
Dauptgattungen wirtbſchaftlicher Borgänge 
elcher Weile und aus welchem Grunde bie 
om Kapital tem Ertrag ter Probuftion zu 
Umfag ter Güter zu erleichtern, das An- 
: und biefe wiederum anf jene zurädaumwirten 
e Probleme ftößt man, wenn man nach Maf- 
gt, tie Gefegmäfigfeit in den zeitlichen 
abältniffe unt Einrichtungen, wie 3. B. in 
and des umlaufenden Kapitale, in der Um- 
in tem Uebergang ven ter Ratural- zur 
br nac zuweiſen. Denn tie Beranefegungen, 
bente annabm, erjheinen hier als wandel- 
on Boranefegungen. Etatt mit fonftanten 
aatifben Auedruck zu gebrauden, mit ver- 
em Berſuche vellents, tie Volkawirthſchafts · 
itefopbie zu erheben, werten tie Schwierig- 
noch ungleich größer. Es gilt dabei, jedem 
sen Gntwidelung ibre Berentung für bie 
geftedten wirtbihaftiihen Zielpunkte zuzu- 
aten Anffafjung genügen, tie Uebereinftim- 
Wirthſchaft ter antifen und ber mobernen 
ıtalifben Länder nachzuweiſen, fo füme jegt 
lie Entwidelung tiefer Bölfer und Länder 
igen. Es ergiebt fich hierans, daß einem 
t$lehre tie am wenigſten tiefgreifende Anf- 
ben Tann, ohne daß tarum die andern Der 
: Hoffnung aufgegeben werden mäßte, daß 
defihtspunkten gerecht werben könnte. Es 









Dolkswirthichaft, volkewirthſchaſtslehre. . 105 


»icht Hoch genug anzufchlagende Verdienſt Rofchers, zuerft anf die Noth- 
rrungen zu haben, in der Behantlung ter Volkswirthſchaftslehre zu 
raffung überzugehen, und auf diefem Wege mit weithintrogendem 
d eiferner Ausdauer als Pfadfinder vorangegangen zu fein, und es 
„‚ericht, dieſes Berbienft darum ſchmälern zu wollen, weil er nicht allein 
‚e Werk, auf ⸗deſſen Nothwendigfeit er hingewiefen bat, zu vollenden ver- 
„8 wenn man bem Entbeder eines neuen Kontinents einen Vorwurf daraus 
..n wollte, biefen nicht ohne bie Hülfe vieler Anderer kolonifiren zu können. 
ano find wir zweifelhaft, ob jene Rofcherihe Auffafiung nicht mehr der Zu: 
tunft al8 der Gegenwart der Wiflenfchaft angehört, und wir finden von biefer 
Erwägung aus eine gewiffe, neuerbings mehrfeitig gegen Rofcher und feine Schule 
beroorgetretene Reaktion allervings erflärlih. Denn auch nad jener befchränkteren 
bisherigen Anffafiung bleibt vie Volkswirthſchaftslehre noch immer von einem felbft 
aur annähernden Abſchlufſſe ihrer Aufgabe weit entfernt, und es fehlt noch keines⸗ 
wegs an wirtbichaftlihen Thatfahen von allgemeiner Bedeutung, die in ihren 
Urfahen wie in ihren Wirkungen noch gar nicht oder doch nur unboländig auf: 
geflärt find, felbft wenn man die Betrachtung auf die Volkswirthſchaft ver Gegen- 
wart beſchränkt und die Wandelungen anßer Acht läßt, welche Einrichtungen, Zu⸗ 
Rände und Berhältniffe im Laufe ver Zeit erfahren haben. Um beiſpielsweiſe nur 
einen Punkt anzuführen, fo fei daran erinnert, wie wenig noch gefcheben if, um 
die Boransfegungen feftzuftellen, unter denen bie Arbeitstheilung (bie der heu- 
tigen Geſellſchaft/ ſich intenſiv als Theilung der Operationen innerhalb der Unter⸗ 
nehmungen oder extenſiv als Auseinandertreten verſchiedener ſelbſtändiger Berufs⸗ 
zweige vollzieht. Sobald man aber unter ſolchen Umſtänden fi vorſetzt, dem Ges 
jegmäßigen in ven Veränderungen des wirthſchaftlichen Zufammenlebens nachzu⸗ 
ſpüren, mag eine umfaſſende Gelehrfamteit, ein feines Verſtändniß und ein fiherer 
Tat zwar immerhin manche Analogie zwifhen den wirthichaftlihen Vorgängen 
verfhiedener Zeiten und Völker aufdecken und auf Grund verfelben allgemeine Er- 
Märungsformeln ausfindig machen und als Entwidelungsgefege binftellen; allein 
einmal ermangeln die fo gefundenen Säge doch zu fehr ver Vollſtändigkeit, als daß 
fie ih zu einem wiffenfchaftlihen Syſteme zufammenftellen ließen; fie find Ban- 
Reine und theilweife gewiß ſehr werthvolle Baufteine zu einer künftigen Wiſſen⸗ 
Ihaft von den Entwidelungsgefegen ber Volkswirthſchaft, aber noch nicht biefe 
Biffenfhaft ſelbſt. Und ſodann fehlt ihnen in ben meiften Yällen eine Begrün- 
bung, welche fie vor jeder Anfechtung ficher zu ftellen vermödtee Mitunter neh⸗ 
men fie freilich durch innere Gefälligfeit und äußere Eleganz das Urtheil in hohem 
Grade für fih ein, indefien wird ihre Nichtigkeit hierdurch nur wahrſcheinlich ge⸗ 
nmacht, nicht erwiefen. Zu dem wirklichen Beweiſe eines Entwidelungsgefeges ge- 
nigt ja nicht die Hinbentung auf die Uebereinftimmung beftimmter Grundzüge in 
ver Entwidelung verſchiedener Völker, fontern es bedarf des Nachweiſes, daß biefe 
Uebereinſtimmung fih aus ber gleihmäßigen Wirkſamkeit gleicher Kräfte und nur 
verons erklärt. So lange diefer Nachweis fehlt, hat man es nur mit Hypotheſen 
za thun, die mit Bewunderung für ben genialen Auffteler erfüllen mögen, bie 
aber darum doch nur Hypotheſen bleiben. Je fchwieriger gerade für die Erfcheinungen 
des Völferlebens ein folcher Beweis fi herſtellen läßt, vefto näher liegt bie Ge⸗ 
fahr falfher Berallgemeinerungen aus vereinzelten Beobadhtungen, und daß bie 
Bertreter der Auffaffung, welche vie Volkswirthſchaftslehre zur Höhe einer Dar: 
Rellung der wirthſchaftlichen Entwidiungsgefege erheben will, diefer Gefahr keines⸗ 
vezs immer entgangen find, dafür Liege fi mehr als ein Beiſpiel anführen. 





104 Dolkswirthfhaft, Dolkemirt! —B 


wird zur Wiſſenſchaft von den Entr , zur den verſchiedenen Def⸗ 
wirthſchaft. Es ift aber nod eine höher „uahrben wollten. Wir meinen 
Auch die einzelnen Völker in ihrem glei um Zertiefung der Auffaffung der 


Aufeinanderfolge ſcheinen uns beftim .ten und firengen Methode in 
gemeinfamen Idee zufammenzumirf- „e Methode gehört wefentlich breierlei: 
großes gemeinfames Werk ber M «u Wemeijes erforberlich iſt; Klarheit 
nur bie Vorarbeiten liefert, ar 2 xendung ber Beweismittel gegeben 
Dinge am Enve ber Gejhidt- 38 Beweiſes, welde dann dahin führt, 
Thatfachen unter immer v ‚2 geben. Und in jeber dieſer Beziehungen 
Geſchichte des menfhlich- > Swechren mit der Berwideltheit der Probleme, 
zum Bewußtſein komm ‚za 2xaucht, um ſich hiervon zu überzeugen, nur 
ſchichte ſchlechtweg au Arten mit den moraliſchen Wiſſenſchaften zu ver⸗ 
Philofophie ver © mer Uusbildung ter Methode der erftern, welder 
lehre hat Tann a Zienfchaften verdanken, beruht offenbar weſentlich 
Sie ftellt ſich var ihrer Aufgaben. Was nun ſpeciell die Bolls- 
mein 2 met nit nur ein, daß bie Schwierigkeiten, über 
lehre yeae m Xuee zu kommen, geringere find, wenn man ihr nur 
fblich nm ne Sufammenhang der tppifhen Vorgänge im Wirth 
nut u a ran man von ihr bie Tarlegung der Geſetze verlangt, 
op rs Nergänge im Berlaufe der nationalen Gefchichte modificiren, 


up war ter Hand, daß im leßteren falle eben wegen ber größeren 
mean aud bes weitertragenden Interefjes andererſeits, die Ber- 
mi wuuellüntigen Beweiſen zu begnügen, Vermuthetes als feſt 
ug yünzufellen, beichränft giltigen Sätzen eine verallgemeinernde 
ER ungleich) mächtiger, ſowie die Gefahr, in Folge davon burg 
u Sache yerangen fi ins Bodenloſe zu verirren, bei weitem größer 
> ut a ir. B., was das Kapital betrifft, nur darum handelt, feine 
‚a Aereetung für die Probuftion, die Wirkſamkeit der verſchiedenen For⸗ 
Ta mn 3 vorkommt (flehendes, umlanfendes Kapital 2c.), die Wichtig⸗ 
ame yurmcnlichen Berhältnifies zwiſchen viefen und Aehnliches nachzuweiſen, 
sont wat Die Methode der Beweisführung kaum eine ernftlide Schwierigfeit 
une 08 genügt, ber einfachſten logiſchen Gruntfäge eingedenk zu fein, 
an a ein fiheres Urtheil über die Anfechtbarkeit oder Unanfechtbarfeit, die allge- 
e der begrenztere Gültigfeit ter anfgeftellten Tehrfäge zu bilden; mit einiger 
Aunmcrtjumteit werben Fehlſchlüſſe leicht zu vermeiden over aufzubeden fein. Wenn 
die Frage geftellt werden foll auf tie Geſetze, nad welden 3. B. die 
Ruyung ur Pildnng des Kapitals im Allgemeinen und feiner einzelnen Formen 
dere ſich ändert und demnach das Wahsthum des Kapitals und bie Ber- 
iaderungen des Mifhungsverhältnifies feiner Beftandtheile erfolgen, fo ſtellt man 
Rp tamit auf einen Boden jehr verwidelter Schlußfolgerungen, in welche fich 
teicht zablreihe und gewichtige Fehler einfhleihen werben, wenn man nicht jeben 
Sqrit nach fireng methodiſchen Grundſätzen kontrolirt. Ein reeller wiſſenſchaftlicher 
Gewiun läßt fih bier nur mittelft einer durch» und ins Feine ausgebildeten Me⸗ 
tdode eindringen. Die völlige Berwirflihung der von Rofcher und feinen Schälern 
allerdings mit vollem Rechte an die Vollkswirthſchaftslehre geftellten Forderung er⸗ 
ſcheint uns danach weſentlich bevingt von einer fortſchreitenden Bervolllommnung 
in der Methode diefer Wiſſenſchaft. 
111. Diefer Methode nun wird es unerläßlid fein, auch an diefem Orte 
einis Aetramhtungen zu wibmen. Dan ftreitet fi) bekanntlich noch immer darüber, 


„ih 
a 


Dolkswiethfchaft, dolkswirthſchaſts lehre. 107 


ob die volkswirthſchaftlichen Geſetze Naturgeſetze ſeien oder einer höhern Ordnung 
der Geſetzmäßigkeit angehören; ob die Volkswirthſchaftslehre als eine Naturwiſſen⸗ 
ſchaft oder eine moraliſche Wiſſenſchaft anzuſehen ſei. Schon dieſer Umſtand allein 
serräth eine bedenkliche Unſicherheit der Methodik. Freilich haben fi Diejenigen, 

::he heutzutage die Bezeichnung der Wirthfchaftögefege ald Naturgefege vertreten, 

ich meiftens ihren Gegnern fehr genähert. Sie erfennen an, daß der Mittel- 

.t, das bewegende Princip der Wirthſchaft der Menfh ift, und daß biefer 
acht willenlos den in der Natur waltenden Kräften folgt. Der Ausdruck Natur« 
sieg fol von ihrem Standpunkt aus nur andenten, daß die dem Menfchen ange» 
tornen Triebe und Neigungen, mit einem Worte, daß feine Natur aud) feine 
pirtbichaftliche Thätigkeit weſentlich beeinflußt, und daß namentlih, fobald man 
fid von der Betrahtung des einzelnen Falles zu der der wirthſchaftlichen Er- 
ſcheinungen im Großen und Ganzen erhebt, der Einfluß diefes in allen Einzelnen 
Ionftant wirkenden Elementes deutlich nachweisbar hervortreten muß. So liegt es 
. B. in der Natur des Menfchen, daß er die Anftrengung fcheut und den Genuß 
liebt, daß er des Umganges mit Seinesgleihen bedarf u. |. w., und als noth- 
wendige Folgen hieraus laſſen fi die Gliederung der Arbeiten, der Tauſch als 
regelmäßige Form des Güterumfages und Wehnliches mehr ableiten. Nichts deſto 
weniger wird man, wie uns fcheint, auf jene Bezeichnung befier verzichten. Denn 
unzweifelhaft verfteht man doch unter Naturgefeten ſolche Geſetze, denen die ma- 
terielle Welt willenlos gehorcht, und an denen ſich durch bewußte Thätigkeit Nichts 
ändern läßt, vie deßhalb auch außerhalb aller geſchichtlichen Entwidelung liegen, 
Bezeichnet man nun die Wirtbfchaft als unter Naturgefegen ftehend, fo fcheint daher 
bierin die Ausichließung jeder Einwirkung menfchlicher Freiheit und die Verzicht⸗ 
leiſtung auf jeden Yortfchritt zu liegen. Soll Beides dabei dennoch beftehen, fo 
verbindet man eben mit dem Ausdruck Naturgefeg einen weitern Sinn, als das 
ſonſt geſchieht; ja man muß ihn fo weit faflen, daß er fi mit dem allgemeinen 
Begriffe des Geſetzes Bollftändig deckt. Verhält ſich das aber fo, dann iſt es jeden⸗ 
falls rihtiger und um der Verhütung von Mißverftänpniffen willen wünfchenswerth, 
einfach von Geſetzen, als von Naturgefegen der Wirthſchaft zu reden, Bon dieſem 
Gefichtspunkte aus hat kürzlich Hildebrand ven naturwiſſenſchaftlichen Charakter der 
Birthſchaftslehre beftritten®). Wenn man von Naturgefegen in der Volkswirth⸗ 
Haft fpricht, fagt er ganz richtig, fo hat man zwei Tragen ſtreng von einander 
ja nnterfcheiden: 1) hat die bewußtlofe Natur, welcher der Menſch die Mittel 
ur Wirthſchaft verdankt und der er felbft mit feinem leiblichen Organismus 
angehört, hat diefe Natur mit ihren unmwandelbaren Gefegen einen beflimmenden 
Einſluß auf die Wirthſchaft der Völker? 2) Ift die Wirthſchaft felbft, d. h. find 
die wirthfchaftlihen Handlungen der Menfhen Naturgefegen unterworfen? Das 
Erftere iſt umbeftritten und unbeftreitbar, das Leptere leugnet er. Nicht als 
ob die wirthſchaftlichen Zuftände blindem Zufalle preisgegeben und willfürliche 
kin, wohl aber in dem Sinne, daß die Gefegmäßigkeit, in welcher fie fid 
vollziehen, Die Gefegmäßigfeit der pſychologiſchen Borgänge, wie ex fie nennt, „von 
ver phyfikaliſchen Geſetzmäßigkeit unendlich verſchieden fei und zwar nidt nur 
dadurch, daß fie fih ausihließlih im menſchlichen Bewußtſein und durd das 
nefhlihe Bewußtſein vollzieht, fondern auch dadurch, daß fie die Wirkfamfeit 
us Macht der ethiſchen Ideen und demzufolge bie fittliche Pflicht und vie Ber- 
eutwortlichkeit des Individuums für feine Handlungen volllommen beftehen läßt." — 


) Jahrbuch für Natlonaldkonomie und Statiſtik Bo. 1. 


106 .. wwemmtihfihaftsichre. 

Ir sam, dæoꝰ Serbältniß und bie Art und Welle 
nitioner > gerogiihe Geſetze (mie Kette und Ein- 
die w . a abermals mit einem Bilde Hildebrands 
Bolt Hdigung ver menſchlichen Geſellſchaft zufammen- 
ber: ...a würfer betonen wollen, daß in der Wirthſchaft 
Kir . a8 ti auf ten Menfchen bezieht, darzulegen, wie 


ü 4, anter tem Einflufje ver natürlichen Bedingungen, 
a mertbaftlihen Hantlungen einen beftimmten Inhalt 
un Zur Löſung diefer Aufgabe aber ſcheint nicht allen 

a ie ſich ſchließt, derfelbe Weg gleihmäßig geeignet zu 

“ wo? Ueberlegen,. daß bie verfchiedenen Theile des Gebietes, 

nu qurtziehre umfaßt, eine verfchiebene Behandlung verlangen. 

Ze mertbichaftliche Thätigfeit, fo bietet fich gleichſam von ſelbſt 

„. Naben bar. Die Menjhen bemühen fih, Güter hervorzubringen; 

Sm a mer zu verivenden, was regelmäßig zu einer langfamern ober 

ara derſe!ben führt. Zwilhen Hervorbringung und Verwen— 
ugs da in der geſellſchaftlichen Wirthihaft die Einen für tie Andern 
oa ae ent dritte Aufgabe, die der Ueberführung der Güter in 

I Non Deereigen, welche fie ausnutzen follen. So hat fi von Alters her und 
ner wa Arm Smith die Eintheilang der Volkswirthſchaftslehre in die Lehren 
a re Segengang, der Vertheilung und der Berzehrung der Güter eingebürgert. 

ae Reich bier und da von derſelben abgewichen. Theils hat man zum 

ace Auatkeilungsprincip einen andern Gedanken genommen, als den Zwed ber 

wattauitichen Handlungen, man hat z. B. die Wirthſchaft nad) einander betraditet 
on um Geſichtspunkt aus, wie fie ſich geftalten muß in ber ifolirten Hand- 
cung, unter dem Einflufe gejellihaftliher Verbindungen und endlich innerhalb 
ed ſtaatlichen Organismus. Theils bat man unter Beibehaltung jenes Principe 
Nie darauf gegründete Eintheilung modificirt, intem man bald aus der Lehre von 
der Gütervertbeilung als einen weitern Haupttheil eine Lehre vom Güterumlauf 
ausſchied, bald die Lehre von ter Konfumtion als eigenen Haupttheil befeitigte, 
davon ausgehend, daß die unprobuftive Berzehrung überhaupt fein wirthſchaftlicher 
At fei, die produktive Berzehrung aber bei der Propuftion unter der Betrachtung 
der Produktionskoſten ihre Stelle finde. Wir können e8 uns an diefer Stelle er- 
fparen, die Gründe, welche für und gegen dieſe Veränderungen ſprechen, zu erör- 
tern und gegen einander abzuwägen. Es genügt, darauf hinzumelfen, wie jene 
Dreitbeilung nicht nur noch immer vorherrjchent im Gebrauch ift, fondern felbft de, 
wo man fie als oberfte aufgegeben oder in irgend einer Weife mobificirt hat, 
keineswegs ihre Bedeutung vollftändig eingebüßt bet. In dem einen alle kehrt 
fie wohl bei der Biltung ter Unterabfchnitte der einzelnen Hauptabtheilungen offe- 
ner oder verftedter wieder; in dem andern handelt es fi) eigentlih nur um, Ber- 
änderungen in der Anwendung verfelben. Es wirb daher geftattet fein, hier von 
berfelben als der naturgemäßeften und einfahften auszugehen. Dabei zeigt ſich nun 
alsbald eine nahe Verwandtſchaft zwifchen ven Aufgaben der Lehren von der Produk⸗ 
tion und von ter Konfumtion. Denn nidt allein, daß bei der Verzehrung 
zu produftiven Zweden Produktion und Konfumtion fi unmittelbar mit einander 
verbinden, nicht allein, daß die Vermeidung over Beſchränkung ver Wertbzerftörung 
beim Gebrauch der Güter fih auch als eine Art von Produktion auffafjen läßt (vergl. 
den Ürtifel Güterprobuftion), liegt auch fonft die innigfte Beziehung der einen zu 
der andern Mar zu Tage. Man probucirt, um lonfumiren zu lönnen, umb wie 


* —8 








Dolkswirthichaft, Dolkswirthfchaftsichte. 109 


derum, weil man Tonfumirt, ift es nöthig, Immer wieder zu produciren. Die wirth- 
(daftlihen Aufgaben in Bezug auf Produktion und Konfumtion find daher auch 
ganz analoge, die einen bilden fo zu fagen nur die Kehrfeite der andern. Bei ver 
vroduktion dreht fi) Alles darum, das Verhältniß zwilchen den zu bringenven 
Opfern und dem mwirtbichaftlihen Erfolge möglihft günftig zu geftalten. Ebenſo 
Arebt die Konfumtion, ohne Beeinträchtigung ihres Zweckes, beftehe dieſer unmittel- 
bar im Genuffe oder in der Gewinnung von Mitteln zu einem folden, mit ver 
möglihft geringen Aufopferung durchzukommen. Hieraus ergibt fid, daß auch hin- 
fhtlih der Probleme, welche fih auf die Produktion, und derjenigen, welde ſich 
auf die Konfumtion beziehen, viefelbe wiſſenſchaftliche Behandlungsweiſe angezeigt 
f. Und zwar wirb das zur Gewinnung allgemeiner Säge einzufchlagende Ber- 
fahren nicht wohl ein anderes fein können, als das einer Analyfirung der durch die 
Grfahrung gelieferten Thatfachen. Dan darf annehmen, daß in dem „Kampfe um 
das wirthfchaftliche Daſein“ unter den verfdiedenfien Mitteln und Wegen, welche 
verfudht worden find, um der Produktion den größtmögliden Erfolg zu fihern oder 
ten fonfumtiven Genuß mit dem thunlihft geringen Maß von Opfern zu erkaufen, 
bie verfehlten oder minder gelungenen nur vereinzelt aufgetaucht und raſch wieder auf« 
gegeben, die zum Ziele führenden dagegen immer regelmäßiger und allgemeiner gewählt 
and betreten worden find. Indem man den Thatfachen nachgeht, wird man daher hoffen 
dütfen, wirklich alle weſentlichen Formen ausfindig zu machen, mittelft deren die 
betreffenden Wirthſchaftszwecke ſich erreichen laſſen. Hieraus erklärt es fih, daß 
tiejenigen Theile des Werkes von Adam Smith, welche von ver Probultion und 
von der Konfuntion handeln, wie Hildebrand ſich ausprüdt, nur eine auf die Beob- 
ahtung des Lebens geftügte Naturbejchreibung der betreffenden Procefie enthalten, 
und dag auch die Nachfolger im Ganzen regelmäßig dieſen Weg gegangen find, 
wenn fie auch ten gewonnenen Ergebnifien mehr einen dogmaggjchen Ausprud ge- 
geben haben. Zu diefem Behufe handelte es ſich zunächſt darum, die übereinftim- 
wenden Grundzüge in den mannigfaltigen Modalitäten der Probuftion und Kon- 
ſamtion, welche das Leben zeigte, zu erfennen, um daraus die Kategorieen der 
Mittel zu bilden, durch welde die Vervolllommnung beider erreicht wird. Die 
Ihatfachen ſprachen zu deutlich, als daß hierüber eine große Meinungsverfcieden- 
heit möglich geweſen wäre, wenn aud) die Formmlirung diefer Kategorieen bei den 
änzelnen Syſtematikern fi etwas verfchieden geftaltete. Auf Seiten der Produk⸗ 
tion ſtellten ſich als die großen allgemeinen Förberungsmittel die Thellung oder, 
»ie man neuerdings richtiger fagt, die Gliederung ber Arbeit und die Verwen⸗ 
tanz von Kapital dar, denen als ein drittes noch den unfernehmungsweifen Betrieb 
anureihen, meinerjeits vorgefchlagen und verfucht worden ift.5) Was die Konſum⸗ 
tion betrifft , jo ließen ſich einestheils die ſpecifiſche Geſtaltung und die gemein- 
ſcaſtliche Benugung der Güter, jene namentlih der ſparſameren Behanplung, 
tiefe der vollftändigern Ausnugung berfelben dienlich und beide gewiſſermaßen das 
Gegenbild ver Arbeitstheilung und -Bereinigung, anberntheils die Nugbarmahung 
der Abfälle als die Hauptmittel zur Beſchränkung der zu bringenden Opfer nicht 
derlennen. Bon diefen Örundlagen aus nun ergaben fi unmittelbar die weiter zu 
Wenben Aufgaben. 

Es galt einmal, innerhalb der gewonnenen Hauptlategorieen die dahin ge= 
Yirigen Erfcheinungen nad den. wichtigften Unterſcheidungspunkten, welche fie bar» 
Seten, zu Haffifichren — alfo 3. 8. beim Kapital zwifchen ftehendem und umlau- 





5, Siche meinen Grundiig der Vollswirchichaftsichre, Stuttgart 1863, 


* 





108 dolkewirthichaſt, Dolkswiethfhafts! re. 
Aufgabe der Wirthſchaftelehre ift es num, das Verhä' ‘ver, bet ben Unter« 
nadzuweifen, in welchen Natur- und pſhychologiſche :, die auf Vorrath 
ſchlag zur Herflellung eines Gewebes, um abermal“ en feftzuftellen, von 
zu reben), zur wirthſchaftlichen Befriedigung ber m ralitäten Ins Reben 
wirten, oder, wenn mir es ſogleich fchärfer betc arzulegen, welde 
Alles vom Menſchen ausgeht und fih auf ben r iſt man, wenn 
die Motive, welche ihn beftimmen, unter dem . der Hauptſache 
unter bie er geftellt ift, feinen wirthſchaftliche n. Das einzu 
und eine beftimmte Form geben. Zur Löſu :nten, daß faft 
Fragen gegenüber, welche fie in fich fc! . Wirthfchaftse 
fein, vielmehr lehrt ein kurzes Ueberleger “ichen Gefege 
weldes vie Vollswirthſchaftslehre um“ > Geftaltung 
Ueberblidt man die wirthſchaftli Seiſpiel einer 
eine Dreitheilung berfelben dar. Di Deduftion. Die 
fie thun das, um fie nachher zu ver » ift freilich gerade 
ſchnellern Zerftörung berfelben fü alt fhon die Richtig: 
bung aber liegt, ta in ber ge wıhfhaftölehre vorzuarbeie 
probuciten,, al8 eine britte U aſgaben. Nod ungleich mij 
die Hände Derjenigen, meld:  faufalen Zuſammenhangs zwi- 
befonvers feit Adam Smith Seziehung der Wirthſchaftslehre ſeht 
von der Erzeugung, der des Erperimentirens, welche den Ratur 
Man tft freilih bier v {, jo gut wie gänzlich abgeſchnitten ift. An- 
oberften Eintheilungspı a Thatſachen ſchaffen zu können, muß fie bie 
wirthſchaftlichen Han inflihe Leben fie ihr eben zu Gebote ftellen will. 
von dem Geſichtspm :tıe fraglichen Theile der Wirthfchaftslehre trog aller 


haltung, unter tr ach ber wiſſenſchaftlichen Präcifion ermangeln, und daß 
des ſtaatlichen lentheils fireng genommen nur al® mehr ober minber 
die barauf gez‘ Bedaupiungen und nicht als wirklich feftbegründete Geſetze 
der Güterner’* freilich hat man, um die mangelhafte Induftien zu ftägen, 
ausfchieb, * alien herangezogen und aus der Natur der Dinge und 











davon auf" , uraie Verbindung wirthſchaftlicher Borgänge nachzuweiſen ver- 
Alt fei, ri nu thatfädlichen Beobachtungen ſich nicht ausreichend begränben 
der Brei N, daß das Räfonnement in der Negel nicht durchſchlagend war, 


veren Borausfegängen aueging, fei es, daß es der Schluß- 

:brah. Die Uebereinftimmung in den Ergebniffen einer 

n, und benjenigen einer unvolltommenen Deduktion erhöht 

‚it ber Richtigkeit diefer Ergebniffe, einen wirklichen Be 

mag fie nicht zu liefern. Trog ben bezeichneten Schwierig ⸗ 

Bervollfländigung der intultiven Beweiſe auf wirtbfchaft- 

ellen, bleibt indefien die Lehre von ber Probnftion und 

eine betultive Begräntung derfelben noch ungleich größe 

Samt degegnen würbe, vorzugsweiſe auf bie Indultion angewiejen. Die 

. sau, auf welche man fi dabei flügen fann, find immerhin meiftens mannig- 
5 ur ber beglaubigt genug, um den gezogenen Scläffen einen bebeutenben 
wur vo Wahrfcheiniichfeit zu verleihen. Im Uebrigen wird man fih für bie 
unnamenere Ausbiltung diefer Theile der Wiffenfchaft auf das Material, weldes 





I: Wuhipleit täglich in immer neuer Fülle und nenen Beränberungen hervor 
ug wab auf bie immer vollftändigere und zuverläffigere Regiſtrirung besjelben 
und ie Gtatiflif verlafien müffen. 








Dolkswirthfchaft, Dolkswirihfchaftsichre. 111 


Weſentlich anders verhält es fidh mit ver Lehre von der Gütervertbeilung. 
‘punkt derjelben, zu welhem alle andern dahin gehörigen Betrachtungen 
"oziehung ftehen, bilvet die Lehre von der Bildung der PBreife. Hin- 

ı erweist fi) der Weg ber Induktion als wenig fruchtbar. Zum Beleg 

ewieſen, daß felbft ein jo monumentales Wert, wie Slooke's und 

der Preife zur Förderung der Theorie der Preisbildung nur 

Seigetragen bat. In der That überzeugt uns freilich ſchon 

ng der in der Wirklichkeit vorlommenpen Preife, daß 

gewiſſer Geſetze ftehen müflen, namentlich die bebeut- 

ısfoften drängt fi unabweisbar auf. Sobald man 

hen und zu präckferen Ergebniffen zu gelangen 

ten in einer Weife, daß man die Hoffnung, 

‚jeben muß. Mag man die Preife einzeln oder 

‚ung unterziehen, immer zeigt fi), daß diefelben 

‚a nur aus einer Kombination von Urſachen erklären 

nte aus den gegebenen Daten feftzuftellen und in ihrer 

unmöglih fällt. So fieht fi die Wiſſenſchaft Hinfichtlich 

Aufgabe auf die Debultion verwiefen, und wirklich ift biefer 

„eftand, den die Lehre von der Gütervertheilung bis jegt gewon- 

. verdanfen. Man ftellte gewiſſe VBorausfegungen auf, in weldhen bie 

.n Yaltoren für die Bildung der Werthe enthalten zu fein fchienen, und 
„nd, welde Werthverhältniffe daraus hervorgehen müßten, wenn eben nur 
‚ne Borausfegungen und feine andern ins Spiel kämen. Unter ihnen war bie 
erſte und wichtigſte, daß die Menfchen in ihren wirthihaftliden Handlungen nur 
durch ein einfaches und unter allen Umftänven fich gleichbleibentes Motiv beftimmt 
werben. ALS ſolches konnte man nicht wohl ein anderes aufftellen, als dasjenige, 
welhes die Erfahrung aller Länder und Zeiten als das am allgemeinften ver- 
breitete und die ftärffte Kraft befigende unzweifelhaft ergab, das Motiv der Selbſt⸗ 
liebe, ver Verfolgung des eigenen Bortheils, Eine zweite VBorausfegung, die man 
machte, war eine unbejchränfte Freiheit der wirthichaftlihen Bewegung, eine britte 
die Unerfchöpflichkeit und die Immer steige Zugänglichkeit ver natürlichen Produktions⸗ 
mittel Die Ergebnifje, zu welchen uın mittelft diefes Verfahrens gelangt, neh⸗ 
men, die Vermeidung logiſcher Fehler vorausgefegt, eben fo ftrenge Gültigkeit in 
Anſpruch, mie irgend welche Naturgefege, und dies beftreiten zu wollen, {ft ein- 
fah Verkehriheit. Anvererfeits iſt dieſe Gültigkeit nur eine hypothetiſche, an bie 
a Grunde gelegten Borausfegungen gebundene. Dies ift öfter verfannt worden, 
Daß es gefchehen konnte, erflärt ſich hauptfählih aus folgendem Umſtande. Die 
wenigen allgemeinen Säge, welche man aus jenen VBorausfegungen ableiten konnte, 
aidienen zu kahl und unfruhtbar, als daß man fich bei ihnen hätte beruhigen 
fimen. Um über fie binauszufommen, mußte man bie Borausfegungen verändern. 
Am nächften lag dies Hinfichtlich der eben zulegt erwähnten, der Unerfchöpflichkeit 
ver natürlichen Produftionsmittel, da dieſe mit der Wirklichkeit im ſchreiendſten 
Viderſpruche ftand. So kam man zu der Entgegenfegung ber „beliebig“ vermehr- 
baren, der nur mit wachſenden Produktionskoſten vermehrbaren und der Güter von 
abſolut beichränftem Angebot und zur Aufftellung der befannten Preisgefege für 
jete diefer Klaſſen. And die zweite Vorausfegung der ungehemmten freiheit der 
onen und des Eigenthums entſprach keineswegs ber Wirklichkeit, nicht ein- 
wol der vorgefchrittenften Tänder der Oegenwart, geſchweige denn ver Vergan⸗ 
genbeit ober ber jegigen in ihrer Entwidlung noch zurädftehenden Völker, und 


102 Dolkswirthfhaft, Dolkswirthfcaftsichre. 


in einer Weiſe zufammen, daß fie als eine große ideale, nad eigenen Gefegen 
fih entwidelnne Gefammtperfönlichkeit erfcheinen, welche wir eben Volt nennen*). 
Irrige Auffaffungen defien, was man dem Volke an Tendenzen und VBeftrebungen 
zugefchrieben hat, mögen fehr nahe liegen, aber dieſe Erfagrung ermahnt uns nur 
zur Vorſicht in unferm Urtheil, fie nöthigt uns noch nicht, die ganze Auffafſung 
des Volkes als einer lebendigen Einheit aufzugeben. 

Bei diefer Gelegenheit ſei e8 erlaubt, Verwahrung gegen einen Barbarismus 
einzulegen, welder in neueſter Zeit, hauptfächlih nad dem Vorgange ver volks⸗ 
wirtbichaftlihen Kongreffe bei uns eingerifien if. Es machte fih das Bedürfniß 
geltend, für die Leute, welche fich theoretiſch mit der Volkswirthſchaft befchäftigen, 
eine Bezeichnung zu haben, und man nannte fie furziorg Volkswirthe. Nach rich- 
tigen ſprachlichen Grunpfägen aber fann man unter einem Volkswirthe nichts Anderes 
verftehen, als einen Wirth des Volkes, alfo etwa den Unternehmer ver Reſtau⸗ 
ration bei einem großen Volksfeſte. Hier hingegen handelt es ſich um Männer, 
pie nichts weniger ald das Bolt bewirthen wollen, die vielmehr nur dadurch ſich 
auszeichnen, daß fie den vollswirtbichaftlihen Zuftänden ihr Nachdenken widmen 
und das Volk über biefelben aufzuflären bemüht find. Es wirb daher eine Auf-. 
gabe des guten Gefhmads fein, jenen Ausdruck wieder fallen zu laſſen; vie 
Schwierigkeit für denfelben einen kurzen und allgemein gefälligen Erfag ausfindig 
zu maden, darf daran nicht hindern. . 

1. Mit vem Zmede, die wirtbfchaftlihen Thatſachen und Erſcheinungen zu 
erflären,, ihre Urfachen und Folgen und ihre Wechſelwirkung untereinander, wie 
mit den Vorgängen auf andern Tebensgebieten zur Erkenntniß zu bringen, hat 
fi in neuerer Zeit die Disciplin der Volkswirthſchaftslehre herausgebilpet. 
Wenn wir wiſſenſchaftlich von den einzelnen Thatſachen abftrahirenn, den Zuſam⸗ 
menhang zwifchen Urſache und Wirkung in feiner Allgemeinheit auffaflen, bezeich- 
nen wir ihn als ein Geſetz; deßhalb kann man auch kurz die Volkswirthſchafts- 
lehre die wiffenfhaftlih georpnete Darlegung der Gefege ber 
Volkswirthſchaft nennen. Aus der Definition der Wirthichaft folgt, daß der 
Kernpunkt der ganzen Wiſſenſchaft -in dem Begriffe der Arbeit zn ſuchen ifl. Wel- 
herlei Kräfte die Menfchen, dur das Mißverhältniß zwifchen ihren Bepürfnifien 
und der fie umgebenden Außenwelt getrieben, in Bewegung fegen, in welder 
Weiſe dieſe Kräfte wirken, von welchen Bebingungen Ihr Erfolg abhängt, und 
welche Mittel geeignet find, dieſen Erfolg in möglihft vollem Umfange ficher zu 
ftellen; das find im Wefentlihen die Tragen, um welche e8 fi handelt. Dabei 
betrachtet die Volkswirthſchaftslehre zunächft die menfchlihen Bedürfniſſe, wie die 
Beichaffenheit der Außenwelt als gegebene Borausfegungen und ftügt ſich infofern 
auf die Wiffenfhaft vom Menfchen als natürlihem und als geiftigem Weſen und 
auf die Naturwiffenfhaft. Allein dieſe Borausfegungen find doch keineswegs unter 
allen Umftände vie gleichen noch zu jeder Zeit unveränberlih. Die Natur, wenn 
fie auch überall ven gleichen Geſetzen folgt, ift do in den verfchiedenen Ländern 
fehr verfchieben geftaltet. Die Zufammenfegung und Konfiguration des Bodens, vie 
klimatiſchen Verhältniffe, der Umfang und die Vertheilung der Gemäffer find in dem 
einen Lande anders, als in dem andern. Und ebenfo find die Menſchen bei aller 
Gleichmäßigkeit in den Grundzügen ihres Weſens doch geiftig und körperlich mannigfach 


*, Anm. d. Red. Die politiſche Wiſſenſchaft betrachtet das Volk (d. h. die zum Staate orga⸗ 
nifirte Geſammtheit), in wiefern es wirkliches Rechtsſubjekt iſt, als Perſon, nit aber die Na: 
tion, die nicht Rechtsſubjelt iſt. Vrgl. die Artikel Nation u. Volk: Geſellſchaſt. 


Dolkswirthfhaft, volkewirthſchaſts lehre. 103 


verſchieden geartet, und dieſe Verſchiedenheit in Verbindung mit ber eben erwähnten 
Serfchiedenheit ihrer natürlihen Umgebung begründet einen abweichenden Charakter 
ihrer Bepürfniffe, der wirtbichaftlichen Aufgaben, welche fie fich ftellen, und der Art 
and Weiſe, wie fie viefelben zu löſen fuchen. Die Bollewirthichaftslehre hat daher 
zu ermitteln, wie biefe Berfhiedenheiten auf die Geftaltung ver Mirthichaft ein- 
wirten. Und nod mehr. Die Natur, wie der Menfh, feine Bebürfniffe und bie 
Mittel, über welche er zur Sicherung ihrer Befrierigung verfügt, verändern fid 
im Laufe der Zeit. Zwar die Veränderungen der Natur, welche ohne Zuthun ver 
Menſchen vor fi) gehen, das Sichheben und Senken der Küften, bie Verwit— 
terung der Gebirge, das Borrüden und Zurüdgehen ver Eisfelder, vie Erkal⸗ 
tung der Erdrinde kommen hauptfählih wegen ihrer großen Allmäligteit wirth- 
ſchaftlich weniger in Betracht; von um fo größerer Wichtigkeit find diejenigen 
Beränderungen an ihr, welche vie beabfidhtigte oder unbeabfichtigte -Sclge menſch⸗ 
lien Handelns find, die Ausrodung der Wälder, ter Anbau des Landes, vie 
Eindämmung bes Meeres und der Flüſſe, die Berfolgung und Bernichtung ſchäd— 
licher Thiere zc. mit allen mittelbar und unmittelbar ſich hieraus ergebenden Kon- 
jequenzen. Weitaus die größte Bebeutung aber haben für bie Wirthſchaft bie 
Veränderungen, welche mit ven Menfchen felbft und ihren perfänlihen Berhältnifien 
vor fih gehen. Die Gefittung hat andere VBebürfniffe, als vie Barbarei; die Bil 
bang verfügt über andere Mittel zur Bewältigung der Natur, als bie Rohheit, 
und darf fih deßhalb auch andere wirthſchaftliche Aufgaben ftellen, als viefe. 
Hierbei nun ‚zeigt ſich vorzugsweife der Einfluß der gefellfhaftlihen Zuſtände auf 
die Wirthſchaft und die Nüdwirkung diefer auf jene. Die größere oder geringere 
Sicherheit der Perfonen und des Eigenthums, vie Beihränfung oder Ausdehnung 
ber Freiheit der perjönlihen Bewegung, die größere ober geringere Innigfeit ber 
Beziehungen, welche ſich aus der Gemeinſamkeit oder Berfchiedenheit der Sprachen, 
der Sitten, der Religion, aus der nähern oder entferntern Nachbarſchaft ver Wohn- 
fige, aus der Straffheit oder Loderheit der politifchen Verbände ꝛc. zwifchen den 
Menſchen ergeben, erleichtern oder erſchweren die Theilung und Vereinigung ber 
Ürbeiten, vie Bildung des Kapitals, die Begründung von Unternehmungen, bie 
Antnäpfung und Ausbildung eines Tauſchverkehrs, wie umgefehrt das wirthichaft- 
ige Zufammenwirten zur Bervielfältigung und Feſtigung, bie wirtbfchaftliche 
gegenfeitige Abgefchlofjenheit zur Verminderung und Loderung ver fonftigen ge- 
jelfhaftlihen Beziehungen weſentlich beiträgt. So muß bie Bolkswirtbfchaftsiehre 
es ſich zur Aufgabe machen, auch den Einfluß der Modifikationen des geſellſchaft⸗ 
lichen Zuftandes und feiner einzelnen Elemente auf vie Geftaltung ver Wirthſchaft 
zu unterfuhen. Bon biefem Gefichtspunkt aus erfcheint das wirthichaftlihe Zuſam⸗ 
men- und Beieinanderleben nur als ein Theil, eine Seite des Zufammen- und Für- 
einanderlebens der Menfchen überhanpt, oder, wenn wir dieſes nach feiner widhtigften 
Erſcheinungsweiſe als nationales Leben bezeichnen, des nationalen Lebens. In dieſem 
nationalen Leben aber hat uns die Betrachtung der Geſchichte gelehrt, nicht blos 
eine vegellofe Folge verfchtedenartiger Wandlungen zu erbliden. Die Bergleihung 
der Borgänge bei verſchiedenen Völkern zeigt uns vielmehr bei aller Verſchiedenheit 
im Einzelnen eine Webereinftiimmung gewifler Grunnzüge. Wir fühlen uns dadurch 
berechtigt, eine Gefegmäßigkeit im Berlanfe ver Geſchichte ver Völker anzunehmen, 
und indem wir den Gedanken hinzufügen, daß dieſer Verlauf zu einer fortfchrei- 
tmden Vervollkommnung der gemeinfhaftlihen Eriftenz führe, ſprechen wir von 
Belegen der nationalen Entwidelung. Der Vollswirthſchaftslehre fällt hiernach bie 
Darlegung dieſer Geſetze, infoweit fie fih anf vie Wirthfchaft beziehen, zu; fie 


102 dolkswirthſchaft, volkswirthſchaſtslehre. 


in einer Weiſe zuſammen, daß ſie als eine große ideale, nach eigenen Geſetzen 
ſich entwickelnde Geſammtperſönlichkeit erſcheinen, welche wir eben Volk nennen *). 
Irrige Auffaſſungen deſſen, was man dem Bolfe an Tendenzen und Beſtrebungen 
zugejchrieben hat, mögen fehr nahe liegen, aber dieſe Erfagrung ermahnt ung nur 
zur Vorſicht in unferm Urtheil, fie nöthigt uns noch nicht, die ganze Wuffaffung 
des Volkes als einer lebendigen Einheit aufzugeben. 

Bei diefer ©elegenheit fei e8 erlaubt, Verwahrung gegen einen Barbarismus 
einzulegen, welcher in neuefter Zeit, hauptfächlih nad dem Vorgange ver volks⸗ 
wirthfchaftlihen Kongreſſe bei uns eingerifien if. Es machte fih das Berürfniß 
geltend, für die Leute, welche ſich theoretifh mit der Volkswirthſchaft befhäftigen, 
eine Bezeichnung zu haben, und man nannte fie kurzweg Volkswirthe. Nach rich- 
tigen ſprachlichen Grundſätzen aber kann man unter einem Volkswirthe nichts Anderes 
verfteben, als einen Wirth des Volkes, alſo etwa ben Unternehmer ver Reftau- 
ration bei einem großen Volksfeſte. Hier hingegen handelt es fih um Männer, 
die nichts weniger als das Volk bewirthen wollen, die vielmehr nur dadurch ſich 
auszeichnen, daß fie den vollswirtbichaftlihen Zuftänpen ihr Nachdenken winmen 
und das Volk über viefelben aufzuflären bemüht find. Es wird baber eine Auf⸗ 
gabe des guten Gefhmads fein, jenen Ausbrud wieder fallen zu laſſen; vie 
Schwierigkeit für denfelben einen kurzen und allgemein gefälligen Erfag ausfindig 
zu machen, darf daran nicht hindern, . 

II. Mit dem Zwede, pie wirthſchaftlichen Thatfahen und Erfcheinungen zu 
erflären, ihre Urfadhen und Folgen und ihre Wechſelwirkung untereinander, wie 
mit den Vorgängen auf andern Lebensgebieten zur Erkenntniß zu Bringen, hat 
fi in neuerer Zeit vie Disciplin ver Volkswirthſchaftslehre herausgebilvet. 
Wenn wir wiffenfhaftlih von ven einzelnen Thatſachen abftrahirend, den Zuſam⸗ 
menhang zwifchen Urſache und Wirkung in feiner Allgemeinheit auffaflen, bezeidy- 
nen wir ihn als ein Geſetz; deßhalb Tann man auf kurz die Volkswirthſchafts- 
lehre. die wifjenfhaftlih georpnete Darlegung ber Geſetze der 
Volkswirthſchaft nennen. Aus der Definition der Wirthſchaft folgt, daß der 
Kernpunkt der ganzen Wiffenfchaft in dem Begriffe der Arbeit zn ſuchen iſt. Wel⸗ 
cherlei Kräfte vie Menfchen, durch das Mißverhältniß zwiſchen ihren Bedürfniſſen 
und ber fie umgebenden Außenmelt getrieben, in Bewegung Ieden, in welder 
Weiſe diefe Kräfte wirken, von welden Bebingungen ihr Erfolg abhängt, und 
welche Mittel geeignet find, dieſen Erfolg in möglihft vollem Umfange fiher zu 
ftellen; das find im Wefentlihen vie Fragen, um melde e8 fi handelt. Dabei 
betrachtet die Volkswirthſchaftslehre zunächft die menſchlichen Bebürfnifie, wie vie 
Beichaffenheit der Außenwelt als gegebene Borausjegungen und fügt fi infofern 
auf die Wiffenfhaft vom Menfhen als natürlihem und als geiftigem Wefen und 
auf die Naturwiffenihaft. Allein dieſe Borausfegungen find doch keineswegs unter 
allen Umftände vie gleichen noch zu jeder Zeit unveränberlih. Die Natur, wenn 
fie auch überall den gleihen Gefegen folgt, ift doch in den verſchiedenen Ländern 
ſehr verfhieden geftaltet. Die Zufammenfegung und Konfiguration des Bobens, die 
klimatiſchen Verhältniffe, ver Umfang und die Vertheilung der Gewäſſer find in dem 
einen Sande anders, als in dem andern. Und ebenfo find die Menſchen bei aller 
Sleihmäßigkeitin den Grundzügen ihres Wefens doch geiftig und körperlich mannigfach 


*, Anm. d. Red. Die politiſche Wiſſenſchaft betrachtet das Volt (d. h. die zum Staate orga⸗ 
nifitte Gefammtheit), in wiefern es wirkliches Rechtöfubjelt tft, als Perfon, nicht aber die Na⸗ 
tion, die nicht Rechtöfubjelt if. Vrgl. die Artikel Nation u. Bolt: Geſellſchaſt. 


Dolkswirthfchaft, volkewirthſchaſts lehre. 103 


verſchieden geartet, und dieſe Verſchiedenheit in Verbindung mit ver eben erwähnten 
Serfchiedenheit ihrer natürlichen Umgebung begründet einen abweichenden Charakter 
ihrer Bebürfniffe, der wirthſchaftlichen Aufgaben, welche fie fich ftellen, und der Art 
und Weiſe, wie fie viefelben zu löſen fuchen. Die Volkswirthſchaftslehre hat daher 
zu ermitteln, wie biefe Verſchiedenheiten auf die Geftaltung der Wirthſchaft ein- 
wirken. Und nod mehr. Die Natur, wie der Menſch, feine Bebürfniffe und vie 
Mittel, über welche er zur Sicherung ihrer Befrierigung verfügt, verändern ſich 
im Laufe der Zeit. Zwar bie Veränderungen der Natur, welche ohne Zuthun ber 
Menſchen vor fi gehen, das Sichheben und Senken der Küften, die Verwit— 
terung ber Gebirge, das Vorrüden und Zurüdgehen ver Eisfelder, die Erkal— 
tung der Erbrinde kommen hauptſächlich wegen ihrer großen Allmäligkeit wirth— 
ſchaftlich weniger in Betracht; von um fo größerer Wichtigkeit find diejenigen 
Beränderungen an ihr, welche die beabfichtigte oder unbeabfichtigte Folge menſch⸗ 
lichen Handelns find, die Ausrodung der Wälder, ter Anbau des Landes, bie 
Gindämmung des Meeres und der lüffe, die Verfolgung und Vernichtung fehäb- 
licher Thiere 2c. mit allen mittelbar und unmittelbar ſich bierans ergebenden Kon- 
fequenzen. Weitaus die größte Bedeutung aber haben für die Wirthichaft vie 
Veränderungen, weldhe mit ben Menfchen felbft und ihren perſönlichen Verhältniffen 
vor fi gehen. Die Gefittung hat andere Bedürfniſſe, als die Barbarei; die Bil- 
bung verfügt über andere Mittel zur Bewältigung der Natur, als vie Rohheit, 
und darf fih deßhalb auch andere wirthichaftliche Aufgaben ftellen, als viefe. 
Hierbei nun ‚zeigt fi) vorzugsweife der Einfluß der gefellihaftlihen Zuſtände auf 
die Wirtbfchaft und die Rückwirkung dieſer auf jene. Die größere oder geringere 
Sicherheit der Perfonen und des Eigenthums, vie Beſchränkung oder Ausdehnung 
ber Freiheit der perfönlihen Bewegung, die größere oder geringere Innigfeit der 
Beziehungen, welche ſich aus ber Gemeinſamkeit oder Verſchiedenheit der Sprachen, 
der Sitten, der Religion, aus der nähern ober entferntern Nachbarſchaft ver Wohn- 
fite, ana der Straffheit oder Loderheit der politifchen Verbänte ꝛc. zwiſchen ben 
Menſchen ergeben, erleichtern oder erfchweren vie Theilung und Vereinigung ber 
Ürbeiten, die Bildung bes Kapitals, die Begründung von Unternehmungen, vie 
Anknüpfung und Ausbildung eines Tanfchverfehrs, wie umgekehrt das wirthſchaft⸗ 
ige Zufammenwirten zur Vervielfältigung und Yeftigung, die wirtbichaftliche 
gegenfeitige Abgefhloffenheit zur Berminderung und Loderung ber fonftigen ge- 
ſellſchaftlichen Beziehungen weſentlich beiträgt. So muß bie Bollswirtbfchaftsiehre 
es fih zur Aufgabe mahen, aud den Einfluß der Modifikationen des gefellichaft- 
lichen Zuftandes und feiner einzelnen Elemente auf die Geftaltung der Wirthichaft 
zu unterfuchen. Bon viefem Geſichtspunkt aus erfcheint das wirthſchaftliche Zuſam⸗ 
mene und Beieinanverleben nur als ein Theil, eine Seite des Zufammen- und Für- 
einanberlebens der Menfchen überhaupt, oder, wenn wir dieſes nach feiner wichtigften 
Erſcheinungsweiſe als nationales Leben bezeichnen, des nationalen Lebens. In dieſem 
nationalen Leben aber bat ung bie Betrachtung der Geſchichte gelehrt, nicht blos 
eine vegellofe Folge verſchiedenartiger Wandlungen zu erbliden. Die Vergleihung 
der Vorgänge bei verfchiebenen Völkern zeigt uns vielmehr bei aller Verſchiedenheit 
im Einzelnen eine Webereinftiimmung gewiffer Grundzüge. Wir fühlen uns dadurch 
berechtigt, eine Geſetzmäßigkeit im Verlaufe der Geſchichte der Völker anzunehmen, 
und indem wir ben Gedanken hinzufügen, daß biefer Verlauf zu einer fortfchrei- 
tenden Bervolllommnung ver gemeinfhaftlihen Eriftenz führe, fprechen wir von 
Geſetzen der nationalen Entwidelung. Der Volkswirthſchaftslehre fällt hiernach vie 
Darlegung biefer Gefege, infoweit fie fih auf vie Wirthſchaft beziehen, zu; fie 


102 Dolkswirthfchaft, volkswirthſchaſtslehre. 


in einer Welfe zufammen, daß fie als eine große ideale, nad) eigenen Geſetzen 
fih entwidelnde Gefammtperfönlichleit erfeheinen, welche wir eben Volt nennen *). 
Irrige Auffaffungen defjen, was man dem Volke an Tendenzen und Beftrebungen 
zugefchrieben hat, mögen fehr nahe liegen, aber dieſe Erfagrung ermahnt und nur 
zur Vorſicht in unferm Urtheil, fte nöthigt ung noch nicht, die ganze Wuffaflung 
bes Bolfes als einer lebendigen Einheit aufzugeben. 

Bei diefer Gelegenheit fei e8 erlaubt, Verwahrung gegen einen Barbarismus 
einzulegen, welcher in neuefter Zeit, Hauptfächlih nad dem Vorgange der volks⸗ 
wirtbichaftlihen Kongreffe bei uns eingerifien ifl. Es machte fih das Bedürfniß 
geltend, für die Leute, welche ſich theoretiſch mit der Volkswirthſchaft befchäftigen, 
eine Bezeihnung zu haben, und man nannte fie kurzweg Volkswirthe. Nach rich⸗ 
tigen ſprachlichen Grundſätzen aber fann man unter einem Boltswirthe nichts Anderes 
verfiehen, als einen Wirth des Volles, alſo etwa den Unternehmer der Reftau- 
ration bei einem großen Volksfeſte. Hier hingegen handelt es fih um Männer, 
die nichts weniger als das Volk bewirthen wollen, vie vielmehr nur dadurch fi 
auszeichnen, daß fie den volkswirthſchaftlichen Zuftänden ihr Nachdenken widmen 
und das Volk über diefelben aufzuflären bemüht find. Es wird daher eine Auf⸗ 
gabe des guten Gefhmads fein, jenen Ausdruck wieder fallen zu laſſen; vie 
Schwierigkeit für denfelben einen kurzen und allgemein gefälligen Erfag ausfindig 
zu maden, darf daran nicht hindern. u 

II. Mit dem Zwede, die wirthſchaftlichen Thatfachen und Erfheinungen zu 
erflären,, ihre Urſachen und Folgen und ihre Wechſelwirkung untereinander, wie 
mit den Vorgängen auf andern Xebensgebieten zur Erkenntniß zu bringen, hat 
fih in neuerer Zeit die Disciplin ver Volkswirthſchaftslehre herausgebilvet. 
Wenn wir wiflenfhaftlid von den einzelnen Thatfahen abſtrahirend, den Zuſam⸗ 
menhang zwiſchen Urſache und Wirkung in feiner Allgemeinheit auffaffen, bezeich⸗ 
nen wir ihn als ein Geſetz; deßhalb Tann man aud furz die Bollswirthichafts- 
lehre pie wiffenfhaftlih georbnete Darlegung der Gefege der 
Volkswirthſchaft nennen. Aus der Definition der Wirthichaft folgt, daß ber 
Kernpunft der ganzen Wiffenfchaft in dem Begriffe der Arbeit zn ſuchen iſt. Wel- 
cherlei Kräfte die Menfchen, durch das Mißverhältnig zwijchen ihren Bebürfnifien 
und der fie umgebenden Außenwelt getrieben, in Bewegung (ten, in welder 
Weife dieſe Kräfte wirken, von welchen Bebingungen ihr Erfolg abhängt, und 
welche Mittel geeignet find, dieſen Erfolg in möglihft vollem Umfange ficher zu 
ftellen; das find im Wefentlihen die Fragen, um weldye es ſich handelt. Dabei 
betrachtet die Volkswirthſchaftslehre zunächſt die menſchlichen Bedürfniſſe, wie bie 
Beſchaffenheit der Außenwelt als gegebene Vorausſetzungen und ſtützt ſich inſofern 
auf die Wiſſenſchaft vom Menſchen als natürlichem und als geiſtigem Weſen und 
auf die Naturwiſſenſchaft. Allein dieſe Vorausſetzungen ſind doch keineswegs unter 
allen Umſtände die gleichen noch zu jeder Zeit unveränderlich. Die Natur, wenn 
ſie auch überall den gleichen Geſetzen folgt, iſt doch in den verſchiedenen Ländern 
ſehr verſchieden geſtaltet. Die Zuſammenſetzung und Konfiguration des Bodens, die 
klimatiſchen Verhältniſſe, der Umfang und bie Vertheilung der Gewäfſer find in dem 
einen Lande anders, als in dem andern. Und ebenfo find die Menſchen bei aller 
Gleichmäßigkeit in den Grundzügen ihres Weſens doch geiftig und körperlich mannigfad) 


*, Anm. d. Red. Die politiſche Wiſſenſchaft betrachtet dad Vol!k (d. h. die zum Staate orga⸗ 
nifirte Gefammtheit), in wiefern es wirkliches Rechtsſubjekt iſt, ald Perfon, nicht aber die Na: 
tion, die nicht Nechtöfubjett if, Vrgl. die Artikel Nation u. Bolt: Geſellſchaſt. 


Dolkswirthfhaft, volkewirthſchaſts lehre. 103 


verſchieden geartet, und dieſe Verſchiedenbeit in Verbindung mit ber eben erwähnten 
Berſchiedenheit ihrer natürlihen Umgebung begründet einen abweichenden Charakter 
ihrer Bepürfniffe, der wirtbfchaftlichen Aufgaben, welche fie fich ftellen, und ver Art 
und Weiſe, wie fie viefelben zu löſen fuchen. Die Volkswirthſchaftslehre hat daher 
za ermitteln, wie dieſe Verfchiedenheiten auf die Geftaltung ver Mirtbfchaft ein- 
wirken. Und uod mehr. Die Natur, wie der Menſch, feine Bedürfniſſe und bie 
Mittel, über welche er zur Sicherung ihrer Befrierigung verfügt, verändern ſich 
im Laufe der Zeit. Zwar bie Beränderungen der Natur, welhe ohne Zuthun ver 
Menfchen vor fih gehen, das Sichheben und Senken ber Küften, bie Bermit- 
terung der Gebirge, das Vorrüden und Zurüdgehen ver Eisfelver, bie Erfal- 
tung der Erdrinde kommen hauptfählic wegen ihrer großen Allmäligfeit wirth- 
ſchaftlich weniger in Betradt; von um fo größerer Wichtigkeit find diejenigen 
Beränderungen an ihr, welde vie beabfichtigte oder unbeabfichtigte Folge menjch- 
lichen Handelns find, die Ausrodung der Wälber, ter Anbau des Landes, vie 
Gindämmung des Meeres und der Flüſſe, die Verfolgung und Vernichtung ſchäd— 
licher Thiere zc. mit allen mittelbar und unmittelbar fih hieraus ergebenden Kon- 
fequenzen. Weitans die größte Bedeutung aber haben für die Wirthichaft bie 
Veränderungen, welde mit ven Menjchen felbft und ihren perfänlichen Verhältniſſen 
vor fich gehen. Die Gefittung hat andere Bepürfniffe, als vie Barbarei; die Bil. 
bung verfügt über andere Mittel zur Bewältigung der Natur, als vie Rohheit, 
und darf fih deßhalb auch andere wirthſchaftliche Aufgaben ftellen, als viefe. 
Hierbei num ‚zeigt fi) vorzugsweife der Einfluß der gejellihaftlihen Zuſtände auf 
die Wirtbfchaft und die Nüdwirkung dieſer auf jene. Die größere oder geringere 
Sicherheit der Perfonen und des Eigenthums, die Beihränfung ober Ausbehnung 
ber Freiheit der perfönlichen Bewegung, vie größere oder geringere Innigfeit ber 
Beziehungen, welche fit aus der Gemeinſamkeit over Berfchievenheit der Sprachen, 
der Sitten, der Religion, aus der nähern oder entfernten Nachbarſchaft ver Wohn- 
fite, ans der Straffheit oder Loderheit der politifchen Verbänte ꝛc. zwifchen ven 
Menſchen ergeben, erleichtern oder erſchweren die Theilung und Vereinigung der 
Ürbeiten, die Bildung des Kapitals, die Begründung von Unternehmungen, bie 
Anknüpfung und Ausbildung eines Zaufchverkehrs, wie umgelehrt das wirthichaft- 
ide Zuſammenwirken zur Vervielfältigung und Feftigung, die wirtbfchaftliche 
gegenfeitige Abgefchloffenheit zur Verminderung und Loderung ber fonftigen ge⸗ 
ſellſchaftlichen Beziehungen wefentlich beiträgt. So muß vie Volkswirthſchaftslehre 
es fih zur Aufgabe machen, auch den Einfluß der Modifikationen des geſellſchaft⸗ 
lichen Zuftandes und feiner einzelnen Elemente auf vie Geftaltung der Wirthichaft 
zu unterfudhen. Bon viefem Gefihtspunft aus erjcheint das wirtbichaftliche Zufam- 
mens und Beieinanderleben nur als ein Theil, eine Seite des Zufammen- und Für- 
einanderlebens ver Menfchen überhaupt, oder, wenn wir dieſes nady feiner wichtigften 
Erſcheinungsweiſe als nationales Leben bezeichnen, des nationalen Lebens. In dieſem 
nationalen Leben aber hat uns die Betrachtung der Geſchichte gelehrt, nicht blos 
eine vegellofe Folge verfchtedenartiger Wandlungen zu erbliden. Die Bergleihung 
ver Vorgänge bei verſchiedenen Völkern zeigt uns vielmehr bei aller Verſchiedenheit 
im Einzelnen eine Webereinftimmung gewifler Grundzüge. Wir fühlen uns dadurch 
berechtigt, eine Oefegmäßigfeit im Verlaufe der Geſchichte der Völker anzunehmen, 
und Indem wir den Gedanken hinzufügen, daß biefer Verlauf zu einer fortfchrei- 
tenden Bervolllommnung der gemeinfhaftlihen Eriftenz führe, ſprechen wir von 
Geſetzen der nationalen Entwidelung. Der Volkswirthſchaftslehre fällt hiernach bie 


Darlegung dieſer Geſetze, infoweit fie fih auf vie Wirthſchaft beziehen, zu; fie 


104 Dolkswirthfchaft, volkswirthſchaſts lehre. 


wird zur Wiſſenſchaft von den Entwickelungsgeſetzen der Volks— 
wirthſchaft. Es iſt aber noch eine höhere Auffaſſung möglich als ſelbſt dieſe. 
Auch die einzelnen Völker in ihrem gleichzeitigen Nebeneinanderbeſtehen und ihrer 
Aufeinanderfolge ſcheinen uns beſtimmt, zu der Verwirklichung einer großen 
gemeinſamen Idee zuſammenzuwirken. „Wir glauben, ſagt Dahlmann, an ein 
großes gemeinſames Werk der Menſchheit, zu welchem das einzelne Staatenleben 
nur bie Vorarbeiten liefert, an eine auch äußerliche Vollendung der menſchlichen 
Dinge am Ende der Geſchichte.“ Demgemäß fuchen wir, die einzelnen gefchichtlichen 
Thatfahen unter immer weitere Geſichtspunkte zufammenfafienn, ven Plan ber 
Geſchichte des menfhlihen Geſchlechtes zu erkennen, die wir mit einer uns kaum 
zum Bewnßtfein kommenden Seibftüberhebung vie Weltgefchichte oder die Ge- 
ſchichte fchlechtweg zu nennen pflegen. Wir bemühen uns mit einem Worte eine 
PHilofophie der Geſchichte aufzuftellen und zu begründen. Die Bollswirtbichafts- 
lehre bat dann den auf die Wirthichaft bezüglichen Theil dieſer Aufgabe zu löſen. 
Sie ftelt ſich als Bhilofophie der Wirtbihaftsgefhichte dar. 

Zweierlei haben wir dieſen verichievdenen Definitionen der Volkswirthſchafts⸗ 
lehre gegenüber zu bemerfen. Das Erfte ift, daß fie ſich gegenfeitig nicht aus- 
fliegen. &8 find nicht verfchievene Aufgaben, welche zufolge derſelben an bie 
Bollswirthihaftslchre geftellt werden, fondern jede fpätere Definition fügt, zu ber 
frühern nur die Forderung einer weitern Vertiefung ber gewonnenen Erkenntniß 
hinzu. Vergleihsweife am leichteften erfcheint es, auf Grund der erften Definition 
dem Zuſammenhange ver einzelnen Hauptgattungen wirtbfchaftliher Vorgänge 
nachzugehen, 3. B. zu erflären, in welcher Weile und aus welchem Grunde bie 
Arbeitstheilung oder bie Benutzung von Kapital ten Ertrag der Probuftion zn 
fteigern, das Geld und ber Krebit den Umfag der Güter zu erleichtern, das An- 
gebot und vie Nachfrage auf die Preife und diefe wiederum auf jene zurückzuwirken 
geeignet find. Auf wefentlich verwideltere Probleme ftößt man, wenn man nad Maf- 
gabe der zweiten Definition fi vorfegt, bie Geſetzmäßigkeit in ben zeitlichen 
Modifikationen ver wirtbichaftlihen Berhältniffe und Einrichtungen, wie z. B. in 
ber relativen Bedeutung des flehenden und tes umlaufenden Kapitals, in ber Um- 

eftaltung ter Eigenthumsverhältnifie, in dem Webergang von ber Natural» zur 
Selb. und Krebitwirtbfhaft u. vergl. mehr nachzuweiſen. Denn die Vorausfegungen, 
welhe man im erftern Yalle als feftftehenve annahm, erfcheinen hier als wandel⸗ 
bare Folgen einer zweithöhern Reihe von Boranefegungen. Statt mit konftauten 
Größen bat man es, um einen mathematifhen Ausorud zu gebraudyen, mit ver- 
änderlihen Funktionen zu thun. Bei dem Berfuche vollends, die Volkswirthſchafts⸗ 
Iehre zu einem Theile ver Geſchichtsphiloſophie zu erheben, werben die Schwierig. 
teilten, mit denen man zu kämpfen hat, noch ungleich größer. Es gilt dabei, jedem 
einzelnen Bolfe und feiner wirthſchaftlichen Entwidelung ihre Bedeutung für bie 
Erreihung ber der ganzen Menfchheit geftedten wirthſchaſtlichen Zielpunfte zuzu- 
weifen. Würde e8 3. DB. der vorerwähnten Auffaffung genügen, vie Uebereinftim- 
mung in ven Entwidelungsphafen der Wirthſchaft der antiken und ber modernen 
Bölfer, ber occidentaliſchen und der orientalifchen Länder nachzuweiſen, fo käme jett 
noch die Aufgabe Hinzu, die wirthſchaftliche Entwidelung biefer Völker und Länder 
in ihrer Stellung zu einander zu würbigen. &8 ergiebt fi hieraus, daß einem 
gegebenen Zuftande der Bollswirthihaftslehre Die am wenigften tiefgreifende Anf- 
faffung in der That am beſten entfpredden Tann, ohne daß darum die andern De 
finitionen zu verwerfen wären, ober die Hoffnung aufgegeben werden müßte, daß 
eine fpätere Zeit deren umfafienveren Gefihtspunften gerecht werben könnte. Es 


Dolkswirthicheft, dolkswirthſchaſtslehre. . 1085 


tft das nicht Hoch genug anzufchlagenve Verbienft Roſchers, zuerft anf pie Noth- 
wenbigfeit gebrungen zu haben, in der Behandlung der Volkswirthſchaftslehre zu 
ber zweiten Auffaflung überzugehen, und auf dieſem Wege mit meithintragendem 
Sharfblide und eiferner Ausdauer als Pfadfinder vorangegangen zu fein, und es 
ift ebenfo thöricht, dieſes Verbienft darum ſchmälern zu wollen, weil er nicht allein 
da8 ganze Werk, auf⸗deſſen Nothwendigkeit er hingemwiejen hat, zu vollenden ver⸗ 
mag, als wenn man dem Entbeder eines neuen Kontinents einen Borwurf daraus 
maden wollte, dieſen nicht ohme vie Hülfe vieler Anderer Tolonifiren zu können. 
Deunoch find wir zweifelhaft, ob jene Roſcherſche Auffaffung nicht mehr ber Zu⸗ 
funft al8 der Gegenwart der Wiflenfchaft angehört, und wir finden von viefer 
Erwägung aus eine gewiſſe, neuerdings mehrfeitig gegen Rofcher und feine Schule 
beruorgetretene Reaktion allerbings erflärlih. Denn auch nach jener beſchränkteren 
bisherigen Auffafjung bleibt tie Boltswirthichaftsiehre noch immer von einem felbft 
nur annähernden Abjchluffe ihrer Aufgabe weit entfernt, und es fehlt noch Teines- 
wegs an wirtbichaftlihen Thatfahen von allgemeiner Bedeutung, die in ihren 
Urfahen wie in ihren Wirkungen noch gar nicht oder doch nur unvollftändig auf- 
gellärt find, felbft wenn man bie Betradjtung auf die Volkswirthſchaft ver Gegen- 
wart befchränft und die Wandelungen außer Acht läßt, welche Einrichtungen, Zu⸗ 
fände und Berhältniffe im Laufe der Zeit erfahren haben. Um beifpielsweife nur 
einen Punkt anzuführen, fo fei daran erinnert, wie wenig noch gefchehen ffl, um 
bie Borausfegungen feftzuftellen, unter benen die Arbeitstheilung (die der heu⸗ 
tigen Geſellſchaft ſich intenfiv als Theilung der Operationen innerhalb der Unter- 
nehmungen oder ertenfio als Auseinandertreten verfchievener felbftänpiger Berufs- 
zweige vollzieht. Sobald man aber unter ſolchen Umſtänden fi vorjegt, dem Ge» 
jegmäßigen in den Veränderungen bes wirtbichaftlihen Zufammenlebens nachzu⸗ 
fpüren, mag eine umfaſſende Gelehrfamfeit, ein feines Verſtändniß und ein ſicherer 
Zalt zwar immerhin manche Analogie zwifchen den wirthſchaftlichen Vorgängen 
verſchiedener Zeiten und Völker aufpeden und auf Grund verfelben allgemeine Er- 
Härungsformeln ausfindig machen und als Entwidelungsgefege hinſtellen; allein 
einmal ermangeln bie fo gefundenen Sätze doch zu fehr ver Vollſtändigkeit, als daß 
fie fi zu einem wiſſenſchaftlichen Syſteme zufammenftellen ließen; fie find Bau- 
feine und theilweife gewiß ſehr werthvolle Baufteine zu einer künftigen Wiflen- 
haft von den Entwidelungsgefegen der Volkswirthſchaft, aber noch nicht dieſe 
Wiſſenſchaft ſelbſft. Und fodann fehlt ihnen in den meiften Fällen eine Begrün- 
bung, welche fie vor jeder Anfechtung fiher zu ftellen vermöchte. Mitunter neh- 
men fie freilich durch innere Oefälligfeit und äußere Eleganz das Urtheil in hohem 
. Örade für fi ein, indeflen wird ihre Nichtigkeit hierdurch nur wahrfcheinlich ge 
macht, nicht erwiefen. Zu dem wirklichen Beweiſe eines Entwidelungsgefeges ge- 
nügt ja nicht die Hinbentung auf die Uebereinftimmung beflimmter Grundzüge in 
ber Entwidelung verjchiedener Völker, fontern e8 bedarf des Nachweiſes, daß viefe 
ebereinftimmung ſich aus der gleihmäßigen Wirkſamkeit gleiher Kräfte und nur 
daraus erflärt. So lange dieſer Nachweis fehlt, bat man es nur mit Hypotheſen 
zu tbun, die mit Bewunderung für den genialen Auffteler erfüllen mögen, bie 
aber darum doch nur Hypotheſen bleiben. Je ſchwieriger gerade für die Erſcheinungen 
des Bölferlebens ein folcher Beweis fi herfiellen läßt, vefto näher liegt vie Ge⸗ 
fahr falſcher Verallgemeinerungen aus vereinzelten Beobachtungen, und baß bie 
Bertreter- der Anffaffung, welde die Voltswirthichaftslehre zur Höhe einer Dar⸗ 
fellung der wirtbfchaftlihen Entwicklungsgeſetze erheben will, diefer Gefahr keines⸗ 
wegs immer entgangen find, dafür ließe fih mehr als ein Beiſpiel anführen, 








108 dolkswirthſchaſt, Dolkswirthfchaftsiehre. 


Und bier find wir an bem zweiten Punkte, ben wir ben verſchiedenen Defi- 


nitionen der Bollswirthichaftslchre gegenüber hervorheben wollten. Wir meinen 
bie wachſende Bebeutung, welde mit jeder weiteren Bertiefung der Auffaffung der 
Bollswirthfihaftslehre die Forderung einer abgeflärten und firengen Methode in 
deren Behandlung gewinnt. Zu einer richtigen Methode gehört weſentlich dreierlei: 
Klarheit Über das, was zur Teftftellung eines Beweiſes erforverlih ift; Klarheit 
über die Wege, die zur Herbeilhaffung und Verwendung ber Beweismittel gegeben 
find; endlich Klarheit über die Tragweite des Beweiſes, weldhe dann dahin führt, 
dem Ausprude die richtige Begrenzung zu geben. Und In jeder dieſer Beziehungen 
fteigern fih die Schwierigkeiten und Gefahren mit der VBerwideltheit der Probleme, 
welde man in Angriff nimmt. Man braudt, um fi) hiervon zu überzeugen, nur 
im Allgemeinen die Naturwiffenfchaften mit den moraltfhen Wiffenfchaften zu ver- 
gleihen. Die ungleih volllommenere Ausbildung der Methode ver erſtern, welcher 
fie den Ehrennamen ver exakten Wiſſenſchaften verbanten, beruht offenbar weſentlich 
auf der verhältnigmäßigen Einfachheit ihrer Aufgaben. Was nun fpeciell die Volks⸗ 
wirthſchaftslehre betrifft, jo leuchtet nicht nur ein, daß bie Schwierigleiten, über 
die erwähnten Punkte ins Klare zu kommen, geringere find, wenn man ihr nur 
die Aufgabe zufchreibt, den Zufammenhang der typiſchen Vorgänge im Wirth: 
ſchaſtsleben aufzubeden, als wenn man von ihr die Tarlegung der Geſetze verlangt, 
nad welcher ſich viefe Vorgänge im Verlaufe der nationalen Gefchichte mobifichren, 
fondern e8 liegt auch auf der Hand, daß Im legteren Falle eben wegen der größeren 
Schwierigkeit einerfeit8 und des weitertragenden Interefies andererjeits, vie Ver⸗ 
fnhung fi mit unvollfländigen Beweiſen zu begnügen, Bermuthetes als feſt 
ftehende Wahrheit binzuftellen, beichränft giltigen Sätzen eine verallgemeinernde 
Auspehnung zu geben, ungleich mächtiger, ſowie die Gefahr, in Folge davon durch 
fortgefegte Schlußfolgerungen fih ins Bodenloſe zu verirren, bei weitem größer 
ift. So lange es ſich 3. B., was das Kapital betrifft, nur darum handelt, feine 
allgemeine Bebeutung für die Produktion, die Wirkſamkeit der verſchiedenen For⸗ 
men, in welden es vorkommt (ftehendes, umlaufendes Kapital 2c.), die Wichtig- 
feit eines harmoniſchen Verhältniſſes zwifchen dieſen und Aehnliches nachzuweiſen, 
fo lange wird die Methode der Beweisführung kaum eine ernſtliche Schwierigkeit 
verurſachen. Es genügt, ber einfachften logiſchen Grundſätze eingedenk zu fein, 
um ſich ein ficheres Urtheil über die Anfechtbarkeit oder Unanfechtbarkeit, vie allge= 
meinere oder begrenztere Gültigfeit ter aufgeftellten Lehrfäge zu bilden; mit einiger 
Aufmerkſamkeit werben Fehlihlüffe leicht zu vermeiden oder aufzudeden fein. Wenn 
bingegen bie Frage geftellt werben fol auf die Gefege, nach welchen 3. B. bie 
Neigung zur Bildung des Kapitals im Allgemeinen und feiner einzelnen Formen 
insbefondere fi ändert und demnach das Wachsthum des Kapitals und bie Ber- 
änderungen bes Mifhungsverhältnifjes feiner Beſtandtheile erfolgen, fo ſtellt man 
ſich damit auf einen Boden fehr verwidelter Schlußfolgerungen, in weldye fich 
leicht zahlreihe und gewichtige Fehler einfchleihen werben, wenn man nicht jeden 
Schritt nad ftreng methodiſchen Grundſätzen Eontrolirt. Ein reeller wiſſenſchaftlicher 
Gewinn läßt fih bier nur mittelft einer durch⸗ und ins Feine ausgebildeten Me⸗ 
thode einbringen. Die völlige Verwirklichung der von Rofcher und feinen Schülern 
allerdings mit vollem Rechte an die Volkswirthſchaftslehre geftellten Forderung er- 
ſcheint uns danach weſentlich bedingt von einer fortfchreitenden Vervollkommnung 
in der Methode dieſer Wiſſenſchaft. 

III. Diefer Methode nun wird es unerläßlih fein, auch an diefem Orte 
einige Betrachtungen zu widmen. Man ftreitet fich befanntlich noch Immer darüber, 


volkewirthſchaſt, Doikswiethfhaftsichre. 107 


ob die volkswirthſchaftlichen Geſetze Naturgefege feien ober einer höhern Orbnung 
ver Geſetzmäßigkeit angehören; ob die Boltswirthihaftslehre als eine Naturwiflen- 

oder eine moralifche Wiſſenſchaft anzufehen fei. Schon biefer Umftand allein 
verräth eine bedenkliche Unficherheit ver Methodik. Freilich haben fid Diejenigen, 
welhe heutzutage vie Bezeichnung ver Wirthichaftögefege als Naturgefege vertreten, 
ſachlich meiftens ihren Gegnern fehr genähert. Sie erfennen an, daß der Mittel- 
punft, das bewegende Princip der Wirthfchaft der Menſch iſt, und daß dieſer 
nicht willenios den in ver Natur waltenvden Kräften folgt. Der Ausdruck Natur- 
gefeg fol von ihrem Standpunkt aus nur anbeuten, daß die dem Menſchen ange⸗ 
bornen Triebe und Neigungen, mit einem Worte, daß feine Natur auch feine 
wirthſchaftliche Thätigleit wefentlich beeinflußt, und daß namentlih, fobald man 
fid von der Betrachtung bes einzelnen Falles zu der ver wirthſchaftlichen Er- 
(heinungen im Großen und Ganzen erhebt, der Einfluß dieſes in allen Einzelnen 
tonftant wirkenden &lementes deutlich nachweisbar hervortreten muß. So liegt es 
z. B. in ver Natur bes Menſchen, daß er die Anftrengung ſcheut und den Genuß 
liebt, daß er des Umganges mit Seineögleihhen bedarf u. |. w., und als noth- 
wendige Folgen hieraus lafien fid) die Gliederung ver Arbeiten, ver Tauſch als 
regelmäßige Form bes Güterumſatzes und Wehnliches mehr ableiten. Nichts vefto 
weniger wird man, wie uns feheint, auf jene Bezeichnung befier verzichten. Denn 
unzweifelhaft verfteht man doch unter Naturgefegen ſolche Gelee, denen vie ma- 
terielle Welt willenlos gehorcht, und an benen fidh durch bewußte Thätigkeit Nichts 
ändern läßt, die deßhalb aud außerhalb aller geſchichtlichen Entwidelung liegen. 
Brzeihnet man nun die Wirtbfchaft ale unter Naturgefegen ftehend, fo feheint daher 
bierin die Ausfchließung jeder Einwirkung menfchlicher Freiheit und die Berzicht- 
ldftung auf jeden Fortſchritt zu liegen. Soll Beides dabei dennoch beftehen, fo 
verbindet man eben mit dem Ausdruck Naturgefeg einen weitern Sinn, als das 
fonft geihieht; ja man muß ihn fo weit fallen, daß er fi mit dem allgemeinen 
Begriffe des Gefetzes vollſtändig deckt. Verhält ſich das aber fo, dann iſt es jeden⸗ 
falls richtiger und um der Verhütung von Mißverſtändnifſen willen wünſchenswerth, 
einfach von Geſetzen, als von Naturgeſetzen der Wirthſchaft zu reden. Von dieſem 
Befihtspuntte aus hat kürzlich Hildebrand den naturwiſſenſchaftlichen Charakter ver 
Birthfhaftslehre beſtritten ). Wenn man von Naturgefegen in der Bollswirth- - 
haft fpricht, jagt er ganz richtig, fo hat man zwei ragen fireng von einander 
ja unterfheiden: 1) bat die bewußtlofe Natur, welder ver Menſch vie Mittel 
zur Wirthſchaft verdanft und ber er felbft mit feinem leibliden Organismus 
angehört, hat diefe Natur mit ihren unmwandelbaren Gefegen einen beftimmenven 
Einfluß anf die Wirthihaft ver Völker? 2) Ift die Wirthſchaft felbft, d. 5. find 
die wirthſchaftlichen Handlungen der Menfhen Naturgefegen unterworfen? Das 
Erflere ift unbeftritten und unbeftreitbar, das Lestere leugnet er. Nicht als 
ob die wirthſchaftlichen Zuftände blindem Zufalle preisgegeben und willfürliche 
fin, wohl aber in dem Sinne, daß die Geſetzmäßigkeit, in welder fie fi 
vollziehen, die Gefegmäßigkeit der pfychologifchen Vorgänge, wie ex fie nennt, „von 
der phyfikaliſchen Geſetzmäßigkeit unendlich verfchieden fei und zwar nicht nur 
dadurch, daß fie fih ausſchließlich im menſchlichen Bewußtſein und burd das 
menfhlihe Bewußtſein vollzieht, fondern auch dadurch, daß fie die Wirkſamkeit 
und Macht der etbifchen Ideen und demzufolge die fittliche Pflicht und bie Ver⸗ 
antwortlichkeit des Individuums für feine Handlungen vollkommen beftehen läßt." — 


4) Yahıbud für Nationalökonomie und Statiſtik Bo. I. 





108 Volkswirthichaft, volkswirthſchaſtslehre. 


Aufgabe der Wirthfchaftslehre ift es num, das Verhältniß und bie Art und Weiſe 
nachzuweiſen, in welchen Natur- und pſychologiſche Gefege (wie Kette und Ein« 
ſchlag zur Herftellung eines Gewebes, um abermals mit einem Bilde Hildebrands 
zu reden), zur wirthichaftlichen Befriedigung der menfchlihen Gefellihaft zufammen- 
wirken, oder, wenn wir es ſogleich fchärfer betonen wollen, daß in der Wirthſchaft 
Allee vom Menſchen ausgeht und fih auf den Menfchen bezieht, darzulegen, wie 
die Motive, welche ihn beftimmen, unter dem Einfluffe der natärlihen Bedingungen, 
unter die er geftellt ift, feinen wirtbihaftlihen Hantlungen einen beftimmten Inhalt 
und eine beftimmte Form geben. Zur Löſung viefer Aufgabe aber ſcheint nicht allen 
Fragen gegenüber, welche fie in fich fchließt, derſelbe Weg gleihmäßig geeignet zu 
fein, vielmehr lehrt ein kurzes Ueberlegen, daß tie verfchiedenen Theile des Gebietes, 
weldhes vie Volkswirthſchaftslehre umfaßt, eine verjchiedene Behandlung verlangen. 
Ueberblidt man die wirthichaftlihe Thätigkeit, fo bietet fich gleichſam von felbft 
eine Dreitheilung derfelben dar. Die Menfchen bemühen fi, Güter hervorzubringen ; 
fie thun das, um fie nachher zu verwenden, was regelmäßig zu einer langfanıern ober 
ſchnellern Zerftörung derſelben führt. Zwiſchen Hervorbringung und Verwen— 
bung aber liegt, ta in der geſellſchaftlichen Wirthichaft die Einen für tie Andern 
produciren, als eine vritte Aufgabe, bie ver Neberführung der Güter in 
die Hände Derjenigen, melde fie ausnugen follen. So bat fi von Alters her und 
befonvers feit Adam Smith die Eintheilung der Volkswirthſchaftslehre in die Lehren 
von der Erzeugung, der Bertbeilung und der Verzehrung der Güter eingebürgert. - 
Dean ift freilih bier und da von dberfelben abgewichen. Theils hat man zum 
oberften Eintheilungsprincip einen andern Gedanken genommen, als den Zwed der 
wirthſchaftlichen Handlungen, man bat 3. B. die Wirthſchaft nad) einander betrachtet 
von dem Gefichtöpunft aus, wie fie fih geftalten muß in der ifolirten Haus- 
baltung, unter dem Einfluffe gefellihaftliher Verbindungen und endli innerhalb 
des ftaatlihen Organismus. Theild hat man unter Beibehaltung jenes Principe 
bie darauf gegründete Eintheilung modificirt, indem man bald aus ber Lehre von 
ber Gütervertheilung als einen weitern Haupttheil eine Lehre vom Güterumlauf 
ausſchied, bald vie Lehre von der Konfumtion als eigenen Haupttheil befeitigte, 
davon ausgehend, daß die unprobuftive Verzehrung überhaupt fein wirthſchaftlicher 
Alt fei, die probultive Verzehrung aber bei der Produktion nuter der Betrachtung 
der Produftionstoften ihre Stelle finde Wir können es uns an biefer Stelle er- 
fparen, die Gründe, weldhe für und gegen viefe Veränderungen fprechen, zu erör- 
tern und gegen einander abzumwägen. Es genügt, darauf hinzumelfen, wie jene 
Dreitheilung nit nur noch immer vorherrſchend im Gebrauch ift, fondern felbft de, 
wo man fie als oberfte aufgegeben oder in irgend einer Weife mobificirt hat, 
feineswegs ihre Bedeutung vollftändig eingebüßt het. In dem einen alle Tehrt 
fie wohl Bei der Bildung ter Unterabfchnitte der einzelnen Hauptabtheilungen offe- 
ner ober verftedter wieder; in dem andern handelt es ſich eigentlih nur um, Ber- 
änderungen in ber Anwendung berfelben. Es wird baher geftattet fein, hier von 
berfelben als der naturgemäßeften und einfachften auszugehen. Dabei zeigt ſich nun 
alsbald eine nahe Verwandtſchaft zwiſchen ven Aufgaben der Tehren von der Produk⸗ 
tion und von ter Konfumtion. Denn nidt allein, daß bei der Berzehrung 
zu produftiven Zweden Produltion und Konfumtion fih unmittelbar mit einander 
verbinden, nicht allein, daß die Vermeidung oder Befchränfung der Wertbzerftörung 
beim Gebrauch der Güter ſich aud) als eine Art von Produktion auffaffen läßt (vergl. 
ben Artikel Güterprobuftion), liegt auch fonft die innigfte Beziehung der einen zu 
ber andern Mar zu Tage. Man probucirt, um fonfumiren zu konnen, und wie⸗ 





Dolkswirthfchaft, Dolkswirthfchaftsichre. 109 


berum, weil man fonfumirt, iſt e8 nöthig, immer wieber zu produciren. Die wirth- 
(Haftlihen Aufgaben in Bezug auf Produftion und Konfumtion find daher -aud) 
ganz analoge, die einen bilden fo zu fagen nur die Kehrfeite der andern. Bei der 
Produktion dreht fi Alles darum, das Verhältniß zwifchen den zu bringenden 
Opfern und dem wirtbichaftlihen Erfolge möglihft günftig zu geftalten. Ebenſo 
frebt die Konfumtion, ohne Beeinträchtigung ihres Zwedes, beftehe dieſer unmittel= 
bar im Genuſſe over in der Gewinnung von Mitteln zu einem folden, mit ver 
möglihft geringen Aufopferung durchzukommen. Hieraus ergibt fi, daß auch hin- 
fhrlih der Probleme, melde fih auf die Provuftion, und derjenigen, melde ſich 
auf die Konſumtion beziehen, diefelbe wiſſenſchaftliche Behandlungsweiſe angezeigt 
iſ. Und zwar wird das zur Gewinnung allgemeiner Säge einzufchlagende Ber- 
fahren nicht wohl ein anderes fein Können, als das einer Analyſirung der durch die 
Erfahrung gelieferten Thatſachen. Dan darf annehmen, daß in dem „Kampfe um 
das wirthſchaftliche Dafein“ unter den verfchiedenfien Mitteln und Wegen, weldye 
verfucht worden find, um der Produktion den größtmöglichen Erfolg zu jichern oder 
ven fonfumtiven Genuß mit dem thunlichft geringen Maß von Opfern zu erkaufen, 
bie verfehlten oder minder gelungenen nur vereinzelt aufgetaucht und raſch wieder auf- 
gegeben, die zum Ziele führenden dagegen immer regelmäßiger und allgemeiner gewählt 
und betreten worden find. Indem man den Thatfachen nachgeht, wird man baher hoffen 
därfen,, wirklich alle weſentlichen Formen ausfindig zu machen, mittelft deren die 
betreffenden Wirthſchaftszwecke fib erreichen laſſen. Hieraus erklärt es fih, daß 
diejenigen Theile des Werkes von Adam Smith, welde von der Produktion und 
von der Konſunition handeln, wie Hildebrand fih ausprüdt, nur eine auf die Beob⸗ 
ahtung des Lebens geftügte Naturbefchreibung ber betreffenden Proceſſe enthalten, 
ud daß auch die Nachfolger im Ganzen regelmäßig dieſen Weg gegangen finv, 
wenn fie auch ten gewonnenen Ergebnifien mehr einen dogmatjschen Ausprud ge- 
geben haben. Zu viefem Behufe handelte es ſich zunächſt darum, die übereinftim- 
menden Grundzüge in den mannigfaltigen Modalitäten ver Probuftion und Kon- 
Inmtion , welche dad Leben zeigte, zu erfennen, um daraus bie Sategorieen ber 
Mittel zu bilden, durch welche die Bervolllommnung beider erreicht wird. Die 
Datjachen ſprachen zu deutlich, als daß hierüber eine große Meinungsverfchieven- 
heit möglich gewefen wäre, wenn aud die Formulirung diefer Kategorieen bei den 
äinzelnen Syſtematikern ſich etwas verſchieden geftaltete. Auf Seiten der Propuf- 
tion ftellten fi) als bie großen allgemeinen Hörberungsmittel vie Thetlung oder, 
wie man neuerdings richtiger fagt, die Gliederung ber Arbeit und die Berwen« 
dung von Kapital dar, denen als ein drittes nody den unfernehmungsweifen Betrieb 
anzureihen, meinerfeit8 vorgefhlagen und verfudht worden iſt. 5)) Was vie Konfum« 
tion betrifft , fo ließen ſich einestheild die fpecififhe Geftaltung und die gemein- 
ſchaftliche Benugung der Güter, jene namentlih ber fparfameren Behandlung, 
diefe der volftändigern Ausnugung derfelben dienlih und beide gewiffermaßen das 
Öegenbild ver Arbeitstheilung und -Bereinigung, anderntheils die Nutzbarmachung 
ber Abfälle als die Hauptmittel zur Beſchränkung der zu bringenden Opfer nicht 
verfennen. Bon biefen Grundlagen aus nun ergaben fid) unmittelbar vie weiter zu 
lͤſenden Aufgaben. 

‚ 88 galt einmal, innerhalb der gewonnenen Hauptlategorieen die dahin ge⸗ 
hörigen Erfcheinungen nach den. wichtigſten Unterfcheidungspunften, welche fie dar⸗ 
bieten, zu Baffificiren — alſo z. B. beim Kapital zwifchen ſtehendem und umlan- 





5) Siehe meinen Grundiip der Volkswirihſchaftolehre. Stuttgart 1863. 





110 Dotkswirthfchatt, Dolkswirthfchaftsichre. 


fendem, bei der Arbeitstheilung zwifchen ertenfiver und intenfiver, bet den Unter 
nehmungen zwifchen foldhen, die auf Beftellung, und folden, die auf Borrath 
produciren, zu unterfheiden. Es galt ferner, die Borausfegungen feftzuftellen, von 
benen e8 abhängig ift, daß alle diefe verfchiedenen Wirtbichaftsmodalitäten ins Leben 
treten und um ſich greifen; und es galt endlich, die Folgen darzulegen, welde 
ih an jede der letztern Inüpfen. In allen diefen Beziehungen aber iſt man, wenn 
and häufig die Spelulation der Forſchung die Wege weijen mag, der Hauptſache 
nad darauf angewiefen, die Lehrfäge aus den Thatfachen abzuleiten. Das einzu 
ſchlagende Verfahren ift das der Induktion, umd es läßt fi) behaupten, daß faft 
alle wichtigen Lehrſätze, welche fi auf die bezeichneten Theile der Wirthfchafts- 
lehre beziehen, auf viefem Wege gefunden worden find. Die Thünen’fchen Geſetze 
über den Einfluß der Lage der Grunpftüde zum Abfagmarkt auf vie Geflaltung 
der landwirthſchaftlichen Produktion bilden fo ziemlih das einzige Beifpiel einer 
wirklich bedeutfamen Bereicherung der Produktionslehre durch. reine Dedultion. Die 
Herſtellung eines vollkommen genügenden induktiven Beweiſes iſt freilich gerade 
auf dkonomiſchem Gebiete beſonders ſchwierig. Zunächſt enthält ſchon die Richtige 
ſtellung der Thatſachen, mit welcher die Statiſtik der Wirthſchaftslehre vorzuarbei⸗ 
ten bat, häufig, ja meiſtens ſehr ſchwer zu löſende Aufgaben. Noch ungleich miß⸗ 
licher aber ſteht es ſodann um ven Nachweis des kauſalen Zufammenhangs zwi- 
[hen den Thatſachen. Es gereicht in diefer Beziehung der Wirthichaftslehre fehr 
zum Nachtheil, daß ihr die Möglichkeit des Experimentirens, welche den Natur 
wifjenjchaften fo ſehr zu ftatten fommt, fo gut wie gänzlich abgefchnitten iſt. An- 
ftatt fi beliebige Variationen von Thatfachen ſchaffen zu können, muß fie bie 
legteren nehmen, wie das wirkliche Leben fie ihr eben zu Gebote ftellen will. 
Hieraus erflärt es fi, daß die fraglichen Theile der Wirthſchaftslehre trog aller 
NReichhaltigkeit noch, fo vielfach der wiffenjhaftlihen Präcifion ermangeln, und daß 
bie aufgeftellten Saͤtze größtentheils fireng genommen nur als mehr oder minder 
wahrſcheinlich gemachte Behauptungen und nicht als wirklich feftbegründete Geſetze 
gelten können. Vielfach freilih hat man, um die mangelhafte Inpuftion zu ftügen, 
hinterher noch die Deduktion herangezogen und ans ber Natur der Dinge und 
ber Menſchen die kauſale Verbindung wirthihaftlicher Vorgänge nachzuweiſen ver- 
ſucht, welche mit den thatfächlichen Beobachtungen ſich nicht ausreichend begründen 
ließ. Nur Schade, daß das Näfonnement in der Regel nicht durchſchlagend war, 
jei ed, daR es von unficheren VBorausfegangen ausging, jet ed, daß es der Schluß- 
folgerung an Strenge gebrach. Die Uebereinftimmung in ven Ergebniffen einer 
unvolllommenen Induktion und denjenigen einer unvolllommenen Debuftion erhöht 
zwar die Wahrfcheinlichkeit der Nichtigkeit viefer Ergebniſſe, einen wirklichen Be⸗ 
weis derfelben jedoch vermag fie nicht zu liefern. Trog den bezeichneten Schwierig» 
feiten, welche ſich der Vervollſtändigung der induktiven Beweiſe auf wirthſchaft⸗ 
lichem Gebiete entgegenſtellen, bleibt indeſſen die Lehre von der Produktion und 
von der Konſumtion, da eine deduktive Begründung derſelben noch ungleich größe⸗ 
ren Hinderniſſen begegnen würde, vorzugsweiſe auf die Indultion angewieſen. Die 
Thatſachen, auf welche man ſich dabei ſtützen Tann, find immerhin meiſtens mannig- 
faltig und ſicher beglaubigt genug, um den gezogenen Schlüſſen einen bedeutenden 
Grad von Wahrſcheinlichkeit zu verleihen. Im Uebrigen wird man ſich für die 
vollflommenere Ausbildung biefer Theile der Wiffenichaft auf das Material, welches 
bie Wirklichleit täglich in immer neuer Fülle und neuen Beränderungen hervor» 
bringt, und auf die Immer vollftändigere. und zuverläfftgere Regiftrirung desſelben 
durch die Statiſtik verlafien müſſen. 


Dolkswirthfchaft, Dolkswirihfchaftsichre. 11 


Wefentlich anders verhält es ſich mit ver Lehre von ber Gütervertheilung. 
Den Mittelpuntt derſelben, zu welchem alle andern dahin gehörigen Betradhtungen 
in nächfter Beziehung ftehen, Bilvet die Lehre von der Bildung ver Preife. Hin- 
ſichtlich dieſer nun erweist fi der Weg der Induktion als wenig fruchtbar. Zum Beleg 
fei nurd arauf hingewieſen, daß felbft ein jo monumentales Wert, wie Slooke's und 
NRewmarchs Gefchihte ver Preife zur Förderung der Theorie der Preisbildung nur 
verhältnigmäßig wenig beigetragen bat. In der That überzeugt uns freilih ſchon 
eine oberflächliche Betrachtung der in der Wirklichkeit vorfommenven Preife, daß 
diefelben unter dem Einflufje gewifler Gefege ſtehen müſſen, namentlich) die beveut- 
ſame Einwirkung der Propuftionskoften drängt fi unabweisbar auf. Sobald man 
aber auf dieſem Wege weiter zu gehen und zu prächjeren Ergebniflen zu gelangen 
verſucht, häufen ſich die Schwierigkeiten in einer Weife, daß man bie Hoffnung, 
mit ihnen fertig zu werben, bald aufgeben muß. Mag man die Preife einzeln oder 
in großen Durchſchnitten der Prüfung unterziehen, immer zeigt fidh, daß biefelben 
fih nicht aus einfachen, fondern nur aus einer Kombination von Urſachen erklären 
lafien, deren einzelne Elemente aus ven gegebenen Daten feftzuftellen und in ihrer 
Wirkſamkeit zu fhägen unmöglih fällt. So fieht fih die Wiſſenſchaft binfichtlich 
dieſes Theils ihrer Aufgabe auf die Deduktion verwiefen, und wirklich iſt biefer 
foft der ganze Beftand, ven vie Lehre von der Gütervertheilung bis jetzt gemon- 
nen bat, zu verbanfen. Man ftellte gewiſſe Borausfegungen auf, in welchen vie 
einfachſten Faktoren für die Bildung der Werthe enthalten zu fein jhienen, und 
feug ih, welche Wertboerhältniffe daraus hervorgehen müßten, wenn eben nur 
jene Borausfegungen und feine andern ind Spiel fümen. Unter ihnen war bie 
erſte und wichtigfte, daß die Menſchen in ihren wirthſchaftlichen Handlungen nur 
durch ein einfaches und unter allen Umſtänden ſich gleichbleibentes Motiv beftimmt 
werden. Als folhes konnte man nit wohl ein anderes aufftellen, als dasjenige, 
welhes vie Erfahrung aller Länder und Zeiten als das am allgemeinften ver- 
breitete und die ftärffte Kraft befigende unzweifelhaft ergab, das Motiv der Selbft- 
liebe, der Verfolgung des eigenen Vortheils. Eine zweite Vorausfegung, die man 
machte, war eine unbefchräntte Freiheit der wirthſchaftlichen Bewegung, eine dritte 
vie Unerjchöpflichkeit und die immer gleihe Zugänglichkeit ver natürlichen Produktions⸗ 
mittel. Die Ergebniffe, zu welchen mn mittelft dieſes Verfahrens gelangt, neh- 
men, die Bermeidung Iogifcher Fehler vorausgefegt, eben fo ftrenge Gültigkeit in 
Anſpruch, wie irgend welche Naturgefege, und dies beftreiten zu wollen, iſt ein- 
fach Verkehriheit. Andererſeits ift diefe Gültigkeit nur eine hypothetiſche, an die 
za Grunde gelegten Vorausſetzungen gebundene. Dies ift öfter verlannt worden. 
Daß es geichehen konnte, erklärt ſich hauptfählih aus folgendem Umſtande. Die 
wenigen allgemeinen Säge, welche man aus jenen VBorausfegungen ableiten konnte, 
eihienen zu Tabl und unfrudtbar, als daß man fi bei ihnen hätte beruhigen 
fönnen. Um über fie hinauszulommen, mußte man die Borausfegungen verändern. 
Am nächften lag dies hinſichtlich der eben zulegt erwähnten, der Unerfchöpflichkeit 
ver natürlichen Produftionsmittel, da diefe mit der Wirklichkeit im fchreienpften 
Biderfpruche fand. So kam man zu der Entgegenfegung ver „beliebig“ vermehr- 
baren, der nur mit wachfenden Produktionskoſten vermehrbaren und der Güter von 
abfolnt befchränktem Angebot und zur Aufftellung ver befannten Preisgefege für 
jede diefer Klaſſen. Auch die zweite VBorausfegung der ungehemmten freiheit ber 
Perfonen und des Eigenthums entſprach keineswegs der Wirklichkeit, nicht ein⸗ 
mal der vorgefchrittenften Länder der Gegenwart, gejchweige denn ber Vergan⸗ 
genbeit ober der jegigen in ihrer Entwidlung noch zurüditehenden Völker, und 


112 dolkswirthſchaft, Volkswirthſchaſtslehre. 


man wurde hierdurch zu Erörterungen der Modifikationen geführt, welche ſich für 
die Gefege der Gütervertheilung unter dem Einflufje in irgend einer Weife jener 
Freiheit entgegenftehenver Beſchränkungen ergeben mußten. Selbft in der Voraus⸗ 
fegung der Verfolgung des eigenen Borıheild begann man nad den Hauptrichtun⸗ 
gen, in weldhen ver lettere erblidt wird, zu unterfdeiden und vemgemäß insbe- 
fondere den Einfluß des Etrebens nad pofitivem Genuß und Bereiherung, des» 
jenigen nad Ruhe und desjenigen nad Fortpflanzung und Yamiliengrändung auf 
die Gütervertheilung zu unterjuchen. Ie mehr aber das Alles geſchah, je viel- 
faher man feine Annahmen vifferenzirte, deſto mehr näherte man ſich mit den⸗ 
jelben ver Wirklichkeit, und tefto leichter erlag man eben beöwegen der Verſuchung, 
bie durch Schlußfolgerung feftgeftellten Säge für vorausjegungslos gültige, ohne 
Weiteres auf das Leben anwendbare, „naturgefegliche" Wahrheiten zu halten und 
zu erflären. Dabei überfieht man jedoch, abgejehen von dem mangelnden Nach⸗ 
weife der Vollftänpigkeit in Betreff der in den übrigen Borausfegungen einge- 
führten Mopifilationen,, wie in Betreff der verſchiedenen Formen der Aeußerung 
der Selbftliebe, daß vie legtere felbft ald das alleinige Motiv des wirthſchaftlichen Han⸗ 
delns angenommen worden ft, ohne daß ein ausreichender Beweis hierfür erbracht 
worden wäre, daß alfo jevenfalls diefe Hauptgrundlage der Argumentation ver 
Anfechtung ausgeſetzt bleibt. May man immerhin zugeben, daß, fo lange Menſchen 
Menichen bleiben, vie Selbftltebe einen beteutenven, ja den Haupteinfluß auf ihre 
Entihliegungen ausüben werde, fo ift doch von da bis zur Anerkennung, daß 
andere Motive neben ihr gar nicht in Betracht fommen, nod ein weiter Schritt. 
Die Volkswirthſchaftslehre hat vielmehr die Möglichkeit, daß ihre Annahme der 
Selbſtliebe als ausſchließlich bei der Gütervertheilung niettamen Motives eines 
Korrektivs bedarf, fortwährend in Auge zu behalten. Wohl wird man 5.4. Lange®) 
Recht geben müſſen, wenn er das verlangend, alsbald binzufügt, daß es noch nicht 
an ber Zeit fei, der Theorie, welche von der Selbftliebe, als die Wirthſchaft be- 
flimmendem Motive ausgeht, geradezu eine andere, auf die Wirkſamkeit anderer 
morallihen Kräfte, namentlih des genoffenfhaftlihen Gemeinſinns gegründete, 
entgegen zu fegen; die Berüdfihtigung dieſer moralifhen Kräfte indefjen minde- 
fiens als unter Umftänven die Richtigkeit ver Ergebnifje der von der Seibftliebe 
ausgehenden Deduktion ftörender Einflüffe — disturbing causes, wie die Englän- 
der fagen — ift eine unabweisbare Forderung. — Und bier liegt nun der Punkt, 
wo auch für die Lehre von der Gütervertheilung die kritiſche Betrachtung der wirk⸗ 
lihen Thatfahen ihre Bedeutung gewinnt. Denn infofern diefelben mit ven deduk⸗ 
tiven Ergebniffen nit ſtimmen, weifen fie eben auf das Vorhandenſein folder 
„förenden Urfahen” bin, und je mehr ſich foldhe Beobachtungen häufen, deſto 
leiter wird es werben, dieſe Urſachen unter beflimmte Kategerieen zu bringen, 
zunächſt mwenigftens Hypotheſen über die Geſetze ihres Auftretens und Wirkens 
aufzuftelen und fie auf Grund hiervon, anftatt fie als eine Zufälligkeit zu be⸗ 
bandeln, in die deduktive Entwidiung jelbft mit hinein zu ziehen. . 

Auch fonft ift vie fortwährende Bergleihung der Ergebnifie der Deduktion 
mit den betreffenden Erſcheinungen ver Wirklichkeit von hohem Nugen, namentlich 


6%. St. Mile Anfihten über die foclale Frage und die angeblihe Ummälzung ber 
Socialwiſſenſchaft dur Carey. Duisburg 1866, ein Buch, das in Bezug auf die Methodik der 
Volls wirthſchafte lehre durchaus den richtigen Standpunkt vertritt und viele trefflihe Bemerkungen 
enthält. — Mill felbft bat diefen Gegenftand eingehend in der fünften Abhandlung feiner Essays 
on some unsettled questions of political economy behandelt, 


| Dolkswiribfchaft, Dolkswirthfchaftsichre. 113 


auch deöwegen, weil man durch diefelbe am ficherften auf etwaige Sprünge und 
Unrichtigkeiten in ver Schlußfolgerung, die fid) bei einem einigermaßen verwidel- 
ten abftraften Denken nur zn leicht einfchleichen, aufmerffam gemacht wird. Selbft- 
verftändlih wird durch diefe Anerkennung unfer Urtheil über die Nothwendigkeit, 
viefen Theil der Bollswirthfchaftslchre deduktiv zu entwideln, nicht beeinträchtigt. 

Das Sefammtergebniß, zu dem wir gelangen, ift demnach bas, daß die Volks⸗ 
wirtbfhaftslchre im Ganzen Induktion und Debultion mit einander verbinden 
maß, daß aber insbeſondere die Lehren von der Öftererzeugung und von der 
Güterverzehrung hauptfählih auf die induktive, die Lehre von ber ©üterver- 
tbeilung auf die deduktive Methode angewiefen find. Eine Schwierigkeit machen 
dann nur noch diejenigen Partieen der Bollswirtbfchaftslehre, welche zwiſchen den 
Lehren von. der Probuftion und von der Vertheilung mitten inne liegen, ven 
Uebergang von der einen zu der andern bilden. Dieje Partien, die man aud 
wohl unter dem Namen der Lehre vom Güterumlanf zufammenfaßt, zerfallen je- 
doch in zwei fi deutlich ſcheidende Gruppen, von denen bie eine ber Probuftione-, 
bie andere ber Vertheilungslehre näher fteht und die vemgemäß auch zu behandeln 
find. Die erfte Gruppe bezieht fih auf die verſchiedenen Anftalten und Einrid- 
tungen zur Beförderung des Güterumlaufs — Waarenkonſervirung, Transport. 
weien, Handelsformen und Gewohnheiten, Maß und Gewicht, Geld, Krebit. — 
Es wird immer etwas Gezwungenes haben, alle dieſe Gegenftände deduktiv zu 
behandeln, vielmehr erſcheint es als Tas Einfache und Natürliche, von den thatſäch⸗ 
lichen Erfheinungen auszugehen und von ihnen zu allgemeinen Tehrfägen aufzu- 
fleigen. Die andere Gruppe dagegen fteht mit ben Lehren von den allgemeinen 
Grundlagen des Taufıhverhältniffes — Nachfrage, Angebot, Bemeſſung des Tauſch⸗ 
werthes ꝛc. — bereits im engften Zufammenhang mit ver Lehre von der Güter⸗ 
vertbeilung, wenn man bie betreffenden Auseinanderfegungen nicht überhaupt ſchon 
biefer zuweilen will. Und mas ferner dahin gehört, die Erörterung ber Rüdwir- 
fung der Preisverhältmifie auf die Geftaltung der Probuftion, ſchließt fid) wiederum 
an jene Lehren unmittelbar an. Deshalb ift hier auch vie nämliche wiſſenſchaftliche 
Behandlungsweiſe am Plage, wie bei der eigentlichen Gütervertheilung. In der 
That find denn auch auf diefem Gebiete die reichften Lorbeeren erwachſen, welde 
die bebuftive Nationalökonomik in Deutfhland und vielleicht überhaupt mit von 
Zhünens Meifterwerfe ſich errungen hat. 

Wir fommen auf einen weitern Punkt. Die Volkswirthſchaftslehre ift eine 
dogmatifhe Wiſſenſchaft; fie fucht hinter den veränverlichen Erſcheinungen das da⸗ 
hinter liegende Dauernde: die Kräfte, ald deren Wirkungen ſich die erftern ergeben, 
und die Gefege ihrer Wirkſamkeit. Hier liegt das trennente Merkmal zwifchen 
Vollswirthſchaftslehre und Statiftit und Gefchichte der Volkswirthſchaft. Für dieſe 
haben vie volkswirthſchaftlichen Thatſachen und ihre Veränderungen als ſolche Be⸗ 
beutung, für die Bolfswirthichaftsichre nur als Beweismittel; für die erſtern find fie 
Gegenſtand, für die legtere Material. Die VBolkswirthſchaftslehre hat es anderer: 
ſeits nur mit der Gewinnung einer Erkenntniß zu thun. Sie will die volkswirth⸗ 
ſchaftlichen Thatſachen erklären, nicht beuriheilen, d. h. nicht an einem Idealbilde 
einer vermeintlichen volllommenen Wirthfhaftsgeftaltung meſſen. Es liegt deßhalb 
auch Über ihre Aufgabe hinaus, die Mittel zur Verbeſſerung gegebener mangel- 
hafter wirthſchaftlicher Zuftände anzugeben, überhaupt unmittelbar praktiſche Rath- 
ſchläge in Wirthichaftsangelegenheifen zu ertheilen. Allerbings jagt Ad. Smith > 
„Die politifhe Dekomomie als Zweig ver Wiflenfchaft eines Staatsmannes ober 
Sefengebers betrachtet, hat zwei verſchiedene Aufgaben: erftens, dem Volke reic- 

Bluutfgliunn Brater, Deutſches Staate⸗Woͤrterbuch. X1. 8 





114 Dolkswirthfchaft, Dolkswirthfchaftsichre. 


liches Einkommen oder Unterhalt zu verfhaffen oder richtiger, das Boll in ven 
Stand zu ſetzen, fi felbft ein foldes Eintommen over einen folden Unterhalt zu 
verſchaffen, und zweitens den Staat oder das Gemeinweſen mit einem für den 
öffentlichen Dienft hinlänglihen Einkommen zu verfehen. Sie geht darauf aus, 
beide, das Volk und den Herrfcher zu bereichern.” Allein wohl gemerkt, das thut 
fie, wie Adam Smith mit dem ihm eigenen richtigen Tafte binzufügt, „als ein 
Zweig der Wiflenfchaft des Staatemannes oder Geſetzgebers betrachtet”. Das will 
jagen : für den Staatsmann oder Gefeßgeber hat das Studium dieſer Wifjenfchaft 
bie Bedeutung, ihm die Mittel an die Hand zu geben, um bie Wirthichaft der 
Einzelnen wie des Staates zu verbefiern. Die Kenntniß der Volkswirthſchaftslehre 
bildet für ihn die VBorausfegung einer zwedmäßigen praktiſchen Thätigkeit, wie bie 
Kenntniß der Mathematik für den Architekten oder Ingenieur, um Häufer, Straßen, 
Zunnel zu bauen, die der Phyſik oder Chemie für den Fabrikanten, um Ma- 
ſchinen, Zündwaaren, Farben ꝛc. berzuftellen, vie der Anatomie für den Künft- 
ler, um gute Bilder oder Statuen zu liefern. Aber fo wenig die genannten 
Willenihaften deshalb zu Anleitungen für vie betreffenden Gewerbe und Künfte 
‚werden, eben fo wenig darf man von der Volkswirthſchaftslehre eine derartige 
Stellung zur ſtaatsmänniſchen Praris verlangen. In allen Wiſſenſchaften ift vie 
Zahl Derer, weldhe fie blos um der Freude an der zu gewinnenden Erfenntniß 
willen betreiben, im Vergleich zu Denen, welche dies um eines praftifhen Zwedes 
willen tbun, eine geringe; darum darf man doch nicht die Gewinnung praftifcher 
Marimen für das Ziel ver Wiſſenſchaften erflären. 

Hiermit ift indeffen nur die Grenze für das Forſchungsgebiet der Vollkswirth⸗ 
ſchaftslehre bezeihnet. Es ift nur gefagt, daß der Wirthichaftsgelehrte, um mit 
diefem Ausprude Denjenigen, der die Volkswirthſchaftslehre betreibt, kurz zu bezeichnen, 
wenn er die Richtigkeit beftimmter wirthſchaftlicher Vorgänge oder Thatſachen feft- 
ſtellt, nicht als folder, ſondern als Hiftorifer oder Statiftifer ſich bethätigt,; daß 
er, wenn er fein Urtheil über Vorzüge und Nachtheile beftehender Einrihtungen 
abgiebt oder Borfchläge zu ihrer Berbefferung macht, nicht mehr Volkswirthſchafts⸗ 
lehre, ſondern Socialphiloſophie oder Politik treibt. Die Frage hingegen, ob and 
für pie Mittheilung ber Ergebniflfe der Boilswirthichaftslehre dieſe Grenzen gelten, 
mit andern Worten, ob auch bie Darftellung der Volkswirthſchaftslehre ſich 
fireng innerhalb des ©ebietes ver reinen Theorie zu halten hat, iſt damit noch 
nicht entfchteben. 

Ihre eigentlihe Bedeutung hat diefe Frage nur in Bezug auf die fyftema- 
tiſche Darftellung der gefammten Volkswirthſchaftslehre. Die Behandlung einzelner 
Fragen iſt in der Regel durch ein praftifches Bedürfniß angeregt, und es ergiebt 
fi daraus von felbft die Verbindung der Erörterung praftifcher Fragen mit der 
Entwidlung der Theorie. Es wird 3. B. ſchwerlich Jemanden einfallen, eine 
Theorie des Bankweſens zu fchreiben, ohne dabei die Handlungsweiſe beftehenver 
Banken einer Kritif zu unterziehen, und wenn biefe nicht günftig ausfällt, Reform⸗ 
vorjchläge wenigftens anzubeuten. Schon zur Gewinnung eines möglihft großen 
Publitums und zur Feſſelung feiner Aufmerkſamkeit für die rein theoretifhe Unter- 
fuhung, aud) wo es hauptſächlich nur auf diefe abgefehen ift, laßt fih ein ſolches 
Verfahren ſchwer umgehen. Anvererfeits liegt es dann bei folder Gelegenheit auch 
nahe, das Hiftorifche und ftatiftiihe Material, auf welches man fih ftügen will, 

„nicht einfach vorzuführen, fondern bie Lefer over Zuhörer zugleih über den Grad 
der Zuverläffigkeit und Vollſtändigkeit desſelben und bie Berehnungen aufzullären, 
denen. man fih, um es zufammenzutragen, zu fihten und zu orbnen unterzogen 


dolkswirthſchaſt, Dolkswirthichaftslehre. 115 


bat. Bei der Darftellung ganzer Syſteme dagegen kann es fraglich fein, ob man 
fih beſer fireng auf die reine Theorie beſchränkt oder auch hiftorifch-ftatiftifche 
Unterfuhungen einerjeits, Tragen praktiſcher Politik andererjeit3 mit hereinzieht. 
Die Ausvehnung der Darftellungen der Volkswirthſchaftslehre auf Fragen ber 
leztern Art ift befanntlid bei Englänvern und Franzoſen vorherrſchend üblich, wäh- 
rend die Deutfchen, freilich nit immer ganz Tonfequent, bisher meiftens die reine 
Theorie und die Marimen praktiſcher Anwendung aus einander zu halten bemäht 
geweien find. Im dieſer Richtung hat namentlih K. H. Rau mit feinem großen 
Werle das Vorbild abgegeben. Insbefonvere ift vasfelbe für vie Lehrweife an un- 
ſern Univerfitäten maßgebend geworben. Der Volkswirthſchaftslehre als der reinen 
Theorie werben danach als angewandte Wiflenfchaften die Volkswirthſchafts⸗ 
politik, d. h. die Lehre vom richtigen Verhalten des Staates zur Volkswirthſchaft 
and bie Kinanzwiffenfhaft, die Lehre vom Staatshaushalte, zur Seite geftellt. 
Die Bortheile, weldye eine ſolche Auseinanderhaltung für die Volkswirthſchaftslehre 
mit fih bringt, liegen auf der Hand. Diefe befommt dadurch einen foncifern Charak⸗ 
tr, das Berhältniß ihrer einzelnen Theile zu einander wird klarer, ihre ganze 
Straftur überſichtlicher; etwa noch auszufüllende Lücken treten beutlicher hervor, 
und vielleicht ift diefem Umftande vorzugsweife die Sicherheit zu verdanken, mit 
welher die Dentichen am Ausbau der Wiſſenſchaft gearbeitet haben. Zweifelhafter 
ſchon fieht es mit dem Nugen für die Finanzwiſſenſchaft. Einzelne Partien der⸗ 
jelben wenigſtens — wir erinnern 3. B. an die Lehre von der Ueberwälzbarkeit 
dr Steuern und an die von der Wirkung der Staatsſchulden — erfordern un⸗ 
bedingt ein eingehendes Zurüdgreifen auf die Volkswirthſchaftslehre. Entſchieden 
nachtheilig aber iſt dieſe Syſtematik für die Behandlung derjenigen Probleme, 
weide man danach unter dem gemeinſchaftlichen Namen ver Vollswirthſchaftspolitik 
zuſammenfaßt. Soll dieſe eine wirkliche wifſſenſchaftliche Durdführung erhalten, 
fo it das nicht wohl anders möglih, als indem man auf Grundlage ber in ver 
Bollswirthfchaftsiebre gewonnenen Ergebniffe und einer beftimmt ausgefprochenen 
Annahme über den allgemeinen Zwed des Staats- und Völkerlebens die verſchie⸗ 
denen Boransfegungen formulirt, unter denen ein Eingreifen der Regierungsgemwalt 
in bie Volkswirthſchaft gerechtfertigt erfcheint, und demgemäß eintheilt. Ein freilich un« 
gmägender Verſuch biezu ift wirklich von I. St. Mill Im fünften Bud, feiner Grund⸗ 
füge der politifchen Delonomie gemacht worden. Allein es hat das den Uebelſtand, 
daß bie wiffenfchaftliche Betrachtung aus einander reißt, was im Leben untrennbar 
jnfammen gehört. Giebt es doch faft keinen einzigen Alt der wirtbichaftspolitifchen 
Gefepgebung, deſſen einzelne Beftimmungen nicht auf verfehtenenen Rechtfertigungs- 
gränden oder auf dem Zuſammenwirken mehrerer folder berubten. Deßhalb ſchlagen 
die Darftellungen der VBollswirthfchaftspolitit regelmäßig nicht dieſen Weg ein, 
ſondern theilen ihre Aufgabe nad den Hauptphafen des Wirtbichaftsprocefjes und 
nah den Dauptgebieten der Produktion — Einwirtung der Regierung auf bie 
Produktion , die Gütervertheilung und die Konfumtion; ftantlihe Förderung der 
Landwirthſchaft, der Inbuftrie, des Handels zc. — In folder Weife behandelt 
aber wird die Wirthſchaftspolitik zu einer rein äußerlichen Uneinanverreihung von 
Monographien , und beinahe unausbietblih ift es, daß das nicht blos zu einer 
Ungleihartigfeit der Behandlung, fondern felbft zu Widerſprüchen hinfichtlich 
ver oberften, maßgebend fein follenden Grundſätze führt. Dan mißt die Bevor- 
wmundung, welde für bie Landwirthſchaft, den Bergbau, die Fabrikation, das 
Zransportwefen, den Handel zuläffig fein fol, mit ungleiher Elle, ift in ber 
Sorberung des Nachweiſes der nachtheiligen Folgen ver freien Konkurrenz bald 


gr 





116 dolkswirthſchaſt, Doikswirthfchaftsichre. 


ftrenger, bald nachfichtiger und legt einen verfchlevenen Nachdruck auf die Schatten- 
fetten der flaatlihen Einmifhung, wie Koftbarkeit und lähmende Einwirkung auf 
bie individuelle Energie, je nachdem fie dieſes oder jenes Gebiet betreffen. Die mehr 
oder minder deutlihe Erkenntniß dieſes Mangels nagte an der Lebenskraft der 
Volkswirthſchaftspolitik. Es Tamen aber auch noch zwei andere Umftände hinzu, 
weldhe dieſe Disciplin mehr und mehr untergruben. Der erſte beftand in dem Zu⸗ 
ſammenſchrumpfen ihres Materials in Folge des zu immer allgemeinerer Geltung 
fommenven Grundfages der individuellen Freiheit der wirtbfchaftlihden Bewegung. 
Noh vor einem Menfchenalter war das mefentlih anders. Ueberall beftanden Be⸗ 
ſchränkungen, Hemmungen, Regulirungen. Daran hatte vie Volkswirthſchaftspolitik 
einen reihen praftifchen Stoff. Dan vente nur an die Unzahl von ragen, welde 
bie Regulirung ver bäuerlihen Laften, vie Ordnung des Gewerbewefens anregten. 
Jetzt haben die meiften dieſer Probleme nur noch ein biftorifches Interefle. Läßt 
fih aber wohl eine Disciplin aufrecht erhalten, die in der großen Mehrzahl der 
dragen, welde fie fi ftelt, zu einem rein negativen Ergebnifle gelangt? Und 
jodann zweitens. Urfpränglih ging man auf die Gewinnung eines abfchließenden 
Urtheils über die einzelnen Einrichtungen und Maßregeln aus. Man erflärte fi 
ſchlechtweg für einen Anhänger oder Gegner der freien Theilbarfeit des Bodens, 
bes Zunftwefens, der Regalifirung des Bergbaues, des Monopols der Banfnoten- 
ausgabe ꝛc. Eine eingehenvere Beihäftigung mit den Gegenſtänden führte indeſſen 
mehr und mehr ab von dieſem „Abfolutismus der Löſungen“. Man erltannte, daß 
unter andern Berhältniffen als denen der Gegenwart vie Bortheile und Nachtheile 
der verſchiedenen Einrichtungen fih anders beraußftellten,; daß die meiften Maß- 
regeln, die man für die Gegenwart als ſchädlich befämpfte, in der Zeit und unter 
den Umſtänden ihrer Entftehung überwiegend nüglid gewirkt hatten over daß fie, 
auch wo dies nit der Fall war, bei den damals herrſchenden Anſchauungen und 
den Machtverhältniffen der verjchiedenen geſellſchaftlichen Elemente nicht weſentlich 
anders ausfallen konnten, als fie wirklich ausgefallen waren. Indem man foldher- 
geftalt der Vergangenheit befier gerecht wurve, lernte man zugleich den Zufammen- 
bang richtiger würdigen, weldher mit ihr die Gegenwart verbindet. Alle die pefi⸗ 
tiven und negativen Yorberungen ver lettern an den Staat erfhienen nun nur 
als letzte Konfequenzen einer aus ferner Bergangenheit ausgehenden hiſtoriſchen 
Entwidelung. Als folhe galt es, fie aufzufaffen, wenn man fiher fein wollte, fie 
richtig zu ftellen und die Antwort, d. 5. die Mittel ihrer Befriedigung, richtig 
anzugeben. So ging die Bollswirthfchaftspolitit immer mehr in eine kritiſche ©e- 
Ihichte des Entwidelungsganges der verſchiedenen wirtbfchaftlihen Inftitute über, 
die mit der Zufamntenftellung und Würdigung der etwa für die demnädftige Ger 
ftaltung der legteren maßgebenden Anzeichen in der Gegenwart abſchloß. Diefem 
Uebergange nun fam eine andere Entwidelung auf Seiten ver Volkswirthſchafts⸗ 
lehre entgegen. Schon früh Hatte man das Bedürfniß gefühlt, vie auf die Volks— 
wirthſchaft im Allgemeinen bezüglihen Sätze ver legtern weiter auszuführen und 
zu ergänzen durch Specialificungen, welhe nur für einzelne Theile der Volks⸗ 
wirthichaft, insbeſondere für die verjchtevenen Hauptproduftionszweige gelten. „In 
der Betrachtung der Geſetze, nad welchen bie Erzeugung, die Bertheilung und bie 
Berzehrung der Güter erfolgen, fagt in dieſem Betreffe Rau 7), find die einzelnen 
Thätigleiten, aus denen die Volkswirthſchaft befteht, zerglievert und die Orunb- 
verhältniffe verfelben beleuchtet worden. Dieje Thätigkeiten und Verhältniſſe finden 


7) Vollkswirthſchaftslehre 8. 348. 





Volkewirihichaſt, Dolkswirthfhaftsiehee. 117 


fih aber in jeder Klaſſe und Urt ver hervorbringennen Gewerbe auf eine eigen- 
tbämlihe Weife umter einander verbunden, und bie Eigenthümlichkeiten dieſer ver- 
ſchiedenen Gewerbe bedürfen einer befonvdern Erflärung, denn fie konnten bei ben 
bisher abgehandelten Lehren nicht in ihrem Zufammenhange aufgefaßt werben. 
Diefe befondere Darftellung der Gewerbe in ihren volkswirthſchaftlichen Beziehun⸗ 
gen dient nicht allein zur Erläuterung ber allgemeinen Gefege der Volkewirthſchaft, 
fondern macht auch den Gliederbau in derfelben anfhauliher und giebt die nöthige 
Vorkenntniß zur Einwirkung der Regierung auf tie Betriebfamleit. Sie muß je- 
th die Kunſtregeln des Gewerbebetriebs der Privatökonomie überlaflen und fi auf 
vie vollswirthichaftlihen Wirkungen und Erfcheinungen befchränten." Ju biefem 
Einne wurde demnach ber „allgemeinen” Volkswirthſchaftslehre ein bejonderer 
Theil angefügt. Anfangs nur von untergeorbneter Bedeutung, wuchs derſelbe raſch 
an Inhalt und Umfang. Hierzu trug zunächſt ber große Aufihwung ber Bolfs- 
wirtbfchaft bei, welche in unferer Zeit zu einer immer größern Manigfaltigfeit ver 
Gehaltungen fi entfaltete und bie ſelbſtändigen Eigenthümlichleiten ver einzelnen 
Propuktionszweige immer weiter ausbildete. Dazu fam die wachjende Innigfeit der 
Beziehungen zwifhen der Wiſſenſchaft und der Praxis. Je mehr die Vertreter der 
fegtern bei ihren Operationen nach der Leuchte der erſtern verlangten, und je mehr 
bie Bertreter diefer die Verpflichtung anerlannten, folhem Berlangen zu entfpreden, 
defto mehr wurde das Bedürfniß empfunden , defto eifriger und vielfeltiger wur⸗ 
den die Beftrebungen, die verfhievenartigen volkswirthſchaftlichen Geftaltungen ber 
Birklichkeit eingehend zu unterſuchen und die Eigenthümlichkeit der Lebensbedingungen 
und Lebensformen wenigftens der Hauptproduftionszweige wiſſenſchaftlich feitzu- 
fiellen. Endlich wirkte in ver gleichen Richtung noch das Auflommen ber fogenann- 
tem hiſtoriſchen Schule unter den Wirtbfchaftsgelehrten. Indem diefe die Volte- 
wirthſchaft ald nur eine Seite des Volkslebens auffaßte, mußte fie es ſich beſon⸗ 
ders angelegen fein laflen, die Wechfelbeziehungen terfelben zu den übrigen Seiten 
tes letzteren aufzuflären. Zu dieſem Behufe genügte es aber offenbar nicht, ſich 
Immer nur an die Bollswirtbfchaft im Großen und Ganzen zu halten, man mußte 
eben ind Einzelne gehen, und dieſe Einzelnunterfuchungen kamen dann vorzugsweiſe 
vem fpeciellen Theile ver Vollswirtbfchaftslehre zu Gute. So gelangte dieſer Theil 
zu immer größerer Ausbildung. Dabei aber trat ein eigenthümliher Umftand ein. 
Die Betrachtung der fpeciellen Erfcheinungen der Vollswirthichaft, namentlich in 
ihrer hiſtoriſchen Entftehung und in ihrem Zufammenhange mit andern Bethäti- 
gangen des Volkslebens, konnte nämlich nicht erfolgen, ohne auch den Einfluß des 
Staates zu berüdfichtigen und einer Würdigung zu unterziehen. Die Folge war, 
daß fich die fpecielle Volkswirthſchaftslehre, die nun auch wohl die Bezeichnung 
praftifche Bollswirtbfchaftsiehre erhielt, ihrem Inhalte nad immer vollftändiger 
wit der Boltswirthichaftspolitit deckte. Es ergiebt ſich ſonach ald unmöglich, beide 
Disciplinen neben einander aufrecht zu erhalten. Die eine muß vielmehr in ber 
andern aufgehen, und es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es die Wirthſchafts⸗ 
politik ift, welcher viefes Loos beſchieden iſt. Sie erhält fi eigentlih ſchon zur 
Stunde nur nody nominell in den Lektionsverzeichniſſen der Univerfitäten in Folge 
ver einmal beftehenden Stubienorbnungen. Roſcher hat übrigens biefer Nothwen- 
digkeit ſchon vor dreizehn Jahren Ausdruck gegeben, Indem er fein Syſtem ber 
Volkswirthſchaft unter gänzlihem Fallenlaſſen der Bollswirthichaftepolitit nad dem 
Plane anlegte, im erften Bande die allgemeinen Grundlagen der Nationalölonomie 
zu geben, die brei mweitern aber für vie Darftellung ver Nationalöfonomit der ein- 
einen Prodnktionszweige zu beftimmen. Daß bei dieſer Syſtematik die Finanz 


118 " —— Nolkswirthichaft, Dolkswieihfchaftslehre. 


wiffenfchaft, als die Lehre von der Produktion öffentlicher Dienftleiftungen, eine 
viel rattonellere Stellung erhält, ift ein Vortheil, auf den wir bier nnr im Vor⸗ 
beigehen hinweiſen wollen. 

Tritt aber an die Stelle der Eintheilung in Boltswirthfaftsiehre und Volks⸗ 
wirthſchaftspolitik pie andere in allgemeine und fpecielle Volkswirthſchafts— 
lehre, fo kann das auf die Darftellungswelfe der erftern nicht ohne Einfluß bleiben. 
Allerdings wird biefe einen vorwiegend bogmatifhen Charakter behaupten, während 
die fpecielle Volkswirthſchaftslehre in der Beurtbeilung praftifcher Probleme kul⸗ 
minirt, allein von einer abfoluten Ausfchließung der Berührung der lettern in 
der allgemeinen Volkswirthſchaftslehre kann doch nicht füglich mehr die Rede fein. 
Bielmehr wird der Darfteller die Aufgabe haben, dem Publikum, an das er ſich 
wendet, nicht blos die Geſetzmäßigkeit der zu beſprechenden volfswirthichaftlichen 
Borgänge darzulegen, fondern auch ihre Bedeutſamkeit zu würdigen. Bei der 
Arbeitsgliederung 3. B. wird aud die Grenzlinie feftzuftellen fein, bei deren Ueber- 
fhreitung die günftigen Öfonomifhen Folgen zu verfchwinven begimnen oder durch 
begleitende Nachtheile aufgemogen werden; ebenſo beim Krebit, und es muß an- 
gedeutet werben, unter welchen Umftänven eine Uebertreibung von der lebiglidy dem 
Spiele der invividuellen Kräfte überlaffenen Volkswirthſchaft zu befürchten ſteht, 
daher ein Eingreifen der öffentlihen Gewalt fi rechtfertigt und welcherlei Maß- 
regeln dabei etwa in Frage fommen können. Allerdings nur angedeutet, denn ein 
näheres Eingehen führt nothwendig auf eine Unterfheivung ber verſchiedenen Pro⸗ 
tuftiondzweige und ihrer Unterabtheilungen,, alfo auf das Gebiet der ſpeciellen 
Boltswirtbfchaftslehre. Immerhin kommt es, wenn auch nur von allgemeinen Ge- 
fihtspunften aus, zur Berührung praktiſcher Fragen. Und der Uebergang zu biefer 
Behandlungsweiſe, die fi) der bei den andern Nationen üblichen weientlih nähert, 
entfpricht den Veränderungen, welche das vollswirthfchaftlihe Belehrung ſuchende 
Publikum im Laufe der neuern Zeit bei uns erfahren hat. Diefes Publikum be⸗ 
ſteht jett zum großen Theile aus Solchen, welche irgend ein Gewerbe praktiſch ent- 
weber ſchon betreiben oder künftig betreiben wollen. Für ſolche jetzige oder zu⸗ 
künftige Gefchäftsleute werben heutzutage vornämlih Syſteme geſchrieben; zu ihrem 
Beften an höhern techniſchen Lehranftalten oder aud in größern Städten äffent- 
lihe Vorlefungskurfe abgehalten. Einem folhen Lefer- oder Zuhbrerkreiſe gegen- 
über, dem theils die eigentlich gelehrte Vorbildung, theild das gelehrte Intereffe 
abgeht , ift aber offenbar eine gelehrte Darftellungsweife, wie fle eben durch bie 
Gegenüberftelung der Volkswirthſchaftslehre und ⸗-Politik gegeben iſt, nit am 
Plage, vie Bezugnahmen auf die praftifche Anwendbarkeit ver allgemeinen Lehr- 
ſätze können bier nicht entbehrt werben. Auch in Bezug auf die zwedmäßige Be⸗ 
handlung der Wiffenfhaft für vie ftudentifhe Zuhörerſchaft unferer Hochſchulen 
ift eine Wundelung der Anfichten eingetreten, mit welder bie neuere Eintheilung 
fich beffer verträgt. Freilich wird hier der anzufchlagende Ton immer ein mefent- 
lih anderer fein fünnen und müffen, wie in den vorhergehenden Fällen, und nichts 
liegt uns ferner, als eine Herabziehung unferer Univerfitäten zu Zurichtungs⸗ 
anftalten für das Beamtenthum und vie ihm verwandten Rebensftellungen empfeh⸗ 
len zu wollen. Es gilt heute fo gut, wie vordem, ven Ernft und die Strenge 
wiffenfchaftlicher Bildung zu wahren. Allein es macht fi dabei doch ein Unter- 
fhied des Standpunktes geltend. Früher trug man vor, als ob es gälte, lauter 
reine Theoretifer zu bilden, und feßte dann erft hinterbrein, meiftens in befondern 
Borlefungen, die nothwendig ſcheinenden Anleitungen für bie Ueberführung ber 
Theorie in die Praris hinzu, indem man davon ausging, daß Jemand, wenn er 


ro 


Dolkswirthfehaft, Dolkswiethfchaftslchre. 119 


aur erſt in der Theorie fattelfeft ſei, fih dann auch leicht durch eigene Kraft 
in ber Praris zurecht finden werde. Die Nationalökonomie gehörte urfprünglich ale 
Kameralwiſſenſchaft durchaus dieſem letztern praftifchen Anhängſel des Unterrichts 
an, und es war ein großer Fortſchritt, als man mit der Entgegenſtellung von 
Bollswirthſchaftslehre und Volkswirthſchaftspolitik für den größten Theil ihres 
wiſſenſchaftlichen Inbaltes in dem grundlegenden Haupttbeile des Unterrichts ven 
Boden eroberte. Neuerbings invefien tft man, ven innigeren Beziehungen ent- 
ſprechend, welche Dank dem reihern Aufblühen unſers Volkslebens die Wiffen- 
(haft überhaupt zum Leben gewonnen bat, immer mehr zu der Yorberung durch⸗ 
gedrungen, daß ſchon dur die Darftellung ber allgemeinen Lehrfäge die Bedeut⸗ 
ſamleit verfelben für die werkthätige Anwendung hindurchleuchten müſſe, und dieſer 
Anffeffung vermag man mit der empfohlenen Behandlung der Volkswirthſchafts⸗ 
lehre zweifellos ungleich befler zu genügen. 

Was die Hereinziehung wirtbihaftsgefhichtliher und flatiftifcher Unter: 
ſuchungen in die Darftellung der Bollswirthihaftslehre betrifft, fo genügt es an 
einer Bemerkung. Alle folben Unterfuhungen find für die Bollswirthichaftsiehre, 
für welche die Thatfachen nicht an fi), ſondern lediglich als Belege oder Beweis: 
mittel der die Wirthichaft bewegenden Kräfte und der Urt ihres Wirkens Be: 
beutung haben, Abjchweifnngen nnd daher an fi vom Uebel. Ob und in wie weit 
fie dennoch nnentbehrlid bleiben, hängt von dem Grabe ver Ausbildung der Wirth- 
ſchaftsgeſchichte und ⸗Statiſtik ab. Das ideale Verhältniß wäre, daß die Volks⸗ 
wirthſchaftslehre ſich blos auf die von der letztern gelieferten Ergebnifſe zu be⸗ 
rufen brauchte. Mehr und mehr nähern wir uns mit dem wachſenden Forftſchritte 
ber betreffenden Disciplinen dieſem Ziele einer vationellen Arbeitstheilung, tubefien 
feblt noch immer viel daran, daß es erreiht wäre, und fo lange kann es bei 
Darftellung der Vollswirthſchaftslehre vielfach nicht vermieden werben, in das ge- 
ſchichtlich⸗ ſtatiſtiſche Gebiet Überzugreifen. Namentlich fällt bier der Umſtand ins 
Gewicht, daß es der Vollswirthſchaftslehre regelmäßig auf eine Vergleihung ber 
Thatſachen ankommt. Eine folde Bergleihung fett aber die Anwendung eines 
gleichen Verfahrens bei der Ermittlung der Thatfachen und einer gleihen Aus⸗ 
drucksweiſe bei Darftellung bverjelben voraus, und Beides wird noch vielfach bei 
en ftatiftifchen Arbeiten vermißt. Wo das der Hall ift, muß fi zur Verwerthung 
ihrer Ergebnifje die Volkswirthſchaftslehre einer Revifion und Nebultion unter» 
jiehen, welche die Darftellung ſchwer belaften. &8 erhellt hieraus, welche Wichtig» 
kit die neuerlichen rühmlihen Bemühungen ber ftatiftifchen Kongreſſe und ber 
Borſtände der ftatiftifhen Bureau's, zu Vereinbarungen über gleihmäßige Grund⸗ 
füge bei Behandlung ver Statiftif zu gelangen, auch für die Darftellung und, 
was damit zufammenhängt, vie Verbreitung des Studiums der Volkswirthſchafts⸗ 
lehre befigen. . 

Auf vie Darftellung dieſer bezieht fi auch noch eine andere wichtige Frage, 
bie wir nicht ganz mit Stillfehweigen übergehen dürfen. Wir meinen die nad der 
Unwenpbarleit mathematiiher Formeln. Wir müflen uns bier auf das oben über 
den verfchievdenen Charakter der verfchiedenen Theile des Volkswirthſchaftlehre Ge⸗ 
fazte zurückbeziehen. Wenn danach in den Lehren von der Probuftion und von 
der Konfumtion das Element ver Beihreibung oder Schilderung in den Vordergrund 
tritt, fo liegt fon hierin, daß man für viefe Theile ter Wiſſenſchaft von ber- 
ertigen Formeln kaum einen Nuten zu ziehen hoffen darf, venn die Mathematit 
bat mit Befchreibungen oder Schilderungen nichts zu thun. Anders fleht es mit 
der Lehre von der Gütervertheilung. Bei ihr handelt es fi weientlih um Schluß- 


120 dolkswirthſchatt. dolkswirthſchaſtslehre. 


folgerungen aus gewiſſen gewählten Vorderſätzen, die in ſich wieder die Annahme 
gewiſſer Größenverhältniffe enthalten. Hier find mithin die Elemente einer mathe- 
matifchen Entwidlung und fpeciell der Rechnung gegeben, und dem Dentproceß 
biefe Form zu geben, empfiehlt fih durch die Schärfe, die Klarheit und Ueber- 
ſichtlichkeit, welche man auf dieſe Weife erhält. Die algebraifche Analyſe, fagt Fon⸗ 
teney 8) zutreffend, diefe allgemeine, im höchſten Grave geiftige Sprache, die 
durch ihre wunderbar allgemeinen Symbole bie beftimmten Operationen des Geiftes 
bezeichnen Tann, ohne fie felbft vorzunehmen, und die dadurch bei den verwidelt- 
ften Kombinationen und Gebdanfengängen immer die Spur jedes ihrer Schritte 
und damit die Möglichkeit behält, jenen Angenblid auf ihre erften Vorausſetzun⸗ 
gen zurüdzugeben, ift nichts Anderes als vie Geſammtheit der nothwendigen For⸗ 
men der reinen Dialektit. Diefen foriwährend vermehrten und bereidherten Formen 
gegenüber erfcheinen die der alten Logik, wie Syllogismus, Induktion, Analogie als 
höchſt unvolllommen und beveutungslos. Nicht umfonft haben die erften Geifter 
von Jahrhundert zu Jahrhundert an ihrer Vervollkommnung gearbeitet.” Inbeflen 
leuchtet do ein, daß eine Berwenbung biefes fubtilen Darftellungsmittels in jo 
weit mindeſtens entbehrlich ift, als es ſich no um verhältnigmäßig einfache Bor- 
ausfegungen und kurze Schlußreihen hanvelt. Hier reihen aud die ſprachlichen 
Mittel der Darftellung vollſtändig aus und find wegen ihrer allgemeinen Ber- 
ſtändlichkeit entſchieden vorzuziehen. Wenn dagegen die Vorausfegungen verviel⸗ 
fältigt, wenn namentlid einzelne derſelben, anftatt feft, veränderlich angejegt, wenn 
endlich der Dentproce& durch eine Tängere Reihe verwidelter Probleme hindurch 
geführt werben foll, erweist fi die Mathematik als eine vortrefflihe, unter Um⸗ 
ftänden geradezu unentbehrlie Hülfe. Wenn z. B. Thünen im zweiten Theil feines 
Werkes den Punkt nachwelfen wollte, bei weldem unter den von ihm gemachten 
Boransfegungen das, was er die Arbeitsrente nennt, fein Marimum erreicht, fo 
blieb ihm gar nichts Anderes übrig, als zur Rechnung zu greifen. Die meiften 
ber tieffinnigen Unterfuchungen Ricardo's würden ungleih faßlicher geworden und 
dem Mißverftändniffe viel weniger ausgefegt geweſen fein, ja ihr Urheber felbft 
würbe gewiſſe Widerſprüche, in die er mit fich felbft gerieth, ficherer vermieden 
haben, wenn er ſich anftatt des Wortes oder doch in Ergänzung desſelben der 
konciſeren und präciferen algebraifhen Yormel bevient hätte. Hieraus folgt freilich 
nit, daß jede Darftellung der Volkswirthſchaftslehre für gewiffe Theile abfolnt 
auf die mathematifche Behandlung angewieſen fet, wohl aber, daß man, wenn 
man in jenen mit Rüdfiht auf das Publitum, mit dem man es zu thun bat, 
von der legteren abfehen zu müſſen glaubt, darauf verzihten muß, bie Unter- 
fuhungen bis in vie volle zuläffige Tiefe zu führen. Es giebt aud in unſerer 
Wiffenfhaft, und man wird wohl thun, daran zu erinnern, gewifie Schelle, melche 
einer populären Darftellung unerreihbar bleiben. Uebrigens fol die mathematijche 
Darftelungsweife nicht in ten Formeln fleden bleiben, ſondern für die gewonne- 
nen Ergebniffe auch einen leichter faßlihen ſprachlichen Ausdruck finden. Bet dieſem 
Bemühen ftellt fi dann wohl nicht felten heraus, daß auf dem Wege bes ge— 
wöhnlihen fpradhlichen Räfonnements ſchon ungefähr das Gleiche erreiht worden 
ift. Mit andern Worten, das Refultat der Rechnung löst ſich in einen altbefann- 
ten Lehrſatz auf. Nichts deſto weniger erweist fih aud in folchen Fällen die rech- 
nerifche Arbeit in ver Regel keineswegs nutzlos, indem fie dazu dient, theils Lücken 
und Ungenauigfeiten des ſprachlichen Räfonnements aufzudeden, theils da, wo bie 


8) Journal des Economistes, Auguft 1864. 


dolkswirthſchaſt, volkswirthſchaſis lehre. 121 


betreffenden Geſetze einen vollſtändig genauen ſprachlichen Ausdrud nicht zulaſſen, bie 
Fehlergrenzen des gewählten zum Bewußtſein zu bringen. Andererſeits ſind auch die 
Bedenken, welche ſich an dieſe Behandlungsweiſe knüpfen, nicht zu verſchweigen. 
Abgeſehen von der Gefahr, ſich in Spielereien und Haarſpaltereien zu verlieren, 
iſt es namentlich ein Uebelſtend, daß ſo Wenige im Stande oder geneigt ſind, 
einer verwiclelteren mathematiſchen Beweisführung nachzugehen. Es führt das leicht 
dahin, die behaupteten Ergebnifſſe unbeſehen, ohne Kritik anzunehmen, um fo leich⸗ 
ter, je mehr die Strenge der mathematifhen Echlußfolgerung imponirt. So mögen 
fi gerade auf viefe Weiſe leicht Irrthümer einfhleihen und befeftigen. Es ift ine- 
befondere vie jhwierige Lehre von dem Berhältniffe der einzelnen Einkommens⸗ 
zweige zu einander, auf weldhe diefe Bemerkungen Anwendung finden. 

IV. Die Geſchichte der Volkswirthſchaftslehre iſt verſchiedentlich, 
theils in mehr überfichtlicher Weiſe, theils in größerer Ausführlichkeit, theils in 
ſtrengerer Beſchränkung blos auf die Wiſſenſchaft, theils in mehr oder minder 
weit geführter Ausdehnung auf die Volkswirthſchaft ſelbſt, theils in Geſammt⸗ 
darſtellungen, theils in Monographieen über einzelne Perſonen, Länder, Zeiten, 
Theorien zu ſchreiben unternommen worden. Eine kritiſche Beſprechung der be⸗ 
treffenden Schriften gibt Mohl in feiner Geſchichte und Literatur ber Gtaats- 
wifienfchaften Bd. III ©. 291 ff. (1858). Nicht erwähnt ift dort der ausführ- 
fihe und mit Geift behandelte hiftorifche Theil in K. Marlo's Syſtem ver Welt» 
öloncmie. Seitdem ift wieder Bieles ‚geleiftet worden, insbeſondere in monogra- 
phiſchen Arbeiten, welche vorzugsweiſe durch Preisaufgaben der franzöſiſchen Ata- 
demie und deutſcher gelehrter Geſellſchaften (Jablonowskiſche Geſellſchaft zu Leipzig) 
angeregt wurden. Unter den deutſchen, beziehungsweiſe deutſch ſchreibenden Schrift⸗ 
ſtellern, vie ſich in dieſer Beziehung hervorgethan haben, find vornämlich zu nen- 
nen: Wiskemann, Laspeyres, Schmoller, A. Held, Horn. Eine vollſtändige national⸗ 
ötonomifche Literaturgeſchichte hat mit großem Fleiße I. Kautz in feiner geſchicht⸗ 
lichen Entwidlung der Nationalökonomik und ihrer Literatur, Wien 1860, ge 
Hefert. Yür die von der biftoriihen Kommiffion bei der bayeriſchen Alademie der 
Wiſſenſchaften umternommene Gefchichte der Wiſſenſchaften in Deutſchland aber hat 
Rofher die Bearbeitung der Geihihte der Nationalölonomit nnd Statiſtik zuge- 
ſagt. Daß diejes Wert ein muftergültiges werden wird, dafür bürgt nicht nur ber 
Name des Berfafferd und die Aufnahme in das genannte große Nationalunter- 
nehmen , fondern es liegen dafür auch bereits Belege in mehrfachen Probeftüden 
vor, welche in verfchiedenen Zeitfchriften veröffentlicht worben find, 

Es Tann nit die Abfiht fein, an diefer Stelle au nur eine Skizzirung 
des Entwidlungsganges der Volkewirthſchaftslehre zu verſuchen. Es find vielmehr 
aur einige Bemerkungen über vie Duellen, aus denen dieſe Entwidelung hervor- 
gegangen iſt, auf die wir uns, uud zwar unter fpecieller Berüdfihtigung Deutich- 
lands, beſchränken wollen. Aud dabei laflen wir noch bie Finanzwiſſenſchaft, hin⸗ 
fihtlih deren wir auf den Artikel Staatswirthſchaft verweilen dürfen, anfer 
Betrachtung. 

Es iſt der regelmäßige Entwidelungsgang dogmatiſcher Wiſſenſchaften, daß fie 
N, zuerft aus Verallgemeinerungen herausbilden, welche unter dem Drude praf- 
tiſcher Bedürfniſſe aus fogenannten Erfahrungen gezogen werben, daß fi hierauf 
eine Periode vorherrſchend fpefulativer Behandlung anfchließt, bis die Berirrun- 
gen, in welche man auf dieſem Wege geräth, zu der Erkenntniß führen, daß man 
äine fortwährende Vergleihung der wiſſenſchaftlichen Lehrfäge mit ben thatfächlichen 
Vorgängen, aber num ven methodiſch zu beobachtenden und kritiſch feftzuftellenven 


122 dolkswirthſchaft, Bolkswirthfchaftsiehre. 


thatfächlichen Vorgängen nicht entbehren kann. Auch bie Gefchichte der Volkswirth⸗ 
ſchaftslehre verlengnet diefe Regel nicht. Die Lehre der Merkantiliften beruhte vor⸗ 
nämlid auf dem Beftreben, zu einer zufammenfaffenden Anſchauung der Staats- 
praris ihrer Zeit zu gelangen, nm bie letztere theild dadurch zu rechtfertigen, theils 
zu einer Tonfequenteren Verwirklichung ver ihr zu Grunde liegenden Gedanken zu 
veranlafien. Das phyfiokratiſche Syftem hat im Widerfpruh gegen jene einen 
fpetulativen Charakter, und wie e8 in der franzöfiihen Enchklopädie zuerft hervor⸗ 
tritt, fo ſteht es auch in unmittelbarem Zufammenhange mit der enchklopäbiftifchen 
Philoſophie. Es bezeichnet die Reaktion des auf ſich felbft geftellten Denkens gegen 
pie fcheinbare Willkürlichkeit der thatfächlihen Behandlung der Volkswirthſchaft. 
Mit Adam Smith beginnt die britte Periode oder richtiger, er legt deu Grund 
zu einer wirklich fruchtbringenden Behandlung der Wiſſenſchaft, gegenüber welcher 
die vorhergegangenen Leiſtungen nur als Anläufe und Vorbereitungen erſcheinen. 
Bekanntlich ift er nichts weniger ala ein Syſtematiker, und was bie von ihm auf« 
geftellten Lehren betrifft, fo hat man nachweiſen können, daß die meiften berfelben 
fih bereits bei einzelnen Altern Schriftftellern vorgetragen finden. Es ift mithin 
weder die Form noch der Inhalt, denen bie „Unterfuhung über die Natur und 
die Urfachen des Reichthums der Völker" ihre Epoche machende Bedeutung ver- 
dankt. Ihr unfterbliches Verdienſt liegt mwefentlih in der Methode und in ver be 
wunderungswärbigen Feinheit, mit welcher biefelbe auf ein vielfach unfiheres und 
höchſt lückenhaftes Material angewandt worben ift. Bon dieſem Geſichtspunkte aus 
erfcheint, was man dem Bude fo häufig zum Borwurfe gemacht hat, bie fichere 
Art und Weiſe, mit welder unfinnigen Konfequenzen nicht völlig Torrelt aus⸗ 
gedrüdter Sätze die Spige abgebroden wird, als einer feiner Hauptvorzäge. 

Derfelbe Entwidlungsgang, den die Wiflenfhaft im Großen und Ganzen 
genommen bat, wiederholt fih aber auch nod immer im Kleinen und Einzelnen. 
Gewiſſe neue volkswirthſchaftliche Erfcheinungen tauchen auf. Die Nothwendigkeit, 
fi im wertthätigen Leben mit ihnen abzufinden, führt zum Nachdenken über ihre 
Urſachen und Folgen. Daraus geht allmälig die Aufftelung von Theorteen über 
biefelben hervor, in welcher vie Abftraltion einen zunehmend größeren Antheil ge- 
winnt. Es machen fih Widerſprüche ver aufgeftellten Lehrſätze ſowohl unter fidy 
als mit ven Thatfahen bemerklich, und fo wird man zu einer Reviſion ber Theo- 
rie auf Grund der vollflänbiger und kritiſch genauer feftgeftellten Thatfachen 
getrieben. 

Hieraus erlären fi vie Hauptridtungen, in welden fich der Kortfchritt der 
Volkswirthſchaftslehre ſeit Adam Smith bewegte, die verfchtenenen Gruppen ihrer 
Bertreter und bie verfchiedene Art ihres Auftretens. Anfangs galt es natärlid vor 
Allem, die von Adam Smith gewonnenen Ergebniffe einerfeits gegen Anfechtungen 
fider zu ſtellen, anbererfeits durch PBopularifirung und fuftematifhe Zufammen- 
ftelung nußbarer zu machen. Die erftere Aufgabe fiel, da das Wert Smithe, 
wie es in Großbritannien erfchtenen war, fo auch dort zuerft auf Anzweiflung 
und Widerſpruch ftieß, vorzugsweife den Engländern zu. Der Bopularifirung nah⸗ 
men ſich befonders die Franzoſen, begünftigt durch ihr nationales Talent gemein- 
faßlicher Darftellung und ten Weltharalter ihrer Sprache, an, und es ift nur 
eine Pflicht der Billigkeit, bier den Namen I. B. Say's ausdrücklich hervorzu- 
heben. Die Spftematifirung wurde das fpecielle Verbienft der Deutichen. Selbſt⸗ 
verſtändlich Tonnten alle dieſe Aufgaben nicht gelöst werden, ohne daß die Lehren 
des großen Schotten mannigfach vervollftänpigt, weiter entwidelt und bier und da 
berihtigt wurden. In allen viefen Punkten aber handelte es ſich weſentlich um 


Dolkswirthfchaft, Doikswirthfchafisichre. 128 


gelehrte Arbeit. Die Vertreter ver Wiſſenſchaft in dieſer Periode find überwie- 
gend Theoretiker, fie flellen fich meiftens nmfaflende Aufgaben, deren Löſung Dar- 
ftellungen von größerem Umfange beanfprudt. Aber fehr bald machen fi vie Be- 
ziehungen zum praftifchen Zeben geltend. Wenn einestheild vie Theoretiker den fehr 
natürlichen Wunſch haben, Einfluß auf dieſes zu gewinnen, jo fuchen anbererfeits 
die Berfechter praltifcher Interefien an der Theorie eine Waffe oder Stütze zu 
finden. Es ift ſchon oftmals bemerkt worden, wie die hervorragendften Leiftungen 
der zunächſt auf Smith folgenden Generation, bie Unterfuhungen von Malthus über 
bie Bevdlkerungsgeſetze und diejenigen von Ricardo über das Verhältniß der ver- 
fhiedenen Einfommenszweige zu einander in den bamaligen englifchen Parteigegen- 
fügen und Parteilämpfen ihre Wurzel haben. So geſchieht es, daß fi der Fort- 
fhritt ver Lehren hauptſächlich an die Erörterung einzelner praktiſcher Fragen 
Inäpft. Damit treten zugleich eigenthümliche Formen der Darftellung hervor. In 
den Ländern, welde ein ausgebildetes öffentliches Leben Haben, werben die neuen 
Anſchauungen vorzugsweiſe in den literariſchen Erzeugniffen niebergelegt, mit wel⸗ 
hen man die Öffentlibe Meinung zu gewinnen ſucht, und je nach dem mehr art- 
Rolratifchen oder ‘mehr demokratiſchen Charakter der Nation greift man zu ber 
vornehmern Form des Eſſay oder zu der popnlärern der Brochure und felbft des 
Zeitungsartikels. In England z. B. warb lange Zeit der Fortſchritt der Volks⸗ 
wirthfchaftslehre vornämlih durch die großen Reviews vermittelt, während in 
Frankreich befonders vie Brochurenliteratur ins Gewicht fällt. Dort hingegen, wo 
das Bffentliche Leben noch weniger entwidelt ift, handelt es ſich hauptfählih nur 
um Einwirkung auf die regierenden Kreife. Das giebt, abgefehen von den meiftens 
uicht in bie Deffentlichleit gelangenben eigentlihen Gutachten, ven kritiſchen Be⸗ 
ſprechungen von Geſetzen und Gefegentwärfen ihre befonvere Bedeutung. In ihnen 
bildet fi die Theorie mit Vorliebe weiter. Das war namentlih ver Fall in 
Deutſchland, und es fei geftattet, nur zwei Namen zu nennen, bie fidh gerade auf 
biefem Wege hervorragende Berbienfte erworben haben: Nebenius und Hanfien. 
Es verfieht fih, daß das nicht fo gemeint ift, ald ob die nationaldkonomiſche Li⸗ 
teratur in biefer Periode in Brochuren und kritiſchen Auffägen aufgegangen wäre; 
fort und fort ift zugleich in umfaflendern Werken, mas in jenen vereinzelt nieber- 
gelegt worden war, verbichtet und weiter geführt worben. Immerhin aber tritt der 
größte Theil der nengewonnenen Erkenntniß zueft in jenen Formen hervor, es 
ift eine Literatur periopifher und nicht periodifcher Zeitfchriften,, welche vorzugs⸗ 
weife den Fortſchritt der Wiflenfchaft repräfentirten. 

Mit dem Auffhwunge, welchen unfer nationales Leben, namentlich aud in 
wirthſchaftlicher Beziehung unter dem Einflufie des Zollvereins und ver feit ven 
vierziger Jahren in rafheren Fluß gerathenden Bewegung ber Geiſter in Preußen 
nimmt, zeigt fi eine Veränderung. Während früher die nationaldkonomiſche Jour⸗ 
naliſtik faft ausfhlieglich in den Händen von Profeſſoren und Beamten lag, bilvet fich 
num ein eigener Stand volkswirthſchaftlicher Tagesfchriftfteller heraus. Friedrich 
Liſt iſt der erfte hervorragende Repräfentant desſelben. Er bringt durch feine ketze⸗ 
rifhen Anfihten, wie durch die Lebendigkeit und Friſche, mit welder er fie ver- 
fit, ein gewaltiges Ferment in die Behandlung ver Wifienfchaft. Freilich zeichnet 
er fich zugleich durch feine Fehler, durch faljhe Verallgemeinerungen und über- 
flürzte Schlußfolgerungen ans. Es folgt ihm eine jüngere Generation, welche ſich 
auf einen ganz andern Boden ftellt. Größtentheild dem Norden angehörig, fegt 
fie fi die Durchführung des Principes der Freiheit in der Volkswirthſchaft zum 
Hanptziele. Bon ihr wird mit großer Energie der Kampf um Gewerbefreibeit, Frei- 


124 DYolkswirthfdaft, volkswirthſchaſtslehre. 


zügigfeit, Zollreform, Abſchaffung der Wuchergeſetze, Freiheit des Bankweſens, 
Aufgabe des Patentſchutzes 2c. aufgenommen. Abgeſehen von ihrer Wirkjamteit in 
den eigentlihen Zeitungen, verfchafft fie ſich in dem Bremer Handelsblatt, in ber 
Heidelberger Germanta und ver aus diefer hervor, aber and nad kurzem Be- 
ftande wiebereingegangenen Pidforbfchen volfswirthichaftlihden Monatsſchrift und 
neuerdings in Fauchers und Michaelis’ Vierteljahrsſchrift für Volkswirthſchaft und 
Kulturgefhichte, Organe für umfafjendere und tiefer eingehende Auseinanberfegungen, 
mit welchen fie nicht ‚blo® ihre praftifhen Zwecke fördert, fondern zugleih auch vie 
wiſſenſchaftliche Erkenntniß in mannigfacher Weiſe bereichert. Und damit fi mit 
ber ſchriftftelleriſchen Thätigkeit auch die Wirkſamkeit des lebendigen Wortes ver- 
binde, werben in den größeren Stätten freie Vorträge für ein gemiſchtes Publi- 
kum veranftaltet, wird als ein periodiſcher Centralpunkt des Gedankenaustauſches 
der deutſche volkswirthſchaftliche Kongreß gegründet, an welden ſich eine Reihe von 
Provinztalgefelfhaften mit gleichen Zwecke anſchließen. 

Mährend deſſen blieben die eigentlichen Theoretifer, bie bei ung vornehmlid aus 
den Univerfitätslehrern befichen, die Schulen, wie Fr. Liſt fi ausgedrückt haben 
würde, nicht ftehen. Nicht allein, daß die Bemühungen um beſſere Syſtematiſirung 
und tiefere Begründung der einzelnen Lehren fortgefegt und dabei mandye neue Ge- 
danken und Gefichtöpunfte zur Geltung gebracht wurden, in welcher Beziehung insbe⸗ 
fondere L. Stein, Knies und Schäffle mit Auszeichnung zu nennen find; nicht 
allein daß ferner von diefer Seite nad) wie vor die wirthſchaftspolitiſchen beftegenven 
Einrichtungen, die beabfichtigten oder neugetroffenen Mafregeln unter porzugsweifer 
Betheiligung wiſſenſchaftlich firebfamer Beamter einer Fritifchen ——— Be⸗ 
ſprechung unterzogen wurden, für welche außer andern Zeitſchriften beſchränkterer 
Bedeutung insbeſondere die Tübinger Zeitſchrift für die gefammte Staatswiffenfchaft, 
welche aud das ehemalige Rau- und Hanſſenſche Archiv in fi) aufgenommen hatte, 
den Sammelpunft abgab; e8 gewinnt auch, mas noch viel mehr ind Gewicht fällt, 
die gelehrte Forſchung einen allfeitig erweiterten Geſichtskreis durch die energiſche 
Auffafjung des Gedankens ver Abhängigkeit der Gebilde der Volkswirthſchaft von 
den übrigen Seiten des nationalen Lebens, insbefonvere der Geftaltung von Recht 
und Staat, wie ihrer Rückwirkung auf dieſe. Rofcher iſt e8, ver zuerft biefen Ge⸗ 
tanfen mit Entſchiedenheit ausfpriht und mit reicher Gelehrſamkeit und feinftem 
Berftänoniffe begründet, und um ihn fließt fi ein Kreis anderer Schriftfteller, 
jeder in feiner Weife felbftändig, “aber doch fo dur die gleihe Grunprichtung 
ihrer Beſtrebungen vereinigt, daß man ihnen mit Recht den Namen einer Schule 
beigelegt bat. Die hiſtoriſche Schule nennt man fie gewöhnlid, weil die Grund⸗ 
auffaffung, von welcher fie ausgeht, allerdings zunähft auf eine reichere Beleuch 
tung und ſchärfere Unterfuchung des geſchichtlichen Berlaufs der Wirthſchafts⸗ 
zuftände in ihren Einzelheiten führte, wobei bie reichen Ergebniffe der mobernen 
Wiſſenſchaft auf dem Gebiete der Rechte-, der Kultur- und Sittengeſchichte, ver 
vergleihenden Sprachforfhung zc. vielfach fürdernd zu Hülfe kommen. Vielleicht 
wäre ber Name politiihe Schule noch zutreffender, denn in der That ift es doch 
das politifhe Element, welches bei diefen Schriftftellern in dem Mittelpuntte aller 
Betrachtungen fteht, und nichts ift ihnen wohl fo fehr gemeinfam als der Gegen- 
jaß gegen ven wirtbichaftlihen Atomismus. 

Bon einer britten Seite her endlich findet fih vie Volkswirthſchaftslehre 
weiter gefördert durch die Leiflungen ver modernen Statiftil, indem dieſe vielfad) 
ſich nicht blos auf die Ermittelung, Sichtung und Ordnung volkswirthſchaftlichen 
Materials befchränten, fondern durch Erklärung der Thatſachen und Raifonnements 


Dolkswirthfchaft, Dolkswirthfchaftsichre. 125 


über viefelben in das Gebiet ver Volkswirthſchaftslehre hineinreichen. Es fteht 
bier außer Frage, ob dies an fich zu billigen oder zu tadeln ift?). Wir halten ung 
nur an die Thatfache, daß ein großer Theil der neueren ftatiftifhen Beröffent- 
lichungen dur die in ihnen enthaltenen Unterfuhungen auch der Volkswirthſchafts⸗ 
Ichre mit angehört. Namentlich die Werte Engels, dem die Statiftif in Deutſch⸗ 
land ja vorzugsweife ihren Aufſchwung verdankt, haben zur Berichtigung und Ber- 
vollſtändigung der volkswirthſchaftlichen Lehren von den Zransportmitteln, vom 
Berfiherungswefen, von der genoſſenſchaftlichen Selbfthälfe, vom Arbeitslohn und 
manchen anderen weſentlich beigetragen. Über auch abgefehen von dieſer unmittel- 
baren Berbindung beider Wiflenfhaften enthält jedenfalls ſchon die Klarlegung 
der Thatfachen durch die Stariftil jür die Vollswinthichaftslehre eine fortdauernde 
Anregung zu weiterer Ausbildung. Da wir oden andere Fachzeitſchriften erwähnt 
haben, fo jeien bier auch Hildebrands Jahrbücher für Nationalölonomte und Sta- 
tiftil genannt, die es filh zu ihrer Hauptaufgabe gemacht zu haben feinen, im 
Sinne einer folden Anregung zu wirken. ı 

So beruht denn die Entwidelung der Volkswirthſchaftslehre heutzutage auf 
einer dreifachen Gruppe von Trägern. Die erfte geht aus von den Anforberungen 
der praftifhen Politik, die andere von der hiſtoriſchen Begründung der politiichen 
Theorie, die dritte von ver Feftftelung der wirthſchaftlichen Thatſachen. Natürlich 
find viefe Gruppen weder in ihren Perſonen noch in der Art ihrer Arbeit fireng 
von einander geſchieden. Es giebt Biele, vie in mehr als einer Weife fi um vie 
Wiſſenſchaft verdient gemadt haben, und Jeder, dem es mit der Erforfhung ver 
Wahrheit Exnft ift, empfindet die Nothwentigfeit, welchen Auegangspunkt er auch 
nehme, die auf anderm Wege gewonnenen wiflenfchaftlihen Ergebniſſe zu berüd- 
fihtigen. Nichts wäre daher verkehrter, als ein hochmüthiges Herabfehn ver in 
einer Richtung Strebenden auf die in der andern Richtung Thätigen. Man Tann 
darüber ftreiten, welde Behandlungsweiſe bisher den reicheren Erfolg gehabt hat 
und für die Zukunft verſpricht; entbehrlich ift feine verjelben; jede kann und foll 
deßhalb and) ver andern die Hand reichen. i 

Zum Schluß nod eine Bemerkung. In der’ Gegenwart nehmen alle Kultur- 
völfer an dem Ausbau der Bollswirtbichaftsiehre lebhaften Antheil. Neben ven 
Deutſchen, Engländern, Franzoſen befigen auch vie Italiener, die Ruflen, die Nord» 
amerifaner, die Holländer eine fortwährend an Bedeutung und Selbftänpigfeit ge- 
winnende Literatur. In diefer Ausdehnung und Bielfeitigfeit der Betheiligung liegt 
eine große Garantie für den ungehemmten Fortſchritt der Wiſſenſchaft; diefer kann 
durch fein Ermatten, keine Berirrung eines einzelnen Volkes mehr gefährdet werben. 
Dagegen müflen, zumal bei der heutigen Leichtigkeit bes internationalen Verkehrs 
und bei der vielfältigen Verſchlingung der wirthſchaftlichen und geiftigen Intereffen, 
die von jedem Bolfe errungenen Erfolge anregend auf das Nachſtreben der andern 
wirfen. Andererfeits ergiebt fi aus dieſen Berhältnifien für jenes Volk, weldes 
in feinen wiſſenſchaftlichen Leiftungen nicht zurüdbleiben will, die dringende Mah⸗ 
nung, die wifienfchaftliche Bewegung außerhalb feinen Grenzen mit fleter Auf- 
merkſamkeit zu verfolgen. Die umfaſſende Berüdfihtigung der ausländischen Literatur 
it von Alters her ein Ruhm ver Deutſchen, aber es tft zur Zeit kein ausſchließ⸗ 
liher Vorzug mehr. Daß die Holländer es uns in dieſer Beziehung mindeftens 
glei thun, liegt, abgefehen von ihrer Stammverwandiſchaft, in der geringen Aus». 
vehnung ihrer Nationalität und der centralen Lage ihres Landes begränvet. Aber 


9, Vrgl. den Artilel Statiftit. 


126 Dolkswirthfchaft, Dolkswirthfchaftsichte. 


aud die Rufen zeichnen fi in dieſem Punkte aus, und bie Leichtigkeit, mit welcher 
fie fremde Sprachen erlernen, kommt ihnen dabei fehr zu Statten. Und ebenfo 
laſſen es fi die Franzoſen und die Italiener neuerdings angelegen fein, von 
fremden Arbeiten Kenntniß zu nehmen. Was die Erftern betrifft, fo erſcheint an 
biefer Stelle eine ausprüdliche Erwähnung der großen Berbienfte, welche fih Mor. 
Block um die Anerkennung deutſcher Geiftesthätigkeit in Frankreich erworben hat 
und fortvauernd erwirbt, gewiß gerechtfertigt. — Es gilt mithin, uns nicht über⸗ 
holen zu laſſen. Allein das Bemühen, im Auslande wie im Inlande Nichts unbe» 
achtet zu laflen, was wiſſenſchaftliche Bedeutung beanſpruchen darf, ftößt gerade 
auf dem Gebiete der Volkswirthſchaftslehre auf die größten Schwierigkeiten. Wenn 
wir auh von der ummittelbaren Verfolgung der wirthſchaftlichen Entwidelung 
anderer Länder ganz abfehen und annehmen wollen, in biefer Beziehung babe 
jedes Volk für fi felbft zu forgen, und es handle fi wechſelſeitig Iediglih um 
die Berüdfihtigung der literarifhen Erzeugnifie, fo find doc dieſe allzuzahlreich, 
und was noch mehr ift, in Geftalt von Büchern, Brodüren, Gefegesmotivirnngen, 
parlamentarifhen Berichten und Auffägen der periodiſchen Prefle von der Biertel- 
jahrsſchrift am bis zu dem Tagesblatte von oft nur provinzieller Berbreitung viel 
zu fehr zerftreut, als daß es möglich wäre, von allen Kenntnig zu nehmen. Die 
Volkswirthſchaftslehre befindet fich bereits in der ‚Lage, welche mit ber wachſenden 
Berbreitung des Menſchengeſchlechtes uud feiner Kultur vorausfichtlih früher oder 
fpäter für jede Wiflenfhaft eintreten wird, ihre Literatur nicht mehr bewältigen 
zu können. Bon einem Anfprud „Alles” gelefeu zu baben, ift felbft für den Ge⸗ 
Iehrteften und wenn es fi aud nur um eine einzelne Materie handelt, längft 
keine Rede mehr, und es ift zu einer Hanptlunft geworben, e8 ven literarifchen 
Erzeugniffen raſch anzuſehen, wenn „Nichts darin fleht." Ein folder Zuſtand 
‚birgt aber nad verfchienenen Seiten große Gefahren in feinem Schoße. Eines- 
theils mag er leicht zur Verſchwendung eines Webermaßes von Kräften, welde 
befier an die unmittelbare Erforſchung der Erſcheinungen der Wirklichkeit geſetzt 
werben, an ein bloßes Literaturftudium, führen; anverntheils Liegt die Möglichkeit 
nahe, daß manche die Erkenntniß wirklich bereihernde Gedanken, Auffaflungen, 
Beweiſe nicht blos ihren Urhebern entzogen werben und erft durch die zweite, 
dritte Hand, oftmals entftellt, Aufnahme in der Wiſſenſchaft finden, fondern auch 
gänzlich unbeachtet bleiben oder wieder verloren gehen. Insbeſondere droht der 
anregenden internationalen Wechſelwirkung dabei leicht Beeinträchtigung, denn wenn 
man fih ſchon in ven einheimifhen Preßerzeugniffen nicht mehr durchzufinden 
vermag, wo ſoll die Luft und die Zeit zur Ausnugung der fremden noch her» 
kommen? — Eine Abhülfe ift hier offenbar ein täglich dringender werbendes Be⸗ 
därfniß. Herbeigefährt kann fie nur werden durd eine zwedmäßige Organifation 
der wiſſenſchaftlichen Beftrebungen. Au Aufägen zu einer ſolchen fehlt es nicht; 
es feien in biefer Hinfiht nur die Ueberfihten über die national⸗ökonomiſche Li⸗ 
teratur im der periodifchen Prefle des Auslandes erwähnt, weldhe das Journal des 
Economiftes und feit einiger Zeit auch die Hildebrandſchen Jahrbücher regelmäßig 
zu bringen pflegen. Immerhin bleibt noch Mandes zu thun übrig. Eine Begrün⸗ 
dung pofitiver VBorfchläge in biefer Richtung würde indeflen eine Auseinanderfegung 
erfordern, welche weit über die bem vorliegenden Auffage gezogenen Grenzen 
binansführen müßte. Hier fam es uur darauf an, auf das Aoirfaib im Allge⸗ 
meinen binzumelfen. Daß es in nicht zu ferner Zeit feine Befriedigung finden 
wird, ift kaum zu bezweifeln. “ Rangelbt. 


Waffenftillftanv. 127 


VBolkswirthſchafts⸗Politik, |. Bodtswirthſchaft. 
Vollziehende Gewalt, ſ. Staatsgewalten. 
Voltaire, ſ. Encyklopädiſten. 

Vormundſchaft, ſ. Gericht, Regentſchaft. 


W. 
Waadt, ſ. Schweiz. 
Waffenſtillſtand. 


Der Waffenſtillftand im weiteſten Sinne des Wortes (armistice) hat die Bedeu⸗ 
tung, die Feindſeligkeiten einftweilen zu hemmen. Vom eigentlihen Waffenſtillſtande 
(tr&ve) unterſcheidet fich die bloße Waffenruhe (cessation oder suspension 
d’armes) dadurch, daß fie nit an die flrengen Grundſätze desfelben gebunden ift 
und in der Negel nur auf kurze Zeit, mitunter fogar nur auf wenige Stunden, 
verabredet wird. Hauptfächlic nad einer Schlacht pflegt eine kurze Waffenruhe 
einzutreten, um bie Todten zu begraben und um für bie Verwundeten bie nöthigfte 
Fürſorge zu treffen. Der eigentlihe Waffenftillfiand aber iſt entweder ein 
allgemeiner oder ein befonderer. Der allgemeine unterbridt die Yeind- 
feligfeiten ünter den gefammten beiderfeitigen Heeresmaſſen und bildet in der Regel 
ſchon die Brüde zum Frieden. Der beſondere befchränft fi auf einzelne Truppen- 
theile oder anf einzelne Gegenden und pflegt nur eine Folge augenblidlidher Er⸗ 
ſchöpfung zu fein, alfo noch keine Wusfiht auf den Abſchluß des Friedens zu 
eröffnen. 

Die Pforte, die aus ihrem religiöfen Standpunkte mit den Feinden bes 
Propheten niemals einen wahren Frieden glaubte abſchließen zu dürfen, wenigftens 
keinen dauernden, vereinbarte mit den chriftliden Mächten in früherer Zeit, flatt 
der Friedensſchlüſſe, ſogenannte Waffenftillffände auf lange Jahre (des 
treves à longues annees). 

Die Berechtigung zur Eingehung eines allgemeinen Waffenſtillſtandes ift 
gewöhnlich in der Amtsgewalt des Feloherrn noch nicht enthalten; fie entipringt 
in der Negel erſt aus einer befondern Vollmacht von Seiten der Staatögewalt, 
und in dieſem Halle muß der Waffenſtillſtandsvertrag ratificirt werben. Die Voll⸗ 
macht zur Abſchließung eines befonderen Waffenftillftandes liegt aber fhon im 
Amte des Feldherrn; bier bedarf es, wie keiner beſondern Vollmacht, jo auch feiner 
Ratififation, fofern fie nicht ausdrücklich vorbehalten worden ft. 

Die Verbiudlichkeit eines Waffenftillftandsvertrages beginnt für bie Feld— 
herren und für bie Staatsgewalten mit dem verabredeten Anfangspuntte, 
wie bei jevem VBertrage. Aber für die Untertbanen , insbefondere für die Sol⸗ 
daten, trägt der Waffenftilftand nicht den Charakter eines Vertrages, fondern ben 
eines Geſetzes. Für fie ift er daher auch erft verbinplih, wenn er gehörig pu— 
blicirt worden ift. Geſchah die Publikation nicht rechtzeitig oder nicht ordnungs⸗ 
mäßig und find in Folge deſſen Ueberjchreitungen des Bertrages vorgelommen, 
fo fällt vie Verantwortung nit auf die Ueberfchreiter, ſondern auf den Feldherrn 
und auf die Staatögewalt. 

Dhne Zweifel gelten die allgemeinen Grundſätze der Auslegung internatio- 
naler Verträge auch für Waffenftillftandsveriräge. Man reicht aber mit ihnen nicht 


128 j Wahlrecht und Wählbarkeit. 


aus, Die Völkerrechtslehrer, vorsämtic Dattel und Wheaton, haben deshalb 
folgende drei befondern Auslegungsregeln aufgeftellt : 

1. Iede Partei darf auf ihrem Staatsgeblete, oder innerhalb der ihr durch 
ven Waffenſtillſtandsvertrag angewiejenen Grenzen Alles tbun, was ihr während 
des Friedens erlaubt wäre. Sie Tann alfo Truppen ausheben, Truppen marjchiren 
lafien, Munition und Mundvorrath ſammeln, von ihren Berbündeten Verſtär⸗ 
fungen empfangen u. f. w. 

2. Im Uebrigen darf aber der Statusquo ver gegenfeitigen triegerifchen 
Stellung nicht verändert werden. Nad dem Ausprud von Pinheiro-Ferreira 
darf man Nichts thun, was der Feind zu verhindern ein Interefle gehabt haben 
und wahrſcheinlich and thatſächlich verhindert haben würde. 

3. Da der Woaffenftillftand den Krieg nur fuspendirt, fo muß die Streit« 
frage, über die der Krieg geführt wird, während des Waffenftillfiandes unverän- 
dert bleiben. . 

Berlegungen des Waffenftillftantes von Seiten der einen Partei geben ber 
andern ein Recht zur fofortigen Wiederaufnahme ver Feindſeligkeiten. Sind bie 
Berlegungen aber nur von einzelnen Untertbanen auf eigene Hand begangen wor⸗ 
den, fo hat fi die verlegte Partei auf Forderungen des Schavenserfages und 
der Beftrafung zu befchränten. 

Iſt ver Waffenſtillſtand auf unbeftimmte Zeit geſchloſſen worben, fo be- 
darf e8 zu feiner Aufhebung einer formellen Kündigung. Dieſe ift bei den auf 
beftimmte Zeit gefchloffenen Waffenftillftännen freilich kein Rechtserforderniß, 
denn da liegt die Kündigung fon im Eintritte des ftipulirten Zeitpunktes. War 
indeß der Zeitraum des Stillftandes der Waffen ein. längerer, fo pflegt man 
dennoch dem Wiederbezinn der Yeindfeligkeiten eine Kündigung vorauszuſchicken. 
Schon bei ven Römern ſcheint dies Sitte geweſen zu fein, wie man aus Livius 
Buh 4, Kap. 30 erfieht. 

Zur größeren Sicherheit werden bei Waffenftillftanpsverträgen mitunter Geifeln 
geftellt , Pfänver gegeben, Waffenpläge eingeräumt , äberhaupt Objelte geliefert, 
dur die man eine ftärtere Stellung gewinnt, oder an deneu man Repreffalien 
üben Tann. Berner. 


Wahlrecht und Wählbarkeit. 


Seitdem die Repräfentativverfaflung allgemeine Aufnahme gefunden bat in 
ber neueren Staatenwelt, find die beiden Fragen des Wahlrechts, d. 5. Wer 
ift berechtigt, zur Bollövertretung zu wählen? und ver Wählbarkeit, d.h. Wer 
fann in die Repräfentation gewählt werben? von eminenter Wichtigkeit geworben. 
Mehr ale Ein Mal verfegte der Kampf der Parteien über ihre Beantwortung 
die ganze Bevölkerung in Aufregung; und mande Revolution wurde vornämlid 
bunt bie Veränderung des Stimmrechts und der Wählbarkeit eingeleitet oder 
vollzogen. 

Die Grundfäge und die Einrihtungen der verfhienenen Staaten find in biefer 
Hinfiht noch fehr verfchieden; und in ben einzelnen Staaten felber haben aud 
die Parteien verſchiedene Meinungen darüber. In der Theorie und in der Praris 
dauert der Kampf nob immer fort und die Bewegung fheint noch nirgends zu 
einem dauerhaften Abſchluß gelommen zu fein. 

1. Wichtiger und beftrittener als das Hecht ver Wählbarkeit ift das fogenannte 
aktive Wahlrecht, das Stimmredt. In diefer Hinficht zeigt die neuere Zeit 
jowohl in Europa als in Amerika eine entjchlevene Richtung zur Berallgemei- 


Wahlrecht und Wählbarkeit. 129 


nerung des Stimmredts. In keiner früheren Periode der Geſchichte find bie 
politiſchen Rechte fo weit auf alle Boltsflaffen ausgedehnt worden, als in dem 
modernen Zeitalter. Der moberne Staat betrachtet fi nicht mehr als ſtändiſchen 
Staat, fondern als Volksſtaat, und indem er das ganze Boll in der Repräfente- 
tion bargeftellt jehen will, fürdtet er durch die Beſchränkungen des Stimm- 
rechte auf einzelne Klaffen eine unvollftändige Vertretung zu gewinnen und 
Privilegten zu erhalten, die ihm verhaft geworben fine. Auf breitefter Baſis fol 
dad moderne Staatsgebäube aufgebaut werben, das ift eine viel gehörte Zeitftimme. 
Das allgemeine Stimmrecht, vor einem Menfcenalter noch verachtet iſt 
neuerdings in der Schweiz, in Franfreih, in Italien, in Norddeuntſchland, in den 
Bereinigten Staaten von Amerika proffamirt und find die früheren Schranten auf» 
gehoben worden. Faſt nur noch das ariſtokratiſche England fträubt fi, dem neuen 
demokratifchen PBrincip zu huldigen, aber auch die englifhe Gefeugebung ift in 
ver unanfhaltfamen Bewegung zur Erweiterung bes Stimmredts auf vie großen 
Bollsklafſen begriffen, und das englifhe Parlament verhandelt in dieſem Augen« 
blick wieder nit mehr, ob eine neue Ausdehnung nöthig , fondern nur noch, in 
weihen Umfang und unter welchen Bedingungen fie einzuleiten ſei. 

Unter allgemeinem Stimmredt (suffrage universel) verfteht man das 
anf alle Volksklaſſen gleihmäßig ausgebreitete Stimmrecht, im Gegenfag zu einem 
eriftofratifch bejchränkten Stimmredt, wie e8 im Mittelalter häufig für die Ver⸗ 
tretung der Land» und Reichsſtände galt, und im Gegenfag zu der Beſchränkung 
des Stinmrechts auf die mittleren Grundbeſitzenden oder fonft felbftändig anfäßi« 
gen Aafien, wie fie heute noch in vielen Ländern verfaflungsmäßig befteht. Das 
allgemeine Stimmrecht erftredt ſich aud auf die Perfonen, welche einen Grund⸗ 
befig Haben und kein felbfländiges Gewerbe treiben, aud auf die Familienſöhne, 
die Lohnarbeiter, felbft die Dienfiboten. Es umfaßt in der Negel bie gefammte 
einheimiſche, männlihe und handlungsfähige Bevölkerung des Landes 
und erſtreckt den Begriff des eigentlichen Staatsbürgerrechts demgemäß auf 

Jedermann. 

Man hat das allgemeine Stimmrecht ſogar auf das Naturrecht zu begrün⸗ 
den verſucht und es als ein natürliches Recht aller Theilnehmer am Staate 
erklaͤrt, mitzuſtimmen bei den gemeinſamen Angelegenheiten. Die Anhänger ber 
Theorie, daß der Staat eine Geſellſchaft von Individuen ſei, haben es wie ein natür⸗ 
liches Geſellſchaftsrecht beanſprucht. Bei dieſer Begründung überſieht man, daß alles 
öffentliche Recht vom Staate abgeleitet wird und dem Staate dienſtbar iſt, daß 
daher Niemand fchon als bloßes Individuum, fondern erft als Staatsbürger ein 
politifhes Stimmredt bat, und daß die Frage, wer Staatsbürger fei, davon ab» 
Bängig ift, was für Bebingungen der Staat für fein Staatsbürgerrecht feftgefegt 
bat. Das flaatsbürgerlie Stimmrecht tft alfo nicht ein Poftulat des Naturrechts, 
fondern ein Geſetz des beſondern Staatsrechts, auf deſſen nähere Beftimmung auch 
vie Nädfichten der Zwedmäßigkeit und Zeitgemäßheit von großem Einfluß find. 

Insbefondere kommen hier voraus die Rüdfihten auf die politifche Fähig— 
feit der Wähler in Betracht. Wellen Fähigkeit zu wählen, offenbar nicht vor- 
handen iſt, dem darf vernünftiger Weife aud kein Wahlrecht zugeflanden werben, 
In der richtigen Würdigung biefer unerläßlichen Fähigkeit Tiegt vie Hauptaufgabe, 
aber auch die Hauptjchwierigfeit einer rationellen Löfung des Problems, Die meiften 
*— chränkungen des Stimmrechts erklären ſich aus dieſer Rückſicht. Die wich⸗ 

gſten ſind: 

1. Ausſchließung aller Perſonen, welche überhaupt nicht handlungs⸗ 

BlLanutſchli und Brater, Deuntſches Staatt⸗Wörterbuch. ZI. 9 


130 Wahlrecht und Wählbarkeit. 


fähig find, alfo voraus der Unmündigen, Minderjährigen unb unter 
Vormundfhaft Stehenven. Wäre das Stimmrecht ein geſellſchaftliches Privat 
recht, jo könnten and diefe Perfonen nicht völlig ausgefchloffen werben, ſondern 
es würde ihr Stimmrecht nur dur ihre Vormünder für fie auszuüben fein. Da 
ed aber eine Einrichtung ift zum Behuf der Herftellung einer ftaatlichen Repräfenta- 
tion, jo werben fie überall ausgefhloffen. Das Alter ver politifhen Volljäh- 
rigfeit wird freilich verfhieden beftimmt, ähnlich nicht immer in gleichem Maße, 
wie das Alter der privatrechtlichen Volljährigkeit. Am häufigften findet ſich ent- 
weber die Altersbeftinimung von 21 Jahren, wie in England, Frankreich, Nord⸗ 
amerifa, oder die von 25 Jahren, wie in Norddeutſchland. 

2. Ebenſo allgemein ift vie Ausſchließung des weiblichen Geſchlechts und 
die Beſchränkung des Stimmrechts auf die handlungsfähigen Männer. Auch das 
erflärt fih nit aus der gefelfchaftlihen Auffaffung des individuellen Stimm- 
rechts, denn auch die Frauen find heute privatrechtlih bandlungsfähige Perfonen 
und betheiligt bei ver Wohlfahrt des Staats, zu dem fie gehören. Eine Frau 
kann Verträge fchließen, Landwirthſchaft felbftändig betreiben, Hanvelsfrau fein 
u. ſ. f. Aber wählen kann fie nicht. Unläugbar befteht hier ein Gegenſatz zwiſchen 
ber pripatrechtlihen und ver politiichen Handlungsfähigkeit. Im lebhaften Gefühl 
dieſes Widerſpruchs haben neuerlich zwei um die Willenfhaft hochverdiente Män- 
ner, Stuart Mill und Edouard Laboulaye, eine Auspehnung des Stimm 
rechts auch auf bie volljährigen Frauen gefordert. Schon zu Anfang der franzd- 
fiihen Revolution verlangte eine Frauenpetition an den König im Jahr 1789, 
daß aud ihrem Geſchlechte die ſtaatsbürgerlichen Rechte, Stimmrecht und Wähl- 
barkeit verftattet würden. Man wies fie mit Spott zurüd, obwohl Condorcet 
fih ihrer annahm. Fürs erfte ift die Trage entſchieden, ob auf bie Dauer, ifl 
zweifelhaft. Die Hauptgründe ver Ausjchliegung der Frauen find die herkömmliche 
Eitte aller Völker, welche den Staat, der unzweifelhaft ein männliches Wefen ift, 
auch als die Aufgabe und Sorge der Männer betrachtet, und die Beflimmung ber 
rauen vorzugsweife in der Familie ſucht. Man fürchtet, daß durch die Betheili⸗ 
gung der Frauen an dem politifhen Leben dieſe ihrem natürlichen Wirkungskreiſe 
zum allgemeinen Schaden entfremvet und eher Neizbarkeit und Leidenſchaft als 
Einfiht und Thatkraft dem Staate zubringen würden. Niemand nimmt an bem 
mittelbaren Einfluß der Frauen auf das politifhe Leben Anſtoß und bie 
patriotifche Aufopferungsfähigkeit der Grauen wird bochgepriefen, aber man iſt 
überzeugt, daß die unmittelbare Theilnahme an den Staatsgeſchäften um« 
weiblid, für den Staat gefährlih und für die rauen verderblid wäre. 

Diefer zur Zeit noch herrſchenden Anſicht tritt beſonders Mill mit berebten 
Argumenten entgegen. Er macht auf die logiſchen Widerſprüche ver heutigen Rechts⸗ 
zuftände anfmerkſam, welche im bürgerlihen Recht die Frau nicht in die Yamilie 
verfchließe, fondern fie nach außen im Handel und Verkehr gleih den Männern 
handelnd und wirkend auftreten laffe, aber ihnen verweigere, einen georbneten Ein- 
flug auf vie Geſetzgebung zu Üben, an beren Wirkungen fie wie die Männer be— 
theiligt feien, und welche in manchen Ländern fogar vie höchſte Stantögewalt einer 
Tran als Königin anvertraue, aber von dem Wahlbureau ‘das ganze Geflecht 
wegweile. Er meint, wenn man beforge, die Frauen werben fi von ihren Vätern 
oder Männern oder freunden leiten laffen, fo ſei diefe Beſorgniß nicht hoch an⸗ 
zufchlagen, eine berartige Verftärfung der Stimmen des foliven Tamillenhauptes 
wäre eher ein Vortheil als ein Unglüd für den Staat. Wenn aber ver politifche 
Einfluß der Frauen außerhalb der ftaatsbürgerlichen Wahlgenoſſenſchaft doch nicht 


Wahlrecht und Wählbarkeit. 131 


za verhindern ſei, fo würbe berfelbe durch eine ummittelbare Theilnahme, au an 
ver politifchen Berantwortlichleit und Ehre eher auf vie richtige Bahn gelenkt und 
vor feidenfchaftlichen Berirrungen verwahrt werben. Es ift, bei der ſtarken Ten⸗ 
denz def neneren Zeit, das Stimmredht möglichft weit auszudehnen, nit unwahr- 
ſcheinlich, daß wenigftens in einzelnen Staaten, wie das bereits in einzelnen ame⸗ 
rilaniſchen verſucht wird, auch den Frauen ein Stimmredt eröffnet werde. Wenn 
man zu biefen beiden erften Ausfchließungsgründen nod die weniger bedentenden 
Hinzufügt : 

3. das Erforderniß perfönliger Unbefholtenheit (Ausfhließung 
jur Strafe) und 

4. die Ausichliegung der Perfonen, welde eine öffentlihe Armen- 
unterKägmug genießen und ber Falliten, gegen deren Mitwirkung man fo> 
wohl moralifche als ökonomische Bedenken bat, fo tft damit der Umfang bes all« 
gemeinen Stimmrechts bezeichnet, wie es gegenwärtig in Frankreich, in ber 
Schweiz, in mehreren norbamerilanifhen Staaten, in Italien, in 
dem norddeutſchen Bunde geſetzlich befteht. 

Diefes allgemeine Stimmredt wird in allen diefen Staaten als ein gleiches 
Stimmrtecht Aller verftanden und darin liegt eine unläugbare Gefahr für den 
modernen Staat, der es mit Borliebe pflegt. Die Auspehnung des Stimmredts 
muß ald ein großer Yortfchritt der modernen Staatsentwidiung betradgtet werben, 
denn fie gewährt wicht blos die allen Vollsklaſſen werthvollen politiſchen Rechte, 
fondern wedt auch das politifche Interefie in den weiteften Kreifen und übt auf 
bie großen Maſſen eine politifh bildende Wirkung aus. Wie die allgemeine Wehr- 
pflicht die Triegerifche Tüchtigkeit und vie politifche Tugend des Volles und die 
Sicherheit des Staates flärkt, fo verbreitet das allgemeine Stimmrecht die Bater- 
ianbsliebe, erhöht die Selbſtachtung und das Selbſtgefühl des Volks und übt es 
im der politiſchen Freiheit. Aber die arithmetifche Gleichheit dieſes allgemeinen 
Stimmrechts verfennt die natürlichen Unterfhiede tm Boll und ihre Be⸗ 
deutung für den Staat und die Gefellfhaft, nnd indem fie die organiſche Gliede⸗ 
rung des Bollskörpers in eine gleihhlöpfige, heervenähnlihe Menge aufldst, bringt 
fie ven Staat und die Gefellihaft in die Gefahr, entweder der Herrſchaft der 
Nittelmäßigleit, wenn nicht gar ber Rohheit zu verfallen, ober der 
Uebermacht Einzelner oder. Weniger, welde auf vie Stimmen ber 
eutoritztsbenürftigen Maſſen ihre Herrſchaft zu gründen verftehen. 

Bar nicht immer wirft das allgemeine und gleihe Stimmrecht, obwohl es 
eine demokratiſche Inftitution iſt, in demokratiſcher Richtung. Es wirkt fo 
nur umter bemofratifch gefinnten und in der Gelbftregierung geübten Böltern, wie 
Inder Schweiz und in ten Vereinigten Staaten von Amerila. Aber auch in biefen 
Ländern, befonders in Amerika, wird oft die Klage vernommen, daß die Mehr- 
heitöwahlen der Maſſen die Minverheiten mundtodt machen und daher nicht bie 
Freiheit und die Intereffen Aller ſchützen und daß fie eher, mit feltenen Aus. 
nahmen, die mittleren Talente und Stellungen als die hervorragende 
Intelligenz umd die ausgezeichneten Qualitäten bervorziehen und in die Repräfen- 
tantenverfammlung aborbnen. 

In Frankreich dagegen wurde das allgemeine Stimmrecht von Napoleon III. 
mit großem Erfolg benutzt, um die cäfarifche Herrihaft auf die Maflen zu grün⸗ 
ven, welche der Yührung ihrer Bürgermeifter und Pfarrer folgten. Wo die untern 
Vollsklaſſen noch feinen felbftändigen politifchen Willen haben ober nicht bemo- 
lratijch gefiunt find, da folgen die Mehrheiten ver Wähler ver gegenwärtig herr- 

9 % 


132 Wwaghlrecht und Wählbarkelt. 


fhenden Autorität, und dann dient das allgemeine und gleihe Stimmrecht dazu, 
biefe Autorität zu unterflügen und zu verftärten. Gewöhnlich find es drei mög- 
liche Autoritäten, welde auf die Maffen wirken, vie Autorität der Regierung, 
welche durch ihre Beamten auf die Wähler einwirkt und ihnen durch ihre Macht 
imponirt , oder die Autorität der Geiſtlichkeit, welde als Hirten die Heerde 
ber Öläubigen zu der Wahlurne führt, oder die Autorität einer politiſchen 
Partei, deren Führer die Parole ausgeben, auf welde die Menge hört. Diefe 
allgemeinen Autoritäten werden zuweilen burch befondere Lolalautoritäten durch- 
kreuzt, welde innerhalb feines Wahlkreifes vielleicht ein vornehmer Gruudherr 
oder ein großer Yabrifant oder Banquier, "oder zumeilen ein berühmter Abvolat 
In die Wage zu legen hat. Die Fälle find auch nicht felten, in denen die Wähler 
durch VBerguügungen, die ihnen von Seite der Kandidaten bereitet werden, ober 
gar durch direltes Erkaufen ihrer Stimmen um Geld gewonnen werben. 

So kommt es, daß dad allgemeine Stimmreqht in manchen Tändern bie Kraft 
ber Monarchie verftärkt, und zumellen die Ariftofratie emporhebt. In einem 
monarchiſch gefinnten Staate werben die Mehrheiten durchweg im Sinne ber 
monardhifchen Regierung wählen, wenn viefe ihre Autorität benugt und nicht durch 
grobe Fehler ſich verhaßt gemacht hat; und wenn das Volk ariftofratiih gefinnt 
ift, fo wird e8 aud der Ariftofratie gelingen, die Stimmen der untern Klafjen zu 
erwerben. Daher wirkt das allgemeine Stimmrecht meiftens entſprechend der Natur 
des Staates, fteigert die ohnehin überwiegende Macht im Lande, in- 
dem e8 ihr das Schwergewicht feiner Mebrbeiten zur Verfügung ftellt. 

Das gilt jedoch nur in normalen Zufländen. Wenn vie politifcgen Stürme 
bie Leidenſchaften au der Maflen von Grunde aus anfrühren, dann kann aud) 
bie politifche Richtung ver Mehrbeiten plöglich umſchlagen, der bisherigen Staats⸗ 
form feindlih werten, und die bisher herrichende Autorität ftürzen. Die gleichſam 
in ihre Atome aufgelöste Menge der Staatsbürger ift den Stößen dieſer Stärme 
in hohem Grade ansgefegt und fegt der jeweiligen Strömung nur geringen Wider- 
ftand entgegen. Die Gefhichte der Ummwälzungen feit zwei Menſchenaltern beweist 
das unwiderleglich. 

Ueberdem find die Minderheiten bei diefer Wahlform wenig geſichert gegen 
Unterorädung. Sie erhalten in der Verſammlung vielleicht feine oder eine unge⸗ 
nügende Vertretung, und die Mehrheiten fchreiten rüdfichtelos über fie hinweg. 
Die Repräfentation des Volks verliert dann ihren Grundcharakter; anftatt eine 
Vertretung des ganzen Volks zu fein, wird fie zur ausfhlieglihen Ver⸗ 
tretung ber Mehrheit. Die großen mafjenhaften Intereffen werven freilich dabei 
immer eine genügende Nepräfentation erhalten: der Grunpbefig überhaupt und bie 
Induftrie können nicht leer ausgehen. Aber mauche, ihrer Natur nad überall nur 
von Minderheiten gepflegte und genährte Interefien, insbefondere der Kultur, der 
Wiſſenſchaft, der Kunft, ver Technik, werden zumellen gänzlid vernadhläffigt und 
erhalten keine Fürfprache in ber Bollsvertretung, ober fogar eine durch die Ab⸗ 
fiimmung abgeneigter Maſſen gefälfchte Nepräfentation. Au ver rechten Kenntniß 
der Bedürfniſſe des Staats und der Gefellihaft und ver Mittel, viefelben zu be- 
friedigen, fehlt e8 zuwellen in dieſen Volkskammern. 

Weil man der Einfiht oder der Selbftänvigkeit der großen Menge miß- 
traut, bat man in manden Länvern noch manderlei weitere Bejhrän- 
tungen des Stimmredhts eingeführt, und das fo weiter bejchränkte Stimmrecht 
dem allgemeinen entgegen gejegt. Bon der Art find: 

5. in vielen nortamerilanifhen Staaten bis auf die nenefte Zeit die Aus⸗ 





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Wehiredt und Wählbarkeit. 133 


fHliegung ber Farbigen, felb wenn fie perfänlih Freie waren. Erſt ſeit 
dem großen Bärgerlrieg iſt daB Berfaffungsamenbement im Kongreß burchaegangen 
(1866), durch weldes das Stimmreht von der Farbe der Stimmenden un 
abhängig erflärt wirt. Die praktiſche Folge ber frähern Beflimmung war, daß 
nur die weiße Benöfferung für ſtimmberechtigt galt, die rothe (Indianifche) und 
voraus bie ſchwarze (Negerrace) dagegen feine politifchen Rechte beſaß. Die 
mancherlei Miſchlinge im den verfchiebenen Abſtufungen wurben bann oft ober 
bo größeren Theile als Farbige ebenfalls zuräd geſegt. Die neuere Befeitigung 
dieſer Schranke macht es möglih, daß neben den Weißen aud die Yarbigen an 
ven Wahlen fi betheiligen 

Auch dieſe Streitfinge iſt nicht fo Leicht zu entſcheiden, wie ſich bie Grtreme 
vorftellen. Wo in eimem Lande fi) nur wenige Farbige finden neben einer großen 
Menge von Weißen, da wirb es praltiſch wenig verſchlagen, ob jene Wenigen ein 
Stimmrecht haben oder nicht. Wenn aber Farbige und Weiße in demſelben Lande 
ſich maſſenhaft, und vielleicht in feinpfeliger Stimmung entgegen ſtehn oder gar 
jme vie Mehrzahl für fi haben, dann zeigen fi die Gefahren einer falfchen 
und trägerifhen Gleichheit und einer tyrannifchen Mehrheit. Die Gerechtigkeit for- 
bert, daß and den Schwarzen eine vertretende und ſchützende Stimme gegeben 
werde, und bie Interefien ver Menſchlichkeit und der allgemeinen freiheit verlangen, 
daß die Schwarzen nit als Sklaven oder Heloten der herrifhen Wiltär ver 
Weißen hülflos Preis gegeben werben. Aber vie ebenfalls widtigen Rüdfichten 
anf den Befland und die Wohlfahrt des Staats begründen au die Sorge, baß 
nicht die politifch weniger begabte Rafſe die Leitung des Staates erhalte und bie 
politiſch befähigtere Rafle an jeder gefunden Entwidelung verhinbere. 

Benn alle Rafien durch die gemeinfame Menfhennatur geeinigt und menſch⸗ 
lich gleich geftellt werden, fo bezeugt doch die Weltgefhichte auch bie erheb- 
lihen Unterſchiede der Raffen in politiſcher Hinficht, in Fähigkeit und Nei⸗ 
gumg. (BgL die Artikel Raffe und Kaften). Nicht jede Nation taugt für jede Ber- 
feffungsreform. Sowohl die konftitutionelle Monardie als die repräfentative De⸗ 
mokratie fegen Välfer voraus mit männlihem Charakter und männlihem Geifl. 
Nirgends und niemals bat e8 vie Negerrafle, troß ihrem Talent für Nachahmung, 
zu einer ähnlich freien Staatsform gebracht. Der Verſuch, eine amerikaniſche Repu- 
blik ebenfo auf den Mehrheitswillen der Schwarzen zu gründen, wie fie vorzüglich 
der angelfähfiihen Bollsraffe gelungen ift, wäre ein halsbrechendes Wagniß von 
jehr unwahrſcheinlichem Erfolg. Es könnte kaum unter einer andern Vorausjegung 
gelingen, als wenn die Mehrheit der Schwarzen fi der Leitung von Weißen 
oder Halbfarbigen freiwillig unterorbnete, das heißt, im Gegenfag zu ver recht⸗ 
lichen Gleichſtehung der Autorität der überlegenen Natur folgen wärbe. 

Die Ausdehnung des Stimmrechts auch auf die Farbigen darf daher ale 
ein Fortſchritt in der menfchlihen Rechtsentwicklung und in ber politiihen Er⸗ 
ziehung auch der zurüdgebliebenen Raſſen gebilligt werben, aber neben berjelben 
wird and anf ven Unterſchied in ver politifhen Fähigkeit der verjchievenen 
Raſſen irgendwie geachtet nnd für Garantien gegen vie Gefahren bes gleichen 
Stimmrecht welfe geforgt werben müſſen. Dan wird nicht durch eine falſche 
Gleichheit die Intereffen der Kultur, der ftaatlihen Entwidiung der Unwiſſenheit 
und Leidenſchaft ungebildeter und wenig felbfländiger Maſſen zur Bente vorwerfen 
bärfen. Die Amerilaner werben biefes fchwierige Problem zu loͤſen haben, das mit 
einer abſtrakten Gleichſtellung nicht gelöst, fonbern cher verwirrt wird. 

6. Dem religiöfen Geift der frühern Jahrhunderte, in welchen die Religion 


134 Wohlreht und Wählbarkeit. 


und die Konfeſſion das ganze Leben und auch das Recht beſtimmten, entſprach es, 
das Stimmrecht von einer beſtimmten Religion nnd Konfeſſion abhängig zu 

machen, fo daß die Rechtgläubigen allein für flimmberedhtigt galten, die Irr- 
gläubigen db. 5. die Andersgläubigen vom Stimmredt ausgefchloffen blieben. 
Der politiſche Geift der Neuzeit dagegen hat überall diefe Schranke angegriffen 
und in den meiften civilifirten Staaten weggeräumt, indem er das politifche wie 
das Privatreht für unabhängig von religtöfen Bebingungen erflärt hat. Das 
moberne Recht der Ausbreitung des Stimmrechts auch auf die Andersgläubigen 
findet in den Ländern wenig reale Schwierigkeiten, wo bie abweichenden Konfef- 
fionen nur in geringer Minverzahl vorhanden find, wie voraus gegenüber den 
Juden in den chriftlichen Ländern, und hat aud Feine ivenle Bebenten, wenn 
bie Bevölkerung im Ganzen und Großen zwiſchen Religion und Politit zu unter» 
ſcheiden gelernt bat und ſich in dieſer nicht mehr durch jene leiten läßt. Bor 
einem Jahrhunderte war das auch im Verhältniß von Katholiken und Prote⸗ 
ftanten nod nicht fo leicht erreichbar, heute haben fich bie beiden chriſtlichen Re⸗ 
ligionsparteien wentgftens in der Taienwelt, meiftens im Staate friedlich und freund» 
lich geeinigt, während allerdings aud heute noch zuweilen kirchlicher Eifer bie 
vaterländifhe Gemeinfhaft zu flören verſucht. Aber noch iſt in der Türkei das 
Berbältnig der Ehriften und der Muhammebaner fo gejpannt und der Einfluß 
der religiöfen Stimmungen und VBorurtheile noch fo groß, daß e8 auch ver Re— 
aterung der Sultans ſchwer wird, den fpröden Gegenfat zu überwinden, und eine 
Gleichberechtigung einzuführen, welche nicht die Unterbrüdung ver ſchwächer ver- 
tretenen Religion thatſächlich nad ſich zieht. 

- 7. Nachdem fo viele ältere Beſchränkungen des Stimmrechts weggefallen ober 
als unhaltbar erfchienen find, iſt in neuerer Zeit in manchen Ländern, wie be= 
fonder8 in England, in Nordamerika und in Belgien von denen, welde von ber 
Einführung des allgemeinen Stimmrecht Gefahren für die Kultur beforgen, öfter 
das Erforberniß einer Schulbildung gefordert worden, fo daß dann bie völlig 
ungebildeten Klaffen no ausgefchloffen würden. In der That iſt eine tüch⸗ 
tige Volksbildung eine natürliche Vorausfegung eines vernünftigen Gebrauchs ber 
politifchen Rechte. Die allgemeine Schulbildung und um biefe zu fühern, 
die allgemeine Schulpflicht, flieht in einer natürlichen Wechfelbeziehung zum 
allgemeinen Stimmredt. Nur ein zeitgemäß erzogenes und gebilvetes Volk befigt 
bie nöthige Fähigkeit, um durch feine Wahlen auf bie Staatsangelegenheiten einen 
vernünftigen Einfluß zu üben. Ungebilvete Maſſen werden je nah Umſtänden 
unverftändige oder unfreie Wahlen vornehmen und vie ihnen anvertraute ftantliche 
Thätigkeit ungeichtdt ausüben. Infofern läßt fi die Ausfchliegung der gang un» 
gebilveten Perfonen wohl und um fo eher redhtfertigen, als es nur von ihrem 
Fleiße abhängt, ven Mangel ver Schulbildung zu ergänzen und dadurch die Vor⸗ 
bedingung des Stimmrechts zu erwerben. 

Aber wenn der Mafftab jener Bildung niedrig gehalten und etwa auf die 
Fähigkeit zum Lefen und Schreiben beſchränkt wird, fo wirb eine foldhe 
Borbedingung nur in den Ländern eine praftifhe Bedeutung haben, wo bie Schul= 
bildung überhaupt vernachläffigt und noch eine große Anzahl von Perfonen in 
arger Unwiſſenheit verfunken if. Wo dagegen die Volksſchule gut organtfirt und 
ihre Wirkſamkeit allgemein geworben ift, da verliert jene Forderung ihre beihrän- 
kende Kraft. Wo Jedermann leſen und fchreiben Tann, wie das in Deutjchland 
großentheils der Fall ift, da wird au Niemand wegen Mangels an Schulbildung 
ausgeſchlofſen. 


—8o 











Wahlrecht und Wählbarkeit. 135 


Wird aber der Maßſtab höher gegriffen und etwa auf eine höhere wiffen- 
Ihaftlihe Bildung (Öymnafialbilonng) bezogen, dann wirkt die Forderung fehr 
anschließend. Da überall nur eine fehr Meine Minderheit der Bevölkerung bie 
Muße und die Mittel befigt, eine willenfhaftlide Bildung zu erwerben, fo wür- 
den dann geradezu die großen Volksklaſſen ausgeſchloſſen und ein fehr bevenkliches 
Privilegium der Bildungsariftofratie gefhaffen, das mit der mobernen Ent: 
wicklung des allgemeinen Volkslebens ſich nicht verträgt. 

Der ganze Borfhlag Hat daher nur für vie Zeiten des Uebergangs aus einer 
rohen Unkultur in den Zuſtand einer verbeflerten Volkskultur einen praktiſchen Sinn. 

8. Sowohl Im Altertbum ale während des Mittelalter8 und bis auf unfere 
Tage wurde in fehr vielen Ländern auch ein gewiffes Vermögen (Cenfus) 
als Grundbebingung des Stimmrechts gefordert. 

Diefes Erforderniß erfheint In den verſchiedenſten Geftalten. Im Mittelalter 
wurde gewöhnlich Grundbeſitz verlangt. Nur die Grundbefiger, ſei es zu Eigen- 
thum, oder zu Lehen oder zu Hofreht, Hatten nad germanischen Recht einen 
Antheil an der Gau- und Gentverfommiung, oder dem Lehenshofe oder der grund» 
berrlihen Gemeinde. Nur fie hatten ein Wahlrecht. Aber wenn gleich der mittel« 
alterlide Staat auf die Grundverhältnifie gebaut if, da8 moderne Staatsbürger- 
recht bat fih von diefem Zufammenhang mit dem Boden abgelöst und von biefer 
Gebundenheit frei gemadt, es ift perſönlich geworben. Daher bat fih auch im 
den Staaten, welde den Kern der mittelalterlihden Einrihtung, vie felbftän- 
bige VBermögensftellung bewahren wollten, eine Yenderung und Erweiterung 
ver alten Beſchränkung vollzogen. Diefelbe ift auf drei verfchtevenen Wegen erreicht 
worden. Man hat, wie vorzüglich in deutfhen Staaten, den Grundbeſitzern andere 
nicht grundbeſitzende, aber mit beweglihem Vermögen ausgeftattete Klaſſen, insbe⸗ 
fondere die auf eigenem Gewerbe anfäffigen Berfonen hinzugefügt. Ober 
man bat den Grundbefig, wie vorzüäglih in England, in weiterem Sinne ver- 
fanden, fo daß die Befiger von Miethbwohnungen ben eigentlihen Grund» 
und Häuferbefigern gleichgeftellt werden. Oder man hat, wie früher in Frankreich 
und in manden deutſchen Staaten, vie Steuer ald den ſtaatlich paflenpften Maß- 
ab des Vermögens und die Steuerpfliht als die natärlichfte Grunpbebingung 
des Stimmrechts betrachtet und nur diejenigen Perfonen zur Stimmgebung zuge- 
laſſen, welche perfönlihd Steuer zahlen, die aber ausgefchloflen, welche fie nicht 
zahlen. Alle diefe verſchiedenen Maßſtäbe find einer verfhievenen Anwendung fähig. 
Je nachdem man ein größeres ober Kleinere Vermögen forbert, eine höhere oder 
vielleicht die geringfte Steuerkfaffe, werden mehr over weniger Perfonen von dem 
Stimmrechte ausgefchloffen, oder umgelehrt mit demfelben ansgeftattet. 

Man bat für diefe Bevorzugung der befigenden ober doch der zahlung®- 
fähigen und infofern vermögenskräftigen Klaffen oder Perfonen vor den nicht 
befigenden verfchievene Gründe geltend gemacht, insbefondere die erhöhte Selb: 
Nändigfeit jener und ihr Iebhafteres Interefle an ver Wohlfahrt des Landes. Man 
bat darauf hingewiefen, daß es für den Staat nicht blos auf die Zahl, fondern 
auch auf vie Leiftungsfähigfeit der Bürger ankomme und daß es für die Gefell- 
ſchaft höchſt gefährlich fei, das Schwergewicht der Macht in die nicht befigenden 
Hoffen zu verlegen, welche leicht die Solibität der Staatsfinanzen erfchättern und 
das Eigenthum unfiher machen könnten. Dan bat enblih aud darauf aufmerf- 
fam gemacht, daß die vermögliceren Klaſſen im Ganzen und Großen aud bie 
gebilveteren feien und baher eher vie öffentlichen Funktionen, wozu auch die Wahlen 
gehören, in verftändiger Weife ausüben. 








136 Wahlrecht und Wählbarkeit, 


In diefer Begründung ift unbeftreitbar viel Wahres, weldes nur deßhalb 
in unferer Zeit weniger Anerfennung findet, weil biefelde von der Neigung, 
fogar von ver Leidenschaft zur Gleichheit völlig eingenommen ifl, und wo irgend 
ein Unterſchied betont wird, fofort fürdtet, von neuem auf verhaßte Privilegien 
zu floßen. Eben des bemokratifhen Zuges wegen in ver Tendenz ber heutigen 
Welt ift aber aud eine Entgegenfegung ber befigenven und der nicht befigenden 
Klafien in hohem Grabe gefährlich, welche leicht in offene Feindſchaft diefer gegen 
jene ausartet. Die politiiche Aufgabe befteht daher nicht in der Trennung beider 
und nicht in der Ausſchließung ver nicht befigenden Klaſſen, welche doch für ven 
Staat au mit ihrem Blute als Soldaten einftehen müflen und denen die Vater- 
landsliebe und das Interefie an der Ehre und der Wohlfahrt des Staates nicht 
abgeſprochen werben können. Eine gejunde Politik fucht im Gegentheil bie ver- 
ſchiedenen Klafien flaatlih zu verbinden und zu gemeinſamem Wirken zu 
mifhen. Dadurch, wie wir das auch in der allgemeinen Wehrpfliht und in 
der allgemeinen Schulpflicht jehen, wird die Kraft der gefammten Nation und bes 
Staates gehoben. 

Die frühere Doltrin war von Haufe aus fehr mißtrauifh und wollte Alles 
zum voraus durch abfchließende Garantien fihern. Aber auch in der Gefellfchaft, 
auf welche Fein Staatszwang einwirkt, üben Bildung und Vermögen einen mäch⸗ 
tigen Einfluß aus. So ift es auch bei den großen Wählerklafien. Mögen fie Wahl⸗ 
männer over Deputirte zu wählen haben, die Gemwählten werden durchweg einer 
höhern Stufe der Bildung und des Vermögens angehören, ald der Durchſchnitt 
ber Wähler. Wenn in einzelnen Fällen die Reichen deßhalb nicht gewählt werden, 
weil fie au Reichthum die Maſſe der Wähler zu fehr überragen, fo lommt es 
öfter vor, daß fie gerade ihres Reichthums wegen von denen gewählt werben, 
welchen der Reichthum ein um fo größeres Gut erfcheint, je weniger fie basfelbe 
befigen. 

Endlich läßt fih gegen jede Cenfusverfaflung einwenten, daß es irrationel 
ſei, die politifchen Rechte von dem privatrechtlichen Vermögen abhängig zu maden 
und dadurch der ſelbſtſüchtigen Befig- und Ermerbfuht von Rechts wegen dem 
herrſchenden Einfluß auf das öffentlihe Leben zu geben. Man kann behaupten, 
daß diefer Grundgedanke der Bevorzugung der Eigenthämer in feinen Konfeguenzen 
zur Geldherrſchaft (Plutokratie) führe und daß das die ſchlimmſte und unwär- 
digſte Herrſchaft fei. 

Das Alles erklärt es, weßhalb vie heutige Zeit eine mehr ober minder be— 
mußte und flarfe Abneigung bat gegen folhe von dem Vermögen hergenommene 
Beſchränkungen des Stimmredhts. 

9. Die beiden Hauptmängel der heutigen Einrichtung des allgemeinen 
Stimmredts ſcheinen mir zu fein: . 

a) der Mangel einer organifhen Gliederung, welde es als Zufall er- 
ſcheinen läßt, daß die verfhiedenen Hauptgruppen der Gefellfhaft und 
bed Volks wirflih und zwar nach Verhältniß ihrer Bedentung für den 
Staat und das Gefammtleben der Nation vertreten werben. 

b) der Mangel einer Vertretung der Minverheiten. 

Es ift bie politifhe Aufgabe der Zukunft, die beiden Mängel zu heben. 

10. Zu a. Das allgemeine Stimmrecht verbindet die gefaumte Menge ver 
Bürger mit dem Staate, aber das gleihe Stimmrecht löst das Volk auf in eine 
Maſſe von Einzelnen, die unter ſich gar nicht verbunden find. Die Kopfzahl 
allein ift in ihm entſcheidend. | 


Wahlrecht und Wählbarkeit. 137 


Die Nation und das Volk Beftehen aber nicht aus einer bloßen Maſſe von Indi⸗ 
viduen, wie der Sandhaufe aus einer Maſſe von Sanplörnern, fonvern fie find 
noturgemäß in verfhiedene Öruppen und engere Verbände gegliebert, 
deren Ineinandergreifen dem Staatsorganismus Feſtigkeit und Mannigfaltigkeit ver- 
leiht. So wenig man ein wahres Bild eines Staates fchon erhält, wenn man bie 
Anzahl von Quadratmeilen feines Gebiete und die Seelenzahl feiner Bevölkerung 
fennen lernt, obwohl auch diefe Kenntniß unentbehrlih ift, fo wenig erhält man 
ein treues Bild und Organ eines Volks in einer Vertretung, welde nur nad 
der Kopfzahl von Jedermann gewählt wird. Die gute Landkarte zeigt, wie fchon 
Mirabean vortrefflich gefagt bat, aud die Berge und die Thäler, das Flach⸗ 
land und die Hügelreihen, die Seen und bie Yläffe, vie Stäbte und die Dörfer, 
bie Wälder und das Aderland, das Weingelände und die Wiefen. Ebenſo follte 
au die Bollövertretung ein ähnliches Bild fein der verſchiedenen politiſch wich⸗ 
tigen Geſellſchaftsgruppen und der beveutenden Körperfhaften im Staat. Wenn 
man die Zufammenfegung ver Vollsrepräfentation betrachtet, fo follte man in ihr 
das Bolt ſelbſt in veredeltem Auszug erbliden und feine ganze 
Phyſiognomie erfennen. Dan follte feine wichtige Gruppe darin vermiſſen 
und jeden Beftanbtheil nah feinem Berhältnig zum Ganzen richtig bargeftellt 


Bon der Berwirffichung dieſer Idee find wir noch fehr weit entfernt. Alle 
Borſchlaͤge, welche in diefer Hinficgt gemacht werben, floßen nod auf das Miß- 
trauen, daß man die Stände des Mittelalters wieder erneuern wolle und dadurch 
die Kortfchritte der modernen Entwidiung in Freiheit und Gleichheit gefährbe. 
Man fürdtet überdem, duch Unterſcbeidung der Berufsklaſſen in der Repräfen- 
tation dem egoiftifhen und partifulariflifhen Geifte der Berufsgenoſſenſchaft zu 
viel Einfluß zu gewähren zum Schaven der nationalen Gemeinſchaft und der po- 
litiſchen Einheit. Diefe Bedenken müflen beachtet werben, wenn bereinft eine po- 
litiſch- organiſche VBerüdfihtigung auch der Unterſchiede der Klafien innerhalb 
ihrer ſtaatsbürgerlichen Gleichheit gelingen fol. Unſer Zeitalter mag gelegentlich 
ven gerägten Mangel empfinden und darüber klagen, aber es tft nicht geneigt, 
denſelben ernſtlich zu verbefiern. . 

11. Zu b. Schon oft iſt der Fehler in den heutigen Wahleinrichtungen her⸗ 
vorgehoben worden, daß die Minderheiten unvertreten bleiben und der Tyrannei der 
Mehrheiten ſchutzlos ausgeſetzt werden. Bei unſerer Methode, das Land in eine 
Anzahl Wahlkreife zu vertheilen und durch jeden Wahlkreis einen oder mehrere 
Abgeordnete wählen zu laſſen, ift es fogar denkbar, daß die wirkliche Mehrheit 
der ganzen Bevölkerung in ber Vertretung in die offenbare Minderheit verfegt 
wird. Baron Edtv8s8 (Moderne Ideen ©. 187) Hat das durch folgendes Beifpiel 
anſchanlich gemacht. Das Land if in 100 Wahlkreife von je 4000 Wählern ge- 
tbeilt, von denen jeder mit abfoluter Stimmenmehrheit einen Abgeorbneten wählt. 
51 Wahlkreife wählen burdfhnittlih mit 2500 gegen 1500 Stimmen in ber 
politiihen Richtung A, 49 Wahlkreife wählen im Durchſchnitt mit 3500 gegen 
500 Stimmen ber entgegengefegten Richtung B. Die Gefammtzahl der Stimmen, 
durch welche die Wahlen beftimmt werben, beträgt für die Majorität von 51 Des 
putirten nur 127,500 Stimmen, für die Mintverheit von 49 Deputirten dagegen 
171,500 Stimmen. Die Mebrheiten im Bolt und in der Vertretung widerſprechen 
fih alfo. Man fieht, die blos arithmetifche Vertheilung der Wahlen auf eine An- 
zahl gleicher Wahltreife fihert alfo nicht einmal vie arithmetiſche Korreltheit ber 
Mehrheit In der Vertretung. 








138 Wahlrecht und Wählbarkeit. 


Es find in neuerer Zeit mande Verbeſſerungsvorſchläge gemacht worben, um 
biefem Mangel abzubelfen und auch den Minderheiten gerecht zu werben: 

ee) Der Borfchlag des franzöfiihen Socialiften Conſidérant, daß jeder 
Partei verftattet werde, für fich zu wählen, je nach ber Zahl ver Wähler, 
welche fi nach ihrem eigenen Ermeflen für irgend eine Partei erflärt und auf 
ben Liſten eingefhrieben haben. Allerdings würde auf biefem Wege erreiht, daß 
jeve Partei ihre Bertreter befäme und im Ganzen wohl nad Berhältniß ibrer 
Stärke im Land. Wenn e8 3. B. unter 100,000 ftimmberedtigten Bürgern, welde 
100 Deputirte zu wählen haben, 30,000 liberal Gefinnte, 25,000 Konfervative, 
15,000 Ultramontane, 10,000 Radikale und 20,000 Berfonen gäbe, welche fid 
zu keiner dieſer Parteien Eelennen, fondern je nad Umftänden bald den einen, bald 
den andern zuftimmen, fo würde man 30 Liberale, 25 Konjervative, 15 Ultra= 
montane, 10 radilale, 20 ſchwankende Deputirte erhalten, entfprechend den Partei- 
verhältniffen in der Bevölkerung. 

Aber trog dieſes Bortheils iſt diefer Vorſchlag nicht zu billigen. Indem er 
einen Fehler korrigirt, zieht er ein noch größeres Uebel herbei. Der Parteiunter- 
ſchied und ber Parteieifer haben bei dem heutigen Wahliyftem ſchon einen größeren 
Einfluß, als es gut if. Lediglich aus Parteirüdfihten werben gar nicht felten 
fehr nützliche Mitglieder der Vertretung entzogen und untaugliche hineingewählt. 
Diefer Einfluß der Parteien würde durch eine folche Einrihtung bis zum Uner- 
träglichen gefteigert. So unentbehrlid die politifhen Parteien in dem wohlgeord⸗ 
neten und politifch entwidelten Staate find, fo wenig darf die Organifation 
bes Staates felbft auf die Parteien gebaut werben. Der flarfe und 
fefte Organismus des Staats muß die Parteien zu Einem Körper verbinden und 
dadurch ihre Macht und ihre Leidenſchaften ermäßigen. Würbe der Staat felbfl 
nach Parteien georbnet, fo würde er von benfelben zerrifien. Es gäbe fein ge= 
meinfames Vaterland mehr, feine gemeinfamen Ziele. Die Parteien wärben nur 
fich bedenfen und der Staat müßte entwerer in Stüde zerfallen ober bie herr⸗ 
chende Partei würde der ſchwächeren Partei den Fuß des Siegers anf den Naden 
ftellen, und nit das Recht, fondern die Gewalt des Siegers üben. (Bgl. den 
Artikel Parteien). » 

Einen andern Vorſchlag hat neuerlih der Engländer Thomas Hare 
(zuerft 1859) gemacht und derſelbe ift insbefondere durch die Schrift von Stuart 
Mitt über die Repräfentativverfafiung vertheivigt und allgemeiner befannt gemacht 
worden. 

Der Gedanke ift folgender. Die Einheit ver Bollsvertretung fegt die Ein- 
heit des Wahlkörpers voraus. Wohl darf die Abſtimmung eine örtliche 
fein, aber nicht ihr Weſen und nicht ihre Wirkung. Die Eintheilung in Wahl: 
reife mit Sonderwahlen ift daher unrichtig, fie bringt thatſächlich eine örtliche 
Vertretung hervor ftatt der Einen und gemeinfamen Tandesvertretung. Daher 
muß das ganze Land als der Eine gemeinfame Wahlkreis betrachtet werben. Die 
Anzahl von Abgeorbnetenftellen find daher nicht auf örtliche Wahlkreife, fondern 
auf perſönliche Wählerfreife zu vertheilen, welche ſich freiwillig, je nad ihrem 
Urtheil und ihren Interefien für denfelben Kandidaten vereinigen, indem fie auf 
ihn ihre Stimme fonzentriren. Das kann durch das ganze Land hindurch gejchehen 
und alle diefe Stimmen werden zufammen gezählt, gleichviel an weldem Drte des 
Landes fie abgegeben worven find. Hare nimmt an, daß bie Stimmzebbel dann 
an ein Eentralbureau abgejhidt und da abgezählt und protofollirt werben müſſen. 
Ih denke, vie Abzählung und Protofollirung könnte wie bisher an den verſchie⸗ 





wahlrecht und Wählbarkeit. 189 


denen Orten der Stimmenabgabe vollzogen und nur bie Refultate in einem Eentral- 
wahlburean gefammelt werden. 

Die volle Logifhe Konfequenz des Gedankens würde es wünſchenswerth 
machen, daß alle einzelnen Wähler auch an der Wahl für vie ganze Bolks⸗ 
vertretung, d. h. für alle Stellen ſich betheiligen würben. Aber man ſieht 
fofert ein, wie groß die thatfählihe Schwierigkeit wäre für den größten Theil 
der Wähler. Weber ihre Perfonentenntnig würde dazu ausreichen, noch würden fie 
jo große Stimmliſten zu fchreiben und abzugeben geneigt fein. Auch bie Zählung 
ber Stimmen würde maßlos erfchwert. 

Daher wird jever Wähler nur für Eine Stelle eines Deputirten feine Stimme 
mit Wirkung abzugeben haben. Wie er felbft nur Eine Perfon ift, fo darf er auch 
zur Eine Perfon als Vertreter bezeichnen helfen. Aber die Hare'ſche Wahlreform 
macht es möglih, daß jeder Wähler uuh eventuel abflimmen und fo feinem 
Stimmrecht möglichfte Wirkſamkeit verfchaffen kann. Wenn man durch das ganze 
Land hindurch alle Stimmen durchzählt, fo werden unzweifelhaft einige Perfonen 
mit ungebenren Mehrheiten gewählt werben. Würbe man dabei ftehen bleiben, fo 
läge die Gefahr nahe, daß nur wenige Deputirte, micht die erforberliche Anzahl 
Aller gewählt würden. Diefer Gefahr follen die eventuellen Wahlen abhelfen. Für 
jede Depntirtenftelle nämlich bebarf es nur einer beftimmten Anzahl Stimmen. 
Ben es z. B. eine Million Wähler gibt und 100 Abgeordnete, fo bedarf jever 
!bgeorbnete nur 10,000 Stimmen, nicht mehr. Alle Stimmen über biefes Maß 
hinaus find daher überfläffig und brauchen nicht weiter gerechnet zu Werben. 
Für diefen voranszufehenden Fall kaun jeder Wähler eine eventuelle Abflimmung 
vornehmen. 3. B. In erfter Linie flimmt er für A. Wenn A die erforderliche 
Stimmenzahl Gaben follte, fo daß eine weitere Stimme für ihn unwirkſam wäre, 
fo ſtimmt er für B und wenn aud B gewählt fein follte, für C. Natürlich würden 
die einfachen Stimmen vorerfi zufammen gezählt; dann erft kämen vie eventuellen 
Abftimmungen Hinzu. 

Unläugbar hat dieſe Methode fehr große Vorzüge vor den jetzigen Mehr- 
heitswahlen. Sie macht es auch den Minderheiten möglih, eine ihrer Beben- 
tung entfprehende Vertretung zu erhalten. Denn die Minderheiten, welde jetzt 
vielleicht im allen örtlihen Wahlkreiſen gefhlagen werben, können fih nun durch 
das ganze Land verbinden und find dann ficher, die für einzelne Stellen nöthige 
Stimmenzahl aufammen zu bringen. Die Mehrheiten bleiben aber ebenfalld und 
noch befier gefichert, al8 gegenwärtig nnd es iſt nicht wohl möglich, daß die Mehr- 
beit der Wähler im ganzen Lande zur Minderheit werde in der Bollövertretung. 
Die Bahlform ermäßigt auch das Parteimefen, indem fie jever Gruppe ver Be- 
völlernng, welche andere Intereffen vertreten wünſcht, die Möglichkeit verſchafft, 
fi beliebig zu fammeln und ihren Kandidaten durchzuſetzen. Ste hindert feine 
Richtung und verftattet Allen Freiheit. Wer fih durch örtliche Richtungen beftimmen 
ft, der mag feine Stimme einem örtlichen Kandidaten in erfter Linie abgeben; 
wer eine beftimmte Parteirihtung vertreten wiſſen will, kann fi) mit den Partei- 
genoffen verbünden. Mill bemerft mit Grund, dieſe Wahlform würde auch ben 
Intelligenzen und Notabilitäten des Landes förverli fein. Ein beveutender 
Mann, deffen Mitwirkung im der Landesvertretung wünfchenswerth erfcheint, findet 
keit im ganzen Land die erforberlihde Stimmenzahl, während er mögliher Weife 
in feinem Wahlfreife aus zufälligen Gründen dur andere Kandidaten verbrängt 
wird und aud in andern Wahlfreifen feine Mehrheit erlangen Tann. Die Ge- 
fahren, daß die allgemeinen Wahlen theils die Mittelmäßigkeit begünftigen, theils 


BP Fe 0» 0 


138 ... a au Unsbiherkeit, 

BR‘ „y upiefen, wärben vermindert. Man Fünnte, 
diefem Y. ” NE CR felches Barlament wirklich die Elite des 
Bartcı | u Regenda verfucht, dieſe Wahlform einzuführen. 
welch zuuumeiee chen ter Neuerung entgegen, denn in dieſer 
ben uaiter nicht allzu ängftlih. Mehr noch wirkt einem 
ir nun „ zerchammg entgegen. Die jeweilen herrſchende Partei 
“ . Zu zuißten Bahlform nad Wahlkreiſen gefiherter und fie 


a Seerfteruug der Wahleinrihtungen ihre Alleinherrihaft in 
ar a Uppefition zu vergrößern. 

Rjchang der allgemeinen und gleichen Stimmrechte fcheint 
eig wer befte, der biöher gemacht worben ift, nnd e8 wärbe 
X ei Kemfelben — zuerft etwa in einem Tleineren Lande — zu 
au mem er auch die guten Selten ber SKlafienvertretung mit bem 
"Sa Ne Repfgahlvertretung vereint (Mill, Repräf=Berf. S. 105), fo 
. nun fa andern Hauptmangel unfers ganzen Wahliuftems, nicht forrie 
a aan alle Maflen und Gruppen, aber doch nur nad Berhältuiß 
.. Resfzahl, und eben das Verhältniß der Kopfzahl ift nicht das richtige 

Xa ar die pelitifche Bedeutung ber verfchiedenen Gruppen im Staat. 
Nenertich iſt noch ein Verbefierungsvorfhlag von ©. Burnitz und ©. 
Surzzatrapp ia Frankfurt gemadt worden. Sie wollen die gewöhnlichen Wahl- 
ut teen laſſen, aber ebenfalls eine fubjidtäre Abſtimmung einführen, fo 
Na die abgegebenen Stimmen je nach ben verfchievenen Reihen, auf denen fie 
ia, derſchleden geihägt würden; die Stimmen in erfter Reihe würden voll, die 
yueiter Reihe zur Hälfte, bie in britter Reihe zum britten Theil geſchätzt. 3. B.: 
Die Partei A hat 1500, die Partei B 900, die Partei C 600 Stimmen 

war jede Partei wahn in ihrer Richtung auf den verſchiedenen Reihen. 

B C 


1500 900 600 


Erſte Reihe — = 1500 a. — 7 900 b. 2:77 = 600c. 
Zweite Reihe = = 750d. — * = 450 e. - — 300 f. 
1500 900 600 


Gewählt find a. mit 1500 Stimmen von der Partei A, 
900 


b. " n " " n B ' 
d. „ 750 " 1} n " A, 
c. " 600 n ” n n C, 
g- " 500 " " n " A, 

450 n B. 


c. " " " " 

Man fieht, es kommt zwar ein richtiges Parteiverhältnig heraus, aber ber 
Danptfehler der örtlichen ftatt der allgemeinen Wahl tft nicht verbefiert. Ueberdem 
ift diefes ganze Berfahren nur anwendbar, wo in einem Wahlkreiſe mehrere Wahlen 
vorzunehmen find, alfo die Wähler genöthigt find, mehrere Kaubivaten auf ihre 
Stimmzebbel in verſchiedener Reihe zu fhreiben. Uber es iſt eine ganz andere 
Aufgabe, mehrere Kandidaten gleichzeitig und mehrere Kandidaten 
eventuell im einer beflimmten Reihenfolge zu wählen. Im erflern Fall 
ſtehen ſich bie Gewählten vielleicht nach der Schägung ber Wähler gleich; der ein⸗ 








Wahlrecht und Wählbarkeit. 141 


zeine Wähler fegt vielleicht den angefeheneren Namen, aber ven entbehrlicheren 
Mann voran, während ex einen größeren Werth darauf legt, daß ein fpäter Ge⸗ 
nonnter gewählt werde. Im legtern Fall dagegen giebt er dem einen vor dem 
andern den Borzug. Aber daß er gerade ven anf zweiter Reihe Stehenden nur 
zur Hälfie fchäge, dafür giebt e8 doch keinen pfychologifhen Anhalt. Die mathe 
matiihe Formel ift daher Hier willkürlich und nicht den wirklichen Wahlverhält 
niſſen entſprechend. 

d) Stuart Mill hat noch einen Vorſchlag gemacht, die Stimmen ver⸗ 
ſchieden zu fchägen, je nad der Höheren Befähigung der Wähler. Die 
gebildeten Wähler follten dadurch ein verftärktes Stimmredt erhalten, daß ihre 
Stimmen doppelt oder dreifach gezählt werden, während die gewöhnlichen Stimmen 
nur einfach gelten. Dem Borfchlag liegt der richtige Gedanfe zu Grunde, daß das 
gleihe Stimmrecht Aller einer Korteltur bebürfe im Interefie der fähigeren und 
bebeutenderen Elemente in dem Volkskörper. Aber eine derartige Werthſchätzung 
wiverfiteitet den gegenwärtig herrſchenden Grundanſichten fo ſchroff, daß fle ſchwerlich 
irgendwo zugeſtanden und überall auf einen heftigen Widerſpruch floßen würde. 
In der That erinnert fie an die Wergelder der alten ®ermanen, welche ebenfalls 
ven Werth des Mannes je nad feinem Stande einfach oder doppelt und mehr- 
fach tarirten. Alle die, deren Stimmen nur einfach gezählt werben, würden fi) 
zurädgefeßt und fogar beleidigt fühlen, wenn es hieße, die andern Bürger, deren 
Stimmen doppelt und dreifach gezählt werden, feien doppelt und breifach fo viel 
werth als fie. 

Man erträgt ed, daß etwa ben Univerſitäten, als wiſſenſchaftlichen Körper⸗ 
ſchaften, eine Deputirtenftelle zu befegen geftattet wird, obwohl ihre Mitglieder 
viel weniger zahlreich find, als die Wähler eines gewöhnlichen Wahlkreifes , weil 
bier die befondere Qualität verftanden und berädfihtigt wird. Aber man buldet 
es nicht, daß die Stimme des cinzelnen Univerfitätswählers mehrfach fo body in 
Zahlen gefhägt were als die des gewöhnlichen Wählers. Der Körperſchaft, 
oder einer Klaffe, auch wenn fie der Kopfzahl nah ſchwach iſt, verftattet 
man eher eine befondere Vertretung, als den einzelnen Wählern derſelben neben 
ven Äbrigen Velkswählern ein boppeltes Stimmredt. 

12. Ift das Wahlrecht anerkannt, fo frägt fi) ferner, wie dasſelbe ausgeübt 
werde, ob unmittelbar durch vie Urmähler felber die Abgeordneten gewählt 
werden, oder ob mittelbar die Urwähler voreft Wahlmänner und dieſe 
dann die Abgeordneten wählen. Durch die unmittelbaren Wahlen wird der Abge- 
ervnete in eine unmittelbare Vertrauensbeziehung gebracht zu ven Wählern, wäh- 
end bei den mittelbaren Wahlen viefelbe durch die Wahlmänner vermittelt wird 
und zuweilen gebrochen erfcheint. Die unmittelbar gewählte Bollävertretung genießt 
daher ein größeres Anſehen bei den Maſſen, als die mittelbar gewählte; dort neh- 
men die großen Volksklaſſen einen vegeren Antheil an den Wahlen als bier. Aber 
während es den Urmwählern leiht wird, Wahlmänner unter ihren Belannten zu 
wählen, fo folgen fie eher einer ſtarken Autorität, welche fie beftimmt, einen De⸗ 
patirten zu wählen, während bie Wahlmänner eher befähigt find, die Hauptwahl 
ja überlegen und die Kandidaten zu prüfen. Die unmittelbare Wahl verftärtt das 
Gewicht des vierten Standes (der großen Voltsflafle), die mittelbare Wahl gibt 
dem dritten Stande (den gebildeten Wahlmännern) das entſcheidende Wort. Jene 
iſt cher noch ariftofratifchen, dieſe eher hochbürgerlihen Wahlen förderlich. Eher, 
gen wir, nicht immer, denn mächtiger wirkt immerhin die befonvere Vollsart und 
de Sitte, Die englifhen Wahlen würden ohne Zweifel ebenfalls ariſtokratiſch aus⸗ 


142 Wahlrecht und Wählbarkeit. 


fallen, wenn gleich die mittelbare Wahlform eingeführt würbe, und bie norbamerifa- 
nifhen Wahlen fallen bürgerlich aus, obwohl fie unmittelbar vollzogen werben. Aber 
in Preußen und Norddeuiſchland haben die unmittelbaren Wahlen zum Reichstag 
den ariftofratifhen und militäriſchen Notabilitäten zu größerer Geltung verholfen, 
während die frühern mittelbaren Wahlen zum Übgeorbnetenhaus ben dritten Stand 
auffallend begünftigt hatten. Wenn aud bier wieder der Wechfel der Volksſtim⸗ 
mung vor und nad dem großen Krieg von 1866 mehr noch gewirkt hat, als bie 
Deränderung der Wahlform, fo zeigen doch die Erfahrungen auch der Schweiz, 
daß viefelbe nicht ohne Einfluß ift. 

13. Der Unterſchied der mündlichen und öffentlichen Abflimmung im Gegen- 
ſat zur geheimen und ſchriftlichen if, je nach Umſtänden, kaum fpürbar in feinen 
Wirkungen, indem in vielen Fällen die Wähler ganz gleidy ſtimmen, ob die Stimme 
nad) jener oder nach diefer Form abgegeben werve. Unter andern Umftänden aber ift 
derfelbe erheblich ,„ insbeſondere wenn die Wähler von Natur furchtſam oder den 
nälereien der Machthaber ausgefebt find. Dann werben fie natürlich fi freier 
fühlen, wenn fie ihre Stimme fchriftlih und geheim abgeben können, Die Aus» 
bildung des Parteimefens hat es übrigens, dahin gebracht, daß man auch bei der 
geheimen Wahl durch ſchriftliche oder gedruckte Wahlzeddel ziemlich fiher darüber 
unterrichtet ift, zu welcher Partei fi der einzelne Wähler hält, und wie er 
flimmt. | 

II. Weniger beftritten als die Berhältnife des Stimmrechte find bie ver Wähl⸗ 
barkeit. Es kommen hauptſächlich folgende Punkte in Betradt : 

1. Beſchränkung der Wählbarkeit auf die engern Kreife der Wahllör- 
per, fo daß jeve Wählerfhaft nur aus ihrer Mitte oder doch nur inmerhalb ihres 
Wahlbezirks wählen darf. Diefelbe wirkt in der Regel ungünftig, indem fle ber 
partikulariſtiſchen Richtung Vorſchub leiſtet, zum Nachtheil ver allgemeinen Aufe 
gabe der Volfövertretung,, und zumeilen eine Wählerfhaft nöthigt, anftatt bes 
fähigften Mannes einen minder tauglihen Abgeorbneten zu wählen. Ste ift daher 
in den neuern Berfaflungen meiftend aufgegeben und nur ausnahmsweiſe etwa da 
beibehalten worden, wo beftimmte ftändijche oder örtliche Interefien eine befondere 
Nüdfiht verlangen. 

2. Erhöhtes Vermögenserforderniß für den Gewählten. Bis auf vie 
nenere Zeit ſah man darin eine Sarantie guter Wahlen und fand es natürlich, 
daß von dem Gewählten mehr geforvert werde, als von den Wählern. In ber 
englifhen Berfaffung 3. B. mußte vormals ein gewähltes Mitglied des Unter- 
baufes ein Einfommen von 600 Pfund haben, wenn es als Grafſchaftsritter, und 
von 300 Pfund, wenn es ald Vertreter einer Stadt oder Burg Sig und Stimme 
erhalten follte. Aber im Jahr 1858 ift dieſes Vermögenserforvernig abgefhafft 
worben. In Frankreich wurde von ben Deputirten nad der Verfaflung von 
1814 eine direkte Steuer von mindeftens 1000 Fr. gefordert ($. 39). Die Ver⸗ 
fafjung von 1830 überließ aber die Beftimmung des Depntirtencenfus ver Ge— 
jeßgebung. Durch die Verfaſſung von 1848 (88. 25, 26) wurde jeder Cenfus für 
Wähler und Gewählte abgeſchafft und dabei ift es feiiher geblieben. Die baye- 
rifhe Verfaſſung von 1818 forverte ein fo großes im Wahlbezirk gelegenes Ber- 
mögen, daß es einen unabhängigen Lebensunterhalt des Deputixten fihert. Seit 
1848 wird aber aud in Bayern wie für die Wähler nur eine direkte Stener- 
leiftung geforbert. Im Königreich Sachſen beftehen heute noch befchränfende Gen- 
fuserforberniffe für die Nittergutsbefiger (600 Thaler Rente) und für bie Abge⸗ 
oroneten ver Städte. Selbſt im Großherzogtum Baden wird für bie Abgeord⸗ 


Wahlrecht und Wählbarkeit. 143 


neten noch ein — freilih jehr mäßiger — Cenfus geforbert. (Grund⸗ oder Ge⸗ 
werbefteuerlapital von 10,000 Gulden oder Rente von 1500 Gulden). In ber 
preußiſchen Berfaflung dagegen ift von Anfang an jede Cenſusbeſtimmung für 
die Wählbarkeit vermieden worden. 

In Wahrheit Liegt in diefer Beſchränkung eine fehr geringe Garantie für 
die Unabhängigkeit und die Tauglichkeit der Gewählten. Wird diefer Cenſus hoch 
gefaßt, wie in der franzöfiihen Charte von 1814, fo werden mande der perfün- 
lich tüchtigften Männer ausgefchloffen, und man erhält eine Vertretung der Reichen, 
bie in keiner Weife als wirkliche Repräfentation des Volkes gelten. Wird derſelbe 
niedrig gefaßt, fo hat er Feine Wirkung. Die Wähler werben nicht leicht einen 
völlig unvermögliden Dann wählen und der Gewählte wirt leicht in irgend einer 
Form dem erforderlichen Vermögensausweis beibringen können. 

Die Hauptgarantie liegt bier in der Wahl feldft. Wer durch das Vertrauen 
einer großen Anzahl von Wählern auf eine fo ausgezeichnete Stufe erhoben wird, 
der wird wohl irgend welche Eigenſchaften befigen, welche als perfönlihe Vorzüge 
geihägt werden und für die Nepräfentation des Volks einen Werth haben. Ge- 
wöhnlid wird er aud Vermögen befigen; wenn er aber ausnahmsweife arm fein 
follte, jo wird er durd individuelle Begabung nur um fo mehr bervorragen 
müſſen, um gewählt zu werben. Allertings ift ee möglich, daß auch ein Demagog 
ohne Berbienft, oder ein gefälliger Schwäger ohne Solivität den Beifall der 
Wähler erwerben und gewählt werben kann. Über verlei fchlechte Wahlen find 
durch den Benfus der Gewählten nicht zu verhindern, wohl aber wird möglicher 
Weiſe die Wahl eines perfönlich ausgezeichneten Deputirten von geringen Glücks⸗ 
gätern unmöglid gemacht. 

3. Am eheften kommt noch eine Erhöhung der Altersyualität vor. Die 
preußifche Berfaffung verlangt ein Alter von 30 Iahren für vie Abgeoroneten, 
aber nur von 25 Jahren für die Wähler. Aehnliche Beftimmungen iu Bayern 
und in andern deutfhen Staaten. Die franzöſiſche Charte von 1814 for« 
derte für Deputirte ein Alter von 40 Jahren, die von 1830 ermäßigte dieſe For—⸗ 
derung auf 30 Jahre. In England werben nur 21 Jahre geforbert; der große 
Pitt hatte nicht einmal dieſes Alter, als er fhon an ven Verhandlungen Theil 
nahm. Die nordamerikaniſche Bundesverfaſſung verlangt ein Wlter von 
25 Jahren, die ſchweizeriſche nur daß er politifh volljährig und ftimmfähig, 
d. h. 20 Jahre alt fet. 

4. Eine beſcenders ſchwierige Frage iſt die der Wählbarkleit der 
Staatsbeamten in vie Volksvertretung. Sehen wir uns vorerft in den ver- 
ſchiedenen neueren Berfaflungen um. In England werben die Minifter der Sitte 
gemäß aus den Mitgliedern des Parlaments von der Krone ernannt, und würde 
ein Minifter bei neuen Parlamentswahlen feinen Sig darin verlieren, fo würde 
er aud von ber Krone entlaffen. Die Minifter find alfo thatfählih immer Mit- 
glieder des Parlaments. Dagegen find alle Steuerbeamten und die beſoldeten Richter 
nit wählbar. Den unbefoldeten Friedensrichtern ift der Zutritt im Parlament 
nicht verſchloſſen. 

Nach ver Verfaſſung der Vereinigten Staaten find alle Bundesbeamten, 
auch pie Minifter, von dem Kongreß ausgefchloffen; die Beamten aus ven Einzel- 
flaaten aber wählbar. Ebenfo fließt die Bundesverfaſſung ver Schweiz bie eid- 
genöffiihen Beamten (nicht aber die Kantonalbeamten) und überdem die Geiſtlichen 
von den Wahlen in den Nationalrath aus. Aber vie Bundesräthe haben Zutritt 
zu ven Verhandlungen, 


144 Wahlrecht und Wählbarkeit. 


Die franzöfifhe Berfaflung von 1791 erllärte die Funktionen eines Ver⸗ 
waltungs⸗ oder Gerichtsbeamten für unvereinbar mit der Stelle eines VBollsreprä- 
fentanten. Zur Zeit der reftaurirten Monarchie 1814— 1848 wurden bie beiderlei 
Funktionen für vereinbar ‚gehalten. Auch zu dem Corps legislativ der Verfaflung 
von 1852 find die faiferlihen Beamten wählbar. Ausgefchloffen find nur die 
ordentlichen Mitglieder des Staatsrathes und die Miniſter. Den legtern aber ift 
neuerlich wieder der Zutritt zu den Verhandlungen eröffnet worden. 

Die preußiſche VBerfafjung von 1850 fließt die Beamten nit von ber 
Wählbarkeit aus und verftattet den Miniftern, auch wenn fie nicht Mitgliever der 
Kammer find, den Zutritt zu den Verhandlungen mit dem Net, ihre Meinung 
zu äußern. Ebenſo ift es in ten meiften Berfaflungen der deutſchen Einzel 
ſtaaten. Der Entwurf ver Reichsverfaſſung von 1867 aber hatte die Beamten 
überhaupt von der Mitglievfhaft des Neichstages ausjchließen wollen; aber ber 
Reichstag hat diefe Ausichliegung abgelehnt und die Regierung darauf verzichtet. 

Man fieht, vie Frage wirb fehr verfchieden beantwortet. Werden die Beamten 
überhaupt ausgefchloffen, jo werben der Bollsvertretung gerade die Perſonen ent» 
zogen, welche mit den Staatögefchäften und den dffentlihen Bedürfniſſen in Folge 
ihres Berufs am beften vertraut und vorzugsweife ats treffliche Arbeiter brauch⸗ 
bar find. Über überwiegen die Beamten zu fehr in der Vertretung, fo wird bie 
Hauptaufgabe dieſer, eine wirkfame Kontrole der Verwaltung, illuſoriſch gemacht. 
Im erfteen Fall ſchwächt das Geſetz die Intelligenz der Verfammlung, im lettern 
bringen die Wähler, welche zu viele Beamte erwählen, die Wirkſamkeit der Ver⸗ 
tretung in Gefahr. 

Eine andere Gefahr bezieht ſich vorzugsweife auf die Regierungs- und Ber⸗ 
waltungsbeamten, in geringerem Maße auf vie Richter, Abgeſehen davon, daß bie 
gleichzeitige Erfüllung der Beamten- und ber Nepräfentantenpflichten ſehr ſchwer 
ift, und daher Leicht das Amt Schaven leidet, wenn der Beamte feine Kräfte ven 
Parlamentsverhandlungen ftatt feinem Amtsberuf zumwendet, oder die Repräfen- 
tantenftellung, wenn er biefe um bes Amtes willen vernadhläffigt, fo kommt ber 
Beamte oft in eine bevenkliche Alternative. Unterftügt er regelmäßig die Regie⸗ 
rung in der Bollövertretung, fo wird er als fervil verbädtigt und feine Unab- 
bängigfeit angezweifelt. Macht er Oppofition, fo wird die unentbehrlihe Unter- 
ordnung innerhalb des Beamtenkörpers gelodert und die Energie der Central- 
leitung geſchwächt. Dort find die Interefien der Freiheit, bier die der Orbnung 
in Brage geftellt. 

Manche von diefen Rüdfichten können freilih, ohne geſetzliche Beſchränkung, 
auch bei völlig freier Wählbarkeit der Beamten von den Wählern genommen 
werben. Aber jelten haben viefe einen fo umfaflenven Ueberblid über die Lage und 
fo viel Einfiht in die Bedürfnifſe au der Verwaltung, daß die Mißgriffe ficher 
vermieden werten. Gewiſſe gefeglihe Schranken haben daher immer nod einen 
guten Sinn. Manches hängt freilich auch hier wieder von den Sitten und von 
den geſchichtlichen Berhältnifien eines jeven Staates ab. Einige allgemeine Regeln 
laſſen fi aber, wie mir ſcheint, ausſprechen: 


a) Im Interefje der wechfelfeitigen Aufllärung und einer vielfeitigen Dis- 


tuffion ift daran feftzubalten, vaß mindeftens die Minifter jeder Zeit Zu⸗ 
tritt zu den Verhandlungen der Vollövertretung haben und ihre Meinung 
dafelbft Außern dürfen. Es ift ein Mangel der nordamerikaniſchen Einrichtung, 
daß fih das Repräfentantenhaus allzu fchroff abtrennt und abſchließt von ber 
Negierung. 








Wahlrecht und Wählbarkeit. 145 


b) Die Nothwendigkeit der Einigung der Minifterftellen und ber 
Boarlamentsftellen mag für England und bie parlainentarifhe Negterung im 
engern Sinn anerfannt werden. Sie ift aber für die Tonftitutionellen Monardien 
ver Kontinentalftanten fein Geſetz und keineswegs nachzuahmen. Das englifche 
Barlament ift nicht blos Volkövertretung, ſondern zugleich der höchſte Ausdruck der 
herrſchenden Ariftofratie. Auf dem Kontinent dagegen haben die VBollövertretungen 
weder dieſelbe Macht, noch find fie ebenfo regierungsfähig. Sie wollen eher dafür 
forgen, daß gut regiert und verwaltet werbe, als felber regieren. Man muß alfo 
für die Minifterfiellen fähige Staats- und Verwaltungsmänner auch außerhalb 
der Kammern fndhen und nehmen, vorzüglid in den Beamtenkreiſen. Bejonders 
v das von den tehnifhen Fachminiſtern, weniger von den politifhen 

iniftern. 

c) Zwedmäßig ift e8, dafür zu forgen, daß nicht zu viele Beamte in 
die Vertretung kommen. Uber es ift nicht zwedmäßig, die Beamten überhaupt aus- 

ſchließen. 
” Am eheſten rechtfertigt fi) die Ausfchliegung der untergeorüneten Ber- | 
waltungsbeamten, weniger ber Richter. Die Pflegeämter dagegen und 
die Ehrenämter überhaupt find befler wicht auszufchließen. 

5. Endlich I au die Frage der Entſchädigung für bie Abgeorbneten 
von mittelbarem Einfluß auf die Wählbarkeit. Daß das Amt des Abgeorpneten 
weientlih ein Ehrenamt und nidt ein Solvamt fei, erfordert die Natur, und 
man darf hinzufügen, die Ehre ber Bollövertretung. Es wurzelt in tem Patrlotis- 
mus der Bürger und ift vereinbar mit jevem bürgerlichen Lebensberuf. Aber 
damit ift jene Trage noch nicht beantwortet, ſondern nur das behauptet, daß es 
unzwedmäßig fei, ein ſolches Honorar auszufegen, welches dazu verloden kann, 
ans diefer Stellung einen Lebensberuf zu maden und feine Delonomie darauf zu 
gränden. Eine angemefjene Entſchädigung für die Opfer an Geld, welche die Aus⸗ 
übung jener Funktionen nöthig macht, wird damit nicht ausgefchlofien. Die praf- 
tifche Frage heißt daher gemwöhnlih: Sind Taggelder zu verwilligen ober nicht? 
Die Mitglieder des englifden Parlaments erhalten feine Taggelder, die bes 
nordamerikaniſchen Kongrefies dagegen belommen eine DBergütung. Der 
Unterſchied entſpricht dem verichiedenen Grundcharakter der beiden Länder. Die 
Kriftotratie Englands läßt fi für ihre Herrfhaft nicht in fo Meinlicher und 
ungenigenber Weiſe bezahlen, aber fie verfhmäht vie größern Vortheile des Stellen- 
patronats niht. Die amerikaniſchen Bürger aber halten es für nöthig, daß ber 
Zutritt zum Repräfentantenhans nicht ansjchlieglic den Meichen, ſondern auch ven 
Perfonen offen bleibe, veren Bermögensverhältniffe es uicht geftatten, Monate 
lang in Washington auf eigene Koften zu leben, um dem Staate ihre Dienfte 
zu widmen. Nach den deutſchen Berfafiungen, auch der preußiſchen werben 
darchweg Taggelder bezahlt. Nur für ven Deutſchen Reihstag von 1867 
find viefelben verfagt worven; bie Hauptgrünbe waren, ein ariſtokratiſches Gegen⸗ 
gewicht zu finden gegen vie Gefahren des allgemeinen demokratiſchen Stimmrechts 
und zu verhindern, daß nicht einerſeits das DBeamtenelement und andererfeits bie 
bürgerlihden Mittelliaffen mit Ausſchluß der Ariſtokratie zu viele Stellen befegen. 
Die Napoleoniſche Verfafſung von 1852 hatte anfangs jede Entihäbignng ver- 
weigert, aber noch vor Ablauf des Jahres viefelbe nadhträglih bewilligt. Auch die 
Schweiz bezahlt ihren Repräfentanten Tagegelder. 

Es beſteht allertings ein Staatsintereffe, die Taggelder fehr mäßig zu halten, 
damit fi nicht um des Taggeldes willen untanglihe Männer um die Abgeord⸗ 

Bilnntf@liunn Brater, Deutfes Staats⸗Woͤrterbuch. XI. 10 








146 Waldeck. 


netenftellen bewerben und bie Sigungen ungebührlih verlängert werden. Aber 
wenn keine Entfhäbigung bezahlt wird, fo macht man es einer großen Anzahl 
jehr brauchbarer und fähiger Männer unmöglid, in biefer Stellung ihre Kräfte 
dem Lande zu widmen. Damit werben aber der Berfammlung auch ausgezeichnete 
und unentbehrliche Kräfte entzogen und es wird die NRepräfentation troß des allge- 
meinen Stimmredtd unvollſtändig und unwahr. Je bürgerlicher eine Na⸗ 
tion im Großen ift, deſto weniger können ihre Vertreter der Entfhädigung ent- 
bebren. Bluntſchti 

Wahlreich, ſ. Monarchie, Thronfolge. 

Waiſen, ſ. Anhang. 

Walachei, ſ. Moldau und Walachei. 


Waldeck. 


Waldeck-Pyrmont, ſouveränes Fürſtenthum im nordweſtlichen Dentſch⸗ 
land, beſteht aus zwei getrennten Theilen, ver ehemaligen Geafihaft Waldeck 
19,17 Q.M., 51,589 ©, und der Grafſchaft Pyrmont 1,19 DM. 7015 €. 
Walde ift ziemlich gebirgig, befonders im weftlihen Theil, wo die Fortfegungen 
bes Rothlagergebirgs fi) hereinziehen mit Höhen bis zu 2500°, während bie 
öftlihen Berge nicht über 1500 erreihen; geognoftiich gehört der weftlide Theil 
zum MWebergangögebirg, und zwar zur Öraumade, der öftlie zur Trias (Keuper). 
Das ganze Fürftentbum gehört zum Gebiet der Wefer durch deren Nebenflüffe, 
Ever mit der Werbe und Diemel mit der Twifte Das Land bildet einen fert- 
währenden Wechſel von Berg und Thal und ft theilweiſe reih an Naturfhön- 
beiten. An Mineralien finden fih: Gold, theils am Eifenberg, theils in der Ever, 
wo einige Hanbarbeiter vie Wäfche betreiben, doch iſt der Ertrag von fehr ge- 
ringem Belang; ferner Kupfer, Blet und Eifen; Salz findet fih bei Pyrmont, 
ebenbafelbft wie aud bei Wildungen Mineralquellen, deren Waſſer in großer 
Menge verfchict wird. Das Land ift nur mäßig fruchtbar, 36%, find Wald, 
55%, Aderland, Gärten und Wiefen, der Neft Weide und Unland; Haupt⸗ 
nabrungszweig der Bewohner ift Aderbau, ſodann Biehzucht. Inpuftrie hat das , 
Land wenig, mehr noch Pyrmont als Waldeck — Lederfabriken, Tabakfabriten. 
Die Bewohner find deßhalb auc wenig wohlbabend; auch gehört die Bevdlkerungs⸗ 
dichtigfeit, 2878 Seelen auf die Q.⸗M., zu ben geringften in Deutſchland; doch 
nimmt bie Bevölferung troß der nicht unbedeutenden Auswanderung ein wenig zu, 
1864 etwa um 2 %/, gegen bie vorlegte Zählung. Die Edergegend gehörte in früherer 
Zeit dem Frankenland an, das übrige dem Sadjjenland, wie noch jetzt ber Unter- 
fhied der Mundart, der Bauart der Häufer, der Sitten und Gebräuche zeigt; im 
Allgemeinen ift e8 ein kräftiger Menſchenſchlag, gefittet und arbeitfam. Die große 
Mehrzahl der Einwohner gehört zur Iutherifhen Konfeſſion (jeit 1821 mit ben 
Neformirten untrt), auch das Fürſtenhaus; Katholifen etwa 1000, Juden 500, 
einige wenige Sektirer. 

Das Fürſtenthum hat 13 Städte — Hauptftabt (nit Reſidenz) Korbach 
2250 €. mit dem Landesgymnaſium, das neuerdings auch Realklaſſen umfaßt, 
Arolſen 1965 E., Refidenz, Sitz ver höchſten Lanvesbehörben; Pyrmont 3100 E., 
zweite Refidenz, berühmter Kurort u. a. — 3 Markifleden und 94 Dörfer. Es 
it eingetheilt in 4 Kreife — Twiſte, Eifenberg, Eber, Pyrmont; die Regierung 
zerfällt in 6 Abtheilungen: 1) Türftlihes Haus und Weußeres. 2) Inneres. 
3) Juſtiz. 4) Domänen und Forſte. 5) Finanzen. 6) Militär. Das Fürſtenthum 


Waldeck. 147 


bat ſeit alten Zeiten ſtändiſche Verfaſſung; Georg Heinrich, einer der erſten Fürſten, 
der dem Artikel 13 der Bundesakte genügte, gab 1814 ein neues Landesver⸗ 
foffungsgefeg, das aber durch vielfache Verlegung des Beſtehenden Unzufriedenheit 
erregte und deßhalb ſchon im April 1816 durch ein anderes unter Vereinbarung 
mit den alten Ständen erfegt murbe. Demgemäß beftand vie Randesrepräjentation 
aus Nitterfhaft, Städten und Bauernftand, hatte das Recht der Steuerverwilligung, 
vie Verwaltung ber Landeskaſſen, Begutachtung der Geſetzesvorlagen, auch das 
Recht der Befchwerbeführung; die Stände wurden aber nicht in regelmäßigen Pe- 
rioden berufen, fondern nur in widtigen Wällen, (im Ganzen nur drei Dial bis 
1848), audy waren die Sigungen geheim. Im Jahr 1848 fanden aud) im Yürften- 
thum Waldeck Unruhen ftatt, in Folge deren ein nad einem neuen Wahlgeſetz beru- 
fener Landtag mit der Regierung ein neues Staatögrundgefeg vereinbarte, das 
natärli den Stempel jener Zeit trug und fi deßwegen ſpäter bei veränberten 
Berhältnifien vielfah als unpraktiſch zeigte. Als daher Fürft Georg Viltor, der 
1845 feinem Vater gefolgt, aber bisher unter der Bormunbfchaft feiner Mutter 
geſtanden, 1852 mündig geworben war, erklärte er eine Berfafjungsreviflon für 
nothwendig, und fo wurde nach Bereinbarung mit den Ständen 17. Aug. 1852 
die neue Berfafjung verkündigt, die wie überhaupt die ganze Haltung bes Yürften 
eine entfchieden liberale zu nennen iſt. Sicherung der Preßfreiheit, des Petitions- 
und Vereinsrechts, Einführung der allgemeinen Wehrpfliht, Unabjegbarkelt ver 
Richter, Einführung der Gefhwornengerihte, Trennung ber Verwaltung von ber 
Juſtiz, Selbftändigkeit der Gemeinbeverwaltung, Aufhebung aller Eremtionen find 
igre Hauptgrundzüge. Der Landtag tritt im Oktober jeden Jahres zufammen, 12 
Abgeorbnete für Walded, 3 für Pyrmont, die Wahlen find indirekt, die Sitzungen 
öffentlich. Der Landtag bat das Recht, die Vorlage von Gefegen zu beantragen, 
wegen Berfafjungsverlegung Anklage zu führen und das Budget zu prüfen, Die 
Berwaltung wird iu jevem Kreis durch einen fürftlihen Beamten (Kreisrath) ge- 
führt, dem für gewiſſe Fälle ein von den Angehörigen des Kreifes gewählter, aus 
4 Mitgliedern beftehenver Kreisvorftand beigegeben ifl. In ber Juftiz bildet bie 
erfte Inflanz das aus je 3 Richtern beſtehende Kreidgericht, die zweite das Ober» 
gericht in Arolfen,: das aus einem Direftor, 4 Räthen und einem Aflefjor beftebt, 
bie dritte das Obertribunal in Berlin. Schwerere Verbrechen werben von Ges 
ſchwornen abgenrtheilt, und aud biefür ift der Kaflationshof das Obertribunal 
in Berlin. An der Spige des Kirchen- und Schulmejens fleht das Konfiftorium, 
das in ein engeres von 3 und in ein weiteres von 5 Mitgliedern zerfällt. Das 
Bundestontingent des Fürftentbums war feit der Militärkonvention von 1862 
mit Preußen vereinigt; auch die Vertretung der Waldeck'ſchen Staatsangebhörigen nach 
Außen und Waldecks Stimme im Zollverein, dem e8 1832 beitrat, ift Preußen 
übertragen. Öegenwärtig gehört Waldeck zum norddeutſchen Bund; es find übri⸗ 
gens Verhandlungen wegen Abtretung der Souveränetät an Preußen im Gang. 
Die Staatseinnahmen betrugen in ver legten Periode von 1863—65 für Waldeck 
im Durchſchnitt 444,000 Thlr., für Pyrmont 71,000 Thlr. Die Ausgaben über- 
Riegen in viefer Periode die Einnahmen bei Waldeck im Durchſchnitt um 2000 Thlr., 
bei Pyrmont um 1000 Thlr., bie Staatsſchuld, die fih auf etwas über eine 
Million beläuft, wird in jährliden Noten getilgt. 

Das Fürftengefhledht gehört zu den älteften in Deutfchland, es war früher 
gräflich und befaß außer Waldeck und Pyrmont au noch vie Grafſchaften Stern- 
berg und Schwalenberg, die im 14. Jahrhundert verloren gingen. Der ältefte 
nachweisbare Graf ift Witteliud um 1031. Es fanven vielfach Theilungen flatt, 

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148 Wappen, Candesfurben, Siegel. 


und die Grafen gingen zur Sicherung ihrer Veflgungen im 15. Jahrhundert bei 
Hefien zu Leben, wodurch nachmals viele Streitigfeiten entftanven, bie erft 1847 
dur die Bundesverfammlung endgültig gegen Heflen entfchieven wurben. Im 
Jahr 1682 wurde Graf Georg Friedrich von Waldeck, Feldmarſchall der ver- 
einigten Niederlande, in den Reichsfürſtenſtand erhoben, mit dem aber‘ 1692 biefe 
Linie ausftarb; 1711 wurde Friedrich Anton Ulrih in den Reichsfürftenftand er» 
hoben, deſſen Enkel nad Aufhebung des deutſchen Reichs fonverän wurde. 


Wallis, |. Schweiz. 


Wappen, Zaudesfarben, Siegel. 


Wappen, ſymboliſche Zeichen von Famillen, Korporationen, Herrſchaften, 
Ländern, haben noch heutzutage ihren altherfömmlichen Werth nicht völlig ver- 
foren, und bleiben, wenn man an die große Wichtigkeit denkt, welche frühere Zeiten 
ihnen beilegten, eine merkwürdige Kulturerfcheinung, die man nicht blos auf leere 
Eitelleit zurüdführen darf. Zu einem beftlimmten Begriff ver Wappen gelangt 
man nur, wenn man den Zufammenhang, in dem fie mit dem Nitterwefen bes 
Mittelalters ftehen, feft im Auge behält. Ste unterfheiden ſich von Zeichen und 
Symbolen von Berfonen und Korporationen, die fhon das Alterthum kannte und 
auf Siegeln und Münzen in Anwendung brachte; fie unterſcheiden fih aud von 
ben urgermanifchen fogenannten Hausmarken, runenähnlihen Figuren, bie nad) 
weitverbreiteter, bie und da felbft heutzutage noch vorkommender Sitte zu Bes 
zeihnung von Haus und Hof und dann aud der Perfon des Befitzers dienten. 
Die elgentlihen Wappen haben beftimmte Beziehung zu dem Kriegsweſen, Per- 
fonenwappen zu ber ritterlihen Kriegsrüftung. Sie fommen, was wenigftens die 
legten ald Hauptanwendung betrifft, erft vor, ſeit ver in Eifen gehüllte Ritter 
den Kern des Heeres bildete, feit ven legten Decennten des 11. Iahrhunderts ; 
noch im 12. Jahrhundert kann ihr Gebrauch nur bei Perfonen des hohen Adels 
nachgewiefen werben und erſt im 13, Jahrhundert verbreiten fie ſich auf die Ritter- 
bürtigen überhaupt und werben nun, urfpränglic oft willlürlih angenommen 
und wieder verändert, allmältg zu feftftehenden vererblichen Geſchlechtswappen, bie 
wenigftens in den Hauptftüden beftimmt firtrt bleiben. Sie find das Bild, bas 
der bemalte Schild des Nitterd zeigte, ver Schmnd, der deſſen Helm zierte, alfo 
Beſtandtheile des wirklichen Schildes und des wirffiden Helmes, dann aud vie 
Abbildung beider, die in mannigfaltigfter Anwendung angebracht werben konnte. 
So erflärt fih der Name, ver nichts anderes ift, als die nieberbeutfche Form 
des Wortes Waffen, welche der Sprachgebraud in finniger Anbequemung an das 
Beduürfniß als Benennung biefer Waffenbilder firtrte, ähnlich wie bie Seanpofen 
und Engländer die gleiche Suche mit armoiries und armory neben armes und 
arms bezeichnen. Ueber Beichaffenheit, Yarbe, Benennung der Wappen entftanden 
beftimmte Pegeln; es würbe eine förmliche Kunft, Wappen zu kennen, regelreht 
zu erfinden und zu befchreiben, und feit die Nitterfhaft des choilifirten Europa 
beſonders dur den Einfluß der Kreuzzüge eine große Genoſſenſchaft geworden 
war, wettelferten vie frauzöftfchen, engliſchen, deutſchen Herolde, diefe Kunft immer 
feiner auszubilden. Seit Feſtſtellung ver Erblichkeit der Wappen dienten fie ale 
Zeichen eineg ritterbürtigen Gefchlechts und fpielten als ſolches befonders bei ben 
Zurnieren, zu denen nur PBerfonen mit als rittermäßig anerfannten Wappen zu- 
gelafjen wurden, eine große Nolle. Sie galten als werthvolles Befitzthum, das 
fogar mitunter zum Gegenftand des Verkehrs gemacht wurde, Vermehrungen, Ber- 


Wappen, Candestarben, Siegel. 149 


ſchönerungen des Wappens durch Verleihung von Seite eines Lehensheren, ſpäter 
des Kaiſers oder etwa auch des Papſtes, hatten ähnlichen Grund und ähnliche 
Bedentung wie hentzutage bie Verleihung eines militäriſchen Ordens. Als die 
Ritterbürtigen dem bisherigen alleinigen (nunmehr hohen) Adel als niederer Abel 
an die Seite traten, wurde das Wappen ein Zeichen des Adels und die Befugniß, 
ein Wappen zu führen und jeden Dritten von dem Gebrauche bes gleichen Wap⸗ 
pens auszufchließen, ein Beftanptheil des Adelsrechtes. Mit neuer Erhebung in 
den Adelsſtand durch kaiſerliche Verleihnng, wie fie feit Karl IV. vorfommt, war 
immer auch Ertheilung eines beftimmten Wappens verbunden, und fo gelten noch 
bentzutage, obſchon der Zuſammenhang mit Kriegsrüftung und Mitterbienft längft 
dahingeſchwunden ift, die Wappen als mit Pietät gepflegte Symbole adeliger Fa— 
milten. Der nahbilvenne Gebrauch von Wappen bat fich freilich weit Über den 
Adel hinaus verbreitet. Seit Ende des 14. Jahrhunderts finden ſich vererbliche 
Bappen auch bei Bürgern ber Städte, die nicht ritterliden Geſchlechtern ange- 
hören, denen aber der Befitz perfönlicher Bollfreiheit, Wehrhaftigkeit und oft auch 
ver Lehensfähigkeit eine höhere Stellung gab. Selbft auf freie Bauern ift bie 
und ba, wenn auch felten, der Gebrauch übergegangen. Wllein diefen bürgerlichen 
Bappen wurde nicht derſelbe Schu und viefelbe Ehre zu Theil wie den ade- 
ligen; fie befähigten nicht zur Theilnahme an den Turnieren; basfelbe Zeichen 
lounte auch von Andern gebraudt werden. Nur wenn durch kaiſerlichen Wappen- 
brief, was befonders feit Marimilian I. auch für bürgerliche Familien häufig vor- 
tom, ein Wappen ertbeilr oder beftätigt worden war, lag barin die förmliche Au⸗ 
torifation, diefes Wappen zu führen und jeven Dritten am Gebrauch besfelben zu 
hindern, ohne deßhalb den Bellehenen In den Adelsſtand zu erheben und das Wappen 
zu einem abeligen Wappen zu machen. Die Ausprüde, welche ſolche Wappenbriefe 
gebrauchen, find von denen der Adelsbriefe fehr verſchieden. Offene und gefchlofiene 
Helme haben zwar nicht urſprünglich, aber feit Ende des 15. Jahrhunderts in ber 
Regel als änfere Unterſcheidungszeichen adeliger und bürgerlicher Wappen gegolten. 

Auch die Stäpte, Kirchen, Klöfter, Herrſchaften, Landſchaften, Länder, feibft 
zuweilen bie Dörfer haben ihre Wappen, vie nicht etwa blos als dem Kriegs- 
weien möglicher Weife ganz fremde Siegelbilder aufgefaßt werben können; fie find 
von biefen oft ganz verſchieden. Ihr Urfprung, oft in fehr alte Zeit zurückgehend, 
Reht ohne Zweifel ebenfalls in Beziehung zu der Kriegeausrüftung. Sie find bie 
Bilder und Farben der Panniere und Fahnen, unter denen vie Angehörigen ber 
Stadt, des Biſchofs, der Abtei, der Herrfhaft, der Lanpfchaft zu Felde zogen; 
oft — fo bei den Herrfchaften regelmäßig und aud bei vielen Städten — find 
fie entnommen dem zu gewifler Zeit aboptirten und dann bleibend feftgehaltenen 
Geſchlechtswappen des damaligen Herrn und Tonnten dann binwieder in dem 
Wappenſchild neuer Beſitzer Aufnahme finden. Es ift diefer Vorgang um fo leichter 
begreiflih, ald wir zur Genüge wiffen, daß die Geſchlechtswappen, wo immer 
eine geeignete Stelle für die Aufnahme des Bildes fih fand und fo namentlich 
auch auf den Pannieren ver Dynaften und Pannerherrn angebradht wurden. — 
Die reihe Fülle ver Korporationen und Herrſchaften hat fih im Laufe der Zeit 
zu größern Länderkomplexen vereinigt und Hand in Hand biemit haben die auf 
bie großen Territorien übergegangenen Wappenbilder der regierenden Häufer das 
Unfehen der Symbole ver Heinen Gebiete in ſich abjorbirt. Das Bedürfniß Sym- 
bole zu befigen, welche in allgemein verftänblichem Ausprud das Ganze, dem ber 
Einzelne angehört, repräfentiren, ift auch heutzutage noch vorhanden, aber bie po- 
litiſchen Verbände, für die diefes Bedürfniß befteht, find andere geworben. Die 


150 Wappen, Landesfarben, Siegel. 


Lanbesfarben und Lanbeszeihen find jest die lebendigen Symbole, ihr weiteres 
Schickfal wird der Fürzefte Ausbrud fein für das weitere Schickſal Deutſchlands. 

In naher Beziehung zu den Wappen ftehen die Siegel, feit fie als ge- 
wöhnliches Bild Wappen aufgenommen haben; fie find aber dem Begriffe nad 
von ben Wappen durchaus zu unterfheiden. Ste dienen zur Belräftigung von 
Urkunden und haben mit dem Kriegsweſen zunächſt gar nichts zu fchaffen. Eine 
ſehr große Rolle fpielten fie befonders im fpätern Mittelalter vom 12. bis 16. Jahr⸗ 
hundert, da fie in dieſer Zeit pie Stelle der Unterfchrift in den Urkunden ver⸗ 
traten und daher zur Redtegültigkeit der Urkunden nothwendig waren. Bis zu 
Anfang des 11. Jahrhunderts find außer den päpftlichen faft nur Siegel ver 
Könige befannt; fie zeigen‘ — Anfangs unter Anwendung antifer Gemmen — 
Köpfe oder Bruftbilder von Perfonen. Mit dem 11. Jahrhundert werben bie 
fchönen Siegel gebräudlih, in denen die Könige in vollem Ornate auf dem 
Throne figend, Perſonen des hohen weltlichen Adels in den Panzer eingehällt mit 
der Fahne zu Pferd einherfprengend (Reiterfiegel), Banner des hohen Adels eben- 
falls in ganzer Geftalt ftehend oder reitend abgebildet fich finden. Erſt mit Ende 
des 11. Jahrhunderts und anfangs noch fpärlich erfcheinen auch Wappen auf ven 
Stegeln, zuerſt in Schild und Fahne der Neiterbilder, dann auch auf den Kleinen 
fogenannten Rüd- oder Gegenfiegeln; mit dem 13. Jahrhundert verbrängen fie 
bet dem weltlichen Adel die Perfonenbildniffe gänzlich und find nun das einzige 
Siegelbild. Die Siegel des niedern Adele, die häufiger erft feit Mitte des 13. Jahr⸗ 
hunderts vorfommen, find von Anfang an ftets Wappenfiegel gewefen; basfelbe 
gilt von den Siegeln der nichtritterlihen Bürger, wo folde feit dem 14. Jahre 
hundert fih finden. Es begreift ſich leicht, Daß das zum anerfannten Symbol ber 
Familie gewordene Wappen befonders. tauglich ſchien — in Verbindung allerdings 
mit dem gewöhnlich aufgenommenen Namen des Befitzers — dem Siegel den 
beftimmten unterfheidenben Charakter zu geben. Für die Stegel ber geiftlichen 
Fürſten und Herrn, der Kirchen und kirchlichen Kapitel konnten die Wappen nidht 
die gleiche Bedeutung haben. Perfonenbiloniffe oder Bilder von Heiligen blieben 
bier der regelmäßige Inhalt. Auch die Siegel der Städte und einzelner Land⸗ 
Ichaften, die mit dem Erwerb korporativer Selbſtändigkeit als Zeichen hiefür in 
Gebrauch kamen, haben, fei es in Folge von Verleihung oder von willkürlicher 
Annahme, oft andere Bilder als die Wappen, fo Kirchenhellige, Abbildungen von 
Männern u. |. f. aufgenommen. 

Dei der großen Bebeutung, welde die Siegel für den Rechtsverkehr hatten, 
und ber beftimmten rechtlihen Ordnung, die dafür galt — wurde ja foger bie 
Befugniß, ftatt mit dem gewöhnlichen weißen ober gelben Wachs mit rothem, 
blauem, grünem Wachs zu fiegeln, als ein Privilegium vom Katfer ertheilt — 
war die Fähigkeit, ein eigenes Siegel zu führen und für fi zu gebrauden, eine 
wichtige Sache. Sie war von ber Wanpenfähigfeit fehr verſchieden und an engere 
Bedingungen geknüpft. Nothmendig war außer dem höhern Stand aud die Be⸗ 
fugniß, felbft Über das eigene Vermögen bilponiren gu fünnen, Mündigkeit und 
perfönliche Freiheit. Der ritterlihe Minifteriale, deſſen vermögensrechtliche Ber- 
fügungen an die Zuftimmung des Dienftheren gebunden waren, befaß die Siegel- 
fähigkeit nicht. Sehr häufig finden wir daher in den Urkunden die Wormel, der 
Ansfteller gebrauche ein fremdes Siegel, weil er kein eigenes befite. In weiterem 
Umfang trat baber das Bedürfniß ein, fremder Giegel zu Beglaubigung der 
Urkunden fidy bedienen zu dürfen und es entfland eine Siegelfähigkeit in höherm 
Sinne, die Befugniß nämlich, mit dem eigenen Siegel auch fremde Urkunden be- 


Waſhington. 181 


täftigen zu können. Ein ſolches Recht beſaßen — abgefehen von ven rechtlichen 
Bertretern, Chemäunern, Vormündern — die Inhaber dffentliher Gewalt und 
Gerichtsbarkeit, außer dem König die geiftlihen und weltlichen Fürften und Herrn, 
die geiſtlichen Kapitel, die Städte, und zwar je höher die Rangftufe war, in deſto 
weiterem Umfang!). — Seit Ende des Mittelalters fam bie felbftändige Wichtig- 
teit der Siegel immer mehr in Abnahme. Aus dem Rechte, das Siegel für bie 
Geſchäfte anderer Leute in Anwendung zu Bringen, gingen bie Amtöfiegel hervor, 
deren Gebrauch aber in Verbindung trat mit der Mitwirkung der Behörden und 
Beamten bei vielen Nechtögefchäften der ihrer Amtsgewalt unterworfenen Perfonen. 
Die Befugniß, für ſich felbft ein Siegel zu führen, verlor meift ihre rechtliche 
Bedeutung, da Privaturfunden aud ohne Siegel Gültigkeit erhielten und der Ge⸗ 
brauch von großen und Kleinen Siegeln over Betichaften von ven frühern Bes 
ſchränkungen ſich emancipirte. Nur in einigen Städten und Rändern, fo namentlich 
is Bayern, hat aus dem frühern Zuſtand die Siegelmäßigfeit fi entwidelt, 
d. 5. das Recht, durch das eigene Siegel der ein eigenes Rechtsgeſchäft betreffenven 
Urkunde die gleiche Kraft zu geben, welche fonft unter der Mitwirkung von Be- 
amten entftandene öffentliche Urkunden befigen, und bieran fi anſchließend vie 
Befugniß, gewiſſe Rechtsgefchäfte ohne die fonft erforberlihe Einmifhung von 
Beamten felbft vollführen zu können. In biefem Sinne fiherte noch das bayriſche 
Edilt über die Siegelmäßigleit von 1818 dem Abel und gewiffen höhern Beamten 
die bezeichneten Rechte zu, die aber nunmehr durch das Notariatsgeſetz von 1861 
indixelt befeitigt worden find. 

Literatur: Außer den Lehr- und Handbüchern der Heraldik, Diplomatit und 
des deutſchen Privatrehts U, F. Kopp, über den Urfprung ver Wappen, Frei⸗ 
burg 1831. Wyß, Über den Urfprung und die Bedeutung der Wappen, Mit« 
tbeilung der antiquariſchen Geſellſchaft in Züri, Bd. VI. 


Waſa, |. Skandinavien. 


Georg Wafhington. 


In den legten Zeiten Cromwells hatten fi zwei Brüder, die einer alten 
Familie des nievern englifhen Adels angehörten, in Virginien angeflevelt, wo 
dann fie und ihre Nachkommen als angefehene und begüterte Grundbeſitzer Iebten. 
Der Urenfel bes einen biefer beiden Einwanderer war Georg Wafhington. Er 
wurde den 22. Februar 1732 geboren. Den Unterricht, den er empfing, war im 
Ganzen dürftig; er befhränfte fi auf die Elementargegenftände, die im Leben 
eines Pflanzerd vorkommenden gefhäftlihen Schreiben und die Mathematit, von 
welcher W. als Feldmeſſer drei Jahre lang praktifhen Gebrauch machte; denn das 
Landgut, das er geerbt, war verhältnigmäßig Hein, und erft der legte Wille feines 


1) Der Schwahenfpiegel, A. 140 (Wadern) gibt hiefür anſchauliche Beſtätigung: „Das 
yabeft infigel heizet Bulla; fwer diu mit rechte alt, unde mit rechte enpfahet, fo fint fi guot 
unde rebt. der fünige infigel hant auch groge kraft. der phafen fürften infigel unde der leien 
fünften infigel din fint rebt. der prelaten infigel unde der capitel Infigel unde aller capitel infigel 
fint reht. umde werden difiu infigel über ander fache gegeben danne über ir felber fache, fo hant 
ſi ala groze kraft als über ir felber ſache. andere herren infigel hant nit Kraft van über ir 
ſelber gefchäfte unde über ir liute gefchäfte. die ftete fullen ouch infigel han unde doch mit ir 
Herren wien. van anders babent fi nit kraft. fi hant ouch nit fraft van umbe der ftete gefchefte. 
alle richter mugen mit rechte wol infigel han; diu hant kraft uber diu dinc, diu ze ir gerichte 
horent. ander liute mugen wol infigel han; diu hant ouch mit kraft van über ir felber geichefte”. 


152 Wafhington. 


älteften Bruders, welcher 1752 ftarb, machte ihn zu dem großen Grundbeſttzer, als 
melden ihn die Welt kennt. Leben und Umgang bilbeten ihn weiter. 

Schon In dem Knaben offenbarte fih die Stätigfeit und Ausdauer, die einen 
Orundzug feines Weſens ausmachen; er führte mit einer beinahe peinlichen Sorg⸗ 
falt zu Ende, was er angefangen. Ebenfo befaß er für fittlide Größe Sinn. 
Unter den Regeln, bie er fih für fein Verhalten gefammelt, befand fi ber 
Sprud, an den all fen Thun und Laflen erinnert: „Suche jenen himmliſchen 
Funken, den wir Gewiſſen nennen, in deiner Bruſt lebendig zu erhalten”. Ueber- 
haupt athmete fein ganzes Weſen frühzeitig Gediegenheit, und bald genug er- 
laubten ihm die Umſtände, fich in diefem Lichte feinen Landsleuten zu zeigen. 

Indem die Franzoſen Anftalten trafen, von Kanada ans fid am Obio feſt⸗ 
zufegen, kam es zu Feindſeligkeiten in den Kolonieen, die endlih den Krieg zwiſchen 
England und Frankreich herbeifährten. W. erhielt dadurch Gelegenheit, fi milt- 
täriich zu bilden. Fünf Jahre lang trug er bie Waffen. Er leiftete während biefer 
Zeit mit den Mitteln, vie ihm zu Gebote ftanden, das Mögliche, beobachtete 
nicht felten beffer als feine Borgefegten, zeigte überall geſundes Urtheil, gab guten 
Rath, und fon erhob er fih zu umfaflenden Anfhauungen, welde den echten 
Staatsmann erlennen ließen. 

Eben nah dieſer Richtung hin fi weiter zu vervolllommmen, war ihm 
bereits Gelegenheit geboten; denn eine Grafſchaft hatte ihn Inzwifchen zu Ihrem 
Abgeordneten gewählt. Während er fortan mit Eifer und Neigung die Bewirth- 
ſchaftung feiner großen Güter leitete, neue dazu erwarb, feinen Nebenmenjchen 
hilfreich Die Hand bot, gemeinnüßige Unternehmungen förderte und in angenehmer 
Gefelligfeit oder in der Jagd Erholung ſuchte: war er zugleich fünfzehn Jahre 
lang ein regelmäßiger Beſucher der Siuungen bes virginiſchen Unterhauſes. Und 
jo wärben, da er feinen vorbrängenden Ehrgeiz befaß, aller Wahrfcheinlichkett 
nach feine Tage weiter in fegensreiher Thätigkeit frievlich dahingegangen fein, 
wenn nicht der Streit, welcher indeß zwiſchen Mutterland und Kolonien entbraunt 
war, aud ihn aus der Rube von Mount Bernon'anfgefchredt und abermals In 
das Yelvlager geführt hätte, wo nun größere Fragen entſchieden werben follten. 

W. hatte fih bisher immer gut Königlich gefinnt gezeigt. Er liebte das Land 
feiner Ahnen, und wenn er auch wünfchte, daß es den Kolonieen gegenüber ein 
nit fo engherziges Handelsſyſtem befolgen möchte, fo war er doch der Berbin- 
bung, welde zwiſchen ihnen beftand, von Herzen zugethan, und in biefem Sinn 
erfüllte ihn die Zurücknahme des Stempelgefeges mit hoher Freude. Dabel war 
er aber nicht unempfindlich gegen die Rechte feines engeren Baterlandes, und bie 
folgenden Maßregeln des Minifteriums beunruhigten ihn daher fehr ernftlih. Er 
ſprach ſchon im Jahr 1769 die Meinung aus, daß für das Foftbare Gut ver 
amerifanifhen Freiheit niemand anftehen dürfe, die Waffen zu gebrauchen; aber 
er fah darin nur das legte Hilfsmittel und beförberte deswegen alle Schritte, 
welche geeignet ſchienen, Abftellung ver Beſchwerden auf eine nicht fo herbe Weife 
herbeizuführen. Durh das Schidfal, welches die Bittſchriften der Amerikaner im 
Parlament hatten, warb er allmählich überzeugt, daß die Kolonieen ber Herrſchaft 
besjelben in Sachen der Beftenerung um jeden Preis unterworfen werben follten. 
Seine ganze Natur fträubte fih dagegen, und er gab darum ven Maßregeln, 
welche ven Verkehr mit dem Mutterland immer mehr einfchräntten, feine volle 
Zuftimmung. Noch 1774 wies er zwar jeden Gedanken an Unabhängigkeit mit 
Nachdruck zurück; aber im März des folgenden Jahres war er entſchloſſen, im 
Notbfall Leben und Vermögen der Sache der Kolonieen zu opfern, und bie Nadı- 














Wafhington. 153 


richten über das Gefecht von Lerington erfüllten ihn Beinahe mit Freude; denn 
er ſchloß daraus, daß die Amerikaner für ihre Freiheiten kämpfen würden. Auf 
ber andern Seite trübte fi fein Blid, Indem er bedachte, daß der Bruder dem 
Bruder das Schwert in die Bruft fioßen follte, und die vormals glädlihen und 
friedlichen Ebenen Amerikas entweder mit Blut getränft werben oder von Sklaven 
bewohnt werden müßten. „Zraurige Wahl, rief er aus, aber kann ein tugenb« 
bafter Mann unfchläffig über feine Entfheidung fein?“ 

Die Koloniften erhoben nun die Fahne des offenen Widerſtandes. Im Jahr 
1776 fagten fie fih ganz‘ vom Mutterlande los und übertrugen bie Führung 
ihrer Streiträfte W. Die Laſt des langen Krieges, welcher hieraus entfprang, 
hat vorzäglih auf feinen Schultern geruht. Wir begleiten ihn nicht durch bie 
Einzelnen Kämpfe; wir bemerken nur, daß die Amerikaner keinen beffern Ober⸗ 
befehlshaber hätten wählen können. Denn erftlli war er frei von jeder Neben- 
rädfiht, er firitt einzig und allein für die Sade und orbnete fi mit einer 
feltenen Hingebung diefer Idee unter, für deren endlichen Sieg er unausgeſetzt 
duch acht feywere Jahre thätig war. Ohne Neid fah er die Anftrengungen feiner 
Generäle von Erfolg gekrönt. Er war ſtets bereit, wohlgemeinte Ratbichläge zu 
empfangen und ihnen eine unbefangene Prüfung zu ſchenken. Wie er felbft bie 
größte Serubd und Ausbauer zeigte, jo ermunterte er feine Rampfgenofien zu ven 
gleichen Tugenden, und wie er über alle perfönlichen Abfichten erhaben war, fo 
juchte er fortwährend die Eintracht unter allen Zruppentheilen, und als bie 
Franzoſen Waffenbrüver geworden waren, auch mit dieſen zu erhalten. Unfälle 
bengten ihn nicht, fondern trieben ihn zu verboppelten Anſtrengungen; wenn ihm 
aber einmal bie traurige Tage der Dinge den Athem benahm, jo war er bemüht, 
des Zmeifels wieder Herr zu werden und den Muth ber andern nicht finken zu 
laſſen. Verlennung, Ehrgeiz und Neid ftellten fi ihm in den Weg, allein fie 
übten anf feine Haltung feinen Einfluß ans. Er hatte wohl in jungen Jahren 
bei perfönlichen Wiperwärtigleiten abgedankt oder abdanken wollen; aber jegt war 
feinerfeitS davon nicht die Rebe; fo lange das Vaterland feiner Dienfte beburfte 
und fie nicht verfchmähte, war er bereit fie zu leiften. 

Bemerkenswerth iſt ferner die Mannigfaltigfeit der Wege, die er einfchlug, 
um das Biel zu erreihen. Während feine Natur ihn zum Angriff trieb, zwang 
ihn die Dürftigkeit feiner Mittel, im Ganzen mehr vertheidigungsweiſe zu ver- 
fahren, und er unterwarf fich dieſer Nothwendigkeit; aber er wußte zugleich recht 
gut, daß eine ſolche Kampfesart auf die Länge nicht ausreicht, daher verband er 
mit der äußerften Vorſicht zumellen große Kühnheit. Er erlitt Niederlagen, jedoch 
feine entfcheidenden, und immer verftand er es, fi in Achtung bei dem Feinde 
zu erhalten. Als der öffentliche Geift ermattet war und die Hilfsquellen verfiegten 
oder nicht gehörig benugt wurden, gönnte er dem Lande Zeit fi zu erholen; 
aber er forderte dann um fo ernfiliher neue NRüftungen. Den Partikularismus, 
welcher fich im Heere geltend machte, bekämpfte W. unabläffig, allein er hütete 
fich zugleih, ihn zum Schaden der Sache auf gefährlihe Proben zu ftellen. Er 
Ihonte die Eiferfucht der Amerilaner gegen vie militäriiche Gewalt fo viel ale 
möglih; wenn fie aber ververblid wirkte, trat er Ihr ebenfo unummmnden ent> 
gegen. Er kannte den Werth der ſtrengen Kriegszucht und hielt fie aufrecht; aber 
wenn die äußerfte Noth einzelne Truppentheile zum Yufftande trieb, fo verfuhr 
er anders, ald wo Gründe nicht fo zwingender Art vorhanden waren. Mit einem 
Bort, er bewies eine Klugheit und Umſicht, die nicht größer hätten fein önnen. 

Bor allem jedoch glänzt W. durch feine Achtung vor dem Recht. Die Ber« 


154 waſhington. 


letzung desſelben hatte den Umſturz der beſtehenden Ordnung herbeigeführt; um 
fo nothwendiger war es, den Gehorſam gegen die Civilgewalt nicht untergehen 
zu laſſen. W. verlor dieſe Rüdficht nie aus den Augen, jondern pflegte durch vie 
ganze Zeit forgfältig das gute Einvernehmen fowohl mit dem Kongreß, als mit 
ben Megierungen ber bejonderen Staaten und den lokalen Behörden. Er hatte ſich 
über die Bundesverfammlung nicht jelten zu befhweren; er verhehlte feine Anficht 
auch niht, und was er der ganzen Körperſchaft nicht füglich fagen konnte, das 
ſchrieb er mit vefto größerem Freimuth an einzelne Mitgliever im Namen ber 
Sade, für die fie gemeinfchaftlid wirkten, and auf Grund feiner Erfahrung und -. 
feines guten Gewiſſens. Die Noth entſchuldigt manches; aber die Menſchen nehmen 
e8 mit diefem Worte gewöhnlich zu leiht. W. verdient den aufrichtigen Dank 
aller Freunde der wahren Freiheit, daß er in diefer Beziehung ein wundervolles 
Beiſpiel gegeben. Er hätte zuweilen durch ein eigenmädhtiges Verfahren gewiß bie 
Zwede bes Krieges geförbert; aber er vermied es nicht nur, Über den Trümmern 
bes Kongrefles den ftolzen Bau feiner eigenen Größe zu errichten, fonvern er 
hütete fih fogar, die Mettung des Staates im Widerfprucd mit biefer Verſamm⸗ 
Inng zu verfuhen; denn er gehörte nicht zu denen, bie über der augenblidlichen 
Zweckmäßigkeit die Rüdfiht auf die dauernde Wohlfahrt des Vaterlandes ver- 
e 


n. 

Als endlich das hohe Ziel nach ſchweren Kämpfen erreicht war, kehrte W. 
jo freudig, wie andere die Stufen eines Thrones hinanſteigen, in die Abgeſchieden⸗ 
heit von Mount Bernon zuräd, um bier ungeftört den frievlichen Beſchäftigungen 
des Landbaues feine übrigen Tage zu widmen. Selige Zufrievenheit athmen bie 
Briefe, die er in ven erften Jahren des Friedens ſchrieb. Als aber die Folgen 
des Partitularismus immer drohender zum Vorſchein kamen, da verſchwand bie 
Heiterkeit feiner Seele, und tiefempfundene Klagen über die Schmach ber öffent. 
lichen Zuſtände füllten nun die Blätter, die an die Freunde gingen. Diefe wieder⸗ 
um richteten ängftlich vie Blide nah Mount Vernon, und auf ihre bringenven 
Bitten verließ W. noch einmal den Ort feiner Zurüdgezogenheit, um bie Ver⸗ 
handlungen zu leiten, welche den Bund von Grund aus umgeflalteten (f. darüber 
bie Artikel Franklin, Hamilton, Madiſon). Raum zeigte ſich der erſte Hoffnungs- 
ſchimmer, daß die erforverlide Zahl von Staaten die neue Verfaffung, der feine 
Unterſchrift zu beſonderer Empfehlung gereicht hat, annehmen würde: fo warb er 
auh ſchon von allen Seiten erſucht, die vorausfihtlihe Wahl zum Präfiventen 
nit abzulehnen. Er brachte dem Vaterland auch dieſes Opfer; aber er that es 
mit jchwerem Herzen. Er hatte zwar ſchon als Oberbefehlshaber mannigfadge 
Deweife von richtiger Beurtheilung politifcher Verhältniſſe gegeben; dennoch zweifelte 
biefer große Mann jegt einigermaßen an feinen ftaatsmännifhen Fähigkeiten, wie 
vormald an feinen militärifchen, aber er hatte zugleich die Meberzeugung, daß er 
mit Veftigkeit feinen Weg gehen und ſogar die Gunft feiner Mitbürger aufs 
Spiel jegen würde, wenn höhere Pflichten es nothwendig machen follten. Ex be- 
faß eine Mare Borftellung von dem Abgrund, an welchem die Vereinigten Staaten 
eine Zeit lang geſchwebt hatten; er ſah zugleich, daß die Gefahr noch nicht ganz 
vorüber war und befonders die Herftellung des öffentlichen Kredits unendlich viel 
Umfiht und Klugheit verlangte. 

Das zweite große Ziel, das ihm vor Augen fland, war, ben Vereinigten 
Staaten eine folhe Stellung in ver Welt zu verfchaffen, daß es die Seemädte 
nicht wagen bürften, ihnen mit Verachtung zu begegnen oder fie gar zu beichimpfen, 
übrigens aber fi von den europälihen Berwidelungen fern zu halten; und er 


Warbington. 155 


febte der Ueberzeugung, daß Ten Bolt auf Erben die Norbamerifaner Kindern 
Bunte, wenn fie einig und fig felber freu biieben, eine große, angejehene, handel⸗ 
treibende Nation zu werben. 

Am 30. April 1789 leitete W. den Eid auf die Berfafiung. In der An- 
trittörede, die er darauf hielt, Tprad er die Erwartung aus, daß fih ber nene 
Kongreß bei feinen Berathungen von drtlichen Borurtbeilen und Hinneigungen, 
von Sonderabfichten und Parteileivenfchaften nicht leiten laffen und ebenfowenig 
von den unmandelbaren PBrincipien der Brivatmoral entfernen werde. „Denn keine 
Wahrheit, fuhr er fort, ft gewiffer, als die, baß in dem Haushalt und Laufe 
der Ratur eine wnanflöslihe Verbindung befteht zwifchen Tugend und Gedeihen, 
zeifhen Pflicht und Bortheil, zwifchen den echten Srundfägen einer rechtfchaffenen 
und großherzigen Polinik und den gediegenen Belohnungen öffentlicher Wohlfahrt 
und’ Glückſeligkeit. Desgleihen müflen wir überzengt fein, daß des Himmels 
gnädiges Lächeln niemals eine Nation erwarten kann, welche die von ihm felbft 
eingefegten ewigen Regeln ver Ordnung und des Rechtes mißachtet“. Eine traurige 
Bergangenheit ſchloß fi auf immer, und bie Zukunft lag wieder in helleren 
Barden vor den Angen eines aufathmenden Volkes. 

Die Herflellung des öffentlichen Kredits, vorzugswelfe das Wert Hamiftons 
(f. diefen Art.), trug viel zu dem Aufſchwunge bei, deſſen fih das Land in kurzer 
Zeit erfreute. Durch die politifche und finanzielle Reform kehrte das entflohene 
Bertrauen zurüd, und fortgefepte reichliche Ernten halfen den Wohlſtand mehren. 
Die Hanbelsthätigfeit fteigerte fi; die Zolleinnahmen überftiegen vie Anfchläge 
beträchtlich. Der Ruf der Ber. Staaten befiexte fih im Auslande fihtlih, und 
ebenfo hob fi ihr Kredit. 

Under war es mit den auswärtigen Angelegenheiten. Noch immer hielten 
die Engländer auf dem Gebiete der Union einige Heine Feſtungen beſetzt, weil 
einzelne Staaten britiſchen Gläubigern bei der Einziehung ihrer Schulden Schwierig- 
kiten in ben Weg gelegt batten, und gegen Neu-Braunfchweig bin war über bie 
Orenze Streit. Die Spanier machten Anfpruh auf das nörblih von Florida 
gelegene Land und vermweigerten den Amerikanern die Schifffahrt auf dem unteren 
Riffifippi. Vergeblich hatte ferner der alte Kongreß gefucht, Handelsverträge mit 
biefen beiden Nationen abzuſchließen und den franzöfifhen zu erweitern. Aus dem 
heimifchen Erbtheil beinahe hinausgewieſen, waren die Amerilaner gemöthigt, mit 
entfernten Weltgegenden in Verkehr zu treten. So thätig fih nun aud bie neue 
Regierung erwies, fo war fie doch nicht glüdliher in ihren Bemühungen. Außer⸗ 
vem ſchloß fie zwar Berträge mit den Indianern des Südweſtens, aber bie 
ſpaniſchen Einwirkungen ließen biefelben nicht zur Ausführung fommen. Im Nord⸗ 
weiten, wo bie Engländer einen ähnlichen Einfluß ausübten, beftand feit Jahren 
ein ununterbsochener Grenzkrieg, und im Herbft 1791 erlitten bier bie amerifa- 
niſchen Waffen eine Niederlage. 

Unglüdlierweife wuchjen vie Berlegenheiten au im Innern. Die Freunde 
ber neuen Berfaffung, bie fogenannten Föderaliſten, hatten im erften Kongreß 
(1789— 91) ein bedeutendes Uebergewicht befefien; denn die Wahlen waren unter 
dem Eindruck der Thatſachen erfolgt, welche zu der großen Umgeftaltung bes 
Bundes geführt hatten. Indem die Föderaliften die Vorſchläge des Schagfelretärs 
annahmen, trugen fie viel zu dem Gedeihen bei, beflen fi vie Ber. Staaten 
erfreuten. Aber eben biefe Maßregeln vermehrten vie Reihen ver Oppofition, ber 
Antiföderaliften oder, wie fie fi nun nannten, der Republilaner. Im zweiten 
Kongreß (1791-93) waren letztere ſchon flärker vertreten, und fie hofften, daß 


156 walhington. 


die nächſten Wahlen für ſie noch günſtiger ausfallen würden. Sie brachten in 
die Verhandlungen eine große Bitterkeit und griffen unaufhörlich Hamilton an. 
Der Staatoſekretär ſtand auf ihrer Seite, und W. bemühte ſich vergeblich, den 
Zwieſpalt in ſeinem Kabinet zu beſeitigen, es gelang ihm nur den vollſtändigen 
Bruch zu verhindern (ſ. die Art. Hamilton und Jefferſon). Uebrigens ſaß er ſelbſt 
noch ganz feſt in der Liebe ſeiner Mitbürger und wurde mit Einſtimmigkeit wieder 
gewählt; ſogar der Vicepräſident J. Adams, welchen die Republikaner durch einen 
der flarrften Anhänger der Souveränetät der einzelnen Staaten zu erſetzen geſucht 
hatten, behielt feine Stelle. Die Stätigfeit in der Entwidelung des nationalen 
Lebens ſchien gefihert. Die Heftigkeit der Oppofition konnte ſich wohl fteigern, 
aber ihre Blige mußten aufhören zu zünden, wenn der Wohlftand zunahm wie 
bisher. Da verſchaffte ihr Europa neue, günftigere Angriffspunkte; venn Die Wogen, 
welche der Sturm ver franzöfifhen Revolution in Bewegung geſetzt Hatte, fchlugen 
brandend auch an die weftlichen Geftade des atlantiſchen Oceans. 

Jenes Weltereigniß hatte die Augen der Amerilaner jehr bald auf fi ge- 
zogen und ihr befonderes Mitgefühl erwedt. Mit dem Fortgange der Bewegung 
verminderte fid) zwar hier wie anderwärts die Schaar der Bewunberer; aber noch 
genug blieben übrig, die fih durch die überhand nehmenden Unorbnungen umd 
Frevelthaten in ihrer vorgefaßten Meinung nicht erſchüttern Liegen. Mit wilder 
Freude feierten fie tie Erklärung der Republik, die Siege der franzöfiichen Waffen. 
Wie mußten erft die Köpfe fi erbigen, als England den Feinden Frankreichs 
beitrat. Alter Haß, Verſtimmung über die Bolttil, weldye das Londoner Kabinet 
jeit 1783 ben Ber. Staaten gegenüber befolgte, die frühere Bundesgenoſſenſchaft 
mit den Franzofen und bie politifhen Anfichten vereinigten fih, um vie Leiden- 
[haften vollends über vie Vernunft fiegen zn laſſen und einen rauſchartigen Zu⸗ 
Nand hervorzubringen. Zugleih aber berührte viefer Krieg die Interefien der 
Amerikaner; denn bie Verträge, welche fie im Jahr 1778 mit Ludwig XVI. ab- 
gefchloffen Hatten, enthielten Veftimmungen, bie nun zur Anwendung kommen 
mußten und leicht Verwidelungen auf dem Dcean erzeugen konnten. 

Nach reiflicher Berathung mit feinen Mintftern erlieg W. am 22. April 
1792 eine Neutralttätserflärung. Drei Wochen fpäter erfchten Genet, der neue 
Geſandte der franzdfifhen Republik, am Sige der Bundesregierung mit der Ab⸗ 
fiht, die Amerikaner In den großen enropälfchen Krieg binelnzureißen. Der glän- 
zende Empfang, den ihm vie Bevölkerung auf feinem Wege bereitet, vie begeifter- 
ten Anſprachen, die er von Charlefton bis Philadelphia gehört, erzeugten in ihm 
eine gefährliche Meinung von feiner Macht. Unter feiner Einwirkung bedeckte ſich 
das Land mit fogenannten demokratiſchen Gefellihaften, einer Nachahmung ter 
Jakobinerklubs, die nun zufammen mit ver gppoftionelen Preſſe thätig waren, 
um die Neutralitätserllärung umzuftoßen. Welt über die Abfichten feiner Regierung 
binausgehend, bewies ber heißblütige Franzofe, vom wildeften politifhen Fanatis⸗ 
mus erfüllt, von einem nicht Kleinen Theile der Bevölkerung unterftägt und zur 
Veftigleit gegen den Präfidenten ermahnt, in feinen Handlungen eine folde Ber- 
achtung der Souveränetät der Ber. Staaten, in feinem Briefwechſel mit dem 
Staatsfelretär eine ſolche Frechheit und Anmaßung, daß W. endlich feine. Ab- 
berufung verlangte, die auch vom Konvent auf das bereitwilligfte gewährt wurbe. 
Das ruhige, befonnene Berfahren der Bundesregierung und bie Thatſachen, bie 
allmählich ins Volk drangen, brachten fogar einen Umſchwung in der dffentlichen 
Meinung hervor, und vie Republikaner ſahen fi genöthigt, Genet aufzugeben. 

Inzwiſchen gebar der ungehenre Kampf, der In Europa wüthete, neue Ver⸗ 

















Wafhington. 157 


widelungen auf dem Dcean. Der Handel der Ber. Staaten erlitt vielfadhe 
Stöwngen; aber bei der herrſchenden Sympathie für Frankreich wurde mehr 
Englands Berfahren beachtet und heftig getadelt. Im Kongreß fand dieſe Mip- 
fimmung eine Art von officielem Ausdruck: die Mehrheit im Haufe der Reprä> 
fentanten war bereit, die amerikaniſchen Handelsanordnungen zum Nachtheil Eng⸗ 
lands abzuändern. Indem dann das britifhe Minifterium eine Flotte gegen bie 
franzöfiichen VBefigungen in Weftinvien fehidte, welche der Konvent eben erft aus 
Noth ven Schiffen der Union eröffnet hatte, und jeven Verkehr mit benfelben 
verbot, indem es zu ben Kleinen Feftungen, welde vie Briten noch beſetzt hielten, 
fogar eine neue fügte: wuchs die Erbitterung zum Ueberfhäumen. Das Haus der 
Repräfentanten verhandelte fehr ernftlih über eine Sequeftration aller Schulden 
ameritanifcher Bürger an Engländer, ver Abbruch alles Handels mit diefem Reiche 
wurde befchlofien, der Krieg fehlen unvermeidlich. 

Der Bräfivent war gegen alle diefe Vorgänge nicht gleichgiltig geblieben. 
Er hatte ſchon in feiner Eröffnungsrede den Kongreß zu Räftungen aufgeforbert, 
um ben den Ber. Staaten gebührenden Rang zu behanpten. Aber er wollte nur 
im änßerften Balle zum legten Mittel greifen, und da, vielleicht in Folge ver 
Feſtigkeit, die er Genet gegenüber bewiefen, einige Anzeichen befierer Stimmung 
Englands gegen die Ber. Staaten erſchienen, fo entfhloß er fi, zwiſchen vie auf 
geregten Parteien zu treten und einen befonderen Bevollmächtigten nach London 
zu ſchicken. Das Haus der Repräfentanten mußte fih fügen und den Ausgang 
ber Unterhanplungen abwarten. 

Inzwifhen hatte fih ein neues Unwetter zufammengezogen. In den weſt⸗ 
lichen Srafihaften Pennſylvaniens war ſchon feit zwei Jahren ein fchledhter Geift 
bemerklich; man wollte dort die Abgaben nicht zahlen, welche ver Kongreß. auf vie 
Drennereten gelegt. Die Aufregungen von 1793, die Beſchlüſſe der demokratiſchen 
Bereine, die Aufſätze der oppofitionellen Preſſe erhigten die Gemüther noch mehr, 
und die Bewegung wuchs den Führern bald über ven Kopf. Die frievlihen Maß⸗ 
regeln ver Negierung blieben erfolglos, und W. ſah ſich gendtbigt, die Miliz 
mehrerer Staaten aufzubieten, um die Ruhe wieder herzuftellen. Trotz des Zweifels, 
ver ſelbſt im Kabinet ausgefprodden worben war, erfchlenen bie Gerufenen mit 
ver größten Bereitwilligfeit und erzwangen den Bunbesgefegen Gehorfam. Ja, 
vie Feſtigkeit des Präfidenten brachte zum zweiten Mal einen Umfchwung in ber 
dffentlichen Meinung hervor, welcher bie demokratiſchen Vereine zwang, fidy wie 
ver eine Zeit lang fill zu verhalten, bis ihnen ver Vertrag, der am 19. No⸗ 
vember 1794 zwiſchen I. Jay nnd Lord Grenville gefchloffen worden war, eine 
nene Gelegenheit gab, lärmenp hervorzutreten. 

Der Ausgang der Unterhaudlung entſprach allerdings manden Erwartungen 
der Amerilaner nicht. England verpflichtete fih zwar, die Feſtungen, bie es noch 
inne hatte, zu räumen, es war ferner Vorkehrung getroffen für Weftftellung der 
usrhöftlichen Grenze und für Entſchädigung von Verluften, bie aus ver Verlegung 
ber Rechte der Neutralen hervorgegangen waren; auch wurde der Handelsverkehr 
zwifhen beiden Nationen auf eine billige Weife geregelt. Dagegen follte die 
Bundesregierung felbft die Schulden bezahlen, deren Einziehung einzelne Stoaten 
durch ihre Gefege verhindert hatten, nnd England gegenüber bie Beftimmungen 
des alten Seerechtes anerkennen; aud einige andere Anſprüche waren zurüdge 
wiefen worben. Der Vertrag bebeutete daher keinen Sieg Amerikas über England, 
er war nur ein Vergleich; aber ex gewährte den Ber. Staaten bie Möglichkett, 
fh fern zu halten vom europälfhen Krieg, in vefien Waagſchale fie doc Fein 


158 Wafhington. . 
großes Gewicht werfen konnten, und für bie innere Wohlfahrt weiter thütig 
zu fein. . 
Rad, reifliher Erwägung legte W. den Vertrag dem Senate vor, und biefer 
beftätigte benfelben; nur der 12. Artikel, weldher ven Amerilanern den gewünſchten 
Handel mit dem britifchen Weſtindien unter fehr erfchwerenden Bedingungen er- 
laubte, wurde nicht angenommen. Wie follte ſich der Präfivent ver bebingten Be⸗ 
—I gegenüber verhalten? Außerdem erregte die Verſtändigung mit England 
die Leidenſchaften im höchſten Grade. Maßlos ohne Gleichen redeten die Zeitungen 
der republikaniſchen Partei, die demokratiſchen Geſellſchaften traten wieder hervor 
und faßten die unſinnigſten Beſchlüfſſe, zahlreiche Bollsverſammlungen, die in dem 
verſchiedenen Theilen der Union gehalten wurden, verwarfen mit lärmender 
Geſchwindigkeit das Werk Jay's. Auf der andern Seite rafften ſich die Fö⸗ 
deraliſten auf, um auszuſprechen, daß ſie die Uebereinkunft billigten oder daß 
fie die Entſcheidung den Gewalten überließen, welche die Verfaſſung beſtimmt. 
Kein Vertrag der Welt hat eine ſolche Flut von Schriften und Gegenſchriften 
erzeugt. 

Wenn vie gewaltigen Stürme toben, erweist ſich der Genius. Der Präſident 
verfolgte mit der gefpannteften Aufmerkſamkeit alle diefe Kundgebungen. Er hatte 
niemals, feit er an der Spige der vollziehenden Gewalt fland, eine Krifis ger 
ſehen, vie größere Gefahren in fi barg; fie forverte eben fo wohl zu weiſer 
Befonnenkeit als zur Feftigkeit auf. Zum Unglüd kamen die Engländer ber 
DOppofition wider Willen zu Hilfe; denn fie erneuerten, gauz wit ihrem Stiege 
gegen Frankreich beſchäftigt, um biefem zu fchaben, eine Verordnung ans dem 
Jahr 1783, die fhon tamals den Iebhafteften Unmwillen der Amerikaner hervor: 
gerufen. Unterzeichnete W. jetzt dem Vertrag, fo ſchien er der engliſchen Auf- 
fefiung eines wichtigen Punktes des Böllerrechtes beizutreten, wenn er dagegen 
erft tie Zurüdnahme forderte, fo verlängerte fi der fieberhafte Zuſtand zum 
größten Nachtheil des Landes. Lesteres Uebel hielt ex mit Recht für gefährlicher, 
und er fegte daher am 14. Aug. 1795 feinen Namen unter ven Vertrag, Indem 
er zugleih Verwahrung einlegte gegen bie anftößige Verordnung und die Sus- 
penfion des 12. Artikels verlangte. 

Uebrigens wirkte der Vertrag auch mittelbar günftig ein auf die amerika⸗ 
niihen Angelegenheiten. Die nordweſtlichen Indianer waren 1794 befiegt werben, 
aber fie ſchloſſen erſt Frieven, als fie ven englifhen Rüdhalt verloren hatten 
(3. Aug. 1795). Ebenfo gab Spanien jegt nad. Es erkannte die Grenzen an, 
wie fie 1783 in dem Frieden zwilchen England und Amerika feftgefegt worden 
waren, und bewilligte die Schifffahrt auf dem untern Miffifippi fo wie einen 
Blog, wo die Waaren, nachdem fie zollfrei dahin gebracht, auf die Seeſchiffe zur 
weiteren Verſendung umgeladen werden könnten (27. DE. 1795). Dieſer Vertrag 
erleichterte wiederum den Der. Staaten das Geſchäft, mit den ſüdweſtlichen In- 
bianern zu einem DBergleih zu kommen. Auf vie wieberholte Empfehlung bee 
menfchenfreundlichen Präfiventen Hatte der Kongreß inzwifchen die Geſetzgebung 
über den Handel und Verkehr mit den Ureinwohnern nad ven Erfahrungen ver 
legten Jahre vervollfländigt und badurd die Regierung mit den Mitteln ausge⸗ 
rüftet, wirlſamer als bisher die Indianer gegen Ungerechtigkeit und Uebervorthei⸗ 
lung zu ſchützen. Die Verſuche, fie der Jagd und dem Fiſchfang einigermaßen zu 
entfremben, blieben nicht ganz erfolglos; ver Aderbau madte freilih nur lange 
fame Fortſchritte, die Viehzucht dagegen gedieh befier. Die blutige ſtriegskeule 
wanderte nicht mehr hilfeſuchend von einen Stamm zum andern, bie Streitart 











Waſhington. 169 


lag begraben, und nad einigen Jahren konnte man ſchon wieder eine Bermehrung 
der zotben Bevölkerung bemerken. 

Auch mit Algier, weldyes ſchon 1785 zwei Schiffe genommen und bie Mann- 
[haft zu Sklaven gemacht und dann 1793 mit glüdlihem Erfolg die Feindſelig⸗ 
keiten erneuert hatte, fchloß die Bundesregierung am 5. Sept. 1795 einen Ver⸗ 
tag. Ste mußte freilich die Befangenen theuer anslöfen und den Frieben er- 
taufen; aber konnten die Amerikaner, vie noch keine Flotte befahen, anders handeln, 
wenu die europäifchen Nationen das ſchändliche Treiben der afritanifhen Raub» 
ſtaaten ſich gefallen ließen? Die Uebelflände, die man erfahren, gaben Anlaß zum 
Bau von drei Fregatten, und fo wurbe der Grund ber küuftigen Seemacht ned 
unter W. gelegt. 

Auhigere Erwägung, vie Aufllärnugen ber föderaliſtiſchen Prefie, Bas Ver⸗ 
trauen auf die Rechtſchaffenheit und Weisheit des Präfidenten, ber vergeblih von 
deu regierungsfeindlichen Blättern geläftert und verleumbet worden war, hatten 
almählic einen großen Theil des Volles mit dem engliſchen Vertrag ausgejöhnt, 
Aber im Haufe der Repräfentanten kam es noch einmal zu exbitterten Kämpfen. 
Ws das Beitifge Miniftertum den Wünſchen W's. entiprodhen, machte dieſer den 
Bertrag als Geſetz des Landes befannt (Ende Febr. 1796). Nun verlangte bie 
Oppofition bie Inſtruktion und Korrefpondenz Jay's, indem fie behanptete: wenn 
zur Ausführung eines Vertrages die Mitwirkung ves Hauſes erforderlich fei, fo 
mäfje dieſes aud feine Biligung oder Mißbilligung ausſprechen können und im 
legtern Galle berechtigt fein, die Mittel zu verweigern. Nach dreiwöchentlichen Ber- 
handlungen fiegten die Republikaner mit einer ungeheuren Mehrheit (67 gegen 37). 
Über der Präfivent weigerte fi, ihr Verlangen zu erfüllen, nicht, weil Geheim⸗ 
niſſe zu verbergen waren, jondern weil die Verfaſſung für die Giltigkeit der Ber- 
träge nur die Zuflimmung von zwei Dritteln der Senatoren fordert. Daranf 
nahm das Haus mit 57 gegen 35 Stimmen vie genannte von Jefferſon erfun- 
bene Theorie förmlih an. Nah dieſen Vorgängen war faum Ausſicht vorhanden, 
daß die zur Ausführung nothwendigen Gefege gegeben werben würden, worüber 
man nun beriethb. Der Kampf der Verſammlurg feste fih im Volke fort. Bitt- 
ſchriften aus Neu⸗York, Philadelphia, Baltimore, Bofton und unzähligen andern 
Orten verlangten die Ausführung des Bertrages. Die Fboderaliſten zogen vie 
Berhandlungen abfihtlih hin, um folden Kundgebungen Zeit zu gewähren; bie 
Republilauer boten ihrerſeits alles auf, um Aeußerungen der entgegengejesten Art 
nach Philadelphia zu fhiden. Zu dem zu fürchtenden Kriege mit England drohte 
fh noch ein Bürgerkrieg zu gefellen. Aber die Mehrheit der Repräfentanten vrüdte 
nicht länger den Sinn der Mehrheit der Nation aus. Einige Bertreter wichen 
on ‚ die Fbderaliſten fiegten zulegt, und ber Bertrag warb aus⸗ 
geführt. 

Als der Kongreß ſich getrennt hatte, ſchrieb Jefferſon: „Aus feinen Hand⸗ 
Immgen tonnte man die Wahrheit vefien jeben, was ich immer gefagt. Ein Daun 
überwiegt fie alle an Einfluß auf den Geift ver Maſſen; dieſe haben fein Urtheil 
gegen ihr eigenes und das ihrer Bertreter vertheibigt.... Wolle Gott, daß 
feine Rechtſchaffenheit und feine politifchen Fehler nicht Anlaß geben, zum zweiten 
Mole zu rufen: Fluch über feine Tugenden, fie haben fein Vaterland zu Grunde 
gerichtet”. Der Führer ver Oppofttion erhielt keine Urfache mehr zu neuen Ver⸗ 
damımımgen; denn W. lehnte zum voraus eine dritte Wahl ab. Die legten Kämpfe 
hatten feine Seele noch ſtärker angegriffen als feinen Körper. Dem müden Wan- 
derer verglich er fih, der eine Ruhebauk erblidt und fich fehnt, den Leib daran 











160 Welfen. 


zu lehnen. Er durfte jegt fo fühlen und fo wünſchen. Aber geräde bie Drang- 
fale ver zweiten Präfidentichaft haben ſeinen hohen ftantsmänntfhen Beruf 
bewährt. Nur um die ſchweißbedeckte Stirn legt fih das Lorbeerreiß der Ge⸗ 
ſchichte. 

Am 4. März 1797 trat W. in das Privatleben zurück. Die Feindſelig⸗ 
keiten, zu denen Frankreich im Aerger über den engliſchen Vertrag und im falſchen 
Vertrauen auf die Stärke der Oppoſition griff, bewirkten, daß er noch einmal 
zum Oberbefehlshaber ernannt wurde. Doch es kam nicht zum Kriege, ſondern 
der Zwiſt wurde durch Unterhandlung ausgetragen. Das Ende derſelben erlebte 
W. nicht; am 14. December 1799 ward er den irdiſchen Streitigkeiten auf immer 
entrückt. Den Parteihaß hat die Zeit hinweggenommen; in dem dankbaren Herzen 
jedes echten Amerikaners lebt das unbefleckte Bild des hohen Mannes, und alle 
Freunde der geordneten Freiheit nennen mit aufrichtiger Verehrung ſeinen Namen. 

Literatur. Bon ben ſehr zahlreichen Werten nenne ih: Marsball, 
Life of W. — Sparks, The Writings of G. W. with a Life of the Author. 
— Gibbs, Memoirs of the Administrations of W. and J. Adams. — C. de 
Witt, Histoire de W., précédôe d’une étude historique sur W. par Guizot. 
— W. Irving, Life of @. W. — R. Hildreth, The bist. of the United 
States of America (bejonderd Vol. IV). — Trescott, The diplomatic history 
of the Administrations of W. and Adams. — Reimann, die Anfänge W's. 
(in d. hiſt. Ztſchr. v. Sybels, Br. IV). Die Ber. Staaten von Nordamerika im- 
. Mebergange vom Staatenbund zum Bundeöftaat. Der Aufftand der vier weſtlichen 
Grafſchaften Pennſylvaniens im Jahr 1794. W. als Präfident; erfter Theil. Bei⸗ 
träge zur Geſch. der Ber. Staaten (bie legten drei Abhandlungen fteben in den 
GSelegenheitsfchriften der Realſchule 3. heil. Geift in Breslau aus den Jahren 
1860, 1861, 1865.). | €. Reimann. 


Waſſerpolizei, ſ. Gewäſſer. 
Waſſerſtraßen, ſ. Land-und Waſſerſtraßen. 


Wie die großen weltgeſchichtlichen Dynaſtien der Hohenzollern und der 
Habsburger, fo ſtammen auch die Welfen ans Schwaben. Das welfiſche 
Geflecht hatte bereits im IX. und X. Jahrhundert zahlreiche VBefigungen in 
Dberfhwaben, Churrhätien und Tyrol. Die Namen Welf und Heinrid find 
bie althergebrachten Namen der männlichen Mitglieder dieſes Haufes. In der Zeit, 
wo ſich die Familien des Derenflanbes von ihren Hauptburgen zuerft Familien⸗ 
namen beilegten, hatte für die Welfen- Ravensburg in Schwaben bie Bedeutung 
eines ſolchen Stammſchloſſes. Welf III, genannt von Ravensburg, wurbe 
im Jahr 1074 vom Kalfer Heinrich IV. mit tem Herzogthum Kärnthen belehnt; 
mit ihm erloſch das alte Gefhleht der Welfen im Mannsftamm. Die 
zahlreichen Allodien ver Welfen gingen nun auf ven Weibsftamm über. Die 
einzige Schwefter Welfs III., Kunigunde, war die Gemahlin Azos II, Marl» 
grafen von Efte; fie widerfprad der Schenkung, wodurch Welf III. alle feine 
Hausbefigungen auf das Klofter Altvorf übertragen wollte, und nahm biefelben 
fär ihren Sohn im Anſpruch. Diefer Sohn, Welf IV., väterlider Seit aus dem 
marfgräflihen Haufe Efte entiprungen und nur durch feine Mutter Sunigunde 
ber im Mannsſtamm erlofhenen welfiſchen Familie angehörend, folgte feinem 
Oheim Welf III. in den altwelfifhen Allovien in Schwaben und Bayern und 











— 


wurde der Stifter des neuwelfiſchen Hauſes. Die Annahme älterer Schrift⸗ 
ſteller, beſonders von Leibnitz, Muratori und Eichhorn, daß das Haus Eſte 
in Italien mit dem welfiſchen einen gemeinfamen Stammvater gehabt habe, läßt 
fi hiſtoriſch nicht beweiſen. 

Welf IV. wurde 1070 mit vem Herzogthum Bayern belehnt; nad) dem Tode 
feines älteften Sohnes Welf V. des Diden kam Bayern, nebſt ſämmtlichen 
Hausgütern, auf den jüngern Schn Heinrid den Schwarzen, welcher durch 
feine Heirath mit Wulfhild, Tochter des Herzogs Magnus von Sachſen, tes legten 
Billungers, den größten Theil der ausgedehnten billungfhen Kausbefigungen, 
namentlich Lüneburg erwarb, Durch dieſe Erwerbung faßte das ſchwä— 
bifhe Geſchlecht der Welfen zuerft feften Fuß in Norddeutſchland. 
Heinrih dem Schwarzen folgte fein äftefter Sohn Heinrid der Stolze 1120 im 
Herzogthum Bayern und ven fächfifhen Hansbefigungen, welcher vurd feine Ver: 
mählung mit Gertrud, der reihen Erbtochter Kaiſer Lothar's von Supplinburg, 
die ausgedehnten braunfchweig-nertheimifhen Güter erwarb. Scmit vereinigte das 
Welfenhaus die größere Hälfte der billung'ſchen Erbgüter mit den braunſchwei⸗ 
gifhen der Supplinburger und wurde fo das mächtigſte und reichfte Geſchlecht in 
Sachſen. Dazu erhielt Heinrich der Stolze 1137 noch die fähfifhe Her- 
zogswürde und wurde mit ter Markgrafſchaft Zuscien belehnt Als er aber 
nad dem Tode feines kaiſerlichen Schwiegervaters mit ven Hchenftaufen um bie 
Königskrone rang, fank fein glückliches Geſtirn; er wurde 1138 geächtet, feiner 
beiden Herzogthümer entſetzt und farb 1139 in der Blüthe der Jahre. Bei fei- 
nem Tode war fein zehnjähriger Sohn, Heinrih der Löwe, der väterlichen 
Herzogthümer beraubt; dem Kinde war nichts geblieben, als das in Bayern, in 
Schwaben und zwifhen Wefer und Eibe gelegene väterlihe Erbgut; erfi 1143 
belehnte ihn Kaiſer Konrad III. mit dem Herzogthum Sachſen, 1156 gelang ihm 
die Erwerbung Bayerns. Auf tiefe Weife vereinigte Heinrich der Löwe bie ehe 
maligen Befigungen feines Vaters wieder in feiner Hand. Mit dem Beſitze ver 
zwei größten deutſchen Herzogthümer verband er feine ausgedehnten Familiengüter 
in Bayern und Sachſen und feine großen flavifhen Eroberungen jenfelts ver 
Elbe; jein eifrigftes Beftreben war auf vie Abrundung feines norbbeutfchen fäd- 
ſiſchen Gebietes gerichtet, viele VBefigungen Meiner Grafen und Dynaſten brachte 
er buch Kauf und Taufh an fi; feine Macht reichte bis Medlenburg une 
Bommern, zahlreihe ſlaviſche Fürften waren feine Lehnsleute. Heinrih der 
Löwe fland ‘jegt auf der Sonnenhöhe feiner Macht, von welcher er indeſſen bald 
berunterftürzen ſollte. Die ſchon lang genährte Verftimmung, welche zwifchen 
ibm und dem Haupte der Hohenftaufen, Kaiſer Friedrich I beftand, wurde zum 
vollftäudigen Bruche, als Heinrich der Löwe, taub felbft gegen die fußfälligen 
Bitten des Kaifers, ihm im Jahre 1175 die Heerfolge verweigerte. Durd die 
Eiferſucht der ſächſiſchen Großen fiel die welfifhe Macht. Bon den ſächſiſchen Bi- 
ſchöfen als Unterbrüder ihrer Kirchen angellagt, als Ungehorfamer geächtet, 
zulegt von dem größten Theile feiner VBafallen verlaffen, verlor Heinrich nad) tem 
Urtheil ver Fürſten, ta er, auf vier Reichstage geladen, nicht erfchien, alles, was 
er vom Reiche befeflen. Auf dem Reichstage zu Gelnhauſen wurde das Urtheil 
beftätigt und vollzogen. Die Herzogthümer Sahfen und Bayern wurten an Bern: 
hard von Aslanien und Dito von Witteldbach vergeben; im Jahre 1181 wurde 
er auf dem Reichötage zu Erfurt zwar der Acht entbunven, mußte ſich aber einer 
breijährigen Verbannung unterwerfen und erhielt nichts zurüd, als Braunſchweig 
und Lüneburg mit ihren Zubehörungen. In zweiter Ehe war Heinrich ter Löme 

Bluntfhli un Brater, Deutſches Staate⸗Woörterbuch. X1. 11 


Welfen. 161 





Welfen. 


Teoqeter König Heinrichs II. von England vermählt und 
— Aaavere Söhne. In England fand er gaſtliche Aufnahme. 
>. Berbanunng wurde ibm 1184 der jüngfte 

3. melder allein den alten Welfenſtamm 

‚anf englifhem Boden geboren, wo fünf 
sro fpäter einer feiner Nahlommen die Kd- 
‚a. ıragen follte Im Jahre 1185 kehrte Heinrich nad) Deutſch⸗ 
>... wahr aber von allen feinen verlorenen Reichslehen, trotz mannig- 
. Namiaungen and Kämpfe, nichts wieder erlangen; nur bie niederſächſiſchen 
nu eurer Stammes und einige Reſte der ſlaviſchen Eroberungen blieben ihm. 
Suuuı geiz and Lüneburg, mit ven bazu gehörigen Gebieten, Schlöflern 
.: Qtutiee, waren bie wictigiten ihm gebliebenen Punkte feiner ehemals fo 
j ——8 der Löwe iſt unzweifelhaft die großartigſte und glänzendſte Er- 
gene des welfifchen Stammes; ex war tapfer, großmäthig und dabei fromm, 
zu ar Rarrfinnig und leidenſchaftlich bis zum Uebermaß. Ein ſchöner Zug 
une Wirffamfeit, woburd er über viele mittelaltrige Fürften hervorragte, war 
jean mmabläffiges Beftreben, Handel, Gewerbfleig und Wohlftand in feinen Landen 
ya verbreiten; vor allem lag ihm aud die Entwidelung des ftädtifhen Bür— 
gerthbums am Herzen. Auch ven Künſten und ber Gelehrſamkeit war er zuge 
. Gr ließ fih nit von den Schlägen des Schickſals beugen, ſondern ftellte 
ſich denſelben mit männlicher Energie entgegen. (Böttiger, Heinrich der Löwe, 
Herzog der Sahfen und Bayeın 1819. 9. Prug, Heinrich der Löwe 1866.) 
Heinrih ftarb am 6. Auguſt 1195, ihn überlebten drei Söhne: Heinrich, 
Dtto und Wilhelm; Heinrih erwarb durch Verheirathung die rheinifhe Pfalz: 
grafihaft, Otto beftieg ald Otto IV. den Kalfertbron, aber beide farben ohne 
männlihe Nahlommenfhaft. Nur Wilhelm fegte den welfiſchen Stamm fort; fo 
wurden bie feit 1203 getheilten Erbgüter Heinrichs des Löwen in den Händen 
feines Enlels, Otto des Kindes, des einzigen Stammbalters 
des welfifhden Haufes, wiedervereinigt. Unter ihm erfolgte auch eine 
Umwandlung der Allovialbefigungen in ein lebnbares Herzogthbum; 
zu Mainz im Ralfergelt beugte der Welfe vor Kaiſer Friebrich IL. das Knie 1235, 
gab das Schloß zu Lüneburg mit allen feinen Herrfchaften dem Reihe zu Eigen, 
verzichtete auf das Herzogthum Sadfen und auf die Pfalz am Rhein und ſchwur 
den üblichen Lehenseid. Der Kaifer dagegen verzichtete auf feine erfauften Au⸗ 
fprüde an die Stabt Braunfhweig, legte dieſe, fammt den an ihr haftenden 
Herrlichkeiten, zu dem Schloffe Lüneburg und deſſen Gebieten, ſchuf aus beiven 
ein Derzogthum und belehnte mit dieſem am 12. Auguft 1235 Heinrichs des 
Löwen Enkel, Otto das Kind, bergeftalt, daß deſſen männlichen und weiblichen 
Nachkommen vie Lehensfolge zuftehen folle. Damit war der alte ver-» 
berblide Streit zwifgen Welfen und Staufen geſchlich— 
tet und bie ſtaatsrechtliche Stellung der Nachkommen 
Heinrichs des Töwen aufeine flare und anerlannte Form 
gebracht. Freilid war auch vie weltgefhichtlihe Berentung der Welfen auf 
Jahrhunderte hinaus befeitigt und vie Dynaſtie auf das Kleinleben eines mittleren 
deutſchen Fürſtenthums befchräntt. 
Otto das Kind ſtarb 1252, das neugeftiftete Herzogthum 
Braunfhweig-Füneburg kam an feine beiden älteften Söhne Albrecht 
und Johann, welche nad der Sitte der damaligen Zeit ihre Lande 1267 


* 


Weifen. 163 


theilten. Johann erhielt Lüneburg und ftiftete dag alte Hans Lüneburg, 
welhes 1369 im Mannsftamm erloſch; feine mannigfach vermehrten Befigungen 
fielen, nad langen Erbitreitigleiten mit dem Haufe Sachſen, an die Linie 
Albrechts oder das alte Haus Braunſchweig. 

Albrecht der Öroße, der Stifter des alten Haufes 
Braunſchweig, tbeilte feine Lande unter feine drei weltlihen Söhne Hein- 
rich, Albrecht und Wilhelm. Heinrih der Wunderliche erhielt Oru— 
benhbagen und wurde Stifter der grubenhagenfhen Tinie, Albrecht der 
Teifte bekam Göttingen und wurbe Stifter ter göttingifhen Linie, Wilhelm 
befam Braunſchweig und Wolfenbüttel, ftiftete aber feine Einie, fondern ftarb kinder⸗ 
08; nad) langen Streitigkeiten erhielt endlich Albrecht der Feiſte den größten Theil, 
befonders Braunfchweig und Wolfenbüttel, nur einige geringere Befigungen kamen 
an Grubenhagen; fo theilte fih denn von nun an die braunſchweigiſche Haupt: 
linie Albrehts des Großen in zwei Unterlinien zu Örubenhbagen und zu 
Göttingen, 

Die grubenhagenfhe Linie erlofh nah vielfaden 
Subpipviftionen im Jahre 1598. Bon Albredt dem Feiften 
gingen zwei Linien aus, die göttingifde Spectallinie, melde fein 
Sohn Ernſt begründete, und die braunſchweigiſche, weldhe von deſſen Bruder 
Magnus]. oder dem Frommen geftiftet wurte. Die göttingifche Linie 
erlofh 1463 mit Dtto Cocles. Der einzige Fortfeger des welfifchen Namens 
wurde Magnusll. TZorquatus zu Braunfhweig, der Stamm- 
vater der beiden mittlern Häufer Braunfhweig und 
!üneburg. Die von den drei Söhnen vesfelben, Friedrich, Bernhard und 
Heinrich, mit den Landſtänden verabrevete Untbeilbarfeitöverorpnung 
vom Jahre 1374 wurde fpäter wieder umgeftoßen, im Jahr 1428 kam nad dem 
Tode Friedrichs ein neuer Erbtheilungstraftat zwifhen Bernhard und feinen 
Neffen, Heinrichs Söhnen, zu Stande; Herzog Bernhard erhielt zu feinen An⸗ 
theil das läneburgifche Fürſtenthum mit allen Pertinenzien, die Söhne Heinrichs 
das braunfchweigifhe, kalenbergifhe und hannöveriſche Land mit feiner Zube- 
börung. Durch diefe Theilung entflanden zwei Linien, die mittlere braun 
ſchweigiſche und die mittlere lüneburgifde. 

In der mittleren braunfchweigifhen Linie famen abermals Subpivifionen vor, 
bis der Brüdervertrag vom 16. November 1535, das Pactum Henrico-Wil- 
beiminum, zu Stande kam, durch welches Untheilbarkeit und firenge Linealprimo⸗ 
genliar eingeführt wurde. Seitpemift pie Primogenitur in diefer 

inte unverbrüchlich beobadtet worden. Der bebeutendfte Fürft 

| diefer Linie war Herzog Julius, welder zur evangelifhen Kirche übertrat 

| (1568 — 1589) und die Univerfität Helmftäpt ftiftete; jedoch erlofch bereits mit 

feinem Enkel Friedrich Ulrich im Jahr 1634 das mittlere Haus Braun» 

ſchweig oder die Linte Heinrichs, des jüngern Sohnes des Diagnns II. Zorqua- 

tus. Die fänmtlihen Lande fielen nun an das mittlere Haus Yüneburg und 
wurden zwiſchen deſſen verſchiedene Linien getheilt. 

Durch den oben erwähnten Theilungsvertrag zwiſchen Bernhard und ven 
Söhnen Heinrihs von 1428 hatte Bernhard, ver ältere Sohn des Magnus 
Torquatus, das Herzogihum Lüneburg erhalten; in dieſer Linie fanden wie- 
derum mande Subdivffionen flatt, bie Ernft der Bekenner, welder 1530 
zur evangeliſchen Kirche übertrat, wiederum das Fürſtenthum Lüneburg als allein 
segierender Herr vereinigte. Es it ver nähfte gemeinfame Stamm» 


11* 





164 Welſen. 


vater der beiden gegenwärtig noch beſteheuden Haupt- 
Iinien des welfifhen Haufes Während in ver wolfenbüt- 
telfhen Linie, durch die Weisheit erlauchter Fürften, Das Recht der Untheil⸗ 
barkeit und Erftgeburt unzweifelhaft feftftand, fehlte es in Tüneburg in tiefer Be- 
ziehung an ber rechtlichen Grundlage einer georoneten Hausverfaflung. Wenn beim 
Zode des regierenden Herrn mehrere gleihberechtigte Erben vorhanden waren, fo 
blieb nichts übrig, als Thellung oder Geſammtregierung, falls nidt eine freie Ber- 
ſtändigung anders erzielt werden konute. Eine folhe fand unter ven beiden über: 
lebenden Söhnen Ernft des Belenners, Heinrih und Wilhelm, im Jahre 
1569 ftatt. Darnach erhielt der jüngere Cohn das Fürſtenthum Lüneburg als 
alleiniger Regent, während ver ältere fi mit dem Amte Dannen- 
berg begnügte Durd ven Bergleid von 1559 und die daran 
fih fhließenden weiteren Berträge ſchied fih das mitt- 
lere Haus Tüneburg bleibend in zwei Finden. Die Folgen 
dieſer Theilung befteben bis aufpen heutigen Tag. Hein 
rich zu Dannenberg wurde der Stammvater des neuen Haufes Braun- 
ſchweig, t. h. der regierenden berzoglicyen Linie, Wilhelm zu Cella fiftete das 
neue Haus Tüneburg, d. h. die Königlich großbritannifhe und hannö⸗ 
verifche Tinte. 

Wir verfolgen nun bie Hausgefchichte diefer beiden bis auf ten heutigen 
Tag getrennten Linien nacheinander. 

1. Das neue Haus Braunfhweig oder die Linie Hein- 
richs zu Danneberg, die jegt regierende berzoglide 
Tinie Brauufdhmweig. 

Heinrich, der Gründer dieſer Linie, obgleich der ältere Sohn, hatte fih mit 
dem Amte Dannenberg abfinden laffen. Als aber im Jahre 1637 die ganze wolfen- 
büttelfhe Linie abging, gelang es feinem Sohne Auguft, durch einen Erb- 
tbeilungsreceß von 1635 und 1636 das Fürſtenthum Wolfenbüttel zu erhalten 
und in die Reihe der vegierenden Herren zu treten. Durch bieje Theilungsurkunde 
wurde der Länderbeſtand zwifchen ven beiden Linien bleibend georpnet und da 8 
jegige Herzogthbum Braunfhweig- Wolfenbüttel begrün- 
det." Von 1569 —1635 gab es nur eine abgefundene dannenbergiſche, feit 1635 
eine regierende braunfchweig-wolfenbättelihe Lintee Schon Auguſt, der Stamm⸗ 
vater der jegigen wolfenbüttel’fhen Linie, welcher durch ten Bertrag von 1635 
tas Fürſtenthum Wolfenbüttel erworben hatte, behauptete das Recht der Erftgeburt 
und erhielt e8 in feiner Linie, Indem er das in ber abgeſtorbenen alten wolfen: 
büttelfhen Linie eingeführte Pactum Henrico-Wilhelminum von 1535 als aud 
für feine Defcendenz geltend anfah. In der neuen wolfenbüttel'ſchen Linte tft auch 
das Recht der Erftzeburt von Anfang an beobachtet worden; die einzige Ausnahme 
bildet die Zutheilung der Graffhaft Blankenburg an den zweiten Sohn 
Anton Ulrihs, Ludwig Rudolf, mit wirklihen Regierungsrehten (1707—1731), 
eine Abweichung, die auf einem ganz befondern Vertrage beruhte und bald wieder 
aufbhörte; dagegen kann die Zuweiſung von Bevern an Ferdinand 
Albrecht nicht ald Verlegung des PBrimogeniturprincips betrachtet werben, da 
bier tie weientlihften Regierungsrechte der erftgebornen Linie verblieben. 

Bemerkengwerth iſt, daß ein Sprößling der wolfenbüttelſchen Linie auf kurze 
Zeit ven ruſſiſchen Thron beftieg. Prinz Anton Ulrich, welder mit Anna 
Karlomna, Regentin von Rußland vermählt war, ſah 1740 feinen Sohn als 
Swan III. auf ven ruffiihen Thron, 1741 in ben Kerter Schläffelburg fteigen. 


Welfen. 165 


Einen gefchichtlihen Namen ale Feldherr erwarb fi dann ber burd feinen 
tragifhen Ausgang befannte Karl Wilhelm Ferdinand, welder von 
1780—1806 über Braunſchweig regierte. Dur den Reichsdeputationshauptſchluß 
erwarb er bie Abtein Gandersheim und Helmftäpt für fen Haus; ihm 
folgte fein Sohn Friedrich Wilhelm zu Braunfhweig-Dels!), 
Allein die braunſchweigiſchen Stammlande gingen ihm durch die Folgen des 
unglädlichen Krieges verloren; von 1807—1813 war das Herzogthum Beſtand⸗ 
theil des Königreihs Weftphalen, 1813 Tehrte Friedrich Wilhelm in fein Herzog⸗ 
thum zuräd, fiel aber bereit8 1815 in der Schlacht bei Ouatrebras, mit Hinter: 
laſſung zweier unmünbiger Söhne, Karl und Wilhelm. 

‚Das Gebiet des Herzogthums Braunfchmweig, wie dasjelbe durch die welfifchen 
Ländertheilungen zufammengebradht und wie e8 vor dem Kriege von Karl Wilhelm 
Ferdinand befefjen war, ging unveränbert aus der Vertheilung der deutſchen Terri⸗ 
torien anf dem Wiener Kongrefie hervor. Da beim Tode des Herzogs Friedrich 
Wilhelm 1815 fein erftgeborner Sohn Karl noch unmünbig war, fo übernahm 
der PBrinz-Megent von Großbritannien, nachheriger König Georg IV., als nächſter 
Agnat und kraft väterlichen ZTeftamentes, über die beiden minderjährigen Prinzen 

« Karl und Wilhelm, die Vormundſchaft und damit zugleich die Regierung des 
brammfchweigiichen Landes. Am 30. Dftober 1823 trat Herzog Karl vie Regie 
rung feines Landes an, erhob aber heftige Beſchwerden gegen die vormunbfchaft- 
fihe Regierung, weil diefe während feiner Minverjährigfeit durch die erneute Land⸗ 
Ihaftsordnung vom 5. September 1823 eine Berfaffungsändperung 
vorgenommen babe, wozu fein Bormund berechtigt fe. Dur fein berüchtigtes 
Erift vom 10. Mai 1827 erklärte Herzog Karl: „daß bie während feiner Minder- 
jährigfeit gefaßten Negierungsbefhlüffe und erlaflenen Verordnungen nur infofern 
für ihn eine rechtliche Verbinplichkeit zu probuciren vermöchten, als nicht dadurch 
über mwohlerworbene Regenten- und Eigenthumsredhte disponirt worben ſei.“ 

Er verfannte damit den feftftehenden ſtaatsrechtlichen Grundfag, daß der vor: 
munbfchaftlihe Regent alle Regierungsrechte flatt des fninverjährigen Landesherrn 
in voller Vertretung desſelben auszuüben berechtigt und verpflichtet ift, inſofern 
bie pofitive Verfaſſung feine Befchränfungen enthält, felbft Berfaffungsverän- 
derungen auf verfafiungsmäßigem Wege find nicht ausgefchloffen. Diefer Anficht 
war auch die Bundesverfammlung und nöthigte unter Androhung von Bundes- 
erefutirn den Herzog, feine Erflärung vom 10. Mat 1827 zurüdzunehmen. 
Immer mehr häuften fi die Klagen über den Herzog Karl; Verlegung der Re- 
gentenwärbe, Eingriffe in ven Gang ver Juftiz, Willfür jeder Art brandmarkten 
feine Regierung. Am 6. und 7. September 1830 brach ein Aufftand aus, welder 
den Herzog Karl zur Flucht beftimmte. Am 10. September traf fein Bruder Her- 
zog Bilhelm von Dels in Braunfhweig ein, vie Landſchaft erfudhte ihn am 
27. September, daß er die Regierung übernehmen möge, „bei der anf die Grund⸗ 
füge des allgemeinen Staatsrechts geftügten Unmöglichkeit, daß der Derzog Karl 
bie Regierung fortfege". 


%) Das Fürftentfum Oels in Schlefien kam durch Marta Elifabetb aus dem Haufe 
Münfterberg:Dels auf ihren Gemahl Sylvius Nimrod von Würtemberg und blieb 
in deſſen Manneſtamm bis zum Jahr 1795; der feßte Herzog von Würtemberg⸗Dels, Karl 
Chriſtian Erdmann erwirkte 1785 eine Eventualbelehnung für feinen Schwiegerfohn Friedriich 
Auquſt von Braunfchweig und defien Neffen Friedrich Wilhelm, kraft Diefer Eventualbelehnung 
tam Deis 1795 auf Friedrich Auguft und 1806 auf Friedrich Wilhelm von Braunfchweig, den 
Bater des jept regierenden Herzogs, der zugleich Fürſt von Oels iſt. 


— 








166 Weifen. 


Am 28. September erlich Herzog Wilhelm ein Patent, worin er ſich zur 
einftweiligen Uebernahme der Regierung bereit erflärte, am 26. November ſprach 
er in einem neuen Patent aus: „daß er vie Regierung des Landes fortjegen 
werde, weil fein Bruder fih außer Stand befinde, vie Regierung zu führen und 
weil er felbft, als nähfter Agnat, verpflidtet und berechtigt fei, bei ber der⸗ 
zeitigen Lage die Dinge für des Landes Wohl zu forgen und feine eigenen Rechte 
wahrzunehmen“. Hierauf befhloß vie Bundesverfammlung am 2. December 1880: 
„den Herzog Wilhelm zu erfuhen, die Regierung bis auf weiteres fortzuführen, 
jowie den berechtigten Agnaten des Herzogs Karl anheimzugeben, diejenige Defini- 
tivanordnung für die Zukunft zu treffen, welche bei dieſem beflagenswerthen Stande 
der Dinge die dauernde Ruhe und gefeglihe Orbnung im Herzogtum Braun⸗ 
ſchweig erheifcht, in Gemäßheit der berzoglih braunſchweigiſchen Hausgefege und 
des in dentſchen und andern fouveränen Staaten üblichen Herkommens zu berathen 
und zu bewirken, fowie auch eine baldige Benachrichtigung über die in folder Art 
getroffene Feſtſtellung dem deutſchen Bunde zur Anerfennung zukommen zu laflen.” 

Am 10. März 1831 wurde die von Hannover und Braunſchweig ansgehende 
agnatifhe Anordnung zur Anerkennung vorgelegt, wonad; vie Agnaten: „bei der 
abfoluten Regierungsunfähigkeit des Herzogs Karl die Regierung für erlebigt 
erflärten” , in Folge deffen die Regierung „pefinitto auf Seine Durchlaucht den 
Herzog Wilhelm von Braunfhweig-Lüneburg-Dels, in Höchſtihrer Eigenſchaft ale 
nächſter Agnat, mit allen verfafiungsmäßigen Rechten und Pflichten eines regie- 
renden Herzogs von Braunſchweig übergegangen fei”. Dur eine ausführliche 
Darftellung der Regierungshandlungen des Herzogs Karl fuchte man die Behaup⸗ 
tung der abfoluten Regierungsunfähigteit zu begründen. 

Geſtützt auf dieſe agnatifche Anordnung trat Herzog Wilhelm am 20. April 
1831 die Negierung aus eigenem Recht an. Nah fehr umfaflennen, 
ſtaatsrechtlich intereſſanten Ausführungen, wobei Hannover die agnatiſche 
Dispoſition ausführlich zu rechtfertigen ſucht und Preußen ihm beitrat, 
Defterreic dagegen feine Unzufriedenheit offen ausſprach, erklärte am 11. Mat 
1831 die Bundesverfammlung : „fie finde ſich veranlaft, diefen Vorgang in ihre 
Protofolle zu verzeihnen und den Bundesregierungen bie Beurtheilung desſelben 
und alles weitere anheimzuftellen, dabei aber ausprüdlid zu bemerken, daß durch 
diefe, ohne Zutbun des durdlaudtigen Bundes vollzo- 
gene Anordnung feinen begründeten Rechten und insbe- 
fondere niht ven Succeffionsredten einer etwaigen 
Defcendenz des Herzogs Karl präjudicirtwerbenftönne.” 

Damit ceffirte die Thätigkeit des Bundes in dieſer Angelegenheit und Herzog 
Wilhelm blieb ungeftört in ver Ausübung feiner Tandesregierung. Eine nähere 
Einfiht der betreffenden Verhandlungen des Bundestages widerlegt die Anficht, 
daß der Bund fih in dviefer Angelegenheit dag Abſetzungsrecht eines 
deutſchen Souveräns, megen abfoluter Regierungsunfäbigteit beigelegt oder ein ber- 
artiges Recht der Agnaten ausdrücklich anerfannt habe, wie dies ZB pfl in feiner 
Gelegenheitsſchrift „vie Eröffnung der legitimen Thronfolge als rechtliche Folge 
des Mißbrauchs der Stantsgewalt, 1833" behauptet; vielmehr fand im Schooße 
ber Bundesverſammlung hierüber eine große Meinungsverſchiedenheit 
ftatt und der Bund enthielt fi jeder officlellen Billigung des eingefchlagenen 
Verfahrens, indem er fih damit begnügte, den Vorgang protokollariſch zu ver- 


zeichnen. 


Am 19. Oktober 1831 wurde zwiſchen Herzog Wilhelm von Braunſchweig 














Welfen. 167 


und König Wilhehn von Großbritannien und Hannover ein Hausgeſetz 
„die Bermählungen in dem Gefammthaufe Braunfchweig betreffend” vereinbart, 
weiches von allen Agnaten, mit Ausnahme des Herzogs Karl, genehmigt wurde. 
Durd) dieſes Dansgefeg wurde die Einwilligung des regierenden Chefs ber Linie 
für die Ehen ver Prinzen und Prinzeffinnen des Hauſes Braunfhmweig für noth- 
wendig erflärt; Kinder aus einer Ehe, welche ohne feierlich erfolgte Cinwilligung 
bes regierenden Herrn eingegangen worben jet, folten fucceffionsunfähig 
fein. Am 5. April 1833 wurde durch eine neue agnatifche Anordnung Herzog 
Karl unter eine Familienturatel gefiel. Mit den beiden kinderloſen 
Drütern, Karl und Wilhelm, wird verausfihtlid ver ältere welfiihe Zweig, vie 
regierende Linie zu Braunfchweig, erlöfchen. 

I. Das neue Haus Lüneburg oder die Töniglide 
Linie von Öroßbritannien-Hannover 

Durch den obenerwähnten brüberlien Bergleih von 1569 war der jüngere 
Sohn Ernft des Belenners, Wilhelm, im Befig des väterlihen Fürſtenthums 
geblieben und wurde der Stammpater- des neuen Hauſes Lü— 
neburg; er binterließ fieben Söhne. Kein Hausgefeg, feine väterlihe Verfügung 
ordnete die Succeffion in der Täneburgifchen Linie Durch eine brüderliche Ver⸗ 
einbarung wurbe bie Regierung dem älteften Sohne Ernft II. auf 18 Jahre über- 
lofien, auf Ernft folgte der zweite Bruder Chrifttan, welder 1611 mit feinen 
Brüdern die Uebereinkunft witderholte: „daß ausfchlieglih auf den älteften Erben 
die Ianbesherrlihe Gewalt übergehen und jede Erbtheilung ausgefchloffen fein ſollte.“ 
Auch follte nur einer der Brüder, welcher durch das Roos zu beflimmen fei, hei⸗ 
ratben; das Loos entſchied für Georg, den vorjüngften, deſſen Defcenvenz vie 
lüneburg-kalenbergifhen Lande vereinigte. Georg erhob zuerfi die Stadt 
Hannover zur Refidenz. Herzog Georg, welcher 1641 mit Hinter- 
lofiung von vier Söhnen farb, hatte in feinem Teſtament über die Nachfolge 
Beſtimmungen getroffen, welche ale ewiges Hausgefer gelten follten. Der 
erfte Grundſatz dieſes Teftamentes war, daß Kalenberg und Eella, fo 
lange nod zwei Söhne oder Defcenventen zweier Söhne am Leben fein würden, 
befondere Yürften haben follten, daß man beide Fürſtenthümer, foviel wie möglich, 
einander glei fegen und dem älteren Sohne bie freie Wahl, das fogenannte 
jus optionis, vorbehalten follte. 

So wurbe durch dieſes wunderlihe Teftament Georges die Zweithei- 
lung ber lüneburgifchen Lande hausgeſetzlich fanktionirt; es entftanden nun zwei 
Linien, die cellatfhe und die hannöveriſch-kalenbergiſche, 
welche eine Zeit lang neben einander beftanden. 

Allein nur der jüngfte Sohn Georgs, Ernft Auguft, welder feit 1679 
regierender Herr von Kalenberg geworben war, pflanzte durch feine Bermählung 
mit Sophie, des Kurfärften Friedrich V. von der Pfalz Tochter, allein den 
Mannsftamm feines Baters fort. Ernft Auguſt war erfüllt 
von dem Gedanken, vie Größe feines Haufes feft zu begründen und basfelbe zu 
erneutem Glanze zu erheben. In viefem Beftreben gelangen ihm zwei wichtige 
Schritte, vie Einführung der Primogenitur und pie Erwer- 
bung der Kurwürde. Der ältefte Bruder Georg Wilhelm zu Cella hatte 
ansprüdlih auf ebenbürtige Vermählung verzichtet und war ohne Manneserben 
geblteben. So war feine Zuftimmung zur Einführung der Primogenitur zu erreichen. 
Diefe erfolgte durch das mit bräderlicher Einwilligung 
errichtete, am 1. Iuli 1683 kaiſerlich beftätigte Tefta- 





168 Welfen. 


ment Ernft Auguſts (zum erfien Mal veröffentiht m H. Schulze's« 
Hausgefegen Br. I, S. 474). Mit viefem Gefege der Primogenitur war eine fo 
fihere Grundlage für die Erftarfung des welfiihen Haufes gegeben, daß Ernft 
Auguft darauf noch kühnere Pläne bauen konnte. Nah langen Verhandlungen, 
wobei er die Gunft der Verhältniffe beftens zu benugen verftand, erreichte 
eram 9. December 1692 die feierlide Belehnung mit der 
neunten Kurwäürde, welde freilih erft 1708 durd ein Reichsgutachten 
beftätigt wurde. Auf Ernft Auguft, ven erften Kurfürften von Hannover, folgte 
1698 fein Sohn Georg Ludwig, welder 1705 aud feinen fühnelofen Oheim 
Georg Wilhelm zu Cella, beerbte. Durh den Tod von Georg Wilhelm verlor 
das Lüneburger Land, als gefondertes Fürftentbum, feinen legten Regenten; bie 
fürftlide Nefivenz von Gella war für immer verwals. Georg Wilhelm 
vereinigte ſomit pie ſämmtlichen Lande des neuen Hau— 
fes Lüneburg oder der Linie Wilhelms, des jüngern Soh— 
nes Ernſt des Bekenners. Seitdem ſind in dieſer Linie 
nie mehr Landeſstheilungen vorgekommen. 

Nachdem fo dem Vater Ernſt Auguſt gelungen war, die Kurfürftenwärde 
und damit die vornehmfte Stellung unter den Reichsfürſten und die königlichen 
Ehren feinem Haufe zu erwerben, fiel feinem Sohne die glänzentfte Königskrone 
Europa’8 zu. AUusdemengen Kretife feiner Stammlande trat 
dadurch das Haus Hannover auf den größten weltge- 
ſchichtlichen Shauplagp. - 

Schon 1688 war in Großbritannien ein Parlamentsakte erlaffen, wodurch 
alle, welche mit dem Papfte in Verbindung ftehen, ſich zur katholifhen Religion 
befennen oder eine Perfon katholiſchen Glaubens heirathen würden, für unfühlg 
erffärt wurden, vie englifhe Krone zu erlangen und zu befigen. In einem folden 
alle follte die Krone fofort auf vie nächſten proteftantifchen Succeffionsbered- 
tigten übergehen. Um die Thronfolge feft zu regeln, wurde nad dem Tode bes 
einzigen noch lebenden Kindes der Königin Anna, im Jahr 1700 eine neue Par- 

lamentsakte abgefaßt, wodurch die Thronfolge, nad Ableben des Könige Wils 
helm III. und der Prinzeffin Anna, lediglich der damals noch lebenden jüngften 
Tochter der Kurfürſtin Elifabeth von ter Pfalz, als Enkelin Jakobs I. und ihren 
leiblichen Nachkommen, vorausgefegt, daß fie Proteftanten feien, übertragen wurde. 
Dur tiefe neue Alte wurde nicht nur die Linie Karls I., die nächſte Parentel, 
von der Thronfolge ausgefchloffen, fondern dieſe wurde auch in der folgenden 
Parentel der Linie Jakobs I. ſehr befhränktt. Diefe Linte war außer burd 
Karl I. nur dur die ältere Schwefter des Leutern, Eliſabeth von der Pfalz, 
fortgefegt worden. Von der Defcendenz der Söhne Elifabeths waren aller 
dings mehrere Glieder vorhanden, welche ven Borzug von der Defcenvdenz einer 
Tochter gehabt haben würden, aber auch fie waren ſämmtlich katholiſch. Es eri- 
ftirten alfo im Jahr 1700 in der That Feine weiteren proteftantifchen Nachkommen 
ber Kurfärftin Elifabeth, als ihre jüngfte Tochte Sophia, Gemahlin Ernſt 
Auguſts, des erften Kurfürften von Hannover; fie ſah bei ihrem Tode im Jahre 
1714, wo fie bereits 84 Jahre alt war, den Anfall der englifhen Krone auf 
ihren älteften Sohn mit Gewißheit voraus. Am legten Oktober 1714 wurde Kur- 
fürft Georg Ludwig als König von Großbritannien gefrönt und nannte ſich 
Georg I. Mit ibm beftieg das Haus Hannover den eng- 
lifhen Thron und fiedeltenah England über. 

Für die Vergrößerung feiner deutſchen Etammlande forgte Georg I. tur 








Welfen. 169 
die Erwerbung ver Herzogthümerr Bremen und Berden, weldhe feit bem 
weftphälifden Frieden ver Krone Schweden gehört hatten. 

Georg L, erſter König von Großbritannien aus dem Haufe Hannover, ftarb 
am 22. Juni 1727; ihm folgte fein einziger Sohn Georg II. 1727—1760; 
vor legterem farb fein erfigeborner Sohn Friedrich Ludwig, Prinz von Wales 
1751. Daher folgte auf Georg II. fein Enkel, der erfigeborne Sohu Friedrich 
Ludwigs, Georg III. 1760—1820. 

Die Erwerbung der großbritanntfhen Krone hatte auf die dentſchen Stamm» 
lande in taatsrehtlider Hinſicht feinen Einfluß, indem Großbri- 
tannien nnd Hannover ganz getrennte Staaten blieben, welche lediglich durch vie 
Perfon des gemeinfamen Monarden vereinigt waren, eine reine Berfonal« 
unton, welde nur fo lange dauern fonnte, als tie großbritanniiche und bie 
bannoverifhe Succeffionsorbnung denſelben Nachfolger auf den Thron berief. 

In ihren fürſtenrechtlichen Beziehnngen richteten fi die Prinzen 
des Hanfes Hannover vielfah nad englifhen Geſetzen und Gewohnheiten. Da 
von den englifhen Königen die. firengen Ebenbürtigkeitsgrundſätze bes beutfchen 
Fürftenrechts nie anerfannt wurden, fo emancipirten fi auch die Prinzen bes 
Haufes Hannover von diefen Schranfen. Das berühmte Gefeß für die Heirathen 
in der Löniglihen Familie, Royal marriage act von 1772, ſpricht nur vou ber 
Nothwendigkeit der föniglihen Genehmigung, nicht der Ebenbürtigkeit bei den Ehen 
ber Mitglieder des großbritannifhen Königshauſes. Natärlih konnte diefe Parla- 
mentsafte feinen Anſpruch auf Gültigkeit in Hannover maden und fo lebte das⸗ 
felbe Herrſcherhaus in verſchiedenen Fandern nad verfchiebenen Hausgeſetzen, ein 
Dualisnns, welcher fpäter zu manden Streitigleiten Veranlaflung gab 2). 

Bis zum franzöftihen Revolntionstriege fanden weder wichtige Gebietserwer- 
bungen, noch ſtaatsrechtliche Veränderungen ftatt. Der Reichsdeputationshauptſchluß 
vom 25. Yehruar 1803 ränmte dem Kurfürften von Hannover das Fürſtenthum 
Dönabrüd erblich ein. Allein fchon 1803 wurden die Kurlande durch bie Fran» 
zofen offupirt und hatten bi8 zum Jahr 1814 wechſelnde Schickſale. Nah dem 
Sturze der franzöfiihen Herrſchaft trat das englifche Königshaus wieder in den 
Befitz feiner deutfhen Stammlande. Am 12. Oktober 1814 erfolgte die Mitthei- 
lung an den Wiener Kongreß, daß der Prinz-Regent feine deutſchen Lande zu 
einem Königreih Hannover erhoben habe. In Gemäßheit der Wiener Schiuf- 
alte erhielt Hannover Hildesheim, Goslar, Oftfriesland, Aremberg-Meppen, 
Angen und einige andere Gebietötheile. Damit war der Yänpderbe- 
and des Königreihs Hannover fefgeftellt. 

Georg II. ftarb am 29. Januar 1820; der Prinz-Negent nahm nnter dem 
Namen Georg IV. den Königstitel an und farb 1830. Ihm folgte fein Bruder 
Bilhelm IV., 1830—1837, deſſen Regierung für Hannover durch das fogenannte 
Staatsygrnundgefen oder das Grundgeieg für das Königreih Hannover 
vom 26. September 1833 epochemachend wurve. Das zweite Kapitel des Staats- 
grundgefetges handelt von dem Könige, ver Thronfolge und der Negentihaft, fo 
daß dasſelbe au für die Hausverfaffung ein wichtiges Fundament bilbet. 
Die weitere Feſtſetzung berfelben erfolgte durch das Königlihde Hausgefeg 


— — — — — — 


2) Vergl. die Schriften üher die Anſprüche des Prätendenten Auguſt von Eſte: befon- 
vera 8. F. Eichhorn, Prüfung der Gründe, aus weldhen die Rechtögültiafeit und tie Standee⸗ 
mäßigkeit der Ehe des Herzogs von Suſſer ınit Lady Augufte Murray behauptet worden if, 
1835. R Mopl, die Anſprüche des Oberflen Sir A. D’Efle auf Thronfähigkett. 1835. 


170 Welfen. 


vom 19. Rovember 1836, „wodurch alle entgegenſtehenden 
Hausgefege, Geſetze und Einrichtungen, infoweit fie das thun, aufgehoben wurden.“ 

Durch das Hausgefeg von 1836 wurde die Throufolge auch für den bevor- 
ſtehenden Fall der Zrennung der großbritannifhen von ber baundverifhen Krone 
geordnet. 

Ale Kinder Wilhelm's IV. waren vor ihm verftorben, bie großbritannifche 
Krone fam nun auf vie Defcendenz des folgenden bereits verftorbenen Bruders, 
Herzogs Eduard von Kant, und zwar auf deſſen Tochter Viktoria, geb. 
1819, da nad der englifchen Thronfolgeorpnung die ältere Linie auch durch 
Töchter repräfentirt wird; in Hannover dagegen war nad deutſchem Yürften- 
reht Ernft Auguft, Herzog von Cumberland, Bruder Königs Wilhelms IV. 
der zunäd fi berufene Agnat. 

Mit dem Tode Wilhelm’ IV. am 20. Juni 1887 war die jeit 123 Jah⸗ 
ren beſtehende Perfonalunton zwifhen Großbritannien und Hannover gelöst. 

Mit ver Trennung von Großbritannien ſchien Hannover fo ‚recht erft für 
Deutihland gewonnen und eine Aera jelbftänviger ftaatliher Entwidelung zu be- 
ginnen. Über diefe Hoffnung wurde aufs bitterfie getäuſcht. Ernſt Auguſt ver- 
nichtete das rechtmäßig zu Stande gelommene, in voller Wirkfamleit ſtehende 
Grundgeſetz, das Werk reifer Berathungen, das fhönfte Ehrendenkmal feines könig⸗ 
lihen Bruders, welches dem Volke Ordnung und maßvolle Freiheit gleihmäßig 
verbürgte. Diefen Rechtöbruch hat das gefammte Bewußtfein der deutſchen Ration 
und bie deutſche Rechtswiſſenſchaft einftimmig verurtheilt. Durd bie in dem Pa⸗ 
tent vom 5. Juli 1837 ausgefprochenen Anſichten wurben bie ehrwürdigſten 
Fundamentalfäge des deutſchen Stantsrechts ſchwer verlegt. Der Staatöftreih von 
1837 war der fehwerfte Schlag, welcher dem monarchiſchen Princip in Deutfd- 
land beigebracht wurde. Willkür häufte fih auf Willkür; mit demſelben Ueber⸗ 
mutb, wie der Vater, zertrümmerte der Sohn durch feine Ordonnanzen vom 
1. Auguſt 1855 und 7. September 1856 das PVerfaflungsgefeg vom 5. Sep- 
tember 1848, vefien Aufrehterhaltung er zweimal feierlich gelobt, widerſetzte fi 
in dynaſtiſchem Stolze felbft den maßvollſten Anforverungen des Staates, welcher 
berufen ift, DaB große Werk ver deutſchen Einigung zu vollziehen, und forderte 
durch fein verbiendetes Pochen „auf das bis an das Ende aller Dinge 
dauernde Welfenreih” die Nemefis herans, deren Hand im Sommer 1866 bie 
undeutſche Politik des Welfenhofes endlich ereilte.e Das Welfenreich iſt 
ausgeldöfht aus der Reihe ver deutſchen Staaten, wahrlid 
nit zum Schaben des. hannöverifhen Volkes, wohl aber zum Segen des deutſchen 
Einheitswerkes, deſſen zähefte Gegner feit acht Jahrhunderten vie Welfen ge- 
weien find, fo dag ihr Name zum mittelalterigen Barteinamen ber Feinde 
ber Reichseinheit geworden if. Was den Hohenftaufen nicht gelang, iſt in unfern 
Tagen den Hohenzollern gelungen; fie haben durch veietigung des zähen wel- 
fiſchen Partikularismus die größte politifche Aufgabe der Gegenwart, die Her- 
ftellung eines deutſchen Nationalftaates, ihrer Erfüllung um ein gutes Städ 
näher geführt. 

Bald ſcheidet wahrfcheinlih das Haus der Welfen für immer aus der Reihe 
ber regierenden Häuſer Europa’s. Die beiden legten Sprößlinge des 
älteren Zweiges find bejahrte finverlofe Männer. Die erhabene Trägerin der groß- 
britannifhen Krone gehört allerdings für ihre Berfon ber jüngern Linie des 
welfifchen Haufes an, aber mit ihrem Tode wird in dem Prinzen von 
Wales eine neue Dynaflie, das Haus Sahfen-Koburg-Öotha, 


Wellington. 171 


ben Throm befteigen; der ehemalige König von Bannover und fein Sohn werben 
trog wiederholter Brotefte, vielleicht in der großbritannifchen Pärte einen beicheinenen 
Troft für die verwirfte kontinentale Krone finten. Aus dem bannöverifchen Volle 
aber wird ein lebendiges Glied im Organismus des neuen Deutfhlands 
werben, welches fid) nach einem großen gefhichtlihen Naturgefeh auf ten Trüm⸗ 
mern überlebter Partitularitäten aufbauen wird. 

Literatur. Urgefchichte des erlauchten Haufes der Welfen (von Johann 
Gottfried Eihhorn) 1816. — Chriftoph Friedrich von Stälin, Würtem⸗ 
bergifhe Geſchichte, Bd. I u. IE, 1841 und 1847. — Karl Wilhelm Bötti⸗ 
ger, Heinrich der Löwe, Herzog der Sahfen und Bayern. 1819. — F. W. 
Behrens, Herzog Welf VI., letter welfiiher Stammherr in Süddeutſchland 
und feine Zeitgenofien. 1829. — Wilhelm Havemann, Geſchichte der Lande 
Brannfhweig und Lüneburg. Drei Bände, 1853—1857, — L. T. Spitt- 
ler, Geſchichte des Fürftenthbums Hannover feit den Zeiten der Reformation bis 
zu Ende des fiebenzehnten Jahrhunderts. Zwei Bände 1786. — Berfud 
einer pragmatiihen Geſchichte tes durdlaudtigften Haufes Braunfchweig und 
Lüneburg (von Koch). 1764. — Johann Friedrich Pfeffinger, Hiftorie bes 
braunſchweig⸗lüneburgiſchen Hauſes. In drei Bänden, 1731 —1734. — Philipp 
Julius Rehtmeier, braunfchweig-läneburgifhe Ehronica. In drei Yollobänden 
mit durchlaufender Seitenzahl. 1722. — Sämmtlihe ältere und neuere Haus» 
gefege find, zum Theil zum erflenmal, veröffentliht in meinem Werke „Die 
Hausgejege" u. |. w. ©, 419 ff. Hermann Squize. 


Wellington. 


Im Jahr 1769 — alfo im nämlihen Jahre wie Napoleon I. — wurde 
Arthur Wellesley zu Dublin geboren. Die Yamilie feines Vaters, des Grafen 
von Mormington, gehört nah Abflammung und politiicher Parteiftellung zu der 
in Irland angeflevelten englifhen ZTory-Ariftofratie. Arthur war das vierte unter 
neun Geſchwiſtern; noch zwei feiner Brüder follten an den Geſchicken ihres Vater 
lantes beveutfamen Antbeil nehmen: Richard als Gouverneur von Indien und 
Mintfter, Heinrih als Geſandter. Doch von allen war es Arthur vorbehalten 
das Höchſte zu leiften, die oberfle Stufe irdiſcher Ehren zu erklimmen. 

Wenig Talent und nur geringe Neigung zum Lernen verrathend, wurbe er 
von feiner Familie noch in jungen Jahren zum Soldaten -beftimmt. Zum Glüde 
für Großbritannien befaß der junge Mann ein höheres Maß von Fähigkeiten, als 
man damald — wie auch heutzutage wieder — für ven Offiziersftanp als ge- 
nũgend eradhtete. 

Ende 1787 wurde er zum Fähnrich ernannt und avancirte dann in Folge 
feiner Familienverbindungen und durch GStellenfauf raſch zum Öberftlieutenant, 
ale weldyer er im Mai 1794 mit dem 33. Infanterieregimente nah dem Konti- 
nente überfchifite, um den Feldzug in Flandern mitzumachen. Der nicht eben 
ruhmreiche Berlauf dieſer Campagne gab ihm zwar wiederholt Gelegenheit, feine 
perfönliche Tüchtigkeit zu beweifen,; der Hauptgewinn aber, den er aus terfelben 
j0g, war ein negativer, nämlich die Ueberzeugung, daß die englifche Armee, ohne 
eine durchgreifende Neform in Bezug auf Organifation und Wusrüftung, Kon 
mandoführung und Disctplin, nur fehr wenig zu leiften im Stante fel. 

Im Frühjahre 1796 wurde W's. Regiment nach Indien verfegt; drei Monate 
nah ihm traf in Galcutta fein Bruder Richard als neuernannter Öeneralgouver- 
neur von Indien ein. Die vereinte Thätigkeit beider Brüder follte für bie dortige 





170 


* 


Zeigen fein. In den acht Jahren 
em Berfalle entgegentreibende Madkt- 
eigen und nach allen Richtungen zum 
rergifches Handeln fi, bei dem einge- 
verſchaffen wußte, verfiand er es zu- 
x beftehenten Verträge, burch umver- 
: bas Vertrauen wieber zu geiwinnem, 

Unreblicfeit ber vorbergegangenen 
en verwirft hatten. Bei feiner Räd- 
jenöwänfhe ter in Inbien lebenden 
ade die von ihm den Hinbns und 
de, welche eben ſowohl feinem edlen 
tlugheit geboten fchienen, waren Ur- 
videnden ihrer Altien intereffirenden 
mmer ſchärferen Konflikt gerieth und 


Stantömannee empfing Artkur WB. 
inen Theil in ven langen ımd mäh- 
Rabratten zur Befeſtigung und Ans- 
t Zum Sturme auf Seringapatnam 
vurde dann mit dem Övuvernement 
dyſore betrant. 1803 machte er mit 
ver vom vollften Erfolge gekrönten 
and einige Monate fpäter erfocht er 
Steg über 50,000. Aber während 
irifchen Fähigkeiten mehr und mehr 
t Ungewohntheit des vorigen Klimas 
felveliegens bedenklich zu leiden. Um 
Bruder zu begleiten, ale fich dieſer 


de anf ihre Wirkſamkeit in Indien 
' gelungen, da3 von Clive, Haflings 
rreichen Abſchlufſe zu bringen. Der 
x für immer gebrochen, das Reid 
Länverftreden waren der britifchen 
ı Umfang, ihre Macht, ihren Reid- 
an mweber den Mahratten noch dem 
ig, der Großmogul ein englifher 
muß man, vom menfchlid-liberalen 
wbienfte beider Brüder und nament- 
ter Randslente die höchſte Bewunde ⸗ 


Indien verließen, befand fih Rapo- 
ex fein bort verfammeltes Heer nach 
mal nach England gehen ſolle. Der 
ihn ans dieſem Dilemma und rief 
lxthurs beabſichtigte Theilnahme an 
it, mit welder fid die friegerifchen 


Wellington. 173 


Nachdem er fih im Frühjahr 1806 mit der Tochter des Grafen Longford 
vermählt hatte, trat er als Bertreter des Burgfleckens Rye In das Parlament und 
begleitete fpäter den nad den Tode des WViinifterd For zum Lorblientenant von 
Irland ernannten Herzog von Richmond, als erfter Sekretär nah Dublin. 

Im Sommer 1807 wurde er mit dem Kommando einer Divifion des Er: 
pebitionsforps betraut, welches Lord Cathcart nad Kopenhagen führte. Welche 
Anfichten Arthur W. ale Menſch und Politifer über diefe ſchmachvolle Verge⸗ 
waltigung Dänemarks gehegt haben mag, darüber findet ſich in feiner Korrefpon- 
venz Feine Anteutung, als Soldat erfüllte er nad übereinftimmenven Zeugnifien 
von Freund und Feind im vollftien Maße feine Pflicht. 

Das Jahr 1808 ſchien ihm ein größeres felbftändiges Kommando ertheilen 
zu wollen, indem er mit einem Korps von 9000 M. zur Unterftügung der In⸗ 
jurreltion in Portugal nah der Mündung des Mantego abgefandt wurte. Rück⸗ 
fihten auf das Dienftalter und perfönlige Intriguen vermodhten jedoch das 
Minifterium Caſtlereagh, den Oberbefehl an den Generallieutenant Dalrymple 
zm übertragen, deſſen Unfähigkeit zwei von W. über Laborde und Junot erfochtene 
Siege, vom 17. nnd 21. Auguft, in ihren Wirkungen paralyfirte. Der dadurch 
gegen den Oberbefehlöhaber erregte Unwillen des englifchen Volkes erſtredte ſich 
auch anf den Untergeneral, und im Herbfte kehrte W. nah England zurück, um 
fi$ vor dem Unterfuhungsgerichte zu rechtfertigen. Am 22. December 1808 wurde 
er, von allen Anſchuldigungen vollkommen gerechtfertigt, freigefprochen, worauf er 
fi wieder nady Dublin zum Herzog von Rihuond begab. 

In der Zwiſchenzeit (November 1808) war jedoch Napoleon ſelbſt nad) 
Spanien gegangen, um die Unfälle wieber gut zu machen, welde vie franzöſiſche 
Armee im Laufe des Sommers hinter den Ebro zurüdgeworfen hatten, Un ver 
Spige von 150,000 altgebienten und kriegsbewährten Soldaten drang er gegen 
Madrid vor, wofelbfi er, nad dem glänzenden aber leichten Siege bei Somo- 
Siera, in ven erften Tagen des December einzog. Dann fi plöglid weftwärts 
wendend, überſchritt er im Cilmarſche die Schneelette des Guadarama, um das 
einzige noch auf der Halbinfel befinvlihe engliihe Korps unter General John 
Moore von feinem Rüdzuge an das Meer abzufhneiden. Diefer Zwed wurte 
zwar nicht erreicht, weil Napoleon jelbft nad Paris zurüdellte, doch fah fih 9. 
Moore genöthigt, feine ganz erfchöpften und beinahe aufgelösten Truppen in Go- 
rona nad England einzufchiffen; er felbft blieb In dem Arrieregardengefecht, unter 
deſſen Schutz die Einfhiffung glädiih vor fi) ging (16. Januar 1809). 

Innerhalb dreier Monaten waren drei fpanifhe Heere vernichtet, die Eng- 
länder and Spanien verjagt, Madrid und Saragofja genommen, Caftilien, Auda⸗ 
Iufien, Saltzien von den franzöfifchen Heeren befegt worden. Nach viefen bewunde- 
rungdwärbigen Erfolgen konnte der Kaifer bequem feine Vorbereitungen zu bem 
beginnenden Krieg gegen Defterreich trefien. 

Trotz diefes bevorſtehenden Heerzuges, welcher einen großen Theil der kaiſer⸗ 
lichen Armee in Anfprud nehmen mußte, begann fi die launenhafte Volksſtim⸗ 
mung in England unbedingt zu Gunſten des Friedens und gegen eine fernere 
Theilnahme am Halbinſelkriege auszufpredhen, jo nieberbrüdend hatte die Ver- 
treibung tes Moore’fhen Heerhaufens vom Koutinent auf die Oemüther gewirkt. 
Nur ungern entſchloß ſich deßhalb das engliihde Minifterium, den Beftimmungen 
des mit Spanien am 9. Januar 1809 abgeſchloſſenen Allianzvertrages gemäß, 
zur Fortſetzung vet Krieges, und biefer Unluft entjprad denn auch die verhältniß- 
mägig geringe Unterftügung, welche Arthur W., zum Kommandant em Chef ver 


172 Wellington. 


engliſche Verwaltung von ben fegensreidften Bolgen fein. 
feiner Anweſenheit gelang es Richard, tie dem Verfalle er 
ſtellung Großbritanniens in Indien neu zu fefligen und r 
erweitern. Während er durch fühnes und energiſches H 
bornen Fürften ein beifpiellofes Anſehen zu verſchaffen 
gleich, durch gewiſſenhafteſte Beobachiung der beftehr 
brüdjliches Feſthalten an dem gegebenen Worte bas T 
welches vie Zweidentigfeit, Schwäche oder Unr 
Gouverneure in einer langen Reihe von Jahren 
tehr nad) England begleiteten ihn die Seger 
Engländer wie der Eingebornen. Aber ger 
Mufelmännern bewiefene Schonung und DI 
Herzen entiprangen, wie für ihn burd ti 
ſache, daß er mit den, fih nur für hohe 
Direltorn der Oftindifhen Kompagnie 
endlich feine Gntlafjung nahm. 

In ver vortrefflihen Schule 
feine erſte pofitifcge Bildung und t 
feligen Kämpfen mit Tippo Sabi' 
breitung der britifchen Herrſchaft 
führte er perfänlih tie Haur 
der eroberten Hauptſtadt unt 
geringer Mannfdaft den « 
Reiterzug tief in die Ber 
bei Affahe mit 8000 M 


di 


Wirkſam · 


icherweiſe 
’3 eines 
n forte 
leiden 


um 
be 


ve⸗ 


achrichten von 
uczuge genöthigt, dem 


ſich in diefem kriegerii . „tauern er feinen erihöpften 


„teren Verlauf der Dinge ruhig 


„wafterifirt überhaupt bie Operationen bes 
inſel, die mit dem Lebensalter des erſt 40jäh- 
zung ftand und welche ihm bei einem Theil feiner 
uſchiedenheit und des Mangels an Thattraft verſchaffte. 
. fowohl früher in Indien als and, fpäter in den Rieder- 
Beweis des Gegentheils lieferte. Abgeſehen aber von 
tommenen beftimmten Weifangen, waren bie allgemeinen 
der damaligen Periode wohl ber Art, um anfergemöhn- 
führung zu rechtfertigen. Die Berfehrtheit der poli- 
ngland, die Aengſilichkeit des bortigen Minifteriums, die 
n Soldaten und ver taturch noch gefteigerte Widerwille, 
it feinen kederiſchen Befreiern entzegentrat, ber Eigen ⸗ 
it der ſpaniſchen Gentraljunta, die voßfommene Unfähig- 
ührer nad ihrer Guerilla-Hanfen — all’ vies mußte 
Handeln verfämmern. Zudem mag von allen 
e vielleicht gerade W. derjenige geweſen fein, welder 
& am weni.ften zu dem Geiſte tes Widerſtandes nnd 
| paßte, wie fie damals im Spanien an ber Tagesord- 
eften, beinahe rechtedigen Wejen widerſtaud bie oberfläc- 
Schaft im allen Zweigen des ſtaatlichen Lebens anf der 
ven dort oft Aberfläffig anfflammenvden, mac fünlicher 





Wellimgton. 175 


maßloſer Letvenfchaft gefteigerten Enthuſiasmus empfand er in feiner 
»n Ruhe nicht die mindefte Sympathie). 
kann man der Wahrheit gemäß behaupten, daß unter feines andern 
3 die Reſultate erreicht worden wären, welche ſchließlich zur Ver⸗ 
fen und zur Befreiung Spaniens führten. Aber von gemein- 
mit bem reellen Boltsheere und feinen eigenwilligen be- 
sollte W. feit den Erfahrungen des Feldzuges von 1809 
efümmert um ihre Schidfale wandte er feine Aufmerffam- 
n Organifirung des portugiefifchen Heeres zu nnd ver- 
‚ Meriva und Lifjabon mit feinen englifch-deutfchen 
und den franzdfifchen Regimentern wollte er fortan 
° wiffen, deſſen Endzweck W. in dem militärifchen 
richt aber in der politiſchen Befreiung Spaniens 
be gegeben, einen fogenannten Volkskrieg mit 
'n feinem innern Verlaufe zu verfolgen, 2) wird 
nerals nicht befremdet fein, wenn auch ein 
nur das Gebahren eines Bollblutariftofraten 
ı will. 

erlaffen und ihrer eigenen Vernunft fol- 
„Infantado zc. aller Orten gefchlagen, Ihre 
vernichtet, beinahe alle fpantfchen Provinzen von 
,‚ war felbftverftänplich, rief aber, im Vereine mit der 
‚cher abgefchloffenen Waffenſtillſtand von Znaym, einen 
„.‚ament, Volk und Preffe von Altengland gegen die Fortfegung 
‚er Porenden-Halbinfel hervor, daß die ganze Beredſamlkeit des furz 
„‚nifterium getretenen Marquis Rihard Wellesiey nöthig war, um 
‚zerte Zurüdberufung Wellingtons?) und feiner Armee nad England zu 
„ten. Unter folden Berhältniffen freilich konnte dieſer noch weniger auf Ber- 
jtärfungen von Seite Großbritanniens rechnen, als früher, und auf fi ſelbſt nme 
feine eigenen Kräfte angewiefen, ih der That nichts Anderes thun, als die Rath- 
ſchläge feines Bruders Richard befolgen, der ihm nad dem Schluffe der darauf 
bezäglichen Parlamentstebatten fchrieb: „Wir Lönnen gar nichts für Di, thun; 

jet vorfihtig und wage nichts.“ 

Inzwifhen hatte Napoleon dem berühmteften feiner Marfchälle, dem Fürſten 
von Eßlingen, ven Oberbefehl über die in der Pyrenden-Halbinfel ſtehende Kriegs- 
macht übertragen. Bon dem rüdfichtslofen und energifchen Vertheidiger der Schweiz 
und Genna's erwartete der Kaiſer, daß er die nun ſchon zwei Jahre währende 
Iafurrefiton in Spanien erbrüden, bie englifhe Hülfsarmee auf ihre Schiffe jagen 
werbe. An der Spige eines an 100,000 M. ſtarken Heeres rüdte Maſſena im 


1, The enthusiesm — fchreibt er am 25. Auguft 1809 an den Staatoſekretair Lord 
Gaftlereagb — is, in fact, no aid to accomplish any thing, and is only om excuse for 
Ihe irregularity with which every Ihing is donc and for Ihe want of discipline and 
subordination of Ihe armies, Urgl. Dispatches of the duke of Wellington volume V. 

86 


p. 50. 

2, Ber ſich über die innern Zuflänte Epaniens während des Unabhängigkeitskampfes von 
1808— 1814 unterridten will, den verweilen wir auf die jüngft zu Leipzig bei Hirzel erfchienene 
Geſchichte Spaniens vor Hermann Baumgarten. (Vrgl. den Art. „Spanien“ im Siuate: 
wörterbuch von dDemielben Verfaſſer 9. d R) . 

3) Rah dem Siege bei Zalavera de la Reyna war Arthur Wellesley zum Discount Welling⸗ 
kon von Zalanera erhoben worten. 


176 Wellington. 


Sommer 1810 gegen bie portugtefifche Grenze vor und bemächtigte ſich nad) furzer 
Belagerung ber Feſtungen Eiudad-Roprigo und Almeyda. W., dem nicht mit Un» 
recht der Vorwurf gemacht wird, daß er den Fall wenigftens von Almeyda hätte 
verhindern Können, wid langfam und fämpfend vor ver herannahenden Uebermacht 
zurüd. Ieber Fuß breit Yantes, Ten er dem Gegner überlafen mußte, wurbe von 
den Einwohnern felbft verwäftet, Mühlen, Häufer, Scheunen von ihren Beſitzern 
verlafien und verbrannt. Am 8. Oftober bezog die englifch-portugieftihe Armee 
pie feit Monaten vorbereiteten Linien von Torres-Bebras, an ber Äußerften Weſt⸗ 
ipige des Kontinentes, hinter welchen auf der Rhede von Liffabon eine englifche 
Flotte von 20 Linien und 200 Transportfhiffen lag. Durch diefe unterhielt W. 
feine Verbintung mit England und bezog er gleichzeitig tie Lebensmittel für feine 
Armee und die Tauſende von Lanpleuten, die fih mit Weib und Kind aus den 
verwäfteten Provinzen nach Liſſabon oder in das Lager geflüchtet hatten. 

Bor biefer unangreifbaren Stellung lag nun das franzöfifhe Heer Wochen 
lang, Monate lang, unthätig, durch Seuchen becimirt, mit dem bitterften Mangel 
Yämpfend, denn jede von franzöftihen Regimentern nicht bedeckte Landſchaft loderte 
in hellen Flammen des Aufruhrs empor. Zahlreihe Guerillasſchwärme in Nüden 
und Flanken von Maſſena's Armee nahmen die Lebensmittelfuhren hinweg, auf 
deren rechtzeitigen Eintreffen die Franzofen in dem gänzlich ausgefogenen Lande 
allein angewiefen waren. Jede regelmäßige Verbindung mit Frankreich, mit 
Madrid, mit dem in Audaluſien ftehenden Korps von Soult war gänzlich abge⸗ 
ſchnitten, keinerlei Verftärkung zu erwarten. Alle Verſuche Maſſena's, den eng- 
liſchen General zu einem unüberlegten Schritte, zu einem Verlaſſen feiner Stellung 
zu verleiten, f&eiterten an deſſen eiferner Konfequenz. 

Man bat W.'s mehrmonatlihe Unthätigleit hinter feinen Schanzen ſeitdem 
vielfach getabelt, ta doch ein energifcher Angriff auf Maſſena's geſchwächte Armee 
deren Vernichtung zur wahrſcheinlichen Folge gehabt haben würde. Uber W., ber 
wohl wußte, daß das von ihm befehligte engliſche Heer die legte und einzige Hoffe 
nung eines Widerſtandes gegen vie franzöfifhe Uebermacht fei, widerſtand al’ vie 
Zeit hindurch bebarrlich allen Aufforderungen feines Gouvernements, feines Haupt: 
quartierd, der portugiefifchen Parteien, ja felbft dem eigenen Verlangen, ſich mit 
dem Feinde im freien Felde zu meilen. Mit richtigem Blicke erlannte er, daß eine 
gewonnene Schlacht nur geringe Bortheile bringen, eine Immerhin aud mögliche 
Nieverlage aber die unhellvollfien Folgen für vie ganze Kriegsführung haben 
würde. Un feinem urfprängliden Operationsplane unerſchüttert fefthaltend, ver- 
zichtete er zu Gunſten eines fiheren auf einen glänzenden Erfolg, ven er mit 
Hülfe des Zufalles etwa hätte erreichen fünnen. Daß ein folder General von 
ben ebrgeizigen Heerführern des franzöfifchen Kaiferreiches nicht verftanven, ja bee 
Kleinmuthes und der Unentichlofienheit geziehen werben Eonnte, ift begreiflich. 

Über die Richtigkeit von W.'s Berechnungen follte fih bald bewähren. Nach 
ſechs Monate langem fruchtlofen und verluftoollen Warten mußte Maffene im 
März 1811 mit ergrimmtem Herzen den Rüdzug gegen Norden antreten und 
jegt begann für ven englifhen Feldherrn vie Zeit der aktiven Thätigkeit. Mit 
peinlidem Erſtaunen nahmen die franzöfifchen Generale an ihrem Gegner plöglich 
eine Kühnbelt, eine Energie, eine Offenſivkraft wahr, die ſich täglich fteigerte und 
deren fie den phlegmatifhen Briten niemals für fähig gehalten bätten, 

Aus feiner feften Stellung fofort aufbrechend, folgte er Maflena auf den 
Ferſen bis Almeyda, das er einzufcliegen begann. Um die bedrohte Feftung zu 
eutjegen, wandte der franzöfifhe Marſchall wieder um und griff die in höchſt un⸗ 








Wellington. 177 


gänftiger Pofttion bei Fuentes d'Onoro Tagernde englifhe Armee am 3. und 
5. Mai an. Dank der gegenfeitigen Eiferfuht und Unverträglichfeit ihrer Generale 
und dem Mangel an Munition, wurden die Angriffe der Franzoſen blutig zurüd- 
geworfen und Almeyda gerteth in Folge deſſen fhon am 11. Mai in die Hände 
der Engländer. Ein Korps an der Coa zur Beobachtung der geſchlagenen feinb- 
lihen Armee, über welche anftatt des in Ungnade gefallenen Maſſena der Herzog 
von Ragufa den Oberbefehl übernahm, zurücklaſſend, wandte fih dann W. mit 
zwei Divifionen nach der Ouadiana, wo eben Beresford bei Albuera einen Ber- 
ſuch Soult’8 zum Enifage des bedrohten Badajoz abgefchlagen hatte. 

Trotz der verfchiedenen Unfälle, welche tie einzelnen franzöfifhen Korps um 
diefe Zeit trafen, war jedoch die Lage des Königs Joſeph in Spanien durchaus 
noch feine ungünftige. Er felbft beherrſchte durch Jourdans Korps von Maprid 
aus die des langen VBürgerkrieges bereit8 müde gewordenen Provinzen Alt und 
Neu⸗Caſtilien, Soult in feiner Pofition bei Llerma dedte den ganzen Süven und 
Sudet hatte ſich foeben dur die Wegnahme von Tortofa und Tarragona zum 
umbevingten Herrn des Dftens von Spanien gemacht. Schon hegte Napoleon 
wieder den Gedanken, fih durch einen energiſchen Offenſtoſtoß auf W. in ven 
Defig der ganzen Halbinfel jegen zu können. Aber die Vorbereitungen zum Kriege 
gegen Rußland ließen den Kaifer nicht zu dem Entſchluß gelangen, eine hiefür 
genügende Macht über die Pyrenäen zu ſchicken; nicht mit Unrecht glaubte er 
einer folhen bei dem bevorftehenden norbifhen Zuge nicht entbehren zu können.. 
Diefen neuen Krieg bis nad) vollendeter Eroberung Spaniens zu verfchleben, dazu 
hätte es mindeſtens einer zeitweiligen Rachgiebigteit von feiner Seite gegen ven 
Czaren beburft; daß ſich aber der unbeugfame Stolz des Imperators zu irgend 
einer Nachgiebigkeit entfchließen würde, fund nun und nimmermehr zu erwarten. 
Zudem war er ſeit feinem kurzen und glüdlichen Frühjahrsfeldzuge von Somo- 
Siera von der Idee durchdrungen, daß die Beflegung der infurgirten Spanier 
und des englifhen Hülfsheeres eine leihte Sache fei. Alle Niederlagen, welche dort 
die franzöfifchen Fahnen feitvem erlitten, fchienen ihm Folge der Unfähigkeit und 
Milde feines Bruders, fowie der Ungefhidlihkeit und Eigenfudht der komman- 
birenden Generale zu fein. So befhränfte er denn feine Unterftägung für vie 
Kriegsführung in Spanien auf die Abfendung von 40,000 Mann nah Afturien 
und Navarra im Frühjahre 1812, welche er jedoch nebft noch weiteren 20,000 M. 
im Herbfte wieder nah Frankreich zog. Die wiederholte Zurüdbeorverung feiner 
gefchlagenen Lientenants und der dadurch hervorgerufene Wechfel im Oberlommando . 
trag ebenfalls nicht bei, den moralifhen Zuftand des Heeres zu heben. Endlich 
wirkte fein Eigenfinn, Alles perjönlich Ieiten und hundert Meilen vom Sriegs- 
ſchauplatze entfernt Verhaltungsmaßregeln für jeden einzelnen Fall diktiren zu 
wollen, im höchſten Grade lähmend auf bie Energie ber Kriegsführung ein. 

Dem Allem fland W. mit der unbefchräntteften Selbftändigkeit im Ober- 
fonmando gegenüber, die er fi, allen ihm von den fpanifchen Cortes, der portu> 
gieſiſchen und der englifchen Negierung in ven Weg geworfenen Hinderniffen zum 
Trotz, zu erzwingen gewußt hatte, — einer Selbftändigfeit, deren ſich von allen 
feit 1793 —1815 gegen franzöfifche Heere befehligenden Generalen außer ihm 
nur noch Blücher erfreuen durfte. Mit derfelben verband der englifche Feldherr 
eine Unermüdlichleit und Energie ohne leihen und namentlid eine unerſchütter⸗ 
lihe Konfequenz, bie allerdings im höchften Grave nöthig war, wenn überhaupt 
etwas erreicht werben follte. 

Um feine ferneren Operationen auf eine ungeftörte Verbindung mit Portugal 

Bluntfsli und Brater, Deutfches Staats⸗Wörterbduch. XI. 12 


2 


und dadurch mit dem Meere bafiren zu können, ging feine Abſicht zunächſt dahin, 
in den Beſitz der noch vom Feinde behaupteten feften Punkte Badajoz und Ciudad⸗ 
Nodrigo zu gelangen, zu deren regelmäßiger Belagerung es ihm jedoch nit nur 
an dem nöthigen Material und Gefhüge, fondern vor Allem an Oenteoffizieren 
und a uppen gänzlich mangelte. Aber feine Ausdauer führte ſchließlich doch 
zum Biel, 

Zwar die faum begonnene Belagerung der erfteren Feſtung fah fih W. am 
10. Juni genöthigt wieder aufzuheben, va Marmont, von Salamanca herbeiziehenn, 
den Tajo überſchritt und mit Soult gemeinfchaftlid auf Badajoz vorrüdte. . 
wandte fi nun mit feiner ganzen Macht gegen Ciudad-Robrigo vermodte aber 
erft am 7. Januar 1812 mit ver Belagerung ‚zu beginnen, da fein Belagerungs- 
part erft Ende December von England eintraf. Durch die drohende Nähe von 
Marmont's Korps zur Eile gezwungen, fchritt W. fhon am 19. Januar zum 
Sturm, der ihn, freilich unter empfindlihem Verlufte, in den Beſitz des Plages 
brachte. Dann eine ftarfe Stellung vor vemfelben beziehend, fehlen er nur auf 
Behauptung des bisher Gewonnenen bedacht zu fein; insgeheim traf er aber alle 
Vorbereitungen zur Belagerung von Badajoz. Mitte März brach er plöglich dort⸗ 
hin auf und am 17. Abends wurde fhon bie erfte Parallele vor diefer Feſtung 
gelegt. Um nicht vor der anrüdenden Armee Soult’8 die Belagerung abermals 
aufheben zu müflen, entſchloß ſich W. ſchon am 6. April Abends zum Sturm, 

. der ihm, von beifpiellofem Glück begünftigt, am folgenden Morgen aud biefe 

Teftung in die Hände lieferte. Die unerhörte Grauſamkeit, mit weldyer tie eng- 
liſchen Truppen die eroberte Stadt verwüfteten und bie Lorbeeren ihres Sieges 
arg befledten, ift mit Unrecht ihrem General zum Vorwurf gemacht worden; auch 
- mit dem fefteften Willen vermochte er der zur Gewohnheit geworbenen Zügellofig- 
teit feiner aus dem niebrigften Pöbel Englands angeworbenen Soldaten nicht zu 
fteuern. Mitte April ftand W. mit feiner Armee fon wieder an der Coa, um 
Almeyda und Ciudad-Rodrigo vor Marmont zu beſchützen, ver fi mit feinem 
Heere auf Befehl des Kaifers, aber viel zu fpät, von Salamanea nach ver Pro- 
vinz Beira in Bewegung gefett hatte. 
| Und nun, nachdem er fih feine Baſis und die Verbindung mit Portugal 
fowohl im Norden, als im Süden geſichert hatte, ging W. zur Offenfive über. 
Am 22. Juli fhlug er Marmont's Heerhaufen in dem glänzenden Eiege bei 
den Arapilen, überfchritt dann ben Quadarama und zog am 12. Auguft in Madrid 
. ein, jubelnd begrüßt von dem Volke, welches, im Gegenſatz zu der in Cadir herr- 
* ſchenden Partei, allmählig zu begreifen anfing, was es dem eigenſinnigen, hart⸗ 
köpfigen und ketzeriſchen Fremden Alles zu verdanken habe. Die politiſchen Folgen, 
welche ſich nothwendigerweiſe aus dem Beſitze der Hauptſtadt des Landes ergeben 
mußten, ſchienen W., wie wir gleich ſehen werden, ſehr mit Unrecht wichtiger, als 
u die Vernichtung eines Armeelorps, welche er bei energifcher Verfolgung von Mar- 
—3 le gejchlagenem, nunmehr von Clauzel befehligtem Heere wahrſcheinlich erzielt 
., tte. 

König Joſeph Hatte fih von Madrid nad Valencia zu Suchet gewendet, 
dahin zeg Anfangs DOftober, wenn auch widerftrebend, Marſchall Soult aus An- 
dalufien, fo daß nunmehr eine beträchtliche Streitmaht an der Oſtküſte von Spa- 
nien vereinigt flund. Mit etwa 70,000 M. rüdte nun König Iofeph Mitte 
Dftober in zwei Kolonnen über Euenca auf Madrid und Toledo vor. Der eng- 
liſche General Hill, welcher zwifchen legterem Orte und Aranjuez flund und Madrid 
befegt hielt, fah fi) vor der Uebermadt zur Räumung der Haupiſtadt und zum 


178 Wellington. 

















Wellington. 179 


NRüdzuge genötbigt, welchen er in richtiger Würdigung der Verhältniffe nicht im 
Zajothale, fondern über den Quadarama zu W. ausführte. Diefer hatte ſich 
inzwifchen vergebens mit der Wegnahme des Scloffes von Burgos abgemüht, 
während der an bes verwundeten Clauzel Stelle getretene Souham anfehnliche 
Berftärfungen an fid zog, und nun mit einem über 30,000 M. ſtarkem Heere 
zum Entſatze herbeieilte. So fah fid denn W. nit nur in der Fronte ernſtlich 
angegriffen, fondern aud in Flanke und Rüden durch eine überlegene Macht be- 
droht. Ein längeres Verweilen vor Burgos hätte den ficheren Untergang gebracht, 
Ihon fein verfpäteter Abmarfch verurfachte bedeutende Verluſte. Und als er mit 
feinen und Hill's Truppen Ende November in Ciudad-Rodrigo anlangte, waren 
biefe fo erihöpft, daß am eine energifche Fortſetzung des Krieges vorläufig nicht 
mehr gedacht werden konnte. Glüdlicherweife befanden fi die drei franzöſiſchen 
Armeekorps — Soult, Ionrdan und Sonham — in nicht beſſerer Verfaſſung; fie 
hatten fih am 8. November bei Mevina del Campo vereinigt und, nad einem 
vergeblihen Berfuhe W. zu einer Schlacht zu bewegen, Winterguartiere zwifchen 
Balladolid und Toledo bezogen. König Iofeph war noch einmal zu einem freilich 
furzen und legten Befuche nah Madrid zurüdgetehrt. Die zahlreihen und werth- 
vollen Berlufte an Material und Gefhügen, welche die Frauzofen in diefem Kriegs- 
jahre durch Räumung von Andaluſien und Caftilien und durch die Zerftörung ver 
Depot3 von Sevilla, Granada, Madrid, Almaraz, Salamanka und Valladolid 
erlitten hatten, konnten W. einigermaßen dafür entfhädigen, daß fein erfter Ver⸗ 
ſuch, fih in den Beſitz des Herzens von Spanien zu fegen, vollſtändig gefcheitert 
und er wieder an bie Grenze von Portugal zurüd geworfen worden war. 

Wie der Beginn des ruffifhen Feldzuges und defien Verlauf, jo mußte auch 
defien verhängnigvoller Ausgang auf die Kriegführung der Sranzofen in Spanien 
einerfeits, anf die Erfolge der Verbündeten andererſeits entſcheidenden Einfluß ge- 
winnen. Während die erfteren an phyſiſcher wie moraliſcher Befigteit mit jedem 
Zage mehr einbüßten, feftigte fih in London wie in Cadir, in Liſſabon wie in 
Rio de Janeiro immer mehr die Meberzeugung von einem nahen flegreihen Ende 
des Befreiungekampfes. Mitte Mai 1813 brach W. mit feinem anſehnlich ver- 
flärkten Heere aus feinen Winterquartieren auf, bemädhtigte fi durch eine ge« 
fhidte Operation des wichtigen Burgos und nöthigte die franzöſiſche Armee hinter 
den Ebro zurül. Am 21. Juni kam es zur Schlacht bei Vittoria, in welder 
diefe unter perfönliher Führung des Königs Joſeph auf's Haupt gefchlagen und 
zum Rüdzug Über die Pyrenäen gezwungen wurde. Nach der Wegnahme von St. 
Sebaftian folgte W. mit feinem Heere über die Bidaſſoa, Nivelle, Adour und 
Garonne, nicht ohne heftige Kämpfe mit dem Heere Soult's, welche erſt in der 
bintigen Schlaht von Touleufe am 10. April 1814 ihr Ende fanden. 

Inzwiſchen war Parts in die Hände der Verbündeten gefallen, das ftolze 
Gebäude des Napoleoniſchen Kaiſerthums zufammengebrohen. Mit Dotationen 
nud Würden, Titeln nnd Orden aus allen europäiſchen Landen Überhäuft, begab 
ih W. im Iannar 1815 zum Kongreß von Wien, von wo ihn jedoch die Nach⸗ 
richt von Napoleons Landung in Frejus fhon im April wieder an vie Spige 
der in den Nieberlanden ſtehenden engliſchen Armee berief. 

Sein und Blücher's glänzenver Siegeszug Über das Schlachtfeld von Wa- 
terloo bis an die Barrieren von St. Denys ift zu allgemein befannt, um bier 
abermals einer Darftellung zu bebürfen (orgl. die Artikel „Blücher” und „Önelfenau”),. 
Roh ehe die Monarchen von Rußland und Preußen in Paris eintreffen konnten, 
hatte W. durch Fouché die Wiederzurüdberufung der Bourbons burchzufegen ge- 


12. * 


Ueiltngäse, 


+‘ 
RE Mumickany vielleiht gar nicht mehr geſchehen, 
> us He Frankreich verknüpft gewejen wäre. Seine 
Song Nwgte ibn, das rehtmäßige Königehaus in den von 
\ ns anzufegen. Zugleih glaubte er hierburd den König 
na Duuphie fi verpflichten und jeden audern auswärtigen 
a gungen, auf die fänftigen Geſchicke Frankreichs befeitigen 


Sg Wefer doppelten Richtung, der fonfervativen und ſpecifiſch 
a, Naed auch feine Wirkſamkeit ald englifcher Bevollmädtigter auf 
oe ya Machen und Berong (1818 und 1822), wenn er auch auf leg- 
N 2 „x . . 
a ie von Canning verfaßten Infiruftionen gebunden, dem inneren 
I werd Derzend nicht Ausdruck geben konnte. 

—X 

SGaauing im Jahre 1827 nad Liverpools Tod von König Georg IV. 
u zu Yeitung des Minifteriums betraut warde, trat W., der als Großmeiſter 
ra Aunllerie Sig im Confeil hatte, aus demfelben und legte fogar den Ober: 
zurdı über die Armee nieder. Dem ftolzen Tory widerftrebte das Weſen des Em⸗ 
pertömmling®, wie man den genialen Staatsmann in den vornehmen Kreijen da⸗ 
mals betitelte; der Herzog und Feldmarſchall wollte mit dem Advolfatenfohn nichts 
zu fchaffen haben. Die von Canning eingebrachten Bills über Emancipation der 
Katholilen, fowie über Herabfegung der Kornzölle fanden im Oberhaufe an ®. 
einen energiſchen Gegner. 

Nach den im Auguft 1827 erfolgten Tode Sannings nahm W. erft wieder das 
Oberkommando der Arniee an und ald Lord Goderich in Yolge ver Schladht von Na⸗ 
varin feine Entlaffung einreichte, wurde W. vom Könige mit der Bildung eines Mini- 
fteriuns beauftragt, in welchen nicht nur Peel und Balmerfton, ſondern auch Hus- 
tifion und Dudley Plag fanden, Januar 1828. In der darauffolgenden Parlaments- 
feffion legte zum Erftaunen der ganzen Welt das Mintfterium W. ven beiden 
Häufern zwei Gefegentwürfe vor, welde von den nunmehrigen erften Lorb des 
Scages auf das entjchievenfte befämpft worden waren, als fie — vor etwa acht 
Monaten — Canning eingebradht hatte. Beide Bills — die eine die Verbeflerung 
der politifhen Stellung der Katholifen, die andere vie Herabſetzung ter Schup- 
zölle für die Getreide-Einfuhr bezwedend — gelangten zur zweiten Leſung in 
beiven Häuſern. Nicht fo ein von Ruſſell eingebradter Antrag auf Abfchaffung der 
Wahlfühigkeit der Burgfleden (rotten-boroughs), wodurch eine Spaltung im Ka⸗ 
binete entftand, in Folge deren Huskiſſon, Palmerfton, Dupley, Ward und Grant 
aus demfelben ausſchieden und durd fünf Torys erfegt wurden, unter denen ſich 
zum Entfegen der Liberalen nicht.weniger als drei Öenerale — Hardinge, Mur- 
rap und Angleſea — befanden. 

Inzwifhen hatte die Agitation ber Katholiten in Irland, durch ihre erften 
Erfolge ermuthigt, eine ſolche Ausdehuung und zugleid) eine Intenftvität gewonnen, 
daß es dem Minifterium uöthig ſchien, denfelben noch weitere Zugeſtändnifſe zu 
machen, um fo mehr, als alle von dort einlaufenden Berichte übereinſtimmend be- 
ftätigten, daß die in Irland ftationirten Truppenabtheilungen im hohen Grave 
forrumpirt und zum großen Theile gänzlih unverläffig fein. So fchritten denn 
W. und Peel dazu, ein Geſetz zur volftändigen Emancipation der Katholiken ein- 
zubringen; für fie und namentlich für erfteren war dies lediglich eine Mafregel 
zur Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung. Nachdem er aber die Durchführung 
biefer Maßregel für nothwendig erfannt hatte, forgte er — und dies mußten ihm 
jogar feine Feinde zugefteben — mit bewunderungswürdiger Gejchidlicleit und 








Wellington. 181 


Konfequenz dafür, daß ihre Annahme erfolgte, obwohl er hiebei nicht nur ven 
Widerſtand des ſchwachköpfigen Georg IV. und vie Madinationen des hohen 
Klerus der Staatskirche, fondern and die erzürnte Oppofition feiner ehemaligen 
Barteigenoffen zu befämpfen hatte. — Am 5. Februar 1829 wurde die Emanci- 
pation der Katholiten in der Thronrebe beit Eröffnung des Parlamentes angetün- 
digt und fünf Wochen darauf warb in beiden Häufern die zweite LTefung mit 
zmweifellofer Majorttät genehmigt. 

Ungeachtet ver durch diefen Steg auf’8 Höchfte gereizten Stimmung der Tory- 
partei und der fonfervativen Prefie fette das Miniſterium Wellington-Peel noch 
zwei wichtige Reformen durch, eine Gefegbeftimmung, melde den Betrag der Korn- 
einfuhrzölle nad) den jeweiligen Kornpreifen in England regelte und die Ein- 
führung der Ueberwachungs⸗ und Sicherheitspolizei in London (policemen), 
welche nod heute das unerreihte Mufter für ale Pollzelanftalten des SKonti- 
nentes iſt. 

Aber zur Unterſtützung der nicht nur von der Partei der Liberalen, ſondern 
vom überwiegend größten Theil des engliſchen Volkes gewünſchten Parlaments⸗ 
reform konnten ſich W. und Peel auch diesmal nicht entſchließen. Und als die im 
ganzen Lande darüber beſtehende Aufregung durch die Nachricht von der inzwiſchen 
ausgebrochenen Pariſer Inlirevolution und ter Verjagnng der Bourbons vom 
franzöfiſchen Throne ſich zu beiſpielloſer Höhe ſteigerte, als Inſulten auf öffent“ 
licher Straße nicht nur gegen den Herzog verübt wurden, ſondern ſogar den neuen 
König Wilhelm IV. bedrohten, mußten W. und Peel ihre Entlafſſung im No— 
vember 1830 zu einer Zeit einreihen, in welcher ihr Abtreten von feiner Seite 
bedauert wurde. Zu konfervatio für die Liberalen, zu liberal für die Konfervativen, 
befaß das Minifterium bet feinem Sturze die Sympathie von Niemandem mehr, 
fand es fi von allen Parteien verlaflen. So fehr hatte W.'s konfervative Hart⸗ 
nädigfeit in Berbinpung mit feiner unflugen politifhen Haltung in den auswär- 
tigen Fragen, feine großen militäriſchen Verdienſte in gänzliche Vergeffenheit zu 
bringen gemußt. 

Welche Kämpfe Lord Grey mit feinem Whig-Minifterium durchzumachen 
hatte, ehe es ihm emblich gelang, die Neformbill von 1832 Im Oberhauſe durch⸗ 
zubringen, iſt unvergeffen. W., feinem Grundfage getreu, daß es vie erfte Pflicht 
eines jeden Stantsbürgers fel, die unnnterbrodene Fortdauer einer georbneten 
Staatsleitung zu ermöglichen, felbft wenn dies nur auf Koften ber eigenen Ueber⸗ 
zengung zu erreichen wäre, enthielt fih mit einem Theile der Lords der Abftim- 
mung und fidherte fo die Annahme der BIN. 

Der im November 1834 erfolgende Rüdtritt des Lord Grey bradte W. 
wieder in das Kabinet, deſſen Borfig diesmal an Peel fiel, währen W. von 
Balmerfion das Auswärtige übernahm; doch ſchon im April 1835 mußten vie 
Tory's wieder den Whigs Play machen, indem Lord Melbourne vom Könige den 
Anftrag zur Bildung eines Minifteriums erhielt. 

Bon biefer Zeit au beihräntte fih W.'s Theilnahme an ven Staatsgefhäften 
mehr auf die militärifhen Pflichten feiner Stellung als Oberbefehlahaber der 
Armee, aber auch die Würde eines Kanzler der Univerfität Orforb, zu welcher 
er im Januar 1834 gewählt worven, befhäftigte das Intereffe des alten Helden 
mannigfad. Zwar nod einmal, von 1841 —1846, gehörte W. — wenigftens dem 
Namen nah) — dem zweiten Drinifterium Peel an; aud diesmal — feinem Grund⸗ 
fage gemäß, die eigene Ueberzeugung der allgemeinen unterzuordnen — war e8 
feiner meifterhaften Rebe in der Naht vom 25. Mai 1846 zu verbanfen, daß 





. 


englifche Verwaltung von den fegensreihften Folgen fein. In den acht Jahren 
feiner Anweſenheit gelang es Richard, tie dem Verfalle entgegentreibende Madht- 
ſtellung Großbritanniens in Indien neu zu fefligen und nad allen Richtungen zu 
erweitern. Während er durch Fühnes und energifhes Handeln fi bei den einge: 
bornen Fürften ein beifpiellofes Anfehen zu verſchaffen wußte, verftand er es zu- 
gleich, durch gewiflenhaftefte Beobachtung der beftehenten Verträge, durch unver- 
brüdliches Fefthalten an dem gegebenen Worte das Vertrauen wieber zu gewinnen, 
welches tie Zweideutigkeit, Schwäche over Unredlichkeit der vorbergegangenen 
Gouverneure in einer langen Reihe von Jahren verwirkt hatten. Bei feiner Rück⸗ 
kehr nad England begleiteten ihn die Segenswünſche ter in Indien lebenden 
Engländer wie der Eingebornen. Über gerade die von ihm ben Hindus und 
Muſelmännern bewiefene Schonung und Milde, welche eben ſowohl feinem edlen 
Herzen entiprangen, wie für ihn durch die Klugheit geboten ſchienen, waren Ur- 
fadhe, daß er mit den, fih nur für hohe Dividenden ihrer Altien intereffirenden 
Direltoren der Oftindifhen Kompagnie in immer ſchärferen Konflit gerieth und 
endlich feine Entlafjung nahm. — 

In der vortrefflichen Schule dieſes Staatsmannes empfieng Arthur W. 
feine erſte politiſche Bildung und trug für feinen Theil in den langen und müh⸗ 
jeligen Kämpfen mit Tippo Sahib und den Mahratten zur Befeftigung und Aus- 
breitung der britifchen Herrſchaft in Indien bei. Zum Sturme auf Seringapatnam 
führte er perſönlich vie Hauptfolonne und wurde dann mit dem Gouvernement 
der eroberten Hauptftabt und des Reiches Myſore betraut. 1803 machte er mit 
geringer Mannſchaft den abenteuerlihen, aber vom vollften Erfolge gefrönten 
Neiterzug tief in die Berge der Mahratten, und einige Monate fpäter erfodht er 
bei Affaye mit 8000 M. einen glänzenden Steg über 50,000. Aber während 
fih in dieſem kriegeriſchen Leben feine militärifchen Wähigfeiten mehr und mehr 
entwidelten, begann feine Geſundheit unter der Ungewohntheit des dortigen Klimas 
und den Strapazen des ununterbrohenen Imfeldeliegens bedenklich zu leiden. Um 
ih hievon zu erholen, zögerte er nicht feinen Bruder zu begleiten, als fich dieſer 
1805 nad England einfchiffte. 

Mit ftolzem Selbfibewußtſein durften Beide auf ihre Wirkſamkeit in Indien 
zurüdbliden ; ihrer vereinten Thätigfeit war e8 gelungen, das von Clive, Haftings 
und Cornwallis begonnene Werk zu einem glorreihen Abfchluffe zu bringen. Der 
franzöfifhe Einfluß am Hofe des Nizam war für immer gebrodhen, das Reid 
Zippo Sahibs war umgeftürzt; ungeheuere Länverftreden waren ber britifchen 
Herrſchaft einverleibt worden und hatten ihren Umfang, ihre Macht, ihren Reich⸗ 
thum verdreifacht; Oſtindien gehörte von da an weder den Mahratten noch bem 
Sroßmogul: es war eine englifhe Beflgung, der Großmogul ein engliſcher 
Penſionair geworden. Angefihts folder Erfolge muß man, vom menſchlich⸗liberalen 
Standpunkt abgefehen, einräumen, daß die Verbienfte beider Brüder und nament- 
lich Richards um ihr Vaterland von Seite ihrer Landsleute die höchſte Bewunde⸗ 
rung und Anerkennung verbienten. 

In dem Augenblide, als die Welleeleys Indien verließen, befand ſich Napo⸗ 
leon in Boulogne, bin und her erwägenn, ob er fein dort verfammeltes Heer nad 
Indien ſchicken, oder mit ihm über den Kanal nad England gehen folle.. Der 
Ausbruch des dritten Koalitionskrieges erlöste ihn ans dieſem Dilemma und rief 
feine Kriegsmacht nad der obern Donau. Arthurs beabfichtigte Theilnahme an 
biefem Feldzuge fcheiterte an der Schnelligkeit, mit welcher ſich die kriegeriſchen 
Operationen von 1805 vollzogen. 


172 Wellington. 














Wellington. 173 


Nachdem er fih im Frühjahr 1806 mit der Tochter des Grafen Longford 
vermählt hatte, trat er als Bertreter des Burgfledens Rye in das Parlament und 
begleitete fpäter den nad dem Tote des Wiinifters For zum Lorbiieutenant von 
Irland emannten Herzog von Nidhmond, ale erfter Sekretär nah Dublin. 

Im Sommer 1807 wurde er mit dem Kommando einer Divifion des Er- 
pebitionsforps betraut, welches Lord Cathcart nad Kopenhagen führte. Welche 
Anfichten Arthur W. als Menfh und Politifer über diefe ſchmachvolle Berge: 
waltigung Dänemarks gehegt haben mag, darüber findet ſich in feiner Korrefpon- 
denz feine Anteutung; als Soldat erfüllte er nad übereinſtimmenden Zeugniflen 
von Freund und Feind im vollften Maße feine Pflicht. 

Das Jahr 1808 ſchien ihm ein größeres felbfländiges Kommanto ertheilen 
zu wollen, indem er mit einem Korps von 9000 M. zur Unterftügung der In- 
furreltion in Portugal nad der Mündung des Mantego abgefandt wurte. Rüd- 
fihten auf das Dienflalter und perfünlihe Intriguen vermocdten jedoch das 
Minifterium Caſtlereagh, ven Oberbefehl an den Generallieutenant Dalrymple 
zu übertragen, deſſen Unfähigkeit zwei von W. über Laborde und Junot erfochtene 
Siege, vom 17. nnd 21. Auguft, in ihren Wirkungen baralyfirte. Der dadurch 
gegen den Oberbefehlähaber erregte Unwillen des englifchen Volkes erftredte fi 
aud auf ven Untergeneral, und im Herbfte kehrte W. nad England zurüd, um 
fi vor dem Unterſuchungsgerichte zu rechtfertigen. Am 22, December 1808 wurde 
er, von allen Anſchuldigungen vollfommen gerechtfertigt, freigefprodhen, worauf er 
ſich wieder nah Dublin zum Herzog von Richmond begab. 

In ver Zwiſchenzeit (November 1808) war jedoch Napoleon ſelbſt nad) 
Spanien gegangen, um bie Unfälle wierer gut zu machen, welche bie franzöftfche 
Armee im Laufe des Sommers hinter den Ebro zurüdgeworfen hatten, An ver 
Spige von 150,000 altgebienten und kriegsbewährten Soldaten drang er gegen 
Madrid vor, mofelbft er, nach dem glänzenden aber leichten Siege bei Somo- 
Siera, in den erfien Tagen des December einzog. Dann fi plöglid weftwärts 
wendend, überfchritt er im Eilmarſche die Schneelette des Guadarama, um das 
einzige noch auf der Halbinfel befindliche englifhe Korps unter General Iohn 
Moore von feinem Rüdzuge an da8 Meer abzufhneiden. Diefer Zwed wurte 
zwar nicht erreicht, weil Napoleon ſelbſt nad Paris zurüdeilte, doch fah ſich 9. 
Moore genöthigt, feine ganz erſchöpften und beinahe aufgelösten Truppen in Go- 
rona nad) England einzufchiffen; er felbft blieb in dem Arrieregardengefecht, unter 
deſſen Schutz die Einihiffung glädlih vor fih ging (16. Ianuar 1809). 

Innerhalb dreier Monaten waren drei ſpaniſche Deere vernichtet, die Eng⸗ 
länder aus Spanien verjagt, Madrid und Saragoffa genommen, Caftilien, Anda⸗ 
Iufien, Galizien von den franzöfifhen Heeren befetzt worden. Nach viefen bewunbe- 
tungswärbigen Erfolgen konute ver Kaifer bequem feine Vorbereitungen zu dem 
beginnenden Krieg gegen Oeſterreich treffen. 

Trog dieſes bevorftehenden Heerzuges, weldher einen großen Theil der kaiſer⸗ 
lichen Armee in Anfprud nehmen mußte, begann ſich die Iaunenhafte Volksſtim⸗ 
mung in England unbedingt zu Öunften des Friedens und gegen eine fernere 
Thellnahme am Halbinjellriege auszufprehen, jo niederdrückend hatte die Ver: 
treibung tes Moore’fhen Heerhaufens vom Kontinent auf die Gemüther gewirkt. 
Rur ungern entſchloß fi deßhalb das engliihe Minifterium, den Beftimmangen 
des mit Spanien am 9. Januar 1809 abgeſchloſſenen Allianzvertrages gemäß, 
zur Fortfegung dee Krieges, und biefer Umluft entjprah denn aud die verhältniß- 
mäßig geringe Unterftügung, welche Arıhur W., zum Kemmandant en Chef ver 





172 Wellington. 


englifhe Verwaltung von den fegensreidhften Folgen fein. In den acht Jahren 
feiner Anmefenheit gelang es Richard, tie dem Berfalle entgegentreibenne Macht⸗ 
ftellung Großbritanniens in Indien neu zu fefligen und nad allen Richtungen zu 
erweitern. Während er durch kühnes und energifhes Handeln fidh bei den einge: 
bornen Fürften ein beifpiellofes Anſehen zu verſchaffen mußte, verſtand er es zu- 
gleich, durch gewiflenhaftefte Beobachtung der beftehenten Verträge, durch unver- 
brücdliches Fefthalten an dem gegebenen Worte das Vertrauen wieber zu gewinnen, 
welches tie Zmweidentigfeit, Schwäche oder Unreblichleit der vorhergegangenen 
Gouverneure in einer langen Reihe von Jahren verwirkt hatten. Bei feiner Rüc⸗ 
tehr nad England begleiteten ihn die Segenswünſche ter in Indien lebenden 
Enzländer wie der Eingebornen. Über gerade die von ihm ben Hinbus und 
Mufelmännern bewiefene Schonung und Milde, welche eben ſowohl feinem edlen 
Herzen entiprangen, wie für ihn durch die Kiugheit geboten fchienen, waren Ur- 
fadhe, daß er mit den, fih nur für hohe Dividenden ihrer Altien intereffirenden 
Direktoren der Oftindifhen Kompagnie in Immer jchärferen Konflit gerieth und 
endlich feine Entlaſſung nahm. — 

In der vortrefflichen Schule dieſes Staatsmannes empfieng Arthur W. 
feine erſte politiſche Bildung und trug für feinen Theil in den langen und müh⸗ 
feligen Kämpfen mit Tippo Sahib und den Mabratten zur Befeftigung und Aus- 
breitung ver britifchen Herrſchaft in Indien bei. Zum Sturme auf Seringapatnam 
führte er perfönlih vie Hauptlolonne und wurde dann mit dem Gouvernement 
der eroberten Hauptftadt und des Reiches Myſore betraut. 1803 machte er mit 
geringer Mannſchaft den abenteuerlihen, aber vom vollften Erfolge gekrönten 
Neiterzug tief in die Berge der Mahratten, und einige Monate fpäter erfocht er 
bei Aſſahe mit 8000 M. einen glänzenden Sieg über 50,000. Aber während 
fih in dieſem kriegeriſchen Leben feine militärifchen Fähigkeiten mehr und mehr 
entwidelten, begann feine Geſundheit unter der Ungewohntheit des dortigen Klimas 
und den Strapazen des ununterbrodenen Imfeldeliegens bedenklich zu leiden. Um 
ſich hievon zu erholen, zögerte er nicht feinen Bruder zu begleiten, als ſich diefer 
1805 nad England einfchiffte. 

Mit ſtolzem Selbftbewußtfein durften Beide auf ihre Wirkſamkeit in Indien 
zurüdbliden ; ihrer vereinten Thätigleit war e8 gelungen, das von Clive, Haflings 
und Cornwallis begonnene Werk zu einem glorreihen Abjchluffe zu bringen. Der 
franzöfifge Einflug am Hofe des Nizam war für immer gebrochen, das Neid) 
Zippo Sahibs war umzgeftürzt; ungehenere Länterftreden waren der britifhen 
Herrſchaft einverleibt worden und hatten ihren Umfang, ihre Macht, ihren Reich» 
tum verdreifacht; Oſtindien gehörte von da an weder den Mahratten noch dem 
Sroßmogul: es war eine englifhe Befigung, der Großmogul ein englifcher 
Penſionair geworben. Angefihts folder Erfolge muß man, vom menſchlich⸗liberalen 
Standpunkt abgefehen, einräumen, daß die Verbienfte beider Brüder und nament- 
lich Richards um ihr Vaterland von Seite ihrer Landsleute die höchſte Bewunde⸗ 
rang und Anerkennung verbienten. 

In dem Augenblide, als die Welleeleys Indien verließen, befand fi Napo⸗ 
leon in Bonlogne, hin und her erwägend, ob er fein dort verfammeltes Heer nad 
Indien ſchicken, oder mit ihm über den Kanal nah England gehen jolle. Der 
Ausbruch des dritten Koalitionskrieges erlöste ihn ans dieſem Dilemma und rief 
feine Krieggsmacht nach der obern Donau. Arthurs beabfichtigte Theilnahme an 
biefem Feldzuge fcheiterte an der Schnelligkeit, mit welcher ſich die kriegeriſchen 
Dperationen von 1805 vollzogen. 


u 











Wellington. 173 


Nachdem er fih im Frühjahr 1806 mit der Tochter des Grafen Longford 
vermählt hatte, trat er als Bertreter des Burgfledens Rye in das Parlament und 
begleitete fpäter den nad den Tode des Miiniſters Fox zum Lorblientenant von 
Irland emannten Hazog von Richmond, als erfter Sekretär nad) Dublin. 

Im Sommer 1807 wurde er mit dem Kommando einer Divifion des Ex— 
pebitionsforps betraut, weldes Lord Cathcart nah Kopenhagen führte. Welche 
Anfichten Arthur W. als Menfh und Politiker Über diefe ſchmachvolle Verge- 
waltigung Dänemarks gehegt haben mag, darüber findet fi) in feiner Korrefpon- 
denz feine Anteutung; als Soldat erfüllte er nad übereinſtimmenden Zeugnifien 
von Freund und Feind im vollftien Maße feine Pflicht. 

Das Jahr 1808 ſchien ihm ein größeres felbftändiges Kommando ertheilen 
zu wollen, indem er mit einem Korps von 9000 M. zur Unterftügung der In⸗ 
furreltion in Portugal nad der Mündung des Mandego abgefandt wurte. Rüd- 
fihten auf das Dienftalter und perfünlihe Iutriguen vermochten jedoch bas 
Miniferium Caſtlereagh, den Oberbefehl an den Generallieutenant Dalrymple 
zu übertragen, befien Unfähigfeit zwei von W. über Laborde und Junot erfochtene 
Siege, vom 17. und 21. Auguft, in ihren Wirkungen haralhfcke Der dadurch 
gegen den Oberbefehlshaber erregte Unwillen des englifhen Volkes erftredte ſich 
aud auf den Untergeneral, und im Herbfte kehrte W. nah England zurüd, um 
ſich vor dem Unterfuhungsgerichte zu rechtfertigen. Am 22. December 1808 wurde 
er, von allen Anſchuldigungen vollkommen geredhifertigt, freigefprodhen, worauf er 
fi wieder nah Dublin zum Herzog von Richmond begab. 

In der Zwiſchenzeit (November 1808) war jedoch Napoleon felbfi nad) 
Spanien gegangen, um die Unfälle wieder gut zu machen, welche vie franzöfifche 
Armee im Kaufe des Sommers hinter den Ebro zurüdgeworfen hatten, An ver 
Spige von 150,000 altgebienten und kriegsbewährten Soldaten drang er gegen 
Madrid vor, woſelbſt er, nad tem glänzenden aber leichten Siege bei Somo- 
Siera, in den erflen Tagen des December einzog. Dann fi plötzlich weftwärte 
wendend, überfchritt er im Cilmarſche die Schneefette des Guadarama, um das 
einzige noch auf der Halbinfel befindliche engliſche Korps unter General John 
Moore von feinem Rüdzuge an das Meer abzufhneiden. Diefer Zwed wurte 
zwar nicht erreicht, weil Napoleon felbft nad Paris zurüdeilte, doch ſah fih 3. 
Moore gendthigt, feine ganz erſchöpften und beinahe aufgelösten Truppen in Co— 
rona nad England einzufchiffen; er felbft blieb in dem Arrieregardengefecht, unter 
tefien Schuß die Einjchiffung glädlih vor fi ging (16. Januar 1809). 

Innerhalb dreier Monaten waren brei fpanifhe Heere vernichtet, die Eng⸗ 
länder aus Spanien verjagt, Madrid und Saragoffa genommen, Caftilien, Auda⸗ 
Infien, Galizien von den franzöfifchen Heeren befezt worden. Nach viefen bewunde⸗ 
rungswürbigen Erfolgen konnte ver Kalfer bequem feine Vorbereitungen zu dem 
beginnenden Krieg gegeu Oeſterreich trefien. 

Trog biefes bevorſtehenden Heerzuges, welcher einen großen Theil ver faifer- 
lihen Armee in Anfprud nehmen mußte, begann fid die launenhafte Volksſtim⸗ 
mung in England unbedingt zu Gunften des Friedens und gegen eine fernere 
Thellnahme am Halbinfellriege auszufprehen, jo niederdrückend hatte vie Ver⸗ 
treibung tes Moore'ſchen Heerhaufens vom Kontinent auf die Gemüther gewirkt. 
Nur ungern entſchloß fi deßhalb das engliſche Minifterium, den Beſtimmungen 
des mit Spanien am 9. Januar 1809 abgejhloffenen Allianzvertrages gemäß, 
zur Fortſetzung dee Krieges, und biefer Umluft entjprah denn aud die verhältniß- 
mäßig geringe Unterftügung, welche Arthur W., zum Kommandant em Chef ver 


172 Wellington. 


englifhe Verwaltung von ben fegensreihften Folgen fein. In ben acht Jahren 
feiner Anmefenheit gelang es Richard, tie dem Verfalle entgegentreibende Macht⸗ 
ftellung Großbritanniens in Indien neu zu fefligen und nad allen Richtungen zu 
erweitern. Während er durch kühnes und energifhes Handeln fi) bei den einge: 
bornen Fürſten ein beiipiellofes Anſehen zu verſchaffen wußte, verftand er es zu- 
gleich, durch gemiflenhaftefte Beobachtung der beftehenven Verträge, durch unver- 
brüchliches Fefthalten an dem gegebenen Worte das Vertrauen wieder zu gewinnen, 
welches die Zweideutigkeit, Schwäche oder Unredlichkeit der vorbhergegangenen 
Gouverneure in einer langen Reihe von Jahren verwirkt hatten. Bei feiner Rück⸗ 
tehr nad England begleiteten ihn die Segenswünfche ter in Indien lebenden 
Engländer wie der Eingebornen. Aber gerade die von ihm ben Hinbus und 
Mufelmännern bewiefene Schonung und Milde, welche eben ſowohl feinem edlen 
Herzen entiprangen, wie für ihn durch bie Klugheit geboten fchienen, waren Ur- 
fadhe, daß er mit den, fih nur für hohe Divivenden ihrer Altien intereffirenden 
Direltoren der Oftinpifhen Kompagnie in immer ſchärferen Konflift gerieth und 
endlich feine Entlafjung nahm. . 

In der vortrefilihen Schule viefes Staatsmannes empfieng Arthur W. 
feine erfte politifche Bildung und trug für feinen heil in den langen und müh- 
feligen Kämpfen mit Zippo Sahib und den Mahratten zur Befeftigung und Aus- 
breitung der britiſchen Herrſchaft in Indien bei. Zum Sturme auf Seringapatnam 
führte er perfönlih die Hauptlolonne und wurde dann mit dem ©puvernement 
der eroberten Hauptftabt und des Reiches Myſore betraut. 1803 machte er mit 
geringer Mannſchaft den abenteuerlihen, aber vom vollften Erfolge gekrönten 
Neiterzug tief in bie Berge der Mahratten, und einige Monate fpäter erfocht er 
bei Afſahe mit 8000 M. einen glänzenden Sieg über 50,000. Aber während 
fih in dieſem kriegeriſchen Leben feine militäriſchen Fähigkeiten mehr und mehr 
entwidelten, begann feine Geſundheit unter ver Ungewohntheit des dortigen Klimas 
und den Strapazen des ununterbrochenen Imfeldeliegens bedenklich zu leiden. Um 
fih hievon zu erholen, zögerte er nicht feinen Bruder zu begleiten, als fich biejer 
1805 nad England einfchiffte. 

Mit ftolzem Selbftbewußtfein durften Beide auf ihre Wirkſamkeit in Indien 
zurüdbliden ; ihrer vereinten Thätigfeit war es gelungen, das von Clive, Haftings 
und Cornwallis begonnene Werk zu einem glorreihen Abſchluſſe zu bringen. “Der 
franzöfifde Einfluß am Hofe des Nizam mar für immer gebroden, bad Neid) 
Zippo Sahibs war umzgeftärzt; ungehenere Länverftreden waren ber britijchen 
Herrſchaft einverleibt worden und hatten ihren Umfang, ihre Macht, ihren Reid 
thum verbreifaht; Oſtindien gehörte von da an weder ven Mahratten noch dem 
Sroßmogul: es war eine englifhe Befigung, der Großmogul ein englifdyer 
Penſionair geworben. Angefichts folder Erfolge muß man, vom menſchlich⸗liberalen 
Standpunkt abgefehen, einräumen, daß die Verbienfte beider Brüder und nament- 
lich Richards um ihre Vaterland von Seite Ihrer Yandsleute die höchfte Bemunde- 
rung und Anerkennung verbienten. 

In dem Augenblide, als vie Welleeleys Indien verließen, befand fih Napo⸗ 
leon in Bonlogne, hin und ber erwägen, ob er fein dort verfammeltes Heer nach 
Indien ſchicken, oder mit ihm über ven Kanal nad England gehen ſolle. Der 
Ausbruch des dritten Koalitionskrieges erlöste ihn aus diefem Dilemma und rief 
feine Kriegsmacht nad der obern Donau. Arthurs beabfichtigte Theilnahme an 
biefem Feldzuge fcheiterte an der Schnelligkeit, mit welcher ſich bie kriegeriſchen 
Operationen von 1805 vollzogen. 


u 

















Wellington. 173 


Nachdem er fi im Frühjahr 1806 mit der Tochter des Grafen Longford 
vermählt hatte, trat er als Bertreter des Burgfledens Rye in das Parlament und 
begleitete fpäter den nad) dem Tode des Miniſters For zum Lorblieutenant von 
Irland ernannten Herzog von Richmond, ale erfter Sekretär nad Dublin. 

Im Sommer 1807 wurde er mit dem Kommando einer Divifion des Er- 
pebitionsforps betraut, weldes Lord Cathcart nad Kopenhagen führte. Welche 
Anfichten Arthur W. als Menſch und Politifer über dieſe ſchmachvolle Berge: 
waltigung Dänemarls gehegt haben mag, darüber findet ſich in feiner Korrefpon- 
denz feine Anveutung; als Soldat erfüllte er nad übereinftimmenven Zeugnifien 
von Freund und Feind Im vollften Maße feine Pflicht. 

Das Jahr 1808 ſchien ihm ein größeres felbfländiges Kommando ertheilen 
zu wollen, indem er mit einem Korps von 9000 M. zur Unterftügung der In- 
furreltion in Portugal nad der Mündung des Mandego abgefandt wurte. Rück⸗ 
fihten auf das Dienftalter und perfönlihe Intriguen vermochten jedoch das 
Miniferium Caſtlereagh, den Oberbefehl an den ©enerallieutenant Dalrymple 
zum übertragen, beflen Unfähigleit zwei von W. Über Laborde und Junot erfochtene 
Siege, vom 17. und 21. Auguft, in ihren Wirkungen paralpfirte. Der dadurch 
gegen den Oberbefehlähaber erregte Unwillen des englifchen Volkes erftredte fid 
auch auf den Untergeneral, und im Herbfte kehrte W. nah England zurüd, um 
fi vor dem Unterfuchungsgerichte zu vechtfertigen. Am 22, December 1808 wurde 
er, von allen Anſchuldigungen vollkommen gerechtfertigt, freigefprocdhen, worauf er 
fi) wieder nah Dublin zum Herzog von Richnond begab. 

In der Zwiſchenzeit (November 1808) war jedoch Napoleon felbft nad 
Spanien gegangen, um bie Unfälle wieder gut zu machen, welche vie franzöſiſche 
Armee im Laufe des Sommers hinter den Ebro zurüdgeworfen hatten, An ver 
Spige von 150,000 altgebienten und kriegsbewährten Soldaten brang er gegen 
Madrid vor, woſelbſt er, nad dem glänzenden aber leichten Siege bei Somo- 
Siera, in den erften Tagen des December einzog. Dann fi) plöglid weftwärts 
wendend, überfchritt er im Eilmarſche die Schneelette des Öundarama, um das 
einzige noch auf der Halbinfel befindliche engliſche Korps unter General John 
Moore von feinem NRüdzuge an das Meer abzufchneiden. Diefer Zwed wurte 
zwar nicht erreicht, weil Napoleon jelbft nad Paris zurüdeilte, doch fah fih 9. 
Moore gendthigt, feine ganz erjchöpften und beinahe aufgelösten Truppen in Go- 
rona nad England einzufchiffen; er felbft blieb in dem Arrieregardengefecht, nnter 
tefien Schutz die Einfchiffung glädlih vor fi ging (16. Januar 1809), 

Innerhalb dreier Monaten waren drei fpanifhe Heere vernichtet, die Eng⸗ 
länder aus Spanien verjagt, Madrid und Saragofia genommen, Gaftilien, Anda- 
Iufien, Galizien von den franzöfifchen Heeren beſetzt worden. Nach dieſen bewunde⸗ 
rungswürdigen Erfolgen konnte ver Kaiſer bequem feine Vorbereitungen zu dem 
beginnenden Krieg gegen Oeſterreich treffen. 

Trotz biejes bevorftehenden Heerzuges, welcher einen großen Theil der kaiſer⸗ 
lihen Armee in Anfprud nehmen mußte, begann fid) die Iaunenhafte Volksſtim⸗ 
mung in England unbedingt zu Ounften des Friedens und gegen eine fernere 
Theilnahme am Halbinfellriege auszufprehen, fo niederdrückend hatte die Ver— 
treibung des Moore'ſchen Heerhaufens vom Kontinent auf die Gemüther gewirft. 
Rur ungern entſchloß ſich deßhalb das engliſche Minifterium, den Beftimmungen 
des mit Spanien am 9. Januar 1809 abgeſchloſſenen Allianzvertrages gemäß, 
zur Fortſetzung dee Krieges, und dieſer Unluft entſprach denn auch die verhältnig- 
mäßig geringe Unterftügung, welche Arthur 2B., zum Kcmmandant en Ghef ver 





174 Wellington. 


Halbinfelermee ernannt, in ver erften Zeit feiner bortigen kriegeriſchen Wirkſam⸗ 
feit fand. An Geld freilich wäre fein Mangel gewefen, aber unglüdlicherweife 
fießen die englifchen Minifter dasſelbe ver fpanifhen Junta zur Errichtung eines 
Nationalheeres zulommen, während ber englifhe Feldherr und feine Truppen fort- 
während von dem Nöthigften emtblößt blieben und beifpiellofen Mangel leiden 
mußten. | 

Am 22. April landete W. im Tajo, von der Bevölkerung Üiffabons mit um 
fo größerem Enthuſiasmus empfangen, als fi gerade damals zwei franzöflfche 
Heere, Soult von Oporto, Viktor von Meriva, in Bewegung festen, um ſich der 
portugiefifhen Hauptfladt zu bemädhtigen. W., dem ber Beſitz der von Soult ein- 


genommenen und bedrohten reihen Provinzen wichtiger ſchien, als ihm die Nähe 


Viktors bei Liffabon gefährlih dünkte, fammelte eine Meine Heeresmacht — 
15,000 Engländer, 9000 Portugiefen und 3000 deutſche Truppen — in den erften 
Tagen des Mai bei Coimbra. Mit dieſen Überfchritt er am 12. Mat bei Oporto 
den Duero und warf Soult bis an die Norbfäfte von Spanien zurüd, wo es 
demfelben erft nach Wochen gelang, feine empfindlichen Verluſte an Menſchen und 
Material zu erſetzen. Invefien hatte ſich W. wieder an den Tajo nad Abrantes 
gezogen, um das in Eftramabura fiehende Korps von Biltor zu beobadten. Ende 
Juni befhloß er, aus feiner defenfiven Haltung bervorzutreten und fegte ſich Tajo 
aufwärts gegen Madrid in Bewegung. Dies führte am 27. und 28. Juli zur 
befannten Schlacht von Talavera, in welder zwar die Franzoſen feine eigentliche 
Niederlage erlitten, aber doc bie Meberzeugung gewannen, daß bie von W. be- 
fehligte englifche Infanterie der ihrigen volllommen gewachſen ſei. 

In Folge theils dieſer unentſchiedenen Schlacht, theils der Nachrichten von 
Soult's Vorrücken in's Thal des Tajo, ſah fich W. zum Rückzuge genöthigt, deu 
er nach Badajoz fofort antrat, unter deſſen ſchützenden Mauern er feinen erſchöpften 
Zruppen bie nöthige Ruhe gönnte und den weiteren Verlauf der Dinge ruhig 
abwartete. 

Eine auffallende Bedächtigkeit arafterifirt überhaupt die Operationen des 
englifhen Feldherrn auf der Halbinfel, die mit dem Lebensalter des erft 40jäh- 
rigen Mannes nicht in Einklang ftand und welche ihm bei einem Theil feiner 
Gegner den Ruf der Unentfciedenheit und des Mangels an Thatkraft verfchaffte. 
Gewiß mit Umedt, da W. fowohl früher in Indien ale auch ſpäter in den Nieder 
landen den überzeugenden Beweis des Gegentheils lieferte. Abgeſehen aber von 
den aue London ihm zugelonmenen beftimmten Welfungen, waren die allgemeinen 
und fpectellen Berhältniffe der vamaligen Periode wohl der Art, um anßergewöhn- 
liche Borfiht in der Kriegsführung zu rechtfertigen. Die Verkehrtheit der poli- 
tifhen Anfhauungen in England, bie Aengftiichleit des bortigen Minifteriums, bie 
Zuchtlofigkeit der engliſchen Solvaten und ver dadurch noch gefteigerte Widerwille, 
mit dem das fpanifche Voik feinen ketzeriſchen Befreiern entgegentrat, der Eigen⸗ 
nug und die Bejchränkiheit der fpantjchen Centraljunta, die vollfommene Unfähig- 
feit ber nationalen Heerführer und ihrer Ouerilla-Haufen — al’ dies mußte 
bie Luft an jedem frifhen Handeln verfümmern. Zudem mag von allen Heerfüh- 
rern der damaligen Epoche vielleicht gerade W. verjenige gemeien fein, welder 
feiner innerſten Natur nah am wenisften zu dem Geifte bes Widerſtandes und 
der Art der Kriegsführung paßte, wie fie damals in Spanien an ber Tagesorb- 
nung waren. Seinem korrekten, beinahe rechtedigen Weſen widerſtand bie oberfläch⸗ 
liche, faft liederliche Wirthſchaft in allen Zweigen des ſtaatlichen Lebens auf der 
Pyrenden-Halbinfel. Für ven dort oft überfläffig aufflammenven, nach ſüdlicher 











Be 2 = ya DEP 


Welliagton. 175 


Weiſe zu maßlofer Leidenſchaft gefteigerten Enthuſiasmus empfand er tn feiner 
ächt englifhen Ruhe nicht die mindeſte Sympathie). 

Und doch kann man der Wahrheit gemäß behaupten, daß unter feines andern 
Mannes Führung die Refultate erreicht worden wären, welche ſchließlich zur Ver⸗ 
jegung der Franzofen und zur Befreiung Spaniens führten. Aber von gemein- 
famen Operationen mit dem fpanifchen Volksheere und feinen eigenwilligen be- 
ſchränkten ©eneralen wollte W. fett den Erfahrungen des Feldzuges won 1809 
nichts mehr wifjen; unbekümmert um ihre Schidfale wandte er feine Aufmerkfam- 
feit ansfchlieglich der feften Organifirung des portugiefifhen Heeres zn und ver- 
einigte dasfelbe in Badajoz, Meriva und Liffabon mit feinen englifch-ventfchen 
Negimentern. Zwifchen dieſen und den franzöfifchen Regimentern wollte er fortan 
ausſchließlich den Krieg geführt wiſſen, deſſen Endzweck W. in dem militärtfchen 
Siege der englifhen Fabnen, nicht aber im der politifchen Befreiung Spaniens 
ſah. Wer ſich nur einmal vie Mühe gegeben, einen fogenannten Volkskrieg mit 
Genauigkeit und Gewifienhaftigkeit in feinem Innern Verlaufe zu verfolgen, 2) wird 
über den Entichluß des englifhen Generals nicht befremdet fein, wenn auch ein 
falſcher tiberaler Doftrinarismus darin nur das Gebahren eines Bollbiutariftofraten 
und flarren, pedantifhen Militärs finden will. 

Daß, von den regulären Truppen verlaffen und ihrer eigenen Bernunft fol- 
gend, die dei Parque, Cueſta, Balafor, Infantado zc. aller Orten gefchlagen, ihre 
Haufen auseinandergeiprengt oder vernichtet, beinahe alle Ipantfchen Provinzen von 
den Franzoſen bejegt wurden, war felbftverftändlich, rief aber, im Vereine mit der 
Nachricht von dem kurz vorher abgefchloffenen Waffenſtillſtand von Znaym, einen 
folden Sturm im Parlament, Bolt und Preffe von Witengland gegen die Fortfegung 
des Krieges auf der Porenäen-Halbinfel hervor, daß die ganze Beredſamkeit des kurz 
vorher ins Minifterlum getretenen Marquis Rihard Wellesley nöthig war, um 
die geforberte Zurüdberufung Wellingtons?) und feiner Armee nad England zu 
verhüten. Unter folyen Berhältniffen freilich konnte diefer noch weniger auf Ber- 
ftärfungen von Seite Großbritanniens rechnen, als früher, und auf ſich ſelbſt und 
feine eigenen Kräfte angewiefen, ih der That nichts Anderes thun, als die Rath- 
ſchläge feines Bruders Richard befolgen, der ihm nad dem Scluffe der darauf 
bezüglihen Parlamentsvebatten ſchrieb: „Wir können gar nichts für Di thun; 
fei vorfihtig und wage nichts.“ 

Inzwifhen hatte Napoleon dem berühmteften feiner Marfchälle, dem FFärften 
von Klingen, den Oberbefehl über die in der Phrenäen-Halbinfel ſtehende Kriegs⸗ 
macht übertragen. Bon dem rädfihtelofen und energifchen Bertheidiger der Schweiz 
und Genun’s erwartete der Kaiſer, daß er die nun ſchon zwei Jahre währende 
Infurrefiion in Spanien erbritden, bie englifhe Hülfssrmee auf ihre Schiffe jagen 
werde. An der Spite eines an 100,000 M. ftarten Heeres rüdte Maffena im 


1, Tbe enthusiasm — ſchreibt er am 25. Auguft 1809 an den Staatäaſekretair Lord 
@aftlereagh — is, in fact, no ald to accomplish any thing, and is only on excuse for 
' Ihe irregalarity wilh which every Ibing is donc and for the want of discipline and 
subordination of the armies. Urgl. Dispatches of the duke of Wellington volume V. 

86 


2) Wer fi über die Innern Zuftänte Spaniens während des Unabhängigkeitskampfes von 
1808— 1814 unterridten will, den verweifen wir auf die jüngſt zu Leipzig bei Hirzel erfchienene 
Geſchichte Spaniens vor Hermann Baumgarten. (Brgl. den Art. „Spanien“ im Stuate: 
wörterbucdy von demfelben Berfafler A. d 9.) . 

3) Nah dem Siege bei Zalavera de la Reyna war Arthur Wellesley zum Discount Mellinge 
ton von Talavera erhoben worten. 


— 











Sommer 1810 gegen die portugiefifhe Grenze vor und bemädhtigte ſich nach kurzer 
Belagerung der Feſtungen Ciudad-Rodrigo und Almeyda. W., dem nicht mit Un⸗ 
recht der Vorwurf gemadt wird, daß er den Fall wenigftens von Almeyba hätte 
verhindern können, wich langfam und kämpfend vor der herannahenden Uebermacht 
zurüd. Ieber Fuß breit Yantes, Ten er dem Gegner überlaflen mußte, wurbe von 
den Einwohnern felbft verwäftet, Mühlen, Häufer, Scheunen von ihren Befigern 
verlaffen und verbrannt. Am 8. Dftober bezog die englifch-portugiefifhe Armee 
die feit Monaten vorbereiteten Linien von Torres-Beoras, an ber Äußerften Weft- 
ipige des Kontinentes, hinter welden auf der Rhede von Liſſabon eine engliſche 
Flotte von 20 Linien und 200 Transportfäiffen lag. Durch diefe unterhielt W. 
feine Berbintung mit England und bezog er gleichzeitig vie Lebensmittel für feine 
Armee und die Tauſende von Landleuten, die fih mit Weib und Kind aus den 
verwäfteten Provinzen nad Liſſabon oder in das Lager geflüchtet hatten. 

Bor dieſer unangreifbaren Stellung lag nun das franzöſiſche Heer Wochen 
lang, Monate lang, unthätig, durch Seuchen decimirt, mit dem bitterften Mangel 
fämpfend, denn jede von franzöſiſchen Regimentern nicht bedeckte Landſchaft loderte 
in hellen Flammen des Aufruhrs empor. Zahlreiche Guerillasſchwärme in Nüden 
und Flanken von Maffena’s Armee nahmen die Lebensmittelfuhren hinweg, auf 
deren rechtzeitigen Eintreffen die Sranzofen in dem gänzlich ausgefogenen Lande 
allein angewiefen waren. Jede regelmäßige Verbindung mit Frankreich, mit 
Madrid, mit dem in Anvalufien ſtehenden Korps von Soult war gänzlid abge» 
ſchnitten, keinerlei Verſtärkung zu erwarten. Alle VBerfuhe Maſſena's, den eng- 
liihen General zu einem unüberlegten Schritte, zu einem Verlaſſen feiner Stellung 
zu verleiten, f&eiterten an deſſen eiferner Konſequenz. 

Man hat W.'s mehrmonatlihe Unthätigkeit hinter feinen Schanzen ſeitdem 
vielfach getabelt, ta doch ein energifcher Angriff auf Maflena’s geſchwächte Armee 
deren Vernichtung zur wahrſcheinlichen Folge gehabt haben würde. Aber W., ber 
wohl wußte, daß das von ihm befehligte englifhe Heer die legte und einzige Hoffe 
nung eines Widerſtandes gegen vie franzöfifche Uebermacht fei, widerftand all’ die 
Zeit hindurch beharrlid allen Aufforverungen feines Souvernements, feines Haupt- 
quartierd, der portugiefifhen Parteien, ja felbft dem eigenen Verlangen, fi mit 
dem Feinde im freien Felde zu meſſen. Mit richtigem Blide erlannte er, daß eine 
gewonnene Schlacht nur geringe Vortheile bringen, eine immerhin aud mögliche 
Niederlage aber die unhellvollfien Folgen für die ganze Kriegeführung haben 
würde. An feinem urſprünglichen Operationsplane unerfchättert feſthaltend, ver- 
zichtete er zu Gunften eines fiheren auf einen glänzenden Erfolg, den er mit 
Hülfe des Zufalles etwa hätte erreihen können. Daß ein folder General von 
ben ehrgeizigen Heerführern des franzöfifchen Katferreiches nicht verftanden, ja des 
Kleinmuthes und der Unentjchloffenheit geziehen werben Konnte, iſt begreiflich. 

Aber die Richtigkeit von W.'s Berechnungen follte fi bald bewähren. Nach 
ſechs Monate langem fruchtloſen und verluftvollen Warten mußte Maflena im 
März 1811 mit ergrimmtem Herzen den Rüdzng gegen Norden antreten und 
jest begann fär den englifchen Feldherrn die Zeit der altiven Thätigkeit. Mit 
peinlihem Erftaunen nahmen die franzöfiihen Generale an ihrem Gegner plöglich 
eine Kühnheit, eine Energie, eine Offenfiofraft wahr, die ſich täglich fteigerte nnd 
beren fie den phlegmatifhen Briten niemals für fähig gehalten bätten. 

Aus feiner feften Stellung fofort aufbredend, folgte er Mafiena auf den 
Ferſen bis Almeyda, das er einzufchließen begann. Um die bevrohte Feftung zu 
eutfegen, wandte der franzöfifche Marſchall wieder um und griff die in höchſt un⸗ 


176 Wellington. 








Wellington. 177 


gänftiger Pofition bei Fuentes d’Onoro Tagernde engliige Armee am 3. und 
5. Mai an. Dank der gegenfeitigen Eiferfuht und Unverträglichleit ihrer Generale 
und dem Mangel an Munition, wurben die Angriffe der Franzoſen blutig zuräd- 
geworfen und Almeyda gerieth in Folge deſſen fhon am 11. Mai in die Hände 
der Engländer. Ein Korps an der Coa zur Beobachtung der gefhlagenen feind- 
lichen Armee, über welche anftatt des in Ungnade gefallenen Maſſena ver Herzog 
von Ragufa ven Oberbefehl übernahm, zurücklaſſend, wandte fih dann W. mit 
zwei Divifionen nach der Guadiana, wo eben Beresford bei Albuera einen Ber- 
ſuch Soult's zum Entfate des bedrohten Badajoz abgefchlagen hatte. 

Trotz ber verfchievenen Unfälle, welche vie einzelnen franzöfifhen Korps um 
diefe Zeit trafen, war jebod die Lage des Königs Joſeph in Spanien durchaus 
noch feine ungünftige. Er felbft beherrſchte durch Jourdans Korps von Madrid 
aus bie des langen Vürgerkrieges bereitS müde geworbenen Provinzen Alt: und 
Reu-Caftilien, Soult in feiner Pofition bei Llerma dedte ven ganzen Süden und 
Sudet hatte fih foeben dur die Wegnahme von Tortofa und Tarragona zum 
unbevingten Herrn des Dftens von Spanien gemadt. Schon hegte Napoleon 
wieder ven Gedanken, fih durch einen energifhen Offenſtoſtoß auf W. in ven 
Beflg der ganzen Halbinfel jegen zu können. Aber die Vorbereitungen zum Kriege 
gegen Nußland ließen ven Kaiſer nit zu tem Entſchluß gelangen, eine hiefür 
genügente Macht über die Porenäen zu ſchicken; nicht mit Unrecht glaubte er 
einer ſolchen bei dem beworftehenden norbifhen Zuge nicht entbehren zu Tönnen. . 
Diefen neuen Krieg bis nach vollendeter Eroberung Spaniens zu verfhleben, dazu 
hätte es minbeftens einer zeitweiligen Rachgiebigteit von feiner Seite gegen ven 
Szaren bedurft; daß fich aber der unbeugfame Stolz bed Imperator zu irgend 
einer Nachgiebigkeit entfchließen würde, flund nun und nimmermehr zu erwarten. 
Zudem war er ſeit feinem kurzen und glüdlichen Frühjahrsfeldzuge von Somo- 
Siera von der Idee durchdrungen, daß die Beſiegung der infurgirten Spanier 
und bes englifhen Hülfsheeres eine Leichte Sache fei. Alle Niederlagen, welche dort 
die franzöfiihen Fahnen ſeitdem erlitten, fchienen ihm Folge der Unfähigkeit und 
Milde feines Bruders, fowie der Ungefhidlichkeit und Eigenfucht der komman- 
direnden ©enerale zu fein. So befcgräntte er denn feine Unterftägung für bie 
Kriegsführung in Spanien auf bie Abfendung von 40,000 Mann nad Afturien 
und Navarra im Frühjahre 1812, welche er jedoch nebft noch weiteren 20,000 M. 
im Herbfte wieder nach Frankreich z0g. Die wiederholte Zurüdbeorverung feiner 
gefchlagenen Lieutenants und der dadurch hervorgernfene Wechjel im Oberlommando . 
trug ebenfalls nicht bei, den moralifhen Zuftand des Heeres zu heben. Enplid 
wirkte fein Eigenfinn, Alles perjönlich leiten und Hundert Meilen vom Kriegs- 
ihauplage entfernt Verhaltungsmaßregeln für jeden einzelnen Fall diktiren zu 
wollen, im höchſten Grave lähmend auf die Energie der Kriegsführung ein. 

Dem Allen fland W. mit der unbefchränfteften Selbftänpigfeit im Ober- 
kommando gegenüber, die er fi, allen ihm von den fpanifchen Cortes, der portu⸗ 
giefifhen und der englifchen Negierung in den Weg geworfenen Hinderniflen zum 
Zrog, zu erzwingen gewußt hatte, — einer Selbſtändigkeit, deren fih von allen 
feit 1793—1815 gegen franzöfifche Heere befehligenden Generalen außer ihm 
nur noch Blücher erfreuen durfte. Mit verfelben verband der englifche Feldherr 
eine Unermüdlichkeit und Energie ohne Gleichen und namentlid eine unerſchütter⸗ 
liche Konfequenz, die allerdings im hoͤchſten Grade nöthig war, wenn überhaupt 
etwas erreicht werben follte. 

Um feine ferneren Operationen auf eine ungeftörte Verbindung mit Portugal 

BDluntſchli und Brater, Deutſchet Staatt⸗Wörterbuch. Xi. 12 


I. 


178 Wellington. 


und dadurch mit dem Meere bafiren zu können, ging feine Abfiht zunächſt dahin, 
in den Befig der no vom Feinde behaupteten feften Punkte Badajoz und Ciudad⸗ 
Nodrigo zu gelangen, zu teren regelmäßiger Belagerung es ihm jedoch nit nur 
an dem nöthigen Material und Gefchüge, fondern vor Allem an Genieoffizieren 
und Genietruppen gänzlich mangelte. Aber feine Ausdauer führte ſchließlich doch 
um Ziel. 

’ Zwar die faum begonnene Belagerung ber erfteren Feſtung fah fih W. am 
10. Juni genöthigt wieder aufzuheben, va Marmont, von Salamanca herbeiziehend, 
ten Tajo überfchritt und mit Soult gemeinfhaftlih auf Badajoz vorrückte. W. 
wandte fih nun mit feiner ganzen Macht gegen Ciudad-Rodrigo vermodte aber 
erft am 7. Januar 1812 mit der Belagerung zu beginnen, da fein Belagerungs- 
part erft Ende December von England eintraf. Durch die drohende Nähe von 
Marmont's Korps zur Eile gezwungen, fohritt W. fhon am 19. Januar zum 
Sturm, der ihn, freilih unter empfindlichem Verlufte, in den Beſitz des Platzes 
brachte. Dann eine ſtarke Stellung vor vemfelben beziehend, ſchien er nur auf 
Behauptung des bisher Gewonnenen bedacht zu fein; insgeheim traf er aber alle 
Borbereitungen zur Belagerung von Batajoz. Mitte März brach er plöglich dort⸗ 
hin auf und am 17. Abends wurde ſchon die erfte Parallele vor dieſer Feſtung 
gelegt. Um nicht vor der anrüdennen Armee Soult’8 die Belagerung abermals 
aufheben zu müſſen, entihloß ſich W. ſchon am 6. April Abends zum Sturm, 
ver ihn, von beifpiellofem Glück begünftigt, am folgenden Morgen auch viefe 
Geftung in die Hände lieferte. Die unerhörte Graufanıkeit, mit welder die eng- 
liſchen Truppen die eroberte Stadt vermwüfteten und bie Lorbeeren ihres Sieges 
arg befledten, ift mit Unrecht ihrem General zum Borwurf gemadht worden; auch 
mit dem fefteften Willen vermochte er ber zur Gewohnheit gewordenen Zügellofig- 
teit feiner aus dem niedrigften Pöbel Englands angeworbenen Soldaten nicht zu 
ſteuern. Mitte April ftand W. mit feiner Armee ſchon wieder an der Coa, um 
Almeyda und Ciudad⸗-Rodrigo vor Marmont zu befchügen, der fih mit feinem 
Heere auf Befehl des Kaifers, aber viel zu fpät, von Salamanen nad der Pro- 
vinz Beira in Bewegung gefegt hatte. 

| Und nun, nachdem er fi feine Baſis und die Berbindung mit Portugal 
fowohl im Norden, als im Süden gefichert hatte, ging W. zur Offenfive über. 
Am 22. Juli flug er Marmont's Heerhaufen in dem glänzenden Eiege bei 
ben Arapilen, Überfchritt dann ten Quadarama und zog am 12. Auguft in Madrid 
ein, jubelnd begrüßt von dem Volke, welches, im Gegenſatz zu ver in Cadix herr- 
ſchenden Partei, allmählig zu begreifen anfing, was es dem eigenfinnigen, hart⸗ 
föpfigen und Fegerifchen Fremden Alles zu verdanken habe. Die polttifchen Folgen, 
welche ſich nothwendigerweife aus dem VBefige der Hauptfladt des Landes ergeben 
mußten, ſchienen W., wie wir gleich fehen werben, fehr mit Unrecht wichtiger, als 
die Vernichtung eines Armeekorps, welche er bei energifher Verfolgung von Mar- 
A geſchlagenem, nunmehr von Clauzel befehligtem Heere wahrſcheinlich erzielt 

tte. 

König Joſeph hatte ſich von Madrid nach Valencia zu Suchet gewendet, 
dahin zeg Anfangs Oktober, wenn auch widerſtrebend, Marſchall Soult aus An⸗ 
daluſien, ſo daß nunmehr eine beträchtliche Streitmacht an der Oſtküfte von Spa⸗ 
nien vereinigt ſtund. Mit etwa 70,000 M. rückte nun König Joſeph Mitte 
Oktober in zwei Kolonnen über Cuenca auf Madrid und Toledo vor. Der eng- 
liſche General HIN, welcher zwiſchen legterem Orte und Aranjnez und und Madrid 
befegt hielt, ſah fi vor der Uebermacht zur Räumung der Haupiftabt und zum 














Wellington. 179 


Rüdzuge genötbigt, welchen er in richtiger Würdigung der Verhältniffe nicht im 
Tajothale, fondern Über den Duadarama zu W. ausführte. Diefer hatte fich 
inzwifchen vergebens mit der Wegnahme des Schloffes von Burgos abgemüht, 
während der an des verwundeten Clauzel Stelle getretene Souham anfehnliche 
Berftärfungen an fi zog, und nun mit einem über 30,000 M. flartem Heere 
zum Entfage berbeieilte.e So fah fih denn W. nit nur in der Fronte ernftlich 
angegriffen, fondern auch in Flanke und Rüden durch eine Überlegene Macht be- 
droht. Ein längeres Verweilen vor Burgos hätte den ſicheren Untergang gebracht, 
ſchon fein verfpäteter Abmarſch verurfachte bedentende Verluſte. Und als er mit 
feinen und Hill's Truppen Ende November in Ciudad-Rodrigo anlangte, waren 
biefe jo erſchöpft, daß an eine energifche Fortfegung des Krieges vorläufig nicht 
mehr gedacht werben konnte. Glüdlicherweife befanden fih die drei franzöftfchen 
Urmeelorpe — Soult, Iourdan und Souham — in nicht befferer Verfafjung; fie 
hatten fih anı 8. November bei Medina del Campo vereinigt und, nad einem 
vergeblihen Berfuhe W. zu einer Schlacht zu bewegen, Winterquartiere zwifchen 
Balladolid und Toledo bezogen. König Joſeph war noch einmal zu einem freilich 
kurzen und legten Befuche nad Madrid zurüdgelehrt. Die zahlreichen und werth- 
vollen Berluſte an Material und Geſchützen, welche die Frauzofen in dieſem Kriegs- 
jahre dur Räumung von Andaluften und Caftilien und dur die Zerftörung ver 
Depots von Sevilla, Granada, Madrid, Almaraz, Salamanfa und Valladolid 
erlitten hatten, konnten W. einigermaßen dafür entſchädigen, daß fein erfter Ver⸗ 
ſuch, fih in den Beſitz des Herzens von Spanien zu fegen, vollſtändig gefcheitert 
und er wieder an bie Grenze von Portugal zurüd geworfen worden war. 

Wie der Beginn des ruffifhen Feldzuges und deffen Verlauf, fo mußte aud) 
defien verhängnißvoller Ausgang auf die Kriegführung der Franzoſen in Spanien 
einerfeits, anf die Erfolge der Verbündeten andererfeits entſcheidenden Einfluß ge- 
winnen. Während bie erfteren an phufifcher wie moralijher Feſtigkeit mit jedem 
Zage mehr einbüßten, feftigte fi in London wie in Cadir, in Liffabon wie in 
Rio de Janeiro immer mehr die Ueberzeugung von einem nahen fiegreihen Ende 
bes Befreiungslampfes. Mitte Mat 1813 brach W. mit feinem anſehnlich ver- 
ſtärkten Heere aus feinen Winterquartieren auf, bemädtigte fih durch eine ge- 
fhicte Operation des wichtigen Burgos und nöthigte die franzöflfche Armee hinter 
den Ebro zurüd. Am 21. Juni fam e8 zur Schlacht bei Vittoria, in welcher 
diefe unter perfönliher Führung des Königs Joſeph auf's Haupt gefchlagen und 
zum Rüdzug über vie Pyrenäen gezwungen wurde. Nad der Wegnahme von St. 
Sebaftian folgte W. mit feinem Heere über die Bidaſſoa, Nivelle, Adour und 
Garonne, nit ohne heftige Kämpfe mit dem Heere Soult's, melde erſt in der 
biutigen Schlacht von Touleufe am 10. April 1814 ihr Ende fanden. 

Inzwifhen war Paris in die Hände der Verbündeten gefallen, das folge 
Bebäude des Napoleonifhen Kaifertbums zufammengebrohden. Mit Dotationen 
und Würden, Titeln und Orden aus allen enropälfchen Landen überhäuft, begab 
ſich W. im Januar 1815 zum Kongreß von Wien, von wo ihn jedoch die Nad)- 
tigt von Napoleons Landung in Frejus fhon im April wieter an die Spike 
der in den Niederlanden ſtehenden engliſchen Armee berief. 

Sein und Blücher's glänzender Siegeszug über das Schlachtfeld von Wa- 
terloo bis an die Barrieren von St. Denys iſt zu allgemein befannt, um bier 
abermals einer Darftellung zu bevürfen (orgl. die Artifel „Blücher” und „Öneifenau”). 
Noch ehe die Monarchen von Rußland und Preußen in Paris eintreffen konnten, 
hatte W. durch Fouché die Wieverzurücberufung der Bourbons durchzuſetzen ge- 


12 * 








180 Wellington, 


‘ 
wußt, was ohne feine energiihe Mitwirkung vielleiht gar nicht mehr gefchehen, 
jedenfalls mit größeren Opfern für Tranfreih verknüpft gewejen wäre. Seine 
bodkonfervative Anſchauung drängte ihn, das rechtmäßige Königshaus in den von 
ihm ererbten Beſitz wieder einzufegen. Zugleih glaubte er hierdurch ben König 
Ludwig XVII wie den Dauphin fi) verpflichten und jeden andern auswärtigen 
Einfluß als eben den englifhen, auf die künftigen Geſchicke Frankreichs befeitigen 
zu können. 

In Bertretung biefer doppelten Richtung, der Tonfervativen und fpecififch 
großbritannifchen, beftand aud feine Wirkfamfeit als englifher Bevollmächtigter auf 
ven Kongreflen zu Aachen und Verona (1818 und 1822), wenn er auch auf letz⸗ 
terem, durch die von Canning verfaßten Inftruftionen gebunden, dem inneren 
Drange feines Herzens nit Ausdruck geben konnte. 

Als Canning im Jahre 1827 nad Liverpool Tod von König Georg IV. 
mit der Leitung des Minifteriums betraut wurde, trat W., der als Großmeifter 
der Artillerie Sig im Confeil butte, aus demfelben und legte fogar den Ober⸗ 
befehl Über die Armee nieder. Dem ftolgen Tory wiverftrebte vas Wefen des Em⸗ 
porlömmlings, wie man den genialen Staatsmann in ben vornehmen Kreifen da⸗ 
mals betitelte; der Herzog und Feldmarſchall wollte mit dem Advokatenſohn nichts 
zu ſchaffen haben. Die von Canning eingebragten Bills über Emancipation der 
Katholifen, fowie über Herabjegung der Kornzölle fanden im Oberhaufe an W. 
einen energifhen Gegner. 

Nach den im Auguft 1827 erfolgten Tode Cannings nahm W. erft wieder das 
Oberkonimando der Armee an und ald Ford Goderich in Folge der Schladht von Na- 
varin feine Entlafjung einreihte, wurde W. vom Könige mit der Bildung eines Mini- 
ſteriums beauftragt, in welden nicht nur Peel und Palmerſton, fondern auch Hus⸗ 
tiffon und Dudley Plag fanden, Januar 1828. In der darauffolgenden Barlaments- 
feffion legte zum Exftaunen der ganzen Welt das Minifterium W. den beiven 
Häufern zwei Gefegentwäürfe vor, welde von dem nunmehrigen erften Lord des 
Schatzes auf das entjchiedenfte befämpft worden waren, als fie — vor etwa adıt 
Monaten — Canning eingebradht hatte. Beide Bills — die eine die Verbeflerung 
der politifhen Stellung der Katholifen, die andere die Derabfegung ter Schutz⸗ 
zöle für die Getreide-Einfuhr bezwedend — gelangten zur zweiten Leſung in 
beiven Häufern. Nicht fo ein von Ruſfſell eingebrachter Antrag auf Abfhaffung ver 
Wahlfühigkeit der Burgfleden (rotten-boroughs), wodurch eine Spaltung im Ka⸗ 
binete entftand, in Folge deren Huskiſſon, Palmerfton, Dudley, Ward und Grant 
aus demfelben ausſchieden und durdy fünf Torys erſetzt wurden, unter denen fi 
zum Entfegen der Liberalen nicht. weniger als drei Generale — Hardinge, Mur- 
ray und Angleſea — befanden. 

Inzwifhen hatte die Agitation der Katholiken in Irland, durch ihre erften 
Erfolge ermutbigt, eine ſolche Ausvehuung und zugleich eine Intenfivität gewonnen, 
taß es dem Minifterium nöthig ſchien, denfelben noch weitere Zugeftänoniffe zu 
machen, um jo mehr, ald alle von dort einlaufenden Berichte übereinſtimmend be» 
ftätigten, daß die in Irland flationirten Truppenabtheilungen im hoben Grabe 
forrumpirt und zum großen Theile gänzlich unverläffig fein. So fhritten denn 
W. und Peel dazu, ein Geſetz zur vollftändigen Emancipation der Katholifen ein- 
zubringen,; für fie und namentlich für erfteren war bies lebiglih eine Maßregel 
zur Aufrechthaltung der öffentlihen Ordnung. Nachdem er aber die Durdführung 
diefer Maßregel für nothwendig erfannt hatte, forgte er — und dies mußten ihm 
jogar feine Feinde zugeftehen — mit bewunderungswürbiger Geſchicklichkeit und 











Wellington. 181 


Konfequenz dafür, daß ihre Annahme erfolgte, obwohl er hiebei nicht nur den 
Widerſtand des ſchwachköpfigen Georg IV. und die Madinationen des hohen 
Klerus der Staatskirche, fondern aud die erzürnte Oppofttion feiner ehemaligen 
Parteigenofien zu befämpfen hatte. — Am 5. Februar 1829 wurde die Emanci- 
pation der Katholifen in ver Thronrede bei Eröffnung des Parlamentes angekün⸗ 
digt nnd fünf Wochen darauf warb in beiden Häufern die zweite Lefung mit 
zweifellofer Majorität genehmigt. 

Ungeachtet ver durch diefen Steg auf's Höchſte gereizten Stimmung der Tory⸗ 
partei und der fonfervativen Prefie fette das Miniſterium Wellington: Peel noch 
zwei wichtige Reformen durch, eine Gefegbeftimmung, welche ven Betrag ber Korn- 
einfuhrzölle nach den jeweiligen Kornpreifen in England regelte und die Ein: 
führung ver Ueberwachungs⸗ und Sicherheitspolizei in London (policemen), 
welche nod heute das unerreichte Muſter für alle Polizeianſtalten des Konti- 
nentes ift. 

Aber zur Unterftützung der nicht nur von der Partei der Liberalen, ſondern 
vom überwiegend größten Theil des engliſchen Volkes gewünſchten Parlaments⸗ 
reform konnten ſich W. nnd Peel auch diesinal nicht entſchließen. Und ala tie im 
ganzen Lande darüber beftehende Aufregung durch bie Nachricht von der inzwiſchen 
ansgebrochenen Pariſer Inlirevolution unt ter Zerjagung der Bourbond vom 
franzöflfhen Throne ſich zu beifpiellofer Höhe fleigerte, als Infulten auf öffent“ 
licher Straße nicht nur gegen den Herzog verübt wurden, fondern fogar den neuen 
König Wilhelm IV. bebrohten, mußten W. und Peel ihre Entlafjung im No- 
vember 1830 zu einer Zeit einreihen, In welcher ihr Abtreten von feiner Geite 
bedauert wurbe. Zu konſervativ für die Liheralen, zu liberal für die Konſervativen, 
beſaß das Mintfterium bei feinem Sturze die Sympathie von Niemandem mehr, 
fand es ſich von allen Parteien verlaflen. So jehr hatte W.'s konſervative Hart- 
uädigfeit in Verbindung mit feiner unflugen politifchen Haltung in ben auswär- 
tigen Fragen, feine großen militärtfchen Berbienfte in gänzliche Vergeſſenheit zu 
bringen gewußt. | 

Welche Kämpfe Lord Grey mit feinem Whig-Minifterium durchzumachen 
hatte, ehe es ihm endlich gelang, die Meformbill von 1832 im Oberhaufe durch⸗ 
zubringen, ift unvergefien. W., feinem Grundfage getreu, daß es die erfte Pflicht 
eines jeden Staatsbürgers fei, die ununterbrodene Fortdauer einer georoneten 
Staatsleitung zu ermöglichen, felbft wenn dies nur auf Koften der eigenen Ueber- 
zengung zu erreihen wäre, enthielt fi mit einem Theile der Lords der Abftim- 
mung und ficherte fo bie Annahme der BIN. 

Der im November 1834 erfolgende NRüdtritt des Lord Grey bradte W. 
wieder in das Kabinet, deſſen Vorfitz diesmal an Peel fiel, während W. von 
Balmerfion das Auswärtige übernahm; doch ſchon im April 1835 mußten bie 
Tory's wieder den Whigs Pla machen, indem Lord Melbourne vom Könige den 
Auftrag zur Bildung eines Minifteriums erhielt. 

Bon diefer Zeit an befhränfte fih W.'s Theilnahme an ven Staatsgefchäften 
mehr auf die militärifhen Pflichten feiner Stellung als Oberbefehlshaber ver 
Armee, aber auch die Würde eines Kanzlerd der Univerfität Oxford, zu welcher 
er im Jannar 1834 gewählt worven, befchäftigte das Intereffe des alten Helden 
mamigfach. Zwar nod einmal, von 1841 — 1846, gehörte W. — menigftens dem 
Ramen nad — dem zweiten Miniſterium Peel an; auch diesmal — feinem Grund⸗ 
fage gemäß, die eigene Veberzeugung der allgemeinen unterzuorpnen — war e8 
feiner meifterhaften Rede in der Naht vom 25. Mai 1846 zu verdanken, daß 


vn 








182 | Wellington. 


die Aufhebung der Korngefege vom Oberhauſe befhloffen wurde. Am 29. Juni 
legten Peel und mit ihm W. ihre Entlaffung in die Hände der Königin, die Lorb 
Nuffel mit der Bildung eines Minifteriums betrante. 

Im Juli 1850 ergriff der greife Herzog im Haufe der Lords noch einmal 
das Wort, um feinem wenige Tage vorher verſchiedenen Freund und ehemaligen 
Kollegen Peel einen warmen, für beide Theile ehrenvollen Nachruf zu widmen. 

Am 14. September 1852 ftarb W. auf feinem Schloffe Balmer Caſtle; in 
ver Weftminfterabtei liegt er begraben. 

Arthur Wellesiey war kein weitfehenber, groß angelegter Geift; feine beiden 
Brüder Richard und Henry, namentlid aber ver erftere, überragten ihn in intel- 
leftueller Beziehung beveutend. Und doch hat er in feiner Zeit das Höchſte ge- 
leiftet, wad ein Dann zu leiften vermag. In einer langen Reihe von Jahren, 
unter den denkbar ungünftigften Berhältniffen waren feine Bemühungen ftete, 
wenn aud oft erft nach angeftrengteftem Ringen, von Erfolg gefrönt. Was ihn 
dazu befähigte, war bie Unbeugſamkeit feines Willens, feige bewunderungswürdige 
Pflichtireue, die malellofe Ehrenhaftigkeit feines Weſens. Was er fich einmal zu 
erfüllen vorgenommen, was er verfprochen hatte, das führte er in unerfchütterlicher 
Ausdauer mit ruhiger Beharrlichkeit bis zum Ende durch. Umfichtig und fcharf 
beobachtend, auf die Heinften Schwierigkeiten Bedacht nehmend, fuchte er erſt alle 
Bortheile, welche Andere vom Zufall oder Glück erhoffen, durch Klugheit, Gewalt 
oder Geduld auf feine Eeite zu bringen; wenn er dann aber aus feiner ſchein⸗ 
baren Ruhe zur Entſcheidung losbrach, fo gefhah Dies mit einer fo gewaltigen 
Energie, mit einer fo zähen Konfequenz, daß fi Ihm der Erfolg beinahe niemals 
verfagte. 

Daß er mit folhen Fähigkeiten und Charaktereigenſchaften in der kriegerifchen 
Atmofphäre feiner Epoche ein Feldherr erflen Ranges werben mußte, ift erflärlich. 
Und was noch mehr war als diefer Ruhm, er erlaufte ihn nicht durch nußlofes 
Aufopfern feiner Soldaten, durch eiferfüchtige Zurüdjegung feiner Untergenerale, 
er befledte ihn niemals durch Handlungen des Eigennutzes. 

Weniger geeigenfhaftet war W. durch Geburt und Erziehung, Anlagen und 
Standesvorurtheile für hervorragende Leiftungen auf dem ſtaatsmänniſchen Ge» 
biete. Seine Art und Weife, die ganze Schöpfung nur vom militärifhen Stand- 
punkte zu betrachten, fein unausgejegtes Veftreben, die Verwaltung eines Staates 
in derfelben georbneten und regelrechten Form wie das Kommando eines Regi- 
mentes zu leiten, ließen ihn als erften Minifter in England für die Dauer un- 
möglich erfcheinen. Auch fein oben mehrmals angebeuteter Grundfag — mit Auf: 
epferung der eigenen Weberzengung ver Staatsgewalt die Aufrechthaltung der 
öffentlichen Ruhe zu ermöglichen — war nicht geeignet, ihm in dem fonftitutionellen 
England, das eben damals fi in heftigen inneren Krifen befand, bei den poli= 
tifhen Parteien Vertrauen zu erweden. Es widerſtrebte den verfafjungsmäßigen 
Anfhauungen der Engländer, einen Staatsmann vie Leitung des Kabinets nur 
deßhalb übernehmen zu fehen, weil er von feinem Souverain den Befehl hiezu 
erhalten hatte. Dazu kam noch die unfluge Haltung feines Minifteriums von 
1828—1830 in der auswärtigen Politif, die er als vefien Chef vertrat: feine 
offen zur Schau getragene Abneigung gegen Griechenland, feine Nachgiebigkeit 
gegen den Gzaren Nikolaus, feine wohlmollende Stellung zu Don Miguel, endlich 
feine halbe Feinpfeligkeit gegen die belgiſche Revolution. Aber aM’ diefe Mißgriffe, 
die zum Theil gerade jenen Eigenſchaften entfprangen, welche W. feinen hervor» 
tragenden Plag in der Weltgefhichte erringen halfen, find längft vergeffen und ver 


u 











Weltmacht und Welktreich. 183 


Spottname, den ihm die City von London in der gewaltigen Aufregung bes 
Herbſtes von 1830 gab, iſt zum Ehrennamen geworden. Wellington wird für 
ale Zeiten im Munde des englifhen Volkes heißen: der eiferne Herzog. 

Literatur. Hauptquellen find: “Die dispatchbes and memoirs of the 
fieldmarchal Duke of Wellington. London 1843—1864. Band I—VIII. 
dann die 1863 zu Paris und Brüffel erfchtenene Histoire du duc de Welling- 
ton par A. Brialmont. Das erſte Wert ift, wie fih von felbft verfteht, Lediglich 
eine Sammlung der von dem Herzog in den Jahren 1797—1815 erlaffenen und 
verfaßten amtlichen Schriftftüd. Was vas zweite, aus drei diden Bänden be- 
ſtehende Werk betrifft, jo jcheint e8 und den Ruf nicht zu rechtfertigen, den man 
dem Berfafier — einem belgifhen Generalftabsoffizier von unbeftreitbarem Talente 
— in ver belgifhen wie in ber deutſchen Preſſe (vrgl. Brodhaus: Unfere Zeit, 
1859. 3. Bd. ©. 291 ff.) in feiner Eigenfhaft als Hiftoriker zu fchaffen fich 
befleißigte. ‘Diefe Hiftorie wenigftens ift häufig fehr oberflächlich abgefaßt und ſucht 
durch ſchwungvolle Ahetorit und fchillernde Diktion dasjenige zu erfegen, was 
tie Kritit von einem gefchichtlihen Werke zu fordern berechtigt ift. 


2. Hörmann. 


Weltmacht und Weltreich. 


In allen Zeitaltern der Geſchichte hat es Staaten gegeben, deren Macht weit 
über das eigene Land hinaus wirkte und eine ganze Gruppe von fremden Län» 
dern, gleichſam eine Welt von manderlei Völkern zu einem großen Völkerſyſtem 
verband. Soihe Mächte, welche ven Begriff des Landes zu dem ber Welt be- 
ziehungsweife eines Welttheild ausweiten und von ver engern Rüdfiht auf eine 
einzelne Nation ober ein beſonderes Boll fi zu den Rüdfichten auf die Menſch- 
beit erheben, heißen wir Weltmächte. Keinem Staate des Alterthums war das 
Harer als den Römern, deren Stäbteftant (civitas) zum imperium mundi 
fi erhob und welche al8 Ziel ihrer civilifirenden Herrfhaft die humanitas . 
proflamirten. 

Unter den heutigen europäifhen Großmächten tritt dieſer Charakter der Welt: 
mächte befonders deutlich heraus in Großbritannien, mit feinen großen Ne- 
benländern in Amerika, Afien, Afrika und Auftralien, feiner die Welt umkreiſenden 
Seemacht und feinem Welthandel. Die Politit Englands kann deßhalb nicht eine 
eng europäiſche fein, fie muß Weltpolitif fein. Im befchränfterem, mehr auf bie 
räumliche Ausbreitung über Ofteuropa und Nordaſien bafirten Umfang und Sinn 
iſt auh Rußland eine Weltmadt. Aber auh Frankreich muß hauptlächlic 
mit Rüdfiht auf feine großen afrikaniſchen Befigungen und feine Madtftellung 
fowohl in Oft- und in Weftafien als gegenüber Amerika, als eine Weltmacht tarirt 
werden, wenn gleich e8 in höherem Grade eine europäiſche Macht ift, ald Eng- 
land oder Rußland, und feine außereuropäifchen Befigungen und Interefien doch 
viel weniger beveutend find. Den veuffhen Großſtaaten konnte, feit dem Mittel- 
alter, in weldhem das heilige römifhe Reich deutſcher Nation den Rang 
ver höchſten europäiſchen Weltmacht eingenommen hatte, der Charakter von Welt: 
mächten nicht mehr zugefchrieben werben. Aber ſchon feit einem Jahrhundert ift 
allmählich die deutſche Kultur zu einer Weltkultur und der deutfhe Handel zum 
Welthandel herangewachſen. Enplich werden auch jeit dem großen Kriege von 1866 
und der beginnenden Neugeftaltung Deutſchlands die erften Anfüge zur Er⸗ 
neuerung eines weitern politifchen Öefichtstreifes fihtbar und das wiebergeborne 


Wu 














1 Weltmacht und Weltreich. 


Sure Rei wirt mieten eine Weltmacht werben. Im fechszehnten Jahr⸗ 
ww... Tu Zranien meh eine Weltmacht, ift dann aber allmählih von dieſer 
Na Wucgttunlee 

Au, Na curopäifchen Weltmächten müflen voraus die Vereinigten 
Sur..a mu Amerika hauptſãchlich als eine Weltmacht, zunächſt für die ameri- 
u. Stauismelt (MenreeDoftrin, |. d. Art.) angejehen werden, baun aud 
wen ap fir Vie efl-afiatifche Staatengruppe das Chinefifhe Reid. In 
N. Nademmedariſchen Staatenwelt nahm lange Zeit das Türkiſche Neid 
x>2 Stellung em umb behauptet fie theilweife heute noch, obwohl es der inneren 
W:ivtam und den äußern Angriffen,in gefährliher Weiſe ansgefegt iſt. 

Tier Werentung ter Weltmächte ift nur eine politifche, fie hat bis jetzt 
una aöerehtlichen oder verfafjungsmäßigen Ausprud erhalten. Die politifchen 
Yurgaten der Weltmächte werben erweitert mit der Ausdehnung ihres Horizonte 
ya ter Verbreitung ihrer Interefien, ihr Geift belommt einen höhern Schwung 
war eine Größe, woburd er den Geift ver bloßen Landes» und Nationalſtaaten 
aderragt. Aber befondere Mechte erhalten die Weltmächte Ted, nicht vor den übri⸗ 
zen Staaten, von beſcheidenerem Charakter und enger begrenzter Bebeutung. 

Bon anderer Art ift die Ipee des Weltreihs. Die Weltmächte bewegen 
uch in der Welt, das Weltreih will die Organifation der Welt, als der 

inen Menſchheit varftellen. Sie betrachtet den ganzen Erpfreis als ein 
durch die Natur verbundenes zufammengehöriges Ganzes und fowohl die Weit- 
theile als die einzelnen Länder nur als untergeorbnete Theile jener großen Ein- 
heit. Ebenfo fieht fie in den Bälfern und Nationen nur einzelne Theile der Einen 
Menfhheit und will eine rechtliche Sefammtordnung für alle Yänder und 
alle Völker. 

Diefe Idee, welche heute von ven Meiſten als eine Thorheit veradhtet, und 
als ein kindiſches Spiel der erregten Phantaſie belädhelt wird, iſt meines Erad- 
tens das höchſte Ziel der rechtlichen und politiihen Entwicklung ver Weltgefchichte, 
dem ſich bie Menfchheit von Weltperiode zu Weltperiode ſichtbar annähert!) und 
das fie, wenn aud vielleicht erft nach mehreren Jahrhunderten, noch verwirklichen 
wird. 

Wie das Chriſtenthum als Weltreligion die verfchiedenen Nationen verbindet 
und die religiöfe Befriedigung der Menfchheit anftrebt, fo ftelt das natürliche 
Menſchenrecht den Zufammenhang aller Menfhen ber und bereitet das wach: 
fente Völferreht, das fünftige Weltrecht vor, welches den Frieden und die 
Wohlfahrt der Menſchheit fihern- und die naturgemäße und freie Entwidlung aller 
Völker [hügen fol. Die Mängel des heutigen Välkerrechts, dem es noch an einer 
ausreichenden Geſetzgebung und Rechtspflege fehlt, weifen ebenfo auf vie Erfüllung 
in dem vollfommeneren Weltrechte hin, dem es weder an Geſetzen (Weltgefegen) 
noh Richtern (Weltrihtern) fehlen wird, wie die Vorzüge und Segnungen biefes 
Völkerrechtes unerflärlid wären, wenn nicht in ihm der Zufammenhang aller Völker 
zur Einen Menfchheit wenigftens nothdürftig gewahrt, das heißt die natürliche 
Anlage zum Weltreih anerkannt wäre. 

Die Idee, für melde je die höchſt begabten politifchen Völker und Staats- 
männer fidh begeiftert haben, wirb freilich oft mißverftanden und mißdeufet. 

Wir verftehen unter dem Weltreih nicht einen einzigen unermeßlichen Ein- 
heitsftaat, eine über die Erde hin ausgebreitete Univerfalmonardhie, welche feine 


— — — 


*) Brgl. darüber Bluntſchli, Ag. Staatsrecht I, ©. 42 ff 











Weltmacht und Weltreich. 186 


Mehrheit von Staaten buldete, fondern alle Staaten in abhängige Provinzen ver: 
wandelte. In der That machte die Menfchheit einmal den Verfuch zur Herftellung 
eines ſolchen Weltreichs. Die Römer vermeinten dieſes Ideal zu verwirklichen. Der 
Eine Staat Rom verſchlang alle Völker und alle Staaten um Rom und um Ita- 
lien ber in feinem gewaltigen Schlunde Die Welt ſchien der Herrihaft Roms 
unterthänig und alle Nationen zu Römern oder doch Helleno-Romanen zn werben. 
Ein Kaifer, Eine Gefeggebung, Eine Verwaltung regierten die civilifirte Welt in 
drei Erbtbeilen. Aber diefer römifche Verfuh des Weltreichs ift von ver Welt: 
gefchichte verurtbeilt. Die Art feiner Verwirklichung war im Widerſpruch mit ber 
Natur der Menfchheit und der Beftimmung, welde ihr Gott geſetzt bat. Derfelbe 
ift gefcheitert an dem Widerftand Iebensfräftiger Völker. ine ſolche Univerfal- 
monarhie würbe den Untergang der Nationen ftatt ihrer Sicherung bebeuten. Die 
Anfommlung aller menſchlichen Gewalt in Einer Hauptſtadt und zuhöchſt in Einem 
Weltherrn wäre fo unermeßlid, daß fein Menſch fie zu handhaben vermöchte, und 
fo übermächtig, daß fie jede Freiheit der Völker durch ihr Schwergewidht erbrüden 
würde. Schon die römische Kaifergefchichte zeigt, wie gefährlich das Mebermaß von, 
Gewalt auch für die PBerfon ihres Trägers wird. Er bildet fi ein, wie ein Gott 
allmächtig zu walten und hat doch nur beſchränkte Mienfchenkräfte in fih und da⸗ 
neben manderlei Schwächen und Leidenſchaften, die dann leicht von Andern aus⸗ 
gebeutet und ins Ungemefjene und Abenteuerliche gefteigert werden. Die Haupt: 
ſtadt zieht alle Reihthlimer der Länder and alle Talente aus der Bevölkerung an 
fih, und die Provinzen verarmen und werben vernadläffigt. Es fehlt dem ganzen 
Staatslörper an einer gefunden Cirkulation des Bluts und an ber Bewegung ber 
Glieder. Der Ueberfluß der Säfte, die in dem Kopf zufammenftrömen, machen 
auch biefen apoplektiſch und allmählig breitet fih die Lähmung von der Peripherie 
her auch über das Gentrum aus. 

Die Menſchheit ift wirtiih Ein Wefen und weil fie es ift, fo bebarf fie 
fhlieglih einer menſchlichen Organifation und einer gemeinfamen Le— 
bensorpnung. Aber fie hat die Mannigfaltigfeit ver Völker in fih, und biele 
tärfen nit dem Moloch einer überfpannten und unnatürlihen Einheit geopfert 
werden. Das mannigfaltige Leben der Völker iſt vie Grundbedingung 
der Entwidlung der Menſchheit. 

Es ift daher für die Fortbildung der Welt ein Glüd, daß nach dem Zerfall 
des Einen römiſchen Weltreihs eine Mehrzahl von eigenthümlichen 
Böllern and Staaten zur Selbſtändigkeit gelangte. Damit iſt die Gefahr 
einer befpotifchen Uniformität befeitigt und bie freie Entfaltung der mandherlei 
Bölfer gerettet. Das der cioilifirten Menſchheit entfprechende Weltreich iſt daher 
nicht als Ein Staat mit bloßen Provinzen und einer Alles beherrſchenden Gentrals. 
regierung zu denken, fondern als ein Gefammtbund over ein Öefammtreid, 
in welhem bie verfhiedenen Staaten, jeder nad feiner Eigenart, ſich felber 
regieren und ihr eigenthümliches Streben mit freiheit verfolgen. 

Man mag fi dieſen menfchheitlichen Verband aller Staaten vorftellen, ale 
eine große Konföderation der Staaten, als Staatenbund oder mit ent» 
widelterer Einheit ald Union der Staaten over ale Geſammtreich mit aus 
gebildeten Gefammtorganen, fo darf viefe Einigung nit das Sonverleben ver 
Einzelftanten aufheben oder erdrüden, fondern hat ſich auf diejenigen Verhältniſſe 
zu befhränten, welche in Wahrheit allen Völkern und der ganzen Menſch⸗ 
beit gemeinfam find. Dahin gehören 

A. Die Wahrung des Beltfrievene, 


vo 





186 Weltmacht ua Weltreid, 


B. Der Schur der Eriflenz und ver freien Entwidlung der Nationen 
und Bölter. 

C. Die Gewährleiftung der unentbehrliden Menſchenrechte. 

D. Die Förterung des Weltverkehrs und der Humanität. 

Etwas von alle dem ift fhon in dem gegenwärtigen Völlerrechte zu finden, 
aber eftenbar ift diefes theil® in ver Anerkennung dieſer allgemeinen Rechte und 
Interefien noch fehr lüdenhaft und unfiher, theild in den Mitteln des Schukes 
febr dürftig amsgeftattet. _ 

Die Ansbildung diefer gemeinfamen menſchlichen Rechte und Intereſſen ift 
nur in tem Maße möglih, als die verſchiedenen Völker ihres Zufammenhangs 
zur Welt bewußter werden und der Verband derfelben zur Menſchheit fefter ge- 
tnüpft wird. Der heutige Zuftand, in welchem eines geringfügigen Streites wegen, 
vieleicht aus bloßer Eiferfucht oder nm einer Einbildung willen, die Staaten mit 
einander in Krieg gerathen und in Folge veffen die ganze Welt in Unruhe ver- 
feßen, fich wechfelfeitig rutniren und felbft ven frieblihen Nationen empfindliche 
Nachtheile zufügen, ift doch offenbar noch barbariſch. Wenn erft beffer für ven 
Weltfrieven geforgt fein wird durch große Inftitutionen ber verbundenen Völker, 
jo wird bie civiliſirtere Menſchheit auf unfere heutigen Kriege mit venfelben Ge⸗ 
fühlen zurüd bliden, wie wir auf die Fehden des Adels und das fogenannte Fauſt⸗ 
recht im Mittelalter. 

Wie unvollfommen heute no die Eriftenz ber verſchiedenen Nationen und 
Bolker gegen Vergewaltigung geſchützt wird und wie wenig bie freie Eutwidlung 
derfelben gefichert ift, zeigt die gefchichtlihe Erfahrung. Je ftärker der Trieb und 
je energifher da8 Bewußtſein ver Nationalität in unfrer Zeit geworben ift, um 
fo lebhafter werden dieſe Mängel empfunden. Weßhalb follte die Menfchheit, deren 
Wohl bei diefer Frage fehr intereſſirt ift, die Einficht nicht haben, und weßhalb 
die Macht niht, das Leben der Nationen, aus denen fie befteht, fo weit nöthig 
gegen die Unterbrüdung durch andere Völker zu hüten? Es kommt doch nur 
darauf an, Inftitutionen zu fchaffen, in denen fich das Gewiflen und das Rechts⸗ 
gefühl der Menfchheit unzweidentig ausſpricht und welhe die Macht der Welt 
zum Vollzug ihres Rechtsſpruchs handhaben. Man darf daraus, daß es heute 
noch dieſe Inftitutionen gibt, nicht fchließen, daß fie nicht möglich find. Die Welt 
ale Ganzes betrachtet, befindet fich heute noch faft in vemfelben anarchiſchen und 
barbarifhen Zuftand, in welhem fih zur Zeit der Völkerwanderung die große 
Nation der Germanen im Verhältniß zu den einzelnen germanifhen Stämmen 
und Völkerſchaften befunden hat. Wie es in der Folge der fortfchreitenden Kultur 
gelungen ift, fie zu Einem großen Reiche zu vereinigen, in welchem alle einzelne 
Länder ihre Eigenthümlichleit und Freiheit bemahrten und auf den Reichstagen zu 
gemeinfamen Beſchlüſſen zufammen traten, fo Tann und wird es aud der fort- 
ſchreitenden Menſchheit glüden, ihren Glievern, ven Völkern, ein gefichertes 
ae zu gewährleiften und fie zu einer großen Weltgemeinfchaft zufammen zu 
affen. 

Die heutigen zufammengefegten Reihe und Bundesſtaaten, welde für bie ge- 
meinfamen Zwede des Gefammtlebens in Geſetzgebung, Regierung, Rechtspflege 
dur Inftitutionen der Geſammtheit forgen und daneben ven einzelnen Staaten und 
Ländern, aus denen fie beftehen, wieder ihre befondere Geſetzgebung, Regierung 
und Rechtspflege verftatten, beweifen die Möglichkeit einer Ausfcheibung der ver- 
ſchiedenen Zuftänbigfeiten und Bereihe. So wird auch der Bereih des Gemein- 
menjhlihen zu unterfcheiven fein von dem Bereih des nationalftaat- 














Wettiner. 187 


tichen Interefies. Wenn dorthin verhältnißmäßig nur wenige Dinge, hieher viele 
zu rechnen find, fo find jene wenigen body von höchſter Bedeutung. 

Sogar das heutige mangelhafte Völkerrecht bat angefangen, dem unmenjd- 
lichen Inftitute der Sklaverei entgegen zu treten und dem Menfchenreht ber 
perfönlihen Freiheit einigen Schuß zu verſchaffen. Die Ausbildung des 
künftigen Weltrechts wird tafür vollftändiger und durchgreifender forgen. Ich ftehe 
nicht an, zu behaupten, daß auch der Gevanfe Kants, daß es ein Weltbürs 
gerrecht gebe, in dieſem Weltrechte feine volle Anerkennung finden werde. Wie 
wir heute zwifhen Semeintebürgerreht und Staatöbürgerredht unterſcheiden und 
jedem biefer Begriffe einen befondern Kreis von Rechten und Pflichten zufchreiben 
und in den zufammengefegten Staaten ebenfo außer dem Bürgerrecht des Einzel⸗ 
ſtaats (Landrecht) auch ein Bürgerrecht des Geſammtſtaates (Bundes⸗, Reihsbürger- 
recht) kennen, fo wird in Zukunft zn dieſen ſtufenweiſen Erweiterungen des Bürger⸗ 
verbandes auch der weiteſte Kreis des Weltöürgerrehts hinzu treten und auch 
biefem Begriff werben eigenthümliche Wirkungen zugefchrieben werden, 3. B. bed 
ungeflörten Reifens in der Welt, der Freizügigkeit, ver Hülfe in Notbfällen (bei 
Krankheiten, Schiffbruch u. vgl.) 

Für den Weltverfehr zu forgen, ift wieder im Intereſſe nicht einzelner, fon- 
bern aller Bölfer, der ganzen Menſchheit. Indem die Meere der Staatenherrichaft 
entzogen find, bleiben fie der Ordnung der Welt anheim gegeben. Die Freiheit 
der Meere wird bereits als allgemeines Menfchenreht anerkannt. Dieſe Freiheit 
führt zu der andern, ter freien Schifffahrt auch auf den großen Binnengewäflern, 
den Seen und den Strömen, welde mit dem Meere in Berbinpung find. Und 
wie es große Waflerftraßen giebt, die allen Flaggen aller Nationen geöfinet 
find, fo gibt es von Natur auch große Weltftraßen, veren Bedeutung über bie 
Berbindung einzelner Staaten und Yänder hinaus reicht, an denen ber gefammte 
Weltverkehr das höchſte Intereffe hat. Diefe Weltftraßen fallen naturgemäß in 
den Bereich des Weltſchutzes und der Weltforge. 

Es ift ger nicht unmöglich, daß ebenfo in Zukunft der Boftverfehr und das 
Zelegraphenwefen und vielleicht das Münzweſen in wefentlihen Beztehungen, fo 
weit dabei der Weltverfehr intereffirt ift, durch gemeinfame Weltgejege oder Welt: 
erdnungen regulirt werden. 

Je mehr das geſchieht, um fo Harer tritt allmählih die Einheit und Ge— 
meinfhaft des Weltrehts in ihren Wirkungen fihtbar hervor. Auf biefem 
Wege wird die Idee des Weltreihs, d. h. der rechtlich geordneten Menfchheit 
ihrer Berwirklihung zugeführt. Binntichi. 


Weſtyphäliſcher Friede, ſ. Kongreſſe und Friedensſchlüfſe. 


Wettiner. 


Dreer erſte Stammvater dieſes Geſchlechtes fol Theodorich Buzizi um 
980 geweſen fein, welcher als „vir egrogiæ libertatis“ urkundlich bezeichnet wird. 
Als die deutſchen Dynaſten anſingen nach ihren Hauptburgen Familiennamen an⸗ 
zunehmen, nannte ſich dieſes mit Grafenämtern bereits verſehene Geſchlecht „Grafen 
von Wettin“, nach ſeinem unweit von Halle am Seeufer gelegenen Stammſitz. 
Eine größere geſchichtliche Bedeutung erhielt das Haus Wettin zuerſt mit Kon⸗ 
rad dem Großen, dem Sohne des Grafen Thimo von Wettin, welcher mit der 
Markgrafſchaft Meißen vom Kaiſer Lothar 1127 erblich belehnt wurde und 
die Markgrafſchaft Lauſitz und die Grafſchaft Rochlitz erwarb, womit er 


J 


188 Wettiner. 


alle wettiniſchen Samilienbefigungen vereinigte. „Von der Neiffe bis Thüringen 
beherrſchte Konrad alles Land”, fagt ein gleichzeitiger Chroniſt. Konrad war ein 
aächter Sohn des XII. Jahrhunderts, einer jener ritterliden Fürſten, welcher, 
außer durch weltlihe Händel und Fehden, auch tur Wallfahrten, geiftliche Stif- 
tungen, Bußen und SKafteiungen feinen Ruhm erhöht und fi dadurch von ben 
Mönchen ven zweiten Beinamen „des Frommen“ verdient hat. Im Jahr 1156 
trat er ſelbſt als Mönd in das von ihm geftiftete Peteräberger Klofter, wo er 
1157 ftarb. Vorher hatte er nad der Sitte der vamaligen Zeit feine ſämmtlichen 
Befigungen unter feine fünf Söhne vertheil. Otto, ver ältefte, erhielt das 
Hauptland Meißen, Dietrich Eilenburg und die Nieverlaufig, Dedo Rod» 
lie, Heinrich den Stammfig Wettin, Friedrich die Grafſchaft Brena. 
(Schöttgen, Geſchichte Konrads des Großen, Dresven und Leipzig 1745.) 
Uebrigens find fämmtlihe jüngere Tinten wieder abgegangen und das Haus Wettin 
blühte nur in ver erfigebornen Linte Dtto’s weiter. Der in dem Hauptlande 
Meißen fuccevirende erftgeborne Sohn, Markgraf Otto 1157—1190, erhielt den 
Beinamen des Reihen, weil unter ihm vie Entdedung des „Greiberger 
Bergfegens" ftattfand, woburd der Reichthum des Fürften und des Landes 
in hohem Grabe gehoben wurte. Ihm folgte fein ältefler Sohn Albredt 
ber Stolze in ver Markgrafſchaft, 1190—1193, viefem fein Bruder Die- 
trih der Bedrängte, 1195—1221, welchem fein einziger weltliher Sohn 
Heinrih der Erlaudte, 1221—1288 fuccedirte. Dieſer beveutende 
Fürſt war bei feines Baters Tode erft drei Iahr alt und fland Anfangs 
unter Vormundſchaft feines Oheims, des Lanpgrafen Yupmwig von Thü- 
ringen. Seine Mutter war Jutta, bie erftgeborne Tochter des Landgrafen 
Hermann von Thüringen; durch fie erwarb er einen Erbanfpruh auf Thüringen. 
Er felbft war verheirathet in erftr Eh mit Konftantia von Defter- 
rei; feine erften glänzenden Waffenthaten verrichtete er in einem Kreuzzuge 
gegen die heidniſchen Preußen. Im Iahre 1247 ſchloß Heinrich Raſpe die lange 
Reihe der thüringifhen LTandgrafen. Es entbrannte nun ein heftiger Succeffions- 
ftreit zwifhen Heinrich dem Erlauchten, dem Sohne Jutta's, der älteften 
Tochter des Landgrafen Hermann I. und Sophie von Brabant, der Tochter Lud⸗ 
wig IV. Der Kalfer, welcher Heinrich dem Erlauchten ſchon 1242 eine Eventual- 
belehnung auf Thüringen ertheilt hatte, und die thüringifhen Vaſallen erflärten 
fih für ihn, als rechtmäßigen Nachfolger in die erledigte Landgrafſchaft. 
Obgleich die thüringifhen Stände ihm ſchon im Jahr 1249 hHulbigten, fo 
hatte er doch noch ſchwere Kämpfe mit den übrigen Prätenventen, bejonders mit 
Sophia von Brabant und dem Grafen Siegfried von Anhalt. 
Endlich ſchloß der blutige Streit, nah der Schlaht von Wettin 1263, damit ab, 
daß Heinrih Helfen an Sophia’8 Sohn, Heinrih das Kind, abtrat und dafür in 
ungeftörtem Beſitz von Thüringen gelaffen wurde. Mit der Landgrafſchaft Thü- 
ringen ging aud die damit verbundene Pfalzgraffhaft Sachſen auf 
die Wettiner über. Heinrich hatte feinem älteften Sohn Albrecht dem Un- 
artigen Thüringen, die Pfalz; Sachſen und das Pleißner Land, dem jüngern 
Dietrich vie Mark Landsberg fon bei Tebzeiten überlaffen und ſich felbft nur 
Meißen vorbehalten. Als nun Albrecht mit feinen Söhnen Friedrich dem 
—Gebiſſenen und Diezmann in Streit gerietb, wurden aud bie übrigen 
Landestheile davon ergriffen. Noch verwidelter wurben Heinrich's häusliche Ver⸗ 
hältniffe dadurd, daß er fih in dritter Ehe 1268 mit einer unfreien Miniftertalin, 
Elifabeth von Maltig, vermählte und dem mit diefer erzeugten Sohne Friedrich 











Wettiner. 189 


dvem Kleinen, einen Theil feiner Tante zuzumwenden ſuchte. Heinrich befaß 
glänzende Eigenfchaften, er war tapfer, gerecht, ein Freund ber Künfte und 
ſelbſt Minnefänger. Er bat viel für die Größe feines Hauſes gethan, aber 
auch durch Mangel an Staatsklugheit ven Keim zu Streitigkeiten gelegt, welde 
noch fange nad, feinem Tode das Haus der Wettiner zerrütteten. (Littmann, 
Geſchichte Heinrich's des Erlaudten, 2. Bd. Leipzig u. Drespen 1845 — 1846.) 
Bir übergehen diefe entfeglihen Familienfehden, welde vie gefegneten Fluren 
Thüringens und Meißens Verwüfteten, und erwähnen nur, daßallein Friedrich 
ber Gebiffene, der Sohn Albrechts tes Unartigen, der Entel Heinrich's des 
Erlauchten, ven Stamm der Wettiner fortfegte, indem er zulegt als Markgraf 
von Meißen und Landgraf von Thüringen alle väterlihen Lande vereinigte. Ihm 
folgte fein einziger lebender Sohn Friedrich der Ernfihbafte in allen 
feinen Landen und Würden 1324—1349, welcher fi durd feine Tapferkeit und 
Klugheit fo viel Anfehen erworben hatte, daß ihm mehrere deutſche Fürſten gegen 
Karl IV. als König aufftellen wollten. Er lehnte aber im Interefje feiner 
Erblande diefe unfichere und zweideutige Würde ab und ftarb 1349 mit Hinter- 
lofjung dreier Söhne, Friedrichs des Strengen, Balthafars 
und Wilhelms Frievrih der Strenge übernahm zunädft die gemeinfchaft- 
lihe Regierung im Pamen feiner minderjährigen Brüder. Seine Hauspolitif 
beftimmte ihn, ſich eng an Kaiſer Karl IV. anzuſchließen, was ihm bedeutende Vor⸗ 
theile gewährte. Ueberhaupt wußte er feine Hausmacht durdy manche neue Erwer⸗ 
bungen zu vergrößern. Unter ihm wurde 1373 die berühmte Erbver- 
brüderung zwifhen Meißen und Heflen gefchlofien, welche Karl IV. beftätigte. 
Nachdem die Brüder bis zum Jahr 1379 gemeinfam regiert, fam es nun zu einer 
Dertierung, kraft deren Friedrich das Oſterland nebft ver Markgrafſchaft 
Landsberg, Baltbafar Thüringen und Wilhelm Meißen belam, doch beftand babei 
noh die geteinjame Regierung fort; zu einer wirklichen Landestheilung kam 
es erſt 1382, nachdem Friedrich der Strenge 1381 zu Altenburg verftorben war. 
Friedrichs des Strengen Söhne waren Friedrich der Streitbare, 
Wilhelm der JÜungere un Georg Am 31. Juli 1410 fand ber 
Haupttbheilungsreceß zwifchen dieſen Brüdern und den Bertern ver Übrigen Linien 
ftatt, dody waren dadurch fpätere Mißhelligkeiten nicht ausgefchloffen. 

Friedrich der Streitbare war ein Freund und Beförberer der 
Künſte und Wiſſenſchaften; unter ihm warte 1409 die Univerfität Leipzig ge 
gründet. In den Hujfitenkriegen leiftete er dem Kaifer Sigismund den Träftigften 
Beiftand, wodurch er fih die höchſte Gunft viefes Kalfers erwarb, berfelbe 
belohnte ihn 1423 durch die Berleihbung des Herzogthbums 
Sachſen und der damit verbundenen Kurwürde, nachdem dieſe 
Würden durch ten Tod Kurfürſt Albrechts III. aus dem askaniſchen Stamme er⸗ 
ledigt waren. Der Proteſt der lauenburgiſchen Agnaten blieb unbeachtet; 1425 
fand die feierliche Belehnung zu Ofen ſtatt; in dieſelbe waren einbegriffen bas 
Herzogthum Sachſen, die Kur und das Erzmarſchaüamt, die Pfalz Sachſen nebſt 
der Stadt Allſtädt, die Grafſchaft Brena u. ſ. w. Mehr noch, als der unmittel⸗ 
bare Landgewinn, welcher ſich weſentlich auf den Kurkreis mit Wittenberg be⸗ 
ſchränkte, war der Zuwachs an Anſehen werth, welcher durch die Erwerbung der 
Kurwürde dem Haufe Wettin zu Theil wurde. Es gehörte von nun an zu ber 
vornehmften Klaſſe der reichöfürftlihen Familien in Deutjchland. 

Kurfürft Friedrich ver Streitbare hinterließ bei feinem Tode 1428 vier Söhne: 
Friedrich den Sanftmäthigen, Sigmund, Heinrid um 


Ed 


u 


190 Wettiner. 


Wilhelm, welde nah dem Tode des Vaters zunähft, unter der Leitung des 
älteften, eine gemeinfame Negierung führten. Nachher fanden veirſchiedene Der- 
terungen ftatt, wobet die Kur und das damit verbundene Herzogthbum Sachſen 
ungetbeilt bei dem älteften Sohne, Friedrid dem Sanftmüthigen blieben. Nachdem 
von den vier Söhnen Friedrich des Streitbaren Heinrich geftorben und Sigmund 
eiftlih geworben und auch die thüringifche Linie Balthafars mit Friedrich dem 
infältigen 1440 erlofhen war, theilten die beiden weltlichen Söhne Friedrichs 
des Streitbaren, Friedrich der Sanftmüthige und Wilhelm IIL, 
kraft der Altenburger Erbtheilung von 1445 fo ab, daß Wilhelm Thüringen 
befam, alles Uebrige aber dem Kurfürften verblieb. Aus diefem Thellungsvertrag 
gingen aber die furdtbarften Mißhelligkeiten hervor, welche enblih zu bem ent« 
feglihen Bruderkrieg führten. ‘Die beiden Brüder zogen wider einander 
zu Geld und einer verwäftete des andern Rand auf die fchrediihfte Art. Im 
Jahre 1451 fam es endlich zu einem Vergleiche zwifchen den beiden Brübern, 
von denen Übrigens Wilhelm III. ohne männliche Defcendenz 1482 abging. So 
fegte allein Kurfürft Friedrich der Sanftmüthige ven wettinifchen 
Stamm burdy feine Söhne Ernfi und Albrecht fort, jene beiden Prinzen, an 
denen einft Kunz von Kauffungen zu Altenburg 1445 den Prinzenraub 
ausgeführt hatte. 

Nach dem Tode Friedrichs des Sanftmüthigen 1464 blieben feine beiden 
Söhne Ernft und Albrecht zufolge väterliher Beroronung in Gemeinſchaft 
und der ältefte führte in gemeinfamem Namen die Landesregierung. 
Erf im Jahr 1485 trafen fie vie berühmte Tandesthei- 
lung, deren Folgen bis auf den heutigen Tag fort- 
dauern. Dem älteften Sohn Ernſt, welder das Herzogtum Sadfen und bie 
Kur voraus bekam, fill Thüringen, dem Herzog Albrecht die Markgrafſchaft 
Meißen zu. Einzelne Landestheile blieben in Öemeinfchaft, 1486 beftätigte 
ber Kaiſer Friedrich III. diefe Theilung und ertheilte die Gefammtbelehnung. 
Seitdem gehen die Schidfale diefer beiden Linien aus einander und verlangen eine 
getrennte Beſprechung. \ 

1. Erneftinifche Linie. Kurfürft Ernft, der Stifter viefer Linie, hinter⸗ 
ließ zwei Söhne, Friedrich den Weifen und Johann den Be» 
ftändigen. Friedrich erhielt, nah altem Gebrauch, die Kurwürde und die 
dazu gehörigen Lande voraus. Das Uebrige behielten vie Brüder gemeinfam, 
jevod fo, daß der Erfigeborne das Direktorium führte. 

Friedrich der Weife (1486—1525) iſt der bedeutendſte und politifch 
einflugreichfte Fürſt feiner ganzen Linie. Als eifriger Freund der Wiſſenſchaften 
gründete er die Univerfität Wittenberg, welche durch Luther vie Wiege 
der Reformation wurde. Obgleih er niemals öffentlich die alte Kirche verließ, fo 
erwarb er ſich doch um vie Reformation, welche er in ſtaatskluger Welfe unter- 
fügte, große Verdienſte. Er vertheidigte Luther gegen den Papft und ließ ven 
Geächteten nad der Wartburg in Sicherheit bringen. Dreimal führte er als 
„Seneralreihsftatthalter" das Neihsvilariat, lehnte aber die ihm 
nah dem Tode Kaiſer Marimilians I. angebotene Kaiferfrone ab und begünftigte 
die Wahl Karls V. Berheirathet war er nie, ihm folgte daher in ber Kur fein 
Bruder Johann der Beftänpige (1525— 1532), welcher ſich glei nad 
feines Bruders Tode öffentlich zur Iutherifchen Lehre befannte und die Ausbrei- 
tung und Bertheivigung der Reformation zu feiner widtigften Aufgabe machte. 
Er rief das erſte Bündniß der Evangelifhen zu Torgau 1526 ins Leben, führte 





Wettiner. 191 


die Organifation von Kirhe und Schule im Sinn ver neuen Lehre in feinen 
Landen durch, beſonders durch die Kirchenviſitation von 1528, prote- 
firte nebft andern Neichsfürften gegen den Beſchluß des Neichötages zu Speier, 
baß es fernerhin niemanden freiftehen follte, fi der Reformation anzufchließen, 
übergab anf dem Reichstag zu Augsburg am 25. Juni 1530 die Augsburgifche 
Konfeffion, rief ven Schmalfaldifhen Bund in's Leben und trug viel dazu bei, 
den erfien Religionsfrieden zu Nürnberg zu Stande zu bringen. 
Keinem Fürften verdankt die evangelifche Kirche in Deutfchland mehr als ihm. 

Iohann der Beſtändige hinterließ zwei Söhne: Johann Friedrich 
den Großmäthigen und Johann Ernft; letzterer erhielt die Pflege 
Koburg, alles Uebrige behielt der Erfigeborne, ver allein ven Stamm fort- 
feste. 

Johann Frieprih der Großmäthige erneuerte und organifirte 
den Schmalkaldiſchen Bund, zu beffen Haupt er zugleih mit Philipp von Heſſen 
ernannt wurde 1536; er gerieth bald in Konflift mit feinem Better Herzog Mo— 
rig von der albertinifchen Linte und wurde von Karl V. geächtet, bei Mühlberg 
gefangen genemmen und der Kurwürbe entfegt, welche auf die albertinifche Linie 
übertragen wurde. Andy mußte er in der fog. Wittenberger Kapitu- 
lation 1547, außer der Kurwürde und den Kurlanden, noch einen bebveutenven 
Theil feiner übrigen Lande abtreten; trogdem blieb er bis 1552 in der Fatferlichen 
Gefangenſchaft, in welcher er 1548 die Univerfität Jena, al© Pflanzfchule der rein 
Inthertfhen Lehre und Bekämpferin des Interims, gründete Erſt 1552 murbe 
Johann Friedrich aus ter Gefangenfhaft entlaſſen und durch den fog. Nefti- 
tutionsbrief in die ihm durch die Wittenberger Kapitulation nod übrig 
gelaffenen Lande wieder eingefegt; doch blieben feine Beftrebungen nad dem Tode 
von Morig, die Kurwürde wieberzuerlangen, erfolglos. In dem fo wichtigen 
Naumburger Bertrage vom 24. Februar 1554 erhielt er indeſſen einige 
Befigungen zurück; and wurden durch benfelben die flaatsrechtlihen Berhältnifie 
der erneftiniihen und albertinifhen Linie zu einander geregelt. Johann 
Friedrich war der legte Kurfürftderernefinifhen Linie. 
Er war ein bis zum Tod getrener Kämpfer der evangelifchen Lehre, ein perfönlich 
tapferer und reblicher Dann, aber ohne höhere ftaatsmännifche Begabung und 
ohne Feldherrntalent. Mit ibm ſchließt die große geſchichtliche 
Miſſion der erneſtiniſchen Linie ab, welde in Ausbrei- 
tung und Bertheidigung des Neformationswerftes be— 
Randen hatte. Bon nun an bewegt fi diefer Zweig Jahrhunderte lang in 
Heinfüärftlichen Berhältnifien, in denen er viel Gutes wirkt, ohne auf den großen 
Bang der Geſchichte Einfluß haben zu kinnen. Als das Hanptverder- 
ben der erneftinifhen Linie ftellt fi ihre mangelhafte 
Hansverfaffung dar, indem man fi bier am allerfpäteften entfchloß, 
die für Hans und Land fo fegensreih wirkende Primogenitur einzuführen. Die 
Geſchichte der Erneftiner iſt von nun an faft nur eine Gefchichte ihrer Landes⸗ 
theilungen. 

Die drei Söhne des legten Kurfürften, Johann Friedrich der 
Mittlere, Johann Wilhelm und Johann Friedrich der 
Jüngere regierten zuerft gemeinfam, dann trafen bie ältern Brüder, 1566 
nad dem Tode des jüngften, einen Mutfhirungspvertrag. Als aber 
Johann Friedrich der Mittlere, wegen der berüchtigten Grumbach'ſchen Händel, in 
vie Acht gerathen war, vereinigte Johann Wilhelm eine Zeit lang alle erne⸗ 


L 











192 Wettiner. 


ftinifhe Lande, 1572 mußte er jebod den Söhnen des geächteten Bruders Jo⸗ 
bann Kafimir um Johann Ernft, gewiſſe Lanvestheile, befonderd Ko- 
burg und Eiſenach abtreten. Johann Kaſimir zu Koburg war ein um⸗ 
fihtiger und energiſcher Regent und that viel für das Aufblühen feiner Reſidenz, 
doch ging die ganze Linie Johann Friedrichs des Mittleren 1640 ab und allein 
in der Linie Sohann Wilhelms zu Weimar blühte der Stamm fort. Die bei- 
den Söhne Johann Wilhelms, Friedrich Wilhelm un Johann führten 
eine gemeinfame Regierung, wobei ber älteſte das Regiment im Namen beider 
ausüben ſollte. Erſt nad Friedrich Wilhelms Tode kam es im Jahr 1603 zu 
einem Erbtbeilungsvertrag, vermöge defien die unmündigen Söhne 
Friedrih Wilhelms den altenburgifhen, ihr Oheim Johann den wei- 
mariſchen Theil erhielten. Die altenburgifche Linie ging indeſſen 1672 wieder 
ab und fo wurde Johann zu Weimar ber einzige Fortſetzer 
des erneftinifhden Stammes. 

deharnn ſtarb 1605, im Jahr 1627 vereinigten ſich die noch lebenden vier 
Söhne Johanns, Wilhelm, Albrecht, Bernhard und Ernſt zu 
einer gemeinſamen Regierung unter dem „Principat“ des Aelteſten, Wil- 
beim. Unter viefen Söhnen ragte befonders Bernhard als einer der gefeiertften 
Heerführer des vreißigjährigen Krieges hervor, doch brachten feine großartigen 
Heldenthaten und Eroberungen dem Haufe Weimar nur Ruhm, keinen reellen 
Machtgewinn ein. (Röſſe, Herzog Bernhard der Große von Weimar. 2 Bände, 
1828— 29.) Endlich nad Bernhard’ Tode fand 1640 eine Landestheilung zwi- 
hen den brei noch lebenden Söhnen Johann's flat, in welcher Wilhelm Wei- 
mar, Albrecht Eiſenach, Ernſt Gotha erhielt. Nachdem auch Albrecht 
1644 finverlo® geftorben war, theilten vie noch übrigen beiden Brüder Wil- 
beim und Ernft die Lande Albrehts und wurden die Stammpäter der 
noch blühenden weimartifhen und gothaiſchen Linie 

A. Weimariſche Linie Auch in der Linie Wilhelms von Weimar 
fanden weitere Subpivifionen ftatt, durch eine Erbtheilung von 1672 erhielt Io- 
hann Emft Weimar, Johann Georg Eiſenach, Bernhard Jena; dod 
ftarb die Speciallinie zu Iena bereitd 1690, die zu Eiſenach 1741 wieder aus. 
Auch in Welmar fand Anfangs no eine gemeinfame Regierung unter ven 
Söhnen Johann Ernſts I, Wilhelm Ernft und Johann Ernft II. 
ftatt; an die Stelle des letztern traten feit 1707 feine beiden Söhne Ern ſt 
Auguft und Johann Ernft IIL; feit 1728 wurde endlich Ernft Au- 
guft, nad dem Tode feines Oheims und feines jüngern Bruders, allein- 
regierender Herr in ber weimarifhen Speciallinte, welcher 1741 auch die 
Eiſenach'ſchen Lande zufielen. Er fegte nach langwierigen Verhandlungen endlich 
die BPrimogenitur im Jahr 1724 mit kaiſerlicher Beftätigung für feine 
Linte feft und wurde dadurch nit nur der Wohlthäter feines Hauſes, fondern 
auch der eigentlihe Gründer des Staates Sahfjen-Weimar, welder 
trog feiner geographifchen Kleinheit zu einer fo bedeutenden Fulturgefchichtlichen 
Miffton berufen war. Auf Ernſt Auguft folgte 1748 fein zehnjähriger Sohn 
Ernft Auguſt Konftantin, über deſſen Bevormundung große Streitig« 
keiten ftattfanden. Nachdem-er 1755 für volljährig erklärt worden war, übernahm 
er die Regierung und vermählte fi mit Anna Amalie von Braunſchweig, 
ftarb aber bereits 1758 mit Hinterlaffung eines Prinzen, Karl Auguft, 
welcher unter ber Vormundſchaft feiner Mutter, der trefflihen Herzogin Anna 
Amalie, bis zum Jahr 1775 verblieb, in welchem er die Selbftregierung des väter- 








Wettiner. 193 


lihen Fürſtenthums antrat. Karl Auguft ift der erfte Erneftiner feit den 
Zeiten der Reformation, der wieder in epohemadhender Weiſe auf 
Die geiftige Öefammtentwidelung Deutſchlands einge- 
wirft bat. Im erfter Linie fleht er ba als einfihtspoller Förderer und be- 
geifterter Freund der deutfchen Literatur; er erhob fein Feines Weimar für eine 
Zeit lang zum geiftigen Mittelpunkt Deutſchlands. Sein Mufenbof ift weltbe- 
fannt; die Namen Göthe, Schiller, Herder, Wieland, Einfievel, Knebel, Mufäus 
und die vieler anderer bedeutender Männer erinnern daran, was Karl Auguft für 
Weimar getban. In ähnlicher Weiſe forgte er für die Univerfität Iena, melde 
eine Zeit lang faft ebenfo glänzende Namen auf den Gebiet der Wiſſenſchaft 
zählte, wie Weimar auf dem ver Dichtkunſt. Karl Auguft war aber aud ein ein- 
fihtöooller, freifinniger Staatsmann und warmer deutfcher Patriot. Er war der- 
jenige Fürft, welder am frühften die Nothwendigkeit einer Neugeftaltung Deutſch⸗ 
lands unter Preußens Führung erkannte und deßhalb die jugendlich trei- 
bende Kraft jenes Fürftenbundes wurbe, welden Friedrich der Große in 
tiefen Sinn ftiftete. Nur mit dem tiefften innern Widerftreben fchloß er fi dem 
Rheinbund an und war in der Zeit der Erhebung einer der tapferften Borlämpfer 
nationaler Unabhängigkeit. Auf dem Wiener Kongreß wurde ihm ver groß- 
berzoglidhe Titel und eine nicht unbebeutende Gebietserweiterung zu Theil. 
Auch vertrat er daſelbſt die Forderungen nationaler Einheit und Freiheit, befon- 
ders die Rechte der Volksvertretung mit Eifer und SKonfequenz. Er war der erfte 
deutfhe Fürſt, welher am 5. Mat 1816 feinem Lande eine Eonftitutionelle Ber- 
faſſung gab. Er ſchützte die Freibeit der Preffe nah Kräften, ſchaffte alte Mip- 
bräudye ab, förberte die Gewerbe, befonvders die Lanbwirthfhaft, und war über- 
haupt in feinem Kleinen Kreife das Muſter eines weifen und umfichtigen Negenten. 
Keinem Yürften verdankt das Haus und Land Weimar an Anfehen und Ruhm 
fo .oiel wie ibm. (Droyſen, Karl Auguft und die deutihe Politik, 1857. 
X. Wegele, Karl Auguft, Großherzog von Sadfen-Weimar 1856.) 

B. Die Gothaiſche Kinie Stifter diefer Tinte war Ernft der 
Fromme, der Sohn Johann's von Weimar, welcher zuerft bleibend feine Re— 
fivenz zu Gotha nahm. Geboren 1601 zu Altenburg, zeichnete er fi neben 
und mit feinem Bruder Bernhard von Weimar im 30jährigen Krieg aus und 
bewährte einen nicht gewöhnlichen Feldherrnblick bei Nürnberg und Lügen, feit 
1634 zog er ſich indeſſen vom Kriegsſchauplatz zurüd, trat 1635 dem Prager 
Brieden bei und lebte num ganz der Hebung und Reorganijation feiner durch 
ben Krieg zerrütteten Lande. (Gelbe, Hiftorifch aftenmäßige Darftellung ves 
Lebens Exrnft des Frommen, Gotha 1840). Ein eifriger Anhänger der lutheriſchen 
Lehre, trug er bejonvers für Kirden- und Schulangelegenheiten bie treuefte Für⸗ 
forge. Die wohlthärige Wirkſamkeit dieſes trefflihen Fürſten zeigt ſich bis auf den 
heutigen Tag in vielen noch fortbeftehenven Einrichtungen. Der anerkannte hohe 
Stand des thäringifchen Volksſchulweſens ift zum Theil noh auf ihn zurädzu- 
führen. Auch nad außen hin wirkte er für vie Verbreitung der evangelifchen 
Lehre. Er war ein Freund und Kenner der Wiffenfhaften, befonders der Ge⸗ 
ſchichte und Mathematik, befaß ungemein viel praltiſche Kenntniß in der Staats- 
und Landwirthſchaft und war befonders einfichtig im Polizeimwefen, weldes 
er durch feine trefflihen Polizeiordnungen regelte. Ueberhaupt ſtellt fih in den 
Regierungsmaßregeln Ernft des Frommen das Bild eined deutſchen Fürſten var, 
welcher die ungeordnete mittelalterige Patrimonialwirthihaft in ein georbnetes 
modernes Staatswefen überleitet, und zwar im ächt deutfhen Sinn einer gerechten 

Bluntf@li und Brater, Deutſchet Staate⸗Woͤrterbuch. X]. 13 


RR _ 


192 Wettiner. 


ſtiniſche Sande, 1572 mußte er jevod ven Söhn- 
bann Kafimir und Johann Ernft, v . „otutiifßer Säablonen. 
burg und Eiſenach abtreten. Johann 8 ae ginet eamten aus feiner 
ſichtiger und energiſcher Regent und that : IR fs u eutfhem 
dod ging die ganze Linte Johann Fri’ „Sur gering eines beutfchen 
in der inte Johann Wilhelms zu 19 Cenft der Sromme nit zu 
den Söhne Johann Wilhelms, |» som er, ala ädht gemüthliher erne- 
eine gemeinfame Meglerung, v a Schritt ber Einführung der Brimo- 
ausüben follte. Crft nad in feinem Teftament von 1667 Ge— 
einem Grötheiluma n Direltortum des Xelteften, 
ter men, fo follten die Lande in mög- 

Für Die gemeinfame Regierung giebt feine 

ung von 1672 genaue Weiſungen. 
binterließ 7 Söhne, welde nad und nad 
tesportionen drangen. So entflanden 
aiſchen Linie 7 regierende Special» 
ber Erfigeborne Gotha und Altenburg, 
ar Meiningen, Hemih Römhild, Chriſtian 
‚t Bildburghanfen, Johann Emft Saalfeld er- 
? SZreclallinien farb 1699 die koburgiſche, 1707 die eifen- 
senbildifhe wieder aus. Wir haben daher nur bie vier übrigen 
da, Meiningen, Hilbburghaufen und Saal- 

























on. 
m enburg. Friedrich I, ber ältefte Sohn, hatte bie größten 
mtestheile, befondeis Gotha und Altenburg, erhalten; 
oiffe Rechte in den Antheilen der 4 jüngften Brüder einge 
b die großen Nachtheile der Landestheliungen, führte er 1685 
ie bie Primogenitur ein. Unter den regierenden Herzögen von 
befonderd Er n ſt II. (1772—1804) durd eine weiſe Regie 
tige Förderung von Kunft und Wiſſenſchaft, befonders der 
te ganze Speciallinie erloſch wit Friedrich IV. am 11. Feb: 


zen. Stifter der meiningifhen Linie war Bernhard, 
nft des Frommen. Da er bie Primogenitur nit einführte, 
ei Söhne, Ernft Ludwig, Friedrich Wilhelm und Anton Ulrich, 
n Direltorium des Xelteften, indeſſen erhielt Anton Ulrich 
r übrigen meiningifhen Prinzen 1746 die Regierung allein. 
h buch die großen Streitigleiten befannt gemacht, melde durch 
feine Berheirathung mit Bhilippine Elifabeth Cäfarin (gemöhnlid 
Schurmannin genannt) über die Succeffionsfähigleit der aus biefer Ehe ent- 
fproffenen Kinder entſtanden. Ex erwirkte für biefe feine Gemahlin ein Fürften- 
diplom von Kaiſer Karl VI. 1727, konnte jevod die Succeffionsfähig- 
Leit derfelben gegen den Wiverfprud der Agnaten nicht durchſetzen (vrgl. ven 
rtitel Ebenbürtigkeit). Nah Anton Ulrich's Tode fuccebirten daher nur 
feine Prinzen aus zweiter ebenhürtiger Ehe, unter Vormundſchaft der Mutter, 
einer Brinzeffin von Heffen-Philippsthal, der älteſte Prinz Auguft 
Friedrich Karl Wilhelm + 1782, und fo wurde Georg Alleinregent, welcher 
endlich am 12. März 1802 eine Primogeniturorbnung errichtete, die am 27. Au- 
guſt 1802 vom Kaifer beftätigt wurde. Bemerkenswerth iſt, daß Sachſen · Meiningen 
Ron "seftliche Haus war, welches zulegt diefe Erbfolgeorbnung einführte. 


Wettiner. 195 


Auf Georg folgte 1803 fein Sohn Bernhard Erih Freund unter Bor 
mundſchaft feiner Mutter, einer gebornen Prinzeffin von Hohenlohe. Unter diefem 
Fürſten erfolgte dur Ausfterben der gothaiſchen Linie 1825 eine bedeutende Ge- 
bietserweiterung durh Hilpburgbaufen und Saalfelv. 

c. Hildburghauſen, jegt Altenburg. Stifter dieſer Linie war 
Ernft, der fechste Sohn Ernſt des Frommen, welcher feine Refidenz zu Hildburg⸗ 
2uſen nahm und 1703 die BPrimogenitur einführte. Bei dem gothaiſchen 

‘fall 1825 trat diefe Linie ihr bisheriges Beſitzthum Hilvburghaufen an Mei- 
‚en ab und erhielt dafür Altenburg, weßhalb fie fih jest Sadhfen- 
enburg nennt. 

, Koburg- Saalfeld, jegt Koburg-⸗-Gotha. Der jüngfie 

Smft des Frommen, Johann Ernft, ftiftete das Haus Saalfeld, 

. in der Folge, nachdem die Toburgifchen Lande dazu gelommen waren und 

urg Hauptrefidenz geworden war, den Namen Koburg-Saalfeld ange- 

nemmen bat. Dem Stifter der Linte folgten feine beiden Söhne Chriftian 

Ernſt und Franz Ioftas in gemeinfamer Regierung, als aber erfterer 1745 

kinderlos ftarb, wurde Franz Jofias Alleinregent und erließ am 2. November 

1746 eine Brimogeniturfonftitution, welche 1747 vom Kaifer be⸗ 
ſtätigt wurbe. 

Gerade biefer jüngften erneftinifchen Linie, welche noch am Anfang biefes 
Jahrhunderts in den bevrüdteften und kleinlichſten Verhältniſſe lebte, follte das 
glänzendſte Schickſal zu Theil werben. 

Ernft I., welder feinem Vater 1806 in Koburg-Saalfeld fuccedirte, erwarb 
durch das Ansfterben der alten gothaifhen Linie, gegen Abtretung von Saalfeld 
an Meiningen, den anfehnlihen und reihen gothatfchen Landestheil. Seitvem nannte 
fih dieſe Linie Koburg- Gotha. Am 10. Februar 1840 vermählte ſich fein 
zweiter Sohn Albredt mit der Königin Viktoria von Großbritannien. Diefer 
durch edlen Charakter und flaatsmännifche Einfiht fo hochſtehende Fürſt übte, als 
Prinz-Gemahl, den wohlthätigften Einfluß auf die Politit Englands und eröfinete 
zugleich durch feine Verheirathung feinen Nachkommen ven Weg zu dem glän- 
zendſten Königsthron Europas. Mit feinem Sohne, dem Prinzen 
von Wales, wird das Haus Sahfen-Koburg-®otha den 
großbritannifhen Thron befteigen. 

Der zweite Bruder Herzog Ernfts I, Ferdinand, vermählte ſich 1816 
mit der Erbtochter des reihen ungarifchen Fürſten von Cohary unt wurde dadurch 
Stifter der katholiſchen Linie Sahfen-Koburg-Öotha-Cohary. 

Sein ältefter Sohn, Ferdinand, vermählte fih 1836 mit ver Königin 
Marta ta Gloria von Bortugal und wurde 1837 Titularlönig von Portu- 
gl. Mit deſſen Sohn Dom Pedro V. beftieg 1853 das 
Haus Koburg den königlichen Thron von Portugal. 

Der zweite Bruder Ferdinands von Portugal, Prinz Auguſt, wurde 
Majoratserbe der großen coharyſchen Befigungen in Ungarn. 

Der dritte Bruder Ernfts I., Bring Leopold, geboren ben 16. December 
1790, vermählte fi 1816 mit Charlotte, ber Tünftigen Thronerbin von 
Großbritannien, welde 1817 farb, und wurde am 4. Juni 1831 zum Könige 
der Belgier gewählt. Diefer hohe ftantsmännifche Geift wußte dem neugefchaffenen 
Königreihe eine innerlich fefte, verfaffungsmäßige Konfolidation, nad außen eine 
allgemein geachtete Stellung zu geben und zeigte ber Welt, wie ein ſtaatskluger 
und Fräftiger Monarch, auch unter gewifienhaftefter Beobachtung der Eonftitutionellen 


| 13* 


I 





1 96 Wettiner, N 


Formen, unendlih Segensreihes wirken kann. Leopold I. ift als der ſchöpferiſche 
Genius dieſes neuen Staates anzufehen, auf beffen Thron dem Haufe Koburg eine 
wichtige kulturhiſtoriſche Miſfion zugefallen ift. 

Während fo den Übrigen Prinzen des Haufe Koburg fremde Königskronen 
zu Theil wurden, fuccebirte der erftgeborne Sohn Ernſts I, Herzog Ernſt II, 


——— — 


1 


Se 1844 in den väterlihen Herzogthümern Koburg und Gotha, welde feit 
3; dem Jahre 1852 durd eine Fonftitutionelle Berfafiung zu Einem Staate ver- 
Er einigt find. In diefer iſt auch zur Vermeidung einer in Ausficht ftehenden bedenk⸗ 
ID lichen Perfonalunion mit Großbritannien, mit Ausfhluß des Erftgebornen, vie 
E5- Setundogenitur feitgefegt. Auch ordnet ein Hausgeſetz vom 1. März; 1855 
8 die Familien- und Succeſſionsverhältniſſe dieſer erneſtiniſchen Linie, deren Agnaten 
Br. drei Königöfronen zu tragen berufen find, in umfichtiger Weiſe. 
a. JE. Aibertinifche Linie. Albrecht, ber Stifter der albertinifchen 
* Linie, hinterließ drei Söhne, Georg den Bärtigen, Heinrich den 
Rn Fromme und Friedrich, welcher Hochmeifter des deutſchen Ordens wurde. Nach 
* dem Teſtament Albrechts von 1499 wurde Georg allein regierender 
a, \ Herr, Heinrich erhielt die Aemter Freiberg und Wolkenſtein nebft einem 
28 Geloveputat. Herzog Georg der Bärtige trat durd fein Feſthalten an ber 


fatholifchen Lehre in einen ſcharfen Gegenfa zu feinen erneftinifchen Vettern, farb 
aber 1539 ohne männlihe Defcendenz, und fo fam bie Negierung auf feinen 
Bruder Heinrih den Frommen zu Freiberg, welcher bereits 1525 die evangelifche 
Lehre angenommen hatte und bei feinem Regierungsantritt in feinen Landen, be- 
ſonders zu Dresden und Leipzig, die Reformation durchführte. Ihm folgte fein 
erftzeborner Sohn Morig, einer der begabteften und klügſten Fürſten feines 
Haufes. Obgleich Proteftant und Schwiegerfohn Philipps von Heflen, trat er dod 
dem ſchmalkaldiſchen Bunte nicht bei, um freie Hand zu behalten. Bald mit ſei⸗ 
nem Better, Johann Friedrich dem Großmüthigen, in. Konflitt gerathen, ſchloß er 
ſich dem Kaifer Karl V. aufs engfte an, vollzog gegen den Kurfürften die Reichs» 
aht und brachte die Kurwürde und den Kurkreis nebftan- 
bern erneffinifhen Landen auf fein Haus, bewahrte fih aber 
auch dem Katfer gegenüber feine Selbſtändigkeit, durchkreuzte deſſen auf Herftellung 
abfoluter Gewalt gerichtete Pläne und zwang ihn durch einen kühnen Handſtreich 
“ 1552 zum Baffauer Bertrag, welder ven evangelifhen Reihsftänden 
— freie Neligionsübung gewährte. Moritz ſtarb am 9. Juni 1553, bald nach der 
J Schlacht von Sievershaufen, in welcher er den Markgrafen von Bran« 
r denburg⸗Kulmbach aufs Haupt gefchlagen hatte. Obgleich der Charakter dieſes 
= Fürſten nicht ohne Schatten iſt, fo befaß er doch unverkennbar einen tiefen ftants- 
N männiſchen Blick und große Negenteneigenfchaften, weldye ihn zu einem der bedeu⸗ 
tendften deutſchen Fürſten machten. (v. Tangenn, Morig, Herzog und Kur- 
fürft von Sachſen, 2 Bände. Leipzig 1841.) 
Auf ihn folgte fein Bruder Auguſt 1553—1586, welder bie Stifte 
Meipen, Merfeburg und Naumburg bleibend an fein Haus brachte 
. und beſonders für die Rechtsverfaſſung ber fähfichen Lande fo viel that, 
dag man ihn zu feiner Zeit den ſächſiſchen Juſtinian zu nennen pflegte. 
Seine Konftitutionen, worin er die Örenzen in ber Anwendung ber fremden 
und der einheimifhen Nechte näher zu beftimmen verſuchte, find für die Ent- 
widelung des ſächſiſchen Rechtes hochwichtig geworden. (D. Stobbe, Rechts⸗ 
quellen Bd. II, S. 369 ff.) Auch die religiöfen Händel mit den fog. Arypto- 
talviniften machten ihm viel zu fhaffen. Ihm folgte fein Sohn Ehriftian L., 


ni 


x nn 








Wettiner. 197 


1586— 1591, diefem erft fein ältefter Sohn Chriſtian JL, 1591—1611, 
darauf deſſen Bruder ISohbann Georg IL, 1611—1656, welder durd 
feine Wankelmüthigkeit ini 30jährigen Kriege eine fo unrühmliche Rolle fpielte; 
übrigens gelang es ihm, im Prager Frieden vom 30. Mat 1635 tie 
Dber- und Niederlaufit von Seiten Defterreihs für fih und feine 
männliche Defcendenz zu erwirken, jedoch fo, daß nad) deren Abgang das Rück⸗ 
fallgreht an die Krone Böhmen vorbehalten wurde. Seinen Mangel an flaats- 
männifchem Geiſt bewies Johann Georg I. recht augenfällig durd fein Topflofes 
Teftamentvon 1652, worin er zwar die Primogenitur nominell ein- 
führte, zugleich aber den drei nadhgebornen Söhnen Land und Leute mit vielen 
Hoheitsrechten zumwies, fo daß neben ver Kurlinie drei abgetheilte regierende Linien 
zu Weißenfels, Merfeburg und Zeig entftanden, welde in folge 
der umllaren Teftamentöbeftiimmungen Johann Georgs I., mit ver Hauptlinie, 
trog verſchiedener Necefle, in fortwährennem SKonflift lebten. Keine biefer alber- 
tiniſchen Nebenlinien hat irgend eine größere gefchichtlihe Bedeutung erlangt; bie 
Linie zu Weißenfels, von welder fih noch eine Unterlinie zu Barby 
abgezweigt Hatte, erloſch 1746, die zu Merfeburg 1738, die zu Naumburg- Zeit 
1718, indem vie beiden noch übrigen Prinzen verfelben Tatholifh geworben und 
in den geiftlihen Stand getreten waren. So vereinigte bie Kurlinie 
feit 1746 wieder alle albertinifgden Lande Bon nun an 
wurde das Recht der Erfigeburt fireng beobachtet. | 

Keiner ver folgenden Kurfürften: Johann Georg II., 1656—1680, Johann 
Georg III. 1680—1691, Johann Georg IV., 1691—1694 hat eine irgendwie 
epochemachende Stellung eingenommen. Erft Kurfürft Friedrich Auguſt L, 
1694— 1733 gab der fähflihen Politil eine neue Wendung, freilich nur zum 
bleibenden Nachtheil für fein Haus und Land. Diefer Fürft, der wegen feiner 
ungewöhnlichen Körperkräfte gewöhnlid Der Starke genannt wird, war einer 
der ſchwächſten Charaktere felbft in jener tief entwürbigten Zeit, wo zahllofe 
dentſche Fürften Ludwigs XIV. ſchwelgeriſche Pracht und abfolutiftiihe Selbft- 
vergötterung fopirten und für das fog. Lüftre ihres Hauſes die heiligften In- 
terefien ihres Volles und des deutſchen Baterlanded verrietben. Dieſer Friedrich 
Anguft I., weiher auf langen Reiſen nichts als verfchwenderifche Prachtliebe und 
Ausihweifungen gelernt hatte, trachtete vor allem nach dem Schimmer einer Kö- 
nigefrone. Nach dem Tode Johann Sobieskys trat er daher als Bewerber um 
bie machtlofe und entwürbigte Krone Polens auf, beftah die feilen Großen 
mit vielen Millionen, die er feinen fächflfchen Unterthbanen abpreßte, trat 1697 
zu Wien zur katholiſchen Kicche Über und wurde darauf vom polniſchen Reichstag 
zum König gewählt, unter dem Namen Auguft II. Um vie Beftehungsfummen 
aufzubringen, verfaufte und verpfänvete er anfehnlidhe Theile feines Erblandes, 
ja fogar an Brandenburg die legten Ueberrefte ver Befigungen des Stammhauſes 
Bettin. Selten ift fo viel eitle Selbftvergätterung mit einem ſolchen Mangel 
an wahrem Ehrgefühl, fo viel äußerer Glanz mit fo viel innerer Fäulniß ver- 
bunden geweſen, wie in diefem fähflihen Auguft. 

Sachſen wurde durch ihn in den langjährigen noördiſchen Krieg ge 
jogen, mußte feine Söhne für eine Sache zu taufenden bluten fehen, vie feinen 
Interefien völlig fremd war nnd wurde nah dem Altranftäpter Frieden, 
bei welhem Auguft fi) in der unwürdigſten Weife vor feinem folgen Sieger 
König Karl XII. gedehmüthigt hatte, von den Schweden in der entjeglichften 
Weiſe ausgefogen. Ueberhaupt hatte Sachfen in Folge dieſer Perfonalunion [were 





x 


198 Wettiner. 


Dpfer zu bringen und fein GStaatöhaushalt gerieth in bobenlofe Verwirrung. 
Günftlinge, Maitreſſen, zahlloſe natürliche Kinder, Goldmacher und Abenteurer aller 
Art verfhlangen ungeheure Summen. Zwar verfhönerte Auguft die Hauptftadt 
Dresden mannihfadh, aber während er 1719 Bei der Vermählung feines Sohnes 
in Dresden vier Millionen vergeudete, war Theuerung im Lande und Hungers⸗ 
noth im Erzgebirge. 

An den Berbefferungen in der Geſetzgebung und Rechtspflege, die man wäh⸗ 
rend feiner Regierung verfuchte (f. g. Codex Augusteus), hatte er wenig Autheil. 
Willkürliche Kabinetsregierung und hierarchiſch jeſuitiſcher Einfluß nifteten ſich 
immer mehr ein. Der Tod überrafchte den Wüftling mitten unter den Entwürfen 
zu neuen Feſten am 1. Februar 1733, 

Diefer Fürft bat durch feinen Uebertritt zum Katholicismus und 
feine kopfloſe, nur auf perfönlihe Eitelkeit gegründete Politik das ſächſiſche Haus 
um feine große fulturgefhichtlihe Aufgabe in Norbbeutfchland gebracht, weldye 
feitdem auf PBPreußen-Brandenburg und die an tbatkräftig ſtaats⸗ 
männifhem Geift fo hochbegabte Dynaftie der Zollerm übergegangen ift. 

Auf Friedrih Auguft I. folgte Friedrich Auguft IL, 1733—1763, 
welder unter dem Namen Auguſt II. zum König von Polen gewählt wurbe. 
Diefer Fürſt wirtbfchaftete ganz in der verberblichen Weife feines Vaters weiter, 
überließ vie Staatsangelegenheiten feinem Günftling, dem Grafen Brühl, 
und fette dur feine preußenfeinplihe Politik fein Land allen Laſten des fieben- 
jährigen Krieges aus. Sein einziges Berbienft erwarb er fih durd feinen Kunft- 
finn, weldem Dresden die ebelften Schätze feiner unvergleichlichen Galerie ver- 
dankt. Sein Nachfolger in der Kurwürde war Friedrich Chriftian, 
welchem nad feinem bald erfolgten Tode fein unmünbiger Sohn Friedrich 
Auguft II. 1763, unter Bormundfhaft feines Oheims, Prinzen Xaver, 
- fuccebirte. Friedrich Auguft trat 1768 die Selbftregierung an, führte 1778 wegen 
der Anſprüche feiner Mutter auf die Verlafienfhaft ihres Bruders, des legten 
Kurfürften von Bayern, gemeinfchaftlih mit Preußen, den bayerifhen Erbfolge- 
Irieg gegen Defterreih und erhielt im Frieden von en die bebeutende Ent» 
ſchädigungsſumme von fehe Millionen Gulden für jein Haus. Unter biefem 
Fürften fanden die größten Veränderungen in Europa ftatt, welde auch auf 
Sachſen zurädwirkten. Am 11. December 1806 im PBofener Frieden trat 
Vriedrih Auguſt dem Rheinbund bei und nahm den Königstitel an. Wegen feiner 
bartnädigen antinationalen Politik wurde er genöthigt, die Hälfte feines Gebietes 
an Preußen im Jahr 1815 abzutreten. Friedrich Auguſt regierte bis zum Jahr 
1827 in wohlwollender, aber ſtarr Tonfervativer Weiſe. Erft durch die Berfaffung 
vom 4. September 1831 kamen Sachſens antebiluvianifhe Zuſtände einiger» 
maßen in Fluß. Seitvem bat Sachjen fchnelle Fortſchritte auf allen Lebensgebieten 
gemacht und gehört zu den am meiften entwidelten Theilen Deutſchlands. 

Dererfte Abſchnitt der Berfaffung vom 4. September 1831 
banbelt vom König, von der Thronfolge und der Regentſchaft. Die fpeciellen Ver⸗ 
bältniffe des königlichen Haufes find regulirt in dem Hausgeſetz vom 
30. December 1837, dod find beim etwaigen Außfterben ver albertinifchen 
Linie immer noch Succeffionsftreitigteiten zwifchen den verfchtedenen erneftinifchen 
Speciallinien nicht ausgefhloffen, da die für dieſen Fall eintretenden ältern 
Succeffionsnormen beftritten und unklar fin. 

Literatur: E ©. Heinrich, fähflfhe Gefchichte. Leipzig. 2 Bände. 
1780—1782. — Ch. €. Weiße, Geſchichte der kurſächſiſchen Staaten. 6 Bde. 








| 





Wilhelm III. Mönig von England. 199 


Leipzig 1802—1810. — C. Gretſchel, Geſchichte des fähflfchen Volkes und 
Stantes, fortgefegt von Bülau. 3 Bde. Leipzig 1843 — 1853. — Ch. E. Weiße, 
Lehrbuch des ſächſiſchen Staatsrechts. 2 Bde. Leipzig 1824. Ueber bie älteren 
bausgefeglihen Beftimmungen vergl. befonders Hermann Schulze, das Recht 
der Erftgeburt. Leipzig 1853. Hermann Schulze. 


Widerſtand, |. Gehorſam und Widerſtand. 
Wiener Kongreß, ſ. Kongreffe und Friedensſchläſſe. 


Wilhelm III. König von England. 


Die Ludwig XIV. von Franfreih der Repräjentant iſt der neueren abfo- 
Iuten Monarchie in Welteuropa, fo ift fein großer Zeitgenofje und Gegner Wil- 
beim III. der erfte Vertreter der Tonftitutionellen Monarchie. In dem Leben und 
dem Kampfe ver beiden Würften ftellt fih der Gegenſatz der beiden politifchen 
Grundanſichten und Richtungen dar, die nun während Sahrhunderten mit einander 
ringen. Im Großen war das Ende des fiebenzehaten und faft das ganze acht⸗ 
zehnte Jahrhundert der abfoluten Monarchie günftiger. Die Entwidlung ver 
neueren Zeit aber hat fi immer entjchiedener und allgemeiner dem zweiten Prin- 
cip der Eonftitutionellen Monarchie zugeneigt, das lange Zeit nur von England 
vertreten war. 

Nicht wie Ludwig XIV. Hatte Wilhelm die Mactfülle geerbt, die er auf 
ber Höhe feines Lebens befaß, er hatte fie durch ſchwere politifche Arbeit erwerben 
und den feindlichen Mächten gegenüber kämpfend behaupten müflen. Aber fein 
männlicher Charakter wurde durch diefe Anftrengungen gehärtei; er lernte bie 
menfchlihe Natur und ihre Bebürfniffe und ihre Schwächen in reicher Lebens⸗ 
erfahrung gründlich kennen. Er bildete ſich nicht, wie Ludwig ein, daß er ein ©ott 
fei auf Erven, er beurtheilte den Staat und feine Aufgaben mit menſchlichem 
nücdhternem Berftande und mit freierem Sinn. 

Schon die Erinnerungen feiner Familie waren ernft und zur Vorſicht mah⸗ 
nend. Jener unglüdlihe König Karl I. von England, der im Kampfe mit ber 
englifhen Revolution ven Thron und das Leben auf dem Schaffott verloren hatte, 
war fein mätterliher Großvater. Seinen Pater, den Fürften Wilhelm von 
Naffau-Dranien, hatte er wenige Tage vor feiner Geburt (14. Nov. 1650) durch 
den Zod verloren. In den Nieverlanden hatte fein Haus unter dem Namen bes 
Statthalteramtes und in ter Eigenfhaft ald Bundesfeldherrn eine 
fürftlide Madtftelung in dem Bunde der Bereinigten Staaten begründet. Sein 
Bater nody war Feldherr und Statthalter geweien, als er in früher Jugend an 
den Blattern verftarb. Aber auch dieſe Würde fchien wieder verloren. Die repu⸗ 
blitanifche Partei hatte unterftügt von Cromwell und ver englifhen Republit das 
Uebergewidht erlangt, und die Generalftanten erflärten fi wiederholt gegen bie 
Vortfegung und Erneuerung der Würde. Der republifanifche Charakter des Bundes 
machte ſich noch entſchiedener als früher geltend. 

Solche Schickſalsſchläge laſſen leicht an dunaftifhen Höfen eine mißtrauiſche 
Erbitterung zurück und reizen zu reaftionärer Geſinnung. Eine fo ſtaatsmänniſche Na- 
tur aber wie Wilhelm III. wurde dadurch von den Gefahren des fürftlihen Abfolutie- 
mus unterrichtet und veranlaßt, die Bolköfreiheit befier zu wärbigen. Es war für ihn 
fein Schaden, daß er, obwohl ein Fürft, in einer Bundesrepublif erzogen wurbe. 
An fürſtlichem Ehrgeiz fehlte es ihm trogdem nicht. Als fein Lehrer ber Geo- 


200 Weibeine III Mönig von England. 


arg Da Ne Dritiſchen Iufeln als „eine Welt für fich” gezeigt hatte, meinte 
Sr Ir. Ich moöchte wehl einſt Herr einer folden Welt werden“, und auf bie 
Traaı Is togrend, man} er damit thun wollte, erwiederte ex voll Selbfivertrauen: 
aa ut, WE ich fie Bekomme, man wird dann ſchon jehen, was id damit 
Mana TOR. 

Ira Ns „engen Grilte“ von 1668, durch weldes die Statthalterwürde 
2 wur aögehhefft ward, erlangte der kaum volljährige Fürſt dennoch biefe 
oe Binde wieder und zugleih bamit als Generalfapitän auf Lebenszeit den 
Doenadeſed üter die Streitfräfte des Bundes zu Wafler und zu Land. Die unge- 
Sure fahren, welche ben Bereinigten Niederlanden damals brobten, als fie 
oa Yarmig XIV., diesmal foger im Bunde mit England, angegriffen wurben, 
wuamgten die Koncentration ber Gewalt in Einer fürftlihen Hand (1672). Die 
use Partei erhob fich überall fiegreich und der antioranifh gefinnte Groß- 
neremer von Holland de Witt wurde gezwungen, die Erhebung bes Prinzen 
zeigeden zu laſſen. Die beiden Brüder de Witt, die Häupter der ſtaatlich⸗parti⸗ 
Be,aritiihen und repnblifanifhen Partei warden fogar graufam ermortet, als 
Opfer der erhisten Parteileivenfhaften. Im Kriege bewährte fi) der Prinz als 
einen ausgezeichneten Strategen; er nöthigte das franzöfiſche Heer zum Rückzug, 
und indem er zu ber fpanifchen Hülfe in dem Kurfürften von Brandenburg und 
dem deutſchen Kalfer mächtige Freunde und Bundesgenoſſen gewann, gab ex dem 
Krieg einen für die Nieberlande günftige Wendung. Es gelang, England ven dem 
feindlichen Bunde abzuldfen und zwilhen England und Holland einen befoubern 
Frieden zu ftiften (1674). Er wurde num zum erbliden Statthalter ver Nie 
derlande ernannt, freilih nur in der männlihen Defcendenz. Immerhin war das 
ein großer Schritt zur Befeftigung eines Erbfürſtenthums. Der Friebe von Nym⸗ 
wegen (1678), der gegen den Wunfch des Prinzen von den kriegsmüden Parteien 
abgefchlofien wurde, fiherte das holländifche Gebiet und die Befigungen des Hauſes 
Dranien, aber gab tie deutſchen Interefien Preis. 

Die Plane Ludwigs XIV., die Suprematie über Europa zu erwerben, fanden 
in dem Prinzen Wilhelm den entfchlofjenften Gegner. Dem franzöfifchen Monarchen 
gegenüber vertrat er bie großen Intereflen der Selbftänpigleit der Staaten 
und der bürgerlihen Freiheit. Dazu fam der religiöfe Gegeujag, 
ter noch immer die Maſſen am meiften aufregte. Ludwig war entfählofien, in 
Frankreich nur noch die katholiſche Religion anzuertennen, freilich mit Beſchrän⸗ 
fung der päpftlihen Allgewalt und Aufredthaltung der flaatlihen Sonveränetät 
auch der Kirche gegenüber. In diefer Abſicht hob er das Edikt von Nantes auf 
(1685). Auch in England unterftügte er die katholifhen Neigungen des Könige 
Jakob II. und gewann über den befchränktten König einen entſcheidenden Ein- 
fluß. Der ganze PBroteftantismus ſchien von den realtionären Höfen bedroht. Auch 
auf dieſem fonfefftonellen Gebiete trat. ihm Wilhelm entgegen als Vertheidiger der 
evangelifhen Freiheit. Franzöfiſche und englifhe Flüchtlinge fanden in 
Holland Aufnahme und Schu. Prinz Wilhelm war ein entfchievener Proteftant, 
auch aus Meberzeugung; aber feine Politit fand in dieſer Berbindung mit der 
Religion eine mächtige Förderung. Die oranifche Partei in Holland war feit einigen 
©enerationen fortwährend mit der ftreng-falviniftifchen, reformatorifh-undulpfamen 
Partei wider die republikaniſch-partikulariſtiſche Partei verbunden, melde in reli- 
giöfen Dingen freier und gegen Andere toleranter gefinnt war. Über der Prinz 
machte fi) los von dem beſchränkten Neligiongeifer feiner Partei. Er haßte wäh⸗ 
vend feines ganzen Lebens vie kirchliche Verfolgung und wußte fi frievlih und 











—— 


Wilhelm III. Aönig von England. 201 


freundlih, wie mit ben holländiſchen Reformirten, fo mit den Biſchöflichen In 
England unb den Presbpterianern in Schottland zu ſtellen. Auch in dieſer Hin- 
fiht verfuhr er als vorurtheilsfreier, weitfichtiger und weitherziger Staatsmann. 
- Sogar den Katholiken zeigte er fi) gewogen, wenn fie nur treue Unterthanen bes 
Staates waren. 

Seine Heirath mit der englifhen Prinzeffin Maria Stuart, der Tochter 
Jakobs II. (1677) brachte ihn in engfte Beziehungen zu dem englifchen Hofe und 
den englifhen Parteien. Mit gefpannter Aufmerkſamkeit verfolgte er dad Zerwürf⸗ 
niß zwifhen dem Könige und der Nation. Es war verfelbe Begenfag, der ihm 
in Zubwig XIV. entgegen getreten war. Auch Jakob II. verſuchte die abfolnte 
Monarchie aufzurihten und ven Katholicismus in England herzuftellen. Aber in 
England fließ die Lehre von dem unbeſchränkten und göttlichen Rechte der Krone 
doch anf ganz anders ftarke Hinberniffe, als in Frantreih. Das feftgegrünvete 
geihichtliche Recht des Parlaments war nicht fo leiht aus ven Angeln zu heben 
und umzuſtürzen. Der englifhen Nation waren bie Niederlage Karls I. und die re 
publikaniſche Zeit noch in friſchem Gedächtniß. Selbſt die Biſchöfe, melde vorher 
eifrig jener mit der Bibel begründeten Lehre zugeſtimmt hatten, wurden doch 
ſcheu, als ver König auch ihre hochkirchlichen Rechte antaſtete und traten in bie 
Reihen der Oppofition über, welche immer allgemeiner wurde, zulegt faft die ganze 
Ration umfaßte. Auf den bollänbifhen Prinzen richteten fih nun die Blide Eng» 
lands. Er wurde von den Freunden der parlamentarifchen Freiheit und von ben 
Unzufriedenen aufgefordert, einzugreifen und das Land vor der Defpotie des Kö- 
nigs und ben Umtrieben der Papiften zu retten, 

Der Prinz war entfchlofien, dem Nothruf zu folgen und den Anlaß zu 
ergreifen, um den Ideen und Interefien, deren Hauptvertreter er war, den Sieg 
zu verſchaffen. Er ftellte fi an die Spige der nenen englifhen Revolution und 
verfodht fie mit dem Schwert in der Hand. Ganz im Stillen bereitete er bie 
triegerifche Landung in England vor. Erft als das Wert vollzogen wurde, erließ 
er öffentligde Erklärungen, um ven gewwaltfamen Schritt zu rechtfer⸗ 
tigen Er komme, fagte er, mit feinen Truppen, „um bie proteftantifche Religion 
za fchügen und die Geltung der Geſetze und der Freiheiten herzuftellen”. Er 
beflagte ſich über die fchledhten Rathgeber des Königs, welche der Krone ein freies 
Difpenfationsredht zufchreiben, deſſen Anwendung alle Geſetze den gemeinfamen 
Ausdruck des Königs und des Parlaments unwirkſam mache, welche die Richter 
nöthigen, dieſe Willkür gutzuhelßen und bie Rechte der ganzen Nation zu zer- 
flören, weldge die Proteftanten berauben und bie äffentlihen Aemter und Stellen 
an verbädtige und unfähige Leute bringen, unter Mißachtung der gefeglichen 
Schranken. Bergebens babe er in Gemeinfchaft mit feiner Gemahlin dem König 
Borftelungen gemacht, die Zuftände feien nicht verbefiert, fondern immer unerträg- 
liher geworben. Endlich ſprach er den Verdacht aus, daß die Geburt eines könig⸗ 
lihen Prinzen unecht und das Kind unterfchoben worden fei. 

Man fieht, vie perfönlihen Intereflen fpielen mit. Er hatte offenbar darauf 
gerechnet, daß feine Gemahlin nad dem Zope ihres Vaters Königin von England 
werde und daß er durch fie in England Macht erwerbe. Nun ftellte fi der neu⸗ 
geborene Sohn der Tatholifden Königin zwifhen den König und ihn und drohte 
alle feine Hoffnungen auf die Zukunft zu vernichten. 

Wilhelm hatte etwas Kaltes, Verſchloſſenes, klug Berechnendes in feinem 
Weſen. Er war ein ebenfo gewandter Diplomat, wie ein gut mandverirender 
Feldherr. Er hat manches Treffen verloren, aber mehr als einmal durch unerwar- 








202 Wilhelm III: König von England. 


tete und geſchickte Märſche von neuem das Uebergewicht erlangt. Die Ziele faßte 
er fharf ins Auge und ging entjhloffen darauf los. In ven Mitteln war er 
vorfihtig und rückſichtslos zugleih. Gern hällte er fi in tiefes Schweigen, aber 
wenn er ſprach, dann war das Wort bedeuten und entjcheidenv. 

Mit ihm Hatte die Revolution gefiegt. Der König war entflohen und ber 
englifhe Thron wurde von der einberufenen Konvention, welde vie Stelle 
des Parlaments einftweilen während des Notbftands verfah, als erlevigt erklärt 
(Ianuar und Yebruar 1689). Es wurde nicht wieder, wie in ber erflen Revo—⸗ 
Iution, ein Staatsproceß gegen den König eingeleitet. Derjelbe wurke durch feinen 
Richterſpruch verurtbeilt und entfegt. Die Konvention wählte eine milvere Form, 
zu welcher vie beiden großen Parteien, Whigs und Tories fich vereinbarten, wenn 
auch jede der beiden auf andere Dinge den Nachdruck legte. Beide nahmen an, 
daß das Band, weldes bisher den König mit dem Bolt ftaatlich geeinigt habe, 
gelöst fei, die Whigs bauptfählih, weil Jakob Il. die Grundgeſetze des Neiches 
verlegt und dadurch feine Rechte verwirkt habe, die Tories eher, weil er das Land 
in der Noth verlaffen und mit der Pflicht auch das Recht zu regieren aufgegeben 
habe. In beiden Fällen war der Brud der Nation mit dem legitimen König und 
feinem göttlichen Rechte vollzogen. Indem Prinz Wilhelm dieſen Schluß guthieß, 
erfannte er an, daß das neue Königthum in England kein abfolutes, fondern 
ein geſetzlich beihränttes fel. Auch er hatte ven Bruch mit den Ueberlie- 
ferungen des Mittelalters und mit den Doltrinen des göttlihen Rechts vollzogen. 

Damit aber war zunähft nur eine Negation ausgeſprochen und freier Raum 
gewonnen für die Neugeftaltung des Staats. Bon feiner Seite war damals Nei- 
gung, einen ganz neuen Staat, etwa auf naturredhtlichen Principien zu fchaffen. 
Die Verfaſſung in ihren Grundzügen war gegeben und entſprach den alljeitigen 
Meinungen und Wünfden; vie herrichenden ariftofratifchen Parteien nicht allein, 
fondern au die Bürger von London und den andern Stäbten fürdhteten einen 
Nüdfell in die republifanifhen Zuftände ver früheren Revolution. E& kam haupt⸗ 
fächlih darauf an, den Thron neu zu befegen und dem neuen Königthum gegen» 
über die Volksrechte beffer zu fichern. 

Die Verhandlungen tarüber in der Konvention und mit dem Prinzen find 
höchſt merkwürdig. Sie führten, wie das der Natur der repräfentativen Monarchie 
gemäß ift, zu einem Kompromiß der verfhiedenen politifch entfchei- 
denden Mächte. Der Prinz hatte nach den dynaſtiſchen Rechtögrunpfägen des 
Mittelalter8 gar keinen Anfpruh auf den englifhen Thron. Das beftehenvde Thron⸗ 
folgeredt war, wenn einmal der Thron als erledigt galt, unzweifelhaft für eines 
ber Kinder Jakobs II., zunädft für ven neugebornen Sohn, deſſen Unechtheit doch 
nicht zu erweifen war und ber den Thron durch Feine Handlungen des Vaters | 
verwirkt haben konnte, und dann erft für die Prinzeffin Marie, die Gemahlin 
Wilhelms. Aber alle politifhen Erwägungen fprachen dafür, daß mit dem fönig- 
lihen Bater aud der unmündige Sohn, daß die ganze männliche “Defcendenz der 
Stuarts ausgefchloffen werde. Der Prinz ließ ſich nicht umgehen. Er hatte 
in der That in fürſtlicher Stellung und mit fürftliher Macht rettend eingegriffen. 
Er hatte den Sieg der Revolution entfchieden, deren Haupt er war, deren Wir« 
fungen er zu verfechten berufen war. Er war der thatſächliche König der politifchen 
Nothwendigkeit. Auch er konnte fih auf die göttliche Leitung der Weltgefchichte 
berufen, das göttlihe Mecht in einem höheren Sinn. Ueberdem war er der Ge: 
mahl der zunädft nun durch das Geblütsrecht berufenen Königin, und ed war 
unnatärlih, daß er, der felbftännige holländiſche Fürſt, ber überlegene Staats- 








Wilhelm III. Aönig von England. 203 


mann und ber Herr. feines Haufes, in England hinter feine Gemahlin, die ihm 
ganz und gar ergeben war als ihrem Herrn, zurüdftehen ſollte. Er konnte fid 
eine fo falſche Stellung nicht gefallen laflen. Es blieb Fein anderer Ausweg, als 
den bie Konvention betrat, den Prinzen Wilhelm und feine Gemahlin gemeinfam 
und nach je des einen Gatten Tode ben Überlebenden Gatten als König von Eng- 
land zu proflamiren. 

Nun ward es noch nöthig, auch die Mechte des Volkes in ben mefentlichften 
Punkten zu kräftigen. Lord und Gemeine ſprachen viefelben in einer Erklärung 
der Rechte urkundlich aus, welche der neue König vor der Krönung gutbieß. Einige 
weit gehende Wünſche hatten dieſelben fallen lafien, gewarnt yon dem Prinzen, daß 
er wohl die Geſetze und die Bolföfreiheit zu vertheidigen, aber nicht vie Würbe 
der Krone zu ernieprigen gewillt fei. Ausprüdlih wird das angemaßte Dispen- 
fationsredt des Königs von ber Autorität des Geſetzes ald veıfaflungswibrig 
verworfen und ebenfo die angemaßte Gewalt der Krone, Geld zu erheben 
ohne Gewährung des Parlaments. Auch die Errichtung oder Beibehaltung eines 
ſtehen den Heeres in Trietenszeiten ohne Zuflimmung des Parlaments wird 
als geſetzwidrig unterfagt. Das Recht der Unterthanen, Petitionen an den König 
zu richten, wird gefhägt und ebenfo die Freiheit der Debatte im Parlament 
gewährleiftet. Die Proteftanten jollen erlaubte Waffen tragen pürfen und die Wahlen 
zum Parlament frei fein. Das Berfahren vor Gefhwornen insbefondere in 
Brocefien wegen Hoch verrath wird mit befonderen Garantieen ausgeftattet, über- 
mäßige Bürgfhaftsfummen und Geldſtrafen werden unterfagt und aud in 
diefer Hinfiht das gerichtliche Verfahren für nothwendig erklärt. Dem König 
wird es zur Pflicht gemacht, zur VBeflerung, Kräftigung und Aufrechthaltung ber 
Sefege dftere Parlamente zu verfammeln. Es werben zugleih neue Eide ber 
Treue und des Gehorfams gegen den neuen König und der Berwerfung 
aller päpflliden Autorität über den englifhen Staat vorgefchrieben. End- 
lid wird die proteftantifhe Religion als eine Grundbedingung der könig⸗ 
lichen Gewalt erflärt und das Volk jeder Unterthanentreue gegen einen Tatholifchen 
Fürften entbunden. | 

In feiner Antwort auf biefe Erklärung englifcher Grundrechte erwieberte der 
König: „Ih kann Euch verfihern, daß ich niemals das Vertrauen mißbrauden 
werde, das Ihr in mid fest; meine Ueberzeugung iſt, daß die Grundlage eines 
vollfommenen Einverftänpnifjes zwifchen König und Unterthanen das wechjelfeitige 
Bertrauen ifl. Wird dieſes Vertrauen geftört, fo wird die Negierung entnervt. Es 
wirb daher meine ftete Sorge fein, Alles fo zu leiten, daß das Parlament nie» 
mals Urfahe haben wird, mir zu mißtrauen; und das einzige Mittel, mir biefes 
Bertrauen zu erhalten, ift, Nichts von Ihm zu verlangen, was nicht feinem eigenen 
Intereffe entſpricht“. In der That, der König verftand es, aud unter höchſt ſchwie⸗ 
rigen Umflänven die Einigleit mit vem Parlament, jene Hauptbebingung 
eines glüdlihen Wirkens ver vepräfentativen Monarchie zu erhalten, oder wenn 
fie momentan gefährbet ſchien, bald wieder herzuftellen. 

In ähnlicher Weife fellte die ſchottiſche Konvention ihre Beſchwerden 
gegen Jakab II. zufammen und erfannte unter ähnlihen Beſchränkungen die eng> 
liſchen Majeftäten auch ale Könige von Schottland an. Nur verwarfen die Schotten 
die Iuftitution der Bifchöfe, die von England her ihnen aufgendthigt worden war. 
Ausdrücklich verwahrten fie fi gegen die Duldung der Jeſuiten, gegen bie 
Gefährbung aller Freiheiten durch die Ermächtigung von Offizieren der 
Armee, Bericht zu üben und Strafen zu erfennen, gegen bie Ernennung ber 


ws 


Magiftrate, im Widerſpruch mit den Freibrieſen und Privilegien ver Stäbte, 
gegen die Kabinetsjuftiz und die Entlafjung der ordentliden Richter, 
gegen die Nöthigung der Angeflagten, wider fi ſelbſt zu zeugen und gegen 
die Tortur ohne Maren Beweis, gegen die Einquartierung von Soldaten 
und Befetung des Landes mit Truppen ohne die Antorität des Parlamentes; 
gegen die Beftrafung der Männer, wenn ihre Brauen vie firdliche Ge⸗ 
meinfhaft vermeiden, für das Recht gegen vie Urtheile der Herın an König 
und Parlament zw refurriren, für das Recht, Arreffen an den König-zu 
richten und bie parlamentarifhe Beſchwerden- und Mebefretheit. 

Ein charakteriftiiher Zug trat hervor, als die ſchottiſche Deputation dem 
König auch die alte Formel vorlegte, daß er berufen fei, vie Häretiker zu ver- 
folgen. Darauf bemerkte König Wilhelm: „Ich bin: Proteftant und daher kann ich 
nur verſprechen, daß ich die reformirte Religion aufredht erhalten will. Uebrigens 
weiß ich nicht fiher, was man unter einem Häretifer verfteht, noch was unter 
jener Formel gemeint ift. Aber ich weiß ganz fiher, daß ih niemals Jeman— 
den feiner Religion wegen verfolgen laffen und niemals Jeman- 
ben anders ald auf dem Wege der Ueberzeugung nöthigen werde, den evan» 
geltfhen Glauben zu betennen“. Die hödfte geiftige freiheit, die Belennt- 
nißfreiheit, fügte der König fo jenem Verzeihnig der Tandesfreiheiten aus eigenem 
Antrieb bei. Aud die Preßſreiheit wurde jegt erft in England eingeführt, 
indem das Genfurgefeg und die Ernennung der Genforen nicht mehr erneuert 
murde. © 

Allerdings war ein großer Theil jener Rechte und Freiheiten ſchon in Älterer 
Zeit entftanden und behauptet worten. Aber der ganze Staat warb body jegt mit 
einem neuen fonftitutionellen Geift erfüllt und das konftitutionelle Syſtem 
befam erft jegt die volle Gewähr feines Beftandes, als auch das Königthum 
dieſen Geift in fih aufnahm und ihm gemäß die öffentliche Macht handhabte. Die 
Zubors und die Stuarts huldigten nody mehr oder weniger dem Geift des Ab- 
folutismus. Man kann daher die englifche Tonftitutionelle Monarchie erft 
mit König Wilhelm datiren. Damit aber beginnt eine neue Epode des politifchen 
Lebens für ganz Europa. 

Freilich dieſem erften konftitutionellen Könige wurde die Arbeit fehr ſchwer 
gemacht. Schan in dem erften Konventionsparlament ftieß der König auf unerwar⸗ 
teten Widerftand. Die Partei der Whigs war allzu fehr geneigt, das Staatshaupt 
ihrer Parteiherrfchaft vienfibar zu machen. Sie nahm es ihm übel, wenn er aud) 
einzelne Tories als Räthe zuzog; fie verlangte Verfolgung umd Beftrafung derer, 
welde zuvor das abfolute Regiment in amtliher Stellung unterftägt hatten, ber 
König dagegen wollte durch eine meitherzige Amneftie die Gemüther beruhigen. 
Sogar die Kroneinktünfte wollte die Konvention nur auf Iahresfrift und nur in 
minderem Maße, als fie früher Jakob II. gewährt worven, bewilligen. Die Hol⸗ 
länder am königlichen Hofe wurden mit Mißtrauen und Abneigung betradhtet; der 
König ſelbſt wurde Insgeheim der Herrſchſucht verbädtigt. Es läßt ſich nicht be⸗ 
fireiten, das eigentlihe Ideal vieler Whigs war eine Republik, in welcher fie, ge- 
bedt von dem Namen des Königs, regierten. Der König fah das, aber er war 
ein zu bedeutender Fürſt, um ver Diener einer einzelnen Partei zu werben. 

Auch der große Gedanke des Königs, eine Union der verfchiedenen prote- 
ſtantiſchen Kirchen- und Religionsgenofjenfhaften herzuftellen, und allen taug- 
liden Männern aller firhlihen Parteien dasfelbe Recht und benfelben 
Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten und Aemter zu eröffnen, war unaus⸗ 


204 Wilhelm III. König von England. 








Wilhelm III. König von England. 205 


führbar. Die bifhöflihe Partei fürdhtete ihre privilegirte Staatöftellung zu ver- 
lieren und hatte ven reformirten König im Verdacht, daß er vorzüglich feine Tal- 
viniſtiſche Richtung begünftigen wolle. Der König konnte nur ein Zoleranz- 
geſetz durchſetzen, welches ven Diffenters perfünliche Wreiheit gewährte und bie 
Strafanprohungen befeitigte. Eine Gleichſtellung der Kirchen wurde nicht erreicht. 

Unter dem König Wilhelm erſt befam das parlamentarifhe Budget— 
recht Seltung. Es mußte nun, wenn ein Parlament beifammen war, ein Bor: 
anfchlag für vie Ausgaben je des nächſten Jahres vorgelegt werben und das Unter⸗ 
haus vorzüglich prüfte denfelben in ven verſchiedenen Zweigen ver Verwaltung 
und ermäßigte gelegentlich die einzelnen Poften. Auch die Kontrole über die Ver⸗ 
wendung der bewilligten Gelder übte das Parlament aus. Die königliche Regie⸗ 
rung fühlte fich oft ver financiellen Aufficht des Parlaments gegenüber empfind- 
lich in ihrer freien Bewegung beſchränkt, und aud dem König wurde mancher 
Berdruß zugefügt. So glatt und ungefährlih war der Weg auch in England 
nicht für eine geregelte Finanzkontrole des Unterhaufes und es dauerte lange, bis 
die Parteien im Parlament Umfiht und Mäßigung in der Ausübung ihres Bup- 
getrechts und die königliche Regierung ftrenge Beachtung ver gefeglihen Schranfen 
lernte. 

Auch in England war der Vorſchlag gemacht worden, die Beamten von 
dem Parlament auszufchließen, und zwar von den parlamentariichen Parteien aus. 
Indefien der König verweigerte feine Annahme der Bill und ſchließlich verftännigte 
man fi darüber, dag die Ernennung eines Parlamentsmitglievdes zu einem öffent- 
lihen Amt nur zu einer Neuwahl ins Parlament Veranlaffung gebe, nicht aber 
die Ausſchließung begrünbe. Ä 

Auch einer Bil, welhe breijährige Parlamente einführen wollte, verwei- 
gerte der König feine Zufimmung. Er wollte freiere Hand behalten aud in ver 
Brage der Fortdauer oder Auflöfung eines Parlaments. 

Der Dmnipotenz des Parlaments, voraus des Unterhaufes, war ber 
König nit hold. Es war ihm ganz recht, daß ſich auch die Wähler im Volke 
regten und ihre Nepräfentanten im Unterhaufe an die Schranten ihrer Allmacht 
erinnerten. Die Krone hatte nad) feiner Meinung aud die Miffion, das Gleich— 
gewidht unter den Yaltoren ver Staatögewalt zu erhalten und feine einfeitige 
Herrſchaft Eines Theils zu geftatten. 

Zu den Örundlagen der heutigen Eonftitutiouellen Monarchie gehört insbe⸗ 
fondere die Bildung eines Minifteriums, als leitendem Naths des Kö— 
nige. Auch diefe Einrichtung befam durch König Wilhelm einen fefteren Beftand; 
nit ohne Klagen, daß die Autorität des Geheimen Raths (Privy Conceil), 
in welchem eine größere Anzahl vornehmer Männer, etwa vierzig, gleichfam ber 
innerfte Kern des Parlaments, vereinigt waren, vermindert werde. Aber die Ge- 
fahren ver Zeit, voll von Krieg, Verſchwörungen und Intriguen, machten eine Be⸗ 
rathung und Entjheivung in engftem Kreife derer, die zu handeln berufen 
waren, zur Nothwendigkeit. In ven erften Jahren feiner Regierung weihte Kö⸗ 
nig Wilhelm nit einmal die Minifter in die Geheimniſſe feiner Politik ein, weil 
er Ihnen nicht vertrauen konnte, daß fie fein Geheimniß bewahren. Auch fpäter 
noch entſchied der König manche wichtige Dinge, befonders in biplomatifcher Hin- 
fit, in feinem Kabinet nad Berathung mit wenigen Bertrauten, felbft ohne vie 
Minifter zuzuziehen. Er betrachtete e8 als eine Hauptaufgabe feiner Regierung, 
die fürftlihe Initiative in der Leitung ber Politik unverfehrt zu erhalten. 

Der König liebte vie Parteiregierung nicht und wurde deßhalb zuweilen von 





206 Wilhelm III. König von England. 


den beiden großen Parteien zugleich bebrängt. Er verfuchte es, in feinem Kabinet 
Hänpter der Tories und der Whigs zu verbinden und ftüßte fich hinwieder wech⸗ 
felnd Bald auf jene, bald auf dieſe, ohne vie eine Partei eine fefte Herrſchaft über 
die andere gewinnen zu laſſen. Zwiſchen ven Miniftern und dem Parlament be- 
ftand noch nicht der enge Zufammenhang, wie er fpäter hergeſtellt wurde. Die 
Minifter waren noch nicht die Häupter der Parlamentsmehrheit. Defter 
gingen die einzelnen Minifter unter fih und gegenüber den Mehrheiten ausein- 
ander. Indeſſen war e8 auch damals ſchon ſchwer, einen Minifter zu halten, wenn 
ihm das Parlament ein ernfles Mißtrauen bezeugte und darauf beharrte. Zum 
Theil kamen heftige Angriffe im Barlament gegen einzelne Perfonen vor, und 
ſelbſt der richterlihe Schuß half den Angellagten Nichts, wenn das Parlament In 
feinem Souveränetätsgefühl ſich bis zu perlönlihen Gefegen (bills of atteinder) 
binreißen ließ. Auch die fehr bevenflihen Seiten der parlamentarifhen Allmacht, 
weldhe das Recht und die freiheit unpopulärer Perfonen bebrohte, traten gelegent- 
lich hervor. König Wilhelm hatte manden Strauß mit der DBerfolgungsfucht der 
Parteien zu beftehen, und nicht immer fegte er feine geredhteren und verföhnlicheren 
Abfihten durch. Sein Begnadigungsreht hielt er aber feft. Schon zu Anfang 
feiner Regierung batte er nicht zugegeben, daß dasſelbe befchränft werde, auch nicht 
bei Minifteranklagen. 

Aber wie der König den höchften Werth legte auf fein Einverftänpniß mit 
den beiden Häufern des Parlaments, fo verlangte er auch von feinen Miniftern, 
daß fie fih das Vertrauen des Parlaments zu erwerben und zu erhalten 
fuhen. Wenn das nit möglih war, fo griff er je nach Umftänden zu dem Mittel 
einer Prorogation oder Yuflöfung des Parlaments oder zu der Veränderung feines 
Miniſteriums. 

In der Parlamentsakte von 1701 wurde ausdrücklich die Thronfolge in 
England in Verbindung geſetzt mit der Pflicht des Königs, nah den Ge—⸗ 
fegen zu regieren. Das Eonftitutionelle Königthum tft eben ein geſetzlich beftimmtes 
und befchränftes Königthum. 

Wie ſtark übrigens neben den Rechtsformen und Rechtsregeln der Verfaſſung 
noch andere Momente auf den Berfafjungsgeift in der Nation und im Parlament 
wirken, das hätte der König nad dem Tode feiner Gemahlin (1794) erfahren, 
auch wenn er nicht fchon vorher von ber boftrinären Täuſchung frei gewefen wäre, 
daß Alles durch das gefchriebene Gefegesrcht beftimmt werde. Obwohl er nun 
feit mehreren Jahren als König regiert und dem Lande die größten Dienfte ge- 
leiftet Hatte, fo wurde doch jegt feine Stellung viel unficherer und angefeinveter 
al8 zuvor. Es beburfte aller feiner Mugen Energie, um fein Anfehen zu bebaupten. 
Bis an feinen Hof heran und unter feine Bertrauten hivein grub die Verſchwö⸗ 
rung ihre heimlichen Minen. Die englifche Eiferfucht gegen die Holländer wen⸗ 
bete zuweilen ihre verlegenden Stacheln gegen den König felbft. Es kam ihm öfter 
zu Statten, daß die Reaktion ver Jakobiten Whigs und Tortes erjchredte. Als er 
im rieden von Ryswik (1697) enolih audh von Ludwig XIV. als König von 
England anerfannt ward und die Gefahr einer Rückkehr Jakobs II. mit Hülfe 
ber Franzoſen geringer wurbe, machte fi die englifhe Abneigung gegen kon⸗ 
tinentale Verwicklungen und Einflüffe fehärfer geltend. Der König wurde gend- 
tbigt, feine holländiſche Garde zu entlaffen und die englifhe Armee nahezu auf- 
gelöst. 

Trotz diefer Schwierigkeiten brachte Wilhelm nochmals eine große europälfche 
Koalition zufammen, zur Erhaltung tes europäifhen Gleichgewichts gegen 











Wiffenfhaft. 207 


die franzöſiſche Uebermacht, als der ſpaniſche Thron erledigt und die Gefahr 
da war, daß bie franzöflihe und die ſpaniſchen Krone auf Einem Haupte geeinigt 
werden. Nur ein paar Jahre lang hatte er mit Ludwig XIV. im Frieden gelebt. 
Das Schidfal trieb ihn wieder auf bie europälfhe Hauptaufgabe feines Lebens 
bin, der Weltherrfhaft des abfoluten Königthums entgegen zu treten und bie Frei⸗ 
heit der Staaten, ber Nationen und der Religionen zu vertheidigen. 

Er erlebte nit mehr die endliche Demüthigung feines mächtigften Gegners. 
Ein Sturz vom Pferde (16. März 1702) führte feinen Tod berbei. 

Durch die ausgezeichneten Geſchichtswerke von Macaulay und 8. Rante 
ift das Charakterbild Wilhelms und feiner Zeit ein Gemeingut der gebildeten Welt 
geworden. Vigl. auch Histoire de Guillaume III. 2 Be. Amſterdam 1703. 
P. Grimblot, Letters of William III. and Louis XIV. 2 Bde. Lon- 
don 1848. Bluntſchli. 


Wirthſchaftspolizei, ſ. Polizei, Voltswirthſchaftspflege. 


Wiſſenſchaft. 


Alle Wiſſenſchaft iſt das Werk und die Errungenſchaft der individuellen 
Geiſtesarbeit, des Denkens. Der in den einzelnen Menſchen wirkſame Geiſt 
ſucht und findet die Wahrheit, indem er fein Selbſtbewußtſein entfaltet, die Er- 
fheinungen beobachtet, Urſache und Wirkung, Grund und Folge, Anlage und Ent- 
widlung unterſcheiden lernt und intem er aus dem einen VBeftandtheile den andern 
erflärt, beide wieder zum Sein zufammenfaßt. Diefe Denkarbeit und ihre Ergeb- 
nifje find durchaus unabhängig von ber Autorität des Staates. Alle Macht des 
Staatd vermag nicht einen Irrthum zu widerlegen und nicht den Beweis einer 
Wahrheit zu entkräften. Die Wiffenfchaft gehört allo naturgemäß dem freien 
Geiſtesleben an. Die wiffenfhaftliche Freiheit leugnen und belämpfen, pas heißt, 
den Menſchengeiſt verfennen und beleidigen. 

Aber wenn gleih die Wiffenfhaft voraus individuel erworben wird, fo ſteht 
ihre Entwidlung doch in einem Innern Zuſammenhang mit den allgemeinen Kuls 
turzuftänden einer Nation und theilen fi ihre Wirkungen hinwieder der Gemein» 
haft mit. Wenn eine Nation gute Schulen hat, wenn die Jugend frühzeitig in 
bie früher erfannten Wahrheiten eingeweiht, wenn fie in der Arbeit richtiger Be⸗ 
obadhtung und des Logifhen Denkens geübt wird, fo wird die nationale Vor⸗ 
und Durchbildung aud den weitern Arbeiten der reiferen Männer förverlich, 
und fowohl der Antrieb als die Empfänglidkeit für neuen Erwerb der Willen- 
[haft vermehrt fi. Die geiftige Entwidlung einer Nation entfaltet auch thre 
Denkkraft, und die gefteigerte Fähigkeit zu venfen führt zu neuen Erfolgen ber 
Erkenntniß und zu höherer Geſammtbildung. 

Damit ift fhon die große mittelbare Bedeutung der Wiflenfhaft für ven 
Staat und hinwieder des Staates für die Wiflenfchaft angedeutet. Die Wiffen- 
idaft fteht dem Staate näher, als die Religion, denn jene wirft auf die ©eifter, 
biefe auf die Gemüther, jene erleuchtet voraus das Leben der Menſchen unter 
einander, dieſe heiligt die Beziehungen der Menſchen zu Gott. Wenn ver Staat 
das Reich der Selbftbeherrfchung des Volkes ift, fo ift das Selbſtbewußtſein auch 
des Staates eine unentbehrlihe VBorausfegung der gereifteren Selbftbeherrfchung 
und die Nothwenvigkeit ver Staatswiſſenſchaft (f. dieſen Artikel) für den 
Staat eriwiefen. Wenn das Öffentliche Leben durch den Bffentlichen Willen beftimmt 








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198 Wettiner. 


Dpfer zu bringen und fein Staatshaushalt gerietb in bobenlofe Verwirrung. 
Günftlinge, Maitreffen, zahlloſe natürliche Kinder, Goldmacher und Abenteurer aller 
Art verfhlangen ungeheure Summen. Zwar verfhönerte Auguſt die Hanptftabt 
Dresden mannichfach, aber während er 1719 bei ver VBermählung feines Sohnes 
in Dresven vier Millionen vergeudete, war Theuerung im Lande und Hungers- 
noth im Erzgebirge. Ä 

An den Berbeflerungen in der Gefeßgebung und Rechtspflege, die man wäh. 
rend feiner Negierung verſuchte (f. g. Codex Augusteus), hatte er wenig Autbeil. 
Willkürliche Kabinetsregierung und hierarchiſch jefuitifcher Einfluß nifteten fich 
immer mehr ein. Der Tod überrafäte ten Wüftling mitten unter den Entwürfen 
zu neuen Feten am 1. Februar 1733. 

Diefer Yürft bat durch feinen Uebertritt zum Katholicimus und 
feine Topflofe, nur auf perfünlide Eitelkeit gegründete Politik das ſächſiſche Haus 
um feine große kulturgeſchichtliche Aufgabe in Norddeutſchland gebracht, weldye 
feitvem auf Preußen-Branpenburg und bie an thatkräftig ſtaats⸗ 
männiſchem Geift fo hochbegabte Dynaftie ver Zollern übergegangen ift. 

Auf Friedrich Auguſt I. folgte Frie drich Auguft II, 1733—1763, 
welcher unter dem Namen Auguft II. zum König von Polen gewählt wurbe. 
Diefer Yürft wirtbfchaftete ganz in der verberblichen Weije feines Vaters weiter, 
überließ vie Stantsangelegenheiten feinem Günftling, dem Grafen Brühl, 
und fegte durch feine preußenfeindliche Politik fein Land allen Laften des fieben- 
jährigen Krieges aus. Sein einziges Verdienſt erwarb er fi durch feinen Kunft- 
finn, weldem Drespen vie ebelften Schäge feiner unvergleichlichen Galerie ver- 
dankt. Sein Nachfolger in der Kurwürde war Friedrich Chrifian, 
welchem nach feinem bald erfolgten Tode fein unmündiger Sohn Friedrich 
Wuguft II. 1763, unter Vormundſchaft feines Oheims, Prinzen Xaver, 


- fuccebirte. Friedrich Auguft trat 1768 die Selbftregierung an, führte 1778 wegen 


der Anfprücde feiner Mutter auf die Verlaſſenſchaft ihres Bruders, des legten 
Kurfürften von Bayern, gemeinfchaftlih mit Preußen, ven bayerifhen Erbfolge: 
frieg gegen Defterreih und erhielt im Frieden von Teſchen die beveutende Ent⸗ 
Ihäpigungsfumme von ſechs Millionen Gulden für fein Haus. Unter diefem 
Fürſten fanden die größten Beränderungen in Europa ftatt, welhe auch auf 
Sachſen zurüdwirkten. Um 11. December 1806 im Poſener Frieden trat 
Friedrich Auguft dem Rheinbund bei und nahm den Königstitel an. Wegen feiner 
bartnädigen antinationalen Politit wurbe er genöthigt, vie Hälfte feines Gebietes 
an Preußen im Jahr 1815 abzutreten. Friedrich Auguft regierte bis zum Jahr 
1827 in wohlwollender, aber ftarr Tonfervativer Weife. Erſt durch die Verfafſung 
vom 4. September 1831 kamen Sachſens antediluvianiſche Zuſtände einiger- 
maßen in Fluß. Seitdem hat Sachfen fehnelle Fortſchritte auf allen Tebensgebieten 
gemacht und gehört zu den am meiften entwidelten Theilen Deutſchlands. 

Dererfie Abſchnitt der Berfaffung vom 4. September 1831 
handelt vom König, von der Thronfolge und der Regentichaft. Die fpectellen Ver⸗ 
bältniffe des königlichen Haufes find regulirt in dem Hausgeſetz vom 
30. December 1837, doch find beim etwaigen Aueſterben der albertinifchen 
Linie immer noch Succeffionsftreitigleiten zwifchen ben verfchienenen erneftinifchen 
Speciallinien nicht ausgefhlofien, da bie für dieſen al eintretenden ältern 
Succeffionsnormen beftritten und unklar find. 

Literatur: E. ©. Heinrich, ſächſiſche Geſchichte. Leipzig. 2 Bände. 
1780—1782. — Ch. €. Weiße, Geſchichte der kurſächſiſchen Staaten. 6 Bde. 





Wilhelm III. aönig von England. 


Leipzig 1802—1810. — C. Gretſchel, Gefchichte des fähfljhen Bı 
Staates, fortgefegt von Bülau. 3 Bde. Leipzig 1843—1853. — Ch. E. 
Lehrbuch des fächſiſchen Staatsrechts. 2 Bde. Leipzig 1824. Ueber bi 
hauögefeglihen Beftimmungen vergl. beſonders Hermann Schulze, t 
der Erfigeburt. Leipzig 1853. Hermann | 
Widerftaud, |. Gehorſam und Widerſtand. 


Wiener Kongreß, |. Rongreffe und Friedeneſchli 


Wilhelm III. König von England. 


Wie Ludwig XIV. von Frankreich der Repräfentant iſt ber neue 
luten Monardie in Wefteuropa, fo ift fein großer Zeitgenoffe und Gegn 
beim III. der erſte Vertreter der Tonftitutionellen Monarchie. In dem &ı 
dem Kampfe der beiden Fürſten ftellt ſich ver Gegenfag ber beiden p 
Grundanſichten und Richtungen dar, die nun während Jahrhunderten mit 
ringen. Im Großen war das Ende des fiebenzehaten und faſt das gaı 
zehnte Jahrhundert der abfoluten Monardie günftiger. Die Entwick 
neueren Zeit aber hat fid immer entſchiedener und allgemeiner dem zweit 
cip der fonftitutionellen Monarchie zugeneigt, das lange Zeit nur von 
vertreten war. 

Nicht wie Ludwig XIV. Hatte Wilhelm die Machtfülle geerbt, di 
der Höhe feines Lebens befaß, er Hatte fie durch ſchwere politifhe Arbeit ı 
und ben feindlichen Mächten gegenüber kämpfend behaupten mülſſen. A 
männlicher Charakter wurde durch diefe Anftrengungen gehärtel; er le 
menſchliche Natur und ihre VBebürfniffe und ihre Schwächen in reicher 
erfahrung gründlich kennen. Er bildete ſich nicht, wie Ludwig ein, daß er 
fe auf Erben, er beurtheilte den Staat und feine Aufgaben mit men 
nüchternem Berftande und mit freierem Sinn. 

Schon die Erinnerungen feiner Familie waren ernft und zur Vorſic 
nend. Jener unglüdlihe König Karl I. von England, der im Kampfe 
engliſchen Revolution den Thron und bas Leben auf dem Schaffott verlor 
war fein mätterliher Großvater. Seinen Vater, den Fürften Wilde 
Naffau-Dranien, hatte er wenige Tage vor feiner Geburt (14. Nov. 165: 
den Tod verloren. In den Niederlanden hatte fein Haus unter dem Na 
Statthalteramtes und in ter Eigenfchaft ald Bundesfeldher 
fürftlihe Machtſtellung in dem Bunbe ber Vereinigten Staaten begründe 
Bater nod war Feldherr und Statthalter geweſen, als er in früher Iu 
den Blattern verſtarb. Aber auch diefe Würde ſchien wieder verloren. D 
blilaniſche Partei hatte unterftügt von Cromwell und der englifhen Repu 
Uebergewicht erlangt, und die Oeneralftanten erklärten ſich wiederholt g 
Fortfegung und Erneuerung der Würde, Der republikaniſche Charakter des 
machte fi noch entfcyiedener als früher geltend. 

Solche Schidfalsfhläge laſſen leicht an bunaftifhen Höfen eine miß: 
Erbitterung zurüd und reizen zu reaktionärer Gefinnung. Eine fo ſtaatsmänni 
tur aber wie Wilhelm III. wurde dadurch von den Gefahren des fürftlichen U 
mus unterrichtet und veranlaßt, die Voltöfreiheit beffer zu würdigen. Es war 
kein Schaven, daß ex, obwohl ein Fürft, in einer Bundesrepublif erzogen 
An fürftlihem Ehrgeiz fehlte es ihm trogdem nicht. Als fein Lehrer d 


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198 Wettiner. 


Dpfer zu bringen und fein Stantshaushalt gerietb in bodenloſe Verwirrung. 
Günftlinge, Maitreſſen, zahllofe natürliche Kinder, Goldmacher und Abenteurer aller 
Art verfchlangen ungeheure Summen. Zwar verfchönerte Auguft die Hauptflabt 
Dresden mannichfach, aber während er 1719 bei ver Vermählung feines Sohnes 
in Dresven vier Millionen vergeubete, war Theuerung im Lande und Hungers⸗ 
noth im Erzgebirge. 

An den Verbeflerungen in ver Gefeßgebung und Rechtspflege, die man wäh. 
rend feiner Negierung verſuchte (f. g. Codex Augusteus), hatte er wenig Autbeil. 
Willtürlihe Kabinetsregierung und hierarchiſch jeſuitiſcher Einfluß nifteten ſich 
immer mehr ein. Der Tod überraſchte den Wüſtling mitten unter den Entwürfen 
zu neuen Feſten am 1. Februar 1733. 

Diefer Fürſt hat durch feinen Uebertritt zum Katholicismus und 
jeine Topflofe, nur auf perfünlihe Eitelkeit gegründete Politit das ſächſiſche Haus 
um feine große Fulturgefhichtliche Aufgabe in Norddeutſchland gebracht, weldye 
feitvem auf Preußen-Braudenburg und die an thatkräftig ſtaats⸗ 
männiſchem Geift fo hochbegabte Dynaftie der Zollern übergegangen ift. 

Auf Friedrich Auguft I. folgte Friedrich Auguft II, 1733—1763, 
welcher unter dem Namen Auguſt II. zum König von Polen gewählt wurbe. 
Diefer Fürft wirtbfchaftete ganz in der verberblichen Weiſe feines Vaters weiter, 
überlieg vie Staatsangelegenheiten feinem Günftling, dem Grafen Brühl, 
und feßte durch feine preußenfeindliche Politit fein Land allen Laften des fieben- 
jährigen Krieges aus. Sein einziges Verdienſt erwarb er fi) durch feinen Kunft- 
finn, welhem Dresden vie edelſten Schäge feiner unvergleichlihen Galerie ver- 
dankt. Sein Nachfolger in der Kurwürde war Friedrich Chriſtian, 
welhen nad feinem bald erfolgten Tode fein unmünbiger Sohn Friedrich 
Auguft III. 1763, unter Bormundfhaft feines Oheims, Prinzen Zaver, 


- fuccebirte. Friedrich Auguft trat 1768 die Selbftregierung an, führte 1778 wegen 


ver Anſprüche feiner Mutter auf die Verlafienfhaft ihres Bruders, bes legten 
Kurfürften von Bayern, gemeinfhaftlid mit Preußen, ven bayerifchen Erbfolge: 
frieg gegen Defterreih und erhielt im Frieden von Zeichen vie beveutende Ent- 
[hädigungsfumme von fehe Millionen Gulden für fein Haus. Unter diefem 
Vürften fanden bie größten Veränderungen in Europa ftatt, welche auch auf 
Sadfen zurüdwirkten. Am 11. December 1806 im Bofener Frieden trat 
Friedrich Auguft dem Rheinbund bei und nahm den Königstitel an. Wegen feiner 
bartnädigen antinationalen Politik wurde er gendthigt, vie Hälfte feines Gebietes 
an Preußen im Jahr 1815 abzutreten. Friedrich Auguft regierte bis zum Jahr 
1827 in wohlmollenver, aber ſtarr Tonfervativer Weife. Erft durch die Verfaffung 
vom 4. September 1831 Tamen Sachſens antediluvianiſche Zuſtände einiger- 
maßen in Fluß. Seitdem bat Sachen fchnelle Fortſchritte auf allen Tebensgebieten 
gemadht und gehört zu den am meiften entwidelten Theilen Deutſchlands. 

Dererfie Abſchnitt der Berfaffung vom 4. September 1831 
handelt vom König, von der Thronfolge und ver Regentfchaft. Die fpeciellen Ver⸗ 
hältniffe des königlichen Haufes find regulirt in dem Hausgeſetz vom 
30. December 1837, dod find beim etwaigen Aueſterben ver albertinifchen 
Linte immer noch Succeffionsftreitigkeiten zwifchen den verfchienenen erneftinifchen 
Speciallinien nicht ausgefchloffen, da bie für diefen Fall eintretenvnen ältern 
Suceefftonsnormen beftritten und unklar find. 

literatur: & G. Heinrich, ſächſiſche Gefchichte. Leipzig. 2 Bände. 
1780-1782. — Ch. €. Weiße, Geihichte der kurſächſiſchen Stanten. 6 Bde. 





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Wilhelm II. König von England. 199 


Leipzig 1802—1810. — €. Gretſchel, Geſchichte des fähfljhen Volkes und 
Staates, fortgefegt von Bülau. 3 Bde. Leipzig 1843 — 1853. — Ch. E. 
Lehrbuch des fächſiſchen Stantsrehts. 2 Boe. Leipzig 1824. Ueber bi 
bausgefeglichen Beftimmungen vergl. befonders Hermann Schulze, d 
der Erftgeburt. Leipzig 1853. Hermann 4 


Widerftand, ſ. Gehorſam und Widerſtand. 
Wiener Kongreß, ſ. Kongreffe und Friedeneſchlü 


Wilhelm III. König von England. 


Wie Ludwig XIV. von Frankreich der Repräfentant ift der neuer 
luten Monarchie in Wefteuropa, fo iſt fein großer Zeitgenoffe und Gegn 
helm III. der erſte Vertreter der Tonftitutionellen Monardie, In dem Le 
dem Kampfe der beiden Fürſten ftellt fih ber Gegenfag der beiden p 
Grundanfichten und Richtungen dar, die nun während Jahrhunderten mit 
ringen. Im Großen war das Ende des fiebenzehaten und faft das gar 
zehnte Jahrhundert der abfoluten Monarchie günftiger. Die Entwidi 
neueren Zeit aber hat ſich immer entfchievener und allgemeiner dem zweit 
cip ber Tonflitutionellen Monarchie zugeneigt, das lange Zeit nur von 
vertreten war. 

Nicht wie Ludwig XIV. Hatte Wilhelm die Machtfülle geerbt, di 
der Höhe feines Lebens befaß, er hatte fie durch ſchwere politifhe Arbeit ı 
und ben feinblihen Mächten gegenüber kämpfend behaupten müſſen. 
männlicher Charafter wurde durch dieſe Anftrengungen gehärtel; er Te 
menſchliche Natur und ihre Bebürfniffe und ihre Schwächen in reicher 
erfahrung gründlich Tennen. Ex bildete ſich nicht, wie Ludwig ein, daß er 
fei auf Erden, er beurtheilte ben Staat und feine Aufgaben mit men 
nüdjternem Berftande und mit freierem Sinn. 

Schon die Erinnerungen feiner Familie waren ernft und zur Vorſic 
nend. Jener unglüdlihe König Karl I. von England, ber im Kampfe 
engliſchen Revolution den Thron und das Leben auf dem Schaffott verlore 
war fein mätterliher Großvater. Seinen Vater, den Fürſten Wilhel 
Naffau-Oranien, halte er wenige Tage vor feiner Geburt (14. Nov. 1651 
den Tod verloren. In den Niederlanden hatte fein Haus unter dem Naı 
Statthalteramtes und in ter Eigenfhaft als Bundesfeldher 
fürſtliche Madiftelung in dem Bunde der Vereinigten Staaten begründe 
Bater noch war Feldherr und Statthalter gewefen, als er in früher Ju 
den Blattern verftarb. Aber auch diefe Würde ſchien wieder verloren. D 
blitaniſche Partei hatte unterftügt von Cromwell und ver engliſchen Repu 
Uebergewicht erlangt, und die Generalftaaten erklärten ſich wiederholt g 
Fortfegung und Erneuerung der Würde. Der republilaniſche Charakter des 
machte ſich noch entichlevener als früher geltend. 

Solche Schidfalsfhläge laffen leicht an dynaſtiſchen Höfen eine miß! 
Erbitterung zurüd und reizen zu realtionärer Gefinnung. Eine fo ſtaatsmänni 
tur aber wie Wilhelm III. wurde dadurd) von den Gefahren des fürftlichen A 
mus unterrichtet und veranlagt, bie Vollsfreiheit beffer zu wärbigen. Es war 
fein Schaden, daß er, obwohl ein Fürft, in einer Bundesrepublit erzogen 
An fürftlichem Ehrgeiz fehlte es ihm trogdem nicht. Als fein Lehrer d 


N 
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198 Wettiner. 


Dpfer zu bringen und fein Stantehaushalt gerietb in bobenlofe Verwirrung. 
Günftlinge, Maitreſſen, zahllofe natürliche Kinder, Goldmacher und Abenteurer aller 
Art verfhlangen ungeheure Summen. Zwar verfhönerte Auguft die Hauptftabt 
Dresden mannichfach, aber während er 1719 bei der Vermählung feines Sohnes 
in Dredven vier Millionen vergeudete, war Theuerung im Lande und Hungers- 
noth im Erzgebirge. 

An den BVerbeflerungen in der Geſetzgebung und Rechtspflege, die man wäh» 
rend feiner Regierung verfuchte (f. g. Codex Augusteus), hatte er wenig Autbeil. 
Willkürliche Kabinetsregterung und hierarchiſch jefuttiiher Einfluß nifteten ſich 
immer mehr ein. Der Tod überraſchte ven Wüftling mitten unter den Entwürfen 
zu neuen Feſten am 1. Februar 1733. 

Diefer Fürft hat durch feinen Uebertritt zum Katholiciſmus und 
feine Topflofe, nur auf perfönliche Eitelfeit gegründete Politik das ſächſiſche Haus 
um feine große kulturgeſchichtliche Aufgabe in Norddeutſchland gebracht, welche 
feitvem auf Preußen-Brandenburg und die an tbatkräftig ſtaats⸗ 
männtfhem Geift jo hochbegabte Dynaftie der Zollern übergegangen ift. 

Auf Friedrih Auguft I. folgte Friedrich Auguft IL, 1733—1763, 
welcher unter dem Namen Auguſt II. zum König von Polen gewählt wurbe. 
Diefer Fürft wirthfchaftete ganz in der verberblichen Weiſe feines Vaters weiter, 
überließ vie Staatsangelegenbeiten feinem Günftling, dem Grafen Brühl, 
und ſetzte durch feine preußenfeindliche Politit fein Land allen Laften des fieben- 
jährigen Krieges aus. Sein einziges Berbienft erwarb er ſich durch feinen Kunft- 
finn, welchem Dresden bie edelften Schäge feiner unvergleihlihen Galerie ver- 
dankt. Sein Nachfolger in der Kumürde war Friedrich EChriftian, 
welchem nah feinem bald erfolgten Tode fein unmündiger Sohn Friedrich 
Yuguft III. 1763, unter Vormundſchaft feines Obeims, Prinzen Zaver, 
- fuecedirte. Friedrich Auguft trat 1768 die Selbftregierung an, führte 1778 wegen 
der Anfprüce feiner Mutter auf die Berlafienfhaft ihres Bruders, des legten 
Kurfürften von Bayern, gemeinfchaftlid mit Preußen, ven bayerifhen Erbfolge 
frieg gegen Defterreih und erhielt im Frieden von Teſchen vie bebeutende Ent» 
ſchädigungsſumme von fehe Millionen Gulden für fein Haus. Unter viefem 
Fürſten fanden die größten Veränverungen in Europa ftatt, welhe aud auf 
Sachſen zurädwirkten. Am 11. December 1806 im Pofener Brieden trat 
Friedrich Auguſt dem Rheinbund bei und nahm den Königstitel an. Wegen feiner 
bartnädigen antinationalen Politit wurde er gendthigt, vie Hälfte feines Gebietes 
an Preußen im Jahr 1815 abzutreten. Friedrich Wuguft regierte bis zum Jahr 
1827 in wohlwollender, aber ftarr Tonfervativer Welfe. Erſt dur die Verfaffung 
vom 4. September 1831 Tamen Sachſens anteviluvianifhe Zuftände einiger» 
maßen in Fluß. Seitdem bat Sachfen fehnelle Fortſchritte auf allen Tebensgebieten 
gemacht und gehört zu den am meiften entwidelten Theilen Deutſchlands. 

Der erſte Wbfhnitt der Berfaffung vom 4. September 1831 
handelt vom König, von ber Thronfolge und der Regentfchaft. Die fpeciellen Ver⸗ 
bältniffe des königlichen Haufes find regulirt in dem Hausgefek vom 
30. December 1837, dod find beim etwaigen Aueſterben der albertinifchen 
Tinte immer noch Succeffionsftreitigfeiten zwifchen ven verſchiedenen erneftinifchen 
Speciallinien nicht ausgefchloffen, da bie für dieſen Fall eintretenden ältern 
Succefftonsnormen beftritten und unklar find. 

Literatur: E. ©. Heinrich, ſächſiſche Geſchichte. Leipzig. ? Bände. 
1780—1782. — Ch. €. Weiße, Geſchichte der kurſächſiſchen Staaten, 6 Bde. 


Wilhelm III. Mönig von England. 199 


Leipzig 1802— 1810. — €. Gretſchel, Geſchichte des ſächſiſchen Volkes und 
Staates, fortgefegt von Bülau. 3 Bde. Leipzig 1843—1853. — Ch. E. Weiße, 
Lehrbuch des fähfiihen Staatsrechts. 2 Bbe. Leipzig 1824. Ueber bie Älteren 
hausgeſetzlichen Beftimmungen vergl. befonders Hermann Schulze, I 
ver Erfigeburt. Leipzig 1853. Hermann | 
Widerftaud, ſ. Gehorſam und Widerſtand. 
Wiener Kongreß, ſ. Kongreſſe und Friedenéeſchli 


Wilhelm III. König von England. 


Wie Ludwig XIV. von Frankreich der Repräfentant iſt der neue 
luten Monardie in Wefteuropa, fo ift fein großer Zeitgenoffe und Gegn 
helm III. ver erfte Vertreter der Fonftitutionellen Monardie. In dem 8 
dem Kampfe der beiden Fürſten ftellt fi der Gegenfag der beiden x 
Grundanfihten und Richtungen dar, die nun während Jahrhunderten mit 
ringen. Im Großen war das Ende des ſiebenzehaten unb faft das gaı 
zehnte Jahrhundert der abfoluten Monarchie günftiger. Die Entwid 
neueren Zeit aber hat fi immer entfchiedener und allgemeiner dem zweit 
cip der fonftitutionellen Monarchie zugeneigt, das lange Zeit nur von 
vertreten war. 

Nicht wie Ludwig XIV. Hatte Wilhelm die Machtfülle geerbt, di 
der Höhe feines Lebens befaß, er hatte fie durch ſchwere politifhe Arbeit 
und ben feindlichen Mächten gegenüber kämpfend behaupten müſſen. A 
männlicher Charakter wurde durch dieſe Anftrengungen gehärtel; er I 
menſchliche Natur und ihre Bedürfniſſe und ihre Schwächen in reicher 
erfahrung gründlich kennen. Ex bildete ſich nicht, wie Ludwig ein, daß er 
fei auf Erden, er beurtheilte den Staat und feine Wufgaben mit men 
nücternem Verſtande unb mit freierem Sinn. 

Schon die Erinnerungen feiner Yamilie waren ernft und zur Borf 
nend. Jener unglüdlihe König Karl I. von England, ber im Kampfe 
engliſchen Revolution ven Thron und das Leben auf dem Schaffott verlor 
war fein mätterliher Großvater. Seinen Vater, den Fürſten Wilhe 
Naffau-Oranien, hatte er wenige Tage vor feiner Geburt (14. Nov. 165 
den Tod verloren. In den Nieberlanden hatte fein Haus unter dem Na 
Statthalteramtes und in ver Eigenfhaft als Bundesfeldher 
fürſtliche Machtſtellung in dem Bunde der Vereinigten Staaten begründe 
Bater noch war Feldherr und Statthalter geweſen, als er In früher Iu 
den Blattern verftarb. Aber auch diefe Würde ſchien wieder verloren. D 
blilaniſche Partei hatte unterftäügt von Cromwell und der englifhen Repu 
Uebergewicht erlangt, und die Generalſtaaten erklärten fi wiederholt g 
Fortſetzung und Erneuerung der Würbe. Der republikaniſche Charalter des 
machte ſich noch entſchiedener als früher geltend. 

Solche Schidſalsſchläge laſſen leicht an dynaſtiſchen Höfen eine miß 
Erbitterung zurüd und reizen zu realtionärer Geſinnung. Eine fo ſtaatsmänni 
tur aber wie Wilhelm III. wurbe dadurch von ven Gefahren des fürftlichen A 
mus unterrichtet und veranlaßt, bie Volksfreiheit beffer zu wärbigen. Es war 
fein Schaben, daß er, obwohl ein Fürft, in einer Bundesrepublit erzogen 
An fürftlichem Ehrgeiz fehlte es ihm irotzdem nicht. Als fein Lehrer d 


200 Wilhelm III. Aönig von England. 


graphie ihm die Britiſchen Infeln als „eine Welt für ſich“ gezeigt hatte, meinte 
der Knabe: „Ich möchte wohl einft Hery einer folden Welt werben”, und auf die 
Trage des Lehrers, was er damit thun wollte, erwiederte er voll Selbftvertrauen : 
„Macht nur, daß ich fie bekomme, man wird dann ſchon fehen, was ich damit 
machen werde”, 

Trotz des „ewigen Edikts“ von 1668, durch weldes bie Statthalterwürde 
für immer abgefhafft ward, erlangte ver kaum volljährige Fürſt dennoch dieſe 
höchſte Würbe wieder und zugleih damit als Generalfapitän auf Lebenszeit den 
Dberbefehl Über die Streitträfte des Bundes zu Wafler und zu Land. Die unge- 
heuren Gefahren, welche ven Vereinigten Niederlanden damals drohten, als fie 
von Ludwig XIV., diesmal fogar im Bunde mit England, angegriffen wurden, 
verlangten die Koncentration der Gewalt in Einer fürftlihen Hand (1672). Die 
oranifche Partei erhob fich überall fiegreich und ver antioraniſch gefinnte Groß- 
penfionär von Holland de Witt wurde gezwungen, die Erhebung bes Prinzen 
geſchehen zu laſſen. Die beiden Brüder de Witt, vie Häupter ver ſtaagtlich⸗parti⸗ 
tulariftifhen und republifanifhen Partei wurden fogar graufem ermortet, ale 
Dpfer der erhitzten Partelleivenfhaften. Im Kriege bewährte fih ver Prinz ale 
einen ausgezeichneten Strategen; er nöthigte das franzöfifhe Heer zum Rüdzug, 
und indem er zu der fpanifchen Hülfe in dem Kurfürften von Brandenburg und 
dem beutfchen Kaifer mächtige Freunde und Bundesgenoſſen gewann, gab er dem 
Krieg einen für die Niederlande günftige Wendung. Es gelang, England von dem 
feindlichen Bunde abzulöfen und zwifchen England und Holland einen bejonvern 
Frieden zu fliften (1674). Er wurde nun zum erbliden Statthalter der Nie⸗ 
berlande ernannt, freilih nur in der männlihen Defcendenz. Immerhin war das 
ein großer Schritt zur Befeftigung eines Erbfürſtenthums. Der Friede von Nym- 
wegen (1678), der gegen den Wunſch des Prinzen von den kriegsmüden Parteien 
abgefchloffen wurde, fiherte das holländiſche Gebiet und die Befigungen des Hauſes 
Dranien, aber gab tie deutſchen Interefien Preis. . 

Die Plane Ludwigs XIV., die Suprematie über Europa zu erwerben, fanden 
in dem Prinzen Wilhelm ven entjhlofienften Gegner. Dem franzöfifchen Monarchen 
gegenüber vertrat er die großen Intereflen ver Selbftänvigleit der Staaten 
und der bürgerlihen Freiheit. Dazu fam der religidfe Gegenfag, 
ter noch immer die Maflen am meiften aufregte. Ludwig war entſchloſſen, in 
Frankreich nur no die fatholifhe Religion anzuerkennen, freilih mit Beſchrän⸗ 
fung der päpftlichen Wllgewalt und Aufrehthaltung der ſtaatlichen Souveränetät 
aud der Kirche gegenüber. In viefer Abfiht hob er das Edikt von Nantes auf 
(1685). Auch in England unterftügte er die katholiſchen Neigungen des Königs 
Jakob II. und gewann über den beſchränkten König einen entſcheidenden Ein- 
fluß. Der ganze Proteftantismus ſchien von den reaftionären Höfen bebroht. Auch 
auf dieſem fonfefftonellen Gebiete trat. ihm Wilhelm entgegen als Vertheibiger der 
evangelifhen Freiheit. Franzöfiſche und engliihe Flüchtlinge fanden in 
Holland Aufnahme und Schug. Prinz Wilhelm war ein eutfchtenener Proteftant, 
auch aus Meberzeugung; aber feine Politit fand in diefer Verbindung mit ber 
Religion eine mächtige Förderung. Die oranifche Partei in Holland war feit einigen 
©enerationen fortwährend mit der ftrengsfalviniftifchen, reformatoriſch unduldſamen 
Partei wider die republifanifch-partifulariftifhe Partei verbunden, welche in reli- 
giöfen Dingen freier und gegen Andere toleranter gefinnt war. Über ver Prinz 
machte fih los von dem befchränkten Religionseifer feiner Partei. Er haßte mäh- 
vend feines ganzen Lebens bie kirchliche Verfolgung und mußte fi friedlich und 








Pd 


Wilhelm III. König von England. 201 


freundlich, wie mit den holländiſchen NReformirten, fo mit den Bifchöflihen in 
England und den Presbpterianern in Schottland zu ftellen. Auch in biefer Hin- 
fit verfuhr er als vorurtheilsfreier, weitfichtiger und weltherziger Staatsmann. 

- Sogar den Katholifen zeigte er fid) gewogen, wenn fie nur treue Unterthbanen bes 
Staates waren. 

Seine Heirath mit der englifchen Prinzeifin Marta Stuart, ber Tochter 
Jakobs II. (1677) brachte ihn in engfte Beziehungen zu dem englifhen Hofe und 
ben englifchen Parteien. Mit gefpannter Aufmerkſamkeit verfolgte er das Zerwürf⸗ 
niß zwifchen dem Könige und der Nation. Es war verfelbe Begenfag, ver Ihm 
in Ludwig XIV. entgegen getreten war. Auch Jakob II. verfuchte die abfolnte 
Monardie aufzurihten und den Katholiciaemus in England berzuftellen. Aber in 
England ftieß die Lehre von dem unbefihränften und göttlihen Rechte ver Krone 
do auf ganz anders flarfe Hindernifle, ale in Frankreich. Das feftgegrüntete 
geſchichtliche Recht des Parlaments war nicht fo leicht and ven Angeln zu beben 
und umzuſtürzen. Der englifchen Nation waren vie Niederlage Karls I. und die re- 
publitanifhe Zeit noch in friihem Gedächtniß. Selbſt die Biſchöfe, welche vorher 
eifrig jener mit der Bibel begründeten Lehre zugeftimmt hatten, wurben doch 
fhen, als der König auch ihre hochkirchlichen Rechte antaftete und traten in bie 
Reihen der Oppofition über, weldhe immer allgemeiner wurde, zuletzt faft die ganze 
Nation umfaßte. Auf den holländiſchen Prinzen richteten fi nun bie Blide Eng» 
lands. Er wurde von den Freunden der parlamentarifhen freiheit und von ben 
Unzufrievenen aufgeforbert, einzugreifen und das Land vor der Defpotie des Kö⸗ 
nigs und den Umtrieben ver Papiften zu retten. 

Der Prinz war entjchloffen, dem Notbruf zu folgen und den Anlaß zu 
ergreifen, um ben Ideen umb Intereſſen, deren Hauptvertreter er war, den Gieg 
zu verſchaffen. Er ftellte fih an die Spige ber nenen englifhen Revolution und 
verfocht fie mit dem Schwert in der Hand. Ganz im Stillen bereitete er vie 
kriegeriſche Landung in England vor. Erſt ale das Werk vollzogen wurbe, erließ 
er öffentlige Erfliärungen, um ben gewaltfamen Schritt zu redhifer- 
tigen Er komme, fagte er, mit feinen Truppen, „nm bie proteftantifche Religion 
zu ſchützen und vie Geltung der Gefege und ver Freiheiten herzuftellen”. Gr 
beflagte fich über vie fchlechten Rathgeber des Könige, welche der Krone ein freies 
Difpenfationsreht zuſchreiben, deſſen Anwendung alle Gejege ven gemeinfamen 
Ausdrud des Königs und des Parlaments unwirkſam made, welche bie Richter 
nöthigen, diefe Willfür gutzuheißen und die Rechte der ganzen Nation zu zer 
flören, welche die Proteftanten berauben und die öffentlihen Aemter und Stellen 
an verbächtige und unfähige Leute bringen, unter Mißadtung ver gefeglichen 
Schranken. Bergebens babe er in Gemeinfchaft mit feiner Gemahlin dem König 
Borftellungen gemacht, die Zuftände feien nicht verbeflert, fondern immer unerträg- 
liher geworben. Endlich ſprach er den Verdacht aus, daß die Geburt eines könig⸗ 
lihen Prinzen unecht und das Kind unterfhoben worben fei. 

Man flieht, die perfönlihen Intereflen fpielen mit. Er hatte offenbar darauf 
gerechnet, daß feine Gemahlin nad dem Tode ihres Vaters Königin von England 
werde und daß er durch fie in England Macht erwerbe. Nun ftellte ſich der neu- 
geborene Sohn ber katholifhen Königin zwifchen den König und ihn und drohte 
alle feine Hoffnungen auf die Zukunft zu vernichten. 

Wilhelm hatte etwas Kaltes, Berfhloffenes, ug Berechnendes in feinem 
Weſen. Er war ein ebenfo gewandter Diplomat, wie ein gut mandverirender 
Feldherr. Ex hat manches Treffen verloren, aber mehr als einmal durch unerwar- 








202 Wilhelm III: König von England. 


tete und gefchidte Märfche von neuem das Uebergewicht erlangt. Die Ziele faßte 
er fharf ind Auge und ging entichloffen darauf los. In ven Mitteln war er 
vorfihtig und rückſichtslos zugleih. Gern hällte er fi in tiefes Schweigen, aber 
wenn er ſprach, dann war das Wort bedeutend und entſcheidend. 

Mit ihm hatte die Revolution geflegt. Der König war entflohen und der 
englifhe Thron wurde von ver einberufenen Konvention, welde die Stelle 
bed Parlaments einftweilen während des Nothſtands verfah, als erledigt erklärt 
(Januar und Yebruar 1639). Es wurde nicht wieder, wie in ber erſten Nevo- 
Iution, ein Staatsproceß gegen den König eingeleitet. Derfelbe wurke durch keinen 
Nichterfpruch verurtbeilt und entjegt. Die Konvention wählte eine milvere Form, 
zu welder vie beiden großen Parteien, Whigs und Tories fich vereinbarten, wenn 
auch jede der beiden auf andere Dinge den Nachdrud legte. Beide nahmen an, 
daß das Band, weldes bisher den König mit dem Bolt ſtaatlich geeinigt habe, 
gelöst fei, die Whigs bauptfählih, weil Jakob Il. die Grundgefege des Reiches 
verlegt und dadurch feine Rechte verwirkt babe, die Tories eher, weil ex das Land 
in der Noth verlaffen und mit ver Pflicht auch das Recht zu regieren aufgegeben 
babe. In beiden Fällen war der Bruch der Nation mit dem legitimen König und 
feinem göttlichen Rechte vollzogen. Indem Brinz Wilhelm diefen Schluß guthieß, 
erfannte er an, daß dad neue Königthum in England fein abfolutes, fondern 
ein geſetzlich beihränftes fe. Auch er hatte den Bruch mit den Leberlie- 
ferungen des Mittelalter8 und mit den Doltrinen des göttlichen Rechts vollzogen. 

Damit aber war zunächſt nur eine Negation ausgeſprochen und freier Raum 
gewonnen für die Neugeftaltung des Staats. Bon keiner Seite war damals Nei- 
gung, einen ganz neuen Staat, etwa auf naturredtlichen Principien zu fchaffen. 
Die Berfaffung in ihren Grundzügen war gegeben und entfprad ven alljeitigen 
Meinungen und Wünfden; vie herrſchenden ariftoratifhen Parteien nicht allein, 
fondern aud die Bürger von London und den andern Stäbten fürdyteten einen 
Rückfall in die republifanifhen Zuſtände der früheren Revolution. Es kam haupt 
fächlih darauf an, ven Thron neu zu befegen und dem neuen Königthum gegen» 
über die Volksrechte beſſer zu fichern. 

Die Verhandlungen tarüber in der Konvention und mit dem Prinzen find 
höchſt merkwärbig. Sie führten, wie das der Natur der repräfentativen Monarchie 
gemäß ift, zu einem Kompromiß der verfhiedenen politifch entſchei— 
denden Mächte. Der Prinz hatte nad den dynaſtiſchen Rechtsgrunpfägen des 
Mittelalters gar Feinen Anſpruch auf den englifhen Thron. Das beftehenvde Thron- 
folgeredht war, wenn einmal der Thron als erledigt galt, unzweifelhaft für eines 
der Kinder Jakobs II., zunähft für ven neugebornen Sohn, deſſen Unedhtheit doch 
nicht zu erweifen war und ver den Thron dur Feine Handlungen des Vaters 
verwirft haben konnte, und dann erſt für die Prinzeifin Marie, vie Gemahlin 
Wilhelms. Aber alle politiihen Erwägungen fprachen dafür, daß mit dem fönig- 
lihen Bater auch der unmündige Sohn, daß die ganze männliche Defcendenz der 
Stuarts ausgefchloffen werde. Der Prinz ließ fih nicht umgehen. Er hatte 
in der That in-fürftlicher Stellung und mit fürftliher Macht rettend eingegriffen. 
Er hatte den Sieg der Nevolution entjchieden, deren Haupt er war, deren Wir« 
fungen er zu verfechten berufen war. Er war der thatſächliche König der politifchen 
Nothwendigkeit. Auch er konnte fih auf vie göttliche Leitung der Weltgefchichte 
berufen, das göttlihe Necht in einem höheren Sinn. Ueberdem war er der Ge: 
mahl der zunähft nun durch das Geblütsrecht berufenen Königin, und ed war 
unnatärlih, daß er, der felbftännige holläudifche Fürſt, der überlegene Staats⸗ 








Wilhelm III. König von England. 203 


mann und ber Herr feines Hauſes, in England hinter feine Gemahlin, bie ihm 
ganz und gar ergeben war als ihrem Herrn, zurüdftehen ſollte. Er konnte fi 
eine fo falſche Stellung nicht gefallen laſſen. Es blieb kein anderer Ausweg, als 
den die Konvention betrat, den Prinzen Wilhelm und feine Gemahlin gemeinfam 
und nad je des einen Gatten Tode den Überlebenden Gatten als König von Eng- 
land zu proffamiren. 

Nun warb es noch nöthig, auch die Rechte des Volles in den weſentlichſten 
Punkten zu Mräftigen. Lord und Gemeine fprachen viefelben in einer Erklärung 
der Rechte urkundlich aus, welche der neue König vor der Krönung guthieß. Einige 
weit gehende Wünſche hatten dieſelben fallen lafjen, gewarnt yon dem Prinzen, daß 
er wohl die Gefege und die Volkefreiheit zu vertheidigen, aber nicht die Würde 
der Krone zu ernieprigen gewillt fei. Ausprädlih wird das angemaßte Dispen- 
fationsredt tes Königs von der Autorität des Gefeges als verfaflungswidrig 
verworfen und ebenfo die angemafßte Gewalt der Krone, Geld zu erheben 
ohne Gewährung des Parlaments. Aud die Errihtung oder Beibehaltung eines 
ſtehen den Heeres. in Frietenszeiten ohne Zuftimmung bed Parlaments wirb 
al8 gefegwidrig unterfagt. Das Recht der Untertbanen, Petitionen an ben König 
zu richten, wird gefhägt und ebenfo die Freiheit der Debatte im Parlament 
gewährleiftet. Die Proteftanten follen erlaubte Waffen tragen dürfen und vie Wahlen 
zum Parlament frei fein. Das Berfahren vor Geſchwornen insbejondere in 
Proceffen wegen Hochverratb wird mit befonderen Garantieen ausgeftattet, über- 
mäßige Bürgfhaftsiummen und Geldſtrafen werden unterfagt und aud in 
diefer Hinfiht das gericht liche Verfahren für nothwendig erklärt. Dem König 
wird es zur Pfliht gemacht, zur Beſſerung, Kräftigung und Aufrechthaltung ber 
Geſetze öftere Parlamente zu verfammeln. Es werben zugleich neue Eide der 
Treue und des Gehorfams gegen den neuen König und der Bermwerfung 
aller päpftliden Autorität über den englifhen Staat vorgefhrieben. End- 
ih wird die proteftantifhe Neligion als eine Grundbebingung ber könig⸗ 
lichen Gewalt erflärt und das Bolt jeder Untertbanentreue gegen einen Tatholifchen 
Fürften entbunden. | 

In feiner Antwort auf diefe Erklärung englifher Grundrechte erwieberte der 
König: „Ih kann Euch verfihern, daß id niemals das Vertrauen mißbrauden 
werbe, das Ihr in mid fest, meine Ueberzeugung iſt, daß die Grundlage eines 
volltommenen Einverftänpnifies zwiſchen König und Unterthanen das wechfelfeitige 
Bertranen tft. Wird diefes Vertrauen geftört, fo wird die Regierung entnerut. Es 
wird daher meine ftete Sorge fein, Alles fo zu leiten, daß das Parlament nie- 
mals Urſache haben wird, mir zu mißtrauen; und das einzige Mittel, mir biejes 
Bertrauen zu erhalten, ift, Nichts von ihm zu verlangen, was nicht feinem eigenen 
Intereffe entfpriht". In der That, ver König verftand es, auch unter höchſt ſchwie⸗ 
rigen Umftänven die Einigkeit mit vem Parlament, jene Hauptbedingung 
eines glüdlihen Wirkens der repräfentativen Monarchie zu erhalten, oder wenn 
fie momentan gefährbet fchien, bald wieder herzuftellen. 

In ähnlicher Weife ftellte die fchottifche Konvention ihre Beſchwerden 
gegen Jakab II. zufammen und erkannte unter ähnlichen Befchränkungen die eng⸗ 
liihen Majeftäten aud) als Könige von Schottland an. Nur verwarfen die Schotten 
bie Inftitution der Bifchöfe, die von England ber ihnen aufgendthigt worden war. 
Ausprüdlich verwahrten fie fi gegen die Dulbung der Iefuiten, gegen vie 
Gefährbung aller Freiheiten durch die Grmädtigung von Offizieren ber 
Armee, Geriht zu üben und Strafen zu erkennen, gegen bie Ernennung der 





204 Wilhelm III. König von England. 


Magiftrate, im Widerfprud mit den Freibriefen und Privilegien der Städte, 
gegen bie Kabinetsjuftiz und die Entlafjung der ordentliden Richter, 
gegen die Nöthigung der Angellagten, wider ſich felbft zu zeugen und gegen 
die Tortur ohne Maren Beweis, gegen die Einquartierung von Soldaten 
und Befegung des Landes mit Truppen ohne bie Autorität des PBarlamentes; 
gegen die Beftrafung der Männer, wenn ihre Grauen bie kirchliche Be» 
meinfhaft vermeiden, für das Recht gegen die Urtheile der Herrn an König 
und Parlament zu refurriren, für das Recht, Arreffen an ben König-zu 
rihten und die parlamentarifhe Beſchwerden- und Mevefreihett. 

Ein charakteriſtiſcher Zug trat hervor, als die ſchottiſche Deputation dem 
König aud die alte Formel vorlegte, daß er berufen fei, die Häretiker zu ver- 
folgen. Darauf bemerkte König Wilhelm: „Ich bin. Broteftant und daher kann ich 
nur verfprechen, daß ih bie reformirte Religion aufrecht erhalten will. Uebrigens 
weiß ich nicht fiher, was man unter einem Häretiker verfteht, noch was unter 
jener Formel gemeint ift. Aber ich weiß ganz fiher, daß ih niemals Jeman— 
den feiner Religion wegen verfolgen laffen und niemals Jeman- 
den anders als auf dem Wege der Ueberzeugung nöthigen werde, den evan-» 
gelifhen Glauben zu bekennen“. Die höchfte geiftige Freiheit, die Belennt- 
nißfreiheit, fügte der König fo jenem Verzeichniß der Tandesfreiheiten aus eigenem 
Antrieb bei. Auch die Preßfreiheit wurde jegt erft in England eingeführt, 
indem dad Genfurgefeg und die Emennung der Eenforen nicht mehr erneuert 
wurde. © 

Allerdings war ein großer Theil jener Rechte und Freiheiten ſchon in älterer 
Zeit entflanden und behauptet worten. Über der ganze Staat warb doch jegt mit 
einem neuen konftitutionellen Geift erfüllt und das Lonftitutionelle Syftem 
befam erft jest die volle Gewähr feines Beſtandes, als auch das Königthum 
biefen Geift in fih aufnahm und ihm gemäß vie öffentliche Macht handhabte. Die 
Zubors und die Stuarts huldigten nod mehr oder weniger dem Geiſt des Ab- 
folutismus. Man Tann daher die englifche Lonftitutionelle Monarchie erft 
mit König Wilhelm datiren. Damit aber beginnt eine neue Epoche bes politifchen 
Lebens für ganz Europa. 

Freilich dieſem erften fonftitutionellen Könige wurte die Arbeit fehr ſchwer 
gemadt. Schan in dem erften Konventionsparlament ftieß der König auf unerivar- 
teten Widerſtand. Die Partei ver Whigs war allzu fehr geneigt, das Staatshaupt 
ihrer Parteiherrſchaft dienftbar zu maden. Sie nahm es ihm übel, wenn er aud) 
einzelne Tories als Räthe zuzog; fie verlangte Verfolgung und Beflrafung derer, 
welde zuvor das abſolute Regiment in amtliher Stellung unterftägt hatten, der 
König dagegen wollte durch eine weitherzige Amneftie die Gemüther beruhigen. 
Sogar die Kroneintünfte wollte die Konvention nur auf JIahresfrift und nur in 
minderem Maße, als fie früher Jakob II. gewährt worden, bewilligen. Die Hol- 
länder am königlichen Hofe wurben mit Mißtrauen und Abneigung betrachtet; ber 
König jelbft wurde insgeheim der Herrfhjucht verdächtigt. Es läßt ſich nicht be- 
fireiten, das eigentliche Ideal vieler Whigs war eine Republil, in welcher fie, ge— 
dedt von dem Namen des Königs, regierten. Der König fah das, aber er war 
ein zu bebeutender Fürſt, um der Diener einer einzelnen Partei zu werben. 

Auch der große Gedanke des Königs, eine Union ber verfchlevenen prote- 
ftantifchen Kirchen- und Religionsgenofienfchaften berzuftellen, und allen taug- 
lihen Männern aller klirhlihen Parteien dasſelbe Recht und denfelben 
Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten und Aemter zu eröffnen, war unaus⸗ 














in oe ' | . 


Wihelm III. König von England. 205 


führbar. Die bifchöfliche Partei fürchtete ihre privilegirte Staatsſtellung zu ver- 
lieren und hatte den reformirten König im Verdacht, daß er vorzüglich feine kal⸗ 
piniftifche Richtung begünftigen wolle. Der König konnte nur ein Toleranz- 
geſetz durchſetzen, welches ven Diffenters perfünliche Freiheit gewährte und bie 
Strafanprohungen befeitigte. Eine Gleihftellung der Kirchen wurde nicht erreicht. 

Unter dem König Wilhelm erft befam das parlamentarifhe Budget— 
recht Geltung. Es mußte nun, wenn ein Parlament beifammen war, ein Bor- 
anfchlag für die Ausgaben je des nächſten Jahres vorgelegt werden und das Unter- 
haus vorzüglich prüfte benfelben in den verſchiedenen Zweigen der Verwaltung 
und ermäßigte gelegentlich die einzelnen Poften. Auch die Kontrole über die Ver⸗ 
wendung der bewilligten Gelder übte das Parlament aus. Die Tönigliche Megie- 
rung fühlte fi oft der financiellen Auffiht des Parlaments gegenüber empfind- 
lich in ihrer freien Bewegung befchräntt, und aud dem König wurde mander 
Verdruß zugefügt. So glatt und ungefährlih war der Weg aud in England 
nicht für eine geregelte Finanzkontrole des Unterhaufes und es dauerte lange, bis 
die Parteien im Parlament Umfiht und Mäßigung in der Ausübung ihres Bud⸗ 
getrechts und die Tönigliche Regierung ftrenge Beachtung der gefeglichen Schranken 
lernte. 

Auch in England war der Vorſchlag gemacht worden, die Beamten von 
dem Barlament auszufchließen, und zwar von den parlamentarifchen Parteien aus. 
Indeſſen der König verweigerte feine Annahme der BIN und ſchließlich verftändigte 
man fi darüber, daß die Ernennung eines Parlamentsmitgliedes zu einem dffent- 
lihen Amt nur zu einer Neuwahl ins Parlament Veranlaffung gebe, nicht aber 
die Ausichliegung begrünbe. 

Auch einer Bill, welhe dreijährige Parlamente einführen wollte, verwei- 
gerte der König feine Zuftimmung. Er wollte freiere Hand behalten aud in ver 
Trage der Fortdauer oder Auflöfung eines Parlaments, 

Der Omnipotenz des Parlaments, voraus des Unterhaufes, war ver 
König nicht hold. Es war ihm ganz vet, daß fih auch die Wähler im Volle 
regten und ihre Nepräfentanten im Unterhauje an die Schranken ihrer Allmadıt 
erinnerten. Die Krone hatte nad feiner Meinung aud die Miſſion, das Gleich: 
gewicht unter den Faktoren ver Staatögewalt zu erhalten und feine einfeitige 
Herrſchaft Eines Theils zu geftatten. 

Zu den Örundlagen der heutigen Fonftitutionellen Monarchie gehört insbe- 
fondere die Bildung eines Minifteriums, ald leitendem Raths des Kö- 
nigs. Auch dieje Einrichtung bekam durch König Wilhelm einen fefteren Beſtand; 
nit ohne Klagen, daß die Autorität des Geheimen Raths (Privy Eoncell), 
in welchem eine größere Anzahl vornehmer Männer, etwa vierzig, gleihfam ber 
innerfte Kern des Parlaments, vereinigt waren, vermindert werde. Aber die Ge- 
fahren der Zeit, vol von Krieg, Verſchwörungen und Intriguen, machten eine Be- 
rathung und Entſcheidung in engftem Kreife derer, die zu handeln berufen 
waren, zur Nothwendigkeit. In den erften Iahren feiner Regierung weihte Kö⸗ 
nig Wilhelm nit einmal die Minifter in die Geheimniffe feiner Politik ein, weil 
er ihnen nicht vertrauen fonnte, daß fie fein Geheimniß bewahren. Auch fpäter 
no entſchied der König manche wichtige Dinge, befonders in biplomatifcher Hin- 
fit, in feinem Kabinet nad Berathung mit wenigen Bertrauten, felbft ohne die 
Minifter zuzuziehen. Er betrachtete es als eine Hauptaufgabe feiner Regierung, 
die färftliche Initiative in der Leitung der Politit unverfehrt zu erhalten. 

Der König liebte vie Parteiregierung niht und wurde deßhalb zumellen von 











206 Wilhelm II. König von England. 


den beiden großen Parteien zugleich bebrängt. Er verſuchte es, in feinem Kabinet 
Häupter der Tories und der Whigs zu verbinden und ſtützte fi hinwieder wech⸗ 
felnd Bald auf jene, bald auf diefe, ohne bie eine Partei eine fefte Herrſchaft über 
die andere gewinnen zu laffen. Zwiſchen ven Miniftern und dem Parlament be⸗ 
ftand noch nicht der enge Zufammenhang, wie er fpäter hergeftellt wurde. Die 
Minifter waren no nicht die Häupter der Parlamentsmehrbeit. Defter 
gingen die einzelnen Minifter unter fih und gegenüber den Mehrheiten ausein- 
ander. Indeſſen war es aud damals ſchon ſchwer, einen Minifter zu Halten, wenn 
ihm das Parlament ein ernftes Mißtrauen bezeugte und darauf beharrte. Zum 
Theil famen heftige Angriffe im Barlament gegen einzelne Perfonen vor, und 
ſelbſt der richterlihe Schuß half ven Angellagten Nichts, wenn das Parlament in 
jeinem Souveränetätsgefühl fi bis zu perlönlihen Geſetzen (bills of atteinder) 
hinreißen ließ. Auch die fehr bedenklichen Seiten ber parlamentarifhen Allmacht, 
welche das Recht und vie Freiheit unpopulärer Perfonen bedrohte, traten gelegent- 
ih hervor. König Wilhelm hatte manden Strauß mit der Berfolgungsfudht der 
Parteien zu beftehen, und nicht immer fegte er feine geredhteren und verfähnlicheren 
Abfihten dur. Sein Begnadigungsredht hielt er aber feſt. Schon zu Anfang 
feiner Regierung hatte er nicht zugegeben, daß dasjelbe befchränft werbe, auch nicht 
bei Minifteranklagen. 

Aber wie der König den böchften Werth legte auf fein Einverſtändniß mil 
den beiden Häufern des Parlaments, fo verlangte er auch von feinen Miniftern, 
daß fie fih das Vertrauen des Parlaments zu erwerben und zu erhalten 
fuchen. Wenn das nicht möglid war, fo griff er je nah Umftänden zu dem Mittel 
einer Prorogation oder Auflöfung des Parlaments oder zu der Veränderung feines 
Mintfteriums. 

In der Parlamentsakte von 1701 wurde ausdrücklich die Thronfolge In 
England in Verbindung gefegt mit der Pflicht des Königs, nah den Ge—⸗ 
fegen zu regieren. Das fonftitutionelle Königthum iſt eben ein gefeglich beftimmtes 
und bejchränftes Königthum. 

Wie ftark Übrigens neben den Rechtsformen und Rechtsregeln der Verfaſſung 
noch andere Momente auf den Berfaffungsgeift in der Nation und im Parlament 
wirken, das hätte ver König nad dem Tode feiner Gemahlin (1794) erfahren, 
auch wenn er nicht ſchon vorher von ber boftrinären Täuſchung frei geweien wäre, 
daß Alles durch das gefchriebene Gefetesrecht beftimmt werde. Obwohl er nun 
feit mehreren Jahren als König regiert und dem Lande bie größten Dienfte ge- 
leiſtet hatte, fo wurde doch jegt feine Stellung viel unficherer und angefeinbeter 
als zuvor. E8 bedurfte aller feiner Mugen Energie, um fein Anfehen zu bebaupten. 
Bis an feinen Hof heran und unter feine Bertrauten hivein grub die Verſchwö⸗ 
rung ihre heimlichen Minen. Die englifhe Eiferfuht gegen die Holländer wen- 
dete zuweilen ihre verlegenden Stacheln gegen ven König felbft. Es fam ihm öfter 
zu Statten, daß die Reaktion der Iafobiten Whigs und Tories erfchredte. Als er 
im rieden von Ryswik (1697) enolih aud von Ludwig XIV. als König von 
England anerfannt ward und die Gefahr einer Rückkehr Jakobs II. mit Hülfe 
der Franzoſen geringer wurde, machte fi die englifhe Abneigung gegen kon⸗ 
tinentale Verwidlungen und Einfläffe ſchärfer geltend. Der König wurde gend- 
tbigt, feine holländiſche Garde zu entlaffen und die englifche Armee nahezu auf⸗ 
gelöst. 

Trotz diefer Schwierigkeiten brachte Wilhelm nochmals eine große europätfche 
Koalition zufammen, zur Erhaltung tes europäifhen Gleichgewichts gegen 





wiſſenſchaſt. 207 


die franzöſiſche Uebermacht, als der ſpaniſche Thron erledigt und die Gefahr 
da war, daß die franzöfiſche und die ſpaniſchen Krone auf Einem Haupte geeinigt 
werden. Nur ein paar Jahre lang hatte er mit Ludwig XIV. im Frieden gelebt. 
Das Schidfal trieb ihn wieder auf bie europälfhe Hauptaufgabe feines Lebens 
bin, der Weltherrfchaft des abfoluten Königthums entgegen zu treten und bie Frei⸗ 
heit der Staaten, der Nationen und der Religionen zu vertheidigen. 

Er erlebte nicht mehr die enplihe Demüthigung feines mädhtigften Gegners. 
Ein Sturz vom Pferde (16. März 1702) führte feinen Tod herbei. 

Durch die ausgezeichneten Gefchichtswerke von Macaulay und 8. Rante 
ift das Charakterbild Wilhelms und feiner Zeit ein Gemeingut der gebifpeten Welt 
geworden. Vigl. audy Histoire de Guillaume III. 2 Bde. Amſterdam 1703. 
P. Grimblot, Letters of William III. and Louis XIV. 2 Bde. Lon- 
don 1848. Bluntſchli. 


Wirthſchaftspolizei, ſ. Polizei, Volkswirthſchaftspflege. 


Wiſſenſchaft. 


Alle Wiſſenſchaft iſt das Werk und die Errungenſchaft der individuellen 
Geiſtesarbeit, des Denkens. Der in den einzelnen Menſchen wirkſame Geiſt 
ſucht und findet die Wahrheit, indem er fein Selbſtbewußtſein entfaltet, die Er- 
fheinungen beobachtet, Urfache und Wirkung, Grund und Folge, Anlage und Ent- 
wicklung unterfcheiden lernt und intem er aus dem einen Beftandtheile den andern 
erfiärt, beide wieder zum Sein zufammenfaßt. Diefe Denfarbeit und ihre Ergeb- 
niffe find durchaus unabhängig von der Autorität des Staates. Alle Macht bes 
Staats vermag nicht einen Irrthum zu widerlegen und nicht den Beweis einer 
Bahrheit zu entkräften. Die Wiflenfchaft gehört alfo naturgemäß dem freien 
Geiftesieben an. Die wifienfhaftliche Freiheit leugnen und befämpfen, das heißt, 
den Menſchengeiſt verfennen und beleidigen. 

Über wenn gleih vie Wiffenfhaft voraus individuel erworben wird, fo fteht 
ihre Entwidlung doch in einem Innern Zuſammenhang mit den allgemeinen Kul- 
turzuftänden einer Nation und theilen fi ihre Wirkungen hinwieder der Gemein- 
ſchaft mit. Wenn eine Nation gute Schulen hat, wenn die Jugend frühzeitig in 
die früher erfannten Wahrheiten eingeweiht, wenn fie in ver Arbeit richtiger Be⸗ 
obadhtung und des logifchen Denkens geübt wird, fo wird die nationale Vor⸗ 
und Durchbildung aud den weitern Arbeiten ver reiferen Männer förderlich, 
und fomwohl der Antrieb als die Empfänglichleit für neuen Erwerb der Wiflen- 
ſchaft vermehrt fih. Die geiftige Entwidlung einer Nation entfaltet auch ihre 
Denkkraft, und die gefteigerte Fähigkeit zu denken führt zu neuen Erfolgen ber 
Erfenntniß und zu höherer Gefammtbildung. 

Damit iſt ſchon die große mittelbare Bedeutung der Wiffenfhaft für den 
Staat und hinwieder des Staates für die Wiffenfhaft angedeutet. Die Wiſſen⸗ 
ihaft fteht dem Staate näher, als die Religion, denn jene. wirft auf die ©eifter, 
biefe auf die Gemüther, jene erleuchtet voraus das Leben ber Menfchen unter 
einander, biefe heiligt die Beziehungen ver Menſchen zu Gott. Wenn der Staat 


das Reich der Selbftbeherrfchung des Volkes ift, fo iſt das Selbftbemußtjein aud) 


des Staates eine unentbehrlihe Vorausſetzung der gereifteren Selbſtbeherrſchung 
und die Nothwendigkeit ver Staatswifjenfhaft (f. diefen Artikel) für ben 
Staat ermiefen. Wenn das öffentliche Leben durch den öffentlichen Willen beftimmt 


“ 


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208 Wiſſenſchaſt. 


wird, fo gibt nur bie Erkenntniß eine Garantie dafür, daß dieſe Selbftbeftimmung 
auch richtig und zwedmäßig ſei. In noch kindlichen Zuftänden eines Volles mögen 
tie Iuftinfte und die rohen Triebe walten, bei höherer Kultur fordern die Völter 
Rechenſchaft über die Staatsakte, die in Gefet und Verwaltung vollzogen werben. 
Die Politik fann in religidfer Beziehung wohl inbifferent fein, fie darf ohne Ge⸗ 
fahr wit religiös fein, aber fle darf niemals, ohne gemeinen Schaden unver- 
wängtig fein. Der civilifirte Staat kann aljo noch weniger der Beihälfe der 
Wiffenfchaft entbehren, als der Unterſtützung der Religion. 

Auch darin haben Wiſſenſchaft und Staat eine nahe Beziehung auf einander, 
und eine innere Berwanbtichaft, als in beiden ſowohl die Autorität als die Frei⸗ 
beit gleichfam die beiden Pole ihrer Wirkung find. Da die Wiffenfhaft eine That 
des freien ſelbſtbewußten Geiftes ift, fo wirkt fie befreiend auf den Geiſt. Sie 
entfeſſelt den denkenden Geift von zahllofen Vorurtheilen und zerftreut eine Dienge 
von überlieferten Irrthümern, tie feine Erkenntniß hemmten und feine Gedanken 
irre führten. Über fie wirkt aud in dem Bereich ihres Lichts als Autorität 
für Andere Es ift unmöglid, daß immer alle Arbeit von Neuem und von An⸗ 
fang an beginne. Die Spätern benugen vielfältig bie Werke der Aeltern und 
jegen viefelbe fort. Auch die freieften Denker find genöthigt, in vielen Beziehungen 
der Autorität anderer Welfen zu folgen. Noch ftärker wirft vie Wiſſenſchaft als 
Autorität auf die größeren Kreife, welche außer Stande, fie zu erzeugen, ihrem 
Einfluß unterliegen und ihre Wirkungen erfahren. . 

Allerdings ift die Wirkfamkeit der verſchiedenen Wiffenfhaften und daher ihre 
Bedeutung für den Staat verſchieden. 

Die mathematifhen und bie Naturwiffenfhaften wirken voraus auf 
die tehnifhen Mittel des Staats und nur mittelbar durch ihre wirthſchaftlichen 
Uenderungen der gefellfhaftlihen Berhältniffe andy auf das Verfaffungsleben ein. 
Die Ausrüftung des Kriegsheered und die ganze Kriegswiflenfhaft ver heutigen 
Zeit bat eine vollfländige Umbildung erfahren duch die Nahmirkungen der Phyſik 
und ber Chemie, der Mechanik und der mathematifhen Wiſſenſchaften. Die ge- 
fammte Thätigkeit der Kriegs- und Eivifingenieure ift im Grunde nur Anwendung 

.  berfelben Wiffenfhaften, ohne deren Entdedungen und Erfolge wir weder Ma- 

N fhinenwerfe noch Dampfſchiffe, weder Eifenbahnen no Zelegraphen hätten. Die 

| Staatewirthfchaft und die geſellſchaftliche Wirthſchaft werden in allen Richtungen 
von jenen Wiffenfchaften geleitet. 
\ Wir finden daher, daß biefe Klaffe der Wiſſenſchaften auch non folden Staats⸗ 
regierungen gepflegt und gefördert wird, welche im übrigen der geiftigen und bürger- 
lien Freiheit nicht zugethan find und die Fortſchritte der Wiſſenſchaft nad andern 
Richtungen ängſtlich Überwachen oder zu verhindern bemüht find. Wie die Schnellig- 
feit des Lichts zu bemeſſen und bie Schwingungen des Schall zu zählen felen, 
das iſt freilich ebenfo gleichgültig für die Souveränetät der Fürften und die Au⸗ 
torität ihrer Beamten, wie die aftronomifhen Beflimmungen der Entfernung der 
Sterne oder die chemiſche Analyfe der Luft oder der Erde. Man läßt diefe Unter- 
fuhungen unbeforgt und gerne gewähren, weil fie ungefährlich erſcheinen für bie 
Staatsordnung und ihre weiteren Konfequenzen au für den Staat nicht zu ent⸗ 
behren und nüßli zu verwertben find. 

Indeffen ganz fo inpifferent find aud diefe Wifienfchaften nicht für die Ent- 
wicklung der bürgerlichen Freiheit. Das gefammte geiftige Leben des Menſchen iſt 
in einem lebendigen Zufammenhang. Es iſt nicht möglich, daß in ven Natur⸗ 
wiffenfhaften die Prüfung frei und die Gedanken aufgewedt feien, und daß biefe 

> 











Wiffenfchart. 209 


geſteigerte Denkfähigfeit aufhöre, wirkfam zu fein, ſobald fie an die Grenze der 
| Bhilsfophie und der fogenannten Geifteswifienfchaften gelange, und es ift ferner 
| nit möglich, daß die Naturwiſſenſchaften wirklich frei ſeien, wenn vie Geiftes- 
| wiffenfchaften bedroht und gefnechtet bleiben. 
| Unmittelbarer und ftärker noch wirken bie fogenannten Geifteswifjen- 
| Ihaften in ihren beiden Hauptrichtungen der gefhihtlihen und ver fpelu- 
| latio-philoſophiſchen auf den Geift der Nation und des Staates ein. In 
| diefe Gruppe gehören ja die Necdts- und die Staatswiffenfhaften zumelft. 
Am ftärkften wirken unzweifelhaft vie philofophifchen Ideen von natürlichem Recht 
und der Beflimmung der Völker. Wenn dieſe Ideen die mächtige Bewegung des 
Zeitgeiſtes gleihfam als leuchtende Sterne am Horizont begleiten, dann ergreifen 
fie die Völker und geben ihnen den Antrieb und bezeichnen bie Richtung zu ihren 
Thaten. Man braudt nur zu erinnern an die Ideen der Souveränetät, welde 
im ſechszehnten und fiebenzehnten Jahrhundert den alten Feudalſtaat unterworfen 
and bie fürftliche Gewalt zu einer abfoluten gefteigert hat, ber Rechtsgleich— 
heit, deren Autorität feit einem Jahrhundert die ftändifchen Privilegien und Uns 
terſchiede zerftört hat, der religiöfen und bürgerlihen Freiheit, welde Staat 
und Kirche umgejchaffen haben, ver Nationalität, welche die moderne Staaten- 
bildung großentheils beftimmt, um die ungeheure Macht der Philoſophie auf bie 
heutige Menſchheit in ihren Wirkungen vor Augen zu fehn. Die jegige Welt läßt 
fi) weit eher durch ſolche politifhe Ideen, als durch religiöfe Glaubensdogmen 
anfregen und leiten. 

Es Tann daher nicht befremben, daß befpotifche Regierungen mit größerem 
| Mißtrauen dieſen Geiſteswiſſenſchaften zufahen und vorzüglih die Entwidlung der 
| fpefulativen Philoſophie und der Politik einer fcharfen Cenfur unterwarfen. In 
| der That, es ift möglih, die Kultur folcher Wiffenfchaften in einem Staate zu 
| erſchweren, einzufchränten, foger ganz zu unterbrüden. Aber das gefchieht immer 

anf Koften des Geiftes einer Nation, welder in Folge folhen Druds frän- 
teit und verlümmert, d. 5. anf Koften ver beften Kräfte eines Volks, melde alle 
andern Yähigleiten desſelben im richtigen Verhältniffe zu entwideln und zu leiten 
berufen find. Die geiftig kranke und verfaulende Nation wird ſicher auch leiblich 
verfallen, die geiftig gefunde und vorwärts ftrebende Nation dagegen auch in allen 
andern Borzägen fich vervollfommnen. Damit ift die Weberlegenheit der legteren 
Ration Über die erftere und folgerecht auch bie Ueberlegenheit des einen Staats 
über den andern principtell entfchieven. Für die, melde es vorher nicht gejehen 
hatten, war der große Kampf zwifchen Preußen und Defterreih über die Füh— 
rung Deutſchlands belehrend. Preußen hat geftegt, weil es an geiftiger Bildung 
Defterreih weit überlegen war. 

Mebrigens wirkt vie Wiffenfhaft verſchieden auch nach der verſchiedenen 
Bollsart. Sie wirkt ſtärker auf Völker mit vorherrſchender Geiftesanlage, weniger 
lebhaft auf Völker mit überwiegenden Gemüthsfräften, mehr auf die Hellenen, als 
auf die alten Römer, mehr auf die Franzoſen, als auf die Spanter, mehr auf 
Engländer, 218 auf Irländer. Bei den Deutfhen, dem bald ironiſch, Bald 
rähmlich fogenannten „Bolt der Denker" war die Wirkung der Wiſſenſchaft auf 
das politifche Leben lange Zeit verfchroben durch eine pedantiſche Gelehrfamteit 
und paralyfirt durch die Erbübel und Mängel des politiihen Organiemus. An⸗ 
dere Rationen warfen uns daher vor, wir felen nur fählg zu denken, aber unfähig 
zu handeln. Auch in dieſer Hinficht wirkten die großen Thaten von 1866 und 
die Neugeftaltung Deutfchlands von 1867 befreiend und erhebend auf das beutjche 

Bluantſchli un Brater, Deutfes Staate⸗Wörterbuch. Al. 14 


wu 


210 wiſſenſchaſt. 


Volk. Die Harmonie des deutſchen Geiſtes und deutſcher Wiſſenſchaft mit der po- 
litiſchen Macht und Ehre des deutſchen Volkes iſt wiedergefunden. Ein großer 
deutſcher Staatsmann hat die anfangs widerwillige Nation auf die Bahn der 
Thaten geführt und ſie hat auch ihre Thatkraft bald ebenſo entwickelt wie zuvor 
ihre Denkkraft. 

Indeſſen iſt die Wiſſenſchaft nicht Jedermanns Sache. Der Kreis der 
wiſſenſchafthichen Individuen iſt ein enger, viel enger, als die Kreiſe irgend 
einer religiöfen Gemeinfchaft. Die Religion kann fid) über die Maffen verbreiten, 
bie Wiffenfhaft nur in einzelnen Ideen oder Erfindungen, aber nit als geiftige 
Errungenſchaft. Um wiffenfhaftlih arbeiten zu können, bedarf es einer glüdlichen 
Geiftesanlage und in der Regel auch einer guten Schule und einer freien Muße. - 
Daher erheben fi überall, wo die Wifjenfchaft gebeiht, einzelne wifjenfhaft- 
liche Männer und wiffenfhaftlid gebildete Klaſſen über die große, nicht 
wiffenfchaftlich gebildete Vollsmenge, in ähnlicher Weife, wie fi auf dem Gebiete 
bes religiöfen Oefammtlebens die Priefter erheben über die Laienwelt, vie Geift- 
lien über vie Weltlihen. ' 

Es ift das unlengbar eine Art geiftiger Ariſtokratie innerhalb 
der civilifirten Nationen. Wie jede Ariftolratie hat auch die Ariftofratie der 
Wiffenden und ver Weifen ihre hohen Vorzüge und ihre großen Ge⸗ 
fahren. Der Staat muß fih die Frage flelen, wie er ſich zu derſelben ver- 
halten ſolle. 

Höchſt merfwürdig und lehrreich find in biefer Beziehung bie Vorgänge in 
Süd- und Oſtaſien. In Indien erhob fidy die Klafle der von göttlihem Geifte 
durchleuchteten Denker und Weifen Rh einer alle andern überragenden erbliche'n 
Brahmanenkaſte (f. Kaften). ie gefährlich dieſe ftolze Erhebung für vie 
ftaatliche Unabhängigkeit und die politifhe Freiheit des indiſchen Volles geworben 
ift, beweist die indiſche Geſchiche. In China dagegen und zu gutem Theil in 
Japan war der Weg zur Wilfenfhaft von jeher Allen eröffnet, welde die ge 
oronete Schulbildung ſich aneigneten und die Prüfungen befanden. Es bildete ſich 
daher dort feine Adelskaſte aus, wohl aber eine höchſt angejehene Klaſſe von gut⸗ 
gefhulten und einflußreihen Staatsgelehrten, weldhe bie Aemter bejegten 
und verwalteten. Aber au in viefen Ländern wurde die freie Autorität der 
Wiffenfhaft mit der zwingenden Autorität der Staatsgewalt ver- 
flochten und es fam daher zu einer ftaatlihen Beherrfhung der Wiſſen— 
haft, welde ver Wiffenfhaft nicht förderlich if, die der Freiheit bedarf, um 
alle ihre Früchte Hervorzubringen. In Folge deſſen ift die chineſiſche Wiſſenſchaft 
ftationär und die chinefiihe Schule zu einer techniſchen Dreſſur geworben. 

In Europa iſt der Gegenfag der Gebildeten und der Nichtgebildeten geringer 
und da bie Wiſſenſchaft Allen zugänglid und in ihrer Entwidiung frei iſt, fo 
bat fie eine weit höhere Stufe der Ausbildung erreicht und größere Erfolge auf⸗ 
zuweifen. Je allgemeiner die gefammte Voltsbildung iſt, um fo eher werben aud) 
die Gefahren der Gelehrtenariftofratie, die Abſchließung der wiſſenſchaftlichen Klaffen 
von dem Volke, der gelehrte Dünkel und der Defpotismus der Wiſſenden ver- _ 
mieden. Die Wechfelmirkung derer, welche geben und derer, melde empfangen, er- 
hält eine wohlthätige Verbindung beider. Die Arbeiten der Wiſſenſchaft werben in 
taufend Kanälen, wie das Leuchtgas in alle Kreife der Bevölkerung übergeleitet 
und bereichern das tägliche Leben aller Klaſſen. Hinwieder empfangen auch die 
Arbeiter in dem Reiche des Geiftes von unten wie von oben Anregung und viele 
fache Unterftügung. Diefe fruchtbaren Beziehungen In ſtetem Fluß zu erhalten, ift 


[4 











Wittelsbacher. 211 


eine Hauptaufgabe der civilifirten Gefellfhaft, und foweit es der Unterftügung 
des Staats bedarf, auch der Öffentlihen Kulturpflege. 

Ueber die Anftalten des Staates vrgl. die Artikel Alademie, Schule, 
Univerfitäten. Blnniſchli. 


Wittelsbacher. 


Aeltere Genealogen leiteten den Urſprung des Hauſes Wittelsbach von den 
Karolingern oder den Agilolfingern her, nach den neuern Forſchungen 
läßt ſich ein ſolcher Zuſammenhang nicht nachweiſen; dagegen ſteht vie Abſtam⸗ 
mung der Wittelsbacher von dem alten Grafengeſchlechte der Scheiern feſt 
(Huſchberg). Der älteſte nachweisbare Stammvater des Geſchlechtes, welches 
ſpäter Scheiern genannt wird, iſt Luitpold, Gaugraf an der Glan und Amber, 
urkundlich 788—837. Die Nachkommen dieſes Luitpold ſpielen ſchon unter den 
Karolingern eine bedeutende Rolle, indem Arnulf I. ver Böſe, Graf von Scheiern 
bereit8 911 Herzog von Bayern, fein Bruder Berthold Herzog von Kärnthen 
wird. Die Nachkommen Arnulfs konnten fih aber im Herzogthum nicht behaupten, 
fie mußten fid wieder mit ihren Grafſchaften und Hausbefigungen begnügen. 
Zwei Jahrhunderte blieben die Scheiern ohne Herzogthum, fie verlebten ihre Tage 
ohne hervorragende gefchichtlihe Bedeutung ruhig in ihren Gaugrafſchaften und 
auf ihren zahlreichen Erbgütern, fie erfcheinen urfunvlih als Grafen des Yand- 
ſtriches zwifchen dem Lech, der Ilm, Glan und Amber, am Koceljer und im Kels> 
gan; ihre Hauptburgen waren Kellheim an der Donau, Dachau oberhalb der 
Amber und Witteldbach unweit der Paar. Ungeachtet das Stammſchloß 
Scheiern in ein Klofter verwandelt worden war, nannten fie fi doch immer nod 
„Strafen von Sceiern” ; 1116 nannte ſich Otto V. Pfalzgraf von Bayern zum 
erftenmal urkundlich „von Wittelsbah”. Auch die Scheiern thellten nad) ber 
Sitte ver damaligen Zeit ihre Beflgungen und es entftanden mehrere Nebenlinien 
mit verfchievdenen Namen, fo die Grafen von Dachau, von Scheiern-DBalai 
u. f. w., welde ſämmtlich ausgeftorben find, nur die Dttonifhe Haupt- 
linie feste den Stamm fort, Otto V. erwarb 1106 feinem Haufe die pfalze 
gräflihe Würde von Bayern, die nächſte nach dem Herzogamte. Während Leopold 
von Babenberg ald Herzog Über Bayern regierte, trat Otto V. urkundlich in ber 
Ausübung feines pfalzgräflihen Amtes auf, zu welchem befonvers vie Vogtei über 
alle in Bayern gelegene Reichsgüter und Neichslehen gehörte. Otto's V. ältefter 
Sohn, Otto VI., legte durch feine großen Berbienfte um das Reid den widhtigften 
Grundſtein für tie zukünftige Größe feines Haufes, indem er das Herzogthum 
Bayern, weldes feine Vorfahren bereits vorübergehend befeflen hatten, bleibend 
feiner Yamilie erwarb. Die Belehbnung vom Jahre 1180 ift der wid- 
tigfte Alt in ver Hausgefhichte ver Wittelsbacher. 

Als Otto I. den Herzogsftuhl beftieg, war fein Haus bereits das mäch— 
tigfte und reichſte in ganz Bayern, die Scheiern waren reihbegütert fowohl an 
tem rechten, ald an dem linten Donauufer, ferner in ven Ylußgebieten ber Paar, 
Alm, Glan und Amber, jowie an der Wihm, an der Ifar, am Inn und im 
Hochgebirge viesfeits und jenſeits bes Brenners. Zu dieſen großen Hausbefigungen 
famen nun noch bie beiden höchſten Reihsämter, das Herzogthum und Die Pfalz» 
grafichaft, welche feit 1180 beide in den Händen des Hauſes Scheiern-Wit- 
tels bad vereinigt waren. Uebrigens überließ Herzog Otto I. die Pralzgrafichaft 
feinem Bruder Otto dem Jüngern, mit deſſen Sohne Otto VIIL, dem 


14* 





212 . Wittelsbacher. 


Mörder Kaifer Philipps von Schwaben, bie pfalzgräfliche Linie erloſch. 
Bei diefer Gelegenheit zerftörte Herzog Ludwig, der Sohn Otto’8 I, in Vollzug 
der Reichsacht, Schloß Wittelsbach, die alte Stammburg feines Gefchlehtes, welche 
zur Sühne des Berbrehend der Erde gleich, gemaht wurde. Die pfalzgräfliche 
Würde erhielt Graf Rapoto von Ortenburg. König Otto IV. ertheilte bei dieſer 
Gelegenheit dem Herzog Ludwig einen Yehenbrief, in weldhem dieſer König, der Nach⸗ 
komme des abgefegten Welfenherzogs , die Erblichleit tes Herzogthums Bayern 
für Ludwig und feine Nachkommen austrüdlih anerkannte. 

Eine wichtige Ausfiht für fein Haus erlangte Ludwig I. durch die Beleh⸗ 
nung, welche ihm der Kaiſer Friedrich IL. für die Bfalzgraffhaft bei Rhein 
1214 ertheilte, die wirkliche Erwerbung dieſes Landes gelang erft fpäter durch 
die Bermählung feines Sohnes Dito mit Agnes, der Toter des Pfalzgrafen 
Heinrih. Die Vermählung erfolgte 1228, durch welche zwei der reidhften 
deutfhen Ränder, Bayern und Rheinpfalz, in Berbindung traten. 

Ludwig I. ftarb 1231 von der Hand eines Mörders; Otto II. der Er- 
laudte, fein Sohn, fuccevirte im Herzogtfum und in ber Pfalzgraffhaft. Unter 
feiner Regierung erloſch 1238 das Gefhleht der Grafen von Valai, ein Zweig 
der Grafen von Dachau, fcheiern-wittelsbadhifhen Stammes; die Befigungen fielen 
an die herzoglihe Hauptlinie.e So waren mit den Grafen von Dadau (1179) 
und den ©rafen von Balat- die abgetheilten Tinten erlofchen, da8 Haus Scheiern⸗ 
Wittelsbach beruhte lediglich auf der herzoglihen Hauptlinie Otto II. ver 
Erlauchte, Herzog von Bayern und Plelagraf bei Rhein, 
Stammpater aller fpätern wittelebahifhen Linien, ftarb im 
Jahr 1253, 

Sogleih nad feines Vaters Tode nahm Ludwig II. in feinem und feines 
Bruders Heinrih Namen das Herzogthum in Beſitz. Die Brüder regierten zuerft . 
in Gemeinſchaft, dann fehritten fie 1255 zur Landestheilung; es war bie 
erfte Theilung eines deutſchen Herzogthums, welche fid dadurch erklärt, daß bie 
Amtseigenfhaft von der privatrechtlihen Auffaffung ganz In den Hintergrund ver- 
brängt worben war. Hatte man fid) einmal daran gewöhnt, das Herzogthum als 
Batrimonialgut zu betrachten, fo war die Anwendung des Thellungsprincips 
eine nothwendige Konjequenz. 

Bei der Thellung von 1255 erhielt der ältere Bruder, Lubwig der Ge- 
firenge, die Pfalz am Rheine und Ober-Bayern, der jüngere Bruder das 
bayerjhe Unterland. Ludwig nahm feine Refidenz in Münden und Heidel- 
berg, Heinrich die feinige in Landshut. 

Da die alte nieverbayerifche Linie bereits 1340 erlofh und ihre Befigungen 
an bie oberbayerifche fielen, fo übergehen wir die Schidfale verfelben und bridäf- 
tigen uns lediglich mit der Linie Ludwigs des Geftrengen. 

Ludwig der Geſtrenge, der Stifter der oberbanerifchen Linie, hinterließ 1294 
zwei Söhne, Rudolf und Ludwig, die Brüder regierten gemeinfam; dann 
feßte der jüngere eine Landestheilung durd, welche zu vielen Streitigkeiten führte. 
Der ältefte Bruder Aubolf 1. ftarb 1319; am 4. Auguft 1329 fhloß fein indeſſen 
zum SKaifer erhobener Bruder Ludwig den berühmten VBergleih zu Pavia 
mit feinen Neffen, ven Söhnen Rudolfs, ab, nämlich mit Rudolf und Ruprecht 
und mit Aupredht II., dem Sohne des indeſſen verftorbenen älteften Sohnes Adolf, 
feinem Großneffen. 

Dur den Vertrag von Pavia befamen die Nachkommen Rudolfs die Rhein- 
pfalz und dazu den größten Theil des Nordgau's, welcher deßhalb den Namen 











Wittelsbacher, 218 


Dberpfalz erhielt. Die Kurmwärbe fol in Zukunft zwiſchen ben beiden Haupt⸗ 
linien wedfeln, fo daß die pfälzifche Linie, als die ältere, zuerft in Ausübung 
biefes Rechtes tritt; jede Tinte regiert den Ihr beftimmten Landestheil völlig unab- 
bängig, aber veräußern darf Fein Fürſt etwas von Land und Leuten an Fremde, 
das Ganze bleibt, troß ber Theilung, Stammgut des wittelsbach’fhen Haufes, mit 
gegenfeitigem Rüdfall ver Laänder, wenn die eine ober die andere Linie ohne Manns» 
ſtamm abgeht. Der Vertrag von PBapta ift fomit die älteſte und wid: 
tigfte Grundlage der gefammten wittelsbah’fhen Hausver— 
faffung. 

Wenn durch diefen Vertrag aud bie Einheit ber Yamilie und des Stamm- 
gutes nicht aufgehoben wirt, fo geht doch feitvem das Haus der Wittelsbacher in 
zwei getrennte Zweige auseinander. Wir verfolgen zuerft die bayerifche Linie 
bis zu ihrem Erlöfhen 1777 und kommen barauf zur pfälzifchen Linie, welche 
gegenwärtig den bayerifchen Thron inne hat. 

I. Die bayerifhe oder Ludwigiſche Linie 00n 1329 618 1777. 

Stifter dieſer Linie ift Ludwig, der Sohn Ludwigs des Strengen, welder unter 
dem Namen Ludwig IV. oder der Bayer Kalfer wurde (1M4— 1347) Seine 
foiferlihe Regierung ift faſt fortwährend geſtört durch den Kampf mit feinen Gegen- 
fönigen, befonders Friedrich von Defterreih und dem ihm feinpfeligen Papfttyum. 
Er macht mit großer Energie die völlige Unabhängigkeit ver weltlichen 
Gewalt vom römischen Stuhle geltend, wobei ihn eine Reihe publiciſtiſcher Schrift⸗ 
fieler, Wilhelm von Occam, Marſilius von Padua und Lupold von Bebenburg 
unterftügen. Seine Auffaffung, wornach der von den Kurfürften rechtmäßig zum 
Kaifer und König erwählte Fürft ohme weiteres wahrer und rechtmäßiger Kaifer 
und König wird, ohne der Einwilligung des Papftes zu betürfen, wird durch ben 
Aurverein von Renfe am 15. Juli 1338 beftätigt und durch die constitutio de 
jure et excellentia imperii zum Reichsgeſetz erhoben. Uebrigens benutzte 
Ludwig feine Stellung auch vielfah zur Vergrößerung feiner Hausmadt, fo ver- 
lich er feinem älteften Sohne Ludwig 1322 die erledigte Mark Brandenburg 
und vermählte die befannte Margaretha Maultafche, die er eigenmädtig von 
ihrem Gemahl, Iohann von Böhmen, ſchied, mit feinem Sohne, dem Markgrafen 
Ludwig von Brandenburg, brachte mit ihr Tyrol an fein Haus und erwarb end- 
ih durch feine Gemahlin, Margaretha, vie Schwefter des verflorbenen Grafen 
Wilhelm von Holland auch die Länder Holland, Seeland, Friesland und Hennegau. 

Ludwig hinterließ fehs Söhne; nad feinem Tode wurde feiner Verordnung 
gemäß allerdings zunähft eine gemeinfame Regierung eingerichtet und an die 
Spige derfelben die drei älteren Söhne geftellt. Aber pie gemeinfamen Regie 
rungen tragen immer ben Keim der Theilungen in fi, fo auch bei ven Söhnen 
Ludwigs, welche 1349 die väterlichen Lande unter fi vertheilten. Aus fämmt- 
lihen Landen wurden zwei Theile gemacht; ven einen, beftehend aus Oberbayern 
und der Marf Brandenburg, befamen Ludwig der Brandenburger, Ludwig ver 
Römer umd ber zweijährige Dtto; ben zweiten Theil, beftehenn aus Nieverbayern, 
ten Provinzen Holland, Seeland, Friesland und Hennegau, erhielten Stephan, 
Wilhelm und Albrecht. Es begannen nun wieder abgefonderte Hofhaltungen und 
Regierungen, woburd die koncentriſche Staatsverwaltung Kaifer Ludwigs einem 
ſchwankenden und planlofen Regieren mehrerer Prinzen weichen mußte. Die Macht⸗ 
ſtellung des bayerifhen Haufes ſank daher ſchnell wieder auf das Maß eines ge- 
wöhnlichen Zerritorialfürftentbums herab. 

Auch die neuerworbenen Lande gingen bald wieder verloren, fo Brandenburg 


214 Wittelsbacher. 


1373; Tyrol, auf welches Ludwig der Brantenburger durch feine Heirath mit 
ver Erbgräfn Margaretha Maultafche für feinen und ihren Sohn Meinhard 
einen Anfprud erworben hatte, ging 1363 durch den Tod des legtern für Bayern 
verloren und kam an Defterreidh, vie nieberländifchen Befigungen blieben beim 
bayerifhen Mannsſtamm bis zum Tode Johanns 1425. Diefe holländische Linie 
hatte auch noch einen Antheil an den alten bayeriſchen Stammlanden, fie befoß 
das fog. Herzogihum Straubingen und führte daher den Namen Strau— 
bingen-Holland. Die ftraubinsifhen Lande wurben beim Ausfterben dieſer 
Tinte unter die anderen bayerifhen Linien nah Köpfen vertheilt. 

Von Ludwigs Söhnen fette Übrigens nur Einer, Stephan J. ven Stamm 
bleibend fort. Er hinterließ bei feinem Tode 1378 drei Söhne: Stephan IT., 
Frievrih und Johann. Diefe regierten von 1375—1392 in Gemeinſchaft, danıı 
aber nahmen fie, unter ver Bermittelung der Landſtände, eine Yandestheilung vor, 
Stephan erhielt Ingolftapt, Johann Münden, Friedrich Landshut. Bei 
biefer Theilung wurde zugleih die Erbfolge in die abgetheilten Lande einem jeden 
der drei Brüder und deren männlichen Nachkommen ausdrücklich durd ein pac- 
tum mutuae succ&ssionis, mit Ausfchluß der Töchter und Kognaten, vorbehalten. 
Bon den drei Linien, welche fih durch die Theilung von 1392 bildeten, erlojch 
Bayern-Ingolſtadt 1392, Bayern-Tandshut 1503, fo daß die übrig blei- 
bende Münchener Linie allein den Stamm fortfegte. 

Nach Ausfterben der Landshuter Linie entftanden indeſſen große Erbfolgeftrei- 
tigkeiten und in Folge derfelben der Tanpshuter Erbfolgetrieg, Georg der 
Reiche, der legte vom Mannsftamm feiner Familie, hatte nämlid in feinem Te- 
ftament, mit Uebergehung der Münchener Agnaten, feine Tochter Elifabeth zur 
Erbin des ganzen nieverbayerifchen Herzogthums eingefegt. Obgleich dieſes Teſta⸗ 
ment fowohl allen Grunbfägen des deutihen Fürftenrechts, als auch insbeſondere 
den bayerifhen Hausverträgen widerfprad, fo mußte die Münchener Linie ſich 
doch, kraft des unter Taiferliher Autorität erfolgten Kölner Schiedsſpruches vom 
30. Juli 1505, zu einigen Abtretungen an bie unmlindigen Söhne Elifabeths, 
die Pfalzgrafen Otto Heinrih und Philipp, verftehen. So erwuchs aus bayeriſchen 
Beſtandtheilen ein neues Fürftenthun, deſſen Mittelpuntt Neuburg an der Do- 
nau war, für die pfälzifhen Prinzen, weldes ven Namen ver jungen Pfalz 
erhielt. Auch dem Kaifer mußte mandes für feine Hülflelftung abgetreten werben. 
So kam allertings manches in fremde Hände, Im Ganzen wurde aber doch der 
größte Theil der alten bayerifhen Lande dem bayerifch-Iudwigifchen Zweige er- 
halten, welcher allein in der Münchener Linie weiter blühte. 

In diefer Tinte wurde bereits am 8. Juli 1506 dur einen Brubervertrag 
zwifchen den Herzögen Albrecht IV. und Wolfgang Untheilbarkeit und Pri- 
mogenitur feftgefegt, „fo daß von nun an für ewige Zeiten ihre älteren ſowohl 
als ihre neuererbien Fürſtenthümer in Oberbayern nunmehr Ein Herzogthum fein 
und genannt werben follen, daß in Zufunft feine Theilung, nod Trennung mehr 
geſchehen, aud in dieſem Herzogthum nit mehr als Ein regierender Fürſt und 
Landesherr fein fol.” Diefer Primogeniturvertrag ift gewiß der wohlthätigfte Aft 
in der Hausgeſchichte ber bayeriſchen Herzöge, ſchon als Urheber dieſes Haus- 
geſetzes führt Albrecht IV. mit Redht den Beinamen des „Welfen”; doch mußte 
das Recht ber Erfigeburt gegen mande Anfehtungen noch durch fpätere Berorb- 
nungen feftgeftellt werben; dies geſchah beſonders durch das Teſtament Albrechts V. 
vom 11. April 1578, welches die kaiſerliche Veftätigung erhielt. Seit dieſer Zeit 
ftand die Hausverfaffung unerfhätterlich feſt.. 








Wittelsbacher. 215 


Für die weitere Geſchichte dieſes wittelsbachifchen Zweiges bis zu feinem 
Ansfterben 1777 verweifen wir auf den Artifel Bayern Bd. I, ©. 738 und 
gehen nun zur rudolfifhen oder pfälzifhen Linie über. 

Die rudolfifhe oder pfälzifhe Linie vom Bertrag 
von Bavia bis auf die Gegenwart. 

Durh den Vertrag von Pavia erhielten die Nachkommen Rudolf's I. ihr 
vollſtändiges Erbtheil. Die ihnen zugefallenen Lande bildeten von nun an Jahr⸗ 
bunberte lang das pfälzifhe Gebiet. Diefes Gebiet beftand aus brei Ele- 
menten, zuerſt dem alten pfalzgräflichen Gebiete am Niederrhein, dann den neu- 
erworbenen Gütern am Nedar und Mittelrhein, deren erfle Anfänge fih auf Kon- 
rad den Hohenftaufen zurüdführen laffen, und endlich ven Befigungen in Scwa- 
ben, welche Ludwig ber Strenge von Konradin, vem legten Sprößling des ſchwä⸗ 
bifchen Kaiferhaufes, erworben hatte (Hänffer, Geſchichte ver Pfalz I, ©. 153). 

Kurfürft Rupreht III., der Urenkel des Stifters viefer Linie, wurde im 
Jahre 1400 zum Kaiſer gewählt, bereits der zweite Wittelsbadher, ver 
zu diefer Würde emporftieg. Doc konnte feine Regierung feine befonbers 
erfolgreiche fein, da er es nicht einmal zu einer allgemeinen Anerkennung brachte. 
Für fein Haus konnte Ruprecht das Princip der Untbheilbarkeit und Pri- 
mogenitur nicht durdführen, nach feinem Tode wurde vielmehr die Thetlung 
zwifchen feinen Söhnen fo vollzogen, daß Ludwig die Kurwürde und den Theil 
der pfälziihen Befitzungen erhielt, welcher von Alters her an die rheinifche Pfalz- 
grafenwäürbe gebunden waren. Dan fonberte die Nefidenz Heidelberg, dann 
bie Bezirke des Rheins, ebenfo Theile der Oberpfalz aus. Alle dieſe Befigungen 
nannte man das Kurpräcipuum, weldes von nun immer die untheilbare Aus- 
flattung der Kurwürde geblieben if; dann erft folgte die weitere Vertheilung in 
vier fo viel wie möglich gleiche Portionen; die erfte erhielt der Kurfürft, dem 
zweiten Sohn, Johann, wurde vie Oberpfalz zugetheilt, dem vritten, 
Stephan, Simmern und Zweibräden, dem vierten, Otto, Mosbach und 
die Nedargegenden. Johann's und Otto's Linien gingen ſchnell wieder ab und 
fo kommen nur die Linie Ludwigs, bie fog. alte Kurlinie und bie ihr fucce» 
dirende Linie Stephans zu Simmern in Betradt. 

In der alten Kurlinie folgte auf Kater Ruprecht Ludwig III. der Bärtige, 
14101437; auf dieſen Ludwig IV. der Sanftmütbige, 1437 — 1449; der zweite 
Sohn, Friedrich, erhielt nur ein Feines Deputat. Als aber Ludwig IV. mit Hin- 
terlaffung eines unmündigen Sohnes, Philipp, flarb, begnügte fih Friedrich nicht 
mit der ihm gebührenden Vormundſchaft, fondern übernahm die Kurmwärde felbft. 
Diefen Brud ver legitimen Succeffionsordnung fuchte er dadurch gutzumachen, 
daß er feinen unmünbigen Neffen ald Sohn adoptirte und ſich nie zu verheirathen 
verfprad. Allerdings ſchloß er niemals eine ebenbürtige Ehe, zeugte aber mit 
Clara Dettin, einer Augsburgerin, die er fpäter heirathete, zwei natürliche 
Söhne, von denen einer geiftlih, der andere, Ludwig, Stifter einer noch jett 
blähenvden fürftlichen Bamilie wurde, indem er zur Abfindung die Grafſchaft Lö— 
wenftein erhielt und Stammpater der Grafen, fpäter Fürſten von Lö— 
wenftein wurbe, die fomit als ein Nebenzweig des wittelsbachiſchen 
Haufes erfheinen, wenn aud ihre Succeffionsfähigleit in die wittelsbachifchen 
Lande niemals auerkannt worben iſt. Nach Friedrichs des Siegreihen Tode, 
welcher theils durch Eroberung, theils durch Vertrag bedeutende Yändererwerbungen 
gemadt Hatte, folgte fein Neffe Philipp der Aufrichtige 1476—1508, auf 
biefen fein ältefter Sohn Ludwig V. oder der Friebfertige 1508—1544, durch 


— 








216 Wittelsbacher. 


befonbere Verträge folgte dieſem aber nicht des vorverflorhenen Altern Vruders 
Sohn, Otto Heinrich, fonvdern der jüngere Bruder Friedrich IL, 1544— 
1560, welcher tie Reformation in feinem Lande durchführte; erſt nach feinem 
finderlofen Tode kam fein Neffe Otto Heinrich (1556—1559) zur Negierung, 
mit welchem die alte Kurlinie erlofd. 

Die Kurpfalz kam nun an die Linie Stephans, des britten Sohnes Kaifers 
Auprecht, welher Simmern und Zweibrüden erhalten hatte und von bem zwei 
Linien, die Friedrichs zu Simmern und bie Ludwigs des Schwarzen 
zu Zweibrüden ausgegangen waren. Die Linie Simmern, als die erft- 
geborene, fuccedirte mit Friedrich II. ia der Kur (1559—1576). 
Der Enkel dieſes erften fimmernfhen Kurfürften war der unglüdlihe Kurfürft 
Friedrich V., welder von ben böhmiſchen Ständen zum König gewählt, in ber 
Schlaht am weißen Berge 1620 ‚Krone und Reid verlor, in die Reichsacht fiel 
und aller feiner Würben und Lande entjegt wurde; erfi durch den weftphälifchen 
Trieden erhielt fein Sohn Karl Ludwig den größten Theil ber väterlichen 
Lande zurüd; die Oberpfalz und die pfälzifche Kur blieb vagegen Bayern, für bie 
Pfalz wurde eine achte Kurwürbe errichtet. Auch wurde durch ben weftphälifchen 
Frieden die Primogenitur für alle der Kurlinie gehörigen Lande eingeführt. Be- 
reits mit Karl Ludwigs Sohn, Karl, 1680-85, erloſch die evangelifhe Kur: 
Iinie Simmern und die Nachfolge fam fomit an das Haus Zweibrüden. 

Ludwig der Schwarze, Kaifer Ruprechts Enkel und Pfalzgraf 
Stephans Eohn, hatte Zweibrüden erhalten. Nah manchfachen Zheilungen 
vereinigte endlich Pfalzgraf Wolfgang alle Lande diefer Linie wieder; biefer 
trat zur evangelifhen Kirche über und wurde ber Stammpater aller. 
nahherigen Pfalzgrafen. Bon ihm gingen durch Theilung von 1569 
brei Rinien aus, Pfalzneuburg oder bie neue Kurlinie, Pfalz⸗Zwei— 
brücken ober die ſchwediſche Tinte, Pfalz⸗Birkenfeld, vie jesige könig— 
(ih bayerifche Linie. 

1. Pfalz-Neuburg oder die neue Kurlinie, Philipp Lupwig, 
ver erftgeborne Sohn, Hatte Neuburg erhalten, feine Gemahlin war Unna, 
Herzog Wilhelms von Jülich ZTodhter; ihr Sohn Wolfgang Wilhelm, 
welcher zur katholiſchen Kirche Übertrat, machte für feine Mutter Anna von Jülich 
und für fid) felbft, als deren Sohn, Anſprüche auf die gefammten Lande des 1609 
kinderlos verftorbenen legten Herzogs von Jülich, Cleve und Berg. Er behauptete, 
als Sohn ver älteften noch lebenden Schwefter des Herzogs Johann Wilhelm von 
Jülich ein näheres Recht zu baben, ald die Gemahlin des Kurfürften Johann Si« 
gismund, die Tochter der bereits verftorbenen älteſten Schwefter. Indeſſen ver- 
einigten fi) tie Prätendenten von Brandenburg und Pfalz-Neuburg zu gemein- 
famer Befigergreifuung und theilten bie Lande dur den Kantener Vergleich von 
1614 dermaßen, dag Jülich und Berg an Pfalz-Neuburg, Eleve, Mark und Ra- 
vensberg an Brandenburg famen. Damit war für das Haus Pfalz-Neuburg ein 
‚bedeutender Zuwachs an Pand und Leuten gewonnen, Düffelvorf wurde 
von nun an die widhtigfte Refidenz diefer Linie Auf Wolf 
gang Wilhelm folgte fein einziger Sohn Philipp Wilhelm, welder nad 
Ausfterben ver fimmernfhen Linie 1685 die Kur und fämmtliche Lande der Kur- 
linie erbte; dod wurde ihm gegenüber von Seiten Franfreihs Anſprüche auf bie 
Allodialerbſchaft der fimmernfchen Linie erhoben. Die Allovialerbin des 
legten Kurfürften der pfalzfimmernfchen Linie war feine Schwefter Elifabeth 
Charlotte, weldhe mit dem Herzog von Orleans vermählt war; für 




















Wittelsbacher. 217 


fie nahm Ludwig XIV., ohne einen Unterfchieb zwiſchen Staateverlafſenſchaft und 
Privatnachlaß gelten zu laflen und ohne bie Hausverträge des pfälzifchen Daufes 
zu berüdfidhtigen, ven ganzen Mobiliarnahlaß und alle Territorialbefigungen in 
Anſpruch, deren Mannsleheneigenſchaft nicht nachgewiefen werben konnte. Diefe 
Anſprüche machte Ludwig ald Bruder des Herzogs von Orleans geltend, anfangs 
mittels Vorſtellung beim Reichstage, dann mittels feinplicher Invaflon und gänz- 
licher Berheerung der Kurpfalz. Erft im ryswik'ſchen Frieden erfolgte die Reſti⸗ 
tution der pfälziſchen Lande. 

Die neuburgifhe Hauptlinie erlofh mit Karl Bhilipp 1716—1742, 
nad dem Recht der Linealprimogenitur kam jegt die Kur auf eine abgezweigte 
neuburgifhe Nebenlinie zu Sulzbach, deren Repräjentant Karl 
Theodor fhon als Kind durd feine Mutter, Anna von Anvergne, das Mar- 
quifat Berg ob Zoom in den Niederlanden ererbt hatte, 1742 Kurfürft von 
der Pfalz wurde und 1777 ale bayerifchen und pfälzifchen Lande vereinigte. 
Mit ibm erlofh auch die ſulzbachiſche Linie bes Hauſes 
Reuburg. 

2. Zweibrüden. Stifter biefer Linie war Johann J. Wolfgangs zweiter 
Schn, welder drei Söhne hinterließ, die drei Speciallinien anlegten, obasn Il. 
zu Zweibtäden Friedrich Kafimir zu Landsberg, Johann Ka- 
jimir zu Kleeburg. Die jüngfte oder kleeburgiſche Nebenlinie vereinigte aber 
1681, nad Ausfterben der beiden andern Linien niht nur alle zweibrückenſchen 
Lande, fondern war berufen, auf dem fchwerifhen Throne pie glänzendſte 
Epiſodedes Haufes Wittelsbach zu bilden. Der Stifter diefer 
‚sritten Linie, Johann Kafimir, war vermählt mit Katharina , des ſchwe⸗ 
difhen Könige Karls IX. Tochter; nah der Abdankung Ehriftina’3 warb fein 
Sohn Karl Guſtav ald Karl X. König von Schweren und mit ihm kam bie 
Donaftie Pfalz-Zweibriden-Kleeburg auf den Thron, welche dem 
ſchwediſchen Reihe drei hervorragende Monarden gab; Karl XI. gehört durch 
feine ſtaatsmänniſche Energie, Karl XII. durd feine romantifche Tapferkeit zu 
den glänzendſten Perjönlichkeiten ver neuern Geſchichte. Bon ihm erbte ver leute 
überlebende Prinz der zweibrüdenfhen Linie Guftav Samuel Leopold 
die Stammlande in Deutſchland. Mit viefem erloſch vie ganze zweibrüdenfche Linie, 
von deren Landen Zweibrüden ſelbſt an die birkenfelvifche —* fiel, welche ſeit⸗ 
dem Zweibrücken-Birkenfeld hieß, während die übrigen Beſitzungen 
an die Kurlinie kamen. 

3. Birkenfeldiſche Linie. Der Stifter dieſer Linie Karl, der fünfte 
Sohn Wolfgangs, hatte mehrere Söhne, aber nur Chriftian I. hatte bleibende 
Defcendenz, indem feine beiden Söhne Chriftian II. und Johann Karl 
Speciallinien anlegten, die bis auf den heutigen Tag fortbauern. 

8. Birkenfeldiſche Hauptlinie Nah vem Ausfterben der Zweis 
brüden’shen Linie 1733 kam dieſes Herzogthum an die Birkenfelvifche Linie, welche 
ebenfalls zur Tatholifchen Kirche übertrat; einen Namen in biefer Linie machte ſich 
Karl Auguft (+ 1795) durch feinen agnatifchen Proteft in der bayerjchen 
Suceeffionsangelegenheit. Ihm folgte fein Bruder Marimilian Iofeph im 
Herzogthum Zweibrüden, welder 1799 Kurfürft von Pfalz-Bayern, 1805 König 
von Bayern wurde. 

b. Birkenfeldiſche Nebenlinie Gelnhauſen. Der zweite 
Sohn tes Stifters der Birkenfelvifchen Tinte, Johann Karl, hatte Fraft 
brüderlichen Vergleichs von 1673 nur ein gewifles Stammdeputat, aber keine 











218 Wittelsbacher. 


Landeshoheit erhalten. Er war vermählt mit Marie Eſther von Witz- 
leben; die Söhne aus biefer Ehe wurden von den Agnaten, trog eines gän- 
fligen Urtheils des Reichshofraths vom 11. April 1715, nicht für fucceffionsfähig 
angeſehen, bis endlich der teſchener Friede U. III. allem Zweifel an ihrem Suc⸗ 
ceifionsredhte ein Ende madte. Bon dieſen für fucceffionsfähig erflärten wig- 
lebenfchen Söhnen hatte nur Johann (+ 1780) bleibende Nahlommenfchaft. 
Defien Sohn Wilhelm trat 1752 zur katholiſchen Kirche über, nahm am 
15. Februar 1799 den Titel „Herzog in Bayern“ an, erhielt das Her- 
zogthum Berg durch Paraglalreceß vom 30. November 1803, trat dasfelbe 1806 
an Joachim Müggt ab und wurde dafür mit beftimmten Einkünften und Gütern 
im Königreih Bayern botirt. Ihm folgte fein Sohn Pius Auguſt (+ 1837), 
der Vater von Marimilian Joſeph, welder gegenwärtig mit feinen 
Nahlommen die fuccefftonsfähige berzoglide Linie von 
Bayern bildet. 

Nach diefer kurzen Ueberficht kehren wir wieder zu Karl Theodor zurüd. 

Marimilian Iofeph, Kurfürkt von Bayern, der legte männliche 
Sprößling des Ludwig'ſchen Zweiges der Wittelsbacher, ftarb 1777. Auf viefen 
Fall hatte von jeher das Haus Pfalz (die rudolfiſche Linte) ein tammvetter- 
lihes Erbfolgereht behauptet, weil es in Herzog Ludwig dem Strengen 
(+ 1294) mit dem Haufe Bayern einen gemeinfamen Stammvater hatte. Diejes 
agnatifche Geblütsreht war durch ältere und neuere Hausverträge, welche alle in 
dem Bertrage von Pavia ihre Grundlage hatten, anerfannt und befefligt worben. 
Auch war unmittelbar nah dem Tode von Marimilian Joſeph, im Na- 
men bed Kurfürften von der Pfalz, von allen bayerifhen Landen Befig ergriffen 
worden. 

Trotz biefer völlig Maren Succeffionsrechte wollte Defterreih dad Ausfterben 
ber bayerifchen Linie benugen, um bebeutende Theile des bayerifchen Gebietes an 
fi zu reißen. Obgleich die öſterreichiſchen Anſprüche mit den Grundſätzen des 
deutſchen Staatd- und TFürftenrechts In offenbarem Widerſpruch ftanden, fo war 
bo der ſchwache Karl Theodor, welder nur die Befriebigung feiner egoi⸗ 
ftifhen Pläne im Auge hatte, aus perſönlichen Gründen geneigt, dieſe anzuerkennen. 
In denfelben Tagen, wo er fein neues Befigthum .perfönlich angetreten, hatte er 
zu Wien einen Vertrag unterzeichnen lafien, welcher vie öfterreihifchen Anfprüche 
im wejentlichen erfüllte Cine ſolche Abtretung war aber ungültig, wenn bie Agnaten 
Karl Theodor ihre Zuflimmung verfagten. König Friedrich II er⸗ 
mutbigte daher den Herzog Karl Auguft von Zweibrüden zum Widerſpruch 
gegen ben Bertrag, welden Karl Theodor bereits abgeſchloſſen hatte und ergriff 
bie Waffen für die Vertheidigung der agnatifhen Rechte und die Integrität 
Bayerns, Nach lebhaften, aber unfruchtbaren Verhandlungen zwilchen den Höfen 
von Berlin und Wien fam es zu dem furzen und unblutigen bayeriihen Erb- 
folgefriege, welder am 13. Mai 1779 durch den Frieden von Teſchen beendigt 
wurde. In biefem wichtigen wölferrechtlihen Bertrage wurben die zwifchen Kur- 
pfalz und Bayern beftehenven Familienverträge und die Integrität Bayerns (mit 
Ausnahme des Innvierteld) anerkannt. Auch ein zweiter Verſuch Joſephs IT. 
im Jahr 1785, Bayern zu inforporiren, foheiterte an Friedrichs IT. umfichtiger 
Politik; doch hatte Bayern wenig Urfache, ſich feines neuen Herrfchere zu freuen. 
Umgeben von Maitrefien und Günftlingen, Vater zahllofer uneheliher Kinder, 
deren Berforgung fein Hauptintereffe war, wüft und bigott zugleid, eine frivole, 
genußfüchtige Natur, wendete ſich Karl Theodor immer mehr feinen Regenten⸗ 


Wucer und Wuceegefehe. 219 


pflihten ab, fühlte fi in Bayern immer fremd und verlegte 1788 feine Reſidenz 
wieder von Münden nah Mannheim. 

Mit feinem Tode am 16. Februar 1799 erlofh die Linie Neuburg- 
Sulzbad, welde von dem erftgebernen Sohne Wolfgangs, Philipp Ludwig 
zu Neuburg abftammte. Da vie Tinten der ältern Wolfgang’shen Söhne fämmt- 
lid erlofhen waren, fo kam jegt die Succeffion an die jüngfte Birkenfelvifche 
Linie des fünften Sohnes Karl und in vieferr an Marimiltan Joſeph, 
welcher feinen Bruder Karl Auguft bereits in dem (thatfächlih von den Franzoſen 
befegten) Herzogthum Zweibrüden gefolgt war. Er vereinigte nad fünf Jahr⸗ 
hunderten zum erftenmal wieder alle wittelsbahhifchen Tante. Da von nun an 
die Hausgefchichte der Wittelsbacher im wmefentlihen mit ber Staatsgefchichte 
Bayerns zufammenfällt, fo verweifen wir auf ven Artilel Bayern und befhränfen 
uns auf einige Bemerkungen über die HaAusgeſetzgebung der Töniglichen 
Dynaſtie Bayern. Am 28. Juli 1808 publicirte König Dar Iofeph ein Tönig- 
lid Bayerifhes Kamiltengefeg, worin er alle in vem gegenwärtigen 
Geſetze nicht beftätigten älteren Yamiliengefege und Verträge für aufgehoben er- 
Härte; an Stelle vesfelben. trat 1816 ein Königlihes Bamiliengefeg, wel 
ches dann wieder durh das Familienftatut vom 5. Auguft 1819 
befeitigt wurde. Diefes Statut iſt gegenwärtig das wichtigſte Fundament ber 
föniglich bayeriſchen Hansverfaffung. Außerdem iſt dasſelbe maßgebend für alle 
nenern Hausgeſetze in den deutſch-monarchiſchen Staaten geworben und kann ale 
Prototyp des modernen Privatfürftenrehts gelten. Die dem Haufe Wittelsbadh 
dur den Londoner Bertrag vom 7. Mat 1832 Art. 8 zuertannte Krone bes 
nenerrichteten Königreichs Örieh enland ift dur die Revolution von 1862 
wieder verloren gegangen. 

Literatur. Sämmtlide ältere und neuere Hausgefege von Bebeutung 
ind veröffentlicht in meinem Werte: Die Hansgefege Br. I. Johann Ferdinand 
Huſchberg, Üeltefte Geſchichte des durchlauchtigſten Haufes Scheiern⸗Wittels⸗ 
bach bis zum Ausſterben der gräflichen Linie ScheiernValai. Aus den Quellen 
bearbeitet. München 1834. — Th. Rudhart, Xeltefte Geſchichte Bayerns. 
Hamburg 1841. — Andreas Buchner, Geſchichte von Bayern, aus den 
Quellen bearbeitet. 10 Bde. Regensburg 1820—1855. — Konrad Mannert, 
vie Geſchichte Bayerns, aus den Quellen bearbeitet. 2 Bde. Leipzig 1826. — 
Ludwig Häuffer, Gefchichte der rheinifhen Pfalz nach ihren politiſchen, kirch⸗ 
lichen und literarifchen Berhältniflen. 2 Bbe. Heivelberg 1845. — Joſeph Anton 
Aettenkhofer, Kurzgefaßte Gefhichte der Herzöge von Bayern. Regens⸗ 
burg 1767. — Johann Heinrih von Falkenſtein, vollftänpige Geſchichte des 
großen Herzogthbums und ehemaligen Königreihs Bayern. 3 Bde. Ingelftabt und 
Augsburg 1776, " Hermann Schulze. 

Wodhlfahrtspolizei, |. Polizei. 


Wodhlthätigkeitsanſtalten, ſ. Armenpflege, Verſorgungs— 
anſtalten. 


Wucher und Wuchergeſetze. 


Unter „Wucher“ wird in der gemeinen Redeweiſe eine jede gewinnſüchtige, 
wenn aud nicht gerade betrügerifhe Ausbeutung Anderer verftanden. Es wirb 
„Wucher“ begangen nicht allein durch Nehmen hoher Kapitalzinfen oder von Kas 
pitalzinfen überhaupt, fonvdern auch durch Nehmen zu hoher Kaufpreife, 3. ®. 


I _ 


220 Wucher und Wudergefehe. 


„Kornwucher“, ober durch Zahlen zu geringer Kaufpreife, 3. B. „Güterwucher“. 
Mit dem Ausprud fol eine gewiſſe Unfittlichleit, nicht nothwendig Ungefeglich- 
keit, im Vermögensverkehr gemißbilligt werden. 

In diefer unbeftimmten Allgemeinheit ift ter Begriff „Wucher”, bei ver Ver— 
ſchiedenheit der allgemeinen wie der individuellen Kulturftufe, bei dem Schwanken 
der Sittlichfeitöbegriffe, zumal der das Wirthichaftsleben betreffenden, ein für Wiflen- 
haft und Rechtshandhabung völlig unbraudbarer. Ebenſo wenig ift e8 der Wiſſen⸗ 
ſchaft gelungen, einen engeren allgemein gültigen Begriff feſtzuſtellen. Auch ber 
neuefte Verſuch Roſcher's (Syſtem der Volkswirthſchaft I, $. 113 u. 192) „ab« 
ſichtliche Herbeiführung oder Steigerung von Nothpreifen”, ift weber vom ethifchen 
noch vom wirthſchaftlichen Standpunkt haltbar, da ter Begriff der „Nothpreiſe“ 
ein durchaus nnbeftinimter, aud) deren Herbeiführung oder Steigerung nicht ſchlecht⸗ 
bin, weder wirthſchaftlich noch ſittlich, verwerflich erſcheint. 

Sicherer abgrenzbar, aber darum zeitlich und örtlich nicht minder ſchwankend, 
iſt der rechthiche Begriff des Wuchers als einer rechtlich gemißbilligten und 
mit rechtlichen Nachtheilen bedrohten Handlungsweiſe. Denn man hat darunter zu 
verſchiedenen Zeiten und bei verſchiedenen Völkern etwas ſehr verſchiedenes ver⸗ 
ſtanden. Auf niederer Kulturſtufe, bei langſamem und ſchwerfälligem Kapitalzu⸗ 
fluß, wo der Handel dürftig, Anlehen zu produktiven Zwecken ſelten, der mit 
ſtrengſtem Rechtsſchutz ausgeſtattete Kapitaliſt meiſt einem nothleidenden Schuldner 
gegenüberſteht, iſt man geneigt, insbeſondere den Kapitalzins ganz zu verbieten, 
oder doch in äußerſt enge Schranken einzuſchließen. Dem natürlichen Egoismus 
wie dem wirthſchaftlichen Geſetz, welches für jede Leiſtung die den Umſtänden au⸗ 
gemeſſene Gegenleiſtung erheiſcht, wird, ſei es das Gebot der Barmherzigkeit und 
der allgemeinen Menſchenliebe (Moſaiſches Geſetz und Chriſtliche Ethik), ſei es das 
philoſophiſche Axiom von der Unproduktivität des Geldes (Ariſtoteles und die Ka⸗ 
noniften), ſei es die Staatsraiſon, entgegengeſtellt, welche ben kapitalloſen Staats⸗ 
genoſſen gegen die Uebermacht insbeſondere des Geldkapitals durch geſetzliche Fixi⸗ 
rung des angemeſſenen Zinsgenuſſes, gleichwie fonft durch andere „Zaren“ zu 
ſchützen verbunden ſei. Oder man erachtet es doch mindeſtens für nothwendig, der 
Ausbeutung von Noth, Unerfahrenheit, Leichtſinn durch Nehmen „übermäßiger“ 
Zinſen entgegenzutreten. u . 

So wird als „Wucher“ bald alles Zinfennehmen verpönt; bald nur bie 
Ueberſchreitung einer geſetzlichen Zinstare und gewifler Beichränfungen des Zinfen- 
lauf8 (insbefondere Zins von Zins, Anatocismus); bald endlich nur dieſe Ueber- 
ſchreitung unter gewiſſen, beſonders erfhwerend erſcheinenden Umftänden. Die 
Volgen aber, weldhe vie Gefege an den „Wucher“ Inüpfen, find bald privatredt- 
liche Nachtheile und ftaatliche oder kirchliche Strafen, bald nur die erfteren oder nur 
die legteren. Und zwar findet in ver europälfhen NRechtsentwidelung ein allmälicher 
Uebergang von dem weiteften Wucherbegriff tes gänzlichen Zinsverbots mit ftrengen 
privatrechtlichen Nachtheilen und Strafen (Kanenifches Recht) zu dem engften Wucher- 
begriff des bloßen Berbots unmäßiger Zinfen unter gemiflen erſchwerenden Vor⸗ 
audfegungen ftatt, bis endlich der ganze Begriff befeitigt und das Zinsgefhäft 
ſchlechthin den allgemeinen privatrechtlichen und ſtrafrechtlichen Normen (insbefon- 
bere vom Betrug) unterftellt wird. 

Den Beleg hierfür gewährt die nachfolgende geſchichtliche Skizze, an welche 
fi eine gebrängte principielle Beleuchtung der Wuchergefege anfchließen fol. 

Die Römiſche Zinsgefeßgebung der republifanifchen Zeit ift nur ein charak⸗ 
teriftifches Moment in dem natürlichen Rampfe, welcher auf niederer Kulturftufe 











Wucer und Wuchergefebe, 221 


zwifhen dem Kapitaliften und dem Kapitalbebürftigen befteht, und welcher einerfeits 
zur rüdfichtslofen Ausbeutung bes legteren bis zur bürgerlichen ja leiblichen Ver⸗ 
nihtung, andererfeits zur gefeglihen Einfhränfung, ja zur Beraubung des erfteren 
GBernichtung aller Zinsrädftände, Reduktion und felbft Vernichtung ver Kapitals 
forderungen) hindrängt. Ein in ſolchem vielhundertjährigen Kampf um die leibliche 
und bürgerlihe Eriftenz reichlich genährtes Vorurtheil, welches in der Hauptfadhe 
auch von den wenig entwidelten Nachbarvölkern getheilt wurde — nur in Attika 
galt völlige Zinsfreiheit —; der politifche Einfluß der bei vorherrfhender Sklaven⸗ 
arbeit nur fümmerli ihre Eriftenz wahrenden, durch das Sklaventhum fittlih und 
wirtbichaftlic immer mehr verberbten mittleren und unteren Bevölkerungsklaſſen, weiche 
alles Heil nit von eigener energifher Thätigkeit, fondern von’ Staatshilfe — 
bis zur Ernährung auf Staatsloften — erwarteten; bie Sittenverwilderung und 
die maßlofe Verſchwendung ver höheren Klaffen, für welche vie Aufrechthaltung ver 
Buchergefege Rechtsſchutz gegen allzugefällige Gläubiger verhieß; die mangelnde 
Einſicht felbft ver Häupter der Wiffenfchaft, 3. B. Ariftoteles, in die’ Natur der 
wirtbfchaftlihen Provuftion und ihrer Yaltoren, insbefondere von Kapital und 
Arbeit — alle diefe Umftände haben den fonft in Fragen der bürgerlichen Rechts⸗ 
politit fo Maren Sinn der Römer gelrübt und die volle Befeitigung der altem 
Zinsgefege auch dann noch verhindert, als die wirthfchaftlihen Zuftände, welchen 
biefelben ihre Entftehung verdanften, lange gefhmwunden und für probuftive Unter- 
nehmungen aller Art genügendes Kapital vorhanden war. Immerhin aber ift es 
ein fchwerer Mißgriff derjenigen, welde in dem taufendjährigen Beflande ver 
Römiſchen Wuchergefege einen Beweis für deren Nothwendigkeit finden, wenn fie 
die Thatfache überſehen oder ignoriren, daß gerade in der Blüthezeit des Inneren 
und auswärtigen Verkehrs des Römifchen Weltreichs und zur Zeit der Haffifchen 
Inrisprudenz der Inhalt der Wuchergefeggebung eine völlige Aenverung erfahren 
hatte. Nicht allein waren die alten Strafgefege gegen den Wucher völlig obfolet 
geworden und man begnügte fi mit civilrechtlicher Unwirkſamkeit der über das 
gefeglihe Maß hinaus bedungenen Zinsabrede, fondern dieſes Maß felber, vie 
gefeglihe Zinstare, war eine völlig andere geworben. Im legten Jahrhundert der Re 
publif war an die Stelle ver alten nievrigen Zindtare (81/, bez. gar A1/, Broc.), ja 
des freilich längft veralteten gefeglichen Berbots aller Zinfen (lex Genucia), die Zins- 
tare von 12 Proc. getreten, und für Krebitgefchäfte, an welche fich die rechtliche Gefahr 
bes Kapitalverluftes knüpfte (focnus nauticum und quasi n.) geftattete man fogar bie 
Attiſche Zinsfreigeit. Innerhalb einer Zinstare von 12 Proc. aber, bei der Sitte 
monatlicher Berechnung und Zahlung, Tonnte fih der damalige Verkehr im Wefent- 
lichen ungehindert bewegen, zumal Kapitalifirung und neue Verzinfung rückſtändiger 
Zinfen (anatocismus anniversarius u. dal.) ftatthaft war. Denn bei wachſendem 
Wohlſtand und Rechtsſicherheit in allen Theilen des Reichs war Inzwifchen ver 
landesäbliche Zinsfug weit unter das Maß jener Tare herabgegangen und bei 
irgend ficherer Anlage mußten die Kapitaliften fi mit 6, ja 5, 4 und noch we⸗ 
niger PBrocenten begnägen. Die Zinstare von 12 Proc. war fomit nidt 
viel mehr als eine nominelle Schranke, und aud viefe für die Aus- 
nahmefälle, im welchen eine Ueberſchreitung felbft dieſer Taxe durch die Umftände 
geboten fein fonnte, zu befeitigen, mochte den Römiſchen Staatsmännern der Kaiſer⸗ 
zeit in Hinblid auf das noch immer herrſchende Volksvorurtheil und die flet8 ge⸗ 
fährliden Volkserregungen wohl nicht angemeflen erjcheinen. 

Diefer Zuftand einer thatſächlich faft unbegrenzten Zinsfreiheit hat fich, bis 
auf vorübergehende und nit einmal allgemeine Einjchränfungen, die ganze Kalfer- 


223 Wuder und Wucergefehe. 


zit bis amf Juſtinian erhalten. Freilich aber beginnt in der fpäteren Kaiferzeit, 
mit der flaatlihen und wirthſchaftlichen Zerrüttung, wo in der unſäglichen Ber- 
wirrung des Realkredits eine fihere Kapitalanlage faft"unmöglid wird, wo man 
and „Dimanität” gegen ben Schuldner die heilfame Strenge der Krebitgefege 
immer mehr abſchwacht, aud der Rüdgriff auf das Wucherrecht ber republikaniſchen 
Zeit. So fegen Diocletian und Marimian auf den Anatocismus die Strafe ber 
Infamie; jo ſtellen Kaifer des 5. Jahrhunderts die altrepublitanifche Diebeöftrafe 
des vierfahen Erſatzes gegen den Wucherer wieder her; fo krönt endlich Iuftinian 
veterem duram et gravissimam usurarum molem ad mediocritatem deducentes, 
wie er emphatifch von fi rühmt und wohl aud von feinem Geſetz erwartet, bie 
rüdfdreitende Bewegung, indem er bie gejegliche Zinstare auf 6, ja unter Um- 
Münden auf 4 Proc. herabfegt und bavon nur gewiſſe Ausnahmen, namentlich 
8 Proc. zu Gunften der Fabrifanten und Kaufleute, geftattet; indem er unter das 
Berbot des Anatocismus aud die Berzinfung von fapitalifirten Zinsrädfänden 
Melt; indem er endlich gar beftimmt, bag der Gefammtbetrag nicht allein ver rüd« 
Rändigen Zinfen — wie fon bisher — fonbern felbft der gezahlten Zinfen vie 
Kapitalfumme nicht überfteigen folle! 

Geſtattet nun die legte Beftimmung eine Mare Einfiht in die gefeggeberiiche 
Weisheit ihres Urhebers, fo liegt doch nicht minder ber Herabfegung ber gejet- 
lien Zinstare auf die Hälfte — vermuthlih waren 6 Proc. zu Yuftintans Zeit 
ver für ganz fihere Anlagen übliche Zinsfug — ein höchſt verhängnigvoller 
Irrthum zu Grunde, von welhem bis dahin die Römiſche Kaiferzeit fid frei ge- 
halten hatte. 

Freilich find diefe Tegislattven Experimente der fpätrömifchen Kaiferzeit nur 
der erſte Schritt auf dem abfdüffigen Wege, deſſen Ziel das abfolute Zins- 
verbot bes Kanonifhen Rechts bezeichnet. Wie groß aud ver Unterſchled 
zwiſchen dem übercivilifirten Römerthum und den mühfam zu höherer Kultur aufs 
fleigenden Germaniſchen Völkern erſcheinen mag, für welche jenes Zinsverbot wer 
nigftens einen Auſchein relativer Beredhtigung hat, fo begegneten doch beide einander 
darin, daß das Römerthum, nady Zerrüttung aller treibenden Kräfte, in bie Na- 
turalwirthſchaft zurädjant, welche die Germaniſchen Stämme erft in den legten 
Iahrhunderten des Mittelalters hinter fid) liegen. Das kandniſche Zinsverbot 
wäre als Ausdrud lediglich religiöfer und ethiſcher Anſchauungen unerklärlih, be- 
greiflih wird es nur durch Berüdfichtigung aud) der wirtbichaftlihen Auffafjungen, 
welche durch bie Kulturzuſtände bes Mittelalter8 hervorgerufen waren. Neben dem 
Orundfag der’ ſelbſtloſen Nächſtenliebe, welche als abfolutes gättliches Gebot auch 
für den Vermögensverfehr aufgefagt wird, neben ber idealen Anfhauung von ber 
Gefährlichteit des Reichthums und der Borzügligfeit einer allgemeinen Güter 
gemeinfchaft, fleht das dem Alterthum entlehnte Ariom von der Unprobuftivität 
des Geldes und das ganz neue wichtige Princip, daß aller Gewinn ohne rechte 
„Arbeit“, daher aus Handel und Gelvverfehr fündhaft fei. Lag es fo in der Ten- 
denz der Kirche, gegenüber dem Handel und Gelbverkehr einfeitig den Aderbau 
und bie Induſtrie zu begünftigen, ohne freilich zu bevenfen, daß auch diefe durch 
den mangelnden Zufluß an Kapitalien und Rohftoffen, wie durch Erſchwerung des 
Abfages gelähmt merden mußten, fo ift erflärlih, daß das kirchliche Verbot gerade 
in dem Zeitpunkt aus bem Kreife der bloßen geiſtlichen Zucht herausſchritt, ver- 
ſchärft und gegen jedes weltliche Gefeg, wie gegen jede abweichende Gewohnheit 
mit unnachfihtliger Strenge durdgeführt wurde, al8 in Italien, ven übrigen 
Romanifhen Staaten und jchließlich auch in Deuiſchland Hantel und Geldveriehr 


Wucher und Wuchergefehe. 223 


aufzublüben begannen. Freilich vermochte nun auch bie Kirche ihr großartig flarres 
Spftem gegen die Naturgefege des Verkehrs nicht durchzuführen. Dur fubtile 
Unterfcheidungen fuchten Theologen und Juriften dem Berbot vie praktiſche Spige 
abzubrehen. Der den gebundenen wirthichaftlihen Zuſtänden entiprechenve, ganz 
naturwüchfig entftandene Rentenkauf ward zur Umgehung des Zinsverbots benust, 
zahllofe Surrogate des zinsbaren Darlehens lediglich zu dieſem Zwecke erfunden 
oder wiederaufgenommen, Ob utilitatem publicam warb geftattet, daß gewiſſe, 
befonders rührige Klaflen von Kapitaliften, insbefondere die italieniſchen Geld— 
bänpler, die auf beweglichen Befig beſchränkten Juden, ja die Geiftlichen felber fich 
von dem DBerbote offen und vollkommen emancipirten. Bei dem relativen Mangel 
an Kapital, bei der herrſchenden Rechtsunficherheit ftand ohnehin der Zinsfuß 
überaus hoch. Wo man fi um das Firdliche Verbot wenig fümmerte, überſchritt 
er wenigftens dieſe natürliche Höhe nicht. Trat aber vie Gefahr der praftifchen 
Durdführung des Verbots nahe, fo wurde felbft viefes Maß weit überftiegen, 
und die zahlreihen rechtlichen Strafen des Zinsgefhäfts, das künſtlich genährte 
Borurtheil und der großgezogene Haß ber Kapitalbebürftigen, welde firy in blu» 
tigen Berfolgungen der Kapitaliften entiuden, erzeugten die nothwendige Gegen- 
wirtung des rüdfichtslofeften Wuchers. 

Als dann endlid mit dem Uebergange aller Europäiſchen Staaten zur Geld⸗ 
und Krebitwirthichaft Tas kanoniſche Zinsverbot weichen mußte, als feit bem 
zweiten Biertel des 16. Jahrhunderts die deutſchen Stadt- und Landrechte, die Geſetze 
Englands und der Niederlande, implicite auch die Reichsgeſetzgebung und bie ge- 
meine Praris das zinsbare Darlehn als ftatthaft anerlannten, da verhinderte 
doch das felbft in den erleuchtetften Köpfen der Reformationgzeit -- eine Ausnahme 
macht vornämlihd Calvin — noch herrfhente Borurtheil den Uebergang zur 
völligen Zinsfreiheit. Es erſchien ſchon al8 eine große, mit Mühe abgerungene 
Konceffion gegen bie Verkehrsbedürfniſſe, daß man vom kanoniſchen Zinsverbot 
zu der Zinstarxe und ven fonftigen Zinsbefhräntungen des Juftinianifchen, 
des gleihfam nur fuspendirt gewefenen gemeinen kaiſerlichen Rechts, zurüdgriff. 
Die Höhe der Zinstage aber wurde in den einzelnen Staaten fehr verſchieden be⸗ 
ſtimmt. In Deutſchland erkannte die Praris des Reichskammergerichts und ber 
meiften Landesgerichte nur ben beim Mentenfauf und demnächſt beim hypothekariſchen 
Darlehn äblihen Zinsfuß von 5 Proc. an, ohne doch in der Erhebung des ſechsten 
Zinsthalers einen ftrafbaren Zinswucher zu erbliden. In Handelsſachen wurden 
6 Proc. Zinfen ziemlih allgemein für ftatthaft erachtet. Dagegen hielt man in 
einzeinen Staaten, 3. B. felbft in Frankreich, formell noh am kanoniſchen Zins« 
verbot feft, wenn gleih die Umgehungsformen vesfelben auch rechtlich anerkannt 
wurben. 

So war man nad einem taufendjährigen Abwege im Weientlihen zum fpät- 
römifhen Recht zurüdgelehrt, verfhärft durch die reichögefeglihe Strafe einer 
jeden Tarüberfchreitung um ven vierten Theil des Kapitals, wozu bie ältere Praxis 
noch eine arbiträre Geld» oder Gefängnißftrafe hinzufügte. Nur fehr allmälig ges 
langte man zu der Einficht, daß auch diefes „Wucherrecht” auf einem großen Irr⸗ 
thum berubte. 

Zunächſt band fi der große Hanvelöverfehr fo wenig an die Zinstare und 
die gefeglichen Beihräntungen des Zinfenlaufs, wie ehemals an das Tanonijche 
Zinsverbot. Durch Benugung ver althergebrachten, in gewiſſen Variationen immer 
nen auftaudhendem Mittel, der Provifionen, Zählgebühren, der Berzinfung des 
Saldo's, der VBormwegabzlige, ver Ausbedingung von Affeluranzprämien u. dgl., durch 


222 Wuder und Wuchergeſehe. 


zit bis anf Juſtinian erhalten. Freilich aber beginnt In ft, wußte 
mit der ftaatlihen und wirthſchaftlichen Zerrättung, m. :h nur 
wirrung des Realkredits eine fihere Kapitalanlage faft ichen 
aus „Humanität“ gegen den Schuldner die heilfem. “ie 


immer mehr abſchwacht, aud ber Rüdgriff auf das W 
Zeit. So fegen Diocletian und Marimian auf den 
Infamie; fo ftellen Kaifer des 5. Jahrhunderts ti 
des vierfachen Erfages gegen den Wucherer wiete. 
veterem duram et gravissimam usurarum mol«- 
wie er emphatifh von fid rühmt und wohl au 
rüdfhreitende Bewegung, indem er bie geſetz 
Händen auf 4 Proc. herabfegt und bavon r 

8 Proc. zu Gunften der Fabrifanten und Ku 

Berbot des Anatocismus aud die Berzint 

ſtellt; indem er endlich gar beftimmt, dafı 

ftändigen Zinfen — wie fon bisher - 
Kapitalfumme nicht überfteigen folle! 

- Geſtattet nun die legte Beftimmi 

Weisheit ihres Urhebers, fo liegt t 

lien Zinstare auf die Hälfte — v 


ver für ganz fihere Anlagen ü ugſte 
Irrthum zu Grunde, von weichen en zu ger 
halten hatte, .ı Darlehen die 
Freilich find biefe Tegislati euteten bier ledig · 
der erſte Schritt auf dem ai. „u und nöthigen Kapie 
verbot des Kanonifdhen ' 
xwiſchen dem übercivilifirten oa der Beſeitigung der Wudher- 
ſteigenden Germanifhen 3 . ta für vollfommen fihere Hypo ⸗ 
nigftens einen Anfchein rei s in einzelnen Theilen Deutſchlands, 
darin, daß das Römerth zinen pflegte. War Inteffen bie Hypothek 
turalwirthſchaft zurüdia: “te fiber allen Zweifel ſichergeſtellt, wurde 
Jahrhunderten des TV. :3, durch niedrige Getreivepreife die Krebitiwürbig- 
wäre als Ausbrud Ic ‚tert, trat auch nur vorübergehend eine Strömung 
greiflich wird es nur ſo zahlreichen, einen höheren Gewinn in Auefichi 


uswärtigen Unternehmungen ein, fo erwies fi auch 
eine konventionelle Lüge, und die üblichen Bor- 
Proviſionen“ an die Mittelsperfonen, welche die Eef- 
ter dem Nominalbetrage beforgten, und überaus zahl- 
ın ben jebesmaligen wirklichen Zinsfuß nicht allein 
ꝛe Schuldners entfprechende, fondern um bed gejeh- 
n basfelbe weit überſteigendes Maß. 

! unzweifelhaften Thatfahen gehalten, um die praf- 
re zu erfennen, ftatt, fei es an altüberfommene Bor- 
veifelhaften Erjheinungen ber wirklichen Ausbentung 
Geſetz völlig zu befeitigen vermag, fei es endlich an 
dag faatlihe Bevormuntung gegen den Mangel 
Gefetze gegen die zwingende Gematt der wirthſchaft · 
ı Schu gewähren, jo würde ſchwerlich die geſetzliche 
opälfhen Staate mehr beftehen. Allein nur ſehr lang · 
den Borurthellen und dem Beharrungsvermögen des 








Wucher und Wuchergefebe. 225 


Rechts gegenüber durchzudringen vermochten. Einige, vielleicht verfrühete, 
ih verfehlte Experimente haben durih ihr ſcheinbares Mißlingen nur 
ver herrſchenden Vorurtheile beigetragen. So in Defterreih das 
t vom 29. Januar 1787, welches die Strafgefege gegen den 
er bie privatredgtlihe Wirkfamkeit der Zinstare von 4 bez. 
und den Gläubigern für das bie Zinstare überfteigende 
are Forderung geftattete. Aehnlich waren die Hergänge 
vährend der Jahre 1804— 1807. 
olfftändigen Befeltigung ift Großbritannien vor« 
1833 allmälig eine Reihe immer weiter gehenver 
em legten diefer Gefege, vom 10. Aug. 1854 
»öllige Zinsfreiheit; nur die den Pfandleihern 
ven Gefege find in Kraft geblieben. Gleich 
ich der Niederlande (Gef. v. 29. Des 
' 1865), Spanien (Gef. v. 14. Mai 
ı857), Graubünden (1862), Schafj- 
1867). 
. das fardinifhe Gefeg vom 5. Juli 1857 
om 25. Juni 1865 Art. 1831 ff.), nad) welchem 
jevod in Civilſachen bei Strafe der Nichtigkeit die 
ſein müffen und dem Schuldner ſchlechthin geflattet iſt, 
en nad der Bertragsfchliegung das zu höheren ala 5 
;jgenommene Kapital nad vorgängiger halbjährlider Kün- 
.l. 
‚erungen ohne Grundficherheit ift die Zinstare befeitigt In den 
Öallen und Zürich (1865); nur für kurze Forderungen (auf 
als 6 Monate) und ohne Grundfierheit: in Norwegen (1842 und 
. Schweden (1864, Unter den außerveutfhen europäiſchen Staaten 
x Zeit vornehmlich noch Frankreich an dem ftrengen Wuchergefeg vom 
<eptember 1807, fogar noch gefchärft durch das Gefeg vom 19. Dec. 1850 
it, ungeachtet notoriſch felbft für Hypothefarbarlehen der übliche Zingfuß weit: 
aus das gefeglihe Maß überfchreitet (1845 in 57 Departements 6 bis 22 Proc.), 
und ber ſchreiende Widerſpruch des Geſetzes mit dem Leben eine überaus lebhafte 
Agitation zu deſſen Abſchaffung hervorgerufen hat. Ueber bie Ergebniffe einer 
Ende 1864 eingefegten kaiſerlichen Unterfuhungstommiffion hat bisher nichts Si- 
cheres verlautet. ” 

Deutfhland geht einer völligen Breigebung des Zinsfußes, wenn aud 
nicht ohne manche Uebergangsſtadien, entgegen. Zur Zeit beftehen noch, abgefehen 
von der gemeinfchaftlihen Freigebung der Zinfen von faufmännifhen Schulden 
durch das deutfche Handelsgeſetzbuch, ſowohl in privatrechtliher wie ftrafrechtlicher 
Beziehung ſehr verſchiedene Syſteme. 

In privatrechtlicher Beziehung hat zuerſt das badiſche Landrecht von 
1809 ($. 1907. 1909 a—e) eine beſchränkte Zinsfreiheit geſtattet. Es vürfen 
ſchlechthin 6 Proc. Zinfen bebungen werben. Die Ausbebingung von höheren 
Zinfen ift gültig, falls fie ſchriftlich erfolgt; doch genießen bie mehrbedungenen 
Zinfen weder Pfandrecht noch Unterpfandsredht noch Vorzugsrecht, und richterliche 
Häife für ein ſolches pfanbrechtlich gefichertes Anlehen findet nur mittelft Min- 
derung der ganzen gezahlten und rüdfländigen Schuld auf den gefeglihen Fuß 
Ratt; aud müſſen in der Gant der Ruckſtand und das laufende anf den ge« 

Bluntf@li un Brater, Deutfdes Staatt⸗Wörterduch. X]. 15 


224 I Wucher und Wuchergeſehe. 


Benutzung des negociabeln Wechſels und Inhaberpapiers ir 


er jeber obrigfeitlihen Kontrole zu fpotten. Was im 
lotal an einzelnen Hanvelsplägen hervorgetreten war, ti 
Geldmarktes, vollzog ih nun im größten Maßftahe 
und beren periodiſche Schwankungen geftalteten fi 
pälfhen Staaten inımer gleihmäßiger. In volle: 
gelpbebürftigen Staaten ſelber, die Gemeinden 

ihre Anleihen weitaus höher verzinfen, als da 
begreifli, daß im Meineren Verkehr nicht ge“ 
Berhältniffen entſprechende Zinsmaß auszu 
Handelsverkehr, wenigſtens den faufmänni 

gefeglih aufgehoben oder doch erhebli 

ML RI. 8. 8.692), in Defterr:‘ 

9. 2.), allgemein durch bad deutfd 

alle Darlchen, die ein Kaufmann e 

ans feinen Handelsgeſchäften, ta: 

gefhäfte, von der gejeglichen Zi: 

neren Oewerbetreibenven (Han: 

„wucerifhe Ausbentung" fd 

von Staatswegen nnterhal 

unbenittelten volkoklaſſen 

Rapital zu fehr hohen, * 

währen! Wie war es t 


4 


nleiher ſolche 
yon nur alle 
ıngen: In 
gefegliche 
Wedjels 
gemein: 
1358); 
"furde 

sten 

3. 

ı 


u, Des 
„ungen, ſowle 


„rt gefegt, gleichzeitig 


ins: inaeh. petents, für firafbar wegen 
Er uare tie einge ' lin, bie Unerfahrenheit ober bie 
nn empfindlichen Nachtheile mißbraucht, 

ı aus immer für einer Form, einen Bortheil zu ber 
Orte üblihen Zinfenmaße und zu ben mit feiner 
uslagen, Berluften oder fonftigen Opfern in auffal- 
. In Preußen find vreimal, während ber Jahre 
1857 auf 3 Monate die Wuchergefege fuspendirt 
von ber Regierung vorgelegter Gejegesentwurf zur 
an Herrenhaufe mit großer Majorität (93 gegen 8 St, 
jnigliche Verordnung d. 12. Mai 1866, melde von 
‚im Herrenhaufe freilich nur mit ſchwacher Majori- 
idlungen, genehmigt und «vurd Königliche Verordnung 
+ nemerworbenen Landestheile eingeführt worden ift, 
ne Grundficherheit mit der Beſchränkung freigegeben, 
fofern der Zinsfag 6 Proc. Überfteigt, jederzeit kün - 
dreimonatlien Frift zurüdzahlen darf; aud, find 
erblichen Pfandleiy-Anftalten in Kraft geblieben. Ein 
ng eingebrachter Gefegentwurf, die Örunbfäge ber 
366 aud auf hypothekariſche Darlehen auszudehnen, 
(17., 18. Januar und 8. Mai 1867) angenommen, 
erledigt. Ein entſprechender Gefegentwurf ift von der 
Regierung eingebracht und von der Kammer der Ab» 
) genehmigt worden. Die befinitive Erledigung für 
veutfhen Bundes fleht von dem Reichstag bes 


arten, 





Wucher und Wuchergeſche. 227 


So und ſoweit noch eine geſetzliche Zinstaxe beſteht, find auch bie Straf- 
zegen den Wucher nicht befeitigt. Nur Bayern hat einftweilen zwar bie 
‚hen Zinsbefhräntungen beibehalten, dagegen alle Strafvorfäriften „als 
‘xt und erfolglos" feit dem Jahre 1861 befeitigt. Im Uebrigen wird 
einfache, bald nur der einfache aber gewerbemäßige (gewohnbheitliche) 
kleidete Wucher geftraft, 3. B. in Preußen; bald der einfache oder 
"2 (3. B. in Baden) Wucher nur dann, wenn zugleich vie be- 
“er befannte Leichtfinn des Darlehennehmers benügt iſt. So- 
insbeſchränkungen gefallen find, haben auch vie Strafgefege 
Seltung verloren, nur daß felbftverftänvlich die beträgeriiche 
-ürftigen durch Täuſchung über Betrag und Modalitäten 
ftrafbar bleibt. Eine eigenthämliche und fehr bedenkliche 
tie oben angeführte Strafbeftimmung des öfterreichifchen 

1866. 


n Beſchränkungen des Zinfenlaufs anlangt, fo 

Beſchränkungen: die Siftirung des Zinſenlaufs, 

»n Betrag des Kapital® erreichen, ohne erhebliche 

ıeiften neueren Gefeßgebungen, z. B. A. L. R. J. 

Geſetzb. 8. 682, D. H. Geſetzb. Urt. 293, beſei⸗ 

gere Verbot des Anatocismus bisher nur in wenigen 

„Wübeck, Frankfurt, Defterreih), dagegen mobificitt durch 

Pandelsgebrauch. Auch erfcheint eine völlige Beſeitigung nicht 

. gefübe bei Vefeitigung ver gefeglichen Zinstare jede Verdunkelung 

.göhe und ein unkontrolirbares Aufichwellen derſelben verhätet werben muß. 

zie gefeglihe Zinstare felber findet kaum noch irgendwo einen Vertheibiger. 

zen zahlveihen inneren und aus der Erfahrung entnommenen Gründen, weldye 
deren völlige Berwerflichleit, mindeftend in der Öegenwart, für jeden Unbefangenen 
unumſtößlich darthun, vermag kein irgend nennenswerther Einwand entgegengeftellt 
zu werben. Es ift mehr als hinreichend nachgewieſen, daß die geſetzliche Zinstare 
dem Verkehr eine ſchlechterdings unmögliche Feſſel auferlegt, pa je nach Umſtänden 
nicht allein der Kapitalbedürftige ein ſehr verſchiedenes Zinsmaß zu gewähren im 
Stande iſt, fondern auch der Kapitalift ein fehr verfchienenes Zinsmaß nothwendig 
verlangen muß, je nah dem konkreten Verhältniß der drei Elemente zu einander, 
aus denen fi) möglihermweife die Kapitalzinfen zufammenjegen: Nutzungs⸗ (Mieth-) 
Preis, Affeturanzprämie, Entgelt für Kapitalverwaltung, Die Beleitigung ver 
Zinstare Itegt Überwiegend nicht im Interefje der Kapitaliften, ſondern der Ka⸗ 
pitalbebürftigen, die größte Gefahr für die Volkswirthſchaft wie für den Einzelnen 
nit in ihrer Umgehung, fondern in ihrer ftriften Durchführung. durch Strafe 
und civilrechtliche Nachtheile. Das Nehmen hoher Zinfen ift an fi nichts Unfitt- 
lies, während gerade die moraliihen Wirkungen der Zinstare höchſt bedenklich 
fiud und diefelbe, wenn aud nicht, wie häufig gejagt worben iſt, den eigentlich 
verderblihen Wucher ſchafft, doch in hohem Grade begünftigt. Aber auch vie 
wirthſchaftspolitiſchen Bedenken, welde gegen die völlige Freigebung des Zins⸗ 
fußes aufgeftellt find (3. B. noch von Rizy und Reicheniperger), ericheinen ganz 
und gar unzutreffend. Mit VBefeitigung der Zinstare, meint man, müſſe noth- 
wendig der Zinsfuß fteigen, theils durch die Konkurrenz der jet kreditloſen Kre⸗ 
ditbebüirftigen (melde man insgemein, mit A. Smith, als Projeltenmadher und 
Berſchwender zu bezeichnen beliebt), theils weil damit jeve Schranke gegen rüd- 
fichtoloſe Habgier fallen würde; und zwar liege tiefe Gefahr insbefondere für den 


15* 





226 Wucher und Wuchergeſehe. 





ſetzlichen Zinsfuß herabgeſetzt werben; insbeſondere aber darf ber 
zu höheren Zinfen bedungene Schuld alle Monate, der Darleiher 
halbe Jahre Tünbigen und zahlen. Weiter find neuere Gefe 
Württemberg ift bereits durd das Poligeiftrafgefegbuh (1° 
Zinstare für alle Wechſelfähigen, dann, mit Einführung ber 
fähigfeit (1849), für alle Bertragsfähigen allgemein befeitigt 
Sadfen-Weimar-Eifenah (1858, befinitio 1859); 
Frankfurt a. M. (1864); Bremen (1858, mit Belchr 
und Prioritäts-Berfahren); Sahfen-Roburg (1860, 
für Privatleipinftitute): Kübel (1862, mit ähnlihen I 
reih Sachſen (Gefeg v. 25. Oltober 1864) mit t° 
daß der Schuldner bei Verzinfung von mehr als 6 
halben Jahres ven Vertrag halbjährlich fündigen dürfe 
führungsgefeges zum deutſchen Handelsgeſetzbuch 180 
den Lombard und bie konceſſionirten Pfandleiher und 
kung, daß für die ven Zinsfuß von 6 Proc. über" 
teine bypothelarifchen Rechte an dem Grundftäd, 
venuen besfelben und im Konkurſe nur bie Recht: 
Am wichtigften find die Vorgänge in Preu 
relchiſche Geſetz v. 14. December 1866, we 
der ungarifhen Länder gilt, Hat alle „geſetz 
Maßes der bei Gelvbarlehen bedungenen Zi 
das Verbot, Zinfen von Zinfen zu nehmen’ 
jedoch, in gerader Umkehrung des Joſer 
Wucher“ erklärt, „wer bie Nothlage, d 
Berftandesfhwäde des Anleihers zu de 
um für ſich oder andere, unter was in 
dingen, welcher zu bem am Orte üb 
Leiltung etwa verbundenen Auslagen, 
lendem Mißverhättniffe fteht”. Im“ J 
1809, 1810 und im Jahre 1857 El 


worden; ein im Jahr 1860 von ee 
völligen Befeitigung wurbe vom H iberal® des 


abgelehnt. Endlich hat eine köni 


beiden Häufern des Laundtags, die gefeglidhe 


und der fonfreten 

.xtet, werben gegen« 

:a und Anlagen zufließen, 

© gefährdete werben. Daher 

a Derrenbaufe, verlangt wird, 

a ländliden Krebitanftalten und 

ur bie Bejeitigung ber Binstare 

a der Art nur fehr allmälih und we- 

.y der Vetheiligten burdgeführt werden 

beſtehenden Verhältniffen die Zinstore tem 
fondern verſchlimmeri nur deffen Lage in 


em Gutachten (Verhandlungen des ſechdten deut: 


würtemberg. 220 


gung ber mittelalterlichen und römiſchen Zinsbeſchränkungen 
Nothwendigkeit eines Naturgeſetzes. Auch das hin und wieder, 
rewirthſchaftelehrern (z. 2. Rau) empfohlene und in ein- 
Tten, Köntgreih Sachen, jest auch Preußen) überge- 
»srecht des Schuldners bei übermäßigem (?) Zinsfage 
zweifelhafter Zwedmäßigfeit, va in der Regel das 

dners in einem höheren Zinsfage, mit welchem 

:zeltigen Rüdzahlung bezahlen läßt, fein Ae- 

?, fondern zur Gefährdung des Schuld» 

“en und privllegirten Pfandleihanſtalten 

“hümlichfeiten des Heinften und ver- 

4, wenigftens einftweilen, nicht 


‘: de foenore trapezitico 

ſämmtl. Lugd. Batav.) 

Paris 1789). J. Bent- 

+). Günther, Berfud einer 

ucpergefege (Hamburg 1790). 

ge (Mainz 1856). Berndt, Die 

. Th. Rizh, Ueber Zinstaren und 

‚Iperger, Gegen die Aufhebung der 

an, Die national-ölonomifhen Grund- 

M. Neumann, Gefhichte des Wuchers 

ı heutigen Zinsgefege (Halle 1865). Lair, 

Wolowski (Journal des Econom. fevr. 

Gutachten über die Aufhebung der Wucher- 

» fechöten dentſchen Iuriftentages Bd. IL Ber- 

Bedeutung der Wucherlehre (Berlin 1866). Mun- 

u des fchweiz. Iuriftenvereins: Zeitjchrift für ſchwei ⸗ 

1 fi.). Glaſer (Defterr. Gerichtezeitung 1867 Nr. 1 

Bolkswirthſchaftspolitik 8. 319 ff. Rofher, Syſtem 
3.179 fi. Gordiemint. 


Würtemberg. 


apbif-fatiftifhe Ueberfiht. Das Königreih Würtemberg 

‚zen, Baben und dem Bodenſee begrenzt. Sein lädeninhalt beträgt 

ıtratmellen und feine Bevölkerung nad der Zählung vom 3. Dec. 1864 

> Einwohner, wonach auf die Quadratmeile 4955 imwohner kommen. 

selenzahl ſcheidet ſich nach der Konfeffion in 1,200,363 Evangelifch-Intherifche, 

+34 Katholiken, 2661 Mitglieder anderer chriftlicher Konfeffionen, und 

610 Sfraeliten. Die überwiegende Mehrheit, etwa 7/, ver Bevölkerung, gehört 

vom ſchwäbiſchen Stamme an, 1/g dem oſtfränkiſchen. Dazu kommen noch Heine 

Theile fremder Stämme, wie bie Nachlommen der am Ende des 17. und Anfang 

des 18. Jahrhunderts eingewanderten Hugenotten und Walvenfer mit etwa 
3000 Seelen und bie obengenannten im Lande zerftreut wohnenden Iſraeliten. 

Die Zahl der Stäbte beträgt Im Ganzen 136, darunter zwei mit über 

20,000 Einwohnern, die Reſidenzſtadt Stuttgart mit 63,816 und Ulm mit 

23, ‚077. Die dichtefte Bevbllerung hat bas untere Nedarthal” mit feinen Seiten 





230 MWürtemberg. 


thälern, etwa 10,000 Einwohner auf bie Duabratmeile, bie dünnſte das ober 
ſchwäbiſche Plateau mit 3290 auf die Quadratmeile. 
Das Bollsvermögen wird auf folgende Zahlen berechnet: 


Grund und Boden 1215 Mil. Gulden, 
Gebäude 640 „ " 
Eiferbahnen 55 „ " 
Beweglihde Güter 70 „ " 
Forderungen an das Ausland 100 „ " 


⏑ —— —— — — — 
2710 Mill. Gulden = 1550 Mill. Thlr. 
Das Bolkseintommen: 


aus Landwirthſchaft 1261/, Mill. Gulden, 
„Waldungen 10 " " 

„ Bergbau 3a u " 

» ©ewerbe und Hanbel 131 n n 

» Renten vom Auslande 5 n n 


276 Mill. Gulden = 158 Mill. Thaler, 
wobei auf den Kopf der Bevölkerung 160 Gulden jährliches Einkommen, auf bie 
Familie 756 Gulden fällt. 

Was die natürliche Beichaffenheit des Bodens betrifft, fo befteht Würtem- 
berg vorzugsmeife aus Hügelland, in welchem zwei höhere Bebirgspartieen fih er- 
beben, der Schwarzwal und die ſchwäbiſche Alb. Bon jenem gehört etwa bie 
Häifte Würtemberg an, die andere dem benachbarten Großherzogthum Baden. 
Der Kern des Schwarzwalbes ift Urgeftein, Granit und Gneis, woran fi auf 
den Seiten Hochflächen von buntem Sandftein anfchließen. Beide zufammen bilden 
das harakteriftiihe Schwarzwalbgeftein, in deſſen Sandboden der Waflerreihthum 
fi) birgt und aus welhem auch ber dunkle Nadelwald erwächſt. Die höchften 
Höhen find 3000 bis 3550 Parifer Fuß, welche lettere Zahl der Katzenkopf er⸗ 
reiht. Das zweite Hauptgebirge Würtembergs, die ſchwäbiſche Alb, veren weſent⸗ 
liher Beftandtheil der Jurakalk ift, lehnt fi mit ihrem weftlihen Anfang an ben 
Schwarzwald, trennt fi) "bald von tiefem, läuft dann in norböftliher Richtung 
weiter und endet im Ries an ber Grenze Baierns. Ihre Oberfläche ift eine weite, 
ſüdwärts zur Donau langfam ſich abdachende Hochebene. ‘Der nörblide Rand 
fallt theilweife ziemlich fteil ab und bildet die Gebirgspartieen, bie unter dem 
Namen ſchwäbiſche Alb im engeren Sinne befannt find und bie Spiten Ted, 
Neuffen, Lichtenftein, Roßberg und Hohenzollern, Höhen von 2516 bis 2687 P. :$, 
tragen. Einem öftlihen Ausläufer der Alb, dem fogenannten Aalbuch gehören bie 
Spiten Hohenftaufen mit 2100 und Hobenredhberg mit 2250 P.⸗F. an. Zwiſchen 
Ab und Schwarzwald erhebt fih das ſchwäbiſche Teraſſenland, veflen höchſte An- 
fteigung, die von Donaueſchingen bis Rottweil ausgedehnte Hochfläche, vie Baar, 
2200 bis 2400 B.-%. erreicht. Deftlih davon breitet fi die oberſchwäbiſche Hoch⸗ 
ebene aus, die fih von Welten nach Often 7—8 Meilen auf würtembergiſchem 
Gebiet, von Norden nah Süden 9 Meilen auödehnt. 

Der Hauptfluß Würtembergs ift der Nedar, ver bei Schwenningen in ber 
Baar 2146 P.-%. body entfpringt und nah einen Lauf von 371/, Meilen bei 
Mannheim in den Rhein mündet. Sein Stromgebiet, nahe an 200 Quadrat⸗ 
meilen, bildet den frucdhtbarften und bevölkertſten Theil des Landes. Bon Heil- 
bronn an fanu er mit Dampffchiffen befahren werden. Die Donau läuft 20 Meilen 
auf mwürtembergifchem Gebiet. Bon dem VBobenfeeufer gehören etwa 11/, Meilen 














Da u 


| Wüstemberg. 981 


dem wärtembergifchen Gebiet an; ver Hauptort ift Friedrichohafen, das durch die Eifen- 
bahn mit dem Hinterlande verbunden, einer der wichtigften Verkehrsplätze am See If. 

Das Klima in Würtemberg ift im Ganzen milde und gefund, im Norben 
wärmer als im Süden; vie milveften Gegenden find das Nedartbal und veffen 
Seitenthäler und tas Ufer bes Bodenſees. Einige Nedarftänte wie Heilbronn, 
Weinsberg und andere haben eine mittlere Jahrestemperatur von 89 R., eine 
große Anzahl Ortfchaften 7,5_-3, dagegen höhere Schwarzwalb- und Alb⸗Orte 
5 bis 41/,0 R. Der Anbau des Bodens tft in Würtemberg ertenfio auf einer 
ziemlich hohen Stufe. Bon den 6,188,252 Morgen, welche die Grundfläche des 
Landes im Ganzen beträgt, find über vier Millionen landwirthſchaftlich benütt, 
wovon auf eigentliche Aecker 2,746,034, auf Weinberge 78,906 Morgen kommen. 
Das vorherrſchende Getreide iſt Dinkel (Spelt), übrigens wird in neuerer Zeit, 
da die Getreivepreife in Folge der ungarifhen und amerifanifchen Einfuhr berab- 
gevrüdt find und in keinem günftigen Verhältniß zu ben Produltionskoſten ftehen, 
anf größeren Gütern der Getreidebau beſchränkt, dagegen ven Handelspflanzen und 
der Viehzucht mehr Boden eingeräumt. Der Weinbau ift ſchon feit Altern Zeiten, 
wahrſcheinlich ſeit dem 8. und 9. Jahrhundert in Würtemberg einheimifh, hat 
aber in den legten Jahrzehnten an Ausdehnung abgenommen, iſt dagegen intenfiv 
vervolllommnet. Der Gefammtertrag der Weinberge wird im Durchſchnitt auf 
140,000 wöärtemb. Eimer angegeben, kann aber in einzelnen Iahrgängen auf 
330,000 Eimer!) fteigen und einen Gelvertrag von 7 bis 9 MIN. abwerfen. 
Die Dualität ift ſehr verfchieden, der größere Theil zählt zu den geringeren 
Gattungen, aber einzelne Tagen gewähren ein Erzeugniß, das wenigftens binficht- 
lid) des Alloholgehalts mit den beften Weinbaugegenvnen Deutfchlands in Kon» 
furrenz treten kanu; bie beften Weine Tiefern das untere Nedarthal, das Weins- 
bergerthal, das Tanberthal und das Remsthal. Der Obfibau wird beinahe in 
allen Gegenven des Landes betrieben und liefert theilweife und in einzelnen Jahren 
einen ſehr reichlihen Ertrag; gedörrtes Obſt, Kirfhen und das daraus gebrannte 
Kirſchwaſſer find ein ziemlich ergiebiger Ausfuhrartifel. An Waldungen if Wür- 
temberg verhältnigmäßig rei, der Schwarzwald namentlich erträgt viel Nadelholz, 
die Wälder der Alb gutes Laubholz; man berechnet das Waldareal auf 2,300,000 
Morgen. Die Viehzucht Liefert ſowohl für die Konfumtion im Lande, als auch für 
die Ausfuhr reichliches Material; doch zeigt fi die Probuftion für das gegen- 
wärtige geftelgerte Bedürfniß nicht genügend, und es wirb daher auf Bermehrung 
der Viehzucht Bedacht genommen. Die Pferdezucht iſt durch die beſondere Sorg⸗ 
falt, welche der verftorbene König Wilhelm derſelben widmete, eine würtembergifche 
Specialität geworben, und ed werben in ven königlichen Geſtüten edle Pferde 
erfter Dualität erzeugt, die um hohe Preife verkauft, die Zierde auswärtiger 
Ställe und Geftüte find. Auch von bäuerlichen Pferdezüchtern werben nicht felten 
ſchöne Luruspferde erzogen, doch entipricht die Mehrzahl der würtembergifchen 
Lanppferbe im Aeußeren wentgftens keineswegs dem Vorbilde ver königlichen Geſtüte. 

Früher galt Würtemberg als ausſchließliches Aderbauland, feit Gründung 
des Zollvereins hat aber auch hier das Gewerbsweſen einen bebeutenden Auf: 
ſchwmg genommen. In Baummwollen- und Wollenfpinnerei und Weberei, Metall» 
waaren, Zuderfabrifation herrſcht eine große induftrielle Thätigkeit; Eßlingen, Hei⸗ 
denheim, Reutlingen, Metingen, Göppingen, Gmünd, Stuttgart find die Haupt- 
orte für Fabrikweſen. Dan zählte 1861 fhon 74 Wollfpinnereten mit 65,372 


2) 1 würtembergiſcher Eimer — 121/, Kubikfuß oder 2,93937 Hectoliter. 





222 Wucer und Wuchergefebe. 


z.it bis anf Juſtinian erhalten. Freilich aber beginnt in der fpäteren Kaiferzeit, 
mit der flaatlihen und wirthſchaftlichen Zerrüttung, wo in der unfäglihen Ber- 
wirrung des Reallredits eine fichere Kapitalanlage faft"unmöglih wird, wo man 
aus „Humanität“ gegen den Schulpner vie heilfame Strenge ber SKrebitgefege 
immer mehr abſchwächt, auch der Rüdgriff auf das Wucherrecht der republifanifchen 
Zeit. So fegen Diocletion und Marimian auf den Anatocismus die Strafe ber 
Infamie; fo ftelen Kaifer des 5. Jahrhunderts die altrepublifanifche Diebesftrafe 
des vierfachen Erfages gegen den Wucherer wieder ber; fo krönt endlich Iuftinian 
veterem duram et gravissimam usurarum molem ad mediocritatem deducentes, 
wie er emphatifch von fih rühmt und wohl aud von feinem Geſetz erwartet, bie 
rüdjchreitende Bewegung, indem er die gefeglihe Zinsture auf 6, ja unter Um⸗ 
ftänden auf A Proc. herabfegt und davon nur gewifle Ausnahmen, namentlich 
8 Proc. zu Ounften der Fabrifanten und Kaufleute, geftattet; indem er unter das 
Berbot des Anatocismus auch “die Berzinfung von fapitalifirten Zinsrückſtänden 
fiellt; indem er endlich gar beftimmt, daß der Gefanımtbetrag nicht allein ver rück⸗ 
fländigen Zinfen — wie fon bisher — fondern felbft der gezahlten Zinfen die 
Kapitalfumme nicht überfteigen folle ! 

-  Oeftattet nun die legte Beftimmung eine Mare Einficht in die gefeggeberifche 
Weisheit ihres Urhebers, fo liegt doc nicht minder ver Herabfegung der gefeg- 
lihen Zinstare auf die Hälfte — vermuthlid waren 6 Proc. zu Juſtinians Zeit 
ver für ganz fihere Anlagen übliche Zinsfuß — ein höchſt verhängnißvoller 
Irrthum zu Grunde, von welchem bis dahin die Römifche Kaiferzeit fich frei ge 
‚halten hatte. 

Freilich find dieſe legislativen Erperimente der fpätrömifhen Katferzeit nur 
ber erfte Schritt auf dem abjhüffigen Wege, deſſen Ziel das abfolute Zins— 
verbot des Kanonifhen Rechts bezeichnet. Wie groß aud ber Unterſchled 
zwifchen dem übercivilifirten Römerthum und den mühſam zu höherer Kultur auf» 
fteigenden Germaniſchen Völkern erfcheinen mag, für weldhe jenes Zinsverbot we- 
nigftens einen Anſchein relativer Berechtigung hat, fo begegneten doch beide einander 
darin, daß das Römerthum, nad Zerrüttung aller treibenden Kräfte, in vie Na— 
turalwirtbfchaft zurädfant, welche die Germanifhen Stämme erſt in den legten 
Jahrhunderten des Mittelalters hinter ſich ließen. Das kandniſche Zinsverbet 
wäre als Ausorud lediglich religiöfer und ethiſcher Anfhauungen unerklärlich, be⸗ 
greiflih wirb e8 nur durch Berüdfihtigung auch der wirthſchaftlichen Auffafjungen, 
welche durch die Kulturzuſtände des Mittelalterd hervorgerufen waren. Neben dem 
Orundfag der ſelbſtloſen Nächftenliebe, welche als abfolutes göttliches Gebot auch 
für den Bermögensverkehr aufgefaßt wird, neben ver idealen Anfhauung von ber 
Gefährlichleit des Reichthums und der Vorzüglichkeit einer allgemeinen Güter- 
gemeinichaft, fteht das dem Alterthum entlehnte Ariom von ver Unprobuftivität 
des Geldes und das ganz neue wichtige Princip, daß aller Gewinn ohne redte 
„Arbeit“, daher aus Handel und Geldverkehr fündhaft fei. Lag e8 fo in der Ten- 
benz ber Kirche, gegenüber dem Handel und Geldverkehr einfeitig ven Aderbau 
und bie Induftrie zu begünftigen, ohne freilich zu bevenfen, daß aud biefe durch 
ben mangelnden Zufluß an Kapitalien und Rohftoffen, wie durch Erſchwerung bes 
Abfages gelähmt werden mußten, fo ift erflärlidh, daß das kirchliche Verbot gerade 
in dem Zeitpunft aus dem Kreife der bloßen geiſtlichen Zucht herausſchritt, ver- 
ſchärft und gegen jedes weltliche Gefeg, wie gegen jede abweichende Gewohnheit 
mit unnachſichtlicher Strenge durchgeführt wurde, als in Italien, ven übrigen 
Romaniſchen Staaten und ſchließlich auch in Deutſchland Hantel und Geldverkehr 


Wuder und Wuchergefebe. 223 


aufzublühen begannen. Freilich vermochte nun and bie Kirche ihr großartig flarres 
Syſtem gegen die Naturgefege des Verkehrs nicht durchzuführen. Durch fubtile 
Unterfcheidungen fuchten Theologen und Juriften dem Verbot vie praktiſche Spige 
abzubrehen. Der ven gebundenen wirtbichaftlihen Zuftänden entſprechende, ganz 
naturwüchſig entftandene Rentenfauf warb zur Umgehung des Zinsverbots benugt, 
zahllofe Surrogate des zinsbaren Darlehens lediglich zu dieſem Zwede erfunden 
ober wieveraufgenommen. Ob utilitatem publicam ward geftattet, daß gewiſſe, 
befonders rührige Klaſſen von Kapitaliften, inebefonvere die italienifhen Geld— 
händler, die anf beweglichen Befig beſchränkten Juden, ja vie Geiſtlichen felber fich 
von dem Berbote offen und volllommen emancipirten. Bei dem relativen Mangel 
an Kapital, bei der herrſchenden Nechtsunficherheit ſtand ohnehin ver Zinsfuß 
überaus hoch. Wo man fih um das firdhliche Verbot wenig kümmerte, überfchritt 
ex wenigftens dieſe natürlihe Höhe nit. Trat aber die Gefahr der praftifchen 
Durchführung des Verbots nahe, fo wurde felbft viefes Maß weit überftiegen, 
und die zahlreihen redhtlihen Strafen des Zinsgefhäfts, das Fünftlih gemährte 
Borurtheil und der großgezogene Haß der Kapitalbebürftigen, welche firh in blu- 
tigen BVerfolgungen ver Kapitaliften entiuden, erzeugten die nothwendige Gegen- 
wirkung des rüdfichtslofeften Wuchers. 

Als dann endlich mit dem Uebergange aller Europäiſchen Staaten zur Geld⸗ 
und Krebitwirthichaft das Tanonifhe Zinsverbot weichen mußte, als feit dem 
zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts die deutſchen Stadt⸗ und Landrechte, die Geſetze 
Englands und der Niederlande, implicite auch die Reichsgeſetzgebung und die ge- 
meine Praris das zinsbare Darlehn als ftatthaft anerlannten, da verhinderte 
doch das felbft in den erleuchteiften Köpfen der Reformationgzeit — - eine Ausnahme 
macht vornämlid Calvin — noch herrſchende Borurtheil den Uebergang zur 
völligen Zinsfreiheit. Es erjchien ſchon als eine große, mit Mühe abgerungene 
Konceffion gegen vie Verkehrsbedürfniſſe, daß man vom Tanonifhen Zinsverbot 
zu der Zinstare und ten fonftigen Zinsbefhränfungen des Juftinianifchen, 
des gleihfam nur fuspendirt gewejenen gemeinen laiſerlichen Rechts, zurüdgriff. 
Die Höhe der Zinstare aber wurde in ben einzelnen Staaten fehr verſchieden be» 
fimmt. In Deutſchland erlannte die Praxis des Reichskammergerichts und ber 
meiften Landesgerichte nur den beim Mentenfauf und demnächſt beim hypothekariſchen 
Darlehn äblihen Zinsfuß von 5 Proc. an, ohne doch in der Erhebung des ſechsten 
Zinsthalers einen firafbaren Zinswucher zu erbliden. In Handelsſachen wurden 
6 Proc. Zinfen ziemlih allgemein für ftatthaft erachtet. Dagegen hielt man in 
einzelnen Staaten, 3. B. ſelbſt in Frankreich, formell noh am kanoniſchen Zins⸗ 
verbot feft, wenn gleih die Umgehungsformen besjelben auch rechtlich anerkannt 
mwurben. 

So war man nad) einem taufenvjährigen Abwege im Wefentlihen zum fpät- 
römiſchen Recht zurüdgelehrt, verfhärft durch die reichsgeſetzliche Strafe einer 
jeden Tarüberfchreitung um den vierten Theil des Kapitals, wozu bie ältere Praxis 
noch eine arbiträre Geld⸗ oder Gefängnißftrafe hinzufügte. Nur ſehr allmältg ge 
langte man zu der Einficht, daß auch dieſes „Wucherrecht” auf einem großen Irr⸗ 
thum berubte. 

Zunähft band fi der große Handelöverlehr jo wenig an die Zinstare und 
die gefeglihen Beſchränkungen des Zinfenlaufs, wie ehemals an das kanoniſche 
Zinsverbot. Durch Benugung ter althergebradhten, in gewiffen Variationen immer 
nen auftaucdhendem Mittel, ver Provifionen, Zählgebühren, der VBerzinfung bes 
Saldo's, der Vorwegabzüge, ver Ausberingung von Affeluranzprämien u. bgl., Durch 


222 Wucher und Wuchergeſetze. 


z.it bis auf Juſtinian erhalten. Freilich aber beginnt in der ſpäteren Kaiſerzeit, 
mit ver flaatlihen und wirtbichaftlichen Zerrättung, wo in der unſäglichen Ber- 
wirrung bed Reallredits eine fihere Kapitalanlage faft"unmöglih wird, wo man 
aus „Humanität" gegen den Schulpner vie heilfame Strenge der SKrebitgefeße 
immer mehr abſchwächt, auch der Rüdgriff auf das Wucherrecht der republifanifchen 
Zeit. So fegen Diocletian nnd Marimian auf den Anatocismus die Strafe der 
Infamie; fo flellen Kaifer des 5. Jahrhunderts die altrepublifanifche Diebesſtrafe 
des vierfahen Erfages gegen den Wucherer wieder ber; fo krönt endlich Iuftinian 
veterem duram et gravissimam usurarum molem ad mediocritatem deducentes, 
wie er emphatifch von fi rühmt und wohl aud von feinem Geſetz erwartet, die 
rüdfchreitende Bewegung, indem er die gefegliche Zinstare auf 6, ja unter Um⸗ 
ftänden auf 4 Proc. herabfegt und davon nur gewiffe Ausnahmen, namentlich 
8 Proc. zu Öunften der Fabrifanten und Kaufleute, geftattet; indem er unter das 
Berbot des Anatocismus aud "die Berzinfung von fapitalifirten Zinsrückſtänden 
ftellt; indem er endlich gar beftimmt, daß der Gefanımtbetrag nicht allein der rüd« 
ftändigen Zinfen — wie fon bisher — ſondern felbft der gezahlten Zinfen die 
Kapitalfumme nicht überfteigen folle! 

. Geftattet nun die legte Beftimmung eine Hare Einfiht in bie gefeßgeberifche 
Weisheit ihres Urhebers, fo liegt doch nicht minder ber Herabfegung der gefeß- 
lihen Zinstare auf die Hälfte — vermuthlich waren 6 Proc. zu Yuftinians Zeit 
der für ganz ſichere Anlagen üblihe Zinsfug — ein höchſt verhängnißvoller 
Irrthum zu Grunde, von welchem bis dahin die Römiſche Kaiferzeit ſich frei ge- 
‚halten hatte. 

Freilich find diefe legislativen Experimente der fpätrömifchen Katferzeit nur 
ber erfte Schritt auf dem abjhüffigen Wege, deſſen Ziel das abfolute Zins- 
verbot des Kanonifhen Rechts bezeichnet. Wie groß aud ber Unterſchled 
zwiichen dem übercivilifirten Römerthum und den mühſam zu höherer Kultur auf⸗ 
fteigenden Oermanifhen Völkern erfcheinen mag, für melde jenes Zinsverbot we⸗ 
nigftens einen Anjchein relativer Berechtigung hat, fo begegneten doch beide einander 
darin, daß das Römerthum, nad Zerrüttung aller treibenden Kräfte, in die Na— 
turalwirthſchaft zurüdfant, welche die Germanifgen Stämme erft in den legten 
Jahrhunderten des Mittelalters Hinter fid liefen. Das kandniſche Zinsverbot 
wäre ald Ausprud lediglich religiöfer und ethifcher Anſchauungen unerflärlich, be⸗ 
greiflih wird e8 nur durch VBerädfihtigung aud der wirthichaftlichen Auffaffungen, 
welche durch die Kulturzuftände des Mittelalterd hervorgerufen waren. Neben dem 
Grundſatz der felbftlofen Nächftenliebe, welche als abfolutes göttlihes Gebot auch 
für den Vermögensverkehr aufgefaßt wird, neben der idealen Anſchauung von der 
Gefährlichkeit des Reichthums und der Vorzüglichleit einer allgemeinen Güter- 
gemeinfchaft, fteht das dem Altertfum entlehnte Ariom von der Unprobuftivität 
des Geldes und das ganz neue wichtige Princip, daß aller Gewinn ohne rechte 
„Arbeit“, daher aus Handel und Geldverkehr fünphaft ſei. Tag es fo in der Ten⸗ 
benz der Stirdhe, gegenüber dem Handel und Geldverkehr einfeitig ven Aderbau 
und die Induftrie zu begünftigen, ohne freilich zu bedenken, daß auch dieſe durch 
den mangelnden Zuflug an Kapitalien und Nohftoffen, wie durch Erſchwerung des 
Abſatzes gelähmt werden mußten, fo ift erflärlich, daß das firdliche Verbot gerade 
in dem Zeitpunkt aus dem SKreife der bloßen geiftlihen Zucht herausfchritt, ver- 
ſchärft und gegen jedes weltlihe Gefeg, wie gegen jede abweichende Gewohnheit 
mit unnadfihtliher Strenge durchgeführt wurde, als in Italien, den übrigen 
Romanifhen Staaten und ſchließlich auch in Deutfhland Hantel und Geldverkehr 


Wucher und Wuchergefebe. 223 


aufzublühen begannen. Freilich vermochte nun auch die Kirche ihr großartig ftarres 
Syſtem gegen die Naturgefege des Verkehrs nicht durchzuführen. Durch fubtife 
Unterfcheidungen fuchten Theologen und Juriften dem Verbot vie praktiſche Spitze 
abzubrehen. Der den gebundenen wirthſchaftlichen Zuſtänden entſprechende, ganz 
naturwüchſig entflandene NRentenlauf ward zur Umgehung des Zinsverbots benugt, 
zahllofe Surrogate des zinsbaren Darlehens Tevigli zu diefem Zwede erfunden 
oder wiederaufgenommen. Ob utilitatem publicam ward geftattet, daß gewilfe, 
beſonders rührige Klaſſen von SKapitaliften, insbefonvere vie italienifhen Geld— 
händler, die auf beweglichen Befig beſchränkten Juden, ja die Geiftlihen felber fich 
von dem Berbote offen und volllommen emancipirten. Bet dem relativen Mangel 
an Kapital, bei der Herrfchenden Nechtsunficherheit fland ohnehin ver Zinsfuß 
überaus hoch. Wo man fih um das kirchliche Verbot wenig fümmerte, überfchritt 
ex wenigftens dieſe natürlide Höhe nit. Trat aber die Gefahr der praftifchen 
Durhführung des Verbots nahe, fo wurde felbft viefes Maß weit überftiegen, 
und die zahlreihen rechtlichen Strafen des Zinsgefhäfts, das künſtlich genährte 
Borurtheil und der großgezogene Haß der Kapitalberürftigen, welche ſich in blu⸗ 
tigen Berfolgungen der Kapitaliften entiuden, erzeugten die nothwendige Gegen⸗ 
wirkung des rüdfichtslofeften Wuchers. 

Als dann enblid mit dem Uebergange aller Europäiſchen Staaten zur Geld⸗ 
und Krebitwirtbichaft das kanoniſche Zinsverbot weichen mußte, als feit dem 
zweiten Biertel des 16. Jahrhunterts bie deutſchen Stabt- und Landrechte, die Geſetze 
Englands und der Niederlande, implicite audy die Reichsgeſetzgebung und bie ge- 
meine Prarid das zinsbare Darlehn als ftatthaft anerkannten, da verhinderte 
doch das felbft in den erleucdhtetften Köpfen der Reformationszeit —- eine Ausnahme 
macht vornämlid Calvin — noch herrſchende Vorurtheil den Uebergang zur 
völligen Zinsfreiheit. Es erſchien ſchon als eine große, mit Mühe abgerungene 
Konceffion gegen die Verkehrsbedürfniſſe, daß man vom kanoniſchen Zinsverbot 
zu der Zinstaxe und ten fonftigen Zinsbefhränfungen des Juftinianifchen, 
des gleihfam nur juspendirt gewejenen gemeinen laiſerlichen Rechts, zurüdgriff. 
Die Höhe der Zinstare aber wurde in den einzelnen Staaten fehr verfchieden be⸗ 
fimmt. In Deutſchland erfannte die Praris des Reichskammergerichts und der 
meiften Landesgerichte nur den beim Mentenfauf und demnächſt beim hypothekariſchen 
Darlehn äblihen Zinsfug von 5 Proc. an, ohne doch in der Erhebung des ſechsten 
Zinsthalers einen firafbaren Zinswucher zu erbliden. In Handelsſachen wurden 
6 Proc. Zinfen ziemlih allgemein für ftatthaft erachtet. Dagegen hielt man in 
einzelnen Staaten, z. B. felbft in Frankreich, formell noch am lanoniſchen Zins« 
verbot feſt, wenn gleih die Umgehungsformen desjelben auch rechtlich anerkannt 
mwurben. 

So war man nad) einem taufendjährigen Abwege im Wefentlihen zum fpät- 
römiſchen Recht zurüdgelehrt, verſchärft durch die reichsgeſetzliche Strafe einer 
jeden Zarüberfchreitung um den vierten Theil des Kapitals, wozu bie ältere Praris 
nod eine arbiträre Geld» oder Gefängnißſtrafe Hinzufügte. Nur fehr allmälig ge 
langte man zu der Einfiht, daß auch dieſes „Wucherredht” auf einem großen Irr⸗ 
thum beruhte. 

Zunächſt band fi der große Handelsverkehr fo wenig an die Zindtare und 
die gejeglihen Beſchränkungen des Zinfenlaufs, wie ehemals an das kanoniſche 
Zinsverbot. Durch Benugung ter althergebradhten, in gewifien Variationen immer 
neu auftaudenvdem Mittel, der Provifionen, Zählgebühren, ver Berzinfung des 
Saldo’3, der Borwegabzüge, der Ausbedingung von Affeturanzprämien u. dgl., durch 





222 Wucer und Wuchergefeße, 


z:it bis auf Juſtinian erhalten. Freilich aber beginnt in der fpäteren Kaiferzeit, 
mit der flaatlihen und wirtbichaftlichen Zerrättung, wo in der unfäglichen Ver⸗ 
wirrung bes Realkredits eine fihere Kapitalanlage faft"unmöglid wird, wo man 
aus „Humanität” gegen den Schuloner die heilfame Strenge der Kreditgeſetze 
immer mehr abſchwächt, auch der Rüdgriff auf das Wucherrecht der republifanifchen 
Zeit. So fegen Diocletian und Marimian auf den Anatocismus die Strafe der 
Snfamie; fo ftellen Kaifer des 5. Jahrhunderts die altrepublilanifcdye Diebesftrafe 
des vierfahen Erfages gegen den Wucherer wieder ber; fo krönt endlich Juſtinian 
veterem duram et gravissimam usurarum molem ad mediocritatem deducentes, 
wie er emphatiſch von ſich rühmt und wohl auch von feinem Geſetz erwartet, vie 
rückſchreitende Bewegung, indem er die gefeglihe Zinstare auf 6, ja unter Um- 
ftänden auf 4 Proc. herabfegt und davon nur gewiffe Ausnahmen, namentlich 
8 Proc. zu Gunſten der Fabrilanten und Kaufleute, geftattet; indem er unter das 
Berbot des Anatocismus auch die Berzinfung von fapitalifirten Zinsrädftänden 
ftellt; indem er endlich gar beftimmt, daß der Gefanımtbetrag nicht allein der rüd« 
fländigen Zinfen — wie fon bisher — fondern felbft der gezahlten Zinfen die 
Kapitalfumme nicht überfteigen ſolle! 

. Geftattet nun die legte Beftimmung eine Mare Einfiht in die gefeßgeberifche 
Weisheit ihres Urhebers, fo liegt doch nicht minder der Herabfegung der gefeß- 
lihen Zinstaxe auf die Hälfte — vermuthlich waren 6 Proc. zu Yuftinians Zeit 
der für ganz ſichere Anlagen üblihe Zinsfuß — ein höchſt verhängnigvoller 
Irrthum zu Grunde, von welchem bis dahin die Römiſche Kaiferzeit fi frei ge- 
‚halten hatte. 

Freilich find diefe legislativen Experimente der ſpätrömiſchen Kaiſerzeit nur 
ber erfte Schritt auf dem abjchäffigen Wege, deſſen Ziel das abfolute Zins- 
verbot des Kanonifhen Rechts bezeihnet. Wie groß aud ver Unterſchled 
zwifchen dem übercivilifirten Nömertfum und den mühſam zu höherer Kultur auf⸗ 
ſteigenden Germanifhen Völkern erfcheinen mag, für welche jenes Zinsverbot we⸗ 
nigftens einen Anjchein relativer Berechtigung hat, fo begegneten doch beide einander 
darin, daß das Römerthum, nad Zerrüttung aller treibenden Kräfte, in bie Na= 
turalwirthſchaft zurädfant, weldye die Germaniſchen Stämme erft in den legten 
Jahrhunderten des Mittelalters hinter fih ließen. Das kanoniſche Zinsverbot 
wäre als Ausdruck lediglich religiöſer und ethiſcher Anſchauungen unerklärlich, be 
greiflich wird es nur durch Berückſichtigung auch der wirthſchaftlichen Auffaſſungen, 
welche durch die Kulturzuſtände des Mittelalters hervorgerufen waren. Neben dem 
Grundſatz der ſelbſtloſen Nächſtenliebe, welche als abſolutes göttliches Gebot auch 
für den Vermögensverkehr aufgefaßt wird, neben der idealen Anſchauung von der 
Gefährlichkeit des Reichthums und der Vorzüglichkeit einer allgemeinen Güter⸗ 
gemeinfchaft, fteht das dem Alterthum entlehrte Ariom von der Unprobuftivität 
bes Geldes und das ganz neue wichtige Princip, daß aller Gewinn ohne redte 
„Arbeit“, daher aus Handel und Geldverkehr fünphaft fei. Tag es fo In der Ten- 
benz der Stivche, gegenüber dem Handel und Geldverkehr einfeitig den Aderbau 
und bie Inbuftrie zu begünftigen, ohne freilich zu bevenfen, daß auch diefe durch 
den mangelnden Zufluß an Kapitalien und Robftoffen, wie durch Erſchwerung des 
Abfages gelähmt werden mußten, fo ift erflärlich, daß das kirchliche Berbot gerade 
in dem Zeitpunft aus dem Kreife der bloßen geiftlihen Zucht herausſchritt, ver- 
Ihärft und gegen jedes weltliche Geſetz, wie gegen jede abweichende Gewohnheit 
mit unnachſichtlicher Strenge durchgeführt wurde, als in Italien, ben übrigen 
Romanifhen Staaten und ſchließlich auch in Deutfchland Hantel und Geldverkehr 


Wucher und Wuchergefebe. 223 


aufzublüben begannen. Freilich vermochte nun auch die Kirche ihr großartig flarres 
Syſtem gegen die Naturgefege des Verkehrs nicht durchzuführen. Durch fubtile 
Unterfcheivungen fuchten Theologen und Juriften dem Verbot die praktiſche Spige 
abzubrehen. Der ven gebundenen wirthfchaftlihen Zuftänden entſprechende, ganz 
naturwüchfig entftandene Rentenlauf ward zur Umgehung des Zinsverbots benugt, 
zahlloſe Surrogate des zinsbaren Darlehens lediglich zu diefem Zwede erfunden 
oder wieveraufgenommen. Ob utilitatem publicam warb geftattet, daß gewiſſe, 
befonders rührige Klaſſen von Kapitaliften, insbeſondere die italieniſchen Gelb- 
händler, die anf beweglichen Befig befhränften Juden, ja die Geiſtlichen felber fid 
von dem Berbote offen und vollfommen emancipirten. Bei dem relativen Mangel 
an Kapital, bei der herrſchenden Nechtsunficherheit fand ohnehin ver Zinsfuß 
überaus hoch. Wo man fih um das Firdhliche Verbot wenig kümmerte, überjchritt 
ex wenigſtens dieſe natürlihe Höhe nicht. Trat aber die Gefahr der praftifchen 
Durchführung des Verbots nahe, fo wurde ſelbſt viefes Maß weit überftiegen, 
und die zahlreichen rechtlihen Strafen des Zinsgefhäfts, das künſtlich genährte 
Borurtheil und ber großgezogene Haß der Kapitalbepürftigen, welde ſich in biu- 
tigen Berfolgungen der Kapitaliften entluden, erzeugten bie nothwendige Gegen⸗ 
wirkung des rüdfichtslofeften Wuchers. 

Als dann endlid mit dem Uebergange aller Europäiſchen Staaten zur Gelb- 
und Krebitwirthichaft das kanoniſche Zinsverbot weichen mußte, als feit dem 
zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts vie deutſchen Stabt- und Landrechte, die Gefege 
Englands und der Niederlande, implicite aud) die Reichsgeſetzgebung und die ge- 
meine Praris das zinsbare Darlehn als ftatthaft anerlannten, ba verhinderte 
doch das ſelbſt in den erleuchtetften Köpfen der Neformationszeit — - eine Ausnahme 
macht vornämlid Calvin — noch herrſchende Vorurtheil den Uebergang zur 
völligen Zinsfreiheit. Es erſchien ſchon als eine große, mit Mühe abgerungene 
KRonceffion gegen die Verkehrsbedürfniſſe, daß man vom kanoniſchen Zinsverbot 
zu der Zinstaxe und ten fonftigen Zinsbeſchränkungen des Suftinianifchen, 
des gleihfam nur ſuspendirt geweſenen gemeinen kaiſerlichen Rechts, zurüdgriff. 
Die Höhe der Zinstare aber wurde in den einzelnen Staaten fehr verſchieden be⸗ 
fimmt. In Deutihland erkannte die Praris des Reichskammergerichts und der 
meiften Landesgerichte nur den beim Nentenfauf und demnächſt beim hypothekariſchen 
Darlehn äblihen Zinsfuß von 5 Proc. an, ohne doc in der Erhebung bes ſechsten 
Zinsthalers einen frafbaren Zinswucher zu erbliden. In Handelsſachen wurden 
6 Proc. Zinfen ziemlih allgemein für ftatthaft erachtet. Dagegen hielt man in 
einzelnen Staaten, z. B. felbft in Frankreich, formell noch am lanoniſchen Zins« 
verbot feft, wenn gleih die Umgehungsformen desſelben auch rechtlich anerkannt 
wurden. 

So war man nad einem taufendjährigen Abwege im Weſentlichen zum fpät- 
römifhen Recht zurüdgelehrt, verſchärft durch bie reichsgeſetzliche Strafe einer 
jeven Tarüberfchreitung um den vierten Theil des Kapitals, wozu die ältere Praris 
noch eine arbiträre Geld» oder Gefängnißſtrafe binzufügte. Nur ſehr allmälig ge 
langte man zu der Einfiht, daß auch dieſes „Wucherrecht“ auf einem großen Irr⸗ 
thum berubte. 

Zunächſt band ſich der große Handelsverkehr fo wenig an die Zinstare und 
die gejeglihen Beſchränkungen des Zinfenlaufs, wie ehemals an das kanoniſche 
Zinsverbot. Dur Benugung ver althergebradhten, in gewiſſen Variationen immer 
neu auftauchendem Mittel, der Provifionen, Zählgebühren, ver Berzinjung bes 
Saldo's, der Vorwegabzäge, ver Ausbedingung von Afjeluranzprämien u. dgl., durch 


224 J Wucher und Wuchergefeße. 


Benugung des negociabeln Wechjels und Inhaberpapierd im Disfontogefchäft, wußte 
er jeder obrigkeitlichen Kontrole zu fpottn. Was im Meittelalter wefentlih nur 
lokal an einzelnen Hanvelsplägen hervorgetreten war, vie Bildung eines eigentlichen 
Geldmarktes, vollzog fi) nun im größten Mafftabe. Die Höhe des Kapitalzinfes 
und deren periopifhe Schwankungen geftalteten fid) in den verjchiedenen euro- 
päiſchen Staaten immer gleihmäßiger. In voller Deffentlichleit mußten nun bie 
gelvbebürftigen Staaten jelber, die Gemeinden und Großinduftrieunternehmungen 
ihre Anleihen weitaus höher verzinfen, als das Geſetz geftattete. Es erfhien un- 
begreiflih, daß im kleineren Verkehr nicht geftattet fein follte, das den jevesmaligen 
Berhältniffen entjprehende Zinsmaß auszubedingen. So wurden denn für den 
Handelsverkehr, wenigftens ven Taufmännifchen, die Wuchergefege ſchon früh auch 
gefeglih aufgehoben oder doch erheblih mobificitt: in Preußen fchon 1794 
(A. L. R. II. 8. 8. 692), in Defterreih 1803 (Wucherpatent vom 21/12. 1803 
9. 2.), allgemein durch dad deutfhe Handelsgefegbud Art. 292, weldes 
alle Darlchen, die ein Kaufmann empfängt und alle Schulden eines Kaufmanns 
aus feinen Handelsgeſchäften, damit aber einen fehr großen Theil der Krebit- 
gefhäfte, von der gefeglichen Zinstare befreit, insbefondere auch der meiften klei⸗ 
neren Öewerbetreibenven (Handwerker), welche man ehemals vorzugsweife gegen 
„wucheriſche Ausbeutung” fhügen zu müſſen glaubte. Und doch waren gerade bie 
von Staatswegen unterhaltenen oder Tonceffionirten Leihhäufer privilegirt, den 
unbemittelten Bollsklaffen bei Verſatz ihrer beweglihen Habe das nothbürftigfte 
Kapital zn fehr hohen, die gefeglihe Zinstare weit Überfchreitenden Sägen zu ge= 
währen! Wie war es denkbar, daß hier und gar bei ungeficherten Darlehen bie 
Zinstare hätte eingehalten werden follen! Die Wuchergefege bedeuteten bier ledig⸗ 
th die Alternative: Unterlaffung jeder noch fo zwedmäßigen und nöthigen Kapi- 
talaufnahme — oder rüdfihtslofefte Ausbeutung. 

Günftiger ftand ver Grundbeſitz, mwelder von der VBefeitigung der Wucher⸗ 
gefege für den Handel nicht betroffen wurbe, da für vollkommen fihere Hypo⸗ 
thelen der lanvesüblihe Zinsfuß, wenigftens in einzelnen Theilen Deutfchlands, 
hinter der gefeglihen Zinstare zurüdzubleiben pflegte. War inteflen vie Hypothek 
nicht dur den Werth des Grundſtücks über allen Zweifel fidhergeftellt, wurde 
dur Krieg, durch fchlechte Ernten, durch niedrige Getreivepreife die Krebitwürbig- 
feit des Grundbeſitzers gefhmälert, trat auch nur vorübergehend eine Strömung 
bes Kapitald nach den nun fo zahlreichen, einen höheren Gewinn in Ausficht 
ftellenden inlänvifhen und auswärtigen Unternehmungen ein, fo erwies fih auch 
bier fofort die Zinstare als eine Tonventionelle Tüge, und die üblichen Bor- 
wegabzüge am Kapital, die „Provifionen” an die Mittelsperfonen, welche bie Eef- 
fion der Hypotheken weit unter dem Nominalbetrage beforgten, und überaus zahl⸗ 
reihe ähnliche Mittel brachten den jevesmaligen wirklihen Zinsfuß nit allein 
auf das den VBerhältniffen des Schulpners entſprechende, fondern um bes gefeß- 
lichen Berbots willen, auf ein dasſelbe weit Überfteigennes Maß. 

Hätte man fih an dieſe unzweifelhaften Thatfahen gehalten, um die praf- 
tifhen Wirkungen der Zinstare zu erkennen, ftatt, fei e8 an altüberfommene Bor- 
urtbeile, fei es an die unzweifelhaften Erſcheinungen der wirklichen Ausbentung 
ber Kapitalſucher, welche fein Geſetz völlig zu befeitigen vermag, ſei es endlich an 
den gebankenlofen Glauben, daß flaatlihe VBenormuntung gegen den Mangel 
wirthichaftlicher Energie, und Gefege gegen bie zwingende Öemalt der wirthſchaft⸗ 
lihen Berhältniffe genägenden Schuß gewähren, jo würde ſchwerlich die gefegliche 
Zinstare in irgend einem europätfchen Staate mehr beftehen. Allein nur fehr lang⸗ 
jam Bat die richtige Einfiht den Vorurtheilen und dem Beharrungsvermögen des 





Wucer und Wuchergefebe. 225 


beftehenden Rechts gegenüber durchzudringen vermochten. Einige, vielleicht verfrübete, 
jedenfalls in ſich verfehlte Experimente haben durih ihr ſcheinbares Mißlingen nur 
zur Berftärtung der herrſchenden Borurtheile beigetragen. So in Defterreih das 
Iofephinifche Patent vom 29. Januar 1787, welches die Strafgefeße gegen ven 
Wucher befeitigte, aber die privatrechtlihe Wirkſamkeit der Zinstare von 4 bez. 
5 Proc. aufredterhielt, und den Gläubigern für das bie Zinstare überfteigenve 
Zinsmaß nur eine unllagbare Forderung geftattete. Aehnlich waren die Hergänge 
in Frankreich, insbejondere während der Iahre 1804— 1807. 

Mit der definitiven und vollſtändigen Befeitigung ift Großbritannten vor« 
angegangen, wo feit dem Jahre 1833 allmälig eine Neihe immer weiter gehenver 
Geſetze erlaſſen worden iſt. Nach dem legten diefer Gefege, vom 10. Aug. 1854 
(18. und 19. Vict. e. 90) herrſcht völlige Zinsfreiheit; nur die den Pfandleihern 
ein gewiſſes Zinsmarimum vorfchreibenden Geſetze find in Kraft geblieben. Gleich 
radifal ift die VBefeitigung im Königreich der Niederlande (Oel. v. 29. De- 
cember 1857), Belgien (Gef. v. 5. Mai 1865), Spanien (Gef. v. 14. Mai 
1856), ven Schweizer Kantenen: Genf (1857), Graubünden (1862), Schaff- 
haufen, Baſelſtadt (1864), Bern (1867). 

Im Königreih Italien gilt das farbinifhe Geſetz vom 5. Jull 1857 
(jet italienisches Civilgefegbuh vom 25. Juni 1865 Art. 1831 ff.), nad weldem 
zwar bie Zinstare befeitigt ift, jedoch in Civilſachen bei Strafe der Nichtigkeit vie 
Zinfen ſchriftlich feftgeftellt fein müfjen und dem Schuldner ſchlechthin geftattet ift, 
nah Berlauf von 5 Jahren nad der Bertragsfhließung das zu höheren als 5 
bez. 6 Proc. Zinfen aufgenommene Kapital nach vorgängiger halbjährliher Kün- 
digung zurückzuzahlen. 

ur für Forderungen ohne Grundſicherheit iſt die Zinstare beſeitigt in ben 
Kantonen St. Ballen und Züri (1865); nur für kurze Forderungen (auf 
nit länger als 6 Monate) und ohne Örunpficherheit: in Norwegen (1842 und 
1857) und Schweden (1864). Unter den außerdeutſchen europälfchen Staaten 
bält zur Zeit vornehmlich noch Frankreich an dem firengen Wuchergefeg vom 
3. September 1807, fogar noch gefhärft durch das Gefeg vom 19. Dec. 1850 
feft, ungeachtet notoriſch ſelbſt für Hypothekardarlehen ver übliche Zinsfuß weit: 
aus das gejeglihe Maß überſchreitet (1845 in 57 Departements 6 bis 22 Proc.), 
und ber ſchreiende Widerſpruch des Gefeges mit dem Leben eine überaus lebhafte 
Agitation zu deſſen Abſchaffung hervorgerufen hat. Ueber die Ergebnifle einer 
Ende 1864 eingefegten kaiſerlichen Unterfuhungstommiffion hat bisher nichts Si⸗ 
cheres verlautet. u 

Deutfhland geht einer völligen Freigebung des Zinsfußes, wenn aud 
nicht ohne manche Uebergangsftavien, entgegen. Zur Zeit beftehen noch, abgefehen 
von der gemeinfchaftlihen Freigebung der Zinfen von Tanfmännifhen Schulden 
dur das deutſche Handelsgeſetzbuch, ſowohl in privatrechtlicher wie ſtrafrechtlicher 
Beziehung ſehr verſchiedene Syſteme. 

In privatrechtlicher Beziehung hat zuerſt das badiſche Landrecht von 
1809 ($. 1907. 1909 a—e) eine beſchränkte Zinsfreiheit geſtattet. Es dürfen 
ſchlechthin 6 Proc. Zinfen bebungen werben. Die Ausbebingung von höheren 
Zinfen ift gültig, falls fie fchriftlich erfolgt; doc genießen bie mehrbevungenen 
Zinfen weder Pfandreht noch Unterpfandsreht noch Vorzugerecht, und richterliche 
Hülfe für ein folches pfandrechtlich gefihertes Anlehen findet nur mittelft Min- 
derung der ganzen gezahlten und rückſtändigen Schuld auf ben gefeglihen Fuß 
ſtatt; auch müſſen in der Sant der Rüdftand und das laufende auf ben ge- 

Bluntigii un Brater, Deutſches Staate⸗Mörterduch. X1. 15 





226 Wuher und Wuchergefeße. 


feglihen Zinsfuß Herabgefegt werben; insbejondere aber darf ver Anleiher folde 
zu böberen Zinfen bedungene Schuld alle Monate, ver Darleiher dagegen nur alle 
halbe Jahre kündigen und zahlen. Weiter find nenere Gefege gegangen: In 
Württemberg ift bereitd durch das Pollzeiftrafgefegbuh (1839) die’ gefegliche 
Zinstare für alle Wechfelfähigen, dann, mit Einführung ver allgemeinen Wechjel- 
fähigkeit (1849), für alle Bertragsfähigen allgemein befeitigt worden. Allgemein: 
Sahfen-Weimar-Eifenah (1858, befinitiv 1859); Oldenburg (1858); 
Frankfurt a. M. (1864); Bremen (1858, mit VBeichränfungen für Konkurs» 
und Prioritäts-Berfahren); Sachfen-Koburg (1860, bis auf die Vorfchriften 
für Privatleihinftitute): Lübeck (1862, mit ähnlichen Beſchränkungen); König- 
reih Sachſen (Geſetz v. 25. Oftober 1864) mit der wichtigen Beſchränkung, 
daß der Schulpner bei Verzinfung von mehr ald 6 Proc. nah Ablauf eines 
halben Jahres den Vertrag halbjährlid, fündigen dürfe; Hamburg (8.33 des Ein« 
führungsgefeges zum beutfhen Handelsgeſetzbuch 1865) bis auf die Vorſchriften für 
den Lombard und die fonceffionirten Pfandleiher und die weitere wichtige Beſchrän⸗ 
tung, daß für die den Zinsfuß von 6 Proc. überfteigenden Beträge der Gläubiger 
feine hypothekariſchen Rechte an dem Grundftück, keine Vorzugsrechte an den Re⸗ 
venuen besfelben und Im Konkurſe nur die Rechte eines Buchgläubigers haben foll.) 

Am wichtigften find die Vorgänge in Preußen und Defterreih. Das Defter- 
reichiſche Sefeß v. 14. December 1866, welches im ganzen Reich mit Ausnahme 
der ungarifhen Länder gilt, bat alle „geleglihen Beihränfungen in Betreff ves 
Mafes ver bei Gelddarlehen bebungenen Zinfen und fonftigen Leiftungen, fowie 
das Verbot, Zinfen von Zinfen zu nehmen" außer Wirffamfeit gefett, gleichzeitig 
jevody, in gerader Umkehrung des Jofephinifhen Patents, für ftrafbar wegen 
„Wucher“ erklärt, „wer bie Nothlage, ven Leichtfinn, vie Unerfahrenheit oder bie 
Verſtaudesſchwäche des Anleihers zu deſſen empfindlichen Nachtheile migbraudt, 
um für fi oder andere, unter was immer für einer Form, einen Vortheil zu be- 
bingen, welder zu dem am Orte üblihen Zinfenmaße und zu den mit feiner 
Leiftung etwa verbundenen Auslagen, Berluften oder fonftigen Opfern in auffal« 
lendem Mißverbältniffe fteht". In Preußen find vreimal, während der Jahre 
1809, 1810 und im Jahre 1857 auf 3 Monate die Wuchergefege ſuspendirt 
worden; ein im Jahr 1860 von der Regierung vorgelegter Gefegesentwurf zur 
völligen Befeitigung wurde vom Herrenhaufe mit großer Majorität (93 gegen 8 St, 
abgelehnt. Endlich hat eine Löniglihe Berorbnung v. 12. Mai 1866, welde von 
beiden Häufern des Landtags, im Herrenhaufe freilich nur mit ſchwacher Majori- 
tät und nad längeren Verhandlungen, genehmigt und durch königliche Verordnung 
vom 18. März 1867 in bie meuerworbenen Landestheile eingeführt worden ift, 
den Zinsfuß für Darlehen ohne Grunbficherheit mit der Beſchränkung freigegeben, 
daß der Schuldner diefelben, fofern der Zinsfag 6 Proc. Überfteigt, jederzeit fün« 
digen und nad Ablauf einer breimonatlihen Friſt zurüdzahlen darf; aud, find 
die Borfchriften über die gewerblichen Pfandleih-Anftalten in Kraft geblieben. Ein 
mit Genehmigung der Regierung eingebrachter Gefegentwurf, die Grundſätze ver 
Verordnung vom 12, Mai 1866 aud; auf hypothekariſche Darlehen auszudehnen, 
wurde vom Abgeordnetenhaus (17., 18. Januar und 8. Mai 1867) angenommen, 
blieb aber im Herrenhaufe unerledigt. Ein entſprechender Oefegentwurf ift von ber 
großherzoglih heſſiſchen Regierung eingebradt und von der Kammer der Ab- 
georbneten bereits (Juli 1867) genehmigt worden. Die definitive Erledigung für 
das ganze Gebiet des Norddeutſchen Bundes fleht von dem Neichötag des 
Norddeutſchen Bundes zu erwarten, 








rl | 


Wucer und Wuchergefche. 227 





Bo und foweit noch eine gefeglihe Zinstare befteht, find auch die Straf- 
gefege gegen den Wucher nicht befeitigt. Nur Bayern hat einftweilen zwar bie 
privatrechtlichen Zinsbeichräntungen beibehalten, dagegen alle Strafvorfhriften „als 
ungerecdhtfertigt und erfolglos" jeit dem Jahre 1861 befeltigt. Im Uebrigen wird 
bald ſchon ver einfache, bald nur der einfache aber gewerbemäßige (gewohnbeitliche) 
oder nur der verfleivete Wucher geftraft, 3. B. in Preußen; bald ver einfache oder 
felbft ter verkleitete (3. DB. in Baden) Wucher nur dann, wenn zugleich die be- 
fannte Noth oder ver bekannte Leichtfinn des Darlehennehmers benügt ifl. So⸗ 
weit vie gejeglichen Zinsbeſchränkungen gefallen find, Haben aud die Strafgefege 
gegen „Wucher“ ihre Seltung verloren, nur daß felbftverftänplich vie betrügerifche 
Ausbeutung der Krebitbebärftigen durch Täuſchung über Betrag und Modalitäten 
der Schuld als „Betrug" firafbar bleibt. Eine eigenthümliche und ſehr bedenkliche 
Ausnahme hiervon macht nur bie oben angeführte Strafbeftimmung des öſterreichiſchen 
Geſetzes vom 14. December 1866. 

Das endlich die gefeglichen Beſchränkungen des Zinfenlaufs anlangt, fo 
iſt die eine der gemeinrechtlichen Beſchränkungen: vie Siftirung des Zinfenlaufs, 
fobald vie rädftändigen Zinfen den Betrag des Kapitals erreihen, ohne erhebliche 
praftifde Bedeutung, und in den meiften neueren Gefepgebungen, z. B. A. L. R. J. 
11. 8. 852, Code civil, Sädf. Geſetzb. 8. 682, D. 9. Geſetzb. Art. 293, befel- 
tigt. Hingegen iſt das wichtigere Berbot des Anatocismus bisher nur in wenigen 
Staaten völlig befeitigt (Lübeck, Frankfurt, Defterreih), dagegen modificirt durch 
neuere Geſetze und Danbelögebraud. Auch erfcheint eine völlige Vefeitigung nicht 
zwedmäßig, da gende bei Befeitigung der gefeglihen Zinstare jede Verdunkelung 
der Schuldhöhe und ein unfontrolirbares Aufichwellen verjelben verhütet werden muß. 

Die geſetzliche Zinstare felber findet kaum noch irgendwo einen Vertheidiger. 
Den zahlreihen inneren und aus der Erfahrung entnommenen Gründen, welche 
deren völlige Berwerflichleit, mindeftend in ver Öegenwart, für jeden Unbefangenen 
unumftößlid darthun, vermag kein irgend nennenswertber Einwand entgegengeftellt 
zu werben. Es ift mehr als hinreichend nachgewieſen, daß vie geſetzliche Zinstare 
dem Berkehr eine jchlechtervings unmdgliche Feſſel auferlegt, da je nad Umſtänden 
nicht allein der Kapitalbedürftige ein fehr verfchievenes Zinsmaß zu gewähren im 
Stande ift, fondern aud der Kapttalift ein fehr verſchiedenes Zinsmaß nothwenpig 
verlangen muß, je nach dem konkreten Verhältniß der drei Elemente zu einander, 
ans denen fi) mögliherweife die Kapitalzinjen zufammenfegen: Nugungs- (Mieth⸗) 
Preis, Afeturanzprämie, Entgelt für SKapttalverwaltung. Die Bejeltigung ver 
Zinstare liegt Überwiegend nicht im Interefle der Kapitaliften, ſondern ver Ka- 
pitalbebürftigen, die größte Gefahr für die Bollswirthfchaft wie für den Einzelnen 

Ä nicht in ihrer Umgehung, fonvdern in ihrer ftriften Durchführung durch Strafe 
und civilrechtlihe Nachtheile. Das Nehmen hoher Zinjen ift an fi nichts Unfitt- 
liches, während gerade die moraliihen Wirkungen der Zinstare höchſt bedenklich 
fud und diefelbe, wenn aud nicht, wie häufig gefagt worden ift, den eigentlid 
verberblichen Wucher ſchafft, body in hohem Grade begünftigt. Aber auch die 
wirthſchaftspolitiſchen Bedenken, welche gegen bie völlige Freigebung des Zins- 
fußes aufgeftellt find (3. B. noch von Rizy und Neichenfperger), ericheinen ganz 
und gar unzutreffend. Mit Befeitigung der Zinstare, meint man, müſſe noth- 
wendig der Zinsfuß fleigen, theils durch die Konkurrenz der jegt kreditloſen Kre- 
bitbedfirftigen (melde man insgemein, mit U. Smith, als Projeftenmadher und 
Berſchwender zu bezeichnen beliebt), theils weil damit jede Schranke gegen rüd- 
fihtelofe Habgier fallen würde; und zwar liege tiefe Gefahr insbefonvere für den 


15* 








228 Wucher und Wucergefebe. 


Grundbeſitz vor, welchem fortan die Krebitbenugung unmöglich, welchem alle Ka⸗ 
pitalien gefünbigt werben, ter bei den unausbleiblihen Schwankungen bed Zins- 
fußes jeder Sicherheit entbehren würde. 

Indeffen ift es notorifch unrichtig, daß der Grunbbeflger gegenwärtig ſtets 
zum gefeglichen Zinsfuß die nöthigen Kapitalien erhalten kann, und es ift gleich 
unrichtig, daß er bei Freigebung des Zinsgefchäfts nicht mehr zu dem früheren 
Zinsfuße Kupitalien erhalten wird. Für ganz fihere Kapitalanlagen iſt gegen- 
wärtiy der geſetzliche Zinsfuß völlig gleichgültig, da diefelben fehr häufig erheblich 
unter demfelben zurüdbleiben, während umgelehrt für weniger ſichere oder unfidhere 
Kapitalanlagen die Zinstare höchſt nachtheilig wirkt, indem fie ven Zinsfuß, zwar 
nicht offen, aber verftedt, weit über das den Umftänden nach gebotene Maß erhöht. 
Die Befeitigung der Zinstare kann fo auf den Zinsfuß volllommen fidherer Hy⸗ 
pothelen unter normalen Berhältniffen an fih durchaus keinen Einfluß üben, wird 
bingegen, wo biefe vollflommene Sicherheit fehlt oder unter außerordentlichen Ver⸗ 
hältniffen (Krebitkrifen u. dgl.) zwar feheinbar eine Erhöhung, in Wahrheit aber 
eine erheblihe Erniedrigung des wirklichen Zinsmaßes bewirken, weil erft vurd 
fie die Möglichkeit eines reicheren Kapitalangebots begründet wird. Daß irgendwo 
bisher die völlige Beſeitigung der Zinstare von ungünftigen Erfahrungen be- 
gleitet geweſen fei (fo no Rizy, Reichenfperger), iſt eine gänzlid ans ver Luft 
gegriffene Behauptung; vielmehr ift gerade umgekehrt durd eine Reihe 
ber fiherften, meift officdellen Regierungs- Zeugniffe erwiefen, daß nad 
Herftellung völliger Zinsfreigeit keinerlei Erböhungapes vorherigen 
Zinsfußes der Hypothekenkapitalien eingetreten ift, daß in Staaten 
ohne Zinsfchranten (3. B. Württemberg) der hypothekariſche Zinsfuß fogar nied⸗ 
viger, als vor Beſeitigung ber Zinstare und als in den durd die Wuchergefege 
noch eingeengten Nachbarſtaaten geftanten hatl). 

Berüdfichtigt man nun, daß für den Handelsverkehr allgemein, für das Zins⸗ 
gejhäft ohne Grundſicherheit bereits in dem größten Theile Deutſchlands, ja fogar 
für das hypothekariſch geficherte Darlehen in zahlreihen Staaten (DVefterreih, Kö⸗ 
nigreih Sadjfen, Württemberg, Oldenburg, Sadien-Weimar-Eifenah, Koburg, 
Brenien, Lübed, Frankfurt a. M.; Großbritannien, Niederlande, Belgien, Italien) 
die Zinstare ohne alle oder mit geringen Beſchränkungen befeitigt ift, fo liegt es 
augenfheinlich gerade im Interefle der Grunpbefiger, bald möglihft überall des 
gleichen Rechtszuſtandes theilhaftig zu werden. Denn überall, wo bie gefegliche 
BZinstare ein den jevesmaligen Berhältnifien des Geldmarktes und der Tonfreten 
Lage des Krebitfuchers nicht entfpredhendes Aequivalent darbietet, werben gegen 





wärtig mehr als je vie Kapitalien den zinstarfreien Rändern und Anlagen zufließen, 


und muß nothwendig die Tage der Grunbbefiger eine fehr gefährnete werden. Daher 
läßt fi auch nicht, wie häufig, 3. B. Im preußifchen Herrenhauſe, verlangt wird, 
eine durchgreifende Reform der noch mangelhaften ländlichen Krebitanftalten und 
Hypothelargefeggebung als Borbevingung für die Befeitigung der Zinstare 
aufftelen. Denn nicht allein, daß Reformen der Urt nur ſehr allmälih und we⸗ 
fentlih nur unter jelbfithätiger Mitwirkung der Betheiligten durchgeführt werben 
können, fo gewährt ja auch unter den beftehenden Berhältniffen die Zinstere tem 
Grundbeſitz nicht allein keinen Schuß, fondern. verfchlimmert nur vefien Lage in 
bedenklichſter Weiſe. 





) Dieſe Rachwelſe befinden ih in meinem Gutachten GVerhandlungen des ſechsten deut: 
ſchen Juriſtentäages 11, & 254 ff). 




















Wilrtemberg. | 229 


Die völlige Befeitigung ber mittelalterlihen und römiſchen Zinsbeſchränkungen 
vollzieht fi) mit der Nothwendigkeit eines Naturgefeges. Auch das hin und wieder, 
ſelbſt von einzelnen Volkswirthſchaftslehrern (3. 8 Rau) empfohlene und in ein- 
zeine Geſetze (Baden, Italien, Königreih Sachen, jet auch Preußen) überge- 
gangene vorzeitige Kündigungsredht des Schuldners bei übermäßigem (?) Zinsjage 
ift eine Anomalie von mehr als zweifelhafter Zweckmäßigkeit, da in ber Regel das 
einfeitige Auflöfungsrecht des Schulpners in einem höheren Zinsfage, mit welchem 
fih der Gläubiger die Gefahr der vorzeitigen Rückzahlung bezahlen läßt, fein Ae⸗ 
quivalent finden, fomit nicht zum Schuge, fondern zur Gefährdung des Schuld⸗ 
ners dienen wird. Nur die für die öffentlichen und privilegirten Pfanvleihanftalten 
beftehenven Zinstaren, welche durch die Eigenthümlichleiten des Heinften und ver- 
fhämten Leihverkehrs geboten erfhelnen, laffen fi, wenigftens einftweilen, nicht 
ohne Gefährdung bejeitigen. 

Literatur: Salmasius, de usuris (1638); de foenore trapezitico 
(1639); de modo usurarum (1640); de mutuo (1640, fämntl. Lugd. Batav.) 
Turg ot, memoire sur le pr&t & inter&t (1769 gefchr. Paris 1789). J. Bent- 
ham, defence of usury (London 1787, 4 ed. 1827). Günther, Verſuch einer 
volfändigen Unterfuhung über Wucher und Wuchergefege (Hamburg 1790). 
K. Braun und M. Wirth, Die Zinswuchergefege (Mainz 1856). Berndt, Die 
Buchergefege und Ihre Aufhebung (Berlin 1857). Th. Rizy, Ueber Zinstaren und 
Wuchergefege (Wien 1859). P. F. Reichenſperger, Gegen vie Aufhebung ber 
Zinswuchergefege (Berlin 1860). Endemann, Die national⸗ökonomiſchen Grund⸗ 
fäge ver kanoniſchen Lehre (Iena 1868). M. Neumann, Gefhihte des Wuchers 
in Deutfchland bis Zur Begründung ver heutigen Zinsgefege (Halle 1865). Lair, 
les lois sur l’inter6t (Paris 1864). Wolowski (Journal des Econom. fevr. 
1865 p. 218 fi... Goldſchmidt, Gutachten über die Aufhebung der Wucher- 
gefege (1865, Berhandlungen des fechsten deutſchen Juriftentages Bd. II. Ber- 
lin 1866). Endemann, Die Bedeutung der Wucherlehre (Berlin 1866). Mun- 
zinger (1866 Berhandlungen des ſchweiz. Iuriftenvereins: Zeitfchrift für ſchwei⸗ 
zerifches Recht. XV. ©. 41 ff.). Glaſer (Oeſterr. Gerichtszeitung 1867 Nr. 1 
bis 4). — ©. auh Rau Volkswirthſchaftspolitik 8. 319 ff. Roſcher, Syſtem 
der Vollswirthſchaft I, 8.179 ff. Boldihmint. 


Würtemberg. 


I. Geographiſch-ſtatiſtiſche Ueberſicht. Das Königreih Würtemberg 
wird von Bayern, Baben und dem Bodenſee begrenzt. Sein Flächeninhalt beträgt 
3541/, Quadratmeilen und feine Benölferung nad der Zählung vom 3. Dec, 1864 
1,748,328 Einwohner, wonad auf die Duadratmeile 4955 Einwohner kommen. 
Die Seelenzahl ſcheidet fih nad der Konfelfion in 1,200,363 Evangelifch-Iutherifche, 
533,694 Katholiken, 2661 Mitgliever anderer chriftliher Konfeffionen, und 
11610 Iſraeliten. Die überwiegende Mehrheit, etwa 7/, ver Bevölkerung, gehört 
tem ſchwäbiſchen Stamme an, 1/, dem oftfräntifhen. Dazu kommen noch Heine 
Theile fremder Stämme, wie die Nadlommen ver am Ende des 17. und Anfang 
des 18. Jahrhunderts eingewanderten Hugenotten und Waldenſer mit etwa 
3000 Seelen und die obengenannten im Lande zerftreut wohnenden Iſraeliten. 

Die Zahl der Städte beträgt im Ganzen 136, darunter zwei mit über 
20,000 Einwohnern, die Reſidenzſtadt Stuttgart mit 63,816 und Ulm mit 
23,077. Die dichtefte Bevöllerung bat das untere Nedarthal mit feinen Seiten- 


® 





230 MWürtemberg. 


thäfern, etwa 10,000 Einwohner auf bie Quadratmeile, die dünnſte das ober- 
ſchwäbiſche Plateau mit 3290 auf die Quadratmeile. 
Das Bollevermögen wird auf folgende Zahlen berechnet: 


Grund und Boden 1215 Mit. Gulden, 
Gebäude 640 „ n 
Eifenbahnen 55 „ n 
Beweglihe Güter 700 u " 
orberungen an das Ausland 100 „ " 


O0 
| , 2710 Mill. Gulden = 1550 Mill. Thlr. 
Das Bollseinlommen: 


ans Landwirthſchaft 1261/, Mill. Gulden, 
» Waldungen 10 n n 
„ Bergbau 3a „ n 
„Gewerbe und Hanvel 131 " n 
» Renten vom Auslande 5 n " 


276 Mil. Gulden = 158 Mill. Thaler, 
wobei auf ben Kopf der Bevölkerung 160 Gulden jährliches Einkommen, auf bie 
Familie 756 Gulden fällt. 

Was die natürliche Beſchaffenheit des Bodens betrifft, fo befteht Würtem- 
berg vorzugsweife aus Hügelland, in welchem zwei höhere Gebirgspartieen ſich er⸗ 
heben, der Schwarzwald und die ſchwäbiſche Alb. Bon jenem gehört etwa bie 
Häifte Würtemberg an, bie andere dem benachbarten Großherzogthum Baden. 
Der Kern des Schwarzwalbes ift Urgeftein, Granit und Gneis, woran fidh auf 
den Seiten Hochflächen von buntem Sanpftein anſchließen. Beide zufammen bilven 
das charakteriſtiſche Schwarzwalbgeftein, in deflen Sandboden der Waflerreihthum 
fi) birgt und aus welhem auch der dunkle Nabelwald erwächsſt. Die höchſten 
Höhen find 3000 bis 3550 Parijer Fuß, welche legtere Zahl der Katzenkopf er- 
reiht. Das zweite Hauptgebirge Würtembergs, die ſchwäbiſche Alb, deren weſent⸗ 
licher Beftandtheil der Jurakalk ift, lehnt fi mit ihren weftlihen Anfang an ben 
Schwarzwald, trennt fi "bald von tiefem, läuft dann in norböftliher Richtung 
weiter und endet im Nies an ber Grenze Baierns. Ihre Oberfläche ift eine weite, 
ſüdwärts zur Donau langfam fih abdachende Hocebene Der nörblihe Rand 
fat theilmeife ziemlich fteil ab und bildet die Gebirgspartieen, die unter dem 
Namen ſchwäbiſche Alb im engeren Sinne befannt find und die Spiten Ted, 
Neuffen, LKichtenftein, Roßberg und Hohenzollern, Höhen von 2516 bis 2687 P. 5. 
tragen. Einem öftlihen Ausläufer der Alb, dem fogenannten Aalbud gehören bie 
Spiten Hohenftaufen mit 2100 und Hobenrechberg mit 2250 P.⸗F. an. Zwiſchen 
Alb und Schwarzwald erhebt ſich das ſchwäbiſche Teraſſenland, deſſen höchſte An- 
fteigung, die von Donauefhingen bis Rottweil ausgedehnte Hochfläche, pie Baar, 
2200 bis 2400 B.-%. erreicht. Deftlih davon breitet ſich die oberſchwäbiſche Hoch⸗ 
ebene aus, bie fih von Weften nah Often 7—8 Meilen auf würtembergifchem 
Gebiet, von Norden nad Süden 9 Meilen ausdehnt. 

Der Hauptfluß Würtembergs ift der Nedar, der bei Schwenningen in ber 
Baar 2146 B.-5. hoc) entfpringt und nah einem Lanf von 371/, Meilen bei 
Mannheim in den Rhein mündet. Sein Stromgebiet, nahe an 200 Quadrat⸗ 
meilen, bildet den fruchtbarften und bevöltertften Theil des Landes. Bon Heil- 
bronn an kanu er mit Dampffchiffen befahren werben. Die Donau läuft 20 Meilen 
auf würtembergiſchem Gebiet. Bon dem Bobenfeeufer gehören etwa 11/, Meilen 








Würtemberg, 281 


dem würtembergifchen Gebiet an; ver Hauptort Ift Friedrichshafen, das durch pie Eifen- 
bahn mit dem Hinterlande verbunden, einer der wichtigften Verkehrsplätze am See iſt. 

Das Klima in Würtemberg ift im Ganzen milde und gefund, im Norden 
wärmer als im Süden; die milveften Gegenden find das Nedarthal und deſſen 
Seitenthäler und tas Ufer bes Bodenſees. Einige Nedarftäpnte wie Heilbronn, 
Weinsberg und andere haben eine mittlere JIahrestemperatur von 80 R., eine 
große Anzahl Ortfchaften 7,526, dagegen höhere Schwarzwald: und Alb⸗Orte 
5 bis Al/,O R. Der Anbau des Bodens ift in Würtemberg ertenfiv anf einer 
ziemlich hohen Stufe. Von ven 6,188,252 Morgen, welche bie Grundfläche bes 
Landes im Ganzen beträgt, find über vier Millionen landwirthſchaftlich benützt, 
wovon auf eigentliche Aeder 2,746,034, auf Weinberge 78,906 Morgen kommen. 
Das vorherrſchende Getreide ift Dinfel (Spelt), übrigens wird in neuerer Zeit, 
da die Getreidepreife in Folge der ungarifchen und amerikaniſchen Einfuhr herab⸗ 
geprüdt find und in feinem günftigen Verhältniß zu den Produktionskoſten ſtehen, 
auf größeren Gütern der Setreiveban beſchränkt, dagegen ben Handelspflanzen und 
ber Biehzucht mehr Boden eingeräumt. Der Weinbau ift ſchon feit Altern Zeiten, 
wahrfcheinlich feit dem 8. und 9. Jahrhundert in Würtemberg einheimifh, hat 
aber in den Ietten Jahrzehnten an Ausdehnung abgenommen, iſt dagegen intenſiv 
vervollkommnet. Der Oefammtertrag der Weinberge wird im Durchſchnitt auf 
140,000 würtemb. Eimer angegeben, kann aber in einzelnen Iahrgängen auf 
330,000 Eimer!) fteigen und einen Gelvertrag von 7 bis 9 Mill. abwerfen. 
Die Qualität ift fehr verſchieden, ver größere Theil zählt zu ben geringeren 
Gattungen, aber einzelne Lagen gewähren ein Erzeugniß, das wenigftens hinſicht⸗ 
lich des Alloholgehalts mit den beften Weinbaugegenden Deutſchlands in Kon⸗ 
furrenz treten kanu; die beften Weine liefern das untere Nedarthal, das Weins- 
bergerthal, das Tauberthal und das Nemsthal. Der Obſtbau wird beinahe in 
allen Gegenden des Landes betrieben und liefert theilweife und in einzelnen Jahren 
einen fehr reichlihen Ertrag; gebörrtes Obſt, Kirfhen und das daraus gebrannte 
Kirſchwaſſer find ein ziemlich ergiebiger Ausfuhrartilel. An Waldungen iſt Wür- 
temberg verhäftnißmäßig rei, ver Schwarzwald namentlid erträgt viel Nadelholz, 
die Wälder der Alb gutes Laubholz; man berechnet das Waldarenl auf 2,300,000 
Morgen. Die Biebzucht Itefert ſowohl für die Konfumtion im Lande, als aud für 
die Ausfuhr reichlicdes Material; doch zeigt fih die Produktion für das gegen» 
wärtige gefteigerte Bebürfniß nicht genligend, und es wird daher auf Vermehrung 
der Viehzucht Bedacht genommen. Die Pferdezucht iſt durch die befondere Sorg⸗ 
falt, weldye der verftorbene König Wilhelm derjelben winmete, eine würtembergifche 
Specialität geworden, und es werden in den Töniglihen Geftäten edle Pferbe 
erfler Oualität erzengt, die um hohe Preife verfauft, die Zierde auswärtiger 
Ställe nnd Geftüte find. Auch von bäuerlihen Pferdezüchtern werben nicht felten 
Schöne Luruspferde erzogen, doc entfpricht Die Mehrzahl der würtembergifchen 
Lanppferde im Aeußeren wenigftens keineswegs dem Borbilve ver königlichen Geftüte. 

Früher galt Würtemberg als ausſchließliches Aderbauland, feit Gründung 
des Zollvereins hat aber auch hier das Gewerbsweſen einen beveutenden Auf- 
ſchwung genommen. In Baumwollen- und Wollenfpinnerei und Weberei, Metall: 
waaren, Zuderfabrilation herrſcht eine große inpuftrielle Thätigkeit; ERlingen, Hei⸗ 
denheim, Reutlingen, Metingen, Göppingen, Gmünd, Stuttgart find die Haupt- 
orte für Fabrikweſen. Man zählte 1861 fhon 74 Wollipinnereien mit 65,372 


2) 1 würtembergifcher Eimer = 121/, Kubiffuß oder 2,93937 Hectoliter, 





232 Wiürtemberg. 


Spindeln, 20 Baummollfpinnereien mit 236,000 Spinveln, 40,000 Mebftühle. 
Eine Lotomotiofabrit in Eßlingen befhäftigt 1000 Arbeiter, welche jährlich gegen 
50 Lokomotive nicht nur für-da8 Zollvereinsgebicet, fondern auch für das Aus- 
land in ausgezeichneter Qualität Liefern. Außerdem befinden fih in Heilbronn, 
Berg, Cannſtadt, Obertürkheim und Friedrichshafen größere Werkftätten, welde 
manderlei Mafchinen für technifchen Betrieb fertigen. Das größte Werf für Eifen- 
waaren ift aber das Staatseiſenwerk Wafleralfingen, das mit 3 Hochöfen, einem 
Walzwerk, 4 Dampfhämmern und einer mechaniihen Werkftätte etwa 1200 Ar⸗ 
beiter befchäftigt und gegen 300,000 Ctr. Eifen jährlich probuchtt. Sehr bedeu⸗ 
tend ift auch die Senfenfabril in Neuenbürg, die eine große Menge von Senfen, 
Sicheln und Strohmefjern von ausgezeichneter Onalität liefert und in faft alle 
Länder Europa’s, beſonders aber nad) der Schweiz und Franfreih abfegt. In 
Ihwunghaftem Betrieb ift die Blechwaarenfabrikation, welde größere Nieder» 
Inffungen in Eßlingen, Ludwigsburg und Göppingen und bebeutenden Abfat nad 
Amerifa und England bat. Die Bearbeitung edler Metalle findet ebenfalls in 
großem Maßſtab ftatt, für Goldwaaren find Stuttgart und Gmünd die Haupt- 
pläge, für Siiberwaaren Heilbronn. . 

Ein bedeutender Gefhäftszweig ift auch die literariſche Produktion. Der Buch⸗ 
handel bat feinen Hanptfig in Stuttgart, das nad Leipzig und Berlin wohl ven 
größten Verlagsverkehr in Deutfchland hat. Der Bücherverlehr des Landes wird 
auf 31/z Millionen Gulden gefhägt,; im Jahr 1861 zählte man in Würtemberg 
106 Buchdruckereien und 113 Buchhandlungen. Im Zufammenhang damit fteht 
au eine ausgebehnte Erzeugung von Papier, das in 13 Etabliffements mit 
Mafchinenbetrieb in einem Quantum von etwa 133,000 Ctr. jährlid gefertigt 
wird. 

Tür den Berkehr iſt durd ein in immer weiterer Entwidlung begriffenes 
Cifenbahnneg geforgt, Das bis auf eine Heine Ausnahme in den Händen des 
Staates ift. Die Poft, früher an das Haus Thurn und Taris verpadhtet, ift feit 
1851 vom Staate übernommen und ſeitdem aud durch Tanbpoftboten auf das 
Land ausgebehnt. Im Jahr 1848 wurde eine Telegraphenlinte begonnen, die jet 
über 100 Stationen hat. An der Bodenſeedampfſchifffahrt ift die würtembergifche 
Staatsverwaltung mit 5 Dampfbooten und 6 Schleppſchiffen betheiligt. Es wur 
den mit venfelben im J. 1864—1865 114,142 Perfonen, 8214 Stüd Vieh, 
558,205 Cir. Kaufmannsgüter, worunter 190,000 CEtr. Schnittwanren, unb 
441,499 Ctr. Getreide befördert. Die Einnahmen betrugen 177,568 fl., bie 
Ausgaben 152,121 fl. 

1. Bolitifhe Geſchichte und Berfaffung. Die Anfänge des 
“ würtembergifchen Territoriums fallen in die Mitte des 13. Jahrhunderts. Nach⸗ 
dem fchon feit Ende des 11. Jahrhunderts Grafen von Würtemberg urkundlich 
genannt worden waren, kommt in den Jahren 1241—1263 ein Graf Ulrid von 
Würtemberg als Beſitzer eines zufammenhängenden Gebietes in Rems- und Nedar- 
thal vor. Er ſcheint die günftige Gelegenheit des Zerfalls ber ſtaufiſchen Herr- 
haft benützt zu haben, um feinen anererbten Befig durch Kauf von Gütern und 
nugbaren Rechten anfehnlic zu vermehren. Das Ausfterben und Berarmen benach⸗ 
barter Übelögefchlechter und ber häufige Beſitz der Reichslandvogtei in Nieber- 
ſchwaben erleichterte den baushälterifhen Grafen die weitere Ausdehnung ihres 
Gebietes. Ein Graf Eberhard, (von 1344— 1365), der fih durch feine Fehdeluſt 
den Beinamen der Greiner (d. h. Zänfer) erwarb, machte fidh befonders als Gegner 
der Reichsſtädte einen gefürchteten Namen in Süddeutſchland und erſcheint durch 














Würtemberg. ‚288 


feinen Sieg über das fläbtifhe Heer im Jahr 1388 bei Döffingen als Bor- 
fampfer der Fürftenmadht. 

Außerhalb Schwabens machte das würtembergifche Orafenhaus eine bedeu⸗ 
tende Erwerbung durch die 1397 eingeleitete Heirath des Grafen Eberhard des 
Jüngeren mit der Erbtodhter des Grafen Stephan von Montfaucon, Gräfin Hen- 
viette, welde ibm vie Grafſchaſt Mömpelgard zubrachte, pie 400 Jahre lang im 
Befige des mwürtembergifchen Haufes blieb und 1803 durch die Abtretung an 
Frankreich Beranlaflung zu einer bedeutenden Erwerkung deutſchen Gebietes wurbe. 
Eine 1442 vollzogene Thellung des würtembergifhen Befiges in Schwaben drohte 
die Machtſtellung des gräflihen Haufes bebeutend zu ſchwächen, aber ter 1482 
unter Mitwirkung von Vertretern des Landes zu Münſingen gejhloffene Vertrag 
zwiſchen dem Grafen Eberhard im Bart und feinem Better Eberhard II. fette bie 
Untheilbarkeit des bereits 120 Quadratmeilen betragenden Landes und die Seniorats- 
erbfolge für künftige Zeiten fe. Ein weiterer wichtiger Schritt zur Begründung 
der würtembergifchen Landeshoheit mar die anf dem Wormfer Reichätag von 1495 
vollzogene Erhebung des Grafen Eberhard im Bart zum Herzog, woburd 
die Srafihaft zum Herzogthum und unveräußerlihen Mannslehen erllärt, die In 
Mänfingen feftgefegte Untheilbarteit aufs neue beftätigt und bie Senioratserbfolge 
in das Erfigeburtsredt verwandelt wurde. 

Als der nene Herzog ſchon im folgenden Jahre kinderlos ſtarb, folgte Ihm 
kraft Exrbrechts fein jüngerer Better Eberhard; aber da viefer fchon früher 
durch feine Aufführung Mißtrauen in feine Regierungsfähigkeit erwedt hatte, fo 
trat nun ein 1492 feftgefegter Vertrag in Kraft, nad welchem ihm ein Regi⸗ 
mentsrath von 12 ftändifchen Räthen und einem fogenannten Lanphofmeifter an 
die Seite gefegt wurde. Dadurch gewannen nun bie Stände große Bedeutung, fie 
fühlten fidy als die wahren Herren bes Landes, und als der Herzog ihrem Mathe 
nicht folgen wollte und fortfuhr, durd ein Leichtfertiges Leben Wergerniß zu geben, 
fo ergriffen die Stänte gern die Beranlaffung, ihm den Gehorfam aufzufündigen. 
Der römiſche König Marimilien, dem es willlommen war, durch die vormund« 
Ihaftlihe Regierung eines ihm ergebenen Negimenteratbs Einfluß im Lande zu 
gewinnen, bewog ben vertriebenen Herzog, zu Gunften feines zwölfjährigen Neffen 
Ulrich der Regierung zu entfagen (10. Juni 1498), und belehnte nun den 
Lanphofmeifter Graf Wolfgang von Yürftenberg mit der Regierungsgewalt über 
dad Herzogthum. Schon nad 5 Jahren 11503) wurbe der Erbe des Landes für 
mändig erflärt und zum Negterungsantritt ermächtigt, und mit einer Nichte des 
Kaifers, der bairiſchen Brinzeffin Sabine verheiratet. 

Anfangs ein bereitwilliges Werkzeug ber öfterreichifchen Politik, fuchte ex ſich 
nad einigen Jahren zu emancipiren und trat aus dem vom Haus Defterreih ge- 
ftifteten ſchwäbiſchen Bunde aus, führte im Gefühl feiner jngendlihen Kraft ein 
wildes Leben, erbitterte feine Umgebung durch übermüthiges leidenſchaftliches Be⸗ 
nehmen, brauchte viel Geld, machte Schulven und legte feinen Unterthanen will- 
fürlih neue Steuern auf. Dies erregte große Unzufriedenheit, die fich zu offenem 
Aufftand fleigerte. Die Stände, d. h. die Bürgermeifter und Rathöberren ber 
Städte und die Amtleute, ſuchten zu vermitteln und verfammelten fi in Zü- 
bingen, um dem Herzog und dem Volk die Bedingungen bes Friedens zu machen. 
Es wurde nun am s. Jul 1514 zwiſchen dem Herzog und den Ständen ein 
Bertrag abgefchloffen, in welchem ſich die letzteren verpflichteten, die Schulden tes 
Herzogs im Betrag von 800,000 fl. allmälig abzubezahlen und ihm überdies 
5 Jahre lang eine Beihülfe von 22,000 fl. zu gemähren, mogegen der Herzog 








284 Wiürtemberg. 


verfprach, feinen Landestheil zu verfegen, feine nene Wbgabe ohne Zuſtimmung 
der Landſchaft zu erheben, feinen Krieg ohne ihren Willen und Rath anzufangen, 
Niemand in peinlihen Sachen ohne Recht und Urtheil zu firafen, und bem ge» 
meinen Dann freien Zug zu geftatten, d. 5. auf die aus ber Leibeigenſchaft er⸗ 
wachſenen Rechte auf Perfonen und ihr Eigenthum zu verzichten. 

Diefer Tübinger Bertrag war bie Grundlage ber fpätern würtem- 
bergifhen Berfafiung; auf ihm berubte das Steuerverwilligungs- und Berwei- 
gerungsredht. Dies hing mit der Art zufammen, auf welde die zur Schulden- 
tilgung erforberlide Summe berbeigefhafft werben follte. Denn nicht der Herzog 
und feine Beamten durften viefes Geld einziehen, fondern e8 wurde von den 
ſtädtiſchen Obrigkeiten und ländlichen Amtleuten als eine Urt Einkommenſtener 
auf die Bürger umgelegt und von Vertrauensmännern, über deren Wahl bie 
Stände und ver Herzog übereinfamen, eingezogen, um unmittelbar zur Schulden- 
zablung verwendet zu werben. 

Bald nah dem Abſchluß des Tübinger Vertrages und der darauf gefolgten 
Beftrafung der Aufrührer gab der Herzog zu neuen Klagen Beranlaffung. Er 
machte Feine Anftalt, den Hofhalt, wie die Stände verlangt hatten, fparfamer ein⸗ 
zurichten und erregte durch die Ermorbung eines fräntifchen Ritters, Hans von 
Hutten, der in feinen Dienften fand und in deſſen fhöne Frau er verliebt war, 
allgemeine Entrüftung. Die Verwandten des Ermorbeten Hagten bei dem Satfer 
Marimilien I. Ulrichs Gemahlin, die bei der üblen Laune des Herzogs ihres 
Lebens nicht mehr fiher zu fein glaubte, floh zu ihren Brüdern nad Bayern und 
wandte fi Magend an ihren Obelm ven Kaifer und an die Landſtände, und biefe, 
welche bei dem heftigen tyrannifchen Weſen des Herzogs mit Schreden an die 
Zufunft dachten, kamen auf den Gedanken, ob es nicht beffer wäre, ihren Herzog 


auf eine Zeit lang von der Regierung zu entfernen. Da ihnen dies mit Hülfe 


bes Kaifers einft bei Herzog Eberhard II. fo gut gelungen war, hofften fie, ber 
Kaiſer werde auch diesmal darauf eingehen. Derfelbe zog auch wirklich den Herzog 
zur Verantwortung und machte ihm das Anfinnen, fih auf 6 Jahre der Regie- 
rung zu begeben und fi im Ausland aufzuhalten, und als Ulrich nicht baranf 
einging, erflärte Martmilian ihn in die Acht. Die Landftände, auch von Ulrich 
um Bermittlung angegangen, brachten am 18. Öftober 1516 zu Blaubeuren einen 
Bertrag zu Stande, in weldem fich der Herzog wirklich verpflichtete, die Regie- 
rung einem von ihm felbft gewählten Regimentsrath auf 6 Jahre zu überlaffen, 
der Hutten’schen Familie ein Sühnegeld zu zahlen, feiner Gemahlin eine Ehren- 
erflärung zu geben und eine Summe zu ftandesmäßigem Unterhalt auszufegen. 
Aber kaum war er nah Haufe zurüdgelehrt, fo ſchritt er zu Rachehandlungen 
gegen die Männer, weldhe zu dem Blaubeurer Vertrag mitgewirkt hatten, ließ 
ihnen den Hochverrathsproceß machen und drei derſelben nad den graufamften 
Unterfuhungsqualen hinrichten. 

Noch lag die kaiferlihe Acht auf dem Haupte Ulrihs und Marimilian for- 
derte den ſchwäbiſchen Bund zu einem Erefutionszug gegen den unbotmäßigen Her- 
zog auf, aber die Bundesmitgliever zögerten wie immer; da fam tie Kunde von 
einer neuen Gewaltthat, die Ulrih verübt babe. Er hatte nämlih die Reichsſtadt 
Neutlingen, zur Rache dafür, daß fein Adalmer Burgvogt von Reutlinger Bür⸗ 
gern bei einem Gelage erfchlagen worden war, erobert und zur Unterwerfung ge- 
zwungen. Nun war das Maß feiner Sünden voll; der fhwäbifihe Bund, deſſen 
Mitglied die Stadt Reutlingen war, vollzog fchleunigft die Reichsacht gegen Herzog 
Uli, eroberte fein Land, entjegte ihn der Regierung, und Würtemberg wurde 


- 


2 








Würtemberg. 285 


nun gegen Erfag der Ariegstoften an Kaiſer Karl V. und von biefem an feinen 
Bruder Erzherzog Ferdinand überlafien. Würtemberg warb nun öſterreichiſch und 
wäre es wohl auch geblieben, wenn nicht die neue Regierung durch firenge Man- 
date gegen die Intheriiche Xehre, die im Lande bald allgemeinen Anklang fand, das 
Bolt fi) abwendig gemacht hätte. Das Berlangen nad Einführung der Refor- 
mation erwedte dem vertriebenen Yürften, der in der Verbannung fi den Lehren 
der Reformatoren zugewendet halte, neue Sympathieen, und es gelang ihm, nad 
15jähriger Berbaunumg mit Hülfe des Landgrafen Philipp von Heflen fein Land 
wieder zu erobern (13. Mai 1534). 

Aber noch wollte Defterreich feine Anfipräche auf Würtemberg nicht ganz auf- 
geben und Ulrich mußte es fi gefallen laſſen, im Bertrage von Cadan 1535 
fein Herzogthum als Öfterreichifches Afterlehen zurüdzuempfangen. Raum war er 
im Befig der Regierungsgewalt, fo führte er raſch und kräftig die Reformation in 
feinem Lande durch, verfühnte fih dadurch das Voll und machte feine frühere 
Mißregierung vergeffen. Aber vie Theilnahme an dem unglüdlich geführten ſchmal⸗ 
kaldiſchen Krieg brachte ihn aufs neue in die Gefahr, fein Land zu verlieren; 
nachdem dasfelbe von ſpaniſchen Truppen befeßt worden, wurbe Ulrich vor einem 
fürftlihen Gericht der Lehensuntreue angeklagt und bie Sade ſchien eine ſchlimme 
Bendung nehmen zu wollen. 

Da flarb Uri unvermuthet fhnel am 6. Nov. 1550 und fein Sohn 
Chriſtoph, welder fih in ver harten Schule feiner Iugend zu einem tüd- 
tigen Mann und weifen Regenten ausgebildet hatte, folgte ihm unbeanftandet, 
aber freilich unter der Bebingung der öſterreichiſchen Afterlehenſchaft. Dieſe hiu⸗ 
berte ihn jedoch nicht, die begonnene Reformation mit Konfequenz durchzuführen 
und bie würtembergiſche Lanbesverfaflung weiter auszubanen. Die Lehre der auge» 
burgiſchen Konfeſſion wurde für die ausjchließliche Yandesreligion erflärt, die Güter 
der aufgehobenen Kiöfter und kirchlichen Stiftungen der neuen Kirche umd ber 
Schule gefihert und als Kirchengut einer abgefonverten Verwaltung vorbehalten. 
Die Gefege über die kirchlichen Angelegenheiten wurden in der fogenannten großen 
Kirchenorbuung von 1559 zufammengefaßt, von den Landſtänden beftätigt und ale 
ein Beftandtheil der Lanvesverfaffung erklärt. Durch Uebernahme ver felt tem 
Tübinger Vertrag auf 1,200,000 fl. angewachſenen Lanvesfchulden gewann bie 
Sandfchaft, wie die Stände gewöhnlich genannt wurden, eine verftärkte Bedeutung. 
Sie befland aus 69 Bertretern von ben Stäbten und deren Amtsbezirten und 14 
feit der Reformation vom Herzog ernannten Prälaten. Da legtere bei dem Schul⸗ 
bentilgungsplan eine bedeutende Duote, %/, der jährlihen Summe übernahmen, 
jo bildeten fie einen wefentlihen fehr einflußreichen Beſtandtheil ver Landſtände. 
Dagegen fehlte den würtembergifhen Ständen ein Element, das in anderen ftän« 
diſchen Verfafſungen eine ſehr wichtige Rolle zu-fpielen pflegte, nämlich der Adel. 
Obgleich ſich Herzog Ehrifteph und die Prälaten viele Mühe gaben, den inner- 
balb des würtembergifchen Gebietes angefeflenen und begüterten und mit dem Her- 
zog fin. Lehensverband ftehenten Adel zur Beteiligung an ber Mebernahme ver 
Schulden uud Landesvertretung beizuziehen, fo wollte. der Adel, zu Defterreich 
hinneigend, in keine flaatsrechtliche Beziehung zum Herzogthum Würtemberg treten 
und lehnte beharrlich alle Theilnahme ab. Altwürtemberg blieb daher ohne ritter- 
ſchaftlichen Adel, befam aber in ven ſtädtiſchen VBürgerfamilien, aus denen vie 
Värgermeifter und Rathsherren und damit die Randtagsabgeorbneten hervorgingen, 
eine bürgerliche Ariftofratie, vie fo enge zufammenbielt, als anderswo ber ritter- 


ſchaftliche Adel, 


286 Würtemberg. 


Diefe ariftofratifhe Abichließung wurde in der Folge auch noch dadurch be⸗ 
fördert, daß an die Stelle der vollzähligen Abgeordneten des Landes immer mehr 
tie Ausfhüffe der Stände traten. Dieſe waren theils zur Beauffihtigung der 
landſchaſtlichen Kaffe, theils zur Begutachtung der Entwürfe eines neuen Landrechts 
niebergefegt worden und wurden feit 1554 eine bleibende Einrichtung. Der Aus- 
ſchuß beftand aus 6 fläptifchen Abgeordneten und 2 Prälaten und wurde für 
außerorbentlihe Fälle anf die doppelte Zahl erweitert, die dann ber große Aus⸗ 
ſchuß hieß. Uebermwahung und Bewahrung der ftändifchen Nechte und Freiheiten, 
Deauffihtigung und Verwaltung der landſchaftlichen Kaffe und Sanftionirung 
aller widtigeren Negierungshandlungen war der Beruf und bie Uufgabe beider 
Ausſchüſſe. Urfpränglid wurden fie von der vollen Verfammlung der Yandesabge- 
orpneten gewählt, aber, ba in ber Folge die Zufammenberufung des Lanttags 
immer feltener wurde, fam das Recht der Selbftergänzgung auf, welches natürlich 
tie Ausbildung einer Yamilienoligarchie fehr beförberte. Der Kreis der Yamilien, 
aus welchen die Ausſchußmitglieder hervorgingen, war ein ariſtokratiſch abgeichloffener, 
und es wurde dabei zuerft nad) Herkommen, fpäter kraft einer ausdrücklichen Be⸗ 
fimmung des Ausſchußſtatute auf repräfentationsfählgen Vermögensſtand gejeben. 
Doch waren vie Ausfchufftellen feine befoldungslofen Ehrenämter, e8 wurden zuerft 
geringe Wartegelver, dann Belohnungen für aufßerorbentlige Gefchäfte und Ber- 
bienfte gereicht. Auch waren die nad Familienrückſichten gewählten Ausihupmit- 
glieder nicht immer juriſtiſch und finanziell gebildete Männer, es wurden baher 
befondere Konfulenten und Kaffiere angeftellt, die, nicht eben dürftig befolvet, an 
Macht und Einfluß des Ausſchuſſes wefentlihen Antheil nahmen. Zur Beftreitung 
des hiezu nöthigen Aufwandes wurde eine befondere Kaffe gebildet, Über deren 
Verwendung der Ausſchuß Niemand Rechenſchaft zu geben hatte, und die daher 
bie „geheime Truhe” genannt wurte. Diefe finanzielle Selbftäntigfeit galt der 
würtembergifchen Landſchaft als eines der wichtigften ſtändiſchen Vorredhte und 
wurde in den fpäteren Verfaffungstämpfen mit größter Zähigfelt ale das Palla- 
dium der würtembergifchen freiheit feftgehalten. 

Die Regierung Herzog Chriſtophs von 1550—1568 und bie feines Sohnes 
Ludwig 1568—1593 war die Zeit der Ausbiltung und VBefeftigung der wür- 
tembergifhen Verfaſſung. Frie drich I. (1593—1608), der von der mömpel- 
garbifhen Nebenlinie her zur Erbfolge gelangte, befreite das Herzogthum von ber 
Geflel der Öfterreichifchen Wfterlebenfchaft, indem er ben Kaifer Rudolph II. gegen 
eine Summe von 400,000 fl. bewog, dieſen Anfprud aufzugeben, aber ließ fich 
gefallen, daß das Haus Defterreih die Anwartihaft auf die Erbfolge in Wür- 
temberg behielt, für den Ball, daß ter männliche Stamm des fürftliden Haufes 
ganz ausftürbe oder das Herzogthum durch Urtbeil und Recht als tem Reiche 
heimfällig erklärt würde, Gegenüber von den Ständen fuchte Herzog Friedrich, der 
ein Herr von fehr abfolutiftifhen Neigungen war, bie landesherrlihen Rechte zu 
erweitern und befonders die Beltimmung tes Tübinger Vertrags auszumärzen, 
wonad der Herzog nicht ohne Einwilligung ter Stände follte Krieg führen dürfen. 
Der Befig eines ftehenden Heeres fchien ihm ein wefentliches Attribut der landes⸗ 
herrlihen Würde, aud glaubte er in den damals im Reiche obſchwebenden poli- 
tiſchen Händeln durch Aufftellung einer Kriegsmacht ein Gewicht in die Wagfchale 
legen zu müſſen, und als nun ver fländifche Ausschuß die Forderung einer Kriege: 
ftener zurückwies, löste er denfelben auf, ließ deſſen Papiere und Kaffe wegnehmen 
und verbot, ohne feine Genehmigung vie Wahl eines neuen Ausjchufles vorzu- 
nehmen. Es gelang ihm nun, durch Einſchüchterung und Umtriebe eine nene ge- 


s 





MWürtemberg. ‘ 237 


fügigere Stänbeverfammlung zufammenzubringen, aber er burfte fi nicht lange 
feines Sieges freuen, denn er ftarb bald darauf (29. Januar 1608) plötzlich ˖ am 
Schlagflufie. 

Sein milder gefinnter Sohn und Nahfolger Iohbann Friedrich ver 
föhnte fi mit der Lanvfhaft und ftellte den alten Ausſchuß wieder her. Aber 
die bedrohten Stände rächten fih an dem Werkzeug, deſſen fih Herzog Friedrich 
zu feinen Angriffen auf die Berfaffung bevient hatte. Es war dies der Kanzler 
Enslin, welchem wegen verübter Gewalttbaten, Umftoßung des Täbinger Vertrags 
und Veruntreuung von öffentlihen Geldern ver Proceß gemacht wurde. Nach mehr: 
jähriger Unterfuhung zum Tode verurtheilt, wurde er am 22. Oftober 1613 auf 
dein Marfte zu Urach enthauptet. 

Die Geſchicke des 30jährigen Krieges bebrohten das Herzogthum Würtem- 
berg mit dem Untergang. Nah der Schlacht bei Nördlingen (10. Sept. 1634) 
wurte Herzeg Eberhard III. vertrieben, das Land auf Grund der Anſprüche, 
welde das Haus Oeſterreich noch von Herzog Ulrichs Zeiten anf Wärteniberg 
hatte, von den Truppen Kaifer Ferdinands befegt, theilweife an Bayern und einige 
kaiferliche Beamte verfchentt, aber nah 4 Jahren ı14. Oft. 1638) ein Drittheil 
des Landes, und im weftphälifchen Frieden das ganze Gebiet dem Herzog zurld- 

egeben. 

ges Während der Maitreſſenherrſchaft und Mißregierung, mit welcher Würtem⸗ 
berg unter Herzog Eberhard Ludwig (1706—1730) heimgeſucht wurde, 
vermochte der ftändifche Ausfhuß, von der allgemeinen Korruption ergriffen, nicht, 
die Unterthbanen vor manchen Rectsverlegungen zu ſchützen, doc blieb die Ver- 
fafjung formell erhalten und widerſtand aud unter ber folgenden Regierung ben 
Angriffen, tie der gewaltthätige, In Defterreih zum katholiſchen Glauben über- 
getretene Herzog Karl Aleranpder und fein habfüdtiger Finanzminifter, ver 
Jude Süß Oppenheimer auf diefelbe machten. Als der Herzog bereits Veranſtal⸗ 
tung getroffen hatte, mit Hülfe der benachbarten biſchöflich wärzbnigifhen Regie⸗ 
rung duch Waffengewalt pie Feſſeln ver Berfaffung zu breden und die Gleich⸗ 
berechtigung der Tatholifchen Konfeffion zu erzwingen, erelite ihn am 12. März 
1737 ein fchneller Tod. Der verhaßte Yinanzminifter aber wurde ein Opfer bes 
Bolkshaſſes. Er wurde von der nachfolgenden vormundſchaftlichen Regierung zur 
Unterfuhung gezogen, zum Tode verurtbeilt und unter dem Hohne des Volles in 
einem Käfig aufgehängt (4. Februar 1738). 

Die 5Ojährige Regierung Herzog Karl Eugene (1744—1795) bradte 
Wäürtemberg einen glänzenden Hof, an weldem Feſte, Jagden, Bauten in nie ge 
ſehener Ueppigleit dem Herzog einen europätfchen Namen madıten, aber auch Geld⸗ 
erpreflungen in ven manigfaltigften Yormen, namentlih den fchamlofeften YAemter- 
verfauf zur Folge hatten. Zu Konfliften mit der Landſchaft fam es natürlich auch; 
die nächte Veranlafjung war die Theilnahme des Herzogs am dem fiebenjährigen 
Krieg, in welchem er im Solde Frankreichs ein für die Kräfte des Landes unver- 
hältnigmäßig großes Heer gegen Preußen aufftellte, das aber, mit graufamem 
Zwang zufammengepreßt, theils zum Feinde Überging, theils die Flucht ergriff. 
Als der ſtändiſche Auuſchuß vie zu den Rüftungen nöthigen Summen verweigerte, 
antwortete der Herzog und fein Minifter Graf Montmartin mit Oewaltftreichen, 
ließ die landſchaftliche Kaffe, die fih ihm nicht dfinen wollte, erbrechen und vie 
vorzefunbenen Gelder wegnehmen, den landfhaftlihen Konfulenten Johann Jakob 
Mofer, den berühmten Publiciften jener Zeit, one Unterfuhung in firenge Ge⸗ 
fangenfchaft auf die Feſtung Hohentwiel fegen (4759), wo er 6 Jahre ſchmachten 


238 Wiürtemberg. 


mußte. Der Streit des Herzogs mit der Lanbfchaft dauerte über ein Jahrzehent, 
es Yam zu Klagen bei dem Reichshofrath in Wien und bei Friedrich dem Großen, 
und endlich durd Vermittlung bes legteren zu einem Vergleich, dem fogenannten 
Erbvergleih von 1770, in weldhem ver Herzog die Wieberherftellung ber verlegten 
Berfafiung und vie Erlevigung einer Reihe von Beſchwerden verfprad, die Land⸗ 
ſchaft aber theils alte Schulpforderungen an den Herzog nadließ, theils zu einem 
neuen anfehnlihen Beitrag zur Schuiventilgung fi} verbindlih machte. Preußen, 
Hannover und Dänemark Übernahmen eine förmliche Garantie der würtembergiichen 
Berfaffung. Der Friede war wieder hergeftellt. Die Landſchaft hatte formell Recht 
befommen, aber der Herzog hatte das Geld, das er brauchte, und bie Kraft der 
Stände war gebrochen. Der Herzog und der ſtändiſche Ausſchuß verftändigten ſich 
mit einander unter der ftillfhweigenden Bedingung gegenfeitiger Nachſicht; ver 
Herzog ließ fi in keinen Principienftreit mit der Landſchaft mehr ein, diefe aber 
gewährte ihm Vorſchüſſe aus der geheimen Truhe und vefretirte ihren Mitgitenern 
und Verwandten außerordentliche Belohnungen für ihre Verbienfte um das Vater- 
land. Die legten 20 Jahre der Regierung Herzog Karls waren übrigens für Wür- 
temberg eine in mehrfacher Beziehung glüdliche ‘Periode; in den bamaligen Frie- 
bensjahren hob fi) der materielle Wohlſtand bes Landes, und der Herzog, der 
neben mander Gewaltthat und fortzefegter Korruption des Beamtenſtandes doch 
gegen Einzelne fi wohlwollend bezeigte, wurde ber populärfte Fürft, den Wür- 
temberg je gehabt hat. Eine Lieblingsfhöpfung feiner fpäteren Jahre war bie 
Karlsakademie, welche Stuttgart zu eiuer berühmten Kulturftätte machte. 

Neue Streitigkeiten mit der Landſchaſt entftanden unter Herzog Karla Neffen, 
dem fpäteren König Friedrich, ver im December 1797 feinem be 
jahrten Vater Friedrich Eugen folgte. Der Haupiftreitpuntt war wieder 
die Forderung von Summen für Aufftellung und Unterhalt des ſtehenden Heeres. 
Der Grundſatz der alten Verfaſſung war, daß bdiefer Aufwand für das Militär 
von dem Einkommen der fürftlihen Rentkammer beftritten werden mäfle, und daß 
nur in außerorbentlihen Fällen, wenn es fid) um Vertheidigung des Vaterlandes 
handle, von der Landſchaft Beiträge geforbert werden dürften. Als num der Her- 
309 Friedrich 1799 der zweiten Koalition der europälfhen Mächte gegen Frank⸗ 
reich beitrat, war die Landſchaft damit gar nicht einverftanden, fie wollte Erhal- 
tung des Friedens mit der framzöfifhen Republit, von ber fie einen günftigen 
Einflug auf die freiheitlihe Entwidiung in Deutſchland hoffte. Herzog Friedrich 
aber hatte fi auch nicht aus Eifer für die Erhaltung der Integrität Deutſch⸗ 
lands auf die Seite der gegen Frankreich Friegführenden Mächte geftellt, fonvern 
weil ihm Defterreih Befreiung von feinen Ständen, Vergrößerung feines Landes 
und Verleihung der Kurwürde verfprochen hatte. Als nun der Herzog eine Aus⸗ 
bebung veranftalten wollte, um ein Hülfsheer von 7000 Mann aufzuftellen, und 
einen entiprechenden Militärbeitrag verlangte, widerſetzten fih fowohl die Stände, 
als der zum Wächter der Berfaffung beftellte Geheimerath. Der Herzog aber löste 
die Stände auf, fegte einige hervorragende Mitglieder des Geheimen Rathes ab 
und der Wiener Reichshofrath drohte mit militäriſcher Einſchreitung, wenn bie 
Stände fi ferner ven patriotifchen Wbfichten des Herzogs widerfegen würden. 
Die Landſchaft beharrte In ihrem Wirerftand und befämpfte den Herzog auf diplo- 
matifhem Gebiete, indem fie eigene Geſandte nach Naftatt, Paris und Wien 
ſchickte, welche denen des Herzogs mitunter nicht ohne Erfolg entgeyenarbeiteten 
und eine Ermäßigung der Wiürtemberg uuferlegten Kontributionen erwirkten. End⸗ 
lich ſchloß aud der Herzog (20. Mai 1802) einen Separatfrieven mit Frankreich, 








Würtemberg, 239 


in welchem er die ſchon früher von ben Franzoſen thatſächlich offupirte Grafſchaft 
Mömpelgarb abtrat, wofür ihm dann fpäter unter franzöſiſcher Vermittlung ein 
anſehnliches Gebiet von’ aufgehobenen Kiöftern und ſchwäbiſchen Reichsſtädten von 
ber in Regensburg tagenden Reihebeputation zugewiefen wurde (25. Febr. 1803), 
welches der Herzog Friedrich, jegt zum Kurfürften erhoben, als Neuwürtemberg 
beſonders verwalten ließ, um ven verhaßten Landſtänden feine Mitregierung über 
die neuen Grwerbungen zugeftehen zu müſſen. Beim Entſtehen der britten 
Koalition gegen Frankreich war Friedrichs Eifer für Deflerreih etwas abgekühlt 
und er fuchte eine neutrale Stellung zu gewinnen, der aber Napoleon durdy fein 
plögliches Erfheinen in Ludwigsburg ein ſchnelles Ende machte, um (amd. Oft. 
1805) einen Allianzvertrag abzuſchließen, in welhem er dem Kurfürften vie In⸗ 
tegrität feines Landes, volle Souveränetät und Antheil an den auf Koften Defter- 
reich8 zu machenden Eroberungen verfprad. Die Verheißungen gingen nad der 
Niererlage Oefterreihs In fchnelle Erfüllung und Friedrich erhielt durch den 
Staatsvertrag vom 12. Dec. 1805 anfehnlide Gebietövergrößerung, die Königs⸗ 
würde und fogenannte volle Scouveränetät. 

Die unmittelbare Folge davon war die Aufhebung der würtembergiihen Ver⸗ 
faffung, als einer in’ die jegige Zeit nicht mehr paffenden Einrichtung. Im nächſten 
Jahre folgte num die Loslöfung vom deutſchen Reid, die Cinverleibung in ven 
von Napoleon geftifteten Rheinbund (fiche Über dieſen Bd. 8, ©. 610 ff.) und 
Friedrich wurde einer der treueſten und eifrigiten Bafallen Napoleons. Es folgten 
nun mande zwedmäßige Reformen im Stantshaushalte und in der Gerichtsorgani⸗ 
fation, aber auch eine tyrannifche Schreckensherrſchaft, welde zum Drud von 
außen aud noch den inneren hinzufügte und Würtemberg von dem nationalen 
Aufihwung der Befreiungsfriege gänzlich ferne hielt. Erſt am 2. Nov. 1813 
fagte fih König Friedrich durdy den Vertrag von Fulda von Napoleon los, nady- 
dem ihm Defterreid den ungefchmälerten Befig feines alten und neuerworbenen 
Gebietes und die Erhaltung feiner Souveränetät verbürgt hatte. Auf dem Wiener 
Kongreß war König Friedrich einer von den Fürſten, melde am eifrigften bie 
durd Napoleon erworbene Scuveränetät gegen jeden Verſuch einer Deutſchland 
einigenden Bundesverfaſſung vertheidigten und fi gegen die Zumuthung einer 
die Volksrechte verbürgenden Berfaffung verwahrten. Tod bot er, von Wien zu- 
rückgekehrt, dur ein Manifeſt vom 11. Januar 1815 feinem Bolt eine ftändifche 
Nepröäfentation an und berief auf den 15. März eine aus 70 gewählten Abge⸗ 
ordneten und 54 ernannten Mitgliedern beftehende Volfsvertretung, welder er 
eine neue Berfaffungsurtunde zur Beſchwörung vorlegte, 

Aber die Abgeorvneten waren burd bie vorangegangene Gewaltherrſchaft mit 
folhem Wiverwillen und Mißtrauen gegen den König und fein Geſchenk erfüllt, 
daß fie die angebotene Verfaſſung faft einftimmig ablehnten und erklärten, nur 
auf Grundlage ver alten einfeitig aufgehobenen Berfafjung über zeitgemäße Ab⸗ 
änderungen verfelben verhandeln zu können. Es wurden nun zwar Verhandlungen 
verfucht, aber fie konnten zu feinem Ergebniß führen, da Regierung und Abge- 
ordnete auf einem zu verfchievenen Standpunkt fanden, indem ver König 
von einer grundfäglichen Anerfennung der alten Verfaſſung nichts willen wollte, 
die Stänte aber nit nur diefe verlangten, ſondern aud) materiell an wefent- 
lihen Punkten der alten Verfaſſung fefthielten, wie 3. ®. der Theilnahme an 
der Steuerverwaltung, der ſtändiſchen Kaſſe und den bleibenden Ausſchüſſen. 
Die Berfammlung wurde am 26. Juli 1815 auf unbeftimmte Zeit vertagt 
und man glaubte das Verfaſſungswerk damit vorläufig aufgegeben. Aber nad 


⸗ 


240 Miirlemberg. 


einigen Monaten fchon wurden die Stände auf ben 15. Oktober wieber ein- 
- berufen und denſelben neue Vorlagen gemacht; 14 Grunbartifel wurben mit dem 
Bemerfen vorgelegt, daß wenn auch biefe verworfen würden, man bie alte Ver⸗ 
faffung für das bisherige Herzogthum als gültig anerkennen, für die nen erwor- 
benen Landestheile aber auf Grund der 14 Xrtifel eine Repräfentativverfefiung 
gewähren wolle. Dies bewirkte eine Spaltung, und auf den Antrag des Bude 
händlerg Gotta erflärte fih eine Majorität von 59 gegen 47 Stimmen zu neuen 
Unterhandlungen bereit. Iene 14 Artikel boten Theilnahme der Stände an ber 
Geſetzgebung, einfchlieglich einer Reviſion der feit 1806 erlaffenen Gefege, Ver⸗ 
willigung der Steuern, Zuftimmung zur Aufnahme neuer Staatsanlehen, eine be- 
fonvere unter fländifcher Verwaltung ſtehende Schuldentilgungskaſſe, das Recht der 
Anklage gegen Stantsviener, Wiederherſtellung des eingezogenen Kirchenguts, Er- 
haltung des Kammerguts, Einführung einer Civilliſte, Unabhängigkeit ver Juſtiz, 
Auswanderungsfreiheit, Gleichheit vor dem Geſetze und Regulirung der Adelsrechte. 
Diefe Artikel enthielten ein größeres Maß von wichtigen politifchen Rechten als 
vie alte Verfaſſung, und die Stände hätten wohl darauf eingehen können. Weun 
e8 jeßt doch zu feiner Verfländigung kam, lag der Grund hauptfählih in perfün- 
lichen Berbältniffen. Einmal beftand ein tiefgewurzeltes Mißtrauen in den König 
und feine Gaben, dann waren die altwürtembergifhen Juriften fo feftgerannt in 
ihrem alten Recht, daß fie das neue nicht unbefangen würdigen konnten. Auch 
auf Selten der Regierung trat eine neue Hemmung dazwiſchen; der neue Regie 
rungsfommiffär, welcher die Verfaſſungsverhandlungen führte, ter kürzlich aus 
Koburg in würtembergiſche Dienfte übergetretene Freiherr von Wangenheim, 
war zwar ein geiftreider, für die Ipeen der Neuzeit mit Wärme eingenommener 
und durdaus wohlwollender Mann, aber er fland den altwürtembergifchen Juriften 
als Fremder gegenüber und übte durch feine leichte cavaliermäßige, witzige Art, 
die Dinge zu behandeln, eine abftoßenve Wirkung; man lonnte kein Vertrauen zu 
ihm faflen. Unglüdfeliger Weife warf er in ben Berfaffungsplan auch nod eine 
neue Idee herein, die ten einzigen Punkt, in weldem Regierung und Stände ein- 
verftanden geweien waren, zu einer Streilfrage machte. Der neue Entwurf der 
Regierung hatte wie die alte würtembergifhe Verfaſſung eine Kammer ange 
nommen, Wangenheim aber erflärte ſich aus vorgefaßten boftrinären Gründen 
für das Zweikammerſyſtem, damit eine Adelskammer ven natürlihen Gegenfag 
zwiſchen Regierung und Volk vermitteln könne. Einen weiteren Beitrag zur Ver⸗ 
ſtimmung gab bie bittere und in fophiftiiher Weiſe gefchriebene Kritik, welche ver 
Philofoph Hegel, damals in Heibelberg, Über vie Haltung der würtembergiſchen 
Stände veröffentlichte. So zogen fi die Verhandlungen unter mancherlei perfün- 
lihen und fachlihen Hemmungen ein ganzes Jahr, vom Herbſt 1815- 1816 
hinaus, und als endlih ein neuer ſtändiſcher und königlicher Berfaffungsentwurf 
ferttg war, um ber vollen Berfammlung vorgelegt und berathen zu werben und 
man nun den Augenblid ver Berftändigung nahe glaubte, ſtarb König Friedrich 
den 30. Oft. 1816. 

Durdy den Tod des Königs fhien ein Haupthinverniß des PVerfaflungs- 
abfchluffes, das Mißtrauen gegen den Gewaltherrſcher, der die Verfaffung auf- 
gehoben hatte, befeitigt; man fam dem Nachfolger König Wilhelm mit 
Bertrauen entgegen; er machte ſich fogleih nad feiner Thronbefteigung durch Ab⸗ 
ſtellung mancher Beſchwerden beliebt, aber doh kam nun eine neue Urſache der 
Berzögernng in die Verfafjungsangelegenheit, man glaubte gegenüber dem neuen 
Regenten von den Örundfägen der alten Verfafſung nod weniger abgehen zu 














Würtemberg. 241 


pärfen. Der Regierungstommiflär, Minifter v. Wangenheim, hatte fi in vie Art 
feiner Gegner mehr hineingefunden, ex war unermüblid in Verſuchen ver Ver⸗ 
ſtändigung und des Cingehens auf ihre Lieblingsiveen, aber dem neuen König 
ging die Geduld aus, fein Iugenpfreund der Juftizminifter v. Maucler kreuzte 
den Einfluß Wangenheims und beftimmte ven König zur Vorlegung eines Ulti⸗ 
matums (vom 30. Mai 1817) an die Stände. Der Streit zwifhen der Regie- 
rung und den Ständen brehte fih um drei Hauptpunkte: 1) Das Zwellammer- 
jyftem, 2) die ſtändiſche Verwaltung der Steuerlaffe und 3) die ununterbrochene 
Fortdauer der Nepräfentation vermittelft eines ſtändiſchen Ausſchuſſes. Außerdem 
fand man die verfaffungsmäßige Berantwortlichfeit der Stantsbiener und die Un⸗ 
verantwortlichfeit der Landtagsabgeordneten in dem vorgelegten Berfaffungsentwurf 
nicht genügend verbürgt. Der königliche Entwurf ging von der Borausfegung aus, 
baß wenn einmal die Unzulänglichleit der Kammereinkünfte zu den Staatsaus- 
gaben gehörig nachgewieſen fei, fi die Ständeverfammlung der neuen Stenerber- 
willigung nicht entziehen könne, und er wollte von einer unter ausſchließlich ftän- 
difher Berwaltung ftehenden Steuer- und Schuldenzahlungskaſſe, wie fie die alte 
Berfafiung gehabt hatte, nichts wiſſen. ‚Statt des ftändifhen Ausſchuſſes, ver in 
Altwärtemberg eine fo große Rolle gejpielt batte, gewährte die neue Verfaſſung 
nur einen flänbifchen Borftand, der aus einem vom König auf Lebenszeit er- 
nannten Landtagsmarſchall und einem Landſchaftsdirektor und deren Stellvertretern 
beftanden hätte. ' 

Die ſtändiſche Kommifflon, welche gegen dieſe Beftimmungen des Berfafiungs- 
entwurfs ihren Widerſpruch eingelegt Hatte, verlangte nun, daß bie beiven Stanis- 
einnahmen aus dem Kanımergut und den Steuern befonvers verwaltet wärben, das 
Kammergut von dem König und feinen Beamten, die Steuern von ven Ständen, 
Statt des ſchon wegen der beſchränkten Zahl der Perfonen und ber königlichen 
Ernennung ungenügenden ftändifchen Borftandes verlangte die Kommilfion einen 
gewählten Stänberath von 12 Mitglievern, ver für die Zeiten, in welchen bie 
Stände nicht verfammelt waren, als deren Benollmächtigter zu handeln befugt 
wäre. Gegenüber von biefen Forderungen wurden nun in dem unter dem 30. Mai 
vorgelegten Ultimatum der Regierung folgende Aenderungen vorgejhlagen. In Be- 
tseff des Zweikammerſyſtems erbot fi die Negierung, wenn fih aus ber Erfah⸗ 
zung der nächſten drei Jahre ergeben follte, daß eine Bereinigung in eine Kammer 
den Berhältnifien angemeflen, fei und die Stimmenmehrheit einer Kammer in 
diefer Beziehung mit der Regierung einig werbe, fo folle bie andere Kammer 
fich dieſer Bereinigung nicht winerfegen können. Hinfihtlid der Steuerverwaltung 
wurde zwar an dem Grundſatz feflgehalten, daß bie einmal bezahlten Steuern 
Eigenthum des Staates felen und Teine beſondere ſtändiſche Steuerkaſſe ftatuirt 
werben könne; bagegen wurde angeboten, vie Schulvdentilgungsfafle unter Aufſicht 
und Leitung einer gemeinſchaftlichen, aus ſtändiſchen und königlichen Kommiſſarien 
beftehenden Behörde zu ftellen und fie durch Beamte, welde biefe Behörde ge- 
meinfchaftlich vorfchlage, verwalten zu laflen. Der von den Kommiffionen gefor- 
derte Ausihuß von 12 Mitgliedern wurde von der Regierung vollſtändig ange- 
nommen, und zwar mit Befugniffen ausgeftattet, welche die ununterbrodene Re⸗ 
präfentation volllommen verbürgten und nur die Möglichkeit einer Verbrängung ber 
Ständeverfammlung durch den Ausſchuß abfchnitten. Ueberdies war ſchon in dem Ver⸗ 
faffungsentwurf alljährlihe Zufammenberufung ver Ständeverfammlung angenommen. 

Diefe Iegten Borfchläge der Regierung, das Ultimatum, wurben mit einer 
Mojorität von 67 gegen 42 Stimmen abgelehnt, aber freilich nit in der Er⸗ 

Blunti@liuns Brater, Dentſchet Staate⸗Wöoͤrterbuch. XI. 16 


242 | Wücrtemberg. 


wartung, daß fie nun wirklich auch das legte Wort des Königs fein wärben, fon- 
dern in der naiven Hoffnung, daß ohne Auffchub weitere Unterbandlungen durch 
gemeinfame Kommiffionen gepflogen werden würden. Dies wollte aber ver König 
nit; er hatte bereit bereut, in feinen Zugeftänpniffen zu weit gegangen zu fein 
und ergriff gern die Gelegenheit, die Verhandlungen ganz abzubrechen. Am 4. Juni 
erfolgte die Auflöfung der Verfammlung, wobei jedoch der König erflärte, wenn 
die Mehrzahl des Volkes durch Amtsverfammlungen oder Magiſtrate den Ber- 
fofjungsentwurf mit den nadträglihen Aenderungsvorſchlägen annehmen würbe, fo 
wolle er den Vertrag als abgefchloffen anfehen und in Wirkſamkeit fegen laffen ; 
übrigens wolle er ſchon jegt fein getreues Boll der Wohlthaten des Verfafſungs⸗ 
entwurfs, infoweit berfelbe fi) nicht auf landſtändiſche Repräfentation beziehe, theil- 
baftig maden. Dem Huflöfungspefret war ein Manifeſt an das Volk beigegeben, 
worin die ganze Entwidlung des Verfaflungsftreites und die Grundzüge des an⸗ 
gebotenen Entwurfs dargelegt waren. " 

Das Bolf betrat den angebeuteten Weg, fih durch das Organ der Amts- 
verfammlungen und Magiftrate für den von ven Ständen abgelehnten Entwurf 
zu erklären, nicht. Der König aber war feft entſchloſſen, keine weiteren Zugeftänd- 
niffe zu maden, ja er traf Anftalten, gegen künftige ftänpifhe Forderungen einen 
Niegel vorzufhieben. Schon in einem frühern Reftript an vie Stände vom 26. Mat 
1817 hatte er angebeutet, wenn feine Anerbietungen nicht angenommen würden, 
fo wolle er abwarten, welde Grundſätze in Hinficht auf Berfafiungen in den zum 
pentfhen Bunde gehörigen Staaten allgemein angenommen würben. Diefe Feſt⸗ 


fegung allgemeiner Grundfäge fuchte er jegt zu veranlaffen. Zu dieſem Zwecke 


beauftragte er feinen Gefandten in Wien, ven Grafen von WinzingerBve und ven 
Geſandten am Bundestag Minifter v. Wangenhein, ver bald nad dem Scheitern 
des Verfaſſungswerks auf diefen Poften verfegt worden war, eine authentiſche In= 
terpretation des Artikels 13 der Bundesakte anzubahnen?). Dies gefhah im De- 
cember 1817, hatte aber zunächft feinen Erfolg. Doch merkte ſich Metternich die 
Mahnung und verfolgte die Sache weiter. Das Ergebniß feiner Weberlegung 
waren der Karlabader Kongreß und die Wiener Minifterfonferenz. Obgleich hier 
MWürtemberg gegen bie Metternich’fchen Vorſchläge, die wieder nuf der anderen 
Seite zu weit gingen, indem fie bie für Würtemberg unangenehmfte Form der 
Repräfentation, die Wiederherftellung altftändifcher Serfaffung beflürworteten, Oppo- 
fittion machte, fo war bie Regierung doch im Ganzen mit dem Erfolg zufrieden. 
Erft als die reaktionären Beftrebungen in Wien und Frankfurt ihre Früchte ge- 
tragen hatten, knüpfte König Wilhelm neue Berhbandlungen an und berief auf ben 
13. Iuli 1819 eine nene Ständeverfammlung, um ihr einen Berfaflungsentwurf 
vorzulegen, ber bie vereinfachte, aber etwas abgeſchwächte Redaktion des Entwurfs 
vom Iahr 1817 war. Die Verhandlungen, welche Junähft von einer ſtändiſchen 
Kommiffion mit einigen königlichen Näthen geführt wurben, bildeten einen merk⸗ 
würdigen Sontraft gegen das zähe, pebantifche und mißtrauiſche Markten der 
früheren ſtändiſchen Kommiffionen. Dian beeiferte fich jest, Vertrauen und Schmieg- 
famteit zu zeigen und war fo eilfertig, daß man es zu gar feiner Debatte kommen 
ließ und fih nicht einmal Zeit nahm, ein Protokoll über die Verhandlungen zu 
führen, fo daß über das Zuſtandekommen einzelner Verfaſſungsbeſtimmungen ein 


2) ©, die Schrift: Graf H. Lev. Winzgigerode, Gotta 1866, und H. v. Treitſchke: 
„Aus der elürhegei mittelftaatlicher Pott” in den Preuß. Jahrbuchern. Jahrg. 1866 
temberbeft ©. 305 u. ff. 





MWurtemberg. 243 


unaufgehelltes Dunkel ſchwebt. Die volle Berfammlung, gedrängt durch die drohende 
Wolke des Karläbader Kongreſſes, hatte noch größere Eile und fo wurbe man 
fhon am 18. September mit ven Berathungen fertig und am 25. Tonnte bie 
Berfafiung in Ludwigsburg unterzeichnet werben. 

Die Grundzüge diefer Berfaffung find folgende Die Volks— 
vertretung befteht aus zwei Kammern; die erfte aus den volljährigen Prinzen bes 
töniglichen Haufes, den Häuptern der vormaligen reihsftändifchen fürftlihden und 
gräfliden Familien und ven vom König erbli oder auf lebenslang ernannten 
Mitgliedern, die jedoch ein Drittheil der Übrigen Mitgliever der erften Kammer 
nicht Überfleigen dürfen. Die gewählten Bertreter des ritterfchaftlichen Adels, vie 
evangelifhen und katholiſchen Prälaten und ber Kanzler der Univerfität, welche in 
dem Entwurf von 1817 der erfien Kammer zugetbeilt waren, find in der Ber- 
fafjung von 1819 ver zweiten einverleibt. Diefe befteht aus 13 gewählten Mit- 
gliedern der immatrifulirten Ritterſchaft, d. b. der adeligen Grunbbefiger, die eine 
reine Rente von 5000 fl. aus ihren Gütern beziehen, 6 proteftantifchen Prälaten, 
dem katholiſchen Biſchof und 2 katholiſchen Geiftlihen und dem Kanzler der Uni- 
verfität, 7 gewählten Abgeordneten der fogenannten guten Städte und einem Ab- 
georbneten von jevem der 63 Oberamtsbezirke, zuſammen 82 Mitgliedern. Die 
Wahl der Abgeorbneten geſchieht in offener Abflimmung vor einer von dem Ober- 
amtmann des Bezirks geleiteten Kommilfion durch Wahlmänner, die eiwa den fle- 
benten Theil einer Gemeinde betragen. Zwei Drittbeile verjelben beftehen aus den⸗ 
jenigen Ortsbürgern, welche im nächſt vorhergegangenen Yinanzjahre "die hödhfte 
ordentliche Steuer entrichtet haben, das legte Drittheil wird von denjenigen Orts⸗ 
bürgern gewählt, welde überhaupt eine orbentlihe Steuer zu bezahlen haben?). 
Die paffive Wahlfähigkeit ift fehr wenigen Befhräntungen unterworfen und nur an 
Bollendung bes dreißigften Lebensjahres, guten Leumund, eine der brei chriftlichen 
Konfeffionen und ven Befit des würtembergiſchen Staatsbürgerrechtd “gebunden. 
Kirchen⸗ und Staatsdiener dürfen nicht in ihrem Amtsſprengel gewählt werden und 
bepärfen des Urlaubs ver ihnen vorgefeßten höchſten Behörbe. Diefer Wahlmodus 
ſcheint ſehr liberal zu fein, tft e8 aber in ver That nicht, da das Hauptgewicht auf 
vie ländliche Bevölkerung fällt, welche weitaus die Mehrzahl der Wahlmänner lie⸗ 
fert, da fie nicht ans dem Ganzen eines Oberamtsbezirts, fondern aus den einzelnen 
Gemeinden gezogen werben, in welchen häufig bie zwei Drittheile der Höchftbefteuerten 
anf ein fehr nieveres Maß des Befipes herabfteigen und eine Summe von 5 bis 
6 fl. das Wahlrecht geben kann. Dazu fommt, daß als orventlihe Steuer nur 
die Grund» und Gewerbeftener zählt, bei deren Umlegung die Schulden nicht ab⸗ 
gezogen werden, während vie Kapital, Beſoldungs⸗ und fonftige Einkommensſteuer 
als außerordentliche Steuer nicht wahlberechtigt macht. Daraus folgt dann, daß 
die Kapitaliften, Advolaten, Werzte, Lehrer, Schriftfteller und Beamten, wenn fie 
nicht zufällig einen größeren Grundbefitz haben, von ver altiven Wahl ausge 
ſchloffen find. Daß dieſe Wahlbeftimmungen nachtheilig auf die Zuſammenſetzung 
der Abgeordnetenkammer wirken, bat die Erfahrung ſeit dem Beftand der Ber- 
feffung binlänglid gezeigt; es können nur diejenigen Bewerber durchdringen, welche 
die Mehrzahl des vandvolkes für fi zu gewinnen wiflen oder von einem einfluß- 
reihen Bezirlsbeamten den Ortsvorftehern wirkſam empfohlen werben. 


3, In dem Wahlgeſetz des fländiichen Entwurfs von 1816 war die aktive Wablfähigkeit an 
gar feinen Genfus geknüpft, bei dem Wahlgefeß des Töniglihen Entwurfs von 1817 die Berech⸗ 
tigung als Wahlmann gewählt zu werden, an 15 fl. Staatsſteuer; Wähler eines Wahlmannes 
durfte jeder unbefholtene Bürger von 25 Jahren fein. 


16* 





Iurtemberg. 
pre if Für eime Wahlperiove von 6 Jahren gültig; 
2 ige Neuwahl vorgenommen werben. Der Vor⸗ 
ug fü der Präfident und Bicepraͤſident in jeder ber 
-ı Sufisenten der erften Kammer ernennt der König ohne 
„Nu ums Kammer fchlägt biefe durch Wahl brei ihrer Mit- 
u trug ermenut barans einen zum Präfiventen; auf biefelbe 
 xıe mes Sicepräfidenten in beiden Kammern befegt. Der Be- 
un di Mechte des Landes in dem durch die Berfafiung beftimmtien 
0 Ygemien geltend zu machen. Demgemäß haben fie zur Ausübung 
an mwitzmoirten; es darf daher ohne ihre Einwilligung fein 
ra oder aufgehoben, auch fein Vertrag gefchloflen werben, 
Na wie wer Staatsburger Eintrag thun Könnte. Ebenſo ift die Erhe- 
u or Wereitung der Staatsbedürfnifſe erforberlichen Stenern an die Ber- 
N un zu Stände gefnüpft, denen genane Nahmelfung über vie Bermenvung 
mmeinlünfte gegeben werben muß. Der Hanptetat wirb je auf brei Jahre 
BERN es müſſen daher die Stände nad 3 Jahren wieder zufammen- 
—— werden; die Verwilligung ber Steuern darf aber nicht an Bedingungen 
8* werden, welche die Verwendung der Steuern nicht unmittelbar betreffen. 


vr 


von der Regierung fo ausgelegt zu werben: die Stände dürfen das 
Feat ter Stenerverweigerung nicht benügen, um ber Oppofition gegen ein ihnen 
migfäliges Regimentöfuftem Nahbrud zu geben. Die Initiative für Geſetzgebung 
und andere Staatsalte hat nur die Regierung, doch iſt die Ständeverſammlung 
befugt, ihre Wünfde, Borftellungen und Beſchwerden tem König vorzutragen, 
and wegen verfaffungsmidriger Handlungen Mage anzuftellen. Für die Zeit, iu 
weicher die Bolfövertretung nicht verfammelt tft, beforgt ein am Ende einer Sigungs- 
periove aus beiden Kammern gemeinſchaftlich gewählter Ausſchuß die zur unnnter- 
brochenen Wirkſamkeit der Landesvertretung nothwendigen Geſchäfte. Derfelbe darf 
jedoch Weber Geſetze ſanktioniren, noch Steuern verwilligen, fondern nur wenn 
pringliche Bragen vorliegen, um außerorbentlihe Einberufung einer Gtändever- 
fammlung bitten. Der Vorgang ber früheren Ausſchüſſe hat die Regierung be- 
flimmt, dem Ausſchuß möglihft wenige Befugniffe einzuräumen, während bie 
Kämpfer für das alte Recht auf eine Wiederherftellung des Ausſchufſes befonderen 
Werth gelegt hatten. Außer dem Ausſchuß befteht zum Schutz der Berfaflung ein 
Staatögerichtöhof, welcher über Berlegung einzelner Punkte ver Berfaflung und 
über etwaige Unternehmungen zum Umfturz berfelben zu erfenneu bat; er befteht 
ans einem vom König ernannten Präfldenten und 12 Richtern, wovon die eine 
Hälfte der König ernennt, die andere aber von ber Stänbeverfammlung gewählt wird, 

Unter deu Rechten der Staatsbürger iſt aud die Freiheit der Prefie aufge: 
führt; fie wurde aber wenige Tage nad Verkündigung der Berfaflung in Folge 
der Karlsbader Beilüffe unter Berufung anf das Bundesrecht wieder aufgehoben 
und blieb es bis zum März 1848. 

Auf den 15. Januar 1820 wurde ber erfte verfaffungsmäßige Landtag 
nad Stuttgart berufen und begann fofort feine Thätigfeit mit Erlebiguug ver- 
fchiedener formeller Gefhäfte, wobei die Verhandlungen einen durchaus ruhigen 
frieplichen Verlauf nahmen und feine Spur von Oppofition gegen die Regierung 
fi zeigte. Diefe Eintracht fchien aber auf einmal ein Ende nehmen zu wollen, 
als im December 1820 Friedrich Lift als Abgeordneter der Stadt Reut- 
lingen in die Kammer eintrat und eine Reihe von Anträgen flellte, welche weitgrei- 
fende Reformen in Berfaflung und Verwaltung bezwedten. Obgleih Lift, in und 


würtemberg. 245 


außerhalb der Kammer perfönlich unbeliebt, wenige Anhänger fand, fo glaubte vie 
Regierung ihm doch mit aller Energie entgegentreten zu müflen. Er bot eine will- 
tommene Handhabe dazu durch den Entwurf eines radikalen Reformplans, in wel- 
chem er ohne Schonung ver Perfonen und altbergebrachten Berhältnifie eine gänz⸗ 
lihe Umgeftaltung ver würtembergiſchen Verwaltung beantragte. Diefen als Bitt- 
fhrift an tie Regierung abgefaßten Entwurf verbreitete er im ganzen Lande mit 
der Abficht, daß fänmmtliche S-meinden benfelben unterfchreiben follten. Auf Grund 
biefes Altenftäds wurde Liſt wegen Beleidigung ber Regierung und ber gefammten 
Staatsdienerſchaft in peinliche Unterfuhung gezogen und von der Kammer feine 
Ansfchliegung verlangt. Obgleih eine Anzahl Abgeordneter, namentlid; Uhland, 
fich feiner mit Wärme und Entjchietenheit annahmen, fo drang doch die Regie 
rung mit ihrem Anfinnen durch und Üft wurde mit 56 gegen 30 Stimmen aus⸗ 
geihloffen. Dieſer Sieg verfchaffte ver Regierung die volllommene Herrſchaft in 
der Kammer und es kam gar feine Oppofition in derfelben auf. Es wurde eine 
Reihe von der Regierung vorgelegter Gefegesentwürfe über Organifation der Ge: 
meinden um Dberämter, Berbeflerung des Eivilprocekverfahrens, eine neue Pfand⸗ 
ordnung und Anderes verabfchievet, aber in dem ganzen Iahrzehent von 1820 bie 
1830 geſchah nichts für eine freifinnige Fortbildung der Berfaflung. 

Die Iulirevolution von 1830 brachte auch für Würtemberg ein neues poli⸗ 
tiſches Leben, es bildete fi eine oppofitionelle Partei und Preſſe (dad Oppofitiong- 
blatt „Der Hochwächter“), aber vie Regierung wußte die Einberufung ber 1831 
uen gewählten Kammer hinauszuſchieben, bis ſich der ärgſte Sturm gelegt hatte, 
und als fie endlich im Frühjahr 1833 eröffnet wurde, gelang es der Regierung, 
die Oppofition dadurch zu ſchwächen, daß fie ven Antrag ftellte, vier neugewählte 
Abgeordnete, welche früher wegen politifcher Verbindungen beftraft, aber nachher 
begnabigt worben waren, fowie aud den ehemaligen Minifter von Wangen- 
heim als Fremden, auszufchließen, was ihr mit einer Meinen Majorität gelang. 
Doch gewann die Oppofition in ber Folge nahezu die Majorität und benägte 
ihre Macht, um eine Meihe von Anträgen zu ftellen, die auf Erweiterung ber 
Bollsrechte und Belämpfung des von ber Regierung vertretenen Syſtems gerichtet 
waren. Als der Abgeorbnete P. Pfizer, der kurz zuvor wegen feines Brief. 
wechſels zweier Deutfhen aus dem Stantsbienft ausgetreten war, am 13. Febr. 
1833 den Antrag flellte, die gegen die verfaflungsmäßigen Rechte der Landſtände, 
namentlich gegen das Stenerbewilligungsrecht gerichteten Beſchlüſſe der Bundes⸗ 
verfammlung vom 28. Junt 1832 nit als verbindlich anzuertennen, verlangte 
die Regierung, die Kammer folle dieſen Antrag mit verdientem Unwillen verwerfen, 
und als die Kammer biefes Anfinnen nicht ohne Hohn zurüdwies, wurde fie anı 
22. März aufgelöst. Bei den Neuwahlen bot die Megierung alle ihre Mittel, be 
ſonders Wahlbeeinfluffung und Urlaubsverweigerung gegen liberale Staatebiener, 
auf, um bie Oppofition zu fchwächen, und es gelang ihr auch wirklich, fie bis auf 
etwa 20 Stimmen zu vermindern, welche zwar mit Entfchlevenheit vie Grunbfäge 
ihrer Partei vertraten, aber auf bie Polttit der Regierung wenig Einfluß üben 
tonnten. Der König und feine Minifter wollten die politifche Berechtigung ver 
Dppofition gar nicht begreifen und fahen in derfelben nur undankbare Unzufrieden⸗ 
heit und perſoönliche Feindſchaft. In dem Volk aber hatte der Liberalismus, der 
ih zu abſtrakt an Rechts⸗ und Berfaffungsfragen hielt und fi mit den ma— 
teriellen Interefien zu wenig befaßte, feinen rechten Nüdhalt, und dieſe Theilnahm: 
lofigteit des Volles beftimmte mehrere hervorragende Mitglieder ver liberalen Par- 
tei, bei den Neuwahlen im Jahre 1838 die Wiederwahl abzulehnen. Der fpätere 


244 Würtemberg. 


Die Wahl eines Abgeordneten if für eine Wahlperi 
alle ſechs Jahre muß eine vollſtandige Neuwahl vorgen 
fand der Ständeverfammlung if der Präfident und 
beiden Kammern; den Präflbenten der erften Kamme 
Vorſchlag, für den der zweiten Kammer fchlägt dieſe 
Aıeder vor und ber König ermennt baraus einen - 

eife wird bie Stelle eines Vicepräſidenten in bei 
ruf der Stände iſt: die Rechte des Landes in dem 
BVerhältniffe zum Regenten geltend zu machen. D 
der Öefepgebungsgemwalt mitzuwirken; es darf i 
Sefe gegeben, abgeändert oder aufgehoben, aı 
welcher den Rechten der Staatsbürger Eintra 
bung der zur Veftreitung der Staatsbebärfni' 
willigung der Stände gefnüpft, denen gena- 
der Staatseinfünfte gegeben werden muß. 
verwilligt und es mäflen daher die St’ 
berufen werben; die Berwilligung ber 
jelnäpft werben, welde bie verwendur 

es pflegt von der Regierung fo au, 
Nedht der Steuerverweigerung nicht T 
mißfälliges Regimentsfuftem hastırı 
und andere Staatsafte hat nur bie 
befugt, ihre Wünſche, Borftellun. 
aud wegen verfafjungswibriger H 
welcher bie Bolfövertretung nicht 
periode aus beiden Kammern 5 
brodenen Wirffamfeit ver Lan 
jedoch weder Gefege fanttioni- 
dringliche Fragen vorliegen, 
fammlung bitten. Der Br 





ww 


vn. Der 
tefente 


te 


m, 

dergiſche, 
angeorbnet, 

a derfelben bald 
punlt des März- 
Uppofition trat und 


„.utionaliemus vorging. 
tung beſchloſſene Reihe- 


fimmt, dem Auefhuß ı: 
Kämpfer für das alte R 
Werih gelegt hatten. Wı 


, ft nad längerem Wider · 
nur das Minifterium im Bei- 


auch bie Kammer bie dringenbfte 


Staategerichtahof, we! 

über etwaige Unterner 

aus einem vom Kön 

Hälfte der König err 
Unter den R. 

führt; fie wurde 

der Karlabader “ 


Volkes einen fo bebeutenden Grad 

ründigung bes Gehorſams gegen ben 

Tage vorher (22. April) hatte der König 

«„ß er wohl die Reichsverfafſung, aber nicht 
‚ereit fei. „Dem Hanfe Hohenzollern“, fagte er, 
cın dies meinem Lande, meiner Familie und mir 
alle Fürſten von Deutſchland es thun, fo wärbe 


eutſchland bringen, aber mit gebrochenem Herzen. Die 
ih in meinem Lande durchführen, aber dem Hanfe 
‘ mid nit, mein Gemiffen unb meine Ueberzeugung 
aifer von Defterreih, wenn er gewählt worben wäre, 
ıbe, daß es für Würtemberg vortheilhaft geweſen wäre, 


Haben“ &), 


t fläntifen Debutation au Baier gebrachten und vom König 


ib. Merkur v. 22, April 1849. 






> 


Wiürtemberg. 247 


3 
'apg eymungen Anerkepnung der Wahl des Königs von Preußen 
? hatte belanntlich Teine praktiſche Folge, da derſelbe die Wahl 
bie Reichsverfafſung überhaupt nicht zur Ausführung gelangte. 
Regierung trat fpäter (27. Febr. 1850), im Gegenfag zur 
en Königen von Bayern und Hannover in ein befonderes 
um Römer löste im Einverſtändniß mit dem König bie 
* nah Stuttgart überfiebelten Nattonalverfammluug 
ngewalt auf, weil fie verfuchte, Würtemberg zur 
olutionspartei in Baden zu nöthigen. Obgleich 
Sammlung und die Ablehnung des Königs von 
Salt verloren hatte, fo wurden jett Anftalten 
Tung nad den Grundſätzen ber Reichsver⸗ 
: und von ben Ständen die Einberufung 
offen. Die neue, aus bireften Wahlen 
rwiegend demokratiſchen Mitgliedern zufam- 
rium Römer, nod der König mit derſelben 
surfte. Das Mörzminifterium trat ab, made 
unten Plaß, fondern wurde in Folge ber bereits 
arzlichen Stantsmännern abgeldst (28, Oft. 1849). 
ne Minifier Schlay er übernahm bie Leitung bes 
gte fi aber bald, daß er mit biefer Kammer nicht 
tie am 22. Dec. 1849 auf. Es wurde eine neue, nicht 
ahlt, bei deren Eröffnung am 15. März 1850 König 
‚ige Rede hielt, in welder er bie Idee eines beutihen Ein- 
gefährlichſte aller Traumbilder erflärte, die Erhaltung ter 

: deutihen Stämme als die Grundbedingung der wahren Stärke, 

ıheit der deutfchen Nation, und jede Unterorpnung eines beutjchen 

unter einen andern für das Grab unferer nationalen Eriftenz, bie 

rfaffung aber als vie politifh einzig mögliche und praltiih durch⸗ 

vorm ber deutſchen Einheit bezeichnete. Die damit verbundenen beleidi⸗ 

Ausfälle auf die preußifche Regierung hatten die Abberufung des preußifchen 

‚rien zur Folge. Der König aber beharrte auf feiner antipreußifhen Politik 

. trat am 12. Oftober mit dem Kaifer von Defterreih und dem König von 

Zayeru in Bregenz zufammen, um mit biefen ernfllihde Rüftungen zum Krieg 

gegen Preußen zu verabreden, der nur durch Nachgiebigkeit ver letzteren Macht 
und ihre Demüthigung zu Olmüg vermieden wurde. 

Mit der demokratiſchen Kammer wer vie Regierung nur in der Oppofition 
gegen Preußen einverftanden; von dem am 27. Februar errichteten Bündniß mit 
Bayern und Sachſen und dem in Münden vereinbarten Verſuch einer veutfchen 
Dundesverfaflung wollte die Kammer nichts wiffen und befchloß, den damaligen 
Minifter der auswärtigen Angelegenheiten, welcher ohne die Zuftimmung der 
Ständeverfammlung den Beitritt zu jenem Bünbniß unterzeichnet hatte, in An⸗ 
Hageftand zu verfegen. Ueber die Berfaffungsreform konnte ſich die Regierung und 
die Kammer ebenjo wenig verflänvigen, weshalb das Minifterium Sclayer am 
1. Suli feine Entlaſſung nahm. Das Minifterium Linden, das nun nadfolgte, 
Ihritt auf dem Wege der Reaktion feder vor, und als die Kammer am 6. Nov. 
1850 bie von der Regierung geforverten Gelder zur Exefution gegen Kurheſſen 
verweigerte, wurde fie aufgelöst, die Verhandlungen zur Verfaſſungsreviſion abge- 
brochen und bie alte Berfaffung mit ihrem ſchlechten Wahlgefeg wieber in ihre 





246 i Würtemberg. 

Märzminifter Römer war unter ven Wenigen, di ‚onbernfene neue 
Charakter ver ftändifhen Verhandlungen blieb bie dem Wunfche 
lichen verfelbe, wie er in ben Jahren 1820—1R »feit gefet, 
Staatöhauehalt gab zu wenig Ausftellungen An' von 1854 
Gefege eingebracht und angenommen, barunteı forderte 
geſetz und Strafproceß ordnung, Schulgefeg ı ir die 
Abloſung der Zehnten ſcheiterte an dem Wide !ehr> 
Leben machte feine Fortſchritte, es blieb ein ng 


tonnten feinen entſcheldenden Einfluß auf t 
teine wirkliche Macht im Staate. 

Die Märzbewegung bes Jahres 18 
gierung zu bedeutenden Zugeftänbniffen u 
Die Preßfreipeit wurde am 1. März m: 
entlaffen und bie Führer der fländifd- 
vernoh, Öoppelt zu den erle 
neuen Minifterium erlafienes Pros 
entſprechender Reformen; mit te 


wurben bie nöthigften Geſetze ve . er 
hartnädig befämpfte, nun aber .ı Baden 
Wahlen zum beutfchen Parlam . ung gefallen 
vorgenommen und Würtemb. „handlung nicht 
Männer wie Uhland, ..0 der Kammer eine 
Fallati, Rümelin wurbe von ber zweiten 
theils auf der linken Geit „men berivorfen. Diesmal 
am 27. März aufgelöst: ‚zungen, und es iſt bies eigent- 
und am 20. Sept. 18 . Zürtembergs, daß die Kammer die 
eine neurliberale ober  ftand aud die einftimmige öffentliche 
miniſteriums nicht a: en Volkes Hinter der Kammermajorität. 
dabei bis am bie äu⸗ at zurüdnehmen und bie Rechte der katholiſchen 

Die am 28. » sgebung mit den Ständen vereinbaren. Der Kul- 


it unterzeichnet hatte, Staatsrath Rüämmelin, 

neller Weife ab, aber der Minifter des Inneren, v. 

he Vater des Konkordates galt, blieb im Amt, 

dach dem Konforbatsfampf trat wieber ein Frie- 

v und Regierung ein; ver bejahrte König Wil- 

Bolf haben und gab es zu, daß fein Minifter 

jolſteiniſchen Krieges fi der Bolfsftimmung an- 

bie nationale Frage einzugehen. Die Stände 

ı Monarchen durch Reformforderungen oder An- 
rium Linden zu Tränfen. 

der Tod König Wilhelms deſſen faft A8jährige 

ı (geb. d. 6. März 1823) beftieg ald Karl. 

t, ben 24. Sept. erhielt der Minifter v. Linden 

ırtet ihre Entlaſſung, und ber Leiter der wür ⸗ 

tterſchaftliche Abgeorduete Freiherr v. Barn- 

ı'der auswärtigen Angelegenheiten und bie von 

osgetreunten Berfehrsanftalten übernahm. Das 

ch Wufgebung der die Prefje und das Bereind- 

und der Miniſter der Verkehrsanſtalten insbe 


verfaffung wurte 
fireben am .24. 








Würtemberg. 249 


e energiſchen Betrieb der weiteren Ausdehnung bes Eiſenbahnnetzes 
3 ft, zögerte aber mit den in Ausficht geftellten Reformen ver Ber- 
nd ber Rechtspflege. 

deutſchen Politik Hielt ſich das Miniſterium Barnbüler anf der Seite 

nd der Mittelſtaaten gegen Preußen; in der Thronrede, mit welcher 

n 23. Mai 1866 den Landtag eröffnete, erflärte ex, wenn ber 

n würbe, eintreten zu wollen für bie gefährdeten Interefien ver 

Bundesrecht und die Selbſtändigkeit Würtembergs und forderte 

hen Militärkredit von 7,700,000 fl., ver am 5. Juni mit 82 

bewilligt wurde. Der würtembergifhe Staatsanzeiger trug bie 

ungen gegen Preußen zur Schau, in der Bunbestagsflgung 

»e MWürtemberg für den öſterreichiſchen Antrag auf fhleunige 

indesheeres gegen Preußen und ließ alsbald feine Truppen 

en. Nachdem Preußen bei Königgräg am 3. Juli den ent- 

‚nen hatte, lieferten die Wärtemberger am 24. Juli bei 

: ungünftiges Treffen gegen die preußiſche Mainarmee, wo- 

ann verloren. Am 1. Auguſt ſchloß Barnbäler einen Waffen: 

‚eußifchen VBetehlshaber General v. Manteuffel nnd am 13. Aug. 

. mit der Krone Preußen, wobei ſich Würtemberg zur Bezahlung 

tl. Kriegskoſtenentſchädigung verpflichten mußte. Gleichzeitig wurde 

and Trutzbündniß“, das die wärtembergifhen Truppen im Kriegs⸗ 

:n Oberbefehl des Königs von Preußen ftellt, mit biefer Macht ge- 

om Juli 1867 trat die würtembergiſche Regierung dem ernenerten Zoll⸗ 

cei, im defſen jegiger Berfafiung nur no der preußtfchen Regierung ein 

vorbehalten und die Gefeßgebung von der Mitwirkung eines „Zollparla» 
entes“ abhängig gemacht ifl*). 

II. Die Staatsverwaltung wird durch ſechs Minifterien beforgt, 
nämlidh 1) Juſtiz, 2) Auswärtige Angelegenheiten, 3) Inneres, 4) Kirchen⸗ und 
Schulweſen, 5) Kriegsweſen, 6) Finanzen. Den Minifterien zur Seite fleht ber 
Geheime Rath, der aus den Vorſtänden der Minifterten, einer Anzahl vom König 
befonders ernannten Räthe und einem Präfidenten beſteht. Er ift vorzugsweiſe 
eine berathende Behoͤrde, die alle dem Könige vorzufchlagenden wichtigen Anträge 
zu begutachten hat. Zugleich bilvet ex eine Rekursinſtanz gegen vie Verfügungen 
einzelner Departementsminifter. In der altwürtembergifchen Berfaffung galt er als 
Wächter derfelben, e8 wurbe daher in den VBerfafiungsfämpfen der Jahre 1814— 
1817 großer Werth auf die Beibehaltung dieſes Kollegiums gelegt, während neuer⸗ 
ld der Geheimerath im Gegentheil als eine verfafiungswiorige Inſtitution ange- 
fochten worden iſt, da in berfelben den verantwortliden Miniſterien eine unverant- 
wortliche Behörde zur Seite gefert If. Der König hat zur Beforgung feiner Re- 
gierungsgeſchäfte ein fogenanntes Geheimes Kabinet, das aber nur die Funktionen 
eines Sekretariats hat und den Minifterien keinen Eintrag thut, indem jeder De» 
partementsminifter den perfönlihen Vortrag beim König hat. 

Das ganze Land iſt in vier Kreife eingetheilt, deren Verwaltung unter dem 
Mintfterium des Inneren flieht. Die Benennungen der Kreife find: 1) Redarkreis, 
2) Jartkreis, 3) Schwarzwalpkreis, 4) Donaufreis. Die Kreiſe zerfallen in Ober- 
ämter, deren Würlemberg im Ganzen 63 zählt, von 2 bis 10 Duabratmellen 
mb 18—45,000 Einwohnern. Die Nefidenzftabt Stuttgart bildet einen eigenen, 


*) Brgl. den Artikel „Deuticland“ im Nachtrag. 


248 Würtemberg. 


Gültigkeit eingefegt. Die tm folgenden Jake gem’ 


Kammer ftimmte bei allen wichtigen Tragen ir 
der Reglerung. Die Frankfurter Grundred · 
die Todee- und Prügelftrafe wieder eingeff 
zur Beſchränkung der Brefle ansgebeutet. 
und fogar durch eine Rlage beim B— 
duch das Abloſungegeſetz erlittenen ° 
heit ber Kammer ſich bei jever Ge‘ 
felbft Bedenken trug, bie Reaftion 
pflichtigen tief eingreifenden We 
J at dur 
tor“ 
v 


eines Oberamts flchen ber 
„nter ben Oberämtern ftchen 
‚zart und Ulm Oberbürger- 


werden bei ben Gemeinden 
> barüber, aus drei von ber 


‚m König ernannt, bei dem 
Remeindeangelegenheiten hat 


:m 7—21 Mitgliebern zur 


ten Bürgern auf 2 Jahre 
n Gemeinden bes Bezirks 
iammilung vertreten, welde 

„tigen von ben Gemeind- 
ramtmanns beſteht. Leg- 


ganze Gebiet des innern Staats- 

“ntbjdafl. Cs hat außer ben Kreis- 

gun, die Gtaatöfranfenanftalten, die Ab⸗ 
se für Handel und Gewerbe und die für Lanb- 


2: ufig führt die Oberaufſicht über ſämmiliche Gerichts- 
otamgen find bie Ortövorfteher mit dem Gemeinberath, 
wastgerichte, bann bie Kreiögerichtähöfe und zulegt das 
a extentlien Gerichten find durch Gefeg vom 24. Auguft 
bustelsgerihte und ein Oberhanbelögericht eingeſetzt. Außer 
riehrten Richtern fungiert hier eine dem Bedürfniß ent- 
gewählten Mitglietern aus dem Kaufmannsftande. Eine 
ver Mundlichteit und Deffentligkeit gegründete, aud auf 
be Geridtsorganifation wird feit Jahren vorbereitet. 
des Kichen- und Schulweſens ift feit 1848 von dem Mie 








> u 30 Aueren, mit dem es bis dahin verbunden war, ausgeſchieden. Das- 





FERRT N 


Oderauſſicht über die verfafiungsmäßig beftehenden Kirchen- und Re— 
‚naniten, ſowie über das gefammte Unterrichtsweſen. Die evangeliſche 


von var zen dem Konfiftorium, einem aus geiftlihen und weltlichen Räthen 
“ ucugshigten Kollegium, 6 Oeneralfuperintendenten und 49 Delanen regiert, 
an «agent je in ber Oberamtöftabt ihren Gig haben. Die Mitglieder des Kon- 
insb Düben mit ben 6 Prälaten die fogenannte Synode, welche ſich die Er- 
sul Der Delanats- und Pfarroifitationen berichten läßt und bie etwa ſich er- 
roten Möftöude rügt Cine aus gewählten geiftlihen und weltlihen Mit- 
zuerern beftehende Landesſhuode iſt in der Ginführung begrifien. Die 49 De- 
eaaiggirfe umfafien 896 Pfarreien, wozu nod ein Feldprobſteiſprengel mit 


3 Auraifonspfarreien kommt. 


=--and ber katholiſchen Kirdye bilden ber Landesbiſchof in Rottenburg 
deſſen Domtapitel. Nach dem Ränbifh verabſchiedeten Gefege vom 
862 iſt das Verhältnig der katholiſchen Kirch-⸗ zum Staat in ber 
daß allgemeine Anoronungen der latholifchen Kirchenbehörde nur 
rhergehenden Genehmigung der Regierung bebürfen, wenn fie in 
Berhältniffe eingreifen. Die Kirchenãmter werben, fomeit bad Ernen- 

t auf einem Patronatsrecht beruht, durch ben Biſchof befegt, dem 
blin über die Geiftlihen zufteht. Die in ber Staatögemalt einbe- 


Miürtemberg. 251 


griffenen Wuffichtsrechte Aber die katholiſche Kirche werben durch ven Tatholifchen 
Iberkirchenrath ausgeübt, der zugleih die Oberſchulbehörde über die katholiſchen 
esſchulen des Landes iſt. 
Das evangeliſche Volksſchulweſen ſteht unter Aufficht des Konfiſtoriums und 
rtsſchulbehörden, welche aus dem weltlichen und geiſtlichen Ortsvorftand, 
hullehrern und gewählten Mitgliedern ver Schulgemeinde beſtehen. Die 
Page ter Volksſchullehrer iſt durch ein ftändifh verabfchiebetes Geſetz 
5 weſentlich verbefiert. Die Gelehrten» und Realfchulen des Landes, 
einer ſelbſtändigen Auffihtsbehörbe, Studienrath genannt, flanden, 
hes Dekret vom 2. Oktober 1866 einer Abtheilung des Mini» 
- und Schulweſen untergeben; vie Lanbesuniverfität, die poly: 
die land» und forſtwirthfchaftliche Alademie zu Hohenheim 
r dem Minifterium. 
„erium bat die Leitung des Staatshaushaltes mit Ansnahme 
us. Die Oberfinanzlammer mit ihren verſchiedenen Seltionen für 
.., Forſtweſen, Berg: und Hüttenwefen, die Oberrechnungskammer, bie 
„ıt5-Dauptlaflenverwaltung, das Stenerfollegium, das ſtatiſtiſch⸗topographiſche 
Bureau find feine untergeorpneten Gentralftellen. 
Das Staatövermögen beftcht 
1) in Balbungen, 600,000 Morgen mit jährlicdem 


-  Reinertrag von 3,393,000 Gulden. 
2) Meiereien und fonftige Grundſtücke 322,000  „ 
3) Uebrige Grunpflodötheile 468,000 „ 
Die gewöhnliden Iahreseinnahmen betragen | 
1) bei den Kameralämtern 600,066 Gulden, 
2) bei den Forſtverwaltungen 3,121,518 „ - 
3) Berg. und Hüttenwefen 340,00  „ 
4) Salinenwefen 950,000 „ 
5) Eifenbahnen 2,886,250  „ 
. 6) Poftertrag 199,900  „ 
7) Sonftige Einnahmen 340,300 „ 
Sefammtbetrag des Stantslanımerguts 8,488,034 Gulden. 
Stenerbetrag: " 
Grundſteuer und Gewerbefteuer 3,000,000 Gulden, 
Gintommenfteuer 730,000  „ 
Zoll und Acciſe 2,620,000 „ 


Hundeftenern, Sporteln, Wirtbfchaftsabgaben u. ſ. w. 2,277,560 „ 


Sefammt-Einnahme 17,065,594 Gulden. 
Die Ausgaben beftehen in folgenden Poften: 


Civilliſte 897,556 Gulden, 
Apanagen 301,525 „ 
Zinfen der Staatsfhuld 4,268,136 „ 
Renten 102,581 „ 
Penfionen N 799,767 , 
Geheimer Rath 43,483 „ 
Minifterium der: Iuftiz 1,160,685  „ 
Minifterium des Innern 1,854,1897°° „ 


Uebertrag 9,427,930 Gulden. 











252 Würtemberg. 
Uebertrag 9,427,928 Gulden, 


Minifterium des Kirchen und Schulweſens 2,318,048 „ 
Minifterium der Finanzen B 913,981 „ 

. Minifterium des Auswärtigen 305415 „ 
Minifterium bed Kriegsweſens 3,849,898 u 
Standiſche Suftentattonsfaffe einſchließlich der Koften 

der Staatoſchuldenverwaltung 178,974 u 
Reſervefonds 70000 
Die Geſammtſumme ber gewöhnlichen Ausgaben 
beträgt fomit 17,064,236 Gulden. 


Die Staatsſchuld belief fih am 30. Juni 1865 auf 75,489,820 Gulden, 
ſeitdem find in Folge des Krieges und meiterer Eifenbahnunternehmungen hinzue 
gefommen 14 Millionen. 

Bon den Steuern fommt auf den Kopf 6,5, Gulden, 
Mit den Gemeindefteuern kommt auf ben Kopf 7,5 uw 
Bon den Staatsausgaben fommt auf den Kopf 95 un 

Das Miniflerium der auswärtigen Angelegenheiten hat außer den Beziehungen 
zu ben auswärtigen Staaten noch den Lehenrath und das Staats · und Haus- 
archiv, fowie die Leitung des Eiſenbahnweſens und der Poft unter fich. 

Kriegsminifterium. Das flchende Friedensheer betrug bisher 9500 Mann, 
der bundesmäßige Kriegsfußftend 25,585 Mann. Die jährliche Ergänzung ber 
Mannſchaft gefhah bisher durch Anshehung nad; vollendetem zwanzigften Lebens · 
jahr, wobet unter Vorausfegung allgemeiner Wehrpflicht bie Auswahl im Betrag 
von 4600 Mann für das aktive Heer durch das Loos beftimmt wurde, während 
die Übrige fogenannte Landwehr nur im Kriegsfall einberufen wird. Die Dienft- 
zeit ift auf ſechs Jahre feſtgeſtellt, jedoch iſt der Ausgehobene noch auf weitere 
6 Jahre für die Landwehr verpflichtet. Für diejenigen, melde bie alademiſche 
Maturitätsprüfung oder die Dienfipräfung für ein technifches Wach erftanden 
haben, iſt die Dienftzeit im Frieden auf ein Jahr ermäßigt. 

Literatur: Das Königreich Würtemberg. Eine Beſchreibung von Land, 
Boll und Staat. Herausgegeben vom Tönigl. flatiftifd-topographiigen Bureau 
(eedig. von Staatsrath v. Nümelin). Stuttgart 1863. — Beihreibung des Kö⸗ 
nigreichs Würtemberg (d. h. der einzelnen Oberämter). Heft 1 bis 47. Stuttgart 
1824—1865. No nicht vollendet. — Karte vom Königreich Würtemberg. 
MER. 1/sgrooo- Herausgegeben vom ftatift.-topogr. Bureau. 55 Bl. Stuttgart 1821 
bis 1851. — EChriftoph Friedrich Stälin, Würtemdergifche Geſchichte. Th. I-III. 
Bon der Urzeit bis 1496. Stuttgart und Tübingen 1841—1856. — Karl 
Bfaff, Gedichte des Fürfenhaufes und Landes Wurtemberg. 3 Thle. Stutt« 
gart 1839. — Karl Blank, Politiſche Geſchichte Würtembergs. Stuttg. 1866. 
— & T. Spittler, Geſchichte Wärtembergs unter den Grafen und Herzogen. 

‚783. — Vermiſchie Schriften über würtembergifhe Geſchichte, Stati« 
mtliches Recht. Herausgegeben von K. Wächter. 2 Bde. Stuttgart u. 
337. — J. €. Bfifter, Geſchichte der Verfaſſung des märtemtergifgen 

Landes. Bearb. von K. Jäger. Heilbronn 1838. — F. 2. Ome- 
Sirffamfeit der würtembergifhen Verfafſung vom 25. September 1819. 
41. — Rob. v. Mohl, Die Geſchichte der würtembergiſchen Ber- 
1819. Siehe Zeitſchrift für die gefammte Staatswiſſenſchaft Bd. VI. 
9. Tübingen. — €. B. Frider, Die Berfaffungsurfunde für das 
BWürtemberg, mit dem offictellen Anslegungematerial herausgegeben. 


Würtembergifche Dymnaſtie. 253 


Tübingen 1865. — Rob. v. Mohl, Das- Stantsredht des Königreihe Würtem⸗ 
berg. 2 Bde. 2. Aufl. Tübingen 1840. — Karl Georg v. Wähter, Handbuch 
des im Königreich. Wärtemberz geltenden Prioatrehte. 2 Bde. Gtuttg. 1839 — 
1851. — (8. U. Mebolp), Wäürtemberg in der neueften Zeit. In dem Konver- 
fationsleriton der neueften Zeit und Literatur Vd. IV. 1834. Leipzig. --- „Das 
Königreih Würtemberg bis zum März 1848" und „Das Märzminifterium in Wür⸗ 
temberg" |. Die Gegenwart Bd. IV. ©. 305—339 und Bd. VI. ©. 87—165. 
Kikyfel. 


Würtembergifche Dynaftie. 


Auf einem Rebenhügel bei dem Dorf Rotenberg, über dem fruchtbaren Nedar- 
thale zwifhen Eßlingen und Eannftatt erhob fi) die Burg, von der fich die Grafen 
von W. nannten. Die erfte erhaltene Urkunde, in welcher ein „Cuonradus de 
Wirdeneberg* erwähnt wird, ift vom I. 81221). Der erfte Graf von ®., ber 
fih durch eine Reihe gleichzeitiger Urkunden verfolgen läßt, ift Graf Ludwig 
1134— 1181, welder am Hofe Kalfer Konrabs III. und Kaifer Friedrichs I. eine 
angefehene Stellung einnahm. Auf dieſen Ludwig folgen zwei Grafen Hartmann 
und Ludwig, mwahrfheinlic feine Söhne. Bon Hartmanns Sohne Konrad ging 
die Linie der Grafen von Gruüningen aus, welche die oberfhwäbiichen Beſitzungen 
erhielt, aber bereits im Jahr 1280 erloſch. Als eigentliher Begränder des jegigen 
Hauſes W. ift Ulrih mit dem Daumen 1241—1265 zu betrachten, welder 
dur Muge Benutung der Zeitumftände feine Hausbeflgungen ungemein vergrößerte 
und den erften Grund zur künftigen Macht des würtembergiſchen Fürſtenhauſes 
legte. Wie gering auch der urfprüngliche Beſitz des Hanfes fein mochte, fo reihte 
fi doch von nun an eine Erwerbung an die andere. Biel wirkte hierbei Finger . 
Haushalt, politiiher Verſtand, Anfehen beim kaiſerlichen Hofe, welcher durch Gunſt⸗ 
bezeigungen die Unhänglichleit der Grafen belohnte, Uebernahme einträglicher 
Bogteien, Sparfamfeit in Schenkungen an die Geiſtlichkeit. Auch ſchwächte ſich, 
nad Abtrennung der Orüninger Linie, das Haus nicht mehr durch weitere Thei- 
Inngen. „So haben die Grafen alle ihre zahlreihen Standesgenoflen, deren Stamm- 
burg auf dem Boden des jegigen Königreihs Würtemberg fteht, überlebt und ihre 
und anderer weltlicher und geiftlicher Herren Länder durch Erbſchaft, Kauf und 
Kriegsglück an ſich gebracht." 

Die beiden Söhne dieſes Ulrih mit dem Daumen, Ulrich und Eberhard 
der Erlaudte, regierten bi8 zum Jahr 1279 gemeinfam, wo Ulrich flarb und 
Eberhard alleiniger Graf wurde. Diefer Eberhard, ein Hühner, unrubiger und ge- 
waltthätiger Mann, regierte über 60 Jahre, fah ſechs deutſche Könige auf dem 
Throne, war entweder Ihr erflärter Feind ober fehr begänftigter Freund, der 
Schrecken feiner Nachbarn, vie Geißel ver Reicheſtädte, der geſchworne Feind des 
Landfriedens. Selbft aus dem gegen ihn geführten Reihstriege 1310— 1313 ging 
er endlich glüdlih hervor und erhielt fein ihm genommenes Land zurüd, welches 
er durch Kauf und Eroberung beinahe um bie Hälfte vergrößert hatte. 

Wie die Grafen von W. überhaupt früh der Zerfplitterung ihres Landes 
entgegentreten, fo ſoll auch Graf Eberhard bereits feine Grafſchaft für untheil- 
bar erflärt haben. Ihm folgte daher auch nur einer feiner Söhne, Ulrih IV., 


1) Bis and Ende des 16, Jahrhunderts fchreibt man „Wirtenberg“, erſt feit diefer Zeit 
fommt die jept gewöhnlicde Schreibart „WBürtemberg” , in der Amtsſprache „Württemberg“, auf, 
Ueber den lrfprung deö Namens beflchen nur Vermuthungen. 


242 Württemberg. 


wortung, daß fle num wirklich auch das letzte Wort des Königs fein würden, fon» 

bern in der naiven Hoffnung, daß ohne Aufſchub weitere Unterhandlungen durch 
gemeinfame Kommiffionen gepflogen werben würben. Dies wollte aber der König 
nicht; er hatte bereit bereut, in feinen Zugeſtändniſſen zu weit gegangen zu fein 
und ergriff gern die Gelegenheit, die Berhandlungen ganz abzubrechen. Am 4. Juni 
erfolgte die Auflöfung der Verſammlung, wobei jedoch der König erflärte, wenn 

die Mehrzahl des Volkes durch Amtsverfammlungen oder Magiftrate den Ver⸗ 
faffungsentwurf mit den nacdträglihen Aenderungsvorſchlägen annehmen würbe, fo 

wolle er den Bertrag als abgefchloffen anfehen und in Wirkſamkeit fegen laſſen; 

übrigens wolle er ſchon jegt fein getreues Bolt der Wohlthaten des Berfafjungs- 

entwurfs, infoweit derſelbe fi nicht auf landſtändiſche Repräfentation beziehe, theil⸗ 
baftig machen. Dem Auflöſungsdekret war ein Mantfeft an das Volk beigegeben, 

worin bie ganze Entwidlung des Berfaflungsftreites und die Grundzüge des an- 

gebotenen Entwurfs dargelegt waren. j 

Das Bolf betrat den angebeuteten Weg, ſich durch das Organ der Amts- 

verfammlungen und Magiftrate für den von ven Ständen abgelehnten Entwurf 

zu erflären, nicht. Der König aber war feft entfchloffen, feine weiteren Zugeftänd- 

niffe zu machen, ja er traf Unftalten, gegen künftige ftänpifche Forderungen einen 

Niegel vorzufchieben. Schon in einem frühern Reftript an vie Stänve vom 26. Mat 

1817 Hatte er angedeutet, wenn feine Anerbietungen nicht angenommen würden, 

fo wolle er abwarten, welche Grundſätze in Hinſicht auf Verfaffungen in den zum 

deutſchen Bunde gehörigen Staaten allgemein angenommen würden. Diefe Feſt-⸗ 
fegung allgemeiner Grunpfäge ſuchte er jegt zu veranlafien. Zu dieſem Zwecke 

beauftragte er feinen Gefanbten in Wien, ven Grafen von Winzingerdve und den 

Sefandten am Bundestag Minifter dv. Wangenheim, ver bald nach dem Scheitern 

bes Verfaſſungswerks auf dieſen Poften verfegt worden war, eine authentiſche In— 

terpretation des Artitel 13 der Bundesalte anzubahnen?). Dies geſchah im De- 
cember 1817, hatte aber zunächſt feinen Erfolg. Doc merkte fih Metternich vie 

Mahnung und verfolgte die Sache weiter. Das Ergebniß feiner Ueberlegung 

waren der Karlsbader Kongreß und die Wiener Minifterlonferenz. Obgleich bier 

Würtemberg gegen die Metternich'ſchen Borfchläge, die wieder auf der anderen 

Seite zu weit gingen, indem fie bie für Würtemberg unangenehmfte Form der 

Repräfentation, die Wiederherftellung altftändifcher Serfaffung befürworteten, Oppo- 

fition madte, jo war die Regierung doch im Ganzen mit dem Erfolg zufrieden. 

Erft als die reaktionären Veftrebungen in Wien und Frankfurt ihre Früchte ge= 

tragen hatten, knüpfte König Wilhelm neue Verhandlungen an und berief auf den 

13. Juli 1819 eine neue Ständeverfammlung, um Ihr einen Berfaflungsentwurf 
vorzulegen, ber bie vereinfachte, aber etwas abgeſchwächte Redaktion des Entwurfs 

vom Iahr 1817 war. Die Verhandlungen, welde Funachſt von einer ſtändiſchen 

Kommiſſion mit einigen königlichen Räthen geführt wurden, bildeten einen merk⸗ 

würdigen Kontraſt gegen das zähe, pedantiſche und mißtrauiſche Markten der 
früheren ſtändiſchen Kommiſſionen. Man beeiferte ſich jetzt, Bertrauen und Schmieg- 

ſamkeit zu zeigen und war ſo eilfertig, daß man es zu gar keiner Debatte kommen 

ließ und ſich nicht einmal Zeit nahm, ein Protokoll über die Verhandlungen zu 

führen, fo daß über das Zuſtandekommen einzelner Verfaſſungebeſtimmungen ein 


2) ©. die Schrift: Graf H. Lev. Winzigerode, Gotha 1866, und H. v. Treitſchke: 
„Aus der Zindezen mittelſtaatlichet Politit" in den Preuß. Zahrbüchern, Jahrg. 1866 Sep⸗ 
temberheft ©. 305 u. ff. 











Würtemberg. 243 


unanfgehelltes Dunkel ſchwebt. Die volle Berfammlung, gedrängt durch die drohende 
Wolle des Karlsbader Kongreffes, hatte noch größere Eile und fo wurde man 
fhon am 18. September mit den Berathungen fertig und om 25. konnte bie 
Berfafiung in Ludwigsburg unterzeichnet werben. 

Die Grundzüge diefer Berfaffung find folgende Die Bolfs- 
vertretung befteht aus zwei Kammern; bie erfte aus den volljährigen Prinzen des 
königlichen Haufes, den Häuptern der vormaligen reichsſtändiſchen färftliden und 
gräflihen Familien und ben vom König erblih oder auf Iebenslang ernannten 
Mitglievern, die jedoch ein Drittheil der übrigen Mitglieder der erften Kammer 
nicht überfteigen bärfen. Die gewählten Vertreter des ritterjchaftlichen Adels, vie 
evangelifhen und katholiſchen Prälaten und der Kanzler der Univerfität, welde in 
dem Entwurf ven 1817 der erften Kammer zugetheilt waren, find in ver Ber- 
faflung von 1819 der zweiten einverleibt. Diefe befteht aus 13 gewählten Mit- 
gliedern der immatrilulirten Ritterfchaft, d. b. der adeligen Orunpbefiger, vie eine 
reine Rente von 5000 fl. aus ihren Gütern beziehen, 6 proteftantifhen Prälaten, 
dem katholiſchen Biſchof und 2 Tatholifchen Geiftlihen und dem Sanzler der Uni- 
verfität, 7 gewählten Abgeordneten der fogenannten guten Stäbte und einem Ab- 
georbneten von jedem der 63 Oberamtöbezirte, zujammen 82 Mitgliedern. Die 
Wahl der Abgeordneten gejchieht in offener Abftimmung vor einer von dem Öber- 
amtmann bed Bezirks geleiteten Kommiffion durch Wahlmänner, die etwa den fie- 
benten Theil einer Gemeinde betragen. Zwei Drittheile verjelben beftehen aus ven- 
jenigen Ortsbärgern, welche im nächſt vorhergegangenen Finanzjahre vie höchſte 
orbentlidye Steuer entrichtet haben, das legte Drittheil wird von denjenigen Orts- 
bürgern gewählt, welche überhaupt eine ordentliche Steuer zu bezahlen haben?). 
Die paffive Bahlfähigteit ift fehr wenigen Beſchränkungen unterworfen und nur an 
Bollendung des vreißigften Lebensjahres, guten Leumund, eine der drei chriftlichen 
Konfeffionen und den Beſitz des würtembergifhen Staatsbürgerrechts “gebunden. 
Kirchen⸗ und Staatsdiener dürfen nicht in ihrem Amtsfprengel gewählt werden und 
bebürfen bes Urlaubs der ihnen vorgefeßten höchſten Behörde. Diejer Wahlmodus 
ſcheint ſehr liberal zu fein, iſt e8 aber in der That nicht, da das Hauptgewicht auf 
die ländliche Bevölkerung fällt, welche mweitaus die Mehrzahl der Wahlmänner lie 
fert, da fie nicht aus dem Ganzen eines Dberamtöbezirts, ſondern aus den einzelnen 
Gemeinden gezogen werben, in welchen häufig die zwei Drittheile ver Höcftbefteuerten 
auf ein fehr niederes Maß des Befiges herabfteigen und eine Summe von 5 bis 
6 fl. das Wahlrecht geben Tann. Dazu kommt, daß als orbentlidhe Steuer nur 
die Grund» und Gewerbeftener zählt, bei deren Umlegung vie Schulden nicht ab- 
gezogen werden, während vie Kapital-, Befoldungs- und jonftige Einfommensfteuer 
als außerordentliche Steuer nicht wahlberechtigt macht. Daraus folgt dann, daß 
die Kapitaliften, Advokaten, Werzte, Lehrer, Schriftfteller und Beamten, wenn fie 
nit zufällig einen größeren Grundbeſitz haben, von ber aktiven Wahl ausge⸗ 
ſchloſſen find. Daß viefe Wahlbeftimmungen nadıtheilig auf die Zuſammenſetzung 
der Abgeorbnetentammer wirken, bat die Erfahrung feit dem Beſtand ver Ber 
faffung binlänglic gezeigt; es Können nur diejenigen Bewerber durchdringen, welche 
die Mehrzahl des Landvolkes für fi zu gewinnen wiflen oder von einem einfluß- 
reihen Bezirksbeamten den Ortsvorftehern wirkſam empfohlen werben. 


3, In dem WBahlgefeh des fländifchen Entwurfs von 1816 war die aktive Wahlfähigkeit- an 
gar feinen eh geknüpft, bei dem Bablgeieh des königlichen Entwurfs von 1817 die Berech⸗ 
tigung als Wahlmann gewählt zu werden, 15 fl. Staatöfteuer; Wähler eines Wahlmannes 
durfte jeder unbeſcholtene Bürger von 25 Jahren fein. 


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wartung, daß fle num wirklich auch das letzte Wort nes Königs fein würden, fon» 
bern in der nalven Hoffnung, daß ohne Aufſchub weitere Unterhandlungen durch 
gemeinfame Kommiffionen gepflogen werden würben. Dies wollte aber der König 
nicht; er hatte bereits bereut, in feinen Zugeftänbnifien zu weit gegangen zu fein 
und ergriff gern vie Öelegenheit, vie Verhandlungen ganz abzubrechen. Am 4. Juni 
erfolgte die Auflöfung der Berfammlung, wobei jevod der König erflärte, wenn 
die Mehrzahl des Volles durch Amtsverfammlungen oder Magiſtrate den Ver⸗ 
foffungsentwurf mit den nachträglichen Aenderungsvorſchlägen annehmen würbe, fo 
wolle er den Vertrag als abgefchloffen anjehen und in Wirkſamkeit fegen laſſen; 
übrigens wolle er ſchon jegt fein getreues Voll der Wohlthaten des Berfaffungs- 
entwurfs, infoweit derfelbe ſich nicht auf landſtändiſche Repräfentation beziehe, theil⸗ 
baftig machen. Dem Auflöſungsdekret war ein Manifeft an das Volk beigegeben, 
worin bie ganze Entwidlung des Berfafjungsftreites und die Grundzüge bes an⸗ 
gebotenen Entwurfs dargelegt waren. " | 
Das Bolf betrat den angebeuteten Weg, fih durch das Organ ver Amts- 
verfammlungen und Magiftrate für den von ven Ständen abgelehnten Entwurf 
zu erflären, nicht. Der König aber war feft entfchloffen, teine weiteren Zugeſtänd⸗ 
niffe zu machen, ja er traf Anftalten, gegen künftige ftänpifche Forderungen einen 
Niegel vorzufchieben. Schon in einem frühern Reftript an vie Stände vom 26. Mat 
1817 Hatte er angedeutet, wenn feine Anerbietungen nicht angenommen wärben, 
fo wolle er abwarten, welde Grundſätze in Hinſicht auf Verfaflungen in den zum 
deutſchen Bunde gehörigen Staaten allgemein angenommen würben. Diefe Feſt⸗ 
fegung allgemeiner Grunbfäge ſuchte er jegt zu veranlafien. Zu dieſem Zwecke 
beauftragte er feinen Gefanbten in Wien, ven Grafen von WinzingerBve und ven 
Gefandten am Bundestag Minifter v. Wangenheinm, der bald nach dem Scheitern 
bes Verfaſſungswerks auf diefen Poften verfeßt worden war, eine authentiſche In- 
terpretation des Artikels 13 ver Bundesalte anzubahnen?). Dies gefchah im De- 
cember 1817, hatte aber zunächſt feinen Erfolg. Doc merkte fih Metternich vie 
Mahnung und verfolgte die Sache weiter. Das Ergebniß feiner Ueberlegung 
waren ver Karlöbaver Kongreß und bie Wiener Minifterlonferenz. Obgleich hier 
MWürtemberg gegen die Metternich'ſchen Vorſchläge, vie wieder auf der anderen 
Seite zu weit gingen, indem fie bie für Würtemberg unangenehmfte Form der 
Repräfentation, bie Wieverherftellung altftänpifcher Serfaflung befürworteten, Oppo- 
fition madte, fo war bie Regierung doch im Ganzen mit dem Erfolg zufrieden. 
Erft als bie reaktionären Veftrebungen in Wien und Franffurt ihre Früchte ge- 
tragen hatten, Inüpfte König Wilhelm neue Berbandlungen an und berief auf ben 
13. Iuli 1819 eine neue Ständeverfammlung, um ihr einen Berfaflungsentwurf 
vorzulegen, ber bie vereinfachte, aber etwas abgeſchwächte Redaktion des Entwurfs 
vom Iahr 1817 war. Die Verhandlungen, welche Funächſt von einer ſtändiſchen 
Kommiffion mit einigen königlichen Räthen geführt wurden, bildeten einen merk⸗ 
würdigen Kontraft gegen das zähe, pedantifche und mißtrauifhe Markten ber 
früheren ſtändiſchen Kommiffionen. Dan beeiferte ſich jet, Bertrauen und Schmieg- 
ſamkeit zu zeigen und war fo eilfertig, daß man es zu gar keiner Debatte kommen 
ließ und fih nicht einmal Zeit nahm, ein Protokoll über die Verhandlungen zu 
führen, fo daß über das Zuſtandekommen einzelner Verfafinngsbeflimmungen ein 


2) ©, die Schrift: Graf H. Lev. Wingigerode, Gotta 1886, und H. v. Treitſchke: 
„Aus der eiüthegei mittelftantlicher Politif” in den Preuß. Zahrbüchern. Jahrg. 1866 Sep» 
temberheft ©. 308 u. ff. 











Wurtemberg. 243 


unanfgehellte8 Dunkel ſchwebt. Die volle Berfammlung, gedrängt durch bie drohende 
Wolfe des Karlsbader Kongreffes, hatte noch größere Eile und fo wurde man 
ſchon am 18. September mit ven Berathungen fertig und om 25. Tonnte bie 
Berfafiung in Lubwigsburg unterzeichnet werben. 

Die Grundzüge dieſer Berfaffung find folgende Die Volks— 
vertretung befteht aus zwei Kammern; die erfte aus den volljährigen Prinzen des 
tönigliden Haufes, den Häuptern der vormaligen reichsſtändiſchen färftlihen und 
gräfliden Yamilien und den vom König erblih ober auf lebenslang ernannten 
Mitgliedern, die jedoch ein Drittheil der Übrigen Mitgliever der erften Kammer 
nicht überfteigen dürfen. Die gewählten Vertreter bes ritterfchaftlichen Adels, vie 
evangelifhen und katholiſchen Prälaten und der Kanzler der Univerfität, welche in 
dem Entwurf ven 1817 der erften Kammer zugetheilt waren, find in ver Ber- 
faffung von 1819 ver zweiten einverleibt, Diefe befteht aus 13 gewählten Mit- 
gliedern der immatrikulirten Nitterfchaft, d. b. der adeligen Orunbbefiger, die eine 
reine Rente von 5000 fl. aus ihren Gütern beziehen, 6 proteftantifchen Prälaten, 
dem Tatholifhen Biſchof und 2 katholiſchen Geiftlihen und dem Kanzler der Uni- 
verfität, 7 gewählten Abgeordneten der fogenannten guten Städte und einem Ab- 
georpneten von jedem ber 63 Oberamtöbezirte, zufammen 82 Mitgliedern. Die 
Wahl der Abgeorpneten geſchieht in offener Abftimmung vor einer von dem Ober- 
amtmann bed Bezirks geleiteten Kommiffion durch Wahlmänner, die etwa ben fie- 
benten Theil einer Gemeinde betragen. Zwei Drittheile derſelben beftehen aus ven- 
jenigen Ortsbärgern, welche im nächſt vorhergegangenen Yinanzjahre «die höchfte 
orbentlie Steuer entrichtet haben, das legte Drittheil wird von denjenigen Orts⸗ 
bürgern gewählt, welche überhaupt eine ordentliche Steuer zu bezahlen haben?). 
Die paffive Bahlfähigteit ift jehr wenigen Beſchränkungen unterworfen und nur an 
Bollendung des vreißigften Lebensjahres, guten Leumund, eine der drei chriftlichen 
KRonfeifionen und den Befis des würtembergiſchen Staatsbürgerrechts "gebunden. 
Kirchen⸗ und Staatsdiener dürfen nicht in ihrem Amtöfprengel gewählt werden und 
bebürfen des Urlaubs der ihnen vorgeſetzten höchſten Behörde. Diefer Wahlmobus 
ſcheint jehr liberal zu fein, ift e8 aber in der That nicht, da das Hauptgewidht auf 
vie länvliche Bevölkerung fällt, welche weitaus die Mehrzahl der Wahlmänner lie- 
fert, da fie nicht aus dem Ganzen eines Oberamtsbezirts, fondern aus den einzelnen 
Gemeinden gezogen werden, in welchen häufig bie zwei Drittheile ber Höchftbeftenerten 
auf ein fehr niederes Maß des Beſitzes herabfteigen und eine Summe von 5 bis 
6 fl. das Wahlrecht geben Tann. Dazu kommt, daß als ordentliche Steuer nur 
die Grund⸗ und Gewerbeſteuer zöhlt, bei deren Umlegung die Schulden nicht ab⸗ 
gezogen werden, während vie Kapital-, Befolbungs- und jonftige Einkommensſteuer 
als außerordentliche Steuer nicht wahlberedhtigt macht. Daraus folgt dann, daß 
die Kapitaliften, Advokaten, Werzte, Lehrer, Schriftfteller und Beamten, wenn fie 
nit zufällig einen größeren Grundbeſitz haben, von der aktiven Wahl ansge- 
Ihloflen find. Daß dieſe Wahlbeftimmungen nachtheilig auf die Zufammenfegung 
ber Abgeorbnetenlammer wirken, bat die Erfahrung feit dem Beftand ver Ber- 
fafjung binlänglich gezeigt; es können nur diejenigen Bewerber durchdringen, melde 
bie Mehrzahl des Landvolkes für ſich zu gewinnen wiflen ober von einem einfluß« 
reihen Bezirksbeamten den Ortsvorftehern wirkſam empfohlen werben. 


3, In dem Wahlgefeß. des fändifchen Entwurfs von 1816 war die aktive Wahlfähigkeit an 
gar feinen Cenfus geknüpft, bei dem Wahlgeſetz des Töniglichen Entwurfs von 1817 die Bere: 
tigung als Wahlmann gewählt zu werden, an 15 fl. Stantäfteuer; Wähler eines Wahlmannes 
durfte jeder unbeihoitene Bürger von 25 Jahren fein. 


16* 


242 Würtemberg. 


wartung, daß fie nun wirklih aud das Teste Wort des Königs fein würden, fon» 
bern in der naiven Hoffnung, daß ohne Aufſchub weitere Unterhandlungen durch 
gemeinfame Kommiffionen gepflogen werben würben. Dies wollte aber ver König 
nicht; ex hatte bereits bereut, in feinen Zugeſtändniſſen zu weit gegangen zu fein 
und ergriff gern bie Gelegenheit, die Verhandlungen ganz abzubrechen. Am 4. Juni 
erfolgte die Auflöfung ber Verſammlung, wobei jedoch ver König erflärte, wenn 
die Mehrzahl des Volkes durch Amtsverfammlungen oder Magiftrate den Ber- 
foffungsentwurf mit den nachträglichen A enbernngövorfälägen annehmen würde, fo 
wolle er den Vertrag als abgefchloffen anfehen und in Wirkſamkeit fegen lafſen; 
übrigens wolle er fhon jegt fein getreues Volk der Wohlthaten des Verfafſungs⸗ 
entwurfs, infoweit derſelbe fich nicht auf landſtändiſche Repräfentation beziehe, theil- 
haftig machen. Dem Auflöſungsdekret war ein Manifeft an das Volk beigegeben, 
worin die ganze Entwidlung des Berfaflungsftreites und die Grundzlige des an⸗ 
gebotenen Entwurfd dargelegt waren. " | 
Das Bolf betrat den angeveuteten Weg, ſich durch das Organ der Amts- 
verfammlungen und Magiftrate für den von den Ständen abgelehnten Entwurf 
zu erflären, nicht. Der König aber war feft entfchloffen, feine weiteren Zugeſtänd⸗ 
niffe zu machen, ja er traf Anftalten, gegen künftige ftänvifche Forderungen einen 
Niegel vorzufchieben. Schon in einem frühern Reffript an die Stände vom 26. Mat 
1817 Hatte er angedeutet, wenn feine Anerbietungen nicht angenommen wärben, 
fo wolle er abwarten, welde Grunpfäge in Hinfiht auf Verfafſungen in den zum 
deutſchen Bunde gehörigen Staaten allgemein angenommen würben. Diefe eft- 


fegung allgemeiner Grundfäge fuchte er jettt zu veranlaffen. Zu dieſem Zwecke 


beauftragte er feinen Gefandten in Wien, ven Grafen von Winzingerdde und ben 
Gefandten am Bundestag Minifter v. Wangenheim, der bald nach dem Scheitern 
bes Berfafjungswerts auf biefen Poſten verfegt worden war, eine authentifhe In- 
terpretation bes Artikels 13 der Bundesalte anzubahnen?), Dies gefhah im De- 
cember 1817, hatte aber zunächſt feinen Erfolg. Doc merkte fih Metternich vie 
Mahnung und verfolgte die Sache weiter. Das Ergebniß feiner Ueberlegung 
waren ber Karlsbader Kongreß und die Wiener Minifterfonferenz. Obgleich bier 
MWürtemberg gegen die Metternich'ſchen Vorſchläge, die wieder auf der anderen 
Seite zu weit gingen, indem fie die für Würtemberg unangenehmfte Form ber 
Repräfentation, pie Wiederherſtellung altftändifcher Serfaffung befürworteten, Oppo- 
fitton machte, fo war bie Regierung doch im Ganzen mit dem Erfolg zufrieden. 
Erft als die realtionären VBeftrebungen in Wien und Frankfurt ihre Früchte ge- 
tragen hatten, Inüpfte König Wilhelm neue Verhandlungen an und berief auf den 
13. Juli 1819 eine nene Stänbeverfammlung, um Ihr einen Berfaffungsentwurf 
vorzulegen, ber bie vereinfachte, aber etwas abgeſchwächte Redaktion des Entwurfs 
vom Jahr 1817 war. Die Verhandlungen, welde Funãchſt von einer ſtändiſchen 
Kommiſſion mit einigen koöͤniglichen Räthen geführt wurden, bildeten einen merk⸗ 
würdigen Kontraſt gegen das zähe, pedantiſche und mißtrauiſche Markten ber 
früheren ſtändiſchen Kommiſſionen. Dan beeiferte ſich jetzt, Vertrauen und Schmieg- 
ſamkeit zu zeigen und war ſo eilfertig, daß man es zu gar keiner Debatte kommen 
ließ und fi nicht einmal Zeit nahm, ein Protokoll über die Verhandlungen zu 
führen, fo daß über das Zuſtandekommen einzelner Verfofiungsbeftlimmungen ein 


2) ©. die Schrift: Graf H. Lev. m inaigerobe, Gotta 1866, und H. v. Treitſchke: 
„Aus der  ütheget mittelftaatlicher Polttil” in den Preuß. Zahrbüchern. Jahrg. 1866 Sep⸗ 
temberbeft ©. 305 u. ff. 








Wiürtemberg. 243 


unanfgebelltes Dunkel ſchwebt. Die volle Berfammlung, gedrängt durch die drohende 
Wolke des Karlsbader Kongrefies, hatte noch größere Eile und fo wurde man 
fhon am 18. September mit ven Berathungen fertig und am 25. konnte vie 
Berfafiung in Ludwigsburg unterzeichnet werben. 

Die Grundzüge dieſer Berfaffung find folgenne Die Bolks- 
vertretung befteht aus zwei Kammern; die erfte aus den volljährigen Prinzen des 
töniglihen Haufes, den Häuptern der vormaligen reichsſtändiſchen färftliden und 
gräfliden Familien und den vom König erblih ober auf lebenslang ernannten 
Mitgliedern, die jedoch ein Drittbeil der übrigen Mitglieder der erften Kammer 
nicht überfteigen dürfen. Die gewählten Bertreter des ritterfchaftlichen Adels, bie 
evangeliihen und katholiſchen Prälaten und der Kanzler ber Univerfität, welche in 
dem Entwurf ven 1817 der erften Kammer zugetheilt waren, find in ver Ver— 
faflung von 1819 der zweiten einverleibt. Diefe befteht au8 13 gewählten Mit- 
gliedern der immatrikulirten NRitterfchaft, d. h. der adeligen Orunbbefiger, vie eine 
reine Rente von 5000 fl. aus ihren Gütern beziehen, 6 proteftantifchen Prälaten, 
dem katholiſchen Biſchof und 2 katholiſchen Geiftlihen und dem Kanzler der Uni- 
verfität, 7 gewählten Abgeordneten ber fogenannten guten Städte und einem Ab- 
georbneten von jedem ber 63 Oberamtsbezirke, zufammen 82 Mitgliedern. Die 
Wahl ver Abgeorbneten gefchieht in offener Abftimmung vor einer von dem Öber- 
amtmann bed Bezirks geleiteten Kommilflon durch Wahlmänner, die etwa ben fie- 
benten Theil einer Gemeinde betragen. Zwei Drittbeile derſelben beftehen aus ven- 
jenigen Ortsbürgern, welde im nächſt vorhergegangenen Finanzjahre "die höchfte 
orbentlide Steuer entrichtet haben, das lette Drittheil wird von denjenigen Orts- 
bürgern gewählt, welde überhaupt eine ordentliche Steuer zu bezahlen haben?). 
Die paffive Bahlfähigkeit ift fehr wenigen Beſchränkungen unterworfen und nur an 
Bollendung des breißigften Lebensjahres, guten Leumund, eine der drei chriftlichen 
KRonfeffionen und den Befib des würtembergifhen Staatsbürgerrechts ‘gebunden. 
Kichen- und Staatspiener dürfen nicht in ihrem Amtsfprengel gewählt werden und 
bedürfen des Urlaubs der ihnen vorgefepten höchſten Behörde. Diefer Wahlmodus 
ſcheint jehr liberal zu fein, ift e8 aber in ver That nicht, da das Hauptgewicht auf 
die ländliche Bevölkerung fällt, welche weitaus die Mehrzahl der Wahlmänner lie 
fert, da fie nicht aus dem Ganzen eines Oberamtsbezirks, ſondern aus den einzelnen 
Gemeinden gezogen werben, in weldhen häufig die zwei Drittbeile der Höchftbefteuerten 
auf ein fehr niederes Maß des Beſitzes herabfteigen und eine Summe von 5 bis 
6 fl. das Wahlrecht geben Tann. Dazu kommt, daß als orbentlihe Steuer nur 
die Grund- und Gewerbeftener zählt, bei deren Umlegung vie Schulden nicht ab- 
gezogen werden, während pie Kapitale, Befolbungs- und fonftige Einfommensfteuer 
als außerorbentliche Steuer nicht wahlberedtigt macht. Daraus folgt daun, daß 
die Kapitaliften, Advokaten, Werzte, Lehrer, Schriftfteller und Beamten, wenn fie 
nit zufällig einen größeren Grundbefitz haben, von ber aktiven Wahl ausge 
ſchloſſen find. Daß dieſe Wahlbeftimmungen nadıtheilig auf die Zuſammenſetzung 
der Übgeorbnetenlammer wirken, bat bie Erfahrung feit dem Beſtand der Ber- 
faffung binlänglih gezeigt; es können nur diejenigen Bewerber durchdringen, melde 
die Mehrzahl des Landvolkes für fi zu gewinnen wiffen oder von einem einfluß- 
reichen Bezirkobeamten den Ortsvorftehern wirkſam empfohlen werben. 


3, In dem Wahlgeſetz des fländiihen Entwurfs von 1816 war die aftive Wahlfähigkeit an 
gar feinen Genfus geknüpft, bei dem Wahlgeſetz des königlichen Entwurfs von 1817 die Berech⸗ 
tigung als Wahlmann gewählt zu werden, an 15 fl. Staatäfteuer; Wähler eines Wahlmannes 
durfte jeder unbeſcholtene Bürger von 25 Jahren fein. 


16* 


242 Wiürtemberg. 


wartung, daß fie nun wirklih auch das legte Wort des Königs fein würben, fon» 
bern in der naiven Hoffnung, daß ohne Aufſchub weitere Unterhandlungen durch 
gemeinfame Kommiffionen gepflogen werden würden. Dies wollte aber ver König 
nicht; er hatte bereits bereut, in feinen Zugeftänpnifien zu weit gegangen zu fein 
und ergriff gern die Gelegenheit, vie Verhandlungen ganz abzubrechen. Am 4. Juni 
erfolgte die Auflöfung der Verfammlung, wobei jedoch ver König erflärte, wenn 
bie Mehrzahl des Volkes durch Amtsverfammlungen oder Magiftrate den Ber- 
foffungsentwurf mit den nachträglichen Aenderungsvorſchlägen annehmen würbe, fo 
wolle er den Vertrag als abgefchloffen anfehen und in Wirkſamkeit fegen laſſen; 
übrigens wolle er ſchon jegt fein getrenes Bolt der Wohlthaten des Berfaffungs- 
entwurfs, infoweit berfelbe ſich nicht auf landſtändiſche Nepräfentation beziehe, theil- 
baftig machen. Dem Auflöſungsdekret war ein Manifeft an das Volk beigegeben, 
worin die ganze Entwidlung des Berfoffungsftreites und vie Grundzüge des an- 
gebotenen Entwurfs dargelegt waren. " 

Das Bolt betrat den angedeuteten Weg, fih durch das Organ der Umts- 
verfammlungen und Magiftrate für ben von ben Ständen abgelehnten Entwurf 
zu erflären, nicht. Der König aber war feft entfchloffen, keine weiteren Zugeftänd- 
niffe zu maden, ja er traf Anftalten, gegen künftige ftänpifche Forderungen einen 
Niegel vorzuſchieben. Schon in einem frühern Rejtript an die Stände vom 26. Mai 
1817 Hatte er angedeutet, wenn feine Anerbietungen nicht angenommen würden, 
fo wolle er abwarten, welde Grundſätze in Hinfiht auf VBerfaffungen in den zum 
hentfhen Bunde gehörigen Staaten allgemein angenommen würden. Diefe Feſt⸗ 
fegung allgemeiner Grundſätze ſuchte er jegt zu veranlafien. Zu dieſem Zwede 
beauftragte er feinen Geſandten in Wien, den Grafen von Winzingerdde und den 
Gefandten am Bundestag Minifter v. Wangenheim, der bald nach dem Scheitern 
nes Verfaſſungswerks auf biefen Poſten verfegt worden war, eine autbentifche In⸗ 
terpretation des Artikels 13 der Bundesakte anzubahnen?). Dies geſchah Im De- 
cember 1817, hatte aber zunächſt feinen Erfolg. Dod merkte fih Metternich vie 
Mahnung und verfolgte die Sache weiter. Das Ergebniß feiner Ueberlegung 
waren der Karlöbader Kongreß und die Wiener Minifterlonferenz. Obgleich bier 
Würtemberg gegen die Metternich'ſchen Vorfchläge, die wieder auf der anderen 
Seite zu weit gingen, indem fie bie für Würtemberg unangenehmfte Form ber 
Repräfentation, bie Wieverherftellung altftändiſcher Serfaffung befürworteten, Oppo- 
fition madte, fo war die Regierung body im Ganzen mit dem Erfolg zufrieden. 
Erft als die realtionären Beftrebungen in Wien und Frankfurt ihre Früchte ge- 
tragen Hatten, knüpfte König Wilhelm neue Verhandlungen an und berief auf den 
13. Juli 1819 eine nene Stänbeverfammlung, um ihr einen Berfaffungsentwurf 
vorzulegen, ber bie vereinfachte, aber etwas abgefchwächte Redaktion des Entwurfs 
vom Iahr 1817 war. Die Verhandlungen, welde Funãchſt von einer ſtändiſchen 
Kommiſſion mit einigen Königlichen Räthen geführt wurden, bildeten einen merk⸗ 
würdigen Kontraſt gegen das zähe, pedantiſche und mißtrauiſche Markten der 
früheren ſtändiſchen Kommiſſionen. Man beeiferte ſich jetzt, Vertrauen und Schmieg⸗ 
ſamkeit zu zeigen und war ſo eilfertig, daß man es zu gar keiner Debatte kommen 
ließ und ſich nicht einmal Zeit nahm, ein Protokoll über die Verhandlungen zu 
führen, fo daß über das Zuſtandekommen einzelner Verfaffungsbeftimmungen ein 


2) ©. die Schrift: Graf H. Lev. Wingigerode, Gotha 1866, und H. v. Treitſchke: 
„Aus der etüthegei mittelftantlicher Poltit" in den Preuß. Jahrbuchern. Jahrg. 1866 s 
temberheft ©. 305 u. ff. 














Würtemberg. 243 


unanfgehelltes Dunkel ſchwebt. Die volle Berfammlung, gebrängt durch die drohende 
Wolke des Karlsbader Kongrefjes, hatte noch größere Eile und fo wurde man 
fhon am 18. September mit ven Berathungen fertig und am 25. Tonnte bie 
Berfafiung in Ludwigsburg unterzeichnet werben. 

Die Orundzüge dieſer Berfaffung find folgende Die Volks— 
vertretung befteht aus zwei Kammern; die erfte aus den volljährigen Prinzen des 
töniglihen Haufes, den Häuptern der vormaligen reichsſtändiſchen fürſtlichen und 
gräflihen Yamilten und den vom König erblih over auf lebenslang ernannten 
Mitglieven, die jedoch ein Drittheil der übrigen Mitglieder der erften Kammer 
nicht überfleigen dürfen. Die gewählten Vertreter bes ritterfchaftlichen Adels, die 
evangelifhen und katholiſchen Prälaten und ver Kanzler der Univerfität, welche in 
dem Entwurf von 1817 der erften Kammer zugetheilt waren, find in der Ver— 
foflung von 1819 ver zweiten einverleibt. Diefe befteht aus 13 gewählten Mit- 
gliedern der immatrifulirten Ritterfchaft, d. h. der abeligen Grundbeſitzer, vie eine 
reine Rente von 5000 fl. aus ihren Gütern beziehen, 6 proteftantifchen Prälaten, 
dem latholiſchen Biſchof und 2 Tatholifchen Geiftlihen und dem Kanzler der Uni- 
verfität, 7 gewählten Abgeordneten der fogenannten guten Städte und einem Ab- 
geordneten von jedem der 63 Oberamtsbezirke, zufammen 82 Mitgliedern. Die 
Wahl der Adgeorpneten gefchieht in offener Abftimmung vor einer von dem Ober- 
amtmann des Bezirks geleiteten Kommiffion durch Wahlmänner, die etwa den fie 
benten Theil einer Gemeinde betragen. Zwei Drittheile derſelben beftehen aus den⸗ 
jenigen Ortsbürgern, welde im nächſt vorhergegangenen Yinanzjahre vie höchſte 
orbentlie Steuer entrichtet haben, das legte Drittheil wird von benjenigen Orts⸗ 
bürgern gewählt, welde überhaupt eine ordentliche Steuer zu bezahlen haben?). 
Die paffive Wahlfaähigkeit ift fehr wenigen Bejhränkungen unterworfen und nur an 
Bollendung des dreißigſten Lebensjahres, guten Leumund, eine der drei chriftlichen 
KRonfeffionen und den Befit des würtembergifhen Staatsbürgerredhts gebunden. 
Kirchen⸗ und Staatsdiener dürfen nicht in ihrem Amtsſprengel gewählt werden und 
bedürfen des Urlaubs der ihnen vorgeſetzten höchſten Behörde. Dieſer Wahlmodus 
ſcheint jehr liberal zu fein, ift es aber in der That nicht, da das Hauptgewicht auf 
vie ländliche Bevolkerung fällt, welde weitaus bie Mehrzahl der Wahlmänner lies 
fert, da fie nicht aus dem Ganzen eines Oberamtsbezirks, ſondern aus den einzelnen 
Gemeinden gezogen werben, in welden häufig vie zwei Drittheile ver Höchftbeftenerten 
auf ein fehr niederes Maß des Befiges herabfleigen und eine Summe von 5 bis 
6 fl. das Wahlrecht geben Tann. Dazu fommt, daß als ordentliche Steuer nur 
die Grund» und Gewerbeftener zählt, bei deren Umlegung vie Schulden nicht ab⸗ 
gezogen werden, während pie Kapital-, Befolbungs- und fonftige Einkommensſteuer 
als außerorventliche Steuer nicht wahlberedgtigt macht. Daraus folgt dann, daß 
die Kapitaliſten, Advokaten, Werzte, Lehrer, Schriftfteller und Beamten, wenn fie 
nicht zufällig einen größeren Grundbeſitz haben, von der aktiven Wahl anusge- 
ſchlofſen find. Daß diefe Wahlbeftimmungen nadtheilig auf bie Zuſammenſetzung 
ber Abgeordnetenkammer wirken, bat die Erfahrung feit dem Beſtand der Ber- 
faffung hinlänglich gezeigt; es löunen nur biejenigen Bewerber burdbringen, melde 
die Mehrzahl des Landvolkes für ſich zu gewinnen wiſſen oder von einem einfluß- 
reichen Bezirksbeamten den Ortsvorftehern wirkſam empfohlen werben. 


3) In dem hab des fländifchen Entwurfs von 1816 war die aktive Wahlfähigkeit an 
gar feinen Cenſus geknüpft, bei dem Bablgeieh des königlichen Entwurfd von 1817 die Berech⸗ 
tigung als mann gewählt zu werden, 15 fl. Stantöfteuer; Wähler eines Wahlmannes 
durfte jeder unbeſcholtene Bürger von 25 Jahren fein. 


16* 








244 Würtemberg. 


Die Wahl eines Abgeoroneten iſt für eine Wahlperiode von 6 Jahren gültig; 
alle ſechs Jahre muß eine vollftändige Neuwahl vorgenommen werden. Der Vor- 
ftand der Stänbeverfammlung ift der Präfident und Vicepräſident in jeber ber 
beiden Kammern; den Präfiventen ber erflen Kammer ernennt der König ohne 
Vorſchlag, für den der zweiten Kammer fchlägt diefe durch Wahl drei ihrer Mit- 
glieder vor und der König ernennt daraus einen zum Präfiventen; auf biefelbe 
Weiſe wird die Stelle eines Bicepräfldenten in beiden Kammern befegt. Der Be 
ruf der Stände iſt: die Rechte des Landes In dem durch bie Verfafſung beſtimmten 
Berhältniffe zum Regenten geltend zu machen. Demgemäß haben fie zur Ausübung 
der Gefeßgebungsgewalt mitzuwirken; es darf daher ohne ihre Einwilligung kein 
Sefe gegeben, abgeändert oder aufgehoben, auch fein Vertrag gefchloffen werden, 
weldher den Rechten der Staatöbürger Eintrag thun könnte. Ebenfo ift die Erhe⸗ 
bung der zur Beflreitung der Staatsbedürfniſſe erforberliden Steuern an bie Ber- 
willigung der Stände gefnüpft, denen genaue Nahmelfung über die Berwenbung 
der Staatseinkünfte gegeben werden muß. Der Hauptetat wird je auf brei Jahre 
verwilligt und es müſſen daher die Stände nad 3 Jahren wieder zufammen- 
berufen werben; die Berwilligung der Steuern darf aber nit an Bedingungen 
gefnüpft werden, welche die Verwendung der Steuern nicht unmittelbar betreffen. 
Dies pflegt von der Regierung fo ausgelegt zu werben: die Stände dürfen das 
Recht der Steuerverweigerung nicht benüten, um ber Oppofition gegen ein ihnen 
mipfälliges Regimentsfyftem Nachdruck zu geben. Die Initiative für Geſetzgebung 
und anvere Staatsalte hat nur die Megierung, doch iſt die Stänveverfjammlung 
befugt, ihre Wünſche, Borftellungen und Beſchwerden dem König vorzutragen, 
auch wegen verfafjungswibriger Handlungen Klage anzuftellen. Für bie Zeit, im 
welcher die Volksvertretung nicht verfammelt tft, beforgt ein am Ende einer Sitzungs⸗ 
periode aus beiden Kammern gemeinſchaftlich gewählter Ausfhuß die zur ununter- 
brochenen Wirkſamkeit ver Landesvertretung nothwendigen Geſchäfte. Derfelbe varf 
jedoch weder Geſetze fanktioniren, noch Steuern verwilligen, fondern nur wenn 
dringliche Fragen vorliegen, um außerorventliche Einberufung einer Ständever- 
fammlung bitten. Der Vorgang der früheren Ausſchüſſe bat die Regierung be- 
fimmt, dem Ausfhug möglihft wenige Befngniffe einzuräumen, während bie 
Kämpfer für das alte Recht auf eine Wieverherftellung des Ausſchuſſes beſonderen 
Werth gelegt Hatten. Außer dem Ausſchuß befteht zum Schutz der Verfaffung ein 
Staatsgerihtshof, weldher über Verlegung einzelner Punkte ver Berfaflung unb 
über etwaige Unternehmungen zum Umſturz berfelben zu erfennen hat; er beſteht 
ans einem vom König ernannten Präfiventen und 12 Richtern, wovon bie eine 
Hälfte der König ernennt, die andere aber von der Stänbeverfammlung gewählt wird. 

Unter den Rechten der Staatsbürger ift auch die Freiheit der Preſſe aufge⸗ 
führt; fie wurde aber wenige Tage nah Verkündigung der VBerfoffung in Folge 
der Karlsbader Beichlüffe unter Berufung auf das Bundesrecht wieder aufgehoben 
und blieb es bis zum März 1848, 

Auf den 15. Januar 1820 wurde der erfte verfaffungsmäßige Landtag 
nad Stuttgart berufen und begann fofort feine Thätigkeit mit Erledigung ver- 
fchiedener formeller Geſchäfte, wobei die Verhandlungen einen durchaus ruhigen 
friedlichen Berlauf nahmen und keine Spur von Oppofition gegen bie Megierung 
fi zeigte. Diefe Eintracht fchien aber auf einmal ein Ende nehmen zu wollen, 
al im December 1820 Friedrich Lift ald Abgeorvneter der Stabt Reut- 
lingen in die Kammer eintrat und eine Reihe von Anträgen ftellte, welche weitgrei- 
fende Reformen in Berfafiung und Berwaltung bezwedten. Obgleih Liſt, in und 

















Würtemberg, 245 


außerhalb der Kammer perfönlih unbeliebt, wenige Anhäuger fand, fo glaubte bie 
Regierung ihm doch mit aller Energie entgegentreten zu müſſen. Er bot eine will- 
tommene Handhabe dazu durch den Entwurf eines radikalen Reformplans, in wel 
dem er ohne Schonung ver PBerfonen und althergebrachten Verbältnifie eine gänz- 
liche Umgeftaltung der würtembergiſchen Verwaltung beantragte. Diefen als Bitt- 
ſchrift an tie Regierung abgefaßten Entwurf verbreitete er im ganzen Lande mit 
der Abficht, daß fümmtliche —* denſelben unterſchreiben ſollten. Auf Grund 
dieſes Altenftäds wurde Lift wegen Beleidigung der Regierung und ber geſammten 
Staatspienerfhaft in peinliche Unterfuhung gezogen und von der Kammer feine 
Ausſchließung verlangt. Obgleih eine Anzahl Abgeordneter, namentlich Uhland, 
fih feiner mit Wärme und Entfchierenheit annahmen, fo drang body die Regie- 
rung mit ihrem Anſinnen durch und Lift wurde mit 56 gegen 30 Stimmen aus- 
geſchloſſen. Dieſer Sieg verſchaffte ver Regierung die volllommene Herrſchaft im 
der Kammer und es fam gar keine Oppofition in verfelben auf, Es wurde eine 
Reihe von der Regierung vorgelegter Gefegesentwürfe Über Organifation der Ge: 
meinden und Oberämter, Berbeflerung des Eivilprocekverfahrens, eine neue Pfand⸗ 
ordnung und Anderes verabfchiebet, aber in dem ganzen Iahrzehent von 1820 bis 
1830 geſchah nichts für eine freifinnige Fortbildung ber Berfaffung. 

Die Iulirevolution von 1830 bradte au für Würtemberg ein neues poli- 
tiſches Leben, es bildete fi eine oppofitionelle Partei und Prefie (dad Oppofitions- 
blatt „Der Hochwächter“), aber tie Regierung wußte bie Einberufung ver 1831 
nen gewählten Kammer binauszujchieben, bis fich der ärgfte Sturm gelegt hatte, 
amd als fie emplich im Frühjahr 1833 eröffnet wurde, gelang es der Regierung, 
bie Oppofition dadurch zu ſchwächen, daß fie den Antrag ftellte, vier neugewählte 
Abgeordnete, welche früher wegen politiiher Verbindungen beftraft, aber nachher 
begnadigt worden waren, fowie auch den ehemaligen Minifter von Wangen- 
heim als Fremden, auszufchliegen, was ihr mit einer Heinen Majorität gelang. 
Dod gewann die Oppofition in der Folge nahezu die Majorität und benägte 
ihre Macht, um eine Reihe von Anträgen zu ftellen, vie auf Erweiterung der 
Vollsrechte und Belämpfung des von der Regierung vertretenen Syſtems gerichtet 
waren. Als der Abgeordnete P. Pfizer, der kurz zuvor wegen feines Brief⸗ 
wechſels zweier Deutfhen aus dem Staatsdienſt ausgetreten war, am 13. Febr. 
1833 den Antrag ftellte, die gegen die verfaflungsmäßigen Rechte der Landſtände, 
namentlich gegen das Steuerbewilligungsreht gerichteten Beichlüffe der Buudes⸗ 
verſammlung vom 28. Juni 1832 nit als verbinvlih anzuerkennen, verlangte 
die Regierung, die Kammer folle dieſen Antrag mit verbientem Unwillen verwerfen, 
und als die Kammer dieſes Anfinnen nicht ohne Hohn zurüdwies, wurde fie am 
22. März aufgelöst. Bei den Neuwahlen bot die Negierung alle ihre Mittel, be⸗ 
ſonders Wahlbeeinfluffung und Urlanbsverweigerung gegen liberale Staatsdiener, 
anf, um bie Oppofition zu ſchwächen, und es gelang ihr aud wirklich, fie bis auf 
etwa 20 Stimmen zu vermindern, welche zwar mit Entſchiedenheit die Grunbfäge 
ihrer Partei vertraten, aber auf die Politik der Regierung wenig Einfluß üben 
fonnten. Der König und feine Minifter wollten die politiiche Berechtigung ber 
Dppofition gar nicht begreifen und fahen in berfelben nur undankbare Unzufrieden- 
beit und perfönliche Feindſchaft. In dem Bolt aber hatte der Liberalismus, der 
fi) zu abftralt an Rechts⸗ und BVerfaflungsfragen bielt und fi mit den ma» 
teriellen Interefien zu wenig befaßte, feinen rechten Nüdhalt, und dieſe Theilnahm⸗ 
loſigkeit des Volkes beftimmte mehrere hervorragende Mitglieder der liberalen Par- 
tei, bei den Neuwahlen im Jahre 1838 die Wieverwahl abzulehnen. Der fpätere 


246 Miürtemberg. 


Märzminifter Römer war unter ven Wenigen, die unverbroffen aushielten. Der 


- Charakter der ftänpifchen Verhandlungen blieb bis zum Jahr 1848 im Wefent- 


lichen berfelbe, wie er in den Jahren 1820—1830 gewefen war; ber georbnete 
Staatshauehalt gab zu wenig Ausftelungen Anlaß, es wurben wieder mehrere 
Geſetze eingebraht und angenommen, darunter ein Strafgefegbuh, Bolizeiftraf- 
gefeg und Strafproceßordnung, Schulgefeg und Gewerbeorpnung; bie verfuchte 
Ablöſung der Zehnten fcheiterte an dem Widerſtand des Adels. Das konftitutionelle 
Leben machte Feine Fortfchritte, es blieb ein formeller Mechanismus, die Stände 
tonnten keinen entſcheidenden Einfluß auf ven Gang der Regierung üben, fie waren 
feine wirkliche Macht im Staate. ' 

Die Märzbewegung des Iahres 1848 nöthigte auch die würtembergiſche Re- 
gierung zu bedeutenden Zugeftänpniffen und wefentlichen Aenderungen ihres Syftems. 
Die Preßfreihelt wurde am 1. März wieder bergeftellt, das Minifterium Schlayer 
entlaffen und die Führer der flänbifhen Oppofition Römer, Pfizer, Du> 
vernoh, Goppelt zu den erlevigten Minifterftellen berufen. Ein von dem 
neuen Minifterium erlaffenes Programm verhieß eine Neihe ven Zeitforderungen 
entſprechender Reformen; mit der fchleunigft einberufenen Ständeverſammlung 
wurben bie nötbigften Geſetze verabſchiedet, namentlich die vom Adel früher fo 
hartnädig befämpfte, nun aber dringend geforverte Ablöſung der Grunblaften. Die 
Wahlen zum deutſchen Parlament wurden mit lebhafter, begeifterter Theilnahme 
vorgenommen und Würtemberg war bei bemfelben durch eine Anzahl tüchtiger 
Männer wie Uhland, P. Pfizer, Römer, R. Mohl, Wurm, 
Ballati, Nümelin u U, vertreten, bie theild auf dem linken Centrum, 
theils auf der linken Seite ihre Stellung nahmen. Auch für die würtembergiſche, 
am 27. März aufgelöste Ständeverfammlung wurben neue Wahlen angeorbnet, 
und am 20. Sept. 1848 die Kammer eröffnet. Es bilvete fi in verfelben bald 
eine neusliberale oder demokratiſche Partei, welcher der Stanppuntt des März- 
minifteriums nicht genügte, vie gegen dasſelbe vielfah in Oppofition trat und 
dabei bis an bie äußerſte Grenze des monarchiſchen Konftitutionalismus vorging. 

Die am 28. März 1849 von der Nationalverfammlung beſchloſſene Rejchs⸗ 
verfaffung wurde von dem König von Würtemberg erft nach längerem Wiper- 
ftreben am .24. April angenommen, nachdem nicht nur das Minifterium im Wei- 
gerungsfalle feine Entlafjung gefordert, ſondern aud) die Kanımer die bringenpfte 
Vorftellung gemacht und die Aufregung des Volkes einen fo beventenden Grab 
erreicht hatte, daß ein Aufftand und Aufkündigung ‘des Gehorfams gegen ven 
König befürchtet werden mußte. Einige Tage vorher (22. April) hatte der König 
einer ftändifchen Deputation erflärt, daß er wohl die Neichsverfaffung, aber nidyt 
die Oberhauptswahl anzuertennen bereit fel. „Dem Haufe Hohenzollern”, fagte er, 
„unterwerfe ich mich nicht. Ich bin dies meinem Lande, meiner Familie und mir 
ſelbſt ſchuſldig. Würden aber alle Fürften von Deutſchland es thun, jo würbe 
auch ich diefes Opfer für Deutfchland bringen, aber mit gebrochenem Herzen. Die 
deutfche Berfaffung werde ih in meinem Lande durchführen, aber dem Hauſe 
Hohenzollern unterwerfe ich mich nicht, mein Gewiffen und meine Ueberzeugung 
loffen e8 nicht zu. Dem Kaifer von Defterreih, wenn er gewählt worden wäre, 
da ih die Ueberzeugung babe, daß es fir Würtemberg vortheilhaft gewefen wäre, 


wärde ich mich unterworfen haben“ 2). 


4) Wortlaut eines von der fländifchen Deputation zu Papier gebrachten und vom König 
feibft anerkannten Referate. (Schwäb. Merkur v. 22, April 1849.) 





Würtemberg. 247 


Die fhlieglih erzwungene Anerkennung der Wahl des Königs von Preußen 
zum deutſchen Kaifer hatte befanntlich keine praktiſche Folge, da derfelbe die Wahl 
nit ‚annahm und die Reichsverfafſung überhaupt nicht zur Ausführung gelangte. _ 
Die würtembergiſche Regierung trat fpäter (27. Febr. 1850), im Gegenfag zur 
preußiſchen Union, mit den Königen von Bayern und Hannover in ein befonderes 
Bündniß. Das Minifterium Römer löste im Einverſtändniß mit dem König bie 
Zrümmer der von Frankfurt nad) Stuttgart überfievelten Nationalverfammlung 
am 18. Juni 1849 mit Waffengewalt auf, weil fie verfuhte, Würtemberg zur 
Bundesgenofjenfhaft mit ver Revolutionspartei In Baden zu nöthigen. Obgleich 
durch die Auflöfung der Nationalverfammlung und bie Ablehnung des Königs von 
Preußen die Rekhsverfaffung ihren Halt verloren Hatte, fo wurden jest Anftalten 
gehafen, um die würtembergifhe Verfaſſung nad) den Grundſätzen der Reichsver⸗ 
foflung und ber Grundrechte umzugeftalten und von ben Ständen die Einberufung 
einer konſtituirenden Berfammlung beſchloſſen. Die neue, aus direkten Wahlen 
bervorgegangene Kammer war aus überwiegend vemokratifhen Mitgliedern zufam- 
mengejest, fo daß weder das Minifterium Römer, noch der König mit berjelben 
fih verftändigen zu können hoffen durfte. Das Märzminifterium trat ab, madıte 
aber nicht einem demokratiſch gefinnten Platz, fondern wurbe in Folge der bereits 
eingetretenen Reaktion von vormärzlihen Stantsmännern abgelöst (28, Oft. 1849), 
Der im März 1848 abgetretene Diinifter Schlay er übernahm bie Leitung bes 
neuen Minifteriums, überzeugte ſich aber bald, daß er mit diefer Kammer nicht 
berathen könne und löste fie am 22. Dec. 1849 auf. Es wurde eine neue, nicht 
füglamere Kammer gewählt, bei deren Eröffnung am 15. März 1850 König 
Wilhelm jene denkwürdige Rede hielt, in welder er die Idee eines deutihen Ein- 
heitsſtaates für das gefährlichfie aller Traumbilver erflärte, vie Erhaltung ver 
Selbftänvigkeit der deutſchen Stämme als die Grundbedingung der wahren Stärke, 
Kultur und Freiheit der deutſchen Nation, und jede Unterorpnung eines deutſchen 
Sanptftammes unter einen andern für das Grab unferer nationalen Eriftenz, bie 
föberative Verfaſſung aber ala bie politifh einzig mögliche und praltiſch durch⸗ 
führbare Form ber deutſchen Einheit bezeichnete. Die damit verbundenen beleibie 
genden Ausfälle auf vie preußifce Regierung hatten pie Abberufung des preußifchen 
Geſandten zur Folge. Der König aber beharrte auf fginer antipreußiſchen Politik 
und trat am 12. Oktober mit dem Kaifer von Defterreih und dem König von 
Bayern in Bregenz zufammen, um mit viefen ernftlihe Rüftungen zum Krieg 
gegen Preußen zu verabreven, der nur durch Nachgiebigkeit der legteren Macht 
und ihre Demüthigung zu Olmütz vermieden wurde. 

Mit der demokratiſchen Kammer war vie Regierung nur in der Oppofition 
gegen Preußen einverftanden,; von dem am 27. Februar errichteten Bündniß mit 
Bayern und Sachen uud dem in Münden vereinbarten Berfud einer deutſchen 
Bundesverfaſſung wollte die Kammer nichts wiffen und befhloß, den damaligen 
Minifter der auswärtigen Angelegenheiten, welcher ohne die Zuftimmung ber 
Ständeverfammlung den Beitritt zu jenem Bündniß unterzeichnet hatte, in An⸗ 
Hageftand zu verfegen. Ueber die Verfaſſungsreform konnte ſich die Regierung und 
die Kammer ebenjo wenig verfländigen, weshalb das Minifterium Schlager am 
1. Juli feine Entlafjung nahm. Das Dinifterium Linden, das nun nadfolgte, 
Iritt auf dem Wege der Reaktion leder vor, und als die Kammer am 6. Nov. 
1850 die von ber Regierung geforderten Gelder zur Exekution gegen Kurheſſen 
verweigerte, wurde fie aufgelöst, die Verhandlungen zur Verfaffungsrevifion abge- 
brochen und die alte Berfaffung mit ihrem fchlechten Wahlgefeg wieder in ihre 








248 würtemberg. 


Güultigkeit eingeſetzt. Die im folgenden Jade gewählte und zuſammenberufene nene 
Kammer ſtimmte bei allen wichtigen Fragen in ihrer Mehrheit nach dem Wunſche 
der Regierung. Die Frankfurter Grundrechte wurden außer Wirkſamkeit geſetzt, 
bie Todes⸗ und Prügelftrafe wieder eingeführt und vie Bundesbeſchlüſſe von 1854 
zur Beſchränkung der Preſſe ausgebentet. Nur die vom Abel wiederholt geforberte 
und ſogar durd eine Klage beim Bundestag betriebene Entihäbigung für bie 
durch das Abldfungsgefeg erlittenen Berlufte kam nicht zu Stande, da bie Mehr» 
heit der Kammer fih bei jener Gelegenheit dagegen ausipra und bie Regierung 
jelbft Bedenken trug, die Reaktion auch in dieſer, in den Gelbbentel der Steuer 
pflichtigen tief eingreifenden Wetfe durchzuſetzen. 

Im Jahr 1861 trat duch den Kampf gegen das 1857 met dem päpftlichden 
Stuhl abgefhloffene Konkordat eine Tonftitutionelle Krifis ein. Der König hatte 
auf das Anpringen der oberrheinifhen Biſchöfe, um Feſtſtellung ber Rechte der 
katholiſchen Kirche, den Wünſchen ver Tatholifchen Bevölkerung ein Zugeftänpniß 
machen zu müflen geglaubt, um den Inneren Frieden zu erhalten, aber babei nicht 
bedacht, wie fehr er die Gefühle ver proteftantifhen Bevölkerung verlegte. Die 
Regierung zögerte, ven Vertrag den Ständen vorzulegen und glaubte, wenn ber« 
ſelbe allmälig vollzogen und zur vollendeten Thatſache geworben fei, fo werde er 
wenig erheblihen Widerſpruch mehr finden. Aber nachdem im benachbarten Baden 
das ſpäter abgefchloffene Konkordat vor den Angriffen der Bollsvertretung gefallen 
war, konnte auch vie würtembergifche Regierung der ſtändiſchen Verhandlung nicht 
mehr länger ausweichen. Nun entwidelte fi in und außerhalb der Kammer eine 
energiſche Dppofition gegen das Konkordat und basfelbe wurde bon der zweiten 
Kammer am 16. März 1861 mit 63 gegen 27 Stimmen verworfen. “Diesmal 
hatte die Bolfsvertretung einen glänzenden Sieg errungen, und es iſt bies eigent- 
li der einzige Fall im Eonflitutionellen Leben ürtembergs, daß die Kammer bie 
Regierung bezwungen bat. Aber diesmal ftand auch die einftimmige öffentliche 
Meinung des vorherrfhend proteftantifhen Boltes hinter der Kammermajorität. 
Die Regierung mußte das Konkordat zurüdnehmen und die Rechte ber Tatholifchen 
Kirche vermittelft politifcher Geſetzgebung ut ven Ständen vereinbaren. Der Kul- 
miniſter, der das Konkordat unterzeichnet hatte, Staatsrat Rümmelin, 
trat in korrelter Tonftitutioneller Weiſe ab, aber ver Miniſter des Inneren, v. 
Linden, der als der eigentliche Vater des Konkordates galt, blieb im Amt, 
ohne den Nüdtritt anzubieten. Nah dem Konkordatskampf trat wieber ein Frie⸗ 
denszuſtand zwifchen der Kammer und Regierung ein; ver bejahrte König Wil- 
beim wollte Frieden mit feinem Boll haben und gab es zu, daß fein Minifter 
vd. Hügel während des fchleswig-holfteinifchen Krieges ſich der Bollsftimmung an- 
bequemte, ohne felbftthätig auf bie nationale Frage einzugehen. Die Stände 
ſcheuten ſich ebenfalls, den greifen Monarchen durch Reformforderungen oder An⸗ 
griffe auf das unbeliebte Minifterium Linden zu kränken. 

Am 24. Juni 1864 ſchloß der Tod König Wilhelms deſſen faft 4Bjährige 
Regierung und fein einziger Sohn (geb. d. 6. März 1823) beftieg ald Karl I. 
den Thron. Einige Monate fpäter, den 24. Sept. erhielt der Minifter v. Linden 
und einige feiner Kollegen unerwartet ihre Entlaffung, und ver Leiter der wär- 
tembergifchen Politik wurde ber ritterſchaftliche Abgeordnete Breiherr v. Barn- 
büler, welcher das Minifterium der auswärtigen Angelegenheiten und die von 
dem Finanzminiſterium nunmehr Iosgetennten Berfehrsanftalten übernahm. Das 
neue Minifterium erwarb fi) durch Aufhebung der die Prefle und das Bereins- 
vecht beſchraͤnkenden Verordnungen und der Minifter ver Verfehrsanftalten insbe⸗ 


Würtemberg. 249 


fondere durch energifhen Betrieb der weiteren Ausdehnung des Eifenbahnnees 
einige Popularität, zögerte aber mit den in Ansficht geftellten Reformen ver Ber- 
waltung und ber Rechtspflege. 

In der deutſchen Politik hielt fi das Mintfterium Barnbüler anf der Seite 
Defterreihs und der Mittelfinaten gegen Preußen; in ber Thronrede, mit welcher 
König Karl am 23. Mat 1866 den Landtag eröffnete, erflärte er, wenn ber 
Frieden gebrochen würde, eintreten zu wollen für vie gefährbeten Intereffen ber 
Ration, für das Bundesrecht und die Selbſtändigkeit Würtembergs und forberte 
einen außerorbentlihen Militärkredit von 7,700,000 fl., der am 5. Juni mit 82 
gegen 8. Stimmeg bewilligt wurde. Der würtembergiſche Staatsanzeiger trug bie 
feinpfeligften Gefinnungen gegen Preußen zur Schau, in ber Bunbestagsfigung 
vom 14. Juni flimmte Würtemberg für den öfterreichifchen Antrag auf ſchleunige 
Mobilmahung des Qundesheeres gegen Preußen und ließ alsbald feine Truppen 
zum 8. Armeelorps flogen. Nachdem Preußen bei Königgräg am 3. Juli den ent- 
ſcheidenden Steg gewonnen hatte, lieferten die Würtemberger am 24. Juli bei 
Zauberbifhofsheim ein ungünftiges Treffen gegen die preußifhe DMainarmee, wo⸗ 
bei fie gegen 800 Mann verloren. Am 1. Auguft fchloß Varnbüler einen Waffen- 
ſtillſtand mit dem prengifchen Beſehlshaber General v. Manteuffel und am 13. Ang. 
zu Berlin Frieden mit der Krone Preußen, wobel fit Würtemberg zur Bezahlung 
von 8,000,000 fl. Kriegskoftenentfchäbigung verpflichten mußte. Gleichzeitig wurde 
ein „Schug- und Trutzbündniß“, das die würtembergifhen Truppen im SKriegs- 
fall unter den Oberbefehl des Königs von Preußen ftellt, mit biefer Macht ge- 
ſchlofſen. Im Juli 1867 trat die wärtembergtfhe Regierung dem ernenerten Zoll» 
vereine bei, in defien jegiger Verfaſſung nur noch der preußiſchen Megierung ein 
Beto vorbehalten und die Gefeßgebung von ber Mitwirkung eines „Zollparla⸗ 
mentes" abhängig gemacht ift*). 

II. Die Staatsverwaltung wird durch ſechs Minifterien beforgt, 
nämlih 1) JIufliz, 2) Auswärtige Angelegenheiten, 3) Inneres, 4) Kirchen⸗ und 
Schulweſen, 5) Kriegsweſen, 6) Finanzen. Den Minifterien zur Seite‘ flieht ver 
Geheime Rath, der ans ben Vorftänden der Minifterien, einer Anzahl vom König 
befonders ernannten Räthe und einem Präfidenten beſteht. Er iſt vorzugsweiſe 
eine berathende Behörde, die alle dem Könige vorznfchlagennen wichtigen Anträge 
zu begutachten bat. Zugleich bildet er eine Rekursinſtanz gegen bie Verfügungen 
einzelner Departementsminifter. In der altwürtembergifchen Berfaffung galt er als 
Wächter derfelben, e8 wurde daher in ben Berfaffungsfämpfen ver Jahre 1814— 
1817 großer Werth auf die Beibehaltung dieſes Kollegtums gelegt, während neuer- 
li der Geheimerath im Gegentheil al8 eine verfafiungswinrige Inftitution ange» 
fochten worben ift, da in berfelben ven verantwortlichen Miniſterien eine unverant- 
wortliche Behörde zur Seite gefegt if. Der König hat zur Beforgung feiner Re⸗ 
gierungsgeſchäfte ein fogenanntes Geheimes Kabinet, das aber nur die Funktionen 
eines Sekretariats bat und den Miniſterien keinen Eintrag thut, indem jeder De- 
partementöminifter den perfönlihen Vortrag beim König bat. 

Das ganze Land ift in vier Kreiſe eingetheilt, deren Verwaltung unter dem 
Mintiftertum des Inneren ſteht. Die Benennungen der Kreife find: 1) Redarkreis, 
2) Jartkreis, 3) Schwarzwalbfreis, 4) Donaukreis. Die Kreife zerfallen in Ober- 
ämter, deren Würtemberg im Ganzen 63 zählt, von 2 bis 10 Quadratmeilen 
mb 18— 45,000 Einwohnern. Die Refidenzſtadt Stuttgart bildet einen eigenen, 


*) Brgl. den Artikel „Deutihland" im Nachtrag. 


350 Wiürtemberg. 


dem Nedarkreis zugetheilten Bezirk. An der Spike eines Oberamts ftehen ber 
Dberamtmann, ber Oberamisrichter und der Dekan. Unter den Oberämtern fiehen 
bie Gemeinden, melde einen Schultheißen, in Stuttgart und Ulm Oberbürger- 
meifter genannt, zum Borftand haben. Die Vorftände werden bei den Gemeinven 
erfter Klaffe, d. b. denen von 5000 Einwohnern und darüber, aus brei von der 
Gemeinde gewählten Kandidaten auf Lebensvauer vom König ernannt, bei den 
übrigen von ber Kreisregierung. Zur Bejorgung der Gemeindeangelegenheiten hat 
der Ortsvorfteher den Gemeinberath, ein Kollegium von 7—21 Mitglievern zur 
Seite, dem dann als fontrolirendes Organ der von den Bürgern auf 2 Jahre 
gewählte Bürgerausfhuß gegenüber ſteht. Die einzelnen Gemeinden des Bezirks 
find für gemeinfchaftliche Intereflen dur die Amtsverfammlung vertreten, melde 
aus mindeftens 30 Perfonen, den Ortsvorfiehern und fonfligen von den Geweind- 
räthen gewählten Abgeorpneten unter dem VBorfig des Oberamtmanns befteht. Letz⸗ 
terer bat die Verwaltung und Polizei zu leiten. 

Das Minifterium des Innern umfaßt das ganze Gebiet des Innern Stants- 
rechts, der Tanbespolizei und der Staatswirthſchaft. Es hat außer den Kreis- 
regierungsfollegien das Medicinallollegium, bie Stantötranfenanftalten, vie Ab⸗ 
löſungskommiſſion, die GEentralftele für Handel und Gewerbe und bie für Land⸗ 
wirthſchaft unter ſich. 

Das Miniſterium der Juſtiz führt die Oberaufſicht über ſämmtliche Gerichts⸗ 
ſtellen. Deren unterſte Inſtanzen find die Ortsvorſteher mit dem Gemeinderath, 
hierauf folgen die Oberamtsgerichte, dann die Kreisgerichtshöfe und zuletzt das 
Obertribunal. Neben den ordentlichen Gerichten ſind durch Geſetz vom 24. Auguſt 
1865 auch vier Bezirkahandelsgerichte und ein Oberhandelsgericht eingeſetzt. Außer 
mindeftens zwei rechtögelehrten Richtern fungirt bier eine dem Bedürfniß ent- 
ſprechende Anzahl von gewählten Mitglierern aus dem Kaufmannsftande. Cine 
neue, auf das Princip der Mündlichleit und Deffentlichleit gegründete, auch auf 
Civilſachen auszubehnende Gerichtsorganifation wird feit Jahren vorbereitet. 

Das Minifterium des Kirchen⸗ und Echulwefens ift feit 1848 von dem Mi» 
uifterium des Inneren, mit dem es bis dahin verbunden war, ausgefchieden. Das- 
jelbe hat die Dberauffiht über die verfaflungsmäßig beftehenden Kirchen: und Re- 
ligionsgejellihaften, fowie über dad gefammte Unterrichtöweien. Die evangelifche 
Kirche wird von dem Konfiflorium, einem aus geiftliden und weltlichen Räthen 
zufammengefegten Kollegium, 6 Generalfuperintenventen und 49 Delanen regiert, 
melde lettere je in der Oberamtsftabt ihren Sig haben. Die Mitglieder des Kon- 
fiftorinms bilden mit den 6 Prälaten die fogenannte Synode, welde fi die Er- 
gebniffe der Delanats- und Pfarrvifitationen berichten läßt und die etwa fich er- 
gebenden Mßſtände rügt. Cine aus gewählten geiftliden und weltliden Mit: 
glievern beftehende Landesiynode iſt in der Einführung begriffen. Die 49 De- 
fanatsbezirfe umfaflen 896 Pfarreien, wozu nod ein Feldprobſteiſprengel mit 
5 Sarnifonspforreien kommt. 

Den Borftand ver Katholifchen Kirche bilden der Landesbiſchof in Rottenburg 
am Nedar und veflen Domkapitel. Nach dem ſtaͤndiſch verabfchiebeten Gefege vom 
30. Januar 1862 iſt das Verhältniß der katholiſchen Kirche zum Staat in ber 
Weiſe geregelt, daß allgemeine Anoronungen ver latholifchen Kirchenbehörde nur 
dann einer vorhergehenden Genehmigung der Regierung bepürfen, wenn fie in 
ſtaatsrechtliche VBerhältniffe eingreifen. Die Kirchenämter werben, fowelt das Ernen- 
nuugsrecht nicht auf einem Patronatsreht beruht, durch den Biſchof befegt, dem 
auch bie Disciplin über bie Geiftlichen zufteht. Die in ber Staatögewalt einbe- 





Mürtemberg. 251 


riffenen Aufficgtsrechte über die katholiſche Kirche werden durch den katholiſchen 
Öberirdhenrath ausgeübt, ber zugleih die Oberſchulbehörde über die katholiſchen 
Boltsfchulen des Landes iſt. | 

Das evangeliihe Volksſchulweſen fteht unter Aufſicht des Konfiftoriums und 
unter Ortsſchulbehörden, welche aus dem weltlihen und geiflliden Ortsporftand, 
einigen Schullehrern und gewählten Mitgliedern ver Schulgemeinde beſtehen. Die 
dotonomiſche Lage ter Volksſchullehrer iſt durch ein ſtändiſch verabfchiebetes Geſetz 
vom Jahr 1865 weſentlich verbeſſert. Die Gelehrten⸗ und Realſchulen des Landes, 
bie bisher unter einerfelbftändigen Aufſichtsbehörde, Studienrath genaunt, ſtanden, 
find durch königliches Dekret vom 2. Oftober 1866 einer Abtbheilung des Mini» 
fleriums für Kirchen⸗ und Schulmefen untergeben; vie Landesuniverfität, die poly: 
techniſche Schule und die land» und forftwirtbfchaftliche Akademie zu Hohenheim 
ſtehen unmittelbar unter dem Minifterium. 

Das Finanzminifterium hat die Leitung des Stantshaushaltes mit Ausnahme 
des Verkehrsweſens. Die Oberfinanzlammer mit ihren verfchiedenen Sektionen für 
Domänen, Forſtweſen, Verg- und Hüttenwefen, vie Oberrechnungskammer, bie 
Staats⸗Haupikaſſenverwaltung, das Stenerlollegtum, das ſtatiſtiſch⸗topographiſche 
Bureau find feine untergeorbneten Gentralftellen. 

Das Steatövermögen befteht i 

1) in Waldungen, 600,000 Morgen mit jährliddem 


-  Reinertrag von 3,393,000 Gnlden. 
2) Melereien und fonftige Grundſtüdce 322,000 
3) Uebrige Grunpftodötheile 468,000 „ 
Die gewöhnligen Jahreseinnahmen betragen 
1) bei ven Kameralämtern 600,066 Gulden, 
2) bei den Yorftverwaltungen 3,121,518 „ - 
3) Berg. und Hüttenwefen 340,000  „ 
4) Salinenwefen 950,000  „ 
5) Eifenbahnen 2,886,250 „ 
6) Poſtertrag 199,900 „ 
7) Sonflige Einnahmen 340,300 „ 
Gefammtbetrag des Stantsfammerguts 8,488,034 Gulden. 
Stenerbetrag: ' 
Grundſteuer und Gewerbefteuer 3,000,000 Gulven, 
Bintommenfteuer 780,000  „ 
Zol und Acciſe 2,620,00 „ 


Hundeftenern, Sporteln, Wirthſchaſtsabgaben u. f. w. 2,277,560 „ 


Geſammt⸗-Einnahme 17,065,594 Gulden. 
Die Ausgaben beftehen in folgenven Poſten: 


Civilliſte 897,556 Gulden, 
Apanagen 301,525 „ 
Zinſen der Staatsſchuld 4,268,136 „ 
Renten 102,581 „ 
Benfionen N 199,767 „ 
Geheimer Rath 43,483 „ 
Minifterium der Iuftiz 1,160,685 „ 
Miniſterium des Innern 1,854,187  „ 


Uebertrag 9,427,920 Gulden. 


252 Würtemberg. 


Uebertrag 9,427,928 Gulden. 


Minifterium des Kirchen und Schulweſens 2,318,048 „ 
Miniftertum der Finanzen 918,981 „ 
Diinifterium des Auswärtigen 305415 „ 
Minifterium des Kriegsweſens 3,849,898 „ 
Ständiſche Suftentationskaffe einfchließlich der Koften 
der Staatsſchuldenverwaltung 178,974 „ 
Reſervefonds 70,000 „ 
Die Gefammtjumme der gewöhnlichen Ausgaben 
beträgt fomit 17,064,236 Gulden. 


Die Staatsfehuld belief fi) am 30, Juni 1865 auf 75,489,820 Qulven, 
feitvem find in Folge des Krieges und weiterer Eifenbahnunternehmungen hinzu» 
gelommen 14 Millionen. | 

Bon den Steuern fommt auf den Kopf 6,5 Gulden, 
Mit den Gemeindefteuern kommt auf den Kopf 7,3 
Bon den Staatsausgaben fommt auf ben Kopf 95 um 

Das Minifterium der auswärtigen Angelegenheiten hat außer den Beziehungen 
zu ben auswärtigen Staaten noch den Lehenrath und das Staate- und Haus- 
archiv, ſowie die Leitung des Eifenbahnweiens und ber Poft unter fid. 

Kriegsminiflerium. Das fichende Friedensheer betrug bisher 9500 Mann, 
ber bundesmäßige Kriegsfußftenn 25,585 Mann. Die jährliche Ergänzung ter 
Mannſchaft gefhah bisher durch Aushehung nad vollendetem zwanzigften Lebens- 
jahr, wobei unter Vorausſetzung allgemeiner Wehrpflicht die Auswahl im Betrag 
von 4600 Mann für das aktive Heer dur das Roos beftimmt wurde, währen 
bie übrige fogenannte Landwehr nur im Kriegsfall einberufen wird. Die Dienft- 
zeit ift auf ſechs Jahre feftgeftellt, jedoch ft der Ausgehobene noch auf weitere 
6 Iahre für die Landwehr verpflidtet. Für biejenigen, welche die akademiſche 
Maturitätspräfung oder die Dienftprüfung für ein technifhes Fach erſtanden 
baben, iſt die Dienftzeit im Frieden auf ein Jahr ermäßigt. 

literatur: Das Königreih Würtemberg. Eine Beichreibung von Land, 
Bolt und Staat. Herausgegeben vom königl. flatiftifch-topographiihen Bureau 
(redig. von Staaterath v. Rümelin). Stuttgart 1863. — Beihreibung des Kö⸗ 
nigreichs Würtemberg (d. b. der einzelnen Dberämter). Heft 1 bis 47. Stuttgart 
1824—1865. Noch nicht vollendet. — Karte vom Köonigreich Würtemberg. 
MER. 1/sgrooo- Herausgegeben vom ftatift.-topogr. Bureau. 55 Bl. Stuttgart 1821 
bis 1851. — Chriſtoph Friedrich Stälin, Würtembergifche Gefchichte. Th. I—III. 
Bon der Urzeit bis 1496. Stuttgart und Zübingen 1841—1856. — Karl 
Pfaff, Gedichte des Fürftenhaufes und Landes Würtemberg. 3 Thle. Stutt- 
gart 1839. — Karl Blant, Politiſche Geſchichte Würtembergs. Stuttg. 1866. 
— % 7. Spittler, Geſchichte Würtembergs unter den Grafen und Herzogen. 
Göttingen 1783. — Vermiſchte Schriften über würtembergiſche Gefchichte, Stati« 
ſtik und äffentliches Recht. Herausgegeben von K. Wächter. 2 Be. Stuttgart u. 
Tübingen 1837. — I. C. Pfifter, Gefchichte der Verfaſſung des würtembergifchen 
Hauſes und Landes. Bearb. von K. Jäger. Heilbronn 1838. — F. U Ome- 
lin, Die Wirkfamfeit ver würtembergifchen Berfafiung vom 25. September 1819. 
Stuttg. 1841. — Rob. v. Mohl, Die Gefchichte ver würtembergiihen Ver⸗ 
faffung von 1819. Siehe Zeitichrift für die gefammte Staatswiffenfhaft Bd. VI. 
Jahrg. 1850. Tübingen. — €. B. Frider, Die Verfaflungsurlunde für das 
Königrei Würtemberg, mit dem offictellen Anslegungsmaterial herausgegeben. 


Würtembergifge Dynafie. 283 


Tübingen 1865. — Rob. v. Mohl, Das Staatsrecht des Konigreichs Würtem⸗ 
berg. 2 Bde. 2. Aufl. Tübingen 1840, — Karl Georg v. Wächter, Handbuch 
des im Königreich Wärtemberz geltenden Privatrechts. 2 Bde. Gtuttg. 1839 — 
1851. — (8. U Mebold), Württemberg in der neueften Zeit. In dem Konver- 
fattonsleriton der neueften Zeit und Literatur Bd. IV. 1834. Leipzig. --- „Das 
Königreich Würtemberg bis zum März 1848” und „Das Märzminifterium in Wär- 
temberg" |. Die Gegenwart Bd. IV. ©. 305—339 und Br. VI. ©. 87—165. 
Kläyfel. 


Würtembergifche Dynaſtie. 


Auf einem Nebenhügel bei dem Dorf Rotenberg, Aber dem fruchtbaren Nedar- 
thale zwifchen ERlingen und Cannftatt erhob ſich die Burg, von der ſich pie Grafen 
von W. nannten. Die erfte erhaltene Urkunde, in welcher ein „Cuonradus de 
Wirdeneberg“ erwähnt wirb, ift vom 9. 31221), Der erfte Graf von W., der 
fi durch eine Reihe gleichzeitiger Urkunden verfolgen läßt, iſt Graf Ludwig 
1134—1181, welder am Hofe Kaiſer Konrads III. und Kaiſer Friedrichs I. eine 
angefehene Stellung einnahm. Auf diefen Ludwig folgen zwei Grafen Hartmann 
und Ludwig, wahrfcheintich feine Söhne Bon Hartmannd Sohne Konrad ging 
-bie Linie der Grafen von Grüningen aus, welde die oberſchwäbiſchen Beflgungen 
erhielt, aber bereits im Jahr 1280 erloſch. Als eigentlicher Begründer des jetigen 
Hauſes W. ift Ulrih mit dem Daumen 1241—1265 zu betrachten, welder 
dur Muge Benugung ver Zeitumftänbe feine Hausbeflgungen ungemein vergrößerte 
und den erften Grund zur fünftigen Macht des würtembergiſchen Fürftenhaufes 
legte. Wie gering auch ber urfprüngliche Befig des Haufes fein mochte, fo reihte 
fi doch von nun an eine Erwerbung an die andere. Biel wirkte hierbei Finger -. 
Haushalt, politiſcher Berftand, Anfehen beim katferlihen Hofe, welcher durch Gunſt⸗ 
bezeigungen die Unhänglichfeit der Grafen belohnte, Uebernahme einträglicher 
Bogteien, Sparfamfeit in Schenkungen an die Geiftlichkeit. Auch ſchwächte fich, 
nad Abtrennung der Örüninger Linie, das Haus nicht mehr durch weitere Thei⸗ 
lungen. „So haben vie Grafen alle ihre zahlreihen Standesgenoflen, deren Stamm- 
burg .auf dem Boden bes jebigen Königreihs Würtemberg fteht, überlebt und Ihre 
und anderer weltliher und geiftlicher Herren Länder durch Erbichaft, Kauf und 
Kriegsglüd an fi gebracht.“ 

Die beiden Söhne dieſes Ulrih mit dem Daumen, Ulrih und Eberhard 
der Erlaudte, regierten bis zum Jahr 1279 gemeinfam, wo Ulrich flarb und 
Eberhard alleiniger Graf wurde. Diefer Eberharb, ein kühner, unrubiger und ge 
waltthätiger Mann, regierte über 60 Jahre, ſah fech® deutſche Könige auf dem 
Throne, war entweder ihr erklärter Feind oder fehr begünftigter Freund, ber 
Schreden feiner Nachbarn, die Geißel der Reichsſtädte, der geſchworne Feind des 
Landfriedens. Selbſt aus dem gegen ihn geführten Reichskriege 1310 — 1313 ging 
er endlich glücklich hervor und erhielt ſein ihm genommenes Land zurück, welches 
er durch Kauf und Eroberung beinahe um die Hälfte vergrößert hatte. 

Wie die Grafen von W. überhaupt früh der Zerſplitterung ihres Landes 
entgegentreten, ſo ſoll auch Graf Eberhard bereits ſeine Grafſchaft für untheil⸗ 
bar erklärt haben. Ihm folgte daher auch nur einer feiner Söhne, Ulrich IV., 


1) Bis ans Ende des 16. Jahrhunderts fchreibt man „Wirtenberg“, erſt feit diefer Zeit 
fommt die in gewöhnliche Schreibart „WBürtemberg” , in der Amtsſpräche „Württemberg“, auf, 
Ueber den rung ded Namens beſtehen nur Vermuthungen. 


254 Wücrtembergifche Dynaſtie. 


1325—1344. Diefer war in ver haushälteriſchen Schule feines Vaters erzogen 
und ahmte bemfelben in Bergrößerung feines Landes eifrig nad, indem er eine 
ganze Anzahl benachbarter Beflgungen zuſammenkaufte, jo z. B. Stabt und Burg 
Zübingen, welches die verſchuldeten Pfalzgrafen veräußern mußten. Auf Ulrich IV. 
folgten feine beiven Söhne Eberhard der Greiner oder Raufhebart uud 
Uli VI., welde bis zum Jahr 1361 gemeinfam regierten, wo Eberhard feinen 
Bruder zwang, ihm die Regierung allein zu überlafien. Eberhards 48jährige Re⸗ 
gierung war ebenfalls eine ſehr Kriegerifche; feine Kämpfe mit den Rittern und 
Neihsftäbten find beſonders durch Uhlands berrlihe Dichtungen weltbefannt ge- 
worben. Uebrigens wurde auch durch Eberhard ven Greiner bie Madt und das 
Unfehen bes würtembergifhen Haufes fehr vermehrt, wozu bie reihen und vor- 
nehmen Verbindungen feiner Familie nicht wenig beitrugen. Er felbft war vermählt 
mit einer Gräfin von Henneberg, die ihm ein Heirathsgut von 90,000 Gulden 
zubrachte. Sein einziger bei Döffingen gebliebener Sohn Ulrich VII. war mit ver 
Tochter Kaiſer Ludwigs vermählt, feine einzige Tochter Sophie wurde die Gemah⸗ 
Un des Herzogs Johann von Lothringen und die Stammmutter des ganzen lothrin- 
giiden Haufes, fein Enkel Eberhard der Milde beirathere eine Tochter des reichen 

arnabo Bisconti von Matland mit einem SHeirathögute von 70,000 Gulden. 
Auch ließ Eberhard der Greiner keine Gelegenheit vorübergehen, fein Land durch 
Käufe zu vermehren; fo erwarb er unter anderm bie Grafſchaft Calw, Böhlingen, 
Sindelfingen, Laufen und das fog. Herzogthum Ted, deſſen Befiger durch fchlechte 
Haushaltung völlig heruntergefommen waren. 

Auf Eberhard den Greiner folgte fein Enkel Eberhard III, der Milde 
1393—1417, welder bald alle Streitigkeiten mit den Reichsſtädten beilegte, den 
Uebermuth feines Adels aber nur mit Gewalt brechen konnte. Im Gegenfag zu 

feinem baushälterifchen und fparfamen Großvater war er pradtliebend und ver- 
ſchwenderiſch, wodurch manches bereit Erworbene dem Haufe wieder verloren ging. 
Ihn folgte fein Sohn Eberhard IV. der Jüngere, welder nur zwei Jahre 
regierte und mit Henriette, der reihen Erbtochter der gefürfteten Grafſchaft Möm- 
pelgard verbeirathet war. Durdy fie kam viefes Land an das Haus W. Nach 
Eberharbs des Ilingern Tode 1419 kamen feine beiden Söhne Ludwig der Aeltere 
und Ulrid der Dielgeliehte zur Regierung; anfangs regierten fie gemeinfam, 
1442 aber theilten fie ihr Land, ber jüngere Bruder durfte wählen und befam 
das Land unter der Steig, worin Stuttgart liegt, der Ältere Bruder erhielt das 
Land ob der Steig, worin Urach Liegt, jo entflanden auf kurze Zeit zwei regie- 
rende Linien: 

1. Die ältere Uracher Linie, deren Stifter Ludwig I. tft; er halte zwei 
Söhne Ludwig den Jüngern und Eberhard ven Aeltern, nachmaligen erften Herzog; 

2, die jüngere Stuttgarter Linie Ulrih8 des Vielgeliebten, welcher 
zwei Söhne hatte, Eberharb ven Jüngern, nachmaligen zweiten Herzog, und Grafen 
Heinrich. Letzterer, trog feiner widerwärtigen Gemüthsart und ſchlechten Auf- 
führung zum geiftlihen Stand beftimmt, fette endlich doch durch, daß ihm bie 
Grafſchaft Mömpelgard als felbfländiger Erbtheil abgetreten wurde. Indem er 
bier feine Thorheiten fortfegte, wurde er zuerft vom Herzog von Burgund, dann 
von feinem Better Eberhard dem eltern gefangen gehalten; doch war biefer 
Fürſt berufen, allein den wäürtembergifhen Stamm fortzupflanzen. 

In der Uracher Linie wurde Eberhard der Aeltere mit dem Barte, feit 
bem Tode feines Bruders 1457, alleiniger Beſitzer des Urachiſchen Antheils. Trog 
einer ſchlechten Erziehung und einer wüſt verbrachten Jugend, wurbe er ein weiſer 


' 


Würtembergiſche Dynaſtie. 265 


Regent und tächtiger Landesherr. Seine Reife in den Orient, fein längerer Auf⸗ 

It in Italien erwedte in ibm eine große Neigung für die Wiſſenſchaften. 
Sein größtes Berbienft erwarb er fi durch die Stiftung der Univerfltät Tü⸗ 
bingen 1477, mit welcher er das berühmte contubernium academicum verband, 
an welchem Rendlin und Melanchthon lehrten. Fromm, aber nicht‘ abergläubiſch, 
fergte er für vie Hebung ber Kirchenzucht und befiere Ordnung des Klofterlebens, 
Audy ließ er fih die Ausblivung der wärtembergifhen Hausverfaffung ange 
legen fein, indem er mit ven Vettern der Stuttgarter Tinte mehrere Hansverträge 
abſchloß. Bor allem wichtig ift der Münſingiſche Hauptvertrag, welden die 
beiden Bettern Eberhard der Aeltere mit dem Barte und Eberharb der Jüngere 
1482 erridteten, deſſen weſentliche Beftimmungen alfo lauten: 

„Daß wir unfer beider Land und Leute zufammen in ein Regiment und 
Weſen thuen, damit wir unfer Lebelang und nach uns unfere Erben und bie löb- 
lie Herrſchaft Würtemberg zu ewigen Zeiten ungetheilt ale Ein Wefen, ehr⸗ 
ich, loblich und wehrlicy bei einander bleiben nnd fein — — fo haben wir frei⸗ 
willig und mit Rath, wie vorftehet, unfer beider Land und Leute — — zufammen 
in Eine Gemeinſchaft geworfen, daß es binfüro zn ewigen Zeiten ein Weſen und 
Land unſerer beeven heißen und fein folle, ala auch alle Bürger, Innmwohner und 
Untertbanen unfer beever Lande in Gemeinſchaft Erbhuldigung gethan und ger 
Ihworen haben, uns beeden als ihren rechten, natürlichen Herrn getreu umd hold 
zu fein — — und uns Grafen Eberharb dem Aeltern, als regierendem Herm 
von uuferer beiden wegen und in unfer beeber Ramen gehorfam und gewärtig zu 
fein unſer Lebelang und nad unferem Tode uns Grafen Eberhard dem Jüngern, 
ob wir den erleben, und darnach füraus dem Altiften Herrn von WBürtemberg, 
von unfer einem geboren und alfo füraus abfleigenver Linie nah. — — Wir 
beide follen nnd wollen auch in unferer beever Land von einem bequemen Ende, 
als wir jetzo Stuttgarten achten bequem fein, mit fammt unferer beeder Gemahlin 
bei einander Einen Hoff nnd Ein Frauenzimmer, aud Ein Eanglei und Einen 
Landhofmeifter haben und halten, der mit fammt etlichen Räthen, die ihnen von 
nnd zugeorbnet werden, unfer und unjers Lands Sachen und Geſchäften nad 
unfer Grafen Eberhard des ältern, als des regierenden Herrn Beſcheide handeln 
und ausrichten ſolle. — — Es follen auch alle Briefe und Schriften, unfer ge 
mein Derrichaft berührend, von uns beeven lauten und ausgehen, aber wir Graf 
Eberhardt der Heltere follen und wollen uns, als ver ältifte, des Regiments unfer 
Land und Leute aunehmen und damit beladen fein unfer Tebelang, das ußzurichten 
zum getreulichften und zum beften". 

Der Dünfingen’fihe Vertrag ift chı merkwürdiges Beiſpiel einer gemein- 
famen Regierung, mit einem Borzuge des älteften, welcher als ber eigentlich ve» 
gterende angefehen wird, obgleih auch die jüngern nicht vollſtändig von der Mit⸗ 
regierung ausgefchloffen werben follen. Die verabrebete Form der Succeffion iſt 
feine Primogenitur, fondern ein Seniorat, indem nit anf den Vorzug ber 
nie, fondern auf das wirkliche phyſtſche Alter fümmtliher von beiden Kontra⸗ 
benten abflammenden Erben gefehen wird. 

Diefer Hauptvertrag wurde noch durch mehrere fpätere Verträge erläutert, 
befonders dur den Eßlinger Bertrag von 1492. So wurden in Zeiten, in 
welchen man in anbern Rändern erft recht zu — begann, in dem ſeit 1442 
getheilten W. die wichtigen Familiengeſetze geſchafffkn, wodurch die Untheilbar- 
keit des Landes eingeführt und das unmittelbar darauf feſtgegründete Erfigeburts- 
echt angebahnt wurde. Auf Grundlage einer fo konſolidirten Hausmacht wurde 


256 | Würtembergifche Dynaſtie. 


die wichtige Erhebung zur Herzogswärde im Jahr 1495 möglich. Die großen 
Berdienfte Eberhard's nm das Reid, feine Tüchtigkeit in Ordnung der Innern An« 
gelegenheiten feines Haufes und Landes veranlaften Kaiſer Marimilien I. im 
Jahr 1495, auf dem überaus glänzenden Reichstag zu Worms, den Grafen Eber- 
hard im Bart zum Herzog, die Grafſchaft W. mit allen ihren Pertinenzen zum 
Herzogthum zu erheben. In dem Herzogspiplom wurde die Untheilbarkeit 
von neuem beftätigt, die Succeffionsorbuung wurde eigenthümlich beſtimmt, zu- 
nächſt follte Graf Eberhard der Aeltere das Herzogthum haben, und nad feinem 
Tode Eberhard der Jüngere. Sollte Eberhard der Jüngere männliche Defcenvenz 
haben, fo follte diefe der männlichen Defcendenz Eberhard des Aeltern vorgehen. 
Erft nah Abgang der männlichen Leibeserben Eberhard des Jüngern follte die 
Defcendenz Eberhard des Aeltern an die Reihe kommen. Erſt wenn feiner von 
ber Defcenvenz biefer beiden Vettern mehr im Leben wäre, follte die regelmäßige 
Primogenttur eintreten. „Und ob berfelben aud keiner mehr im Leben vorhanden 
wäre, jo follte alsdann fol Herzogthumb uff ven Ältiften von Würtenberg und 
von dem uff feinen ältiſten Sohn fallen oder ob verfelbige ältift Sohn vor oder 
nad feines Vaters Todt abgangen wäre und Leibeserben in abfteigennen Linien 
einen ober mehr Söhne von ihm gebohren oder Schneslind, Mannsperfonen ge- 
laſſen Hätte, fo follte des abgangnen ältifter Sohne mit dem gemelten Hertzog⸗ 
thumb belehnet und vor allen von Würtenberg dazu gelaffen werben. Ob aber 
der Ältifte Sohn fein Erben Mannsperſon, wie vorgefchrieben fteht, gelafien hätte, 
fo folle uf ven andern gebohrnen Sohn und feine Erben Mannsperfonen feines 
Stammes das Herzogthumb fallen; und ob derſelbige auch nidt Erben Manns» 
perfonen und feines Stammes von Würtenberg gelaflen hätte, alsdann das ge- 
melte Herzogthumb auf ben brittgeborenen Sohn fallen, aljo daß bie Erfigeborenen 
und bie Ihennen von ihrer abfteigenver Linien allzeit vor andern flatt und Vor⸗ 
gang haben. Uff welchen auch foldy Herzogthumb kommen wird, verfelbig auch das, 
inmaßen mir vorftehet, mit Titel, Würben, Ehren und Nugungen allein haben, 
empfaben und xegieren fol und bie andern non Würtenberg das Herzogthumb 
bei Zeiten folder des ältiſten Regierung nicht befigen noch erben, fonvern follen 
fie von dem regierenden Herzogem mit andern Herrſchaften und Gütern oder fonft 
verfehen werben“, . , 

Somit fand feit 1495 in W. keine eigentlide Landestheilung 
mehr ftatt, abgejehen von Mömpelgard, weldes als nicht inkorporirt angefehen 
wurde. | 

Der neue Herzog erließ vier Monate nad feiner Stanbeserhöhung feine 
„Landesordnung” vom 11. November 1495, die erſte umfaflende Geſetzgebung 
für das ganze Land, worin er das Pollzeimefen orbnete, aber auch ven Procen 
und das Privatrecht berührte; bald darauf flarb er am 24. Februar 1496, tief 
betrauert von feinen Unterthanen, zu Kübingen. Da Eberhard mit dem Barte 
feine männliche Defcendenz hinterließ, fo folgte ihn, nad den Hausverträgen, fein 
Better Eberhard ver Jüngere, welder aber wegen feines unwürdigen Lebens und 
Betragens 1498 zur ahbantung gendthigt wurbe, wodurch das Herzogthum auf 
bie Defcenvenz Heinrihs von Mömpelgarb kam. 

Der erfte Herzog ber Mömpelgarv’fchen Linie war Ulrich, Heinrichs ältefter 
Sohn, welcher anfangs unter einer Megentfhaft von 12 Räthen fland, bereits 
1503 vom Katfer aber für Mündig erflärt wurde. Leichtfinn und Verſchwendung 
machten feine Regierung bald fo verhaßt, daß im Jahr 1514 ein Aufruhr aus» 
brach, den er nur dadurch beſchwichtigen Tonnte, daß er im Tübinger Vertrag 





Würtembergiihe Dynaſtie. 257 


1514 den Ständen eine Reihe wichtiger Nechte einräumte, die von nun an bie 
Srundlage der öffentlichen Freiheit Würtembergs bildeten. Indeffen bald z0g ihm 
bie Ermordung des Hans von Hutten, die Mißhandlung feiner bayrifhen Ge» 
mahlin und feine despotifche Regierungsweife von neuem ten allgemeinen Haß zu; 
der gewaltthätige Ueberfall von Reutlingen brachte ihn in Konflikte mit dem mäch— 
tigen ſchwäbiſchen Bunde, durch welchen er aus feinem Lande vertrieben wurde. 
Der Bund verfaufte das Land 1520 an DOefterreih. Es kamen nun Zeiten harten 
Drudes, befonders in religiöfer Beziehung, indem Defterreih alle reformatoriſchen 
Regungen gewaltjam nieberhielt. Im Bunde mit den proteftantifchen Fürften ver- 
brängte indefjen Ulrich tie Defterreiher 1534 und feine Wiedereinfegung wurde 
im Bertrage von Kadan beftätigt, worin freilich bie öſterreichiſche Lehensherrlich⸗ 
feit anerlannt werben mußte. Nach Ulrihs’s Nüdlehr wurde das Neformations- 
wert in W. ungehindert burchgeführt, er farb als der grfte proteflantifche Herzog 
von W. im Jahr 1550. 

Auf Ulrich folgte Chriſtoph, einer der beften Fürften feiner Zeit, welcher 
die kirchlichen und politifchen Verhältniffe des Landes mit großer Umfiht neu 
orbnete, bie Polizei und Rechtspflege verbefferte und im Jahr 1555 ein würtem- 
bergifches Landrecht publicirte. Auch wurde unter ihm die landſtändiſche Verfaffung 
fo audgebilvet, wie fie im Wefentlihen bis zu ihrer Auflöfung beftanven hat. Auch 
in Rächsangelegenheiten, wie an der Spige ber proteftantifhen Stände, erwarb 
fih dieſer Fürſt großes Unfehen; nad feinem im Jahr 1568 erfolgten Tode 
ſuccedirte ihm fein Sohn Ludwig, welder wegen feiner theologifchen Kenntniffe 
der Fromme genannt wurde, fonft aber ein ziemlich unbeveutender und aus⸗ 
ſchweifender Fürſt war. Mit ihm erlofh 1593 vie würtembergifche Hauptlinie und 
es folgte nun Friedrich I. von der Mömpelgarver Linie, der einzige Schn des 
Grafen Georg, des jüngern Bruders Herzog Ulrihs. Friedrich hatte eine elegante 
weltmännifhe Erziehung im Sinne der tamaligen Zeit genoflen; franzöſiſche Kul⸗ 
tur hatte er in feiner Heimat Mömpelgard gleihfam mit ver Muttermilch ein- 
gefogen. Auch als Herzog war er von einer Anzahl Franzoſen und Halbfranzofen 
umgeben, weßhalb er immer in W. als ein Fremder angefehen wurde. Auch 
fanden feine modern-abfolutiftifhen Staatsanſchauungen mit der landſtändiſchen 
Verfaſſung in Widerſpruch; er ſuchte daher mit Hülfe feines Rathgebers, bes 
ſchlauen Geh. Rathes Enzlin, die Macht der Landflänte zu ſchwächen, hielt einen 
glänzenden Hofftaat und machte viele Schulden, ergab ſich nady der Sitte ber Zeit 
der Alchymie und fuchte auch, jedoch mit wenig Erfolg, eine gewiſſe Rolle in ver 
großen entopäifchen Politik zu ſpielen; doch gelang feinen Bemühungen durch den 
Prager Vertrag von 1599 die öſterreichiſche Afterlehensherrlichkeit 108 zu werben 
und fie in eine bloße Anwartſchaft umzuwandeln. 

Auf ihn folgte 1608—1628 fein Sohn Johann Friedrich, unter beffen 
Regierung bie Neuerungen des Baters wieder abgeftellt wurden. Im Jahr 1617 
kam unter Zuziehung ber Landſchaft ein Vertrag zwifhen dem Herzog und feinen 
nachgebornen Brüdern zu Stande, wodurch das Herzogthum unzertrennt erhalten, 
dem zweiten Bruder Ludwig Friedrich Mömpelgard mit’ voller Landeshoheit, 
dem dritten Bruder Julius Friedrich die Flecken Brenz und Weiltingen, jedoch 
ohne Zerritoriglhoheit, übergeben wurden. Die Linie des zweiten Bruders zu Möm- 
pelgard erlofh 1723 mit Leopold Eberhard, worauf diefes Land bleibend mit der 
Hanptlinte vereinigt wurde. Der ältefte Sohn des Julius Friedrich, Sylvins 
Rimrod, verheirathete fih mit Elifabeth Maria, Erbtochter des Herzogs Karl 
Friedrich zu Munſterberg und Dels, und begründete die ſchleſiſche ober julianifche 

Diuntf@li un Brater, Deutſchet Staate⸗Woͤrterbuch. xl. 17 


258 Würtembergifche Bpnaflie. 


Linie Würtemberg-Dels, welche fih eine Zeit lang in drei Unterlinien zu 
Oels, Bernſtadt und Iultusburg theifte, allein 1792 mit Chriſtian Erb- 
mann im Mannesftamme erlofd. 

Auf Iohann Friedrich folgte fein ältefter, erft vierzehnjähriger Sohn Eber- 
hard III. 1628—1674, zuerft unter VBormundfchaft feiner Vaterbrüder, von 1633 
an als Selbftregent. In feine Regierungszeit fällt die ſchreckliche Verwüſtung durch 
den dreißigjährigen Krieg, welcher ben Herzog jahrelang feines Landes beraubte. 
Im weftphälifhen Frieden wurde jedoch vie Wievererlangung aller von W. los⸗ 
gerifjenen Lanvestheile erreiht. Seine nod übrige Regierungszeit benugte Eber- 
bard III. zur Ausheilung der Schäden, welche der vreigigjährige Krieg dem Lande 
zugefügt batte. In feinem Teftament von 1664 verbot er die Abfindung der Nach⸗ 
gebornen mit Land und Leuten (die fog. Paragien). Ihm folgte 1674—1677 fein 
Sohn Wilhelm Ludwig, diefem fein minverjähriger Sohn Eberharb Ludwig 
1677— 1738, über deſſen Bevormundung große Streitigkeiten ftattfanden, bis 
durch einen 1678 unter kaiferliher Vermittlung abgefchlofjenen Vergleich der Oheim 
Friedrich Karl als Lanvesapminiftrator anerfannt wurde. Als Eberhard Ludwig 
1693 zur Selbftregierung gelangt war, gab er fi einem ausfchweifennen Leben 
bin, Tieß fi von feiner Maitreſſe von Grävenig ganz beherrfchen, errichtete eine 
ftehende Militärmacht, mifchte fih zum Schaden des —5*— in auswärtige Hän⸗ 
del, verlegte die Reſidenz nah Ludwigsburg und brachte die Randesverwaltifig in 
größte Verwirrung. Er flarb zwei Jahre nach dem Tode feines einzigen Sohnes 
1733, ihm folgte in der Regierung Karl Alerander, ter Sohn feines Oheims 
Friedrich Karl, welder in öſterreichiſchen Dienften geftanden hatte und zur fatho- 
liſchen Kirche übergetreten war. Seine Regierung 1733—1737 war abermals 
eine Unglädsperiove für W., indem der Herzog feinem zum Geh. Rathe erhobenen 
Leibinden Süß-Oppenheimer, zum Schaden des Landes, einen ungebährlihen Ein- 
flug auf die Regierungsgefhäfte einräunte. Dem Herzog Karl Alexander folgte 
fein talentvoller Sohn Karl Eugen, welder 1744 für miünbig erflärt, unter 
dem Einfluß der unmwärbigften Günftlinge, eines Diontmartin und Rieger das Lant 
durch Verſchwendung, Solvatenfpielerei, koſtſpielige Bauten, Stellenhandel erichöpfte, 
während feine grenzenlofen Ausſchweifungen vie öffentliche Sittlichleit untergruben. 
Seine gewaltthätigen Eingriffe in die Lanvesverfaffung riefen ven Außerften Wi⸗ 
berftand der Lanpftände hervor und nöthigten ven Berzog endlih zum fog. Erb- 
vergleih von 1777. Seitdem nahm feine Regierung eine befjere Richtung. 
Einen günftigen Einfluß auf ihn äußerte feine Bermählung mit der Gräfin Hohen- 
heim 1786, wie überhaupt fpäter ein langanpauernder Frieden dem Herzog bie 
dem Lande gejchlagenen Wunden heilen half. Die rühmlichfte Seite feines Weſens 
war fein ausgeprägter Sinn für Wiffenfhaft und Kunft; Stuttgart wurde durch 
ihn zu einem Sig der trefflichften Künftler und aus den Lehranſtalten des Landes, 
befonders aus der neugegrändeten Karlsſchule, gingen vie ausgezeichnetſten Ge⸗ 
lehrten hervor. Seinen weit über W. hinausreihenven gefchichtlihen Namen ver- 
dankt er befonders feinem befannten Berbältnig zu Friedrich Schiller, wenn 
er auch im Kampfe mit diefem Titanen ebenfo Mein erfcheint, wie im Kampfe mit 
Friedrich dem Großen. Seine legten Lebensjahre verlebte er in philoſophiſcher Ruhe 
zu Hohenheim; er flarb am 24. Oftober 1790, Ihm folgten in ver Regierung 
feine beiden Brüver Ludwig Eugen, geft. 1795 und Friedrih Eugen, geft. 
1797. Letzterem fuccebirte fein hochbegabter Sohn Friedrich, der erfte König 
von W., der Begründer des gegenwärtigen würtembergiihen Staates, der per- 
ſonificirte Ausdruck rheinbündneriſch⸗despotiſcher Willfür, „ein Bitellius an Geftalt, 


MWürtembergifhe Dynaſtie. 259 


ein Nero an Gemüth." Geboren am 6. November 1754 zu Treptow in Hinter- 
pommern, wo fein Bater als preußifcher General fland, trat ex ebenfalls in 
preußifhe Kriegsvienfte, zog fi aber bald aus venfelben zuräd, Iebte Tange in 
Rußland, Frankreih und der Schweiz, bis er 1797 die Regierung des väterlichen 
Herzogthums antrat. Durch feine Verbindungen mit den Höfen von Petersburg 
und Bien wußte er fi im Reichsdeputationshauptſchluß von 1803 nicht nur bie 
Kurwürde, fondern eine überreihe Entſchädigung für feine VBerlufte auf dem Iinfen 
Rheinufer zu verfhaffen. Später erwarb er fi durch feftes Anfchließen an Na- 
poleon und den Beitritt zum Rheinbund noch weitergehende Vergrößerungen und 
den Königstitel. Während das alte Herzogthum W. kaum 155 Q.-M. mit 
600,000 Einwohnern umfaßt hatte, war jegt Friedrich im Beſitz eines König- 
reihe von 354 Q.M. mit 11/, Mil. Einwohnern. Geftägt auf feinen mächtigen 
Protektor wagte nun der neue König bie alte, in fo vielen Stürmen bisher ver- 
theibigte, von fo vielen Herzögen befhworne, von Friedrich felbft bei fürftlicher 
Ehre und Treue anerfannte Berfafjung als „eine nicht mehr im bie jetige Zeit 
paflende Einrihtung” aufzuheben. Da das alte Herzogthum W. nun ebenfo un- 
bebingt, wie Nen-Würtemberg dem abfoluten Willen des nenen Königs" unter- 
worfen war, fo wurben beide bisher getrennte Staaten zu einem einzigen GStaate, 
dem Königreih Würtemberg vereinigt und deſſen unbebingte und ſchranken— 
loſe Unterwürfigleit unter den Willen des Königs durch das Organifationsmani- 
feft vom 18. März 1806 ausgefproden. Die napoleonifhe Zeit erleichterte jeden 
gewaltfamen Umfturz und bildete Friedrich I. zu einem großen Defpoten in 
feinen Berhältniffen aus. „Grauenvoll düſtert“, ſchrieb der fpätere preußifche 
Minifter Eichhorn 1813, „der finftere Despotismus biefes Königs, noch nie hat 
man ihn in diefer Geftalt auf deutſcher Erbe gefehen!" Mit überlavenem Pomp 
und orientalifhem Cremoniell feines Hofes ſuchte er bie Kleinheit ver Verhältniffe 
zu verbeden; große Kronämter wurben gegründet und bie ehemaligen gleichherech- 
tigten fürftliden Nachbaren gezwungen, fie zu übernehmen. Koftbare Bauten in 
Stuttgart und Ludwigsburg, verſchwenderiſche Ausflattung der Schlöffer, Anlage 
weiter Parks, Theater und üppige Feſte aller Art ſollten das Leben eines mädh- 
tigen Königs barftellen, die Jagven hatten Taum ihres Gleichen in Europa; durch 
das Hausgeſetz, welches er ganz nad Napoleons Vorbild am 1. Jannar 1808, 
als Stifter der Monarchie, als Haupt des königlihen Haufes und als Vater des 
nächften Thronerben, erlaffen hatte, legte er ſich über die lieber feine® Familie 
eine in Deutſchland unerhörte Machtvollkommenheit bei. Mit zäher Hartnädigteif 
bing er an der napoleonifhen Allianz und erſt nad ber Schlacht bei Leipzig 
näherte ex fi) den Verbündeten. Obgleich er no auf dem Wiener Kongreß die , 
Grunpfäge des ſtarrſten Fürſtenabſolutismus geltend gemacht hatte, fo wurbe er 
doch noch fchließlich gezwungen, den Forderungen bes wieberwacten Volksgeiſtes 
nachzugeben und mit ven Vollövertretern über Wieverherftellung der Landesver- 
faſſung in Verhandlungen zu treten, welde jedoch erft unter feinem Sohne König 
Bilhelm J. zu einem befrievigenden Abſchluß führten. 

Diefer Fürft, welcher fhon früh mit der politifchen Richtung feines Vaters zer- 
fallen war, wurde der Begründer ber neuen würtembergifhen Verfaſſung vom 
25. September 1819. Seine langjährige Regierung, welde für W. eine Aera geiftigen 
und materiellen Fortſchrittes herbeiführte, hat unter dem Artikel „Würtemberg" 
ihre Beſprechung gefunden. Hier möge nur noch erwähnt werden, was König Wilhelm 
für die Hausverfaffung feiner Dynaſtie that. Durch die Berfaffungsurkunde 
von 1819 Kap. 2, 8.7 wurde bie fett Jahrhunderten im würtembergifhen Haufe 


17° 


260 Würtembergifche Dynaſtie. 


beftehende Primogenitur von neuem beftätigt. „Das Recht der Thronfolge ge- 
bührt dem Mannsftamme des füniglihen Hauſes; die Ordnung berfelben wird 
dur die Tinealfolge nah dem Erftgeburisrecht beftimmt”. Da das Haus Oeſter⸗ 
reich im Preßburger Frieden Art. 15 auf feine bis dahin beftehenden Anfalls⸗ 
rechte verzichtet hatte, fo fand nichts entgegen, nach Ausfterben des würtem- 
bergifhen Mannsftammes aud die Kognaten zur Thronfolge zu berufen, wie 
dies die würtembergifche Verfaffung a. a. DO. thut: „Erliiht der Mannsſtamm, 
fo geht die Thronfolge auf die weibliche Linie ohne Unterfchied des Geſchlechtes 
über und zwar fo, daß die Nähe ver Verwandtſchafi mit dem zulegt regierenden 
König und bei gleihem Berwandtfhaftsgrade das natürliche Alter den Vorzug 
giebt. Jedoch tritt bei der Deſcendenz des forann regierenden Föniglichen Haufes 
das Vorreht des Mannsſtammes wieder ein”. Die mwürtembergifhe Berfaflung 
läßt alfo beim erften Uebergang in den Weibsftamm nicht die konfequente Lineal⸗ 
primogenitur eintreten, wie bies tie bayeriſche Berfaffung thut, ſondern berüdfich- 
tigt in diefem einzelnen Galle die Nähe des Verwandtſchaftsgrades mit dem 
legten Kronbefiger, während nad einmal vollzgogenem llebergang wieder die ftrenge 
Linealorpnung einzutreten bat. Keine Art von Negierungsunfähigteit ſchließt den 
berufenen Thronfolger von der Krone felbft aus, fondern es tritt in folden Fällen 
eine Regentſchaft ein. Diefe gebührt dem ver Erbfolge nad) nächſten Agnaten, 
in Ermangelung eines folden ver Mutter und nad diefer der Großmutter von 
väterlicher Seite. Die Volljährigkeit des Königs tritt mit zurüdgelegtem adhtzehnten 
Jahre ein; die vom König Friedrich I. abſtammenden Prinzen und Prinzeffinnen 
werben mit zurüdgelegtem 21., alle übrigen Familienglieder mit dem 22. voll- 
jährig. Alle weitern Rechtsverhältniffe der königlichen Familie find durch das Hans- 
gejeg vom 8. Juli 18283 geregelt. Alle frühern Beftimmungen Über Gegenftände, 
welche dieſes Hausgeſetz feftftellt, find aufgehoben, insbeſondere das erwähnte 
Hausgefeg von 1808. Mitgliever des königlihen Haufes find die Gemahlin des 
Könige, die königlihe Wittwe, alle Prinzen, welche aus rechtmäßiger ebenbürtiger, 
‚mit Bewilligung bes Königs eingegangener Ehe von dem gemeinfamen Stamm- 
vater deſcendiren, alle Prinzeffinnen des Hauſes, fo lange fie nicht außer dem 
Haufe frandesgemäß vermählt find, die ebenbürtigen, mit Genehmigung des Königs 
geehelichten Gemahlinnen ver königlichen Prinzen, fowte deren Wittwen. Sämmt⸗ 
lihe von König Friedrich I. abſtammende Mitglieder der königlichen Familie führen 
den Titeb „Königliche Prinzen und Prinzeffinnen“ und das Prädikat „Königliche 
Hoheit”; alle Mitglieder der Nebenlinien beißen „Herzöge“ von W. und führten 
bis zum Jahr 1865 nur das Präpifat „Hoheit”; in dieſem Jahre, wurde ihnen 
durch Tönigliches Dekret vom 11. September die „Königliche Hoheit” beigelegt. 
“ Die Mitglieder des königlihen Haufes haben ein Recht auf Geldvortheile, ohne 
daß fie ſchuldig wären, dem Staate hiefür Dienfte zu leiften; biefelben zerfallen 
in Apanagen, welde fi immer vom Bater auf die Söhne nad) gleihen Theilen 
vererben, in perfönlide Suftentationsgelder, in Mitgaben der Prinzeffinnen 
bei der Berheirathbung, welde von der Staatskaſſe zu leiften find (30,000 bis 
100,000 fl.), in Witthum und Donativngelder. Die Apanagen find nad dem 
fog. Bererbungsfpflem georbnet, jedoch fo, daß, wenn durch fortgefegte Thei⸗ 
lung bie Apanagen in einer Seitenlinie ein geſetzliches beſtimmtes Minimum nicht 
mehr erreihen, fie durch eine blos perſönlich verwilligte Zulage auf dieſes Mi⸗ 
nimum erpöbt werben. Alle großjährigen Agnaten haben ein Recht auf Sig und 
Stimme in der erften Kammer Ueber alle Mitglieder tes königlichen Haufes führt 
der König als Familienoberhaupt ein hausgeſetzlich beflimmtes Oberauffidhts- 


Marl Salomo Sachariä. 261 


recht, insbefondere hat er feine Erlaubniß zu ertheilen zum Aufenthalt im Aus- 
lande, zur Singehung einer Ehe, zur Einfegung von Bormundfchaften. In Be- 
treff der Ebenbürtigfeit der Ehen hat das würtembergifhe Haus zu allen Zeiten 
die firengen Grunbfäge bewahrt, fo daß aud heutzutage nur Ehen mit Prin- 
zen und Prinzeffinnen regierender Yürftenhäufer und außerdem mit Glievern flandes- 
herrlicher (vd. h. ehemals reihsftäntifher und landesherrlicher) Familien im Sinne 
der Bunbesafte Art. 14 als ebenbürtig gelten. 

Seit König Friedrich J., welcher Iutherifch erzogen wurbe, gehört das Haus 
W. wieder der evangeliihen Konfeffion an. 

Die männliche Defcendenz König Friedrichs T. ſteht jegt nur auf wenigen 
Augen, indem außer dem Hinverlofen König Karl I. (geb. am 6. Mär, 1823) 
nur die Rahlommenfhaft feines Vatersbruders, des Prinzen Paul, geft. 1852 
vorhanden ift, deſſen Enkel, Prinz Wilhelm (geb. am 25.- Februar 1848) als 
präfumtiver Thronfolger zu betrachten iſt. Außerdem: beftehen noch mehrere Neben- 
linten, welde von ven Großvatersbrüdern des jegigen Königs abflammen, doch 
find nur in zweien berfelben fucceffionsfähige Nachkommen vorhanden, nämjich in 
der Linie des Herzogs Eugen, geft. 1857 (zu Karlsruhe in Sclefien) und in 
der Linie des Herzogs Alerander, geft. 1853 (zu Baireuth), die zum Theil 
katholiſch iſt. 

Literatur Stälin, Würtemb. Geſchichte. 3 Bde. 1841 bis 1856, 
Dufter einer deutſchen Territorialgefhichte, geht bis zum Jahr 1496; Satt- 
ler, Allgem. Gedichte von W. unter den Grafen. 5 Bde. 1764-1768; 
Derfelbe, Neuere Gefhichte von W. unter ven Herzögen. 13 Bde. 1769—1784; 
Spittler, Geſchichte W.’S unter der Regierung der Grafen und Herzöge. 1783. 
PBragmatifhe Geſchichte WS! unter ver Megierung ber Grafen und Herzöge. 
London 1787; CH. R. Köftlin, König Wilhelm I. von W. 1839; R. v. Mohl, 
das Staatsrecht des Könige. W. II. Aufl. 1840. Sänmtliche Hausgefege finden 
fi in U. 2 Reyſcher's mürtembergifher Geſetzſammlung. germann Sqhulze. 


3. 


Karl Salomon Zacharid. 


Die Staatslehre Zachariä's hat einen vermittelnden Charakter, aber ihre nüd- 
tern-verftändige, vielfeitig aufmerkfame, kalt erwägende, bald viefen, bald jenen 
Standpunkt wählende Betrachtungsweiſe bildet einen ſcharfen Gegenſatz zu ber 
romantifchen Vermittlung. Sie vermittelt nicht, indem fie die Gegenſätze überbedt, 
fondern inden fie abwechſelnd den Gegenfägen folgt. Sie hat daher einen ellek⸗ 
tifhen Charakter und wenn der Ausdruck erlaubt ift, eine fchillernde Färbung. 
3. bat fi zuweilen felber mit Madiavelli und mit Montesquieu verglichen. Er 
wollte für feine deutſchen Landsleute fein, was jener für die Italiener, und 
biefer für bie Franzofen. An Reihthum des pofitiven Willens war er beiden über- 
legen, an ver Fertigkeit des logifchen Denkens, an der Gewandtheit, neue Ge- 
fihtspunfte zu entdeden, und an ber Klarheit der Sprache beiden ebenbürtig. Über 
bie Größe jener erreichte er doch nicht. Es fehlte ihn dazu trog aller Zähigkeit 
feines Steebens an der rechten Energie des Geiftes wie des Charakters. Er be- 





262 Karl Salome Sachariä. 


handelte die Staatswiſſenſchaft vorzüglich als Gelehrter, nicht als ſtaatsmänniſcher 
Kopf. Seine Schriften find keine Thaten. So geiftreid fie find und fo fehr man 
durch fie angeregt wird zum Nachdenken, fie geben doch weber der Wiffenfchaft, 
noch dem Leben einen neuen Anſtoß. Dean findet fie intereflant, fogar brillant 
und bleibt dennody Talt dabei. Eben in der feltenen Gewanbtheit, mit ber er bie 
Standpunkte und die Anfichten wechſelte, lag dann für ihn aud eine Verlodung, 
je nad Umftänven für verſchiedene Parteien und ſogar gigichzeitig als Vertreter 
ihrer entgegengefegten Interefien aufzutreten und bie Früchte feiner Wiſſenſchaft 
für jelbftfüchtige Zwede zu verwerthen ober fih in ſchillernder Yarbenfpiegelung 
eitel zu wiegen. 

Das Leben 3.’8 verlief in der ruhigen Weife, die dem deutſchen ®elehrten- 
leben eigen iſt. Geboren ven 14. Sept. 1769 in der ſächſiſchen Stabt Meißen, ber 
Sohn eines Abvofaten, erzogen nod in der alten Zeit der ſtändiſchen Abſtufung und 
der landesherrlichen Willfür, wurde Karl Salomo Zachariä zum Juriften ger 
bildet. Nach den Univerfitätsftudien zu Leipzig 1792 wurde er Hofmeifter eines 
jungen Grafen zur Lippe, dann Privatbocent in Wittenberg, damals noch einer 
kurſächſiſchen Univerfität, 1796, vier Jahre fpäter außerordentlicher Profeflor des 
Lehenrechts, im Jahre 1802 orbentlicher Profeffor dafelbft und Beiſitzer des bor- 
tigen Schöffenftuhls. Die Schlacht bei Jena brachte auch in die friedlichen Arbeiten 
des Univerfitätsberufs Unruhe und Schreden und Zadariä, dem es in dem neuen 
Treiben „unheimlich“ geworben, folgte gerne einem Ruf nad Heibelberg. Witten- 
berg war eine ſächſiſche Landesuniverſität, Heidelberg. dagegen vorzugsweife eine 
beutfche Univerfität, deren weitere Aufgaben ihn lebhaft anzogen. Er blieb da ein 
hochgeſchätzter Lehrer, von Dftern 1807 bis zu feinem Tode, 27. März 1843. 
Auch das neue Staatöwefen, das eben erft aus” mancdherlei Elementen zu dem 
Großherzogtum Baden zufammen gefügt war, bie hier eingeführte Napoleonifdhe 
Geſetzgebung, dann die fonftitutionelle Staatsverfaffung boten ihm mandyes In- 
tereffe dar. Er freute ſich über die wecjelfeitige Duldſamkeit ver Katholifen, Lu⸗ 
theraner und NReformirten in der Pfalz. Im Jahre 1820 zum Übgeorbneten der 
Univerfität in bie erfte Kammer, dann 1825 durch Volkswahl in bie zweite 
Kammer gewählt, erhielt er au) an den Kämpfen und Arbeiten des parlamentarijchen 
Lebens einen hervorragenden Antheil. Den demokratiſchen Tendenzen trat er bier 
‚entgegen und ſtand meiftens auf der Seite der Regierung; bie ariftofratifche Nei- 
gung und feine ganze Lebensftellung trieben ihn dahin. Uber er Tieß fi nicht 
bewegen, ein eigentlihes Staatsamt anzunehmen, er wußte, daß er „vorzugsweiſe 
zum Profeffor tauge” , felbft die Kammerwirkſamkeit gab er bald auf. Um fo 
fruchtbarer war feine fchriftftellerifche Thätigkeit. Das Verzeichniß feiner Schriften 
beträgt nicht weniger ald 148 Nummern, worunter freilich viele Rechtsgutachten, 
aber au andere Werte von mehreren Bänvden. Kurz vor feinem Tode wurde 
ihm der erblihe Adel mit dem Beinamen von Lingenthal verliehen, befien Glanz 
vor dem berühmt geworbenen Namen Zachariä zurüdblieb!). 

Bon Bedeutung für bie allgemeine Staatswiſſenſchaft find hauptſächlich fol- 
‚gende Werke: 

1) Die Einheit des Staats und der Kirde, mit Rüdfiht auf bie 


1) Der biographiſche und juriftifhe Nachlaß von Dr. 8. S. Kachariä von Lingenthal, 
herausgegeben von deſſen Sohne. Stuttgart und Tübingen, 1843, enthält eine kurze aber reizend 
ae Sannhoeraphi. Vrgl. die Charakteriſtik desſelben durch R.v. Mohl, Staatswifien, 

aft IT, ©. . 


Karl Salomo Sachariä. 268 


deutſche Neiheverfaflung von 1797. Er upterfcheivet drei Syſteme, das hier— 
archiſche, mit zwei äußern Gewalten, ber Tirhlihen für die geiftlihe und der 
weitlihen für vie leiblihe Wohlfahrt der Menſchen, fo jedoch, daß die Kirche 
dem Staate Übergeorbnet iſt; ſodann das territoriale, welches umgekehrt bie 
Kirche dem Staate unterorbnet; endlich das fogenannte Tollegiale, weldes weder 
die Kirche dem Staat, noch den Staat der Kirche unterwirft, ſondern beide felbft- 
ſtändig und frei erflärt. Sowohl die Gründe als die Folgen der drei Syſteme 
werden geprüft. Obwohl der Berfafler fi gleichgültig ſtellt und nur zu berichten, 
nicht zu tadeln oder zu empfehlen ſcheint, fo iſt feine Darftelung unverkennbar 
dem britten Shfteme entſchieden günftig. In derfelben Richtung fpriht er fi 
fpäter in einem Auffage über das Staatskirchenrecht der Rheinbundsſtaaten aus, 
(Nachlaß S. 89 f.) Darin betradtete 3. die Kirchen als bloße Glaubensgenoſſen⸗ 
ſchaften, und den Staat, foweit die Rechtsordnung reiht, als unzweifelhaft über- 
geordnet. Nur den Glauben darf er nicht antaften, als eine ihm fremde Sache. 
2) Ueber die Erziehung des Menfhengefhlehts durch den Staat. 
Leipzig 1802. 

3) Staatswiffenfhaftlide Betrachtungen über Eicero’8 wieder— 
gefundenes Wert vom Staate. Heidelberg 1823. Die Schrift if eine Perle 
ver deutſchen Literatur. Für das Maffifche Alterthum, vorzüglich das römiſche, 
empfand 3. die verehrungsvolle Liebe des eingeweihten Jüngere, Mit feinem Ge: 
ſchmack folgt er den Öefprächen der Alten und nimmt daran Theil als ein Staats- 
philofoph der modernen Welt. Er vergleicht den antifen und ben mobernen Staat 
und madt auf die Unterſchiede aufmerkſam. Nirgends verhehlt er, daß er vie Ein- 
herrſchaft der Bollsherrfhaft vorziehe. Am Schluſſe ſpricht er fih über feine Er- 
wartungen für die nächte Zukunft aus: „Werden die europätichen Staaten deutſchen 
Urfprungd am Ende eine demokratifche Verfafſung erhalten, etwa von der Art 
derjenigen, welde in den norbamerifantfchen Treiftanten befteht? oder wird das 
Königthum in Berbindung mit der Ariftofratie den Sieg davon tragen? ober wer: 
den aus jenem Kampfe Berfaffungen nad Art her britifchen hervorgehen?" (S.247.) 
Er ift der Anficht, ver Sieg der demokratiſchen Partei werde in Deutſchland nicht 
möglich fein, weil er ver ganzen Geſchichte der Deutfchen widerſpreche. Ebenſo 
Pie er die unbefchräntte monarchiſche Verfaffung mit Adelsregierung für unwahr⸗ 
heinlidh, weil fie mit der Bildung des Bürgefiandes und mit den Geldmächten 
der Neuzeit fi nicht vertrage. Die einherrichaftliche Berfaffung mit Reichs⸗ oder 
Landfländen betrachtet er nur al8 einen Uebergang zu ber mit einer Bollöver- 
tretung und hält das englifhe Vorbild der Beſchränkung der königlichen Gewalt, 
theils durd eine Erbariftofratie (in der erften Kammer), theils durch eine Wahl- 
ariftofratie für das Wahrfcheinliche, Er bat das England vor der Reformbill vor 
Augen und währenn er im Ganzen richtig ſieht, täufcht er ſich in der Schätung 
der ariftofratifhen und der bemofratifchen Elemente. Jene gelten ihm zu viel, 
diefe zu wenig. 

4) Diefelbe ariftofratiihe Neigung veranlaßte ihn wohl, den großen Reflau- 
rator der römischen Ariſtokratie, Lucius Cornelius Sulla zum Gegenftand 
feiner gelehrten und politifchen Studien zu maden. Er fehilverte ihn „als Ordner 
des Töniglichen Freiſtaates“ (Heidelberg 1834) zu einer Zeit, ba aud in Deutſch⸗ 
land die Verſuche der Reaktion gegen die demolratifhe Bewegung von 1830 wieder 
im Schwunge waren. Wollte er warnen ober mahnen ? 

5) Das bedeutendſte feiner Werke und gegenwärtig noch oft gelefen find 
feine Btierzig Bücher vom Staat, zuerſt 1820—1832, dann umgearbeitet 





264 Karl Salomo Sachariä. 


in VII Bänden. Heidelberg 18394843. Es war das Schlußwerk feines Lebens, 
dem er hoffnungsvoll das Motto: non omnis moriar? als Frage vorfegte. 

Die Bierzig Bücher werben in folgende VII Theile eingereiht: I. 1—6) Bor- 
ſchule der Staatswiffenfhaft; IT. 7—14) Allgemeine politiihe Naturlehre; 
III. 15-—19) Berfaffungslehre; IV. 20—26) Regierungslehre, 1. (innere Seite); 
V. 27-30) Regierungsiehre, 2. (Völkerrecht); VI. 31—35) NRegierungslehre, 
3. (Erziehung, Staatsbienfl); VII. 36— 40) Regierungslehre, 4. GWirthſchaft). 

Die philoſophiſche Grundlage iſt bie Kantifche, wenn gleih in manden 
Partien 3. neue Wege zu gehen verfucht; die gefchichtliche ober vielmehr vie 
Methode ver Erfahrung iſt efleftifh. Er greift, je nachdem fi bie Erinnerung 
aufdrängt, rings umher in den gefüllten Speichern feiner Oelehrſamkeit und bringt 
jo die verfchiedenartigften Anmerkungen zufammen. Er liebt e8 auch da, die Dinge 
bald nach dem Vernunft: oder wirklichen Rechte, bald nad dem geoffenbarten oder 
dem geiftliden Rechte zu betrachten. . 

Die Rouffeau-Rantifche Begründung des Staates aus dem Vertrag hat er 
num aufgegeben. Er leitet den Staat vielmehr aus einer Rechtspflicht, aus 
dem Rechtsgeſetze ab, aber er fuht aus der Vertragslehre doch den Sinn zu 
retten, daß jeder Einzelne die Willkür habe, einen Staat zu verlaflen, dem er 
nit länger angehören will. 

Als das Wefentlihe der Staatengründung erklärt er tie Erhebung einer 
Staatögewalt und legt die Darftellung der Machtvollkommenheit, wie er 
den Ausprud Sonveränetät verbeutfcht, feiner ganzen Staatslehre zu Grund. Die 
Machtvollkommenheit ift die Verwirklidung der Staatögewalt. Die Berfon, welcher 
fie zufteht, heißt der Herrfcher, Souverän. Die Machtvollkommenheit ift die Idee 
des Abfoluten, angewendet auf das Recht einer beftimmten PBerfon. Ste umfaßt 
ein jebed nur Überhaupt mögliche Recht, ihr find eine andern Grenzen gejegt, 
al8 die, welche die Natur den Nechten ver Menſchen gefett bat. Denn der Staats- 
herrſcher ift eine Offenbarung, gleihfam eine Inkarnation des Nechtsgefeges. Er 
ift der Urquell alles Rechts in Beziehung auf diejenigen, welche feiner Gewalt 
unterworfen find. Die Madtvollfommenheit ift ein untheilbares Recht. In Be 
ziehung auf viefe Eigenſchaft ift die Einherrfchaft unter allen Staatsverfafjungen 
bie vollfommenfte. Der Machtvollkommenheit und dem Staatsherrſcher kommt bie 
Eigenfhaft der Allgegenwart zu, ferner die Eigenfchaft ver Ewigkeit. Der Stants- 
berrfcher ift der Herr des Volkes und der Herr des Landes, ver Herr der National: 
fraft und der Eigenthümer des Nationalvermögens. (I, ©. 82—93.) 

Es iſt diefelbe Ueberfpannung des flaatlihen Rechts der Obrigkeit, welche 
wir bei Hobbe8 gefunven haben. Nur nimmt fie bei 3. eine pantbeiftifhe Form 
an. Der Staatsherrſcher ift die Infarnation des Staats und der Staat iſt 
das göttlihe Al. Daneben hulvigt er aber wieder ber theiftifhen Grundanſicht 
der hriftlihen Religion. Die Machtvollkommenheit kann kraft göttlichen Mechts 
erworben werben; das gefchieht, wenn die Menjchen glauben, daß die Gottheit 
ih in ihrem Herrfcher geoffenbart oder daß fie ihn zur Herrſchaft ermächtigt habe. 
Die Theokratie ruht auf diefem Glauben, der aber leicht durch den Kampf mit 
dem fi erhebenden Unglauben oder Irrglauben erfehüttert oder durch Aberglauben 
verborben wird, 

Die Machtvolllommenheit kann aber auch nah dem weltlichen Rechte er- 
worben werben. Hier polemifirt 3. gegen die Vorftellung, daß „das Volk ſchon 
von Rechts wegen die Machtvollfommenbeit habe". „Ein Bolt if ein Bolt, 
weil die Menfhen, aus welchen es befteht, einem Staatsherrfcher unterworfen 


Karl Salomo Sachariä. 265 


find. Wie kann man alfo behaupten, daß bie Machtvollkommenheit dem Volke 
von Rechts wegen zulomme, da das Bolt der Macdtvolllommenheit, welcher es 
unterworfen ift, erft fein Dafein verdankt?" (I, ©. 104.) Er vergißt bei diefer 
Frage freilich, Daß der Stantöherrfher ohne Bolt noch weniger beftehben und Feine 
Machtvollkommenheit haben kann. Vortrefflich zeigt er, daß die Machwollkommen⸗ 
heit nicht ohne Macht fein, daß aber der Beherrfher eines Staates nicht ſchon 
degwegen ein rechimäßiger Herricher fei, weil er die Macht in ven Händen habe. 
„Die Macht iſt zwar die conditio sine qua non, aber nicht ein titulus Impe- 
rii". ber was ift denn der Rechtégrund der Herrihaft? 3. behauptet, eine 
ſchlechthinige (abfolute) Rechtfertigung gebe es überhaupt nit, — er erin- 
nert an die Platoniſche Staatsidee, welhe ven vollfommenen Menfden als 
Herrſcher erflärt, und meint, dieſelbe habe im Chriftentyum eine theokratifche Ber- 
wirflihung gefunden; e8 gebe nur eine bedingte Nedtfertigung: d. i. „ver 
jenige herrſcht rechtmäßig, deſſen Herrjchaft ven Willen des Bolts — vie 
Zuflimmung der Mehrheit der Staatsbürger — für fit bat”. — (I, ©. 110.) 
Kaum meint man, er fei ganz in der Begründung des göttlichen Rechts feftge- 
rannt, fo fpringt er auf einmal auf den Boden des menſchlichen Rechts über; 
nachdem er den Begriff ver Machtvollkommenheit als einen abfoluten proflamirt 
bat, findet er nun, es laſſe ſich derſelbe / nur relativ rechtfertigen; eben hatte er 
die Ableitung der Herrfhaft von dem Bollswillen verworfen und nun erflärt er 
den Bollswillen für die einzig mögliche Rechtfertigung der Herrichaft. 

Eigenthümlich ift denn auch feine Erklärung der Legitimität. Gie.be- 
dentet nit Herrfhaft im Sinn des pofltiven Rechts, denn biefes iſt ber Aen⸗ 
derung Preis gegeben, ſondern Herrfhaft im Sinn des durch das Herkommen, 
Alter geheiligten pojitiven Rechts. Ganz richtig bemerft er, es fei das ein Grund- 
fat des Staatsrechts, und zwar bes weltlichen Staatsrechts; denn wer fih auf 
einen göttlihen Machtbrief berufen könne, gegen ben wirke auch der älteſte Mechts- 
titel nichts, und er weiß wohl, daß auch die Tegitimität des herkömmlichen Rechts 
vergänglid if. 

Wenn er in ver Begründung des Staats ben Standpunkt bes mittel- 
alterlihen Rechts vorzieht, fo iſt gr dagegen, bei der Betrachtung des Staatg- 
3weds den modernen Anfichten zugethan. „Wenn man bie VBeftimmung bes 
Menfhen während feines irdiſchen Dafeins in die Ausbildung feiner phyſiſchen 
und moraliihen Anlagen zu ſetzen bat, fo find die Staaten, wo nicht das wirk⸗ 
famfte, doch eines der wirkſamſten Mittel, die Menfhen zur Erfüllung dieſer Bes 
fimmung zu veranlaffen und anzubalten. Sie find alfo Erziehbungs- 
anftalten, „Anftalten für die Kultur und Civiliſation des 
menſchlichen Geſchlechts“. (I, S. 156.) 

Dan follte denken, feine Auffaſſung der Machtvollkommenheit führe noth- 
wendig zur Allregiererei und zur Unfreiheit. Dennod ſindet er wieder Haltpunlte, 
von denen aus er verlangt: „das Volt babe der Regierung alle vie Geſchäfte 
gutwillig abzunehmen, bie es felbft mit Erfolg beforgen kann“, d. h. er veribei- 
digt den Grundſatz der Selbftverwaltung der Regierten. 

Zuweilen betrachtet er den Staat wie eine mechaniſche Einrichtung, 
beren Schwerpunft In die Regierung verlegt ſei; dann vergleicht er ihn wieber 
mit einem organiſchen Naturförper und — die wichtige Forderung, daß 
jedes Glied im Staatslörper fein eigenthümliches Leben haben ſoll wie das Glied 
im Naturkorper und daß daher jeder Zweig des öffentlichen Dienſtes und ebenſo jede 
Behörde und jeder Beamte einer gewiſſen Selbftänbigfeit genießen“. (II, ©. 17.) 








266 Karl Salomo Sachariä. 


Seit Bodin bat bis auf ihn kein anderer der Bedeutung ver Raſſengegen⸗ 
füge wieder mehr Aufmerkſamkeit zugemwenvet, als 3. Er hebt bie politifhe 
Begabung der kaukaſiſchen Raffe hervor, welde ſich dem Ideale der Menſchheit 
am meiften annäbere, aber ohne noch den durchgreifenden Unterfchied ber ariſchen 
und der femitifhen Völker zu bemerken, der feiner Theorie von göttlidem und 
menſchlichem Recht eine andere Wendung gegeben hätte; ex weiß, daß die mon- 
golifhe Raſſe der halb theofratifchen, halb patriarchaliſchen Einherrſchaft zugethan 
fei; daß die äthiopiſche Raſſe das Aeußerſte in ver Knechtſchaft ertrage, daß bie 
amerifanifhe Raſſe nur zu einer unvolllommenen aber immer gemäßigten Einridy- 
tung ihres Stammeswejens gelange. Neben den Raflen und den nationalen Ein- 
wirkungen, die er als phyſiſche Anthropologie zufammenfaßt, beachtet er aud die 
pfochologifchen Kräfte der menſchlichen Natur in der pfychiſchen Anthropologie und 
fuht den Zuſammenhang beider mit dem Staate nachzuweiſen. Enbli widmet er 
ver geſchichtlichen Betrachtung der Staaten und Böller ein befonderes Bud). 

In der Berfafiungsiehre widerlegt er vorerft die Einbilbung fo mander 
Ipealiften, daß es eine [hlehthin volllommene Verfaſſung gebe, vie 
in fi felbft, d. f. in ihren Formen die volle Bürgfchaft für die gerechte Aus- 
übung der Staarögewalt enthielte, und ift der Meinung, keine Staatsverfaflung 
babe ſchon an und für fi oder wegen ihrer Form einen rechtlihen Werth, fon» 
dern nur um ihrer Wirkung willen. 

Indem er die verfchiedenen Verfaſſungsformen beleuchtet, findet er reichlichen 
Anlaß, feinen Scharfblid zu üben. Daß er der Einherrſchaft und zwar der Erb- 
monardie ben Borzug gibt vor der Ariftofratie und der Demokratie, kann nad) 
den obigen Grundlagen nit befremden. Er hält jene allein für eine natürliche, 
alle andern für künſtliche Verfaſſungen. Ausführlich bejpricht er die konftitutionelle 
Monardie, die er ald Verbindung von Einherrſchaft und Volksherrſchaft erklärt, 
und beren Hauptwerth er darin findet, daß der nie ausbleibenvde Parteilampf „vie 
ausgezeichnetften Männer, welche das Volk aufzuwelfen hat, an bie Spige ber 
öffentlichen Angelegenheiten ftelle”. (III, S. 234.) Er nimmt ohne Bedenken den 
Grundſatz der engliihen Praris, daß die Miniſter in ber zweiten Kammer bie 
Mehrheit der Stimmen haben müſſen, In die Begrifiserflärung der Tonftitutionellen 
Monarchie auf und behauptet ohne Schamröthe, daß fowohl die Minifterial-, ale 
bie Oppofitionspartei beredhtigt fei, alle und jede Mittel zu gebrauchen, phyſiſchen 
Zwang und Bedrohung mit phufiihem Zwang allein ausgenommen, um fid ber 
Wahlen und der Stimmen zu verfihern, alfo aud „Beftehungen, Begünftigungen 
und Verheißungen, Täufhungen und Borfpiegelungen“. (III, ©. 232.) 

Aber auffallend ift es, daß er in der Lehre von ber Trennung ber brei 
Grundgewalten ver radikalen franzöfifhen Doktrin folgt: „Das Voll beſchließt, 
der Fürſt vollzieht”. Der Krone räumt er nur ein Beto ein, bie geſetzgebende 
Gewalt ſchreibt er weſentlich der Volksvertretung zu. Er verkennt bier völlig das 
organiſche Verhältniß der Bewalten. 

Er erklärt die Konftitutionele Monarchie in zwiefahem Sinne als Repräfen- 
tativverfaflung: „Das Boll wird von ver Berfammlung feiner Abgeordneten, ber 
Fürſt von feinem Deinifterio vertreten”. (III, S. 242.) 

In ber Rüftlammer Z.'s wird, wie man fieht, jede Partei für jede Mei— 
nung gut gearbeitete Waffen holen können. Ob viefelbe fih damit wechſel⸗ 
feitig verwunden, fümmert ihn fo wenig, als bie alten Römer, wie fi die man- 
herlei Götter im Pantheon vertragen. Binutfani. 


Sähringer. 267 
Bäbhringer. 


Im Breisgau, in der Ortenau, auf dem Schwarzwald und auf der Weft- 
feite der ſchwäbiſchen Alp ift die Wiege diefes Fürſtenhauſes. In der Zeit, wo 
bie Grafenhäuſer noch keine beftimmten Familiennamen führten, bezeichnet ver Vor⸗ 
name „Berthold, Berthold” die Älteften Ahnherren dieſes Geſchlechtes, 
welche dad Grafenamt in verfchievenen Gauen, namentlich in dem Breisgau und 
der Ortenau, befleiveten. Cine fihere Genealogie dieſes Geſchlechts beginnt mit 
Berthbolp . dem Bärtigen von Zähringen im 11. Jahrhundert; 
bis zum Jahre 1052 wird er urkundlich nur als „Oraf“ bezeichnet, in dieſem 
Jahre ertheilt ihm Kaifer Heinrid III. die Anwartſchaft auf das Herzogthum 
Schwaben, aber nah dem Tode des Kaiſeré konnte Berthold die Belehnung mit 
Schwaben nit erreihen; als Entſchädigung wurde ihm die Anwartihaft auf das 
Herzogtum Kärnthen und die Martgrafihaft Berona ver 
lieben. Er gelangte 1061 zum wirklichen Beſitze diefer Würven, allein ſchon 1073 
nahın ihm der Kaifer diefe Reichsämter und Berthold ſah fich wieder auf feine 
Grafſchaft und feine Stammgüter befchräutt. Aber au nad dem Berluft dieſer 
Reichsaͤmter führte er den Titel eines Herzogs und Markgrafen fort, 
nicht als ob feine Hausbejigungen zu einem Herzogthum erhoben worben 
wären, fonbern weil die einmal erworbene Würbe als eine bleibende Aus- 
zeichnung des ganzen Geſchlechtes betrachtet wurde Es war alte 
deutfche Sitte, daß ein Fürſt, welcher mehrere Neihsämter befaß, bei feinem Tode 
fo theilte, vaß der ältefte Sohn die Hauptämter, die jüngern Söhne die Heinern 
Aemter als Erbtheil erhielten. Merkwürdig ift, daß Berthold aud feine bloßen 
Zitel in dieſer Weife vertheilte. Sein erftgeborner Sohn Berthold II. erhielt 
bie Landgrafſchaft im Breisgau, die Stammgüter im Schwäbifchen, befonders im 
Dreisgau und in der Ortenau, mit dem Herzogstitel, Hermann bie 
fräntifhen Hausbefigungen im Ufgau und Kraichgau mit dem Markgrafen» 
titel. So entflanden zwei getrennte Linien, die herzogliche uud vie 
marfgräflide, 

Der Stifter der berzoglichen Linie, Berthold IL, erwarb von feinem 
Schwiegervater, Hugo von Rheinfelden, bie reichen rheiufelvifchen 
Stammgüter, befonders die Befigungen im oftjuranifhen Burgund und erhielt bie 
Reichsvogtei über die Stadt Züri. Ju dieſem herzoglichen Zweige wurde bereits 
die Indivipnmalfucceffion ziemlich konſequent gehandhabt. Auf Ber- 
thold IA. folgte Berthold III. mit Ausſchluß feiner jüngern Brüder; bei feinem 
finderlofen Tode folgte ihm der zweite Bruder Konrad 1122—1152, fowohl in 
den Hausbefigungen, als in dem Herzogstitel. 

Konrad war der erfte feiner Familie, welder ſich in öffentlihen Urkunden 
„Herzog von Zähringen“ nannte, indem er ven alten, auf Kärntben 
bezüglichen Herzogstitel nun auf feine Stammburg übertrug; im Jahre 1127 
machte ihn ver Kaifer zum Herzog des oftjuranifhen Burgunds, 
worauf er und feine Nachfolger ven Namen „Herzöge oder Rektoren von Bur⸗ 
gund” annahmen. Yuf Konrad folgte 1152 fein erfigeborner Sohn Berthold IV., 
bie andern Söhne wurben entweder geiftlih oder mit kleineren Beflgungen abge 
funden. So wurde Adalbert auf die Burg „Teck“ abgetheilt und nannte ſich „Der: 
zog von Ted”. Er wurde ber Öründer des Geſchlechtes der Herzöge.von 
Zed, welches durch fortwährende Thellungen und ſchlechte Finanzwirthſchaft tief her- 
untergelommen, nach Verſchleuderung aller Hausbefigungen 1439 völlig erloſch. 


268 Sähringer. 


In der Zähringiſchen Hauptlinie folgte 1186 Berthold V. ſeinem Vater als 
Herzog von Zähringen und Rektor von Burgund. Mit ibm ſtarben die 
Herzöge von Zähringen 1218 aus Mit ihrem Ausfterben kamen 
die Güter, foweit fie nicht, wie Bern, Züri, Solothurn, an das Neid zurüd- 
fielen, an bie zwei Schwäger des letzten Herzogs, vie Grafen Egenovon 
Urad und Ulrich von Kyburg. Erfterer erhielt den Beſitz in den obern 
Gegenden des jegigen Großherzogthums Baden, legterer die Güter in ver Schweiz. 
Erbanſprüche, weldhe die Herzöge von Ted, als Agnaten, machten, traten fie für 
Geld ab. Bon Anfprüchen der Markgrafen von Baden if nirgends die Rebe, ein 
Beweis dafür, daß das Succeſſionsrecht aller vom erften Erwerber abflammenven 
Agnaten und der Borzug ve Mannsftammes, alfo auch entfernterer Agnaten vor 
Töchtern und Kognaten, durchaus noch nicht fo feſtſtand, wie im fpäteren Privat- 
fürftenreht. Die Grundlagen einer fürftliden Hausverfafſung waren nur in 
ſchwachen Anfängen vorhanden und nur felten lebte das agnatiihe Band zwifchen 
entferntern abgetheilten Linien fort. So fcheint auch der markgräflichen Linie zu 
Baden mit dem zähringifhen Namen das Bewußtſein der gemeinfamen Abftam- 
mung mit den 1218 erlofhenen Zähringern verloren gegangen zu fein. 

Der Stifter der marfgräflichen Linie Hermann IL, ver zweite Sohn Ber- 
tholds J., welcher auf bie Hausbefigungen im Ufgau ugb Kraichgau abgetheilt war 
und auch die Ho hbergifden Beſitzungen im Breisgau erhalten hatte, führte 
ben Titel eines Markgrafen, nicht weil er eine Markgraffchaft befaß (Ba - 
den iſt nie eine Martgraffhaftgemwefen), fonvern weil fein Vater 
einft Warkgraf von Berona gewefen war, Die Markgrafen von Baden führten 
ben Namen „Hermann“ als regelmäßigen Bornamen. Die vier erſten Darf» 
grafen Hatten Keine Brüder: und die Individualfucceffion war deßhalb eine Noth- 
wendigfeit. Die erfte Theilung kam unter Hermann IV. vor, welcher dem älteften 
Sohne die Hauptlande mit der Stammburg Baden, dem jüngern, Heinrid, 
bie hochbergiſchen Beſitzungen zutheilte. Beide nannten ſich gleichmäßig 
„Markgrafen von Baden“, erft fpäter nahmen die Nachkommen Heinrich's den 
ziel „ Markgrafen von Hochberg“ an (nad Stälin zuerft 1256). 

Heinrich I, Gründer der hochbergifchen Linie beſaß fein Gebiet mit voller 
Lanbeshoheit, ale veihsunmittelbares Allod; von irgend einem vor⸗ 
behaltenen Rechte der erfigebornen Linie auf basjelbe ift nichts bekannt, 
felbft bei Tanvesveräußerungen iſt nur von einer Zuftimmung der eigenen Söhne, 
nit der babifchen Agnaten, die Rebe. 

Die Söhne Heinrichs IT., Henri III. und Rudolf I., nahmen etwa um 
das Jahr 1300 eine Subdiviſion vor. Nah der Yamilienfitte der deutfchen Yür- 
ftenhäufer erhielt der Erftgeborne die Stammburg Hochberg, als den Hauptfig 
ber Linie, der zweite Sohn, Rubolf, Saufenberg, wornach fi die zweit⸗ 
geborne Speciallinie von nun an nannte. 

Die ältere hochbergiſche Linie, welche ſich durch Subbivifionen immer welter 
ſchwächte, ftarb 1418 mit Dito III. aus, ihre Lande fielen, kraft eines, befondern 
Vertrages, mit Uebergehung ver nähern faufenbergifgen Agnaten, an die mark— 
gräflich badiſche Hauptlinie. 

Die ſauſenbergiſche Speciallinie, welche noch die Herrſchaft Röteln und Ba- 
denweiler erworben hatte, erloſch 1503. Kraft einer Erbverbrüderung, des ſogen. 
Nötelfhen Gemächtes von 1490, gingen alle ſauſenbergiſchen Beſitzungen 
Nöteln und Babenmweiler auf vie marfgräflich badiſche Linte über, welche 
von nun allein den Stamm fortjegte, 


Zähringer. 269 


Der Stifter diefer Linie, Hermann V. von Baden, hatte zwei Söhne, Her- 
mann VI. und Rudolf I. Hermann VI. machte Anfprücde auf das Herzogthum 
Defterreih, weil feine Gemahlin Gertrud, als Tochter des legten Herzogs 
vom babenbergiihen Mannsftamm, Erbin dieſes Landes geworben; aber weder er 
feibft, noch fein Sosn Friedrich konnten diefe Anſprüche durchſetzen. Lebterer 
ftarb befanntlid mit Konradin auf dem Bilutgerüft zu Neapel; Rudolf I. war 
fomit ver einzige Stammhalter. Auch in dieſer Linie fanden mehrere Subdivifionen 
ftatt; ft Rudolf VI. oder der Lange (1353—1372) ſchloß 1356 mit 
feinem Oheim, Rudolf V. dem Weder, einen Erb- und yamilien- 
vertrag, mwelder als erfie Örundlage der ganzen ba- 
dvifhen Hausverfaffung anzufehen ift. Kraft diefes Vertrages 
wurde Rudolf der Lange ter Erbe feines Tinderlofen Oheims und vereinigte bie 
bis dahin fo vielfach getheilten Lande ter badiſchen Hauptlinie in feiner Hand. 
Diefer Markgraf erhielt auch 1362 den erften Haiferliden Tehbenbrief, 
weldhen wir lennen, indem bis dahin die badifhen Hauöbefigungen Allod ge 
wein waren. . 

Rudolf der Lange hinterließ zwei Söhne, Bernhard J. und Rubolf VII., 
weldhe im Jahr 1380 einen Theilungsvertrag ſchloſſen, welder bie für 
die Dausverfafjung wichtige Beſtimmung enthält, daß die Markgrafſchaft 
Badenewig nicht mehr als zwei regierende Herren haben 
und daß in jeder Linie das Recht der Erſtgeburt gelten ſollte. Bernhard J. erwarb 
auch ſeinem Hauſe den Anſpruch auf einen Theil der Grafſchaft Sponheim, 
indem Johann VI., letzter Graf von Sponheim im Jahre 1425 durch den ſogen. 
Beinheimer Entſcheid, zu Nachfolgern in der hintern Grafſchaft Spon⸗ 
heim und in %/, der. vordern und zwar in ungetrennter Gemeinſchaft feines Vaters 
Schwefterföhne, den Markgrafen Bernhard von Baden und den Grafen Friedrich 
von Veldenz und da auch biefer keine männlihen Nahlommen hatte, feinen 
Tochtermann, den Pfalzgrafen Stephan, einfegte. Jakob I., der einzige Überlebende 
Sohn Bernharbs, erwarb nah dem Tode Johann’s VI. im Jahre 1437 bie 
Grafſchaft Sponheim in Gemeinſchaft mit Pfalz. 

Chriſtoph I. (1475—1515), welder dur den Anfall der ſauſenbergiſchen 
Befigungen im Jahre 1503 alle badiſchen Lande zuerft wieder vereinigte, Tonnte 
ſich doch nicht entjchließen, Untheilbarfeit und Primogenitur einzuführen, fondern 
theilte durch fein Teftament 1515 feine Lande unter feine brei Söhne. Der ältefte, 
Bernhard, befam nad dieſem Teftament dad Sponheimifche und bie Iurem- 
burgifchen Herrſchaften, der zweite, Philipp, das Badiſche, der jängfte, Ernft, 
Hochberg, Röteln und Badenweiler. Philipp farb 1533 ohne Söhne, die Brüder 
regiexten anfangs den erledigten Theil gemeinfam, dann ſchritten fie zur Theilung, 
Ernft bekam den Pforzheimer und Durladher Theil, Bernhard Baden. Bei 
dpiefer Zweitheilung derbadiſchen Lande iſt es im we- 
fentliden bis auf die Neuzeitgeblieben, indem ed von 
nun an zwei regierende Linien gab, die Bapen-Bapijde 
und die Baden⸗-Durlach'ſche. 

I. Die Baden-Badiſche Linte 1535 — 1771. In der baden 
badiſchen Linie beftand einige Zeit eine Nebenlinie, Bapden-Rodemadern, 
welde auf die luxemburgiſchen Herrfchaften abgetheilt war. Nah dem Erlöfchen 
ter baden⸗badiſchen Hauptlinie 1588 erhielt aber Eduard Fortunatus von 
der rodemacherſchen Nebenlinie vie Markgraffhaft Baden-Baden. Eduard 
Sortumatus verheirathete fh mit Maria von Enten, eine Ehe, welde 





270 Zähringer, 


zu Iangbauernden Streitigkeiten Veranlafiung gab, bis enbli die Stammesveitern 
zu Durlach ihre Einwilligung ertheilen mußten und die Succeffionsfähigleit ber 
aus diefer Ehe entjproffenen Kinder dur das weftphälifche Yriedensinftrument 
anerkannt wurde, welches überhaupt die flaatsrechtlichen Berhäftniffe zwiſchen Der 
baden⸗badiſchen und baden-durlachſchen Linie ordnete. Seit der Subdiviſton, 
durch welche Die rodemacherniche Nebenlinte 1556 entflanden war, fand tm baden⸗ 
badifhen Haufe Untheilbarkeit und Erbfolge nah dem Recht der 
Erfigeburt ftatt. 

Der gefelertefte Regent dieſer inte war ber berühmte Zupwig Wil- 
helm, Prinz Lubovicus, geboren zu Paris am 8. Aprif 1655, einer ber auß- 
.gezeichneteften Feldherren feiner Zeit. Seine erften Großthaten verridhtete er, als 
kaiſerlicher Feldherr, in den Sriegen gegen bie Türken, welche er am 24. Sep⸗ 
tember 1689 bei Niſſa und am 19. Auguft 1691 bei Salanfemen auf's Haupt 
ſchlug. Im Jahre 1693 wurde ihm der Oberbefehl über die Reichsarmee im 
Deutihland gegen die Franzofen übertragen, wo er manche wichtige Vortheile er- 
rang. In dem fpanifchen Succeffionskriege befehligte er die Faiferlihe und Reiche- 
armee als Generaliffimns mit dem glänzenpften Erfolge, e8 waren faft die letzten 
Zorbeeren, welche die Reihsarmee Überhaupt errang. Sein großes Talent 
in der Befeftigungstunft bewährte er auch durch Anlage ver berühmten Tinten, 
die ih vom Schwarzwald durch Bühl bis Stollhofen an den Rhein ausdehnten. 

Ludwig Wilhelm war vermählt mit Francisca Sibylla Augufte, 
Tochter des legten Herzogs von Sachſen⸗Lauenburg, burd welche beveutende Allo- 
dialherrfhaften an die baden⸗badiſche Tinte kamen, welche indeſſen bereits mit Lud⸗ 
wig Wilhelms zweitem Sohne, Auguſt Wilhelm Simpert am 21. Öftober 1771 
erloſch. Diefer legte Sprößling der baven-bapifchen Linie ſchloß am 28. Jannar 
1765 einen Familien» und Erbvertrag mit Karl Friedrich von Baben- 
Durlach, wodurch das beftehende gegenfeitige Succefffonsrecht der beiden Linien 
von neuem anerlannt und beftätigt, auch jede Veräußerung badiſcher Lande für 
alle Zeit verboten wurde. So fielen denn, nad dem Rechte der Abſtammung, 
fowie nad) alten und neuen Hausverträgen, die ſämmtlichen baden⸗ badiſchen Stamm- 
befigungen an Durlach, nur die böhmifchen Herrſchaften Shlafenwerth. 
und 2Lobofik waren davon ausgenommen, erftere fiel an die Allobialerben, letz⸗ 
tere als ein eröffnetes Lehen an die Krone Böhmen. 

I. Die Baden-⸗Durlach'ſche, jegt großherzoglid ba- 
diſche Tinte. Ernft, ver Stifter viefer Linie, hatte durch das Zeftament feines 
Vaters Chriſt o ph Saufenberg, Ufenberg, Möteln und Badenweiler erhalten, 
dur den Tod feines Bruders Philipp, 1533, wurde deſſen Antheil erledigt und 
Ernſt erhielt in der brüperlihen Theilung die fog. untere Mart Pforzheim 
und Durlad. Ernft war in erfter Ehe mit einer Markgräfin von Branden⸗ 
burg⸗Ansbach verheirathet, in zweiter Ehe mit Urfula von Rofenfeld, 
eine Ehe, die zu großen Bedenken und Streitigkeiten Veranlaſſung gab; aber end⸗ 
lich wurde durchgeſetzt, daß ver ans biefer Ehe geborene Sohn Karl als fuccej- 
fionsfähtger Prinz anerkannt wurde, ja er wurde fogar zulegt der alleinige 
Negierungsnadfolger in dem Baven-Durlahfchen Landestheil und ver 

emeinfame Stammpvater aller Martgrafen piefer inte 
eider konnte es auch diefer Fürſt nicht Über fid) gewinnen, die Primogenitur ein- 
zuführen. Unter feinen vrei Söhnen wurde daher 1584 eine Tanvestheilung vor⸗ 
genommen, wodurch drei regierendbe Spectallinienderdburlad- 
[hen Hauptlinie entftanden. Glücklicher Weiſe erlofhen zwei biefer 








Zähringer. 271 


Speciallinien Bald wieder und fo vereinigte ver jüngfte Bruder Georg Fried- 
rich zu Sanfenberg wieder alle väterlichen Lande; feit dieſer Zeit hat in 
der Durlachſchen Hanptlinie feine Landestheilung mehr 
ffattgefunden, indem Georg Friedrich in feinem Teſtament vom 17. No» 
vember 1615, durch Einführung der Primogenitur, der Hausverfaſſung feiner 
Linie einer feften Abſchluß gab; fein Sohn Friedrich V. vervollftändigte dies durch 
die Beftimmung feines Teftamentes vom 31. December 1649, wornad auch bie 
Lande beider marfgräfligen Linien, Baden-Baben und Baben-Durladh, bei 
Abgang der einen, von dem Erftgebornen der andern Linie ebenfalld unge» 
theilt beſeſſen werden follten. 

Bemerkenswerth ift, vaß Kari Wilhelm 1709—1738 die Refidenz von 
Durlad nad dem neugegründeten Karlsruhe verlegte; dennoch wurde dieſe 
inte au fortan als ˖die baden⸗durlachſche bezeichnet. Auf Karl Wilhelm 
folgte fein Entel Karl Friedrich (1738—1811), welder als Neu— 
gränder nes gegenwärtigen badiſchen Staates und fei- 
ner Dynaftieanzufehen ift. 

Die anſehnlichen Gebietserwerbungen, welche Karl Friedrich in verfchievenen 
Epochen feiner Regierung machte, ruhen entweder anf einem altbegrün» 
deten Sncceffionstitel des babifhen Fürftenrehts oder auf neuern 
völferrehtliden Verträgen. 

Der erftern Art war der 1771 erfolgende Anfall ver baden-babifhen Lande, 
wodurch Karl Friedrich allein regierender Herr des Haufes Baden 
wurde. Da bereits durch ältere Hausverträge auch biefe neue Erwerbung ber 
Primogenitur im Voraus unterworfen worden war, fo gab ed jegt nur Ein untheil- 
bares badiſches Gebiet und nur Einen regierenden Herrn. 

Für feine Gebietöverlufte auf dem linken Rheinufer wurbe Karl Friedrich 
durch den Reichsdeputationshauptſchluß reichlich entfchänigt, indem er das Bisthum 
Konftanz, die Refte der Bisthümer Speer, Bafel, Straßburg, die pfälzifchen 
Aemter Ladenburg, Bretten, Helvelberg und Mannheim erhielt; außervem noch 
viele Abteien und Neichsftäbte. Wichtig war auch die 1803 erlangte Kurwürbe, 
wodurch das badiſche Haus nunmehr zu ven vornehmften Reihsfamilien zählte und 
die Königlichen Ehren erhielt. Eine zweite bedeutende Länvererwerbung machte Karl 
Friedrich dur den Frieden zu Presburg, durch melden ihm der Breisgau, die 
Ortenau und die Stabt Konflanz zufiel. Durch den Beitritt zum Rheinbunde 
wurde Baden abermals vergrößert, befonders durch Subjeltion bedeutender erb⸗ 
fürſtlicher Gebiete und vieler reichsritterlicher Beſitzungen. Erſt durd den Rhein- 
bund und die Auflöfung des Reiches wurde die Souveränetät im vollen 
ſtaatsrechtlichen Sinne erworben. So war Karl Frievrih von einem nur gering 
poffeffionirten Markgrafen zum Kurfürften des Reiches und dann zum fouveränen 
Großherzog emporgeftiegen. Am 13. Auguſt 1806 erflärte er alle feiner Regie- 
ung ıimtergebenen Landestheile zu einem untheilbaren fonveränen Großberzogthum 
und nahm unter Ablegung der Kurfürftenmürbe, den Titel eines Großherzogs von 
Baden an. Da das Haus Barden mit dem Breisgau jetzt auch den älteften 
Stammfig des Gefhlechtes, vie Burg Zähringen bei Freiburg, zuräderhalten 
hatte, fo nahm Karl Friedrih, um das Andenken der Wiebererwerbung der für 
das Hans Baden feit ſechs Jahrhunderten verlorenen Stammburg zu ehren, den 
Zitel eines Herzogs von Zähringen wieber an. 

Bei tiefer großen Veränderung im Umfang bes Staatögebietes, ber ſtaats⸗ 
rechtlichen Stellung des Landes und des Fürftenhaufes konnte auch die Hausver⸗ 





« 


272 | Zähringer. 


faffung nicht unverändert bleiben, vor allem lag dem Großherzog die Ord nung 
der Succeffionsverhältniffe in dem neugegründeten Staate am Herzen. 

Karl Friedrich war in erfter Ehe feit 1751 mit der Pringeffin Karo» 
line Luife von Heſſen-Darmſtadt vermählt; aus dieſer Che entfprangen drei 
Söhne, Karl Ludwig, Friedrich und Ludwig Am 24. Nov. 1737 
trat Karl Friedrich in eine zweite Ehe mit Luiſe Karoline Geyer von Geyers— 
berg, aus einem alten reihsritterlihen Geſchlechte. Er errichtete bei viefer Ge⸗ 
legenheit mit Zuftimmung feiner Söhne erfter Ehe eine fog. Berfiherungs- 
urkunde, worin Stand, Titel, Morgengabe, Untkthalt feiner Gemahlin, Titel 
und Wappen der aus biefer Ehe etwa entjpringenven Kinder, feftgejegt, auch den 
etwaigen Söhnen bereits ein eventuelle Succeffionsredt, im Yal 
des Ausfterbens des fürftlichen Mannsftammes, in Ausſich igeftellt wurde. “Die 
nähere Feſtſetzung erfolgte dann in einer weitern Dispofitipon vom 20. Februar 
1796, nad welder zwar die Söhne zweiter Ehe zunädft nur Örafen von 
Hodberg titulirt werden, nad) dem gänzlichen Abgang der männlichen Nad- 
fommen aus erfter Ehe aber zur Succeflton in ſämmtliche badiſche Lande, nad 
dem Recht der Erfigeburt, gelangen follten. Am 10. September 1806 errichtete 
er eine Succeffionsafte gleichen Inhalts, weldhe von ſämmtlichen Agnaten des groß- 
herzoglichen Haufes einwilligend unterzeichnet wurde. 

Im Jahre 1811 ſtarb Karl Friedrich; da fein erfigebormer Sohn 
Karl Ludwig ihm bereitd 1801 vorausgegangen war, fo folgte ihm fein 
Entel Karl als zweiter Großherzog, 1811—1818. Diefer machte feinen Unter- 
thanen befannt, daß fein Großvater Karl Friedrich durch die fog. Ber- 
fiherungsafte vom 24. November 1787 unb die Succeffionsalte von 1806, unter 
agnatifher Einwilligung, die Erbfolgerechte feiner männligen Nachkommen aus 
befagter zweiter Ehe auf das Großherzogthum förmlich anerkannt habe; zugleich 
erflärte der Großherzog feine Halboheime, die bisherigen Grafen von Hochberg, 
zu großherzoglihen Prinzen und Markgrafen von Baden. Derfelbe Großherzog 
erließ zu gleicher Zeit ein babifhes Hausgefeg und Familien⸗— 
ftatut, worin er die Untheilbarkeit und Umnveräußerlichleit der gefammten ba⸗ 
bifhen Lande und das Recht der Thronfolge feftjegte. Die Ordnung der Erbfolge 
unter den Ölievern des Mannsftammes wird durch das Recht der Erfigeburt und 
die darauf gegründete agnatifche Erbfolge beftimmt. Nach Erlöfhung des Manns- 
ftammes fol tie Thronfolge an ven Weibsftamm kommen. Aus diefem jollen 
bie männlichen ebenbürtigen Nachkommen der Prinzeffinnen des Haufes Baden 
fuccediren, und zwar ohne Rüdfiht auf Verwandtſchaft mit dem Legtverftorbenen 
Negenten, jederzeit nach dem Erfigeburtsreht und nad} der Linealfolgeorpnung, für 
weiche ver Vorzug der Linien namentlich feftgeftellt wird. Ganz abweichend vom 
deutſchen Fürſtenrechte ift die Beftimmung, daß nad Abgang des Mannsftammes, 
mit Ueberfpringung der frauen, der nächſte männliche Defcendent in der weiblichen 
Linie zur Thronfolge berufen wird, daß alfo hier die Thronfolge eine weibliche 
nur ratione transmissionis iſt. Dieſes Familienſtatut vom 1, Oftober 
1817 ift für einen integrirenden Theil der badiſchen Verfaſſung erflärt. Eine um⸗ 
fafiende Kodifilation der gefammten Hausverfaffung, wie in Bayern und 
MWürtemberg, ift bis jegt in Baden noch nicht erfolgt. Dagegen find mehrere 
einzelne, das Fürſtenrecht berührende Gefege erlaffen worden, nämlich ein 
Sefeß über die Eivillifte vom 17. November 1831 und ein Gefeg über die 
Apanage vom 21. Juli 1839, fowie 1863 ein ſehr zwedmäßiges und wohlburd- 
bachtes Geſetz über die Regentſchaft. 





Zeitgeiſt. 273 


Rah dem kinderloſen Tode Les Großherzogs Karl folgte fein Oheim Lud⸗ 
wig 1818—1830; mit ihm erlofh vie männlihe Nachkommenſchaft Karl Fried- 
richs er ſter Ehe. Nah den Succeffionsalten von 1796 und 1806, fowie nad) 
dem Hausgefeg von 1817, beftieg nun der Erſtgeborne aus der zweiten Ehe Karl 
Friedrichs, Teopold L den großherzoglichen Thron und regierte 1830— 1852. 
Das hausgefeglih und verfaſſungsmäßig begründete Succeffionsrecht diefer jüngern 
(ehemal. gräflich hochbergiſchen) Tinte fand außerdem eine fefte Stüße in ver völfer- 
rechtlichen Anerkennung der Großmächte auf dem Aachener Kongreß und in dem 
Frankfurter Zerritorialreceß vom 20. Juli 1819 rt. IX und X, fo daß die 
ſchon vor der Thronbefteigung Leopolds erhobenen Anſprüche der Krone Bayern 
auf gewiffe Gebietstheile des Großherzogthums, vie fog. Sponheimſchen 
Surrogate, ohne Erfolg blieben. 

Auf Leopold I. folgte fein erfigeborner Sohn Lud wig II. nominell 
zwar als Großherzog; da er aber ſchon bei dem Anfall der Succeffion regierungs- 
unfähig war, fo trat der zweite Sohn Prinz Friedrich als „Megent” bie 
Landesregierung an, nahm aber den großherzogliden Titel erſt am 
5. September 1856 an. Diefer Fürft bat ſich durch feine deutſch-patriotiſchen 
Deftrebungen und ſeine freifinnigen Reformen im Innern feines Landes einen 
ebrenvollen Namen erworben, 

Literatur: Io. Daniel Schöpflin, Historia Zaringo-Badensir, 
1763. — Johann Ehrifian Sachs, Einleitung in die Geſchichte der Mark: 
graffhaft und des markgräflihen altfürftlihen Haufes Baden, 1764 (5 Bde). — 
Chriftopb Friedrich Stälin, Würtembergifhe Geſchichte Bo. I, ©. 549 
bis 552; Bd. II, ©. 280-350. — F. C. U. Fickler, Berthold der Bärtige, 
1856. — Leichtlen, Die Zähringer, 1831. — Auguft Benedikt Midae- 
lis, Einleitung zu einer volftändigen Geſchichte der Kıy- und Fürftlihen Häufer, 
fortgejegt von Julius Wilhelm HSamberger, 1785, Bd. II. — Erwin Jo— 
baun Joſeph Pfifter, Geſchichtliche Entwidelung des Staatsrechts des Groß⸗ 
herzogthums Baden. 2 Bde. 1847 (Neue Auflage). 

Sämmtlide ältere und neuere Hausgefeße find veröffentlicht in meinem 
Berle „Die Hansgefege deutſcher Fürftenhäufer” Bd. I, ©. 148, 


Hermann Scqhulze. 
. Zeitgeift. 


Jedermann verfpärt die Macht des Zeitgeiftes, aber Niemand erflärt uns, 
woranf dieſe Mat beruhe. Alle reden von dem Zeitgeift und die Meiften hul- 
bigen ihm, aber Keiner fagt ung, was der Zeitgeift ſei, den fie verehren und dem 
fie zumeilen ‚ungern geborchen. Der Gedanke des Zeitgeiftes iſt nicht erft in unferm 
Zeitalter geboren worden. Wir finden ibn ſchon ansgefproden von alt⸗indiſchen 
Brahmanen!), Die alten Römer ferner haben „ven Geiſt des Jahrhunderts" (das 
seculum) wohl gelannt (Tac. germ. 19), Uber aufmerlfamer als irgend ein 
früheres iſt unfer Zeitalter geworben auf das Wehen des Zeitgeiftes. Daher 
drängt fi uns nun unabweislih die Frage auf: Was ift der Zeitgeift? 


1) Yajnavallya’s Geſetzbuch I. 349: „Einige erwarten den Erfolg vom Schidjal oder von 
der eigenen Natur oder von der Beit oder von ber That ber Menſchen; andere Leute, weifer 
Einficht, erwarten ihn von der Bereinigung jener“. 350: „Denn wie durch ein Mad der Bang des 
Wagens nit zu Stande kommt, fo gebt ohne die That des Mannes das Schickſal nicht in Er: 
fülung”. 

Dluntſchli uad Brater, Deutſchet Staate⸗Worterbuch. X. 18 


274 Zeitgeifl 


I. Sehen wir vorerft zu, an was für äußern Erfcheinungen die Menfhen den 
Zeitgeift zu erfennen vermeinen und was für Eigenſchaften fie ihm zufd;reiben. 

1) Der Zeitgeift äußert fih vorzüglich in dem beſtimmten Charakter 
und der befondern Oeiſtesrichtung, durch welche bie verfchiedenen 
Zeitalter und Zeitphafen fi von einander unterfcheiven. Der Gegen- 
ſatz der großen Weltperioden bezeichnet zugleih die Wanplungen des 
Zeitgeiftesim Großen. Auch ver Geiſt des Mittelalter war einmal als 
gegenmärtiger Zeitgeift in ber Welt und verbrängte feiner Zeit den Geiſt der 
antiten Welt, wie er fpäter dem modernen Zeitgeift weichen mußte. Und wieder 
innerhalb diefer Weltperiopen find die Geiſter der Jahrhunderte umd 
fogar ver balben Jahrhunderte auffallend verſchieden. Nur darf man 
das Jahrhundert nit nach unferer hriftlichen Zeitrehnung bemeflen, denn überall 
zeigt die geſchichtliche Erfahrung, daß der Geift des neuen Jahrhunderts ſchon in 
den Neunzigerjahren des nad riftlicher Zeitrechnung vorher gehenden Jahrhun⸗ 
derts in jugendlichem Ungeftüm fichtbar wird. Chriftus ift eben nicht za Anfang 
eines Jahrhunderts geboren worden und deßhalb ſtimmt unfere chriftliche Zeit- 
rehnung nicht mit der Zeitrechnung ber Weltperiopen. 

Sleihfam wie Sterne gehen an dem Horizont der Menfchheit mit den Zeit- 
altern neue Ideen auf und wieder unter. Diefelbe Idee zieht in einem Jahrhun- 
bert die Menſchen mädtig an und in einem andern Jahrhundert übt fie keinen 
Einfluß aus. In der einen Zeit werben die Menfchen von ihr begeiftert, in ber 
andern gehen fie kalt und gleichgältig an ihr vorüber. Im 12. Jahrhundert (die 
Neunzigerjahre des 11. inbegriffen) wird das ganze chriſtliche Enropa von Grund 
aus aufgeregt dur die Sehnſucht, das heilige rad Jeſu von ven Unglänbigen 
zu retten. Millionen Menfhen fürzen fi deßhalb mit glänbiger Inbrunft in 
unbefannte Gefahren, in Roth und Eo. Diefer fanatifche Trieb verliert aber im 
13. Jahrhundert feine Macht über die Gemüther und erlöfät fpäter gänzlich. Die 
zweite Hälfte des 15. und die erfte des 16. Jahrhunderts begünftigen das Wieder- 
aufleben der antilen Ideen und die Reform der Kiche, vie vorher ohne Erfolg 
von Einzelnen angefirebt worden war, und von 1540 an erhebt fidy ebenfo fieg- 
rei der Geift der Reaktion und der Erflarrung. Im 17. Iahrhundert feiert überall 
der Abfolutismus ver fürftlihen Gewalt feine Triumphe über das ſtändiſche Syſtem 
und im 18. regt fidh feit 1740 das Verlangen nad Aufflärung und bürgerlicher 
Vreiheit mit revolutionärer Gewalt. Dem 19. Jahrhundert entfpricht ebenfo vie 
Ausbreitung der Repräfentatioverfaflung. In dem einen Zeitalter hat ver Zeitgeift 
einen liberalen, in einem andern einen fonjervativen Grundzug, und wieber in 
andern Zeitaltern erfheint er als radikal oder als abfolutiftifch. 

Diefelben Wandlungen des Zeitgelftes werben überdies ſichtbar 
im Kleinen innerhalb eines Zeitalters. Auch da ift eine auffteigende und eine 
abfteigende Bewegung zu unterſcheiden. Die Speichen des großen Rades ver Welt- 
geſchichte beftehen wieder aus Heineren Rädern, die ihren befondern Umlauf haben. 
Diefelben Menſchen ſchwärmen in den einen Zeitphafen für die Vollsfreiheit und 
in den andern verlangen fie eine diktatoriſche Gewalt, und beide Male berufen fie 
ſich auf den Zeitgelft, dem dieſe Richtung entſpreche. Als Napoleon I. in Frank⸗ 
reich die cäfarifhe Autorität aufzurichten unternahm, da prüfte er wiederholt durch 
ausgeftrente Flugſchriften, ob die Zeit dafür gelommen fei, wie Noah nad) der 
jüdifhen Sage einft durch die ausgefhidten Tauben geprüft hatte, ob fi vie 
Waſſer verlaufen haben; und wieberholt vertagte ex die Ausführung, weil vie Zeit 
noch nicht ta fei. Endlich ſchienen ihm die Zeichen günftig und nun warf er bie 





Zeitgeiſ. 276 


Hülle des Konſulates weg und gründete das neue Kaiſerthum. Nachher, in der 
Zeit der Reſtauration nach 1815 wäre ein ſolches Unternehmen ebenſo unmöglich 
geweſen, als vorher in der Zeit der noch leidenſchaftlichen Revolution. 

Dieſe Wandelbarkeit des Zeitgeiſtes ſcheint die Menſchheit vor der dauernden 
und Alles erdrückenden Despotie Einer einſeitigen Richtung und 
Einer alleinigen Macht zu bewahren. Die Zeit läßt die eine Kraft 
wieder ſinken, welche fie vorher gehoben bat und ruft neue ſchlummernde Kräfte 
zum Werke auf. Mit der Zeit dreht fih auch das Rad des Schidfals und bald 
wachen neue Hoffnungen und Beforgnifle auf, bald neigen fi alte Leiden und 
renden ihrem Ende zu. Un der Wandelbarkeit der menſchlichen Dinge hat bie 
Wandlung des Zeitgeiftes einen großen Antheil. Nicht blos ver Erdball ift rund 
und muß fidh drehen, auch ter Zeitgeift dreht fih und übt dadurch auf die Mei- 
nungen und Thaten der Menſchen einen wechſelnden Einfluß aus. 

2) Eine zweite merkwürdige Wahrnehmung iſt die große Ausbrei— 
tung bed Zeitgeifted. Wäre er auf ein einzelnes Land oder eine beftimmte Nation 
befchräntt, fo würden wir ihn in dem befondern Geift jenes Landes oder diefer Na- 
tion zu entdeden meinen. Aber er tft offenbar nicht an vie Yandesgrenzen gebunven 
und bewegt ſich in derfelben Strömung und Richtung über verfhiedene 
Nationen bin. Ganze Welttheile werben von ihm ergriffen. Wie die Windes- 
firömungen in der Atmofphäre zieht er bald von Of nah Weften, bald von 
Nord nach Süden uud wieder umgelehrt. Der religiöſe und glänbige und zugleich 
in politifcher Hinficht Ichensartige Grundzug des mittelalterlihen Zeitgeiftes hat 
fich nicht blos über das chriftlihe Europa, fondern gleichzeitig auch Aber ven mu- 
hammedaniſchen Orient ausgebreitet. 

Dft wähnt man tie Veränderungen bes Zeitgeiftes aus beſtimmten 
Erlebniffen eines Volkes oder Maßregeln einer Staat$- 
gemalt erklären zu können. Die Erflärung ift falfh; denn ber Zeitgeiſt wan- 
delt ſich in derfelben Richtung and bei andern Völkern mit andern Erfahrungen 
und andern Negierangen. Nicht daß dieſes ober jenes gejchehen oder unterlafjen 
worben iſt, darf alfo als Urfache ver Wandlung betradytet werben. Vielleicht unter- 
fügt Diefe Nebenurfadhe vie Wirkfamfeit jener Wandlung, vielleicht bereitet fie 
verfelben Hinderniffe.e Die Wandlung felbft ift davon nicht abhängig und bat 
eine andere Haupturſache. Die befte liberale Regierung kann es nicht 
verhindern, daß auch die Zeit ver Lonfervativen Richtung wieder kommt. Yud) 
wenn eine abjolutiftifhe Regierung keine groben Fehler macht, fo verhart der 
Zeitgeift doch nicht immer in derſelben Richtang und wagt von Zeit zu Zeit ben 
Sprung in die radikale Wendung. 

Aber der Zeitgeift breitet fih doch nicht völlig gleichmäßig aus 
über bie verſchiedenen Völker. Er wechfelt auch in den Hauptträgern feines 
jeweiligen Charakters. Bald erfcheint die eine, bald-wieber eine andere Nation als 
vorzüglichſtes Organ des Zeitgelftes, je nachdem ihre Eigenart mit ber gerade vor- 
tretenden Eigenfchaft des Zeitgeiftes zuſammen ſtimmt. Er erhebt auf folde Weife 
die Nationen und läßt fie wieder fallen. Der Hauptfig des Zeitgeiftes in Europa 
war im Alterthum anfangs in Griechenland, fpäter in Rom. Während des Mittel 
alters waren die Germanen, ohne daß fie es wußten, voraus bie Träger des 
Zeitgeiftes. In dem Zeitalter der Kirchenreform war die deutfche, in dem der Re⸗ 
volntion die franzdfifche Nation fein wichtigſtes Organ. Das eine Mal wehte er 
von Deutſchland ber über Nord» und Weftenropa bin, das andere Mal ftürmte 
er von Paris aus Über die europälfche Welt. Die volle Gewalt des wandbelnden 

18° 








276 Beitgeifl. 


Zeitgeiftes, gleihfam vie Höhe ver Welle, wirt dann nur in dem Lande und 
unter ter Ration wahrnehmbar werden, welche gerate der Hau 8 der 
Hauptvertreter feiner Ridtung find, und im andern Pänbern und 
antern Rationen an intenfiver Kraft wieter am ‚ bis tie Welle ihre Tiefe 
erreidtt. 

3) Die große Macht des Zeitzeiftes bewährt fi vorzäglid au ber 
Menge. Er kommt über die Maſſen, fie willen felber nicht wie, und gibt ihnen 
vie Richtung, ver fie folgen. Die meiften geben fi} feinen Eindrücken hin und 
lafien fi von ihm erfüllen. Aehnlich wie vie Pflanzen in beſtimmter Fahreszeit 
in Trieb und Blüthe kommen und wieder ftille fichn und abwellen, werben vie 
Rotionen und vie Böller von der Strömung des Zeitgeiftes bald zur Arbeit auf- 
geregt, bald wieder zur Ruhe verwiejen. Der Zeitgeift wedt auf und ſchläfert ein, 
je nachdem bald dieſe, balv jeme Eigenſchaften in ihm vortreten. Sein Gang ifl 
geheimnigvol. Er.dringt ein, wie die Luft, die der Menſch athmet, er thellt fich 
mit von Menſch zu Menſch, wie vie Wärme von Körper zn Körper. Zuweilen 
yerbreitet er fi wie eine Epidemie und wandelt iu kürzeſter Friſt vie Erwar- 
tungen unt Stimmungen der Menfchen um. 

Aber er unterfcheivet fi doch fehr von den koſs miſchen Einfläffen ver 
Jahreszeiten und von dem Wechſel der Winde. Es gab eine Zeit, in der man 
die feltfamen Wirkungen des Zeitgeiftes aus kosmiſchen Urfachen zu erflären ver- 
fuchte. Die Aftrolo gen beredineten aus der Konftellation ver Geftime das Schick⸗ 
fal ver Menſchen. Je nad der Stellung und dem Wandel vorzäglig der Planeten 
meinte man bie günftigen oder ungünftigen Bedingungen für menfchlihe Plane 
und Thaten zu erkennen und bie Wandlung des Zeitgeiftes zu bemefien. Ein 
unfruchtbares und thörichtes Bemühen. Wäre die Urſache der Wandlung des Zeit- 
geiftes in der äußern Natur des Erpballd und in feinem Berhältnig zu der großen 
Sternenwelt zu finden, fo müßte biefelbe Urfache, ganz wie die Jahreszeiten, wie 
der Wechſel von Wärme und Kälte, wie die Strömungen der Winde zugleid anf 
rie Menfhen und auf die andern Geſchöpfe der Exbe, auf vie Pflanzen und bie 
Thiere eine Wirkung äußern. Aber davon zeigt fi feine Spur. Wie immer der 
Zeitgeift fih wandle, das Wahsthum der Pflanzen und das Leben der Thiere 
folgen dieſer Wandlung nit. Sie verfpüren dieſelbe nicht. 

Die Macht des Zeitgeiftes äußert ih nur im Leben der Menſchen; 
erifi vemnad mit der Menfhennaturverbunden, und laum anders 
als aus der Menfhennatur zu erllären. 

Wie der Zeitgeift auf vie Menſchenwelt beſchränkt ift, fo wird feine Macht 
ah durch den Verkehr der Menfhen gefteigert und burd bie 
Jfolirung der Menfhen vielfältig abgeſchwächt und ge- 
hemmt. Nirgends wirkt der Zeitgeift ftärker, als in den großen Städten, wo 
die Menfchen dicht gebrängt beifammen leben und unaufhörlih mit einander leb- 
haft verlehren. Biel weniger beherrſcht er das Land mit feinen Heinen Dörfern 
oder zerſtreuten Höfen. Die Abgefchloffenheit eines Klofters kann fi ihn zwar 
nicht völlig entziehn, aber fle verfpärt nur wenig jeine wandelnde Mad. 

4) Seine Macht über die Dienfchen ift feine abfolute. Einzelne, be- 
fonders die Individuen mit energifhem Charakter und entfchiedenem Geift wider- 
fteben feinen Einflüffen und verfuchen es zumwellen mit Erfolg, feiner Strömung 
entgegen zu ſchwimmen. Manche bekämpfen ven Zeitgeift, den fie haſſen. Mehrere 
noch lehnen feine Herrſchaft wiverwillig und trogig ab. Die Gefchichte der Welt 
wird nur zum Theil von den Beitgeifte beſtimmt. Auch die individuelle 











Zeitgeiſt. 277 


Freiheit der Menſchen läßt darin das Andenken ihrer Werke zurück und in 
ihr offenbart ſich eine andere Kraft, als die des Zeitgeiſtes. Wir erkennen dieſen 
nur, wo der Maſſengeiſt fich bewegt. Der Zeitgeiſt erfüllt alſo nicht die 
ganze Menſchennatur, er iſt nicht identiſch mit dem Menſchengeiſt überhaupt. 

5) Aber feine Wandlungen find auch nicht aus einem Spiel der Laune zu 
erflären. Sie gleichen nicht ven wechſelnden Bildern des umgebrehten Kaleidoſkops. 
Bielmehr befteht ein Innerer Zufammenhang zwifhen dem Charalter 
eines vorgehenden und eines nachfolgenden Zeitabfchnitts; es laͤßt fih eine orga- 
nifhe Anfeinanderfolge der Zeitalter wahrnehmen nnd hinwieder der 
Zeitphafen innerhalb ver Zeitalter, welche Iebhaft an bie Aufeinanverfolge ver 
menſchlichen Lebensalter erinnert. Mit der Kindheit beginnt auch die Wandlung 
des Zeitgeifties und fteigt empor zu jugendlich-bewußter Höhe, um dann wieder in 
weifer Berarbeitung und forgfältiger Erhaltung zu alternder Fertigkeit und Fluger 
Berechnung abzufteigen und fih zu neuem Umſchwung vorzubereiten. In alle dem 
iſt Negel un Geſetz, niht Zufall und Willkür. 

Manche neuere Philofophen haben dieſes Geſetz zu entdecken ſich bemüht. 
Der Berfuh Hegels, dasſelbe in der vinleftifhen Bewegung der Denktraft zu 
erfennen, mußte ſchon deßhalb mißlingen, weil die menſchlichen Kräfte mannigfal- 
tiger find und gar nicht in allen Beitaltern der felbftbewußte Geiſt der Denter die 
Richtung der Maſſen beftimmt. Glädlicher waren die Ahnungen Fouriers und 
bie Spekulation Kranfes, welche auf die Anfeinanderfolge der menfchlihen Lebens⸗ 
alter hinwiefen und daraus die Wanblung des Zeitgeiftes zu erklären verſuchten. 
Am tiefften und umfaffenpften aber hat Fr. Rohmer das Gefetz des Zeitgeiftes 
ergründet und aus der Pſychologie erflärt. Durd feine eigene Natur, welche 
für alle Veränderungen des Zeitgeiftes höchſt reizbar und feinfühlig war, wurde 
er unaufhörli angeregt, den Gang vesfelben zu beobadten und gleichſam dem 
wandelnden Zeiger an ver Uhr mit gefpannter Aufmerkſamkeit zu folgen. So 
gelangte er zuletzt zu einer genauen Berechnung der Bewegung des Zeitgeiftes im 
Großen und im Kleinen. 

6) Diefe Gefelicleit der Bewegung unterfcheibet den Zeitgeift aud von 
der veränderlihen Mode. Allervings übt ver Zeiigeift auch auf die Mode feine 
Macht ans. Gibt er fi doch vorzugsweiſe auch fund in dem Kunftfiyl ber 
verſchiedenen Zeitalter, von deſſen Einflüffen ſich aud die Mode nicht frei maden 
fann, am bentlichften wohl in dem architektoniſchen Styl, aber aud in der Muſik 
und in ber Literatur. So folgte die Mode nur dem Zeitgeift, wenn fie im fieben- 
zehnten und theilweiſe noch im achtzehnten Jahrhunderte mit Vorliebe bie Roccoco⸗ 
formen wählte und ſich in den Haarbeuteln und Zöpfen gefiel; und nochmals wurde 
fie von dem Zeitgeiſt geführt, als die franzöſiſche Revolution wieder antike Moden 
anfbrachte, entfprehend den republifanifchen Vorbildern des griechiſchen und römi⸗ 
‚Shen Alterthums, welche damals fehr beventend anf die Erneuerung des dffent- 
lichen Lebens einwirkten, und als file In der Napoleonifchen Periode fpäter ſich 
den vornehmen und firengen Formen des cäfarifchen Roms zuwandte. Iufofern, 
al® fie dem Zeitgeifte folgt, iſt auch die Mode gefeglih beftimmt. Aber daneben 
wirken in ihr auch bie indivipmellen Neigungen, Einfälle und 
Launen ber Berfonen und Gefellfhaftscentren fehr ſtark ein, welche vorzüglich als 
Autoritäten von der übrigen Geſeliſchaft betrachtet werben und benen dieſe nachzu⸗ 
treten gewohnt ifl. Die Löwen und Löwinnen ber Mode In Paris und London wer⸗ 
ben nicht immer von ber allgemeinen Bewegung des Zeitgeiftes zu ihren Entſchlüfſen 
und in ihrer Auswahl geleitet, fondern laflen ih zu gutem Theile durch ihre 


% 





egene Arrex Ira Fr wifer ; E. wa für eine perſonliche Urſache pie 


IL Bas # fer se 1a Ic, teten Erzenihasten wir näher betrachtet 
haben: Sa az welch, wie Biele mise, vie Ermmerer zu einer ge— 
zebenen Zeit werbzurenen merid!iden Jnbivipualgei- 
Ber? Es Gathe cizmal Über ren falten Seinen retten wellte, ſchrieb er 
Set inte Bert: 


Tas 

Wirziezs zeten tiz Hermes ct Üüree cyan Ge für den Zeitgeiſt aus: 
er Kr zur amvere täufchen. Über 
ker wahre Zeitz ih ded cimei autıret, 28 ;cue Summe von Sondergeiftern. 
fe klieke vẽ La wmerfiirt, weßbait den tiefelben Indi- 
heute tiefer mE merzen einer wieliektt eutzegemgefekten Strömung bes 
Zeitzeifkes fe:zen. Ihre imnrivitmelle Memung umr Neigung bleibt zuweilen 

i ſi Richtung . 


geherchen Bür tiefe alfe iſt der Wechſel 
it wicht tiefer eigenen Herren Geiſt, welcher 


Berner bleibt bei jener Annahme wnerflärt, weßhalb ver Zeitgeift eine fo 
breite Auspchuung gewinnt tod wieter vorzugsweife bald in biefer, bald in 
jener Nation als beſonders mächtig erfcheint. 

Ebenſo wäre unerflärt ter innere Zufammenbang im ten Bewegungen bes 
Zeitzeifies und tie Uufeinanterfolge feiner Bantiungen in großen Seitperioden 
von Zeitalter zu Zeitalter, weldge ja weit über bie kurzen Lebensalter der Einzel 
menſchen hinaus reichen, alſo andy nicht nad; tem Maßſtabe der Einzelmenfchen 
bemefien werben, nody von ihnen abhängig fein können. 

Endlich wäre der vielfeitige Kampf ver Eimzelwillen mil dem Zeitgeifte un- 
begreiflih und doch wird diefer Kampf fogar oft von ten einzelnen Menſchen in 
und mit fi felber, nicht blos mit andern durchgekämpft 

Denn aber der Zeitgeift nicht die Summe ver Individnalgeiſter, wenn viel- 
mehr Einheit in feinem Weſen und in feiner Entwidiung if, dann Tann feine 
Urſache nur in dee Menſchheit als einem Ganzen geſucht werben. Rur wenn 
die Menſchheit als Einheit eine ihr eigene feelifhe Geſammt— 
anlage und eineihbreigene Geſammtbeſtimmunug, nur wenn fie 
veßhalb au eine ihr eigene Sefammtentwidlung hat, bann nur 
wird der Zeitgeift erflärt als tie georpnete Entwidlung des 
Seelenlebens der Menſchheit. 

So iſt es in der That. Die Weltgeſchichte iſt der urkundliche Beweis 
dafür, daß es cine Entwidiung der Menfchheit gibt, welche ſich durch große Le- 
bensperioden bindurd in organifcher Tolge bewegt. Die Weltgefhichte und ber 
Zeitgelft find nahe verwandte und eng verbundene Erſcheinungen. Der Zeitgeift 
begleitet die Weltgefchichte auf den Wegen ihrer Entwidlung und er übt fort 
während feine Wirkung aus auf ihre Geftaltung. Der allgemeine Charakter und 
Geiſt, welcher in den verſchiedenen Perioden und Zeitaltern der Weltgeſchichte eine 





Zeitgeifl. 279 


beftimmte Geſtalt angenommen hat, war eiuft, als die Dinge noch im Fluß be- 
griffen waren, großentheils Zeitgeift. Die Weltgefchihte iſt die zurüdgelegte 
Eutwidlung, die Aufeinanderfolge in ve Bergangenheit. Der Bei 
geift if Die gegenwärtige Entwidlung des Menfchheitgeiftes. Aller 
dings beftimmt der Zeitgeift nicht allein die Weltgefhichte. Würde er allein berr- 
ſchen als eine den Einzelmenfhen übergeorpnete und fie verbindende Macht, fo 
würde bie Weltgefhichte dem Wachsthum der Pflanze gleichen, vie individuelle 
Freiheit würde von ihrer Uebermacht erbrüdt, es gäbe keine Thaten, keine Werke 
eigenartiger Menfchen, fondern. nur gemeinfame Werke des allgemeinen Denfchen- 
geiftes. Der Zeitgeift ift aber nur eine der bewegenden Kräfte, im Kampf mit Ihr 
macht fi) der Geift der Tradition und der hergebrachten Autorität geltend, neben 
ihr wirkt der befondere Geift der Nationalität des beftimmten Volkes, der Dynaftie 
und Yamilien und vor allem beveutenver Individuen. Aus dem wechfelfeitigen 
Ringen und Schaffen aller menfhlihen Kräfte ergeben fi die weltgefchichtliden 
Refultate. 

Über der Zeitgelft ift eine ver bebeutenbften und wirkfamften Kräfte, welche 
die Weltgefchichte beſtimmen. Durb das pſychologiſche Geſetz geord— 
neter Wandlung, welde dem Menfcengefchleht als gemeinfame Natur: 
anlage angeboren iſt, wird basfelbe zu fufenmelfer Entwidlung und Bervolllomm- 5 
nung getrieben und feiner Beſtimmung zugeleitet. Durch den Zeitgeiſt, welchen 
Gott dem Geifte der Menſchheit eingezeugt Hat, Teitet Gottan langem 
Zügel den großen Bang der Weltgefhiähte und führt er 
die Menſchheit unaufbattfam vorwärts, 

Hat man einmal diefe große Bedeutung des Zeitgelftes effannt, dann wird 
mon ihn aud als etwas Erhabenes und Sörtlih-menihlides ver⸗ 
ehren und es wird einem die Beſchränktheit derer, welche ausſchließlich dem Ewigen 
und Unveränderlichen zugewendet, die Wandlungen des Zeitgeiſtes gering ſchätzen, 
unweiſe und kurzſichtig vorlkommen. Die Mannigfaltigkeit des menſch— 
lichen Gemeinlebens und die Freiheit der — Entwick— 
lung werben vornehmlich durch die Wandelbarkeit des Zeitgeiſtes angeregt und 
geleitet. 

III. Wie hat fih nun der Staatsmann biefer großen Geiſtesmacht ger 
genüber zu verhalten ? ⸗ 

1. Voraus wird er die Zeichen der Zeit forgfältig beachten und den Geift 
der Zeit ſtudiren mäffen, in welcher er zu wirken berufen iſt. Die 
Frage iſt immer von eminenter Bedeutung: Was ift die Uhr? Denn nit in 
jeder beliebigen Stunde läßt ſich Beliebiges fchaffen. Alle Dinge haben ihre Zeit, 
und wer zur unrechten Zeit, ſei es zu früh, fei es zu fpät, große Dinge unter« 
nimmt, wird melftens den Schwierigkeiten erliegen und fein Streben wirb er- 
folglos bleiben. Ä 

Auch die gegenwärtige Welt muß fi die große Frage vorerft beantworten: 
In welcher Weltperiove ftehen wir? Was ift der Grundcharakter unfers Zeitalters ? 
Noch ift die heutige Welt darüber nicht zur Klarheit gelangt. Uber fo viel, denke 
ich, läßt ſich zuverfihtlih behaupten: Die fegenannte moderne Weltpe- 
riode, in welder fih ein neuer Umfchwung des großen Rates der Welt 
geſchichte vollzieht, hat noch einen aufftrebenden jugendlichen Charakter. Die 
Menſchheit hat noch nicht die Höhe Ihres Gefammtlebens erreiht. Die unermeß- 
lichen Erfolge der modernen Wiffenihaften und die ganze politifche Bewegung ber 
Zeit bezeugen bie Kraft des m ännliden Geiftes der modernen Menſchheit, 


280 Zettgeift. 


welhe ihrer felbft bewußt werben und in Freiheit ihre Selbſt— 
geftaltung erfhaffen will. Das ift eine große, ſchöpferiſche Zeit, reicher, be⸗ 
wußter und freier als irgend eine frühere Weltperiove. Darum ſpricht ſich aud 
ein liberaler Grundzug in dem Geifte dieſer Weltperiope ans, welcher 
wohl erinnert an die noch jugenvlichere Genialität des großen Weltalters, weldes 
die Blüthe und Herrlichkeit des Hellenifchen und Römifhen Alterthums bervor- 
gebracht bat und ſich auffallend abhebt von dem ſturm⸗ und brangvollen und we⸗ 
niger geiftesfrohen und geiftesflaren Wefen des Mittelalters. 

Diefe neue Weltperiode beginnt nicht, wie die gemöhnlihe Meinung an- 
nimmt, mit bem Zeitalter der kirchlichen Reformation. So groß und aus ber 
Tiefe des religiöfen Gemüths bewegt jenes Zeitalter war, es bat body keinen 
andern Grundcharakter, als die ganze Renaiſſancezeit. Das Charakteriftiiche find 
nicht neue Ideen, fondern das Wiederaufleben der antiten Ideen und die Ideale, 
welde man fih von dem reineren Urchriſtenthum machte, bie Neinigung von ven 
überlieferten Mißbräuchen, die fih im Mittelalter angehäuft hatten. Gewiß ift 
damit aud Neues gefchaffen worben, die Zeit war auch damals In männlichen 
Fortſchritt begriffen, aber den Hauptnachdruck legte jene Zeit auf die gereinigte 
MWiederherftellung des Alten, nicht auch ihre Neue Schöpfung. Iu den wefentlichften 
Beziehungen war fie noch den Hanptibeen des Mittelalters ergeben. Ihre Politik 
war vornehmlich noch religiös gefärbt, der Staat noch immer lehensmäßig und 
ftänpifch rat Die daranf folgenden Jahrhunderte, vorzäglid das fieben- 
zehnte haben jogar eine ältlihe Phyſiognomie. Die öffentlichen Zuftände des 
Mittelalters waren altersſchwach und hinfällig geworben, feine Formen verwitterten 
wie Ruinen. Der Abfolutismus der fürftliden Gewalt brachte die Dinge zum 
Abſchluß. Nicht einmal In England, deſſen Entwidiung voraus ging, waren die 
nenen Ideen vorherrſchend geworben über bie alten. Das iſt der durchgreifende 
Unterſchied ber englifchen und der franzöfifhen Revolution, daß die Englänter für 
ihre alte parlamentarische Freiheit kämpften und bie Franzofen einen neuen Staat 
auf vie modernen Principien der Gleihhelt und Freiheit aufbauen wollten. 

Aber mit dem Jahre 1740 beginnt wirklich ein neuer Geift in der Welt 
jeine Flügel zu regen. Die Zeit der Aufffärung in Franfreih, in England und 
n Deutſchland, die Erhebung des Preußifhen Staatögeiftes durch Friedrich den 
Großen, die Unabhängigkeitserflärung der Vereinigten Staaten von Amerika, dann 
bie ungeheure Erfhütterung der franzöflihen Revolution ımb ihre bie Welt umge- 
ftaltenden Wirkungen find Machtäußerungen eines neuen von dem Mittelalter 
grundverſchiedenen Zeitgeiftes. ' 

Auch innerhalb dieſer neuen und herrlichſten Weltperiode, in welde vie 
Menfhheit nun eingetreten tft, waren die erften Anfänge, vie erften Verſuche des 
neuen Geiftes noch kindiſch-naiv oder Inabenhaft ungeftlüm. In bem erften Zeit- 
alter herrſchte eine kosmopolitiſche menfchenfreundliche Philoſophie. Die von dem 
Zeitgeifte vorerft bewegte gebildete Welt wendete fi nun mit Verachtung ab von 
dem Mittelalter, aber auch von den großen Traditionen der Vergangenheit, und 
blidte begeiftert zu den neuen Idealen auf, welche die Philofophie ihr vorzeigte, 
von denen fie eine neue Weltordnung erwartete. Dann unternahm fie es im fol- 
genden zweiten Zeitalter der neuen Weltperiode ihre Phantaflebilder zu verwirk⸗ 
lihen und die Welt wirffih umzugeftalten. Aber es gelang ihr beffer, die alte 
Weltordnung vollends zu zerfchlagen und zu zerflören, als die neue einzurichten. 
Die fpelulative Schule, in ver fie erzogen war, konnte ihren Mangel an Erfah: 
rung und an praktiſchem Verſtand nicht erfegen. Die Welt kam wohl vorwärts, aber 








Zeitgeifl. 281 


nicht ohne gelegentlich wieber zurüd zu fallen. Zuletzt gab fie das naive Bertrauen 
anf die abftraften Ipeen der Gleichheit und der Preiheit auf, fie lernte in Folge 
der Erfahrungen, bie fie gemacht Hatte, wieder die Geſchichte beſſer verftchen und 
aud die Macht der Tradition ——— Das Princip, welches vornehmlich in 
unſerm jetzigen dritten Zeitalter bie Geiſter bewegt, das Princip ver Nationalität 
iſt zwar befchränfter, als bie Ideen des frühern Revolutionszelialters von allge- 
meinen Menjſchenrechten, aber es if mehr geſchichtlicher Gehalt und mehr geftal- 
tende Kraft darin. Noch find wir nicht auf die Höhe der eht-liberalen Entwid« 
Tung gelangt. Selbſt unfere Entel werben dieſelbe noch nicht erleben. Noch If 
unſere ganze Bewegung nicht frei von heftigen radifalen Strömungen und Ueber- 
flürzungen und f&lägt dann gelegentlich wieder in das entgegengefegte Ertrem 
der abfolntiftifchen Reaktion um. Aber mit frenbiger Sicherheit dürfen wir bes 
hanpten, daß die Menſchheit feit einem Jahrhundert außerordentliche Fortſchritte 
gemacht hat und im Großen betrachtet in fletigem männlichem Fortſchritte begriffen 
Äft nach dem großen Ziel der voll entfalteten Humanität. 

2.Riemals darf der Staatsmann den Zeitgeiftgering ſchätzen, 
and dann nidt, wenn die Zeitfirömung ihm und feinen Plänen nit günftig 
AM und aud dann nicht, wenn fle nicht die höchſten Kräfte der Menfchennatur, 
fondern die niedern Triebe verfelben emporhebt; denn die Macht des Zeit- 
geiftes {ft Immer groß und feine Bewegungen find nöthig für die Entwidlung der 
Menfhheit. Wreilih gehen bedeutende Männer ihre eigenen Wege und folgen 
nicht, wie die Menge, jedem Wechſel des Windes. Uber der Staatsmann, welcher 
den Zeitgeift veradhtet, iwürbe einem thörihten Gärtner gleichen, der den Winter 
veraditet, weil er feine Blüthen hervortreibt und ber Nacht fpottet, weil fle_zur 
Ruhe einladet. Der Mönd und der Einflevler mögen fi ver Wirkung des Zeit- 
geiftes verſchließen, indem fie anf das Gemeinleben verzichten, ver Staatsmann, 
der unter den Menſchen und mit ihnen wirken will, kann e8 nicht. Wie der vor« 
fihtige Gärtner anf Wärme und Kälte, Trodengeit und Näffe forgfältig achtet 
und die Pflanzen vor den ſchädlichen Einwirkungen ber ertremen Naturfräfte zu 
bewahren fucht, und wie der Schiffer Wind und Welle berüdfichtigt, fo muß der 
Staatsmann anf die Bewegungen und Eigenſchaften des Zeitgeiftee merken und 
feiner Ungunft entgegen arbeiten. Will er aber ver Zeitfirömung wiberftchen, fo 
darf er nicht feiern noch ſchlafen. Jede Blöße, die er giebt, wird von ber feind- 
lien Strömung des Zeitgeiftes überfluthet, jebe Lüde, die er offen Abt mirh 
von ihr erfüht. Ehe er ſich's verficht, iſt er umſchloſſen, verrathen, zu 
racht. 

3. Iſt der Zeitgeiſt günftig, fo darf der Staatemann, beffen 
von bem Wehen des Zeitgeiftes mächtig gefördert wird, vieles wagen; 
wird ihm vieles gelingen. Die Zeit treibt in berfelben Richtung vorwär 
Fahrt geht mit gänftigem Winde raſch und glüdlih. Stößt er auf Hinde 
ex für den Augenblid nicht entfernen Tann, fo kann er zur Noth auch wa 
Zeit Tommt ihm zu Hülfe und untergräbt die Hinberniffe oder vergeht 
öffnet ihm die Bahn. Napoleon III. hat fhon als Prinz die große 
Bahrheit begriffen, daß wer mit der Strömung feiner Zeit geht, Tri 
unb wer gegen biefelbe geht, nothwenbig untergeht. 

4. Dem Zeitgeift entfprechen die Be ttideen und bie Zeitf 

Die Ideen werben niemals von den Maffen, fonbern immer | 
einzelnen Individuen erfannt und ausgefprogen, aber nur wenn fie 
empfänglihen Maſſen aufgenommen und getragen werben, find fie 


282 Zeitgeifl. 


Seher, Dichter, Philoſophen und Welſe verkünden bie Ideen der Zukunft oft 
voraus. Bon der geiftigen Höhe aus entveden fie manche Ideen, welche erft auf 
die künftigen Geſchlechter wirken, früher als bie Menge, welde in den Nieberungen 
lebt. Der proftifhe Staatsmann aber kann nur die Ideen zu verwirklichen trachten, 
welche der Zeit zufagen, in der er lebt. Denn nur für diefe Beitiveen findet er 
Berftändnig und Unterftügung. Er muß fi davor hüten, nad; Art der Roman- 
tiler veraltete Zeitideen zu verfechten. Wenn aud noch der Geift der 
Tradition ihn einigermaßen unterflägt, fo wirb er body hödftens momentane Er . 
folge erzielen. Die feindliche neue Zeit ſchreitet über ihm hinweg und gertritt fein 
Werk. Seine Politit wird zulegt ald Dongnizoterie lächeriich werden. Aber es ift 
faft noch gefährlicher, wenn auch rühmliher, wenn der Staatsmann die Ideen 
der Zutumft auszuführen unternimmt, bevor die Zeit dafür reif geworben 
if. Er wird dann an der harten Wirklichkeit Schiffbruch leiden und als idealiſtiſcher 
Schwärmer verfpottet. Die mahre ſtaatsmänniſche Aufgabe ift die Verwirklichung 
der gegenwärtigen Zeitideen. 

Darauf beruht großentheils die Popularltät der Stantsmänner. Wenn fie 
nit den Zeitideen gehen, fo find fie meift populär; wenn fie wider bie Zeit 
gehen, werben fie impopulär. Im der Voltsftimme bildet der Zeitgeift gemöhnlich 
den Grundton; infofern ift fie die Stimme ver Menſchhelt. Die furdtbare Im» 
popularttät des Iefuitenorbend feit einem Jahrhundert hat nicht blos in feinen gefähr- 
lichen Intriguen, ſondern vornehmlich darin ihren Grund, daß bie ganze Richtung 
des Ordens in töbtlier Feindſchaft iR mit dem modernen Zeitgeift und dem gei- 
ftigen Bewußtſein und Verlangen der Heutigen Menfchheit. Die großen Erfolge 
der napoleonifchen, der englijhen, ber italienifdhen, ber preußiſchen Politit im 
unferm Zeitalter, waren fiher zu gutem Theile dadurch bedingt, daß ihre Haupt · 
u der liberalen und nationalen Grundftimmung des heutigen Zeitgeiftes 
entſprach. 

5. Aber jede Zeit liebt auch beſtimmte Formen Ihres Lebens. Es genügt 
nicht, daß der Staatsmann die Zeitideen erfennt und für fe eintritt, er thut 
wohl daran, aud die Zeitformen zu benugen. Bor einem Jahrhundert noch war 
der aufgellärte Abfolntismus der Zeit genehm. Es ließ ſich in dieſer Form Großes 
erreichen, ohne ſchwere Kämpfe. In unfter Zeit, welde die repräfentative Form, 
insbefondere die Zuftimmung und Mitwirkung ber Vollsvertreiung als ihr Recht 
verlangt, ſtößt der aufgeflärte Abfolutismus auf einen ſtarken Wiberftand, ſelbft 
wenn er die wirklichen Zeitiveen vertritt. Der Graf Eavonr hat eben deßhalb 
leichter und früher die Anerkennung und bie freubige Unterftügung feiner Nation 
erhalten, al der Graf Bismard, weil jener von Anfang an aud die Zeit 
formen für die Zeitivee benupte, während biefer Anfangs bie Zeitformen zu ver- 
achten ſchien und mit den Mitteln einer frühen Zeit bie neue Idee zu verwirklie 
An meternabn. Die Arbeit des Grafen Bismard war deßhalb ſchwieriger und 
r, und in bemfelben Maße, in weldem er fih aud ven Formen bes 
ı Staatslebens günftiger erwies, errang aud er die fördernde Unter- 
der Menge. 
Allerdings tann auch der größte Staatsmann nicht einfach, felbft nicht 
Beitformen, die Zeitideen realifiren. Nicht 6108 die neuen Ideen, aud bie 
dichtlichen Mächte der Autorität und der Gewohnheit üben ihre Wirkung 
ver Gelehrte mag wehl in feiner Theorie ven Zeitgedanten mit logiſcher 
und rüdfictölofer Konſequenz durchführen. Das wirkliche Leben fügt fi 
ı reinen Linien und fharfen Winkeln der Doltrin; es biegt fie um und 


Zeitungsweſen. 283 


verändert fie in ver Anwendung. Die praktiſche Politik iſt eine Kunſt, welche ſehr 
komplicirte Aufgaben zu löſen bat und mit mancherlei gemeinfamen und perſoön⸗ 
lihen Kräften zu wirthſchaften hat. Das Ergebniß der politifchen Kämpfe nöthigt 
zu Srievensfhlüffen, zu Ausgleihungsverfuhen, zu Kompromifjfen Be 
ans blindem Eifer für den Zeitgeift jedes Kompromiß verfhmäht, ver mag ein 
ehrenweriber Doktrinär fein, aber er wird auf ben Erfolg und auf den Lorbeer 
des Staatsmanns verziäten müſſen. Bluntialt. 


Beitungswefen. 


Die Anfänge des heutigen Zeitungsweſens reihen um nicht mehr als etwa 
ven vierten Theil eines Iahrtaufend in die Vergangenheit zuräd. Was vor dem 
Beginn des fiebenzehnten Jahrhunderts in der Geſchichte der civilifirten Völker 
ähnliches vorfommt, läßt von den Merkmalen einer Zeitung doch das eine ober 
andere wefentlihe vermifien. Die Acta diurna ber Römer find und nicht erhalten; 
fovtel wir aber von Ihnen wiflen, waren es mehr veröffentlichte Protokolle oder 
Auszüge aus den Protofollen der höchſten Staatskbrperſchaften, insbefonbere des 
Senats, vermehrt unter der Kaiferzeit durch allerhand Hofnadhrichten, als eine 
eigentliche laufende Chronik der Tagesereigniſſe. Derfelbe befchränkte Charakter 
fheint gewiflen chinefifchen Publikatlonen zuzulommen, von denen ältere Reifenve 
und Miſſionäre berichten. 

Aber wenn nicht vor dem fiebenzehnten Jahrhundert Zeitungen, fo bat es 
doch ſchon geraume Zeit früher Vorläufer der Zeitungen gegeben, die demſelben 
Bedürfniß und Triebe ihre Entftehung verbankten, welchem heutzutage bie Zei⸗ 
tungen dienen. Die großen geographifchen Entvedungen des fünfzehuten Jahr⸗ 
hunderts mußten eine in die Ferne gerichtete Neugier erweden, ber mit bloßen 
mänplihen Erzählungen oder in gelegentlihen PBrivatbriefen bald nicht mehr zu 
genügen war. Die Anfammlung des Hanvels- und Schifffahrts⸗Verkehrs der Zeit 
in einzelnen Plägen, wie Venedigg Genua, Augsburg, Nürnberg, Frankfurt n. ſ. f. 
machte biefelben unvermerft auch zu einem Stapelplag für Neuigkeiten. Daher kam 
es 3. B. in Benebig auf, daß von Zeit zu Zeit die eingehenden Nachrichten von 
Kriegehändeln und anderen allgemein intereffirenden Begebenheiten zufammen- 
geftelt und abfehriftlih den dafür Bezahlenden vornehmen Herren ber Stadt ober 
deren auswärtigen Freunden mitgetheilt wurben (whrend es nad ben jüngften 
Forſchungen eine Fabel ift, daß dergleihen Wocen- oder Tagesberichte gegen eine 
fleine Geldmünze, die 1536 zuerſt geſchlagene Gazetta, öffentlih vorgelefen wor⸗ 
den wären, woher ver Name Gazette für Zeitungen flammen follte); unb bie 
Fugger in Augsburg verfahen von einem gewifien frühen Zeitpuntt an ihre: 
Schäftsfreunte regelmäßig mit der Ouinteflenz defien, was in ihrer über bie 
ganze befannte Erde erflredten Korrefvondenz Thatſächliches von allgemeinerer 
Bedeutung enthalten war. Weber das Eine no das Andere aber kann man doch 
Zeitungen nennen. Näher kommen biefem Begriffe fhon die unter dem Gattungs⸗ 
namen Relationen zufammengefaßten, für das große Publikum beftimmten Schil⸗ 
berungen einzelner (oder auch auf einmal mehrerer) befonders bervortretender Er⸗ 
eigniffe, denen bie eben entdedte Buchpruderfunft ihre mächtigen Schwingen lieh, 
und deren ältefte bisher aufgefundene eine franzöfifhe vom Jahre 1492 iſt. Nur 
daß biefen Relationen die Periodicität fehlte, oder wenn fie wiederlehrend erfchier 
nen, dies doch in den längften Zwiſchenräumen gefchah (relationes scmestrales). 
Man Tann alfo hochſtens fagen, daß ein Keim des fpätern Zeitungswefens in 


284 Zeitungsweſen. 


ihnen ſteckt: die friſche Mittheilung von Zeitvorfällen. Und zwar"fledt in ihnen 
auch nur diefer eine Keim. Einen andern, gleich wichtigen Keim entwidelte erſt bie 
gewaltige Bewegung des Geiftes im Reformationszeitalter nnd dann in einer be- 
fondern Form. In dem fogenannten hiftorifchen Volkslied und dem raiſonnirenden 
Flugblatt oder Pamphlet erfcheint zuerſt der Leitartifel anf der Bühne, die Dis- 
tuffion von Tagesfragen vermöge der Zeitung. Damit waren zwei von den kon⸗ 
ftituirenden Elementen der Zeitung gegeben. Das dritte, bie Anzeige, trat erſt mit 
der Zeitung felbft anf, oder vielmehr fogar erft längere Zeit nachdem es bereits 
Zeitungen gab. 

Um den Ruhm, die älteſte eigentliche Zeitung in feinen Mauern haben ent- 
ftehen zu fehen, ftreitet Frankfurt a / M. mit Antwerpen. In legterer Stabt erhielt 
ein gewiffer Abraham Verhoeven ſchon 1605 von der Landesherrſchaft dad Privi⸗ 
leg, Nachrichten von gewonnenen Schlachten (nit von verlorenen natürlich!) u. 
dgl. m. druden und feilbieten zu laſſen. Jedoch find erſt aus dem Jahre 1616 
Blätter diefes Unternehmens auf die Gegenwart herabgelommen, und erft vom 
April 1617 an erfchlenen viefelben periodiſch, alle acht bis neun Tage einmal. 
Will man daher die Perlopichtät als ein unterfcheivendes Kennzeichen ber Zeitung 
fefthalten, fo iſt Frankfurts Anfprud der beffere. Dort begann der Buchhändler 
Egenolf Emmel im Jahre 1615 ein förmlich numertrtes, wöchentliches Nenigleits- 
blatt kraft Raths⸗Privilegs herauszugeben, — freilid nur um fhon im fol- 
genden Jahre einen überlegenen Konkurrenten in dem Poftmeifter Johann von ber 
Birghden zu erhalten, der den Grund zu der erſt 1866 eingegangenen Frankfurter 
Poftzeitung (früher Oberpoftamtszeitung) legte. Weberhaupt folgten, nachdem vie 
Form einmal gefunden war, troß oder wegen ber gleich nachher ausbrechenden 
ſchrecklichen Kriegsprangfale andere deutihe Städte dem Vorgange Frankfurts bald 
nad: 1619 Hilveshelm und mwahrfcheinlic auch Nürnberg, 1630 Herford, 1660 
Leipzig mit ben „nen einlaufenden Kriege- und Welt-Händeln”, aus denen in 
ununterbrocdyener Folge vie heutige Leipziger Zeitung hervorgegangen iſt, nad dem 
Eingehen ver Frankfurter Poftzeitung die ältefle gegenwärtig beftehende teutfche 
Zeitung und zuglei die Stammmutter der Regierungsblätter, deren Gefchichte ihr 
Kurator Regierungsrath v. Wigleben 1860 zur zweihundertjährigen Jubelfeier 
herausgegeben hat. 

Auch die Nahbarnationen eigneten ſich das neue, nod ziemlich unſcheinbare 
Kulturmittel raf an. 1622 folgte erft England mit dem Weekly⸗-Newes von 
Nathaniel Butter, 1626 Holland, dann 1631 Frankreich mit der heute noch eri- 
" flirenden Gazette de France — dem Älteften Journal der Welt alfo unter ben 
beftehenden —, die der Arzt Theophraft Renandot an bie Stelle der feinem Stande 
damals obliegenden mündlichen Neuigkeitsträgerei fegte, ferner Schweden 1644 
mit den ebenfalls noch beſtehenden Poſt⸗ och⸗ Jurikes⸗ Tidningar, Rußland 1703 
(auf Veranlaſſung Peters tes Großen) mit ven Moskowskijo Wjedomoſti. Das 
ältefte dänifhe Ylatt, die noch eriftirende officiöſe Berlingſche Zeitung, erſchien 
anfänglich deutſch. Verhältnißmäßig fpät erhielten die Länder Südeuropas Zei- 
tungen, Spanien z. B. erft um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts mit dem 
Diario de Madrid. Das wahrſcheinlich ältefte Blatt der Neuen Welt, das Nems 
Letter von Boſton erfhien zuerft 1704, fo daß alfo auch in viefer Beziehung 
Nordamerika mit Rußland gleichzeitig In den Zufammenhang ter ciollifirten Na- 
tionen eingetreten iſt. 

Das Wort Zeitung war urfprünglich gleichbedeutend mit Neuigkeit oder Er⸗ 
eiguiß; Indem bie Sache ſich ausbildete, welche es heute bezeichnet, firirte es ſich 


Zeitungswefen. 285 


allmählich auf diefen engeren, aber dafür immer reiher und bebeutungsvoller aus⸗ 
gewachſenen Begriff. Der Urfprung der romanifhen Vegriffsbezeihnung Gazetten 
bat fi) wieder verbunkelt, feitvem ein venetianifcher Gelehrter felbft, Valentinelli, 
vie bisher angenommene Entftehungsart zu den Fabeln verwiefen und für bie 
erwähnten gefchriebenen Nenigleitsblätter der Republik ven genau entſprechenden 
Ramen Fogli d'avviſi vindichrt bat. Dan weiß nun, daß in Frankreich das Wort 
Sazette nicht früher als mit dem Begiun des fiebenzehnten Jahrhunderts auflam 
und dann ein Druckſtück gemifchten Inhalts, eine Art literarifchen Potpourris be⸗ 
deutete. Uebrigens ift es für Zeitung in Frankreich jegt veraltet und durd den 
allg meineren Begriff Journal verbrängt. Die angelſächſiſche Welt gebraucht als 
Ga ungebegriff das Wort Newspaper, Neuigleitsblatt. 

Unter den Specialtiteln der Zeitungen iſt der bäufigfte und berühmtefte von 
Alters ber ver Name des Götterboten der römifchen Diythologie: Mercurius po- 
liticus (fpäter publicus) in England, das leitende Blatt des fiebzehnten Jahr⸗ 
hunderte, — Mercure galant in Frankreich, vielleiht das namhafteſte aller 
franzöfifhen Iournale, mit einem Keime des modernen Feuilleton, — in Deutſch⸗ 
land beiſpielsweiſe zwei noch heute beſtehende alte Blätter, der Schwäbiſche Merkur 
und der Htonaer Merkur. Das Bebürfniß eines ganz kurzen und braftifchen 
Namens iſt Übrigens erft mit dem neueren Maflenumfag ver Zeitungen bervor- 
getreten. Die Leipziger Zeitung, der Hamburger Korrefponvent (1717 gegrändet und 
bis in den Aufang unfers Jahrhunderts hinein das vornehmfte deutſche Watt) 
und die meiften andern alten Blätter haben ihre Laufbahn unter Titeln von einer 
Länge und Umftäuplichkeit begonnen, welche heutzutage umerträglic fein würde, 

Die Ueberlieferung von Neuigkeiten war die 'erfte und lange Zeit bie einzige 
Aufgabe der Zeitungen. Schon bei deren Auswahl, Erzählung und Färbung 
mifchte fi) natürlich das Interefle der Regierungen und ver Parteien ein, das 
vollends bei der fpäter hinzukommenden Diskuffion von Tagesfragen dermaßen in 
den Vordergrund trat, daß man beinahe fagen kann, die Geſchichte des Leitartikels 
ift eingefchloffen in der Geſchichte der Preßfreiheit. Seine eigentlihe Ausbildung 
gehört felbft in England dem gegenwärtigen Jahrhundert an, das neben den vom 
Unterhaus vertretenen „dritten Stand" vie Preffe als „vierten Stand“ geftellt bat. 
Ein nicht geringes, nody wenig ausgebeutetes kulturgefchichtlihes Material enthält 
die fiufenweife Entwidiung des Anzeigeweſens. Seinen Ausgang fcheint basfelbe von 
den Bücheranzeigen genommen zu haben. Judeſſen brang es In vie engliihen Zei- 
tungen früher ein, als in die Älteren beutfhen, deren Aufſchwung ber dreißig. 
jährige Krieg natürli weit nachhaltiger knickte, als jeue bie Revolutionslämpfe, 
Die erfte englifhe Bücheranzeige, von der man weiß, iſt vom Januar 1652 und 
empfiehlt ein an Cromwell gerichtete Glückwunſchgedicht zur Heimkehr ans dem 
Belde. Bom 16. September 1658 datirt bie erfte Anzeige von Thee, zu haben in 
einem der damals neuerrichteten Londoner Kaffehäufer, fo daß man drei Inftur- 
biftorifhe Novitäten, den Kaffee, ven Thee und die Annonce, gewiflermaßen Arm 
in Arm debutiren fieht. Das Theater bat in England nicht früher ald 1701 von 
der Deffentlichleit der Zeitungsfpalten Gebrauch gemacht. Während der Jahre 
1692—1694 erſchien ein Blatt für Anzeigen allein, das unentgeltlid verbreitet 
wurde, der City Mercury; ging es auch bald wieder ein, fo zeugt body ſchon 
der bloße Verſuch für eine gewifle Fülle der Entwidlung. Dagegen fangen z. B. 
in der Leipzig®® Zeitung die Anzeigen erſt im Jahre 1700 an ſich bemerflich zu 
machen. Die erften waren au da Bücher⸗Anzeigen. Es dauerte volle neunzig 
Jahre, bis tie Familiennachrichten binzulamen; und zwar begannen diefe 1790 





286 | Zeitungswefen. 


mit dem Tode, worauf feit 1794 Hochzeiten, feit 1797 Geburten, feit 1816 Ber- 
lobungen hinzukamen. 

In Deutfhland breitete fih das Zeitungswefen verhälinigmäßig früh mit 
jener Fülle aus, welde ver ftaatlihen Zerfplitterung und der allgemein verbrei- 
teten Bildung entſprach; allein zur befondern geiftigen Energie und Wirkfamleit 
gelangte es fobald nit. Darin gewann England ihm den Vorfprang ab, wo uadh 
ver glädlihen Revolution von 1688 die Staatsmänner es nit mehr unter ihrer 
Würde fanden, an der Zeitungs⸗Polemik theilzunehmen und wo fpäter die be= 
rähmten Junius⸗Briefe (feit 1769) den Anftoß des amerikaniſchen Aufftandes und 
der großen franzöflihen Stantsummälzung nicht abwarteten, um den durchſchnitt⸗ 
lihen Zon der Preffe auf eine ganz neue Höhe von Gradheit, Unumwundenheit 
und rüdfihtslofem Freimuth zu fteigern. Nachher machten fi die Wirkungen fo 
vieler mächtiger Erjchätterungen der Gedankenwelt dann natürlih aud in der fran- 
zöſiſchen und deutſchen Preſſe geltend. Aber ganz haben fie den Vorfprung ihrer 
engliſchen Schweftern noch in keiner Beziehung wieder eingeholt, weder was bie 
äußeren Dimenfionen, nod was bie auf die Herftellung der Blätter verwendeten 
geiftigen Fonds betrifft. Dat doch die Limes fchon während ber napoleonifchen 
Kriege und In nenerer Zeit wiederum mehr als einmal im Punkte frifcher und 
zuverläffiger Nachrichten eine fo gutbediente, wachſame Regiernug wie die englifche 
geihlagen! Sie verfügt aber unter Umſtänden fo gut wie tiefe über ihre eigenen 
Kouriere, Poften und Dampfſchiffe. Nur die amerilanifche Prefle hat die englifche, 
wenigftens in den äußern Dimenflonen überholt, wenn auch nicht in der Borzüglich- 
feit der geiftigen Leiftungen. Diefe ift in ver englifchen Prefle jo groß, daß der 
Styl ihrer Leitartitel anerkannter Maßen mit ven beroorragenpften anderen Lei⸗ 
ftungen der zeltgendffifchen Literatur wettelfert, und daß dieſelben, was politifches 
Wiſſen und Urtheil anbelangt, den Vergleih mit den leitenden Rednern des Par- 
lameunts in ber Regel nicht zu ſchenen brauden. Die VBerihterftattung von großen 
dramatiſchen Vorgängen vollends, wie Schlachten, Volksaufſtänden, Feſtzügen u. 
dgl. iſt durch William Ruffell (den Neife-Korrefpondenten der Times im Krim» 
Kriege und im amerilanifhen Bürgerkriege) und feine Standesgenoffen gradezu auf 
eine bisher unerreichte Stufe gehoben worden. 

Die Fortſchritte des englifchen Zeitungsweiens aus ben legten anderthalb bis 
zwei Jahrhunderten kann folgende Zufammenftellung F. Anight Hunt's in feiner 
Geſchichte ver englifchen Prefie und Preßgefepgebung auſchaulich zu machen bienen. 
Im Jahre der Thronbefteigung Wilhelms III, 1688, begann der Orange Intelli- 
geuces zu erfcheinen; zweimal wöchentlich zwei Seiten; die Nummer vom 11. De 
cember des genannten Jahres enthält beifpielshalber 8 Zeilen über Schottland, 
16 über Irland, wenig mehr über England, und außerdem zwei Anzeigen. Ge⸗ 
rade hundert Jahre fpäter nahm bas 1785 entflandene Daily Univerfal Regifter 
den Jeitvem weltberühmt gewordenen Namen ver Times an. Diefe eröffnete ihre 
Laufbahn mit vier Seiten Papier zu je vier Spalten und 63 Anzeigen; ihr 
Neuigkeitsſtoff überftieg denjenigen tes Orange Intelligence damals ungefähr um 
rad Zehnfache. Heute hat fie, wenn fie ohne Beilage erfheint, 96 Spalten, ber 
Inhalt einer Tagesnummer würde einen flattlihen Oftauband von 400 Geiten 
füllen; Ihre Iahresausgaben werten auf 350,000 Thaler angejchlagen, ihre Ein- 
nahmen noch beträdtli höher. Ueber ihren Abfag liegt keine neuere zuperläffige 
Angabe vor. In der Mitte der fünfziger Iahre pflegte er zwiſchen 50,000 und 
60,000 zu · ſchwanken und ziemlih die Hälfte des Abfages der Londoner Tages 
blätter überhaupt zu betragen. Seitdem ift aber in Folge der völligen Aufhebung 


Beitungswefen. 287 


des Beitungsftempels und ver Papierfieuer eine Anzahl konkurrirender Penny- 
Blätter (die Nummer für 1 Penny) entflanden, deren eins wenigftens, ber Daily 
Zelegraph, das Doppelte des Abfages der Times erreicht haben fol und ihr zu- 
gleih an Güte der Leiftungen nicht viel nachgiebt. 

Das dentfhe Zeitungswefen ſchmachtete bi8 zum Jahre 1848 unter dem 
nieberhaltenden Joche der Eenfur. WI man es daher mit demjenigen ver Nad)- 
bar-Nationen in Vergleich ftellen, fo kann es nur nad dem Maßſtab der ſeitdem 
zurüdgelegten Entwidiungsfiufen gefchehen. Die Hemmung ver- vormärzlihen Zeit 
charalteriſirt ſich ˖ ſchon durch die eine Thatſache, daß dieſer Zweig der Literatur 
damals nirgends ſchwächer entwickelt war, als in den politiſchen Hauptſtädten. 
Münden nud Dreagden hatten gar keine Zeitungen im höheren Sinne des Worts, 
Berlin begnügte fi mit der Voßiſchen und der Spenerfchen Zeitung, bie gegen- 
wärtig in zweiter Linie ſtehen, obwohl gegen damals ebenfalls bedeutend fortge- 
ſchritten; in Stuttgart erſchien ein bloßes Nachrichten und Anzeige⸗Blatt ohne 
Leitartilel und die Hannoverfhe Zeitung fant mit der Trennung bes Landes von 
England in die langweiligfte Unbeveutenpheit hinab. Aus Städten wie Augsburg, 
Nürnberg, Mannheim, Frankfurt a/M., Köln, Leipzig, Hamburg, Bremen, Braun- 
fhweig u. |. w. bezog der Deutfche zu jener Zeit feine tägliche politiſche Nah⸗ 
zung, ſyſtematiſch verwäflert durch die Vorſorge der Regierungscenforen und auch 
an fi” ſchon größtentheils von geringer Kraft und Güte, weil bie fchulmeifter- 
lie Behandlung reife ſelbſtbewußte Beifter nur ausnahmsweiſe nicht abfchredte, 
fi an diefer „Schule der Erwachfenen“ lehrend zu beiheiligen. 

Seit 1848 bat das dentſche Zeitungsweſen unverfeombar bedeutende. Stüde 
Weges auf feiner Bahn zurüdgelegt. Die Refivenzftänte haben ihm ihre Thore 
öffnen mäffen, vor allem Berlin, wo jett faft ein Dugend großer täglicher Blätter 
erſcheint, darunter einige erſten Ranges. Verſchiedene der älteren Blätter haben 
die erhöhte Gunft der Zeit zu einer Vervollkommnung zu benugen gewußt, melde 
fie, wenn aud nicht mit den Londoner, fo doch mit den Parifer Zeitungen auf 
gleiche Stufe erhebt. Noch viel ſtärker ift das gleichzeitige Wachsthum in die 
Dreite geweſen. Erreihen wir auch no nicht ganz die Vereinigten Staaten von 
Norvamerila, mo es keinen Ort von 2000 Seelen ohne förmliche allfeitig emt- 
widelte Zeitung gibt, ja wo die Anlage einer Zeitungd-Werfftatt zu ven erften 
Dingen gehört, vie gefhehen, wenn eiue neue Stabt ans dem Urwalde heraus- 
gehanen oder in die Prairie hineingepflanzt wird, — fo ift die Lolal- und Pro- 
vinzalprefie in Deutſchland doch ungleich reicher entwidelt, als in irgend einem 
andern europälfhen Land, England niht ausgenommen. Im deutſchen Zeitungs- 
wald hat e8 eben bis auf die neuefte Zeit herab faft gänzlih an jenen riefenhaft 
emporgefchofienen, mädtig um ſich greifenden Stämmen gefehlt, welche dem Buſch⸗ 
wert und den ſchlankeren Stämmen in einem meiten Umfreis Licht, Luft und 
Kahrung entzogen hätten. Der Zug der Ereigniſſe und der Geiſter arbeitet aller 
dings auch bier auf größere Koncentration bin. Berlin, ale Sit bes norddeutſchen 
Aeichſstages und des Zollparlamentes, als Nefidenz nicht mehr blos Sr. preußifchen 
Majeftät, ſondern des Bundesfeldherrn von ganz Deutſchland, des norbbeutjchen 
Bunbesrathes und fo mancher anderer wichtiger Eentralftellen, muß auch in ber 
Zeitungswelt fortan unvermeidlih mehr noch als bisher, feine Nebenbuhleriunen 
überflügeln. Dagegen bat 3. B. Frankfurt a/M., das ihm vor 1848 glei ober 
gar voranftand, das es auch in den fünfziger Iahren noch allenfalls mit ihm auf⸗ 
nehmen konnte, einen Theil feiner Anziehungskraft für Zeitungslefer neuerdings 
verloren. Das Nämlihe gilt von der Stadt Hannover, welche aufgehört hat ber 


288 Beitungswefen. 


Mittelpunkt eines felbfändigen Stantswefens zu fein, und weldhe, größer als 
Wiesbaden, minder eingefchnärt als Kaſſel, bisher mit dem älteren Zeitungsmarfte 
Hamburgs, Bremens und Braunfhweigs zufehends erfolgreiher in die Schranfh 
trat. Was aber Hannover einbüßt, gewinnen niht Hamburg und Bremen, ge= 
fhweige denn Braunfhweig, fonvdern Berlin, 

Wir dürfen hiernady erwarten, daß im Lauf der nähften Jahre das Ber-- 
liner Zeltungswefen einen Aufſchwung nehmen wird, der es mit Paris und Wien, 
von denen es fi einigermaßen hat überflügeln laſſen, anf ‚gleihe Höhe oder gar 
darüber hinaus bis in die Nähe der Londoner Prefie führt. Dies ift von jedem 
patriotiihen Standpunkt aus wünfchenswerth, denn die allfeitige Entwidlung der 
Preſſe ift heutzutage eine ver Thatfadhen, nad denen ber Rang der Völker im 
Kulturleben beftimmt wird. Auch ift Berlin glüdliher Weife ſchon hinlänglich 
rei) an geiftigem wie an materiellem Kapital, um für die Heroorbringung eines kraft⸗ 
vollen und mannigfaltigen Journalismus nicht irgendwie auf die Kräfte der Re⸗ 
gierung angewieſen zu fein. Schon gegenwärtig nimmt, was die Abhängigkeit der 
Preſſe von der Regierung betrifft, Berlin mindeftens die Mitte ein zwiſchen Pa- 
ris, wo fidy die unabhängigen Blätter leichter herzählen laſſen als vie abhängigen, 
und London, wo bie Negierung als folde nur ein Nachrichten und Unzeigeblatt 
ohne Leitartifel zur Verfügung hat. In dem Maße, wie au in Deutſchland der 
Kampf der parlamentariſch geglieverten Parteien immer mehr ven Vertheidigungs⸗ 
tampf der Burenufratie gegen Parlament, Preſſe und Boll verbrängt, wird bie 
bisher fo üppig wuchernde Regierungspreile zufammenfhrumpfen, nicht um eigent- 
lichen and förmlihen Bartel-Organen Plag zu machen, fondern Zeitungen, bie 
vor allen Dingen felbftänvdige Wefen find, mit ihrem Schwerpuntt und Lebens- 
zwede in ſich felbft, nit in außer ihnen liegenden fremden Eriftenzen. 

Hand in Hand mit diefer Ummandlung der größeren Preſſe geht die Emanci- 
pation der Lolalprefle. Sie ift in Deutfchland bereits in Fülle vorhanden, aber 
fie fämpft noch auf den meiften Punkten mühſelig an gegen einen nicht fo fehr 
gelftigen ober politifhen als materiellen Drud. Es beftehen faft allenthalben Au⸗ 
zeigeblätter der Negierungen ober ihrer untergebenen Behörden in ben verſchie⸗ 
denen Sphären der Berwaltungd-Organifation, ins Leben gerufen zu einer Zeit, 
wo es noch Teine entſprechende Brivatprefie gab, wo fie daher als Nothbehelf 
anerlannt werben modten, dann aber nicht blos unverändert aufredht erhalten 
inmitten einer völlig ausreichenden, täglich weiter wachſenden Privatprefle, ſondern 
nur zu häufig grabezu geflifientlih benugt, um dieſe nicht recht auflommen zu 
laſſen. Das ift eine Einmifhung in den Geſchäftsverkehr, vie nur deßwegen jo 
ruhig hingenommen werben kann, weil das Publitum im Allgemeinen vie Prefie 
immer noch ald ein ganz befonderes, Ausnahmögefegen folgendes und im Grunde 
unheimliches Naturerzeugnißg anzufehen liebt. Mifchten fi nicht die unklaren Bor- 
ftelungen von einer in ihr ſchlummernden dämoniſchen Macht in die Auffafiung 
aller ihrer Lebensbezüge, fo würde Jedermann finden, die Veröffentlihung von 
allerhand gefchäftlichen Anzeigen fei ein Gewerbe wie jedes andere und müſſe von 
einer Regierung fo wenig betrieben werben wie Blerbrauen ober Lichterziehen. 
Warum kann fie fi für ihre dem Bublitum Im Allgemeinen gewidmeten Erlaſſe 
nicht fo gut der beftehenven Unzeigeblätter bedienen, als irgend ein Privatmann 
ober eine große Aktiengejellfchaft? Es ift nicht ſchwer zu begreifen, daß bie Aus⸗ 
bildung der Anzeigeblätter, alfo gerade das, worauf es der Regierung bei ihrem 
Bedürfniß, Anzeigen zu veröffentlihen, doch auch vorzugsweife anlommen muß, 
eine gewiſſe enge Grenze nicht Überjchreiten Tann, fo lange ſich Behörden, benen 





Zeitungsweſen. 289 


bie Rentabilitätsberechnung keine Sorge zu machen braucht, mit Privatperſonen in 
die Unternehmung theilen. Den Legteren entgeht jener beträchtliche Theil des An- 
zeigeverkehrs, der ans amtlidhen Federn fließt, — den Erfteren alles, was aus 
freien Stücken lieber das Privatblatt ald das Regierungsblatt wählt, oder was 
die eifrige Betriebfamkeit eines Privatunternehmers heranzuziehen verſteht. So 
zerfplittert fih In unfruditbare Theile, was gefammelt einen ergiebigen Ueberſchuß 
für den bie Lofalprefie belebenden Bond geiftiger Arbeit abmerfen könnte. Die 
UAmtsblätter der Megierungen thun in biefer Richtung meiftens ohnehin nichts; fie 
laſſen fih nur für Anzeigen bezahlen, aber geben ihrerfeits nichts ans für Nach⸗ 
rihten oder Artikel. Die Berleger oder Druder der Lofalblätter könnten und 
würden, durch Ihre eigene Konkurrenz vorwärtsgetrieben, für die Gewinnung frifcher 
und zuverläffiger Nachrichten, für eine zweckmäßige und taktvolle Zufammenftellung 
derfelben, fowie fchließlih auch für felbfländige Artifel mehr übrig haben, wenn 
ihnen nicht ber Ertrag der obrigfeitlihen und gerichtlihen Anzeigen zum heil 
entginge. Daß der Ueberfchuß der Amtsblätter in manden Fällen einer Beamten- 
wittwenkaffe oder fonft einem fogenannten milden Zwede zu Gute kommt, Tann 
das Urtheil Über den unzeitgemäßen und fortfchrittsfeinplihen Charakter des Inſti⸗ 
tuts natürlich nicht ändern. Milde Zwecke dürfen und brauchen nicht auf Koften 
der Ausbildung eines öffentlichen Erziehungsmittels von folder Wichtigkeit, wie 
die taufenbzäingige Lokalpreſſe ift, gefördert zu werden. 

Das Unzeigewefen ift in Deutſchland bei weiten ausgedehnter entwidelt als 
in Frankreich und vielleicht nicht weniger entwidelt als felbft in England, obgleich 
fein einzelnes deutſches Blatt annäherungsmweife mit den zehntaufend täglichen An- 
zeigen der Times wetteifern kann. In den Großſtädten giebt es faft durchweg 
auch Tediglih zur Aufnahme von Anzeigen beftimmte Blätter, die namentlich in 
den Nefidenzen vermöge ber Tange fehlenden Konkurrenz eigentliher Zeitungen 
üppig in die Höhe geſchoſſen find. Aber auch die legteren können bei der Niebrig- 
keit ihres Berkaufspreifes gefüllter Anzeigefpalten nicht entbehren. Zwölf Thaler 
jährlich iſt fo ziemlich der höchſte Preis einer veutfchen Zeitung. In Paris und 
London find erft im Laufe der Testen Jahrzehnte einzelne Blätter, die Penny⸗ 
Zeitungen bier, die von E. v. Girardin eingeführte presse A bon march6 dort, 
anf oder unter dieſen Sat heruntergeftiegen. Diele, felbft unfere bebeutenbften 
Zeitungen find von jeher für weniger als einen Penny täglich feilgemefen. Aller⸗ 
dings wicht tageweiſe. Diefe Abſatzmethode ver angelfächfiihen Nationen hat auf 
dem Kontinent Europas noch keinen Eingang gefunden. Aud der Verlauf auf 
den Straßen, ver in engliihen und amerifantfhen Stäpten fo völlig zur Phy- 
fiognomte des äffentlihen Verkehrs gehört, wird den Zeitungen In Deutichland 
noch immer aus engherzigen polizeilichen Bedenken vorenthalten. Zwiſchen ven Zei⸗ 
tungsverleger und feine Kunden ſchiebt ſich nicht, wie in England, der news-ven- 
dor (Zeitungsverfäufer) ein, ſondern die Poft, deren oft fhwerfälliger Betrieb und 
geringe Neigung zur Beförberung gerade bes Zeitungsverbrauchs auf den höchften 
Punkt, vielfach einer energifchen Entwidelung des Gefhäfts im Wege fteht. 

So in ihren natürlihen Richtungen gehemmt, fih raſch und ftetig zu ent 
wideln, find vie deutfhen Zeitungen zum großen Theil dem Vorbilde gefolgt, das 
ihnen unter ganz gleihartigen Verhältniffen von Paris her gegeben wurde, und 
Haben ebenfalls das Feuilleton kultivirt, das ſich ſchon durch feinen Play im 
Blatte als Fremdling und Eindringling charakteriſirt. Etwas ähnliches und doch 
verjchiedenes, aber ans der nationalen Geiftesrihtung Hervorgewachſenes hatten 
wir ſchon früher an der Beilage zur Augsburger Allgemeinen Zeitung, die deren 

Bluntſchli und Brater, Deutfges Staats⸗Wörterbuch. Xi. 49 





zwanet dem Laufenden erhielt, 

ern ne Bollölehen brachte. Ihr Bei 

F dre Schwãbiſche Merkur und 
nt auge Beilagen, wahrend anberer- 
OT N em zur Meferzeitung Tängft wieber 
Nee, b. h. der ber bloßen beliebigen 
rn Stiche der erſten Geiten (bei dem 
Arver befonberer Halbbogen), verdankt 
Afauen und faulen Zeit ver fünfziger 
un = a sugewohnten Strapazen und Wufregungen ber 
Imre 20 Publikum mit Begierde in Zerſtreuungen 
ia ar won Zeitungen alles Andere Tieber, als die ihm 

wen De der Leitartilel herabtam, inabefonbere alle 

x zer Sprade verlor, und während für die Ausbil- 

ns wenig ober nichts geſchah, nahm die Novelle von einem 

Beſchlag und wurde zu einem integrirenden Beſtaud - 

x man fie zuvorderſt In ber unmittelbaren Nachbarſchaft 

epflegt, wo bie Kölniſche Zeitung, und fpäter dann in ber 

wandten Kaiferflabt an der Donau, wo bie Nene Freie 








4 


i 


> Waereetreterin dieſer Richtung gelten kann. Bon den älteren und 
wre‘ dee übrigen Deutfhland haben viele bis auf ven heutigen Tag 
Der wel enbgältig flegreich, der JInvaſion der Novelle in ihre Spalten 
— mare Sie haben die Außerlihe Neuerung des Feuilletons wicht gänzlich 
—— 08 jeboch mit ernſterem und dem übrigen Inhalt ber Zeitung ver- 
er Stoffe gefüllt. Auf dieſe Weiſe if etwas von bem, was früher bie 
Fe ie Wlgemeinen Zeitung faft ausſchlleßlich voraushatte, in jebes größere 
zuge Aa übergegangen, nicht das Wenigfte aber allerdings auch in die oben- 
— beiden, welche tie Novelle am eifrigſten pflegen. 

Yon dem Leitartikel Könnte man kaum fagen, baß er in biefem ober jenem 
Tdeut von Deutſchland bauernd eine beſonders erfolgreiche Pflege gefunden habe. 
Hier Birtuofen find bald hier, bald dort aufgetaucht; feiner verdienten Veteranen 

es an mehr als Einem Plage. Die Leiftungen Berlins in dieſem Bade ent- 

ven der Gefammtheit nah kaum der ‘überragenden Bedeutung ber Stadt. In 
Wien wird ohne Bergleih glänzender und darum doch ſchwerlich minder gebiegen 
efhrieben. Ein politiſches und publleiſtiſches Talent erften Manges ft an der 
Beerzeltung feit beren Begründung (1845) thätig. Blätter mie bie Kölnifdhe 
Zeitung, die Deutſche Allgemeine Zeitung, bie Nationalgeltung, die Bollszeitung 
und die Kreuzzeitung haben fid vorzugswelfe durch ihre Leitartifel Ruf erworben 
und fuchen venfelben buch fortvauernde Pflege dieſes Elements aufrecht zu er- 
halten, Die Leitartitel des Dresdener Journal las man früher befonders begierig 
ihres präfumtiven Autors halber, des Heren dv. Beuſt; den nämlihen Kurs nud 
Krebit verſchaffte der Karlsruher Zeitung eine Zeit lang Freiherr v. Roggenbach. 
Sonft aber ift der Antheil, den altive Stantsmänner und Politifer an den Here 
vorbringungen ber Tageöpreffe nehmen, in Deutſchland gegenwärtig kaum fo groß 
und lebhaft, wie ſchon im vorigen Jahrhundert periodifh in England. 

Gleichwohl wird heutzutage ſchlechterdings Niemand mehr von fi annehmen 
ober ausfagen, er ſei zu gut, um in Zeitungen zu ſchreiben. Diefe Geringihägung 
des journaliftiihen Berufs, die vor 1848 beinahe allmächtig, nad; 1850 wieder 
ziemlich ftart war, If feit dem Wiedererwachen bes öffentlichen Lebens ber Nation 


, Zeitungsweſen. 291 

im Jahre 1859 fo gut wie verſchwunden. Mit der größeren Freiheit und der 
gewachſenen Theilnahme des Volles hat fi der Charakter der Prefle ſowohl in 
fich ala in der allgemeinen Achtung mit jebem Jahre mehr gehoben. Die deutſchen 
Sonrnaliften haben den provibentiellen Uebergang von einer bloß gebulteten zu 
einer leitenden und hoch refpektirten Stellung im Leben mehr als zur Hälfte zu- 
rüdgelegt. Je größere und allgemeinere Beachtung ihrer Thätigkeit gezollt wird, 
deſto ſicherer finlen nie umzulänglihen Zalente und vie bedenklichen Charaltere, 
der Mangel an Wifien, Bildung und Tüchtigfeit in die unterften Reihen binab, 
Ratt daß fie fi fräßer mit den Befähigteren unterſchiedslos mifchten. Wir hören 
denn feit geraumer Zeit auch nur in Ausnahmefällen noch gegen Einen von ihnen 
. ven fchmählichen Berdacht ver Beftechlichleit äußern, ven einft faft Iebermann 
gegen fie Alle ohne Ausnahme im Herzen und auf der Zunge hatte. Die Welt 
bat aufgehört, den Tagesfhriftfteller als einen Menſchen anzufehen, der nichts 
beſſeres gelernt hat. Die Prefie ift nicht mehr der Ießte immer offene Zufluchtsort 
für gewaltfam abgebrohene Carrieren. Ihre Anfprühe an die Leiftungsfähigleit 
Komsidaten fiab umgelehrt nachgerade ber Art geworben, baß ein empfind- 
licher Mangel an Nachwachs bemerklich wird, und daß man im Schooße des Standes 
ernſtlich überlegt, wie man ihm nad dem Vorgange ber meiften andern Berufs⸗ 
fände einen regelmäßigen, augemefien vorbereiteten Zufluß junger Kräfte verfchaffen 

nue. 


Zur praktiſchen Aufnahme foldher und anderer Standesintereffen ift im Jahre 
1863 zu Frankfurt aM. ein Iournaliften-Berein ind Leben gerufen werben, der 
ſeitdem nod zweimal getagt und in verſchiedenen Richtungen ver ſtockenden Ent⸗ 
widelung einen Anſtoß zu geben verjucht bat. Da er die Verleger mitumfaßt, fo 
bilden eigentlih mehr die Angelegenheiten ver Zeitungen, als biejenigen des 
Staubes ber Zeitungs⸗Macher und Schriftfteller feinen Gegenſtand. Es find denn 
and von vornherein hanptſächlich folde ragen wie ter Bezug vou Telegrammen, 
die Beförderung der Zeitungen buch bie Poft, die Preßgeiehgebung, der Nach» 
druck u. f. w. auf die Tagesordnung gelangt. Der Telegraph wirb diesſeits des 
Atlantiſchen Meeres durchweg von den Zeitungen nicht entfernt fo ſtark benust 
wie jenfelts. In Deutſchland aber dürften zwei Umftände auf dieſe Seite des Zei⸗ 
taugäwejens bald mächtig fürdernd einwirken: bie gegenwärtige Derabfegung ber 
Gebühren durch ganz Preußen und bie fleigende Koncentration der norddeutſchen 
Brefle in Berlin. Daun wirb vorausfichtlich der lähmenden Abhängigkeit, in wel- 


her fi die Blätter groß und Hein gegenwärtig von den weniger konkurrenz⸗ 


iofen Telegraphen-Bnreaus befinden, ein Ende gemacht werden. Zeitungen erſten 
Ranges werben vielleicht für fi, andere gemeinſchaftlich ihren befondern Tele⸗ 
graphendienfi organifiren. Dann wirb ber Uebelſtand aud eher abzuftellen fein, 
daß bier nnd da Lokalblätter von großer Verbreitung die Depefchen der großen 
Rahbarzeitungen unmittelbar nach deren Ausgabe fhon fi aneignen ohne Ent- 


In das Gebiet ver Zeitungen, wie eng man es auch umgrenze, fallen nicht 
blos Tages⸗, ſondern zugleich einige Wochenblätter. Auf neue Nachrichten legen 
biefe freilich erftärlicher Weiſe melftens gar Fein Bewicht, enthalten fi folglich 
überkanpt, mit den überlegenen Tagesblätter in dieſer Hinficht zu wetteifern; auch 
iR der Anzeigeverlehr in ihren Spalten durchſchnittlich unbedeutend. Ihre Domäne 
it der Leitertilel und das (nicht novelliftiiche) Feuilleton. Sie beiprehen die Er- 
eigniffe der Woche theils in einer fortlaufenden regelmäßigen Ueberſicht, theils in 
einzelnen eingehenden Artikeln. Neuerdings haben einige Tagesblätter, zuerft bie 

19? 


1 


292 Zeitungswefen. 


Weferzeitung, dann bie Allgemeine Zeitung und die Kolniſche Zeitung begounen, 
nad ameritanifcher Weiſe ven dauernd werthuollen Inhalt ihrer täglichen Num⸗ 
mern in eine Wochen-Ausgabe zu fammeln, die hauptſächlich für pas fernere Ausland 
beftimmt ift. Bei der großen Zahl von Deutfhen, welche in fremden Ländern verſtreut 
leben und deren Interefie an ven heimatlichen Vorgängen im Lauf der letzten 
acht, neun Jahre ſtark zugenommen hat, iſt diefes Verfahren noch großer Aus⸗ 
breitung fähig, und bat ſich durch den Erfolg auch bereits volllommen gerechtfertigt. 

Den kräftigen allgemeinen Aufſchwung, in welchem das deutſche Zeitungg- 
weien vermalen begriffen ift, haben wider Willen auch die Regierungen anerlannt, 
indem fie eigene Bureaus geſchaffen haben, um bie Preſſe theils zu beobachten, 
theils nad Möglichkeit zu leiten. Der erſtere Zwed iſt ohne Zweifel ein durchaus 
legitimer, in einem wahren Bedürfniß begründeter. Zweifelhafter und beftrittener 
ift der andere Zwed. In England, Amerika und ber Schweiz gibt es nichts der⸗ 
gleichen. Es ſcheint alfo, daß man in freien Staaten der Preßbureaus völlig ent- 
rathen kann. Gleihwohl läßt fih eine Behandlung der Sache venfen, die den 
materiellen Werth ver Preffe zu erhöhen dient, ohne ihren politifcgen Charakter zu 
beeinträchtigen. Unſer Zeitungswefen tft noch lange nicht entwidelt genug, um 
glei der Times in der Gewinnung frifher und zuperläffiger. Nachrichten von 
wichtigen Ereignifien der Stantsgewalt den Rang abzulaufen. Daß dieſe alfo das 
Mittheilbare von den ihr zugegangenen Neuigkeiten oder von ihren eigenen Alten 
der Preſſe Tag für Tag zur Verfügung ſtellt, ift an fi nur erwänfdt, weil im 
Interefie des Publitums und fogar des Stadtes ſelbſt. Aber es wird bedrohlich, 
wenn es zur Weflelung der fo begünftigten Blätter oder Korsefponventen au vie 
augenblickliche Regierungspolitif benutt wirb. Auf der andern Geite fann man es 
wieder einer Regierung kaum verbenten, wenn fie den Vortheil ihres: Neuigkeits⸗ 
Materials Zeitungen mißgönnt, welde fi ein tägliches Geſchäft daraus machen, 
fie auf Tod und Leben anzugreifen. Hier muß ein praftifcher. Talt vie Scheide 
inte ziehen und die Ausbildung des parlamentariſchen Partetlebens, welche bald 
biefe, bald jene Richtung ans Ruder bringt, einen gewiſſen Einblld in die Regionen 
der ſchaffenden Politit aber mehr oder minder auch ber Oppofitions-PBarteien ge⸗ 
währt, die Zeitungen vor der Verſuchung bewahren, ihre politifhe Unabhängigkeit 
gegen friſche Nachrichten zu verlaufen. Je mehr ſich das Zeitungswefen in Deutſch⸗ 
land überhaupt ausbildet und Tonfolibirt, deſto geringer wird die Gefahr ver 
fogenannten officlöfen Korrefponbenzen. Die Redaktionen gewinnen die Kraft, ihnen 
gegenüber volle Selbftändigkeit und das Regiment im Haufe zu halten; ver Leſer 
Sn den Vogel an den Federn kennen und hört feinen Lodtönen mit kritiſchem 

re zu. | | 

Der zunehmende Großbetrieb im Zeitungswefen bat es, verbunden mit bem 
meift niebrigen Wuchs der einzelnen Eremplare, in Deutſchland ‚fo mit fi ge 
bracht, daß die hanbfchriftlic-finguläre Korrefpondenz in zunehmendem Umfange 
von autographiſch gebrudten Kollektivlorrefponvdenzen verbrängt wird. Namentlich 
an den Sammtelplägen politifher Vorgänge und Nahrichten wie Berlin, und vor 
allem in Betreff ver Yandtagsberichte, hat fich dieſe Form bereits zur herrſchenden 
gemadt. Auch ihrer hat ſich die Regierungsfunft bemächtigt, zuerft in Wien, dann 
ebenfalls in Berlin. Die dort erfcheinende eingeſtändlich officidfe Provinzialforre- 
fponvdenz iſt zu einer Art europäifcher Berühmtheit gelangt. Aber freilih nur 
etiva fo, wie der Moniteur zur Zeit des erften Napoleon. Wenn eine Regierung 
alle Übrigen durch raſtloſes und erfolgreiches Handeln überbietet, fo ift es kein 
Wunder, wenn die Menfchen mit immer reger Neugierde nach dem Organe aus 


Bettelbaukwefen. 298 


feben, das wöchentlich einmal entweder ihre letztvollbrachten Thaten und gefaßten 
Beſchlüfſe oder die ihr zunädft vorſchwebenden neuen Plane der Welt enthüllt. 
Das Preftige der Berliner Provinziallorrefponvdenz ſcheint feinen höchſten Punkt 
bereits hinter fi) zu haben; es war größer, ba bie —A— noch ſo gut wie 
ganz allen handelte, als ſeitdem ber Reichstag in gewiffen Grenzen mitwirkend 
neben fie getreten iſt. 

Im Allgemeinen darf man behaupten, daß das beutihe Zeitungswefen ver 
Ration feine Unehre macht und fih ein namhafter Theil des deutſchen Fühlens, 
Denkens und Wollens tagtäglih in feine Kanäle ergießt. Es bedarf auf den 
Höhen noch ſtärkerer Koncentration ber Kräfte, um hinter der Prefle anderer 
Länder nicht zurückzubleiben, in ven Tiefen der Befreiung von einer veralteten 
Regierungs= und Behörben-Konkerrenz, damit fi auch bort ein reges kraftvolles 
Geiſtesleben der. Preffe bemächtige, in allen Schichten aber einer grünblichen Um⸗ 
geftaltung ber die Prefle betreffennen Gefepgebung und Polizei, die von bem Ge⸗ 
ſichtspunkt beherrichtfein muß, daß die Zeitung feinen vollberechtigten Platz zwifchen 
Schule und Vellävertretung einnimmt und nur dieer einfahen Unerfennung be- 
— dem Gemeinwohl noch viel werthvollere, umfaffendere Dienſte zu leiſten, 

er. 

Literatur: R. E. Prutz, Geſchichte des deutſchen Journalismus, erſter 
Theil 1845 (ber zweite iſt nie erſchienen). — F. Knight-Hunt, The Fourth 
Estate, contributioms towards a history of newspapers and of the liberty of 
tbe press, 2 Bünde. London 1850. — E. Hatin, Histoire de la. presse en 
Franoe, 8 Bänbe. Paris 1869-1861 und Bibliographie de la presse p6rio- 
dique frangaise. Paris 1866. Zammers. 


Bettelbantweien. 


i. Begriff der Zettelbank. VI. De Staat und das Zettelbankweſen. 
i. Die Entwicklung des Bankweſens und die Vil. Das Berhalten des Staats zur Banknote. 
Stellung, welde die Zettelbant in viefer Unt- VII. Das Berhalten des Staats zur Gefchäfts- 


wicklung einnimmt, führung der Zettelbanken. 

IH. Die Banknote und ihre volls- uud lande IX. Das Verhalten nes Staats zur Errichtung 
wirthſchaftliche Funktion. von Zettelbanten. 

IV. Notenpedungsfuflenm. X.  Grunpfäge der Zettelbankpolitik. 


V.  Notenausgabe und Diskontogefihäft. 


I. Begriff der Zettelbant. 

Zettelbant (bank of issue, banque d’Emission) Heißt diejenig 
Bank, welde mittelft Ausgabe (Emiffton) von Banknoten Krebit auf 
nimmt. Zum richtigen Verſtändniß des Zettelbanfweiens gehört baher die Ein- 
fiht in die Bebentung des modernen Bankweſens, in welchem bie Zettelbanf eine 
befondere Aufgabe und Stellung Hat, fowie die Kenntniß der Funktion der Bank⸗ 
uote im Verkehr und des Verhältnifies ver Banknote zum Gelbe und zu ben übri- 
gen Krebitumlaufsmitteln. Auf dieſe beiden Punkte wird im Yolgenden zunächſt 
eingegangen werben. Zur vorläufigen Würbigung obiger Begriffsbeftimmung ver 
Bettelbant ſchicken wir nun fchon bier voraus, daß wir unter Banten im 
modernen Sinne des Worts, melden man auch in dem zufammengefeßten Worte 
„Zettelbant” vor Augen bat, Trepitvermtttelnde wirthſchaftliche Unter⸗ 
uehmungen verſtehen, weldhe Kredit aufnehmen, mit der Abfidht ihn 
weiter zu begeben. Die Bettelbant als eine beſondere Art von Banken nimmt 
dann eben Srevit mittelft Ausgabe von Banknoten auf, d. 5. mittelſt An- 


294 Settelbankwehen. 


weifungen ter Bant auf ſich ſelbſt, welde auf Sicht au ten Ucher 
bringer zahlbar finy unr gewohnheitsmäßig anf runde Beträge 
Gelrt lauten. 


üblih. Es if übrigens beachtenswerth und wird gegemwärtig oft zu ſehr wer- 
gen, daß zwiſchen den Geſchäften ver BVerfiherungs- umb ber meiften anberen 

anten eine bebeutfame innere Berwandtſchaft befteht, welche wechſelſeitig zur 
Erklärung mancher Geſchaͤftsgrundſaätze vient. 

Ale übrigen Banken insgefammt hat man gegenwärtig beim Gebraud) des 
Wortes Bank in der Regel vornehmlich im Sinne. Gerade hierin aber fiegt noch 
viel Verwirrendes, denn auch dieſe „Übrigen Banken“ unterſcheiden ſich weſentlich 
von einander, wenn fie aud einen gemeinſchaftlichen Ausgangspunkt haben und 
vie betreffenden Geſchäfte no heute mitunter von ein und berfelben Unternehmung 
gleichzeitig betrieben werben. Diefe Banten zerfallen nämlich wiederum ber Haupt- 
ſache nad in zwei große Klaſſen, in ſolche, welche Geldgeſchäfte und in foldhe, 
welche Kreditgejchäfte machen. Auf vie legtere Art von Unternehmungen würde 
gegenwärtig der wifjenfchaftlihe Terminus Bank wohl am paffendſten zu befchrän- 
ten fein. Sonft empfiehlt fi etwa auch die freilich wicht ganz unzweibentige Be⸗ 
zeichnung Geldbanken und Kreditbanken over ältere und neuere (moberne) 
Banken zum Zwed der Unterſcheldung. Das volkswirthſchaftlich und kulturgeſchicht⸗ 
lich Wichtige und Intereffante ift nun, diefe beiden Arten von Banken von ihrem 
gemeinfamen Ausgangspunkt aus, ferner die Entwicklung der Kreditbanken ans 
den Geldbanken heraus zu verfolgen und auf dieſe Art die weſentliche Verſchie⸗ 
denheit beider Arten von Banken und insbefonvere die bentige Stellung und Be 
bentung der Krebitbanlen richtig zu würdigen. Die meiften und widtigften Streit- 
punfte über das Kreditbankweſen überhaupt erlangen hierdurch ihre richtige Löſung. 
Aber auch jede einzelne Art der Banken, wie namentlich die Depoflten- und bie 
Zettelbank, welche zur Älteren Depofitenbant im Berhältniß der Tochter, zur modernen 
im Verhältniß ber Schwefter fteht, Täßt fi) nur im Zufammenhang dieſer Ent- 
widlung des Bankweſens richtig beurtbeilen. Rur fo gewinnt man den Stand⸗ 
punkt, die Zettelbant nicht, wie meiftens Fälfchlich geſchieht, nur in ihrer Sonder. 


Settelbankmwefen. 295 


art oder gar gänzli iſolirt als eine Art Zanbermittel zur Hebung des Krebits 
and Bollswohlftands oder umgekehrt als eine höchſt gefährliche, nothwenbig bem 
Mißbrauch ausgefegte, mehr wie irgend eine andere Bank Ueberſpekulation und 
Handelskriſen, Schwindel und Zerrättung beförbernde oder felbft hervorrufende 
Einrichtung zu betrachten. Nur fo erfcheint die Zettelbanf vielmehr als eine der 
verfchievenen modernen Banken, welde fih alle aus dem älteren Geldbankweſen 
in wefentlich gleihartiger, nur formell verſchiedener Weife entwidelt haben, baber 
jehr viel Berwandtes, feinen grundfägliden Vorzug oder Nachtheil vor einander 
befigen, ſondern jete einzeln beftimmten Bebürfniffen der Kreditwirthſchaft ent 
iprehen. M. a. W. die Zettelbant wird bei dieſer Auffaffung ein Glied in der Kette 
der modernen Krebitinftitute. Die vielen, noch immer nicht vollftänbig erlebigten 
Kontroverfen über das Zettelbanfwefen empfangen unferes Erachtens nur fo ihre 
richtige Beantwortung. Daraus ergiebt fi für uns die Nothwenbigfeit, einige 
Punkte ver allgemeinen Entwidlungsgefchichte der Banken und der allgemeinen 
Theorie des Bankweſens in dieſen Specialartifel über Zettelbanten bineinzuziehen, 
obgleid, das Stantswörterbuch bereits im Bd. 1 (S. 651—659) einen allgemeinen 
Artikel Banken aus anderer Feder gebracht bat. 

In der Entwicklungsgeſchichte ver Banken hat man diejenige des Aktiv⸗ ımb 
des PBaffivgefhäfts zu unterfcheiten. Der Urfprung der Banken iſt der Geld⸗ 
oder Münzwehfel, in Verbindung bamit der Handel in ungeprägten edlen 
Metallen. Im Mittelalter und bis faft In das 19. Jahrhundert hinein mußte 
diefes beſonders von Italienern („Lombarden“) und Juden betriebene Geichäft 
große Bedeutung haben und lange Zeit großen Gewinn abwerfen können, weil 
bie zahllofen Munzrechte und die daraus fowie aus der Auffaffung und Aus⸗ 
augung des Münzregals als Finanzregal hervorgehende große Mannigfaltigkeit 
der Münzen, die ſchlechte Münztechnik, die flantlihe und private Falſchmünzerei 
und Münsfälfhung, die Unfähigfeit des Publitums zur Prüfung der Münzen, 
weil biefes und anderes mehr eine Kontrole der Münzen durch Sachverſtändige 
und bie Gelegenheit zum leichten Auswechfeln ber Münzen fehr nothwendig machte. 
Der Gewinn der Bank over des Banquiers und Geldwechslers beftanb in dem 
Abzug bei der Annahme und dem Zufhlag bei ver Weggabe ver Münze, 
Er war eine Verwechslungsgebühr oder Provifion. Das Gefhäft wurde anfangs 
wohl meiftens mit eigenem Kapital getrieben, weldes zu dem Zwed aber in 
Münzen und edle Metalle geftedt war, d. h. in vie ſchlechtweg in der Geldwirth⸗ 
ſchaft disponibelfte Kapitalform, in das „Kapital für alle Berwenbungsarten“. 
Diefer Umftand und das natürliche Streben, den Geldvorrath möglichft lukrativ 
zu verwenden, namentlid ben etwa zeitweilig im Verwechslungsgefhäft disponiblen 
Theil nicht ganz brach liegen zu lafien, führte wohl frühzeitig zur Verbindung 
des Reibgefhäfts auf kurze Friſten mit dem Geldwechſel. So ent- 
fland eine erfte Art von Krebitgefhäften als ein Aktiv geſchäft der alten Gelbbant, 
d. h. als ein Gefhäft, in welchem die Banf Gläubiger war, frebitirte. Diefes 
Aktivgefhäft mußte wegen der Erforbernifie des Geldwechſelgeſchäftes ſchon ebenfo 
geleitet werben, wie noch jet wegen bes fpäter Hinzulommenden Ba fft vo geſchäfts 
der mobernen Banken alle Aktivgeſchäfte der letzteren, nämlih mit maßgeben- 
der Rückficht auf die wieder zu erlangende Disponibilität der ausgelichenen Gelb- 
fummen. Neben ver Siherheit der Ausleifung kam die Realifirbar- 
feit, und zwar in dieſem Falle die leichte und ſchnelle, d. h. vie jeberzeitige oder 
die in kurzer Frift zu bewerkftelligende Nealifirbarkeit in Betracht. Das iſt ein 
leitender Berwaltungsgrundfag der Depofiten- und Zettelbanfen geblieben, Das 


294 Settelbaukwefen. 

morerungen fchon entfpredhem. 
weifungen der Bant auf ſich felbft, w „a Namen auf feinen Urfprumg 
bringer zahlbar finvy und gemohn! y,cuibung ber Bank auf Fauft⸗ 
Selb lauten. „2036 wohl auf Oegenftände hoben 
„ x sreimetall, welche man nicht definitiw 

I. Die Entwillung ‘ Silbergeräth u. a. m. Die Rechtsun⸗ 
welche die Zettelbauk in dı Sıefe bat auch das zweite Gejchäft der 

Das Wort Bank, Banke andelmit Wechſeln, vwelcher fich aud 
Theil auch in den andere ı: eignete. Auch diefes Geſchäft hat fich theils 
ſchiedenes, was ehedem iv Sorm ber fog. Dislontirung, d. h. des 
fame, welches noch ge. ”' .nfsiferberung gegen Abzug des Dislonts erhalten, 
Verbindungen, wie "zug bis zur Fälligkeit behielt und alsdann einfaffirte 
klingt, war ta3 „arı find die typiſchen Hauptformen der kurzfriftigen Aktiv, 
früher vielfad * _ Im einen Ball ſicherte der Befig und das bebingte Ber⸗ 
jelbftändig u ° .,.ss, im anbern bie firifte Verpflihtung nah Wechfelreht und 
der verſchi Weiterbegebung (Girirung, Indoffirung) des Wechſels die noth- 
Bant. *. ae Xealifirbarfeit der Ausſtände oder Aktiva. Andere Ausleihungen 
Benni PR N Obligation, gegen Buchſchuld, gegen Bürgihaft und gegen 
vo Nee Berpfänbung von Immobilien, boten dem alten Geldwechsler wie 

nn Depofiten« und Zettelbanf, wenn aud aus verſchiedenen Gründen 

> "niet Sicherheit und Bequemlichkeit und blieben daher ehemals wie jet 
dt in der Regel aus dem Aktivgeſchäft ausgefchloffen. Nur etwa das Ber- 
Ä efhäft im Verkehr mit Schulppofumenten, wobei bie Bank nicht auf 

Zeit Krebit gab, trat zum Wechſelhandel hinzu. Auch darin bereitet ſich vie 
Gutwidlung zur modernen Bank, deren Aufgabe die Krebitvermittlung war, vor. 

Die Entwidlung der Volkswirthſchaft felbft beförverte dann gleichzeitig das 
allmälige Zurüdtreten des bloßen’ Geld- und Münzwedfel- und das Hervortreten 
des Leihgeſchäfts. Denn mit den Wortfchritten des Münzweſens und ber Vers 
breitung einer richtigen Münzpolitit wurde das Bedürfniß ber Dtünzvermechstung 
allmälig geringer. Ja, es iſt ein Zeitpunft voraus zu fehen, wo innerhalb der 
civilifirten Welt bei gemeinfamer Währung und einheitlihem Münzfuß und bei. 
fireng beobachteten internationalen Dünzverträgen das reine Geldwechſelgeſchäft 
mit Ausnahme von Papiergelvlänvern faft ganz fortfallen Tann. Dagegen wurbe 
das Leihgefchäft der Banken mit der Entwidlung des Probuftiofrenits, der größeren 
Nechtöficherheit, ver vermehrten Arbeitstheilung immer wichtiger. So erflärt ſich 
der Uebergang vom Kauf- und Tauſchgeſchäft ver Geldwechsler ober der alten 
Geldbanken zum Krebitgefhäft der modernen Banten. 

Diefes Geſchäft konnte und kann an fi) noch jegt bloß mit dem eigenen 
Kapital der Bank betrieben werden. Doch wird dann bei dem gewöhnlich niebri- 
gen Leihzinfe, zumal demjenigen für kurzfriftige Darlehen im faufmännifchen Ge- 
Thäfte, dem fog. Dislonto, fhwer auf eine genügende, d. 5. dem Durchſchnitts⸗ 
gewinn andrer Geſchäfte gleichlommende Berzinfung biefes Kapitald zu rechnen fein. 
Sobald einmal das Kapital durch den Geld- und Münzwecfel allein nicht mehr 
gehörig rentabel gemacht werben konnte, mußte ber foeben angebeutete Umſtand 
daher noch eine weitere Entwidlung anbahnen, auf welche gleichzeitig auch andere 
Bepürfniffe in der Volkswirthſchaft hindrängten. Die Bank begann nämlich felbft 
Kapital, mit dem Zwecke der Wieververleihung vesjelben, aufzunehmen. Zu ven 
Ativgefhäften traten Bafftogefhäfte, deren allmälige wahrhaft großartige 
Entwidlung dann eıft die Borbebingung für eine dem Verkehrsbedürfniß entſpre⸗ 
chende ähnliche Entwidlung der Altivgeſchäfte wurde. 


ME er — 


Lettelbankmwefen. 297 


Die erſten und einfachſten Baffivgefchäfte, in welchen alſo die Bank Schuldner 
war, entſtanden ſelbſtaͤndig, traten aber wohl frühzeitig in Anſchluß an das Geld⸗ 
wechjel- und Gelpverleihgewerbe. Für die erfte Entwidlungsftufe diefer Gefchäfte 
fann man den Ausdruck Pafflogefhäft auh nur nah dem Sprachgebrauch ber 
boppelten Buchhaltung anwenden, wo gemäß der Fiktion einer vom Chef getrenn- 
ten Geſchäftsperſönlichkeit nicht nur die angeliehenen, alfo geſchuldeten Sum- 
men, ſondern auch das eigene Kapital des Geihäfts und ferner nidt nur 
biefe beiden Beträge, fondern and bie als eigentliches Depofitum hinterlegten 
Berthe in das Paſſivum geftellt werben. Der Beginn dieſer Pafflvgejchäfte war 
nämlich die Annahme von Edelmetall in Münz- und Barrenform ale eigent- 
lich es (juriftifhes) Depofitum oder, wie man in der Bankfpradhe fagt, als 
Depofitum zur Aufbewahrung. Die Bank war hier nur Depofitar 
mit den gewöhnlichen Berpflihtungen, nicht Gläubiger, durfte das Hinterlegte alfo 
auch nicht ausleihen. | 

Diefes urfprünglich älteſte Depofitengefhäft hat in ten volkswirthſchaftlichen 
Mittelaltern fiberall, und wo dieſe vorhanden find, noch jetzt eine durch die ob» 
waltenden Berhältniffe leicht erflärliche VBeveutung. Geringe Rechtsficherheit, un- 
ausgebildetes Feuerverſicherungsweſen gefährden bie Kaffenvorräthe, welche zumal bei 
der Gefhäftswelt bei noch fehr unentwicelter Kreditwirthſchaft relativ viel größer 
als fpäter fein müſſen. Dan fucht alfo nah Gelegenheit zur ficheren Aufbe⸗ 
wahrung, welche gerade die Geldwechsler am Beften bieten Können. Letztere eignen 
fi in Zeiten ſchlechten Münzweſens um fo mehr zur Uebernahme fremder Gelber, 
weil fie zugleih durch Ihre fachverftändige Kontrole vor Berluften an Münzen und 
edlem Metall fihern können. In ähnlicher Weife konnte das Goldſchmiedgewerbe, für 


welches das edle Metall konkretes Kapital ift, paffend die Depofitenannahme mit feinen 


andren Gefchäften vereinigen, wie denn wiederholt der Uebergang vom Goldſchmied⸗ 
zum Banfgewerbe auch noch in der Neuzeit vorgelommen iſt. Namentlih in Eng» 


land ift diefe Entwidlung im 17. Jahrhundert häufig geweſen. Endlich konnten 


aber auch noch Stantsbehörden oder befondere Öffentliche Anftalten zur Empfang- 
nahme von Depoflten zur Aufbewahrung dienen. Dan weiß freilih, wie in Eng- 
land Karl I. und II. in diefer Beziehung das in ven Öffentlichen Schat gefette 
Bertrauen täufchten. ' 
Die weitere Entwidlung dieſes älteſten Depofitengefhäfts war dann zwar 
fpäter eine etwas verjchtebene bei den Geldwechslern, Goldſchmieden und ähnlichen 
Berfonen einer» und bei befonveren öffentlichen Depofttenanftalten andrerſeits. 
Indefien die erfte Stufe der Weiterentwiflung iſt beiden Arten von Depofitaren 
gemeinfam und felbft die fpätere Berfchtedenheit ift häufig überſchätzt worden, wo⸗ 


von aud für die Frage nach der inneren Berechtigung des Zettelbanfwefens Alt 


zu nehmen if. Es wurde nämlid bei den Wechslern üblich, bei den befondern 
öffentlichen Anftalten auch wohl von vornherein fo eingerichtet, daß die Depofiten 
bei dieſen Depofltaren nicht einfach ruhten, bi8 fie von den Deponenten für 
Zahlungen u. f. w. berausgezogen wurden, fonvern die Zahlungen der Deponenten 
unter einander wurden in verfelben Bank durch einfache Umfhreibung — 
Girirung — in den Kontis, bei verfchiedenen Banken etwa aud dur Aus⸗ 
zahlung der Depofiten von einer Bank direkt an die andre oder mittelft beſondrer 
Abrehnung unter diefen Banfen — der Keim ber fpäteren fog. Clearing - 
Honſes — bewerkftelligt. Auf dieſe Welfe wurde die Törperliche Bewegung bes 
Geldes in vielen Fällen ganz erfpart und ein ebenfo einfacher, als fidherer und 
bequemer Zahlungsmodus durch da8 fog. Girogefhäft gewonnen. Der Ge 


ud 


298 Settelbankwefen. 


winn der Bank — bei Öffentlichen Anftalten, ben nunmehr nad jenem Ge- 
ſchäft genannten Girobanken, in erfter Linie die Geſchäftskoſtendeckung — 
gieng aus Proviſionen hervor, welde theils für die Aufbewahrung, theils 
für die Zahlungsleiſtung, in legterem Falle in manchfach verſchiedener Weife, 
z. B. durch eine fefte Gebühr für jeves Folium des Konto, durch eineg Keinen 
Abzug bei der Gutfchrift des eingelegten Geldes (Hamburger Girobanf) erhoben 
wurden. Diefer Gewinn entfpriht no ganz dem Gewinn beim Münzwedfel, 
auch er iſt noch nicht Zins wie in den eigentlichen Kreditgeſchäften. 

Alsdann gieng die Entwidlung bei ven Geldwechslern und bei den Giro- 
banken auseinander, wenn fie nicht bei den letzteren etwa völlig ſtehen blieb, — 
was harafteriftifh genug mehr im Princip als in Prari (Bank von Venedig, 
Amftervam, Hamburg) gefhah und dadurch indirekt einen Bcleg mehr für die grund- 
fägliche Berechtigung des modernen Kreditbankweſens liefert. Die eigentliche Girobank 
nämlich hält am wirklichen Depofitum und an der Umfchreibung ver Giroeinlagen feft, 
leiht feinen Theil ber empfangenen Gelber fort, bat alfo ſtets ben ganzen Betrag 
ber Einlagen und darüber hinaus etwa nod ein eigenes Garantiekapital oder einen 
aus den Bezügen angefammelten Reſervefonds Baar vorräthig. Sie iſt demgemäß, 
wenn nicht Unterfchleif oder Beraubung vorgefallen find, jeden Augenblid im 
Stande, fämmtlihe Einlagen auf Berlangen auf einmal herauszuzahlen. Diefe 
„abfolute Sicherheit der Einlagen” gilt bei den Freunden der Girobank für ben 
großen Vorzug der leßteren vor allen Kreditbanken, insbefonbere vor ven modernen 
Depofiten- und Zettelbanten. Indeſſen iſt felbft vom einzelwirthfchaftlihen Stand- 
punkte des Deponenten aus biefer Borzug nur ein bebingter, durch oft größere 
Nachtheile erfaufter, für die Volkswirthſchaft überwiegt vollends ver Nachtheil. 
Und ferner beweist felbf die Entwicklung ver berügmteften und foliveften, zugleich 
ber einzigen heute noch als ſolche beftehenden Hamburger Girobank von. 1619, 
daß man bie ftete vollftändige Bereithaltung der eingelegten Summen und die ge- 
. priefene „abfolute Sicherheit” ohne irgend erhebliche thatfächlihe Gefährbung ver 
Deponenten fehr wohl entbehren, m. a. W. eben doch mit gutem Gewiſſen zum 
mobernen Bankweſen übergehen darf. Auch die Hamburger Bank, deren Währung 
feit 1770 belanntli ein feſt beftimmter Gewichtstheil des allein als eigentliche 
Einlage angenommenen reinen Stiberbarrens iſt, — es iſt übrigens unrichtig, 
mit Rau u. 9. zu fagen, zur Bolllommenheit einer reinen Girobank gehöre eine 
befondere Banfwährung, welche blos durch eine gewiffe Metallmenge bargeftellt 
werde — giebt nämlih Vorſchüſſe auf Gold, andere Münzforten, felbft Kupfer, 
aus den bei ihr hinterlegten Silberbarren. Damit ift das Princip der alten 
Girobank ebenfalls aufgegeben, denn fo gering aud die Wahrfcheinlichleit ift, daß 
alle Einlagen in Mark Banco auf einmal herausgezogen werben und fo fiher aud) 
das hinterlegte Pfand feiner Natur nad) ift: immerhin Tiegen die Einlagen nicht 
wirklich volftändig in derjenigen Form des Edelmetalls da, in welder fie 
verlangt werden können. Das aber ift die Eigenthümlichkeit gerade bes Krebits 
bankweſens. Infofern tft die Berfchiedenheit der Girobank mit ihren Depofiten 
zur Aufbewahrung, wie gejagt, body nicht fo groß, als man oft annimmt, von 
den Fällen der venetianifhen (von 1584) und der Amſterdamer Banf (von 1609) 
ganz abgefehen, deren Einlagen zum Theil im Geheimen wiverrehtlih als An⸗ 
leihen in die Hände der Regierung übergingen, ohne daß bie Banken anders als 
in Folge befonverer viel fpäterer Kataftrophen infolvent wurden. 

Bei ven Geldwechslern, Goldſchmieden u. |. w., welche Depofiten zur Auf 
bewahrung oder gleichzeitig zur Umſchreibung annahmen, bildete ſich das Gefchäft 


Settdbankwefen. 399 


in ber Welfe weiter, daß jene Depoftten in folhe zur Benutzung, bie eigent 
lichen Depofiten in Darlehen, der Regel nah in Darlehen auf beftimmte 
knrze Friſten oder auf fofortige Rückzahlung nad Verlangen übergiengen. Da- 
durch vollzog fich die Entwicklung der alten Geldbanken zu den modernen Krebit- 
banten. Waren vie Depofiten einmal Darlehen geworben, fo mußten mit Innerer 
Rothwendigkeit die moderne Depoflten-, Kontotorrent- und Chedbank mie andrer- 
feits die Zettelbant fi) ans dem alten Bankweſen heraus entwideln. Wahrhaft 
epohemachend war nur der Uebergang des Depofitums zum Darlehen. Mit ber 
Berechtigung desfelben wirt Impiicite auch die Berechtigung des ganzen neueren 
Bankweiens zugegeben. Die weiteren Entwidlungsphafen des Ietteren, bie an- 
faͤnglich und fpäter 5i8 zum gegenwärtigen Augenblid miteinwirkenden Einflüſſe, 
welche die Fortbildung zu Wege brachten, der Wegfall der Aufbewahrungsgebühr, 
bie Bezahlung der Dienfte der Bank dur Ueberlaffung der Benutzung eines un⸗ 
verzinolichen Kapitals, die immer weitergehende Theilnahme der Deponenten ober 
Darleiher an dem jegt vornehmlich ans Leibzinfen beftehenden Geſchäftsgewinn 
ver Bank, z. B. in der Form unentgeltliher Beſorgung von Inkaſſogeſchäften für 
die Kunden Seitens der Bank, fpäter in der Form einer alimälig ſteigenden Ber- 
Anfung der Einlagen, felbft der anf fofortige Zurücknahme hinterlegten, dieſe und 
andere Punkte mehr brauchen wir bier für unferen Zwed nicht einzeln zu verfol- 
gen. Ale viele Punkte erflären die Entwidlungsgefhichte des Bankwefens und 
bie befonderen Geflaltungen. weldye einzelne Arten von Banken und einzelne Banl- 
geſchaftszweige im Laufe der Zeit da und dort angenommen haben, und gewähren 
Im biefee Beziehung Interefie genug. Aber für die Hauptfrage nad der Berech⸗ 
tigung des Rrebitbanfwefens und der uns bier befchäftigenden Hauptform besfelben, 
ter Zettelbant, find fie ummichtig. Vielmehr dreht fi für diefe Frage Alles um 
die Berechtigung jenes erſten epochemachenden Schritte, durch welchen bie Depofl- 
tare zn Darlehensſchuldnern wurden. 

Die Depofiten zur Anfbenahrung mußten fänmtli beim Wechsler ober beim 
GSirobankinhaber vorräthig Itegen. Nun lehrte aber die Erfahrung bald, daß flets 
ein Saldo flehen bleibe, obgleih die Deponenten jeden Augenblid ihr Geld voll» 
Rändig Herausziehen kennten. Denn wenn das auch Jeder im Laufe des Jahres 
öfters that, fo geſchah es voch nicht gleichzeitig. Der Eine nahm herans, während 
der Andre gerabe einzahlte. Im GBtrogefhäft erfolgten eine Menge Zahlungen 
unter dem Kunden, ohne daß die Gefammteinlage in der Bank davon berührt 
wurde. Die durchſchnittliche Höhe, die Bewegung, die Zeiten des Ab- und Zu- 
Nuffes, ver Minimalftand des Saldo ließen fi durch längere Erfahrung unſchwer 
md hinreichend ficher ermitteln. Offenbar waren aljo grade Dank der Vereinigung 
vieler eiazelwirthſchaftlicher Kaſſenvorräthe, befonders der kaufmänniſchen Geſchäfts⸗ 
Koffen an einem Mittelpunkt, d. h. in der Kaffe ver Bank, alle durchſchnittlich 
Seitens der einzelnen Eigentümer vorkommenden Berwenbungen ver Geldſummen 
ermöglicht, ohue daß der ganze Betrag bes beponirten Geldes dazu erforberlich 
war. Derjenige Theil, welcher niemals benußt wurde, lag wörtlich genommen brach, 
war unprodultiv für den Einzelnen, wie für das Ganze. Er war alfo aud 
entbehrlich im eigentlichen Depofitengefäft und vemnah verfügbar für 
andre Zwede. Er konnte daher im derſelben Weiſe und aus denſelben Gründen 
ausgeliehen werben, wie ber eigene Kapitalbetrag des Wechslers, welcher 
zeitweitig im Geldwechfelgeſchäft nicht gebraucht wurde. Es mußte nur die Sicher⸗ 
heit hier wie dort beftehen, daß die Summe wieder leicht und rafch verfügbar ge 
macht werben könnte, fobald doc einmal ſtärkere Mädforverungen der Depofiten, 


800 Settelbankweſen. 


als vie vorausgeſehenen, vorkommen ſollten. Die Anlegung des überfhüfiigen 
Depofitenfaldos in Turzfriftigen Darlehen, und zwar wiederum im Lombard umb 
Distonto, gewährte dieſe Sicherheit und fomit erwies fi die Umbilbung des 
Depofitums zum Darlehen, weldes übrigens techniſch noch heute den Namen 
Depofit führt, berechtigt. Natürlih mußte fi dieſe Umbildung in rechtlichen 
Formen, unter beiberfeitiger freier Einwilligung vollziehen. Der wechfelfeitige 
Bortheil beider Betheiligten und vie Entwidlung der Bollswirthichaft führten die» 
fee Einvernehmen aber nothwenbig bier früher, dort fpäter leicht herbei (in Eng⸗ 
land um 1645). Damit war der Gelddepoſitar ober die Gtrobant zur modernen 
Depofitenbanf geworben, welche lettere für die anderen neueren Banten, 
wie namentlich auch vie Zettelbant, die typiſche Hauptform iſt. Die principielle 
Berwerfung der Zettelbant, weldhe ſich neuerdings ebenfalls wieber vernehmen 
läßt (3. B. Seitens des Franzoſen Ternuscht), würde infoferne ebenſowohl vie 
gleiche Verwerfung der Depoſitenbank mit ſich führen müſſen. . 

Allerdings tft es Har, daß die gerühmte abfolute Sicherheit der Girobank⸗ 
einlagen den Depofitenbankeiniagen nicht beiwohnt. Wie vortrefflih immer bie 
Leitung der Krebitbant ſei; weil mit einem größeren oder Heineren Theil der an⸗ 
vertrauten Gelder Krebit gewährt wirb, alfo jedenfalls nicht immer alles Gelb 
baar vorrätbig iſt, fo läßt fih die Möglichkeit einer zeitweiligen Zahlungs⸗ 
einftellung der Bank und felbft eines ſchließlichen Verluſtes der Deponenten nicht 
beftreiten. Uber es genügt auch, wenn bie Wahrfcheinlichleit des Eintritts eines 
folgen Falles dur eine richtige Geſchäftsführung, insbeſondere durch ein ſicheres 
und zwedmäßiges, d. h. möglichſt gewiß bie erforberliche Realifirung geſtattendes 
Placement der nicht immer vorräthig gehaltenen Gelder und burd ein der Bank 
eigens gehöriges Garantiekapital für trotzdem vorfommenbe Berlufte bei ver Aus- 
leihung möglichft auf ein Minimum befchränkt wird. Und das läßt ſich erfahrungs⸗ 
gemäß erreihen. Dann kann vom vollswirtbicaftlicden Geſichtspunkte aus, felbft 
ohne daß man die großen anderweiten Vortheile des modernen Bankweſens in bie 
entgegengefegte Wagfchale ftellt, fo wenig wie von demjenigen des intereffirten Ein- 
zelmirthfchafters die erfolgte Umbildung bes alten Depofits zum Darlehen ange 
fochten werden. Die alte Bank verfpradh, das Depofit bei fih baar liegen zu 
haben und brach den Vertrag, wenn fie etwas davon anberweit benugte, auch ohne 
daß einer wirklichen Nüdforderung nicht nachgelommen werben fonnte. Die neue 
Bank verfpriht, das Depofit jeder Zeit oder je zu beftimmten Terminen zurück⸗ 
zuzablen, hält aber mit Wiffen und Einwilligung des Deponenten den Betrag 
nit ganz vorräthig. Es genügt, wenn fie das ihr ald Darlehen gegebene Depofit 
wirklich zurädzahlt. Um dies zu vermögen, muß fie beftimmte VBerwaltungsgrund- 
füge befolgen. Erſt jet Tann man das Depofitengefhäft ein wahres Paſſioge⸗ 
ſchäft der Bank nennen. Die Rechtfertigung dieſes Geſchäfts ſchließt auch die⸗ 
jenige der ganz gleichartigen Vanknotenausgabe in ſich. Die Polemit 
gegen die metalliſch nicht vollſtändig gedeckte Banknote trifft auch das ebenſo 
behandelte Depoſit. 

Das Banknotengeſchäft iſt nämlich blos eine Abart des modernen 
Depofitengefhäfts und hat fi aus dem alten Depofitum ganz ähnlich entwidelt. 
Offenbar ändert es an dem Weſen des letzteren und an bemjenigen ber. eigent- 
lichen Girobank, foweit diefe als Aufbemahrungsanftalt der Depofiten in Betracht 
fommt, nichts, ob eiwa für das hinterlegte Geld Depofitenfheine für ven 
ganzen Betrag jedes einzelnen Depofltums oder auch für abgerundete Theilbeträge 
andgeftellt werben. Auch wenn folde etwa auf Namen lautenbe Scheine weiter 


Settelbankwefen. 801 


girirt oder mit Blankoindoſſement verjehen werben können ober fpäter einfach auf 
den Inhaber lauten, fo tft damit ber Charakter der alten Depofitenanftalt noch 
nicht verändert. Bel der Amſterdamer Glrobank bildeten die ſog. Necepifie eine 
folge Art Depofitenfheine. Diefe Scheine find bie Banknoten des alten Geld⸗ 
banffuftems. Sie tönnten audy heute bei ver Hamburger Girobank vorkommen, 
ohne deren gepriefenes „rein metalliſches“ Geldſyſtem zu modificiren. Die mitunter 
auftauchende Forderung, die Noten ber Zettelbant zu voll durch Edelmetall zu 
deden, beſagt nichts Anderes, ale daß dieſe Noten. folde alte Depoſitenſcheine fein 
follen. Worin befteht nun der Unterſchied zwifchen legteren und ben eigentlichen 
Banknoten der Krevitbant? Eben darin, worin auch der Unterſchied zwiſchen 
den alten eigentlihen Depofiten und den neuen Depofiten, welche Darlehen find, 
liegt. Die Depofitenfcheine find Quittungen ver Bank über binterlegtes und Be⸗ 
fheintgungen über wirklich daſelbſt liegendes und jeder Zeit zu erhebendes Geld. 
Die Banknoten find Schulpfcheine ver Bank, worin dieſe leßtere fi zu dem be 
treffenden Gelpbeirag als Schulpnerin bekennt, und ihn jederzeit auf Verlangen 
an ven Binlieferer der Note auszuzahlen verfpridt. Im jegigen Bantuotengefchäft 
fo wenig als im modernen Depofitengefhäft fagt die Bank zu, daß ſtets ber ganze 
Depofiten- over Notenbetrag baar vorräthig bei ihr ruhe, aber tn beiden Fällen 
vermag fie dur eine beftimmte Art ber Gefgäfterührung ihr Verſprechen jeber- 
zeitiger Auszahlung zn erfüllen. Das genügt. Von „fingirtem Gelve”, von Täu⸗ 
hung, von ver Schaffung imaginären Kapitals, wie die Gegner ber Zettelbanten 
oft geredet haben, neuerbings wieder Cernuschi und Geyer, ift hier nichts zu finden. 
Dar Eönnte dieſelben Borwürfe nicht blos auch gegen das Depofitenbantwefen ver 
Neuzeit, fondern gegen alle Benutzung des Kredits überhaupt, natürlich ebenfo 
grandlos, ſchleudern. 

Die Weiterentwicklung des Depoſiten⸗ und Banknotengeſchäfts anf der neuen 
Bafis bat keine qualitative Veränderung, fondern nur eine quantitative Ausdeh⸗ 
nung beider Zweige herbeigeführt. Anfangs zogen die Belnwechsler und Banken 
zu ihrem noch relativ wichtigeren eigenen Kapitale gewiffermaßen nur zufchuß- 
weife fremde Selber theils durch Annahme von Depofiten ale Darlehen, theils 
durch Ausſtellung von Anweiſungen auf fi felbft, d. h. eben duch Banknoten 
an fi, um dieſe Fonds ebenfalls im Geldwechſel oder Im kurzfriſtigen Leihg eſchäft 
anzulegen. (Die Londoner Goldſchmiednoten in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts.) 
Später gewinnt die Hinzuziehung fremden Kapitals anf dieſen beiden, wefentlid) 
gleihartigen, äußerlich verfchledenen Wegen — und zwar da, wo die Entwicklung 
des Bantweſens frei organiſch vor fi gehen darf, mehr auf dem Wege bes 
Deyofitengefhäfts, da, wo der Staat dazwiſchen greift und das Bankweſen mono- 
polifirt oder veglementirt mehr vermittelft ver Notenausgabe — relativ größere 
Bedentung im Berhältnig zum eigenen Kapital. Schließlih wirb die wahre Auf- 
gabe der Banken gerade in ber Aufnahme von Geld im Wege des Krebits zum 
Zwei der Wiederausleihung des Kapitals erfannt: die Herbeiziehung fremben 
Kapitald wird die Hauptfahe und die — leider im Publitum immer noch nicht 
Mar erfannte — Borausfegung.der Entwidlung ver Altivgefchäfte, d. 5. ver Aus⸗ 
leihungen im Dislont und Lombard. Das eigene Kapital der Bank behauptet vor- 
nehmlih nur — ein bei ver Errichtung von Banken aud no oft mißverfiandener 
Buntt — ale Garantie für die Gefhäftsführnng feine Bedeutung. So entwideln 
fih die modernen Banken in der That zu Krebitbanten, welche Arevit nehmen und 
geben umd deshalb Im runde Kreditvermittler find. Im biefer Aufgabe 


liegt Ihre vollöwirthichaftliche Funktion. 


302 Settelbankwefen. 


Die innere organische Verwandtſchaft ver. beiden Haupipaffivgefhäfte ber 
furzfriftige Ausleihungen betreibenden Banken, des Depofiten- und Notengefhäfts, 
ift für alle ragen des Zettelbanfweiens von größter Bedeutung. Das Depoflten- 
gefhäft iſt das urjprünglice, einfachere Geſchäft, die Notenausgabe vornehmlich 
eine Ergänzung, ein Komplement jenes. Bei. freier naturgemäßer Entwidiung 
fommt dies auch zum Vorſchein. Nur willkürliche Eingriffe der Geſetzgebung, 
einfeitige Pouſſirung des Zettelmeiens führen zur Berlümmerung des Depofiten- 
gefhäfte und zur Sucht, durch die Notenausgabe allein ober vorzugsweiſe Die 
großen wirtbfchaftlichen Vortheile des Kreditbankweſens zu erlangen. Das Depofl- 
tengejchäft, vornehmlih in feiner Verbindung nit dem Kontolorrent- und dem 
Checkfyſtem, und das Bantnotengefhäft follten immer fein, was fie anfänglih ' 
waren:. zwei formen eines und vesfelben Paffivgefhäfts. Ie nad dem Wechſel 
des vollswirtbichaftlihen Bebürfniffes wird der Kredit von der Bank in der dnen 
oder andern biefer Formen aufgenommen werben, von benen jede ihre Borzlige 
und Mängel bat. Die Leitung des Bafftogefchäftes in dieſen beiven Formen muß 
‚ im Ganzen nach venfelben Örunpfägen erfolgen. Die eftmals geforderte Trennung 
der Notenausgabe vom Depofitengefchäft widerſpricht der organifhen Entwidlung 
des Kreditbankweſens und führt zum Verzicht auf die eigenthämlichen Vortheile, 
welche gerade aus einer richtigen und nach den Umftänben wechfelnden Kombination 
beider Beichäfte hervorgehen. 

Indem wir jest im Folgenden die Banknote und bie Zettelbant allein noch 
näher ins Ange faflen, kann dies nur aus äußeren Gründen der in diefem Werte 
gebotenen Behandlung geſchehen. Zwiſchen dem Zettel- und dem Depofitenbant- 
weſen, dem Che und der Banknote finden fo viele Wechfelbezichungen ſtatt, 
daß tie bezäglichen Erdrterungen ſchwer zu trennen find, Doc wird hier für Alles, 
was ſich nicht auf bie Zettelbauk und die Banknote virelt bezieht, auf die Behand⸗ 
[ung an andren Orten zu verweilen fein. 

4 III. Die Vauknote nud ihre volks⸗ nad kreditwirthſchaftliche 
unktion. 

In Betreff dieſes wichtigen Punkts kann hier faſt ganz auf einige Abſchnitte 
bes Art. Bapiergeld von dem Berfafier gegenwärtigen Artitels im Br. VII 
des Staatswörterbuchs verwiefen werden, ba die erforberlihen Erörterungen bort 
ſchon gepflogen find (dgl. ©. 647—653, 655—657) und ums eine weſent⸗ 
lie Berichtigung des damals Gefchriebenen nicht exforberlih erſcheint. Hier 
genügt es, bes Zufammenhangs wegen die Hanptergebniffe jener Erörterung 
furz zu rejumiren und einzelne wenige weitere UAnpeutungen einzufügen. 
Die ftatt letztrer eigentlich erforderlichen Ausführungen würden eingehende 
Deduktionen und ſtatiſtiſche Unterfuchungen, wofär bier ber Ort nit ift, noth⸗ 
wendig machen. Der Verf. kann auch gerade für biefe Punkte auf feine am Schluß 
genannten Monographien über Banken und über die Geld- und Krebittheorie ber 
Peel'ſchen Alte verweiſen. Alle fpeciellen Citate unterbleiben im Folgenden mit 
Rüdfiht auf den Raum, 

In Uebereinſtimmung mit der im Eingang zu gegenmwärtigem Artikel voraus⸗ 
geſchickten Definition der Banknote wurde im Art. Papiergeld entwidelt, daß die 
Banknote — dem Weſen nach ein trockener Sichtwechſel mit Blankoindoſſement — 
tm wiſſenſchaftlichen Sinne fowenig Papiergeld, als Geld überhaupt ſei. Zum 
Weſen des eigentlichen Papiergelds gehört die Uneintösbarkeit gegen ein andres 
Gelb und gleichzeitig ver Zwangskurs. Die Banknote ift ihrem Weſen nad 
bagegen einiösbar und felbft wenn fie Zwangskurs hat, wie die Note der engl 


Zettelbaukwefen. 803 


ſchen Bank feit 1833 (ähnlich aud das ruſſiſche Krebitbillet vor dem Krimmkriege), 
ift dies etwas Andres, weil die Bank fi nicht auf diefes Privileg gegenüber 
ihren Notengläubigern berufen Tann. Vielmehr iſt daran als an einem erften 
Sauptfate feftzubalten, daß pie Banknote principielloper quali— 
tatio vom Gelde und auch vom PBapiergelde verſchieden 
if. Auch felbft abgefehen von ver Einlösbarkeit unterfcheivet ſich bie Bank⸗ 
note fonft noch vom (fogar einlösbaren) Staatspapiergeld dadurch, daß beide in 
ganz verfchiebener Art ausgegeben werden und daher auch verſchieden zurückſtrömen. 
Banknoten werben regelmäßig als Darlehen, Papiergeld wirb ale Zahlung, daher 
jene nur zeitweilig, biefes bleibend fortgegeben. Tür jene bleibt eine Forderung 
zuräd, durch deren Realifirung die betreffente Notenſchuld der Bank eingezogen 
oder baar bebedt werben kann, für das Papiergeld behält der Staat nur eine 
Dnittung, er muß es ftets durch beſondere Operationen wieder befeitigen. Die 
Noten firömen durch die Abzahlung der von ver Bank gewährten Darlehen all- 
mälig und regelmäßig im gewöhnlichen Geſchäftsgang zur Ausgabeftätte zurüd, 
ſobald die Banklapitalien nur richtig auf kurze Termine plachtt ſind — Yular- 
tom’8 „großes vegulizendes Princip des inländiſchen Geldweſens“. Die unregel- 
mäßige Rückſtrömung der Roten zum Zwed ber Einlöfung — beim einlöabaren 
Staatspapiergeld die Schwierigkeit — ift hier verhältutgmäßig unwichtiger. Die ver- 
ſchiedene Art, in welcher Noten und Papiergeld in den Verkehr gelangen, bat 
weitere Borzüge der erfleren zur Folge und läßt eine Reihe von Befürdtungen, 
welche bei legterem begründet fein können, hinfällig erfcheinen. Namentlich gebt 
ber Notevemiffion nothwendig ein Bedarf nach Darlehen voraus, und felbft 
wenn eine Bank leichtfinnig Darlehen auf ungenügende Sicherheit und gegen zu 
billigen Zinsfuß in Noten gewähren follte, fo daß jener Bebarf infofern von ihr 
ſelbſt erſt künſtlich gefchaffen würde, ift die Gefahr nicht groß und um fo Heiner 
bei Bank⸗, auch Bettelbankfreiheit. Denn vie Noten, welde deu momentanen Be- 
barf gerade an ſolch en Zahlungsmitteln überfleigen, ftrömen fofort, zumal bei 
einem Syſtem mit einander konkurrirender Banken, zur Kafle behufs Einlöfung 
zurüd. Die fo gefürchtete Zuvielausgabe von Banknoten iſt daher überhaupt nur 
in ſehr beftimmten, feltenen Fällen möglid. Die Zettelbanten haben, im weſent⸗ 
lihften Unterfchien von der Papiergeld ausgebenden Staatsbehörde, vie ihnen zu- 
geſchriebene Macht der beliebigen Vermehrung (und bei organifher Berbindung 
zwiſchen Depofiten- und Zettelgeſchäft felbft ver beliebigen Verminderung) ihres 
Rotenumlaufs nicht, wofür gerade bei freiefter Entwidlung des Banlgeſchäfts, wie 
in Schottland bis 1845, uns immer noch der befte, förmlich experimentelle Be⸗ 
weis in der regelmäßigen periodiſchen Schwantung bed Notenumlaufs ber mit- 
einader konkurrirenden fchottifhen Banken zu liegen ſcheint. Die Bewegung bes 
Rotenumlaufs bei bereits entwideltem Zettelbankgeſchäft hängt alfo von dem wed- 
felnden Bedürfniſſen des Verkehrs, Iegtere vornehmlich mit von den Preisſchwankun⸗ 
gen der Waaren ab, bie denn auch nah Tocke's eingehenden Unterfuchungen 
den entfprechenden Veränderungen bed Notenumlaufs vorangehen, aljo nidt 
durch bie Bewegung des Notenumlaufs verurfadht fein Fünnen. ben deswegen 
iſt es auch falſch, den Zettelbanten ſchlechtweg die Schuld an Weberfpelulationen 
und Handelskriſen beizulegen. In der Regel ift die Banknote auf ben höheren 
Stufen der Krebitwirthfchaft diejenige Krebitform, in welcher ver relatio geringere 
Mißbrauch des Kredits erfolgt. Aus dem Allen folgt mit Nothwendigkeit, daß die 
dem eigentlichen Papiergeld ſpecifiſch eigenthümlichen üblen Folgen oder Gefahren 
wegen der principiellen Berfchiebenheit ver Banknote biefer Iegteren wicht eigen 


304 Bettelbankwefen, 


find. Die Konfequenz dieſes Satzes veranlaßt das Wegfollen einer großen Reihe 
von Kontroverfen über Banknoten und Zettelbanken, welde in Nichts ale in ver 
falſchlichen Ipentificirung von Papiergeld und Banknoten ihren Grund haben 
(Art. Bapiergeld, VII S. 649— 650). Ebenfo wenig find alle diejenigen Folgerun- 
gen aufrecht zu erhalten, welche man bis in vie jüngfte Zeit hinein, z. B. noch 
fürzlid) von Seiten Wolowski's u.U.m. in der franzöfiſchen Bantvebatte, aus 
ver © eldeigenfchaft der Banknote abgeleitet hat, wie insbejondere die Regalität 
‚bed Zettelweſens, die volks⸗ und flantswirthihhaftlih princtpiell nothwendige 
Monopolifirung der Notenausgabe u. a, m., denn alle diefe Folgerungen fallen mit 
ver falihen Prämiſſe: Banknoten find fein Geld. Es Liegt bier der im Art. 
Baptergeld fchon näher beleuchtete Irrthum darüber vor, wie Banknoten „Gelb 
erfegen". Ste erfegen das Geld mit allen andern Kreditumlaufsmitteln nur in 
feiner Eigenſchaft als Zanfchmittel, nicht in derjenigen als Währung und Preis« 
maß, können eben deshalb nicht Geld genannt werben. 

Der zweite früher fchon erwieſene Hauptfag über Banknoten hält bie prin- 
cipielle Gleichartigleit ver Noten und aller andren, das Geld ebenfalls in feiner 
Funktion als Taufchmittel erfegenden „Geldſurrogate“ oder Krebitumlanfsmittel 
feft und gefteht nur eine graduelle Verſchiedenheit zwifchen piefen allen zu (VII 
©. 649, 651). Die Banknote iſt nur ein Glied in der Krebitorganifation, neben 
Cheds, Anweiſungen, Wechſeln, Buchkreviten, Clearing-Honfes u. f. w., ein Glied, 
veflen relative Bedeutung in der Entwidlung ber Kreditwirthſchaft und in dem 
Interefle der Berbrängung der Geldwirthſchaft durch jene wechſelt, im Allgemeinen 
abnimmt, aber gerade auch in gewiffen Fritiichen Zeiten der hochentwidelten Kredit⸗ 
wirtbichaft, nämlid in den Höhepunften von Kreditkriſen, als „primäres"” Krebit- 
mittel, wie unten gezeigt werben wird, vorübergehend wieber ſehr in den Borber- 
grund tritt. Die Banknote Hat demgemäß nicht die behaupteten principiellen Bor- 
züge vor andern Gelbfurrogaten, noch bringt grade fte oder gar fie allein beſondre 
Gefahren des Krebitmißbrauds mit fi. Die wichtige - Ronfequenz dieſer Auf⸗ 
faflung iſt ein beridhtigendes Urtheil über die ftaatliche Bank⸗, beſonders Zettel- 
banfgefepgebung. Die einfeitige Begänftigung over Beſchränkung, die oft faft als 
„naturnothwendig“ bezeichnete fünftlihe Regelung des Zettelbantwefens erweist fich 
demnach als irrig und oft genug ſchädlich. Die organifhe Entwidiung des ge» 
jammten Kreditweſens verfümmerte darunter. Der grapnelle Unterfchied der Bank⸗ 
note von den anderen Krebitumlaufsmitteln liegt darin, daß bei ihr bie Form ber 
Uebertragung die einfachfte ift und fie auf runde and oft auf Kleinere Beträge 
lautet. Allein aud daraus folgt erfahrungsgemäß nit, "daß die Banknote nım 
ftets eine größere Nolle als die anderen Gelbfurrogate fpielen müſſe. Im Groß- 
verfehr kommen Wechſel, Anweifungen, des Depofitenbant- und Eheckſyſtem und 
die Einrichtung der Elearing-Houfes, im mittleren Verkehr ebenfalls Wechfel umd 
Checks und jelb im Kleinverkehr die Teteren mitunter viel mehr als die Bank» 
noten in Betradht. Die Erfahrung beftätigt auch, was fi a priori bebnciren 
läßt, daß nämlih ganz ohne Banknoten eine Entwidiung des Kreditweſens möglich 
ift, welche die Mänze aus ihrer Funktion des Umlaufsmittel® ebenjo verbrängt, 
als es nah der populären Meinung nur die Banknote und das Papiergeld ver« 
mag. Die Fortbildung der Krebitwirthichaft bringt fogar, wie das verſchieden 
‚organifirte und von der Geſetzgebung verſchieden behandelte fchottifche und englifche, 
Newyorker und Maflachufetter und das ganze norbamerilanifche Bankweſen zeigt, 
eine immer weitergehende Erſetzung der Banknoten burdy andere Formen des 
Kredite, eine „Erfparung an Banknoten”, wie ehevem an Münze zu Wege. Dies 


Zettelbankwefen, 305 
eſchieht mitunter ſelbſt durch abfolute Verminderung ver früher nmlaufenden 
otenmenge, meiftense aber — und das iſt dem Weſen nad ganz daflelbe — 

durch relative Verminderung ber Noten im Verhältniß zu anderen Gelpfurrogaten 
ober zur geſammten, mit dem fteigenden Verkehrsbedarf felbft wachſenden Menge 
von Umlaufsmitteln. Nebenbei bemerft die ſelbe Form, in welder meiftens 
auch die Berbrängung der Münze durch Banknoten vor fih geht: wie der Berf. 
diefes früher, wie neuerdiugs beſonders Horn betonte, ed wird in beiden Fällen 
nit ſowohl der umlaufende Drünzbetrag oder andrerſeits Banfnotenbetrag noth⸗ 
wendig kleiner, als vielmehr der wachſende Bedarf an Cirkulationsmitteln 
durch die Wusbehnung des Notenumlaufs und durch die Entwidiung der Krebit- 
wirthſchaft befriebigt wird, bie Münzmenge alfo niht größer zu erben 
Brandt. Im Refultate ift das dasfelbe, nur im äußeren Vorgang befteht der Un⸗ 
terſchied: im einen Falle wird ein bisher in den metallenen Umlaufsmitteln fteden- 
des vollswirtbichaftliches Kapital wieder für andere Zwede verfügbar, im anderen 
Balle Braucht ein ſolches nit aus anderen Zweigen heranusgezogen und in ber 
Münzmenge des Landes placirt zu werden. Ein wichtiger Punkt, worin die fpecifi- 
ſchen Eigenfchaften ber Note im Vergleich mit anderen Kreditunlaufsmitteln befon- 
ders hervortreten, nämlih die Funktion der Banknote in Kreditkriſen, wird am 
Schluß des folgenden Abſchnitts zur Sprache kommen. 


IV. Notendeckungsſyſtem. 


Aus der Entwillungsgefchichte ver Banknote und der Zettelbant und aus 
der richtig erfaßten Funktion der Note in der Volkswirthſchaft folgt auch das 
richtige Notendedungsfuftem. Unter Iegterem verfteben wir viejenigeNegu- 
liruang bes Wltivgefhäfts der Bank over dasjenige Place» 
ment der Banktlapitalien, bereigenen undvornehbmlidder 
duch die Rotenausgabezur Berfügung gelangten, welde 
bie ſtete fofortige EinlösharleitvderNoten gegen baares 
Geld verbärgen. Diefes Notendedungsfuftem läßt fih aus dem Weſen 
und der Yunkiion der Banknote und Zettelbant entwideln und davon wird 
im Folgenten zunähft die Rede fein. Außerdem bat theild wegen ber über 
Zettelbanten gehegten falfchen Hoffnungen und Befürchtungen, theild aus be= 
grändeteren Urſachen die Staatögefeggebung grade zur Frage bes Dedungs- 
foftems eine beſondre Stellung eingenommen. Darauf wird fpäter zurädgelommen 
werden. Das Urtbeil über die gefeßgeberiichen Maßregeln und Dedungsiyiteme 
hängt von dem Verſtändniß des richtigen natürlichen Deckungsſyſtems ab. Mitunter 
wird übrigens legtrer Ausdruck auch noch in einem weiteren Sinne als dem obigen 
gebraucht, indem z. B. 2. Stein und Andere wohl gewifle Vorſchriften über vie 
Annahme von Noten als Zahlungsmittel an den öffentlihen Kaflen ale Funda⸗ 
tion („Stenerfundation”) bezeichnen. Im Grunde kann dann felbft ver Zwangs⸗ 
hırs als Fundation aufgefaßt werden, — nicht ohne eine gewifle Wahrheit. 
Roc viel mehr aber läßt ſich vie thatſächliche freiwillige Annahme der Note im 
Berkehr in Zahlung ftatt der Münze, d. h. eben der Krevit der Note, dann als 
ihre — im Grunde weſentlichſte — Fundation betrachten, womit man fi freilich 
im Kreife dreht. Hier brauchen wir auf die Steuerfundation nicht meiter einzu- 
gehen, weil über fie ſchon im Art. Papiergeld gehandelt wurde und alles dort 
Geſagte mit geringen, leicht erfichtlihen Veränderungen auch für die Banknote 
gilt (Bb. VII S. 658— 661). Ueber die noch unzulänglihere Sicherung des Pari des 
Papiergelds und ebenfo der Banknote durch die „gehörige Beſchränkung“ ber Noten- 

Blunt ſchli und Brater, Deutihes Staats⸗Wörterbuch. X. ' 20 


306 Zettelbankwefen. 


menge nach ber irrigen Lehre von der genauen Abhängigkeit des Geldwerths von 
der Geldmenge (Ouantitätstheorie) kann ebenfalls auf den Art. Papiergeld ver- 
wiefen werden (VIIS. 657, 658). 

Die ftete Erhaltung fofortiger Noteneinlösbarkeit ift nur die für die Zettel- 
bant fpeciell formulirte Aufgabe, welche jeder Kreditbank zu ftellen if: die Bank 
muß fich folvent erhalten, d. h. ihre Zahlungen ſtets leiften Lönnen, wenn biefelben 
verlangt werden oder werden dürfen, und falls trogdem eine Zahlungseinftellung 
einmal unvermeivlich fein follte, muß die Bank wenigftens bald wieder im Stande 
fein, die Zahlungen aufzunehmen. M. a. W. die Aufgabe ift: die Vermeidung der 
Zahlungsfuspenfion und vollends des eigentlichen Bankerotts. Die Anforderungen 
an Krebitbanten hängen dann von der Natur und Bedingung ber Paffivgefhäfte 
ab, find alfo nad den einzelnen Arten der Banken, refp. Bankgeſchäfte verſchieden. 
In der Hauptſache wird man jeberzeit fällige Noten, ebenfolde oder nad) beftimm- 
ten, meiftens nicht fehr langen Kündigungsfriften fällige Depofiten, ferner Obliga- 
tionen, Pfandbriefe u. vgl. m., welche für auf längere Zeit aufgenommene Dar⸗ 
lehen auögeftellt find, oder wiederum, fomwelt dieſe Gefchäfte von verſchiedenen 
Unternehmungen geführt werben, Zettel⸗, Depofiten- (auch Kontokorrent⸗, Check⸗, 
die meiften Volks⸗Sparbanken), Hypothekenbanken (Immobilartrevit- und Pfand⸗ 
briefinftitute), auch wohl Creditmobiliers mit der von ven Pereires beabfichtig- 
ten Obligationenausgabe unterfcheiden. Alle dieſe Banken nehmen felbft Kredit 
auf, um ihn weiter zu begeben, fie alle gewähren daher fo wenig wie vie Zettel- 
bank allein jene „abjolute Sicherheit" der Einlagen, reſp. Darlehen, weldhe ven 
alten Geldbanken beimohnt. Bei ihnen allen hängt die Baarzahlung, zu welcher 
fie in verfchievener Weife verpflichtet find, von ihrer richtigen Gefhäftsführung, 
d. h. von der zwedentfprechenden Leitung des Altivgefhäfts, der Aus— 
leihungen, ab. So gelangt man zu dem wichtigſten allgemeinen 
Grundfag aller Bantverwaltung: das Altivgefhäft be- 
bingt pie Solvenz der Bank, das Altivgefhäft muß daher 
nah ber Natur und Beſchaffenheit der Paſſivgeſchäfte ge- 
leitet, die Art der Kapitalanlage und das gegenfeitige 
Berbältniß der einzelnen Bankaktiva unter einander 
mäſſen vanadh beflimmt werden. Diefes allgemeine Geſetz mobifi- 
cirt fih dann bei jeder Kategorie von Banken nad der Natur ber Verbindlich⸗ 
keiten (Baffiva) derfelben und bei jeder einzelnen Bank verfelben Kategorie, alfo 
auch bei den verſchiedenen einzelnen Zettelbanten wieder nad) ben befonderen Zeit- 
und Ortsverhältniffen, welche auf die aus benfelben Paſſiven hervorgehenden wirt- 
lichen Anforderungen an bie Bank ihren Einfluß ausüben. Ja es kann fogar nidt 
einmal für eine einzelne Zettelbanf eine einzige genan, etwa durch ein Geſetz zu be⸗ 
ſtimmende, ftetö richtige Dedung der Noten geben, weil die Zeiteinflüffe fi ändern. 
In der Theorie und in der rationellen Bankgeſetzgebung laflen fi daher aud 
nur Örundfäge, nicht Shablonen ver Notendeckung aufftellen und 
in der erfteren nur noch etwa gleichzeitig gewiffe Winke und Andeutungen geben, 
in welcher Weife unter verfchierenen beftimmten Berhältnifien jene Grundſätze 
etwas verſchieden durchgeführt werben müſſen. 

Welches find nun die Grundfäge für das richtige Syſtem der Notendedung ? 
Die Theorie hat, durch einzelne ihrer Bertreter bis in die neuefte Zeit hinein, 
in der Hauptfade drei verfhiedene Dedungen empfohlen, einmal bie 
vollffänpige Baardedung, ſodann die Dedung durchſchwer 
vealifirbare Aktiva, insbefondere durch Grund und Boden (Eigen⸗ 


Settelbankwefen. 307 


thum daran oder Hypotheken darauf), und durch binfichtlih der Realifirbarkeit 
ähnlihe Werthe, wie virefte Forderungen an ben Staat, in langen Terminen 
zurädzahlbare Staats» und andere Werthpapiere, und brittens bie fog. bank⸗ 
mäßige Dedung. Die Praris bat mit manchen Mopififationen meiftene 
nur die legtere adoptirt, die zweite Dedungsart ans eigener Wahl nur verſuchs⸗ 
weiſe — bei großen Berfuchen mit ſchlimmſten Folgen — vorgenommen. Die 
nenere gute und ſchlechte Bankgeſetzgebung hält in ihren zahlreihen Reglemente 
das Princip der bantmäßigen Dedung doch im Allgemeinen unter verſchiedenen 
dormen feft, inveffen bat fie in ihrem Streben nad Kompromifien auch wohl als 
theilweifen Erſatz der bankmäßigen Dedung gemiffe ſchwerer realifirbare Aktiva 
zugelaffen. Wir halten die fireng bankmäßige Dedung für die allein rationelle, 
wiſſenſchaftlich und erfahrungsgemäß ausreichend begründete und ziehen fie jedem 
Kompromiß mit dem zweiten Syſtem vor, ohne invefien zu behaupten, baß ein 
ſolcher mitunter durch die Umſtände, 3. B. die Finanzlage des Staats, gebotener 
oder fonft entſchuldbarer Kompromiß innerhalb gewiffer Schranken durchaus bie 
Einldsbarkeit der Noten gefährden müfſe. Für Manches kann auch bier auf bie 
im Art. Papiergeld enthaltene Lehre vom einlösbaren Papiergeld verwieſen wer» 
ven (Od. VII S. 653—657). 

Bei dem ſcheinbar allein Tonfequenten Syſtem voller Baarbedung der Noten 
brauchen wir nad den an ber obenangeführten Stelle und im zweiten Abſchnitt ge⸗ 
genwärtigen Artikels gemachten Bemerkungen kaum noch zu verweilen. Die Yor- 
derung bedeutet nichts anderes, als die ganze Berechtigung des mobernen Bank⸗ 
weine läugnen. Denn wenn die Banknote nur noch ein alter Depofitenfchein 
fein darf, muß auch das jetzt zum Darlehen gewordene Depofitum, wenigftene 
das ſtets und Turzfällige, d. h. die große Maſſe der Depofiten, wieder zum eigent> 
lien Depofitum werben. Zudem verwechſeln Diejenigen, welche volle Baarbedung 
verlangen, Möglichteit und thatfächlihe, dur Beobachtung zu ermittelnde Wirk⸗ 
lichkeit. Alle Noten „tönnten” jeden Augenblid zur Einlöfung heranfirömen, 
thun dies aber in Wirklichleit nit. Und bei dem richtigen bantmäßigen Dedungs- 
ſyſtem finden fie in der regelmäßigen Zurückſtrömung bei ver Abzahlung der 
Kredite ihre nicht durch den Baarvorrath bewirkte, aber wirthſchaftlich richtige und 
praltiſch wichtigere Einldfung. 

Die Fundation der Noten wie des Papiergelds auf Grund und Boden und 
auf Hypotheken iſt zu Finanzzweden und öfters aud im Intereffe ver Landwirih⸗ 
ſchaft, um die Vortheile des Zettelgefhäfts nicht ausſchließlich dem Handels⸗, 
jondern auch dem Bodenkredit zufommen zu laflen, — fo 3.3. noch neuerbings 
wieder von preußifhen Torys — empfohlen worben. Der Vorſchlag fällt wie 
der verwandte, Noten durch Stantspapiere, Forderungen an den Staat n.f. w. 
zu deden, gerade aus den Gründen, welche für vie bankmäßige Dedung ſprechen. 
Uebrigens muß zugegeben werden, daß derjenige Theil der Noten, welden man 
einmal nad einem der erwähnten Kompromifje nicht abfolut nothwendig bank⸗ 
mäßig deden zu müſſen meint, wohl and für hypothekariſche Darlehen verfügbar 
wäre, — wenn nicht in Brari gerade die Finanznoth zu ſolchem Kompromiß mel- 
ſtens hinführte und dieſen Betrag durch Forderungen an den Staat gebedt ſein 
Nee. Die fonft wohl — Defterreid — vorlommende „Bezahlung des Roten- 
monopols“ durch ein ſolches Darlehen Liege ſich, wenn ber Rechtslitel der Zah⸗ 
Inng einmal anerfannt wird, auch anders und zwedmäßiger einrihten, nämlich 
wie bei der preußifhen, belgifhen Bank durch einen Antheil des Staats am 
Reingewinn oder eine andere jährliche Zahlung an den Staat. 

20 + 


308 Settelbankwefen. 


Die bankmäßige Dedung folgt aus Weſen, Funktion und Entwidiungs- 
gefhichte der Banknote und der Zettelbant und aus der Analogie mit dem Depofi« 
tengefhäft. Es ift zugleich diejenige fpecielle Dedung, weldye aus dem allgemeinen 
Bankverwaltungsgefeg grabe für die Zettelbant abzuleiten ifl. Ste befteht aus 
einem Baarvorrath und leiht realifirbaren Werthen in 
rihtiger, nah den Umſtänden wedhfelnder Kombination. 
Solche Werthe bieten fih am Beften iu den beiben urſprünglichen Hauptaktiv⸗ 
gefhäften der Bank, im Diskonto⸗ und Lombarbgefhäft, und zwar ganz vornem« 
li im erfteren. Die Wechfelvistontirung und in zweiter Linie die Tombardirung 
ermöglichen die regelmäßige NRüdftrömung ver Noten zur Bank und bieten ba- 
durch die Gelegenheit zur wirkfamften, dem jeweiligen Verkehrsbedürfniß entfpre- 
chenden Negulirung der Notenemiffion, in vieler Beziehung zu einer richtigen 
organifchen Selbftregulirung des Notenumlaufs. Die diskontirten (und angelauften) 
Wechſel und die Rombarbforderungen find daher auch vie befte, die Daupt- 
bedung ber Noten, woneben der Baarvorrath, welder erſt in Verbindung 
mit diefen Aktivgeſchäften eine richtige Stellung erhält, nur in zweiter Linie 
für die Zettelbant in Betracht kommt. Eine große Keterei angefichts der populären 
Meinung, welche alle nicht metallifch gevedten Noten ſchlechtweg „ungedeckte“ 
Noten zu nennen beliebt, was aber eine allzu materialiftifche Auffaſſung im Zeit- 
alter des fpirituellften aller wirthſchaftlichen Elemente, des Krebits if. Es kann 
bier zum Beleg für dieſe Anficht nur auf die frühere Entwidlung über das für 
das Notengefchäft al8 Typus dienende Depofitengefhäft, fowie auf den Art. Papier- 
geld verwiefen werden. Gerade der Vergleich zwifchen Papiergeld und Bankuoten 
ift bier fehr Iehrreih. Die metallifhe Dedung beider ift oft diefelbe, der Baar: 
vorrath für das einft Banknote oder einlösbares Papiergeld gewefene eigentliche 
Papiergeld ift relativ, mitunter felbft abfolut nicht Heiner als ehedem, aber pie 
anderen leiht rvealifirbaren Dedungsmittel fehlen ganz 
oder zum großen Theil, fo daß bie regelmäßige Rüdftrömung bes Papiergelds 
ftodt oder keine genügende Stärke hat. Das ift der Grund der andauernden 
Uneinlösbarkeit (Defterreih, Rußland, Italien in der Gegenwart, 1868). :' 

Der Baarvorrath Hat feine Funktion gegenüber der unregelmäßigen Rüd- 
frömung der Noten zum Zwed ver Einlöfung gegen Metal, Diefe Rüditrömung 
ift bei normaler Entwidlung des Zettelbantwefens felbft in anomalen Zeiten durch 
eine richtige Regulirung der Ausftände (Aktiva) der Bank fehr wohl zu beherrfchen. 
Ihre ungefähre Bereutung läßt fi aus den Beobachtungen im Bankgeſchäft für 
gewöhnliche Zeiten ziemlich genau vorausbeftimmen, weil e8 ſich bier um periodiſche 
Bewegungen handelt. Für Fritifche Zeiten kann man ebeufalld mit einiger Auf- 
merkſamkeit und mit der nothwendigen Borfiht des Praftiters, welcher mehr thut, 
als bie forgfame theoretifche Prüfung fordert — ähnlih wie der Baumeiſter, 
welcher die theoretifch beftimmte Tragfähigkeit niemals ganz in Anfprudh nimmt — 
bie Stärke der unregelmäßigen Nüdftrömung einigermaßen im Voraus durch bie 
Beachtung der Vorgänge auf tem Geldmarkte, im Handei, in der allgemeinen 
Produktion (3, B. Mißernten, welche größere Maflen Edelmetall ins Ausland 
führen), in der Politif u. |. w. ermeflen. Natürlid müſſen ſolche Beobachtungen 
ſachverſtändig angeftellt, gewiffenhaft vorgenommen und von jeder Zettelbantver- 
waltung felbft ausgeführt werden. Auf eine Statutenbeflimmung, oder einen 
Schablonenfag darf man ſich nicht verlaffen. Nah folden Beobachtungen if 
dann auch die abfolute und relative Höhe des Baarvorraths zu beftimmen und 
bie fih danach erforderlich erweijende Höhe ift in erfter Linie gerade wieder 


Zettelbankweien. 309 


durch die richtige Regulirung des Disfonto- und Lombardgeſchäfts herbeizuführen, 
3. B. wenn der Baarvorrath erhöht werben fol, durch Steigerung des Zins⸗ 
fußes (Distonts) für die von ber Bank im Wechfellauf und auf Pfänder gewähr- 
ten Darlehen und, wenn bies dann noch nothwendig ff, durch Beſchränkung der 
Vorſchüſſe. Der ſelbſtändige Metallbezug auf andrem Wege, meiftens alfo durch 
Ankauf, denn eine Bermehrung des eigenen Kapital der Bank läßt fich felten 
fofort vornehmen, fährt wenigftens in großem Umfang uuternommen nicht zum Ziele, 
wie die bekannten Goldankäufe der franzöflihen Bank öfters gezeigt haben. Er⸗ 
Närlih genug, denn die Operation gleicht dem Füllen des Danaidenfaſſes. Man 
kann ja den Baarvorrath nur mittelft neuer Notenansgabe ober ähnlicher Schuld- 
aufnahme vermehren. Kein Wort braucht man nah dem Gefagten wohl mehr 
über den Berfuch zu verlieren, das „richtige” Berhältuig des Baarvorraths zum 
Rotenumlauf ein für allemal in einem arithmetifhen Verhältniß feftftellen zu 
wollen. Die ähnlichen Verſuche der Geſetzgebung (metalliiche 2/3, 1/2, meift 1/,, 
auch wohl 1/, Dedung, Peel'ſche Akte) können nur den Sinn haben, ein Mini» 
malverhältnig des Baarvorraths zum Notenumlauf anzuordnen, fehaden aber 
auch hierdurch, weil fie damit oft unndthig viel, zu andren Zeiten wieder zu 
wenig verlangen, bie Banktverwaltung im legteren Falle aber nur zu leicht im 
Hinblick auf die Statuten Iäffig werden laffen. (Bol. auh Bo. VII S. 654 und 
unten Abſchn. VIII.) 

Das Hauptgewicht Liegt bei der bankmäßigen Dedunz in dem Moment der 
leigten Realifirbarleit ver nicht baar vorräthigen Aktiva. Dieſe 
wird durch die Natur der Noten als ftetsfälliger Verbindlichkeiten gefordert. Da⸗ 
durch wird dem Einwand derer, welche für die „ftets einldsbaren“ Noten volle 
Baardeckung verlangen, ſoweit Rechnung getragen, als dieſer Einwand ven that« 
fählichen Berhältnifien entfpricht: die unregelmäßige Rüdftrömung Tann größere 
Dimenfionen annehmen, jedoch auch bier nicht zeitlich und räumlich ungemeffene, 
Die leichte Nealifirbarkeit der Ausſtände bildet die richtige Aſſekuranz gegen biefe 
allerdings im Notenumlauf verborgenen Gefahren. 

Aus diefen Gründen ift Eigenthum an Grund und Boden, find Hypo⸗ 
thefen, direkte Forderungen an den Staat, große Beftände Iangterminlider Werth- 
papiere Feine geeignete Notendedung. Selbſt wenn fie eine ſich ere Dedung 
find, was oft genug dahin ſteht — nicht felten in Fritifcher Zeit auch bei Grund 
und Boden und Hypotheken —, fo find fie im Einzelnen und vollends in Maſſe 
fhmer zu realifiren. Der hypothekariſche Kredit muß nach der Natur der Land- 
wirthſchaft und der Kapitalanlage im Häuferbau für längere Termine in Anſpruch 
genommen werben. Darin, nicht in einem willfürliden, vermeintlih durch bie 
Tenvenzen ber Neuzeit begünftigten „Monopol" des Zettelmejens für den Handels- 
kredit, liegt der innere Grund der Notendedung durch Wechjel und Lombards, 
ftatt dur Hypotheken. Andere Dedungen, 3. B. Kontoforrentforderungen, bloße 
Buchforderungen, gewöhnliche Obligationen, ferner gute, d. 5. im Kurfe wenig 
Ihwanfende Börfeneffelten, alfo einzelne Staatspapiere, Prioritätsohligationen, 
weniger ſchon Aktien, am wenigften fog. Spielpapiere wird man im Princip für 
die Zeitelbant dem Wechſel⸗ und Lombarbgefhäft nachfegen müſſen. Werben fie 
nicht ganz ausgefchloffen, fo dürfen fie wenigftens nur für einen Meinen heil 
der Noten zur Dedung dienen. Das Spekuliven in ſolchen Effelten auf eigene 
Rechnung mit ven Notenfapitalien kann am wenigften gutgeheißen werben. Eben 
deßwegen iſt vie Verbindung des Zettelgefhäfts mit dem Geſchäft des Erebit- 








308 u 
wie bei der Meininger Kredit⸗ 
käihte: Banfı „st —— —8* werben, ob bie darin 
geiyimie i nd. 
lengeſcha — —— 
Bankve 4 unkten iſt natürlich auch das Diskonto⸗ 
einem Aber dieſe beiden Geſchãfte gehört nicht hie- 
rich un ver Banknote und der Zettelbank zu diefen 
Er . MODE weicher zugleich für die Streitfrage über große 
ge‘ und centraliſirte Zettelbanken wichtig iſt, her⸗ 
| Sr aper angebeutete: die Funktion ber Banknote 
er Pie allgemeine vollswirthſchaftliche Bedeutung ber Bettel- 
* eines ſonſt theilweiſe unproduktiv werdenden volks⸗ 
io, M ver durch die Notenausgabe entbehrlihen Edelmetall⸗ 
Na rung ber Mittel für das Altivgeſchäft, alfo vornehmlich 
a shtige Dilontogefdäft und das fm Ganzen für Zettelbaufen 
es 0 ** er als jenes geeignete, auch ſonſt mande Bedenken bietende 
a ei normaler Entwidlung des Krebitbaukweſens und in normalen 
—  zuführang von Distontofapitalien duch das Zettelgefhäft nich 
uce⸗ fo ausnehmenb wichtig, daß fi, wenn andre Gründe e8 gebieten follten, 
Arod auch ohne Zettelbanken auskommen ließe. Aber gerade in Krebit- 


er — fi die Note als primäres Kreditmittel im höchſten Maße nüttzlich. 

hier zeigt fi, daß fie auch im entwideltftien Kreditſyſtem nicht oder nur 
um Nachtheil entbehrt werden Tann. Um dies zu erhärten, ſei es geftattet, Bei 
piefem einen Punkte etwas weiter enaauholeg. 

Das Bedurfniß eines regelmäßigen Disfontogefhäfts erklärt fih aus der 
Natur des modernen, auf Arbeitstheilung beruhenden Probultions- und Abfag- 
procefies. Die Waare geht auf den verfchievenen Stufen ihrer Verarbeitung gegen- 
wärtig oft in andre Hände über und kommt felbft als fertiges Erzeugniß erft 
purch viele Zwiſchenglieder an ben Konfumenten, welcher ven eigentlichen Gegen⸗ 
werth giebt. Daher bei allen frühern Käufern vie Schwierigfeit der fofortigen 
Zahlung, bei allen früheren Verkäufern das Bedürfniß nad biefer Zahlung, ohne 
welche die Probultion und der Handel leiht ind Stoden geräth oder zum Nadh- 
teil des Einzelnen und mehr noch der Gefammtheit mit viel größerem Kapital 
earbeitet werben muß, was nichts Andres befagt, ala daß ein Theil des Kapitals 
unprobuftiv bleibt. Die Abhilfe fand ſich in der Gefhäftstratte des Verkäufers 
auf feinen Käufer und dem Üccept des legteren, für ven Betrag des Kaufpreifes 
und für die Zeit bis zur vorausſichtlichen reellen Zahlungsfähigfeit des Käufers 
nach erzieltem Abfag und feinerfeits erhaltener Zahlung Der Verfäufer läßt den 
Wechſel diskontiren und empfängt fomit fofort fein Kapital in der ihm nöthigen 
Form des Geldes oder des ftatt Iegterem brauchbaren Geldfurrogats (3. B. eines 
Buchkredits bei einem Geſchäftsmann, bei einer Bank, oder einer Banknote) zurüd. 
Das moderne Krebitbantwefen hat nun offenbar für dieſe vollswirthihaftlih fo 
wichtige Diskontirung überhaupt einen fehr großen Werth.” Denn da bei dem 
nothwenbig niedrigen Diskontofage eine regelmäßiges Diskontogefchäft kaum 
anders als von privaten ober dffentlihen Bankanftalten betrieben werben Tann, 
fo tft die Entflehung der legteren die Borausfegung für jenes Gefchäft. Bis dahin 
ift der Verkehr für die Disfontirungsbepärfniffe auf die zufällig grade Disponiblen 
Geldſummen einzelner Gefchäftslente angewiefen. Die Hauptquelle für das Dis— 
fontiren ift dann jedenfall® das Depofitenbanktwefen, In welchem fi vie Kaflen 


Zettelbankweſen. 311 


ber Sefäftsleute anſammeln und nun nach ben früher entwickelten Grundſätzen 
des Depofitengefchäfts ein Theil ver eingelegten Summen mit Sicherheit ſtet s 
zur Diskontirung benutt werden Tann, während bie früher vielleicht nur zeit 
weilig mit Meinen Beträgen birelt durch die Eigner geſchah. Auch bei der höchſten 
Entwidiung der Krebitwirthichaft iſt es das Depofitengefchäft In feiner eigenthüm- 
lichen Ausbildung, welches die bei weiten beveutenbften und am regelmäßigften 
verfügbaren Mittel für pie Diskontirung und für vie fonftigen Ausleihungen 
bietet. Es befteht Bier nämlich die Sitte, die von der Bank gewährten Krebite, 
foweit fie nicht in der Yorm von Münze oder Banknoten gebraudt werben, bei 
ihr felbft auf Kontoforrent, d. h. eben wieder auf Depofitenkonto gutjchreiben und 
bie Kunden darüber nach Bedarf mittelft Cheds verfügen zu laſſen, worauf dann, 
ganz wie fräßer bei den primitiven Girobanken, die unter Kunden einer und der⸗ 
felben Bank vorkommenden Zahlungen nur in den Bankbüchern umgefchrieben, vie 
zwifchen Kunden verfchlevener Banken zu leiftenden Zahlungen durch die Einrich- 
tang ber Elenring-Honfes (London, Newyork) berichtigt, vefp. zum größten Theil 
durch Kompenfation ausgeglihen werden. Die Geftaltung des Krebit- und Banl- 
weſens in Schottland, London, dem übrigen England, in Newyork und Boſton 
und in vielen nordamerikaniſchen Staaten wird grade durch dieſe Entwidlung des 
Depofitengefihäfts charakteriſirt. Das ganze Krebitweien wir fo zu einem höchſt 
Iomplicirten und doch fehr alkurat, ficher und ſchön arbeitenden, weil nad wenigen 
einfachen und höchſt rationellen Brincipien konſtruirten Mechanismus, ein Triumph 
des ſcharfen Handelsgeiſtes und ein Zengniß der menihliden Entwidiungsfähig- 
keit, wie nur der kunſtvollſten Mafchinen eine. Aber grade in dieſem feinen 
Mehantsmus der Krebitwirtbichaft verfagen mitunter ein paar Räder. Im kriti⸗ 
fhen Momenten ertennt man, daß man e8 doch auch hier im Grunde nicht mit 
einem Mechanismus, einer bloßen Materie, fondern mit einem Organismus zu 
thun Hat, deſſen belebende Seele ver Krevit, das Vertrauen, das fpirituelle 
Moment par excellence in der Vollswirthihaft, if. Das Vertrauen ſchwindet, 
vie Seele flieht, leblos flodt der Organismus, oder in der früheren Sprachweiſe, 
bie taufend Räder, die fo kunſtvoll in einander griffen, bie Maſchine fteht fi. 
Da nan zeigt ſich die Bedentung des primären Krevitmittels, der Banknote. 
Das Weſen der Krevitgelpwirthichaft im Gegenſatze zur Metallwirthſchaft liegt 
darin, daß die große Maſſe der im Verkehr vorfommenven Zahlungen, namentlid) 
derjenigen unter Geſchäftsleuten, nicht durch die körperliche Benutzung von Münze, 
fondern durch Krebitumlaufsmittel, wie Anweifungen, girirte Wechfel, fällige Coupons, 
Banknoten, Checks, und durch Einrichtungen des Kreditweſens, wie die Verrech⸗ 
nungen in den Bankblichern, vie Abrechnungen im Elearing-Houfe bewerkftelligt 
werden. Das noch beſonders Eigenthümliche, auch im Gegenſatz zur Papiergeld⸗ 
wirthſchaft, iſt dabei, daß alle die auf Metallgeld als das geſetzliche Zahlungs⸗ 
mittel lautenden Zahlungen ımter freier Einwilligung der Verechtigten 
mittelſt ſolcher Kreditumlaufsmittel und Einrichtungen beglichen werden und das 
Metallgeld nach wie vor die Währung bleibt und nur als körperlich gebrauchtes 
Tauſchmittel zu fungiren anfhört. Diefes Moment ver Freiwilligkeit iſt eben das 
Krebitmoment, im Begenfag zum Zwang beim Papiergelv, und bilvet das wahr- 
haft Großartige in der Krebitwirtbfchaft. Aber zugleich birgt dieſes Moment auch 
die befonderen Gefahren. Denn ſobald tie Sereittilligfeit ſchwindet, bei ber 
Zahlung auf den Empfang wirklichen Geldes zu verzichten, droht das ganze Ge⸗ 
baͤude der Krebitwirtbichaft ven Einſturz. Dabei iſt es ja das Weſen des hier 
In Betracht kommenden Bertrauensfaltors, daß das Vertrauen aller Einzelnen fi 





312 Settelbankwefen. 


gegenfettig bebingt: weil A vertraut, vertraut B und umgelehrt jener nur, weil 
diefer es thut. Daraus erklärt fi der in Kritifhen Zeiten völlig epidemiſche 
Charafter des Mißtrauens. In vielen einzelnen Fällen begründet, greift das 
Mißtrauen allgemein um fi, zerftört ben Krebit auch des Vertrauen Ber- 
bienenden und neben manden Schulvigen, melde den Kredit gemißbraudt haben, 
fallen noch mehr Unfchuldige, welhe ven Krebit nur gebraudht haben und 
wer kann das in der Krebitwirthichaft unterlafien! Darin Tiegt das Schlimme 
vor Allem in ven fog. Handels» und Krebitfrifen, Der Natur der Sache nad) 
verbreitet fich die Krebitlofigkeit jedoch vornemlich unter der durch alle möglichen 
Beziehungen des Kredits verknüpften Gefchäftswelt und das Mißtrauen vorzugs- 
weije gegen biejenigen Zahlungsformen des Krebits, welche in biefen Kreifen ge- 
bräuchlich find und durch deren Berhältnifie zumeift gefährbet werben. Dies gilt 
baher von den Banknoten nur zum Theil, weil diefe auch in andren Streifen 
cirtuliren und weil die Dedung der Noten auch In einer großen. Geſchäftskriſis 
nicht nothwendig erheblich gelitten zu haben braucht. Letztere Behauptung könnte 
gerade nad den früheren Erörterungen gewagt erfcheinen. Jedoch bebenfe man, 
daß einmal jett der Baarvorrath in Betracht kommt und das eigene Kapital der 
Banf nunmehr feine Aufgabe zu erfüllen hat, definitive Berlufte an den Ausflän- 
den zu beden und — auch bei gleicher Anlage wie bie Notenkapitalien — bie 
Lüden mit auszufüllen, welche das momentane Ausbleiben von Zahlungen fälliger 
Wechfel hervorruft. Endlich iſt die Menge der nothleidenden Wechſel, welde die 
Banken diskontirt haben, ber den Vorſchuß bei gefuntenen Preifen und Kurjen 
nit mehr dedenden Pfänder u. ſ. w. doch auch in den fhlimmften Krifen feine 
ganz ungemefjene. Auch hier liegt ver Vergleich mit einer Epidemie wieder nahe. 
Es erfranten nicht alle, fondern in ver Regel ein relativ doch ſtets nur Feiner 
Bruchtheil und es flerben nod viel weniger. Hat eine Bank zumal’ folive ge 
wirthſchaſtet und ſich rechtzeitig vorgefehen, mas meiftens doch auch möglich ifl, 
fo wird ihr eigener Krebit und damit derjenige ihres Depofitengefhäfts und mehr 
noch ihrer Banknoten nicht fo leicht wanken oder gar völlig aufammenftärzen. 
In diefer Hinfiht fann man auf die Erfahrungen unter ven verfchiedenften Bank⸗ 
fnftemen, wenigftens in der neneren Zeit (1847, 1857, 1866) in England und 
Schottland, Frankreich und Deutſchland, Nordamerika mit viel mehr Beruhigung 
binbliden, als einfeitige Schwarzfeherei oft zugeben wil. Mit Rückſicht tarauf 
kann man die Banknote als ein geeignetes wihtiges Erfagmittel 
zur zeitweiligen Ausfüllung der vurd üÜbergroßes Miß— 
trauementftandenenküde in der Kreditwirthſchaft bezeichnen. 
Wo ſie fehlt, wie 1857 in Hamburg, oder wo auch ihr Kredit nicht feſt genug 
bleibt, wie allerdings vielleicht bei decentraliſirtem Zettelbankweſen mehr als bei 
großen Monopol⸗ und Centralbanken, da kann man auch nicht einmal mehr auf 
biefes „primäre Krebitumlaufsmittel, wie e8 der Eeonomiſt i. J. 1866 richtig 
nannte, zurüdgreifen, fonvern da muß ausfchließlich Edelmetallgeld die Lücke im Krebit- 
ſyſtem zeitweife ausfüllen. Eben deßhalb ift, wie ver Vergleich zwifchen Hamburg 
und London ti. 3. 1857 deutlich beweist, die Kriſis noch viel [hlimmer, 
wo Zettelbanten fehlen Freilich muß die Notenansgabe in ſolchen 
Zeiten mit großer Vorficht erfolgen, nur zu Gunſten an fi) folventer Häufer, 
nicht zur Hochhaltung von hoben Preifen ber Ueberſpekulationszeit, und erſt — was 
aber aud genügt, da erft in diefem Stadium die paniqueartige Weiterwälzung 
ber Krifis auf ſolide Häufer zu gefchehen pflegt — nach eingetretenem Rückſchlage 
ver Wechſelkurſe, aljo nad dem Aufhören der Metallausfuhr. Cine berartige 


Zettelbankwefen. 313 


Notenansgabe ift aber and ganz gerechtfertigt und wird durch die mitunter vor⸗ 
gebrachten Gründe nicht widerrathen. Geeignet erweist fih dafür die Bant- 
note überhaupt wegen ber ihr eigenihümlichen Funktion im Verkehr, nicht 
nur die Note diefer oder jener Zettelbanflategorie, großer oder Heiner, centralifir- 
ter oder monopolifirter oder nichtmonopolifirter Banten. Doch wird die Note 
der großen Bank mohl wieder die noch geeignetere fein, weil fie ein verbreiteteres 
und befannteres Umlaufsmittel ifl. Die umfangreichen Geſchäfte einer gutgeleite- 
ten großen Bank fchaffen durch ihr Renomse vielleicht wieder seinen fefteren Krebit 
ver Noten einer ſolchen Bank, mas biefen in Krebitkrifen wiererum zu Gute 
Iommt. So fehen wir denn, daß es vor allen aud die gewaltige engliiche Bank 
war, welde 1825, 1847, 1857, 1866 durch ihre hoch akkreditirten Noten mit 
bifem primären, aber immer doch noch mit viefem Krepitmittel die im 
Krebitiuftem entſtandene Lüde flatt mit Münze zeitweilig ausfülte. Diefe Bank 
und die in Heinerem Maaße mitunter ähnlich fungirenve franzöſiſche und preußijche 
Bank haben in diefer Beziehung Vorzüge vor den kleineren Zettelbanten ihrer 
und andrer Länder, beſonders auch Nordamerikas, gezeigt, und da fie Eentral- 
und Monopolbanten find, muß man dieſe ihre Wirkfamfeit in Krifen vtelleidt 
als eine befondere Slanzfeite des centraliftiifh monopolifirten Zet- 
telbanfwefens und als einen wirklichen Vorzug vor dem becentralifirten Bankweſen 
bezeichnen. Indeſſen doch nur: vielleiht, nicht unberingt. Denn die Ueber- 
legenheit jener Banken geht doch nur aus ihrer Größe hervor und es frägt 
fh, ob diefe Größe nur die Wirkung bes Monopols ift, ob nicht vielmehr auch 
ohne leßtered nur dur die centralifirende Tendenz des Banfgefhäfte und ähn- 
lihe in der modernen Vollswirthihaft allgemein wirkfame Tendenzen fich folche 
große Zettelbanten an ven Verkehrsmittelpunkten entwideln würben. Dann hätte 
man jenen Nutzen ohne ven manchfachen Nactheil des Monopols. Sicherlich ift 
es jedenfalls falſch, auf befondere weitere Maßregeln ver Geſetzgebung über Banken 
und über das Notendedungsiuftem fpectell, 3. B. bei der Bank von England anf bie 
Peel'ſche Alte von 1844 jene Fähigkeit, in Kreditkriſen mit dem gefefteten Noten- 
kredit dazwiſchen treten zu können, zurüdführen zu wollen. Denn dieſe Fähigkeit 
befand ſchon vordem und iſt durch jenes Geſetz, welches die Bank in ſolchen Zeiten 
an der Ertheilung der Hilfe hindert, eher vermindert worden. 

Diefe Stellung ver Zettelbant in Krebitkrifen fommt demnach dem Disfonto- 
bebürfniß des Verkehrs in der That ſehr zu Statten, indem das vollftändige 
Stoden dieſes Gefhäfts in fehlimmfter Zeit nun vermieden werben fann, Die 
Leitung der Disfontirung Seitens der Zettelbank unterfcheidet ſich im Uebrigen 
nit wefentlih vor derjenigen Seitens einer anderen Krebitbant, wie namentlich 
Depofitenbant. Nur kann die Rüdficht auf die ftetsfällige Notenfhuld und auf 
den Umftand, daß fi unter ven Notenbefitern bei der Emilfion Heiner Noten- 
Rüde auch „Heine Leute” befinden, welde um fo mehr vor etwaigen Berluften 
zu bewahren find, nod größere Vorſicht erheifhen. In dieſer Hinfiht wird fich 
bie Bank namentlich an die naturgemäße Wedhfellette halten müſſen, welche von 
demjenigen, welcher nad dem regelmäßigen Gefhäftsgang Verkäufer ift, ale 
Troffanten zum Käufer als Acceptanten hinäberläuft. Ferner muß die Berfallzeit 
der Wechfel ein nicht zu hoch zu greifendes Marimum, in den Banfftatuten und ver 
Praris meiſtens 90—100 Tage, nit überfchreiten. Der Krebit der Bank darf 
nit durch wenige Firmen monopolifirt fein, daher Beſchränkung des Marimal- 
kredits, welcher einer auf Wechſeln und fonftigen Obligationen als erfter Schuldner 
oder Bürge ober Hintermann vorlommenden Firma zu gewähren if. Auch muß 





314 Zettelbankwefen. 


das Distontofapital möglihft gleihmäßig über die Zeit vertheilt, doch für folde 
Zeiten, in welchen eine ftärkere Rüdftrömung der Noten zu erwarten ift, für das 
Falligwerden größerer Summen geforgt fein. Weniger Werth ift auf vie übliche 
Vorſchrift „dreier guter Unterfchriften” auf den bisfontirten Wechfeln zu legen, 
bie Beftimmung hat aus andren Gründen fogar Manches gegen fid. 

Die Negultrung des Diskontogefhäfte — ähnliches gilt auch von derjenigen 
bes Lombarb> und etwaiger andrer Altivgefhäfte — iſt dann das Hauptmittel 
zur Erhaltung der fteten Einlösbarkeit der Noten. Sie muß in der Weife vor 
fi gehen, daß dabei den großen natürlihen Vorgängen und Bewegungen in ver 
Bollswirthihaft Rechnung getragen wird. Insbeſondere iſt aud das Diskonto- 
eſchäft der Zettelbant im ruhigen, fpelulativen und aufgeregten oder kritiſchen 
Buflande bes Geldmarkts, bei finfendem und niebrigem, bei fteigendem und hohem 
Zinsfuße, in Zeiten flarlen Zu- und Abfluffes von Evelmetall im internationalen 
Handelsverkehr nach den Umftänden ganz verfghieden zu leiten. Namentlich bie 
große Eentralzettelbant muß möglichft vermeiden, fi) den begründeten Bewegungen 
des Geldmarkts nachhaltig entgegen zu ſtemmen. In diefer Hinſicht iſt die zu 
lange andauernde Fefthaltung eines niedrigeren Zinsfußes befonders im fpekulativen 
Zuftande des Marktes ſchädlich, weil dadurch der Ueberſpekulation Vorſchub ge- 
leiftet wird. Vielmehr muß der Bankoisfont im Ganzen den VBewegungen des 
Börſendiskonts ſich anfchließen. Die Beherrſchung des Geldmarkts durdy 
bie große Zettelbanf ift zu vermeiden, mit Ausnahme des oben zerglieverten Falles 
in Krebitfrifen, wo eben in ganz normaler Weiſe eine beſondre Funktion der 
Banknote wirkſam wird. Am Wichtigften ift eine richtige Diskontopolitif in Zeiten 
fteigenden Zinsfußes, ſich vorbereitender Geldklemme, gegen das Ende von Speku⸗ 
lation&perioden, wo vie Spekulation ſchon den Boden unter ſich wanken fühlt und 
die ihr noch gewährte knappe Spanne Zeit zu allen möglichen Ertravaganzen 
benugt, wo die Wechſelkurſe ungünftig werden, die Metalleinfuhr ftodt, die Aus- 
fuhr beginnt, kurz dann, wenn alle folhe Zeichen ven herannahenden Sturm ver- 
fünden. Hier muß zumal die große Gentralbanf oder das eine ſolche erſetzende 
Syſtem Meinerer Banken, wie der Newyorker, fehr vorfichtig operiren. Das Dis- 
fontofapital folder Banken bildet einen erheblihen Theil des bisponiblen, für 
furze Ausleihungen im kaufmänniſchen Geſchäft beftimmten Leihkapitals der Volks⸗ 
wirtbihaft. Die mit ihm vorgenommenen Operationen find daher gerade in folder 
Zeit von weitreihendem Einfluffe, wo der Anbrang um Diskontirung bei ver 
Bank wähst. Auf dreierlei Weife kann die Bank viefem Andrang entgegenwirken 
und dadurch die nothwendige Reaktion auf dem Geldmarkte und den Umſchwung 
der Wechſelkurſe mit beförbern‘, während fie gleichzeitig ihre eigene Lage ſichert. 
Ste verweigert gewifle Darlehen, die Annahme gewiſſer Wechfel, beſchränkt den 
Marimalkrevit einzelner Firmen, ein nicht fehr probates und niemals gm un⸗ 
parteliſch und unſchädlich durchzuführendes Mittel. Oper fie verkürzt die Maximal⸗ 
verfallzeit aller Wechſel und Vorſchüſſe, was ſchon gleichmäßiger wirkt. Oder 
enbli fie erhöht ven Diskont, entweder allgemein, oder etwas verſchieden 
für Wechſel und Lombard und für die fürzeren oder Yängeren Berfallzeiten der 
Wechſel. Diefes Mittel verdient den Borzug, fihert die Bank am Meiften, trifft 
bie Geſchäftsleute gleihmäßiger und beförbert jene nothwendige Reaktion auf dem 
Geldmarkte, in den Wechjellurfen, Waarenpreifen, Fondskurſen am Wirffamften. 
Nur die Kurzfichtigkeit des intereffirten Geſchäftsmanns tadelt dieſes Mittel, 
welches recht eigentlich fchon von dem Wefen der Krevitbanf geforbert wird. Denn 
die Borausfegung eines umfänglihen Aktivgeſchäfts der Bank ift ja, wie wir 


Zettelbaukweſen. 316 


ſahen, ein großes Baffivgeihäft, grade letztres aber wird durch Rückforderung 
von Depofiten und Nädftrömung von Noten beſchränkter oder bie Bank muß 
wenigftens eine folhe Wenbung im Paſſivgeſchäft befürchten und deßhalb das 
Atiogefhäft anders veguliren, d. b. die Ausleihungen durch Erſchwerung ver- 
mindern. Rühmenn ift die Beachtung der im vorhergehenden aufgeftellten Forderun⸗ 
gen Seitens der meiften befieren Zettelbanfen, insbeſondere ber großen europäiſchen 
Eentralbanten in den Geldklemmen der neueren Zeit anzuerkennen. 

Man würde auch irren, wenn man meinte, daß bie Zettelbanken fi ber 
dargelegten Diskontopolitik entſchlagen könnten, falls fie auf ihr eigenes 
Kapital zurädzugreifen vermögen. Denn dieſes eigene Bankkapital bat eine weſent⸗ 
ih andre Funktion, muß ähnlich wie die angeliehenen Kapitalien placirt werben 
und Tann bei der Zettelbant fowenig ald bei anderen Krebitbanten eine gewifle 
Höhe im Berhältnig zu den Paffiven überfchreiten, wenn nit eine zu Meine 
Durchſchnittsrente erzielt werben fol. Das Stammlapital der modernen Banken 
if vor allem Sarantiefonds, bei zeitweiligem Ausbleiben ver fälligen 
Zahlungen wie namentlich bei definitiven Verluſten. Seine Höhe ift nach ähnlichen 
Örundfägen wie vie Höhe des Kapitals der BVerficherungsgefellichaften zu beftim- 
mm. Die Krebitbant, die Zettel- nicht minder als vie Depofitenbant, zeigt hierin 
vie nahe Verwandiſchaft mit der VBerfiherungsbant. In der Hauptthätigkeit, der⸗ 
jnigen der Krepitvermittlung, worin das Weien der Kombination bes 
Atio- und Paffivgefchäfts Liegt, tritt dies audy ganz deutlich hervor. Die Bant 
leitet das Kapital der Deponenten und das dur die Notenausgabe fläffig ge- 
machte Kapital durch ihre Mühemwaltung und auf ihr Riſiko hinüber zur leihenven 
Seihäftswelt. Die erhobenen Zinfen dienen zur Beſtreitung ber Geſchäftsun⸗ 
often, zur Bezahlung der Afleluranzprämie für die Uebernahme des Riſiko bei 
ver Ausleihung und für die Verzinfang des Stammfapitals, welches eben jenes 
Kiftlo tragen und daher fi entſprechend höher verzinfen muß. Ganz analoge 
Berhältniffe, wie 3. B. bei dem Verſicherungsgeſchäft auf Aktien. Die Höhe des 
Stammlapitals der reinen Zettelbant, d. h. derjenigen, welche nicht gleichzeitig das 
Depofitengefhäft und bloß die bankmäßigen Ausleihungen betreibt, muß mit Rüd- 
fcht auf den vorausfihilihen Umfang der Notenausgabe, die Durchſchnittshöhe des 
Boarfonds und des Zinsfußes und das Rifito der Anlagen, weldes übrigens im 
Zinsfug mit zum Ausprud kommt, normirt werden. Da ſich die Verhältniſſe 
ulht im Voraus genau überfehen laflen und die Entwidiung des Paſſivgeſchäfts, 
aljo der Notenausgabe, nur eine allmälige ift und fein darf, fo ift es wichtig, 
niht mit übergroßem voll eingezahltem Kapital Die Bank zu gründen. Theilein⸗ 
jahlungen, wie bei dem Kapital von Verfiherumgsaktiengefellihaften, haben aud) 
bier Manches für fih. Ein fehr großes eigenes Kapital kann durchaus nicht im 
mer als erhöhte Sicherung der Gläubiger gelten, venn es verführt zn leicht zu 
unfoliven oder doch gefährlicheren Gefchäften, um bei dem niedrigen Diskontoſatz 
tie erforderliche Rentabilität zu erzielen. 

VI. Der Staat und das Zettelbankweſen. 

Im Bisherigen ift die natürliche Entwidlung des Zettelbanfwefens bar- 
geftelt worden oder richtiger gefagt die natärlihe Entwicklungstendenz biefes 
und des gejammten Kredit⸗Bankweſens, denn zur genauen Verwirklichung biefer 
Tendenz iſt es felten gelommen, weil ber Staat in vie Entwidlung eingriff. 
Am Meiſten entfpricht der Darftellung die Entwidlung bes Privatbank 
geihäfts (oder des fog, Banguier-Gefhäfte), die noh am Wenigſten geftört 
wurde und mitunter, mie in England, felbft zur Notenausgabe biefer Unter 


a ur N almeinen Emporkommen des Afiociationsweient daS 
> See zerdemtee si, vermuthlih in berielßen juriflifhen Gteflung 
"TS weremeer Septeres würde aber dann vielleiht felbft, unreglementirt, 
une aemefnr bafen zud bad Brincip der unbefgräuften Haftbarfeit jedes 
. ar rem ganzen Bermögen für alle Berbindlichteiten der Geſciſchaft 

nit nur partiell in England, geworben fein. 
es wäre ein Wunder gewefen, wenn fi) das Bank⸗ und zumal das 
Surfuntreien in den legten Jahrhunderten einer Bid vor Kurzem zunehmenten 
Sumseitvoermuntung, in ber Zeit des Gtaatsmonopols, bes Gtantögewerbes, des 
Srucriraszwangs hätte frei entwideln, bürfen. Im Gegentheil mußte bie gamze 
Matung der Zeit, insbeſondere ber mertantiliftifch e Eharafter der Periode. 
jet dem 16. Jahrhundert im Bankweſen nod mehr als in irgend einer anbrem 
; ihen Inſtitution ihren maßgebenden Einfluß zur Geltung bringen. 
Unp wiederum konnte das „Bel ſchaffende“ Zettelbankweſen dieſem Einfluß am 
Allerwenigften entrüdt bleiben. So kommt es, daß ftatt einer normalen, gleich⸗ 
mäßigen, allfeitigen Entwicklung des geſammten Krebitbanfweiens letztres meiften® 
in ſchiefe Bahnen gewaltſam getrieben worben ift, einzelne Zweige unter beſondrem 
Drud oder unter faljher Begünftigung andrer, verfrüppelt find, wie das Depofi- 
tenbanfwefen auf dem Kontinent bis zum heutigen Tage, und das Zettelgeſchäft 
fpeciell bald auf das Ungebührlihfte künftlic ausgedehnt, bald monopolifirt und 
centralifirt, bald engherzig und übermäßig beſchränkt worben iſt und jedenfalls nur 
in ganz feltenen Fällen fi organiſch entwideln Tonnte. 

Zwei deutlihe Gegenfäge treten in dem Verhalten des Staats gegemüber 
dem Zettelmefen hervor. Einmal wird das Zettelgefhäft als der Zauberſtab be» 
trachtet, durch welden wirtbfchaftlide Blüthe, Reichthum, Handel, Hilfe in und 
Beleitigung der Finanznöthen hervorgezaubert werben fol. Sodann wird das 
Zettelgefhäft, mit unter dem Einfluß des Schredene vor den durch jene Anficht 
begänftigten Mißbräuchen der Notenausgabe, als etwas höchſt gefährliches, nicht 
ängftlih genug zu Kontrolirendes angefehen. Beide Anfichten gehen noch heute mit- 
unter in der Theorie und In der Staatöpraris unvermittelt neben einander ber. 
Im Ganzen kann man aber wohl die erftere ald die ältere, die zweite als bie 
neuere, die begreiflihe Neaktion bezeichnen. Jene führte zu den inanzerperimen- 
ten bes 18. Jahrhunderts, in Franfrei zum Schwindel Law's (1716 u. ff.) 
und zur Affignatenwirthfchaft der Revolutionszeit, wenn auch bier noch andre Um— 
fände in berfelben Richtung mitwirkten, in Defterreih zum Bankozettel (1761 ff.), 
in Rußland zum Aflignatenwefen (1768 ff.). Auch in dem Syſtem der Staate- 
und Nationalbanken mit ihrem Monopol oder ihren mehr cher weniger weit ge 
benden Privilegien in Betreff der Notenausgabe kommt dieſe Anficht mit zum 
Borfchein, wenn bier auch zum Theil nur ein allgemeiner wirthichaftlicher Grund⸗ 
fag jeine fpecielle, vermeintlich gerade im Bankweſen befonvers ſtark begründete 
Anwendung in einer Zeit findet, in welder man im Monopol und Privileg das 
Natürliche, Selbſtverſtändliche ſah. Hierhin gehört vie Geftaltung des Bant- 
weſens in England feit der Gründung der engliſchen Bank (1694), in Schottland 


Settelbankweſen. 317 


von 1695—1726 (wo aus fremdartigen Gründen ein ertheiltes Bankmonopol fiel 
und fo eine großartige freie Entwidlung flattfinden Tonnte), in Preußen feit 1765, 
in Frankreich feit 1800, in Defterreih ſeit 1816. In neuerer Zeit wirkte in 
biefen und in andren europäiſchen Staaten für die Feſthaltung und felbft für bie 
Erweiterung des Monopols oder des Konceffionszwange im Bankweſen im Allge⸗ 
meinen und im Zettelbankweſen insbejondre, neben ver ſtets fo bedeutſamen Macht 
des wirthſchaftlichen Konfervatismus, einmal hiſtoriſch Ueberfommenes nicht leicht 
aufzugeben, dann befonberd jene zweite Anficht, welde in ver ftaatlihen Be⸗ 
ſchränkung ein unentbehrlihes Mittel zur VBefeitigung der Gefahren des Bank⸗ 
gefhäfts und fpeziell ver Notenausgabe erfannte.e So erflärt ſich die neuere Zettel- 
bankgejeggebung Großbritanniens feit 1844 (Peel'ſche Akte), weldye die Noten» 
ausgabe noch mehr zu centralificen und monopolifiren fucht, währenn die älteren 
Beihräntungen in Betreff der Errihtung von Bankgefellfhaften und binfichtlich 
bes Depofitengefhäfts, zum Theil ſchon früher, im Sinne der Banffreiheit bes 
feitigt werben. Aehnlich verhält es fi mit der Geſetzgebung Frankreichs, wo im 
Jahre 1848 die Departementalzettelbanten mit der franzöfiihen Bank vereinigt 
und das Monopol der legteren fireng behauptet wird, bis erft in jüngfter Zeit 
theoretifche Angriffe darauf (bei Gelegenheit ber Streitfrage Über die Rechte ber 
in den annektirten Ländern übernommenen Bank von Annech in Savoyen) er- 
folgen, jedoch nicht ohne daß das Monopol an hervorragenden Delonomiften, wie 
Wolowski, auch Vertheidiger finde. So ift au in Preußen die Entwidlung 
bes Zettelbantwejens durch die Reformen von 1846 und 1856 mit ber preußi- 
(hen Bank in durchaus centraliftiiher Richtung vor fich gegangen und wenn 
auch nicht an einem Monopol biefer BVank im eigentlihen Sinne feftgehalten 
wurde, fo iſt doch der Konceffionszwang vollends für das Notengeſchäft ftreng 
aufrecht erhalten, die Konceffion felten und jedesmal nur für eine Heine Summe 
Roten (1 Mil. Täler.) und unter weiteren genau normirenden Bedingungen er- 
theilt worden (im Ganzen nur an 9 fog. Provinzialbanken). In Oefterreih und 
Rußland geftaltete fich die Lage durch den Uebergang von ber Banknote und dem 
einlösbaren Stantspapiergeld zur Papiergelbwirtbichaft (dort 1848, hier 1854) 
anders. Aber vor wie nachher hält man hier an einer Monopolifirung und Een- 
tralifirung dieſer PBartercirktulationsmittel feft. Und wie in den großen, fo im 
Ganzen auch in den Mittel» und Kleinftaaten. Außerhalb und innerhalb Deutſch⸗ 
lands meiftens eine „Nationalzettelbant" jedes Staats oder doch verſchieden nor- 
mirter Konceffionszwaug, je nach der Geſtaltung des öffentlichen Rechts Ertheilung 
der Konceffion durch ein Geſetz oder durch eine Verordnung einer Verwaltungs- 
behörbe. Einige größere deutſche Staaten, Baleın, Sachſen, Hannover be 
folgten die Maxime, nur eine größere Zettelbant zu Tonceffioniren. Sachſen hat 
davon erſt jängft durch die Konceffion der Drespener Bank eine Ausnahme ge- 
miacht (die Heine Notenemiffion der Baugener Bank lann kaum als folde gelten). 
WBürtemberg und bis vor Kurzem auch Baden wußten, durch doltrinäre Gegner 
der Zettelbanten beeinflußt, vie „Peft“ des Zettelmefens von fi fern zu halten. 
Biele Kleinſtaaten lieferten durch bie Konceſſionirung großer, auf das preußifche, 
fähftihe Geſchäft berechneter Zettelbanten gleichzeitig den Beleg des Mißbrauchs 
ihrer Souveränetätsrechte und der komiſchen Konfequenzen ſolchen Monopol- und 
Konceffionsunmefens, wenn etwa ein Fürft von Büdeburg ein großes Bankunter- 
nehmen mit unbegrenzter Notenausgabe in allen Hauptwährungen ver Welt kon⸗ 
ceifionirte. — Aber in Europa nicht allein, aud in den vereinigten Staaten von 
Norvamerifa hat es an Einmiſchung des Staats in das Zettelbantweien nicht 


308 Settelbankwefen. 


Die bankmäßige Dedung folgt aus Weſen, Funktion und Entwicklungs⸗ 
geſchichte der Banknote und der Zettelbanf und aus der Analogie mit dem Depofi- 
tengefhäft. Es ift zugleich diejenige fpecielle Dedung, weldhe aus dem allgemeinen 
Bankverwaltungsgejeg grade für die Zettelbant abzuleiten if. Sie befteht aus 
einem Baarvorrath und leiht realifirbaren Werthen in 
rihtiger, nah den Umſtänden wedhfelnder Kombination. 
Solche Werthe bieten fih am Beften in den beiden urſprünglichen Hanptaftiv- 
gefhäften der Bank, im Diskonto- und Lonibardgeſchäft, und zwar ganz vornem⸗ 
ih im erfteren. Die Wechfeldistontirung und in zweiter Linie die Tombarbirung 
ermöglichen die regelmäßige Rüdftrömung ver Noten zur Bank und bieten va- 
burch die Gelegenheit zur wirlfamften, dem jeweiligen Verkehrsbedürfniß entfpre- 
chenden Negulirung der Notenemiffion, in vieler Beziehung zu einer richtigen 
organischen Selbftregulirung des Notenumlaufs. Die diefontirten (und angelauften) 
Wechſel und vie Kombarbforderungen find daher auch vie beite, die Haupt- 
bedung der Noten, woneben ber Baarvorrath, welcher erſt in Verbindung 
mit diefen Altivgeſchäften eine richtige Stellung erhält, nur in zweiter Linie 
für die Zettelbant in Betracht lommt. Eine große Kegerei angefichts der populären 
Meinung, welche alle nicht metallifch gevedten Noten ſchlechtweg „ungedeckte“ 
Noten zu nennen beliebt, was aber eine allzu materialiftiiche Auffaffung im Zeit- 
alter des fpirituellften aller wirthſchaftlichen Elemente, des Krebits if. Es kann 
bier zum Beleg für dieſe Anfiht nur auf die frühere Entwidlung über das für 
das Notengefchäft als Typus dienende Depofitengefhäft, fowie auf den Art. Papier- 
geld verwiefen werden. Gerade d:r Vergleich zwifhen Papiergeld und Banknoten 
ift bier fehr lehrreich. Die metalliihe Dedung beider ift oft viefelbe, der Baar- 
vorrath für das einft Banknote oder einlösbares Papiergeld geweſene eigentliche 
Papiergeld ift relativ, mitunter felbft abſolut nicht Kleiner als ehedem, aber bie 
anderen leiht realifirbaren Dedungsmittel fehlen gan 
oder zum großen Theil, fo daß die regelmäßige Rüdftrömung bes Papiergelos 
ftodt ober feine genügende Stärke hat. Das iſt der Grund der andauernden 
Uneinlösbarkeit (Oefterreih, Rußland, Italien in der Gegenwart, 1868). : 

Der Baarvorrath bat feine Funktion gegenüber der unregelmäßigen Nüd« 
firömung der Noten zum Zwed der Einlöfung gegen Metall, Diefe Rüdftrömung 
ift bei normaler Entwidlung des Zettelbankweſens felbft in anomalen Zeiten durch 
eine richtige Regulirung der Ausſtände (Aktiva) der Banlk fehr wohl zu beherrfchen. 
Ihre ungefähre Bedeutung läßt fih aus den Beobachtungen im Bankgefhäft für 
gewöhnliche Zeiten ziemlich genau vorausbeftimmen, weil es ſich bier um periodiſche 
Bewegungen handelt. Für kritiſche Zeiten kann man ebenfalls mit einiger Auf- 
merkfamfeit und mit ber nothwendigen Borficht des Praktikers, welcher mehr thut, 
al8 die forgfame theoretifche Prüfung fordert — ähnlich wie der Baumeifter, 
welcher die theoretifch beftimmte Tragfähigkeit niemals ganz in Anfpruh nimmt — 
bie Stärke der unregelmäßigen Nüdftrömung einigermaßen im Voraus durch bie 
Beachtung der Vorgänge auf tem Geldmarkte, im Handel, in ver allgemeinen 
Produktion (3, B. Mißernten, weldhe größere Maſſen Evelmetall ins Ausland 
führen), in der Politit u. ſ. w. ermeflen. Natürlich müſſen folde Beobachtungen 
ſachverſtändig angeftellt, gewiffenhaft vorgenommen und von jever Zettelbantver- 
waltung jelbft ausgeführt werden. Auf eine Statutendeftimmung, oder einen 
Schablonenfag darf man fih nicht verlaffen. Nah ſolchen Beobachtungen ift 
dann auch die abfolute und relative Höhe tes Baarvorraths zu beftimmen und 
bie fih danach erforderlich erweiſende Höhe ift in erfter Linie gerade wieder 


Zettelbankweſen. 309 


durch die richtige Regulirung des Diskonto⸗ und Lombardgeſchäfts herbeizuführen, 
3. B. wenn ver Baarvorrath erhöht werben foll, durch Steigerung des Zing- 
fußes (Disfonts) für die von ber Bank im Wechfelfauf und auf Pfänder gemähr- 
ten Darlehen und, wenn dies dann noch nothwendig iſt, durch Beſchränkung ber 
Vorſchũſſe. Der felbfländige Metallbezug auf andrem Wege, meiftens alfo durch 
Ankauf, denn eine Bermehrung des eigenen Kapitald der Bank läßt ſich felten 
fofort vornehmen, fährt wenigftens in großem Umfang unternommen nicht zum Siele, 
mie bie befannten Goldankäufe ber franzöfifhen Bank öfters gezeigt haben. Er- 
Märlich genug, denn die Operation gleiht dem Füllen des Danaidenfaſſes. Dan 
fann ja den Baarvorrath nur mittelft neuer Notenausgabe oder ähnliher Schuld- 
aufnahme vermehren. Kein Wort braudt man nad dem Geſagten wohl mehr 
über den Berfuch zu verlieren, das „richtige” Berhältnig des Baarvorraths zum 
Rotenumlauf ein für allemal in einem arithmetifhen Berhältniß feftftellen zu 
wollen. Die ähnlichen Verſuche ber Geſetzgebung (metalliiche 2/3, 1/2, meift 1/,, 
auch mohl 1/, Dedung, Peel’fche Alte) können nur den Sinn haben, ein Mint- 
mal verhältniß des Baarvorraths zum Notenumlauf anzuorbnen, ſchaden aber 
auch hierdurch, weil fie damit oft unndthig viel, zu andren Zeiten wieder zu 
wenig verlangen, die Banfverwaltung im Iegteren Yalle aber nur zu leicht im 
Hinblid auf die Statuten läffig werben laſſen. (Bgl. auch Bd. VII S. 654 und 
unten Abſchn. VIII.) 

Das Hauptgewicht llegt bei der banfmäßigen Dedunz in dem Moment der 
leiten Realiſirbarkeit ver nicht Baar vorräthigen Aktiva. Dieſe 
wird durch die Natur der Noten als ftetsfälliger Berbinblichkeiten gefordert. Da⸗ 
durch wirb dem Einwand verer, welche für die „ſtets einlösbaren“ Noten volle 
Baardeckung verlangen, foweit Rechnung getragen, als diefer Einwand den that« 
fählihen Berhältnifien entſpricht: die unregelmäßige Rüdftrömung Tann größere 
Dimenfionen annehmen, jedoch auch bier nicht zeitlich und räumlich ungemeſſene. 
Die leichte Realifirbarkeit der Ausſtände bildet die richtige Affeluranz gegen dieſe 
allerdings im Notenumlauf verborgenen Gefahren. 

Aus dtefen Gründen iſt Eigenthum an Grund und Boden, find Hypo⸗ 
thefen, direkte Forderungen an ven Staat, große Beftände Iangterminlicher Werth- 
papiere Feine geeignete Notendedung. Selbſt wenn fie eine fihere Dedung 
find, was oft genug dahin flieht — nicht felten in Fritifher Zeit auch bei Grund 
und Boden und Hypotheken —, fo find fie im Einzelnen und vollends in Maſſe 
ſchwer zu realifiren. Der hypothekariſche Kredit muß nad der Natur ber Land⸗ 
wirthſchaft und der Kapitalanlage im Häuferbau für längere Termine in Anſpruch 
genommen werden. Darin, nicht in einem willfürlihen, vermeintlih durch bie 
Tendenzen ber Neuzeit begünftigten „DMonopol" des Zettelweſens für den Hanbels- 
frevit, liegt der innere Grund der Notendedung durch Wechfel und Lombards, 
ftatt durch Hypotheken. Andere Dedungen, 3. B. Kontolorrentforderungen, bloße 
Buchforderungen, gewöhnliche Obligationen, ferner gute, d. h. im Kurfe wenig 
Ihwanfende Börfeneffelten, alfo einzelne Staatspapiere, Prioritätsobligationen, 
weniger ſchon Aktien, am wenigften fog. Spielpapiere wird man im Princip fir 
die Zettelbant dem Wechſel⸗ und Lombarbgefhäft nachſetzen müſſen. Werben fie 
nicht ganz ausgeſchloſſen, fo dürfen fie wenigftens nur für einen Heinen Theil 
der Noten zur Dedung dienen. Das Speluliren in ſolchen Effelten auf eigene 
Rechnung mit den Notenkapitalien Tann am wenigften gutgeheißen werben. Eben 
deßwegen ift die Verbindung des Zettelgefhäfts mit dem Geſchäft des Credit⸗ 


308 Settelbankwefen. 


Die bankmäßige Dedung folgt aus Weſen, Funktion und Entwicklungs⸗ 
gefchichte ver Banknote und ber Zettelbant und aus ber Analogie mit dem Depofi- 
tengeſchäft. Es ift zugleich diejenige jpecielle Dedung, welche aus dem allgemeinen 
Bankverwaltungsgefeg grade für die Zettelbant abzuleiten ifl. Sie befteht aus 
einem Baarvorrath und leiht realifirbaren Werthen in 
rihtiger, nah den Umffänden wedhfelnder Kombination. 
Solche Werthe bieten fih am Beften in den beiben urjprängliden Hauptaktiv⸗ 
geihäften ver Bank, im Diskonto⸗ und Lombarbgefhäft, und zwar ganz vornem- 
(ih im erfteren. Die Wechſeldiskontirung und in zweiter Linie die Yombarbirung 
ermöglichen die regelmäßige Rüdftrömung der Noten zur Bank und bieten ba- 
durch die ©elegenheit zur wirkfamften, dem jeweiligen Verkehrsbedürfniß entfpre- 
chenden Regulirung der Notenemiffton, in vieler Beziehung zu einer richtigen 
organifchen Selbftregulirung des Notenumlaufs. Die bisfontirten (und angelauften) 
Wechſel und die Lombarbforderungen find daher aud die befle, bie Haupt- 
deckung der Noten, woneben der Baarvorrath, welcher erſt in Berbintung 
mit diefen Aktivgeſchäften eine richtige Stellung erhält, nur in zweiter Linie 
für die Zettelbant in Betracht kommt. Eine große Ketzerei angeſichts der populären 
Meinung, welche alle nicht metallifch gebedten Noten ſchlechtweg „ungedeckte“ 
Noten zu nennen bellebt, was aber eine allzu materialiftiihe Auffaffung im Zeit- 
alter bes fpirituellften aller wirthſchaftlichen Elemente, des Krebits if. Es kann 
bier zum Beleg für diefe Anfiht nur auf die frühere Entwidlung über das für 
das Notengefchäft als Typus dienende Depofitengefchäft, fowie auf den Art. Papier- 
geld verwiefen werben. Gerade d:r Vergleich zwiſchen Papiergeld und Banknoten 
ift bier fehr Iehrreih. Die metalliihe Dedung beider ift oft viefelbe, der Baar⸗ 
vorrath für das einft Banknote over einlösbares Papiergeld geweſene eigentliche 
Papiergeld ift relativ, mitunter felbft abfolut nicht Heiner als ehedem, aber pie 
anderen leicht realijirbaren Dedungsmittel fehlen ganz 
oder zum großen Theil, fo daß die regelmäßige Rüdftrömung bes Papiergelvs 
ftodt oder feine genügenvde Stärke bat. Das iſt der Grund der andauernden 
Uneinlösbarkeit (Defterreih, Rußland, Italien in der Gegenwart, 1868). 

Der Baarvorrath hat feine Funktion gegenüber der unregelmäßigen Rüd⸗ 
firömung der Noten zum Zwed der Einlöfung gegen Metall, Diefe Räditrömung 
ift bei normaler Entwidlung des Zettelbantwefens felbft in anomalen Zeiten durch 
eine richtige Regulirung der Ausftände (Aktiva) der Bank fehr wohl zu beherrichen. 
Ihre ungefähre Bedeutung läßt fih aus den Beobachtungen im Banfgefchäft für 
gewöhnliche Zeiten ziemlich genau vorausbeftimmen, weil e8 ſich Hier um periobifche 
Bewegungen handelt. Wär kritiſche Zeiten kann man ebenfalls mit einiger Auf- 
merkſamkeit und mit der nothwendigen Vorſicht des Praftikers, welcher mehr thut, 
al® die forgfame theoretifche Prüfung fordert — ähnlich wie der Baumeiſter, 
welcher die theoretifch beftinnmte Tragfähigkeit niemals ganz in Anfpruh nimmt — 
bie Stärke der unregelmäßigen Nüdftrömung einigermaßen im Voraus durch bie 
Beachtung der Borgänge auf tem Geldmarkte, im Handel, in der allgemeinen 
Produktion (3, B. Mißernten, welde größere Maſſen Evelmetall ins Ausland 
führen), in der Politik u. f. w. ermeſſen. Natürlib müſſen folde Beobachtungen 
fahverftändig angeftellt, gewiflenhaft vorgenommen und von jeder Zettelbankver- 
waltung jelbft ausgeführt werden. Auf eine Statutenbeflimmung, oder einen 
Schablonenfag darf man fih nicht verlaffen. Nah folden Beobachtungen ift 
dann auch die abfolute und relative Höhe des Baarvorraths zu beftimmen und 
bie fih danach erforderlich erweijende Höhe ift in erfter Linie gerade wieder 


Settelbankwelen. 309 


durch die richtige Regulirung des Disfontos und Lombardgeſchäfts herbeizuführen, 
j. D. wenn ber Baarvorrath erhöht werben fol, dur Steigerung des Zins⸗ 
fußes (Diskonts) für die von ber Bank im Wechfelfauf und auf Pfänder gewähr- 
ten Darlehen und, wenn dies dann noch nothwendig iſt, durch Beſchränkung der 
Vorſchüſſe. Der felbfländige Metallbezug auf andrem Wege, meiftens alfo durch 
Ankauf, denn eine Bermehrung des eigenen Kapitals der Bank läßt ſich felten 
fofort vornehmen, fährt wenigftens in großem Umfang unternommen nicht zum Ziele, 
wie die befannten Goldankäufe der franzöſiſchen Bank öfters gezeigt haben. Er⸗ 
Märlich genug, denn die Operation gleicht dem Füllen des Danaidenfaſſes. Dan 
kann ja den Baarvorrath nur mittelft neuer Notenausgabe over ähnliher Schuld⸗ 
aufnahme vermehren. Kein Wort braudt man nad dem Gefagten wohl mehr 
über den Verſuch zu verlieren, das „richtige Berhältniß des Baarvorraths zum 
Rotenumlauf ein für allemal in einem arithmetifhen Verhältniß feftftellen zu 
wollen. Die ähnlichen Verſuche der Geſetzgebung (metalliiche 2/3, 1/2, meift 1/,, 
auch wohl 1/, Dedung, Peel’fche Arte) Fönnen nur den Sinn haben, ein Mini- 
m al verhältniß des Baarvorraths zum Notenumlauf anzuorbnen, ſchaden aber 
auch hierdurch, weil fie damit oft unnöthig viel, zu andren Zeiten wieder zu 
wenig verlangen, die Bankverwaltung im legteren Falle aber nur zu leicht im 
Hinblid anf die Statuten Läffig werben laſſen. (Bgl. auch Bd. VII S. 654 und 
unten Abſchn. VIII.) 

Das Hauptgewicht legt bei der bankmäßigen Deckung in dem Moment der 
leihten Realtifirbarfett ver nit baar vorräthigen Aktiva. Diefe 
wird durch bie Natur der Noten als ftetsfälliger Verbindlichkeiten gefordert. Da⸗ 
durh wird dem Einwand derer, welche für die „ftets einlösbaren" Noten volle 
Baarbedung verlangen, foweit Rechnung getragen, als dieſer Einwand ben that⸗ 
fählihen Berhältnifien entfpricht: die unregelmäßige Rückſtrömung Tann größere 
Dimenfionen annehmen, jedoch auch bier nicht zeitlich und räumlich ungemefjene, 
Die leichte Realifirbarkeit ver Ausſtände bildet die richtige Aſſekuranz gegen dieſe 
allerbings im Notenumlauf verborgenen Gefahren. 

Aus dieſen Gründen iſt Eigentyum an Grund und Boden, find Hypo⸗ 
theten, direkte Forderungen an den Staat, große Beftände langterminlicher Werth- 
papiere Feine geeignete Notenvedung. Selbſt wenn fie eine fihere Dedung 
find, was oft genug dahin fieht — nicht felten in kritifcher Zeit auch bei Grund 
und Boden und Hypotheken —, fo find fle im Einzelnen und vollends in Maſſe 
ſich wer zu realifiren. Der hypothekariſche Kredit muß nach der Natur der Land⸗ 
wirtbfchaft und der Kapitalanlage im Häuferbau für längere Termine in Anfprud 

enommen werben. Darin, nit in einem willkürlichen, vermeintlih durch bie 
Fenbenzen ber Neuzeit begünftigten „Monopol” des Zettelmefens für den Handels⸗ 
frevit, liegt der innere Grund der Notendedung durch Wechfel und Lombards, 
ftatt dur Hypotheken. Andere Dedungen, 5. B. Kontoforrentforderungen, bloße 
Buchforderungen, gewöhnliche Obligationen, ferner gute, d. 5. im Kurfe wenig 
ſchwankende Börfeneffeften, alſo einzelne Staatspapiere, Prioritätsohligationen, 
weniger ſchon Aktien, am wenigften fog. Spielpapiere wird man im Princip für 
die Zettelbant dem Wechſel⸗ und Lombarbgefhäft nachfegen müſſen. Werben fie 
nit ganz ausgejhloffen, fo dürfen fie wenigftens nur für einen Heinen Theil 
der Noten zur Dedung dienen. Das Spekuliren in foldhen Effetten auf eigene 
Rechnung mit den Notenfapitalien Tann am wenigften gutgeheißen werben. Eben 
deßwegen ift die Verbindung des Zettelgefchäfts mit dem Geſchäft des Credit⸗ 


308 Zettelbankwefen. 


Die bankmäßige Dedung folgt aus Weſen, Funktion und Entwicklungs⸗ 
geihichte der Banknote und der Zettelbanf und aus ber Analogie mit dem Depofi- 
tengeſchäft. Es ift zugleich viejenige ſpecielle Dedung, welche aus dem allgemeinen 
Bankverwaltungsgefeg grade für die Zettelbant abzuleiten iſt. Sie befteht aus 
einem Baarvorrathb und leiht realifirbaren Werthen in 
rihtiger, nah den Umſtänden wedhfelnder Kombination. 
Solide Werthe bieten fih am Beften in ven beiden urfprüngliden Hauptaktiv⸗ 
geihäften der Bank, im Disfonto- und Tombarbgefhäft, und zwar ganz vornem- 
lich im erfteren. Die Wechfelvisfontirung und in zweiter Linie die Lombarbirung 
ermöglichen die regelmäßige Rüdftrömung ver Noten zur Bank und bieten ba= 
durch die Gelegenheit zur wirkfamften, dem jeweiligen Verkehrsbedürfniß entfpre- 
chenden Regulirung der Notenemiffion, in vieler Beziehung zu einer richtigen 
organifchen Selbftregulirung des Notenumlaufs. Die disfontirten (und angelauften) 
Wechſel and die Lombarbforderungen find daher aud vie befte, die Haupt- 
bedung ber Noten, woneben der Baarvorrath, mwelder erft in Verbiudung 
mit diefen Altiogefhäften eine richtige Stellung erhält, nur in zweiter Linie 
für die Zettelbant in Betracht kommt. Eine große Kegerei angeſichts der populären 
Meinung, welche alle nicht metalliſch gededten Noten ſchlechtweg „ungebedte” 
Noten zu nennen beliebt, was aber eine allzu materialiftiihe Auffaffung im Zeit- 
alter des fpirituellften aller wirtbid,aftlihen Elemente, des Kredits if. Es kann 
bier zum Beleg für dieſe Anſicht nur auf die frühere Entwidlung über bas für 
das Notengeſchaͤft als Typus dienende Depofitengefhäft, fowie auf den Art. Papier- 
geld verwiefen werben. Gerade der Vergleich zwifchen Papiergeld und Banknoten 
ift hier fehr lehrreich. Die metalliihe Dedung beider ift oft viefelbe, der Baar⸗ 
vorrath für das einft Banknote oder einlöshares Papiergeld gewefene eigentliche 
Papiergeld ift relativ, mitunter felbft abfolut nicht Keiner als ehenem, aber pie 
anderen leiht realifirbaren Dedungsmittel fehlen ganz 
oder zum großen Theil, fo daß die regelmäßige Rüdftrömung bes Papiergelos 
ftodt oder Teine genügenvde Stärke hat. Das tft der Grund ber andauernden 
Uneinlösbarteit (Defterreih, Rußland, Itallen in der Gegenwart, 1868). 

Der Baarvorrath Hat feine Funktion gegenüber ver unregelmäßigen Rüd⸗ 
ftrömung der Noten zum Zwed der Einlöfung gegen Metall, Diefe Rüdftrömung 
ift bei normaler Entwidlung des Zettelbantwejens felbft in anomalen Zeiten durch 
eine richtige Regulirung der Ausſtände (Aktiva) der Bauk fehr wohl zu beberrfchen. 
Ihre ungefähre Bedeutung läßt fih aus ven Beobachtungen im Bankgeſchäft für 
gewöhnliche Zeiten ziemlich genau vorausbeftimmen, weil es fid) bier um periopifche 
Bewegungen handelt. Wär kritiſche Zeiten kann man ebenfalls mit einiger Auf- 
merkſamkeit und mit der nothwendigen Vorſicht des Praftilers, welcher mehr thut, 
als die forgfame theoretifche Prüfung fordert — ähnlich wie der Baumelfter, 
welcher die theoretifch beftimmte Tragfähigfeit niemals ganz in Anfprud nimmt — 
bie Stärke der unregelmäßigen Rüdftrömung einigermaßen im Voraus dur bie 
Beachtung der Vorgänge auf tem Geldmarkte, im Handei, in ver allgemeinen 
Produktion (3, ®. Mißernten, welche größere Maflen Epelmetall ins Ausland 
führen), in der Politik u. |. w. ermeſſen. Natürlich müſſen folde Beobachtungen 
ſachverſtändig angeftellt, gewilfenhaft vorgenommen und von jeder Zeitelbankver- 
waltung jelbft ausgeführt werden. Auf eine Statutenbeftimmung, oder einen 
Schablonenfag darf man fi nicht verlaffen. Nah folhen Beobachtungen ift 
dann auch die abfolute und relative Höhe tes Baarvorraths zu beftimmen und 
bie ſich danach erforderlich erweiſende Höhe iſt in erfter Linie gerade wieber 


Zettelbankweſen. 309 


durch die richtige Regulirung des Diskonto⸗ und Lombardgeſchäfts herbeizuführen, 
3. B. wenn ver Baarvorrath erhöht werben fol, durch Steigerung des Zine- 
fußes (Diskonts) für die von ber Bank im Wechſelkauf und auf Pfänder gewähr- 
ten Darlehen und, wenn dies dann noch nothwendig ft, durch Beſchränkung ver 
Vorſchüſſe. Der felbfländige Metallbezug auf andrem Wege, meiftens alfo durch 
Ankauf, denn eine Bermehrung des eigenen Kapitals der Bank läßt ſich felten 
fofort vornehmen, fährt wenigftens in großem Umfang unternommen nicht zum Ziele, 
wie die befannten Goldankäufe der franzöflfhen Bank öfters gezeigt haben. Er- 
Märlich genug, denn die Operation gleiht dem Füllen des Danaidenfaſſes. Dan 
kann ja den Baarvorrath nur mittelft neuer Notenausgabe oder ähnlicher Schuld- 
aufnahme vermehren. Kein Wort braudt man nad dem Gefagten wohl mehr 
über den Berfuch zu verlieren, das „richtige” Verhältniß des Baarvorraths zum 
Rotenumlauf ein für allemal in einem arithmetifhen Verhältniß feftftellen zu 
wollen. Die ähnlichen Verſuche ver Geſetzgebung (metalliiche 2/3, 1/2, meift 1/,, 
auch wohl 1/, Dedung, Peel’fche Akte) können nur den Sinn haben, ein Mini- 
m al verhältniß des Baarvorrath zum Notenumlauf anzuorbnen, ſchaden aber 
auch hierdurch, weil fie damit oft unndthig viel, zu andren Zeiten wieder zu 
wenig verlangen, die Bankverwaltung im letzteren Falle aber nur zu leicht im 
Hinblid ‘anf die Statuten läffig werben laſſen. (Vgl. auch Bd. VIIS. 654 und 
unten Abſchn. VIII) 

Das Hauptgewicht llegt bei der bankmäßigen Dedunz in dem Moment ber 
leihten Realiſirbarkeit ver nicht baar vorräthigen Aktiva. Dieſe 
wird durch die Natur der Noten als ftetsfälliger Verbinplichkeiten geforbert. Da- 
durh wird dem Einwand derer, welche für die „ſtets einlösbaren“ Noten volle 
Baarbedung verlangen, foweit Rechnung getragen, ale dieſer Einwand den that« 
fählihen Berhältniffien entfpricht: die unregelmäßige Nüdftrömung Tann größere 
Dimenfionen annehmen, jedoch auch bier nicht zeitlih und räumlich ungemeffene. 
Die leichte Realifirbarkeit der Ausftände Bilvet die richtige Aſſekuranz gegen biefe 
allerbings im Notenumlauf verborgenen Gefahren. 

Aus dieſen Gründen tft Eigentbum an Grund und Boden, find Hypo⸗ 
thefen, virefte Forderungen an ven Staat, große Beftände Tangterminlicher Werth- 
papiere Feine geeignete Notendeckung. Selbſt wenn fie eine fihere Dedung 
find, was oft genug dahin fteht — nicht felten in Fritifcher Zeit auch bei Grund 
und Boden und Hypotheken —, fo find fie im Einzelnen und vollends in Maffe 
ſich wer zu realifiren. Der hypothekariſche Kredit muß nad der Natur ber Land⸗ 
wirthſchaft und der Kapitalanlage im Häuferbau für längere Termine in Anfprud 

enommen werben. Darin, nidt in einem willfürlichen, vermeintlich durch vie 
Fendenzen ber Neuzeit begünftigten „Monopol“ des Zettelmefens für den Handels⸗ 
frevit, Tiegt der innere Grund der Notendedung durch Wechfel und Lombards, 
ftatt durch Hypotheken. Andere Dedungen, 3. B. Kontoforrentforderungen, bloße 
Buchforderungen, gewöhnliche Obligationen, ferner gute, db. 5. im Kurfe wenig 
ſchwankende Börfeneffelten, aljo einzelne Staatspapiere, Prioritätsobligationen, 
weniger fon Aktien, am wenigften fog. Spielpapiere wird man im Princip für 
die Zettelbant dem Wechfel» und Lombardgeſchäft nachfegen müſſen. Werben fie 
nicht ganz ausgefhloffen, fo dürfen fie wenigftens nur für einen Heinen Theil 
der Noten zur Dedung dienen. Das Spekuliren in foldhen Effelten auf eigene 
Rechnung mit den Notenkapitalien fann am wenigften gutgeheißen werben. Eben 
deßwegen ift vie Verbindung des Zettelgefhäfts mit dem Geſchäft des Crebit- 


810 Settelbankwefen. 


mobiler verwerflich, felbft bei getrennter Rechnung (wie bei der Meininger Krebit- 
bant). Alle folhe andren Gefhäfte müflen danach beurtheilt werben, ob bie barin 
angelegten Notenfapitalien leicht realiſirbar und ſicher find. 

V. Rotenansgabe und Diskontogeſchäft. 

Nach den beiden foeben erwähnten Gefihtspuntten ift natürlich auch das Disfonto- 
und Lombardgeſchäft zu leiten. Das Nähere über dieſe beiden Gefchäfte gehört nicht hie⸗ 
ber. Hter fol in Betreff der Stellung gerate ver Banknote und ber Zettelbank zu dieſen 
Geſchäften nur ein einzelner Punkt, welder zugleih für die Streitfrage über große 
und Meine, freie und monopolifirte und centralifirte Zettelbanten wichtig ift, her⸗ 
vorgehoben werben , der früher angebeutete: die Funktion ver Banknote 
in Kreditkriſen. Die allgemeine vollewirthichaftliche Bedeutung der Zettel- 
banf liegt in der Erſparung eines fonft theilweife unproduktiv werbenden volks⸗ 
wirthſchaftlichen Kapitale, der durch die Notenausgabe entbehrlihen Edelmetall⸗ 
menge, und in ber Gewährung der Mittel für das Aftivgefchäft, alfo vornehmlich 
für das fo hochwichtige Diskontogefhäft und das im Ganzen für Zettelbanten 
allerdings ſchon weniger als jenes geeignete, auch fonft manche Bedenken bietenbe 
Lombarbgefhäft. Bet normaler Entwidlung des Krebitbankweiens und in normalen 
Zeiten f; bie Zuführung von Disfontolapitalien durch das Zettelgefhäft nicht 
überall fo ausnehmend wichtig, daß fi, wenn andre Gründe es gebieten follten, 
nicht allenfalls aud ohne Zettelbanten auskommen ließe. Aber gerade in Krebit- 
frijen erweist fi vie Note als primäres Krevitmittel im höchſten Maße nüglid. 
Gerade hier zeigt fih, daß fie auch im entwideltften Kreditſyſtem nicht oder nur 
zum Nachtheil entbehrt werden Tann. Um dies zu erhärten, ſei es geftattet, bei 
biefem einen Punkte etwas weiter auszuholen. 

Das Berärfniß eines regelmäßigen Dietontogefääfte ertlärt fih aus der 
Natur des modernen, auf Arbeitstheilung beruhenden Produktions⸗ und Abfag- 
procefied. Die Waare geht auf den verſchiedenen Stufen ihrer Verarbeitung gegen- 
wärtig oft in andre Hände über und Tommt felbft als fertiges Erzeugniß erft 
dur viele Zwiſchenglieder an den Konfumenten, welcher ven eigentlichen Gegen- 
werth giebt. Daher bei allen frühern Käufern vie Schwierigkeit ver fofortigen 
Zahlung, bei allen früheren Verkäufern das Bedürfniß nad} diefer Zahlung, ohne 
welche die Probuftion und der Handel leicht ins Stoden geräth ober zum Nad- 
theil des Einzelnen und mehr nod der Geſammtheit mit viel größerem Kapital 
gearbeitet werden muß, was nichts Andres befagt, als daß ein Theil des Kapitals 
unprobuftiv bleibt. Die Abhilfe fand fi in der Geſchäftstratte des Verkäufers 
auf feinen Käufer und dem Accept des legteren, für den Betrag des Kaufpreifes 
und für die Zeit bi8 zur vorausfichtlichen reellen Zahlungsfähigleit des Käufers 
nach erzieltem Abfag und feinerfeitd erhaltener Zahlung Der Berfänfer läßt den 
Wechſel disfontiren und empfängt fomit fofort fein Kapital in der ihm nöthigen 
Form des Geldes oder des ftatt Teßterem brauchbaren Gelvfurrogats (3.3. eines 
Buchkredits bei einem Sefhäftsmann, bei einer Bank, oder einer Banknote) zurüd. 
Das moderne Krebitbankwefen hat nun offenbar für dieſe volkswirthſchaftlich fo 
wichtige Diskontirung überhaupt einen fehr großen Wert. Denn da bei dem 
nothwendig niedrigen Diskontofage eine regelmäßiges Diskontogefchäft faum 
anders als von privaten ober dffentlihen Banlanftalten betrieben werben Tann, 
fo tft die Entflehung der letzteren die Borausfegung für jenes Geſchäft. Bis dahin 
ift der Verkehr für die Diskontirungsbedürfnifſe auf die zufällig grade bisponiblen 
Geldſummen einzelner Gefchäftsleute angewiefen. Die Hauptquelle für das Die- 
fontiren ift bann jedenfall das Depofitenbanktwefen, in weldhem fich bie Kaflen 


Zettelbankweſen. 311 


der Geſchaͤftoleute anſammeln und nun nad den früher entwickelten Grundſätzen 
des Depofitengefhäfts ein Theil ver eingelegten Summen mit Sicherheit ſtets 
zur Diskontirung benutzt werben kann, während dies früher vielleicht nur zeit- 
weilig mit Meinen Beträgen bireft durch die Eigner geſchah. Auch bei ver höchſten 
Entwidlung der Krebitwirtbichaft ift es das Depofitengefhäft in feiner eigenthüm⸗ 
lien Ausbildung, welches die bei weiten beventenpften und am regelmäßigften 
verfügbaren Mittel für die Dislontirung und für die fonftigen Unsleihungen 
bietet. Es befteht Bier nämlich die Sitte, die von der Bank gewährten Srebite, 
foweit fie nicht in der Form von Münze oder Banknoten gebraudyt werben, bei 
ihr felbR anf Kontoforrent, d. b. eben wieder auf Depofitentonto gutfchreiben und 
bie Runden darüber nad Bedarf mittelft Checks verfügen zu laſſen, worauf dann, 
ganz wie früber bei den primitiven Girobanken, die unter Kunden einer und der⸗ 
felben Bank vorkommenden Zahlungen nur in den Bantbüchern umgefchrieben, vie 
zwifchen Kunden verfchtevener Banken zu leiftenden Zahlungen durch vie Einrich- 
tung ber Elearing-Houfes (London, Newport) berichtigt, refp. zum größten Theil 
durch Kompenfation ausgeglichen werben. Die Geftaltung des Krebit- und Bant- 
weſens in Schottland, London, vem übrigen England, in Newyork und Bofton 
und in vielen nordamerikaniſchen Staaten wird grade durch dieſe Entwidlung bes 
Depofitengefchäfts charakterifirt. Das ganze Krebitweien wird fo zu einem höchſt 
tomplicirten und doch fehr alkurat, ficher und ſchön arbeitenden, weil nach wenigen 
einfachen und höchft rationellen Brincipien konſtruirten Mehanismus, ein Triumph 
des ſcharfen Handelsgeiſtes und ein Zengniß der menſchlichen Entwidiungsfähig- 
keit, wie nur der kunſtvollſten Maſchinen eine. Uber grabe in biefem feinen 
Mechanismus ver Kreditwirthſchaſt verfagen mitunter ein paar Räder. In kriti- 
fhen Momenten erkennt man, daß man es doch auch hier im Grunde nit mit 
einem Mechanismus, einer bloßen Materie, ſondern mit einem Organismus zu 
thun bat, veflen belebende Seele ber Krevit, das Vertrauen, das fpirituelle 
Moment par excellence in der Volkswirthſchaft, if. Das Vertrauen ſchwindet, 
bie Seele flieht, leblos flodt der Organismus, oder in ber früheren Sprachweiſe, 
bie taufend Räder, vie fo kunſtvoll in einander griffen, die Maſchine ſteht ſtill. 
Da nan zeigt fi) die Bedeutung des primären Krebitmittels, ver Banknote. 
Das Weſen ver Krebitgelpwirthfchaft im Gegenfage zur Metallwirthfchaft liegt 
darin, daß die große Maſſe der im Verkehr vorlommenven Zahlungen, namentlich 
derjenigen unter Geichäftsleuten, nicht durch die körperliche Benugung von Münze, 
fondern durch Krebitumlaufsmittel, wie Anweifungen, girirte Wechfel, fällige Coupons, 
Banknoten, Checks, und durch Einrichtungen des Kreditweſens, wie die Verrech⸗ 
nungen in den Bankbüchern, die Abrechnungen im Clearing-Houfe bewerkftelligt 
werden. Das noch befonders Eigenthümliche, auch im Gegenſatz zur Papiergelb- 
wirthſchaft, ift dabei, daß alle die auf Metallgelv als das gefeglihe Zahlungs- 
mittel lautenden Zahlungen unter freier Einwilligung der Berechtigten 
mittelft folder Kreditumlaufsmittel und Einrichtungen beglihen werben und das 
Metallgeld nad) wie vor die Währung bleibt und nur als körperlich gebrauchtes 
Zaufchmittel zu fungiren aufhört. Dieſes Moment der Freiwilligkeit ift eben das 
Krevitmoment, im Gegenfat zum Zwang beim Papiergeld, und bildet das wahr. 
haft Großartige in der Kreditwirthſchaft. Aber zugleich birgt dieſes Moment aud) 
die befonderen Gefahren. Denn ſobald vie Bereitiilligleit fhwindet, bei ber 
Zahlung auf den Empfang wirklichen Geldes zu verzichten, droht das ganze Ge⸗ 
bände der Krebitwirthicheft den Einfturz. Dabei iſt es ja das Weſen des bier 
in Betracht kommenden Bertrauensfaltors, daß das Vertrauen aller Einzelnen ſich 


312 Settelbankmwefen. 


gegenfeitig bebingt: weil A vertraut, vertraut B und umgelehrt jener mur, weil 
diefer es thut. Daraus erklärt fi der in Mritifchen Zeiten völlig epidemiſche 
Charakter des Mißtrauens. In vielen einzelnen Yällen begründet, greift das 
Mißtrauen allgemein um fi, zerflört ven Krebit aud des Vertrauen Ver- 
bienenden und neben manchen Schulvigen, welche ven Kredit gemißbraudt haben, 
fallen nod mehr Unſchuldige, welde ven Kredit nur gebraucht haben und 
wer fann das in ber Krebitwirtbichaft unterlafien! Darin liegt das Schlimme 
vor Allem in den fog. Handeld- und Krebitfrifen, Der Natur ber Sade nad 
verbreitet fich die Kreditloſigkeit jedoch vornemlich unter der durch alle mögliden 
Beziehungen des Kredits verknüpften Gefchäftswelt und das Mißtrauen vorzugs- 
weife gegen biejenigen Zahlungsformen des Krebits, welde in dieſen Kreifen ge- 
bräudhlih find und durch deren Verhältnifie zumeift gefährdet werben. Dies gilt 
daher von den Banknoten nur zum Theil, weil dieſe auch in andren Kreiſen 
cirfuliren und weil die Dedung der Noten auch in einer großen. Geſchäftskriſis 
nicht nothwendig erheblich gelitten zu haben braudt. Lestere Behauptung könnte 
gerade nad den früheren Erörterungen gewagt erjcheinen. Jedoch bebenfe man, 
daß einmal jegt der Baarvorrath in Betracht kommt und das eigene Kapital der 
Bank nunmehr feine Aufgabe zn erfüllen hat, definitive Verlufte an ben Ausflän- 
den zu beden und? — auch bei gleicher Anlage wie die Notenfapitalien — die 
Lücken mit auszufüllen, welche das momentane Ausbleiben von Zahlungen fälliger 
Wechfel hervorruft. Endlich ift die Menge der nothleidenden Wechjel, welche die 
Banken biskontirt haben, der den Vorſchuß bei geſunkenen Preifen unb Kurfen 
nit mehr deckenden Pfänder u. ſ. w. doch auch in den fchlimmften Krifen feine 
ganz ungemefjene. Auch bier liegt ver Vergleich mit einer Epidemie wieder nahe, 
Es erkranken nit alle, fondern in ver Regel ein relativ doch ſtets nur Feiner 
Bruchtheil und es fterben nod viel weniger. Hat eine Bank zumal’ folive ge⸗ 
wirthſchaftet und fich rechtzeitig vorgefehen, was meiftens doch aud möglich iſt, 
fo wird ihr eigener Krebit und bamit derjenige ihres Depofitengefhäfts und mehr 
noch ihrer Banknoten nicht fo leicht wanken oder gar völlig zufammenftärzen. 
In diefer Hinfiht Tann man auf die Erfahrungen unter den verjchiebenften Bank⸗ 
foftemen, wenigftens in der neueren Zeit (1847, 1857, 1866) in England und 
Schottland, Branfreid und Deutihland, Nordamerika mit viel mehr Beruhigung 
binbliden, als einfeitige Schwarzfeherei oft zugeben wil. Mit Nüdfiht taranf 
kann man bie Banknote als ein geeignetes wichtiges Erfagmittel 
zur zeitweiligen Ausfüllung der vurd übergroßes Miß- 
trauen entftfandenentüde inderKrepitwirthfäa ft bezeichnen. 
Wo fie fehlt, wie 1857 in Hamburg, oder wo aud ihr Krevit nicht feft genug 
bleibt, wie allerdings vielleicht Bei vecentralifirtem Zettelbanfwefen mehr als bei 
großen Monopol» und Gentralbanten, da kann man aud nicht einmal mehr auf 
biefes „primäre Krebitumlaufsmittel, wie e8 der Eeonomift i. I. 1866 richtig 
nannte, zurüdgreifen, fontern da muß ausſchließlich Edelmetallgeld die Lücke im Krebit- 
foftem zeitweife ausfüllen. Eben deßhalb ift, wie der Vergleich zwiſchen Hamburg 
und London i. 3. 1857 deutlich beweist, die Kriſis noch viel [hlimmer, 
wo Zettelbanten fehlen. Freilich muß die Notenausgabe in folden 
Zeiten mit großer Vorficht erfolgen, nur zu Gunften an fi folverter Häufer, 
nit zur Hochhaltung von hohen Preifen ver Meberfpefulationgzeit, und erſt — mas 
aber aud genügt, da erſt in diefem Stadium die paniqueartige Welterwälzung 
der Krifis auf folive Häufer zu gefchehen pflegt — nad eingetretenem Rüdichlage 
der Wechſelkurſe, alfo nah dem Aufhören der Metollausfuhr. ine derartige 


Settelbankwefen. 313 


Rotenansgabe ift aber auch ganz gerechtfertigt und wird durch die mitunter vor- 
gebrachten Gründe nicht wiberrathen. Geeignet erweist fih dafür die Bant- 
note überhaupt wegen ber ihr eigenthümlichen Funktion im Verkehr, nicht 
nur die Note biefer oder jener Zettelbanflategorie, großer oder Heiner, centralifir- 
ter ober monopolifirter over nichtmonopoliſirter Banken. Doch wird die Note 
der großen Bank wohl wieder die noch geeignetere fein, weil fie ein verbreiteteres 
und belannteres Umlaufsmittel if. Die umfangreichen Geſchäfte einer gutgeleite- 
ten großen Bank fhaffen durch ihr Nenomee vielleicht wieder seinen fefteren Krebit 
der Noten einer ſolchen Bank, was diefen in Krebitfrifen wiederum zu Oute 
fommt. So fehen wir denn, daß e8 vor allen, au die gewaltige englifhe Bank 
war, welche 1825, 1847, 1357, 1866 durch ihre body alfrebitirten Noten mit 
biefem primären, aber immer doch noch mit dieſem Kredit mittel bie im 
Kreditſyſtem entflandene Lüde flatt mit Münze zeitweilig ausfüllte. Diefe Bank 
nnd die in Mleinerem Maaße mitunter ähnlich fungirende franzöſiſche und preußifche 
Bank haben In diefer Beziehung Vorzüge vor den Tleineren Zettelbanten ihrer 
umd anbrer Länder, beſonders aud Nordamerikas, gezeigt, und da fie Central⸗ 
und Monopolbanten find, muß mau biefe ihre Wirkfomfeit in Krifen vielleicht 
als eine befondere Glanzſeite des ceutraliftifh monopoltifirten Zet- 
telbanfwejens und als einen wirklihen Borzug vor dem becentralifirten Bankweſen 
bezeichnen. Judeſſen doch nur: vielleiht, nicht unbedingt. Denn die Ueber- 
legenheit jener Banken geht body nur aus ihrer Größe hervor und es frägt 
id, ob diefe Größe nur die Wirkung des Monopols ift, ob nicht vielmehr auch 
ohne legtered nur durch bie centralifirende Tendenz des Bankgefhäfts und ähn- 
lide in der modernen Volkswirthſchaft allgemein wirkfame Tendenzen ſich ſolche 
große Zettelbanten an ven Berfehrsmittelpuntten entwideln würden. Dann hätte 
man jenen Ruten ohne ven mandfahen Nachtheil des Monopols. Sicherlich ift 
es jedenfalls falſch, auf befonvere weitere Maßregeln der Gejeßgebung über Banken 
und über das Notendedungsiyftem fpeciell, 3. B. bei der Bank von England auf vie 
Peel'ſche Alte von 1844 jene Fähigkeit, in Krebittrifen mit vem gefefteten Noten- 
kredit dazwiſchen treten zu können, zurüdführen zu wollen. Denn biefe Fähigkeit 
beftand ſchon vordem und iſt durch jenes Geſetz, welches die Bank in folhen Zeiten 
an der Ertheilung ber Hilfe hindert, eher vermindert worden. 

Diefe Stellung der Zettelbanf in Krebitkrifen kommt demnach dem Diskonto⸗ 
bedürfniß des Verkehrs in der That fehr zu Statten, indem das vollftändige 
Stoden dieſes Gefhäfts in fchlimmfter Zeit nun vermieden werben Tann, Die 
Zeitung der Diskontirung Seitens ver Zettelbant unterfcheidet fih tm Uebrigen 
nicht wefentlid vor derjenigen Seitens einer anderen Kreditbank, wie namentlid) 
Depofitendbant. Nur kann die Rüdficht auf vie ftetsfällige Notenfhuld und auf 
den Umſtand, daß fih unter den Notenbefigern bei der Emilfion Heiner Noten- 
ffüde auch „Heine Leute” befinden, welche um fo mehr vor etwaigen Berluften 
zu bewahren find, noch größere Vorficht erbeifhen. In dieſer Hinficht wird fi 
die Bank namentlih an die naturgemäße Wechfellette halten müffen, welche von 
bemjenigen, welher nad dem regelmäßigen Gefhäftsgang Verkäufer ift, als 
Zraffanten zum Käufer als Ucceptanten hinüberläuft. Ferner muß vie Verfallzeit 
der Wechjel ein nicht zu hoch zu greifendes Marimum, in den Bantftatuten und ber 
Praris meiftens 9O—100 Tage, nicht überfchreiten. Der Krebit der Bank darf 
nit durch wenige Firmen monopolifirt fein, daher Beſchränkung des Marimal- 
kredits, welcher einer auf Wechſeln und fonftigen Obligationen als erfter Schuloner 
oder Bürge oder Hintermann vorlommenven Yirma zu gewähren if. Auch muß 


314 Zettelbankwefen. 


das Diskontolapital möglihft gleihmäßig Über die Zeit vertheilt, doch für folde 
Zeiten, in welchen eine ftärkere Rüdfirömung ber Noten zu erwarten fl, für das 
Fälligwerben größerer Summen geforgt fein. Weniger Werth ift auf bie übliche 
Vorſchrift „dreier guter Unterfchriften” anf den diskontirten Wechſeln zu legen, 
bie Beſtimmung bat aus andren Gründen foger Manches gegen ſich. 
Die Regulirung des Diskontogeſchäfts — ähnliches gilt auch von derjenigen 
des Lombard⸗ und etwaiger andrer Aktiogefhäfte — If dann das Hauptmittel 
zur Erhaltung der fteten Einlösbarleit der Noten. Sie muß in der Weile vor 
fi gehen, daß dabei den großen natürlichen Vorgängen und Bewegungen in der 
Volkswirthſchaft Rechnung getragen wird. Insbeſondere iſt aud) das Diskonto⸗ 
eſchäft der Zettelbank im ruhigen, ſpekulativen und aufgeregten oder kritiſchen 
Buflande bes Geldmarkts, bei finfendem und niebrigem, bei fleigendem und hohem 
Zinsfuße, in Zeiten flarfen Zu- und Abfluffes von Edelmetall im internationalen 
Handelsverkehr nad den Umftänden ganz verfghieben zu leiten. Namentlid bie 
große Gentralzettelbant muß möglihft vermeiden, fi den begründeten Bewegungen 
des Geldmarkts nachhaltig entgegen zu flemmen. In dieſer Hinſicht iſt die zu 
lange andanernde Fefthaltung eines niedrigeren Zinsfußes befonders tm ſpekulativen 
Zuftande des Marktes ſchädlich, weil dadurch der Ueberfpekulation" Vorſchub ge- 
Leiftet wird. Bielmehr muß der Bankdiskont im Ganzen den Beweguugen des 
Börſendiskonts fih anfhliegen. Die Beherrſchung des Geldmarkts durch 
die große Zettelbanf ift zu vermeiden, mit Ausnahme des oben zerglieberten Falles 
in Krebitfrifen, wo eben in ganz normaler Weile eine beſondre Funktion der 
Banknote wirkſam wird. Am Wichtigften ift eine richtige Disfontopolitif in Zeiten 
fteigenden Zinsfußes, ſich vorbereitender Geldklemme, gegen das Ende von Speku⸗ 
lationsperioden, wo bie Spekulation fhon den Boden unter fih wanken fühlt und 
die ihr noch gewährte knappe Spanne Zeit zu allen mögliden Ertravaganzen 
benugt, wo die Wechſelkurſe unglinftig werben, die Metalleinfuhr flodt, die Aus- 
fuhr beginnt, kurz dann, wenn alle ſolche Zeichen ven herannahenden Sturm ver- 
fünden. Hier muß zumal die große Eentralbanf oder das eine ſolche erfeßende 
Syſtem Heinerer Banken, wie der Newyorker, fehr vorfichtig operiren. Das Die- 
tontolapital folder Banken bildet einen erheblichen Theil des bispontblen, für 
furze Ausleihungen im kaufmänniſchen Geſchäft beftimmten Leihkapitals der Volks⸗ 
wirtbfhaft. Die mit ihm vorgenommenen Operationen find daher gerade in folder 
Zeit von weitreihendem Cinfluffe, wo der Andrang um Diskontirung bei der 
Bank wähst. Auf dreierlei Weife kann die Bank viefem Andrang entgegenwirten 
und dadurch die nothwendige Neaktion auf dem Geldmarkte und den Umſchwung 
der Wechſelkurſe mit befördern‘, während fie gleichzeitig ihre eigene Lage fichert. 
Sie verweigert gewiffe Darlehen, die Annahme gewifier Wechfel, beſchränkt den 
Marimalkredit einzelner Firmen, ein nicht fehr probates und niemals ge un. 
parteiiſch und unſchädlich durchzuführendes Mittel. Ober fie verkürzt die Marimal- 
verfallzeit aller Wechſel und Vorſchüſſe, was fchon gleihmäßiger wirft. Ober 
endlih fie erhöht ven Distont, entweder allgemein, ober etwas verſchieden 
für Wechſel und Lombarb und für die Fürzeren oder längeren Berfallzeiten ber 
Wechſel. Diefes Mittel verdient ven Vorzug, fihert die BVank am Meiften, trifft 
bie Geſchäftsleute gleihmäßiger und beförvert jene nothwendige Reaktion auf dem 
Gelomarkte, in den Wechfellurfen, Waarenpreiſen, Fondskurſen am Wirkfamften. 
Nur die Kurzfichtigkeit des intereffirten Geſchäftsmanns tadelt diefes Mittel, 
welches recht eigentlich fhon von dem Wefen der Kreditbank geforbert wird. Denn 
bie Vorausſetzung eines umfänglichen Attiogefchäftse der Bank ift ja, wie wir 


Settelbankmefen, 315 


ſahen, ein großes Balfivgeihäft, grade letztres aber wird durch Rückforderung 
von Depofiten und Nädftrömung von Noten beſchräukter ober vie Bank muß 
wenigſtens eine folhe Wendung im Pafflogefhäft befürdten und deßhalb das 
Altivgefhäft anders reguliven, d. h. die Wusleihungen durch Erſchwerung ver- 
mindern. Rühmend ift die Beachtung der im vorhergehenden aufgeftellten Forderun⸗ 
gen Seitens der meiften befleren Zettelbanfen, insbefondere ver großen enropätfchen 
Gentralbanten in den Geldklemmen ber neueren Zeit anzuerkennen. 

Dan würde aud irren, wenn man meinte, daß die Zettelbanten fidh ber 
bargelegten Diskontopolitik entfhlagen könnten, falls fie auf ihr eigenes 
Kapital zurädzugreifen vermögen. ‘Denn dieſes eigene Bankkapital hat eine weſent⸗ 
ih andre Funktion, muß ähnlich wie die angeliehenen Kapitalien placirt werben 
und Tann bei der Zettelbant fowenig als Bei anderen Krebitbanten eine gewifle 
Höhe im Berhältnig zu den Paffiven überfchreiten, wenn nicht eine zu Meine 
Durchſchnittsrente erzielt werben fol. Das Stammlapital der modernen Banken 
ft vor allem Sarantiefonds, bei zeitweiligem Ausbleiben ver fälligen 
Zahlungen wie namentlich bei definitiven Verluften. Seine Höhe iſt nach ähnlichen 
Grundfägen wie vie Höhe des Kapitals der Berficherungsgefellichaften zu beftim- 
men. Die Krevitbant, die Zettel- nicht minder als bie Depofitenbant, zeigt hierin 
die nahe Berwandtichaft mit der Verſicherungsbank. In ver Hauptthätigleit, der⸗ 
jnigen der Krepitvermittlung, worin das Weſen der Kombination bes 
tiv» und Paffivgefhäfts Liegt, tritt Dies auch ganz deutlich hervor. Die Bank 
leitet das Kapital der Deponenten und das durch die Rotenausgabe fläffig ge- 
machte Kapital durch ihre Mähewaltung und auf ihr Riſiko hinüber zur leihenden 
Geihäftswelt. Die erhobenen Zinfen vienen zur Beftreitung ber Geſchäftsun⸗ 
toften, zur Bezahlung der Afleluranzprämie für die Uebernahme bes Riſiko bei 
der Ausleihung und für die Berzinfung des Stammfapitale, welches eben jenes 
Rifilo tragen und daher fih entſprechend höher verzinfen muß. Ganz analoge 
Berhältnifie, wie 3. B. bei dem Berfiherungsgefchäft auf Alten. Die Höhe bes 
Stammbkapitals der reinen Zettelbant, d. h. derjenigen, welche nicht gleichzeitig das 
Depofitengefhäft und bloß die bankmäßigen Ansleihungen betreibt, muß mit Nüd- 
fiht auf den vorausfidtlihen Umfang der Notenausgabe, die Durchſchnittshöhe des 
Baarfonds und des Zinsfußes und das Riſiko der Anlagen, welches übrigens im 
Zinsfug mit zum Ausprud kommt, normirt werden. Da fid) die BVerhältnifie 
nicht im Voraus genau überfehen Iafien und die Entwidlung des Paſſivgeſchäfts, 
alfo der Notenausgabe, nur eine allmälige ift und fein darf, fo ift es wichtig, 
nit mit übergroßem vol eingezahltem Kapital die Bank zu gründen. Thellein- 
zahlungen, wie bei dem Kapital von Verſicherungsaktiengeſellſchaften, haben auch 
bier Mondes für fih. Ein fehr großes eigenes Kapital kann durchaus nicht im 
mer als erhöhte Sicherung der Gläubiger gelten, denn es verführt zu leicht zu 
unfoliven oder doch gefährliheren Geſchäften, um bei dem niedrigen Diskontoſatz 
bie erforderliche Rentabilität zu erzielen. 

VI. Der Staat und das Zettelbantweien. 

Im Bisherigen ift vie natürliche Entwidiung ves Zettelbanfwefens dar⸗ 
gefellt worben oder richtiger gejagt die natürliche Entwidlungstenpdenz viefes 
und des gejammten Kredit⸗Bankweſens, venn zur genauen Berwirflidung viefer 
Tendenz iſt es felten gelommen, weil ber Sta at in bie Entwicklung eingriff. 
Am Meiſten entfpriht der Darftellung bie Entwidlung des Privatbank 
geſchäfts (oder des fog, Banquier⸗Geſchäfts), die noh am Wenigſten geftört 
wurde und mitunter, wie in England, felbft zur Notenansgabe biefer Unter 


316 Bettelbankwefen. 


nebmungen führte. Hätte man nirgends eingegriffen und willkürlich reglementirt, 
fo ift zu vermutben, daß ſich das Bankgewerbe mit der Umbildung ber Volks⸗ 
wirthſchaft allgemein aus dem Gelpbanf- in das Kreditbankweſen verwandelt 
hätte, das Depofitengefhäft ſtets die Hauptſache geblieben und die Banknote 
vornemlih nur zur befferen und bequemeren Durdführung des Depofitengefchäfte 
nebenbei in Gebrauch gelommen wäre. Ebenfo würde mit dem Bebürfnig größerer 
Bankyejhäfte und dem allgemeinen Emporlommen des Affociationswefend Das 
Aktienbankweſen entflanben fein, vermuthlih in verfelben juriſtiſchen Stellung 
wie alles Aktienweſen. Lepteres würde aber dann vielleicht ſelbſt, unreglementirt, 
fih anders entwidelt haben und das Princip der unbeſchränkten Haftbarkeit jedes 
Aktionäre mit dem ganzen Vermögen für alle Verbindlichkeiten der Gefellichaft 
bie allgemeine Norm überall, nicht nur partiell in England, geworben fein. 

Allein es wäre ein Wunder gewefen, wenn fi das Bank⸗ und zumal das 
Zettelbankweſen in ven legten Jahrhunderten einer bis vor Kurzem zunehmenven 
Staatsbevormundung, in der Zeit des Staatsmonopols, des Staatsgewerbes, des 
Konceifionszwangs hätte frei entwideln, dürfen. Im Gegentheil mußte bie ganze 
Richtung der Zeit, insbefonvere der mertantiliftifch e Charakter ver Periode. 
fett dem 16. Jahrhundert im Bankweſen noch mehr als in irgend einer anbren 
wirthſchaftlichen Inftitution ihren maßgebenden Einfluß zur Geltung bringen. 
Und wiederum konnte das „Geld fchaffenve” Zettelbankweſen biefem Einfluß am 
Allerwenigften entrüdt bleiben. So kommt es, daß ftatt einer normalen, gleidh- 
mäßigen, allfeitigen Entwicklung des gefammten Krebitbanfwefens letstres meiftene 
in ſchiefe Bahnen gewaltfam getrieben worben ift, einzelne Zweige unter beſondrem 
Drud oder unter falfher Begünftigung andrer, verfrüppelt find, wie das Depofi- 
tenbankwefen auf dem Kontinent bis zum heutigen Tage, und das Zettelgefchäft 
fpeciel bald auf das Ungebührlichfte Tünftlih ausgedehnt, bald monopolifirt und 
centralifirt, bald engberzig und übermäßig beſchränkt worden iſt und jebenfall® nur 
in ganz feltenen Fällen fi) organiſch entwideln konnte. 

Zwei deutliche Gegenfäge treten in dem Verhalten des Staats gegenüber 
dem Zettelmeien hervor. Einmal wird das Zettelgefhäft als der Zauberftab be» 
trachtet, durch welchen wirthſchaftliche Blüthe, Reichthum, Handel, Hilfe in und 
Befeitigung der Finanznöthen hervorgezaubert werben fol. Sobann wird das 
BZettelgefhäft, mit unter dem Einfluß des Schredens vor den durch jene Anſicht 
begünftigten Mißbräuchen der Notenausgabe, als etwas höchſt gefährliches, nicht 
ängftli genug zu Kontrolirendes angefehen. Beide Anfichten gehen noch heute mit- 
unter in der Theorie und in der Staatöprarts unvermittelt neben einander ber. 
Im Ganzen kann man aber wohl bie erftere als bie ältere, die zweite als vie 
neuere, die begreifliche Neaktion bezeichnen. Iene führte zu den Winanzerperimen- 
ten des 18. Jahrhunderts, in Pranfreih zum Schwinvel Law's (1716 u. ff.) 
und zur Aſſignatenwirthſchaft der Revolutionszeit, wenn auch Hier noch andre Um⸗ 
flände in derfelben Richtung mitwirkten, in Defterreih zum Bankozettel (1761 ff.), 
in Rußland zum Afſignatenweſen (1768 ff). Auch in dem Syſtem der Staats- 
und Nationalbanten mit ihrem Monopol oder ihren mehr oder weniger weit ge- 
benden Privilegien in Betreff der Notenausgabe kommt dieſe Anfiht mit zum 
Borfchein, wenn hier auch zum Theil nur ein allgemeiner wirthſchaftlicher Grund⸗ 
fag feine fpecielle, vermeintlidy gerade im Bankweſen bejonders ſtark begründete 
Anwendung in einer Zeit findet, in welder man im Monopol und Privileg das 
Natürlide, Selbftverftännliche fah. Hierhin gehört pie Geftaltung des Banl- 
weſens in England feit ver Gründung ver englifhen Bank (1694), in Schottland 


Zettelbankwefen, 317 


von 1695—1726 (wo aus frembartigen Gründen ein ertheiltes Bankmonopol fiel 
und fo eine großartige freie Entwidlung ftattfinden konnte), in Preußen feit 1765, 
in Frankreich feit 1800, in Defterreih feit 1816. In neuerer Zeit wirkte in 
piefen und in andren europäifchen Staaten für vie Fefthaltung und felbft für vie 
Erweiterung des Monopols oder des Konceffionszwange im Baukweſen im Allge⸗ 
meinen und im Zettelbankweſen insbeſondre, neben der ſtets fo bedeutſamen Macht 
des wirthſchaftlichen Konfervatismus, einmal hiſtoriſch Ueberkommenes nicht leicht 
aufzugeben, dann beſonders jene zweite Anficht, welde in ver ftaatlihen Be- 
ſchränkung ein unentbehrlides Mittel zur Befeitigung der Gefahren des Bank⸗ 
geſchäfts und fpeziell ver Notenausgabe erkannte. So erllärt fi vie neuere Zettel⸗ 
bantgejeßgebung Großbritanniens feit 1844 (Peel’fche Akte), weldye die Noten- 
ausgabe noch mehr zu centralifiven und monopolifiren fucht, währenn bie älteren 
Beichränkungen in Betreff der Errichtung von Bankgeſellſchaften und hinſichtlich 
des Depofitengefhäfts, zum Theil fchon früher, im Sinne der Bankfreiheit be- 
feitigt werben. Aehnlich verhält es fi mit der Gefepgebung Frankreichs, wo im 
Jahre 1848 vie Departementalzettelbanfen mit der franzöfiihen Bank vereinigt 
und das Monopol ver legteren ftreng behauptet wird, bis erft in jüngfter Zeit 
tbeoretifche Angriffe darauf (bei Gelegenheit der GStreitfrage über die Rechte ber 
in den anneftirten Ländern übernommenen Bank von Annecy in Savoyen) er- 
folgen, jebody nicht ohne daß das Monopol an hervorragenden Delonomiften, wie 
WBolowski, auch Vertheidiger findet. So iſt aud in Preußen die Entwidlung 
des Zettelbantweiens dur die Reformen von 1846 und 1856 mit der preußi- 
ſchen Bank in durchaus centraliftifher Richtung vor fid) gegangen und wenn 
auch nicht an einem Monopol dieſer Bank im eigentlihen Sinne feftgehalten 
wurbe, fo ift doch der Konceffionszwang vollends für das Notengeſchäft ftreng 
aufrecht erhalten, die Konceffion felten und jebesmal nur für eine Feine Summe 
Roten (1 Mil. Thlr.) und unter weiteren genau normirenden Bedingungen er- 
iheilt worden (im Ganzen nur an 9 fog. Provinzialbanken). In Defterreih und 
Rußland geftaltete fih die Tage durch ven Uebergang von der Banknote und dem 
einlösbnren Staatspapiergeld zur Papiergelvwirthfchaft (dort 1848, hier 1854) 
anders. Über vor wie nachher hält man hier an einer Mouopolifirung und Cen- 
tralifirung diefer Pariercirtulationsmittel fett. Und wie in den großen, fo im 
Sanzen auch in den Mittel- und Kleinftaaten. Außerhalb und innerhalb Deutfd)- 
lands weiftens eine „Nationalzettelbanf” jedes Staats oder doc verfchieven nor- 
mirter Konceſſionszwaug, je nach ver Geſtaltung des öffentlihen Nechts Ertheilung 
der Konceffion durch ein Geſetz oder durch eine Verordnung einer Verwaltungs⸗ 
behörbe. Einige größere Deutliche Staaten, Baiern, Sachſen, Hannover be 
folgten die Marime, nur eine größere Zettelbanf zu konceſſioniren. Sachſen hat 
davon erft jüngft durch die Konceffion der Dresdener Bank eine Ausnahme ge- 
‚ madıt (die Heine Notenemiffion der Baugener Bank Tann faum als ſolche gelten), 

Würtemberg und bis vor Kurzem auch Baden mwußten, durch boltrinäre Öegner 
der Zettelbanfen beeinflußt, die „Peſt“ des Zettelmefens von fi fern zu halten. 
Biele Kleinſtaaten lieferten durch die Koncefflonirung großer, auf das preußifche, 
ſachſiſche Geſchäft berechneter Zettelbanten gleichzeitig den Beleg des Mißbrauchs 
ihrer Somveränetätsrehhte und der komischen Konfequenzen folhen Monopol» und 
Konceffionsunwefens,, wenn etwa ein Fürft von Büdeburg ein großes Bankunter⸗ 
nehmen mit unbegrenzter Notenausgabe in allen Hauptwährungen der Welt kon⸗ 
ceſſionirte. — Aber in Europa nicht allein, auch in den vereinigten Staaten von 
Nordamerika hat es an Einmiſchung des Staats in das Zettelbantweien nicht 


Mäünzegals” betrachten wollen, was rechtlich aut vellswirtyichaftfidh gleich 

zutäffig iR, anf der falſchen Identificirnug von Papiergeld unt Banknoten beruht 
uud bei ver principiellen Gleichheit ver Note unt antrer im ter Form von Schulp⸗ 
beſchelnigungen erſcheinenden Gelrfurrogate zur Ronfeguenz tie Regalität and 
dieſer legteren, ja weiterhin aller e. Im Uebrigen 
fan für vielen Punkt auf Srüberes in viefem Artikel und in dem Artifel Papier⸗ 
geld verwiefen werben (Br. VII, 6. 679.) Zweitens hat der fälhhlich angenommene 


een Daufucten mb en an ee 
gewirkt, indem man daraus fowohl eine beſondre kreditwirthſchaftliche Leiftungs- 
ver Rote in allen Fällen, als namentlich auch eine befontre Gefährlich 


werben, foweit in diefem Werke auf folhe Punkte eingegangen werben kann. 
Stellung der Staat nad) den Anforverungen ver Theorie und ver 
rationeflen Praris in Zukunft dem Zettelbantweien gegenüber einnehmen fol und 
daher do aud wohl eimmal einnehmen wird, hängt theils von der richtigen Er- 
faffung der Funktion der Banknote und der Zettelbant, theils von ber Beant- 
wortung noch einiger befondrer Fragen, weldye ſich an Rote und Bank anfnüpfen, 
theils von der allgemeinen Entwidlung der Volkswirthſchaft und Kultur und theile 
endlich von den beſonderen Verhältniffen der einzelnen Bolkswirthſchaft und bes 
einzelnen Staats ab. Den erften Punkt haben wir im Borhergehenven, ſoweit 
das hier mögli if, erledigt und gefunden, daß feine allgemeinen Gründe für 
eine verfchievdene Behandlung ver Note und Zettelbant von anderen weſentlich 
gleihartigen Krevitumlaufsmitteln und Krebitbanten beftehen. Der zweite Punkt 
fol uns im Pelgenden noch etwas näher beihäftigen, indem wir das Verhalten 
des Staats zur Banknote, zur Errihtung und zur Leitung von Bankunter⸗ 
nehmungen noch in Hinſicht einiger beſondrer Seiten der Frage ins Ange faflen. 
Dabei wird der Stand der pofltiven Gefeggebung, ſoweit in legtrer Syſteme und 
Brincipien zum Wusprud gelangen — alles Andre gehört nicht in dieſes Wert — 
wenigftens in Kürze angedeutet werben. In Betreff des dritten umd vierten ber 
obigen Punkte ſei bier nur wenigftens im Vorübergehen daran erinnert, daß in 
fo wichtigen —— ihen Inftitutionen wie der befprochenen oft aud wohl ein 
gewiffer gemeinfamer Typus ver Zeit und der Nation mit zum Vorſchein kommt, 
welcher vielleicht nicht gerade einen Vorzug ausmacht, aber doch eine gewiſſe in 
nere Berechtigung bat, weil er auf allgemein wirkfame Urſachen in allen wirth- 
ſchaftlichen Einrihtungen einer Zeit und eines Volks hinweist. So hat 3. B. 
das amerikaniſche becentralifirte, das franzöfifche, rufflfche centralifirte, das deutſche 
und englifche beine Michtungen mehr vereinende und fpeciell wieder das preußiſche 


Bettelbankwefen. 819 


centraliftiihe Bankweſen einen gewifien nationalen Tupus. Und ebenfo ftimmt 
die fhärfere ceniraliftifche Tendenz im britiihen Bankweſen, befonders feit 20—30 
Jahren im dortigen Zettelbankweien, mit andren Wahrnehmungen überein, welde 
eine ſolche Tendenz auf manden Gebieten des äffentlihen Lebens und der Wirth- 
haft in Großbritannien erfennen laſſen. Daraus folgt dann, was ben vierten 
Punkt anlangt, daß man auch Hier bei aller Geltendmachung ver theoretifh und 
durch die praltifche Erfahrung in der fpeciellen Branche begründeten Anfor- 
derungen fi doch hüten muß, doktrinär eine einzige allein richtige Schablone 
vorzufchreiben. So können unferes Eradhtens z. B. politiſche Gründe fehr 
wohl mitunter für eine gewifle Gentralifation ver Notenausgabe fpredhen, während 
rein technifche, den Berhältnifien des Bankweſens entnommene Gründe vielleicht 
vagegen find. So ftand die Sache in Defterreih den centrifugalen Kräften ge- 
genüber binfichtlih der dortigen Nationalbank bis zu dem ftaatzertheilenden Kom- 
promig mit Ungarn. Und fo fheint und aud bei ver Streitfrage über die Stel» 
Inng der preußiſchen Bank nod heute wie vor drei Jahren ver politifhe Faktor 
ein ſehr weſentlich mitentjcheidenver fein zu müſſen. Die Entwidiung ber preußi- 
ſchen Bank feit 1856 hat auf dem volkswirthſchaftlichen Gebiete ebenfalls ven 
Boden mit vorbereitet, auf dem fi ein neues mächtiges Deutſchland erhebt. 
Aehnlich iſt es auch harakteriftifch, daß die monopoliftiihe Stellung der Bank 
von Frankreich ans der Bankenquoôte von 1865 ziemlich intakt hervorgegangen ifl. 
vum Das Berbalten des Staats zur Bantuste. 

Die Banknote ift fein Gelb, Fein Papiergeld und nicht principiell verſchieden 
bon andren Krebitumlaufsmitteln. Das find die Karbinalpunfte, nach welchen aud das 
Berhalten des Staats zur Banknote in erfter Linie zu beftimmen if. Es erweiſen fidh 
demnach nämlich alle diejenigen Gründe für eine aparte Stellung des Staats zur 
Rote als hinfällig, welche aus der Auffaffung ver Note als Geld, aus der Ioentität 
von Papiergeld und Banknoten und aus ber grundfäglihen Verſchiedenheit von 
andren Krebitumlaufsmitteln entnommen find. Umgekehrt folgen aus dieſen Kar- 
vinalfägen über Banknoten aber auch einige ganz beftimmte Konfequenzen für ein 
rihtiges pofitives Berhalten des Staats und für dad Unterbleiben eines mitunter 
gerade von dem freunden ber Banknote gewänfchten ftaatlichen Eingreifens. 

Es darf nämlih nicht durch gewiſſe Geſtaltungen des Verkehrs und des 
Notenweiens eine allmälige Annäherung der Note an das Geld und das Papier 
geld, noch eine ſpecifiſche Sonderftellung der Note unter den übrigen Krebitum- 
lanfsmitteln zugelaffen werben. In vemfelben Maße, wie dies gejchähe, würde 
die Banknote fremdartige, bedenkliche Eigenfchaften erhalten und die Befürchtungen 
ihrer Geguer mehr oder weniger rechtfertigen. Alles dreht fi bier nun um ben 
einen Bunt: pie Annahmeder Note alslUmlaufsmittel muß 
durchaus freiwillig bleiben. Nur dann ifl die Note ein den andren 
Krebitumlanfsmitteln gleichartiges Gelpfurrogat. Die Einwürfe der Gegner, welche 
fih durch die frühere principielle Behandlung der Frage noch nicht erledigen, 
laufen alle in viefem Punkte zuſammen. Es liegen eben doch noch Bejonderheiten 
der Banfnote als folder vor, welche eine aparte Stellung tes Staats erheifchen, 
fo wird eingewenvet. Zugegeben, aber alle dieſe Befonverheiten erflären fi aus 
Mängeln, welde fid} auf jenen einen Punkt beziehen. Ueber die wirflihe Frei- 
willigkeit der Notenannahme muß daher in der That auch unfres Erachtens ber 
Staat machen, im Intereffe der ganzen Bollswirthfchaft wie namentlih auch in 
denjenigen einzelner Bevölkerungsklaſſen. Aber aud bier handelt e8 fid nur um 
die Regelung des allgemeinen ftantlihen Oberauffihtsrehts für den fpeciellen Fall 


320 Settelbankwefen. 


nicht fowohl — mit einer einzigen Ausuahme — um einen materiellen Eingriff, 
als vielmehr vornehmlih nur um eine Reihe formeller VBorfchriften über das 
Notenwefen. 

Die Annahme der Note kann nämlid) wirklich auch ohne Zwangskurs und 
Uneinlösbarfeit mitunter unter einem gewiflen Zwang der Umftände erfolgen. 
So wenn die Banknote ein fehr verbreitetes Umlaufsmittel geworden, welches viel- 
fah in Ermanglung andrer angenommen werden muß. So ferner namentlich, 
wenn auch Keine Banknotenftüde eriftiren, welde von dem ärmeren und unge 
bildeteren Theile der Bevölkerung, 3. B. in Lohnzahlungen, ſchwer zurückgewieſen 
werben können. So envlih auch, wenn die Einlöfung wegen ber Entfernung vom 
Einlöfungsorte von einem Einzelnen nidt fo leicht gefordert werben fann. Ohne 
Zweifel können hier Mißſtände vorliegen, welde die Erfahrung mehrfach, auch in 
Deutfchland, gezeigt bat. Ift es doch auch hier vorgelommen, baß mittelveutfche 
Bettelbanten in Poſen oder Oftpreußen Noten mit Disagio verkauften und ſie 
bier in die Cirkulation zu bannen ſuchten u. dgl. m. 

Welches ift bier nun das richtige Verhalten des Staats? Er hat vornehmlich 
brei Punkte zu berüdfichtigen. Einmal muß er nicht felbft die Annahme ver 
Noten rechtlich erzwingen oder durch feine eigene Handlungsweiſe künſtlich herbei- 
führen und den Notenumlauf felbft übermäßig begünftigen, vielmehr aud feiner 
jeit8 ein unbefangenes Urtheil über die Kreditwürdigkeit der Mote ermöglichen. 
Sodann muß er zweitens im Intereſſe des Ganzen und beſonders der unteren 
Klaſſen Banknotenftüde (Appoints) unter einem gewiffen Minimum verbieten over 
in diefer Hinficht wenigftens beſondre Vorfehriften geben. Endlich Hat er drittens 
darüber zu wachen, daß bie firifte Einlösbarkeit der Note eine Wahrheit fei und 
nicht durch gewiſſe Praktiken zum Theil illuſoriſch werbe, 

Zu Nr. 1. Der Zwangskurs der Banknote (und ähnlich bes einlösharen 
Papiergelds), wie er für die Note der Bank von England feit 1833 befteht, 
für die öſterreichiſche Nationalbanknote von 1867 an gelten follte, wenn fie wie 
ber einlösbar geworden wäre, mie er auch für das ruſſiſche einlösbare Kredit⸗ 
billet bis 1854 galt, wird hiernach zu verwerfen fein. Den betreffenden Beſchluß 
des vollöwirthichaftlihen Kongrefjes in Hannover halten wir für richtig. Freilich 
bat der Zwangskurs aud Einiges für fih, wie er denn in ber franzöfiſchen 
Bankenquete von einigen Seiten empfohlen worben ift und in England wenige 
Ungriffe erfahren hat. Dan bat ihn nicht allgemein für jeve Banknote auch eines 
decentralifirten Bantwefens, fondern vornehmlih nur für die Note einer Central 
banf gewünſcht und bier u. U. geltend gemadt, daß die früher beſprochene Funk⸗ 
tion dieſer Note in Kreditkriſen dadurch begünfligt werden würde. Deshalb hat 
man mitunter bie Ausdehnung des Zwangskurſes der Note der englifchen Bant 
anf Schottland und Irland verlangt. Über ſowohl die engliſche Erfahrung vor 
1833 als die Eontinentale Erfahrung beweifen, daß nicht erſt der Zwangsfurs 
bie Note für jene Funktion geeignet macht. Die theoretifche Deduktion führt zu 
bemfelben Ergebniß. Und die fonftigen eventuellen Bortheile werben durch bie 
Principwidrigkeit der Beftimmung oder, wenn dies nur ein boltrinärer Einwand 
fein fol, durch ven fehr praftifhen Grund aufgewogen, taß von der Zwangs⸗ 
fursbanktnote zum Zwangsfurspapiergeld der Mebergang noch leichter, alfo unter 
Umſtänden noch verlodender if. Das erlebte Rußland 1854, wo die ftil- 
ſchweigend aufhörende Baarzahlung im Moment in die jerrüttende Papiergeld» 
—*8 hinüber führte. 

In anderen Fällen erklärt der Staat bie Banknote wohl für ein begünſtigtes 


Bettelbankwefen. 321 


Zahlungsmittel und begünſtigt fie ſelbſt vor Allen durch die regelmäßige An⸗ 
nohme an allen Öffentlichen Kaſſen. Namentlich pflegt die Centralbanknote in diefer 
Weiſe mit der fog. Steuerfunvation- verfehen zu werben (Preußen, Frankreich, 
Heinere Staaten). Im Grunde genommen ift dies nichts Andres, als daß pie 
größte Einzelwirthſchaft innerhalb ver Volkswirthſchaft der Note regelmäßig Krebit 
ſchenkt und daher natürlich deren allgemeinen Krebit erweitert. Infofern wird fid 
princhpiell nichts einwenden laflen. —* ausſchließlich die Centralbanknote ſo be⸗ 
günſtigt, ſo leiden darunter eventnell die Noten etwa nach vorhandener kleiner 
Vanken. Ob dies zu billigen iſt, hängt von der Auffaſſung der Frage von ber 
Bielheit oder Einheit der Notenansgabe ab. Sonft ſchiene es uns richtiger, aus 
ver Annahme der Noten an Staatskaſſen nicht wieder ein Privileg für eine 
einzelne Bank werben zu laflen, namentlih aud nicht in einem becentralifirten 
Zettelbantweien. Soweit die Steuerfunbation wirklid den Namen einer Funda⸗ 
tion verdient, — was freilich zumal in kritiſchen Zeiten nur in beſchränktem Um⸗ 
fange gilt, weil die Note eben nicht in ver Staatskaſſe bleiben Tann, fondern 
gleih wieder ausgegeben werben muß, — hat fie Einiges für fih. Sie bringt 
aber auf der anbren Seite die Gefahr mit fih, daß in gleihem Maße bie 
bantmäßige Fundation ſich verſchlechtert, wenn fi etwa bie Bank darauf verläßt, 
daß ja wegen der Annahme ver Noten an den Staatölaffen weniger Noten un- 
egelmäßig zur Einlöſung zurückſtrömen werben. Auch dieſe Gefahr wäre nicht 
fo ſchlimm, wenn uicht gerade in Tritifchen Zeiten der Staat vielleiht Münze ftatt 
ber Rote braucht und die Bank auf folden Fall nicht gerechnet bat. Diefe 
Erwägungen laflen es doch fraglich erjheinen, ob bie Annahme der Noten an 
den Öffentlihen Kaſſen nicht beſſer umterbliebe. Jedenfalls follte ver Staat 
wiht irgendwie ſich verbindlich machen, bie einlaufenden Noten nicht einlöfen zu 
wollen und die Nichteinlöſung nicht zur Gewohnheit werben laflen. Auch dann 
liegt aber noch die praktiſche Schwierigkeit vor, wann und wie er mitunter Ein- 
Biung verlangen fol. Dem Publikum gegenüber kommt endlich noch der Umftand 
in Betracht, daß die Annahme an den Öffentlihen Kaflen den Krevit der Note 
feigert, den Umlanf erleichtert und vermehrt und der Staat dann vollends eine 
gewiſſe Mitſchuld nicht abläugnen kann, wenn vie Banf mit Rüdfiht auf bie 
dation weniger vorfidhtig operirt und der Staat ſpäter gerade durch eine 
etwa nothwendig werdende PBräfentation der Noten zur Einlöfung die Bank in 
Berlegenheiten bringt. Die in den Staatslaflen angenommene Note hat demnach 
doch immer etwas vom Papiergeld an fih. Das fpricht gegen die Konceffion ver 
ation. Im konkreten Ball wirb die Entſcheidung von der Abwägung 
der Vor⸗ und Nachtheile, welche aus der Annahme an den öffentlichen Kafien 
hervorgehen, abhängen müflen. Vorſtehende Bemerkungen mögen wenigftens bie 
Aufmerkſamkeit darauf lenken, daß dieſe und hundert ähnliche ſcheinbar ganz un- 
tergeordnete Fragen, welche auf dem noch obwaltenden Kompendienſtandpunkt ber 
Bolkawirthſchaftslehre gar nicht zur Sprache fommen, ihre fehr verſchiedene Beant⸗ 
wertung zulaflen und jede Beantwortung weit reichende Konfequenzen hat. Dies 
. gt m. A. auch von ber mitunter befärworteten Einräumung eines Borzugß- 
rechtes ber Rotengläubiger vor den anderen Gläubigen einer Bank. Dadurch 
ldnnte die Entwidlung des Notenweſens vor derjenigen andrer Kreditumlaufs- 
mittel beſonders begünſtigt werden. Es fragt fi, ob dies wünfhenswerih iſt. 
Das Urtheil Über die Krebitwürbigleit der Note wird vor Allem die Mög- 
lichkeit eines genauen Einblicks in bie wahre Lage der Zettelbant zur Boraus- 
fegung Haben. Deßhalb kommt bier das Meifte auf das Prinzip ver Publi 
Sluutſchli und Brater, Dentfhes Staate⸗Wörterhuch. XL, 21 





322 Settelbankwefen. 


cität in Bankſachen an, von welhem unten in anbrem Zufammenbauge noch 
bie Rede fein wird. Hier fei nur bemerkt, daß wir es nicht für eine unberech⸗ 
tigte Yorberung des Staats halten würden, wenn auh Privatbanquierß, 
welche Noten ausgeben (England), dieſem Prinzipe Folge leiften müfjen. 

Zu Nr. 2. Bielleicht erfcheint e8 von dem hier vertretenen Standpunfte aus 
inlonfequent, Borfchriften über das Minimum des Notenftüds zu befürworten. 
Inveffen möchten wir das Theorem, um nit zu fagen das Dogma, daß alle 
theoretiihen Principien ver Bollswirthicaftslehre ftritt in ver Volkswirthſchafte⸗ 
politit Anwendung finden mäffen, nicht unbebingt anerfermen. Und in Betreff 
des fraglichen Punktes läßt fi fogar eine gewiſſe theoretifche Begründang aus 
der Funktion der Rote in der Kreditwirthſchaft ableiten. Es kommt bier nämlich 
ein in ber That erheblidyerer Unterfchied ver Eleinen Banknoten im Bergleich 
zu andern Gelvfurrogaten in Betracht. Die Heinen runden Banknoten verbrängen 
das Geld in erhöhtem Maße auch in den Kreiſen des Heinen Umfages, 
wohin die anderen Gelpfnrrogate einfchlieglih der großen Noten wenig oder gar 
nicht hinabreihen, theils weil fie bier ans gefchäftlihen Gründen nicht fungiren 
innen und Geld ein bequemeres Cirkulationsmittel ift, theils weil es nicht fo 
Heine fonftige Geldfurrogate geben kann ober dieſe wenigftens dann ihren Vorzug 
verlören. Eben veßhalb liegt hier eine befondre Aehnlichkeit der Banknote 
mit Papiergeld und Geld vor. Eine gefeglihe Beftimmung über das Roten- 
minimum wird bann beſonders bei der die Ausdehnung bes Notenumlaufs be- 
günftigenden Silbermwährung umb zumal bort ftatthaft fein, wo bie untern 
Klaffen geringe wirthfchaftlihe Bildung umd Selbſtändigkeit haben, alſo die An- 
nahme der Roten do eine nit freiwillige werben fann. Hier kommen 
biefelben Gründe in Betracht, weldhe in neueren Münzgefegen, 5. ®. dem fchwet- 
zerifchen, zu Borſchriften über die als LTohnzahlung benützbaren Munzſorten führ- 
ten. Der Münzfaß und der durchſchnittliche Wohlſtand werden über die Höhe 
der Heinften Banknote entfcheiden müflen. In Norddeutſchland tft 10 Thl. das 
wohl richtig beſtimmte kleinſte Stüd, in Süddentſchland meift 10 fl., was ſchon 
recht niedrig iſt, in Frankreich 50 Fes., England 5 Pf. St., Schottland und Ir- 
land 1 Pf. St. Das einldsbare Stantspapiergeld, tn Deutihlanpmeiftens 5 Thaler 
und 5 fl.: Scheine und bis herab anf 1 Hl. und Lfl., ift auf in dieſem Punkte 
nicht zu loben. Anders ſteht ed natärlih mit dem eigentlichen Papiergelde, wo 
bie Ausgabe Kleiner Stüde die unvermeibliche Konfequenz ift, wenn nidt beim 
Mangel von Münze Alles ftoden fol. In Italien waren i. I. 1867 ganz wm 
leibliche Berhältniffe dadurch herbeigeführt, daß die zum Papiergeli geworbenen 
Banknoten nur bis zu Zwei⸗ Lireftäden herabgiengen und Einlirefcheine mit bloß 
Iofalem Umlaufsgebiet von allen größeren Gemeinden, Bollsbanten u. f. w. aus 
gegeben werben mußten (ſ. auch Bd. VII, ©. 666). 

Bon weiteren Vorſchriften über die Notenftüdelung kann aus ähnlichen 
Gründen wie die angegebenen nur noch etwa die in Preußen geltenve, aber ſchon 
viel bevingter, gebilligt werden, daß nämlih ans ben Heinften Notenflilden wur 
ein beftimmter Betrag des Geſammtumlaufs over ein beftimmter . abfoluter Ber 
trag beftehen dürfe, — unter gewifien Umftänven, bei der Wahl eines niedrigen 
Minimums, ein Komplement ver vorigen Beſtimmung (bloß 10 Bl. Thl. in 
10 Thl.⸗Noten bei der Preuß. Bank). Alle andern Anorbuungen über die Wahl 
ber Stüde und über den abfoluten und relativen Betrag ver Menge eines jeben 
jind zu verwerfen und ftören das Gefchäft gang zwedlos. BDasfelbe gilt von ber 


7} 


Settelbanhwefen. 823 


Feſtſetzung eines abfoluten oder relativen — im Berbältniß zum Stammlapital, 
zum Baarvorrath — Marimalbetrags ver Öefammtnotenausgabe (f. u. Abſchn. VIII.) 
Zu Nr. 3. Hier handelt es fih durchaus nit um bie Sorge des Staats, 
daß die flete Einlösbarkeit von der Bank durchgeführt werben lönne, fonvern nur 
um die Aufſicht darüber, daß nidt eine Bank fi der Verpflichtung ver Einlöfung 
unter allerlei Borwänven entziehe. Bermag fie wirklich nicht ſtets einzulöfen, fo 
muß fie fofort dem Konkursgeſetz verfallen. Aber öfters Tommen Banken, ohne 
die Zahlungen einzuftellen und ohne wirklich infolvent zu fein, der Verpflichtung 
zur Einlbſung nicht im gehörigen Umfange nad. Hier thäte ein Einfchreiten des 
Staats Noth, aber gerade hier fehlt e8 in ber Regel an den paffenden Borfchriften. 
Bornämlich in viererlei Hinficht beftehen oft Mißbräuche, in Betreff des Drts, 
an welchem, ver Zett, zu welder, ver Münze, in welder, der Mopalitä- 
ten, unter welchen vie Einlöfung erfolgt. Den Ort anlangend, fo zeigt ſich bier 
ein Vorzug des becentralifirten Zettelbankweſens. Die Noten einer kleineren Bant, 
welche mit vielen amveren konkurrirt, werden vornämlih ein lokal befchränftes 
Unmlaufsgebiet haben und die Einlöfung wird dann am Domicil der Bank genügen. 
Dpver e8 brauchen die Banken daneben etwa nur noch für die Einlöſung im Ber- 
fehrömittelpuntt, in der Hauptftabt zu forgen, eine Vorfchrift des neueren nord⸗ 
amerikaniſchen Geſetzes. Ein Syſtem des regelmäßigen Notenaustaufches unter 
den Banken (Schottland, einzelne Neuenglanpflaaten und Städte) befeitigt weitere 
Mipflände. Größere Zettelbanten, zumal die Centralbank, müflen ihre Noten aber 
durchaus an mehreren Orten einlösbar maden, wenn nicht oftmals bie Einlös- 
barkeit au praktiſcher Bedentung fehr verlieren fol. (Große Länder, Heine Be⸗ 
vollerung, ſchlechte Kommunalftraßen, elendes Poſitweſen, — frühere Uebelſtände 
in Staaten wie Rußland, Oeſterreich). Die den großen Banken anklebende Schwie⸗ 
rigleit liegt hier in der Nothwendigkeit einer Zeriplitterung des Baarfonds. Die 
Einrichtung der engliſchen Bauk, wonach die Hauptbank und die Filialen Noten 
emittiren und alle Noten bei jener, die Noten jeder Filiale auch bei dieſer ein⸗ 
Webar find, iſt bier vielleicht noch der pafſſendſte Ausweg. Freilich erleidet Die 
der großen Bank nachgerühmte Einheit der Note darunter ein wenig Einbuße, 
aber doch keine erhebliche. Die auf dem Kontinent üblichen Beſtimmungen ge⸗ 
nügen nicht immer. Die Zeit der Einlöfung muß lang genug fein, um allen 
Berärfniffen zu entfprehen Durch Kaffendfinung während einer ober. weniger 
Tagesſtunden haben Banken mitunter die Einldfung illuſoriſch gemacht (polnifche, 
öfterr. Bank). Die Münze, in welder vie Zahlung erfolgt, muß die Haupt- 
mänze ver Landeswährung ober deren Vielfaches (Thl., 2 Thl., fl., 2 fl., 20 Fr.⸗ 
Stucke, Gouvereigns u. ſ. w.), mit Ausfchluß der vollwichtig, aber mit ftälerer 
Legirung geprägten Theilmünzen (3. B. in Dentfchland ver 1/, Thl.⸗Stücke 
— bekannte Mißbräuche einiger Banken damit) fein. Barren dürfen jeben- 
falls nur nad freier Wahl des Notengläubigers ausgezahlt werben. Die von 
ver Bank etwa vorbehaltene Wahl, in Gold oder Silber nah einem im Boraus 
beſtimmten Werthverhältniß zu zahlen, ift auch ſchon aus Gründen der Münzpolitit 
nicht zu geftatten (Urt. Münzwefen, Vd. VII. ©. 81). In Betreff der Modalitä⸗ 
ten der Einloſung können nah den konkreten Verhältniſſen auch noch mande 
nähere Beſtimmungen erwünjcht fein, 3. B®. über das mitunter vorgenommene 
langfame Hinzählen einzelner Münzen. Die Einlöfung bloß Heinerer Beträge auf 
einmal, beſonders an ven Rebenkafien genügt nicht (öfters bei einldsbarem Staats- 
papiergelb vorgelommen, z. B. in Rußland in den Goupernements nur bis 100, 
in Moslau bis 3000 Rol., nur in Petersburg unbeihräntt — bis 1854). 


21* 


324 Zettelbankwefen. 


Die unter Nr. 1—3 erörterten Punkte betreffen jeber einzeln Nebenfachen, 
insgefammt erlangen fie eine erhebliche Wichtigkeit. Ihre zwedmäßige Regulirung 
ift nothwendiger, als bie meiftens allein erfolgte fachliche Beeinflufiung bes Zettel- 
banfgefchäftse, und unterliegt nicht denſelben Einwänden, wie dieſe. Sie gehört 
auch in ein Bankgeſetz, mweldhes ganz auf dem Stanppunfte ver Bankfreiheit ſtehend 
allgemeine formelle Vorſchriften enthält. 

VIII. Das Berbalten des Staatd zur Gefhäftsführung der 
Zettelbanken. 

Die früheren Entwicklungen führen im Zuſammenhang mit denen des vorigen 
Abſchnitts VII zu ver Konſequenz, daß es keine allgemeinen volke⸗—⸗ 
wirthſchaftlichen Gründe giebt, aus denen der Staat 
zur Errichtung von Zettelbanken eine principiell an- 
bere Stellung als zur Erridtung von anderen Krepit- 
banten einnehmen mäßte Die für legtere beanſpruchte ſog. Bank⸗ 
g eiheit kann auch für Zettelbanken von der Xheorie.. und rationellen 

raxis zugeſtanden werden. Stellt man ſich auf dieſen Stanbpimft, fo fanı von 
einem befonderen materiellen Gingreifen des Staats in bie Geihäftsführung ber 
Bettelbanten nit die Rebe fein. Anders auf dem Standpunkt des Monopols, 
des Konceffionszmangs nnd — des oft unvermeiblihen Kompromifies, welden vie 
Anhänger der Bankfreiheit im konkreten Falle in ver Regel mit ihren Gegnern 
werben eingehen müflen. Denn bie Konfequenz bed Monopold und des Kon- 
ceffionszwangs ift tie weitere Einmiſchung des Staats mittelft eines materiellen 
Banfgefebes, welches vie Banken in ihrer Gefhäftsführung auf den richtigen Weg 
leitet und erhält, fhon um einen etwaigen üblen Gebraud bes gewährten „Rechts 
der Notenausgabe" zu verhüten. Und irgend welde Vorfchriften, durch welche 
namentlih das Notendedungsfyften wenigftens in feinen Grundzügen normirt 
wird, möchten wenigftens bei dem Uebergang zur Bankfreiheit ſchwer zu umgehen 
fein, um verbreitete Befürchtungen zu beruhigen. Deßhalb ift es nothwendig, auch 
bon unferem Standpunkte aus fi ein Urtheil über den Werth ver bier etwa in 
Betracht kommenden Vorſchriften zu bilden. 

Der Gegenſatz liegt bier nur in ver Bankfreiheit mit dadurch keines⸗ 
wegs ausgefhlofienen formellen Bankgeſetzen und der ſtaatlichen 
Negulirung bes Banfweiens mit materiellen Bantgeieten. In legteren 
wird das Notendedungsfyflem, bie Höhe des Notenumlaufs 
und etwa die Größe und die Anlegung des Bankkapitals now 
mirt werben. Als typiſche Hauptformen folder Gefege, mit mandyfachen, aber 
nebenfädhlihen Modifikationen im Einzelnen, find gegenwärtig das dentſche ober 
fontinentale, das (engliſche) Syſtem der Peel'ſchen Alte um 
das Newyorker oder nordamerikaniſche Syſtem zu bezeichnen. 

Das erfigenannte Syſtem beruht auf ben Örunbfägen ver bantmäßigen 
Dedung, d. b. alfo die Notenfunbation befteht ans einem Baarfond und leicht 
realtfirbaren Aktiven, insbefonbere visfontirten Wechfeln und Lombarbforderungen 
und ein Stammfapital dient als weitrer Garantiefonds. Jedoch hat ber Staat 
häufig in Betreff der abfoluten oder relativen Höhe des Notenumlaufs im Ber- 
hältniß zum Bankkapital, faft immer in Betreff einer baaren Minimaldeckung, 
dann auch wohl über das Disfonto- und Leihgeſchäft u. A. m. befendre Vorſchriften 
erlafien. Legtere haben ven Mangel, daß fie die Kombination ziviächen dem ver- 
ſchiedenen Banfaftiven und das Verhältniß zum Banflapital im Borans mathematiſch 
beftimmen wollen, was natärlih unmöglich iſt und Häufig nur ſchädlich wirkt. 


Zettelbankweſen. 325 


Leicht wird die Bantverwaltung baburd verleitet, ihre eigene Yürforge für un- 
uöthig zu halten und fih auf folche Vorſchriften zu verlaffen. Die Weftfegung 
eines abfolnten Maximums ver Notencirkulation geht aus der falfchen Anfiht von 
der umbegrenzten Macht der Banken, ihre Noten zu vermehren, bervor. Selbft 
für Sentralbarten mit einem Notenmonopol fcheint dieſe Beſtimmung nicht räth- 
lich, denn leiht kann fie dann, wie die Peel’fche Alte, vie Leiftungsfähigfeit ber 
Bank gerabe in dem einzigen Zeitpuntte, wo eine große Bank Vorzüge hat, ver- 
mindern: in Krebitteifen. Deshalb ift die in dieſer Hinficht beftehenve Freiheit der 
franzöflfhen und preußiſchen Bank wohl zu rechtfertigen. Bei Heinen Banfen 
will die Konceffirh für eine fehr große oder unbegrenzte Notenausgabe ohnehin 
nichts ſagen. Auch die Feſtſetzung eines relativen Maximums der Notenmenge 
im Berbältniß zum Banflapital hat aus demſelben Grunde bei den verfchtevenen 
Arten von Zettelbanten mehr gegen als für fi. Hält man daran fell, um ben 
Soranttefonds nicht zu Hein werben zu laflen, fo würde es dann bie Konfequenz 
bes Obigen fein, einer Zettelbant jeverzeit die Vermehrung ihres Stammfapitals 
zujugeftehen, aud ohne beſondre neue Erlaubniß dafür, um auf dieſe Weife bie 
Anspehnung des Notengefchäfts nicht zu hindern. Vielleicht eine für die preußifche 
Dank in deren jehgier Entwidlung paflende Klauſel. VBeftimmungen über ben 
Reſervefonds reihen fid) in den materiellen Banfgefegen meiftens an. 
Willkürlicher noch iſt die übliche Vorfchrift in Betreff des Baarvorraths für 
die Notenausgabe, vie befannte Dritteldeckung, melde in ben meiften 
preußifchen und andern veutfhen nnd außerdeutſchen Statuten der Banken bes 
Kontinents vorfommt, mitunter auch etwas höher (1/,, 2/, Leipz. Bank) oder noch 
nedriger (1/,, einige der Tleinftantlichen deutſchen Banken) gegriffen if. Das 
Einzige, was man zur Entſchuldigung einer folden Borfchrift jagen Tann, ift, daß 
mit ihr nur ein relatives Minimum bes Baarfonds feftgefegt fein fol. Aber 
ſelbſt in diefem Sinne fann die Dritteldedung in einzelnen Fällen jhaden, wenn 
auch weniger als die Peel'ſche Alte. Ferner müßte fie doch wenigftens für das 
übrige dem Notengefhäft ähnliche Paifivgefhäft, nämlich für vie ftets- und kurz⸗ 
fälligen Depofiten gleichfalls gelten, was felten ver Fall ift, fo daß öfters bie 
Dedung des Roten» auf Koften verjenigen des Depofitengefhäfts erfolgt. Und 
endlich ift dieſe Beftimmung nicht felten, wie namentlih in Deutfhland, als ein 
förmliches Privileg anfgefaßt werden, auf weldes hin Banken abfichtlid gegründet 
wurten. Bine traurige gemeinfame Konfequenz folder Vorſchriften und des Kon- 
ceffionswefens, welche natürlich fein gefundes Bankweſen anflommen lafien konnte! 
Das eigene Kapital der Bank wird nad den befleren Statuten ober Bank⸗ 
gelegen in Deutfhland und in einigen anpren Ländern gleich den Noten- und 
Depofitenfapttalten in leicht realifirbaren Wertben, insbefondre in Wechſeln, Lom⸗ 
bards, zum Theil aber auch wohl in gewöhnlichen Staats - und anderen Börfen- 
papieren angelegt. Den Vorzug verdient wohl entweber die Befchräntung auf bie 
fireng bankmäßige Einlage oder doch der Einkauf bloß kurzterminliher Börſen⸗ 
papiere, wie 3. B. Schagfcheine mit kurzer Verfallzeit und NRüdzahlung al pari, 
neben jener Anlage. Der Anlauf Iangterminlicher, daher nothwendig den Kurs- 
ſchwankungen flärfer ausgefegter Papiere ift für jede Urt Zettelbank, große und 
feine,monopolifirte und freie, bedenklicher, denn er führt nothwendig in das Spelu- 
Iattonsgefhäft hinein und in Zeiten der Krifen, wo grade die Fonds aus bem 
eigenen Kapital disponibel werben follten, um die Funktion des Stammfapitls 
zu Geltung zu bringen, iſt ver Verfauf ohne große Verlufte oft ſchwer. Auch 
bei gut verwalteten Banken, wie der preußifchen, haben ſich in biefem Geſchäft 


326 Zettelbankweien. 


Uebelftände herausgeftellt. Unterbleibt es nicht ganz, fo muß es wenigfkens in 
engen Schranken gehalten werden. Immerhin wird doch auch Bier das Stamm- 
fopttal nur in verfäuflihen Papieren angelegt. Doc bedenklicher ift die voll- 
ſtändige Immobilifirung dieſes Kapitals z. B. in einem direften, für lange Zeit 
oder bis zum Ablauf eines Privilegs gar nit zu künbigenden Darlehen au den 
Staat, wie bei der Öfterreihtichen Bank auch In der BVankakte von 1862, oder in 
fog. immobtlifirten, d. h. nicht verkäuflichen Renten, wie neuerdings bei der franzöſi⸗ 
ihen Bank. Zwar braucht -die Noteneinlösbarkeit durch ein ſolches Placement 
felbft des ganzen Bankkapitals nicht nothwendig gefährbet zu werben, weil bie- 
ſelbe in erfler Linie von ber richtigen Anlegung der Notenkapitalien ſelbſt abhängt. 
Aber für die Aufgabe der Mithilfe zur Erhaltung fleter Baarzahlung verliert das 
Kapital dann jede Bedeutung, es iſt dafür fo gut wie gar nicht vorhanden. Nur 
bei ſchließlicher Gefhäftsahwidiung nad wahrer Infolvenz kommt e8 nod in Be⸗ 
trat. In DOefterreih zwang die Finanznoth zu einer folden Beſtimmung, in 
Frankreich fehlt auch dieſe Entſchuldigung. In der dortigen Bankenqudte Bat 
man ziemlich allgemein viefe Immobilifirung getabelt. Freilich ift die ganze Bor- 
Schrift wieder aus dem Monopol» und Konceffionswefen hervorgegangen, indem 
das Darlehen an den Staat oder die Anlage in Staatsihulpfcheinen eine Form 
ver Bezahlung folhen Privilegs ift. Selbft bei diefer Auffaflung des Zettelweſens 
ift eine Iahreszahlung oder ein Gewinnantheil, wie früher ſchon erwähnt, vorzu⸗ 
ziehen, denn dabur wird die Bankfolvenz nicht fompromittirt (Preußen), Wenn 
man einmal dad Zettelmefen monopolifirt oder an einem „Zettelregal” fefthält, 
jo erjheint übrigens eine Bezahlung der einen oder mehreren Banken, denen das 
„Recht der Notenansgabe" gewährt wird, ganz in der Ordnung. 

Das Eontinentale Spftem leidet fomit an einer Reihe handgreifliher Wil- 
kürlichkeiten, felbft wenn man nur bie beften ©efege oder Statuten, unſeres 
Erachtens im Ganzen jedenfalls die deutſchen, als Vorbilder herausnimmt. 
Aber troß diefer Mängel fcheint es uns doc immer noch das vorzägliäfte zu 
fein, denn e8 führt in der Hauptſache die bankmäßige, aus dem Wefen ter Bank⸗ 
geſchäfte und der Note ſpeciell abzuleitende Dedung durd. Eine tüdtige 
Bankverwaltung wird durch bie BVorfchriften dieſes Syftemd mitunter etwas be= 
fäftigt, aber doch in den feltenften Fällen nur an ber Ausübung ihrer Pflicht ge- 
hindert werben. Diele einzelne Beitimmungen, weldhe man als fefte arithmetijche 
Normen tadeln muß, kann man als Anhaltspunkte für die richtige Leitung ver 
Bankgeſchäfte billigen und den Banken zur ungefähren Befolgung aud bei einem 
Syſtem der Bankfreiheit empfehlen. Den Verkehrsbedürfniſſen ſchmiegt ſich das 
kontinentale Syſtem mehr an als das ſtarre engliſche oder auch das amerikaniſche 
Eine Klauſel, wonach in einzelnen beſondren Fällen eine Beſtimmung zeitweilig 
mit Erlaubniß der Regierung überſchritten werden darf, z. B. diejenige über die 
Dritteldeckung, welche in Belgien mitunter zur Vierteldeckung werden darf, hilft 
weiteren Härten ab. Die Erfahrung ſpricht auch bei einem Vergleich der drei 
Syſteme gewiß nicht zu Ungunſten des kontinentalen, ob man nun die Banken 
von Frankreich, von Preußen, von Belgien, der Bank von England oder die 
kleineren deutſchen, ſchweizeriſchen u. a. m. den lleineren engliſchen und norb- 
amerikaniſchen Banken gegenüberftelle. Die deutſchen Banken insbeſondre haben 
ih faft ausnahmelos gut bewährt, befier als ihre Schweiteranftalten jenſeits des 
Kanals und des Ocean und felbft in der Kataftrophe von 1866 ihre Probe be: 
ftanden. Kurz fo lange man dem Staate die Aufgabe ftellt, ein materielles Bank: 
geſetz zu erlafien, jo iſt wenigftens fein Grund vorhanden, eine andre Bafls ala 


Zettelbankweſen. 927 


das Iontinentale Suftem zu wählen. Es Bleibt dabei einerlei und werben nur gering- 
fügige Aenderungen nothwendig fein, ob man einer Eentralbant ein ausſchließliches 
Notenmonopol oder neben ihr aud Heinen Banken das „Recht der Notenausgabe“ 
gewährt over Bloß ſolche Heine Banken Tonceffionirt. 

Sehr bemerkenswerth iſt es, daß die beiden andren Syſteme in der 
thatſächlichen Durhführung, welde fie bisher gefunden 
haben, fih dem fontinentalen un? damit dem Syſtem der bankmäßigen Dedung 
viel mehr nähern, als in ihrer theoretifhen Grundlage und ver auf letztrer bes 
rahenden gefeglicden Normirung, wo bie leichtrealifirbare Dedung für einen großen 
Theil der Noten im Princip aufgegeben if. Natürlih hat man viefen Umftand 
bei dem Urtheil über die praktiſche Wirkfamleit ber rei Syſteme zu berüdfichtigen. 

Bei der Peel'ſchen Banlgefeggebung von 1844 ift ver biftorifche 
Urfpramg und bie theoretifhe Örundlage von ver allgemeinen Idee der durch dieſe 
Geſetze beabfichtigten Notendedung zu unterfheiden. Die Peel’fche Akte ift eigent- 
ig wur die Verwirklichung der fog. Eurrenchtheorie des Lord Operftone über 
Geld⸗, Krebit- und Bankweſen. Die leitenden Grundgedanken rühren durchaus 
nicht von Sir Robert Peel ber. Ein näheres Eingehen auf die Eurrenchtheorie 
if Hier nicht erforderlih. Es genüge bie Bemerkung, daß eben biefe Theorie bie 
beiven Fuudamentalirrthümer über Banknoten feſthält, welche oben mehrfach zur 
Sprache kamen. Sie identificirt fäljhlih Banknoten und Papiergeld und betrachtet 
auch jeme in wefentlihen Punkten als Geld und fie flatuirt ebenfo unrichtig ven 
prineipiellen Unterfchied zwiſchen Banknoten und anderen Gelbfurrogaten. Die 
Peel'ſche Alte als Bankplan zur Berwirklihung der Anforderungen der Currency» 
theorie in Betreff der Regulirung des Notenumlaufs fapte, was erfi fpäter nad 
mißgiäctem Verſuche nicht nur verfchwiegen, fondern direkt abgeläugnet wurde, in 
erſter Linie gar nicht die Sicherung der Einlösbarleit oder elf nur die Be- 
ſchränkung des Notennmlaufs ins Auge, fondern die fünftflihe Regultrung 
ves letzteren, demgemäß er genau mit ber Ab- und Zunahme des Baarvorraths 
ver englifhen Bauf felbft ab- und zunehmen follte Diefe Forderung beruhte 
anf grundfalfchen theoretifhen Annahmen, insbefondre auf einem vollftänbigen 
Verkennen der Bedeutung des Depofitenweiens und deffen Yunktion bei einem 
Ab- und Zufluß edler Metalle bei der Bank und im Lande im Verfehr mit dem 
Auslande, fowie auf einem Mißverftänpnig über die Urfahen, Wirkungen, be- 
gleitenden Erſcheinungen ver Metallaus- und Einfuhr und dem Zufammenhang 
des Notenumlaufs wit dieſer Bewegung ver Evelmetalle. Diefe Forderung konnte 
euch, wie die Erfahrung gelehrt hat und jever Blid auf eine Reihe Banlausweife 
zeigt, nicht durch die Peel’fche Alte verwirklicht werten. Der praktiſche Zwed, 
anf dieſe Art Ueberfpefulationen und Handeskriſen in Zufunft zu vermeiden, tft denn 
auch nicht erfüllt worden. Im Oegentheil bat die Alte vie Kreditkriſe durch 
ihre beſchränkenden Vorſchriften wiederholt erſchwert, vie Wirkfamkeit der englijchen 
Banf in folhen Krifen gelähmt und ift nun bereit preimal feit ihrem Be— 
Reben, in jeder ſchweren Kriſis des englifchen Geldmarkts, 1847, 1857, 1866 
einfeitig vom englifhen Dinifterinm fuspenpirt worden. Nah folden Er- 
fahrungen Tann wenigftens vie Grundlage des Peel’fhen Gefeges nicht mehr 
feflgehalten werden. | 

Sieht man von dieſer Grundlage ab, fo liegt pas Wefen des Syſtems der 
veel'ſchen Ute als Notendedungsplan darin, eine Minimalziffer feflzufegen, 
anter welche erfahrungsgemäß ver Notenumlauf einer Bank und eines Landes feit 
löngerer Zeit nicht geſunken fei. Ein folder Notenbetrag gilt dann als gefichert 





328 Zettelbankwefen. 


auch ohne VBaarbedung, weshalb er, zur Marimal ziffer ver metalliſch nicht 
gebedten Notenmenge gewählt wird. Dagegen muß jebe weitere Note über dieſen 
Betrag hinaus zu voll durch banres Geld gebedt fein. Durch die Peel’ichen Ge- 
fege wurde dieſer Betrag für die Bank von England auf 14 Miu. Pf. St., 
für die Meinen englifhen Privat- und Ioint-Stod-Banken auf den Durchfchnitt 
ihres Notenumlaufs im I. 1843—44 (8.5 Mill. Pf. St.), für vie ſchottiſchen 
und iriſchen Banken auf denjenigen des Jahrs darauf (refp. 3.09 und 6,355 Mill.) 
feftgefegt. Zugleih wurde die almälige Koncentrirung ber englifchen NRotenemiffion 
bei der Banf von England in Ausfiht genommen, auf welhem Wege auch unter 
dem Einfluß einer Reihe von Nebenbeftiimmungen bemertenswerthe Schritte vor- 
wärts gemadt worden find. Daraus erklärt fi die gegenwärtige Höhe bes 
metalliſch ungebedten Notenumlaufs der Bank von England von 15 Mi. Pf. St. 
In Betreff der fonftigen Banfgefchäfte und des anderweiten Placements ver Roten- 
fapitalien enthält die Peel'ſche Akte Feine Beſtimmungen. Denn die formelle 
Trennung ber Banf von England in zwei Abtheilungen, eine für die Notenans- 
gabe und eine für das übrige Bankgeſchäft, ift etwas ganz Untergeorbnetes von 
rein formeller Bedeutung nah Annahme der obigen Beftimmnngen über die Noten- 
emiffion. Und von den Vorſchriften über die nominelle Dedung ver Noten im 
Notendepartement gilt durch den allerbings zufälligen, aber doch eben thatfächlichen 
Umftand, daß das Stammlapital der Banf von 14,558,000 Pf. St. vem metallifch 
ungebedten Notenumlauf ungefähr gleichkommt, faktiſch dasſelbe. Im Paffivum der 
Notenabtheilung fleht nämlich die gefammte Notenausgabe einſchließlich ver 
Noienmenge, welche am vie Banfabtheilung für den Baarvorrath des Bauk⸗ und 
Depofitengefchäfts abgeführt worden ift, — ebenfalls ein ganz gleichgiitiger, freilich 
auch bei Fachleuten zu zahlreihen Mißverftänpnifien Anlaß gebender Punkt. 
Im Altivum fteht der gefammte Baarvorrath ver Notenabtheilnng — alfo bie 
Summe der cirfulirenden Noten welche 14, reſp. 15 Mit. Pf. St. überſchreitet — 
und ber Bankabtheilung (mit Ausnahme einer Handkaſſe von 3/, Mil. Pf. St.) 
und für den metallifh nicht gebedten Reſt der Noten wird hier die Schuld bes 
Staats an die Bank, 11,015,100 Pf. St., und ein Betrag verſchiedener andrer 
MWerthpapiere eingeftellt. Weil dafür aber das Stammkapital der Bank ganz 
disponibel im Banfgefchäft fteht, fo erweist ſich diefe nominelle Dedung jener 
Notenmenge nur als eine Fiktion. Auch in Betreff des Notemumlaufs gleicht bie 
Bank von England vielmehr der Bank von Frankreich infofern, daß der Noten» 
umlauf ganz durch baares Geld und andere, meift auch leicht realifirbare Aktiva, 
insbeſondere Wechfel, Lombards u. ſ. w und nur baneben auch mit vurd größere 
Beträge verfäuflicher Börfenpapiere gedeckt ift, während bei beiven Banken ein 
großer Theil des Stammkapital immobilifirt if. Die bankmäßige Noten- 
dedung befteht alfo auch bei der englifhen Bank in Prari, nur die Beftimmun- 
gen über die Mintmalziffer des Baarfonds find in England anders als auf dem 
Kontinente normirt, und zwar unferes Erachtens entfchieven unzwedmäßiger, und 
bie Borfchriften über die andren Dedungen fehlen, wie gefagt. Alle anderen 
Punkte der Peel’fchen Gefeggebung find durchaus felundärer Natur umd betreffen 
meiftens ſpecifiſch englifhe Verhältniſſe. 

Die Uebertragung der Peel'ſchen Alte auf ven Kontinent fegt die Firtrung 
einer richtigen Marimalziffer des metallifh ungevedten Notenumlaufd voraus. 
Eine folde Ziffer ift noch fehwieriger zu finden und wirb daher noch willfürlicher 
gegriffen als etwa die Ziffer für die Onotenbaarvedung des Rotenumlaufs, Wei 
Erfahrungen wie ven bisher in Deutfhland vorliegenven, wo man z. B. für bie 


Setteibanhmefen. 339 


preußiſche Ban 60 Mill. TH. vorgeſchlagen hat, tft eine ſolche Ziffer unbedingt 
gar nicht zu finden, fondern nur zu erdenken. Geht man von ber Minimalziffer 
aus, umter welche in gewifier Zeit ver Rotenumlanf nicht gefunden ift, fo iſt dieſe 
Ziffer für die Zukunft noch nicht maßgebend. Die Entwidiung der Kreditwirth⸗ 
haft führt allmälig zur Erfegung von Noten durch anbre ‚Belbfurrogate, 
alfo zur Herabprädung viefer Ziffer (englifche Grſcheinungen des Geldweſens und 
Rotenumlaufs, wenn fie richtig interpretirt werden). Die Feſtſetzung bes Baar- 
fonds nach dem Grundſatz ver Peel'ſchen Alte ift,- weil bier eine abfolute 
Morimalziffer der metalliſch ungededten Notenmenge fefigefegt wird, entſchieden 
nachtheiliger als die Tontinentale Dritteldedung, foweit dieſe eine Quoten⸗ 
beſtimmung, bei welder jene Marimalziffer der ungebedten Noten eine relative 
Größe if. Gerade jene abfolute Fixirung erwies fih in ben Krifen von 1847, 
1857 und 1866 fo nachtheilig und führte den Bruch der Alte herbei. Soll ihr 
bies bei uns zur befondren Empfehlung dienen? Einen prioritätifhen Anfpru am 
bie Altiva des Notendepartements der Bank von England haben die englifchen 
Rotenbeflger nicht. | . 

Das amerikaniſche Dedungsiuften beftand ſchon früher in Newport 
und iſt wefentlich unter mitwirkendem Einfluß des Bürgerkriegs, der Yinanzunth 
und der Papiergeldwirthſchaft im I. 1868 ‘auf das Zettelbanfweien der Union 
ausgedehnt worden. Die uns hier allein intereffirenden Srundgüge allgemeiner 
Natur find vie folgenden. Es wirb das Recht der Notenausgabe befonders erworben, 
und zwar durch Hinterlegung eines Pfands, insbeſondere von Staatspapieren, bei 
einer zu biefem Behuf errichteten Stantäbehörbe und für ben — jehr hohen — 
Betrag vom‘ 90%, deo Börieninzfes jener Werthe: Ueber die Bewerbung ber 
Notenkapitalien befteht feine andre Vorſchrift, als daß für die Noten und hie 
Depofiten ein Baarfonds (jegt Stantöpapiergelv, „geſetzliche Währung“) von 
mindeftens einem Drittel gehalten werben muß. Cine ähnliche Beſtimmung hatte 
ver Oberintendant des Bankweſene von Newyork fon im I. 1857 nad ben 
Erfahrungen der damaligen Handelokrifis beantragt, ohne daß er damit durchdraug. 
Im alle ver Zahlungseinftellung hat vie Staatsbehörbe das Pfand zu veräußern 
und daraus die Noten ber betreffenden Bank einzuziehen. Alle andem Berfügun- 
gen, auch die Feſtſezung ver Marimalmenge aller Noten zufammen (300 Mid. D.), 
berühren unfere Hauptfrage nit und find nicht Ansflüffe des Principe, fondern 
durch das Land und vor Allem durch die Zeit und vie Finanz⸗ und Papiergelb- 
verhältniffe veranlaft. 

Worauf laufen dieſe Vorfchriften hinaus ? Der Notenumlauf wird im Maximum 
anf einen hohen Bruchtheil des Bankkapitals einer jeden Zettelbant firirt. Dieſes 
Kapital wird immobilifirt. Es haftet prioritätifch den Notenbefigern. Die Noten- 
bedung als folde wird der Bank überlafien — und iſt in Prari, weun and mit 
manchen ſchäblichen Abweichungen, vie bantmäßige —, abgefehen von ber Bor- 
ſchrift Aber ein relatives Minimum des Baarfonds. Der Staat fegt ſich in feinem 
Regulirungsverſuch nicht fowohl die Aufgabe, wie im kontinentalen Syftem, bie 
tete Einlösbarkeit der Rote zu verbürgen, als bei einer — fait ale Regel, möchte 
es fcheinen, vorausgefehenen — Zahtungseinftellung ſchließliche Verluſte ver Noten- 
befiger zu verhäten. Soviel Abweichungen vom deutſchen Syſtem, fo viel Nach—⸗ 
tbeile dünkt uns. Der Schwerpunkt liegt in der Immobilifirung des Stamm 
lapitals. Der fhon oben beſprochene Nachtheil ift auch hier evident, hat fih auch 
bereits in Amerika gezeigt und wird zu unfrer Oenugihuung jetzt aud von 
v. Hod zugegeben, welcher früher in einem Borfchlag eines ; Banlgejees bie 


380 Settelbanhmwelen. 


Grundzuge des amerllanifchen Syſtems angenommen hatte. Die fistalifhe Tendenz 
der Bezahlung bes Notenemififſonsrechts dur Anlage des Kapitals in Staats- 
ſchuldſcheinen iſt in dem amertlanifhen Spftem fo ventlih als in europäiſchen 

Bantgejegen die leitende. Sie folgt aus der falfhen Annahme eines Notenregals. 

it mutatis mutadis — und dad wäre vielerlei, denn die Einzel⸗ 
befimmungen des amerikaniſchen Geſetzes find durch die abnorme Zeit, in der es 
zu Stande am, nur zu deutlich zw ihrem Nachtbeil noch anders ausgefallen, als 
das Princip e8 verlangen würde — Könnte das amerikaniſche Syſtem aud wohl 
nur auf ein becentralifirtes Zettelbanfweien in Europa übertragen werden. Denn 
bie erfichtlihe Boransfjegung der Sicherung der Banknoten durch hinterlegte und 
nöthigen Falles zu veräußernde Staatspapiere ift doch, daß dieſe Veräußerung 
nicht anf einmal in großem Umfange, wie etwa bei einem centralifirten Bank⸗ 
weien, ‚fondern nur einzeln vorfommt. Sonft würde vie Nealifirung des Pfands 
ſchwerlich zum Ziele führen. 

SHiernach wird man in der That dem kontinentalen Syflem den Borzug ein- 
räumen müſſen. Dieſes Syſtem ift aber doch eben nur das etwas willtürlid 
vegulirte ver bantmäßigen Dedung. Es ift zugleih das geeignetfie für alle Arten 
Bettelbanfen, große und Heine, mit einem ausſchließlichen Noteumonopol aus- 
geftattete Gentral- und mit vem Recht der Notenausgabe konceſſionirte Lokalbanken. 
Es wird daher andy nicht, weil das relativ befte materielle Bantgefeg nicht nur für 
eine beftimmte Zettelbankkategorie, fondern für alle paßt, ber Wahl dieſer letzteren 
präjubichet werben, fobald man an dem Grundfaß ber NRantlihen Regulirung der 
Geſchafteführung der Zettelbanten durchaus fefthalten wi. 

1X. Das Berbalten ded Staats zur Errichtung von Zettel- 


Wenn an und für fih anch für das Zettelbantgefhäft Freiheit gefordert 
werben darf, fo läßt fi eine Sonverfiellung des Staats nur durch andre Rüd- 
fihten, wie etwa die. früher angebenteten (Mbfchn. VII, am Ende) oder daburd 
rechtfertigen, daß bie eine Art Zettelbanten vor der anderen gradweiſe Vorzüge 
hat, zu ihrem Borwalten im Berkehr aber noch einer befonpren ſtaatlichen Be⸗ 
günftigung bevarf.. Hier handelt es fi dann um bie Frage der Sentralifation 
oder Decentralifation der Zettelausgabe und um die Gewährung eines ansjchließ- 
lichen Notenmonopol® an eine einzelne Bank oder vie Vertheilung eines Noten⸗ 
ausgaberehts an mehrere Banken nicht aus principiellen Gründen, welche vieleicht 
nicht gegen die Bankfreiheit jprechen, fonvern aus Nützlichkeitsgründen, weil eine 
ſolche Notenausgabe ber freien vorzuziehen ift. Bekauntlich ift diefe Frage neuer- 
dings in Frankreich wiever lebhaft erörtert worben, ohne daß indeſſen bemerfens- 
werthe neue Geſichtspunkte oder aud nur Thatfahen dabei zum Vorſchein ge- 
kommen wären. 

Die Kontroverfe über diefen Punkt trägt denſelben Charakter an fi, wie fo 
viele Steeitfragen über Krerit- und Bantweien. Man bat öfters ven Mißbrauch 
bes Kredits wahrgenommen und dann regelmäßig in Theorie und Praris eine 
befimmte einzelne Form des Krepits als die Urſache ſolchen Miß⸗ 
brauchs heransgegriffen. So haben denn namentlich vie Banknote und bie Zettel- 
bank lange Zeit als bie Hauptſchuldigen an Ueberfpetulatienen und Handelskriſen 
herhalten müſſen, während die Wirkungen andrer Krebitumlaufsmittel und Banken 
faum beachtet wurden. Dieſe Auffafiung ift durd die geläuterte Theorie des Geld⸗ 
und Kreditweſens und burd alle neuere Erfahrung Lügen geftroft worden, und 
konn für wiflenfhaftlih übermunven gelten, wenn fle and noch bei vielen Männern 


. Fa Er 20 





Settelbankwefen. 881 


ber Praris, Staats⸗ und Geſchäftsmännern, und bei zurfdgebliebenen Theoretikern 
put. Die Anſicht, wonadh die eine Baufnote vor der andern, bie eine Zettel- 
bank vor der andern, namentlich bie freie vor der Tonceffionirten, monopolifirten, 
Rantlich regulixten, die Keine überhaupt ver der großen Zettelbant eine beſondre 
Gefahr biete, IR nur jene alte Anffaflung in neuer Form. Auch fie beftcht vor 
den Bortfchritten der Theorie und der Erfahrung nicht. Im Gegentheil läßt 
ſich namentlih nad den Beobachtungen in den neueren und neueften Spelulationd- 
zeiten und Krifen der Sag aufftellen, vaß ein Mißbrauch des Krepits 
überall und unter jeder Form möglich if, feine Art von 
Banten ihn ganz zu verhindern vermag, feine Krepdit- 
bant und keine einzelne Zettelbantgattung ihn noth⸗ 
wendig mehr wie pie andre erleihtertopder verhütet, daß 
man überbauptpa8 Momentpder Verſchiedenartigkeit der 
Kredit- und Bantorganifattion in feinem Einfluß auf die 
Begüänftitgung der Ueberfpelulation allfeittg überfhägt 
bat. Staatliche Eingriffe erzielen keine Beſſerung, fondern nur die fortfchreilenve 
Bildung in wirthſchaftlichen Dingen, die Deffentlichleit, vie Selbfiverantwortlichteit, 
die beſſere kaufmänniſche Rechtlichkeit und Moralität vermögen zu helfen. If 
dem Mißbraud des Krebits in der einen Form durch Unterfagung des Gebrauchs 
diefer Form vorgebengt, fo Heivet ſich ver Krebit in andre Formen und der Miß- 
braud tft nur noch gefährlicher (Hamburg, Schweren 1857). Fehlt das ganze 
moderne Bankweſen, befteht nur die gepriefene „rein metalliiche Währung”, jo iſt 
wiederum der Mißbrauch andrer Kreditformen nur um fo fchlimmer, vie Htlflofig- 
feit in der Krebitfrifis nur um fo größer (ebenfalls Hamburg 1857). 

Die befonderen Angriffe gegen die Zettelbanffreiheit und gegen die aus ihr 
vermeintlich hervorgehende völlige Decentralifation ver Rotenausgabe find im Weſent⸗ 
lichen dieſelben, wie biejenigen gegen die Banknoten überhaupt. Immer fpielen 
barin die erwähnten Grunbirrthämer der Eurrenchtheorie die Hauptrolle. Rament- 
Ih Bat man eine übergroße Konkurrenz ver Meinen Freibanken unter einanber 
und das Streben, übermäßig viel Banknoten auszugeben, als bie nothwendigen 
Bolgen ver Bantfreiheit bezeichnet, ohne fih daran zu floßen, daß fchon biefe 
beiden Behauptungen im inneren Widerſpruch flehen. Denn gerade die Konkurrenz 
unter einander bildet auch das wirkſamſte Korrektiv jedes Verfuchs, in ber Noten- 
ausgabe leihtfinnig zu verfahren. Nirgends in der Welt ift die Entwilung bes 
Bankwefens fo großartig, die freie Bewegung bis 1845 fo umfaflenn gewefen, 
als in Schottland und doch blieb gerade ver Rotenamlauf daſelbſt in engen Schranlen. 
Fehler in ber Verwaltung durch unrichtige Maßregeln in Spetulationgzeiten und 
Krifen laſſen fi von allen Arten Banken nachweiſen, aber wiederum nit von 
ber einen mehr oder größere, wenn auch verfchiebene, als von ber anbren. Die 
ſtaatliche Einmiſchung hat ſtets außerordentlich wenig geholfen, oft nur nad) an- 
deren Seiten geſchadet. Reichere eigene Erfahrung, Fortſchritte der Theorie, unab⸗ 
läffige Kontrole der Öffentlichen Meinung haben bei biefen und jenen Banken vie 
Befſerung zu Wege gebracht. Die Stellung ver Monopolbant bietet gewifle 
ſpecifiſche Gefahren, meil die bebeutenden Mittel einer ſolchen Bant länger eine 
falfihe Maßregel aufrecht zu halten ermöglichen und ein weiter reichender Einfluß 
befteht. Die drei europälfchen Hanptzettelbanten von England, Franfreih und 
Preußen haben verfhiedene Male, vie erfle vor und nad der Peel’fchen Akte, 
große Fehler begangen. Über, wie man unpartelifch augeftehen muß, auch dieſe 
Banten find zeitweilig, wie im Allgemeinen in neuerer Beit, ohme veränderte 


332 Settelbankwefen. 


Statuten, aber nad viel reicherer Erfahrung mufterhaft geleitet worden, Fa 
Bortreffliches geleiftet und in Kreditkriſen ihre Glanzfeite offenbart. Die Yolge 
des Monopols mu alfo nit flets, wie mande Anhänger ber Bankfreiheit eben- 
falls oft einfeitig genug find zu behanpten, eine ſchlimme fein, wohl aber fann 
fie es. Und anders verhält es fich and mit ben Folgen ber Zettelbanffreiheit 
oder einer: Mehrheit Eonceffionixter Banken nicht. Alles in Allem möchten vielleicht 
Monopolbanten wegen ihrer überlegenen Macht mitunter, in gewiſſen Pertoden 
fpefulativer Tendenz und kurz vor dem Ausbruch der Krife, mehr Gefahr bieten, 
als Heine, mit einander konkurrirende, wie die ſchottiſchen im regelmäßigen Noten- 
anetaufh fiehende Banken, vafür aber anch mehr Sicherheit in Krebitirifen. Zu 
diefem Schluß berechtigen namentlid die Wahrnehmungen in und vor den Arifen 
ven 1857 und 1866. Daraus folgt wohl, daß viele Gründe, welde für und 
gegen Zettelbanffreiheit und Monopol aus der Funktion der betreffenden Noten 
und Banken entnommen werben, fidh einigermaßen die Wage halten, und bie 
Entſcheidung doch mehr vom prircipiellen Standpunkte aus erfolgen kann. 

Ein befonverer Vorzug der Freibanten und ſodann auch der Meinen kon⸗ 
ceffiontrten Zettelbanken gegenüber der monopoliftifhen Centralbank befleht darin, 
daß die Notenausgabe bei den erfteren ſich organiſch entwideln, dem Bantgefchäft 
näher anfchliegen und bloß das Kompfement dad Depofitengefhäfts werben kann. 
Das Disfontogefchäft wird hier vornehmlich mit den Mitteln des Depofitengefchäfts 
und mit dem eigenen Kapttal geführt, es ft im Verhältniß zur Notenansgabe 
relativ größer, als bei der reinen Zettelbant, namentlid der großen Monopolbaut 
mit kleinem oder mit immobklifietem Stammlapital. Daher kaun bie vegelmäßige 
Nüdftrömung der Noten zur Bank im Wege der Abzahlung der von der Bank 
gewährten Krebite ebenfalls mächtiger und Infofern felbft bei kleinem Baarfonds 
die Note einer: foldyen Meinen Bank die beſſer funbirte fein. Ein derartiger Vorzug 
ft in der That vielen Heinen Freibanken oder konceffiontrten Rofalbanfen vor ber 
Eentvalbant ihres Landes zuzuſchreiben, fo namentlich ven fohottifchen, im geringerem 
Maße auf deu englifhen fog. Landbanken im Bergleih mit ver Banf von Eng- 
and, den preufifhen Provincialsanfen und anderen Meinen deutfhen Banken im 
Bergleich mit der preußiſchen Bank. Ein Mufter einer verartigen Lolalbanf mit 
bedeutendem Bank⸗ und Depofitengefhäft bei relativ kleinem Notenumlauf ift in 
Deutſchland der Berliner Kaflenverein. Die Banknote wirb bei ſolchen Depofiten- 
Zettelbanten mit vorwaltendem reinen Diekontogefhäft am Dentlichften. bloß das 
zeitweitige Erfagmittel des Wechſels im Verkehr bis zur Verfallzeit des Wechſels, 
„die Kreditſcheldemünze des Wechſels.“ Indeſſen Tann doch auch hier wieder bie 


Berſchiedenheit ver Banknote ver kleinen Freibant und ver großen Monopolbant 


nur ſehr einfeitig und tendentids zu einem fpecififhen Unterfchieve zwiſchen dieſen 
beiden Banknoten emporgefchraubt werden, wobei etwa nur bie Kleine Zettelbanf 
gebilligt, die große als „Papiergeldfabrik“ bezeichnet wird. Auch in der Debatte 
über die Stellung der preußifhen Bank im I. 1865 ift dies von einfeitigen 
Gegnern diefer Bank gefchehen. Es wurde vabei feine Rüdficht darauf genommen, 
daß die Meine Bank mit vorwaltendem Depofitengefhäft, zumal wenn bie Depofiten 
flets⸗ oder doch kurzfällige find, eben nicht nur für die Einlöſung der Noten, 
ſondern auch der Depofiten forgen muß, mithin weder ihr ganzer Baarfond nod 
der Eingang aus dem fi) abwickelnden Disfontogefhäft ausfchlieglich, oder auch nur 
tin demfelben relativen Umfang wie bei der Eentralzettelbant mit Fleinem ober gar 
feinem Depofitengefchäft für bie Noteneinlöſung verwenpbar find. Der beliebte 
Bergleich zwifchen der preußiſchen Bant und dem Berliner Kaflenverein fällt dann 


Settelbankmefen, 938 


durchaus nicht jo übermäßig zu Gunften bes letgteren aus. Vom Depofiten- 
häft abgefehen handelt fih aber Alles nm tie Größe des Stammlapitals. 
Diefes ift mitunter bei einer Gentralbant, mie der franzöfifchen und namentlich 
der preufifchen, relativ Kleiner, als es vielleicht bei einer Anzahl Freibanken mit 
vemfelben Notenumlauf fein würde. Aber es ift diefer Umſtand durchaus Feine 
nothwendige Folge des Syſtems. Man kann das Stammkapital der Gentral⸗ 
bank erhöhen, wie dies erſt jüngfi wieder mit demjenigen der preußiſchen Vank 
geſchehen if. Wan hat andrerſeits unter mehr oder weniger vollkommener Vank⸗ 
freiheit Banken mit ſehr Meinem Kapital entftehen fehen. Die Londoner Igınt- 
Stod-Bankten, reine Depofitenbanten, führen ihre Geſchäfte meiſtens vortrefflich, 
aber ihre eingezahlten Kapitale ftehen zu den aufgenommenen Summen mehrfach 
im Berhältniß von 1:10, 1:20, ſelbſt 1:30. Diefe Banken können fehr wohl 
wie die ſchottiſchen auch Noten emittiren, chne Weſentliches an ihrer Geichäfts- 
führung ändern zu müſſen. Die durdy ein Meines Stammlapital bedingte ſchwachere 
regelmäßige Rückſtrömung viefer Noten zur Bank würde aber auch bier wie bei 
ben Noten großer Eentralbanten zum Vorſchein kommen. Dex Umſtand, daß bei 
ven Fleinen Bauten öfters nur ein Theil des Stammlapital® eingezahlt ik, Nach⸗ 
läffe dazu nöthigenfalls gefordert werden können oder ſelbſt unbefchräufte Haft- 
barkeit der Altionaͤre befteht, Tommt bier nit in Betracht, denn das ‚Inufende 
Bantgefhäft wird davon nicht berührt und außerdem fteht nichts im Wege, wenn 
der Grundſatz überhaupt gebilligt wird, audy bei der Gentralbant ähnlide Ein⸗ 
richtungen zu treffen. Gin unbebingtes Für und Wider erzielt man unſeres Gr- 
in der Frage der Eentenlijation und Decentralifation der, Motenausgabe 

andy hier nidt. Ä | 
Dasfelbe gilt noch auch wohl in Hinſicht eines legten, bier zur Sprade 
kommenden Punkts, nämlich des Vergleichs zwifchen einem Netze Kleiner freier oder 
tonceffionixter Lokalbanken und einer großen Central» und Monopolbank mit einem 
Netze von Filialen, Komptoird u. f.w. Beide Formen der ˖ unmittelbaren mad 
mittelbaren Decentraltfation der Notenausgabe, wie man etwa fagen künnte, haben 
fpeciifche Vorzüge, welchen ſpeeifiſche Nachtheile verfeiben Form nun bie. Vorzäge 
der anderen Form gegenüberftehen. Die Borzüge und Nachtheile mögen fi im 
lonkreten Fall wicht ganz ausgleihen und dann eine Entfcheivung für oder wider 
leichter fein. Allgemein fcheint uns eine folde Entſcheidung nicht gegeben werben 
zu Können. Die Lokalbank wird oft den vorher erörterten Vortheil einer organi⸗ 
fheren Verbindung des Roten⸗ mit dem Depofitengefchäft bieten und wegen. der 
Konkurrenz mit andren Banken fih mehr der Entwidlung des Depoſitenweſens 
zumenben, als etwa bie Filiale der Gentralbauf, weil letztere wegen des Noten- 
monopols fick nicht fo nm hie Ansvehnung des Depofitenweiens zu bemühen 
braucht. Aber eine durchaus nothwendige Folge ift Dies doch aud nicht, wenn 
fie vielleicht noch Öfter eintritt als unterbleibt. Die Lokalbank wird ferner, wie 
namentlich die amerikaniſchen Banken zeigen, im Ganzen doch wohl ben lofalen 
Bedarf befier befriedigen, vie Lokalen Verhältniſſe näher Iennen, ver Pflege der 
lokalen wirtbichaftlihen Interefien ſich emfiger widmen, afa die ferner ſtehende 
Gentralbont mit ihrer ſtets etwas bureaukratiſchen Verwaltungsſorm. Eine gar zu 
große Zerſplitterung des Bankweſens durch die Entfiehung einer Ueberzahl felbft- 
fländiger, aber deshalb auch meift gar zu ſchwacher Bauten in jevem ‚Heinen Orte 
iR daher auch bei Bankfreiheit nicht wohl zu befürdten. Vielmehr ift das Wahr⸗ 
ſcheinlichſte ein Zuſtand wie in Schottland, wo eine nicht jehr große Anzahl ſelbſt⸗ 
fändiger Banken beftebt und jede wieder ein ganzes Neu von Filialen bat. In⸗ 








934 Settelbankwefen. 


fofern iſt nicht Einheit und Wielheit der Banken, fondern ver Fllialenſyſteme der 
Gegenfatz. Theils hierdurch, theils durch die Verbindung der konkurrirenden Banken 
unter einander zu einem regelmäßigen Notenaustauſchſyftem (Schottland) und 
Elearing-Honfe (Newyork) wird dem Berärfnig nad Einheitlichkeit der Krebit- und 
Bankorganifation auch Hei becentralifirtem Lofalbantwefen Rechnung getragen. 
Die gewöhnlichen Einwänve und Befürchtungen ver Gegner dieſes Bankweſens 
möchten in diefen Punkten grundlos fein. Auf der andren Seite kann aber auch 
‚bie Gentralbant mit einem wirflid über das ganze Land geiponnenen Netze von 
Komptoirs un. ſ. w. bei guter Leitung die melften jener Vortheile des Lokalbank⸗ 
weiens bieten, und wenn fie vieleicht Bierin auch immer etwas zurädfteht, fo hat 
fie wieder einige andre Vorzüge. Die Einheit des Geſchaäfte geftattet eine groß- 
artige Ausdehnung des Mimefjenwechielgefhäfts, in welches fich alle Plätze mit 
Banflomptoirs hinein ziehen laflen. Die Wechſel auf Heinere Plätze finden auf 
dieſe Weiſe erſt orventlihe Unterkunft. Cine große Bant kann felbfl einzelne 
Komptoirs zeitweilig mit Verluſt erhalten. Die preußiſche Bank Hat gewiß, wie 
Naffe mit Recht hervorhebt, durch ihr Billalfyftem großen Nutzen geftiftet und 
die Nachtheile des Monopels weſentlich gemilvert; ähnlich, doch nicht im gleichen 
Maße, Die Bank von Frankreich. Faſt jedem weiteren Vorzug und Rachtheil des 
einen fann man einen analogen Borzug und Nachtheil des andren Syſtems ge- 
genüber fielen. ®eringere Selbftverantwortlichleit der Eentralbanf, weil vie ein- 
zeme Operation einer folhen Bank felbft nicht Leicht gefährlich wird, bafür aber 
auch firengere, wirffamere Kontrole durch die Deffentligfeit, weil die große Bank 
die Aufmerkfamteit viel allgemeiner anf ſich zieht. Größere Gefahr ver Hinein⸗ 
ztehung einer großen Monopolbant in die Yinanznöthen des Staats, des Ueber- 
gangs der Banknote in das eigentlihe Papiergeld, dafür aber auch geringere Ge⸗ 
fahr einer reinen Staatspapiergeldwirthſchaft, welche meiftens noch das Schlimmere 
iſt. Außerdem zeigen die jüngften Erfahrungen der Vereinigten Staaten, daß 
auch eim vdecentralifirtes Vankweſen feine Gewähr vor Mißbrauch zu Finanz- 
zweden durch die Stantsgewalt bietet. Defters eine fchmächere regelmäßige Rück⸗ 
Arömung der Noten zur Bank wegen Kleinheit des eigenen Kapitals, dafür größere 
Baaroorräthe. Mitunter parteitihere Leitung des Diskontogeſchäfts, bafür nicht 
felten ficherere Ausleihungen, weniger Gefahr, in Wechſelreiterei verfiridt, von 
lotalen Schwinbelfirmen ratnirt zu werben, denen bie Heine Bank zu viel Krebit, 
ſchließlich vielleicht nur noch eine Prolongation des Krevitd, nm den Sturz ber 
Firma zu verhüten, gewährte. Endlich last not least in Kriſen oftmals nur 
Erhaltung diefer Meinen Banten durch die Hilfe der Centralbank (Schottland ſelbſt, 
England), und wenn dies auch vielleicht inſofern noch nicht viel beweist, als 
eben gerane bie omnipotente Stellung der Eentralbant die Verwaltung der Heinen 
Banken ungünftig beeinflaßt, weil fie den Anlaß giebt, fih auf folhe Hilfe 
zu verlafien, fo doch notoriih eine geringere Leiftungsfählgfeit, die richtige 
Hüfe Andren zu Theil werben zu laflen, in Krebitfriien. Namentlich die früher 
beſprochene Hilfe durch Notenausgabe zur Ausfüllung der Lüde im Kredit⸗ 
ſyſtem kann kaum anders als von der Centralbank ausgehen. Die Londoner Er- 
fahrungen im Jahre 18567 find ungleich günftiger als vie Rewyorker gemefen. 
Dort Verlegung ber Peel'ſchen Akte, aber fortvauernde Einlösbarkeit der Noten, 
bier Einftellung der Baarzahlungen. Diefer legte Punkt ift vielleicht ver 
noch am Meiften Unsfchlag gebende in der Frage über bie Gentralifation und 
Decentrallfation der Rotenausgabe. 


Settelbaukweſen. 335 


Dos Faci aus ven vorfiehenden Erörterumgen ſcheint uns zu fein, daß man 
dieſe Frage danach überhaupt nit allgemein apodiktiſch entjcheiden kann. Die 
unbediugte Borzüglicdkeit des einen vor dem anderen Syſtem ift wie die unbe 
pingte Berwerfumg des einen ober anderen eine der vielen Ginfettigfeiten, welche 
ſich entgegengefegte Barteien in wirthſchaftlichen Streitfragen zu Schulden kommen 
lafien. Es kommt mehr anf vie konkreten Verhältnifie, unter welchen das eine 
und andre Syſtem fungirt, und auf die thatfächlidhe Leitung der Banken an. Für die 
allgemeine Theorie des Zettelbankweſens iſt dann wohl nur der eine Geſichto- 
punti entfcheidend, daß Monopolificung und Eentralifirung nicht nothwendig ibentifch 
find. Die Bortheile entfpringen vielfach ans legterer, die Nachtheile aus erflerer. 
Eine gewifje Gentralifirung ver Notenansgabe iſt nur das Seitenſtück zu tanfend 
andren wirihſchaftlichen Erfcheinungen der Neuzeit. Sie wird fih and ohne 
Monopol vollziehen, zumal in den enropäifchen Vollswirthſchaften, in welden bie 
centralifiiihe Tendenz jo ſtark iſt. Die etwaigen Nachtheile, welde darans 
hervorgehen, dürfen dam fteilich ebenfo wenig als bie betreffenden Borzäge dem 
Monopol zugefchrieben werben, wiederum ein in beiden feindlichen Lagern oft über- 
fehener Punkt. Wir möchten annehmen, daß ſelbſt von einer vollftänvigen tabula 
rasa ans fih auf dem Boden ber Zettelbankfreiheit große Gentraßzettelbanten in 
Mitteipuntien wie London, Baris, Berlin, wenn aud vielleicht wicht ganz von 
der Bebeutung wie bie jegigen, bilden wärben, in Uebereinftimmung mit einem 
gewiſſen nationalen Typus der britifegen, fraugöfiichen, preußiſch-⸗deutſchen Bolts- 
wirthſchaft, weicher ſchon in ver ebenfalls frei gewordenen, nicht durch änfßeren 
Zwang bewirkten Stellang jener drei Hauptfläpte zum Vorſchein kommt. Ben dem 
jest eimmal geworbenen Zuftanse aus ift e8 wohl noch wahrſcheinlicher, daß die 
Stellung dieſer Banken bei einer weſentlichen Beſchränkung ihres mehr oder weniger 
ausihliefligen Monopols oder felbft bei einer Aufhebung desſelben und der Frei⸗ 
gebung der Netenausgabe ſich gar nicht wejentlih verändern würde, mindeſtens 
erſt nach geraumer Zeit. Deshalb ſcheint uns aud eine Aubahnung ber Zettel- 
bankfreihen nicht bedenklich. Es wirb bier gelten, was bei der Beſeitigung des 
Zunftzwangs fih vegelmäßig gezeigt hat. Freund und Feind lberfyägen vie 
Größe ver alsbald eintretenden Beränderungen bedeutend. Noch jet bemerkt, daß 
ein oft betomnter Außerlicher Nachtheil, die Vielheit der Banknotengattungen bei 
vecentralifttem Lolalbautwefen, fih durch gleiche Bankaotenformniare, dur gegen 
feitige Aunahıne der Banknoten bei den Banken (NRordamerika) und ein ganz ge- 
regeltes Rotenaustaufchigftem (Schettland) heben läßt. In der Hebergangszeit zum 
Freibanfweien HBunte auch ver Staat neh ähnliche Vorſchriften erlaſſen. Ä 

Uebrigens nehmen wir Alt davon, daß nad dem Vorausgehenden eine aus 
politiſchen umb fonfligen [peciellen Gründen einer Bolle- und Staats- 
wirthſchaft feftgehaltene Monopolifirung ' der Notenausgabe wiederum zuläffig er 
fheint. Nur muß viefelbe auf einem ausdrucklichen Geſetz beruhen nnd darf nicht 
ganz willfärlih aus dem Müngregal abgeleitet werben. 

x. Grunbfäge der Zettelbaufpnlitif. 

Das Verhalten des Staats zur Errichtung und Leitung von Zettelbanken 
und zur Banknote braucht bemnad aus volkswirthſchaftlich en Grumden 
in ber Hauptſache nicht in einem materiellen Eingreifen zu beſtehen. Es genügt 
die Anwendung allgemeiner Rehtsfäge auf das Zettel- 
bautwefen ww ein formelles Bankgefet für Krebitbanken, in 
weiches nur wenige beſondre Vorſchriften über bie Banknoten und 
gehören. Wir fafien hier zum Schluß einige Hauptpunkte einer allgemeinen 





336 Scielbeuhwefen. 


Bankpolitik im Anhalt an eine eigene frühere Publikation zufammen, wobei 
wir die Verhältnifie des kontinentalen Dlittel- und Weftenropas vor Augen haben. 
Underswo, 3. B. in Nordamerika, England, Rußland mögen fi auh aus all« 
gemeinen Gründen einige biefer Säge modificiren, wie fie e8 auch ans 
fpeciellen Gründen in Mittel- und Weftenropa thun könnten. So erjheint 
uns in Deutfchland aus politifden Gründen die Stellung ber preußifhen Bank 
noch nicht befeitigt werben zu dürfen. In Deutihland möge die Ban Efretheit 
erſt ven Uebergang zur Z etteLbanffreiheit einleiten. Ä 

1. Die Errihtung von Zettelbanten kann ebenfo Wie viejenige anderer Krebit- 
bauten frei fein. Geſellſchafts⸗ und fpeciell Aktiengeſellſchaftsbanlen mit und ohne 
Notenausgabe dürfen auf Grund des allgemeinen Gefepes über Gefellfchaften und 
über Altienunternehmungen errichtet werben, ohne daß es eines beſondern Geſetzes 
oder einer befonberen Konceſſion ber einzelnen Bankgeſellſchaft als Bank bebarf. 
Nur find in das Geſetz über Altiengeſellſchaften einige beſondre Beſtim en 
über Banken aufzunehmen, welde eventuell aud ben Inhalt eines aparten Ge⸗ 
ſetzes über Banken bilden wärben. 

2. Die Beſtimmungen über das Stammkapital der Zettelbanken und über 
ven Umfang ver Haftbarkeit der Aktionäre für die Schulden ver Geſellſchaft, — 
beichränfte Haftbarkeit für den Betrag des Einfchuffes, ober der Aktie, ober eines 
weiteren firirten Zuſchufſes oder unbegrenzte Haftbarleit mit dem ganzen Bew 
mögnm — können biefelben fein wie viejenigen über Banten überhaupt umb biefe 
wieder wie diejenigen über andre Gefellihaften. Das Princip der unbegrenzten 
Haftbarkeit hat fi in England, wo es für Banken bis vor Kurzem noch mit 
Ausnahme der Banken mit Parlamentscharte ausſchließlich galt, keineswegs fo 
allgemein bewährt, wie oft angenommen wird. Denn reiche angefehene Mäuner 
ſcheuten fih, Bantaftionäre zu werben, und bie Öläubiger übten eine zu geringe 
Kontrole. Beide Umſtände führten öfters zu fehlechter Verwaltung unb gerabe 
zum Ruin. Wo das Princip, wie auf dem Kontinente, nicht üblich. ift, wird ſeine 
Einführung auf große Schwierigkeiten ftoßen und leicht noch üblere Folgen haben. 
Buwedmäßiger und eher durchführbar wäre vielleicht ala Uebergangsmaßregel zur An- 
bahnung der Bankfreiheit der Uſus ver Berficherungsgefelihnften, Aktien auf Namen 
auszugeben, bie Einzahlung auf das Kapital nur bis zu einem geiwiffen Betrage 
za fordern und für den Reft Wechfelverpflichtungen ausftellen zu laſſen (f. Urt. 
Berfigerungsmeien IX ©. 8). Doch wird aud eine folde Beſtimmung Schwierig- 
teilen bieten, wenn einmal das Inhaberpapter üblich geworden iſt. Bei voller 
Banffreiheit läßt fih auch die einmal in einem Lande gebräudlide Form ver 
Mltiengefellihaft als genügend bezeichnen. 

3. Sonberbeftinmungen über Zettelbant» wie Bankgeſellſchaften werben namentlich 
nur formeller Natur zu fein brauden, eine materielle Kontrole über 
bie Errichtung und Leitung der Banken iſt nicht zu fordern, mie fie aud nie 
mals wirkfem auszuüben ifl. Daher bleibt die eigentliche Geihäftsführung im 
Ganzen und Einzelnen — mit Ausnahme eines Punlts -— uns bie Feſtſetzung 
het Umfangs ber eigenen und der hinzugelichenen Mittel ver Bank ſelbſt über- 
Infien, foweit niht allgemeine Geſetze über alle Geſellſchaften etwas Beſondree 
vorfchreiben. Daher hängen die Größe des Stammtapitals und bie Veranlagung 
besfelben, die Höhe des Reſervefonds, deſſen jährlihe Dotation, vie Bertheilung 
des wirklichen Meinertrags, die Errichtung von Filialen, der Umfang der Geſchäfte. 
die Vedingungen für bie Annahme und vie Höhe der Depofiten, bie Kategorien 
der Banknoten und beven Gefammtbetrag, bie Dedang ber Paſſiven, bie Einrich⸗ 





Zeitelbankweſen. 337 


tung des Diskonto⸗ und Lombardgeſchäfts, die etwaigen fonftigen Geſchäfte, das 
Berbältnig zwifhen Baarfonds und Notenumlauf, zwifchen legterem und dem 
Kapital u.f.w. u. ſ. w. ausjhlieglih vom Ermeſſen der Zettelbant ab. Dieſe 
unterfteht im Uebrigeu dem Eivil- oder Handelsrecht und den allgemeinen Vor⸗ 
ſchriften über Geſellſchaften 3. B. in Betreff der Dividendenvertheilung, Yirma, 
Liquidation, des Konkurfes u. f. w., ferner dem gewöhnlichen Beſtenerungsrecht 
des Staats, kann daher auch nicht, wie mitunter bie privilegirte Bank, auf irgend 
welche Eremtionen vom Rechte oder auf finanzielle Begünftigungen (3. B. in 
Detreff des Stempels u. dgl. m.) Anſpruch machen. 

4. Die Türforge des Staats erfiredt fi dagegen, In richtiger Auffafjung 
feines Oberaufſichtsrechts auf dieſem Gebiete auf zwei, eventuell drei Punkte, 
nämlich a) darauf, alle Hindernifie, Seitens des Publitums einen Einblid in bie 
wahre Krebitwärbigleit der Bank zu erlangen, durch formelle Vorfchriften zu be» 
feitigen. Hier dreht ſich Alles um die volifte Anerkennung und wirkſame Durd- 
führung des Princips ver BPublicität in Bankſachen und um das firengfie 
sepreffivde — nicht präventive — Einſchreiten bei einer Verlegung vieles Princips 
durch unterbliebene oder gar durch gefälfchte Mittheilungen der Bank über 
ihre Berhälmifie. Daran reihen fih b) VBeftimmungen über das Berhalten des 
Staats zur Banknote, wie fie oben fhon im Abſchn. VII erörtert worden find. 
Und endlich können dazu eventuell noch c) Einrichtungen treten, durch welche der 
Staat eine formelle Kontrolle über die Banken ausübt, was aud vom 
Standpunkt der Bankfreiheit aus zugeftanden werben darf. 

5. Das Princip der Deffentlichleit erheiſcht a) die Abfaſſung und gehörige 
Beröffentlihung eines für die Bank als Norm dienenden Statuts, weldes 
der Staatsbehörbe nicht zur Prüfung und zur Genehmigung, fondern nur zur 
Rotiznahme mitgetheilt und etwa bei dem Handelsgericht deponirt wird. Die Art 
und Weife der Veröffentlihung beftimmt der Staat mit Rüdfiht auf das mög» 
lichfte Bekanntwerden des Statuts in den betheiligten Kreifen des Publikums. 
Abänderungen des Statuts müflen in verfelben Weiſe befannt gegeben 
werden, dürfen auch erft nach einer vom Staate zn beſtimmenden Frift und eventuell 
unter von ihm zu normirenden Bedingungen, entweder nad) den im dieſer Hinficht 
allgemein geltenden oder ſpeciell für Banken zu erlaffenden Gefegen, in Kraft 
treten. Jenes Princip exheifcht weiter b) bie regelmäßige, periopifhe, möglichſt 
häufige, d. b. für Heinere Banken monatliche, für größere wöchentliche (fo jet bei 
den Banken vou England, Frankreich, Preußen, Oefterreih, Rußland, Nemyork) 
Beröffentlihung eines klaren und detatlirten Status, d.h. eine 
Ueberficht über den Stand der Aktiva und Paffiva, in Amts- und gelefenen politi⸗ 
ihen Blättern. Die Form des Status nah Hauptlategorien wird der Staat 
vorfchreiben dürfen, damit durch Zufammenziehung verfdiedener Poften in eine 
Rubrik, wie bei den Krevitmobiliers, nicht der Zwed ver Beröffentlihung vereitelt 
werde. Auch für vergleichend ftatiftifche Zwede iſt eine beftimmte Form des Status 
nothwendig. Bislang unterfcheiden fi diefe Bankausweiſe ſehr von einanner, 
ein großer Uebelſtand. Zu verlangen wäre auch die nody nirgends erfolgende 
regelmäßige Publikation der von jedem Notenftüd ausgegebenen Beträge, ein jehr 
wichtiger Punkt des Banknotenweſens. Die große Bereutung der Bankausweiſe 
als eine Art Barometer zur Bemeſſung der Verhältnifie des Geldmarkts ift bekannt. 
Endlich iſt noch erforberlih c) die halbjährlihe oder jährliche genaue Rechnungs⸗ 
ablage über den Geſchäftsgang der abgelaufenen Periode vor der Öeneralverfamm- 
lung unb bie beireffende Veröffentlichung darüber. Daran kann ſich das Verlangen 

Bluntidli uam B rater, Deutfhes Staats⸗Mörterbuch. X. 22 





338 Zettelbankweſen. 


nach einer ſpecielleren Bankfſtatiſtik im Rechenſchaftsbericht knüpfen, z. B. die Mit⸗ 
theilung von Daten über bie Bedeutung der regelmäßigen Rüdfirdmung der Noten 
und der Einlöfung von Noten gegen Ob, im Ganzen und in Kategorien. (Ge⸗ 
ſchieht ſchon mehrfach, 3. B. im Jahresbericht der Frankfurter Bank). Beftimmte 
Formulare wird auch bier der Staat für einzelne beſonders wichtige Ueberfichten 
vorſchreiben dürfen. Rur dadurch laſſen fih vie fo häufigen Unklarheiten, abficht⸗ 
liche und unabfiätliche, in den Bankberichten befeitigen. 

6. Das Princip der Oeffentlichkeit wird ſtaaksſeitig verbärgt durch Bor⸗ 
ſchriften über die ftrengfte perſönliche Verantwortlichkeit der Direltoren, Verwal⸗ 
tungsräthe, Rechnungsreviſoren u. ſ. w. für die Innehaltung der Beſtimmungen 
des Statuts, die Nichtigkeit der veröffentlichten Ausweiſe und Rechnungen. Ein 
Syſtem nit nur von Vermögens⸗, fondern aud) von Ehren» und Breiheitäftrefen 
muß mit biefen Vorſchriften in Berbindung treten. Insbefondere ift jede abfichtftdye 
Täuſchung des Publitums durch Fälfchung der Ausweiſe und Rechnungen, wiſſent⸗ 
liches Fortführen notorifch ſchlechter Schulden als guter Altioa, Gewinnſtvertheilung 
bei reeller, dolos verborgener Unterbilany, alſo aus tem Stammfapital (nicht 
feltener Fall bei Banken), grobe Fahrläffigkeit in der Kontrole und Revifion fireng 
zu ahnden. Beſteht kein beſondres äffentliches Bankkontrolamt (Nr. 7), fo wire 
vornemlih bei erfolgter Einftellung der Baarzahlungen von Amtswegen nad biefen 
Punkten zu forfen fein. Außerdem empfiehlt fi die Beſtimmung, daß nad 
dem Ermefjen des Miniſteriums erforberliben Falls, z. ®. bei einem Mißtrauen 
im Publikum und in der Preffe gegen die Bankausweiſe u. ſ. w. eine formelle 
Präfung ber Bankbücher borgenommen werbe, Die Peel'ſche Atte ſetzt eine Strafe 
von 100 Pf. St. für jede falſche Angabe feft und beauftragt das Stempelamt, 
mit Genehmigung des zuftändigen Mintfteriums die Bücher der Banken eimzufehen, 
Abſchriften zu nehmen n. f. w., fo oft es nöthig erfcheint. 

7.. Noch mehr albs letztere, mehr erceptionelle Maßregel empfiehlt fig, ins⸗ 
beſondre in Zeiten des Uebergangs vom regulirten zum freien Bankweſen, die Er⸗ 
richtung eines ſtändigen oͤffentlichen Bankkontrolamts nach Analogie der 
ſchon älteren Einrichtung in Newhork und der neueren Unionsbankbehörde. Gemäß 
dem Grundſatze, daß nur eine formelle Kontrole, keine materielle Leitung ber 
Banken ftattfinden ſoll, würden an ein ſolches Kontrofamt fämmtliche zu veröffent« 
lihende Dofumente, alfo namentlich Statut, Status, Jahresrechnung zu leiten und 
bier einer formellen Prüfung zu unterziehen fein, ob die Ausweiſe glaubmärbig 
erſcheinen, ob künſtlich verborgene ſiatutenwidrige Gefchäfte vorgekommen find u. f. w. 
Das Kontrolamt müßte die Ermächtigung haben, von Amtöwegen vie Bäder ver 
Banken zu prüfen, ob dieſelben mit ven verdffentfichten Daten übereinſtinmen. 
Stetutenwidrige Gefhäfte hätte das Amt nicht zu Inhibiren, aber e8 Hätte barliber 
öffentlich Mittheilung zu machen, fie alfo dem Publikum gegenüber amtlich zu 
konſtatiren. Je nad den BerBäftniffen, namentlih nach dem Zuſtande ber bffent⸗ 
lichen Preffe, Tönnte die Kontrole des Amts ertenfiv und intenfiv ausgebehnt ober 
befhränft werden. Allgemein würde das Kontrolamt zugleih als bankftatiftifchee 
Burean dienen können. In fpeclellen Fällen, 3. B. fo lange das Publikum und 
bie Banken der Bankfreiheit noch ungewohnt find, würde dies Amt wohl aud eine 
aͤhnliche Stellung wie etwa Staatsfäuldentommiffionen erhalten Innen, jahr⸗ 
lich over halbjährlich üffentlih Bericht Über das gefammte Bankwefen und über 
tie einzelnen Banken zu erftatten Haben, flets mit dem leitenden Gedanken, bie 
Verhältniffe der Banfen richtig vor ver Deffentlichkeit darzulegen, worauf bie etwa 
erforderliche Reaktion gegen eine Bank ober eine Thaͤtigkeit derſelben ſchon durch 


Zettelbarikwefen. 599 


dad Mittelglied des Kreditfaktors vot fi gehen wird. Zur Sicherung der Banken 
gegen falſche Urtheile des Kontrolamts müßte als eine Art Appellationsiuſtanz 
etwa ein revidirendes Schiensgericht beſtehen, zu welchem vie .betroffene Bank und 
das Kontrolamt and ſachverſtändigen, unparteliſchen Perſonen die Mitglieder er- 
wählen könnten. Das VBankkontrolamt hätte dann auch bei Zahlungsflodung vie 
Einltitungen zum Konkursverfahren u. ſ. w. zu treffen. Hier ließen ſich vielleicht in 
eit formales Vantgeſetz noch einzelne befontre, von dent allgemeinen Beftimmungen ab- 
weichende Vorſchriften über ven Konkurs, die Einziehung der Noten u. |. w. einfügen. 
Dies mit Inbegriff der Beftimmungen über das Berhalten des Staats zur 
Banknote (Abi. VIL) im Wefetitlichen ver Inhalt eines formellen Bank- 
gel etzes, welhes auf dem Standpunkt der Bank» und Zettelbankfreiheit ver 
Hay file die eihe ſtaatliche Regulirung des Bankweſens vorſchreibenden materiellen 
Bäfifgefege wäre. Die Thätigfelt des Staats beſchränkt fih bier darauf, die ein⸗ 
greffenne Kontrole der 8 entlidien Meinung über die Banken zu ermögliden. 
Eine freie, unabhängige Preffe ift daher ebenfalls eine Mitvoransfegung einer 
folgen Bantfreiheit. Der Staat garantirt nur das Princip der Publicttät, das 
Publikum, die nachſtbethelligten Bankgläubiger, Notenbefiger und Deponenten müſſen 
alsdann die Banken tirkfam beaufſichtigen. Dadurch wird aud die richtige bank⸗ 
mäßige Deckung der Noten, welche durch die Natur des Zettelbanfgefchäfts begründet 
NM und daher im wahren Inteteffe der Bank felhft Liegt, am Wirkſamſten gewahrt 
werben. Die öffentliche Meinung würde fofort ‘die Berlegung jenes Dedungs- 
ſyſtems ernftlih zägen und bie fiete Einlösbarkeit ver Note beſſer gefihert fein 
als durch vie doch nicht ausreichende, nach andren Seiten wieber fe fchäbliche 
ſtaatliche Regulirung des Bankwefens. Vorſchläge in der angebeuteten Richtung 
famen in Dresden 1864 and in Hamburg 1865 zur Sprade. (Abſchn. X mit 
Monifitetionn ums Anstkhrimgen im Anhalt an des Verfaſſers Auffäge Bankweſen 
und Zettelbant im Handwörterbuch der Vollswirthſchaftslehre von Rentzſch.) — 
Für die Geſchichte und Statiſtik des Zettelbankweſens muß hier mit Ruckſicht 
auf ven Raum auf vie fatiftifchen und finanziellen Abſchnitte der Artikel des 
Staetswörterbuthe über bie einzelnen Staaten verwiefen werben, in melden fi 
melſtens bezügliche Ditttheilungen finden. Das für den Entwidlungsgang und für 
die Principienfragen Wefentlihe tft im BVBorausgehenden zur Sprache gelommen. 
Literatur Außer ben im Art. Banken genannten Werken : von ben 
natioualbk. Lehrbüdern und Syſtemen die Abſchnitte bei I. St. Mill, Rau (in 
Bv. I m. 2) and Schäffle (Das gefellich. Syſt. d. menſchl. Wirthſch. 2 Wufl. 
Zus, 1867). Ferner bei Hod, dff. Abg. u. Schulden, Stuttg. 1863. Special⸗ 
©öäriften: Tooke u Newmarch hist. of prices, 6 vol. Lond. 1838— 1857. 
(O. v. Aſher, Dreod. 18569, 2 B.), Fallarton, regul. of currencies 2. ed. 
Lond. 1845, Mill, a. a. D., die Schriften von Gilbert, I. Wilfon, Korb 
Dverfione, die verſchits. engl. Bank⸗ und Krebitenguäten, vie Art.v. Macleod 
in veffen. Diet. ef pol. eeom. vol.I. — U. Wagner, Beitr. z. Lehre v. d. Banken 
Eeipz. 1867), Derf., Geld» u. Kredittheorie der Peel'ſchen Alte (Wien 1862), Derf., 
d. Ruf. Papierwährung (Riga 1868), Derf., die meiften Krebit- und Bankartikel in 
NRentzſch Handwörterb. d. Vollswirthich.Zehre (Reipz. 1866). Obige Abhandlung bildet 
fachlich eine Reproduktion der Hauptpunkte diefer Arbeiten über Zettelbankweſen, wobei 
ach in formeller Dinficht mehrfach eine Anlehnung an die Artikel im Hantwör- 
teeb, erfolgte. — Wuffäge von Schäffle (Deutſche Bierteljahrfchr., Täb. Ztſchr.), 
Naffe (EB. Ziſchr.), DO. Michaelis (Pidfordts Monatsfhr., Berl. Biertel- 
jahrſchr), Hildebrand jun. (Jahrb. f. Nat. Del) u.a. m., be Chevalier, 
22° 


Sal Sal. 


ia; ua Srirmilim A (J. des &con.) — Franzdi. Bankenquote 
sau, sah I mai Pass 1867, viel weniger Neues, ald Manche denken; 
N Noeasanrız ur Mafiagen von Wolowoki und Horn, Anhänger und 
gu Yo Aremmeueteit, Refume In Hocks Auff. Tüb. Ztfhr. 1866 B. UI 
„NS a Wentürf teren: Wolowski, quest. des banques, Par. 1864, Hom, 
EF. 1867 („Banffreiheit" D. Stuttg. 1867), ©eyer, Theor. 
. Drug I Jumuhueänd, 1867, Tellfampf, Princ. des Geld⸗ u. Vankweſ. Berl. 
X&MAdIA à2æa die alte Gurrenchtheorie, nur ohne die in England erlangte wif- 
mitte Ber berieben). — Carey’s Erörter. üb. Banken und bie feines 
Ss Tirrinz find vielleicht das Schwächſte in dem ganzen Carey'ſchen 
mu Zar Seſch. u. Statifl.: O. Hübner, d. Banlen, Leipz. 1854, 
XVXITEG ACT Belihand. B. 2 u. 3 (Wien, 1862, 1864), Horn, ann. du 
zei pabl 1359-61, die meiften der oben erwähnten Schriften. Speciell über 
&eg.aut neh: Wolowski, la banque d’Anglet. et les banques d’Ecosse, 
Pan 1887, B6. Nordamerika, Hod, Eiv. d. Verein. Staaten, Stutig, 1267, 
I Remporf, Gibbons banks of Newyork 1859, üb. Preußen, Bed. d. 
ı Want, Berl. 1854, Naſſe, preuß. Bank, Brem. 1866. — Bieles auch bei 
MR Birth Handelskriſen. S. auch d. Literatur beim Urt. Papiergeld. Fortlanf. 
Markt. Rache. bei. üb. dentihe Banken im Brem HanbelsbL, Ziſchr. f. 
Kapital u Rente, früher in DO. Hübner's Jahrb. Mosiph Wagner. 


Zölle. 


J. Begriff und allgemeine Bedeutung des Lander⸗ des Unsfuhrzolls. — Getreidezollpolitik. 
ofifyftems. ill. Entwicklung und Syſtem des Cinfuhrzolle. 
1. dinanz- und Gänpzölle. — Der Durchfuhr- IV. Tiurichtung des Soliweſens. 

zoll. Entwidlung und gegenwärtiger Umfang V. Die Finanzzölle als Steuerart. 

I. Begriff. Entwicklung uud allgemeine Bedeutung des Landes: 
grenzzollfyfteme. 

Zölle (Mauren) im allgemeinften Sinne des Worts find Steuern von 
ven in Verſendung begriffenen Waaren. Diefe Begriffsbeftiimmung paßt auf alle 
Abgaben, welche in verſchiedenen Zeiten und bei verſchiedenen Völkern gelegentlich 
unter dem Namen Zoll erhoben worden find. Im eugeren Sinne hat bie Be- 
deutung dieſes Wortes aber mandfahe Wandlungen im Laufe der Zeit erfahren, 
fo daß viele Abgaben, welde früher den Namen Zoll führten, gegenwärtig nicht 
oder nur felten noch fo genannt werben. Die Bebentung des Worte Zoll hat 
fi alfo verengert. Der Sprachgebrauch hat fi hierbei im Wefentlichen der ein- 
getretenen Veränderung des Zollweſens anbequemt. Die Zölle des Alterthums 
und des Mittelalters beflanden aus Baffagezöllen für die Berührung 
einer beftimmten Stelle an einer Straffe, einem Fluſſe oder Meereöufer, einer 
Brücke u. f. w. oder für die Benugung diefer Wege, ferner aus Ortszöllen, 
welhe am Abgangs- oder Befimmungsorte von den Waaren erhoben wurden, 
endlih aus manderlei Heinen Abgaben, welche fi unter verfchiedenen Namen 
und aus verſchiedenen Titeln theils ſelbſtändig, theild aus Nebengebühren 
in Berbindung mit den anderen Zöllen entwidelten. Die modernen Zölle find in 
der Hauptfahe Landeszölle und zwar Grenzzölle, welde von ben 
die Landesgrenze zu verſchiedenen Zweden überfchreitenden Waaren ale Durch⸗ 
fuhr, Ausfuhr- und Einfuhrzölle erhoben werben. In gen früheren 
Zöllen waren alfo verjchiebenerlei Abgaben enthalten, welche fi) fpäter gefondert 
entwidelten, wejentlih unter dem Einfluffe von Umänverungen in ben Rechts⸗ und 
vollswirtbichaftlihen Anfchauungen ber Zeit. 








Sölle. 341 


Die frühere weitere Bebentung des Worts Zoll iſt in gewiſſen Zuſammen⸗ 

+ fegungen noch heute nicht ganz verloren gegangen. Man fpriht von See (z. B. 
Sund- und Staberzoll), Fluß⸗ (3. B. Rheinzoll), Brücken⸗, Pflaſterzoll n. dgl m. 
"ber theils befämpft man biefe Abgaben principiell und beftreitet ihnen ven Charakter 
nicht nur des Zoll, fondern überhaupt einer geredhtfertigten Abgabe, wie in den 
befannten Debatten über den Sund- und Staberzoll („Seezölle find Naubzölle”). 
Theils gefteht man die Erhebung einer Steuer nur ald Bezahlung einer beftimmten 
fpectellen Lelflung des Staats oder der Gemeinde, daher im Maximum 
auch nur im Betrage der Ausgaben für dieſe Leiftung, 3, B. für Bau und Er⸗ 
baltang von Land⸗ nnd Waflerfiragen, Bräden u. |. w. zu. Dan beftreitet ber 
Angabe alfo ebenfalls den Eharafter ale Zoll und vinbicht ihn nur ben ber 
Gebähr. Auf diefe Welfe find durch einen bemerkenswerthen Fortfchritt ver 
osfferrechtlihen Anſchauung und ber Finanzwiſſenſchaft die Paffagezölle ale Zölle 
mehr und mehr fortgefallen. Und fehr bezeichnend iſt ver einzige moberne Paffage- 
zoll, dee Durhfuhrzoll, neuerdings ebenfalls grundſätzlich angefochten und 
jängft in vielen Länbern befeltigt worben (f. u. II). Diefe Entwidlung und damit 
die Beſchraͤnkung des modernen Zollmefens wird durd eine Analyſe der alten 
Bafjagezölle verflännlih. Dieſe enthielten genau genommen eine dreifache Abgabe, 
einmal für die bloße Erlaubniß des Gebrauchs der Meeresarme, Flüffe, 
Straßen, Brüden, ſodann für ben babei gewährten Schu („Geleitsgelb"”), end⸗ 
U für den wirklichen Gebrauch, dem dann bie Abnützung oder ber Koften- 
erfag entſprach. Das Berbot des Gebrauchs eines Meeres wird dagegen jest als 
vdſkerrechtswidrig, das Verbot des Gebrauchs einer natürlichen Waflerftraße tm 
Binnenlande zum Theil ebenfo bezeihnet, zum Theil iſt es durch befondere Ver⸗ 
träge befeitigt. In Betreff der Fünftlichen Straßen im Lande ift die allgemeine 
Anſchauung eine Ähnliche geworben. Die Geftattung des Gebrauchs der Wege 
und eine Abgabe dafür erfcheint alfo verwerflih. Die Gewährung des Schuges 
gilt ferner theile als felbftverftänpli, foweit ver Staat nit etwa felbft flatt des 
Schutzes Gewaltthat ausüben darf, theils als generelle Staatsleiftung, welde 
richtiger durch allgemeine Staatsabgaben bezahlt wird. So Bleibt alfo nur bie 
Abgabe für den Gebrauch oder eigentlich für den Verbranch der Straße n. ſ. w. 
übrig, welche jet nicht mehr den Namen Zoll, fonvern Weggeld oder ähnliche 
führt. Diefe gebührenartigen Steuern find dann auch niedriger, weniger willkürlich 
und anbers eingerichtet als die alten Paflagezölle und vie neueren Zölle. Denn 
fie haben ein feftee Maß im Berbraud ober in den Ausgaben des Staats und 
ber Gemeinden, daher der inſtinktive Wiverwille gegen die in ber Höhe eigent- 
liber Steuern erhobenen deutſchen Flußzölle. Der im alten Paſſagezoll zu er- 
hebende Sat für die Gewährung des Gebrauchs und des Schutzes hatte dagegen 
diefes innere Maß nicht. Nur die Konkurrenz verſchiedener Straßenzüge fonnte, 
folange die Abgabe ven Verkehr nicht ganz unterband, einige Rüdfiht empfehlen, 
aber wie waren bei fchlehten Landkommunikationen die großen natürlihen Wafler- 
ſtraßen begünftigt! Die Steuereinheit beim Weggeld und bei verwandten Abgaben 
ift mit Recht Im der Regel das Maß oder Gewicht der Waaren, eventuell bie 
Beſchaffenheit ver Transportmittel (Wagen, Räder), nicht Gattung, Dualität und 
Werth der Waare. Soweit die alten Paflagezölle und vie bisherigen bentfchen 
Flußzölle Hiervon abwihen, was 3. B. durch vie Abſtufung in Tarifllaffen für 
verfchiedene Waarengattungen gefhehen iſt — nur ein mühjam errungenes Kom⸗ 
promiß mit den Anforderungen der Vollswirthſchaft —, waren fie wiederum als 
eine befonpre, aber ſchlechte Steuerform anzufehten. Die Durchfuhrzölle werben 


342 Zölle, 


im Allgemeinen nicht abgeftuft, fonbern in einem einzigen Sage nach Maß 
ober X erhoben. Beſondre —X für einzelne Waaren perfolgen 
ungerechtfertigte Nebenzwede fislaliſcher oder ſchutzöllueriſcher Art. 

Jene mancherlei lieineren Abgaben haben ih noch vielfach unter deu Mamen 
ZolleNebengebühren au in das moderne Zollweſen hinüber gejhleppt 

ausgebehnt worden. And in ihnen miſcht fh bie 

eine andere eigentlihe Steuer. Orgenwärtig gehören 

ihn», Nieverlags-, Zeitel-, Blei, Siegelgelder, Lontrpfe 

8, Ein» und Durdfuhr, verſchiedene teinkgelvaxtige 

ıere und niebere Bollperfonal für befien Beihülfe u: |. m. 

lich Gebühren find, find fie flatthaft und als eigene 

wie die Homptzölle rechtfertigen. Do werben fie in 

inem Zolizuſchlag, mit boppelter Verrechnung, größeren 

m befonbers außgefegt, Soweit fie fermer als wahre 

: Hauptliaffen ber dem Zollverfahren unterworfen 

gleichfalls in ven Zollſatz einbegrifien werben. Dem⸗ 

, thunlichfte Befeitigung dieſer Mebengehähren zu var⸗ 

Tangen, Nur biejenigen bürfen verbleiben, melde eine Bezahlung für einen be- 

fondrep, freiwillig in Apfprud genommenen Dienft bilpeg, wobei beuy Puhlikum 

nur nicht um bey Gebühr willen jolhe Dienfte aufgebrängt werden dürfen, Au 

die Nebengebühren Inüpfen fih in mehreren Ländern nad die dem alten Zollweſen 
Garakterifsifgen Mißbrauche, z. B. in Rußland 1), 

Die alten Ortszölle find nah Form und Inhalt oder Beheutung am 
Meiften als Borläufer der modernen Zölle anzufehen, Sie wurden au beflimgaten 
einzelnen Hanbelsplägen, in Sechäfen, im Mittelalter beſonders auch qn Binnen 
mazftpfägen erhoben, anf Rechnung der Gemeinpe, des Grunpheren ober, wenn 
auch im Mittelalter feltener, auf die bes Landesherrn oder Staats. Diele Zölle 
enthielten nicht immer bie gleichen Arten von Abgaben, ortö- und zeitweiſe kommen 
viele Unterffhigbe vor. Ginmal waren 8 wohl Abgaben nad Wet einer Gebuhr 
für fpectefle Leiftungen, nemlih für die allgemeinen Handelseinrichtungen, 
Häfen, infofern unferen neueren Schifffahrtägebühren vergleigber. Sodaun Ab- 
gaben für die Errichtung und für die Veihügung des Markts, von denen jene 
wieberum gebührenartig, biefe den früheren Rechtsanſchauungen entiprehend waren. 
Berner erſcheinen dieſe Zölle, zumal bei miebrigem Betrage, ala sine Form bar 
(taufmännifchen) Gewerbeftener, oft nach dem Charakter der Beit Mmirderum 
verbunden zuit einem Schupgeld in höheren Sägen für ven fremden Händler ober 
die fremde Waart. Mbgaben biefer Urt haben ſich mitunter ia zur Gegenwart 
erhalten. Mit Net fieht Ray in den heireffenden hamburger Zöllen — feit 1857 
nur roh ein Einfuhrzoll von 1%, feit 1865 vop 1/49, auf eine Heine 
Reihe von Paaren (1866 von 390 Mil. Thlr, Einfuhr nur HI Mi, Kyle, 





3) 6. 0, Hog Deff. Ag. u. Schulden, Gtuttg. 1864. 6, 195. Klagen des deutichen 
Banbela tand üßer bie ruſſtſchen Einrichiungen gen d, Kartellmöchterlöhne (. I. d Dentſcht. üb, 
d. Abfdl. eined Handelt» u. Zoffvertr. mit Rußl., Berl. 1864, ©. 17, mit bemerkengipertken 
Beifpielen belegt. Die Nebengebübren erfheinen oft nur zum Hleineren Theif in den Solltehnungen. 
&xbübhren abgmpähnter Art ia Deflerreid 1863 327,000 Bi. oder 2,0%, der Brul —5 — 
im Zollvereſn frühen 0. 8-10 jehi jap gang fortgefaßen, in Auftand DE vor fuzem wehi 
an 2%, ber Einnahmen. 


Bälle. | 843 


Waagren zollpflichtig) — eine folge Steuer, ein Gefiktspunli, ver in ben hamburger 
Steuaerdebatten gegenüber ven Kaufleuten, welche biefe Steuer als Zoll grunvfäß- 
lich verwarfen und Hamburgs Konkurrenz durch ihn erſchwert nannten, mehrfach 
zur Sprade gelommen ifl. 

Endlich erſcheinen diefe alten Zölle mitunter in bebeutenderer Höhe unb in 
der Weiſe aufgelegt, daß die am verfchiedenen Punkten, an welchen ſich zufällig 
ein hiſtoriſches Zollsecht befand, erhobenen Zölle hier als an Theilen des Staats 

ehiets erhoben murden. Ga brad fi allmälig das Princip ver Allgemein- 
Bei des Zolls Bahn und ver Zoll wurde eine indirekte Abgabe, welde 
flatt. des Kaufmanns ven Konfumenten oder Brobucenten traf unb nach der mehr 
oder weniger Haren Abſicht des Zollherrn treffen follte. Hier erſcheint denn fchon 
im Dittelalter und einzeln cu mohl im Alterthum bie Berbinbung eines wirth⸗ 
ſchaftapolitiſchen und eines fislaliſchen Geſichtspunkts. Die Zollfäge wurben bei ver 
Ein- und Ausfuhr nah Waarengattungen abgeftuft, mitunter auch bie Ein- und 
Ausfuhr gewifier Waaren verboten. Yrübzeitig und lange vor dem Auflommen 
des eigentlihen Merkantilfuftems fpielen Hier die Induſtrie⸗ und Handelsrepubliken 
and in den leidlich geeinigten größeren Staatsweſen, wie England, Frankreich, 
Schutzzolltendenzen, wenn auch nur unklar verfianden und ſchwach entwidelt, eine 
Nolle. Gewiſſe Verkehrsgegenſtände wurben ferner Überhaupt nur ober doch nur 
deshalb mit höheren Sätzen belegt, um fo im Zol den Konſum zu befteuern. 
Die ſtädtiſche Thorflener, ner Marktzoll, die Acciſe auf landwirthſchaftliche und 
andere Artikel find Vorläufer nicht nur der neueren iubireften Verzehrungsſtener, 
ſoadern aud des Zols, eine Entwidlung, welhe 5 B. in Preußen beutlih vor 
liegt. Auch die Beftenerung auslänbifcher Berzehrungs- und anderer Ösgenflände, 
namentlich ber feit dem 15. und 16. Jahrhundert durch den Handel mit Aften 
und Amerila immer mehr verbreiteten fog. Kolonialwaaren, leß fih in 
einer Zeit, wo durch natürliche und Tünftliche Urfachen Handel, Gewerbe und 
Wohlſtand vorzugsweije in den Städten ihren Sig hatten, durch bie Drtszölle 
erzeichen. 

Die zahlreichen Nachtheile, die heillofen Willtürlichleiten, vie Berkehre⸗ 
pladereien, ver ſchroffe Fislalismus oder das engherzige Pfahlbürgerthum, welche 
ſich an die bald fo eigenmächtig vermehrten mittelalterlihen Zölle im Innern ber 
Länder Inüpften, find oft geſchildert worden und leicht begreiflid. Aber dieſes 
frühere Binnen» oder Ortszollfyftem mit feinen vielen Zollbaridren 
im Inners, dur welde Stadt und Land auseinander geriffen und die eine Stadt 
von der andern getrennt wurde, bat trogdem bo wohl auch gewifle Bortheile 
und ſelbſt eine Art allgemeinwirtbfchaftlihe und politiſche Aufgabe in der damali⸗ 
gen Bolkswirthſchaft und Kultur und im politiſchen Leben befefien. Darauf beutat 
ſchon ver Unſtand Hin, daß diefes Zolliyftem ein Geitenflüd zu den früheren 
Zunfte und Bannzehten und anderen Einrichtungen if. Es war für bie Ent 
widlung der Heinen hiſtoriſch⸗politiſchen Inbivipualitäten, ber autonomen Körper 
haften, ver Märkte uud Städte gewiß von Belang. Daher varf es fo wenig 
als das fpätere Außen» oder Lanbesgrenzzollfuftem, weldes eine ähnliche Aufgabe 
für die Entwidiung feloftänpiger Bollswirtbidgaften, Staats⸗ und Bollsperfünlich- 
feiten zu erfüllen hatte, lediglich aus einem ſpecial⸗wirthſchaftlichen Geſichtspunkte 
verurtheilt werden. Im Zuſammenhang der Wirthſchafts⸗ und Kulturentwicklung 
betrachtet erſcheint dieſes Binnen- oder Drtszolliyftem als vie erfte Phafe In der 
Geſchichte nes Zollweſens und ift durch pie begleitenden Erſcheinungen varſtändlich. 

Der Uehergang zum modernen Bolliyfiem und damit zur zweiten Entwidlungs- 





342 
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ee zoifhen Gtaate- und en und mit ihr trog d 
a — Kotionalitätöprincips, fol Bolls- amd Spradpren er 
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nm J Mm deshalb and n nd handelspolit e Um- 
icht die ei iſche Seit 
je in ber Regel allein gebi einzige, wel e bes 
. n gebührend he bier in ® 
, Snamirehfbcaftlid gewürbigt etracht 
ebe e und politi gt iſt. Daneben iſt 
* nfo einflußreich für die U b ſche Moment vielleich das 
— mmulegen, das Zollweſen zu Zu Sandeszöllen jene beiben 
egen und fie in Anfenzölle zu vereinfadhen, vi zu maden, bi 
Nas Ausland zu ae ee ke * 
664 3 verlegen. Bloß n t bie Landes⸗ oder S ganz zu 
an * partikulariſtiſche Wiverſt Ag rungen ‚z.B. wen taatögrenzen 
3m ſchenzolllinien zwiſchen den ven noch nicht ganz zu wie in Sranf- 
gen, ans denen fi} der Staat erſchiedenen Hiftori zu überwinven war 
aaehalb —* großen —— He hatte —— Das 9 Abtheilun 
esfelben, das Boll (ven, mit Berfehrsfi as Inland e 
goltinte mit einer Kett 9° genen dad gan ’ ehröfreiheit, „Frei follte 
Nur ungern blieb ein e von Örenzzollämt ze Staatsgebiet umf ‚ „Dreihandel“ 
inzeln ern das Inla affen und Ein 
einheitlichen Außen einzelner SCheil des St nland vom U e 
zollfgftem aalsgebi usland ſchei 
politifher Gedant ſpricht ſich neb ets davon getrennt eiben. 
Bafis dern e aus. Das Zol en dem wirthſchaftlich . In biefem 
Hinficht "größere —A Bolt [gebiet wurbet en ein emiment 
of edentung als wirthſcha erritorial 
31 gebiets die wirtöfejaftfichen ee a antogeble en . pn gewann in biefer 
neuen Staat uchſen, wurden neu en der einzelnen Sand em innerhalb des 
Stonte- tanıe „uerbunben, S wur worbene Grenzlande an role organiſch in 
nem Ausl attonalgebieten du en die Zollgebiete mi wahrhaft mit dem 
aber bie —F (in Verbindung Bar den Waaren⸗ a. I Zeit gerade zu 
fiskaliſche und runs nepereienne Sr u. dgl. m.) —— & — mit 
auch als A ntiliſche Irrthü enzzollſyſtem. im Imeren 
—— — rn im —— Ginfluh anögeäht, Aber 
grenzzollfyfteme ufig thun, nf e und Braris b . Aber 
macht iſt; mit den fiskaliſche ‚ nicht zu überſehen, d raucht man, mas 
den —— (bung jelsfändige im Yenbiteitigm Zargen be Landes⸗ 
e ® 
en a —* 
vielleicht fagen d perfönfichfeiten mä uch für ſich zur Entwie 
arf, eine w tig beigetr ung 
ahre Miffton gehabt © agen, Hat hierfür, 
. Denn eine folde Ent- 


ET nd 











Sölle. 845 


war nad dem Berfall der polttiichen Formen und dem Zerfall ver im 
PabR und Kaiſerthum gipfelnden chriſtlichen Staatsordnung bes Mittelalters eine 
Borbedingung für die Anbahnung einer anf anderer Grundlage beruhenden Orb- 
nung unter den cioilifirten Staaten und Nationen. 
Charalteriſtiſch genug iſt diefes politifch To wichtige einheitliche Außenzoll- 
foftem grade in Frankreich durch das Colbert'ſche Zolliyftem von 1664 am 
tonfequenteften burchgeführt und damit für ganz Ehropa ein Borbild zur Nach⸗ 
ahmung gegeben worden, wobei freilich nicht zu vergefien tft, wie oft gefchieht, 
daß damals und bis zur Revolution eine einzige gemeinfame Zolllinie nur umge 
fähr das Halbe Frankreich umfhloß. Unter anderen war das Elſaß, Lothringen, 
die brei Bisthümer, die Grande Comté bis 1791 nicht Im das franzöflie 
Zollgebiet eingefchloffen. Oftmals hat man betont, daß das Elſaß erſt durch bie 
an ber franzöftihen Nevolntion innerlid mit Frankreich verwachien, 
von Dentihland Iosgeldst fei. Bielleicht jagt man nicht zu viel, wenn man biefes 
Greignig mit auf die erft ſeit 1791 erfolgte Umfpannnng des Elſaß durch das 
618 dor Kurzem meißt verfchärfte feonzdfifche Zolligftem zurüdfägrt. Wehnliches 
mödte, zumal feit ver Errichtung von Zolllinien in den beutfhen Staaten, and 
von anderen abgerifjenen ober abgefallenen deutſchen Ländern, Holland, Belgien, ver 
Schweiz, Deutſch⸗Oeſterreich gelten. Die Theilung Polens ift durd die Einreihnng 
ber betreffenden Länder in vrei verfchtenene Zollgebiete auch erft recht perfekt ge⸗ 
worben. Die Klagen der polntihen Patrioten darüber find begreiflih genug. 
Andere Staaten folgten dem franzöflihen Borgang von 1664 gemäß ihrer politi- 
fhen Entwidiung nad ber gelungenen Beſeitigung ihrer bisherigen politiſchen Zu - 
gehörigteit zu einem größeren politiihen Ganzen und nad ver Ueberwindung des 
Widerſtands der provinciellen hiſtoriſch⸗politiſchen Individnalitäten, welde fle 
umfchloffen. Bemertenswertb ift in dieſer Beziehung namentlich das Vorgehen 
Defterreihs: Beſeitignng der Zwiſchenzoöͤlle in ven bentfch-Öfterreichiichen 
Erblanden 1775, ſechs Zwiſchenzolllinien von 1815 —1835, bloße Außenzölle 
mit einziger Ansnahme der ungarifhen Zwifchenzolllinie von 1885 an, Aufhebung 
diefer legten 1851 (bis wie lange?); nur Dalmatien bildet aus geographifchen 
Sründen ein befonderes Zollgebiet. Ebenſo bemerkenswerth find die befonveren Zoll⸗ 
fufteme der Donanfürftenthlümer, Aeghptens. Deutſchland trabte, wie ſtets in 
politiſchen Dingen diefer Art nad) und machte die Entwidinng 170-200 Jahre 
fpäter durch, als das Frankreich der fünf grosses fermes. Der großartige Ge⸗ 
bante eines allgemeinen deutſchen Grenzzollfuftems 1. I. 1523, das gm Deutſch⸗ 
land ohne Preußen, Livland und die Schweiz, aber Holland (und Belgien) inbe⸗ 
griffen, umſchließen ſollte, ſcheiterte wie ſo Vieles am Widerſtand partikulariſtiſcher 
Intereſſen, damals der Städte insbeſondere. L. Ranke hat die politiſche Trag⸗ 
weite dieſes Gedankens gebührend gewürdigt. Wie weit würde Dentſchland Frank⸗ 
reich vorausgekommen fein, wenn es damals das Grenzzollſyfſtem — wenn auch 
noch nicht gleich ſtatt aller andern Zölle — errungen hätte! So »ar bie 
große politiſche That hier erſt das preußifche Geſetz vom 26. Mai 1818 
über den Zoll nnd bie Berbrauchsftener von ausländiſchen Waaren, weldes aus 
dem preußiſchen Staatsgebiete ein Zollgebiet machte und den Uebergang vom alten 
zum modernen Zollſyſtem bewerfftelligte. Die Gründung und Entwidlung bes 
deutfhen Zollverein und die politiihe Wiedergeburt Deutſchlande giengen aus 
dieſer Maßregel mit hervor. In nichts zeigt ſich die politiihe Bedeutung bes 
modernen Zollweſens mehr als in diefem großartigen Beiſpiel, wo man fie dann 
auch oft erkannt bat. Über es iſt für das Berſtändniß des Zollweſens und ber 


41 


phafe Be ve Aufl bei Sellbereine nur * einen 
matifirung unt ©) . — ale — —— firdht 
Ki in ben > Muuche Zellipftem zu verwirklichen und es auch 
annten x u manzihen, bis in unferen Tagen nad allen an- 
Batrimontalftan‘" Io ® _ Zaiigikem eine ber beften Handhaben finvet, feine 
en Der Ei uhren und damit gerade {Frankreich gegenüber ben 
nehm, ee m deren Stantenfuftem wieder zu erringen. Nur 
rengen 8 aaurje jebes geſchichtlichen und politiſchen Blids baaren 
gebiete, die u er wande feiner Anhänger lönnen über bie Schutzzoll⸗ 
gang ver ug Abe wie Debeutung einer Schöpfung wie der Zollverein 
doch fd: . nun, daß fie den Zollverein auf einem logiſchen Wiberfpeicch, 
andere “4 gueibeit und gleichzeitig einem Princip der Beſchrankung er⸗ 
ned on greihfum ad absurdum führen möchten 2). 
ein „Ne Entwidtungsphafen, welde fih in ver Geſchichte des Zoll⸗ 
ſtä Sa watch unterſcheiden Laffen, fleht mit gleichzeitigen nicht mur wirth⸗ 
M am finanziellen, ſondern auch politiſchen Erſcheinungen im engen Bas 


Du ve Panfe ber, —— meins m trennte fih Gtabt und 
\ er, bie Landes» und Bollsgemeinfchaft verſchwand faft mit unter 
» —55. bes damaligen Zollweſens, aber die Länder und Bitte waren unter 
Se noch nicht fo ſtreng geſchieden, es herrfchte der der Idee bes Pabfl- 
A gaifertguime entſprechende Kosmopolismus. In ver Phafe des Außen⸗ oder 
ten fh wieber Gixs, dr Biweriprudh der Aätinäin Detroa 
u D r 
— nenere Zollſyſten wurde und wird immer ehr uden, jede einzeln 
gen empfunden, jede einzelne 
Volts⸗ Staatsgemeinſchaft wurde eine felbftänbige Perſönlichkeit. Über 
gende hierdurch entftand ein ſpaltender Gegenſatz zwiſchen dieſen einzelnen Perſön⸗ 
qhleiten, das Gefühl der Zuſammengehörigteit der civiliſirten Völker und Staaten 
perminderte fi, ein eifriger, egoiſtiſcher Nationalismus trat an die Stelle eines 
verfrühten Kosmopolitismus. Haft ‚alle größeren und kleineren civiliſirten Staaten 
haben das nad; Junen freihändleriſche, nach Außen prohibitioniſtiſche und ſchutz 
zollneriſche und im Uebrigen ſtreng fiskaliſche Grenzzollſyftem kürzer ober länger 
bet ſich eingeführt. Lange Zeit beſtand bie Weiterentwidlung nur in ber Ber- 
ſcharfung ber nölperrung vom Ausland. Die franzöfifhe Revolution unterbrad) 
bie kaum erft im engliſch franzöfiichen Steuervertrag von 1785 amgebahnte leife 
nnäherung an eine liberalere Zollpolitit und führte fogar zu einer früher nicht 
gelaunten Scyeoffheit des Syſtems, vie in ber Kontinentalfperre — auch zu politi⸗ 
Zwecken — gipfelte, aber aud nad Napoleons Sturz nur wenig wid. 
Das Srenzzolliuflem in Frankreich, Defterreih, Rußland, felbft Großbritanuien 


2) Dal. die von Bergius, wie ed fcheint beiftimmend, mitgetheilte Stelle von Baftiat, 
Finanzw. Berl. 1865 ©. 389. Ueber die Einführung de3 — Grenzzoll ſyſtems I P. 
Clement hist. de la vie et de l’admin. de Colbert, Paris 1846. Derfelbe hist da syst. 
protect en. France (bt3 1848.) Paris 1854 P. 14 fl. Parien traitd des impöts, vol. E18, 
Pasis 1864 p. 135. M. Chevalier exam. du syst, comm,. connu sous ie nom du syst. 
prot. 2, 6d, Paris 1853, ch. 20 P. 145. Ueber die Borfchläge eines Grenzzollfpftems 1523: 
Ranke, Reform. Geſch. II, S. 45 (1. Ausg.). Ueber Preußen I.G.Hoffmann, Lehre v. 
d, Steuern. Perl. 1810 ©. 345. Ferner vgl. Stein Finanzw. &. 387, 398, Rau, 
Finanzw. $ 443. 


gau. 347 


verblieb in einem Zuſtand ber Härte, welcher früher unbelanut war. Das Gpfem 
Colbext's von 1667, weiches keine Prohibitionen kannte, war ungleich milder als 
das franzöſiſche Zolfuftem von 1860. 
In ber zweiten Phaſe flehen wir nod gegenwärtig. Sie läßt fih nach dem 
Sefagten als yiejenige des ſchroffen Außen- oder Landesgrenzzollſyſtems be- 
. Wenn aber bie Angeihen nicht trügen, fo bereitet fi eine britte Phafe 
wor, welche auf gefjumberer Grundlage ala im Mittelalter eine Gemeinſchaft der 
in Nationalſtaaten verhundenen ctoilifirten Menſchheit anbahut. Die nachtheiligen 
wirthiehaftlihen Wirkengen des Syftems werben wieber mehr erkannt, das neue 
Kommunikationsweſen, der große Perfonen- und Waarenverkehr, bie Begüuftigung 
des Mafkenlonfums im Interefie des Fiokus felbft wirken gemeinſam auf eine 
Mildernng des Außenzolliukems bin. Erhebliche Schritte in dieſer Richtung find 
buch den Sieg bes Freihandels in England und durch dad von Frankreich ange» 
bahnte Syſtem ver neuen liberolm Handelsverträge (jeit 1860) gejchehen. Auf 
die Weiterbildung möchte wiegerum bie politifche Konfolivation Deutſchlande von 
Einfluß fein, So kündigt fi troz des amerikauiſchen Rädfalls nad) der Periode 
des fchuoffen eine foldhe des liberalen Außenzollſyſteme m. Ob ber- 
ſelben eine Periode der Zollloſigkeit folgen, ob die Bälker trennenden 
Sälegbäume einmal völlig werben gelappt werben? Auch dafür giebt es einige 
Anzeihen in darauf abzielenden Theorieen und Agitationen. Die Wahrſcheinlich⸗ 
Teit Spricht wicht durchaus dagegen, doch würde noch zur Zeit eine Prophezeiung 
on gemagt ein 
II. Finanz: „ud Schugzölle Der Durchfuhrzoll. Eutwidlung 
und gegenwärtiger Umfang bei Ausfuhrzolls. Getreidezollyolitit. 
1) Finanz- and Shupzölle Es wurde bereits erwähnt, daß im 
äligren wie im modernen Zollweien häufig ein wirtbichaftliches neben einem figtali- 
hen Princip erſcheint. In ber [päteren Zeit wurden bieje Deindipien aut Harer 
und ſchärfer durchgeführt. Diejenigen Zölle, welche anf dem erften 
Brincip beruhen, heißen Schugzdlle, aud wohl volkswirtſchaftliche Zölle, 
diejenigen, welche auf dem zweiten Princip beruhen, beiten Finanz⸗ ober 
Stewerzölle. Die Namen benten auf ven Sinn bin. Nur führt der Finanz⸗ 
zoll den Namen Gtenerzoll als Unterſcheidungemerkmal inſoſern, als bios 
e eine Steuer zur Beihaffung ven Einnahmen für ven Staat (der 
Regel nah) if, während der Schutzoll dieſen Zweck fireng genommen im 
Princip ger nit, tbatfächlih aber nur nebenbei hat. Der Schutzzoll iſt aber 
gleigwohl auch eine GStewer für den durch ihn betroffenen Propucenten und 
Ronfumenten, und zwar zu Gunſiten des inländiſchen Gewerbes im Betrag ber 
eier zwiſchen dem gefchägten und ungefchügten Artikel. Deshalb ver- 
bit, Gegenſatz zu Rau, das Wort Finanzzoll doch wohl den —— 
Stenerzoll. In Betreff der Schutzzolltheorie wird bier auf den 
hand el un Sandelspolitit (B. IV ©. 634—656) und in PA ber 
feit der Abfaſſung dieſes Artikels erfolgten Fortfchritte des Freihandels und des 
Suftems der „liberalen" Handelsverträge auf den Art. Zollverein verwiefen. 
Im Folgenden wirb vormemlid das Finaunzzollſyſtem und nur, foweit es 
für den Zuſammenhang nothwenbig, das Schupzollweien berüdfiähtigt werben. 
In der Binnen» oder Ortszellperiode lommt der Schupzoll ſchon vor, aber 
der Finanzzoll iſt die Hauptfahe. In der Außen« oder Landeszollperlode tritt der 
Schatzzoll jehr in den Vordergrund, vie Schroffheit des Enftems gipfelt gerute In 
ibm, daes fisfaliihe Intereſſe wird dem Schneinterefie oftmals zum Opfer ger 





848 Söll. 


bracht, u. a. in ber bifferentiellen Begünſtigung ber eigenen Kolonialprodukte 
gegenüber den fremden (namentli in England bis zur Tarifreform in den 40er 
Jahren), aber die Yinanzberürfnifie der Staaten und die Entwidlung der inneren 
indirekten und Verzehrungsſteuern drängten doch anf eine allmälige Ausdehunng 
des Finanzzollfuftems hin. Bei den wichtigen überfeeifchen Berzehrungsgegenflänben, 
den vorzugsweiſe jog. Kolontalmaaren, kam das rein fiskaliſche Interefie, welches 
jest ganz im Vordergrund fteht, übrigens erft fpäter zur Geltung, weil die merkan⸗ 
tiliſtiſche Theorie vom Nachtheil des Gelpabfluffes und der paffiven Hanbelöbilanz 
und luruspolizeiliche Bedenken oft entgegenftanden. In der beginnenven Perlobe 
bed milderen Anßenzollſyſtems wird der Schutzzoll zurüdgebrängt und zum Theil 
aufgegeben, der Konflikt zwiſchen dem fiskaliſchen und protektloniſtiſchen Geſichts⸗ 
punkte führt mit zu dieſem Ergebniß. Über das richtig verſtandene, freilich auch 
erft in der modernen Volkswirthſchaft in diefer Weiſe begründete Finanzintereſſe 
veranlaßt au eine Ermäßigung der Finanzzölle, ohne daß der Staat damit auf 
die Zolleinnahme in ihrer bisherigen Höhe zu verzichten beabfichtigt. 

2) Der Durchfuhrzoll. Ale drei Arten der Grenzzölle, Ein-, 
Aus- und Dur chfuhrzölle können als Finanz⸗ und Schutzölle vorkommen, 
wofür die Zollgefhichte auch Beifpiele giebt. Selbfi die Durhfuhrzölle er- 
halten naͤmlich die Bebentung eines Schutzzolls, wenn fie für einen Artikel erhoben 
werden, welchen ein brittes Land durch Vermittlung eines anderen beziehen muß 
oder am Beſten bezieht, 3. B. die Schweiz Baummolle über Deutſchland und 
Sranfreih. So war In den früheren Durdfuhrzöllen des Zollvereing — Normalfag 
mit verſchiedenen Abweihungen per Gentner 1/, Thlr. — und in einzelnen ähn- 
lichen Ausfuhrzöllen auf fremde Produkte, wie Baumwolle und Selve, mitunter 
eine Schutzzolltendenz zur Geltung gelangt, wie ſchon I. G. Hoffmann be- 
merkt. Die Durchfuhrzölle beider Arten fint inbeflen mit Recht angegriffen und 
in vielen Staaten aufgehoben worven. Als Befteuerung des Auslands für bie 
Erlaubniß der Durchfuhr mußten fie in der That als Ueberbleibjel des alten 
BZollmefens fallen. Wurde der Durchfuhrzoll anf den inlänpifchen Spebiteur oder 
Fuhrmann überwälzt, fo war er eine ſchlechte Form einer Gewerbeſtener. Das 
volfswirtbfchaftlihe und daher indireft das Finanzintereffe ſprach für die Auf⸗ 
bebung, um den gewinnbringenden Durchgangsverkehr nicht zu verſcheuchen. Schon 
früher nötbigte die Konkurrenz verſchiedener Straßenzüge oftmals zu niedrigen 
Bollfägen, mit denen ein erhebliches fisfalifches oder Schuginterefie doch nicht ver- 
bunden war. Die neuere Entwidlung der Kommunikationen, welche eine Menge 
unter fih und mit alten Seewegen (Sund) und Binnenwafferfiraßen (Rhein, Elbe) 
konkurrirender Wege gefhaffen Hat, führte im Intereffe der koftfpieligen nenen 
Straßen, ver Bahnen, ſelbſt zur Befeitigung der Durhfuhrzölle. So haben denn 
3.©. Großbritannien, Frankreich (feit 1845), der Zollverein (feit 1861), Defterreid 
(feit 1862), Italien, Dänemark u.a. m. feine Durdfuhrzölle mehr. Iu die neueren 
Danbelsverträge iſt mehrfah ausdrücklich die Freiheit von Durchfuhrzöllen aufge- 
nommen, 3. B. In den franzöfiſch⸗belgiſchen v. 1. Mat 1861, Art. 30, in ben 
englifch-zollvereinifhen vo. 30. Mai 1865, Art. 4, aud wohl die Freiheit der 
Durchfuhr, mit wenigen Ausnahmen, 3. B. Pulver, Waffen (franz.belg. Vertrag) 
ftipultet, Orundfäge, welde nad dem Princip diefer Verträge, fi auf dem Fuß 
der meiftbegünftigten Nation behandeln zu wollen, bald allgemein werden. Ein 
wichtiger vblkerrechtlicher Fortſchritt. Die fchliegliche finanzielle Einbuße war um 
fo geringer, weil für wichtige Verkehrsartikel und Waaren niedrigen ſpecifiſchen 
Werths oft ſchon Ermäßigungen over Befreiungen eingetreten waren. (Zollverein 





Zölle. 349 


im letten Jahre 1860 409,000, Marim, 1844 755,000 Thlr., Oeſterreich im legten 
Sabre 1861 68,000 fl). Leider hat die frühere Organtifation des Zollvereins vie 
Befeitigung der Durchfuhrzölle gegen das Interefie der deutſchen Bahnen und 
Hamburgs und Bremen! nur zu lange aufgehalten. Die feudale Durchfuhr⸗ 
bezollung des Verkehrs anf der Berlin-Hamburger Bahn durch Medimburg iſt 
fogar erſt in Folge der Ereigniſſe von 1866, leider nit anf einen Schlag, be- 
feitigt. Am Bebentenvften war ber Ertrag des Sundzolls, wenn man letteren hieher 
rechnen darf; er wurde durch den Vertrag vom 14. Mär; 1857 mit 35 Mil. 
Din. NR. Thlr. abgelöst; ähnlich fpäter der Staderzoll mit 3 Mi. Thlr. (Alte v. 
22. Inni 1861). Mit Recht fallen mit den Durchfuhrzöllen auch die Wiederaus⸗ 
fahrzölle auf die in Entropots zum Zwed des Zwiſchenhandels mit anderen 
Ländern eingelagerten fremden Waaren, was übrigens noch nicht allgemein ge- 
worben. 

3) Entwidlung und gegenwärtiger Umfang des Uus- 
fuhrzollse Ws Finanz und Schupzölle haben die Aus» und Einfuhr- 
3Öölle eine ungleich größere Bedentung wie die Durdfuhrzölle. Die Entwid- 
lung der Aus- und Einfuhrzölle beider Zendenzen iſt aber eine ſehr verfchiebene 
gewejen. In der Binnen⸗ oder Ortszollperiode erfcheinen dfters allgemeine 
38lle auf Aus- und Einfuhr, welche fich in weniger entwidelten Staaten (Türkel, 
China, Japan, einige amerikaniſche, f. a.) noch heute und in Ueberbleibfeln auch in 
einzelnen anderen Staaten befonderd and für die Ausfuhr (Portugal, Rumänien) 
erhalten haben. Der Art war das vielleicht feit dem 13., jebenfalls feit dem 
14. Jahrhundert vorkommende englifhe Pfundgeld, eine Werthabgabe von an- 
fangs 21/2, fpäter 5, mitunter auch 109/, für alle ein- und ausgeführten Waa⸗ 
ren, wobei fremde Kauflente im allgemeinen den boppelten Say zahlten. Aus 
befonderen fisfalifhen, aber auch ſchon frühzeitig mitunter ans Schutztendenzen 
erfolgt wohl eine Abſtufung der Säte für einzelne Waaren, ober es treten-be- 
fondere Zölle für gewiffe Artikel hinzu. So wird ein auf Wunfh der Tuchmacher 
in Frankreich i. I. 1504 erlaflenes Ausfuhrverbot auf Wolle 1. I. 1580 in 
einen Ausfuhrſchutzzoll verwandelt, fo gehören in England Ausfuhrzölle auf Wolle, 
Scaffelle, Leder zu den älteſten Zöllen. Anfänglih uud in weniger entwidelten 
Staaten mehrfach noch jest iſt hierbei ver Ausfuhrzoll für Finanzzwecke, für 
Schuetendenzen und für die möglichfte Beſteuerung des Auslandes ebenfo wichtig, ja 
ſelbſt wichtiger als der Einfuhrzoll. Namentlich wird der Ausfuhrzoll von ber einen 
gegen bie andere, beſonders von ber ärmeren gegen die reichere, von der noch unent- 
widelten gegen bie entwidelte Volkswirthſchaft oftmals angewandt, zumal wenn 
einige wenige, volumindje und leicht zu kontrolirende Hauptartikel als Nobftoffe für 
fremde Inpuftrieen oder als Verzehrungsgegenflände für das reichere Bolf eine Art 
natärlides Monopol haben. Infofern Befeht zwiſchen den vorerwähnten engliſchen 
Ausfuhrzöllen auf Wolle u. ſw., den franzöfifchen, ausgefprochener Maßen fistalifchen 
auf Wein und Branntwein in den Colbert'ſchen Tarifen von 1664 und 1667, den 
Monopolpreifen der Waaren der holländiſch⸗oſtindiſchen Kolonieen, ven jegigen Aus: 
fubrzöllen auf Probufte der letzteren und Britiſch⸗Indiens, den noch vielfach vor- 
handenen Ausfuhrzöllen auf Stapelprodukte amerilanifher Länder, den erwähnten 
Zöllen Chinas, Japans, der Türkei, dem befannten Projekte eines hohen Baumwoll⸗ 
ausfuhrzolls in der nordamerikaniſchen Union, ven noch heute exiſtirenden Ausfuhrzöllen 
Säv-Europas und felbft den erſt kürzlich befeitigten auf Stapelprodufte Norb- 
Europas, befonbers Rußlands und Schwedens eine jehr bemerfenswerthe Verwandt⸗ 
ſchaft (u) Der Ausfuhrzoll erfheint fomitauf den niedrigeren 


350 Zölle. 


Stufen ver Voltswirthſchaft als eine Hauptform ves 
Finanzzolls, welche nebenbei auch zu Schutzzwecken dient, — ein ſelten 
gehörig beachteter Punkt. 

Demnat iſt es begreiflich, welchen Umfang die Ausfuhrzölle noch In den 
älteren Tartfen ver Landes oder Grenzzollperiode haben, vollends In den erften 
foftematifchen Tarifen des 17. Jahrhiimderts. Im engliſſchen Tarif von 1660 
fommen neben 1630 einfubrgonbofttionen (490 Hauptartifel mit 1140 Unterab⸗ 
theilungen) 323 Wusfuhrzolfäge (212 Hauptartikel mit 111 Nebenabtheilnngen) 
vor. En erften Colbertfhen Tarif von 1664 ftehen fogar neben 900 Einfuhr 
700 Uusfahrzölle, ganz weſentlich fiskaliſcher Natur, auch vie meiften 
Fabrikate in Heinen Sägen treffend, ſchutzzöllneriſche ober merkantiliſtiſche Unterab- 
figten nebenbet verfolgenn, 3. ®. im Zoll von 69/, auf Gold⸗ und Silberwaaren. 

Inder fortfhreitenden Volkswirthſchaft kommen dba- 
gegen die Ausfuhrzölle immer mehr ab, fo Baß fle aus ben 
Tarifen der wichtigſten cioflifieten Staaten gegenwärtig faft ganz verſchwunden 
find, während die Einfuhrzöfle als Schutz⸗ und Finanzzölle immer ſtärker vor⸗ 
walteten. Und aud die etwa verbleibenden Ausfuhrzölle 
werben vegelmäßigerhebltdh herabgeſetzt. Namentlih mußte in 
der Zeit ves maßgeheitber Einfluffes der Handelspolitik des Merkantiifnftens, 
alfo ungefähr ſeit det 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts bis auf imfere Tage der 
fiskaliſche Geſichtspunkt bei den Ausfuhrzöflen Immer mehr zurücktreten, ie er⸗ 
wänfchter die Steigernng der Ausfuhr erſchien und je mehr die ſtark wachſenden 
Finanzbedürfnifſe vurch andre Stenern und durch Finanzeinfuhrzolle befriedigt 
werben konnten. Am Wenigſten ließen ſich bie Ausfuhrzoͤlle auf Fabrikate halten, 
ihre Verminderung ober Beſeitigung vereinfachte ſchon I 17. und 18. Jahrhun⸗ 
dert den Ausfuhrzolltarif um ein Bedeutendes. Ausfuhrzölle auf Haldfabrikate 
und vollends auf Nohftoffe bilfigte der Merkantilismus zwar, aber bei erfleren 
kam voch auch mitunter das Intereffe des Erporteurd in Betracht, 3. B. bet 
Samen, und beiderlet Ansfuhren verloren mit der Entinidlung ‘der heimiſchen 
Gewertthätigfeit wenigftens relativ, oft auch abfolut, an Wichtigkeit und damit an 
finanztellem Interefie. Dem Wunſch, das Ausland durch Ausfuhrzölle auf Ver⸗ 
zehrungsgegenftände, wie Wein, Getreide, zu befteuern, ftand in Sänbern ber ge- 
mäßigten Zone der merkantiliftifche Wunſch, die Ausfuhr auf jeve Welle zn ſteigern, 
gegenüber. Und wenn gerabe bei Getreide auch anbrerfeits der merkattiliftifche Ge⸗ 
ſichtspunkt, niedrige Preiſe im Intereffe der fog. Induſtrie zu erhalten, fich Afters 
Geltung verfchaffte, jo war doch das Intereffe der Probucenten und bie Gefahr, 
den Zoll auf dieſe überwälzt zu fehen, zu berüdfichtigen. Die Getreivehandels- 
und Zollpolitik wurde ohnehin von den verfchtedenften Interefien mechfelmeife und 
gteayeitig beeinfingt (f. u.). Selbſt die tropifhen und verwandte Produkte einer 
At Naturmonopols konnten ferner feit vem BVruch der Kolonialpolitik, feit 
ver größeren Konkurrenz zwiſchen den betheiligten Probultions- und Ausfuhrländern 
und der Berbreitung richtigerer” wirthichaftliher und finanzieller Anſchauungen 
nicht mehr fo rüdfichtslos einer Ausfuhrbezollung ober der als folde wirkenden 
Monopolifirung durch Staats⸗ und Kompagniehandel unterzogen werben. Daher 
doch auch bier vielfah eine Berminderung der Zahl, eine Ermäßigung der Säge 
und theilweife eine Beſeitigung der Ausfuhrzolle. 

Sehr frappant iſt die Vereinfachung des englifhen Ansfuhrzofftarifs. 
Im 3. 1789 flanden im dortigen Tarif noch 1425 Einfuhrzollpoſitionen (290 
Sauptpeften, 1135 Unterabthetlungen), alſo nur ein Achtel weniger als 129 Jahre 





Sölte. 361 


zuvor. Im derſelben Zeit hatte ſich die Zahl der Ausfuhrzollſätze auf 85 (reſp. 
50 unb 35), alfo auf faft ben vierten Theil der früheren Zahl vermindert. 
Wieder 37 Yahre fpäter, 1826, zur Leit der erften ſtarken Brefchelegung im 
Schuttzzolltarif, war die Zahl ver Einfuhrzölle doch auch nur auf 1280 (reſp. 432 
nnd 848 Boften), biejenige ber ——8 auf 24 (5 und 19) geſunken, jene 
nur um Ita diefe anf weniger als ein Drittel. Auch der legte Reft ver Aus- 
fuhrzölle ift feit 1850 verſchwunden, wo mit der Navigationsakte der legte noch 
beftehende Ausfuhrzoll auf Stelntohlen in Schiffen unter fremder, nicht ber briti« 
ſchen gleichgeftellten Flagge fiel. Und eine ähnliche Entwidiung zeigt ſich In ben 
Zolltarifen der meiften volkswirthſchaftlich entwidelteren Staaten Europas. 

Hinſichtlich der Ausfuhrzollpolitik kann man die Kultur- und Halbkultarftaaten 
gegenwärtig In verſchiedene Klaffen bringen. Die erfte Klafie bilden bie Staaten, 
weiche jett gar Feine Ausfuhrzölle mehr haben, in Europa Großbritan— 
nien, Dänemark, Schweden (felt 1. Sanuar 1864), eine Zeitlang 
RNnmänten (v. 1. April 1862 bis 1. Oktober 1864), in Amerifa n. A. 
Eolnmbia (Zellgef. v. 4. Juli 1866, Art. 80) In der zweiten Slaffe 
fliehen viejenigen Staaten, welde nur noch Ausfuhrzölle für nicht beltebig 
vermehrbare Rohſtoffe, alfo als Schugzölle im Intereffe der Inländt« 
ſchen Berarbeitung, beibehalten haben. Sole Stoffe find mande als Neben⸗ 
prodmft gewommenen Artikel, wie Häute (int den meiften Ländern, theilmeife 
Ausnahme in den Taplatalänvern), Thierhaare, Holzafhe, dann Abfälle, mie 
Knochen, Belonders aber Lumpen (Hadern), altes Tauwerk, grobe Pappe u. dgl. m., 
lauter Paterinfien zur Bapierfabrifation. Es ift ein erfreulicher Fortſchritt in 
ber durch bie neueren liberalen Banveldverträge Inaugnrirten Handels und Zoll 
politik, daß bie Aueſagzzu⸗ wenn auch leider noch nicht ganz, ſo doch bis auf 
dieſe letzten Reſte befeitigt und die betreffenden Zölle wiederum herabgeſetzt find. 
Zu den Staaten diefer zweiten Klaſſe gehbren Frankreich, der Zollverein, 
Belgeen, Holkand, velche nach jenen Verträgen nur noch den Ausfuhrzoll 
für Lumpen und andre Abfälle zur Papierfabrikation in zwei Sägen, ferner 
Defterreich, welhes auch noch im neueſten DVertrage (mit Frankreich v. 
11. Dec. 1866) Ausfuhrzölle anf Rumpen und Hadern, rohe Felle und Häute, 
dann Knochen, Klauen u. ſ. w. zur Reimfabrifation beibehalten hat. Außerdem 
baben diejenigen europäifhen Staaten, welche überhaupt noch mehr Ausfuhrzölfe 
befigen, in der Regel auch noch dergleihen Zölle auf Abfälle und Nebenprobufte, 
jo Portugal (Glasabfälle und Gerberrinden, Lumpen), ebenfo die Schmelz (auch Aſche), 
Italien (rohe und lohgare Zelle, Seivenabfälle, Gerbftoffe), in Norwegen (Knochen 
md Borke) in Rußland (Bott: und Waidaſche, Lumpen, ungemahlene und 
ungebrannte Knochen), in Finnland (alle Ausfuhrzölle mit Ausnahme derer auf 
Knochen und Lumpen 1867 anf 5 Jahre fitspentirt), Spanien verbietet 
noch nach dem neueften Tarif (25. Sept. 1865) die Ausfuhr von Qumpen und 
Gerberrinden. Irgenb ein größeres fisfalifches Intereffe knüpft fih an die Ausfuhr⸗ 
zolle auf Nebenprobufte und Abfälle nicht, die Einnahme daraus betrug im Zoll 
verein 1866 nur 46000 Thfr., 1865, wo bis 1. Juli auch noch andre Zölle 
beftanden 68,000, 1864 163,000 Thlr., in Oeſterreich 1864—66 vefp. 466,000, 
292,000, ca. 250,000 fl., in Frankreich 1864 334,000 Fr. Der Heinlide und 
nicht einmal richtige ſchutzzollneriſche Grund (f. u.) wird daher hoffentlich nicht 
mehr fange die Reinigung des Ausfuhrzolltärifd vom Lumpenzoll aufhalten. 

Am dritten Klaffe gehören die Staaten, welhe noh andere be» 
fondre oder auch wohl noch ganz allgemeine Ausfuhrzölle, meiſtens 


342 Sölle. 


im Allgemeinen nicht abgeſtuft, ſondern in einem einzigen Satze nach Maß 
oder Gewicht erhoben. Beſondre Durchfuhrzollſätze für einzelne Waaren perfolgen 
ungerechtfertigte Nebenzwecke ſiskaliſcher oder ſchutzzöllueriſcher Art. 

Jene mancherlei kleineren Abgaben haben ſich noch vielfach unter dem Namen 
Zoll-Nebengebühren auch in das moderne Zollweſen hinüber geſchleppt 
und find im Einzelnen noch ausgedehnt mworben, in ihnen miſcht fd bie 
koſtenerſetzende Gebühr und eine andere sigentlihe Steuer. Gegenwärtig gehören 
dahin 3. 8. die Waag-, Krahn-, Wieverlags-, Zettel, Blei⸗, GSiegelgelver, Kontrol⸗ 
gebühren für fleuerfreie Aus-, Ein- und Durchfuhr, verſchiedene trinkgelbaxtige 
Heine Zohlungen an das höhere und niebere Zollperſonal für beflen Beihülfe u. f. w. 
Soweit dieſe Abgahen wirklich Gebühren find, find fie flatthaft und als sigent- 
lihen Zoll könnte man fie wie bie Hauptzölle rechtfertigen. Doch werben fie in 
biefer Hinſicht eben nur zu einem Zollzufchlgg, mit doppelter Verrechnung, größeren 
Weitläufigkeiten, Mißbräuchen befonders aufgefegt, Spmeit fie ferner als wahre 
Gebühren ale oder gewiſſe Hauptklaſſen der dem Zollverfahren uutermarfemen 
Waaren frefien, können fie gleichfalls in den Zollfgg einhegriffen werben, Dem 
nad iſt wohl mit Hod die thunlicfte Bejeitigung dieſer Nebengehühren zu ver⸗ 
langen. Nur biejenigen bürfen verbleiben, melde eine Bezahlung für einen be- 
ſond ren, freimillig in Anfprug) genommenen Dienft bilpeg, wobei dem Publikum 
nur nicht um dey Gebühr willen ſolche Dieufte aufgenrängt werden bärfen, Mu 
bie Nebengebühren Inüpfen fi in mehreren Ländern noch die dem alten Zollweſen 
charakteriſtiſchen Mißbräuche, z. B. in Rußland 1). 

Die alten Oxt 238112 find nach Form und Inhalt oder Beheutung am 
Meiften als Borlöufer der mobernen Zölle anzufehen, Sie wurben au beſtimmten 
einzelnen Handelsplätzen, in Seehäfen, im Mittelalter befonbers auch qu Binnew 
marktplägen erhoben, auf Rechnung der Gemeinde, des Grundherrn ober, menn 
auch im Mittelalter feltener, auf vie bes Landesherrn pber Staats, Dieſe Zölle 
enthielten nicht immer bie gleichen Arten pon Abgaben, ortd- und zeitweife kommen 
viele Unterfgiebe ver. Einmal waren «8 wohl Abgaben nach Art sine Gebühr 
für fpeciefle Leiftungen, nemlih für die allgemeinen Hanpelseinrichtungen, 
Häfen, infofern unferen neneren Schifffahrtägebühren venpleicpbar. Sodann A 
gaben für die Errihtung und für bie Beihügung des Markts, non denen jene 
wiederum gebührgnartig, dieſe den früheren Rechtsanſchauungen entiprehend waren. 
Gerner erſcheinen dieſe Zölle, zumal bei niebrigem Betrage, ala sine Form ber 
(taufmännifchen) Gewerbeftener, oft nah dem Charakter ver Beit migberum 
perbunden zuit einem Schutzgeld in höheren Sägen für ben fremden Händler oder 
bie frembe Wagre. Abgaben biefer Art haben fi mitunter bis zur Gegenwart 
erhalten. Mit Net fieht Ray in ven heireffenden hamburger Zöllen — feit 1857 
nur noch ein Cinfuhrzoll von 1%, feit 1865 vor 1/,%, auf sine Heine 
Reihe von Magıen (1866 von 390 Mil. Thle, Einfuhr nur 82 Mil, Ihlr. 


— 


1 hi n, Hod Def. Abg. u. Schulden, Gtultg. 1864. ©, 1R5. Klagen be& deutſchen 
Sanbiie ands üher die ruffifchen Einrichtungen, gel d. Kartellmächterlöbne ſ. 1. d Denkſchr. üb, 
d. Abſchl. eines Handels u. Zollvertr. mit Rußl. Berl, 1864, S. 17, mit bemerkenzwerthen 
Beifpielen belegt. Die Nebengebübren erfcheinen oft nur zum kleineren Theil m den — 
Gebühren akermähnter Art iu Oeſterreich 1863 327,000 Il. oder 2,14%, dor Drufiozolleinnahme. 
im Zollverein üben 0. 81%, jet faſt ganz foxtgefaden, in Rußland bi wor kurzem wohl 
an 2%, der Einnahmen. 


Bälle. | 843 


Waaren zollpflichtig) — eine ſolche Steuer, ein SenäteymE, ber in ben Hamburger 
Steuerdebatten gegenüber ben Kaufleuten, welche dieſe Steuer als Zoll grundſaͤtz⸗ 
Ud vermarfen und Hamburgs Konkurrenz durch ihn erſchwert nannten, mehrfach 
zur Sprade gelommen ifl. 
Endlich erfcheinen dieſe alten Ze mitunter in bebeutenberer Höhe und in 
ver Welle aufgelegt, daß die am verſchiedenen Punkten, an welchen ſich zufällig 
ein hiſtoxiſches Zollrecht befand, erhobenen Zölle hier als an hellen bes Staats 
chiets erhoben murben, Es brach fih allmälig das Princip ver Allgemein- 
eit des Zolls Bahn und der Zoll wurde eine inbirelte Mögabe, welde 
fiatt des Kaufmanns ven Konfumenten ober Probscenten traf unb nach ber mehr 
onen weniger Maren Abficht bes Zollherrn treffen follte. Hier erſcheint denn fchon 
im Mittelalter und einzeln auch mohl im Alterthum vie Verbindung eines wirth⸗ 
ſchaftapolitiſchen und eines fiälalifchen Geſichtspunkts. Die Zollſätze wurden bei ver 
Ein- und Ausfuhr nah Waarengattungen abgefluft, mitunter auch bie Cin⸗ und 
Ausfuhr gewifler Wansen verboten. Frühzeitig und lange wor dem Aufkommen 
des eigentlichen Merkantilfuftems fpielen bier die Induſtrie- und Sanbelsrepublifen 
und in ven leidlich geeinigten größeren Stastömefen, wie England, Frankreich, 
Schußgolliendenzen, wenn auch nus unklar verflanden und ſchwach entwidelt, eine 
Node. Gewiſſe Verkehrsgegenſtände wurben ferner Überhaupt nur oder doch nur 
neshelb mit höheren Säben belegt, um fo im Zoll ven Konfum zu befteuern. 
Die ſtädtiſche Thorſtener, ner Marktzoll, die Acciſe auf landwirthſchaftliche und 
andere Artikel find Verkäufer nicht nur ver neueren indirelten Berzehrungsfteuer, 
ſondern auch des Zolls, eine Entwidiung, welche z. DB. in Preußen deutlich vor 
liegt. Auch die Beftenerung ausländiſcher Berzehrungs- und anderer Gegenftände, 
namentlih ber feit dem 15. und 16. Jahrhundert dur ben Handel mit Afien 
und Amerila immer mehr verbreiteten fog. Kolonialwaaren, ließ ſich in 
einer Zeit, wo durch natürliche und künſtliche Urſachen Handel, Gewerbe und 
Wohlſtand vorzugsweile in den Stäbten ihren Gig hatten, durch bie Ortszölle 
erreichen 


Die ‚zahlxetchen Nachtheile, die heilloſen Willtürlichleiten, die Verkehrs⸗ 
pladereien, der ſchroffe Fislalismus ober Das engherzige Pfahlbärgerthum, welche 
ſich an bie bald fo eigenmäcdhtig vermehrten mittelalterlichen Zölle im Innern ber 
Länder Inüpften, find oft geſchildert worden und leicht begreiflih. Aber dieſes 
frühere Binuen- oder Ortszollfyftem mit feinen vielen Zollbariören 
im Innern, durch melde Stadt und Land auseinander geriffen unb bie eine Stadt 
von der andern getrennt wurbe, bat trogbem doch wohl auch gewifle Bortheile 
und ſelbſt eine Art allgemeinwirthſchaftliche und politiſche Aufgabe in der damali⸗ 
gen Bolkswirthſchaft und Kultur und im politifchen Leben befeflen. Darauf veutet 
ſchon ver Unſtand Hin, daß dieſes Zollſyſtem ein Geitenflüd zu den früheren 
Bunft« und Baunzechten und anderen Einrichtungen if. Es war für bie Ent⸗ 
wicklung ber Heinen hiſtoriſch⸗politiſchen Individualitäten, der autonomen Körper 
haften, ver Märkte und Städte gewiß von Belang. Daher darf es fo menig 
als das fpätere Außen- ober Lanbesgrenzzollfuftem, welches eine ähnliche Aufgabe 
für nie Entwidlung feloftändiger Bollswirthicgaften, Staats- und Volkaperſönlich⸗ 
feiten zum erfüllen hatte, lediglich aus einem ſpecial⸗wirthſchaftlichen Geſichtspunkte 
verurtheilt werden. Im Zuſammenhang der Wirthſchafts⸗ und Kulturentwidlung 
betrachtet erſcheint dieſes Binnen- oder Ortsgolligften als die erfte Phafe In ver 
Geſchichte des Zollweſens und iſt durch hie begleitenden Erſcheinungen verftänblich, 

Der Uehergang zum modernen Zollſyſtem und damit zur zweiten Entwicklungs⸗ 


342 3ölle, 


im Allgemeinen nicht abgeftuft, fonbern in einem einigen Satze nah Maß 
oder Gewicht erhoben. Beſendre Durhfuhrzollfäge für einzelne Waaren verfolgen 
ungeretfertigte Nebenzwede ſiskaliſcher oder ſchutzzöllueriſcher Axt. 

Jene mancherlei Heineren Abgaben Haben fid ne vielfach unter dem Namen 
Zoll-Rebengebühren au in das moberne Zollweien hinüber geichlappt 
und find im Einzelnen noch ausgebehnt worden, in ihnen mijſcht Ah bie 

— J eine andere eigentliche Steuer. Örgenwärtig gehören 

ıhne, Nieverlags-, Beitel-, Vlei ·, Kiegelgelver, Fontrol · 

8, Ein» und Durchfuhr, verſchledene trinkgelvaxtige 

ere unb niebere Zollperſonal für befien Beihülfe n.f. w. 

lich Gebühren find, find fie ſtatthaft und als ie 

wie bie Hauptzölle rechtfertigen. Doc werben fie in 

ingm Zoltzuſchlag, mit bpppelter Berechnung, größeren 

m befonbers aufgefeht, Soweit fle ferner ala wahre 

: Hauptliaffen der dem Zollverfahren uuferworfemen 

gleichfalls in ven Zollſatz einbegrifien werben Dem⸗ 

thunlichſte Beſeitigung dieſer Nebengehühren zu ver 

_ fen verbleiben, melde eine Bezahlung für einen be- 

fondrep, freiwillig in Auſpruch genommenen Dienft bilden, wobei bey Publilkum 

nur nicht um der Gebühr willen ſolche Dieufte gufgebrängt werben bärfen, Au 

die Nebengebühren Inüpfen fih in mehreren Ländern nad die dem alten Zollweſen 
SHarafteriftifgen Mißbräuge, 5.8. in Rußland 1). 

Die alten Ort4zölle find nah Form und Yahalt ober Veheutung am 
Meiften als Vorläufer der mobernen Zölle anzufehen, Sie wurden an befiimpten 
einzelgen Hanbelsplägen, in Seehäfen, im Mittelalter befonbers auch qu Binnew 
maozktpfägen erhoben, anf Rechnung der Gemeinde, des Grunbhern ober, wenn 
auch im Mittelalter feltener, auf vie bes Landesherrn oder Gtagts, Dielg Zölle 
enthielten nicht Immer bie gleichen Arten vou Abgaben, orts- und zeitweife kommen 
viele Unterſchiede vor. Einmal waren 28 wohl Abgaben nad Art giner Gebühr 
für fpeciefle Leiſtungen, nemlih für bie allgemeinen Hanpelsciyrichtungen, 
Häfen, infofern unferen neneren Shifffahrtägebühren vergleichbar. Sodann Ap- 
gaben für die Errichtung und für die Beihügung des Mars, von denen jene 
mwieberum gebührenartig, biefe ben früheren Rechtsanſchauungen entiprechend waren. 
Ferner erjheinen diefe Zölle, zumal bei niebrigem Betrage, als eine Form bar 
(taufmännifcen) Gewerbeftener, oft nah dem Charakter ver Beit Imisderum 
verbunden zuit einem Schutzgeld in höheren Sägen für den fremden Häudler ober 
die fremde Wagrt. Abgaben dieſer Art haben fig mitunter bia zur Gegenwart 
erhalten. Pit Net fieht Rau in ben heiseffenden hamburger Zölfen — feit 1857 
nur noch ein Ginfubepelt von — ge 1865 vor 1/4%, auf sine Heine 
Reihe von Magren (1866 von 390 Mil. Thlr, Einfuhr nur HI Mill, Kple, 


— 


2) 6. 1, Hod De &bg. u. Sgulden, Gtulig. 1868, ©, RS. Sagen beat Peutihen 
Handefaftands über die ruſſiſchen Einrichtungen, ge d, Kartellmächterlöbne (. i. d Denkide. üb, 
d. ots. eines Handelt: u. Zollvertr. mit Rußl., Berl, 1864, ©. 17, mit bemerkentiperthen 
Velſpielen belegt. Die Nebengebübren erſcheinen oft nur zum kleineren Theil m den einge. 

bühren oßgripähnter Art ia Deſterreich 1863 327,000 AI. oder 2,MY, der Brußlo; 
im Zolnereju frühen 0. 8-1%,, jept faR ganz forigefaßen, in Rußland bi wor ha 
an 2%, der Einnahmen. 


nahme, 
m wohl 


Sölle. | 843 


Wagren zollpflichtig) — eine folge Steuer, ein ——— der in den hamburger 
Stenerdebatten gegenüber den Kaufleuten, welche dieſe Steuer als Zoll grunpfäß- 
Uch vermwarfen und Hamburgs Konkurrenz durch ihn erfhwert nannten, mehrfach 
zur Sprache gelommen iſt. | 

Endlich erfcheinen dieſe alten. Zölle mitunter in bebeutenberer Höhe und in 
der Weiſe aufgelegt, daß die an verſchiedenen Punkten, an welchen fich zufällig 
ein hiſtoriſches Zollsecht befand, erhobenen Zölle bier als an Thellen bes Staater 

ehlete erhoben murden. Es brad fi allmälig das PBrincip ver Allgemein- 

eit des Zols Bahn und ver Zoll wurde eine indirekte Mögabe, welde 
fistt des Kaufmanns nen Konfumenten ober Probucenten traf und nach ber mehr 
onen weniger klaren Abſicht des Zollherrn treffen follte. Hier erſcheint denn ſchon 
im Mittelalter und einzeln auch wohl im Alterthum bie Berbinbung eines wirth⸗ 
ſchaftapolitiſchen und eines fiskaliſchen Geſichtspunkts. Die Zollfäge wurden bei ber 
Eisn- und Ausfuhr nad Waarengattungen abgeftuft, mitunter auch bie Cin⸗ und 
Auafuhr gewiſſer Waaren verboten. Trübzeitig und lange vor dem Auflommen 
des eigentlichen Merkantilfuftems fpielen hier die Inbuftrie» und Handelerepubliken 
und in den leidlich geeinigten größeren Staatsweſen, wie England, Frankreich, 
Schutzzolliendenzen, wenn auch nus unklar verflanden und ſchwach entwidelt, eine 
Nolle. Gewiſſe Verkehrsgegenſtände wurben ferner Überhaupt nur ober doch nur 
deshelb mit höheren Sätzen belegt, um fo im Zoll ven Konfum zu befteuern. 
Die ſtädtiſche Thorftener, der Marktzoll, die Hccife auf landwirthſchaftliche und 
andere Artikel find Verkäufer nicht nur der neueren inbirelten Berzehrungsfteuer, 
fouhern au bes Zolls, eine Entwicklung, welche DB. in Preußen deutlich vor 
liegt. Auch die Beftenerung ausländiſcher Berzehrungs- und anderer Öegenftänbe, 
namentlih ber feit dem 15. und 16. Jahrhundert durch ben Handel mit Aften 
und Amerila immer mehr verbreiteten fog. Kolonialwaaren, ließ fi im 
einer Zeit, wo durch natürliche und künſtliche Urſachen Handel, Gewerbe und 
Bohlftand vorzugsweife in den Städten ihren Sig hatten, buch bie Ortszölle 
erreichen. 

Die zahlveichen Nachtheile, die heilloſen Willtürlichleiten, die Berlchrs- 
pladereien, der ſchroffe Fislalismus oder das engherzige Pfahlbürgerthum, welche 
fig an die bald fo eigenmächtig vermehrten mittelalterlichen Zölle im Innern der 
Länder Inüpften, find oft geſchildert worben und leicht begreiflih. Aber dieſes 
frühere Binnen- oder Ortszollfyftem mit feinen vielen Zollberiären 
im Innern, durch melde Stadt und Land auseinander geriffen und bie eine Stadt 
von der andern getrennt wurde, hat trogbem doch wohl auch gewiffe Vortheile 
und felöft eine Art allgemeinwirtbichaftlihe und politiiche Aufgabe in der damali- 
gen Vollswirthſchaft und Kultur und im politifchen Leben befeflen. Darauf veutet 
ſchon der Unſtand bin, daß dieſes Zollſyſtem ein Geitenftüd zu ben früheren 
Zunft» und Bannzechten und anderen Einrichtungen if. Es war für die Ent- 
wicklung ber Heinen biftorifch-politiichen Inbivipualitäten, der autonomen Körper 
haften, ver Märkte und Stäbte gewiß von Belang. Daher darf es fo wenig 
als das fpätere Außen⸗ ober Landesgrenzzollſyſtem, welches eine ähnliche Aufgabe 
für nie Entwidlung feloftändiger Boltswirtbicgaften, Staats- und Bollsperjönlich- 
feiten zum erfüllen hatte, lediglich aus einem ſpecial⸗wirthſchaftlichen Geſichtspunkte 
verustheilt werden. Im Zuſammenhang der Wirthichafts- und Kulturentwicklung 
betrachtet erſcheint dieſes Binnen⸗ oder Ortszollſyſtem als die erſte Phafe In ver 
Geſchichte des Zollweſens und ift durch Die hegleitenven Erſcheinungen verftänblich, 

Der Uebergang zum modernen Zollſyſtem und damit zur zweiten Entwidlungs- 





342 Sölle. 


im Allgemeinen nicht abgeſtuft, ſondern in einem einzigen Satze nach Maß 
oder ar erhoben. sent: PC für einzelne Waaten verfolgen 
ungerechtfertigte Nebenzwede fistalifher oper fhugzöllgeriiher Axt. 
Jene mancherlei Heineren Abgaben haben ſich noch vielfad unter den Namen 
Zoll-Nebengebühren aud in das moderne zollweſen hinüber geihleppt 
mo ausgebehnt worden, Ach in ihnen milde fh bie 
md eine andere eigentliche Steuer. Orgenmärtig gehören 
Krahn⸗, Niederlage», Zeitel-, Dlei«, Gtegelgelver, Fontrol · 
Aus, Ein- und Durchfuhr, verfchlevene trinkgelbaxtige 
höhere und niebere Zollperſonal für deſſen Beipülfe u. ſ. w. 
wirllich Gebühren find, find fie ſtatthaft und als eigen» 
fie wie die Hauptzölle rechtfertigen. Doch werben fie in 
m einem Zollzuſchlag, mit bpppelter Bergehnung, größeren 
uchen befonbers augefegt, Spmeit fie ferner 914 wahre 
viſſe Hauptklaſſen der dem Zollverfahren unferworfeusn 
fie gleichfalls in den Zollfeg einbegriffen werden, Dem 
bie thunlichſte Beſeitigung dieſer Nebengehähren zu var ⸗ 
u "ng. dürfen verbleiben, melde eine Bezahlung für einen be- 
fondrep, freimillig in Anfprus genommenen Dienft bilden, wobei bey Publikum 
“ ne willen ſolche Dieufte aufgevrängt werden bürfgu, Au 
pfen fi in mehreren Ländern npd die dem alten Zollweſen 
äuce, z. B. in Rußland 1). 
+3 Ölle find nah Form und Jahalt oder Beheutung am 
der mobernen Zöle anzufehen, Sie wurden au beflwinten 
a, in Seehäfen, im Mittelalter befonbers auch qu Binnen 
auf Rechnung ver Gemeinde, des Grundherrn ober, wenn 
Itener, auf die bes Landesherrn ober Staais. Diele Zölle 
die gleigen Arten von Abgaben, ortd- und zeitweife kommen 
Einmal waren 8 wohl Abgaben nah Art giner Gebühr 
ungen, nemlih für bie allgemeinen Hanpelseinrihtungen, 
u neueren —— vergleichbar. Sodauu 
ag und für die Beihügung des Marks, nom denen jene 
wieberum gebüßrenaztig, biefe den früheren Redhtsanfhannngen entiprehenb waren. 
Ferner erjheinen diefe Zölle, zumal Bei niedrigem Betrage, al& gine Form bay 
(taufmännijcen) Gewperbeftener, oft nah dem Charakter der Beit wicherum 
derbunden zuit einem Schutzgeld in höheren Sägen für ven fremden Häudler ober 
die frembe Mogue. Abgaben dieſer Art haben fig mitunter bis zur Gegenwart 
erhalten. Mit Recht ſieht Rau in den heireffenden hamburger Zöllen — feit 1867 
nur noch ein Cinfuhrzoll vom 4, feit 1865 von 1/49, auf eine Heine 
Reihe von Magoren (1866 von 390 Mil. Thlr, Einfuhr nur HI Mill. Thle. 


— 


1) 6. 0, Hod Def Abg. u. Säulen, Gtuttg. 186A, ©. 1R5. Klagen dea Peutfchen 
Handsleflandd über die rufffgen Einrichtungen, hei. D. Startellmäciterlöhne (. 1. &, Denkiär. üb, 
dv. Mi} [dj. eined Handela u. Zollvertr. mit Rußl., Berl, 1864, ©. 17, mit bemerfensipersken 
Belfpielen belegt. Die Nebengebühren erfheinen oft nur zum Hleineren Theil tm den Bolttehnungen. 
Gebühren abgrmähnter Art in Defterreicg 1863 327,000 FI. oder 2,MQ%, der Brußogollehnnahme, 
tm Zolnereju frühen 0. 8—1%,, jept TaR gang foatgefaen, in Rußland Dis wer kurzem wohl 
an 2%, der Einnahmen. 


Zölle. 843 


Waaren zollpflichtig) — eine ſolche Stener, ein Geſichtspunkt, der in ben hamburger 
Stenerdebatten gegenüber ven Kaufleuten, welche biefe Steuer als Zoll grundſaͤtz⸗ 
Uch verwarfen und Hamburgs Konkurrenz durch ihn erſchwert nannten, mehrfach 
zur Sprade gelommen ifl. | 

Endlich erfcheinen dieſe alten. Zolle mitunter in bedeutenderer Höhe und in 
ver Weiſe aufgelegt, daß die am verjchievenen Punkten, an welchen ſich aufällig 
ein hiſtoriſches Zollrecht befand, erhobenen Zölle hier als an hellen bes Staats 

ehiet6 erhoben murben, Es brach fi allmälig das Princip der Allgemein- 
—* des Zolls Bahn und ber Zoll wurde eine indirekte Abgabe, welche 
fett des Kaufmanne hen Konfumenten ober Producenten traf unb nach ber mehr 
one weniger Maren Abficht des Zollherrn treffen follte. Hier erſcheint denn ſchon 
im Mittelalter und einzeln auch wohl im Alterthum vie Berbindung eines wirth⸗ 
ſchaftapolitijchen und eines fislaliſchen Geſichtspunkts. Die Zollfäge wurden bei ber 
Ein- und Ausfuhr nah Waarengattungen abgeftuft, mitunter auch bie Ein- und 
Auafuhr gewiſſer Waaren verboten, Trübzeitig und ange vor dem Auflommen 
des eigentlichen Merkantilſyſtems fpielen Hier die Induſtrie- und Sanbelsrepublifen 
und in ben leidlich geeinigten größeren Stastömefen, wie England, Frankreich, 
Shußzolltendenzen, wenn aud nur unklar verflanden und ſchwach entwidelt, eine 
Role. Gemiffe Verlehrögegenftände wurden ferner Überhaupt nur ober doch nur 
deshelb mit höhenen Sätzen belegt, um fo im Zoll ven Konfum zu befteuern. 
Die ſtädtiſche Thorftener, ver Marktzoll, die Acciſe auf Ianbwirtbichaftlihe und 
andere Artikel find Verkäufer nicht nur der neueren indirelten Berzehrungsfteuer, 
founern auch bes Zolls, eine Entwicklung, welche z. B. in Preußen deutlich vor 
liegt. Auch die Beftenerung auslänpifcher Berzehrunge- und anderer Öegenftände, 
namentlich ber feit dem 15. und 16. Jahrhundert durch ben Handel mit Afien 
und Amerila immer mehr verbreiteten fog. Kolonialwaaren, ließ fi im 
einer Zeit, wo durch natürliche und Lünftliche Urſachen Handel, Gewerbe und 
Bohlfiand vorzugsweife in ben Städten ihren Sig hatten, durch die Ortszölle 
erreichen. 

Die zahlreichen Nachtheile, vie heilloſen Willtürlichleiten, die Verlehrs⸗ 
pladereien, der ſchroffe Fislalismus oder das engherzige Pfahlbärgertfum, welche 
fig an die bald fo eigenmäcdtig vermehrten mittelalterlichen Zölle im Innern ber 
Länder Inüpften, find oft geſchildert worden und leicht begreiflih,. Aber dieſes 
frühere Binuen- over Ortszollfyftem mit feinen vielen Zollbariören 
im Innern, durch melde Stadt und Land auseinander geriffen und bie eine Stadt 
von der andern getreunt wurbe, bat trogdem doch wohl auch gewifie Bortheile 
und ſelbſt eine Art allgemeinwirthichaftlige und politiſche Aufgabe in der bamali- 
gen Volkswirthſchaft und Kultur und im politiſchen Leben befeflen. Darauf veutet 
ſchon ver Unſtand bin, daß dieſes Zollfgftem ein Geitenftüd zu ven früheren 
Bunft+ und Bannrediten und anderen Einrichtungen if. Es war für bie Ent- 
wicklung ber Heinen hiſtoriſch⸗politiſchen Individualitäten, der autonomen Körper 
haften, ver Märkte und Städte gewiß von Belang. Daher darf es fo wenig 
als das fpätere Außen- ober Landesgrenzzolliyftem, welches eine ähnliche Aufgabe 
für nie Entwidlung feloftändiger Bollswirtbicgaften, Staats- und Volksperſönlich⸗ 
feiten zu erfüllen Hatte, lediglich aus einem ſpecial⸗wirthſchaftlichen Geſichtspunkte 
verurtheilt werben. Im Zuſammenhang der Wirthſchafts⸗ und Aulturentwidlung 
bewachtet erſcheint dieſes Binnen oder Ortszollſyſtem als vie erfte Phafe im ver 
Geſchichte des Zollweſens und ift durch Die begleitenden Erſcheinungen vaerſtändlich. 

Der Uehergang zum modernen Zollſyſter und damit zur zweiten Entwicklungs⸗ 


34 . Bölle. es 


phaſe des Zollweſens vollzog fih durh Ausfheibung der gebüähren- 
artigen Zölle, wie der Weg und Brüdengelder, und durch die Syfle- 
matifirung und Generaltfirnng der in den letzten Jahrhunderten des 
Mittelalters in den Ortszöllen zur Geltung gelangten Geſichtspunkte. Hier waren 
denn bie bekannten Faktoren von Einfluß, welche ans dem Feudalismus und dem 
Patrimontalftante zur unbefhräntten Monarchie und zum modernen Staate hinüber- 
führten. Der Sieg ver Ianvesherrlichen Gewalt über die Heinen autonomen Körper- 
haften, die Städte und ben bel, die Milvderung und allmälig vie Befeitigung 
ber firengen Abſperrung ver Städte vom platten Lande, die Abrundung der Stants- 
gebiete, die Bildung ſtehender Heere und die größeren Yinanzbebürfnifle, ber Ueber- 
gang von der Natural» zur Geldwirthſchaft, vie Entwidlung wenn auch einfeitiger, 
doch ſchon ſyſtematiſcherer volkswirthſchaftlicher Anfhauungen, mit dieſem und 
anderem mehr die Idee ſelbſtändiger Staatsperſönlichkeiten und mit ihr trotz ber 
noch geringen Uebereinftimmung zwiſchen Staats⸗ und Volks⸗ und Spracdgrenzen 
eine Art wirthſchaftlichen Nationalitätsprincips, folde und andere ähnliche Um⸗ 
flände waren von Bereutung. Die fiskaliſche und handelspolitiſche Seite des 
modernen Zollwefens ift deshalb auch nicht die einzige, welche bier in Betracht 
fommt, obwohl fie in der Negel allein gebührend gewürbigt ifl. Daneben iſt das 
allgemeinwirtbfhaftlide und politiſche Moment vielleicht ebenfo 
folgenwichtig und ebenfo einflußreich für die Umbildung gemwefen, als jene beiden 
Geſichtspunkte. Man war beftrebt, die Orts» zu Landeszöllen zu machen, bie 
Zolftätten umzulegen, das Zollweſen zu vereinfachen, die Binnenzölle ganz zu 
befeitigen und fie in Außenzölle verwandelt an bie Landes- ober Staatögrenzen 
gegen das Ausland zu verlegen. Bloß notbgerrungen, z. B. wenn wie in Frank⸗ 
reih 1664 ber partifulariftiihe Widerſtand noch nicht ganz zu überwinden war, 
blieben Zwifchenzolllinien zwiſchen ven verfchiedenen hiſtoriſch⸗politiſchen Abtheilun⸗ 
gen, aus denen ſich der Stant zufammengefegt hatte, beftehen. Das Inland follte 
womöglid Einen großen inneren Markt bilden, mit Verkehrsfreiheit, „Sreihandel“ 
innerhalb besjelben, das Sollgebiet das ganze Staatögebiet umfaflen und Eine 
Zolllinie mit einer Kette von Örenzpollämtern das Inland vom Ausland ſcheiden. 
Nur ungern blieb ein einzelner Theil des Stantsgebiets davon getrennt. In diefem 
einheitlichen Außenzollfuftem fpricht fi neben dem wirthſchaftlichen ein eminent 
politifher Gedanke aus. Das Zollgebiet wurde territortale 
Bafis der nationalen Bolfswirthfhaft und gewann in biefer 
Hinſicht! größere Bedeutung als das Staatsgebiet. Aber indem innerhalb des 
Zollgebiets die wirthſchaftlichen Interefien der einzelnen Landestheile organiſch in 
einander verwuchſen, wurden neu erworbene Grenzlande erſt wahrhaft mit dem 
neuen Staate verbunden. So murben bie Zollgebiete mit der Zeit gerade zu 
Staats- und Nationalgebieten dur das ven Waaren- und Menfchenverlchr mit 
bem Auslanve (In Verbindung mit Paßwefen u. dgl. m.) hemmende, im Inneren 
aber die Berfehrsfhranten niederreißende Grenzzollfuften. Sicherlih haben hier 
fiskaliſche und merkantiliſche Irrthümer einen beventenden Einfluß ausgeübt. Aber 
auch als Anhänger des Freihandels in Theorie und Praxis braudt man, mas 
Freunde und Gegner gleich häufig thun, nicht zu überfehen, daß bie Frage des Landes⸗ 
grenzzollſyſtems mit ven fisfalifhen und Hanvelspolitiihen Tariffragen nicht abge: 
macht iſt; die Bildung felbftändiger Staatsgebiete hängt mit anderen großen hiſtori⸗ 
hen Vorgängen ber neueren Zeit zufammen und hat auch für fi zur Entwicklung 
felbftändiger Staats- und Volksperſönlichkeiten mächtig beigetragen, bat hierfür, 
wie man vielleicht fagen darf, eine wahre Miffion gehabt. Denn eine ſolche Ent- 





3öfle. 845 


widiung war nad) dem Berfall ber politiſchen Formen und dem Zerfall der im 
Vabſt und Kaiſerthum gipfelnden riftlichen Staatsorbuung des Mittelalters eine 
Borbedingung für die Anbahnung einer anf anderer Grundlage beruhenden Ord⸗ 
nung unter den civflifirten Staaten und Nationen. 
Charalteriſtiſch genug iſt dieſes politifch fo wichtige einhettiiche Außenzoll- 
ſyſtem grade in Frankreich durch das —— Zollſyſtem von 1664 am 
konſequenteſten durchgeführt nud damit für ganz Curopa ein Vorbild zur Nach⸗ 
ahmung gegeben worden, wobei freilich nicht zu vergeffen iſt, wie oft geſchieht, 
daß damals und bis zur Revolution eine einzige gemeinfame Zolllinie nur unge 
fahr das halbe Frankreich umſchloß. Unter anderen war das Elfaß, Lothringen, 
die drei Bisthäümer, die Franche Comté bis 1791 nicht In das franzöfiſche 
Zollgebiet eingefchloffen. Oftmals hat man betont, daß das Elfaß erſt durch bie 
an der franzöflichen Revolution innerlich mit Frankreich verwachſen, 
soon Dentihland losgeldet fei. Vielleicht ſagt man nicht zu viel, wenn man biejes 
Ereigniß mit auf die erft feit 1791 erfolgte Umfpannung des Elſaß durch das 
bis vor Kurzem meift verfhärfte franzöfiiche Zollſyſtem zurückführt. Aehnliches 
nıödhte, zumal feit der Errichtung von Zolllinien in den beutfhen Staaten, auch 
von anderen abgerifjenen ober abgefallenen deutſchen Ländern, Holland, Belgien, der 
Schweiz, Deutſch⸗Oeſterreich gelten. Die Theilung Polens iſt durch die Einreihung 
der betreffenden Länder in drei verfchienene Zollgebiete auch erſt recht perfelt ge- 
worben. Die Klagen der polnifhen Patrioten darüber find begreiflih gemug. 
Andere Staaten folgten dem franzöflihen Borgang von 1664 gemäß ihrer politi- 
ſchen Entwidinng nad der gelungenen Befeitigung ihrer bisherigen politiihen Zu⸗ 
gebörigteit zu einem größeren politiihen Ganzen und nad der Ueberwindung des 
Widerſtands der propinciellen hiſtoriſch⸗politiſchen Individnalitäten, welde fie 
nmfchloffen. Bemerkenswerth ift in biefer Beziehung - namentlih das Borgehen 
Defterreihs: Beſeitigung der Ziwifchenzölle in ven beutfch-öfterreichiichen 
Erblanden 1775, ſechs Zmwifchenzolllinien von 1815 —1835, bloße Außenzölle 
mit einziger Ausnahme der ungariſchen Zwifchenzolllinie von 1835 an, Aufhebung 
diefer legten 1851 (bis wie lange?); nur Dalmatien bilbet aus geographifdgen 
Gründen ein befonberes Zollgebiet. Ebenfo bemerfenswerth find vie befonveren Zoll⸗ 
fofteme der Donanfürftentbümer, Aeghptens. Deutſchland trabte, wie flets in 
politifden Dingen dieſer Art nah und machte die Entwidiung 170—200 Jahre 
fpäter durch, al8 das Frankreich der fünf grosses fermes. Der großartige Ge⸗ 
bante eines allgemeinen deutſchen Orenzzolliuftems 1. I. 1523, das ganz Deutid- 
land ohne Preußen, Lioland und die Schweiz, aber Holland (und Belgien) inbe- 
griffen, umfchließen follte, fcheiterte wie fo Vieles am Widerſtand partifulariftifcher 
Interefien, damals ber Städte insbeſondere. 2. Ranke Hat bie politiihe Trag⸗ 
weite dieſes Gedaukens gebührenn gewürdigt. Wie weit würbe Deutſchland Frant- 
rei vorausgefommen fein, wenn es damals das Grenzzollfuften — wenn auch 
noch nicht gleih ſtatt aller andern Zölle — errungen hätte! So war die 
große politifche That Bier erft das preußische Belek vom 26. Mat 1818 
über den Zoll nnd die Verbrauchsſteuer von ausländiihen Waaren, welches aus 
dem preußifchen Staatögebiete ein Zollgebiet machte und den Uebergang vom alten 
zum modernen Zolliuftem bewerfftelligte.e Die Gründung nnd Entwidlung des 
dentſchen Zollvereins und die politifhe Wiedergeburt Deutihlande giengen aus 
diefer Mafregel mit hervor. In nichts zeigt ſich die politiſche Bedeutung des 
modernen Zollmefens mehr als in dieſem großartigen Beiſpiel, wo man fie dann 
auch oft erfannt hat. Uber es iſt für das Verſtändniß des Zollweſens und ber 





346 Zölle, 


deutſchen Frage glei wichtig, das Beifſpiel bes Hollvereins um ale eimen 
Fall von vielen aufzufaffen. Beachtenswerth genng, bad durch Deutfchiauns 
politiſche Auflöſung zur leitenden Haupimacht Europas gewordene Frankreich ſucht 
zuerft. am konſequenteſten das einheitliche Zollſyſtem zu verwirklichen und es auch 
für feine politiſchen Zwede zu verwerthen, 5is in unſeren Tagen na allen an⸗ 
deren Deutſchland in diefem Zollfoften eine der beften Handhaben findet, feine 
politiſche Neugeftaltung durchzuführen und damit gerade Frankreich gegenüber ven 
ihm gebührenden Play im medernen Staatenſyſtem wieder zu erringen. Nur 
folge bei aller dialektiſchen Schärfe jenes geschichtlichen und politiſchen Blickt baaren 
Ratnren wie Baftiat und mande feiner Anhänger können über die Schutzzoll⸗ 
frage das Verßändniß für die Bedeutung einer Schöpfung wie der Bellverein 
in bem Maße verlieren, daß fie den Zollverein auf einem logiſchen Widerſpruch, 
einem Princip der Freiheit und gleichzeitig einem Princip der Beſchraänkung er⸗ 
toppen und dadurſh gleihjam ad absurdum führen möchten 2). 

Jede der beiden Entwidhungsphafen, welche fi in ber Gefchichte des Zoll⸗ 
weſens bisher deutlich unterfcheiden laffen, ſteht mit gleichzeitigen nicht zur wirth⸗ 
ſchaftlichen und finanziellen, ſondern auch politiſchen Erfcheinungen im engen Zu⸗ 
fammenbange. In ver Phafe der, Binnen- ober Ortszülle trennte ſich Stadt und 
Land immer fchärfer, die Landes» und Bollsgemeinfhaft verſchwand faft mit unter 
dem Einfluffe des damaligen Zollweſens, aber bie Länder und Bälfer waren unter 
einander noch nicht fo ſtreng geſchieden, es herrfchte der der Idee bes Pabſt⸗ 
und Kaiſerthums entfprehende Kosmopolismus, In ver Phafe des Außen⸗ ober 
Landesgrenzzollſyſtems bilvete fi pie Landes⸗ und Bollsgemeinſchaft heraus, 
Stadt und Land fühlten ſich wieder Eines, ver Widerſpruch der ſtädtiſchen Detroi 

egen das neuere Zollſyſten wurde und wird immer mehr empfunden, jede einzelne 
—* Volks⸗, Staatsgemeinſchaft wurde eine ſelbſtändige Perſönlichkeit. Aber 
grade hierdurch entſtand ein ſpaltender Gegenſatz zwiſchen dieſen einzelnen Perfön⸗ 
lichkeiten, das Gefühl ver Zuſammengehörigkeit ver civiliſirten Völler und Staaten 
verminderte ſich, ein eifriger, egoiſtiſcher Nationalismus trat an bie Stelle eines 
verfrühten Kosmopolitismus. Faſt .alle größeren und kleineren civiliſirten Staaten 
baben das nad Innen freihändleriſche, nad) Außen prohibitioniſtiſche und ſchutz⸗ 
zöllnerifge und im Uebrigen ftreng fiskaliſche Grenzzollipftem Hürzer over länger 
bei fi eingeführt. Lange Zeit beftand bie Weiterentwidiung nur in ber Ber- 
ſchärfung der Abiperrung vom Ausland. Die franzöfiide Revolution unterbrad) 
die kaum erſt im engliſch⸗franzöſiſchen Stemervertrag von 1785 amgebahnte leiſe 
Annäherung an eine liberalere Zollpolitit und führte fogar zu einer früher wicht 
gelannten Schroffheit des Syſtems, die in der Kontinentalfperre — auch zu polkti- 
ſchen Zwecken — gipfelte, aber aud nad Napoleons Sturz nur wenig wid). 
Das Grenzzollſyſtem in Frankreich, Defterreih, Rußland, felbft Grogbritanuien 


2) Dal. die von Bergiug, wie ed ſcheint beiftimmend, mitgetheilte Stelle von Baſtiat, 
Finanzw. Berl. 1865 ©. 389. Weber die Einführung des frangdf. Grenzzollſyſtems def. P. 
Ciömenthist. de la vie et de l’admin. de Colbert, Paris 1846. Derfelbe hist du syst. 
protect en. France (bi 1848.) Paris 1854 P. 14 ff. Parien traitö des impöts, vol. Il, 
Paris 1864 p. 135. M. Chevalier exam. da syst, comm, connu sous ie nom du syst. 
prot. 2, ed. Paris 1853, ch. 20 P. 145. Ueber die Borfchläge eines Grenzzolifpftems 1523 : 
Ranke, Reform. Gelb. II, S. 45 (1. Ausg.). Ueber Preußen 3.G.Hoffmann, Lehre v. 
d. Steuern. Berl. 1810 ©. 345 Ferner vgl. Stein Finanzw. &. 387, 398, Rau, 
Finanzw. & 443. 


Säle. 347 


perblieh in einem Zuſtand ber Härte, welcher früher unbelanut wer. Das Spem 
Golbert’6 von 1667, weldes keine Probibitionen launte, war ungleich milde als 
das franzöſiſche Zollſyſtem von 1860. 

In der zweiten Phaſe ſtehen wie noch gegenwärtig. Sie läßt fih nach dem 
Geſagten als piejenige des ſchroffen Außen- ober Landesgrenzzollſyſtems be⸗ 
zeichnen. Wenn aber bie Angeichen nicht trügen, fo bereitet fi eine dritte Phafe 
nor, welche auf gejumberer Örunblage ala im Mittelalter eine Oemeinſchaft ber 
in Nationalſtaaten verbundenen civilifirten Menſchheit anbahnt. Die nachtheiligen 
wirtbiehaftlihen Wirkungen des Shfliems werben wieder mehr erkannt, das nene 
Kommunilationswehen, der große Perfonen- und Waarenverkehr, bie Begänftigung 
bed Maſſenkonſums im Interefie des Fiskus ſelbſt wirken gemeinfam auf eine 
Mildarung des Außenzollſyſtems Kin. Erhebliche Schritte in diefer Richtung find 
buch den Sieg bes Freihandels in England und durch das von Frankreich ange 
bahnte Suftem ver neuen liberalen Handelsverträge (ſeit 1860) geſchehen. Auf 
die Weiterbiluung möchte wiederum bie politifche Konfolidation Deutſchlande von 
Einfluß fein, So kündigt ſich troz des amerifanifhen Rückfalls nach der Periode 
bes fchuofien eine foldhe des liberalen Außenzollſyſtema an. Ob der- 
felben eine Periode der Zolllofigkeit folgen, ob die Völker trennenden 
Sälegbäume einmal vSllig werden gelappt werben? Auch dafür giebt es einige 
Anzeichen in darauf abzielenden Theorien und Agitetionen. Die Wahrfcheinlic- 
Leit ſpricht wicht durchaus Dagegen, doch würde noch zur Beit eine Prophezeiung 
zu gewagt fein. 

ln Finanz: uud Echngzölle Der Durchfahrzoll. Eutwidlung 
und gegenwärtiger Umfang des Ausfuhrzolls. Getreidezollpolitik. 

1) Finanz und Schugzölle. ES wurde bereits erwähnt, dag im 
älteren wie im mobernen Zollweien häufig ein wirthichaftliches neben einem fistali- 
ſchen Princip erſcheint. In der fpäteren Zeit wurden biefe Principien nur klarer 
verfianben und ſchärfer durchgeführt. Diejenigen Zölle, welde anf dem erften 
Brincip beruhen, Hein Schugzdlle, aud wohl vollswirtſchaftliche Hölle, 
diejenigen, welche auf dem zweiten Princip beruhen, beiten Finanz. ober 
Stewerzölle. Die Namen beuten auf den Sinn hin. Nur führt der Finanz⸗ 
zoll ven Kamen Steuerzoll als Unterjheipungsmerkmal infofern, als blos 
es eins Steuer zur Beihaffung von Einnahmen für ben Staat (der 
Regel nach) iſt, während der Schutzzoll dieſen Zweck fireng genommen im 
Princip ger nicht, tbatfächli aber nur nebenbei hat. Der Schugzoll iſt aber 
gleichwohl auch eine Steuer für den durch ihn betroffenen Producenten unb 
Konfumenten, und zwar zu Gunſten des inländiſchen Gewerbes im Betrag ber 
Preisdifferenz zwiſchen dem gefchügten und ungefhüßten Artitel. Deshalb ver- 
bient, im Gegenfag zu Ren, das Wort Finanzzoll doch wohl den Borzug 
ver Steuerzoll. In Betreff der Schnuzollibeorie wird bier auf den Art. 
Handel und Handelspolitit (B.IV ©. 634-656) und in Betreff ver 
feit der Abfaffung dieſes Wrtifeld erfolgten Fortſchritte des Freihandels und des 
Syſtems der „liberalen" Handelsverträge auf den Urt. Zollverein verwiefen. 
Im Folgenden wirb vornemlih das Finauzzollſyſtem und nur, ſoweit es 
für den Zufammenhang nothwendig, das Schutzzollweſen berüdfichtigt werben. 

In der Binnen» oder Ortszollperiode kommt der Schupzell ſchon vor, aber 
da Finanzzoll if} die Hauptſache. In der Außen oder Landeszollperiode tritt der 
Schutzzoll ſehr in den Vordergrund, die Schrofiheit des Syſtems gipfelt gerade in 
ibm, das fistalifhe Intereſſe wird dem Schueinterefie oftmals zum Opfer ge 


8 Zölle. 


bracht, n. a. In ber bifferentiellen Begünftigung ber eigenen Kolonialprobufte 
gegenüber den fremden (namentlih in England bis zur Zarifreform in den AOer 
Jahren), aber die Finanzbedürfniſſe der Staaten und die Entwidlung ver inneren 
inbireften und Berzehrungsftenern vrängten doch auf eine allmälige Auspehnung 
des Finanzzollſyſtems hin. Bei den wichtigen überſeeiſchen Berzehrungsgegenfländen, 
ben vorzugswelfe fog. Kolontalmaaren, kam das rein fiskaliſche Interefie, welches 
jegt ganz im Borbergrunb fteht, übrigens erſt jpäter zur Geltung, weil bie merlan- 
tiliſtiſche Theorie vom Nachtheil des Gelvabfluffes und der paffiven Handelsbilanz 
und Inzuspolizeitiche Bedenken oft entgegenfianden. In ber beginnenden Periode 
bed milderen Außenzolliyftems wird der Schutzzoll zurüdgedrängt und zum Theil 
aufgegeben, der Konflikt zwifchen dem fisfalifhen und proteltioniftifchen Geſichts⸗ 
punkte führt mit zu biefem Ergebniß. Aber das richtig verſtandene, freilich and) 
erft in der modernen Volkswirthſchaft in diefer Weiſe begründete Finanzintereffe 
veranlaßt auch eine Ermäßigung der Finanzzölle, ohne daß der Staat damit auf 
die Zolleinnahme in ihrer bisherigen Höhe zu verzichten beabfichtigt. 

2) Der Durdfuhrzoll Ale drei Arten ver Grenzzöle, Ein-, 
Aus» und Durchfuhrzölle können als Finanz- und Schugzölle vorlommen, 
wofür die Zollgefhichte auch Beifpiele giebt. Selbſt die Durchfuhrzölle er- 
halten nämlid die Bedeutung eines Schugzolle, wenn fie für einen Artikel erhoben 
werden, welchen ein drittes Land durch Vermittlung eines anderen beziehen muß 
oder am Beften bezieht, 3. B. die Schweiz Baumwolle fiber Deutfchland und 
Frankreich. So war in den früheren Durchfuhrzöllen bes Zollvereins — Normalfas 
mit verfchiedenen Abweichungen per Sentner 1/,; Thlr. — und In einzelnen ähn⸗ 
Iihen Ausfuhrzöllen auf fremde Probufte, wie Baumwolle und Seide, mitunter 
eine Schugzolltenvenz zur Geltung gelangt, wie fon I. ©. Hoffmann be 
merkt, Die Durchfuhrzölle beider Arten ſind indeſſen mit Recht angegriffen und 
in vielen Staaten aufgehoben worden, Als Beftenerung des Auslands für bie 
Erlaubniß der Durchfuhr mußten fie in der That als UWeberbleibfel des alten 
Zollweiens fallen. Wurde der Durchfuhrzoll anf den inlänbifchen Speviteur ober 
Fuhrmann überwälzt, fo war er eine fhlehte Form einer Gewerbefteuer. Das 
volfwirthichaftligde und daher inbirelt das Winanzintereffe ſprach für bie Auf« 
bebung, um ben gewinnbringenden Durchgangsverkehr nicht zu verſcheuchen. Schon 
früher nötbigte die Konkurrenz verfchievener Straßenzüge oftmals zu niebrigen 
Zollfägen, mit denen ein erhebliches fiskaliſches oder Schutzintereſſe doch nicht ver- 
bunden war. Die neuere Entwidlung ber Kommunilationen, weldhe eine Menge 
unter fih und mit alten Seewegen (Sund) und Binnenwaflerftraßen (Rhein, Elbe) 
tonkurrivender Wege geihaffen bat, führte im Interefie der koſtſpieligen nenen 
Straßen, der Bahnen, feldft zur Beſeitigung der Durdfuhrzölle So haben denn 
3. B. Sroßbritannien, Frankreich (jeit 1845), der Zollverein (feit 1861), Oeſterreich 
(jeit 1862), Italien, Dänemark u. a. m. keine Durdyfuhrzölle mehr. In die neueren 
Danbelöberträge ift mehrfach ausdrücklich vie Freiheit von Durchfuhrzöllen anfge- 
nommen, 3. B. in ven franzöflfchebelgtfhen v. 1. Mai 1861, Art. 30, in den 
englifch-zollvereiniichen v. 30, Mai 1865, Art. 4, auch wohl bie Freiheit ver 
Durdfuhr, mit wenigen Ausnahmen, 3. B. Pulver, Waffen (franz.-belg. Vertrag) 
ftipulirt, Grundfäge, welche nach dem Princip diefer Verträge, fih auf dem Fuß 
der meiftbegünftigten Nation behandeln zu wollen, bald allgemein werden. Ein 
wichtiger völlerrechtlicher Fortſchritt. Die fchliegliche finanzielle Elubuße war um 
fo geringer, weil für wichtige Verfehrsartifel und Waaren niedrigen ſpecifiſchen 
Werths oft ſchon Ermäßigungen ober Befreiungen eingetreten waren. (Zollverein 


Zölle. 349 


im legten Jahre 1860 409,000, Marim. 1844 755,000 Thlr., Oeſterreich im legten 
Jahre 1861 68,000 fD. Leider hat vie frühere Organifation des Zollvereing bie 
Beſeitigung der Durchfuhrzölle gegen das Intereffe der beutfchen Bahnen und 
Hamburgs und Vremens nur zu lange aufgehalten. Die feudale Durchfuhr⸗ 
bezollung des Verkehrs auf der Berlin-Hamburger Bahn durch Medlendurg iſt 
fogar erft in Folge der Ereignifie von 1866, leider nit auf einen Schlag, be- 
feitigt. Am Bedeutendſten war der Ertrag des Sundzolls, wenn man legteren hieher 
rechnen darf; er wurde durch den Vertrag vom 14. Mär, 1857 mit 35 Mil. 
Din. R. Thlr. abgelöst; ähnlich fpäter der Staverzoll mit 3 Mill. Thlr. (Alte v. 
22. Iunt 1861). Mit Redt fallen mit den Durchfuhrzöllen auch vie Wiederaus- 
fuhrzölle auf die in Entropots zum Zweck des Zwiſchenhandels mit anderen 
Ländern eingelogerten fremden Wanren, was übrigens noch nicht allgemein ge 
worden. 

3) Entwidlung und gegenwärtiger Umfang des Aus- 
fubrzolls Ws Flnanz- und Schugzölle haben die Aus- und Einfuhr- 
zölle eine ungleich größere Bebentung wie die Durdfuhrzölle. Die Entwid- 
Iung ber Aus⸗ und Einfuhrzölle beider Tendenzen iſt aber eine Iebr verjchiebene 
gewefen. In der Binnen- oder Ortszollperiode erfcheinen öfters allgemeine 
Zölle anf Aus- und Einfuhr, welde fi in weniger entwidelten Staaten (Türkei, 
China, Japan, einige amerikaniſche, |. u.) noch heute und in Ueberbleibfeln aud in 
einzelnen anderen Stanten befonders auch für die Ausfuhr (Portugal, Rumänien) 
erhalten haben. Der Art war das vielleicht ſeit dem 13., jevenfalls feit dem 
14. Jahrhundert vorkommende englifhe Pfundgeld, eine Werthabgabe von an- 
fange 2 1/2, Tpäter 5, mitunter auch 109), für alle ein und ausgeführten Waa⸗ 
ten, wobei fremde Kauflente im allgemeinen den boppelten Sag zahlten. Aus 
befonveren fiskalifhen, aber auch fchon frühzeitig mitunter aus Schugtenvenzen 
erfolgt wohl eine Abflufung ver Säge für einzelne Waaren, ober es treten-be- 
ſondere Zölle für gewifle Artikel Hinzu. So wird ein auf Wunfc der Tuchmacher 
in Frankreich i. 3. 1504 erlafienes Ausfuhrverbot auf Wolle i. 3. 1580 in 
einen Ausfnhrſchutzzoll verwandelt, fo gehören in England Ausfuhrzölle auf Wolle, 
Schaffelle, Leder zu den älteften Zöllen. Anfänglih und in weniger entwidelten 
Staaten mehrfah noch jetzt iſt hierbei der Ausfuhrzoll für Finanzzwede, für 
Schutztendenzen und für die möglichfte Beſteuerung des Auslaubes ebenfo wichtig, ja 
jelöft wichtiger als der Eiufuhrzoll. Namentlich wirb der Ausfuhrzoll von der einen 
gegen die andere, befonders von ver ärmeren gegen die reichere, von der noch unent- 
widelten gegen bie entwidelte Volkswirthſchaft oftmals angewandt, zumal wenn 
einige wenige, volumindfe und leicht zu kontrolirende Hauptartikel als Rohſtoffe für 
fremde Induſtrieen over als Verzehrungsgegenftände für das reichere Volk eine Art 
natürliches Monopol haben. Infofern behebt zwifchen ben vorerwähnten englifchen 
Ausfuhrzöllen auf Wolle u. ſw., den franzöfifcden, ausgefprochener Maßen fistalifchen 
auf Wein und Branntwein in ven Colbert'ſchen Tarifen von 1664 und 1667, den 
Monopolpreifen ber Waaren ver holländiſch⸗oſtindiſchen Kolonieen, ven jegigen Aus» 
fubrzöllen auf Probufte der letzteren und Britiſch⸗Indiens, den noch vielfach vor- 
handenen Ausfuhrzöllen auf Stapelprobufte amerikaniſcher Länder, ven erwähnten 
Zölen Chinas, Iapans, der Türkei, dem befannten Projekte eines hoben Baumwoll⸗ 
ausfuhrzolls In der nordamerikaniſchen Union, den noch heute exiſtirenden Ausfuhrzöllen 
Sür-Europas und felbft den erſt kürzlich befeitigten auf Stapelprobufte Nord⸗ 
Europas, befonvers Rußlands und Schwedens eine jehr bemerkenswerthe Berwandt- 
Saft (u) Der Ausfuhrzoll erfgeint ſomit auf den niebrigeren 


350 Zölle. 


Stufen ver BoltswWirtdfhafr als eine Hauptform des 
Finanzzolls, welhe nebenbei auch zu Schutzzwecken dient, — ein ſelten 
gehörig beachteter Punkt. 

Demnath iſt es begreiflih, welhen Umfang die Ansfuhrzölle noch in ben 
älteren Tarifen ver Landes⸗ oder Grenzzollperiode haben, vollends in den erften 
ſyſtematiſchen Tarifen des 17. Jahrhunderts. Im englifchen Tarif von 1660 
tommen neben 1630 ein fußrjenboftonen (490 Hauptartifel mit 1140 Unterak- 
thellungen) 323 Ausfuhrzollfätze (212 Hauptartikel mit 111 Nebenabtheilungen) 
vor. An erften Golbertihen Tarif von 1664 ftehen fogar neben 900 Einfuhr 
700 Ausfahrzölle, ganz weſentlich fiskaltſcher Natur, auch die meiften 
Fabrikate in Heinen Sätzen treffend, ſchutzzöllneriſche oder merkantiliſtiſche Unterab- 
figten nebenbei verfolgenn, 3. ®. im Zoll von 69%), auf Gold» und Silberwaaren. 

Inder fortfhretitenden Volkswirthſchaft kommen da- 
gegen die Andfuhrzälle immer mehr ab, fo daß fle aus den 
Tarifen der wichtigſten civiliſttten Staaten gegenwärtig faft ganz verſchwunden 
find, während die Einfuhrzöffe als Schug- und Finanzzölle immer flärker vor⸗ 
walteten. Und auch die etwa verbleibenden Ausfuhrzölle 
werden vegelmäßig erheblth Herabgefegt. Namentlich mußte im 
der Zeit des maßgeheiben Einfluffes ver SHanbelspolitit des Merkanttifuftens, 
alfo ungefähr fett det 2. Hälfte des 17. Inhrhunterts bis auf unfere Tage der 
fiskaliſche Geſtchtspunkt bei den Ausfuhrzöllen immer mehr zurütktreten, r er⸗ 
wünſchter vie Steigernug der Ausfuhr erſchien und je mehr die ſtark wachſenden 
Finanzbedürfnifſe vurch andre Stenern und durch Finanzeinfuhrzölle befriedigt 
werben konnten. Am Wenigſten ließen ſich bie Ausfuhrzoͤlle auf Fabrikate halten, 
ihre Verminderung ober Befeitigung vereinfachte ſchon im 17. und 18. Jahrhun⸗ 
dert den Audfuhrzolltarif um ein Bedeutendes. Ausfuhrzölle auf Halbfabrikate 
und vollends auf Nohftoffe bilfigte der Merkantilismus zwar, aber bei erfleren 
fam voch auch mitunter das Intereffe des Erporteurs in Betracht, 3. B. bei 
Sarnen, und beiberlet Ausfuhren verloren mit der Entwicklung' der heimiſchen 
Gewerkthätigkeit wentgftens relativ, oft auch abjolut, an Wichtigkeit und damit au 
finanztellem Interefje. Dem Bunfh, das Ausland durch Ausfuhrzölle auf Ver⸗ 
zehrungsgegenſtände, wie Wein, Getreide, zn befteuern, ftand in Pändern der ge- 
mäßigten Zone der merkantiliſtiſche Wunſch, die Ausfuhr auf jene Weife zn ſteigern, 
gegenüber. Und wenn gerade bei Getreide auch anbrerfeits der merfantiliftiiche Ge⸗ 
fichtspunkt, niedrige Preife im Interefie der fog. Inbuftrie zu erhalten, fih Zfters 
Geltung verſchaffte, jo war doch das Intereffe der Probucenten und bie Gefahr, 
ven Zoll auf dieſe überwälzt zu fehen, zu berlidfichtigen. Die Getreivehandels- 
und Zollpolitik wurde ohnehin von den verfchtedenften Interefſen mechfelmeife und 
gleichzeitig beeinflnßt (ſ. u.). Selbſt nie tropiſchen und verwandte Probufte eiuer 
Art Naturmonopols konnten ferner ſeit dem Bruch der Kolonialpolitik, ſeit 
ver größeren Konkurrenz zwiſchen den betheiligten Produktions⸗ und Ausfuhrländern 
und der Verbreitung richtigerer wirthſchaftlicher und finanzieller Anſchauungen 
nicht mehr ſo rückſichtslos einer Ausfuhrbezollung oder der als ſolche wirkenden 
Monopoliſirung durch Staats⸗ und Kompagniehandel unterzogen werben. Daher 
doch auch hier vielfach eine Verminderung der Zahl, eine Ermäßigung der Sätze 
und theilweife eine Beſeitigung der Ansfuhrzolle. | 

Sehr frappant ift die Vereinfachung des engliſchen Ausfuhrzofltarifs. 
Im 3. 1789 flanden Im dortigen Tarif noch 1425 Einfuhrzollpofitionen (290 
Sauptpeften, 1135 Unterabthetlungen), alfo nur ein Wehtel wertiger als 129 Jahre 


Säle. 361 


gavor. Im derſelben Zeit hatte fih die Zahl der Ausfuhrzollfäge auf 85 (vefp. 
50 mnb 35), alfo auf faft den vierten Theil der früheren Zahl vermindert. 
Wieder 37 Jahre fpäter, 1826, zur Zeit der erften ftarfen VBrefchelegung im 
Schutzzolltarif, war die Zahl der Einfuhrzölle doch auch nur auf 1280 (refp. 432 
und 848 Poſten), biejenige ber — auf 24 (5 und 19) geſunken, jene 
unr um Ita diefe auf weniger als ein Drittel. Auch der letzte Reft der Aus— 
fuhrzölle iſt ſeit 1850 verſchwunden, wo mit der Navigationsafte der letzte noch 
beftehbende Ausfuhrzoll auf Steinkohlen in Schiffen unter fremder, nicht der briti— 
ſchen gleichgeftelften Flagge fiel. Und eine ähnlihe Entwidlung zeigt ſich in ben 
Zolltarifen der meiften volkswirthſchaftlich entwidelteren Staaten Europas. 

Hinſichtlich der Ausfuhrzollpolitik kann man die Kultur: und Halbkultarſtaaten 
gegenwärtig In verſchiedene Klaſſen bringen. Die erſte Klaſſe bilden die Staaten, 
welche jetzt gar Teine Ausfuhrzölle mehr haben, in Europa Großbritan— 
nten, Dänemark, Schweden (fit 1. Ianuar 1864), eine Zeitlang 
Rumänten (v. 1. April 1862 bis 1. Oktober 1864), in Amerila u. 4. 
Eolnmbia (Zellgeſ. v. 4. Iult 1866, Art. 80). In der zweiten Klafle 
ſtehen biejenigen Staaten, welde nur noch Ansfehrzölle für niht beliebig 
vermehrbare Rohſtoffe, alfo ale Schugzölle im Intereffe ber inländi⸗ 
ſchen Verarbeitung, deidehanen haben. Solche Stoffe find manche als Neben⸗ 
produkt gewonnenen Artikel, wie Häute (in den meiſten Ländern, theilweiſe 
Ausnahme in den Laplataländern), Thierhaare, Holzaſche, dann Abfälle, wie 
Knochen, beſonders aber Lumpen (Hadern), altes Tauwerk, grobe Pappe u. dgl. m., 
lauter Materiatien zur Papierfabrikation. Es ift ein erfreuliher Fortſchritt in 
ber durch bie meueren liberalen Handeldverträge inaugurirten Handels⸗ und Zoll» 
politik, daß die Ausfahrzdlle, wenn auch leider noch nicht ganz, fo doch bis auf 
diefe lebten Nefte befeltigt und die betreffenden Zölle wiederum herabgefegt find. 
Zu den Staaten diefer zweiten Klaffe gehören Frankreich, der Zollverein, 
Belgben, Holland, welhe nach jenen Berträgen nur nod den Ausfuhrzoll 
für Lumpen und andre Abfälle zur PBapierfabrilation in zwei Sägen, ferner 
Defterreih, weldes auch noch im neueſten DVertrage (mit Frankreich v. 
11. Dec. 1866) Ausfuhrzölle auf Lumpen und Hadern, rohe Felle und Häute, 
dann Knochen, Klauen u. ſ. w. zur Leimfabrikation beibehalten hat. Außerdem 
Haben biejenigen europäifchen Staaten, welde überhaupt noch mehr Ausfuhrzölle 
befigen, In der Negel auch noch dergleihen Zölle auf Abfälle und Nebenprobufte, 
fo Bortugal (Glasabfälle und Gerberrinden, Lumpen), ebenfo die Schweiz (auch Aſche), 
Italien (rohe und lohgare Felle, Seivenabfälle, Gerbftoffe), in Norwegen (Knochen 
und Borke) In Rußland (Pott: und Waidaſche, Yumpen, ungemahlene und 
ungebrannte Knochen), in Finnland (alle Ausfuhrzölle mit Ausnahme derer auf 
Knochen und Lumpen 1867 anf 5 Jahre fuspendirt). Spanien verbietet 
noch nach dem neueften Tarif (25. Sept. 1865) die Ausfuhr von Yumpen und 
Gerberrinden. Irgend ein größeres fiökalifches Intereſſe knüpft fih an die Ausfuhr⸗ 
zoͤlle auf Nebenprobufte und Abfälle nicht, die Einnahme daraus betrug im Zoll 
verein 1866 nur 46000 Thlr., 1865, wo bis 1. Juli auch nod andre Zölle 
beftanden 68,000, 1864 163,000 Thlr., in Oeſterreich 1864—66 reſp. 466,000, 
292,000, ca. 250,000 fl., in Frankreich 1864 334,000 Fr. Der Heinlie und 
nicht einmal richtige ſchutzzoͤllneriſche Grund (f. u.) wird daher hoffentlich nicht 
mehr fange die Reinigung des Ausfuhrzolltarif8 vom Lumpenzoll aufhalten, 

Im dritten Klafie gehören die Staaten, welhe noh andere be- 
fondre ober auch wohl noch ganz allgemeine Ausfuhrzölle, melftens 


352 Zölle. 


Finanzzoͤlle, mitunter mit danebenhergehender Schutztendenz, erhoben. Dahin zählten 
bis vor Kurzem auch noch mehrere der Staaten der 2. und 1. Klaſſe, ſo Frank⸗ 
reich, Defterreich (befonvders Seide), der Zollverein (bi auf ober 
bis kurz vor den Konventionstarifen abgefehen von ven flatt des Durdfuhrzolls 
erhobenen Zöllen, u. a. auf diverſe Rohprodukte, wie Harze, Salpeter, Eifen- und 
Galmeierze, Flachs, Hanf, Getreide, Häute, Kalt, Haare, 
Holzborte, Gerberlohe, rohe Shafmwolle, einzelne darunter fehr niebrig, mehr 
Rekognitionsgebühr als Zoll), Schweden (bis Ende 1863 auf Guß⸗, Rob-, 
Sch miedeeifen, Kanonen, Kupfer, robe und umgefhmolene Erze, 
diverfe Arten Holz, Ballaſt). Gegenwärtig (mir haben dabei durchweg bie Tarife 
oder einzelnen Aenderungen, weidhe bis Mitte oder Ende 1867 erlaflen find, vor 
Augen, mit Benugung des Preuß. Handelsarchivs und Bremer Handelsblatt) 
beftehen in Europa noch fonftige Ausfuhrzölle in Spanien, Portugal, 
Italien, Öriehenland, Türkei, Rumänien, alfo überall in 
Südeuropa — theilmeljes Natur» oder klimatiſches Monopol, nur geringer 
als in den Tropen —, ferner in Rußland, Norwegen, dr Schweiz. 
Auch hier find dieſe Zölle aber vielfach bis vor Kurzem nod zahlreicher und höher 
gewefen. Neben den vollswirthihaftlid entwidelten find es bie von Natur, be= 
fonders vom Klima am Wenigſten begünftigten Länder, welde früher und ſtärker 
unter ihren Ausfuhrzöllen aufgeräumt haben. So namentlih Rußland, weldes 
noch nad dem Tarif v. 28. Mai 1857 und im Allgemeinen bis 1864 für feine 
ſechs Hauptſtapelprodukte Flachs, Hanf, zur See ausgeführtes Getreide, Talg, 
Saaten, Borften, ferner für Haufenblafe, Häute und Felle, Holz, Kupfer, Meifing, 
Motten, Pfervehaare, Vieh, Caviar, Blutegel und tie früher genannten Artikel 
(mitunter mit Abſtufung der Sätze fee- und landwärts oder Freigebung landwärts 
und auf einem einzelnen Seewege) Ausfuhrzölle erhob, welche 1860 (faſt gauz im 
europälfhen Verkehr) noch 2.12 Mil. R. S. ertrugen. Nach der unter einer 
kritiſchen Exportkonjunktion erlaffenen Verordnung vom 18. Mai 1864 Seftehen 
in Rußland gegenwärtig, außer den genannten auf Nebenprodulte und Abfälle, 
noch Ausfuhrzöle auf Matten, Blutegel, Seivenraupeneier, Bauholz (letztres aus 
dem Ooub. Archangel frei). Norwegen bält noh an Ausfuhrzöllen auf Stiche, 
Thran, Holz feft, die Schweiz hat folde auf Vieh, Pferve, Holz, manderlei 
Rohprodukte, Feld» und Gartenfrüchte, Kartoffeln, Salz, Dünger, meift niedrige 
Sätse (Tendenz, bie Konfumtion des Landes nicht zu ſchädigen). Spanien hat 
Ausfuhrzölle noch auf Seide, Schwarzkupfer, Bleiglanz, Glätte, Schiffsbauholz, 
Galmeierz, Bortugalauf Porto- und andre Weine, Branntwein, Bier, gegohrene 
Getränke, Effig, Weinhefen (au Gold und Silber), Italien noch im neueften 
Tarif vom 1. Juli und deſſen Abänverung vom 20. Oft. 1866 45 Ausfuhr: 
zollpofitionen mit 14 weiteren Unterabtheilungen, Zölle auf fehr viele Probufte 
eines ftärkeren oder ſchwächeren Naturmonopols, wie Seide, Hanf, Marmor, Wein, 
Südfrüchte, Mandeln, Reis, Kaflanten, auch Stroh⸗ und Baſtgeflechte, dann bie 
meiften Haupt» und Nebenprovufte der Landwirthſchaft und des Bergbaus, aud 
Salz. Die no im franz. italientfhen Bertrag feftgehaltenen, nur herabgefegten 
ehemals wichtigen Zölle anf Schwefel, dann auf Baumöl fehlen jegt. Charak⸗ 
teriftiich find die Ausfuhrzölle in den Jonifhen Iufeln, welde au nad 
der Einverleibung in Griechenland forterhoben werben: 18%, vom herkömmlich 
ermittelten Werth von Baumdl und Korinthen, 69/, von Wein, ein Seifenaus- 
fuhrzoll in Zante (8%). Sonft gilt bier der griechiſſche Ausfuhrzolltarif, 
welcher noch 20 Pofitionen mit 47 Unterabtheilungen enthält, namentlich für Del, 


Zölle. 353 


Bein, Früdte, Shwämme, Tabal, Seidencocons, Honig, Vieh, Käfe, Wolle, 
manche elle u. a. m. (Oft. 1865—67 in ven halben bis dahin geltenden Zoll- 
fügen). Auch in Europa beftehen ferner-noh allgemeine Ausfuhrzölle auf 
alle Waaren, entweder reine Relognitionsgebühren, wie in ver Schweiz (10%, 
v. Schweiz. Sentn. für alle nicht befonbers tarifirten Waaren), ober ſchon mehr 
fislalifher Art, wie in Portugal (1/,%, vom Werthe aller einheimifchen, 
1%, von dem der fremden, wieder ausgeführten Artikel), oder mit ausgefprochenem 
Sinanzzolldarafter und naturmonopoliftifcher Nebentendenz, wie bisher in ber 
Türkei, jest wieder in bem and nod nicht weiter gelangten Rumänien 
md den jonifhen Infeln. In der Türkei waren feit Alters die Ausfuhrzölle 
neh bis in die neuefte Zeit die Hauptſache geblieben, ven zahlreihen Mißbräuchen 
des Zollwefens Tonnten aber die vielen Verträge der occidentaliſchen Staaten 
und das fpätere Patron» und Klientenverhältnig zwiſchen Abendland und Pforte 
nit fleuern. Dur nene Verträge der Pforte znerft mit Großbritannien und 
Frankreich v. 29. Apr. 1861, dann auf gleicher Grundlage mit ven meiften anderen 
enropäifchen Staaten und ben Vereinigten Staaten von Norpamerifa wurbe and) 
in ver Türkei der finanzielle Schwerpunft von den Ausfuhr- in die Einfuhrzölle 
gelegt. Jene wurden fofort von 12 auf 80%), vom Werthe und weiter Jahr für 
Jahr um 19/, bis auf den bleibenden Sag von 10/, ermäßigt, die Einfuhrzölle 
dagegen fofort von 5 auf 89), erhöht. In Rumänien wurbe ver ſchon be 
feitigte Ausfuhrzoll in bebeutendem Umfange und in beirädtlicher Höhe (meiftens 
jet 1. Oft. 1864 5 — , fpäter 4 und 3—) wieder eingeführt. Die joniſchen 
Infeln erheben einen allgemeinen Ansgangszoll von 11/,— auf alle nicht be: 
jonders beftenerten Produkte der Landwirthſchaft und Inbuftrie noch jekt. 

Die außereuropäiſchen Länder, namentlich diejenigen, welde tropiſche 
Propulte ansführen, haben den Rändern der gemäßigten Zone, befonderd Europa 
gegenüber weit mehr ein gewiſſe Natnr- und Flimatifhes Monopol 
für ihre Erzeugniſſe, als bie europätfchen Länder unter einander und auch als 
Sad⸗ und in einigen Artikeln (ruſſ. Produkte) Nordeuropa gegen Mittele umb 
Beftenropa. Daher dann das weit rädfihtslofer durchgeführte Streben, das Aus- 
land im Ausfuhrhandel zu beftenern, allenfalls aud dem Konfumenten des Mutter⸗ 
lands Verzehrungsftener aufzulegen. Weſentlich mit als ſolche Beftenerungsformen 
wällen bie frühere ansfchließende Kolonialhanvelspolitit der enropälfchen Seemädhte, 
bie Monopolifirung gewifier Zweige ver Produktion und bes Ausfuhrhandeld der 
Kolonien durch den Staat oder durch privilegirte Gefellihaften betrachtet werben. 
Der jegige Ausfuhrzoll ift im Allgemeinen nur vie fpätere und bie mildere dieſer 
Stenerformen. Zu ihr wie zu früheren Milverungen des Syſtems amd “wie jetzt 
mm Ermäßigung und zur theilweifen Befeitigung dieſer Ausfuhrzölle drängte nur 
bie gegenfeitige Konkurrenz ber Kolonien und ber emancdipirten Kolonialſtaaten, 
ſowie die richtigere wirtkfchaftliche Erkenntniß des Einfluffes niedriger Preiſe auf 
vie Bergrößerung des Konfums und bes Abfages. Der engherzige Kolonialhandels- 
get Hoflamd 8 fpricht fi, vom Anderem abgefehen, noch heute in den Aus- 
fübrzöllen. und in ber vifferentiellen Begünftigung ber Inländer bei den Ein- und 

öllen feiner indiſchen Kolonien aus. Noch im neueften Zarif für Nieder- 
ländiſch-Indien vom 3. Juli 1865 werben Ausfuhrzölle in gleichem Be⸗ 
Irmge für die Ausfuhr nach Holland und nad anderen Rändern auf Tabak, Hänte, 
Bogehtefter, in bedeutenderer Höhe für die Ausfuhr nad anderen Ländern auf 
Indigo, Zinn, Kaffee (bei biefem früher 6 und 12, jet 6 und 90%), v. W.) er- 
heben, Zucker nach Holland iſt frei, nach anderen Ländern zahlt er 3, früher 6%/,. 
Dluntfchli und Brater, Dentfches Staats-Wörterbuh. XI. 23 


354 Sölle. 


Der Ausfuhrzoll auf Java ertrug dann auch Im Durchſchnitt von 1860/63 3.36 
Mid. Fr., oder faft die Hälfte des Einfuhrzolls von 6.59 MIN. Fr, ein in Europa 
unbelanntes Verhältniß. Einen bebeutenveren Plag nehmen die Ausfuhrzölle aber 
auch noch in den Zarifen vieler andren Kolonieen ein. So zahlen noch nach dem 
neueften Zarif vom 6. März 1867 in Britifh-DOfinpien unter Zu- 
grundlegung fefter amtliher Werthe ale Arten Sad 4, alle Arten Oele, 
Sämereien, Gewärze, Häute und elle, ferner Shawls und Baummwollenwaaren ( 
30/, vom Werthe, Indigo und Getreide fpecifiihe Zölle. Auch ſonſt kommen in 
britifchen Kolonien Ausfuhrzölle, in ver Kapftadt unter dem Namen „Marktgel- 
der bei der Verſchiffung“, in Wuftralien u. 4. auf Gold von Spanien 
bat vie bisherigen Wusfuhrzölle Cu ba's i. I. 1866 auf 6 Monat fuspenbirt, 
ob dem eine definitive Aufhebung folgen wird, ift uns unbelannt. In den ftan- 
z8fifhen Kolonien bildete dad Tonnengeld für fremde Flaggen eine Art Aus⸗ 
fuhrzol. Algier bat nur noch diefelben Ausfuhrzölle wie Frankreich. 

Für die amerilanifhen Kolonialftaaten find bie Ausfuhrzölle, 
beſonders auf die Hauptflapelartitel, noch vielfach eine wichtige Einnahmequelle, 
wobei fid mitunter Schutztendenzen regen. Die Argentiniſche Republid 
erhebt nah dem Zollgeſez von 1867 69, Werthzölle mit 29), Zufhlag für 
Wolle, Häute und Welle, Talg und Fett, Pferde, Vieh, Knochen, Hörner, Haare, 
Beru im Tarif v. 27. Dec. 1866 theils Werthzölle von 1—30/,, theits ſpetiſiſche 
Zölle auf Baum- und Schafwolle, dann Zuder, Reis, Tabak, Galpeter, ge- 
münztes und ungemänztes Gold und Silber, Benezuela (1867) allgemeine 
erhebliche Ausfuhrzölle für alle Waaren, theild 10 pCt. ad val., theilo ſpecifiſche 
Zölle für Baumwolle, Kaffe, Cacao, Tabak, Inbigo, Farbhölzer, Felle, Bich, 
Pferden. ſ. w, Chile 509/, auf Barrenfilber, 3%, auf Kupfer, auch Sitber- und 
Kupfererze find zollpflichtig; auch in Bolivia kamen zeitweilig Zölle auf Kupfer 
und Kupfererz vor, In Braſilien führte ver hohe Kaffeausfuhrzoll fräher 
einmal zu einer bemerkenswerthen Klage ver nordamerikaniſchen Unionsregierung, 
worauf er zeitweilig ermäßigt wurde. Der jeßige Tarif v. 19. Sept. 1860 Bält 
im Brincip 50/, Ausfuhrzölle für alle Waaren feft, nur wenige Artikel find be 
freit, einige niebriger (Diamanten 1/50/,, Barrengold 1, andres nngemünztes 
Edelmetall 29/,), einer höher bezollt (Brafilholz 159/,.) Aehnliche Berkältniffe 
fehren in anderen ſüd⸗ und mittelamerifanifchen Stuaten wieber. Oftmalige Aende⸗ 
rungen auch im Zollweſen charakterifiren dieſe Staaten in ihrem ewigen politifchess 
Schwanken und ihrer finanziellen Schwäche Sehr bezeichnend iſt das Streben, 
Finanz» und Schutausfuhrzölle einzuführen, aud in den norbamerilani- 
hen. Bereintgten Staaten in ver Periope ihrer legten inneren klaı- 
wälzung hervorgetreten. Obgleich die Verfafſung Ausfuhrzölle verbietet, hat man 
doch nicht nur die hoben inneren Abgaben bei des Ausfuhr nicht rückvergütet, 
alfo auf diefe Weiſe, wie Ho d richtig bemerkt, einen Wasfuhrzoll erhoben, ker 
Artifel wie Baumwolle, Petroleum ziemlich ftark trifft, fondern man bat foger 
feitens der fanatifchen Gegner des Südens einem befondern Baumwollaus⸗ 
fubrzoll von 3 over felbft 5 und 10 Ct. p. Pfund befürwortet, — eine 
Steuer, welde 20 Mil. Doll. abwerfen und der eigenen Induſtrie einen weiteren 
Schug geben follte. Bis jett iſt diefes Projekt nicht realifirt worden. Die Union 
würde dadurch nur noch mehr auf den Standpunkt des alten Fisfab und Schutz⸗ 
ſyſtems zurüdfinfen. — Auch in den aflatifgen und nordafrikaniſchen Halblultur⸗ 
ftanten Tommen Ansfuhrzölle noch vielfach vor, fo im VBertragszolltarif Ehtu«’s 
v. 1869, wo faft ale Waaren, namentlih auch Seide und Thee, in verjgiebenen 





Zölle. 355 


Sägen getroffen werden, in Siam, wo u. U. Res, in Japan, wo nad 
den neneften Bertragstarifen von 1866 die melften wichtigeren Waaren, auch 
Seide, unter Ingrundlegung eines allgemeinen Satzes von 5°/, vom Werthe 
einem Zoll bei der Ausfuhr (ebenfo bei der Einfuhr) unterliegen. 

Jede inlänpifche Accife und jeder Einfuhrzoll auf ein fremdes Produft, welche 
bei der Ansfuhr. nit oder nur in kleinerem Bettage vüdvergütet werden, 
wirken natürlich wie ein Ausfuhrzoll, während umgelehrt ein bie erhobene Acciſe 
und Ben Einfuhtzoll überſteigender Ruückzoll oder eine folde fog. Erport- 
bontfilation ib in eine Ansfuhrprämie verwandelt. Ein zu Heiner 
Nüdzol Hat eine fiskaliſche, ein zu hoher eine Schuptendenz. Beides iſt nicht zu 
Mlligeh And tin Ganzen zeigt ſich auch das Streben, Ausfuhrprämien zu befeitigen 
und dem Rckzolifſyſteem jede ſchutzzöllneriſche und fisfalifhe Wirkung zu 
heben. Doch Fößt man in viefer Beziehung hinfichtlich der richtigen Beftimmung 
des Nädzofibetrage anf große techniſche Schwierigkeiten (f. u.), weshalb denn auch 
noch manchfache Reformen nöthig find. 

Zutwetlige oder bleibende AuUusfuhrverbote over Ausfuhrzölle 
find endlich mitunter duch befondre Rückſichten hervorgerufen worden, fo ber 
frühere franzöftfge Ausfuhrzoll auf Nußbaumholz (für Gewehre), das Ausfuhr 
berbot bon Kriegsmaterial, Waffen, Pulver, Pferden, durch politiſche, von wichtigen 
Nahrungonitteln wie Getreide, durch theurungspolizetlihe, von Edelmetall, Gold⸗ 
and Silbermünzen, Schefveminze, felBft Papiergeld (Ein- und Ausfuhrverbot rufft- 
ſcher Kredit⸗ umd Reilhsſchatzbillete in der fpäteren Megierangszeit Nikolat’s!) durch 
enq und muͤnzpolitiſche Gründe. Hieran reihen ſich Verkehrsbeſchränkungen 

cher Urt bei Ein⸗ und Durchfuhr für krankes oder der Krankheit ver⸗ 
bachtiges Birk. Maßtegeln dieſer Art fine entweder allgemein oder betreffen ge⸗ 
wiffe Grenzen. enigen, welchen ein wirthſchaftliches Motiv zu Grunde liegt, 
find meiftens ebenſo wirkungslos ale zweckwidrig (Gelvausfuhrverbot!), Einen 
wichtigen Fortfchritt völlerrechrliher Art bat Frankreich In vielen der neueren 
Danbelöverttüige angebahnt. Danach fell nämlich Leine der Tontrahtrenden Mächte 
gegen die andre ein Ein⸗ ober Ausfuhrverbot erlaffen, weldes nicht gleichzeitig 
auf Alle andern Nationen feine Anwenbung findet, eine Beflimmung, welde zwar 
im Kriege ſelbſt feine Schwierigkeiten macht, weil mit deſſen Ausbruch biefe Verträge 
vo Ipso eridichen oder fuspendirt find, aber welche doch in der Zeit bis Eröffnung 
vs Krtiegs Verlegenheiter bereiten kaun (u. a. übergegangen in ven brit. franz. 
Vertt. v. 93. Ian. 1860, Art. 19, franz. belg. Bertr. v. 1. Mai 1861 Art. 37, 
franz. ital. Berte. v. 17. Jan. 1863 Art. 26, franz. zollver. Bertr. v. 2. Aug. 1862 
Ürt. 81, Brit. zollver. Bertr. v. 80. Mat 1865 Urt. 5, nicht ausdrücklich, aber 
tmplicite enthalten im Art. 9 des Öfterr. franz. Bertr. v. 11. Dec. 1866). ferner 
Mt eine Berabredung getroffen, daß kein Ausfuhrverbot erlafien, noch ein Aus- 
ja de got! aufgelegt werben fol auf Steinkohlen (brit. franz. Vertr. Art. 11, 
elg. featiz. Art. 16, ital. franz. Art. 18, brit. zollver. Vertr. Art. 5; im franz.- 
preuß. Berir. war nur anf dad Ausfuhrverbot, nit den Zoll im Art. 31 ver- 
zühtet, was durch ben fpäteren Vertrag des Zollvereins mit Großbritannien aber 
abgeandert iſt; im franz. öflerreichifchen Vertrag findet ſich dieſe Beftimmung nicht). 
Stermit find bemerkenswerthe Keime zur völterrechtiichen Regelung ver Handels⸗ 
und Bellpoiitft gelegt. 

te Haben im Voraudgehenden abfichtli den Ausfuhrzoll etwas fpecieller 
dehandelt, weil es mit Unrecht üblich geworden iſt, Ihn als Gegenſtand nur nod) 
ten Wftortfchen Jutereſſes aufzufafſen und neben dem Einfuhrzoll kaum näher 

23 * 


33% Zölle. 


m \ Die Gutwidlung des Ansfuhrzolls ift nicht nur für die Zoll- 

war Saatıld>, fendern für bie allgemeine Politif und ragen allgemein flaats- 

wißfenfchaftticher Urt ebenfo interefiant und wieder nad andren Seiten eben fo 

lehrreich, als diejenige des Einfuhrzolls, welche befannter ift und daher im Fol- 
generellen behandelt werben Tann. 

4%) Getreidezoll. Zuvor fei hier indeſſen noch ein Wort über die Zoll- 
pelittt im auswärtigen Getreidehandel hinzugefügt. Hier wurbe in Folge 
der ſich kreuzenden Interefien der ſchlimmſte Zuftand von allen für das wichtigfte 
aller Gewerbe herbeigeführt, nämlih ein unaufhörliches Erperimentiren mit und 
Reglementiren Über dieſen Hanvelözweig, unter dem berfelbe und durch ihn bie 
Landwirthſchaft in einzelnen Rändern, wie in Fraukreich unter Ludwig XIV. und 
XV., empfindlich gelitten Hat. Das fislalifhe Princip, durch Ein⸗ ober Aus⸗ 
fuhrzölle dem Staate Einnahmen zu verfhaffen, tritt im Ganzen meiftens in ben 
Hintergrund, doch fpielt in ber Ortszollperiode und fpäter im Acciſeſyſtem vie 
Befteuerung alles, aud des inländiſchen Getreides als Beftenerung des einheimi- 
{hen Konfums eine Rolle. Mehr Geltung verſchafft fi in ber älteren Zeit ber 
theuerungspolizeilide Geſichtspunkt und die Sorge für die wohlfelle Verſorgung 
des heimifchen Konſums, daher allgemeine und namentlich in theueren Zeiten her- 
vortretende Ausfuhrverbote oder Ansfuhrzöle und Einfuhrfreiheit. Später tritt 
das theuerungspolizeilichde Moment und bie NRüdfiht auf die Konfumenten in 
Maßregeln der legteren Art in kritiſchen Zeitpunkten ausnahmsweiſe immer wieder 
hervor, einzelweiſe bis in bie neueſte Zeit, aber unter bem Einfluffe des Merkan⸗ 
tilismus und bei einer mächtigen Stellung ver Landbebauer bricht ſich auch bier 
als Negel die Schutztendenz mit Einfuhrverboten oder Zöllen und Ausfuhrfreibeit 
ober felbft Erportprämien Bahn. Indeß daneben ift es dann auch immer wieber 
das Interefie der Inpuftrie an billigen Brotpreiſen und niebrigen Arbeitslöhnen, 
welches unter der Herrſchaft des Merkantilfyftens wie fpäter bes Freihandels, Ein- 
fuhrfreiheit und Zolliofigleit und wohl gar Ausfuhrverbote oder Zölle beanfprudt. 

So waltet in England bis nad der Mitte des 17. Jahrhunderts der theu⸗ 
ungspolizeilihe Geſichtspunkt entſchieden vor, dann verſchafft fi durch ben 
mädtigen Einfluß der Orunpbefiger im Parlamente ber Schuß ver Land⸗ 
wirtbichaft Geltung: von 1670 bis 1846, dur Ginfuhrverbote over Zölle 
von 1670 an, befonbers während der Revolutionskriege und nad deren Schluß 
von 1815 an und fpäter, allmälig fih mäßigend; buch Wusfuhrfreiheit und 
Ausfuhrprämien von 1688 an, wo ber frühere Ausfuhrzoll bedingt (1699 
ganz) aufgehoben wurbe. Beſonders praftiih war nad dem Stand der Preife 
das Prämienfgftem in der 1. Hälfte bes 18., unpraltiih in der 2. Hälfte des 18, 
Jahrhunderts und während der Revolutionskriege, wo England aus einem regel- 
mäßig Getreide ausführenden ein Getreide einführendes Land wurde; 1815 wurbe 
das Brämienfoftem befeitigt, 1846 der Freihandel in der Einfuhr, mit 1 Sh. 
Zoll p. Quarter Walzen (feit 1864 iſt noch eine Ermäßigung eingetreten) 
durchgeführt. (Ertrag ſchwankend nach Erntejahren, 1862 bei Marimelimport 
962,000 Bf. St. von allem Getreive, 1865/66 658,000 Pf. St. im Durch⸗ 
fhnitt, 1 Sh. ift 21/, %/, des Durchſchnittspreiſes mittlerer Jahre), In Frank⸗ 
reih Hat man Colbert und feinem Syftem oft ven Vorwurf gemacht, befonders 
Seitens der Phyſiokraten, bie ©etreivepreife durch Ausfuhrverbote ſyſtematiſch 
herabgebrüdt zu Haben. Doch war unter Ludwig XIV. ein weientliher Ges 
fihtspunft die Erhaltung und billigere Verſorgung ver Heere. Daher alle 
Augenblid ein Wechſel in ven Verordnungen Über Kornhandel, 1666—83 29 


Sölle. 857 


mel! Erſt das unter phyfiokratiſchen Einfläffen erlaflene Geſetz von 1764, welches 
mit wenigen Befränfungen bie Aus⸗ und Einfuhr frei gab, Ienkte in befire 
Bahnen ein. Unter dem erſten Kaiſerreich traten die militäriiden Geſichtspunkte 
gerade fo wie umter Ludwig XIV. wieder hervor. Die Geſetze von 1804 
nnd 1806 geflatteten die Ausfuhr nur, folange die Preife einen gewiſſen Sat 
nit überſchritten und unr gegen Ansfuhrzölle nach dem Princip ber gleitenven 
Skala, während die Einfuhr immer frei blieb. Unter der Reftauration und ber 
Zultmonarchte, dann bie in die Zeiten des zweiten Kalferreih ver umfaſſendſte 
Scäug für die Landwirthſchaft, neben Getreide namentlich für Vieh (Geſetz von 
1819 und fpätere). In England wie in Frankreich alfo beide Male landwirth⸗ 
ſchaftliches Schutzſyſtem, bezeichnend genug in Beiten ber Reſtauration 
and der politifchen Nealtion, ein Beleg für ben eigennügigen Gewaltmißbraud 
der im Parlament vertretenen Interefien (vgl. Element Anm. 2). Die englifchen 
und franzöfiihen Vorgänge find typifc, nur daß es anderswo nicht immer zu 
fo ſchroffen Konfequenzen am. 
iu. Entwidlung und Syſtem des Btufuhrzolls. 
Während der Ausfuhrzoll nad Zahl und Höhe ver Zollfäge wohl im Be 
ginn eines georbneteren Grenzzollweſens und auf niebrigerer Stufe ber Volks⸗ 
wirthſchaft bei vorwaltender Agrarproduftion und flarfem Mitipielen des Faktors 
Natur feinen Kulminationspnntt als Finanz» und Scußzoll erreichen möchte, 
gewinnt der Einfuhrzol zu beiden Sweden vie Immer überwiegendere Bebentung 
von dieſem Zeitpunfte an mit der Weiterentwidiung ver Vollswirthſchaft. Er 
verdrängt dann ben Ausfuhrzoll, vereinfacht fih durch allmälige Befeitigung ver 
vielen Heinen Poflen, Toncentrivt fi als Finanzzoll mit der wachſenden Vebeutung 
des Maſſenkonſums, — der Folge größeren Vollswohlftands in ber Periode ber 
Herrſchaft der durch das Kapital wirkſam unterftügten Arbeit —, allmälig immer 
mehr auf wenige Hauptartifel und verſchwindet zugleih als Schutzzoll wieber 
aft ganz. 
Die übergroße Anzahl der einzelnen Zarifpoften und bie daraus hervor⸗ 
gehende, in manchen Ländern bis in bie jüngfte Zeit währende entjegliche Ver⸗ 
wirrtheit des Tarifs erklärt fi Hiftoriih bei Ein- und Wusfuhrzöllen daraus, 
daß urſprünglich allgemeine gleihe Säge im Laufe der Zeit bei den zufälligften 
Gelegenheiten bald aus finanziellen, bald aus proteftioniftifhen Gründen vielfach 
abgeändert, meiftens erhöht wurden und bann lange Zeit fo beftehen blieben. 
Eine der früheren Zeit ja aud in anderen Verhältniſſen charakteriſtiſche Syſtem⸗ 
lofigkeit, welche im engliſchen Zollſyſten am Schlimmflen war und am Längften 
währte. Getrennte Berrehnung aller möglichen Zufchläge zum Hauptfag des Zolls, 
3. Th. im Zufammenbang mit dem älteren Finanzrecht, Anmwelfung, felbft Ver⸗ 
pfändung einzelner Zölle, Zollfäpe, Zuſchläge für beftimmte Ausgaben u. f. w.; 
verſchiedene Namen und Zufchläge, bald Zölle nah dem Werthe, bald nad dem 
Gewicht bet verfelden Waare. Die Zolleinnahmen flofien in England bis zu Pitt’s 
Konfolivationsafte in 21 verfchienene Bonds, jene Alte vereinigte Alles, aber 
während ber Mevolutionsfriege neue Verwirrung dur Zufchläge aller Art, daher 
no wiederholte Konfolivationen. Ein weiterer feltener beachteter Grund ber 
gie Zahl Heiner Zarifpoften in früherer Zeit Liegt jedoch auch in allgemeinen 
erhältniffen des Konſums und Handels in ver unentwidelteren Volkswirthſchaft. 
Der Maſſenkonſum fam bei ver dürftigen Lage der unteren Klafien nnd der ge 
ringen Betheiligung der ländlichen Bevölkerung am Konfum fremder Waaren 
weniger in Betracht ala der Konfum ber wenigen Glieder ver höheren Stände 





358 Bölle. 


und der Städte. Deshalb ſtanden einzelne Waaren nicht fo im Vordergrund als 
gegenwärtig, erft bie Bezollung einer großen Menge von Artikeln 

Erkiedliches, Außerdem kamen bei vielen Waaren neben den fislaliſchen oder ſchutz⸗ 
zöllneriſchen Tendenzen auch oft Abſichten ver Inrusbeftegerung mit in Betracht. 

Im Grenzzollſyſtem, welches die ländliche Benölferung mit numfhloß, ließ ſich 
ber Yinanzeinfuhrzol dann erſt recht einträglih machen Der Konſum ver Ber 
völferungsmafje flieg wit deren Entwidlung und warf fi in Immer größerem 
Umfange auf die für eine innere inbirelte Verzehrungsftener ober Accife beſonders 
geeigneten Artikel und auf die eine Einfuhrbezollung vorzägli gefattenden Kolonial⸗ 
waaren. Die Entwidlung des Acciſeweſens fällt vornemlih auch in hie Zeit ya 
ber Mitte bes 17. Jahrhunderts, fie erheijchte nothwenbig eine Ergänzung burch 
entſprechende Einfuhrzölle. Die Auspehnung des Gewerbfleißes ſchuſ. Wohlfteun 
und verbefierte die Lage der Arbeiter. Alle dieſe Umftände wirkten barayf 
bin, daß mit ber Zeit der Schwerpuntt des fiskaliſchen Intereſſe bei pen 
Einfuhrzöllen in entwidelteren Bollswirthfhaften in eine wicht ſehy große Zahl 
von Mafientonfumtibilien verlegt warde. Diefe beftanven. und befteben in ber 
über Agrar- und fonftige Urprodultion hinausgelangten Volkswirthſchaft in Ver- 
zehrungsgegenftänden, namentlich in Luruögetränfen und Lurusnahrungsmitteln. 
In der vornemlih nur Rohftoffe und Nahrungsmittel producirenden Vollkswirthſchaft 
find e8 die Maſſenfabrikate der Kleivung, der nothwendigſten Wohnungseinrichtung, 
ber üblichſten handwerklichen Thätigkeit, weldhe im Einfuhrzollertrag am Meiften 
ins Gewicht fallen. Welt» und Mitteleuropa gehören zur erfien, Mittel- und 
Südamerifa und andere junge, zumal tropifche Kolonialländer zur zweiten Kategorie, 
Norbagerifa, Rußland, 3. Th. Südeuropa ftehen in der Mitte, b. h. bie Bölle 
von fremden Berzehrungsgegenfländen und von WMafienfabrilaten find zu« 
fammen finanziell bie widtigften, wobei aber das Winanzinterefie oftmals ſchan 
durch das Schupintereffe beeinträchtigt wird. Die Probuftiguslänver ber Kolonigls 
waaren könnten in der Regel nur burd eine inmere Üccife oder eine hobe, auy 
Ueberwälzung beftimmte Ertragfteuer eine Ginnahme aus jenen Produkten erzielen, 
wobei jedoch die geringe Volksdichtigkeit und bie Raumverhältnifie große Schwierig« 
feiten machen würden. Größere Verfuche biefex Art, etwa mit Ausnahme ber 
Vereinigten Staaten in ber legten Krife, fcheinen daher aud zu fehlen. 

Das Syſtem der Finanzeinfuhrzölle, welhe wir aud bier vo 
zugsweife vor Augen haben, zeigt alfo aus verflänplichen Grünben eine Immer 
größere Befhräntung inter ZJahl und Borficdt in ber richtigen Au 6 
wahl ver zu bezollenden Artikel. Namentlich in Weft- und Mitteleuropa, deſſen 
Berhältniffe den typiſchen Entwidlungsgang am Deutlichften erkennen laſſen, y ers 
einfacht ſich daher ver Tarif fehr bebeutend mit der Entmidiung ver Volls⸗ 
wirthſchaft, indem bie große Anzahl von Tarifpoften, welche einzeln und. jegt ſelbſt 
Insgefammt relativ und abfolut wenig einbringen, allmälig bejeitigt wird. Da 
gleichzeitig auch der Schußzolltarif immes mehr eingefchränft uud endlich der Schutzzoll 
ganz oder faft ganz aufgehoben wird, fo erklärt fih naraus die allgemeine 
bedeutende Bereinfahung des Einfuhbrzolltgrifs, melde 
das jegige Zariffuftem Weft- und Mitteleuropas und felbft fhon gubrer zurüd« 
ftehender Staaten, wie Rußlands charalteriſirt. 

Eine analoge Entwidlungstendenz offenbart fi ferner in ver Höhe ber 
Zollfäge: diefe ift in der Regel in den früheren Zeiten des Grenzzollfektems, 
nachdem einmal allgemeine gleihe, aufangs nicht felten niedrige Säge In ver. 
Ihiedene, höhere umgewandelt find, auch bei Zinangzöllen fehr bebeutend, während 


Zölle. 859 


fpäter ein niebrigerer Satz vorgezogen wird, Einmal bat man es bier mit einer 
allgemeinen Erfcheinung ver Preisgeftaltung zu thun, welde aus Wirthſchafts⸗ 
und Kulturverhältuiffen hervorgeht: das ariftofratiihe Princip „hohe Preife und 
Heimer Umfag" weicht dem demokratiſchen Princip „nievrige Preife und großer 
Abſatz“, um im Sinne Rofder’s zu reden. Dergleichen zeigt ſich im Handel 
und Wandel und aud in den Fällen, wo ver Staat direkt wie bei Monopolen 
und Negalten, z. B. im Poftporto, und indirekt wie in der DVerzehrungsfteuer- 
und Zollgefeßgebung Breife normirt. Zur Firirung niedrigerer Zoll- und Acciſe⸗ 
füge veranlagt ſodann auf höheren Wirthichaftsftufen noch beſonders die vor- 
waltende Bedeutung des Konſums ber wichtigſten Zol- und Acciſewaaren Seitens 
ber Maffe der Bevölkerung. Neben der Vereinfachung des Tarife geht alfo 
meiftens eine Reduktion der Heinen Zahl verbleibender Zollfäge einher. Auch 
diefe Erfheinung tft um fo allgemeiner, weil ver Schußzolltarif im Uebergang 
von der Prohibition und prohibitiven Zöllen zu mäßigen Schugzöllen und von 
diefen zum Freihandel fih in ähnliher Weife wie der Yinanzzolltarif entwidelt. 
Enplih liegt auch in den Vorherrſchen von ſpecifiſchen, d. h. 
von Zollen nah Maß und Gewicht, vor Werthzöllen ſachlich meiſtens 
eine Vereinfachung des Tarifs, wenn auch mitunter formell der Tarif dadurch 
komplicirter erſcheint, indem ein einziger Werthzollſatz für eine ganze Waaren⸗ 
kategorie ober eine ſpecielle Waarengattung (z. V. Wollwaaren⸗Tuche) nad den 
bauptfächlihen Qualitatsunterſchieden in eine Reihe ſpecifiſcher Zölle umgewandelt 
wird (ſ. n. IV.) Das ganze Tariffyſtem wird doch viel einfacher. Wo Ver⸗ 
zehrungsgegenſtände, wie in Europa, als Finanzzollartikel beſonders in Betracht 
fommen, können ohnedem Werthzoͤlle meiſtens nur durch einen ſpecifiſchen Zollſatz 
exſetzt werden, weil die Qualitätsunterſchiede zu ſchwer einfach zu ermitteln (ver⸗ 
gebliche engliſche Berfuche mit Thee) oder nicht erheblich genug find, um bei der 
Bezollung berädfichtigt zu werden. Pinanzzölle auf Fabrikate in unentwidelten 
Staaten und Schußzölle anf dieſe Artikel geftatten ſchwerer die Belegung mit 
einem ober wenigen ſpecifiſchen Zollfägen, wenn nicht der leitende Zweck in beiden 
Faͤllen zum Theil vereitelt werben fol. Deshalb find Tarife mit ſolchen Zöllen 
minder einfach. Im den weil- und mittelenropäifchen Tarifen der Gegenwart 
liegen bier aber weniger Schwiertgleiten vor, je mehr bie reinen Finauzzölle auf 
Beryehrungsgegenflände vorwalten. Daher. dann eine immer größere Bereinfadhung 
dieſer Tarife auch in viefem Punkte. Wenn einzelne barunter, wie namentlich 
der frauzöſiſche auch nach allen „freihänblerifhen” Reformen in den Handels— 
verträgen, nody jent komplicirt genug find, fo darf man eben nicht vergefien, daß 
auch der jetzige franzöſiſche Tarif nur ein etwas ermäßigter Schutzzolltarif iſt. 
Am großartigften iſt in jever Beziehung die BVereinfahung des britis- 
ſchen Zolltarifs, die bier als VBeifpiel ver typiſchen Entwidlung dienen mag. 
Die Verminderung der Zahl der Zollfäge dis 1826 iſt ſchon früher zur Sprache 
gelommen. Bis 1841 vor dem Beginn ver großen Peel'ſchen Tarifreformen war 
die Zahl der Einfubrzollpoften immer noch 1052 (564 Hauptart., 488 Unterabth.), 
1849 war fie auf 515 (reſp. 233 und 282), 1855 auf 414 (153 und 261) 
gefunlen. Der Krimmkrieg brachte eine Stodung ber Reformen und eine Wieder: 
erhohnng einzelner inanzzölle. Aber ein neuer Fortſchritt wurde durch den Handels⸗ 
vertrag mit Frankreich eingeleitet, der Tarif behielt nur noch 142 Poften. Der 
Tarif ven 1862 zählt 50 Artilel mit 17 abweichenden Unterabtheilungsfägen. 
Davon find durch weitere Hanvelöverträge und fpontan noch mehrere Sätze ab- 
geſchafft (4. B. 1866 die Zölle anf alle Arten Holz, Pfeffer, Schiffe) und reducirt 


aD Zölle. 


mumentthh ter These), fo daß die Zahl der Säge kaum mehr 50 betragen 
wirt, weräzer ale N. der vor 27 Jahren beſtehenden. Zolle von irgend in 

tee rementer Schutztendenz find jest wohl im britiſchen Tarif fämmtlich be- 
Senge Ge bleiben faſt ausſchließlich nur noch Finanzzölle auf einige Maffen- 
keaiumtitüien eines nicht durchaus nothwendigen, d. h. mehr ober weniger eines 
LAuxra se betürfuniſſes. Dabei find gerade die meiſten dieſer Zölle außerordentlich 
tm Betrage herabgefetzt und durch die Beſeitigung des Differentialzollſyſtems zu 
Gunften der britiihen Kolonialprodukte iſt oft noch eine kaum minder beträchtliche 
indirette Begollung durch Monopolpreife — ein bei uns oft überjchener Punkt — 
befettigt worden. Hier nur einige Zollproben nah dem Werke von Bode nad 


amtli Dnellen. 
an 1787 1816 18 1 


42 868 
Zuder(tob, braun)p.Etr. Brit. 12 Ch. 4D.35 Sh. — D. 2565.21/,D.) 955.7 
„ fremd. 27 „ 2,86 „ 8. 66 „ 2 "| 
35 „ 


n " 
, NRaffinabe Brit, — — 
"fremd. | m Bnigg " 8'188 ,— 


12, — |) 
0) 


Thee " p. ; . 1217, 9), ad val. 969%), 2 n 1 n — — 6 
Kaffee durchſchnittl., Brit. | 1 _2. = „4 nl_ 9 
" " n fremb. " " ton 8 n ) " f ” 
Tabak " 3 u 6. — 34 18/5 " 3 „1 Is 
n n 
Eigarren " — (12-18 ,—.) In Du —u 
Branntwein, 
Zoll u. Kccifep.Gal.a—5 — „18, Yon 18 u Mon 10 nu Ön 
Wein p. Sal. von 3 „1%/ın „11n 2,1 1, -n 


dis 4 „10 „135 95 5un 9 nu 20 —6 

Die Herabfegung bei Zuder, Kaffe, Thee (1856 no 1 Sh. 9 d., 1857 

1 Sh. 617, d., 1858 1 Sh. 5 d., 1863 1 &h. 1865 6 d.) iſt außerordentlich 
bedeutend und bet den beiden erften Artileln durch die Aufhebung bes ben briti- 
fhen Kolonieen ein Monopol gebenden Differentialzolls (noch 1839 zahlte weſtind. 
Zuder 24 Sh., fremder 63 Sh., Kaffee reſp. 6 d. u. 15 d., vom Kap 9 d.) noch 
viel größer, als es den bloßen Zollfägen nad ſcheint. Auch der Wein ift für pie 
Maffe ver Bevölkerung durch ven franzöfifchen Vertrag viel billiger geworben. 
Nur bei Branntwein und Tabak wird, wohl niht nur aus finanziellen Gründen, 
an ben enorm hoben Sägen feftgehalten. Berückſichtigt man daneben die Auf- 
hebung der Getreideſchutzzölle, die Befreiung faft aller anderen Nahrungsmittel 
von Zöllen und Acciſen (z. B. Salz, Reis, Gewürze), ven Wegfall beinahe aller 
Zölle auf Rohſtoffe, Halbfabrilate und Fabrikate, fo erſcheint bie britifche Reform 
ber Finanz⸗- wie der Schugzölle gleih großartig und impofant durch ihre 
Bereinfahung des ganzen Tarifſyſtems und durch ihren Nuten für die Maſſe 
der Bevölkerung. Eigentlich enthält der britiſche Tarif gegenwärtig nur noch 
8 Artikel, nach ihrer finanziellen Bedeutung geordnet: Tabak, Zuder, Spirttuofen, 
Thee, Wein, Getreide, Kaffee, getrodnete Süpfrüchte. Für dieſe Artikel beftehen 
zum Shell einige Abftufungen nah Qualität und Verarbeitungsſtadium (Zuder, 
Tabak). Die Getreidezölle find fehr niedrig, nur der koloſſale britifge Bedarf 
fremden Getreides macht die Zolleinnahme noch beträdtlih. Faſt alle anderen 
Zölle mit faum ein paar Ausnahmen find nur Ergänzungszölle für jene 8 Artikel, 
auf Surtogate oder verwandte Waaren, auf welde fi der Konfum, wenn fie 
zollfrei wären, zum Nachtheil des Fiskus werfen könnte (3. ©. Cichorien, Cacao, 


Säle. 80 


Chotkolade). Diefe Zollreform gereicht als politifhe und als Gtenermaßregel den 
Dritten zum hoben Ruhme. Die Kontinentalftanten find bei ihrem geringen Wohl- 
fand und bei der damit zufammenhängenven, doch daraus nicht allein herbor- 
gehenden geringeren Koncentration des Konfums auf einige, für die Bezollung 
zwedmäßige Artifel noch lange nicht ſoweit als Großbritannien, auch haben fle 
mit dem Schutzprincip noch nicht fo konſequent gebrochen. Aber biefelben Ent- 
wiliungstendenzen des Tarifiuftems machen fi) doc auch bier geltend. Ein großer 
Rückſchritt iſt im Drange der Yinanznoth des Bürgerkriegs nur in Nordamerika 
erfolgt. 

ur fortfchreitennen Vereinfachung der Tarife Bat die durch die Boll«- 
ati ſt ik unmittelbar gelieferte Wahrnehmung weſentlich beigetragen, daß eine 
große Anzahl Fleiner Tarifpoften wenig oder gar nidts, 
eine weitere Anzahl nicht viel@innahbme abwürfe und der 
größte Theilder legterenimmer mehr durd einige Haupt- 
artikel eingebraht würde. Auch dies tritt in Großbritannien am Stärk 
fien hervor. So wird ſchon 1798 von Parlamentstommiffionen berichtet, Daß unter 
ben 1200 Artikeln des Tarifs 1040 zufammen nur 85,000-—111,000 Pf. St. 
im Jahre ertrügen, nur ber Ref von 160 Artikeln jeder wenigftens fiber 1000 
Pr. St. (Bode, S. 312). In dem berühmt gewordenen Bericht der Einfuhrzoll- 
fommiffion von 1840 wirb berechnet, daß im I. 1838/,, 147 Urtilel gar nichts 
braten (wohl aber ein Plus an NRüdzoll von 5398 Pf. St. forberten), 349 
trugen jeder unter 100 Pf. St., zufammen nur 8050, 132 von 100—500 Pf., 
zufammen 31,629 Pf., Ab von 5001000, zufammen 37,454 Pf., alſo 526 
Artilel jeber unter 1000, zufammen nur 71,735 Pf. St.! 107 weitere Artikel 
braten jeder 1000 - 5000 Pf., zufammen 244,733 Pf., 63 Artikel 5000 bis 
100,000, zufemmen 1,397,324 ®f., 10 100,000—500,000, zufammen 
1,838,638 Pf, nur 9 über !/, Mil, zufammen 18,575,071 Pf. St. Nach 
einer ähnlichen Berechnung für 1839/,, lieferten von der Bolleinnahme von 
22,962,610 Pf. St., 17 Artikel über 1/,, Mil. oder zufammen 94,5 %/, (Zuder, 
The, Tadel, Spirituofen, Wein, Holz, Korn, Kaffee, Butter, Korinthen, Talg, 
Saaten, Rofinen, Käfe, Baummolle, Schafwolle, Seivenwaaren), weitere 29 Ar⸗ 
tilel noch 3,9 0/,, alfo 46 Artikel 98,8 %/,. Im I. 1856 kommen von der Zoll 
einnahme von 24,206,844 Pf. St. auf die 6 Hauptverzehrungsartitel Thee, 
Zuder, Tabal, Spirituofen, Wein, Kaffee 88,9 9/, auf tiefe und 6 weitere Artikel 
(Holz, Getreide, Seivenfabrilate, Korinthen, Roſinen, Butter), alfo auf 12 Ar- 
tilel zufammen 96,2 %, im I. 1862—63 von der Einnahme von 23,993,546 
Pi. St. auf jene 6 Artikel 92,6 0/,, auf fie und 5 andere (Holz, Getreide, Kor 
rinthen, Roſinen, Pfeffer), alfo im Ganzen auf 11 Artilel 99 9/,, im I. 1868/6 
von 21,356,723 Pf. St., nad ber flarfen Reduktion der Theezölle auf die 6 
erften Artikel 91,5 und auf diefe und vie nämlihen 5 anderen 99 %/, ; von letz⸗ 
teren Artikeln find nun Holz und Pfeffer und mit ihnen eine Einnahme von 
439,000 Pf. St. auch noch fortgefallen. Die wachſende finanzielle Bedeutung 
jener 6 Berzehrungsgegenflände troß fo beträchtlicher Herabfegung der Zollfäge 
ergibt fi no aus folgenden Zahlen. Der Gefammtertrag der 6 Artikel war 
(meift nah Bode): 

41790 1800 1810 1820 1830 1840 1850 1856 1863/,, 1865), 

Mill. Pf. St. 44 8,6 15,8 15,77 16,08 16,75 18,51 91,54 22,12 19,8 
Zucker 09 2,16 3,00 3a 47T gr 3,88 5,66 66% 5,36 
Thee 0,88 1,2 ‚3,8 3,8 3,8 3,47 5, 5,5% 5,58 2,% 





308 Zölle. 
1790 1800 1810 1820 1830 1840 1850 1856 1er 1869/, 
Rofiee 0 0 08 QM 08 02 07 0m 0 0, 
Dein 08 12 197 18% 1,5 1,37 182 2,07 112 1,8 
Spirituffen 1,90 19 35 275 38 985 2,53 25 262 3,51 
Zabel 0A 1,2 24 313 22 359 41 521 571 6,3 
Hier zeigt fih die Tendenz der Steigerung des Konfums ber durch Tarife 


vebultionen billiger gewordenen Artilel und dadurch der Wieberausgleichung 
bes Berlufts an Zolleinnahme bei Zuder, Thee und Wein. Doch ift au für 
allgemeine Zariffragen davon Aft zu nehmen, daß die gleiche Zollpolitif bei Kaffee 
nicht fo erfolgreich war und umgelehrt die entgegengefete Politit bei Tabak ſich 
des gleichen finanziellen Erfolgs erfreute. Man iſt bier freihänplerifcher Seits 
mitunter geneigt gewefen, ben Einfluß der Tarifreform zu überfhägen und bie 
Steigerung des Konfums zu ſehr anf ven einen Umfland des Billigerwerbens 
ber Steuern zurädzuführen. Die großen wirthſchaftlichen Fortſchritte im Allge- 
meinen find doc wohl die mächtigſte aller treibenden Urfacdhen in den Konfum- 
fleigerungen gewefen. 

Zum Bergleid der relativen Bedeutung ber Hauptzollartilel in verſchiedenen 
großen Staaten kann die folgende Zufammenftellung dienen, welche zugleich bie 
geringere Koncentration bes fisfalifchen Interefies auf wenige Hauptwaaren in 
biefen anberen Staaten zeigt (alle Werthe find auf 1000 Thaler umgerechnet, bie 
Rubel gi pari). 


Zollverein. Sroßbritannien. Frankreich. Defterreih. Rußland. 
1864. 1864. 1864. 1864. 1866. 
Buder, Zoll 1,311 _ 18,650 122 4,396 
— innere Steuer 10,050 — 5,915 4,362 721 
— extkl. Exportbonififat. 10,977 35,015 17,881 c. 4,160 5,017 
Kaffee 6994 2,592 5,514 2,168 919 
The 114 29,795 89 25 4,396 
Gewürze 487 803 437 250 157 
Trodene Süpfrüdte 859 2,622 93 348 1,046 
eis 596 — 99 29 165 
Wein 1,399 8,855 10 243 | 2.463 
Spirituojen 408 22,018 262 98 ' 
Tabak und Tabaffobrifate 2,763 40,534 Monopol 1,027 
Summe infl. Zuderfteuern 24,597 142,164 24,885 c. 7,382 15,190 
Ale andern Einfuhrzölle 9,457 8,023 10,528 c. 5,848 16,371 
Summa 34,054 150,187 34,808 c. 13,230° 81,551 
Obige 9 titel = %, 72,2 94,8 70,1 55,8 45,1 


Die Zuderftener (in der vritten Reihe für Zuder und in ven Schkußfummen 
ber Einnahmen nad Abzug der Erportbonififation für wieverausgefährten Zuder) 
fon bei ver eigenthümlichen Entwickkung der Rübenzuderinpuftrie auf dem Feſt⸗ 
lande bier nicht wohl vom Zoll getrennt werden. Der Vergleich wird ferner ge- 
Mört dur die Monopolifirung des Tabaks in Defterreih und Frankreich und das 
Gegenſtück dazu, das Verbot des Tabakbaues in Großbritannten und Irland. Auch 
fonft ſtimmen die Kategorieen der Tarife nicht immer genau überein (3. B. bei 
Süpfrüchten, wo bei Defterreih nur die feinen, bei Rußland alle, bei Gewürzen, 
wo in Rußland nur der Pfeffer eingerechnet find). Die Verhältniſſe der einzelnen 
Jahre gleichen fich ferner nicht vollftänbig, z. B. war der Ertrag der Rübenzuder- 
feuer in Frankreich und Defterreih 1864 ungewöhnlich gering, 1863 dagegen 
ungewöhnlich hoch, naͤmlich 16,228,000 Thlr. dort und 6,460,000 Thlr. Hier, 


Söle. 868 


Durdiänitt von 18685—64 alfo 11,071,000 und 5,411,000 Thlx., woburd 
ſich auch die Procentſätze der 9 Artikel erhöheten bei Frankreich anf eirca 78,9 
und bei Oeſterreich auf circa 89 9/.. Die ruffiihen Daten beziehen fig une auf 
bean europätien Verkehr, aus dem aflatiihen Verkehr müßte namentlich noch 
ber dort erhobene Theezoll eingerechnet werben. Immerhin ergibt ſich aber bo 
als figere Thatſache eine bemerkliche Verſchiedenheit in der relativen Der 
keutung ber angeführten 9 Artikel gegenüber allen anderen in den einzelnen Län 
bern, und namentlich auf dem Kontinent gegenüber Großbritannien. Es geht daraut 
jmeiexlei herpor, nämlich daß fih auf dem Kontinente an andere und an bie 
Gefammiheit der Meinen Finanzzollpoſten noch ein größeres Sinanzinterefie nüpft, 
als in Großbritannien auch ſchon vor ver Zollreform (f. o.), und daß ferner aud 
vie Geſammtheit der Schutzzölle noch eine größere finanzielle Bebentung befigt 
( u.). Beide Umſtände erihweren die weitere Bereinfahung des Tarifs mehr ale 
jenfelte dea Komals. (Die Daten über die 3 erften Länder nad einer Zufammen- 
Rellung von Sötbeer, das 3. 1864 hier als letztes vor ben Tarifreformen 
yes preußiich-frangäfifchen Henbelsvertrags gewählt). 

Immerhin find es aber auch in den anderen Ländern wenige Hauptartikel, 
welche deu größten Theil der Einnahme ergeben. Se famen außer ben 9 obem- 
genannten im Durchſchnitt von 1862 —64 im Zollverein von au gegenwär- 
tig noch zollpfligtigen Waaren nur uch 7 Berzehrungsgegenflände (ge 

e Heringe, Kalao, friſche Sudfrüchte, Schlachtvieh, Fleiſch, Käfe, Konfitären), 
7 Robfiofe und Halbfabrikate (diverſe Rohprodukte, Roheiſen, Eifen in den erſten 
Verarbeitungsſtadien, Dele, Baumwoll⸗ Woli⸗ und Leinengarn), 8 Fabrilate 
(Seinen⸗, Halbfeinen, Baumwoll-, 2 Kateg. Wollwaaren, 8 Kateg. ver⸗ 
arbeitetes Cijen) vor, welche jedes einzeln mehr als 100,000 Thlr. abwarfen. 
Dieſe RA Boflen geben circa 7,3 Mill. Thlr. oder 21,3 %, der Durchſchuitis⸗ 
mache von Finfubrzöllen und Rübenzuderfieuer (nach Abzug der Grportbonif 
lation) yon 1862-64. Man kann demnach fagen, daß 81 Hauptartilel im Zoll⸗ 
verein vor bar jüngften Tarifreform gegen 93 % der Zoll« und Bnderfienerein 
nahme lieferten. Mit Einrechnung der damals noch beflehenden, durch die Dame 
belanexteäge mufgehohenes Bölle, welche zu jemen — gehörten ober eine 
in für fi üben 100,000 Thlr. gaben (3 B. Bar! uud Brennholz) ſteigt dieſe 
Zier voch um 12 Yu ine ähnliche Berechnung für Defterreih ergibt no 
15 Hanptartilel außer den obigen, welche jeber über 100,000 fl. abwarfen (1864), 
Zu Rußlanda Zolleiunahme im europäifchen Verkehr fiquerten weitere 21 Arkitel 
(ip. Kaisgorieen ober Klaſſen nahe verwandter Waaren) nad jedex wıchr nid 
100,000 &. &, bei, fo daß auch bier 30 Wrtitel 87,6 Yu dee enropälichen Zülle 
gaben (darunter allerdings Fabrikate und Halbfabrilate), nämlich bie 11 Artilel 
Vol, Manmwoll⸗· Seiden⸗, Leinenfabrilate, Baumwollgarn, Kleidung und Potz, 
Spitzen and Tull, Metallwaaren, Slaswaaren, kurze Waaren, chemiſche Fobei⸗ 
late, zufommen 5,9% Mill. Thlr. oder 18,5 0/, der auch oben bei Rußlaud ge 
minten eigentligen Zolleinnahme inkl. Auofuhrzoͤlle. 

Wo mithin auch mit dem Schutzzoll noch nicht gebrochen werden fol uns 
daq Finangiutesefie eine jo weitgehende Beſeitigung ber kleineren Tartfpoften wis 
in England noch wicht erlaubt, zumal die Reduktion des Zolls nur feiten bei dieſen 
doch wenigen wichtigen Wrttleln anf eine fchuelle Steigerung des Konſums hia- 
wirlen mic, da laun Immerhin doch eine bedeutende Anzahl ganz Heiner Poßen 
ahne Schaͤdigung des Finanzintereſſes geftrichen werben. Es iſt erfreulich, daß bie 
iüngße Seräfefarm tom Balloesein au Hier Wieles meggerkumi hal. Wäsrdinge 


884 SBlle. 


wurde mitunter gegen die Streichung folder Meinen Poſten geltend gemacht, daß 
fie Insgefanmt doch immer etwas ertrügen, keine läftige Stener feien, ven body 
einmal der Zollkontrole unterworfenen Verkehr nicht weiter ftörten und die Koften 
der Zollverwaltung kaum Reigerten. Diefe Gründe find aber nicht durchſchlagend. 
Die Kontrole kann fehr wohl erhebli vereinfacht werben, wenn weniger Artikel 
zeüipflichtig find, und die Koften finten ebenfalls. So führt Bode an, daß bie 
Bereinfahung des englifhen Tarifs durch den Handelsvertrag mit Frankreich 
458. Sollbebieuftete mit 90,737 Bf. St. Gehalt überfläffig machte. 

Die Einfuhrzölle, welche gegenwärtig no in Weft- und Mitteleuropa als 
Binanzzöfle beftehen, ſich als folche rechtfertigen lafien und fogar als Ergänzung 
ber vorhandenen Steuerfufteme geforbert werden mäffen, zerfallen dann in bie beiden 
großen Klaſſen der Zölle auf accifepfliätige und auf bie fogen. Kolonial⸗ 
waaren, beide Male einige verwandte Artikel inbegriffen. Diefe zwei Klafſen 
fellten den Inhalt des Finanzzollſyſtems ausſchließlich bilden. Alle anderen 
Waaren, weihe man neben jenen noch bei ung bezollt findet, find entweder Fi⸗ 
nanzzollartifel untergeorbneter Art, mitunter mit einer Heinen Schutzzolltendenz 
nebenbei, oder eigentlihe Schußzollartitel. Iene müßten bem Princip ber 
Bereinfachung ver Tarife weichen, viefe fallen unter einen andern Geſichtspunkt, 
werben aber wenigftens in dem genannten Theile Europas wohl nicht mehr lange 
beftehen bleiben. In Großbritannien fehen wir das Zollſyſtem in ber That ganz 
auf acchjepflihtige und Kolontalmaaren befhränft und die obigen Mittheilungen 
zeigen, daß auch Fraukreich und der Zollverein den Schwerpuntt ihres Zokfuftems 
in dieſe Artikel gelegt haben. 

Die accifepfligtigen und bie Kolonialwaaren find nit durchweg 
verfchlevene Waaren, indem 3. B. aud in Europa Zuder und Tabak jet im 
beiven Kategorieen ftehen können. In der Hauptſache aber liegt für Weft- und 
Mitteleuropa doch eine derartige Verſchiedenheit dieſer Waaren vor, daß bie erften 
im Inlande In Konkurrenz mir dem Auslande probuchrt werben oder werben Tinn- 
ten, die zweiten dagegen mehr Artikel eines klimatiſchen ober fonftigen Ratur- 
monopols fremder Länder, großentheils der heißen Zone find und daher in kal⸗ 
teren Klimaten nicht gebeihen. Auch von Zuder, Tabak, Wein gilt für viele nörb« 
liche Kinder etwas Aehnliches, weil im Inlande entweder nur eine geringere Qua⸗ 
ät (Tabak) oder zugleich auch nur eine geringere Menge (3. B. Wein in Deutſch⸗ 
land) gewonnen werden kann. Man Tönnte daher etwa von einem abfoluten oder 
relativen Naturmonopol : heißer gegenüber Talten und weniger alter gegenüber 
fälteren Ländern fpreben. Dem größten Theil von Europa und NRorbamerlfa 

egenüber beflgen die Propuftionsländer von Kaffee, Thee, Rohrzuder, den meiften 

wärzen ein abfolntes, von Tabak, Neid ein relatives Naturmonopol. Süd- 
europa Kat für Südfrüchte, Reis ein abfolutes, und mit Frankreich, Weſtdeutſch⸗ 
land, Defterreih für Wein nnd Tabak dem übrigen Europa ein velatives, den 
nördlichen Theilen tes letzteren gegenüber ebenfalls ein abſolutes Naturmonopol. 
Diefe Berhältniffe erklären manderlei Verſchiedenheiten in der Auswahl ter Zoll- 
artikel, der Höhe ver Zollſätze umb ber Stellung ber Zölle zu immeren indirekten 
Berzehrangsftenern oder fogenannten Accifen in einzelnen Ländern. Die an ſich 
paffendſten Artikel eines Finanzeinfuhrzolls, wenn einmal ver Boll alo Steuer 
überhaupt gebilligt wird (f. u. IV), find im Grenzzollſyſtem aus zolltech⸗ 
wifgen Gründen die Waaren eines abfoluten, ſodann eines relativen Paturmono⸗ 
pols der Fremde. Denn bei jenen können gar keine, bei dieſen nur in untergeorb- 
nezer Weiſe Schutzollwirkungen ftörend mit unterlaufen und jene machen Heine, 





Zölle. 865 


dieſe nur in gewiſſen Faͤllen eine innere indirelte Befteuerung nebeu dem ‚Zoll 
und zum Schutz der Einnahme aus letzterem nothwendig. Artikel, welche unter 
weientlich gleichen Beringungen im In- and Auslande producirt werben, verlan- 
gen dagegen zur Wahrung bes finanziellen Zwedes des Zolls einer- und her 
ccife anbrerjeits eine richtige Kombination des Uccife- und Finanzzoll⸗ 
ſyſtems. Diefe aber macht erhebliche Schwierigleiten. Fehlt fie oder gelingt fie 
wiät, fo wird der Finanzzoll allein zum Schutzzoll auf Koflen der Einnahme, 
oder die Acciſe allein mit verfelben finanziellen Wirkung zur Einfuhrprämie auf 
Koften der einheimifchen Produktion. Jede Abweichung der Zoll- und Xccijefäge 
von einander führt nothwendig eine dieſer beiden Wirkungen, wenn auch vielleicht 
in geringerem Maaße, mit fi, die Schugzollmirfung, wenn ber Zoll, bie der 
Einfuhtprämie, wenn bie Acciſe höher ift. Da man unter dem Einfluß ber neuerns 
Handels- und Befleurungspolitit keine diefer beiden Wirkungen wünjcht, fie aber 
wegen der Schwierigkeit einer richtigen Kombination von Acciſen und Zöllen nit 
leiht ganz vermeiten lann, fo iR man neuerbings mit ber Auflegung neuer Zölle, 
weldhe Hccifen, oder neuer Wecifen, welche Zölle zur Erreihung des Finanzzwecks 
fordern wärben, viel vorfichtiger geworben und bat wiederum aus dieſem be 
viele alte Zölle und Acciſen befeitigt. Alfo abermals eine bebeutente Vereinfa⸗ 
hung des Zolltarifd mit der Yortentwidlung der Vollswirthſchaft und ein naher 
Zufommenhang zwiſchen Zoll⸗ nad Acciſereform, ven man namentlich In England 
nicht überfehen darf. Nur in zwei fällen braucht, einmal ber Aeciſe kein Zoll, 
und zweitens dem Zoll Leine Acciſe zu entiprechen, nämlid wenn das Inland für 
die Erzengung eines Artilels ein ausſchließliches Naturmonopol Hat — ein bei 
uns wenig praktiſcher Hall — und wenn bie Erzeugung im Inlande verboten 
iR, wie in England ſchon feit 1652 der Tabalbau. Letztere Einrichtung fehafft 
ven umgelehrten, aber ähnlichen Zuſtand wie ein Staatsmonopel. Eine in Form 
eines Monopols erhobene Verzehrungsftener (Tabak, Salz) würde aus einem Ein- 
fahrwerbor einer fremden Waare auch keineswegs eine Schutzzollmaßregel machen. 
Die Finanzbezollung fremder auch im Inlande probucitter Waaren hängt 

alſo mit der inneren Steuergeſetzgebung enge zufemmen. Die Principien für vie 
Regelung des Berbältnifies zwiſchen ven Yinanzzöllen nnd der inneren indirekten 
Verbrauchſteuern (Acciſen) find zwar nicht ſchwer feftzuftellen, aber in der Prario 
ergeben fich bei der Durchführung oft große Schwierigkeiten. Gar zu leicht wirb 
kn Finanzzoll etwas Schupzell dem ausgefprochenen Zweck bes erfteren entgegen 
mit eingefünng elt, aber auch das Zurädhleiben des Zols hinter ver Aceiſe und 
wit Abnlichen Wirkungen binter dem Mädgoll oder der Erportbonififation für 
wieberausgeführte Artikel iſt wicht amerhört, fo daß eine Ginfuhrprämie und ein 
U sum Vorſchein Tommen. Jene Schwierigteiten erklären fi einmal 

ans dem Umſtande, daß ein zwedmäßiger Beſteuerungsmodus für bie einheimiſchen 
acciſepflichtigen Waaren oft ſehr ſchwer ifl, und ſodann daraus, baf der wahre 
Betrag der inneren Abgabe für vie betreffende Steuereinheit, z. B. die Gewichts⸗ 
menge y der Waare A von ber Qualität b felten ganz genau befannt IR und 
daher das richtige Maß für die Beſtiumung bes reinen Finanzzolls fehlt. Die 
tchniichen Schwierigkeiten der Beftenerung bes fertigen Prosufts oder des rein 
, anmentli der Hauptartikel Bein, Bier, Brauntweln, Zucker find be 

lannt. Mehrere Länder find allervings zu diefer rationellſten Beftenerung über 
en, wie 3. B. Frankreich den Rübenzuder nad ber aus ber Weiße durch 

ben Bestie mit Typen bemeflenen DOualität, Dcflerreih u. a. m. den Branut⸗ 
wein nach der durch den Alloholometer beftimmten Gradhaltigleit beſteuern. Uber 


wi te. 


apa un Kun Wüßngehe, welche ach dieſen Beſteneruugemeihoden ırh- 
X Er me Geesamehetrag IR and) dabel noch nicht immer genan ermittelt. 
Du Dr macht eine Reihe von Kontrolen und 
Da. archmentig, weiche ſich ſchlietzlich wieber in erhoͤhete Koften oder in 
a Meuiymring auftäien, defien variable Höhe ſchwer zu beftimmen iſt. Die 
Aaugazeng uirt Iheinbar mnbeveutenden Umſtandes haben felbft die neueren 
rate welche dem Zoll (nnd ähnlih dem Rückzoll) auf accife- 
NT WR jede Spur der Schutzzollwirkung nehmen und Zoll und Steuer ge= 
am „währen wollen, nicht umgehen zu fönnen geglaubt. So verſptach Großbritannien 
run wem 33. Ian. 1860 mit Frankreich die Gleichſtellung der ZBlle und 
ram ren betreffenden Artikeln, aber zuzüglich eines Zuſchlags zum Aou als 
Unyainstent für die Koften, welche das englifche Acciſeſyſtem dem engliſchen Pro» 
vareatın mache. Diefer Zufchlag wurde anfangs per Gallone Spirituofen auf 2 d. 
warentıt, aber fehen durch die Mbpitlonalafte von 25. Gebr. 1860 als ungenü⸗ 
auf 5 d. erhöht, d. 5. auf 4,17 0), ver Accife von 10 atı. Her Gallone. 
VBeftimmungen enthält der öoſterreichiſch⸗ franzöſiſche Vertrag über einen 
Differentialzaſchlag zum Zoll als Erfag der durch das innere Beftenerungsipfterh 
verarfadhten Köften und mehrere andere Verträge. 

Biel bebeutendere Schwierigkeiten Tlegen aber in ven Bäufigen ımb Wegen 
ver techniſchen Berhältnifie oft unvermeivlihen Fällen vor, ment die innere Ab⸗ 
gabe nicht nah Menge und Werth der Produfte, ſondern etwa nach wer Maſſe 
ver verarbeiteten Robftoffe (3. B. bei der Rübenzuckerproduktivn nach bein Nüberte 

in Deutſchland u. a. 2), ober nad der Größe und Beſchaffenhelt ges 

wiſſer Wertsvorrichtungen (3. ®. bei der Branntweinbefleuerung nad ven Maiſfch⸗ 
raum) sver nad fonfligen Merkmalen des Betriebsumfangs oder eitva au «i8 
quantum entriätet wird. Hier iſt fogar für einen beſtiiumten Seltpunkt ber 
wahre eigentliche Steuerfag nicht ſicher zu ermitteln, ja es gibt gar nicht einen, 
fondern eine ganze Reihe von Stenerfägen. Dan halt fid an Durchſchnitte, z. ©. 
om ben Gap, daß in Dentfehland 1 Gentner Zurker ehemals a6 ciren 20, jekt 
aus circa 12 Geutner Rüben gewonnen wird. Aber bie beſſet arbeiteten: Probu⸗ 
ceaten genießen ftets eines Schuges, wenn ber Zoll nah Maßgabe folgen Durd- 
fdmitts feRgeftellt wird. Ja, ganze Gegenden und ganze Probufttonstampagrten 
Euwen bei gleichen und flabilen Steuer- und Zolfägen einen Schutz haben, — 
freilich in ungünſtigen Jahren auch elumal einer Ginfuhrprämte ausgefetzt fein. 
Die ſchlechter arbeitenden Probucenten find fettexes immer, ihre Geſchäfte gehen 
alfo ein, wenn Zoll und Steuer glei hoch iſt, — eine ber mitwirkenden Urfachen 
zur immer größeren Koncentration bes Betriebe. IR die Steuer niedriger, fo er. 
freuen ſich die guten Prevucanten eben im Zollſchutz eines ventenrtigen Cimflom- 
mens. Die erwähnten Stenermethoden nach, dem Rohſtoff u. |. w. führen ferner 
nothwendig zu dem Streben, durch vermehrte und billigere Produktlion bei derſel⸗ 
ben Geſammtſtener ven Steuerfuß zu ermäßigen und dadurch einen Theil ber 
auf emem Duantum fertigen Probults Legenden Steuer nad Hock's Rebewelfe 
abzumälzen. Dies iſt vom volkswirthſchaftlichen Standputikte ans ein Vorzug 
dieſer Steuermethoben, denn es wirb dadurch eine Erſparung am benjenigen «i- 
voltswirthſchaftlichen Pronuttionsloften erzielt, die Riemandem ald Cine 

umen zu Gute kommen. Über für vie VBeftenerang ımb —— iſt es int 
technihe Schwierigkeit mehr. Man weiß, wie erfolgreih die Ubwälgang 

ber Haller und Branntweinftener bei jenen Stenerformen gelungen IR. Die Pro 
dufttonomethoden ändern, verbeffern fi immer mehr. Selbſt derjenige Finanzzol, 





Zölle. 867 


welcher im Augenblick dem Steuerſaz genam entipräde, würde daher bald wider 
unverfehens ein Schutzoll werden. Deßhalb muß die Forderung geftellt werben, 
daß durch eine Mbänderung der Steuer (Erhöhung in dieſem Fall) oder bes Zolls 
(Herabſetzung) over beider zugleich das richtige Verhaltniß immer wieder raſch 
bergeftellt werbe. Aber aus dem Gefagten ergibt ſich, welde ende: genau 
famn je auf einige Dauer zu löſende Aufgabe dies ſei. Welche Intelligenz und 
Nührigkeit einer Zollverwaltung gehört dazu, um dieſer Aufgabe zu genügen ud 
das reine Finanzzollſyſtem zur Geltung zu bringen und In viefer zu erhalten! 

Dieſer nothwendige Konner zwiſchen Finanzzöllen und Acelfen hat bei der 
neueren vationelleren Oehaltung beider Steuern wohl auf eine täunlichfle Vefeiti⸗ 
gung der mancherlei früheren Acciſen und Zölle auf acciſepflichtige Warren him 
gewirkt. Wären nicht die großen Finanzbedurfniſſe der Staaten, die Mängel der 
anbermweiten, auch bireften Steuern, welche zum Erſatz neu eingeführt oder erhöht 
werden müßten, und fprächen nit embli noch andere, namentlich ſanitätiſche 
Gründe für die Beflenerung von Branntwein und Tabak, zum Theil auch von 
Bein uud Bier, fo würde vielleicht in Bälde in den Acciſen und den eıtfprechen- 
ven Zöllen noch flärker aufgeräumt fein, als e8 bereits geſchehen if. Am groß- 
artigften ift and hier wieder die Reform des britiſchen Heeifefyftems, das frei⸗ 
lich feit der Mitte des 17. Jahrhunderts eine ungewöhnliche Ausdehnung erseichte 
and biefelbe länger ald auf dem Kentinent behauptete. Die Bereinfahumg des 
Zolltarifs für accifepflichtige Artikel ſtand mit der Aechfexeform in Wehjdwirkung. 
Auf dem Feſtlande kounte in Reformen nicht fo viel geleiftet werben, well nidt 
fo viel zu than übrig war, — was mitunter bei nnd überfehen werben iſt. Eine 
Menge Acciſen find fu England ſeit 1815 ermäßigt, Befeitigt, fo Obſtwein, Eſfig, 
Meth, Stärke, Parfümerien, Hopfen, Gold⸗ and Silberdraht, füßgemachter Wein, 
Salz (aufgehoben 1825), Leder (1880), bedrudte Stoffe, wie Tapeten, 
Seiden-, Baummollwanren (1881), Kerzen (1881), Steintählen (1831), 
Glas (1845), Ziegelfteine (1850), Geife(1858), Bapier (1861). Ben 1814 
bis 1845 wurben für 12,1 Mid. Pf. St. mehr Zolle aufgehoben als eingeführt, 
aber in verfelben Zeit aud für 12,7 Mill. Pf. St. mehr Acciſen befeitigt (mach 
Lode und Borter). Mit ven feit 1846 weggefallenen Uecifen auf Ziegel, Geife, 
Hopfen, Papier wurde auf 3,7 MIA. Pf. St. Sinnahme verzichtet. Gegenwärtig 
beftehen nur noch die beiden alten Hanptaceiien auf Malz (Bir) uw Gpiri- 
tuoſen, denen ſich die anf inländiſchen Zuder (ohne Schutztendenz) und Kaffee 
farrogate ( Cichorien) mit ganz uubebeutenden Erträgen anſchließen. Demgenäß 
Ionnte denn auch der Zolltarif für accifepflihtige Waaren auf diefe wenigen Po⸗ 
ten beſchrankt werden. Zwei andere ſonſt Hierher gehörige Zölle Tönnen in Eng 
land ohne nebenhergehende Accife als reine Finanzzoͤlle wirken, der Wein und 
Tabakzoll, weil die Ratur den Weinbau und dad Geſetz den Tabakbau verbletet. 
Der engliſche Tabakzoll iſt denn auch Höher als ſelbſt der höchſte Steuerfah, welcher 
durch die hochſten Monopolpreiſe, die franzöfifchen, gewonmen wird (per 50 Kilogr. 
in England 116—129 Thlr., in Frankreich 70-80 Thlr. Steuer). 

Anf dem Kontinente iſt das Acciſeweſen ſchon länger vereinfacht, die Zatl 
der entſprechenden Finanzzolle daher ſchon früher geringer geweſen. Doch IR das 
Princip der völligen Gleichheit des Zoll⸗ und Steunfages noch nicht allgemeht 
zur gelangt , woraus indeſſen wegen befonbrer Umflände nicht ſtets in 
jevem Falle eine völlige Umwandlung bes Finanzzolle in einen Schutzzoll hetvor⸗ 
gegangen if. Segenwärtig kommen beſonders in Vetracht die Artikel Syiritwo- 
fen, Wein, Bier, femer Salz und Tabak, wo bie Verzgchrungeſteuer davauf 


368 Zölle. 


nit in Form eines Monopols, fondern einer gewöhnlichen inbireltien Abgabe 
erhoben wird, endlich Zuder, deſſen Zoll früher reiner Kolonialwanrenzoll war. 
Gerade diefer ehemalige reine Finanzzoll auf Zuder bat fih auf dem Kontinente 
in Folge der anfänglihen Stenerfreiheit der allmälig emporlommenden Rüben- 
zuckerinduſtrie und wegen der noch lange fpäter verbleibenven bedeutenden Diffe- 
renz zwifhen Steuer und Zoll am Meiften in einen eigentliden Schutzzoll ver- 
wandelt. Doc ift gegenwärtig dur die Annäherung ver Zoll- und Gteuerfäge 
diefer Schug überall erheblih ermäßigt. In Frankreich kann man kaum noch von 
einem Zuderfhug fpredhen, ba ter inländifhe Zuder mit dem aus nicht franzöfi- 
ſchen Probuftionsländern auf franzöfifhen Schiffen eingeführten Zuder gleih hoch 
und fogar no etwas höher als der franzöflihe Kolonialzuder beflenert ift. Im 
Zollverein iſt der Schuß zwar feit der Befteurung der Rübe mit 1/, Thlr. p. Ctur. 
und ber Bezollung des Rohzuckers für inländiſche Sieverein mit 41/, Thlr. auch 
fort verringert, aber vom Standpunkt des Finanzzolls immer noch zu hoch und 
felbft von demjenigen des Schutzzolls ans bei der gegenwärtigen Entwidlung ber 
Nübenzuderinpufirie und der trotz einer kaum genügenven Erportbonifilation vor» 
handenen Exportfähigkeit nod einer beträchtlichen Ermäßigung fähig. Nach Licht's 
Berechnung iſt der Tentner Rübenrohzucker im Durchſchnitt des Ernteausfalls und 
der Produktion von 1863—65 mit 3.23 Thlr. beſteuert geweſen. Einen viel größe 
ren, viel zu hohen Schutzzoll genießt Naffinade noch. In Defterreih und Ruß 
Iand wirb der höhere Schuß noch inbirelt durch die Papiergeldwirthſchaft und den 
zum Importiren ungünftigen Wechlellurs gefteigert. Der Zeitpunkt liegt wohl 
kaum mehr fern, wo ber Zuderzoll durch Ausgleihung von Zoll und Steuer in 
Weſt und Mitteleuropa wieder ein reiner Finanzzoll geworben fein wird. Im 
Zollverein ift der Zuder übrigens aud wohl, von dem VBerhältnig bes Rüben⸗ 
zum indifhen Zuder abgejehen, an fi no einer zu hoben. Konfumtionsabgabe 
unterworfen. Die Nübenfteuer beträgt circa 43, der Zoll circa 55 %/, des Dame 
burg. Duchfchnittöpreifed von Nobzuder in 1861—65,. 

Erfreutih if, daß bei der Verwandlung des Salzmonopols in eine ge 
wöhnliche Salzſtener im Zollverein (1867) die principiel zu fordernde Gleich⸗ 
ftellung von Zoll und Verzehrungsftener erfolgt ift (2 Thlr. p. Cutur.). Sonft 
finden fi) bei den oben erwähnten Artikeln aber meiftens noch erhebliche Ungleich⸗ 
beiten zwiſchen Zoll und Stener zu Gunften ver letzteren, ja ſelbſt eine Bezol⸗ 
lung ohne korreſpondirende Steuer. So iſt der Branntweinzoll im Zoll« 
verein p. 100 preuß. Quart 13 Thlr. 8 Egr., aber die innere Steuer ſchwerlich 
über 81/, Thlr. (nach Sötbeer, genaue Berechnung dieſes Steuerbetrags nach 
dem Fruheren faum möglich). In Frankreich zahlt der fremde Branntwein neben 
dem Zoll die inlänbifche Steuer. Der inländiſche Wein unterliegt mitunter, mie 
im Zollverein, gar keiner Steuer (in Frankreich ift ber Zoll nur nominell, aber 
einheimischer und frember Wein hoch befteuert), Bier und Tabak werben oft 
erheblich niedriger beftenert als bezollt. Eine Schutzzollten den gebt barans wohl 
hervor, aber eine Schutzzollwirkung möchte fih wohl nur gegenpweife eiu- 
ſtellen. Die Branntweinfabzilation hängt zu enge mit der Landwirthſchaft zuſam⸗ 
men und wird durch die Differenz zwiſchen Zoll und Steuer nit erſt hervor⸗ 
gerufen. Bier ift ein ſchwer tramspertabler Artikel, bei welchem aud vie volks⸗ 
tbümlige Geſchmacksrichtung viel. entſcheidet. Yrember Wein und Tabak verträgt 
in vielen Theilen Europas den höheren Zoll, weil bie Ausdehnung der inländi⸗ 
ſchen Erzeugung zu ſchwierig iſt und die Qualität des Beimifchen Produkts nicht 
Immer genügt, jo baß bie Einfuhr durch die Zollbifferenz wenigftens nicht in dem 


Zölle. 369 


Magaße gefämälert wird, als dies unter andern Umftänden wohl möglich wäre. 
Immerhin wird man eine Ausgleihung zwifhen Zoll und Steuer wünfhen mäüf- 
fen. Diefe wirb inveflen, foweit e8 irgend das Interefie des Fiekus geftattet, oft⸗ 
mals mehr in einer Repultion des Zolls, wie im Zollverein jegt beim Wein, als 
in einer Erhöhung oder neuen Einführung der inneren Steuer beftehen, denn bie 
Iestere bat, wie bei Wein und Tabak insbefonvere, bekanntlich ihre großen Schwie- 
rigkeiten. Wiederum ein Moment, welches auf liberale Reform and des Finanz- 
zolltarifs hinwirkt. Freilich kann gelegentlich das Bedürfniß der Finanzen auf den 
entgegengefegten Weg hindrängen, zumal wenn bie betreffende Abgabe gerechtfer: 
tigter als eine neue oder eine erhöhte andere Steuer erjcheint. So liegt bie 
Sache wohl in der Frage der Tabakſteuer im Zollverein. 

Erwägt man neben den angebeuteten DBerhältnifien die Schwierigfeit einer 
rihtigen Normirung der Erportbonififationen bei dem Acciſeweſen, ferner vie Beein- 
trächtigung des Fiskus und die nachtheiligen Störungen der Volkswirthſchaft und 
die ſchlimmen Wirkungen auf die Volköfittlichleit, welche durch Defraudation bei 
der innen Probultion und durch Schmuggel beim auswärtigen Handel entftehen, 
fo wird man vie Bereinfahung des Acciſeweſens und der forrefpondirenden Yinanz- 
zölle möglichſt befürworten müſſen und die notorifche Entwidlung biefer Abgaben 
in Europa eben fo begreiflich als gerechtfertigt finden. Die principielle Berwerfung 
der Schutzölle und ver Sieg bed Freihandels mußten aud bier zu immer wei- 
teren Reformen führen, je mehr man die Schwierigkeiten würbigte, welche fich der 
Feſtſetzung eines reinen Finanzzolls auf accifepflichtige Artikel entgegenftellen. Des⸗ 
balb möchte denn aud die Einführung neuer Acciſen, weil fie einen entiprechen- 
den Zoll, und neuer Zölle, weil fie eine entſprechende Acciſe erheiſchen, als dauern- 
der Steuern nit fo leicht zu befürchten fein. In mehrern neuern Handelsver⸗ 
trägen ift übrigens die Beſtiumung aufgenommen, daß bei der Einführung etwai- 
ger neuer oder bei der Erhöhung von Acciſen ver Zoll nur auf biefelbe Höhe 
mit dem Steuerfag geftellt werden darf (Brit.efranz. Bertr. Art. 6—9 [brit. Zuge 
ſtãndnißl, belg.-franz. Vertr. Art. 6, zollver.-franz. Vertr. Art. 7, öfterr.»franz. Vertr. 
Art. 6 u. a. V.). Wird diefe Beftimmung fireng wörtlih genommen, fo iſt da⸗ 
mit eine folge Maßregel eigentlich unmöglich gemacht, Die Staaten haben fid 
auf diefe Weife vie Hände etwas gebunden, was man getavelt hat. Aber mit 
Unredt, denn Nüdichritte im Zollweſen find dadurch erſchwert und eine inter 
nationale Regelung ver Beſteuerung ift damit angebahnt, was nur erfrenlih zu 
nennen if. — dan andere Wege bat belanntli während bes legten Bürger: 
kriegs in feiner Finanznoth und bei feinem Mangel eines vorhandenen geordneten 
Steurrſyſtems Nordamerika eingefhlagen. Ein in feiner Weife großartiges, für 
den Opfermuth ber Nation zeugendes Syſtem der inneren Verbrauchsſteuern ift 
dort gefhaffen worden und hat dann zu feiner nothwenbigen Vervollſtändigung 
eine entſprechende Umgeftaltung des Zolltarifs erforberlih gemadt. Der Schutz⸗ 
zollparoryemns hat diefe Zolltarifänberung nun noch für feine Zwede auszubeuten 
gewußt. Jenes innere Acciſeſyſtem ift aber im höchſten Maaße techniſch unvoll- 
kommen, furchtbar läſtig, auch Bereits wieder beſchränkt worden. Es Tann uns 
Europäern einigermaßen zur Beruhigung dienen, daß ſelbſt die Nordamerifaner 
ſchließlich doch wieder auf unfre immerhin mangelhaften, aber doch noch neben 
ihren Stenerexperimenten volllommen erjheinenden Steuern zurüdlommen. Im 
Uebrigen kann für viefen Punkt bier nur auf Hock's vorzügliche Darftellung 
verwiejen werden. " 

Die Höhe der Accifefäge und der korreſpondirenden Finanzzölle wird vor⸗ 

Dluntf@li und Brater, Deutf@es Staate⸗Wörterbuch. XL 24 





868 Zölle. 


nicht in Form eines Monopols, fondern ein‘ 
erhoben wird, endlich Buder, befien ol mi 3 vu Amen Ken 
Gerade diefer ehemalige reine Finanzıol < * Bi u Eimeinen nad} deren 
in Folge der anfänglichen Steuerfrein.: frißhefrieigung rißten, Salz 
zuderinwißtrie und wegen der mach ein nodh fo Hager Say wie jegt 
Pause bier am wünfchenswertheflen, — 
in ichte Ziel. Spirituofen mund Tabak 
n für fi, ſchade nur, daß bei dem erften 
erbliche Zwede gebraudten Spiritus ſchwer 
: abalbeſteurung unferes Erachtens die Mängel 
: Immerhin erfeint die Entwidiung in England, 
fe ſehr im Vorbergrund des fiskalifchen Intereſſes 
weinacciſe in Großbritannien und Irland 1866 
»lls 3,507,000, des Tabatzolls 6,532,000 Bf. St., 
cl. einiger noch dazu gehörenden Einnahmepoften, 
‚5%, aller Acctſen und Saten, eine erfprießliche aus 
:andebefteuertng und ber Ucciſe · und Zolltechnik. 
x u 1 cum puneuber Artikel, doc) verbieten verſchledene Mdfidhten zu 
zuge Die framgäftfgen und im Verhlelich mit den engliſchen auch bie beut« 
SE Züge Rad unter Berüdfißtigung der Wohlſtandeverhäliniſſe no zu hoch. 
& Bier: uud Weinbefteuerung wird wohl ſchon tomplementär im Verbrauchs 
Aeurigkem verlangt, bod) dürfen and) Hier bie Gähe nicht zu hoch fein. Ledteres 
ud Re für Bier durch die Malgfiener unbedingt in England, — wohl ber 
fast Funft des dortigen Syſtenis ber inbireten Stenern, deſſen Reform Thon 
tert derſucht, aber nod nicht gelungen if. Im Zollverein Möhnte eine mäßige 
allgemeine Dier- und Beinfteuer neben dem Zoll, die erftere in höherem Be- 
je alt jeßt, wohl gerechtfertigt werben. Sonſt empfehlen fih wiege Säge 
durch bie geringere Gefahr von Defraubation und Schmuggel. Aber bei 
Anem einmal vorliegenden Staatsbedarf in gewiſſer Höhe und bei ber relativen 
Unentbehrlichleit ber Verbrauchsſteuern, fo lange bie direkten Grtragsftenern fo 
mangelhaft find, würden zu niebrige Säge wieder nur eine größere Anzahl Accifen 
und entfprehender Zölle nöthig machen. Dagegen aber Ken viele wirthſchaft · 
Uche und finanztehnifhe Zufände. Kann man einmal jene ganze Steuerklaſſe 
nicht entbehren, fo iſt es doch wohl das Beſte, wenige richtig amsgewählte Wetitel 
hoch zu befteuern und zu bezolfen, auf fie bie Kontrolen zu befchränfen und ben 
fonftigen Verkehr möglihft frei zu laflen. Hierin legt die relative Rechtferti- 
ung felbR eines Tabafmonopois ober bes englifchen Berbots des Tabakbaues. 
— engliſche Syſtem erſcheint auch and dieſem Gefitöpunfte wieder als Muſter. 
Gegenüber ſtädtiſchen Oktrois, weiche auf Staatsrechnung erhoben werben, ober 
der preußiſchen Mahl und Schlachtſteuer iſt 3. ®. eine hohe Tabakbeſtenerung 
gewiß das kleinere Uebel. Auch wenn die fo mänfchenswerthe weitere Bereinfa- 
Hung bes Tarife des Zollvereins umb anderer Rontinentalftanten eva nur an 
finanziellen Bedenken ſcheitert, möchte fie durch eine oder zwei paffende Höhere 
Verbrauchsſteuern, wie Acciſe und Zoll auf Tabaf over Branntwein, kaum zu 
theuer erfauft fein. Im Zollverein muß man wie feiner Zeit in England endlich 
den praftifhen Gefichtspunkt einnehmen und, fo lange gewiſſe Finanzbedürfniſſe 
nit rebuchrt find, für einen zwedmäßigen Erfat ver aufzugebenden Zolleinnah- 
men forgen. Das Richtige wäre wohl, auf bie Abfchaffung der Salzftener, ver 
»f Nohftoffe und Verzehrungsgegenſiände untergeordneten finnmiellen In- 

































ur 





Sölle. 371 


tereſſes, anf thunlichſte Beſeitigung und jedenfalls weitere Reduktion der Zölle 
auf Halbſabrikate und Fabrikate, auf Aufhebung der Oktroit und Mahl⸗ und Schlacht⸗ 
ſtenern hinzuarbeiten, und den Erſatz in einem richtig kombinirten Acciſe⸗ und 
Fingnzzollfyſtem mäßiger Steuern auf Zucker, Bier und Wein, hoher Steuern 
auf Branatwein und Tabak und in den Kolonialmaarenzöllen zu fuchen. Die 
Tendenz der Entwidiung geht daranf offenbar auch außerhalb Großbritanniens 
hinaus. Hier Liegen dankbare Aufgaben für das deutſche Zollparlament. 

Eine ſolche Bereinfadung des Zarifs hängt übrigens noch von der Beant- 
wortung einer anderen Frage ab, ob nämlich außer ver bisher beſprochenen ei- 

:ntligen Uccife, der Inneren meiftens indirekt erhobenen Verbrauchſtener, noch 

"dere innere Steuern bei der Normirung der Finanzzölle zu berückfichtigen find. 
Sibſtverſtäudlich gilt das Gefagte auch für Lokalacciſen, welche auf ſtädtiſche 
oder Staatsrehnung erhoben werben, z. B. die preußiſchen Mahl- und Schlacht⸗ 
ſtenern, die mandherlei franzöfiihen und öſterreichiſchen, aud einzelne deutſche 
Berzehrungsftenern in ben mit Verzehrungsftenerlinien — d. h. eben mit Zoll- 
linien alter Urt — umgebenen Stäpten. Einheimiſche und fremde Artikel find 
bier gleich zu behandeln, aljo wenn z. B. keine Lokalacciſe auf franzöfifchen Wein, 
wie nad dem deutſch⸗franzöfiſchen Handelsvertrage, gelegt werben darf, fo iſt auch 
die Erhebung einer ſolchen Acciſe auf inlänpifhen Wein nicht thunlich (wie z. ©. 
in Naſſau), fonft würde ver fremde Wein eine Einfuhrprämte in die Stabt 
genießen. Jene allgemeine Frage wird von den Meiften ſtillſchweigend verneint, 
fie iſt ſelten nur aufgeworfen worden. Neuerdings iſt fie von Hod in feiner 
Theorie vom Ausgleichungszoll neben dem Schug- und Konfamtionszoll 
angeregt worden (Deff. Ag. ©. 147). Wir vermögen uns feiner Begründung nicht 
anzuſchließen, vie Bedeutung des Mannes und bie principielle Bintigtelt ber 
Sade rechtfertigt aber ein kurzes Verweilen bei der Frage. - 

od meint, wo das Einkommen bes Inländers birelt ober indirekt befteuert 
werde, fordere die Gerechtigkeit auch die Beftenerung des Einkommens, das der 
Fremde aus dem Lande beziehe. Das einzig möglihe Mittel hierzu fei die Be- 
flenerung des Gewinns ans dem Waarenperkehr im Zolle. Diefer „Ausgleichungs⸗ 
300“ ſolle bei Rohftoffen am niebrigften, bei Ganzfabrilaten am höchften fein. 
Denn ber Gegenſtand ber Beftenerung fei die Summe der Einkommen derjenigen, 
welche an der Verfertigung ber Waaren mitgewirkt haben. Alfo ein ähnlicher Ge⸗ 
fichtspunkt wie beim Schupzoll, von dem ſich der Ausgleichungszoll jedoch dadurch 
unterfgeiden fol, bag nit der Gewinn des fremden , fondern die von dieſem 
Gewinn dem Staate gebührenne Steuer die Höhe des Zolls beftimme. 

Hod verhehlt ſich felbft nicht die praftiihen Bedenken in manden konkreten 
Ballen, meint aber, im Princip fei die Forberung aufrecht zu erhalten. Uns ſcheint 
letzteres wenigftens zweifelhaft und bie praftifhen Bedenken find geradezu unbe⸗ 
flegbar in allen Fallen. Die VBoransfegung für bie principielle Nichtigkeit der 
Forderung iſt bie Stenerpflichtigkeit jenes Gewinns des Fremden im Inlanbe. 
Run würde der Fremde weder als Stantsangehöriger noch ala Stantsbewohner getrof- 
fen werden. Die auch nur bedingt zuläffige Rechtfertigung einer Befteurung tes Ein» 
fommens aus bem Im Julande angelegten Kapital des Fremden (Kapitalzinsfteuer, Cou⸗ 
ponfleuer) paßt auf den Ausgleihungszoll nicht einmal genau, denn das fremde Ka- 
pital, weldes in der Landwirthſchaft, dem Gewerbe, dem inländiſchen Handel, in 
den Ermwerbsgefellichaften (Aktien, Brioritätsohligationen) und dem ftaatlihen Pro⸗ 
buftionsproceh (Staatöpapieren) des Inlands angelegt ift, arbeitet wenigſtens voll« 
fländig innerhalb ver heimifchen Volkewirthſchaft, unter heimiſchem Nechteihug 

24* 


372 Sölle. 


und dem Gennß die heimiſchen Staatsförderungen aller Art. Das im auswärti⸗ 
gen Handel umgeſetzte Kapitel arbeitet dagegen ſtets im In⸗ und Auslande zu⸗ 
gleich. Erhöben alle Staaten ſolche Ausgleichungszölle, fo erfolgte regelmäßig eine 
Doppelbeſteuerung, deren Vermeidung im Intereſſe der betheiligten Producenten 
und ihrer Staaten liegt nnd vom weltwirthſchaftlichen Standpunkte aus, der für 
biefe Fragen Internationaler Beftenerungspolitif maßgebend fein follte, auch prin- 
cipiell zu verwerfen if. Erhöben nun einzelne Staaten folde Zölle, fo glichen 
piefelben doch gar zu fehr den alten Zöllen, d. 5. jenen Erlaubnißgebühren für 
den Fremden, im Inlande ungeplündert Handel zu treiben. 

Wie dem auch ſei, unausführbar aus praftiihen Gründen ift dieſer Aus⸗ 
gleihungszoll gewiß. Ein Einfuhrzoll trifft der Regel nad ven inländiſchen Kon⸗ 
fumenten (f. u. V), was bier vem Zwed gerade entgegen wäre. Yür bie richtige 
Bemeflung der Höhe fehlt ferner jeder Anhaltspunkt, Hock's Andeutungen genü- 
gen durchaus nicht. Die Schwierigkeiten wären noch unendlich größer, als in dem 
obigen Falle der Feſtſetzung des Finanzzolls nah der Uccife. Der Willkühr wäre 
Thor und Thür geöffnet, der Ausgleihungszoll würde nod viel leichter ala ver 
Finanz⸗ (Konfumtions) Zol zum Schugzoll werden. Bollends pas Verhältniß 
der Ansgleihungszölle bei verfchienenen Waaren ließe ſich nur nad Willfür nor- 
miren. Und die Bereinfahung des Tarifs, dieſer Hauptgrunpfag neuerer 
Zollpolitit, wäre enbgiltig aufgegeben! Denn offenbar müßten alle Waaren getrof- 
fen werben, alfo eine unenblihe Anzahl Zollartitel und Zollfäge, eine noch viel 
größere Weitläufigkeit, Berwideltheit, Willkürlichkeit des Tarifs als jemals früher, 
und niemals eine Befjerung in Ausfiht, vie Gründe für den Ausgleihungszoll 
blieben immer beftehen, felbft wenn biejenigen für Schutzzölle und vie meiften 
Vinanzzölle immer mehr fortfielen. Die Folgen des Princips der Ansgleihungs- 
zölle zeigen fih annähernd im neueren norbamerilanifchen Tarif, ver ſchon wegen 
bes ſchlechten Syſtems der vielen inneren Verbrauchsabgaben fo monfirds werben 
mußte. Nein, die Idee des Ausgleicjungsgells ift kein glüdlicher Gedanle des 
eminenten Winanzmannes. Ihre VBerwirklihung wäre der Tod des Freihandels 
und eines einfadyen uationalen Zollfuftems. Die Aufgabe ift vielmehr, das Finanz- 
zollſyſtem möglihft aller ſchutzzöllneriſchen Rebenwirkungen zu entfleiven und es 
in Betreff der im Inland producirten Güter auf bie accifepflichtigen zu befchrän- 
ten. Dies ift auch die deutlich erkennbare Richtung der neueren Entwidiungs- 
geſchichte der Zarife und bie in ven liberalen Haubelöverträgen ansgefprochene 
Tendenz, wodurch auch bebeutfame Keime zu einer völkerrechtlichen Regelung ber 
ung gelegt find. (Ueber Hock's Anfiht über den Zoll überhaupt 
. u. V). 

Die zweite Hauptklaſſe der Finanzzölle, vie Zölle auf Kolonialwaaren, 
begreifen die Artikel eines abfoluten oder annähernd abfoluten Naturmonopols ber 
Fremde gegenüber dem betreffenden Zollgebiet. Die wichtigften Waaren find alfo 
für Europa die früher genannten transatlantifchen und ſpeciell tropiſchen, 
für einen großen Theil von Europa die ſüd- und wefteuropäifhen Probulte, 
wie Südfrüchte, Reis, Wein (3. Th. Tabak). Bezollung an fi, allenfallfige 
Auswahl der Artikel und Höhe der Zollfäge machen hier viel weniger Schwie- 
tigfeit, und zwar einfach, weil bie erörterten Hinberniffe bei der Bezollung ber 
im Inland erzeugten Waaren fehlen. Zolltehnifhe Gründe fprehen alſo für bie 
Befteuerung diefer Artikel, fomwelt die betreffenden Zölle fih als Ber- 
braucftenern Überhaupt empfehlen. Begreiflicher Weiſe bilden biefe Pro- 
bufte denn auch thatfächlih noch überall in den civilifirten Ländern der gemäßig- 


Bälle, 373 


tem Zone einen ber wichtigſten Theile des Zollweſens, und fie werben wohl erft 
mit biefem letzteren felbft, wenn es dazu einmal kommen follte, fallen. Was bie 
Auswahl anlangt, fo werden auch hier paflender Weife nur eigentlihe Ber- 
schrungsgegenflände, nicht fremde Rohſtoffe u. ſ. w. bezollt (f. o.). Die 
Hanptartitel find regelmäßig, von Zuger, Tabak, einigen Spirituofen abgefehen, 
welche jegt meiftens zur erften Klaſſe der Finanzzölle zu rechnen find, Thee, 
Kaffee, Gewürze, Kalao, Süpfrüchte, Reis. Die Einnahme aus dieſen 6 Artikeln 
beirug im Zollverein 1862—64 (inkl. friſche Südfrüchte) jährlich 9,06 Mill. Thlr. 
ober 26,3 9/, der Bruttoeinfuhrzolleinnahme (Intl. Nübenzuderftener), in Defter- 
rei (infl. alle Sübfrächte) 1864 3,13 Mill. Thlr. 23,8 0/,, in Frankreich (exkl. 
Kalao und frifehe Süpfrüchte) 1864 6,3 Mil. Thlr. oder 18 9/,, in Großbritan- 
nien (Reid und ſchon früher alle Gewürze außer dem erſt kürzlich Befreiten Pfeffer 
zollfrei) 1864 85,81 Mill. Thlr. oder 23,8 0/,, in Rußland (exkl. Kakaod und 
andere Gewürze ala Pfeffer) 6,68 Mill. Thlr. oder 21,2 9/0 ver rohen Einnahme 
an Ein- und Ausfuhrzöllen im europälfchen Verkehr. 

Bom Standpunkte der Bereinfahung des Zollmefens wird man nur 
verlangen können, daß einzelne unbedeutende Artikel, weldhe nicht wie z. B. 
„Gewürze“ eine zufammengehörige Kategorie bilden, befeitigt werben. Im Interefie 
ver Maſſe ver Bevölkerung und einer richtigen Beſtenerungspolitik, 
db: b. zur mögliäfien Durchführung des Einkommenſteuerprincips auch in ven 
Verbrauchſteuern, muß vornehmlih die Freiheit oder der niebrige Zoll von 
Hanptuahrungsftoffen, wie Neis, 3. Th. auch Pfeffer, geforbert werben 
England ift aud hier wieder mit ber Befreiung dieſer beiden Artikel vorangegan⸗ 
gen, Frankreich Yat wenigſtens einen niedrigen Reiszoll, Deutſchland aber leider 
feinen zu hoben Reiszoll (1 Thlr. p. Eentn., d. b. circa 20%, vom Hamb. Durch⸗ 
ſchnittspreis für Javareis von 1861 — 65, 5,06 Thlr., nicht vie billigfte Sorte!) Iava 
noch beibehalten umd beide letztere Länder haben einen zu hohen Pfefferzol (Erant- 
reich 6 Thle. 10 Gr. — 8 Thlr. 4 Gr., Zollverein 6 Thlr. 15 Gr. — 9 Thl. 
15 Gr. p. 150 Kil., Hamb. Durchſchnittspreis 1861—65 11,9 Thlr., alfo letzterer 
Sat fall 55 9/1). Für allgemein verbreitete, zur Bollsnahrung gewordene Luxus⸗ 
nabrungsftoffe, wie bier Thee, dort Kaffee find mäßige Zollfäge nicht nur die 
beften für das Bolt, fondern auch wegen geringeren Schmuggeld und größeren 
Konfums wmeiftens die einträglichften für die Binanzen, ebenfo wie mäßige Zuder- 
und Weinzölle. Auch bier ift wieder die jüngfte Reduktion der englifchen Theezölle 
befonders zu loben, nad kontinentalem Maßftabe ift der englifche Theezoll von 6 ä. 
aber noch immer für das erfte nationale Getränk diefer Art jehr hoch (p. 50 Kilogr. 
18 Thlr. 12 Gr. oder 35 %, des Hamb. Durchſchnittspreiſes von 52,7 Thlr., 
demnad der frühere 7O und der noch kurz vor dieſem geltende Zoll von 17 d. 
p. Bf. 99 9/1) In dem anderen großen europälfhen Lande des Maſſenkonſums 
von Thee, in Rußland, ift der Theezoll bei der aflatifhen Einfuhr p. ruf. Pf. 
15, bei der europäiſchen Einfuhr 35 und 50 Kopelen nebſt 5 9/, Zuſchlag, ober 
p. 350 Kil. reſp. 20,5, 47,8 und 68,3 Thl. al Bari gerechnet, maßlos hoch für ein 
jo armes Land, der mittlere Sag ift 90,7 0/, des Hamb. Preifes! Auch in Nord- 
amerila ift der Theezoll im 3. 1864 auf 38 Thlr. 10 Gr. p. 50 Kil. erhöht. 
Dagegen könnten die Theezölle in Deutſchland, Defterreih, Frankreich (refp. 
p. 50 Kil. 8, 101/, und 5i/; — 131/, Thlr. oder wiederum nad) Procenten bes 
Hamb. Preifes 15,2, 19,6 und 10,1 — 25,3 0/ ‚natürlich alles nur annähernde Berech⸗ 
nungen, da bie fonfumirten Onalitäten andere als die im Hamb. Handel erſchei⸗ 
nenden jein können) unb in anderen Kontinentalländern, wo ber Thee mit Aus: 


374 Säle. 


nahme Hollands überall ein Genußmittel Heiner wohlhabenberer Kreife 
ift, nicht wohl anfehnlich erhöht werden, ohne den Konfum und befien Wachsſs⸗ 
thum zu hemmen, jedoch mindeſtens auf den Sa von Kaffee. Die Kaffeezölle 
(Zollverein p. Zolleentn. oder 50 Kit. 5, Defterreih 51/,, Frankreich 4 Thlr. 
24 Gr. — 7 Thlr. 12 Gr., nach dem Urfprung und vem Einfehrlande, Großbritan- 
nien 9 Thle. 6 Gr., Rußland 8 Thle. 7 Gr., Nordamerika 7 Thlr. 20 Gr. 
oder nach Proeenten des Hamb. Durchſchnittspreiſes von Braſilkaffee, ver billige 
ften Sorte, 1861—65 20,74 Thlr., refp. 24,1 im 3. V., 25,7 in De, 28,1 358 
in $., 44,4 in Gr., 39,6 in R., 37 9/, in R. 4.) find in ben drei erfien Lan⸗ 
dern des Maſſenkonſums von Kaffee wohl nit unzweckmäßig normirt. Ob aber 
im Zollverein die Herabfegung des Zolls von 61/, auf 5 Thlr. zur Zeit bes 
Eintritt Hannovers in ben Verein ganz gerechtfertigt war und ber gegenwärtige 
Zolfag, fo lange Salz- und ähnliche bevenflihe Steuern, z. B. bie 
preußiſche Mahl- und Schladtfteuer, vorfommen und zum Theil fehr 
hoch find, ganz richtig if, mag immerhin einigem Zweifel unterliegen. Mit 
Net wird neuerdings bei der Normirung ber Zollfäge das Princip befolgt, durch 
nieprige Preife den Konfum zu fteigern, aber man darf die Tragweite dieſes Grund⸗ 
ſatzes auch nicht überſchätzen. Die Herabfegung im J. 1854 beträgt für das Pfund 
Kaffee, 0,5 Sgr., Ihmwerli genug, um den Konfum beträchtlich zum erhöhen, was 
denn auch nicht im ſtärkeren Maaße als früher geſchehen zu fein fcheint, übrigens 
wegen des Beitritts des hannover’ihen Steuervereins nicht ganz genan zu ermit- 
tein if. Die engliſchen Zollreformen find bier mitunter von den Freihändlern zu 
einfeitig interpretirt worben, indem dort bie Herabfegung wegen ber Ueberhöhe ber 
früheren Zölle eime viel beveutenbere und der Einfluß auf die Preife wegen des 
Fortfalls der Differentialfhugzölle für die englifhen Kolonialprodukte ein viel 
flärkerer war. Mindeftens könnte es im Zollverein, unter Borausfegung eines 
gleichbleibenden Staatsbedarfs, eine offene Frage fein, ob zur Erleichterung wei⸗ 
terer Neformen im Beſteuerungsweſen und Im Zolltarif ſpeciell, namentlid zur 
Herabfegung der Salzfteuer, zur weiteren Abſchaffung von Schugzöllen und aud 
noch insbefondere zur Herbeiführung einer Ausgleihung zwiſchen Rübenzuckerſteuer 
und Nohrzuderzoll mittelft einer neuen Ermäßigung des legteren nidt 
wenigftens vorübergehend eine Kaffeezollerhöhung 3. ®. auf 6-61/, Thlr. 
räthlich fein follte. Die Berteurung des Zuders ſcheint uns im Zollverein zu der⸗ 
jenigen des Kaffees zu hoch zu fein. Für bie gegenwärtigen Wohlſtands⸗ und 
Konfumverhäliniffe des mittleren und äftlihen kontinentalen Europa in deffen 
jetziger Finanzlage möchten im Princip etwa Säte von 30 9%), für Mafien- 
Iurustonfumtibilten wie Kaffee, Pfeffer, etwas höhere, AO 9,, vielleicht einſt⸗ 
weilen noch für Zuder, aud für Thee, obgleich dieſer Artikel, wenn auch 21/, 
mal fo hoch als jegt im Zollverein, dann doch Immer noch gegenüber Kaffee niebrig 
bezollt wäre, ferner Säge von höchſtens 10 9/, für wichtigere Nahrungsmittel, 
wie Reid, wenn bie Zollfreiheit für ihn nicht zu erreichen ift, von wenigſtens 500), 
für Lurusfonfumtibilien wohlhabenderer Klafien, wie Kakao, Südfrüchte, die meiften 
Gewürze (ſoweit bei legteren vie Gefahr des Schmuggels nit eine Ausnahme 
bebingt), eigentlich auch Thee, die richtigften fein. Dieſen ſchlöße fich eine Tabat- 
befteuerung von minteftens 50 9/,, eher mehr, eine Spirituofenfteuer von wenig- 
ftens 50—75 9), und eine Weinfteuer von ebenfalls 30 %/,, vie betreffenden 
Zöle und Acciſen immer möglihft im gleicher Höhe, paflend an. Auf Grund der 
Hamburger Durchfchnittspreife von 1861—65 und unter fernerer Feſthaltung 
eines einzigen fpecifiihen Zollſatzes für alle Qualitäten jeder einzelnen Waare 


Zölle. 375 


wärben fich dann etwa nach biefen Principien, nur mit einigen durch die Umflänve 
noch geboten fcheinenden Mopifilationen, im Zollverein im Bergleih zu ven 


wärtigen Zoll⸗ und Acciſeſätzen folgende Zölle ergeben. 
san gm 3 Hamb. Srch Ser Bee —* che Reuer Sr 


Zollvereins-Tarif 1; Sentn. y. wenn BER ö 

in le. u Der hr Ser. De Thlr. Sgr. Een Thlr. Sgr. Dt 
Robyuder (ind.) — * 4. 71, b48s — — .— 38,7 

Rüben-Robzudex " — —— «437 411 —. — — 

— od. p. Tenin. Rn — — — — — NM — —. — — 
Kaffee (ale Sorte 22.857 ° 6. — 22.4 — — — 6. — ' 26.9 
Thee (alle Sorten) 52.0 8. — 152 — — — 20. — 38,0 
Ralın 14a 615 335 — — — 10. — 50. 
Reis (ale Serten 3. 1.— 25.2 — — —,12 10! 
Bfeffer 11.8 6.15 545 — — — 3.— 352 
Piment ss 6. 15 77. — — — 3.— 36.6 
Comehl 68 615 144 — — — 10.— 218 
Kaſſia (Ligana) 29,5 6. 16 22. — — — 10. — 344 
Roſinen 853 L— 46.0 — — — 5. — 58.6 
Korinthen 6.5 4. — 63.0 — — — 5. — 781 
Mandeln 192 4.— 20.2 — — — 5. — 25.2 
NRohtabal. (alle Sorten) 4.09 4. — 16.8 — 20 (c. 45%), 12.— 50.0 
Spirit. (Korm-u.Rartofl,) 7A 6. — 82.9 c.1.16 160° 6. — 69.0 

3.6 35. 
Wein (franz. ercl. Champ.) .) bis4. — N 0 — 2.15 27.7 
nm2.— 27. 
1.15 306 
Sal; 0.8 2.— 408 2.— 408 Fig 204 


Diefe Zollvorſchläge find für Zuder und Salz no immer body, für Kaffee, 
Tabak, Spiritus keineswegs überhod, denn die Steuer von Tabak ſtellt fi in 
England auf 116—129 Thlr., im Monopol Frankreichs auf 7O—80, in bem 
Defterreihs auf c. 33 Thlr., in Rußland auf 19 Thlr. 23 Gr., der Zoll- und 
Steuerbetrag auf Branntwein ift nicht nur in England um Vieles, fondern auch 
in Frankreich nod höher (für Acciſe 5—6 Thlr, dazu Zoll über 1 Thlr.) und 
Kaffee, deſſen Konſum in Frankreich und Deutſchland fih noch am Erften gleicht, 
allespings aber in Deutſchland verbreiteter ift und weiter in die unteren Klaſſen 
hinabragt, zahlt im Durchſchnitt faft 7 Thlr. in Frankreich. Im Princip 
wärbe die Gleichſtellung bes Zolls und der Acciſe für Tabak, Wein, Spiri⸗ 
tus, Zuder zu verlangen fein. Diefe ift ſchwerlich fofort zu erreihen, aber eine 
richtige Finanzzollpolitit muß wenigftens ernftlih darauf hinfteuern. Die inländi⸗ 
fhe WVeinftener ift im Zollverein bei der doch nicht bedeutenden Weinproduktion 
minder wichtig, aber kaum ganz zu umgehen. Bei Zuder wirb es fi vornehmlich 
um Grmäßigung bes Zollfages, bet Branntwein um Erhöhung ber inneren Steuer, 
bei Tabal um ſtarke Erhöhung des Zolls und der Steuer zugleih handeln. Die 
oben vorgefälagene Herabfegung ver Salz: und Reisbefteuerung kann nur als ein 
Abſchlag auf weitere Ermäßigungen betrachtet werben. Eine genaue Abſchätzung 
ber durch folge Neformen bewirkten Veränderung der Einnahme ift im Voraus 
nicht möglich. Doc ergibt ein ungefährer Anfchlag, unter Annahme einer Salz- 
fleum von bloß 1 The, einer biffesentiellen Begünftigung des einheimifchen 
Zuders mit 1/, Thlr. (alfo 21/, Thlr. Acciſe ober c. 6 Sgr. p. Centn. Rüben) 


% 





376 Zölle, 


und eines gleichbleibenden Konfums von Salz, Zuder, Wein, Reis, Bfeffer 
einen Aurfall von c. 10 Mil. Thlr. Diefer Ausfall würde aber mehr als er» 
fegt darch die größere Einnabme ans den Zoll- und Steuererhöhungen, felbft 
wenn man die Brantweinbeftenerung beim Alten Liege, die — höchſt unwahr- 
ſcheialiche — Verminderung des Tabakkonſums auf die Hälfte annähme, — fie 
wäre dann nah Sötbeer's Berechnung Fleiner als in Frankreich mit der noch 
immer fechöfachen Befleuerung des Tabals, nämlich 1.38 gegen 1.55 Pf. p. Kopf 
— und im Konfum der wenig vertheuerten Hauptartifel wie Kaffee feine Ber» 
ringerung einträte. Eine folhe Umgeftaltung, welde in der Hauptſache die über- 
bobe Salzfteuer durch eine immer noch mäßige Tabakſteuer erfegte und den Kaffee 
weniger verthenerte als den Zuder verbilligte, iſt gewiß wünſchenswerth. Ja, die 
Reform der Zabal- und Spiritusftener böten im Zollverein die Erfagmittel für 
die gänzliche Befeitigung ter Salz: und ähnlicher Steuern. Die beachtenswerthen 
Sinwendungen Makowiczka's gegen vie Erhöhung des Tabakzolls und der inne» 
ren Zabaffteuer fcheinen mir doch wicht durchſchlagend geuug zu fein, wenn ans 
derfeits ſolches wichtiges Nefultat erlangt würde. 

Wir haben dieſen Exkurs über eine wichtige Reformfrage der Steuer- und 
Zollpolitit des Zollverein abſichtlich bier, ftatt im Artikel „Zollverein” eingerefht, 
weil der Vorſchlag, wie fi aus den Mittheilungen über andere Länder ergibt, 
durchaus nicht etwas Abfonverlidhes verlangt und bier glei durch den Zuſammen⸗ 
hang empfohlen wird. Die Erfahrungen außerhalb Deutfhlands weifen auf diefen 
Weg hin und dienen zu feiner Rechtfertigung. Deutſchland würde vermuthlich ſchon 
früher auf diefelbe Bahn gelangt fein, wenn es feine politiſche Umgeftaltung frü- 
ber bewerfftelligt hätte. 

Neben den beiden großen Klaſſen ber Finanzzölle auf acciſepflichtige und auf 
Kolonialwanren kommen noch ſolche Zölle auf wichtige Lebensbedürfniſſe, 
d. 5. Nahrungsmittel erften Rangs, und auf Robftoffe zur indpuftriellen 
Verarbeitung vor. Zu erfteren gehören namentlich die Zölle auf Getreide und _ 
Mehl, Vieh und Fleiſch, frifche, getrodnete und gefalzene Fiſche, zum Theil auch 
Butter und Käfe. Biele dieſer Zölle haben befanntlih lange Zeit in Großbritan- 
nien, Frankreich, ein wenig auch in Deutſchland die Bedeutung landwirthſchaft⸗ 
liher Schußzölle gehabt und find als folhe mit Recht aufgegeben. Aber auch ale 
Tinanzzölle find die meiften Davon bedenkliche Verbrauchfteuern; Abnlid wie bie 
Salz- und Mahl- und Schlachtftener, und um fo weniger zu billigen, ba fie oft⸗ 
mals nur einzelne Gegenden, welde auf Verforgung aus dem Auslande angemie- 
fen find, treffen, alfo gegen das Princip der Gleichmäßigkeit verftoßen. Im Zoll« 
verein find wenigſtens einige diefer Zölle Bei ver legten Tarifreform in Folge 
des franzöfiihen Handelsvertrags befeitigt, andere ermäßigt worden. Zu jenen 
gehören bie Zölle auf Getreide und Hülſenfrüchte (Ertrag bei Kleinen Zöllen von 23 
Gr. per Sch. Weizen, 1/, Gr. per Sch. Roggen n. |. w. 1864 0.13 Mill. Thlr.), Müh- 
Ienfabrifate aus Getreide und Hülfenfrüchten, gebadenes und getrodnetes Obſt, 
Kälber, Schafe und Ziegen (erfl. Hammel, Ertrag diefr 3 Bichzölle 1864: 
12,000 Thlr.); alle diefe Artikel waren übrigens fhon im Zwiſchenverkehr mit 
Defterreih, ber darin bedeutend ift, befreit. Ermäßigt, und zwar nicht unbedentend, 
meiftens anf bie bisherigen Zwiſchenzollſätze mit Defterreih,, mitunter auch noch 
weniger, find die beftehen gebliebenen verfchievenen Vieh⸗ und Fleiſch⸗, Butter 
und Käfezölle (Ertrag der Viehzölle, ohne die drei aufgehobenen, 1862—64 jähr- 
ih 368,000 Thlr., ber Fleiſchzölle 265,000, Butter 56,000, Käfe 153,000, 
zufammen 842,000 Thlr.). Xeiver ift ein derartiger Zoll, der auf geſalzene Hä⸗ 


&ölle, 377 
ringe (1 Thlr. per Tonne, oder 10—12 9, vom Werth) nicht reducirt worden. 
Er gehört zn denen, welche durch die oben befürmortete Reform ebenfo wie ber 
Reiszoll wo möglich abgeſchafft werben müßten (Ertrag 443,000 Thlr.). England hat 
auch mit dieſen Zöllen jett ganz aufgeräumt. Das Streben hienach tritt in ben 
neueren Tarifreformen auch auf dem Kontinent hervor. Einzelne verwandte Artikel 
ganz unbedentenden Ertrags (Im 3. V. 3. B. Effig) würden der Vereinfachung 
des Tarifs zu Liebe ebenfalls fallen dürfen. 

Die Zölle auf Robftoffe zur inpuftriellen Verarbeitung haben eigen- 
thũmlicher Weiſe, obgleich fie den merkantiliſtiſchen und ſchutzzoͤllneriſchen Tendenzen 
nad einer Seite widerſprechen, bis vor gar nicht lange eine verhältnißmäßig nicht 
umberentende Stelle in enropäifhen Tarifen eingenommen. Theils kamen babei 
allerbings landwirthſchaftliche (mie bei den einheimifchen Spinnftoffen, bei Saaten, 
Zalg, Häuten, Leder, auch Holz u. a. m.), mehr noch montaniſtiſche Schutzzoll⸗ 
tendenzen, namentlich bei Roheiſen und Steinkohlen felbft wieder zur Geltung, 
theils ſchienen die überfeeiihen Artikel eines fremden Naturmonopols, wie Baum⸗ 
wolle, Seide, Farbftoffe, manche Dele, Droguen u. f. w. wiederum für eine Finanz» 
bezollung befonders geeignet. Das landwirthſchaftliche Schutzprincip fiel aber bier 
um fo eber, da e8 mit dem Princip des Inpuftriefhuges in Konflikt kam, und 
auch auf bie Beſeitigung ber andern Finanzzölle wirkte ſchon dieſer Induſtrieſchutz 
hin. So fehen wir denn nicht nur bei zum Siege gelangtem Freihaudel, wie in 
England, fondern auch in dem Syſtem mäßiger Schußzölle im Zollverein, höhe⸗ 
rer in Oeſterreich und Frantreih und meift noch probibitiver fogar in Rußland, 
die Zölle auf ſolche Robftoffe verſchwinden oder wenigſtens ſtark herabgefekt, frei 
li in der Regel noch mit der Ausnahme des montaniftifhen Hauptartifele Eifen 
und aud wohl anderer Metalle, weil hier das Schukprincip noch nit überwun⸗ 
den wurbe und dieſe Artikel im Gegenfag zu primitiven Rohſtoffen unter ver 
Kategorie ver Halbfabrifate eher einen Schuß noch länger zu verbienen ſchienen. 
Im Zollverein wurden u. U. bei ver jüngften Zartfreform vom Bol befreit: 
Flachs, Hanf, Werg, ungefärbte rohe und Floretſeide, Delfamen und andere 
Sämereien, Oelkuchen, Talg, Bettfebern, Terpentindl, Theer, Beh, Potafche, Bau⸗ 
and Brennholz (auch gefägt), Krapp, gemahlenes Farbeholz, viverfe andere Roh⸗ 
produfte zum Gewerbegebrauch, Steintohlen, rohes Blei, rohes Kupfer und Mef- 
fing, rohes Zinn, Schwefelfäuren, [hwefelfaures und ſalzſaures Kaltu. ſ. w. Mauche 
verbliebene Zölle find wenigſtens herabgeſetzt, jo Dele, Wette, gefärbte Seide, Le⸗ 
der, Soda und mande andere chemiſche Produkte, dann namentlich Roheiſen (von 
1/2 auf !/, Thlr., immer nod 21.50), des Hamb. Preifes von 1861—65). Wich⸗ 
tig durch den Ertrag war befonders Roheiſen (1862—64 928,000 Thlr.), Del 
(386,000 Thlr.). Auch mit diefen Zöllen wird weiter aufzuräumen fein. Groß: 
britannien bat fie jegt wohl ziemlich alle befeitigt, Frankreich und Defterreich find 
im Ganzen noch etwas fisfalifher und ſchutzzöllneriſcher auf viefem Gebiete, als 
der Zollverein, weit mehr nod Rußland, aber mit Ausnahme der NRohetfenzölle, 
werben doch die meiften dieſer Zölle faum noch im Princip feftgehalten. Die Zölle 
auf folhe Rohſtoffe treffen auch nur mittelbar den Verbrauch, unmittelbar vie 
Produktion, die fie beläftigen un um den Zins und Zinfeszins. des Zollbetrags 
vertheuern. Als Schubzölle find fie am wenigften zu halten, weil fie die Konkur⸗ 
renzfähigkeit aller Induſtrieen, deren Rohftoff fie find, lähmen. Sie führen zudem 
den befonderen Nachtheil mit fih, daß fle felbft wieder ein großes Gefolge weite- 
rer Schubzölle nothwendig machen. Die Produkte aller Berarbeitungsftabien des 
bezoflten Rohſtoffs müſſen dod nun mindeflens wieder, aud wenn man bie weitere 











368 Zölle. 


nicht in Form eines Monopols, ſondern einer gewöhnlichen indirekten Abgabe 
erhoben wird, endlich Zucker, deſſen Zoll früher reiner Kolonialwaarenzoll war. 
Gerade dieſer ehemalige reine Finanzzoll auf Zucker hat ſich auf dem Kontinente 
in Folge der anfänglichen Steuerfreiheit der allmälig emporkommenden Rüben⸗ 
zuderinwifrie und wegen der noch lange ſpäter verbleibenden bedeutenden Diffe⸗ 
renz zwiſchen Stener und Zoll am Meiſten in einen eigentlichen Schutzzoll ver⸗ 
wandelt. Doch iſt gegenwärtig durch die Annäherung der Zoll⸗ und Steuerſätze 
dieſer Schutz überall erheblich ermäßigt. In Frankreich kann man kaum noch von 
einem Zuckerſchutz ſprechen, ba der inländiſche Zucker mit dem aus nicht franzöͤfi⸗ 
ſchen Produktionsländern auf franzöſiſchen Schiffen eingeführten Zucker gleich hoch 
und ſogar noch etwas höher als der franzöſiſche Kolonialzucker beſteuert iſt. Im 
Zollverein iſt der Schutz zwar ſeit der Beſteurung der Rübe mit 1/, Thle. p. Ctur. 
und ver Bezollung des Robzuders für inländiſche Siedereien mit 41/, Thlr. auch 
ſtark verringert, aber vom Standpunkt des Finanzzolls immer noch zu hoch und 
ſelbſt von demjenigen des Schutzzolls aus bei der gegenwärtigen Entwidlung ver 
Nübenzuderinpufirte und der trotz einer num genügenden Erportbontififation vor« 
bandenen Erportfähigteit noch einer beträchtlichen Ermäßigung fähig. Nah Licht’ s 
Berechnung iſt der Centner Rübenrohzucker im Durchichnitt des Ernteausfalls und 
der Produftion von 1863—65 mit 3.23 Thlr. befteuert geweſen. Einen viel größe- 
ren, viel zu hohen Schutzzoll genießt Raffinade noch. In Oeſterreich nnd Ruß 
land wirb der höhere Schub noch indirelt durch die Papiergeldwirthſchaft und ben 
zum Importiren ungänfttgen Wechſelkurs gefteigert. Der Zeitpunkt Tiegt wohl 
faum mehr fern, wo der Zuderzoll durch Ausgleigung von Zoll und Steuer in 
MWeft- und Mitteleuropa wieder ein reiner Finanzzoll geworben fein wird. Im 
Zollverein iſt der Zuder übrigens auch wohl, von dem Verhältnig des Nüben- 
zum indiſchen Zucker abgejehen, an ſich nod einer zu hohen Konfumtionsahgabe 
unterworfen. Die Nübenftener beträgt circa. 43, der Zoll circa 55 %/, des Ham 
burg. Duchfchnittöpreifes von Mobzuder in 1861—65. 

Erfreulich ift, daß bei ver Verwandlung bes Salzmonopols in eine ge 
wöhnlide Salzſtener im Zollverein (1867) die principiel zu forbernde @leich- 
ftellung von Zoll und Verzehrungeſteuer erfolgt ift (2 Thlr. p. Cuinr.). Sonft 
finden fi bei den oben erwähnten Artikeln aber meiftens ned erhebliche Ungleich⸗ 
beiten zwiſchen Zoll und Stexer zu Gunſten ber letzteren, ja felbft eine Bezol⸗ 
lung ohne korreſpondirende Steuer. Go ift der Branntweingel im Zoll« 
verein p. 100 preuß. Quart 13 Thlr. 8 Egr., aber die innere Stener fchwerlich 
über 31/5 The. (nah Sötbeer, genaue Berechnung biefes Steuerbetrags nad 
dem Früberen kaum möglid). In Branfreih zahlt der fremde Branntwein neben 
dem Zoll die inlaändiſche Steuer. Der inländiſche Wein unterliegt mitunter, mie 
tm Zollverein, gar leiner Steuer (in Frankreich iſt der Zoll nur nominell, aber 
einheimifcher und frember Wein hoch befteuert), Bier und Tabak werben oft 
erheblich niebriger beſteuert als bezollt. Eine Schutzzollten den geht barans wohl 
hervor, aber eine Schutzzoll wirkung möchte fih wohl nur gegenpweife eiu- 
fielen. Die Branntweinfabrikation hängt zu enge mit ber Landwirthſchaft zuſam⸗ 
men und wird durch die Differenz zwifchen Zoll und Steuer nicht erſt hervor⸗ 
gerufen, Bier ift ein ſchwer transpertabler Artikel, bei welchem auch vie volks⸗ 
tbümlige Geſchmacsrichtung viel entſcheidet. Fremder Wein und Tabak verträgt 
in vielen Theilen Europas ven höheren Zoll, weil die Ausdehnung der inländi⸗ 
fen Erzeugung zu ſchwierig if und die Qualität bes heimiſchen Probults nit 
immer genügt, jo baß die Einfuhr durch die Zolldifferenz wenigſtens nicht In dem 





Zölle. 369 


Maaße gefhmälert wird, als dies unter andern Umftänden wohl möglih wäre. 
Immerhin wird man eine Ausgleichung zwiſchen Zol und Steuer wünſchen mäf- 
fen. Diefe wird invefien, foweit es irgend das Interefie des Fiekus geftattet, oft- 
mal® mehr in einer Reduktion des Zolls, wie im Zollverein jet beim Wein, als 
in einer Erhöhung oder neuen Einführung der inneren Steuer beftehen, denn bie 
legtere hat, wie bei Wein und Tabak insbefonvere, befanntlidy ihre großen Schwie- 
rigleiten, Wiederum ein Moment, welches auf liberale Reform auch des Finanz- 
zolltarifs hinwirkt. Freilich kann gelegentlich das Bedürfniß der Finanzen auf den 
entgegengefegten Weg binbrängen, zumal wenn die betreffende Abgabe gerechtfer⸗ 
tigter ald eine neue oder eine erhöhte andere Steuer erjcheint. So liegt bie 
Sade wohl in der Frage der Tabakſteuer im Zollverein. 

Erwägt man neben den angebeuteten Verhältniſſen bie Schwierigkeit einer 
richtigen Normirung der Erportbonififationen bei dem Acciſeweſen, ferner die Beein- 
teächtigung des Fiskus und die nachtheiligen Störungen ber Volkswirthſchaft und 
die fchlimmen Wirkungen auf die Volksfittlichkeit, welche durch Defraudation bei 
der Innern Probultion und buch Schmuggel beim auswärtigen Handel entftehen, 
fo wird man bie Bereinfahung des Acciſeweſens und der forrefpondirenden Yiuanz- 
zölle möglihft befürworten müſſen und bie notorifche Entwidlung viefer Abgaben 
in Europa eben fo begreiflich als geredhtfertigt finden. Die principielle Berwerfung 
ver Schutzölle und ber Sieg des Freihandels mußten auch hier zu immer wei⸗ 
teren Reformen führen, je mehr man die Schwierigfeiten würdigte, welche fidy der 
Feſtſetzung eines reinen Finanzzolls auf acciſepflichtige Artikel entgegenftellen. Des- 
halb möchte denn au die Einführung neuer Acciſen, weil fie einen entſprechen⸗ 
den Zoll, und neuer Zölle, weil fie eine entſprechende Acciſe erheiſchen, als vauern- 
der Steuern nicht fo leicht zu befürchten fein. In mehrern neuern Danbelöver- 
trägen ift übrigens vie Beſtiumung aufgenommen, daß bei der Einführung etwai- 
ger neuer oder bei der Erhöhung von Acciſen der Zoll nur auf bielelbe Höhe 
mit dem Steuerfag geftellt werben darf (Brit.-franz. Bertr. Art. 6—9 [brit. Zuger 
ſtändniß], beig.-franz. Vertr. Art. 6, zollver.-franz. Vertr. Art. 7, öſterr.franz. Bertr. 
Kt. 6 u. a. V.). Wird diefe Beſtimmung ftreng wörtlich genommen, jo ift da⸗ 
mit eine folge Maßregel eigentlih unmöglich gemacht. Die Staaten haben fid 
auf diefe Weile die Hände etwas gebunden, was man getabelt hat. Aber mit 
Unrecht, denn Rüchſchritte im Zollweſen find dadurch erſchwert und eine inter 
nationale Regelung der Beſteuerung {ft damit angebahnt, was nur erfreulich zu 
nennen if. — Oamı andere Wege hat bekanntlich während bes legten Bürger 
friegs in feiner Finanznoth und bei feinem Mangel eines vorhandenen georbneten 
Steurrfuftems Nordamerika eingefhlagen. Ein in feiner Weiſe großartiges, für 
den Opfermuth der Nation zeugendes Syſtem ber inneren Berbraudäfteuern ift 
bort gefchaffen worden und hat dann zu feiner nothwenbigen Vervollſtändigung 
eine entfprechenbe Umgeftaltung des Zolltarifs erforverlih gemadt. Der Schutz⸗ 
zollparorysmus hat diefe Zolltarifänderung nun nod für feine Zwede auszubeuten 
gewußt. Jenes innere Acciſeſyſtem ift aber im höchſten Maaße techniſch unvoll⸗ 
lommen, furchtbar läſtig, auch bereits wieder beſchränkt worden. Es kann uns 
Europäern einigermaßen zur Beruhigung dienen, daß ſelbſt die Norbamerifaner 
jlieglich doch wieder auf unfre immerhin mangelhaften, aber doch noch neben 
ihren Steuerexperimenten vollkommen erfcheinenden Steuern zurüdtommen. Im 
Uebrigen kann für viefen Punkt bier nur auf Hock's vorzügliche Darftellung 
verwiejen werden. j 

Die Höhe der Uccifefäge und ber Lorrefponbirenden Finanzzölle wird vor⸗ 

Bluntſchli und Brater, Deutſchet Staats⸗Wörterbuch. XL 2A 











368 Zölle. 


nicht in Form eines Monopols, ſondern einer gewöhnlichen indirekten Abgabe 
erhoben wird, endlich Zucker, deſſen Zoll früher reiner Kolonialwaarenzoll wear. 
Gerade dieſer ehemalige reine Finanzzoll auf Zucker hat ſich auf dem Kontinente 
in Folge der anfänglichen Steuerfreiheit der allmälig emporkommenden Rüben⸗ 
zuckerinvuſtrie und wegen der noch lange ſpäter verbleibenden bedeutenden Diffe⸗ 
renz zwiſchen Stener und Zoll am Meiſten in einen eigentlichen Schutzzoll ver⸗ 
wandelt. Doc iſt gegenwärtig durch die Annäherung der Zoll⸗ und Steuerſätze 
dieſer Schutz überall erheblich ermäßigt. In Frankreich kann man kaum noch von 
einem Zuckerſchutz ſprechen, ba ver inländiſche Zuder mit dem ans nicht franzöfi⸗ 
fen Produktionsländern auf franzöfiihen Schiffen eingeführten Zuder glei hoch 
und fogar no etwas höher ald der franzöfiige Kolonialzuder beſteuert ift. Im 
Zollverein iſt der Schuß zwar feit der Befleurung der Rübe mit !/, Thle. p. Ctur. 
und der Bezollung des Robzuders für inländiihe Siedereien mit 41/, Thlr. auch 
fort verringert, aber vom Standpunft des Finanzzolls immer no zu hoch und 
felbft von demjenigen des Schutzzolls aus bei der gegenwärtigen Entwidlung ber 
Nübenzuderindufirie und der trog einer num genügenden Erportbonififation vor« 
handenen Erportfähigteit noch einer beträchtlichen Ermäßigung fähig. Nach Licht’ 
Verehnung ift der Centner Rübenrohzuder im Durchfchnitt des Ernteausfalls und 
der Propultion von. 1863—65 wit 3.7 Thlr. beftenert geweſen. Einen viel größe 
ven, viel zu hohen Schupgoll genießt Raffinade noch. In Defterreih nnd Ruß- 
Iand wird der höhere Schu noch indirelt durch die Papiergeldwirthſchaft und ben 
zum Importiren ungänftigen Wechſelkurs gefteigert. Der Zeitpunkt liegt wohl 
faum mehr fern, wo ber Zuderzoll durch Yusgleihung von Zoll und Steuer in 
MWeft- und Mitteleuropa wieder ein reiner Finanzzoll geworben fein wird. Im 
Zollverein iſt der Zuder übrigens auch wohl, von dem Verhältnig des Rüben⸗ 
zum indiſchen Zucker abgejehen, an fi noch einer zu hohen Konfumtionsabgabe 
unterworfen. Die Rübenſteuer beträgt circa: 43, ber Bon circa 55 9/, des Ham⸗ 
burg. Duchfchnittspreifes von Rohzucker in 1861—65. 

Erfreulich ift, daß bei ver Verwandlung bes Salzmonopold in eine ge 
wöhnlide Salzſtener im Zollverein (1867) die principiel zu forbernne Gleich⸗ 
ftellung von Zoll und Verzehrungeſteuer erfolgt ift (2 Thlr. p. Enter), Sonft 
finden ſich bei den oben erwähnten Artikeln aber meiftens noch erhebliche Ungleich⸗ 
beiten zwiſchen Zoll und Stexer zu Gunſten ver letzteren, ja felbft eine Bezol⸗ 
lung ohne korreſpondirende Steuer. So iſt der Branntweingoel im Zoll« 
verein p. 100 preuß. Quart 13 Thlr. 8 Egr., aber die innere Steuer fchwerlich 
über 31/5 The. (nah Sötbeer, genaue Berechnung biefes Steuerbetrags nad 
dem Früberen kaum möglich). In Frankreich zahlt der fremde Branntwein neben 
dem Zoll die inländifhe Steuer, Der inländiſche Wein unterliegt mitunter, mie 
tm Zollverein, gar keiner Steuer (in Frankreich ift der Zoll nur nominell, aber 
einheimifcher und frember Wein hoc befteuert), Bier und Tabak werben oft 
erheblich niedriger beftenert als bezollt. Eine Schutzzollten den geht barans wohl 
hervor, aber eine Schutzoll wirkung möchte fi) wohl nur gegenpweife eiu- 
fielen. Die Branntweinfabrilation hängt zu enge mit ber Lanbwirthichaft zuſam⸗ 
men und wird burd die Differenz zwiſchen Zoll und Steuer nit erſt hervor⸗ 
gerufen, Bier iſt ein ſchwer transpertabler Artikel, bei welchem auch bie volks⸗ 
tbümlige Geſchmacsrichtung viel entſcheidet. Fremder Wein und Tabak verträgt 
in vielen Theilen Europas den höheren Zoll, weil die Auspehnung der inländi⸗ 
ſchen Erzengung zu ſchwierig iſt und bie Qualität des heimiſchen Produkts nicht 
immer genügt, jo daß bie Einfuhr durch die Zolldifferenz wenigftens nicht In bem 


Böll. 369 


Manfe gefhmälert wird, als vies unter andern Umſtänden wohl möglich wäre. 
Immerhin wird man eine Ausgleihung zwifchen Zol und Steuer wünſchen müſ⸗ 
fen. Diefe wirb inveflen, foweit es irgend das Interefie des Fiekus geftattet, oft- 
mals mehr in einer Reduktion des Zolls, wie im Zollverein jegt beim Wein, als 
in einer Erhöhung oder neuen Einführung der inneren Steuer beftehen, denn bie 
legtere hat, wie bei Wein und Tabak insbefonvere, befanntlid ihre großen Schwie- 
rigfeiten. Wieberum ein Moment, welches auf liberale Reform aud) des Fylnanz- 
zolttarifs hinwirkt. Freilich kann gelegentlih da8 Bedürfniß der Finanzen auf ven 
entgegengefetten Weg hindrängen, zumal wenn bie betreffende Abgabe gerechtfer: 
tigter als eine neue oder eine erhöhte andere Steuer erfcheint. So liegt bie 
Sache wohl in der Frage der Tabalftener im Zollverein. 

Erwägt man neben den angeveuteten Verhältniſſen die Schwierigkeit einer 
rihtigen Normirung der Erportbonifilationen bei dem Accifewefen, ferner die Beein- 
trächtigung des Fiskus und die nachtheiligen Störungen ver Volkswirthſchaft und 
bie ſchlimmen Wirkungen auf die Bolksfittlichleit, weldhe durch Defraubation bei 
der innern Produktion und durch Schmuggel beim auswärtigen Handel entftehen, 
fo wird man die Bereinfahung des Acciſeweſens und ber Torrefpondirenden Finanz» 
zölle möglichft befürworten müflen und die notorifche Entwidlung dieſer Abgaben 
in Europa eben jo begreiflich ald gerechtfertigt finden. Die principielle Berwerfung 
der Schugzölle und der Sieg des Freihanveld mußten aud bier zu immer wei- 
teren Reformen führen, je mehr man die Schwierigkeiten würdigte, welche ſich der 
Feſtſetzung eines reinen Finanzzolls auf acchjepflichtige Artikel entgegenftellen. Des- 
halb mödte denn aud die Einführung neuer Acciſen, weil fie einen entjprechen- 
den Zoll, und neuer Zölle, weil fie eine entfprechende Acciſe erheifchen, als bauern- 
ber Steuern nicht fo leicht zu befürchten fein. In mehrern neuern Handelsver⸗ 
trägen ift übrigens die Beſtiumung aufgenommen, daß bei der Einführung etwai- 
ger neuer oder bei der Erhöhung von Acciſen der Zoll nur auf biefelbe Höhe 
mit dem Steuerſatz geftellt werben darf (brit.frang. Bertr. Art. 6—9 [Brit. Zuge- 
ftändniß], beig.-franz. Bertr. Art. 6, zollver.-franz. Vertr. Art. 7, öſterr.⸗franz. Vertr. 
At. 6 m. a. V.). Wird diefe Beſtimmung ftreng wörtlih genommen, fo iſt da⸗ 
mit eine folge Maßregel eigentlih unmöglich gemacht, Die Staaten haben ſich 
auf diefe Weiſe die Hände etwas gebunven, was man getabelt hat. Aber mit 
Unseht, denn Nüdichritte im Zollweſen find dadurch erfchwert und eine inter- 
nationale Regelung der Beſteuerung ift damit angebahnt, was nur erfreulich zu 
nennen if. — Ganz andere Wege bat bekanntlich während des legten Bürger⸗ 
kriegs in feiner Finanznoth und bei feinem Mangel eines vorhandenen georbneten 
Steurrſyſtems Nordamerika eingefhlagen. Ein in feiner Weife großartiges, für 
den Opfermuth ber Nation zeugendes Syſtem der inneren Verbrauchoſteuern ift 
dort gefhaffen worden und bat dann zu feiner nothwendigen Bervollfländigung 
eine entiprechende Umgeftaltung des Zolltarifs erforberlih gemadt. Der Schutz⸗ 
z0lparoryemus hat dieſe Zolltarifänderung nun noch für feine Zwede auszubeuten 
gewußt. Jenes Innere Acciſeſyſtem ift aber im höchſten Maaße techniſch unvoll- 
tommen, furdtbar läftiz, auch bereits wieder befchränft worden. Es kann uns 
Europäern einigermaßen zur Beruhigung dienen, daß ſelbſt die Norbamerifaner 
Thlieglich doch wieder auf unfre immerhin mangelhaften, aber doch noch neben 
ihren Stenerexperimenten volllommen erfcheinenden Steuern zurüdtommen. Im 
Uchtigen kann für diefen Punkt bier nur auf Hock's vorzüglide Darſtellung 
verwiefen werben. 

Die Höhe der Kccifefäge und der korreſpondirenden Finanzzölle wirb vor- 

Bluntſchli und Drater, Deuntſchet Staate⸗Wörterbuch. XL 24 


368 Zölle. 


nit in Form eines Monopols , fordern einer gewöhnlichen indirekten Abgabe 
erhoben wird, endlih Zuder, deilen ZoU früher reiner Kolonialwaarenzoll war. 
Gerade biefer ehemalige reine Finanzzoll auf Zuder bat fih auf vem Kontinente 
in Folge der anfänglihen Stenerfreiheit ver allmälig emporlommenden Rüben- 
zuderinwifrie und wegen der noch lange fpäter verbleibenden bedeutenden Diffe- 
venz zwifhen Stener und Zoll am Meiften in einen eigentlihen Schutzoll ver- 
wandelt. Doc ift gegenwärtig durd die Annäherung ver Zoll⸗ und Gteuerfäge 
dieſer Schuß überall erheblih ermäßigt. In Zranfreih kann man kaum noch von 
einem Zuckerſchutz fpreden, ba ver inlänbifche Zuder mit dem ans nicht franzöfl« 
ſchen Produftionsländern auf franzöfiihen Schiffen eingeführten Zuder gleih hoch 
und fogar noch etwas höher als der franzöfiihe Kolonialzuder befteuert ift. Im 
Zollverein ift der Schuß zwar felt der Befteurung der Rübe mit 1/, Thlr. p. Ctur. 
und der Bezollung des Rohzuckers für inländiihe Sieverein mit 41/, Thlr. auch 
ſtark verringert, aber vom Standpunkt des Finanzzolls immer no zu hoch und 
felbft von demjenigen des Schutzzolls and bei der gegenwärtigen Entwidlung ber 
Nübenzuderindufirie und der trog einer num genügenven Erportbonifilation vor« 
bandenen Exportfähigkeit noch einer beträchtlihen Ermäßigung fähig. Nah Licht's 
Berechnung iſt der Centner Rübenrohzucker im Durchfchnitt des Ernteausfalls und 
der Probultion von 1863—65 mit 3.23 Thlr, befteuert geweſen. Einen viel größe- 
ven, viel zu hohen Schutzzoll genießt Raffinade noch. In Oeſterreich nnd Ruß⸗ 
land wird der höhere Schutz noch indirelt dur die Papiergelowirthichaft und ben 
zum SImportiren ungünftigen Wechſelkurs gefteigert. Der Zeitpunkt Tiegt wohl 
kanm mehr fern, wo der Zuckerzoll durch Ausgleihung von Zoll und Steuer in 
MWefl« und Mitteleuropa wieber ein reiner Finanzzoll geworben fein wird. Im 
Zollverein ift der Zucker übrigens auch wohl, von dem Verhältniß bes Rüben⸗ 
zum indifhen Zuder abgeſehen, an ſich nod einer zu hoben Konfumtionsahgabe 
unterworfen. Die Rübenſteuer beträgt circa 43, der Zoll circa 55 9), des Ham⸗ 
burg. Duxcchfchnittöpreifes von Nobzuder in 1861—65. 

Erfreulich ift, daß bei ver Verwandlung bes Salgmonopols in eine ge 
wöhnliche Salzſtener im Zollverein (1867) die principiel zu fordernde Gleich⸗ 
ftellung von Zoll und PVerzehrungsfteuer erfolgt ift (2 Thlr. p. Enter). Sonft 
finden fi bei den oben erwähnten Artikeln aber meiftens ned erhebliche Ungleich⸗ 
beiten zwifchen Zoll und Stexer zu Gunften ver letzteren, ja ſelbſt eine Bezol⸗ 
lung ohne korreſpondirende Stener. So iſt der Branntweinzoll im Zoll- 
verein p. 100 preuß. Quart 13 Thlr. 8 Egr., aber die innere Steuer ſchwerlich 
über 31/, Thlr. nah Sötbeer, genaue Berechnung dieſes Steuerbetrags nad 
dem Trüberen kaum möglich). In Frankreich zahlt der fremde Branntwein neben 
dem Zoll die inlandiſche Steuer. Der inländiſche Wein unterliegt mitunter, mie 
tm Zollverein, gar Yelner Steuer (in Frankreich iſt der Zoll nur nominell, aber 
einheimifher und frember Wein hoch befteuert), Bier und Tabak werben oft 
erheblich niedriger beftenert als bezollt. Eine Schutzzollten den geht daraus wohl 
hervor, aber eine Schutzoll wirkung möchte fi wohl nur gegenpweife eiu- 
fielen. Die Branntweinfabrilatien hängt zu enge mit ber Landwirthſchaft zuſam⸗ 
men und wird durch die Differenz zwifchen Zoll und Steuer nicht erſt hervor⸗ 
gerufen, Bier iſt ein ſchwer transpertabler Artikel, bei welden auch bie volle 
tbümlige Geihmaderichtung viel entfcheibet, Fremder Wein und Tabak verträgt 
in vielen Theilen Europas ben höheren Zoll, weil pie Auspehnung ber inländi⸗ 
ſchen Erzengung zu ſchwierig ift und bie Qualität des heimiſchen Produkts nicht 
immer genägt, fo daß bie Einfuhr durch die Zollbifferenz wenigftens nicht in dem 





Zölle. 369 


Maaße gefämälert wird, als dies unter andern Umftänden wohl möglid wäre. 
Immerhin wird man eine Ausgleihung zwifchen Zoll und Stener wünſchen mäj- 
fen. Diefe wirb indeſſen, foweit es irgend das Interefie des Fiekus geftattet, oft 
mals mehr in einer Reduktion des Zolls, wie im Zollverein jest beim Wein, als 
in einer Erhöhung oder neuen Einführung der inneren Steuer beftehen, denn bie 
legtere bat, wie bei Wein und Tabak insbefonvere, bekanntlich ihre großen Schwie- 
rigleiten. Wiederum ein Moment, welches auf liberale Reform auch des Finanz- 
zolltarifs binwirkt. Freilich kann gelegentlih das Bedürfniß der Finanzen auf den 
entgegengefegten Weg binbrängen, zumal wenn bie betreffende Abgabe geredhifer: 
tigter als eine neue ober eine erhöhte andere Steuer erfcheint. So liegt bie 
Sade wohl in der Frage der Tabalfteuer im Zollverein. 

Erwägt man neben den angebeuteten Berhältnifien die Schwierigkeit einer 
richtigen Normirung der Erportbonififotionen bei dem Acciſeweſen, ferner die Beein- 
trächtigung des Fiskus und die nachtheiligen Störungen ber Volkswirthſchaft und 
die ſchlimmen Wirkungen auf die Volksſittlichkeit, welche durch Defraubation bei 
der innern Produktion und durch Schmuggel beim auswärtigen Handel entftehen, 
fo wird man die Vereinfachung des Acciſeweſens und der korrefpondirenden Finanz⸗ 
zölle möglihft befürworten müſſen und die notorifche Entwidlung dieſer Abgaben 
in Europa eben fo begreiflich als gerechtfertigt finden. Die principielle Berwerfung 
der Schupzölle und der Sieg des Freihandels mußten auch hier zu immer wei- 
teren Reformen führen, je mehr man die Schwierigfeiten würbigte, welche ſich ver 
Feſtſetzung eines reinen Finanzzolls auf acctfepflihtige Artikel entgegenftellen. Des- 
halb mödte denn auch die Einführung neuer Uccifen, weil fie einen entſprechen⸗ 
den Zoll, und neuer Zölle, weil fie eine entſprechende Acciſe erheifchen, als dvauern- 
ber Steuern nit fo leicht zu befürchten fein. In mehrern neuern Hanbelsver- 
trägen ift übrigens die Beſtiumung aufgenommen, daß bei der Einführung etwai⸗ 
ger neuer ober bei ver Erhöhung von Acciſen ver Zoll nur auf bielelbe Höhe 
mit dem Steuerſatz geftellt werben barf (Brit.-franz. Bertr. Art. 6—9 [brit. Zuge 
ſtändniß), belg.⸗franz. Vertr. Art. 6, zollver.-franz. Vertr. Art. 7, öfterr.-franz. Vertr. 
Art. 6 m. a. V.). Wird diefe Beftimmung fireng wörtlih genommen, fo iſt da⸗ 
mit eine folge Maßregel eigentlih unmöglid gemacht. Die Staaten haben fid 
auf diefe Weile die Hände etwas gebunden, was man getabelt hat. Aber mit 
Unrecht, denn Rüchſchritte im Zollweien find dadurch erfchwert und eine Inter 
nationale Regelung ver Befteuerung ift damit angebahnt, was nur erfreulih zu 
nennen if. — dan; andere Wege bat bekanntlich während des legten Bürger 
kriegs in feiner Finanzuoth und bei feinem Mangel eines vorhandenen georbneten 
Steurrſyſtems Nordamerika eingeichlagen. Ein in feiner Welfe großartiges, für 
den Opfermuth der Nation zeugendes Syſtem ber inneren Verbrauchsſteuern ift 
dort gefchaffen worden und bat dann zu feiner nothwenbigen Bervollftändigung 
eine enifprechenbe Umgeftaltung des Zolltarifs erforderlih gemadt. Der Schug- 
zollparorysmus bat diefe Zolltarifänverung nun noch für feine Zwede auszubeuten 
gewußt. Ienes innere Acciſeſyſtem iſt aber im höchſten Maaße techniſch unvoll- 
kommen, furchtbar läſtig, auch bereits wieder beſchränkt worden. Es kann uns 
Europaern einigermaßen zur Beruhigung dienen, daß ſelbſt die Norbamerilaner 
ſchließlich doch wieder auf unſre immerhin mangelhaften, aber doch noch neben 
ihren Steuerexperimenten vollkommen erſcheinenden Steuern zurückkommen. Im 
Uebrigen kann für dieſen Punkt bier nur auf Hock's vorzügliche Darſtellung 
verwieſen werden. 

Die Höhe der Acciſeſätze und der korreſpondirenden Finanzzölle wird vor⸗ 

Dluntſchli und Drater, Deutſches Staate⸗Wörterbuch. XL 24 


868 Zölle. 


nit in Form eines Monopols, fonvern einer gewöhnlichen indirekten Abgabe 
erhoben wird, endlich Zuder, deſſen Zoll früher reiner Kolonialwaarenzoll war. 
Gerade biefer ehemalige reine Finanzzoll auf Zuder hat fih auf dem Kontinente 
in Folge ber anfänglihen Steuerfreiheit ver allmälig emporlommenven Rüben- 
zuderinwuflrie und wegen der noch lange jpäter verbleibenden bedeutenden Diffe- 
renz zwiſchen Stener und Zoll am Meiften in einen eigentlichen Schutzoll ver« 
wandelt. Doch ift gegenwärtig burd die Annäherung der Zoll⸗ und Steuerfäge 
diefer Schuß Überall erheblih ermäßigt. In Frankreich kann man kaum noch von 
einem Zuckerſchutz fpredden, va ver Inländifche Zuder mit dem ans nicht franzöfi« 
ſchen Probuftiongländern auf franzöfiihen Schiffen eingeführten Zuder glei hoch 
uud fogar noch etwas höher ale der franzöfiihe Kolonialzuder beflenert iſt. Im 
Zollverein ift der Schuß zwar feit der Befteurung der Rübe mit 1/, Thlr. p. Ctur. 
und der Bezollung des Rohzuckers für inländifhe Siedereien mit 41/, Thlr. auch 
ſtark verringert, aber vom Standpunkt des Finanzzolls immer noch zu hoch und 
felbft von demjenigen des Schußzolld aus bei der gegenwärtigen Entwidlung ber 
Nübenzuderinbufirie und der troß einer num genügenden Exrportbonifilstion vor« 
banvenen Erpertfähigteit noch einer beträchtlichen Ermäßigung fähig. Nach Licht’ s 
Berechnung ift der Eentner Rübenrohzucker im Durchfchnitt des Ernteausfalls und 
der Probultion von 1863—65 mit 3.73 Thlr. beftenert gewejen. Einen viel größe- 
ren, viel zu hohen Schutzzoll genicht Raffinade noch. In Defterreih und Nuß- 
land wird der höhere Schuß noch indirelt durch die Papiergeldwirthſchaft und ben 
zum Importiren ungünftigen Wechſelkurs gefteigert. Der Zeitpunkt liegt wohl 
faum mehr fern, wo der Zuderzol durch Ausgleihung von Zoll und Steuer in 
Wefle und Mitteleuropa wieder ein reiner Finanzzoll geworben fein wird. Im 
Zollverein ift der Zuder übrigens aud wohl, von dem Verhältnig bes Rüben- 
zum indifhen Zuder abgejehen, an fi noch einer zu hohen Konfumtionsabgabe 
unterworfen. Die NHübenftener beträgt circa 43, der Zoll circa 55 9/, des Ham 
burg. Durchſchnittopreiſes von Robzuder in 1861—65, 

Exfreutih ift, daß bei ver Verwandlung bes Salsmonopols in eine ge 
wöhnlide Salzſteuer im Zollverein (1867) die principiel zu fordernde Gleich⸗ 
ſtellung vou Zoll und Berzehrungsftener erfolgt ift (2 Thlr. p. Cutur.). Sonft 
finden fi bei den oben erwähnten Artikeln aber meiftens noch erhebliche Ungleich⸗ 
beiten zwiſchen Zoll und Stexer zu Gunſten der letzteren, ja felbft eine Bezol⸗ 
lung ohne korreſpondirende Steuer. Go iſt ber Branntweinzoll im Zoll⸗ 
verein p. 100 preuß. Quart 13 Thlr. 8 Sgr., aber die innere Steuer ſchwerlich 
über 81/5 Thlr. (nah Sötbeer, genaue Berechnung biefes Stenerbetrags nad 
dem Früheren kaum möglich). In Frankreich zahlt der fremde Branntwein neben 
dem Zoll die Inlänbifche Stener. Der inländiſche Wein nuterliegt mitunter, wie 
im Zollverein, gar keiner Steuer (in Frankreich iſt der Zoll nur nominell, aber 
einheimifher und fremder Wein hoch beftenert), Bier und Tabal werben oft 
erheblich niedriger beſteuert als bezollt. Eine Schugzollteudenz geht daraus wohl 
bervor , aber eine Schutzzoll wirkung möcdte fi wohl nur gegenpweife ein— 
ftellen. Die Branntweinfabzilation hängt zu enge. mit ber Landwirthſchaft zufam- 
men und wird durch die Differenz zwiſchen Zoll und Steuer nicht exit hervor⸗ 
gerufen. Bier ift ein ſchwer transpertabler Artikel, bet welchem auch bie volfe« 
tfümlihe Geihmadsrichtung viel entjcheibet, Fremder Wein und Tabak verträgt 
in vielen Theilen Europas ven höheren Zoll, weil vie Auspehnung ber inländi⸗ 
fen Erzeugung zu ſchwierig iſt und die Qualität des heimiſchen Probults nicht 
immer genägt, fo daß bie Einfuhr durch bie Zollbifferenz wenigſtens nicht in bem 


Zölle. 369 


Maaße gefhmälert wird, als dies unter andern Umftänden wohl möglich wäre. 
Immerhin wird man eine Ausgleihung zwifchen Zoll und Steuer wünſchen mäf- 
fen. Diefe wird indeflen, foweit e8 irgend das Interefle des Fiekus geftattet, oft- 
mals mehr in einer Rednktion des Zoll, wie im Zollverein jest beim Wein, als 
in einer Erhöhung oder neuen Einführung der inneren Steuer beftehen, denn vie 
legtere bat, wie bei Wein und Tabak insbefonvere, befanntlich ihre großen Schwie- 
tigleiten. Wieberum ein Moment, weldes auf liberale Reform auch des Finanz- 
zolltarifs hinwirkt. Freilich kann gelegentlich daS Bedürfniß ber Finanzen auf den 
entgegengefegten Weg hindrängen, zumal wenn bie betreffende Abgabe gerechtfer⸗ 
tigter ale eine neue oder eine erhöhte andere Steuer erſcheint. So liegt vie 
Sache wohl in der Frage der Zabalfteuer im Zollverein. 

Erwägt man neben den angeveuteten Berhältniffen die Schwierigkeit einer 
rihtigen Normirung der Erportbonififationen bei dem Accifewefen, ferner vie Beein- 
trächtigung des Fiskus und die nachtheiligen Störungen der Volkswirthſchaft und 
bie fchlimmen Wirkungen auf die Volksfittlichleit, welche durch Defraudation bei 
der innen Produktion und durch Schmuggel beim auswärtigen Handel entftehen, 
fo wird man bie Bereinfahung des Acciſeweſens und der korrefpondirenven Finanz⸗ 
zölle möglichft befürworten müfjen und bie notorifche Entwidlung dieſer Abgaben 
in Europa eben ſo begreiflich als gerechtfertigt finden. Die principielle Berwerfung 
der Schutzölle und der Sieg des Freihandels mußten auch bier zu immer wei- 
teren Reformen führen, je mehr man die Schwierigkeiten würdigte, welche ſich der 
Feſtſetzung eines reinen Finanzzolls auf acchjepflichtige Artikel entgegenftellen. Des- 
balb möchte denn auch die Einführung neuer Uccifen, weil fie einen entfprechen- 
den Zoll, und neuer Zölle, weil fie eine entſprechende Acciſe erheiſchen, als dauern- 
ber Steuern nit fo leiht zu befürchten fein. In mehrern neuern Handelsver⸗ 
trägen ift übrigens die Beſtiumung aufgenommen, daß bei der Einführung etwai- 
ger neuer ober bei der Erhöhung von Accifen der Zoll nur auf dieſelbe Höhe 
mit dem Steuerſatz geftellt werben darf (Brit.-franz. Bertr. Art. 6—9 [brit. Zuge- 
fändniß], beig.-franz. Vertr. Art. 6, zollver.-franz. Vertr. Art. 7, öfterr.»franz. Vertr. 
Kt. 6 m. a. B.) Wird diefe Beftimmung fireng wörtlid genommen, fo tft da- 
mit eine folge Maßregel eigentlih unmöglich gemacht. Die Staaten haben fi 
auf diefe Weiſe die Hände etwas gebunden, was man getabelt bat. Aber mit 
Unrecht, denn Rüchkſchritte im Zollweien find dadurch erfchwert und eine inter⸗ 
nationale Regelung der Beftenerung ift damit angebahnt, was nur erfreulih zu 
nennen if. — dam andere Wege bat belanntlich während des legten Bürger⸗ 
kriegs in feiner Finanznoth und bei feinem Mangel eines vorhandenen georbneten 
Steurrſyſtems Nordamerika eingefhlagen. Ein in feiner Weife großartiges, für 
ben Opfermuih ber Nation zeugendes Syſtem der Inneren Berbraudhsftenern ift 
bort geſchaffen worden und hat dann zu feiner nothwendigen Vervollſtändigung 
eine entſprechende Umgeftaltung des Zolltarifs erforberlih gemadt. Der Schug- 
zollparorysmus hat diefe Zolltarifänderung nun noch für feine Zwede auszubeuten 
gewußt. Jenes Innere Acciſeſyſtem ift aber im höchſten Maaße techniſch unvoll- 
Iommen, furdtbar läftig, auch bereits wieder beſchränkt worden. Es kann uns 
Europäern einigermaßen zur Beruhigung dienen, daß felbft die Norbamerilaner 
ſchließlich doch wieder auf unfre immerhin mangelhaften, aber doch noch neben 
Üren Stenererperimenten volllommen erſcheinenden Steuern zurädtommen. Im 
Uebrigen kann für viefen Punkt bier nur auf Hock's vorzügliche Darftellung 
verwieſen werben. " 

Die Höhe der Hccifefäge und der korreſpondirenden Finanzzölle wirb vor- 

Dluntſchli und Drater, Deutſchet Staate⸗Wörterbuch. XL 24 


370 Zölle. 


nehmlih nad allgemeinen Principten der Berbrauchfteuern zu normiren fein, woflir 
bier auf die anderen Steuerartitel dieſes Werks verwiefen wird. Die Höohe wird 
fi) im Allgemeinen nad) der Auswahl der Artikel, im Einzelnen nad deren 
Nothwendigkeit oder Bedenklichkeit für die Bedürfnißbefriedigung richten. Salz 
bat audy bier am meiften gegen fi, vollends ein noch fo hoher Sat wie jetzt 
im Zollverein. Reduktion und Abſchaffung ift bier am wünſchenswertheften, — 
das von England ſchon feit 43 Iahren erreichte Ziel. Spirituofen und Tabak 
und hohe Säge dafür haben am meiften für fi, ſchade nur, daß bei dem erften 
Artikel die Ausſcheidung des für gewerblihe Zwede gebrauchten Spiritus ſchwer 
oder gar nicht möglich iſt und die Tabakbeſteurung unferes Erachtens die Mängel 
ber Turusbeftenerung involvirt. Immerhin erſcheint die Entwidlung in England, 
wonach dieſe beiden Waaren fo jehr im Vordergrund des fiskaliſchen Interefies 
fiehen (Ertrag der Branntweinacciſe in Großbritannien und Irland 1866 
10,997,000 ®f. ©t., des Zolls 3,507,000, des Tabakzolls 6,532,000 Pf. St., 
demnach dieſe 2 Artikel, excl. einiger no dazu gehörenden Einnahmepoſten, 
20,83 Mil. Bf. St. oder 49,5 %/, aller Acctſen und Zölle!), eine erfprießliche an 
dem Geſichtspunkt der Verbrauchsbeſteuerung und ver Acciſe- und Zolltechnik. 
Zuder ift an fi ein paſſender Artikel, doch verbieten verſchiedene Rückfichten zu 
hohe Säge. Die franzöflfhen und im Vergleich mit den englifhen andy die beut- 
ihen Säge find unter Berädfigtigung der Wohlftandsverhältniffe nor zu hoch. 
Die Bier- und Weinbefteuerung wird wohl fhon komplementär im Verbrauchs⸗ 
ſteuerſyſtem verlangt, doch dürfen and hier bie Säge nit zu hoch fein. Letzteres 
find fie für Bier durch die Malzftener unbevingt in England, — wohl ber 
ſchwächſte Punkt des dortigen Syſtems ber Inbireften Stenern, deſſen Reform ſchon 
öfters verſucht, aber noch nicht gelungen iſt. Im Zollverein koͤnnte eine mäßige 
allgemeine Bier- und Weinftener neben dem Zoll, vie erftere in höherem Be- 
trage als jegt, wohl gerechtfertigt werben. Sonft empfehlen fih niebrige Säge 
auch dur die geringere Gefahr von Defraubation und Schmuggel. Aber bei 
einem einmal vorliegenden Staatsbedarf in gewiffer. Höhe und bei ber relativen 
Unentbehrlichkeit der Verbrauchsſteuern, fo lange die direkten Ertragsfleuern fo 
mangelhaft find, würden zu niedrige Säge wieder nur eine größere Anzahl Acciſen 
und entfpredhender Zölle nöthig machen. Dagegen aber ſprechen viele wirthſchaft⸗ 
lihe und finanztechnifhe Zuftände Kann man einmal jene ganze Steuerklaſſe 
nicht entbehren, fo iſt es doch wohl das Beſte, wenige richtig ausgewählte Wetitel 
hoch zu befteuern und zu bezollen, auf fie die Kontrolen zu befchränfen und ben 
fonftigen Verkehr möglichſt frei zu laſſen. Hterin liegt die relative Rechtferti⸗ 
gung feldft eines Tabakmonopols oder des englifchen Berbots des Tabulbanes. 
Das englifhe Syſtem erfcheint auch aus dieſem Geſichtspunkte wieder als Muſter. 
Gegenüber ftädtifhen Oktrois, welche auf Staatsrehnung erhoben werben, ober 
ber preußifchen Mahl- und Schlachtftener ft 3. B. eine hohe Tabakbeſteuerung 
gewiß das Kleinere Uebel. Auch wenn die fo wünfchenswerthe weitere Vereinfa⸗ 
hung des Tarifs des Zollvereind und anderer Kontinentalftaaten etwa nur an 
finanziellen Bedenken fheitert, möchte fie durch zine oder zwei paſſende höhere 
Verbrauchsſteuern, wie Uccife und Zoll auf —* oder Branntwein, kaum zu 
theuer erkauft ſein. Im Zollverein muß man wie ſeiner Zeit in England endlich 
den praktiſchen Geſichtspunkt einnehmen und, fo lange gewiſſe Finanzbedürfniſſe 
nicht reducirt find, für einen zwedmäßigen Erſatz ver aufzugebenden Zolleinnah- 
men forgen. Das Richtige wäre wohl, auf die Abſchaffung der Salzftener, ber 
Zölle auf Rohſtoffe und Verzehrungsgegenſtände untergeorbneten finunziellen In⸗ 





Sölle. 371 


tereffes, anf thunlichſte Beſeitigung und jedenfalls weitere Reduktion der Zölle 
auf Halbfabrikate und Fabrikate, auf Aufhebung der Oktrois und Mahl⸗ und Schlacht⸗ 
ſtenern hinzuarbeiten, und den Erſatz in einem richtig kombinirten Wccife- und 
Binenggolffyftem mäßiger Steuern auf Zuder, Bier und Wein, hoher Steuern 
auf Branntwein und Tabak und in den Kolonialwaarenzöllen zu ſuchen. Die 
Tendenz ver Entwidlung gebt darauf offenbar auch außerhalb Örofbritanniens 
hinaus. Hier legen dankbare Aufgaben für das deutſche Zollparlament. 

Eine folhe Vereinfachung des Tarife hängt Übrigens nody von der Beant- 
wortung einer anderen Frage ab, ob nämlih außer der bisher beſprochenen ei» 
gentligen Uccife, ver inneren meiftens inbirelt erhobenen Verbrauchſteuer, noch 
anbere innere Steuern bei der Normirung ber Finanzzölle zu berüdfichtigen find. 
Selbſtverſtändlich gilt das Geſagte auch für Tolalaccifen, welde auf ftäbtijche 
oder Staatsrechnung erhoben werben, 3. B. bie preufifhen Mahl⸗ unt Schlacht⸗ 
ſtenern, die mancherlei franzöfiihen und öfterreihifhen, auch einzelne beutjche 
Berzebrungäftenern in ben mit Verzehrungsfteuerlinien — d. 5. eben mit Zoll» 
linien alter Urt — umgebenen Städten. Einheimiſche und frembe Artikel find 
bier gleich zu behandeln, alfo wenn 3. B. keine Lolalaccife auf franzöfifchen Wein, 
wie nach dem beutfchfranzöftichen Hanbelsvertrage, gelegt werben barf, fo ift auch 
bie Erhebung einer ſolchen Accife auf inlänpifchen Wein nicht thunlich (wie 3. B. 
m Naffau), fonft würde ber fremde Wein eine Einfuhrprämte in die Stadt 
genießen. Iene allgemeine Frage wird von ben Meiften ſtillſchweigend verneint, 
fie ift felten nur anfgeworfen worden. Neuerdings ift fie von Hod in feiner 
Theorie vom Uusgleigungszell neben dem Schutz⸗ und Kouſumtionszoll 
angeregt worden (Def. Abg. S. 147). Wir vermögen uns feiner Begründung nicht 
anzufchliegen,, vie Bebeutung des Mannes und vie principielle Wichtigkeit ber 
Sache rechtfertigt aber ein kurzes Verweilen bei der Frage. 

Hock meint, wo das Einkommen des Inländers birelt ober indirekt befteuert 
werbe, fordere bie Gerechtigkeit auch die VBeftenerung des Einfommens, das der 
Gremde aus dem Lande beziehe. Das einzig möglihe Mittel hierzu fei die Be⸗ 
ſtenerung des Gewinns ans dem Wanrenverkehr im Zolle. Diefer „Ansgleihungs- 
zoll“ ſolle bei Nohftoffen am niebrigften, bei Ganzfabrikaten am höchſten fein. 
Denn ber Gegenftand der Befteuerung fet die Summe der Einkommen berjenigen, 
welche an der Berfertigung der Waaren mitgewirkt haben. Alfo ein ähnlicher Ge⸗ 
fichtepunkt wie beim Schutzzoll, von dem fi der Ausgleichungszoll jedoch dadurch 
unterjcheiden foll, daß nicht der Gewinn bes Fremden, ſondern bie von bdiefem 
Gewinn dem Staate gebührenne Steuer die Höhe des Zolls beſtimme. 

Hock verhehlt ſich felbft nicht die praktiſchen Bedenken in manchen konkreten 
Fallen, meint aber, im Princip fei die Forberung aufrecht zu erhalten. Uns fcheint 
legteres wenigftens zweifelhaft und die praktiſchen Bedenken find geradezu unbe⸗ 
flegbar in allen Fällen. Die Voransfegung für die principielle Nichtigkeit der 
Borberung iſt die Steuerpflichtigfeit jenes Gewinns des Fremden im Inlande. 
Run würde der Fremde weder als Stantsangehörtger noch als Staatsbewohner getrof- 
fen werden. Die auch nur bedingt zuläffige Nechtfertigung einer Beſteurung des Ein» 
tommens aus dem im Inlande angelegten Kapital des Fremden (Rapitalzinsfteuer, Cou⸗ 
ponfleuer) paßt auf den Ausgleihungszoll nicht einmal genau, denn das fremde Ka⸗ 
pital, welches in der Landwirthſchaft, dem Gewerbe, dem inländifhen Handel, in 
ven Erwerbsgefelihaften (Aktien, Prioritätsobligationen) und dem ſtaatlichen Pro⸗ 
duftionsproceß (Staatspapieren) des Inlands angelegt ift, arbeitet wenigftens voll- 
Rändig innerhalb der heimiſchen Volkewirthſchaft, unter heimiſchem Rechtsſchutz 

2» 


372 Zölle. 


und dem Genuß die heimiſchen Staatöförberungen aller Urt. Das im answärti- 
gen Handel umgefeple Kapitel arbeitet dagegen flets im In- und Unslande zus 
gleih. Erhöben alle Staaten ſolche Antgleihungszölle, fo erfolgte regelmäßig eime 
Doppelbeftenerung, deren Bermeibung im Interefje der betbeiligten Probucenten 
und ihrer Staaten liegt unb vom weltisirtbfchaftliden Standpunkte aus, der für 
dieſe Fragen internationaler Beftenerungspolitit maßgebend fein follte, auch prin⸗ 
cipiell zu verwerfen if. Exrhöben nun einzelne Staaten folde Zölle, fo glichen 
diefelben doch gar zu fehr den alten Zöllen, d. h. jenen Erlaubnifgebühren für 
den Fremden, im Inlande ungeplünbert Handel zu treiben. 

Wie dem auch ſei, unausführbar aus praktiſchen Gründen iſt diefer Aus- 
gleichungszoll gewiß. Ein Einfuhrzoll trifft der Regel nach den inländiſchen Kon⸗ 
ſumenten (ſ. u. V), was bier tem Zwed gerade entgegen wäre. Für bie richtige 
Bemeſſung der Höhe fehlt ferner jeder Anhaltspunkt, Hock's Audeutungen genü⸗ 
gen durchaus nicht. Die Schwierigkeiten wären noch unenblid größer, als in dem 
obigen alle der Feſtſetzung des Finanzzolls nad) der Uccife. Der Willkühr wäre 
Thor und Thür geöffnet, der Ausgleihnungszoll würde noch viel leichter als ver 
Finanz⸗ (Konfumtions) Zol zum Schutzzoll werben. Bollends dad Berhältnif 
der Ausgleihungszölle bei verfchievenen Waaren ließe fih nur nad Willlär nor- 
miren. Und die Bereinfahung bes Tarifs, viefer Hauptgrundfag nenerer 
Zollpolitik, wäre endgiltig aufgegeben! Denn offenbar müßten alle Waaren getrof⸗ 
fen werben, aljo eine unendlihe Anzahl Zollartitel und Zollfäge, eine noch viel 
größere Weitläufigleit, Verwickeltheit, Willkürlichkeit des Tarifs als jemals früher, 
und niemals eine Beflerung in Ansfiht, vie Gründe für ven Ausgleihungszoll 
blieben immer beftehen, jelbft wenn biejenigen für Schugzölle und die meiften 
Finanzzölle immer mehr fortfielen. Die Folgen des Principe ber Ansgleihungs- 
zölle zeigen fih annähernd im neueren norbamerifanifhen Tarif, der ſchon wegen 
bes fchlehten Syſtems der vielen inneren Berbraudhsabgaben fo monſtrös werben 
mußte. Nein, die Idee des Ausgleihungszolle ift fein glüdliher Gedanke des 
eminenten Binanzmannes. Ihre Verwirklichung wäre der Tod des Freihandels 
und eines einfachen nationalen Zollſyſtems. Die Aufgabe iſt vielmehr, das Yinanz- 
zollſyſtem möglichſt aller ſchutzzöllneriſchen Nebenwirkungen zu entlleiven und es 
in Betreff der im Inland producirten Güter anf die acciſepflichtigen zu befchrän- 
ten. Dies ift au die deutlih erkennbare Richtung der neueren Entwidiungs- 
gefhichte der Zarife und die in den liberalen Haudelsverträgen ausgeiprochene 
Tendenz, wodurch auch bedeutſame Keime zu einer völkerrechtlichen Regelung ber 
De sang gelegt find. (Ueber Hock's Anfiht über ven Zoll überhaupt 
ſ. u. V). 

Die zweite Hauptklaſſe ver Finanzzölle, die Zölle auf Kolonialwaaren, 
begreifen die Artikel eines abfoluten oder annähernd abfoluten Naturmonopols ber 
Fremde gegenüber dem betreffenden Zollgebiet. Die wichtigften Wanren ſind alfo 
für Europa die früher genannten transatlantifhen und ſpeciell tropifchen, 
für einen großen Theil von Europa die ſüd- und weſtenropäiſchen Probufte, 
wie Südfrüchte, Reis, Wein (3. Eh. Tabak). Bezollung an fi, allenfallfige 
Auswahl der Artikel und Höhe der Zollfäge machen bier viel weniger Schwie- 
rigfeit, und zwar einfah, weil bie erörterten Hinberniffe bei ver Bezollung ber 
im Inland erzeugten Waaren fehlen. Zolltechniſche Gründe ſprechen alfo für die 
Befteuerung biefer Artikel, ſoweit die betreffenden Zölle fih als Ber- 
braudfteuern überhaupt empfehlen. Begreiflicher Weife bilden dieſe Pro- 
bufte denn auch thatſächlich nod überall in den civilifirten Ländern der gemäfig- 


Bölle, 373 


ten Zone einen ber wichtigften Theile des Zolliwefens, und fie werben wohl erft 
mit dieſem letzteren felbft, wenn es dazu einmal kommen folte, fallen. Was vie 
Answehl anlangt, fo werben aud Hier paflender Weiſe nur eigentlihe Ver— 
zehrungsgegenſtände, nicht frembe Nobftoffe u. ſ. w. bezollt (f. o.). Die 
Hauptariikel find regelmäßig, von Zuder, Tabak, einigen Spirituofen abgefehen, 
welche jet meiftens zur erften Klaſſe ber Finanzzölle zu rechnen find, Thee, 
Roffee, Gewürze, Kakao, Südfrüchte, Reis. Die Einnahme aus biefen 6 Artikeln 
betrug im Zollverein 1862-64 (inkl. friſche Suüdfrüchte) jährlich 9,06 Mill. Thlr. 
ober 26,3 0/, der Bruttoeinfuhrzolleinnahme (inkl. Nübenzuderftener), in Oeſter⸗ 
reich (inf. alle Südfrüchte) 1864 3,13 MIN, Thlr. 23,8 0/,, in Frankreich (exkl. 
Kalao und frifche Südfrüchte) 1864 6,23 Mil. Thlr. ober 18 9/,, in Großbritan⸗ 
nien (Reis und ſchon früher alle Gewürze anßer dem erft Kürzlich befreiten Pfeffer 
zollfrei) 1864 85,81 Mil. Thlr. ober 23,8 %/,, in Rußland (erfl. Kakad und 
andere Gewürze als Pfeffer) 6,68 Mill. Thlr. oder 21,2 0/0 der rohen Einnahme 
an Ein- und Ausfuhrzöllen im europälihen Verkehr. 

Bom Standpunkte der Bereinfahung des Zollwefens wirb man nur 
verlangen können, daß einzelne unbedeutende Artikel, welche nicht wie 3. B. 
„Gewurze“ eine zufammengehörige Kategorie bilden, befeitigt werben. Im Interefie 
tr Maſſe der VBenöllerung und einer richtigen DBefleuerungspolitit, 
d. h. zur mögliäften Durchführung des Einkommenſteuerprincips auch in ven 
Berbrauchfienern , muß vornehmlid die freiheit oder der niedrige Zoll von 
Hauptnahrungsftoffen, wie Reis, 3. Th. auch Pfeffer, gefordert werden 
England iſt auch hier wieder mit der Befreiung biefer beiden Artikel vorangegan⸗ 
gen, Frankreich hat wenigſtens einen niebrigen Neiszoll, Deutſchland aber leider 
feinen zu hoben Reiszoll (1 Thlr. p. Eentn., d. h. circa 200%), vom Hamb. Durch⸗ 
ſchnittspreis für Javareis von 1861 — 65, 5,06 Thlr., nicht die billigfte Sorte!) Java 
noch beibehalten und beide letztere Länder haben einen zu hohen Pfefferzoll (Frant- 
reich 6 Thlr. 10 Gr. — 8 Thlr. 4 Gr., Zollverein 6 Thlr. 15 Gr. — 9 Thl. 
15 Gr. p. 150 Kil., Hamb. Durchſchnittspreis 1861—65 11,9 Thlr., alfo letzterer 
Say faft 55 9/,1). Für allgemein verbreitete, zur Bolfsnahrung geworbene Luxus⸗ 
nahrungsftoffe, wie bier Thee, dort Kaffee find mäßige Zollſätze uicht nur bie 
beften für das Boll, fondern aud wegen geringeren Schmuggel® und größeren 
Konfums meiftens die einträglichften für die Finanzen, ebenfo wie mäßige Zuder- 
und Weinzölle. Auch bier ift wieder bie jüngfte Reduktion der englifchen Theezölle 
befonders zu loben, nad Tontinentalem Maßftabe ift der engliſche Theezoll ven 6 d. 
aber noch immer für das erfte nationale Getränk dieſer Art jehr hoch (p. 50 Kilogr: 
18 Thlr. 12 Gr. over 35 9%, des Hamb. Durfchnittspreifes von 52,7 Thlr., 
denmach der frühere 7O und der noch furz vor biefem geltende Zoll von 17 d. 
p. Pf. 99 9/,1) Im dem anderen großen europäiſchen Lande bes Maſſenkonſums 
von Thee, in Rußland, iſt der Theezoll bei der aflatiihen Einfuhr p. ruſſ. Pf. 
15, bei der enropälfchen Einfuhr 35 und 50 Kopelen nebft 5 9/, Zuſchlag, oder 
p. 150 KU. refp. 20,5, 47,8 und 68,3 Thl. al Pari gerehnet, maßlos body für ein 
fo armes Land, der mittlere Sag ift 90,7 9/, des Hamb. Preifes! Auch in Nord: 
amerila ift ver Theezoll im I. 1864 auf 38 Thir. 10 Gr. p. 50 Kil. erhöht. 
Dagegen könnten die Theezölle in Deutſchland, Defterreih, Frankreich (reſp. 
p. 50 Kil. 8, 101/, und 51/, — 131/, Thlr. oder wiederum nad) Procenten des 
Samb. Breifes 15,2, 19,8 und 10,1 — 25,3 9%/; natürlich alles nur annäbernde Berech⸗ 
nungen, da bie konfumirten Onalitäten andere als die im Hamb. Handel erfchel- 
nenden fein können) und in anderen Kontinentalländern, wo ber Thee mit Aur 


374 Zölle. 


nahme Hollands überall ein Genußmittel Heiner wohlhabenderer Kretfe 
ift, nicht wohl anfehnlih erhöht werben, ohne den Konfum und befien Wachs⸗ 
thum zu hemmen , jeboch minbeftens auf den Satz von Kaffee. Die Kaffeezölle 
(Zollverein p. Zollcentn. oder 50 Kil. 5, Defterreih 51/,, Frankreich 4 Thlr. 
24 Gr. — 7 Thlr. 12 Gr., nah dem Urfprung und vem Einfahrlande, Oroßbritan- 
nien 9 The. 6 Gr., Rußland 8 Thle. 7 GEr., Nordamerika 7 Thlr. 20 Gr. 
oder nad Procenten des Hamb. Durchſchnittspreiſes von Braſilkaffee, ver billig⸗ 
ften Sorte, 1861—65 20,7% Thlr., refp. 24,1 im 3. V., 25,7in De, 28,1 358 
in F., 44,4 in Gr., 39,6 in R., 37 9%, in N. U.) find im den brei erfien Län⸗ 
bern des Maffentonfums von Kaffee wohl nit unzweckmäßig normirt. Ob aber 
im Zollverein die Herabfegung des Zolls von 61/, auf 5 Thlr. zur Zeit des 
Eintritt8 Hannovers fu den Berein ganz gerechtfertigt war und ber gegenwärtige 
Zolfag, fo lange Salz- und ähnliche bedenkliche Steuern, z. DB. die 
preußifhe Mahl- und Schladitfteuer, vorkommen nnd zum Theil fehr 
hoch find, ganz richtig ift, mag immerhin einigem Zweifel unterliegen. Mit 
Net wird neuerdings bei der Normirung der Zollſätze das Princip befolgt, durch 
niedrige Preife den Konfum zu fleigern, aber man darf bie Tragweite dieſes Grund- 
ſatzes auch nicht überſchätzen. Die Herabfegung im I. 1854 beträgt für das Pfund 
Kaffee, 0,5 Sgr., fhmwerlih genug, um den Konfum beträchtlich zu erhöhen, was 
denn auch nicht Im flärkeren Maaße als früher gefchehen zu fein fcheint, übrigens 
wegen des Beitritts des haunover'ſchen Steuervereind nicht ganz genau zu ermit- 
tein tft. Die engliſchen Zollreformen find bier mitunter von den Freihändlern zu 
einfeitig interpretirt worden, indem dort die Herabfegung wegen der Ueberhöhe ver 
früheren Zölle eime viel bebentendere und der Einfluß auf die Preife wegen des 
Fortfals der Differentialſchutzzölle für die englifhen Solonialpropnite ein viel 
flärkerer war. Mindeſtens könnte es im Zollverein, unter Vorausſetzung eines 
gleichbleibenden Staatsbedarfs, eine offene Frage fein, ob zur Erleichterung wei- 
terer Reformen im Befteuerungswefen und im Zolltarif ſpeciell, namentlid zur 
Herabfegung der Salzfteuer, zur weiteren Abſchaffung von Schugzöllen und aud 
noch insbeſondere zur Herbeiführung einer Ausgleihung zwiſchen Nübenzuderftener 
und Rohrzuderzoll mittelft einer neuen Ermäßigung des letteren nidht 
wenigſtens vorübergehend eine Kaffeegollerhöhung 3. B. auf 6-61/, Thlr. 
räthlich fein follte. Die Beſteurung des Zuders fcheint uns im Zollverein zu der⸗ 
jenigen des Kaffees zu hoch zu fein. für die gegenwärtigen Wohlſtands⸗ und 
KRonfumverhältniffe des mittleren und öſtlichen Eontinentalen Europa in deſſen 
jetziger Binanzlage mödten im Princip etwa Säge von 30 9/, für Mafien- 
Iurustonfumtibilien wie Kaffee, Pfeffer, etwas höhere, 40 ©/,, vielleicht einft- 
weilen nod für Zuder, aud für Thee, obgleich diefer Artikel, wenn auch 21/, 
mal fo hoch als jegt im Zollverein, dann doch immer noch gegenüber Kaffee niedrig 
bezollt wäre, ferner Sätze von höchſtens 10 9/, für wichtigere Nahrungsmittel, 
wie Reis, wenn bie Zollfreiheit für ihn nicht zu erreidhen iſt, von wenigftens 500/, 
für Lurustonfumtibilien wohlhabenderer Klaflen, wie Kakao, Südfrüchte, die meiften 
Gewürze (fomeit bei legteren bie Gefahr des Schmuggeld nicht eine Ausnahme 
bevingt), eigentlich auch Thee, die richtigften fein. Diefen fchlöße ſich eine Tabak⸗ 
beftenerumg von minteftens 50 %/,, eher mehr, eine Spirituofenfteuer von wenig- 
ſtens 50—73 %/, und eine Weinfteuer von ebenfalls 30 %/,, vie betreifenven 
Zölle und Aecciſen immer möglichft im gleicher Höhe, paſſend an. Auf Grund ber 
Samburger Durchſchnittspreiſe von 1861—65 und unter fernerer Wefihaltung 
eines einzigen ſpecififchen Zollfatzes für alle Qualitäten jeber einzelnen Waare 


Säle, 375 


wärben ſich dann etwa nad) biefen Principien, nur mit einigen durch die Umflänbe 
noch geboten ſchelneuden — im 3 en im Bergleich zu ben 
wärti; M- und ccifefägen folgende Zölle ergeben. 
var un 30 Hamb. ae — Ace Reuer 3ersdnrät. 
Zolvereins · Tarif 2,6, KO A VOR ea OR 
—* * 9 Ablt. Sir Kr Thlr. Sgr. 5 
Preif. reif, —— 


in Thle. u. Breif. 
Rohguder (Inb.) —— a TA — — 38.7 





Rüben-Rohzuder —.37 417 _ 
— od. p. Emta.Riln — —.— —- — U — _ 
Kaffee (alle Sorten) 28 5 — 224 — — 26 
Thee (alle Sorten) 20 8— 152— — — 38.0 
Ealao 19.2 6.16 8333 — — — 50.7 
Reis (alle Sorten) 36 1. 233 — — 101 
Phfeffer 18 615 545—— — 25.2 
Biment 8 615 77.2 — — — 3.— 36.0 
Comehl 4683 6. 16 144 — — — 10.— 218 
Raffia (Agana) 29.8 615 22. — — 10.— 344 
Rofinen. 88 L— 469 — — 6. — 588 
Rosinihen = 4. 60 — — * — 781 
Wandela 19.2 4— 202 — — — — 25.2 
Nohtabak (alle Sorten) 24.0 4L— 16.5 — 20 (c. ur son. w — 50.0 
Spirit. (Kosm-u.Rartofl.) 7A 6. — sa... 1.16 — 69.2 

3.6 35. 
Wein (franz. excl. Champ.) 9.027 Hisd. -— “N 0 _ 2.15 277 
na2.— 27.7 — 
1.15 306 
Salz 08 2. — 408 2.— 408 Fe 202 


Diefe Zollvorſchläge find für Zuder und Salz noch immer hoch, für Kaffee, 
Tabal, Spiritus feineswegs überhod, denn die Steuer von Tabak flellt fi in 
England anf 116—129 Thli., im Monopol Frankreichs auf 70—80, in dem 
Defierreichs auf c. 33 Thlr., in Rußland auf 19 Thlr. 23 Ör., ber Bolle und 
Steuerbetrag auf Branntwein ift nicht nur in England um Bieles, fondern auch 
in Frankreich nod höher (für Acciſe 5—6 Thlr, dazu Zol Über 1 Thlr.) und 
KRafiee, deſſen Konſum in Frankreich und Deutſchland fi noch am Erſten gleicht, 
allerdings aber in Deutſchland verbreiteter ift und weiter in bie unteren Klaſſen 
hinabragt, zahlt im Durchſchnitt faft 7 Thlr. in Frankreich. Im Princip 
wärde die Gleichſt ellung des Zolls und der Acciſe für Tabat, Wein, Spiri⸗ 
tus, Zuder zu verlangen fein. Diefe ift ſchwerlich ſofort zu erreichen, aber eine 
richtige Sinanzzollpolitit muß wenigftens ernſtlich darauf hinſteuern. Die inländi- 
fe Weinftener ift im Zollverein bei der doch nicht bebeutenden Weinpr 
minber wichtig, aber kaum ganz zu umgehen, Bei Zuder wirb es ſich vor 
um Grmäßiguug des Zollfages, bei Branntwein um Erhöhung ber inneren 
bei Tabak um farke Erhöhung des Zolls und ber Steuer zugleich Handel 
oben vorgeſchlagene Herabfegung ber Salz- und Relsbeſteuerung kann nur 
Abſchlag anf weitere Ermäßigungen betracgtet werben. Eine genaue Abſ 
der burdh ſolche Reformen bemirkten Veränderung ber Einnahme ift im 
nicht möglich. Do ergibt ein ungefährer Anſchlag, unter Annahme eine 
ſteuen von bis 1 Ihle., einer biffmentiellen Begünftigung des einhe 
Zuders mit 1/, Thlr. (alfo 21/5 Thir. Acciſe ober c. 6 Sgr. p. Cenin. 


376 Sölle. 


und eines gleichbleibenden Konſums von Salz, Zucker, Wein, Reis, Pfeffer 
einen Ausfall von c. 10 Mill. Thlr. Dieſer Ausfall würde aber mehr als er⸗ 
ſetzt durch die größere Einnahme aus den Zoll⸗ und Steuererhöhungen, ſelbſt 
wenn man die Brantweinbeſteuerung beim Alten ließe, die — höchſt unwahr⸗ 
ſcheinliche — Verminderung des Tabakkonſums auf die Hälfte annähme, — fie 
wäre dann nach Sötbeer's Berechnung kleiner als in Frankreich mit der noch 
immer ſechsfachen Beſteuerung des Tabaks, nämlich 1.38 gegen 1.55 Pf. p. Kopf 
— und im Konfum ver wenig vertheuerten Hauptartifel wie Kaffee feine Ber 
ringerung einträte. Eine folhe Umgeftaltung, welde in ver Hauptſache die über- 
hohe Salzfteuer durch eine immer nod mäßige Tabakſtener erfegte und ven Kaffee 
weniger verthenerte als den Zuder verbilligte, ift gewiß wünſchenswerth. Ia, die 
Neform der Tabak⸗ und Spiritusftener böten im Zollverein die Erfagmittel für 
die gänzlie Befeitigung ter Salz. und ähnlider Steuern. Die beachtenswerthen 
Einwendungen Makowiczka's gegen die Erhöhung des Tabalzolls und der. inne» 
ren Tabakſtener fcheinen mir doc nicht durchſchlagend geuug zu fein, wenn an⸗ 
derſeits ſolches wichtiges Nefultat erlangt würde. 

Wir haben biefen Erfurs über eine wichtige Reformfrage der Steuer- und 
Zollpolitik des Zollvereins abfichtlich bier, ftatt im Artikel Zollverein“ eingerefht, 
weil der Vorſchlag, wie fih aus den Mittheilungen über andere Länder ergibt, 
durchaus nicht etwas Abſonderliches verlangt und bier glei durch ven Zufammen- 
hang empfohlen wird. Die Erfahrungen außerhalb Deutſchlands weifen anf diefen 
Weg hin ımd dienen zu feiner Redtfertigung. Deutfchland würde vermutblih ſchon 
früher auf viefelbe Bahn gelangt fein, wenn e8 feine politifche Umgeftaltung frü- 
ber bewerfftelligt hätte, 

Neben ven beiden großen Klafien der Finanzzölle auf acciſepflichtige und auf 
Kolonialwaaren fommen noch ſolche Zölle auf wichtige Lebensbedürfniſſe, 
d. 5. Nahrungsmittel erften Range, und auf Robftoffe zur inpuftriellen 
Verarbeitung vor. Zu erfteren gehören namentlich vie Zölle auf Getreive und 
Mehl, Vieh und Fleiſch, frifche, getrodnete und gefalzene Fiſche, zum Theil auch 
Butter und Käfe. Biele tiefer Zölle haben bekanntlich fange Zelt in Großbritan- 
nien, Frankreich, ein wenig aud in Deutſchland die Bedeutung landwirthſchaft⸗ 
licher Schutzölle gehabt und find als ſolche mit Recht aufgegeben. Aber auch als 
Finanzzölle find die meiften davon bebenfliche Verbrauchſteuern; ähnlich wie bie 
Salz. une Mahl» und Schladhtfteuer, und um fo weniger zu billigen, da fie oft⸗ 
mals nur einzelne Gegenven, welde auf Berforgung aus dem Auslande angewie- 
fen find, treffen, alfo gegen das Princtp der Sleihmäßigkeit verftoßen. Im Zoll- 
verein find wenigſtens einige dieſer Zölle bei ver legten Tarifreform in Folge 
des franzöfifhen Handelsvertrags befeitigt, andere ermäßigt worden. Zu jenen 
gehören die Zölle auf Getreide und Hälfenfrückte (Ertrag bei Heinen Zöllen von 2 
Gr. per Sch. Weizen, 1/, Er. per Sch. Roggen n. f. w. 1864 0.13 Mil. Thlr.), Muh— 
Ienfabrifate aus Getreide und Hülſenfrüchten, gebadened und getrodnetes Obſt, 
Kälber, Schafe und Ziegen (erfl. Hammel, Ertrag dieſer 3 Viehzölle 1864 
12,000 Thlr.); alle diefe Artikel waren übrigens ſchon im Zwiſchenverkehr mit 
Defterreich, der darin bedeutend ift, befreit. Ermäßigt, und zwar nicht umbebentend, 
meiftens auf die bisherigen Zwifchenzollfäge mit Oeſterreich, mitunter auch nody 
weniger, finb bie beftehen gebliebenen verfhiedenen Vieh⸗ und Fleiſch⸗, Butter- 
und Käfezölle (Ertrag der Viehzölle, ohne die drei aufgehobenen, 1862—64 jähr- 
lih 368,000 Thle., der Fleiſchzölle 265,000, Butter 56,000, Käfe 163,000, 
zufammen 842,000 Thlr.). Leiver ift ein verartiger Zoll, der auf geſalzene Hä⸗ 


Zölle. 377 
einge (1 Thlr. per Tonne, ober 10—12 9/, vom Werth) nicht vebucirt worden. 
Er gehört zu denen, welde durch die oben befürwortete Reform ebenjo wie ber 
Reiszoll wo möglich abgefchafft werben müßten (Ertrag 443,000 Thlr.). England hat 
auch mit dieſen Zöllen jegt ganz aufgeräumt. Das Streben hienach tritt in ven 
neneren Tarifreformen aud auf dem Kontinent hervor. Einzelne verwandte Artikel 
ganz umbedentenden Ertrage (im 3. B. 3. B. Eſſig) würden der Bereinfadhung 
des Tarifs zu Liebe ebenfalls fallen dürfen. 

Die Zölle auf Rohftoffe zur inpuftriellen Berarbeitung haben eigen- 
thümlicher Weife, obgleich fie den merkantiliftifhen nnd ſchutzzöllneriſchen Tendenzen 
nad einer Seite wiberfprechen, bis vor gar nicht lange eine verhältnigmäßig nicht 
mmbedentende Stelle in europätfhen Zarifen eingenommen. Theile kamen babet 
allerbings landwirthſchaftliche (wie bei ben einheimiſchen Spinnftoffen, bei Saaten, 
Zalg, Häuten, Leber, auch Holz u. a. m.), mehr noch montaniſtiſche Schutzzoll⸗ 
tendenzen, namentlich bei Roheiſen und Steinfohlen ſelbſt wieder zur Geltung, 
theils ſchienen die überſeeiſchen Artikel eines fremden Natarmonopols, wie Baum 
wolle, Seide, Yarbftoffe, manche Dele, Droguen u. f. w. wiederum für eine Finanz⸗ 
bezollung befonders geeignet. Das landwirthſchaftliche Schugprincip fiel aber bier 
um fo eber, da es mit dem Princip des Inpuftriefhuges in Konflilt fam, und 
auch auf die Beſeitigung der anbern Finanzzölle wirkte ſchon dieſer Inpuftriefhug 
bin. So fehen wir denn nicht nur bei zum Siege gelangten Freihaudel, wie in 
England, fondern auf in dem Syſtem mäßiger Schutzölle im Zollverein, höhe» 
rer in Defterreih und Frankreich und meiſt noch prohibitiver ſogar in Rußland, 
die Zölle auf ſolche Rohftoffe verſchwinden ober wenigftens ſtark herabgefegt, frei- 
ih in der Regel noch mit der Ausnahme des montaniftifhen Hauptartifels Eiſen 
und andy wohl anderer Metalle, weil bier das Schukprincip noch nit überwun⸗ 
ben wurde und dieſe Artilel im Gegenſatz zu primitiven NRobftoffen unter ver 
Kategorie der Halbfabritate eher einen Schuß noch länger zu verdienen ſchienen. 
Im Zollverein wurden u. U. bei ver jüngften Tarifreform vom Zoll befreit: 
Flachs, Hanf, Werg, ungefärbte rohe und Floretſeide, Delfamen und andere 
Sämereien, Oelkuchen, Talg, Bettfedern, Terpentindl, Theer, Pech, Potaſche, Bau- 
und Brennholz (au gefägt), Krapp, gemahlenes Farbeholz, diverfe andere Rob: 
produfte zum Gewerbegebrauch, Steintohlen, rohes Blei, rohes Kupfer und Mef- 
fing, rohes Zinn, Schwefelfänren, [hwefelfaures und ſalzſaures Kali u. ſ. w. Mande 
verbliebene Zölle find mwenigftens herabgeſetzt, fo Dele, Fette, gefärbte Seide, Lex 
der, Soba und manche andere hemifche Produkte, dann namentlich Roheiſen (von 
1/; auf !/, Thlr., immer nod 21.50), des Hamb. Preifes von 1861—65). Wich⸗ 
tig durch den Ertrag war befonders Roheiſen (1862—64 928,000 Thlr.), Del 
(386,000 Thlr.). Auch mit diefen Zöllen wird weiter aufzuränmen fein. Groß—⸗ 
britannien bat fie jet wohl ziemlih alle befeitigt, Frankreich und Defterreih find 
im Ganzen noch etwas fisfalifher und ſchutzzöllneriſcher auf viefem Gebiete, als 
der Zollverein, weit mehr noch Rußland, aber mit Ausnahme der Roheifenzälle, 
werden doch die meiften dieſer Zölle kaum noch im Princip feftgehalten. Die Zölle 
auf ſolche Rohſtoffe treffen auch nur mittelbar den Berbraud, unmittelbar die 
Produktion, die fie beläfligen une um den Zins und Zinfeszins. des Zollbetrags 
vertheuern. Als Schutzölle find fie am wenigften zu halten, weil fie bie Konkur⸗ 
venzfähtgkeit aller Induftrieen, deren Robftoff fie find, lähmen. Sie führen zudem 
den befonderen Nachtheil mit fi, daß fie felbft wieder ein großes Gefolge weite- 
ver Schuezölle nothwendig machen. Die Produkte aller Berarbeitungsfladien bes 
bezollten Rohſtoffs müfjen doch nun mindeftens wieder, auch wenn man bie weitere 


378 Sölle, 


Berarbeitung gar nicht ſchützen wollte, ſoweit bezolli werben, als der Robftofizoll 
auf den betreffenden inländiſchen Fabrilaten als Probultionsloftenelement In 
Dabei Itegt alsdann noch die befonvere, völlig genau gar nicht zu überwinvenbe 
Schwierigkeit vor, in dem Heere von Schugzöllen die richtige Verhältnißmäßig⸗ 
feit durchzuführen, 3. B. die Zölle von Stangeneifen, Eifenbleh, Stahl u. ſ. w. 
in das richtige Berhältnig zu denen auf Roheifen zu bringen. Ebenſo machen 
Robftoffzölle wieder ein verwideltes Rückzollſyſtem für die verarbeiteten Produkte 
nothwenbig. Iene Zölle repräfentiren daher das dem jegt zur Herrſchaft gelangenben 
der Vereinfachung gerade entgegengelegte Syſtem ber Komplicirtheit des Tarifs. 
Endlich ift bier auch nod der finanziellen VBebeutung ber eigentlichen 
Hauptſchutzzölle auf Halb- und beſonders auf Ganzfabrikate zu er⸗ 
wähnen. Die betreffenden Zölle erfgeinen als mehr oder weniger reine Finanz⸗ 
z3öBe in Ländern mit ansfchließliher ober ganz vorwaltender Urprobuftion, wie 
in den civilifirten Landern von Mittel- und Südamerika. Hier bilden fie, wie ſchon 
erwähnt, das Seitenftüd zu den Kolonialwaarenzöllen Europas, fie treffen ebenfalls 
die Produkte einer Art Monopol ber Tyrambe. Über wo vie Elemente zur Ent⸗ 
widlung einer größeren handwerklichen und fabrilativen Thätiglelt vorhanden find, 
werben biefe Zölle doch mitunter ſchon gewifle Schugiwirkungen. ausüben. So 
geftalteten fi) die Dinge früher in Dentihland, Rußland, Nordamerika, jetzt 
zeigt ſich etwas Aehnliches auc in andern Ländern reiner Urprobultion, 3. B. in 
Brafilien. Meiftens läßt man dann abfihtlih den Finanzzoll zum Schutzzoll 
werben und erhöht den Zollſatz zu diefem Behufe wohl no, ohne Rückficht auf 
das finanzielle Interefie, oft zu deſſen Nachtheil und zu des Schmuggels Ruten. 
BIN man den reinen Finanzzollcharakter erhalten, fo muß natürlich umgelehrt 
eine Zollermäßigung erfolgen. In Europa haben die Zölle auf Halb» und Ganz- 
fabrifate meiftens einen ausgeprägten Schußzwed, was aber nicht verhindert, daß 
fih au ein nicht unbedeutendes Finanzinterefie an fie knüpfen Tann. Letzteres 
erſchwert Reformen mitunter ebenfalls. Aus dem finanziellen und aus dem Schuß 
gefihtäpunft verlangt man mit Recht mäßige Zolfäge, denn Bei dem hohen 
ſpecifiſchen Werthe vieler hier in Betracht kommenden Waaren kommen hohe 
Zölle nur dem Schmuggel zu Gute, ohne Nuten für bie Inpuftrie und zum Nach⸗ 
theil des Fisfus, des legalen Hanbels und ver Bolksfittlichkeit, oder, weun es ge» 
lingt, den Schmuggel in mäßigen Grenzen zu halten, fo erlahmt nur ver Fort⸗ 
fchritt in den Bewerben. Nur England hat mit dieſen Zöllen als Schutzmaßre⸗ 
geln und Cinnahmequellen feit dem Bambelövertrag mit Frankreich und ber 
ihm folgenden ZTarifreform jet fo gut wie ganz gebroden, Oeſterreich und 
Frankreich find von ihrem firengen Prohibitio- und Hochſchutzzollſyſtem zu mäßi⸗ 
geren Schugzöllen übergegangen, welche aber in Yrankreih nah allen durch Han⸗ 
belöverträge eingeleiteten Reformen noch immer vielfah überhoch geblieben und 
auch in Defterreich erft dur den Hanvelsvertrag mit Großbritannien vom 16. 
Dec. 1865 in ein Syſtem leidlich mäßiger Schugzölle hinübergeführt worben 
find (freilich im Brincip immer noch ein Martmum von 25, von 1870 an 
20 9%, vom Wertbe!). Der frühere preußiſche Tarif von 1818 umb ber fpätere 
Zollvereinstarif war unter denjenigen großer Staaten immer einer der mäßigſten 
Schutzzolltarife, felbft mit feinen allmäligen proteltioniftifchen Veränderungen (wie 
den Eifen- und Garnzöllen). Er iſt mit nicht zahlreichen, aber einzelnen wichtigen 
Ausnahmen nach der jüngften Reform durchaus als ein Tarif niebriger Schubzölle 
zu bezeichnen. Der ruffifche flarre Prohibittotarif von 1822 biieb im Weſentlichen 
bis 1850 unverändert, wurde dann ein wenig, 1857 eingreifender in einen Hoc» 


3älle, 879 


ſchutzzolltarif verwandelt und hat ſeitdem einige weitere Liberale Beränperungen 
erfahren, feinen Charakter aber bewahrt. Tür das Jahr 1868 flieht ein nener 
ruſſticher Tarif in Ausfit, der wohl vornehmlih um des Schmuggels willen in 
fiskaliſcher und protektioniſtiſcher Hinfiht etwas liberaler fein, fchwerlich aber auch 
nur im Princip mit dem Hoc ſchutzſyſtem brechen wird, fo thöricht biefes Syſtem 
andy gerade bei ruffifchen Grenzverhältniſſen, ruffiiher Benölterung und Beamten- 
haft if. Nordamerika hat befanntlich ſchon früher Perioden des Schußzolles ge 
habt und if unter dem Einfluß des Bürgerkriegs zu einem Syſtem des Hod- 
ſchutzzolls übergegangen , deſſen Milderung weniger durch die Oppofition bes 
unterworfenen Südens ald des vornehmlich laudwirthſchaftlichen Weftens über Kurz 
oder lang erwartet werben bärfe. 

Die wichtigften Arttkel and) in finanzieller Hinficht find regelmäßig die Garne, 
Webwaaren, Belleidungsartitel, die halb und ganz verarbeiteten Metalle, denen 
fich die kurzen Waaren, Leber, Holz, Stroh⸗ Papier⸗ Glas⸗, Porcellanwaaren 
in zweiter Linie anſchließen. Die neueren Handelsverträge haben die Zölle hierauf 
allgemein vereinfacht und reducht, namentlih auch im Zollverein. Hier beſchäf⸗ 
tigt uns nur die finanzielle Sette biefer Zölle, vie fi für einige Hauptartikel 
ans folgender Meberfiät ergibt (in 1000 Thin.) : | 


verein. Defterreich, Rußland. 
1 * 1866. 1864. 1866. 
Baummwollgarn 592 529 280 470 
Wollgarn 216 160 127 — 
Leinengarn 336 452 60 — 
Baumwollwaaren 411 241 177 918 
Wollwaaren 1021 592 446 1429 
Leinenwaaren 106 71 20 646 
Seidenwaaren 645 185 457 878 
Halbſeidenwaaren 181 88 — — 
Roheifen 9228 698 63 — 
Berarbeitetes Eiſen 243 582 130 — 
Eiſen⸗ und Stahlwaaren 848 |“ 158 _ 
Andere Metallmaaren 110 c. 31 — — 
Unverarbeitete Metalle — — — 516 
Metallmaaren — — — 764 
Summe ber, angeführten Artikel 6637 8626 1978 5621 
oder 0/, des Einfuhrzolls 22,3 17,0 21,5 18,2 


Das Jahr 1866 war im Bollverein das erſte nad den Zollreduktionen, 
übrigend auch burd den Krieg geftört (hier nad) den proviſoriſchen Ausweiſen, 
Normalberehnung ohne Inbegriff der Nübenzuderftener). Die finanzielle Wid- 
tigkeit dieſer Zölle ergibt fi) aus den Zahlen deutlich. Und die angeführten find doch 
nur die Hauptartikel. Im Zollverein lieferten 3. B. von 1862 —64 die wichtigeren 
fonftigen Yabrifate noch 617,000 Thlr., in Rußland einige weitere berarlige Artikel 
(furze Waaren, diverſe Kleidung und Putzwaaren, Spigen und Tüll, Glaswaaren) 
noh 730,000 Thlr. Man erfieht hieraus, daß der englifhe Grundſatz, zur 
Anbahnung großer Zollreformen zuvor oder gleichzeitig andere Einnahmequellen 
zu eröffnen, auch auf dem Kontinente fih Geltung verfchaffen muß, wenn auch 
nur die finanzielle Schwierigkeit folder Reformenüberwunven werben fol. 

Mit ſämmtlichen Arten von Einfuhrzöllen hängen nod zwei Schwierigfeiten 
zufammen, beren eine auch bei den Acciſen fühlbare ſchon oben gelegentlich berührt 





Sale. 


zw 
zus, int me Bewährung uns richtige Regulirung bes Rädzolis ums bey 
ee 1. er tarism anf bezolllte oder beflemerte Ant oder Wicveraus- 
une zu we Bischbtung zeilfreier Niederlagen fär die erſt fpäter einzu- 

Waaren und eigentlichen Zwiſchenhaudels⸗ 


x Noemersung ever Billigung tes Ausfuhrzolls, denn vie Nihterflattung des 
Sais wet wer AUcciſe ift nichts anderes als die Erhebung eines Ausfuhrzolls. Man 
zur? Naher Ken Rüdzell unt tie Erportbonififation aus beufelben Gründen gegen- 
zarz ummer allgemeiner befürworten, ans welden man ben Ausfuhrzoll beſei⸗ 
ge Im Frincip iR and bie Feſtſetzung ber Höhe des Rädzolls u. f. w. jchr 
seid: es mu genau ter erhobene Zoll⸗ ober Üccifebetrag erſetzt werben. Wird 
an geögerer Betrag gewährt, fo verwandelt fi die Maßregel in eine Ausfuhr- 
ämie mit Schutzzollwirkung; wird ein Heinerer Betrag gegeben, fo refirt ein 
Getfahrzoll in der Höhe der Differenz ; aber wie im früßeren Falle des Zolle 
auf eccifepflichtige Artikel ift die Durdführung dieſer Grumbfäge in ver Praris 
auferordentlih ſchwer. Denn der wahre Zoll- oder Acciſebetrag, welcher zumal 
auf einer Waare eines höheren Berarbeitungsftatiums, deren Rohſtoff aber ver: 
ſtenert wurde, ruht, läßt fi ſehr ſchwer ganz genau angeben und ift aud bei 
rem einzelnen Probucenten manchfach verſchieden. Die zwei befannteften und widy- 
tigften Bälle find die des Branntweins unt Zuders, bei legterem einmal die Re⸗ 
ftitution ber Nübenfteuer auf Nobzuder und ſodann bei Rüben und Rohrzucker 
die Stener- over Zollreftitution auf Raffinade. Aber auch fonft hat das Rüd- 
zollmefen in al ven Fällen Bebentung, wo ein irgend wichtigerer Rohoff, ein 
Haupt- und Berwanblungs-, ein Hilfsftoff, ein Halbfabrikat befteuert iſt unt 
fomit die Steuer als Koftenelement im Preife des Erportartitels wieder erſcheint. 
Die Schwierigfeit der richtigen Fixirung des Rückzolls fleigt mit der Verarbei- 
tnngsfeinheit der ausgeführten Waaren (3 B. Einfuhrzoll auf rohe Baumwolle 
und Export eines feinen Baumwollſtoffs, Zoll auf Rohelfen und Ausfuhr feinfter 
Eifen- und Stahlwaaren, Zoll auf Barbftoffe und Ausfuhr bunter Seivenftoffe). 
Früher hat man bie bier vorliegenden Schwierigkeiten nicht immer Har erfannt 
oder aber fie nicht gefhent. Bom ftreng fistalifhen Stanppunft ans gab man 
feinen Rückzoll, weil der Ausfuhrzoll gern erhoben wurbe, mit der Ausbildung 
des Merfantil- und Schutzzollſyfſtems gab man bereitwillig Nädzölle oft in über- 
mäßiger Höhe, weil man die Ausfuhrprämie auch fonft billigte. Die großen Miß- 
bräuche, welchen der Rüdzoll insbefondere in England — man wußte fih Rück⸗ 
zölle auch ohne vorhergehende Zollzahlung zu verfhaffen — aber au in Frank⸗ 
reich unterlag, find eine ver charakteriſtiſchen Seiten des Schußzollwefense. In 
England ging in ver Mitte des vorigen Jahrhunderts auf Nüdzölle, Ausfuhr- 
prämien u. dgl. m. die halbe Zolleinnahme darauf (1755 3.8. 3,793,666 Pf. St. 
Einnahme, 1,989,865 Pf. St. Rückzölle u. f. w.) Im Grunde genommen hätte 
felbft bei Einfuhrverboten eine Ausfuhrvergütung im Betrage ber Vertheurungs- 
bifferenz durch das herrſchende Schupfuftem geforbert werben müſſen, — im Sy— 
ſtem der Ausfuhrprämien fpielt etwas von einem folden Gedanken mit! Mit ver 
Erkenntniß dieſer Schwierigkeiten trat dann wiederum ein Yaltor in Wirkfamteit, 
welcher auf die Vereinfahung des Acciſe- und Zolltarifs und auf möglichfte Be⸗ 
feitigung ver betreffenden Poſten mit binmwirkte. Und mit dem Berlaffen des 


Zölle. 881 


Schutzſyſtems wurbe das Streben in dieſer Richtung nur um fo ſtärker, je mehr 
man das Nüdzolliyften als nothwendiges Uebel erlannte und demſelben jebe 
Schutzzollwirkung unter der Form ber Ausfuhrprämie entziehen wollte Die Ab⸗ 
ſchaffung der Rohſtoff- und meiften Halbfabrilatzölle hat denn auch dieſes Nüd- 
zolifuftem jehr vereinfacht (Minimum der Rüdzölle in Großbritannien 1803 
254,041 Bf. St. oder 1,60), der Zolleinnahme, feitden wieder Heine Zunahme 
der erfteren). Der Schwerpunft der Frage liegt heute int größten Theil Europas 
wieder ganz in den wenigen acciſepflichtigen Artikeln, beionders Zucker, Brannt- 
wein, zum Theil auch Tabak, Wein, Bier und Salz, ferner in der Zuderraffi« 
nade aus Rohrzucker. Mitunter vereinfaht fi die Sache durch die Beſteurungs⸗ 
methode, indem bei der Beftenerung des fertigen Fabrikats Das nachweislich aus⸗ 
geführte Onantum nicht befleuert wird (3. B. Zuder in Frankreich). Deitunter 
ſcheut man fih auch jegt nicht, wie zeitweife in Nordamerika, die Stener nicht 
zu erftatten, oder man vernadläffigt fie, weil fie auf dem vollendeten Fabrikat 
in einem Betrage laftet (Fälle in Europa). In den beiden Hauptfällen bei 
Branntwein und Zuder ift die Regulirung immer noch fhwierig, zumal bei Roh⸗ 
Rofibefteuerung (Maifhraum, Nübe, Rohzuder). Sind die betreffenden Berech⸗ 
nungen von Licht richtig , jo genügt die Ausfuhrbonififation für Rohzucker und 
Raffinade im Zollverein niht (2 Thlr. 26 Sgr. und 3 Thle. 15 Sgr. gegen 
3 Thle. 7 Sgr. und 4 Thlr. 1 Sgr. Steuer), es würde aljo ein Ausfuhrzoll 
bleiben (2). Auch die Bonifilation bei Branntwein würde nad einigen Berechnun⸗ 
gen nicht ganz, nad ber amtlihen Annahme aber mehr als genügen, alſo viel- 
leicht einen Heinen Ausfuhrzoll übrig lafien, möglicher Weife aber aud eine Aus- 
fuhrprämie enthalten. Aehnliche Uebelſtände finden fih auch noch anderswo. Ein 
“ wichtiger principieller Fortſchritt in der Zollpolttif ift aber auch auf diefem Gebiete 
durch das neuere Handelsvertragſyſtem eingeleitet. Außer einzelnen hieher gehö⸗ 
rigen Beftimmungen mehrerer biefer Verträge (3. B. franzöfifch-belgifcher Vertrag 
Art. 9) iR bier beſonders ver internationalen Zuderfienertonvention 
vom 8. Nov. 1864 zwifchen Großbritannien, Frankreich, Belgien und Holland 
zu erwähnen, weldye nicht nur eine fpecielle fachliche, ſondern eine weitere allge 
meine Wichtigkeit hat, weil fie ein neuer wefentliher Schritt zur Internationalen 
vertragsmäßigen Regelung der Zollpolitit und zur befinitiven Befeitigung wenig» 
ſtens gewiſſer Formen des Schugzolls ift. Der Zwed der Konvention war näm- 
ih, die Beftimmungen über ven bei ber Ausfuhr von raffinirten Zudern ge 
währten Rüdzoli und über das Verhältniß des Raffinadezolls zum (Übrigens ver- 
ſchieden bleibenden) Rohzuckerzoll gemeinfam zu reguliren. Nah in Köln von ven 
Betheiligten angeftellten Berfuhen wurben fpäter bie Proportionen genau firixt 
and auf biefe Art der Schuß für das Raffinirgefhäft theild im Einfuhrzolf, theils 
im Rückzoll befeitigt. Solche Konventiomen find ein erfreuliches Produkt unferer 
Zeit. Sie vermögen in Verbindung mit verbefierten inneren Befteuerungsmethopen, 
nämlich nad dem Fabrikat, nit nach dem Rohſtoff u. ſ. w. weitere ſchutzzoöͤllne⸗ 
riſche Uebelftände zu befeltigen. 

Theile zur thumlichften Vermeidung biefer Schwierigkeiten des Rückzollweſens, 
theils zur Ermöglichung einer umfangreihen Friſtung der Einfuhrzollzahlung auf 
nicht jogleih in den Konlum Übergehende oder eventuell wieder anderswohin aus- 
zuführende Waaren, theils enblic zur Erleichterung des eigentlichen Zwifchenhan- 
dels eines Platzes zwifchen zwei andern Tänvern bat man feit lange, befonvers 
fett dem Auflommen der Grenzzollſyſteme, Sreilager für fremde Waaren einge 
richtet. Freilager im engeren Siun find entweber eigentliche Staats magazine 











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Berechnungsart 


der Zollſaͤe unterſcheidet man ſpeci⸗ 
fiſche und Werthzolle. Jene werden nach einem Maße, vornehmlich nad dem 
Gewicht (daher ſchlechtweg „Bewichtszölle”), and nach dem (4.8. 
Spiegel), oder na dem Kubikraum (5. B. Getreide u. dgl), oder nad ver Städ- 
zahl (5. B. Bich, gewiſſe Holzftüde, wie Ballen, Stämme), vie Werthzölle werben 

en nad dem ber Waare berechnet. Im Princip find die Wertbzölle 

er, der Boll erſcheint auch äußerlich als das, was er iſt, ein procentweifer 
* zum Preiſe. In der Praxis find trotzdem im Ganzen vie ſpecifiſchen 
Bile vorzuziehen. Unbeningt gilt dies bei Waaren, deren Sorten and Onalitäten, 
daher auch deren Werth verhältuigmäßig wenig verfchieben ober ohne fpecielifte 
Waarenkenntaiß ſchwer zu unterfcheiden find. Im erften Fall läßt fich mit dem 
ſpecifiſchen Stoff ungefähr vasfelbe erreichen, wie mit vem Werthzoll, während 
jener ungleich leichter gujulegen iſt und zu ungebährliden VBerechnungen und 
Mißbraͤuchen weniger Belegenheit gibt. Im zweiten Falle würbe aud der Werth 
zoll zu großen Inlonvenienzen führen, fo daß man doch ven fpecififchen Zoll 
wählt. —* iſt dann die beſſere Qualltät niedriger beſteuert bei gleichem Zoll⸗ 
ſat als die ſchlechte, alſo eine Verletzung des Princips der Gleichmäßigkeit der 
Steuer, als eine der unvermeidlichen Folgen des Verbrauchsſteuerſyſtems in den 
Kauf zu nehmen. Huch vom fisfalifchen Standpunkt aus bleibt es dabei ein Uebel, 
daß der Bollfag für den fpecififhen Zoll niedriger angefegt werben muß, während 
ber Konfum ver befferen Qualitäten buch die wohlhabenden Klafien eine höhere 
Steuer vertrüge und fogar verlangte, Bei Robftoffen und gewöhnlichen Verzeh⸗ 
rungogegenftänven, alfo bei der großen Maſſe der Finanzzölle find dann auch pie 
ſpee —8 Zolle allgemein üblich geworden trog dieſer inneren Mängel. Wo 


245) 


Sölle. 388 


Dualitäten ſtärker von einander abweichen und leichter zu unterſcheiden find, hilft 
man ſich mit mehreren abgeſtuften Zollfägen für dieſelbe Waare und nähert fid 
dadurch dem Wertbzollfuftem mehr an. Am Schwierigften ift die Sade bei Fa⸗ 
brifaten, wo namentlich das Schutzzollprincip folgerichtig Werthzölle verlangt. Hier 
laffen fih allerpings wohl die Hauptforten einer Waarengattung leicht, aber bie 
feineren Unterſchiede wieder nur ziemlich ſchwer unterfheiden und im Gegenſatz 
zu Rohſtoffen und Berzehrungsgegenfländen die Preife viel fchwerer ermitteln. “Die 
Schupzöllner müßten trogtem an Wertbzöllen fefthalten, die Mängel ver lebteren 
in diefem Fall find dagegen für ven Freihändler mit Recht einer der vielen praf- 
tiſchen Gründe mehr gegen den Schugzoll. Man verlangt Werthveflarationen ver 
Kaufleute, mitunter gegen Eid und von Konfuln rektificirt, wie 3. V. nad dem 
jetzigen nordamerilaniſchen Tariffyftem für die europälfchen Fabrikate, man rede. 
net den Sat der Transport, Verfiherungs-, Spebitiondkoften Hinzu — vollends 
etwas Bages! — und normirt den Wertbzoll als Procentfat diefes ganzen Werthe 
im Anfumftslande. Oder man [hät die Waare au nur in Werthklafſen ein und 
erhebt den Zollſatz der Kaffe — ſchon eine Annäherung an das andere Syftem. 
Immer bleiben große Uebelftände beſtehen, deren man auch burd das nur zu 
neuen Mißbräuchen und Defraubationen führende Vorkanfsrecht des Zollamts oder 
ber Zollbeamten bei ſcheinbar zu nievrigen Preisangaben und durch fpätere Ver⸗ 
fteigerung der Waaren nit Herr wird. (Selbft Konfiskationsftrafe kann, wie in 
Rußlaud, leicht zur Umgehung führen, indem vie Waare unter aller Betheiligten 
Mitwirkung unter dem Zollbetrage verfteigert wird.) ‘Deshalb iſt es gewiß rich 
tiger, felbft die Fabrikatenſchutzzoͤlle, wie im Zollverein ver beinahe ausnahms⸗ 
lofen Regel nad, in der Form fpecifiiher Zölle zu erheben, wodurch dann frei- 
ih der Schug für die feinen und halbfeinen Artitel abgeſchwächt wird, weil man 
doch nur für Hauptkategorien mäßige Durdfchnittsfäge wählen kann. Die Klagen 
der ſüddentſchen Schußzöllner vom Schlage Morig Mohl's gegen ven deutſch⸗ 
franzöfifchen Handelsvertrag find danach begreiflich, aber peweifen doch nichts 
gegen obige Anſicht. Sicherlich iſt es ein großer Mangel, daß Frankreich in den 
neneren ägen noch vielfach an Werthzöllen feſthält, bei ihm wie bei Nord⸗ 
amerifn Eben nur and Schutzzollrückfichten erklärlich. Um wenigſten bedenklich find 
Vertbzölle noch, wie auch Hod gewiß richtig bemerft, wo ber Verkehr der be 
treffenden Waaren fih auf einige Hauptzollämter foncentrirt — freili darf er 
nit zum Nachtheil des übrigen Landes erſt fünftlich nad einzelnen Plätzen burch 
die Zolloorfchriften geleitet werven, wie 3. B. in Rußland, Frankreich —, denn 
bier Lönnen am erften geſchickte Beamte vorhanden fein und befteht vie bei vie- 
len Heinen Zollämtern fehlende Garantie einer leidlichen Gleihmäßigkeit der Be⸗ 
handlung. Sehr widtig wird auch der Zuſtand der Zollbeamtenintegrität fein, 
unter ruſſiſchen and norbamerifanifhen Berhältnifien find Wertbzölle vollends 
niht am Plage. — Wertbzölle nach feften wirklichen Werthen find dem We- 
fen nach nichts anderes als fpecifiihe Zölle (3. B. Im Britifcheinnifhen Ausfuhr⸗ 
zoltarif ſ. o. II). Ein weiterer Mangel der fpecifiihen Zölle, der gleihwohl auch 
nicht erhebli genug iſt, fie duch Werthzölle erjegen zu laſſen, iſt ter Umftand, 
daß e8 Bei ihnen noch nothwendiger ift, als bei Wertbzöllen, zur Beſtimmung des 
zollpflicgligen Nettogewichts Taraſätze für Kiften, Emballirung u. f. w. zum Ab⸗ 
zug vom Rohgewichte feftzujtellen, wo dann natürlich das Intereffe vorliegt, durch 
arung an dem Gewichte der Emballirung Zoll zu fparen. Daher vie Noth- 
wendigkeit, in den Tarafägen ven Entwicklungen des Berkehrs zu folgen. 


384 Sölle. 


Eine relative Rechtfertigung findet das Syſtem der ſpecifiſchen Zölle auch 
noch in dem Umſtande, daß eine ſtrenge Durchführung des Principe der Werth⸗ 
zölle auch noch aus einem andern Grunde nicht möglich iſt, obwohl gerade hier 
die Schutzzöllner dieſe Durchführung folgerichtig am meiſten verlangen müßten: 
die Gefahr des Schmuggels hindert nämlich, insbeſondere für Artikel hohen 
ſpecifiſchen Werths, die „am meiſten nationale Arbeit beſchäftigen“, den gleichen 
oder gar einen ſteigenden Werthzollſatz durchzuführen. Bei ſolchen Artikeln (z. B. 
Gold⸗ und Silberwaaren, Schmuck, Uhren, feinſten Webwaaren) ſinkt die Schwie⸗ 
rigkeit des Schmuggels, alſo deſſen Koſtenſatz oder die Schmuggelprämie, als 
Procentſatz des Werths ausgedrückt, regelmäßig mit dem Steigen des ſpecifiſchen 
Werths der Waaren, d. h. mit der Abnahme des Volums und Gewichts, die 
‚eine gewiſſe gleiche Werthmenge bergen. Daher ſelbſt beim Feſthalten des Schutz⸗ 
zolls das richtige Princip, Verbote (gewiſſermaßen unendlich große Schutzzölle) 
als Schuguittel zu beſeitigen, mäßige Zölle anzuſetzen und ſtets ein abſolutes 
Zollmarimum audy bei ſehr werthoollen, ſehr fleuerfähigen oder ſehr ſchutzbedürf⸗ 
tigen Waaren zu normiren (3. B. im früheren Zollvereinstarife 110 Thlr. per 
Centner von Seidenwaaren). Der übertriebene Fiskalismus und Proteltionismus, 
rote lange in England, Frankreich, Defterreich, jetzt no in Rußland, Nordame⸗ 
rita ſchädigt das Finanzinterefje, ven legalen Handel, die Volksſittlichkeit und 
macht — vielleiht noch das einzige Gute! — den Schutzzoll als Maßregel zur 
Unterflägung der Inbuftrie mehr oder weniger illuſoriſch Nur der Schmuggel 
und das fchlimme Volk, das er beſchäftigt, gewinnt. 

Ein Syſtem mäßiger Zolljäge, ein einfacher, nicht zu viele Artikel zählender 
Zolltarif, die Koncentration des fisfaltichen Intereſſes auf wenige Hauptartikel, bie 
dann eventuell aud einen höheren Zollfag durchführbar erjcheinen laſſen, eine 
wirkfame, firenge Kontrole der Zollbeamten und eine möglichſt zwedmäßige Abe 
rundung der Zollgrenze find die widhtigften Mittel, welde vem Staate zur un- 
mittelbaren Bewältigung des Schmuggeld zur Verfügung ftehen. Bei weit aus- 
gebehnter, zumal trodener Grenze, fehr dünner ober anderſeits ſtädtiſch Toncen- 
trirter Bevölkerung in den Grenzdiſtrikten wird unter übrigens gleichen Umftän- 
den der Schmuggel immer größer fein, als in entgegengefegten Berhältnifien. 
Ein probibitives ober hochfiskaliſches Zollſyſtem dabei durdführen wollen, wie 
früher Frankreich und Defterreich, jegt Rußland iſt vergeblihe Mühe. Und um 
etwa nur dem Nachbar die Aufrechthaltung eines folhen beiden Theilen ſchädli⸗ 
hen Zollfuftems zu ermöglichen, ein Zollkartell abfchließen, d. H. in der Haupt- 
fache, dem Nachbar ven felbfiverfhuldeten Schmuggel bewältigen helfen, dazu wird 
fi) fein unabhängiger, vernünftiger Staat herbeilaſſen. Wern 3.9. Hoffmann 
meint, ver Schleihhändler werde nicht für ehrlos gelten, fo lange bie Regierung 
nicht auch den Schleichhandel ihrer Untertbanen im Auslande als ein Atten- 
tat gegen die Sicherheit des Weltverkehrs auffafie, fo wird Man ihm 
hierin kaum beiftimmen innen. Wie fo oft ift der Schleichhandel bier nur vie 
Reaktion gegen das viel ſchlimmere Attentat, welches ein unfinniges Zolliyftem 
gegen den völkerverbindenden Weltverkehr varftellt. Zu den widtigften ethifchen 
Borausfegungen der Befeitigung des Schleichhandeld wie der Umgehung andrer 
Steuern gehört freilich vor Allem die fittlide Verwerfung folder Handlungen in 
der öffentlihen Meinung, im Gewiſſen des Einzelnen und Aller und die Ehrlos⸗ 
erflärung ber betheiligten Perfonen. Aber man follte, damit fi) eine folde An⸗ 
fhauung bilde, auch nit durch ein überfisfalifches oder hochſchutzzöllneriſches Zoll 
ſyſtem die Leute immer in bie größten Verfuchungen führen. Der Staat, welder 


\ 


Sölle. 386 


letzteres thut, iſt ein Hauptſchuldiger am Schmuggel und der durch ihn verbreite⸗ 
ten Demoraliſation. 

Zur äußeren Technik des Zollweſens gehören noch eine Menge von Anoro- 
nungen und Einrichtungen, veren praftiiche Bedeutung oft für den Handel und 
Verkehr wichtig genug iſt. Doch ift hier nicht der Ort, darauf welter einzugehen. 
Es handelt fih 3. 8. um eine genügende Anzahl von Zollämtern mit ver- 
ſchiedenen Befugniffen, aber nicht mit nebenhergehenver Tendenz, dem Handel 
fünftlide Wege anzumwelfen, ihn Hier zu erſchweren, dort zu erleihtern (Ruß⸗ 
land), wo der Finangzoll felbft (vollends wenn er etwa wie In Rußland nad 
See- und Landgrenze, in einzelnen Fallen nach Häfen abgeftuft, zur See höher 
als zu Lande tft) wieder ein Schußzoll zu Gunften einzelner Orte und Gegenven 
werden würde. Um dem Bewohner fern von der Grenze den Bezug ausländifcher 
Warren ohne die foftfpielige Hülfe des Spebitenrs zu ermöglichen, muß es we⸗ 
nigftens an widtigeren Plägen Zollämter im Inneren geben, wohin die Waaren 
unter grenzzollamtlichem Berfhluß mit Begleitihein auf ven zu Zollftraßen zu 
erfiärenden natürlichen Handelswegen geht. Freilich erhöhen foldhe Einrichtungen 
vie Koften der Zollverwaltung, aber das tft eine dem Zoll ald Steuerform unver» 
meidli eigene Schattenfeite. Unernfalls liefe die Sache auch auf dasſelbe hinaus, 
denn die Ertrafoften wüchſen zum Zoll hinzu, und die Folge wäre nur eine noch 
ungleihmäßigere Bertheilung der Zollfteuer. Bedeutende Erleichterungen der zoll 
amtlihen Waarenbehandlung für den Handelsftand uud für vie Zollverwaltung 
find durch die Entwidlung des modernen Kommunikationsweſens, bejonders der 
Eifenbahnen und Dampfſchiffe nothwendig, aber auch möglich geworben. Diefe 
Erleichterungen erfireden fi mehr thatfächlich gemohnheitsmäßig, als nach pofiti- 
vem Zollrecht au auf den Reiſeverkehr, obwohl derſelbe nod immer über 
Gebühr beläftigt wird. Einige die Bildung des Zollgebiets anlangenve Punkte 
werben im folgenden Abſchnitt V noch berührt. Ueber das Zollverfahren und 
überhaupt die Technik und den Formalismus bes Zollweiens können wir auf 
die meifterhafte Darftellung und Kritil von Hod’s in feinen „Dffentlichen Abgaben 
und Schulden” und feinen beiven Werken über die Yinanzen Frankreichs und 
Nordamerikas verweilen, — eine der vielen Ölanzfeiten dieſer trefflichen Schrif⸗ 
ten. Die Bedentung diefer Punkte tritt aus Hod fo bemeitenswertber Aeuße⸗ 
tung hervor, daß das Zollverfahren für den Verkehr von gleider, viel 
leiht von größerer Wichtigkeit ald der Zolltarif ſelbſt fei (Fin. Am. 
©. 118), eine Behauptung, deren Wahrheit Jedermann zugeben wird, der 3. ©. 
die ruſſiſchen Zollverhältnifie kennen gelernt bat. 

V. Die Finanzzölle ald Steuerart. 

In Betreff ver Würdigung der Finanzzölle ale Steuerart erfcheint es paſ⸗ 
jend, wie im Yrüheren, ven Aus- und Einfuhrzoll zu unterſcheiden. 

Die Entwidiungsgefhichte des Ausfuhrzolls zeigt den leitenden Faden an, 
ber In diefer Steuerform gewaltet bat. Der Ausfuhrzoll follte als Yinanzzoll 
zumeift das Ausland, den fremden Geſchäftsmann oder durch ihn inbireft ben 
fremden Konfumenten treffen. Legtere Abſicht zumal ſchien ſich bei tropiſchen und 
anderen Probuften, bei welchen fi das ausführende Land einer Art Naturmono- 
pols erfreute, am leichteften und gefahrlojeften für ven auswärtigen Abfag errei⸗ 
hen zu lafien. Deshalb vie verhältnigmäßig große Ausdehnung, beträchtlichere 
Höhe und lange Andauer der auf dieſe Waaren gelegten Ausfuhrzölle. Artikel 
dagegen, welche einer größeren Konkurrenz beim Abjag begegneten ober beren Abs 
fag ins Ausland nad der herrſchenden handelspolitiſchen Auſchauung bejonders 

Bluntſqchli und Brater, Deutfes Staats⸗Woörterbuch. Xi. 25 


386 Sölle. 


erwänfcht erſchien, wurden keinem ober nur einem niebrigen Ausfuhrzoll unter 
worfen und in der Regel früher wieder von demſelben befreit , fo namentlich bie 
Fabrikate und Konkurrenzerportartitel (im Gegenfap zu den Monopolartifeln), 
wie die ruffifhen Rohprodukte. So hat 3. B. ſelbſt Brafilien bereit8 Befreiung 
für Baummwollenwaaren in feinem allgemeinen Ausfuhrzolltarif eintreten laffen. 
Diefe Scheu , ftets Finanzausfuhrzölle zu erheben, deutet auf bie vorbanvene 
Erfenntniß bin, welche möglicher Weile fehr nachtheilige Wirkung ver geil auf 
den auswärtigen Abſatz ausüben könne. Zur allmältgen Befettigung der Ausfuhr: 
zoͤlle hat aber auch wohl ver Umftand beigetragen, daß es nad unferer heutigen 
Anſchauung einer folden wirklich erreichten Beftenerung des Auslands an einem 
gehörigen Rechtsgrunde fehle. Als Finanzzoll ühnelt viefer Zoll dem Durdfuhr- 
zo, beide gehören dem alten Zollfuftem an. Auf niedriger Entwidlungsftufe der 
Volkswirthſchaft, bei ärmeren Volkern wird der Ausfuhrzoll entſchuldigt, aber nicht 
gerechtfertigt vurh den Wunſch, einen Theil der allgemeinen Staatslaften vom 
Auslande tragen zu laffen. Auf höherer Stufe fehlt ſelbſt dieſe Entſchuldigung, 
der Zoll hat etwas Anftößiges. 
Es fragt fih aber auch fehr, ob und wie weit ein folder Ausfuhrzoll wirf- 
Ih vom Auslande getragen und nicht viel mehr auf ven einheimiſchen Kaufmann 
und Producenten überwälzt wird. Sicherlich geſchieht dies Bfters. Die Theorie bes 
internationalen Anstauſches bezeichnet auch die Fälle näher, umter welden ber 
Ausfuhrzoll unter dem Einfluß der fi verändernden Preiſe und ver dadurch 
berührten Handelsbilanz vom Inland getragen wird. Es mag genägen, hierfür 
nur auf I. St. Mill’s Vorurtheil zerflörende Debultionen zu verweiſen, welche 
fi freilich in der Prarts modificiren, weil Mill einen zu direkten Einfluß der 
Geldmenge auf die Preife annimmt‘, (Bud V, Kap. IV 8. 6). Wird ein Aus⸗ 
Dept als Schupzoll aufgelegt, fo gefchieht dies in der Doppelabfiht, den 
reis der Waare dem in deren Verarbeitung konkurrirenden Auslande zu ver- 
theuern (3. B. Wolle) und diefen Preis im Inlande im Intereffe der Verarbeiter 
herabzudrücken. Ob dieſe Abſicht erreicht wird, läßt fi eben fo wenig mit Be- 
ſtimmtheit vorausfagen,, wie im Falle des Finanzzolls. Beide Male bleibt eine 
Ueberwälzung des Zolls auf den inländiſchen Probucenten des bezollten Artikels 
möglid. Dann erfolgt zunächft entweder eine Doppelbeſteuerung des Producenten 
durch den als Gewerbeftener wirkenden Zoll neben einer eigentlichen Gewerbefteuer, 
oder, wenn legtere oder eine älmliche direfte Steuer fehlt, eine ſchlechte Gewerbe- 
befteurung nur mittelft des Zolls. Lebteres ift die Ausnahme Heutzutage, erfteres 
bie Regel. Die Zollgewerbefteuer, wenn man fie fo nennen barf, wirkt ungleich 
mäßig und bringt deshalb nene Störungen mit fi, deren endliche Ausgleichung 
im Falle ver Steuerüberbärbung eines Zweige doch nur mittelft Einſchränkung 
der betreffender Produktion oder, wenn die Volkswirthfchaft dieſelbe Menge Pro» 
dukte bedarf, mittelft Preiserhöhung, alfo mittelft Rückwälzung ver Steuer auf 
bie Verbraucher im In⸗ und Auslande erfolgen kann. Wird der Ausfuhrzoll zur 
Doppelbefteuerung des inlänvifhen Producenten, fo treten dieſe Folgen unter ver 
nothwendigen, den Thatjachen entfprehenden Borausfegung , daß bisher die Ge⸗ 
winnfte in den ve.fchiedenen Geſchäften im Gleichgewicht ftanden, nur um fo all- 
emeiner, ficherer und fehneller ein. Berminvert fi der Bedarf entſprechend der 
bnahme der Probuftion, fo daß feine Preiserhöhung zu erzielen iſt, fo wirb das 
betreffende Geihäft eingehen oder das Kapital berausgezogen werden. Iſt auch 
bie8 wegen der Verwendung ſtehender, nicht für andere Zwede geeigneter Kapita⸗ 
lien, alfo namentlich in ver Landwirthſchaft, nicht ober erft nad) langer Zeit mög. 


Sölle. 387 


lich, indem hier ſogar die Erweiterung der Produktion oft das beſte Mittel iſt, 
die Stener zu tragen, fo liegt eben eine dauernde übermäßige BVeſteuerung ſolcher 
Sewerbzweige vor. Die amerifantfhen Ausfuhrzölle auf Baumwolle, Kaffee u. ſ. w. 
Können fih dann leicht in eine indirekte Grundſtener verwandeln, eine ber bentli- 
chen Nebenabfihten des nordamerilaniſchen Projekts eines Baumwollausfubrzolls. 
Hiernach erfheint der Ansfuhrzo auch auf niedriger Stufe der Vollswirthſchaft 
ats gefährlide Gteuerart. Im Ganzen wird man demnach wohl zur principiellen 
Berwerfimg der Ausfuhrzölle gelangen umd die Ansfuhrfreiheit in den entwidelten 
Staaten der Gegenwart vollends billigen mäffen. 
Eine Ausnahme von diefer Regel bedingt bier auch mit Nichten der Aus⸗ 
fubriangadtt auf Nebenprodukte und Abfälle. Wird vie beabfichtigte 
edrighaltung des Preifes dieſer Artikel erreicht, jo iſt auch Bier eine ungeredte 
Beftenerung ver diefe Stoffe fammelnden Perfonen die näcfte, und eine geringere 
Sorgſamkeit in der Anfbewahrung, eine geringere Mühewaltung in der Aufſamm⸗ 
lung dieſer Dinge die weitere üble Folge folder Ansfuhrzölle, — eine Folge, 
welche bier recht eigentlich mit einem volkswirthſchaftlichen, nicht bloß einzelwirth- 
ſchaftlichen Berluft verbunden if. Denn von ben Preifen ver Abfälle gilt eine 
ähnliche Regel wie von den PBreifen der Bodenprodulte, beſonders derjenigen, um 
deren mühſame Ausleſung aus dem Boben es fi handelt, wie der Kartoffeln. 
Der höhere Preis ermögliht erſt einen größeren Aufwand von Bau- und Ar⸗ 
beitöloften auf fchlechterem Boden und au Sammelfoften für vie mühſamer zu 
gewinnenden legten Reſte der im Boden befinblichen Früchte und, wie man bin- 
zufügen darf, der am Boden befinvlichen Abfälle (Analogie zu v. Thäuen, Ifol. 


Staat II, 174). 


In allen andern Beziehungen theilt der Ausfuhrzoll die Borzüge und Män- 
gel des Einfuhrzolls und der meiften indirekten Steuern. Vom weltwirthſchaftlichen 
Gefichtspunkt ans ſtehen ihm, wenn er als Finanzzoll wirklich anf die fremden 
Konfumenten überwälzt wird, dieſelben Bedenken, wie Verbrauchsſtenern aus dem 
voffsthümlihen Geſichtspuntt entgegen. Er iſt ein gutes Beiſpiel des flarken 
Egoismus, der in den einzelnen Volkswirthſchaften lebt. Auf Produlte eines Natur⸗ 
monopols gelegt und wirklich vom Auslande getragen erfcheint auch der Ausfuhr. 
zoll als einer der renteartigen Bezüge, die ein ganzes Land in Folge feines 
natärlihen Vorzugs vor einem andern gewinnen Tann. 

Der Einfuhrzoll kam als Yinanzzoll unter zwei Geſichtspunkten betrach⸗ 
tet werben, nämlich als eine ber meiftentbeils indirekt erhobenen Berbrauchs⸗ 
Renern (Aufwands⸗ Berzehrunge-, Konſumtionsſteuern ober was der Namen 
mehr find) oder auch als eine (direkte oder Inpirelte) Ertragsfteuer von bem 
durch den Waarenabſatz gemachten Gewinn des Ausländers. Letztere Anffafſung 
it nenerbings befonders von Hod geltend gemadt worben. Der Ein⸗ und Aus⸗ 
fuhrzoll foll demnach „eine dur die Wiffenjchaft gefornerte Ergänzung der Einkom⸗ 
menfteuer" fein (Deff. Abg. S. 84, 122). Indeſſen gefteht Hod ſelbſt zu, daß 
eine folde Wirkung des Zolls, und beſonders des Einfuhrzolls, eine fehr proble- 
matiſche fel. Beim Ausfuhrzoll wurde das ſchon betont. Beim GEinfuhrzoll iſt es 
fm Ganzen noch fraglicher, ob und wie weit dem Jnlande, ſei es direkt dem Käu⸗ 
fer und Importenr der fremden Waare, ober indirekt dem inländiſchen Konjumen- 
ten die Ueber⸗ ober Rüdwälzung des Zollse auf den auswärtigen Verkäufer und 
Producenten gelingt. Möglich find ſolche Fälle allerdings, aber fie werben bie 
Ausnahme Bilden oder nur zu Zeiten vorlommen, 3. B. wenn der Fremde, um 
den Abſatz wicht zu verlieren oder ihn bei höherem Preife des Inlande einge- 

25% 


‘388 Bölle. 


ſchraͤukt zu ſehen, den Zoll ober einen Theil desfelben abfichtlich auf fig nimmt — 
wie 3. B. analoge Fälle in Betreff des ganz wie ein Einfuhrzol wirkenden Me⸗ 
tallagios In Paplerwährungsländern, u. a. im Tuchhandel nad Oeſterreich hinein, 
vorgefommen find. Auch ift e8 möglih, daß, namentlich vorübergehend bis ein 
anderes Abſatzfeld gefunden ift, die Konjunkturen ven fremden Producenten zwin- 
gen, einen Theil des Zolls aus eigener Tafche zu tragen und ben Berfaufspreis 
zu ermäßigen, weil das Inland den um den Zoll erhöhten Preis nicht oder doch 
nur für eine Heinere Abſatzmenge erſchwingen kann. Namentlich könnte eine ſolche 
Folge bei einer plöglihen Zollerhöhung und fpeciell in dem Yalle eintreten, 
wo dee vielleiht nur als Finanzzoll beabſichtigte Zoll zugleih eine Schutzzoll⸗ 
wirkung ausübt, indem der nunmehr erhöhte Preis ohne nebenhergehende innere 
Steuer desfelben Betrags einheimiſche Konkurrenzprodultionen hervorruft. Bel rei⸗ 
nen Schugeinfuhrzöllen ift eine ſolche Folge noch am leihteften zu erwarten. Sie 
wird ftetS um fo eher eintreten und um fo länger andauern, je entbehrlicher ver 
frembe Artikel dem Inlande an fich oder vermöge der gleichzeitigen inländiſchen 
Erzengung ift und je nothwendiger das Ausland gerade dieſes Abſatzfeld zu be⸗ 
baupten fuchen muß. Hier wird aljo der eigene innere Abfag ber ausländiſchen 
Produktion, deren andberweiter Abfag in dritte Länder, vie Entwidlung des. be 
treffenden Zweigs in technifcher Hinſicht in Betracht komme. Ein ſtark bevöller- 
tes Land mit ſchlechtem Boden over bereits fehr intenfiver Landwirthſchaft, etwa 
darauf angewiefen, mit feiner Ausfuhr eine Getreiveeinfuhr zu bezahlen, ein ſol⸗ 
ches Land, rings von einem und bemfelben cher mehreren die gleiche Handels⸗ 
und Zollpolttif befolgenden Ländern umgeben, am Ende gar der Durchfuhrfreiheit 
durch legtere nach andern Ländern beraubt, alfo vielleicht ein Meines Land wie 
bie Schweiz, wenn beren vier Nachbarſtaaten ſolche Politif gegen fie befolgten, 
würde wohl gezwungen merben können, einen Theil der fremden Einfuhrgölle auf 
feine Probufte auf die eigene. Schulter zu nehmen. Die betreffenken Exportindu⸗ 
firieen würden vielleicht anfangs eingehen, aber nad dem Übfirömen der in ihnen 
ftedenden Kapitalien und Arbeitsfräfte in die nicht für das. Ausland arbeitenden, 
aljo noh nicht vom Anslande beftenerten übrigen Geſchäfte würde durch das 
Zwiſchenglied der nunmehr noch intenfiver betriebenen Landwirthſchaft und ber 
mit den höheren Getreidepreifen ſchließlich ſteigenden Geldlöhne der Geſchäftsge 
winn dennoch fpäter allgemein ſinken. Dann würde ber Abfag unter ben voraus⸗ 
gejegten ungünftigen, jegt aber im In» und Ausland gleichen Bedingungen im 
Auslande wieder aufgefuht werben müffen. Die Ueberwälzung ver Ginfuhrzölle 
auf das erportirende Land, alfo vie Beſteuerung des lepteren zu Gunſten des bie 
Zölle erhebenden importivenden Landes fände in letzter Analyſe exft ihre mögliche 
Marimalgrenze in einer vom abfolnten Unterhaltungsbedarf beſtimmten mögli- 
hen Reduktion des effektiven (nicht des Geld⸗) Lohne und in einer eben folden, 
noch zur produktiven Berwenbung der Kapitalien hinreichend ermunternden Rebul- 
tion der allgemeinen Gefchäftögewinne. Hiex bienge wieder Alles von ber erreich⸗ 
baren Marimalergiebigkeit ver —e— ‚ ver Vermehrung ber Bewöllerung 
und bem technifhen Fortſchritie in der Landwirthſchaft und den übrigen Gewerhen 
ab. Berhältniffe der angedeuteten Art würden allervings wohl gute Folgen iu 
letzterer Hinftcht haben, die fi denn auch in Länder wie die Schweiz und Sachſen 
zeigen, welde ein wenig in einer verjenigen in unferer Hypotheſe gleichenden 
Lage find. Schon die Transportloften, welche der fremde Artikel zu tragen bat, 
wirfen darauf hin. Man ficht, daß man es hier mit theoretifcheinterefianten, wit 
dem Ricardo⸗Thünen'ſchen Bodenrentegeſetz zuſammenhängenden Koufequenzen zu 








Sölte. 380 


hun bat, deren Borausſetzung — Beſchränkung des Abſatzes auf ein fremdes 
And — aber In der Praxis nicht fo vorkommt, Eben deshalb hat die Auffafſung 
der Zölle in der von Hod befürworteten Weiſe praftifh Feine große Wichtigkeit. 
Doch verbient es allerdings Beachtung, daß ein Einfuhrzoll unter geniffen, freilich 
feltere gegebenen Beringimgen immerhin in der angebeuteten Richtung wirken 
kım. Gm wird ferner wieberum erfennen, daß die Erhebung eines Durchfuhr⸗ 
zolls z. B. in Frankreich und Deutfchland für Schweizer Waaren bie Rüdwäl- 
zung von Einfuhrzölien dieſer Ränder anf Schweizer Probufte etwas erleichtern 
würde. Hieraus ergibt ſich ein’ Billigleitögrund des humanen Völkerrechts mehr 
für die Durchfuhrfreiheit und die Beſeitigung der Durchfuhrzölle. 

Im Ganzen Tamm deundd bei den Einfuhrzölten als Regel die Belaflung 
der Inlänpifhen Käufer und Verbraucher ber ausländifhen Waaren mit dieſen 
Zollen gelten, jo daß diefe als eine wahre Verbrauchsſteuer erfcheinen, ale 
deren Sauptformen eine auch Hock den Zoll daneben anfleht. Auch Hier Bleiben 
bie chen ſchon beim Ausfuhrzoll erwähnten weiteren Einwirkungen bes Zolle auf 
die Berändernng der Handels- und Zahlungsbilenz und der mit biefer in Wechfel- 
wirkung flehenden Preife möglich, worüber ebenfalls auf Mill's dedultive Unter- 
fuhung verwiejen werben mag. 

‚Der Einfuhrzoll als Berbrauchſtener, nnd zwar meiſtentheils indirekt 
erhobene — eine Ausnahme bildet die Bezollung der vom Konfumenten felbfl 
eingeführten Waaren, weshalb Ran’s Definition von Zoll zu eng fi — thelli 
tie Eigenfhaften und damit die Nachtheile und Vorzüge andrer Verbrauchſteuern 
und indireften Abgaben im Princip. Es muß in biefer Hinſicht auf den Abſchnitt 
Steuern im Art. Staatswirthſchaft (Bd. 10, bef. S. 136 ff.) hinzuweiſen im ber 
Hauptfache genügen. Hier möge tur daran erinnert werben, daß ber Zoll als 
Berbrauchſteuer und als indirekte Steuer den Im Allgemeinen doch wohl 
die Vortheile Überwiegenten Bedenken gegen biefe Stenerarten unterliegt. Nament- 
lich trifft er in erſterer Hinfiht die Einzefnen niät gleichmäßig Im Verhältniß 
ihre8 Einkommens. Bei den Artikeln des Maſſenkonſums befleuert ber Zoll Leicht 
das Meine Einfommen höher und wird dadurch zur umgekehrten Progrefflvftener, 
Dei minder wichtigen Arttleln nimmt er im Ganzen ven Charakter einer Rurus- 
feuer an und theilt die Mängel viefer Stener auf eine ganz willlührlich, alſo 
angleihmäßig herausgegriffene Verbrauchsart, — eln Widerſpruch gegen das Ein- 
fommenfleuer- und felbft gegen das Princip ter allgemeinen Berbrauchsfteuer, 
ein Widerfprud, dem auch durch die Einreihung foldyer Luxusſteuern in ein aus 
verichlerenartigen Abgaben kombinirtes Stenerfuftem nur wenig abgeholfen wird. 
Allerdings läßt fi die Bezollung wichtiger Berzehrungsgegenflhnte und darunter 
zum Theil no auch tiejenige der in unferen gegenwärtigen Zollfuftemen finan- 
ziel ergiebigſten Lurusnahrungsmittel (ſ. oben III) auch vom GStanbpunft ber 
allgemeinen Einlommen- oder Verbrauchsbeſteuernng aus als eine Beſtenerung 
des Arbeitslohns, der Zoll als eine indirekte Lohnſteuer auffaflen. Aber dicke 
Iegtere unterkiegt eben im Hinſicht der Sleihmäßigfeit ven gewichtigſten Bedenken. 
Der oft viel zu große Verlaß darauf, daß dieſe Steuer überwälzt werde, tft keines⸗ 
wegs immer gerechtfertigt, heim die Vorausſetzung ver Ueberwälzung, eine vorans- 
gehende entfprechempe Aenderung des Verhältniffes von Angeboten und Nachfrage 
nah Arbeitskraft, von Arbeiterzahl und Kapital Kurz ausgedrückt, ift nicht immer 
vorhanden. Ja, dieſe Vorausſetzung ſelbſt kann ſich oft nur unter ben’ größten 
Leiren der Arbeiter verwirflihen. Die Verminderung bed Angebots von Arbeits- 
kraft mittelſt gemeinfamer Verabredung iſt felten in erfofgverheigendem Umfang 





_ 


390 Zölle. 


möglich. Denn bie Arbeiter find felten in ver Lage, mit ihrer Urbeltsfzaft eine 
Zeitlang aus dem Markt zu bleiben. Verminderung ber Arbeitskraſt heißt dann 
gänftigen Balls größere Auswanderung, häufig genug größere Sterblichkeit, gerin- 
gere Bermehrung, letztere in Kurzer Zeit nicht einmal genügend wirkſam. So er- 
folgt entweder keine Ueberwälzung der fo leicht zur umgelchrten Progreſſtveinlom⸗ 
menfteuer werbenben indirekten Lohnſteuer ober eine Ueherwälzung, welche mit 
einer traurigen Leidensperiode erfauft werden muß. Man follte demnach aud aus 
ven Finanzzollartiteln die allgemeinen Arbeitertonfumtibilien wo mög» 
lid weglaffen, und bei ver Bezollung nnd ver Beſtimmung ber Höhe bes 
Zolls für verbreitete Luxusnahrungemittel möglihft worfichtig vorgehen und auf 
die Ausgleihung der Zölle durch Ueberwälzung wenig bauen. Gegenüber gewifien 
Grunbfägen ver pofitiven Gefetgebung kann ver Finanzzoll wie andere indirekte 


“und Berbrauchfteuern eine Verlegung in fih fchließen, z. B. des Principe, ein 


Einlommenminimum fteuerfrei zu lafien, was wir nicht für richtig Halten, viele 
Theoretiler und manche Geſetzgebungen aber feftftellen. Ebenfo ift es ein Verſtoß 
gegen die ‚politifche Gerechtigkeit, wenn etwa das Wahlrecht nah einem Cenſus 
normirt und anf bie faft überall bedeutendſten Abgaben, die invirelten, feine 
Rüdfiht dabei genommen wird. 

Auch andere pofitive Nachtheile und vermeintliche Borzüge, welche ſich näher 
betrachtet meiftens in Nachtheile verwandeln, Fleben ven Zölen an, weil fie in⸗ 
direkte Abgaben find. Dahin zählt der Umftaud, daß fie vom Konfumenten gleich» 
zeitig mit und in dem Preife, daher zwar oft bequem in kleinen Raten, aber 
auch für den Zahler unbemerkt entrichtet werben, fo daß aud beim Zoll das wid 
tige politiige und finanzpolitiihe Princip ver Entgeltlichleit der Gtaatsleiftung 
in der Steuer verhält wird. Die nothwendig größeren Kontrolen, die dadurch 
bewirkten höheren Erbebungsfoften und Berkehröftörungen, ver Schmuggel mit feinen 
entfittlidenden Wirkungen und feinem Schaben für ben reellen Handel, der volls- 
wirthſchaftliche Verluſt an Zeit und Kapital u. a. m. find weitere Nachtheile ber 
indirekten Steuererhebung, welde beim Zoll mitunter noch beſonders ſtark zum 
Vorſchein kommen. Dazu kommt, daß auch die Weiterwälzung des Zolls vom 
Zollzahler, alſo der Regel nach vom Bezieher der fremden Waare auf den Kon⸗ 
jumenten keineswegs immer fo coulant erfolgt, als es nad) der bloß vie Tendenz 
der Entwidlung beachtenden Theorie erfheint. Schwierigkeiten, Störungen liegen 
auch hier vor. Der aus dem einzelwirthſchaftlichen Kapital ausgelegte Zoll ver 
mindert die Summe ſolchen wirklih produktiv angelegten Kapitale im Bergleidh 
mit einer bireften Steuer, und infofern die gefammte Probultion, Dem Konfu- 
menten wird durch den nothwendigen Zins und Spefenzufhlag auf den Zoll⸗ 
vorſchuß noch mehr Steuer aufgelegt, als bei einer andern Steuerform nothwendig 
wäre. Kurz, ber Boll als inpirelte Abgabe läßt fi wohl nur wie alle indirekten 
Steuern und als Berbraudsfteuer nur wie alle Berbraudsfteuern relativ recht⸗ 
fertigen: fo lange das Erforderniß des Staatshaushalts die gegenwärtige Höhe 
behanptet und bie bireften Steuern, zumal bie praktiſch wichtigften derfelben, die 
Ertragfteuern fo bedeutende, nicht leicht zu beſeitigende Mängel aufweijen, dag man 
nicht wagen Tann, den ganzen Stagtebevarf ober nur einen bedeutend größeren 
Theil desſelben als jett mit direkten Steuern zu beden, fo lange werben auch die 
indireften Verbrauchsſteuern trotz aller inhärenten Mängel nicht zu befeitigen fein 
nnd fo lange fann aud der Finanzzoll nicht ganz fortfallen, da berfelbe ohnehin 
in mander Hinfiht ſchon ein wothwenpiges Komplement des inneren inbirelten 
Verbrauchſtenerſyſtems iſt. 


Bölle. 301 


Betrachtet man den Finanzzoll im Vergleich zu anderen indirekten Verbrauch⸗ 
ſteuern, fo kann man wohl zugeben, daß einer ber gebräuchliääflen Rechtfertigungs⸗ 
ründe der legteren noch am erſten bei einem wenigen Finanzzollſyſtem in 
—* — ber gemäßigten Zone zutrifft. Man em nämlich, daß bei jenen Ab- 
gaben die Steuerentrihtung , das Ob und das Wieniel in bie freie Wahl bes 
Deftenerten geftellt werve. Diefes Argument Flingt bei manchen wichtigen inneren 
Abgaben, wie bei Brot- und Galzftenern * wie Hohn, denn es läuft für 
den Meinen Mann baranf Hinaus: was beklagſt du dich, iß kein Brot, würze 
deine Kartoffeln nicht mit Salz, und du zahlft keine Steuer! Bei den Finanz- 
zöllen, deren Schwerpunft in tropifchen Probuften, in Rurusnahrungsmitteln liegt, 
wie bei den inneren Getränke⸗ und Tabalfteuern enthält dies Argument aber doch 
eine gewifie Wahrheit, zumal bet einer richtigen Abſtufung der Zoll- und Abgabe 
füge nad ber Bedeutung ver Waare für ven Maſſenkonſum und für bie herr⸗ 
ſchenden Konjumtionsgewohnheiten. Hier bleibt dann bloß der doch nur in zwei⸗ 
ter Linie ſtehende Einwand übrig, daß in mauchen einzelnen Fällen die Finanz- 
bezollung vom Einkommenſteuerprincip abweiht und zur Luruäbefleuerung that⸗ 
ſachlich ausartet. Im großen Durchſchnitt Tann ein zwedmäßiges Finanzpolffoftem 
wohl das Einfommenfteuerprincip noch befier als andere indirekte Berbrauchfleuern 
verwirklichen. 

Die ſpecifiſchen Mängel und Vorzüge der Yinanzzölle find auf den verfchie- 
denen Stufen der Entwidlung bes Zollweſens verſchiedene. In der Binnen- unt 
DOrtszollperiode wird Stadt und Land ähnlich wie fpäter no durch die Acciſe⸗ 
linien geſchieden, aber die Kontrolen auch auf die Straßen und Zollftätten be⸗ 
ſchräͤukt, der Verkehr auf dem platten Lande und zwiſchen verjchlevenen Staaten 
nicht fo viel geftört. In der Außen⸗ oder Landeszollperiode iſt der Verkehr inner 
halb der Zolllinien im Ganzen frei, Hod rühmt befonders die im Weſentlichen 
mögliche Beſchränkung der Kontrolen auf die Grenzen, die daraus hervorgehende 
Beſchraäͤnkung des Schmuggels, die weniger läftige Erhebung im Bergleih mit den 
Oetrois, mit Steuern bei Verlauf, beim Konfumenten felbft, die möglihe Aus⸗ 
wahl ver für Aufwandftenern geeigneten Objekte. Man mag das zugeben, aber 
viel zu Ounften der Zölle beweist es nicht. Der große fpecifiihe Mangel bleibt 
bie Hemmung bes freien Verkehrs zwiſchen ven Tänbern, die barin liegende Ver⸗ 
legung des Freihandelsprincips, die Gefahr, Binanzzölle in Schutzzölle übergehen 
zu feben. Die Nachtheile treten da beſonders hervor, wo die politiſchen Grenzen 
feine natürlichen, keine geographiſchen und uationalen find, ſondern Zufammen- 
gehöriges fcheiden, Verfchievenartiges verbinden. Man denfe nur au bie Grenz- 
und demgemäß jegigen Grenz zolllinien im ehemaligen Polen, an bie fchäpliche 
Abſperrung des Verkehrs zwifhen Oft- und Weftpreußen und ihrem natürlidhen 
Hinterlande , dem Königreich Polen, an vie tollen Grenzläufe, welche früher im 
Inneren Deutſchlands bie Territorialzerfplitterung und vie Negulirung anf dem 
Diener Kongreß mit fi führte, an die ſchlechten Weftgrenzen, welche Deutſch⸗ 
Iond 1815 erhalten hat (Preußen fogar von der Mans zurüdgebrängt, über 
welche fein Gebtet vor 1790 Hinausging!). Dan betrachte bie Eingränzung eines 
ganz feitwärts gelegenen Landes, wie des ruffifhen Polen in das ruffifche, wie 
Tyrols in das allgemeine öſterreichiſche Zollgebiet, zumal jet nad) der Abtretung 
Lombardo-Benetiens, ein Land, das nunmehr von feinen natürlichen Verkehrsge- 
bieten im Norden und Süden durch Zolllinien abgetrennt ift und nur durch bie 
Alpenfetten im Oſten mit Defterreih noch zufammenhängt, wohin wenig Berkehr 
und Produktenaustauſch gehen kann. Andere minder wichtige Beifpiele lafien fid 


392 Sölle. 


überall finden, die Ungehörigkelt des rechtsmaaßiſchen Limburg zum hollandiſchen, 
des Genfer, Teſſiner, Schaffhauſener Gebiets zum ſchweizeriſchen, des Südtyroler 
Gebiets zum öſterreichifchen Zolljuftem u. f. w. Die Verbindung von Schutzolls 
tendenzen mit dem Finanzzollſyſtem hat die nachtbeiligen Wirkungen der trennen- 
den Zollgrenzen natürlich oftmals noch bebeutend gefteigert. Aber felbft bei bloßen 
Tinanzzöllen folgen aus der Zollzwanglinie zahllofe wirtbichaftlihe und fittliche 
Nachtheile Überall und vollends ra, wo viefe Tinte das Binnenland und Bevöl- 
ferungen trennt, welche auf wirtbfhaftlichen Verkehr angemiefen find. Vermoͤchte 
man alle folde Nachtheile zu Gelb anzufchlagen und zur genauen Ziffer zu brin- 
gen, fo würbe ihr Gewicht deutlich genug ins Auge fallen. Man darf aber auch 
fegt nicht vergeflen, daß dieſe Nachtheile beftehen, au wenn man fie nidt genau 
jhägen kann. ' 

Allerdings ließen fi manche Härten des Landeszwangzollſyſtems burd bie 
Bortbildung des Zollvereinsprincips, d. 5. durch die Bildung natärlicher 
Handels⸗ und Zollgebiete mit maßgebender Rückficht auf die wirthſchaftlichen Ber- 
hältnifje befeitigen. Doc fhon die Gefchichte des dentfchen Zollvereins lehrt, welche 
enorme Schwierigkeiten felbft in Fällen, mo vie Bildung eines ſolchen Zollgebiets 
bie unbedingte Vorausſetzung tes wirthſchaftlichen und finanziellen Gedeihens Aller 
ift, hier entgegenftehen. Und begreifli genug unter normalen Staatsverhältnifien. 
In Deutſchland ſchadete freilich nur ein äußerlicher Souveränetätsdünkel der Re⸗ 
gierungen ber leider ans provinziellen Territorien fouverän gewordenen Klein- und, 
Mittel ſtaaten“ und der verrannte demokratiſche Partikularismus eines Morig 
Mohl und Konforten. Aber wo gefunde Nationale und Staatsverhältniffe vor» 
liegen und bie Einheit und Selbfifländigfrit des Staatsweſens feſtgehalten werben 
fol, da kann e8 allerdings für einen großen Staat um fo gewagter erjcheinen, 
einzelne Theile feines Gebiets auszufcheiden und mit dem Zollgebiet anderer Staa⸗ 
ten zu vereinigen, ober für einen Heinen Staat, mit einem größeren ein Boll 
gebiet zu bilden, je mehr das Zollgebiet ftatt des Staategebiets die territoriale 
Baſis der Volkswirthſchaft wird. Die handelspolitiſche und Zollmaßregel kann hier 
leicht eine weittragende politifhe Bebentung gewinnen, wofür ja bie Geſchichte 
unferes deutfchen Bollvereins ein fo wichtiges Beiſpiel ift. Die politiihen und 
wirthſchaftlichen Interefien kreuzen fi in der That bier zu fehr, um ein in letz⸗ 
terer Hinfiht befriedigenves Ergebnig gewinnen zu laſſen. So wird gewiß bie 
öfterreihifhe Monarchie ein Land wie Tyrol eher zu Grund gehen Iaffen, ehe fie 
es dem beutfchen Zollverein, beziehungsweife vem deutſchen Zollbundesſtaat ein- 
verleibte,, für welden ver Beſitz Tyrol aus handelspolitiſchen und geographi- 
{hen Gründen vielleicht ermwünfcht werben könnte. So denke man an die noch ftets 
ergebniglofen preußiſch⸗ruſſiſchen Zollverhandlungen wegen der flarren Grenzſperre 
in Polen, an die nicht verwirkfichte Idee einer holländiſch-belgiſchen, einer fran- 
zöſtſch⸗belgiſchen Zolleinigung (1835, 1837—42 f. Element, Anm. 2, ©. 200 fi). 
Auch die jest befeitigte Frage der teutich-öfterreihifchen Zolleinigung oder Annä⸗ 
berung, 3. B. noch das äfterreidhifche Projelt von 1862 gehört Dicher. Eher wird 
gelegentlih no, wenn tie Einverleibung in das allgemeine Hanptzollgebiet des 
Staats aus geographiſchen und fonftigen‘ Gründen, 3. B. wegen ber Oefabr bes 
Schmuggels, unthunlich erſcheint, die Bildung eines ſelbſtändtgen Zollgebiets aus 
einem abgelegenen Lanbestheil, wie 3. B. des balmatinifhen in Defterreih, oder 
biejenige eines größeren Freigebiets, wie ebenfalls in Defterreih vie Halbinfel 
Iſtrien fett 1861, oder enbli im Intereffe einzelner Handelspläge bie Errichtung 
von Breihäfen zu Stande fommen. Zur gegenfeitigen Abrundung der Zollgebiete 


solle: 393 


wird man hbochſtens etwaige Er- oder Enklaven und weit in das fremde Gebiet hinein⸗ 
ragende halbinfelartige Halberflaven mit dem anderen Zollgebiet vereinigen, auch bier 
aber lieber eine entfprechende Staatsgrenzregultrung vornehmen, wie eine foldye 3. B. 
zwifchen Bayern und Frankreich 1825, Bayern und Böhmen 1846, Sachſen und 
Böhmen 1845 und 1848 vorkam. Zmifhen dem Zollverein und dem früheren 
hannoverfhen Steuerverein, zwifchen jenem und Medlenburg, bremifhem und 
jest auch hamburgiſchem Gebiet erfolgte wohl eine Regulirung des Zollgebiets, 
doch find dieſe Verhältniſſe nicht maßgebend, meil eben doch trog aller partifula- 
riſtiſchen Strebungen die innere Zuſammengehsrigkeit des deutſchen Gebiets zu 
beutlich hervortrat. 

Die Bildung und möglihfte Abrundung des Zollgebiets hat aber auch noch 
eine ſpeciell zolltehnifhe und finanzielle Beveutung, indem von ber Oröße bes 
Gebiets, der mehr oder weniger kompakt zufammenhängenden Tage, der Länge und 
Befchaffenheit der Grenzen, insbeſondere vom Verhältniß der Grenzlänge zum 
Flaͤcheninhalt des Zollgebiets die Gefahr des Schmuggele, die Koften der Zoll: 
fontrolle und die Duote des Zollreinertrags wefentlich mit abhängen. Der größte 
Fortſchritt war auch in diefer Beziehung die Erweiterung des preußifhen Zoll⸗ 
gebiet3 von 1818 zum dem des beutfhen SZollvereins und des letzteren weiteres 
Wachsthum (f. Art. Zollverein). Die noch jet beftehende Berfchiebenheit der. 
Groͤße der Zollerhebungstoften in verſchiedenen Ländern ift wenigſtens mit auf 
bie berührten Verſchiedenheiten der Zollgebiete zurüdzuführen, obwohl andere Um» 
flänve, wie der Charakter des Zolltarifs, die Koncentration des Verkehrs auf 
Hauptartifel und Hauptplätze u. a. m. fehr wefentlich miteinwirken und bie rich⸗ 
tige Berechnung der Koften wegen des Zufammenhangs ter Zölle mit ten an» 
bern direften Berbrauchfteuern ſchwierig, in ben üblihen Daten der Budgets und 
ftatiftifhen Handbücher auch felten zu finden iſt. Auch die Koftenberehnung für 
die Sefammtheit der indirekten Abgaben leidet aber an nicht leicht ganz zu be» 
feitigenden Schwierigkeiten. Nur mit Vorbehalt dürfen daher folgende geplen 
Ezörntg’® angenommen werden: Großbritannien 4,2, Holland 5,5, Portugal 
6,8, Fran kreich 8,8, Bayern 9,2, Preußen 9,6 (beide letztere einſchließlich Ihrer 
Betheiligung am Zollverein), Defterreih 10,8, Belgien 11,5, Spanien 13,5%, 
Erhebungstoften für alle indirekten Abgaben. Die Zollerhebungstoften im engeren 
Sinn betrugen meiftens nad meiner Berechnung im Zollverein 1834 16,1, 1862 
11,1, 1864 11,8, 1866 13,1 %, ver Roheinnahme (exfl. Rübenzuderfteuer), in 
Defterreih 1863. 13,8, 1864 12,0 (aber ohne Finanzwade mn. a. m.), in Ruß⸗ 
land (nad dem Boranfchlage) 1866 17,6, in Großbritannien und Irland 1840 
5,4, 1866 4,3 9%). Sehr bedeutend waren die Zollerhebungsfoften in dem frühe 
ren würtembergiſch⸗-bayriſchen Zollverein, nah Rau gelegentli bis 44 0/,, ein 
gutes Hinderniß gegen feparatiftiihe Gelüfte, in Rheinkayern allein überftiegen 
nad ihm die Koften die Einnahme (Barieu’s Auslegung ift irrig, impöts II, 
158). Sehr bedeutend find aud tie Zolltoften in Belgien, fie wurden gelegentlidy 
bis auf 40 /, veranfhlagt; ohne die Verbrauchsabgabe auf Kolonialzuder bei 
den Einnahmen und die allgemeinen Verwaltungsfoften aller intireften Wbgaben 
bei den Koften einzuredhnen, war der Procentfag 1851 31,3 und 1860 27,1, der 
Zoll iſt fomit auch was tiefen Punkt anlangt, eine mangelhafte Steuer, nicht 
nur im Bergleih zu den bireften, fondern auch zu den andern inbireften Steuern. 

Nah dem Allem erfcheint es als ein ſchwacher Troft, wenn man mit Hod zu 
dem Ergebniß gelangt: „vorausgeſetzt, daß intirefte Abgaben beftehen follen, fo 
ift der Zoll eine der zwedmäßigften, ja unentbehrlichften Arten derſelben“. Man 


394 Sölle, 


mag biefe Behauptung, fo gefaßt, zugeben, zumal fo Iange gewiſſe Sinanzzölle 
das nothwendige Komplement des inneren indirekten Verbrauchſteuerſyſtems find. 
Über bevenflih genug bleibt ver Zoll als Stenerart aud fo noch, ſelbſt ganz 
allgemein betrachtet. Im einzelnen alle kann der Zoll aber für das ganze Staats⸗ 
gebiet oder vollends für einzelne Landesthelle als Steuer fogar noch nachthei⸗ 
liger als andre indirekte Abgaben werben, z. B. bei einer fehr ſchlechten Abgren- 
zung und Abrundung des Zollgebiets, bei einem kleinen Zollgebiet, bei ſchwieriger 
Kontrole und großen Erhebungstoften. Belgien iſt ein Beiſpiel eines Staats, Of- 
preußen, Ruſſiſch⸗Polen, Tyrol find Beifpiele von Provinzen, welche buch bie 
Bildung des Stants-Zollgebietd in bedenkliche Lage gelommen find. Wenn nicht 
fo oft polttifhe Gründe, deren Gewicht wir Deutſchen nah den Erfahrungen 
mit unferem Zollverein am wenigften verfennen bürfen, ſchutzzöllneriſche Interefien 
und ver Zufammenhang mit dem inneren Verbrauchfteuerfyftem für das Landes» 
grenzzollfuftem fpräcden, fo wäre es doch zweifelhaft, ob Theorie und Praxis an 
den Yinanzzöllen als einer mit fo vielen Nachtheilen verbundenen Steuerart fefl- 
halten würden. Im Folgenden geben wir zum Schluß eine Weberfiht der Zoll⸗ 
einnahmen (und Rübenzuderfteuern) in einer Reihe von Staaten, alle Werthe auf 
1000 Thaler umgerechnet und zwar das unelnlösbare Papiergeld al pari ange- 
fest. Bon den drei großen Papiergelvländern erhoben Defterreih und Norbame- 
rila die Zölle in Metall, alfo eigentlid in einem um das Agio erhöhten Sag, 
Rußland in Papiergeld. 


Robeinnahme. Reineinnahme. 
Rüben- Rüben» 
Hof. under Gumma. Boll. udes Gumma, 
euer. ver. 


Zollverein Ergebniß 1862/,, 25,373 9,034 34,407 22,542 8,753 31,296 
„ u 186/,, 22,654 10,275 32,929 19,784 9,959 29,743 
Großbritenn. „ 18@2/, 155,113 — 155,113 150,220 — 150,220 
n „1865 142,013 31 142,044 136,953 31 136,984 

„Vorauſchlag 1867/., 143,333 — — — 
Frautkreich Ergebniß 1862/3 29,519 11,866 41888 — 
1866 33,384 13,179 46,563 _ 


" " — 
Defarih „ 186%), 9,892 5,578 15,470 8,517 — 
F proviſ. 1865 908 — — — — 
" " 1866 70393 — — — — 
Rußland Ergebniß 1862-64 37,290 — — — — 
n „1865-66 34,550 — — — — 
„Voranſchlag, 30,518 663 31,181 25,375 
Italien „1864-66 16,601 — — 


⸗ 


„ 1867 20,760 
Spanien „ 1862 17,640 
1865/.5 20,376 


ılıt 


Türkei 18 8,420 _ — 
Niederlande „ 1865-67 2,427 — — 
Belgeien n 4,039 1,045 5,084 — 


Schweiz Ergebniß 1864-66 2,325 
Schwed. Voranſchl. 1867 5,175 
Rorwmegen „1867-69 4,550 
. Portugal „ 1862 7,960 


* 
311612611 


11111111111 


I! 


Zölle. 395 


Roheinnahme. Reineinnahme. 
Rüben» Rüben 
HZoll. tw Summa 30ll. —* Gumma. 
uer. uer. 


Berein. Staaten N.⸗A. 

Ergebniß 1. Juli 186%, 128,730 2,828 131,558 7°— — _ 
1. Jull 188/ 246,189 — _ — 
Boranſchl. 1. Juli 1860 224,14 — — — — — 

Die Daten find theils ven amtlichen Quellen, theils einer Zuſammenſtel⸗ 

von Sötbeer, einige and dem Gothaer Almanach u. A. m, enmommen. 
Bei den drei erfigenannten Zollgebieten find die Ausfuhrprämien und Rüdzölle 
abgerechnet (außer bei Großbritannten 1867-68). Da in ber Ueberfiht mehr 
fach Durchſchnitiszahlen aus mehreren Jahren gegeben find, fo haben die Daten 
einen größeren Werth. Eine anfangs beabficktigte weitere ſtatiſtiſche Ausführung 
muß bier nuterbleiben, weil die üblichen Kopfquotenberechnungen ohne nähere 
finanzftatiftiicde Analyfe und ohne Mitberüdfichtigung der inneren Verbrauchſteuern 
nme zu Zäufchungen führen und aud die finanzielle Bedeutung ber Zolleinnahmen 
im den einzelnen Stantöhaushalten, z. DB. mittels Berechnung der Quote, welche 
bie Zolleiunahme von der reinen Staats⸗ ober der reinen Stenereinnahme aus⸗ 
macht, nur unter Herbeiziehung eines großen ftatiftlihen Apparates bargelegt wer- 
ben Tann. Sonft führen vie Vergleiche mehr irre, als daß fie belehren (ogl. vie 
im Urt. Staatsfhulden, Bo. X, 54 ff. angeveuteten Schwierigkeiten). Beſonders 
wichtig ift die Zolleinnahme nur in Großbritannien, wo fie nach allen Zollreduk⸗ 
tionen rund ein Drittel der Reineinnahme, und In ven Vereinigten Staaten, wo 
fe in den erften zwei Jahren nah dem Schluß des Vürgerkrieges ungefähr 1/, 
bis 2/, der Geſammteinnahme betrug. And in andern amerilaniſchen Gtaaten 
liefert fie bis zur Hälfte aller Einnahmen mitunter — und oft ben ſicherſten Theil 
der legteren! In den mwichtigeren Staaten des europätfchen Feſtlands fieht die Zoll⸗ 
einmahme dagegen an finanzieller Bedeutung im Ganzen erheblih zuräd. Um fo 
nothwendiger erſcheinen Reformen, wenn bei all den üblen Folgen des Zollweſens 
nicht einmal eim großer Theil des Staatsbedarfs durch Zölle gededt merben kann ! 

Aus Allen, was vorhergeht, wird man daher doch vielleicht folgern bärfen, 
daß wenigftens in Europa, etwa mit Ausnahme Rußlands und des Süboſtens, 
bie xzöllige oder theilweiſe Befeitigung des Landesgrenzzolliyftems eine praltiſche 
Brage werben Tann, Die Borbebingungen dafür feinen fi) immer mehr zu er- 
füllen. Der Geſichtspunkt des Schußzolls fällt mehr und mehr fort, gejunde Staa⸗ 
ten haben fi wefentlich auf der Grundlage des Nationalitätsprineips und daher 
mit im Ganzen weniger ftreitigen, „natürlichen” Grenzen bereits entwidelt ober 
find in rafcher Entwidlung begriffen, geographiſche Naturgrenzen, 3. B. theilweiſe 
in ben Atpen laſſen fi mit berädfichtigen, vie politiſche Bedeutung bes Grenz⸗ 
zollſyſtems verliert fi daher oder ſchwaͤcht ſich mehr und mehr ab, je mehr bie- 
ſes Syftem feine Miffion auf biefem Gebiete erfüllt bat. Auch die Reform ber 
inneren inbirelten Verbrauchſteuer und die Fortbildung der direkten Steuern ifl 
mehrfach mit Erfolg in Angriff genommen worden. Auch hier ift wie für fo 
Bieles die politifge Konftitutrung Mitteleuropas, d. h. die ſtaatliche Konſolidation 
bes deutſchen Bolls, ein mädtiger Schritt vorwärts von Epoche machender 
Bedeutung weit über Deutſchlands Grenzen hinans. Eine engere Berbindung zwi⸗ 
fen den wefl- und mitteleuropäiſchen Staaten, namentlich ven feftländifchen, 
anfangs etwa mit Ausſchluß der abgelegenen füdlichen Glieder ahf ber pyremäl« 





306 Sülle. 


ſchen und apenniniſchen Halbinſel, zu einem auf die Bezollung tropiſcher Produkte 
und anf die Verbrauchsbeſteuerung einiger weniger inländiſcher Hauptartikel be⸗ 
Ihräntten Yinanzzoll- und Acciſeſyſtem könnte bier recht wohl eine voltswirth- 
ſchaftliche und finanzielle Frage einer gar nicht fo fernen Zukunft fein, — eine 
Frage, beren politiihe Tragweite in einen halben Jahrhundert vtelleicht ebenfalls 
richtiger als jet gemwärbigt werden wird. Die in. vet Gegenwart noch maß⸗ und 
ziellofen Agitationen in Holland und Belgien für Abſchaffung aller Zölle und 
Zollfhranten, immerhin beachtenswerthe Symptome, könnten vielleiht mit mehr 
Ausfiht auf Erfolg in die eben bezeichnete Richtung auf einen mittel- und. weft- 
enropätfhen Finanzzollverein geleitet werden. Rad der liberalen Grenzzollperiode, 
welche in dem Syſtem der Hanbelsverträge vorläufig ihren Abſchluß gefunden zu 
haben fcheint, würde eine neue Periode internationaler Zollvereinigungen 
beginnen — der dentſche Zollverein gehört als nationaler nicht dazu — und 
bliebe das ſelbſt dei etwaiger Ausdehnung auf die vom deutſchen Staat abgefal- 
lenen Glieder Holland, Belgien und Schweiz, melde am Meiften auf einen An⸗ 
ſchluß an ein größeres wefteuropätfhes Zollſyſtem angewieſen find. Auch biefe 
Periode würde nicht wohl die legte fein, aber fie iſt, wie die Ortszoll⸗, die ſtarre 
Tandesgrenzzoll- und die neue mildere Grenzzollperiobe vermuthlich eine nothwen⸗ 
dige Durchgangephaſe für Zollloſigkeit und völlige Berlchrefreihelt, auf. welche 
jene holländiſch⸗belgiſchen Agitationen verfrüht binzielen. Laflen wir doch auch 
unferen Eufeln nod etwas zu thun übrig: das, was uns ned nicht, jenen wahr⸗ 
ſcheinlich frommt! 
Literatur. Außer den bezüglichen Erörterungen ber klaſſtſchen engliſchen 
Nationaldlonomil beſonders J. St. Mill, Grundſ. d. pol. Del. (D. v. Sötbeer 
2. Aufl.) Bod. V Rap. IV, J. G. Hoffmann, Lehre v. d. Steuern, ©. 839 
bis 417, Ran, Fim.Wiſſ. 8. 443 -452, 8. Stein, Fin.Wiſſ. ©. 388 fi, Pa- 
ricu, traftE des impöts, vol. III, p. 120 fi. (vorherrſchend Rotizwefen, viel 
Detail aus Rau), die verſchiedenen Zollartitel von Emminghaus, Neumann, 
Reſntzſch in des leuten Handwörterb. d. Vollamirthichaftslchre; ganz beſonders 
zu rühmen als wichtigſte Arbeiten über Finanzzollweſen und die damit zufammten- 
hängenden ragen ter inneren Verbrauchſteuern find die Schriften von Hod, 
Deffentl. Abg. u. Schulden (Stuttg. 1863) bef. 8. 19—22, ferner die Finanz⸗ 
verwalt. Frankreichs (Stuttg. 1857) und bie Finanzen und Finauzgeſch. d. Verein. 
Staaten v. Nordam. (Stuttg. 1867), ſ. auch deff. Auff. „Betracht. üb. d. Aufheb. 
aller Zölle v. Standp. d. Vefteuerung”, Tüb. Zeitſchr. XXI (1865), 359. Ueber 
einzelne Länder f u. A. Porter, p. of the nation und Tooke und Rew⸗ 
march, Geſchichte der Preife bei. in Bd. V d. engl Ausg. über England 
and Einzelnes auch Über andere Länder, ferner E. Naffe, Ref. d. brit. Etenen 
weſ., Tüb. Zeitihr. Br. 10 (1854) und Bode, Geſch. d. Steuern d. brit. Reiche 
(2p3. 1867), übers Zölle €. 281 fi., Über Acciſe S. 360 ff, welchem fleifigen 
Werke viele Daten vorftehenden Auſſatzes entnommen find, dann DO. Hübner, 
Der. d. ftatift. Centralarchivs IV 2, über Frankreich die in Anm, 2 genannten Schrif 
ten, dann auch über vie weſteurop. Zollreform bie 2 Artikel von Sch äffle, Tüb. 
Zeitfehr. 1864, dann aud Vogel, du comm. de la France et: de l’AnglL Par. 
1864, v. I. Beſonders dankenswerth, auf für unferen Aufſatz viel benugt, iſt 
die ftatifl. Zuſammenſtellung tn Bez. auf Einfabrzölle u. Verbrauchsſtenern in 
Deutſchl., Großbrit. n. Franke. (Vorlage v. Sötbeer f. d. 9. vollsw. Kongr. im 
Hamb. 1867). Statiftifhes in Ezörnig, Oeſterr. Budg. 1862, vergleichen, im 
Band 2), Hübner’s Jahrbuch (Zollverein, Defterxeih), Ecoromist, Bxeger 


3wingli. 397 


Sandelsblatt. Garz beſonders und wit Dank zu nennen iſt hier endlich noch 
die vortreffl. Zeitſchr. das Preuß. Handelsarchid, mit allen Zarif- und Zoll- 
geſetzen, Konfulatsberichten n. |. w., ein unentbehrliches Quellenwerk für Han⸗ 
dela⸗ und zellpolitiiche Fragen, das uns fehr viel Material geliefert bat. — Vgl. 
ferner die Art. Handel, Handelspolitit von Schäffle, Hanpelsnerträge 
von Kaltenborn im Bd. IV des Staatswörtb., fowie ven fpäteren Artikel Zoll⸗ 
verzin für Literarifches fiber die Schußzölle fpeciell und über Deuifchland, 
Adoboh Wagner. 
Zolliverein |. ven Nachtrag. 
Zunft |. Gewerbe, | Ä 
Zürich |. Schweiz. 
Zweikammerſyſten |. Geſetzgebender Körper, Landtag. 


Zwingli. 


Bei den einen Menſchen wird die Bewegung ihres pſfyſchiſchen Lebens vom 
Semüthe, bei. den andern vom Geifte aus Beftimmt. Bei jenen empfängt fie ihren 
Impuls von den Organen des Teibes, bei dieſen vom ben Organen des Kopfs. 
In beiderlei Klaſſen werben je nad Umftänven alle Geiftes- und Gemüthäträfte 
abwechſelnd angeregt. Die einzelnen Individuen Können in beiden in bemfelben 
Maße rei begabt oder bürftig ausgeſtattet fein. Aber bie Nichtung der Geiſtes⸗ 
bewegung ift verfhieden In beiden. Die einen Menſchen arbeiten in fi von unten 
nad oben, bie andern von oben nad unten; bie einen von außen nad innen, 
bie andern von innen nad außen. Bedeutende Menſchen mit Gemäthsftrömung 
‚haben: meift einen tiefsreligiöjen Zug in ihrem Weſen, die größten Religionsftifter 
baben meiſtens Gemüthsftrömung gehabt. Die Männer mit Geifteöftrömnng find 
gewöhnlich der praftiichen Wirkſamkeit des äußern Lebens zugewendet, vorzugs- 
weile haben viele Staatsmänner Geiftesfrömung. Wenn der ſprachgewaltige Luther 
unzweifelhaft zu ben erftern gehört, fo ift Zwingli nicht minber ficher in die letztere 
Klaſſe einzureiben. Deßhalb ift er auch nicht fo ausſchließlich Theologe und reli⸗ 
giöfer Refermator wie Luther. Ueberall macht ſich der politifhe Grundzug feiner 
Ratur geltend. Seine Erziehung führte ihn der Kirche zu, fein Beruf hielt Ihn 
barin feſt. Die Gigenart bes fehszehnten Jahrhunderts entwidelte ihn zum kirch⸗ 
lichen Reformator. Aber er vergaß dabei nie des Staates und ber politifchen 
Rädfichten und betrieb die Reform ver Kirche nad der Welle eines Bolitifers in 
engem Zuſammenhang mit ber Reform des Staats. | 

Ulrich Zwingli, oder wie er felber fich gerne nannte, Huldreich Zwingli 
war ald Bauernfohn im dem horbgelegenen Bergdorfe Wildhaus im Toggenburg 
am 1. Januar 1484 geboren. Die Verwandtiſchaft feiner Eltern mit Geiftlichen 
— ein Bruder feines Baters ves Gemeindammanns mar Pfarrer in Werfen, ein 
Bruder feiner Mutter Abt in Fiſchingen — wirkte mit, um ben Knaben, deſſen 
glüdlihe Geiſtesanlage frühzeitig bemerkt wurde, ebenfalls dem geiflichen Stande 
zu widmen. Er erhielt, unter ver Leitung feines väterlichen Onkels, eines gebil- 
teten und menſchenfreundlichen Mannes, die gelehrte Schulbildung (1499) ver 
damaligen Zeit in den Schulen von Bafel und Bern. Noch als Knabe kam er 
auf die Univerfität Wien, wo er mit einem andern talentvollen jungen Schweizer 
Badian (Joachim von Watt) ans St. Gallen eine Freundſchaft fürs Leben ſchloß 
and befam dann fehr früh in Baſel ein Lehramt an dem Martinsftift, welches 
ihm zugleich die Muße verſchaffte, an der Uniuerfität Baſel feine Studien fort« 


898 Smingli. 


zufegen. Es war ein Ölüd für ihn, daß es ben Dominilanam in Bern, welde 
auf die Hangreihe Stimme des Schülers aufmertfam geworben waren, wicht ge- 
ungen war, ihn in ihr Klofter abzufangen. Ein offenes Auge für vie Welt, ein 
beiterer fröhltcher Sinn, ein ſcharfer Wig und ein ſchneidiger Verſtand zeichneten 
ben jungen Toggenburger aus. Für feine Bildung war es fehr förberli, dag im 
Gegenfage zu der ſteifen Scholaftit der freiere Humanismus damals der Jugend 
die herrlichen Schäge antiker Geiftesfultur wieder erſchloß. Beſonders durch Th o⸗ 
mas Wyttenbach wurde er in die Werke der lateiniſchen Klaſſiker eingeführt. 
Bon fih aus erlernte er in Glarus das Griehifhe. Dem Haupte ver Humani- 
fin, dem feinen Erasmus von Rotterdam war er mit ber Begeifterung eines 
Jüngers zugetban. Im Iabt 1506 erwarb er zu Bafel die Würde eines Magifters 
ber Phitofophie und in demfelben Jahre erhielt er vie Pfarrei von Glarus. 

Das Studium der alten Hellenen und Römer und das Studium ber beili- 
gen Schriften ber Kirchenväter verbauben in ihm und förberten ſich wechſel⸗ 
feitig. Die Gefänge Pindars erinnerten ihn an bie Pfalmen ; die römiſchen Ge⸗ 
ſchichtſchrelber bereiteten ihn für bie jüdiſche Geſchichte vor; Lucians Yusfälle 
wider den Aberglauben der Heiden ſchlugen in feiner Seele einen wieberhallenden 
Mang an. Am liebften aber ftubirte er bie Briefe des Paulus. Immer entſchiede⸗ 
ner fuchte er fi in ben alten Quellen des Wiſſens und des Glaubens heimiſch 


u . 
Sehr fräh wurde 3. auch in die ſchweizeriſchen Parteilämpfe verwidelt. Es 
war eine wunderliche Laune des Schidfals, ihn ſowohl als die Stadt Zürich, in 
der feine reformatorifche Wirkfamteit ihren eigentliden Wohnfig fand, anfangs in 
das Lager der päpftlihen Partei zu verfegen, welde damals mit ber franzd- 
ſiſchen Partei um den Einfluß vang. Als Feldprediger begleitete er 1512 vie 
glarnerifchen Truppen nad Itallen, als es galt, im Bunde mit dem Papfte Julius II. 
und ber Republit Venedig die Tombarbei von der Franzoſenherrſchaft zu befreien. 
Ueber die Eroberung Pavias durch die Eidgenoſſen berichtete er als Augenzeuge. 
Auch die unglüdlihe Schlacht von Marignano 1515 madte er mit. In biefen 
Feldzügen faßte er aber einen tiefen Wiberwillen gegen die Betheiligung ber Eid- 
genofien an fremden Kriegohändeln umd gegen bie Ränke und Schliche ber frem- 
ven Diplomatie. Aber immer noch hielt er eher zu dem Papſte als zu den Fran⸗ 
zofen, und verfämähte auch die päpftliche Penfion nit, welche ihm durch bie 
Gunſt des Kardinals Schiuner zugetheilt wurde. Charakteriftifch aber iſt es für 
feine damalige hoffnungsvolle Stimmung, daß er den Ölarnern rieth, von ber 
willfährigen Gnade des Papftes für ihre Fahne, nicht wie die andern Eidgenof⸗ 
fen, ein Bild des Gekreuzigten, fondern ein Bild des auferfiandenen Chriftus zu 
Begehren. Im Unmuth über die Feindſchaft der franzäfiihen Partei in Glarus ver 
ließ 3. den Ort und folgte einem Rufe des Abtes von Einfleneln, in dem Be- 
rühmten Wallfahrtsorte die Stelle eines Prebigers anzunehmen 1515. Wenige 
Iahre fpäter erhielt er in Folge des großen Rufes, den er als andgezeichneter 
Prediger erlangt batte, das Amt eines Leutpriefters an der Großmünfterliche im 
Zärich. Mit Neujahr 1519 beginnt da nun feine reformatoriſche Wirkfamtelt. 
In Deutfhland war Luther vorausgegangen. Der Wblafftreit, an dem flch 
der Widerſpruch Luthers gegen den Mißbrauch der hierarchiſchen Autorität zu 
ſelbſt⸗ und gewinnfüchtigen Zweden entzündet hatte, bewegte bie Schweiz nur wenig. 
Dem päpftliden Ablaßkrümer Samſon trat der bifhöflihe Generalvikar von Kon» 
ſtanz felber entgegen und als ſich Die Eingenofien bei dem römifchen Hofe über 
das unwürbige Treiben des Bettelmönds beklagten, ließ der Papſt denſelben fal⸗ 


Swingli. . | 399 


len. Den Glauben aber an das Papftthum Hatte 3. ſchon vorher verloren, wie 
die meiften anfgewedten Köpfe unter den humaniſtiſch gebildeten Geiſtlichen. 

Der Grundgedanke 3.3 war: Er wollte das reine „lautere Evangelium” 
predigen, wie er e8 in der heiligen Schrift, als dem „Maren Gotteswort“ er- 
kannte. In dieſem Borfag fühlte er fich geſtärkt, nachdem er von ber Peſt ge- 
troffen dem Tode ind Angeſicht gefehaut und dann wieder Genefung erlangt Hatte. 
Die Anslegung der Schrift war das Schwert, mit dem er wider bie Mißbräuche 
und wider die Sünden einen gefährliden Kampf unternahm. 

Die Stadt Zürih, der Borort der Eingenofienfhaft, gerieth damals nad 
zwei Seiten Bin in eine ifolirte Lage. In den meiften eipgenöffiichen Ständen 
hatte die franzöflfhe Politik gefiegt; alle andern Drte waren bereit, das Bünbniß 
mit dem König von Frankreich abzuſchließen. Zürich allein wollte nicht baran 
Theil nehmen und widerftand den Bitten feiner Eidgenoffen, fi nicht von ihnen 
a trennen. In dem Schreiben, welches ver ſtädtiſche Rath an bie Gemeinden bes 

andes erließ, ift unverkennbar etwas von 3.8 Geiſt zu verfpüren. Die Mei⸗ 
nung, man folle „aller Fürften und Herren müßig gehen” fand einen lauten 
Beifall in dem Lande, Inbeffen ver ältere Bund mit dem Papſte beftimmte bie 
Zücher doch, dem Hülfgefuh des Papftes Leo X. zu willfehren. Zürcheriſche 
Truppen zogen ihm zu (1527). Die Stadt fland ziemlich allein In der Eidge⸗ 
nofienfhaft auf der päpftliden Seite. 

Auf der andern Seite war bie reformatorifhe Gelftesbewegung nirgends In 
ber Schweiz reiten vertreten als in Zürih durch Z., beffen Dredigten der Ge⸗ 
meinde das neue Teſtament im Zufammenhang ber einzelnen Schriften auslegten 
umb wie die Eröffnung einer nenen Geifteswelt wirkten. Er wollte erft durch die 
Lehre die Geifter Mären, davon erwartete er bie heilfamften Wirkungen. So lange 
es fi nur um Grundſätze und um allgemeine Lehren handelte, fand die Reform 
noch wenig Wwerſpruch, die allgemeine Richtung ber Zeit war ihr günftig. Wenn 
auch ängftlihe Gemüter varüber erfchraden, die Menge folgte heitern Sinnes 
dem beller ſtrahlenden Lichte. Aber als die praktifhen Folgerungen fi bemerkbar 
machten, da fhäumte die Strömung heftiger auf an dem Widerſtand der herge⸗ 
brachten Einrichtungen und Interefien. Us 3. beftritt, daß das Zehentrecht auf 
der chriſtlichen Religion beruhe, erregte das aud bei dem Ehorberrenftifte zum Groß⸗ 
mänfter Anftoß, das den Zehnten nicht entbehren wollte Indem er wider bie 
eiferte, weldhe von fremden Fürſten „Miethe und Gaben” nehmen, kam er felber 
mit feiner — Penſion ins Gedränge und verzichtete darauf (1520). Der 
Nachweis, daß das Faſtengebot eine Menſchenſatzung ſei, brachte Ihn in Konflikt 
mit den geiſtlichen Obern und veranlaßte das Einſchreiten des Rathes (1521). 
Seine erſte Drudichrift kämpfte für „die Freiheit der Speifen”. Die Schärfe 
feiner Sprade verlegte mande Perfonen und wurde auch In dem Kapitel der 
Chorherren gerägt, in das er nun eingetreten war. Ganz befonders fühlten fich 
die Ordensleute darüber verlegt, daß er mit bittern Worten die Klöfter und 
Mönche angriff. Sie brachten ihre Klagen an den Rath. Eine Bittſchrift an ven 
Biſchof von Konftlanz (Iult 1522), daß er bie freie Prebigt des Evangeliums 
ſchützen nnd ven Geiftlichen geftatten möge, in die Ehe zu treten, erregte bei 
vielen Geiſtlichen und Weltlihen heftigen Anftoß. Die eidgenbſſiſche Tagſatzung, 
an welde fih 3. mit venfelben Begehren wendete, war fehr unwillig über vie 
freche Anmafung und Renerungsfudt der Prebiger, „welche die gemeinen Leute 
mit Unwillen, etracht und Irrung im chriſtlichen Glauben" erfüllen. 

Troppem wurde 3. von der kirchlichen Hierarchile mit großer Schonung ber 


AND Iwingli. 


handelt. Sogar als die bifchöfliche Kurie ihre Klagen über fein Wert vor ben 
Rath brachte, ſcheuten fich die Kläger, ihn perfönlih zu nennen. Der nen ge« 
wählte Papft Adrian VI. fchrieb noch einen Außerft gnädigen Brief an 3. (1522). 
Er Hoffte ihn zu gewinnen. Der über Luther verhängte Bann und die darauf 
folgende kaiſerliche Acht (1521) hatten fih unwirkfam erwiefen; zum voraus hatte 
3. gewarnt: Wird der Bannſtrahl gefchleudert, fo fehe ich voraus, die Deutſchen 
‚werben zugleih in dem Bann auch den Papft verachten. Um fo eher verfucdhte 
man's nun mit einer milveren Praris. Mit Hülfe 3.3 hoffte Aorian, das Bünd⸗ 
niß Zürihs mit Leo X. zu erneuern. Er war überdem nicht abgeneigt, felber 
Reformen in der Kirche vorzunehmen. Indeſſen jene Hoffnung wurbe getäufcht 
und der legte deutſche Papft farb ſchon im folgenden Jahre, 

Als die Geifter hinreihend vorbereitet waren und nun bie Refcrmpartet ſich 
ihrer Weberlegenheit ficher fühlte, wurbe die entfcheidende Umwandlung vollzogen. 
Zu dieſem Behuf ordnete der Rath im Ianuar 1523 ein öffentlides Reli— 
gionsgeſpräch an, zu weldem alle Geiftlichen des Tandes eingeladen wurben. Da 
follte in feiner Gegenwart in deutſcher Sprache „mit wahrhafter göttliher Schrift“ 
geftritten werben. Ie nah dem Ausgang der Difputation hebielt fi ver Rath 
vor, die weiteren Befehle zu geben. 3. hatte die neue Lehre in 67 Schlußſätzen 
bargeftellt. Sie waren in Wahrheit das Programm einer neuen Ordnung der 
Kirche, in einiger Beziehung aber auh des Staats. ı 

Die ganze Anorbnung ſchon der Dijputation war gegenüber ber gejchichtli= 
Gen Berfaffung und Orbnung ber Kirche eine vollftändige Revolution. Alle über- 
‚lieferten Autoritäten wurden im Princip verneint, Infofern fie fih nit durch 
Aeußerungen ber heiligen Schrift neu begründen ließen. Die einzige Autorität 
follte hinfort die heilige Schrift fein, fie das oberſte Geſetz, fie der höchſte Rich⸗ 
ter. Auf diefen Boden ftellte fih mit 3. aud der Rath; da waren fie des Sieges 
zum voraus fiher. Es kam nicht einmal zu einem ernften Kampf: die bifchöfliche 
Abordnung verhielt fi halb und ſchwach. Der Generalvikar Faber wollte nicht 
bifputiren und bifputirte dennoch ungenügend und unfiher. Etwa 600 Perfonen 
hatten an: der Verhandlung Theil genommen. Am Schluß verfelben erflärte der 
Rath: „Da Niemand fid wider den Meifter Ulrich Zwingli erhoben und ſich getraut 
hat, feine Lehre mit der göttlichen Schrift der Ketzerei zu überweifen, fo haben wir 
uns dahin erlannt: daß Meifter Ulrih Zwingli fortfahre und wie bisher das heilige 
Evangelium und die göttliche Schrift nach dein Geifte Gottes und feines Vermögens 
verfünde, fo lange bis er eines beſſern berichtet werde. Auch alfo andere Leutpriefter 
‚und Prädikanten follen nichts anderes vornehmen und predigen, als was fie mit 
"den Evangelium und göttlicher Schrift bewähren mögen. Auch follen fie einanver 
nicht fehmähen, in feiner Weile. Die, welche dem zuwider handeln, werben wir fo 
halten, daß fle es fehen und empfinden müſſen, daß fie Unrecht gethan haben.“ 

Die abfolute Autorität der Schrift war das ſchneidige Schwert, welches vie 
Bande zerfchnitt, mit denen die abſolute Autorität der Hierarchie die Entwicklung 
der Welt gebunden hielt. In diefer Freude über die erfehnte Befreiung von bem 
päpſtlichen Joch bemerkte man nicht, daß nun die Autorität der Schrift überfpannt 
und wieder zu einem drückenden Ioche werde für die denkenden Geiſter. In dem 
Unmuth gegen die hergebrachten Mißbräuche in der Kirche überſah man bie großen 
geſchichtlichen Yortfchritte in der Entwidlung auch der Kirche während anberihalb 
‚Iahrtaufenden, Wie mit einem naflen Schwamm vie befchriebene Tafel, fo follten 
bie Menfhenfagungen ausgelöfht und die Oottesfagung nen elugeiragen werben, 
Chriſtus zu Ehren, dem alleinigen Haupte ber Gläubigen. 


Swingli 401 


In den Schlußfägen wurde die Autorität des Papfles verworfen, da Chri⸗ 
Rus der einige ewige oberfte Priefter ſei, ebenfo die Meſſe, da Chriſtus fih ein» 
mal felber geopfert habe, infofern fie ein neues Opfer fein wolle, während fie ein 
„Wiedergedächtniß“ fei des vollzogenen Opferg und eine „Sicherung ber Er— 
löfung”. Sie ſprachen ſich gegen die Fürbitte ber Heiligen aus, da Chriftus ver 
alleinige Mittler fei zwiſchen Gott und ven Menfchen, gegen bie katholiſche Lehre 
von den guten Werken, indem unfre Werte nur foweit gut als fie Ehrifti Werte 
feten, wider den Reichthum der Geiftlihen, gegen vie Faftengebote, gegen Feier⸗ 
tags- und Wallfahrtögebote, gegen die Gleisnerei der „Kutten, Zeichen, Platten“ 
(der priefterliden Ornate), gegen die Orben und Selten, denn „alle Chriften- 
menfchen feien Brüder Ehrifti” und daher fol fi feiner zum „Bater aufblafen“, 
gegen die Eheloſigkeit ver Geiſtlichen, welche ver Gemeinſchaft mit Frauen durch ihre 
Natur bevürfen, umd für bie Priefterehe, gegen das Gelübde der Reinheit, gegen 
ben Kirhenbann, außer wenn berfelbe von Pfarrer und Gemeinde wegen öffent⸗ 
lichen Aergernifjes verhängt werde, und für die Ueberlaffung des ungeredhten Gute 
an die Armen, aber nicht an Klöfter und Pfaffen. Vollſtändig verwirft er vie 
„geiftlide Gewalt“ und ben „geiftlihen Staat”. Alle Öemalt fei welt» 
lide Gewalt, und andy die geiftlihe Gewalt gehöre den Weltlichen zu, wenn 
„fie Chriſten fein wollen.” Ihnen find alle Ehriften Gehorfam ſchuldig, Niemand 
ausgenommen, aljo and) bie Geiſtlichen, aber nur infofern als fie „Nichts gebieten, 
was wider Bott if”. Dabei follen auch „alle ihre Geſetze dem göttlichen 
Willen gleihförmig fein", alfo daß fle den Beſchwerten befhirmen, ob er ſchon 
nicht klagte. Ste allein find berechtigt, mit dem Tode die zu frafen, welche „üf- 
fentlich verärgern” , d. h. das äußere Recht offenbar fchwer verlegen, „benn bu 
Dberer kannſt Niemand nad der Bosheit feines Herzens beurtheilen, bis du fein 
Ha; an den Früdten erkennſt.“ Wenn fie rechten Rath und Hülfe denen gewäh- 
ren, für welche fie vor Gott Rechenſchaft geben müflen, fo find auch dieſe ſchuldig, 
jenen Hülfe zu bringen (Steuern zu bezahlen). Wenn fie aber untreulih unb 
außer der Schnur Chriſti fahren würden, mögen fie mit Gott entjegt werben. 
Summa deſſen Reid ift das befte und feftefte, der allein mit Gott herrſchet und 
deſſen Reh das böfefte und unftätefte, der aus feinem Gemüth regiert. Die „geift- 
lihen Borgefegten" follen fi eilends nieberlafien und nur das Kreuz Chriftt, 
nicht ihre Kiften aufrichten, oder fle geben unter, denn „bie Art ift an dem Baum.” 

Man fieht, die Stantsanflht 3.8 ift no mittelalterlih, infofern fie we⸗ 
fentlich religiös begründet und befhränlt wird. Nocd geht ein theofratifcher Zug 
duch dieſelbe hindurch; er iſt noch befangen in dem Glauben, daß die Bibel 
auch für ven Staat höchſte Autorität ſei. Sein Ideal des Staats iſt die chriſt⸗ 
lie Gemeinde, nit die politiihe Bollsgemeinihaft. Der echte Chrift 
ft ihm der gute Bürger: Kirche und Staat fließen ihm in Eins zuſammen. Aber 
in Einer wejentlihen Beziehung durchbricht er die herkömmliche Staatslehre der 
mittelalterlichen Theologie. Der chriſtliche Staat, wie er ihn beuft, ift nicht mehr 
der geiſtloſe Diener der höheren kirchlichen Gewalt. Er nähert fi inſofern der 
modernen Staatsidee, als er alle eigentlide Gewalt in Geſetz, Regierung, 
‚Seit in der Einen weltlihen Obrigkeit koncentrirt, als er jede Hierardjie 
ganz verwirft und die Geiftlichen dem Staate gleih ven Weltlichen unterorbnet. 

Er ift Republikaner von Geburt und Erziehung, und es fällt ihm ſchwer, 
die Monarchie zu begreifen. Für die Erbmonarchie insbeſondere findet er keinen 
natürlichen Grund; denn wenn der geborene König „ein Thor oder ein Kind” ift, 
wie Tann ex denn herrſchen? Beſſer wäre es doch, man machte „ven Wellen zum 

Gluntf@li und Drater, Deutfges Staate⸗Mörterbuch. X]. 26 





402 Swingli. 


König". (Auslegung des A2ften Art.) In der Mepublit kann man die fchlechten 
Negenten dadurch Befeitigen, daß man fie nicht wieder wählt. In der Erbmonar- 
hie ift dieſer gejetlihe Weg verfchlofen und es wird ſchwerer, „ben Tyrannen 
abzufhaffen”. In der Noth verwehrt e8 3. der ganzen Menge des Bolles und 
fogar der Mehrheit nit, fi gewaltfam zu befreien. Werm auch die fchledhten 
Sürften ihre Gewalt von Bott ableiten, fo können fie das nur in bemfelben 
Sinne, in welchem der Teufel ein Diener Gottes heißt (Werte III 307). 

Nach jener erften Difputatien wurde nun bie Umgeftaltung ver Kicche unter 
dem Schug des Rathes, der fi nicht mehr durch die biföfliche Gewalt ver 
alten Kirche gehemmt fühlte, vollzogen. Biele Geiftlihe traten nun in vie Ehe, 
unter ihnen auch 3. felber, welder vie Wittwe des Junker Hans Weyer von 
Knonau, Anna Reinbart Heirathete. Den Mönchen und Nonnen wurde verftat- 
tet, die Klöfter zu verlaflen. Auch das Ehorberrenftift wurde reformirt und fen 
Bermögen großentheild den höheren Schulen gewidmet. Eine Anzahl Eiferer fing 
an, gewaltfam die Heiligen Bilder zu zerflören und dem „Gdstzendienſte“ ein &upe 
zu mahen. Das gab Beranlaffung zu einer zweiten öffentlichen Difputatioa tm 
Oktober 1523, die der Rath wieder ansfchrieb, damit über die Bilder und bie 
Meſſe entihienen werde. An 900 Männer, die große Mehrzahl Weltliche, etwa 
350 Geiſtliche wohnten berfelben bei. 

In diefer Berfammlung entwidelte 3. feine Begriffe von der Kirche Er 
unterjhied die unfihtbare Kirche, vie alle Gläubigen aller Zeiten unter dem 
gemeinjamen Haupte Ehriftus umfaſſe, und die fihtbare Kirche, die nichts ande⸗ 
res fet als die einzelne Kirhgemeinde einer beftimmten Zeit und an be- 
fiimmtem Ort, wie die Kirche von Korinth zur Zeit von Paulus und bie Kirche 
von Zürih und Bern von damals. Die unfihtbare Kirche fei nur Gott beiannt, 
als fihtbare Kirche erkannte er die chriftliche Gemeinde des Orts ober Landes an, 
Wenn aber die Päpfte, Karbinäle und Biſchöfe in Konrilien zufammentreten, fo 
fei das nicht die Kriftliche allgemeine Kirche und habe nicht: die Autorität der 
Kirche. Man kann nicht läugnen, diefe Darlegung, welche vie religidfe Lebens 
gemeinfhaft der jeweiligen Ehriftenhett läugnete und nur in einem um- 
greifbaren Ideal die Einheit fah, in der Wirklichkeit aber lauter Heine felbftänbige 
Gemeinden ohne organifhen Zufammenhang und Verband, war ſehr ſchwach; ben: 
noch fand 3. wenig Widerſpruch. Der Einwand, der damals durchſchlug, daß ber 
Ausprud Kirche im neuen Teftament nur in jenen zwei VBebeutungen gebraucht 
werde, war leiht damit zu widerlegen, daß e8 zur Zeit, als die Apoftel ihre 
Briefe fhrieben, nur einzelne zerſtreute Kirchgemeinden gab,. die große kirchliche 
Gemeinſchaft erſt erwachſen mußte. Auch der Begriff ver Landeskirche war in ben 
Üpoftelbriefen nicht zu finden; und doch war 3. gemöthigt, bewfelben zur 
Geltung zu bringen. Die Abneigung gegen die päpftliche Hierarchie aber mar fo 
ftart, daß Nichts was ihr fürverli war beachtet wurbe. 

Lebhafter war ter Streit Über die Bilder, welde als „Teufelswerken“ und 
„Götzen“ bekämpft, als Vorbilder. des Guten vertheikigt wurden. Das Hecht wer 
Menſchheit, ihre Gefühle und Gedanken in edeln Kunftwerlen auszufprehen und 
die göttlihde Macht des Schönen fanden bier feine Vertreter, Mit dem alten 
Hinweis, daß die Bilder in der Heiligen Schrift feine Rechtfertigung finden, 
wurde ihre Bejeitigung als eine religiöfe Pflicht proklamirt. Am ernfteften aber 
wurbe bie Frage der Meſſe erörtert. Man fühlte allgemein, daß um dieſen Angel⸗ 
punft des ganzen Kultus fi alles Abrige drehe. BVeſonders zeichnete fich der 
Komthur Schmid von Küßnach nächſt 3. aus, Aber feine Warnung vor ober 


Saingii. 403 


fläͤchlicher Auffaſſung der tief Hegenden Gegenjäge und vor bräsfer Ueberſtürzung 
faud wenig Beifall Indeſſen machten fid) damals ſchon einige Schwarmgeifter be> 
merklich, deren zügelloſem Eifer ‚felbft der rüdfihtslos fcharfe 3. nit genügte. 
Der Rath ließ die gemalten Zafeln der Kirchen verfchließen und geflattete ben 
Geiftlichen, vie Meſſe einzuftellen. Den Prebigern wurde eine Anleitung gegeben, 
wie fie fi) zu werhalten haben. Diefe Anleitung war von einen aus @eiftlihen 
und Weltlihen gemifhten Kommiſſion bearbeitet worden. In ben Religionsgeſprä⸗ 
hen war die Anlage zu einer Kirchenſynode, in biefer Kommilfion der An⸗ 
fang eines Kirche nxathes fühtbar geworben. Die Einleitung zur Öeflaltung einer 
neuen reformirten Kirche war damit gegeben. Mit Berufung auf die Auto⸗ 
rtät des „Osttesworts” wurde bie Umgeftaltung der Kirche durch die Näthe ber 
Stadt vollzogen, in liebereinfimmung mit ber Auslegung der „Leutpriefter”, vor⸗ 
zäglich Z.'s, and nnter dem Beifoll der .öffentlihen Meinung zu Stadt und Laub. 
Das Jahr 1524 bezeichnet dem entſcheidenden Wendepunkt, indem nun bie fleg- 
reich gebliebene Lehre in bie Praxis eingeführt wurde. Es war das ein fühnes 
Borgehen Züriha, zumal in der Eingenofienfchaft Zürich damals ganz allein ſtand. 
Die übrigen Stännde mahntn ben Vorort eruftlih ab und waren entichloffen, 
„sen wenen Unglauben“ auch ba gewaltſam zu unterbrüden, wo fle mit Zürich 
gemeinfam die Herrſchaft beingen, wie in ven gemeinen Bogteien. Aber geiftig 
fühlten fih die Zürcher allen Andern überlegen. Die von 3. verfaßte „chriftliche 
Antwort”, welche der Rath (18. Aug. 1524) an den Biſchof und an die eidge⸗ 
nöffhen Orte richtete, vertheipigt die Abſchaffung ber Bilder und des Mefopfers 
mit dem „hellen Wort Gottes” wider bie Menfchenfagungen. Die Bibel ward in 
allen Familien eifrig gelefen, wit ihren Sprühen wußte Jedermann zu fedhten. 

Die geiſtige Zuperficht, mit welcher bie Reform in Zürich vurchgeführt wurde, 
beruhte vorzäglid anf der damals zuerft geübten Methode ber Berathung und 
Entfheitung, die in dem Mepräfentativfuften ver heutigen Zeit eine ernenerte 
Geltung gefunden bat. Jedes Mal ging ein geiftiger Kampf in öffentlicher Ver⸗ 
ſammlung vorans, die Parteien vertraten da ihre Meinung: bie Gelehrten diſpu⸗ 
tirten mit einander. Dann erklärte fi die Verſammlung, weldye Meinung fie für 
begründet erachte. Run erft faßte ver Rath als Obrigkeit feine Beſchlüſſe. In den 
wichtigen Dingen wurbe überdem mit ben Gemeinden bes Landes verhandelt 
teils Durch perfönliche Botſchaften, theild durch gebrudte Berichte. Auch vie Ge⸗ 
meinden äußerten hinwieder dem Rathe ihre Meinung. So gingen bie geiflige 
Erörterung und die Bildung einer öffentlichen Meinung voraus; dann folgte bie 
That. Dasſelbe Berfahren wurde wie in kirchlichen, fo aud in politiihen Fragen 
zur Anwendung gebracht. Vom Geifte aus wurbe das gemeinfame Leben beftinmt. 
Über es war doch nit bie ungebildete Maſſe, welche entſchied, ſondern bie ge 
wählte in Wahrbeit zepräfentetive Verfamlung ber Räthe, beſonders der Rath 
der Zweihundert, die „chriftliche Obrigkeit”. Imfofern entſprach das bamalige 
Berfahren ven Ideen ber vepräfentativen Demokratie. 

Die Schwierigkeiten und Gefahren dieſer Reform waren nicht gering. In 
den Widertäufern zeigte ih eine Sekte von rabilalen Ipealiften und Eiferern, 
welche die abfralten Gedauken ver Reformation unbelümmert um bie realen Ver⸗ 
bättnifie einfeltig auf bie Spige trieben und dadurch die ganze Staats⸗ und Rechts⸗ 
ordnung mit Umſturz bedrohten. Sie zu belehren war unmöglich; ver Rath ſah 
fi zuletzt doch gemäthigt, fie gewaltfam zur Unterordnung zu zwingen. Sogar 
eine grauſame Verfolgung derſelben ſchien nicht zu vermeiden. 

Ueberdem wurben auch die Leidenſchaften der unterm Klaflen aufgeregt. ‘Den 


26 * 


404 Swingli. 


Bauernaufftaͤnden in Deutſchland entſprachen ähnliche Bewegungen in vielen Land⸗ 
gemeinden. Den Banern gegenüber benahm fi der Rath mit großer Weisheit 
und Kraft. Es wurden wefentlihe Berbefferungen eingeführt, auch die Leibeigenfchaft 
wurbe anfgehoben. Zugleich wurben bie Leute belehrt über die Nothwendigkeit, bie 
Rechtsordnung zu handhaben. Es gelang den friedlichen, durch vie Ausſicht auf 
ernftere Maßregeln geftärtten Mitteln, den ſchwankenden Gehorſam neu zu befeftigen, 

In allen dieſen Dingen wirkte 3. auch politifh ein. Er war der Berather 
ber Obrigkeit in Kirche und Staat. Zahlreihe Erlaſſe nnd viele neue Ordnungen 
im Armenwefen, in der Bildung neuer Ehegerichte, im Schulwefen u. f. f. find 
von Ihm angeregt ober mit feiner Beihülfe zu Stande gekommen. Ex bemädhtigte 
fi immer entſchiedener auch der politifchen Leitung. Die Gegner der Reform ver- 
brängte er ganz aus dem Engern Rath. Nur ſolche Männern follten gewählt 
werben, welche „zu bes Derren Tiſche gehen”, d. h im Gegenſatze zu der fa 
tholiſchen Meſſe au dem reformirten Abendmahl Theil nehmen. Der reformirte 
Glauben galt als Bedingung der amtlihen Wirkſamkeit. Zur oberften Leitung 
ward ein „beimlicher Rath" berufen. Da wurde die äußere Bolitit entſchieden und 
auch da wurde 3. als Berather zugezogen. Selbft Irtegerifhe Plane waren ihm 
nicht fremd. Er hielt es für nothwendig, daß bie Reform nit bloß in der Eid- 
genoffenfhaft behauptet, fondern durch viefelbe fiegreich durchgeführt werke. Da, 
wo ſtaatliche Mächte ald Feinde gegenüber ftanden, da konnte nach felner Mei- 
nung jene geiftige Methode nicht durchdringen, da mußte das kriegeriſche Schwert 
zu Hülfe kommen. An den Gedanken einer evangeliſch⸗kirchlichen Reform ſchloß 
fi der andere Gedanke an einer politifhen Reform der Eidgenoffenfcaft. 
In den Städten vorzäglih Hatte die Kirchenreform die größten Fortſchritte ge⸗ 
macht, die inneren Länder bielten fefter an der herkömmlichen Kirche. 3. wollte 
jenen das Uebergewicht verfhaffen. Dem katholiſchen Bündniß der V Orte, vie 
fih überdem mit König Ferdinand von Ungarn, Erjberzog von Oeſterreich, alltirt 
batten, trat Zürih im Bunde mit Bern entgegen. 3. drängte zum entſcheidenden 
Krieg. Es gelang ihm, die Zürcher zum Ausmarſch wider die fchledht vorbereiteten 
Eidgenofjen zu beftimmen: aber er konnte es nicht verhindern, daß der Friede 
vermittelt wurde. Allerdings war ber erfte Kappelerfriede vom 24. Juni 1529 
der Reform gänftig. Uber nun hatten auch die Gegner Frift gewonnen, ſich befler zu 
rüften. Die Frage war nicht entſchieden, obwohl der katholiſche Bund mit dem dfter- 
reichiſchen Fürften aufgegeben wurde. Nun unternahm es 3., aud durch Bündniſſe 
mit auswärtigen Fürften die ſchweizeriſche Reform zu ſtärken. Seine Unterhandlungen 
griffen nah Venedig, nad Frankreich, nadı Dentſchland Über, Es follte eine große 
proteftantifche Alltanz wider den Kater gebildet werden, zum Schug und zur Aus⸗ 
breitung der Reformation, Mit dem Landgrafen Philipp von Heffen war 3. ein 
Hauptführer dieſer Beſtrebungen. Auch Züri trat dem ſchmalkaldiſchen Bunde bei. 
Um viefelbe Zeit ſprach fih 3. auch Über feine Staatsidee näher aus in 
einer Zuſchrift an die reformirten Städte der Schweiz. Nach Art der Alten ver- 
gleiht er die drei Hauptformen der Monarchie, Ariftofrattie und Demokratie. Ge- 
gen die Monarchie hat er weniger ein ideales als ein praktiſches Bedenken. Gr 
hält fie für die beſte Staatsform, wenn wirfli der Beſte Monarch fet, aber er 
findet, daß die Nealität felten viefer Anforderung entſpreche and erfahrungsmäßtg 
die Monarchie oft in Despotle ausarte. Die Demokratie iſt ihm zu roh, zu un 
geiftig, er fürchtet, daß fie zu leicht in Anarchie ausarte. Sein Ideal iſt die Arl« 
ftofratie de8 Geiftes und Charakters. Seine Darftellung beweist, daß er auf dem 
Wege war, den Staat ald einen organifchen Körper zu begreifen. Es heißt in dem 


Swingli. | 405 


Schreiben: „Nicht die Ariftofratie meine ich, welche die unorbentliche Gewalt iſt 
einiger Weniger, bie über die Republik bergefallen find, noch bie Gewalt eines 
bloßen Volkzausſchuſſes, fei er aus Wahl oder aus Zuftimmung hervorgegangen, 
noch eine hauptlofe Gewalt (das alles verdient den Namen der Dligarhie, der 
entarteten Ariftofratie), jondern ich meine die georbnete Macht der Beten, welche 
auf dem Willen des Volks beruht und zugleih von der Würde des durch gemein» 
fame Erwählung beftellten Hanptes geleitet wird, etwa in dem Sinne, wie das 
bei Euch, ihr Bürger, Herlommen iſt. Zuerft nämlich werden in den Zünften Bor« 
fteher erwählt, weiche Zunftmeifter heißen, und nad ihnen ſodann ber ganze Rath 
(Senat), oder ver Rath wird auch von der Gemeinde felbft gewählt. Bei dieſen 
Bahlen flieht man aber auf die Verftänpigften und Beten, weßhalb dieſe Ver⸗ 
fofjung nicht mit Unrecht Herrfhaft der Beften (Ariftofratie) heißt. Sodann wer: 
den Räthe in zweiter Linie gewählt, vie Glieder der Großen Räthe, vie bie 
Zweihnndert, Dreibundert, Bierhundert, je nach Ihrer Zahl, genannt werben. 
In dritter Linie beftellen entweder die Kleinen nnd die Großen Räthe vereint, 
oder das ganze Bolt das hohe Amt deſſen, der die Geſchäfte leitet nnd auch den 
Räthen vorlegt, den die einen Konful (Bürgermeifter), die andern Diltator nen- 
nen. Ein fo georoneter Staat iſt allerdings aufs Beſte geordnet. Vorerſt nämlich 
bat er einen Obern, gleihfam einen Mund (08), der aber ſich felber nicht zu viel 
berausnehmen kann, weil das Anſehen und vie Macht des Senates ihn daran 
bindern; denn bei dieſem iſt die eigentlihe Gewalt und Herrfhaft. Ferner bat 
ein folder Staat Kopf und Bruft (caput et pectus), den Senat und den Großen 
Rath, fo daß jede Sache nicht allein mit Weisheit, fondern auch mit Muth be= 
trieben wird. Endlich bat er das gemeine Boll, welches duch alle Bande der 
Nothwendigkeit mit den Beamteten und den Räthen verbunden iſt.“ 

3. beſchäftigte fih In ver legten Zeit feines Lebens wieder fehr mit prakti⸗ 
fer Politit. Die merkwürdige politifhe Denffchrift, weldhe er Über die Lage ber 
Eidgenoffenfhaft verfaßte, enthält ven Plan einer vollftändigen Neugeftaltung ber 
Schweiz, mit Zürich und Bern als Häuptern. Den fünf Orten wird vie Fähigkeit zu 
regieren abgeſprochen. Es fol ihnen daher ihr Antheil an den gemeinen Herrſchaften 
entzogen und auf die beiden Städte Übertragen, und fie ſelber biefer Herrſchaft unter« 
geordnet werben. „Wer nicht Herr fein kann, dem ift es billig, daß er Knecht ſei.“ 

Indeß dieſe hochfahrenden Pläne, vie nicht frei find von Selbſtüberhebung, 
waren nur in einem flegreihen Bürgerkrieg durchzuführen. 3. wollte viefen, aber 
fogar in Züri überwog eine weichere Stimmung, welde Biutvergießen fcheute 
und meinte, mit Maßregeln der Sperre den Trotz der katholiſchen innern Schweiz 
zu brechen. Im Unmuth über viefe Schwäde hatte 3. fogar feine Entlaffung an⸗ 
geboten. Die Sperre reizte nur zu erbitterter Gegenwehr. Es kam dod zum Kriege 
und nun unter Umftänden, die für Zürich ungünftig waren. In der Schlacht von 
Kappel 11. Oft. 1531 wurde das Zürcheriſche Heer aufs Haupt gefchlagen und 
3. felber fam ums Leben. Seine politifchen Plane wurden auf Jahrhunderte hin 
vertagt, bis fie In neuer Geflalt in unferm Jahrhundert wieder erftanden. 

Titeratur. Zwinglis Werke, herausgegeben von Schuler und Schultheß. 
Zürih 1828 fi. I. I. Hottinger, U. Zwingli und feine Zeit. Züri 1842. 
Bluntſchli, Geſchichte der Republif Züri. Zweiter Bant. Züri 1847. Möri- 
tofer, U. Zwingli. Erſter Theil. Leipzig 1867. Spörri, Zwingli-Stubdien. 
Leipzig, 1866. Biuntfän. 

Zwifchenherrfchaft, |. Staatsoberhaupt. 


Nachtrag 


zum 


Deutichen 
Stants-Wörterbuch 


Band I—XI. 








Den Hanptinhalt dieſes Nachtrages bilden 1) Artikel, welche feinerzeit zuräd- 
geftellt und dem Nachtrage vorbehalten wurden, 2) geſchichtliche und. ftatifitfche 
Ergänzungen zu früheren Artikeln. 


Aegypten. 


(Nachtrag zu Band I S. 82. 


Der Zuſtand dieſes Landes iſt ſeit der Zeit Mehemed Ali's im Wefenflichen 
unverändert geblieben, aber ber fortſchreitende Bau des Suezkanales bereitet ges 
waltige Yenderungen vor. 

Die Bevölkerung Wegyptens wird vom Bicelönig unumfchränft beherriht und 
rädfichtelos ansgebeutet. Derfelbe if in WYolge der von Mehemed Ali gewaltfam 
burchgeführten Maßregeln ver weitaus größte Grundbeſitzer des Landes und da⸗ 
durch, wenn auch nicht mehr ber gefegliche, doch Immer noch der thatfählihe In- 
baber eines Monopols für den Handel mit den wichtigſten Landesprodukten. Die 
im J. 1829 und bann wieder 1843 von Mehemed Alt einberufenen Berfanm- 
Inngen von Repräfentanten des Bolfes, wie das vom jetigen Vicekönig Jomael 
tm Roveinber 1866 ertheilte Berfafjungsftatut, dem neuerdings eine Art Nepräfentan- 
tenverfanumlung folgte, waren jelbftverftändlich. theils bloße Spiegelfechtereien, auf 
das europälfche Publikum beredynet, theils follten fie den Zwed erfüllen, die Steuern 
leiter eintreiben oder leichter erhöhen oder endlich Anlehen mit größerer Ausficht 
auf Erfolg einleiten zu können, was allerbings an die Genefis enropätfcher Ber- 
faffungen eriunert. Die Bevölferung ift arm und wirb vom Bicefönig auf bie 
unbarmberzigfte Weife ausgefaugt. Dabei iſt die Sicherheit fr Hanbel und Wandel in 
Aegypten feit den Tagen Mehemed All's eine viel größere als in ber übrigen 
Türkei und die Beamteten bis hinab zu den Dorfvorftehern werden vom Bice- 
Lönig und feiner Regierung in viel firengerer Abhängigkeit und Zucht gehalten, 
als dies dem Sultan bisher gelungen iſt, deſſen Einkünfte für die Verwaltung 
tes Reihe, für Heer und Flotte wie für feine eigenen Bedürfniſſe erft in feine 
Hände kommen, nachdem ein guter Theil davon in ben Händen ber Provincial⸗ 
paſchas geblieben if. 

Zu ganz befonderem Bortheile ſchlug ber Bürgerkrieg im ben Vereinigten 
Staaten für Aegypten aus: bie fhon von Mehemed Uli begänftigte Kultur der 
Baummolle nahm in Folge der plöglichen Unterbrehung des bisherigen Bezuge 
der Baumwolle aus den norbamerilanifen Südſtaaten alsbald in Aegypten einen 
ungehenren Auffchwung, und wenn auch der Preis feit ber Beendigung jenes Kriegs 
wieder, und zwar ſehr bebentenb geſunken ift, fo ſcheint fih der Bedarf doch 
nit wefentlich vermindert zu haben und fichert Aegypten Immerhin auch ferner 
noch eine fehr bedeutende Rente. 

Schon vorher aber fteigerte fich die Bedeutung des Yandes durch die wieder zuneh⸗ 
mende Wichtigkeit vesfelben als Verbindungsglied zwifchen Europa und Afien durch bie 
allmälige Wiederaufnahme des alten Handelsweges nad dem Orient über die Landenge 
von Suez und das Unternehmen des Su ezkanales. Das Projekt eines ſolchen 
Kanals tauchte ſchon in den Anfängen des alten ägyptiſchen Reiches auf, wurde 
jpäter wirklich ausgeführt und unter den Btolemäern ein den vamaligen Berhäftnifien 
entipreddender Bau vollendet. Allein feit dem 8. Jahrhundert nah Chriſtus war 
ber Kanal fo gänzlich verfandet, daß die durch Ihn bewirkte Verbindung zwiſchen 


410 Nachtrag. 


dem Weiten und DOften völlig unterbroden war und durch ben Einbruch der Tür⸗ 
ten wurde ber Verkehr auf ber Landenge überhaupt fo fehr erfchwert, daß be- 
kanntlich barin einer der hauptſächlichſten Anftöße für die Anffinnung des See⸗ 
wegs um das Kap der guten Hoffnung gefunden zu werben pflegt. Erſt nad) vier 
Jahrhunderten wurbe vie Landenge von Suez nenerbings ernftli ins Auge ge- 
faßt. Bonaparte ernannte zur Zeit feiner ägyptiſchen Erpebition eine Kommilfion 
zur Unterfuhung der Niveauverhältgifle. Ihr Outachten Iautete jedoch gegen bie 
Ausführbarkeit eines ſchiffbaren Kanals zwiichen beiden Meeren, weil die Kom⸗ 
miffion auffallender Weife die Niveauunterfchiebe für allzu bedeutend eradhtete, viel 
bedeutender, als fie in Wahrheit find, wie im I. 1841 durch barometriſche Bermeſ⸗ 
fungen englifcher Offiziere dargethban wurde. Diefe fpätere Richtigſtellung der Sach⸗ 
lage war um fo bebeutfamer, als der Verkehr fon zuvor begonnen hatte, dem wach⸗ 
ſenden Bedürfniſſe folgend und von ben Verfehrömitteln der nenen Zeit umterftügt, 
ganz allmälig, aber auch ganz entfchieben den alten Weg wieber aufzunehmen. Schen 
Mehemed Ali hatte die Straße von Alerandria über Kairo nad Suez bergeftellt und 
fpäter kam dazu and ein ZTelegraph nad damaligem Syſteme. Seit 1884 beſtand 
eine Berbindung von Indien bis Suez durch Paletvamıpfboote und ihr entſprach eine 
gleiche von Yieranprie nad) England; feit 1839 wurbe das engliſche Poftfelleifen über 
ben Iſthmus transportirt. Zehn Iahre fpäter wırrde der Plan einer Eifenbahn von 
Alexandria über Cairo nah Suez entworfen, die ſeit längerer Zeit vollſtaͤndig im 
Gang ifl. Der Perfonenverlehr hat ven Weg um das Kap bereits faft vollflän- 
dig anfgegeben und geht fo zu fagen ausſchließlich Aber ven Ifihmus, zugleich aber 
bat er fi) ia Folge der Erſparnng an Zeit und Geld mächtig gehoben. Aeghp⸗ 
ten zieht daraus einen doppelten Vortheil, ven bireften materiellen und einen nicht 
minder wichtigen inbirelten, indem es mehr und mehr in ben gewaltigen Strom 
der emropätihen Entwicklung bineingezogen wird. 

Für ven Waarenverkehr blieb jedoch trog der Erleichterung des Landwegs 
durch die Eifenbahn der Seeweg ber weitaus wichtigere. Ohne einen Kanal und 
zwar einen folhen für große Segelſchiffe war nicht daran zu denlen, biefen Ver⸗ 
kehr wieder in bie alte Gtraße zurüdzuleiten. Aber and daran wurbe nun, wie 
gejagt, ernſtlich gedacht und zwar zunähft von Seite der Tranzofen, deren Politil 
nach biefer Seite in dem Beſtreben gipfelt, das Mittelmeer wo nicht zu einem 
ausſchließlich, vo zu einem überwiegend franzöfiihen Binnuenmeer zu machen. 
Die enge Verbindung mit Aegypten unter Mehemed Ali, tie Frankreich im I. 
1840 an ven Rand eines Krieges mit dem gefammten Übrigen Europa führte, 
ſchien feine Plane zu erleichtern. Im I. 1846 bildete fih eine Geſellſchaft von 
franzöfijgen, engliihen und öfterreichifchen Banquiers, vie im folgenden Jahre das 
Terrain des Iſthmus von Suez durd drei denfelben Mationen angehörige Inge 
nienre von enropätfhen Namen, Stephenfon, Zalabot, Negrelli, unterfuchen und 
die ſchon vorher erfannte Rivenugleichheit des mittelländiſchen und bes rothen 
Meeres Eonftatiren ließen, womit die Möglichkeit eines Kanals feftgeftellt war. 
Die englische Regierung und mit ihr die öffentlihe Meinung Englands nahm 
bald eine abgeneigte und fogar feindſelige Stellung zu dem Unternehmen ein. 
Nicht daß England deſſen kommerzielle Bedeutung für feinen gefammten Handel 
nah dem Oſten ober deſſen politiiche Wichtigkeit für vie fehnellere Berbindung 
mit feinem indifcgen Reiche verfannt hätte, im ©egentheil, es ſchlug die Bedeu⸗ 
tung desjelben fo hoch an, daß es die Hand zur Ausführung nur dann zu bieten 
geneigt war, wenn der Schläffel zu ber neuen Waſſerſtraße, ver Iſthmus ven 
Sue, entweber ihm ſelbſt, oder doch keiner andern europälfchen Macht zufiel. 


Acaypten. | 411 


Das eine mar aber nicht ver Fall mad auf das anbere konnte es mit Sicherheit 
allerdings nicht reinen. Seit ber ägyptiiden Eppedition Bonapartes hatte Franuk⸗ 
reich Aegypten mie mehr aus dem Angen gelafien, fein Einfluß iu Kairo war ber 
entſchieden bominirende und auch jetzt war es vornehmlich Frankreich, das die 
Idee einer Durchſtechung des Inhmus von Suez aufnahm und ins Leben zu 
führen verſuchte. Im Jahr 1856 verftändigte fi ber franz. Generalkonſul Fer⸗ 
dinand v. Leflepe mit dem wenige Monate vorher erft zur Regierung gelangten 
Bicelönig Said, das Unternehmen im größten Style in die Hand zu nehmen, 
indem ver Bicelönig fich bereit erfiärte, dasſelbe nicht bloß als Landesherr, ſon⸗ 
bern aud als Privatınann mit einer fehr weitgehenden finamziellen Unterflügung 
zu fördern, Im Mai 1855 erließ Said einen Ferman, durch welchen Leſſeps be- 
vollmächtigt wurde zur Errichtung einer aus Kapitalifien aller Nationen gebilde⸗ 
ten Wtiengefellihaft. Bor allem mußte die öffentlihe Meinung gewonnen werben 
und zu biefem Ende gelang es Leſſeps, eine große internationale Kommiſſion aus 
den tücdhtigften Ingenieuren Frankreichs, Englands, Preußens, Oeſterreichs, Italiens, 
Hollands und felbft Spaniens zu bilden, welde zu Enbe des I. 1855 bie Frage au 
Drt und Stelle prüfte und ſchließlich ihre Meinungsäußerung dahin abgab, daß 
ber Durchſtechung der Landzunge felbft Fein befonveres Hinderniß entgegeuftche, 
daß aud die Anlegung der Häfen an den beiden Endpunkten feine ungewöhnli- 
hen Schwierigleiten varböte und daß zur Ausführung vie veraufchlagten 200 Mill. 
Br. wirklich genügen dürften. Das Ieutere, fowie die weitere Annahme, es werbe 
ein Zeitraum von 6 Jahren zur Vollendung genügen, berubte indeß auf ber 
Borausfegung, daß der Bicelönig der Geſellſchaft für diefe Zeit etwa 20,000 Fel⸗ 
lahs als Arbeiter gegen eine ſehr geringe Entſchädigung für ſolchen Frohndienſt 
zur Berfügung ftelle Darauf hin ertheilte der PVicelönig am 5. Januar 1856 
Leſſeps die förmliche Konceffion und genehmigte die ihm von bemfelben vorgeleg- 
ten Statuten für vie zu bildende Geſellſchaft. 

Englaun bie t fi ferne, uud feinem Einfluffe mar es zugufchreiben, daß der 
Sultan mit der ihm vorbehaltenen Genehmigung vorerſt zurüd hielt. Defto ent- 
ſchiedenere Unterftügung fand Lefleps von Seite der franzöſiſchen Regierung, bie 
offenbar Hinter ihm ſtand und ihn auf jede Weile — wenn auch allerbings aus 
politiſchen Gründen und namentlih aus Rüdfichten für England, nur indirelt — för- 
derte, währen» binmwieber dieſes ans Nüdficht für Frankreich dem Unternehmen 
nicht geradezu offen entgegen trat, Die Aktiengeſellſchaft kam wirklich zu Gtande, 
bie geforderten 200 Millionen wurden gezeihnet, hauptſächlich aus franzöfifchen 
Mitteln und das Werk konnte im I. 1858 beginnen. Doc, zeigte fih ſchon in 
den’ erften Jahren, obwohl vom Bicelönig bie erforderliche Arbeiterzahl geftellt 
worden war, daß bie prältminirte Summe keineswegs ausreichte. Mittlerweile 
farb Said Paſcha, der große Gönner des Unternehmens (1868) und ihm folgte fein 
Bruder Ismael, der europäiſchen Anfhauungen und europätfchen Einflüffen weni- 
ger zugänglih und wenig geneigt war, ohne weiteres in die großen Berbinplich- 
leiten einzutveten, die ſein Borgänger bezügli des Suezlanald eingegangen hatte, 
Am 6. März 1863 erließ die Pforte, faum ohne vorheriges Einverftännnig mit 
bem Bicelönig fowohl als mit dem Geſandten Englands, eine fehr einläßliche 
Depeſche an ihre Vertreter in London und Paris, in welder fie ihr Bebauern 
darüber ausſprach, daß eine Verſtändigung der beiden großen Seemädte England 
und Franfreid über die Suezlanalfrage nit zu Stande gelommen fei, und bie Ar⸗ 
beiten vorrüdten, ohne daß die damit verfnüpften internationalen Tragen vorher 
gelöst worben wären. Es wurben fobann die beftimmten Forderungen formulirt, 


419 Nachtrag. 


ohne deren Erfällung von der Pforte die Fortſetzung und Vollendung bes Wer⸗ 
tes wenigſtens in der bisherigen Welfe und in den bisherigen Händen nicht 'ge- 
flattet werden köönne. Diefe Forderungen waren: erſtens die Neutralifirung des 
Kanals durch eine internationale Garantie, wie dies bezüglich des Bosporus der 
Hal ſei; zweitens die Befeitigung der Frohndienſte, die von 20,000 Fellahs trog 
der Aufhebung ver Teibeigenfchaft geleiftet würden; brittens ber Verzicht der Suez⸗ 
kanalkompagnie auf das ihr durch den Vertrag mit dem Bicelönig zugeficherte 
Eigenthum an ven Ländereien zu beiven Seiten ber in Berbindung mit dem Hanpt- 
anal angelegten Sühwaflerlanäle „Denn dadurch, meinte die Pforte, würben bie 
Städte Suez, Timſah und Said, fowte die ganze Grenze von Syrien in bie Hände 
einer anonymen Geſellſchaft fallen, welche, größtentheild aus Fremden beſtehend, 
ber Gerichtsbarkeit und Autorität weder Aegyptens noch der Pforte, fondern ihres 
refpeftiven Landes unterworfen wären; ja es läge nur an ber Geſellſchaft, an 
biefen wichtigen Punkten bes osmanifchen Territoriums geradezu Kolonien anzule⸗ 
gen, die vom Bicelönig wie vom Sultan faft unabhängig fein würden." Der 
Bicelönig, welchen, unter den ihm zuſagenden Bedingungen, die Ausführung bes 
Unternehmens immerhin wünſchenswerth fein mußte, eröffnete neue Unterhandlun⸗ 
gen mit ber Pforte einerfeits, mit der Geſellſchaft Leſſeps reſp. Frankreich ander⸗ 
feits, wobei natärlih England nicht unberädfihtigt blieb. Schließlich verſtändigte 
man fih im Weſentlichen, wie es ſcheint, allfeitig und beſchloß, die Verſtändi⸗ 
gung in der Form eines Schiedsſpruchs durch den Kaiſer Napoleon ausſprechen 
zu laſſen. Napoleon übernahm dieſe Aufgabe und erließ feinen Schievefprub am 
2. Auguft 1864. Derfelbe ging dahin, daß die Sueztanalgefellihaft wirklich auf 
die Frohndienſte der Fellahs und anf den Anſpruch der ihr augeficherten Lände⸗ 
reien, foweit fie nicht für die Herftellung und den fpäteren Betrieb des Kanals 
felbR durchaus nothwendig waren, verzichtete, der Vicekdönig ihr dagegen als Ent 
(Yädigung die Summe von 84 Mil. Fr. in Raten zu bezahlen hatte. 

Der Vollendung des Werks fanden alfo inſoweit feine Schwierigkeiten mehr 
tm Wege. Dod rüdte es langſamer vorwärts, als urfprünglid angenommen wor⸗ 
ben war; erſt im J. 1867 wurde wenigftens ver fog. Meine Kanal fertig und 
gelangte wirklich auf demſelben ein öſterreichiſches Schiff, das einem Trieftiner 
Rheder angehört, aus dem mittelländifchen ins rothbe Meer. Die Vollendung des 
Hauptlanals, der eine Breite von 100 und eine Tiefe von 8 Meter erhält, fteht 
noch dahin; indeß hatte die Gefellfchaft die nothwenpigen Fonds im Herbſt 1868 
bereits zum größten Theil aufgebradt. Es würde hiemit allerdings für den Süpoften 
Europas eine ganz neue Wera des Handels und Berkehrs beginnen, bie nicht ohne 
mächtige Rückwirkung namentlich auch auf Deutichland bleiben könnte, zumal jegt auch 
die Brennerbahn eröffnet ift, fomit der Wieverherftellung des alten Verkehrsweges 
au von biefer Seite nichts mehr im Wege fteht. Der Hauptvortheil würde na» 
türlich Aegypten zufallen, deſſen politiſche Wichtigkeit dadurch unberehenbar geſtei⸗ 
gert werden müßte. England aber vertennt keinen Augenblid, daß feine Interef- 
fen dabei in erfter Tinte betheiligt find und wenn die öffentlihe Meinung in Enge 
land, das bisher aus guten Gründen die Hauptftüge der Erhaltung des türkiſchen 
Neiches In feiner Integrität war, fich in neuerer Zeit der Einfiht nicht mehr 
verſchließt, daß dieſe Integrität auf die Dauer unmöglih erhalten werben fann 
und daß die einzelnen Glieder des Neichs fih mehr und mehr, Schritt vor Schritt 
von demfelben loslöſen, fo bat e8 die englifche Prefie doch im neuefter Zeit aufs 
entfehlevenfte ausgefprodhen, daß England bei einem eventuellen Zufammenflurz 
des Osmanenreichs wenigſtens bezüglich einer Frage entſchieden nicht nentral blei⸗ 


Baden. 413 


den Lönute umd nicht neutral bleiben würde, und dieſe Frage iſt das Schichſal 
eghptens. 

Auch Aegypten hat übrigens die Verlegenheiten der Pforte, mit denen dieſe 
in Folge des kretiſchen Aufſtandes ſeit Anfangs dea J. 1867 zu kämpfen hatte, 
gleich wie Rumänien, wie Serbien, wie Montenegro benützt, um ſich unabhängiger 
zu ſtellen und bat im Juni 1867 eine Reihe von Konceſſionen in Form eines 
faiferlichen Fermans erzielt, der dem Paſcha u. a. and von Seite ver Pforte ven 
förmlichen Titel eines Bicelsnigs gewährte, welden ihm dieſe bisher verweigert 
und Europa nur aus Gourtoifle ertheilt hat. 


Baden. 


(Rahtrag zu Band I ©. 631.) 


A. Geſchichte, Stanatsreht und Bolitit. Die katholiſche Hier 
archie hatte im Süden von Deutfchland durch ihr principielles und Tonfequentes Bor» 
geben während ber Realtionsperiode der Yünfzigerjahre eine Reihe von Vortheilen 
erlangt Aber die principlofe, unſicher taftende und Inghlige Staategewalt. Wie zuvor 
in Defterrei$ und in Würtemberg gelang es ihr, ihre Weberlegenheit durch 
Kontorvate (f. diefen rt.) zu befeftigen. Mit Baden wurde zu Rom das Konkordat 
vom 28. Iuni 1859 abgefchloffen, und fowehl von dem Papſte als dem Groß» 
berzog beftätigt. Indeflen erregte der Inhalt dieſes Konkordates ſowohl bei ber 
proteftantifhen Bevölkerung als bei den liberalen Kathelifen fo ernfte Bedenken, 
daß deſſen Bollziehung in Frage geftellt wurde und die gefeglihe Mitwirkung 
der Kammern nit umgangen werben konnte. Nach, zweitägigem Kampfe erklärte 
fih die zweite Kammer am 29. Mär) 1860 gegen das Konkordat und der Groß⸗ 
berzog erflärte durch Proflamation vom 7. April, dag er keinen Verfafſungsſtreit 
wolle. Das Konfordat wurde aufgegeben, das Minifterum geändert und bie „Selb. 
ſtändigkeit der katholifchen Kirche” gefeglich georbnet. Es war das ein Wenvepuntt, 
fowohl der badiſchen als ver deutſchen Politif in kirchlichen und weltlichen 
Dingen. Das‘ neue Miniſterinum, Stabel (Iuftz), Lamey (Imneres) 
erhielt in von Roggenbach (Aeußeres) eine beventende Ergänzung. Nod im 
Jahr 1860 Tamen die kirchlichen Geſetze zu Stande, welche der Kirche volle 
Freiheit fiherten, aber den Staat vor der Demüthigung des Konkordates wahrten. 
Staat und Kirche follten frei fein, jeder Körper in feinem Gebiet. Es wurde nicht 
einmal für eine befondere Maßregel geforgt gegen UWebergriffe der kirchlichen 
Untorität. Man glaubte, es reichten dafür bie gewohnten Straf⸗ und Polizeigefege 
ans. In der That hatte es eine Zeit lang den Anſchein, ald ob durch die frei 
gebigen Zugeſtändniſſe des Staates an die kirchlichen Anſprüche ver Iangjährige 
Streit mit der Fatholifhen Kirche zur Ruhe gelommen ſei. Auch die proteftantifche 
Kirche erhielt nun eine nene auf die „freie Selbftthätigfeit ver Gemeinden“ gegründete 
Kirchenverfaflung, im Einverſtändniſſe zwiichen der Synode und dem lantes- 
bifhäflihen Kirchenregiment (5. September 1861.) 

Die Regierung wendete fih nun mit frendiger Entſchloſſenheit den eigentlich 
polttifchen Aufgaben zu. Der Großherzog ſprach In der Thronrede vom 30. Rovember 
1861 das Berlangen bes deutſchen Volkes nad einer feften und thatfählgen 
Drganifation aus, „welche Deutſchland zur Bertretung feiner Macht und feines 
Rechtes den Nahprud eines einheitlihen Willens verfchaffe und dadurch 
der Selbſtändigkeit der Einzelnftaaten zugleich eine unerſchütterliche Stütze verheiße.“ 
Beide Kammern erwieberten in Uebereinftimmang mit dieſem Gedanken. In einer 


% 


414 Nachtrag. 


Depeſche vom 28. Jamnuar 1862 fprad fi das badiſche Minifterium ansfährlic 
für die Bildung eines deutſchen Bundesflantes ans mit einheitlicher Bundesregierung 
und beutfhem Parlament, und gegen eine fonförberative Mitwirtung in ver 
oberften Spitze. 

Während die übrigen füppentfchen Regierungen, von Oeſterreich aufgeregt, 
eine heftige Oppofition gegen den franzöſiſch-deutſchen Handelsvertrag 
machten, erlärte ſich die badiſche Regierung für venfelben und verhinderte damit eine 
Abtrennung des Südens vom Norden. Zur Bermittlung ſchlug fie damals ſchon ein 
Zollparlament vor (Sept. 1862). Dagegen wiverfprach fie dem Berne, durch 
den Bundestag in Verbindung mit einer Delegirtenverfammlung die dentfche Ge⸗ 
feßgebung zu fördern, als einem Abweg van der nationalen Reform (Dez. 1862). 
Auf dem von Oeſterreich einberufenen Ficftentongreß in Sranffurt trat der Groß⸗ 
herzog von Baden ganz allein — im Abweſenheit des Königs von Preußen — dem 
öfterreichtfchen Reformprojelte bush ein wohlbegründetes Minoritätsvotum (1. 
Sept. 1863) entgegen. Iu der kurheſſiſchen Berfofiungsfrage uud in der 
ichleswig-holfteinifhen Brage nahm Baden, in liberaler und nationaler Richtung 
vorausfchreitend, eine hervorragende Stellung ein. Es gab Momente, in denen der 
Heine Staat allein die wahre Gefinnung ber deutſchen Ration erkannte und ausiprach. 
Über er beſaß die Macht nicht, diefer Geſinnung den durchſchlagenden Nachdruck 
zu geben, und Preußen, weldyes die Macht und den Beruf dazu hatte, ſchien damals 
durch den innen Berfafiungstonflitt zwiſchen Regierung und Bollsvertretung 
gehindert, viefe Aufgabe zu erfüllen. 

Auch im Innern war damals eine Zeit tiefgreifender Reformen. Die Ein⸗ 
führung der Gewerbefreiheit und eine neue Gewerbeordnung, die Er- 
teichterung der Niederlaffung, die bBärgerlihe Gleihftellung der Israe- 
liten, eine neue Gerichtsverfaſſung, ein Polizeiftrafgefeubud, vie 
Erweiterung des Eifenbahnneges, die Aufhebung des Lehenverbandes, 
und eine neue Berwaltungsorganifation (Aufhebung der Kreisregierungen, 
Erſatz durch Landeskommiſſfäre für vie SKreife, die zugleih im Minifterium 
bes Innern arbeiten, Errichtung von bürgerlichen Bezirtsrätben, Ausbildung 
der Berwaltunugsrehtspflege, Selbfivermaltung der gemeinfamen Intereffen 
durch die Kretisverfammlungen) bezeichnen vie Thätigleit des Landtages 
von 1861/62. Dazu kamen im Yandtag 1863/64 zahlreihe Juftizgefege: eine 
Revifion ver Strafprozeßorpnung, ein Geſetz über die Rehtsverhältniffe 
ber Richter, über das Verfahren in Boltzeiftraffahen, über die frei- 
willige Gerichtsbarkeit und das Notariat, die Richterbeſoldungen 
u. f. f., ferner ein Gefeg über die Aufſicht der Volksſchule durch Ortsfhuls 
räthe und Kreisfchulrätke. Tine von Bluntſchli beantragte Neuorganiſation 
der erfien Kammer wurde von biefer felbft gebilligt, kam aber in Folge ver 
deutſchen Umgeftaltung einftweilen nicht zum Vollzuge. 

Das Geſetz über die Aufficht ver Volksſchule gab der ultramontanen Partei ven 
Anlaß, den Streit mit dem Staate zu erneuern. Die Hierarchie war unzufrieden, 
daß nicht den Pfarrern vorzugsweife vie Aufficht übertragen und daß die Schule freier 
von kirchlichem Einfluß: geftellt wurde. Auch innerhalb der proteftantijchen Kirche 
ergriff die ortbopore Partei die Gelegenheit des Buches von Schenkel über das 
Charakterbild Jefu zu heftigen Angriffen auf die freiere Richtung in der Theologie. 
Wieder traten der kirchliche Eifer und Hader in dem Vordergrund und erfchütterten 
die Zuverfiht der liberalen Regierung, obwohl die Vollswahlen in ihrer großen 
Majorität gegen bie Ulteamontanen und Orthodoxen und für bie liberale Richtung 





Baden. 415 


ansfielen, Die Ausſcheidung von Roggenbach aus dem Diinifterium und ber 
Eintritt von Edels heims bedeutete auch eine Wendung im der deutſchen Politik, 
obwohl das anfangs geleugnet ward. Diefelbe näherte ſich ber mittelftantlichen und 
Öfterreihiichen Politik im Gegenſatze zu der nationalen und preußifhen. In dem 
entjcheidenden SKriegsjahre von 1866 wurde Baben in ba3.fündeutjch-öfterreichiiche 
Lager gedrängt. Die erponirte Lage, die ſüddeutſchen Sympathien, die ultramontane 
Unterwühlung und bie Leitung des Minifters des Aeußern führten dahin. Der Sieg 
Preußens hatte denn aud eine Umänderung des Minifteriums zur Folge, in das 
nun Mathy, Jolly und von Freydorff neu eintraten. Von da war 
der Anſchluß Badens an Preußen das offene Streben. Die Militärorganifation 
wurde nach preußifhem Buße ausgebildet, und am Schluß des Landtags 1867/68 
übernahm auch der preußifche General von Beyer das Kriegäminifterium. Nach dem 
Tode Mathys erhielt Jolly die Leitung des neu gebildeten Staotsminifteriums, 

Der Landtag 1865/66, der in bie kritifche Periode fiel, war wenig fruchtbar 
an bleibenden Werten, dagegen durch die Parteifämpfe bewegt. Auf dem Landtage 
von 1867/68 dagegen kamen die politiſchen Geſetze Über den erneuerten Frieden 
mit Preußen, die Erneuerung des Zollvereins nnd ver Zollvereins- 
verfaffung im Anfhluß an ven norbbeutfhen Bund, das Shug- und Trug- 
bündniß mit Preußen, über die Breffe, Vereingrecht, und die lange ver- 
geblih angeftrebte Minifterverantwortlichleit zu Stande. Ueberdem wurde 
ein umfaflendes Geſetz über die Volksſchule vereinbart. Endlich nahmen vie 
Finanz⸗ und Militärgefege und zahlreiche Motionen die Thätigkeit der Kommern 
in hohem Grade in Anfprud. 

Einige Mittheilungen aus den ſtändiſchen Rechenfhaftsberichten für vie Jahre 
1865 und 1866 (Kriegsjahre) und bie finanziellen Berbältnifie zu Ende des Jahres 
1866 mögen dieſen Nachtrag ergänzen. 

Das Jahr 1865 war noch gänftig. Die Staatsrechnung ergab einen Ueber- 
ſchuß, indem der Betriebsfond, der Ende 1864 8,748,727 fl. 36 fr. betragen hatte, 
Ende 1865 auf 9,709,248 fl. 25 fr. angeftiegen war. Dagegen die Staats⸗ 
rehnung des Kriegsjahres 1866 ergab eine Verminderung des Betrieböfondes auf 
8,025,159 fl. 12 fr. Die Reineinnahme des orbentlihen Etats Hatte 1866 um 
261,280 fl. abgenommen, und die außerorentlihe Ausgabe um 2,682,248 fl. 
zugenommen. Die Staatsfhulden vermehrten ſich überdem, hauptſächlich in folge der 
an Preußen bezahlten Kriegsentihädigung von 6 Millionen, um 5,383,506 fl. 21 fr. 
Die Staatsfhuld betrug Ende 1866, mit Einfluß einer unverzinslichen Schuld auf 
dem Domänen-Grundftod von 12 Millionen, 32,958,136 fl. 58 fr., ohne jene nicht 
völlig 21 Millionen. Dazu kommt aber bie verzinslihe Eiſenbahnſchuld, welche 
Ende 1865 über 831/, Millionen und Ende 1866 nahezu 94 Millionen betrug 
und bis zur Vollendung des Eifenbahnneges über 120 Millionen ausmachen wird, 
aber ihren Gegenwerth in dem rentablen Eifenbahnvermögen findet. 

In Folge der geipannten Militäreinrichtungen wurde für tie Jahre 1868/69 
das Ausgabebunget fehr erheblich erhöht, zugleich aber durch Steuererhöhung 
auch für dad Gleichgewicht der Finanzen geforgt, die fortwährend fi in einem 
gefunden Zuftande befinden und den Krebit des Staates fichern. 

B. Stattiftil, Die Bewegung der Bevölkerung zeigt fi feit 1852 in 
folgender Tabelle: | 


416 Nachtrag. 

Jahr. Geſammt-Lebende Knaben. Mädchen. Eheliche. Uneheliche. Topesfälle. 

bevolkerung. Geburten. bier die Todgeborenen ohne 
mitgezählt. Todgeborene 

1853. 1,343,084 42,828 21,695 21,133 37,918 6,566 34,695 
1854. 1,328,860 40,728 20,979 19,749 35,709 6,498 38,523 
1855. 1,314,837 38,119 19,762 18,357 33,465 5,985 34,110 
1856. 1,321,875 43,906 22,596 21,310 38,098 7,433 31,482 
1857. 1,328,915 45,004 23,092 21,912 38,786 7,866 34,665 
1858. 1,335,952 45,167 23,191 21,976 39,008 7,875 35,558 
1859, 1,347,065 47,977 24,620 23,357 41,195 8,607 35,534 
1860. 1,358,178 46,540 23,994 22,546 40,251 8,073 30,177 
1861. 1,369,291 47,067 24,319 22,748 40,672 8,061 36,039 
1862. 1,389,260 47,506 24,401 23,105 41,284 8,032 34,097 
1863, 1,409,229 50,726 26,191 24,535 44,091 8,429 36,054 

1864. 1,429,199 | 
1867. 1,434,699 


Bis zum Jahr 1855 dauert die Abnahme ver Bevölkerung, welche mit 1849 
begonnen hatte, fort. Bon da an zeigt fich wieder eine beharrliche Zunahme, bie 
bis zur Gegenwart (1868) fortvauert. Noch immer ungünftig ift das Verhältniß 
der unehelichen Geburten zu den ehelihen: 1 zu 5,48. Noch ungänftiger tft vasjelbe 
nur in Bayern 1 zu 3,6, Dettenbung 1 zu 3,7 und Deutfch-Defterreih 1 zu 
4,15 und fteht mit Sachſen 1:5,5. Würtemberg 1:5,5 und Großherzogthum 
Heflen 1:5,65 fo ziemlih auf Einer Linie. 

Als wahrfcheinliche Lebensdauer wird für Männer ein Durdfähnittsalter von 
35 und für Weiber von 37 Jahren berechnet; und die Sterblichkeit der Knaben 
im erften Jahre auf 28,2, mit Einrechnung ber Tobtgeborenen auf 31,10/, 
der Mädchen im erften Jahr auf 23,8%, beziehungweife 26,20%/,. Bon da an 
nimmt die Sterblichkeit raſch ab. Sie beträgt im zweiten Lebensjahr 3,97, 
im dritten 1,8, im vierten 1,22, und im fünften nur noch 0,90/,. Die Sterb- 
lichkeit nimmt ab bis zum fünfzehnten Jahre, wo nur O,200/, fterben. Dabei if 
es beachtenswerth, daß die Sterblichkeit der Kinder bei den Israeliten im erften Jahr 
auffallend geringer ift (17,50 0/,) als bei der chriftlichen Bevölkerung und etwas größer 
bei der katholifhen (27,83) als bei der proteftantifchen (25,08) Bevölkerung. Ebenfo 
unterfcheiven ſich die Konfeffionen in dem Verhältniß der ehelichen und unehelichen 
Geburten und offenbar ftehen beide Erfcheinungen in Innerem Zufanmenhang, 
indem bie Sterblichkeit der unehelihen Kinder weit größer ift als vie der ehelichen. 

Bei den Katholiten find 17,460/, der Geburten unehelich 

Bei den Proteftanten = 15,710), = „ . 0. 

Bel den Israeliten nur: 1,990), = - = « 

Es ift das ein fiherer Beweis, daß Familienzucht und Familienſorge bei ben 
Israeliten firenger und forgfältiger find als durchſchnittlich bei ven Ehriften. 
Das Bevndlferungsverhältnig der Konfeffionen war 


Proteftanten Katholiken Israeliten 

und Diſſidenten 
1867. 431,715 873,742 23,457 
1860. 444,033 890,225 23,920 
1863. 464,721 918,915 24,855 
1864. 472,946 929,860 25,234 








Bupern. | 417 


Fu den Städten hat die Bevölkerung in ven Teten Iahren mehr zugenommen als 
auf dem Lande. Dos Großherzogthum hat 114 Städte, welche 1861 zufammen 344,906, 
im Jahr 1864 aber 371,207 Einwohner zählten. Unter venfelben befindet ſich aber 
feine große Stabt. Die beiden größten find Mannheim und Karlsruhe, jene die erfte 
Handelsſtadt des Landes, dieſe die Refidenzftabt, beide wenig über 30,000 Seelen ftarf. 
Dann folgen Freiburg, Heidelberg und Pforzheim, mit einer Einwohnerzahl zwifchen 
16,000 und 24,000 Seelen; Bruchſal, Baden und Konſtanz erreichten 1866 noch nicht 
10,000 Seelen. Die große Mehrzahl der übrigen Stäbte iſt fogar unter 8000 Seelen. 


Bayern. 


(Nachtrag zu Band I S. 703.) 


Das Miniſterium Pfordten, deſſen der frühere Artikel am Schluſſe gedenkt, 
hatte die Aufgabe übernommen, einerſeits gegenüber den deutſchen Einheitsbe⸗ 
ſtrebungen das Sonderintereſſe des bayeriſchen Staates zu wahren, andererſeits 
das öͤffentliche Recht auf den im I. 1848 gegebenen Grundlagen auszubauen. 
So lautete wenigftend das Programm, mit welchem im Dat 1849 ba8 neue 
Minifterium vor die Kammern trat. Was es gethan bat, um den erften Theil 
feiner Wufgabe zu ldfen, ift aus den Artikeln über den deutihen Bund (in Br. 
DI ©. 67 ff. und dem gegenwärtigen Nachtrag) zu erfehen. Der zweite Theil 
des Programmes wurde nad einiger Zeit in fein Gegentheil umgewandelt: das 
Minifterium Pforbten, feit 1852 dur den Grafen Reigersberg als Minifter 
des Innern verflärkt, trachtete danach, auf dem Boden der Geſetzgebung und 
Berwaltung die Früchte des Jahres 1848 und bie Orundlagen felbft, die damals 
gelegt waren, wieder zu vernichten. Man folgte mit Eifer dem reaktionären Zug, 
der in jener Zeit die ganze Tontinentale Politik beherrfchte, und zunächft dem 
Beifpiele der zwei deutſchen Großftanten, die von Manteuffel und Bach regiert 
wurden. Doch fand das Minifterium in der Vollövertretung für feine Abſichten 
nit die erwartete Unterflügung; je rüdfichtslofer e8 vorgieng, um fo mehr 
entfrembdete ſich ihm die fehr konfervativ gefinnte Mehrheit und die im Herbft 
1858 vorgenommene Auflöfung hatte das Ergebniß, daß in der neugemwählten 
Kammer die minifterielle Partei auf eine Meine Zahl ven Beamten reducirt war. 
Es mußte nun auf die eine oder andere Weiſe ein entſcheidender Schritt gefchehen. 
Dur die in Preußen eingetretene Wendung und die italienifche Politit des Kaiſers 
Napoleon, welche ter europälfchen Reaktion ihren flärkften Nüdhalt entzog, wurde 
der Entſchluß erleitert. Ente April 1859 erfolgte die Entlaffung her Minifter 
Pfordten, Reigersberg und Ringelmann, wel legterer fih in ver 
Berwaltung ver Juſtiz feinen Amtsgenoſſen ebenbürtig gezeigt hatte. 

Die leitende Perfönlichkeit des neuen Minifteriums, in welchem Freiherr von 
Schrenk das Auswärtige, Sreiberr von Mulzer die Juftiz übernahm, war ber 
Minifter des Innern, von Neumahr. In der Berwaltungsprarid wurben bie 
gröbften Mißbränche abgeftellt; vie im Jahr 1848 vorbereiteten, von dem abge- 
tretenen Miniſterium bintertriebenen Gejeßgebungsreformen: eine die Rechtspflege 
von ber Verwaltung trennende Gerichtöorganifation, ein humaneres Strafgefegbudg, 
ein Polizeiſtrafgeſetzbuch, das auch auf dieſem Gebiet das Net an die Stelle der 
Willkur jete, wurden mit dem Landtage vereinbart. Es wurden ferner Einleitungen 
getroffen, um die Gefeßgebung über Anfäffigmahung, Verehelichung, Heimat- und 

ufenthaltsrecht, die Gewerbe- und die Gemeindeordnung im Geiſte der bürgerlichen 

Freiheit und der Selbftiverwaltung umzugeftalten, wenn auch die erſten von der 

Regierung ausgearbeiteten Entwürfe ihrem Zwed fehr unvolllommen entjpraden. 
Biunif@li und Brater, Deutſchet Staatt⸗Wörterbuch. Xi. 27 





418 Nadıtrag. 


In den deutſchen Üngelegenheiten folgte das Minifterium ber überfieferten 
Bolitit. Es ftimmte beim Bundestag gegen den preußifchen Antrag anf Wieder⸗ 
berftellung der kurheſſiſchen Verfaſſung, betheiligte fih an ven mißrathenen Bundes 
reformprojelten, die 1862 und 1863 von Defterreid angeregt wurden, und lehnt 
den Beitritt zum franzöftfchen Hanbeldvertrag ab, ohne jedoch, als Preußen mit ber 
Kündigung des Zollvereins antwortete, auf feiner Weigerung zu beharren. Bei 
ihrem Verhalten in viefen Angelegenheiten, die kurheſſiſche ausgenommen, 
fih die Regierung auf eine ſtarke Mehrheit der Abgeorbnetenlammer. Im der 
ſchleswig⸗ holfteinifchen Krifis, die Ende 1863 zum Ausbruch fam, war die Haltung 
Bayerns ebenfo korrekt als kraftlos und bereitete denjenigen, die auf das gemein- 
fame Einſtehen der veutihen Mittelftaaten für ein großes nationale® Interefle 
noch Hoffnungen gebaut hatten, die legte Entäuſchung. 

Am 10. März 1864, inmitten dieſer Krifis,. deren vollen Ernſt er em- 
pfunden hatte, flarb König Marimilian II. Bon feinem Nachfolger Ludwig D. 
wurbe zu Ende des Jahres Frh. v. der Pfordten, bis dahin Bundestagsgefanbter 
in Frankfurt, wieder an die Spige des Minifteriums des Auswärtigen berufen 
Der Vorſatz Preußens, durd den engften Anſchluß oder vollftändige Einverleibung 
der Herzogthlimer fein Machtgebiet zu erweitern, war inzwifchen offenbar geworden 
und bie Gefahr ver preußifchen Hegemomie wieder in ben Vordergrund getreten. 
So mißliebig der Klang feines Namens im Lande geblieben war, fo galt Pfordten 
doch für den unentbehrlichen Staatsmann, als die deutfche frage, die er vor 14 
Jahren in Gemeinſchaft mit Defterreich für immer erledigt zu haben meinte, ihr 
drohendes Haupt von neuem erhob. Die Erfenntniß, daß mit einer wirklichen 
"fung diefer Frage die bisherige Stellung Defterreihe im Bund und bie umge 
fhmälerte Erhaltung der einzelſtaatlichen Souveränetät abfolut unverträglid ſei, 
blieb der bayeriihen Politit auch jegt verfchloffen. Beim Herannahen bes Krieges 
glaubte die Regierung ihrer Pfliht volftändig zu genügen, Indem fie, nad einem 
nihtsfagenden Bermittiungsverfuh, am 14. Juni in Frankfurt für die Mobil- 
machung gegen Preußen ftimmte, gleichzeitig eine Militärkonvention mit Defterreich 
abſchloß und nad dem Einmarſch preußiſcher Truppen in Sachſen, zufolge eines 
zweiten Bunbesbeicdluffes vom 16. Juni, auch ihrerfeits die Feindſeligkeiten fofort 
eröffnete. Die Mehrheit der Abgeordnetenkammer erklärte fih in einer au den 
König gerichteten Adreſſe mit der Regierungspolitit unbebingt einverftanden; aber 
au die Linke hielt es für unmöglich, die Bewilligung der Kriegstofen, die am 
18. Juni einftimmig erfolgte, zu verfagen, fie proteftirte nur gegen den Gedanken 
„nah Herftellung des Friedens tie alte, der Nation verhaßte, feiner von ihren 
gerechten Forderungen entſprechende Berfaffung bes Bundes wieder aufzurichten.“ 

Diefer Proteft wäre vergeblich geweſen, wenn das Kriegsglüd für Oeſterreich 
und feine Berbündeten entfchieden hätte. Aber am 3. Juli wurde die Schlacht von 
Königsgräg gefchlagen. Bayern, das am Main ber preußifchen Kriegskunſt ebenfalls 
unterlegen und von Defterreih, einer ausdrücklichen Beftimmung der Uebereinkunft 
vom 14. Juni zuwider, bei den Friedensunterhandlungen felnem Schidfal über 
laffen war, rief die Verwendung Frankreichs an, mußte jedoch in Berlin erfahren, 
daß dieſe Macht dem König von Preußen nah ver Entſcheidungsſchlacht Kompen- 
fationsvorfchläge mitgetheilt hatte, welche die Abtreinng der Rheinpfa an Frank⸗ 
reich in fi begriffen. Am 22. Auguft wurde der Berliner Frieden unterzeichnet, 
durch welchen ſich Bayern zu einer Heinen Gebietsabtretung in Franken, zu einer 
Kriegskoſten⸗Entſchädigung von 30 Dil. Gulden und zur Anerlennung der in 
ven Nidolsburger Präliminarien — der Prager Friede datirt erft vom 23. Auguſt 


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Bayern. 419 


— zwiſchen Breußen und Oefterreich verabreveten Beſtimmungen über „vie Zukunft 
Dentſchlands“ verpflichtete. Einen vorläufig geheim gehaltenen Zufag zu viefem 
Bertrag bildete das „Schutz⸗ und Trutzbündniß“ vom 22. Auguft, durch welches 
Preußen das bayerifhe Gebiet garantirte, beide Staaten fi für den Kriegsfall 
militãriſche Hulfe zuſicherten und Bayern für dieſen Fall ven Oberbefehl über 
feine Truppen dem König von Preußen übertrug. Gleichartige Allianzverträge 
warden tn Berlin mit Württemberg und Baben, fpäter and mit Heſſen abgeſchlofſſen. 

Am 30. Auguft fügte die Abgeordnetenkammer ihrer Gutheißung des Friedens⸗ 
vertrages mit allen gegen 11 Stimmen den Wntrag bei: bie Staatöregierung 
welle dahin wirken, „vaß durch einen engen Anſchluß an Preußen der 
Weg betveten werke, welcher zur Zeit allein dem angefirebten Endziel entgegen- 
führen kann, Deutſchland unter Mitwirkung eines freigewählten und mit ben 
erforderlichen Befugriifien ausgeftatteten Parlaments zu einigen, die nationalen In⸗ 
treffen wirffom zu wahren und etwaige Angriffe des Auslandes erfolgreich abzu- 
wehren.” Theilweiſe war dieſem Wunſch bereits durch das der Regierung auferlegte, 
dem Lande damals noch unbekannte Schug- und Trutzbündniß entfprocen. Die 
Kammer der Reichöräthe 309 es vor, den Thatfachen konfequent ihre Angen zu ver: 
ſchließen und Ichnte mit BO gegen 4 Stimmen den Antrag der VBollövertretung ab. 

Um letzten Tage des Jahres wurde Frh. v. d. Pfordten durch den Fürften 
Hohenlohe⸗Schillingsfürſt erfegt, ver am 31. Auguft in der Reichsraths⸗ 
faınmer für den Antrag der Abgeordnetenkammer gefprochen und geftimmt hatte. Fürſt 
Hohenlohe verzichtete Darauf, in das Programm feiner miniſteriellen Politil den 
Anſchluß Bayerns an den norbdeutihen Bundesſtaat aufzunehmen; er erflärte an⸗ 
bererfeits die Errichtung eines In ſich abgefchloffenen ſüiddeutſchen Bundesſtaates für 
gefährlich und zugleich praftiih unmöglih, entwarf dagegen den Plan eines mit 
Defterreih in beſtimmten Allianzverbältniffen ſtehenden „Staatenbunves”, deſſen 
Glieder unter preußlihem Bräftvium die einzelnen ſüddeutſchen Staaten und ber 
norbbeutfche Bund bilden follten. Die in Art. 3 und A des Entwurfes ver nordd. 
Vundesverfaſſung aufgezählten Gegenftände waren ven Organen dieſes Stantenbundes 
zue gemeinfamen Behandlung, wie es ſcheint in der Welfe zugedacht, daß fle von 
der Geſetzgebung der Eingelftanten vollſtändig ausgeſchieden würden. Bevor noch 
die mit den übrigen ſübdentſchen Regierungen (und vielleicht auch mit Oeſterreich) 
auf der bezeichneten Grundlage eingeleiteten Verhandlungen zn einem Refultate 
geführt hatien, erfolgte die preußiſche Einladung zu den Zolllonferenzen, aus welchen 
vie Erneuerung des deutſchen Zollvereines mit einer wefentlich geänderten Organt- 
fation hervorgieng. (Vertrag v. 8. Juli 1867.) Das Princip der Beſchlußfaſſung 
nah Stimmenngehrbeit trat an die Stelle des Beto, das biäher jeder Vereins- 
vegierung vorbehalten war, der Wirkungsfreis des Vereins wurbe erweitert und 
bie Gültigkeit der Bereinsgefege von der Zuftimmung einer gemeinfamen Bolts- 
vertretung abhängig gemacht. Fürſt Hohenlohe glaubte nun „das Inslebentreten 
der neuen Organiſation des Zollvereins mit feinen Folgen abwarten zu müſſen, 
um danach zu ermeflen, in welcher Form neben derſelben ver beabfichtigte 
Staatenbund zur Durdführung gebradyt werden könne.“ Das Projekt, zu deſſen 
kritiſcher Beſprechung hier nicht der Play iſt, wurde daher vorläufig zurüdgeftellt, 
jedoch exflärte Furſt Hohenlohe ansurüdlich in der Kammer ber Äbgeordneten,!) 
daß es nicht aufgegeben jei. 


N 





1) ©. defien Vortrag in der Sitzung vom 8 Oft, 1867, welchem auch die vorhergehenden 
Data entnommen find. q7* 


420 Nachtrag. 


Der neue Zollvereinsverirag und ein Gefetz über: vie Wahl ver baheriſchen 
Abgeoroneten zum Zollparlament wurde von biefer Kammer am 22. um 
23. Oktober 1867, der erflere mit 117 gegen 17 Stimmen angenommeit. 
Die Kammer der Neihsräthe Inüpfte ihre Zuftimmung an eine unmöglide Be⸗ 
dingung — an die Aufrechthaltung des bayeriichen Veto, verftaub ſich jedoch zur 
Nachgiebigkeit, nahbem ein Sturm von Adreſſen und Deputotionen aus den in⸗ 
duſtriellen Landestheilen ihr die Einſicht nahegelegt hatte, daß das darch ihre 
Weigerung gefährdete Verbleiben Bayerns im Zollverband eine dringendere Noth- 
wendigleit ſei, ale ber Fortbeſtand der Reichsrathskammer ſelbſt. Bei den im Früh⸗ 
jahr 1868 vorgenommenen erſten Wahlen zum Zollparlament fielen der Fortſchritis⸗ 
und Mittelpartei 23, der entſchieden partikulariſtiſchen 25 Stimmen zu, davon 24 
in den vom ulteomontanen Einfluffe beherrſchten altbayerifhen, ſchwäbifchen und 
unterfräntifchen Wahlbezirfen, Es ift fehr wahrſcheinlich, daß der Wltramonsanisınıs, 
der vor allen andern Parteien die Agitettongmittel des Veichtſtuhles und ver Kanzel 
voraus hat, auch bei den im Frühjahr 1869- bevorſte henden lLandtagewahlen die 
Mehrheit erlangen. wird., 

Der Charakter der Inneren. Politif. hatte mit dem Wiedereiatritt dea Frh. 
v. d. Pfordten keine weſentliche Veränderung erfahren; die Zeitnerhältniſſe 
geſtatteten nicht, auch wenn die Neigung vorhanden war, das halbliberale Syſtem 
zu verlaſſen, das ſeit dem Jahr 1859 beohachtet wurde, Dem Miniſter von Neu⸗ 
manr, ber im Herbſt 1865 zurücktrat, folgten. bis zum Frühjahr 1868 in raſchem 
Mechiel, hauptſaͤchlich durch plößliche Todesfälle herbeigeführt, vier andere Minifer 
des Innern. Mit dem Landtag .von 1867/68 wurden die oben erwähnten Gefege 
über Heimatweſen, Aufenthalts, Berehelihungs- und Gewerbefreiheit vereinbart; 
fie bezeichnen einen der wichtigſten Fortfchritte, welche die bayeriſche Geſetzgebung 
ſeit 50 Jahren gemacht hat. Die gleichzeitig vorgelegte Gemeiudeordnung, die auf 
ihrem Gebiet ebenfalls manche weſentliche Verbeſſerung in Ausfiht ftellt, if zur 
Zeit (Oftober 1868) noch nicht erledigt. Ebenſo ein Geſetz, das die letzte Ent⸗ 
Scheidung in Rechtſach en, foweit ſie bis jest den obern Berwaltungsbehörben 
zuftebt diefen entziehen und einen Berwaltungsgerihtshof übertragen fol: 
Auch Über den Entwurf eines Schulgefetes werden fi bie Kammern in ihrer 
demnächſt beginnenden. Seffien ſchlüſſig zu machen haben. Derſelbe will den 
Elementarunterricht verbeſſern und verallgemeinern, die Lehrer ökonomiſch günſtiger 
ſtellen und zur Beauffichtigung bes Schulweſens, die bisher eine Nebenfunttion 
der Geiftlicgleit war, eigene Infpeltoren aufftellen. Es ift gegen dieſen Entwurf 
in den katholiſchen Landestheilen eine heftige Agitation eingeleitet worden, bie ihr 
Bertrauen auf die Kammer der Reichsräthe fest. 

As zwei Hauptmomente in ber geſetzgebenden Thätigkeit biefes legten Zeit⸗ 
abfchnittes find noch anzuführen: das Geſetz von 1865, das bie Dauer ber 
Finanzperioden, einem handgreiflichen Bebürfniß entſprechend endlich von. feche 
auf zwei Jahre herabfegte, und das Wehrgefet von 30. Januar 1868, das vie 
Grundlagen der preußifchen Heeresverfaffung auf Bayern überträgt. 

Die Finanzlage des Staates ift verhältnißmäßig günftig, ungeachtet bes 
enormen außerorbentlihen Aufwandes für Milltärzwede, ver fett 1848, ohne 
erfichtlichen Nutzen, faft ‚beftäntig neben dem ordentlichen Budget hergierg ‚und 
ungeachtet der ſchweren Laften, welche das Jahr 1866 dem Land auferfegte. Das 
Budget der IX. Finanzperiode (1868/09) enthält für jebes der beiden Jahre 
folgende Hauptpofitionen: 


2 


Bayeen. «21 


I. Einnahme (ratio) | 
Uebergäuge aus ber VIII. Finanzperiode. .. “200. 1,825,000 fl. 
Direkte Staatsauflogen . 10,380,000 = 
Indirekte Steätsauflagen (Toren, Stempel, Malzauffchlag, Bälle) 27,755,150 ⸗ 
Staats · Negalien und Anftatten (Salinen, Bergwerke, eiſenbahnen, 


Poſt, Telegraph. u. ſ. w.) 28,906,276 ⸗ 
Stoatstomänen (baranter —ã 12: 314, 670 B ... .17,810,800 + 
Uebrige Einnehmen . . . .. 517,380 = 


87,144,606 fl. 
II. Ausgaben auf Erhebung, Dermartung und Betrieb. 


Allgemeine rentamtlihe Bermaltun . - . .» 0. 845,415 fl. 
Auf dis Stantsauflagen . nenn. 2,546,016 - 
Auf Stants-egalien, und Anftalten . .  18,847,187 = 
Aur Staatsdomänen (darunter Stantoforten | 5, 811, 570 m 6,379,550 = 
auf bie übrigen Cinnahmen .. 17,850- 
28,636,018 fl. 
Bleibt fomit Nettobetrag der Einnahmen . . . . . . .  58,508,588 - 
UI. Stastsausgaben. 
Staatsſchuld (Tilgung und Berzinfung) . .  .. 16,506,200 = 
Etat des k. Hanfes und does Civiuife, Spanagen, Bitmengehale) 3,146,082 = 
Stantsrath . . . 78,476 *« 
Landtag . . . 287,270 » 
Staatsminifterium des Aeußeren Carnrier fs Öefanbifaften 
294,000 fl.) 482,073 « 
der Iuftz . .  4,942,129 - 
des Innern (darunter 1 500, ‚133 i. für . 
Gendarmerie) . . . 5,683,244 » 


bes Innern für Kirchen⸗ und Schulangelegen⸗ 

heiten (darunter Zuſchüſſe zu den Koſten des 

lath. und proteſt. Kultus 2,010,869 fl., das 

übrige größtentheils fir Bilbungsanftalten) 4,780,190 
der Finanzen . . 944,195 
des Handels und der af. Arbeiten (darunter 

für Straßen-, Brüden- und Waſſerbau 

3,017,042 ſi, ür techniſche und land⸗ 

wirthſch. Behran alten 212,849 fl. hir 


“u % %“ “ u. u “ n WMV “ 
“ 


u u 


⸗ Landgeſtüte 210,000 fl.) . 4,064 885 = 
Militäretat (ungerechnet einen Kredit von, 2, 880, 341 ft. 
für außerordentl. Bedürfniſſe) . . 0. .14,975,465 - 
Penfionen für. Wittwen und > Waifen ber. Stanttniener oo. 800,000 = 
Reſervefonds en , ... 1318,379 » 


58,508,588 fi. 
Die Eieateſchudd betrug nach dem neueſten Ausweis (Auguſt 1867): 
1) Allgemeine Staatsfſchuld (darunter ſeit 1866 11,150,000. 
fl. unverzinslihe Kaſſaanweiſungen nnb die zur Dedung 
der preuß. Region fehäbigung aufgenommene Prä- Ä 
mienanleibe von 28 Mil) . . . . 156,898,165 fl. 


422 Nachtrag. 


2) Grundrenten⸗Ablöſungsſchuld (bis anf einen Betrag von 
6,410,000 fl. nur nomind) . . 2 2 2 2 0. 

3) Eiſenbahnſchuld (die Bahnrente überfteigt den Betrag ber 
Siem) ee en ee. . 147,938,100 = 
Das Staatsgebiet bat durch bie erwähnte Abtretung an Preußen 10,05 (] 

Meilen mit 32,976 Seelen verloren. Die Bevölkerung betrug nad ver Zählung 
von 1858: 4,615,748, von 1861: 4,689,887, vom 1864: 4,807,440, von 1867 
4,823,606 Seelen. | 


Belgien. 


(Rachtrag zu Band I ©, 1.) 


Die Entwidlung Belgiens beruht ganz wefentlih auf dem Gegenſatz ber 
fog. Fatholifhen und der liberalen Partei, die wenigſtens der Anlage nah ſchon 
vor 1831 vorhanden waren, vorerft gemeinfam zum Gturze des holländiſchen 
Negimentes, das weber für bie eine noch für die andere ein Verſtändniß zeigte, 
zufammenwirften, auch weiterhin bis 1839, fo lange eben bie Unobhängigtelt und 
Selbſtändigkeit des Landes nod nicht allfeitig anerfannt war, zufammenpielten und 
erft feit 1840 mehr und mehr auseinandergingen. Er iſt lange nicht der einzige, 
vielmehr nur einer der vielen Gegenfäge, pie wir auf dem Boden Belgiens finden, 
die den Reichthum feines politifchen und foctalen Lebens ausmachen und ihm eine 
fo bebeutjame Stellung In dem gefammten Entwidiungsproceffe unferer Zeit an- 
weifen, aber er ift unftreitig der dominirende, nachdem es ſchon im vorhergehenden 
Decennium bem richtigen Blide des Königs Leopold gelungen war, den Lande 
durch Anlegung eines wohlüberdachten Eifenbahnfuftems, worti es England auf 
dem Buße folgte, dem gefammten Kontinent voranging, gewifjermaßen mit einem 
Schlage viejenige Weltftellung zu fihern, auf vie es in Folge feiner geographiſchen 
Lage Anſpruch machen konnte, die es jebod unter der fpanifchen und öfterreidi- 
ſchen Herrſchaft faft gänzlich verloren Hatte. Sobald jedoch dieß und faft zu 
gleiher Zeit auch die allfeitige Anerfennung Europas dem neuen Staate erworbeu 
* war, begannen bie beiden Wlemente, das katholiſche und das liberale, fi zu 
ſcheiden, fich in große Parteien zufammenzubollen und zu organifiren und alsbald auch 
um den überwiegenden Einfluß im Staate zu ringen. Daß der Berlauf im ganzen 
ein vollkommen friedliher und normaler war und daß feine von beiden Parteien 
daran denken konnte, die andre zu unterbrüden, vaß vielmehr der ganze Kampf 
fi) darum drehte, der einen wie der andern Richtung und den Beftrebungen beider 
neben einander Raum zu verfchaffen und Freiheit zu gewähren, fo weit dieß mög⸗ 
lich war, ohne ber nicht minder berechtigten Freiheit aller andern zu nahe zu 
treten, verdankt das Land, zumal bei dein daneben herlaufenden Gegenſatze zwifchen 
den romaniſchen Wallonen und den germanifhen Blämingern und dem Umftande, 
daß die Sprade der Minderheit dennoch die öffentliche Sprache war und blieb, 
lediglich feiner freien VBerfaflung und ver Weisheit feines Königs, der von Anfang 
erfannte, daß feine Stellung nicht derart fei, um dieſer oder jener Richtung, dieſer 
ober jener Partei gewaltfam zum Uebergewicht verhelfen zu können und daß die 
vernünftiger Weiſe auch gar nicht wünſchbar, daß vielmehr die Entwidiung der Ideen 
und der Berhältniffe fih felber zu überlafien ſei und daR feine Aufgabe keine 
andere fein könne, als dieſe Entwidlung im Intereffe Aller innerhalb ver Schranken 
ver Berfaffung zu halten. 

Anfangs hatte die katholiſche Partei thatfächlich das entſchledene Uebergewicht 
und nur nach and nach gewann bie liberale Bartei an Zahl wie an Konfolivation 


97,687,976 fi. 


® 


Belgien. 423 


und konnte, gefläßt auf die Berfaflung, die ihr freie Bewegung ficherte, baran 
denken, anf venjenigen Gebieten, die von Rechtswegen dem Staate und nidt ber 
Kirche, fo wie auf denjenigen, die wenigſtens nicht ausfchließli der Kirche, fon- 
dern dieſer nur zugleich mit dem Staate und nady der ganzen Entwidlung ber 
Zeit vorwiegend dieſem und nicht jener angehören, vor allem auf dem Gebiete 
des Öffentlichen Unterrichtsweſens, vem Ginfluffe ver Geiftlichkelt mit größerem 
Nachdruck entgegenzutreten. Die katholiſche Partei, der die Regierung zu Ende 
ber breißiger Jahre angehörte, hatte fi beim Abſchluß der Selbflänbigkeitsfrage 
mehrfacher Mißgriffe fhuldig gemadt, fie mußte im März 1840 das Nuber 
fahren laſſen und wurde durch ein gemäßigt liberales Minifterium Lebenu-Rogier 
erſetzt, das fi jedoch nur ganz kurze Zeit zu erhalten vermochte, Nach mehr» 

m Wechſel gaben die Wahlen von 1847 ver liberalen Partei in der Kammer 
eine enſchiedene Majoritaͤt und das katholiſche Miniſterium de Theur mußte einem 

gt liberalen unter Rogier Platz machen Für Belgien war dieß um ſo 
glücklicher, als bald darauf die Februarrevolution ausbrach. Die ganze liberale 
Partei ſtand jetzt für die Erhaltung des Erworbenen ein und für die Erhaltung 
der Monardie, womit auch die Tatholifche Partei einverfianden war, da fie augen- 
blicklich für ihre Beſtrebungen von Frantreih natürlich nichts zu Hoffen hatte. 
Der König erklärte fl mit vichtiger Einficht bereit, die ihm aus freien Stüden 
von der Nation übertragene Krone zu behalten oder nieberzulegen. Die öffentliche 
Meinung erflärte fi fo zu jagen einftimmig für das erftere und fo wurde ge 
wiſſermaßen ein neuer Pakt zwiſchen dem Land und feinem Fürſten gejchloffen, ber 
tas bisherige Verhältniß nen befeftigte. In diefer Beziehung iſt Belgien ganz und 
durchaus ein moderner Staat: die Monarchie beruht in demfelben nicht auf blo=- 
Gen und meift fehr unklaren, theilwelfe fogar gerabezu gemachten Gefühlen, fondern 
fie tft dort entfchieven ein Probuft des Verftanbes und zwar eines fehr gereiften 
Berſtandes. 

Die Wahlen von 1852 und 1856 waren der liberalen Partei noch immer 
ofnfiig. Dennoch hatte die katholiſche Partei unter der Gunſt ber bamaligen 
Zeitfirömung ſich wieder gehoben; im März; 1855 fah fi ber König veranlaßt, 
das inzwifchen mehrfach modificirte liberale Kabinet mit einem katholiſchen De Decker⸗ 
Nothomb zu vertaufhen und im I. 1856 fielen au die Wahlen wieder zu 
Bunften der katholiſchen Partei aus. Allein ſobald dieſe den Verſuch unternahm, 
die angenblidiih günftige Lage zu benußen, um bie Grenzgebiete zwiſchen Staat 
and Kirche ober richtiger gefagt viejenigen Gebiete, die beiden gemeinfam find, 
das Armenweſen und das Elementarſchulweſen, zu einem guten Theile für fid 
allein in Beſitz zu nehmen, zeigte ſich, daß fie dazu gegenüber ver erftarkten li⸗ 
beralen Meinung zu fhwah war. Gin folder Berfuh war das im Jahr 1856 
durch den Minifter Nothomb in ver Repräfentantenlammer eingebradhte Wohl 
thätigfeitögefeg, das der Kirche und ihren zahlreihen und mannigfaltigen Jufti- 
tuten durch die Mittel der fogen. todien Hand thatfählih auf ben erwähnten 
beiden Gebieten einen Einflaß und eine Stellung fihern follte, die ihr mit der Zeit 
allervings das entſchiedene Uebergewicht über vie flantlichen Interefien und vie ſtaat⸗ 
lihen Mittel hätte verjchaffen müfjen. Die Thatſache, daß die fog. tobte Hand in 
Belgien bereits über gewaltige Mittel gebot und die Furcht, daß eine noch weitere 
Bermehrung berfelben, und zwar in umgemefjener Weiſe, was der ganzen wirth- 
ſchaftlichen Anſchanung ber Zeit widerſprach, durch geſetzliche Beſtimmungen be- 
günſtigt werden ſollte, erregte einen Sturm, welcher den Verſuch der katholiſchen 
Partei damals zum Scheitern brachte, wie er auch ſeither wenigfiens im dieſer 


424 Nachtrag. 


Welfe nicht mehr aufgenommen werben Tonnte. Die Kirche und bie von ihr ger 
förberten, geleiteten, beherrſchten Inftitute und Korporationen gebieten in Belgien, 
von dem Mobiliarbefig, ver fi jeder Kontrolle entzieht, gar nicht zu ſprechen, 
über einen ausgebehnten Immobiliarbefig; doch ift ein fehr bebeutenver Theil, 
vielleicht der größere, nicht rechtlich, ſondern nur thatfählih in ihren Händen. 
Zuriftifche Berfonen mit dem Nechte, für fi) Vermögen zu erwerben, können in 
Belgien nur durch ein Geſetz, alfo burch den übereinflimmenden Willen des Königs 
und beider Kammern gejchaffen werben und diefer Charakter iſt in Belgien nur ſehr 
wenigen geiſtlichen Korporationen ertheilt worben; die Annahme von Schenkungen 
aber ſelbſt von Seite folder Perfonen bedarf der Genehmigung ver Regierung ober 
der Provinzialbehörden und iſt daher je nah Umſtänden mit großen Schwierig- 
feiten verbunden. Bon dem ganzen unbeweglichen Vermögen des Landes, das 
i. 3. 1856 auf 6421 Mil. Fr. angefhlagen wurde, befoßen die kirchlichen An⸗ 
ftalten damals nur 53 und die bis zu jenem Zeitpunfte civilrechtlich anerfannten 
religiöſen Genofjenfhaften nur 5 Mil. rehtlih und anerkannter Maßen. Eine 
große Reihe andrer religiöfer Genofienfhaften befaß jedoch unzweifelhaft ebenfalls 
Immobilien und zwar in fehr ausgebehntem Maße, aber nur mit Umgehung bes 
Sefeged durch Vermittlung von Zwifchenperfonen ; immerhin war aber auch biefer 
Beſitz thatfächlih ein Befig todter Hand. Die Gefahr, mit welder eine noch 
größere Ausdehnung und Erleichterung dieſes Befiges das wirtbfchaftlihe wie das 
intellektuelle Leben des Volkes bebrohte, war unmöglih zu verkennen. Denn 
während im Jahr 1829 erft 280 religiöſe Genofjenichaften in Belgien beflanden, 
hatte fi die Zahl derſelben bis 1856 auf etwa 1000 gehoben, von denen fi 
nur ber geringfte Theil, d. h. vielleicht AO männliche und 45 weibliche einem be⸗ 
fhaulihen Leben Hingaben, während alle andern ſich ver Erziehung uub dem 
Unterriht oder dem Armenmefen in feinen mannigfaltigen Aufgaben wibmeten. 
Der von der Regierung den Kammern vorgelegte Entwurf wollte nun „ber Pri⸗ 
vatwohlthätigfeit einen neuen Impuls geben”, indem den Privatperfonen bei neuen 
Stiftungen, die zu Zweden ber Wohlthätigfeit oder bes Unterrichts von ihnen ge⸗ 
macht wurden, große neue Befugniſſe eingeräumt werben follten. Juriſtiſche 
Perfonen mit dem Rechte des VBermögenserwerbs zu Ichaffen, wurde ihnen zwar 
nicht geftattet, das Eigenthum der neu zu gründenden Stiftungen follte vielmehr 
rechtlich den öffentlichen Wohlthätigkeitsanftalten zuftehen. Wber die Stifter follten 
befugt fein, für ihre Stiftungen Specialverwalter geiftlichen ober. weltlichen Standes 
zu ernennen und lebiglic einer allgemeinen Kontrolle der finatlihen Behörden 
unterfieben. Der Begriff der Wohlthätigkeitsanftalten war überbieß in dem Ge⸗ 
fegesentwurf fehr weit gefaßt, fo daß er nicht bloß Armenhäufer, Spitäler, Ianp- 
wirthſchaftliche Armenſchulen, Zufluchtshäufer und die Errichtung einzelner Plätze 
in Armenbäufern oder einzelner Betten in Hofpitälern umfaßte, fondern auch un⸗ 
entgeltlihde Schulen für den Elementarunterriht, fog. Reformichulen, gewerbliche 
Werkftätten, Kinberbewahranftalten, Krippen u. drgl. Bei den Schulen follte es 
überdieß erlaubt fein, auch zahlende Schüler bis zur Hälfte der Gefammtzahl zu⸗ 
zulafien. Wäre der Entwurf, fo wie er vorgelegt wurbe, durchgegangen, fo würde 
faft nothwendig das gefammte Armenwefen, und das Volksſchulweſen zum mindeften 
in nod weit ausgebehnterer Weiſe als es ſchon bisher der Fall war, namentlich 
durch das Inftitut der fog. Schulbrüber, der Kirche und einer einfeltig kirchlichen 
Behandlung im Gegenſatze gegen die Anfchauungen der Zeit anheimgefallen fein. 
Und das fchien kaum abgewendet werben zu können, da bie katholiſche Partei 
damals In der NRepräfentantenlammer über eine fihere, wenn aud nicht große 





Belgien. 438 


Mojorttät von 5 Stinmen verfügte Die: liberale Partet war zum Aufßerfien 
Widerſtand entſchlofſen, vie liberale Preſſe uuterſtützte fie mit allen Kräften, in 
ber Bendlkerung felbft herrſchte eine Teivenfchaftlige Aufregung für und wider bas 
Projelt. Trogdem ging es nad heftigen Debatten im Repräfentautenhanfe im Mai 
1857 durch, und zwar mit einer Mehrheit von 66 gegen 44 Stimmen, da bie kath⸗ 
oliſche Partei an diefen Sieg alle ihre Kräfte und alle ihre Drittel verwendet hatte. 

Da brad aber der Sturm zuerft in Brüffel am 28. Mai, dann auch in 
Untwerpen, Gent, Mons, Tüttih, Eharleroi ꝛc. los in Unordnungen und felbft 
in ©emalıthätigleiten gegen Anhänger der katholiſchen Partei, bie indeß vom 
Militär [nel und ohne Schwierigfeiten untervrädt wurden. Der König aber 
erfannte, daß bie Maßregel nicht durchzuführen fei und daß das Gleichgewicht 
ber beiden großen Parteien aufrecht erhalten werden müfle, wenn der Friede er- 
halten werben folle; am 30. Mai vertagte er die Kammern und erflärte am 18. 
Juni den Schluß der Seffion. Der Umfchlag ſprach fih in den Kammerwahlen 
besjelben Jahres aus, vie liberale Partei erlangte wieder dad Uebergewicht, daß 
latholiſche Minifterium gab feine Entlafjung und am 9. Nov. 1859 konftituirte 
fi ein liberales Dinifterium unter Rogier für das Innere und Froͤre⸗Orban für 
die Finanzen. Die latholiſche Partei hatte eine Niederlage erlitten, von der fie 
fih either nicht wieder erholt hat, da vie nene Regierung zn Wnflöfung ber 
Kammern und zu allgemeinen Neuwahlen ſchritt, die überwiegend liberal ansfielen, 

Seither ift es der katholiſchen Partei nicht mehr gelungen, die Majorttät in 
der Repräfentantenlammer zu erringen. Zuerf beobachtete fie in verfelben eine 
durchaus pafiive Role, aus der fie exrft im Jahr 1861 heransirat, um fich der 
Unerlennung des Konigreichs Italten zu widerſetzen, für bie jedoch Rogier vie 
Zuftimmung der Kammer mit 67 gegen 42 Stimmen bavontrug. In den Wahlen 
des Jahre 1863 gewann indeß vie Fatholifche Partei zwar nicht vie Majoritäs, 
aber doch einige weitere Stimmen und 1. J. 1864 no einige, fo daß bie 
Majorität wenigftens eine zweifelhafte geworben war. Das Liberale Minifterium 
bot in Folge davon feine Entlaffung an, der König bielt ſich für verpflichtet, 
mit der Fatholifhen Partei Unterhandlungen behufs Bildung eines Minifteriums 
anzuknüpfen. Diefelben führten jenoch zu feiner Verſtändigung und ebenfo wenig 
Half der Partei ein wieberholter VBerfuch, den Sigungen der Kammer in Mafle 
fern zu bleiben und dieſelben dadurch befhlußunfähig zu machen. Der König 
mußte am Ende das liberale Minifterium beibehalten und ihm eine Auflöfung 
der Kammer und allgemeine Neuwahlen zugeftehn. Dieſelben ergaben 64 Liberale 
gegen 52 Klerikale. Die Wahlen von 1866 erhöhten das Uebergewicht der Liberalen 
von 12 auf 20 Stimmen. 

Die Stellung Belgiens nad außen if unter allen Umfländen eine ziemlich 
ſchwierige. Mit Holland Hat fi zwar ein entfchieben freundliches Berhältniß 
angebahnt. Die holländiſche Partei In Belgien, die in den dreißiger Jahren bie 
und da noch einige Unruhe veranlafien konnte, iſt feither gänzlich verſchwunden 
aud zwifchen den Fürſten beider Länder fand zum erflen Mal i. I. 1861 eine 
Begegnung ftatt, die in den Gefühlen beider Völler einen entfchlevenen Wiederhall 
fand. Die Frage der Ofterfchelve führte zwar Ende 1866 zn neuen Mißhellig- 
feiten, die in ziemlich bitteren Auslaſſungen von beiden Seiten ihren Ansorud 
fanden; allein die Unterfuchungen gänzlich unbetheiligter Ingenieure Englands, 
Frankreichs, Preußens entfhieden zu Gunſten Hollands und die Belgier ihrerſeits 
fheinen bereits praktiſch erfannt zu haben, daß fie fi ohne alle Noth weſentlich 
ungegründbeten Befärchtungen bingegeben haben, Ä Ä 


428 Nachteag 


Um fo entſchiedener trat ſeit 1848 das Verhältniß zu Frankreich in 
den Vordergrund, wo unzweifelhaft eine mehr ever weniger ſtarke Bartel eriftirt, 
bie diret die Erwerbung Belgiens ind Auge gefaßt hat. Bald nad dem Gtaatd- 
fireiche Zonis Mapoleons wurde das Berhältniß ein fehwieriges, da ſich eine nicht 
unbeträhtliche Anzahl franzöſiſcher Flüchtlinge nach Belgien gezogen hatte, und 
bie belgifche Regierung ſah ſich wiederholt zu Konceffionen gegenüber franzöflfhen 
Forderungen gendthigt, die nicht ganz mit ihren Ueberzeugungen flimmten, bie 
fe aber nicht wohl verweigern Konnte, ohne die Zufunft des Landes zu gefährben. 
Darüber aber, daß bie Selbftänpigkeit des Landes um jeden Preis gewahrt 
werden müfle, waren alle Parteien einig und eine eigentlich franzöſiſche Partei 
vermochte niemals in irgend nennenswerther Weife in Belgien felbft Fuß zu faffen. 
Die Beziehungen zwiſchen beiden ſchienen bereits in ein fehr befriedigendes Ge⸗ 
leife eingelentt zu haben, als die Annerionen von Savoyen und Nizza in Folge des 
italienifhen Krieges von 1859 und die Erwerbung feiner „natürliden Grenzen" 
nad diefer Seite bin durch Frankreich plöglih die Abſicht ober wenigfiens bie 
Möglichkeit einer ſolchen wad rief, auch nad der andern Seite feine angebli - 
„natürliche Gränze”, die Nheinlinie, wieder zu erringen, Europa auffägredte und 
nicht nur Deutſchland, fontern auch die Schweiz, Belgien, Holland in Bewegung 
fette. Am ſchwächſten, wenn die Beforgniß überhaupt eine gegründete wäre, fühlten 
fih, und mit Recht, die Schweiz nnd Belgien. Belgien hatte aber ganz und gar 
feine Luft, an Frankreich annerirt zu werden. Um 17. Juni 1860 fand daher in 
Bräffel eine große von Wbgeorbneten aus ben vlämifchen und aus ben wallonifchen 
Landestheilen beſchickte Bollsverfammlung ftatt, welde einftimmig beſchloß, eine große 
Berbindung der belgiſchen Patrioten zu gründen, die fi über das ganze Land 
verbreiten und in allen Gemeinden Zweigvereine gründen follte. Der Zwei der 
Berbindung wurde deutlich genug durch den erflen Artikel des mit Enthuſiasmus 
angenommenen Programms bezeichnet: „Die belgiſchen Patrioten verpflichten fich, 
auf dem Wege ber Ueberredung oder bes Zwangs mit Hintanfegung von Gut 
und Blut die belgiſche Unabhängigkeit und Nationalität zu vertheidigen.“ Uebri⸗ 
gens verfannte Belgien keinen Yugenblid, daß es mehr als bloß tapferer Reben 
bepürfte, wofern dem Lande wirklich eine Gefahr drohen follte und machte fidh 
darüber ganz wie die Schweiz Feine Illufionen, daß bie von Europa ihm zuge 
Randene Neutralität wenig Werth babe, wenn das Rand nicht entfchloffen ſei, fle 
mit den Waffen in der Hand zu vertheibigen and wenn es nicht in ver Tage fei, 
dieß zu Finnen. Schon am 11. Mai 1858 hatte die Kammer ein neues Armee» 
gejeß angenommen, wonad die Armee auf dem Friedensfuße 80,000, auf bem 
Kriegsfuße 100,000 Mann zählen und die Dienſtzeit 10 Jahre dauern follte. 
Jetzt ging fie noch einen Schritt weiter. Am 20. Augnſt 1859 bewilligte fie mit 
57 gegen 42 Stimmen 20 Millionen Fr. zur Erweiterung der Feſtungswerke von 
Antwerpen, das ver beigifchen Armee für den Fall eines feindlichen Angriffs einen 
feften Stützpunkt gewähren ſollte. Die Einwohnerfhaft von Antwerpen war mit 
diefer Ausſicht freilich keineswegs einverftanden, zumal fie fih in ihren bürgerlichen 
Intereffen durch die neuen Werke vielfach beengt und gehemmt ſah. Indeß die 
Urbeiten wurden fofort begonnen und troß der Oppofition der Stabt und ihrer 
Bertreter, die eine ebenfo lebhafte als zähe war, in den nächften Jahren fortgefekt, 
fo daß fle 3. 3. als im Wefentlichen vollendet angefehen werben können. 

Einen fehr ſchweren Schlag erlitt Belgien durch den Tod des greifen Königs 
Leopold, der am 10. Dec. 1865 flarb. Der Thronfolger Leopold II. erklärte 
in feiner erſten Thronrede: „Meiner Anſicht nad geht die Zulunft Belgiens mit 


Beigien. 437 


der meinigen Sand in Hand ımb ich Habe fie Immer mit dem Vertrauen ange 
biidt, welches das Recht einer freien, ehrenwerthen und mathigen Nation eduflößt, bie 
ihre Unabhängigkeit will und dieſelbe zu erwerben wußte, wie fle ſich ihrer wütdig 
zu erweifen und fie zu wahren wiflen wird.” Der König betonte dieſe Worte 
fharf und erhob fich, die Mitglieder beiver Kammern erhoben fich gleichfalls ein⸗ 
müthig unter lautem Zuruf, die Dichtgebrängte Menge auf den Tribünen ſchwenkte 
Hüte und Taſchentücher. Es konnte nicht zweifelhaft fein, an wen biefe Worte gerichtet 
waren. Der Zukunft Belgiens ſchienen eben damals neue Gefahren zu brohen. 
Die Allianz zwiſchen Preußen und Oeſterreich hatte zum Kriege gegen Daͤnemark 
und zur Eroberung Scleswigs gefährt, war aber alsbald, da es fi um das 
endliche Schickſal der Elbherzogthümer handelte, deren Beſitz Preußen das ent« 
ſchiedene Uebergewiht in ganz Norbveutfchland gefichert hätte, im ihr gerabes 
Gegentheil umgeichlagen, und die Konvention von Gaftein hatte im Auguſt bes- 
feiben Jahres vie tiefe Kluft zwifchen den beiden deutſchen Großmächten nur 
proviſoriſch überdeckt, aber keineswegs ausgefüllt. Ein Krieg zwiſchen beiven, ber 
über die endliche Löſung der ſchon fo lange ſchwebenden veutfchen Frage in biefem 
oder jenem Sinne entfcheiden mußte, lag bereits in "einer Weife mehr außer dem 
Kreife der Möglichkeit. Graf Bismard war in Biarritz gewefen, ſei ed nun ledig. 
lich um fi von den Abfihten Napoleons in Kenntniß zu fegen, ſei e8 um fi 
mit ihm zu verftänbigen. Das legtere wurde ziemlih allgemein angenommen unb 
Herr Dehamps, eines der Häupter der katholifhen Partei in. Belgien, hatte bie 
Gelegenheit benügt die Belgier in einer Broſchüre, die großes Aufſehen erregte, 
auf die ihnen drohende Gefahr aufmerkſam zu machen. In weiten Kreifen hielt 
man es für wahrfceintih, ja foger für gewiß, daß Bismard dem Kaiſer ter 
Sranzofen Belgien odex wenigſtens einen größeren Theil vesfelben als Preis an⸗ 
eboten habe, wenn er Preußen in Deutichland freie Hand laffe. Die Annahme 
at fih ſeither als vurchaus irrig heransgeftellt, aber damals wurde fie als min- 
deſtens fehr wahrſcheinlich angefehen und das genügte. Das Jahr 1866 brachte bald 
barauf für Deutſchland die Entfheidung, ohne daß die Selbſtändigkeit Belgiens im 
Frage geftellt worden wäre. Doc läßt fih gar nicht läugnen, daß die Stellung 
Belgiens dadurch eine viel fehwierigere geworden iſt. Die Greigniffe von 1866 
baben tn Deutſchland eine Macht geichaffen, bie Frankreich jegt ſchon ebenbürtig 
ift, und ihm entſchieden überlegen fein wird, wenn fich der neue Bund — mas 
bob nur eine Frage der Zeit ift — über Südweſtdeutſchland ausgedehnt und 
mit Oeſterreich verftänbigt hat. Die franzöfifhe Nation aber, geſtützt auf ihre 
ganze Gefchichte wie auf ihre fo überaus günftige Weltftellung, wird fih nie dazu 
verfiehen in Europa bie zweite Rolle zu fpielen, und bie ganze Haltung Frankreichs 
feit dem Jahr 1866 zeigt, wie ſchwer es ihm fchon fällt, die erfte Rolle mit 
Deutſchland theilen zu müflen. Unter dieſen Umftänden ift es begreiflid, wenn 
man Frankreich die Abſicht und einen wohlüberdachten Plan zufchreibt, nicht bloß 
bie rein romanifhen Staaten Italien und Spanien, fonbern auch die Schweiz, 
Belgien und Holland in irgend einer Weiſe fefter an fich heranzuziehen und 
wenigftens bis auf einen gewifien Grad von fi abhängig zu maden, um fo ber 
allerdings gewaltigen Macht eines geeinigten Deufchlands ein genügendes Gegen- 
gewicht an die Seite ftellen zu können. Belgien vor allem bat in der That Ur- 
ſache, wahfam zu fein und fi auf jede Eventualität gefaßt zu halten. Cine 
gewiſſe Annäherung an Deutihland, von dem es in Wahrheit nichts zu beforgen 
hat, erſcheint für dasſelbe bei diefer Lage der Dinge geradezu als geboten. Die 

eigung dazu gibt fi auch bereits in Belgien wie in der Schweiz zu erkennen; 


«28 Nachtrag. 


fie it um fo begreiflicher, da bie Bevblkerung beiner Länder doch In -Überwiegenb em 
Mafe dem germanijchen und nicht dem romaniſchen Stamme angehört. 


. \ 9. Schulthed. 
Brafilien. 7 
Gachtrag zu Band II S. 216.) 


Die Grenzen Bräfiliens find noch immer nicht feftgeftellt; die Angaben 
über feinen Flächeninhalt ſchwanken zwifhen 130,000 und 150,000 [) Meilen, 
Eine Grenzregulirung zwiſchen Braſilien und dem franzöffihen Ouyana, welche 
1857 in Paris verhandelt wurbe, führte zu feinem Ergebniß und gegenüber Pa» 
raguay hat der Krieg Alles in frage geftellt. Bon biefem großen Areal find 
gegen 70 Procent freies Rand in Naturzuftend, etwa 3 Procent wirklich ange» 
baut, 12 bis 15 Procent unanbaubar (Flüffe, Seen, Sümpfe) und ber Reſt 
joa Eigenthumsland, aber noch nicht angebaut. In gleiher Weife unbeftimmt 
ft die Bevölkerungsſtatiſtik; nad) den neneften Daten (1868) zählt Brafilien 
10,058,000 Einwohner, ‘worunter 200,000 Indianer und 1,674,000, alfo immer 
hoch ein Sechstel ſchwarze Sklaven; die Zahl der Indianer beruht lediglich auf 
Schägung. Alle Verſuche, die Indlaner zum feßhaften Leben zu Bringen, find 
fehlgefchlagen; fle haben fi nicht mit den Weißen vermifcht, treiben Fiſchfang 
und Jagd, find mäßig und atbeitsfhen. Viele ver ältern, civiltſatoriſchen Miffionen 
unter ihnen find eingegangen, ohne daß neue dafür erflanden wären. Wo fte 
mit den Weißen in Berührung kommen, iſt dieſe meift eine feinpfelige. — Die 
fhwarze Bevölkerung hat zufehenns abgenommen, fett Brafilten felbft in folge 
des englifhen Zwangs bie Einfuhr der Neger verhinderte. Nachdem engliſche 
Wachſamkeit die Ausihiffung von Negen 1855 im Oftober bei Serinhaem 
überrafcht und bei der Brafilianifchen Regierung erneute, energiſche Klage geführt 
hatte, hob auch dieſe felbft zwei Sklavenſchiffe im Januar und Mär; 1856 am 
Rio Mucury und der Küſte von Eſpiritu fantu auf. Doch Hat noch 1866 Eng⸗ 
land 34 Sflavenfahrzenge mit 1303 Sklaven Fracht gelapert. Jedenfalls iſt bie 
Einfuhr bei folder Wachſamkeit auf ein Minimum repucirt. Abgeſehen von ver 
zahlreihen Vermiſchung in ben verfchiedenften Varietäten, vermindert bie Zahl der 
Sklaven jegt ihre durch ven Krieg mit Paraguay gebotene Freilafſung. Ein 
Deket vom 6. Nov. 1866 emancipirt die Sklaven, welde waffenfähig find und 
in die Armee treten, mit Weibern und Kindern, die meiften erliegen ven Stra» 
pazen bes Feldzugs. Im Mai 1867 iſt ein Geſetz Über die Abfchaffung der 
Sklaverei in Vorſchlag gebracht worben, welches das Aufhören derſelben bis zum 
Jahre 1900 in Ausfiht ſtellt. — Die Weißen vermehren fih nur ſchwach durch 
Einwanderung, deren Haupttheil Portugal’ und die Azoren liefern. In den See 
fädten, Rio de Janeiro, Bahia, PBernambuco find viele Franzofen, Engländer 
und Deutfhe als Kaufleute und Gewerbtreibenbe angeftevelt; faft alle inbuftriellen 
Unternehmungen find von Ausländern befeffen oder doch geleitet; in den Stäbten 
im Innern aber tft die Zahl der Fremden fehr gering. — Ueberhaupt iſt bie 
Devötlerungsbichtigkeit ungemein verſchieden; am volkeichften find die Provinzen 
Minos Gerard, Rio de Janeiro, Bahia; am wenigften bevölfert: Amazonas, 
Efpiritu Santu und Parana. — Die Landesfprahe ift die portugieflihe, etwas 
abweihend in Ausſprache und Schreibweife von dem europäiſchen Dialekt, das 
franzöfifhe Element findet Teiht Eingang, da man franzöftfhe Literatur au in 
ber Urfprache vielfah Tiest. Die Orthographie, felbft in officiellen Akten, ift 
ſchwankend. Die Eingebornen ſprechen verfchievene Dialekte der vokalreichen 
Onarant-Sprade (lingus ger), °— | | 





Sraßlien. 499 


»Laundwirthſchaft und Handel. Brafilien if ein Agrifulturland in 
eminentem Stan, das freilich vermöge feiner. Lage viele Produkte von außen be—⸗ 
ziehen muß, aber feine Einfuhr duch die Ausfuhr reichlich decken kann. Wenn 
gietchwoht dieſer hervorſtechende Agrikulturſtaat feinen rafchen Aufſchwung genommen 
bat, fo Hegt das ih dem Mangel einer wirklich freifinnigen und weifen Politik 
nach außen und befonders im Inneru, in der ſchlechten Wahl der Mittel gegen 
bie vorhandenen Uebelſtände, in der nergielofigleit in den Reformbeftrebungen 
ber Regierung und der Ueberfchägung feiner eigenen Kraft. Der Grunpbefig iſt 
noch nicht durch einen neuen ley territorial geregelt; dad Landmonopol wird aufs 
zecht gehalten uns eine Grundſteuer, ale Grundlage der Reforin, iſt nicht einge- 
führt worden. Eine eigene Kommtfflon (das Staats⸗Landamt) wurde zwar ge- 
bildet, um die noch unbefegten Krongüter (terras devolutas) zu vermefien; allein 
bie Arbeiten derſelben laſſen noch auf fi warten. Die VBefigtitel der Groß⸗ 
grundbeſitzer follten anterjuht werden; aber e8 wurde nur feftgeftellt, ne * des 
Kronguts angeblich in Privatbefig find. Es finden fi Häufig bis 100 U). Legoas 
im Beſttz einer Perſon. Die fiherfte Hülfe beftände in Einwanderung und 
Kolsnifation; beide werben irrationell betiteben, jo lange ohne Regelung des 
Landverkaufs bie Sicherheit des Befiges nicht hergeftellt if. Das 1861 gegründete, 
landwirthſchaftliche Inſtitut hat fo wenig wie alle andern Verſuche, zur Hebung 
ber Landwirthfchaft beitwagen kͤnnen. — Unter den Produkten Braſiliens Tpielt 
ber Kaffee noch mehr wie früher die Hauptrolle. Im Jahr 1867 wurden 2,659,768 
Sad zu 160 Bund (1,433,117 für Europa und 1,226,636 für die Vereinigten 
Staaten) erpedirt, das Doppelte innerhalb 5 Jahren (1863: 1;3850,109 Sad). 
Es tft aber als ein Fehler zu betrachten, daß fih Brafilien fo vorwiegend dem 
Kaffeebau Hingibt; bei der geringen Qualität wird die Bohne die Konkurrenz nicht 
mehr aushalten: Tönnen, fobold in nicht fehr ferner Zeit die Abnahme der ſchwar⸗ 
zen Arbeiter den Arbeitslohn bedentend feigern wird. Nächſtvem bilden Zuder, 
die fang nicht In der möglichen Ausbehnung Tultivirte Baummolle, Thierhänte, 
Hölzer die Haupthandelsartifel. Bon edlen Metallen wird Gold und befonvers 
Silber für die Minze ſogar eingeführt; die Ausbeute und Ausfuhr von Evelfteinen 
hat meienilich abgenommen. Bei der Einfuhr ſtehen Baumwoll-, dann Woll⸗ und 
Leimmandiwsaren, Eifen, Stahl, Maſchinen, auch Mehl und Ontter oben an. Im 
Jahre 1863/64 liefen 3234 fremde und 166 braſiliſche Schiffe mit 1,230,898 
Tonuen ein und 3067 fremde und 171 braſiliſche Schiffe mit 1,336,592 
Tonnen aus. Der Werth der Einfuhr betrug 1864/65 131,6 unb 1865/66 
138,1, bie Ausfuhr 141,4 und 157,0 Milllonen Milreis; der Handel hatte fi 
gegen 10 .Iahre vorher um circa 56 9/, geftelgert. Auf England famen 186876 
von der Ausfuhr 69,3, von ber: Einfuhr 73,7 Millionen Milrets; auf vie Ber 
einigten Staaten 29,9 und 6,5, auf Frankreich 19,2 und 22,4, auf bie 
La Plata⸗Staten 7,6 und 18,6, auf Bortngal 7,4 und 7,1, auf die Hanfeftäbte 4,2 und 
5,7, anf Spanim 2,5. und 2,2 Millionen Milreis Ausfuhr und Einfuhr. Bon 
der ‚Ausfuhr vermittelt Rio ungefähr 50, Bahia 14 und Pernambuco 12 9/,. 
Bom: Gelvumfag trifft 9/,, London, der Reſt Paris und Hambarg. Es eriftiren 
19 Bollämter, 6 große und 18 kleine Donanen, an denen nicht alle Waaren ver 
zollt werben können. Der Zolltarif vom 1. Juli 1857 ift beſſer als ber ältere, 
weit. er genaner fpeeifieirt; allein die Höhe des Zols tft ſchwankend, zumal bef 
vem gefteigerıen finanziellen Bedarf ſeit dem Krieg mit Paraguan. 

: Die fatholiſche Religion iſt Staatsreligion. Wohl bat die Regierung 
befondess: im Intereffe der Einwanderung ans dem nörblien Europa verſchiedene 


430 Nachtrag 


Vorſchläge (1861, 1866) zur Beſſerung ver Stellung und des Rechtſchutzes der 
Atatholiken gemacht; aber Ihre Bemühungen ſcheiterten an dem WBiderflanb ber 
Kammern. Darum ſind der deutſchen proteſtantiſchen Gemeinden ſehr wenige; 
fie wechſeln, je nachdem ein Pfarrer da iſt oder nicht; dieſe ſelbſt find- dfter ohne 
alle theologiſche Bildung und foger von fhlehtem Auf. Auch eriſtirt in ben 
Gemeinden eine ziemlihe Schlaffheit und geringe Opferwilligteit. Die größten 
Gemeinden find is ver Kolonie Donna Francisca (3—3500) und in Blumenau 
(2200). Die Miſchehe, lange als Konkubinat betrachtet, iſt zwar erlaubt; gegen 
rechtliche Uebergriffe namentlich in Erbſchaftsſachen ift aber ver Schug fehr gering und 
befonders Klagen von Koloniften gegen die Gutsherrn nur jehr ſchwer anzufirengen. 
Das Schulweſen hat kein erheblihe Förderung erfahren; wenig mehr als 19/, 
der Bevölkerung genießt den Volksſchulunterricht. 

In der Entwidiung der Berfaffung find keine bebeutenne Aenberungen 
zu notiren. Ein neues Gefeg für vie Wahlen der Deputirten kam im December 
1856 zum erften Mal in Anwendung Nach vem früheren Modus geſchah bie 
Wahl nad Provinzen und die Zahl der Abgeordneten fand im VBerhältuiß zur 
Bevölkerung. Nun ftellte die Regierung Bezirke auf; fe wollte bie Lolalintereffen 
berädfichtigen, im Grunde aber durch bie neue Form den politiſchen Einfluß ver beiden 
Barteien (Konfervative und Tiberale) drehen, fi felbft Träftigen. Freilich gelang 
e8 ihr nur für wenige Jahre, zu präpenveriren. Im Jahre 1868 verband fidh die 
liberale Partei mit der Regierung unter dem Namen Ligua. Der Zweck ber 
Ligueros war, mit Hülfe des Minifteriums einen vollſtändigen Sieg über bie 
Konfervativen zu erringen; als ihnen biefes geglädt war, ließen fie das Mini⸗ 
fterium im Stich. Die Liberalen felbft fpalteten fi in Progreffiften and Radi⸗ 
tale. Wie wenig man bei diefen Bezeichnungen an europälfhe Verhältnifſe denken 
darf, beweist, daß alle freifinnigen Vorſchläge ver Regierung in Konfeffions- und 
Kolonifstionsfragen in der Kammer den heftigften Widerſpruch erfuhren und 
noch befler bezeichnet die ohnmächtige Abhängigkeit der Regierung von den Parteien 
der häufige Miniſterwechſel. 

Innere Berwaltung — Das Budget von 1868/69 ſchließt ab mit 
659,000,000 Milreis Einnahmen (davon liefern die Zölle 3/5) und 67,742,627 
Milrets Ausgaben. Während bis 1849 die Ginnahmen immer unter den. Aus 
gaben gewejen waren, hatte von 1849 bis 1857 der Organifator der brafiltent 
Shen Binanzen, Vicomte von Habsrahy, ein Plus der Einnahmen zu erzielen ge- 
wußt. Allein in den leuten zehn Fahren wuchſen zwar bie Einnahmen ftets 
(59/60: 47,310,955; 63/64: 58,360,480; 65/66 62,827,191 n. f. w.), aber 
auch die Ausgaben in noch größerem Verhältniß, ganz befonvers feit dem Krie 
gegen Paraguay. — Das Minifterium des Innern verwendet davon 4,984, 
Milreis; davon kommen auf den Hof 1,078,000. — Die. Dampfidififahrt auf 
den großen Strömen und an der Küfte, unterflügt won der Regierung, Bat fich 
vermehrt, beſonders aber bie überfeeifche, die freilich hauptfächlich won engliſchen, 
dann auch einer hamburger und antwerpener Tinte und einer Oompanha da Pa- 
queta a Vapor Luro-Brasiliena betrieben wird. Im Sande felbſt ift die Kom» 
munikation ſehr fchleht, gute Straßen fehlen und Maulthierfarauauen müfien 
den Verkehr vermitteln. Der 1854 begonnene Eiſenbahnbau macht nur fehr lang⸗ 
fame Fortfchritte, wenn man bamit die Anlagen in den Argentiniſchen Republiten 
vergleicht. Der raſcheren Vollendung ftehen nicht nur Iofale Schwierigkeiten und 
Mangel an Arbeitöfräften, ſondern namentlich die im Lande allgemeine gegen- 
chotlifntorifshe Bewegung entgegen, Die Bahn Dom Pedro IL. werde 1866 


Scaftlien. 481 


voenbet; andere von Bahia, Pernambneo, ©. Paulo, Lantogallo find noch im 
Ban umd weitere ft im Projekt. 

Dos Minifterum der Juſtiz bat 3,306,967, das des Aeußeren 858,558, 
das der Marine 8,162,871 Mitreis. Die Flotte zählte 1867 von nit gepan« 
zerten Schiffen 11 Segelfchiffe (4 Korvetten, 1 Fregatte u. f. w.) und 46 
Dampfer; von Panzerſchiffen waren 12 flott, 4 im Ban. Nicht armirte Fahr⸗ 
zenge beſaß Brafilien 3 Fregatten, 2 Korvetten, 1 Brigg und 1 Transpartichiff. 
Der Krieg am La Plata veranlaft unausgefegt neue Anfchaffungen. Ein Geſetz 
vom 8. Juli 1865 beftimmte die Stärke der Streitkräfte zur See für 1866/67 
anf 8000, eventnell 6000 Mann. — Das Kriegeminifterium hat 14,415,108 
Milreis. 1867 betrug bie reguläre Armee 25,844 (Infanterie: 16,650, Kava- 
lerie: 4231, Artillerie: 4322, Speciallorps: 641). Die Operationsarmee im 
Feld beftand aus zwei Korps zu 33,078 und 15,396, fo daß die Gefamintftärfe 
der Armee 74,318 war. Die Werbung gefgieht durch Handgeld, Landſchenkung, 
befonders aber (%/, ver Mannſchaft) durch Prefien. Diefe Gepreßten haben ge- 
ringeren Sold; kein Wunder, daß burhiänittlid 1/,, im Jahre deſertirt. Nichte 
zeigt. die Schwäche Brafiliens deutlicher, als die Art, wie es den durch ven Krieg 
beningten Mehrbedarf an Soldaten deten muß. Der Senator Paranchos erflärte 
(9. Sept. 1867) im Senat, daß man buch eine förmliche Menſchenjagd das 
nöthige Kanonenfutter aufbringen müſſe; die (für gemöhnlid nur. auf vem Papier 
ſehr hochbeziffert figurirenden) Nationalgarden werden mit Ketten in die Häfen ge- 
ſchleppt. Stieven und Berbrecher befinden ſich im brafilianiſchen Heer; ja Irtege- 
gefangene Paraguiten wurden zum Dienft gezwungen. Die Zwangerefratirumgen 
erfiredten ſich trotz Einfprache der fremden Vertreter auch auf die in Brafilien 
geborenen Söhne der Fremden. — Das Binanzminifterium braudt 23,754,481 
Milreid und außerdem 8,500,000 für bie Schuld. Das Kapital der inneren 
füundirten Schuld war am 31. März} 1867: 106,350,600 Müreis; vie äußere 
being 14,735,200 Pf. Sterling, zufemmen ungeführ 166,000,000 Milfreis. 
Daneben gibt es noch ein ſchwebende Schuld, nämlich Papiergeld mit ſehr ſchwan⸗ 
fendem Kurs, wovon Ende 1861 4,336,500 Milreis in Schapfcheinen und 
85,249,151 eigentlihes Papiergeld im Umlauf waren. Mitte 1867 aber cirfn- 
lirten ſchon 110 Millionen Milreis Staatspapiere und 180 Millionen Bank⸗ 
papier. Dazu votirte die Kammer eine nene Emiffion von 145 Millionen auf 
10,000,000 Meufgen und einen leeren Staatefhapd. Am 31. December 1866 
waren bie Staatsaktiva außer rüdftänpigen Stenern das Guthaben des Staats- 
ſchatzes an vie Eifenbahnen von Bahia und Pernambuco (2,739,426 Milreis) 
und die Schuldforberung an bie La Plata-Stasten 8,484,088 (an vie Wrgenti- 
niſchen Republiken 1,951,604 und an liruguay 6,482,294). Der Krieg, ber 
täglich etwa eine Million Francs verſchlingt, hatte 1867 Braſilien bereits unge 
fähr 600 Millionen Fr. gekoſtet und trägt bie Hauptſchuld an der reienden 
Bergrößerung der öffentlichen Schuld. Gold und Silber haben bedeuntendes Agio. 
Zu heifen ſucht man fi neben Papiergeld durch Zollerhöhungen, die dem Hanbel 
ſchaden und durch neue Steuern. Man flag fogar den Verkauf ver Eifenbahn 
Dom Pedro II. vor. 

Aeußere Politil. — Das Streben nad) der Hegemonie in Sübame- 
rita hat Braſilien in einen Krieg verwidelt, ber feine eigene @riftenz bald in 
Frage ftellen wird, jedenfalls feine gänzlidhe Unfähigkeit und Ohnmacht dentlich 
gemacht hat. Brafilien bat von je feine Hand in ben VBerhältmiffen ver La Plata- 
Staaten und die Zermäürfniffe in venfelben erleichterten ibm ſein Beſtreben. Cs 


3 
firen ; im Kern iſt bas nur eine Bemänttung bes Berfuchs, fi ſelbſt in ben 
Beige der Herrfchaft über dieſe Ströme zu ſetzen. In ter Hoffnung auf europäl- 
ſches Gingreifen Inüpfte es vie Freigebung der Schiffahrt auf feinen eigenen 
fien an eine gleichzeitige auf den fünlichen Grenzſtrömen Brafiliens. So iR 
es in der That wur als eine Abſchlagszahlung an vie öffentliche Meinung Europa's 
angufehen, wenn Brofllien durch Beſchluß vom 7. Dec. 1866 den Amazonenſtrom 
mit dem Rio Negro und Mabelra, den Tocantin und Rio ©. Franzislo vom 7. 


E 


sag 
nifſe der ſüdamerilaniſchen Stanten unter einander und nach außen berathen werben 
ſollten, ausweichend beantwortete. 

In eine große Gefahr brachte Brafilien 1862 fein Konflikt mit England 
wegen eines an der Käfte von Mio Graude do Sul an ber Grenze um Urn⸗ 
guay gefcheiterten englifcgen Haudelsſchiffes. England behauptete, die Ladung ſei 
eraubt worden unb vrriangte 6000 Pf. St. Entihäbigung. Gin nächtlidger 
Stanbal einiger engliſchen Offiziere veranlaßte noch erhöhte Satisfaltionsanfprädke. 
as ſich Brafilien weigerte, nahın man nad einem Ultimatum 1862 im December 
kurzer Hand fünf brafiliihe Handelsſchiffe in Beſchlag mit der Erklärung, fie 
gegen 6500 Pf. St. für beide Klagen herausgeben zu wollen. Brafllien prote- 
ftirte, gab aber Anweiſungen auf London für den gefceiterien Prince de Gallas; 
bie Offiziersangelegenheit follte der König vom Belgien entfeiden und eine Re 
Hamation wegen der Beichlagnahme der fünf Schiffe behielt man ih vor. Jede 
Genugthuung wurde von Seite Englands abgefhlagen und 1863 erfolgte durch 
Abberufung des Geſandten ver biplomatifhe Bruch. Die Angelegenheit der Offi⸗ 
lere wurde, wie zu erwarten, zu Englands Ungunften eutfchleden; die zweite 

zage ruhte und der Gigenfinn Braftliens geftattete ihm erft 1865 im März die 
mehrmals ſchon angebotene Vermittlung Portugals anzunehmen, da ber Handel 
in Folge mangelnder politiſcher Beziehung erhebli litt und durch den Krieg am 
La Plata Brafilien ven Iondoner Geldmarkt mehr als je beburfte. Am 14. Nov. 
1865 beglaubigte ſich Thornton als engliſcher Geſandter In Rio de Janelro; bie 
Imvdemnitätöfrage wegen der fünf Schiffe follte fpäter freunbfchaftlich geregelt 
werben. 

Das wichtigfte und folgenfchiwerfte Ereiguig für ganz Südamerika fl ver 
Krieg mit Uruguay und in feinem Gefolge namentlich mit Paraguay. Da 
feit 1863 die gegenfeitige Stellung der Staaten am Ya Plata unter enropätfcher 
Garantie fand, fo ftellte Brofilien feinen Angriff als Repreſſalie Hin; Brafllier 
in Urngnay verlangten nämli von der braſiliſchen Regierung Schutz für ihren 


Braſtlien. 483 


Sklavenbeſitz, der doch in Uruguay ungefeglic if. Auch eine Grenzregulirung 
follte erzwungen werden und Brafllien wußte viel von feinen „natürlichen Gren⸗ 
zen“ gegen Weſten vorzubringen. Der Grund liegt aber viel tiefer, in der Eifer- 
ſucht Brafiliens auf die Entwidiung des freien Nachbarſtaates durch Einwanderung 
trotz feiner unficheren Zuſtaͤnde. Man Bat den Kampf, zumal feit er Paraguay 
angeht, als den Kampf zweier Principien, ald einen Kampf zwifgen der Oligarchie 
der Stiavenhalter und der republilanifchen Demokratie richtig bezeichnet. In Rio 
be Ianetro felbft war bie Bande oriental (Uruguay) neutralifiet worden; Brafllien . 
wollte feinen Einfluß nit aufgeben am La Plata, nur masliren; es blieb in 
beobachtender Stellung. Als die weiße Partei 1858 in Montevideo mit Hälfe 
Brafiliens Aber die Rolorados geflegt, fi aber dann dem Einfluß Brafiliens 
entzogen und offen um ein Bünbni nad Paraguay gewaudt hatte, kündigte man 
Jan. 1861 den 1857 gefcglofienen Hanvelsvertrag. Die Klage ver Brafillaner in 
Uruguay bei der Kammer in Rio gab willlommene Gelegenheit zu Reklamationen 
und 1864 im April verlangte der außerordentliche Geſandte Saraiva heftig Ge 
nugthuung in Uruguay. Der Bräfivent Aguirre verweigerte fie, obgleih er mit 
Slores, dem Führer der nun von Brafilien unterſtützten Kolorados im Kampf lag. 
Am 30. April erhielt der brafiliſche Befandte feine Päfle und Paraguay wurde 
um Hülfe angerufen. Die Negierung, von Paraguay kündigte in Mio an, fie 
würde jeden Ungriff auf Urmguay ale casus belli betrachten. Brafilien hoffte auf 
Ricgtinrervention von Seite der Argentiniſchen Republiten und verband fi im Auguſt 
1864 mit den Truppen bes Flores; die Partei der Blancos kounte ſich nicht 
halten; ſchon 20 Febr. 1865 wurde bie Gewalt dem Flores übertragen. In 
biefer Konvention verpflichtete fih Urmguay, die mit Frankreich und England ab- 
gefchloffenen Berträge au auf Brafilien auszubehnen. Der Einfluß Brafiliens 
war fomit wieder bergeftellt, aber in Rio war man mit diefer Ausbeute nicht 
ſehr zufrieden und Batte mehr Erfolge gemänfht. Später hat Brafilien das als 
uneigennägige Mäßigung gegenüber Uruguay bei ven fremden Mächten gut zu 
verwertben gewußt; es hätte ben Vertrag gewiß gebrochen, wenn nicht damit eine 
Allianz auch der Argentinifchen Republiten mit Uruguay und Paraguah zu fürchten 
gewefen wäre, 

Das war aber nur ein Vorſpiel für ven ernſteren Kampf geweſen; ber ge- 
fährlihere Gegner war noch übrig. Langjährige, durch die Diplomatie nothdürftig 
bingefchleppte Differenzen kamen in dieſem Kriege zum Ausbruch. Paraguay hatte 
feiner Eröffnung in Mio gemäß gehambelt und nach dem Angriff Brafiliens auf 
Uruguay das brafiliſche Schiff Marques de Olinda bei Aſuncion genommen, 
auch A—5000 Mann in die Provinz Mato grofio bis Cuyhaba einräden lafien. 
In Rio wurde ber paraguitifche Krieg mit Enthuflasmus begrüßt, um jo mehr, 
als die Konvention mit Uruguay Brafilien frete Hand gab. In der Flotte war 
es überlegen und auch die Landmacht wurde durch Dekret vom 21. Januar 1865 
auf eine entfpreheuvde Höhe gebracht; der Angriff follte von drei Seiten erfolgen, 
von Mato groflo, von S. Paolo aus und durch die Flotte auf dem La Plata. 
Auf die Neutralität der Argentinifhen Republiten zählte man mit Sicherheit; in 
der That war jeber Kampf bei den Argentinern unpopulär; ba veranlaßte Lopez, 
der Präfident von Paraguay, felbft durch Einfall in Eorrientes und Feſtnahme 
argentinifher Schiffe in Aſuncion die Parteinahme ver Urgentinifchen Regierung 
für Brafilien. Am 8. Mai 1865 verbünbeten fi Brafilien, der Präfident Mitra 
umd Flores zu einer Tripel-Alllanz in Buenos-Ayres gegen Paraguay. Auf ber 
Henptangriffslinie im Suden zogen ſich die Paraguiten bald in ihre Gebiet zuräd 

Sluntfgli un Brater, Deutſchet Staate⸗Wörterbuch. X. 28 


434 Nachtrag. 


und koncentrirten fich, auf die Defenfive befhräutt, in dem Winkel, den der Zu⸗ 
fammenfluß des Paragnay und Parana bildet. Dort beherrſchen fie vie Fluß⸗ 
ſchiffahrt durch ihre Marke Feſtuug Humaite, „pad Bibraltar von Paraguay“, 
wie es Lopez felbft nennt. Europa gegenüber will VBrafilien nur Preigebung 
ver Schiffahrt erzwingen und man hat fi jo weit täufchen lafien, daß das euro- 
paiſche Konfulartorps den Kaiſer bei feiner Abreiſe ins Lager 1865 (11. Iuli) im 
einer dußergewöhnlichen Demonſtration als Cinilifater und vie Paragniten als 
Friebensſtbrer hinftellte. Freilich erwartete man damals einen rafchen, leichten Sieg 
über das Heine Paraguay. Über noch jept (Mitte 1868) fliehen die Sachen gerade 
fd vor Humaita, wie vor drei Jahren *); ebenfo wenig ift an ben anbern 
Angriffslinien, wo bie Operationen viel fhwieriger una die Maunfchaften fehr 
unbedentend find, von den Brafllianern irgend ein Bortheil errungen worden. 
Braſiliens Hölfsquellen find fehr entlegen; alle Bebärfniffe find theuer und die Haupt⸗ 
fumme ver Kriegsfoften muß im Lande der Verbündeten verzehrt werden. Im 
Heere grafliren faft ununterbrochen Krankheiten; Defertion ift häufig. Im Lande 
ſelbſt iſt der Krieg ſchon an vielen Orten unpopulär geworben; bie und ba (5. B. 
in Pernambuko) drohen Aufflände und man fürchtet, Lopez werbe die Sklaven für 
frei erflären und eine Skiavenerhebung herbeiführen. Zudem muß Brafilien jet 
ben rieg fo gut wie allein führen; die Zruppen von Uruguay fehlen ganz 
und Mitre braudt feine Soldaten zur Unterbrädung von Revolten in den Ür« 
gentinifhen Republiken. In beiden Staaten fiehen ſich ſtets fampfbereit die Par⸗ 
teien, in Uruguay die Kolorados und Blancos, bier die Gentraltfiad (Mitre) und 
Konfederiſtas (Urquiza) gegenüber. Beide aber find einander gleich in der Abnei⸗- 
gung gegen Brafilien ans altem, erblihem Racenhaß, und in der Abneigung 
gegen ven Krieg, die fo weit gebt, Haß man ben 1868 noch abtrelenden 
Mitre fogar wegen feines Bünpnifjes mit Brafilien zu verflagen gedenkt. Dazu 
fommt die offenbare Unfähigleit der Führer, Mitre's des Obergenerals, wie Ta⸗ 
mandare’e, des Wlottenbefehlshabers; unaufhörliche Eiferſüchteleien lähmen ihre 
Thätigkeit noch mehr, das bat fi auch nicht gebefiert, feit Ignacio Tamandare 
(Oktober 1866) erfegte und Carias Ins Lager ging und an die Spitze ber 
Führung trat. Endlich legt die heiße Jahreszeit (December bis Februar ungefähr) 
regelmäßig einen unfreiwilligen Waffenftillftand anf und die Ueberfgwenmungen 
des Paraguay zwingen die Alliirten öfter, ihre Stellung zu verlaflen. Dem 
egenüber fteht Paraguay, vor Beginn bes Kriegs wohlgerüftet, ein Bolt in 

affen, nicht von Bartelen zerfleiſcht. Lopez, ben brafiliihe Nachrichten als 
Tyrann verfohrieen, findet im Gegentheil volftes Vertrauen wa unbebingten Ge⸗ 
horſam **), Weiber und Männer eifern um bie Wette im der Vertheidigung bes 
Baterlandes, dieſe als Soldaten, jene, indem fie ven Ackerbau in die Hand 
nehmen und fo die Zufuhr auf ein Heineres Maß surüdführen. Diefe befteht, 
trogdem der Weg nad Süden abgefhnitten ift, über Bolivia, das wenn nicht 
verbündeter, doch freundlicher Nachbar von Paraguay If. Die Kraft des Boltes 
ift noch ungebrodgen, wie im erften Jahr des Kriege. Nah Allen ift Brafilien 
fein günftiger Ausgang zu prophezeien. Sollten wirkli vie Paraguiten Humaite 
räumen müſſen, fo wird fich derſelbe Kampf wenige Meilen nördlich an der 
Mündung des Tabienary in ven Paragnay, einem minbeftens fo feften Punkt, 


*), Yumaltı iſt am 5. Auguft 1888, nachdem der größte Theil der Befapung im Siche rheit 
gebracht war, den Brafilianern und ihren Verbündeten uͤbergeben worden. Anm. d. Red. 
”*) In neuſter Zeit hat es auch bier nicht an Inneren Kämpfen gefehlt. Anm, d. Red. 


Srafitien. 435 


wie Humaita felbft, wiederholen.) Die Argentiniſchen Republiken ſind geneigt 
mit Paraguay Frieden zn ſchließen, dann flünde Brafilien allein. Bis jest 
Bat es alle Bermittlungsvorfchläge zurüdgewiefen, engliſche wie nordamerikaniſche. 
Ja, e8 haben die Verhandlungen zwiſchen Caxias und dem norbamerilanifchen 
Sefandten für Paraguay, Wafhburne, eine bevenflihe Wendung genommen. 
Dfienbar legt Nordamerika feinen Einfluß für Paraguay in die Wagſchale und 
das macht Braflliens Lage nicht weniger kritifch, 

Einwanderung und Koloniſation. — Das Bebärfnig nad fremden 
Einwanderern ift nur geftiegen, feit der Sklavenhandel nun wirklich unterbrädt 
und die Aufhebung der Sklaverei (1867) in Ansficht genommen worben iſt. Der 
Wunſch, ven Farbigen ein bebeutendes Gegengewicht gegenüber zu ftellen, wirb 
dringender, feit Sflavenanfftände proben. Bergeblihd waren die Berfude, vie In- 
bianer anzufledeln. Die Einfuhr von Chineſen zeigte fi als verfehlt; diefe weni⸗ 
gen, den nievern Klafien angehörig, wurden von Brafiltern und Europäern gleich⸗ 
mäßig zurüdgefegt und vermifchten fi daber ſchwer; man führt feine mehr ein. 
So bleibt es eine große Frage, wer einmal vie nörblichen Theile Brafiliens, vie 
bo für den Europäer gar nicht pafien, Tolonifiren fol, da vie Negerzufuhr nicht 
mehr eriflirt. Gerade für diefe Gegenden hatte man an Chinefen und Hindus 

edacht. Das Wichtigfte für Brafilien wäre die freie Einwanderung von Weißen, 
efonders germanifchen Stammes gewejen. In der That hat vie Regierung hier 
die beften Abſichten; fie jheitern aber an dem Widerſtand der Pflanzerfafte, die 
den freien Ürbeitern abgeneigt if. Die Parceria bat ſich natürlid nicht bes 
währt; da das Berhältnig der Einwanderer mit einer Verſchuldung begann, wurde 
bald völlige Sklaverei daraus, zumal für die Schuld die ganze Familie haftbar 
war und Fein Verſchuldeter vor Tilgung der Schuld die Kolonie verlaſſen darf; 
ja der Befiger kann feinen Kontraft anf einen andern Übertragen. Die Schwäche 
der Regierung dieſen Pflanzern gegenüber zeigt fi unter Anverm ſchlagend daran, 
daß fie dem ſchweizeriſchen Geſandten Tſchudi, deſſen Hauptaufgabe gerade eine 
Unterfuhung der Lage ſchweizeriſcher Eingewanderter war, den Zutritt zu ben 
Gutern der Pflanzer nicht erzwingen konnte. Die Gründung von Stantsfolonien 
bat man aufgegeben; man verfuchte es mit Privatlolonten. Die leidliche Art, auf 
welche Donna  ranziöte, Blumenau, S. Leopoldo und einige andere Kolonien 
ihr Dafein friften, ift nur ein Hinberniß geworben für die Annahme eines rich⸗ 
tigen allgemeinen Syſtems; Brafilien braucht fie als Aushängeſchild dafür, daß 

erhaupt etwas in Kolonifationsfachen geſchieht und dann brachten fie die Bra⸗ 
fillaner zu dem Glauben, vie eingefchlagene verkehrte Methode fei für Brafllien 
die richtige. Der 1857 gegründete „Kolonifations-Eentralverein” bat jo gut wie 
nichts geleiftet. Mehrere Millionen Milreis hat er verausgabt, nicht zum gering» 
fien Theil an die elenden Lohnſchreiber und Agenten, welde in Brafllien, aber 
aud in Deutfchland, England und Frankreich Bratilien anpreifen, Auswanderer 
anloden und ber gebildeten Welt den wahren Zuſtand verbeden follen. Eo lange 
die brafiliſche Regierung feine gründliche Remedur durchanfegen wagt, fo lange 
fie nicht die Konfeffionen gleihftelt und dadurch die Ehe zwifchen den verfchiebe- 
nen ſchützt, nicht rechtlichen Schut dem Einwanderer zu fihern weiß, nidt die 
VBerkehrowege erleichtert und vermehrt und vor Allem, fo lange fie nicht eine 
Orundftener einführt: fo lange iſt e8 Pflicht der Regierungen, beſonders der beut- 


*) Seitdem das Obige ieben wurde, i au er Punkt in die Hände der Brafllianer 
FE iu ge geſchr ſt q deſer Punt 
28 * 


436 Nachtrag. 


ſchen, von ver Auswanderung nah Braſilien ernſtlichſt zu warnen, wenn die Ans- 
wanderer Agrikulturzwecke verfolgen. Deutſche Handelsleute und Indnſtrielle be— 
finden ſich in Rio ſehr wohl. Jedenfalls ift nur der ſüdlichſte Theil von Brafilien 
für Deutfche geeignet und felbft diefem find tie La Plata-Etaaten bei Weitem 
vorzuziehen. Bor der Hand hat die Auswanterung ter befferen Kräfte wieber 
den naturgemäßen Weg nach Nordamerika eingeſchlagen. — Die Inneren Krifen, 
welche eine Nation durchzumachen bat, haben die fpanifch-amerilanifhen Republi- 
ten faft überſtanden; die Geſellſchaft diefer Staaten geht der Einheit entgegen. 
Sklaverei, Beudalherrihaft und Landmonopol werben Braftlien zur politifden und 
foctalen Auflöfung treiben. — 

Lebendige und reihe Auffchläffe über dieſe Verhältniffe finder man befonders 
in Ave-Lallemant, Reiſe in Süpbrafilten i. I. 1868. %pz. 1859. 2 Bde. 8. und 
deſſelben Reiſe durch Norpbrafilien 1. I. 1859. Lpz. 1860, 2 Bde. 8., Tſchudi's 
Reifen in Brafilien. Lpz. 1866 u. 1867. 3 Bde. 8. und den verichiedenen Schriften 
von I. I. Sturz. Thowect. 


CEhina. 
(Nachtrag zu Band II ©. 430.) 


Zum Verſtändniß der wichtigen neueren Vorgänge, durch welche das dhinefifche 
Reid, wie das verwandte Japan, dem Weltverfehr definitiv eröffnet wurbe, iſt es 
nötbig, auf die früheren Beziehungen zwifchen England und China einen Rüdblid 
zu werfen. 

Der Verkehr zwiſchen beiden Ländern wurbe früher für England ausſchließ⸗ 
lich durch die privilegirte oftlindifhe Kompagnte, für China durch die ebenfo pri- 
vilegirte Gefelfchaft ver ſog. Hongfauflente vermittelt und blieb auf einen einzigen 
Punkt der ganzen langen Küfte des chinefiſchen Reiche, Canton, eingefchräntt. 
Wiederholte Berfuhe Englands, die es in ven 3. 1792 uud 1816 durch eigene 
Sefandtichaften an den Hof zu Peding unternahm, um die Sandelserfgwerungen 
durch Auflagen ꝛc. zu befeitigen, die Zahl ver ihm geöffneten Häfen zu ver- 
mehren und mit den chineſiſchen Behörden virekte Beziehungen anzufnüpfen, blieben 
im weſentlichen durchaus erfolglos. Trotzdem machte der Verkehr zwifchen England 
uud China ftetige, wenn auch langſame Wortfchritte und es war uur zu be 
dauern, daß ein beträchtliher Theil verfelben fih auf ven Handel mit Opium 
bezog, den die hinefifche Regierung aus guten Gründen aufs firengfte verboten 
hatte, der aber eben darum den größten Gewinn abwarf. Die oſtindiſche Kompagnte 
hatte fich dieſes Schmuggelhanvels bemädtigt und dadurch dem englifhen Namen 
überhaupt die berechtigte Mißachtung ber chineſiſchen Behörden zugezogen. Mit 
bem 3. 1834 follte jedoch das Privilegium der oftinvifchen Kompagnie erlöfchen : 
die englifhe Regierung nahm die Verwaltung Oftindiens in ihre eigene Hand, 
der Handel, au nah China, wurde vollſtändig freigegeben. Um die Beziehungen 
desfelben zu den chineſiſchen Behörden zu regeln, fandte die englifhe Regierung 
zu berfeiben Zeit Lord Napier und nad defien Tod zwei Jahre fpäter Kapitän 
Elliot ale Bevollmächtigte nah Canton. Der Schmuggel mit Opium batte 
inzwiſchen bis 1834 eine bisher unerhörte Auspehnung erhalten und war von 
den englifchen Behörden nicht nur nicht gehindert, fondern im Interefje Oſtindiens 
unzweifelhaft begünftigt worben. Die chineſiſche Regierung wurbe dadurch zum 
Aeußerſten getrieben und fchritt zu entſcheidenden Maßregeln. Am 18. März 
1889 erfchien ein kaiſerlicher Kommiffär in Canton und veröffentlichte ein Edikt 
bes Kaiſers, nach welchem alles an Bord der Schiffe im Hafen von Ganton be 


Chine. 487 


ſindliche Opium ohne weiteres den chinefiſchen Behörben ansgeliefert werben follte 
und zu dieſem Ende der ganze engliche Faktoreibezirk von allem Verkehr mit ber 
Stadt abgefhnitten und geradezu in Blokadezuſtand verfegt wurde. Kapitän Elliot 
bot den chinefiſchen Behörden die Hand und im Juni wurden wirklich nicht weniger 
als 20,363 Kiften Opium im Werthe von britthalb Millionen Pfund Sterling 
den chineſiſchen Behörben ausgeliefert, worauf bie englifhen Kaufleute die Faltorei 
in Canton verließen und fih nah Macao zurüdzogen. Die hinefifche Regierung 
aber, durch den erften Erfolg ermuthigt, ging alsbald weiter, indem fie den eng⸗ 
liſchen Kaufleuten die Rückkehr nach Canton für alle Zukunft verbot und vie 
Opiumeinfuhr geradezu mit dem Tode bebrohte. Am 5. Iannar 1840 erfchien 
in Folge uenerlicher Konflikte ein kaiſerliches Edikt, das die Engländer außerhalb 
des Geſetzes erflärte, allen Handel mit ihnen für immer verbot und auch jeben 
Nicht ˖ Englaͤnder, der fi mit der Verfährung englifher Waaren abgeben follte, 
mit ben härteften Strafen bedrohte. Die ganze Ungelegenheit hatte jet bie 
Dpinmfrage weit überfchritten. War bie chinefiihe Regierung bezüglich dieſer im 
Interefie ihrer Angehörigen durchaus in Ihrem Rechte geweſen, fo war dieß nidt 
mehr im gleichen Maße der Ball, nachdem ihrem weitgehenden, aber wenn man 
will berechtigten Verlangen von Seite des englifhen Bevollmädtigten ein Genüge 
gefchehen war, fie aber in ihrer Selbſtgenügſamkeit den erften Erfolg dazu benutzt 
batte, fich neuerdings gegen bie Fremden gänzlich abzufchließen, ohne in ihrem 
beſchräͤnkten Hochmuthe auch nur eine Ahnung zu haben, daß dieß bei dem tota- 
len Umfhwunge des gefammten Welthandelsverkehrs bereits eine Unmöglichkeit 
fgorben war und ohne zu wiſſen, mit welhem Gegner fie es zu thun habe. 

e englifche Reglerung hielt fi) nach dem Geſchehenen für berechtigt, den Hand⸗ 
ſchuh aufzunehmen nnd dem britiſchen Namen in Ehina mit Waffengewalt Achtung 
zu verſchaffen. Es wurde eine Escadre unter dem Oberbefehl des Admiral Sir 
George Elliot abgefendet, an deſſen Stelle fpäter mit verftärkten Streitkräften 
Anmiral Parker trat, von Sir Henry Bottinger als Eivilbevollmächtigten begleitet. 
Um 29. Auguſt 1842 kam der Friede von Ranking zu Stande. Die Chinefen 
traten die Iufel Hongkong ab, verfpradhen binnen 3 Jahren 21 Millionen Doll. 
I zahlen und ven Engläntern fofort bie Häfen von Santon, Amoy, Futfcheufu, 

ngpo uud‘ Schanghal zu Öffnen. Die hinefifhe Regierung befolgte die kluge 
Politik, die den Englänbern eingeräumten Rechte auch auf bie übrigen feefahren- 
den Nationen anszudehnen, was England fich gefallen laflen mußte. Demgemäß 
ſchloſſen auch vie Vereinigten Staaten von Nordamerika am 3. Juli 1844, Yranl- 
reih am 24. Dit. desſelben Jahres befondere Verträge mit China ab. In Folge 
des letzteren ließ ſich der Kaiſer dazu herbei, durch ein Edikt ſeinen Unterthanen 
den Uebertritt zur chriſtlichen Religion zu geftatten. 

Durch den Frieden vor Ranting ſchien endlich für die fommerciellen und po- 
litiſchen Beziehungen zwifchen den europäiſchen Megierungen und dem Reiche ber 
Mitte eine fefte vertragsmäßige Bafls gewonnen zu fein. Allein nur zu bald er» 
gab fi, daß dieß auch jet noch keineswegs der Fall war. Bon den fünf Häfen, 
welde China zu Öffnen fih anheiſchig gemacht hatte, blieb der wichtigfte, Canton, 
verſchloſſen. Zunähft war es nicht bie chineſiſche Centralregierung, fondern bie 
Stadt felbft, deren zahlreiche Bevölkerung fi einer Erfüllung des Vertrags wider⸗ 
feßte. Als jedoch endlich, nad) beftänvigen Unterhanblungen und ernenerten friegeri- 
fen Demonftrationen, im Jahr 1849 die Deffnung des Dafens erfolgen follte, 
warb das englifche Begehren von Peding aus rund abgefchlagen. Die Unbahnung 
regelmäßiger Beziehungen mit Europa auf dem Fuße der Gleichheit war noch 


488 Nadtrag. 
lange mit erreidt m aD enfohgte foger cin entfäitener mub elgemener 


gar 25. Februar 1850 flarb der Kaiſer Taoknang, ber ſeit 1820 regiert 
und der ſich wenigftens gegen Ende feiner Regierung zu ber Einſicht belehrt hatte, 
daß die Abfchliegung des Reichs nicht länger aufrecht zu erhalten und daß feine 
Macht derjenigen der fog. Barbaren nicht gewachſen fei, weßhalb nothgedrungen 
ihren Forderungen fo weit möglich nadhgegeben werben müfle. Ihm folgte feim 
Sohn unter dem in Europa bekannten Namen Hienfong und mit ihm trat alsbelb 
eine entſchiedene Reaktion gegen die Fremen ein. Im Rovember desfelben Jahrs 
wurden die beiden einflußreichſften Männer der bisherigen Regierung, Mutſchangah 
der KRabinetspräfldent und Kiying, der Unterhänbler mit ben Fremden, jener in 
Nubeftand verfegt, diefer degradirt und zum überzähligen Schreiber in einem Mi- 
nifterisibfirenu ernannt. Die Verträge mit den Fremden follten nit nur nicht 
vollfländig ausgeführt werden, fo weit fie e8 noch nit waren, fondern vielmehr 
allmälig wieder ganz befeitigt und das Neid) wie bieher völlig abgeſchlofſen werben. 
Beitere Konflitte mit den Englänvern namentlib, aber aud mit ben Franzofen 
and Nordamerilanern waren vorauszuſehn; zunädft jedoch traten fie zurüd vor 
der gewaltigen Rebellion der fog. Mingleute, bie, von ben nordweſtlichen Berg- 
gegenven des Ride a ausgegangen, tn vemfelben Jahre, in dem ver neue Kalfer 
den Thron beftieg, ven Beſtand des Reiches felbft von innen aus im Frage ftellte. 
Im September 1850 war Ihr Anführer Taiping ſchon fo weit, fih zum Kaifer 
proflamiren zu lönnen und feine Schaaren breiteten fi in ven Jahren 1851 und 
1852, namentlid im legteren, immer weiter nad Often bis an dem Yangtſekiang, 
die Sanptwafferader des Reichs aus, nachdem die Tatferlihen Truppen überall 
entweder ſchmählich davon gelmufen oder aber fort nicht minder ſchmaählich gefchla- 
gen waren. Am 21. März 1853 zog Zaiping in Nanking, ver zweiten Stabt 
des Neichs, ein und verkündete eine nene Religions und Regierungsform, indem er 
fich mit fieben Königen als feinen Statthaltern umyab. Mit diefem großen Erfolge 
fam aber die ganze Bewegung zum Stillſtande, ein weitere® Vorbringen gegen 
Peding mißlang wiederholt, die Nebellen erlitten mehrmals empfindliche Nieder⸗ 
lagen. Dennoch blieben große Thelle des Reihe namentlih des Stromgebietes 
des Yangtſekiang In ihren Händen und wurde aud in dem folgenden Jahren auf 
zahlreichen Punkten zwiſchen ihnen und den Kaiferlichen mit wechſelndem Erfolge 
geftritten. Die Folge davon war eine vollfländige Zerrättung ber chinefiſchen Fi⸗ 
nanzen, ba ein großer Theil der bisherigen Abgaben nicht einging und bie Koften 
der aufzuftellenden Armeen gewaltige Summen verſchlangen. 

Inzwiſchen hatten die Differenzen mit England und ben andern Europäern 
ihren Yortgang genommen, Die Frage wegen Oeffnung Cantons war unerlebigt 
geblieben und vie Unterhandlungen führten ſchließlich zu ber beſtimmten Erklärung 

des Kaiſers, daß er das Anſinnen unbedingt und für alle Zeiten zurückweiſe. Im 
Dftober 1856 kam dazu ein nener Konflift wegen eines von ven chineſiſchen Be⸗ 
horden weggenommenen, unter englifcher Flagge fegelnden chineſiſchen Schiffs. Die 
Engländer verlangten Genugthuung und da nicht vollftändig geleiftet wurbe, ftellten 
fie ein Ultimatum, in Folge deſſen diejelbe fie mit ihrer Flotte nenerbings alle 
Forts am Fluffe und um die Stadt erftürmten, den Palafl des Oberſtatthalters 
Yeh beihoflen, einen Theil ver Stadt in Afche legten und bie Tatferliche Flotte 
noch vor Ende de 3. 1856 gänzlich zerfiörten. Ohne genügende Lanbungstruppen 
indeß, um die Stabt zu befegen und befegt zu halten, blieb den Engländern, ba 
die Ehinefen noch keineswegs nachgaben, zunächſt nichts auberes übrig, als bie 


China. 489 


Stadt Tanton und bie Umgegenb gänzlich zu verlaflen, zumal bie Chineſen die 
englifhen Yaltoreien in Brand geftedt hatten. Für den Augenblid war eine ent« 
ſcheidende Operation in China Seitens ver Engländer geradezu unmöglid, ver 
Ausbruch des Aufftandes in Oſtindien nahm zunächft ihre ganze Kraft in An- 
fprud. Die Chinefen glaubten fchon der Barbaren ledig zu fein. 

Sie täufhten fi freilih. England und Frankreich verftänpigten fi jept 
über ein gemeinfames Vorgehen und fchon im Auguft 1857 traf ein franzäfifches 
Geſchwader, im November aud ein flarkes englifhes mit 6000 Manu Lan- 
dungstruppen in ben dhinefiichen Gewäflern ein. Am 12. December 1857 
wurde Fluß und Hafen von Kanton ia Blofadezuftand erflärt und am 28, des⸗ 
felben Monats zur Beſchießung her Stadt gefchritten. Sie mußte fih ſchon am 
29. Dec. ergeben, der Oberftatigalter eb wurte gefangen. Am 9. Januar 1858 
wurden indeß bie früheren Behörden unter Auffiht von drei enropälihen Kom⸗ 
mifjären wieder in ihr Amt eingefegt, die Stadt blieb militäriſch defekt. Die 
europäiſchen Bevollmächtigten gingen inzwilchen mit der Tlotte nah Norden, 
warfen vor der Münbung bes Pehofluffes die Anker aus und da vie Ehinefen 
feine Unterbanplungen anknüpfen wollten, fo wurden bie fogenannten Taduforts 
angegriffen, genommen und bis Tientſin, ver Hafenftant Pedings vorgedrungen. 
Die chineſiſche Regierung erſchrak doch Angefihts der nahen Flotte und ſchloß 
mit den Mächten im Juni 1858 neue Berträge ab, die binnen eines Jahres 
in Beding ſelbſt ratificirt werben follten. Allein ſchließlich wurde doch wieder den 
Beauftragten der Mächte der Zutritt in Peding verweigert und bei dem Verſuche, 
den Flußeingang zu erzwingen, erlitten die Engländer am 24. Juni 1859 eine 
entfhlevene Schlappe. | 

Dieß konnte England, deſſen Waffenehre jest auf dem Spiele fand, nicht 
hinnehmen. Noch vor Ende des Jahre wurde eine neue franzöſiſch⸗engliſche Expedi⸗ 
tion gegen China in großem Maßſtabe beſchloſſen und verfelben als Ziel geravezu 
das Herz des Reihe, die Hauptſtadt Peding gefekt. Im April 1860 langten bie 
europdiſchen Streitträfte in Schanghai an, 7500 Franzofen, 7800 Engländer und 
4800 indiſche Sithe, zufammen über 20,000 Mann. Am 19. Juli begannen die 
Operationen bireft gegen Pecking. Bis zum 21. Aug. waren ſämmiliche Forts 
und bie Ortſchaften zu beiden Selten des Fluſſes erftürmt und befeßt, die Ein- 
nahme der Stadt Zientfin, gewiffermaßen der Hafenftabt Pedings, war bie un- 
mittelbere Folge diefer erſten Siege, worauf die Verbündeten bis Tungtſchao, nur 
4 Meilen von Peding, vorrldten. Die Chinefen wollten unterhanveln, aber e8 
wor ihnen nicht Ernft. Vorher follte doch nod die Entſcheidung der Waffen ver- 
ſucht werden, Eine Anzahl englifcher und franzöſiſcher Offiziere, die Quartier ma— 
hen und alles für die Unterhanblungen vorbereiten follten, wurden verrätheriſch 
überfallen und theils getödtet, theils ſchmählich mißhandelt. Doch War das nur 
bad Vorſpiel. Ein chineſiſches Heer von 50,000 Mann unter dem tartariſchen 
General Tantolinfin, auf den bie Chinefen große Städe hielten, übsrfiel die Fran⸗ 
zofen unter Montauben, nur 3000 Mann ftark, bei Palilao, wurde aber, nachdem 
benfelben 3 bis 4000 KFuglänver zu Hülfe geeilt waren, zurüdgeichlagen und er- 
it ſchließlich trotz ihrer ſieben⸗ Bis achtfachen Uebermacht eine totale Niederlage. 
Pecking, die ungeheure Hauptſtadt ſtand dem Sieger offen. Die Franzoſen wandten 
fih zunächſt dem kaiſerlichen Sommerpalaft zu, befettten ihn ohne Schwertftreid 
und plünderten die Schätze desſelben. Dann z0g die Armee gegen Peding: bie 
Uebergabe eines Stadtthores une Entſchädigung für die Dpfer des Verraths vom 
18. Sept. waren ihre vorläufigen Forderungen. Der Hochmuth der Chinefen 





440 Nachtrag. 


war gebrochen, die Forderungen wurden zugeſtanden, ſo wie das weitere Berlangen, 
daß der Friede In der Stadt ſelbſt unterzeichnet werben ſollte und daß die Kom⸗ 
miffäre Englands und Frankreichs, Lord Elliot und Baron Gros, dabei von 1000 
Mann begleitet würden. Dieß gefhah am 24. und 25. Oft. und fhon am 
6. und 8. Nov. wurben die Friebensverträge in ber amtlichen chinefifchen Reichs⸗ 
zeitung publicirt. 

China ift nunmehr definitiv dem Handelsverkehr ver Europäer und das ge⸗ 
waltige Reich dem Einfluß europäifher Anfhauungen und Ideen geöffnet. Kurz 
vorher hatte Rußland den größern Theil des Amurlandes befegt und ihn durch 
ben Vertrag von Aigun vom 12. Mai 1858 förmlich abgetreten erhalten; num re⸗ 
gelte es durch einen weiteren Vertrag vom 14. Nov. 1860 auch feine Handelsbe⸗ 
ziehungen mit China und bebung fich gleich ven Weſtmächten Beding als den Sit 
einer fländigen Geſandſchaft aus, 

Der Katfer Hienfong überlebte vie Demüthigung feines Reiches nicht lange. 
Er ftarb am 22. Aug. 1861 und ihm folgte fein Sohn Kitflang, der, erſt am 
5. April 1855 geboren, unter einem von feinem Oheim Prinz Kong präflpirten 
Regentſchaftsrathe ſteht. Das Reich hat fich feither keineswegs erholt. Die Tate 
pings traten zwar zurüd und verloren Nanking wieder, das 1863 von ben Kat» 
ferlihen erobert wurbe, wobet der Rebellenkaiſer felbft ums Leben kam. Dafür 
brach eine Rebellion im Norden aus, die wiederholt Peding bebrohte. 

Faſt nod wichtiger als für die Engländer iſt die Oeffnung Ehinas für die 
Vereinigten Staaten von Nordamerika, die inzwiſchen Kalifornien bevölkert haben 
und ir dieſem Augenblid damit befhäftigt find, durch die fog. Pacificbahn ven 
atlantifchen mit dem ftillen Ocean zu verbinden, wodurch S. Francisco, eben noch 
ein Sammelpunft elender Hütten der erften Anſiedler, heute fhon eine große 
Stadt, mit der Zeit eine Weltftabt wie Newport werden wird und für den Often 
dasſelbe, was dieſes Tängft für ven Welten ift. Die Weltftellung der Unton zwifchen 
beiden Meeren bat erſt durch die Deffnung Chinas und Iapans ihre volle Be⸗ 
deutung erhalten, Eine Rückwirkung Chinas mit feiner ungeheuren Bevdlferung, 
ihrer ameifenartigen Thätigleit und hoch entwidelten mechaniſchen Fertigkeit ift in 
mehr als einer Beziehung denkbar und mwahrfcheinlih, wird aber nur nah nnd 
nad eintreten, wenn e8 erft ganz in den Kreis der mobernen Weltentwidlung 
bineingezogen und bineingeriffen fein wird. 

Selber war buch den Vertrag von Nanking (1842) fremden Schiffen der 
Eingang nur in die Häfen von Canton, Umoy, Futſcheu, Ringpo und Schangbai 
geftattet. Erſt die Verträge von Zientfin (1858) und von Peding (1860) eröff- 
neten dem fremden Handel außerdem Kiungtfchen auf der Infel Hainan, Taiwan 
auf der Infel Formoſa, Swatan auf der Küfte der Provinz Kwangtung, Tſchi⸗ 
fon an der Nordküſte der Provinz Schantung, Niutſchiang im Golf von Scao- 
tong und am Yangtſekiang die Häfen Tſchinkiang, Kinkiang und Hongkan. 

Statiſtiſche Nachweiſe Über den Handelsverkehr aller diefer Häfen nah außen 
find nicht vorhanden, die Haupthäfen find aber Canton und Schanghat und für 
biefe betrug die Ausfuhr im J. 1860 in Canton 3,838,938 Pf. St., die Einfuhr 
4353,743 Pf. St.; 1861 die Ausfuhr 3,557,599, die Einfuhr 2,999,908 Bf. 
S,t.; in Schanghai 1860 die Ausfuhr 10,779,313 Pf. St., die Einfuhr 
18,326,432 Pf. St.; im I. 1861 die Ausfuhr 9,958,957 Bf. St., die Einfuhr 
16,003,062 Pf. St.; 1862 die Ausfuhr bereits 14,667,406 Pfo. St. und bie 
Einfuhr 22,863,953 Pf. St. 


Dänemark. 441 


In allen dieſen Gäfen finden fich zahlreiche enropätide Konfuln. Förmliche 
Geſandiſchaften in Beding felbft unterhalten nur Frankreich, England, Rußland, 
die nordamerikaniſche Union und Spanien. Preußen hat im Oftober 1861 aud 
feinerfeits für fi) und den Zollverein einen Hanbelövertrag mit China abgefhloffen, 
hält aber 618 jegt noch keinen Geſandten in Peding. 

Seit 1860 haben die Ehinefen einen Verſuch gemacht, eingeborene Truppen 
nach europätfcher Weile zu organifiren, namentlih durch den englifhen Major 
Gordon; F Verſuch ſcheint aber nicht gelungen und vorerſt wieder aufgegeben 
worden zu ſein. 


Dänemark. 


(Nachtrag zu Band II ©. 655.) 


Die VBerhältniffe Dänemarks wurden felt dem I. 1857, bis zu weldem 
jener Artikel herabführt, nit nur nah außen, fondern weſentlich auch im Innern 
von dem Berhältmiffe vesfelben zu feinen beutfhen Provinzen, den Herzogthümern 
Schleswig und Holflein beftimmt. Wir erinnern, um den Faden wieder aufzunehmen, 
an die Bereinbarungen von 1851 zwiſchen ver däniſchen Regierung und dem im 
Namen des beutichen Bundes auftretenden beiden deutſchen Großmächten, durch 
welche die Trennung der beiden Elbherzogthümer und bie Einfügung verfelben in 
einem neuem daäniſchen Geſammtſtaat mit einigen ſchützenden Öarantien für 
Holſtein ald Bundesland und der Sicherheit für Schleswig, niemals in Dänemarf 
inlorporirt zu werben, zugeflanden wurde — an bie Yelanntmadjung der daͤniſchen 
Regierung vom 28. Januar 1852, durch welde auf Grund dieſer Vereinbarungen 
die neue Ordnung der Dinge für Dänemark eingeleitet wurde — an ben Lon⸗ 
boner Bertrag vom 8. Mai 1852, durch weichen das bisher in den Herzogthümern 
gültige Exbfolgereht von ven Großmächten aus eigener Machtvollkommenheit be- 
feitigt und Dänemazt freie Hand verſchafft werben follte, dasſelbe im Intexefle 
bes Gefammtflantes anders zu orbnen — an das Thronfolgegefeg vom 31. Juli 
1853, durch welches die Nachfolge in ven deutſchen fowohl, als in den däniſchen 
Theilen des Geſammtſtaats dem Prinzen Chriftten von Glüdsburg und feinen 
Nachkommen zugewendet und gefihert werben follte — an die erſte Oftropirung 
einer Befammtftaatsverfaflung vom 26. Juli 1854, die am Wiverftande des bäni- 
ſchen Reichstages fcheiterte, und an die zweite gelungene Oktrohirung vom 2. Oft. 
1855. Die deutſchen Herzogthümer, vie in allen viefen Maßregeln eine Beein- 
trädhtigung ihrer Rechte wie ihrer Interefien erkannten, widerſtanden denſelben, 
fo weit es ihnen nur irgendwie möglich blieb und fuchten wenigſteus alles zu 
ermeiden, was irgendwie als eine Anerkennung biefer Neuerungen von ihrer Seite 
gedeutet werden Lönnte, worin fie theilweife, wenn aud ohne großen Nachdruck, 
vom beutfchen Bunde nnterflügt wurden, während Dänemark alle Mittel ins Wert 
feste, die Oppofition in Holftein niederzubalten, in Schleswig aber dur eine 
gewaltfame Danifirung der Bevölkerung für die Zukunft gänzlich zu erftiden. 

So lange der Zug der Reaktion in Deutfchland felbft ungeſchwächt fort 
dauerte, hatte Dänemark bier wie dort ziemlich freie Hand. Erft als In Prenßen 
der Prinz-Regent die Zügel ver Regierung ergriff und zunächſt dort, bald aber 
and in ganz Dentihland ein entſchiedener Umſchwung eintrat, konnte das bishe⸗ 
rige däniſche Syſtem wenigftens gegenüber Holftein nicht länger aufrecht er⸗ 
halten werden und mußte am 6. Nov. 1858 die Geſammtſtaatsverfaſſung vom 
2. Ott. 1855 für Holflein und Lauenburg durd eine königliche Belauntmadung 


442 Nadıteag. 

ſuſpendirt werben. Die nähften Jahre wurden num bamit ausgefüllt, daß bie 
bänifche Regierung fich bemühte, mit der holſteiniſchen Stänbeverfammlung fi 
über eime anderweitige Orbnung ber Dinge zu vereinbaren, während fie bagegen 
Schleswig gegenüber nad wie vor freie Hand behielt. Eine wirkliche Befriedigung 
ber Forderungen Holfteind und bes veutfhen Bundes lag indeß weder im In- 
terefie noch in der Abfiht Dänemarks und fein ganzes Bemühen ging zunächſt 
dahin, die Angelegenheit nad Kräften zu verfchleppen, fo daß fig ker beutfche 
Bund fhon am 7. Febr. 1861 genöthigt fah, neuerdings mit Erefution zu drohen. 
Darauf hin erft legte tie dänifche Regierung am 6. März 1861 ver bolfteinifchen 
Stänveverfammlung die Grundzüge einer neuen Gefammtftaatöverfaflung und einen 
Geſetzesentwurſ betreffend die proviſoriſche Stellung Holfteins hinſichtlich der ge⸗ 
meinfamen Angelegenheiten ver Monarchie vor. Beide Vorlagen wurden jedoch von 
den Ständen am 25. März und am 10. April 1861 einftimmig abgelehnt und 
ebenfo wenig konnten fi diefeiben mit der Regierung über die Art und Weiſe 
verftändigen, wie ihnen von biefer das Budget vorgelegt werden wollte Um ber 
Bundeserelution zu entgehen, mußte Dänemark auch darin eine Halbe Koncelfton 
maden und am 29. Juli 1861 wenigftens „proviſoriſch und nur für das laufende 
Jahr” ven Beitrag Holſteins zum gemeinfhaftliden Büdget auf die tm fogen. 
Normalbünget von 1856 feftgefegte Summe befchränfen, womit ſich ver deutſche 
Bund wirklich berubigte und die Erefution am 12. Auguſt 1861 wieber auf 
unbeftimmte Zeit vertagte. 

So unbebeutend die für Holftein abgebrungene Konceffion war, fo reizte fie 
doch die Dänen, fi dagegen mit um fo größerem Eifer auf Schleswig zu 
werfen, das um jeden Preis nicht bloß für Dänemark erbalten, fondern immer 
fefter mit demfelben verbunden werben follte. Schon im Jannar 1861 wurbe 
ein über ganz Dänemark verbreiteter fogen. Danewirke-Berelu gegründet und bis 
zum Mai eine Art Monftreadrefie zu Stande gebradt, an deren Spige ſich faſt 
ſaͤmmtliche Mitglieder beider Kaumern over Thinge des fpeciell däniſchen Reichs⸗ 
tags geftellt hatten, und bie bereits vie „Lonftitutionelle Bereinigung” des eigent- 
lien Königreihs und Schleswige zu einem „untheilbaren und unabhängigen" 
Koöonigreich Dänemark von der Regierung verlangte. Die Regierung hielt zwar einen 
entſchiedenen Schritt in diefer Richtung damals noch nicht für opportum, nahm 
dagegen feinen Anftand, in ihrer Antwort auf die Adrefſe (18. Mat) unumwun⸗ 
den auszuſprechen, daß fie die in verjelben ausgefprochenen Aufichten und Abſich- 
ten „theile.” Am 14. Sept. 1861 wurde Orla Lehmann, einer der Hauptführer 
der Partei, die Holftein am Ende lieber ganz fahren laſſen wollte, um dagegen 
Schleswig mit Iütland und den Infeln zu einem neuen national ziemlich geeinig- 
ten Dänemark bis zur Eider zu verbinden, zum Minifter des Innern emannt, 
was allgemein ald ein Sieg des Eiderdänenthums angefehen wurde. Schon tm 
April 1861 hatte die Regierung auch angefangen, die Düppelerhöhen zu befefti- 
gen. UM das mußte Deutfchland anffchreden und am 5. Dec. 1861 traf denn 
auch eine preußifche Depefche in Kopenhagen ein, die zum erften Mal wieder Schles⸗ 
wigs erwähnte, und Dänemarf an die im I. 1851 gegen Deutſchland eingegan- 
gene ausdrückliche Berpflihtung erinnerte, daß „weder eine Inlorporatien Schles⸗ 
wigs in das Königreich ftattfinden, noch irgend welche biefelbe bezweckende Schritte 
vorgenommen werden follten.” Dänemark lehnte in feiner Antwort (26. Dec. 1861) 
jede Erörterung ber Angelegenheiten Schleewige mit Preußen rund ab „weil bas- 
felbe zum deutſchen Bunde nicht gehöre und der König wie fouveränen Rechte 
feines vom bentfhen Bunde unabhängigen Neiches zu wahren habe" und leitete 


Diinemark, - 448 


am 29. Ian. 1862 die Revifion der Gefammtflaatsverfaffung von 1855 durch 
eine Borlage an ven Reichsrath ein, gegen welche Defterreih und Brenßen pro 
tefliren zu möüflen glaubten. 

Dänemark längnete (12. März 1862) Defterreih und Preußen gegemüber 
keck jede Abfiht, Schleswig inkorporiren zu wollen, ſuchte aber gleichzeitig den 
Schuß der Höfe von Paris, London, St. Petersburg und Stodholm gegen die 
Abſicht Deutſchlands „vie holſteiniſche Frage mit der fchleswigichen zu vermengen." 
„Denn —- meinte Herr Hall, der däniihe Minifter des Auswärtigen — das 
bieße ver Erekution in Holftein eine Perſpektive eröffnen, die anf nichts anderes 
hinans fäme, als den dentſchen Abfichten auf Schleswig zu dienen; das hieße, bie 
Altion des Bundes auf die innern Angelegenheiten aller Theile der däniſchen 
Monardie erfireden; und das hieße noch nicht einmal, der gefammten daniſchen 
Monarchie die Stelle eines Bundesgliedes anweiſen, fondern diefelbe gang einfach 
tn die Lage eines Bafallen von Deutſchland herabdrücken.“ Der Appell Däne- 
marks an bie nichtveutfchen Großmächte hatte jedoch nicht den gewünſchten Erfolg. 
Seit dem Abſchluſſe des Londoner Bertrages über die Regnlirung ber Exbfolge 
mit der Abſicht, die deutfchen Herzogthlimer ver bäntfhen Monarchie zu erhalten, 
der vorzugöweife auf Englands nnd Lord Palmerfions Betrieb zu Stande ge 
fommen war, wurde England in Dänemark felbft und nidt ganz mit Unrecht 
als der vornehmfte auswärtige Hort der däntfchen Interefien bezüglich der Her⸗ 
zogthämer angefehen und gerade dieſes ſchien jegt Dänemarf im Stich lafſen zu 
wollen. Allerdings war England, um die beftehenden Machtverhältnifie unter den 
zwiſchen der Oſt⸗ und Nordſee gelegenen Staaten nicht alterirt zu fehen, ent- 
ſchieden für die Erhaltung der däniihen Monarchie in ihrem bisherigen Beſtande, 
aber eben um dieß gegenüber den Rechten und Anſprüchen Deutſchlands, deren 
vertragsmäßige Begründung es nicht verfannte, zu erreichen, glaubte es, daß das 
eigentliche Dänemart anf das von ihm angeftrebte Uebergewicht innerhalb ber 
gefanımten Monarchie und auf die Gründung eines Einheitsftaats ſei es nun für 
das Ganze oder aud nur für Dänemark und Schleswig verzichten, vielmehr den 
beutfchen Herzogthämern eine weitgehende Autonomie für ihre fpectellen Angelegen- 
ne auf welde Autonomie fie überbieß ein verbrieftes Recht hätten, einräumen 
olite. 

Unter dem 24. Sept. 1862 richtetz nun Lord Ruſſell in diefem Sinne eine 
fehr einläßliche Depefhe an Dänemark, deren Rathſchläge er zum Schluffe felbft 
dahin refümirte: „1) Holftein und Lauenburg follen alles haben, was ber veutfche 
Bund für fie fordert; 2) Schleswig fol die Befugniß haben, ſich ſelbſt zu re 
gieren umd nicht im Reichsrath vertreten zu fein; 3) ein Normalbüdget foll von 
Dänemart, Holftein, Schleswig und Lauenburg für die gemeinfamen Angelegenhei- 
ten feRgefegt werben; 4) außerordentliche Zufchäffe biefür über dieſes Normal⸗ 
büdget hinaus mäfjen von den Stänveverfammlungen aller diefer vier autonomen 
Theile des Reichs beſonders bewilligt werben.” Die beiden deutſchen Großmächte 
erfiärten fi im allgemeinen mit ven Rathfchlägen einverftanden und felbft Rußland 
konnte nicht umbin, fie in Kopenhagen als billig nud zwedpienlih zu unter 
flügen. Auf das überreizte Nationalitätsgefühl der Dänen machten fie dagegen 
den ganz entgegengefegten Eindruck. Ste konnten und wollten fih vie enpliche 
Regelung ihrer Berfafiungsangelegenheiten nicht mehr anders denken, als in einer 
entihiebenen Unter» nicht Nebenordnung des deutſchen Elementes unter das bä- 
niſche, einer relativen Unterorbnung für Holftein, das heißt fo weit e8 eben ge⸗ 
genüber dem beutfchen Bunde möglich, einer abfoluten aber für Schleswig. Die 


® 


P 


444 Nachtrag. 


daniſche Negterung wies unter dem 15. Dftober 1862 vie engliſchen NRatbfchläge 
mit Enträftung ein für alle Mal zurüd, indem fie barin nichts anderes als eine 
„Zerftüdelung” ver dänischen Monarchie zu erlennen vermödte und bie Aufrecht- 
haltung ber gemeinfamen Berfaflung für das eigentlihe Dänemark und Schleswig 
als eine „Frage über Leben und Zob” für Dänemark erflärte Auch ließ man 
ſich auf der bereits betretenen Bahn Teinen Angenblid beirren, die dahin ging, 
auf ber einen Seite Holftein aus der bisherigen Verbindung firenger auszuſcheiden, 
Schleswig dagegen fefter in dieſelbe einzubeziehen. Schon am 12. December 1862 
wurde eine eigene Regierung für Holfteln befretirt und am 30. Mär; 1863 eine 
königliche Belanntmachung erlaflen, durch welche vasjelbe aus dem Gefammtftaate 
befinitio ausgeſchieden und zugleich feine Verpflichtungen für bie gemeinfanen 
Ungelegenheiten geregelt wurben. Die daniſche Regierung gab ſich den Anſchein, 
als ob nun Deutſchland alle Urſache hätte, völlig zufrieven zu fein. Natürlich 
war das nichts weniger al® wirklich der Hall, da weber die Art und Weiſe wie 
bie Stellung Holſteins an, ſich geregelt werden wollte, dazu geeignet war, noch 
ber Umftand, daß dieſes dadurch von Schleswig noch mehr als bisher losgetreunt 
wurde und nad ber Abſicht der däniſchen Regierung auch losgetrennt werben 
follte. Defterreih und Preußen proteftixten daher fofort gegen die Maßregel, bie 
Bundesverſammlung ſchloß fi) dem Proteſte an und ba der Proteſt unberädfid- 
tigt blieb, fo beſchloß der deutihe Bund am 1. Oltober 1863 bie Einleitung bes 
Grelutionspverfahrens,. 

Dänemark Hatte nun die Wahl, eutweder zurückzuweichen ober, wenn es 
doch zum Bruce mit Deutichland kommen mußte, nunmehr aud bezüglich Schles⸗ 
wigs vorzugehn und fo die ganze Trage definitiv zur Entſcheidung zu bringen. 
Es entſchloß fi für das legtere, obgleich es ſich nicht verhehlen konute, daß es 
dabei feineswegs auf eine unbebingte Unterflägung der nicht⸗deutſchen Gropmächte 
zählen könne und ver Verſuch einer fürmlihen Allianz mit Schweben zu Aufang 
September 1863 ſcheiterte. Am 28. September legte die Regierung dem Neichs- 
rathe den Entwurf einer neuen Berfaffung für das eigentlihe Däne- 
mar! und Schleswig vor, bie fhon mit dem 1. Januar 1864 in Kraft 
treten follte und mit 41 gegen 16 Stimmen imurbe dieſelbe am 9. November 
1863 33 Reicherathe in dritter Leſung angenommen. Der entſcheidende Schritt 
war gethan. 

Da ſtarb (15. November 1863) danz unerwartet König Friedrich VIII. und 
fein Tod veränderte mit einem Schlage die ganze Sachlage. Geftägt auf ben 
Londoner Bertrag von 1852 und die neue Erbfolgeordnung von 1853, vie bem 
däniſchen Neichötage vorgelegt und von bemfelben angenommen worden war, wurbe 
in Kopenhagen fofort Prinz Chriftian zum König ausgerufen und für das 
eigentlihe Dänemark dachte auch Niemand daran, ihm ven Thron fireitig zu 
machen. Allein nicht dasjelbe war der Fall für die Herzogthümer, für welche viel- 
mehr der Erbprinz Yriedrih von Anguftenburg fhon am 16. November ein 
Patent erließ, um zu erflären, daß er geftügt auf bie legitime Erbfolgeorduung 
ber Herzogthlimer und des oldenburgifchen Hauſes mit diefem Tage die Regierung 
berfelben antreie. Zunächſt war das für König Ehriftian nicht fehr gefährlich, da 
bie Herzogthümer von däniſchen Truppen beſetzt waren und wenigftend an ver 
Spige ber Verwaltung däniſch gefinnte Männer flanden. Allein man mochte nicht 
wifien, welde Stellung der veutfhe Bund zu der Frage einnehmen werbe und 
König Chriſtian wünfchte taher nicht ohne Grund, freie Hand zu haben, um ſich 
mit bemfelben möglicher Weiſe verftänbigen zu können. Gegenüber einem Be⸗ 


[> 


Bäncmark. 445 


gehren ber Rommumalbehörben von Kopenhagen, der neuen Berfaffung für 
Dänemarl-Schleswig feine Sanktion zu ertheilen, woran fein Vorgänger nur 
durch den Tod verhindert worben war, verlangte er daher Bedenlzeit, erfuhr jedoch als⸗ 
bald, daß feine Stellung keineswegs eine freie und unabhängige je. Die Volks: 
maſſen der Hauptfladt nahmen eine fo drohende Haltung an, daß er fi ſchon 
am 18. November gendthigt ſah, auch feinerjeite den Rubikon zu Überfchreiten und 
die Sanktion auszufprechen. 

Der Bruch mit Deutſchland wurde dadurch unvermeidlih, Die beiden deut⸗ 
[hen Großmächte jhienen zwar geneigt am Londoner Vertrage ihrerfeits feſtzu⸗ 
halten und den König Chriſtian auch als Herzog von Schleswig und Holfteln 
anzuerfennen, jedoch nur unter gewifien Bedingungen und Borausfegumgen; vie 
Öffentliche Meinnng in Deutiglaud dagegen war entſchieden für Auerkennung der 
Erbfolgerechte des Auguſtenburgers und damit für Lostrennung der Herzogthümer 
von Dänemark; dahin neigten aud die Mehrzahl der veutfchen Fürften, von 
denen einige den Anguftenburger fofort und von fi aus anerkannten. Zunähft 
Aberwog indeß die Politik der beiden Gropmädte. Am 28. November 1868 wurde 
vorläufig die Stimme des Königs von Dänemark als Herzogs von Holftein und 
Lauenburg am veutfchen Bunde bloß fufpenbirt und am 7. December die Ausführung 
der ſchon am 1. Oktober angebrohten Erelution in Holſtein befchlofien. Einen 
Augenblit dachte mau In Kopenhagen ernſtlich daran, ſich derſelben zu widerfegen, 
gab aber ven Gedanken bald wieder auf, um alle feine Kräfte auf das eventuell 
ja gleichfalls bedrohte Schleswig zu Toncentriren. Am 2. December befchloß ber 
Reichsraih aud ein neues Wahlgefen behufs Ansführung der neuen Berfaffung 
für Dänemart-Schleswig und der König fanktionirte es am 8. December; am 20. 
December wurde tie Zollgrenze an die Eider verlegt; am 4. December ver . 
Yangte die Regierung vom Reicherathe bie Bewilligung eines Anlehens von 10 
Millionen Thir. behufs milttärifcher Rüftungen und der Reichsérath entheilte fie 
am 21. Dec.; an der Befefligung der Düppeler Höhen und an dem Ausbau der 
Berfhanzungen des fogenannten Danewirke wurde mit aller Macht gearbeitet und 
die ganze Armee auf den Kriegsfuß gefest. 

Am 23. December rüdten die Bunbestrnppen, 12,000 Dann Sachſen und 
Hannoveraner in Holftein ein, 10,000 Mann Oefterreiher und Preußen flanden 
ale Neferve an der Grenze. Die Dänen wichen Schritt für Schritt vor ihnen 
zuräd und bis Ende des Jahrs war ganz Holftein in ven Händen ver Bunbes- 
truppen. Bon der Bendlferung aber wurde unter dem Schng biefer Truppen als» 
bald überall der Anguftenburger als Landesherr ausgerufen. Holſtein war für bie 
Dänen verloren. Nur um fo entfchloffener ſprach ſich dagegen die äffentliche 
Meinung aus, Schleswig zu behaupten. Der König gab zwar einer Prefflon ber 
nicht⸗dentſchen Großmaächte nad, er entließ am 24. December 1863 das Mini- 
ſterium Hal und erfegte es durch ein etwas gemäßigteres unter dem Borfige des 
Biſchofs Monrad; aber principiell war zwiſchen beiden kein Unterſchied. Am 28. 
December 1868 wurde General de Meza zum Höcftlommandirenden ernannt und 
die ganze Armee im Danewirfe an ver Grenze Schleswigs gegen Holftein kon⸗ 
centrirt; am 31. Dec. ging der König ſelbſt dahin ab. Unterbefien hatten England 
und Rußland ſpecielle Abgeſandte nad Kopenhagen geſchickt und ſetzten alles in 
Bewegung, um das dänifhe Kabinet zur Rücknahme ver Berfafiung vom 18, 
November, in letzter Linie mwenigftens dazu zu bewegen, daß es feine Geneigthelt 
erfiäre, fie im Sinne ver Forderungen Oefterreihs und Preußens einer Revifton 
zu unterziehen. We Bemühnugen der Mbgefandten waren jeboch umfonft und am 7, 


446 Nachtrag. 


Januar 1864 verließen fie Kopenhagen wieder: die Dänen waren entſchloſſen, 
feinen Schritt zu weichen umd bie Frage felbft auf die Gefahr ihrer Eriftenz zur 
Endſcheidung zu bringen. Defterreih und Preußen beantragten bei bem deutſchen 
Bunde, von Dänemark die befinitive Wieveraufhebung der Berfafiung vom 18. 
November zu verlangen, widrigenfalld aber „Schleswig in Pfand zu neh- 
men”. Der Uutrag wurte am 14. Januar 1864 von der Bunbesverfammlung 
mit 11 gegen 5 Stimmen verworfen, aber nicht weil er der Majorität zu weit, 
fondern weil er ihr nicht weit genug ging. Oeſterreich und Preußen erflärten jedoch 
ſofort, die ganze Angelegenheit uunmehr in ihre eigene Hand zu nehmen, fchoben 
den Bund fortan ganz bei Seite, uud fammelten bis Ende des Monats ein ſtarkes 
Heer unter dem Oberbefehl des preußiſchen Feldmarſchalls Wrangel au ber Grenze 
Schleswigs. Dänemark rief dagegen feinerfeits am 6. Ianuar die Vermittlung 
ber Mächte an, lehnte am 18. die Forderung Defterreihs und Preußens, die 
Rovemberverfaflung binnen 48 Stunden zu widerrufen, ab und ebenfo am 81. bie 
weitere Foxderung, Schleswig zu räumen. 

Am 1. Februar Überfhritten die Alliirten die ſchleswigſche Grenze und ſchon 
in den nächſten Tagen wurden bie Vorwerke des Danewirke von den Oeſterreichern 
durch Sturm genommen. Die Dänen, von den Öroßmädten und von Schweben tm 
Stich gelaffen, waren zu ſchwach die ganze ausgedehnte Tinie des Danewirke mit 
ihren befchränften Streitkräften zu halten, ihr General fürdhtete nit ohne Grund, 
umgangen und mit feiner ganzen Armee theils nievergemacht, theild gefangen zu 
werden. In der Nacht vom 5. auf dem 6. Februar räumte er die inte und zo 
fih glücklich und unbehelligt hinter die Düppelftellung zurüd. Die Alliirten be⸗ 
festen nun Scleöwig, begannen bie Düppelftellung zu belagern und braden in 
Jütland ein. Den Dänen konnte e8 nur zu geringem Troſte gereichen, daß fie alle 
deutſchen Schiffe in ihren Häfen mit Beſchlag belegten und bie deutſchen Oft- und 
Nordfeehäfen blofirten. Um 18. April 1864 erflärmten bie Preußen die Düppe- 
lerfhanzen und warfen die Dänen auf die Infel Alfen zurüd. Die Großmächte 
ſuchten bloß zu vermitteln und ihre Bemühungen brachten die Tondoner Kon- 
ferenz zu Stande, die am 23. April eröffnet wurde, aber am 25. Juni ohne 
Refultat auseinander ging. Dänemark hatte fchlieglih in eine Theilung Schleswigs 
einwiligen wollen, es war jebod unmöglich gemwefen fich über eine Theilungsliute 
zu verfländigen; Preußen aber hatte die Gelegenheit benügt, ſich definitiv vom 
Londoner Vertrag loszufagen. 

Der Krieg wurde unter den ungünftigften Umſtänden für Dänemark wieder 
aufgenommen. Schon am 29. Juni fegten die Preußen nah Alſen über: ein 
Theil der däniſchen Beſatzung fiel in Gefangenfhaft, der Reſt rettete fi zw 
Schiffe. Yaft ein noch härterer Schlag aber war es, daß das englifhe Unterhaus 
fih nad) mehrtägiger erſchöpfender Debatte am 8. Juli gegen jede Intervention 
in den dentfch-bänifhen Streit ansfprah und einen virelten Yutrag auf Unter 
ftügung Dänemarks fogar ohne Abftimmung ablehnte, worauf auch Schweden, 
das einige Vorbereitungen getroffen hatte, fofort wieder abrüftete. Ein weiteres 
Borrüden der Preußen, unter Umftänven felbft bis Kopenhagen, ſchien bereits 
nicht mehr fo ganz und gar unmöglid zu fein; fo blieb nichts mehr übrig, als 
Brieden zu ſuchen. Am 8. Juli entließ ber König das eiderdäniſche Miniſterium 
Monrad und bildete bis zum 12. ein neues Kabinet meift aus ehemaligen Geſammit⸗ 
ftantsmännern, das fofort Unterhaudlungen mit Defterreih und Preußen zunächft 
über einen Waffenſtillſtand einleitete.e Es wurde in Wien darüber unterhandelt 
und am 1. Auguſt 1864 kamen Briedenspräliminarien und ein drei⸗ 





Dänrmark, 447 


monatlicher Waffenſtillſtand zu Stande, während deſſen über um definitiven 
Srieden uuterhandelt wurbe. Am 30. Oktober 1864 wurde verſelbe endlich Im 
Bien unterzeiäinet. Schon durch die Präliminarien entfagte der König von 
Dänemark allen feinen Rechten auf die Herzogikämer Schleswig, Holſtein und 
Lauenburg und zwar zu Bunflen des Kaiſers von Oeſterreich und bes Königs 
von Preußen und verpflidtete fi, „vie Verfügungen anzuertennen, welche ge 
nannte Majeſtäten bezüglich dieſer Derzogihümer treffen würden.“ Der Friedens- 
vertrag ſelbſt beftätigte dieſe Beſtimmung einfah, war dagegen für Dänemart 
Auanziell überaus günftig: das biöherige Altiovermögen der Monarchie, jo welt 
e6 ein gemeinfames war, verblieb faſt ausſchließlich Dänemark allein, dagegen 
mußten die Herzogthümer ihre Quote an ber gemeinfamen Staatsſchuld und zwar 
mit der Summe von 29 Millionen Thlr. Übernehmen und auf fie wurden aud 
die gefammten von Defterreih und Preußen aufgewendeten Kriegskoſten gewälgt. 
Das Bolksthing des Neicheraths genehmigte den Frieden am 9. November 1864 
mit 70 gegen 21, das Landething am 11. November mit 55 gegen 4 Stimmen. 
Danemark mußte fi vorerfi in fein Schidfal fügen. 

Anf die Infen und Jutland bejhränft hatte indeß die boppelte Verfafſung 
mit der doppelten fonftitutionellen Majchinerie, ven beiden Thingen des Reiche- 
raths und des Reichstags, keinen Siun mehr. Noch im December 1864 wurde 
die Rovemberverfaffung (Reiherath) wenigftens fo weit revidirt und modifieirt, 
ale es dur das Ausfcheiden Schleswigs abſolut nothwendig geworden mar; 
die definitive Revifion der Verfaſſung nahm das ganze Jahr 1865 in Beſchlag. 
Bon vorneherein fragte es fi, ob die Berfaflung bes Reichstags (das urfprüng- 
liche däntfche Orundgefeg vom 5. Juni 1849) der Berfaflung des Reichoraths (der 
urfprängläihen Geſammtſtaatsverfafſung vom 2. Oktober 1855, die durch bie 
Rovemberverfaflung nur mobifichtt worden war) zu meiden babe oder umgelechrt. 
Die Regierung war für das erflere, da die Reichstags-Verfaflung entſchieden de⸗ 
mokratiſcher angelegt war als bie Reichsraths⸗Verfafſung und felb die letztere 
wänfchte fie wenigftens in einigen Punkten, namentiih durch Cinführung zwei⸗ 
jähriger Büdgetperioden ftatt jährlicher, und buch Erhöhung des Genfus von 
1200 auf 2000 Thlr., noch mehr in konſervativem Sinne zn revibiren. Nicht 
ohne Mühe gelang ihr dieß. Das Landsthing des Reichsrathse war zwar geneigt, 
nidt aber das Bollsthing und die erfle Seſſion mußte am 11. April geſchlofſen 
werden, ohne daß eine Einigung zu erzielen gewejen wäre. Selbſt eine Neuwahl 
des Bolksthinge (Mai 1865) ſchien keine Aenderung erzielt zu haben; doch gelang 
es endlich vermittelft gemeinfamer Ausfhäfle beider Thinge dem Cinfluffe bee 
Gtafen Frys⸗Fryſenborg, die Frage zum Abſchluß zu bringen und eine Ginigung 
berzuftellen, mit der fich ſchließlich alle Theile zufrieden gaben — die Regierung, 
das Volksthing (mit 74 gegen 24) und das Landething (mit 44 gegen 10 Stimmen) 
(7. November 1865). Der envlihen Einigung konnte fih nunmehr ſelbſt der 
Reihstag nicht entziehen: am 9. December gab das Laudsthing, freilih nur 
mit 26 gegen 20, am 22. December das Bollsthing mit 62 gegen 23 Stim- 
wen der Vereinbarung feine Zuftimmung. Die formelle Sanktion zog ſich indeß 
Bis Ende Juni 1866 hin und erft im Dftober 1866 konnten bie exften allge» 
meinen Wahlen zum Reichsrathe nach der revidirten Berfafjung vorgenommen 
werben. Inzwifchen hatte das Kabinet Bluhme ſchon am 5. Nevember 1865 feine 
Entlafinng eingegeben, worauf Graf Frys, der größte Grundbeſitzer in Iätland, 
ein neues Kabinet bildete, das im wejentlichen noch befteht. 


448 Nachtrag. 


Das Jahr 1866 brachte Dänemark die wohl faum mehr erwartete Ausfſicht 
auf eine wenigftens theilweife Wiedererwerbung Schleswige. Im Prager 
Frieden vom 23. Auguft trat Defterreich alle feine durch den Wiener Frieden 
vom 30. Oktober 1864 erworbenen Rechte auf die Derzogthümer Holftein und 
Schleswig an Preußen ab, doch auf ven Wunſch Frankreihs, „mit ver Mafigabe, 
daß die Bevöllerungen ver nördlihen Diftrifte von Schleswig, 
wenn fie durch freie Abftimmung den Wunſch zu ertennen geben, mit Dänemarf 
vereinigt zu werben, gun dieſes abgetreten werben follen." Beeufen zögerte indeß 
längere Zeit, auch nur die Einleitung zu Ausführung biefer von ihm übernom- 
menen Verpflichtung zu treffen. Erſt im Frühjahr 1867, zur Zeit des Yuzemburger 
Konflittes, fette es ſich deßhalb mit Dänemark ins Benehmen, indem es vorerfl 
bie Öarantien zu kennen wünſchte, die Dänemark der mit abzutretenden beut- 
fen Bevölkerung bezüglidy ihrer Nationalität zu gewähren bereit ſei. Die däniſche 
Regierung, die hierin nit ohne Grund die Duelle neuer Differenzen befürchtete, 
zögerte, worauf fi im Herbft 1867 beide Regierungen dahin verflänbigten, vor⸗ 
erſt mündliche Berhandlungen über die ganze Angelegenheit in Berlin zu pflegen, 
wofür von Seite Dänemarls der Gefandte von Quaade, von Seite Preußens 
der Leg.⸗Rath L. Bucher bezeichnet wurte. Bis Anfang November 1868 haben indeß 
diefe Verhandlungen zu keinem Refultate geführt: Preußen extlärte, wie es ſcheint 
von vorne herein, daß es den Umfang des abzutretenden Gebiete von ben er- 
wähnten Sarantien abhängig machen mäfle und will, wie behauptet wird, nur 
ven ziemlich ſchmalen Strid bis zur Gyenner Bucht abtreten, felbft viefen indeß 
nur mit Ausnahme der deutſchen Stadt Hadersleben, währen Dänemark feiner- 
feits, geftügt auf die im Laufe des Jahres 1867 in Schleswig flattgefundenen 
Wahlen zum norddeutſchen Reihstage und zum preußiſchen Abgeorbnetenhaufe und 
deren Ergebniffe bezüglich der Nationalitätsverhältnifie, den größeren Theil des 
ganzen Landes bis Über Flensburg hinaus und einſchließlich Düppeld und ber 
Infel Alſen als Ahftimmungsbezixt in Anfpruh nimmt und wie es ſcheint lieber 
auf einen Konflitt zwiſchen Frankreich und Dentſchland warten will, in welchem 
ihm das erftere dann zum mindeften fo viel von Schleswig verfhaffen joll, als 
davon überwiegend däniſcher Nationalität if. 

In jüngfter Zeit endlih hat Dänemark zwei feiner weſtindiſchen 
Infelu, ©. Thomas und ©. Jean, an die Regierung der Bereinigten Staa- 
ten von Nordamerila verlanft, die dritte und größte derſelben aber, S. Croir, 
vorerft noch behalten, da fich Frankreich feiner Zeit das Borlaufsrecht vorbe⸗ 
balten bat. 

Zuverläffige ſtatiſtiſche Angaben find ſchwer beizubringen, da bie Berhältuiffe 
ber Monarchie durch ven Verluſt der deutſchen Provinzen nach allen Seiten andere 
geworben find uud fi in manchen Beziehungen noch nicht feſtgeſetzt haben, zumal 
auch Dänemark, wie alle andern Stasten Europas, feit 1866 eine Reorgantfation” 
feiner Armee vornehmen zu müſſen geglaubt hat und kaum im Staude fein 
wird, feine Marine auf der bisherigen Höhe zu erhalten, obgleich fie ſchon bisher 
den gefteigerten Auforderungen ver —*— keineswegs mehr entſprochen hat. Durch 
feine geographiſche Lage zwiihen der Oft- und Nordſee immer noch bon hervor: 
ragender Bedeutung, gehört Dänemark doch zu ven enropäiſchen Kleinſtaaten und 
kann mit einem Umfauge von circa 696 Quadratmeilen und einer Bendllerung 
von nar mehr 1,600,550 Seelen (im Jahr 1865) nicht daran denken, eine ſelbſt⸗ 
fländige Stellung in irgend welcher europälfchen Verwicklung einzunehmen. Eben 
darum verdient bie flanpinapifhe Bewegung, die fon längf im 








/ 


Deutſchland. 449 


Dänemark wie in Schweden und Norwegen Boden zu faſſen bemüht iſt, ſorg⸗ 
pältige Beachtung; bis jet aber find die Strömungen ber Öffentliden Meinung 
in diefer Beziehung in allen den drei genannten Staaten nod viel zu unbe 
Rimmt und viel zu ſchwankend, um venfelben beftinmmte Haltpunkte entnehmen 
zn können. 


Deutſchland. 


(Nachtrag zu Band III ©. 67.) 


Die Geſchichte des deutſchen Bundes und der VBeftrebungen zur Reform des⸗ 
felben ift im dritten Baude des Staatswörterbuchs bis zur Wiederherftellung bes 
Bundestags herabgefährt worben. “Die Ration verzweifelte damals keineswegs an 
der enblihen Herfiellung einer befferen Form ihres politiihen Dafeins und Lebens 
nah innen und nah außen, aber die nächiten Ausfichten, dahin zu gelangen, 
waren in ver That trübe genug. Hinter ihr lagen überall und zahlreich die Trümmer 
getäufägter Hoffnungen, fruchtlofer Anſtrengungen, gefheiterter Bemühungen, vor 


| ihr die Wiederkehr einer Inftitution, über welche eben noch von allen Seiten und 


in der allerfhärfften, ſchneidendſten Weile der Stab gebrochen worden, bie fie 
bereits für immer abgeſchüttelt zu haben glaubte, bie fie, abgemattet und rube- 
bevärftig wie fie war, ſich vorerft gefallen lafſen mußte und auch geduldig gefallen 
ließ, die fle aber doch nimmermehr als eine ihrem Wefen entfprechende Form anzu⸗ 
erfennen vermochte. Zwiſchen ber Vergangenheit und einer trog allem nie anfge- 
gebenen befleren Zukunft Ingen als Troft lediglich die bitter erworbenen Erfah⸗ 
rungen uns Lehren, bie fi alle Faktoren aus dem großen Drama ber jüngften 
Bergangenheit hatten entnehmen müflen und die ummöglich verloren fein konnten. 

Die gewaltige Erhebung von 1848 war in ſich zufammengebroden, vor 
allem uno in erfter Linie, weil vie Nation zu einer totalen Neugeftaltung — 
und darum handelte es ſich ja, nachdem eine Reform ver früheren Bundesver⸗ 
fafiung als ungenügend, viefe fogar ziemlich alljeitig einer Reform als geradezu 
unfähig erfannt worden war — noch nidt reif war, ſchon darum, weil fie fid 
darauf unter den früheren Zufländen nicht oder doch ſicherlich nicht in genügender 
Weiſe Hatte vorbereiten koönnen. Als das erfte deutſche Parlament im Jahr 1848 
zufammentrat, war bie öffentlihe Meinung barüber einig, daß eine neue Ber- 
faflung für die gefammte Nation gefchaffen werden müſſe auf ganz anderen Grund⸗ 
lagen, als diejenigen geweſen, auf welchen bie bisherige Verfaſſung beruht hatte; 
aber nad weldem Ziele hinzuftreben ſei und welche Mittel ins Wert geſetzt werben 
müßten, um dahin zu gelangen, darüber ging biefelbe äffentlihe Meinung in 
taufend verfchienenen Strahlen aus einander. Ueber die Mittel zum Ziel Hätte 
man fi flreiten mögen, das Ziel ſelbſt hätte wenigftens in ben allgemeinften 
Umriffen von vorneherein feftftehen müffen, wenn das Gelingen des Werts zu 
hoffen fein follte. Allein gerade um das Ziel, das Ins Auge gefaßt und erreicht 
werben follte, enibrannte der Kampf der Parteien, und nur allmällg gewann die⸗ 
jenige Partei feften Boden und zulegt das Uebergewicht in der Berfammlung, 
welde von Anfang an den bisherigen Dualismus der beiven Großmächte inner- 
halb des Bundes, der faft unausweichlich vie Entfaltung feiner Kräfte neutrali⸗ 
firen und das Ganze zum Stilftand nöthigen mußte, befeitigen, Defterreich wenig- 
fiens bis auf einen gewiflen Grad aus der engeren Gemeinſchaft ausſcheiden und 
der Krone Preußen dauernd, d. h. erblich die Leitung der deutſchen Dinge über- 
tragen wollte. Indeß fo gering war das Uebergewicht, das dieſe Partei Über die 

BıunatfYSli un» Brater, Dentſchee Staats⸗Mörterbuch. Xi. 29 


460 Nachtrag. 


verſchiedenen ihr emtgegen ſtehenden, weun auch unter ſich nichts weniger als 
einigen Parteien davon trug, daß es den letzteren ohne große Mühe gelang, ihr, 
um uns eines dem Ernſte der Frage nicht ganz angemeflenen, aber treffenden 
Bildes zu bedienen, den Brei wenigftens zu verfalzen. König Friedrich Wilhelm IV. 
von Preußen war feiner ganzen Perfönlichkeit nach nicht der geeignete Mann, bie 
vom Parlament zunächſt ihm zugedachte Aufgabe zu übernehmen und durchzu⸗ 
führen. Doch felbft wenn dieß der Fall gewejen wäre, fo ift es höchſt unwahr- 
ſcheinlich, daß er auf die Reidhsverfaflung, wie fie fhlieklih aus den Verhand⸗ 
lungen bes Parlaments hervorging, felnerfeits eingegangen wäre. Bon einer Mo- 
vififatien Tonnte, wie ſich die Tage bereits gefaltet hatte, damals keine Rebe mehr 
fein, und fi zu rechter Zeit mit ihm und feinen Ratbgebern in Verbindung zu 
fegen und in wefentlihem Einverſtändniß mit ihm vorzugehen, war verſäumt wor- 
den, nidt and Unbedachtſamkeit, fondern aus Grundſatz. Und gerade darin lag 
der Irrthum der Zeit. Was damals ein „kühner Griff” zu fein fchien, eine Ver⸗ 
ſtändigung und Vereinbarung mit dem Regierungen und ihren Bertretern, nicht 
nur am Ende, fondern vielmehr wo möglid bei jevem Schritte vorwärts auf dem 
Wege, ven die Nation im Parlamente betreten hatte, weber zu fuchen ned anze- 
nehmen, vielmehr allein zu geben und allein das Ziel ſuchen zu wollen, bat ſich 
eben ſchließlich ala ein eutſchiedener Mißgriff erwieſen. Es war das eine ber Lehren 
und nicht die am wenigften werthvolle, welche fi die Nation au® den Grfaß- 
rungen von 1848—49 entuehmen fonnte und, wie bie Yolge zeigte, and; wirklich 
entuommen hat. Die fpäteren Ereigniffe haben übrigens an den Tag gelegt, daß 
diefe Erfahrung nicht nur auf der einen, ſondern aud) anf der andern Seite keine 
verlorene war. | 
Anderer Art waren die Lehren, die fih Preußen aus ven Erfahrungen est- 
nahm, die es in feinem Untonsverfudhe von 1849 und 1850 zu machen 
Gelegenheit hatte. Nicht gerade ſehr bedeutſam als Nachipiel zu den mächtigen 
Sreignifien von 1848, ift fein Unternehmen um fo bedeutſamer als Borfpiel für 
die Ereignifle von 1866. In der Niederlage von Olmütz nahm der Berſuch ein 
geradezu jchmähliches Ende, ein Ende, das für das berechtigte Selbſtbewußtſein 
und Selbftgefügl ver preußifhen Regierung und des preußifhen Volkes fo demüthi⸗ 
gend war, daß ein nicht minder energiſcher Nüdichlag, wenn er auch vorerft und 
für längere Zeit verſchoben blieb, doch früher oder fpäter unausweichlich erfolgen 
mußte. Der damalige Berfuch Preußens fcheiterte zunächſt in fo ſchmählicher Weiſe 
darum, weil inzwifchen die rein vealtionäre Meinung, die in blinder Wuth michts 
fab und an nichts dachte, als „mit der Revolntion zu brechen”, mit Hrn. v. 
Manteuffel die Oberhand gewonnen hatte, Indeß ift «8 ſeht bie Brage, ob Genexal 
Nabowig fähig gewelen wäre, die von ihm eingeleitete und geleitele Politik gegen 
Defterreih und die Mittelftanten durchzuführen, und ob, wenn ibm nicht im ent⸗ 
ſcheidenden Augenblid die Zügel aus den Händen gefallen wären, nicht ein der⸗ 
artiger Verſuch unter den damals obwaltenden Umftänden zu einer zwar vielleicht 
ehrenvollen, aber viel entſcheidenderen und nachhaltigeren Niederlage für Preußen 
geführt hätte: Au Rüdfichten für feine Verbündeten ließ es Preußen auch damals 
nit fehlen. Aber nur die Kleinen hielten feft und treu zu ibm, übrigens im 
richtiger Erkenutniß ihrer Interefien. Bayern und Württemberg hielten fi da⸗ 
gegen von Anfang an fern, Sadfen und Hannover machten nur mit, fo lange 
es für fie die Zwangslage zu fordern ſchien. Kaum war Defterreih hinreichend 
erſtarkt, jo ſchlüpften fie ihrexfeits ohne allzu viele Rückſſichten alsbald aus. Dar 
mals entnahm Preußen feinen Erfahrungen die Lehre, daß die mittelfkantlichen 








Deutſchland. 451 


Dynaftien, namentlid aber biejenigen der Knigreiche, ſich freiwillig niemals ber 
nationalen Idee und den nationalen Interefien, wie gebieteriſch dieſe ih and 
geltend machen möchten, unterorpnen und daß bie rückfichtsvollfte Behandlung vor- 
her und allein ihnen gegenüber niemald zum Ziel führen, daß nur bie entfchie- 
denfte Zwangslage dieß vermögen würbe, daß aber bie Entſcheidung Oeſterreich 
gegenüber geſucht werben mäßte, und daß, wenn erft Oeſterreichs Widerſtand ge» 
brochen wäre, derjenige der Mitttelftaaten entweder von felbft zuſammenfinken würde 
oder leicht überwältigt werden könnte. „Auf dem Gleichgewichte wer beiden Groß⸗ 
ſtaaten, alſo anf der künſtlichen Spannung zweier ſich aufhebender Kräfte beruhte 
die Exiſtenz der Aeinſtaaterei im Übrigen Vaterlande.“ Daß das Urtheil ein rich⸗ 
tiges war und daß bie Erfahrung, die Preußen damals machte, für dasſelbe keine 
verlorme war, haben die fpäteren Ereigniffe ſchlagend erwieſen. 

Dresdener Konferenzen. Öefterreih fand unmittelbar nad) der Kon- 
venttion von Dlmüg zu Ende des Jahres 1860 auf ber Höhe feiner Macht in 
Dentſchland. Während hier die Intereflen noch überall wirr durch einander Tiefen 
und Presßen zu einem großen Kriege durchaus nicht vorbereitet war, hatte Oeſter⸗ 
reich mit Hülfe der Armee im weſentlichen bereits wieder fein Gleichgewicht ge- 
fenıwen, in Italien und Ungarn die Oberhand errungen und Preußen vurch die 
bloße Drohung der Gewalt niedergeworfen. Jetzt galt es, feinen Einfluß in 
Deutſchland auf die Dauer zu befeftigen, was um fo eher möglid fchien, als bie 
Herfiellung irgend einer Ordnung in Dentiälant® als einem Ganzen in jenem 
Momente aus mit Hülfe Defterreihs bewerkfielligt werden konnte. Freuen ſelbſt 
eigte ihm den Weg dazu. Nachdem es in Dimäy ven entſcheidenden Schritt ge⸗ 
than, blieb ihm eigentlich nichts anderes übrig, als ſich fofort auch zum zweiten 
zu entfchliegen und einfach zur alten Bundesverfaffung, in den Schooß bes alten 
von Deſterreich bereits nach Frankfurt einberufenen Bundestags zurückzukehren, 
am der Ausführung des vou ihm Zugeſtandenen wenigftens die Spigen abzubrechen. 
Statt defien fuchte es nad einem Mittel, die in Olmütz erlittene Demüthigung 
zu bemänteln und Deflerreih ging in richtiger Erkenntniß feiner Interefien auf 
ven Vorſchlag ein. Im ven letzten Tagen des Jahres 1850 mwurben in Dresven bie 
fog. „freien“ Konferenzen eröffnet, die von ſaͤmmtlichen deutſchen Staaten beſchickt 
wurben. Oeſterreich und die Königreiche hatten in venfelben der Lage der Dinge 
entſprechend bie Oberhand. Preußen ſchien in geradezu unbegreiflicher Berblenpung 

nit zu fehen, um was es fi handle, und unterflägte nicht einmal bie 

pofltion der Kleinen, auf vie es fi im Bunde allein flügen wiochte, bie meift 
in feiner eigenen Mactiphäre lagen und auch zeltber zu ihm gehalten hatten, 
nun aber zu Gunſten Oeſterreichs und ber Köntgreiche gänzlich herabgedrückt 
werben follten, von der wefentlid, neuen Stellung gar nicht zu fprechen, die Defter- 
reich für ſich auſtrebte und die Preußen unter der Leitung bes Hrn. v. Mantenffel 
wenigftens theilweiſe mit einer gerabezu naiven Unbefangenheit acceptirte. Auf 
das Nähere einzugehen ift bier nicht der Ort, fo bebeutfam und charakteriſtiſch and 
für fpätee Bergänge und für das Verſtändniß der öfterreichifchen Bolitit die Ver⸗ 
handlungen der Dresdener Konferenz waren, bie fpäter lediglich als „ſchätzbares 
Material“ in die Bundesarchive wanderten. Genug, daß Oeſterreich bamals nahe 
daran war, bie Herftellung einer Art Exekutivgewalt innerhalb bes alten Bunbes 
mit einer für die Einzelftanten fehr bevenfliden Kompetenz, einer Exekutivgewalt, 
in welder es mit den Königreichen emtfchieden vie Oberhand gehabt hätte und 
deren Spitze ſich unter Umftänven ſelbſt gegen Preußen Hätte kehren lafien, ben 
Eintritt feines Geſammtſtaates in ven Bund und den Eintritt in den Zollverein 

29* 





452 Nachtrag. 


durchzuſetzen. Die Stellung Oeſterreichs im Bunde wäre dadurch eine ganz anbere 
als bisher geworben und bie Zurüdführung Preußens auf die Stellung bes erften 
unter den Mittelſtaaten zum mindeften angebahnt geweſen. Und Oeſterreich 
hätte allem Auſchein nad dieß erreicht, wenn es fi dazu hätte entſchlleßen 
fönuen, Preußen wenigftens, wie biefes forderte, die Parität im Vorfige ber 
Bundesverfammlung zuzugeflehen, und wenn es ſich dazu hätte entſchließen können, 
ſchon damals kühn mit dem veralteten Schutzzollſyſtem zu brechen und vie Annahme 
des gefammten damaligen Tarifs des Zollvereins anzubieten, was man fpäter ja 
wirklich that, freilich erft als es dazu zu fpät war. Damals konnte man ſich 
in Wien weber zu dem einen noch zu dem andern Zugeſtändniß verfichen. Als 
man aber den in der That ziemlich werthlofen Borfig der Bunvesverfammlung mit 
Preußen zu theilen ruad abſchlug, verlangte dieſes Bedenkzeit, und ehe biefelbe 
abgelaufen war, erklärte es feine einfache Rückkehr zum alten Bundestage. 

Der realtivirte Bundestag. Nachdem Preußen fi dazu entichloffen, 
mußten auch für alle Anderen die letzten Bedeuklichkeiten ſchwinden. Mitte Juni 
1851 war die Bundesperfammlung wieder vollfländig und bie Meftauration 
des früheren Zuflandes ohne jegliche Modifilation eine vollendete Thatſache. Nach⸗ 
dem alle Verſuche eines Neubaues gefcheitert und ſelbſt für eine nod fo befchräntte 
Berbefierung des alten Baues für den Augenblick aud nicht bie mindeſte Ausficht 
vorhanden war, blieb in ber That nichts anderes übrig, als vorerfi in dieſen 
zurüdzulehren, fo wie er war,owenn nicht das einzige Band, das wenigftens bie 
gefammte Nation umſchloß, fallen gelafien werben wollte, woran von keiner Seite 
gedacht wurde. Bon Seite einiger Mittelfinsten erfolgte indeß das einfadhe Zu⸗ 
rüdgreifen auf den alten Bundestag nicht ohne eine gewiſſe Verſchämtheit. Die 
mächtige Erhebung der Nation gegen bie Zuftände, die der Bundestag gefchaffen 
batte und deren adäquater Ausdruck er geweien war, lag, wenn fie auch augen- 
blicklich in fih zufammengebrochen war, doch noch zu nahe, die feierlihen Zuſagen 
der Fürften, die vollkommen rechtliche Befeitigung des Bundestages waren noch 
zu fehr im frifchen Gedächtniſſe Aller. Die Rückkehr wurte daher nur als eine 
proofforifche dargeſtellt, bis durch eine Berftänpigung zwiſchen Fürften und Völkern 
eine neue, dann allfeitig anerlannte Ordnung ber Dinge zu Stande gelommen 
fein würde. Zum Theil war das freilih nur Phrafe, zum Theil war es mehr; 
allein der allgemeine Zug der Reaktion, der damals ganz Europa ergriffen hatte, 
wifchte, was darin aufrichtig gemeint gewejen war, bald aus. Iu Preußen brach 
das Regiment Manteuffel immer entſchiedener mit ber Revolution und ließ bie 
Berfaffung nah rüdwärts revidiren, in Defterreih wurde fie ohne weiteres wieder 
gänzlich abgeſchafft und ver alte Abſolutismus wieder hergeftellt, die vier Königs 
veihe folgten dem Zuge ber Reaktion und felbft bie Kleinften der Kleinen beeilten 
fi, die Neuerungen wieder abzumwerfen und zum alten patriarchaliſchen Regimente 
zurüdzufehren. So weit e3 überhaupt möglih war, wurden bie alten Zuftäube 
wieder hergeftellt und aus dem angeblihen Proviforium wurde bald ein Defiui- 
tioum, an deſſen rechtlichem Beftande fo wie an feiner Angemefienheit wenigftend 
im Allgemeinen und Wejentlihen nicht weiter gezweifelt werden durfte. Die Nation 
mußte es fih zunähft gefallen lafjen und ließ es ſich wohl oder übel gefallen, 
Dis gegen Ende des Jahrzehents war von dem Berfuch einer Reform des Bundes 
weder von oben noch von unten auch nur die Rede. 

Die Nation hatte aber ihre berechtigten Anſprüche in keiner Weife aufge⸗ 
geben und mehr als eine offene Wunve hielt den Drang danach fortwährent 
lebendig — nach außen die ſchleswig⸗holſſteiniſche, nach innen die kur⸗ 


Deutichland. 453 


heffiſche Frage. In der That mochte der Nation nicht leicht eine größere 
Schmach geboten werden ala in ber Art wie jene, nicht leicht ein ſchneiden⸗ 
derer Hohn ale in ber Urt wie viefe gelöst werben wollte, und es ifl 
gerabezu unbegreifli, daß bie bamaligen Machthaber nit einfahen, wie ihr ganzes 
mühſam wieder aufgerichtetes Gebäude durch eine Politik, die ſolche Früchte trieb, 
notäwendig unterwählt werden mußte, bis es in fich felbft zufammenftürzte, da 
es doch fo leicht gewefen wäre, jene beiden Fragen menigftens letvli zu erlebigen 
und jene Wunden zu fließen, die offen gelaffen ihnen fchließlih Ververben bringen 
mußten. Die Zäbigkelt des nieverfähflihen Stammes in Schleswig-Holfteln, des 
heffiſchen im Kurfürſtenthum waren es denn auch namentlih, welche ber Nation 
die Stägen boten, an denen fie fih nad dem jähen Fall von 1849 und 1850 
wieder aufrichten konnte, Inzwiſchen lag aber das Heft am Bunde weſentlich in 
den Händen Defterreihs und der Mittelftaaten, vie Preußen, lediglich damit be- 
ſchaftigt, feine angeblihen Dämme gegen die Revolution auszubauen, vorerſt ſchein⸗ 
bar willenlos gewährer ließ, und wenn fi aud die Öffentliche Meinung in ben 
Mittel- und Kleinftanten ſeit 1850 allgemady wieder zu erbolen anfing, fo 
war fie doch viel zu ſchwach, um vie Politik der Großflaaten und ihrer eigenen 
infofern feft zufammenbaltenden Negierungen zu durchbrechen. 

Die neue Aera in Preußen. Die Möglichkeit dazu tauchte erft auf, 
als eine tief gehende Veränderung in Preußen Platz griff. Bon unhellbarer Krank⸗ 
heit befallen ſah fi König Friedrich Wilhelm IV. im Oftober 1858, wenn and 
nicht ohne Widerſtreben, gezwungen, die Regentfhaft in die Hände feines Bruders, 
des Prinzen von Preußen, nieberzulegen und vom politiſchen Schauplatz abzu⸗ 
treten. Die Bartel, die bisher geherrſcht, Inirfchte, aber Preußen und Deutſch⸗ 
land athmeten auf, als der Prinz von Preußen die Zügel der Regierung endlich 
in feinem eigenen Namen in die Hände nahm, ven Landtag einberief, den Eid 
auf die Berfafiung ſchwur und am 6. November 1858 das Minifterium Mar» 
teuffel entließ und dur das Diinifterium Hobenzollern-Auerswald 
erfeßte. Der neue Regent war ein ſehr einfaher Dann, von fehr konfervativen 
Anſchauungen und Gewohnheiten, ver aber für die doktrinäre Tendenzpolitik feines 
Borgängers wenig oder keinen Sinn hatte, ein gemäßigt liberales Regiment für 
Preußen angemeffener eradhtete und vorfihtig auf die Intereffenpolitit zurüd zu 

reifen gedachte, die fein Vorgänger Preis gegeben hatte, auf die aber die ganze 

ergangenheit, vie ganze innere und äußere Lage des Stantes Preußen fo zu jagen 
mit zwingender Nothwendigkeit binzumelfen jchien. Weder er felbft dachte damals 
Großes für Preußen oder Deutſchland ins Werk zu fegen, nod erwartete die 
Nation irgendwie derlei von Ihm. Aber durch ganz Deutſchland ging augenblidti 
das Gefühl, dag mit tem Sturze Mantenffeld und der feudalen Partei für Preußen 
und für Deutfchland überhaupt ter bisherigen reaftionären Strömung Halt geboten 
fet und daß liberale und natlonale Beftrebungen, die zeither fo weit möglich ver- 
pönt geweſen waren, fi wieder hervorwagen dürften. Die veränderte Sachlage 
wurbe auch fofort im Süden wie im Norden thatſächlich gefpürt: hier bequemte 
fih Däuemark noch im November 1858 dazu, die einfeitig und willfürli ben 
Elbherzogthümern oftrogirte Gefammtftaateverfaffung für Holftein und Lauenburg 
zu ſuspendiren, dort entſchloß fih König Mar von Bayern envli dazu, feinen 
Minifter v. d. Pforbten fallen zu laſſen, um „Frieden zu haben mit feinem Volle". 
Der Prinz-Regent von Preußen anerkannte feinerfelts thatſächlich die preußiſche 
Berfoffung als zu Recht beſtehend und zeigte ſich unzweideutig geneigt, dieſelbe, 
wenn and fehr vorſichtig und nur allmälig, aber doch in liberalem Sinne, nad 


452 Nachtrag. 


durchzuſetzen. Die Stellung Oeſterreichs im Bunde wäre dadurch eine ganz andere 
als bisher geworben und die Zurückführung Preußens auf die Stellung des erſten 
unter den Mittelftsaten zum mindeften angebahut gewejen. Und SDefterreich 
hätte allem Anſchein nah dieß erreiht, wenn es fih dazu hätte entfchlieken 
tönnen, Preußen wenigſtens, wie dieſes forderte, die Parität im Vorfige der 
Bundesverſammlung zuzugeftehen, und wenn es fi dazu hätte entſchließen können, 
ſchon damals kühn mit dem veralteten Schugzolljgftem zu brechen und vie Annahme 
des geſammten damaligen Tarifs des Zollvereind anzubieten, was man fpäter je 
wirklich that, freilich erft als es dazu zu ſpät war. Damals konnte man fidh 
in Wien weber zu dem einen noch zu dem andern Zugeſtändniß verfichen. Als 
man aber den in ver That ziemlich werthlofen Borfig der Bundesverfamminug wit 
Breußen zu theilen rund abſchlug, verlangte diefes Bedenkzeit, und ehe viefelbe 
abgelaufen war, erklärte es feine einfache Rückkehr zum alten Bundestage. 

Der realtivirte Bundestag. Nachdem Preußen fi dazu entichloffen, 
mußten au für alle Anderen bie legten Bedenklichkeiten ſchwinden. Mitte Juni 
1851 war die Bundesverfammlung wieder vollſtändig und bie Meftauration 
des früheren Zuſtandes ohne jeglihe Motifilation eine vollendete Thatſache. Nach⸗ 
dem alle Verſuche eines Neubaues gefcheitert und felbft für eine nod fo befchränlte 
Berbefierung des alten Baues für den Angenblid auch nit die mindeſte Ausficht 
vorhanden war, blieb in ber That nichts anderes übrig, als vorerfi in dieſen 
zurüdzutehren, fo wie er war,ewenn nicht das einzige Band, das wenigſtens bie 
gefammte Nation umſchloß, fallen gelafien werben wollte, woran von Feiner Seite 
gedacht wurde. Bon Seite einiger Mittelftaaten erfolgte indeß das einfadhe Zu⸗ 
rüdgreifen auf ben alten Bundestag nicht ohne eine gewiſſe VBerfhämtheit. Die 
mächtige Erhebung der Nation gegen die Zuftände, die der Bundestag gefchaffen 
hatte und deren abäquater Ausdruck er geweien war, lag, wenn fie auch augen- 
biidlih in fi zufammengebrochen war, doch noch zu nahe, bie feierlihen Zufagen 
der Fürften, die vollkommen rechtliche Befeitigung de Bundestages waren noch 
zu fehr im frifhen Gepäctniffe Aller. Die Rückkehr wurte daher nur als eine 
proviſoriſche bargeftellt, bis durch eine Berftänpigung zwiſchen Fürſten und Böllern 
eine neue, dann allfeitig anerlannte Ordnung ber Dinge zu Stande gelommen 
fein würde. Zum Theil war das freilich nur Phrafe, zum Theil war es mehr; 
allein der allgemeine Zug der Reaktion, der damals ganz Europa ergriffen hatte, 
wiichte, was darin aufrihtig gemeint geweſen war, bald aus. In Preußen brach 
dns Regiment Mantenffel immer entjchiedener mit der Revolution und ließ bie 
Verfaſſung nad rüdwärts revidiren, in Oeſterreich wurbe fie ohne weiteres wieber 
gänzlich abgefhafft und ver alte Abſolutismus wieder hergeftellt, die vier Königs 
reihe folgten dem Zuge der Meaktion und ſelbſt bie Kleinften ver Kleinen beeilten 
fi, die Neuerungen wieder abzumwerfen und zum alten patriarchalifchen Regimente 
zurüdzufehren. So weit es überhaupt möglih war, wurden die alten Zuſtände 
wieder bergeftellt und ans dem angeblichen Proviforium wurde bald ein Defini- 
tionm, an deſſen rechtlichem Beftande fo wie an feiner Angemefienheit menigftens 
im Allgemeinen und Weſentlichen nicht weiter gezweifelt werden burfte. Die Nation 
mußte es fich zunächſt gefallen Lafien und lieg es fih wohl ober übel gefallen, 
Dis gegen Ende des Jahrzehents war von dem Berfud einer Reform des Bundes 
weder von oben noch von unten and) nur bie Rebe. 

Die Nation hatte aber ihre berechtigten Anſprüche in keiner Weiſe aufge- 
geben und mehr als eine offene Wunve hielt den Drang danach fortwährenn 
lebendig — nad außen die [hleswig-holfteinifhe, nah innen die kur⸗ 


Deutfchland, ’ 453 


befftihe Brage In der That mochte der Nation nicht leicht eine größere 
Schmach geboten werben als in ber Art wie jene, nicht leicht ein ſchneiden⸗ 
derer Hohn ale in der Urt wie dieſe gelöst werden wollte, und es ift 
gerabezu unbegreiflich, daß die damaligen Machthaber nicht einfahen, wie ihr ganzes 
mühfam wieder aufgerichtetes Gebäude duch eine Politik, die ſolche Früchte trieb, 
nothwendig unterwählt werden mußte, bis es in fich felbft zufammenftürzte, da 
es doch fo leicht gewefen wäre, jene beiden Fragen wenigſtens leidlich zu erledigen 
und jene Wunden zu fehlleßen, die offen gelafien ihnen ſchließlich Verderben bringen 
mußten. Die Zahigkeit des nieverfächflihen Stammes in Schleswig-Holfteln, des 
heſſiſchen im Kurfürftenthum waren es denn aud namentlich, welche ber Nation 
die Stügen boten, an denen fle fi nad dem jähben Yall von 1849 und 1850 
wieder aufrichten konnte. Inzwifchen Ing aber das Heft am Bunde weſentlich in 
den Händen Defterreihs und der Mittelftanten, vie Preußen, lediglich damit be⸗ 
fhäftigt, feine angeblichen Dämme gegen bie Revolution auszubauen, vorerft ſchein⸗ 
bar willenlos gewähreg ließ, und wenn fi auch die Bffentlihe Meinung in den 
Mittel- nnd Heinftanten feit 1850 allgemady wieder zu erholen anfing, fo 
war fie doch viel zu ſchwach, um die Politik der Großſtaaten und ihrer eigenen 
infofern feft zufammenhaltenden Regierungen zu durchbrechen. 

Die neue Aera in Preußen. Die Möglichkeit dazu tauchte erft auf, 
als eine tief gehenve Veränderung in Preußen Platz griff. Bon unheilbarer Kranf- 
heit befallen ſah fih König Friedrich Wilhelm IV. im Oktober 1858, wenn auf 
nicht ohne Widerftreben, gezwungen, die Regentfchaft in vie Hände feines Bruders, 
bes Prinzen von Preußen, nieverzulegen und vom politiihen Schauplag abzu- 
treten. Die Partei, die bisher geherrfcht , Inirfchte, aber Preußen und Deutſch⸗ 
land athmeten auf, als der Prinz von Preußen bie Zügel der Regierung endlich 
in feinem eigenen Namen in vie Hände nahm, den Landtag einberief, den Eid 
anf die Berfaflung ſchwur und am 6. November 1858 das Minifterium Mar - 
teuffel entließ und durch das Minifterium Hohenzollern-Auerswalb 
erſetzte. Der neue Regent war ein fehr einfaher Mann, von fehr konfervativen 
Anſchauungen und Gewohnheiten, der aber für die doftrinäre Zendenzpolitit feines 
Borgängerse wenig oder keinen Sinn hatte, ein gemäßigt liberales Regiment für 
Preußen angemefiener erachtete und vorfichtig auf die Intereffenpolitif zurüd zu 

reifen gedachte, die fein Vorgänger Preis gegeben Hatte, auf bie aber die ganze 
ergangenheit, die ganze innere und äußere Lage des Staates Preußen fo zu fagen 
mit zwingenver Nothwendigkeit hinzuweiſen ſchien. Weder er felbft dachte damals 
Großes für Preußen oder Dentfhland Ins Werk zu fegen, noch erwartete bie 
Nation irgendwie derlei von ihm. Aber durch ganz Dentfhland ging augenblidlid 
bad Gefühl, dag mit dem Sturze Manteuffels und der feudalen Partei für Preußen 
und für Deutfchland überhaupt ver bisherigen reaktionären Strömung Halt geboten 
jet und daß liberale und nationale Beftrebungen, die zeither fo weit möglid ver 
pönt gewefen waren, ſich wieder hervorwagen bürften. Die veränderte Sachlage 
wurde auch fofort im Süden wie im Norden thatſächlich gefpürt: hier bequemte 
fich Dänemark noch im November 1858 dazu, die einfeitig und willkürlich den 
. Elbherzogthümern oftrogirte Gefammtftaatsverfaffung für Holftein und Lauenburg 
zu juspendiren, dort entſchloß fih König Mar von Bayern endlich dazu, feinen 
Minifter v. d. Pforbten fallen zu Iaffen, um „Frieden zu haben mit feinem Volle". 
Der Brinze Regent von Preußen anerkannte feinerfeits thatſächlich vie preußtiche 
Berfofiung als zu Recht beſtehend und zeigte fi) unzweideutig geneigt, dieſelbe, 
wenn and fehr vorſichtig und nur allmälig, aber doch in liberalem Sinne, nad 








454 Nachtrag. 


den Bedürfniſſen und im Geiſte der Zeit auszubauen. Und daß er barin ſich im 
Einflang mit der weit überwiegenden Mehrheit des preußifchen Bolles befand, 
zeigte ihm ſchon im November 1858 ber Ausfall der Neuwahlen zum Landtag, 
die 236 Minifterielle und Liberale ergaben gegen bloß 62 Konferentive ober 
Feudale. 

Die Stellung Preußens in Deutſchland und gegenüber Deutſchland war 
indeß eine fchwierige. In Folge der Erelgniffe von 1850 und feiner inneren Zu⸗ 
fände felt jener Zeit Hatte es an Eiaflug wie an Anfehen nad allen Seiten ge- 
waltig eingebüßt. Defterreih und vie Königreiche ftanden überall feft zufammen 
gegen Preußen, und von den Kleinftaaten, bie fih in den Jahren 1849 und 1850 
zutrauensvoll feiner Leitung überlafien hatten, waren die einen, wie Naſſau und 
Heſſen⸗Darmſtadt, entſchieden ins entgegengefegte Lager übergegangen, während 
bie andern wenig Luft verfpürten, es neuerdings mit Preußen zu verfahen, um 
fi) vieleicht neuerdings von demfelben Preis gegeben zu fehen. Preußen mußte 
gewiffermaßen wieder von vorn anfangen, fi Anfehen und Zutrauen von Seite 
feiner Bundesgenoffen wie von Seite der öffentlihen Weinung im übrigen Deutſch- 
lond erft wieder erwerben. Der Prinz-Regent ſprach daher in feinem Programm 
vom 8. November 1858 nur von „moralifhen Eroberungen“, die Preußen in Deutfcg- 
fand zu machen babe und machen wolle. Und nicht minder ſchwierig war die Stel- 

lung Preußens als europälfhe Großmacht. Als folde hatte es geradezu alles 
 UAnfehn eingebüßt. Im Krimmkriege hatte es die jedenfalls fo gefahrlos faum je 
wieberfehrende Gelegenheit, durch feften Anfchluß an die Weſtmächte feine öſtliche 
Grenze gegen den ruſſiſchen Koloß für immer zu fichern, verpaßt, uud fo 
jämmerlih war feine ganze Innere und äußere Lage unter dem Regiment Man- 
teuffel von 1850-1858, daß e8 Hrn. v. Manteuffel noch als ein, freilich fehr 
zweibeutiges Verdienſt angerechnet werben muß, wenn Preußen nicht gerabezu 
gemeinfame Sache mit Rußland madte, fonbern ſich begnägte, Defterreidh, das 
damals, aber auch nur damals, feiner wirklichen Aufgabe in Europa gerecht zu 
werben wenigftens einen Verſuch unternahm, tm Stiche zu laſſen. Die Folge davon 
war, daß die Rolle, die Preußen und Hrn. v. Manteuffel am Parifer Kongrefie 
zugewiefen warb, kaum weniger bemüthigend war als die Niederlage von Olmütz. 
Auch die europälfhe Stellung Preußens war verloren und mußte erft wieder er⸗ 
rungen werben. | 

Der italienifhe Krieg. Die Gelegenheit dazu follte ihm indeß fehr 
fchnell zu Theil werben. Nod hatte der Prinz-Regent kaum feit einigen Monaten 
die Zügel der Regierung ergriffen, als ver bekannte Neujahrsgruß des Kalſers 
ber Franzoſen an den Öfterreihifchen Gefandten in Paris erfolgte, der Borbote 
bes italieniſchen Krieges. Jetzt lag es Preußen ob, feine deutſche wie feine euro- 
päifche Stellung zu wählen und zu behaupten. Dieß gefhah aud, und zwar, wie 
zugeftanden werben muß, in wefentlic durchaus korrekter Welfe, wenn audy Preußens 
Bemühen wenigflend nad der einen Seite bin an der Verblendung und dem Hoch⸗ 
muthe Oeſterreichs fcheiterte. Defterreih verlangte und erwartete von Preußen und 
Deutſchland einfache Heeresfolge für welde Sache und gegen welden Feind immer, 
und nährte geradezu wahnfinnige Plane eines Heereszuges nad Frankreich und 
einer Wievereinfegung des bourbonifchen Prätendenten auf ven Thron feiner Väter. 
Preußen wies viefe Zumuthungen entſchieden von der Hand und blieb feft babel, 
auch als in Süddeutſchland die unzmelfelhafte Neigung die Oberhand gewann, 
fi blindlings für Defterreih zu erklären, und man bort für die Idee ſchwärmte, 
ben „Rhein am Po zu vertheidigen“. Preußen feinerfeits war geneigt, Defterveich 


Dentfhtant. | 455 


zur Seite zu treten, fo weit es fih um bie Wahrung beitfcher und Tonfervativer 
Iuterefien handelte, nicht aber fo weit ganz andere als deutfche und nichts weniger 
als konſervative Intereflen von Oeſterreich verfolgt wurden. Defterreih wollte jedoch 
nicht glauben, daß Preußen auf die Dauer feinen eigenen Willen werde verfolgen 
fönnen und daß ohne Preußen bie deutjchen Mittelftasten gar nichts vermöchten, 
ging ohne irgend einen Alllirten in den Kampf und wurde bei Magenta und 
Solferino geſchlagen. Jetzt erft, als die Franzoſen vor dem Feſtungsviereck ſtanden 
und der öſterreichiſche Beſitzſtand wirklich bedroht war, erachtete Preußen dafür, 
daß die Intereſſen Deutſchlands in Oeſterreich bedroht ſeien, mobiliſirte ſeine Armee 
und war bereit, mit ſeinen geſammten eigenen Streitkräften und denjenigen des 
übrigen Deutſchland in die Aktion einzutreten, wenn ihm ber Oberbefehl über bie 
legteren frei und wicht nach den Inftruftionen einer Art von Hoffriegsrath in Frank⸗ 
furt übertragen würde. Der Krieg war damit unzweifelhaft an einem Wende⸗ 
punkte angelangt. Aber lieber wollte Defterreih auf einen Theil feines italienischen 
Befitzes verzichten, als feinem Rivalen auch nur momentan ein Uebergewicht in 
Deutſchland einräumen und ſchloß ven Frieden von Villafranca, wozu auch Frank⸗ 
reich bereit war, da es ſich eingeſtandener Maßen nicht in der Lage fühlte, zu— 
gleib am Po gegen Defterreih und am Rhein gegen Preußen Krieg zu führen. 
Die Folge war eine tiefe Verſtimmung zwifchen Oefterreih und Preußen. Über 
Preußen hatte feine Selbftänpigfeit wieder gewonnen und unter ziemlich ſchwierigen 
Umftänvden glüdlih behauptet. Sein Anjehen in Europa war weſentlich wieder 
bergeftellt und im übrigen Deutjchland mußte bie Ueberzeugung aufbänmern, baf 
es ohne Preußen in europälfchen ragen wenig vermöge und eine Machtftellung 
ne in Europa nur mit und durch Preußen anzuftreben und zu erringen 
ein werde. 

Die nationale Bewegung. Für Norddeuiſchland wenigftend war ber 
Daun, ver felt 1850 auf vie nationalen Beftrehungen gelegt worden, bereits ge⸗ 
brochen. Dort, tm jenen Staaten, bie mehr oder weniger nothwendig in den Macht⸗ 
bereich Preußens fielen, tauchte zunädft die Partei wieder empor, bie zu Anfang 
des Jahres 1849 im Frankfurter Parlamente die Reichsverfaflung mit bem 
preußifchen Kaiſerthume durchgeſetzt Bette, ſchließlich aber damit geicheitert war. 
Shen wenige Tage nad dem Abſchluß des italienifchen Krieges, am 19. Juli 
1859 , traten patriotiſche Wänner aus Norddeutſchland zu Eiſenach, zwei Tage 
daranf 35 hannoverſche Abgeortuete und Gerichtsanwälte zu Hannover zufammen, 
vereinigten fi über ein Programm, das die Herftelung einer ftarfen Central⸗ 
gewalt mit VBollvertretung, Gefammtvertretung Deutſchlands nah außen und 
Üenderung ber Bundeakriegsverfaſſung, namentlich einheitliche Leitung ver ges 
ſammten Streitfräfte umfaßte, und madten ſich anbeifhig, mit allen erlaubten 
Mitteln auf Erreihuug diefer Bwede binzuarbeiten. Eine größere VBerfammlung 
zu Eiſenach ſchloß ſich dieſen Beftrebungen an und war hauptſächlich bemüht, vie 
Bereinigung ber bisher geſpaltenen Parteien der Konftitutionellen und der Demo- 
traten zu einer einzigen nationalen Partei zu Stande zu bringen, Enplid fand 
am 16. September zu Frankfurt die formele Gründung des Nationalr 
vereins ftatt, der fi über ganz Deutſchland verbreiten und die nationale 
„rat überall anfachen oder wach halten follte, bis das Ziel endlich erreicht 

würde. 

Die durh das Wiedererwachen ber nationalen Ideen und ber nationalen 
Bewegung Bedrohten fchredten alsbald auf, und dieß waren in erfter Linie vie 
Regierungen ber Mitteiſtaaten, deren ganzes Bemühen feit dem gewaltſamen Um- 


456 Nachtrag. 


ſturz in Kurheſſen dahin gegangen war, die Reſte der Bewegung von 1848 
niederzuhalten und auszuldſchen und ſich gegen jede Wiederkehr derſelben mit ge⸗ 
meinſamen Kräften wo immer möglich zu ſichern. So lange Hr. v. Mantenffel in 
Preußen regierte, hatten fie nichts zu befürchten gehabt; mit feinem Sturz kehrten 
alle ihre Beſorgniſſe zurüd und wurden durch die Gründung des Rationalvereins 
alsbald beftätigt. Sie erfaunten ganz richtig, daß es galt, den Anfängen zu 
wehren, und auf Beranlaffung Bayerns traten Bevollmädtigte der vier König⸗ 
reihe, dann Badens, der beiden Heflen, Medienburgs und Naſſaus in einer 
Konferenz; zu Würzburg, zu der Preußen nit eingelanen wurde, am 
23. November 1859 zufammen. Es handelte fi darum, gegenüber Preußen und 
den möglihen Gefahren, die für die beftehenden bundestäglichen Zuſtände Deutfch- 
lands von diefem drohen mochten, das von den Mittelſtaaten in der kurheffiſchen 
Frage zur Geltung gebrachte formelle Recht des Bundes, wonad alle lieber 
vesfelben fih der Stimmenmehrheit zu unterwerfen hätten, zu wahren, und es 
fhien das um fo dringender, als eben jene Turhefflihe Frage bisher nicht end» 
gültig hatte erledigt werben Lönnen, fondern vielmehr in nächſter Zukunft ihrer 
ſchließlichen Entſcheidung erft entgegen ging, die Beſorgniß aber in ber That 
nabe lag, daß Preußen feine früheren Beftrebungen eben da wieder aufzunehmen 
verfuchen würde, mo es fie neun Jahre früher hatte fallen lafien müflen. Der 
Plan der Mittelftanten zu Würzburg ging daher dahin, zunähft für vie erwähnte 
Frage, dann aber aud für andere eine gefchloflene Verbindung innerhalb bes 
Buntes zu gründen, beren Glieder am Bunde bei jeder wichtigen Frage für 
eine beftimmte, zum voraus feftzuftellende Anſicht ftimmen würden, um fo über 
eine feſte Majorität gegen alle gefährlichen Beſtrebungen Preußens verfügen zu 
können. Lag ihnen aber dabei die bevorſtehende Entſcheidung ver kurheſſiſchen 
Frage und dieſes ihr eigenftes Wert, ans dem fi mehr ober weniger bie ganze 
Lage der Dinge feit 1850 entwidelt hatte, zunähft und vorzugsweiſe am Herzen, 
fo verfannten fie doch keineswegs und fonnten es, wenn fie an ihre eigenen Er⸗ 
Härungen vor zehn Jahren ſich erinnerten, nicht verkennen, daß die gemeinjamen 
nationalen Interefien, die jegt wieder hervorgehoben und deren Befriebigung neuer⸗ 
dings betrieben werben wollte, nicht kurzer Hand bloß abgewiefen werben könnten. 
So weit e8 ihren eigenen Intereflen nicht Eintrag thun würde, wollten fie auch 
dazu die Hand bieten und in fo weit fogar kluger Weife die Initiative ergreifen. 
Bon einem Bundesſtaat mit preußifcher Spige wollten fie ſelbſtverſtaͤndlich nichts 
wiſſen, ihr ganzes Sinnen und Trachten ging vielmehr dahin, fi um jeben 
Preis die bisherige volle Souveränetät und die Gleichheit aller Bundesglieder zu 
erhalten, folgerichtig den bisherigen Staatenbund und zwar zunädft aud in ber 
bisherigen Form. An der politifhen Organifation des Bundes follte alfo im 
Wefentlihen nichts verändert, Dagegen dem Drange nad nationaler Einheit durch 
eine Reihe gemeinfamer Einritungen, eine gemeinfame Handelsgeſetzgebung, ge⸗ 
meinfame Kriminal⸗ und Cioilgefeßgebung, gemeinfames Maaß und Gewicht 
u. |. w. Genüge getban werden. Damit bofften fie Preußen den Boden für all⸗ 
fällige Berfuhe im Sinne früherer Plane zu entziehen und vorwegzunehmen, 
zunächft aber ven „Wühlereien” des Nationalvereins praftifch entgegenzutreten. 
“Die Seele des ganzen Unternehmens waren die Minifter v. d. Pforbten in 
Münden, v. Beuft in Dresten und v. Dalwigk in Darmſtadt. Um 
feine Zeit zu verfäumen und ihren guten Willen klar an den Tag zu legen, 
brachte Bayern im Namen ver Würzburger Regierungen noch vor dem Schiufie 
bes Jahres 1859, am 20, December, in der Bunbesverfammlung eine Reihe von 


Bentfchlend, 457 


en in der gebachten Richtung ein, denen es auch einen ſolchen auf Revifton 
der Bundeskriegsverfafſung und auf Maßregeln zum Schutze ver deutſchen Norb- 
und Öftfeefüfte beifügte. Zu ven letzteren fahen fi die Mittelftaaten um fo mehr 
bewogen, als es gerade in biefen beiden Beziehungen galt, Preußen entgegen und 
zuvor zu kommen. 

Obgleich nämlich. der italieniſche Krieg durch den raſchen Abſchluß des Friedens 
von Seite Oeſterreichs vorübergegangen war, ohne Deutſchland auf die Probe zu 
ſtellen, ſo hatte Prenßen während der Vorbereitungen zu einer allfälligen Bethei⸗ 
gung daran doch eine Meihe von Erfahrungen gemacht, vie feine Sorge lebhaft 
in Anſpruch nahmen und zwar die Sorge des Prinz-Regenten ganz fpeciell und 
perfönlih, da er fein ganzes bisheriges Leben dem Militärweien gewidmet hatte. 
Diefe Erfahrungen betrafen zwei verſchiedene Seiten der beftehenden Einrichtungen: 
nämlid Preußen felbft, und die Bunbestontingente der übrigen Mittel» und Klein⸗ 
ſtaaten und ihre Führung. In Preußen berubte die Milttärorganifation noch immer 
anf den Gefegen von 1814 und bie Folge davon war, daß bie flehende Armee 
besfelben viel zu wenig zahlreih war ſowohl im Berhältuiß zu der feither fo ge⸗ 
waltig angewachſenen Benölterung des Staats als im Berhältniß zu den viel 
zahlreicheren Heeren der Rachbarn, namentlich Frankreichs, was unausweihli dazu 
führte, daß bei jeder Mobilmachung in Preußen auch ſofort die Landwehr und 
zwar im einer für die Bevölkerung außerordentlich drückenden Ausdehnung herbei⸗ 
gezogen werben mußte. Diefe Erfahrung num reifte die Idee einer durchgreifenden 
nad umfaflenden Armeereorganifation, bie den fo mächtig angewachſenen Volks⸗ 
träften des Staates und den Berürfniffen ver Gegenwart entipräde, fo daß 
Preußen den großen aber auch gefahrvollen Aufgaben gewachfen wäre, bie in 
Deutſchland oder für Dentſchland an dasſelbe herantreten könnten. Aus dieſem 
Entihluffe ging für Preußen die fofort eingeleitete Reorganiſation der Armee her⸗ 
vor, die dort zunächſt zu dem fo verhängnißvollen Konflikte zwifchen der Krone 
und ber Bollsvertretung führte. 

Preußiſcher Entwurf zur Reviſion ber Bundeskriegsver— 
faffung. Nicht minder nothwendig aber erfchien eine Reform der alten und 
gänzli veralteten Bundeskriegsverfaſſung, wofern bei irgend einem auswärtigen 
Kriege Dentſchlands die ganze Laſt nicht ausfchlieglih auf vie beiden Großſtaaten 
fallen, die Kontingente ber Meineren Bunbesglieber vielmehr für die gemeinfame 
Aufgabe doch auch nutzbar gemacht werben fcllten. Diefe Kontingente waren unter 
fi durchaus ungleich organifirt, durchaus ungleih ausgerüftet und bewaffnet, nad) 
ungleihen Reglements gefchult, wie es eben den verfchiedenen Einfichten, Einfällen 
und Launen ihrer verſchledenen Kriegsherren beliebt hatte und beliebte. In den 
einzelnen Bundesſtaaten that man ſich trogdem auf feine Militärkräfte nicht wenig 
zu gute, und indem man bie Stärke, namentlih vie Soll⸗Stärke derſelben auf 
dem Papier, mit derjenigen Preußens und anderer Staaten verglich, meinte man, 
Bunder was für ein Gewicht gegebenen Falls in die Wagfchale werfen zu 
tönnen und ſah, was ein Zuſammenwirken betraf, über jene Ungleichheiten bin- 
weg, indem man fi mit der Hoffnung tröftete, daß „patriotifhe Einigkeit“ im 
Momente der Gefahr die fehlenne organifhe Einheit fiherlich erfegen würde. In 
Berlin gab man fi derartigen Illnfionen, die ſich fpäter als ſolche fo hand⸗ 
seite erweifen follten, nicht bin; man zweifelte bort weder an ber militärifchen 

üchtigleit des gemeinen Mannes noch an der eventuellen Tapferkeit der Officiere 
all diefer Mittel- und Kleinftaaten, aber man war überzeugt, daß formelle orga- 


458 Nachtrag. 


niſche Einheit und unbedingte militäriſche Unterordunug ſich nie und nimmer durch 
jene mehr oder weniger ſentimentale Einigkeit erſetzen laſſe. 

Trotzdem ging Preußen zunächſt ſeinen Mitverbündeten gegenüber ſehr vor⸗ 
fichtig, beſcheiden und rüdfihtsnofl vor, da es deren Empfindlichkeit bezüglich aller 
dragen, die irgendwie ihre Souveränetät betrafen, nur zu gut kannte. Am 
123. Januar 1860 ftellte es in einer Eirkularvepeihe an fünımtliche Regierungen 
die in der Sache felbft liegenden Fordernngen zufammen: verfafiungsmäßige Feſt⸗ 
ſtellung ver Feldherrnſchaft, und zwar zu Gunften der beiven Großflaaten, ver- 
faffungsmäßigen Anſchluß aller übrigen Bunvesfontingente an biejenigen dieſer 
beiden Mächte, Gleichförmigkeit des Drgantjations-, Yusrüftungs- uud Bewaffe 
nungsſyſtems, fiehenden Charakter der Bundesinſpektion und zwar für beide 
Gruppen — aber thatfächlich beſchränkte es fich auf ven erften Punkt, pie Frage 
der Feldherrnſchaft. Die Verhandlungen zogen fih bis ins Jahr 1862 hinaus. 
Preußen erreichte jedoch ſchließlich gar nichts. Alle feine Bemühungen fcheiterten 
an dem Widerftande der Mittelftanten und an der Abneigung Oeſterreichs, das 
einerſeits diefen Mittelftanten, feinen Verbündeten, nicht zu nahe treten, und ander- 
ſeits Preußen irgend welden erweiterten Einfluß felbft nur auf einen Theil der 
dentfchen Staaten nicht zugeflehen mochte. Da mit den Mittelftanten nicht weiter 
zu kommen war, fo wandte ſich Preußen durch Depefhe vom 12. April 1860 an 
Defterreih, um fid) mit biefem direkt zu verftänvigen. Defterreich erklärte ſich auch 
am 22, desfelben Monats bereit, Preußen in feinen Beftrebungen am Bunde 
zu unterftügen, aber — nur um ben Preis einer Garantie Veneziens. Preußen 
lehnte diefe Zumuthung natärlih ab und erklärte eine Fortſetzung ber Unterhand- 
Inngen unter ſolchen Umſtänden für nutzlos. Die Erörterung der Trage zog ſich 
trogdem am Bunde und in Konferenzen neben bemfelben noch weiter bin, bie 
Mittelſtaaten vermochten fid, jedoch in letzteren nicht einmal, wie fie benbfichtigtem, 
unter einander zu verfländigen, Preußen ließ feine Verſuche ale ansfthtglog 
Ihlieglih fallen und vie ganze Angelegenheit verlief im Sande, ohne daß irgend 
etwas geichehen märe. 

Küſtenſchutz⸗Projekte. Nicht anders ging es ver, gleichfalls ven ben 
Würgburger Regierungen amgeregten Frage des Schutzes ber dentſchen Oſt⸗ und 
Rordſeeküſten, mit anderen Worten der Flottenfrage. Vermuthlich ging die An⸗ 
tegung bon Hannover and, das es natärlich gern gefehen hätte, wenn etwas für 
ben Schutz der Norpfeefüfte geſchehen wäre und zwar auf Koften des Bundes. 
Ben ben übrigen Mittelftaaten darf billig bezweifelt werben, daß es ihnen mit 
der Sache überhaupt Exruft wer, wenn man ihr Verhalten auf den Dresdener 
Konferenzen in Erwägung zieht, wo fie für die Erhaltung ber beutfchen Flotte 
fo wenig Intereffe an ven Tag legten, daß fie die Frage von einem einſtimmigen 
Beſchluſſe aller Bundesglieder, alſo auch Dänemarks für Holftein und Lauenburg 
abhängig machen wollten! Dennoch nahm Preußen bereitwillig biefe Anregung auf 
und veranftaltete eine Konferenz in Berlin, um dem Bunde praftiiche Vorſchläge 
unterbreiten zu koͤnnen. Es ging aber das Jahr 1860 darüber hin, ohne baß 
irgend etwas zu Stande gekommen wäre, und man mußte ſich überzengen, baß 
von Bundes wegen überhanpt nichts zu Stande fommen würde, wenn nicht bie 
zunächſt beiheiligten Küſtenſtaaten von fich aus vorgingen. Natürlich aber Tonnte 
das nur in Verbindung mit Preußen und wohl auch nur unter feiner Leitung 
gefhehen. Zu Anfang des Jahres 1861 brach fich diefe Idee in Hamburg und 
Dremen Bahn; es wurde dert Der Blan einer Kanonenboriflotille für die Nordſee 
gefaßt, in befchelvenem, aber praktiſch möglihem Umfange, und mit Preußen 





Deutſchland. 460 


Unterhaudlungen eingeleitet. —— fuhr jedoch Hannover dazwiſchen, angeblich 
um den Plan zu fördern, in Wahrheit aber lediglich, um ihn- für Preußen zu 
vereiteln. Um 14. September 1861 zeigte bie hannover'ſche Regiermg den Hanfe 
RAäbten mit großem Geräuſch an, daß fie von ihren patriotiihen Beftrebungen 
vernommen, daß fie ihrerfeits erwogen habe, wie viel fie aus Landesmitteln für 
das Unternehmen leiften könne und daß als Nefultat daraus der „Entfchluß" her⸗ 
vorgegangen ſei, von 40 Kanonenboten, die in ben Hanfeftäbten für erforberlich 
erachtet worden waren, 20 zu banen und fie gemeinfam mit ven Hanfeflänten 
zur Küflenvertheinigung zu verwenden, übrigens in ber Hoffnung, daß die Koften 
(hlieglih vom ganzen Bunde getragen würden. Preußens wurde in ver Depeſche 
zunächſt ger nicht gedacht; dagegen brachte Hannover am 31. Oktober 1861 den 
Antrag an den Bund, ben Regierungen ber Küftenftanten außerpreußiichen Gebiets 
bie Errihtung von Dampfbootflotillen der Dft- und Norpfee unter Kontrolle ver 
Bundesverfammlung zu geftatten und bie Koften aus gemeinfamen Mitteln bes 
Bundes zu tragen. Hannover wollte alfo Preußen von der ganzen Angelegenheit 
geradezu ausſchließen und gedachte fich vielmehr feinerjeits offenbar zum Admirals⸗ 
ftaate für die deutſche Norbfee aufzuſchwingen, aber nicht auf eigene, fordern auf 
Bundeskoſten. Preußen machte dagegen am 14. November vie fehr verftändige 
Eiumwendung, daß es doch vermöge feiner geographiſchen Tage und feiner poll 
tiſchen Stellung bei der Angelegenheit ganz befonders intereffirt fei und daß mit 
ven alljeitig beſchraͤnkten Mitteln uur dann etwas zu erreichen fel, wenn man ein 
einheitliches Syſtem verfolge und deßhalb die Initiative und die Leitung des 
Unternehmens ihm als dem mädhtigften der betheiligten Staaten überlaffe. Der 
ganze Plan kam jedoch tro des uuzweifelhaft guten Willens fowohl Hamburgs 
und Bremeus als Preußens fchlieglic nicht zur Ausführung und Hannover dachte 
feinerjeits nit mehr daran, fobald eine Verſtändigung Preußens mit den Hanſe⸗ 
ſtädten nicht weiter zu beforgen war. Am Bunde zog fich and dieſe Frage bis 
ins Jahr 1862: bin, wo fie ebenfalls ohne Refultet im Sande verlief. | 

Die Reformfrage überhaupt. So mißlang es Preußen gänzlich, bie 
Erfahrungen, die es in den Verwidelungen von 1859 bezüglich der milttärtfchen 
Sicherheit Deutſchlands gegenüber dem Ausland gemacht hatte, für den Bund als 
folden nutzbar zu machen, währenn es, wie wir fpäter fehen werben, ohne Verzug 
daran ging, jene Erfahrungen für fi felber trog aller Schwierizleiten rüdfichte- 
108 zu verwertben. In Preußen und außerhalb vesfelben mußte fi aber immer 
mehr die Meberzgeugung Bahn brechen, daß bei den beſtehenden Zuflänben bes 
Bunbes jede noch fo dringende Berbeflerung faft geradezu unmöglich fei unb daß 
nothwendig tiefer gegriffen und der ganze Organismus des Bundes in Frage ge 
Kellt werben müſſe, wenn irgend etwas Wefentliches ‚erreicht werden folle. Eben 
darum hatte der Nationalverein das Feldgeſchrei: „Centralgewalt und Volksver⸗ 
tretang” erhoben und darum fand er fofort in weitern Kreiſen damit entſchiedenen 
Anklang, wenn auch die Männer, die ſich feiner Leltung unterzogen hatten, ſich 
von Anfang darüber Mar fein mußten, daß von einem fchnellen Erfolge keine Rebe 
fein inne, daß fie vielmehr fich mit Geduld zu waffnen und auf eine lange und 
ernfte politifche Arbeit gefaßt zu machen hätten. Denn zahlreiche, mächtige, feftge- 
wurzelte Iuterefien ſtanden ihnen in geſchloſſenen Reihen gegenüber: Defterreich 
und bie Mittelſtaaten waren nicht gemeint, jenes auf feinen Einfluß und feine 
ganze Stellung iu Deutſchland, dieſe auf ihre volle Sonveränetät und ihr bie 
heriges Recht neben, nicht unter Preußen zu verzichten, ohne erſt alle Mittel 
eines zähen und exbitterten Kampfes erfchöpft zu haben. 


460 Nachtrag 


Der Zorn und Aerger über die „heilloſen“ und „unpraktiſchen“ Beſtrebungen 
des Nationalvereins und ihrer Führer war In ven Kreiſen der mittelſtaatlichen 
Regierungen allerdings kein Heiner, aber fie mochten ſich tröften; zunächſt war die 
Gefahr Feine fo gar dringende. Preußen war freilich in alle Wege zu mißtrauen 
und eine Wiederaufnahme feiner früheren Plane von 1849 und 1850 lag aller- 
dings wicht außer dem Kreife der Möglichkeiten. Aber für den-Augenblid dachte 
Preußen nicht daran; denn wenn es auch feinerfeitS gegen bie tigleit des 
Rationalvereins natürlich nichts einzuwenden Hatte, der feinen geheimen Wünſchen 
entgegen fam, fo war man doch damals in Berlin unzweifelhaft ver Anficht, daß 
irgend ein praltifcher Verſuch in dieſer Richtung noch in feiner Welle au ber 
Zeit wäre, daß Preußen vielmehr nur allmälig wieder feine Stellung in Deutfd- 
land befeftigen könne, bie durch das Manteuffelfhe Regiment nad allen Seiten 
bin fo gründlich theils preisgegeben, theils verborben worden ſei. Der Prinz» 
Regent Hatte darum von „moraliihen Eroberungen" gefprochen und das Wort 
war mit Begierde aufgenommen und alsbald zum Stichworte gemacht worden. 
Wie fein Vorgänger fo gab fi zunächſt auch der Brinz-Regent der Hoffnung Hin, 
nicht gegen, ſondern mit jenen Mitfürften etwas für Preußen und Deutſchlaud 

um und zu einer den Wünſchen und Bepärfnifien der Nation befier entſprechenden 
ung ber Dinge gelangen zu können. Allein wie verſöhnlich auch feine Ge⸗ 
finnungen waren, fo mußte Preußen doch grunpfägli Stellung nehmen zu ben 
ſchwebenden Fragen am Bunde und dieſe Stellung mußte es, wenn fie dem Geiſte 
der „nenen Aera“ entſprechen follte, zu ber am Bunde berrfchennen Majorität 
nothwenbig in einen gewifien Gegenfag bringen, 

Die Mittelftanten hatten die Reaktionszeit nicht unbenützt gelafien, um fich 
gegen jeden VBerfuh einer Erneuerung der Beftrebungen von 1848/49 oder von 
1849/50 möglihft zu fichern. Bon Defterreih unterflägt und von Preußen unter 
Manteuffel nicht gehindert, waren fie bemüht gewefen, ber Bundesverfammlung 
eine Gewalt gegenüber den Berfaflungtzuftänden der Einzelſtaaten anzuwenden, 
bie, von der Einmiſchung in Kurheflen bis zu derjenigen In Hannover, weit über 
die Ratur des bisherigen Stantenbundes und aud weit Über bie wirklichen Be⸗ 
flimmungen ber Bunbesverträge hinausging; zugleih waren fie bemüht gewefen 
und neuerdings noch mehr bemüht, in die ſtaatenbundliche Form Deutſchlands, 
die fie im Interefie ihrer ungemeflenen Souveränetätsanfpräde um jeden Preis 
aufrecht zu erhalten entichloffen waren, gewiffermaßen einen bundesſtaatlichen In- 
balt bineinzugießen und fo eine Reihe gemeinfamer Inftitutionen anzubahnen, ohne 
baburch jene Souveränetät weder nad oben noch nad unten in Gefahr zu bringen, 
db. 5. ohne weder eine Centralgewalt über fi) anerkennen, nod der Ration in 
einer Bollsvertretung Konceffionen maden zu müffen. Diefen Syſtem mußte 
Preußen von vornherein entgegen treten, wenn es ſich überhanpt die Bahn für 
eine nationale Politik frei machen wollte, und es lag ihm vieß um fo näher, ala 
feine Anſchauung fofort ihre Anwendung auf bie noch Immer unerlebigte kur⸗ 
beififche Angelegenheit fand. 

Die lurbeffifhe Angelegenheit. Gerade aber in viefer mußte Preußen 
den Hebel für eine entſchiedene Wendung in der deutſchen Frage Überhaupt an- 
fegen, war es doch biefe Frage geweien, an ber zunächſt feine Polttif vor zehn 
Jahren gefcheitert war und die zu feiner Demüthigung in Olmütz den erften An- 
laß gegeben hatte und konnte es doch in dieſer wie in keiner anderen Frage auf 
die einmäthige und nachhaltige Zuftimmung und Unterftägung ber öffentlichen 
Meinung von ganz Deutfhland zählen, Preußen erklärte ſich daher ſchon im Jahr 








Deulſchland 461 


1859 für tie Wiederherſtellung der fo gewaltſam wie willkürlich aufgehobenen 
lurheſſiſchen Verfaſſung von 1831 und in der Thronrede bei Eröffnung des preußiſchen 
Landtags begründete der Prinz-Regent diefen Schritt mit der grundfäglicdhen Er⸗ 
Härung, taß „feine Regierung von dem Wunfche geleitet fei, vie Thätigkeit ber 
deutſchen Bundesverfammlung in ihrem Verhältniß zu den Berfaffungen der Einzei- 
ſtaaten auf da8 genauefte Maaß kompetenzmäßiger Wirkſamkeit fi beſchränken zu 
ſehen.“ Das war der principielle Boten, auf ven fi Preußen am Bunde von 
da an ftellte, von dem aus es die Reformanträge der Mittelftanten feinerfeits 
ablehnte, und fi die Bahn frei zu machen gedachte, um, geſtützt auf ven Art. 11 
der Bundesalte, das freie Bündnißrecht der einzelnen lieber des Bundes, ge- 
legentlih auf feine früheren Pläne einer bundesftaatlichen Union mit wenigen, mit 
vielen oder mit allen je nach Umfländen zurüdtommen zu können. j 

Die Mittelſtaaten verfannten die Bedeutung des preußiſchen Antrags bes 
züglich Kurheſſens keinen Augenblick. Die Sache des Kurfürſten war zu ihrem 
Unheil ihre eigene Sache. Nur durch die Stüge und unter dem Gchilpe bes 
reftaurirten Bundestags war ber kontrerevolutionäre Umfturz in Kurheſſen feiner 
Zeit möglich gewefen, nur durch dieſe Stüge konnte fih der Kurfürft halten, ba 
er im Lande fo zu fagen gar feine Partei für fi hatte Die Ablehnung bes 
preußifhen Antrages am Bunde war daher für die Mittelfiaaten gewiffermaßen 
eine Lebensfrage. Sie erfolgte am 24. März 1860 mit 12 gegen bloß 5 Stimmen. 
Breußen erllärte zunächſt, daß es fi durch dieſen Beſchluß nicht für gebunden 
eradhte , wurde aber dur das öſterreichiſche Präſidium fofort bebeutet, daß ber- 
jelbe für alle Regierungen verbinplih ſei, und Preußen erachtete es wenigftens 
porerft nicht für zeitgemäß, weitere Schritte in dieſer Richtung zu thun. Am 
6. Iuni 1860 erließ Preußen fogar eine Cirkulardepeſche an bie deutſchen Re⸗ 
gierungen, durch welche es unzweideutig an ven Tag lezte, daß von feiner Energie 
in Verfolgung einer durchgreifenden deutſchen Meformpolitif abermals wenig zu 
erwarten fiehe, indem es Härlich vie bloße Mbneigung ber die Bundesmehrheit 
bildenden Regierungen als ein unüberfteiglicyes Hinderniß dafür anfah. „Preußen, 
bieß es darin, lege in allen am Bunde ſchwebenden Fragen auf das Beſtehen 
und bie Erhaltung des Bundes ven größten Werth; es wiſſe ſich zwar mit ber 
Mehrheit feiner Verbündeten in Uebereinftimmnng in der Anſicht, daß tie Bundes- 
verfafjung der Verbeſſerung fähig und bebürftig fei, eine Reform verfelben könne 
indeß nur unter gewiffenhafter Achtung ber Rechte Aller und mit Ausfiht auf 
Erfolg nur in Zeitverhältniffen unternommen werden, welche für vie fung einer 
jo ſchwierigen Aufgabe geeignet feten." 

Was Preußen zunähft bewog, einen entſchiedenen Brud mit den Mittel: 
ftanten und ihrer Bunbespolitit zu vermeiten, war nicht fowohl die dentſche als 
bie europäifche Lage. Hatte ver orientalifche Krieg die Allianz der drei norbifchen 
Reiche gefprengt und ben inneren Gegenſatz zwiſchen Defterreih und Rußland bloß 
gelegt, fo war nun in Folge des italienifhen Krieges aud eine tiefe Inner 
lie Entfremdung zwiſchen Defterreih und Preußen zu Tage getreten. Diefer 
Auflöfang bisher beftanvener Berbindungen war Frankreich mit gewaltig gehobener 
Macht gegenüber getreten und das ganze bisherige fog. Gleichgewicht der euro- 
päifhen Staaten ins Schwanten gerathen. Die Thatſache, daß der kaum gefchloffene 
Friede von Züri nicht ausgeführt werden konnte, die Bildung bes Rönigreie 
Italien und die damit zufammenhängenve Abtretung von Savohen und Nizza, 
durch welche die Neutralität der Schweiz bloß geftellt wurde, verbreiteten eine 
allgemeine Unruhe über ganz Europa. Defterreich fürchtete für Benezien, Preußen 


462 | Naecqhtrag. 


für feine Rheinprovinzen, und dieß veranlaßte beide, ſich einander bis anf einen 
gewiffen Grad wieder zu nähern und jedenfalls Alles zu vermeiden, was neuem 
Zwiſt hätte verurſachen und eine Einmiſchung Frankreichs veranlaffen können. 
Dieſes hielt es ſeinerſeits nicht für gerathen, die bereits errungene Machtſtellnug 
augenblicklich weiter zu verfolgen; Napoleon ſuchte im Gegentheil nad allen Seiten 
zu beſchwichtigen und gab namentlich bezüglich Italiens In Warfchan beruhigende 
BZufiherungen, durch welche wenigftens tie Gefahr eines fofortigen neuen Zufanmert- 
fioßes befeitigt wurde, Die ganze Lage der Dinge blieb indeſſen für Deutſchlaud 
eine ungewiffe und unfigere nad außen und faft nit minder aud nad innen. 

Innere Zuffände Bortfchritt der nationalen Bewegung. 
Nah dem Umfchwunge der Dinge in Preußen begann mit dem neuen Jahrzehent 
überall und auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens fihtbar ein frifcherer Wind 
zu weben. Unzweifelhaft bildete der Nationalverein vorerft nur einen Meinen Bruch⸗ 
theil der Nation, aber, nachdem er erſt in Koburg ein gejegliches Unterlommen 
gefunden, ſetzte ex fih raſch In Nord- und Mittelveutichlann feft, trieb bereits 
auch einige Iräftige Zweige nah Süddeutſchland bin und hatte längere Zeit den 
großen Vortheil, die einzige durch ganz Deutſchland organifirte pelitifhe Partei 
zu bleiben. Kur in Kurbefien und Diedienburg wurde er verboten. Heberall ſonſt 
woren bie Zeiten bereits nicht mehr zu folden Maßregeln angetban, und ale trog- 
dem die Negierung von Heflen-Darmflatt Ende 1860 die Theilnehmer am 
Bereine gerichtlich belangen wollte, wurbe ihr dieß durch plöglichen maſſenhaften 
Eintritt in denfelben fo. zu jagen materiell unmöglich gemacht, fo daß ihr nichts 
anderes übrig blieb, als fih an den Bundestag zu wenden, ber e6 jedoch Preußen 
gegenüber nicht für gerathen hielt, von Bundes wegen vorzugehen. Die beffifche 
Regierung trug daher von ihrem Verſuch nichts als eine Niederlage davon, bie 
natärlich zu Gunſten des Vereines ausſchlug und es als Thatfache beramsftellte, 
daß tunerhalb ver geſetzlichen Schrauken eine Agitation gegen den Bundestag und 
bie beſtehenden Bunbeszuftände fo wie für eine gründliche Reform verfelben nicht 
zu verhindern fei. Schon biefer erfte Erfolg des Bereins kann nicht leicht zu hoch 
angefhlagen werben. Zudem wurde er von feinem Ausſchuſſe mit großer Umficht 
und Mäßigung, aber zugleich aud mit nicht minderer Energie und Zähigkeit ge- 
leitet und keine Gelegenheit wurde von vemfelben verfäumt, ver Nation ihre 
Interefien und ihr Ziel eindringlich vor die Augen zu halten. 

Auch In den Einzelftanten begann es fich jet Fräftiger zu regen. In Baden 
veriwarf bie zweite Kammer im Frühjahr 1860 ein von der Megierang mit dem 
römifhen Stuhle abgejchloffenes Konkordat. Die Regierung gebachte e8 nach bie 
beriger Art der beutfchen Regierungen trotz des Landtags und trog ber öffent⸗ 
lichen Meinung dennoch durchzuſetzen, ohne nur erſt die Willendmeinung des 
Großherzogs einzuholen, Der Zürft erfannte aber die Strömung der Zeit, ent 
Heß das Minifterium und befchloß, jener, fo weit er fie für wahr und berechtigt 
erachtete, auch voll und ganz gerecht zu werben. Es trat ein völliger Umſchwung 
ein. „Ih konnte nicht finden — erflärte der Fürſt am Schluſſe des Landtags — 
daß ein Gegenſatz fei zwißchen Fürſtenrecht und Vollksrecht; ich wollte nicht Ixennen, 
was zufammengehört und ſich mechfelfeitig ergänzt, Fürft und Boll.” Baden war 
fortan für die —*28* Oeſterreichs und der Mittelſtaaten verloren, Auch in Württem⸗ 
berg hatte die Negierung einen ähnlichen Bertrag mit Rom abgefchlofien, aud 
dort wurde er von ber zweiten Kammer verworfen und auch dort wagte es bie 
Regierung nicht mehr, ihn trogdem durcchfegen zu wollen; doch blieb dieſer Vor⸗ 
gang in Württemberg eine mehr oder weniger vereinzelte Thatſache, am bie fi 











Mentfehland. 463 


fein vollſtändiger politifcher Umſchwung anſchloß. Dagegen hlielten die Negierungen 
des kleinen Heſſen⸗Darmſtadt und des noch kleineren Naſſau in ähnlichen Fragen 
gegen alle Beichlüffe der Kammern und alle Manifeflattonen ver öffentlichen Mei⸗ 
nung an ihrem Eigenwillen feft. Die verbienten Folgen blieben fpäter nicht ans, 
In Hannover verrieth der allmädtige Miniſter v. Borries feinen innerfien Ge⸗ 
danken, indem er die Tendenzen des Nationalvereins für eine Mediatiſirung der 
Fürften erklärte und am 1. Mai 1860 in offener zweiter Kammer bamit drohte, 
daß die Fürften fi dagegen nicht bloß nnter einander, fondern auch mit „ande 
wöärtigen Fürſten“ verbinden würden. Allein darüber war die öffentliche Meinung 
in ganz Deutſchland in der That einmäthig hinaus. Ein Sturm ver Enträftung 
ging von einem Ende Deutſchlands zum ambern und bezeichnete jenen berartigen 
Gedanken als Landesverrath. König Georg aber erhob feinen Minifter wenige 
Monate fpäter in den Grafenftand. Im Weiteren muß an diefer Stelle wenigftens 
angebeutet werden, daß das von ber Wiſſenſchaft längft anerkannte Princip ber 
Oewerbefrelpeit in den Jahren 1860— 62 in Dentfhland endlich auch praftifch zum 
Durchbruch gelangte und daß das PBrincip der Handelsfreiheit überall gewaltige 
Fortſchritte machte. Im Jahr 1860 adoptirte es Frankreich durch den Handels⸗ 
vertrag mit England und ſchon im folgenden Jahre khnupfte es Unterhandlungen 
mit Preußen en, um auch den Zollverein dafür zu gewinnen, was fpäter zu 
einem folgenreihen Konflikt zwiſchen Preußen und ven Mittelftaaten, hinter denen 
Oeſterreich ſtand, führen follte. Inzwiſchen Tonftitwirte ſich zu Heidelberg am 
13. Mai 1861 aus Bertretern zablreiher Hanvelsfammern und Handelsvor⸗ 
fländen aller deutſcher Staaten ein allgemeiner beutfcher Handelstag als Organ 
bes gefammten Handelſtandes und ftellte fofort einmüthig das Berlangen, daß 
„die Gefepgebung des Zollvereins der Vertretung ber vereinigten Regierungen 
einerfeits und der Bevölkerung ber Vereinaſtaaten anderfeits gemeinfehaftlich über⸗ 
tragen werde, bergeftalt, daß die übereinflimmenden, durch Mehrheit gefahten Be- 
ſchlaſſe dieſer beiden Körperfchaften als endgültige Gefetze im ganzen Zollverein 
einzuführen ſeien“, mit anderen Worten, daß aud auf dieſem Gebiete den Regie- 
rungen ein Zollparlament an die Seite geflellt werde. Und noch auf einem 
andern Gebiete machte fid) diefelbe Tendenz geltend. Bit Bezug auf den Antrag 
der Mittelfinaten anf Einführung einer gemeinfamen Geſetzgebung über Civilproceß 
und Obligationenrecht für ganz Deutſchland befhloß der zu Dresden zufammen- 
getretene allgemeine deutfche Iuriftentag am 27. Auguft 1861, daß „zum enblichen 
Zuftandelomuen dieſes Werkes nad feiner Meberzeugung eine gemeinfame von dem 
Regierungen und den Kammern der Einzelſtaaten anerkannte, wenn auch lebiglich 
zu biefem nationalen Werte berechtigte Einrichtung nothwendig ſei“, alfo wieder 
ein Parlament, wenigftens ad hoc. Ueberhaupt machte das Verlangen nah einer 
ftarlen Centralgewalt wit Bollövertretung während der Jahre 1860 und 1861 
entſchiedene Fortſchritte. Nicht nur ſprachen fi die LYandtage einer Reihe von 
Kleinftanten dafür ans, am 17. Mai 1861 that dieß and die zweite Kammer 
von Sadhfen mit allen gegen bloß eine Stimme und beharrte auch gegen ben 
Widerfpruch der erfien Kammer auf ihrem Beſchluſſe. Wer fi) vie Augen nicht 
mit Gewalt verfchließen wollte, mußte ſchon Ende 1861 erkennen, daß der alte 
Bundestag und die ganze bisherige Bunbesverfaffung auf die Dauer unverändert 
unmöglid) aufrecht erhalten werden fännten. 

Sächſiſches Reformprojekt. Selbſt Defterreih und die Mittelftaaten 
fonnten fich diefer Ginficht nicht länger gänzlich verfchließen. In einem wenigftens 
allgemeinen Einverftänpnig mit Ihnen trat daher der fächfifche Miniſterpräſident 


464 Nachtrag. 


v. Beuft am 15. Oktober 1861 mit einem von ihm ausgearbeiteten, von feinens 
Sonverän gebilligten Bundesreformprojelt hervor. Der ſächſiſche Staatsmann ging 
babei von dem offenen Geſtändniß aus, daß „einer Behörde wie der Bundesver⸗ 
fammlung, der ohne eigene Schuld aber thatfädhlih die Zeit ven Stempel des 
Unvermödgens aufgedrückt babe, ein neues Leben nicht einzuhauchen fei, fo lange 
fie in der alten Öefalt verbleibe". Es handelte ſich ihm alfo darum, biefe „Ge⸗ 
ftalt”" zu verändern, freilich eben nur die Seftalt. Denn die bisherige Grundlage, 
‚ben Staatenbund, wollte Beuſt durchaus nicht verlaffen, erflärte fih vielmehr aufs 
Entfchievenfte gegen jede andere Grundlage der deutſchen Bundesverhältnifſe, 
namentlid gegen bie Idee eines Bundesſtaats, ben er ohne weiteres al® ganz 
und gar „unmöglich“ bezeichnete, indem er gleichbebeutennd wäre mit Wuflöfung 
des Bundes ſelbſt, ſchon weil Oefterreih darin keine Stelle fände, was er näher 
ausführte, und dann, was er nicht fagte, aber zwifchen ven Zellen leſen lieg, 
weil die Mittelſtaaten fih nie freiwillig dazu verſtehen, ſondern lieber zu den 
Waffen greifen würden. Die beiven Hauptgebrechen des beflehenden Bundes alfo, 
den Dualismus der zwei Großmächte innerhalb vesfelben und den Auſpruch der 
Einzelftaaten auf ungefhmälerte Souveränetät ließ das Projekt gänzlih unan 
taftet. Dagegen meinte Hr. v. Beuſt der Bundesverfammliung und ihren —* 
rathungen und Beſchlüſſen mehr „Interefie und Achtung“ zu verfchaffen, inbem 
er fie jährlih nur zweimal am 1. Mai und am 1. November und zwar längftens 
anf vier Wochen je das eine Mal in Regensburg, das andere in Hamburg zu- 
fanmentreten laſſen wollte. Ihr zur Seite follte eine Erelutivgewalt und eine 
Abgeordnetenverſammlung treten. Die erftere hätte aus dem Kaifer von Oeſter⸗ 
rei, dem König von Preußen und einem britten Bunpesfürften, ſei es nad 
Wahl, fe es nah einem gewillen Turnus zufammengefegt werben und hiebei 
zwifchen Defterreih und Preußen völlige Parität bergeftellt werben follen, indem 
in Regensburg und überhaupt für vie eine Hälfte des Jahres dem Kaiſer von 
Defterreih, für die amdere dagegen und in Hamburg dem Könige von Prenßen 
das Prafidium zuftände. Die Abgeordnetenverſammlung follte aus Repräfentanten 
ber Sanbesvertretungen, 30 für Oefterreih, 30 für Preußen und 68 für bie 
übrigen Staaten, gebildet werben, indeß nicht regelmäßig zufammentreten und zu⸗ 
dem mit einem bloß berathenden Botum für einen ſehr beichränften Kreis von 
Angelegenheiten audgeftattet fein. 

Das Hervortreten Benfts mit biefen Projekte bleibt dadurch bedeutſam, daß 
es die Frage endlich wieder offictell auf die Tagesordnung fegte und weil fih an 
basfelbe die ganze weitere Entwidelung berfelben bis zu ihrem Abſchluſſe gefnäpft 
bat. An fich felbft konnte es unmöglich ein entſcheidendes Gewicht in tie Wag⸗ 
ſchale der veutfchen Geſchichte legen. Was die Nation verlangte, war nicht eine 
Beränderung der Form, ſondern der Sade, und was zwanzig Jahre früher viel- 
leicht al8 ein annehmbarer Borfchlag anfgenommen worden wäre, Heß bie dffent- 
Ihe Meinung jett volllommen gleichgültig. Faſt das weientlichfte neue Moment 
des Vorſchlags war bie Anerfennung der Parität zwifchen Defterreih und Preußen. 
Ohne Zweifel follte dadurch Preußen für den Plan gewonnen werben; bieß ge 
fang jedoch Teineswegs. Dagegen fand Oeſterreich alsbald heraus, daß vie Mittel 
ftaaten nichts verlieren und Preußen vielleicht etwas gewinnen würbe, konnte aber 
nicht entdeden, welcher Bortheil denn ihm zufallen werde. Graf Rechberg fchraubte 
baber in feiner Antwort an Sachſen vom 5. November 1861 das Präflvialrecht 
Oeſterreichs zu einer bisher nie geahnten Höhe hinauf und erflärte, daß Defter- 
reich nur unter der Bedingung darauf verziähten Löunte, weun „durch dieſes Opfer 





Deutſchland. 465 


ein hoher politiſcher Zwed mit Sicherheit erreicht werben würde." Dieß aber wäre 
nur der Gall „durch Heilung des eigentlihen Grundübels im Bunde und dieſes 
Grundübel — wer möge das läugnen? — beftehe darin, daß ber deutfche Bund 
in Folge der Doppelftellung Defterreihs und Preußens fi nicht zu einem volle 
flänbigen und aufriätigen Bunde gegen das Ausland ausgebildet habe". Dem- 
nah wollte fi Defterreih den „Dualismus“, wie es fih ausbrüdte, d. h. bie 
Gleichſtellung Preußens mit ihm innerhalb des Bundes nur unter der Bedingung 
gefallen laſſen, wenn es mit feinem ganzen Länberlomplere in ven Bund aufge- 
nommen werbe, mit anberen Worten, wenn der Bund auch feine außerbeutfchen 
Befigungen, Benezien, das zunächſt bedroht mar, aber au Ungarn, deſſen Ber- 
foflung es fo eben wieder fuspenpirt hatte, garantiren würde. 

Frenfen hatte begreiflicher Weiſe feine Zuft, ein politifch ziemlich werthlofes 
Ehrenreht mit einem fo hoben Preiſe zu bezahlen. Aber auch abgefehen davon 
fonnte das Beuſt'ſche Projekt für dasſelbe wenig Verlockendes haben. Hatte es aud) 
nicht für zeitgemäß erachtet, mit feinen früheren Plänen auf Grünbung eines 
Bundesſtaats unter feiner Führung und innerhalb bes beftehenden Bundes neuer- 
dings bervorzutreten, vielmehr die Idee ans Rückſicht für feine Bundesgenofien 
bis jett ganz ruhen laſſen, fo batte es doch darauf Feineswegs verzichtet. Jetzt 
glanbte es wirklich, wenigftens daran erinnern zu follen. Graf VBernftorff that 
dieß in feiner Antwort an Sachen am 20. December 1861, indem er die Idee 
zam erften Mal wieder ven Beftrebungen ver Mittelftanten gegenüber offen und 
unummwnnben als das leute Ziel Preußens hinſtellte. Obgleih nun das ganze 
neuerliche Auftreten Preußens am Bunde unzweifelhaft auf dieſer Idee als ftill- 
ſchweigender Borausfegung ruhte, fo fiel doch die Depeſche Bernftorffs, die den 
Beſtrebungen bes Nationalvereins offen die Hand zu reihen ſchien, wie ein Blitz⸗ 
ſtrahl in das Lager der Mittelftanten, die ſich eingebilvet Hatten, daß es Preußen 
gar nicht wagen werbe, auf ven verhaßten Plan offen zurückzukommen. Jedenfalls 
erachteten fie es an der Zeit, vemjelben glei von vorneherein gemeinfam und 
energiſch entgegen zu treten. Schnell verftänpigten fie ſich unter einander und mit 
Defterreih, und an einem und vemfelben Tage, am 2. Februar 1862, übergaben 
bie Vertreter Defterreihs, der vier Königreihe, Heflen-Darmftabts und Naffaus 
(Aurhefien hatten fie aus guten Gründen bei Seite gelaflen und Medlenburg hatte 
bie Betheiligung abgelehnt) identiſche Noten in Berlin, in denen ſie fi 
anfs emtfchiebenfte gegen die Idee eines engern Bunbesftaats im Staatenbunbe 
ausſprachen, darin eine faktiſche wenn auch nicht rechtliche Auflöfung des Bundes 
ſelbſt erblidten, den einzelnen Bunbesftanten fogar dad Recht zu einem ſolchen 
Schritte mit Preußen abfpraden und einen derartigen Vertrag für nicht mehr 
und nicht minder als einen Subjettionsvertrag erflärten. Preußen ließ fich feiner- 
feit8 durch die Leidenfchaft der Mittelftanten nicht ans der Fafſung bringen; es 
beantwortete am 14. Februar 1862 die identiſchen Noten fehr rubig, indem es 
feine Ueberzeugung ausſprach, daß eine Reform des Bundes nad) den Anfchauungen 
der Mittelftanten und bei den geheimen Planen Defterreihd ſich als unausführbar 
erweifen würde. Damit ließ indeß Preußen den Gegenftand fallen, da es ven 
Augenblick nicht für geeignet hielt oder nicht dafür halten wollte, die Frage praf- 
tiſch in Angriff zu nehmen. Bereits vorher, am 28. Ianuar 1862, hatte der 
babifhe Miniſter des Auswärtigen, Freiherr d. Roggenbach, es unternommen, in 
einer fehr einläßlichen Depefche nach Dresden für vie Idee des Bundesſtaats nach⸗ 
drücklich einzuftehen und das Projekt des ſächfiſchen Kabinets als einen Verſuch, 
„bie politiſchen Begenfäge, unter welden ber beftehende Zuſtand Deutſchlands 

Bluntfglinnp Drater, Deutfes Staate⸗Woörterbuch. X]. 30 


466 Hadtrag. 


leide, bloß durch Auffindung einey neuen Formel zu heben’, zu bezeichnen, was 
er in der zweiten badiſchen Kammer ſchneidender damit ausprädte, der Vorſchlag 
„biete dem deutſchen Bolle flatt eines Stückes Brot für feinen Hunger einen 
Stein”. 

Die Frage praktiſch in die Hand zu nehmen, war das Feine Baden freilich 
nit in ver Lage, fo lange bie einzige Regierung, vie dieß Hätte ihnn köonnen, 
Angefihts der Schwierigkeiten und Gefahren, bie das Unternehmen unzweifelhaft 
mit fih brachte, nicht den Muth dazu batte. Umſonſt verfuchte das preußiſche 
Abgeordnetenhaus, die Megierung durch eine energifche Refolution dahin zu drängen; 
bie Regierung lehnte es in ven Kommiffionsberathungen entjchieden ab, ſich brängen 
zu laflen, und als am 11. März 1862 eiue viehfällige Beſchlußfaſſung des Haules 
und zwar unzweifelhaft mit überwöltigender Majorität bevorftand, fam biefelbe 
einem folgen Ergebniß durch eine Wufldfung zuvor. Die ganze Angelegenheit 
wurde damit von Preußen zunächft thatſächlich fallen gelaflen. 

Inzwifgen fam um dieſelbe Zeit die kurheſſiſche Frage zur Erledigung und 

trat die fchleswigeholftelnifche in ein neues Stabinm ein. 

Kurheſſiſche Angelegenheit. Wie Bereits erwähnt hatte die Majo⸗ 
rität des Bundestags, d. 5. Defterreih und bie Mittelſtaaten, am 24. März 
1860 mit 12 gegen 5 Stimmen den Antrag Preußens auf Herftellung ver kur⸗ 
beifiihen Verfaſſung von 1831 obgeworfen und einen Beſchluß gefaßt, ber dem 
Kurfürften die Mittel in pie Hand geben follte, die oftroyirte Verfafſung ven 1862 
wenigſtens größtentheils aufrecht zu erhalten. Allein es zeigte fih bald, daß vie 
Berhältnifig bereits einen grünbticheg Umſchwung erlitten hatten, der dad Gelingen 
ihrer Abſicht vereitelte. Der Kurfürft ergriff zwar gerne den ihm dargebotenen 
Ausweg und oftrogirte feinem Lande am 80. Mai 1860 eine neue Berfaflung 
ſammt Wahlgefeg. Allein er war außer Stande, dieſelben zur Geltung zu bringen, 
Dreimal ſchrieb er in den Jahren 1860 und 1861 vie Wahlen zum Landtage 
nach diefer neuen Verfaſſung aus, die Kurhefien wählten, aber unter Proteft, der 
Landtag trat zufammen und konftituirte fig nur unter Proteſt, er leiftete den Eid 
wieder nur unter Brote und erklärte ſich ſchließlich tufompetent, auf irgend welche 
Borlagen der kurfürftligen Regierung einzugeben. Die öffentlihe Meinung tn ganz 
Deutſchland Rand auf Seite des kurheſſiſchen Volles, Nicht nur der preufifche 
Landtag, felbft die eigenen zweiten Kammern ver Miittelſtaaten fpradgen fich mit 
überwältigenden Mojoritäten gegen die Politik derfelben aus; die zweite Kammer 
Bayerns legte am 16. März (mit 132 gegen bloß &), diejenige Sachſens am 
10. April, diejenige Württembergd am 0. Auguſt 1861 fürmlihe Bermahrung 
ein gegen den Bundesbeſchluß, zu dem ihre Regierungen nicht bloß mitgewirkt, 
fondern den fie recht eigentlich hervorgerufen hatten. Zu Aufang des Jahres 1862 
ſchien der preußifcgen Regierung der Moment zum Hantels endlich gekommen zu 
fein, als der Rurfürft durch eine nene willkürlich erlaſſene Verordnung wenigftens 
Minoritätgmahlen erzwingen wollte. Sie verlangte in Kaffel die Zurücknahme ver 
Verordnung und exflärte in Wien, daß fie nöthigenfallg allein vorgehen werke, 

DOeſterreich fuchte wenigftens die Bundesaltion zu retten, bie Mistelftanten zägerten, 
bis Preußen Ernf zeigte und zmei Armeelorps marfchhereit machte. Nun erſt bot 
der Bundestag vie Hand und fügte fig der Kurfürft. Ya 22. Juni 1892 erklärte 
er durch Dekret, die Verfaflung von 1831 und das Wahlgeſetz von 1849 wicher 
herftellen zu wollen. Es war dieß unzweifelhaft ein Erfolg Preußens nad ber 
öffentlichen Meinung Deutſchlands, vefien Wirkungen ſich meithin fühlbar machten. 
Die Kurheffen ſelber ſollten freilich darum ihres Lebens noch micht froh werben, 


Deutfchland. 467 


indem ber Kurfürſt nun feinerfelts zum paffiven Widerftande gegen bie Ihm auf- 
gebrungenen Berfaffungszuftände griff und eine Art fürſtlicher Arbeitseinftellung 
ins Wert feßte, unter der das Land verfämmern mußte, bis den Kurfürften end⸗ 
ih das Tängft und mehr als hinreichend verbiente Geſchick ereilte. 

Shleswig-Holfteinifhe Angelegenheit. Schwieriger und ver- 
widelter Iagen die Dinge in Schleawig-Holftein, und wenn bier während langer 
Jahre für die Wahrung des Rechts und ber nationalen Interefjen wenig und fo 
viel wie gar nichts gefhah, fo fiel dieß nicht fowohl ven Mittelftaaten und der 
Mojorität des Bundestags als den beiden Großmächten und unter biefen wieder 
vornehmlich Preußen unter dem Regiment des Hrn. v. Manteuffel zur Laſt. Wie 
bezglich Kurheſſens fo war es auch bezüglich Schleswig. Holfteins in Olmütz aller- 
dings nut gezwungen ber augenblidlihen Uebermacht gemwichen. Aber fein Beitritt 
zum Londoner Bertrage von 1852, durch melden bie Herzogthämer befinitiv 
Deutſchland entfrembet und nnzweifelhafte Erbrechte einer angeblich europälfcden, 
gegen die Intereſſen Deutſchlands gerichteten Konvenienz geopfert werden follten, 
war fein freies eigenes Wer, für das Teinerlei Rechtfertigung oder auch nur Ent- 
ſchuldigung gefunden werben mai Ebenſo wenig kann eine Entſchuldigung dafür 
gefunden werben, daß Preußen in Verbindung mit Oeſterreich bemüht war, auch 
eine Anzahl anderer deutſcher Staaten für ebett jenen Bertrag zu gewinnen und 
damit auch ihnen Dänemark gegenüber fo viel wie möglid die Hand zu binden. 
In dieſer Frage war es vielmehr das Berbienft eines Mittelftantes, Bayerns, 
dag wenigftens der deutſche Bund fich freie Hand behielt und ben Beitritt zu 
jenem europätfhen Abkommen ablehnte. 

Als der Prinz-Regent die Zügel der Regierung Preußens ergriff, war die 
ganze Angelegenheit gründlich verdorben, und es muß zugeftanden werben, daß 
eine Wendung wo nit unmöglich, doch fchwierig war und nicht augenbliclich 
bewerkftelligt werben konnte. Wenn Preußen etwas für die bebrängten Herzog» 
thümer thun wollte, fo konnte e8 nur Innerhalb ver Schranken der von ihm und 
Oeſterreich 1851/52 gefchloffenen ud vom Bunde genehmigten Vereinbarungen 
umd innerhalb des Londoner Vertrags von 1852 gefhehen. Daß aber felbft das 
nicht geſchah, fällt nicht nur Preußen, fondern allervings auch dem Bundestage 
zur Laft, der, fhwerfällig, unbeholfen und mit nicht allzu gutem Willen, ſich 
lediglich darauf befchräntte, für Holfteln nnd Lauenburg wentgftens eine gewiffe 
Selbſtändigkeit in Anfpruch zu nehmen und das Land gegen eine allzu rücksſichts⸗ 
lofe Ausbeutung durch Dänemark zu ſchützen. Schleswig war gänzlid preis- 
gegeben und feinem Schidfal überlafſen worben und doch mußte, geſtützt auf vie 
umnzweitelhaften und unzweideutigen Verpflichtungen, welche Dänemark in den er- 
wähnten Vereinbarungen bezüglich Schleswigs eingegangen war, von Deutſchland 
der Hebel gegen Dänemark in Schleewig angefegt werden, wenn irgend ein durch⸗ 
greifender Erfolg erzielt werben wollte. Das unfruhtbare Geplänkel zwifchen dem 
Bunde und Dänemart um das Vorwerk Holftein mußte in der bisherigen Weife 
aufgegeben und die däniſche Hauptfeftung ſelbſt, Schleswig, und das vertrags- 
widrige Vorgehen diefem gegenüber angegriffen werben. Wirklich gab der Minifter 
dv. Scleinig ſchon 1860 dem preußiſchen Abgeordnetenhauſe gegenüber zu, daß 
etwas für Schleswig geihehen müffe. Allein während des ganzen Jahres gejchah 
nichts, obgleich der Konflikt zwiſchen ver däniſchen Regierung und der ſchleswigſchen 
GStändeverfammlung, deren weitüberwiegende Mehrheit der deutfchen Partei an⸗ 
gehörte, gerade damals eine bequeme Handhabe darbot. Auch fpäter und bis Ende 
1861 blleb Preußen muthätig, obgleich die unredliche und unwahre Bolitit Däne- 


90 + 


468 Radirag. 


maıts gegenuber Helfen geirgentiil ter Butzeiveriage au tie Etinte Gelieins 
in fe unpweifcchefter, fe zu ſegen hentgreiflider aut zutım fe beihämenter Weile 
zu Tage getreten wer, taẽ fetft Ergiart feinen türiibın Ektling Preis geben 
xıfte zur Ainig Fiikelm am 5. Sexi 1861 tem yresfiideen Lautiag im feiner 
Thieunrete cf.ären leunie, te Teutfhlant aut Freuen sen Seue ter Greß⸗ 
mähte freie Haud hätten, um tie Unertennung ihrer Auiprüche = be 
zäglid Keifieins wäikigenfalls mit Garalt erzwingen zu Tann. Ef am 5. De 
cember 1861 hielt fih Preußen für kemäfist, Tüncmert an feine 
Zulagen ven 1852 zw erinnern, wench „weter eine Inferporatice 
in tes Keuigreich ſtattſinden, nech irgent tiefelbe bezwedente Schritte vorge⸗ 
nemmen werten ſellten“. Gerade das aber war ven Anfang au ter Zielpuuki 
ver raniſchen Pelitik geweien unt wirflic ging fie cken tamals mit einem 
ſcheidenren Schritt im tiefer Richtung um. Am 27. Jaumar 1862 leute fie 
Aeichtrath ten Eniwuıf einer Revifion ter Berfafiung vem 2. Oltober 1855 
zwor für Täuemarl unt Schleswig zufammen und mit Ausſchluß Holſfteint 
tur welde tie Berfämelzung ter keiten erſten angebabut werben unb fo 
erfte Ehhritt auf einer Bahn gemadıt werten fellte, vie jäließli fo verhänguiß- 
vol für Dänemarf warb. Oeſterreich und Preußen ridgteten dagegen unter tem 
8. Fekruar 1862 gemeinfam tie Frage an Dänemark, ob es ten binbenden Cha⸗ 
rafter ter Bereinbarungen von 1852 anerlenne oter nit, und als die Antwort 
nichts weniger als befriedigend lautete, proteflirten beite wiederum gemeinfam 
aufs Hörmlichfte gegen tie Borlage ter däniſchen Regierung an tem Reidhötag, 
weichem Proteſte fih auch tie Bunbesverfommliung am 27. März 1862 anſchloß. 
Es war das allertings nur ein vorläufiger Schritt, aber ein folder, ver dem 
Kern ver ſchleswig-holſteiniſchen Frage betraf und die tänifdhe Politik in ihrer 
verwundbarften Stelle traf. Bon dieſem Punkte ans mußte die Entſcheidung ver 
ganzen Frage geſucht werben und ift fie in der That auch fpäter gefunden 
worden, 

Nene Spaltung. Trog diefes momentanen Zufammengehens von Defter- 
rei, Preußen und tem Bunde In dieſer Angelegenheit hatte unter den Gliedern 
des deutſchen Bundes in Folge des Bährungsftoffes, den der ſächfiſche Bundes⸗ 
reformantrag unter fie geworfen hatte, zu berfelben Zeit eine entſchiedene Spal- 
tung Plag gegriffen. Obgleih Preußen die Gelegenheit ergriffen hatte, um nener- 
dings die Fahne des Bundesftantes zu erheben, fo hatte es ſich doch eben damit 
begnügt und es gänzlid unterlaflen, daran irgend melde weitere Schritte oder 
Maßregeln zu Inlipfen. Den populären Kräften, die, wie namentlid der National. 
verein, in derfelben Richtung zu wirken fuchten, konnte es ſich nicht entfchließen 
die Hand zu reihen, Im Kreiſe ver Regierungen aber vurfte e8 allerdings nur 
anf eine fehr geringfügige und in ver That völlig unzureichende Unterftägung 
rechnen, da nur allenfalls Baren, Weimar und Koburg-Gotha auf feiner Seite 
ftanden und ſelbſt die Kleinftaaten, vie gänzlich in feinem Machtbereiche lagen, 
zurüdhielten. Um fo fchroffer ftanden ihm bie Mittelftanten, Bayern und Wärttem- 
berg, Hannover und Sachſen, Kurheflen, Darmflabt und Naffau, in enger Ber 
bindung unter fih und mit Oeſterreich gegenüber, feft entichloffen, jeves bundes⸗ 
ftantlihe Hervortreten Preußens mit vereinten Kräften fofort energifch zu be⸗ 
fämpfen und eifrig darauf bedacht, einem ſolchen Hervortreten wo immer möglich 
vorzubauen und die nationale Bewegung, deren Dafeln und deren wachſende Macht 
fie nicht verkennen kennten, wo Immer möglih in ein ihnen genehmes, ihnen un» 
gefähriiches Bett zu leiten, Jede der beiden großen Parteien nun entſchloß fid 


i 


Fa 


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Dentſchland. 469 


zu einem Schachzug gegen ihren Gegner: Die Mittelftanten und Defterreich brachten 
das Delegationsprojeft auf den Plan und dachten tamit Preußen auf dem Boden 
des Staatenbundes feftzubalten, während Preußen bie gerade damals von Frank⸗ 
reich ausgehende Bewegung für das Freihandeltprincip aufgriff, um mit jenem im 
Namen des Zollvereins einen Handelsvertrag abzuſchließen, durch welchen vie Be» 
völferungen der Mittelftanten noch fefter an Preußen gelettet, Oeſterreich aber 
vorerfi wenigftens auf dem handelspolitiſchen Gebiete aus Deutichland hinaus⸗ 
gebrängt werben follte. Die Kämpfe um das eine und um das andere Projekt 
üllten die zweite Hälfte des Jahres 1862 und vie erfte des Jahres 1863 aus. 
eive müſſen wenigftens mit einigen allgemeinen Strichen gezeichnet werben. 

Der frangdftfhe Handelspertrag. Wie fhon erwähnt, war Frank⸗ 
reich im Jahr 1860 durch den Hanbelövertrag mit England zum Freihandels⸗ 
princip übergegangen und ſeither bemüht, ähnliche Verträge au mit einer Reihe 
anderer Staaten abzufchließen. Auch mit dem Zollverein hatte es bereits im Taufe 
des Jahres 1861 Unterhanblungen angelnüpft und am 29. März 1862 ſchloß 
Preußen im Namen besfelben und unter Vorbehalt der Zuftimmung aller feiner 
lieder einen vießfälligen Vertrag mit Frankreich. Entſprach der neue Vertrag 
wie natärlih auch nicht allen Wünfchen, fo mochte doch Preußen mit gutem Ge⸗ 
wiffen in feiner erſten Mittheilung darüber an feine Bereinsgenoffen fagen: „Die 
Opfer, ohne welche eine Verſtändigung überhaupt nicht denkbar ift, fallen auf 
ung in vielen Beziehungen mehr, in keinen dagegen weniger als auf unjere Zoll⸗ 
verbündeten.“ Bon biefer Seite konnte Preußen in der That mit Recht nidt wohl 
ein Borwurf gemacht werben. Um fo größere Bedenken erregte dagegen bie politifche 
Seite des Bertrags. Diefer enthielt, wie Preußen felber hervorhob, eine fehr ein- 
greifende Neform des bisherigen Zoßtarifs und zwar im Sinne des Freihandels⸗ 
princips, und bie mißfiel den Regierungen ver Mittelftaaten, vie vielfach nod 
In entgegengefegten Anfchauungen befangen waren. Der Art. 31 ſprach überbieß 
für beide Kontrahenten die Verpflichtung aus, fi gegenfeitig auf dem Fuß ber 
meiftbegänftigten Nationen zu behandeln, wodurch Defterreih von Preußen und 
dem Zollvereine anf biefelbe Stufe wie Frankreich herabgedrückt wurbe, fo das 
nicht nur alle bisherigen Begünftigungen vesfelben wegfallen, fondern aud von 
einer weiteren Annäherung zwifchen Defterreih und dem Zollverein, wie fie auf 
Defterreihs Betreiben dur den Vertrag vom 19. Februar 1853 in Ausſicht 
genommen worden war, feine Rede mehr fein konnte. Defterreich fchredte auch als- 
bald auf und das kaiſerl. Kabinet ließ Preußen feinen Augenblid im Zweifel, daß 
es eutfchloffen fei, dieſen preußiſch-franzöſiſchen Vertrag mit allen ihm zu Gebote 
ſtehenden Mitteln zu befämpfen und ihn wo immer möglich zu alle zu bringen. 
Die Entſcheidung Tag in der Hand der Mittelftuaten, in denen denn auch bald 
eine gewaltige Agitation für und gegen ben franzöſiſchen Handelsvertrag ſich ent- 
widelte. Auf das Nähere einzugehen, würde zu weit führen. Es genügt zu be 
merten, daß die öffentlihe Meinung in ganz Deutfchland, vielleicht allein Bayern 
und Württemberg ausgenommen, fich ganz Überwiegend für den Vertrag erklärte. 
Bei den Regterungen fielen jedoch die politifchen Erwägungen ſchwerer ins 
Gewicht als die wirthfchaftlichen: ven 8. Auguft 1862 lehnte Bayern feinen Bei⸗ 
tritt definitio ab und bald folgten ihm auch Württemberg, Hannover, Heffen- 
Darmſtadt und Naffan, die beiden legteren gegen den ausprüdlichen Wunſch ihrer 
Landtage. Preußen antwortete darauf mit dem Entfhluß, die Fortdauer des Zoll- 
vereind felbft an bie Genehmigung des franzöfifhen Handelsvertrages zu Inüpfen 
und kündigte ven betrefienden Megierungen für ven Hall, daß fie auf ihrer Ab⸗ 


470 Nachtrag. 


lehnung bebarren follten, feft überzeugt, daß die Mittelftaaten fih bazu niemals 
wärben verſtehen Tünnen, ohne ihre ganze wirtbichaftlidhe Griftenz zu gefährbem. 
In diefer Üeberzeugung glaubte Preußen ruhig abwarten zu können, bis feine 
Gegner fih eines Beſſern befinnen wärben. In der That wer das auch fpäter 
ber Fall. Vorerft jevoh vermochte Preußen feinen Willen nicht durchzuſetzen umdb 
blieb die Angelegenheit in der Schwebe. 

Das Öfterreihifh-mittelftaatlide Delegatiousprojelt. Da- 
gegen gelang es Preußen bald darauf, einen Schachzug der Öfterreichiich-mittel- 
ſtaatlichen Politik zu vereiteln. Schon in den inentifchen Noten vom 2. Februar 
1862 hatten Defterreih und die Mittelftonten Preußen angekündigt, daß fie tm 
Gegenſatz gegen deſſen bunbesftaatlihe Plane damit umgingen, die Reform des 
Bundes auf der von ihnen allein als prakiih anerfannten Gruudlage des be- 
ftehenden Staatenbundes in die Hand zu nehmen, alfo ohne den Duallsmus der 
beiden Großmächte innerhalb des Bundes in Frage zu ftellen und ohne die volle 
Souveränetät der Cinzelftaaten anzutoften. Preußen, das banon weder für fi) 
no für Deutfhland ein geveihliches Reſultat erwartete, lehnte feine Betheiligung 
zum voraus ab. Oeſterreich und vie Mittelftasten ließen ſich indeß dadurch nicht 
beirren. Schon vier Tage nad der Uebergabe jener Noten, am 6. Februar 1862, 
beſchloß die Bunbesverfammlung auf ihren Betrieb mit Mehrheit, eine Kommiffion 
behufs Herbeiführung einer gemeinfchaftlihen Civil- und Kriminalgefeßgebung für 
fämmtlihe Bundesftagten nieberzufegen. An viefe follte jener Plan angelnüpft 
werben. Am 7. Juli. traten Bevollmächtigte der Mittelfiaaten in Wien zu einer 
Konferenz zufammen und am 7. Auguft 1869 benachrichtigte Deflerrei bie 
preußgifhe Regierung von dem Refultat verfelben, das auf „Ginfährung eines 
repräfentativen Elements in die Bunpesverfaflung" noise bei der bereits ge⸗ 
gebenen fpeciellen Beranlafiung ging, aljo auf eine Berfammlung von Delegirten 
der einzelnen Landtage ad hoc. Am 14. Auguſt 1862 brachten Oeſterreich und 
die vier Königreihe, die beiden Hefien und Raſſau einen dahin ziebenden förm⸗ 
lihen Antrag am Bunde ein. Preußen verwahrte fi) dagegen von vorneherein, 
taß nad dem beſtehenden Bundesrecht eine ſolche Maßregel durch bloße Stimman- 
mehrheit beichloflen werden könne. Die Mittelftgaten und Defterseih hielten in⸗ 
deß feit, zumal fle einer kompalten Majorität am Bunde für Ihr Projekt ſicher 
zu fein glaubten. Außerhalb ver Regierungen waren die Anfichten dagegen fehr 
getheilt und entipann fish bald auch darüber eine lebhafte Agitation. Während 
bes Sommer 1862 waren die Führer der natiomaien Bewegung bemüht, ein 
neues Gentrum für denfelben zu fhaffen, ven fog. Abgeorbuetentag, und 
am 28. September wurde berfelbe wirklich zu Weimar von etwa 200 Mitgliexern 
ber verſchiedenen Landtage eröffnet. Er ſprach ſich mit großer Mehrheit für vie 
bundesftaatlihe Einheit Deutſchlands und für die Einberufung eines wirklichen 
Parlamentes aus, verwarf dagegen das Delegirtenprojekt, das nicht einmal als 
Abſchlagszahlung anzunehmen, fondern unbedingt abzulehnen fe. Allein aud auf 
ter entgegengefeßten Seite war man nicht unthätig und begann endlich an bie 
Schaffung einer förmlichen Partelorganifation zu denfen, um dem Nationalverein, 
befien Beftrebuugen bisher das Feld gauz ausfchlieglic überlaſſen worden war, 
ein Gegengewicht zu bieten. Am 28. Ditober 1862. wurde in Frankfurt von einer 
zahlreichen Verſammlung angefehener und einflußreiher Männer aus den ver 
ſchiedenen Mittelftaaten nad dem VBorgange und and ganz nach dem Vorbilde 
des Notionalvereins ein geoßbentfher oder wie er fi nannte deutſcher Re- 
formverein gegründet, ber fi in feinen Statuten burdaus auf ben &tand- 





Dentſchiand. 471 


puntt des Staatenbundes im Gegenſatz gegen alle bundesſtaatlichen Ideen ſtellte 
und ſich denn auch ſofort im Allgemeinen für eine „concentrirte kollegialiſche 
Bundesexekutivgewalt· im Gegenſatze gegen eine einheitliche Centralgewalt ber 
Krone Preußen, nnd zunächft, was aud vie Hauptfadhe war, für das öſterreichiſch⸗ 
mittelftantlihe Delegirtenprojekt erflärte, indem er darin wenigſtens „einen erſten 
Schritt zur Schaffung einer nationalen Vertretung” erlannte. Der Berein ver- 
zweigte fi bald in Bayern, Württemberg, Heflen-Darnftapt, Naffau und Han⸗ 
nover, entfprady aber in feinen Erfolgen laum ven Erwartungen der Regierangen. 

Inzwiſchen war das voransfichtlihe Reſultat ver Abflimmung am Bunde 
&ber das mittelftantlihe Delegirtenprojelt jedenfalls ein zweifelhaftes. Preußen 
ſeinerſeits war entfchloffen, fih unter allen Umfänden nicht majorifiren zu laflen 
and eher feinen Geſandten von Frankfurt abzuberufen und den Bund für ge- 
brochen zu ertlären, als fi einem Beſchluſſe zu unterziehen, zu dem es ber 
Bundesverfammlung die Berechtigung aufs Entfchiedenfte abſprach. Doc wünſchte 
es wo möglich, diefes Aeußerſte vermeiden zn können, und feste daher alle Hebel 
In Bewegung, um bie erforverlihe Anzahl von Stimmen zu gewinnen und das 
Projekt zu Fall zu bringen. Dieß gelang ihm denn aud wirklich. Am 22. Ianuar 
1863 erfolgte die Entfhelbung: der Antrag wurde mit 9 gegen 7 Stimmen ver- 
worfen — Kurheſſen, obgleich es den Antrag mit geftellt hatte, fiel von feinen 
Berbünveten ab und die Stimme Naflaus wurde durch Braunſchweig paralyfirt. 
Hr. vo. Bismard aber, der prenßiſche Minifterpräfivent, dem nicht lange vor» 
ber die Zügel der preußifhen Politik in die Hände gelegt worden waren, richtete 
zwei Tage fpäter eine Cirkulardepeſche an ſämmtliche deutſche Regierungen, in 
welcher er feine Unterhanblungen mit Defterreih Über den gefallenen Plan offen 
darkegte nnd die ganze Stellung Preußens zu Oefterreih mit folder Rückhalts⸗ 
loſtgkeit exrörterte, daß dieſe Depefhe als der erfle Schritt und als bie unum- 
pundene Ankündigung derjenigen Politit betrachtet werben fann, bie er feıther 
mit Energie verfolzt and ſchließlich durchgeführt Hat. Graf Rechberg antwortete 
im Namen Oeſterreichs ganz überrafcht und fchloß fetne Depefche mit den Worten: 
„Wenn man mad von Berlin aus die Alternative ſtellt, entweder uns ans Deutſch⸗ 
land zurädyuziehen und den Schwerpunkt unferer Monarchie nah Ofen zu ver⸗ 
legen, over im nähen emropälfchen Konfliti Preußen auf ver Seite unferer 
Gegzuer zu finden, fo wird die Öffentliche Meinung Deutfhlands Über folhe Ges 
finnung urtheilen und bie Greigniffe werben fie richten, wenn fie je zur That 
werben follte.” Graf Rechberg glaubte damals nicht, daß es je dazu kommen 
Bane, und doch war getade er dazu beftimmt, nicht am wenigfien beizutragen, 
daß ed dazn kam. 

Die innere Lage Deutfchlandse war, mie aus dem VBisherigen Kar genug 
erhells, zu Anfang des Jahres 1863 eine bereits fehr bedenkliche. Seit mit dem 
Jahr 1858 wer ſchwere Drad, ver bisdahin auf Preußen gelaftet, gehoben wor⸗ 
dem, war das politifche Leben wicht bloß in Preußen, ſondern überall in Deutfch- 
land wieder erwacht und hatte fi ſchnell gehoben und mächtig entwidelt. Aber 
die nächte Folge war doch nur wie geweien, daß die zahlreichen und mannig⸗ 
faltigen Gegenſaͤtze ſich fchroffer als jemals gegenüber flanden, daß die wider⸗ 
ſtreitenden Kräfte ſich vie Wage hielten und daß feinerlei Ausfiht vorhanden 
war, daß ſchließlich eine dieſer Kräfte auf fireng legalem Wege die Oberhand ge- 
winnen werde, während es geradezu kindlicher Sentimentalität beburfte, um ſich 
Uagephts ver gährenden und brängenven Interefien, Ye ſich von allen Seiten 
leidenſchaftlich befehdeten und belämpften, noch immer ber Hoffnung hinzugeben, 


472 Nachtrag. 


dag die Fürſten und Bölker Deutſchlands fi jemals im Frieden über die Neu⸗ 
geftaltung des Bundes verftändigen wärben. Unter viefem Umſtänden mußte ber 
Blick nothwendig von dem ziemlich wirren Durcheinander in den zahlreichen größeren 
und Tleineren beutfhen Staaten außerhalb der beiden Großftaaten auf viefe ge= 
lenft werben, bie beide momentan von Innern Kämpfen in Anſpruch genommen 
waren, deren Ausgang möglicher Weiſe für die Löſung aud ber deniſchen Frage 
entſcheidend werden mochte. 

Der Konflikt in Preußen. In Preußen hatte man im Jahr 1859 und 
nachher noch die Hoffnung gepflegt, e8 werde durch eine entſchieden liberale Ent- 
widelung im Inneren und eine damit Hand in Hand gehende entichiedene Politik 
in allgemein deutſchen Angelegenheiten einen folden Drud auf die widerſtrebenden 
Regierungen der Mittel: und Kleinftanten und zugleich eine ſolche Anziehungskraft 
auf Die Bevölkerungen dieſer Staaten ausüben, daß es auf dieſem Wege „mora- 
liſcher Eroberungen” ganz von felbft, wenn auch nur allmälig, thatſächlich an bie 
Spige Deutfchlands würde gehoben werben. Im Jahr 1863 hatte diefe Hoffuung 
bereits gänzlich aufgegeben werden müflen. Die preußifche Regierung übernahm die 
ihr zugedachte Rolle nicht, im Gegentheil hatte Preußens ganze innere Entwidelung 
im Laufe des Jahres 1862 eine Wendung genommen, die jener Role vollftändtg 
widerſprach. Zwifchen der Bollövertretung und der Krone war ein fo tiefgreifenver 
und erbitterter Konflikt ausgebrochen, daß die Altionsfähigkeit Preußens nach außen 
und zumal in ber deutſchen Frage dadurch nothwendig gehemmt und bis auf einen 
gewiſſen Grad geradezu gelähmt werben mußte, bis eine der beiden um ben vor 
herrſchenden Einfluß ringenden Kräfte die definitive Oberhand gewonnen haben 
würde. Der Streit begann, fobald die erften Flitterwochen der fog. neuen Xera, 
die erfte Zeit der mehr negativen Befriedigung über die Befeitigung des Man⸗ 
teuffel’jchen Regimentes und des unerträg!ichen materiellen und moraliihen Druckes, 
den es nad allen Seiten ausgeübt hatte, vorüber war und vie bisher ziemlich 
indifferente Maffe der mehr liberalificenden als Liberalen Majorttät des preußiſchen 
Abgeorbnetenhanfes ihrer pofitiven Aufgabe inne ward. Da begann denn dieſe 
indifferente Partei fih in Fraktionen zu fpalten und von der allgemeinen Ber- 
trauensfeligleit zurüd zu ziehen, bis vie legtere ſchließlich im die fchärffte und 
fhrofifte Oppofition gegen die Räthe der Krone umfhlug und dieſer Umfchlag 
denn auch vorerft all jene Fraktionen wieder zu einer großen, einmüthigen Partei 
zufammenfchloß. 

Der Zwiefpalt begann, als bie Volksvertretung ſich Überzeugen mußte, daß 
die Regierung zwar allerdings liberalen Reformen nicht abgeneigt fei, aber doch 
nur ſehr allmälige Fortſchritte im Auge babe und an ihre Aufgaben doch nur 
zögernd und geradezu zaghaft hinantrete, während fie ſelbſt eingreifente, umfaflenve 
und rafhe Mafregeln nicht nur für wünſchbar, ſondern geravezu als durch bie 
innere unb äußere Tage des Staates geboten erachtete. Der eigentliche Streit ent- 
ſpann fich zuerft über das Vorgehen ver Negierung in der Armeereorganifationg- 
frage, über die Herftellung einer wirklichen und wirkſamen Kontrole des Landtags 
bezüglich des Budgets und des Staatshaushaltes, Über die Haltung ber Regierung 
in ber deutſchen Frage, in der dieſe zu entfchlebenen und entſcheidenden Maß⸗ 
regeln gebrängt werden follte, über die Frage einer Umgeftaltung des Herrenhaufes, 
das fo wie e8 war unt noch iſt in der That weder in feiner Zuſammenſetzung 
noch nad ber von dieſer Zufammenfegung abhängigen Summe von Intelligenz 
ben Aufgaben und ver Würde eines großen Staates auch nur von ferne entfpridt, 
und über noch andere Fragen, koncentrirte fi aber ſchließlich auf die Frage der 





Deutichland. 478 


Armeereorganifation und des damit zuſammenhängenden Budgetsbewilli⸗ 
gungsrechtes des Abgeorduetenhauſes, neben der jene anderen ragen bloß noch 
als umngelöst nebenher liefen. Geftügt anf das Herrenhaus ging die Megierung, 
obglei ihre wiederholten Berufungen an das Land durch Anordnung von Nen- 
wahlen nur die Folge hatten, daß das Land eine immer entfchledenere, immer 
compaltere Mojorität ins Abgeordnetenhaus ſandte und die Anhänger der Regie 
rung in demfelben auf eine wahrhaft verſchwindende Minorität zufammenfchrumpften, 
in ber Armeereorganifation rüdfihtslos und entſchloſſen vorwärts und regierte 
Jahre lang ohne ein geſetzlich bewilligtes Büdget, was fie mit einer angeblichen 
„Lücke“ in der Berfaflung immerhin nur nothbärftig zu bemänteln vermochte. Die 
NReorganifation der Armee, war allerbings eine nicht zu verlennende Nothwendig⸗ 
feit, und es ift das Berrienft des Könige Wilhelm, daß er fie angeregt und 
mit fo großer Zaͤhigkeit feftgehalten hat, nachdem alle Verſuche, die Bunbes- 
fontingente ber verfchievenen veutfchen Mittel- und Kleins ftaaten fefter zu⸗ 
fammenzufaflen und einer einheitlichen Leitung zn unterwerfen, gefcheitert waren, 
jo daß die Sicherheit Deutfglands nah außen in der That weſentlich nur 
anf Prenfen und Defterreich Iaftete und Deutſchland auf Kräfte nicht rechnen 
tonnte, die, fo tüchtig an ſich fie auch waren, in ihrer Mannigfaltigkeit und 
Zerfplitterung doch nur zu fehr am die ehemaligen Neichdarmeen erinuerten und 
jpäter dann aud wirktih in vemüthigender Art erwiefen, daß fie ohne einheitliche 
Leitung einer größeren Aufgabe abfolut nicht gewachſen ſeien. 

Aber eine fo tief greifende Maßregel konnte doch nicht ins Werk gefegt wer⸗ 
ben ohne die Einwilligung des Landtags, und biefe war allerdings in dem ge 
wünſchten Umfange nur zu erlangen, wenn bie öffentliche Meinung und ber Land 
tag von ber Nothwendigleit oder doch Wünfchbarkeit verfelben gleihfalls überzeugt 
waren. Ohne einen großen Zwed, ohne eine große Gefahr, die dem Staate drohte, 
oder ohne eine große Aufgabe, die er feinerfeits zu erfüllen fih anihidte, war 
eine folde Anforderung nicht gerechtfertigt und nicht zu rechtfertigen. Keine ber 
beiden Boransfegungen lag damals in Preußen vor. Eine große Gefahr konnte 
möglicher Weife dem Staate von Frankreich her erwachſen, aber nichts beutete 
damals daranf hin, daß dieß wirklich der Fall ſei; eine große Aufgabe mode 
Prengen in Deutſchland geftellt fein, aber nichts verrietb, daß es fid 
vorbereiten wolle, fie zu löfen. Die große Maßregel erfchien daher mit 
Recht wie eine Schale ohne Kern und trog der Entfchloffenheit und Zähigleit der 
Regierung war es nicht wahrſcheinlich, daß fle fhlieglih die Oberhand über bie 
nicht geringere Entſchloſſenheit und Zähigkeit des Abgeorbnetenhaufes und ber 
hinter ihr ftehenven öffentlichen Meinung davon tragen werbe. Erſt als am 
24. September 1862 Hr. v. Bismard-Schönhaufen vom König an bie 
Spige des Minifterinms geftellt wurde, trat in der ganzen Rage ber Dinge eine 
Wendung ein, wenn fie auch naturgemäß nicht fofort zu Tage treten fonnte. Zu- 
nächft erfolgte im Gegentheil nur eine Berboppelung der Leidenſchaften und eine 
Krifie, welcher das neue Haupt der Megierung nicht zu widerſtehen, die er ſchließlich 
almmermehr zu bemeiftern im Stande gewefen wäre, wenn er ſich nicht von großen 
Zweclen und einer geiftigen Kraft, vie viefen gewachſen war, getragen gefühlt hätte. 
Inzwifchen war es feinen Planen vielleicht nur förberlih, daß feine Gegner in 
ihm eher einen fühnen, ja verwegenen Spieler, als einen ernften und befonnenen 
Staatsmann zu erkennen vermochten. Die ffentlihe Meinung in ganz Deutſch⸗ 
land war weit entfernt, von Bismarck und feinem Regimente in Preußen für die 
nationalen Interefien irgend etwas zu erwarten ober zu hoffen. 


71 Redtrag. 
Das öBerreigtige Reformprejetti. Ungeniiiiiih 
wi tage. Der 


Üßgenseinen von der Februnarverfafſung in glädti 
Barum follte eine ähnliche Berfafiung nicht auch für Deutſchland möglich 
jew, das mach größerer Einheit verlangte, deſſen einzelne Theile aber gleichfalls 
eine möglihft weit gehende Selbſtändigkeit in Anfpruh nahmen? Der Bexrſuch 
Iomnie wenigſtens gemadıt werden. Der Ungenblid ſchien dazu befonders günflig 
za fein. Die ventihen Fürften, deren Delegationsprojelt im Jannar 1863 gefallen 
war, waren geneigt, zu einem wusfaflenden Blaue, natärlidy auf derſelben Grund» 
lage des Staatenbundes, die Haud zu bieten, Preußen aber mochte vielleicht Son 
ver Bahn einer buadesſtaatlichen Neugeſtaltung Deutichlauns, die es ſich aller- 
dinge zeityer offen zu haften bemüht gewefen war, vie es aber doch noch wädt 
entſchieden wieder zu betreten gewagt hatte, durch Einmäthigleit der Fürften nud 
wenn der Betſuch überhaupt gut eingeleitet wurde, ganz und befinitio weggebrängt 
werden, um fo cher, als gerade bamals und ſeit Hr. v. Bismard die Zügel ver 
Regierung ergriffen und der Konflitt mit der Vollövertreiung ſich vorerft nur ver⸗ 
ſchärft Hatte, vie Öffentlihe Meinung in fümmtlichen Mittel- und Kteinftaaten 
Prenßßen nichts weniger als günfig war uud von einem Reziment Bismarck alles 
eher als eine natlonale That erwartete. Und der Verſuch wurde auch wirklich mit 
großen Hanz und. großer Geſchicklichkeit in Scene gejegt. Der König von Preußen 
war eben in Karlebad, wo er die Bäder gebrauchte. Hier empfing er am 2. Angaft 
1868 den Beſuch des Kaiſers von Defterreih, ver ihm eine Denkſchrift über bie 
unabweisbare Reform der deutſchen Bundesverfaſſung überreichte nnd ihn, nach⸗ 
dem er filh bereits verabſchiedet hatte, noch an demfelben Abend mit ber fürm- 
lichen Einladung zu eimem Kongreß ſämmtlicher dentſcher Fürſten Aberrafchte, der 





Deutſchland. 475 


nur wenige Tage fpäter, am 16ten desſelben Monats in Frankfurt ftattfinden 
ſollte. Die öfterreihifhe Denkfchrift, vie der Kaifer in den Händen des Könige 
zurädgelafien Hatte, fprach ſich zunächſt über die deutſche Bunbesreformfrage In 
einer Welle aus, wie es flärker gar nicht möglich gewefen wäre, und wie es 
wenigftens von Seite Defterreihs kaum erwartet werven konnte. „Das Facit der 
neueften beutfchen Geſchichte — hieß es darin — iſt zur Stunde nichts als ein 
Zuftand vollflänbiger Zerflüftung und allgemeiner Zerfahrenheit und man denkt 
in der That nicht zu nachtheilig von dieſem Zuſtande, wenn man fich eingefteht, 
daß die deutſchen Regierungen im Grunde ſchon jegt nicht mehr in einem feften 
gegenfettigen Vertragsverhältniſſe zufammen ftehen, fondern nur noch bis auf 
weiteres im Borgefühle naher Kataftrophen neben einander fortleben;" und weiter: 
„Der status quo iſt ſchlechthin chaotiſch, der Boden der Verträge ſchwankt unter 
ben Füßen deſſen, der fih auf ihn ftellt, ver Bau der vertragsmäßigen Ordnung 
der Dinge in Deuſchland zeigt überall Riffe und Spalten und ber bloße Wunſch, 
daß die morſchen Wände den nähften Sturm noch aushalten mögen, kann ihnen 
bie dazu noͤthige Feſtigkeit nicht mehr zurädgeben.” Nach ſolchen Prämifien war 
es im der That nicht zu verwundern, wenn Defterreih in ber Denkſchrift ſchließ⸗ 
lich eine durchgreiſende Neugeftaltung, eine organifhe Reform des ganzen Bundes 
verlangte. Offenbar batte es einen fertigen Plan bafür ausgearbeitet, bezüglich 
deſſen es fi jedoch vorerft mit einigen fehr allgemein gehaltenen Anventungen 
begnügte. Die öfterreihiiche Denkſchrift geſtand übrigens zu, daß „ohne Preußens 
bundesfreundliche Mitwirkung es für die Aufgabe keinen definitiven Abſchluß geben 
nne”, hoffte aber eine felhe von der „Weisheit und Gefinnungsgröße des 
Königs", doc nicht ohne beizufügen, daß „ein abfoluter Stillftand der Reform⸗ 
bewegung nicht mehr möglich fei und die Regierungen, weldye dieß erkennen, ſich 
zulegt gezwungen fähen, die Band an ein Werk der Noth zu legen, indem fie fi 
zur partiellen Ausführung ver beabfihtigten Bundesreform im Bereiche der eigenen 
Staaten entihlöffen uud zu dieſem Zwed unter Wahrung des Bundesverhältniffes 
ihrem freien Bünpnißrechte vie möglichft ausgedehnte Anwendung gäben.“ 

Der Frankfurter Fürſtentag. Der König von Preußen war in Karls⸗ 
bab won Hra. v. Bismard begleitet. Ein Entfhluß war daher bald gefaßt. Die 
Ginfadang wurde ſchon am folgenden Tage ven 4. Auguſt abgelehnt. Der Wurf 
Oeſterreichs wurde aber dadurch keineswegs gehemmt. Seine Einladungen nad) Sranf- 
fert waren bereits am 3. an alle veutfchen Höfe abgegangen. Keiner der anderen 
beutfchen Füeſten lehnte fie ab, alle nahmen fie vielmehr bereitwillig an nnd 
mit Ansnahme einiger unbebeutender Kleinfürften, die verhindert waren, zogen alle 
am 16. Augufl 1863 mit glänzendem Gefolge und. von ihren leitenden Miniftern 
begleitet in Frankfurt ein. Am folgenden Tage traten fie zufammen. Der Kaifer 
von Oeſterreich eröffnete die erhabene Berfammlung mit einer Rede und legte ihr 
feinen „Entwurf einer Reformalte des ventfhen Bundes” vor, von dem aud fie 
uorher nur im Allgemeinen vertraulid in Kenntniß gefett worden waren. Der 
Kaiſer deutete fehr verftändlich feinen Wunſch und feine Erwartung an, daß das 
Elaborat fofort ohne Mopifilation und ohne Diskufflon en bloe und mit Alkla⸗ 
motion angenommen werbe Allein jo weit täufchte er fi. Der König von 
Bayern ſprach in feiner Antwort bereits von „Modifikationen“ und die Berfanne- 
lung begnügte fi, den Entwurf für eine „geeignete Grundlage für meitere Ver⸗ 
bandlungen“ zu erklären und dur den König von Sachſen nochmals eine Ei 
laanng zur Theilnahme an den König von Preußen zu richten, der inzwiſchen 


476 Nachirag. 


von Karisbad nad; Baden⸗Baden gegangen war. Der König lehnte jedoch die Theil⸗ 
nahme neuerbings ab. Inzwifhen hatten die Fürften Zeit, fi den Entwurf eiwas 
näher anzufehen. 

Rad vemfelben follte das bisherige Plenum ber Bundesverfammlung gänzlich 
wegfallen, der engere Rath dagegen als Bundesrath fortbauern, jedoch mit weſent⸗ 
lich befchränkter Kompetenz, da ein Theil feiner bisherigen Befugniffe auf ein 
Direktorium als erelutiver Behörde überzugehen hatte, das ans dem Kalfer von 
Defterreih, dem König von Preußen, dem König von Bayern und zweien ber 
am 8., 9. und 10. Bundesarmeekorps betheiligten Souveräne durch Wahl viefer 
Gruppen zufammengefett werben follte. Als neue Inftitutionen waren ferner eine 
aus Delegationen der Landtage herporgegangene periodiſche Berfammlung von 
Bunbesabgeortneten und ebenſo periodiſche Berfammlungen fämmtliher Fürften, 
welche vie Beſchlüſſe jener annehmen oder verwerfen würden, beigefügt. Im Ein- 
zelnen ergab fi, taß der Zwed tes Bundes in Art. 1 erweitert war, indem 
nicht bloß tie Sicherheit Deutihlands nah Außen und die Wahrung ver öffent» 
lihen Ordnung im Iunern als folder bezeichnet war, fondern auch die „Macht⸗ 
ftellung nah Außen" und ferner nad Innen aud „Gemeinſamkeit ver Geſetz⸗ 
gebung im Bereiche der dem Bunde verfaffungsmäßig zugewieſenen Angelegen- 
heiten, Grleichterung ber Einführung allgemeiner deutſcher Geſetze und Einrich⸗ 
tungen im Bereiche der gefeßgebenden Gewalt der einzelnen Staaten.” Um nun 
dieſe Zwede zu erreichen, follten die genannten vier Inftitutionen des Direltorlums 
unb des Bundesraths, der Abgeorpneten- und ber Fürftennerfammlung zufammen- 
wirken. Das Hauptgewicht fiel indeß in ganz überwiegendem Grave auf das 
Direktorium, neben dem ver Bunbesrath fehr in den Hintergrund trat, das bis⸗ 
berige Plenum aber, wie gefagt, ganz verſchwand. 

Der. Bundesrath, deſſen Stimmenzahl von 17 auf 21 erhöht wurde 
(indem Deflerreih und Preußen ftatt wie biaher nur 1, von nun an je 3 Stimmen 
führen follten), fant im Grunde auf eine Art Bundesminifterium herab, das zu- 
dem lebiglich die Gefegesvorlagen an die Bundesabgeorbnetenverfammlung zu bes 
arbeiten, feine Zuftimmung zu dem derfelben vorzulegenden Bundesbudget zu er- 
theilen, vie genehmigten Matrilularumlagen auszutheilen und außerorbentliche 
Umlagen zu genehmigen hatte, alles mit einfacher Stimmenmehrheit, außer für 
Geſetzesvorſchlaͤge, die eine Abänderung der Bundesverfaſſung in ſich fließen oder 
auf Koften des Bundes eine neue organifche Einrichtung begrünven follten, für 
weiche Fälle flatt einfacher Stimmenmehrheit eine folhe von 17 unter 21 Stimmen 
verlangt wurde. Endlich follte der Bund weder Krieg erkiären noch Frieden fließen 
können ohne Zuflimmung des Bundesrathes und zwar mit einer Stimmenmehr- 
beit von zwei Drittheilen. In der That, der neue Bundesrath wäre faum mehr 
ber Schatten des alten engeren Rathes (des bisherigen eigentlichen Bundestags) 
geweien und biejenigen Regierungen, welche nit einen Sig im Direktorium er⸗ 
langt hätten, würden fi von der eigentlichen Leitung der Dinge nahezu gänzlich 
ausgeſchloſſen gefehen haben. 

Um fo größere Kompetenz war dagegen dem Direktorium ver Fünf zu- 
gemeflen. Diefes Direktorium follte die vollziehende Gewalt des Bundes ausüben 
und ihm wurde duher auch die Militärfommiffion untergeorbnet und ferner neue 
Kommiffionen für das Innere, die Juſtiz, für die Finanzen, für Handels: und 
Zollſachen beigegeben, fo daß der wichtigere Theil der Funktionen eines Bundes⸗ 
minifteriums diefen Kommiſſionen und nicht einmal dem Bundesrathe zugefallen 
wäre. Dem Direktorium ftaub die völkerrechtliche Vertretung des Bundes zu, bei 





Deutſchland | 477 


ihm wurden biplomatifche Wgenten aller Art beglaubigt und ebenfo Tonnte es 
feinerfeits folhe bei auswärtigen Mächten beglaubigen. Es follte ferner alle nad 
der Bundeskriegsverfaflung dem Bund zuftehenden Befugnifie ausſchließlich und 
ohne Mitwirfung des Bundesraths ausüben, namentlich Kriegsbereitſchaft und 
Mobilmahung des Bundesheeres ober einzelner Kontingente befchließen, für bie 
rechtzeitige Inſtandſetzung der Bundesfeſtungen forgen, den Bundesfeldherrn er- 
nennen, bie Bildung des Hauptquartier und ber Heeresabiheilungen veranlaflen, 
eine eigene Bundeskriegskaſſe errichten. Bei inneren Unoronungen u. dgl. mochte 
e8 Truppen aufbieten und wieder entlafien. Es hatte auch im Frieden fidh der 
genauen und voliftändigen Erfüllung ver militärtfhen Bundespflichten in allen 
Bundesftaaten zu verfihern, aud auf zwedmäßige Üebereinftimmung der Orga- 
nifation des Bundesheeres binzumwirken. Es fiellte das dreijährige Bundesbudget 
anf und Hatte bloß die Zuflimmung des Bundesrathes einzuholen, um es ber 
Bunvesabgeorbnetenverfammlung vorzulegen. Es allein verkehrte mit biefer letz⸗ 
teren: ihm ftand die Einberufung, Eröffnung, Bertagung und Schließung oder 
Auflöfung derfelben zu, es brachte bie Vorlagen ein und ließ fie durch feine Kom- 
mifläre vertheinigen. Das Direktorium endlich legte der Fürftenverfammlung bie Er⸗ 
gebnifje der Abgeorbnetenverfammlung zur fchlieglichen Exrflärung vor. Ihm fand 
als letzte, aber wohl nicht als die mindeft wichtige Aufzabe vie Sorge für bie 
innere Sicherheit ver einzelnen Bundesftanten als Rückhalt hinter ven Regierungen 
derſelben zu. 

Neben dieſen Befugniffen tes Direltoriums erfchlen vie Berfammlung ver 
Bundesabgeorpneten als eine Inflitution von fehr zweifelhaften Gewicht, 
zumal ihre Zufammenfegung fehr vorfihtig ausgedacht und ihre Kompetenz eine 
ſehr knapp zugemeflene war. Sie jollte aus den Landtagen durd Delegation her- 
vorgeben und aus 300 Mitgliedern beftehen, von denen die Hälfte auf Oeſter⸗ 
reih und Preußen mit je 75 fielen; zwei Drittheile follten von den zweiten Kam- 
mern, ein Drittheil von den erflen gewählt werben. Ihre Sigungen follten äffent- 
ih fein. Dei Ausübung ver gefetgebenden Gewalt des Bundes war ihr eine ber 
fließende Mitwirkung eingeräumt, aber eben dieſe Gewalt felbft war eine gar 
befchränkte und bärftige: fie erfitedte fih auf Abänderung der Bunbesverfaffung, 
wofür jedoch vier Fünftheile aller Stimmen gefordert wurden, auf bie wenigen 
beftehenden und die allenfalls neu zu erriätenden organiſchen Einrichtungen des 
Bundes, den Bundeshaushalt und die Feftftellung „allgemeiner Grundzüge” für 
vie Geſetzgebung der Einzelfiaaten über Preffe, Bereine, Heimatsreht, Anſäſſig⸗ 
machung und allgemeines deutſches Bürgerrecht, gegenfeitige Vollziehung rechts⸗ 
kraͤftiger Erkenntniſſe, Auswanderungsweſen, fo wie über diejenigen Gegenſtände, 
die „etwa künftig der geſetzgebenden Gewall des Bundes durch verfafjungs- 
mäßige Beſchlüſſe des Direktoriums und der Abgeordnetenverſammlung ſollten über⸗ 
tragen werden. Uebrigens ſollte die Verſammlung nur alle drei Jahre ordentlicher 
Weiſe zuſammentreten, um zunächſt das beſcheidene Bundesbudget feſtzuſtellen und 
außerdem allfällige Vorlagen des Direktoriums zu berathen oder ſelbſt ſolche zu 
machen, Borftelungen und Beſchwerden zu erheben. Nah dem Schluſſe jeder 
Seffion der Bunvesabgeorbnetenverfammlung aber wäre, wenigftens in ver Regel, 
die Färftenverfammlung zufammengetreten, um die Beichlüffe derfelben zu 
genehmigen ober zu verwerfen. 

Dieß waren die Orundzüge des Entwurfs. Das Schwergewidt fiel darin 
anf da? Direktorium und das Uebergewicht in bemfelben unzweifelhaft Defterreich 
und den Königreichen zu, denn nicht ohne Grund war vorauszufegen, daß, bon 


478 Nachtrag. 


Bayern abgefehen, auch pie zwei aus ven drei Gruppen bes 8., 9. und 10. Bundes-⸗ 
armeekorps durch Wahl zu beftellenden Sige im Direktorium in der Regel auf 
Sachſen, Hannover und Württemberg und höchſtens vielleiht bie und ba auf nen 
der Meineren Mittelftanten fallen würden. Preußen war die Parität mit Deſter⸗ 
reich verweigert, da Defterreih am Borfige im Direktorium, im Bundesrathe und 
natärlih auch in der Fürftenverfammliung fefthielt und Preußens Stellung war 
daher feine günftigere als diejenige ver Mittelftanten, wenigftens in Teiner Be⸗ 
ziehung günftiger als viejenize Bayerns. Auf der andern Seite muß anerfannt 
werden, daß Defterreih in dem Entwurf feinen Bernd machte, weder mit feinem 
ganzen Länderkomplex in den Bund einzutreten, no das Zollweſen zur Bundes- 
fache zu erheben. Wugenblidlih wäre aud wohl weder das eine noch das andere 
durchzuſetzen geweſen. Verzichtet hatte es aber darum tod ſicherlich darauf nicht, 
aus dem einfachen Grunde, weil dieß nad allen Verhältniſſen die beiten legten 
Zielpunkte für feine Stellung in Deutfhland fein mußten. Die Zollvereindfrage 
war übrigens damals ja noch unerlebigt und Defterreih moechte fich nicht ohne 
Grund ver Hoffnung hingeben, demnächſt entweder feinen Eintritt in ven Zoll⸗ 
verein zu erzwingen ober die Sprengung desſelben und die Bildung eines anderen 
zwifhen ihm und ven Mittelftaaten zu erzielen. Und was das Verhältniß feines 
Geſammtſtaates zum Bunde betraf, fo hatte e8 wenigftens die Beſtimmung in 
den Entwurf aufgenommen, daß, während für einen Bundeskrieg zwei Drittheile 
aller Stimmen des Bundesraths gefordert waren, für die Betheiligung des Bundes 
an einem Kriege Oeſterreichs um Benezien, Ungarn oder Galizien eine einfadhe 
Stimmenmehrheit genügen follte. 

Nachdem Defterreih die Annahme feines Entwurfs ohne Diskuſſion und 
en bloc nicht durchgeſetzt hatte, wünfcdhte es, daß wenigftens nur die Hauptgrund- 
zäge von den Fürſten felbft berathen, das Uebrige aber den Miniftern überlaffen 
werben follte, mit der Beflimmung, daß, wo fie fi nicht einigen könnten, es bei 
den Anordnungen des Entwurfs bleibe. Auch dazu konnten die Fürften fi nicht 
verftehen. Sie beſchloſſen vielmehr, ſich felbft an bie Arbeit zu machen, und wur⸗ 
den damit bis zum 1. September fertig. . 

Bezeichnender Weife wurde in den Verhandlungen gar kein Berfud gemacht, 
bie Stellung des Bunbesraths in dem neuen Organismus irgendwie zu ver« 
ändern, ihm eine höhere Bedeutung als nad dem Entwurfe Oeſterreichs beizu- 
legen und fo ven Heineren Fürften und ven im Direltorium nicht VBertretenen 
wenigftens noch einigen Einfluß zu fihern: gerade dieſer Theil des Entwurfs 
wurde faft unverändert angenommen. Die einzige Veränderung bezog ſich darauf, 
daß für Abänderung ber Bundesverfafſung und für Ueberweifung neuer bisher 
ber Gefeggebung der Einzelftnaten angehöriger Gegenflände an ben Bund bie 
Uebereinftimmung aller 21 Stimmen des Bundesrathes gefordert wurde, während 
Defterreich ſich doch mit einer Mehrheit von 17 Stimmen hatte begnügen wollen. 
Und die Beftimmungen über die Berfamminng der Bundesabgeorbneten gaben zu 
feinen befonveren Differenzen Anlaß, doch wurde die Kompetenz derſelben bezüglich 
bes Bundesbüdgets no etwas mehr eingefhräntt. Ferner wurde jene Beftimmung, 
bie Oeſterreich in feinem eigenften Intereffe in ven Entwurf gebracht hatte, doc 
verändert und für eine Betheiligung des Bundes an einem Kriege Oeſterreichs 
um feine nicht-beutfchen Beſitzungen doch eine Zweibrittelsmehrheit des Bundes⸗ 
rathes wie für einen Bundeskrieg geforbert. Der Hauptlampf drehte fi um bie 
Zufammenfegung des Direltorilums und die Heineren Mittelfinaten mit den grd- 
Beren Kleinftanten ſetzten es durch, daß vie Zahl der Mitglieder von 5 auf 6 








Bentfchland. 479 


erhöht wurde und daß den drei Meineren Königreichen nur die vierte, Baden, 
ben beiden Heflen, Medienburg, Raflau sc. die fünfte, Weimar, Oldenburg und 
den zahlreichen Kleinftaaten vie ſechste Stimme zugeftanden wurde. Mit biefen 
Beränderungen genehmigte nnd unterzeichnete die große Mehrzahl der Fürften 
den Entwurf. Unter der Minderheit verdienen Baden und Medienburg hervorges 
hoben gu werben, jenes, weil es fi offen au ben entgegengejegten Principien des 
Bundesſtaates befannte, dieſes weil es von irgend einer Bundesabgeordnetenver⸗ 
fammlung Aberall nichts wiſſen wollte. Schließlich einigten fi bie Fürſten, noch⸗ 
mals ein Kollektiofchreiben an den König von Preußen zu richten, um ihn noch⸗ 
mals einzuladen, dem Werke beizutreten. Dann trennten fie fi, ohne übrigens 
irgend einen Beſchluß gefaßt zu haben, was denn gefchehen folle, wenn Preußen 
definitiv nicht beitzete oder wenn dieß aud nur von Seite Badens, Medienburgs 
oder Weimars der Ball fei. Daran, das Werk einer Bundesabgeordnetenver- 
fammlung ad hoc zur Zuftimmung vorzulegen oder gar im einzelnen mit einer 
ſolchen durchberathen und zu vereinbaren, wurde gar nicht gedacht, vielmehr an- 
genommen, daß es ohne weiteres ins Leben zu treten hätte, fobald fih nur erſt 
fämmtlihe Fürſten damit einverflanden erklärt haben würden. 

Die Iffentlihe Meinung in Dentſchland war jebod überwiegend nicht biefer 
Anſicht. Wenn je tm ganzen Berlauf ter dentichen Refermbewegung ein Moment 
für die Neugeftaltung Deutihlands nicht auf einheitlicher oder dem Einheitsſtaat 
wenigfiend zuneigender, fondern auf füreraler Grundlage günflig war, fo war es 
die Mitte des Jahres 1863, wofern Defterreich und die mittelftantlihen Fürften 
geneigt gewefen wären, der Nation diejenigen Opfer zu bringen, bie bei dem ge⸗ 
waltigen Drange derſelben unausweihlih gebracht werden mußten, auch wenn 
der deutfche Foͤderativſtaat lebensfählg nad den Forderungen der Zeit bergeftellt 
werben follte. *) Das Werk der Frankfurter Fürftenverfammlung war aber fein 
Berk folder Art, wenn auch die Könige von Bayern, Sachen und Hannover bei 
ter Rüdlanft in Ihren Reſidenzen mit Ovationen empfangen wurden, als ob fle 
in Sranffurt die größten Opfer auf den Altar des Baterlandes niedergelegt hätten. 
In Wahrheit konnte von Opfern gerade ihrerſeits in keiner Beziehung und in 
feiner Weiſe auch nur eine Rede fein. Damals aber war es, daß der fogenannte 
deutsche Reformoerein, feine Aufgabe ganz verkennend, ſich felbft ven Todesſtoß gab, 
indem er, flatt den Fürſten in aller Ehrerbietigkeit klar und ſcharf zu fagen, mas 
andy das föberale Princip von ihnen verlange, wenn es lebensfähig neuerdings auf 
den Schild gehoben werden und in der Öffentlihen Meinung ver Nation bie 
Oberhand über das entgegengefegte des Einheitsſtaats oder wenigflens ver 
entfchiedenen Unterordnung unter Eine leitende Macht erringen folle, ſich lediglich 
zum Chor der mittelftantlihen Regierungen machte und mit ben geringften, ja 
ſelbſt nur ſcheinbaren Konceffionen gebuldig zufrieden gab, wie das In feiner Ge⸗ 
neralverfammlung im Oftober 1863 der Ball war, wo das Elaborat der Färften- 
verfammlung fogar als eine „patriotifche That" anerlannt wurde Bon der ent- 
gegengefeten Geite fand dasſelbe verhältnigmäßig wenig Anfechtung, aber es lieh 
die überwiegende Mehrheit kalt und gleichgültig. Und daran fdheiterte das Wert 
in Wahrheit ebenfo fehr als an der Ablehnung Preußens, die der König auf 
einen Bericht feines gefammten Staatsminifteriums am 15. September envgültig 
auszuſprechen veranlaßt war. Daß Oefterreih fi damit nicht alsbald zufrieden 


*) Anm. d. Red. Borausgefeßt, daß ein deutfcher Föderativſtaat, der Defterreih und 
Preußen in fich begriffen hätte, überhaupt ats lebensfaͤhig zu betrachten war, 


480 Nachtrag. 


gab, iſt natärlih. Auf feinen Wunſch fand am 13. Oktober in Nürnberg eine 
Konferenz flatt, um fi über eine gemeinfame Antwort an Preußen zu ver- 
ftändigen und wohl aud darüber, was nun zu thun fei und ob denn wirklich 
nichts anderes übrig bleibe, als den ganzen fo großartig In Scene gejegten Ber- 
ſuch fo bald ſchon einfach wieder fallen zu laſſen. Das aber war offenbar die 
Meinung der Mittelftaaten, vie denn auch bald einig wurben, bie Antwort Oeſter⸗ 
reich zu überlaffen und viefelbe Iediglih in Berlin zu unterfügen. Daß die Mit- 
telftanten die Trage fo leicht nahmen und fih fo leicht dazu entfchlofien, eben 
einfach wieder beim alten Bundestage zu bleiben, iſt charakteriſtiſch. Ihre Unfähig- 
feit und Unthätigleit gegenüber einer Frage, die nach dem offenen Eingeftänbuiß 
Aller nicht länger mehr ungelöst bleiben konnte, mußte früher oder fpäter ſchwer 
auf ihr Haupt fallen. Und in der That nahte ihnen das Geſchick, ehe fie fidy 
besfelben verfahen. 

Der däniſche Krieg. In jenem Augenblide war bereits ein Ereigniß eins» 
getreten, das ber ganzen deutfchen Frage eine andere Wenbung geben und fie 
von den offenbar fruchtloſen Partellämpfen und dem friedlichen aber refultatlofen 
Felde der Diskuſſion anf das der Thatfachen binäberleiten und ſchließlich einer 
gewaltfamen Löfung zuführen follte. Wie fchon erwähnt hatte die däniſche Regie⸗ 
rung feit dem Aufange des I. 1863 die Ausſcheidung Holfteins und dagegen bie 
engere Verbindung Schleswigs mit dem eigentlihen Dänemark, das legte Ziel 
ber däniſchen Politik feit Jahren, offen in die Hand genommen. Obgleich fie fich 
nicht mehr verhehlen konnte, daß England und Rußland für einen ſolchen Schritt, 
der den gegen Deutfhland übernommenen Verpflichtungen unzweifelhaft wieder⸗ 
ſprach, zum mindeſten nicht unbebingt einfiehen würden und obgleich ein Verſuch, 
wenigftens die Unterflügung Schwedens fi zu biefem Enve zu fihern, im Wuguft 
1863 gefcheitert war, glaubte vie däniſche Regierung nicht länger mehr zögern zum 
dürfen und legte dem Reichsrathe am 18. September 1863 ben Entwurf einer neuen 
für das eigentliche Königreih Dänemark und das Herzogthum Schleswig gemein- 
famen Berfaffiung vor. Diefelbe jollte zunähft an die Stelle ver früheren, für 
Holftein und Lauenburg erft fuspenbirten, dann vefinitiv außer Kraft gefegten 
Sefammtftantsverfaflung treten, aber, wie ein ganz unverbächtiger Zeuge, das 
ſchwediſche Kabinet, urteilte, mit dem Plane „in der Yolge fomahl ven bänifchen 
Neihstag als die Ständeverfammlung Schleswigs verjhwinden zu laflen, um den 
beiden Kammern des Reichsraths die Vertretung dieſer beiden Theile des König- 
reichs allein zuzugeftehn, wodurch bie Inlorporation Schleswigs alsbald eine volle 
endete Thatſache geweien wäre.” Die neue Berfaflung wurde vom bänijchen 
Reichsrath am 13, November 1863 mit 41 gegen 18 Stimmen augenommen unb 
befhlofien, daß diefelbe fhon am 1. Ianuar 1864 In Kraft treten folle. Es fehlte 
nichts mehr als die königliche Sanktion. 

In diefem verhängnißvollen Momente ftarb ganz plöglid am 15. Roveniber 
König Friedrich ohne Leibeserben. Nah dem alten Landesrechte mußten nunmehr 
Dänemark und die deutſchen Herzogthümer auselnandergehn: in Dänemarl war 
auch der Weiberftamm, in den Herzogthümern nur der Mannsflamm zur Erbfolge 
berechtigt. Die dentſche Bevölkerung der legteren hatte daher feit Jahren unter 
dem Drud des däniſchen Gewaltregimentes auf den Gintritt dieſes Ereigniffes 
gewartet, um endlich ihrer Dränger auf dem Iegalften Wege los und ledig zu 
werben uud fortan ſich felbft und Deutfchlaud anzugehören. Was aber vie Gere 
zogthümer hofften, hatte Dänemark gefürchtet und deßhalb ven fogenannten Lon⸗ 
boner Bertrag von 1852 zu Stande gebracht, der die Anfprüde des Auguften- 


Dentſchland. | 481 


burgiſchen Haufes auf die Herzogthümer kurzweg befeitigen und die Erbfolge für 
die ganze bisherige dänifhe Monarchie dem Prinzen Chrifttian von Glüdsburg 
zuwenden follte, inteß doch unter ber ausdrücklichen Vorausfegung, daß es der 
dänifchen Regierung gelingen werbe, nicht nur fämmtliche näher berechtigte Agnaten 
zum Verzicht auf ihre Anſprüche, fondern au bie Ständeverfammlungen ſämmt⸗ 
licher Theile der dänischen Monarchie zur Anerlennung der getroffenen Vereinba⸗ 
zung zu veranlaffen. Das aber war nicht gelungen oder wenigftens nur theilweife 
gelungen, nur mit Beziehung auf das eigentliche Königreih Dänemark, zu beflen 
ortheil ja das ganze Ublommen ausgedacht war, nicht aber bezüglich der beut- 
ſchen Herzogthümer, deren Stänven die däniſche Regierung das nene Erbfolgerecht 
nicht einmal au nur vorzulegen gewagt hatte, fo wenig als ein Berzicht der 
bort zur Nachfolge berechtigten Agnaten hatte beigebracht werben können. Rechtlich 
war der Tondoner Vertrag fomit nicht perfelt geworben; doch hoffte Dänemark und 
nicht ohne Grund, über viefen Mangel binmegzulommen. Was es mehr zu fürd- 
ten hatte, war bie Zähigkeit und Entfchloffenheit der Bevölkerung der Herzogthümer 
und der gerabe in den legten Jahren fo mächtig erwachte Drang der deutſchen 
Nation, die hinter dem Bundestage fland und ihn mögliher Welfe zu unberedhen- 
baren Schritten drängen modte. In Dänemark fühlte man augenblidlih, daß ber 
entfcheivende Moment eingetreten fei, aber zum Ungläd für Dänemark fühlte man 
das alsbald auch in den Herzogthümern und durd ganz Deutfchland Bin, und alle 
drei Faktoren beeilten fi, zu der Frage Stellung zu nehmen. In Dänemark, wo 
Prinz Chriftian unbeftritten am 16. November 1868 als Chriftian IX. den Thron 
beftieg, wurve der nene König ſchon zwei Zage naher am 18. November ge- 
zwungen, ber neuen VBerfaflung für Dänemark und Schleswig d. h. der faktifchen 
Einverleibung des legtern in das erftere feine Sanktion zu ertheilen und fo dem 
allfälligen Widerſpruche Dentſchlands eine vollendete Thatſache entgegen zu ftellen. 
In deu Herzogthümern erließ der nädhftberechtigte Erbe, der Erbprinz Friedrich 
von Schleswig-Holftein-Eonderburg-Uugnftenburg ein Patent, durch welches er, 
gefügt auf das alte Landesrecht, vie Regierung als Herzog Friedrich VIII. an- 
- zutreten erklärte, das Stantsgruntgefeg von 1849 anerkannte und ten Echleswig- 
Holfteinern treffend zurief: „Mein Recht ift euere Rettung!" In Dentfchland aber 
begann fi die öffentliche Meinung überall zu regen, zahlreihe Berfammlungen 
erflärten fi für bie Rechte ver Herzogthümer und für das Recht und bie Inte 
refien der Nation in der Frage und laut trat die Neigung und das Berlangen 
zu Tage, bie Herzogthümer gegen ihre Dränger nöthigenfalls mit Gewalt zu un- 
terflügen. Sichtbar zudte dag Gefühl pur die Nation „jegt oder nie!" 

Die Mittelftaaten flanden am Scheidewege. Die Vorſehung felber fchien 
ihnen die Gelegenheit in ven Weg gelegt zu haben, an ver fie ihre Kraft erpro- 
ben und der Nation beweifen konnten, daß fie für ihre berechtigten Anforderungen 
wenigftens nad Außen eine Stüge feien, wo fie ihre fo vielfadh am unrechten 
Orte in Anſpruch genommene Selbſtſtändigkeit und Gleichberechtigung auch gegen- 
über den beiden Großſtaaten zu behaupten hatten. Jetzt galt es, endlich einmal 
einig zuſammenzuſtehn, vorſichtig aber entſchloſſen zu handeln und nöthigenfalls 
alles dran zu fegen, um das Ziel zu erreichen. Hier galt es für ein unzweifelhaf⸗ 
tes fürftliches Erbrecht, das von der gefammten deutſchen Wiſſenſchaft, eine einzige 
und nicht ſchwer wiegende Stimme ausgenommen, anerlannt wurde, einzuftehen, 
nicht obgleich, ſondern weil es mit dem Volksrechte zufammenfil. Mit Hintan- 
ſetzung aller Bedenklichkeiten und aller Zögerungen mußten fie, die ja die Majo⸗ 
rität am Bunte in ten Händen hatten, fofort einmüthig den Auguftenburger als 

Bluntſhli und Brater, Deutſches Staats⸗Wörterbuch. Xi. 31 








482 Nachtrag. 


Herzog von Holſtein anerkennen, ihn ſofort udthigenfalls ſelbſt mit Gewalt im 
fein Erbe einſetzen und ihm weiterhin behülflich fein, auch Schleswig zu ernerben 
ſelbſt auf die Gefahr eines Krieges nicht bloß mit dem Heinen Dänemark, ſondern 
auch mit der einen oder andern ver binter demfelben ſtehenden Großmächte. 3 
iſt durchaus nicht ganz und gar unmöglich, daß Defterreih fich bei einer foldgen 
einmüthigen und entſchloſſenen Haltung ver Mittelftaaten am Bunde hätte maje- 
rifiren laſſen und es tft wahrſcheinlich, daß ſelbſt Preußen fi fehr beſonnen 
hätte, ihr direlt und gewaltfam entgegen zu treten, zumal bie überwiegende Mebr- 
beit feines eigenen Bolles mit berfelben einverflanden geweien wäre. Allein von 
einer folgen Haltung der Mittelftaaten war aud uicht im entfernteften die Rebe. 
Ihre Politik am Bunde bewegte fi zwar im allgemeinen in der oben bezeichne- 
ten Richtung, aber zögerund und halb, ohne Zuſammenhang und ohne Energie. 
Einige von ihnen gingen zwar entſchieden vor und erfannten ihrerſeits ven Au⸗ 
guftenburger fofort an, wie Koburg-Gotha, das ihm Gotha als vorläufigen Wohn- 
fig einräumte, Baden, veflen Geſandter feine Bertretung am Bunde Abernabız, 
Weimar und einige andere, aber gerade bie größeren und namentlich die Königreidhe 
hielten zurüd, aus Rückſichten für die Großſtaaten und bald au aus wachfender 
Beſorgniß vor der nationalen Bewegung felber. Am 28. Rovember beihloß die Bun- 
besverfammlung, dem bänifhen Geſandten feine Stimme für Holfteln nud Lanen- 
burg zu entziehen, fo lange feine Vollmacht nicht anerkannt fe. Eine pofitive 
Maßregel für ven Auguftenburger und gegen Dänemark lag darin nit und follte 
nicht Larin liegen. 

Gegenüber der Unentſchloſſenheit ver Mittelftanten hatten bie beiden Groß⸗ 
mächte von Anfang an gewonnenes Spiel. Jetzt war auch für Preußen und den 
Leiter feiner Bolitit der Moment gelommen, ver bloß negativen Haltung gegen- 
über der Vollövertretung, bie auf die Dauer entſchieden nicht Bätte durchgeführt 
werden Fünnen, einen realen Hintergrund in ver auswärtigen Bolitif und ver 
einfeitig durchgeführten Urmeeorganifatton ein pofitives Motiv zu unterlegen, einen 
pofitiven Zwed zu fegen. Herr v. Bismard griff mit beiden Händen darnach. 
Sein Ziel war, wie man jetzt wohl annehmen darf, von allem Anfang an das⸗ 
felbe, das auch dem Drange ver Nation in der ganzen frage wefentlich vorſchwebte, 
die Schwierigkeiten, bie ihm entgegen flanven, waren andere aber allerdings nicht ge⸗ 
ringere, als diejenigen, die fih vor ben Augen ber Mittelftaaten aufihürmten ; 
um fie zu überwinden war Preußen doch in nuendlich günftigerer Lage, ba es 
ale Großmacht von den Beziehungen ver Mächte zu der Frage viel beſſer unter- 
richtet und als einheitliche Macht ganz anders zu operivem in ber Tage war, als 
die bunte Menge der Mittel» und Kleinſtaaten. Es feste fi) fofort mit Defterreich 
in Verbindung und verflänbigte fih denn and allem Anſcheine nah bald und 
unſchwer mit demfelben, da bie Öfterreihifche Megierung, der als folder vie ſchles⸗ 
wig-holfteinifche Frage völlig gleichgültig und die nationale Bewegung in Dentſch⸗ 
land wibderwärtig war, Preußen nur zu gerne die Haud bot, fei es um wirklich 
am Londoner Protokoll feftzuhalten, ſei es um Preußen möglihft Überwachen und 
zurüdhalten zu können, wenn davon abgefehen werben müfle Schon in ver be- 
reits erwähnten Sigung der Bundesverfammlung vom 28. November gaben beide 
pie gemeinſchaftliche Erklärung ab, daß fie fih durd ihre Betheiligung am Lon- 
doner Bertrage noch immer für gebunden erachteten und daher auch heute noch zur 
Ausführung besfe hen bereit felen, aber allerdings nur unter ber Borausfegung, 
daß and emark feiner 1861/52 gegen fie eingegangenen Berbinvlichlett (ber 
Nicht⸗Incorporation Schleswigs) ſeinerſeits ein Gemüge the, da fie jene Ber 





Deutſchland. 483 


einbarungen als Vorbedingungen“ und als ein „untrennbares Ganzes“ mit dem 
Londoner Vertrage betrachteten. Die beiden Mächte hatten natürlicher Weiſe von 
Anfang an mehr die allgemeine europäifhe Lage und Stellung zu den übrigen 
Großmächten im Ange als Dänemark felbft, deſſen materielle Macht für fie 
unmöglich ta8 Gewicht fallen konnte. Ohne Zweifel gab fich Defterreidh dabei ver 
Hoffnung hin, daß Dänemark vernünftigen Erwägungen wohl Gehör geben werte, 
während Preußen überzeugt fein mochte, daß das nicht ver Fall fein, daf die An⸗ 
gelegenheit nnausweichlich weiter führen werde und daß es in feinem Interefie 
liege, ih der Mitwirkmg Defterreihs zu verficdern und die Mächte zu beſchwich⸗ 
tigen, bis es Schritt für Schritt weiter vorgehen Tünne, 

Inzwiſchen aber mußte etwas für Holftein gefchehen, da die Bundesverfamm- 
lung no vor dem Tode des däniſchen Königs und der faktiſchen Inforporirung 
Schleswigs, hen am 1. Oktober 1863 den Eintritt des Exekutionsverfahrens 
gegen Dänemark beiloffen hatte. Die beiden Großmächte wünſchten nun von 
ihrem Standpunkte aus, daß einfach die Erekution in Ausführung gebracht werde, 
obgleich oder vielmehr gerabe weil darin eine Anerkennung des neuen Königs 
won Danemark and als Herzogs von Holftein lag nnd richteten in dieſem Sinne 
umter dem 4. December fehr dringende inentifche Noten an die fämmtlichen dent _ 
fen Regierungen. Die Mittelftanten dagegen, die principiell auf einem andern 
Boden flanden, wünfchten eben jene in einer Erefution liegende Anerkennung zu 
vermeiden und beantragten daher eine Ollupation Holfteins allgemein „zum Schuß 
aller Rechte.“ Um 7. December kam bie Frage in Frankfurt zur Entſcheidung 
und die Mittelftaaten unterlagen, indem bie Kleinftaaten fammt und ſonders und 
mit ihnen auch die freien Städte dem Drude ver beiven Großmächte wichen, 
- Hannover und Kurheffen zu ihnen übergingen, Medienburg aber und Oldenburg 
ih Preußen unterorbneten, mit 7 gegen 8 Stimmen: die Erelution wurde be- 
ſchloſſen und Sachſen und Hannover mit der Referve Preußens und Defterreichs 
übertragen. Am 23. December rüdten 12000 Mann Sachen und Hannoveraner 
(10,000 Mann Preußen und Defterreiher blieben in Hamburg und Lübed) in 
Helftein ein, die Dänen wien ohne Schwertſchlag zurüd und bis Ende bes 
Jahre war ganz Holflein von den Dänen geräumt und von den Bundestruppen 
befegt. Aber gegen die Abfihten und Wünfde der beiden Großmächte wurde hin- 
ter, mit und neben den Bundestruppen von Stabt zu Stabt und von Ort zu 
Ort au überall in ganz Holftein der Anguftenburger als der rehtmäßige Lan- 
desherr ausgernfen und anerlannt. Aus der Erelution war thatfähli doch eine 
Dftapatlon geworben. Am 30. December traf auch Herzog Friedrich felber uner- 
wartet in Kiel ein und bildete daſelbſt eine Art Minifterium, obne indeß ben 
Bundesbehorden irgend in den Weg zn treten. | 

Biel wichtiger als die Befegung Holfteins, das ein Bundesglied war, mußte 
natürlich die Entfcheldung der Frage fen, ob und welde Maßregeln bezüglid 
Schleswigs ind Werk gejegt würben. Weber die Frage, ob etwas geſchehen folle, 
war man in Deutfhland einig und nur Über die Motivirung des Schrittes 
gingen die Anfichten auseinander. Am 28. December 1863 beantragten Vefter- 
reich und Preußen am Bunde, Schleswig auf Grund der Vereinbarungen von 
1851/52 d. 5. der Zuflherung der Wicht-Inkorporirung von Seite Dänemarks, 
„in Band zu nehmen,” Heflen-Darmftadt dagegen wiederum, es „zum Schuß 
aller Rechte und zur Sicherung der verfafiungsmäßigen Beziehungen Holfteind zu 
Schleswig einfiweilen zu beſetzen.“ Am 14. Januar fland bie Trage in ber 
Bundesverfammlung zu Srauffurt zur Entſcheidung. Die Bewegung in Deutid- 


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doch der Zug der Bffentliden Meinung in ganz Deutſchland, daß der erwähnte 
Antrag ver beiden Großmächte vom 28. December 1863 am 14. Januar 1664 
von der Bundesverfammiung mit 11 gegen 5 Stimmen abgelehut wurde. Auch 
der Gegenantrag Heflen-Darmflabts blieb inte in der Minderheit, jo daß vom 
Bunde aus bezüglich Schleswigs gar fein Beſchluß zu Stande kam. Deſterreich 
und Preußen dagegen erflärten fofort, wie ganze Angelegenheit nunmehr in ihre 
eigenen Hände nehmen zu wollen. Umſonſt proteftirten Bayern und eine Reihe 
anderer Staaten gegen viefe Anmaßung ver „Bormächte”, umfonft machte fid 
ein Schrei der Entrüſtung darüber in ganz Deutfhlant Luft. Die beiden Groß- 
mächte beharrten auf ihrem Willen und gingen ohne Berzug, indem fie fi ge 
genüber dem Auslande gerade auf diefe Manifeftationen der Nation ftügen konn⸗ 
ten, an die Ausführung, die Regierungen der Mittelftanten ließen es geſchehn 
and mußten es, unentfhloffen und uneinig wie fie waren, geſchehen lafien. Die 
Sache war für die Mittelftaaten und ven Bundestag eine verlorene und bald 
wort ber legtere von den beiden Großmächten in unerhörter Welfe geradezu lahm 
gelegt. 

Dänemark hätte höchſt wahrfcheinlih ven drohenden Sturm noch abwenben 
fönnen, wenn es auf die neue Berfafiung vom 18. November 1863 d. h. auf 
bie Intorporation von Schleswig ein für ale Mal verzichtet, vielleicht fogar, 
wenn ed nur wenigflens zu Mobifilationen auf verfafiungsmäßigem Wege fid 
genelat ertlärt hätte Das eine würde ven beiden deutſchen Großmächten den 

oden der Altion unter den Füßen weggezogen und fie bezüglih bes Londoner 
Vertrage beim Worte genommen, has andere wenigſtens den nicht⸗deutſchen Groß 
mächten Gelegenheit zu wirffamer Verwendung, refp. zur Einmiſchung in vie 


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24 


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Dentſchland. 485 


ganze Angelegenheit geboten haben. Allein tie Dänen verweigerten in dem Wahne, 
daß ihre Freunde fie unter feiner Vorausſetzung fallen lafien würden, jedes Zu⸗ 
geſtändniß. Am 16. Januar 1864 richteten Oeſterreich und Preußen bie Tate 
gortfche Sommation an Dänemark, die Rovemberverfaflung binnen 48 Stunben wieber 
aufzuheben, und ala Dänemark dieß ablehnte, rüdten ihre Truppen unter dem 
Dberbefehl des preußiihen Feldmarſchalls Wrangel am 1. Februar über die Eider 
und in das Herzogthum Schleswig ein. Keine der außerdeutſchen Großmächte, 
auh nit das flammverwandte Schweren trat an Dänemarks Seite Am 3. 
Feb. erflürmten die Defterreicher die Vorwerke des fogenannten Danewirke und 
zwangen dadurch die Dänen, vasfelbe in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 
gänzlih zu räumen und fi Hinter vie ebenfo fefte und Tange nicht fo ausgedehnte 
Stellung von Düppel-Alfen zurüdzuziehen. Während nun die Defterreicher in 
Jütland einrädten, belagerten vie Preußen ihrerfeite Düppel und nahmen es am 
18. April durch Sturm. Nun glaubten die nicht⸗deutſchen Großmächte wenigftens 
etwas für Dänemark thun zu follen und brachten Friedenskonferenzen zu London 
zu Stande, die am 25. April eröffnet wurden und bis zum 25. Junt dauerten, 
jedoch zu keinerlei Reſultat führten. Der Krieg ward wieder aufgenommen und 
noch vor Ablauf des Monats Juni festen die Preußen nah Alſen über und 
bejegten die Infel; ein Theil der däniſchen Armee fiel in Kriegsgefangenſchaft, ein 
anderer rettete fih zu Schiffe. 

Die Dünen hatten fih muthig gewehrt, aber ihr Trog war, da ihnen noch 
immer von Feiner Seite Hülfe in Ausfiht fand, gebrochen und fie begannen nach⸗ 
gerade ſelbſt für Kopenhagen zu fürdten. Am 12. Iuli fuchten fie um Frieden 
nah nnd am 1. Wuguft wurden zu Wien Friedenspräliminarien abgefchloflen, 
denen am 30. Oktober 1864 ein vefinitiver Friedenſchluß folgte. Der deutſche 
Bund warb weder zum Abſchluß der Präliminarien, no zu den Friebensunter: 
handlungen andy nur zugezogen. Der König von Dänemark verzichtete darin auf 
alle feine „Rechte auf Schleswig, Holftein und Lauenburg zu Gunſten Defter- 
reichs und Preußens und verpflichtete fih „die Verfügungen, welche viefelben hin⸗ 
fichtlich dieſer Herzogthümer treffen würden, anzuerkennen." Der ventihe Bund 
war vollſtändig bei Seite gefhoben. Invefien war Holften no immer von Bun- 
bestruppen, Sachſen und Hannoveranern, befeßt. Da verlangte Preußen am 29, 
Rovember 1864 von Sacfen und Hannover und gleichzeitig auch vom Bunde 
bie Räumung von Holftein Seitens dieſer Truppen. Der Bundestag ſchien einen 
Augenblid wiverftehen zu wollen, fügte fi aber doch ſchon am 5. December mit 
9 gegen 6 Stimmen einem gemeinfamen preußifch-öfterreihifhen Vorſchlag, erklärte 
die Erefution für beendigt und zog feine Truppen zurüd, Die Demüthigung, die 
darin lag, enfprach der Rolle, welche der Bundestag und die Mittelfiaaten zeit 
ber in der ganzen Angelegenheit gefpielt hatten. Defterreih und Preußen bes 
hielten vorerft die Herzogthümer im Kondominat. 

Entzweiung Defterreihe und Preußens. Allein ihre bisherige 
Allianz [hing nur zu ſchnell in erklärte Feindſchaft um, weil ihre Intereffen in ver 
ganzen frage zum Theil geradezu entgegengefegte waren. Der Mitbeflg dieſer abge 
legenen Gebiete konnte für Oeſterreich keinen Werth haben und mußte ihm auf 
die Dauer eher zur Laſt werben, denn als Gewinn erfheinen. Als es ſich zu 
Ente des Jahre 1863 gegen die nationale Bewegung in Deutſchland von Preußen 


- ins Schlepptau nehmen ließ und Graf Rechberg von Hrn. v. VBismard mit 


großer Gewandtheit Schritt für Schritt immer weiter geführt wurbe, hatte Defter- 
rei offenbar ohne vie fonft traditionelle Vorſicht und Ueberlegung gehanbelt. 


486 Nachtrag. 


Die nächſte Folge davon war, daß es das bisherige Zutrauen und die bisherige 
Zuneigung der mittelftaatlihen Regierungen völlig verfcherzte. Nur well fie in 
Defterreih eine Stüge für ihre ungefhmälerte Souveränetät und einen Schup 
gegen bie bundesſtaatlichen Gelüfte Preußens zu erkennen geglaubt, hatten fie fid 
in neuerer Zeit enge an dasjelbe angeſchloſſen und num machte dasfelbe Oeſterreich 
gemeinfame Sade mit Preußen gegen fie! Im Gegenſatz gegen den allgemeinen 
aus ber Zeit und fogar im Widerfpruch mit den wirtbfchaftlichen Interefien ihrer 

evölferungen und den laut ausgeſprochenen Wünfchen verfelben hatten fle ven 
preußifch-franzöfiichen Handelsvertrag abgelehnt und unmittelbar vor dem Eintritt 
der neueften deutſch-däniſchen Berwidelung den Plan ins Auge gefaht, fih vom 
Zollverein ganz zu trennen und eine nähere Verbindung mit Defterreih flatt mit 
Preußen zu fuhen. Bei ver tauſendfachen wirthſchaftlichen Berfchlingung, vie 
der Zollverein bereits durch ganz Deutſchland hindurch zur Folge gehabt Hatte, 
pärfte freilich die Durchführung eines folhen Plans große Schwierigkeiten geboten 
haben. Iegt konnte davon feine Rebe mehr fein, eine Trennung von Preußen nur 
um Oeſterreich gefällig zu fein, hatte jet keinen Sinn mehr. Schon im Sommer 
1864 ließen die meiften Mittelftaaten ihre bisherige Oppoſition gegen den fran- 
zöfifhen Handelsvertrag fallen, bis Ende September waren alle reumüthig zu 
Preußen zurüdgelehrt und am 12. Oktober 1864 wurde ber neue Zollvereins- 
vertrag auf Grund der Genehmigung des franzöſiſchen Handelsvertrages, und zwar 
bevor noch mit Defterreih über Erneuerung des ebruarvertrages ein Abkommen 
getroffen war, In Berlin unterzeichnet. Run mußten Defterreich freilich die Augen 
aufgehen über die durchaus falfche Politit, in vie es ſich bezüglich Deutichlande 
batte hineinführen laffen: Graf Rechberg, ber dieß verſchuldet, erhielt noch im 
gleihen Monat feine Entlaſſung. Der begangene Mißgriff konnte dadurch natär- 
Lich nicht wieder gut gemacht werben. Die Thatfache, daß Oeſterreich die Herzog- 
thümer neben einem preußiſchen auch durch einen k. k. Einillommiffär verwalten 
ließ und das Land mit einer Brigade feiner Truppen befegt hielt, fiel, gar nicht 
ins Gewicht gegen die Zunahme von Macht und Einfluß, die Preußen in Folge 
einer geſchickten, energifchen und rückſichtaloſen Politit gegenüber Dänemarf und 
dem Auslaude, gegenüber Defterreih und gegenüber dem fogenannten dritten 
Deutſchland zugefallen war. In ganz Norddeutſchland beſaß es jebt das ent- 
ſchiedene Uebergewicht, freiiih nur mehr momentan als definitiv. Aber es zu 
einem definitiven und bleibenden zu machen, dahin ging jest fein ganzes Dichten 
und Trachten. Natürlih hing das in erfter Linie von der endlichen Ordnung ber 
ſchleswig⸗holſteiniſchen Berhältniffe ab. Gelang es Preußen, die Herzogthämer 
bireft oder indirekt in fefte Abhängigkeit von fi zu bringen, fo hatte es eine 
ganz neue Madtftellung an der Oft- nad Norpfee errungen, bie ihm vie DRög- 
lichkeit gewährte, fih zur Seemacht emporzufhwingen und durch den Eintritt der 
Herzogthämer in den Zollverein wurde auch derjenige Medienburgs und felbft 
der Hunfeftäpte vorbereitet und ganz Nordweſtdeutſchland an Preußen gekettet. In 
Berlin hatte man die eminente Bedeutung ber vollswirthſchaftlichen Fragen in 
unferer Zeit früh erkannt und ſeither konſequent verfolgt, während man In Vefter- 
reich fie erſt hochmüthig gering ſchätzte, danıı lediglich ſtoßweiſe benugen wollte 
und fi ſchließlich in taftenden Verſuchen verlor, ohne Syſtem, ohne Energie, 
ohne Konſequenz. Indeß bot die Löfung der fchleswig-holftein’schen Frage große 
Schwierigkeiten, da ſich gerade bier die mannigfaltigften Intereffen kreuzten. . 

Schon im Sommer 1864 war in Preußen bie Idee aufgetaucht, bie wid: 

tigen Lande nicht für den Herzog Friedrich fondern für Preußen felbft zu erwer- 





Dentſchland. 487 


ben und fpäter wagten fi ſogar angebliche hohenzollerſche Erbanſprüche hervor, 
die jedoch ſchnell als geradezu lächerlich beſeitigt wurden. Dieſer Idee ſtand die 
Thatfache eutgegen, daß das preußiſche Abgeordnetenhaus am 2. December 1863 
mit vier Fünfteln aller Stimmen die Erbanſprüche des Auguftenburgers als „un⸗ 
zweifelhafte" und die preußifche Negierung felbt am 20, Mai 1864 auf ber 
Londoner Konferenz anerlannt hatte, daß derſelbe „nicht nur bie meiften Erban⸗ 
fpräde, fondern auch die ungehenre Mehrheit der Bevölkerung für ſich babe“ ; 
ber Idee fland entgegen, daß die Schleswig-Holftetner felber an ihrem Herzog’ 
Friedrich feh hielten, fich In ihrer Abfonderung wohl fühlten und bei allem deutſchen 
Patriotismus fehr partikulariſtiſch geſinnt waren und keinerlei Neigung ver 
fpärten, in Preußen aufzugehn. Bei aller Geringfhätung des Bundestags ferner, 
bie Preußen geflifientlih an den Tag zu legen keine Gelegenheit vorbeigehen lie, 
waren die Anfprüde des Bundes auf pie ſchließliche Entſcheidung ber Erbfolge 
frage doch nit ganz zu Überfehn; endlich war Defterreih mit Preußen im that- 
fählihen Beſitz des Landes, das einzige pofitive Ergebniß, das der geführte 
Krieg ihm eingebracht hatte. Auf die Dauer indeß konnte der Beſitz für Oeſter⸗ 
rei allerdings keinen reellen Werth haben und Preußen glaubte daher am 13. 
December 1864 in einer Depeſche nah Wien die Abtretung der Bfterreichiichen 
Rechte an Preußen in Anregung bringen zu bürfen. Allein wenn man erwägt, 
dag es in Oeſterreichs ganzer Stellung in Deutſchland lag, einer weiteren Ber 
größerung Preußens entgegen treten zu müflen und daß ber eben beendigte Krieg 
ihm ohnehin mehr Nachtheil als Gewinn, Preußen aber ohnehin Gewinn genug 
eiugebradht hatte, fo wird man es begreiflih finden, daß Defterreih nicht darauf 
einging. Schüdhtern ließ es dagegen fpäter etwas von „KRompenfationen“ an Rand 
und Leuten in Deutſchland fallen; vielleiht daß es dabei an Scleflen dachte; 
Preußen war aber auch nicht von ferne geneigt, darauf einzugehen und ließ biefe 
Art der Löfung bald gänzlich fallen. Dagegen hatte es DOefterreih von vorne- 
herein erllärt, daß es feinerfeits eine Entſcheidung der Erbfolgefrage ablehne, 
bevor feine zufünftige Stellung in ven Herzogthümern feftgeftellt fei, mit andern 
Worten: wenn Preußen auch auf den Erwerb derſelben für fi unter Umftänven 
zu verzichten fich entſchließen könnte, fo wollte e8 den Herzog Friedrich body jenen» 
falls nur unter der Bedingung anerkennen, daß er und fein Land fortan in einer 
gewiffen feften Abhängigkeit von Preußen verbleibe.. Und ba mit Defterreid 
eo machen war, fo nahm es zunähft Unterhanblungen nad biefer Seite in 
D d. 

Um 22. Februar 1865 formulirte das Berliner Kabinet wieder in einer 
Depeihe an Defterreich feine Forderungen an Schleswig-Holftein, ohne deren vor« 
gängige Erfüllung es in eine definitive Konftituirung des neuen Staats, wie fie 
von Herzog Friedrich kraft feines Exrbrechtes verlangt, von ver Bevölkernng ber 
Herzogthümer lebhaft gewünſcht, vom Bundestage nunmehr wiederholt angeregt 
wurde, nicht einzumilligen vermödte Danach follte das Land in militärifcher 
Beziehung d. h. in Bezug auf Tanpheer und Flotte, fortan nur einen Theil von Preu⸗ 
Ben bilden und dem Zollverein beitreten, dagegen In allen andern Beziehungen ſich 
unter feinem Herzog aller Selbſtſtändigkeit erfreuen, ober, wie es fpäter ausge 
drädt wurde, Herzog Friedrich follte Civilherrſcher von Schieswig-Holftein werben, 
die Kriegsherrlichleit dagegen gänzlich an Preußen übergehn. Die Idee war neu 
und überrafhend und fdhien vom Boden bes bisherigen öffentlichen Rechtes und 
aller biäherigen Anfhauungen in Deutihlant viel zu weit zu geben. Weber 
Deſterreich, noch der Herzog Friedrich, noch endlich die Bevölkerungen der Herzog- 


NAachtrag 


glaubten darauf eingehen zu Dunen, vom deutſchen Bunde gar nicht zu 
deſſen Fürſten darin tie Stellung erfennen mochten, die Preußen im 
niherer eder fermerer Zukunft auch ihnen zugedacht hatte. Preußen mußte audy 
tiefe Iree einer Kfuny fallen laffen. Es blieb vom Standpunkte der Bismard’icherz 
Politik wicht? anderes übrig als die völlige Annerion und bie direfte Verfolgung 
tiefes Zieles gegenüber tem Herzog Friedrich, der Bevölkerung der Herzog⸗ 
thämer, den Bund und Oeſterreich. Die Berfuhe Preußens nah allen viefen 
Nihtangen füällten die erfte Hälfte des I. 1865 aus. Die Anſprüche des Bunves, 
ver ſchleewig · holſteiniſchen Stände und des Herzogs Friedrich machten dem Grafen 
Vismurd nicht allzu viel Sorge: Iene Stände wurden einfah nicht einberufen 
nad dem Bnnde die „Rompetenz” zur Entſcheidung abgefproden, obgleich ſchwer 
einzufehen war, wer denn eigentlich, wenn nicht dieſe beiden, auf der weiten Welt 
dazu in den Augen Prenßens kompetent fein mochte. Die Erbrechte des Herzogs 
Friedrich aber, die man freilih, da man ihrer beburfte und auf der Londoner 
Konferenz, zum allermindeften bis auf einen gewiffen Grab anerkannt hatte, 
wurden jegt officiell uny officids beftritten und geläugnet. Eine dem preußiichen 
Ranttage am 9. Mat Übergebene Denkſchrift der Regierung über ven bäniichen 
Krieg führte geradezu aus, wie „König Ehriftian von Dänemarf feinem Bor- 
gänger nicht vermöge bed Londoner Vertrags fuccebirt ſei, fondern fraft bes 
däniſchen Tchronfolgegefeges vom 31. Juli 1853, welches auf formell gültige Weiſe 
und unter Verzicht der nächften Mitbewerber, einfchließlich des Herzogs von Au⸗ 
guftenburg zu Stande gelommen fei — wie es fidh von felbft verftehe, daß bie 
Erklärungen auf der Londoner Konferenz Dritten feine Rechte hätten verleihen 
fönnen und mit dem refultatlofen Ende jener Konferenzen nach allen Seiten hin 
ihre Bedeutung verloren hätten — wie endlich durch den Frieden mit Dänemark 
die Herzogthümer eo ipso kraft bes Rechtes der Eroberung Defterreih und Preu⸗ 
Ben verblieben ſeien.“ Später ließ fih vie Regierung dur die Kronjuriften ein 
Gutachten über die gefammte Erbfolgefrage erftatten, das natürlich ganz nad) den 
Wünfhen der Regierung ausfiel und dem Auguftenbnrger zwar einige, aber nur 
. fehr partielle Erbrechte zuerfannte; die öffentlihe Meinung Iteß ſich in ihrem Rechts⸗ 
bewußtfein dadurd nicht beirren und in den Herzogthümern felbft machte dasſelbe 
aud nicht den allergeringften Eindruck. 

Die Stimmung der dortigen Bevölkerung, namentlih derjenigen Holſteins, 
machte ber yreußifchen Regierung große Schwierigkeiten und dieſe Stimmung 
wurde von Deutihland aus in mannigfaltiger Weife genährt und von Oeſter⸗ 
wenigfteus indirekt unterftägt, indem es ihr freien Lauf ließ, den Herzog Friedrich 
unter der Hand begänftigte und ſich fogar wieder der Majorität des Bundestags 
näherte, die auf die nunmehrige Einfegung des Herzogs drang. Die preußifche 
Regierung ärgerte fih über die Schwierigkeiten und Verbrießlichleiten, die ihr 
Defterreich bereitete, vemonftrirte in Wien dagegen feit dem Januar 1865 und 
entzweite fi darüber, als dieß nichts half, immer entfchiedener mit ihrem bi8- 
herigen Alliirten. Ihre Lage war um fo unbehaglicher, ala fie auch von Seite 
bes preußiſchen Landtags in ihren Bemühungen nicht unterftügt wurte, ta ber 
Konflikt zwiſchen der preußifchen Volksvertretung und der Krone noch immer un- 
gelöst war. Zwar feit die preußifche Regierung unzweifelhaft dahin firebte, bie 
Herzogthümer für Preußen felber zu erwerben, hatte das Abgeorbnetenhaus im 
Gegenſatz gegen feine urfprünglihe Erflärung zu Gunften ber Anſprüche des 
Auguftenburgers viefen thatſächlich fallen laſſen und eine Urt neutraler Stellung 
zu der ganzen Frage eingenommen, aber e8 war doch weit entfernt, dem Mini— 


jr: 











v 


Deuntſchland. 489 


ſterium Biemarck, fo lange dieſes ſich weigerte, zu irgend einer Verſtändigung in 
der Militaͤrfrage die Hand zu bieten und geſtützt auf das Herrenhaus und bie 
angeblihe Lücke in ver Verfaſſung fein büdgetloſes Regiment fortfete, au nur 
die geringfte Unterſtützung nach welcher Seite immer angeveihen zu laffen. In ber 
erften Hälfte des Jahres 1865 wurde nun der Verſuch gemacht, thatfächlich vorzugehn. 
Im April verlangte die Regierung vom Landtage 6 MI. Thlr. zum Ausbau und zur 
Befeftigung des Hafens von Kiel als Kriegshafen und dafür ſowie für andere Ma⸗ 
rinezwede die Bewilligung eines Anlehens von 10 Millionen Thlrn. Der Kriegs- 
miniſter von Roon erflärte dabei ganz offen „Preußen fet nit nur thatſächlich 
im Befig dieſes Hafens, fondern auch entjchloffen, darin zu bleiben”, und ver 
Mintfterpräftdent Graf Bismard: „Für tie Forderung des Ktelerhafens fei das Ver⸗ 
halten des Landtags eine bedeutende Hülfe oder ein entfchtebenes Hinderniß; wenn 
die Forderung nit bewilligt werbe, fo ſei der Hafen ein werthloſer Beflg; er 
boffe, ver Landtag werde erflären: Kiel müfle gewonnen werben.” Aber alle 
Mühe war umfonf. Am 30. April 1865 verweigerte dad Abgeordnetenhaus 
die Anleihe mit allen gegen die Stimmen ber Meinen feudalen Fraktion und mit 
der ansprädlihen Erflärung „daß ed dem gegenwärtigen Miniſterium, das das 
Budgetbewilligungsrecht des Haufes nicht achte, Feine Anleihe bewilligen könne.“ 
So ſcheiterten alle Verſuche der preußifhen Regierung, die jchlesmig-hoffteintfche 
Trage im Intereffe Preußens zur fung zu bringen, von welder Seite es vie 
ſelbe auch angreifen mochte. 

Graf Bismarck. Die ſchles wig⸗holſteiniſche Frage hing eben mit der 
gefanmten deutſchen Frage zufammen und ver Leiter der prenßiſchen Regierung 
mußte fih mehr und mehr überzeugen, daß fie allein fi überall nicht in einer 
feiner Anfhauungen entfprechenden Weife Löfen laffe, fonvern nur mit und durch 
eine Löfung der deutfhen Frage überhaupt. Dahin drängten ihn in ver That 
alle Berhältniffe, vor allem aber feine eigene Natur. Schon als er im J. 1862 
die Zügel der Regierung ergriff, war er fi darüber vollfommen Mar, daß bie 
deutfche Frage auf dem Wege des firengen Rechts und ver friedlichen Diskuſſion 
nie und nimmer gelöst werben würde, ſondern jhließlih nur auf dem Wege ber 
That d. 5. der Gewalt, gleichviel, ob dieß von unten oder von oben geſchehe und Alles 
was verſucht worden war, von Preußen, von Defterreih, von den Mittelftaaten oder 
aus dem Schooße der Nation felber, war nur geeignet geweſen, ihn in dieſer 
feiner Weberzeugung zu beftärten. Auf jenen Weg drängte ihn übrigens . nicht 
nur bie deutfche Frage, die fi zu einem immer fefteren Knäuel zufammen ge- 
ballt hatte, fondern aud die innere preußiſche Lage, ver augenfcheinlih eine ganz 
andere Wendung gegeben werben mußte, wenn auch fie zur fchlieglichen Loſung 
in feinem Sinne gebracht werben follte. An Energie und Kähnheit fehlte es 
ihm nit, aber diefer bedurfte er auch im höchſten Örade; denn ein Blick auf die 
Geſammtheit der deutfchen Frage fagte ihm, daß Preußen dabei feine Eriftenz, 
ein Blid auf die Lage der Dinge in Preußen und bie Stimmung ber Gemüther 
dort, daß er felber dabei feinen Kopf einfege. Nach welcher Seite immer er bie 
Deftrebungen Preußens in Deutfchland feit fünfzehn Jahren verfolgen mochte, in 
legter Linie waren fie direlt oder Indirelt immer an Defterreich geſcheitert. Die 
legte Entfheidung mußte alfo gegen Defterreich gefucht werben. Keine Errungenſchaft 
Preußens war eine geficherte, eine durchſchlagende, fo lange Defterreich feine bishe⸗ 
rige Stellung In Deutfchland behauptete; gelang es dagegen Preußen, mit Auf—⸗ 
bietung aller feiner Kräfte in entſcheidendem Kampfe feine Stellung zu brechen, 
jo mußte iym alles Andere faft von felber zufallen. Wenn nicht alles trägt, fo 


Badıtrag. 


a an a TR te udn Dale na 2.1005 m bc ſchon längfi fehl, 
aR m *2 des J. 1865 zum vollen Entſchlufſe ge 

Wuzumt bien inte. Die Armee-Reorganijation war fo — 

ODer Wömard wer äberzeugt, ſobald der König zur Entſcheidung 

—— da melde Bali af troß des Konflikte zählem 

“amın, Cmzuzar Datte ſich en ae lhen Kriege von ben Toutinentalen 


zülhg yarddgegogen, —— ſtand Preußen auf 
Derederich wechte 





Ha $ 


vertraute 
es nicht wenn Deutſchland fi dm 
Ihmäde, überzeugt, 8* alickua nur zu feinem Bortheil 
Sume. 
reiner Konvention. Geit vem Januar 1865 ſtand Preußen 
wir Denereich im lebhafter diplomatiſcher Korreſpondenz über eine ganze Reibe 
von Lröfereuzpuntten, ohne daß es gelungen wäre, auch nur äber eine zur Ber» 
* ya gelangen. Um 21. Juni ging ver König von Preußen nad Karls⸗ 
Graf Bismard folgte ihn. Run wurde Preußen in feinen Forderungen 
—— —* drohender. Es war auf einen kriegeriſchen Ausgang vorbereitet: ſchon 
ia Juli wurden ſtarke Geſchützſendungen von den rheiniſchen nach den ſchleſiſchen 
Jehtungen gemacht; mit Italien, das jederzeit bereit dazu war, wurden 
bangen gepflogen, um Defterreih von zwei Seiten ber zu faſſen. Am 11. Sau 
dem öfterreichifhen Kabinet bereits ein * infeitiges Borgehen im 
Sälermig-Holftein in Ansfiht. Niemand konnte fi über ven Eruſt der Lage 
: Graf Bismard äußerte fih in Karlsbad ganz laut bahin, daß er einen 
Krieg zeit Defterreih nicht nur nicht fürdhte, fonbern geraden wänicdhe unb baß 
Brenfen mit Güte over Gewalt die Suprematie in Dentihland erringen werde. 
Bon Karlsbad ging der König von Preußen inzwifchen nah Gaſtein. Auf dem 
Wege dahin hielt er am 21. Juli in Megensburg ein Kabinetöconfell, zu dem fämmtlicdye 
Minifter aus Berlin und die preußifhen Geſandten in Wien uud Paris beſchieden 
waren. Zwei Tage fpäter fam Graf Bismard in Salzburg mit dem bayriichen 
Mintfter v. d. Borbten zufanmen und verhehlte ihm nidyt, daß ein Krieg zwifchen 
Defterreih und Preußen fehr wahrſcheiulich und unmittelbar bevorſtehend ſei, um 
den Mittelftaaten für viefen Gall eine bewaffnete Neutralität anzubieten und 
Bayern fpeciell barüber zu beruhigen, daß Preußen niemald daran gedacht habe 
und auch jett nicht daran vente, fein Machtgebiet über vie Mainlinie hinaus zu 
erfireden. Am 25. Juli ließ Preußen einen ver eifrigften Gegner feiner Politik 
in Holftein, Namens May, in Altona gewaltfam aufheben und nad) der Feſtung 
Rendeburg transportiren und am folgenden Tage mies es einen preußiſchen Ab- 
georbneten von ber Oppofitionspartei in Kiel aus, beives nach einfeitigem Belieben 
und ohne fi vorher mit dem öſterreichiſchen Civilkommiſſär darüber verftändigt 
zu haben, der vielmehr gegen ein berartiges Vorgehen proteftirte. Das ganze 
Berfahren mußte nothwendig den Einprnd einer abſichtlichen, geſuchten Provolation 
Defterreihs machen. Gin öfterreihifcher Diplomat, Graf Blome, der fih am 
_ 27. in Gaſtein einfand, um zu beſchwichtigen, wurde fehr zurüdhaltend empfangen 
“amd kehrte nach wenigen Tagen unverrichteter Dinge nah Wien zurüd. Oeſter⸗ 
reich war zu einem Kriege nichts weniger als vorbereitet und in Wien berrichte 
in jenen Tagen große Bewegung, der Kalfer felbft eilte von Iſchl nach ber 
Hofburg zurüd. Am 6. Auguft übergab der preußiſche Gefandte eine Art Ulti« 
matum. Graf Blome kehrte nach Gaftein zuräd, wo endlich am 14. Auguſt 1865 
eine Konvention zwifchen Defterreih und Preußen zu Stande fam: Oeſterreich 
überließ Preußen vorläufig weuigftens Lauenburg und beide einigten fidh, ven 


Argellifte 











Deutichlaud. 491 


bisher gemeinfamen Beflg zu theilen: Preußen nahm Schleswig, Oeſterreich Hol- 
Rein, indeß „unbeſchadet der Fortdauer der Nechte beider Mächte an ter Ge⸗ 
ſammtheit beider Herzogthümer.“ Die beiden Herrſcher Tamen einige Tage fpäter 
in Salzburg perfönlih zufammen. Das drohende Gewitter war fir einmal wieber 
beſchwichtigt, aber eben doch nur für einmal, Die Frage war in keiner Weiſe 
gelöst, die Löfung lediglich vertagt. Defterreih aber war gewarnt. 

Wie die Dinge lagen, konnte Defterreih der preußiihen Politik in der 
ſchleswig⸗holſteiniſchen Frage unmöglich zu Willen fein, ohne Preußen vie volle 
tbatfählihe Parität In Dentſchland, ja bereits ein unzweifelhaftes Uebergewicht 
zuzugeflehn und ſich damit auf eine ſchiefe Ebene zu begeben, die zu nichts ande» 
rem als feinem Ausfcheiden ans Dentichland und der anerkannten Suprematie 
Preußens führen konnte. Das alte Spiel in den Herzogthlimern begann daher 
alsbald von neuem, nur in etwas anderer Yorm. Preußen ſetzte den General 
v. Mantenfiel als Gouverneur nad Schleswig und behandelte das Herzogthum be- 
reits fo ziemlih wie eine preußiſche Provinz; Defterreih übertrug die Berwaltung 
Holfteins dem F. M.L. v. Gablenz als k. k. Statthalter und dieſer begnügte ſich, 
direkte Feinpfeligleiten gegen Preußen wo möglih zu verhüten, ließ dagegen im 
übrigen das Land fo ziemlich fich felbft xegieren. Während Preußen in —2* 
mit den anguftenburgifch gefinnten Beamteten aufräumte, wurde in Holſtein von 
allen Seiten gegen vie Gaſteiner Konvention proteftirt nnd bie Protefte fanden 
von Seite einer neuen Abgeorbnetenverfammlung aus einem großen heile von 
Deutſchland, die am 1. Oktober in Frankfurt zufammentrat und fi) gegen Preußen 
ſehr nachdrücklich für das Selbftbeftimmungsrecht ber Schleswig. Holfteiner ausiprach, 
ein ſehr entfchlevenes Echo, Die Preußen nahmen an der Verſammlung bis auf 
wenige Ausnahmen bereits keinen Theil mehr; mehrere hervorragende Führer der 
Oppofition erflärten fi fogar entſchieden gegen viefe Demonftration, die nicht 
mehr Bloß gegen das augenblidlidhe preußiſche Minifterium, fondern gegen ben 
preußiſchen Staat als ſolchen gerichtet fei. Die preußiſche Regierung wurde durch 
den Borgang aufs äußerſte gereizt und erbittert. Die kaum nothbürftig wieder 
bergeftellten frennvlicheren Beziehungen zu Defterreih wurden wieder geipannte 
und no vor Ende des I. 1865 waren fie bereit8 wieder gerabezn feinpfelige. 
Eine nad Altona ansgefchriebene gegen die preußiiche Politit gerichtete Maſſen⸗ 
verfammlung der Holfteiner, die der öfterreichifche Statihalter erft zu verhindern ver- 
fuchte und nachher boch geftattete, gab Anlaß, den völligen Brud mit Oeſterreich 
einzuleiten. Doch ging noch ſaſt der ganze Monat Februar bes I. 1866 ohne ent- 
ſcheidende Schritte hin: Die preußifche Megierung war durch den Konflikt mit ber 
Bollsvertretung in Anſpruch genommen, ver neuerbings in hellen Flammen aufloberte; 
fie mußte erſt von diefer Seite Ruhe haben und ſprach daher, noch bevor das 
Düdget auch nur in Angriff genommen war, am 22. Februar die VBertagung 
und ſchon am folgenden Tage den Schluß der Sefflon aus. 

Der deutſche Krieg Und nun ging es raſch dem Ziele zu Am 
28. Februar fand in Berlin ein Kabinetslonfeil unter dem Borfige des Königs 
und zwar mit Zuziehung des Botſchafters in Paris und mehrerer Generale 
ftatt, in der die Kriegsfrage erörtert wurbe. Defterreih antwortete mit einem 
fogenannten Marfcalldratä, der von 7.—13. März in Wien, ebenfalld unter 
bem Borfige des Kaiſers felbft, über dieſelbe Frage berieth. Defterreih beging 
dabei den großen Mißgriff, daß es zuerft offen rüftete und unbedeutende Iuden- 
frawalle in Böhmen dazu benugte, feine Truppen an ber preußifhen Grenze zu 
verftärten. Dadurch gab es Preußen das Mefler in die Hand, obgleich die nach⸗ 


a8 Nedtrag. 
xXXX zugmueifeibat ermichen, daß Preußen im Stillen lünzft alles 
u Tre, Mutereniet Yaste mat ut auffallenden Maßregeln nur barum zumarten 


* 


* mu dm er feine zuge Militärorganiſation ohne Nachtheil erlaubte, 
ten wicht Der Fall war. Bald rüfteten beide mit aller Macht 
ude RE rigen dentſchen Staaten auf ihre Seite zu ziehn, während 
an u vcre Dat mer den Augen Europas die Bedingungen der Abräftung 
unteren ar ich yeyenfeitig die Abfi ht eines Angriffs zuzuſchieben bemüht waren. 
Wer un Im Wadeben ter augreifende Theil war, fonnte [don damals numöz- 
np: ern: Oeſterreich, umnvorbereitet wie e8 war, finanziell am Rande 
un) autötreßerettd und durch die Entlaffung bes Miniſterinms Schmerling, 
Ne Seireürzez der Februarverfafſung und den mit Ungarn eingeleiteten Aus- 
ze zuttee ie einer Berfaffungsreoifion begriffen, konnte einen Krieg uumdzl.h 
wien, wien Preußen fhon im vorhergehenden Jahre deutlich verrathen hatte, 
das 28 Dem Krieg wänfche und ſuche. Dit großer Gewandtheit benägte dagegen 
Ber} Vißmrrd die Mißgriffe DOefterreihs, um Preußen wenigftens ſcheinbar als 
dedredt bimzuflellen und damit einen Drud auf ben König, ber fi nur ſchwer 
ya een ſolchen Krieze entichloß, auszuüben. Alles arbeitete Preußen in bie Hand 
wer Ules wußte Graf Bismard meifterhaft zu benutzen. Am 8. April wurbe 
eine Allianz zwifchen Preußen und Italten abgeſchloſſen, vie diefes für den Hall 
ars Krieges zwiſchen DOefterreih und Preußen verpflichtete, dem letzteren beizu⸗ 
Reha und Defterreich auch feinerfeits anzugreifen, während Preußen für ben Fall 
eines Krieges zwiſchen Defterreih und Itallen freie Hand behielt. Run räftete 
uch Italien und machte Defterreih die Weräftung faft unmöglih. Zu berfelben 
Zeit begannen die dentfhen Mittelftaaten zu räften, doch wollten fie nicht an den 
Emaft der Lage glauben und ihre Räftungen blieben baher mit Ausnahme Sad- 
fens weit hinter den Anforderungen desſelben zuräd. 

Preußen felnerfetts trug (9. April) am Bunde auf Ginberufung eines 
Barlamıents, hervorgehen aus direkten Wahlen und allgemeinem Stimmrechte, 
behufs Reviſion ver Bundesverfafinng an und zwar auf einen feften Termin, bis 
zu welchen fi die Regierungen behufs einer Borlage zu verſtändigen hätten, 
rigtete an Sachſen (27. April) eine förmlihde Sommation, jeine Rüftungen ein- 
zuftellen, fuchte Hannover und Kurhbefien (12. Mai) dazu zu bewegen, den Aus⸗ 
gang des Kampfes zwifchen ihm und Oeſterreich in völlig nentrafer Haltung ab» 
zuwarten unb legte den ſämmtlichen veutfchen Negierungen (10. Juni) einen förm⸗ 
lihen Bundesreformoorfhlag vor, der auf dem Ausfchluffe Defterreihs aus dem 
nenen Bunde beruhte und dagegen Bayern mit einer hervorragenden Stellung 
und dem Oberbefehl über die ſüddentſchen Kontingente zu gewinnen ober wenig» 
ſtens zu vorläufiger Reutralität zu veranlaſſen ſuchte. Im mehreren Landtagen, 
zuerft im babifchen (14. Mat), wurde eine bewaffnete Neutralität beantragt und 
eben dafür erflärte fi au die Majorität des (20. Mai) in Frankfurt zuſam⸗ 
mengetretenen Abgeordnetentages. Wie viel flüger eine folhe Haltung der Mit⸗ 
telftaaten, wie unendlich viel günftiger ihre Stellung gegenüber Preußen gewefen 
wäre, zeigte die Folge. Allein der vernünftige Vorſchlaz drang nicht durch, bie 
Leivenfhaft gewann die Oberhand und die Mittelftaaten neigten ji mehr und 
mehr einer Allianz mit Defterreih zu. Diefes war denn auch feinerfeitd bemüht, 
bie Frage zur Bundesſache zu machen und den Bund als folhen hineinzuziehen. 
Einen Berfud der neutralen Großmädte zu vermitteln nnd Friedenskoaferenzen zu 
Stand zu bringen lehnte es (1. Juni) ab ober vereitelte e8 wenigftens, indem 
es an feine Theilnahme unmögliche Vorbehalte Inäpfte. An demfelben Tage berief 


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Deutfcland. 498 


der bſterreichiſche Statthalter in Holftein die dortige Ständeverſammlung ein und 
warf damit Preußen den Fehdehandſchuh ins Geſicht. Dieſes erllärte ohne Zo—⸗ 
gern, daß die Safteiner Konvention durch tiefen Schritt gebrochen ſei und das 
frühere Kondominat demgemäß wieder auflebe und ließ feine Truppen von Schles⸗ 
wig ber (7. Juni) in Holſtein einrüden, woburd die vereinzelte Öfterreichifche 
Brigade genöthigt wurde, das Land zu räumen und fid (8. Juni) an ber äußer⸗ 
Berften Gränze um Altona zu koncentriren. Oeſterreich klagte nun (11. Juni) 
Preußen am Bunde an, forderte die Mobilmahung der gefammten Bundesarmee, 
ein Antrag, den Preußen ſeinerſeits als den Bundesverträgen widerſprechend 
geradezu für bundeswidrig erklärte. Defterreih ließ fih nicht mehr zuräd- 
halten. Es berief (12. Juni) feinen Gefanbten von Berlin ab und ftellte 
dem preußiſchen Gefandten in Wien feine Päfle zu und rief feine Truppen 
ans Holftein ab, um unnütes Gemegel zu vermeiden. Und auch die Mittel: 
ſtaaten ließen fih, obwohl fie den Untrag vom 11. Juni für verfrüht er- 
achteten, fortreigen und erhoben ihn (14. Juni) mit 9 gegen 6 Stimmen zum 
Beſchluß. Preußen erklärte, daß es den Bund dur dieſen Beſchluß für gebrochen 
und fi felbft nicht weiter an venfelben für gebunden erachte. Der Krieg war 
thatſächlich erflärt. 

Sen Berlauf war ebenfo kurz als entſcheidend. Die Cinzelbeiten der 
Kriegsereiguifle fallen nit iu den Rahmen diefes Artilele. Es genügt zu er- 
wähnen, daß Preußen fofort die Offenfive ergriff und ſchon in ven erften Tagen 
Hannover, Kurheſſen und Sachſen okkupirte. Dann brach es mit feiner Hanpt- 
armee in Böhmen ein und errang am 3. Juli bei Königgrätz ober Sadowa einen 
volftändigen Sieg Aber bie Defterreiher, deren Obergeneral nur mit Mühe vie 
Trümmer feiner Urmee nah Olmüg rettete Der Weg nah Wien Rand den 
Siegern offen. Umfonft verfuchte Defterreih einen großen Wurf, indem es, nad 
dem der Erzherzog Albrecht bei Cuſtozza (24. Juni) die Italiener gefchlagen und fo 
wenigſtens nad dieſer Seite die Öfterreichiihe Waffenehre gerettet war, Venezien 
fhon am 4. Juli nit an Italien, fondern an den Kaiſer der Franzoſen abtrat, 
nnd damit biefen in den Krieg hineinzuziehen vermeinte. Frankreich nahm Ve⸗ 
nezien an, aber für Italien und ging auf bie weitere Abſicht Defterreihs nicht 
ein. Ohne Widerſtand zu finden, rüdten die Preußen durd Böhmen und Mähren 
bis zur Donau vor. Und zu berfelben Zeit waren die Preußen aud in Süd⸗ 
beutfchlann flegreih. Bier waren das 7. und das durd die Kurhefien verftärkte 
8. Bnntesarmeelorps unter dem Oberbefehl des Prinzen Karl von Bayern ben 
Breußen unter dem General Bogel von Fallenftein um das Doppelte überlegen, 
aber unter ſich nichts weniger als einig, da jedes Kontingent zunächſt den eigenen 
Staat zu: deden wünſchte. Dieß gab dem preußifhen General gewonnenes Spiel: 
zuerft ſchlug er bei Kiffingen die Bayern und dann bei Aſchaffenburg die Truppen 
des 8. Urmeelorps. Frankfurt fiel den Preußen in die Hände und der Bundes⸗ 
tag fah fi gendthigt, nad Augsburg überzuſiedeln, bis er fi völlig auflöste. 
Wenn nicht Waffenſtillſtand eingetreten wäre, fo dürfte es ven Preußen nicht 
allzuſchwer gefallen fein, bis nah Münden, Stuttgart und Karlsruhe vorzu- 
dringen. | 

Der Brager Friede, Unter Vermittlung Frankreichs wurde inzwiſchen 
zu Nidolsburg über einen Waffenſtillſtand und Sriedenspräliminarien, zu Prag 
über den Frieden felbft unterhandelt. Frankreich gab fih alle Muhe, wenigſtens 
die fübdeutfhen Staaten dem virelten Einfluffe Preußens zu entziehen, und ven- 
feiben eine unabhängige Internationale Eyiftenz zu ſichern, Oeſterreich intakt zu 


des 

Aaazt ven Preußen zu unterftellen,, wogegen biefer ihnen ihr Gebiet garantirke. 
Gen; aunte über vie unerhörten Erfolge der Preußen. In Frank 
ae von Sadowa die peinlichften Bellammmugen berver. 


—— 
es damals nicht und ließ den Ereigniſſen ihren freien Lauf, in ber ganz 
richtigen Ueberzeugung, F vie bisherigen Berfaffungszuflände Dentſchlands * 
unhaltbar geworden und eine Neugeſtaltung derſelben früher oder fpäter doch wicht 
dern fein würde, aber zugleit mit der weniger richtigen Berechnung, 
daß die gegenüberfichenden Kräfte in Deutſchlaud fih vie Wage hielten, 
der —* mit wechſelnden Erfolgen fi in die Länge ziehen und ihm jedenfalle 
Selegenheit geben wärde, die Iuterefien Fraukreichs zu wahren. Es fam anders 
als er gedacht, in Wahrheit anders als alle Welt gedacht hatte. Ehe fih Frauk⸗ 
reich deſſen verſah, lag Defterreih am Boden und fland Preußen auf ven Trüm- 
mern ber biöherigen Zuflände als eine Macht da, die nit mehr in Frage ge- 
fielit werben konnte. Frankreich mußte ſich begmügen ‚m vermitteln und 


fen; e8 dürfte aber zweifelhaft fein, ob es bamit nicht den geheimen 
Preußens entgegen gelsmmen ift, jedenfalls ob es wicht Preußen bamit 
einen Dienft geleiftet bat. 

Der norddentſche Brand. Die Hauptfache war unter allen Umſtünden 
nicht mehr anzufechten: Deutfhland war gemacht, wenn auch nod nicht vollendet. 
—— ging zunächſt an die Grüudung des norddeutſchen Bundes. Schon während 

Krieges hatten vie meiften der norddentſchen Kleinſtaaten ihm ihre Kontingente 
* Verfügnng geſtellt und ſich zum Abſchluß eines neuen Bundes mit Preußen 
und unter feiner Leitung bereit erflärt. Jetzt (4. Auguſt) legte ihnen dieſes den 
Entwurf eines Bündbnißvertrages vor, durch den fie ſich verpflichteten gleich⸗ 
zeitig mit Preußen vie auf Grund bes Reichswahlgeſetzes vom 13. Upril 1849 
vorzunehmenden Wahlen von Abgeorbneten zum Parlament anzuordnen und let 
teres gemeinfchaftlic mit Prenßen einzuberufen, zugleich aber Bevollmaächtigte nad 
Berlin zu fenden, um nad; Maßgabe der Grundzüge vom 10. Iuni den Bundes 
verfaffungsentwurf feftzuftellen, der tem Parlamente zur Berathung umb Berein- 
barung vorgelegt werben folle.” Bis zum 21. Augaſt war der Entwurf altfeltig 
ec und unterzeichnet. 
Ausführung verzögerte ſich indeß bie zum Schluß des 2 1866. Preußen 
mufte m zuvor die eigenen Berhältuifie ordnen, was zwar noch immer nicht geringe 


& 








Deuiſchland. 496 


Schwierigkeiten darbot, aber durch die gänzlich veränderte Rage nunmehr wenigſtens 
ermöglidht war. Pofitive Anfgaben lagen nach allen Seiten ſowohl der prenkifcgen 
Regierung als der Majorität des Abgeordnetenhauſes in folder Menge und von 
folder Bedeutung vor, daf der Überwiegend negative, lediglich abwehrenvne Stand- 
punft, den bisher beide, die Regierung nicht weniger als vie Mehrheit der Volks⸗ 
vertretung, eingenommen und mit fo großem Cifer verfolgt hatten, von beiven 
mothgebrungen aufgegeben werden mußte. Der Ausfall der Neuwahlen zum 
Abgeorbnetenhaufe, die inzwiſchen flattgefunden, erleichterte vie gegenfeitige An⸗ 
mäherung. Die Regierung ftand in Folge verfelben nicht mehr wie während ber 
legten Jahre einer geradezu überwältigenden Majorität der Volksvertretung gegen- 
über und doch gebot fie über feine Majorität, war alfo auch ihrerfeits zu einem 
Kompromiffe mehr oder weniger gemöthigt. Schon am 5. Auguft bei Erdfinung des 
Landtags ſprach es der König in feiner Thronrede aus, daß feine Regierung für 
die bisher ohne Stantshanshaltegefeg geführte Berwaltung um Indemnität ein- 
tommen werbe, um den Konflilt für alle Zeit zum Abſchluß zu bringen. Das 
gefhah denn auch und am 3. September wurbe die Inbemnität vom Abgeorbneten- 
baufe mit 230 gegen 75 Stimmen ansgefprohen; am 25. d. Monats wırde ber 
Regierung mit 230 gegen 83 Stimmen ein Krebit von 60 Mill. Thlru., zunächft 
um ben Staatsfhag wierer auf die Höhe von 30 Mil. zu bringen, bewilligt, am 
5. December mit 219 gegen 80 Stimmen nicht bloß den Beneralen Moltke, 
Herwarth, Steinmeg und Falkenſtein, fondern aud) den Miniſtern Bismard und Roon 
für ihre Bervienfte im Kriege Dotationen zuerfannt und am 10. December end⸗ 
lid der Milttäretat im Orbinarium und nad den Forderungen der Negierung 
lediglich mit einer Refolution zu Wahrung der Rechtöfrage genehmigt. Am 11. 
September war auch bereit3 das Parlamentöwahlgejeg für Drenßen angenommen 
worden, bo unter Zuſtimmung ber Regierung bloß „zur Berathung“, nicht auch 
„zur Vereinbarung" der nenen Verfafſung bes norbdeutfhen Bundes, fo daß bem 
preußifchen Landtag vie jchliegliche Genehmigung oder Ablehnung diefer Verfafſung 
vorbehalten blieb. 

Damit war der Boden für die Örunblegung bes neuen Baues geebnet. Am 
15. December 1866 traten die Bevollmächtigten der Regierungen behufs ver 
Berfländigung über die Verfafiungsvorlage in Berlin zufammen; bis zum 9. Febr. 
1867 hatten fie ihre Berathungen vollendet und konnte der Verfafiungsentwurf 
allfeitig unterzeichnet werven. Am 12. Februar fanden die Wahlen zum erſten 
Reichſtage im ganzen Umfange des Fünftigen norddeutſchen Bunbesftante flatt und 
diefer felbft wurde fhon am 24. d. M. vom König von Preußen eröffnet. Am 
4. März legte Graf Bismard den Berfaoflungsentwurf vor, ver am 16. April 
ſchließlich mit 230 gegen 53 Stimmen angenommen wurde. Nod im Laufe ves- 
jelben Monats April (29.) trat der prenßifhe Landtag zufammen und ſprach ſchon 
am 8. Mat, freilich nit ohne heftigen Kampf und erft nad einer breitägigen 
Debatte in erfter Lefung mit 226 gegen 91 Stimmen die Genehmigung der neuen 
Bundesverfaffung ans. Dasfelbe geſchah auch von Seite der Landtage anderer 
Bundesgliever nnd am 1. Juli 1867 trat die Berfaffung im ganzen Umfange 
des Bundes in Kraft. 

Die Bundesverfaffung. Den realen VBerbältuiffen entſprechend, aus 
welchen fie hervorging, iſt diefe Berfafiung kein Werk ver Doltrin, fonbern viel 
mehr das Refultat manntgfaltiger Kompromiffe Den wiſſenſchaftlichen Anforde» 
rungen auf regelrechten Aufbau und logiſche Durchführung aller einzelnen Date 
rien entſpricht fie in ber That wenig. Gie iſt nicht eine vermeintlich volllommene 





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BER, 


u re. Dazu war ber Stoff, der in bie 
og der zumähft vorhergegangenen Greignifie 
y.sssietet 68 galt vielmehr, eben noch vielfach 
- u Aengeſtaltungen nicht vorzugreifen, fondern 
4 aa gewiſſe Punkte feilzuftelen und fefzubalten, 

auıen. Es bantelte fih vor allem darum, nad 
un Anzuftellen, die felbft ein gemaltiger Sturm nidt 

Aen zu werfen vermöchte, nad) innen aber bie einzelnen 

u auae zu beichränfen, als im Interefle aller durchaus 
_ S zuprie in dieſer Beziehung vor allem die Entwidlungs- 

una a vmahren. Und daß das Werk dieß leiftet, daß trotz 
m mugen es behaftet iſt, die Grundlagen eines neuen beutfhen 
> ee fehl und doch entwidiungsfähig gelegt find, das 
an a me überwiegende öffentliche Meinung anzuerleunen. 
Ts Ide an Allem was vorangegangen und nad) ber ganzen Lage 
un wainer Weile die Seele des Bundes, bie entſchieden leitende Macht 

“ RN Des Präſidium fteht ter Krone Preußen zu, welde im 

ma Nu Wanted Krieg erflärt und Frieden fchließt, Verträge mit fremden 

‚ce ug.de, Gehandte empfängt und beglaubigt. Neben dem Präfivium ſteht der 

Py aredrath, ans Bertretern ber Mitgliever des Bundes zuſammengeſest, 
et RT Summoertbeilung wie beim Plenum des früheren Bunbestage. Unter 
in Yammtzahl von 43 Stimmen zählt Preußen 17, (fpäter wegen Waldes 18.) 
Di Wgufiafang erfolgt mit einfacher Mehrheit. Der Bunvesrath bildet 6 
nanun Ausſchuſſe; in jedem derſelben müflen außer dem Präſidium wenigſtens 
yai Vandesſtaaten vertreten fein; die Ausſchüſſe für Landheer und Seeweſen 
er vom Bunderfeloherrn (Preußen) allein ernannt, die übrigen vom 
Da derrathe gewählt. Der Bundesrath iſt ein Mittelving zwiſchen einem Bun - 
iminiſterium nnd einer Art Staatsrath des Bundespräfiventen, zufammen mit 
dem Bundesfanzler, der vom Bundespräfivium ernannt wird, den Bundesrath 
worfint, die Unordnungen und Verfügungen des Bundespräſidiums gegenzeichnet 
und dafür die Verantwortlichkelt übernimmt, freilich nur eine moralifde, da eine 
juridiſche nicht turchgejegt wurde. Dem Bundespräfidium fleht die Ausfertigung 
wad Berfündigung der Bundesgefege und die Ueberwachung ihrer Ausführung 
zu, zunähit dur den Bundeskanzler, dem ein Bundeskanzleramt mit ziemlich 
Jahlreichen Beamteten beigegeben iſt. Dem Bundespräftolum und dem Bunbes- 
dathe Reht der Reichstag gegenüder, der je auf drei Jahre aus allgemeinen 
und direften Wahlen mit geheimer Abſtimmung hervorgeht und jährlih zufammen- 
teltt. Seine Verhandlungen find öffentlich. Kein Mitglied des Reichätuges darf 
u irgend einer Zeit wegen feiner Abſtimmung over wegen den in Ausübung 
— Berufes gethauen Außerungen gerichtlich oder disciplinariſch verfolgt ober 
fonft außerhalb der Verſammlung zur Verantwortung gezogen werben. Ebenſo 
find wahrheitsgetreue Berichte über die Verhandlungen des Reichstags in feinen 
öffentlihen Sigungen von jeder Berantwortlichkeit frei. Der Reichstag regelt feine 
Geſchäftsordnung und beftellt fein Bürean felbft. Seine Mitgliever dürfen jedoch 
feine Diäten bezichen. 

Die Bundesgefeßgebung wir ausgeübt Durch den Bundesrath und den Reichstag; 
pie Uebereinftimmung der Mehrheitsbeſchlüſſe beider Verfammlungen ift zu einem 
Bundesgefege erforderlih und ausreihend. Die Kompetenz des Bundes erftredt 
ſich im weſentlichen auf die diplomatiſche Vertretung nach außen, auf das geſammte 








Deutſchland. 497 


Militärweſen zu Land und zur See und endlich auf eine Reihe für gemeinſam 
erllärter, namentlih wirthihaftlicher Angelegenheiten. Die Diplomatie des Bundes 
fteht natürlich dem Könige von Preußen als Präfidenten ausfhließlih zu und 
derjelbe Hut denn auch Anfangs 1868 feine Geſandten faft überall als Vertreter 
Preußens und des norbdeutfhen Bundes beglaubigt. Den übrigen Bunbesftaaten 
iſt indeß dur die Verfaſſung nicht verwehrt, auch ihrerfeits wo fie wollen Ge- 
fandtfhaften zu unterhalten und Geſandte zu empfangen; offenbar hat Preußen 
die Empfinvlihkeit der kleineren Bundesfürſten gerade in dieſem Punkte ſchonen 
wollen, mit Recht überzeugt, daß fie mit der Zeit aus finanziellen und politifchen 
Gründen von felber darauf verzichten würden. Eine durchgreifende berfafjungsmä- 
Bige Beſtimmung In diefer Beziehung wird erft fpäter an ter Zeit fein. 

Das Hauptaugenmer! Preußens zu Sicherung feiner Stellung im Bunde 
und nad außen war offenbar auf dad Bundeskriegsweſen gerihtet und 
diefes hat es denn auch fi im wefentlihen allein mit Ausſchluß der Einzelregie- 
rungen und mit Ausſchluß des Neichätages angeeignet oder vorbehalten. Die 
allgemeine Wehrpflicht gilt für ven ganzen Bund: jeder wehrfähige Norbveutfche 
gehört 7 Jahre lang (vom 20. bis 28. Lebensjahre) dem ftehenden Heere (3 Jahre 
bei der Fahne und 4 Jahre In der Meferve), 5 weitere Jahre der Landwehr an; 
bie geſammte preußiſche Militärgeſetzgebung wird ohne weiteres auf den ganzen 
Bund ausgevehnt. Die rievenspräfenzftärfe des Bundesheeres iſt durch die 
Berfaſſung felbft bis 31. December 1871 auf 1 Procent ver Bevöfferung von 
1867 normirt und zur Veftreitung des Aufwands für dieſes Bundesheer und alle 
dazu gehörigen Einrichtungen werben dem Bunbesfeloheren ebenfalls durch bie 
Berfafiung felbft bis zum 31. December 1871 ſoviel mal 225 Thlr. zur Ber: 
fügung geftellt, als die Kopfzahl ver Friedensſtärke des Heeres beträgt. Erſt von 
1872 an wird bie Friedenspräjenzftärke des Heeres im Wege der Bundesgeſetzgebung 
fefigeftellt. Die Beiträge von 225 Thlr. per Mann müſſen verfafiungsmäßig von 
den einzelnen Staaten gleihwohl auch nad 1871 wie vorher bezahlt werden und all- 
fällige Erfparnifie am Milttäretat fallen nicht ihnen, fondern der Bundestafle zu. Die 
gefammte Landmacht des Bundes bildet ein einheitlihes Heer, das in Krieg und 
Brieden unter dem Befehl des Königs von Preußen ſteht; die Regimenter führen 
fortlaufende Nummern und die Uniformirung iſt die preußifhe. Der König von 
Preußen überwacht die Einheit des Heeres in Organifation und Formation, in 
Bewaffnung und Kommando, in ver Ausbildung der Mannſchaften ꝛc. Er hat 
das Recht, die Garniſonen Innerhalb des Bundesgebiets zu beftimmen, fo wie 
bie kriegsbereite Aufſtellung eines jeden Theils der Bundesarmee anzuordnen. Alle 
Bundestruppen find durch den Yahneneid verpflichtet, feinen Befehlen unbebingte 
Folge zu leiften. Er ernennt den Höchſtkommandirenden jedes Kontingents, alle 
Dffiziere, welhe Truppen mehr als eines Rontingente befehligen fowie alle 
Feſtungskommandanten; Generale und Offiziere mit Generalöftellung können von 
den einzelnen SKontingentäherren nur mit feiner Zuſtimmung ernannt werben. 
In militärifher Beziehung find damit die Bunbesfürften dem Könige von Preußen 
volllonimen untergeorunet. In Wahrheit bleiben ihnen nur Ehrenrechte und we⸗ 
ſentlich untergeordnete Befngniffe: fie beftimmen vie Beamten ihrer Kontingente, 
ernennen die untern Offiziere, empfangen Rapporte, halten Infpeltionen und 
fönnen zu polizeilichen Zwecken über ihre Truppen disponiren zc. 

Man darf wohl annehmen, daß im December 1866 und Januar 1867 
unter den Vertretern der Einzelregierungen lebhafte Debatten flattgefunden haben, 
bevor diefe Beftimmungen in die Verfafſungsvorlage an den Reichstag aufgenom- 

Bluntfgliund Brater, Deutſchet Staate⸗Wörterbuch. X. 32 


498 Nachtrag. 


men wurden, oder daß dieſelben, wenn dieß nicht der Fall war und die Frage 
als durch den Krieg thatſächlich entſchieden betrachtet wurde, doch nur mit ſchwe⸗ 
. rem Herzen In eine fe gewaltige Militärlaſt und zugleich in eine fo weit gehende 
Beichränkung der Iandesfürftlichen Kriegsherrlichkeit einwilligten. Allein der bie- 
berigen Militärfpieleret mußte ein Ende gemacht werben und wenn fi die Koften 
allerdings verboppelten, fo wird nunmehr unter preußifcher Leitung doch auch - 
etwas geleiftet, während die frühere Militärfpielerei verhältnißmäßig noch mehr 
und jevenfalls zu viel Toftete, weil fie bintwenig leiftete. Auf die Dauer ift frei- 
ih eine Milttärlaft, wie fie durch die norddeutſche Bundesverfafſung der Nation 
auferlegt wird, unmöglid aufrecht zu erhalten und fleht in keinem Verhältniß am 
dem, was nah Abzug berfelben für andere Stantszwede noch verwendet werben 
kann. Nur fchwer und nicht ohne lebhafte Kämpfe war denn auch dieſer Theil 
der Verfaſſung im Reichstage vurchzufegen, zumal das fog. „elferne Büdget“ bis 
1872 für einmal dem Reichstage allen und jeven Einfluß darauf entzieht. 

Eine um fo umfaflendere Kompetenz wurbe dagegen dem Reichstage in Be— 
zug auf gemeinfame materielle und wirthſchaftliche Interefien zugetheilt und mer 
die Bebentung gerade diefer Fragen und Intereffen in unferer Zeit und ihre 
eminente auch politiſche Bedeutung zu wlrbigen weiß, wirb dieſe Seite der norb- 
deutſchen Bundesverfafſung wahrlich nicht gering anfchlagen. Für ven ganzen 
Umfang des Bundesgebietes befteht ein gemeinfames Indigenat mit beſtimmt auf. 
gezählten Wirkungen und unterliegen ver Beanffihtizung des Bundes und ver 
Geſetzgebung vesfelben folgende Angelegenheiten: 1) die Beftimmungen über Frei- 
zügigleit, Heimats- und Nieberlafiungsverhältuiffe, Staatsbürgerrecht, Paßweſen 
und Fremdenpolizei und Über ven Gewerbebetrieb, Kolonifation und Auswanderung; 
2) die Zoll- und Handelsgeſetzgebung; 3) die Orbnung des Maf-, Münz- und 
Gewichtsſyſtems, nebft der Feftftellung der Grundſätze über die Emiſſion von 
fundirtem und unfundirtem Papiergeld; 4) die allgemeinen Beftimmungen über 
das Bankweſen; 5) vie Erfinbungspatente; 6) der Schutz tes geiftigen Eigen⸗ 
thums; 7) die Organtjation eines gemeinfamen Schuges des deutſchen Handels 
im Auslande, ver deutſchen Schiffahrt und ihrer Flagge zur See und Anorbnung 
gemeinfamer Tonfularifcher Vertretung, welche vom Bunde ausgeftattet wirb; 8) das 
Eiſenbahnweſen und die Herftellung von Land und Waflerftraßen im Intereffe 
der Lanbesvertheivigung und des allgemeinen Verkehrs, 9) der Wlößerel- und 
Schiffahrtshetrieb auf den mehreren Staaten gemeinfomen Waflerfiraßen und ber 
Zuftand ver legteren, fowie die Fluß⸗ und fonfligen Waflerzölle; 10) das Poſt⸗ 
und Telegraphenweien; 11) Beftimmungen über bie wedhfelfeitige Vollfiredung 
von Erfenntnifien in Eivilfachen; 12) gemeinfame Gefepgebung über das Obli⸗ 
gationenrecht, Strafreht, Handeld- und Wechſelrecht und das gerichtliche Berfahren; 
13) Maßregeln der Veterinär: und Medicinalpolizei. Der Bund bilvet ein Zoll⸗ 
und Handelögebiet, umgeben von einer gemeinfhaftliden Zollgränze; Hamburg 
und Bremen bleiben Freihäfen, bis fie ihren Einfhluß in die Zollgränze be- 
antragen. Der Bund ausſchließlich hat die Geſetzgebung über das gefammte 
Zollweſen, über die Befteuerung des Verbrauchs von einheimiſchem Zuder, Brannt- 
wein, Salz, Bier und Tabak. Wefentli auf den Zöllen und ven legtgenannten 
Steuern und den Einnahmen aus dem Poſt⸗ und Telegraphenweſen beruhen bie 
Sinanzen bes Bundes. So weit ihr Ertrag nicht ausreiht und fo lange 
Bundesftenern nicht eingeführt find, müſſen die Bebürfniffe des Bundes durch 
Matrifelumlagen gebedt werben. Uebrigens können auch Aulehen aufgenommen 
werden. Alle Einnahmen und Ansgaben bes Bundes müſſen für jebes Jahr 








Deutihland. 499 


veranlagt und vom Reichötage bewilligt werben. Veränderungen der Bunbes- 
verfaffung können jederzeit auf dem Wege der Geſetzgebung erfolgen, doch bebarf 
es dazu von Seite des Bundesraths einer Mehrheit von zwei Drittbetlen ber 
Stimmen. Der Eintritt der ſüddeutſchen Staaten ober eines berfelben in ben 
Bund erfolgt auf den Borfhlag des Bundespräfiviums im Wege der Bunde» 
gefeßgebung. 
Auf Grund viefer Verfaſſung 1) trat der Reichstag des norddeutſchen Bundes 
im September 1867 und feither wieder im Frühjahr 1868 zufammen. Aus 
feinen Beruthungen iſt bereits eine Reihe wichtiger Geſetze hervorgegangen; be 
fondere Schwierigkeiten, die in der Verfaſſung lägen, find bis jest nad Teiner 
Richtung zu Tage getreten. Die Milttärorganifation des Bundes Tann feit dem 
1. Oktober 1867 als durchgeführt betrachtet werden. Das Verhältniß zu Süd⸗ 
deutfchland ift noch fein befinitives und ſcheint aud ſobald nod Fein ſolches werden 
zu fönnen. Anfangs berubte es leviglih auf den im Auguſt 1866 zugleich mit 
den Friedenafchläffen zwifchen Preußen einerfeits und Bayern, Württemberg und 
Baden anderfeits abgefchloffenen Schug- und Trutbündnifien, die damals vorerft 
noch geheim blieben, erft im März 1867 veröffentlicht und am 11. April 1867 
durch ein gleiches Bündniß auch mit dem Großfürftentunm Heſſen vervolfftäntigt 
wurden. Erhöht wurde der Werth viefer Bünbniffe durch die bis Ende des 9. 
1867 von den drei ſüddeutſchen Staaten fo weit möglih in gegenfeitigem Ein- 
verfländnig und wenigftens in einer gewiflen Uebereinftimmung befchlofienen neuen, 
auf der allgemeinen Behrpflicht beruhenden Militärorganifationen, die fi mehr 
oder weniger der prengifchen annähern und gemeinfame friegeriihe Operationen 
jevenfalls erleihtern. Das Großherzogthum Heffen dagegen ſchloß am 7. April 
1867 eine Milttärkonvention mit Preußen ab, durch welde die Organifation des 
beifiihen Militärweſens verjenigen Preußens und des norbveutfhen Bundes völlig 
gleiägeftellt und die heffiiche Divifion geradezu zu einem Theil des norddeutſchen 
Bunbesheeres wurde. Ein weiterer Schritt ber Annäherung erfolgte im Juni 
1867 durch Abſchluß eines Präliminarvertrages über die definitive Wieberher- 
fillung des Zollvereins, (vgl. diefen Artikel), dem am 8. Juli 1867 vie 
Unterzeichnung ber neuen Zollverträge felbft folgte. Auf das Anbringen Preußens 
wurde das bisherige Veto der einzelnen Zollvereinsregierungen endlich fallen ge- 
lofien und vie Geſetzgebung des Zollvereins von übereinflimmenden Beſchlüſſen 
der Regierungen und der Bevdlkerungen der Zollvereinsftaaten abhängig gemacht 
und zwar in einem gewiffen Anſchluß an ven norddeutſchen Bund, indem bie Ver⸗ 
treter der ſüddeutſchen Regierungen fi mit denjenigen ber norbbeutfchen Bundes- 
vegierumgen zu einem erweiterten Bunbesrath, die Bertreter der ſüddeutſchen Be⸗ 
völferungen mit den Mitgliedern des Reichstags zu einem Zollparlament vereini- 
en und bie legteren überbieß ans allgemeinen und birelten Wahlen mit geheimer 
bſtimmung ganz wie die Abgeorpneten zum norbbeutfchen Reichstag hervorgehen. 
Am 27. April 1868 wurde bereits das erfte Zollparlament vom König von 
Preußen eröffnet. Seine Kompetenz ift allerdings vorerft vertragsmäßtg eine 
ziemlich befchräufte und eine Ausdehnnng diefer Kompetenz wird in Süpdentichland 
felbft don einer fehr zahlreichen Partei mit Cifer befämpft. Vielleicht daß das 
wachſende Bedürfniß fie trotzdem ſchneller als zur Zeit wahrſcheinlich ermöglicht. 





%) Dot. die flatiftiichen Notizen in dem Artifel „Norddeutſcher Bund“, 
927 


500 | Nachtrag. 


Soviel ift jedenfalls außer Zweifel, daß eine weitere Annäherung zwifchen Nord⸗ und 
Sulddeutſchland auf feinem Wege leichter und zugleich ficherer erzielt werben fännte. 

Schluß. Faſſen wir zum Schluß die Lage der Dinge von dem einge 
nommenen Standpunkte zufammen, fo dürfte ſich in Kürze etwa folgendes ergeben: 

1. Ohne fih IUufionen binzugeben, die genügender Anhaltspunkte durchaus 
entbehren, fann man unmöglich verlennen, daß die Ereignijle des I. 1866 für 
Deutſchland eine Lage gefchaffen haben, die als ver Ausgangspunkt feiner weiteren 
Entwidlung anerfannt werben muß. 

2. Wie forgfältig man aud die Elemente abwägen mag, die innerhalb Preu- 
Bens und des norddeutſchen Bundes geneigt fein fönnten, die neue Orbnung ber 
Dinge wieber in Frage zu ftellen, fo wird man zu bem Ergebniß kommen, daß 
diefelben zu ſchwach und zwar viel zu ſchwach find, um fie aus eigener Kraft 
irgendwie ernſtlich zu gefährben. , 

3. Ernftlih in Frage geftellt könnte vie Eriftenz des vergrößerten Preußens 
fammt dem norbveutfhen Bunde, wie die Dinge bereits liegen, nur von außen 
werden und zwar zunächft nur durch eine Koalition zwifchen Frankreich, Defterreich 
und den ſüddeutſchen Staaten. Eine folhe Koalition ift aber vorerft keineswegs 
wahrſcheinlich. 

4. Durch den gänzlihen Verluſt feiner italieniſchen Beſitzungen und feiner 
bisherigen großen Stellung in Deutſchland auf ſich ſelbſt zurückgeworfen und zum 
Ausgleich mit Ungarn nach deſſen eigenen Forderungen gezwungen, hat Oeſter⸗ 
reich ſein Gleichgewicht auf der Grundlage des Dualismus, einer durchaus libe⸗ 
ralen Geſtaltung ſeiner inneren politiſchen Verhaältnifſe und der endlichen Selb⸗ 
ſtaͤndigkeit des Staats gegenüber den nur allzu lange eitragenen und im Intereſſe 
des Abſolutismus benützten Anſprüchen der Kirche noch keineswegs gefunden. Wie 
es ſelbſt vollkommen einſieht und offen geſteht, bedarf es noch auf Jahre hinaus 
des Friedens und der ruhigen Sammlung ſeiner Kräfte, um jenes Gleichgewicht 
zu erringen. Oeſterreich ſcheint ferner, wenn es auch ſeine Niederlage ſchwer em⸗ 
pfand und noch ſchwerer verwindet, doch im Weſentlichen wirklich und aufrichtig 
auf ſeine frühere Stellung in Deutſchland verzichtet zu haben. Es könnte nur mit 
dem Schwerte in der Hand feine frühere Stellung wieder in Anſpruch nehmen 
und Defterreih täufcht fih darüber nicht, daß fein Einſatz dabei umenblich viel 
größer wäre, als der möglihe Gewinn. Defterreih kann im Hinblid auf feine 
nad allen Seiten no unfertigen Zuſtände, auf feine zerrätteten Staatsfinangen, 
auf die biesfeits wie jenfeits ver Leitha noch ungelöste Frage des gegenfeitigen 
Berhältniffes feiner mannigfaltigen Nationalitäten gar nicht daran denken, zum 
Schwerte zu greifen, e8 wäre denn, daß es direkt angegriffen oder in einer feiner 
Lebensbebingungen bebroht wird. Bon Seite Preußens wärbe eine derartige Ge⸗ 
fahr Defterreih aber nur drohen, wenn jenes, geftätt auf das Nationalitätsprincip, 
geradezu darauf ausginge, mit Befeitigung aller deutſcher Yürften fänmtliche 
deutſche Stämme in einem großen Einheitsftaate unter feinem Scepter zu vereini- 
gengoder wenn bie jegt nnternommene Neugeftaltung Oeſterreichs feheitern und das 
Neid einer gänzlihen Zerrüttung anheim fallen würde, fo daß bie deutſchen Theile 
feiner Bevölkerung fih geradezu gezwungen fähen, für alle ihre Kulturintereffen 
Rettung und Schuß felbft unter dem preußifhen Adler zu ſuchen. Das eine 
wie das andere iſt doch im alleräußerften Grade unwahrſcheinlich. Hat aber 
Defterreih von Preußen direkt zunähft durchaus nichts zu befürchten, fo iſt es 
nicht in ter Lage, dieſes feinerfeits aus freien Stüden zu bedrohen und hat barum 
auch die Schug= und ZTrugbündniffe mit den ſüddeutſchen Staaten und die neue 


Deutfchland. 501 


Berfaffung bes deutſchen Zollvereins ohne formellen Widerſpruch geſchehen laſſen, 
obgleich es allerdings, wenn aud vielleicht irrthümlich, in der durch den Prager 
Frieden garantirten internationalen Selbftändigkeit ver ſüddeutſchen Staaten eine 
Art Bollwerk gegen möglihe Einheitsbeftrebungen Preußens zu erbliden ſcheint. 

5. Die Seele einer europälfchen Koalition gegen Preußen und ven nord⸗ 
deutfchen Bund könnte nur Frankreich fein. Als der Krieg von 1866 ſich vorbe- 
reitete, ließ Frankreich dieß geichehen, weil e8 mit Zuverfiht darauf rechnete, daß 
derſelbe feiner militärifhen und politiiden Suprematie auf dem Kontinente nicht 
gefährlich werden, im Gegentheile nur zu ihrer Befeftigung beitragen würde, und 
ald die Schlaht von Sadowa biefe Berehnung mit einem Schlage zu nichte ge- 
macht hatte, war Frankreich in feiner Weiſe gerüftet, um fofort in Aktion zu 
treten und alsbald den Berfuh zu machen, Preußen wieder nieberzuwerfen. Es 
mußte fih damit begnügen, vermittelnd wenigftens eine direkle Schwädhung Oeſter⸗ 
reichs zu verhindern, den ſüddeutſchen Staaten wenigftens die äußere Gelbftändig- 
keit zu erhalten und Dänemark durch die Ausfiht auf Nordſchleswig neuerdings 
an fi zu ketten. Die Vergrößerung Preußens und die Konftituirung des nord⸗ 
deutſchen Bundes vermochte es nicht mehr zu hindern. An Volkszahl fleht der⸗ 
ſelbe Frankreich allerdings und zwar nicht unbebeutend nad. Allein feine mili- 
tärifche Organifation ift eine fo fefte und einheitliche und feine militärtfchen Kräfte 
wurden, ohne Zweifel nicht zum minbeften eben mit Rüdfiht auf Franfreih und 
die Gefahr, die ihm von biefem drohen könnte, von Anfang an fo fehr auf's 
Aeußerſte angefpannt, daß er nicht ohne Grund hoffen darf, einem Angriffe Frant- 
reichs gewachſen zu fein, obgleidy Frankreich fich feither gleichfalls eine neue Militär- 
organifation gegeben hat, die feine Streitlräfte geradezu verboppelt und zugleich 
durch Einführung ver neuen Bewaffnungsart, Inftanpftellung der Feſtungen und 
Aufhäufung eines gewaltigen Kriegemateriald die ungeheuerften Anftrengungen 
macht, um jeden Augenblid in Aktion treten zu können. 

6. Jedenfalls wäre die von Frankreich feit zwei Jahrhunderten jeverzeit in 
Anfprud genommene und unter Napoleon II. feit dem Krimmkriege neuerbings 
errungene militärifche Suprematie auf dem Kontinente Europa’8 gebroden, wenn 
biefelbe fefte, ſtramme, einheitlihe Organifation nicht bloß Preußen und ben 
norddeutſchen Bund bi8 zum Main, fondern auch die fühbeutfhen Staaten, d. h. 
mit Ausnahme ver deutſchen Theile Defterreichs, ganz Deutſchland umfafien würde, 
Nur weil das trog der Schug- und Trutzbündniſſe und ber neuen fi der preußifchen 
annähernden Dilitärorganifationen der ſüddeutſchen Staaten nody nicht der Fall iſt, 
kann die Frage noch als eine unentfchiedene betrachtet werden und wirb von Frank⸗ 
reich noch als eine ſolche betrachtet. Es ift daher begreiflih, wenn Frankreich 
zunächft und thatfächlih das Ueberfchreiten der Mainlinie von Seite Preußens 
feinerjeits als Kriegsfall betrachtet. *) 

- 7. Breußen ſucht den Krieg mit Frankreich nicht und hat darum in der 
Luremburgerfrage im Mai 1867 lieber theilweife nachgegeben, als daß es zum 
Schwert gegriffen hätte; auch wird es fi wohl hüten, durch irgend eine gewalt- 
fame Ueberfhreitung des Mains Frankreich den Borwand zum Kriege in die Hand 
zu geben. Die Schu» und Trutzbündniſſe und die Zollvereinsverfafiung fcheinen 
ihm überdieß hinreichend, um eine Anlehnung ber ſüddeutſchen Staaten nad 


*) Anm. d. Ned. Wenn das auch politifch begreiflich tft, fo fann doch ein Recht Frank» 
reich8 zu einer Intervention gegen die deutiche Cinigung in keiner Weiſe zugeflanden werden. 
Das wird gegenwärtig auch von den neutralen Staaten anerkannt. 


502 Nachtrag. 


anderer Seite hin unmöglich zu machen und die ſpätere Einigung mit denſelben 
genügend vorbereitet zu haben. In dieſer Berechnung durfte es ſich auch nicht 
täufchen. Wenn ein neuer Krieg in Mitteleuropa auébrechen ſollte, jo würde eine 
felbftändige und neutrale Haltung der ſüddeutſchen Staaten kaum möglich fein, 
felbft wenn fie fih inzwiſchen zu einem fündeutfchen Wunde vereinigen würden. 
Die Bildung eines ſolchen Bundes hat jedoch vorerft Feinerlei Ausfiht. Bis jet 
ift diefelbe von keiner Seite aud nur ernfihaft in Anregung gebracht worben. 
Mit Lebhaftigfeit wird er im Grunde allein von ter demofratifhen Partei im 
Württemberg angeftvebt, der fi faum nennenswerthe Fraktionen in Bayern und 
Baden anfhließen mögen. Bon Seite ver demofratifchen Partei iſt das Beſtreben 
allerdings ein natürliches. Käme der Bund zu Stande, fo würbe er feinen Zwed 
nur erreihen und fein alsbaldiges Wieberauseinanderfallen nur verhindert werben 
innen, wenn er auf entſchieden demokratifcher Baſis ruhte und feinem Parlament, 
oder wie man es nennen will, ein entſchiedenes Uebergewicht, zwingend und zu⸗ 
fammenhaltenn,, über die Regierungen der den Bund bildenden Staaten einge- 
räumt werben würde. Selbftverflänpli werben dieſe fih dazu niemals verftchen, 
nicht einmal die württembergifche, geſchweige denn die bayerlfche Regierung, oder 
Baden, das den Eintritt in den norbventihen Bund offen als fein Ziel profla- 
mirt. Ohne die Bildung eines fürmlichen Bundesflaats mit einer Art gemeinfamer 
Regierung, gemeinfamem Parlament und gemeinfamen Inftitutionen, namentlich 
Militäreinrihtungen, wird aber für die ſüddeutſchen Staaten eine Anlehnung an 
ein größeres Ganzes im nächften mitteleuropäifhen Kriege noch weniger zu ver- 
meiden fein. Und iſt es nicht Preußen und der norbdeutfche Bunt, fo Könnten fie 
ih nur entweder an Oeſterreich oder an Frankreich anlehnen. An eine Anlehnung 
an Defterreih nun ift in Süpbeutfchland bis jegt von irgend einer Seite faum 
auch nur gedacht worden und eine foldhe wäre auch ſchon darum kanm ausführ- 
bar, weil Defterreih felber unzweifelhaft fo lange als nur irgend möglid eine 
zuwartende und darum mehr oder weniger unentſchiedene Haltung zu beobachten 
beftrebt fein würde und daher eine fihere Stütze nicht zu bieten vermödte. Eine 
Anlehnung an Frankreich aber iſt für die ſüddeutſchen Staaten von vorneherein 
geradezu unmdglih, unmöglich Thon aus dem einfachen Grunde, weil es felbft 
dem Blindeften Mar fein mäßte, daß Frankreich, was immer es and zum Bor- 
wanbe des Krieges mahen und ald Zwed vesfelben binftellen möchte, in Wahr- 
beit als Tegtes 30 nichts anderes im Auge haben kann, als in und mit Preußen 
oder dem norddeutſchen Bunde Deutſchland ſelbſt herabzudrücken und Deutſchland 
eine Verfaſſung zu geben, nicht wie fie dieſem, ſondern wie fie Frankreich und 
feinen Anfprühen auf das Supremat in Europa konvenirt. Im Gegentheil ift es 
wahrfcheinlih, daß ein Angriff Fraukreichs auf Preußen und den norddeutſchen 
Bund die ſüddeutſchen Staaten dem letzteren fofort und trog alles Widerftrebens 
ultramontaner und demokratiſcher Elemente fo zn fagen gewaltfam in die Arme 
treiben würde, Es iſt anzunehmen, daß Frankreich jelbft darüber außer Zweifel 
fei. Seit 1866 hat Frankreich die Allianz Oeſterreichs und zwar wieberholt ge- 
ſucht; allein es iſt Thatfache, daß Defterreich feinerfeits eine folde gegen Preußen 
abgelehnt hat, und es bleibt wenigſtens vorerft unwahrſcheinlich, daß eine Aende⸗ 
rung in den Dispofitionen Defterreihs Platz greifen‘ werte. Ohne Alltanz aber 
wird Frankreich kaum, das iſt die allgemeine Anficht, einen Krieg mit Preußen 
unternehmen. Jedenfalls müßte der Kalfer dabei feine Dynaftie als Einfag wagen. 
Gerade dazu wirb er fih aber nimmermehr entſchließen, wenn ihn nicht die innere 
Lage Frankreichs dazu zwingt, die allervings unberehenbar iſt. 


Deutfchland, 508 


8. Sieht man von einem Kriege ab, fo ift die weitere Annäherung zwifchen 
Nord» und Süddeutſchland bis zu ihrer ſchließlichen Bereinigung und der Bildung 
eines ganz Deutſchland umfaflenden Bundes nur noch eine Frage der Zeit. Die 
Abmahungen von Nidolsburg und Prag werben dieß eben fo wenig und noch 
weniger zu verhindern im Stande fein, als die ähnlihen Abmachungen von Bille- 
franca und Züri die Vildung des Königreichs Italien zu verhindern vermodt 
haben. Die Art und Weife, wie es gefchehen, vie Zeit, die dazu erforbert wird, 
mag zweifelhaft fein, das Mefultat felber ift es kaum. Jenes aber bärfte nicht 
fowohl von der Entwidelung der Verhältniffe in den ſüddeutſchen Staaten, als 
von dem weiteren Gang ver Dinge in Preußen und dem norbbeutfchen Bunde 
abhängen. 

9. Der große Kampf zwiſchen der Krone und ber Bollövertretung in Preußen 
ift durch die Schladht von Sadowa zum Nachtheil der letzteren entſchieden worden. 
Allen die Krone wird fih den Bedingungen ihres Sieges fo wenig entziehen 
können, als vie Bollsvertretung die Konſequenzen ihrer Nieverlage zurückweiſen 
fonnte. Dem modernen Staate entipricht auch die moderne Monarchie. Preußen, 
ſchon feinem Urfprunge, feiner Anlage, feiner ganzen bisherigen Entwidelung nad 
ein moderner Staat, iſt durch die Ereigniffe des Jahres 1866 noch viel mehr, 
als es ſchon bisher ver Fall war, in die Bahn des modernen Staates hinein⸗ 
geriffen worden. Gegenüber den Annerionen jenes Jahres ift die alte Legitimitäts- 
theorie in Preußen innerlih unmöglich geworben. Die vom Leiter der preußifchen 
Regierung felber auf jene Annexionen angewenbete Theorie einer Art „Erpro- 
priation” hilft über die Schwierigkeit nicht hinweg und der Zufag „Im Intereffe 
ber Nation” war nur geeignet, fle zu verboppeln. Der Krieg von 1866 war feiner 
eigenften Natur nad doch ein ganz anterer als irgend einer der Eroberungsfriege 
früherer Jahrhunderte. Ohne bie Abſicht, den begründeten Forderungen ver Nation 
entgegen zu fommen und ein Genüge zu thun, konnte er unmöglich weder begonnen 
noch durchgeführt werben. Die Früchte des Kriegs kann fi Preußen nur dadurch 
fihern, daß es denfelben Forderungen, fo weit fie beredhtigt find und fo weit es 
fie als folge anertennen muß, Schritt für Schritt ein Genüge thut. Präg- 
nanter trat die Rückwirkung ver Ereigniffe und der burchgreifenden Umwandlung 
ber Lage auf die Volksvertretung hervor. Man bat ven politifchen Beftrebungen 
und den politiihen Kämpfen Deutſchlands außerhalb desſelben vielfach eine ent- 
fhieden doktrinäre Richtung vorgeworfen und barin bie Urſache ihrer geringen 
praktiſchen Erfolge zu erkennen geglaubt. Der Vorwurf iſt fein ungegrändeter, 
wenn auch die Urſache jener Mißerfolge keineswegs darin allein zu fuchen war. So 
weit er aber gegründet war, traf er wenn irgendwo in Preußen zu: beide fi 
Jahre lang In erbittertem Kampfe gegenüber ftehenden Parteien waren in ber 
That glei doltrinär, die Regierungspartei vielleihtanoh mehr als die Oppofition, 
Nun war der Boden felber, auf dem bisher beide ſtanden, plöglic ein ganz 
anderer geworben und es zeigte ſich alsbald, daß die Aufrechthaltung des bis⸗ 
berigen Standpunftes, der bisherigen Doltrin gegenüber den vielen Anforderungen 
einer ganz neuen Rage hüben und vrüben geradezu unmöglich geworben fei. In beiden 
Borteien machte fih ein innerer Auflöfungsprozeß geltend: von ber früheren Fort⸗ 
jhrittöpartei löste fi die fog. nmationalliberale, von der früheren feubalen bie 
jog. freilonfervative Partei ab. Aber noch iſt der Proceß nit zum Schluffe ge 
fommen, weder bie eine noch die andere Partei bat bis jet eine binreichenn fefte 
Stellung zu erringen vermodt und neben ihnen laufen zahlreiche Fraktionen her, 
beren Wurzeln in der Vergangenheit zu fuchen find. Erſt wenn dieſe völlig über- 


504 | Nachtrag, 


wunben fein wird, iſt der Boden frei, auf dem ſich ein gefunbes, großes Partei- 
leben geftalten und entwideln Tann. Immerhin tft wenigſtens die Ausfiht auf die 
Bildung einer binreihend ſtarken Mittelpartei gewonnen, in ber bie Regierung 
nad außen wie nach Innen eine ſtarke Stütze, aber auch eine entſchiedene Schranke 
finden wird. Der Mangel einer folhen Partei, einer im Wefentlihen konſtanten 
Majorität, auf die fi die Regierung fügen könnte, aber auch fügen müßte, 
hat ihr bis jeßt in einem Grade freie Hand gewährt, wie e8 einer durchgreifenden 
Orbnung der neuen Berhältniffe keineswegs förderlih war und für die Zukunft 
noch weniger förderlich fein kann. Ein vergleichender Blid auf die alte Entwidelung 
Englands wie auf die junge des Königreich® Italien feit 1861 follte hinreichend 
fein, um uns zu belehren, wie wänfdber, wie nothwenbig eine ſtarke Regierung 
it, wenn fi ihr gegenüber ein ftarfes Parlament entwideln und feflfegen ſoll, 
und wie bie Schwäche ver einen faft unausweichlich aud die Schwäche des anderen 
nah fi zieht. Nicht das alfo dürfte zu bebauern fein, daß vie preußiſche Re= 
sierung eine ſtarke fein und bleiben, daß fie die Initiative nit aus ihrer Hand 
geben will und in ihren Konceffionen an den Einfluß der Volksvertretung zurüd- 
baltend und zäh if. Denn auch für fie ift do der Boden, auf dem fie ftebt, 
ein ganz anderer geworben, auch fie wird ſich ber Nothwendigkeit nicht entziehen 
fönnen, mit einer überwundenen Vergangenheit zu breden ober, wenn man lieber 
will, fih von ihr Loszuldfen. Es mag für fie unerläßlich geweien fein, fich im 
Konflilte auf die feudale Partei zu lügen, dee Umfhwung ber Dinge iſt darum 
doch durchaus nit, aud nicht vorzugsweife das Werk ver feubalen Partei, im 
Gegentheil Tief er in feinem innerften Weſen allen ihren eigenften Anſchauungen, 
Wünfden und Veftrebungen entgegen und entſprach benfelben nur in feiner nega= 
tiven Richtung. Die preußiſchen Zuftände bebärfen nicht minder dringend, ale es 
bezüglich irgend eines anderen dentſchen Staates der Fall war, eingreifender Re» 
formen und diefe Reformen wären das Wert nicht bloß eines wirklichen Liberalis- 
mus, fondern auch eines wohlverftandenen Konfervatismus. Dorthin gehört vor 
Allem eine größere Achtung vor der Selbſtändigkeit der Gemeinden, dieſer Grund⸗ 
pfeiler jedes Staates, denen während der Konflittzeit in kaum zu verantwortender 
Weiſe zu nahe getreten wurde, wie bie bereits wenigftens im Allgemeinen ver- 
fprodene (natürlid Bloß adminiftrative, nicht auch politifche) Decentralifation, 
woran fih eine Reform der Provinzialftände, vie in Wahrheit doch nur wie 
Ruinen in nnfere modernen Zuftände bineinragen, anſchließen müßte, ferner eine 
gründliche Umgeftaltung bes SHerrenhaufes, in dem ber fog. alte und gefeftigte 
Grunpbefig Alles überwuchert und der Inftitution den Stempel einer Kleinlichkeit, 
Engherzigkeit und Selbftfuht aufdrüdt, wie er auf die Dauer wahrlich weder ver 
Würde noch den Interefien eines großen Staates entfpredhen Tann. Eine ganze 
Reihe großer und unläugbarsr Mißgriffe, welche feit dem Frühjahr 1867 unter 
bem Schilde der vamaligen Königlichen Diktatur gegenüber den fog. neu erworbenen 
Landestheilen begangen worden find und bie Verſchmelzung berfelben mit ben 
alten Provinzen jedenfalld nur zu verzögern geeignet waren, fallen zum Theil 
bureaukratiſcher Angewöhnung, zum Theil verjelben Partei zur Laſt, auf die fid 
bie preußiſche Regierung während der Konflittszeit, wie gefagt, vielleicht fügen 
mußte, auf die fie fih aber unmöglich länger ftägen faun, wenn fie das Ge— 
wonnene ſich fihern und weiter ausbilden will. 

10. Die Entwidelung der inneren Zuftände Preußens bedingt ganz weſentlich 
diejenige bes norddeutſchen Bundes und der dentſchen Dinge überhaupt. Das erfte 
Augenmert Preußens nad den Ereigniffen von 1865 mußte naturgemäß bahin 




















Deutſchland. 505 


geriätet fein, fi feine neue Stellung fowohl im norbbeutfhen Bunde als gegen- 
über dem Auslande zu fihern. Beides wurbe zugleich durch bie neue Militär 
organifation Norbdentfchlands erreicht, die ein großes einheitliches Heer in ber 
Hand bes Königs von Preußen ſchuf. Wie feine andere Inftitntion bat gerade 
diefe, und fehr begreifliher Weiſe, die meifte Anfechtung von ven verfchiebenften 
Seiten her erfahren. Auf die Dauer ift fie allerdings unmöglich aufrecht zu erhalten, 
als Uebergangsſtadium war fie, wenn man unbefangen fein will, vielleicht nothwenbig. 
Die abfolut unerläßlihe Unterorbnung der verſchiedenen Kieinfürften des Bundes 
unter die Krone Preußens war durch die vollftändige Einheit des Heeres am 
entfchiedenften und doch vielleicht noch in der ſchonendſten Weiſe zu erreichen, 
während zugleih alle militäriihen Kräfte des Bundes auf’8 Aeußerſte angeipannt 
werben mußten, um möglicher Weiſe auch allein, ohne Süddeutſchland und ohne 
Defterreih, einem allfälligen Angriffe Frankreichs gewachſen zu fein. Es läßt fid 
das, trotz ter faft erbrüdenden Laſt, rechtfertigen, fo lange nicht das Gleichgewicht 
mit Frankreich fei es duch Krieg ſei es durch freie Berftänvigung hergeftellt fein 
wird. Sobald aber das .erft erreicht ift, fällt die Zwangslage weg und wird weder 
eine fo große Friedensſtärke der Heeres noch die mit fo großer Zähigkeit feftge- 
haltene dreijährige Präfenzzeit aufrecht gehalten werden können. Eine weitere Folge 
der durch die Berfaffung des Bundes auf feine Glieder gewälzte Militärlaft war 
die finanzielle Bedrängniß, in welche fie faft ſämmtliche Kleinftaaten des Bundes 
feither gebradt und die den Fürſten von Walde bereits veranlaßt bat, fein 
Ländchen thatſächlich an Preußen abzutreten. Es läßt fi fragen, ob Preußen 
biefe Folgen geradezu gefucht habe oder nicht; Manches deutet in ver That bar- 
auf hin, als ob darin ein Syſtem läge. Die Abfindungen der depoſſedirten Fürſten 
von Hannover und Naffau, vie fie ökonomiſch beſſer ftellten als früher, va fie 
noch fonveräne Fürften gewefen waren, und ber fog. Ucceffionsvertrag mit Walded, 
der dem Fürften die fämmtlichen Domänen als Privateigentyum überließ, legen 
die Bermuthung nahe, Preußen wäre nicht ungeneigt, fi) auf verfelben Srund- 
lage allenfalls au noch mit anderen Fürſten zu verftändigen, welchen vielleicht 
das Negieren als angeblich ſouveräne Fürften unter den neuen Berhältniffen ent- 
leidet wäre. Es iſt begreiflidh, wenn in Preußen folde Gedanken auftauchen, aber 
viele Gründe vereinigen fih, diefen Weg als einen Abweg zu bezeichnen, obgleid 
bebeutfame, wenn aud bis jet vereinzelte Stimmen fidh allerdings bereits für 
die Idee ausgefprochen haben, Deutihland als volllommenen Einheitsftant zu 
Fonftituiren, Bezüglich einer ganzen Reihe von Kleinftaaten wäre das auf bem 
betretenen Wege allerdings ohne zu große Schwierigkeiten und binnen einer nicht 
allzu langen Friſt zu erreichen, bezüglich der größeren aber jedenfalls und zwar 
noch auf lange hinaus nicht ohne Gewalt, die Deutſchland nimmermehr zur Ruhe 
fommen ließe. In gewiffen Sinne ift es eine ganz müffige Brage, ob Prenßen 
in Deutfhland, oder Deutſchland in Preußen aufgeben werde, in biefem Sinne 
ift fie es nicht. Wenn die deutſchen Mittel- und SKleinfürften auf ven heillofen 
„Souveränetätsfchwindel", wie e8 Graf Bismard genannt hat, in dem fie fi 
bisher gefallen haben, und zwar die Heinften verhältnigmäßig gerade am meilten, 
befinitiv verzichten und fi) beſcheiden, nicht mehr zu fcheinen als fie in Wahrheit 
find, wenn fie alle und jede diplomatiſche Vertretung, tie feibft bezüglich des 
größten unter ihnen, Bayerns, in der Wirklichkeit doch nichts bedeutet, aufgeben, 
wenn fie ferner das Milttärwefen vollftändig an ven Bund abtreten und dem⸗ 
felben endlih auch eine Reihe von öffentlichen Angelegenheiten, die im Interefle 
Aller nur gemeinfam georbnet werben können, unterorbnen müffen, fo bleibt ihnen 


506 Nachtrag. 


inmerhin noch eine nicht bloß würdige, ſondern and eine überaus einflußreiche 
Stellung übrig: die Leitung der inneren Verwaltung, der geſammten Rechtspflege, 
der Pflege ſo vieler materieller Intereſſen, namentlich aber des geſammten Unter⸗ 
richtsweſens, wäre geeignet, ihnen eine wirkliche Befriedigung zu gewähren, frei⸗ 
lich nur, wenn fie darin aufridhtig Hand in Hand gingen mit ber öffentlichen 
Meinung, flatt berfelben wie bisher fo vielfach hemmend entgegen zu treten. Und 
das fände feine Anwendung nicht bloß auf die größeren, fondern felbft auf bie 
Heinften unter den Heinen. Ob fie fi dazu entfchließen können, wird fchon eine 
nicht fehr ferne Zulmft an den Tag legen. Die norddeutſche Bunbesverfaflung 
bezeichnet in mehr als einer Beziehung lediglich ein Uebergangsflavium, Es wird 
von den Einzelſtaaten nnd ihren Fürſten großentheils felber abhängen, wie fi 
biefelbe ausbaut. Bis auf einen gewiffen Punkt ift alles Widerftreben unnüß 
und ber Zug der Zeit viel zu ſtark, um nicht für gewiſſe, übrigens ſtreng um- 
grenzte Gebiete die abfolute Unterordnung des Theils unter das Ganze ſei es in 
Büte fei e8 mit Gewalt zu erzwingen; darüber hinaus find die Hände noch frei, 
vorausgefegt, daß nit vom Bunde aus durch eine unerträglide Militärlaft den 
Einzelftanten die materiellen Bedingungen ihrer Eriftenz geradezu abgeſchnitten 
werben. Jedes Wipderftreben aber gegen die Einheit auf den bezeichneten Gebieten 
dürfte nur geeignet fein, im ihr gerades Gegentheil umzufchlagen und ben abfo- 
Inten Einheitötendenzen, vie man vermeiden will, in bie Hände zu arbeiten. *) 
, 11. Die fchliegliche Wieververeinigung von Nord- und Süddeutſchland hängt 
jedenfalls wefentlich davon ab, wie ſich diefe Berhältniffe in der nädften Zukunft 
geftalten werben, aber allervings auch und vielleicht noch mehr vou ben aus- 
wärtigen Beziehungen, die zugleich das Berhältniß zu Oeſterreich bebingen. 


/ 


*) Anm. d. Red. Es mag fein, daß die Entwidelung, deren Ausgangspunft das Jahr 
1866 ift, in ihrem weiteren Verlaufe zuletzt auf den Einheitsflaat hinführt, obwohl noch 
auf lange bin die Form des Bundesftaates nicht zu entbehren fein und auch in Zukunft 
der Einheitsftaat nur in Berbindung mit großer Gelbftändigfeit der einzelnen Länder in Ber: 
waltung, Kultur und Wirihſchaft, nicht aber in der centraliftiichen Weile Frankreichs die deutſche 
Ration befriedigen wird. Jedenfalls aber wird die im Text aufgeftellte Anficht richtig fein, daß 
das Einheitsbedürfnig der Nation, wenn man ihm die bundesftaatliche Korm verfagt, um fo 

cherer zur einheitsſtaatlichen überfpringt, Daß es daher eine verkehrte Politik ift, fi aus Furcht 
vor der leßteren gegen die erftere gu fträuben. 

Bas die Beziehungen zu Defterteid beteifft, fo Läßt fich nicht verfennen, daß von einer 
volftändigen Löfung der deutfchen Frage erft geiprochen wer en kann, wenn Deutſch Oeſterreich 
um übrigen Deutfchland in ein Berhältniß getreten iſt, das der nationalen Zufammengehörigkeit 
er Dölfer entipricht. Berfchiedene Formen diefes Verhältniſſes find denkbar, nur nicht die 
trügerifche und verderbliche, die durch den Krieg vom 1866 glücklich befeitigt wurde. Es kann 
eine Form annehmen, die fi) mit dem jepigen Beflunde des öfterreichifchen Staatöwefens nicht 
verträgt, fondern die fundamentale limgeftaltung desielben vorausfeßt, wenn audy vielleicht in einer 
durd die Annahme des dualiftifchen Syftems ſchon angebabnten Richtung, Defterreihifhe Staates 
männer werden darin von Ihrem Standpunft aus eine Gefahr erbfiden müflen, die ſich fteigert, 
wenn das gefammte übrige Deutichland, politiſch geeinigt, feine volle Anziehungskraft auezuiiben 
vermag. Es ift daher begreiflid. dag man in Defterreich viele Einigung, d. h. die Ausdehnung 
des Bundes auf die ſüdweſtdeutſchen Staaten, als ein Uebel betrachtet und fi mit dem Gedanken 
beſchäftigt. ihr nöthigenfalld den äußerften Widerftand entgegen zu ftellen. Demungeachtet bleibt 
es fehr zweifelhaft. ob der Kinfaß einer ſolchen Politik nicht ein höherer wäre als der mögliche 
Gewinn. Denn die Abfonderung der füdweftdeutfchen Staaten iſt ein widerfinniger Zuftand, die 
Natur der Dinge fordert ihre Verbindung nit dem Norden, und wer gegen die Ratur der 
ankämpft, muß darauf gefaßt fein, ſchließlich zu unterliegen. Indeß gehört die Entſcheidung diefer 
Frage kaum zu den Aufgaben der nächften Zukunft; fie wird vielleicht unter Verhältnifien ein: 
Heben. die von den jetzt beftehenden fehr verfchieden find und ſich jeder Vorausberechnung ent» 








Europa. 607 


Wenn andy zwiſchen Defterceih und Frankreich keinerlei wirkliche Allianz beſteht, 
fo glauben doch beide die Bereinigung der fündentfhen Staaten mit dem nord- 
deutſchen Bunde verhindern zu follen. Es ift jedoch fehr die Frage, ob Oeſterreich 
damit feinem wahren Interefje dient. So lange Norddeutſchland gegenüber Franl- 
reih auf feine eigenen Kräfte angewiefen iſt und auf Süddeutſchland durchaus 
nicht unbebingt zählen kann, iſt e8 gewiflermaßen gezwungen, eine Anlehnung an 
Rußland zu ſuchen, was hinwieder jede Verſtändigung mit Oeſterreich auf Grund⸗ 
lage ber neuen Ordnung ber Dinge in Deutfhland geradezu unmöglich madt. 
Erft von dem Momente an, wo Nord» und Süppentfchland wieder feft vereinigt 
fein werben, ift Deutſchland wirklich unabhängig, ohne feine Kräfte auf's Aeußerſte 
anfpannen und fogar überfpannen und ohne einen Stützpunkt außer fich fuchen 
zu mäflen. Dann erft ift die Bahn frei zu einer Verſtändigung zwifchen Preußen 
und Deflerreih und zwar im gleichwiegenden Interefie beider. Preußen bebarf 
Oeſterreichs gegen Welten, Defterreich Preußens gegen Dften. Oefterreich hat feine 
Aufgabe mehr weder im Süden noch im Weiten, wenigftend treten viefe feine 
Aufgaben, fo weit fie noch beftchen, durchaus zuräd gegen feine Aufgabe im 
Dften, defien Bevölkerung vielfah und auf vie gefährlichſte Weife mit feinen 
eigenen Beodlferungen verfchlungen iſt, und wenn auch ziemlich fpät, jo ſcheint 
dieß in Oeſterreich doch endlich fowohl die Regierung als die öffentliche Meinung 
vollfommen einzujehen. Eine wirkliche und nachhaltige Stütze aber kann Oeſter⸗ 
reich zu Wfung dieſer Aufgabe nicht Frankreich, ſondern nur Dentfchland ges 
währen, ober allerdings vollfländiger noch und in wohlverftandenem Interefie 
beider, Deutſchland und Frankreich, wenn fie ſich darüber verfländigten, was unter 
Umfländen ganz und gar nicht unmöglid wäre. Daß die Spige einer ſolchen Ver⸗ 
ſtaͤndigung fi gegen Rußland kehren mäßte, liegt auf ver Hand. Jede Berflän- 
digung zwifchen Preußen und Defterreih ift, wie bie Dinge im Orient bereits 
liegen, gleichbedeutend mit einem Bruche zwiſchen Rußland und Preußen, ganz 
wie umgelehrt das jegige Einverftänpniß zwifchen den beiden legteren einer inneren 
Annäherung Preußens und Defterreihs unbedingt im Wege flieht. Das ift der 
Punkt, wo fib die mitteleuropäifche oder franzöflfchepreußifche und die orientalifche 
oder ruffijh-öfterreichifche Frage berühren. Man fieht, wie in beiden das Schwer- 
gewicht wenigftens großentbeils auf das Berhältniß zwifhen Süp- und Nord⸗ 
dentſchland fällt. 9. Saulinet. 


Europa. 
(Nachtrag zu Band Ir. S. 455 ff) 


Der frühere Artikel bedarf nur weniger Ergänzungen, va in den allgemeinen 
Berhäftniffen und Beziehungen, die der Weltſtellung Europas fo wie den bebin- 
genden Elementen zu Grunde liegen, auf denen die Entwidelung des Welttheils 
beruht, ſelbſtverſtändlich keine Aenderung eingetreten iſt, ſchon jener Artikel aber 
fh auf Andeutungen beſchränkte, deren Ausführung den ſpeciellen Arbeiten über 
die einzelnen Materien und die einzelnen Länder überlaſſen bleiben mußte. Richt 
bloß die geographifche Unterlage ift dieſelbe geblieben, fondern auch in ven Race- 
und Stammesverhältniffen fo wie in denjenigen der Kirchen ift keine für das 
Ganze wefentliche Veränderung eingetreten, während fi die Kultur flätig und 
im Großen und Ganzen doc ziemlich gleihmäßig hebt und zugleich über 
immer weitere Theile der Bevölkerung ausbehnt. Befentliche Beränderungen find 
nur bezüglich des Territorialbeſtandes und der Bevölkerungsverhältniſſe, des Han- 


Hadtrag. 


mub der Finanzen fowie der Kriegsmacht ker eure» 

a um mäflen wenigftend angedeutet werben. 
>... ,ssifger Staaten In Band III find vie größeren euro- 
.. 0 rem Benöllerung nad) dem damaligen Beſtand (Mitte ter 
2 Bir laſſen bier dieſe Zuſammenſtellung mit einigen 
reigen und fügen den jegigen ZTerriterial- und Bevälte- 


— Tie neueren Ziffern find Hüsners Ratififeher Tafel, Ausgabe 


ST a Beam’d Geogr. Jahrb. II, 1868, entnommen. Durch die voram- 
Wern ck die mach ben jetzigen Bevölferungäverhältniffen ih er⸗ 


E47" De 1 


uutenge amgebemiel. 
mai Bevöllerung in Europa. Bemerkungen. 
Srußerer Stand. Jetziger Staub. 
er 60 ‚300,000 68, 170,000 — an bie Pfrre 1856: 
ngerresi 38,088,000 35,553,000 tum 0° ber itslienifäen Provinzen 1550 
<. uber 35,782,000 38,200,000 (sum —— — 
 Nuekukammien 8. 
— 27,758,000 30,100,000 
— Aust. Hehen, 
a Buaden 16,935,000 24,019,000 —— a E 
Geit 159 ehilnet = aus dom 3 8. Sarnigien, 
tcilien 
a Nullen = 24,369,000 — Gehen Bye —— 
& Iihtei?) 15,500,000 15,725,000 
?. Spanien 14,216,000 16,308, 000 
Beide Sicilien 8,805,000 ©. Italien. 
9. Schweden u. Nor- 
wegen 4,972,000 5,859,000 
Sardinien 4,930,000 — S. Jialien. 
11. Bayern 4,559,000 4,824,000 {a0 6,» on Treupen 1M06: 
10. Belgien 4,426,000 4,984 ,000 


13. Portugal (mit den 
europ. Infeln) 3,900,000 4,350,000 
13. Riederlande 3,304,000 3,529,000 
21. Kirchenſtaat 2,894,000 692,000 ©. Italien. 
17. Dänemark (früher 
mit Schleswig- 


Holſtein n. Lauen⸗ 

burg) 2,396,000 1,684,000 S. Preußen. 
14. — 2,390,000 2,510,000 
15. Sachſen 1,988,000 2,426,000 


1) Die Bevölkerung des aflatifhen Rußland, über deſſen liche Bergrößerung flatis 

ftifche ale nody nicht vorliegen, wird auf 8,800,000 ©. angeiclagen. 

Einfluß der unter türfıfcher Sugeränität ſtehenden er: Rumänien (gegenwärtig 

3,86 4.000 ©.1, Serbien (1,078,000 88 und Montenegro (196,000 ©.). Eine office Angabe 

vom Jabr. 1867 (Behm's Jahrbuch S . 40) ſchätzt die Geſammtbevölkerung der europäiſchen 

Zürfei auf 18.487.000 S., offenbar übertrieben. Die Bevölkerung der aſiatiſchen Türkei 
"trägt circa 16,000,000 S., die der Bafallenftaaten in Afrika 10,500,000 ©. 





‚Europa. 509 
Staaten. Bevölkerung in Europa. Bemerkungen. 
Srüherer Stand. Jetziger Stan. 
Hannover 1,819,000 — S. Preußen. 
Tosfana (mit Lucca) 1,796,000 — S. Italien. 
16. Württemberg 1,733,000 1,778,000 
18. Baden 1,357,000 1,435,000 | 
19. Griechenland 996,000 1,347,000 (Sim er  Joniften Infeln 1869: 
20, Großh. Heffen 854,000 824,000 [Km aretung an Preußen 1866 
8. Heflen 755,000 — S. Preußen. 
Modena 586,000 — ©. Italien. 
22. Medienburg- Schwerin 543,000 560,000 
Parma 95,000 — ©. Italien. 
Naffau 429,000 — S. Preußen. 


Die Zahl der kleineren ſouveränen Staaten betrug zu Ende des vorigen 
Jahrzehents noch 26, darunter 23, die dem deutſchen Bund angehörten. Sie iſt 
jetzt durch das Ausſterben der regierenden Linien in Anhalt-Bernburg und Heſſen⸗ 
Homburg, die Einverleibungen in Preußen von 1866 und die Vereinigung der 
Joniſchen Inſeln mir Griechenland reduzirt. — Der Norddentſche Bund, 
welcher Preußen, K. Sachſen, die beiden Mecklenburg, Oldenburg, die heſſiſche 
Provinz Oberheſſen, die ſächſiſchen Herzogthümer, die beiden Reuß, die beiden 
Schwarzburg, Lippe, Anhalt, Schaumburg, Waldeck und die Hanſeſtädte um⸗ 
faßt, zählt auf 7542 DMeilen 29,903,000 Seelen. 

I. Handel und Berfehr. Die fhon damals riefenhafte Bewegung des 
europäifhen Handels hat in ven legten zehn Jahren nad allen Geiten jevenfalls 
noch größere Proportionen angenommen, obgleich fih das Verhältnig einer irgend⸗ 
wie zuverläffigen Bergleihung noch immer entzieht und fo lange entziehen wird, 
bis die ftatiftiichen Angaben in den verfchiebenen Ländern Europas nad benjelben 
Srundjägen angefertigt werben, wozu indeß durch bie internationalen flatiftifhen 
Kongreffe wenigftens tie Einleitung getroffen worden ift, und bis in ber Unfer- 
tigung der Angaben felber eine Genauigkeit, die nit nur die Täuſchung amderer, 
ſondern anch alle Seldfttäufhung ausfchliegt, erzielt fein wird, was heute nod 
feineswegs ver Fall iſt troß der entſchiedenen Fortfchritte, welche die Statiftit 
unläugbar gemacht bat. Die befte Ivee ſowohl von der Geſammtſumme des inter 
nationalen Handels ald von dem Antheil, den bie verjchiebenen enropäifchen 
Staaten daran nehmen, dürfte folgende Tabelle der Handelsflotten gewähren, 
bie Kolb für das Jahr 1867 gibt, *) wobel zu bemerken iſt, daß das Hanptge- 
wicht auf die Angaben über den Tonnengehalt fällt. Demnach hatten 

Schiffe Tonnen Mannſchaft 


1. Großbritannien 28,800 5,760,000 180,000 
2. Deutfchland (ohne Defterreich) 4,500 1,300,000 46,000 
3. Frantreich 15,259 1,008,000 25,000 
4. Italien mit Rom 15,800 700,000 50,000 
5. Norwegen 5,600 600,000 35,600 
6. Holland 2,230 510,000 14,000 

Uebertrag 72,189 9,3878,000 350,600 


*) Anm. d. Med. Diefe Tabelle begreift aber auch die der Küftenfchiffahrt Dienenden Kabrs 
zenge und zum Theil, wie der angef. Schriftfteller bemerkt, zugleich die Flupichiffe in fi. Ge 
naue Angaben von etwas ülterem Datum enthält der Artikel „Flotte“ in Band III, 


610 Nachtrag. 
Schiffe Tonnen Mammfchaft 
Uchertrag 72,189 9,978,000 350,600 
7. Spanien 4,800 400,000 36,000 
8. Oeſterreich 4,000 250,000 20,600 
9. Schweden 8,200 160,000 — 
10. Dänemarf 3,000 140,000 — 
11. Rußland 3,700 100,000 15,000 
12. Griechenland 4,500 300,000 26,000 
13. Türket 1,200 170,000 6,000 
14. Portugal 600 83,000 8,000 
15. Belgien 100 35,000 1,400 
Zuſammen ungefähr 97,300 10,5616,000 460,000 


Indeß bat jedenfalls auch der Binnenhandel jebes einzelnen der enropätjchen 
Länder während ber legten zehn Jahre in fehr beventendem Grabe zugenommen, 
namentlih aud In Folge des gewaltigen Aufſchwungs, ven das Eifenbahn- 
und Telegraphenwejen während derſelben überall, wenn auch nicht überall 
ia bemfelben Maße genommen bat. Die folgenden Ziffern find einem Auffate von 
K. Scherzer in Behm's Geogr. Jahrbud für 1868 entnommen. (7,420 Kilometer = 
1 deutfhe Meile.) 


Länge der Auf 100 Aufi Mil. Länge der Auf 100 los 
Eiienbabnen Kilom. Bewohner Telegraphen- meter d. Landes 

in Silo: des Landes treffen linien in treffen Kilom. 

metern: treffen Kilom. Kilom. Kilos Telegraphen⸗ 
Eifenbahn: Eiſerbahn: metern: linien: 
Großbritannien 24,621 7851 823 25,855 8,245 
Fraukreich 14,908 2749 392 29,669 5,471 
Deutſchland 14,455 2742 395 23,966 4,547 
Defterreich 6,305 1014 179 19,670 3,324 
Spanien 5,110 1008 338 10,003 1,973 
Italien 4,840 1701 200 15,513 5,453 
Rußland (europ.) 4,494 82 67 32,220 583 
Belgien 2,566 8713 619 3,500 11,865 
Schweden und 4.047 898 425 5,746 1,301 
Norwegen ’ 99 185 3,065 . 996 
Schweiz 1,295 3179 516 3,559 8,738 
Niederlande 1,049 3198 295 1,972 6,005 

Portugal 700 134 175 630 666 . 
Dänemart 478 1275 298 1,536 4,097 
Türlei (europ.) 286 si 21 6,410 1,795 


Einen Haupthebel für die Entwidelung fowohl bes internationalen als bes 
Binnenverkehrs der europälfhen Staaten fand Furopa jedenfalls in der Aner- 
fennung bes Freihbandelsprincips, das zuerſt von England uad der Ab⸗ 
ſchaffung der Kornzölle ausgeſprochen und hierauf im Jahr 1860 von Frankreich 
durch feinen Handelevertrag mit England aboptirt wurde, worauf Frankreich fid 
Mühe gab, dem Princip auf dem europäifchen Kontinent überhaupt weiteren Ein- 
gang zu verfhaffen, was ihm denn auch durch eine Reihe von Hanvelöverträgen 
gelang, bie es nad einander mit Italien, Spanien, dem beutfchen Zollverein ſowie 
mit den kleineren Staaten feither abgejchloffen bat. Hand in Hand mit der Auer- 
fennung des Freihanbelsprincips ging diejenige ver Gewerbefreiheit, bie 
nunmehr ebenfalls im größten Theile von Europa, namentlid auch faft in ſaͤmmt⸗ 


Europa. 511 


fichen deutſchen Staaten ſowie in Defterreih durchgeführt If, obgleich noch Immer 
einige Ueberrefte der früheren Schranken zurüdgeblieben find, die fi aber un- 
möglich mehr lange werben halten können. Welch ungeheurer Fortſchritt durch die 
raktifhe Anerkennung dieſer beiden in der Wiffenfchaft lange vorher feftgeftellten 
—** für das materielle Wohlergehen und die materielle Entwickelung Europas 
erzielt und wie dadurch erſt der Boden für die zahlreihen focialen Brobleme und 
ihre bereinftige Töfung frei gemacht worden iſt, wird erſt eine fpätere Zeit hin⸗ 
reihen zu würdigen im Stande fein. 

Bon großer Bebeutang für die Entwidelung des europätfchen Handels iſt 
der nach wieberholten unglädlichen Berfuchen endlich 1866 ins Leben getretene 
Betrieb des transatlantifchen Kabels, d. h. der fubmarinen Telegraphen- 
verbindung zwifchen England und der norbamerffanifhen Union, die ver zähen 
Ausdauer des englifchen Unternehmnngsgeiftes alle Ehre macht und deren Ein- 
wirkung auf den materiellen und geiftigen Verkehr zwiſchen Europa und Amerika 
nicht hoch genug angefchlagen werben Tann, ;umal weitere Verbindungen berfelben 
Urt zwifchen beiden Kontinenten kaum allzu lange auf fi warten lafien dürften 
nnd in Frankreich bereits eingeleitet find. Bon gleicher, ja vielleicht noch größerer 
Bedeutung aber für ven europäifhen Handel wird die Eröffnung des Suez- 
kanals zur Berbindung zwiſchen dem mittelländifchen und dem rotben Meere 
jein, an deſſen wirffihem Zuſtandekommen bereits nicht mehr gezweifelt werben 
kann. Das Hauptverdienft dieſes riefenhaften Unternehmens gebührt Frankreich, 
das darin eine ihm in dieſer Richtung fonft nicht gewöhnliche Energie uud Aus» 
dauer an den Tag gelegt hat. Die Eröffnung glaubt man bereits auf das Jahr 
1870 in Ausficht nehmen zu dürfen. Der Welthandel wird dadurch wenigſtens 
theilweiſe wieder in die alte Bahn wie vor der Entdedung Amerika's zurädgeleitet 
werden, dem ganzen Süben und Oſten Europa’s aber bietet fi) die gegründete 
Ansfiht auf einen neuen Aufſchwung. 

III. Berfaffungszuftände. In den Berfofiungszuftänden ober wenn 
man will in dem Verfaffungszuftande Europas als eines Ganzen iſt in den letzten 
zehn Iahren durch die Staffung eines einigen Königreichs Italien in den Jahren 
1859 und 1860 nnd durch die Neugeftaltung Deutſchlande im Jahr 1866 ein 
ſehr tiefgreifender Wandel eingetreten, der feinen Abflug noch nicht gefunden hat. 
Wie Frankreich, das dabei aktiv und paffiv eine hervorragende Rolle gefpielt hat, 
aber ſchließlich dabei nit ganz feine Rechnung findet, feither felber zu konſtatiren 
in der Tage war, gebt der Zug ber europälihen Menfchheit in neuerer Zeit ent- 
ſchieden und unverkennbar auf die Bildung großer Agglomerationen, 
denen eine ziemlihe Anzahl Meiner und Meinerer Staaten in Dentfhland und 
Itallen zum Opfer gefallen ift, während anch vie übrigen bereits einigermaßen ins 
Gevränge gefommen find umd fir den nächſten großen Zufammenftoß nicht ohne 
Grund für die Erhaltung ihrer vollen Selbſtändigkeit zu fürchten beginnen. Wie 
weit indeß die eingetretene Bewegung führen und welches ihr Einfluß auf vie 
Entwidelung der Einzelftanten ſowohl als des großen Ganzen fchließli fein 
werde, entzieht ſich vorderhand nod jeder Berechnung. Die feit 25 Jahren ein- 

etretene, felbft die kühnſten Erwartungen weit übertreffende Erleichterung des 
erkehrs hat zu der eingetretenen Veränderung jedenfalls wefentlich beigetragen, 
unter allen Umſtänden die Möglichkeit derfelben ganz ungemein erleichtert. Ihre 
Wirkung iſt aber eine dauernde und fortwährend fleigende, und zwar nicht bloß 
Innerhalb der einzelnen Nationen, fondern auch für das Verhältniß derfelben unter 
einander, Die fich früher vielfach entgegenftehenden Interefien gleichen fih immer 


512 Nachtrag. 


mehr aus und an die Stelle mehr oder weniger fchroffer Gegenfäge tritt in flei- 
gendem Grade das Bemwußtfein der Zufammengehörigfeit. Wie die internationalen 
Beziehungen der Einzelnen ſich tauſendfach vermehrt haben und täglidy vermehren, 
fo treten fih auch die großen Ganzen, denen fie angehören, täglich näher, ſuchen 
ftatt wie früher das Verſchiedene jest vielmehr das Gemeinfame anf und finb 
bemübt, dieſes Gemeinfame im Interefie Aller auch gemeinfam zu regeln. Zu» 
nähft natürlih macht fi) dieſes Bedürfniß und dieſes Streben auf tem Gebiete 
des Handeld und des Verkehrs geltend. Imternationale Konventionen zu 
folden Zweden und vie denſelben vorarbeitenden internationalen „Konferenzen“ find 
etwas alltägliches geworben. Sie bilden eine lange Reihe von den Poftlonferenzen 
bis herab zu jenen über Beterinärpolizei, und von ten fehr pofitiven internatie- 
nalen ſtatiſtiſchen Kongrefien bis zu ver augenblidiih faſt noch ſchwindelhaften 
Höhe europäticher Friedenskongreſſe hinauf. Immerhin zeigen fie alle die Richtung, 
die der europäifche Geift allmälig eingeſchlagen hat und offenbar immer energifcher 
verfolgt. Ohne Zweifel dauert es gar nicht mehr lange, bis Europa auf biefem 
Wege ein gemeinfames Münz- umb ein gemeinfames Maß- und Gewichtsſyſtem 
erlangt. Und fchon jegt ſcheint ein weiterer, folgenreiher Echritt ganz und gar 
nicht mehr außerhalb des Bereichs der Möglichkeit zu liegen, ja er ſchwebt jo zu 
fagen bereits in der Luft — die Verfläntigung über die Einrihtung regel- 
mäßig zufammentretender europälfher Konferenzen zur Negn- 
lirung gemeinfamer materieller Interefien bezüglich der Eiſenbahnanſchlüſſe, ber 
ZTelegraphentaren, der Boftverhältniffe 2c. zc. Iſt Europa einmal fo weit, uud hat 
vielleicht das fo ziemlich von allen Staaten, Rußland allein ausgenommen, theo⸗ 
retiſch anerkannte, aber praktiſch allerdings noch nicht ganz durchgeführte Frel⸗ 
bandelsprincip inzwiſchen fo weit und fo tief gewirkt, daß die bis jest noch be- 
ſtehenden, aber bereits völlig unterwühlten Schugzölle ſämmtlich gefallen find und 
alle oder doch die meiften ihre Zolliufteme auf eine Heine Anzahl rein fistalticher 
Zölle reducirt haben, fo ift der Gedanke eines europäifhen Zollver- 
eins keineswegs mehr ein phantaftiiher. Jedenfalls ſcheint das der Weg zu jein, 
auf dem allein wir allmälig zu einem europäifhen Kongreſſe gelangen 
können, der auch rein politifche Fragen zu regeln unternähme, eine Idee, die be⸗ 
kanntlich der Katfer der Granzofen fon vor mehreren Jahren angeregt, mit der 
er aber bis jest noch nicht durchzudringen vermodt bat und zunächſt auch nicht 
durchzudringen vermögen wird. 

IV. Finanzen und Kriegsmadt der europäifhen Staaten. 
Die größten Veränderungen der europäiſchen Berhältnifie find im Laufe ber legten 
. zehn Jahre auf biefem Gebiete vor ſich gegangen. 

Die Staatsausgaben find überall fehr bedeutend geftiegen und da fie nur 
theilweife durch die geftiegenen oder erhöhten Staatdeinnahmen gevedt werben 
fonnten, fo mußten neue Staatsſchulden kontrahirt werben, deren Intereffen wiederum 
meift dur vermehrte Steuern und Abgaben aufgebracht werben. Zur Vergleichung 
mit den in Band III des Staatswörterbuchs gegebenen Ueberfihten in biefer Be⸗ 
ziehung mögen folgenne Tabellen vienen, die wir wieder Kolb entnehmen und pie 
für den Anfang des Jahres 1868 oder vielmehr für das Ende des Jahres 1867 
wenigftens annähernd zutrefiende Berhältnißzahlen geben. *) 


*) Anm. d. Red. Genauere Angaben über Staatsfchulden und Staatsaufwand der euro 
päifchen Haupfftaaten im Jahr 1862 f. in Bd. X. ©. 57, 147 ff. 








Europa. 513 


1) Einnahme und Ausgabe der europätfhen Staaten. 


Einkünfte Bedarf Davon erforbern 
True me met Hof Milter Sau 
Deutſchland 30 20 230 i2 85 52 Mil. The. 
Defterreich 271 192 228 5 54 3 un 
Großbritannien 46 423 420 33 171 16 5 u 
Frankreich 670 406 450 10 130 160 „ u 
Rußland a6 36 390 8619 U um 
Stallen mit Rom 240 208 296 45 70 140 „ n 
Schweiz (Bund) 2,3 2 2 — 0,9 06 m 
Belgien 44 40 40 07° 10 85 5 
Niederlande 63 64 54 05 125 247 „ " 
Dänemar! 20 168 19806 385 9 un 
Schweden 16 14 15 0,5 5,4 28. u 
Norwegen 8 7,8 7,8 0,2 8,2 2 „5 n 
Spanien 190 180 200 33 0 Ben 
Bortngal 23 18 28 1 3 I om 
Griechenland 8 7 8 0,8 2 3 un 
Türlei \ 90 80 86 6,728 30 n 


n 
Turk. Schutzſtaaten 20. 18 20 06 5 6 

Die ordentlihe Einnahme betrüge demnach circa 2240 Mill. Thlr,, der 
Berarf dagegen circa 2500 Mil. Thlr., woraus fih ein jährliches Deficit von 
etwa 260 Mil. Thlr. ergibt. 

Die Berhältuißzahlen ver Hauptpoften des Ausgabeetats aber wären: für bie 
Höfe ungefähr 2,63 0/,, für das Militär 34,85 9%, und für die Intereflen ver 
Staatsjhulden 37,23 %/,, fo daß zufammen biefe drei Hauptpoften allein 74,70 0/, 
ber gefammten Stantseinnahmen verfhlingen und für alle anderen Bedürfuiſſe nur 
25,9 0/, übrig bleiben. 

2) Ueberſicht der europätfhen Staatsfhulden. 


Großbritannien 5285 Mill. Thlr. Portugal 285 Mil. Thlr. 
Frankreich 3500 „ " Belgien 180 „ n 
Rußland 2380 %„ n Danemark 98 „ n 
Defterreich 2031 „ n Griechenland 64 ,„ " 
Italten 1700 n n Schweden 46 " M 
Spanien 1400 „ " Norwegen 12,8 " " 
Deutſchland 96 „ " Türk. Schupflaaten 10 „ n 
Holland 560 n " Schweiz 3 "n m 
Turkei 470 Zuſammen circa 19,000 " " 


Eine noch viel größere Veränderung iſt und zwar in ber allerjüngften Zeit, 
feit 1866, in ven militärifhen Verhältniffen vieler europäiſcher Staaten einge 
treten. Es läßt fih unmöglich behaupten, daß das Militärmefen von den verſchie⸗ 
denen europälfhen Staaten vor 1866 und bis zu diefem Jahre vernachläffigt 
worden fe. Dasfelbe nahm im Gegentheil ſchon bis dahin eine ver hauptſächlichſten 
Sorgen der Regierungen in Anſpruch, der Bedarf ſowohl für den Sold und bie 
Verpflegung ver flehenven Heere als für die Bewaffnung und Ausräftung der⸗ 
jelben hatte ſchon damals eine fehr refpeftable Höhe erreicht und Laftete ſchon 
damals ſchwer auf den Budgets der einzelnen Staaten und noch ſchwerer war das 
vollswirthfchaftliche Opfer, das ſchon damals die Benölterungen zu tragen hatten. Uber 
Alles, was in diefer Beziehung geforbert und geleiftet wurbe, bleibt noch meit 

Bluntfgli und Brater, Deutfes Staate⸗Wörterbuch. XI. 33 


a 


14 Hadıtrag. 


vom, was feit 1866 für wänfdber, ja für unansweichlich noth⸗ 
eradtet wird. Obgleih der Grunbfag ber allgemeinen Wehrpflicht in 
fen feit Unger als einem halben Jahrhundert in praftifcher Geltung 
icht Eich theoretifch, ſondern and praktiſch erwiefen war, welche verhältniß- 
ahlreichere Streitfräfte Preußen gegebenen Falls vermittelft jenes 
un» des weiteren einer bebeutend Fürzeren Dienftzeit im ſtehenden 
aufzubringen tm Stande fei als die übrigen Staaten, und obglei ferner 
wer mehr als zwanzig Iahren von Preußen in feiner Armee eingeführte 
zer feg. Hinterlader oder des Zündnadelgewehrs den übrigen Regierungen 

ein Geheimnig geblieben und überdieß im fchleswig-holfteintihen 
ven 1864 bereitö zur praftifchden Probe gefommen war, fo erflaunte auf⸗ 
Weite doch alle Belt und bie Militärs voran über die gewaltigen Maſſen, 
verbättnigmäßig Meine Preußen im Jahr 1866 plöglich theils ins Feld 
‚ theils für weiteren Bedarf noch immer in Bereitſchaft halten konnte, und 
die ebenfo gewaltigen als vafchen Erfolge, die e8 im Felde davon trag und 
wit Recht oder mit Unrecht hauptfädlic feinem Zünpnadelgewehr zugefchrieben 
den, Die nächte Folge davon war, daß große und Heine Staaten wetteiferten, 
Rd in kürzeſter Zeit diefelben Bortheile fowohl mit Rückſicht auf die Zahl der 
Steeitträfte als anf die Bewaffnung anzueignen, und als Prengen daran ging, 
fein Wehrfuftem und feine Bewaffnung auf die neu erworbenen Lanbestheile und 
ven norddeutſchen Bund auszudehnen und biefe Organifation mit ſolchem Nach⸗ 
druck umd fo raftlofem Eifer betrieb, daß fie fchon mit dem 1. Dit. 1867 im All⸗ 
gemeinen als durchgeführt betrachtet werben Tonnte, ſchien fi$ ganz Europa in 
ein einziges großes Artegslager verwandeln zu wollen. Die Umwandlung ber Be⸗ 
waffnung wurde fofort Aberall in Angriff genommen. Die Vermehrung der Streit- 
fräfte ging nicht eben fo ſchnell, obgleich fie von allen Staaten fofort gleichfalls 
ine Ange gefaßt und auch alsbald angebahnt wurde. Hiebei aber zeigte fidh eine 
fehr entſchiedene und fehr beachtenswerthe Berfchletenheit. Die germantfchen Staaten 
Curopa's entfhloffen fi, vie beiden Handelsſtaaten England nnd Holland allein 
ausgenommen, alsbald zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, nämlich außer 
dem norddeutſchen Bunde auch die vier ſüddeutſchen Staaten, Defterreih, Dänemart, 
im wefentlihen auch Schweden und Norwegen, abgefehen von ver Schweiz, die dieſes 
Spftem wie Preußen längft befaß. Dagegen konnten fidh die romunifhen Staaten, 
Sranfreih, Italien, Spanien und Belgien nicht dazu entfchließen and blieben bei der 
Konfkription, nur daß fie inmerhalb derfelben eine viel ftärkere Zahl Pflichtiger zum 
wirklichen Kriegspienft heranzogen, Loskauf und Stellvertretung zwar nicht gänzlich ab- 
haften, aber doch weſentlich beſchränkten. Den gegenwärtigen Bormationsfland ber 
ſtehenden Heere im Frieden, der mehr als früher (fiehe die in Band III gegebene Tabelle) 
der wirkliche, nicht bloß der Soll-Stand auf dem Papiere fein dürfte, gibt Kolb für das 
laufende Jahr, wo die Vermehrung meift noch nicht durchgeführt ift, folgendermaßen au: 


14 


if 
#1 


{7 
hr 


12727 
e; 


Deutfhland 380,000 Wann. Holland 30,000 Mann. 
Oeſterreich 260,000  „ Danemark 12,000  „ 
Großbritannien 220000  „ Schweden 40,000 „ 
Frankreich 430,000 „ Norwegen 16,000 „ 
Rußland 600,000 „ Spanien 200,000 u 
Italien 200,000  „ Portugal 25,000 „ 
Schweiz — Griechenland 6,000 „ 
Belgien 50,000  „ Türkei 140,00 , 


Bufammen alſo 2,599,000 Mann, wozu dann nod die Kriegsmarinen mit 
mehr als 200,000 Dann kommen. 


Europa, 515 


Den Stand der europälichen Armeen auf Kriegsfuß gibt ein „Bericht über 
die Kriegsmacht der europäiſchen Staaten im Vergleich mit deren ner 
und Büpgetverhältuiffen im Jannar 1868" im 3. und 4. Heft der „Defterreichifch- 
milttärifhen Zeitfehrift" folgendermaßen an: 


Kriegsflände —e—— Proc. der Rekrutenquote 
: 65 


Rußland 1,238,000 1: (112,000) = 1 : 600 
Norpdeutfher Bund 928,500 1: 33 (113,000) = 1 : 301 
Oeſterreich 791,000 1: 44 685,000 = 1: 405 
Frankreich 650,000 1: 58 (100,000) = 1 : 380 
Italien 355,000 1: 68  (51L00) = 1: 47 
Türkei 251,000 1 : 105 ( 25,000) = 1 : 1000 
Großbritannien 204,500 1: 145 ( 15,000) = 1 : 1980 
Schweiz 204,000 1: 18  ( 4800) = 1; 521 
Spanien 178,600 1: 9 ( 40,000) = 1 : 407 
Schweden 150,000 1: 33 ( 20,000) = 1: 203 
Bayern 118,600 1: 40 ( 16,000) = 1 : 800 
Belgien 77,000 1: 64 ( 10,000) = = 1: 498 
Portugal 71,000 1: 60 

Dänemart 63,300 1: 25 ( 5,000) = 1: 320 
Kirchenſtaat 10,440 — 

Württemberg 45,600 1:38 ( 6,800) = 1 : 302 
Baden 43,600 1: 33 ( 4,700) = 1: 304 
Holland 39,100 1: 94 ( 11,000) = + : 336 
Griechenland 10, 600 1 : 127 ( 3,500) = 1 : 386 


Für den Kriegsftand ergäbe fih Daraus bie ungebenre Zahl von 5, ‚429,840 
Mann, wovon freilich bezüglih Großbritanniens, Rußlands und der Türkei 
wenigftens ein Theil auf ihre aflatifchen veſihungen fällt.*) 

Hinſichtlich der konfeſſionellen Verhältniſſe ist Hübner folgende 


BZufammenftellung : 
Defterreich Preußen Großbritannien Frankreich 
Nömifche Katholiken 23,264,000 7,803,000 6,400,000 35,734,667 


Broteftanten 3) 3,494,000 15,413,000 20,000,000 
Griechiſche Katholitn 7,120,000 1,500 1,800 1,561,250 
Andere Ehriften 55,000 568,000 2,600,000 
Inden 1,121,000 315,000 45,000 156,000 


Holland Belgien Rußlaud Italien Spanien 
Röm. Katholiken 1,234,486 4,720,000 7,161,000 24,100,000 16 ‚180, 000 


Broteflanten ) 2 ‚006, 926 8, ‚000 4 ‚000, ‚000 4,000 

Griech. Katholiken 32 2,000 51 ‚000, 000 10,000 — 
Andere Chriſten — 40, 000 _ — 
Inden 63,890 1,600 2,038, ‚000 386,000 122,000 


cf Anm. Red. Den Berathungen Über das neue öſterreichiſche Wehrgefep find, mit Der 
chtigung der rn Frankreich und eübbeutiehland I während des Jahres 1868 eingetretenen Aende⸗ 

—** —**— Fr ern zu Grund gel worden: egsftand des norbd. Bundes: 1,029,000 
Kind. 185,500 Landwehr), der ſuͤdd. 34 F 170 (ind. 43,410 M. L.) Oeñi⸗erieich 
1.063,00 (incl. 53,000 M. — enze und 200,000 M. RAR Frankreich: 1,350000 (incl. 

50,000 M. Mobilgarde), Rußland: 1,467,000, Stalten: 480,000 

3) Woangeliſche, Reformirte und Angehörige der engliſchen Dochtirche. 

93 * 





506 Nachtrag. 


immerhin noch eine nicht bloß würdige, ſondern auch eine überaus einflußreiche 
Stellung übrig: die Leitung der inneren Verwaltung, der geſammten Rechtspflege, 
der Pflege fo vieler materieller Intereſſen, namentlich aber des geſammten Unter⸗ 
richtsweſens, wäre geeignet, ihnen eine wirkliche Befriedigung zu gewähren, frei- 
lich nur, wenn fie darin aufridtig Hand in Hand gingen mit der öffentlichen 
Meinung, flatt verfelben wie bisher fo vielfach hemmend entgegen zu treten. Und 
das fände feine Anwenbung nicht bloß auf die größeren, fondern felbft auf bie 
Heinften unter ven Heinen. Ob fie fih dazu entichließen können, wird ſchon eine 
nit fehr ferne Zulunft an ven Tag legen. Die norbbeutihe Bunvesverfaflung 
bezeichnet in mehr als einer Beziehung lediglich ein Uebergangsſtadium. Es wirb 
von den Einzelſtaaten und ihren Fürſten großentheils felber abhängen, wie fich 
diefelbe ausbaut. Bis auf einen gewiflen Punkt ift alles Widerftreben unnütz 
and der Zug der Zeit viel zu ſtark, um nicht für gewifle, übrigens ſtreng um⸗ 
grenzte Gebiete die abfolute Unterordnung des Theild unter das Ganze fei es in 
Güte fei es mit Gewalt zu erzwingen; darüber hinaus find die Hände noch frei, 
vorausgefegt, daß nicht vom Bunde aus durd eine unerträgligde Militärlaft den 
Einzelftanten die materiellen Bedingungen ihrer Eriftenz geradezu abgeſchnitten 
werben. Jedes Widerftreben aber gegen bie Einheit auf den bezeichneten Gebieten 
dürfte nur geeignet fein, im ihr gerades Gegenthell umzufchlagen und ven abfo- 
Inten Ginheitstendenzen, die man vermeiden will, in vie Hände zu arbeiten.*) 
, 11. Die fchlieglihe Wiedervereinigung von Nord- und Süddeutſchland hängt 
jedenfalls weientlih davon ab, wie ſich diefe Verhältniſſe in der nädften Zulunft 
geftalten werben, aber allerdings aud und vielleiht no mehr von ben aus- 
wärtigen Beziehungen, die zugleih das Verhältniß zu Oeſterreich bebingen. 


/ 


*) Anm. d. Red. Es mag fein, daß die Entwidelung, deren Ausgangspunkt das Jahr 
1866 tft, in ihrem weiteren Verlaufe zulebt auf den Einheitsftant hinführt, obwohl noch 
auf Sange hin die Form ded Bundesftaates nicht je entbehren fein und auch in Zuhmft 
der Einheitsſtaat nur in Verbindung mit großer Selbftändigkeit der einzelnen Länder in Ver⸗ 
waltung, Kultur und Wirihſchaft, nicht aber in der eentralifit Weiſe Frankreichs die deutſche 
Nation befriedigen wird. Jedenfalls aber wird die im Text aufgeftellte Anficht richtig fein, daß 
das Ginheitöbedürfniß der Nation, wenn man ihm die bundesflantlihe Korm verfagt, um fo 
fiderer zur einheitsftaatlichen überfpringt, Daß es daher eine verkehrte Politit ift, fi aus Furcht 
vor der leßteren gegen die erftere zu fträuben. 

Was die Beziehungen zu Dejterreich betrifft, fo läßt fich nicht verfennen, daß von einer 
volftändigen Löſung der deutſchen Frage erft geiptodten wer ‘en fann, wenn Deuti-Oefterreih 

um übrigen Deutfchland in ein Verhältniß getreten iſt, das der nationalen Yufammengebörigkeit 
er Völker entfpricht. Verſchiedene Formen dieſes Verhältniſſes find denkbar, nur nicht die 
trügerifche und verderbliche, die durch den Krieg, bon 1866 glüdlich befeitigt wurde. Es kann 
eine Form annehmen , die fih mit dem jegigen Beftunde des öfterreichiichen Staatsweſens nicht 
verträgt, fondern die fundamentale Im geftaltun desfelben vorausſetzt. wenn auch vielleicht in einer 
durch die Annahme des dualiftifchen Syſtems —* angebabnten Richtung. Oeſterreichiſche Staat& 
männer werden darin von ihrem Standpunft aus eine Gefahr erbfiden müſſen, die ſich Neigert, 
wenn das geſammte übrige Deutichland, politifch geeinigt, feine volle Anziehungskraft auszuüben 
vermag. Es tft daher begreiflich. daß man in Defterreich diefe Einigung, d. b. die Ausdehnung 
des Bundes auf die ſüdweſtdeutſchen Staaten, ala ein Uebel betrachtet und fi mit dem Gedanken 
befhäftigt, ihr nöthigenfalld den äußerften Widerftand entgegen zu ftellen. Demungeachtet bleibt 
ed febr zweifelhaft, ob der Einfag einer ſolchen Politif nicht ein höherer wäre als der mögliche 
Gewinn. Denn die Abfonderung der füdweftdeutichen Staaten ift ein widerfinniger Zuftand, die 
Ratur der Dinge fordert ihre Berbindung mit dem Norden, und wer gegen Die der e 
antämpft, muß darauf gefaßt fein, fchlieblich gu unterliegen. Indeß gehört die Entſcheidung diefer 
Frage kaum zu den Aufgaben der nächſten Zukunft; fie wird vielleiche unter Verbältnifien ein: 
— die von den jetzt beſtehenden ſehr verſchieden find und fich jeder Vorausberechnung ent⸗ 


Europa. 507 


Wenn audy zwifchen Defterreih und Frankreich Leinerlei wirkliche Allianz befteht, 
fo glauben doch beide die Vereinigung der fünbentichen Staaten mit dem norb- 
deutſchen Bunde verhindern zu follen. Es ift jedoch fehr die Frage, ob Defterreid 
damit feinem wahren Intereffe dient. So lange Norddeutſchland gegenüber Frank⸗ 
reich auf feine eigenen Kräfte angewieſen tft und auf Süddeutſchland durchaus 
nicht unbedingt zählen kann, ift es gewiflermaßen gezwungen, eine Anlehnung an 
Rußland zn ſuchen, was hinwieder jede Berftänpigung mit Defterreih auf Grund⸗ 
lage der neuen Ordnung der Dinge In Deutfhland geradezu unmöglich macht. 
Erf von dem Momente an, wo Nord⸗ und Süppeutfchland wieder feft vereinigt 
fein werden, ift Dentfchland wirklich unabhängig, ohne feine Kräfte auf's Aeußerſte 
anfpannen und fogar Überfpannen und ohne einen Stügpunft außer fi) fuchen 
zu müſſen. Dann erft ift die Bahn frei zu einer Verftänpigung zwifchen Preußen 
und Defterreih und zwar im gleichwiegenden Intereffe beider. Preußen bebarf 
Defterreihe gegen Welten, Defterreih Preußens gegen Often. Oeſterreich hat keine 
Aufgabe mehr weder im Süpen noch im Weiten, wenigftens treten dieſe feine 
Aufgaben, fo weit fie noch beftehen, durchaus zuräd gegen feine Aufgabe um 
Dften, deſſen Bevölkerung vielfah und auf die gefährlichfte Weiſe mit feinen 
eigenen Bevöllerungen verfhlungen iſt, uud wenn auch ziemlich fpät, fo ſcheint 
dieß in Oeſterreich doch endlich ſowohl die Regierung als vie öffentlihe Meinung 
vollfommen einzufehen. Eine wirkliche und nachhaltige Stüge aber kann Oeſter⸗ 
reih zu Löſung biefer Aufgabe nicht Frankreich, ſondern nur Deutfhland ge- 
währen, ober allerdings volftändiger noh und in wohlverfiandenem Iuterefle 
beider, Deutfhland und frankreich, wenn fie fich darüber verfländigten, was unter 
Umftänden ganz und gar nicht unmöglich wäre. Daß die Spige einer folgen Ver⸗ 
fändigung fidh gegen Rußland kehren müßte, Liegt auf der Hand. Jede Berftän- 
digung zwiſchen Preußen und Defterreih iſt, wie die Dinge im Orient bereits 
liegen, gleichbedeutend mit einem Bruche zwifchen Rußland und Preußen, ganz 
wie nmgelehrt das jetzige Einverſtändniß zwiſchen den beiden legteren einer inneren 
Annäherung Preußens und Defterreih8 unbedingt im Wege flieht. Das ift der 
Bunkt, wo fib die mittelenropäiiche oder franzöfiſch⸗preußiſche uud die orientaliſche 
oder ruffifch-öfterreihifche Frage berühren. Man fieht, wie in beiven das Schwer⸗ 
gewicht wenigftens großentheils auf das Berhältnig zwiſchen Süp- und Norb- 
deutſchland fällt. 9. Sanliget. 


Europe. 
(Nachtrag zu Band III. ©. 455 ff) 


Der frühere Artikel bebarf nur weniger Ergänzungen, da In den allgemeinen 
Berhältniffen und Beziehungen, die der Weitftellung Europas fo wie ven bebin- 
genden Elementen zu Orunde liegen, auf denen die Entwidelung des Welttheils 
beruht, ſelbſtverſtändlich Feine Aenderung eingetreten iſt, fchon jener Artikel aber 
fh auf Andeutungen befchränfte, deren Ausführung den fpeciellen Arbeiten über 
die einzelnen Materien und die einzelnen Länder überlafien bleiben mußte. Nicht 
bloß die geographifche Unterlage ift dieſelbe geblieben, -fondern auch in den Race- 
und Stammesverhältniffen fo wie in benjenigen ber Kirchen ift feine für das 
Ganze weientlihe Beränderung eingetreten, währenn ſich die Kultur flätig und 
Im Großen und Ganzen doch ziemlih gleihmäßig hebt und zugleich über 
immer weitere Theile der Bevölkerung auöbehnt. Befenttlche Beränberungen find 
nur bezüglich des Territorialbeſtandes und ver VBevölkerungsverhältnifie, des Han- 


508 Nachtrag. 


immerhin noch eine nicht bloß würdige, fonbern aud eine überaus einflußreidhe 
Stellung übrig: die Leitung der Inneren Verwaltung, der gefammten Rechtspflege, 
- ber Pflege fo vieler materieller Interefien, namentli aber bes gefammten Unter- 
rigtöwelens, wäre geeignet, ihnen eine wirkliche VBefriebigung zu gewähren, frei- 
ih nur, wenn fie darin aufridtig Hand in Hand gingen mit der öffentlichen 
Meinung, flatt derfelben wie bisher fo vielfach hemmend entgegen zu treten. Und 
das fände feine Anwendung nicht bloß auf die größeren, ſondern jelbft auf die 
Heinften unter ven Kleinen. Ob fle fih dazu entichließen können, wird fchon eine 
nicht ſehr ferne Zulunft an ven Tag legen. Die norbveutiche Bunbesverfaflung 
bezeichnet in mehr als einer Beziehung lediglich ein Uebergangsſtadium. Es wirb 
von den Einzelſtaaten nnd ihren Fürften großentheil felber abhängen, wie fich 
biefelbe ausbaut. Bis auf einen gewiflen Punkt ift alles Widerftreben uunüg 
nad der Zug der Zeit viel zu ſtark, um nicht für gewifle, übrigens fireng um⸗ 
grenzte Gebiete bie abfolute Unterordnung des Theild unter das Ganze fei es in 
Güte fei e8 mit Gewalt zu erzwingen; barüber hinaus find die Hände nod frei, 
vorausgefegt, daß nicht vom Bunde aus durch eine unerträglihe Militärlaft den 
Einzelſtaaten die materiellen Bedingungen ihrer Eriftenz geradezu abgefchnitten 
werben. Jedes Widerſtreben aber gegen bie Einheit auf den bezeichneten Gebieten 
dürfte nur geeignet fein, in ihr gerades Gegentheil umzufchlagen und ben abfo- 
Inten Ginheitstendenzen, die man vermeiden will, in bie Hände zu arbeiten.*) 
, 11. Die ſchließliche Wiedervereinigung von Nord- und Sübdeutfhland hängt 
jedenfalls weſentlich davon ab, wie fi diefe Verhältniſſe in der nächſten Zukunft 
geftalten werben, aber allerdings aud und vielleicht noch mehr von ben aus- 
wärtigen Beziehungen, die zugleig das Verhältniß zu Defterreich bebingen. 


/ 


*) Anm. d. Med. Es mag fein, daß die Entwidelung, deren Ausgangspunft das Jahr 
1866 iſt, in ihrem weiteren Derlaufe zuleßt auf den Einheitsftaat hinführt, obwohl n 
auf lange hin die Form ded Bundesftaates nicht ji entbebren fein und auch in Zukun 
der Einheitsftant nur in Verbindung mit großer GSelbftändigfeit der einzelnen Ränder in Ber: 
waltung, Kultur und Wirihſchaft, nicht aber in der central Weiſe Frankreichs die deutſche 
Ration befriedigen wird. Jedenfalls aber wird die im Text aufgeftellte Anficht richtig fein, daß 
das Ginheitöbedürfniß der Nation, wenn man ibm die bundesftaatliche Porn verfagt, um fo 
fiderer zur einheitsftaatlicden überipringt, Daß es daher eine verkehrte Politik ift, fi aus Furcht 
vor der leßteren gegen die erftere zu fträuben. 

Was die Beziehungen zu Dehterreid betrifft, fo läßt fich nicht verfennen, daß von einer 
volftändigen öfung der deutfchen Frage erft gefprodien wer ‘en fann, wenn Deutſch Oeſterreich 
gum übrigen Deutſchland in ein Berhältniß getreten iſt, das der nationalen Zufammengebörigfeit 

Völker entfpricht. Berfchiedene Formen dieſes Berbäftniffes find denkbar, nur nicht die 
trügeriſche und verderbliche, die durch den Krieg vom 1866 glücklich befeitigt wurde. Es kann 
eine Form annehmen , die fih mit dem jetzigen Beſtande des öfterreichiichen Staatsweſens nicht 
verträgt, fondern die fundamentale Hm geftaltun desfelben vorausfegt, wenn auch vielleicht In einer 
durch die Annahme des dualiftifchen Syſtems —* angebabnten Richtung. Deſterreichiſche Staat& 
männer werden darin von ihrem Standpunkt aus eine Gefahr erblicken müſſen, die ſich fleigert, 
wenn das gefammte übrige Deutſchland, politiſch geeinigt, feine volle Anziehungstraft auszuuben 
vermag. Es ift daher begreiflih. daB man in Defterreich diefe Einigung, d. 5. die Ausdehnung 
des Bundes auf die füdweftdeurichen Staaten, ald ein Uebel betrachtet und fi mit dem Gedanken 
beihäftigt, ihr nöthigenfalld den Außerften Widerftand enige en zu ſtellen. Demungeachtet bleibt 
es fehr zweifelhaft. ob der Einſatz einer folchen Bolitif nicht ein höherer wäre als der mögliche 
Gewinn. Denn die Abfonderung der füdmweftdeutichen Staaten ift ein widerfinniger Zuftand, die 
Ratur der Dinge fordert ihre Berbindung mit dem Norden, und wer gegen bie Hatır der Dinge 
anfämpft, muß darauf gefaßt fein, fchlieplich zu unterliegen. Indeß gehört die Entſcheidung biefer 
Frage kaum zu den Aufgaben der nächften Zukunft; fie wird vielleicht unter Derhältnifien ein: 
— die von den jetzt beſtehenden ſehr verſchieden ſind und ſich jeder Vorausberechnung ent⸗ 


Europa. 507 


Wenn andy zwifhen Defterreih und Frankreich Leinerlet wirkliche Allianz beftcht, 
fo glauben doc beide die Vereinigung der ſüddeutſchen Staaten mit bem norb» 
deutſchen Bunde verhindern zu follen. Es ift jedoch fehr die Frage, ob Defterreid 
damit feinem wahren Interefle dient. So lange Norddeutſchland gegenüber Frank⸗ 
reih anf feine eigenen Kräfte angewieſen tft und auf Süddeutſchland durchaus 
nicht unbedingt zählen kann, ift e8 gewiſſermaßen gezwungen, eine Aulehnung an 
Rußland zn ſuchen, was hinwieder jede Berftändigung mit Defterreih auf Grund⸗ 
lage der neuen Orbnung der Dinge in Deutfhland geradezu unmöglid macht. 
Erft von dem Momente an, wo Nord⸗ und Süddeutſchland wieder feft vereinigt 
fein werben, tft Deutſchland wirklich unabhängig, ohne feine Kräfte auf's Aeußerſte 
anfpannen und fogar überfpannen und ohne einen Stügpunft außer fi ſuchen 
zu müſſen. Daun erft ift die Bahn frei zu einer Verftändigung zwifchen Preußen 
und Defterreih und zwar im gleichwiegenden Intereffe beider. Preußen bedarf 
Defterreihe gegen Weften, Oeſterreich Preußens gegen Oſten. Oeſterreich hat keine 
Aufgabe mehr weder im Süden noch im Weiten, wenigftens treten bieje feine 
Aufgaben, fo weit fie noch beftchen, durchaus zurüd gegen feine Aufgabe im 
Dften, defien Bevölkerung vielfah und auf die gefährlidfte Weife mit feinen 
eigenen Beoöllerungen verſchlungen iſt, und wenn auch ziemlich fpät, fo ſcheint 
dieß in Defterreih doch endlich ſowohl die Regierung als die öffentlihe Meinung 
volllommen einzufehen. Eine wirkliche und nachhaltige Stüge aber kann Oeſter⸗ 
reich zu Löfung biefer Aufgabe nicht Frankreich, ſondern nur Deutſchland ge 
währen, oder allerdings vollſtändiger noch und in wohlverftandenem Interefie 
beider, Deutfchland und frankreich, wenn fie fih darüber verfländigten, was unter 
Umftänden ganz und gar nicht unmöglid wäre. Daß die Spige einer ſolchen Ber- 
ſtändigung fi gegen Rußland ehren müßte, liegt auf ver Hand. Jede Verſtän⸗ 
digung zwiſchen Preußen und Defterreih if, wie die Dinge im Orient bereits 
liegen, gleichbedeutend mit einem Bruce zwifhen Rußland und Preußen, ganz 
wie umgelehrt das jegige Einverſtändniß zwiſchen ben beiven legteren einer inneren 
Annäherung Preußens und Oeſterreichs unbedingt im Wege flieht. Das ift der 
Punkt, wo fib die mittelenropäiiche oder franzöfif-preußifche und die orientaliihe 
oder ruſſiſch⸗oſterreichiſche Frage berühren. Man fieht, wie in beiden das Schwer- 
gewicht wenigftens großentheils auf das Berhältnig zwiſchen Säp- und Norb- 
deutſchland fällt. 9. Eanliset. 


Europe. 
(Nachtrag zu Band III. S. 455 ff) 


Der frühere Artikel bevarf nur weniger Ergänzungen, da in den allgemeinen 
Berhäftniffen und Beziehungen, die ver Weltſtellung Europas fo wie ben bebin- 
genden Elementen zu Grunde liegen, auf denen die Entwidelung des Welttheils 
beruht, felbftverfländlich Feine Aenderung eingetreten iſt, fchon jener Artikel aber 
fd auf Andeutungen befchränfte, deren Ausführung den fpectellen Arbeiten über 
die einzelnen Materien und vie einzelnen Länder überlaffen bleiben mußte. Nicht 
bloß die geographiſche Unterlage iſt dieſelbe geblieben, fondern aud in ven Race- 
und Stammesverhältniffen fo wie in benjenigen der Kirchen ift keine für das 
Ganze weſentliche Veränderung eingetreten, während fi vie Kultur flätig und 
im Großen und Ganzen doch ziemlih gleihmäßig hebt und zugleid über 
immer weitere Theile der Bevölkerung ausbehnt. Befentlice Beränberungen find 
nur bezüglich des Territorialbeftandes und der Bevöllerungsverhältniſſe, des Han- 


506 Nachtrag. 


immerhin noch eine nicht bloß würdige, ſondern auch eine überaus einflußreiche 
Stellung übrig: die Leitung der inneren Verwaltung, der geſammten Rechtspflege, 
der Pflege ſo vieler materieller Intereſſen, namentlich aber des geſammten Unter⸗ 
richtsweſens, wäre geeiguet, ihnen eine wirkliche Befriedigung zu gewähren, frei- 
ih nur, wenn fie darin aufridtig Hand in Hand gingen mit der öffentlichen 
Meinung, ftatt verfelben wie bisher fo vielfach hemmend entgegen zu treten. Und 
das fände feine Anwendung nicht bloß auf die größeren, fondern ſelbſt auf die 
Heinften unter ven Heinen. Ob fie fi dazu entichließen können, wird fchon eine 
nicht fehr ferne Zukunft an den Tag legen. Die norbbeutfhe Bundesverfafſung 
bezeicgnet in mehr als einer Beziehung leviglih ein Ueberganyeflevium,. Es wird 
von den Einzelſtaaten und ihren Fürſten großentheils felber abhängen, wie fi 
diefelbe ausbaut. Bis auf einen gewiffen Punkt ift alles Widerfireben unnütz 
nad der Zug der Zeit viel zu ſtark, um nicht für gewiffe, übrigens fireng um⸗ 
grenzte Gebiete die abfolute Unterordnung des Theils unter das Ganze fei es in 
Güte fei e8 mit Gewalt zu erzwingen; barüber hinaus find die Hände noch frei, 
porausgefegt, daß nicht vom Bunde aus durch eine unerträglihe Militärlaft den 
Einzelftanten die materiellen Bedingungen ihrer Eriftenz geradezu abgeſchnitten 
werben. Jedes Widerftreben aber gegen bie Einheit auf den bezeichneten Gebieten 
bärfte nur geeignet fein, in ihr gerades Gegentheil umzufchlagen und ben abfo- 
Inten Einheitstendenzen, die man vermeiden will, in bie Hände zu arbeiten.*) 
, 11, Die ſchließliche Wiedervereinigung von Nord- und Süddeutſchland hängt 
jedenfalls wejentlih davon ab, wie ſich dieſe Berhältniffe in der nädften Zukunft 
geftalten werden, aber allerdings auch und vielleiht no mehr von ven aus⸗ 
wärtigen Beziehungen, die zugleih das Verhältniß zu Oeſterreich bebingen. 


/ 


*) Anm. d. Ned. Es mag fein, daß die Entwidelung, deren Ausgangspunft das Jahr 
1886 tft, in ihrem weiteren Verlaufe zuleßt auf den Einheitsftaat hinführt, obwohl n 
auf lange hin die Form ded Bundesftaates niht zu entbehren fein und aud in Zuhm 
der Einheitsftaat nur in Verbindung mit großer GSelbftändigkeit der einzelnen Länder in Ber: 
waltung, Kultur und Wirihſchaft, nicht aber in der zentralifit en Weiſe Frankreichs die deutſche 
Ration befriedigen wird. Jedenfalls aber wird die im Text aufgeftellte Anficht richtig fein, daß 
das Einheitsbedürfnig der Nation, wenn man ihm die bundesflantfiche Korm verfagt, um k 
fiherer zur einheitsftaatlichen überfpringt, daß es daher eine verkehrte Politik ift, fi aus Furcht 
vor der leßteren gegen die erftere gu ſträuben. 

Was die Beziehungen zu Dehterreid betrifft, fo läßt fich nicht verfennen, daß von einer 
volftändigen Köfung der deutſchen Frage erſt gefprodhen wer:en fann, wenn Deutſch ODeſterreich 
gum übrigen Deutichland in ein Berhättniß getreten iſt, das der nationalen Bufammengebörigfeit 

r Volker entipricht. Verſchiedene Formen dieſes Verhältniſſes find denkbar, nur nicht die 
trügerifhe und verderblihe, die durch den Krieg, bon 1866 glüdlich befeitigt wurde. Es kann 
eine Form annehmen, die fi) mit dem jegigen Beſtande des öſterreichiſchen Staatöwefens nicht 
verträgt, fondern die fundamentale Umge taltun desfelben vorausfegt, wenn auch vielleicht in einer 
durch die Annahme des dualiftifchen Syftems "on angebabnten Richtung. Defterreihifche Staat& 
männer werden darin von ihrem Standpunft aus eine Gefahr erbfiden müſſen, die ſich fleigert, 
wenn das gefammte übrige Deutfchland, politiſch geeinigt, feine volle Anziehungstraft anuszuiben 
vermag. Es ift daher begreiflich. daß man in Defterreich diefe Einigung, d. 5. die Ausdehnung 
des Bundes auf die ſüdweſtdeutſchen Staaten, ald ein Uebel betrachtet und fi mit dem Gedanken 
befchäftigt, ihr nöthigenfalls den äußerſten Widerftand entgegen zu ſtellen. Demungeachtet bleibt 
ed ſehr zweifelhaft. ob der Einfag einer folchen Politif nicht ein höherer wäre als der mögliche 
Gewinn. Denn die Abfonderung der füdweftdeutichen Staaten ift ein widerfinniger Zuftand, die 
Ratur der Dinge fordert ihre Berbindung mit dem Norden, und wer gegen die Natur der Dinge 
anfämpft, muß darauf gefaßt fein, Amer u unterliegen Indeß gehört die Entjcheidung diefer 
Frage kaum zu den Aufgaben der nächſten Zukunft; fie wird vielleicht unter Verhältnifien ein: 
— ‚ die von den jetzt beſtehenden ſehr verſchieden find und ſich jeder Vorausberechnung ent⸗ 





Europa. 507 


Wenn audy zwifhen Defterreih und Frankreich keinerlei wirkliche Allianz befteht, 
fo glauben doch beide vie Vereinigung der fünbentichen Staaten mit bem nord» 
beutjchen Bunde verhindern zu follen. Es ift jedoch fehr die Frage, ob Defterreich 
damit feinem wahren Interefle dient. So lange Norddeutſchland gegenüber Frank⸗ 
reih auf feine eigenen Kräfte angewiefen tft und auf Süddeutſchland durchaus 
nicht unbedingt zählen kann, iſt es gewiflermaßen gezwungen, eine Anlehnung an 
Rußland zu fuhen, was hinwieder jede Berftändigung mit Defterreih auf Gruud⸗ 
lage ber neuen Orbnung der Dinge in Deutſchland geradezu unmöglich macht. 
Erft von dem Momente an, wo Nord» und Süppeutfchland wieder feft vereinigt 
fein werben, ift Deutfchland wirklih unabhängig, ohne feine Kräfte auf's Aeußerſte 
anfpannen und fogar überfpannen und ohne einen Stützpunkt außer fi ſuchen 
zu müſſen. Dann erft ift vie Bahn frei zu einer Verftänpigung zwifchen Preußen 
und Defterreih und zwar im gleichwiegenden Intereffe beider. Preußen bedarf 
Oeſterreichs gegen Weften, Defterreich Preußens gegen Often. Defterreid bat feine 
Aufgabe mehr weder im Süden noch im Weiten, wenigftens treten dieſe feine 
Aufgaben, fo weit fie noch beftehen, durchaus zurüd gegen feine Aufgabe im 
Dften, defien Bevölkerung vielfah und auf die gefährlichſte Weife mit feinen 
eigenen Bevöllerungen verfhlungen ift, und wenn auch ziemlich fpät, fo ſcheint 
dieß in Defterreich doch endlich ſowohl die Regierung als die öffentliche Meinung 
volllommen einzufehen. Cine wirkliche und nachhaltige Stüge aber kann Oeſter⸗ 
rei zu Löfung dieſer Aufgabe nicht Frankreich, fondern nur Deutſchland ge 
währen, oder allerdings vollftändiger noch und in wohlverfiandenem Interefie 
beider, Deutfhland und Frankreich, wenn fie fi darüber verfländigten, was unter 
Umftänden ganz und gar nicht unmöglich wäre. Daß die Spige einer foldden Ver⸗ 
fländigung fi gegen Rußland kehren müßte, liegt auf der Hand. Jede Berflän- 
bigung zwiſchen Preußen und Defterreih ift, wie die Dinge im Orient bereits 
liegen, gleichbedeutend mit einem Bruce zwiſchen Rußland und Preußen, ganz 
wie umgelehrt das jetzige Einverflänpnig zwiſchen ven beiden legteren einer inneren 
Annäherung Preußens und Oeſterreichs unbedingt im Wege fieht. Das ift ber 
Punkt, wo fib die mittelenropäifche oder franzöfiſch-preußiſche und die orientaliſche 
oder ruſſiſch⸗oſterreichiſche Frage berühren. Man fieht, wie in beiven das Schwer- 
gewicht wenigftens großentheild auf das Berhältnig zwiſchen Süp- und Norb- 
deutſchland fällt, 9. Sanliyet. 


Europe. 
GKachtrag zu Band Int. ©. 455 ff) 


Der frühere Artikel bevarf nur weniger Ergänzungen, ba in den allgemeinen 
Berhältuifien und Beziehungen, die ver Weltfiellung Europas fo wie den bebin- 
genden Elementen zu Grunde liegen, auf denen die Entwidelung des Welttheils 
beruht, ſelbſtverſtändlich Reine Aenderung eingetreten iſt, ſchon jener Artilel aber 
ſich auf Andeutungen beſchränkte, deren Ausführung den fpeciellen Arbeiten über 
die einzelnen Materien und die einzelnen Länder überlaffen bleiben mußte. Nicht 
bloß die geographiſche Unterlage iſt biefelbe geblieben, fondern auch in ven Race- 
und Stammesverhältniffen fo wie in benjenigen ber Kirchen ift keine für das 
Ganze wefentlihe Veränderung eingetreten, während ſich die Kultur flätig und 
im Großen und Ganzen doch ziemlih gleihmäßig hebt und zugleich über 
Immer weitere Theile ver Bevölkerung ausbehnt. Befentlice Beränderungen find 
nur bezüglich des Territorialbeſtandes und der Vevöllerungsverhältniffe, des Han- 


508 Nadıtrag. 


dels, der Berfaffungszuftände und der Finanzen fowie der Kriegsmacht der eur 
päifhen Staaten eingetreten und müſſen wenigftens angedeutet werben. 

I. Die europäiſchen Staaten. In Band III find die größeren euro 
päiſchen Staaten und teren Bevölkerung nah dem damaligeu Beſtand (Mitte ver 
fünfziger Jahre) verzeichnet. Wir lafien bier diefe Zufammenftelung mit einigen 
Berichtigungen nochmals folgen und fügen den jegigen Zerritorial- und Bevölte 
rungszuftend Hinzu. Die neueren Ziffern find Hübners flatiftifher Tafel, Ausgabe 
von 1868, und Behm's Geogr. Jahrb. II, 1868, entnommen. Durch die voran- 
geftellten Nummern iſt die nad ven jegigen Bevölferungsverhältnifen ih er- 
gebende Reihenfolge angedeutet. 


Staaten. Bevölkerung in Europa. Bemerkungen. 
Srüherer Stand. Jetziger Stand. 
1. Rußland !) 60,300,000 68,170,000 A ung an die Pforte 1856: 
3. Oeſterreich 38,088,000 35,553,000 —— Hin ber itaienifgen Provinzen 1850 
2. Frankreich 35,782,000 38,200,000 {dem 5 Tele —— 
4. Großbritannien u. 
Irland 27,758,000 30,100,000 
— —— "Se —A 
6. Preußen 16,935,000 24,019,000 bern 1. Br fan, „öaser — — = — 2 — 


——— gehluet aue are Sam 
em er Sicilien, dem om⸗ 
5. Italien — 24,369,000 !barborBenezien, Tostana, 

gene an und dem größten Theil des e8 Kitchen 


8. Türkei 2) 15,500,000 15,725,000 
7. Spanien 14,216,000 16,303,000 

Beide Sicilien 8,805,000 — ©. Italien. 
9, Schweren u. Nor- 

wegen 4,972,000 5,859,000 

Sardinien 4,930,000 — ©. Italien. 
11. Bayern 4,559,000 4,824,000 {von enetung an Jrenßen ibee— 
10. Belgien 4,426,000 4,984,000 


13. Portugal (mit den 
enrop. Inſeln) 3,900,000 4,350,000 
12. Niederlande 3,304,000 3,529,000 
21. Rirchenftaat 2,894,000 692,000 ©. Italien. 
17. Dänemark (früher 
mit Schleswig» 


Holftein u.Rauen- Ä 

burg) 2,396,000 1,684,000 &. Breufen. 
14. Schweiz 2,390,000 2,510,000 
15. Sachſen 1,988,000 2,426,000 


2) Die Bevölkerung des aftatifhen Rußland, über beffen neuerliche Vergrößerung flati: 
ſtiſche wo nody nicht vorliegen, wird auf 8,800,000 S. angefchlagen. 
it Einfchluß der unter türkiſcher Sugeränität ependen nder: Rumänien (gegenwärtig 
3,86 4.000 S.), Serbien (1,078,000 &.ı und Montenegro (198,000 ©.). Eine officlele Angabe 
vom Jabr. 1867 (Behm's Yahrbud S. 40) fchägt die Geſammtbevölkerung der europäiſchen 
Türkei auf 18.487.000 ©., offenbar übertrieben. Die Bevdlferung der af gertigen Tuͤrkei 
beträgt circa 16,000,000 S., die der Vaſallenſtaaten in Afrika 10,500,000 S 


st be 
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jene: 
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23 


‚Europa. 509 


Staaten. Bemerkungen. 


Bevölkerung in Europa. 
Srüherer Stand. Jetziger Stand. 
Hannover 1,819,000 — S. Preußen. 
Toskana (mit Lucca) 1,796,000 — S. Italien. 
16. Württemberg 1,733,000 1,778,000 
18. Baden 1,357,000 1,435, 000 
19. Griechenland 996,000 1,347,000 {Sram der Joniſchen Infeln 1868: 
20. Großh. Heffen 854,000 824,000 {rm a ung an Preußen 1806: 
K. Hefien 755,000 — S. Preußen. 
Modena 586,000 — ©. Italien. 
22. Mecklenburg⸗Schwerin 543,000 560,000 
Parma 95,000 — S. Italien. 
Nafſau 429,000 — S. Preußen. 


Die Zahl der kleineren ſouveränen Staaten betrug zu Ende des vorigen 
Jahrzehents noch 26, darunter 23, die dem deutſchen Bund angehörten. Sie iſt 
jest durch das Ausfterben der regierenden Linien in Anhalt-Bernburg und Heſſen⸗ 
Homburg, die Einverleibungen in Preußen von 1866 und bie Bereinigung ber 
Joniſchen Infeln mit Griechenland reduzirt. — Der Norddentſche Bund, 
welder Preußen, K. Sachſen, vie beiden Medlenburg, Oldenburg, vie heffifche 
Provinz Oberbefien, vie ſächſiſchen Herzogthümer, die beiden Neuß, die beiden 
Schwarzburg, Lippe, Anhalt, Schaumburg, Walded und die Hanfefläbte um- 
faßt, zählt auf 7542 [Meilen 29,903,000 Seelen. 

11. Handel und Verkehr. Die fhon damals riefenhafte Bewegung des 
eutopälfchen Handels hat in den legten zehn Jahren nad allen Seiten jedenfalls 
noch größere Proportionen angenommen, obgleich fih das Verhältniß einer irgend» 
wie zuverläffigen Bergleihung noch immer entzieht und fo lange entziehen wird, 
bis die ftatiftiichen Angaben in den verſchiedenen Ländern Europas nad benfelben 
Orunpfägen angefertigt werden, wozu indeß burd die internationalen flatiftifchen 
Kongrefie wenigftens die Einleitung getroffen worden ifl, und bis in ber Anfer- 
tigung der Angaben felber eine Genauigkeit, die nicht nur die Täuſchung anderer, 
fonvern auch alle Selöfttäufhung ausfchließt, erzielt fein wird, was heute noch 
feineswegs ver Fall iſt trop der entfchievenen ortfchritte, welde die Statiſtik 
unläugbar gemacht bat. Die befte Ivee ſowohl von der Geſammtſumme bes inter- 
nationalen Handels als von dem Untheil, den die verſchiedenen enropäifchen 
Staaten daran nehmen, dürfte folgende Tabelle der Handelsflotten gewähren, 
bie Kolb für das Jahr 1867 gibt, *) wobel zu bemerken iſt, daß das Hanptge- 
wicht auf die Angaben über den Zonnengehalt fällt. Demnad hatten 

Schiffe Tonnen Mannfcaft 


1. Großbritannien 28,800 5,760,000 180,000 
2. Deutihland (ohne Defterreich) 4,500 1,300,000 46,000 
3. Frankreich 16,259 1,008,000 25,000 
4, Italien mit Rom 15,800 700,000 50,000 
5. Norwegen 5,600 600,000 35,600 
6. Holland 2,230 510,000 14,000 

Üebertrag 72,189 9,878,000 350,600 


*) Anm. d. Ned. Diefe Tabelle begreift aber auch die der Küſtenſchiffahrt dienenden. Fahr⸗ 
zeuge und zum Theil, wie der angef. Schriftfteller bemerkt, zugleich die Flußſchiffe in ſich. Ge 
naue Angaben von etwas ülterem Datum enthält der Artikel „Flotte in Band IL, 





510 Nachtras. 


Schiffe Tonnen Manuſchaft 
Uebertrag 72,189 9,978,000 350,600 
7. Spanien 4,800 400,000 36,000 
8. Oeſterreich 4,000 250,000 20,600 
9. Schweven 3,200 160,000 — 
10, Dänemarf 3,000 140,000 — 
11. Rußland 3,700 100,000 15,000 
12, Griechenlaud 4,500 300,000 26,000 
13. Türkei 1,200 170,000 6,000 
14. Bortugal 600 83,000 8,000 
15. Belgien 100 85,000 1,400 
Zuſammen ungefähr 97,300 10,516,000 460,000 


Indeß Hat jedenfalls aud der Binnenhandel jebes einzelnen der europäiſchen 
Länder während ver legten zehn Jahre in fehr beveutendem Grade zugenommen, 
namentlih aud in Folge des gewaltigen Aufſchwungs, den das Eifenbahn- 
und Telegraphenweſen während verfelben überall, wenn auch nidyt überall 
ia demfelben Maße genommen bat. Die folgenden Ziffern find einem Aufſatze von 
K. Scherzer in Behm's Geogr. Iahrbudy für 1868 entnommen. (7,420 Kilometer = 
1 deutſche Meile.) 











Länge der Auf 100 Aufi Mil. Länge der Auf 100 (0: 
Eiienbabnen D Kilom. Bewohner Telegraphen- meter d. Zanpes 

in Kilo: des Landes treffen linien in treffen Ktilom. 

metern: treffen Sitom. SKilom. Kilos Telegraphen⸗ 
Eiſenbahn: Eiſerbahn: metern: linien: 
Großbritannien 24,621 7851 823 25,855 8,245 
Frankreich 14,908 2749 392 29,669 5,471 
Deutfchland 14,455 2742 395 23,966 4,547 
VDefterreidh 6,305 1014 179 19,670 3,324 
Spanien 5,110 1008 338 10,003 1,973 
Italien 4,840 1701 200 15,513 5,453 
Rußland (enrop.) 4,494 82 67 32,220 583 
Belgien 2,566 8713 519 3,500 11,865 
Schweben und 2.047 398 425 5,746 1,301 
Norwegen 4 99 185 3,065 . 996 
Schweiz 1,295 3179 516 3,559 8,738 
Niederlande 1,049 3198 295 1,972 6,005 

Bortugal 700 734 175 630 666 . 
Dänemart 478 1275 298 1,536 4,097 
Türlei (europ.) 286 81 21 6,410 1,795 


Einen Haupthebel für die Entwidelung fowohl bes internationalen als des 
Binnenverlehr der enropälihen Staaten fand Europa jedenfalls in ber Aner- 
kennung des Sreihamdelspriucips, das zuerft von England nad der Ab⸗ 
fhaffung der Kornzölle ausgefproden und hierauf im Jahr 1860 von Frankreich 
durch feinen Handelevertrag mit England aboptirt wurde, worauf Frankreich ſich 
Mühe gab, dem Princip auf dem europäiſchen Kontinent überhaupt meiteren Ein- 
gang zu verſchaffen, was ihm denn auch durch eine Reihe von Handelsverträgen 
gelang, die es nach einander mit Italien, Spanten, dem beutfchen Zollverein fowie 
mit den Heineren Staaten feither abgefchloffen bat. Hand in Hand mit der Aner- 
fennung des Freihandelsprincips ging diejenige der Gewerbefreiheit, bie 
nunmehr ebenfalls im größten Theile von Europa, namentlih aud faft in ſaͤmmt⸗ 





Europa. 511 


lichen deutfhen Staaten fowie in Oeſterreich durchgeführt ift, obgleich noch immer 
einige Ueberrefte der früheren Schranken zurüdgeblieben find, die ſich aber nn- 
mögli mehr lange werben halten können. Welch ungeheurer Fortſchritt durch bie 
raftifhe Anerkennung dieſer beiden in der Wiffenfchaft lange vorher feftgeftellten 
rincipien für das materielle Wohlergehen und bie materielle Entwidelung Europas 
erzielt und wie dadurch erft der Boden für die zahlreichen focialen Brobleme und 
ihre bereinftige Töfung frei gemacht worben iſt, wird erſt eine fpätere Zeit hin⸗ 
reihend zu würbigen im Stande fein. 

Bon großer Bebeutang für vie Entwidelung des europätfchen Handels ift 
der nach wiederholten unglädliden Berfuhen enblih 1866 ins Leben getretene 
Betrieb des transatlantifhen Kabels, d. h. der fubmarinen Telegraphen- 
verbindung zwiſchen England und der norbamerifanifhen Union, vie ver zähen 
Ausdauer des englifhen Unternehmungsgeiſtes alle Ehre macht und beren Ein- 
wirfung auf ven materiellen und geiftigen Berfehr zwiſchen Europa und Amerika 
nicht hoch genug angefchlagen werben kann, ‚umal weitere Verbindungen verfelben 
Urt zwifhen beiden Kontinenten kaum allzu lange auf ſich warten laffen dürften 
und in Frankreich bereits eingeleitet find. Bon gleicher, ja vielleicht noch größerer 
Bedeutung aber für ten europäifchen Hanbel wird die Eröffnung des Suez⸗ 
Tanals zur Berbindung zwiſchen dem mittellänbifchen und dem rotben Deere 
fein, an deflen wirflihem Zuſtandekommen bereits nicht mehr gezweifelt werben 
tann. Das Hanptverbienft diefes riefenhaften Unternehmens gebührt Frankreich, 
das darin eine ihm in viefer Richtung fonft nicht gewöhnliche Energie und Aus» 
daner an den Tag gelegt hat. Die Eröffnung glaubt man bereits auf das Jahr 
1870 in Unsfiät nehmen zu dürfen. Der Welthandel wird dadurch wenigftens 
theilweiſe wieder in die alte Bahn wie vor der Entdedung Amerika's zurädgeleitet 
werden, dem ganzen Süden und Often Europa’s aber bietet fi die gegründete 
Ansfiht auf einen neuen Aufſchwung. 

III. Berfaffungszuftände. In ven Berfoffungszuftänden oder wenn 
man will in dem Verfaflungszuftande Europas als eines Ganzen ift in den leiten 
zehn Jahren dur die Staffung eines einigen Königreichs Italien in den Iahren 
1859 und 1860 und durch die Neugeftaltung Deutſchlands im Jahr 1866 ein 
fehr tiefgreifender Wanbel eingetreten, der feinen Abſchluß noch nicht gefunden hat. 
Wie Frankreich, das dabei altiv und paffiv eine hervorragende Rolle gefpielt hat, 
aber fchließli dabei nicht ganz feine Rechnung findet, feither felber zu Tonftatiren 
in der Lage war, geht der Zug der europätfgen Menſchheit in neuerer Zeit ent- 
ſchieden und unverkennbar anf die Bildung großer Agglomerationen, 
denen eine ziemlihe Anzahl Feiner und Meinerer Staaten in Dentfhlanp und 
Italien zum Opfer gefallen ift, während auch die übrigen bereits einigermaßen ins 
Sevränge gelommen find und für den nächſten großen Zufammenftoß nicht ohne 
Grund für die Erhaltung ihrer vollen Selbſtändigkeit zu fürchten beginnen. Wie 
weit indeß die eingetretene Bewegung führen und welches ihr Einfluß auf bie 
Entwidelung der Einzelftanten fowohl als des großen Ganzen ſchließlich fein 
werde, entzieht fi vorbechand nod jeder Berechnung. Die feit 25 Jahren ein- 

etretene, felbft die kühnften Erwartungen weit übertreffende Erleichterung des 
erkehrs hat zu der eingetretenen Beränderung jedenfalls wefentlich beigetragen, 
unter allen Umflänvden die Möglichkeit derfelben ganz ungemein erleichtert. Ihre 
Wirkung iſt aber eine dauernde und fortwährend ſteigende, und zwar nicht bloß 
innerhalb der einzelnen Nationen, fondern aud für das Berhältniß berfelben unter 
einander. Die fih früher vielfach entgegenftchenden Interefien gleichen fi immer 


⸗ 


612 Nachtrag. 


mehr ans und an die Stelle mehr oder weniger ſchroffer Gegenfüge tritt in fid- 
gendem Grade das Bewußtſein der Zufammengebörigfeit. Wie die intermationalen 
Beziehungen der Einzelnen ſich tauſendfach vermehrt haben und täglidy vermehren, 
fo treten fi auch die großen Ganzen, denen fie angehören, täglich näher, fuchen 
ftatt wie früher das Berfchievene jest vielmehr das Bemeinfame auf und fiat 
bemüht, dieſes Gemeinſame im Interefie Aller auch gemeinfam zu regeln. Zu⸗ 
nächſt natürlich macht fi dieſes Bedürfniß und tiefes Streben auf tem Gebiete 
des Handels und bes Verkehrs geltend. Internationale Konventionen zu 
ſolchen Zweden und die denſelben vorarbeitenden internationalen „Konferenzen“ find 
etwas alltägliches geworben. Sie bilden eine lange Reihe von den Poftlonferenzen | 
bis berab zu jenen über Beterinärpolizei, und von ten fehr pofitiven intersatie 
nalen ſtatiſtiſchen Kongrefien bis zu der angenblidlid faft noch ſchwindelhaften 
Höhe europäiſcher Friedenskongreſſe hinauf. Immerhin zeigen fie alle die Richtung, 
bie der europäifche Geift allmälig eingefchlagen hat und offenbar immer energifcher 
verfolgt. Ohne Zweifel dauert e8 gar nicht mehr lange, bis Europa auf biefem 
Wege ein gemeinfames Münz- umb ein gemeinfames Maß- und Gewidtsfgftem 
erlangt. Und ſchon jegt ſcheint ein weiterer, folgenreiher Echritt ganz und gar 
nicht mehr außerhalb des Bereichs ver Möglichkeit zu liegen, ja er ſchwebt fo zu 
fogen bereits in der Luft — die Berfländigung über die Einrichtung regel: 
mäßig zufammentretender europälfher Konferenzen zur Regu 
lirung gemeinfamer materieller Interefien bezüglig der Eifenbahnanfdläffe, der 
Telegraphentaren, der Poftverhältniffe 2c. zc. Ift Europa einmal fo weit, und bat 
vielleicht das fo ziemlich von allen Etaaten, Rußland allein ausgenommen, tier 
retiſch anerfannte, aber praftifh allervings noch nicht ganz durqhgeführte Frei⸗ 
handelsprincip inzwifhen jo weit und fo tief gewirkt, daß bie bis jegt noch be⸗ 
ftebenden, aber bereits völlig unterwühlten Schupzölle fänmtli gefallen find und 
alle oder doch die meiften ihre Zollſyſteme auf eine Heine Anzahl rein fistalifcher 
Zölle reducirt haben, fo ift ver Gedanke eines europäifhen Zollver- 
eins keineswegs mehr ein phantaftifcher. Ievenfalls ſcheint das der Weg zu fein, 
anf dem allein wir allmälig zu einem enropäiſchen Kongreſſe gelangen 
können, der auch rein politifche Tragen zu regeln unternähme, eine Idee, bie be 
kanntlich der Kaifer der Franzoſen ſchon vor mehreren Jahren angeregt, wit der 

er aber bis jest noch nicht durchzudringen vermodt bat und zunächſt auch nicht 
durchzudringen vermögen wird. 

IV. Finanzen und Kriegsmacht der europälfden Staaten. 
Die größten Veränderungen der europäiſchen Verhältniffe find im Taufe der leisten 
. zehn Iahre anf biefem Öebiete vor fih gegangen. 

Die Staatsausgaben find überall fehr bebeutend geftiegen und da fie nnr 
theilweife durch die geftiegenen oder erhöhten Staatseinnahmen gevedt werben 
fonnten, jo mußten neue Staatsſchulden kontrahirt werben, deren Intereflen wiederum 
meift durch vermehrte Steuern und Abgaben aufgebracht werben. Zur Bergleichung 
mit den in Band III des Staatswörterbuchs gegebenen Ueberfihten in dieſer Be- 
ziehung mögen folgende Tabellen dienen, die wir wieder Kolb entnehmen und bie 
für den Anfang des Jahres 1868 ober vielmehr für das Ende des Jahres 1867 
wenigftens annähernd zutreffende Verhältnißzahlen geben.*) 





*) Anm. d. Red. Genauere Angaben über Staatsſchulden und Staatsaufwand ber euro 
pälfhen Hauptſtaaten in Jahr 1862 f. in Bd. X. E. 57, 147 ff. 


ir mm tt 


Kt Gr 


Europa. 518 


1) Einnahme und Ausgabe der europätfhen Staaten. 
Einkünfte Bedarf Davon erforbern 
— nen 


brutto netto netto of Militar Schuld 
Deutſchland 340 230 230 12 85 62 Mil. Thlr. 
Defterreih 271 192 228 6 64 93 un 
Großbritannien 456 423 420 3? 171 16 u 
Frankreich 570 406 450 10 130 160 „ r 
Rußland 436 346 390 86 149 74 , 
Italien mit Rom 240 208 296 a5 70 140 3 
Schweiz (Bund) 2,3 2 2 — 0,3 0,8 „ D 
Delgien 44 40 40 0,3 10 8,5 " " 
Niederlande 63 54 54 05 125 247, m 
Dänemart 20 16,8 19,8 0,6 3,6 I u " 
Schweden 16 14 15 0,8 5,t 2,8 1) " 
Norwegen 8 78 78 0,2 8,2 2 n " 
Spanien 190 10 20 35 40 5 u u 
Portugal 23 18 28 ad 
Griechenland 8 7 8 0,3 2 3 u " 
Turkei 90 80 86 6,7 28 30 „ " 


Türt. Schutzſtaaten 20 18 20 06 AM Bun 

Die orbentlihe Ginnahme betrüge demnach circa 2240 Mil, Thlr., ber 
Bedarf dagegen circa 2500 Mil. Thlr., woraus fi ein jährliches Deficit von 
etwa 260 Mill. Thlr. ergibt. 

Die Berbältnißzablen der Hauptpoften des Ausgabeetats aber wären: für bie 
Höfe ungefähr 2,63 0/,, für das Militär 34,85 0/, umb für die Jutereſſen ber 
Staatsfhulden 387,23 0/,, fo daß zufammen dieſe drei Hauptpoften allein 74,70 0/, 
der gefammten Staatseinnahmen verfhlingen und für alle anderen Bebürfnifie nur 
25,9 ©), übrig bleiben. 

2) Ueberfiht der europätfhen Staatéſchulden. 


Großbritannien 5285 Mil. Thlr. Portugal 285 Mill. Thlr. 
Frankreich 3500 " n Belgien -180 " " 
Rußland 2380  „ n Dänemarf 8 u M 
Defterreih 2031 „ n Griechenland 64 ,„ n 
Italien 1700 u " Schweben 46 " 
Spanien 1400 „ " Norwegen 128 „ " 
Deutſchland 988 Türt. Schutzſtaaten 10 5 u 
Holland 560 „ n Schmelz 3 u " 
Türkei 470 Zuſammen circa 19,000 „ 


" " " 

Eine nod viel größere Veränderung iſt und zwar in ber allerjüngften Zeit, 
feit 1866, in den militärifhen Verhältniſſen vieler europäiſcher Staaten einge- 
treten. Es läßt fih unmöglich behaupten, daß das Militärwefen von ven verfchie- 
denen europäiſchen Staaten vor 1866 und bis zu diefem Jahre vernadläffigt 
worden fei. Dasfelbe nahın im Gegentheil ſchon bis dahin eine der hauptſächlichſten 
Sorgen der Regierungen in Anſpruch, der Bedarf fowohl für den Sold und bie 
Berpflegung ber ftehenven Heere als für die Bewaffnung und Ausrüflung der⸗ 
jelben hatte ſchon damals eine fehr reſpeltable Höhe erreiht und laſtete ſchon 
damals ſchwer auf den Budgets ver einzelnen Staaten und noch ſchwerer war das 
vollawirthfchaftliche Opfer, das ſchon damals die Bevdllerungen zu tragen hatten. Aber 
Alles, was in diefer Beziehung gefordert und geleiftet wurde, bleibt noch weit 

Bluntfgli und Brater, Deutfges Staate⸗Wörterbuch. XI. 33 





514 Nachtrag. 


zurück hinter dem, was ſeit 1866 für wünſchbar, ja für unausweichlich noth⸗ 
wendig erachtet wird. Obgleich der Grundſatz der allgemeinen Wehrpflicht in 
Preußen ſchon ſeit länger als einem halben Jahrhundert in praktiſcher Geltung 
und nicht bloß theoretiſch, ſondern auch praftifch erwiefen war, welche verhältniß- 
mäßig viel zahlreihere Streitträfte Preußen gegebenen Falls vermittelft jenes 
Grundfages und des weiteren einer bebeutend kürzeren Dienftzeit im ſtehenden 
Heere aufzubringen tm Stande fei ald die übrigen Staaten, und obgleih ferner 
das ſchon vor mehr als zwanzig Jahren von Preußen in feiner Armee eingeführte 
Spftem der fog. Himterlader oder des Zündnadelgewehrs den übrigen Regierungen 
keineswegs ein Geheimniß geblieben und überbieß im fchleswig-holfteintfcyen 
Kriege von 1864 bereits zur praltifhen Probe gelommen war, fo erftaunte auf- 
fallender Weife doch alle Welt und die Militärs voran über die gewaltigen Maſſen, 
die das verhältnigmäßig Meine Preußen im Jahr 1866 plöglich theils ins Feld 
ftellte, theils für weiteren Bebarf noch immer in Bereitſchaft halten Tonnte, und 
über die ebenfo gewaltigen als raſchen Erfolge, die e8 im Felde davon trug und 
die mit Recht oder mit Unrecht hauptſächlich feinem Zünpnadelgewehr zugefchrieben 
wurden, Die nächte Folge davon war, daß große und Meine Staaten wetteiferten, 
fich in fürzefter Zeit viefelben Vortheile ſowohl mit Nüdficht auf die Zahl der 
Streitfräfte als auf die Bewaffnung anzueignen, nnd als Preußen daran ging, 
fein Wehrfuftem und feine Bewaffnung auf die neu erworbenen Landestheile und 
den norddeutſchen Bund auszudehnen und diefe Organifation mit ſolchem Nach⸗ 
druad und fo raftlofem Eifer betrieb, daß ſie fchon mit dem 1. Okt. 1867 im All⸗ 
. gemeinen als durchgeführt betrachtet werben konnte, ſchien fi ganz Europa in 
ein einziges große® Kriegslager verwandeln zu wollen. Die Umwandlung ber Be- 
waffnung wurde fofort Aberall in Angriff genommen. Die Vermehrung der Streit- 
träfte ging nicht eben fo ſchnell, obgleich fie von allen Staaten fofort gleichfalls 
ind Wuge gefaßt und auch alsbald angebahnt wurde. Hiebei aber zeigte fi eine 
ſehr entſchiedene und fehr beachtenswerthe VBerfchierenheit. Die germantichen Staaten 
Europa's entſchloſſen fich, die beiden Handelsſtaaten England und Holland allein 
ausgenommen, aldbald zur Einführung der allgemeinen Behrpflicht, naͤmlich außer 
dem norddeutſchen Bunde auch die vier ſüddeutſchen Staaten, Oeſterreich, Danemark, 
im weſentlichen auch Schweden und Norwegen, abgeſehen von der Schweiz, die dieſes 
Syſtem wie Preußen längſt beſaß. Dagegen konnten ſich die romaniſchen Staaten, 
Frankreich, Italien, Spanien und Belgien nicht dazu entfchließen und blieben bei der 
Konfkiption, nur daß fie innerhalb derfelben eine viel ftärlere Zahl Pflichtiger zum 
wirklichen Kriegsdienſt heranzogen, Leskauf und Stellvertretung zwar nicht gänzlich ab- 
ſchafften, aber doch weſentlich beſchränkten. Den gegenwärtigen Formationsſtand ber 
ftehenden Heere im Frieden, der mehr als früher (fiehe pie in Band III gegebene Tabelle) 
der wirkliche, nicht bloß der Sol-Stand auf dem Papiere fein dürfte, gibt Kolb für das 
laufende Jahr, wo die Vermehrung meift noch nicht durchgeführt iſt, folgendermaßen an: 


Deutfhland 380,000 Mann. Holland 30,000 Mann. 
Defterreich 250,000 Dänemark 12,000 „ 
Großbritannien 220,000 Schweden 40,000  „ 
Frankreich 430,000  „ Norwegen 16,000 „ 
Rußland 600,000  „ Spanien 200,000 
Italien 200,000  „ Portugal 25,000  „ 
Schweiz — Griechenland 6,000 „ 
Belgien 50,000 „ Türkei 140,000 u 


Zuſammen alſo 2,599,000 Mann, wozu dann nod bie Kricgemarinen mit 
mehr ald 200,000 Dann kommen. 





Europa, 515 


Den Stand der europälihen Armeen auf Kriegsfuß gibt ein „VBericht über 
bie Kriegsmacht der europäiſchen Staaten im Vergleich mit deren Bevöllerungs⸗ 
und Vüpgetverhältnifien im Sannar 1868" im 3, und 4. Heft der „Oeſterreichiſch⸗ 
militärifchen Zeitichrift" folgendermaßen an: Ä 


Kriegsflände Pror.-Berhältniß 


3. Einwohnerzgapt Proc. der Refrutenquote 
: 65 


Rußland 1,238,000 1 (112,000) = 1 : 600 
Norbdeutfher Bund 928,500 1: 33 (113,000) = 1 : 301 
Defterreich 791,000 1: 44 ( 85,000) = 1 ; 405 
Franlreich 650,000 1: 58 (100,000) = 1 : 380 
Italien 355000 1: 68 (51000) = 1: 476 
Zürtei 251,000 1 : 105 ( 25,000) = 1 : 1000 
Großbritannien 204,500 1 : 145 ( 15,000) = 1 ; 1980 
Schweiz 204,000 1: 18 ( 4,800) = 1: 521 
Spanien 178,600 1: 92 ( 40,000) = 1: 407 
Schweden 150,000 1; 33 ( 20,000) = 1 : 203 
Bayern 118,600 1: 40 ( 16,000) = 1 : 300 
Belgien 77,000 1: 64 ( 10,000) = 1 : 498 
Portugal 71,000 1: 60 _ 

Dänemarl 63,300 1: 26 ( 5,000) = 1 : 320 
Kirchenſtaat 10,440 — — 

Württemberg 45,600 1: 38 ( 5,800) = 1: 302 
Baden 4360 1: 3 ( 470 = 1: 304 
Holland 39,100 1: 94 ( 11,000) = + : 336 
Griechenland 10,600 1 : 127 ( 3,500) = 1 : 386 


Für den Kriegsfland ergäbe fih daraus die ungeheure Zahl von 5,429,840 
Mann, wovon freilich bezüglich Großbritanniens, Außlands und ber Türlel 
wenigftens ein Theil auf ihre aflatiihen Beſitzungen fält.*) 

Hinfigtlih der konfeffionellen Verhältniſſe gibt Hübner folgende 


Bufammenftellung : 

Defterreih Preußen Großbritannien Frankreich 
Nömifche Katholiken 23,264,000 7,803,000 6,400,000 35,734,667 
Proteftanten 3) 3,494,000 15,413,000 20,000,000) : 
Griechiſche Katholiten  7,120,000 1,500 1,800 1,561,250 
Andere Ehriften 55,000 58,000 2,600,000 
Inden 1,121,000 315,000 45,000 156,000 

Holland Belgien Rußlaud Itallen Spanien 


Nöm. Katholilen 1,234,486 4,720,000 7,161,000 24,100,000 16,180,000 
Proteflanten ) 2,006,926 8,000 4,000,000 4,000 


Srieh. Rathollten 32 2,000 51,000,000 10,000 — 
Andere Ebhriften _ 40,000 — — 
Inden 63,890 1,500 2,088.000 36,000 192,000 


*) Anm. d. Red. Den Berathungen fiber dad neue öſterreichiſche Wehrgeſetz find, mit Ber 
rüdfiätigung der in Frankreich und Eüddeutfchland während des Jahres 1868 eingetretenen Aende⸗ 
sungen folgende Ziffern zu Grund gelegt worden: Kriegsftand deö nordd. Bundes: 1,028,000 
(ind. 185,500 M, Landwehr), der ſuͤdd. Staaten: 200.170 (inc. 43,410 M. 8.) Oeſterreich: 
1,053,000 (ind. 53,000 M. Milttärgrenzge und 200,000 M. 8), Frankreich: 1,350000 (inc. 
550,000 M. Mobilgarde), Rußland: 1,467,000, Italien: 480,000. 

3) Evangeliiche, Meformirte und Angehörige der englifchen Hochkirche. 


33 * 


516 Nachtrag. 


Europa iſt gleichſam das Herz, aus welchem das Blut der geiſtigen Thätig- 
keit, der Arbeit und der Civiliſation durch tauſend Adern in alle Welttheile 
unſeres Erbförpers geſtrömt iſt und fortwährend ſtrömt, die Innere Kraft, bie, 
auf das Chriſtenthum geftügt und aus dem Chriſtenthum ſich fortwährend er- 
baltend und erneuernd, nah und nad alle umfpannt und turdbrungen hat. Bon 
Aſien ausgegangen, drängte fih bie Kultur im Alterthum um das Mittelmeer 
zufammen und umfaßte einen Theil Aſiens, Afrika's und Europa’s, aber ihr 
Schwerpunkt lag bereits in Europa; im Mittelalter trat Aſien entſchieden zurüd 
verfiel die Kultur Nordafrika's und fammelte fih Europa zu einer neuen unb 
größeren Aufgabe, entbedte in der neueren Zeit Amerika, Auftralien und Poly- 
nefien und legte darin die erften Keime feiner Kultur. Der Same iſt aufgegangen 
und die Früchte einer Arbeit von Jahrhunderten reifen vor unferen Augen. Amerika 
ift der europälfchen Kultur bereits völlig erfchloffen und gewonnen: hebt fi vie 
ſüdliche Hälfte desfelben aud nur langfam, fo if dagegen die nördliche fchon zu 
einem ebenbürtigen Gliede und zu einem ver wefentlihfien Stützpunkte dieſer 
Kultur geworden, der nach allen Seiten eigene Radien treibt und faum erft ſeit 
zehn Jahren in feiner energifchen Thätigfeit am fillen Weltmeer angelommen, von 
Kalifornien aus feine Fäden nad Afien binüberwirft und dort dem alten Europa 
neuerdings die Hand bietet. In Weft-Afien verfallen die Refte früherer Bildungen, 
England und Rußland find vie Hauptmäcte des Welttheils und rüden In der 
Mitte desfelben immer näher einander entgegen; ber erftarrte Often aber, China 
und Japan, haben fi, wiederum in ven legten zehn Jahren, europätjichen Ein- 
flüfien und europäifcher Kultur aufgefchloffen, beginnen aufzuthauen und werben 
ohne Zweifel binnen verhältnigmäßig kurzer Zeit felbftthätig in die Weltbewegung 
eintreten und an ihr theilnehmen. Auftralien und Polyneflen b ühen wunderbar 
anf, ihre Kultur iſt eine rein europäiſche. Afrika allein iſt zuräd, felbft feine 
Nordküſte, das Innere fogar noch meientlih ganz unaufgefchloffen, wenn aud 
europäifche Wiffenfhaft und Energie die gewaltigften Anftrengungen machen, von 
allen Seiten in fein Inneres einzubringen und es gleih wie den auftralifchen 
Kontinent wenigfteus der geographiſchen Kenntniß zu öffnen. 

In diefer weltumfpannenden Thätigfeit ſteht überall die germauiſche Race 
voran, die romaniſche entſchieden und weit zurüd. Die Sranzofen hatten noch im 
vorigen Iahrhundert in Kanada, den Lorenzfirom hinauf und den Miffiffippi 
hinunter bis nad Neuorleans hinab eine große Stellung inne, fie haben nichts 
darans zu machen gewußt und fie an die germaniiche Race verloren; bie 40jäh⸗ 
rigen Reſultate der Kolonifation von Algier find nicht der Rebe werth, und ebenfo 
wenig ihr neueſter Verſuch, fih in Hinterindien feftzufegen. Die Schöpfungen ber 
Spanier und Portugiefen in Süp- und Mittelamerika find verfallen und was fid 
auf ihren Trümmern erhoben hat, iſt in unaufhörlidem Schwanfen begriffen: 
kaum bie und da zeigen fi) wenigſtens Anfäte zu feften Geftaltungen, während 
die angelſächſiſche Macht langſam aber unaufhaltſam auch nah Süden hin vor- 
dringt und die oberſte Leitung des ganzen Welttheils für ſich in Anfpruch nimmt. 
Die ganze Kultur, die fi) zu beiden Seiten des atlantifhen Oceans während der 
legten brei Jahrhunderte entmwidelt bat und zum Mittelpunkt der Weltbewegung 
und Weltentwidelung geworben iſt, wie es im Alterthum vie Geſtade des Mittel- 
meeres waren, {ft ganz überwiegend, ja faft ausfchliegih die Schöpfung und das 
Verdienſt der germanifchen Race, und biefe Ift e8 auch wiederum in erfler und 
vorberfter Reihe, die ein neues Kulturleben und eine gegenfeitige Ergänzung auf 
den fich gegemüberliegenden Küften Amerila’8 und Oftafiens zu gründen bemüht 











Srankreich. 517 
ift, Die ſlaviſche Race nimmt an der Löſung dieſer beiden Aufgaben gar keinen 
Antheil, die Thaͤtigkeit Rußlands am Amur und in China und Japan iſt vorerfi 
wenigſtens no eine fehr untergeorbnete und felbft die Aufgabe, die es in Mittel» 
afien verfolgt, tritt gegenüber der Thätigkeit und den Erfolgen der germaniſchen 
Race in demfelben Welttheil gänzlih zuräd, 

Kebrt enblih der Blid von diefen ungehenern Räumen, in denen europäifche 
Thätigkeit und europäiſche Kultur unabläffig fchafft und unabläffig ſich ausdehnt, 
zurüd zu feinem Ausgangspunlt, dem alten Europa felber, jo begreift man, wie 
es, eingezwängt zwiſchen die gewaltigen und immer noch wachſenden Koloſſe Ruß- 
lands und der norbamerifanifchen Union fi in feinen einzelnen Gliedern Immer 
enger zufammenfchließt, wie vie Internationalen Beziehungen fi täglich verviel⸗ 
fältigen und wie es fichtbar nad einer Art formeller Einheit ſucht zu gemein- 
ſamem Schug- und gemeinfamem Trutz. 9. Sauttgeh. 


Fraukreich. 


(Nachtrag zu Band III ©. 610 ff.) 


Die Geſchichte Franfreihs Tonnte a. a. O. nur bis zum Ausgange des 
Krimmkrieges und dem Abſchluß des Pariſer Friedens herabgeführt werden. Die 
Wirkungen des gewaltigen Anftoßes, den Lonis Napoleon der auswärtigen Politit 
Frankreichs und damit der Entwidelnng mehr als eines anderen Staates fo wie 
derjenigen des europälfhen Staatenſyſtems überhaupt aegeben bat, lagen damals 
noch in ihren Anfängen und ließen ſich noch keineswegs überfehen und noch weniger 
berechnen. Heute bat die Laufbahn des mächtigen Mannes allem Anfchein nad 
wenigftens in gewiſſem Sinne ihren Abſchluß gefunden. Das Nefultat ift für 
Frankreich freilich kein fehr befriedigendes weder nach außen noch nach Innen und 
vieleicht ſchon die nächſte Zukunft der Ration iſt in fo undurdbringliches Dunfel 
gehüllt, wie nur je im Laufe der legten ſechszig oder achtzig Jahre. 

Räckblick. Als im Jahr 1848 die alten Zuſtände Europa’s überall plöglich 
zufammen brachen, die Wogen ver Revolution von allen Seiten über ihnen zu- 
fammeufchlngen und die Völker nach neuen Geftaltungen rangen, ohne fie von 
fi) aus finden zu können, drängte fi unwillkürlich auf Aller Lippen der Ruf: 
Ein Mann, ein Mann, ein Königreih um einen Mann! Der Auf verhallte ba- 
mals noch ungebört, bie Revolution brach überall in ſich felber zufammen und 
begrub unter ihren Trümmern zunähft das Neife mit dem Unreifen, das Edle 
mit dem Unebeln, das Vernänftige mit fammt dem Thörichten. Eine geift- und 
berzlofe Reaktion triumphirte, aber doch nur ſcheinbar, nur angenblidiih. Was 
als alt und morfch und nicht mehr Iebensfähig zufammengeftürzt war, ſtand immer⸗ 
bin nicht lebensfähig wieder auf: der Boden war überjäet mit alten und neuen 
Trümmern, aber nnter den Trümmern fchlunmerten zahlreiche Keime neuer, großer 
und lebensfähiger Seftaltungen, tie nur der Zeit und der Umflänbe beburften, 
um aufzubrehen und zur Meife zu gelangen. Auch die Männer, die viel erfehnten, 
famen, wenn aud in anderer Welfe, als man ſich's wohl damals gedacht hatte. 
Noch im vierten Iahrzehent des Jahrhunderts fand Frankreich feinen Mann, im 
fünften Italien, im fechsten endlich auch Deutihland. Die drei Männer waren 
berufen, dem innerften Gedanken, der die drei größten Kulturvölfer des Kontinentes 
bewegte, zum Ausdruck zu verhelfen, und unter ihrer Sand ift Europa Binnen 
zwanzig Jahren ein wefentlih anderes geworben, als es damals war. Noch iſt 
ihr Werk ein unvollendetes, noch ftehen fidh die Maffen und ihre großen Intereffen 


518 Nachtrag. 


Halb drohend, halb freundlich gegenüber, noch harren überall die Räber, bie doch 
‚beftimmt find, mit der Zeit feft und leicht ineinander zu greifen. Aber vie Grund⸗ 
lagen find gelegt und die Linien find nicht allzu ſchwer zu erkennen, auf denen 
fid die weitere Entwidelung faft nothwendig bewegen muß. Wie feit bald einem 
Sahrhunvert, fo bat auch dießmal wieder Frankreich den erften Anftoß gegeben. 
Das leute Wort fheint jedoch dießmal nit ihm befchieden zu fein und das 
8008, das es gezogen, hat es daher ſchließlich keineswegs ſehr befriedigt. 

Vor zehn Jahren noch war die Lage eine weſentlich andere. Der Verſuch 
einer Republik war nur durch Ueberraſchung möglich geweſen. Selbſt zu einem 
Verſuch fanden ſich die Elemente faſt ausſchließlich in Paris; die große Mehrzahl 
der Franzoſen, die Landbevolkerung zumal, war für Alles eher geeignet als für 
die Republit. Der Traum war denn au bald ausgeträumt und beim Erwaden 
jahen ſich bie aufrichtigen Republifaner in erſchreckender Minderzahl den Soctaliften 
gegenüber, denen die Republik nit Zwed, fondern blog Mittel war, und den 
Monardiften, vie fi wieder in Regitimiften, Orleaniften und Bonapartiften 
jpalteten und ſich bereit machten, einander nicht bloß auf der Rebnertribline und 
an ber Wahlurne, fondern -nöthigenfalls auch mit den Waffen in der Hand zu 
befämpfen, und alle dieſe Bartelen ftanden auf der breiten Unterlage der großen Mafle, 
bie in Frankreich damals und heute noch fo ziemlich auf der unterften Stufe des 
politiſchen Bewußtſeins ſteht und gar nicht zu regieren, fondern nur regiert, nicht 
bloß hin⸗ und bergezerrt zu werben verlangt. Auf diefe große Maſſe ftügte fid) 
Louis Napoleon, nm über feine Gegner und feine Rivalen zu triumphiren, 
und errang die Gewalt mit einem kecken, tühnen, rüdfichtslofen Griff. Die 
den Staatöftreih vom 2. December 1851 bewirkte „Rettung ber Geſellſchaft“ ift 
ſeither maßlos übertrieben worden. Dagegen iſt fo viel außer Zweifel, daß ohne 
ihn die Parteien in Frankreich fidh vieleicht anf Jahre binans die Wage gehalten 
und gegenfeltig neutraliſirt oder ohne durchſchlagende Kraft einander im Regiment 
abgelöst hätten, fo daß das Land auf Iahre hinaus ſchwach nad Innen umd 
ſchwach nah außen gewefen wäre. Der gelungene Staatsſtreich machte allem 
Widerftreit der Parteien ein eben fo vollftäntiges als jähes Ende: vie führer der 
alten Parteien wurden ins Ausland exilirt, die unruhigen Republilaner und So- 
cialiſten nah Cayenne und Lambeſſa gefhidt, die Bourgeoiſie alles und jeden 
politiſchen Einfluſſes beraubt. Louis Napoleon, erſt als Praͤſident und ſchon nad 
einem Jahre als Kaiſer, vereinigte alle Gewalt in feiner Hand und ſtützte fi 
dabei vermittelft des zur Grundlage der Berfaflung erhobenen allgemeinen Stimm- 
rechts auf jene breitefte Unterlage der großen Maſſe, die wie gefagt regiert, hochſtens gut 
regiert werben will, aber e8 auch zufrieden ift, wenn fie nur nicht geradezu fchlecht 
regiert wird. Alle mittleren Gewalten zwiſchen dieſen beiden, alle jog. Volkasfrei⸗ 
heiten verihwanden gänzlih, das Bereins- und Berfammlungsrecht wurde völlig 
bejeitigt, die Preffe warb zu einem wahren Schattenipiel an der Wand, die fog. 
Bollsvertretung war in Wahrheit feine Vertretung des Volles, fondern vermittelft 
ber officielen Kandidaturen ausfchließlich eine folde der Regierung. Der Schlag 
war ein fo unerwarteter und zugleich fo durchgreifender geweien, daß e8 lange 
dauerte, bis die alten Parteien ſich von ihrer Ueberraſchung auch nur erholten, 
und als fie endlich wieder zu fi kamen, mußten fie ſich geftehen, daß ihnen das 
neue Regiment aud nicht einen einzigen feften Punkt gelafien hatte, wo fie ihre 
Hebel gegen basfelbe hätten anfegen können. Augenblicklich beherrſchte ver Kaiſer 
das Terrain ganz und ausſchließlich und benügte die Zeit, um frankreich nadı 
außen eine ganz andere Stellung als bisher zu erwerben und, fo meinte er wenig- 











Srankreich. 519 


ſtens, feine eigene Macht und diejenige der Dynaſtie, die er zu gründen gedachte, 
für immer zu befeftigen. 

Der Ungenblid war überaus günftig. Der Kaifer verfügte ganz unbebingt 
über die ſämmtlichen Kräfte eines großen Reiches, während alle anderen Mächte 
noch mehr oder weniger mit ben Nachwehen ver jüngften Ummälzungen zu fchaffen 
hatten, und an Unbefangenheit des Urtheils wie an Weite des Blids, an Be 
fonnenheit wie an Thatkraft fühlte er fih, und mit vollfiem Net, den da» 
maltgen Lenkern derſelben weit überlegen. Der Krieg gegen Rußland wurde nicht 
von Napoleon veranlaßt, wohl aber von ihm, ſobald er erfannt hatte, daß bie 
Möglichkeit Dazu vorliege, mit großer Geſchicllichkeit eingeleitet und fo, daß ihm 
bie vorwiegenbe Leitung zufallen mußte. Das Ziel, das ſich der Kaiſer babet vor- 
geftedt hatte, zeigte von Anfang an, daß er nach dem höchſten zu ringen ent- 
ſchloſſen war, und der Erfolg übertraf auch alle Erwartungen, zumal wenn man 
bebenft, daß Rußland auf feiner empfindlichſten Seite durch Preußen gebedt, ein 
definitiver Entſcheid gegen dasſelbe fomit eigentlich gar nicht möglih war. Ruß- 
land verlor das Principat, das es bisher In Europa ausgeübt hatte, und fein 
Einfluß wurde auf das Maß zurüdgeführt, zu dem es feine wirklichen Kräfte 
berechtigten, während feine biäherige, mehr ober weniger dominirende Stellung 
zu denfelben in gar feinem Verhältniß geftanven hatte. Das europäiſche Principat 
ging von Rußland auf Frankreich über. ” 

Frankreich bat dadurch, daß es Rußland im Krimmkriege wenigftens in feine 
Schranken zurüdwies, unzweifelhaft fih um bie weitere Entwidelung Europa’s 
verbient gemacht, und zunächſt erfchten es auch in ber That volllommen berech- 
tigt, an die Stelle jenes zu treten und bie Rolle einer Art von Vormacht in 
Europa zu fpielen, die ihm denn auch die übrigen Fürften ziemlich willig alsbald 
einräumten. England fand zwar nah dem Falle Sebaſtopols Außerlich neben 
Frankreich als Steger da, aber in Wahrheit Hatte es eine Niederlage erlitten, 
die faft nicht geringer angefchlagen werben mochte als diejenige Rußlands felber. 
Daß es neben den großen Militärmäcdten des Kontinents nicht mehr zu kon⸗ 
kurriren vermöge, war allervings eine Thatſache, die ſchon vorher feftftand; indeß 
diefe Thatſache war doch In der Krimm in einer Weile zu Tage getreten, bie viel- 
fach geradezu demüthigend genannt werben mochte, und was Englands unbeftrittene 
Ucberlegenheit zur See betraf, fo hatten troß berjelben feine wiederholten Expe⸗ 
bitionen in die Oftfee und gegen Kronftabt ein Fiasko gemacht, das beſchämend 
fein mußte gegenüber den folgen Erwartungen, welche die Öffentlihe Meinung in 
England felöft daran geknüpft hatte Seit dieſer Zeit uud biefen Erfahrungen 
batirt denn aud der Entſchluß Englands, ſich von den Händeln des Kontinents 
fo .viel wie nur immer möglich zurüdzuziehen, ein Entſchluß, ver freilich neben 
biefem aud noch auf anderen inneren und äußeren Momenten berubte. Uebrigens 
trat der Entſchluß nur allmälig zu Tage; zunähft verharrte England bei ver 
Allianz mit Frankreich, die Napoleon um fo befjer zu verwerthen wußte, als die 
Leitung ihres politiſchen Einfluffes vorwiegend in feinen Händen lag und die ihr 
gegenüberſtehende Allianz ber drei fog. norbifhen Mächte weſentlich gelodert er- 
ſchien. Zwiſchen Rußland und Oefterreih war buch den Krimmkrieg ein Keil 
hineingetrieben -worben, ver nicht fo leicht wieder entfernt werden mochte, well 
er den realen Sntereffen beider Mächte entipradh. "Preußen zählte damals noch 
nicht voll unter den Großmächten, zumal unter dem Megimente des Hrn. v. Man⸗ 
teuffel und bei ver thatſächlichen Abhängigkeit von Rußland, weßhalb es aud 
beim Pariſer Kongreß eine jehr empfindliche Demütbhigung hinnehmen mußte. Die 


J 


530 Nachtrag. 


anfängliche Zurädhaltung der Fürſten gegenüber dem Parvenn auf dem franzd- 
ſiſchen Thron, der feinen Urſprung gar nicht wie Louis Philipp vergeſſen zu 
machen bemüht war, fondern fich vesfelben fehr wohl bewußt war und ihn 
durchaus nicht verläugnete, war ganz dahin gefallen. Hatte man ihn vorher um 
der Dienfte willen, die er der Sache der Orbnung geleiftet, wenigftens geduldet, 
fo war die Anerkennung, die ihm jegt gewidmet wurde, eine unummundene unb 
aufrichtige. Frankreich war augenblidiid die flärkfte Macht auf dem Kontinente: 
Europa anerfannte es. Die Franzoſen waren zufrieden und vergaßen barüber zu⸗ 
nächft, womit fie diefe Stellung erfauft hatten. Napoleon aber that Alles um fie in 
diefer Stimmung zn erhalten und fie anderweitig zu befchäftigen und zu befriebigen. 
Der Eifenbahnban erhielt einen gewaltigen Aufſchwung, ver Umbau von Parts 
wurde im großartigften Maßſtabe in die Hand genommen, tie unrubige Arbeiter- 
bevöfferung hatte vollauf zu thun und bie Gründung des Crédit mobilier gab 
ber Spekulation einen folden Anftoß, daß halb Paris von nichts Anderem träumte, 
als von der Möglichkeit, eben fo leicht als ſchnell zu Reichthümern zu gelangen 
und an dem mannigfaltigften Lurus Theil zu nehmen, der fi in fabelhafter Weiſe 
über bie Weltſtadt ausbreitete. 

Der ttaltenifhe Krieg. Indeß war das Kaiſerthum doch nit fo 
unbebingt ber Friede, wie Napoleon einft in Borbeaur verkündet hatte. Schon 
während bes Krimmkrieges und unmittelbar nach bemfelben hatte der Kaiſer bie 
erften Fäden eines neuen Plans gezogen, bie nad Umſtänden wieder fallen ge- 
laffen ober fortgefponnen werben konnten; das Attentat Orſini's entſchied für das 
legtere. Ende 1858 war Napoleon entſchloſſen, die Loſung der italieniſchen Frage 
in die Hand zu nehmen, eine Frage, deren Tragweite burch ihre Rüdwirkungen 
auf Europa eine noch viel größere werben follte, als es die Zurüdwerfung Ruß⸗ 
lands gewefen war. Und ſchon ſchien bie Stellung Napoleons eine foldye zu fein, 
daß er ed gar nicht mehr für nöthig eradhtete, ven Kriegsfall langſamer Hand 
vorzubereiten und herbeizuführen, ſondern ihn am Neujahrötage 1859 geradezu 
vom Zaune Brad. Wenige Monate fpäter fanden ſich die dfterreicgifchen und 
franzöfifgen Armeen in den Ebenen der Lombarbei gegenüber. Napoleon hatte 
laut erflärt, daß Frankreich für das „Recht der Nationalitäten" das Schwert ge- 
zogen habe, und von Mailand aus den Italtenern feierlich verfprochen, ihr Laud 
frei zu machen „bis zur Aorta”. Defterreich unterlag In zwei großen Schlachten, 
bei Magenta nnd bei Solferino, Aber Itallen war damals noch nicht frei bis 
zur Aria, Napoleon fland jet erft vor dem Feſtungsviereck, dem flärkften Boll- 
wert Oeſterreichs jenfeits der Alpen, auf das es in der neneften Zeit ſeit 1849 
Millionen verwendet hatte. Und eben jet regte es ſich auch im Rüden der Frau⸗ 
zofen am Rheine. Preußen hatte feine Luft gehabt, von Anfang an für Defterreich 
einzutreten, das fogar dem mahnfinnigen Gedanken Raum gegeben hatte, nad) 
Paris zu ziehen und dort Heinrich V. auf den Thron feiner Väter wieder ein⸗ 
zufegen, aud Feine Luft, das politiiche Unterdrückungsſyſtem Defterreichs in Italien 
aufreht erhalten zu helfen und hatte feinerfeits den dentſchen Bund abgehalten, 
dem bedrohten Defterreich beizufpringen. Dagegen wäre Preußen fehr geneigt ge: 
weſen, Oeſterreich feinen Befigftand in Italien zu wahren, und als dieſer theils 
bereit8 verloren, theils werfigftens augenfcheinlich gefährbet war, machte Preußen 
feine ſämmtlichen Streitträfte mobil und erflärte fich bereit, für Defterreich in bie 
Altton einzutreten und bie Franzoſen am Rhein anzugreifen, wenn jenes ihm ben 
ausſchließlichen Oberbefehl über die deutſchen Bundesſstruppen nach jener Seite bin 
überloffe, ein Berlangen, das nur für billig erachtet werben konnte. Frankreich 





Scanhreid. 521 


und Deſterreich ſtanden vor fchweren Entfcheidungen. Ienes war augenblidlich 
nicht im ber Lage, gleichzeitig am Rhein und am Po Krieg führen zu können, und 
diefes konnte fi nicht dazu entfchliegen, Deutſchland ber Führung eines Rivalen 
zu überlafien, von dem es nicht felbfländige Hülfe, fondern einfache Heeresfolge 
erwartet hatte, Beide verſtaͤndigten ſich unter biefen Umſtänden ſchnell und fchlofien 
zu Villafranca Waffenftillftand und Friedenspräliminarien ab, die bald darauf in 
Züri zu einem fürmlichen Friedensſchluſſe umgewandelt wurden: Defterreich ver- 
zichtete auf die Lombardei, um wenigftens Benetien zu retten und feine Stellung 
in Deutfchland intakt zu behalten; Sarbinien wurde durch die Rombarbei ver- 
größert und ganz Itallen follte unter dem Ehrenpräfivium des Papftes eine einzige 
Konföderation bilden. . 

Napoleon Tehrte trinmphirend nad Paris zuräd: feine Waffen hatten nene 
Siege erfochten, der ausſchließliche Einfluß Defterreihs In Italien war gebrochen 
und es mußte ihn fortan wohl mit Frankreich, von deſſen Schub das vergrößerte 
Sarbinien immerhin abbing, theilen, der Kaifer hatte eine neue Idee, die Idee 
ber Rationalität, in die Welt geworfen. Napoleon ftand im Herbft 1859 unftreitig 
im Zenith feiner Macht und feines Anfehens: hatten die Fürften fhon früher 
anerfaumt, daß er es gewefen, ber bie Revolution gebändigt habe und Frankreich 
mit eiferer Hand im Zaume halte, fo mußten ihm nunmehr auch die Völker die 
Anerkennung zollen, daß wiederum er e8 fel, der in Italien bie höchſten Interefien 
der Humanität und des Liberalismus gegen den Abfolutismus Defterreiche zur 
Unerfennnug gebracht und die italieniſche Nation zu neuem Leben erwedt habe. 

Ueberfiht der Beriode von 1860 bis 1868. Allein die nene nnd 
richtig aufgefaßt auch durchaus berechtigte Idee der Nationalität wandte fih nur 
zu ſchnell gegen ihren eigenen Urheber, und von biefem Yugenblide an fehen wir 
Napoleons Stern im Sinken, langfam zwar, aber fiher. Geſtützt auf das von 
ihm felber verfänvete Princip erhob fi zuerft Italten im Jahr 1860, vermarf 
die Konföderation, die es von Frankreich abhängig gemacht hätte, und errang feine 
Einheit ohne Frankreichs Unterflügung, ja gegen feinen Willen, und fechs Jahre 
fpäter warf auch Deutfhland die Konföveration, die es Frankreich gegenüber 
ſchwach erhielt, ab und legte wiederum ohne Frankreich zu fragen die Fundamente 
feiner Einheit: nnd beide Nationen fanden in ihren nationalen Beſtrebungen 
Führer, die ale Staatsmänner dem Kaiſer ebenbärtig an bie Seite traten. Sieht 
man von der Erpedition nad Meriko, einer großartigen aber unglücklichen Kon⸗ 
ception des Kaiſers, als einer Diverflon nach anderer Seite hin, ab, fo finden 
wir ihn während der ganzen Periove von 1860 bis 1868 bemüht, bald das 
Emportommen jener beiden großen fi ſelbſt gengenven Staatsblldungen an ben 
Grenzen Frankreichs zu bindern oder doch zu hemmen, bald bie Eriftenz berfelben 
mit den Intereffeu Frankreichs in irgend einer Weiſe anszugleihen, ohne auf das 
bisherige Uebergemwicht des letzteren verzichten zu müſſen, bald wieder gejchehen zu 
laflen, was doch nicht zu ändern war, und fih In das Unvermeibliche zu fügen. 
Die natärlige Folge davon war eine gewiffe Unficherheit, ein Taſten nach Aus⸗ 
funftsmitteln, ein Schwanken zwiſchen Krieg und Frieden, was dem Kaifer ſeither 
von der Oppofition immer lauter und nahprüdlicher vorgeworfen wurbe. Und es 
ließ fich and gar nicht längnen und alle Welt mußte es fühlen, daß dem Kalfer 
bie Greiguiffe, zu denen er felbft den Anftoß gegeben hatte, gewiſſermaßen über 
den Kopf gewachſen waren. Der einzig richtige Ausweg war ohne Zweifel ver, 
die Neugeftaltung Europa’s, die im Werben war, unummunden anzuerlennen und 
ba8 Gegengewicht ausſchließlich oder doch ganz Überwiegend in der inneren Ent⸗ 


620 Nadteng. 


widelung Frankreichs und feiner reichen, zum Theil noch ganz unentwidelten, zum 
Theil abfihtlih und fyftematifch gebundenen Kräfte zu ſuchen. Unmittelbar nad 
den Ereigniſſen von 1866 in Deutfchland wies der Volksinſtinkt ben Kaiſer auf 
einen Augenblid laut und deutlich darauf hin. Wie früher vie Inneren ragen im 
auswärtige, fo mußten nunmehr bie auswärtigen faft mit Nothwendigkeit fih in 
Innere umfegen. Es lag dieß um fo näher, als die Bffentlihe Meinung bes 
Landes fich felt dem Staatöftreihe allmälig doch wieder erholt hatte und ber Neu⸗ 
tralifatton der über die inneren ragen unter ſich ringenden Kräfte und Parteien 
durch ven Kaiſer fihtlih müde zu werben begann: bie alten Parteien fingen an 
fi wieder zu regen und newe Elemente verlangten zum mindeften die freiheitliche 
Ausbildung des Kaiſerthums auf feiner eigenen Grundlage, berjenigen des allge- 
meinen Stimmrechte. Bon 1851 bis 1860 war von einer ernftlihen Oppofition 
eigentlich gar feine Rede geweien: theils Hatte fie ſich nicht hervorgewagt, theils 
war fie, wo und wie es gefchah, von ber kaiſerlichen Regieruug fofort mit Gewalt 
befeitigt ober niebergefchlagen worden. Seit 1860 dagegen finden wir wieber bie 
Anfänge einer folden und zwar einer Oppofition, deren Kräfıe fihtlih im Gtet- 
gen waren und bie fi für die Geringſchätzung, mit der fie behandelt wurde, durch 
ein Auftreten entſchädigte, deſſen Rüdfichtslofigkeit oft geradezu alles Maß über- 
fchritt. Der Kalfer konnte auch nach biefer Seite die allmälige Veränderung feiner 
Lage unmöglich verfennen und war bemüht, auch ihr einigermaßen gerecht zu 
werben. Aber auch nad diefer Seite und zwar noch viel mehr als nach der ber 
auswärtigen Politik trat eine gewifle Unficherheit, ein Schwanfen, ein Ergreifen 
bloß halber Mafregeln zu Tage, die einen um fo peinlicheren Eindrud machen 
mußte, als die Finanzwirthſchaft des Kaiſers der Oppofition allmälig und in 
fleigendem Grabe das Meſſer gewifiermaßen in die Hand zu drücken geeignet iſt 
und jenen vor bie entſcheidende Alternative ſtellt: entweder einen großen Krieg nach 
außen zu wagen oder aber durchgreifende innere Reformen zuzugeftehen — das eine 
ober das andere, wenn {Frankreich bie Stellung, auf die es im Kreife der euro- 
päifhen Natienen Anſpruch madt, fi erhalten und das Kaiſerthum felbf vor 
ber inneren Fäulniß, von der es nachgerade fich bedroht fieht, bewahrt werben fol. 
Sehen wir die Thatſachen nad diefen drei verfchienenen Beziehungen, ver ita- 
lieniſchen Frage, ber veutfchen Frage und der inneren Meformen näher an. 

Der weitere Berlauf der italienifgen Angelegenheiten. In 
Italien tritt uns von Anfaug an bie große Geftalt des Grafen Cavour ent 
gegen, der bald nad dem unglücklichen Kriege von 1848/1849 die Zügel der 
fardinifhen Regierung ergriff, um aus Sardinien einen modernen Staat zu fchaffen 
und es fo zu befähigen, ganz Italien einen Stügpunft zu bieten und an feine 
Spige zu treten. Während des Krimmirieges führte er dasſelbe den Weſtmächten 
zu, um ein näheres Verhältniß zu Frankreich vorzubereiten und feine Anfpräde 
auf eine felbftändige Stellung unter den Großmächten aller Welt thatſächlich dar⸗ 
zulegen, wie es am Partfer Kongreſſe fpäter in anderer Weife gefhah. Die Idee 
des Plans lag im Keime damals fhon vor. Im Sommer 1858 verftändigte fi 
der Kalfer zu Plombidres mit Cavour perfönli über vie Ausführung. Die Folge 
war der Öflerreihiich-italienifhe Krieg von 1859. Aber Napoleons und Cavours 
Ziele lagen von Anfang an weit aus einander: dieſer hatte nur Italiens, jener 
vor allem Frankreichs Interefien im Auge. Der Krimmkrieg hatte durch feine 
bireften und inbireften Erfolge Fraukreich wieder faft mit einem Nude an tie 
Spige der europäiſchen Nationen geftellt. Es galt nun, diefe Stellung zu fichern 
und ihr eine breite, folive Unterlage zu ſchaffen. Der Kaiſer ſuchte und fand fie 








Frankreich. 523 


in einer näheren Verbindung der romanifhen Elemente und ver romaniſchen 
Staaten Europa’s mit Frankreich. Als er nach Italien in den Krieg zog, ver» 
kündete er das Notionalitätsprincip und das Selbſtbeſtimmungsrecht ver Völker 
als feine leitenden Grundſätze; aber dieſe liberalen Tendenzen waren ihm lediglich 
Mittel zum Zwei. Bon einer Durdfährung jener "Principten in ganz Italten 
tonnte vor der Hand gar Feine Rede fein und Cavour bürfte daran fo wenig 
gedacht haben ala Napoleon felbft; der Gedanke eines einheitlichen Italiens lag 
in Plombidres beiden wohl noch in welter Ferne: ber eine wagte ihn ficherlich 
noch nit au hoffen, der andere glaubte ihn noch lange nicht fürchten zu müſſen. 
Worüber fie ſich zunächſt wohl allein verftänbigten, war bie Befeitigung ber 
direften öfterreigifchen Fremdherrſchaft, aber aud die vollſtändige Befeitigung 
berfelben; Italien follte „frei werben bis zur Aorta”, d. h. wenigſtens fich jelbft 
zurädgegeben und feine inneren Zuflände wie feine Stellung nah außen aus- 
ſchließlich das Produft feiner eigenen Kräfte werben, wie fich dieſe auch allmälig 
geftalten oder amsgleihen mochten, Bezüglih Mittel- und Süditaliens wurden ficher 
wenigfiens keine beftimmten Abmachungen getroffen: Rapoleon mag indeß ſchon 
damals an eine feanzdfifhe Selundogenitur in Toskana gedacht, Eavonr fein Ange 
auf die fog. Herzogthümer geworfen haben, bie faft nothwendig mit Defterreich 
Reben und fallen mußten, wie auf bie Romagna, vie das Joch des römiſchen 
Papft-Könige längft nur widerwillig und mit Ungebuld ertrug. Schwerlich wurbe 
fon in Plombidres irgend etwas über die Herftellung einer italienifchen Konföde⸗ 
ration ausgemadt, wenn auch bie Ibee beſprochen worden fein mag: eine Art 
Gleichgewicht zwiſchen dem Königreich beider Sizilien und dem beabſichtigten fub- 
alpiniſchen mußte ſich fo oder fo bilden und feiner der Paciscenten mochte wiflen, 
wie fih, beſtimmend und beftimmt, die Stellung der italieniſchen Mittelſtaaten 
dazu geftalten und darauf einwirken würde. Seit mehr als drei Jahrhunderten 
hatten Defterreih und Frankreich um den überwiegenten Einfluß in Italien ge- 
rungen und ber Krieg von 1859 war bi8 auf einen gewiſſen Grab nur eine Fort⸗ 
ſetzung biefes alten Gegenſatzes. Doch dachte Napoleon aud nicht einen Augen⸗ 
blick an die direkte Beherrihung auch nur eines Thelles von Italien, diefem Zu⸗ 
ftande follte vielmehr ausgefprohener Maßen für immer ein Ende gemacht wer- 
den. Er begnügte fi mit der eventuellen geheimen Abtretung Savoyens und 
Nizza's und mit der faft als unzweifelhaft vorauggefehenen Thatfache, daß das 
neue fubalpinifche Königreich gegenüber Defterreih und gegenüber Neapel noch auf 
lange hinaus des Schuges Frankreichs bevürfen und fomit in einer gewiflen Ab⸗ 
hangigkeit von dieſem bleiben werbe, Und das war für Napoleon die Hauptjade. 

Uber es Tam bald anders, als fi der Kaiſer gedacht hatte. Sein Plan auf 
Toslana wurde vom Prinzen Napoleon felber vereitelt nnd die von ihm offenbar 
nicht erwartete Haltung Preußens zwang ibn, vor dem Feftungsviered fiehen zu 
bleiben und auf die vollſtändige Befeitigung ter öſterreichiſchen Herrfchaft in Italien 
zu verzichten. Durch bie Friedenspräliminarien von Billafranca meinte er indeß 
feinen Zwed dennoch und vollftändig erreicht zu haben: mit der Aunerion der 
Lombardei ſchien Sardinien jeder andern italieniſchen Macht, jo weit fie eine 
wirklich italieniſche war, gewachſen und felbft überlegen zu fein, und wenn es für 
feine weiteren Beftrebungen und Plane mehr als beabſichtigt worden, auf den 
Schutz und bie Unterftügung Frankreichs angemwiefen war, fo entfprad das nur 
um fo befjer den Interefien des legteren. Der Kalfer hatte indeß vie Macht des 
italieniſchen Nationalgeiftes unterfchägt. So weit biefer ſich an die noch friſche Kraft 
Piemonts anlehuen konnte und von ihr fich geftüst fühlte, war derſelbe ganz und 


— 


524 Nachtrag. 


gar nicht geneigt, den Kopf nenerbings unter ben Äußeren Drud, ber fo lange 
auf ihm gelaftet und von dem er fi augenblidlich befreit fpürte, zu beugen. 
Zoslana, bie Herzogthümer und tie Romagna verharrten in der Stellung, in 
ber fie einmal waren, und weigerten fi, ihre vertriebenen Fürſten wieder zurück⸗ 
zurufen, und Niemand war ba, fie zu zwingen. Ohne die Früchte feiner Siege 
in der öffentlihen Meinung nicht Bloß Italiens fondern Europa’s alsbald wieder 
Preis zu geben, Tonnte Napoleon nicht daran denken, biefe Rolle zu übernehmen, 
und eben jo wenig daran, fle Defterreih zu überlaflen, das dazu freilih nur allzu 
bereit geweſen wäre; Sardinien aber verweigerte und mit vollem Rechte feiner- 
feit8 dieſen Dienft. Cavour, der nach Villafranca die Zügel der Regierung nieber- 
gelegt hatte, ergriff fie wieder und bereitete Napoleon die erſte Niederlage in ben 
itallenifhen Dingen. Der Kalfer mußte in die Annerion Toskana's, Modena's 
und Parma’s fowie der Romagna an Sardinien einwilligen, wogegen dieſes feiner- 
ſeits Savoyen und Nizza an Frankreich abtrat, obgleich Italien nicht „frei 
bis zur Adria” geworden war. Am 22. März unterzeichnete ver König Biltor 
Emanuel in Zurin die Annexionsdekrete und zwei Tage fpäter, aber eben doch 
ef naher, den Traktat mit Frankreich bezüglich der Abtretung Savoyens unb 
zza's. 

Frankreich konnte ſich zufrieden geben: die Macdhtverhältnifie, bie es urſpüng⸗ 
lich in Italien zu ſchaffen gedachte, erſchienen dadurch nicht weſentlich alterirt, 
wenn auch ſeine Konföderationsplane eutſchieden durchkreuzt wurden. Die Haupt⸗ 
ſache für Italien war, daß der Friede von Zürich, den Frankreich eben erſt mit 
Defterreih geſchloſſen hatte, von jenem biefem zerrifien zu Füßen gelegt wurde, 
und baß es Italien war, das Napoleon dazu gezwungen hatte. Trotzdem war die 
Stellung Frankreichs immerhin noch der Art, daß Europa daraus nicht ein Mo⸗ 
meut der Beruhigung, fondern vielmehr der Beunruhigung ſchöpfen zu müfjen 
glaubte, Defterreih war auf's Tieffte verlegt, Deutfchland und England fühlten 
fi bedroht, Belgien und die Schweiz fürchteten ernftlih für ihre Unabhängigkeit: 
die Idee einer neuen Koalition gegen den neuen Imperator begann aufzutauden. 
Napoleon verlannte die Gefahr keineswegs. In der Yürftenzufammentunft zu 
Baden-Baden gab er fi große Mühe, Preußen und feine Mitverblinveten zu 
befänftigen, und England gewann er durd den Abſchluß eines Handelsvertrags, 
der feinem Freihandelsſyſtem auch anf dem Kontinent zum Uebergewicht ver- 
helfen follte; bie übrigen beruhigten ſich allmälig, als fie fi überzeugten, daß 
bie Annexion von Savoyen und Rizza in ber That nicht der Anfang einer Wieber- 
bolung jenes großartigen Syſtems von Annerionen ſein follte, das ver erfte Na⸗ 
poleon befolgt hatte. Dazu kam, daß Italien bei feinem erften Erfolge gegen Na⸗ 
poleon, dem dieſer noch hatte zuftimmen können, nicht fiehen blieb, fondern zu 
einem zweiten Schritt Überging, ber ganz und gar nicht weder in feinen Abſichten 
noch in feinem Interefje liegen Tonnte. Die Zuflände dee Kirchenſtaats, ber 
faft In allen Beziehungen der Entwidelung weit hinter denen aud bes legten 
europälfhen Staates zurädgeblieben, waren längft durdaus unhaltbare und bie 
zeitherige Weigerung tes PBapftes, auch zu den befcheidenften Reformen die Hand 
zu bieten, fowie feine Proteftationen und Erfommunilationen iu Folge des Ber- 
luſts der Romagna hatten nur dazu gedient, feine völlige Machtloſigkeit ins Licht 
zu fegen; Neapel aber, feit Jahren unterwählt, war durch die neneften Ereig⸗ 
niffe unzweifelhaft bereits ins Schwanken und Ins Wanken geratken. Weußerlid 
jheinbar ziemlih ſtark und in feinen Anſprüchen uichts weniger ale gemäßigt, 
war es in Wahrheit im Kleinen doch nur ein Koloß auf thönernen Füßen. Gari⸗ 





Srankteid. 525 


baldi unternahm es mit einer Handvoll Freiwilliger, den Koloß zu ſtürzen, nud 
das verwegene Unternehmen gelang gegen Aller Erwarten, vielleicht eben weil es 
Niemand für möglich gehalten hatte, felbft Cavour nicht, obgleich er e8 unter der 
Hand unterftüägte, weil wenigflens die Schwächung und Zerklüftung Neapels feinen 
nationalen Interefien nur förderlich fein konnte. 

Am 11. Mat landete Garibaldi in Sieilten, zu Ende Juni war er bis auf 
Meſſina Herr der ganzen Infel nnd traf feine Vorbereitungen zum Uebergang 
auf das Feftland. Napoleon fah fich wiederum gegenüber Italien und gegenüber 
Europa in derfelben peinlihen Lage wie im Frühjahr desjelben Jahres, Auf der 
einen Seite hatte die Annexion von Savoyen und Nizza die Beforgnifie aller 
Bevälterungen feiner Oftgrenze wach gerufen, die fonfervativen Regierungen legten 
ihm die revolutionäre Bedrohung des legitimen Königsthrones von Neapel zur 
Laſt und erkannten in der einen wie in ber anderen Thatſache eine Politik, bie 
jede Sicherheit Europa's abſchneide und gegen bie am Ende alle gemeinfam zu- 
fammen zu ftehen genöthigt würben; auf der andern Seite war Napoleon mit der 
revolutionären Unternehmung Oaribalbi’8 ſchon ale folder auch nicht entfernt ein- 
verflanden, noch weniger um der Mannes willen, der fich feit der Annerion Sa- 
voyens nnd Nizza’s als Nizzarde gewiffermaßen in die Stellung einer perfönlichen 
Feindſchaft gegen den Kaiſer gefegt hatte, am allerwenigften aber, nachdem Gari⸗ 
baldi offen die Fahne der italtenifchen Einheit erhoben hatte, die den franzöftfchen 
Interefien in keiner Weiſe entſprechen Tonnte. Aber eine ganz andere Frage war, 
ob und in welcher Weile Frankreich dem Unternehmen Garibaldi's entgegen treten 
folle und könne. Bel der ganzen Haltung fowohl ver italieniſchen Nation als der 
farbinifchen Regierung konnte von einem bireften Eingreifen, einem abfoluten Ein- 
fprud nochmals Feine Rede fein, ohne bie ganze Bebeutung des italieniſchen Krie⸗ 
ges für Franfreih in ihr gerades Gegentheil umzuwandeln, ohne einen Krieg 
gegen Italien zu wagen und fi in vemfelben einfah an die Stelle Defterreichs 
zu fegen, was die ohnehin ſchon drohende Koalition gegen ben zweiten Napoleon 
leicht völlig zum Ausbruch bringen konnte, Was damals in Paris vorging, ift 
noch nicht zum geringften Theile aufgehellt und wirb es wohl auch noch nicht fo 
bald werden. In Neapel dachte man ſchon zu Aufang Aprils an eine Alltanz mit 
Frankreich, um ven Thron zu fihern, und der Graf von Syracus, einer ber 
Oheime des Königs, fand ſich damals veranlaßt, ſich Öffentlih dagegen auszu- 
fprehen; bie Idee hätte fi vielleicht damald no, vor der Abreife Garibaldi's, 
verwirklichen laſſen, aber ihre Ausführung forberte Konceffionen, zu denen ſich der 
neapolitanifche Hof damals noch nicht entfchließen konnte, Konceffionen, die ber- 
felbe freilid wenige Donate fpäter mit vollen Händen auszuftreuen fi bewogen 
fand, ohne jedoch den mindeften Eindruck damit zu machen. In Parts dachte man 
an die Wiederherſtellung der Dynaſtie Mürat, aber theils war in Neapel felber 
von einer müratifttich-franzöftfchen Partei kaum vie Rebe, theils würden die Mächte 
niemals dazu ihre Zuflimmung gegeben haben. Es blieb nichts Anderes übrig, 
als auf das Kabinet von Turin einzumirken und durch dieſes Garibaldi wo mög- 
lich Halt zu gebieten. Es gefhah und Köuig Viktor Emanuel ließ fi Ende Juli 
dazu herbei, einen eigenhänpigen Brief durch einen feiner Orbonnanzoffiziere an 
Garibaldi zu richten, durch welden er ihn aufforverte, das Feſtland von Neapel 
nicht anzugreifen; allein Garibaldi lehnte dieſes Anfinnen am 27. ehrerbietig, aber 
entfchieven ab. Nun dachte man in Neapel an eine Allianz mit Sardinien und 
unterhanbelte darüber mit der Turiner Regierung, vertraulih foger mit Gari⸗ 
baldi, jedoch ohne Erfolg. Gleichzeitig und eben fo fruchtlos wurden verfpätete 





526 Nachtrag. 


Verſuche gemacht, das Volk durch liberale Konceffionen zu gewinnen. Am 9. Augnuſt 
begann Garibaldi von Meffina ans auf's Feſtland überzuſetzen, am 18. brach 
eine felbftännige Infurreition in Potenza aus und wurbe eine proviſoriſche Re- 
gierung eingeſetzt, am 21. fiel Reggio in Garibaldi's Hände and am 23. er- 
gaben fich zwei königliche Brigaden mit ihren Yührern und allem Kriegsmatertial 
auf Gnade und Ungnade feinen Schaaren. 

Europa verfolgte flannend alle dieſe Ereigniſſe und wie ein großes Köuig- 
reich faft ohne Widerſtand der Macht des italieniſchen Volksgeiſtes zum Opfer 
fiel. In ven Tuilerten aber mögen damals „biplomatifche Beklemmungen“ ge- 
waltet haben, wie ſechs Jahre fpäter nach der Schladht von Sapowa „patriotifche“. 
Die Konfequenzen der von Napoleon für Italien verkündeten Principien waren 
ihm im vollften Sinne des Wortes Aber ven Kopf gewachſen und er ſtand ben- 
jeiben machtlos gegenäber. Der halben Rieverlage feiner Interefien im Frühjahr 
1860 folgte im Sommer besjelben Jahres eine ganze. Es blieb Napoleon nichts 
Anderes übrig, als fih mit der Turiner Regierung zu verftänbigen und, um 
wenigftens vie regelmäßige Gewalt einer Megierung an bie Stelle der revolutio⸗ 
nären Kräfte zu fegen, ihr auch den Kirhenftaat, Rom allein ausgenommen, 
Breis zu geben. In Ehambery, wo ihn vie Abgeorpneten Cavours, der Minifter 
Farini und ver General Eialbint, aufjuchten, gab er am 28. Auguft feine Ein- 
wilfigung. Am 7. September, an vemfelben Tage, an dem Garibaldi ohne Schwert⸗ 
ſchlag in Neapel einzog, richtete die Zuriner Regierung ein Ultimatum an ben 
päpftlihen Hof und am 11. September rüdten vie ſardiniſchen Truppen in den 
Kirchenſtaat ein, am 18. ſchlug Cialdini die päpſtliche Armee unter Lamoricidre 
und bombarbirte die piemonteſiſche Flotte Ancona, das fi am 29. mit der ganzen 
Garniſon und Lamoricidre felber als Kriegsgefangenen ergab; am 7. November 
zog Viltor Emanuel felerlih in Neapel ein, wo er in Wahrheit das Königreich 
und damit die Krone Italiens für viefes aus ten Händen Garibaldi's entgegen 
nahm, der feinerfeits zwei Tage ſpäter mit antiker Einfachheit und Größe ftol; 
und arm nah feiner Tleinen Beſitzung auf Eaprera zurückkehrte. Alle dieſe fich 
geradezu überſtürzenden Ereigniſſe waren unzweifelhaft eben fo viele Niederlagen 
der franzdfifhen Intereffen. Itallen der öfterreichiichen Herrſchaft zu entziehen und 
Sardinien zu flärten, entſprach dieſen Interefien, ein einheitliches Italien da⸗ 
gegen, das anf eigenen Füßen zu ſtehen und wenigftens allmälig fich vem frau⸗ 
zöſiſchen Einfluſſe zu entziehen vermochte, emtfprady venfelben fo wenig als ber 
urfprünglidhen Idee des Kaiſers troß der ſchöͤnen Worte von einem Selbſtbeſtim⸗ 
mungsrechte der Völker und dem Principe der Nationalitäten. Napoleon fügte fid 
nur in das, was er nicht mehr zu ändern im Stande war. Aber diefe Schöpfung, 
obwohl er zu ihr den Unfloß gegeben, blieb die erfte große Niederlage feiner aus⸗ 
wärtigen Politik. 

Dean darf urtheilen, daß es Hug gewejen wäre, wenn er ſich ohne Um- 
ſchweif gefägt und mindeſtens gute Miene zum fchlimmen Spiel gemacht hatte. 
Aber es war dieß nit der Fall und es macht einen geradezu kleinlichen Ein⸗ 
prud, daß Napoleon durch feine Flotte noch eine Zeitlang Franz IL in Gaeta, 
auf das fih viefer Ende 1860 beſchränkt fah, gegen bie italieniſche Armee be 
ſchützte; es war kleinlich, daß Napoleon den entihronten König auf einem feiner 
Schiffe nach Rom führen ließ, von wo aus derſelbe Neapel fortwährenn wo nicht 
bedrohen, doch beunruhigen Tonnte. Und kleinlich war es auch, daß er zunächſt 
damit zögerte, das neue Italien anzuerlennen. Er legte baburch Iebiglich den ger 
heimen Groll an ven Tag, den er Über feine Nieverlage empfand. Zu üubern 











Scanhteidh. | 597 


war doch nichts mehr; dazu waren die ansmärtigen Berhältniffe ganz und gar 
nicht angethan. England namentlich hatte fich in viefer Frage von Frankreich ge- 
trennt und ganz entſchieden für die Einheit Italiens Partei genommen. Die An« 
nexion von Sapoyen und Nizza hatte wie ganz Europa fo au England plöglich 
anfgefchredt. Zwar legte England fo wenig als irgend eine andere Macht dagegen 
förmlihen Proteſt ein, aber Lord Muffell erffärte doch am 22. Iunt im Parla- 
mente „tm beftimmtefter und feierlichfter Weiſe, daß die englifche Regierung ven 
Art. 92 des Wiener Vertrags für unvereinbar mit dem Zuriner vage be= 
trachte“, folglich darin einen Bruch der Verträge Seitens Frankreich erkenne. Wie 
in der Schweiz, wie in Belgien, wie in Holland fo gerieth auch in England bie 
öffentlihe Meinung in bevenklihe Aufregung, eine franzdfifche Landung wurde 
nicht mehr für unmöglich angefehen, zahlreiche Freiwilligenkorps bildeten ſich mit 
Radjleht auf eine folhe Eventualität und Palmerfton felber verlangte am 23. Juli 
vom Unterhaufe einen Kredit von 11 Mil. Pfd. St. für Zwecke der National- 
vertheßigumg nnd Küftenbefeftigung mit der unumwundenen Erklärung: „Schwere 
Stärme fichen am Horizont. Es zu Täugnen iſt unnüutz und die näcfte Gefahr 
tommt uns von unferem mächtigen Nachbar, dem Kaifer der Franzofen.” Franf- 
rei war augenblidlih in Europa völlig iſolirt und Napoleon fühlte fich bewogen, 
am 29. Juli durch eimen offenen Brief an feinen Gefandten in London dem 
„Mißtrauen, welches man allenthalben feit dem italieniſchen Kriege gegen ihn 
ausſtreuen, mit faft flehenden Verfiherungen entgegen zu treten. Bier Wochen 
fpäter gab er in Chambery ver italienifhen Regierung gegen Neapel und gegen 
den Kirchenſtaat freie Hand, ganz wie es England wünſchte, und allem Anſchein 
nad nicht zum minbeflen eben weil es England wünſchte. So gefellte fi für 
Napoleon zu der Niederlage, die feine Interefien in Italien im Jahr 1860 er- 
litten, vie weltere Schlappe, daß die frühere Allianz und das fefte Zuſammen⸗ 
halten ver beiden Weſtmächte, auf die der Kaiſer feine bisherige Stellung in 
Europa gegründet hatte, feit demſelben Jahre fi In eine bloße „Entente” um⸗ 
wandelte, die abwechſelnd bald den Anſchein volllommener Herzlichkeit annimmt, 
beid wieder hart an fürmlihes Mißtranen grenzt. Es dürfte keineswegs irrthüm⸗ 
Id fen, wenn man annimmt, baß die Sffentlihe Meinung Englands in viefer 
Haltung feiner Megierung und in der Niederlage, die fie vornämlid den Planen 
Napoleons und den franzöfiihen Intereflen in Italien bereitete, eine Genug⸗ 
thnung für bie ımtergeorbnete Rolle fand, bie e8 tm Krimmkriege thatſächlich 
neben Frankreich gefpielt bat, und bafür, daß es eben vaburd ale Schemel ge- 
dient bat, um Frankreich nenerdings zu der überwiegenden Stellung in Europa 
zu verhelfen, die e8 feliber eingenommen. 

England blieb auch fernerhin der eingenommenen Stellung für Italien ſelbſt 
im Gegenſahe gegen Wrantreich treu. Während dieſes die Annerionen Neapels, 
Umbriens und der Marten und die bald darauf folgende förmliche Aufrichtung 
des Aönigreihs Italien vorerfi noch anzuerkennen fi ausprüdlich weigerte, ertbeilte 
ihnen England dieſe Anerfennung nicht minder ausdrücklich fchon am 27. Oktober 
mit der mumwundenen Grllärung, daß „bie Völkerſchaften des Kirchenſtaats 
und Neapels berechtigt gewefen feien, die Autorität ihrer früheren Regierungen 
abzuwerfen, nnd daß die engliſche Regierung ihrerſeits außer Stande fel, den vom 
König von Sardinien jenen Vollerſchaften geleifleten Beiſtand tabelnswerth zu 
finden". Napoleon, ver nad feiner ganzen bisherigen Handlungsweiſe und nad 
den Fundamentalprincipien des von ihm wieder aufgerichteten Thrones felber dieſen 
Untgauungen Englands unmdglid widerſprechen konnte, zögerte boch feinerfeite 





528 Nachtrag. 


mit der Anerfennung bes Konigreichs Italien bis nad dem Tode Cavours (6. Juni) 
und fprady fie erft am 15. Iuni 1861 aus, auch dann noch mit der Beſchrän⸗ 
fung, daß „bie Anerkennung des Thatbeftandes Feine Verbürgung desſelben noch 
eine rückwirkende Billigung feiner Politik fein folle, in Bezug auf welde ſich Frank⸗ 
reih vielmehr fortwährend feine ganze Freiheit der Beurtheilung vorbehalte”. 
Weder jene Zurüdhaltung noch diefe Reftriktion war geeignet, das Anſehen bes 
Kaifers in Italien oder in Europa zu erhöhen: obgleich ungern, konnte er vie 
Anertegnung eben nicht wohl länger verfagen; hätten die Ereignifie feinen WBän- 
ſchen 8 Interefien entſprochen, jo wäre fie wohl ſofort und ohne alle Bedingung 
olgt. 

ef ir geben zur römifhen Frage über. Seit dem Jahr 1861 Hatte und 
hat Napoleon in Itallen eigentlih nur noch ein Jutereſſe zu verfechten, basjenige 
Roms und des Bapftes und zwar fowohl mit Rüdfiht auf die inueren Zu⸗ 
flände Frankreichs als auf das Verhältniß Italiens zu biefem. Uber dieß iſt auch 
für ihn ein Interefle erflen Ranges und die daran fi knüpfende Trage ober 
vielmehr ber Kompler der varan fih knüpfenden ragen iſt unzweifelhaft eines 
der allerfhwierigften Probleme, die jemals einem Staatemanne zur Löſung vor⸗ 
gelegt worben find. Hier fann übrigens nicht der Ort fein, auf die frage felber 
einzugeben; es ift iſt unfere Aufgabe leviglih, vie Haltung Frankreichs zu der⸗ 
felben feit 1859 anzubeuten. 

Rom und der Papft haben für Frankreich und die Politik feines dermaligen 
Herrſchers ein geboppeltes, wenn man will ein in fi unterſchiedenes Interefie. 
So lange ein franzöfifches Armeekorps Rom befegt hält, iſt Frankreich jeden 
Augenblid von Toulon aus in der Lage, das Königreich Italien entzwei zu 
ſchneiden und für jede auswärtige Wltion lahm zu legen, zumal fo lange ver 
Staat innerlih no ein fo unfertiger ift. Bis auf einen gewiflen Grad iſt daher 
Italien auch nah Erlangung feiner vollſtändigen Einheit durch ven Hinzutritt 
von Venezien eben fo lange noch von Frankreich und feinem guten Willen ab« 
hängig und es ift daher fehr begreiflic, daß Napoleon wenigſtens an biefer Pofition 
in Italien fefthielt, nachdem er die einheitliche Geftaltung desſelben nicht zu hin- 
dern vermodt hat. Über eine noch viel weiter gehende Bedeutung hat Rom für 
Frankreich und feinen Kaiſer als ver Sig des Oberhauptes der Tatholifchen Kirche. 
Frankreich ift überwiegend ein moderner Staat in dem faft techniſch geworbenen 
Sinne diefes Wortes; Frankreich hat ale Staat früher als die meiften anderen 
Staaten Europa’s fih von den kirchlich⸗politiſchen Anſchauungen des Mittelalters 
emanchpirt und neben der Thatfache, daß es vor allen anderen feine innere natio⸗ 
nale Einheit errang und ber weiteren, daß bie Entvedung Amerika's die Welt- 
ſtellung der ſämmtlichen europätfhen Staaten, und zwar zunähft zum Nachtheil 
Deutfehlands, aber zum Vortheile Frankreichs verrüdte, ifl darin ein Sauptmoment 
zu. fuchen, daß Frankreich feit der Mitte des 17. Jahrhunderts gleihfam zur Bor⸗ 
macht Europa’ oder menigftens des europäiſchen Kontinents ſich aufzuſchwingen 
vermocht hat. Ein Zurückgehen Frankreichs als moderner Staat, ein Zurückſinken 
in frühere von ihm ſelbſt überwundene Staatsanſchauungen iſt in Wahrheit ge⸗ 
radezu undenkbar, und wäre es denkbar, jo wäre es jedenfalls nur und zugleich 
mit einem entſchiedenen Sinken Frankreichs als Staat überhaupt. Aber die Macht 
der Kirche und kirchlicher Anſchauungen früherer Zeit im Gegenfag gegen bie 
iegt faſt überall anerlannten Anſprüche des Staats ift Immerhin In Frankreich 
eine größere als in den meiften andern Staaten Europa’s, Spauten vielleicht allein 
ausgenommen. Es Liegt dieß theils In dem fehr geringen Grade von Bildung, 





Srankreidh. 529 


beren bie große Maffe der Franzoſen, namentlih faft das gefammte Landvolk, 
trotz unläugbar großer Anlagen und namentlich großer Leichtigkeit der Auffafſung 
fih erfreut, theils in den beftehenden Inftitutionen bes Landes, die zum Theil 
dem jetigen Kaifer der Franzofen ihren Urfprung verdanken, fowie in dem Sy⸗ 
fteme feiner Bolitit überhaupt. Als Louis Napoleon den Präſidentenſtuhl der Ne 
publif beftieg, erfannte er mit nüchternem Blide fofort, daß er zu Erreihung feiner 
weiteren Ziele nicht bloß der Armee, fondern eben fo fehr der Kirche und bes 
Klerus bepürfe, und auf diefen beiden Momenten beruht feine Macht weſentlich 
aud Heute noch. Der erfte große Alt der Republik unter feiner Präfiventfchaft 
war benn auch ber Krenzzug gegen Rom, ber zwar auch noch anderen Zwecken 
dienen follte, aber ſicherlich und vielleicht in erſter Tinte doch dem, die Kirche und 
ben Klerus zu gewinnen. Später überantwortete er dem Klerus durch ein neues 
Geſetz den ganzen Primarunterricht, einen Theil des höheren Unterrichts unt das 
. ganze öffentliche Erziehungswefen des weiblihen Geſchlechtes. Es entſprach das, 
wie man anzunehmen berechtigt if, durchaus nicht feinen eigenen innerften Ueber; 
zeugungen, ex legte fih taburd eine Fefſel an, die er ſeither vielfach verfpürt 
bat, aber e8 war ein Mittel zum Zwed und ber Zwed wurde vollftändig erreicht. 
Die Abftimmung über den Stantsftreih vom 2. December 1851, über die Wieber- 
berftellung des Kaiſerthums, vie ganze Handhabung des allgemeinen Stimmredhts 
feither lag und liegt neben ver gewaltigen Mafchinerie der auf die höchſte Spige 
getriebenen Gentralifetion der Megierung und Verwaltung, vom Minifter bis auf 
ven legten Feldhüter hinab, in den Händen des Klerus, und es dürfte vielleicht 
die Frage fein, welcher von beiden Einflüſſen ver größere ft, zumal jest, da fich 
die Stäptebeuölferung wenigftens zu ihrem weitaus größeren Theile der Bevor⸗ 
munbung der kaiſerlichen Regierung entzogen bat. Der Kaifer ift durch und durch 
ein Kind feiner Zeit, ein Mann der mobernen Ideen und ihres Gegenſatzes 
gegen die Anfhauungen ver Kirche und des Klerus über den Staat und flaat- 
lihe Dinge volllommen bewußt. Über er brauchte und Braucht den Klerus und 
font ihn deßhalb und muß ihn fchonen, wie der Klerus ihn brauchte und 
braucht, ohne ihm darum fo wenig wie der Papft felber in irgend welcher Weiſe 
wahres Vertrauen zn fchenten. 

Bis zum Jahr 1859 bereitete dem Kaifer dieſes Verhältnig keine befonderen 
Schwierigleiten. Die italieniſchen Dinge brachten ihn dagegen feit jenem verhäng- 
nißoollen Jahre in ein Gebränge, das ihm nicht erlanbt, die Feſſel abzumerfen 
und ihn vielfach zu laviren nöthigt. Das politiſch⸗kirchliche Syſtem des Mittel- 
alters ift ein znfammenhängendes Ganzes, das zwar zu keiner Zeit und in feinem 
Lande ganz burchgeführt werden Tonnte, in das die Entwidelung der Dinge feit- 
ber überdieß große Lüden geriffen bat und deſſen Grundlagen nachgerave völlig 
unterwählt find; aber in den Augen des römiihen Stuhls fleht es der Idee nad 
feft und unmntaftbar da, nnd je weniger e8 gelingen will, vie bereits eingebrun- 
genen und immerfort nen einbringenben Anfchauungen anderer und widerſprechender 
Natur wieder hinauszuwerfen und die Lüden wieder auszufüllen, um fo zäher 
und emtjchiedener hält man wenigftens an dem, was nod aufrecht flieht oder zu 
ſtehen ſcheint. Dahin gehört auch und nicht in letzter Linie vie weltliche Herrichaft 
des Papftes. Die weltlichen Herrichaften der Erzbifchöfe, Bifchöfe, Aebte zc. find 
fängft gefallen, vie weltliche Herrſchaft des Papſtes allein ift als ver letzte Neft 
diefer Art von Bildungen des Mittelalters noch übrig geblieben. Es ift dieß 
nicht zu verwundern: die Stellung des Papftes iſt nicht ganz biefelbe wie bie ber 
Biſchoͤfe war. Diefe, als fle ihre weltlihen Herrſchaften überall verloren, traten 

Biuutfgii un Braten, Deutſchet Staate⸗Wörterbuch. XI. 84 





530 Nachtrag. 


einfach unter die Landeshoheit der betreffenden Kerritorialfärften und die Kirche 
hat dadurch anerfannter Maßen wicht den mindeſten Schaden gelitten, Aber ber 
Papſt als das Haupt der gefammten Kirche kann nicht ebenfo unter die Randes- 
hoheit eines einzelnen Fürſten treten, ohne bie univerfalen Intereffen der Kirche 
mögliher Welfe zu gefährden. Wenn daher bie weltliche Herrſchaft des Papftes 
befeitigt werben foll, fo bat die Kirche das Recht zu verlangen, daß bie Unab- 
bängigfeit ihres Hauptes anderswie in genügenver Welfe gefichert wärbe. Ein 
ernfter Widerſpruch hiegegen iſt indeß aud nicht erhoben worben und Italien 
zumal bat fich wiederholt bereit erflärt, dazu felnerfeits in jeber annehmbaren 
Weife die Hand zu bieten. Allein vie Kirche will auf dieſe Idee in keiner Weife 
und unter feinen Umftänden eingehen: wie in andern Beziehungen hält fie gegen- 
über ven ſtaatlichen Intereffen an ihrem formalen Rechte unbebingt feſt und febt 
jedem Widerſpruch ihr unbebingte® non possumus entgegen. Die frage iſt aber 
nachgerade eine brennende geworben, bie früher ober fpäter gelöst werben muß. 
Der Kirhenftaat, wie er nad) dem Sturze des erfien Napoleon wieber bergeftellt 
worden ift, gehört unzweifelhaft zu den fchlechteft vegierten, zu den flantlih am 
weiteften zurüdgebliebenen Ländern Europa’s, obgleich wiederholt Berfuche gemadyt 
worben find, das gerade Gegentheil zu behaupten und zu ermweifen. Vom Stand- 
punkte der Kirhe und des klerikalen Negimentes mag das der Fall fein, vom 
Standpunkt ftaatliher Interefien und ſtaatlicher Entwidelung ‚aus widerſprechen 
der Behauptung alle Thatſachen. Seit Jahren verlangten daher vie Untertfawen 
des Papſt⸗Königs durchgreifende Reformen, um eben berfelben Wohlthaten freier 
ſtaatlicher Inftitutionen theilhafttg zu werben, bie nachgerade alle anveren Völker 
haften Europa’s, fie allein ausgeuonmen, genießen, und da ber Papſt foldye von 
feinem Standpunfte aus durdaus und unbedingt verweigerte, appellirten fie wieder» 
holt an die Gewalt und erhoben die Fahne des Aufruhrs. Derfelbe wurde indeh 
im Jahr 1831 von den Defterreidern, im Jahr 1849 von den Frauzoſen nieder 
gefhlagen, und jene hielten darauf Jahre lang die Romagna umd die Marten, 
diefe Rom und Kivitavechia im Namen und im Interefle des PBapfles und feiner 
Herrſchaft befegt. Bon einer wirklihen Unabhängigkeit des Papftes Tonnte daher 
in Wahrheit fchon lange Feine Rebe mehr fein und vie Frage einer Erfepung 
derfelben durch genügende Bürgfchaften anderer Urt lag Hingft nahe genug. 

As im Jahr 1859 ver franzöflfch-öfterreichifge Krieg ausbrach, erhob 
fih auch die Romagna nemerbings gegen den Papft, konftituirte ſich zunächft als 
unabhängiger Staat und verlangte ihren Anſchluß an Sarbinien gleihwie To 
cana und die Herzogthämer Parma und Modena. Der Friebe von Zärkh ſchied 
indeß einfach wieder alle zufammen ihren früheren Fürſten zu, und da fie fid 
zu geboren weigerten, Frankreich aber ſich nicht in der Lage fühlte, die Wieder⸗ 
berftellung ber früheren Zuftände felber gewaltfam durchzuſetzen und dieß doch 
auch nicht Defterreich überlaffen konnte, fo follte nunmehr ein europäiſcher Kon- 
greß die Frage Iöfen. Da erfhien Ende 1859 in Paris unter dem Namen bes 
Senators Vicomte de Ia Guerronnidre, aber, wie man fofort wußte, ans ber Feber 
Napoleons jelbft eine Brofchäre „Der Papft und der Kongreß“, weiche barzulegen 
bemüht war, daß bie Kirche einer weltlihen Herrſchaft nicht nur nicht bedürfe, 
daß ihr eine ſolche vielmehr eher hinderlich als förderlich fei und fie von ihrer 
eigentlichen Aufgabe nur abziehe, indem fie fie in ihr gang fremde weltliche Interefien 
und in die Händel dieſer Welt verwidele, und mit bem lühnen Vorſchlage ſchloß, 
den Papft geradezu auf die Stadt Rom zu beſchränken und ſelbſt dieſe fih in 
ziemlich republikaniſcher Weiſe felber verwalten zu Lafien, fo dag dem Papſte nur 


Srankreich. 831 


eine Art nomineller Souveränetät übrig geblieben wäre, Die Entrüftung über 
einen ſolchen Vorſchlag fannte in Rom feine Grenzen, der Papft verweigerte fo- 
fort feine Betheiligung an dem von Frankreich befürworteten Kongreß, fo lange 
diefes fich nicht entfchieden gegen bie Broſchüre und die darin enthaltenen Ideen 
erkläre, Defterreih machte feine Betheiligung von derjenigen des Papftes abhängig 
und Frankreich mußte den Kongreßplan vollſtändig fallen laffen. Die einfache Folge 
für den Papſt war indeß, daß brei Monate fpäter die Romagna mit der Ein- 
willigung Frankreichs mit Sarbinten vereinigt wurde. Umfonft proteftirte der Papft 
und belegte, indeß ohne fie namentlih zu nennen, nit bloß den König Biltor 
Emanuel, fondern auch Napoleon III. mit ven Kirchenftrafen. Der Schritt blieb, 
wie vorauszufehen war, völlig wirkungslos. Ja ſechs Monate fpäter gab Napo⸗ 
feon feine thatfädhlihe, wenn aud nicht feine formelle Einwilligung dazu, daß 
Sardinien ven Papſt auch noch Umbriens und der Marken beraubte und ihn auf 
das eigentlihe Batrimonium Petri, Rom und die nächſte Umgegend mit Civita- 
vecchia, befäräntte Damit aber war für einmal Napoleon an ber Grenze ber 
Konceffionen angelangt, die er Italien machen konnte; Biterbo, das ebenfalls be- 
feßt worden war, zwang er e8 fogar wieder herauszugeben. Umfonft hatte ber 
Kaiſer feit 1849 und fett feinem berühmten Briefe an Edgar Ney der römtfchen 
Kurie fortwährend zu umfaflenden politifhen Reformen im Kirchenftaate als dem 
einzigen Mittel, fich die weltliche Herrſchaft unangetaftet zu erhalten, gerathen, 
and war darin fogar von Defterreih unterflügt worden, umfonft den Bapfl Ende 
1859 in einem eigenhändigen Briefe aufgefordert, freiwillig auf die Romagna zu 
verzichten und Ihm dagegen eine Garantie der europätfchen Mächte für ven Neft 
feiner Staaten, einfchlieglid Umbriens und der Marten, in Ausficht geftellt. Der 
Bapft ging auf nichts ein umd verlor erſt jene, dann diefe; ſelbſt Rom blieb ihm 
nur unter dem Schu der franzöfiichen Waffen. Bald follte auch das gefährdet 
werben. Kanm hatte Sardinien fih zum Königreiche Italien umgeftaltet und war 
am 18. Yebruar 1861 dad erfte ttalientfche Parlament zafammengetreten, fo er- 
Märte es auch fon am 26. März, nachdem Graf Cavour feine Ideen über 
die „freie Kicche im freien Staat” entwidelt hatte, Rom für vie zufünftige Haupt⸗ 
ſtadt Italiens und hoffte, daß ihm viefelbe „im Einverftänpniffe mit Frankreich” 
werbe zurädgegeben werben. Seither bat Italien nie aufgehört, die Realifirung 
feines Wunſches von Frantrei zu verlangen, biefes fein Einverflänbniß zu ver- 
weigern, ver Papft aber die ihm geraubten Provinzen zu rellamiren. Das legtere 
Berlangen bat die franzöflfche Regierung wiederholt während ber Jahre 1861 und 
1862 auf's Beftimmtefte abgelehnt und es in einer Unzahl von Depefchen als 
feine Aufgabe erflärt, eine Vermittlung zwifchen ven gerechten Anſprüchen ſowohl 
Italiens als des Papftes zu Stande zu bringen, bis zur Stunde inbeß mit fo 
geringem Erfolge, daß wicht einmal ein erträglidder modus vivendi zwifchen beiven 
errichtet werden konnte, ſondern beide völlig unvermittelt und als offene Feinde 
neben einander ſtehen und der Krieg auch thatſächlich jeden Augenblid zwiſchen 
ihnen zum Ausbruch käme, wenn nit der Kurie die materiellen Mittel dazu 
gänzlich fehlten, Italien aber durch Branfreih und feine Waffen davon zurüd- 
gehalten würde, 

Was jedoch bie ttallenifche Regierung unterlaffen mußte, glaubte Gari- 
baldt feinerfetts mit populären Kräften verfuchen zu follen. Schon im Sommer 
1863 machte er fi von Palermo aus an das Unternehmen; damals aber glaubte 
die italieniſche Regierung ihm noch entgegen treten zu müſſen, fie fchidte ihm 
Truppen entgegen und feine Schaar wurde nad kurzer Gegenwehr entwaffnet, 


34 * 


ı 


532 Nachtrag. 


er felber veriounbet und gefangen, Die Zuftänbe kehrten zunächſt Ins frühere Ge⸗ 
leiſe zurüd und Frankreich blieb taub gegen alle Zumuthungen Italiens. Exrfi im 
Herbfte 1864 that es wenigftens einen Schritt des Entgegenlommens. Ohne ven 
Papft zu befragen und ohne feine vorhergehende Einwilligung dazu einzuholen, 
ſchloß es am 15. September eine Konvention mit Italien, durch welche es fidh 
verpflichtete, Rom mit feinen Truppen binnen zwei Jahren zu räumen, unter ber 
Bebingung, daß Italien dasſelbe nicht nur nicht felber angreife,. fondern auch gegen 
einen Angriff von außen ber füge, daß es feine Hauptftabt von Turin nad 
Blorenz verlege, und fomit wenigftens thatfählih auf Rom als Hauptſtadt ver- 
zihte, und daß es endlich einen angemeffenen Theil der päpftlihen Staatsſchuld 
übernehme und fo felbft dazu beitrage, das päpftliche Regiment wenigftens inner- 
halb feiner nunmehrigen Orenzen zu einem möglicher Weife Iebensfähigen zu 
machen. Die Bedingungen wurben von Seite Italiens erfüllt und die franzöſiſchen 
Truppen räumten Rom wirklih zu Ende des Jahres 1866. 

Nur ein Yal war unentfchieden geblieben und beiverfeitig vorbehalten wor- 
ben, wenn nämlid die Römer felbft den Willen und die Kraft hätten, das päpft- 
liche Regiment ohne Hülfe von außen abzuwerfen. Der Papft fuchte fi dagegen 
dur eine Bermehrung feiner Armee zu wahren und Frankreich unterftägte ihn 
babei nad Kräften. Gegen einen Angriff von außen war fie indeß doch ungenügend 
und einen folden unternahm Garibaldi nochmals Mitte 1867, indeß nicht mit 
glüdliherem Erfolge, obgleich die ttalienifche Regierung, die Anfangs Miene machte, 
ihm entgegen zu treten, im entfheidenden Momente unthätig blieb, ja fogar halb 
und halb konnivirte. Garibaldi an der Spige von 4000 Mann Freifhaaren, denen 
fi vereinzelte Banden über das ganze päpftliche Territorium bin anfchloffen, 
war Ende Oftober bis an die Mauern Roms felber vorgerüdt und fo ziemlich 
das ganze Gebiet hatte die italienifhe Fahne aufgezogen, theilweiſe fogar durch 
förmliche Plebiszite den Anflug an Italien ausgefprohen. Da trat Frankreich 
wiederum ein und fchidte zwei Divifionen von Toulon aus nah Civitavecchia, 
die gerade noch im rechten Moment in Rom eintrafen. Garibaldi mußte ſich zu⸗ 
rüdziehen und feine Schaaren wurben noch auf dem Abzuge am 3. November in 
Mentana von den vereinigten päpftlihen und franzöfifgen Truppen theils zu- 
fammengebauen, theild gefangen. 

Italien wurde durch das vorzeitige Unternehmen Garibaldi's von feinem 
Ziele weiter als je zurüdgemorfen. Während Menabrea, ver zeitige Minifter- 
präfident und derjenige Staatsmann Italiens, der ben fleritalen Anſchauungen 
noh am nächften ſteht, im italienifhen Parlament die Ueberzeugung auseſprach, 
daß „Rom für Italien fo unentbehrlich fei wie Paris für Frankreich“, fo erklärte, 
zufällig an demſelben Tage (5. December 1867), der franzöflihe Staatsminifter 
Rouher unter nicht enden wollendem Belfalle der Majorität im gefeßgebenven 
Körper: „Italien wird fi Roms nie bemächtigen! Nein! Niemals! Niemals wird 
Frankreich dieſe Gewaltthat gegen feine Ehre und ben Katholicismus ertragen! 
It das Mar? Und wenn id) Rom fage, fo begreife ich darunter das gegenwärtige 
Gebiet des Papftes in feinem ganzen Umfange” So weit war Frankreich noch 
nie gegangen, fo deutlich hatte es ſich noch nie, wenigftens feit dem Jahr 1859, 
ausgefprochen. Noch vor Ende des Jahres 1867 Tehrte zwar die eine ber beiden 
Divifionen wieder nah Frankreich zurüd und räumte bie anvere Rom, um ſich 
in Civitavechia und Umgegend zu koncentriren. Aber feither wurden Rom unb 
Civitavecchia durch franzöfifche Genieofficiere fo ſtark wie nur irgend möglich be» 
feftigt. Vielleicht felbft das erſtere, jedenfalls aber das letztere würbe ſich fo lange 


Srankreic. 683 


Halten können, bis franzöfiſche Hülfe von Toulon da wäre. Uebrigens ſcheint der 
Kaifer vor der Hand nicht geneigt, das Römiſche wieder gänzlich zu räumen. Die 
Folge davon iſt für Frankreich eine immer größere Entfremdung ber öffentlichen 
Meinung Italiens. Bis auf einen gewiffen Grad iſt zwar für Italien unter allen 
Umftänden, aud jegt, da es im Beſitze Beneziens und des Feſtungsviereckes ift 
und mit Defterreih auf ziemlich freunpfchaftlihem Buße fteht, eine gewiſſe Ab⸗ 
hängigfeit von Frankreich eine unausweichlihe Nothwendigkeit, aber der Wunſch, 
diefelbe wo nicht gänzlich abzuſchütteln, doch auf das minbeft möglihe Maß zu 
befchränfen, ift unzweifelhaft im Wachſen und hat zu Anfang des Jahres 1868 
bei Oelegenbeit eines Beſuchs des Kronprinzen von Preußen zur Bermählungs- 
feler des italieniſchen Kronprinzen Humbert in ven fpontanen Huldigungen ber 
gefammten oberitalifcden Bevölkerungen einen fehr vemonftrativen Ausdruck ge⸗ 
funden, während Prinz Napoleon zu derfelben Zeit abſichtlich kaum beachtet wurde, 
obgleih er mit der Tochter des Königs vermählt iſt und fi für Italien jederzeit 
freundlich ausgefproden hat. Der Kaifer läßt fih dadurch nicht beirren. Ange 
fihts ber Neuwahlen zum geſetzgebenden Störper, die im Jahr 1869 ftatt« 
finden müſſen, ift ihm die Mitwirkung des Klerus eine abfolute Nothwendig⸗ 
keit. Auf Dank von Seite des Papftes darf er freilich nicht rechnen. Die römifche 
Frage ift für den Papft wie für ven Kaifer eine reine Trage bes Intereſſe. Bon 
einer tieferen Hebereinftimmung der Anſchauungen wie von wirklihem Vertrauen 
ift auf der einen Seite fo wenig bie Rede als auf der anderen. Die Erhaltung 
Roms ift für den Kaiſer eine Nothwendigkeit der inneren Politik, und fo lange 
fie das ift, kann der Papft ſchon darum unbebingt auf feinen Schuß zählen. 
Daneben bilden Rom und das Papſtthum allervings auch eines der bebeut- 
famften Momente feiner auswärtigen Politi. Wie von einem Borgefühl ver 
nahenden Ereigniffe geleitet, hat es Napoleon feit feinem Emporlommen für eine 
feiner vornehmften Aufgaben erfannt, das romaniſche Element in Europa und fogar 
außerhalb vesfelben der wachſenden Ausbreitung und dem fteigenden Einflufje des 
germanifchen gegenüber zu ftärfen und in eine nähere Beziehung und Unterorb- 
nung unter Frankreich zu bringen. Bon biefem Geſichtspunkt aus aber fällt dem 
Papſtthum eine nicht zu verkennende befondere Rolle zu. Die Reformation bes 
16. Jahrhunderts ift unzweifelhaft eine der wichtigfien Stufen in der Entwidelung 
des germanifchen Geiftes; binnen weniger als hundert Jahren hatte fie in allen 
Gliedern der germanifchen Raſſe die Oberhand gewonnen und namentlid bie 
deutſche Nation bis in ihre legten Ausläufer ergriffen. Sie vermochte fich freilich 
nicht überall zu Halten und die Gegenreformation entriß ihr im 17. Jahrhundert 
wieder ausgebehnte Gebiete. Aber es ift ficherlich nicht zufällig, daß in neuefter 
Zeit das proteftantifche Preußen die Oberhand über das katholiſche Defterreich 
gewonnen hat, und daß die nädfte Rückwirkung auf Defterreid wiederum darin 
beftand, daß biefes das Konkordat von 1855 abwarf und bie bisherigen Präten- 
fionen Roms auf flaatlidem Gebiete mit Entſchiedenheit zurüdzumeifen bemüht ift, 
überhaupt auch feinerfeits in die Reihe der modernen Staaten eingetreten ift. Rom 
bat damit feine hauptſächlichſte Stüge neben Frankreich verloren und iſt mehr ale 
je auf Franfreih angewiefen. Trog ihrer zahlreichen Bekenner auch außerhalb der⸗ 
jelben findet die Tatholifche Kirche ihre Hauptftüge in ber kompakten Maſſe ber 
romaniſchen Nationen, Branfreih, Spanien und Italien, und Napoleon III. ift 
nit der Dann, dieſe Thatfache zu verfennen ober ten Hebel, der darin für feine 
und Frankreichs Interefie Liegt, unbenützt zu laſſen. Inzwiſchen aber ift die römifche 
Frage für ihn eine Schwierigkeit, die er felber durch fein Vorgehen in Italien 


534 Nadirag. 


ſeit 1859 weſentlich hervorgerufen und bie er bis jetzt noch nicht zu bewältigen 
und mit feinen Intereflen wieder tn Einflang zu bringen vermodt hat. 

Die merilanifhe Erpepition. In der Laufbahn Napoleons, vie 
jo glänzend begonnen, war augenſcheinlich eine Art Stillftand eingetreten. Frauk- 
reih war mehr oder weniger, zumal da ſich das frühere herzlihe Einverflänbeig 
der beiden Weſtmächte abgekühlt hatte und hin und wieder bis zum Gefrierpumtt 
erfaltet zu fein ſchien, tfolirt und zu einer großen Initiative war nirgends Ge⸗ 
fegenheit. In viefen Zeitraum fallen bie zahlreihen Expeditionen in bie ferne, 
nah Syrien, nah Cochinchina, nah China, nah Mexilo, von benen eigentlich 
feine einzige für Yranfreih eine Nothwendigkeit war, die vielmehr nur dazu dienen 
konnten, ven Waffen Frankreichs weiteren Glanz zu verleihen, feine Hand überall 
finden und fühlen zu lafien — Unternehmungen, die nur relativ gerechtfertigt 
find, wenn eine Nation ihre liberale Periode abgeſchloſſen, ihr volles, gefättigtes 
Sleihgewiht im Innern und nah außen gefunden bat und im Begriff ift, in 
die rubigere Peripde Tonferpativen Genuſſes einzutreten nnd fih eben in jener 
Mebergangszeit dieſen Luxus ferner Erpevitionen im Interefie ihres Ruhmes umd 
der allgemeinen Civilifation gewähren kann. Frankreich ift nicht, wielleicht noch 
nicht in diefer Lage und die fernen Expeditionen haben daher in Frankreich felber 
und nit ohne Grund ben lebhafteften Widerſpruch und den bitterften Tadel ge- 
funden. Die bedeutſamſte unter allen, aber aud tie unglüdlichfte war die meri⸗ 
fanifche und in ihr iſt die empfinblichfte, weil entſchieden felbft verſchuldete, Nieder⸗ 
lage und zwar eine volllommen perfönlide Nieverlage bes Kaiſers und feiner 
großen Polttif zu fuchen. 

Die mertlaniihe Expedition iſt unzweifelhaft ein Glied dieſer Politik: das 
romanifche Element follte in Merito gegen das angelfächfifche, das katholifche gegen 
das proteftantifche Nordamerika's geftärkt und geftügt werben. Der Augenblid 
f&hien günftig. Die momentan in Mexiko unterlegene Tatholifche Partei fuchte nach 
Hülfe und die bisher übermächtige Nepublit der Vereinigten Staaten war im Be- 
griff, fi in blutigem Bürgerkriege zu zerreißen, vielleicht gänzlih aus einander 
zu fallen. Über das war aud für das Oelingen des Unternehmens eine conditio 
sine qua non: einig und in ihrer vollen Kraft hätte die Union niemals auch 
nur den Verſuch einer monarhifchen Gründung und von Seite eines europäiſchen 
Herrfhers auf dem amerikaniſchen Kontinente, zudem noch innerhalb ihres nächſten 
und eigentlihften Machtgebietes geduldet; wieder vereinigt mußte fie es für ihre 
nächſte Aufgabe erachten, ven fremden Eindringling wieder Hinauszuwerfen. Napo⸗ 
leon zählte aber darauf, daß die Süpftaaten fi in irgend welcher Geſtalt felb- 
ftändig zwifchen feine Schöpfung und den demofratifhen Norden Hineinzufchieben 
und zu erhalten vermöcten, und das war fein erfter Irrtum, Dann unterfhägte 
er den Widerſtand, den bie einheimifchen und republifaniichen Elemente und vor 
allem fhon die Natur und bie weite Auspehnung des wenig bevdlferten Landes 
feinem Schügling zu bereiten im Stande wären. Und endlich fchlug er vie Schwie- 
rigfeiten und namentlih die finanziellen Opfer nicht hoch genug an, bie eine 
längere Kriegführung jenjeits des Oceans erforderte, die eigenen Hülfsquellen ves 
Landes aber viel zu body, als daß fie jemals im Stande geweſen wären, die Bor: 
(hüffe, die er zu machen gedachte, wieder zurüd zu bezahlen. Um das Unternehmen 
einzuleiten, wurbe ber nichtigfte Vorwand, die fog. Iederfhe Schuld, ergriffen, 
dagegen Muger Weiſe Spanien und England zur Theilnahme herangezogen. So» 
bald indeß der Plan Napoleons deutlicher berportrat, zogen dieſe ſich zuräd. 
Anfangs ging trogdem Alles ziemlich gut, felbft eine Schlappe, welche bie Fran⸗ 








Srawhrcich. 535 


zofen bei Puebla erlitten, viente nur dazu, das Ehrgefühl der Nation zu enga- 
gien, und fam daher faft erwünfcht. Denn zu Unfang waren bie Franzoſen dem 

nternehmen ganz und gar nicht geneigt. Das Militär fah nur Strapazen, Fieber 
und allerlei unbelaunte Gefahren voraus ohne viel Ehre und Ruhm, und bie 
öffentlihe Meinung war theils nicht für, theilg geradezu gegen basfelbe. Im ge» 
ſetzgebenden Körper mußte die Regierung bie eigentlichen Wbfichten des Kaiſers 


I&uguen, bis es ganz und gar nicht mehr möglih war, und biefe wenig würbige 


Aufgabe fol fogar an dem fihnellen Tode des Staatsminifters Billault Schuld 
fein. Indeß mit Eifer und Nachdrud betrieben, machte die Kriegführung ver Fran⸗ 
zofen bald raſche Fortſchritte, Puebla und Mexiko wurden genommen und Kaiſer 
Mar in dem lesteren inftallirt. Diefer nahm feine Aufgabe fehr ernft, aber es 
wurde ihm keine Zeit vergönnt, fie zu Iöfen, und feine finanziellen Mittel waren 
in feinem Berbhältnifie zu derſelben. Als die Einnahme von Rihmond im Früh⸗ 
jahr 1865 ven nordamerikaniſchen Bürgerkrieg zu Gunften der Nordſtaaten ent» 
ſchied, war aud fein Schidfal entſchieden. Obgleich bis an die Äußerfte Grenze 
des Landes gebrängt, hielt Präfivent Juarez aus und die Republifaner gewannen, 
von der Union aus ermuntert und unterflügt, von Tag zu Tag neue Kräfte, 
Daß Kaiſer Mar gerade zu dieſer Zeit das Kaiſerthum für allfeitig begründet 
und vom Lande anerlannt erflärte, war eine Selbfttäufhung, und bie Konfequenz, 
bie er daraus zog, daß jeder, der fortan gegen basfelbe mit ven Waffen in ber 
Hand gefangen wärbe, nicht als Kriegsgefangener behandelt, fondern als Rebell 
und Räuber erhoffen werden follte, war ein Mißgriff, zu dem ihn der franzd- 
fiihe Marſchall Bazatne verleitete und der fchwer auf ihn zurüdfallen follte Die 
Union hatte inzwifchen die europäiſche Schöpfung niemals anerfannt, die republilanifchen 
Behörden des Landes waren und blieben in ihren Augen die einzig rechtmäßigen 
und jeder Verfud der franzöfifchen Regierung, fie mit dem Kalfer Mar in Ber: 
bindung zu jegen und fo eine fpätere Anerkennung vorzubereiten oder wenigftend einen 
thatfächlichen modus vivendi herzuftellen, fcheiterte vollftändig. Nach und nad) ging 
jevod vie Unionsregierung von ihrer negativen Haltung gegenüber Frankreich zu 
pofitiven Zumuthungen über, und zwar in einer Sprade, die fih allmälig ftei- 
gerte und der gewohnten Zurädhaltung der Diplomatie wenig entipradh. Der 
Kaiſer hatte auf die Expedition bereit! Summen verwandt, die er vor dem Lande 
faum eingeftehen und noch weniger rechtfertigen konnte, und überbieß bie Kriegs» 
porräthe Frankreichs in einer Weiſe geſchwächt, die unter Umftänden im hödhften 
Grade gefährlich werden mochte. Und eben jett wurbe er vor bie Alternative ge» 
ftellt,, entweder neue Opfer aller Art zu bringen over das Unternehmen fallen 
zu laffen, obgleih das nicht möglih war, ohne die gegen Kaifer Mar eingegan- 
genen Verpflichtungen unzweifelhaft zu brechen. Indeß der Vorwand dazu war 
leiht gefunden und Napoleon nur nod bemüht, wenigftens feine Würbe zu wahren. 
Gegenüber ben Vereinigten Staaten wurde zwar keine formelle Verpflichtung ein- 
gegangen, aber fie erhielten Immerhin ſchon im Frühjahr 1866 die ausdrlüdliche 
Zufigerung, daß Frankreich feine Truppen in drei Abtheilungen zurüdziehen und 
daß die erſte derfelben im November das Land räumen werde. Als dieß trotzdem 
nicht geſchah, wurde ihr Begehren dringenter und ihre Sprade derber, als es 
europäifche Regierungen gewöhnt find. Dießmal war Napoleon indeß jehr zu ent- 
ſchuldigen. Die Lage in Mexiko hatte fih nämlich inzwiſchen fo geftaltet, daß er 
feine Zruppen unmöglich in einzelnen Abtheilungen zurüdziehen konnte, ohne bie 
letzte derfelben vielleicht gänzlicyer Vernichtung, jedenfalls der höchſten Gefahr aus- 
zufegen. Er war in ber That genöthigt, fie beilammen und auf einmal einſchiffen 


536 Nachtrag. 


zu laſſen, was fi) bis in ven Februar und März 1867 hinauszog, da Kaiſer 
Mar fi entfchieben weigerte, die Hand zur Verftänbigung mit Inarez und ber 
nordamerikaniſchen Union zu bieten. Der Rüdzug gelang indeß ohne alle Schlappe 
und fo war wenigftens die Waffenehre gerettet. Kaiſer Dar wurde dagegen ge- 
opfert. Sein Top laftet auf der Politik des Katfers der Franzoſen und bie allge- 
meine Theilnahme für das tragifche Geſchick, dem er erlag, fowie das noch trau⸗ 
rigere 2008, das die hochbegabte Gefährtin feines Lebens traf, war mur geeignet, 
bie Verantwortlichleit Napoleons zu erfhweren. Dieſe Nieberlage war infofern pie 
fhwerfte, als fie zugleich eine moraliſche und politifcde zu fein ſchien. 

Die Ereigniffe in Deutſchland. Bon viel größerer, ja entſchei⸗ 
dender Tragweite für Frankreich waren jebocd bie Ereigniffe von 1866 in Deutſch⸗ 
land, die zwifchen das Ende der merilanifchen Erpepition bineinfielen. Obgleich fie 
fih feit Jahren augenfcheinlich vorbereiteten, überrafchten fie body, wie fie wirklich 
eintraten und mit einem Schlag zur vollendeten Thatſache geftalteten, alle Welt 
und nicht zum mindeften den Salfer ver Franzofen. Die wachfende Bewegung in 
Deutfchland, ſich des alten Bunbestags zu entlebigen und zu einer größeren Ein- 
beit zufammenzufcließen, war demſelben keineswegs entgangen, aber eben fo wenig 
auch die Schwierigkeiten, die bei dem Gegenſatz zwifchen ven beiden deutſchen Groß⸗ 
mächten und der Zäbigkeit der Mittelftaaten, die nicht die mindeſte Neigung zeigten, 
auf irgend einen wefentlihen Theil ihrer Souveränetät zu verzichten, jedem Er: 
folge entgegenflanden. Er erlannte ſehr wohl, daß die Bewegung nur im An- 
ſchluß an Preußen Ausfihten auf Verwirklichung habe, und daß dieſes, das fid 
in der ihm vom Wiener Kongrefje bereiteten Stellung immer unbehaglicher fühlte, 
auch entichievene Neigung zeige, der Bewegung entgegen zu fommen, um ſich ihrer 
in einem günftigen Momente zu bedienen. Ein gewaltjamer Ausbrud, eine deutſche 
Revolution erjhien ihm kaum als gerade wahrfcheinlid, aber doch als möglich. 
Diefer thatſächlichen Lage der Dinge entſprach feine Politik gegenüber Deutſch- 
land. England, Rußland, Oeſterreich waren nad) einander gevemüthigt worden, 
die Wiener Verträge mochten als thatfächlich befeitigt angefehen werben; Preußen 
allein fland von allen bisherigen Borgängen noch ziemlich unberührt da, obgleich 
für den Napoleoniven auch mit Ihm und vielleit nicht in letzter Linie mit ihm 
eine Rechnung feit 1815 zu liquidiren gewefen wäre, Seine befeheidene Stellung als 
halbe Großmacht, noch mehr aber feine Stellung innerhalb Deutſchlands gereichte 
ihm indeß zum Bortheil. Ein Angriff auf Preußen mochte viefes und Oeſterreich 
gegen Frankreich zufammenführen oder den Anftoß zur praftifchen Verwirklichung 
jener Einheitöbeftrebungen geben, die durchaus nicht in Frankreichs Interefie lag. 
Dagegen mochten die preußiſchen Anſprüche vorfiätig und klug in Erwägung ge- 
zogen werben. Die Wievergewinnung der ARheingrenze lag allervings in den fran- 
zöfifhen Wünſchen und Traditionen, und biefer Erfolg hätte für die Dynaftie, bie 

⸗ der Kaiſer zu begründen bemüht war, eine ganz andere Bedeutung in den Augen 
ber Nation gehabt, ald die Annerion von Savoyen und Nizza. Vielleicht ließ fidy 
dieſes Ziel durch Unterftügung ber preußifhen Wünſche in Deutfchland Leichter 
und jedenfalls wohlfeiler erreichen al8 durch einen Krieg gegen Deutſchland, und 
biefer Weg entſprach zudem ber ganzen Anfchauungsweife Napoleons ungleich 
befjer. Unglüdliher Weife für Frankreich, glüdlicher Weife für Deutſchland unter- 
fhäßte nur der Kaifer fowohl Preußens Macht als feine deutſche Gefinnung. Als 
er im Frühjahr 1859 gegen Defterreih das Schwert zog, ließ er Preußen und 
bie Möglichkeit eines Angrifis von daher außer Berechnung, und dieſer große 
Irrihum war es, der ihn zwang, vor dem Feſtungsviereck ftehen zu bleiben, bie 





Stankreich. 537 


Ausführung feines urfprünglihen Plans zum Scheitern brachte und 518 anf einen 
gewifien Grad in fein gerabes Gegentheil umkehrte. Doch hatte Frankreich wenig- 
ftens eines erreicht, die neue Entfrempung zwiſchen Defterreih und Preußen. Was 
in ver Unterrevdung zwifchen ven beiden Kaiſern zu Billafranca vorging, iſt troß 
der angeblihen Enthüllungen darüber nicht befannt geworben und wird es viel- 
leiht nie werden. So viel ift jedoch Thatſache, daß es Napoleon gelang, das 
ohnehin bittere Gefühl des Öfterreichifchen Herrfchers gegen Preußen noch zu ver- 
fhärfen und in dem Herzen vesfelben einen tiefen Stachel gegen feinen deutſchen 
Bundesgenofien zurüdzulafien, wenn es aud bei der damaligen Lage der Dinge 
mehr als unwahrſcheinlich iſt, daß er ihm die Rüdgabe der Lombardei in Ausficht 
geftellt Habe, wofern Defterreih bei einem bevorftehenvden Angriffe auf Preußen 
neutral zu bleiben fih verpflichten würde. Eher glaublich iſt die Angabe, daß in 
der Zwiſchenzeit und zwar durch Vermittlung Rußlands, das damals mit Franl- 
rei wie mit Preußen auf gutem Buße fland, dem legteren ber Antrag Frank⸗ 
reichs gemacht worden fet, ihn freie Hand in Norddentſchland zu laflen, wenn es 
geneigt wäre, die Rheinlande zu opfern. Ob dieſer Antrag durch Napoleon ſelbſt 
im Juni 1860 bei ©elegenheit der Yürftenzufammenfunft von Baden-Baden dem 
Könige von Preußen gegenüber wiederholt wurde, mag bahin geftellt bleiben. So 
viel iſt fiher, daß Preußen weit davon entfernt war, auf ven Plan einzugehen, 
aber es liegt auch nahe anzunehmen, daß es fpäter an biefe Anregung anknüpfte, 
um fih von Frankreich freie Hand in Deutfhland zu fihern. Die Frage der 
Rheingrenze mag dabei von beiden Seiten rejervirt worben fein, nur mit dem 
Unterfchiee, daß Frankreich eine Kompenfatton, Preußen aber das gerade Gegen- 
theil für felbftuerftännlich erachtete und es für feine vornehmfte Aufgabe In viefer 
Beziehung erkannte, Frankreich dahin zu bringen, ihm In Deutſchland freie Hand 
zu gewähren, ohne fi dafür zu irgend etwas verpflichten zu müflen. Daß das 
vollftändig gelang, zeigte der Berfolg, wobei die Unterfhägung feiner militäriſchen 
Kräfte Preußen ebenfo zum Vortheil gereicht haben mag, als der Umſtand, daß 
der Kalfer, wie wenigftens und nicht ganz unglaubwürbig behauptet warb, den 
Hm. v. Bismarck⸗Schönhauſen damals für „pas serieux" erklären zu dürfen 
glaubte, gerade wie er felber nad) Straßburg und Boulogne beurtheilt wor- 
den war. 

Zunääft ruhte die Frage für Frankreich: die beutfche Bewegung nahm zwar 
ihren Fortgang, aber Bismard waͤr von dem großen Konflitt mit der preußiſchen 
Bollövertretung vollftändig in Anfpruch genommen. Mit dem Tode des Königs 
Friedrich von Dänemark, Ende 1863, wurde fie indeß praftiih und alsbald ge- 
rabezu brennend. Nah allem was feit 1848 vorgegangen, ließ ſich nicht vers 
fennen, daß die ſchleswig-holſtein'ſche Frage wie feine andere geeignet 
fei, die deutſche Frage endlich zur Entſcheidung zu bringen. Die öffentlihe Mei⸗ 
nnng in Deutſchland felbft betrachtete die Frage zwar mo nicht ausfchlieglich, doch 
ganz überwiegend als eine innere Angelegenheit. Die Mächte waren aber gen 
und gar nicht diefer Meinung. Preußen befand ſich in einer fchwierigen Tage. 
Frankreich fland gerade in diefer Frage nicht allein, wenn es ſich ihrer bemächtigen 
wollte, nicht einmal in erfter Linie, ſondern in biefer ftand England, und Eng⸗ 
land war fehr geneigt, Preußen gerade bier aufs Entfchievenfte entgegen zu treten. 
Preußens damalige Haltung erflärt fi jet eben fo leicht, als fie damals dem 
heftigften Tadel vom Standpunkte aller nationalen und liberalen Beſtrebungen 
nnterliegen mußte. Die Art aber, wie Blsmard vie fchleswig-holfteinifche Frage 
im Jahr 1864 zur Erledigung brachte, war ein Meiſterwerk piplomatifcher Kunſt, 


-. 


538 Bedtzag. 

vieeicht noch mehr als viegenige, mit ber er ywei Jahre fpäter hie beuifdhe Wirage 
ſeibſt ohne Die Einmildung Frautkreichs zur Lafung führte. Eben im bem ridptügen 
Sefähle, daß tie Frage zum minbeiten chen fe ſehe eime Frage ver antwärtägen 
als der inneren Politik fei, verband er fig gegen vie gewaltige Aufregum; „ bie 
ganz Deutſchland, Preußen mit eingeſchloſſen, ergriffen hatte, mit Defkerreich, Kielt 
dadurch Franfreih, im Cdech und wußte bed Defimeih Erik für Scieitt 
dahin zu führen, wohin es urfpränglig vurdans nicht gewollt, was es im Gegen- 
theil hatte vermeiden wollen und zwar gerade durch feine Allianz mit Premipen. 
Preußen, das muter [wachen und fchwanfenden Regierungen Schleswig-Helfkein 
gegenüber eine ſchwache und fdywantente Politik befolgt hatte, wer diejmal zumter 


Dismards entfhlofien, die Herzogthümer trog des Londoner Traftats 
für Dentſchland, vielleicht für Preußen felber zu erwerben. Über wie bie emgexe 


den engliihen Dreizad fühlen zu lafien, und die Berfuhung, mitzumachen um» 
mit Deutſchland unter überaus günſtigen Vorbedingungen auzubinden, wurde 
Pranfreih zweimal binnen weniger Donate nahe genng gelegt. Wer indeß nicht 
baranf einging, war der Kaifer der Franzoſen, ber glädlider Weiſe gerade da⸗ 
mals mit dem englijhen Kabinet auf ziemlid geipanntem Buße ſtand, weil es 
feine Kongreßidee und zwar auf eine geradezu verlegende Weile kurz vorher zu 
Ball gebracht hatte. 

Schon zu Anfang Iannar 1864 ftellte Frankreich den deutſchen Mächten 
eine Transaktion in Ausfidt, indem es den Londoner Traftat, obgleich derjelbe 
auch feine Unterſchrift trug, ein „ohumächtiges Werk" nannte, und als Englaud 
feine eventuelle Zuftimmung zu einer friegerifhen Kooperation In Anfprud nahm, 
lehnte es fie nach kurzem Bedenken ab, indem es unumwunden erklärte, ba „ein 
Krieg zwiſchen Deutſchland und Frankreich ver unfeltyfte und gewagtefte aller Kriege 
fein wärbe, auf den ſich das Kaiferreich einlaffen könnte“. England mußte einwilligem, 
daß die Londoner Konferenz Mitte April nicht auf Grund des Londoner Vertrags 
eröffnet wurde, und Preußen wußte es gejchidt dahin zu bringen, daß berfelbe 
allgemein als vahingefallen anerkannt und eine andere Löſung geſucht wurbe. 
England gab indeß noch keineswegs nah: am 1. Mai ließ es feine Kanalflotie 
in den Dünen vor Anfer gehen und fämmtliche Beurlaubte derfelben telegraphiſch 
einberufen, und am 10. Juni ließ e8 dieſelbe drohend von Plymouth nad Spithead 
abgehen, nachdem es Frankreich meuerbings zu einer kriegeriſchen Demonftration 
aufgeforbert hatte. Allein an demfelben Zage lehnte Frankreich feine Kooperation 
zum zweiten Male ab, indem es erflärte, dag wohl England, nicht aber Frank⸗ 
reich in der Lage fei, zu einer bloßen Demonftration die Hand zu bieten, daß 
Frankreich nur unter einer Bedingung Friegerifch gegen Deutſchland mit England 
zufammengehen könnte, um ben Preis der Rheingrenze, und daß es dazu ber 
„unbegrenzten Unterftügung Englands“ ficher fein müßte. Darauf ging binmieber 
England nit ein und es erfolgte ver vefultatlofe Schluß der Londoner Konferenz, 








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Seankreid. 539 


der Uebergang der Preußen nad Alſen und ber Ausgang des ganzen Kriegs zu 
Gunften Deutfchlands und Preußens. Preußen hatte ganz richtig gerechnet: ein 
Krieg mit Frankreich wäre in jenem Momente zu einem beutihen Rationaltriege 
geworben und Defterreich hätte gern oder ungern darin mit Preußen und Deutſch⸗ 
land gehen müſſen; vor biefer Eventualität wid aber Frankreich zurüd. 

Zu einem weiteren Eingreifen in dieſe Ungelegenheit fand Frankreich nad 
dem Wiener Frieden keine Gelegenheit mehr. Alles was es thun Tonnte, war, ben 
Bortgang der dentſchen Dinge mit ſcharfem Auge zu verfolgen. Die Allianz zwifchen 
Defterreich uud Prengen ſchlug in ihr gerabes Gegentheil um, und faum ein Jahr 
nachher, im Sommer 1865, unmittelbar vor dem Abſchluß der Gafteiner Kon» 
vention, ſtand Deutſchland bereitd an der Schwelle eines Krieges zwiſchen feinen 
beiden Großmächten. Die Konvention war feine Loſung des Zwiſtes, fondern 
lediglich eine Bertagung feines Anstrags. Bismard ließ ſich dazu berbei, theils 
meil er die Abneigung des Königs gegen einen Eutſcheid durd vie Waffen nod 
keineswegs ganz überwunden hatte, theils vielleicht auch weil er Frankreichs Neu⸗ 
tralität noch nicht ficher fein zu können glaubte. Im Herbſte ging er felbft nad 
Biarrig, wo gerade Damals der Kaifer fih aufbielt. Ob und welde Abmachungen 
zwiſchen beiden erfolgten, mag bahingeftellt bleiben. Genug, daß Bismard fi) voll- 
kommen überzeugte, daß er den Dingen ihren Lauf laſſen lönne, ohne fürchten zu 
müflen, daß ihm Frankreich von Anfang an in den Arm falle, und ohne, wie 
die Thatſachen ſeither faſt unwiderleglich gezeigt haben, feinerfeits irgend eine 
Berpflihtung gegen Branfreih übernommen zu haben. In Preußen hatte er im 
Stillen längft Alles zum Kriege vorbereitet: das Weitere gab die preußiſche Militär- 
organtfation von felbft an die Hand. Defterreih war nicht in eben fo vortheil- 
bafter Tage, feine Nüftungen verlangten mehr Zeit und mußten mehr Auffehen er- 
regen, und gefchidt wußte e8 Bismard fo einzuleiten, daß Defterreich thörichter 
Weiſe ven erſten Schritt that, ber unter gegenfeitiger Steigerung und gegenfeltigem 
Hin⸗ und Herreben dahin führte, wo er die Dinge haben wollte, zum enblichen 
Ausbruch des Kriegs, 

Frankreich ließ Preußen gewähren, ohne indeß den Vorbereitungen zum Kriege 
unthätig zuzuſehen. Preußen war feiner militäriichen Kraft, die von anderer Seite 
fehr geachtet, aber doch weit umterfchägt wurbe, volllommen bewußt; allein bei 
der unzwelfelhaften Sefinnung ver Regierungen fämmtlicher deutſcher Mittelftanten 
und bei ber entſchiedenen Abneigung, die ſich in Folge des inneren preußtfchen 
Konflikts der gefammten liberalen dffentlihen Meinung Deutfchlands gegen das 
Regiment Bismards in Preußen und damit wenigſtens theilweife gegen Preußen 
felber bemächtigt hatte, mußte dieſes gewärtigen, ganz Deutſchland alsbald in 
Waffen an der Seite Oeſterreichs zu fehen umd konnte daher den Krieg mit Zu⸗ 
verficht Do nur wagen, wenn Deftereich gleichzeitig von zwei Seiten angegriffen 
würde. Die Alltanz ergab fih von ſelbſt. Schon im Jahr 1865 waren die Ein- 
leitungen zu einer folden mit Italien getroffen und zu Anfang 1866 wieder auf- 
genommen worden. Die Frage lag bis auf einen gewiffen Grad unläugbar in ber 
Hand Frankreichs. Napoleon ſcheint nun von Anfang an entfchloffen geweſen zu 
fein, die dentſchen Dinge zu einer Löſung ver venezianifchen Frage zu benügen, 
welche Motive immer ihn dazu bewogen haben mögen, und in fo weit befand er 
ſich in vollem Einklang mit dem Kabinet von Florenz und ben Wünfchen ber 
Italtener. Aber offenbar glaubte er nicht, annehmen zu follen, daß dieſe ſchließlich 
den Siegen der preußifhen Waffen ven Befig Veneziens zu verbanfen haben 
würden. Seluem ganzen Wefen nad wollte er lieber durch Unterhanblungen und 


« 3 


cn auf dieſem Wege zu erreidken 

—X .n uns dau Miegs. Es ift bente bereits außer 

FT eugen über ein Arrangement zwiſchen 

> guer weh letztere zu Anfang Aprils feine 

‚UT entreichs Borwiffen und wohl auch unter 

ie En ze Wöglicleii einer Abtretung Veneziens vew 

er en, wie es ſcheint, nicht nur ein Kaufpreis ves 

one — A feinen ohnehin zerrätteten Finanzen im Ange- 
und 





oa AR längeren Krieges fehr wohl brauchen Tonnte, 
—RR en Italiens mit einer Armee von 100,000 Manz 
janıın aferdes eine territoriale Entſchädigung nicht durch türkifche Gebiete, 

ed ſege war, fondern durch ben Wiedererwerb Schleflens, 


rovinzen Preußens, in Ausficht geftellt. Benezien war 

ab ce ri ädlih fein Element ver Macht, fondern vielmehr eine ſchwere 
er fowohl bie innere Schwäche Oefterreihs als die Unſicherheit jenes koft- 

—* wurde außerhalb des Kaiſerſtaats richtiger gewürdigt, als von 
*— das fich über ſeine eigene Schwäche täuſchte und es mit ſeiner Würde 
— ubar hielt, ohne Schwertichlag auf Venezien zu verzichten. Defterreich 
it alle Bropofitionen ab, ging auch fpäter nicht auf den von Napoleon lebhaft be⸗ 
en Borfhlag eines Kongrefies zu Abwendung des Krieges ein, in der rich- 
** Borausficht, daß jeder Ausgleich nur in einer Abtretung Veneziens geſucht 
N Eiume, und bie Allianz zwifchen Preußen und Italien wurde wirklich abge- 
fchloflen. Napoleon konnte auf diplomatifhem Wege weiter für Defterreih nichts 
than. Aber wenn er ben Krieg hätte abwenden wollen, fo wären ihm allerbings 
noch andere Mittel zu Gebote geflanden, und diefe waren es, deren Anwen 
pung zum minbeften eine ſtarke Partei in Frankreich jelbft laut genug verlangte. 
Schon bei der Adreßdebatte Hatte fi der fonft fo gefügige geſetzgebende Körper 
bezüglich des Paſſus über Deutfchland ſchwierig gezeigt und benfelben am 1. März 
egen alle bisherige Gewohnheit an die Adreßkommiſſion zurüdgemtefen, zwei Tage 
päter aber doch mit geringer Mobififation angenommen. Zu Anfang Mat lag 
die Sache bereits anders. Die Borlage des Kontingentgefeßes geftaltete fich fofort 
zu einer allgemeinen Debatte über die dentfche Frage, und Thiers unternahm 
es, den Anſchauungen und Gefühlen nicht bloß der Oppofition, fondern auch ber 
Mojorität feinen beredten Ausdruck zu leihen in einer umfaſſenden Darlegung, in 
der er die Bolitit des Kaiſers ſowohl in Italien als in Deutſchland einer ein- 
ſchneidenden Kritik unterwarf und, allerbings in Uebereinftimmung mit dem bis- 
berigen Gang der Geſchichte und der traditionellen Bolitit Frankreichs, feine be- 
Yannte Anſicht entwidelte, nach welder dieſes allein berechtigt wäre, inmitten Eu- 
ropa’8 eine kompakte einheitliche Macht varzuftellen, Italien aber und Deutſchland 
in ihrer Zerfplitterung und barum in ihrer relativen Schwäde um jeven Preis 
erhalten müſſe. Bon diefem Standpunkte ans fei der Anſtoß zur Bildung eines 
einheitlichen Italiens der erſte große Fehler des Kaiſers geweſen, dem nun vie 
Konfequenz auf dem Fuße folge, die Bildung eines einheitlichen Dentſchlands. 
„Breußen ift es,“ fo rief er aus, „das den europäifchen Frieden bevroht, und es 
handelt ſich darum, ein Mittel ausfindig zu machen, um es daran zu hindern.“ 
Thiers täuſchte fih wicht, daß es dafür uur ein rabifales Mittel gab, ven Krieg 
oder wenigftens die offene Drohung desſelben, indem Frankreich Preußen erfläre: 
„Du bebrohft das europälfhe Sleihgewicht und den Weltfrieden, und zwar du 
und nicht Defterreih. Wohlan! wir leiden es nicht," und wenn er auch nicht ge- 





wir sh tk 





Srankreich. 641 


radezu dieſen kurzen Weg von der kaiſerlichen Regierung forderte, ſo verlangte er 
doch, daß fie ihrem Schützling Italien eine Allianz mit Preußen und einen An⸗ 
griff auf Defterreih, eine ten franzöflfchen Interefjen zuwider laufende Politik 
wenigftens geradezu verbiete. Die ganze Kammer, die kaiſerliche Majorität nicht 
minder als die antilaiferliche Oppofttion, überfchüättete den Redner mit ihrem Bel- 
fall, und es ift außer Zweifel, daß Thiers fi nur zum Sprachrohr fo zu fagen 
der gefammten öffentlihen Meinung Frankreichs gemacht hatte. Der Stantsminifter 
Rouher wußte ſich nicht anders zu helfen, um den Sturm zu befchwichtigen, als 
indem ex eine Depeche der italienifchen Neglerung preduzirte, durch welche ſich 
biefe verpflichtet hätte, Defterreih nicht anzugreifen. Die Depeche war gefälicht, 
aber fie that ihren augenblidlihen Dienft, die Kammer ging zur Tagesord⸗ 
nung über. 

die Dinge in Deutichland Hatten ihren Yortgang; des Kaiſers Abfichten 
waren inzwifchen weber für Deutſchland noch für Preußen allzu günſtig, indem 
fein Minifter des Auswärtigen, Drouyn de l'Huys, Mitte Juni für den eben ta- 
mals betriebenen Friedenskongreß die Vorſchläge Frankreichs dahin formulixte: 
erfteres folle vie fchleswig-holfteinifche Frage der Abſtimmung der Bevölkerungen an- 
heimgegeben, d. b. wie die Dinge damals lagen, fie folle gegen Preußens Wünfche 
entſchieden werden; zweitens follte zwar Defterreich auf Venezien verzichten, aber nur 
gegen Territorialentfhädigung, wofür wie gejagt die preußifche Provinz Schlefien 
ind Auge gefaßt war; brittend aber follte die deutfche Bundesreform, infofern fie 
das europälfche Gleichgewicht berühre, den Gegenftand gemeinſchaftlicher Prüfung 
durch diejenigen Mächte bilden, weldye die Wiener Schiußafte unterzeichnet hätten, 
b. 5. jede. wirkliche Einheit verhindert werden. Zum Glück für Deutfchland ſchei⸗ 
terte die ganze Kongreßidee an dem Widerſpruch Defterreihs. Da, im legten Mo⸗ 
ment vor dem wirklichen Ausbrud, am 11. Iuni, erließ ber Kaiſer einen offenen 
Brief an feinen Minifter des Auswärtigen „über das Verfahren, weldes Meine 
Negierung den kommenden Greigniffen gegenüber beobachten wird“. Der Kaifer 
prächfirt die Urfachen des Konflifts und die Löſung von feinem Stanbpunfte aus: 
„Der Konflikt hat drei Urfachen: die ſchlecht begrenzte geographifche Lage Preußens — 
den Wunſch Deutſchlands nach einer politifhen Berfafiung, die mehr feinem Be⸗ 
därfnig entfpriht — die Notwendigkeit für Italien, feine nationale Unabhängig- 
feit fiher zu ftellen.” Die Löfung der letzteren Frage machte am wenigften 
Schwierigkeit: Ceſſion Veneziens an Italien gegen eine verhältnigmäßige Ent- 
ſchädigung Defterreihs, wobei der Kaiſer auch bie leifefte Andeutung unterließ, 
wo und wie biefe Entſchädigung geſucht werben folle. Leber die deutfhe Frage 
wird gefagt: „Die neutralen Mächte konnten nicht beabfichtigen, fi in die inneren 
Angelegenheiten fremder Länder einzumifchen. Nichts deſto weniger hatten bie Höfe, 
welhe an ber Konftitutrungsalte des deutſchen Bundes Theil genommen haben, 
das Recht zu prüfen, ob die verlangten Aenderungen die in Europa beſtehende 
Ordnung nicht flören würben. Was uns betrifft, fo hätten wir für bie zum 
dentfhen Bunde gehörigen Staaten zweiten Ranges ein engere Aneinander- 
fhliegen, eine fräftigere Organifation, eine wichtigere Rolle gewünſcht; — für | 
Preußen mehr Abrundung und Kraft im Norden; — für Defterrei die Erhaltung 
feiner großen Stellung in Deutſchland.“ In der That, mit wenigeren Worten 
und boch zugleich beftimmter hätte der Kaifer feine Anfchauung und feine Pläne 
kaum ausprüden können. Bon einer einheitlicheren Geftaltung Deutſchlande, von 
einer größeren Machtſtellung besjelben nah außen war überall feine Rebe im 
entfchiebenften Gegenſatz gegen ben eben damals (10. Junt) veröffentlichten Bunbes- 





542 Kadıtrag. 


entwarf Preußens. Nicht eine mehr ober minder entſchiedene, wenn auch auf eine 
Anzahl beftimmter, genau begrenzter politifcher Funktionen befchränfte Einhekt 
wünfchte, fehr begreiflicher Weiſe, Rapsleon für Deutfhland, fondern vielmehr 
eine Art Trias, wie fie längft von Bayern nicht fowohl augeftrebt, aber doch als 
Idee in die Welt gefeßt worden war *) und was vie Machtſtellung Dentfdh- 
lands nach außen betraf, fo zog Ihr der Kalfer eine beflimmte Schranke, indem 
ex die Rengeftaltung des Bundes unter die Vormundſchaft Europa’s ſtellte, deſſen 
„Recht“ dazu er, freilich mit handgreiflicher Intonfequenz, ans venfelben Wiener 
Berträgen herleitete, die er wenige Wochen vorher (6. Mat) in Aurerre weit 
weggeworfen und gewiſſermaßen gebrandmarkt hatte. Selbft wie fi ver Kaiſer jene 
Trias dachte, ift, im Zuſammenhange mit den damals von ber franzöſtſchen Preffe 
lebhaft erdrterten Planen und Ideen, hinreichend angebeutet. Defterreich follte feine 
große Stellung „in” Deutfhland behalten, vie Mittelftnaten fi „kräftiger“ am 
einander fließen und eine „widhtigere” Molle fpielen, Preußen aber leviglich 
„abgernndet” und „homogener“ werben, feiner „ſchlecht begränzten geographifden 
Lage” abgeholfen werden. Das Hauptgewicht fällt auf die Andeutungen bezüglid 
Breußens : offenbar hätte der Kalfer gegen eine gründliche Veränderung ber Karte 
Deutſchlands durchaus nichts einzuwenben gehabt und Hätte er bie Kleiuſtaaten, 
um ben Mittelſtaaten, namentlih Bayern, jene wichtigere Rolle zu ermöglichen 
und Preußen abzurnnden, ſammt und ſonders geopfert, ohne jedoch Preußen 
darum zu vergrößern, das fih mit der „Abrundung” wohl hätte begnügen müſſen. 
Eben dadurch würde fih vielleicht Gelegenheit gefunden haben, Preußen bie 
Rheinlande, die feiner Abrundung wie feiner (proteftantifhen) Homogenität im 
Wege ftanden, von bemfelben zu trennen und baraus ein eigenes Königreich zu 
Gunften irgend eines katholiſchen Fürſten, der fein Land verloren Hätte, zu kom⸗ 
ſtituiren, welcher Idee Frankreich freilich and einen Mittelſtaat, Hannover, hätte 
opfern müffen, vermuthlich indeß ohne das mindefte Bedenken geopfert hätte. Die 
Idee, zwifchen Frankreich und das proteftantifche Preußen am Rhein einen Tatho- 
lichen Staat einzufchteben, leuchtete den Franzoſen ganz befonvers ein, wenn fie 
auf die Rheingrenze verzichten follten. Und bebingungsweife, aber eben auch mır 
bebingungswelfe war der Kaiſer geneigt, darauf zu verzichten. „Ich weiſe — fagte 
er — jeden Gedanken an Gebietövergrößerung zuräd, fo lange das Gleichgewicht 
Europa’s nicht gebrohen wird. In der That köunten wir nur an eine Ausdeh⸗ 
nung unferer Grenzen denken, wenn bie Karte von Buropa zum ausſchließlichen 
Bortheil einer Großmacht verändert würde und wenn Grenzgebiete durch ihren 
frei ausgebrädten Wunf die Annerion an Frankreich fordern.” Damit referoirte 
fih der Katfer feine Interefien, wofern ber Krieg doch einen nicht erwarteten Aus⸗ 
gang nehmen und Preußen oder vielleicht auch Defterreich Erfolge erringen follte, 
die er damals nicht vorausjah und nicht gewärtigen zu müſſen glaubte, 

Wenn der Katfer fi in diefen Berehnungen irrte, fo fland er darin nichts 
weniger als allein. Niemand konnte in Wahrheit vorausfehen, daß Preußen eine 
ſolche nachhaltige Kraft, Niemand, daß Defterreih und die beutfhen Mittelſtaaten 
eine ſolche Schwähe an den Tag legen würden. Niemand wollte es auch voraus⸗ 
fehen; was der Menſch wünſcht, das glaubt er nur zu leicht, Die weit über- 
wiegende öffentliche Meinung Europa’s fland zwar nicht auf Seite Oeſterreichs, 
war aber gegen Preußen, deſſen Regierung fich zumal in ver Perfon ihres Reiters, 


*) Unm. d. Red. Schon von Zalleyrand zur Zeit des Wimer Kongreffes. 


Sraubeeich. 548 


bes Grafen Bismard, während bed Konflikts mit der Vollsvertretung bie allge⸗ 
meinfte Abneigung zugezogen hatte, auf's Entſchiebenſte eingenommen; man glaubte 
an eime mehr oder weniger exemplariſche Züchtigung besjelben, weil man eine 
ſolche wünſchte, wie man einen Sieg der Italiener wünſchte, freilid ohne hieran 
glauben zu Finnen. Kein Zweifel, daß der Kaiſer ſeinerſeits unbefangener und 
fühler urtheilte. Aber ſelbſt das Lühlfte Urtheil, in Preußen felber, war auf einen 
längeren Krieg mit wechfelnden Erfolgen gefaßt, der dem Kaifer und Frankreich 
hinreichende Getegenheit geboten hätte, feine Intereffen zu wahren, ohne fi an 
dem Krieg betheiligen zu müflen, was der Kalfer zu vermeiden wünſchte, theils 
weil Frankreich damals, wie man jegt weiß, militäriih, namentlih in Folge ber 
merikaniſchen Grpebition, zu einem Kriege gar nicht vorbereitet war, theils weil 
der Kaifer dadurch dad deuntſche Rationalgefähl gegen fih aufzurufen gefürchtet 
hätte, Der Kaiſer tröftete fi daher am Schlufſe feines Briefes damit, daß bie 
moraliſche“ Kraft Frankreicho binreiche, um es zu fihern, daß „welches auch der 
Ausgang des Krieges fein möge, Feine der und berührenden Fragen ohne die Zu⸗ 
flimmung Frankreichs geldst wird”. 

Niemals wielleiht hat fi ein unzweifelhaft ſcharfblickender, vorfidytiger und 
rubig abwägenver Staatsmann furchtbarer getäufht als damals Napoleon. Drei 
Tage nad feinem Briefe brach der Krieg aus, der binnen drei Wochen alle feine 
Berechnungen ver Wahrjcheinliähleit und alle feine Plane volllommen über ven 
Saufen warf. Die deutſchen Mittelftaaten eutwidelten keine irgendwie verhältniß⸗ 
mäßige Kraft, Hannover, Kurbefien, Sachen fielen fo zu fagen ohne Schwert- 
ſtreich, und fon am 3. Juli brachte Königgräg die blutige Entſcheidung. Der 
Einprud, den diefe Nachricht in den Tuilerieen madte, hat der Staatsminifter 
Rouher im geſetzgebenden Körper eben fo offen als draſtiſch geſchildert: „Patrio- 
tiſche Beklemmungen ergriffen uns; ein Schlag, ver für Jahrhunderte entfcheivet, 
war gefallen und wir hatten unferfeits kaum. Stunden, fondern nar Minuten, 
um umd zu entichliegen.” Die Konfequenzen des Sieges, ver Defterreih bis vor 
die Thore Wiens zu den Füßen der Preußen legte, ergaben fi von felhfl. Bon 
der großen Stellung Defterreichs in Deutfchland war jet Keine Rebe mehr, Teine 
Mede mehr von einer Träftigeren und wichtigeren Rolle ver deutſchen Mittelftanten; 
mit Einem Schlage Rand Preußen in Deutſchland übermädtig da und lieh fid 
feine Abrundung nicht von frankreich zumeflen, wie es dieſem konvenirte, fonvern 
nahm fie fi, wie es felber wollte und wie fie ihm jelber konveniren mochte: die 
Karte von Europa war verändert unb zwar zum ausſchließlichen Vortheil einer 
Großmacht, Preußens. Alle viefe Konfequenzen waren ganz und gar unabwendbar, 
wenn Frankreich wicht augenblidlich ſich erheben, Preußen Halt gebieten und einen 
Krieg mit demſelben auf Tod und Leben beginnen wollte, und zu einem ſolchen 
Entfchlufie, zu dem es in feiner Weiſe vorbereitet war, blieben ifm „nur Minuten“ 
eingeräumt. Der Eutſchluß wurde nicht gefaßt, wie viel Ueberwindung es gefoftet haben 
mag. Doc ſchon am folgenden Sage (4. Juli) brachte der Telegraph eine neue, faft 
wicht minder überraſchende Nachricht, die den patriotifhen Beklemmungen momentan 
ein Ende machte: der Kaiſer von Oeſterreich verzichtete auf Venezien und cebirte 
es bedingungslos nicht an Italien, ſondern an den Kaifer der Franzoſen. Ganz 
Paris ſchwamm in Wonne: der Kaifer ſchien durch diefes Pfand, das in feine 
- Hand gelegt wurde, zum Schiebärichter Europa's gemacht zu fein und als folder 
anerkannt werben zw müffen; feine Borausfihr hatte fi alfo doch bewährt und 
feine zumartende Haltung war aljo doch bie richtige geweien. Go fchien es, aber 
auch diefe Hoffnung follte fich ſchließlich als ein Irrlicht ausweiſen. Selbft mi 


544 NKachtrag. 


dieſen Pfand in der Hand war ohne Krieg eine Wendung des Geſchickes wicht 
mehr zu erzielen. Die Kriegsfrage aber war und blieb entſchieden. Napoleon Eher 
nahm lediglich die Vermittlung und mußte fi begnägen, wenigflens vie ſin⸗ 
deutſchen Staaten jenfelts des Mains dem direkten Einflufie Preußens vorkäug 
zu entziehen fowie das Nationalitätsprinzip in Norbfcleswig zu Gunften Däze 
marks mwenigftens zu einer gewiſſen Anerkennung zu bringen. Diefe Erfolge fanden 
freilich zu den ausprädlichen Forderungen Napoleons in feinem Briefe vom 11. Juni 
in einem geradezu ſchreienden Gegenfage. Ohne feine Schul hatte Fraukreich ein 
Niederlage erlitten, die zu all den vorhergehenven feit 1860 in gar feinem Ber 
bältuiffe ſtand. 

Die Revolution in Deutfhland (denn eime ſolche war es, wenn auch nidt 
eine ſolche von unten) war das Produkt der eigenen inneren Entwidelung vbiefet 
Landes und In keiner Weiſe gegen Frankreich gerichtet gewefen. Dennoch betrad- 
tete fie ganz Franfreih und mit vollem Recht wie eine Niederlage. Deutfchlant, 
das während des größten Theild des Mittelalters unbebingt die erſte Macht 
Europa's geweſen und aud als ſolche von allen Seiten anerlannt worden wat, 
batte diefe Stellung eingebüßt, ſeit die Macht der Kaifer gebrochen worben war 
und Deutfchland und Frankreich verſchiedene und ganz eutgegengeſetzte Bahnen 
einflugen, in jenem die Fürſten immer unabhängiger wurden und endlich bie 
volle Souveränetät errangen, in biefem vagegen die monarchiſche Gewalt die großen 
Lehensträger ſich unbedingt unterorbnete und bie Einheit ver oberften Gewalt über 
jeven Zweifel erhoben wurde. Seither ſank Dentſchland trog bes Uebergewichts an 
Bollszahl und trog der reichen inneren Kräfte, an denen es Frankreich überlegen 
blieb, ftetig, während fih Frankreichs Macht ftetig hob. Zwei volle Jahrhunderte 
lang feit Richelien hat Frankreich das Uebergewicht in Europa behauptet, wozu 
es überbieß vorzugswelfe geeignet war buch die Natur feines Vollögeiftes, ber 
bie Probleme der Be gewiffermaßen vorausfühlt und alsbald zur Löſung auf bie 
Tagesordnung zu ftellen weiß, ohne doch zu ihrer fung befähigt zu fein, während 
der deutſche Geift viel langſamer arbeitet und fi) vor einer Ueberftärzung bis 
zum Webermaß hütet. Die Organiſation Deutſchlands, wie ſie aus den Beſchlüfſen 
des Wiener Kongreffes hervorging, war in Deutſchland Tängft als unhaltbar er- 
kannt und eine Reform berfelben mit wachſendem Nachdruck verlangt worben. 
Frankreich hatte auch gar nichts dagegen einzuwenden, vorausgefegt nur, daß das 
eigentliche Princip des bisherigen Bundes, die Gleichberechtigung feiner Glieder, 
bie föderative Zufammenfegung ver oberften Gewalt nnangetaftet blieb, d. 5. eben 
dasjenige Princip, das den fundamentalen Unterfchteb in der politifchen Organi⸗ 
fation beider Nationen ausmachte und Frankreich das Webergewicht fiherte. Dieß 
vorausgefegt, war es ihm freilich ganz gleichgültig, ob Deutſchland aus breißig, 
zwanzig ober auch nur zehn ſouveränen Staaten befland und ob es dem Bunbei- 
tag eine Delegirtenverfammlung oder ſelbſt ein Parlament an bie Seite ſtellte 
oder nit. Nur die Einheit in der oberften Gewalt, in der Leitung der auswär- 
tigen Angelegenheiten und in ver Führung des Heeres war ihm gefährlich; biefe 
um jeden Preis abzuwenden, nöthigenfalls ſelbſt mit Gewalt zu verhindern, war 
es entſchloſſen. Auch der Katfer hätte ohne Zweifel keinen Augenblick gezögert, ſich 

an dem deutſchen Kriege von Anfang an zu betheiligen, wenn er nicht, und aller- 
dings nicht ohne Grund, der Ueberzeugung gewefen wäre, daß vie Entwidelung 
von Jahrhunderten viel zu tiefe Wurzeln in Deutſchland gefchlagen habe, daß bie 
Dynaſtieen der deutſchen Mittelftanten freiwillig auf ihre Sonveränetät niemald 
verzichten würben, daß ſelbſt eine Revolution in Deutſchland wohl in mand anderer 

















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Srankreich. 545 


Rüdfiht, aber niemals in diefer für Frankreich wichtigften zu fürchten wäre und 
daß Preußen nit ſtark genug fei, die Einheit zu erzwingen. Darin eben hatte 
er fih geirrt. Die deutſche Einheit war gewiffermaßen über Nacht erftellt worben, 
wenn auch nicht vollendet. Die Im Prager Frieden vorbehaltene „internationale 
Unabhängigfeit" ver ſüddeutſchen Staaten und der nothwendig baraus hervor 
gehende Gegenfag zwiſchen Nord- nnd Süddeutſchland war von ihm ber neuen 
Geftaltung allervings wie ein Pfahl ins Fleiſch geftoßen worden, aber der Troft 
war doch ein armfeliger, der nicht lange vorbalten konnte, nachdem der Stein ein- 
mal ind Rollen gerathen war. Franfreih war nicht mehr bie erfte Macht, aud 
nicht mehr bie erſte Militärmacht Europa’s wie bisher. Nicht da es darum fo- 
fort fi In die zweite Stelle herabgedrückt gefühlt hätte, davon war in der That 
noch Feine Rede, Aber mit Einem Schlage hatten ſich Deutfhland und Preußen 
neben Frankreich hingeftellt, Frankreich mußte fle als gleichwiegende Macht aner- 
fennen, mußte mit ihnen rechnen und den vorwiegenden Einfluß In Europa umn- 
zweifelhaft fortan mit ihnen theilen. Nur infofern waren bie Ereignifie von 1866 
eine Niederlage für Frankreich. Aber Frankreich betrachtete fie als eine ſolche und 
darum waren fie es au. 

Dieyes Gefühl hatte für den franzöfifhen Nationalgeift etwas wenn nicht 
völlig, doch faft unerträgliches. Der Kaiſer, fo unerwartet die Ereigniffe fi auch 
für ihn geftalteten und fo fehr fie alle feine Plane und zwar in ihrem Kern 
punkte durchkreuzten, fand boch ziemlich fchnell wieder das Gleichgewicht feines 
Geiſtes, die franzöfifche Nation hat e8 bis heute noch nicht gefunden und ſchwankt 
ſeither bis heute zwifchen dem Gelüfte, das Uebergewicht über Deutſchland durch 
einen gewaltigen Krieg gegen das übermüthige Preußen zu behaupten, unb ber 
Nefignation, fortan neben Deutſchland mit vemfelben an ben Aufgaben ver Zeit 
zu arbeiten und im Frieden mit ihm um die Palmen zu ringen, Noch ift bie 
Frage nicht entfchleven, aber je länger ihre Entſcheidung hinausgeſchoben werben 
Tann, deſto ftärker neigt filh die Wage auf die Seite des Friedens. Und fowohl 
Prenßen als Franfreih oder richtiger gelagt fowohl Bismard als der Kaiſer 
einen reblich bemüht, den Frieden zu erhalten, freilich ohne darum auf die Aus- 
bildung der ihrer Leitung anvertrauten Interefien zu verzichten. Rafch erfolgte bie 
Konftituirung des norbbeutfchen Bundes mit ftarlem Uebergewicht Preußens, ent- 
Ihiebener Unterorbnung der Kleinfürften und auf einer überaus breiten und ſtarken 
militäriſchen Grundlage. Diefe Seite der Organifatlon des norbbeutfchen Bunbes 
bat in Deutfhland wegen der ſchweren Laſt, bie fie den Bevölkerungen auflegt, 
am meiften Anfechtung erlitten, und fie ift e8 auch, die unzweifelhaft Frankreich 
zu einer ähnlichen Reorganifation feiner Streitfräfte gezwungen und überhaupt zu 
jener übermäßigen Ausbildung der militäriichen Kräfte, der augenblidlih ganz 
Europa Hingegeben iſt, den eigentlichen Anftoß gegeben hat. Allein wenn man 
billig fein will, fo muß man zugeben, daß Preußen bei ber ganzen Lage ber 
europaͤiſchen und ber deutfchen Dinge nicht anders handeln konnte, wenn es feine 
Errungenſchaften, für die es feine Eriftenz eingeſetzt hatte, nicht jeven Augenblid 
wieber in Frage geftelt fehen wollte. Exft wenn Deutihland ganz und definitiv 
unter feiner Yührung geeinigt iſt und erſt wenn Frankreich definitiv auf einen 
Krieg mit Deutfchland verzichtet hat, wird Preußen „abräften" können und dann 
wird Ihm Frankreich ohne Zweifel gern folgen. Das eine wie das andere iſt aber 
eine Frage der Zeit. Inzwiſchen geht Preußen in der erſten Beziehung fehr vor 
fihtig vor und ift in ver zweiten bemüht, Frankreich auf’8 Aeußerſte zu fchonen. 
Das letztere hat es unzweifelhaft durch die Art und Weife bewiefen, wie es 

Diuntfgli und Drater, Deutſches Staate⸗Wörterbuch. XI. 85 


546 Nachtrag. 


(April 1867) zu einer Löſung der luxemburgiſchen Frage die Hand bot. Frank⸗ 
reich hat durch dieſelbe einen kleinen Erfolg davon — der indeß für die 
große Frage nicht ins Gewicht fällt.*) Gegenüber Süddeutſchland hat Preußen 
allerdings die Mainlinie, für welche Frankreich vor ber Hand noch eine fat krank⸗ 
hafte Sorgfalt an ven Tag legt, bereits in zwei Beziehungen überfchritten, zu⸗ 
erſt duch die Schug- und Trutzbündniſſe (Auguft 1866) und dann durch bie 
neuen Zollvereinsverträge und die Grüudung eines Zollparlaments im Anſchluß 
an ben norbbeutfhen Reichstag (Iuni 1867); aber im übrigen bat die preußifche 
Regierung (Cirkulardepeſche vom 7. September 1867) auf's Beftimmtefte erflätt, 
den ſüddeutſchen Staaten bezügli eines Eintritts in den norbbeutfhen Bunb 
teinerlei Gewalt anthun, fondern die weitere Annäherung ausſchließlich ihrer 
eigenen inneren Entwidelung überlaſſen zu wollen. Frankreich aber fcheint fi 
ſeinerſeits allmälig in das Unvermeivliche fchiden zu wollen. Der Katfer legte fidh 
bie neue Lage der Dinge ſchon durch eine Cirkulardepeſche feines Minifters bes 
Auswärtigen vom 10. September 1866 von großen Gefihtspunkten aus zurecht 
und fcheint entfäloffen, den Frieden zu wahren und Deutſchland In feiner Nen- 
eftaltung nicht zu flören, obgleich er albald an eine Militärorganifation, welche 
eutſchland gewachſen fein fol, Hand angelegt, es überhaupt für unaus⸗ 
weihlih gehalten hat, alle Borbereitungen für den Fall eines großen Krieges zu 
treffen, und zu biefem Ende ſowohl in der öfficiöfen Preffe als in den Erklärungen 
feiner Miniſter gegenüber den Kammern wiederholt einen kriegeriſchen Ton an- 
ſchlagen ließ. Die unabhängige Prefle aber und bie Majorität des geſetzgebenden 
Körpers ftehen feinen friedlichen Abfichten nicht im Wege. Jene erklärt fi in 
ihren geachtetftien Organen entfchieben für eine friebliche Entwidelung ber Dinge, 
in dieſer hat fih die Stimmung, bie fih noch im Frühjahr 1867 in den lanteften 
Kriegsvelleitäten erging, ſeither gemildert und hat neueſtens (Iuli 1868) in fürm- 
lie Friedensdemonſtrationen umgefchlagen, die der kaiſerlichen Regierung nur faft 
nach der andern Seite wieder zu weit zu gehen ſchienen. 
| Innere Zuſtände. Der enblihe Entſcheid hängt von der inneren Ge⸗ 
ftaltung Frankreichs ab und die äußere Frage ift infofern zu einer inneren für 
‚Sranfreih geworben. Unmittelbar nad ben Ereignifien von 1866 traf faft die 
gefammte franzöftiche Prefie in ber Ueberzeugung zufammen, daß es nunmehr an 
Frankreich fet, alle feine inneren Kräfte auf’8 Aeußerſte zu entwideln, um Deutſch⸗ 
land gewachſen zu fein: und den Wettlampf mit vemfelben anf allen Gebieten bes 
ftantlihen Lebens aufnehmen zu können. Viele reihe Kräfte find in Frankreich 
gebunden, viele andere noch ganz und gar unentwidelt. Die gewaltigen Ereigniffe 
jenfeits ihrer Grenzen warfen die Franzofen auf ſich felbft zurüd und brängten 
fie zu einer prüfenden Selbſtſchau, teren Mefultat nicht befriedigend war. Der 
Vergleich ihrer politifchen Zuftände mit denen aller übrigen Völker rings um fie 
herum mußte geradezu befhämend ausfallen. Das VBewußtjeln, neuerdings durch 
ben zweiten Napoleon das Uebergewicht in Europa errungen zu haben und in dem⸗ 
felben thatſächlich von allen Seiten anerfaunt zu fein, das Gefühl, feit zehn Jahren 
ben Anſtoß zu allen großen Ereigniffen in Europa gegeben zu Haben und, wie 
man ed ausbrüdte, an der Spige der europälfchen Civiliſation zu marfchiren, mit 
einem Worte, der Blid nad außen hatte bie inneren Zuftände faft gänzlich über- 


*) Anm. d. Red. Der Ausgang des Rugemburger Handel war für Deutſchland nicht 
angenehm, aber doch wohl noch weniger für die Rapoleonifche Politi, die fich gendthigt ſah, auf 
ihren Annezionsplan zu verzichten. 


Srankreich. 647 


ſehen laſſen. Jetzt folgten ſich Schlag auf Schlag nicht zwar Niederlagen auf dem 

Schlachtfelde, aber Diißerfofge in der Politik, zuerft in Italien, dann in Mexiko, 
zulegt in Deutſchland, Thatfachen, welche die ganze Stellung Frankreichs im Kreife 
der europäiſchen Staaten auf's Tieffte berührten und veränverten. Der Nimbus, 
ber bie kaiſerliche Politik bisher umgeben, begann ſichtlich zu erblaſſen und bie 
nächſte Folge war, daß tie Geifter im Inneren ſich aufzuraffen und bie Inneren 
Zuftände wiederum einer bitteren und ſchonungsloſen Kritit zu unterftellen be- 
gannen. Seit dem Staatöftreih vom 2. Dezember 1851 und der darauf gegrün- 
beten Verfaffung lag alle Gewalt in den Händen des Kaifers und es lag nahe, 
bie Frage dießmal umzulehren und ihm zu fagen: Was habt Ihr feit zehn ober 
fünfzehn Jahren aus dieſem ſchönen Frankreich gemaht? Nah außen war viel 
und Großes gefhehen; nad innen hatte der Kaifer die Ruhe aufrecht und die fog. 
alten Parteien darnieder gehalten, aber das war im Grunde fo ziemlich Alles. Die 
Macht des Kaiſers beruhte neben der Armee auf der großen Maſſe, der er das 
allgemeine Stimmrecht eingerhumt hatte, und berer er mit Hülfe des Klerus, 
welchem er zu dieſem Ende ſehr wejentlihe Rechte des Staats namentlich bezüglich 
des Öffentlichen Unterrichts preis gab, ficher fein konnte. Zu gleicher Zeit gab er 
buch energifche Anhandnahme des Eifenbahnbaus der unbefchäftigten Bevälterung 
durch gauz Frankreich hin, durch den begonnenen großartigen Umbau von Paris 
und ähnliche Öffentliche Bauten in einer Reihe anderer Städte der eigentlichen 
Ürbeiterbevölfernng Arbeit uud Berdienft und durch Gründung großer Krebit- 
inftitute der Spekulation einen Anftoß, der wenigftens einen Theil des dritten 
Standes befriebigte und von der Politit abzog. Ruhe herrſchte im Lande, vie Ge⸗ 
ſchäfte waren in volfter Thätigkeit und über diefen Zuftänden war ein Glanz 
bingegofien, ver die Sinne verwirrte. Die politifche Bewegung in ver Nation 
ſchien faft ganz erflorben, der Kaiſer herrfchte und regierte. Das Verfammlungs- 
und Bereinigungsrecht war gänzlich befeitigt, die Prefle war faft ausſchließlich 
von der Regierung abhängig und von ihr Infpirirt, ver geſetzgebende Körper be⸗ 
fand vermöge der fog. officiellen Kandidaturen in Wahrheit nicht and Vertrauens- 
männern bes Volkes, fonbern lebiglich aus Ernannten der Regierung; fo weit es 
ſich um mehr oder weniger wichtige, aber für die politiihen Fragen indifferente 
Geſetze handelte, Tieß ihnen der Kaifer freie Hand und hörte auf ihren Rath, in 
allen politifchen Fragen hatten fie dagegen einfach zu gehorchen und gehorcten 
auch unwelgerlih. Die Minifter, ohne Zufammenhang unter einander, arbeiteten 
lebiglib mit dem Kaiſer und hatten nur die Befehle ihres Herren auszuführen, 
bie von ihren Büreaur aus durch eine Verwaltungsmaſchinerie ohne Gleichen, durch 
bie Präfelten, Souspräfelten und Maires über ganz Frankreich hingetragen wur- 
den und Alles in einem und demſelben fiheren Geleiſe erhielten. Der Katfer war 
unzweifelhaft der weitaus mächtigfte Mann in Europa, alle Fäden der Berwaltung 
und Regierung eines großen und reihen Staates liefen in feiner Hand zufammen, 
und e8 bedurfte nur eines leiſen Drucks berfelben, um bie ganze Mafchinerie, die 
ganze Kraft der Nation auf irgend einen beliebigen Punkt zu richten. 

Welche Bortheile ein folder Zuſtand ber Dinge für die auswärtige Politik 
bot, liegt auf der Hand, aber nicht minder draſtiſch ſtellt fi aud die Rückwirkung 
auf die inneren Berhältniffe var. Bon politifcher Freiheit war keine Rede mehr, 
aber auch nicht von anderen Freiheiten irgend welcher Art; Alles war reglemen⸗ 
tirt und Allem ein Geleife angewiefen, in dem es ſich nothwendig bewegen mußte. 
In Allem und Iedem fühlte fi der Franzoſe abhängig von der Regierung, 3 
Allen umd Jedem bedurfte er ihrer Erlaubniß, und faft mit Gewalt wurde «+ 


958 


548 Nachtrag. 


wozu er ohnehin geneigt war, darauf hingewieſen, für Alles und Jedes von der 
Regierung Hülfe und Unterflägung zu gewärtigen und zu hoffen. Die „großen 
Principin von 1789" wurden zwar vom Kalfer fortwährend und allenthalben 
vorangeftellt, aber fo weit fie wenigftens dazu beſtimmt geweſen waren, das Boll 
in allen feinen Gliedern zur Selbftthätigkeit und zu aktiver Mitwirkung an ber 
Entwidelung des Staates anfzurufen, war von ihnen thatfächlich keine Rede mehr. 
Und dennoch war es Heine Unwahrheit, wenn fich der Kaifer immer auf jene 
Principien berief: bie Gleichheit, die unter allen jenen Principien dem Naturell 
der Franzoſen am mceiften entſprach, ließ er unangetaftet und er felber war durch 
und durch ein Mann moderner Iveen und moderner Anſchauungen. Die Mittel 
waren andere geworben, die Zwede waren dagegen biefelben geblieben und was er 
irgend in feiner auswärtigen wie in feiner inneren Politik als feinen perjönlichen 
und bunaftifchen Intereflen förberlich oder mit benfelben wenigftens verträglich an- 
eftrebt und ins Werk gefegt hat, entfpricht im Allgemeinen ven Ideen, dem großen 

uge der Zeit und iſt faft durchaus frei von Meminiscenzen überwundener An- 
ſchauungen. Diefer Punkt iſt entfcheidend. Ohne dieß wäre Napoleons Regiment 
trog aller Geſellſchaftsrettung wenigftens auf vie Dauer jelbft in Frankreich nicht 
möglich gewefen. Aber ſowie fein Stern feit 1860 wenn aud nur fehr langfam 
zu finten begann, fowie ihm nicht mehr Alles gelang, ſowie auch Mißerfolge 
eintraten, die zur Kritik aufforberten, ſchien der franzdfiihe Bollsgeift wie aus 
einem langen Schlafe allmälig wieder zu erwachen und mit Schreden gewahr zu 
werben, wie die Nation Nichts, der Katfer Alles war, und fi zu ‘erinnern, daß 
ber Katfer felber ihr längft die „Krönung bes Gebäudes“, d. h. die Rückgabe 
ihrer Freiheiten und vie felbftthätige Mitwirkung an ihren eigenen Geſchicken ver- 
heißen hatte. Seit 1860 trat biefer Umſchwung ſichtbar und in fleigenvem Grabe 
hervor. Die große Maffe namentlich der Landbevölkernung war zwar wenn aud) 
nicht gerade zufrieden, doch nicht unzufrieben und ver Kaiſer blieb ihrer ficher, 
obwohl feit den Streitigfeiten bezüglih Noms der Klerus bie und da ſchwierig 
wurde und mit großer Vorficht behandelt werben wollte. Dagegen regten ſich bie 
alten Parteien wieder, die bei Seite gefeßte Bourgeoiſie trat wieder auf den Plan 
und in den Bevölferungen der Stäbte, zumal in derjenigen von Paris, machte fid 
mehr und mehr ein Geift bemerflih und fogar geltend, der den Kaiſerthum ge- 
radezu feindfelig war und nur durch das Vebergewicht der Regierungsgewalt und 
ber Landbevölkerung in Schranken gehalten werben konnte. Bon Gefahr für das 
tatferlicde Regiment war vor der Hand nod Feine Rede, wirb überhaupt, fo lange 
der Kaiſer lebt, kaum die Rede fein. Aber das bisherige Gleichgewicht war offen- 
bar geftört und ber Kaiſer ſelbſt erfannte die Nothwendigkeit, der neuen Lage ge 
recht zu werben, dem neuen Geifte, ver fi nicht mehr einfach bloß unterbrüden 
ließ, wentgftens ein Ventil, ein wahres Sicherheitsventil für das Kaiſerthum felber, 
zu Öffnen, fo weit e8 ohne Gefahr gefhehen mochte und ohne das Princip der 
Napoleonifhen Berfaffung aud nur im minveften anzutaften. 

Noh im Fahr 1860, am 24. November, erfolgte die erfte der Maßregeln 
biefer Art. Dur Dekret gab ver Kaifer dem gefeßgebenden Körper und dem Senat 
das Recht zurüd, auf feine Thronrede eine Adreſſe zu berathen und zu votiren; 
zugleih wurde das fehr befchränkte Recht des erfteren, die Gefegesporlagen zu 
amenbiren, etwas erweitert und die Konceffion gemacht, daß die Vorlagen in Zu- 
funft neben den Präſidenten und Mitgliedern des Staatsraths von Miniftern, 
aber nicht von ven betreffenden Refiortminiftern, fondern von beſonderen Miniſtern 
ohne Portefeuille vertheidigt werben follten, Dieſe Konceffionen waren Halbheiten, 








Srankreich. 549 


die eine Art Schein eines konſtitutionellen Regimentes erregen ſollten, aber nicht 
geeignet waren, weder das Anſehen noch den Einfluß des geſetzgebenden Körpers 
zu heben, deſſen Grundgebrechen in ſeinem Mangel an Unabhängigkeit und Selbſt⸗ 
ſtändigkeit lag. Es iſt ſehr die Frage, ob die Adreßdebatte, wie fie unter dem 
Julikönigthum in Frankreich, im Gegenſatz gegen die im engliſchen Parlament be⸗ 
obachtete Sitte, im Schwange war, als eine weiſe und zwedmäßige Einrichtung 
erachtet werden konnte. Unter dem zweiten Kaiſerreich war fie es jedenfalls nicht: 
bamals mochte fie wenigftens noch über das Scidfal des Miniſteriums entfchei- 
ben; jet vermochte fie dasfelbe nicht im mindeften auch nur zu erfchättern und 
fant daher zu einer bloßen Redeſchlacht ohue alle und jede praktiſche Bedeutung 
herunter. Zunachſt war das um fo entfchiebener der Fall, als ver unbedingt ges 
borfamen Majorität des gefetgebenden Körpers von mehr als 250 Stimmen eine 
principielle Oppofition von bloß 5 Stimmen gegerüber ſtand, bie natürlich nicht 
nur immer niebergeflimmt wurde, fonbern auch dur Schluß der Debatte jeben 
Augenblid zum Schweigen gebracht werden konnte. Diefes Verhältniß änderte fich 
einigermaßen burd die Neuwahlen des Jahres 1863. Die wenigftens -theilwelfe 
veränderte Stimmung bes Landes kam damals zum erſten Mal zu energifchemn 
Ausdruck. In den großen Städten, in Paris zumal, wo fie auch nicht einen ein- 
zigen ihrer Kandidaten durchbrachte, aber auch in Thon, Marfeille, Bordeaux zc. 
erlitt die Regierung eine eflatante Niederlage, die jedoch durch den Sieg auf dem 
Lande im Großen und Ganzen weit aufgewogen wurve: gegen 249 Negierungs- 
landidaten, die flegreich aus der Wahlurne hervorgingen, hatte die Oppofltion doch 
nur 34 der Ihrigen durchzubringen vermocht. Unter dieſen waren allervings bie 
bhervorragendften Häupter der verſchiedenſten Oppofitionsparteien, Jules Favre, 
ber Mepublilaner, Thiers, der Orleanift, Berryer der Legitimift. Aber eben darin 
lag aud ihre Schwäde: die Oppofition führte die glänzenpften Rednertalente ins 
Geld, denen die Majorität auch nicht von ferne ähnliche Kräfte entgegen zu ftellen 
vermochte und nur die kaiſerlichen Sprechminiftee Billault und fpäter Rouber an 
Gewanbtheit wie an chetorifhem Schwung gewachſen waren; die Oppofition war 
im Tal, das kaiſerliche Regiment bis in feine geheimften Winkel mit einer Gülle 
von Detailkenntniß zu beleuchten und alle feine Mängel und Gebrechen, ja felbft 
feinen zweifelhaften Urfprung mit der rüdfichtlofeften Kühnheit aus Licht zu ziehen; 
praktiſche Erfolge aber hat fie währenn fünf vollen Jahren auch nicht einen ein» 
zigen erzielt. Sie fcheiterte mit ihren Anträgen regelmäßig an ber kompakten 
Majorität, welcher ver Wille der Regierung in allen entſcheidenden Frageu Befehl 
war; aber fie vereinigte felten auf irgend einen Antrag and) nur alle ihre eigenen 
Stimmen, weil fie nur in der Negation gegenüber dem kaiſerlichen Regimente einig 
war, in ihren pofitiven Zielpunkten aber Republitaner, Orleaniften und Legitimiften 
felbftverftänplich weit aus einander gehen mußten. Die einzige Folge war, daß bie 
Berhandlungen des gefeßgebenden Körpers feither ſehr belebt, nicht felten äußerſt 
ftärmifh wurden und mehr als einmal in fürmlihe Skandale ausarteten. Die 
Geſchäftsbehandlung gewann dadurch gar nichts und die praftifchen Interefien des 
Landes an ven einzeln Geſetzesvorlagen wurden bor den großen Principien völlig 
außer Angen gelaflen: nur die eine Thatſache erſchien als über allen Zweifel er⸗ 
hoben, daß vie alten Parteien noch keineswegs ausgeftorben waren und daß bie 
DOppofition, Hinter der ein namhafter und einflußreiher Theil der Bevölkerung 
ftand, in der Lage war, jeven Augenblid die Rechtsbeſtändigkeit des Kaiſerthums 
zu regiren und ben ganzen beftehenden Zuftand einer unerbitilihen Kritik zu 
unterziehen. AU das war wohl geeignet, die öffentliche Meinung zu beunnhiger 


550 Ä Nachtrag. 


die herrſchenden Gewalten allmälig zu untergraben, ven Kaiſer zu ärgern und zu 
erbittern, aber durchaus nicht, ihn in andere Bahnen zu drängen over praftiiä 
irgend etwas zu verändern. Der Kaifer bielt im Ganzen, fo fehr er auch bie 
Manifeftationen ber öffentlihen Meinung verfolgte und beachtete, doch an feinem 
Syſtem feft und die Zuftände blieben weſentlich durchaus biefelben. 

Selbft die Ereigniffe von 1866 in Deutſchland und ihr Rüdihlag auf Frank⸗ 
reich verfhärften nur die Gegenfäge, ohne vie Dinge einer Löfung näher zu 
bringen. Das Taiferlihe Regiment wurde durch diefen Rückſchlag allerdings in er- 
heblichem Grave geſchwächt, aber in feinen Principien blieb er trogdem unerſchüttert. 
Mehr als einmal gab ſich die Oppofition der Hoffnung bin, der Kaiſer habe vie 
Unhaltbarfeit feines Syſtemes endlich erfannt und fei anf dem Punkte, dem Lande 
ein verantwortliches konftitutionelles Miniftertum zuzugeſtehen. Es erwies ſich jedes⸗ 
mal als eine reine Ilufion: der Kalfer dachte auch nicht einmal daran, auf feine 
alleinige und ausfchließliche Initiative wie feine alleinige Verantwortlichkeit, d. h. 
auf das rein perjünliche Regiment zu verzichten. Doch glaubte er jet wieber etwas 
tbun zu müflen, um bie öffentlihe Meinung nicht ſowohl gu befriebigen als hin⸗ 
zubalten und zn beſchwichtigen. Wie ver Rüchſchlag der ttaltenifchen Dinge vie 
Konceffionen vom 24. November 1860, fo hatte der Rüchſchlag ber ventfchen 
Dinge zur Folge, daß der Kaifer am 19. Januar 1867 ein Dekret erlich, vas 
die allervings unfruchtbare Adreßdebatte abfchaffte und durch ein übrigens fehr 
forgfältig reglementirtes Interpellationsrecht erfettte. Zugleich kündigte ber Kaifer 
durch einen offenen Brief an ben Stantsminifter Rouber feine Abfiht an, den 
Kammern Gelegesentwürfe über bie Preſſe und das Bereinsrecht vorlegen zu laflen 
und fomit auf die bisherige abfolute Willfür ver Adminiſtration in dieſen beiden 
Beziehungen zu verzichten, was er als vie fo lang erfehnte, fo laut geforderte und 
von ihm einft felber verheißene „envlihe Krönung des durch den Bollswillen er- 
richteten Gebäudes" bezeichnete. Diefer Schritt muß wiederum als eine Halbheit 
bezeichnet werben. Konftitutionelle Rechte find mit dem napoleonifhen Syſtem ab⸗ 
folnt unvereinbar. Immerhin ift der Schritt vom 19. Januar 1867 viel bebeut- 
famer al8 derjenige vom 24. November 1860, Der Kaifer glaubte ihn wagen zu 
fönnen, ohne fein Princip zu gefährden und das Preßgeſetz ſowohl als das Ber 
einsgefeg, wie fie nad mehr als einem Jahre endlich im Frühjahr 1868 aus den 
Berathungen des Staatsrathe, des gefekgebenden Körpers und des Senats hervor⸗ 
gegangen find und die Sanftion des Kaiſers erhalten haben, find fo verflaufulirt, 
daß die Gefahr in der That nicht allzu groß zu fein fheint. Aber fo ſchwach es 
fih auch thatſächlich ermweifen mag, ein Princip iſt anerfannt, das mit dem Princip 
“des Kaiferreihs unvereinbar If und von dem man vorausfagen kann, daß es ent- 
weder iwieber eliminirt werden muß, oder, fei es nun früher ſei es fpäter, ber 
Dppofition jenen feften Punkt in vie Hände gibt, wo fie den Hebel anjegen kann 
und nit ruhen wird, bis fie das Kaiſerthum felbft aus den Angeln gehoben hat. 
In diefem Augenblid (Auguft 1868) find nit nur in Parts felbft (U’Electenr, 
le Meveil zc.), fondern namentlih auch in ber Provinz und zwar felbft in Gegenven, 
in denen bisher vie äffentlihe Meinung ausfchlieglih von ber Präfeltur aus ge= 
macht zu werben pflegte, eine Reihe neuer öffentlicher Blätter gegründet worden, 
die alle mehr oder minder der Oppofition bienen, während in Parts ſelbſt das 
Kalferreih und alles mas damit zufammenhängt, ja ver Kaiſer und bie Talferliche 
Familie felbft von Wigblättern (wie la Lanterne von H. de Rochefort) mit uner- 
hörter Kühnheit angegriffen werben. 





Seankreith. 551 


Wenn ber Kalfer ben geſetzgebenden Körper nicht ſchon vorher aufldöst, fo 
mäffen verfaffungsmäßig im Jahre 1869 die allgemeinen Wahlen zum geſetzgebenden 
Körper für eine neue —* von ſechs Jahren ſtattfinden, und alle Bemühungen 
der Oppofition jeder Schattirung find auf das eine Ziel gerichtet, dem auch bie 
Tatjerlihe Regierung um fo größere Bedeutung beimißt, als in dieſe Periode bie 
Sroßjährigkeit des Taiferlihen Prinzen fällt, mit deren Eintritt man eine große 
Schwierigkeit und Gefahr hinter fi zu haben glaubt. Die Wahlbewegung hat 
denn auch bereitd begonnen und ber Kampf dreht fi nicht fowohl darum, biefer 
oder jener politiihen Partei oder Ueberzeugung zum Siege zu helfen, als darum, 
bie officiellen Kandidaturen zu Falle zu bringen und das allgemeine Stimmrecht 
als folches wenigftens zu einer Wahrheit zu machen. Die Befugniß der Regierung, 
dem allgemeinen Stimmrechte bie Kandidaten ihres Bertrauens zu bezeichnen und 
biefelben innerhalb gemefjener Schranken zu ımterftügen, foll nicht beftritten wer- 
den; aber die Art und Weiſe, wie dieß in Frankreich gefchieht, wo bie ganze 
Mafchinerie der Berwaltung bis auf ihr Iegtes Organ herab in Bewegung geſetzt 
unb auf biefen einen Punkt gerichtet wird, wo ben Gemeinven alle nur denkbaren 
Begünftigungen gewährt, alle nur möglichen Vortheile in Ansficht geftellt, vie 
mmabhängigen Kandivaten aber in jeder Welfe gehemmt und gehindert werben, 
muß geradezu eine Fälſchung des allgemeinen Stimmrechte genannt werben. Alle 
Bemühungen der Oppofition jeder Partei oder Schattirung find daher darauf ge- 
richtet, vor Allem dieſen ungehörigen Einfluß zu breden und fie iſt auf die ge- 
rabezu verzweifelte Idee gefallen, jeven Unterſchied zwiſchen ihren eigenen Gliedern 
aufheben zu wollen und bahin zu wirken, daß ihre Anhänger jedem Oppofitions- 
kandidaten, ber die meiften Chancen in einem gegebenen Wahlbezirke hat, ihre 
Stimmen geben, alfo der Orleanift au dem Legitimiften oder Republilaner, und 
biefer auch einem Klerikalen, nur um bem officiellen Kandidaten aus dem Felde 
zu ſchlagen. Ob bie Oppofition das burchfegt, dürfte fehr dahin ftehen. Uber daß 
fie zu einem folden Mittel zu greifen gebentt, zeigt die auf's Aeußerſte gefpannte 
Lage und den durchaus ungefunden und unnatürlihen Boden, auf dem die Par- 
teten nadhgerade in Frankreich flehen. Denn die Megierung bewegt ſich ihrerfeits 
auf einer ähnlichen Linie, wenn fie eine allgemeine dynaſtiſche Partei zu organi⸗ 
firen und in biefelbe auch einen Theil der Arbeiterbevölkerung fo wie alle die⸗ 
jenigen, vie ein mehr oder weniger konſtitutionelles Regiment, aber mit Beibe⸗ 
haltung der napoleonifhen Dynaſtie anftreben, pinelngugienen ſucht. Diefes wie 
jenes läuft auf eine Täufchung, auf eine Bertufhung von Gegenfägen und Wider: 
ſprüchen hinaus: das napoleonifhe Syſtem iſt mit jeder Art von Eonflitutionellem 
Weſen innerlich unverträgli. Der Katfer Tann Feine wirkliden und aufrichtigen 
KRonceffionen machen, ohne fein eigenes Gebäude zu untergraben, uub die Oppo⸗ 
fition muß in erſter uud letter Linie anf die Beſeitigung des Kaiſerthums felber 
ausgehen, wenn fie irgend etwas erreichen und nicht Iediglih auf Sand bauen 
will. So lange der Kaiſer Iebt, hat er, allem Anſcheine nach, nichts zu befürchten. 
Her nad ihm? 

Ausfihten. Napoleon III. hat e8 zum Mittelpunkt aller feiner Beftrebnngen 
gemacht, in Frankreich eine Dynaſtie zu gründen. Es iſt indeß kaum wahrſchein⸗ 
ih, daß er dieſes Ziel erreichen werve, fo ſehr es Franfreidh zu wünſchen wäre, 
daß dieſes Land endlich einen feften Boden finde, ftatt fortwährend von einem 
Extrem zum anberen Überzugehen und feine beften Kräfte in fortwährenden poll 
tiſchen Verſuchen zu vergeuden. Der Uebergang iſt allzu ſchwierig. Die ganze 
Stellung des Kaiſers beruht auf feiner Perfon, auf feinen überlegenen Eigenjdhafte 








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i egierung hoch über der Mehrzahl ber römifdgen 
em Bat, und zwar ſchon im erſten Jahrhundert nad; Augufus, 
. feudern and höchſt unbedeutende Menſchen als Gäfaren er- 
fig wie dem erſten fo aud dem zweiten Napoleon fait 

andy dieſer ift unzweifelhaft ein Genius, der wicht 
ſendern auch feine ganze Umgebung weit überragt. Er iſt nicht 
zeberen, aber er war zum Herrſchen geboren. Einen mittelmäßigen, 
mnbedentenden Maun mit verfelben Allgewalt, wie fie der jekige 
amsgerüftet, bloß weil er der Sobn feines Baters if, wärbe Franf- 
ertragen, und wir dürfen trog allem, was wir feit zwanzig Jahren im 
zeichen haben, dennoch fagen, noch lange nicht ertragen. Rur, wenn 
ce Prinz ein ebenfo hervorragender, ebenfo felbfländiger Charakter fein 
ve fein Bater, ließe es ſich denken, daß er die Herrſchaft nad dieſem ohne 
Scqchwierigkeiten übernehmen und behaupten könnte. Es iſt das nidt um- 
wigtih, aber doch nicht wahrſcheinlich. Fehlt ihm jene Eigenfhaft, fo wird bie 
Ferderung auch alsbald an ihn herantreten, auf bie bisherige Allgewalt des Staats- 
ererhauptes zu verzichten, und er wird außer Stande fein, dem Berlangen zu 
en, bamit aber auf eine abſchüffige Bahn gerathen, wo es zum minbeften 

ſwierig ift, ſich zu halten. 

Diefe abfchäffige Bahn hat Napoleon III. feinem Sohne gewiflermaßen fchon 
verbereitet. Bon den inneren ragen, bie der Kaifer, als er zum Throne gelangte, 
vorfaud und die ihm dazu verholfen haben, ift aud nicht eine von ihm gelöst 
worden. Umfonft fuchen wir nad irgend welcher Orgauifation, die er gejchaffen 
bätte und die irgend wie dem an bie Seite geftellt werden könnte, was er nad 
außen wirklich getban, over wozu er doch wirflih den Anſtoß gegeben hat. Die 
Berfaflung, die er dem Lande gegeben bat, ift faum eine Berfaffung zu nennen: 
es {ft immer bloß die durch einige Flitter verhüllte Diktatur, wie fie es unter 
Napoleon I. auch geweſen war. Seine Regierung berühmt fich deſſen, was fie für 
die Ürbeiterbevälferung gethan habe. Die Gründung gegenfeitiger Hülfsvereine, 
einer Darlehenskaſſe, einer Afjeluranzgefellichaft, ver Erlaß eines Genofjenfchafts- 
gefeges find ohne Zweifel wohlgemeinte Maßregeln, aber fie berühren doch bie 
eigentliche Frage nur an ber Außerften Oberfläche. Die Bemühungen, diefer Bes 
völferung in den Städten und auf tem Lande Arbeit zu verſchaffen durch ben 
Umbau von Paris, durch die allmälige Erweiterung des Eifenbahnfyftems und 
dur die Inangriffnahme eines umfaffenden Syſtems von Bictnalftraßen find doch 
nur großartige Auskunftsmittel und finden ihre Grenzen in fi) felber. Das letztere 
fteht vorerft noch bloß auf dem Papier und der Umbau von Paris kann, wie ber 
Präfelt Haußmann felber zugefteht, wenigſtens in der bisherigen Weife nicht fort 


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Scankeeid. 553 


gefeßt werben; feine Vollendung würbe nahezu noch eine halbe Milliarde erforbern, 
die nicht aufzubringen fein wird. Für Handel und Verkehr hat der Kaiſer aller- 
dings eine große That gewagt, die weithin leuchtet: er bat (Januar 1860) mit 
dem Schugzollfyftiem gebrochen und die Aera des Freihandelsſyſtems für Frank⸗ 
reich und durch eine Reihe von Hanvelsverträgen fofort auch für den europäiſchen 
Kontinent inangurirt, was den weiteren Bortheil bot, die Neuerung unantaftbar 
zu machen, fo daß das feitherige Anlämpfen der verlegten Interefien dagegen ein 
völlig ohnmächtiges if. Franfreih war zum Uebergang vom Schutzoll- zum Frei⸗ 
handelsſyſtem allerdings reif, aber Lonis Philipp hätte den Schritt trogdem nie» 
mals wagen bürfen gegenüber den mächtigen Einflüffen der großen Fabrikherren, 
bie in feinen Kammern faßen und vie Minifterien ein- und abfegten. Dagegen 
waren bie Yabrikanten in ihrem Recht, ſich über den plöglichen Uebergang von 
einem Syſtem zum andern ohne jede Bermittlung zu beflagen, und darüber, daß 
nicht gleichzeitig den unerläßlichen VBorbebingungen einer nach allen Seiten ermög⸗ 
lichten Konkurrenz mit dem Auslande genügt worben fei, namentlich and bezüglich 
der Transportmittel und der Höhe ihrer Frachtſätze. Ueberall begegnet man dem⸗ 
felben Syſtem ber Regierung. Die Eifenbahneh wurden vom Staate weder in 
eigenen Betrieb genommen noch aud der Privatinpuftrie überlafen, vielmehr vier 
großen Kompagnten übertragen , die nunmehr das Monopol gegen das Publikum 
und gegen bie Interefien der Induſtrie ausbeuten. Wenn der Handelsvertrag mit 
England von 1860 und die feither darauf gebauten Handelsverträge mit einer 
Reihe anderer Staaten nicht ganz ben Erwartungen entfprodhen haben, welde 
ber Kaiſer an fie getnüpf hat, fo tft die Urfache in dieſen und ähnlichen Ver⸗ 
bältniffen zu fuchen. Der Aderbau bat nicht minder laute lagen erhoben als bie 
Induſtrie und die Regierung hat fi gendthigt gefehen, eine umfaflende Enquäte 
über die Beſchwerden berfelben einzuleiten, die indeß kaum zu burchgreifenden Maß⸗ 
regeln führen wird. Was gefchehen könnte und follte, ift zum Theil nicht zweifel- 
haft, aber die materiellen Mittel dazu fehlen. Die auswärtige Politik des Kaiſers 
hat das Land mit einer ungeheuern Schuld belaftet, und die Zinfen für viefe 
Schuld, fowie die ſchweren Koften der Armee und Marine verfchlingen den weit⸗ 
aus größeren Theil des Einnahmebudgets, fo daß für vie eigentlihe Verwaltung 
nur eine beſcheidene Summe übrig bleibt, und nod weniger für Berbefferungen 
felbft der dringenpften Art. Wenn auf irgend einem Gebiete, fo hat die Oppo⸗ 
fition im gefeggebenden Körper wenigſtens auf biefem etwas gewirkt: fie bat fi 
bemüht, pie Finanzlage des Landes von allen Seiten zu beleuchten und bie öffent⸗ 
fihe Meinung darüber aufzullären. Sie iſt in der That Feine befriedigende: der 
Staat leidet ſchon jest an einem, bisher gefchidt verbedten Deficht von 2—300 Mill. 
jährlich, zu deſſen Beſeitigung vorerft noch keinerlei Ausfiht if. Die Finanzen 
find jedenfalls eine der ſchwächſten Seiten des zweiten Kaiferreihs, und Thiers 
bat vielleicht nicht Unredht gehabt, wenn er fchon früher die Behauptung magte, 
daß es „an den finanzen zu Grunde gehen werde.“ 

Der Kaiſer hat durch die Berfaffung alle Gewalt in feiner Hand vereinigt, 
aber dafür auch alle Berantwortlichkeit allein übernommen, und wiederholte Aeuße⸗ 
rungen deuten darauf hin, daß er die Schwere biefer Verantwortlichkeit vollkom⸗ 
men fühlt. Dennoch bat er keinerlei Verſuch gewagt, fie wentgftens zu vermin- 
bern, und was ihn daran verhindert hat, türfte namentlich die Furcht vor den 
alten Parteien gewefen fein und das Veflreben, eine neue Dynaftie zu gründen. 
Um das legtere zu erreichen, ſchien es ihm unerläßlih, die Mittel in ber Hand 
zu behalten, damit er jeden Augenblid in ber Lage fet, bie alten Parteien 


554 Bedirag. 


nöthigenfallö yrmahnen zu Teunen. Die Eentralifation wurbe midht angetaftet, 
wet fte iſt do zigewffiche Axebtũbel, am dem Frankreich leidet. Deutflaub und Franl⸗ 
reich baten feit Iabriemterten entgegengefebte Wege ihrer inneren Gutwidelung 
ciugeichiagen wer Kar dabei anf entgegengefegte Abwege geraten: Deutſchlaud 
kat vie Vereutraiifatiem ‚and auf dem eigentlich politifhen Gebiete, Fraukreich bie 
Geutraiifetien auf tem abminifirativen Gebiete durchgeführt; jenes bat da⸗ 
wit die Eriee, tie matiomale Einheit, dieſes tie Grundlage feines Staategebäudes 
In Dentfhland iſt indeß das Uebel längft erkannt und bat die rüde 

üge Bemegung begonnen; in Frankreich iſt noch fo viel wie gar nichts geſchehen, 
wer fee tie Sinfiht in das Uebel noch eine fehr wenig verbreitete. Der Kaiſer 
wre im ver Lage gewefen, einen großartigen Verſuch in viefer Ridktung zu unter 
wehmen; er bat es nicht gethan, in Wahrheit nicht gewagt. Wiederholt bat er 
zyarır dem gefeßgebenden Körper Borlagen zugehen lafien, vie fih mit dem voll- 
üuenben Namen einer Decentralifation ſchmückten, aber fie erwiefen fi lediglich 
als Bereinfahungen der Gentralifation, damit nicht jene Kleinigkeit tur alle In- 
Ranzen hindurch bis ans Minifterinm gelangen müſſe, um erft bier die Ent⸗ 
ſcheidang zu erlangen, zu welchem Ende namentlih ben Präfelten eine größere 
Kompetenz ertheilt wurbe: das Syſtem felber wurbe dadurch nit im minbeften 
keräßtt. So wenig wie der gefeßgebende Körper oder Senat, ebenfo wenig er- 
freuen fi vie Generalräthe der Departements oder die Gemeinberäthe der ein- 
zelnen Kommumen einer wirklichen Selbftänpigkeit und Unabhängigkeit. Die Wahlen 
der Generalräthe erfolgen ganz wie biejenipen zum gefeßgebenven Körper unter 
dem energifchen Einfluffe der Regierung, und der Kaifer ernennt die Präftpenten. 
Dasjelbe ift bezüglich der Wahlen der Gemeinveräthe der Fall, wenigſtens durch 
weg auf dem Lande und fo weit die Regierung ein Interefie hat, anf biefelben 


einzuwirken; bie Regierung ernennt bie Maires, und zwar bat fie fih noch im 


der neueften Zeit ausprüdlih vorbehalten, viefelben auch außerhalb des Kreifes 
der gewählten Gemeinderathömitgliever zu fuchen. Im Jahre 1865 fand eine Er- 
nenerung fämmtlicher Gemeinderäthe des Landes flatt und, übereinftimmend mit 
den Wahlen von 1863 zum gefeßgebenden Körper, fielen viefelben in einer Reihe 
größerer Städte — Paris, Lyon haben gar feine gewählten Gemeinverätye, fon- 
bern werden bireft von ben Präfelten mit Hülfe einer von ver Regierung er- 
nannten Kommtiffion verwaltet — im Sinne der Oppofltion oder wenigftens 
größerer Unabhängigkeit von der Regierung aus, und dieſe Gemeinderäthe fuchten 
denn aud ihre Unabhängigkelt geltend zu machen, und die Gemeinden felhft für 
ihre eigenen Angelegenheiten zu intereffiren, zunächſt durch BVeröffentlihung ihrer 
Verhandlungen nud Beſchlüſſe. Die Regierung trat indeß dem ungewohnten Un⸗ 
terfangen entfchteben entgegen und bie Bewegung fcheint fih im Sande verlaufen 
zu haben. Dasfelbe war ver Fall mit einem förmlichen Decentraltfationsprogramm, 
das im gleichen Jahre von Nancy ausging und, namentlich bezügli der Stellung 
und Kompetenz der Generalräthe, eine Meihe übrigens fehr beſcheidener Forde⸗ 
rungen ftellte. Der Plan wurde damals von der unabhängigen Pariſer Prefie 
einen Augenblick fehr lebhaft aufgegriffen, feither aber fowohl von ihr als 
von den eigenen Urhebern ganz fill wieder fallen gelafien. Inzwifchen haben vie 
Generalräthe nirgends eine ſelbſtſtändige Stellung gegenüber der Regierung einge 
nommen, und jelbft wo es die Stimmung ber von ihnen vertretenen Bevölke⸗ 
rungen zu verlangen fchien, unterlafien, fi zum Organ verfelben zu maden; fo 
weit e8 der Regierung gleihgältig war, erlebigten fie ihre Geſchäfte nach ihrem 





Srankreich. 555 


Ermefien, > weit dies nicht der Fall war, folgten fie dem Willen der Neglerung, 
oder ihre Beihlüffe wurden durch kaiſerliche Dekrete annullirt. 

Der Kaiſer tft ein entfchiedener Gegner der konftitutionellen Verfaffungsform. Bon 
feinen Intereffen, von feiner fo entſchieden monardhifhen Natur läßt fi das be⸗ 
greifen. Auch andere Motive laffen fi denken. Das Eonftituticnelle Princtp bat 
fih in der That in Frankreich weniger vielleicht ald irgendwo fonft bewährt. Nur 
zu oft ſchien es fid ganz und gar nicht mehr darum zu handeln, wie, fonbern 
lepdiglih darum wer regiere, und ber Kampf der Barteien drehte ſich nicht felten 
ausſchließlich darum, iniferien eine und abzufegen, worüber bie Intereſſen des 
Landes ganz vergefien wurden und wobei fie unmöglich gebeihen konnten. 
Anderswo ift das in biefem Grade doch nicht der Fall; in England handelt es 
fi) doch nicht blos darum, ob Palmerflon oder Derby, Gladſtone oder Disraeli 
das Portefenille und alle wirklichen ober eingebildeten Genüffe, die damit ver- 
bunden find, in den Händen haben follen, fondern wenigftens in der Regel um 
ganz beftimmte Maßregeln, bie von biefem oder jenem ausgeführt werben follen, 
was bei den Kämpfen zwiſchen Guizot und Thiers, Thiers und Guizot nit ober 
doch nicht ebenfo der Fall war. Uebrigens iſt die fog. konſtitutionelle Stantd- 
form diejenige, in der unfere Zeit Ihre Anfchauungen zum Ausdruck zu Bringen 
verſucht und es iſt gar wohl möglich, daß unfere Nachkommen in Hundert Jahren 
darüber ganz anders denken ald wir. Der Kaifer hatte keine Luft, den Wettlauf 
ber Parteien nad) der oberften Gewalt fih erneuern zu fehen, und fich feine Mi- 
nifter von den wechſelnden Majoritäten aufzwingen zu lafien. In Sranfreih, wo bei 
der herrſchenden Gentralifation feit jeher alles von Paris abhängig, nichts von 
Paris unabhängig iſt, eben darum alles nad Parts gravitirt, und alles nad 
Paris firebt, die erfte und die letzte Entſcheidung in Paris getroffen wird, iſt es 
im Grunde gar nicht zu verwundern, wenn die Tonftitutionelle Staatsform jebes- 
mal fofort in einen Kampf um die oberfte Gewalt in eben dieſem Paris ausge 
artet iſt. Wer im konftitutionellen Frankreich das Minifterium in der Hand hat, 
bat damit eben Alles in der Hand, und mit dem Minifter die, bie ihn zu biefem 
Poften emporgetragen haben. In England und nicht bloß in England ift dem 
nit ebenfo. Auch in England erfcheint die Stellung eines Minifters als eine be- 
gehrenswerthe, allein auch zahlreiche andere Stellungen erfcheinen als folde, die 
vom Miniftertum durchaus nicht abhängig find. Louis Napoleon hatte nad) dem 
Staatsſtreich die volle, unumfchräntte Gewalt in feiner Hand, die freiefte Bahn 
vor fih. Warum bat er au nicht den mindeften Verſuch einer Organtfation ge⸗ 
macht, die vielleicht feiner neuen Dynaſtie eine fichere Unterlage dargeboten und 
den Franzoſen neue wirflihe Freiheiten, wenn auch für befchränftere Kreife, ge= 
währt und fie beſchäftigt und befriebigt hätte, flatt ihnen fo wie er e8 geihan 
alle und jede Freiheit zu entziehn und im gefeßgebenven Körper das bloße Schein- 
bild einer wirklich geſetzgebenden Verſammlung anzubieten, das gerabe bie edleren 
Naturen nit ohne Grund mit Hohn von fih weiſen? In der Decentraltjation 
hätte er das Mittel dazu finden können und ben Branzofen zum Erringen ges 
funder politiſcher Zuſtände auf freiheitlicher Grundlage verhelfen mögen. 

Wiederholt hat der Kaiſer felbft auf die nordamerikaniſche Unton hingewieſen, 
wo bie Minifter, wenigftens bis auf die allernenefte Zeit, ausfchlteglih von dem 
mit einer gewiffen monarchiſchen Gewalt befleiveten Präftventen abhingen und 
mit dem Kongreß nicht einmal in direkte Berührung kommen. In den Vereinigten 
Staaten iſt freilih von einer Eentralifation wie in Frankreich keine Rede. Mit 
biefer Centraliſation ift allerbings nur entweber ein allmächtiges Parlament, neben 


556 Nachtrag. 


welchem ber Fürſt Bloß herrſcht, aber nicht regiert, cher ein abſoluter Herrſcher, 
neben dem das Parlament ſeinerſeits zur Bedeutungsloſigkeit herabfinkt, denkbar. 
Hier hätte der Kaiſer den Hebel anfegen müſſen, und in den Generalräthen ber 
Departements war der Rahmen ſchon gegeben, an ven er hätte anknüpfen können. 
Wenn er ben Gemeinden, den Kantonen, den Departements bie freiefte Berathung 
und Beſchlußfaſſung über ihre eigenen Angelegenheiten überlaffen und ihnen alles 
zugeſchieden hätte, was nur irgend mögli war, ohne Beeinträchtigung der ge 
meinfamen Juterefien, jo würbe er die Nation in ihrer Bafls geftärkt, den Fran- 
zofen ein ganz neues Feld politifcher Thätigkeit eröffnet haben, und in vem Wi⸗ 
berftreit ber Intereffen und deren Ausgleihung feiner eigenen Herrſchaft mög- 
licher Weiſe eine breite und fichere Unterlage gefchaffen haben, deren fie jet gänz 
lich entbehrt. Wie die Folgezeit bewiefen hat, würde wohl die Nation es willig 
zugeflanven haben, daß der Katfer die gefammte Leitung ver Diplomatie, des 
Kriegsweiens und ber großen Verkehrsintereſſen in feine alleinige Hand nahm 
und würbe faum etwas eingewenbet haben, wenn er bie Gefebgebung mit Aus- 
ſchüſſen der Generalräthe georbnet hätte, die der wirkliche Ausprud der Bevölke⸗ 
rungen gewefen wären. Mit Recht bat ex jederzeit die Nothwenbigfeit einer 
ftarlen Gewalt in den Händen der Regierung, namentlih für Frankreich, ber 
tont; aber die Gewalt, die er jetzt in dem feinigen vereinigt, iſt ng all’ den 
Kämpfen, die Frankreich feit bald hundert Jahren durchgemacht bat, viel zu ſtark, 
um dauerhaft zu fein. Statt irgend Neues zu ſchaffen, bat fi der Kaiſer feit 
1860 vielmehr bereits zu Konceffionen an das verhaßte Eonftitutionelle Syftem 
herbei laſſen müſſen. Um jene Abhängigkeit des Minifteriums von der Bollsner» 
tretung abzufchneiden, hatte er urfpränglich die Einrichtung getroffen, daß die Vor⸗ 
lagen feiner Regierung im gefeßgebenden Körper von ben Präſidenten bes Stants- 
raths oder befonderen Kommiflären besfelben vertheibigt wurden, dann mußte er 
bie Inftitution von befonderen Sprechminiftern, wirklihen Miniftern aber one 
Portefeuille, Toncediren, noch fpäter zugeftehn, daß wenigftens einzelne Reffort- 
minffter in ber Kammer erſchienen und ihre Intereffen felber verfochten, heute end» 
ih ift er ſchon fo weit gebradt worben, daß dies alle ohne Ausnahme thun. 
Bon da bis zu wirklich verantwortlichen Miniftern iſt in der That nur nod ein 
Schritt. Diefen Schritt zu thun, hat ſich der Kaiſer bisher aufs entfchiedenfte ge- 
weigert und es ift auch nicht wahrſcheinlich, daß ex ſich perfönlich jemals dazu ent- 
[ließen wird. Aber wenn fein Sohn bereinft zur Regierung kommt, wie lange 
wird e8 dauern, bis dieſer fi dazu wird herbeilaffen müſſen? Und ift einmal der 
erfte entſcheidende Schritt geihehn, fo wird alles andere von felber folgen, und 
Frankreich wird fih nur zu ſchnell wieder auf demfelben Punkte angelangt fehen, 
auf dem es Napoleon durch den Staatöftrei „gerettet Bat. 

So wenig befriedigend die inneren Zuftände Frankreichs unter dem zweiten 
Empire genannt werben müſſen, fo kann ein unbefangener Rüdblid unmöglich 
ohne eine gewiſſe Befriedigung auf der Geſammtheit deſſen ruhen, was ber Kaiſer 
in ben europäifhen Dingen angeftrebt und erreiht hat. Seine Laufbahn darf man 
aber auf diefem Gebiet als eine wejentlich abgefchlofiene betrachten, in fo fern es 
wenigftens nad der ganzen Lage der Dinge und feinen körperlichen Zufländen 
zwar immerhin möglib, aber keineswegs wahrſcheinlich iſt, daß er no einmal 
einen großen Krieg wagen ober zu einem folden genöthigt fein werde, Die Nach» 
welt wird kaum von einem Zeitalter Napoleons III. fprechen, aber unläugbar iſt 
er eine der großartigften Geſtalten unferer Zeit, die fie in mehr als einer Be- 
ziehung richtig erfannt und die Bahnen betreten bat, die aud für die Zukunft 











Srankreich. 557 


maßgebend fein werden. Der ruffifche und der italienifche Krieg zeigten Intentionen, 
bie nad dem Höchſten fireben, wenn aud jener nur eine vorläufige Entſcheidung 
brachte und dieſer an ein Ziel führte, das urfprünglich nicht beabſichtigt war und 
nicht im fpeciellen und ausſchließlichen Intereſſe Frankreichs liegen lonnte, Im Uebri- - 
gen war Napoleon fortwährend bemüht, die internationalen Beziehungen zwifchen 
den verſchiedenen Staaten Europas zu pflegen und zu vermehren und zwar in 
einem gewiffen Gegenfage gegen Rußland und gegen die Vereinigten Staaten von 
Nordamerika, allervings mit der Abfiht, die übrigen Staaten um Frankreich zu 
ſchaaren, vem er ein dauerndes Mebergewicht über alle verfchafft zu haben glaubte, 
Diefe Hoffnung, auf welche der verfrühte Kongreßvorſchlag vom 5. Nov. 1863 
fi gründete, war illuſoriſch; fie iſt durch die Erhebung Deutſchlands zerftört, 
wenn es biefem gelingt, den norddeutſchen Bund zu einem gemein-beutfchen zu 
erweitern und zugleich ein neues organiſches Verhältniß zu Defterreih zu finden. 
Bon einem Uebergewicht Frankreichs im europätfhen Staatenleben kann als⸗ 
dann feine Rede mehr fein. 9. Squithed. 
Statiſtiſcher Nachtrag?). 

Die Bevölkerung Frankreichs zählte 1856 (ſ. Bd. III) 36,039,364 Seelen, 
1861 (mit Savohen und Nizza) 37,472,732 S., 1866 (neueſte Zählung) 
38,192,064, mit Einſchluß von 125,000 Militärperfonen, die in Algier, Rom, 
Mexiko und den Kolonien flanden. Dazu kommt bie feßhafte Bevölkerung von 
Algier: 1861 2,999,124 S., 1866 2,921,246 ©., feitvem durch eine furdtbare 
Hungersnoth noch bedeutend vermindert, und die übrigen Kolonien, deren Bevöl⸗ 
ferung 1852 auf 617,000, 1865 — hauptſächlich in Folge der Exrwerbung von 
Cochinchina und Senegambien — auf 2,607,357 ©. angefhlagen wurbe. Als 
„Schutzſtaaten“ find das aflatiihe Königreich Cambodſcha, Porto Novo an ber 
afrifanifchen Goldküſte und eintge oceaniſche Infeln, im Ganzen mit 1,043,000 
S. angeführt. 

Die Bevölkerungszunahme geht bekanntlich in Frankreich, der Geringfügigteit 
der Auswanderung ungeachtet, langſamer vor fi) als in den meiften europälfchen 
Staaten. Sie war in den Jahren 1851—61 auf einen Jahresdurchſchnitt von 
0,28%, geſunken, ftteg in den nädften 5 Jahren auf 0,319), und beträgt für 
die Zeit von 1821—61 durchſchnittlich 0,47%, Aehnlich in den ſüddeutſchen 
Staaten, wo fih das Ergebniß von 0,42%, für 1834—64 aus den gejeglichen 
CEheerfhwerungen und einer flarfen Auswanderung erflärt. Der raſcheſte Zuwachs 
findet flatt in England und Wales (1,300), für 1821—61), Sachſen (1,24 %/, 
für 1834—64), Preußen (1,18%, für biefelbe Periode.) Hiemit würde ſich bie 
Bevölkerung Preußens (tie alten Provinzen) in 59,9, Frankreichs in 147,, Jahren 
verboppeln. Es ift übrigens felbftverftändlich, dag die Bevölkerungszunahme nicht 
ohne weiteres in gleihem Maße als ein Machtzuwachs betrachtet werben kann. 

Ueber die Zunahme der Volksbildung geben folgende Ziffern einigen Auf⸗ 
ſchluß. Die beiden exrften Reihen find vem früheren Artitel entnommen. Es be- 
trug bie Zahl der Konftribirten, welche 

1834 1853 1864 


weder leſen noch fchreiben konnten 45,72 33,04 26,55 9/0 
bloß leſen 3,60 3,47 2,3 °/o 
fefen und ſchreiben konnten 47,77 60,38 68,35 %/o 
Unbelennt 2,90 3,11 2,57 o 


*) Dal. die neueren Bände der off. Statistique de la France, Behm's Geogr. Jahrb. 
1 und 11, Goth. gen. Tafchenbuch für 18695 Kolb's Handb. der Statiſtik, 5. Aufl. 


558 Nachtrag. 


In Band III find nad den Ergebniſſen des Jahres 1855 diejenigen Länder 
zufammengeftellt, mit welden Frankreich den widtigfien Handelsverkehr 
unterhält. Aus einer Wiederholung dieſer Tabelle unter Unreihung der neueften, 
auf das Jahr 1866 ſich beziehenden Data wird man bie feither eingetretenen Ber- 
änderungen entnehmen. Unfere Angaben bezeichnen ven „wirklichen Werth bes 
„ſpeciellen“ Handels (ogl. Bd. III S. 708) und erftreden fih, was das Jahr 
1866 betrifft, auf diejenigen Länver, deren Verkehr einen Werth von mindeſtens 
25 Millionen Fr. erreicht bat. 


Einfuhr Ausfuhr 
in Millionen Franken. In Millionen Franken. 
1855. 1866, 1855. 1866. 
England 278,2 637,3 England 307,4 1140,5 
Belgien 197,3 304,7 Bereinigte Staaten 246,8 173,0 
Bereinigte Staaten 176,1 191,9 Belgien 118,7 262,3 
Zollverein 168,1 195,2 Sarbinien, eigiien, 8. Italien: 
Sardinien, Sizilien, K. Italien: Toskaua un. Lucca 100,5 230,5 
Tostana u. Lucca 162,3 234,3 Spanien 81,8 123,7 
Spanien 95,2 63,0 Türkei 76,2 68,4 
Türkei 62,2 129,5 Schmelz 69,7 226,3 
Engliſch Indien 50,9 69,2 Zollverein 65,5 187,0 
Schmelz 48,6 111,1 Brafilien 35,4 81,3 
Niederlande 30,1 33,0 Peru 28,3 26,4 
Spaniſch Amerika 28,9 35,2 Merito 17,1 39,3 
Brofilien 25,0 57,1 Niederlande 13,3 27,9 
Aegypten 20,0 55,1 Aegypten 9,8 44,7 
Rußland 3.1 80,3 La Plata-Staaten IB. 86,1 
ta PBlata-Stanten 28% 95,3 Hanſeſtädte u. Medlenburg ee 38,1 
Schweden u. Norwegen [583 77,8 Algerien 104,2 129,9 
Defterreich 38 40,3 Uebrige Kolonien ? 73,9 
Peru und Ecuador =:2 262 Total 1558 31806 
Hanſeſtädte u. Mecklen⸗ s7357 
burg 5252 25,5 
Algerien 63,4 65,7 
Uebrige Kolonien ? 105,5 
Total 1594 2793,5 
be Die Zahl der "in franzöſiſchen Häfen immatrikulirten Handeloſchiffe 
trug: 
Segelfhiffe Tonnengehalt Dampfſchiffe Tonnengebalt 
1855 14,023 848,254 225 23,902 
Ende 1866 15,230 915,034 407 127,777 


Das Budget des zweiten Kaiferreiches, das 1853 mit 1487 Mil. Er. 
begann, iſt mit Denigen Unterbredungen fortwährend geftiegen und 1869 bei ber 
Summe von 2304 Mil. angelangt. Die konſolidirte Staatsſchuld beträgt 

1853: 5577 1/, Mill, 1869: 11,643 1/, Mill. Das Zinserfordernig war im 

Jahr 1853: 219,929,000 Fr., tm Jahr 1869: 361,902,000 Fr., wozu bie 

Dotation der Amortiſationskaſſe mit 76,159,000 Fr. kommt. Schwebende 

Schuld 1851: 592 Mil., 1869: 1059 Mill., wovon 869 Mill. verzinslid, 

Durch Verwendung eines Theiles der neueften Anleihe und durch eine andere 

Tinanzoperation fol diefe Schuld auf 696 MIN. reducirt werben. 








Griechenland. 559 


Im Voranſchlag der Staatsausgaben find unter dem Titel „Specielle Bud⸗ 
gets" 273 MIN. für Departemental- und Gemeinbezwede begriffen. Die Aus- 
gaben fämmtliher Gemeinden mit Ausnahme der Stadt Paris wurden 1862 
auf 450 Mill. angefchlagen. Die hauptſächlichen Dedungsmittel waren, von ben 
Stantszufhüffen abgeſehen: 60,000,000 Fr. Ertrag des Gemeinvevermögens, 
76,677,000 $r. direfte Auflagen, 119,390,000 indir. Auflagen. Ueber den Schul⸗ 
denſtand der Departements und Gemeinden fehlen genügende Angaben. Paris 
hatte 1867 ein Budget von 241,653,000 Fr., eine konſolidirte Schuld von 
500 Mill. und eine ſchwebende Schuld von 550 Mill,, bei 236 Mill. Altos 
vermögen. 

urch Geſetz vom 1. Febr. 1868 iſt die Dienftzeit im Heer auf 5 Jahre 
bei der aktiven Armee, 4 Jahre bei der Neferve feftgejet. Die in das Heer nicht 
Eingereihten find bei der mobilen Nationalgarbe bienftpflichtig, mit deren Bildung 
man gegenwärtig beiäftigt if. Sie fol aus Infanterie und Artillerie beftehen, 
auf 550,000 Dann gebracht werden und zur Bertheivigung ber Feſtungen und 
Grenzen berufen fein. Die Kriegsftärle der aktiven Armee und ber Referve be- 
trägt 800,000 Mann. Auf dem Friedensfuß ift vie Zufammenfegung des Heeres 
folgende: 


Generalfläbe 1,845 Artillerie 37,959 
Oendarmerie 24,548 Genie 7,845 
Infanterie 251,423 Militär-Equipage 8,954 
Kavallerie 60,689 Berwaltungstruppen 11,165 


Im Ganzen 404,428 Dann mit 91,000 Pferden. 
Ueber den Beſtand ver Kriegsmarine liegen für Mitte 1868 folgende 


Angaben vor: 
Wirklicher Stand Im Bau 
Banzer- Schiffe und Fregatten 16 24 


Eigentliche „Korvetten 3 17 
Kriegsflotte Gepanzerte Thurmſchiffe 2 — 

Aviſo's, Kanonenboote ꝛc. 67 23 
Transportſchiffe 93 — 
Zur Flotille gehörige Schiffe 101 24 
Gepanzerte Küſtenwachtſchiffe 26 4 
Fiſchereiwachtſchiffe 50 — 


Die Dampfer der Kriegsmarine hatten im Jahre 1867: 106,241 Pferde⸗ 
fräfte. Das gefammte Perfonal der Flotte betrug 1868 (ini. 23,400 Hafenar- 
beiter), 72,400 Dann, das Perfonal der Marineiruppen (auf dem Friebensfuß) 
28,623 Mann. 


Griechenland. 
(Nahtrag zu Band IV ©. 390 ff.) 


Die Militärrevolution vom 3./15. Sept. 1843 untergrub durch bie von ihr 
erzwungene Berfaffung, zu ber das Bolt durchaus noch nit reif war, das Regi⸗ 
ment des Königs Otto, indem fie ihm vielfach und nicht im wirklichen Intereſſe 
des Landes die Hände band, dagegen den Parteien oder vielmehr Yaltionen und 
ihren Umtrieben gegen einander und gegen die Regierung freien Spielraum be= 
reitete, obgleih auf der andern Seite zugeftanden werden muß, daß der König 
bei allem guten Willen verjenigen Eigenſchaften faft gänzlich entbehrte, bie zur 


550 \ Nachtrag. 


pie herrſchenden Gewalten allmälig zu untergraben, ven Kaiſer zu ärgern und zu 
erbittern, aber durchaus nicht, ihn in andere Bahnen zu drängen ober praktiſch 
irgend etwas zu verändern. Der Kaiſer hielt im Ganzen, fo fehr er aud vie 
Monifeftationen der öffentliden Meinung verfolgte und beadhtete, doch an feinem 
Syſtem fe und bie Zuftände blieben weſentlich durchaus dieſelben. 

Selbft die Ereigniffe von 1866 in Deutfhland und ihr Rückſchlag auf Frank⸗ 
reich verfhärften nur die Gegenſätze, ohne die Dinge einer Löfung näher zu 
bringen. Das Taiferlihe Regiment wurde durch diefen Rückſchlag allerdings in er- 
heblichem Grade geſchwächt, aber in feinen Principien blieb er trotzdem unerfchättert. 
Mehr als einmal gab fi die Oppofition der Hoffnung Hin, ver Kaiſer babe bie 
Unhaltbarfeit feines Syſtemes endlich erfannt und fei auf dem Punkte, dem Lande 
ein verantwortliches konſtitutionelles Miniftertum zugngeftehen. Es erwies ſich jedes⸗ 
mal als eine reine Illufion: der Kaiſer dachte auch nicht einmal daran, auf feine 
alleinige und ausſchließliche Initiative wie feine alleinige Verantwortlichkeit, d. h. 
anf das rein perfünliche Regiment zu verzichten. Doc glaubte er jet wieber etwas 
thun zu mäflen, um die öffentlihe Meinung nicht fowohl gu befriebigen als hin⸗ 
zubalten und zu beſchwichtigen. Wie ver Rüdihlag ber italieniſchen Dinge vie 
Konceffionen vom 24. November 1860, fo hatte der Rüchkſchlag der beutfchen 
Dinge zur Folge, daß ber Katfer am 19. Jannar 1867 ein Dekret erlich, pas 
die allerdings unfrudtbare Adreßdebatte abfchaffte und durch ein übrigens fehr 
forgfältig reglementirtes Interpellationsrecht erfette. Zugleich kündigte der Kaifer 
durch einen offenen Brief an den Staatsminifter Rouher feine Abfiht an, den 
Kammern Oelegesentwürfe über bie Brefie und das Bereinsredht vorlegen zu lafien 
und fomit anf bie bisherige abfolute Willfür ver Mominiftratton in diefen beiden 
Beziehungen zu verzichten, was er als die fo lang erfehnte, fo laut geforderte und 
von ihm einft felber verheißene „envliche Krönung des durd den Volkswillen er- 
richteten Gebäudes“ bezeichnete. Diefer Schritt muß wiederum als eine Halbheit 
bezeichnet werben. Konftitutionelle Rechte find mit dem napoleonifhen Syſtem ab» 
folnt unvereinbar. Immerhin iſt der Schritt vom 19. Januar 1867 viel beveut- 
famer als verjenige vom 24. November 1860. Der Kaiſer glaubte ihn wagen zu 
tönnen, ohne fein Princip zu gefährden und das Preßgeſetz fowohl ald das Ber- 
einsgefeg, wie fie nad) mehr als einem Jahre endlich im Frühjahr 1868 aus den 
Berathungen des Staatsrathe, des gefeßgebenven Körpers und des Senats hervor 
gegangen find und die Sanftion des Kaiſers erhalten haben, find fo verklauſulirt, 
daß die Gefahr in ver That nicht allzu groß zu fein fheint. Aber fo ſchwach es 
fih and thatſächlich erweiſen mag, ein Princip iſt anerfannt, das mit dem Princip 
“des Kalferreih8 unvereinbar Ift und von dem man vorausfagen kann, daß es ent- 
weber wieber eliminirt werben muß, oder, fei es nun früher ſei es fpäter, ber 
Dppofition jenen feften Punkt in die Hände gibt, wo fie den Hebel anſetzen fann 
und nit ruhen wird, bis fie das Kaiſerthum ſelbſt aus den Angeln gehoben hat. 
In diefem Augenblick (Auguft 1868) find nit nur in Parts felbft (l'Electeur, 
le Reveil zc.), fondern namentlih auch in der Provinz und zwar felbft in Gegenven, 
in benen bisher bie öffentliche Meinung ausjhlieglih von ber Präfektur aus ge- 
macht zu werben pflegte, eine Neihe neuer öffentlicher Blätter gegründet worben, 
die alle mehr ober minder der Oppofitton dienen, während in Paris felbft das 
Katferreih und alles was damit zufammenhängt, ja der Kaifer und die Tatferliche 
Familie felb von Wigblättern (wie la Lanterne von H. de Rochefort) mit uner- 
börter Kühnheit angegriffen werben. 





Seankreith. | 551 


Wenn der Kalfer den gefegebenden Körper nicht ſchon vorher auflöst, fo 
mäflen verfafiungsmäßig im Jahre 1869 vie allgemeinen Wahlen zum gefeßgebenpen 
Körper für eine neue Berlobe von ſechs Jahren flattfinden, und alle Bemühungen 
der Oppofition jever Schattirung find auf das eine Ziel gerichtet, dem auch bie 
Tatferliche Regierung um fo größere Bedeutung beimißt, als in dieſe Periode bie 
Großjaͤhrigkelt des kaiſerlichen Prinzen fällt, mit deren Eintritt man eine große 
Schwierigkeit und Gefahr hinter fi zu haben glaubt. Die Wahlbewegung hat 
denn auch bereit3 begonnen und der Kampf dreht ſich nicht fowohl darum, dieſer 
ober jener politiiden Partei ober Ueberzeugung zum Siege zu helfen, als barum, 
die offictellen Kandidaturen zu Falle zu bringen und das allgemeine Stimmredt 
als ſolches wenigflens zu einer Wahrheit zu machen. Die Befugnif ver Regierung, 
dem allgemeinen Stimmrechte bie Kandidaten ihres Vertrauens zu bezeichnen und 
biefelben innerhalb gemefjener Schranken zu unterflügen, foll nicht beftritten wer⸗ 
ben; aber die Art und Weile, wie dieß in Frankreich gefhieht, wo die ganze 
Maſchinerie der Verwaltung big auf ihr legtes Organ herab in Bewegung gefett 
und auf biefen einen Punkt gerichtet wird, wo den Gemeinden alle nur denkbaren 
Begünftigungen gewährt, alle nur möglichen Vortheile in Ausficht geftellt, vie 
unabhängigen Kandidaten aber in jeber Welfe gehemmt und gebinvert werben, 
muß geradezu eine Fälſchung des allgemeinen Stimmrechts genannt werben. Alle 
Bemühungen ver Oppofition jeder Partei oder Schattirung find daher darauf ge⸗ 
richtet, vor Allem dieſen ungehörtgen Einfluß zu brechen und fie ift auf die ge- 
rabezu verzweifelte Idee gefallen, jeven Unterſchied zwiſchen ihren eigenen Gliedern 
aufheben zu wollen und dahin zu wirken, daß ihre Anhänger jedem Oppofitlons- 
fandibaten, ber die meiften Chancen in einem gegebenen Wahlbezirte bat, ihre 
Stimmen geben, aljo der Orlennift auch dem Legitimiften oder Republilaner, und 
diefer auch einem Klerikalen, nur um ben offictellen Kanbivaten aus dem Felde 
zu fchlagen. Ob bie Oppofition das durchſetzt, dürfte fehr dahin ftehen. Aber daß 
fte zu einem ſolchen Mittel zu greifen gebentt, zeigt vie auf's Aeußerſte gefpannte 
Lage und ben durchans ungefunden und unnatürlichen Boden, auf dem bie Par- 
teten nachgerade In Frankreich ſtehen. Denn vie Regierung bewegt ſich ihrerſeits 
auf einer ähnlichen Linie, wenn fie eine allgemeine dynaſtiſche Partei zu organt- 
firen und in biefelbe auch einen Theil der Arbeiterbevölkerung fo wie alle bie- 
jenigen, vie ein mehr over weniger Tonftitutionelles Regiment, aber mit Beibe- 
haltung der napoleonifhen Dynaftie anftreben, pnelnängienen ſucht. Diefes wie 
jenes länft anf eine Täufchung, auf eine Vertuſchung von Gegenfägen und Wider⸗ 
fprüden hinaus: das napoleonifche Suftem iſt mit jeder Art von Fonftitutionellem 
Weſen innerlich unverträglih. Der Kalfer Tann Feine wirklichen und aufrichtigen 
Ronceffionen machen, ohne fein eigenes Gebäude zu untergraben, unb bie Oppo⸗ 
fitton muß in erfter und letzter Linie auf die Beſeitigung des Kaiſerthums felber 
ausgehen, wenn fie irgend etwas erreichen und nicht Tevigli auf Sand bauen 
will. Se lange ver Kaiſer lebt, hat er, allem Anſcheine nad, nichts zu befürchten. 
Aber nah ihm? 

Ausſichten. Napoleon III. hat e8 zum Mittelpunkt aller feiner Beftrebungen 
gemacht, in Frankreich eine Dynaſtie zu gründen. Es ift indeß kaum wahrſchein⸗ 
lich, daß er diefes Ziel erreichen werde, fo ſehr es Frankreich zu wünſchen wire, 
daß diefes Fand endlich einen feften Boden finde, flatt fortwährend von einem 
Ertrem zum anderen Überzugehen und feine beften Kräfte in fortwährenpen poli⸗ 
tiſchen Verfuhen zu vergeuden. Der Uebergang ift allzu ſchwierig. Die ganze 
Stellung des Kaiſers beruht auf feiner Perfon, auf feinen überlegenen Eigenſchafter 


550 Nachtrag. 


die herrſchenden Gewalten allmälig zu untergraben, den Kaiſer zu ärgern und zu 
erbittern, aber durchaus nicht, ihn in andere Bahnen zu drängen ober praktiſch 
irgend etwas zu verändern. Der Kaifer hielt im Ganzen, fo fehr er aud bie 
Manifeftationen der öffentlihen Meinung verfolgte und beachtete, doch an feinem 
Syſtem feft und die Zuftände blieben wefentlih durchaus dieſelben. 

Selbſt die Ereigniffe von 1866 in Deutfhland und ihr Rückſchlag auf Frank⸗ 
reich verſchärften nur die Gegenfäge, ohne die Dinge einer Löfung näher zu 
bringen. Das Taiferlihe Regiment wurde durch dieſen Rüchkſchlag allerdings in er- 
heblichem Grade geſchwächt, aber in feinen PBrincipien blieb er trogbem unerſchüttert. 
Mehr als einmal gab ſich die Oppofition der Hoffnung bin, der Kaiſer babe bie 
Unhaltbarteit feines Syſtemes endlich erfannt und fei auf dem Punkte, dem Lande 
ein verantwortliches Tonftitutionelles Mintftertum zuzugeftehen. Es erwies fich jedes» 
mal als eine reine Illuſion: der Kaifer dachte auch nicht einmal daran, anf feine 
alleinige und ausfchließliche Initiative wie feine alleinige Verantwortlichkeit, d. h. 
auf das rein perfünliche Regiment zu verzichten. Doch glaubte er jetzt wieder etwas 
thun zu müſſen, um die öffentlihe Meinung nicht fowohl gu befrienigen als hin⸗ 
zubalten nnd zu beſchwichtigen. Wie der Rüdihlag der italieniſchen Dinge vie 
Konceffionen vom 24. November 1860, fo hatte der Rüchkſchlag der ventfchen 
Dinge zur Folge, daß der Kaifer am 19. Januar 1867 ein Dekret erlich, das 
die allerdings unfruchtbare Adreßdebatte abfchaffte und durch ein Übrigens fehr 
forgfältig veglementirtes Interpellationsrecht erfette. Zugleich kündigte der Kaifer 
durch einen offenen Brief an den Staatöminifter Rouher feine Abficht an, ben 
Kammern Gelegesentwürfe über die Prefje und das Vereinsrecht vorlegen zu laffen 
und fomit auf die bisherige abfolute Willkür ver Adminiſtration tn diefen beiden 
Beziehungen zu verzichten, was er als die fo lang erfehnte, fo laut geforderte und 
von ihm einft felber verheißene „enbliche Krönung des durch den Bolfswillen er- 
richteten Gebäudes" bezeichnete. Diefer Schritt muß wiederum als eine Halbheit 
bezeichnet werben. Konftitutionelle Rechte find mit dem napoleoniihen Syſtem ab» 
folut unvereinbar. Immerhin tft der Schritt vom 19. Januar 1867 viel beveut- 
famer als derjenige vom 24. November 1860, Der Kaifer glaubte ihn wagen zu 
fönnen, ohne fein Princip zu gefährben und das Preßgeſetz ſowohl als das Ber 
einsgeſetz, wie fie nad mehr als einem Jahre endlich im Frühjahr 1868 aus den 
Berathungen des Staatsrathe, des gefetgebenven Körper® und des Senats hervor⸗ 
gegangen find und die Sanftion des Kaiſers erhalten haben, find fo verflaufulirt, 
daß die Gefahr in der That nicht allzu groß zu fein ſcheint. Aber fo ſchwach es 
fih and thatfächlich erweiſen mag, ein Brincip ift anerfannt, das mit dem Princip 
des Kaiferreihs unvereinbar ift und von dem man vorausfagen Tann, daß es ent- 
weder wieder eliminirt werden muß, ober, fei e8 nun früher ſei es fpäter, ber 
DOppofition jenen feften Punkt in die Hände gibt, wo fie den Hebel anfegen kann 
und nicht ruhen wird, bis fle das Kaiſerthum felbft aus den Angeln gehoben hat. 
In dieſem Augenblick (Auguft 1868) find niht nur in Parts felbft (Ü’Electeur, 
le Meveil ꝛc.), fondern namentlich auch in ver Provinz und zwar felbft in Gegenden, 
in denen bisher die Öffentliche Meinung ausfhliehlih von der Präfeltur aus ge- 
macht zu werben pflegte, eine Reihe neuer öffentlicher Blätter gegründet worden, 
die alle mehr oder minter der Oppofition dienen, während in Baris felbft bas 
Kaiferreih und alles was damit zufammenhängt, ja der Kaifer und vie kaiſerliche 
Familie ſelbſt von Wigblättern (wie la Lanterne von H. de Rocdefort) mit uner- 
hörter Kühnheit angegriffen werben. 


Srankreich. 551 


Wenn der Kalfer ben geſetzgebenden Körper nicht ſchon vorher auflöst, fo 
mäffen verfafiungsmäßig im Jahre 1869 die allgemeinen Wahlen zum gefeßgebenven 
Körper für eine neue Periode von ſechs Jahren ftattfinden, und alle Bemühungen 
der Oppofition jeder Schattirung find auf das eine Ziel gerichtet, dem auch bie 
Yatferlihe Regierung um fo größere Bedeutung beimißt, als in dieſe Periode bie 
Großjahrigkeit des kaiſerlichen Prinzen fällt, mit deren Eintritt man eine große 
Schwierigfeit und Gefahr hinter ſich zu haben glaubt. Die Wahlbewegung hat 
denn andy bereitd begonnen und der Kampf dreht fi nicht fowohl darum, biefer 
oder jener politifchen Partei oder Ueberzeugung zum Siege zu helfen, als darum, 
die offictellen Kandidaturen zu Falle zu bringen und das allgemeine Stimmredt 
als ſolches wenigſtens zu einer Wahrheit zu machen. Die Befugnif der Regierung, 
dem allgemeinen Stimmredte die Kandidaten ihres Vertrauens zu bezeichnen und 
biefelben innerhalb gemefiener Schranken zu unterftüßen, foll nicht beftritten wer⸗ 
ben; aber die Art und Welfe, wie dieß in Frankreich geſchieht, wo bie ganze 
Mafchinerie der Verwaltung bis auf ihr letztes Organ herab in Bewegung geſetzt 
und auf biefen einen Punkt gerichtet wirb, wo ben Gemeinven alle nur denkbaren 
Begünftigungen gewährt, alle nur möglichen Vortheile in Ausficht geftellt, vie 
unabhängigen Kanbivaten aber in jever Welle gehemmt und gehinvert werben, 
muß geradezu eine Fälſchung des allgemeinen Stimmrechts genannt werben. Alle 
Bemühungen ber Oppofition jever Partei oder Schattirung find baher barauf ge⸗ 
richtet, vor Allem dieſen ungehörtgen Einfluß zu brechen und fie ift auf die ge- 
rabezu verzweifelte Idee gefallen, jeden Unterſchied zwiſchen ihren eigenen Gliedern 
aufheben zu wollen und bahin zu wirken, daß ihre Anhänger jenem Oppoſitions⸗ 
kandidaten, der die meiften Chancen in einem gegebenen Wahlbezirke bat, ihre 
Stimmen geben, aljo der Orleanift auch dem Legitimiften oder Republikaner, und 
biefer auch einem Klerikalen, nur um ben offictellen Kandidaten aus dem Felde 
zu ſchlagen. Ob die Oppofittion das bucchfegt, dürfte jehr dahin ftehen. Aber daß 
fte zu einem ſolchen Mittel zu greifen gebentt, zeigt vie auf's Aeußerſte gefpannte 
Lage und den durchaus ungefunden unb unnatürlichen Boden, auf dem bie Par- 
teten nachgerade in Frankreich ſtehen. Denn die Negierung bewegt ſich ihrerſeits 
auf einer ähnlichen Linie, wenn fie eine allgemeine dynaſtiſche Partei zu organi- 
firen und in dieſelbe auch einen Theil ver Arbeiterbevölkerung fo wie alle die⸗ 
jenigen, bie ein mehr over weniger Eonftitutionelles Regiment, aber mit Beibe- 
haltung der napoleoniſchen Dynaftie anftreben, bineinzuziehen fucht. Diefes wie 
jenes läuft auf eine Täuſchung, auf eine Vertuſchung von Gegenfägen und Wider⸗ 
ſprüchen hinaus: das napoleonifhe Syſtem iſt mit jeder Art von Eonftitutionellem 
Weſen innerlich unverträglih. Der Kaiſer kann Feine wirklichen und aufrichtigen 
KRonceffionen machen, ohne fein eigenes Gebäude zu untergraben, und bie Oppo⸗ 
fition muß in erfter und Iegter Linie auf die Beſeitigung des Kaiſerthums felber 
ansgehen, wenn fie irgend etwas erreichen und nicht Ieviglih auf Sand bauen 
will. Se lange der Kaiſer Iebt, hat er, allem Unfchelne nach, nichts zu befürchten. 
Her nad ibm? 

Ausſichten. Napoleon III. hat es zum Mittelpunkt aller feiner Beftrebungen 
gemacht, in Frankreich eine Dynaſtie zu gründen. Es ift indeß kaum wahrſcheiu⸗ 
id, daß er biefes Ziel erreichen werde, fo fehr es Frankreich zu wünſchen wäre, 
daß diefes Land endlich einen feſten Boben finde, ftatt fortwährend von einem 
Extrem zum anderen Überzugehen und feine beften Kräfte in fortwährenden poli- 
tiſchen Verſuchen zu vergeuden. Der Uebergang ift allzu ſchwierig. Die ganze 
Stellung des Kaiſers beruht auf feiner Perfon, auf feinen überlegenen Eigenſchaften 


552 Nachtrag. 


als Staatsmann; er iſt buchſtäblich das Kind. feiner eigenen Thaten. Die Caſaren⸗ 
wirthſchaft in Rom war nur möglich, als das römiſche Volk ſeine große Rolle 
ausgeſpielt hatte und ihm gewiſſermaßen nur noch die Aufgabe geblieben war, die 
Herrſchaft, die feinen Händen entfiel, und die ganze antile Civiliſation feinem 
Nachfolger, der fhon bereit fland, zu übergeben. Selbſt da aber flügten fi bie 
Gäfaren nicht auf irgend ein regelmäßiges Spiel Lonftituirter Gewalten, vie ſich 
vie Wange hielten, fonbern auf das Prätorianertfum, das ben Uebergang des 
Scepters von einem Cäfar auf den andern In feiner Hand Hatte und vermittelte. 
Ohne anzunehmen, daß Frankreich bereits auf einer Ähnlichen Stufe angelommen 
fei, köunen ähnliche Erfcheinungen nicht als wahrſcheinlich erachtet werben. Zu 
jener Annahme find wir aber doch noch keineswegs beredhtigt, wie auch Napoleon 
ſelbſt trog aller Schatten feiner Regierung hoch Über ver Mehrzahl der römiſchen 
Fmperatoren fleht. Rom bat, und zwar ſchon im erften Jahrhundert nad) Auguftus, 
nicht bloß ſchlechte, fondern auch höchſt unbedeutende Menfchen ale Cäfaren er- 
tragen. Franfreih bat fih wie bem erſten fo aud dem zweiten Napoleon faft 
willenlos gebeugt, aber auch viefer ift unzweifelhaft ein Genius, der nicht bloß 
bie große Menge, fondern auch feine ganze Umgebung weit überragt. Er ift nicht 
anf dem Thron geboren, aber er war zum Herrſchen geboren. Einen mittelmäßigen, 
vielleicht geradezu unbeveutenden Mann mit verfelben Allgewalt, wie fie ber jekige 
Kaifer befigt, ausgerüftet, bloß weil er der Sohn feines Vaters iſt, würde Frank⸗ 
reich nicht ertragen, und wir bürfen trog allem, was wir feit zwanzig Jahren in 
Frankreich gefehen haben, dennoch fagen, nod lange nicht ertragen. Nur, wenn 
der kaiſerliche Prinz ein ebenfo hervorragender, ebenfo ſelbſtändiger Charakter fein 
ſollte, wie fein Vater, ließe es ſich denken, daß er bie Herrihaft nad dieſem ohne 
große Schwierigkeiten übernehmen und behaupten könnte Es ift das nit un- 
möglih, aber doch nicht wahrſcheinlich. Fehlt ihm jene Eigenſchaft, fo wirb vie 
Borberung auch alsbald an ihn herantreten, auf vie bisherige Allgewalt des Staats⸗ 
oberhauptes zu verzichten, und er wird außer Stande fein, dem Berlangen zn 
wiberftehen, damit aber auf eine abſchüſfige Bahn gerathen, wo es zum minbeften 
ſchwierig ift, fi zu halten. 

Diefe abſchüſſige Bahn hat Napoleon III. feinem Sohne gewiffermaßen ſchon 
vorbereitet. Bon ben inneren ragen, die ber Kaljer, ald er zum Throne gelangte, 
vorfend und die ihm dazu verholfen Haben, tft auch nicht eine von ihm geldst 
worden. Umfonft fuhen wir nad irgend welcher Organifation, die er gefchaffen 
hätte und die irgend wie dem an bie Seite geftellt werben könnte, was er nad 
außen wirklich getban, ober wozu er doch wirklich den Anftoß gegeben hat. Die 
Verfaſſung, die er dem Lande gegeben bat, iſt faum eine Verfaſſung zu nennen: 
es ift immer bloß bie durch einige Flitter verhüllte Diktatur, wie fie es unter 
Napoleon I. auch geweſen war. Seine Regierung berühmt fi deſſen, was fie für 
bie Ürbeiterbevölferung gethan babe. Die Gründung gegenfeitiger Hülfsvereine, 
einer Darlehenslaffe, einer Affeluranzgejellfchaft, der Erlaß eines Genofjenfchafts- 
gefeges find ohne Zweifel wohlgemeinte Maßregeln, aber fie berühren doch die 
eigentliche Frage nur an ber äußerſten Oberfläche. Die Bemühungen, biefer Be 
völferung in den Städten und auf dem Lande Arbeit zu verfchaffen durch den 
Umbau von Baris, durch die allmälige Erweiterung des Eifenbahnfuftems und 
dur die Inangriffnahme eines umfaflenden Syſtems von Bictnalftraßen find doch 
nur großartige Ausfunftsmittel und finden ihre Grenzen in ſich felber. Das letztere 
fteht vorerft nod bloß auf dem Papier und der Umbau von Parts kann, wie ber 
Präfelt Haußmann felber zugefteht, wenigftens in ver bisherigen Weiſe nicht fort 








Scankreic. | 558 


gefegt werben; feine Vollendung würde nahezu noch eine halbe Milliarde erforbern, 
die nicht aufzubringen fein wird. Für Handel und Verkehr hat der Kaifer aller- 
dings eine große That gewagt, die weithin leuchtet: er bat (Januar 1860) mit 
dem Schutzzollſyſtem gebroden und die Aera des Freihandelsſyſtems für Frank⸗ 
reih und durch eine Reihe von Hanbelöverträgen fofort auch für den europäiſchen 
Kontinent Inangurirt, was den weiteren Bortheil Got, vie Neuerung unantaftbar 
zu maden, fo daß das feitherige Ankämpfen ver verlegten Intereffen dagegen ein 
völlig ohnmädhtiges If. Frankreich war zum Uebergang vom Schutzoll- zum Frei⸗ 
handelsſyſtem allervings reif, aber Louis Philipp hätte ven Schritt trotzdem nie 
mals wagen dürfen gegenüber den mächtigen Einflüflen der großen Fabrikherren, 
die in feinen Kammern faßen und die Miniſterien ein» und abjegten. Dagegen 
waren bie Fabrifanten in ihrem Recht, fi über den plöglichen Uebergang von 
einem Syſtem zum andern ohne jede Vermittlung zu belagen, und barüber, daß 
nicht gleichzeitig den unerläßlihen Vorbebingungen einer nad allen Seiten ermög- 
lichten Konkurrenz mit dem Auslande genügt worden fel, namentlich auch bezüglich 
der Transportmittel und der Höhe Ihrer Frachtſätze. Ueberall begegnet man dem⸗ 
felben Syſtem ver Regierung. Die Eifenbahneh wurden vom Staate weder in 
eigenen Betrieb genommen noch auch der Privatinpuftrie überlaflen, vielmehr vier 
großen Kompagnien übertragen, bie nunmehr das Monopol gegen das Publikum 
und gegen bie Interefien der Induſtrie ausbeuten. Wenn ver Hanbelsvertrag mit 
England von 1860 und die feither darauf gebauten Handelsverträge mit einer 
Neihe anderer Staaten nit ganz den Erwartungen entfproden haben, welde 
ber Kaifer an fie getnüpf bat, fo tft die Urfadhe in biefen und ähnlichen Ber- 
hältniffen zu fuchen. Der Aderbau bat nicht minder laute Klagen erhoben als vie 
Induftrie und die Regierung hat ſich genöthigt gefehen, eine umfaflende Enquäte 
über die Beſchwerden verjelben einzuleiten, vie indeß kaum zu burdhgreifenden Maß⸗ 
regeln führen wird. Was gefchehen Könnte und follte, ift zum Theil nicht zweifel⸗ 
haft, aber bie materiellen Mittel dazu fehlen. Die auswärtige Politit des Kaifers 
hat das Land mit einer ungeheuern Schuld belaftet, und bie Zinfen für biefe 
Schuld, fowie die ſchweren Koften der Armee und Marine verſchlingen ben weit- 
aus größeren Theil des Einnahmebupgets, fo daß für bie eigentliche Verwaltung 
nur eine befcheidene Summe übrig bleibt, und noch weniger für Berbefierungen 
felbft der dringenbften Art. Wenn auf irgend einem Geblete, fo hat bie Oppo⸗ 
fition im gefeßgebenden Körper wenigflens auf diefem etwas gewirkt: fie bat fidh 
bemüht, die Binanzlage des Landes von allen Seiten zu beleuchten und bie öffent- 
lie Meinung darüber aufzulfären. Sie ift in der That keine befriebigenve: ber 
Staat leidet fhon jest an einem, bisher geſchickt verbedten Deficht von 2—300 Mill. 
jährlih, zu deſſen Beſeitigung vorerft noch keinerlei Ausfiht if. Die Finanzen 
find jedenfalls eine der ſchwächſten Seiten des zweiten Kaiſerreichs, und Thiers 
bat vielleicht nicht Unrecht gehabt, weun er ſchon früher vie Behauptung wagte, 
daß e8 „an den finanzen zu Grunde gehen werde.” 

Der Kalfer hat duch die Verfaſſung alle Gewalt in feiner Hand vereintgt, 
aber dafür auch alle Verantwortlichkeit allein übernommen, und wiederholte Aeuße⸗ 
rungen beuten darauf bin, daß er bie Schwere dieſer Verantwortlichkeit vollkom⸗ 
men fühlt. Dennoh bat er keinerlei Verſuch gewagt, fie wenigftens zu vermin- 
dern, und was ihn daran verhindert hat, türfte namentlich bie Furcht vor den 
alten Bartelen gewefen fein und das Beftreben, eine neue Dynaftte zu gründen. 
Um das letztere zu erreichen, ſchien es Ihm unerläßlih, die Mittel in ver Hand 
zu behalten, damit er jeden Augenklid in ver Lage fe, die alten Parteien 





554 Radtrag. 


nöthigenfall8 zermalmen zu Tönnen. Die Centralifation wurbe nicht angetaftet, 
und fie ift das eigentliche Krebsübel, an dem Frankreich Ieivet. Deutſchland und Frank⸗ 
veih haben feit Jahrhumberten entgegengefette Wege ihrer inneren Entwidelung 
eingefchlagen und find dabei auf entgegengefegte Abwege gerathen: Deutſchland 
hat die Decentralifatton,auh auf dem eigentlich politiſchen Gebiete, Frankreich bie 
Sentralifation auf dem abminiftrativen Gebiete durchgeführt; jenes bat da⸗ 
mit die Spige, die nationale Einheit, viefes die Grundlage feines Stantsgebäudes 
geihwädt. In Deutſchland ift indeß das Uebel längft erfannt und hat bie rüd- 
länfige Bewegung begonnen; in Frankreich iſt noch fo viel wie gar nichts geſchehen, 
und felbft die Einfiht in das Uebel noch eine fehr wenig verbreitete. Der Katfer 
wäre in der Lage geweſen, einen großartigen Verſuch in dieſer Richtung zu unter 
nehmen; er hat es nicht gethan, in Wahrheit nicht gewagt. Wieberholt bat er 
zwar bem gefeßgebenden Körper Borlagen zugehen laflen, bie fi mit dem voll⸗ 
tönenden Namen einer Decentralifatton ſchmückten, aber fle erwieſen ſich lediglich 
als Bereinfahungen der Gentralifation, damit nicht jede Kleinigkeit durch alle In⸗ 
flanzen hindurch bis ans Minifterium gelangen müſſe, um erft bier bie Ent⸗ 
ſcheidung zu erlangen, zu welchem Ende namentlih den Präfelten eine größere 
Kompetenz erteilt wurde: das Syſtem jelber wurbe dadurch nicht im minbeften 
berührt. So wenig wie der gefetgebende Körper ober Senat, ebenfo wenig er⸗ 
freuen fih vie Oeneralräthe der Departements oder die Gemeinveräthe ver ein- 
zelnen Kommunen einer wirklichen Selbftänbigfeit und Unabhängigkeit. Die Wahlen 
ber Generalräthe erfolgen ganz wie diejenigen zum gefeßgebenven Körper unter 
dem energifchen Einfluffe ver Regierung, und ber Kalfer ernennt die Präflventen. 
Dasfelbe ift bezüglich der Wahlen der Gemeinberäthe der Ball, wenigſtens burdh- 
weg auf dem Lande und fo weit die Regierung ein Intereffe hat, auf viefelben 
„einzuwirten; bie Regierung ernennt die Maires, und zwar bat fle fih noch in 
der neueften Zeit ausprüdlich vorbehalten, dieſelben aucd außerhalb des Kreifes 
ber gewählten Gemeinderathsmitglieder zu fuchen. Im Jahre 1865 fand eine Er- 
neuerung fämmtlicher Gemeinderäthe des Landes flatt und, übereinſtimmend mit 
den Wahlen von 1863 zum gefebgebenven Körper, fielen viefelben in einer Reihe 
größerer Städte — Parts, Lyon haben gar keine gewählten Gemeinberätge, fon- 
dern werden bireft von ben Präfelten mit Hülfe einer von ber Regierung er- 
nannten Kommiſſion verwaltet — im Sinne der Oppofition oder wenigftens 
größerer Unabhängigkeit von der Regierung aus, und biefe Gemeinveräthe ſuchten 
denn and ihre Unabhängigfelt geltend zu mahen, und bie Gemeinden felbft für 
ihre eigenen Angelegenheiten zu intereffiren, zunächſt durch Veröffentlichung ihrer 
Verhandlungen und Beſchlüſſe. Die Negierung trat indeß dem ungewohnten Un⸗ 
terfangen entfchleven entgegen unb die Bewegung fcheint fih im Sande verlaufen 
zu haben. Dasfelbe war der Fall mit einem förmlichen Decentralifationsprogramm, 
das im gleihen Iahre von Nancy ausging und, namentlich bezüglich der Stellung 
und Kompetenz der Generalräthe, eine Neihe übrigens fehr befcheivener Forde⸗ 
rungen ftellte. Der Plan wurde damals von der unabhängigen Parifer Prefie 
einen Augenblid ſehr Iebhaft aufgegriffen, feither aber fowohl von ihr als 
von den eigenen Urhebern ganz fill wieber fallen gelaffen. Inzwiſchen haben bie 
Generalräthe nirgends eine ſelbſtſtändige Stellung gegenüber ber Regierung einge: 
nommen, und felbft wo es bie Stimmung ber von ihnen vertretenen Bevölke⸗ 
rungen zu verlangen ſchien, unterlaflen, fi zum Organ berfelben zu maden; fo 
weit e8 der Regierung gleichgültig war, erlebigten fie ihre Geſchäfte nad ihrem 











Srankreich. 555 


Ermeſſen, fo weit dies nicht der Fall war, folgten fie dem Willen der Regierung, 
ober ihre Beſchlüſſe wurden durch Taiferlihe Dekrete annullirt. 

Der Kaiſer ift ein entfchievener Gegner der konftitutlonellen Berfafiungsform. Bon 
feinen Intereffen, von feiner fo entſchieden monarchiſchen Natur läßt fih das be 
greifen. Auch andere Motive laſſen ſich denken. Das konſtitutionelle Princip hat 
fih in der That in Frankreich weniger vielleicht als Irgendwo fonft bewährt. Nur 
zu oft fehlen es ſich ganz und gar nicht mehr darum zu handeln, wie, fonbern 
lediglih darum wer regiere, und ber Kampf ver Parteien drehte fih nicht felten 
ausſchließlich darum, Minifterien ein und abzufegen, worüber bie Intereflen des 
Landes ganz vergefien mwurben und wobei fie unmöglich gebeihen Tonnten. 
Anderswo iſt das in diefem Grabe doch nicht der Fall; in England handelt es 
fit) doch nicht blos darum, ob Palmerfton oder Derby, Gladſtone oder Disraeli 
das Portefeuille und alle wirklichen ober eingebilveten Genüſſe, bie bamit ver- 
bunden find, In ven Händen haben follen, fonvern wenigftens in ver Regel um 
ganz beftimmte Maßregeln, die von biefem oder jenem ausgeführt werben follen, 
was bei den Kämpfen zwiſchen Gulzot und Thiers, Thiers und Guizot nicht oder 
doch nicht ebenfo der Ball war. Uebrigens iſt die fog. Tenftitutionelle Staats⸗ 
form diejenige, in der unfere Zeit ihre Anfhaunngen zum Ausbrud zu Bringen 
verfuht und es iſt gar wohl möglich, daß unfere Nachkommen in hundert Jahren 
barüber ganz anders denken als wir. Der Katfer hatte keine Luft, ven Wettlauf 
der Parteien nad der oberften Gewalt fih ernenern zu fehen, und fi} feine Mi⸗ 
nifter von den wechſelnden Majoritäten aufzwingen zu lafien. In Frankreich, wo bei 
der herrſchenden Gentralifation feit jeher alles von Paris abhängig, nichts von 
Paris unabhängig ift, eben darum alles nach Paris gravitirt, und alles nad 
Paris firebt, die erfte und die legte Entſcheidung in Parts getroffen wirb, iſt e8 
im runde gar nicht zu verwundern, wenn bie Tonftitutionelle Staatsform jebes- 
mal fofort in einen Kampf um die oberfte Gewalt in eben dieſem Paris ausge: 
artet if. Wer im Eonftitutionellen Frankreich das Miniftertum in der Hand bat, 
bat damit eben Alles in ver Hand, und mit dem Minifter die, bie ihn zu dieſem 
Poften emporgetragen haben. In England und nicht bloß in England iſt dem 
nicht ebenfo. Auch in England erjcheint die Stellung eines Minifter als eine be- 
gehrenswerthe, allein auch zahlreiche andere Stellungen erfcheinen als ſolche, die 
vom Miniftertum durchaus nicht abhängig find. Louis Napoleon hatte nad dem 
Staatsftreih die volle, unumſchränkte Gewalt in feiner Hand, die freiefte Bahn 
vor ſich. Barum bat er auch nicht den mindeften Verſuch einer Organtfation ge⸗ 
macht, die vielleicht feiner neuen Dynaftie eine fichere Unterlage dargeboten und 
den Franzofen neue wirflihe Freiheiten, wenn auch für befchränktere Kreife, ge= 
währt und fie befchäftigt und befriebigt hätte, ftatt ihnen fo wie er es gethan 
alle und jede Freiheit zu entziehn und Im gefeßgebenben Körper das bloße Schein- 
bild einer wirklich gefeßgebenden VBerfammlung anzubieten, das gerade bie ebleren 
Naturen nicht ohne Grund mit Hohn von fih weiſen? In der Decentralifation 
hätte er das Mittel dazu finden können und ben Franzoſen zum Erringen ge 
funder politifcher Zuftände auf freiheitlihder Grundlage verhelfen mögen. 

Wiederholt hat der Kaiſer felbft auf die norbamertfanijche Union hingewieſen, 
wo bie Minifter, wenigftens bis auf die allerneuefte Zeit, ausſchließlich von dem 
mit einer gewiffen monarchiſchen Gewalt befleiveten Präfiventen abhingen unb 
mit dem Kongreß nicht einmal in direkte Berührung kommen. In ven Vereinigten 
Staaten ift freilich von einer Gentraltfation wie in Frankreich keine Rede. Mit 
biefer Eentralifation ift allerdings nur entweder ein allmächtiges Parlament, neben 





556 Nachtrag. 


welchem ber Fürſt bloß herrſcht, aber nicht regiert, cher ein abſoluter Herrſcher, 
neben dem das Parlament feinerfeits zur Bedeutungsloſigkeit herabfinkt, denkbar. 
Hier hätte der Kaifer den Hebel anfegen müſſen, unb in ben Generalräthen der 
Departements war der Rahmen ſchon gegeben, an den er hätte anknüpfen können. 
Wenn er den Gemeinden, den Kantonen, den Departements die freiefte Berathung 
und Beſchlußfaſſung über ihre eigenen Angelegenheiten überlafien und ihnen alles 
zugeſchieden hätte, was nur irgend möglih war, ohne Beeinträchtigung der ge» 
meinfamen Jutereſſen, fo würbe er vie Nation in ihrer Baſis geftärkt, ven Fran⸗ 
zojen ein ganz neues Feld politifcher Thätigkeit eröffnet haben, und In vem Wi⸗ 
berftreit ber Intereffen und deren Ausgleichung feiner eigenen Herrfhaft mög- 
licher Weiſe eine breite und fichere Unterlage geſchaffen haben, deren fle jet gänz⸗ 
lich entbehrt. Wie die Folgezeit bewiefen hat, würde wohl die Nation es willig 
zugeftanden haben, daß der Kaiſer bie gefammte Leitung ber Diplomatie, des 
Kriegsweſens uud der großen VBerfehrsinterefien in feine alleinige Hand nahm 
und würde faum etwas eingewendet haben, wenn er die Gefepgebung mit Aus⸗ 
ſchüſſen der Generalräthe georbnet Hätte, die der wirkliche Ausdruck der Bevölke⸗ 
zungen gewefen wären. Mit Recht bat ex jederzeit bie Nothwendigkeit einer 
ftarlen Gewalt in den Händen ver Regierung, namentlih für Frankreich, bes 
tont; aber die Gewalt, die er jest in ven feinigen vereinigt, iſt al’ ven 
Kämpfen, bie Frankreich felt bald Hundert Jahren durchgemacht Bat, viel zu far, 
um dauerhaft zu fein. Statt irgend Neues zu ſchaffen, hat ſich der Kaiſer feit 
1860 vielmehr bereit8 zu Konceffionen an das verhaßte Eonftitutionelle Syftem 
herbei laſſen müflen. Um jede Abhängigkeit des Miniftertums von ber Bolksver⸗ 
tretung abzuſchneiden, hatte er urfpränglich die Einrichtung getroffen, daß bie Bor- 
lagen feiner Regierung im gefeggebenven Körper von den Präſidenten des Staats- 
raths oder befonveren Kommiffären vesfelben verteidigt wurden, dann mußte er 
die Inftitution von befonderen Sprechminiftern, wirflihen Miniftern aber ohne 
Portefenille, koncediren, noch fpäter zugeftehn, daß wentgftens einzelne Reffort- 
minifter in der Kammer erſchienen und ihre Interefjen felber verfochten, heute end» 
lich iſt er ſchon fo weit gebracht worden, daß dies alle ohne Ausnahme thun. 
Bon da 518 zu wirflich verantwortlihen Miniftern ift in ver That mur noch ein 
Schritt. Diefen Schritt zu thun, Kat fi) der Kaifer bisher aufs entſchiedenſte ge- 
weigert und es ift auch nicht wahrſcheinlich, daß er ſich perfönlich jemals dazu ent» 
fließen wird. Aber wenn fein Sohn vereinft zur Regierung kommt, wie lange 
wirb e8 dauern, bis biefer ſich dazu wird herbeilafien müffen? Und ift einmal ver 
erfte entſcheidende Schritt gefchehn, fo wird alles anbere von felber folgen, und 
Granfreih wird fih nur zu ſchnell wieder auf demſelben Punkte angelangt jehen, 
auf dem es Napoleon durch den Staatäftreih „gerettet” bat. 

So wenig befriedigend die Inneren Zuftände Frankreichs unter dem zweiten 
Empire genannt werden müſſen, fo kann ein unbefangener Rüdblid unmöglid 
ohne eine gewiſſe Befriedigung auf der Geſammtheit deſſen ruhen, was der Kater 
in den enropäifchen Dingen angeftrebt und erreicht hat. Seine Laufbahn darf man 
aber anf viefem Gebiet als eine weientlih abgeſchloſſene betrachten, in fo fern es 
wenigſtens nach der ganzen Tage der Dinge und feinen körperlichen Zuftänben 
zwar immerhin möglih, aber keineswegs wahrſcheinlich iſt, daß er noch einmal 
einen großen Krieg wagen oder zu einem ſolchen genöthigt fein werde. Die Rad 
welt wird kaum von einem Zeitalter Napoleons III. fprechen, aber unläugber iſt 
er eine ber großartigften Geftalten unferer Zeit, vie fie in mehr als einer Be 
ziehung richtig erfannt und die Bahnen betreten hat, bie auch für bie Zukunft 





Srankreich. 657 


maßgebend fein werben. Der ruſſiſche und der italienifche Krieg zeigten Intentionen, 
bie nach dem Höchſten fireben, wenn auch jener nur eine vorläufige Entſcheidung 
brachte und viefer an ein Ziel führte, das urfprünglid nicht beabfichtigt war und 
nicht im fpeciellen und ausfchlieglichen Interefie Frankreichs Liegen konnte. Im Uebri⸗ 
gen war Napoleon fortwährenn bemüht, die internationalen Beziehungen zwifchen 
den verſchiedenen Staaten Europas zu pflegen und zu vermehren und zwar in 
einem gewiffen Gegenfage gegen Rußland und gegen bie Vereinigten Staaten von 
Nordamerika , allerdings mit der Abſicht, die Übrigen Staaten um Frankreich zu 
fhaaren, dem er ein dauerndes Uebergewicht Über alle verfchafft zu haben glaubte, 
Diefe Hoffnung, auf welche ber verfrühte Kongreßvorſchlag vom 5. Nov. 1863 
fi gründete, war illuſoriſch; fie ift durch die Erhebung Deutſchlands zerftört, 
wenn es dieſem gelingt, dem norddeutſchen Bund zu einem gemein-dentfchen zu 
erweitern und zugleich ein neues organifches Verhältniß zu Oeſterreich zu finden. 
Bon einem Uebergewicht Frankreichs im europätfchen Stantenleben kann ale- 
dann feine Rede mehr fein. 9. Schulthed. 
Statiſtiſcher Nachtrag?). 

Die Bevölkerung Frankreichs zählte 1856 (ſ. Bd. III) 36,039,364 Seelen, 
1861 (mit Savoyen und Nizza) 37,472,732 S., 1866 (neueſte Zählung) 
38,192,064, mit Einfluß von 125,000 Militärperfonen, die in Algier, Rom, 
Mexiko und den Kolonien ftanden. Dazu kommt die feßhafte Bevölkerung von 
Algier: 1861 2,999,124 ©., 1866 2,921,246 S., ſeitdem durch eine furdhtbare 
Hungersnoth noch beveutend vermindert, und bie übrigen Kolonien, deren Bevöl—⸗ 
ferung 1852 auf 617,000, 1865 — hauptfählih in Folge der Erwerbung von 
Cochinchiua und Senegambien — auf 2,607,357 ©. angefchlagen wurbe. Als 
„Schutzſtaaten“ find das aflatifhe Königreich Cambodſcha, Porto Novo an ber 
afrikaniſchen Golpküfte und einige oceaniſche Infeln, im Ganzen mit 1,043,000 
©. angeführt. 

Die Benölterungszunahme geht befanntlih in Frankreich, der Geringfügigkeit 
der Auswanderung ungeachtet, langſamer vor ſich als In den meiften europäljchen 
Staaten. Sie war In den Jahren 1851—61 auf einen Jahresdurchſchnitt von 
0,28 %/, gefunten, ſtieg in ben nächſten 5 Jahren anf 0,31%, und beträgt für 
die Zeit von 1821—61 durchſchnittlich 0,47 0/,. Aehnlich in ven ſüddeutſchen 
Staaten, wo fi dad Ergebnig von 0,429), für 1834—64 aus den gefeglichen 
Cheerfäwerungen und einer ſtarken Auswanderung erllärt. Der rafhefte Zuwachs 
findet flatt in England und Wales (1,30%), für 1821—61), Sachſen (1,24 %/, 
für 1834—64), Preußen (1,18%, für viefelbe Periode.) Hiemit würde ſich bie 
Bevölkerung Preußens (vie alten Provinzen) in 59,9, Franfreihs in 147,, Jahren 
verdoppeln. Es ift übrigens felbftverftännlicd, daß die Bevölkerungszunahme nicht 
ohne weiteres in gleichem Maße als ein Machtzuwachs betrachtet werben Tann. 

Ueber die Zunahme dev Volksbildung geben folgende Ziffern einigen Auf 
ſchluß. Die beiden erften Reihen find dem früheren Artikel entnommen. Es be- 
trug die Zahl der Konflribirten, welche 


1834 1853 1864 
weber leſen noch fchreiben konnten 45,72 33,08 26,06 0 
bloß leſen 3,50 3,7 2,63 °/o 
lefen und ſchreiben konnten 47, 60,35 68,35 %/o 
Unbelannt 2,90 3,11 2,57 0 





*) Dgl. die neueren Bände der off. Statistique de la France, Behm’s Geogr. Jahrb. 
I und 11, Goth. gen. Taſchenbuch für 1869; Kolb's Handb. der Gtatiftit, 5. Aufl. 





558 Nachtrag. 


In Band III find nad den Ergebniſſen des Jahres 1855 diejenigen Länder 
zufammengeftellt, mit welden Sranfreih den wichtigſten Haudelsverkehr 
unterhält. Aus einer Wiederholung dieſer Tabelle unter Anreihung der neueften, 
auf das Jahr 1866 fich beziehenden Data wird man bie feither eingetretenen Ber- 
änderungen entuehmen. Unfere Angaben bezeichnen ven „wirklichen“ Werth des 
„ſpeciellen“ Handels (vgl. Bd. III S. 708) und erftreden fih, was das Jahr 
1866 betrifft, auf diejenigen Länver, deren Verkehr einen Werth von mindeftens 
25 Millionen Fr. erreicht bat. 


Einfuhr Ausfuhr 
in Millionen Franken. In Millionen Franken. 
1855. 1866. 1855. 1866. 
England 278,2 637,3 Gngland 3074  1140,5 
Belgien 197,3 304,7 Bereinigte Staaten 246,8 173,0 
Bereinigte Staaten 176,1 191,9 Belgien 118,7 262,3 
Zollverein 168,1 195,2 Sardinien, Sizilien, K. Italien: 
Sarbinien, Sizilien, K. Itallen: Toskana u. Lucca 100,5 230,5 
Tostana u. Yucca 162,3 234,3 Spanien 81,8 123,7 
Spanien 95,2 63,0 Türkei 76,2 58,4 
Türkei 62,2 129,5 Schweiz 69,7 226,3 
Engliſch Indien 60,9 69,2 Zollverein 65,5 187,0 
Schweiz 48,6 111,1 Brafilien 35,4 81,3 
Niederlande 30,1 33,0 Bern 28,3 26,4 
Spanifch Amerika 28,9 35,2 Mexiko 17,1 3938 | 
Brafilien 25,0 57,1 Niederlande _ 13,3 27,9 
Aegypten 20,0 55,1 Aegypten 9,8 44,7 
Rußland 3,1 80,3 La Plata⸗Staaten In ®b. ll 86, 
2a Blata-Stanten 288 95,3 Hanfeftäbten. Mecklenburg nig uae. 38,1 
Schweden u. Norwegen [SE ® 77,8 Algerien 104,2 129,9 
Defterreich BE 40,3 Uebrige Kolonien ? 713,9 
Peru und Ernador [Zr 26,2 Total 1558 31806 
Hanuſeſtädte u. Medien \S3rz 
burg 5258 25,5 
Algerien 53,4 65,7 
Uebrige Kolonten ? 105,5 
Total 1594 2793,5 
j Die Zahl der "in franzöfifchen Häfen immatrikulirten Handelsſchiffe 
etrug: 
Segelſchiffe Tonnengehalt Dampfſchiffe Tonnengehalt 
1855 14,023 848,254 225 23,902 
Ende 1866 15,230 915,034 407 127,777 





Das Budget des zweiten Kaiſerreiches, das 1853 mit 1487 Mil. Fr. 
begann, iſt mit Denlgen Unterbredungen fortwährenb geftiegen und 1869 Bei ber 
Summe von 2304 Mil. angelangt. Die Tonfolipirte Stantefhulb beträgt 
1853 : 5577 1/2 Mil, 1869: 11,643 1/5 Mil. Das Zinserforbernig war im 
Jahr 1853: 219,929,000 Fr., im Jahr 1869: 361,902,000 Fr., wozu bie 
Dotatton der Amortifationstaffe mit 76,159,000 Fr. kommt. Schwebenve 
Schuld 1851: 592 Mil., 1869: 1059 Mill, wovon 869 Dil, verzinelich 
Durch Verwendung eines Theiles der neueften Anleihe und durch eime andere 
Sinanzoperation fol dieſe Schuld auf 696 Mil. reducirt werben. 


Griechenland. 559 


Im Voranſchlag der Stantsausgaben find unter dem Titel „Specielle Bud⸗ 
gets" 273 MIN. für Departemental« und Gemeindezwede begriffen. Die Aus- 
gaben fämmtlider Gemeinden nılt Ausnahme der Stadt Paris wurden 1862 
auf 450 Mill. angefchlagen. Die Hauptfächlihen Dedungsmittel waren, von ben 
Staatszuſchüfſſen abgejehen: 60,000,000 Fr. Ertrag des Gemeindevermögens, 
76,677,000 $r. direkte Auflagen, 119,390,000 indir. Auflagen. Ueber ven Schul: 
denfland der Departements und Gemeinben fehlen genügende Angaben. Paris 
hatte 1867 ein Budget von 241,653,000 Fr., eine Tonfolibirte Schuld von 
500 Mill. und eine ſchwebende Schuld von 550 Mill., bei 236 Mill. Altiv⸗ 
vermögen. 

uch Gefeg vom 1. Febr. 1868 ift die Dienftzeit im Heer auf 5 Jahre 
bei der aktiven Armee, 4 Jahre bei der Reſerve feftgefest. Die in das Heer nicht 
Eingereihten find bei der mobilen Nationalgarde vienftpflidtig, mit deren Bildung 
man gegenwärtig befchäftigt iſt. Sie fol aus Infanterie und Artillerie beftehen, 
auf 550,000 Dann gebracht werden und zur Vertheidigung der Feflungen und 
Grenzen berufen fein. Die Kriegsftärle der aktiven Armee und ver Referve be 
trägt 800,000 Mann. Auf dem Friedensfuß tft vie Zufammenfegung des Heeres 
folgende: 


Generalſtäbe 1,845 Artillerie 37,959 
Gendarmerie 24,648 Genie 7,845 
Infanterie 251,423 Militär-Equipage 8,954 
Kavallerie 60,689 Berwaltungstruppen 11,165 


Im Ganzen 404,428 Mann mit 91,000 Pferben. 
Ueber den Beſtand ver Kriegsmarine liegen für Mitte 1868 folgenve 


Ungaben vor: 
Wirklicher Stand Im Bau 
Banzer-Schiffe und Fregatten 16 24 


Eigentliche » Korvetten 3 17 
Krtegeflotte Sepanzerte Thurmfchiffe 2 — 

Aviſo's, Kanonenboote ꝛc. 67 23 
Transporiſchiffe 93 — 
Zur Flotille gehörige Schiffe 101 24 
Gepanzerte Küftenwadhtichiffe 26 4 
Fiſchereiwachtſchiffe 50 — 


Die Dampfer der Kriegsmarine hatten im Jahre 1867: 106,241 Pferbe- 
fräfte. Das geſammte Perfonal der Flotte betrug 1868 (inf. 23,400 Hafenar- 
beiter), 72,400 Dann, das Perfonal ver Marinetruppen (auf dem Friebensfuß) 
28,623 Mann. 


Griechenland. 
(Nachtrag zu Band IV S. 390 ff.) 


Die Militärrevolution vom 3./15. Sept. 1843 untergrub durch die von ihr 
erzwungene Berfaflung, zu der das Boll durchaus noch nicht reif war, das Regi⸗ 
ment des Königs Otto, indem fie ihm vielfah und nicht im wirklichen Intereffe 
des Landes die Hände band, dagegen den Parteien oder vielmehr Yaltiouen und 
ihren Umtrieben gegen einander und gegen vie Regierung freien Spielraum be« 
reitete, obgleih auf der andern Seite zugeftanden werben muß, daß ber König 
bei allem guten Willen verjenigen Eigenfhaften faft gänzlich entbehrte, bie zur 


660 Nachtrag. 


Gründung einer ſtarken monarchiſchen Gewalt behufs der Erziehung eines immer- 
bin halbbarbariſchen Volle unerläßlich zu fein ſcheinen. Dazu kam, daß die Ehe 
des Königs mit der Oldenburgerin eine kinderloſe blieb, und daß das bayrifche 
Königshaus ſich nicht dazu entſchließen konnte, den eventuellen Thronfolger recht- 
zeitig nach Griechenland zu ſchicken, um ihn dort als Grieche und in der ortho⸗ 
doren griechiſchen Konfeifion erziehen zu laſſen, obgleich es fi kaum verhehlen konnte, 
daß biefe Trage für ein in der ftaatliden Entwidelung noch fo wenig fortge- 
fchrittenes Volk eine ganz andere —— und Wichtigkeit hat als im mittleren 
und weſtlichen Europa. Die Ereigniſſe in Griechenland während des Krimmkrieges 
und bie Intervention der Weſtmaͤchte dienten keineswegs dazu, ven König Otto 
populärer zu machen und feine Herrſchaft zu befeftigen. Vielmehr hatten fie eher 
das Gegentheil zur Folge. Man warf ihn vor, für vie fog. „große Idee“, die 
Befreiung der noch immer der Pforte unterworfenen Bollsgenofien, Teinen Sinn 
zu haben und in Wahrheit ziemlich gleichgültig zu fein. Wie fi fpäter zeigte, 
hatte der König in der That feit jener Zeit den Boden im Griechenvolke vollenbs 
verloren. &8 folgte zwar zunächſt eine ziemlich ruhige Periode, während welcher 
das Land unläugbar gevieh und Fortfchritte machte, aber die vielfach gepriefene 
Anhänglichkeit an den König und feine Regierung war nur eine fcheinbare, theil- 
weife gerabezu erheuchelte. 

Schon im Jahre 1861 fanden bei Gelegenheit des Jahrestage der Erhebung 
gegen das Türkenjoch feinpfelige Demonftrationen in Athen felbft, Unorbnungen 
in Nauplia ftatt und gleih darauf wurbe im Juni eine Verſchwörung entbedt, 
was zahlreiche Verhaftungen zur Wolge hatte. Im September vesfelben Jahres 
verfuchte fogar ein Stubent Namens Doflos ein Attentat gegen bie wenig be- 
ftebte Königin, das indeß mißlang. Am 13. Sehr. 1862 brach dagegen eine Mi- 
litärrevolte in Nauplia ans, die fofort als fehr gefährlich erkannt werben mußte. 
Zugleich fland auch die Infel Syra auf und bald daranf weiter aud Santorin und 
Naros; in Kypariffa, Kalawata und Navarin erfolgten wenigftens Demonftrationen, 
bie feinen Zweifel ließen, daß das Königthum Dtto’s anf einem Bullan fland. 
Der König nahm bie Ereigniſſe auch fehr ernft, fammelte fo viel er nur an Trup⸗ 
pen aufbrachte in Korinth und begann fon am 20. Febr. die Belagerung von 
Nauplia. Dasfelbe ergab ſich jedoch erſt am 20. April, nachdem ſchon vorher bie 
Infeln Syra, Santorin, Naros wieder unterworfen worden waren. Der König 
geigte fi keineswegs hart und erließ ſchon im folgenden Monat eine theilweiſe 

umeftie, bie im Sept. noch weiter ausgedehnt wurde. Die Gefahr fehlen vorüber 
zu fein und der König gab fi ven beften Hoffnungen hin, Allein er täuſchte 
ih. Kaum hatte er am 13. Okt. mit der Königin eine Mundreife in den Pelo- 
ponnes angetreten, fo brach ſchon am 19. d. Mts. eime Revolution in Benifie, 
am 20. in Patras, am 22. in Athen felber aus, wo eine proviſoriſche Regierung 
eingefett wurde, die nunmehr geradezu die Abfegung des Königs ausſprach. Otto 
fehrte auf die Nachricht zwar eilends zurück und Iangte ſchon am 13. Oft. im 
Piräus an, aber es war ſchon zu fpät. Er überzeugte fih, daß das Nefultat 
eines Berfuches, ſich gewaltfem halten zu wollen, jedenfalls fehr zweifelhaft wäre 
und entſchloß fi alsbald, in fein urfprüngliches Vaterland zurädzulehren, wo er 
1867 zu Bamberg flarb, ohne indeß formell auf den Thron der Hellenen ver 
zichtet zu haben. 

Die Griechen dachten inzwiſchen daran, fi einen anderen König zu wählen 
und warfen ihre Augen zunächſt auf den Prinzen Alfred von England, während 
Rußland den Herzog von Leuchtenberg in Petto hatte. Am 4. Der. 1862 ver- 








Grichenland. 561 


zichteten jedoch England und Rußland gegenfeitig auf alle derartigen Anſprüche 
für ſich felber, wogegen England fi unter dem 24. Dec. d. I. geneigt erklärte, 
feine Oberhoheit über die Joniſchen Infeln unter gewifien VBorausfegungen aufzu- 
geben und in deren Vereinigung mit Griechenland zu willigen, weldye vie Ionier 
Schon wiederholt gewünſcht und verlangt hatten. Am 27. Jannar 1863 trat bie 
griechiſche Noationalverfammlung zuſammen, beftätigte am 3. Febr. die Thronent- 
fegung bed Königs Otto und wählte auf den Vorfchlag der Schugmädhte am 30. 
März einftimmig den Prinzen Wilhelm von Dänemark, den Bruder zweier 
Schweſtern, vie mit ven künftigen Thronfolgern von England und Rußland vermählt 
find, unter dem Namen Georg I. zum König. Derjelbe, noh im früheften 
Jänglingsalter, nahm die ihm angebotene Krone an, traf am 31. Okt. in Athen 
ein und beftellte jein Minifterium mit Bulgaris, dem Haupte der Revolution vom 
223. Oktober an der Spige. Am 14. Nov. wurde durch ein zu London von den 
Bevollmächtigten der Großmächte unterzeichnetes Protokoll die Abtretung bes Pro- 
teftorats über die Joniſchen Infeln, weldes England im Jahr 1815 mit Zu⸗ 
ſtimmunz von Defterreih, Rußland und Preußen übernommen hatte, fowie bie 
Einverleibung verfelben in das K. Griechenland förmlich ſanktionirt, zugleich aber 
die Neutralifirung der Infeln und die Schleifung ihrer Feſtungswerle ausge 
ſprochen. 

Der junge König brachte den Grafen Sponneck als feinen Berather aus 
Dänemark mit und gegen ihn erhoben fi) alsbald alle Parteien. Die Minifterten 
wechſelten und das Land Tam nicht zur Ruhe, am Schluß des Jahres 1864 
fürdgtete man , indeß ohne Grund, bereits einen Staatsftreih des Königs und 
feines Berathers. Die häufigen Minifterwechfel gingen auch im folgenden Jahre, 
1865, ficherlich nicht zum Vortheil des Landes, fort; uneinig unter fih waren bie 
Parteien nur einig gegen ben Einfluß des Grafen Sponned, befien Entfernung 
fie endlich im December erzwangen. Dagegen führte das Jahr 1866 ein neues 
Moment in die weitere Entwidelung der griechiſchen Dinge ein. Im Auguft die⸗ 
ſes Jahres erhoben die Kandioten die Fahne ver Empörung gegen bie Pforte 
und ihre Nationalverfammlung erflärte am 2. September die Bereinigung ber 
Injel mit dem Königreih Griechenland. Die Pforte war troß ihrer Schwäde 
nicht gemeint, die Infel ohne weiteres fahren zu Iafien und ſchickte eine anfehn- 
lihe Truppenmacht ab, um fie wieder ihrem Scepter zu unterwerfen, während 
gleichzeitig zahleeiche Freiwillige aus Griechenland dahin eilten, die Aufſtändiſchen 
zu unterftügen. 

Nun blokirte die Pforte die Infeh, um diefen Zuzug abzufchneiven; bie 
Griechen aber rüfteten Blokadebrecher aus, die mit großer Kühnhelt während ver 
Jahre 1866 und 1867 Freiwillige, Waffen, Munition und Lebensmittel dahin 
ſchafften. Bon ihren Stammesgenofien in ganz Europa wurden fie darin lebhaft 
unterftägt. Der erfte Verſuch der Pforte mißlang denn auch vollftändig und dieſe 
mußte fih 1867 dazu entſchließen, ihrem beften General Omer Paſcha die Auf 
gabe zu übertragen. Diefer brang wenigſtens in ven Hauptheerb des Aufftanves, 
die fog. Sphafia, ein, ohne indeß den Aufftand ganz bewältigen zu können. Doch 
glaubte die Pforte, ven Boden fo weit geebnet zu haben, um eine friedliche Pa⸗ 
cififation der Infel zu verſuchen. Omer Paſcha wurde abberufen und Alt Paſcha, 
der Großweſir, ging im Herbſt 1867 in Berfon mit in der That fehr Liberalen 
Anerbietungen dahin ab. Inzwiſchen führten die Schiffe Rußlands und Frankreichs 
bie Weiber, Kinder und Greiſe der Kandioten felt dem Sommer in Maflen nad 
Griechenland über, fo daß die Zahl verfelben bis Ende des Jahres auf 60,000 

Biuntf@li ann Drater, Dentſcheet Staate⸗MWörterbuch. X. 96 


562 Nachteag. 


Köpfe anſtieg. Die Griechen aber wurden dur all das in ihren Sympathien für 
Kreta aufs Außerfte geirieben und beſchloſſen im Frühjahr 1867 trog ber argen 
Finanznoth, in der fie ftedten, eine anfehnlide Vermehrung ihres Heeres und 
eine verhältnigmäßig noch ftärfere ihrer Flotte. Der Ausbrudy eines Krieges zwi⸗ 
fhen Griechenland und der Pforte hing offenbar nur au einem Haare. Die Pforte 
erflärte und zwar mit voller Wahrheit: „zwar Griechenland hat uns nidt bem 
Krieg erllärt, aber alle Griechen haben es gethan“, und richtete wiederholt Noten 
ſowohl an Griechenland als an tie Großmächte, in denen fie entichiebene Luft an 
den Zag legte, fich gegen ven Heinen Nachbar felber Recht zu ſchaffen. Die 
Sroßmädte ließen dieß indeß nicht zu und verhüteten damit den Ausbruch eines 
größeren Brandes im Orient, namentlih Brankreih und Nufland. Das lestere 
gab dem jungen König, ter im Sommer 1867 eine Zour in Europa machte, in 
ber Tochter des Sroßfürften Konftantin eine orthodoxe Gemahlin zur Befriedigteng 
der Hellenen. Frankreich aber wäre geneigt geweſen, fogar eine gewifle Preifion 
gegen die Pforte auszuüben, um fie zur Ueberlaflung Kantias an Griechenland 
zu veranlaflen und vereinigte fih mit ven Großmächten, Oeſterreich nnd England 
audgenommen, um ihr eine allgemeine Abftimmung auf der Infel und, ta die 
Pforte hierauf nicht einging, wenigftens eine Engu£te unter Zuzug von Repräfen- 
tanten der Mächte anzuratben. Die Pforte wollte indeß auch davon nichts wiſſen 
und hoffte, die Infel allein mit Güte und mit Gewalt wieder zu pachficiren. Vor⸗ 
verband iſt es in der That nicht wahrjcheinlih, daß Griechenland in den Befis 
der Infel kommen werde und bie nädfte Folge zweljähriger vergeblicher An⸗ 
firengungen ift wohl feine andere, ale eine fehr fpärbare Ermattung und Er⸗ 
ſchöpfung, namentlid aber eine ausgeſprochene finanzielle Zerrüttung, an der ber 
junge Etaat ohnehin feit feinem Entftehen darniederlag. Seit Anfang des Jahres 
1868 find bie meiften griechiſchen Sreimilligen ua Haufe zurüdgelchrt und wird 
der Kampf, ſchwächer und ſchwächer nur noch von einem Theil ver Eingeborenen 
fortgeführt, Hauptfählic in den faft unzugänglichen Gebirgsgegenven, fat bloß 
als eine Art von Brigantaggio. Doc gelang es auch den Türken nidt, die nene 
Organifation der Infel überall turdzuführen und bleibt ihnen zu biefem nude 
nichts anderes übrig, als die ganze Infel allmälig mit einem Syſtem von 
Militärftraßen und befeftigten Blodhäufern zu überziehen, womit fie während bes 
ganzen Jahres 1868 befhäftigt waren. Bie Ende des Jahres haben fie es nidht 
einmal dazu gebracht, die Blofade der Infel zu einer effektiven zu machen uud bie 
in die allerlegte Zeit unterhielten griechifche Blokadebrecher einen regelmäßigen 
Verkehr zwiſchen ven Jufurgenten und tem Königreih und führten jenen noch 
immer wenigftens Lebensmittel, Waffen und Munition zu. Dagegen kehrte ein, 
großer Theil ver im Jahr 1867 auf den Schiffen der Großmächte nah Griechenland 
übergeführten Kandioten im Laufe des Jahrs 1868 auf türkiſchen Schiffen nad 
der Infel zurüd, was die Griechen, fo ungern fie e8 auch ſahen, nicht zu ver- 
bindern vermochten. Die ganze Infurreftion ſchien im November_1868 bem (r- 
löſchen nahe zu fein. Da flammten die Gelüſte ver Griechen noch eimal energiſch 
empor: eine große Freiſchaarenexpedition follte im Peloponnes ausgerüftet werben, 
von dort nad Kandia abgehn und eine Abtheilung derfelben z0g in Athen am 
hellen Zage uud mit demonftrativem Gepränge unter den Yenftern des türkiſchen 
Sefandten vorbei. Die Geduld der Pforte mar nun endlich doch erſchöpſt. Am 
1. December 1868 wurde in Konftantinopel beſchloſſen, den Griechen mit ber 
Abberufung des türkischen Geſandten, mit der Ausweiſung aller griechifhen Unters 
thanen ans dem Gebiete der Pforte und mit dem Abbruch alles Verkehrs mit bem 


Großbritannien. 863 


Königreih zu drohen. Zu einem kriegeriſchen Zuſammenſtoße wird es indeß doch 
faum kommen, ba fi die Weſtmächte wohl ohne Zweifel noch rechtzeitig und 
energiſch ins Mittel legen und Griechenland verhindern werben, bie ortentalifche 
Frage gegen ihren Willen neuerdings in Fluß zu bringen und einen Brand 
anzufachen, defien Tragweite nicht abzufehen wäre. 

Das Land hat im erften Theile der legten 10 Jahre Fortfchritte gemacht, 
lediglich weil damals mwenigftens Ruhe und Ordnung herrſchte. Die Revolution 
von 1862 dagegen brachte die materielle Entwidelung wieder zum Stillfiand und 
ſeither iſt eher ein Rückſchritt eingetreten. Die Staatsſchuld war im Jahre 1866 
auf 233 Millionen Dradmen (circa 100 Millionen Gulden) angefchwollen, unge- 
rechnet maſſenhafte Zinsrüdflände, An eine vollfländige Abtragung von Kapital 
und Zinſen wird nicht zu denken fein. Uebrigend fehlen aud die Elemente des 
Gedeihens nicht. Als Seeleute find die Griechen unvergleihlih und unter einer 
ftarfen, aber zugleich aufgellärten Regterung dürfte fih das Land fchnell heben. 
Auch fo zählte e8 1862, aljo vor dem Anfhluß der Ionifhen Injeln, eine Han⸗ 
delsmartne von 4335 Schiffen mit 275,318 Tonnen und 23,839 Matrofen, 
gegen 8345 Fahrzeuge, 89,642 Tonnen und 15,300 Matrofen im Jahre 1838. 
Der Unterſchied der Tonnenzahl zeigt den mächtigen Fortfehritt von 1838 his 1862. 
Gegenwärtig ift die Zahl der Handelsſchiffe auf 5129 mit 302,000 Tonnen 
eftiegen. 
8 Die Benölferung des Königreiches zählt nad den neueſten Angaben (vgl. 
Behm, Geogr. Jahrb. II, 1868. ©. 45) 1,347,000 Seelen, wonon 251,000 
auf die Joniſchen Infeln treffen. 


Großbritannien. 


(Rachtrag zu Band IV ©. 423 ff.) 


Es würde zu weit führen, die neuere poltiifhe Geſchichte Großbritanniens 

als Ergänzung des früheren Artikels auch nur in ihren Hanptmomenten zu 
zeichnen. Es muß dieß bezüglich des letzten Jahrzehnts genfigen, iſt aber für bie- 
fes allerdings unerläßlih, da das Land offenbar in ein neues Stadium feiner 
Entwidelung eingetreten tft, defien Tragweite auch für das Tontinentale Europa 
faum body genug angefchlagen werden kann. Die Katholiten-Emancipation und 
die Neformbill von 1832 brachen die Macht der Tories und legten die Art an 
die ganze Verſchlingung von Mißbräuchen, die fih um die Wurzeln der englifchen 
Berfaſſung gelagert hatten. Eine große Reihe folder Mißbräuche war nicht länger 
halibar und wurde Schritt für Schritt befeitigt. Aber es gefhah nicht ohne vie 
beftigften Zudungen des ganzen Staatölörperd und nur unter ben leidenfchaft- 
lichſten Bartelfämpfen,, die au noch die erſte Zeit der Negierungsperiode der 
Königin Biltorla ansfüllten, bis die neue Ordnung der Dinge durch vie Ab» 
ſchaffung ver Kornzölle und die Anerkennung des Freihandelsprincips definitiv 
eflegt hatte, worauf erft eine rubigere Zeit folgte, weldye die zweite Hälfte jener 

Beriode bezeichnet und in Lorb PBalmerfion, der nun mit geringen Unter 
brechungen an der Spite ber Regierung ftand, ihren prägnanteften Ausbrud fand, 
Es war eine Uebergangszeit, im welcher die Ueberrefte veralteter von ihrem 
urſprünglichen Weſen vollſtändig ausgearteter Einrichtungen theils geradezu abge- 
tragen und befeltigt, thells untergraben und zur Abtragung vorbereitet wurden, eine 
Uebergangszeit aber auch Infofern, ala während verfelben vie alten Parteiverhältniffe, 
deren Spiel bisher die Gefchichte des Stants und bes Parlaments ausgefüllt 


36 + 


564 Nachtrag. 


hatte, ſich nach allen Seiten loderten und lösten und überall bie Keime neuer 
Iveen, neuer PBartelbildungen, neuer Inflitutionen zu Tage traten. Nur ber 
Charakter einer unzweifelhaften Uebergangszeit machte es möglid, daß ein Mann 
wie Palmerfton fo lange die Zügel behaupten und mit einer gewifien ariftofrati- 
fen Nonchalance das Land nad innen wie nad außen ohne ernfihaften Wider⸗ 
ftant leiten konnte. Nachdem ber indiſche Aufftand, der einen Augenblid Englands 
Weltſtellung ernftlich bedrohte, glädlih erftidt und niedergeſchlagen war, murbe 
feine Staatsleitung im Grunde von keiner Seite mehr bebroht ober au nur an= 
gegriffen: die herrſchende Partei fügte fi ihm volfländig und bie Zories dach⸗ 
ten in Wahrheit nicht einmal daran, ihm die Herrſchaft fireitig zu machen. Das 
war die Lage mit dem Gintritt des laufenden Jahrzehnds. 

Die bitteren Erfahrungen im Krimmiriege, in dem England thatſächlich eine 
Niederlage erlitt, obgleih es formell mit Frankreich als Sieger aus demſelben 
hervorging, ſcheinen einen geradezu entſcheidenden Eindrud hinterlafien zu haben. 
Bon einer aktiven auswärtigen Politik Englands iſt feit ver Zeit eigent- 
lid Teine Rede mehr und fo weit die englifche Regierung thätig war, beſchränkten 
fih ihre Bemühungen darauf, die Schwierigkeiten und Differenzen, bie fi irgendwo 
erheben mochten, fo viel an ihr lag, ausgleihen zu helfen und jever Zufammen- 
floß zu vermeiden. Die Niederlage Defterreihs im italieniſchen Krieg 1859, vie 
Rihtausführung des Friedensvertrags von Züri, die Annerion der itallenifchen 
Herzogthämer troß biefes Vertrags, die Schlacht von Caſtelfidardo und bie Be⸗ 
Ietionng bes größeren Theild der weltlichen Derrfhaft des Papſtes, die Expe⸗ 
bition Garibaldi's nad Marfala, von Marſala nad Palermo und von da nad 
Neapel, der Sturz ter neapolitanifhen Bourbonen und die Errichtung des König: 
reih8 Neapel im Jahre 1860, alle dieſe Ereignifie fah fie nichts weniger als 
ungern, alle biefe Unternehmungen begleitete fie mit ihren beften Wünfchen, 
unterftägte fie auch und theilweiſe gerade im entſcheidenden Moment unter der 
Hand, aber officiell mifchte fie fi nicht in die Händel und ließ bloß geſchehen, 
„was fie nicht hindern konnte und zu hindern auch keinen befonderen Beruf hatte.“ 
Shen am 30. März 1861 ſprach fle ihre formelle Anerkennung des König- 
reihe Italien aus, während Frankreich fi deſſen noch ausprüdlid weigerte. 
Als bald darauf und no In vemfelben Jahre der nordamerikaniſche Bürgerkrieg 
ausbrach, fühlte fie fi nichts weniger als unangenehm betroffen, widmete im 
Gegentheil den Süpftaaten ihre herzlihften Gläckswüuſche, erklärte fi in ihrem 
Interefie am 13. Mai 1861 gleih Frankreich für neutral und räumte ihnen 
damit das Recht von Kriegführenden ein, brüdte beide Augen bezüglid der Aus- 
räftung ſüdſtaatlicher Kaperfchiffe auf englifhen Werften zu und hatte gar nichts 
dagegen einzuwenden, wenn ihre eigenen Mitglieder als Privatperfonen und zu⸗ 
glei mit den Häuptern ihrer Geguer im Parlament ftarfe Summen für ein An⸗ 
leben der Nebellenftanten zeichneten, von denen fie freilih keinen Penny mehr 
fehen follten. Aber über dieſe paffive Unterftägung ging fie durchaus nicht hinaus, 
bot gern bie Hand zum Ausgleih in der Xrentaffaire, ertrug den ſchweren Rück⸗ 
flag auf die eigene Baummollinduftrie mit mufterhafter Refignation und fah 
ruhig zu, als 1865 Richmond endlich fiel und ber ganze Südbund zuſammenbrach. 
Seither präfentirte freilich die Unionregierung eine Heine Rechnung von ber Ala- 
bamagefchichte her, die England nicht ohne weiteres anzuertennen und zu bezahlen 
geneigt war; aber man fpricht taräber hin und ber, und macht body fo weit Kon- 
ceiftonen, dag man fi ſchließlich wohl verftändigen könnte, wenu es ber Union 
wirklich darum zu thun fein follte, wa® noch nicht fo ganz ſicher iſt. Im folgenden 





Großbritannien. 565 


Jahre nad) dem Ausbruche des nordamerikaniſchen Bürgerkriegs, 1862, macht Eing- 
land mit Franfreih Kompagnie zu einer Erpebiticn gegen Merito, allein fobald 
es fieht, dag es fih um mehr als eine Demonftration handelt, zieht es fidh mit 
Spanien noch zu rechter Zeit zuräd und überläßt e8 Napoleon, den Einſatz für 
das kühne Spiel zu wagen und zu verlieren. Im Jahre 1863 gibt England einen 
glänzenden Beweis feiner Uneigennügigfeit, indem es den Griechen nad dem 
Sturze des Königs Otto zwar feinen Prinzen Alfred als neuen König verweigert, 
ihnen dagegen die Ionifchen Infeln, die längft mit denſelben vereinigt zu werben 
gewänfdt hatten, feierlih abtritt. Und wieder ein Jahr fpäter, 1864, begleitet es 
zwar Dänemark in feinem Bemühen, Schleewig-Holftein feftzubalten, mit ben leb⸗ 
bafteften Wünfchen,, feine Geſandten in Deutfchland find an den Meinen Höfen 
felbſt fehr thätig im däniſchen Interefie, ja es entfchließt fi fogar, bie Kanal» 
flotte auszufchiden, um die Deutfhen zu fehreden; allein va al’ das nichts hilft, 
die dänische Hartnäckigkeit Bismard in die Hände arbeitet, vie Londoner Konferenz 
unverrichteter Dinge auselnandergeht und bie Preußen vorrüden; fo läßt Eng- 
land den Londoner Vertrag von 1852, den Palmerfton damals noch mit raftlofer 
Tätigkeit angebahnt nnd zuwege gebracht hatte, einfach fallen, überläßt die Dänen 
ihrem Schidfal und das Unterhaus erflärt fi nad einer viertägigen Debatte 
faft einftimmig ausdrücklich damit einverftanden. Aus ber fchleswig-holftein’fchen 
Berwidelung entwidelte ſich der beutfche Krieg von 1866; der Sieg Preußens 
bei Königgräß entſchied fein Uebergewidt in Dentfhland und gewährte die Aus⸗ 
fiht auf eine flarke deutſche Macht, der England unter Umftänden mit Verlaß, 
felbftverftändlich gegen Frankreich, die Hand bieten Könnte, was bisher nicht ber 
Tall geweſen war; das Unterhaus ſprach darliber am 20. Juli 1866 in längerer 
Debatte Taut und unummunden feine entſchiedene Befriedigung ans. Schon im 
folgenden Jahr Adeß ſchloß Frankreich gegen Preußen und gegen Dentichland einen 
Handel mit Holland ab, ber jenem bie bieher im Vefige Preußens geweſene Feſtung 
Luxemburg in die Hände fpielen follte; Preußen zeigte zunächſt ganz und gar 
keine Luft auf feinen Befitz zu verzichten und bot erft zu einer Vermittlung die 
Hand, als es fich überzengte, daß England ganz ruhig eine franzöſiſche Flotte 
in die Oft» und Rorbfee fahren nnd Hamburg, Stettin ober Danzig bombare 
diren Tieße, ohne nur die Hand zu rühren. Die Vermittlung fam zu Stande: 
Preußen räumte die Feftung unter der Bedingung, daß die Großmächte Luxem⸗ 
burg für nentral erflärten nnd dieſe Neutralität Preußen garantirten; Preußen 
glaubte Luxemburg dadurch fortan geſichert; aber zur großen Befriedigung des 
Unterhaufes erklärte vie Regierung bald darauf, daß jene Garantie eine Kollektiv» 
garantie und als ſolche für Preußen gänzlich werthlos fe, wenigftens England 
niemals für viefelbe gegen Frankreich einzuftehen gehalten fei, wenn nicht feine 
ſämmtlichen Mitgaranten dabei gleichfalls mitwirften. Die Erbaltung bes status 
quo in der europätfhen Türkei bildete bisher einen Fundamentalſatz in ber aus» 
wärtigen Politif Englands. Aud das iſt offenbar bereits ein Überwundener Stand» 
punkt. Die Berhandlungen der Mächte über die Löſung der kandiotiſchen Frage 
haben gezeigt, daß die englifche Regierung allervings auch jet noch entſchlofſen 
it, keinen Schritt zu thun oder zu unterftüßen, ver jenem status quo zu nahe 
träte. Uber die übereinftimmenden Wenßerungen ver öffentlihen Meinung Eng» 
lands haben in nicht mißzuverftehenver Weiſe gleichzeitig an ten Tag gelegt, daß 
England feinerfeits auch nichts für die Aufrechthaltung jenes status quo thun und 
die Türkei gegebenen Balls ruhig ihrem Schidfal überlaffen wäürbe, mit Aus- 
nahme Aegyptens, wo eben ein fpecielles Intereffe und zwar ein Interefle erften 


566 Nachtrag. 


Rangs für basfelbe auf dem Spiele ſteht. Man ſieht, bie auswärtige Polktäl 
Englands iſt nad) allen Seiten dieſelbe. Es hat auf jede altive Politik gegenüber 
den Händeln des Kontinents, fo weit nicht ein fpecielles, greifbares Iuterefle 
feinerfelt8 in Frage geftellt iſt, mit vollem Bewußtſein fo viel als gänzlih ver- 
zihtet und alle Parteien find darüber einverflanden. So auffallend die Erſchei⸗ 
nung, jo wenig bärfte fie in Abrebe geftellt werden können. 

Je mehr fih England von der europätfchen Politit und den Händeln des 
Kontinents zurüdzog, defto lebhafter entwidelte fi dagegen bad Intereffe für bie 
inneren Zuftände und deren Seftaltung. Gleich mit dem Eintritt des Jahr- 
zehnds errang es einen durchaus friedlichen, aber darum nicht minder folgenreidhen 
Sieg. Der Kaifer der Franzofen richtete am 5. Ianuar 1860 einen Brief an 
feinen damaligen Staatsminifter Walewsli, worin er ihm feinen Entihluß an= 
fündete, von dem bisher in Frankreich herrſchenden Schutzzollſyſten zu dem ta- 
mals no allein in England zu praktiſcher Anerfennnng gelangten Freihandels⸗ 
ſyſtem überzugehn, und ſchon am 24. vesfelben Monats fchloß er einen Handels⸗ 
vertrag mit England ab, der durch Lord Cowley und Cobden vermittelt worden 
war, der auf dem neuen Princip berubte und durch welchen der Kaiſer ohne 
weiteres fofort die Brüde hinter ſich abbrad und jede Oppofltion dagegen un⸗ 
möglid machte. Die Verfaſſung von 1852 gewährte ihm in dieſer Beziehung voll- 
fommen freie Hand und dem in Wahrheit abfoluten Herrfher war daher mäglich, 
woran Louis Philipp auch nicht einmal hätte denken dürfen. Das Wreihandels- 
princip wurde damit zum erfien Mal praktiih auf den Kontinent übergetragen, 
Frankreich fhloß in deu folgenden Iahren eine Reihe von weiteren auf bemfelben 
Princtp beruhenden Hanvdeldverträgen mit feinen Nachbarn ab und heute iſt das⸗ 
jelbe von ganz Mittel- und Wefteuropa anerlaunt, wenn auch noch nit in allen 
feinen Konfequenzen burdgeführt. 

Was die rein politifchen Fragen betraf, jo war bie öffenttidhe Meinung feit 
der erften Barlamentsreform von 1832 allmälig zu einer neuen herangreift, 
zu einer wiererum weiteren Ausvehnung des Wahlrechts und zu einer neuen Ber- 
theilung der Parlamentsfige auf Koften der verrotteten Fleden und ber zurückge⸗ 
bliebenen kleineren Städte, zu Gunften ver großen Fabriks- und Handelsſtädte, 
bie noch immer lange nicht im Verhältniß zu ihrer Volkszahl und zu ihrer großen 
und immer wachſenden Bedeutung für bie Nation vertreten waren. Das am 1. 
März 1858 wieder einmal ins Amt getretene Toryminifterium Derby-Dis- 
raeli hatte denn aud in der Seffion von 1859 eine Reformbill eingebracht; 
aber, da die Tories im Unterhaufe entſchieden in der Minderheit waren, fheiter» 
ten fie am 31. März an einem Amenvement Lord Ruſſells, worauf das Kabinet 
die Auflöfung des Unterhaufes ausſprach und an das Land appellirte. Die Wah- 
len waren den Zories nit günftig und faum war das neue Parlament bei« 
ſammen, fo fiel das Kabinet ſchon im Juni durch ein Mißtrauensvotum, das mit 
323 gegen 310 Stimmen ausgefproden wurde und an feine Stelle trat alsbald 
ein Minifterium Palmerfton- Auffell. Die Parteifrage war entſchieden, aber 
nicht zugleich auch die Reformfrage. Palmerſton war bie Seele des Kabinets und 
entichlofien, diefe Angelegenheit wenigftens vorerft ruben zu laflen. Die Regierung 
erflärte dieß dem Parlament glei bei Beginn der Seffion von 1861 und das 
Parlament war damit einverftanden: der Antrag darüber ein Bedauern auszufprechen, 
wurde mit 129 gegen bloß 46 Stimmen abgelehnt. Die ganze Frage blieb faft ein 
Jahrzehnd noch in der Schwebe. Palmerſton wußte tie liberalen Elemente darüber zu 
beſchwichtigen und hinzuhalten; die Tories aber waren es ohnehin zufrieden, 





Großbritannien. 567 


Richt ohne Grund ſagte man, es fei wie wenn die Tories ein Kompromiß mit 
Palmerſton abgefhlofien hätten, ihn in Ruhe zu laſſen und keinen Berfuh zu 
machen, wieder ans Ruder zu gelangen, fo lange viefe Frage nicht wieder ange: 
rührt werde. Aber auch weiter blidende Dlänner, wie Bright und feine Freunde, 
ſprachen es ihrerſeits offen aus, daß fie dieß zunädft vorzögen, bis bie Frage 
reif ſei zu einer ganzen und nicht bloß zu einer halben Maßregel. Und bie 
öffentlihe Meinung reifte allervings ganz im Stillen aufs entſchiedenſte dazu 
heran, fo entſchieden, daß es fchlieklih ein Toryminiſterium war, das fie zur Lö- 
fung ringen follte und zwar in fo turcchgreifender Weife, wie es einem liberalen 
Kabinet kanm vergönnt gewefen wäre. 

Die erfte Hälfte des Jahrzehends verfloß indeß ziemlich flile. Innere Fra⸗ 
gen und Interefien der auswärtigen Polttit hielten ſich gewiſſermaßen die Wage 
und nahmen faft gleichzeitig die öffentlihe Meinung in Anſpruch, ohne daß doch 
weder in der einen nod in der andern Beziehung ein entjchiebener und entſchei⸗ 
dender Schritt gethan wurde. Man möchte fagen, ver englifhe Volksgeiſt ftand 
am Scheivemege, ungewiß was er thun folle, bis der Entjchluß bie Oberhand ge» 
wann, fi) aus den Berwidelungen ausmwärtiger Interefien und frember Händel 
definitiv loszumachen und ganz auf bie Bahn durdhgreifender innerer Reformen 
zu werfen. Unter diefen Zweifeln und Erwägungen war die frage einer zweiten 
Parlomentsreform reif geworden. Am 6. Juli 1865 lief die Periode des Parla- 
ments ab und noch im Laufe des Monats fanden tie allgemeinen Neuwahlen 
ftatt. Das Nefultat ergab ein Uebergewicht von mehr ald 70 Stimmen zu Gun⸗ 
fien der liberalen Partei aller Schattirungen, zugleich aber die fehr bezeichnende 
Erſcheinung, daß unter den fämmtlihen Gewählten nit weniger ald 18% homines 
oovi waren. Die alten Parteien waren eben und fchon feit langem In innerer 
Auflöfung begrifien: ein nener Geift fuchte nah neuen Männern. Und noch bevor 
das neue Parlament zufammentrat, ſtarb am 18. Oktober Lord Palmerfton, der 
feither Regierung und Parlament geleitet hatte, unbeftritten und gewiflermaßen 
mit Buftimmung beider Parteien. Jedermann fühlte jegt noch mehr, daß eine neue 
Zeit vor der Thäre fland. Das Kabinet refonftruirte fi indeß ohne bedeutende 
Mobififationen: Ruffell übernahm die Bräfidentfhaft, Gladſtone das Schatz⸗ 
kanzleramt, Clarendon das Answärtige. Am 6. Februar 1866 eröffnete bie 
Königin das neue Parlament: vie Throurede ftellte die Parlamentsreform alsbald 
in Ausſicht, ohne indeß eine förmliche Bill anzukünden. Doch ſchon am 12. März 
brachte Gladſtone eine ſolche ein und am 7. Mat auch eine weitere für eine neue 
Bertheilung der Barlamentöfige, beives zunächſt nur für England. 

Weder ver eine noch der andere Entwurf ftellten ein neues Princip auf, be 
gnägten fi vielmehr, das in ver erften Refornafte Adoptirte einige Schritte 
weiter zu führen: ver Cenſus der ländlichen Wähler follte anf 14, derjenige der 
ſtadtiſchen auf 7 Pfd. berabgefegt und damit bie Zahl jener um etwa 175,000, 
diefer um etwa 200,000 vermehrt, ferner den Meinen Wahlfleden 49 Site ent- 
zogen und davon 26 ten Grafſchaften, 16 den großen Städten, 7 Schottland zu⸗ 
getheilt werben. Die Tories hatten eigentlich keine Urfadhe, der Bil im Ganzen 
entgegen zu treten, ſobald ſie einer neuen Parlamentsreform nicht überhanpt ſich 
zu wiberfegen gedachten. Das aber erkannten fie für geradezu unmöglih, wenn 
ihnen auch die Sache nicht recht lag, weil fie fidy nicht verhehlen konnten, daß 
jede Reform faft unausweihlid zu ihrem Nachtheil ausfallen müſſe. Unter diefen 
Umfländen beichlofien fie ſchon am 16. März in einer großen PBarteiverfammlung 
einftimmig, die Bill zwar in jedem Stadium zu belämpfen, aber unter der and» 





566 Nadtrag. 


Rangs für basfelbe auf dem Spiele fieht. Man flieht, vie auswärtige Politl 
Englands iſt nad allen Seiten diefelbe. Es hat auf jede altive Politik gegenüber 
den Händeln des Kontinents, fo weit nicht ein fpecielles, greifbares Suterefle 
feinerfeits in Trage geftelt it, mit vollem Bewußtſein fo viel als gänzlid ver- 
zichtet und alle Parteien find darüber einverflanden. So auffallend die Erſchei⸗ 
nung, fo wenig därfte fie in Abrede geftellt werben können. 

Je mehr fih England von der europälfhen Politik nnd den Hänbeln des 
Kontinents zurüdzog, defto lebhafter entwidelte fi dagegen das Intereſſe für bie 
inneren Zuftände und deren Seftaltung. Gleich mit dem Eintritt des Jahr- 
zehnds errang es einen durchaus friedlichen, aber darum nicht minder folgenreidhen 
Sieg. Der Kalfer der Franzoſen richtete am 5. Ianuar 1860 einen Brief an 
feinen damaligen Staatsminifter Walewski, worin er ihm feinen Entſchluß an- 
fündete, von dem bisher In Frankreich herrſchenden Schuszolliyften zu dem ta- 
mals noch allein in England zu praftifher Anertennung gelangten Sreihanbels- 
fuftem überzugehn, und ſchon am 24. desfelben Monats fchloß er einen Handels - 
vertrag mit England ab, der durch Lord Cowley und Cobben vermittelt worden 
war, der auf dem neuen Princip berubte und durch weldhen ber Katjer ohne 
weiteres fofort die Brücke Hinter fih abbrah und jede Oppofition dagegen un⸗ 
möglich machte. Die Verfaffung von 1852 gewährte ihm im diefer Beziehung voll- 
fommen freie Hand und dem in Wahrheit abfoluten Herrſcher war daher moͤglich, 
woran Louis Philipp auch nicht einmal hätte denken dürfen. Das Freihandels⸗ 
princip wurde damit zum erften Mal praktiih auf ven Kontinent übergetragen, 
Frankreich ſchloß in den folgenden Jahren eine Reihe von weiteren auf bemfelben 
Princip beruhenden Hanvelöverträgen mit feinen Nachbarn ab und heute iſt das⸗ 
jelbe von ganz Mittel- und Wefteuropa anerlannt, wenn and nody nicht in allen 
feinen gonfequengen durchgeführt. 

Was die rein politiſchen Fragen betraf, ſo war die öffentliche Meinung jeit 
der erfien Barlamentsreform von 1832 allmälig zu einer neuen berangreift, 
zu einer wiererum weiteren Ausdehnung des Wahlrechts und zu einer neuen Ber- 
theilung der Parlamentsfige auf Koften der verrotteten Flecken und ber zurüdge- 
bliebenen kleineren Städte, zu Gunſten der großen Fabriks- und Handelsſtädte, 
bie noch immer lange nicht im Verhältniß zu ihrer Volkszahl und zu ihrer großen 
und immer wachjenden Bedeutung für die Nation vertreten waren. Das am 1. 
März 1858 wieder einmal ins Amt getretene Toryminifterium Derby-Dis- 
raeli hatte denn aud in ber Seſſion ven 1859 eine Neformbill eingebradht ; 
aber, da die Tories im Unterhaufe entſchieden in der Minderheit waren, heiter» 
ten fie am 31. März an einem Amendement Lord Ruffells, worauf das Kabinet 
die Auflöfung des Unterhaufes ausfprad und an das Land appellirte. Die Wah⸗ 
len waren den Tories nit günftig und kaum war das neue Parlament bei- 
fammen, fo fiel das Kabinet ſchon im Juni durch ein Mißtrauensvotum, das mit 
323 gegen 310 Stimmen ausgefproden wurde und an feine Stelle trat alsbald 
ein Minifterium Balmerftion- Ruffell. Die Parteifrage war entſchieden, aber 
nicht zugleid auch die Reformfrage. Palmerſton war die Seele des Kabinets und 
entichloffen, diefe Angelegenheit wenigftens vorerft ruben zu laflen. Die Regierung 
erllärte dieß dem Parlament gleih bei Beginn der Selfion von 1861 und das 
Parlament war damit einverftanden : der Antrag darüber ein Bedauern auszufprechen, 
wurde mit 129 gegen bloß 46 Stimmen abgelehnt. Die ganze Frage blieb faft ein 
Jahrzehnd noch in der Schwebe. Balmerfton wußte tie liberalen Elemente vorüber zu 
beihwidtigen und hinzuhalten; die Tories aber waren es ohnehin zufrieden, 


Großbritannien. 567 


Richt ohne Grund fagte man, es fei wie wenn bie Tories ein Kompromiß mit 
Palmerſton abgefchloffen hätten, ihn in Ruhe zu laſſen und keinen Berfuh zu 
machen, wieder and Ruder zu gelangen, fo lange viefe Frage nicht wieder ange: 
rährt werde. Aber aud weiter blidende Männer, wie Bright und feine Freunde, 
ſprachen es ibrerfeits ofien aus, daß fie dieß zunächſt vorzögen, bis die Frage 
veif fei zu einer ganzen und nicht Bloß zu einer halben Maßregel. Und die 
öffentlihe Meinung reifte allerdings ganz im Stillen aufs entſchiedenſte dazu 
heran, jo entſchieden, daß es fchließlih ein Toryminifterium war, das fie zur Loö⸗ 
fung kringen follte und zwar in fo turdgreifender Weife, wie es einem liberalen 
Kabinet kaum vergönnt geweſen wäre. 

Die erfte Hälfte des Jahrzehends verfloß indeß ziemlih flille. Innere Fra⸗ 
gen und Interefien der auswärtigen Politit hielten fich gewiſſermaßen die Wage 
und nahmen faft gleichzeitig die öffentlihe Meinung in Anſpruch, ohne daß doch 
weder in der einen nod in der andern Beziehung ein entfchiedener nnd entſchei⸗ 
dender Schritt gethan wurde. Man möchte fagen, ver englifhe Volksgeiſt ftaud 
am Gcheidewege, ungewiß was er thun folle, bis der Entſchluß die Oberhand ge» 
wann, fih aus den Berwidelungen auswärtiger Interefien und fremder Händel 
definitiv loßzumaden nnd ganz auf die Bahn durdhgreifender innerer Reformen 
zu werfen. Unter viefen Zweifeln und Erwägungen war. bie frage einer zweiten 
Parlamentsreform reif geworden. Am 6. Iuli 1865 lief die Periode des Parla⸗ 
ments ab und noch im Lanfe des Monats fanden tie allgemeinen Neuwahlen 
ftatt. Das Reſultat ergab ein Uebergewicht von mehr als 70 Stimmen zu Gun⸗ 
ften der liberalen Bartei aller Schattirungen, zugleich aber die fehr bezeichnende 
Erſcheinung, daß unter den fänmtlichen Gewählten nicht weniger ald 18% homines 
oovi waren. Die alten Parteien waren eben und ſchon feit langem in innerer 
Auflöfung begriffen: ein nener Geift fuchte nach neuen Männern. Und nod bevor 
das neue Parlament zufammentrat, ſtarb am 18. Dftober Lord PBalmerfton, ver 
feither Regierung und Parlament geleitet hatte, unbeftritten und gewiffermaßen 
mit Buftimmung beider Parteien. Jedermann fühlte jegt ned; mehr, daß eine neue 
Zeit vor der Thäre fland. Das Kabinet refonftruirte ih indeß ohne bereutenve 
Mobififstionen: Ruſſell übernahm die Bräfiventihaft, Gladſtone das Schatz⸗ 
tanzleramt, Elarendon das Auswärtige. Am 6. Februar 1866 eröffnete die 
Königin das neue Parlament: vie Thronrede ftellte die Parlamentsreform alsbald 
in Ausſicht, ohne indeß eine fürmliche Bill anzulünten. Doch ſchon am 12. März 
brachte Slapftone eine ſolche ein und am 7. Mai au eine weitere für eine nene 
Bertheilung der Barlamentöfige, beides zunähft nur für England. 

Weder der eine noch der andere Entwurf ftellten ein neues Princip auf, be⸗ 
gnägten fi vielmehr, das in der erften Neformafte Adoptirte einige Schritte 
weiter zu führen: ver Genfus der ländlichen Wähler follte auf 14, derjenige ver 
ſtaͤdtiſchen auf 7 Pfd. herabgeſetzt und damit die Zahl jener um etwa 175,000, 
biefer um etwa 200,000 vermehrt, ferner den Heinen Wahlfleden 49 Sige ent- 
zogen und davon 26 ten Grafſchaften, 16 den großen Städten, 7 Schottland zu⸗ 
getheift werben. Die Tories hatten eigentlich keine Urfahe, ber Bil im Ganzen 
entgegen zu treten, ſobald -fie einer neuen PBarlamentsreform nicht überhaupt fich 
zu wiberfegen gedachten. Das aber erfannten fie für geradezu unmöglih, wenn 
ihnen auch vie Sache nicht vecht lag, weil fie ſich nicht verhehlen konnten, daß 
jede Reform faft unausweihlih zu ihrem Nachtheil ausfallen müſſe. Unter diefen 
Umftänden beſchlofſen fie jhon am 16. März in einer großen Parteiverfammlung 
einſtimmig, die Bill zwar in jedem Stadium zu befämpfen, aber unter ber aus» 


568 Nachtrag. 


drücklichen Erklaͤrung, es geſchehe nur deßhalb, weil „Leine Reformbill, welche bie 
Frage nicht vollſtändig zu löfen geeignet ſei, das Parlament befriedigen könne.“ 
Was die Menge der untergeordneten Mitglieder der Partei ſich darunter dachten, 
mag dahin geſtellt bleiben, für deu nächſten Zweck, ven Vorſchlag der Gegner zu 
Val zu bringen, mochte dieſe Taltik geeignet fein; an fi war fie eben darum 
nur um fo gefährlicher für bie fpeciellen Interefien der Partei und diejenigen, 
denen ber Megierungsentwurf nicht weit genug ging, waren bamit auch fehr zu⸗ 
frieden. Inzwiſchen erreichten die Zories ihre nächfte Abfiht nur zu gut. Schon 
ald das Haus in Committee ging, unterlag das Kabinet am 28. Mai gegenüber 
dem praftifh anerlanntermaßen nichtoſagenden, lediglich ausweichenden Üntrag, 
vor allem auf Mittel gegen Wahlbeftehungen bedacht zu fein, einer Mehrheit 
von 10 Stimmen. Die Abftimmung wurbe indeß noch nicht für entſcheidend er- 
achtet und das Haus begann die Gommitteeberathung. Nun aber unterlag das Ka⸗ 
binet nochmals am 18. Juni bei Gelegenheit einer principiellen Klaufel, die nicht 
ausdrücklich aber thatfächlich den Cenſus der ftäptifhen Wähler von 7 auf 9 Pfo. 
erhöht hätte, gegen eine Mehrheit von 11 Stimmen. Die liberale Fraktion der 
fog. Adullamiten war von ihm abgefallen und zu den Tories übergetreten. Da 
gab das Minifterium feine Entlaffung und erhielt Graf Derby den Wuftrag, 
ein neues Miniſterium zu bilden. Die unläugbare Thatfache, daß die Tories als 
folde im Unterhaufe nur über eine entſchiedene Minderheit verfügten, erregte Be- 
denfen. Allein der fehnfüchtige Wunſch der Partei, nur enblich wieder einmal 
ans Ruder zu gelangen und fich der Bortheile des Regiments in der Bergebung von 
Aemtern und Würden aud wieder einmal zu erfreuen, überwog. Am 6. Juli 
fonftituirte fi das nene Kabinet und zwar als reine Torpverwaltuug. Graf 
Derby, der weitaus angefehenfte Männ der Partei, trat an die Spige, aber 
Disraeli, der neue Schatzkanzler, war die Seele verfelben. Das Auswärtige 
wurde Lord Stanley, dem allgemein” geachteten Sohne Derby’s übertragen, 
der feinerfeit6 ganz auf die feither betretene Bahn einging, eine möglichſt reſer⸗ 
virte auswärtige Politit zu beobadhten und ſich jeder auswärtigen Bermwidelung 
fo weit nur immer möglih zu entziehen. Die inneren Fragen fanden entſchieden 
im Vordergrund. Derby und Disraeli verfannten die Schwierigleit ihrer Lage 
und bie Unficherheit ihrer Stellung im Unterhaufe, das fie aud) jettt wieder jeden 
Augenblick wie ſchon wiederholt in neuerer Zelt durch ein Mißtrauensootum zum 
Rücktritt nöthigen konnte, durchaus nicht; aber fie hatten ſich verſtändigt. In 
erfter Linie wollten fie der großen Frage der Parlamentsreform wenn möglid 
ausweichen, in zweiter aber, wenn bieß nicht möglich wäre, fle entſchloſſen in die 
Hand nehmen und Lieber ſelbſt durchführen, als ſich von ven Geguern auf- 
zwingen laffen. 

England war wieder an einem jener großen Wendepunkte feiner inneren Ent- 
widelung angelommen, wie zu den Zeiten der Katholikenemancipation, der erften 
Parlamentsreform oder der Abſchaffung der Kornzölle und Derby zufammen mit 
Disraeli waren ganz die Männer, deren die Situation beburfte. Von einer Ge- 
wandtheit ohne Rivalen im Unterhaufe, zugleich ohne tiefere Heberzeugungen und 
ben eigentliden, traditionellen Torhinterefien durch Geburt und Abftammuug Inner 
lich durchaus fremd, mochte Disraeli zunächſt nit ohne Grund hoffen, daß Ihm 
die Unterdrädung der Reformfrage gegenüber einer in ſehr verſchiedene Fraktionen 
zerfallenden Oppoſition des Unterhaufes gelingen werde; wo aber nicht, fo fehredte 
er feinerfeits vor Keiner auch noch fo eingreifenden Reform raßregel zuräd, vor⸗ 
ausgefegt nur, daß fie geeiguet jet, ihn und vie Partei an. Ruder zu erhalten. 


Großbritannien. 569 


Für diefen Fall aber durfte er hoffen, daß Derby durch das Anfehn und Ber- 
trauen, da8 er bei der Torypartei genoß, das aber ihm, Disraeli, fehlte, im 
Stande fein werde, die Partei zu jeder nothwenvigen Konceſſion zu vermögen oder 
zu fohleppen. Beide waren gleichmäßig überzeugt, daß bie Partei nur die Wahl 
habe, fih in das möglicher Weiſe Unvermeivlihe zu fhiden oder auf Jahre hin⸗ 
aus, vielleicht für immer auf bie Leitung ver öffentlichen Angelegenheiten zu ver» 
zichten. Demgemäß erflärte das Kabinet fofort in feinem Programm, das Derby 
dem Oberhaufe entwidelte, daß e8 einer Reformmaßregel principiell keineswegs ab» 
geneigt fei, aber ſich vorerft vollfommen freie Hand vorbehalten müfje. Die öffent- 
liche Meinung verftand, was die Leiter feiner Geſchicke beabfichtigten: bie Mafien 
gerietben in nnrubige Bewegung und bald trat von allen Seiten der Entſchluß 
zu Tage, ihnen durch einen energifhen Drud zu fagen, wozu fie fi ihrerfeits 
entfchliegen müßten. Die ganze zweite Hälfte des Jahres 1866 wurde durch groß» 
artige Maffendemonftrationen in Lonton und ven anderen großen Städten bes 
Landes bezeichnet, tie den ruhigen aber feften Willen gerade ber befferen Arbeiter⸗ 
offen an den Tag legten, ſich das Wahlrecht nöthigenfall® zu erzwingen und 
nicht zu ruhen, bis ſie ihr Ziel erreicht hätten. Die dur das ganze Land wohl 
organifirte Reformlige biente ihnen dazu als erprobter Stägpunft und wenn 
irgend welde Thatſachen, fo find die Erſcheinungen, welhe England von da an 
und durd das ganze Jahr 1867 hindurch darbot, geeignet, zu bemweifen, wie ent- 
ſchieden, fobald ein Voll eine gewiffe Stufe der Kultur erreiht bat, wie es jetzt 
nicht Bloß in England, fondern mehr ober weniger im ganzen mittleren und weft 
lihen Entopa der Fall if, das uneingefhränfte Verſammlungsrecht und die volle 
Preßfreiheit nit nur im Interefle des Kortfchritts Tiegen, fondern auch in bem 
einer wohlverftandenen Orbnung und einer ftätigen Entwidelung ohne Gewalt 
und ohne Sprünge. Als das Parlament am 5. Februar zur Sefflon von 1867 
zufammentrat, legte ihm Disraeli am 11. zunächſt keine Bi für eine Parla-- 
mentsreform, fondern Lediglich fehr allgemein gehaltene Reſolutionen vor. Die Re⸗ 
gierung verpflichtete fi dadurch zu nichts, die Fraktionen der Gegenpartei moch⸗ 
ten fich darüber entzweien, in jedem Fall wurde Zeit gewonnen. Die Oppofition 
ging indeß nicht in die Kalle, die im vorigen Jahr abgefullene Fraktion ver- 
einigte fich wieder mit den anderen und die Tories hatten neuerdings ein Miß- 
trauensostum zu fürdten. Das Kabinet mußte ſich entfchließen: der von Derby 
und Disraeli voransgefehene Fall war eingetreten. Sie befchloffen eine förmliche 
DIN einzubringen und zwar auf einer umfaflenden Grundlage, fo daß wenigſtens 
ein Theil der Oppofition darauf eingehen könne. Die firengeren Elemente ver Partel 
traten in Folge dieſes Entichluffes zwar aus, aber die Partei blieb beifanmen 
und folgte, wenn auch nicht ohne Wiperftreben, Derby, der ſich feinerfeits wieder 
von Disraeli leiten Tief. Am 18. Mirz legte diefer dem Unterhaufe feine Reform⸗ 
BIN vor: das fog. Hanshalts-Stimmredt lag ihr zu Grunde, wenn aud mit einer 
Reihe von Klauſeln, die dasfelbe theils weſentlich einfchränkten, theils geradezu 
tünforii machten. 

Nun war es an den liberalen Fraktionen, fi fchläffig zu machen: mit ven 
Klaufeln war der Borfchlag allerdings unannehmbar und die Wirkung eine be- 
fhränftere, als die im vorigen Jahre von Gladſtone proponirte, damals ver- 
worfene Bill, ohne fle dagegen übertraf er dieſe weit und war geeignet, ſelbſt 
die Fühnften Wunſche befonnener Reformer zu erfüllen. Sollte man die Ber- 
werfung der ganzen Vorlage anftreben und bamit bie Regierung zum Nädtritt 
nöthigen, oder fie im Amte laſſen, auf die Vorlage eingehn und lediglich darnach 





570 Nedtrag. 


fireben, bie Klauſeln zu befeitigen? Das war vie Frage. Gladſtone, andy feiner- 
feits ungebuldig, wieder ins Amt zu kommen, war für ben erfteren Weg, ein 
Theil ver Partei dagegen entſchieden für den legieren, zumal er einer allfälligen 
Parlamentsauflöfung und den Koften der Neuwahl um jeden Preis aus dem Wege 
gehen wollte, ein Umſtand, den ſich die Tories natürlicher Weiſe zu Nutze machten. 
Die Frage blieb einige Zeit in der Schwebe; ſchließlich mußte fi jedoch Glad⸗ 
ſtone fügen und am 9. April begann die Committeeberathung über die Bill, bie 
fih bis zum 9. Juli hinauszog. Das Mefultat war formell den Tories, materiell 
den Liberalen günftig: die Bill wurde angenommen, aber vie beſchränkenden Klau⸗ 
ſeln theils von jenen freiwillig fallen gelafien, theils mit Mehrheit befeitigt, 
theils wenigftens weſentlich mobifichrt und gemildert. Im Allgemeinen zeigte fi 
die liberale äffentlihe Meinung entſchieden befriedigt. Das Shaltswehlredht, 
fo wie es durch die Bill gewährt wird, iſt das allgemeine Stimmredht, fo welt 
basfelbe den engliſchen Berhältnifien und Anſchaunngen entfpricht. Das Oberhans 
machte zwar den Verſuch, Einfchräntungen durchzuſetzen, überzengte fi) aber bald, 
bag feine Stellung wicht mehr die frühere, feine Anſehn feit einem Bierteljahr- 
hundert in einem Srobe geſunken fei, wie man es faum für möglich gehalten hätte; 
feine Amendements wurden bis auf eines, das, wenigftens bis auf einen gewiflen 
Grad, auch den Minoritäten, namentlih in den großen Städten eine Vertretung 
figern fol, und daher grundfäglid allerdings fehr bedeutfam war, ſammt uud 
fonders vom Unterhaus abgelehnt und bie Peers fanden für gut, fih am 13. 
Auguſt zu fügen, obwohl Graf Derby ſelbſt erklärte, die ganze Maßregel fei eine 
Art „Sprung ins Dunkle” Am 15. Auguft wurde bie Bil von der Königin 
fawktionirt und zum Geſetz. Daneben ber lief die BIN bez. Neubertheilung der 
Parlamentsfige, über die ſich ſchließlich beide Häuſer gleihfalls einigten, die jedoch 
weit weniger durchgreifend ift, als die Wahlrechtsbill, weßhalb auch Ruſſell im 
Oberhauſe wohl nit unrichtig meinte, daß dieſe Maßregel nichts weniger als 
eine definitive fet und kaum für einige Jahre vorhalten dürfte. Beide Bills be- 
trafen, wie ſchon bemerkt, nur England; die entfpregenden Bills für Schottland 
und Irland wurden anf die Seſſion von 1868 verfhoben und find denn aud 
in diefer, im wejentlichen übereinftimment mit denen für England, ohne große 
Säwierigleiten erledigt worden. Das Parlament If am 10, November 1868 
aufgelöst worben und noch vor Ende des Monats haben bie neuen Wahlen ftatt- 
gefunden. Das Refultat ergab eine Majorität von circa 110 Stimmen für bie 
liberale Bartet umd die erfte Folge davon war, daß Disraeli ſchon am 2. December 
der Königin feine Demiſſion einreichte und diefe Auflel und Gladſtone mit ver 
Bildung eines neuen Miniſteriums beauftragt hat. Bon „Sprüngen“ ift glüdlidher 
Weiſe in England feine Mede. Aber ohne allen Zweifel weist das neue Parlament 
wiedecum eine entſchieden veränderte Phyſiognomie anf. Eine Reihe von ragen 
find in den legten Jahren angeregt und ihrer Löfung nahe gebradt werben, ohne 
daß dieſelbe indeß definitiv gelunsen wäre. Aller Borausfiht nad dürfte es jet 
damit etwas rafcher gehn, obwohl nicht zu verlennen iſt, daß England, nachdem 
es Taum eine und wahrlich feine geringe Schwierigkeit überwunden bat, ſich 
glei von vorneherein ver eine nene, noch größere geftellt ficht. 

Biele von ven Fragen, die das Parlament in den legten Jahren befhäftigt 
haben, wie die Abſchaffung des Tefteives, des Kirchenftenerzwangs, bie Berhält- 
nifle der Univerfitäten Oxford und Cambridge zc., betrafen das Verhältniß zwi⸗ 
ſchen Staat und Kirche. England iſt in ber Ofung biefer Frage entichieden hinter 
dem Kontinent zurädgeblichen, aber wenn nicht alles trügt, im Begriff, demſelben 














Grohbritannien. 571 


nunmehr um einen gewaltigen Schritt vorauszuellen. Den Anſtoß dazu gibt ihm 
der Zufland Irlands, jene ſchon Lange anf feinen Schultern, aber andy anf 
feinen Gewiflen laftende Frage. Diefer bat ihm endlih ben Fenianisſsmus 
wach gerufen, eine allgemeine Berfhwörung, vie in Irland felber im Stillen und 
Geheimen, in Amerifa laut und am hellen Taze gegen England fonfpirirt, das 
legte verzweifelte und verwerflide Mittel eines Volle, das umſouſt und lange ge- 
nug nad Gerechtigkeit verlangt hat und nun nur noch anf Rache denlt. Der Ur- 
fprung des Fenierthums iſt wohl in Amerika zu ſuchen, feine Uebertragung von 
da nah Irland machte ih ganz von ſelbſt. Kaum war bort bie Mebellion ver 
Südſtaaten im Frühjahr 1865 zu Voten geworfen, fo trat es auch alsbald fo- 
wohl in Amerila gegen Kanada als in Irland gegen die konftituirten Gewalten 
auf, hielt von da an bis heute ganz England in Spannung, fpottete unfaßbar der 
Militärmacht und des Belagerungszuftandes, der engliſchen Schiffe, welde bie 
Käfte bewachten, wie ver Aufhebung der Habeas-corpus Alte, die jeden Ber- 
dächtigen ohne lauge Umftänte der Gewalt in die Hände lieferte und übertrug 
ſich zulegt felbft in die englifhen Städte, vie eine zahlreihe iriſche Bevölkerung 
zählen, und felbft bis in die Mitte von London. 

Diefer Zuftand ift geradezu nicht länger zu ertragen: die iriſche Frage muß 
endlich gelöst werven. Aber offenbar kann fie es nit, ohne das Berhältniß der 
verſchiedenen Kirchen Irlands unter fih und zum Staate zu regeln. Die Ab⸗ 
ſchaffung der proteftantifchen iriſchen Staatskirche, deren große, faft ganz ber fatho- 
Uſchen Kirche des Landes abgenommene Reichthümer in gar keinem Berbältnig zu 
der Fleinen Zahl ihrer Bekenner ſteht, wurde daher ſchon längft ala bie erfte 
Sühne des begangenen Unrechts verlangt, aber lange als ganz und gar unmög⸗ 
lich, als etwas, woran aud nicht zu denken fei, abgelehnt. Der Antrag wurde 
indeß immer und immer wieder geftellt und in ven legten Jahren mit Immer ge- 
singeren Majoritäten verworfen. Endlich nahm ihn in der PBarlamentsfefflon von 
1868 Gladſtone, das Haupt der Oppofition, felber in die Hand. Die Noth⸗ 
wendigkeit, gegenüber Irland einen enticheivenden Schritt zu thun, die Möglich» 
keit, ihn im Unterhaufe wirklich durchzubringen, endlich bie Ausfiht, auf dieſem 
Wege die Toryregierung, der auf dieſem Gebiete aus zahlreichen, politifchen, 
kirchlichen unt perfönlihen Grünven ein Konpromiß faft unmöglich ift, zu flärgen, 
vereinigten fi, ihn zu dem weittragenden Schritte zu vermögen. Er beantragte 
eine Refolution auf Abfchaffung (disestablishment) der iriſchen Staatliche umb 
ta8 Parlament genehmigte fie troß der Oppofition der Megierung in wieberholter 
Abflimmung mit einer Mehrheit von über 60 Stimmen Darauf beaniragte er 
eine Bill, die dahin ging, die Königin zu erfuchen, fid) vorerfi und bis nad Ent 
ſcheidung ver Frage der Ausübung ihrer Prärogativen bez. Belegung iriſcher 
Kirhenpfründen zu enthalten (suspensory bill). Der Antrag wurde vom lnter- 
baufe angenommen, vom Oberhaufe dagegen (Iuli 1868) mit großer Mehrheit 
verworfen. Die Entſcheidung fällt nunmehr dem neuen Parlamente zu. Wie fie 
ausfällt, dürfte aber ſchon jetzt kaum zweifelhaft fein, wenn aud noch einige 
Jahre darüber hingehen mögen. Auch die fchließlihe Art und Weile der Maß- 
regel iſt noch ungewiß, aber wenigftens wahrſcheinlich, daß fie im Sinne einer 
vollftändigen Trennung zwiſchen Staat und Kirche erfolge und daß es auch darin 
England fein wird, das Europa vorangeht. 

So geht Großbritaunten in der Entwidelung feiner auswärtigen wie feiner 
inneren Politit ficgtlih einer neuen Periode entgegen. Die Fenier in Amerika 
träumen davon, baß bie alte Eiferſucht zwifhen den Bereinigten Staaten und 


673 Naqtrag. 


Großbritannien und der neue Groll, ven das Benehmen Englands währenn bes 
Bürgerkriegs in die Gemüther ver Amerikaner geſenkt Bat, früher ober fpäter 
zu einem Friegerifchen Zufammenftoße zwifchen beiden führen und ihrem Rachege⸗ 
fühl Senugthuung ſchaffen werde. Dieſes Gefühl widerſpricht aber dem Geiſte 
unſerer Zeit und ſeine Befriedigung liegt kaum auf dem Wege der Vorfehung. 
Mehr als ein Auzeichen beutet darauf Hin, daß der Streit vielmehr auf fried- 
lichem Wege gelöst werben wirb, daß aber allerbings ber transatlantifhen Union 
ein unbiutiger, indeß viel ebrenvollerer und vollftändigerer, freilich auch langſamer 
Triumph vorbehalten iſt, indem England almälig in bie Bahnen einlentt, die 
jene zuerft gebrochen bat. 

Und nod ein anderer wenn auch Fleinerer Erfolg feheint der Union beftimmt 
zu fein. Bon ben Kolonien Großbritanniens find biejenigen Auftraliens that- 
ahli vom Mutterlande faft ganz unabhängig, regieren ſich im weſentlichen be⸗ 
reits felbft und Hlähen mit faft wunderbarer Schnelligkeit auf. Oftindien erholt fich 
zuſehende von ven tiefen Wunden, vie ihm ver furchtbare Aufſtand des letzten 
Joehrzehends geſchlagen hat: England hat die Zügel wieder feſt ergriffen, der Mi- 
litaͤrmacht iſt es jegt ficher, die Finanzen find geordnet und das mit Energie ge⸗ 
förderte Eiſenbahnnetz gibt England erſt die volle Möglichkeit in die Hand, die 
Reichthümer des Landes nad allen Seiten zu erfchließen. Die Furcht vor einem 
Zufammenftoge mit Rußland iſt trog der Fortſchriite diefer letzteren in Zurfeflen 
und in ber Richtung gegen Perfien, aber aud gegen Afghaniſtan, in der Ießten 
Zeit doch und nicht ohne Grund fehr zurädgetreten und unter allen Umſtänden 
mod) nicht fo mahe bevorftehend. Dagegen find Kanada, und die übrigen noch im Ber 
fige Großbritanniens befindlichen norbamertlanifchen Kolonien allerbings fichtlich ge⸗ 
fährbet. In ven letzten Jahren war daher England bemüht, biefelben wenigftens 
in einen Bündel zuſammenzufaſſen, um fie fo cher geeignet zu machen, ber Union, 
bie Tängft ihre Arme nad ihnen ausſtreckt, zu wiberftehen. Im legten Jahr iſt 
ihr das denn auch bezüglich der Mehrzahl gelungen: am 30, März 1867 
haben fi beide Häufer des Barfaments über bie Bil zu Errichtung einer „Ron 
föberation der britiſchen Kolonien Rorbamerifa’g“ geeinigt und btefelbe erhielt bie 
konigliche Sanktion. Am 1. Iuli trat die neue Berfaffung bereits ins, Leben und 
übernahm Lord Mont als Generalſtatthalter die Reitung ber Bundesregierung in 
Oitawa. Aber bie nene Inftitution wird faum von langer Dauer fein. Diefe 
Kolonien find doch beftimmt, früher oder fpäter ſammt und fonders in ben Ber- 
einigten Staaten aufzugehn, vie fie feit ber Abtretung des ruffifchen Amerika be- 
reits von allen Seiten umfpannt und die ihrerfeits rubig abwartet, bis die Frage 
zur Entſcheidung reif geworden fein wird. - 

Statififher Nahtrag. Die Bevölkerung, vie 1851 noch 
27,638,423 Seelen betrug, war nad ber legten officiellen Zählung von 1866 
auf 29,935,000 S. geftiegen, wovon 21,, Mil. auf England und Wales, 
3; Mil. auf Schottland, 5,5 Mil. auf Irland trafen, beffen Bevölkerung 1841 
no 8,175,000 ©. gezählt hatte. Dazu fommen bie enropäifhen Befigungen in 
Malte, Gibraltar und Helgoland mit 165,317 S. Die überall beobachtete, alle 
bisherigen Verhältniſſe weit überfchreitende Zunahme ver Bevblkerung der Städte, 
namentlich der großen Städte, zeigt ſich natürlich umd fogar vorzugsweiſe auch 
in Großbritannien; ſo bat z. ®. London von 1851 bis 1861 um faft eine halbe 
Milton zugenommen und wirb heute auf mehr als 3 Millionen geihägt; ahn⸗ 
lies gilt von Liverpool, Mancheſter n. ſ. w. 








€ 


Großbritannien. 5738 


Die Staatsfinanzen find trog ber enormen Staatsſchuld befriedigend, 
in gewiffem Sinne geradezu blühend zu nennen. Während ver 5 Jahre von 1863 
bis 1867 zeigten die Staatseinnahmen fortwährend einen fehr erkledlichen Ueber⸗ 
ſchuß über die Ausgaben, fo daß Jahr für Jahr eine gewiſſe Anzahl läftiger Ab⸗ 
gaben theild ganz abgeſchafft, theils wenigſtens ermäßigt werben konnten, und eben 
diefe Ermäßigung führte regelmäßig wiederum eine Steigerung ver betreffenden 
Einnahme herbei. Erſt das Nechnungsjahr vom 1. April 1867 bis dahin 1868 
zeigte eine Abnahme ter Einnahmen und erregte nicht geringe Beſorgniſſe, daß 
der Nationalreichthum des Landes feinen Höhepunkt erreiht haben, und allmälig 
file ſtehen, reſp. zurüdgehen möchte. Indeß find jedenfalls weitere Ergebnifie 
abzumarten und erfcheinen jene Beſorgniſſe bis dahin noch als voreilige. Für das 
Jahr 1866 giebt eine in der jüngften Zeit erfchienene amtlide Zufammenftellung 
u. a. folgende Ziffern: Die wirklichen Einnahmen der Staatskaſſe beliefen ſich 
auf 69,, Mill. Pfo., die Ausgaben ausſchließlich jener für die Befeftigungen auf 
66,7 Mill. Unter den Staatseinnahmen fizuriren die Zölle mit einer Summe von 
22,3, die Acciſe mit 20,5, die Stempelabgaben mit 9,,, die Bermögens- und Ein- 
tommenfteuer mit 5,,, die Poftverwaltung mit 4,,, die Zaren mit 3,, Mill, Unter 
den Ausgabepoften verlangt die Civillifte und die gefammte Eivilverwaltung 10,5, 
die Landarmeee 14,,, die Flotte. 10,, Mil. Bon den Zolleinnahmen wirft vie 
beventenpftien Summen cab: der Tabak mit 6,, Mil., Zuder und Melafle 5, 
Spirituofen 4,1, There 2,5, Wein 1,, Mil. und unter der Acciſen⸗Einnahme 
fteht oben an die Abgabe für Spirttuofen mit 10,,, Malz mit 6,,, für Licenzen 
mit 2,, Mill. Unter den Stempelerträgnifien befinven fi) unter Anderem 2,, Mil. 
für Stempel bei Bermädtuifien und Erbfchaften, ferner für Urkunden u. a. In⸗ 
firumente 1,5, für Teftamentsbeftätigungen 1,5, für VBerfiherungen 1,, Mill. Bfp. 
Die Staatsfhuld iſt gegenwärtig in Folge des Krimmirieges höher als 
1853, aber der Zinsbedarf iſt relativ niebriger. Damals betrug die Geſammiſchuld 
771,335,801 Pfo., 1868 797,000,000 Bfb.; dagegen betrug ver jährliche Auf- 
wand für Verwaltung und Berzinfung der Schuld damals 27,804,844 Bfb., im 
Jahr 1867/68 wurde er auf 27,900,000 Pfd. veranfchlagt. Die ſeit 1866 be» 
liebte jährliche Abzahlung von 500,000 Pf. an der Staatsfchuln fällt nicht fehr 
ſchwer ins Gewicht und wird, wofern nicht neuerbingse und regelmäßig Einnahme» 
überfchüfie ſich ergeben, vielleicht nicht durchweg aufrecht erhalten werben Können, legt 
aber jedenfalls Zeugniß ab von der Solivität der Berwaltung der Stantufinanzen. | 
Wie fehr der allgemeine Wohlſtand in beſtändigem Steigen begriffen 
if, ergiebt ſich am deutlichſten aus ben fteigenden Größen der Einfuhr gewiffer 
Lebensmittel, die ausfchliegli für den inneren Konfum beftimmt find. So betrug 
bie Einfuhr an Butter im Iahr 1854 erft 482,514 Gtr., im 9. 1863 aber 
1,083,717 Etr.; an Käfe 1854 erſt 388,714, im 3. 1865 aber 853,277 Gtr.; 
an Giern 1854 erfi 121,946,801 Stüd, im 3. 1865 aber 364,013,040 Stück. 
Die Anftalten für das öffentlihe Unterrihtswefen find noch immer fehr 
ungenügend, aber bie Ueberzengung ift doch endlich burchgebrungen, daß dafür von 
Stantöwegen entſchieden mehr und zwar viel mehr gethan werden müfle, und 
felt ven letten Jahren ift eine Ugitation im Gange, bie zunädft die öffentliche 
Meinung bearbeitet, um im rechten Moment einen Drud auf das Parlament aus: 
guüben. Indeß iſt das allmälige und zwar fehr bedeutende Steigen der allgemeinen 
olksbildung auch währenn bes legten Jahrzehents außer allem —* Das zeigt 
ſchon die Vermehrung des Papierbedarfs, die im J. 1855 erſt 155,657,803 Pfb. 
betrug, im I. 1860 aber ſchon auf 207,821,013 Pfd. anſtieg und heute vielleicht 


574 Nachtrag. 


nahezu 250 Mil. Pfo. beträgt. Die Bermehrung des gefammten Handelsver- 
kehre iſt außer Frage: im I. 1858 betrug die Einfuhr 164,583,832 Pfv. St., 
die Ausfuhr 189,782,779 Pfd. St., tm I. 1866 dagegen bie Einfuhr 295,204,553 
und tie Ausfuhr 238,806,900 Pfr. St. — Die Steintohlenförderung tfl 
von 66,, Mill. Tonnen im I. 1856 auf 98,, Mil. im I. 1865 geftiegen. 
Untr ten Kolonien nimmt das oſtindiſche Reich felbfiverflänplih ven 
erften Rang ein nnd es erregt ein boppeltes Intereſſe, vie flatiftiihen Angaben 
von 1856/57 mit denen von 1865/66 zu vergleihen, da in ben Anfang dieſer 
zehn Jahre der große indiſche Aufftand fiel und feither für Dftinbien unzweifel- 
baft eine neue Periode begonnen bat. Nach den im Juni 1868 veröffentlichten 
officieflen Angaben berechtigt biefelbe zu den beften Hoffnungen. Die Geſammt⸗ 
fumme der öffentlichen Ausgaben des britiſchen Indiens hat fi demnach 
von 31,608,857 Pfd. St. im Finanzjahr 1856/57 auf 47,332,102 Pfd. St. 
in 1865/66 gefteigert. In 7 Jahren unter 10 ergab fi ein Deficht und bie 
Öffentliche Schuld ift von 59,461,969 auf 98,381,651 Pfo. gefttegen. Indeſſen 
fließen nun and alle Hauptquellen der Staatseinnahmen reichlicer; die Grund⸗ 
ftener von 17,722,170 Pfd. in 1859 beläuft fih auf 20,493,897 Pfd. in 1866; 
der freilich fehr bedenkliche Opiumbau erträgt flatt 5,002,400 jeßt 8,542,149 Pfo.; 
Acciſen ftatt 1,486,864 jetzt 2,612,556 Pfo.; Stempelgebühren ftatt 622,165 
jest 1,994,632 Pfo.; Tribute ftatt 504,030 jetzt 709,632 Pfd. In wie welt 
diefe höheren Zahlen ein Ergebnig vermehrten Wohlftanves, größerer Produktion, 
ansgevehnteren Konfumtionsvermögens oder aber höherer Stenerauflage und alfo 
vermehrteven Drudes find, läßt ſich freitich nicht erfehen. Wahrfcheinlih machen 
ſich beide Balteren geltend. — Die Ausgabe auf äffentlihe Arbeiten iſt von 
2,201,542 Pfr. in 1856 auf 5,360,625 Pb. in 1866 vermehrt morben. 
Die Zahl der in britiſch⸗indiſchen Häfen ein- und ausgelanfenen Schiffe betrug 
1856 41,235 mit 4,549,287 Tonnen Gehalt, 1866 aber 48,401 mit. 7,621,384 
Tonnen Gehalt. Hierunter befinden fi im letztgenaunten Iahre 36,491 Schiffe 
von Eingebornen mit 1,533,431 Tonnen Gehalt, dagegen 10,581 britifche Schiffe 
mit 5,348,840 Tonnen. Die Schiffe der Eingebornen müfjen fi wohl auf einigen 
Käftenhantel, Fiſcherei u. dgl. befhränten. Der britifhe Tonnengehalt hat fi in 
zehn Jahren mehr ale verdoppelt. — Die Einfuhr nad Indien betrug an Waaren 
1856 14,194,587 Pfd., 1866 aber 29,599,228 Pfo., die Ausfuhr 1856 
26,591,877 Pfo., 1866 67,656,495 Pfd. und kann heute wohl auf 70 Mill. 
. nd angenommen werben. — Bon ganz befonterer Wichtigkeit find für 
Indien die Eifenbahnen. Bis Ende 1866 waren 65,870,712 Pfo. auf deren Bau 
angegeben worten und waren Ende Juni 1866 3452 engl. Meilen dem Ber- 
tehr eröffnet und 10,120,190 Reifente befärbert worden. Der Megierungstelegraph 
erſtreckt ſich über 18,890 engl. Meilen. — An Truppen hatte die britiſche Re 
gierung in Indien 1856 45,522 Europäer und 232,224 Eingeborene, 1866 aber 
66,814 Enropäer und 117,095 Eingeborene. Die Abfhaffung der eingeborenen 
Truppen iſt geratezu unmöglich, aber es iſt doch bemerkenswerth, taß ihre Zahl 
nah dem Aufftand beinahe um vie Hälfte vermindert werden konnte bei einer 
Bermehrung ter enropätfchen Truppen um nicht viel mehr als ein Biertel. — 
Auch das Unterrichtsweſen hebt fih und zwar in überraſchend erfreulichem Grave. In 
tenjenigen Schulen und höheren Unterridtsanftalten, welche von ber Regierung ent- 
weder ganz erhalten over doch unterftägt werben, befanden fih im 3. 1857 nur 
190,656 Zöglinge, im I. 1866 aber 559,317. Die auf diefen Zweck verwendeten 
Staategelver betragen damals 174,357 Pfv. und betragen jet 440,038 Pin. Gt. 
& Saqultheß. 





Hardenberg. 675 


Hardenberg. 


Ueber den preußiihen Staatsmann Harbenberg mit einem runden Ur⸗ 
theil abzuſchließen iſt fehwierig, denn er war ein Anprer in verfchievenen Zeiten, 
eig Antrer in verſchiedenen Bereichen feines Thuns. Man zweifelt, ob man es 
mit derjelben Perfönlichkeit zu thun habe, vergleiht man den ritterlihen Reform⸗ 
gefeßgeber von 1810 und 1811, den Urheber ver konftitutionellen Verheigungen 
mit dem muthlefen reife, der bei der Nachricht von Kogebue’s Ermordung, wie 
von dem Wip aller Verpflichtungen erlöst, ausruft: „jegt ift eine Verfaflung un- 
möglich,” ten tapferen Gegner des Kubinetregiment3? von 1806—1807, den 
Freiherr v. Stein felber zum Minifter vorſchlägt, mit dem hilflofen Spielball der 
elenden Hoffabalen von 1816— 1822, bei deſſen Hinfcheiden ver ehemalige Freund 
und Vertraute das furchtbare Wort fhreibt: „wenn er wirklich, ernftlih und 
zum legten Male todt ift, fo gratulire ich zuerſt der preußiſchen Monarchie zu 
diefem glädlihen Ereigniß.“ Man ift vielleicht verfucht, dieſen Wandel auf die 
Rechnung ter Zeit und ihres gebietenden Einfluffes auf weiche, ſanguiniſche 
Seelen zu feßen; fo daß H. an einem einleuchtenden Beifpiele zeigte, wie eine 
gewaltige Zeit Männern, tie keineswegs heroiſche Anlagen haben, Etwas von 
ihrer Größe mitzutheilen vernag, und wie dann die Rückfluth der Ermattung, 
die der Erhebung zu folgen pflegt, folde über fich felbft binausgehobene Naturen 
auf, oder gar unter ihr urfprüngliches Maß zurädfinten läßı. Uber das wärbe 
nicht ausreichen, die Thatfachen, auf die unfer Urtheil fi gründen muß, nicht er 
ſchöpfen und nicht erflären,; denn der Unterhändler, der im Bafeler Frieden das 
Schickſal des linken Rheinufers wie eine offene Frage behandelt und dann im Frei⸗ 
beitsfriege bei allen Verträgen vie Hauptſache, die Sicherftellung der unerläß- 
lichften Bürgſchaften für Preußens Entfhäpigung und Wieverherftellung, in firäf- 
licher Achtlofigfeit verfäumt, bis er fchließlih auf dem Wiener Kongreß völlig ver- 
zweifelnd die Gnade des Viedermannes Metternich anruft, diefer Diplomat er⸗ 
regt Teinerlei Zweifel an feiner Iventität und ebenfo erkennen wir in dem Mitur⸗ 
beber des unenvlih fegensreihen preußiſchen Zollgefeges vom 26. Mai 1818, 
weiches dem größten deutihen Staate wirthſchaftliche Einheit gab, fehr wohl den 
Minifter wieder, welcher in ven ſechs Tagen vom 27. Ott. bis 2. Nov. 1810 
und am 10. Sept. 1811 eine epochemachende Ummwälzung in dem flaats- und 
volkswirthſchaftlichen Leben Preußens herbeigeführt hat. 

Mit einem Worte: H. ift fi in den beiden Hauptiphären feiner Thätigkeit, 
als Verwaltungshef und als Diplomat dieſſeits wie jenſeits der Freiheitskriege 
gleich geblieben: ver Verwaltungschef zeigt große Eigenſchaften, aufgellärte 
ſchöpferiſche Ideen und eine revolutionäre Energie, der Diplomat aber zeigt zum 
Unglüd Preußens und Deutſchlands weder einen weittragenden Blick noch eine 
fiegreihe Thatlkraft. Wir fallen den Diplomaten bier nit im Sinn ber alten 
Schule, deren Vertreter die Haugwig und Luchefini waren, und deren Reifezeug- 
niß durch Meifterfhaft im Ränkeſpiel, durch Geſchmeidigkeit und Lift erworben 
wurde — in dieſem Sinne fonnte es H. mit jedem Nebenbuhler aufnehmen 
und will man es als einen befondren Triumph gelten lafien, einen fo unter- 
geordneten Menſchen wie ven franzöſiſchen Geſandten zu Berlin, St. Marfan, am 
Borabend des Freiheitskriegs wochenlang vollftändig irre geführt zu haben, fo ift 
H. ein Verdienſt zuzuſchreiben, das fi ein Stein mit feiner fenrigen, jähen 


576 Nachtrag. 


Semütbsart kanm hätte erwerben Töunen. Unter einem Diplomaten, ber cur 
Zeit großen Stils gewachſen ift, verfiehen wir einen Dann, in dem bie Falle 
lichteit feines Boll and feines Staates gewiffermaßen Fleiſch und Blut an 
nommen bat, der das vielverfchlungene Reich der allgemeinen Intereffen mit vel 
kommener Beiftesgegenwart beherricht, mit flets wacher Spürfraft jede Gefahr a 
ferne kommen fieht, jede, aud die geringfte Schäpiyung feines Staates wie eım 
örperlihen Schmerz am eigenen Leibe empfindet und den Weg zum Biel in m 
beirrbarer Zuverſicht und unerſchütterlicher Feſtigkeit zu fchreiten weiß Gin felde 
Diplomat war H. nicht. Dazu fehlte ihm jene große Leidenſchaft, die in va 
Stein, Scharnhorſt, Blücher, Gneiſenau lebenvig war, der heilige Ernſt eier 
glühenden Seele, der weite Blid, der zähe entichloffene Wille, den kein Febliäle 
entwaffnet, jene fittlige Größe des Charakters überhaupt, vie iha 
ſelbſt feine dreifteften Lobrebner zumal in feinen legten Jahren nicht zum- 
fpreden wagen. 

- Karl Auguft, Freiherr von Hardenberg iſt am 31. Wat 1750 p 
Effeurode bei Nörten im damaligen Kurfürftentbum Hannover geboren. Sein Ge 
ſchlecht war nralt, weitverzweigt und mit Glücksgütern reich gefegnet. Den wiffen- 
ſchaftlichen Bildungsturs begann er mit fechszehn Jahren als Stubent auf ver 
Goͤttinger Hochſchule, die Laufbahn im Staatsdienſt na ganz kurzer Beichäfti- 
gung im Juſtizfache, das feinem eignen Geſtändniß zufolge „wenig Reiz für ih“ 
hatte, als Aupditor in der Kammer zu Hannover Ende 1771. Hier entfaltet er 
früh, bei großem Geſchick In der Abwicklung der Berwaltungsgefhäfte, tiefere Ein- 
fihten im Wefen und Beruf viefes Dienftzweige, als fle in den Büreaus jemer 
Tage heimifh waren. Was der junge Freiherr vom Stein im weftphälifchen 
Berwaltungsvienfte ald den Grundſchaden tes alten Syſtems erfannte, bie Un- 
freiheit des Eigenthums und der Arbeit, die Herrfhaft des me⸗ 
chaniſchen Schreiberthums, das hatte H. im hannbdver'ſchen mit nicht 
minder ſcharfem Blicke entdeckt; aud er war zu dem großen Grundfatz moberner 
Staats wirthſchaft gelangt, den Montesquieun am Kürzeften ausſprach, als er fagte: 
„Der Ertrag des Bodens hängt ab nicht von feiner Fruchtbarkeit, fondern von 
der Freih eit feiner Bebauer”, und hatte fon 1779 in einer Dentichrift vie 
beherzigenswerthen Worte nievergelegt: „Der Untertfan muß wohlbabend, nidt 
mit zu vielen widerfinnigen Wbgaben belaftet fein, um im Nothfall etwas Außer⸗ 
ordentliches zu thun. Nahrung und Gewerbe müffen durch Eigenthum uud 
perfönlihe Freiheit, und fonft auf alle Weiſe belebt werden.” 

Ende 1781 trat H. in die Dienfte des Herzogs Karl Wilhelm Ferbiuand 
von Braunſchweig, feit 1792 regierte er als preußiſcher Minifter die Fürſten⸗ 
thämer Anfpah und Bayrenth, die im Jahre vorher von dem Markgrafen 
Alexander, dem Neffen Friedrichs II. abgetreten worden waren; im März und 
April 1795 iſt er bei Abſchluß des Bafeler Friedens thätig. H. iſt ſelbſt⸗ 
verſtaͤndlich nicht verantwortlich für die gebieterifchen fachlichen Gründe, welche es 
dem morfchen preußifchen Staute von damals rein unmöglid machten, gleichzeitig 
zwei opferoolle Kriege, am Rhein und in Polen, fortzufegen, er ift folglich un- 
ſchuldig an der traurigen Nothwendigkeit, welche diefen Frieden für Preußen und 
einen beträchtlichen Theil Deutſchlands fogar als ein großes Glück erjcheinen 
ließ, aber ein günftiges Borurtheil für die Feftigkeit feiner Ueberzeugungen in 
der großen Politit Tann fein Verhalten in der Hauptfrage diefer Unterhandlungen 
nit erweden. 





Il 


Garbenberg. 877 
In einer Denkſchrift vom 13, Januar 1795 hatte er al® eine weſentliche 


aa Bedingung der Möglichkeit eines Friedensſchluſſes bezeichnet: „daß Frankreich 
ſhul den Rheinffrom nicht zur Grenze begehre,“ und als er am 18. März 
Suter desſelben Jahres in Bafel eintraf, bot er mit ver Liebenswürdigkeit eines „alt 
ft frauzöſiſchen Marquis," mie ihn Rewbel pries, felbft die Hand zu einer Klaufel, 
Erw: welche das linfe Rheinufer thatfächlih preisgah. Dem Wohlfahrtsausfhuß war 
ı ai nichts weiter abgewonnen worben, al® daß biefer wie die anderen anflößigen 
za Punkte nicht in die öffentlichen, fondern in vie geheimen Artikel verwiefen wurde, 


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Gleichwohl bezeichnete H. das ganze Bertragswert in einer Depeihe an Möllen- 
dorf vom 6, April (am Tage vorher war die Unterzeihnung geſchehen) als 
„ſicher, vortheilhaft und ehrenvoll,” und doch war, vom Scidfal ver 


: Rheingrenze abgefehen, weder eine Berftändigung mit Rußland no mit dem 
deutſchen Reiche geichehen, Vorbedingungen, vie er gleichfalls in jener Denkſchrift 


vom 13. Ian. als unerläßlih bezeichnet hatte. 

Das Berhängnig der auswärtigen Politik Preußens von ba ab bi8 zur 
Kataftrophe war jene unbeſchreibliche Schwäche, vie fih unendlich ſtark dünkte, 
jene grundſaͤtzliche Parteiloſigkeit, die es mit allen Parteien verdarb, jene unbe 
ftechliche Revlichkeit, vie Jedermann für Arglift nahm, jene Friedensliebe, die große 
Kränkungen hinnahm, bei Meinem Anlaß außer fi gerieth und fo ben Sieg 
unter den ungünftigften Berhältniffen herbeiführte. H. hatte nicht das Metall, 
um biefer Politik männliche Feftigleit zu geben, wohl aber Einfiht genug, um 
aus den Erfahrungen feiner kurzen Berwaltung des auswärtigen Amts (Ende 
1803 bis 1. April 1806) zu lernen, daß bie belichte Methode der Regierung 
aus dem Kabinet, die am Ende felbft die Kräfte eines Friedrich II. überftieg, 
unter Perfönlicleiten, wie feine beiden Nachfolger waren, zu einer volllommenen 
Lüge und in ftürmifchen Zeiten der Ruin des ganzen Staates werben mußte‘ 
Daher finden wir ihn mit Rüchel im November und December 1806 an ver 
Seite des Freiherrn vom Stein, ba biefer unter Ablehnung des ihm ange- 
tragenen Minifterpoftens mit der folgen Aufrichtigkeit, die in feiner Natur Iag 
und bie bier aus tem grenzenlojen Unglüd der Monardie eine doppelte Berech⸗ 
tigung f&höpfte, zur Heilung tes „an Haupt und Gliedern tobtlranten Staates" 
die fofortige Abſchaffung des geheimen Kabinets der unverantwortlichen 
Schreiber und Wieverberftellung te Staatsrathes ter verantwortlihen Di- 
nifter forderte. In einer erläuternden Zufchrift ſprach H. gerabezu aus, das Bolt 
glaube, der König werde von feinen Kabinetsräthen beherrſcht und traf babei 
dur einen wohlberechneten Dieb deſſen empfinblihfte Stelle. Denn Friedrich 
Wilhelm III. fand wie alle Unfelbftändigen nichts unerträglider als tie Erinne⸗ 
rung daran, daß er von feinen Rathgebern abhängig fel, und daß biefe Abhängig- 
feit in allen großen Dingen burd Nichts gemildert werde, als durch geſchickte 
Nachgiebigkeit der Werkzeuge gegen bie Launen ihres Gebieters in kleineren 
Tragen. 

DB etannt if, wie ungnäbig der König viefe Vorſtellungen aufnahm, wie Stein 
als ein „widerfpenftiger, trogiger, Hartnädiger und ungehorfamer Staatsdiener“ 
entlaflen wurde und wie H. glei ihm im tiefer Zurüdgezogenheit wartete, bis 
mit dem Zilfiter Frieden das Maß des Unglüäds voll war, aber num aud der 
Wille zum Beflern endlich erwachte. Beide Staatsmänner beſchäftigten ſich während 
ihrer Muße mit Entwürfen über den Neubau des in Trümmern liegenden Staates, 
Der Erftere legte fie in der berühmten Naflauer Denkſchrift, der Letztere in einem 
umfaflenden Manuffript nieder, welches er in denſelben Tagen des Sept. 1807 

Bluntfgli und Brater, Deutſchet Staate⸗Wörterbuch. Xi. 87 


678 Nachtrag. 


vollendete, da Stein vom Kraukenlager hinweg auf den einſtimmigen Ruf ſeiner 
Freunde wie feiner früberen Gegner, nad Memel eilte, nm die Leitung bes tief 
zerrätteten Staates zu übernehmen. Die H.'ſche Denkſchrift ift bis jegt nur durch 
auszugsweiſe Mittheilungen (die reichhaltigften f. bei Bach, Th. G. v. Hippel, 
Breslau 1863, S. 101 ff.) befannt und muß beſonders berüdfichtigt werben, 
einmal, weil fie die leitenden Gedanken ausfpricht, nach welchen der Staatskanzler 
1810 und 1811 verfuhr und fodann weil fie über deſſen nicht immer richtig auf 
gefaßtes Verhältniß gu den Ste in'ſchen Ideen die befte Auskunft ertheilt. 

Was den letzteren Punkt angeht, fo tft e8 überraſchend, wie zwei fo verſchieden 
angelegte Geifter unabhängig von einander In venfelben weſentlichen Grgebniffen 
zufammentreffen; wir finden beim Einen wie beim Andern biefelbe ehrliche Ab⸗ 
neigung gegen bie Fremdherrſchaft eines Dienftadeld der Schreibftube, basjelbe 
Bertrauen auf ven Reichthum und bie Geſundheit der Bollsfraft, wenn fle nur 
aus ihrer tauſendfachen Gebundenheit erlöst wird, biefelbe Ueberzeugung, daß 
gerade die Wirrniffe eines peinvollen Uebergangszuſtandes zu radikalen Reformen 
auffordern und von kümmerlichem Flickwerk abmahnen müffen; aber dabei ift 9. 
ein Schäler der Iveen von 1789, die Stein haft, wie Alles, was franzöſiſch iR 
und „revolutionären Beigeſchmack Hat; dabei glaubt Iener feines Werts größere 
Hälfte vollbracht, wenn er auf dem unblutigen Wege des Geſetzes und ber Ber- 
ordnung zerflört, was dort unter Blut und Thränen eingeriffen worben ff, 
während diefer in den Zuftänven, bie er bekämpft, gewiffermaßen Trübungen und 
Faͤlſchungen des ur germaniſchen Staatsgedankens fieht, deſſen Blüthe er in 
dem engliſchen Selfgovernment erhalten findet und deſſen Rettung er als eine 
durch und durch konſervative Aufgabe ber ſchaffend en Staatskunſt betrachtet. 
Iſt H. mit einer gewiſſen Luſt beflifſen, die widerſinnigen Schranken von Staud 
zu Stand aufzuheben, fo verleugnet Stein, obgleich auch fein Beginnen thatfäd- 
U nicht minder umwälzeriſch ift, nirgend eine anfrichtige Pietät für das, was 
ihm in den alten Geſellſchaftsunterſchieden urfpränglich und natürlich fcheint, und 
biefer Zug nimmt mit dem vorrüdenden Lebensalter mehr und mehr eine Schärfe 
an, bie uns hie und da an den größten Seiten feiner ſtaatsmänniſchen Bergangen- 
beit faft irre werben läßt. 

Die Ansgangspımlte beider find mithin grundverfchieben, Taufen ihre Bahnen 
trotzdem In nahezn übereinftimmenven Folgeſätzen ans, fo beweist das nur für 
die Thatſache, wie tief ihre Ideen in der Natur der Sache nnd dem Charalter 
ber Lage begründet waren; ein Streit aber über das gelftige Eigenthum am 
biefen Entwürfen konnte nur zu einer Zeit entftehen, wo man bloß die gemein 
famen Ergsbnifie kannte, und iſt vollkommen gegenſtandlos für uns, bie wir aud 
bie Ausgangspunkte kennen. Nach jener Denkſchrift vom Sept. 1807 iſt 9. 
leitender Gedanke: vie franzöfifche Armee iſt unbeflegbar, fo Tange ihr Gegner 
nicht ehrlichen Frieden ſchließt mit den bewaffneten Ideen, weldhe das innere Ue 
bergewicht derfelben ausmaden. „Die franzöfifhe Revolution, von ber bie gegen- 
wärtigen Kriege die Fortfegung find, gab den Franzoſen unter Blutvergießen 
und Stürmen einen ganz neuen Schwung. Alle ſchlafenden Kräfte wurden ge» 
wedt, das Elende und Schwache, veraltete Vorurtheile und Gebrechen wurben zer 
flört, die Benachbarten und Ueberwundenen wurden mit dem Strome fortgeriffen.® 
Es if ein Wahn, viefem Anfturm mit zähem Feſthalten am Alten begegnen zu 
wollen, damit vermehrt man nur bie Kraft und Wucht besfelben. „Die Kraft der 
nenen Grunbfäge iſt fo groß, daß der Staat, der fie nit annimmt, entweber 
feinem Untergang ober ihrer erzwungenen Annahme entgegenfehen muß." Darum 


Hardenberg. 679 


lieber gutwillig fi ihnen unterwerfen, folange es Zeit tft und bie Zelt iſt ba, 
„ruhig in ven Weltplan ver Borjehung hineinzuarbeiten”: „eine Revolution 
im guten Sinn, gerabes Wegs hinführend zu dem großen Zweck ver Vered⸗ 
lung der Menfchheit durch Weisheit der Regierung und nicht durch gewaltfame 
Impulfion von Innen und Außen, das tft unfer Ziel, unfer leitendes Princip. 
Demokratiſche Grundſätze in einer monarhifhen Regierungs- 
form, bies fcheint mir die angemeflene Form für den gegenwärtigen Zeitgeiſt.“ 

Um 7. Jult 1810 war H. Staatslanzler geworven. Napoleon ließ feine Er- 
nennung zu, weil ihm Hoffnung gemacht worden war, H. werbe Preußen zah⸗ 
Imgsfähiger machen, und der König griff um fo lieber auf ihn zurüd, ale 9. 
die Geldnoth mit anderen Mitteln zu heben verfprah, als das Minifterium 
Ültenftein, welches in feiner Rathloſigkeit die Abtretung Schleftens an Napoleon 
vorgeſchlagen. H. theilte mit dem geächteten Stein die großartig ſtaatsmänniſche 
Auffaffung, dag die Noth des Staates nur zu heben ſei durch Reformen, 
welche die Noth des Volks zu heilen vermöhten; daß man im Drang bes 
Augenblide fih nicht mit fümmerlichen VBeflerungen von Heut auf Morgen be- 
helfen, fonbern zu einem fcharfen Schnitt fi) entfchließen müſſe, ungejchredt durch 
ben Schmerzensfchrei der zunächſt Betroffenen. „Das Bedürfniß ver Reform, 
fagt H., iſt nie größer, der Wunfh der Nation nie dringender, der Augenblick 
nie gänftiger gewefen”. H. betrachtete fi gewiffermaßen als den Teftamentsvoll- 
Rreder des Freiherrn vom Stein, mit dem er in aller Stille geheime Zufammen- 
fünfe hatte; felne brei mwichtigften Ziele waren: Vollendung ber begonnenen 
Entlaftung des Eigentbums und ber Arbeit, gründlide Stener> 
reform und Stiftung einer Nationalvertretung. In den beiden erfteren 
Beziehungen ging er alsbald entſchloſſen vor, indem er allen Schwierigkeiten muthig 
die Stirn bot, aber er verfäumte, ſich dieſe Hemmnifje wefentlih zu verminbern 
durch fofortige Alltanz mit dem reformbebürftigen Theil des Volks, ver in einer 
wirklichen Rationalvertretung feine gewichtige Stimme zu Gunſten ver 
beabficätigten oder getroffenen Maßregeln erhoben und ein mächtiges Bollwer! 
gegen ven Widerſpruch der Iunfer gebildet haben würde. Was ohne dieſe Unter» 
ſtützung erfolgte, konnte mit Grund als revolutionärer Abfolutismus angefchuldigt 
werden, wie das denn auch in vollem Maß geichehen iſt, und ver Nothbehelf ver 
Rotahbelnverfammlung im Febr. 1811 hatte das Schidfal aller Nothbehelfe in 
ernfter Zeit; er gewährte bie Hilfe nicht, die man fuchte, organifirte vielmehr eben 
den Wiverfland, den man wenn nicht verhüten, fo doch entwaffnen wollte. 

Einer Erklärung vom 27. Okt., welche dem Lande anfünbigte, daß zur Til⸗ 
gung ber zweiten Hälfte der an Frankreich ſchuldigen Kriegäfteuer neue Auflagen, 
aber auch bie Beſeitigung alter Mißſtände, insbefondere der Steuerprivilegien un« 
- amgänglid ſeien, folgte Schlag auf Schlag in den nädften 6 Tagen eine Ber- 
ordnung nad der andern, um die Zahlungsfähigkeit der Nation zu erhöhen und 
für die unerläßlihen Opfer durch heilfame Reformen zu entſchädigen. 

Die vier Berorbnungen vom 28. Oft. führten eine einftweilige Bedarfs⸗ und 
Aufwandsftener ein, hoben die Borfpannspflicht der Landleute gegen reiſende Be⸗ 
amte auf, befeitigten die Zwangs⸗ und Bannrechte der Mühlen, Brauereien 
und Branntweinbrennereien und fegten eine neue Mühlenorbnung fe. Am 30. 
Okt. wurde die Verpflichtung, in Frievenszeiten dem Heer Futter und Brod zu 
liefern, abgefchafft, und das Vermögen fämmtlicher Klöfter, Stifter und Balleien, 
mit Ausnahme der der Krankenpflege und der Jugenderziehung gewidmeten, einge 
zogen. Der 2. Nov. endlich brachte eine allgemeine Gewerbeorpnung, welde allem 


37 + 


580 Nachtrag. 


Zunft˖ und Innungsweſen eine Ende machte, die Beſchränkung der Gewerbe auf 
die Stäbte befeitigte und den Betrieb jeves Gewerbes gegen Zahlung einer ber 
fimmten Stener freiftellte. Mit dieſen Nenordnungen war eine förmlidde Revo⸗ 
Iution ausgefprohen; daß bier in 6 Tagen auf dem frieblichen Wege einfacher 
Negierungsedikte bewerfftelligt werben fonnte, was in Frankreich eine Blutige 
Revolution geloftet, das bewies ſchlagend genug, wie tief diefe Ideen jetzt bereits 
in die Geſellſchaft eingebrungen waren, und wie richtig H. vorausgeſetzt, der 
Boden fei reif zur Aufnahme dieſer Sant. 

Die Einleitung zu einem Edikt vom 7. Sept. 1811, welches mancdherlei 
bei Einführung der Gewerbefreiheit fühlbar gewordene Uebelſtände heben folkte, 
ſprach noch einmal entſchieden als die allgemeinen Geſichtspunkte ver Geſetzgebung 
aus: „Gleichheit vor dem Geſetz, Eigentyum des Grund und Bodens, freie Be 
nugung uud Verfügung über denſelben, Oewerbefreipeit, Aufhören ter Smang- 
und Banngerechtigleiten und Monopole, Zragung der Wbgaben nad gleichen 
Grundfägen für Jedermann, Vereinfachung verfelben und Ihrer Erhebung.” Die 
Monate September und November 1811 brachten Ergänzungen biefes Syſtems 
von entfcheidender Wichtigkeit. Ein Edikt vom 14. Sept. ermöglichte bie Ber- 
wandlung erblider und nidterblider Banergüter in freies Eigenthbum 
gegen Abtretung ber Hälfte beziehungsweiſe eines Drittels der Ländereien an ben 
Gutsherrn, ein zweites vom felben Tage ſetzte feſt, daß jeder Eigenthümer fein 
Gut oder feinen Hof durch Anlauf oder Verlauf, oder fonft auf rechtliche Weiſe 
vergrößern oder verkleinern fünne, am 8. Nov. erfchien eine Geſindeord⸗ 
nung, melde das rechtliche Verhältniß der Dienfiboten zur Herrfhaft nad dem 
Begriff des Bertrages regelte und am 20. Nov. wurde eine Abänderung ber 
Stempelfäge verfügt. 

Sociale Reformen treffen ift gefährlich, denn fle ſchneiden in das Eigenthum 
ein, das empfindlichfte unter allen wohlerworbenen Rechten; aber ſociale Refor- 
men, die nothwendig geworben find, nicht treffen, ift bei Weitem gefährlicher, 
denn es heißt die fürdterlihfte von allen Revolutionen, die foctale, heraus⸗ 
fordern. Dies legtere muß die maßgebende Erwägung eines reformirenden Staats: 
mannes fein, der, ven Blick auf das große Ganze gerichtet, fein Ohr haben darf 
für den Nothruf der Einzelnen, denen die zur ©enefung der Geſellſchaft unerläß- 
liche Operation jhwere und ſchmerzliche Opfer auferlegt. H.'s Feftigleit verbient 
um fo größeres Lob, je einſamer ed allmälig um ihn wurde, je mehr, unter 
wachſender Verſtimmung in den benadhtheiligten Kreifen, felbft Gefinnungsgenoffen 
fih von ihm zurädzogen und ihm die fo nöthige Unterftlügung verfagten. Einen 
großen Theil ver Schuld an dieſem üblen Lauf der Dinge trug allervings 9. 
jelbft, weil er, wie ſchon bemerkt, den verhängnißvollen Fehler beging, nicht fe 
gleih den Verfaſſungsſtaat wenigftens im Grundſatz unanfehtbar hinzu⸗ 
ftellen und fo verfäumte, den ausnahmsmeifen Maßregeln rettender Staatölunft 
die Sanftion des nationalen Willens zu fihern. In einer aus freier Wahl ber- 
vorgegangenen Nationalvertretung, wie fle das Teflament des Freiherrn vom Stein 
mit den Beiſatze verlangt Hatte, daß Wohl und Wehe des Staates von ihrer 
Berufung abhange, wären die Nitterbürtigen nicht Märtyrer des „guten, alten 
Rechts" , fondern Wortführer einer Minterheit gewefen, welche dur das Votum 
eines Organs freier Geſetzlichkeit zwedmäßiger und fiherer zum Schweigen ge 
bracht wurte, als durch Kubinetsorbres, die kein Echo im Volle fanden, wohl 
aber tie Ifolirung des Syſtems veutlih fund gaben. Die ganze Folgenſchwere 
biefer Unterlaffungsfünde offenbarte ſich freilich erſt nad Wblauf des Feldzuge 





Hardenberg. 581 


von 1815, als der bamals unterlegenen Partei gelang, eine Realtion ber- 
beizuführen, der e8 zwar nicht möglich wurbe, alle Schöpfungen ber „Segensjahre 
des Unglüds" wieder zu entwurzeln, wohl aber die Krönung bes Gebändes zum 
unermeßlihen Schaben des preußifhen Staates und der deutfchen Nation über 
ein volles Menſchenalter hinzuhalten. 

Auf die geharnifchten Vorſtellungen der Ritterbürtigen vom Februar 1811, 
welche verhätet wifien wollten, daß „das alte ehrliche Brandenburgiſche Preußen 
ein neumodiſcher Judenſtaat“ werde, und „in bie Reihe der nengefchnitten, 
form- und bobenlofen Staaten binabfinte, die nur Armee und Polizet, und 
wohl eine Gegenwart, aber keine Vergangenheit und keine Zukunft haben,“ genügte 
damals noch die Antwort des Stantölanzlers, daß e8 ein Frevel fei zu benfen, 
er werde fein Syftem ändern und eine entfchievene Regung der Heiterkeit wirb 
er kaum unterbrüdt haben, als er In dem Schreiben der Grafen an biefelbe 
Adreffe die Worte las: „die Urheber folher Ideen, wie Freizügigkeit der Dienftlente, 
Ertheilung von Eigenthum an biefelben auf Koften der Nittergutsbefiger find 
Catilinas, die den König und ben Übel ermorden wollen, ber König muß bie 
Bürger und Bauern, melde den Staat umflürzen wollen, burd den hohen Adel 
in Ordnung bringen laffen, und zu dem Zweck deſſen fämmtlihe Real- und Pers 
fonalprivilegien,, jo wie das ausſchließliche Recht auf Stantsämter beftätigen und 
erhalten.” Allein mit einem beträchtlichen Theil dieſer Gefinnungen ift vier Jahre 
nachher bittrer Ernft gemacht worden, und als diefe Zeit kam, ba fehlte H. nicht 
bloß die Waffe, die ihm durch eine rechtzeitige Gründung der Volksvertretung 
gewährt worden wäre, es fehlte aud der. drückende Nothſtand, mit deſſen Hilfe 
er 1810 und 1811 den König gegen deſſen innere Neigung in die Bahn ber 
Reformen hinein gebrängt Hatte, und H. war in feiner Verlafienheit ſchwach ge= 
ang, fich dem Minifterpoften zu Liebe zur Berleugnung feiner eigenen Bergangen- 
beit mißbrauchen zu lafien. — 

Mit dem Jahre 1813 wuchſen ver äußeren Politik des preußifhen Staates 
- zwei Aufgaben zu, von benen vie eine für die nächſte, die andere für bie fernere 
und fernfte Zukunft des Staates von entfcheltender Wichtigkeit war. Es galt 
einmal, ehe der Bruch mit Napoleon entſchieden war — man weiß wie fchwer 
es dem König geworben ift, ſich von feinem mißtrauifhen Peſſimismus loszu⸗ 
reißen — die franzöftfhe Diplomatie irre zu führen und fiher zu machen, bie 
der letzte Schleier fiel, und fobann in ven Berträgen, aus welden allmälig bie 
Koalition Europas gegen Napoleon hervorging, gleih von vorne herein dem 
preußifehen Staate biejenigen Bürgfchaften feiner Wieverherftellung und Entſchä⸗ 
bigung gewährleiften zu laſſen, bie ber Größe und Tüchtigkeit feines Heeres und 
den beifpiellofen Opfern feiner von ber evelften Begeifterung fortgerifienen Be⸗ 
völferung entfprachen. Iene erfte Aufgabe war mit einem mäßigen Aufwand ber 
bekannten, feit Haugwig und Luccheſini der preußiſchen Diplomatie volllommen 
geläufigen Künfte zu erzielen; die Intrigue gelang denn auch vollfländig von ber 
Berleugnung Yords bis zur Flucht des Königs und den Edikten vom 9. und 
18. Februar: In denfelben Tagen da ber BVicelönig Eugen nad Paris ſchrieb: 
Pincendie est prôt & éclater, batte St. Marſan feine Beforgniffe wieder von 9. 
beſchwichtigen laſſen und fuhr fort, feiner Regierung zu betheuern, „wenn man 
nur Etwas für Preußen thue, fo werde es ber treufte Bunbesgenofie Frank⸗ 
reichs bleiben.’ Die zweite der genannten Aufgaben erforberte auch nicht ſowohl 
ungewöhnliche diplomatifche Talente, als vielmehr ven einfachen Inftinft eines ge» 
fanden Stantsegoismus, ber mit ber Zähigkelt des Geſchäftsmannes kein Opfer 


582 Nachtrag. 


bringt, ehe er das Fauſtpfand eines zum mindeſten verbrieften Erſatzes in Händen 
bat. Aber feltfam! Die opferfreudige Hingabe des preußiſchen Volls gab feiner 
Diplomatie ein ſchlimmes Beiipiel. Wie jenes In einem Enthuſiasmus ohne Glei⸗ 
hen fein Ein und Alles in die Schanze flug für die Befreiung Deutſchlands 
und Europas, fo glänzte dieſe durch eine Opferwilligkeit und Entfagung, bie bis 
hart an bie Grenze fahrläfftigen Selbftmorbs ftreifte. 

Die Tehler, die fogleih in dem Kalifcher Vertrag am 28. Febr. gemacht 
wurben, kaun man ber Haft zu Gute halten, mit der man fidh beeilte, die Grund⸗ 
legung bes Bündniffes wider Napoleon unter Dad zu Bringen, obgleich wir jetzt 
durch die Aufſchlüſſe Aegidis über vie Sendung Kneſebecks in das rufſiſche Lager 
wiffen, daß biefer trene Patriot ſchon damals das Nichtige gefehen und für fehr 
wohl erreihbar gehalten hat. Aber daß H. ſtandhaft fortfuhr, immer nur als 
Bertreter einer Macht zu unterhanveln, vie neben 160,000 Ruflen nur 80,000 
Preußen ftelle, währen thatfächlid das Berhältniß völlig anders war, und dadurch 
ben Staat, der bie Seele des ganzen Kriegs war, überall als den allein hilfsbedürftigen 
Schütling betrachten zu laſſen, daß er fi Rußland und England gegenüber ſtets mit dem 
ganz unbeftimmt laufenden Wechfel auf Wiederherſtellung Preußens nah Maßgabe 
ber „‚ftatiftifchen, geographifchen und finanziellen Berhältniffe von 1806” begmügte, 
während er das Seinige redlich dazu beitrug, den Kreis der Entſchädigungsmaſſe, 
ſelbſt durch Aufopferung ehemaliger preußifcher Beflgungen, wie Warſchau, Oftfries- 
land, Hildesheim, Anfpah und Balreuth fort und fort zu vermindern — das war 
unverantwortlid und unentſchuldbar. Wenn Gneiſenau fi darein fand, daß bie 
Schlacht an der wüthenden Neiffe den ruſſiſchen Bunbesgenofien zu Liebe die Schlacht 
an der Katzbach getauft wurde, und babei fagte: „uns die wir fo lange unglädlid 
waren, ziemt Beſcheidenheit“ — fo gab er eine fchöne Probe des hochherzigen 
Evelfinns, mit dem dies preußifhe Voll in den heiligen Krieg gezogen iſt, aber 
von der felbftmörberifchen Beſcheidenheit einer Staatskunſt, die mit der Feder ver- 
darb, was ber Heldenmuth der Krieger errungen, kann ein Gleiches nicht ge⸗ 
fagt werben. 

Der vornehme Leihtfinn, mit welchem H. zu Reichenbach, Teplig und Paris 
nachgab, wo er trogen, und ſchwieg, wo er laut reden mußte, trug hauptſächlich 
die Schuld, wenn Preußen die einzige der verbändeten Mäcte war, welche bei 
Zufammentritt des Kongrefies für alle Opfer und Anftrengungen Nichts gewonnen, 
viel verloren und Alles zu verlangen hatte. „Es ift leicht Miniſter zu fein, wenn 
man Alles bewilligt“ , rief Frievrih Wilhelm feinem zerknirſchten Staatskanzler 
zu, als die ſächſiſche Frage einen fo üblen Verlauf genommen. Die Gefchichte 
piefer Angelegenheit bewies nur, was ein fchärferer Blid als der H.'s hätte vor⸗ 
ausſehen müflen; was man verfänmt hatte zu einer Zeit, da Preußen unent» 
behrlhich war, konnte man nicht wieder gut zu machen hoffen, wenn der Drang 
der Roth aufgehört hatte, und Preußen anfing eben denen, die es gerettet, ein 
Segenftand des Hafles, der Furcht und Allen, auch Rußland, eine Berlegenbeit 
zu fein. Jener fußfällige Brief, in welhem fi H. an ven „thenren Fürſten“ 
Metternich wendet mit der flehentlihen Bitte: „Retten Sie Preußen aus feinem 
gegenwärtigen Zuftande! Es kann nicht aus tiefem ſchrecklichen Kampfe, worin 
es fo große und edle Unftrengungen gemacht hat, ganz allein in einem beſchämen⸗ 
den Zuſtande der Schwäche hervorgehen und zufehen, wie fih Alle vergrößern, 
abrunden, Sicherheit gewinnen, und zwar größtentbeild durch feine Anftrengungen‘' 
— diefer Brief, worin er Kaiſer Franz als den erhabenen Monarchen be- 
ſchwört, „ver die Geradheit, die Anfrichtigkeit, die Gerechtigkeit ſelbſt“ ſei, iſt in 








Hardenberg. 583 


feiner Arglofigleit eine furchtbare Selbftanklage, beun eben vie, von melden ex 
bie Rettung Preußens erflehen möchte, eben vie hatten Preußen verrathen. Statt 
bes ungetheilten Sachſens erhielt Preußen die „Wacht am Rhein“ und fein König 
erflärte,, „nur zum Zwecke ver Bertheidigung Deutſchlande“ nehme er vie Ent⸗ 
ſchädigung an. Die Diplomaten, Metternid und Zalleyrand voran, triumpkirten: 
ein Hauptftreich gegen den läfligen Emporlömmling, glaubten fie, ſei ihnen gelu 

Die Partei der neuen Rheinbündler in Württemberg wußte das beſſer. Das 
„Maunitiipt aus Süddeutſchland“ (1820) warf Talleyrand Hochverrath an 
Frankreich und am „reinen Deutfehland‘ vor, weil er die Verwandlung bes Könige 
von Sachſen in einen König der Rheinlande bintertrieben, und fo fein Vaterland 
um einen unfhägbaren Alliirten gebracht habel 

Das Schidfal der deutſchen Berfaffungsfrage war ſchon ˖ durch die Verträge 
zu Teplig, Ried und Fulda fo gut wie entſchieden, ehe der Wiener Kongreß fi 
damit beichäftigen konnte, Die ind6pendance entidre et absolue, welde dort ben 
Nheinbundeſtaaten, entgegen den Kaliſcher Plänen, auf Defterreihs Betreiben zu⸗ 
gefichert wurde, vertrug fich nicht mit den Opfern an Souveränetät, welche bes 
„Bunbesftaat” der Einheitsmänner nachträglid von ihnen fordern wollte. Die 
Berhanvlungen des Kongrefies über die von Stein, Harbenberg, W. v. Hum⸗ 
boldt ausgenrbeitelen Entwürfe waren nichts als ganz mißlungene Verſuche, der 
vertragsmäßig zugeficherteu Souveränetät ber Mittels und Kleiuftanten allerlei Zus 
geftäutniffe an die Einheit der Ration und bie freiheit der Unterthanen abzu⸗ 
handeln: Im Ergebniß hatte es doc mit jenem „auögebehnten Syſtem von Ber⸗ 

en und Allianzen‘ fein Bewenden, auf welches Metternih von Anfang am 
hingenrbeitet. Auch bier Hatte fih die Bahrläffigleit H.'s bitter gerächt, ver 
ahnungslos die Verhandlungen mit Süddeutſchland Defterreih allein überließ und 
wahträglich wieder nehmen wollte, was er nie hätte zugeftehen bürfen, unb fon» 
derbar war an der ganzen Sache nur bies, daß der Staat, welcher zu Wien am 
Eifrigſten auf Eonftitutionellen Zugeftänpniffen in ber Bundesakte beftand, fid 
nachher in der Gewährung des ausdrücklich Verheißenen durch die fübbentf 
Staaten weit überholen ließ, die dort Nichts verheißen und jeben Drud ber 
als einen Eingriff in ihre Souveränetät mit Enträftung von fidh gewieſen. 

Das Einzige, was Preußen in den näcften Jahren that, um wie Niebuhr 
fi ansprüdte, jeden Deutfchen bedauern zu laflen, daß er nicht in Preußen ge= 
boren ſei, war das Zollgefeg vom 26. Mai 1818, welches zum Kruftallifationg- 
Bern des fpäteren deutſchen Zollvereins geworben iſt. Diefes Geſetz war eine groß» 
artige Maßregel, würdig der Reformen von 1810 und 1811. In England wurbe 
der Örundgebanle ber Sandelsfreibeit ‚ der fi bier zuerft in einem bisher nicht 
erlebten Maße ausſprach, mit unverhohlenem Beifall begrüßt; in Deutſchland 
antwortete dem Geſetze ein verzweifelter Nothſchrei des nicht preußiichen Danbels- 
und Gewerbftandes, denn biefem warb durch die preußiſche Bollinie, die nad 
Innen fo viel Segen verbreitete, der preußiſche Markt verfchloflen. Die Yürften 
und bie Völker gerietben in Bewegung und biefe legte ſich bekanntlich erft, ale 
nach vielen mißlungeuen Notbbehelfen ganz Deutſchland fih mit dem verhaßten 
preußiſchen Syſtem vereinigte, und fo dieſes letztere in MDeutfchland aufge 


gangen war. 

H. erlebte nicht einmal mehr die Anfänge dieſer Siege feines Geſetzes. Da» 
gegen ließ er fich nicht nehmen, alle Niederlagen ver deutſchen Bolitit Preußens 
Bis zu feinem Tode redlich mitzumachen. Die Karlsbader Beſchlüſſe, welche W. v. 
Humboldt, mit Grolmann, Bohen, zur Kabinetsfrage machte, weil ex fie „ſchänd⸗ 


584 Nadirag. 


li unnational, ein denkendes Bolt aufregend“ fand, rährten ihn nicht, ex harrte 
ans auf dem Poften eines Schleppträgers der Metternich'ſchen Politik, fehlte auf 
teinem der Kongrefie von Troppau, Laibach, Berona und ftarb auf der Rücreiſe 
von dem zuleßtgenaunten, am 26. November 1822. 

Literatur: Klofe, Leben des Fürften v. Harbenberg, Halle 1851. 
Womit die größeren Werke namentlich über das Zeitalter der Freiheitskriege von 
Berg, Häufier, Forſter u. ſ. w. zu vergleiden. 


Königreich Stalien.*) 


I. Land und Bolt. Nückblick auf die ältere Gefchichte. 

Unfer großer Geograph Nitter faßt die Lage Europa’s in ber Mitte der 
fontinentalen Landwelt, zwifchen Afien⸗Afrika und Nordamerika, al8 vie Bafis des 
Charakters und der Geſchichte der enropätfchen Bölker auf. Während nur der Norb- 
often Europa's mit der großen Landmaſſe zufanmenbängt, ift auch fein Weftmeer 
feine für die Schiffahrt ſchwer zu überwältigende Muft. „Darum, fagt er, kann 
der Europäer an feinen Rebenländern nit ohne Kontaft vorübergehen.” Ebenfo 
ft auch Italten ein Europa im Kleinen, ein Fokus, in welchem bie Gegengeflabe, 
theils nähere, theils entferntere, ihre Ratur- und Kulturträfte fammeln. Die centrale 
Weltſtellung Europa’s bat fich erft in ven legten brei bis vier Jahrhunderten ge= 
waltig geltend gemacht. Diefelbe Stelle, welde ſeitdem Europa im Erbganzen ein⸗ 
nimmt, behauptete Italten in ter alten Welt und im Mittelalter, als bie mittlere 
von ben drei fürlihen Halkinfeln, welhe aus dem Stamme Europa's heraus⸗ 
wadjen. 

Das Mittelmeer war der bie cioilifirte Menſchheit verbindende Ocean wäh- 
rend dreier Iahrtaufende. Was die Meerenge von Gibraltar, mas ter Kanal von 
Calais und vie Sunde für Europa find, das waren für bie alte Welt die Meer- 
enge von Meffina, ter Hellefpont, vie Meerenge von Konftantinepel nebft der 
Strafe von Kertſch. Das Mittelmeer mit feinen Filialmeeren bält in runden 
Summen 40,000 Quabdratmeilen, wovon bie Woria 1/,, das Schwarze Meer 1/, 
ansmacht. Es erfchwert nur im Aſowſchen Meer dur Unttefen die Schiffahrt, 
während die Meerestiefe bei Genna 886, bei Nizza 1800 Fuß beträgt. Die Süb- 
wefifüfte von Italien hat auch vie ungleich größere Meerettiefe vor der Nordoſt⸗ 
füfte voraus. Die feichtefte Tiefe bat das chere abriatifhe Meer, zumal unweit 
der Pomünbung; aber fein tiefer Einfehnitt in das Yand war Urſache, daß ſchon 
vor mehr als zweitaufend Jahren bier beventende Handelsplätze waren, Atria 
und Aquileja, bis fi Inmitten derſelben Venedig hob. 

Ueberſchauen wir nun nochmals bie Stellung Italiens, als des alten Klein» 
enropa, fo iſt ung Har, wie e8 im nfang feine Bevölkerung theils auf dem 
Landwege von Norden ber, theils Tultivirtere Kolonifation von der Hämushalbinfel, 
. von Kleinaften, vielleicht ven Egypten an®, alfo die mannigfaltigften Bevölterungs- 
elemente erhielt. Italien, in feinem Balbinfularen Theil von Rom zufammengefaßt, 
trag dann mit den Waffen feine Herrihaft nach der weftlichen, nad) ber Pyrenäen⸗ 
balbinfel. Hier, wie auf GSicilien und Sarbinien, ſtieß es mit ven ſeeherrſchenden 
Bewohnern ber fühlihen Gegenfüften, mit den Kartbagern, zufammen. Der Sieg 
über dieſe entſchied feine Herrſchaft über die Küftenläuber des weftlichen Mittel 
meers, welcher balb auch die über die des öftlichen nachfolgten. Merkwürdig if, 


Onden. 


*) Bol. Band V 6. 360. 








Italien. 585 


dag erſt fpät die liguriſchen und keltiſchen Stämme des Po-Thals hinzuerobert 
wurden, von denen in unfern Tagen die italieniſche Halbinfel zu einem nationalen 
Königreich zufammengefaßt wurde. Nichts deflo weniger war die römifhe Macht 
nicht eine vorherrſchend maritime, fie flegte über die Seemächte und ihre über 
Iegene Mechanik, wie die öſterreichiſche Flotte bei Liffa, durch vie Uebung ver per» 
fönlichen Willenskraft und Discipin. 

Die die Macht des römiſchen Staats, fo beruhte im legten Grund auch bie 
des Papſtthums auf dieſer Weltlage Italiens und feines geographiſchen Mittel 
punftes Rom. Für bie kirchliche Machiſtellung Roms war bei der Sonberftellung 
des fonftantinopolitanifchen, der aflatifchen und egyptiſchen Patrlarchate bie nord» 
afrikaniſch⸗romiſche Kolonie von der Tröftigften Wirkung, bis auch fie dem Andrang 
des mahomedaniſchen Glaubens erlag. So fehr das weltliche Rom durch Hannibal 
bebroht nnd durch feine Befiegung gehoben worden war, fo viel förberten bie 
Kirhenväter Nordafrika's, Tertullian, Cyprian und Auguftin, die Gründung ver 
katholiſchen Kirche des Abendlandes und dadurch mittelbar bie des von ihnen be» 
tämpften Papftihums. — Die Unterjohung der Hämushalbinſel durch die Türken, 
die Eroberung Konftantinopels hatte nicht bloß die Einwanderung von Albanefen, 
vielleicht aud von Griechen nad dem alten Großgriehenland, Süpitalien zur 
Folge, fondern eine Blüthe der Kunft und ber antiken Bildung In Italien und 
befonders in Rom. Wenn durch dieſe Berweltlihung Roms die ernften germa- 
ntichen Völker zum Abfall von Rom gebrängt wurten, fo gab bie fich gleichzeitig 
erhebende Weltmacht ver Pyrenäenhalbinfel unter Karl V. und Philipp IL. durch 
Waffen, durch die Iefutten und durch die Katholifirung Südamerika's Rom eine 
nene Stüge und einigen Erſatz. Über Italien, ſelbſt Rom, kamen eben dadurch 
in eine nicht bloß politifche, fondern auch in eine den Eeift erdrückende Abhängig- 
keit und Erftarrung, deren Folgen nod zu biefer Stunde ſchwer auf Ihnen laften, 
obgleih auch die Erbin ver fpanifhen Gewaltherrſchaft, tie öfterreihifche, aus den 
ftaltenifhen Grenzen hinausgewieſen ift. 

So groß der Einfluß anzufhlagen iſt, welchen diefe drei ſüdlichen Halbinfeln 
Europa’3 auf einander übten, fo ift doch bie italieniſche viejenige, welche allein 
rein europäiſchen Charakter trägt, während die Hämnshalbinfel feit den Alteften 
Griechenzeiten mit dem anatoliihen Kleinaſien, woher ihr Kultur und Barbarei 
kamen, in engfter Verbindung flieht, Spanien das Mittelglied zwifchen Afrika und 
Europa bildet, indem feine ſchönſten Küftenftriche gegen Afrika ſchauen und fi 
in feinen Plateau's ter Charakter Afrika's wiederholt. Italien aber wähst aus 
dem Herzen Europa's heraus dem lichten, warmen Süden ſchlank geftredt ent⸗ 
gegen. Europa ficht es als feinen Garten an. Die Römer haben, das Schwert 
in der Rechten, tie Kulturpflanzen des Südens, welde in Italten als dem Affli« 
matifationsgarten Europa's abgehärtet waren, nach Frankreich und nah Süddeuiſch⸗ 
land gebracht. Aber der Ruf ihrer Trefflichleit in Italien wie ber des Reichthums 
ver Weltbeherricherin Rom lodten die ins Wandern geratbenen germanifhen Stämme 
zu Land, bie Rormannen felbft über weite Deere in das Paradies Europa’s. Die 
deutſchen Könige, die Yranzofen, die Ungarn, bie Defterreicher rangen Jahrhunderte 
fang um den Beflg der ewig Echönen, während tas Volk Italiens felbft der Ber- 
Iodung der Schönheit feines Landes, feines Himmels und feines Meeres, zumal 
in der ſüdlichen Hälfte mehr oder weniger unterlag. Doch ift es nie fo fehr er- 
ſchlafft wie die Bälfer tropifher Halbinfeln, daß die Fremden ſich als Tolonifirende 
Herrſcher auf dem Naden bes entneruten, ſtlaviſchen Volles hätten feftfegen können. 
Die Fremden mußten ſich italieniſiren oder fie wurden, wenn aud zumeift mit 


586 Nachtrag 


frember Hülfe, ausgeſtoßen. Sowurde bie Vevölkerung in ber langgeſtreckten Halb- 
inſel zwar eine ſehr gemiſchte, aber doch bis auf die Südküſte von Sicilien eine 
weſentlich europäifche, ungleih mehr als in Spanien und auf der Hämushalbinfel. 
Diefe Kreuzung europätfcher Rafien entwidelte fi in ihr zu einer eigenthärnlichem 
Kultur, welche ihre befte Schugwehr gegen Fremdherrſchaft und ihr Einheitspunkt 
ift. Eben darum rubt diefer Einheitspunkt wejentli in ven höheren Klaſſen, wäh- 
rend die Buchten des leeres, noch mehr die der Gebirge, Hunderte von. nralten, 
oft barbarifchen Klaneigenthimlichkeiten bewahren. — 

Die mittelländifchen Beziehungen Italiens faſſen fi zum Theil in Sicilien 
zuſammen. Während bie Halbinfel 5700 Onabratmeilen bat, zählt Sicilien deren 
495. Das Geſtein der die Rorbläfte von Sicilien bildenden Gebirgszngs — 
daß es eine nur durch Feuer⸗ und Waſſerkraͤfte durchbrochene 
Apennins iſt. Der Erderſchütterer Poſeidon, ſagt die Mythe, wollte auch —* 
Antheil an dem Lande bed Sonnengotts haben und fpaltete fiegreih die Trinacria 
won der Halbinfel ab. Ein Wafferbett von einigen Meilen genügte. Kaum bärfte 
ein Bölterleben eine größere Bedeutung gehabt haben. Die Säpwefttüfle Italiens, 
bie von der Ratur ungleich reicher ausgeftattete, wurde dadurch mit ben griechiſchen 
Gewäflern, mit dem Orient enger verbunden. Der Zwiſchenraum 3 der 
Weſtküſte Siciliens und dem afrikaniſchen Kap Bon, In deſſen Schutz der Meer 
buſen von Karthago liegt, beträgt zwanzig Meilen und find bie gegenſeitigen Ge⸗ 
flade nicht fichtbar. An den Küften von Sicilien und an denen der Adria gewinnt 
Kalten feinen Salzreihthum. 

Bon dem nördlichen Bergrüden Siciliens fällt ein wellenförmiges Hügelland 
fünlih ab. Die Gefchichte und die Trümmer von Girgenti beweifen, daß die Süd⸗ 
tüfte einft ungleih fruchtbarer war. Sie ift nım verwildert. Selbft ihre reichen, 
immer wertvoller werdenden Schwefelgruben fin ein zweibentiger Gewinn, da 
fie den Verbrechern als Zufludt dienen. Bei Noto beginnen jegt bie civiliflrten 
Landſtriche. Die Ofttüfte, beſonders das untere Thal des Simetto, das unter 
Biertheil des mehr als zehntaufend Fuß hoben Aetna find fehr fruchtbar. Hier 
auf den vermwitterten Auswürfen des Bullans leben über 100,000 Menſchen. 
Catania iſt nebſt Meffina die bürgerlich civilifirtefte Stadt, während Syhracus nur 
noch der zwanzigfte Theil feiner früheren Größe ift. Die Karthager, die Araber 
and die Hohenftanfen liebten und hoben vor allen Palermo, in ven leuten Jahr⸗ 
hunderten bie Adels⸗ und Klofterfladt mit 200,000 großentheils verwilderten Ein- 
wohnern. 

Die Berentung von Sicilien ruht auf feiner Oft- und Nordküſte. Sichlien 
iſt die Infel der Küftenfläpte. Die Stäpte des Binnenlanves, felbft Caſtrogiovanni 
und Nicofia, find unbebentenb, dur den Mangel an Verkehrsmitteln ifolirt. 
Trodenheit und Mangel an ſchiffbaren Flüffen Iaften ſchwer anf dem Bimen- 


lande. 

Es wer für die Entwicklung Italiens von der entſcheidendſten Wichtigkeit, 
daß die griechiſchen Kolonien bis zur Weſtſpitze feſte Wurzeln gefaßt hatten — 
was noch heute die Ruinen von Segeſte und Selinus beweiſen —, ehe die Kar⸗ 
thager feſten Fuß faßten. Dieſe wurden erſt durch die Uneinigkeit ver geiedifhen 
Städte, in Folge der Verſuche Gela's und ver Syracuſaner, die andern 
ſtädte zu unterjochen, herübergerufen. Durch die Marine biefer Griechen gelang 
es den Römern im erſten punifchen Kriege in ver Mitte des britten Jahrhunderts 
vor Ehriftns die Karthager zurüdzumwerfen. Unter ven Römern wurde beſonders das 
Binnenland gehoben, wo eine Urbevöllernng tapfer für ihre Selbſtändigkeit ge 





Stalien. 587 


rungen hatte. So fhredlih aud römische Statthalter wie Berres diefe Provinz 
ausgejogen und ihre Kunſtſchätze geplündert hatten, fo war für fie body der Ankanf 
der guten Ländereien dieſer Kornlammern von Rom durch wenige Große ver Be⸗ 
völferung nachhaltiger ſchädlich. Diefe Latifundien wurden von Sklaven bebaut, 
welde gegen das Jahr 100 vor Ehriftns ſich zu wiederholten fehr blutigen Sklaven⸗ 
kriegen erhoben. Während vie Küften Siciliens in den römiſchen Bürgerfriegen 
und von den Banbalen geplündert wurden, blieben diefe großen Stlavenpflanzungen 
fort und fort. Durch Stiftungen fiel ein großer Theil verjelben zur Zeit des 
Untergangs der alten Welt aus den Händen römifher Großen in die ber Pa- 
triarhen von Rom. Gregor I. (gegen das Jahr 600) gibt in feinen Briefen Be- 
fehle über die Benützung feiner ficilianifchen Sllavenſchaaren, deren Arbeit der Macht 
jener Patriarchen ald Karyatide diente. 

Dei Sicilien erwedt die Entwidiung des infularen Stolzes und Unabhängig- 
keitstriebs beſonderes Interefie; aber wenn einmal bie Partetleivenfchaften ent 
zündet waren, rief man, von ben Zeiten ver Karthager bis zu denen Garibaldi's, 
irgend weldye Fremde zn Hülfe, mit dem Vorbehalt, fih dann auch gegen fie zu 
fehren. Sicilien war die leichte Beute der Oftgotben und 536 Belifard. Aber bie 
Ausfangung durch die Byzantiner war eine fo ſchamloſe, daß bie Sicilianer zuerft 
wiederholt die Aufſtandsverſuche byzantiniſcher Statthalter und Generale unter 
Büsten, dann die Saracenen von Tunis zu Hülfe riefen. Nichts deſto weniger 
ſchien im Bilverftreit Sictlien von Rom losgerifien und Byzanz auch kirchlich ein⸗ 
verleibt, wodurch fih noch mande lirchliche Alterthümer und Sitten der Infel 
erflären. Davon, daß die Byzantiner von Sicilien aus auch unfichere Provinzen 
Süpditaltens beberrichten, entftand der Kanzleiausprud: Reich beider Sicilien. Aber 
mit Hülfe eines beleivigten byzantiniſchen Generals verwandelten die Saracenen 
831 ihre Raubzüge in Eroberungen. Nah einer verzweifelten Bertheibigung fiel 
das von Byzanz felg verlaflene Shyracus 878; wenigftens Zehntaufende murben 
ermordet. Der letzte Widerſtand des ficilianifhen Afturien, bie chriftlichen Nitter- 
burgen bei Tauromina, wurben gebrochen und Palermo zur Heflvenz des Statt- 
halters bes afrikanifchen Ehalifen erhoben. Sicilten ſchien für die Chriftenheit und 
für Italien verloren; dieſes war von feiner Seefeſtung aus bedroht. Aber gerade 
dadurch erfolgte eine Reaktion, welche Sichlien wieder an die Geſchicke Italiens 
lettete, fo oft es auch troßig feine Unabhängigkeit zu erflärmen fuchte, 

Nirgends in Italien lebt das ganze Volk fo fehr in der gefährlichen unmittel- 
baren Erinnerung an eine vreitaufenbjährige Geſchichte, welche ihm perſpektiviſch 
wie eben fo viele Jahrhunderte nahe gerüdt ſcheint. So ungeheuer bie Mehrzahl 
der Nichtlefenden auf der Infel ift, fo bilden vie von Sicilianern über Sicilien, 
befonders über feine Geſchichte verfaßten Monographieen eine ſchöne Bibliothek. 
Der Adel, eingevent ber gemeinfamen Abſtammung, ſchaut gerne auf Albion, wie 
Neapel auf Frankreich und Spanien. Die nationale Gefittung Oberitaliens hat 
bier ein fchweres Ajfimilstionswerk vor ſich. 

So wichtig Sicilien für die politifhe und für die Kulturgeſchichte iſt, fo 
wenig ift dieß bei ver Iufel Sarpinien der Fall, welde mit Eorfica wie ein 
Pendel aus dem Golf von Genua gegen die Spige der Norbfüfte Afrika's hängt. 
Sie hat 430 Dundratmeilen. Gerade die Tage Sarbiniens in der Mitte des 
weftliden Beckens des Mittelmeerd und feine der Kultur ungünftige Beſchaffen⸗ 
beit machten es zur Beute aller im Lanfe der Jahrhunderte ſeeherrſchenden 
Nationen. Umfonft fuchten die „Nichter”, die Grafen der Bezirke, den Kampf ber 
Bifaner und der Genuefen um die Infel zur Erringung der Unabhängigfeit zu 


Wie 1326 darauf. So fam die Infel an Spanien, welches Cagliari 
ie Burbaresien benügte. Noch heute IR der Dialekt der 
Duiiige Yaik um. Die großen Güter kamen zum Theil in den Beſitz von 
manithen Jaritien ser überfietelten die reichften Sardinier nach Spanten. Ihr 
jeasunemt werzehete das Mark der Infel bis in unfer Jahrhundert. Wenn fie 
fo wachten fie ihr Net, auf ihren Galbleibeigenen zu finen 
war anf ihrem Rüden zu reiten, geltend. Die privilegirten Stände, bie brei 
fe auch auf Sicilien hießen) behielten ihre Macht als 

tie Infel nach dem Ausfterben der ſpaniſchen Habsburger 1713 
rbe und als 1720 vie Habsburger, ver für fie wertblofen Iufel 
Hans Savoyen nöthigten, ihnen dafür Sichlien abzutreten. 

Die Ueberbürbung ver Landbauer durch die grundbeſitzende Ariftofratie, durch 
die Neche umb durch die zahlreichen Keinen öfter, dieſe Schlupfwinkel ver kraff 
Vehheit und des Laſters — Bifitatoren wurden burd Gift unſchädlich gemacht — 

‚ baß die Bevölkerung, welde im Jahre 1775 no 426,400 Einwohner 
betrug, im Jahre 1816, nachdem bie Infel dem vom Feſtlande vertriebenen Könige 
fünfzehn Jahre als Refidenz gebient hatte, fi nur anf 351,900 Seelen belief. 

ließ es Karl Albert von Anfang feiner Regierung an eimes feiner 
ele fein, die Infel uacbeltig zu beben. Eine Erforſchungékolonne unter 
der Leitung des Geognoften Albert Yamarmora und des Botanikers Moris darch⸗ 
zog einige Jahre lang bie Infel. Die fiebererzeugente Miſchung des Waſſers der 
Bäche mit dem Meereswaſſer an ven feichten Küften, welche ſchon bie Römer ver» 
aulaßt hatte, eine Berbannung nad Sarbinien als ein langfam fi vollziehendes 
Todeeurtheil zu betrachten, bleibt ein Haupthinderniß ver Kultur. So trefflich 
Nelfon mehrere Häfen fand, jo, gut ber Hanf wächst, fo leben vie Sardinier doch 
lieber auf ihren Keinen Pferben als Hirten und Jäger in ben bis über Rigihöhe 
anfteigenven, regellos fidy hebenden und fenfenden Bergzügen. Jndeß haben bie 
von Karl Albert erzielten Ablöfungen ver ungeheuern Grundlaſten dem Bolle bie 
Möglicgleit gegeben, vie Früchte feines Aderbaues zum Theil ſelbſt zu genießen. 
So frudhtbar die Thalmulde zwifhen Cagliari und Oriſtano if, fo hat doch Im 
Jahr 1866 eine Hungersnoth bie Infel wieder ſchwer heimgefudt. 

Erft durch die piemontefiiche Berfafiung von 1848 iſt die Infel wirklich 
polttifh mit dem Feſtlande verbunden worden. Vorher befand une Berfonalunton, 
welche dem Feftlandsſtaate beinahe nichts an Kraft zubrachte. Erſt feit 1848 fielen 
die Sarbinier Soltaten. Aber die Millionen, welche Karl Albert auf Hebung des 
Aderbanes und bes Bergbaues aufwandte, haben bisher noch wenig rentirt. De» 
bald iſt es möglich, daß Frankreich einmal vie Infel erhält, von deren Rorbhäfen 
ans Toulon blofirt werden kann. 

Corfica iſt als Wiege Napoleons an Frankreich feft gefettet. Da feine 
öftlihen Häfen unbedentend find, fo tient es Franfreid wenig zur Vebrobung 
ber mittelitalienifhen Weſtküſte. Dagegen war es bis ins vorige Jahrhundert von 
politiſcher Bedentung, daß Spanien, fpäter Renpel, Elba und einige ihm gegen- 
überliegende Küftenpläge von Toscana, wie and die Präfivien von Orbiiello 


Bas Häfen und Meerengen für bie Deerestäften von Italien find, das 
find die Alpenpäſſe für feine Feſtlandsverbindung. Erſt die Riefenkanten 
Ravoleons machten von ber Meeresfiraße bei Nizza⸗Genna an (chemin de ia 





: 
3 











Stalien, 689 


eormiche) feit 1812 die weftliden Alpenſtraßen fahrbar. Früher war es nur 
über ven Brennerpaß möglich gewefen, mit Fuhrwerken über vie Alpen zu Tome 
men, worauf die Wichtigkeit des Handels von Augsburg nad Venedig beruhte. 
Kaum macht davon der Eol di Tenda eine Ausnahme, welcher von Nizza 
nörblih, von den reifenden Granaten, Felgen, Orangen, ja von Palmen ver Küfte 
in einem Tage zu den Zwerglärchen führt. Seine höchſte Paßhöhe beträgt 5613 
Buß. Obgleich Nizza fih ſchon im Jahre 1388 an die Grafen von Savohen 
übergab, fo wurde die fahrbare Straße nad neuem Syſtem erft 1788 fertig. 
Nizza wurde 1543 von ben verbündeten Franzoſen und Algierern verbrannt und 
feitvem, manchmal mit Ausnahme ver Citadelle, bei jenem Angriff der Franzoſen, 
wie auch Savoyen, von Ludwig XIV. und 1792 von ben Revolutionstruppen 
genommen. Daher tft bie Alpenſcheide, wie fie jegt gezogen ift, bie natürliche 
Grenze. Bis 1794 haben die Piemontefen wiederholt bei Tenda den eindringenven 
Branzofen fih in verzweifelten Kampfe entgegengeftellt. Denn von Coni (Euneo) 
ab dehnt fi zunächſt bie innere obere Ebene des Po's und feiner Zuflüffe aus. — 
Im öfterreihifhen Erbfolgefrieg drangen nad) der Einnahme von Nizza die Spanier 
und Franzofen 1744 über ben Col die Tenda und belagerten Coni, welches von 
ven Waldenſern tapfer vertheidigt wurde. Obgleich die Schlacht, welde ihnen ver 
König von Sardinien bei St. Maria del Olmo lieferte, unentfchieven blieb, mußten 
die Fremden doch wieder nach Nizza zuräd. Bonaparte drang 1796 öftlicher, auf 
die feige Neutralität Genua's fußend, von deſſen Küftengebiet bei Savona aus 
in Piemont ein. 

Der Eol di Tenda iſt die Grenze zwilchen den öftlich ſich ziehenden Ligu- 
rifhen Alpen und den norbweftlihen Seealpen. Un dieſe ſchließen ſich nördlich 
die Eottifhen Alpen an, Über deren Schneeberge fi die bis Turin das obere 
Boland beherrfchende prächtige Pyramide bes über 11,800 Fuß hoben Monte 
Bifo erhebt. Aus feinem Schnee entfpringt ver Po. Erſt an der Norbgrenze ber 
Cottiſchen Alpen machen einige Joche den Uebergang möglid. Schon die Mömer 
batten einen Weg mit feften Punkten über ven Mont Genevre geführt. Die 
Jochhöhe ſelbſt bietet weniger Schwierigfeit als die Fortſetzung der fi bei Briangon 
gabelnden Straße nad Grenoble. Ueber diefen Paß drangen Karl VIII. im Sep 
tember 1494 auf feinem Zug nad Neapel und durch den tiefen Schnee des 
Februar 1629 Ludwig XIU. und Richelieu. Daher bat viefer Paß ftets vie 
Phantafie der Franzoſen befhäftigt; fein fündftlicher Ausgang über vie Waldenſer⸗ 
thäler bei Feneſtrelles und Pinerolo blieb auch längere Zelt in franzöflichen Hän- 
den. Rapoleon ‚bat namentlich den legteren Ausgang verbefiert. Allein ſeit Savopen 
feanzöfifh iſt und der große Bohrverfuh auf ver bireft nad Parts zielenden 
Monte⸗Cenis⸗Straße gemacht wird, verliert der Mont Genevre an Bedeutung. 

Obgleih der Monte Eenis bei dem von Ludwig dem Heiligen gegründeten 
Benediktiner⸗Hoſpitz 6360 Fuß hoch iſt, fo iſt er doch einer ber älteften und 
hiſtoriſchen Päffe. Conſtantin machte im Jahre 311 feinen weltgefhichtlihen Marſch 
von Gallien nah Rom Über diefen Paß. Karl der Große drang auf dieſem Wege 
gegen die Longobarben vor, e8 gelang ihm aber nur durch Verrath fih am Süd⸗ 
abhang den Weg in die Ebene zu brechen, Friedrich Barbaroffa drang bier 1174 
wieber im September ein. Er foll damals einen Dentſchen Benz mitgebracht haben, 
von welhem die Benjo di Cavour abftammen. Im Oktober 1524 eröffnete ver 
Bug König Franzens I. über viefen Paß den Feldzug gegen Karl V., welcher 
mit dem Tod Bayards begann und mit Franzens Gefangennehmung bei Pavia 
enbigte. Bei dem nur 1330 Buß hohen Sufa fteigt vie Mont⸗Cenis⸗Straße 


590 Nachtrag. 


nörblich an, währen bie eine ver italieniſchen Straßen nad dem Mont Genevre 
von Sufa ſüdweſtlich nad dem Krenzungspuntt Eefane führt. Bis Napoleon, 
welder von 1802 bis 1811 die Straße über den Mont Eenis trefflich bauen 
ließ, war fie ſtellenweiſe jelbft für Saumpferde gefährlich. Die Reftaurations- 
regierung des Hauſes Savoyen von 1814 beabfiätigte anfangs dieſes Wert Na⸗ 
poleons als ſolches verfallen zu laſſen. Erſt Karl Albert führte bedeutende Schuß- 
werte daran aus. Obgleich die Franzoſen als in Freundesland gute Berpflegung 
fanden, kamen fie doch zu Ende April 1859 ziemlich erfhöpft in Sufa an. Cavonr 
hoffte daher, daß die Abtretung Savoyens das obere Pobeden nicht gefährde, Da 
die Eifenbahn überlegene italieniſche Trnppenmaſſen auf jeden Punkt am Südfuß 
ber Alpen würde werfen können, ehe die Franzoſen nad dem Alpenübergang ſich 
erholen und fammeln lönnten. 

Unweit Diontmeillan in Savonen gabelt fi) von ber dem Archad nad Säd- 
often folgenden Mont-Genis-Straße ein öftlih an der Ifere hinanf führenver Weg 
ab, welder über den Kleinen St. Bernhard und oberhalb Aoſta in das 
obere Thal der Dora Baltea führt. Obgleid die Höhe der Waſſerſcheide 6580 
Buß beträgt, iſt doch dieſer Aufgang durch lange Ulpenthäler einer der bequemften. 
Eine Fahrſtraße führt aber nicht herüber. Pompejus foll über dieſen Paß gezogen 
fein; bis 1794 kämpften die Piemontefen bier oft mit den Franzoſen. Nachdem 
Augufins die auf Bold und Silber grabenden Salaſſer des Dorathals ausgerottet 
hatte, legte er Kolonieen an, 3. B. das noch durch feine Bauten gefhmäcdte Aoſta. 
Auch Kelten follen ſich theilweiſe noch mit ihren Dialekten erhalten haben. In dem 
Städtchen des Thals wird franzöſiſch geſprochen. Das Landvolk if bigott, gibt aber 
trefflihe Soldaten. . 

Zwiſchen dem Mont Blanc und dem Monteroſa erheben fi die übrigen 
Gipfel (keltifh: pen) der Bennifhen Alpen. Außer dem Großen St. Bern» 

ard, welcher auch nicht fahrbar iſt, führen nur Jägerwege hinüber. Das im 

962 von Biſchof Bernhard von Aoſta gegründete Hofpiz auf dem Paß tft 
7548 Fuß über dem Meer. Der Berg ift fleil, vie Alpenthäler find kurz. Gäfar 
überftieg ibn zuerft, Auguft baute eine Straße. Mitte Mat 1800 ging Napoleon 
mit 30,000 Mann binäber in den Rüden der anf der Genuefiſchen Weftküfte 
fiehenden Defterreicher, die er am 14. Juni bei Marengo befiegte Sein und 
—— Name beherrſchen die Phantaſie der Bewohner der Weſthaͤlfte ber 

en. 

Da die Sage von dem Webergang der Cimbern unfiher tft, fo ift bie 
Simplonftraße bie jüngfte der jest fahrbaren Wipenftraßen; fie Führt über 
früher zum Theil ungangbare Schluchten. Sie wurde auf Napoleons Befehl von 
den Lombarben von 1801 bis 1805 gebaut, und zwar überall mit höchſtens 
31/2 Procent Steigung. Ex nannte fie bezeichnend la route de Milan (von Bariß). 
Da Savoyen franzbfiſch iſt, fehlt nur Genf und das welfhe Unterwallis, um 
ihren Zwed im Sinne Napoleons I. zu realifiren. Defterreih gab fih anf und 
nach dem Wiener Kongreß alle Mühe, Piemont das Weftufer des Lago Maggiore 
und die Simplonftraße zu nehmen, 

Auf den Lago Maggiore zu gehen aud die Straßen, welde aus der Ur 
fchweiz über den Gotthard dem Teſſinfluß entlang und von den Quellen des 
Hinterrheins über den Bernhardin her fih in Bellinzona vereinigen. Der 
Gotthard, nah einem Biſchof von Hilvesheim benannt, war den Römern noch 
nicht geöffnet. Die Paßhöhe beträgt 6390, die bes Bernhardin nur 5740 Fuß. 
Erft die Friedensjahre unferes Jahrhunderts brachen figere Fahrſtraßen durch beide 





Italien. 591 


Joche. As Sumwarof von den mit Rußland verblindeten Defterreihern aus bem 
von ihm eroberten Oberitalien im September 1799 hinausgebrängt wurbe, war, 
wie die Ruine der alten Teufelsbrücke zeigt, bie Straße noch fehr ſchmal. Auch 
der Splügen war in ven legten Jahrhunderten des Mittelalters viel betreten. 
Seine Paßhöhe ift 6170; aber erſt Kaifer Franz II. ftellte die Fahrfähigkeit auch 
für den Winter ber. Auch nad Ehiavenna herab führen am Julier bin Straßen, 
über welde im Mittelalter 3. B. Über ven Septimer deutſche Heere nach Italien 
zogen. Die Berninaftraße ift nen. 

So groß die Kühnheit und die Kunft der 8400 Fuß hohen Straße über 
das früher ungangbare Stilffer Joch iſt, fo findet fie gegen Norben keinen 
nahen nnd leichten Durchgang. Nachdem die fpanifchen und die öflerreichiſchen Habs⸗ 
burger wiederholt das obere Beltlinthal und das Engadin mit zerftörenden Kriegen 
überzogen hatten, um fich vermittelt berfelben bewaffnete Hülfe leiften zu können, 
glaubte Defterreih, dur den Sturz Napoleons wieder in den Beſitz Mailands 
und in ben bes Beltlins gefest, jenes durch die Veltliner und Stilffer Jochſtraße 
mit feinen beutfchen Ländern unmittelbar zu verbinden. Sie ift aber nunmehr 
zwediofer geworben als mande feit 1848 fünlich davon zur Sicherung ber öfter 
reihiigen Herrſchaft gebaute Bergftrage. Ift auch vorerft die militärtfhe Wichtige 
keit der Simplonftraße zurüdgetreten, fo erhält fie doch eine merfantile Wichtigkeit, 
während beim GStilffer Joch die Bedentung des frieblichen Verkehrs eine unter 
georbnetere iſt. Nur etwas weiter rechts führte ſchon vor Jahrhunderten eine 
Straße über Graubündner Gebiet aus Tyrol nah Bormio, wo jett die Stüffer 
Straße ins oberfte Beltlin eintritt. Aber die Graubündner liegen dieſe Straße 
aus Gefälligkeit für vie Venetianer verfallen, welche durch biefelbe ihren Handel 
nah Deutfhland von Mailand bedroht glaubten. Venedig umd Frankreich unter 
Richelien halfen den Schweizern bei ihrem Wiperftand gegen die Habsburgifchen 
Eroberungsplane in tiefen Berggegenden. ber vie unleivliche Rechtloſigkeit und 
Ausfaugung durch die ſchweizeriſchen Vögte veranlaßten 1798 den Abfall des 
Beltlins, feine Vereinigung mit der Matländer Republit und damit auch 1814 
mit öfterreichifch Italien. 

Der niederfte, wohl auch ber ältefte Paß über die Alpen iſt der bes 
Brenner Seine böchfte Höhe iſt 4353 Fuß; er verbindet Innsbrud mit 1770 
unb Bogen mit 1070 Fuß Meereshähe. Die Römer waren mit ihm vertrant. 
Als Stiliho, der Feldherr des weftrömifhen Reichs, die Grenzen am Rhein und 
an der Donan aufgab, um Alarich, ven Weftgotben, aus Italien zurädzumerfen, 
fo ging er 402 mit feinem Heere über den Brenner und ſchlug Alarich bei Verona, 
weldhes fchon von Cäfar das römiſche Bürgerrecht erhielt. Odoaker, welcher ben 
legten römifchen Kaiſer geflürzt hatte, ſchlug 476 und unmittelbar nah ihm fein 
Sieger der Oftgothe Theodorich (daher Dieterih von Bern) bier feine Neflvenz 
auf. Denfelben Weg zogen 776 Karl der Große und viele deutſche Kaiſer trog ber 
Burgen in ven Engpäflen Rivoli gegenüber, welches durch Napoleon berühmt 
wurde. Konrabin zog 1267 bier berab. Auf den graufamen Bundesgenoſſen Kaifer 
Friedrichs II., Ezzelin, war eben der erfte der Scaliger (della Scala) in bie 
Bolleherrichaft über Verona eingetreten. Unter ihnen ragte der Gibelline Can⸗ 
grande hervor, welcher feine Herrihaft öſtlich ausbreitete und ben Berbannten 
Dante aufnahm. Wie Como war Verona Verbündete ver Deutfchen, bis die Sca- 
liger fi) ſelbſt aufrieben, und die Stadt ſich 1389 den Bisconti in Mailand und 
endlich 1405 den Benetianern übergab. Erft nachdem bie Defterreiher 1814 in 
den Beſitz Verona's gelangt waren und das Jahr 1848, feine Wichtigkeit erprobt 


Badtrag. 


‚ wurbe es vollends zu einer flarten Feſtung gemacht, welche aber 1866 in 
erobert wurbe. 

von dem Mittellauf der Etſch und von ber unweit Boten entipringenben 
Brenta umjchlofienen Sebirge enthalten Böllerträmmer ans verfchiedenen Jahr⸗ 
tanfenben. Den Deriſgen hat die öflerreichiiche Herrichaft weniger Ehug gewähkt 
als vie venetianifche. So verwelſchten die dreizehn altbeutfchen Gemeinden smmeit 
Berona und die fieben norböftli davon bei Aflago. 

Nordlich vom Benetianifhen laufen einige Gebirgszüge parallel, deren Längen 
thäler den Berlehr nah Often leiten, aber nad Italien zu viele Schwierigkeiten 
bieten. Bon Ungarn vrangen durch die durchlafſenderen Gebirge am Ifonzo die 
Hunnen und die Magyaren verheerend ein. Das Landvoll in Oftvenetien, im 
Friaul, fpriät einen eigenen halbitalieniſchen Dialekt. Die Gebirge in feinem 
Rorden waren für den Schiffbau der Benetianer widtig. Belluno trägt noch 
italieniſchen Charakter. In eimem Dorfe bei dem rauben Pieve di Eabore iſt 1477 
Tizian geboren. Bis an die italienifhe Grenze, z. B. bis Bontafelle zwiſchen 
Billach und Dfopo, ift die ſlaviſche Bevöllerung vorgebrungen. Die Benetiauer 
haben in diefen Grenzlanden dur ihr Bündniß mit den Huffiten den Habs- 
burgern manchen Punkt abgenommen. | 

Der Tagliamento, die Piave, die Brenta führen aus ven Gebirgen 
fo viel Geſchiebe mit, daß ihr Bett fi) über das umliegende Land erhöht hat 
und die Dämme immer erhöht werben müſſen, wodurch die Dammbrüche vermehrt 
werben. Die Küfte ift daher auch feiht und fumpfig. Venedig hat in feinen reichten 
Zeiten ungeheure Summen auf Abzugslanäle verwendet, um einerfeit3 äftlich die 
Biave, andererjeits die Brenta abzuhalten, durch Ablagerung ihres Geſchiebes die 
Lagune vollends in einen Sumpf zu verwandeln. Die Etſch, ver Waflermaffe 
nah ber zweite Fluß Italiens, welder nur ein paar Meilen am Gardaſee vor- 
überläuft, hat vor 1800 Jahren unterhalb Berona felbft feinen Lauf etwas fäh- 
licher verlegt. Die Hin und her rüdende Barre an feiner Mündung madt bie 
Schiffahrt unfiher, welche überhaupt in ganz Oberitalien mehr auf Kanälen von 
Bedeutung iſt. Diefe ftete Ueberwachung ber Gewäſſer und die nur gegen ihre 
höheren Bürger mißtrauifhe Herrſchaft ver Venetianer, welche Lokaleigenthümlich⸗ 
feiten fchonte, bat den Charakter der Benetianer in Stadt und Land an Gebulb 
und Mäßigung gewöhnt. Unter biefer Herrichaft haben die Brescianer und 
Bergamaster ihre Energie, die Bicentiner ihre geiftige Tchätigleit bewahrt. 

Dagegen fegen bie Flüſſe des mittleren Oberitaliens, vie ber Lombardei, 
ihr Sefchiebe in Sem am Ausgang der Gebirgsthäler ab. Der Mincio fommt 
ans dem Gardaſee, die Ehiefe aus dem Idroſee, der Oglio aus dem von fee, 
bie Adda ans dem von Como, der Teifin aus dem Lage Maggiore. In dieſen 
Seen, wenigftens in ben größeren, wird das Gebirgswafler erwärmt und fein 
Abfluß zu einer mittleren Menge regulirt. Dieſes gefchieht noch mehr durch bie 
Kanäle, deren Leitung und Benützung im Mallänvifhen alt und Kaffifch if. 
Die wichtigfte Freiheit der Lombardei ift die Waflerfreihelt, das Recht gegen Eut- 
ſchäͤdigung Waflerleitungen über jedes fremde Eigenthum zu führen. Dieſe find 
um fo wichtiger, als bald heftige Negengüfle, Bald lange Dürre berrfchen. Damit 
hängt bie Eintheilung des flachen Landes in größere Städe zufanımen, welche au 
Pächter parcellirt werden. In ber fetten Niederung zwifchen dem Tefſin und dem 
Bo wird durch Großbetrieb ver doppelte Ertrag an Vieh und Käfe erzielt. Die 
ſelben Produkte bietet das Alpenland im Norden mit der größten Bertheilung ves 
Grundeigenthums. Wie, hier bie Heinen Erfparniffe der tüchtigen Baulente (ma- 


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Stallen, 698 


gistri Comenses im Mittelalter), welde über bie Alpen und bis Weftinpien gehen, 
im beimifhen Boden angelegt werden, fo find es in der Ebene die Kapitalien, 
welde vie Stäbter im Mittelalter durch Fabrikation von Kleiderftoffen und von Waffen, 
fpäter durch die Seide fih erwarben. Die ungemeinen Verſchiedenheiten, welche bie 

mbarbei in Natur, im Landbau und in Eharafter der länplichen Bevölkerungen ent- 
widelt, hat einer der größten, gebilvetfien und patriotifchften Landbeſitzer, Jacini, 
(feit 1859 wiederholt Minifter des Aderbau’s) in feinem Flaffifchen Buche, la pro- 
—* fondiaria e le popolasioni agricole in Lombardia, Milano 1854, zuſammen- 
geftellt. 

Die Lombardei ift der Alklimatifationsgarten für die Kulturpflanzen der 
ganzen Halbinfel, da fie kalte und heiße Landſtriche, Intelligenz und Kapital 
befigt. Manche fünliche Früchte gedeihen bei ihr ald Lurus- und Handelsartikel, 
welde im Süden Bollsnabrung werden. Diefes find die Agrumen, das heißt bie 
Drangen, die Eitronen in ihren verſchiedenen Gattungen eigentlich nirgends, fon- 
dern mehr Ingrebienzien bes Getränts. Nur die Felgen find im Süden eine Fett 
bildende Vollsnahrung bis zur Zeit, wo die fpäteren mehligeren Früchte reifen, 
in Sicilien die fogenannten Indifchen Felgen, ähnlich ben Stachelbeeren. Die Ka⸗ 
flanie empfängt den uns dem Norden Reiſenden ſchon in den mittleren Alpen- 
thälern, wo fie mitten in ven herabgerollten Felſen ihre gewaltigen Stämme treibt, 
welche das trefilihe Werkholz bieten. In den nördlichen Apenninen bildet fie 
Waldungen. Bis Toscana hinab beftimmt ihr jährliches Gedeihen um fo mehr 
den Broppreis, als fie auch zu Mehl zerrieben und gebörrt wird. Die Kaftanien 
des Aetna find berühmt. Auch der Delbaum iſt eben jo berühmt an der genuefifchen 
Küfte und befonders in Yucca wie in ber terra di Bari, welche das Sprüdwort: 
„fruchtbar wie Apulien” beſonders trifft. Es iſt nur der Unterfchien, daß was in 
Norditalien an den Südabhängen der Kalfhügel geveibt, im Süden in der Ebene 
ohne viele Pflege gerät, Dan behauptet, daß hier der tägliche Gebrauch des 
Ki ftatt der Butter das higige, zur Blutihat raſche Temperament bes Bolfes 

exe. 
So zerftörend vie zweihundertjährige Herrfchaft der Spanier nicht bloß in 
ihren unmittelbaren Befigungen in den beiden Sicilien, auf Sardinien und in 
der Lombardei anf die Induſtrie wirkte, fo fehr die Geifter in ganz Italien durch 
bie ‚Solidarität der Spanier mit den jefuitiihen Erziehern und Beichtvätern 
niedergedrückt wurden, fo ift doch mandyes Gewächs, welches jegt die Hauptnahrung 
mander Provinzen bildet, durch fie eingeführt worden. So wurte der von Co⸗ 
lumbus aus Amerika gebrachte Mais in die Polefina (das Podelta) und in bie 
Niederungen der Lonibardei um 1560 eingeführt. Der im arabiſchen Andalufien 
längft verbreitete Reisbau kam fhon um 1520 In vie Lombardei. Da die ihm 


. auentbehrlichen Wafleranftauungen vie fieberfhwangere Malaria erzeugen, haben bie 


Geſetze ihn bis auf gewiffe Entfernungen von Städten verbannt. Allein dieſe 
Sefege werben nicht gehalten und das Ausſehen der Bewohner von VBercellli, 
Pavia, Mantua zeigt bie Folgen. 

Der beſonders wegen ver Herbftfant paſſende Walzen iſt jebt die in den 
Niederungen ganz Italiens herrſchende Körnerfrucht. Die ältern, darum „Heiligen“ 
Öetreidegattungen find in die Gebirge zurüdgenrängt, fo der Dinkel (Spez) und 
ber nordiſche Roggen, welder in Ealabrien als gormano, am Aetna als grano 
tedesco bis zu 5000 Fuß Höhe gebaut, in der Negel als! Viehfuttet, auf Sar⸗ 
dinien auch zu Brod gebaden wird. Indeß ift der Genuß der Mehlſpeiſen nur 
in Geſtalt der Maccheroni und der Nudeln, welche auch für die Ausfuhr fabri- 

Bluntfhli un Brater, Deutſchet Stante-WBörterbud. Xi. 38 


594 Nachttag. 


cirt werben, bedentend. Und bei ihrem Genuß bildet die Zugabe des KAüfes eine 
Hauptſache. In Renpel werben Mafien bes felbflerzeugten trefflichen Getreides be⸗ 
fonders nah Süpfraufreig und England ausgeführt und ruffifhes dafür verzehrt. 
Der Setreivebau in Neapel wurde durch bie zwangsweife Ablieferung eines Theilt 
der Ernte in die Gemeindevorrathshäuſer gehemmt. 

Die Provinzen Italiens haben alſo keinen bebeutenden Austaufh am Lebens- 
witteln; felbft das unentbehrliche Eis bietet dem Süplänver der Aetna. Die Mafle 
des Bolls Lebt ja einen Theil des Jahres bauptfählih von den ihrer Provinz 
eigenthümlichen Baumfrüchten. Das Del Sübitaliens wird hauptſächlich ins ndrdb- 
Ude Ausland verführt. Die Lombarvei hat Ueberfluß an Butter. 

Die Fleifhnahrung ift felbft in den Stäpten lange nicht fo bebentenb als 
im Norden. Eigenthümlich ift vie ſelbſt von dem ſchönen Geflecht betriebene Jagd 
auf die am Meeresufer und am Yuß der Alpen ermattet nieverfallenden Wander⸗ 

el. Der Zehnten davon und VBogelfanghäufer bilden einen nicht unbebeutenben 
Theil der Dotation vieler geiftlichen Pfränden. Der Biſchof von Capri hieß daher 
der Vogelbiſchof. Dieß und Aehnliches konſtatirt Die den Deutſchen fo widerliche 
Hartherzigkeit des Italieners aller Provinzen gegen die Thiere. Und doch bildet 
der Biehftand in feinen Gebirgen, ja die Büffel in feinen Sumpfſtrichen einen 
Hauptteil des Nationalvermögens und einen beveutenden Ausfuhrartikel in das 
fünlihe Frankreich. Die Wanderungen der Herden und ihrer nomabifchen Gäter 
im Yrübjahr felbft aus den Ponieverungen nad) den wärmeren Weiden des nad 
fpanifhem Muſter nothdürftig geregelten Tavoliere des nörblihen Apuliens, auch 
in die tostaniſchen Maremmen, bringen die Urbevölterung verſchiedener Provinzen 
einander näher. Im Sommer ziehen fie fid von da in die Berge zurück. Obgleich 
die Verlockung der Binnendonanen keine bewaffneten Schmuggler mehr aus biefen 
Hirten macht, fo hat dad Räuberweien no einen Rückhalt au biefen zum Theil 
berittenen Horben von Satyrgeftalten. Sie, befonders die Biegenhirten und die in 
den Carbonari zu einer europälfhen Gelebrität gelangten Kohlenbremner find nebſt 
dem italienifhen Mangel an Pietät gegen bie wilden Bäume die Urfadge der 
Entwalbung, der plöglien Verheernng durch Wildwaſſer nnd der ſtagnirenden 
Gewäfler an den Küften. Die Schiffahrt und die Induſtrie entbehren befhalb bes 
ihnen nötbhigen Holzes. Ueberhaupt find dieſe uralten, über die Schranfen ber 
Municipalitäten und der Dynaſtien fi hinwegſetzenden Bollselemente tulturfeind- 
licher Natur. Aber wir dürfen darüber nicht die raffinirte Bosheit vergeffen, mit 
welcher Könige von Neapel, um das widerſpenſtige Sicilien ihre Rache fühlen zu 
Iaffen, ihren Truppen die Ausrottung alter Bäume befahlen. Berſprach doch 
ein Kardinal bei einem Einfall in Apulien feinen Soldaten für jeden gefällten 
Delbaum, welder fehr langfam wächst, einen Ablaß von hundert Tagen. 

Auch der Wein ift fein Hanvelsgegenftand, welcher bie verſchiedenen Provinzen 
Italiens in Verkehr zu einander gefegt hätte. Jede Landſchaft befigt Hügel, welde 
ohne viel Mühe trinfharen Wein bieten. Nur an wenigen Orten wird auf die 
Nebe intelligenter Fleiß verwendet, 3. B. in Afti im Thale des Tanaro. Die 
Lombardei, welche in folge der Bachtverhältniffe und der Seidenzucht meift mittel- 
mäßigen Wein erzielt, bezieht ihre feineren Weine aus Piemont. Als Oeſterreich 
1845 mit Piemont aus Beranlaffung des Salztransports in Streit gerieth, er 
höhte Defterreih gegen Piemont feinen Weinzol. Die Mailänder antworteten 
darauf durch den Beſchluß, fid, im Weingenuß an inlänbifches Probuft zu halten 
und feine Öfterreihiihen Weine zu trinken. Dagegen tft Biemont fo reich an kühlen 
Höhen und in ben früher Iombarbifchen Niederungen zwiſchen Seftn und Ticino 





Stalin, 695 


an Produkten der nieberen Lombardei, daß e8 der Einfuhr aus biefer ober anders 
woher nicht beburfte, fo lang es nidt durch Cavour zur Fabrikation getrichen 
wurde, Dieß, nebft ven Gebirgen, von welden es nach drei Seiten eingefchloffen 
wird, gab Piemont feinen fo vefervirten, abgefchloffenen Charakter, welcher mitten 
im Zufammenftoß Frankreichs, Spaniens und DOefterreihs mit ungeheurer An⸗ 
ftrengung immer wieber feine Selbftändigkeit ficher ftellte, diefes nährte feine Anhäng- 
lichleit an das Haus Savoyen, welche ſich ſeit Berpflanzung desſelben nach Florenz 
in bittere Eiferfucht gegen das Königreich Italien und in Radikalismus verwandelt, 
der feinem Grundweſen fremd ift. 

Damit hätten wir eben fowohl bie infulare wie die fontinentale Zugabe der 
italieniſchen Halbinfel, Oberitalien, betrachtet. Feftlänpifche Kelten, Bojer, Gallier 
haben zuerft in den Polanven bis gegen den Rubico hin das Land bevblkert. 
Selbſt der gegen die Eyzantifch-römifchen imperatorifchen Renaifſanceideen ver 
Hohenftanfen gerichtete lombardiſche Städtebund Hatte viel Aehnlichkeit mit den 
deutſchen Stäptebänden. Bis auf bie legten Jahre hat Habsburg die Anſprüche 
des mittelenropäifchen Feſtlandes auf Italien für feine Hansinterefien geltend ge⸗ 
macht, aber es hat auch die Italiener gelehrt, daß, wie feit Karl V. vie Schlachten, 
welche über das Loos Italiens entſchieden, im Pothal gefchlagen wurden, fo bie 
nationale Eroberung Italiens, feine Selbſtherrſchaft von feinen mehr germanifirten 
ubrdlichen Bölfern ausgehen müſſe. 

Schon in feinem erſten anfangs nordöſtlichen, bald füpäftlichen Zug vom 
Col di Tenda ab If der Apennin bei einer mittleren Meereshöhe von bloß 
4000 Fuß eine mächtige Böllerfcheide. Zwar wohnten zu feinen beiden Selten 
bie Garten, kühnen Ligurer. Allein fo abgefchlofien binnenländiſch ackerbauend bie 
PBiemontefen an den Zuflüfien des Po find, welche, dem Gebirgsamphithenter ent- 
fprungen,, ein fruchtbares Hügelland, das Montferrat, einfchlofien, fo find die 
Bewohner der beiden Rivieren'von Genus anf einem ſchmalen Küſtenſaum durch 
das Gebirg in das Meer hingenrängt. Während die Gatten, bie Brüder und 
Söhne Jahr und Tag auf den alten Wegen bes Schwarzen Meeres, dieſer harten 
Seemannsſchule, nnd der Levante ihre Kraft verwertben, weilen bie Weiber und 
Töchter der Heinen Küftenfläpte daheim in flrenger Zucht. Genua (das Knie der 
Küftenlinie) fendet 11,400, Savona 4400, Chiavari mit Umgegend 6000 See 
leute aus, Dem Soldatenvienft zn Sand äuferft abgeneigt, entzogen fi ihm Tau⸗ 
fenbe der jungen Männer durch Dienft auf ver ſüdfranzöſiſchen und ber fpanifchen 
Marine ober indem fie dur die zahlreichen Meinen Biſchöfe als Afpiranten des 
geiftliden Standes ihren Militärpflichten beträgerifch entzogen wurden. Seit dem 
Krimkrieg hat ſich die Handelsmarine von Genua fehr verftärft und bie Italientfche 
Kriegsmarine bedarf Ihrer. 

Die von Mentone bis Spezia in einer Länge von 27 Meilen ſich erſtreckende 
genuefiihe Küfte bietet im Großen die Zerrafienkultur der Abhänge, welde an 
den Ufern der italieniſchen Gebirgöfeen vom Lago Maggiore bis zum Gardaſee 
bald zur Pracht, bald zur Nahrung des Kleinen Beſitzers vorherrſcht. Sie charak⸗ 
terifirt bis Sicilien hinab die ſchönſten, fruchtbarften, bevölkertſten Kulturland- 
ſchaften, wo Alterthum, Mittelalter und neueſte Zeit, Natur und Kunſt in ihrer 
Bereinigung, in ihrem Wetteifer Italien zu Italien gemacht haben. Auf den Ge⸗ 
birgshöhen konnte nie Kultur wurzeln. Weite Strecken am Meere bin find 
durch die Meereswogen, aber auch große Streden Ianveinwärts, wie das vor zwei, 
drei Iahrtanfenden blühende Land ver Etrusker zwifchen dem unteren Arno und 
ber unteren Tiber, durch Erbbeben, durch Verhinderung des Waflerablaufs ver- 


98 + 


% 


686 Nachtrag. 


fremder Hülfe, ausgefloßen. So-wurbe bie Bevölkerung in der langgeſtredten Halb⸗ 
inſel zwar eine ſehr gemiſchte, aber doch bis auf die Südküſte von Siecilien eine 
weſentlich enropäiſche, ungleich mehr als in Spanien und auf der Hämushalbinfel. 
Diefe Krenzung europäifcher Raſſen entwidelte ſich in ihr zu einer eigenthämlichen 
Kultur, welche ihre befte Schugwehr gegen Fremdherrſchaft und ihr Einheitspunkt 
if. Eben darum ruht dieſer Einheitspunft wejentli in ven Höheren Klaſſen, wäh- 
rend bie Buchten des Meeres, noch mehr die der Gebirge, Hunderte von. nralten, 
oft barbariſchen Kianeigenthämlichleiten bewahren. — 

Die mittellänvifchen Beziehungen Italiens faſſen ſich zum Theil in Sicilien 
zufommen. Während die Halbinfel 5700 Ouabratmeilen bat, zählt Sicilien deren 
495. Das Geſtein der die Rorbläfte von Sicilien bildenden Gebirgszugs beweist, 
daß es eine nur durch Weuer- und Waflerkräfte durchbrochene —2* bes 
Apennins if. Der Erderſchütterer Poſeidon, fagt die Mythe, wollte and, feinen 
Untheil an dem Rande des Sonnengotts Haben und fpaltete fiegreih vie Trinacria 
won der Halbinfel ab. Ein Waflerbett von einigen Meilen genügte. Raum dürfte 
ein Bölterleben eine größere Bedentung gehabt haben. Die Südweſtküſte Italtens, 
bie von ber Ratur ungleich reicher ausgeftattete, wurde dadurch mit ven griechifchen 
Gewäflern, mit dem Orient emger verbunden. Der Zwiſchenraum zwifchen der 
Weſtküſte Siciliens und dem afrifanifhen Kap Bon, in deſſen Schub der Meer 
bufen von Karthago liegt, beträgt zwanzig Meilen und find vie gegenfeitigen Ge⸗ 
Rade nicht fihtbar. An den Küften von Sicilien und an denen der Adria gewiunt 
Italien feinen Salzreichthum. 

Bon dem nördlichen Bergrücken Siciliens fällt ein wellenförmiges Hügelland 
ſüdlich ab. Die Geſchichte und die Trümmer von Girgenti bewelfen, daß die Süb- 
tüfte einft ungleich fruchtbarer war. Sie ift um verwilbert. Selbſt ihre reichen, 
immer werthooller werdenden Schwefelgruben find ein zweidentiger Gewinn, da 
fle den Verbrechern als Zuflucht dienen. Bei Noto beginnen jept vie civilifirten 
Landſtriche. Die Ofttäfte, beſonders das untere Thal des Simetto, das untere 
Biertheil des mehr als zehntaufend Fuß hoben Aetna find fehr fruchtbar. Hier 
anf den verwitterten Auswärfen des Bullans Ichen über 100,000 Menfchen. 
Catania iſt nebſt Meſſina die bürgerlich civilifirtefte Stadt, währen Syracus nur 
noch ber zwanzigfte Theil feiner früheren Größe if. Die Kartbager, bie Araber 
und die Hohenftanfen liebten und hoben vor allen Palermo, in den legten Jahr⸗ 
hunderten bie Adels⸗ und Klofterftabt mit 200,000 großentheils verwilderten Ein⸗ 
wohnern. 

Die Berentung von Sicilien rubt auf feiner Oſt⸗ und Nordküſte. Sicilien 
ift die Infel der Küftenflänte. Die Städte des Binnenlandes, felbft Gaftrogiopanni 
und Nicoſia, find unbedeutend, durch den Mangel an Verkehrsmitteln iſolirt. 
erodenheit und Mangel an fchiffbaren Ylüffen laften ſchwer auf dem Binuen- 
anbe. 

Es war für vie Entwidlung Italiens von ber entſcheidendſten Wichtigkeit, 
daß die griechiſchen Kolonien bis zur Weſtſpitze fefte Wurzeln gefaßt Hatten — 
was noch heute die Auinen von Segefte und Selinus beweilen —, ehe die Kar- 
thager feften Fuß faßten. Diefe wurben erſt durch bie Uneinigkeit der griechiſchen 
Städte, in Folge der Berfuche Gela's und der Shracufaner, die andern Griechen⸗ 
ſtädte zu unterjochen, berübergerufen. Durch bie Marine diefer Griechen gelang 
es den Römern im erften punifchen Kriege in der Mitte des britten Jahrhunderts 
vor Ehrifins die Karthager zurüdguwerfen. Unter ben Römern wurde befonders das 
Binnenland gehoben, wo eine Urbevällerung tapfer für ihre Selbflänpigleit ge 


Stalien. 587 


rungen hatte. Go fchredlih auch römiſche Statthalter wie Berres biefe Provinz 
ausgefogen und ihre Kunſtſchätze geplündert hatten, fo war für fie doch der Ankauf 
ber guten Ländereien dieſer Kornlammern von Rom burch wenige Große ver Be⸗ 
oölferung nachhaltiger ſchädlich. Dieſe Latifundien wurden von Sklaven bebaut, 
welde gegen das Jahr 100 vor Ehriftus ſich zu wieberholten fehr blutigen Sflaven- 
triegen erhoben. Während die Küften Siciliens in den römijhen Bürgerkriegen 
und von ben Banbalen geplänbert wurben, blieben dieſe großen Sttavenpflanzungen 
fort und fort. Durch Stiftungen fiel ein großer Theil verfelben zur Zelt bes 
Untergangs der alten Welt aus den Händen römifcher Großen im bie ber Pa- 
triarhen von Rom. Gregor I. (gegen das Jahr 600) gibt in feinen Briefen Be⸗ 
fehle über die Benätung feiner ficilianifchen Stlavenfchanren, deren Arbeit ver Macht 
jener Patriarchen als Karyatide diente, 

Bei Sicilien erwedt die Entwidlung des inſularen Stolzes und Unabhängig- 
Keitstrieb8 beſonderes Interefie; aber wenn einmal die Partelleivenfhaften ent- 
zündet waren, rief man, von den Zeiten ber Karthager bis zu deuen Garibaldi's, 
irgend welde Fremde zn Hülfe, mit dem Borbehalt, fi daun and) gegen fie zu 
kehren. Sicilien war bie leichte Beute der Oftgothen und 536 Bellfars. Aber bie 
Ausſaugung durch die Byzantiner war eine fo fhamlofe, daß die Sicilianer zuerſt 
wiederholt die Aufſtandsverſuche byzantiniſcher Statthalter und Generale unter 
ftützten, dann die Saracenen von Tunis zu Hülfe riefen. Nichts deſto weniger 
fehlen im Bilverftreit Sichlien von Rom losgerifien und Byzanz auch kirchlich ein« 
verleist, wodurch fi noch mande kirchliche Alterthümer und Sitten ber Infel 
erflären. Davon, daß die Byzantiner von Sicilien ans auch unfldhere Provinzen 
Süpitallens beherrichten, entftand ber Kanzleiausdruck: Reich beider Sicilien. Aber 
mit Hülfe eines beleidigten byzantiniſchen Generals verwandelten die Saracenen 
831 ihre Raubzäge in Eroberungen. Nad einer verzweifelten Vertheidigung fiel 
das von Byzanz feig verlaffene Syracus 878; wenigftens Zehntaufende wurden 
ermordet. Der legte Widerſtand des fichlianifhen Afturien, die hriftlichen Nitter« 
burgen bei Tauromina, wurden gebrochen und Palermo zur Reſidenz des Statt⸗ 
halters des afrikaniſchen Ehalifen erhoben. Sicilien ſchien für die Chriſtenheit und 
für Italien verloren; dieſes war von ſeiner Seefeſtung aus bedroht. Aber gerade 
dadurch erfolgte eine Reaktion, welche Sicilien wieder an die Geſchicke Italiens 
kettete, fo oft es auch trotzig feine Unabhängigkeit zu erſtürmen ſuchte. 

Nirgends in Italien lebt das ganze Volk fo fehr in der gefährlichen unmittel 
baren Erinnerung an eine bvreitaufendjährige Geſchichte, welche ihm perſpektiviſch 
wie eben fo viele Jahrhunderte nahe gerückt ſcheint. So ungehener die Mehrzahl 
der Nichtlefenden auf der Infel ift, fo bilden die von Sicilianern über Sicillen, 
befonders über feine Geſchichte verfaßten Monographieen eine ſchöne Bibliothek. 
Der Übel, eingevent ber gemeinfamen Abſtammung, ſchaut gerne auf Albion, wie 
Neapel auf Frankreich und Spanien. Die nationale Geſitiung Oberitaliens bat 
bier ein jchweres Aſſimilationswerk vor fid. 

So wichtig Sicilien für die politifhe und für die Kulturgeſchichte if, fo 
wenig ift dieß bei der Infel Sardinien der Ball, welde mit Eorfica wie ein 
Pendel ans dem Golf von Genua gegen die Spite der Norbfüfte Afrita’s hängt. 
Sie bat 430 Quadratmeilen. Gerade die Lage Sarbiniens in der Mitte des 
weftlihen Beckens des Mittelmeers und feine der Kultur ungünftige Beſchaffen⸗ 
beit machten es zue Beute aller im Lanfe ver Jahrhunderte fecherrfchenven 
Nationen. Umfonft fuchten bie „Richter, die Grafen ber Bezirke, den Kampf der 
Piſaner und der Genuefen um die Infel zur Erringung der Unabhängigteit zu 


686 Nachtrag. 


fremder Hülfe, ausgeſtoßen. So-wurbe bie Bevölkerung in der langgeſtredten Halb⸗ 
inſel zwar eine ſehr gemiſchte, aber doch bis auf die Südküſte von Sicilien eine 
weſentlich enropäifche, ungleih mehr als in Spanien und auf der Hämushalbinfel, 
—— ——— europälfcher Raſſen entwickelte ſich in ihr zu einer eigenthümlichen 

ltur, welche ihre beſte Schutzwehr gegen Fremdherrſchaft und ihr Einheitspunkt 
* Eben darum ruht biefer Einheitspunkt wejentlih in ven höheren Klaflen, wäh- 
vend bie Buchten des Meeres, noch mehr bie der Gebirge, Hunderte von. uralten, 
oft barbarifchen Kaneigenthämlichleiten bewahren. — 

Die mittellänvifhen Beziehungen Italiens faſſen ſich zum Theil in Sicilien 
zufammen. Während die Halbinfel 5700 Quadraimeilen hat, zählt Sicilien deren 
495. Das Gefteln der die Rorbläfte von Siclien bildenden Gebirgszugs — 
daß es eine nur durch Feuer⸗ und Wafl durchbrochene Yortfekung des 
Apennins if. Der Erbverfchätterer Poſeidon, fogt bie Mythe, wollte auch feinen 
Antheil an dem Lande des Sonnengotts haben und fpaltete fiegreich die Trinacria 
won der Halbinfel ab. Ein Waflerbett von einigen Meilen genügte. Kaum bärfte 
ein Bölterleben eine größere Bedentung gehabt haben. Die Säpwefttüfte Italtens, 
bie von der Ratur ungleich reicher ausgeftattete, wurde dadurch mit den griechifchen 
Sewäflern, mit dem Orient enger verbunden. Der Zwiſchenraum zwiſchen ber 
Weſtküſte Siciliens und dem afritanifhen Kap Bon, in deſſen Schub der Meer 
bufen von Karthago Liegt, beträgt zwanzig Meilen und find vie gegenfeltigen Ge⸗ 
ſtade nicht fihtbar. An den Küften von Sicilien und an denen ber Worin gewinnt 
alten feinen Salzreichthum. 

Bon dem nörbliden Bergrüden Siciliens fällt ein wellenförmiges Hügelland 
ſüdlich ab. Die Geſchichte und die Trümmer von Girgenti beweifen, daß die Süd⸗ 
tüfte einft ungleich frucktbarer war. Ste iſt num verwilvert. Selbſt ihre reichen, 
Immer werthooller werdenden Schwefelgruben find ein zweibentiger Gewinn, da 
fle den Verbrechern als Zuflucht dienen. Bei Noto beginnen jetzt bie ciollifirten 
Landſtriche. Die Oftfüfte, beſonders das untere Thal des Simetto, das untere 
Biertheil des mehr als zehntaufend Fuß hoben Yetna find fehr fruchtbar. Hier 
auf ben vermitterten Auswürfen bes Bulfans leben über 100,000 Menſchen. 
Catania iſt nebſt Meſſina vie bürgerlich civilifirtefte Stadt, währenb Syracus nur 
noch der zwanzigfte Theil feiner früheren Größe ift. Die Kartbager, die Araber 
und die Hohenſtaufen liebten und hoben vor allen Palermo, in den leuten Jahr⸗ 
hunderten die Abels- und Klofterftadt mit 200,000 großentheild verwilderten Ein⸗ 
wohnern, 

Die Berentung von Sicilien ruht auf feiner Oſt- und Nordküſte. Sichlien 
ift die Infel der Küſtenſtädte. Die Städte des Biunenlandes, felbft Caſtrogiovanni 
und Nicofia, find unbebeutend, durch den Mangel an Berfehrömitteln iſolirt. 
Aeenheit und Mangel an ſciffbaren Flüffen laſten ſchwer anf dem Bimen- 
anbe 

Es war für die Entwidlung Itallens von der entſcheidendſten Wichtigkeit, 
daß die griechiſchen Kolonien bis zur Weſtſpitze fefte Wurzeln gefaßt hatten — 
—* noch heute die Ruinen von Segeſte und Selinus beweiſen —, ehe die Kar⸗ 

thager feſten Fuß faßten. Dieſe wurden erſt durch die Uneinigkeit der griechiſchen 
Städte, in Folge der Verſuche Gela's und der Syracuſaner, die andern Griechen⸗ 
ſtäͤdte zu unterjochen, berübergerufen. Durch bie Marine diefer Griechen gelang 
es den Römern im erften punifchen Kriege in ver Mitte des britten Jahrhunderts 
vor Ehriftns die Karthager zurückzuwerfen. Unter ven Römern wurde beſonders das 
Binnenland gehoben, wo eine Urbevölkerung tapfer für ihre Selbſtäͤndigkeit ge 


Italien. 687 


rungen hatte. So ſchrecklich auch römiſche Statthalter wie Verres dieſe Provinz 
ausgeſogen und ihre Kunſtſchätze geplündert hatten, ſo war für ſie doch der Ankauf 
der guten Ländereien dieſer Kornlammern von Rom durch wenige Große der Be- 
völlerung nachhaltiger ſchädlich. Dieſe Latifundien wurden von Sklaven bebaut, 
welche gegen das Jahr 100 vor Ehriftus fi zu wiederholten fehr blutigen Sflaven- 
Kriegen erhoben. Während die Küften Siciliens in ben römiſchen Bürgerkriegen 
und von ben Banbalen geplünvert wurden, blieben diefe großen Sklavenpflanzungen 
fort und fort. Durch Stiftungen fiel ein großer Theil derfelben zur Zeit bes 
Untergangs der alten Welt aus ben Händen römifcher Großen in vie der Pa⸗ 
teiarhen von Rom. Gregor I. (gegen das Jahr 600) gibt in feinen Briefen Be- 
fehle über vie Benützung feiner ficilianifchen Sklavenſchaaren, deren Arbeit ver Macht 
jener Patriarchen als Karyatide diente. | 

Bei Sicilien erwedt die Entwidiung des infularen Stolzes und Unabhängig- 
keitstriebs beſonderes Interefie; aber wenn einmal bie Parteileivenfchaften ent- 
zündet waren, rief man, von den Zeiten ber Karthager bis zu denen Garibaldi's, 
irgend welche Fremde zn Hülfe, mit dem Vorbehalt, fih dann aud gegen fie zu 
lehren. Sicilien war die leichte Beute der Oſtgothen und 536 Belifars. Uber die 
Ausfongung durch die Byzantiner war eine fo ſchamloſe, daß die Sicilianer zuerft 
wiederholt die Aufſtandsverſuche byzantiniſcher Statthalter und Generale unter 
Büsten, dann bie Saracenen von Tunis zu Hülfe riefen. Nichts deſto weniger 
ſchien im Bilderftreit Sicilien von Rom losgerifien und Byzanz auch kirchlich ein- 
verleist, wodurch fih noch mande kirchliche Alterthümer und Sitten der Inſel 
erflären. Davon, daß die Byzantiner von Sicilien aus auch unficdere Provinzen 
Süditaliens beherrfchten, entftand ber Kanzleiausprud: Reich beider Sicilien. Aber 
mit Hülfe eines beleivigten byzantiniſchen Generals verwanbelten bie Saracenen 
831 ihre Raubzäge in Eroberungen. Nad einer verzweifelten Verteidigung fiel 
das von Byzanz feig verlafiene Syracus 878; wenigſtens Zehntaufende wurben 
ermordet. Der legte Widerſtand des ficilianifhen Afturien, pie chriftlichen Ritter 
Burgen bei Tauromina, wurben gebrochen und Palermo zur Reſidenz des Statt⸗ 
halters des afrikaniſchen Ehalifen erhoben. Sicilien ſchien für bie Ehriftenheit und 
für Italien verloren; diefes war von feiner Seefeftung aus bedroht. Aber gerave 
dadurch erfolgte eine Reaktion, welche Sichlien wieder an bie Geſchicke Italiens 
kettete, fo oft es auch troßig feine Unabhängigkeit zu erſtürmen ſuchte. 

Nirgends in Italien lebt das ganze Volk fo fehr in der gefährlichen unmittel 
baren Erinnerung an eine vreitaufendjährige Geſchichte, welche ihm perſpektiviſch 
wie eben fo viele Jahrhunderte nahe gerückt ſcheint. So ungeheuer vie Mehrzahl 
der Nichtlefenden auf der Infel ift, fo bilden die von Sicilianern über Sicilien, 
befonders über feine Geſchichte verfaßten Monographieen eine ſchöne Bibliothek, 
Der Übel, eingevent der gemeinjamen Abftammung, ſchaut gerne auf Albion, wie 
Neapel auf Frankreich und Spanien. Die nationale Geflttung Oberitaliens hat 
bier ein ſchweres Affimilationswerk vor ſich. 

So wichtig Sicilien für die politifhe und für bie Kulturgeſchichte iſt, fo 
wenig ift dieß bei der Infel Sarpinien der Fall, welde mit Eorfica wie ein 
Pendel aus dem Golf von Genua gegen die Spitze ber Nordküſte Afrita’s hängt. 
Sie dat 430 Quadratmeilen. Gerade die Lage Sarbiniens in der Mitte des 
weſtlichen Bedens des Mittelmeers und feine der Kultur ungünftige Beſchaffen⸗ 
beit machten es zur Bente aller im Laufe der Jahrhunderte ſeeherrſchenden 
Nationen. Umfonft fuchten die „Richter”, vie Grafen der Bezirke, den Kampf der 
Bifaner und der Genuefen um bie Infel zur Erringung der Unabhängigkeit zu 


586 Nachtrag. 


fremder Hülfe, ausgeſtoßen. So-wurbe die Bevöllkerung in ber langgeftredten Halb⸗ 
inſel zwar eine ſehr gemiſchte, aber doch bis auf die Südküſte von Sieilien eine 
weſentlich enropätfche, ungleich mehr als in Spanien und auf der Hämushalbinfel. 
Diefe Kreuzung europäifcher Rafien entwidelte fi in ihr zu einer eigenthümlichen 
Kultur, welche ihre befte Schugwehr gegen Fremdherrſchaft und ihr Einheitspunkt 
ift. Eben darum ruht diefer Einheitspunkt wejentlic in den höheren Klaſſen, wäh- 
vend bie Buchten des Meeres, noch mehr bie ver Gebirge, Hunderte von. uralten, 
oft barbariſchen Klaneigenthitmlichleiten bewahren. — 

Die mittelänvifhen Beziehungen Italiens faſſen fi zum Theil in Sicilien 
zufommen. Während bie Halbinfel 5700 Quadratmeilen hat, zählt Sicilien deren 
495. Das Geſtein der die NRorbtäfte von Stcilien bildenden Gebirgszugs beweist, 
daß es eine nur durch Feuer⸗ und Waflerkräfte durchbrochene Fortſetzung bes 
Apennins ifl. Der Erverfchätterer Poſeidon, fagt die Mythe, wollte auch feinen 
Antheil an dem Lande des Sonnengotts haben und fpaltete fiegreich die Trinacria 
won der Halbinfel ab. Ein Waflerbett von einigen Meilen genügte. Raum dürfte 
ein Bölterleben eine größere Bedentung gehabt haben. Die Südweſtküſte Italtens, 
die von der Natur ungleich reicher ausgeftattete, wurde dadurch mit ben griechiſchen 
Gewäflern, mit dem Orient enger verbunden. Der Zwilhenraum zwiſchen ber 
Weſtküſte Siciliens und dem afrilanifchen Kap Bon, in defien Schub der Meer 
bufen von Karthago Iiegt, beträgt zwanzig Meilen und find vie gegenfeitigen Ge⸗ 
Rade nicht fihtbar. An den Küften von Sicilien und an denen ber Adria gewiunt 
Ralien feinen Salzreichthum. 

Bon dem nördlichen Bergrücken Siciliens fällt ein wellenförmiges Hügelland 
ſüdlich ab. Die Gefchichte und die Trümmer von Girgenti beweifen, daß bie Süb- 
tüfte einft ungleich fruchtbarer war. Ste ift nım verwilbert. Selbft ihre reichen, 
immer werthuoller werdenden Schwefelgruben find ein zweidentiger Gewinn, da 
fie ven Verbrechern als Zuflucht dienen. Bei Noto beginnen jegt die civilifirtenm 
Landſtriche. Die Oftfäfte, beſonders das untere Thal des Simetto, das untere 
Biertheil des mehr als zehntaufend Fuß hoben Aetna find fehr fruchtbar. Hier 
auf den verwitterten Auswürfen des Bulkans leben über 100,000 Menſchen. 
Catania iſt nebſt Meſſina vie bürgerlich civilifirtefte Stapt, während Syracus nur 
noch der zwanzigfte Theil feiner früheren Größe ifl. Die Karthager, bie Araber 
und die Hohenftanfen liebten und hoben vor allen Palermo, in ven leuten Jahr⸗ 
hunderten bie Avels- und Klofterftapt mit 200,000 großentheils verwilderten Ein⸗ 
wohnern. 

Die Berentung von Sicilien ruht auf feiner Oſt⸗ und Nordküſte. Sichlien 
ift die Infel ver Küftenflänte. Die Städte des Binnenlandes, felbft Caſtrogiovauni 
und Nicofia, find unbedeutend, durch den Mangel an Verkehrsmitteln tfoltzt. 
erodenheit und Mangel on fohiffbaren Flüffen laſten ſchwer auf dem Bimen- 
anbe. 

Es war für die Entwidlung Italiens von ber entſcheidendſten Wichtigkeit, 
daß die griechifchen Kolonien bis zur Weftipige fefte Wurzeln gefaßt hatten — 
was noch heute die Ruinen von Segefte und Selinus beweilen —, ehe die Kar- 
tbager feften Fuß faßten. Diefe wurben erft durch die Uneinigfeit der griechiſchen 
Städte, in Folge der Verſuche Gela’3 und ber Syracufaner, die andern Griechen⸗ 
ſtädte zu unterjodhen, herübergerufen. Durch die Marine viefer Griechen gelaug 
es ben Römern im erften puniſchen Kriege in ver Mitte des britten Jahrhunderts 
vor Ehriftns die Karthager zurückzuwerfen. Unter ven Römern wurde befonders das 
Binnenland gehoben, wo eine Urbevölferung tapfer für ihre Selbſtändigkeit ge 

















Italien. 687 


rungen hatte. So ſchrecklich auch römiſche Statthalter wie Verres dieſe Provinz 
ausgeſogen und ihre Kunſtſchätze geplündert hatten, ſo war für ſie doch der Ankauf 
der guten Landereien dieſer Kornlammern von Rom durch wenige Große ber Be⸗ 
oölferung nachhaltiger ſchädlich. Diefe Latifundien wurben von Sklaven bebaut, 
welche gegen das Jahr 100 vor Chriſtus fi zu wiederholten ſehr blutigen Sklaven⸗ 
kriegen erhoben. Während die Küften Siciliens in den römiſchen Bürgerkriegen 
und von ben Vandalen geplünbert wurben, blieben diefe großen Stlavenpflanzungen 
fort und fort. Durch Stiftungen fiel ein großer Theil verfelben zur Zeit bes 
Untergangs der alten Welt aus den Händen römifcher Großen im bie ber Pa⸗ 
triarhen von Rom. Gregor I. (gegen das Jahr 600) gibt in feinen Briefen Be⸗ 
fehle über die Benützung feiner ſicilianiſchen Sklavenſchaaren, deren Arbeit der Macht 
jener Patriarchen als Karyatide biente, 

Bei Sicilien erwedt die Entwidlung des infularen Stolzes und Unabhängig- 
leitotriebo beſonderes Interefie; aber wenn einmal bie Partelleivenfchaften ent- 
zündet waren, rief man, von ben Zeiten ver Karthager bis zu denen Garibaldi's, 
irgend welche Fremde zu Häülfe, mit dem Vorbehalt, fi danu auch gegen fie zu 
kehren. Sicilien war die leichte Beute der Oftgothen und 536 Beliſars. Aber die 
Ausſaugung durch die Byzantiner war eine fo fhamlofe, daß die Sicilianer zuerſt 
wiederholt die Aufſtandsverſuche byzantiniſcher Statthalter und Generale unter 
Rütten, dann die Saracenen von Tunis zu Hülfe riefen. Nichts defto weniger 
fehlen im Bilderftreit Sieilien von Rom losgerifien und Byzanz auch kirchlich ein⸗ 
verleist, wodurch fih noch mande kirchliche Altertbämer und Sitten ber Infel 
ertlären. Davon, daß die Byzantiner von Sicilien aus auch unſichere Provinzen 
Süditaliens beherrfchten, entftand der Kanzleiausdruck: Reich beider Sicilien. Aber 
mit Hülfe eines beleivigten byzantiniſchen Generals verwanbelten die Saracenen 
831 ihre Raubzüge in Eroberungen. Nach einer verzweifelten Vertheidigung fiel 
das von Byzanz feig verlaflene Syracus 878; wenigſtens Zehntanfende wurben 
ermorbet. Der legte Widerſtand des ſicilianiſchen Afturien, vie hriftlichen Ritter 
Burgen bei Tauromina, wurben gebrochen und Palermo zur Reſidenz bes Statt⸗ 
halters des afrifanifhen Ehalifen erhoben. Sicilien fchien für bie Chriſtenheit uud 
für Italien verloren; dieſes war von feiner Seefeftung aus bebrobt. Aber gerade 
dadurch erfolgte eine Reaktion, welche Sicilien wieder an die Geſchicke Italiens 
kettete, fo oft e8 auch trogig feine Unabhängigkeit zu erſtürmen fuchte, 

Nirgends in Italien lebt das ganze Volk fo fehr in der gefährlichen unmittel⸗ 
baren Erinnerung an eine dreitaufenpjährige Geſchichte, welche ihm perſpektiviſch 
wie eben fo viele Jahrhunderte nahe gerüdt fcheint. So ungeheuer die Mehrzahl 
der Nichtlefenden auf der Infel ift, fo bilden bie von Sicilianern über Sicilien, 
befonders über feine Geſchichte verfagten Monographieen eine ſchöne Bibliothek. 
Der Adel, eingeben? der gemeinfamen Abſtammung, ſchaut gerne auf Albion, wie 
Neapel auf Frankreich und Spanien. Die nationale Geflttung Oberitaliens bat 
biex ein ſchweres Aſſimilationswerk vor ſich. 

So widtig Sicilien für die politifhe nnd für die Kulturgeichichte ift, fo 
wenig ift dieß bei der Infel Sardinien ver Fall, welde mit Eorfica wie ein 
Bendel aus dem Golf von Genua gegen die Spige ver Norblüfte Afrita’s hängt. 
Sie bat 430 Dundratmeilen. Gerade die Tage Sarbiniens in ber Mitte bes 
weftlihen Bedens des Mittelmeers und feine der Kultur ungünftige Beſchaffen⸗ 
beit machten es zur Beute aller im Lanfe der Jahrhunderte fecherrfchennen 
Nationen. Umfonft fuchten die „Nichter”, die Grafen der Bezirke, den Kampf ver 
Bifaner und der Genueſen um bie Infel zur Erringung der Unabhängigkeit zu 


588 Nachtrag. 


benügen. Auch die Päpfte erhoben lange ganz befondere Auſprüche auf Sarbinien. 
Sie belehnten die Krone von Aragon damit; aber erſt nad fehweren Kämpfen 
verzichtete Pifa 1326 tarauf. So kam bie Infel an Spanien, weldes Cagliari 
als Stützpunkt gegen bie Barbaresten benügte Noch heute ift ber Dialeft ber 
Weſtküſte Halb ſpaniſch. Die großen Güter famen zum Theil in den Beſitz von 
fpanifhen Familien oder überfievelten die reichften Sarbinier nah Spanien. Ihr 
Abſentismus verzehrte das Mark der Infel bis in unfer Jahrhundert. Wenn fie 
je einmal erfchtenen, fo machten fie ihr Recht, auf ihren Halbleibeigenen zu ſitzen 
und auf ihrem Rüden zu reiten, geltend. Die privilegirten Stände, bie brei 
„Arme” (wie fie au auf Sicilien hießen) behielten ihre Macht als Grundbeſitzer 
bei, and als vie Infel nach dem Ausfterben ber ſpaniſchen Habsburger 1713 
öfterreihif wurde und ale 1720 die Habsburger, der für fie werthlofen Infel 
überbräffig, das Hans Savoyen nöthigten, ihnen dafür Sicilien abzutreten. 

Die Ueberbürbung ber Landbauer durch bie grundbeſitzende Ariſtokratie, durch 
bie Kirche und durch bie zahlreichen Heinen Klöfter, diefe Schlupfwintel der krafſeſten 
Rohheit und des Lafters — Bifltatoren wurben durch Gift unſchädlich gemacht — 
bewirkten, daß vie Benölferung, welde im Jahre 1775 noch 426,400 Einwohner 
betrug, im Jahre 1816, nachdem bie Infel dem vom Fefllande vertriebenen Könige 
fünfzehn Jahre als Refivenz gevient hatte, fi nur auf 351,900 Seelen bellef. 

Daher ließ es Karl Albert von Anfang feiner Regierung an eines feiner 
Hauptziele fein, die Infel nachhaltig zu heben. Eine Erforfhungslolonne unter 
der Zeitung des Geognoften Albert damarmora und des Botanikers Moris durch⸗ 
zog einige Jahre lang die Infel. Die fiebererzeugende Mifhung des Waflers ber 
Bäche mit dem Meereswaſſer an ven feichten Küften, welche, ſchon die Römer ver» 
anlaßt hatte, eine Verbannung nad Sardinien als ein langfam ſich vollziehendes 
Todesurtheil zu Betrachten, bleibt ein Hanpthinberniß der Knltur. So trefflich 
Reljon mehrere Häfen fand, fo gut der Hanf wädst, fo leben die Sarbinier doch 
lieber auf ihren Keinen Pferden als Hirten und Jäger in ben bis über Rigihshe 
anſteigenden, vegellos ſich hebenden und ſenkenden Bergzügen. Indeß haben bie 
von Karl Albert erzielten Ablöfungen ver ungehenern Grundlaſten dem Volle bie 
Möglichkeit gegeben, tie Früchte feines Aderbaues zum Theil felb zu genießen. 
So fruchtbar die Thalmulde zwifhen Cagliari und Oriſtano ift, fo bat doch im 
Jahr 1866 eine Hungersnoth die Infel wieder ſchwer heimgefudt. 

Erft durch die piemontefifhe Verfaſſung von 1848 ift die Infel wirklich 
polttifeh mit dem Feſtlande verbunden worden. Vorher beftand nur Perfonalunion, 
welche dem Seftlandsftante beinahe nichts an Kraft zubrachte. Erſt feit 1848 ſtellen 
die Sarbinier Soltaten. Aber die Millionen, welche Karl Albert auf Hebung bes 
Uderbaues und bes Bergbaues aufwandte, haben bisher noch wenig rentirt. Def» 
halb iſt es möglich, daß Frankreich einmal die Infel erhält, von deren Norbhäfen 
ans Toulon blofirt werben kann. 

Corfica iſt als Wiege Napoleons an Frankreich feſt gekettet. Da feine 
öſtlichen Häfen unbedeutend find, fo tient es Frankreich wenig zur Bedrohung 
ber mittelitalienifchen Weſtküſte. Dagegen war es bis ins vorige Jahrhundert von 
politifcher Bedeutung, daß Spanien, fpäter Reapel, Elba und einige ihm gegen« 
überliegende Küftenpläge von Toscana, wie auch die Präflbien von Orbitello 


Bas Häfen und Meerengen für bie Meereatüften von Italien find, das 
find die Alpenpäffe für feine Feſtlandsverbindung. Erſt bie Riefenkanten 
Rapoleond machten von ber Meeresſtraße bei Nizza⸗Genua an (chemin de la 


Stalin. 689 


eorniche) feit 1812 die weftlichen Alpenſtraßen fahrbar. Früher war es nur 
über den Brennerpaß möglich gewefen, mit Fuhrwerken über vie Alpen zu kom⸗ 
men, worauf die Wichtigkeit des Handels von Augsburg nad) Venedig beruhte. 
Kaum macht davon der Eol di Tenda eine Ausnahme, welcher von Nizza 
noͤrdlich, von den reifenden Granaten, Feigen, Orangen, ja von Palmen der Küfte 
in einem Zage zn ven Zwerglärchen führt. Seine höchſte Paßhöhe beträgt 5618 
Buß. Obgleich Nizza fi ſchon im Jahre 1388 an bie Grafen von Savoyen 
übergab, fo -wurbe bie fahrbare Straße nad nenem Syſtem erft 1788 fertig. 
Nizza wurde 1543 von den verbünbeten Franzoſen und Wlgierern verbrannt und 
ſeitdem, manchmal mit Ausnahme der Citadelle, bei jedem Angriff der Franzoſen, 
wie auch Savoyen, von Ludwig XIV. und 1792 von den Revolutionstruppen 
genommen. Daher iſt bie Aipenfcheide, wie fie jegt gezogen iſt, bie natürliche 
Grenze. Bis 1794 haben vie Piemontefen wiederholt bei Tenda den eimbringenden 
Sranzofen fi in verzweifeltem Kampfe entgegengeftelt. Denn von Coni (Euneo) 
ab dehnt fi zunächft die innere obere Ebene des Po's und feiner Zuflüffe aus. — 
Im öfterreihifchen Erbfolgelrieg drangen nad der Einnahme von Nizza die Spanier 
und Franzofen 1744 über den Col die Tenda und belagerten Coni, weldes von 
den Waldenfern tapfer vertbeidigt wurde. Obgleich die Schlacht, welche ihnen ver 
König von Sarbinten bei St. Maria del Dimo lieferte, unentſchieden blieb, mußten 
die Fremden doc wieder nad Nizza zuräd. Bonaparte drang 1796 äftliher, auf 
die feige Nentralität Genua's fußend, von deflen Küftengebiet bei Savona aus 
in Piemont ein. 

Der Col di Tenda iſt die Grenze zwiſchen den äftlich fi) ziehenben Lign- 
rifhen Alpen und den norbweftlihen Seealpen. An dieſe fchliepen fi nördlich 
die Eottifchen Alpen an, über deren Schneeberge fi die bis Turin das obere 
Boland beherrſchende prächtige Pyramide des über 11,800 Fuß hohen Monte 
Bifo erhebt. Aus feinem Schnee entipringt ver Po. Erſt an der Nordgrenze der 
Cottiſchen Alpen machen einige Joche den Vebergang möglih. Schon die Roͤmer 
hatten einen Weg mit feften Bunkten über ven Mont Genevre geführt. Die 
Jochhöhe felbft bietet weniger Schwierigkeit als bie Fortſetzung ver fi bei Briancon 
gabelnden Straße nad Grenoble. Ueber dieſen Paß drangen Karl VIII. im Sep 
temiber 1494 anf feinem Ing nah Neapel und durch den tiefen Schnee bes 
Februar 1629 Ludwig XIII und Richelien. Daher hat viefer Paß ftets bie 
Phantafie ver Franzofen beihäftigt; fein füpöftlicher Ausgang über bie Waldenſer⸗ 
thäfer bei Feneſtrelles und Pinerolo blieb auch längere Zeit in franzöflichen. Hän- 
den. Napoleon Kat namentlich ben legteren Ausgang verbefiert. Allein feit Savoyen 
franzöfifh iſt und der große Bohrverſuch auf ber birelt nad Parts zielenven 
Monte-Senie-Straße gemacht wirb, verliert der Mont Genevre an Bebentung. 

Obgleih der Monte Eenis bei dem von Ludwig dem Heiligen gegründeten 
Benediktiner⸗Hoſpitz 6360 Fuß hoch ift, fo iſt er doch einer ber Älteften und 
biftorifhen Paſſe. Eonftantin machte Im Jahre 311 feinen weltgeſchichtlichen Marſch 
von Sallien nah Rom über diefen Paß. Karl ver Große vrang auf biefem Wege 
gegen die Longobarden vor, es gelang ihm aber nur durch Verrath ſich am Süd⸗ 
abhang den Weg in die Ebene zu brechen, Friedrich Barbaroſſa drang bier 1174 
wieder im September ein. Ex fol damals einen Deutfchen Benz mitgebracht haben, 
von welchem bie Benſo di Cavour abftammen. Im Oktober 1524 eröffnete ber 
Bug König Franzens I. über dieſen Paß ben Feldzug gegen Karl V., welder 
mit dem Tod Bayards begann und mit Franzens Gefangennehmung bei Pavia 
endigte. Bei bem nur 1330 Fuß hohen Sufa fleigt die Mont⸗Cenis⸗Straße 


590 Nachtrag. 


nörblich an, während bie eine ver italieniſchen Straßen nach dem Mont Genevre 
von Suſa fühweftlih nad dem Kreuzungspuntt Eefane führt. Bis Napoleon, 
welder von 1802 bis 1811 vie Straße über den Mont Genis trefflih bauen 
ließ, war fie ftellenweife felbft für Saumpferve gefährlid. Die Neftanrations- 
vegierung des Hauſes Savoyen von 1814 beabſichtigte anfangs dieſes Wert Ra- 
poleons als foldhes verfallen zu laſſen. Erſt Karl Albert führte bedeutende Schutz⸗ 
werte daran aus. Obgleich die Franzoſen als in Freundesland gute Verpflegung 
fanden, famen fie doch zu Ende April 1859 ziemlich erfchöpft in Sufa an. Eavonr 
hoffte daher, daß bie Abtretung Savoyens das obere Pobeden nicht gefährbe, da 
bie Eifenbahn überlegene ttalienifhe Truppenmaſſen auf jeben Punkt am Südfuß 
der Alpen würde werfen können, ehe die Franzofen nach dem Alpenübergang ſich 
erholen und fammeln könnten. Ä 
Unwelt Montmeillan in Savoyen gabelt fi) von ber dem Archad nad Süd⸗ 
often folgenden Mont-Eenis-Straße ein öftlih an ver Ifere hinauf führender Weg 
ab, welder über ven Kleinen St. Bernhard nnd oberhalb Aoſta in das 
obere Thal der Dora Balten führt. Obgleich die Höhe der Waſſerſcheide 6580 
Fuß beträgt, iſt doch diefer Aufgang durch lange Alpenthäler einer der bequemften. 
Eine Fahrſtraße führt aber nicht herüber. Pompejus fol über diefen Pag gezogen 
fein; bis 1794 kämpften vie Piemontefen bier oft mit den Franzoſen. Nachdem 
Anguſtus die anf Gold und Silber grabenden Salafier des Dorathals ausgerottet 
tte, legte er Kolonieen an, 3. B. das noch durch feine Bauten geſchmückte Aoſta. 
ch Kelten follen ſich theilweiſe noch mit ihren Dialekten erhalten haben. In den 
Stäbtchen des Thals wird franzöſiſch geiprohen. Das Lanbvolf ift bigott, gibt aber 
treffliche Solbaten. . 
Zwifhen dem Mont Blanc und dem Monterofa erheben fi bie übrigen 
Gipfel (keltiih: pen) der Pennifhen Alpen. Außer dem Großen St. Bern« 
ard, welder and nicht fahrbar Hit, führen nur Iägerwege hinüber. Das im 
962 von Biſchof Bernhard von Aoſta gegründete Hofpiz auf dem Paß iſt 
7548 Fuß über dem Meer. Der Berg ift fell, die Ulpenthäler find kurz. Caſar 
überftieg ihn zuerft, Auguft baute eine Straße. Mitte Mai 1800 ging Rapoleon 
mit 30,000 Mann binäber in den Rüden der auf der Genueſiſchen Weſtküſte 
fiehenden Defterreicher, die er am 14. Juni bei Marengo befiegte. Sein and 
—— Name beherrſchen die Phantaſie der Bewohner ver Weflhälfte ver 
en 


Da die Sage von dem lebergang ber Cimbern unfider iſt, fo iſt bie 
Simplonftraße bie jüngfte der jetzt fahrbaren Aipenftraßen; fie führt Aber 
früher zum Theil ungangbare Schluchten. Ste wurde auf Napoleons Befehl von 
den Lombarden von 1801 bis 1805 gebaut, und zwar überall mit höchſtens 
31/, Brocent Steigung. Er nannte fie bezeichnend la route de Milan (von Paris). 
Da Savoyen franzdfifh ift, fehlt nur Genf und das welſche Unterwallis, um 
ihren Zwed im Sinne Napoleons I. zu realifiren. Oeſterreich gab fib auf und 
nad dem Wiener Kongreß alle Mühe, Piemont das Weltufer des Lago Maggiore 
unb bie Simplonftraße zu nehmen. 

Auf den Lago Maggiore zu gehen and die Straßen, welde aus ver Ur 
ſchweiz über ven Gotthard dem ZTeifinfluß entlang und von ven Onellen des 
Ölnterrheins über den Bernharbin ber fi im Bellinzona vereinigen. Der 
Gotthard, nad einem Biſchof von Hilvesheim benannt, war den Römern noch 
nicht geöffnet. Die Papböhe beträgt 6390, die tes Bernhardin nur 5740 uf. 
Erft die Friedensjahre unferes Jahrhunderts brachen ſichere Fahrſtraßen durch Beide 


ea zu 


RueaNniam N 


Italien. 591 


Joche. As Sumarof von den mit Rußland verbündeten Defterreihern aus dem 
von ihm eroberten Oberitalien im September 1799 hinausgedrängt wurbe, war, 
wie die Ruine der alten Teufelsbrücke zeigt, die Straße noch fehr ſchmal. Auch 
ber Splügen war in ben letten Jahrhunderten des Mittelalters viel betreten. 
Seine Paßhöhe ift 6170; aber erft Kaiſer Franz II. ftellte die Fahrfähigkeit and 
für den Winter ber. Auch nah Ehiavenna herab führen am Julier bin Straßen, 
über welche im Mittelalter z. V. über den Septimer deutfche Heere nad Italien 
zogen. Die Berninaftraße ift neu. 

So groß die Kühnheit und die Kunft der 8400 Fuß hohen Straße über 
bas früher ungangbare Stilffer Joch ift, fo findet fie gegen Norden einen 
nahen und leihten Durchgang. Nachdem die fpanifchen und bie öſterreichiſchen Habs- 
burger wiederholt das obere Beltlinthal und das Engadin mit zerftörenden Kriegen 
überzogen batten, um ſich vermittelft derfelben bewaffnete Hülfe leiften zu können, 
glaubte Defterreih,, dur den Sturz Napoleond wiever in den Befig Mailands 
und in den des Veltlins geſetzt, jenes durch die Veltliner und Stilfſer Jochſtraße 
mit feinen veutfchen Ländern unmittelbar zu verbinden. Sie iſt aber nunmehr 
zwediofer geworben als mande felt 1848 ſüdlich davon zur Sicherung ber öfter 
reichiſchen Herrihaft gebaute Bergſtraße. Ift and vorerft bie militäriſche Wichtige 
keit der Simplonftraße zurädgetreten, fo erhält fie doch eine merkantile Wichtigkeit, 
während beim Stilfſer Joch bie Bedeutung des friedlichen Verkehrs eine unter 
georbnetere if. Nur etwas weiter rechts führte fhon vor Jahrhunderten eine 
Straße über Graubündner Gebiet aus Throl nah Bormio, wo jegt bie Stilfſer 
Straße ins oberfte Veltlin eintritt. Aber die Graubündner ließen biefe Straße 
aus Gefälligkeit für vie Benetianer verfallen, welche durch biefelbe ihren Handel 
nad Deuiſchland von Mailand bevroht glaubten. Venedig umd Frankreich unter 
Rickelien halfen den Schweizern bei ihrem Widerſtand gegen bie Habsburgifchen 
Eroberungsplane tn tiefen Berggegenden. Aber die unleidliche NRechtlofigkeit und 
Unsfaugung dur die ſchweizeriſchen Vögte veranlaßten 1798 ven Abfall des 
Beltlins, feine Bereinigung mit der Mailänder Republit und bamit auch 1814 
mit öfterreichifch Italien. 

Der niederfte, wohl auch der älteſte Paß über die Alpen iſt ber bes 
Brenner. Seine höchſte Höhe ift 4353 Fuß; er verbindet Innsbrud mit 1770 
unb Bogen mit 1070 Fuß Meereshbähe. Die Römer waren mit ihm vertraut. 
Als Stiliho, der Feldherr des weſtrömiſchen Reichs, die Grenzen am Rhein und 
an der Donau aufgab, um Alarich, den Weftgotben, aus Italien zurädzumerfen, 
fo ging er 402 mit feinem Heere über den Brenner und ſchlug Alarich bei Verona, 
welches fchon von Cäfar das römiſche Bürgerrecht erhielt. Odoaker, welcher ven 
legten römischen Kaiſer geflürzt hatte, ſchlug 476 und unmittelbar nach ihm fein 
Sieger der Oſtgothe Theodorich (daher Dieterih von Bern) bier feine Refidenz 

auf. Denfelben Weg zogen 776 Karl der Große und viele deutſche Kaiſer trog ber 
Burgen in den Engpäflen Rivoli gegenüber, weldes durch Napoleon berühmt 
wurde. Konrabin zog 1267 hier herab. Auf den graufamen Bunbesgenofien Kaifer 
Friedrichs II., Ezzelin, war eben der erfte der Scaltger (bella Scala) in bie 
Bolksherrſchaft über Verona eingetreten. Unter ihnen ragte der Bibelline Can⸗ 
grande hervor, welder feine Herrſchaft öftlih amsbreitete und ben Verbannten 
Dante aufnahm, Wie Eomo war Berona Verbündete der Deutfchen, bis die Sca- 
liger ſich ſelbſt aufrieben, und die Stabt fi 1389 den Bisconti in Mailand und 
endlich 1405 den Benetianern übergab. Erſt nachdem bie Defterreiher 1814 in 
den Beſitz Verona's gelangt waren und bas Jahr 1848, feine Wichtigkeit erprobt 


892 Nachtrag. | 
batte, wurbe e8 vollends zu einer flarten Feſtung gemacht, weldhe aber 1866 in 
Böhmen erobert wurbe. 

Die von dem Mittellauf der Erf und von der unweit Bogen entipringenben 
Brenta umſchloſſenen Gebirge enthalten Böllertrümmer aus verſchiedenen Jahr⸗ 
taufenden. Den Deutſchen hat bie Bfterreichifche Herrſchaft weniger Schug gewährt 
als die venetianifhe. So verwelfchten die dreizehn altdeutſchen Gemeinden ummeit 
Berona und die fieben nordöſtlich davon bei Aftago. 

Nöordlich vom Venetianiſchen laufen einige Gebirgszüge parallel, deren Längen- 
thäler den Verkehr nad Often leiten, aber nach Italien zu viele Schwierigfeiten 
bieten. Bon Ungarn drangen durch die durchlaſſenderen Gebirge am Ifonzo bie 
Hunnen und die Magyaren verheerend ein. Das Landvolk in Oftvenetien, im 
Friaul, ſpricht einen eigenen halbitalleniſchen Dialelt. Die Gebirge in feinem 
Norden waren für den Schiffsbau der Benetianer wichtig. Belluno trägt nod 
italieniſchen Charakter. In einem Dorfe bei dem rauhen Pieve di Eabore iſt 1477 
Tizian geboren. Bis an die italieniſche Grenze, z. B. bis Pontafella zwiſchen 
Billach und Oſopo, iſt die ſlaviſche Bevöllerung vorgebrungen. Die Benetiauer 
haben in dieſen Grenzlanden durch ihr Bündniß mit den Huſſiten den Habs⸗ 
burgern manchen Punkt abgenommen. | 

Der Tagliamento, die Piave, bie Breuta führen aus den Gebirgen 
fo viel Geſchiebe mit, daß ihr Bett fi über das umliegende Land erhöht hat 
und die Dämme immer erhöht werben müſſen, woburd die Dammbrüche vermehrt 
werben. Die Küfte ift daher auch feicht und fumpfig. Venedig hat in feinen reichſten 
Zeiten ungeheure Summen auf Abzugslanäle verwendet, um einerfeits äftlich bie 
Biave, andererfeits die Brenta abzuhalten, durch Ablagerung ihres Gefchiebes bie 
Lagune vollends in einen Sumpf zu verwandeln. Die Eric, der WBaflermafle 
nad der zweite Fluß Italiens, welcher nur ein paar Meilen am Gardaſee vor» 
überläuft, hat vor 1800 Jahren unterhalb Verona felbft feinen Lauf etwas ſüb⸗ 
licher verlegt. Die bin und ber rädende Barre an feiner Mündung macht bie 
Schiffahrt unficher, welche überhaupt in ganz Oberitalien mehr auf Kanälen von 
Bedeutung iſt. Diefe ftete Ueberwahung ver Gewäſſer und die nur gegen ihre 
höheren Bürger mißtrauifche Herrſchaft der Venetianer, welde Lokaleigenthümlich⸗ 
fetten fchonte, hat den Eharafter der Benetianer in Stabt und Land an Geduld 
und Mäößigung gewöhnt. Unter biefer Herrichaft haben die Brescianer und 
Bergamaster ihre Energie, die Vicentiner ihre geiftige Thätigleit bewahrt. 

Dagegen fegen vie Flüſſe des mittleren Oberitaliens, die der Lombardei, 
ihr Geſchiebe in Sen am Ausgang der Gebirgsthäler ab. Der Mincio tommt 
aus dem Garbafee, die Ehiefe aus dem Idroſee, der Oglio aus dem von fen, 
bie Adda aus dem von Como, der Teffin aus dem Lage Maggiore. In biefen 
Seen, wenigftens in ben größeren, wird das Gebirgswafler erwärmt und fein 
Abfluß zu einer mittleren Menge regulirt. Diefes gefchieht noch mehr durch bie 
Kanäle, deren Leitung und Benäsung im Mailänvifhen alt und Haffifch if. 
Die wichtigſte Freiheit der Lombardei it die Waflerfreihelt, das Recht gegen Ent- 
ſchädigung Wafferleitungen über jedes fremde Eigenthum zu führen. Diefe find 
um fo wichtiger, als bald heftige Regengüffe, bald lange Dürre berrfchen. Damit 
hängt die Eintheilung des fladden Landes In größere Stüde zufammen, welche an 
Pachter parcellirt werden. In der fetten Niederung zwifchen dem Teffin und dem 
Bo wird durch Großbetrieb der doppelte Ertrag an Vieh und Käfe erzielt. Die 
felben Produkte bietet das Alpenland im Norden mit der größten Bertheilung des 
Grundeigenthums. Wie, hier die Meinen Erſparniſſe der tüchtigen Bauleute (ma- 


Stellen. 698 


gistri Comenses im Mittelalter), welche über bie Alpen und bis Weftinpien gehen, 
im heimiſchen Boden angelegt werben, fo find es in der Ebene die Kapitalien, 
welde die Stäbter im Mittelalter durch Fabrikation von Kleiderftoffen und von Waffen, 
fpäter durch die Seide fi erwarben. Die ungemeinen Verſchiedenheiten, welche bie 
Lombardei in Natur, im Landbau und in Eharafter der länplichen Bevölkerungen ent- 
widelt, bat einer ver größten, gebilvetften und patriotifhften Landbeſitzer, Iacint, 
(feit 1859 wiederholt Minifter des Aderbau’s) in feinem Haffifchen Buche, la pro- 
prietä fondiaria e le popolasioni agricole in Lombardia, Milano 1854, zufammen- 


et. 

Die Lombardei iſt der Akklimatifationsgarten für die Kulturpflanzen ber 
ganzen Halbinfel, da fie kalte und heiße Lunpftrihe, Intelligenz und Kapital 
befist. Manche fünliche Früchte gedeihen bei ihr als Luxus⸗ und Handelsartikel, 
welde im Süden Bollsnahrung werden. Diefes find die Agrumen, das heißt die 
Drangen, die Citronen in ihren verfhiedenen Gattungen eigentlich nirgenbs, fon- 
dem mehr Ingrebienzien des Getränks. Nur die Feigen find im Süden eine Wett 
bildende Volksnahrung bis zur Zeit, wo vie fpäteren mehligeren Früchte reifen, 
in Sicilien die fogenannten indiſchen Feigen, ähulich den Stadelbeeren. Die Ka⸗ 
flanie empfängt den aus vem Norden Reiſenden ſchon in den mittleren Alpen⸗ 
thälern, wo fie mitten in den berabgerollten Felfen ihre gewaltigen Stämme treibt, 
weile das trefflihe Werkholz bieten. In den nördlichen Apenninen bildet fie 
Waldungen. Bis Toscana hinab beftimmt ihr jährlihes Gedeihen um jo mehr 
ben Broppreis, als ſie auch zu Mehl zerrieben und gebörrt wird. Die Kaftanien 
des Aetna find berühmt. Auch der Delbaum ift eben fo berühmt an der genueflichen 
Küfte und beſonders in Lucca wie in ber terra di Bari, welche das Sprüchwort: 
„fruchtbar wie Apulien“ befonders trifft. Es iſt nur der Unterſchied, daß was in 
Korditalien an den Südabhängen der Kalfhügel gedeiht, im Süpen in ver Ebene 
ohne viele Pflege geräth. Man behauptet, daß hier der tägliche Gebrauch des 
Fa ftatt der Butter das hitzige, zur Blutihat vafhe Temperament des Volkes 

exe. 

So zerflörend die zweihundertjährige Herrfchaft der Spanter nicht bloß in 
ihren unmitteldaren Beflgungen in ven beiden Sicilien, auf Sarbinien und in 
der Lombardei anf die Inonftrie wirkte, fo ſehr die Geifter in ganz Italien durch 
die ‚Solivarität der Spanier mit den jefuitifhen Erziehern und Beichtvätern 
niedergebrädt wurden, fo iſt doch manches Gewächs, welches jest die Hauptnahrung 
mancher Provinzen bildet, durch fie eingeführt worden. So mwurte ber von Co⸗ 
lumbus aus Amerika gebrachte Mais in vie Polefina (das Pobelta) und in bie 
Niederungen der Lombardei um 1560 eingeführt. Der im arabifchen Andalufien 
längft verbreitete Relsbau fam fon um 1520 in vie Lombardei. Da bie ihm 
unentbehrlichen Wafleranftauungen die fieberſchwangere Malaria erzeugen, haben bie 
Geſetze ihn bis auf gewiſſe Entfernungen von Städten verbannt. Allein dieſe 
Geſetze werden nicht gehalten und das Ausfehen der Bewohner von Vercelli, 
Pavia, Mantua zeigt die Folgen. 

Der befonvers wegen der Herbſtſaat paffende Walzen iſt jept die in den 
Riederungen ganz Italiens herrſchende Körnerfrucht. Die ältern, darum „Heiligen“ 
Öetreivegattungen find in die Gebirge zurüdgenrängt, fo der Dinkel (Spelz) und 
der norbiihe Roggen, welder in Enlabrien ald germano, am Aetna als grano 
tedesco bis zu 5000 Fuß Höhe gebaut, in ver Regel als Viehfuttet, auf Sar- 
dinien auch zu Brod gebaden wird. Indeß ift der Genuß der Mehlfpeifen nur 
in Seftalt der Maccheront und der Nudeln, welche auch für vie Ausfuhr fabri- 

Bluntſchli un Brater, Deutſchet Staate⸗Woͤrterbuch. Al. 938 





594 Nachtrag. 


eirt werben, bedentend. Und bei ihrem. Genuß bildet bie Zugabe des Kaſes eine 
Hauptſache. In Neapel werden Mafien des ſelbſterzeugten trefflichen Getreides be⸗ 
fonders nah Südfrankreich und England ausgeführt und ruffiihes dafür verzehrt. 
Der Getreidebau in Neapel wurde durch die zwangsweiſe Ablieferung eines Theils 
der Ernte in bie Gemeindevorrathshäuſer gehemmt. 

Die Brovinzen Italiens haben alfo keinen bedeutenden Austauſch an Lebens- 
mitteln; felbft das unentbehrliche Eis bietet dem Süplänver der Aetna. Die Mafle 
des Volle lebt ja einen Theil des Jahres bauptfädhlih von ben ihrer Provinz 
eigenthümlichen Baumfrücten. Das Del Süditaliens wird hauptſächlich ins ndrb- 
liche Ausland verführt. Die Lombardei Hat Ueberfluß an Butter. 

Die Fleiſchnahrung ift felbft in den Stäpten lange nicht fo bedeutend als 
im Norden. Eigenthümlich ift die felbft von dem ſchönen Geſchlecht betriebene Jagd 
auf die am Meereönfer und am Fuß ber Alpen ermattet nieberfallenden Wander⸗ 
vögel. Der Zehnten davon und Bogelfanghäufer bilden einen nicht unbebeutenden 
Theil der Dotation vieler geiftlihen Pfränden. Der Biſchof von Capri hieß daher 
der Vogelbiſchof. Dieß und Aehnliches Tonflatirt die den Deutſchen fo widerliche 
Hartherzigkeit des Italieners aller Provinzen gegen die Thiere. Und doch bildet 
der Viehſtand in feinen Gebirgen, ja die Büffel in feinen Sumpfſtrichen einen 
Haupttheil des NRationalvermögens und einen bebentenden Ausfuhrartikel in das 
füplihe Frankreich. Die Wanderungen ber Herden umb ihrer nomadiſchen Hüter 
im Frühjahr felbft aus den Ponieberungen nach den wärmeren Weiden bes nad) 
fpanifhem Muſter nothdürftig geregelten Tavoliere des nördlichen Apuliens, auch 
in die toskaniſchen Maremmen, bringen die Urbevölkerung verfchiedener Provinzen 
einander näher. Im Sommer ziehen fie fi von da in bie Berge zuräd, Obgleich 
die Verlodung ber Binnendouanen keine bewaffneten Schmuggler mehr aus biefen 
Hirten macht, fo hat das Räuberweien noch einen Nädhalt an diefen zum Theil 
berittenen Horden von Satyrgeftalten. Sie, befonvers die Biegenhirten und bie in 
den Garbonari zu einer europäifchen Celebrität gelangten Kohlenbrenner ind nebſt 
dem italtenifhen Mangel an Pietät gegen die wilden Bäume bie Urfade der 
Entwalbung, der plöglichen Verheerung durch Wildwafler und ber flagnirenven 
Gewäfler an den Küften. Die Schiffahrt und die Induſtrie entbehren deßhalb des 
ihnen nöthigen Holzes. Ueberhaupt find biefe uralten, über bie Schranken ber 
Municipalitäten und der Dynaſtien ſich binwegfegenden VBollselemente kulturfeind⸗ 
licher Natur. Aber wir dürfen darüber nicht bie raffinirte Bosheit vergefien, mit 
welcher Könige von Neapel, um das wiberfpenftige Sieilien ihre Rache fühlen zu 
laſſen, ihren Truppen die Ausrottung alter Bäume befahlen. Verſprach doch 
ein Kardinal bei einem Einfall in Apulien feinen Soldaten für jeven gefällten 
Oelbaum, welder ſehr langſam wächst, einen Ablaß von hunbert Tagen. 

Auch der Wein ift kein Handelsgegenſtand, welcher die verſchiedenen Provinzen 
Italiens in Verkehr zu einander geſetzt hätte. Jede Landſchaft befizt Hügel, welde 
ohne viel Mühe trinkbaren Wein bieten. Rur an wenigen Orten wird auf bie 
Nebe intelligenter Yleig verwendet, 3. B. in Afti im Thale des Tanaro. Die 
Lombardei, welche in Folge der Bachtverhältnifie und der Seidenzucht meift mittel» 
mäßigen Wein erzielt, bezieht ihre feineren Weine aus Piemont. Als Defterreid 
1845 mit Piemont aus Beranlaffung des Salztransports in Streit gerieth, er 
höhte Defterreih gegen Piemont feinen Weinzoll. Die Matlänvder antwerteten 
darauf durch den Beſchluß, fid, im Weingenuß an inländiſches Produkt zu halten 
und keine Öfterreihifchen Weine zu trinken. Dagegen ift Piemont fo rei an fühlen 
Höhen und in den früher Iombarbifchen Nieverungen zwiſchen Seſta und Ticino 


Stalien, 695 


an Produkten der niederen Lombardei, daß es der Einfuhr aus biefer oder anders 
woher nit beburfte, fo Tanz es nicht durch Cavour zur Fabrikation getrichen 
wurde. Dieß, nebft den Gebirgen, von melden es nad drei Seiten eingefchloffen 
wird, gab Piemont feinen fo refernirten, abgefchlofienen Charakter, weldher mitten 
im Zufammenftoß Frankreichs, Spaniens und Oeſterreichs mit ungehenrer An⸗ 
firengung immer wieder feine Selbftändigfeit ſicher ftellte, dieſes nährte feine Anhäng⸗ 
lichkeit an das Haus Savoyen, welche ſich ſeit Verpflanzung desfelben nach Florenz 
in bittere Eiferſucht gegen das Königreich Italien und in Radikalismus verwandelt, 
der feinem Grundweſen fremd iſt. 

Damit hätten wir eben fowohl bie inſulare wie die kontinentale Zugabe ber 
italieniſchen Halbinfel, Oberitalten, betrachtet. Feſtlaͤndiſche Kelten, Bojer, Gallier 
haben zuerft in den Polanden bis gegen den Rubico bin das Land bevölkert. 
Selbſt der gegen die byzantiſch⸗römiſchen Imperatorifchen Renaiſſanceideen ver 
Hohenflanfen gerichtete lombardiſche Städtebund Hatte viel Wehnlichkeit mit den 
dentfchen Stäptebünden. Bis auf bie legten Jahre hat Habsburg bie Anſprüche 
des mitteleuropälfchen Feſtlandes auf Italien für feine Hausinterefien geltend ge⸗ 
macht, aber es hat auch bie Italiener gelehrt, daß, wie feit Karl V. die Schlachten, 
welche über das Loos Italiens entfihieden, im Pothal gefhlagen wurden, fo bie 
nationale Eroberung Italiens, feine Selbſtherrſchaft von feinen mehr germanifirten 
nöordlichen Völkern ausgehen müſſe. 

Schon in feinem erſten anfangs nortöftlihen, bald fünäftlihen Zug vom 
Sol di Tenda ab iſt der Apennin bei einer mittleren Meereshöhe von bloß 
4000 Fuß eine mächtige Vollkerſcheide. Zwar wohnten zu feinen beiden Seiten 
die harten, kühnen Ligurer. Allein fo abgeſchloſſen binnenländiſch ackerbauend bie 
Biemontefen an den Zuflüfien des Po find, welche, dem Gebirgsamphitheater ent- 
fprungen, ein fruchtbares Hügelland, das Montferrat, einfchlofien, fo find die 
Bewohner der beiden Rivieren'von Genua anf einem ſchmalen Käftenfaum durch 
das Gebirg in das Meer hingevrängt. Während die Gatten, die Brüder und 
Söhne Jahr und Tag auf den alten Wegen bes Schwarzen Dieeres, dieſer harten 
Seemannsſchule, und der Levante ihre Kraft verwerthen, weilen die Weiber und 
Töchter der Heinen Küftenftäbte daheim In ftrenger Zucht. Genua (das Knie ver 
Küftentinie) fendet 11,400, Savona 4400, Ehiavari mit Umgegend 6000 Sees 
leute aus. Dem Soldatendienſt zu Land äußerſt abgeneigt, entzogen ſich ihm Tau⸗ 
fende der jungen Männer durch Dienft auf ver ſüdfranzöſiſchen und der fpanifchen 
Marine oder indem fie durch bie zahlreichen Tleinen Bifchöfe als Afpiranten bes 
geiftlihen Standes ihren Militärpflichten betrügerifch entzogen wurden. Seit dem 
Krimkrleg hat fich die Handelsmarine von Genua fehr verflärft und die Italienifche 
Kriegsmarine bedarf ihrer. 

Die von Mentone bis Spezia in einer Lange von 27 Mellen ſich erſtreckende 
genueſiſche Küſte bietet im Großen bie Terraſſenkultur der Abhaäͤnge, welche an 
den Ufern ver italieniſchen Gebirgsſeen vom Lago Maggiore bis zum Gardaſee 
bald zur Pracht, bald zur Nahrung des Tleinen Beſitzers vorherrſcht. Sie charak⸗ 
terifirt bis Sicilien binab die fhönften, fruchtbarſten, bevölkertſten Kulturland⸗ 
fhaften, wo Alterthum, Mittelalter und neuefte Zeit, Natur und Kunft in ihrer 
Bereinigung, in ihrem Wetteifer Italien zu Italien gemacht haben. Auf den Ges 
birgshohen Tonnte nie Kultur wurzeln. Weite Streden am Meere bin find 
durch die Meereswogen, aber aud große Streden Ianbeinwärts, wie das vor zwei, 
drei Iahrtaufenden blühende Land ber Etrusker zwifchen dem unteren Arno und 
der unteren Tiber, durch Erpbeben, durch Verhinderung bes Waflerablaufs ver 


98 * 


596 Nachtrag. 


wildert, die Heimat des Fiebers, der Tobtenftähte geworben. Seine Gifendfen, 
welche die Waffen der Römer gegen Karthago bereiteten, find großentheils er⸗ 
lofhen. Aber von Lucca, von Piftoja an bis Florenz, von bier ven Arno hinauf 
bis Arezzo und feinem Lanfe nach hinab bis Pifa breitet fich wieder ein Zerrafienbau 
aus, deſſen evelfte Frucht die großen Werke des Geiftes find. Das Armnothal iſt 
ber enropälfche Akklimatiſationsgarten für antike, für orientalifhe Wiſſenſchaft und 
Kunft, aber fo, daß gerade das höchſte als Frucht der Selbftveredlung erfcheint. 

Diefe Terraffenkultur, welche durch forgfältigen Anban and des kleinſten 
Fleckchen zur Entwidiung ver beften Kräfte der Menſchheit beigetragen hat und 
fi bei Rom, bei Amalfi, bei Palermo und in den verwitternden Laven bes Aeina 
aufs verfchienenartigfte nuancirt, iſt bebingt durch den ganz Italien buräichenben 
Apennin. Er iſt ver Nüdgrat der ſchlanken Halbinfel; man bat die Tombarbei 
das barauf ruhende Gehirn genannt, während Anvere Italien einem im Polande 
wurzelnden Baumflamme vergleichen, welder die Halbinfeln von Otrauto und von 
Salabrien mit Sicilien ald Aefte von fi ausgehen lafle. Bon Genua an nimmt 
der Arennin eine öſtlichere Richtung an als die Halbinfel felbft. Auch entfendet 
er auf ihre Oftfeite fräftigere Bergzüge. Bologna liegt am norböftlicden Fuß des⸗ 
felben, wie andererfeits Piftoja, während jenes einen breimal fo weiten Weg 
auf den Gipfelgrat bat als dieſes. Zwifchen dieſem Apennin, dem Po und ber 
Adria liegt ein Dreied oder Delta, welches äußerſt fruchtbar ein kräftiges Voll 
nährt. Die vorrömifhe Stäptelinie Rimini, Bologna, Modena, Parma läuft 
zwifchen den VBorbergen des Apennin und jener meeresgleihen Ebene. Anguftus 
bat die fhon damals uralte Pelasger-, dann Etrurier⸗Stadt Ravenna zur ⸗ 
ſtadt erweitert. Honorius erhob es 404 zur Hauptſtadt des weſtrömiſchen Reiche. 
Theodorich der Oſtgothe hatte bier feinen Sig; von 540 bis 752 refibirten bier 
die byzantiniſchen Erarchen. Die ganze Landſchaft erhielt von dieſen Neurömern 
den Namen Romagna. Das find die Zeiten Ravenna's, denen die des eben- 
falls uralten Bologna's folgten. Seinen Namen hat es von den galliichen Bojern, 
fein Wappen, das rothe Kreuz in filbernem Schild, von feiner fräftigen Bethei⸗ 
ligung an ven Kreuzzügen. Wilde Fehden zwiichen den vorherrſchenden Welfen 
und den Gibellinen veranlaßten 1278 vie vertragsmäßige Anerkennung ver päpfl- 
lichen Oberherrſchaft. Aber weder diefe noch die Ermordung der Führer ber verbannten 
Gibellinen brachten dem überkräftigen Volke Ruhe. Es erhob ſich wiederholt gegen 
die Päbfte, vertrieb ihre Legaten, ſtürzte ihre Bildſäulen. Dadurch erwarb es fid 
von den Püpften den Ehrentitel der „getreueften Stadt”, das Recht der Münze 
und einen Senat mit römiſchen Infignien, welcher eine gewiſſe Provinzialſelbſtändig⸗ 
keit ausübte. Erft die franzöſiſche Revolution fehlen den trogigen Municipalgeiſt 
gebroden zu haben und der aufgellärte Büreaufrat Karbinalftaatsfetretär Conſaldi 
verweigerte bei der Neftauration Pius VIL. im Jahre 1815 die Wieverherftellung 
der Privilegien Bologna's — er legte dieſem vielmehr die ſchrankenloſe Priefter- 
regierung auf. Den Karbinallegaten wurde zu diefem Zwede größere Gewalt ertbeilt 
als den päpſtlichen Priefterpräfelten der Marten und Umbriens, deren Befig weniger 
gefährdet erfchien. Der Wienergewinn der Romagna war für bie regierungs- 
unfähige Priefterlafte ein Neſſushemd, die Romagna war der nene Lappen auf 
dem alten Mantel, ber einen Theil desſelben abreißt. Denn fie war durch bie 
aufgellärte, energifche Laienregierung bes Koͤnigsreichs Italien mit dem Geift ber 
Neuzeit vertraut geworden; ihr Stolz wollte fich nicht mehr ver weltlichen Priefter- 
berrihaft beugen. Aufſtände, öſterreichiſche Okkupationen fleigerten nur die Er⸗ 
bitterung bes enerzifchen Volkes. 





Italien. 597 


Ohne den Rückhalt der Romagna hätte das Boll ver Marken den Wider⸗ 
fland gegen die Kurie nicht fortfegen können, denn von Rimini an iſt das Küften- 
land zwiſchen dem Apennin und der Aorta nur fehr ſchmal; einige Stunden weiter 
teitt im Engpaß von Eattollca das Gebirge an das Meer. Die Küfte bietet ber 
Schiffahrt keinen Schug und nur darum Hat der mittelmäßige Hafen von Ancona 
einen Namen. Die Römer, welche ihre Straßen wo möglih auf Bergrüden über 
Plateaur führten, haben fie von Rimini an ſüdlich am Meer hin führen müfſen, 
auch die Eifenbahn folgt jegt Ihrem Zug. Ueberhaupt ift die Oftfelte des Apennin 
verhältnigmäßig von der Natur vernadläffigt. Erſt am Südende der Abruzzen, 
wo der Monte Gargano in die Adria vorfpringt und der hohe Apennin wieder 
mehr die Mitte der Halbinfel einnimmt, breitet ſich von ber gibellinifhen Sara- 
cenenflabt Lucera nnd von dem volfreichen Foggia an bie Ebene von Apulien 
bem Meere entlang aus. Über aud hier noch gehen nur unter rechtem Winkel 
mit dem Gebirgszuge Flüfſe herab, welche raſch abfallend viel Geröll mit fich 
führen, deren breites Bette nur im Winter voll, nothdürftig überbrückt If, welche 
daher weder der Schiffahrt noch ſonſt der Kultur dienen. 

Säplih unmittelbar an das civilifirte Foggia grenzt das Tavoliere di Puglia, 
auf welchem früher eine Million Schafe weibete, deren Hirten, indem fie ihr 
Weiderecht fo weit wie immer möglich ausbehnten, bald radikale, bald reaftionäre 
Bewegungen, die von 1862 wie die von 1820, begünftigten. Unregelmäßige Hügel 
züge (Murcie) ziehen ſich bis gegen den Golf von Tarent. Er ift die einzige 
größere Bncht der italieniſchen Halbinfel; fie bietet aber nur bei Tarent und bei 
Ballipoli Häfen. Die Bafilicata in ihrem Hintergrund gehört zu ven am 
fhwächften bevolkerten Provinzen Italiens, da vie Berge bürr, bie meiften 
Nieberungen gegen das Meer Hin durch ihre Sumpfluft kaum bewohnbar find. 
Obgleich Brindiſi, die alte roͤmiſche Slottenftation, und Otranto, nur zehn Meilen 
von Albanien entfernt, vurd die Eifenbahn und bie Drientvampfer an Bedeutung 
gewinnen, fo iſt doch in dem Küftenftrihe von Barletta bis Bart, bis Monopoli 
ungleich mehr Kultur der Menſchen und des Lanves und bis jetzt auch mehr 
Handelsgeift. Diefe Städte, wie Foggia und Lucera, find reih an Erinnerungen 
an Kaifer Friedrich II. Im Uebrigen bat die ganze Küfte von der Romagna herab 
feit der Römerzeit Teinerlei große Erinnerungen, e8 feien denn bie Yanbungen ber 
ange, als fie in Neapel fi einbrängten, und bie verheerenden Landungen ber 

ürken. 

Nebſt der langgeſtredten Form der Halbinſel verhindert oder erſchwert doch 
bie Trennungsmauer des Apennin die Verſchmelzung der italieniſchen Bevölkerungen 
and fomit die politiſche Einheit. Aber vie Oſtſeite iſt doppelt benachtheiligt, ſeit 
ihr durch die Türkenherrſchaft ein verwildertes Geſtade gegenüber liegt. Die ſtereo⸗ 
type Kultur der dalmatiſchen Küſtenſtädte, z. V. Raguſas, iſt wohl eine italieniſche, 
fie hat jedoch ſlaviſche Wildheit fo nahe, daß fie eher durch ein blühendes Italien 
angezogen werben könnte, als daß fie auf die Stäbte der Oftküfte Italiens eine 
belebende Einwirtung auszuüben vermöcdte. Aber der großentheils durch dalma⸗ 
tinifche Seeleute erfochtene Seefleg von Liſſa hat ihnen ein antlitalienifches Selbſt⸗ 
bewußtfein gegeben. Sie hingen mit Italien durch Benebig zufammen, befien See- 
kriege fie hauptſächlich ausfochten. Jetzt iſt Trieft in deſſen Stelle eingetreten. Die 
Lloyddampfer beſonders haben die Dalmatiner bei Defterreih erhalten. 

Für die Verbindung ber Provinzen der Ianggeftredten Halbinfel unter fid, 
mit Oßeritalien und mit den Infeln, für die Bedingungen der politifchen Einheit 
iſt die Dampfkraft von äußerſter Wichtigkeit. Aber den Eifenbahnen und ben 


598 Nachtrag. 


Dampffchiffen ſtellen ſich häufige Hinderniſſe entgegen. Ein ſchwer zu überwinden⸗ 
des Hinderniß für eine Eiſenbahn bilden von Seſtri di Levante, auf der öftlidgden 
genuefifhen Reviere, an bie bis ins Meer abflürzenden Gebirge. Erſt bei dem 
herrlichen Golf von Spezia beginnt vie Ebene, aus welder die marmornen 
Telfenzähne von Carrara ſich erheben. Der Binnenzug des Kallapennins fleigt 
dahinter zu Spiten von mehr als 6000 Fuß an; die Päfle aus dem Pothal im 
das Stromgebiet des Arno liegen über breitaufend Fuß. Die reihe Thalmulde 
des Ombrone (Thalmulvde von Piftoja-Prato), das obere Arno⸗ wie das obere 
Tiberthal find Längenthäler. Ihr Waſſerreichthum kommt eben davon ber, daß 
fie längere Zeit mit dem Gebirge parallel laufen, um fih dann erft zum Meere 
zu wenden. ber ihr wechfelnder Waſſerſtand flört die Schiffahrt. Die Süb- 
weftfeite der Halbinfel bietet fogar einige Anſätze zu Plateaubildungen 5. B. bei 
Siena. Über ein beherrſchendes Plateau, wie das von Madrid, findet zwiſchen 
ben wie bie Hefte der knorrigen Eiche aus einander laufenden Züge des Apen⸗ 
nins niht Raum. Florenz und Nom liegen an ven bideutendſten Flüſſen des 
mittleren Italiens. Die Küften an den Mündungen bes Garigliano und des 
Volturno find für Stabtanlagen zu flah und fumpfig. Im Golf von Neapel 
aber hat die Natur ein Stück von Griechenland geſchaffen, indem fie aud bier 
Felfeninfeln an den vorfpringenden Borgebirgen aufbante. Mit ihm Tonnte ent- 
fernt keine andere Stadt im Süden ber Halbinfel wetteifern, keine erreicht andy 
nur ben zehnten Theil ihrer Benöllerung. In den Dleeresbuchten wie in denen 
des Gebirge Mittelitaliens haben ſich -theils uralte, theils eingewanderte lane 
abgeſchloſſen gegen einander erhalten. Die erobernden Dynaſtieen mußten ſich 
darauf beſchränken, wie in der Türkei, ihre Außer» Unterwerfung und gewifle 
Leiftungen anzunehmen. Um fo glänzender erhoben fie den bazu ganz ange 

Sig und Südpunkt ihrer Macht, Neapel. Sicilien dagegen iſt das Land voll- 
reicher Städte; die Sicilianer glauben, daß nur in ftärter bevolkerten Wohnſitzen 
den Einzelnen gleihfam ein kleinerer Theil der Fieberluft treffe. — 

Italien war zu allen Zeiten das Land der Städte. Die Griechen grün⸗ 
beten Stabtrepublifen in Süpitalien. Etrurien bis zur Adria war ein Bunbesflaat 
von Städten. Die Römer trog ihres Sinnes für den Aderbau und fpäter für die 
üppigen Genüffe des Landlebens waren Bürger einer Großſtadtrepublik, der Adel be 
baute feine großen Landgüter durch Gefangene und durch andere Sklaven. Sie fiherten 
ihre Herrſchaft in entfernteren Gegenven durch Stadtkolonieen. Nur in den Ge⸗ 
birgen hielten fi immer ländliche Hirtenbevölferungen. Exft durch die deutſchen 
Eroberer, dur das Lehensweſen wurde einige Zeit lang das Land, die Burg Sig 
ber Herrſchaft. Aber der italieniſche Geift waffnete gegen biefen germanifchen fid 
in den Städten, er befämpfte in ben Kaiſern wefentlich die ritterlichen Grund⸗ 
bern, welde man zu nötbigen ſuchte, Stabtbürger zu werben. Weniger nach⸗ 
haltige Kraft der Organifation und ber Selbſtändigkeit bewährten die Städte 
des Sübens. Währene die Hohenftaufen das Städtethum in der Lombardei, in 
Toscana, in Rom befämpften, fuchten fie e8 ober do das Bürgerthum im König« 
rei beider Sicilien bis zu einem gewifien Grave dem troßigen normanniſchen 
Übel gegenüber zu heben, um einen Benmtenftaat, einen Vorläufer des mobernen 
Staats zu ſchaffen. So haben hier nur vie Reſidenzen ber Könige und bes Adels, 
Neapel und Palermo, eine größere Bedeutung erlangt, und erſt fpäter auch Meffing, 
welches die fpanifche Politik in feiner Eiferfucht gegen Palermo fteifte und förberte, 
damit die nach Unabhängigkeit Lüfternen Infnlaner fi nicht gegen die Fremdherr⸗ 
(haft einigten. 











Italien. 599 


So entfaltete ſich denn der italieniſche Geiſt in feiner reihen Mannigfaltig⸗ 
tet am meiften in den Stäpten. Der BPatriotismus des Italtenerd war und iſt 
noch ein ſpecifiſch ftäntifher. Daher heißt bei ihnen Municipalgeiſt, was wir in 
Deutſchland Provinzialgeiſt, Partitularismus und fäljhlih Staumesgeift nennen. 
So ſpricht man vom piemontefiihen, vom toscantfhen Munieipalismus. 

Das Mittelalter iſt erfüllt von dem blutigen, unermüdlichen Kampf um bie 
Herrſchaft innerhalb der Stäpte, welcher meiftens mit der Tyrannis ſei es großer 
Gonbottiert, in Florenz mit der kunſtgebildeter Bantiers, theils, wie in Benedig, 
in Lucca, in Genua, mit ver Adelsherrſchaft endete. Diefe Stadtrepubliken führten 
mehr durch Handelskonkurrenz geſtachelt als um des Lanpbefiges willen Jahr⸗ 
Hunderte lang Kriege zu Land und zu See gegen einander. Die Namen WBelfen 
und Gibellinen waren bald nur Mittel, fi In anderen Städten, beim Landadel, bei: 
Kaiſern oder Päpften Verbündete zu fuchen. 

Aur die Geſchichte einer italieniſchen Stadt der nörblicden Hälfte Italiens 
in ihrem Berlauf durch die Jahrhunderte vermag uns ein Bild von ber munici⸗ 
palen Energie zn geben, welche in Hunderten größerer und kleinerer Städte ringend, 

talien feinen Charalter bis auf unfere Zeiten verlieh. Nom und Florenz find 
zu eigenthümlihe Städte und zugleih Herde der Entwidiung des Geiſtes ver 
Menſchheit, als daß fie ein Städteweſen barftellen Tünuten, das feine innere abge 
ſchloſſene Eigenheit zur Bafis großer Thätigkeit nad) außen machte. Der Stern 
von Piſa erblähte zu früh. Siena war zn binnenländifh nnd zurädhaltend. 
Bologna und Berugia unter päpftlider Oberhoheit wählten felbft zerſtörend 
in ihrem Innern. Mailand if merfwärbig, wie es im Kampf gegen bie Kaiſer 
eine Stufe ber VBürgerfreiheit nach ber andern aud über Erzbiſchöfe und Adel 
gt. Uber ſchon 1273 beftegelt Aubolf von Habsburg die wirkliche, wenn aud 
befirittene Herrfägaft Napoleons vella Torre durch Ertbeilung bes Reichövikariats. 
Nur die Städte umter ariftotratifcher Verfafſung behaupteten mit ihrer Unab⸗ 
hangigkeit auch ihre Eigenheit bis zu den Stürmen ber franzöflihen Revolution. 
Die Geſchichte von Venedig iſt eine zu eigenthümliche, feine Bafls war mehr 
die Levante als Italien. So bleibt uns feine Nebenbnhlerin Genua, welche mit 
viel weniger Weisheit, aber mit ſtarker Leivenfchaft und Energie, vom Feſtlande 
möglihft lange politifh abgefchlofien, die Meere fi ala Herrſchaft erkor. 

Einen wichtigen Punkt Tann aber andy Genua nicht erläutern, die Berhältniffe 
des Grundeigenthums. Denn zum Unterſchied von Venedig, welches fich im fünf- 
zehnten Jahrhundert in der dftlichen Lombarbei breit nieberließ und ſtarke Gelüſte 
nach den Küftenfläbten des Kirchenſtaats bezeigte, blieb Senna in Italien auf fein 
ſchmales Terrafienland am Gübabfall des Apennin befhräntt. Beide Handels⸗ 
ſtädte waren granfam eiferfüchtig anf die günftig gelegenen Hafenftätte ihres Ge⸗ 
biets nud darum Genua von feinen nur Küften bewohnenden Unterthanen viel 
weniger geliebt ald das obnehin gemäßigtere Venedig von feinen meift binnen- 
landiſchen Untertbanen. 

Darum if Genua weniger geeignet, bie Berhältniffe des Grund⸗ 
beſitzes darzuſtellen, welche wir deshalb noch betradhten, ehe wir und zur Ge⸗ 
ſchichte Genna's wenden. Als ein beventender Theil des befieren Grundeigenthums 
in Italien ven großen Familien in Rom gehörte, rentirte der Ackerbau nit mehr. 
Das Setreive wurde aus Gichlien, Egypten, Afrika, Sardinien wohlfeller befhafft. 
Nur Gartenbau, alfo Heines Eigenthum unmittelbar an ven Städten, nnb Bieh⸗ 
zucht auf größeren davon entfernteren Gütern gaben ihre Zinfen. Das Lehens⸗ 
weien bat den Großgrunpbefig in ven befferen Lanbftrichen in feiner Weiſe und 


600 Nachtrag. 


das durch Induſtrie und ſpäter durch Handel gewonnene Kapital Jahrhunderte 
lang auch dabei erhalten. In Folge der Rechtloſigkeit und da das Land von den 
Staͤdten unr als Geldwerth betrachtet wurde, da die ererbten Gütchen von Den 
Beſttzern ſelten mit Pietät betrachtet werden, wurde getauſcht, zuſammen gelegt, 
verkauft. Die von den großen Städten in den befiegten kleineren Nachbarftädten 
gefetten Statthalter trieben felbft den Zwangsverkauf des Bodens im Großen oder 
halfen fie ihren großſtädtiſchen Freunden dazu, welde ihn dann an Zeitpäcdhter 
vergaben. Wie die Römer die erften Geſchlechter der befiegten Nachbarſtädte nach 
Rom verpflanzt hatten, fo zogen auch bie erften Bamilten ver beftegten Kleinſtädte 
in die flegende Großftabt, um hier Rechtsſchutz und Bebentung zu erlangen. Auch 
fie gaben ihre Landgüter in der alten Heimat an Zeitpädter. Das Lehensweſen 
war den SItallenern zu fremd, es bot zu wenig Sicherheit des Eigenthums, zw 
wenig Geldvortheil, ale daß der Pacht zu einem Lehensverhältnig hätte werben 
fönnen. 

Mit dem Lehensweſen hat das italleniſche Pachtſyſtem jedoch das gemein, 
daß der Zins nicht in Geld, ſondern mit ber Hälfte oder dem Drittheil bes 
Bodenertrags bezahlt wird und daß der Grundeigenthümer für tie Saat forgt. 
Diefes Pachtſyſtem, welches nur die VBerggegenden und bie nächſte Umgebung ber 
Städte der Güterzerftüdelung und der Ansnägung durch den Eigenthümer über- 
läßt, hat alfo in Italien vor Allem das Herlommen für fi. Ob die Natur des 
Landes ober der Mangel an Erziehung des niederen Volles mehr dazu drängt, 
möchten wir nicht entfheiden. Es hängt im leuten Grunde zuſammen 'mit der 
Neigung der romaniſchen Bölfer zum Stäpteleben. Auch mobificirt es fih ſtark 
ſelbſt in denſelben Provinzen; in der Lombarbei finden fich neben Kleinpäͤchtern, 
welde durch Steigerung des Pachtbetrags unter den Padtliebhabern unrettbar 
verſchuldet find, fehr wohlhabende Pächterfamil’en, welche feit Generationen auf 
demfelben Gute figen. Schon in Folge der Reformen Leopold II. nahmen fidy 
in Toscana die erften Familien, die Ricafoli, Capponi, Ridolfi, ver Förberung 
der Landwirthſchaft auch durch perfänliches Wirken auf ihren Gütern lebhaft an. 
Obgleich die Mailänder fi Tange von Metternich durch das Theater in die Stabt 
fefieln ließen, nahmen bie großen, felbft abelige Grundbefftzer doch Antheil an ven 
Aderbaufragen. Jacini hat die Gemeinſamkeit der Interefien der Grundeigenthümer 
und ber aderbauenden Pächter hervorgehoben, während der Hauptnugen häufig 
hanptfählic in den Händen der Mittelperfonen bleibt. 

Aehnliches findet fih in romaniſchen Ländern bi8 nad Belgien. Die Jahre 
der politifhen Umwälzungen haben erprobt, daß biefes Verhältniß in Italien nit 
wie Robbot ein Zunder für kommuniftifhe Aufftänre if. Nirgends haben bie 
Bächter fi) gegen die Grundeigenthümer erhoben, felbft als Radetzly die Pächter 
einlud, ein niebrigeres Pachtgeld an Oeſterreich ftatt an den ausgemwanberten Übel 
zu bezahlen. Nur in dem adriatiſchen Kirchenſtaat hat feit 1831 die fanatifche, 
aus ter Hefe des Volks beftehende papiftiiche Miliz durch ungeftraftes Stehlen 
bie befigenden Gegner des Priefterregiments heimgeſucht. Ueberhaupt iſt der Feld⸗ 
diebſtahl beſonders in übervölkerten Gegenden, wie bie Lombardei, ein ſtarker 
Schatten dieſes Pachtſyſtems. In manden Gegenden ift man froh, wenn er nur 
ein Drittheil der Ernte wegnimmt. —- 

®enua, la superba, bildet ein riefiges Amphitheater auf den gegen ben 
Hafen abfallenden Bergabhängen. Seine Arena ift das Meer. Es ift, als Hätte 
ſich das genueſiſche Bolt hier nievergelaflen, um vie Thaten feiner Söhne auf 
jener unbegrenzten Arena zu ſchauen. Zwar tft der Hafen von Natur weniger ge 








Italien. 60 


fihert als der von Savona; aber Genua's Lage in der Antebiegung (genu) der 
Ianggeftredten Tigurifchen Küfte ift für Handel nnd Krieg eine centrale. Deßhalb 
nahmen es bie Nömer im zweiten puniſchen Kriege, um Hannibals Einfall in 
Dberitallen zu begegnen. Sein Bruder zerflörte es. Die Römer bauten es wieber 
anf und führten eine Straße durd den Apennin. 

As die Wogen ver Völkerwanderung die reihen Grundbeſitzer des Pothals 
zur Flucht zwangen, fuchten die meiften von ihnen Zuflucht in Genua, wo aud 
längere Zeit die Mailänder Erzbiſchöfe ihren Sig hatten. Da es erft 1132 einen 
eigenen Erzbiſchof erhielt, fo weicht feine Entwidiung von der ber meiſten ober- 
italtentf hen Stäbte ab, welde nad ter Völlerwanderung nuter dem Schub der 
durch die Ottonen noch mehr gehobenen Erzbifhöfe ihre Kraft fammelten. Wie 
Benevig ließ Genua die klerikale Macht nie auflommen. j 

Die Berwirrung beim Zerfall des fränkiihen Reichs benutzte Genua, um 
ftatt der Grafen Konfuln, aus der höheren Bürgerfchaft gewählte Männer an 
feine Spige zu fielen und fi für eine unabhängige Republik zu erklären. Zuerft 
als Berbünbete des feemäctigen Piſa fämpfte es um ben Beſitz von Eorfica und 
Sardinien gegen die Flotten der Saracmen, entzweite fi aber dann liber deren 
Defig mit Piſa, weldes feine maritime Größe durch Ueberwältigung Amalfi's 
errungen batte. 

te bie anderen GSeeftäbte Italiens bob fi Genua befonvers in den Areuz- 
ügen, indem es fi von ven fürftlicden Führern verfelben an ber Küfte von 
läftina befeftigte Quartiere, Hanbelöprivilegien und Zölle zufihern ließ. Seine 
Kriegsingenieure bei Belagerungen machten fich unentbehrlih. Zu gleicher Zeit 
führten die Gennefen mit den Arabern in Spanien fiegreich Krieg und ließen aud) 
bier fih Hanvelsprivilegien ertbeilen. Sie halfen dem Kalfer von Marocco zur 
DBefiegung des mohamebanifchen Könige von Murcia und gegen bie Krenzfahrer 
in Genta. Zwiſchen dem lombardiſchen Städtebund und Barbaroſſa hielt Genua 
fich ſelbſtändig. Zuerſt als Verbündete des Hohenflaufen und ber Piſaner, dann 
in bintigen Kriegen gegen fie fuchten die Genuefer auf Sicilien ſich feftzufeten. 
Dabei wogten ftets innere Kämpfe, indem bie Ariſtokratie Konfuln, vie übrigen 
Bürger einen Pobefta aufwarfen. Der Leute mußte ein Fremder fein, welder 
unparteiſcher, befoldet und beſchränkt die Ariftofratie ſelbſt in Schranten halten 
follte. Hierin glichen fie den meiften oberitaltenifchen Stäpten, während Benebig 
durch weife Strenge feine ehrgeizigen Ariftofraten unfhäpli zu machen, das Bolt 
u gewinnen wußte Nur kurz war die 1257 durch einen Aufſtand anfgeriähtete 
oltsherrfdhaft, welche darin beftand, daß ber Podeſta dem Bollsfapetan, welchem 
ih Männer ans tem Bolfe zur Seite flanden, den Eid des Gehorſams leiften 
mußte. 

Diefe inneren Unruhen entzweiten auch die Genueſen in ben entfernteren 
Stationen und wurden fo Beranlaflung zu großen Berluften an Macht und Gut. 
Es war fon ein großer Schaden, daß das konkurrirende, ſchon wiederholt in 
Serlriegen gegen Genua aufgetretene Venedig mit den Kreuzfahrern 1264 Kon- 
ftantinopel eroberte. Ermnthigt dur den Inneren Zwieſpalt der Genuefen fielen 
bie Benetianer in St. Jean d'Acre, das fie gemeinfaur mit den Öenuefen befaßen, 
über dieſe ber, zerfiörten deren Magazine und Wohnungen. Die genueftfche Flotte 
erlitt eine große Niederlage durch die Venetianer und Pifaner. Aber mit wunber- 
barer Schnellkraft erhob ſich Genua wiener, e8 eroberte 1261 mit den Paläologen 
Konftantinopel wieder nnd trat hier in die VBorrechte der Benetianer ein. Nur ben 
Genuefen follte das fhwarze Meer offen ſtehen, fte follten an byzantiniſchen 


602 Nachtrag. 


Grenzen weder Eingangs⸗ noch Ausgangszölle zahlen, dafür dem ſchwachen Kaiſer 
mit ihren Flotten beiſtehen. Doch wurden im Frieden den Venetianern beinahe 
gleiche Rechte mit den Genneſen zugeſtanden. Während Genua wieder längſt durch 
Dürgerkriege zerriſſen wurde, gab es der Seemacht, ver Größe Piſa's 1284 den 
Todesſtoß, im gleihen Jahre, in welchem viefes feinen Campo fanto vollendete. 
Die Hafentette der Pifaner wurde als flolzge Trophäe nach Genua geführt unb 
erſt in unfern Tagen zur nationalen Berföhnung zurüdgegeben. Im Jahre 1298 
erfochten die Genueſen einen großen Seefleg Über die Venetianer bei Eurzola. 
Die Parteileidenſchaft gab auch den Welfen und ven Gibelllun Raum, 
wenigftens naunten fi die Fieschi nub die Grimaldi Welfen, die Doria und bie 
Spinola Gibellinen. Erft dadurch hörte es auf eine Schande zu fein, wenu man 
fi mit fremden Mächten gegen bie in Genua herrſchende Partei verbündete. 
Seeränberei war ohnedieß nicht felten das Gewerbe ber Bertriebenen, ein dem 
genueflichen Charakter entſprechendes Banditenthum. Die alten Namen der oberften 
Behörden verloren als Gewaltmittel der fiegenden Partei ihre —— Die 
Doria und die Spinola waren nicht ſo bald als Führer der Gibellinen Meiſter 
geworben, als fie ſich 1309 Bffentlich entzweiten. Als dadurch vie Welfen Herren 
von Genua wurben und biefes von ben wieder vereinigten Doria und Spinola be= 
lagert warb, riefen bie Belagerten 1319 Robert Anjou von Neapel zu Hülfe, welcher 
flegreih zum Staatsoberhaupt auögerufen wurbe. Aber auch fen Statthalter wurbe 
wieder vertrieben. Als der Papft das gibeiintfähe Geuna mit dem Interbilt be⸗ 
legte, bielt man ihm die Bulle eines Vorfahrers entgegen, Iaut welder Geuna 
nie ein Interbift treffen könne, und ber Klerus befriebigte fi damit. Im Gebiet 
ſelbſt, wie anderen Staaten gegenüber, hatte Genua hbcehſt felten Frieden. Beftinmte 
Ünelszechen Hatten beſtimmte Stadtquartiere mit Burgen und an der Küſte, im Ge⸗ 
birge ihre Burgen, ihren Anhang, Heine Häfen für ven Meinen Seekrieg. Manchmal 
traten beide feindliche Parteien mit ihren Kriegsſchiffen in den Dienft entgegen- 
geſetzter Mächte oder berfelben Triegführenden Macht, 3. B. Frankreichs gegen 
England. Sie miſchten fi viel in die Kriege ber aragonefifchen und ber pro⸗ 
vengalifhen Prätendanten auf Neapel und in die der Sicilianer. Auf ben Flotten 
erhoben fih die Mannſchaften gegen ihre Conbottieri. Gleichzeitig bedrohten bie 
Zotaren die Niederlaflungen ber Sennefen am Aſow'ſchen Meer, türkifche See⸗ 
ränber ihren Handel nach Trapezunt. Den Berluft der ſyriſchen Küftenftäbte hatten 
Hanbelöverträge mit Privilegien erjegt, welche mit ven Herrfhern von Egypten 
abgefegloffen waren. Im Jahr 1387, währenn bie Gibellinen in Genua berrichten, 
führten die nach Monaco verbrängten genuefifchen Welfen Krieg zugleich mit ihnen 
und mit Venedig. Im Jahre 1339 gab eine Berfammlung von Seeleuten, welche 
von ihren Gondottieren übervortheilt waren, und von Handwerkern in ber Kirche 
von St. Donato in Savona den Anftoß zu einer dauernden Berfafiungsveränderung. 
Das Bolt von Genua wollte feine Rechte dem Adel gegenüber wiener durch bie 
Bahl eines Bollsabts fefiftellen. Eine Volksmaſſe umftand das Hans, wortn 
befien Wahl durch vie Abgeordneten ver Volkspartei gefchehen follte. Der Wahl: 
alt dauerte dem Bolle zu lang, ein Siiberarbeiter erhob fi aus feiner Mitte 
und flug einen Adeligen von der volksfreundlichen, konſulariſchen Familie der 
Doccanera vor, Die Meiften hatten ihn nur zur Kurzweil angehört. Der anweſende 
Boccanera weigerte fi, ein Popularenamt anzunehmen. Aber man brängte es ihm 
anf, Herr, Doge von Genna zu werden. Nur um des Friedens willen willigte 
er ein. Aber das Bedürfniß des Inneren Friedens, ver Orbnung, eines Fuhrers 
gegen die Äußeren Feinde war überall im Volke fo groß, daß es ihn ernftlich 





Italien. 608 


nad) dem Vorbild des rinalifirenden Benedigs zum Dogen machte. Solche fchein- 
bar zufällige, weil auf deinem verabreveten Plane beruhende Revolutionen wieber« 
holten fih in Italien bis auf unfere Tage. Die Liebhaber der Verſchwörungen 
fhieben ihnen nachher folhe Motive unter. Wurde Boccanera auch von den Adels⸗ 
parteien bebrängt, zog er ſich aud nach Piſa zurüd, fo blieben doch die Dogen eine 
auf das Volk geftügte Macht, welche den Apelsparteien immer wieder einen Zaum 
anlegte. Zwar übergaben vie Genuefen 1353 in großen äußeren unb inneren 
Köthen dem Erzbiihof von Mailand, Bisconti, die Oberherrſchaft. Aber kaum 
war er geftorben, fo widerſetzten ſich Adelige ver mailändiſchen Oberherrſchaft. 
Bold nahm der zurüdgelehrte Boccanera ven Aufftand in feine Hand und wurde 
mit des Volkes Hülfe wieder Doge. Und als er an Gift ftarb, folgte ihm durch 
Wahl ein reicher Kaufmann im Ducat. Wie in Venedig war er durch fechs Räthe 
befchräntt. Aber es fehlte viel, daß die genueſiſche Parteiwuth fich hätte in gefeß- 
liche Schranken weifen Infien. Der Abel ſchien Geld nur zu ſammeln, um fi zu 
befämpfen, bis er wieber verarmt war. Die blutigften Unruhen währten fort und 
fort, wie in den eben flizzirten Jahrzehnten. Der Kampf ver Parteien war nur 
darauf gerichtet, einen Dogen um den andern zu verbrängen. 

Diefe Inneren Kämpfe wurben nur wenig unterbrochen durch bie großartigen 
See- und Landkriege. Im Jahre 1373 wurde das ben Benetianern verbündete 
Cypern erobert. Die Macht Genua's war jett in ihrem Zenith. Im Jahre 1877 
entzündete fi) über den Befig von Tenedos, dem Schlüflel zum Schwarzen Meer, 
wieder ein Krieg, und zwar ber großartigfte gegen Venedig, welcher mit dem Feld⸗ 
zug der Athener gegen Syracus verglichen werben mag. Das genneſiſche Heer 
hatte fi der Eingänge in die Tagunen bemächtigt und Venedig ſchien feine Beute 
zu fein. Über durch Aufbietung aller Kräfte gelang es ben Benetianern, bie 
Genueſen in ehioggia, woher viefer Krieg deu Namen bat, einzufchließen, uud 
ihre verzweifelten Berfuche, das offene Meer zu gewinnen, wurden vereitelt. Den 
24. Juni 1380 wurden die Gennefen durch Hunger gezwungen, ſich zu ergeben. 
Die wetteifernden Hanbelsrepublifen Hatten fi fo geſchwächt, daß der Hanbel 
auf dem Don für fie verloren ging. 

Die Geſchichte Genna's im fünfzehnten Jahrhundert erregt Erftaunen, Wider⸗ 
willen und Theilnahme durch die furchtbaren, großentheils felbft verſchuldeten Un- 
gädeiatäge, welche die Stadt und ihre auswärtigen Befigungen trafen. Während 

enebig bie Tyrannen an feinen Grenzen niederſchlug, rief bie genuefifhe Partei⸗ 
wuth frembe Thrannen in Genua’8 Mauern. Die Familien ver Fregofl und ber 
Adorni zerfleifchten fih und ihr Vaterland, riefen bald die Könige ber Franzoſen, 
gegen welche fih in Genua zweimal eine ſicilianiſche Veſper wiederholte, bald bie 
Herzoge von Mailand in die Stabt. Als gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts 
die Krone Frankreichs ihre gefammelte Kraft auf Eroberung Italiens richtete, 
tradhtete fie Genua, als „Pforte Italiens”, in ihren feften Befig zu bringen. 
Die Mehrzahl des Adels hielt zn Frankreich, aber das Bolt, bald umter Führung 
der Fregoſi bald der Adorni, pflanzte das Neihsbanner anf und bildete unter 
Karl V. die Stüge der fpanifchen Partei. Im Jahr 1507 ließ Frankreich felbft 
den Dogen hinrihten. Die Katferliden nahmen 1522 Genua und plänberten es; 
den Dogen ließen fie im Gefängniß ſterben. Aber an feinem Lebensnerv wurde 
Senna dadurch angegriffen, daß die Franzoſen Savona zu einem großen Seeplat 
zu erheben anfingen. 

Entfcheivend und bie Barteilämpfe durch eine gemifchte Berfafiung abfchließend 
war es, daß Andreas Doria, aus einer durch Seehelven ausgezeichneten Familie, 


604 Nachtrag. 


ven dem Uebermuth der Franzoſen beleibigt, zu den Habsburgern überging und 
1527 die Stadt von ber Seefeite durch Ueberfall nahm. Der Hafen von Gavona 
wurde verfehüttet. Der neue, reiche Abel wurde dem alten gleichgeftellt, ver ganze 
Übel in 28 Albergbi oder Zehen fo eingetheilt, daß in jeber Zeche Welfen unb 
Gibellinen zufammen waren. Nur Einzelnen aus dem Bolt wurbe dur Aufnahme 
in eine Adelszeche politifher Einfluß ermöglicht. Die unbefriebigten Anfprüde des 
Bots fuchte der genuefifche Alcibiades Fieschi zu benügen, um die Erblichkeit der 
Macht Dorias in feiner Familie zu verhindern, indem er mit Frankreich und 
feinen italienifhen Verbündeten fi verſchwor. Als er in der Nacht des 2. Sannar 
1547 bei glücklichem Anfang tes Aufſtandes eine Galeere befteigen wollte, ertranf 
er. Über auch Dorias Neffe und gefürchteten Nachfolger war umgelommen, An⸗ 
breas war bi8 an feinen Tod 1560 ber wirkliche Regent von Genua über mehreren 
Dogen, während er das wieberholte Anerbieten Karls V., ihn zum erblichen Fürſten 
zu machen, ablehnte. Dennoch erloſch die Sitte ver Verſchwöruugen nicht. Wie im 
Florenz reizte das Teivenfhaftlihe Gleichheitsgefühl zu unaufhörliden Verſuchen, 
die berrfchende Bartei zu flürzen, zu proffribiren, fle arm ins Ausland zu ftoßen. 

Die Parteileidenſchaften hatten die Macht und den Wohlftand ter Stadt fett 
Jahrhunderten tief gefhärigt; fie erlofhen erft mit der Größe des Handels und 
ber Mat von Genua. Tapfer durch die genuefifchen Hülfstruppen vertheidigt fiel 
1453 Konftantinopel; 1475 ging für Genua die Krim und bamit ber ruffiſche 
und perfiihe Handel vollends verloren, beinahe fünfzig Iahre, ehe Venedig durch 
bie tärfifhe Eroberung von Syrien und Egypten feinen indiſchen Handel verlor. 
Diefe Wunden wurden für beide unhellbar feit der Entvedung Amerika's durch 
den ©enuejen Columbus, Genua und Benebig Tonfurrirten mit einander auch im 
nörblihen Binnenland auf ven Meſſen von Bogen, wohin bie Kaufherren von 
Augsburg und Näruberg kamen. Mit letzteren ſtand Genua auch durch die Rhein⸗ 
Ichiffahrt in Austauſch, indem genueſiſche Händier in Brügge, fpäter In Antwerpen 
ttalienifche Seidenftoffe, Goldwaaren, Spezereien,, Korallen, Del, Alaun, Wein 
gegen beutfche Stahlwaaren und wollene Tücher, gegen niederländiſche Spigen, 
gewirfte Tapeten, austaufchten. Dur die Hanfeftäbte verkehrten fie mit der Oſt- 
fee. Doc ging der Haupthandel nad Dentfchland über Mailand, diefe Zwillinge: 
ſtadt Genua's, deren Seehafen Genua iſt, über Chiavenna, den Maloja und 
Septimer nah Chur, Lindau und Konftanz. Obgleich Konkurrentin Marfeilles im 
ſüdlichen Branfreih, wo Genua über das Langneboc eine Handelsherrſchaft aus⸗ 
zuüben verfuchte, kam es doc zwifchen ihnen felten zum biutigen Austrag. Genua 
hatte einen Verbündeten an den Grafen von Provence, bis diefe Herrn von Mar- 
feille wurben. 

Noch mehr als in Mailand war alles Willen und alle Kunft in Senna auf 
das Nützliche gerichtet, Während feine Nebenbuhlerin Piſa für vie italieniſche 
Bau⸗ und Bildhauerkunſt die erfte Pflanzfchule war, während Venedig aus ben 
Ländern, mit welchen e8 verkehrte, vie Motive feiner Baukunſt gewann und eine große 
Malerſchule bildete, ift in Genua die Kunft beinahe nur von fremden gebt worben. 
Genna feste feine Ehre nicht darein, durch eine großartige Kirche oder durch fein 
Stadthaus feinen geiftigen und materiellen Reichthum darzuſtellen; es ſcheint and) 
im Heiligthum tas Gold anzubeten. Die Paläfte feiner Großen, melde in ber 
fafhionabeln Straße den Raum nit minder theuer hatten als die Benetianer, 
haben nichts Burgartiget, noch Lichtes. Ueberall berricht bei ihnen das Beſtreben, 
größer zu erfcheinen. Aber mit Necht zielt der Balaft auf die Sicht nad dem 
Meere, und vie ſchöuſte Kirche Genua’s, Sa Maria di Earignano, erſt aus dem 














Italien, 605 


fechözehnten Jahrhundert, begrüßt von ihrem Borgebirg aus ben heimkehrenden 
Seefahrer ſchon in großer Entfernung. 

Schlimmer für die Macht Genua's war es, daß es während feiner größten 
Zeit nur durch Schiffahrt und Waffen, nicht ebenfo durch Inpuftrie feine Stellung 
behanptete. Deßhalb heilten die ihm gefchlagenen Wunden viel weniger aus. Sehr 
binderlih war es, daß nur ber Übel das Privilegium hatte, die höheren Stants- 
zeſchäfte zu beforgen, Schiffe zu führen, ja Großhandel zu treiben, Fabriken in 
Seide und in Tuch anzulegen. Dem Plebejer blieb nur das Handwerk und der 
Detailbandel. In Ueberwachung des zweijährigen Dogen, in Errichtung - ber 
Staatsinquiſuion (1623) folgte man immer offener dem Beifpiele Venedigs. Erſt 
feit dem Ruin des Handels, im Anfang des fiebzehnten Jahrhunderts, hebt fich 
bie Inbuftrie in Seide, deren Krijen öfters von Aufwieglern benugt worden waren, 
und die in Seife. Schon um 1676 behauptet ein verbannter Genuefe, daß im 
Hafen von Genua jährlih nur achtzig bis hundert Schiffe einlaufen, daß die Statt 
30,000 Arme habe. Um fo -weher thaten ihr tie Kämpfe mit Savoyen um Land» 
gebiet und vie mit den Einwohnern um Corfica. 

Die politiihe Alltanz mit Spanien, welches ſeit Karla V. Rücktritt in Italien 
in die Rolle der deutſchen Kaifer eingetreten war, hatte zur Folge, daß Genuefen 
als Steuerpächter in Spanien und im ſpaniſchen Italien fich niederlaffenn ſich 
fehr bereicherten. Für ihre Vorſchüſſe und Anlehen erhielten fie große Ländereien. 
Ueberhaupt wurde und wird in Genua ſtark in Staatsanlehen ſpekulirt. Dazu 
half die mufterhafte Verwaltung der Bank des H. Georg, welde fo fehr die 
Interefien aller Geld Befigenden vertrat, daß in ihr bie Parteien friedlich zu» 
fammenbielten. Aber die ſpaniſche Alltanz und die Ausrüftung von Kriegsfchiffen 
für ſpaniſche Rechnung führte eine barbariſche Entlapung des Zorns Ludwigs XIV. 
berbei. Bom 17. bis 22. Mai 1684 wurde Genua von der franzöfifchen Flotte 
mit Bomben fo überfhätte, daß die hauptſächlichſten Staats⸗ und viele Privat- 
gebäude zerflört wurden. Dennoch wurden die franzöflfchen Bedingungen zurüde 
gewieſen. Erft als die Franzoſen nad Abbrennung einer Vorſtadt wegen Munitions- 
mangels abfegelten, legte fich die patriotiſche Leidenſchaft; man ſandte eine abbit- 
tende Geſaudtſchaft nach Verſailles, entwaffnete vie neuen Galeeren, entfagte dem 
fpanifhen Bündniß und bezahlte die Koften des Bombarbements. Glorreicher, weil 
erfolgreicher, war der Wiperftand, den Genua den Ehilanen Defterreihs entgegen» 
feßte, welches feit 1714 im Befig der Lombarbei war. Um die Hülfe Piemonts 
zu erlaufen, ſchenkte Maria Thereſie dieſem im öfterreichifchen Erbfolgekrieg das 
genuefifhe Finale Deßhalb trat Genua auf bie Seite feiner Gegner. Über 
den 5. September 1746 mußte es den Defterreihern und Piemontefen bie Thore 
öffnen. Der Gebrauch des öſterreichiſchen Korporalflods auf genuefifhen Rüden 
rief im December einen energifchen Volksaufſtand hervor, burd den die Defter- 
reicher aus der Stabt geworfen wurben, welde fie umfonft belagerten, ba eine 
franzöfifche Flotte Genua Hülfe brachte. Diefer Vollsaufftand leuchtete den Ita⸗ 
lienern vor zwanzig Jahren als Beifpiel, wie die öſterreichiſche Herrſchaft abzu⸗ 
werfen ei, ermuthigenb, aber aud fie über die Mittel irreleitend, vor. Die Sä- 
Inlarfetee wurde 1846 glänzend begangen. 

Aber während des Kriegs hatten die Städte der genueſiſchen Weftlüfte Luft 
ezeigt, fih an Piemont anzufchliegen, um der Tyrannei Genua's zu entgehen. 
—* das Aufflammen der genuefiſchen Energie konnte über ben unaufhörlichen 
Aufftänden der während des Kriegs von den Engländern unterflägten Corfen 
gegen bie Härte ver genueflichen Beamten nicht Meiſter werben. Nachdem von 


Undrag. 


is Nase NE use umgernfen werben müfjen, verfaufte Genua Em 
near STE an viergig Millionen Francs. Seine ingRlihe 
som 2 Tr Aa ber franzöfifchen Revolution nichts. Genua 

u we Ahle aparte® ans einer Adelsherrſchaft in eine 

m zarte Repnblil verwandelt, welde von der ge⸗ 
2 vente ap ae Hervorragende tyrannifirt wurde. Die Statuen 
. Dan at ver Suter von Krankenhaͤuſern wurden verflümmelt und der 
nm Mt eier. Nachdem Senna von 1799 bis 1800 mit fran⸗ 
zu uragang ale Schreden einer Belagerung ansgeftanden hatte, wurde es 
Ne werten Rafferreiche einverleibt. Wie zum Spott wurbe der blofirte 
a u Frauen erflärt. Als Bentink mit feinen englifch-flcilianifgen Truppen 
„ zusam Sit bambete und der ſchwach beſetzten Stabt bie alte Freihell ver⸗ 
Su 2 „wette man bie beften Zeiten wiebergefehrt. Aber ber Wiener Kongreß 
war are Se Wineripruhs Geuna Biemont zu. 

Fr exelige, binnenländifch befchränkte piemontefliche Negierung, zumel 
a Narı Wefionrationszeit, war den Genuefen ganz witerlid. Man that Alles, 
m Kaum gegenüber möglihft viel GSelbfländigkeit zu bewahren. Trotz ber bei- 
xanmemm Gilandien franzöfiihen Zollgefege, Kontrolen, Bielfchreibereten wurbe 
uam da Zeige des Mißwachſes von 1816 nachhaltig ein großer Stapelpla 
zus ineufifchen Getreides, bis man 1825 durch Differentialzdlle die noch nicht 
erftarkte piemontefifge Marine zu begünftigen ſuchte. Erſt Cavonr zog 
auf freien Tauſch zielenden Gefege die Nefultate aus dieſen Erfab- 
indem er 1856 ben Zoll auf Getreive aufhob. Cavour fuchte durch Be⸗ 
des genueflihen Handels die Arbeit in Piemont zu beleben. Er fand 

wenig Dank bei dem Zunftgeiſt und ver neidiſchen Habgier ber 

Über fo ſchwierig Senna war, fo hatte es die Politik Piemonts ge 
‚ jenen Geſichtskreis zu erweitern. Ohne ven Befitz Genna's wäre es 
für Piemont unmöglich gewefen, bie nationalen Anregungen auf die Küftenlänber 
des Tyrheniſchen Meeres auszubehnen. 

Während die Italimer Jahrhunderte lang ihre großen Erinnerungen zu einer 
Entihulbigung ihres dolce far niente machten, iſt der raftlofe Geift Benna’s, 
durch den Stolz als Mutter von Eolumbus — nebft der Abneigung gegen ben 
Militaͤrdienſt zu Land — zu früher Benägung ber Oeffnung ber ſůdamerikaniſchen 
Häfen in Folge ihrer Unabhängigkeit getrieben worden. Im Jahre 1824 ging das 
erfte genueftihe Schiff um das Gap Horn. Der Kaufmanns. und ber Seemannt- 

eift zumähft Genna's, aber auch anderer italienifcher Häfen, gewann dadurch an 

Beite bes Blide und ber Hebung. Allein in ven Laplataſtaaten nebft Montevldeo 
find vierzigtaufend Ligurer aufäffig, welche den Handel mit Italien beleben. Da 
Genua zugleih feine Inbuftrie mit dem Handel vereinigt, z. B. das Getreide 
bes Schwarzen Meeres in Baften verwandelt, fo iſt es dem übrigen Italien ein 
Mufter defien, was dieſem am meiften fehlt, um ein mobernes Boll und ein 
moderner, auf rationeller Arbeit ruhender Staat zu werben. Der Handels⸗ und 
Seemannsgeift Genna's, der milttärifhe und abminiftrative Geiſt Piemonts und 
die praftifhe Kulturenergie Mailands find berufen, die humane Paffivität To 
cana's und Venedigs zu fählen, die wilde Kraft der Kirchenftaatler und der Si⸗ 
cilianer, die phantaftifche Unruhe Neapels zu befruchten und zu mäßigen. Die 
beften Patrioten fagen e8 ben Italienern, daß ohne biefes ihnen alle fremde Hülfe 
und äußere glüdliche Verhältnifie feinen Segen bringen können. — 

Wenn Italien ſchon von Wlters Her durch feinen Zuſammenhang mit bem 


e 


ii 





Italien. 607 
Feſtland, durch feine weitgeſtreckte Küftenentwiclung die verſchiedenſten Grund⸗ 
elemente der Bevölkerung erhalten hatte, welche durch die nachfolgenden 
in bie Gebirge gebrängt wurden, fo ſchleppte die Weltbeſiegerin Nom aus ven 
drei Welttgeilen allen möglichen Bölferfamen herbei. Dieſes piegelt fi in dem 
Einuiften der verſchiedenſten Lokalgottheiten berfelben in Rom. Exft ven beutfchen 
Heerlönigen, den arlanifhen Barbaren gegenüber fühlte ſich dieſes Miſchvolk, 
namentlih aud als nichnifh-athangflanifches, als ein relativ zufammengehöriges 
romanifirtes. Beſonders ſchroff ſtellte fih der Stolz der edlen Oftgotben und bes 
ſtadtrömiſchen Patriciats gegenüber. Jeder Theil lebte fo ziemlich nad feinen 
Sitten und Geſetzen unter feinen Lokalbehörden; vie deutſche Kriegerkafte erhöhte ven 
Drud, den bie Kaifer längft durch ihre blutſaugenden Beamten geübt hatten, 
durchaus nicht, fobald fie einmal fih durch die Waffen feftgefeut hatten. Als Be⸗ 
Ufer und 553 Narfes die byzantiniſche Macht wieder feftgeftellt zu haben fchienen, 
ſahen fih die Romanen fehr ſchlecht belohnt für die Hülfe, welche fle dazu ge- 
boten hatten. Tiefere Wurzeln konnten feit 570 die Longobarben ſchlagen, welche 
fih im Binnenland bis in die Gegend von Neapel auöbreiteten. Ihre nach dem 
Könige wenig fragenden 36 Herzoge erlangten eine lokale Bedeutung, während 
an den Küften, zumal in Ravenna und in Sübitalien, die Byzantiner ſich hielten, 
anf der Weſtküſte fih Städte wie Rom, Neapel, Amalfi meift unter der Leitung 
Ihrer „u tadfe ‚ bem fernen Kaljer nur ſcheinbar unterworfen, mannigfaltig ent⸗ 
widelten, 

Durch diefe naturwüchfige, reale Unabhängigkeit und Sprödigkeit der Theile, 
welche Italten kaum mehr als geographiichen Begriff kannte, war dennoch die Idee 
der Neichgeinheit nicht verbrängt. Sie war noch in ber Theilung in Weſt⸗ und 
Dfihälfte 395 von Theodofins befiegelt worden. Odoacer, welher 476 Romulus 
Anguftulns in Rom ftärzte, ſchickte die Reichsinfignien nach Byzanz. Der große 
Oſtgothe Theoborid war vom Kaiſer nach Italien abgeleitet worden und fein 
Berſuch, ein eigenes Reich zu bilden, zericheiterte eben durch Beliſar und Narfes 
nad zwei Generationen. Die römtfche Reichseinheit wurde dem Volke, das der 
erdrückeuden Reichslaften Tängft N war, nur durch ihre kirchliche Dar- 
ftellung werth erhalten. Der aus feiner Mitte erwachfene Klerus, befonders bie 
dem römifchen Patriciat entſtammenden Patriarchen von Rom, die Kirche in thren 
Geremonien und Gefegen gaben dem Wefen der romanifirten Bevölkerung Ausdrucd. 
Der Reichthum ber Kirche half in taufenb üffentlichen und privaten Nöthen. Daher 

elang es erft der Zeitgenoffin des Papftes Gregor I. des Großen um das Jahr 600, 
— * indem fie die Longobarden bewog, zum Glauben des Volkes überzu⸗ 
treten, beide einander näher zu bringen. Über auch die kaum eine Million Köpfe 
ftarfen Longobarden vermifchten fih, wie alle ihre deutſchen Vorläufer, mit dem 
somanifirten Volle erſt recht, als ihre Herrſchaft geftürzt wurde. Die byzantiniſchen 
Militärbeamten faugten das Volk des nun zur Provinz gewordenen Italiens bei 
zunehmender Schwäche des Reichs immer mehr aus und fie ließen deſſen Führer, 
die kirchliche Hierarchie, ihre Willfür ſchwer fühlen. Ste verbitterten ihr, zumal dem 
Patriarchen von Rom, gegen ben fi der von Ravenna fpreizte, bie Süßigkeit 
eines weit entfernten Kaiſers. Es ließ fi zwifchen den gemwaltthätigen ſüdlichen 
Herzogen und dem in Pavia figenten Könige der Longobarden vieleicht eine un⸗ 
glei umabhängigere Stellung nehmen. Das ganze Abendland huldigte feinem 
einzigen Patriarchen, dem in Nom, und fühlte fi folivarifch mit und unter ihm 
verbunden, im Gegenſatz gegen den ganz anders gearteten griechiſch⸗byzantiniſchen 
Beamtenſtaat, welcher das Abendland nur ausfangte, olme ibm Schuß zu bieten. 


Una. 
wmauiſchen Wanberpöller nach dem andern von ber 


Anmumanne. 
u Ziemmemte famen in Brand, als durch ben aufgeklärten 
num Alberfärmenden Kaiſer die Kultusgewohnheiten bes 
un „con fo große Bebentung hatten als im Orient bie Dog- 
...a, würeht waren. linter Gregor II. (715 bis 731) vollzog 
. rad der meiften Küftenftrie Italiens von Byzanz. In Dem 
2 nu Ancona bildete ſich ber erfte ſchwache Städtebund. Gregor 
xitenioſes Get an fi. Aber die zwiſchen Devotion und energie- 
augwat ſchwankende Politik der lombardiſchen Könige drängte feimen 
a ne eilt anf, in ihrem Rüden wieder einen frommen Fürſten fich 
Nunigemoften zu werben. Die galliſchen Biſchöfe waren längft in ihren 
na Ne treueten Anhänger ihres römiſchen Patriarhen; die Söhne Karl 
uch mie Die legitime Merovingerbynaftie verdrängt hatten, beburften eimer 
za Weihe für ihre Herrſchaft, fie gingen, vom römiſchen Patriarchen gerufen, 
‚acmal üßer die Alpen. Karl der Große brach 774 das Mei der barden. 
Datte ſchon fein Vater durch die Schenkung der Romagna an St. Peter fich 
als dautbarer Bundesgenoſſe bewährt, fo galt es jest, der im Glauben der Bölker 
fortlebemaen Idee von ber Einheit des Reis, an welder die der Giuen 
untrennbaren Kirche fi aufgeranft hatte, wieder zu einer dynaſtiſchen Ge⸗ 
Rat, dem Abendland wieder zu Herrſchaft über das Morgenland, dem alten Aber 
208 neue Rom, über Konftantinopel zu verhelfen. Das durch die Germanen ver- 
iängte romaniſche Abendland fühlte fih ſtark und darum berufen und bereditigt 
dazu. Die Päpfte, noch vor hundert Jahren Unterthanen von Byzanz, machten 
aun geltend, daß fie mit Rom das Palladium der untheilbaren Kaifer- und Reichs⸗ 
gemalt verborgen gewahrt hätten. Mit Zuftimmung des römijchen Bolts, welches 
dabel hoͤchſt betheiligt war, mit Zuftimmung der fränkiſchen Großen wurbe au 
Weihnachten 799 dem in Rom anweſenden Frankenlönig Karl die Kaiſerkrone vom 
Bapfte aufgefegt und Karl damit verpflichtet, ihn, die Kirche und Rom zu firmen. 
Spätere, vielleicht auch vereinzelte Zeitgenofien haben beflagt, dag die begonnene 
nationale Verſchmelzung und Geftaltung Italiens, aber nicht ohne Mitſchuld der 
Longobarvenfürften, durch die univerfaliftifhe, politifch-kirchliche Reichsinee verbrängt 
wurde. Diefe Idee Hatte diefe Doppeluatur als Kreuzung ver jünifchen und ber 
xömifchen Weltanfhannngen. Man war babei weit entfernt, die thatſächlich dadurch 
beförberte politifcye und Kirchliche Trennung in zwei Kaiſerthümer zu bewerfflelligen; 
man hätte dieß für ein Sakrilegium gehalten. Zuerft hoffte man die Kaiferin 
Irene in Byzanz zu flürzen, dann follte Karl fie heirathen. Und wenn er nad 
Eroberungsverſuchen mit ihrem Nachfolger übereinlam, das Gebiet des unab- 
bängigen Benedigs als Grenzftein anzuerfennen, fo hoffte man doch die Ber- 
einigung bald irgendwie durchzuführen. Kaifer Otto I. rang den Byzantinern im 
vierjährigen Kriegen 971 die Anerkennung des weftrömifhen NKaifertfums ab. 
Über die Heirath feines Sohnes mit einer byzantiniſchen Brinceffin beweist, daß 
man folde Kriege als innere durch Berföhnung beizulegen fuchte. Die Kaiſermacht 
war gefeglih und thatſächlich in ver Dynaftie Karls erbli, der Papft blieb wie 
andere Bifchöfe ihr Unterthan. Die in Rom centralifirte Hierarchie wurde, wie in 
Defterreih bis Joſeph II., als das flärffie Band ver Reichseinhelt angeſehen. 
Diefe flarke Organifation der Suborbination in der Kirche follte fpäter ihrem 
Haupte zu felbfländiger Herrſchaft helfen, während das deutſche Leheneweſen bie 

= = R Rolfertbums zerfplitterte. 





Stalten 609 


Seit dem Tode Karls kam ein ſchweres Jahrhundert Über Italien. Zuerft 
Unhängfel des Reihe und ber Meiche der KRarolinger wurbe es ber Zankapfel 
zwifchen einem Karolinger Herzog von Briaul, einem Longobarbenherzog von 
Spoleto, einem König von Burgund und anderen, von benen gerufen Magyaren, 
Byzantiner, felbft Araber bis über die Alpen hinüber Italien verwäfteten. Die 
Fäpfte widerſetzten fih allen Verſuchen eines italtenifhen Königthums, das ja 
feinen Thron neben dem ihrigen in Rom aufgerichtet Hätte. Sie mußten aber, 
ſelbſt Kreaturen der wüſteſten röomiſchen Abelöberrfchaft, einen Prätendenten um 
den andern kroͤnen. Erſt als in Deutſchland ſich das Nationalkönigthum in Otto I. 
befeftigt hatte, wurde durch feine ſtarke Nichterhand das Papſtihum wieder aus 
bem Schlamme aufgeridhtet. Er verband thatſächlich das Kaiferthum mit dem 
deutſchen Königthum, während erft fehshundert Jahre fpäter das Papſtthum feinen 
univerfalen Charakter jo ſehr vergaß, daß es ausſchließlich an Italiener kam. Aber 
in beiden Geftalten Hat das Papſtthum vie politifhe Einigung Italiens gleich 
ſtark verhindert. — Das H. römische Reich dentſcher Nation enthielt in fi fo- 
wohl den Funken des Kampfs zwiſchen Deutſchland und Italien, als des fpäteren 
Kampfes mit dem flärkften romanischen Staat, Frankreich, welcher fi bis in 
unfere Tage als ein Kampf Habsburgs um Italien fertfpann. 

Die Städte Italiens hatten unter den Imperatoren alle Selbſtändigkeit ver- 
loren, die ſtädtiſchen Aemter waren eine ſolche Laft, forderten ſolche Geldopfer, 
daß man ihnen durch Erwählung der Unfreiheit ſich zu entziehen fuchte. Wis vie 
deutſchen Eroberer ſich befonvers auf dem Lande feftfegten, kamen die Städter, 
hoch wie niedrig, In mannigfaltige Abhängigleitsverhältniffe zu ihnen. In den 
ewigen Kriegen, beſonders in Folge der Raubzlige der Magyaren und der Araber, 
that fi die ſtädtiſche Bendlferung in bewaffnete Zünfte zufammen. Erſt dadurch 
gewannen die Städte Bedeutung. Während die bloße Nominalberrichaft der By: 
zantiner den Städten des Südens viel freiheit der Entwidlung ließ, wurbe die⸗ 
felbe den Städten Oberitaliend von den Ottonen baburd erleichtert, daß dieſe 
als kaiſerliche Grafen nicht nach Erblichkeit ihrer Macht ſtrebende weltliche Herren, 
ſondern die Bifchdfe einfepten, welche der Kaiſer ernannte. Dieſes beſonders gab 
ein Jahrhundert fpäter den Anftoß zum Invefliturftreit. Da in vemfelben bald 
in jeder Stadt ein kaiſerlicher und ein päpftlicher Biſchof einander gegenüber flan- 
den, fo fehlte es den Bürgern, zunächſt den Patriciern, nicht an Gelegenheit, noch 
on * und Geſchick, den Biſchöfen eines ihrer Hoheitsrechte um das andere 
abzunehmen. 

Nach dem Ausſterben der Dynaſtie der Ottonen ſchien Italien wieder in 
den Wirbel der einheimiſchen und franzöſiſchen Kronprätendenten geſtoßen zu wer⸗ 
den. Allein als der deutſche Wahlkönig Heinrich II. 1004 erſchien, fand er ſtarke 
Bundesgenofien an den fläntebeherrfchenden Biſchöfen. Es ließ fich nicht verkennen, 
daß die Ottonen ihre Kraft am meilten für Italien aufgezehrt hatten. Allein ven 
Italienern entging es nicht, daß das Kaiſerthum, auf denthen Boden verpflanzt, 
Italien von dort aus beherrſchte, wie einft die römiſchen Imperatoren von Italien 
aus die Länder jenfeits der Alpen beherrfchten. So glänzend unter den beiden 
erften falifhen ober fräntifchen Kaiſern Konrad II. (1024) und Heinrich III. (1039 
bis 1056) vie Stellung der deutſchen Kalfer in Italien war, fo fammelte fich doch 
fon gegen fie ein nationaler und ein klerikaler Widerſtand. Jener Hatte feinen 
Sig in dem bisher den Deutſchen gänftigen Mailand, da Konrad für den deutfchen 
Landabel gegen die Stabt Partei nahm, in welcher fi alle Elemente unter ver 
Führung des Erzbiſchofs gegen den Kaifer als Kommune zufammenfchloflen. 

Bluutf@ii un Brater, Deutfges Staate⸗Worterbuch. Xi. 39 


E 


. ung Seh Pepſtthums vom moralifdgen uf 
"up Unabhängigkeit vom Kaiſer zu ringen. Die 

. N "8 Zeit beherrſchenden Rechtsanfchauungen faßten 

. x Vapit Lchensmann des Kaiſers oder der Kalfer 

nn u Qieer hatte an ben in Reapel mädtig gewordenen 

. na eigeregerm (Mathilde) zu beiden Seiten bes oberen 

ar, mihrend die deutſche Baſis der —— — darch die 

‚Ne gone erſchũttert war. Heinrich IV. verhalf jelbft 

sus Anger zur Bereinigung, indem er einen der im 

garten Eſſe, Gatten einer oberſchwäbiſchen Welfin, mit dem 

Suua uch Da feine Söhne auch nah der dentſchen Arome 

u. Ne Degentah beide Länder. Wie fehr die —— die poli- 

— use Augen verlor, erhellt aus dem papſtlichen Anerbieten der 

a Ne xXQauqhdarten Normannen, welche aber, auch Herren Siciliens, 
5 rue aa waumichränfte vLoktalherrſchaft vorzogen. Sie brachen bie Srei- 

a Zutee Wenn nun gleih auch in Toscana die Unabhängigleit wur 

N Nm Paprſt fi verbündenden Städte, zumal die von Bloreng, | fih hob, 
ua et Eegrer, 3. B. Pia, und die von Mailand: Pavia umb Ecweo, 
2.0 Ne Mailer am. So nübte zwar der Kampf der lokalen Bürgerfreiheit, aber 
n un wat dem auf die Dereiiaft über bie ganze alte römifche Welt zielenden 

Ne sum aut mit den beutichen Welfen brängte das nationale Streben der 
rei Städte in den Hintergrund. Der wenn and nod fo zerflädte päpft- 
a Ziuat, welchem Innocenz III. um 1200 einigen Befland gab, wurbe vom 
nu Turte als Sinnbild ihrer politifhen Weltherrſchaft betrachtet und tremmte 
za a alte Tage völlig die beiden Enden des übrigen weltlichen Italiens. Kaum 
yaına die Nachfolger Hildebrands unter dem Borwand der Freiheit der Kirche 
Jar portiſche Macht gegründet, als die italienifhen Patrioten von Dante an bis 
Maiavelli und bis anf unfere Tage herab darin das Ungläd der Kirche umd 
Nurcad ſahen. 

Je ertremere Ziele die Parteien anſtrebten, je mehr ihnen das Verhältaiß 
der Swede und der Mittel ans den Angen entſchwand, deſto fehwieriger wird es 
Ar tie Geſchichte, den durch dieſes Labyrinth leitenden Faden zu finden umb feſt⸗ 
zabaiten. Kaifer Friedrich I. Barbarofia, berufen durch Scheidung der bärgerliden 
und ter geiftlihen Gewalt den Frieden zu ermöglichen, erlanft feine —— 
in Rom, indem er den Propheten jener Scheidung, Arnold von Breſcia, 
Verbrennen ausliefert. Während der Papſt die jndaiſirte Reichsidee des Raids 
Chriſti verfiht, ſtellt Friedrich ihm und den Städten das durch die Vyzantiner 
auf tie Spite getriebene unbeſchränkte altrömiſche Imperatorenrecht entgegen. 
Gr ſchürte den Hader der Stäpte gegen einander zum 2olalfanatismns, wollte 
aber vie beftehenden Privilegien ver ſtädtiſchen GSelbftregierung durch die 
taiſerlichen Rechte fo ſehr befchränten, daß alle oberitaltenifhen Stäpte fi 
gegen ihn verbanden. Und als endlich am 29. Mai 1176 die 
keit ber Lombarden bei Legnago über dentfche Kraft fiegte, fo zeigt ſich die kaifer- 
liche Neichsidee in den Städten fo ſtark, daß fie wetteifern, welche ihre frühern 
kaiſerlichen Privilegien zuerft vom Kaiſer beflätigt erhalte. Der demokraliſche Geift 
ſtoͤßt eine höhere Klaſſe nm die andere and den Mauern, fo daß alle ritterlichen 
Giemente an ven Kaifer und an den Landadel ſich anfchlieen, weiche endlich über 
ten nivellirten Handwerkerftand, welcher der ewigen Meinen Kriege überbräffig bie 
Waffen feinen Söldnern überließ, die Lolaltyrannis anfricheen, indem ſie die 





Italien. 611 


Banden ber Condottieri bilden helfen. Das war die romanifche Entwidlung, welche 
an bie Stelle des gleichzeitig immer mehr unterliegenden germanifchen Lehens- 
weiens trat. 

Je leidenſchaftlicher in dem fortgefeßten Kampfe vie Plane wurden, deſto mehr 
fhabeten fie fi) felbft. Indem die Hohbenftaufen ſich die deutfche Kaiſerkrone und 
die der Normannen auf Sicilien erblich zu machen, indem fie zuerft das Lehens- 
weien und dann einen geortneten Staat des aufgellärten Abfolutismus aufzu- 
richten fuchten, drängten fie den kirchlichen Fanatismus, die päpftliche Staatökunft, 
tie Städte, die deutfhen und die normannifhen Lokalherren, bie Könige von 
Branfreih zum Bändnig gegen Plane, für melde die Zeit nicht reif war. Heimat⸗ 
108 fland Friedrich II. mit feinen Wurzeln in der Luft. Er hatte Italien und 
Deutihland in fih verfhmolzen. Deutfhland aber zerriß das Band, welches Otto 
um Deutſchland und Italien gefhlungen hatte. Italien war das Grab nicht bloß 
der beften Deutfchen, es war das Grab ber deutichen Einheit geworben. Das 
Papfitfum war verweltlicht und übermüthig geworben, auch Italten war in Par- 
teten zerriffen, welche dem Lofalegoismus ale Masten dienten. Die Schooßlinder 
des Papftes, die Anjou, bedrohten von Neapel aus Rom und überlieferten den 
Papſt 1305 in die babyloniſche Gefangenihaft von Avignon. Die normannifden 
Geſchlechter wurden von franzöſiſchen Abenteurern durch Gewalt und Zwangs⸗ 
heirath aus ihren Gütern verbrängt. Nur Neapel, Hauptſtadt ftatt Palerıno’s, 
vergrößerte fi) auf Koften bes ganzen Reichs. Bis Oberitalien hinauf hatte fid 
die Oberherrſchaft der Anjon auögebreitet. Aber fie verhinderte nicht den Krieg 
von Stadt gegen Stadt. 

Umforft hatten die Päpfte Rubolf von Habsburg gegen die Anjon zu Hülfe 
nad Italien gerufen. Ex nahm den Kaifertitel an, gab dem Papft die Reichsrechte 
Preis, aber er fah, daß Italien nit das Land war, feine Hausmacht ſicher zu 
gründen. Sein ftrenges Aufräumen mit den Raubrittern und ihrem Gefinvel trieb 
Schaaren derſelben nad Italien, welche dieſes Jahrzehnte lang brandichatten, bis 
fi ihnen italieniſche Condottieri gewachſen zeigten, welche in Mittel- und Ober 
italien ſich Fürſtenthümer gründeten. Am berühmteften wurden bie Sforza, Bauern- 
ſohne, feit 1450 Herzoge von Mailand. Biele alte Dynaftengefhlehter wurden 
durch fie verdrängt. Beſonders zahlreich waren diefe Herren im Kirchenſtaat, deſſen 
Provinzen unter Kämpfen während der Abweſenheit des Papftes erftarkten. Selbſt 
der Romantifer für bie antike Herrfchergröße Roms, Cola di Rienzi, mußte bie 
Nüdtehr des Papftes vorbereiten, welde 1377 dauernd erfolgte. Die Römerzüge 
deutfcher Könige in diefem Jahrhundert, felbft der des edeln Quremburgers Hein- 
richs VII. waren fo anſpruchslos, daß fie keinen großen Streit veranlaßten und 
feine Spuren hinterließen. Sie waren Satyren auf Dante's glühenden patriotifchen 
Wunſch, daß ein deutfcher Kaiſer Italien Frieden bringen und die Kirche auf das 
Geiftige zurädführen möge, Kaiſerthum und Papſtthum wie Zwillinge waren mit 
einander gewachſen und gealtert. 

Die Kaiſeridee vergeiftigte fih (3. DB. in Dante's de monarchia) mit dem 
Zufammenbrechen ver leiblichen Kaiſermacht in dem Ideal der univerfalen Monardie, 
welche wie die „unſichtbare Kirche” des Proteftantismus in den Landeskirchen, fo 
in nationalen und in vielen provinziellen Fürſtenthümern zu fehr rebucirter Dar- 
ſtellung gelangte. Letzteres war in Italien der Fall. Das Papſtthum, die lokalen 
Gewalten, die Fremden verhinderten im langgeſtreckten Italien ein nationales 
Königreih. Uber die Künfte und die Literatur hatten bereits begonnen, Italien 
auf dem Wege gemeinfamen Kulturbewußtfeins geiftig zu vereinigen. Noch viel 

39 * 


612 Nachtrag. 


mehr als in Deutſchland waren bie vielen Fürſtenhöfe die Forderer ver Künſte 
und ber Literatur. Während Neapel von dem Kampfe der provenzaliſchen Anjon 
und der gibelliniſchen Aragonefen um feine Krone zwei Jahrhunderte zerriffen 
wurde, faßte auch an feinem Hofe der ttalienifche Geift der Kunft und Literatur 
feften Buß. Da die auf Gaeta geftägten Unjon dem römifhen, die Aragoniſten 
von Sicilien aus dem Gegenpapſt in Avignon huldigten, fo war während Jahre 
zehnten jeder Theil im Bann des einen Papfis. Die Sicilianer hatten [chen in 
Folge der großen Beiper den Bann, welder von ven Päpften im Jutereſſe der 
Franzoſen über die Infel ausgeſprochen war, gering achten gelernt. Die Italienifche 
Kultur war wejentlih auch eine finnlich geftaltende. Nicht bloß befefligte Gebäude 
wurden fhon von den alten gibellinifhen Tyrannen, 3. B. Gzelln, als Stäße 
ihrer Herrſchaft aufgerichtet; auch ihre friedlichen Banwerke follten Zeichen ihrer 
Allgegenwart, ihres Reichthume, ihrer geiftigen Ueberlegenheit fein. So kläglich ber 
Traum Cola di Nienzis, das Kaiſerthum zn demokratiſiren und mit Rom als 
Mittelpunkt in einen itallenifhen Stäptebund zu nationalifiren, zerronnen war, 
fo wurde das Bewußtfein einer Kulturzufammengebörigleit von Schrififtellern und 
Künftlern in allen Provinzen Italiens gewedt. Die Ausländer erfchienen ihnen 
als Barbaren. Ju diefen Gegenſatz faßte fih, wie einft bei deu Griechen, das 
italienifhe Nationalbewußtfein. 

Das Streben, dieſer nationalen Zufammengehörigfeit Geſtalt zu fchaffen, war 
in den beflen Köpfen rege. Die Möglichkeit, vermittelft des von Flüchen lebenden 
Papſtſchisma's einen ttaltenifhen Patriarchen zu belommen, wurde von dem Kom- 
flanzer Koncil durch Abfegung der Gegenpäpfte und durch die Wahl eines uni- 
verfalen Papftes vernichtet. Das Papſtthum erfuhr ſchon von da am bie falfche 
Nationalifirung, daß fein für die ganze chriftliche Welt beftimmter Träger in ber 
Regel Italiener war. Das Streben ver Päpfte war denn au von viefer Zeit au 
energifch darauf gerichtet, die territoriale Baſis ihrer Macht im Mittelpuntt 
Italiens mit allen Mitteln wieder zu gewinnen. Sirtus IV. (della Rovere, feit 
1471) war der erfle unter den Päpften, welche für ihre Neffen oder Söhne die Länder 
alter Dynaflieen, 3. B. der Efte, wie die glücklicher Condottieri mit allen Mitteln 
zu erraffen ſuchten. Dazu wie zu den höchſten Kunftgenüffen wurden die ängfl- 
lien Gewiſſen der barbariihen Völker gebrandſchatzt. 

Das Herz und das geiftige fchaffende Haupt Italiens aber war in feinem 
Haffiihen Jahrhundert, dem fünfzehnten, nicht der Kichenfürft in Rom, fonbern 
Florenz unter ben großartigen Kaufherrn, den früheren Medici. Seit ven 
Tagen des Perikles hatte der Reichthum keine fo edle Beſtimmung mehr erhalten. 
Republilanifche, ariſtokratiſche und fürftliche Elemente wetteiferten in geiftiger und 
materieller Förderung der größten Kunſtwerke. Die Städte wetteiferten unter ſich, 
jede in einem Bau fi felbft das größte Denkmal zu ftiften. Der Fall des chrift⸗ 
lien Konftantinopel 1453 machten Italien zum Zufluchtsort feiner altklaſſiſchen 
Kulturfhäge. Er trieb buch die Türkenangſt die italieniſchen Staaten auch an, 
fih einander zu nähern und ihre Kriege zu ſuspendiren. 

Da die Kriege dur Söldner geführt wurden, Hatten die Medici ihren Reich⸗ 
thum wiederholt dazu benügt, die Vergewaltigung eined Staats durch Geldunter⸗ 
flügung abzuwenden. Aber Rom und vie Päpftle waren auf Florenz und auf bie 
Medici eiferfüchtig. Nachdem 1478 ein während der Meſſe mit Wiſſen des Papftes 
Sirtus des IV. verſuchter Mordanfall gegen die Medici nur theilmeife gelungen 
war, follte durch Bann, durch die Macht Renpels und neibifcher Nachbarn Florenz 
gebemüthigt werden. Aber Lorenzo Medici gewann durch kühnes perfönlihes Er⸗ 








Atalien. 618 


ſcheinen ven König von Reapel und dieſer den Herzog von Mailand zu einem 
den Beſtand Italiens nad innen und gegen außen jchütenden Bündnifſſe der 
mädtigften Staaten, ein eigentliher Bunbesftaat wurde nicht erreicht. Außer 
Lorenzo waren aber von der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts an bie 
bedeutenden italieniſchen Fürſten durch große Künftler verherrlicht und beinahe 
überfirahlt. Selbſt vie Kriegskunſt verlor ihren eigenthümlichen Ernft. Schon 1432 
ließen die VBenetianer Carmagnola, einen der größten Sölbnerfelbherrn, hinrichten, 
weil fie ihr Geld nit bloß für kunſtgerechtes Mandvriren ausgeben wollten. 
Selbſt die gefürfteten Condottieri machten lieber Gebrauch von Dolch nnd Gift, 
während Päpfte neben dieſen Mitteln auch perfünlih das Schwert brauchten. 

So war venn Italien gegen das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in ber 
reihften Kunftbläthe, vol großer Leidenfchaften, aber nicht rei an firenger Mannes- 
kraft. Das durch feine Zertheilung geſchwächte Deutfchland war ihm nicht mehr 
gefährlih. Aber bie Kraft Frankreichs war im Kampfe mit den Englänvern, 
die Spantens im Kampfe mit den Arabern geftählt und geeinigt. Die reiche 
Schönheit Italtens Iodte fie. Gerade die Verheirathung einer Enkelin des Königs 
von Neapel mit dem unmündigen Herzog von Mailand, welche Italien zu fügen 
verfpradh , fchloß e8 den Fremden auf. Der Oheim des Herzogs, Ludwig Moro, 
welcher für fih Mailand erfirebte, reizte ben König von Frankreich, vie alten 
Rechte der Anjon auf Neapel mit den Waffen gegen tie regierende aragonefifche 
GSeitenlinie geltend zu machen und bot fi ihm als Bunvesgenofien an. Auch die 
anderen Fürften Italiens waren jebes Sinnes für Legitimität baar. 

Das Lehensverhältniß, in welchem Neapel zu ven nach dem ſchönen Rande felbft 
luſternen Päpften ftand, die zügellofe Laune einiger Königinnen, der Reiz, welchen 
fein Beſitz auf die Fürften Ungarns wie aller Mittelmeerſtaaten ausübte, hatten 
feine Dynaſtie in Neapel fefte Wurzel fchlagen laſſen. Der theils überreiche, theils 
betteihafte Adel bot keinen zuverläffigen Anhalt, während er, der Hof und vie 
öfter das Marl des Staats verzehrten. Neapel, die einzige große Stadt, liebte 
bie Verf wendung der Höfe. Wiederholte vergeblidhe Verſuche, Sicilien wieder zu 
erobern, hatten nur Zerftörung und Haß erzielt. Karl VIII. von Frankreich ſtieg 
im Auguſt 1494 Über den Mont Eenis herab, am 22. Februar 1495 zog er in 
Neapel ein. Aber beinahe eben fo ſchnell mußte er wieder im Juli nach Frank⸗ 
reich zurück. Alle, vie ihn gerufen und begünftigt hatten, hatten ſich in feinem 
Rüden mit den Benetianern gegen ihn verbündet. 

König Ludwig XII. von Frankreich wollte fi zuerft Mailands bemächtigen. 
Benebig, dem Cremona verſprochen war, half dazu. Den 2. Dftober 1499 z0g 
Ludwig in Mailand ein. Obgleih 1495 Papft Alexander VI. den fo eben von 
ibm gefrönten König von Neapel verlaffen hatte, fuchte König Friedrich III. bei 
ihm die Belehnung nad. Als Preis dafür verlangte Alexander die Tochter bes 
Königs für feinen Lieblingsjohn, den feines Prieftercharafters enthobenen Karbinal, 
das Scheuſal EAfar Borgia, dem er die Romagna als Königreich zu geben beab⸗ 
fitigte. Friedrich erfiärte, Lieber feine Krone nieverlegen, als fein Kind opfern zu 
wollen. Dieß war entſcheidend. Denn vie befferen Könige von Neapel waren ge- 
wöhnlih unglädliher ale die Tyrannen. Sobald Friedrich feine Feſtungen ven 
Truppen feines Veiters Königs Ferdinand des Katholiihen von Spanien und Si⸗ 
cilien geöffnet Hatte, wurde an ihm der Bertrag vollzogen, welchen der Papft mit 
Spanien und Frankreich gefchloffen hatte, Neapel zur größeren Ehre Gottes unter 
diefe zu theilen. Über die Spanier entriffen den Franzoſen ganz Neapel; biefe 
bieften fih in Mailand. Chfar Borgia, welcher eine Reihe mittelitalienifcher 


Bapirag. 


an zer baum vergiftet hatte, ſtarb nach dem Tode jeimes 

"u De iegeriſche Papft Julius II. (1503 bis 1513) war 

x. at amberer Territorien ber legte Gränder bes Kirchen⸗ 

un wm som feinen Küften zu verbrängen, ſchloß er, ber doch 

gu wants, Italien von ben Barbaren zu fänbern, ein Bündniß 

us mt Hababurg gegen Venedig, dieſen Stapelplag bes ſüd⸗ 

8% za uen mit den Spaniern gegen Frankreich, welches ſich aber 

mr much ber jugenblibe König Franz I. den Plünderungen 

mr ir Moriguane ein Ziel gefegt hatte. Aber den 25. Februar 1525 

. a Ne Sach bei Pavia an den fpanifhen Habsburger, Kaifer Karl V., 
Ian an Ne Freiheit. 

De me Kunſtſchwelger, ver Mediceer Bapft Leo X. felt 1513, unter 

XXcedael and Michel Angelo ſchufen, Luther auftrat, hatte ſchon ein 

Sat mit Karl V. geſchloſſen. Die Schmad und der Schaden, welde nuter 

nm weiten Wachfolger Clemens VII, einem natürlihen Mebiceerfprofien, pas 

me Bündniß über das Papſtihnm und über das gepländerte Rom brachte, 

aux 1529 zu dem engen Bündniß des Papſtihums mit bem doppelten Habs⸗ 

arg gegen die deutſche Reformation, welche dem fich über alle fttlihen Motive 

Nosesfegenten italienifchen Subjektivismus die Reihsunmittelbarkeit des Gewiflens 

wer Seit entgegenftellte. Ienes Bündniß wurde dadurch befiegelt, daß den 22. Fe⸗ 

war 1530 der Bapft in Bologna Karl V. frönte, — die lebte Kaiferfrönnng 

durch den Papfl. 

Das erfte Opfer dieſes reaftionären Bündniſſes wurde die Republil Flo⸗ 
renz. Weld reihe, Eräftige Entfaltung nicht bloß die Künfte, fondern and bie 
Menfchen bier in den Kämpfen um geiftige und politifche Freiheit gewonnen hatten, 
beweifen die Namen des Dominifanermönds von San Marco, Savana- 
rola, Machiavelli’s und Michel Angelo Buonarotti’s. Der pro- 
phetiſche Mönd Hatte das göttlihe Strafgericht gegen die Medici kühn vertänvet, 
weil fie die Republit durch Kunſtſchwelgerei gemeiftert hatten. Ihre Vertreibung 
dur tie Franzoſen hatte den Glauben des Volks an feine göttliche Propheten- 
gabe und Sendung erhöht. Der päpftlihe Bann, den er felbft nicht achtete, wirkte 
bei dem Volle, weil der firenge Mönd feiner Schauluft weder ein Karneval, noch 
ein Autorafe gewährte. Am 23. Mai 1493 ward er am Öalgen verbrannt. Aber 
er hinterließ eine geſchloſſene Schaar puritanifcher „Wehklagender“ oder „Beuler“, 
welde in ter Gittenftrenge die einzige Grundlage der Republik fahen nnd unter 
den bärteften Berfolgungen die Republik überlebten. Macchiavelli eiferte für mili- 
töriihe Disciplin und Uebung als Bürgſchaft ver Freiheit; er ſetzte fie bei den 
Stättern, viel weniger bei den Landbewohnern durch. Sein berüdtigter „PBrin- 
cipe" iſt der Ausdruck der Verzweiflung an der Freiheit Italiens. Michel Angelo 
zielte mit feiner Kunft eben fowohl auf die Befeftigung als auf die Berfhönerung 
von Florenz. Aber die feile Tapferkeit deutſcher Landeknechte, das Geld und ber 
Fluch des Papftes wurden nad) achtmonatlihem tapferem Widerſtande, nachdem 
ver Florentiner Ferrucci den Kampf ins freie feld verlegt hatte und gefallen war, 
durch den Abfall ter ariftofratiihen Führer im Auguft 1530 mit Unterwerfung 
ver Stabt entſchieden. Ein mebiceifher Baftard, Neffe des Papfts, mit einer natär 
lihen Tochter des Kaiferd vermählt, wurte Herzog, der Papſt erhob feinen Nach⸗ 
folger zum Großherzog. Meineid, Kerker, Gift und Gericht befefligten viefe 
Tyrannis Die dem feigen Mord Entronnenen hatten in der Gibellinenrepublil 
Siena eine Zufludt gefunten. Nachdem auch dieſes 1552 gegen bie deutſch⸗ 





Stalien. 615 


ſpaniſchen Truppen ansgerumgen hatte, wurde es, durch Hinrichtungen gereinigt, 
dem Großherzogthum einverleibt. Aber noch über zwei Jahrhunderte blieben viefe 
Sebiete durch Zolle getrennt. Der gegen die Türken von einem Ritterorden ge- 
führte Seekrieg verlieh der Tyrannis einigen Glanz, brachte aber die Städte um 
einen großen hell ihres Handels. Da bald Spanien, bald Frankreich unter irgend 
welchen Borwänden den phufifh wie fittli verfunfenen Mediceern Geld abzuprefien 
wußte, verfiel das Land im Frieden in tiefe Verarmung. 

Zunder zu neuen Einfällen der Franzoſen waren die Einziehung des bis in 
vie Nähe von Genua und von Turin reichenden Herzothums Mailand durd Karl V. 
als Neichslchen nach dem Ausfterben der Scheinfürften Sforza 1535 zu Banden 
Habsburgs, und das leidenfhaftlice Streben des Papſtes Baul IIL, Farneſe (von 
1534 bis 1549), feinen Nachlommen Fürſtenthümer, namentlih Parma, Piacenza, 
Ferrara, worauf die Kirche Anfprüde hatte, zu fihern. Obgleih darüber mit 
Kari V. wiederholt überworfen, gründete er bie päpſtliche Staatoſchuld, um ibm 
die Mittel zur Nienerwerfung des Schmallalvifhen Bundes zu geben. Durch Be- 
flätigung des Iefnitenordens verflocht er bie Interefien des Papfttyums und bes 
weltherrſchenden Spaniens. Diejes Verhältniß trat nun an die Stelle der alten 
Zwillingemächte Kaifertbum und Papfithum, welche durch Mori; von Sachſen 
aus ihrer alten Bedentung geworfen waren. Die Habsburger an der Donau, ob» 

ch bei ihuen die Kaiſerkrone erblih wurde, jahen ſich felbft bis 1700, bis zum 

sfterben des Habsburger Hanptſtammes In Spanien, als deren Sekundogenitur 
an. So übergab auch Karl V. bei feiner Thronentfagung 1556 an Philipp II. 
von Spanien nit nur die beiden Sicilien und Sardinien, fondern aud das 
Neichslehen Mailand. 

Seit dem Frieden zwiſchen Spanien und Frankreich zu Chateau-Cambrefis 
1559 enthielt fi Frankreich 140 Jahre lang eigentliher Eroberungstriege, welche 
über das obere Pothal fi hinaus erftredt hätten. Es hatte durch die Eroberung 
von Dies Geſchmack an deutſchen Landen belommen. Uebervieß hatte e8 in dem⸗ 
felben Frieden feine Eroberungen von Savoyen unb in Piemont an den unbeug- 
famen Emanuel Philibert wieder herausgeben müſſen. Diefe Dynaftie Sa— 
voyen hatte fhon zu den Zeiten Kaifer Heinrichs IV., welcher eine Tochter ber 
felben zur Gattin Hatte, ihren Beſitz der Wipenpäfle geltend gemadt. Allein bie 
Staͤdtebündnifſe, denen auch Turin beitrat, trogige Vaſallen, Thellungen, dann 
die Einfälle der Franzoſen, ihre Kämpfe, um Mailand mit Karl V. hatten das 
Land furdtbar verwäfte. Die alten Stände mußten der Diltatur ber Herzoge 
(fett 1416) weichen; das militärifch disciplinirte, Hart an Ürbeit und Krieg ge- 
wöhnte Bolt ſchloß fih eng an feine Fürften an. Die Berlufte tes Waadtlandes, 
Genfs, die Koncentrirung Frankreichs wieſen die früher abentenerlihe Politik von 
Savoyen⸗Piemont immer mehr auf Oberitalien, wo Venedig ihr natürlicher Bundes⸗ 
genoffe gegen Mailand war. Diefe durd die Gebirge ermöglichte Politik ber freien 
Hann bei Allianzen mußte oft aus der Noth eine Tugend maden. Indem fie alle 
Kräfte für die Eriftenz des Staats anſtrengte, behielt fie nichts für Kunft und 
Wiſſenſchaft übrig, welche durch die fanatiſche Jeſuitenherrſchaſt beinahe eben fo 
angefeindet wurde wie die Waldenſer. 

Der une durch lokale Kriege, Aufftände und Berheerungen ver Seeufer durch 
die Türken und Barbaren unterbrodhene lange Friede in der Halbinfel bradite 
Italien keinen Segen. Es Tonnte fi von den Anftrengungen und Plünderungen 
fech8zigjähriger Kriege nicht mehr erholen, weil fid gleichzeitig die Folgen ber 
Entvedung der Seewege nad Oſtindien und nah Amerika, ver Eroberung ber 


616 Nachtrag. 


griechiſchen Inſeln, Syriens und Egyptens durch die Türken geltend machten, 
welche ſich durchaus nicht kulturempfänglich zeigten wie die Araber. Die Oſtkuſte 
Staliens lag jest einem verarmten, verwilderten Lande gegenüber, von mo aus 
fie nody lange bedroht war. Wußte doch Spanien, deſſen Oberherrſchaft fiber 
Jtallen ihm die Pflicht, die Türken abzuwehren, auflegte, nicht einmal ans dem 
großen Seefleg bei Lepanto Nutzen zu ziehen, neben welchem der Papft bie Bar- 
tholomãusnacht in Fresfen verherrlichte. Karl V., Feind des freien Menſchengeiſtes, 
batte überall, in Italien wie in Deutſchland, Fürften oder eine mißtrauiſche Ari⸗ 
ſtokratie in die Oberherrfchaft ver freien Städte eingefeht. Es gab nur einen 
Anbreas Dorta. — Kurz nad dem Frieden von Chateau-Cambrefis kam in Rom, 
in der Kurie, auf dem Stuhl St. Peters felbft die durch den Jeſuitenorden charak⸗ 
terifirte firhlihe Reftanration zur Herrſchaft. Das ganze italieniſche Leben 
des vorhergehenden Jahrhunderts, das Schaffen der Päpfte in der Kunft und im 
der Politik, erfchten den Eiferern für die Herrfchaft der Kirche, für die Unterbrädung 
der Reformation als Heidenthum. Ihr Fanatismus war in der Wahl der Mittel 
nicht viel gewifienhafter als ein Alexander VI. Borgia; and ihr Ziel war nidt 
immer ein beiliges. Nicht bloß um den weltlichen Kirchenſtaat zu vergrößern, 
fondern eben fowohl um für die regierenden Nepoten ber Päpfte große Befigungen 
zu gewinnen, wurben bie Kriegswaffen und Allianzen durch Kirchenbann und Inter» 
bift verſtärkt. So find die meiften der jegigen römiſchen Fürftenfamilien aufge 
fommen. Do war Rom während ber großen franzäflfchen und deutſchen Reltgions- 
und Bürgerfriege bis 1648 der Mittelpunkt einer gewaltigen Reſtaurationspolitik; 
bie entſchloſſenſten Sprößlinge des katholiſchen Adels aller Yänder verfchafften durch 
ihren Namen und Reichthum ben päpftlihen Stattbalterfhaften Aufehen. Aber 
während Sirt V. Philipp IT. von Spanien zur Ausrottung der Reformation in 
England anfenerte, beburfte es des Terrorismus, um die Räuber im Kirchenfinat 
einzufchüchtern. 

Wie der Kirchenſtaat waren auch die italienifchen VBeflgungen Spaniens und 
mittelbar Toscana bloße Mittel zu dem Zwecke jener katholiſchen Reſtaurations⸗ 
politit umd ihrer Kriege. Dafür mußten fie ihr Blut und Geld aufs Außerfte fi 
ausfangen laffen. Ueberdieß bereiherten fi ſpaniſche Granden als Statthalter 
unbarmberzig. Spanien und das Papfitbum waren im Kampf gegen bie ger⸗ 
manifhe Gemiffend« und Gedankenfreiheit enger verbunden als je Katfer und 

apft. Ihre Völker wurden, um fie von, derſelben abzufperren, bis in Ihre innerſten 

efühle geknechtet. Allein nicht bloß durch Morden, Boltern und Brennen von 
den Waldenferthälern und vom Beltlin bis Neapel wurben reformatorifhe Herde 
zerftört. Die Italiener waren in Folge der priefterliden und befonbers ber päpfl- 
lichen Herrſchſucht in der Religion kühle Skeptiker; vie kirchliche Pracht war ihrer 
Natur entfpreddend. Mariendienſt und Bildermirakel erfüllten vie Phantaſie ver 
niederen Klaſſen; vie Iefuiten beherrſchten ausfchlieglih die Erziehung der höheren 
zu temfelben Einen Zwede. Im Bunde mit dem Defpotismus rotteten fie den 
Geift des Bürgerthums, ihres gehaften Feindes, aus. Galilei wurde 1635 vor 
die Inquifition gezogen. Die Privilegien des Adels und größerer Stäbte warten 
nöthigen Walls gebrochen, überall untergraben und zu bloßem Schein erniebrigt. 
Auch das Gewerbe wurde in fpanifhe Stiefeln gezwängt, in Polizeibevormundung 
erftidt. In Wolge der Hungersnot wurden die fruchtbarften Provinzen von peft« 
artigen Krankheiten entoölfert. Der Verſuch Urbans VIII. (16233 bis 1644), das 
auch auf die Selbftäntigfeit ter Kirche drückende Joch Spaniens abzuwerfen, Ber« 
zweiflungsausbrüche des durch Steuern felbft der kärglichſten Nahrung "beraubten 





Sol 617 


neapolitaniſchen Bolles (Maſaniello 1647) vermehrten nur die Noth und bie 
Knechtſchaft. Generale italieniſcher Abkunft wie Farneſe, Spinole, Montecuculi 
verbrauchten ſich im Dienſte der Habsburger, die großen Feſtungsbaumeiſter waren 
im Dienfte beider Parteien, der Kalabreſe Mazarin ſetzte die Politik Richelien's fort. 

Politiſche Gedanken und wenn auch noch fo aufreibende Uebung der Kraft 
des ganz in dem Dienft des eigenen Staates aufgehennen Volles waren nur in 
Sapvoyen-Piemont. Und dieſes war ſchon viel, obgleich feine Grenzen ſchließlich 
nicht erweitert wurden. Heinrich IV. von Frankreich erlannte feine Willenskraft 
an und wollte Piemont zum Zräger feines Planes machen, bie ſpaniſche Macht 
in Italien zu breden. Richelieu's Politik beabfichtigte franzöfiſche Herren als 
Fürſten in Mantua und im oberen Polande als Werkzeuge Frankreichs zu be⸗ 
feftigen. Er erreichte es durch einige Feldzüge Über die Alpen. So wurde Piemont 
wieder zum Anfhluß an Spanien gendtbigt und die Polande waren von 1685 
bis zum Pyrenäenfrieden 1659 zwiſchen Frankreich und Spanien Schauplag eines 
alle HAlfsmittel erfäpfennen Kriegs. Italten litt auch nnter der zunehmenden 
Schwäche Spaniens, da es fi dennod nit von Ihm befreien kornte. 

Die fittliden Kräfte des italienifhen Volles wurden aber im Innerften ver- 
giftet, als der Fanatismns Roms und Spaniens im weſtphäliſchen Frieden anf 
feinen Anfprud, das ſich verjüngende Europa zu knechten, verzichten mußte. Die 
änßere Kirchlichkeit follte durch Nachſicht, felbft Durch Hegung der niebrigen Leiden⸗ 
ſchaften aufrecht erhalten werben. Das Cicisbeat wurbe eine nöthigenve Sitte. 
Der Klerus und feine Sünftlinge beherrſchten dur ihn das Familienleben. Lud⸗ 
wig XIV. fühlte fih ſtark genug, die Weltherrſchaft, welche dem Scheinkaiſer an 
der Donau und feinem Bamilienhaupt, vem König des verarmten Spaniens, ent- 
fiel, an fih zu reißen. Was er nicht erobern konnte, follte erniebrigt werben. 
Muthwillig bervorgerufene Beranlafiungen wurden zur Mißhandlung der Päpfte 
benägt. Genua wurde bombarbirt. Meſſina wurbe 1674 in feinem Aufftande gegen 
Spanien unterftägt, nach vierjähriger Verbeerung Siciliens wurde Tauſenden ber 
Abzug nah Frankreich gefichert und fie bier von ihrem öniglihen Verbündeten 
dem Elende preißgegeben. 

Während das übrige Italien fi in jede Schmach fehmiegte, ſetzte Piemont 
durch Waffen und Liſt Ludwigs Vergewaltigung einen verzweifelten Widerſtand 
entgegen. Ein verſchuldeter Gonzaga verkaufte an Ludwig 1681 Caſale. Durd 
diefes, ſüdlich von Vercelli am Po gelegen, und durch Pinerolo Hielt der König 
von Frankreich Piemont wie mit den Zähnen einer Zange feft. Über bier regierte 
von 1675 bis 1730 Biltor Amadeus II. Ihn wollte Ludwig durch Tauſch nad 
Portugal verfegen. Ein Theil des Hofs ſchwaukte. Aber durch die unbeugfame 
Anbänglichkeit feines Volks gelang es dem Herzog im Bunde mit Wilhelm von 
Dranien troß ter Brandzüge Eatinate, eine Stellung in ber großen europätichen 
Bolitit zu erringen. Ludwig mußte ihm 1696 Gafale, Pinerolo, ganz Piemont. 
Savoyen zurüdfgeben. Als im Jahre 1700 durch das Ausfterben der ſpaniſchen 
Habsburger auh Malland an den ven den Spaniern als Kduig ansgerufenen 
Enfel Ludwigs, an Philipp fam, ſchloß Biltor Amadeus, um wicht von den Bour⸗ 
bonen erbrüdt zu werben, ein heimliches Bündniß mit Defterreih. Da dieß ben 
Spionen Ludwigs nicht entging, ließ er den 29. September 1708 das nod unter 
feinem Oberbefehl ſtehende piemontefifde Heer entwaffnen und erflärte es für 
friegsgefangen. Nur Turin und wenige fefte Punkte konnten gegen vie Franzoſen 
vertheidigt werben. Nach viermonatlicher Belagerung Turins wurde von ben öſter⸗ 
reichifch-preußifchen Truppen unter dem Prinzen Eugen den 7. September 1706 


618 Nachtrag. 


das große franzöfiſche Heer in feinen Turin umſchließenden Schonzen geſchlagen 
and großentheils gefangen. Da aber nad dem Tod Kaifer Joſephs I. fein Nach⸗ 
folger Karl VI. zu Oeſterreich auch auf ganz Spanien und auf alle feine it«- 
lienifhen Nebenlande Anſpruch erhob, fo ſchloß fih der Herzog mit England und 
Preußen 1713 dem Frieden von Utrecht an, in welchem er das ganze obere Po- 
tand, die Weftlombarbei und als berechtigter Miterbe der ſpaniſchen Länder Sicilien 
mit deſſen Königskrone erhielt. Obgleich Oeſterreich das Mailändiſche, das Reichs⸗ 
lehen Mantua, Neapel und die Inſel Sardinien erhielt, fo war es doch damit fo 
unzufrieden, daß 1720 das Hans Savoyen⸗Piemont gegen dieſe werthloſe Infel 
Sicilien an Oeſterreich abtreten mußte. Seitdem hießen die Häupter jenes Hauſes 
die Könige von Sardinien. 

Der Stolz und bie träge Habgier der Spanier war ſehr aufgebracht darüber, 
daß fie Italien nicht mehr ausſaugen turften. Die erfte bourbonifche Königin von 
Spanien, Touife, eine Farneſe von Barma-Piacenza, von einem ihrer priefterlicgen 
Landsleute Alberoni berathen, hatte 1717 durch einen kecken Friedensbruch Italien 
wieder zu erobern geſucht. Obgleich durch die vereinten Mächte beflegt, erhielt doch 
ihr Sohn Karlos Parma und die Anwartfhaft auf Toscana, wo bie Mebici 
ihren Laftern erlagen. Ein Streit Über die polnifche Königskrone gab 1783 Ber- 
anlafjung zW@ einem Kriege in Italien, wo das babsburgifhe und das bourboniſche 
Dynaftieinterefie fi befämpften. In biefes war jegt auch Spanien eingefchloffen, 
Piemont hatte fi) mit ihm verbündet. Die Defterreicher wurden von den Spaniern, 
welche von dem wetterwenbifchen Bolt ald Befreier begrüßt wurden, aus Sicilien 
und aus Neapel verbrängt, Karlos erhielt diefe Doppelkrone als fpanifche Sekunde» 
genitur, Piemont erhielt im Frieden von 1735 auf Koften Defterreichs wieder ein 
Blatt der lombardiſchen Artiſchoke (Novara und Toscana). Aber Mailand, in deſſen 
Befitz es fih ſchon befunden Hatte, mußte es an Defterreich zurfidgeben. Die 
Zeche mußte vom deutſchen Meiche bezahlt werben; denn Karlos trat fein Recht 
anf Toscana an ten zukünftigen Gatten ver Haböburgerin Maria Therefia, Franz 
Stephan, ab. Sein Lothringen erhielt auf Lebzeiten des Schwiegerpaters Lud⸗ 
wigs XV. Stanislae, ter polnifdye Prätenvent. Nach feinem Tode mußte Loth⸗ 
ringen an Frankreich fallen. 

Auch Italien war durd die dynaſtiſchen Interefien willkürlich zerriſſen, fein 
Süden und Toecana waren Selundogenitmen großer fremder Dynaftieen. Dieſe 
hielten fid) jedoch jegt das Gleichgewicht, weder Spanien noch Oeſterreich herrſchte 
über das ganze Italien mit erdrückender Laſt. Da aber jede dieſer Mächte vie 
Oberherrſchaft begehrte, brach der Krieg bein Ausfterben des öſterreichiſchen Mannt- 
ſtamms 1740 von Neuem aus. Der Beſitz von Mailand war längft das erfehnte 
Ziel der piemontefifhen Politik. Dit dieſem Berfprechen hatten die Bourbonen fie 
ſtets gelodt; aber jedesmal mußte Piemont im Frieden Dlailand wieder heraus- 
geben. Daher fprang es entihieden von dem bourboniſchen Bünpniffe 1743 durch 
den Vertrag von Worms zum öfterreihiihen ab, als man fid) in Zurin über 
zeugte, daß ber zweite Sohn der Königin von Epanien, Don Philipp, zu Barma- 
Piacenza auch Mailand befommen follte. Daturd wäre Piemont von Bourbonen 
umfchlofien worden. Nachdem Piemont fi der franzöfifhen und der fpanifchen 
Heere auf's Tapferfte erwehrt hatte, firebten die Defterreicher, fobald fie Mailand 
wieder beſetzt hatten, durdy Eroberung von Neapel auf’8 Neue die Oberherrſchaft 
in Ialien zu erringen. Aber es trug vielmehr zur Befeftigung der Bourbonen in 
Neapel bei, daß unter ver Anführung von Karlos die neapolitanifchen Waffen 
bet Belletri den Defterreihern beinahe die Stange hielten, indem fich beide Theile 











2 


Stalien, 619 


zurüdzogen. Im Frieden von 1748 wurden Karlos in Neapel-Sicilien, fein Bru- 
der Philipp in Parma und in Piacenza, weldes Defterreih an Piemont ver 
fproden hatte, Defterreih im Befig von Mantua und des Matlänpifchen aner- 
fannt, wovon Piemont wieder nur einige Stüchchen erhielt, obgleih e8 während 
des Kriegs die glänzendften Unerbietungen ter Bourbenen abgelehnt hatte. Von 
England unterftügt trat Piemont im November 1748 durch Mitunterzeihnung 
des Aachener Friedens in ter Reihe der Mächte auf. Durd den Vertrag von 
Uranjuez verbürgten einander Defterreih, Spanien und Piemont ihre italienifhen 
Befigungen. Diefes und die drohenden Verhältniſſe machten den Plan Friedrichs 
des Großen fcheirern, Piemont während des fiebenjährigen Kriegs Defterreih in 
den Rüden fallen zu laflen. In Piemont erfannte man jedoch wohl die Gefahr, 
welde aus dem franzöfifc-öfterreihifhen Vündniſſe im Walle der Niederlage 
Friedrichs erwachſen mußte. 

Maria Thereſia beruhigte ſich damit, die Herrſchaft in Italien mit den 
Bourbonen theilen zu müſſen. Auch als ſie bei dem Ende des ſiebenjährigen 
Kriegs im Verdruß über das Schwinden der habsburgiſchen Macht in Deutſch⸗ 
land ihren Miniſtern befahl, dafür einen Anhalt in Italien zu ſuchen, begnügte 
fie ſich, ihre Tochter Karoline an ten König Ferdinand von Neapel, der als 
Knabe feinem tücdhtigen, 1759 auf den fpanifhen Thron abgehenden Vater Karlos 
folgte, und einen Sohn an tie legte Eſte zu verheirathen. 

Nur das grollente Piemont blieb außerhalb dieſes habsburgiſchen Familien⸗ 
himmels. Es ahmte Preußen befonders feine Heereseinrichtungen nach, aber es 
fehlte in allen Kaffen an Bildung; obgleich die Anfprüde der Kurie in Piemont 
von Alters ber befchräntt waren und es jetzt nody mehr wurben, fo beherrfchten 
doch ſpaniſche Etikette und Jeſuitenthum nicht bloß ben zahlreihen hoffähigen 
Adel. Graf Alfieri, welcher turch feine Dramen pathetifch-antife Freiheitsideen zu 
entzünden iradhtete, mußte ins Ausland — nah Italien — auswandern, defien 
Kultus er zuerſt unter der Franzoſenherrſchaft in nationalem Sinne einweihte. 
Aber der piemontefifhe Adel war gewöhnt, mit Gut und Blut ohne Phrafe in 
jever Noth die ſchwachen Hülfsmittel der Regierung des nur aderbauenden Landes 
zu ergenten. 

ährend eines vierundvierzigjährigen Friedens war Italien zum Theil durch 
ven Einfluß Kaifer Joſephs 11. ein Muftergarten des philantropifchen Kosmo- 
politismus. Joſephs Schmwefter in Neapel beförverte tenfelben durch den früheren 
Rechtsprofeſſor Tanucci und nachdem fle diefen geftürzt hatte perfönlid, fowelt es 
ihre Herrſchaft dem Adel gegenüber galt, ohne Kenntniffe und ohne Humanität. 
Beides befaß ihr Bruder Peter Leopold, von 1765 an Örofßherzog von 
Toscana, welches nad dem Dausgelege 1790 dieſen feinen beften Fürſten au Defter- 
reich abgeben mußte. Sein fameraliftiiher Eifer entfernte viele Hinderniffe des 
Verkehrs, trieb den Adel durch Gütertheilung zur Selbftverwaltung feiner Güter 
an, beförverte ten Handel, ließ aber den militärifchen Geift fortfchlummern. Geift- 
reicher, aber and) aufgelaflener war das Leben in Mailand befonders unter bem 
Statthalter Firmian. Aber überall wurde mit dem abgeftorbenen Kaftengeift, ber 
in die Hoferfiufiottät fih umfegte, ter gute Kern des Mumictpaigeiftee durch Biel- 
regiererei ber Kanzleien verbrängt. Diele Klöfter und Pfründen wurden aufgehoben, 
aber das Militär ohne kriegeriſchen Geift verfhlang den Gewinn. Für eine wirt: 
liche innere Reform des kirchlichen Lebens, wie fie der Biſchof von Piftoja, Ricci, 
verinchte, fehlte e8 an Empfänglichfeit, und ſchon vor ber franzöſiſchen Revolution, 


Sn) Nachtrag. 


ker Veriänferi, vie ſteptiſche franzoͤſiſche Literatur in ben höheren Kreiſen Gel⸗ 
tung baktee, begamı 5. B. in Parma, ja iu Toscana bie kirchliche Reftanration. 
Zar Pins VI, ſeit 1775, verfuchte durch feine vornehme Perſoönlichkeit, 
ur Beferdernng der Künfte, durch Ausgrabungen der Wlterthümer ben er- 
Kaffenten Glanz der lirchlichen Autorität zu erfegen. Aber vie päpftliche Wer- 
weltung vermochte nicht mehr, Rom mit wohlfellem Brod und Del zu verfehen; 
Tas römiiche Bolt murrte laut, während die adriatiſchen Provinzen, weldye dieſe 
Verärfniffe dem Staat um die von ihm willtürlich angefegten Preiſe liefern mußten, 
durch ihre Unzufriedenheit den Länberburft Jofephs reisten. Die ſchwärmeriſche 
foemopclitifhe Philantropie des Mailanders Grafen Beccaria, welder bie 
Todeeftrafe belämpfte, und Bilangieri’s in Neapel (Bater des Marſchalls) 
war eine durch weite Kreife verbreitete, wirkte aber mehr auf Humanifirung der 
Seftnnung, ale nachhaltig auf die Geſetzgebung und anf die Negierumg. Diefe 
ueuen Geifter waren fo wenig wie bie alten geeignet, eine nationale Gefinnung 
weden. 

” Da alle italienifhen Höfe, aud der Turiner, mit Ludwig XVI. verfhwägert 
waren, fo wurden bie liberalen Neigungen mit Rohheit zurüdgetrieben, ſobald 
Ludwig anfing Ins Gebränge zu lommen. In Neapel ſtellte man Menfchenjagven 
an und öffnete man die Galeeren, um bie theuren Parabetruppen zu verflärken. 
Aber man nahm nur unbebeutenden Antheil an ber Bertheidigung Oberitaliens, 
deſſen Beſitz doch über ven der ganzen Halbinfel entfcheiven mußte. In Toulon 
verflärkte Neapel die Engländer. Da Toscana, natürlih umfonft, durch Neutralität 
Livorno zu fihern ſuchte, da Venedig in feiner Schwäche bei feiner Rentralität 
beharrte, jo blieb nur Piemont. der bewaffnete Grenzwächter Italiens. Aber wieber 
verlor e8 beim erften Anlauf ver Franzoſen im Herbſt 1792 Savoyhen und Nizza. 
Oeſterreich ſchloß zwar ein Bündniß mit ihm zu gemeinfamer Bertheibigung; aber 
noch deutlicher als deſſen Buchflabe bewies Defterreihs militärifhe Haltung, daß 
es die feit einem Jahrhundert an Piemont verlornen Theile der Lombardei wieder 
- an fi bringen wollte. Während bie Piemontefen 1794 und 1795 vie ganze Reihe 
der Alpenpäffe tapfer kämpfend verloren und zum Theil wieder nahmen, blieben 
die nicht zahlreichen -Defterreicher gefchlofien in ver Poebene ftehen und fuchten 
die Feftungen Novara und Tortona in bie Hände zu befommen. Bet den Friedens. 
mittlungen bes mit Frankreich verfühnten Spaniens zeigte der König bie alte 
Unbeugfamleit feines Haufes, aber nicht deſſen Energie. Die Franzoſen beten ihm 
allerdings feine Entfhäbigung in der öſterreichiſchen Lombardei, da fie diefe nur 
zu erobern ſuchten, um fie ben Defterreihern als Erfag für ihre Niederlande zuräd- 
zugeben. 

ß Aber mit dem Frühjahr 1796 brach Bonaparte von ber Weſtküſte des 
neutralen Genua aus nörbli in den Apennin, fchlug bie getrennten Piemontefen 
und Defterreiher, und nun ſchloß der König auf Anrathen tes Erzbiſchofs von 
Zurin am 28. April den Waffenftiliftand von Eherasco. Der Friede von Paris, 
15. Mai, öffnete den Franzoſen ganz Piemont, die Aipenfeftungen mußten ge- 
fprengt, Savoyen und Nizza abgetreten werten. Es half nichts, daß Bonaparte 
ftets für die Tapferkeit der Piemontefen Achtung zeigte. Man konnte allerdings 
mit Recht ſagen, daß ein Sieg Oeſterreichs Piemonts italienifhe Stellung noch 
viel mehr geſchädigt haben würde. 

Nachdem Piemont niedergeworfen war, ergofien ſich tie republikaniſchen Heere 
über die Poländer. Defterreich ſchickte jett ein Heer nad dem andern, um Mantna 
zu entfegen. In der Zwiſchenzeit eilte Bonaparte durch Mittelitalien, zerftreute bie 





Stalien. Ä 621 


päpftliden Truppen, ließ fi vom Papfte die von Defterreih erfehute Romagna 
und die berühmteften Kunſtwerke abtreten. Den 31. März 1797 ftand er in 
Klagenfurt, als fi die Städte des neutralen Venedigs, Verona, Crema und 
andere gegen die franzöfifche Beſatzung erhoben. Aber die vaterlandslofe republi- 
Tanifhe Bartei in Benebig führte ihn als Schiedsrichter auf der Lugunenflotte 
nach Benedig. Dadurch wurde es ihm möglich, fein Friedensprogramm ausznführen. 
Deſterreich erhielt für die Abtretung feiner Niederlande und Mailands das Bene 
tianiſche bis zum Oglio, ja fchlieglid nur bis zur Etſch, wie dieß zum voraus 
im Vertrauen auf bie Gimpelhaftigkeit der Nepublifaner beflimmt worden war. 
Die Oefterreicher befegten Venedig am 18. Januar 1798. Die Nepublilchen zu 
beiden Seiten des Po waren nur auszunügende franzöfiiche Garnifonen. Bona- 
parte ſchlug die Kraft ihrer Begeiſterung geringer an als ein piemontefifches Ba⸗ 
taillon mit einer Schwahron. Die Beraubung des Mailänder Pfanphaufes machte 
dem Bolfe das Glück viefer Republit Mar. 

As aber Bonaparte Italien verlaffen hatte, fleigerte Frankreich angeſichts 
einer nenen Koalition feine harten treulofen Maßregeln. Da die Aufhegungen ver 
Franzoſen von Rom blutig abgewiefen waren, rüdten fie am 10. Februar 1798 
in die ewige Stadt ein, welde nun auch das Theater einer republilanifchen Ko⸗ 
mödie wurde. Im November wurde e8 von den neapolitanifhen Truppen befekt. 
Neapel war von Bonaparte 1796 auf Rußlands Verwendung mit einem gnädigen 
Frieden bedacht worden. Im Bertrauen auf ruffifhe und englifche Hülfe, in ber 
Angſt, das verbündete Defterreich möchte fi) des ganzen Kirchenſtaats bemächtigen, 
verrieth Neapel durch fein Borrüden vie Plane der Koalition. Das nächſte Opfer 
wurde der König von Piemont, gegen welchen die franzöfifchen Generäle feine 
Untertdanen anfzuwiegeln gefucht hatten. Unter den nichtigften Borwänben wurde 
er von dem Franzofen feiner Feſtlandsſtaaten beraubt, um dieſe zu einem flurm- 
freien Vorwerk Frankreichs zu machen. Er zog fi auf feine Infel Sarbinien 
zurüäd. Im März 1799 wurde auch ber ſtets neutrale Großherzog von Zoscana 
Ferdinand III, aus feinem Lande gewiefen. 

Über bereits eröffnete Sumaroff in Oberitalien feinen Kreuzzug für Wieder⸗ 
aufrihtung der Altäre und der Throne. Auch die öſterreichiſchen Truppen waren 
feinem Befehl unterftellt. Aber als er bie Franzoſen aus ber piemontefiihen Ebene 
in die Gebirge gevrängt hatte und die Piemontefen wieder in eigene Korps ſam⸗ 
meln wollte, fo widerfegte fih ihm Kalfer Yranz und duldete nicht, daß ber ver- 
triebene König von der Infel in feine Feſtlandsſtaaten zurüdtehre. Außer Savoyen 
wollte Franz diefe, den größten Theil des Kirchenſtaats, ja Toscana mit Oeſter⸗ 
rei vereinigen.®) Piemont wurde auf's Blut ausgefangt und zwar von öfter 
reichiſchen Bevollmächtigten, während dem des Königs die Hände gebunden wurden. 
Gegen zehntaufend piemontefifhe Soldaten entliefen, da man ihnen nicht ihre 
Bahnen zurüdgeben wollte, und wurden durch das äußerſte Elend zu Werkzeugen 
von Komplotten, welde bald zu Gunften bes Königs, bald vieleicht zu Gunften 


1) Die urkundlichen Belege, die Schreiben Kaljer Franzens II., Peters II, Suwaroffs flebe 
in den Preußifhen Jabrbüchern 1858 Band I Heft 6 und in Rettificazioni istoriche (vom 
Grafen Breppi). Die Dokumente finden fi am reichften in: Geſch. des Krieges Rußlando mit 

ankreich unter Kalfer Paul von Michailoweki⸗Danilewski u. Miliutin, überfegt von Echmitr, 

ünden 1855—1857. Nach der biäher unbenüßten officielen Korrefpondenz der Ba Ge⸗ 
ſandten in Petersburg find eingehend und mit obigen Schriften —— geſchrieben: 
Revelations diplomaliques sur les relations de la Sardaigne avec l’Autriche et la Russie 
pendant la premidre et la deuxiöme coalition par le comte Josef Greppi. Paris 1859, 


v 


622 Nachtrag. | 
der Franzoſen wiederholt das Zeughaus in Turin erſtürmten. Denn man war 
entichloffen, eher alles Andere als äfterreihifh zu werden. Sumwaroff, durd) feine 
Loyalität den Planen Defterreichs höchſt Hinderlich, wurde von diefem feinem Ver: 
derben in der Schweiz entgegen geſchickt. Kaiſer Paul, entrüftet darüber, daß feine 
Deere nur der öſterreichiſchen Ländergier tienen follten, rief fie zurüd, da er, wie 
er den 11. Oftober 1799 an Kaiſer Franz ſchrieb, fie nicht zu Werkzeugen ver 
Schlechtigkeit mahen wolle. Diefe Erfahrungen prägten fi) ten piementefifchen 
Staatdinännern tief ein und das Volt fah von da an Defterreih als den ſchlimm⸗ 
ften Feind Piemont an. 

Defterreih gab fih indeß alle Mühe, feinen ober- und mittelitalienifchen 
Ländererwerb ſich durch das verbündete England garantiren zu laffen, welches es 
dem Kaiſer auf das Gewiſſen ſchob, ob er fih auf Koften des verbündeten Papſtes 
mit der Romagna vergrößern wolle Nachdem der einft fo glänzende Pius VI. in 
Balence den 29. Auguſt 1799 geftorben war, fuchte Defterreih in dem Konklave, 
welches in feinem Venedig verfammelt war, einen Mann zum Papft zu erheben 
(fiehe die Denkwürdigkeiten des Kardinals Confaloi), weldher ihm wenigftens die 
Romagna abträte. Aber trotz halbjähriger Dauer des Konklaves lehnte der Ge⸗ 
wählte Pius VII. vieß und die Einladung ab, feine Refidenz in Wien zu 
nehmen, und feste feine Rückkehr nah Rom durd, um dieſes gegen vie Gelüſte 
des Königs von Neapel zu behaupten. Während der Siege Suwaroffs hatte bie 
Ölaubensarniee des Karbinals Ruffo fih aus Kalabrien heraufgewälzt. Die Repu⸗ 
blifaner des parthenopeifchen Republik, eigentlih nur der Haupiſtadt, wurden von 
der blutigen Königin Karoline und ihren Rotten unter dem Schutze Nelfons zu 
Zaufenden erwärgt und ftarben großentheils mit Seelengröße. Aber Napoleon, 
ans Egypten zurüdgelehrt, ging im Mat 1800 über ven Großen St. Bernhard 
und ſchnitt durch die Schlacht bei Marengo am 15. Juni dem öſterreichiſchen 
Heere den Rückzug ab. Die Abtretung Piemonts, Genua's, der Lombardei, der 
beiden Poherzogthümer, Verona's, der Romagna an die Yranzofen wurde im 
Februar 1801 durch den Frieden von Lüneville beflegelt. 

Die Selbfttrönung Napoleons als König von Italien (Lombardei, 
Modena und Romagna) im März 1805 relzte Defterreih und das biäher ge⸗ 
fhonte Neapel zum Kampfe gegen ihn. Bel Ulm (17. Oktober) und bei Aufter- 
fig (2. December) entſchied fih das Schidfal Italiene. Die Bourbonen flüchteten 
aus Neapel auf Sicilien. Iofeph Napoleon, bald darauf fein Schwager Murat, 
regierten auf dem neapolitanifhen Feltlande. Aber die durch ein englifhes Heer 
beſchützten und bevormundeten Bourbonen hegten im Neupolitanifhen den Bri⸗ 
gantaggio, Inden fie Unmenfhen als ihre Freunde und Generale behandelten. Um 
diefe Zeit entftanden in Süditalien aus nicht ganz aufgellärten Motiven die Car- 
bonari, den Freimaurern zugleich verwandt und feindlid. Die zwei nördlichen 
Drittheile von Italien wurden, nachdem Defterreih ganz Venetien an Napoleon 
verloren hatte, von Oftpiemont und Parma an durch den Apennin getheilt, fo 
daß das nordweftliche Italien mit Rom und Toscana dem franzöſiſchen Kaiſerreiche 
einverleibt wurde, während fi von der neapolitanifhen Grenze zwifhen Apennin 
und Aria bis an die von Kärnthen das Königreich Italien ausvehnte. ‘Der Bice- 
tönig Eugen Beauharnais regierte es nad) den Befehlen des Kaiſers, welcher 
bie Vollsvertretung nach den erflen Verfuchen der Selbftänpigfeit befeitigte. Be 
fonders die ſüdlich vom Po gelegenen Provinzen, alfo größerntheils vie früher 
päpftlicden, waren tiefer energifhen Leitung am anhänglichſten. Das ganze ita- 
ltenifche Feftland fteuerte beinahe ohne Unterfchied Gut und Blut den Zweden 


9 


Italien. 623 


Napoleons. Die Italiener mußten fi doch wieder in friegerifchen Ningbahnen 
üben; im Feldzuge 1809 fchlugen fie fih gut. In Spanien verloren fie viele 
Tauſende. 

Murat war es längſt überdrüfſig, nur eine Scheinſouveränetät zu haben. 
Er verließ das Heer auf dem Rückzuge aus Rußland und gab öſterreichiſchen 
Unterhandlungen Gehör, welche ihm für den Preis ſeines Abfalls von Napoleon 
ſeine Krone garantirten. Aber ſeine Haltung blieb äußerſt zweideutig, auch als 
er gleichzeitig mit dem Einmarſch der verbündeten Heere in Frankreich gegen den 
Po vorrüdte. Seine Oberofficiere waren zum Theil Franzoſen, vie italieniſchen 
drangen in ihn, fi zum König von ganz Italien auszurufen. Der Vicelönig von 
Italien, Napoleon unerſchütterlich anhängend, lehnte die Anträge der Verbündeten 
ab, welche ihm für feinen Abfall die Lombardei boten. Alle Ausfihten für ihn, 
zerfielen, al8 in Mailand, der durh Napoleon fehr gehobenen Hauptflabt des 
Königreichs, nad deſſen Sturze ver carbonarifhe Adel fi dazu gebrauchen lieh, 
mit der öfterreichifhen Partei den 20. April 1814 die höchſten Behörden und 
Körperſchaften des Königsreihs zu ftürzen. Die Defterreiher befegten Mailand 
zur Wieberherftellung der Ruhe und ließen es fich in Paris von ven verbündeten 
Monarden nebft Venetien zufprechen. 

Bon Sardinien kehrte jest der König in das freudetaumelnde Turin zurüd, 
um alles auf den Fuß von 1798 zurüd zu verfegen. Der Wiener Kongreß theilte 
ibm Genua mit feinem Gebiete zu. Pius VIT. kehrte mit der Glorie des Gefan⸗ 
genen aus Frankreich in feine Staaten zuräd; aber erft die Rückkehr Napoleons 
von Elba flöhte den Landtheilern in Wien den Schreden ein, deſſen es bedurfte, 
um aud die Romagna an den Papft zurüdzugeben. Defterreih mußte fi mit 
einem Keinen Stüd desjelben begnügen. Toscana befam feinen Mugen Loth— 
ringer Ferdinand aus Würzburg zurüd, Modena feinen harten Franz Efte IV. 
Die unwürdige Gattin Napoleons wurde Herzogin des aufblühenden Parma. Nur 
ein kurzer Zwiſchenfall war die voreilige Schilverhebung Murats für Napoleon. 
Er eilte aber, von den Defterreihern gebrängt, vom Po nad Neapel, das die 
Engländer von Sicilien aus bedrohten. Schon im Mai 1815 war alles dahin 
und feine Landung in Calabrien brachte ihm im Oktober den ſtandrechtlichen Tor, 

Der ſchlaue Bourbon Ferdinand war in Neapel wie ein Balmfonntagstönig 
eingezogen. Er ftieß, mit Zulafinng Englands, das ſich für diefes fein Werk ver- 
bürgt hatte, die reformirte Berfaflung von Sictlien um, weldes gehofft Hatte, 
einen eigenen König zu behalten, und vereinigte wieder die Königreiche beider 
Sicilien umter demfelben Abfolutismus. Doc behielt Sicilien Beamte feines Ge⸗ 
blüts und Befreiung von der Konffription, welche Napoleon auf der ganzen Halb« 
inſel eingeführt hatte. Uebrigens behielt auch der päpftlihe Staatsfelretär Con⸗ 
ſalvi die franzöſiſche Eentralifirung bei, woburd die frühere vertragsmäßige 
Selöftverwaltung der Städte und Provinzen, befonders der Romagna, unterdrückt 
blieb. Nur wurden an bie Stelle weltlicher Beamten Prälaten und überhaupt 
Leute in priefterlihem Kleide gefegt, welchen alle Kenntniffe und Erfahrung der 
Berwaltung mangelten. Die Generation aus dem achtzehnten Jahrhundert war 
überall ruhedärftig; aber die Phantafte der Jugend war durch die ungeheuern 
Ereigniffe aufgeregt und nad neuen verlangend. Der Name und vie Fahne Ita« 
liens waren in einem Königreich verförperf gewejen. Und nun war aud) von ten 
flegreihen verbündeten Mächten über die Halbinfel als über ein Stüd Kriegabeute 
verfügt worden. Diefe Keime ver Unzufriedenheit wurden von den Taufenden ent= 
Infjener Militärs und Beamten der geftürzten Regierungen geſchürt. Metternich ſuchte 


624 Ä Nachtrag. 


Oeſterreich, obgleich deſſen Truppen von dem Viceksnig geſchlagen worden waren, 
als Berreier Italiens darzuſtellen und dieſe Stellung auszunutzen. Auf dem Wiener 
Kongreß hatte Metternich erklärt, vie italieniſchen Staaten feien unabhängig, nur 
durch eine geographifche Benennung, nicht wie bie deutſchen durch ein Bundesver⸗ 
halmiß geeinigt. Er fuchte ein ſolches durch geheime Verträge mit den einzelnen 
Regierungen fo einzuleiten, daß Oeſterreich vie militärifche Oberleitung erhalten 
hätte. Allein in Rom und in Zurin wahrte man feine Unabhängigkeit. Im Rar- 
binalstollegium war eine ſtarke antiöfterreihiiche Partei. Auch bier grollte man 
der Fremdherrſchaft, während die einen Selten over Berſchwörungen den Papft an 
die Spige der föderirten italienifhen Republiken ftellen wollten, gebachten vie 
anderen feine weltliche Macht abzumerfen, 

Das Gefährlichfte war, daß das neapolitanifche Heer größtentheils von 
früher Mürat'ſchen Officieren befehligt wurde nnd daß der mißtrauifhe Ferdinand 
es durch Provinzialmilizen zu erſetzen fuchte. Diefe, von Carbonart’s wie Wilhelm Pepe 
erercirt und noch mehr carbonarifirt, ließen ſich vurd den ſpaniſchen Militäraufſtand 
im Iunt 1820 zur Ausrufung der radikalen ſpaniſchen Berfaflung hinreißen, bie 
beinahe Niemand kannte. Ferdinand I., welcher im Frühjahr 1815 die öſterreichiſche 
Waffenhülfe durch das Berſprechen erfauft hatte, in feinem Doppellönigreiche keine 
Berfaflung zn geben, nahm fie an und befhwor fie, fo oft man es verlangte. 
Angeblich zu ihrer Vertheidigung begab er fi auf den Kongreß von Laibach, wo 
Defterreih Rußland und Preußen bewog, als Bormünder der Mittelkanten die 
neapolitaniſche Berfaffung für null und nichtig zu erklären und die Befegung tes 
Landes einzuleiten. England zog fi zurück. Frankreich verſuchte umfonft die nea⸗ 
politanifchen Kortes zur Beränverung ber Berfafiung in monarchiſchem Einn zu 
bewegen. Mit der öſterreichiſchen Bagage heranziehend befahl Ferdinand allen 
Dfficieren und Soldaten, fie ihres Berfaffungseides eutbindend, bie Defterreicher, 
hinter denen die Ruflen und Preußen ftünden, als Freunde aufzunehmen. Mangel, 
Mißtrauen, nad kurzem Gefecht panifher Schreden herrfchten bei den Neapolie 
tanern, weldye ihre beften Truppen nad Palermo geichidt hatten, um es ber par⸗ 
lamentariſchen DMojorität zu unterwerfen. Den 23. März 1821 zogen bie Oeſter⸗ 
reicher in die Hauptftadt ein. Und nun begann während ihrer fechsjährigen 
Okkupation eiu Auspeitihen, Hängen, Einkerkern, wie es felbft in dieſem unfeligften 
BZauberlande feit den Tagen Karls von Anjou hochſt felten und nie fo andauernd 
geherrſcht hatte. Nicht umfonft bemerkte eine ruſſiſche Denkſchrift, Oeſterreich bürfe 
Rußland wohl in der Türkei freiere Hand laflen, nachdem ihm von Rußland 
Neapel zur Ausſaugung überlaffen worden fe. Man berechnet die Auslagen 
Fer für die öſterreichiſchen und für die Schwelzertruppen auf 300 Millionen 

rancs. 

Während die Oeſterreicher gegen Neapel hinabrückten, brach, um dieſen Luft zu 
machen, aber zu fpät, Mitte März 1821 in Biemont der Aufftand eines Theile 
der Regimenter aus, welcher von den getrenen und von den öſterreichiſchen Truppen 
jerfirent wurbe. Zwar war ber Einheit zu Liebe auch bier die fpanifhe Berfafiung 
verlündet, aber die Abficht war in Piemont zunächſt gegen die öfterreichifche Ober- 
herrſchaft gerichtet, über welche auch der Adel erbittert war, Nach den Erfahrumgen 
von 1799 war ed nidt zu vermundern, daß Defterreich noch nach dem Wiener 
Kongreß nad dem norböftlihen Piemont getrachtet hatte. Die Stantsmänner aus 
der alten piemontefifhen Schule hatten mit Recht ven befreundeten Mächten Muß- 
land und England vorgeftellt, daß feit 1814 die relative Stärke Piemonts eine 
viel ungünftigere fei als währen des ganzen adhtzehnten Jahrhunderts, wo «0 








Italien, 625 


bie freie, themer zu verwerthende Wahl der Allianzen gehabt hatte. Jetzt lag nicht 
mehr eine entfernte öfterreichiihe Infel, das Mailändifhe, au feiner Oftgrenze, 
das ganze Gewicht des äfterreihiihen Staats drückte auf Piemont. Der öfter 
reichiſche Generalftab Hatte genaue Plane gemacht, wie im Falle eines franzöfifchen 
Kriegs die lombardiſchen Garnifonen binnen weniger Tage bis an den Oftabhang 
der Alpen vorrüden und das piemonteflfche Heer vernichten ober ſich einverleiben 
önnten. Den größten Theil der napoleonifhen VBefeftigungswerfe von Wleffanpria 
hatten die ODeſterreicher 1815 als Freunde zerftört. Daher hatte felbft der Prophet 
ber Reftaurstion, ver favoyifche Graf de Maiftre, es der reflaurirten Dynaftie 
zur erften Pflicht gemacht, mit allen auch revolutionären Mitteln das nationale 
Gefühl ver Italiener als Verbündete für einen Verzweiflungslampf gegen Oefter- 
veih zu gewinnen. Allein vie „Siebenfchläfer" an ver Spite des reftaurirten 
Piemont waren noch bornirter als Viktor Emanuel, welder beim Ausbruch des 
Aufſtands 1821 abdankte. Ihm folgte Karl Felir, der harte Anhänger des 
Abfolntismns und der Jeſuiten. Alles, was Bildung befannte, felbft die Grafen 
Balbo, Bater und Sohn, mußte ins Eril. Mit Karl Albert, dem flets unficher 
taftenden, mußte bei dem nahen Ausfterben der alten königlichen Linie die Linie 
Carignan an die Regierung kommen. Gr hatte ſich in der Noth des Aufftande 
mit Zuftimmung bes abtretenden Königs die Regentſchaft aufbrängen laflen, da 
der Nachfolger in Modena abweiend war. Ob er glei auf ven erften Befehl des 
neuen Königs die Regentſchaft niedergelegt und ſich zu den treuen Truppen begeben 
batte, fo beabfichtigte doch Metternich mit Uebergehung Karl Alberts deſſen ein- 
jährigen Sohn Viktor Emanuel — nach langer, von Defterreih zu leitender Vor⸗ 
mundſchaft — zur Regierung kommen zu laflen. Karl Albert mußte alle Opfer 
felbft der perfönlihen Ehre bringen, er mußte geloben, nie eine Berfafiung zu 
eben; die franzöflichen Bourbonen und Rußland nahmen ihn in ihren Schup. 

fo gelangte er 1831 auf den piemontefiihen Thron, ben ex durch Bollzug 
der drafonifhen Militärgeſetze gegen Verſchworene zu befeftigen fuchte. Boll Haß 
gegen Defterreich und gegen die Orleans, von öſterreichiſchen erfgengen umftellt, 
wagte er nur einzelne Berbeflerungen der alten Staatsmaſchine. Der bleierne 
Militäx- und Priefterdefpotismus Iagerte bis 1845 auf Piemont. Oeſterreich 
erihien von jest an den italienifhen Regierungen als der einzige fichere 
Schutz gegen die unterirdiſche Gährung; den national und frei Denkenden 
aber erſchien Oeſterreich als der Todfeind jeder Beſſerung und Oeſterreich mußte 
bon jet an nit nur feine Provinzen, fondern ganz Italien demoralifiren und 
unterdrücken. 

Obgleich die bloß moraliſch mit den piemontefiſchen Aufſtändiſchen von 1821 
verbündeten lombardiſchen Adeligen dem Haß des Kaiſers Franz II. gegen bie 
Italimer in den Kerkern von Spielberg Genugthuung geben mußten, weil ſie 
nichts über Karl Albert ausgefagt hatten, fo lebte man doch in der Lombardei, 
wie in Toscana, dem Afyl vieler ansgezeichneter Patrioten, ziemlih frei. Der 
Geiſt der Lombarden ift energifcher als der der Toscanefen, und Defterreich ſchien 
zeigen zu wollen, daß man in feinen italienifchen Ländern, fo ftiefmütterlich es fie 
behandelte, doch mehr Leben finde als nuter den andern italienifchen Megierungen. 
Die Italiener in öſterreichiſchem Staatsdienſt nahmen jelbft einigen Antheil an 
ber Oppofitiou gegen die Fremdherrſchaft. Die Schulen, ja die Verwaltung und 
die Berichte waren wohl die beften in Italien. Aber eine gewiſſe verächtliche, oder 
doch plumpe Behandlung, beſonders vie Prügelfirafe, und das überall wachende 

Winntl@ii ann Srater, Deutſches Staate Mörtersach. Xi. 40 


626 4 Nachtrag. 


polizeiliche Mißtrauen, verlegten die italieniſche Feinfühligkeit. Erſt fpäter fühlte 
man auch die Schmach, daß Oeſterreich die Ingend beſonders durch Oper und 
Ballet zu entmannen wußte. 

Am tiefften wurde es empfunden, daß Oeſterreich jede uch fo ſchändkiche 
Mißregierung in Italien durch feine Waffen ſchützte. In Folge der Julirevolution 
brach im Februar 1831 in Modena, Parma und im größten Theil des Kirchen⸗ 
ftaats der Aufftand aus. Ihn flug, anf die Gefahr eines franzöfifchen Kriegs 
bin, ein Öfterreichifches Heer nieder und die erfolglofe franzöftihe Befegung Au⸗ 
cona’3 drängte den Italienern das Italia fara da se für das nädfte Mal auf. 
Der Herzog Yranz von Modena, welchen fein Gelüften nah einem Königreich "in 
Oberitalien zum Mitverfchwornen ver Carbonari wie ver kirchlich realtionären 
Geheimbünde gemacht Hatte, erprobte feine Treue gegen Oeſterreich durch 
graufame Niedertretung jeder modernen Regung. Iene Geheimbünde erfüllten be 
ſonders den Kirchenſtaat, zumal fo weit er einft zum italieniſchen Königreich gehört 
hatte. Die liberalen Grunpbefiger wurden von dem Proletariat im Namen ver 
Kirche offen beftohlen. Die geiftlichen Gerichte verurtheilten auch In Chilſachen je 
nad) der politifhen Partei. In der Romagna wellte man lieber öſterreichiſch wer- 
den als päpftlih bleiben. Die ſchauerlichen Gefängniffe waren überfüllt von bloß 
Verdächtigten, welbe Jahr und Tag auf ein Berhör warteten. Umfonft riethen 
bie anderen Mächte dem eben während des Aufſtands von 1831 gewählten Gre⸗ 
gor XVI. zur Zulaſſung von Laien aud in widtigere Aemter. Er bielt fi als 
geborner Defterreicher an Defterreich. Diefes drückte fo auf die Nachbarländer und 
erbitterte daher das nationale Gefühl fo tief, daß fhon gegen das Jahr 1840 in der 
Lombardei Mütter ihren Töchtern, menn fle die Wahl hatten fi zu verheivathen, 
zu beventen gaben, fie müßten bereit fein, ihre Söhne für das härteſte Gefängniß 
ober für das Schaffot zu erziehen. 

Um dieſe Zeit liefen außerhalb des verzweifelten Kichenflaats zwei Strö- 
mungen gegen einander. Mazzint und das Iunge Italien, eigentli nur 
das emigrirte, koncentrirte Seltenwefen, waren raftlos, die Erlahmenden zu 
ftacheln, die Abfälligen zu erdolchen, Berſchwörungen, Lokalaufſtände anzuzetteln, 
damit die Neglerungen turd neue Blutgerichte jede Berfühnung unmöglich machten. 
Andererſeits fuchte man durch Hebung der Landwirthſchaft (Toscana, Lombardei, 
Biemont), durch perfönliche Betheiligung ber befieren Klaſſen an Kinderſchulen das 
Bolt zu weden und den patriotifhen unabhängigen Familien näher zu bringen. 

Die verfänflihe Kammerbienerregierung Franz I. ließ ſelbſt die Regierung 
bes im November 1830 mit jugendlicher, wenn aud roher Kraft auftretennen 
Ferdinand II. in Neapel als beffer erfcheinen. So ungebildet und inhuman er 
war, fo regierte er doch ſelbſt. Er bob das Heer und die Kriegsmarine. Die 
Cholera veranlaßte in Sicilien Aufflänve, die blutig geftraft wurden. Noch Härter 
ſchmerzte es, daß zur Strafe dafür die Benmtenftellen in Sicilien ohne Unter⸗ 
ſchied aud den Nenpolitanern geöffnet wurden. Der Befeltigung ber Adelsvorrechte 
wurde die Abfiht wohl nicht bloß untergeihoben, Ferdinand wolle dadurch vie 
Borkämpfer der Selbftändigfeit ver Iufel ſchwächen. 

In dem etwas cioilifirteren Neapel konnte die berrihenve Korruption durch 
Bigotterte nicht auögerottet werden. Jedoch gelang es hier der Milttärherrichaft, 
in Norditalien der patriotifhen Bildung durd die Schriften des Abbate Gioberti, 
Caſar Balbo’s, welcher ſchon die milttärtfhe Hegemonie Plemonts für uöthig er» 
Märte, und d'Azeglio's, die Verſchwörungen in enge Winkel zu drängen. Männer wie 
die Oenannten, überzeugten, daß man zunähft durch unverbroffene Arbeit das Boll 











* 


Italien. 627 


Geben und ſich vorerſt mit dieſer Hauptſache, mit ſocialen, mit materielen Ber- 
beferungen begnügen möüffe. Bor Allem hob fi dadurch das nationale Gefühl. 

Die gar zu optimiſtiſche Auffaſſung Gioberti's von dem Segen, welchen das 
Bapfttyum immer noch über Italien verbreite, verfühnte einen großen Theil ver 
klerilalen weit jener befonnenen natlonalen Fertfchrittspartei. Sie und Louis Bhi- 
Hpps Einfluß wirkten mit zu der Wahl Maſtai Ferretti's aus Sinigaglia am 
16. Iuni 1846. Dan hoffte, Pins 1X. würde der Äußerften Erbitterung im 
Kirchenſtaat ein Ziel fegen. Durch vie den politiichen Berbaunten und Gefangenen 
estheilte Amneſtie bot er den nad dem nationalen Ziele Strebenden Gelegenheit, 
unter feinem heiligen Namen dafür zu wirken. Toscana folgte aus Schwähe dem 
Anſtoß, welden die Agitatoren von Livorno in ertreme Bahnen leiteten. Der 
wackere Minifter Ridolfi, von Wenigen mannhaft unterflügt, mußte überall per⸗ 
ſbulich einwirken. Der bigotte Karl Albert erkannte in Pius fein Tängft erfehntes 
nationales Geflirn. Die Uderbauvereine, ver Gelehrtenkongreß vernahmen mit 
DBegeifterung vie Erklärung feiner Vereitislfligkeit, fein und feiner Söhne Blut 
ber Heiligen Sache des durch Oeſterreich bedrohten Papftes und Baterlandes zu 
opfern. Defterreihe Antwort war ein Bertrag mit den neuen Herzogen von Mo- 
dena und non Parma, wodurch ihre Länder in die fterreichiiche Vertheidigungs⸗ 
linie gezogen und der zwifchen dem Kirchenſtaat, Toscana und Piemont beabfich⸗ 
figte Zollverein ummöglih gemacht wurbe. Eine entſchieden nationale, gemäßigt 
freifinnige Bolttit war in Piemont durch das Minifterium Balbo gefichert. 

Im Kirchenſtaat flellte es ſich bald heraus, daß auch der befte Wille die 
mangelnden Baufteine des Stantsgebäudes nicht erfegen kann. Es fehlte befonvers 
tm Rom an einem feiner Pflichten und feiner Rechte durd Hebung bewußten 
Bürgerftande, an vem Tonfervativen Element der Bauern und eines unabhängigen 
Adels, an Ordnung in allen Zweigen der Staatöverwaltung, an einer hinreichen- 
ven Truppe. Die Phrafe vom alten Rom entzändete die Phantafte; bald hetzte 
ber Schreden, bald der Uebermuth vorwärts anf dem anhaltlofen Abhang. Ein 
Karbinal-Minifter um, ben andern fiel. | 

Ferdinand glaubte in Neapel theils die anderwärts jet eilig gemachten Re⸗ 
formen ſchon eingeführt zu haben — und fie waren ed zum Theil, aber meift 
mur als todter Buchſtabe —, theils glaubte er fein Land von dem ſchwindelnden 
Norden abgefperrt. Aber es gährte gewaltig in den Stäbten. Als fein Zuge- 
ſtändniß an feinem Geburtstag, 12. Januar 1848, erfolgte, fo brad an dem- 
felben in Palermo auf die nächtliche Affiche eines Schreibers hin der Anfftand aus 
und verbreitete fich Über bie ganze Infel. Yerbinand bethätigte feine Untenntn & 
der antidynaſtiſchen, feparatiftiichen Motive desfelben, indem er feinen beiven Läu⸗ 
bern am 29, Januar eine Berfafiung verſprach. Jetzt erſt im Februar gab nicht 
bloß der Großherzog von Toscana, fonvdern auch Karl Albert eine Berfaflung, 
welche wenige Wochen zuvor Cavour zuerft verlangt hatte. Auf die Nachricht von 
der Barifer Schalttagsrevolution that dasfelbe ver Papft, indem er Antonelli und 
mehrere Laien zu Miniftern ernamnte. 

H. Seit 1848. 

Seit Anfang des Jahres hatten in Mailand ſtarke Reibungen ſtatt zwifchen 
Bingen und Militär. Aber die Verkündigung des Standrechts und die ber Re 
publik in Paris machten die Befigenden flugen. Die zunehmende Schwäche ver 
dſterreichiſchen Regierung hatte in den legten Jahren mit der Furcht andy den Haß 
verringert. Da brachte die Nachricht vom Sieg der Revolution in Wien den kaum 
vorbereiteten Aufftond am 18. März in Mailand und in den meiften Städten 


408 


628 | Nachtrag. 


ver Lombardei zum Ausbruch. Radetzky verzichtete darauf, Mailand durch Be⸗ 
ſetzung feiner Wälle auszuhnngern, da er das Heraurücken ber Piemontefen vor⸗ 
ausſah. Als er nur deßhalb im ver Nacht des 22. März — an welchem and 
Benerig frei wurde — Mailand räumte, um für Defterreih Verona und Mantua 
zu fihern, wähnten die Mailänder ihn durch ihre Tapferkeit gefchlagen; fie ge- 
ftatteten gnäbigft, daß Karl Wibert ihn verfolgte, und ruhten nun auf ihren Zor- 
beeren. Der König war zum Entſchluß des Einrückens in die Lombardei gendthigt 
worden, da fonft nicht bloß Mailand, fondern auch Genua die Republil proklamirt 
hätte. Dann wäre Piemont wie feit 1797 ganz von Republifen umringt. geweſen. 
Der Großherzog von Toscana ſchloß fi mit feinen wenigen Truppen, Parma 
vor und Modena nad, Entfernung des Herzogs, mit weniger Kraft ale gutem 
Willen dem nationalen Kriege an. Die Truppen des Papfts mit unbentliden In- 
firuftionen überfäritten den Bo und fielen die Defterreiher an. Der König von 
Neapel glaubte Sieilien am beften in Oberitellen zu erobern und ließ ein Truppen⸗ 
forps dahin abrüden. Die Nenpolitaner aber wollten vie Berfafjung, ſchon ehe 
fie in Wirkſamkeit getreten war, fogleich freibeltlicher reformiren. So entſpann fid 
den 15. Mai unmittelbar vor der Eröffnung der Kammern vurd den heraus⸗ 
fordernden Barrikadenbau der Rabilalen, namentlih der Galabrefen, der Kampf 
gegen bie Schweizertruppen, welche Sieger blieben. Ferdinand rief fogleich feine 
ruppen aus Oberitalien zuräd und räftete zu Miebereroberung Sicitiens, welches 
fih einen eigenen König ſuchte. Die Krongeſandtſchaft fand aber den zweiten Sohn 
Karl Alberts ſchon auf dem Rüdzuge und erreichte nichts. Am 6. Mai hatte das 
öfterreichifche Heer bei Bertheidigung der Auhdhen von Gt. Lucia vor Berona den 
Biemontefen feine Kraft zu fühlen gegeben. Um fo mehr beeilten ſich vie Lom- 
barden, die Barmanejen, die Modeneſen, bie Feftlandsvenetianer durch Ab 
das Net Karl Alberts anf fie dur ungeheure Majoritäten trog ben Wählereten 
Mazzini's fetzuftellen, was aber den Reid der anderen italieniſchen Fürſten ew 
regte. Oeſterreich bot ber proviſoriſchen Regierung in Mailand bie Freigebung ber 
Lombardei an; diefe nahm das Unerbieten aber nit an, da die Lembardel ihr 
2008 nicht von dem der Zwillingsfhwefter Venedig trennen wollte. Die ben ifo 
lirten Piemontefen bald auch in der Zahl gewachſenen Defterreicher fanden zwar 
im freien Feld noch tapfern Widerſtand; aber am 10. Iuni mußte Bicenza wit 
den päpftlihen Truppen fapituliren. Das Treffen bei Cuſtozza am 25. Juli nöthigte 
Karl Albert, fih auf Mailand zurüdzuziehen, welches er zu vertheidigen fuchte, 
aber ränmen mußte, nachdem er perfönlich von Mailändern, weil ex fie preisgebe, 
bedroht worden war. Am 9. Auguf wurde ein Waffenftiliftenn, mit ver Zeffta- 
renze, von General Salasco abgeſchloſſen. Auch auf Sicilien vermittelten bie 
eftmächte einen Waffenſtillſtand, nachdem Filangieri Meſſina am 7. September 
nach verzweifelte Gegenwehr genommen hatte. 

Seit Pins fih durch die Allokution vom 29. April 1848 im nationalen 
Kampfe für neutral zu erklären verſucht hatte, ſank fein Unfehen überall. Den 
Magte ihn an, das nationale Programm, weldes man ihm doch großentheils nur 
unterfhoben Hatte, verlaffen zu haben, Roſſi übernahm das Wagniß, als Mi- 
nifter die weltlihe Regierung des Papftes in Laienhände zu bringen und zu 
teäftigen, einen italienifhen Staatenbund ohne piemontefifhe Hegemonie aufzu- 
richten; aber den 15. November 1848 wurbe er bei Eröffnung der kirchenſtaat⸗ 
lien Kammer ermorvei. Pius, in feinem Palafte angegriffen, flüchtete am 24, 
November unter den Schug Ferdinand nach Gaeta. Eben dahin folgte iben ber 
Erzherzog von Toscana, nachdem die Tivornefer Radikalen Gnerrazzi und 








Stalten. 629 


nellt über das energieloje Toscana Herr geworben waren. Rom und Flcrenz, 
welde im Februar 1849 gleichzeitig die Republik proflamirten, waren eiferfüchtig 
auf einander, wo bie große italieniſche konſtituirende Nationalverfammlung ihren 
Gig haben follte, um den italieniſchen Bundesſtaat zu proflamiren. 

Bährend viefer zahlreichen Phraſenkämpfe gürtete fih Piemont zu einem 
legten Berzweiflungslampfe, in weldem nicht ein Mann aus ven Republiten an 
feiner Seite land. Es war überfüllt von oberitalienifchen Flüchtlingen. Der bisher 
fe ftarre Bollölörper war durch die Erlebniſſe weniger Monate in äußerfte Fieber 
hitze verfeßt. Defterreih war trotz der englifhen und franzöfiihen Vermittlung 
fe in Behauptung feines alten Territorialbeſtandes, während Piemont fi auf 
die Bollsabflimmungen berief und auf den Sieg Ungarns hoffte. Der König, um 
nicht noch einmal als Berräther an Italien zu erſcheinen, fuchte den Tor. Es 
wor kein frieblicher Ausweg, namentlich für vie Entſcheidung ber Volksſtimmung 
mehr möglih. Am 12. März 1849 kündigte Piemont den Waffenftiliftend, am 
28. erlag das piemonteflihe Heer bei Rovara dem öfterreihiihen. In berjelben 
Nacht legte Karl Albert die Krone niever und ging nad Portugal, wo er am 
28. Jull Rarb. Die Oeſterreicher befeßten Toscana, weldes endlich bie Livor⸗ 
nefen beimgefidt Hatte, . auf mehrere Jahre, tie Romagna bie 1859. Nach 
regelmäßiger Belagerung und ruhmvollem Widerſtand, beſonders Garibaldis, 
nahmen die Truppen der katholiſchen Republik Frankreich am 30. Juni Rom, 
während Mazzini auf dem Kapitol die Berfaſſung in den Wind publicirte. Gari⸗ 
baldi verſuchte umfonft fein Korps nad) Benebig zu bringen, weldes, da e8 nur 
noch anf wenige Tage Nahrung hatte, nad dem Ball Ungarns den 22. Auguſt 
1849 die Defterreiher einziehen laſſen mußte. Sicilien war im April den Waffen 
—— erlegen oder vielmehr hatte Ferdinand es vor einem Madonnuenbild 


In Italien und bald in ganz Europa herrſchte nun nad) ber tiefften Er⸗ 
ſchütterung „Ruhe und Ordnung“. Der König von Neapel berief feine ihrer 
großen Mehrzahl nad gemäßigten Stände nicht mehr. Durch Gerlihte von Atten- 
teten geichredt, Hielt ex fich Iange in feinen Schlöffern, die waderften Patrioten 
mußten neben ben verworfenften Menfhen bis 1859 in Kerkern ober fpäter in 
Burgen gefangen Tiegen, vom denen Gladſtone in ber Hauptjache die Wahrheit 
ſagt. Pins zog zwiſchen den franzöftfchen Bayonneten am 12. April 1850 wieber 
in Rom ein, Er erfuhr, daß es unmöglich ſei, eine weltliche Priefterregierung zu 
teformicen und daß das jetzige Geflecht fie doch nicht mehr duldet. Die Miß⸗ 
handiungen der Bevollerung waren in ben abriatifhen Provinzen bes Kirchen⸗ 
ſtaats, welde von den Defterreidgern befeßt waren und von einem Tederen Bolt 
bewohnt find, umgleich granfamer als was unter ben Ungen tes Papſts von ben 
Sranzofen geſchah. Wir trauen kaum unfern Augen beim Leſen ber Berichte ber 
parfiigen Behörden in ver Romagna. 

Sogar in Toscana anfäfflg zu fein, war wit mehr fo angenehm. Der 
Großherzog war vor dem Einräden ber Deflerreiher von feinen Bürgern als 
konflituttoneller Fürſt ans Gaeta zurüdgerufen worben. Aber nad Wien berufen, 
kehrte er mit dem Befehl zuräd, alles abzuftellen, mas au vie Berfaflung erimern 
fönnte. Namenilich Tamen in Folge der Bewegung, der öſterreichiſchen Offupation 
und zufülliger Unfälle die früher geordneten Finanzen fehr in Zerfall. Die Macht 
der Erzbiſchöfe umter Anführung deſſen von Piſa und der zahlreichen Klöfter 
wurbe wieder drüdender. Die Schlaffheit und das alte Proteltionsweſen wucherten 
wieder Im ganzen Stantshanshalt. Dagegen ſchlofſen fich die gebilveten Patrioten 


630 Nachteag. 


um fo enger an einander; zum Theil dem höchſten Adel angehörend, ſuchten fie 
von Neuem den Fleiß des Volkes und deſſen Früchte zu fördern. Neidlos erfazute 
man an, daß das Licht der Befreiung von Norden tomme. Der Früchte der Keim 
ftaaterei und habsburgiſchen Yamilieninterefjes überfatt, verlangte man, Daß ber 
Großherzog, wie er ed 1848 mit Worten gethan, in ber That aufhörte Erzherzog 
von Defterreih zu fein. Das mütterlidie Band, durch weldges dad Geluntogenitur- 
land noch an Defterreich gehalten wurde, konnte aber, davon war man feft Aber 
zengt, nur durch Hinauswerfen Defterreihs aus Italien und bar ein fiarfee 
oberitalienifches Königreich zerfchnitten werden. Wenn die politiihe Bereinigung 
Italiens zunähft nur zu einem Staatenbund, troß ber Zweifel, welde Geographie 
und Geſchichte dagegen erhoben, überall eine durch Kulturgemeinfamteit und durch 
nationale Geiftesarbeit reifende Idee war, fo war fie dieß befonvers in Toscama. 
Selbſt die, nur durch tägliche Prügelftrafe herzuftellende Disciplin ver öoſterreichtſchen 
Truppe erſchien als uniformirte Barbarei. Die einzelnen Fälle von Präglung von 
Grauen in der Lombardei wegen politiicher Vergehen haben die Berföhnung um- 
möglih gemadt. 

Die Mittel, durch welde Piemont nach ber Niederlage von Novara fi an 
bie Spige der Italiener beroorarbeitete, find belannt. D’Uzeglio beflärfte dem 
inngen König in gewifienhafter Haltung ver Berfafiung und zwar in der Abſicht, 
daß fie in ihrer Bereinzelung das nationale Panier werben follte Die militärtfche 
Provinzialregierung wid einer bürgerlichen. Ein Theil ver Flüchtlinge, beſonders 
bie aus der Lombarbei, brachte modernen Kenutnifie in das zurüdgebliebene Laub. 
Sie traten an die Stelle der Iefuiten in ven höheren Lehrauftalten. Aber um 
das ganze Bolksleben umzuwandeln, um Mittel für große Zwede zu ſchaffen, 
bedurfte es einer neuen Belebung der durch Staatsbevornundung und durch Pri⸗ 
vilegien gebundenen Güterproduktion. Die freie Konkurrenz mußte den Wetteifer 
mit vorgefchritteneren Nationen aufftacheln. Der durch angeftrengten großen land⸗ 
wirthſchaftlichen Betrieb, durch Reifen und volkswirthſchaftliche Studien zu der 
Führerſchaft auf diefen neuen Bahnen Bernfene war Gap onr. Ob er gleich ben 
Hafen von Genua zu feinem Hebelpuntt machte, fo wurben ihn doch ven dem 
mißtrauiſchen Zunftgeifl, von der Bigotterte und dem Radikalismus ver Genuefen 
und Savoyens die hartnädigften Hinderniſſe entgegengefeßt. Da die Savoyarden 
überhaupt fi unwillig zeigten für vie italienifhe Sache Opfer zn bringen, fo 
wurde der Beſitz der Wiege der Dynaſtie den national gefinnten Poländern fehr 
gleihgiltig. Während er durch SZollermäßigung vie erſten Lebensbedürfuiſſe ver 
banbarbeitenden Klafien billiger madte, glaubte Cavour auch die fittliche Kraft 
berjelben durch Anbahnung der nationalen Selbſtändigkeit zn flärfen. Denn nächſt 
der Religion gebe nichts einen flärteren ſittlichen Sporn, ald das Bewußtſein, 
einer veipeltabeln Nation anzugehören. Die Vetheiligung an dem Krimmkrieg 
wurde, wie Cavour beabfidtigte, von allen Italteuern, weldhe auf ben nationalen 
Morgenftern barrten, als ein Unterpfand angefehen, daß Piemont weder jein Gut, 
noch jein Blut fpare, wo es gelte für die Sadıe Italiens Alltanzen zu gewinnen. 
Das durch fein Officierskorps nationale Heer errang fih im Feld ſelbſtbewußte 
Einheit und war wieder der Stolz und die Hoffnung bes Bärgers. 

Die Radikalen wie Brofferio und die Klerikalen freuten fi, daß, wie. ‚fie 
vorausgeſetzt, die materiellen Folgen des thenren Feldzugs unfldhtbar waren. Über 
außerhalb Piemonts dankten es ihm die Italiener fehr, daß Cavour auf bem 
Berifer Friedenstongreß im Frühjahr 1856 die italienifhe Frage, die Mifregie 
rung im Kirchenſtaat uud die Drohung der öſterveichtſchen Offapatton zur Sprade 











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Stalien. 681 


brachte. Der Neid Mazzinis und ber Haß Ferbinands von Renpel, die Berläfte 
rungen durch die kirchlichen Fanatiker bewieſen, daß bie materia peccans tm 
italienifhen Körper fi ernſtlich bedroht fühlte. England war das Ideal Cavours 
in politifher und in nationalölonomifher Beziehung, aber die theuer erkaufte 
Allianz bot keine realen Früchte. Dafür war es Gavour gelungen, Napoleon zu 
überzengen, daßPiemont in feiner von Oeſterreich bedrohten aufreibenden Stel⸗ 
[ung cher früher als fpäter die verzweifelte Entſcheidung durch das Schwert zu 
fuchen habe. Oeſterreich erlannte, dag ihm ein folches konftitutionell = nationales 
Biemont feinen Beſitz in Italien auf die Länge unhaltbar made. Leidenſchaftlich 
fchleuderte es vie Beſchuldigungen gegen Eavour, als ob er und bie in beiden 
Staaten begüterte, in Zurin wohnende Ariftofratie die Meudelrottien Mazzinis 
gegen Oeſterreichs Officiere im Sold habe. Cavour nahm dabei feinen Vortheil 
wahr, um buch Darftellungen der Sachlage vie öffentlihe Meinung ber civill⸗ 
firten Nationen für die Sade Italiens zu gewinnen. 

Da wedten plöglihd im Januar 1858 Drfinis Bomben fehr perfönliche 
Gefühle in Napoleon. Piemont war augenblidlih dadurch gefährbet. Aber Cavour 
gewann das Omen für fi, indem er bie Hegereien ber radikalen Prefie gegen 
bie Perfonen fremder Potentaten gefeglich beſchränkte. Er Hatte fi immer mehr 
überzeugt, daß die öffentliche Meinung beſonders dann renlen Werth habe, wenn 
fie die Gehalt von Geldkredit und von gros bataillons annehme. Das eigene 
der und ein Feſtungédreieck bei Aleſſandria boten dem Verbündeten Stützpunkte. 

m Sommer 1858 wurden in Plombieres perjönlide Verabredungen getroffen. 
Schon feit einigen Jahren verbreiteten officdöfe Schriften von angefehenen Fran⸗ 
zofen in Italien die Anfiht, daß Savoyen und Nizza kein zu thenrer Preis für 
vie franzöftfhe Waffenhilfe zu der Befreiung Italiens bis zur Woria fei. (In 
diefem Sinn war geichrieben: Italia e Francia nel 1848 saggio di storia diplo- 
matica con documenti inediti, traduzione da un manoscritto francese. Torino 
1856.) 

Zugleich bot Cavour Alles auf, bamit die vereinigten Kräfte ber Italiener 
den Friesmähtigen Helfer nicht zu gefährli werben ließen. Im Herbft 1856 
hatten Manin — im Jahre 1848 als Diktator von Benebig, als republilanifcher 
Töveralit Gegner Piemonts — und Georg Ballapirino, der Märtyrer vom 
Spielberg, die Idee des itallenifhen Nationalvereins gefaßt. Die Krone von 
Italien follte dem König von Piemont angeboten werben, wenn er die feinige 
daran feste Italien von der Fremdherrſchaft zu befreien. Eavour ließ es bahin« 
geftellt, ob es ein ober fünf Jahrzehnte währe, ob und wie ber nationale Einheits- 
ſtaat zu erreichen fei. Der Berein verhinderte zunächſt Tolalaufftände und Rache⸗ 
band ‚ er führte dem plemontefiihen Heere aus ganz Ober- und Mittel- 
italien Freiwillige zu. An die Spige eines folden Korps berief Cavour trog 
Napoleon und der Militärpartei in Zurin Garibaldi. Dadurch wurde bie 
Friedensmittlung durchkreuzt und der Aufſchub verlangende Napoleon mußte, als 
in Folge des öfterreihifchen Ultimatums der Krieg ausbrach, zu Hilfe ellen. 

er Verlauf des Krieges iſt befannt. Die Piemontefen und noch mehr bie 

Garibaldiner fpielten die undankbare Rolle von Hilfsteuppen. Im Vertrauen auf 
bie Kraft Defterreichs verließ ber Großherzog von Toscana, von dem ber hödjfte 
Adel Allianz mit Piemont oder Abdankung zu Gunften feines Sohns verlangt 
hatte, den 27. April Florenz. Die wohlwollend fromme Herzogin von Parma, 
ber harte Deren von Modena folgten ihm ins öfterreihifche Lager. Für dieſen 
und für ben Öroßherzog nahm die Friedensbaſis von Villafranca Wiebereiufegung, 








treten. Ferdinand Hatte feine letzten Jahre unter den Schreden- von Komplotten 
verlebt. Einladungen Eavonrs zu Konftitution und Bändniß lehnte er ab, da er 
mit einer Regierung, welche vie Klöfter, wenn aud nur die umthätigen anlaſte, 
nichts gemein haben wollte. Das Schlimmfte für die bourbonifhe Dynaſtie war, 
daß fie fich gemdthigt fah, die auch unzuverläffig geworbenen Schweizerregimenter 
zu entlafien. Ferdinand war auf feinem Schmerzenslager geftorben, ehe die Nach 
riht von der Schlacht bei Magenta ihn erreichen konnte. Cavour Ind Franz II, 
den Sohn einer piemontefifhen Brinzeffin, dringend ein, eine Berfaflung zu geben 
und fih mit Piemont zu verbänben, um Frankreich ein italieniſches Gegengewicht 
zu geben. Aber den mit Mißtrauen gegen jede Idee ſeiner Zeit erzogenen jungen 
König bedrohte und beherrſchte wie ein furchtbares Fatum feine Stiefmutter, eine 
Erzherzogin, die Perſonifikation der klerikal⸗militäriſchen Partei. Ste ſchmiedete mit 
den entſprechenden Kreiſen in Wien und im Batikan, mit ven Erzbiſchöfen von 
Toecana und in der Romagna Plane, um die Landbevölkerungen bis an ben 
Po zum Aufſtand gegen Piemont aufzuftacheln. Die nenpofitanifchen Truppen, 





Stalten. | 683 


welche dieſem Huffland Halt geben follten, fammelten fich zu Ende des Jahres 
1859 in den Abruzzen. Das klerikal⸗dynaſtiſche und das freifinnig - nationale 
Italien flanden anf dem Punkte fi anf Tod und Leben zu belämpfen. Konnte, 
durfte da Cavour Garibaldi abhalten dem Feinde in ben Rücken zu fallen? 

Obgleich befonders bei der Einnahme von Palermo and) Eingebome, zum 
Theil jehr zweidentiger Art, mitthätig waren, fo lag der Kern nub Nero des 
Kriege doc in ben oberitalienifhen Freiwilligen, in bem Zander bes von den 
Einen als Halbgott, von den Andern als fatanifche Macht angeftaunten Führers. 
Garibaldi Hatte im Mai 1849 Ferdinand II. felbft im Albanergebirge gefchlagen. 
@3 erprobte fih, daß Aberglauben und gegenfeltiges Mißtrauen feine Stützen 
eines Thrones find. Die Seelente aller Nationen, namentlich die engliſchen be- 
günfttgten den kühnen Seemann. Erft in der größten Roth, am 2. Juli profla- 
mirte Franz II. die Verfaſſung wieder; aber niemand glaubte mehr einem banke⸗ 
rotten Bourbon. Cavour unterftägte ihn ſoviel feine Berantwortlickeit erlanbte 
und drängte ihn vorwärts. Aber einen Aufſtand in Neapel zu entzündben, welcher 
Piemont herbeigerufen Hätte, gelang ihm nicht. Die Miniſter fanden bei der Be- 
völferung vollen Beifall, indem fie, um die Hauptflabt vor einem Kampfe zu 
bewahren, dem König, ver jegt zu ſpät ein plemonteflihes Bündniß anrief, zum 
Rädzug riethen und Garibaldi beriefen. 

. Sobald aber die Königlihen Truppen. in ven Feſtungen gefammelt waren, 
fühlten fie fid dem Zauberkreis Garibaldis entrüdt und machten tapfer Ausfälle. 
Trotz des Lowenmuths des Kerns der Freiwilligen war e8 Mar, daß ein Frei⸗ 
willigenheer die Feſtungen nicht nehmen könne. Die Wolle von doltrinären Radi- 
kalen und von Schwinblern, welde Garibaldi umgab, verwirrte bie ganze Regie- 
rung und Verwaltung. Dennoch fteigerte fie ihn zu dem Entihlnß, während er 
bo überall im Namen Biktor Emannele zu handeln erflärte, mit den Hilfs⸗ 
mitteln des Sübens ſich auf Rom und dann auf Venedig zu werfen. Dam follte 
eine Tonflitnirende NRationalverfamminng über die Berfaffung Italiens, über 
Monarchie oder Republik entſcheiden. Es war die höchſte Gefahr, daß durch einen 
vereinten Ruͤckſchlag Frankreichs und Defterreihs alle Errungenfchaften verloren 
gingen. Sogar die unter Lamoricidre gefammelten päpftlihen Truppen, worunter 
viele DOefterreicher, wären mit den Bonrbonifhen Garibaldis Schaaren gewachfen 
geweſen. Napoleon war entfhlofien, den jeßigen Kirchenſtaat dem Papft zu fichern, 
aber die Legitimiftentruppe Lamoricidres gab er preis; er verlangte nur, daß bie 
Amputetion der Warten, Umbriens, Spoletos raſch 0 Am 11. September 
1860 rüdten bie piemanteflfhen Truppen in den Marten ein, am 18. wurbe 
von ihnen Lamoricidre bei Caſtelſidardo geſchlagen. Das von der Rant- und Gew 
feite hart bebrängte Ancona kapitulirte am 29. September. 

Am 9. Oktober erllärte Viktor Emanuel der Bendlterung des Südens, er 
erſcheine in ihrer Mitte, um ihrer freien Abſtimmung Geltung zu verfchaffen. 
Nachdem die fih in den Weg ſtellenden bonrbonifhen Truppen gefhlagen waren, 
begräßten fi ben 26. der König und Garibaldi, welder feine Diktatur nieder⸗ 
legte. Die Neapolitaner, welche fi für die Refultate ver Kämpfe in ihren Kaffee- 
bäufern fehr intereifirt hatten, flimmten mit 1,310,266 gegen 10,612 Stimmen 
für den Anflug an Piemont, "Sicilien mit 432,054 gegen 667, ähnlich ber 
befegte Kirchenſtaat. Den Tag nad dem Einzug des Könige in Neapel ging 
Garibaldi nah Caprera ab, feine Freiſchaaren wurden bebanft nnd aufgelöst. 
Gaeta, deſſen Beſchießung durch die Anwefenheit der franzöfifchen Wlotte gehemmt 
gewefen war, fapftulirte kurz nach ihrer Abfahrt den 18. Februar 1861. Aber 





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ungeheuern Erfolge weiß er nicht immer neue Per- 
zu exöffuen. Nicht ans Herrſchſucht, fondern weil er feine Gutfchläfie 
allein innerlich et, er bei wichtigeren Angelegenheiten mehr vie 


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verlegt, dem Parlament unparlamentariſch, diktatoriſch erſcheint. Er if 
durch die Erfahrungen im Süden Centraliſt geworben. Der bibliſch fromme Maun 
iſt der klerikalen Bartei, ver nach Nationalunabhängigfeit dürftende Patriot if 

antipathifch. Leberzengt, daß Italien mit deſſen Willen Rom nicht er⸗ 
halten würde, fuchte er alle Kräfte, dafür zu vereinen; dieß ſtürzte ihn. Sein 
Widerſpiel ift der gewandte, fdhlane Advokat au? Aleſſandria, Rattazzi, be 
an Heinen Mitteln unerfhöpflie Aushelfer. Er verfpriht Allen Alles, lavirt, 
— nur nit das Büdget. Durch unbeftimmte, weit ausſehende Per⸗ 
ſpektive eines Aufftandes in der Hämushalbinfel, in Ungarn, das Benetien be- 
freien follte, bat er 1862 Garibaldi in eine Lage gebracht, wo biefer auch bei 
mehr Befonnenheit entweder einen Theil des Bolfävertrauens zu ihm verlieren, 
oder die Hand gegen den Staat erhebend fi verwunden mußte. England drohte 
feine Landung in Albanien zu verhindern und drängte ihn gegen Rom und bie 


en. 

Um 15. September 1864 wurde die Uebereinkunft mit Frankreich abgefchloffen, 
beren Inhalt oben ©. 582 angegeben if. Die vorläufige Verlegung bex Haupt 
ſtadt nad Florenz flatt nad Rom brachte zwar, als biefer Vertrag von Mazzini 
ber unvosbereiteten Bevbllerung verrathen wurde, blutige Szenen in Turin und 


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Shalien. os 


tiefe, nachhaltige Exbitterung in Piemont hervor; aber fie entſpricht den We 
dürfniſſen Italiens. Denn fo lange die Kirche das Papftifum nicht in fic 
felbft innerlich wiebergeboren bat, würde Rom als wirkliche Hauptflabt Italiens 
ein Krater der glühendſten Reivenfchaften fein. Die Freundſchaft wie die Feindſchaft 
der beiden zufammengepreßten Höfe wärbe die Regierung bes Rt aufreibem. 
Das Entweichen des Papſts ans Italien aber würde alle. klerikalen Leidenſchaften 
bier und in Frankreich entzünden. Der italieniihe Staat kann nur dadurch Kraft 
exlaugen, daß das Volk ſich am der geiftigen und inpuftriellen Urbeit des civilifirten 
Europas betheiligt; aber die größtentheils von ber Klientel und den Mißbräuchen 
der Kurie lebende Bevölkerung von Rom ift die unfähigfte ſich dazu aufzuraffen. 

Das Lönigliche Dekret, durch welches mit Auftimmung des Parlamentes der 
Regierungsfig Turin nach Florenz verlegt wurde, vatirt vom 12. December 1864; 
am 11. December 1866 zogen in Erfüllung ves Vertrages bie legten franzöſiſchen 
Truppen ans Rom ab. Im Herbft 1867 freilich waren fie wieder ba. 

Zuvor aber follte noch ans ven Exeigniffen des Jahres 1866 bie Ber- 
einigung von Benetien mit dem Königreich Italien hervorgehen. Der Unter 
handlungen, die unter den Anfpizien des Kaiſers Napoleon über eine käufliche 
Abtretung ver legten äfterreichifchen Provinz in Italien gepflogen wurden, if} ſchou 
oben (S. 539) gebadht worden. Sie führten nicht zum Ziel und im April 1866 
wurde der Wllianzvertrag zwiſchen Preußen und Italien unterzeichnet. Um 20, 
Juni erfolgte die Kriegserklärung Viktor Emanueld gegen DOcfterreih, am 24. Juni 
verlor der König mit ora die Schlacht bei Cuſtoza, am 21. Inli erfodt 
bie Öfterreichifche Flotte ihren glänzenden Sieg bei Liffa. Allein ver Tag von Könige 
gräg (3. Iult) hatte and über das Schickſal Benetiens entſchieden. Neuere An⸗ 
gaben, wonach bie Schlacht bei Cuſtoza in Folge eines geheimen Berftändaifies 
mit dem Wiener Kabinet planmäßig verloren worben wäre, um Oeſterreich einen 
ehrenvo len Rädzug möglih zu machen, find nicht hinlänglich beglanbigt, um als 
geſchichtliche Thatſache angeführt zu werben. Am 4. Juli trat Oeſterreich Benetien 
an ben Kaifer der Franzofen ab und bald darauf hatte ein großer Theil ber 
öfterreihifchen Truppen das Rand geräumt; es galt den Berfuch mit ihrer Hülfe eine 
Wendung des Kriegsglüde® an der Donau herbeizuführen. Doch am 26. Juli 
wurden Die Friedenspräliminarien vor Nickolsburg abgeſchloſſen, welchen ver XBaffen- 
ſtillſtand zwiſchen Defterreih und Italien erſt am 11. Ungnft folgte, nachdem 
legteres vergeblih, von Preußen nnd Frankreich nicht unterftägt, fich bemüht hatte, 
eine feinen Anfprühen anf Wälſchtirol günftige, dem erfolgreichen Borbriugen 
feiner Truppen auf biefem Gebiet, wo andy Garibaldi operixte, entfprechenbe 
Klaufel durchzuſetzen. 

Um 8. Oktober wurde der Friede zu Wien unterzeichnet. Defterreich erflärte 
feine „Zuflimmung” zu der ſchon Ende Iuli- von Napoleon als dem nominellen 
Herrn des lomb. venellaniſchen Königreiches bewilligten Vereinigung vesfelben mit 
dem Königreich Italien. Lettered übernahm ben im I. 1859 noch bei Oeſterreich 
gebliebenen Antheil des Monte Lombarbo-Beneto mit ven feither Hinzuger 
tommenen Schulden und eine Zahlung von 35 Mil. Gulden baar für den anf 
Venetien treffenden Antheil der Anleihe von 1854 ſowie für ven Werth bes in 
ven Feſtungen zurädbleibenden Kriegsmaterials. 

Die Beflgergreifung wurde durch italienifhe Tenppen und Civilbehoörden, 
die den abziehenden Defterreihern auf vem Fuß folgten, fo vaſch und vellfiäubig 
bewerffteligt, daß bie am 18. Oktober von bem franzöfifchen General Lebveuf im 

edig vollzogene Auslieferungd- Geremonte kaum noch den Eindrud eines erufl- 


086 Nachtrag. 


haften Staatsaltes machte. Die Bevöllerung erflärte fich unter lebhafter Be- 
theiligung des Klerns mit 662, 000 gegen 69 Stimmen für den Auſchluß au Itallen. 

Ricaſoli, der im Frühjahr 1866 die Leitung der Geſchäfte nochmals über⸗ 
nommen hatte, zog ſich nach Jahresfriſt wieder zurück und Rattazzi folgte ihm. 
Unter Ricaſoli's ———— —— hatte das Parlament, mitten im Getuͤmmel ber 
Kriegsporbereitungen, die Aufhebung aller Klöſter und die Einziehung der geiftlichen 
Güter beſchloſſen, über deren Veräußerung und Berwendung theils für Staats- 
theils für kirchliche Zwede ein fpäteres Geſetz verfügt. Garibaldi's neues Unter- 
nehmen gegen Rom (vgl. ven Urt. Kirchenftaat in biefem Radıtrag) machte bald 
auch vie Stellung Rattazzi's unhaltbar und brachte im Oltober 1867 den General 
Menabren, den Unterhändler des Wiener Friedens, an's Nuber. 

Der Rädtritt Ricafoll’8 aus dem Minifterium und feine Erſetzung durch 
Rattazzi, welder ihn in Verbindung mit ben piemontefiihen Partikulariften unter 
graben hatte, war für Italien von den fchlimmften Folgen. Ricafoli hatte beab⸗ 
fühtigt, durch ehrenhafte Ausführung der Geſetze über Säkulartfation des Kirchen- 
guts, wenn nicht der Kurie, fo doch den katholiſchen Völkern und Regierungen 
Europa's die Ueberzengung aufzunöthigen, daß Italten entſchloſſen und im Stanbe 
fei, auch die angebotnen Bürgfchaften der Unabhängigkeit des Papſts in Tirchlichen 
Dingen feR zu halten. War er aud nicht beliebt, fo konnten doch feine vernänf- 
tigen Feinde feinem Charakter eine gewiſſe Achtung nicht verfagen. Diejes war 
die unentbehrliche Borausfegung einer früber oder fpäter einzuleitenden Berflän- 
bigemg. Schon als Florentiner konnte er nicht auf Verlegung ber Hauptſtadt nad 
Rom verſeſſen fein. Uber eben die machte die ungebulvigen Romfchwärmer, die 
Radikalen und die Sudländer zu Feinden des firengen Mannes. Dagegen ver» 
ſprach Rattazzi wieder allen alles zu werben; er ftellte fi an, als ob er geheime 
Mittel dazu beſäße. Allein im Grunde hatte niemand ein rechtes Vertrauen zu 
ihm, wohl aud ter König nicht, obgleich fein ſchmiegſames, die königlichen 
Schwächen ſchonendes, ja begünſtigendes Weſen ihn immer noch zur persona grata 
machten. Sein gerabes Gegentheil, Garibaldi, hatte ſchon unter Ricafoli feine 
Rundreiſen nud Agitationen wieder begonnen, indem er offen erflärte, daß er Rom 
mit Freiſchaaren zu nehmen gedenke. Allein, und dieß dient auch Rattazzi zu 
einiger Entſchuldigung, die ttalienifhen Gefege über Berfammlungen und Bereine 
find in fo freiheitlihen Sinne abgefaht, daß ſich gefeglich nicht einſchreiten ließ, 
fo lange nicht auf ‚größere Anſammlungen von Bewaffneten oder von Waffen bie 
Hand gelegt werben konnte. Die Enthüllung der ſchweren Mißbräuche in ber 
Berwaltung, beſonders der Marine zerflörte vie Hoffnung, daß Italien durch dem 
Hinweis auf feine innere Solldität das ndthige Vertranen bei den Katholiten er⸗ 
werben wärbe, um mit ihrer Zulaffung Rom zur italienifchen Stabt zu machen. 
Dem dadurch gefteigerten Peſſimismus ſchien nur in einem großen Wagniß, 
in ‚der Ueberrumplung Rom’s, das Univerfalmittel für alle Schäden zu liegen. 
Garibaldi fühlte, daß er altere; ex wollte fein heißeſt erfehntes Wert mit Daran- 
fegung feiner Perfon zu vollenden wagen, ehe feine Kraft und fein Name ſchwän⸗ 
den. Er hoffte darauf, daß Rattazzi feine Popularität nicht durch ein zweites 
Alpromonte aufs Spiel zu fegen wagen würde. Rattazzi tänfchte fich wohl felbft 
gerne mit der Hoffnung, daß der Kaiſer der Franzofen Angefihts einer vollende- 
ten Thatfache, welche von Garibaldi aus eingeleitet, von Rattazzi, unter dem Vor⸗ 
wande, Rom nicht in Garibaldis Hände fallen zn laſſen, durch königliche Truppen 
vollendet worden wäre, ſtehen bleiben würbe, um nicht die Bundesgenoſſenfchaft 
Italiens zu verlieren, Durch die Feftnehmung Garibaldis in Sinalunga glaubte 











Italien. 687 


Nattazzi nicht bloß den Dank des Kaiſers verbient, fondern auch ihn bie Bürgs 
ſchaft gegeben zu haben, daß er, während er dem Papſt die weltlichen Hände 
bände, er ihm doch den PBantoffel küſſen würde Für den Nothfall machte fid 
Rattazzi ober doch ungebuldige Parteiführer ohne allen Grund Hoffnung auf 
preußiiche Waffenhilfe; wenigftens, meinten fie, könnte tich Napoleon nicht tief in 
einen Kampf bis anfs Mefier mit der Italtenifhen Nation einlafien, ohne bie 
Gefahr, daß Preußen denfelben benägen würde. Es war ein Luft und Phantafie⸗ 
ebäude ohne alle Bafis, vor weldem ſelbſt Erifpi und Pallavicino warnten, 
r Garibaldi und feine radikalen Ratbgeber nahmen die Tollkühnheit einiger 
Tauſende für den Entſchluß der Nation, fie bofften diefe und vie ſchwache Regie 
zung mit ſich fortzureißen. Sie hatten feinen Begriff von der Kraft, welche der 
von ihnen abgeworfene Katholicismus, bejonders in Frankreich noch befikt. 

Dagegen hatte Garibaldi einen wahren Überglauben an die Sympathien ver 
enropäifchen Demokratie. Seine Reife nad) Genf, flatt ihn darüber zu enttäufchen, 
batte ihn nur darin beftärkt. Er wähnte, die Uneinigfeit im Schooße der Demo» 
raten komme nur von der Thatlofigfeit; er eilte ihr das Beiſpiel einer großen 
That zu geben, weldhe die Welt aus den Augeln heben müßte. Sein perfönlicher 
Haß gegen Napoleon blendete ihn volllommen, befonders da er mit franzöflihen 
Flüchtlingen verkehrte. Er glaubte durch die gefcheiterte Erpebition von Meriko 
Napoleons Macht tief erfhättert. Bon Rom aus follte fie geflürzt werben. Denn 
Garibaldi Hält Rom ebenfo blinpgläubig für den Hebelpuntt der Welt, wie ver . 
Bigottefte Ultramontane. Über gerade die Vorgänge von Merilo und von Genf 
legten dem Kaifer der Franzoſen, wenn er nicht al fein Anſehen verlieren wollte, 
bie Nothwendigkeit auf, Rom gegen die Itallener zu vertheidigen, ob fie num 
unter Garibaldis oder unter den Fahnen des Königs es bebrohten. Es galt Die 
letzte Pfliht, die der Selbfterhaltung. Napoleon gab diefe feine Willensmeinnng 
in Florenz offen zu verfiehen. Hier war Nattazzi' in einer um fo ſchwierigern 
Lage, als die anfehnlichften Städte des Kirchenftants, zumal die unweit ver ita⸗ 
lieniſchen Grenze gelegene, offen vielmehr italienifche Bejagung, als die der bereits 
eingefchlihenen Freiſchaͤrler verlangten. Er gab fi das Unfehen, als ob er 
es im Nothfall auf einen Krieg mit Frankreich wollte anlommen lafien. Dazu 
iſt ex am wenigften der Mann, und Italien war darauf durchaus nicht geräftet. 
Der König und die vernünftigen Radikalen wehrten bie Anträge Rattazzis ab, 
welder wohl nur baranf ausging, den nicht ohne feine Schuld ſchwer verwirrten 
Kuäuel einem Anderen zur Ordnung zu überlafien und durch Wahrung feiner 
Popularität fih die Thüre zum Rücktritt ins Miniflerinm offen zu halten. Mattazyi 
gab feine Entlaffung. Es war ſchwer, Männer zu, finden, welche vie undankbare 
Bürbe zu überuehmen wagten. Während dieſes Interregnums entwifchte Garibaldi 
aus feinem Eilanvde. Es ftand wohl kaum in der Macht des nur noch proviſoriſch 
das Minifterium führenden Rattazzi ihn feftzunehmen; er ließ es aber aud an 
* möglichen Maßregeln fehlen, um bie Bildung größerer Sreifhaaren zu ve 

udern. 

Entſcheidend war das Mißlingen der Aufſtandsverſuche in Nom ſelbſt. Die 
tömifhe Bevölkerung, ihrer großen Mehrzahl nad eine Klientenherve ter Prüs 
laten, bietet dazu keinen Stoff. Eben fo wenig die verwilderten Bevdlkerungen 
ber Stäbtchen nörblih von Rom, in welde Garibaldi jest einfiel. Die etwas 
ebilbeteren und beveutenderen, Viterbo wie die im Albauergebirge, wurben nad 

zug der päpftlicden durch Königliche Truppen befegt und gefhägt. Die Freiwilligen 
bes ſts beftanden, wie die Freiſchaaren Garibaldis, aus den nodelften und 


638 Radıtrag. 


ben verwildertften Elementen, aber fie waren eben fo trefflih ausgerüſtet und 
verpflegt, als es bei ven Garibaldinern damit ſchlecht beftellt war. Dennoch wären 
die Paͤpſtler eben fo wenig in Mentana Meifter über die Garibaldiner geworden, 
als diefe in Rom einzubringen vermodten. Nach langem Zögern hatte Napoleon 
feine Regimenter berübergeworfen und dieſe probirten ihre Ebaffepot mit beſtem 
Erfolg an dem corpus vHle der Garibaldiner. Der franzöfifche Soldat haft Gart- 
baldi, feit er von ihm im Frühjahr 1849 Schlappen erlitt. 

Die Lage Napoleons und der italieniſchen Regierung war durch dieſt Bor- 
gänge eine ſehr heiflige geworden. Die nationale Leidenſchaft der Italtener über- 
ſah, daß Garibaldi die Franzoſen zur Intervention genöthigt hatte; ihr unmäch⸗ 
tiger Haß warf fi befonders auf das Minifterium Menabrea, weldes von 
Napoleon gendthigt wurde, die königlichen Truppen ans päpftlihen Städten zurück⸗ 
zurufen. Obgleich in dieſen von den Bürgern feine revolutionäre biutige That 
verübt worden war, flüchteten doch viele Sunberte vor dem zurückkehrenden pa⸗ 
triarchaliſchen Priefterregiment, welches auch Ueberzeugungen mit väterlichen Zucht- 
ruthen heimſucht. Die franzöfiichen Abgeorbneten ſprachen ſich in ihrer ungehenren 
Mehrheit mit fo ultramontanem Fanatismus ans, daß Rouher unter ihrem dröh⸗ 
nenden Beifall dem Verlangen der Italiener noch Rom ein jamais ins Geficht 
fleudern mußte. 

Aber Napoleon vergaß nie, daß er auch andere, reale Interefien, ſelbſt außer 
‚ ver Alltanz mit Italien, zu wahren hatte. Er iſt durd fein Syſtem ver Bevor» 
mundung feines Volks auch der VBermögensverwalter und der beſtimmende Rath- 
geber für die Unlage der Privatlapitalien besfelben geworden. Seine Politik gibt 
dafür beſonders dem Landvolk die Direltive. Wie dadurch die Kapitallen ber 
Sranzofen nah Merilo umd nach Defterreich geleitet wurden, fo waren feit 1859 
etwa vier Milliarden franzöfiihen Kapitals, wenigftens im Nennwerth, in tta- 
Heuifhen PBapteren angelegt. Daher würde durch eine Untergrabung des italieniſchen 
Staats auch das franzöſiſche Nationalvermögen tief geſchädigt. Diefe fi wider- 
fprechenden Motive der ttalienifhen Bolitit Napoleons werfen auf biefelbe ben 
Schatten planvoller Hinterlift. Napoleon kann nichts fehnliher wünſchen, als daß 
bie Kurie mit dem Königreich fi) verſtändige. Aller diefe ſetzt allen frauzöftfchen 
Rathſchlägen das flarrfle non possumus entgegen, vielleiht bis ein Bonaparte 
Bapft wird. Indeß iſt nur ein modus vivendi zwiſchen beiden Nachbarn zu er- 
mögliden. Dazu bat Lamarmora zu Anfang bes Jahres 1868 dur ein 
offenes Sendſchreiben an feine Wähler eine Bahn bezeichnet: ex verlangt Rom 
wicht mehe im Namen der ttaltentfchen Volksſouveränität, fondern er verlangt, daß 
ven Römern und überhaupt den Bewohnern des Kichenftants ihr Recht auf ein 
civiliſirtes bürgerliches Leben zugeftanden werde. Da das Priefterregiment hiezu 
unfählg ift, fo iſt municipale Selbftverwaltung und Oeffnung der päpftliden 
Grenzen für das im Königreich pulfirende Leben nothwendig. Darans würde das 
Uebrige, das wirklich Nothwendige mit der Zeit folgen. 

Hierzu ift vor allem nöthig, daß Italien fi indeß mit feinen Schulden 
über dem Waſſer halte, daß feine Berwaltung und fein Unterrichtswefen fid 
ordnen. Dieß ift bisher durch die Ueberlieferungen des Betrugs, durch Unwiſſen⸗ 
beit und Trägheit, durch die unmäßige Menge von Behörden, durch ihre eine 
wahre Komtrole unmdglih machende Unordnung verhindert worden. Dazu kommt 
die Schwierigkeit, durch dieſelben Gefege dem reiferen Norden und dem leider 
ſchaftlichen Suüden Selbfiverwaltung der Gemeinden unb welterer Kreife zu ge 
währen. Es thäte beinahe Roth, wie in den Vereinigten Staaten Nordamerikas, 











Stalien. 639 


den Süden unter Militärbiktatur zu ftellen. Die an unpraktiſchen Ideen und an 
Phrafen üÜberfrudtbaren Abgeorpneten des Südens haben lange genug alle or- 
ganifhen Pläne ver Minifter gekreuzt und die Ehre der beften Fatrioten "herunter: 
gerifien. Erſt jeit März 1868 find Symptome wirkliher Befferung fihtbar. Die 
auf Toscana neidiſchen piemontefiihen Partikulariften fühlen den Drud ver 
patriotifchen öffentlichen Meinung der reiferen, befferen Klafien und Hören auf, 
mit den verbrannten Radikalen gegen alle Rettungsverfuche des Minifteriums zu 
Tonfpiriren. Brennt ihnen doch der Staatsbankerott ſchon unmittelbar auf bie 
Nägel. Die Probe ift die Annahme der Mahiftener. Es fehlt in Italien nicht an 
Rotionalvermögen, nur daß es probuftiver umgetrieben werben follte Aber der 
Italiener ſucht fih und weiß fi mit Feinheit den Staatslaften zu entziehen, wo- 
für er fich zeitweife wohl Ablaß durch patriotiſche Gaben erfauft. Es handelt ſich 
daher darum, finanzielle Nege zu ftriden, durch deren Maſchen auch die glattften 
Fiſchchen nicht entihläpfen können. Ein foldes, alle Klaſſen zufammenfafjenves 
Netz iſt die Mahlſtener. Sie war vor 1848 hauptſächlich im Süden durchgeführt 
und verhaft, darım ein Hauptmotiv der fichliantfhen Revolution vom Januar 
1848. Ihre Abihaffung 1860 war die „Beflehung”, wodurch die glänzende Ab⸗ 
flimmung des Süpens zu Öunften der Annerion erlauft wurde. Daher iſt es 
nicht unbedenklich, fie, zumal in einer Zeit der Theurung und der Arbeitslofigkeit 
wieder einzuführen. Aber dieß war unvermeidlich, und das Parlament entzog fich 
der Nothwendigkeit nicht, obgleih e8 nicht verfannte, daß daraus Bewegungen 
im Süden und in den Ländern entftehen könnten, welche viefe Steuer früher 
nicht gehabt Hatten. 

Die Wührer Italiens Haben es verftanden, ohne Revolution, ohne große 
äußere Kriege, meift mit fremden Blut, wenn aud mit bewunderungswürdiger 
Aufopferung vieler Einzelnen, zulegt felbft Benetten zu gewinnen. Aber eben 
darum find nicht die legten Urkräfte des Volkes in Angriff gekommen, bie große 
Begabung zur Schlauheit und vie Gewohnheit bes Koterieweiens haben eine ein- 
fettige Ansbildung gewonnen. Auch tie momentane Aufraffung zu ſchönen Thaten 
erjegt nicht die zähe Ausdauer, die Gewohnheit der bürgerligen Tugenden. Da 
biefe ihres Zieles bewußt fih mehr in dem nördlichen Italien findet, fo bleibt 
dasfelbe ver Hebelpunft der inneren Befreiung Italiens vor der Barbarei des 
dolce far niente. Um fo fhlimmer iſt die tiefe Mißftimmung Piemonts, weldes 
überbynaftifch feinen eigenen König zurückwünſcht. 

ein neues Regierungsprogramm, auch die Linke Hat keines, Tann Italien 
rdern. Das Schlimmfte ift das Hegen nach Rom, weil es Echo findet und von der 
auptpflicht auf Irrwegen abzieht. Sollte es, ehe die Uebung der täglichen Bürgtr- 
tugenden befeftigt ift, bei einem großen europätfchen Krieg gelingen, die nationale 
Sahne auf dem Kapitol aufzupflanzen, fo würde der dur die Sefuttenerziehung 
den Italtenern zur andern Natur gewordene Phrafenfhwindel wieder zur Herr» 
Ihaft gelangen. Statt feft im Boden des Vaterlandes zu wurzeln, würben bie 
Italiener den republifanifhen Luftballon befteigen, um über Länder und Bölker 
bin’ Propaganda zu machen. Denn Rom tft als Mittelpunkt ver alten Welt heute 
noch das Schwungbrett jeder Propaganda. Auch das neue Italien, bevor es zu 
männlicher Entwicklung gereift ift, darauf geftellt, würde der Verſuchung nicht 
widerftehen können und ohne Zweifel einen unfanften Fall thun. Wenn Italien 
m ter georbneten Kulturarbeit vorwärts fchreitet, wird es Rom allmählig italient- 
firen und auch über den radikalen Partikulariesmus Meifter werben, welder ihm 
noch viel gefährlicher werben könnte als Mazzinis republitantfche Einheitsphrafe, 


640 Nachtrag. 


Auch in Venetien zeigt die zuſammenregierte, ſeit dem Frieden von 1859 
in paffive Refignation verſunkene Bevöllerung nur in Städten wie Bicenza, der 
Heimat des trefflihen Finanzmannes Bafini (F 1864), die Kraft der Initiative. 
Daher find mehrere der beſten Männer Italiens in die höheren Aemter Benetiens, 
3 8. Torelli in die Präfektur von Venedig, gefettt worden. Zur Hebung ber 
Binanzen wird das verarmte Land wenig beitragen. Der finanzielle Ruin 
fommt außer der mangelnden Gewöhnung des Italieners an moderne Arbeit, 
außer den Verjchleuderungen ber proviforifhen Negierungen von 1860 und 
1861, am meiften von der Unmilligfeit des Südens, die Laſten der ihm er- 
rungenen Freiheit zu tragen. Durch Gahrhunberte lange Sklaverei äußerft miß- 
trauiſch, hetzten die fonft fih Hafienden Neapolitaner und Stcilianer fi in das 
Vorurtheil hinein, fie feien mehr belaftet als die nördlichen Provinzen; kaum ins 
Parlament getreten, verhinderten fie daher eine geordnete Finanzgeſetzgebung; in 
ben Rulturmitteln fehr vernachläſſigt, heifchen fie vom Staat große Summen zu 
beren Herftellung und bezahlen ihre Steuern fehr mangelhaft. Die Rationalgarbe 
Heiner Städte hat anfangs egen das barbariſche Broletariat des Briganten- 
thums fich, ihre Familien, ihr Vermögen heroiſch geopfert; der Präfelt von Neapel, 
der Gefchichtfchreiber Gualterio, der General der Nationalgarve Carrano, einer 
ber gediegenen Degen Garibalbis, gaben Beiſpiele aufopfernbfter Thätiglelt. Aber 
Ferdinand IT. fagte nicht umfonft, wer die VBourbonen verdränge, werbe ein Jahre 
hundert Danaidenarbeit haben. Bon dieſen altfpantfchen Ländern aus droht fpante 
fhes Berberben auch das Übrige Italien zu erfaflen. Werden ſtarke Charaftere 
und feine Geifter, wie biejenigen, welche Italien gefchaffen, aber fi dabei großen- 
theils aufgerieben haben, das Boll zu heroiſcher Ausdauer aufrichten? — Sehr 
viel liegt an der längeren Lebensdauer des Könige, obgleich fein ſoldatiſcher 
Sinn nicht gewillt if, Italien als Land frieblier Kultur von den Kriegen 
Europa’s fern zu halten, wie fchon im Mai 1848 Correntis Programm für 
Italien lautete. 

Deutſchland könnte ſich mit dieſem Programm ſehr zufrieden geben. Denn 
je mehr Italien, z. ®. von dem orientaliſchen Kriſen verlockt, fich durch eine un⸗ 
ruhige äußere Politik finanziell ſchwächt, deſto ſicherer wird es dad Werkzeug ber 
franzöſiſchen Politik. Wenn Italien ſich von dem Mißtranen gegen die Kraft bes 
fih nun auch feinerfeits einigenden Deutfchlands leiten Iieße, fo würde e8 feinem 
alten Unglüd verfallen und wieder die Wahlftatt deutfcher und franzöflfcher Heere 
werben. Diefes Mißtrauen iſt gewedt worben durch die fehr verſchiedenen Waffen- 
erfolge Preußens und Italtens im Feldzuge von 1866, in weldem Italien trotz 
ungeheurer mehrjähriger Geldopfer und vieler Tapferkeit erfahren mußte, baß im 
Kriege wie im Frieden der Durchſchnitt feiner Lenker und Beamten nidt jene 
Einheit der Intelligenz und des Willens befigt, welde nur von langer, ftrenger 
Arbeit fommt. Das durch biefe Erfahrung mehr als nöthig erſchütterte Selbft- 
vertrauen muß einer Selbfterfenntniß weichen, welche die Eroberung Italiens für 
die Kultur vorerft als das einzige Ziel mit feſtem Entſchluſſe ins Ange faßt. — 

Literatur. C. Balbo, sommario della storia italiana dalle origini fino 
ai nostri tempi. ediz. decima. Firenze 1856. L. C. Farini, lo stato romano 
dall’ anno 1815 al i850, Firenze 1853, vier Bände. F. Ranalli, le storie 
italiane dal 1846 al 1853, Firenze 1855, vier Bände. Nic. Bianchi, storia 
documentata della diplomazia europes in Italia dall’ anno 1814 all’ anno 
1861. Torino. Der dritte Band 1867 reiht bis 1846. Nic. Bianchl, il conte 
Camillo di Cavour, documenti editi e inediti, terza edizione. Torino 1803. 














Italien. 641 


Henri Leo, Geſchichte der italieniſchen Staaten (bei Heeren nnd Ulert), Ham- 
burg 1829 bis 1832, fünf Bände. H. Reuchlin, Geſchichte Italiens von ver 
Bründung ver regierenden Dynaſtieen bis zur Gegenwart (in ber von Hirzel 
verlegten Staatengefhichte der neuften Zeit) 1859—60, zwei Bände. R. Rey, 
bistoire de la renaissance politique de l’Italie 1814—186i. Paris 1864, 
Correspondence politique de Massimo d’Aseglio par Rendu, Paris 1867. 
Jacini, Ricordi ed impressioni. Auch unter dem Titel: Due anni di politica 


italiana dalla conv. di Settembrb alla liberasione di Venezia. 1608: ein 


III. Verfaſſung. 

Die Berfaffung, welde der König Karl Albert am 4. März 1848 für 
das Königreih Sardinien erließ, iſt heute noch die Verfafſung des neuen 
Königreiihs Italien. Am Abend desfelben Tages, als die Berfafjung verheißen 
wurde (8. Febr.) langte die Nachricht, daß Louis Philipp geftürzt und in 
Frankreich die Republik eingeführt worven fei, in Turin an. Die Pariſer Ereig- 
niffe blieben nicht ohne Einwirkung auf die Berfaflung, welcher die franzöfiſche 
Charte und die belgiſche Berfaflung als Vorbild dienten. 


Rod wird in Art. 1 die röomiſch⸗katholiſche Religion als einzige Religion 


bes Staats erflärt, aber den übrigen Kulten geſetzliche Duldung zugefihert. Erft 
am 19. Juni 1848 fam das Ergänzungsgefeg zu Stande, weldhes die bürger- 
en und die politifchen Rechte für unabhängig von einem beflimmten Kultus 
erflärte.. 

Die Staatsform fl die repräfentative Monarchie: das Thronfolge⸗ 
reiht das falifche Geſetz. (Art. 2.) Die geſetzgebende Gewalt wird dem König 
und den beiden Kammern (Senat und Abgeordnete) in Berbindung zugefchrieben 
(3), dem König allein aber die vollziehende Gewalt. Er ifl das Haupt bes 
Staats, er bat den Oberbefehl Über Heer und Ylotte, und hat nah außen 
repräfentative Autorität. Verträge, welche die Finanzen beläftigen oder das Gebiet 
äubern, beblrfen ver Zuftimmung der Kammern. (5.) Der König hat das Recht 
zn den Staatsämtern zu ernennen, und das Verordnungsrecht. (6.) Er fanktionirt 
und promulgirt die Geſetze (7) und übt das Begnadigungsrecht aus. (8.) Er be⸗ 
ruft die Kammern aljährlih und kann die Deputirtenlammer auflöfen (9). Das 


Recht der Imittative zu Geſetzen fteht dem König und jeder der beiden Kammern 


zu. (10.) Ueber die Regentichaft enthält die Verfaſſung genaue Befttimmungen (11 
bis 17.) Der König muß bei dem Regierungsantritt die Berfafiung beſchwören 
(23). Die Artilel 24—32 enthalten eine kurze Darftelung der widtigften Grund⸗ 
rechte, als Rechtögleichheit, verhättnigmäßige Steuerpflicht, perſönliche Freiheit, 
Hausfrieden, Preßfreiheit mit dem merkwürdigen Borbehalt, daß die Bibel, Kate⸗ 
hismen, liturgiſche nud Gebetbüdher unter die biſchöfliche Cenſur geftellt bleiben 
(28). Schuß des Eigenthums, aber gefeglihe Enteignung. Keine Steuern ohne 
Rammerbewilligung, Gewährleiftung der Staatsſchuld, Vereinsrecht. 

Die Mitglieder des Senats werden von bem Könige auf Lebenszeit aus 
einer Reihe von Kategorien ernannt: Biſchöfe, Präfidenten der Deputirtenlammer, 
Deputirte während mindeſtens 3 Regislaturen oder 6 Jahren, Minifter und Staats- 
jetretäre, Geſandte, obere Iuftizbeamte, Generale und Admirale, Staatsräthe und 
höhere Regierungsbeamte, Mitglieder ver Akademie und der oberften Schulbehörbe, 
Männer von eminenten Bervienften, Reiche, die feit 3 Iahren mindeftens 3000 Fr. 
jährliche direfte Steuern von ihren Gütern ober Ihrer Induſtrie bezahlt haben. Die 

Bluntf@li und Brater, Deutſches Staats⸗Worterbuch. Al, 4 


— 





642 Nachtrag. 


Prinzen des königlichen Hauſes figen von Rechts wegen im Senat (33. 34.) Der 
Senat iſt auch Staatsgerichtshof bei Hochverrath und Minifteranklagen (36). 

Die Deputirtentammer wird durch Bollswahlen befegt. Das noch 
geltende Wahlgefe ift vom 17. December 1860. Jever ttaltenifche Staatsange- 
hörige von 25 Jahren, der Iefen und fchreiben kann und minbeftens 40 Lire 
jährlihe Steuer bezahlt, iſt wählbar; außer dem aber auch eine große Anzahl 
theils von Gebildeten, theils von Handelslenten und Induſtriellen und folchen 
Perſonen, welche mindeſtens 600 Lire Staatsrente ſeit 5 Jahren beziehen. Im 
Jahr 1860 war Italien in 443 Wahlkreiſe vertheilt, deren jeder einen Deputirten 
wählte. Seit dem Erwerbe von Venedig und Mantua iſt bie Zahl um 50 alfo 
auf 493 Mitglieder erhöht worben. Die Wahlform iſt ſchriftlich und geheim. 
Nicht wählbar find die Löniglihen Beamten und Ungeftellten, mit Ausnahme der 
Minifter, Staatsfelretäre, Staatsräthe, Präfiventen und Räthe ver oberflen Ge- 
richtshöfe, Generalfetretäre der Minifterten, oberften Militärperfonen, der Mit⸗ 
glieder einiger ‚oberften Verwaltungsbehörden und ordentlichen Univerfitätspro- 
fefleren. Nicht wählbar find die Geiftlihen und Mitglieder der geiftlihen Kapitel 
und Kollegten, keinenfalls dürfen mehr als ein Fünftheil der Stellen mit Beamten 
befettt werden. Die Deputirten werden je auf 5 Jahre gewählt (42). Die Depu⸗ 
tirtenfammer bat das Recht der Minifteranflage (47). 

Die Mitglieder beider Kammern erhalten feine Taggelver noch Entſchädigung 
(50). Die öffentlide Meinung tft entſchieden für bie Diätenlofigkeit, obwohl man 
den Mitglievern zumeilen vorwirft, daß fie fih durch ihre Proteltionen von 
Klienten bei den Miniftern in anderer Weife en machen. Sie find nicht ver- 
antwortli für ihre Yeußerungen (51). Die Berhanbinngen find öffentlich. Es 
muß aber jeberzeit die Hälfte der Mitglieter anweſend fein (53 und 54). Die 
Geſetzesentwürfe werden durch Ausſchüſſe vorberathen. (55.) Wenn einer ber drei 
Faltoren das Gefeg verwirft, fo kann e8 in berfelben Sitzung nicht wieder vor- 
gebracht werben (56). 

Der König ernennt und -entläßt die Minifter. Ste haben in der Kammer, 
deren Mitglieder fie’nicht find, kein Recht ver Abftimmung. Aber fie können der 
Berathung beimohnen und ihre Meinung äußern. (65, 66.) Sie find verant- 
wortlih. Gefege und alle Regierungsakte bedürfen der Unterjchrift eines Mi⸗ 
nifters. (67.) 

Die Nehtspflege wird im Namen das Königs duch Königlihe Richter 
verwaltet. Sie werben nad) 3 Jahren unabfegbar. Die Rechtspflege ift öffentlich. 
(68— 72.) Die Schwurgerichte find für gemeine Verbrechen und für Preßvergehen 
fett 1859, in weldhem Jahr über Strafreht und Strafproceh neue Gefegbüder 
erlafien worden find, eingeführt, großentheils nad franzöfifhem Mufter. Für bie 
Einheit der Eivifrechtöpflege forgt ein Kaflattonshof. Ein Gefeg zur Reform des 
ganzen Gerichtöwefens wurde im Jahr 1868 dem Parlament vorgelegt, aber nicht 
erledigt. 

Die wichtigfte und für den neuen Staat ſchwierigſte Frage bezog fi auf 
das Verhältniß der Provinzen und Gemeinden. Wenn man fich erinnert, 
bag im Mittelalter vorzugsweife die ttalienifchen Städte fih zu ſelbſtſtändigen 
und fogar mädtigen Staaten entwidelt hatten und fpäter Italien in eine Anzahl 
von befonderen Fürſtenthümern getheilt war, mit befonderen Inftitutionen 
und Gefegen, jo wird man die Schwierigkeit verftehen, ven beiden Hauptintereffen 
gerecht zu werden, einmal der unentbehrlihen Einheitver Staatsgewalt 
in Gefepgebung, Regierung und Berwaltung und ſodann dem Bedürfniß einer 








Nalien. 643 


gaßen Selbſtſtaändigkeit und Selbſtverwaltung ber Provinzen und ber 
jädte. Die Berfaffung von 1848 behält das Alles weiteren Gefegen vor. 

Die Krifle von 1859 benügte das Miniftertum Rattaz zi, kraft der außer⸗ 
ordentlichen Vollmacht, die es erhalten hatte, ein organifches Geſetz vom 29. OH. 
1859 zu erlafien. Jede Provinz erhielt einen politifhen Gonverneur und einen 
ebminiftrativen Untergouverneur. Indeſſen wurde biefer Dualismns ſchon 1861 
wieber beſeitigt. Gr hatte die Einheit geftdrt. Die Provinzen waren den fran- 
zoſiſchen Departements vergleichbar und zugleich Präfelturen. Das Land warb fo 
in 68 Provinzen getheilt. 

Diefe in franzbfiſch · centraliſtiſchem Sinne gemachte — entſprach der 
Denkweiſe und den Vedürfniſſen der größeren Gemeinſchaften nicht. Daher verfuchte 
es der Miniſter Minghetti (Ordinamente amministrativo del regno d’Italia 
Torino 1861, and ins franzöflfche überfegt, Parts 1862), die Inftitution von 
fogenanmten Regionen einzuführen, welde je eine Anzahl fogenannter Provin- 
zen ober vielmehr Departemente zu einer größern Einheit zufammenfaßten, Es waren 
damals, wie wir aus privater Mitthellung wiſſen, folgende Regionen beab- 
fichtigt, welche eher Provinzen genannt zu werben verbienten, als die fo benann- 
ten Departemente: Sicilien, mit dem Centrum Palermo, Calabrien mit 
Eatanzaro, Apulien mit Foggia ober Bart, Neapel mit ven umliegen- 
den Kreifen, die Abruzzen und Umbrien mit Ancona, das Gebiet von 
Rom, Toscana und das fürmeflih des Appennins gelegene Umbrien mit 
Florenz, bie Romagna mit Bologna, Emilia mit Parma, Bene- 
tien mit Benebig, bie Lombardeimit Mailand, Piemont mit Turin, 
Ligurien mit Genna, bie Infel Sardinien mit Cagliari. Die Region 
wurbe als obligatorifches Conforzio der einander nahe ſtehenden Eh betrachtet. 
Ste folte einem Gonverneur unterflellt werben und zugleich für Inneres, 
Unterricht, Bffentliche Arbeiten und Aderbau, thellweiſe auch die Finanzen eine 
eigenthümliche Bedeutung erhalten. Es follte an die hiſtoriſche Erinnerung ange 
Mnüpft und eine provinzielle Zwiſchenſtufe zwiſchen der Gemeinde, dem Kreis und 
dem Staat gewonnen und bie größern Städte als Gentrum des Provinziallebens 
bewahrt, und bem Uebermaß der Gertralifation dadurch entgegen gearbeitet wer« 
den. Allein Minghettt vermochte feinen Plan nit durchzuführen. Befonber wider 
fegten fih Poerio und andere Süplänver aus Furcht, daß die bourboniſchen 
Reftaurationsintriguen in den fühlichen Regionen einen Stügpunft finden könnten, 
Im Süben blleb das Brigantenthum ein ſchweres Leiden, das vom bem bour- 
boniſchen Hofe in Rom unterftägt wird. 

Endlich wurde das Gefeg vom 20. Mär; 1865 (Legge Comunale e Pro- 
vinciale) promulgirt. Das Königreiä iſt in 68 Provinzen, In Kreife (circondari), 
Bez irke (mandamenti) und Bemeinven (communi) getheilt. In jeder Pro⸗ 
vinz iſt ein Präfekt und ein Bräfelturrath von 3—5 Mitglievern; in 
jedem Kreis ein Unterpräfelt. Es find das Organe der Regierung in ber 
Brovinz. Danach bildet aber die Provinz eine Kör 
Gelöfiverwaltung. Sie hat einen Provinzialra 
je nad ihrer Größe von über 600,000 oder unter 
werben gewählt von den Urmählern der Bezirke. T 
wieder einen Brovinzialausfhuf (Deputazion 
Mitglieder unter / dem Praſidium des Präfelten. 

Jede Gemeinde hat einen Gemeindera 
(Consiglio communale) und einen Gemeindeaut 


644 nachtrag. 


Der erſtere beſteht aus 80 Mitgliedern in Städten von mehr als 250,000 Ein- 
wohnern, 60 Mitglieder in Städten über 60,000 Einwohnern u. ſ. f., in den 
Meinften Orten 15 Mitglieder. Der Ansihuß befteht aus dem VBürgermeifter 
(Sindaco) und höchſtens 10 Beiſitzern. Die erftern werden von den Bürgern ge 
wählt, vie legtern von der Verſammlung der erftern. Den VBürgermeifter erwählt 
ber König aus den Mitgliedern des Gemeinvelollegiums auf 3 Jahre. 
Gegenwärtig (Ende Dec. 1868) liegt dem Parlament ein nener Geſetzent⸗ 
wurf über die Organtfation der Stantsverwaltung vor, ber in feinen Grund» 
beftimmungen Ausficht auf Annahme hat. Die Miniſterien werden in Diviflonen 
etbeilt nach Maßgabe der Gegenſtände, welche zu behanveln find. Neben ven 
inifterten Lönnen beſondere Centralverwaltungen durch Geſetz geihaffen werden, 
deren Borfteher (Generaldirektoren) dem Minifter verantwortlih find. Die Mi- 
nifter und vie Generalbireltoren veranftalten Infpeltionen ver ihnen untergebenen 
Behörden, fo oft es ihnen geboten erſcheint; zur Abhaltung dieſer Infpektionen 
find nicht, wie bisher, fländige Infpektoren berufen, ſondern es werben damit in 
jevem Fall die tauglich fcheinenden Beamten eigens betraut. An der Spige ber 
Berwaltung in den Provinzen ftehen bie Präfelten; für Leitung der von bem 
Finanzminiſterium abhängigen Berwaltungszweige werben jedoch für jede Provinz 
Finanzbeamte ernannt. Eine Reihe von Befugnifien, womit bisher die Central⸗ 
behörven betraut waren, geht auf bie Präfelten über. Die oben erwähnten Prä- 
fetturräthe, Kollegien, vie bisher dem Präfelten zur Seite flanden, werden auf 
gehoben. Unter den Präfelten und Yinanz-Intenvanten ſtehen ald Exekutivbehörden 
bie Regierungsvelegationen. Diefelben übernehmen nit nur bie Funktionen der 
Unterpräfelturen, welche abgefchafft werben, fonbern auch die Herftellung und 
Führung der Steuerlatafter. Die vielfach geforverte und von der Regierung zu⸗ 
geficherte Erweiterung der Selbftverwaltung der Gemeinden und Provinzen bleibt 
einem beſonderen Geſetz vorbehalten, das namentlih auch die Ernennung ber 
Bürgermeifter durch die Regierung und den Vorſitz des Präfelten im Provinzial 
ausfhuß befeitigen fol, Die Verwaltung wird durch die obigen Beſtimmungen 
becentralifirt,, infofern tie Präfekten mit einer Reihe von Gefchäften betraut wer⸗ 
den, bie bisher von ben Gentralbehörven erlebigt wurden; die Erfegung der Unter- 
präfefturen durch faft die voppelte Anzahl (600) Negierungsvelegationen fol vie 
unteren Berwaltungsbehörben den Bürgern räumlich näher bringen, und dadurch 
ihre Wirkſamkeit einfacher, raſcher und wohlfeller machen. Man hofft, jener Ver- 
mehrung ungeachtet, im Ganzen 3—400 Behörden und 4 Millionen jährlich zu 


paren. 

IV. Statiftifches. 

Das Heutige Königreih Italien umfaßt ein Gebiet von 5161,,, geogr. 
Meilen, vefien Bevölkerung nad den Zählungen von 1862 (neuere find nicht 
vorhanden) 24,273,776 Seelen betrug. Areal und Bevölkerung vertheilen ſich 
folgendermaßen auf die einzelnen Landestheile: 

Seogr. DMeilen. Einwohner. Auf die [JMeile. 
5671 


Piemont und Ligurien 623,43 3,535,736 

Lombarbet 387,14 2,998,181 7742 
Emilia 404,28 2,146,567 5562 
Marten 176,44 883,073 5005 
Umbrien 174,9 613,019 2933 


Toscana 404,4 1,826,334 4516 








Stolien. 


Neapel 1549 5, 6,787,289 4381 
Sicilien 631,08 2,392,414 4505 
Benetien 469,94 2,603,099 5540 


Unter 8564 Gemeinten befinden ſich 133 Stäbte mit mehr als 10,000 S., 
bie volkreichſten find: Neapel mit 419,000, Mailand 197,000, Turin 181,000, 
Palerno 168,000, Genua 128,000, Florenz 115,000, Venedig 114,000 ©, 
Darauf folgen Bologna, Livorno, Catania, Meſſina, Verona, Padua mit mehr 
ale 50,000 S. Seit 1862 haben fih übrigens bie obigen Zahlen theilmelfe 


jedenfalls ſtark verändert. 


Auch die folgenden Ziffern über Budget und Staatsſchuld nad dem Stande 

von 1868 werben mit Nüdfiht auf die umfaflenden Finanzmaßregeln der neueften 
Zeit — Verpachtung ber Tabakregie, Veräußerung der Kloftergüter, Einführung 
ber Mahifteuer u. ſ. w. — ſchon für das Jahr 1869 nur geringen Werth haben. 


Die Einnahmen waren für 1868 veranfhlagt mit 


1. Ordentlihe Einnahmen France. 
Eintommenfteuer vom unbeweglichen Eigentyum 158,622,295 
n „ beweglichen „ 85,651,123 
Abgaben bei Beſitzübertragungen 81,798,110 
Zölle 79,660,000 
Ronfumtionsftenern 63,000,000 
Regalien (Salz, Tabak, Pulver) 162,600,000 
Lotterie 50,130,000 
Staatspomänen 19,073,837 
Einnahmen aus dem öffentlihen Dienft 33,479,561 
Zufällige Einnahmen | 1,777,363 
Rückzahlungen zc. 33,924,191 
7169,716,589 
2. Uußerorventlihe Einnahmen 21,196,139 
790,912,728 


Die Ausgaben warm veranſchlagt: 
1. Orbentlige Ansgaben im Miniſterium Francs. 


der Finanzen 618,698,946 
der Juſtiz 31,090,144 
bes Auswärtigen 4,666,310 
des Unterrichts 15,199,843 
bes Innern 40,176,9856 
der Bffentlihen Arbeiten 88,687,900 
des Kriege 135,889,710 
der Marine 28,256,745 


des Aderbaus und Handels 4,006,795 
915,472,378 


2. Uußerorbentliche Ausgaben 67,410,038 


982,882,416 


Folglich 191,969,688 Fr. Defictt. Die Staatsfhuld betrug Ende 1867: 
6,775,408,158 Fr. mit einem Zinſenaufwand von 332,796,857 Wr. Hiezu 
kamen 18,022,331 Sr. ald der vom Königreich Italien übernommene Antheil an 


der Schuld des Kirchenſtaates. 


048 Nachtrag. 


Das Landheer ſollte 1869 auf dem Friedensfuß 183,431 Mann zählen, 
darunter 80 Reg. Linieninfanterie zu 94,800 M., 5 Reg. Scharfihügen zu 
13,830, 19 Reg. Kavallerie zu 14,326, 9 Reg. Artillerie zu 15,597, 28 Romp. 
Genie zu 2320 M. und 19,509 M. Genparmerie. Auf dem Kriegsfuß 573,721 M. 
mit Einfhluß von 197,000 M. Referve. 

Die Flotte zählt 

22 gepanzerte Dampficiffe mit 272 Kanonen und 11,380 Pferdekräften. 

35 andere Schranbenfhiffe „ 508 „ „» 9,940 n 

33 Raddampfer „ 122 " „» 7,850 „ 

9 Segelichiffe „ 1390 „ 

Davon find friegstaugli 75 Schiffe mit 991 Gefchügen und 24,330 Pferdekr. 
Dfficterstorps der Flotte, Matroſen, Hanbwerler zc. 12,338 M. Marinetruppen: 
2 Reg. Infanterie zu 6000 Dann. 

Der Handelsverkehr weist im Jahr 1866 (one Venetien) eine Geſammt⸗ 
einfuhr von 770,2 und eine Ausfuhr von 451,9 Mil. Sr. nad. Die wichtigften 
Bertehrsländer, theils für die Einfuhr, theils für die Ausfuhr waren 


Einfuhr Ausfuhr Einfuhr Ausfuhr 
Srankeiid 263,5 152,8 Schweiz 65,8 68,6 
England 191,5 73,9 Türkei 34,4 14,6 
Oeſterreich 87,2 39,5 Süpdamerila 5,6 32,2 


Die Handelsmarine zählte Ende 1866 16,210 Schiffe von 717,364 Tonnen, 
darunter 99 Dampfichiffe. (Mad den im Goth. gen. Taſchenb. für 1869 mitge⸗ 
theilten officdelen Angaben.) 


Japau. 
Machtrag zu Band V S. 400. 

Die Eröffnung ober Wiedereröffnung Japans, vie erſt am 23. und 31. März 
1854 durch den Vertrag der Bereinigten Staaten mit dem Taikun erfolgte, an 
den fi aber noch in demfelben Jahre ein gleicher mit England und bald 
au folhe mit Frankreich und Rußland anfchloffen, ift noch eines fo jungen 
Datums und war von der früheren Verbindung Europa’s mit dieſem Land durch 
einen fo langen Zwiſchenraum (ſeit 1638) volfländiger Abgefchlofienheit, während 
welcher nur die Holländer den ſchwachen Faden in fehr untergeorbueter Stellung 
aufrecht erhielten, getrennt, daß es nicht zu verwundern iſt, wenn bie Kenntniß 
der europälfchen Regierungen und ihrer Vertreter von den Ginrichtungen und Zu- 
fländen des Infelreihs eine fehr mangelhafte war und ihre erften Schritte eben 
darum nur zweifelhafte Reſultate ergaben. Indem fie ihre Verträge mit dem Taikun 
von Jeddo abichloffen, glaubten fie, viejelben mit dem rechtmäßigen und thatſäch⸗ 
lichen Beherrfcher des Landes verhandelt zu haben. Allein bald zeifte es fi, daß 
ber Taikun weder das eine noch das andere war. Doc dauerte es ziemlich Lange, 
bis .fie darüber ind Reine famen, und nur bie Schwierigleiten, auf welde bie 
Ausführung der abgeſchloſſenen Verträge ftieß, waren es, die darauf führten. 

Man erkannte endiih, daß der Taikun nicht der weltliche Katfer von Iapan 
ift, wie man bisher geglaubt hatte, und daß biefer Fürft auch nicht unabhängig 
in feiner Macht ift und zu für das ganze Reich gültigen Verträgen mit and« 
wärtigen Mächten Teineswegs befugt war. Bom erften Rang ſank er in dem zweiten 
herab und heute weiß man, daß auch biefer zweite ihm nicht gebührte, Thatfächlich 





Japan. 647 


it Iapan kein Kalferrei unter einer einzigen Regierung, fondern vielmehr eine 
Art feudaler Konföderation, deren Oberhaupt der Teneſchi oder Mikado if. Um 
ihn gruppiren fich die mächtigen Fürſten des Landes, die Daimijo’3, deren jeder 
volle Oberherrlichkeit über feinen Staat, feine eigene Armee, Marine, Finanzver- 
waltung, Aominiftration und Juftizpflege befigt. Der Taikun Tonnte ihre Grenzen 
bei Gefahr der Kriegserllärung nur mit ihrer Erlaubniß betreten; er war bloß ber 
Bevollmächtigte des Mikado und nahm in der Adminiftration den vierten, in ber 
Reihenfolge der Ehrenftellen den fünften Rang ein. Seine Gewalt war ganz und 
gar nicht autonom und es ftand Ihm überhaupt eine ſolche nur in fo weit zu, als 
er als Bevollmächtigter handelte. Als Fürſt ift der Tailun der Erſte einer Familie, 
die gegen Anfang des 17. Jahrhunderts jene Gebiete verwaltete, welde die Ein- 
nahmen der Eentralregierung ausmachten. Die lange Jahre beftandene Ufurpation 
biefer Gebiete machte aus dem Taikun einen Fürften, der auf gleihem Fuße mit 
den Groß⸗Daimijo's fteht, konnte aber nichts an feiner ſtaatsrechtlichen Stellung, 
die Teine felbftändige war, no an der Würde des Milabo ändern, welcher Chef 
ber japanifchen Konföveration blieb, wenn er auch thatfählich vie Ausübung feiner 
Gewalt dem Taikun als Bundesfeldherrn umd als einer Art von Major domus 
des Reichs überlafien Hatte. Uebrigens war der Tailun in dem von ihm verwal« 
teten Gebiete keineswegs allmächtig, fondern hatte es mit zahlreichen Lehensvaſallen 
zu thun, die ihm gegenüber dieſelbe Autonomie thatfählih in Anfpruh nahmen, 
bie er gegenüber dem Mikado auszuüben ſich gewöhnt hatte, Endlich bildeten bie 
unter ber Verwaltung des Tailun flehendeu Gebiete fein zufammenhängenves 
Ganzes wie die der meiften Daimijo’s, fondern find der Natur ihres Urfprungs 
gemäß über die ganze Ausdehnung des Inſelreichs zerftreut. Nah unten und nad 
oben ſah fi fo der Taikun in der Ausübung feiner wirklichen und angemaßten 
Gewalt vielfach beſchränkt und bedroht, und dieß erzeugte eine Unſicherheit in 
feinem Benehmen, deren die Fremden bald Inne wurden. 

Den entjheidenden Anſtoß gab indeß exft die Haltung ber Daimijo's gegen 
den Zaifun. In den Unterhandlungen und Verträgen hatte fi der Taikun in 
ver That ald Sonverän benommen, war von den Bertreiern der europäljchen 
Mächte als folder behandelt worben und war auf dieſe Behandlung vollftänpig 
eingegangen. Das erregte natürlich die Eiferfucht der andern Damijo's und rief 
ihren Widerſtand hervor. Dazu kamen noch antere Motive. Indem der Taikun 
mit den europäifhen Mächten Verträge abſchloß und denjelben eine Anzahl von 
Häfen theils fofort eröffnete, theils für fpätere Zeit zuficherte, Konnte er, bes 
Fetiper Weiſe nur über ſolche Häfen verfügen, die auf dem von ihm verwalteten 

ebiete lagen und über deren Oeffnung oder Schließung er thatſächlich zu ver⸗ 
fügen im Falle war, Uber wie es ſcheint ging er babe auch von ber weiteren 
verftändigen Erwägung aus, daß die Vortheile der neuen Handelsverbindung eben 
barum auch ausſchließlich oder doch zunächft und in Überwiegendem Maße dieſem 
feinem Gebiete zu Gute kommen und ihm fo allmälig ein Uebergewicht über bie 
anderen Daimijo's verfchaffen würden, nach dem er firebte, deſſen er aber vielfach 
noch entbehrte. Die Daimijo's ihrerfelts zeigten fich daher theilmeife dem Verkehr 
mit den Fremden abgeneigt, theils erflärten fle ſich wenigftens dagegen, daß dieſer 
Verkehr von dem Taikun gewiflermaßen monopolifirtt werde. Die Differenzen 
ſcheinen unmittelbar nad der Oeffnung bes Landes ſchon um bie Mitte des 
vorigen Jahrzehents ausgebrochen zu fein und fleigerten fidy feit dem Anfange des 
laufenden bis zur Gefahr eines gewaltfamen Zufammenftoßes. Endlich im Jahr 
1867 befchloffen die Daimijo's, den Taikun nicht weiter als den Bevollmächtigten 


648 | Nadıtrag. 


des Mifado anzuerkennen. Zunähft beriefen fie bie Mitglieher ihrer Familien, bie 
in Jeddo, dem Sig tes Taikun nnd der biäherigen centralen Regierung refidirten, 
in ihre Staaten zurüd und erflärten, um ein Gegengewicht gegen die Anficht ber 
Fremden, die Jeddo, obgleih nur die Hauptflabt der Staaten des Taikun, für 
diejenige des ganzen Reiches hielten, zu ſchaffen, in feierlicher Sitzung vielmehr 
Kioto, die Hauptftabt des Mikado als folde. Cine weitere feierlihe Exrflärung 
fegte die Stellung des Taikun, als des Bevollmächtigten der Eentralregierung, 
felber feft und daß feine Vollmacht nur fo lange dauere, als er bie doppelte Zu⸗ 
flimmung des Milado und ber vereinigten Delegirten der Daimijo's erhalten 
bätte. Schon vorher, am 24. November 1865, war die vom Taikun zugefagte, 
aber bisher noch nicht verwirflichte Eröffnung von Ohaſaka, ver Haupthandels⸗ 
ſtadt tes Reichs, nicht von jenem, fontern von dem durch die mädhtigften Daimijo's 
berathenen Milado auf ten 1. Januar 1868 verbürgt worden. So fah fi der 
Taikun thatfächlih und rechtlich nicht bloß im feiner den Fremden gegenüber ange 
maßten, fonbern aud in feiner Eicher anerfannten Stellung bebroht und fand fid 
gegen Ende des Jabres 1867 bewogen, bie Madıt, die feine Familie ſeit Jahr⸗ 
hunderten inne gehabt, dem Nachkommen ver uralten Kalferbynaftie in Kioto, dem 
Milado, förmlich zurädzugeben und auf eine Revifion der Berfafiung zu bringen. 
Dieſer Schritt hatte nicht die Folgen, die fi der Talkun davon verfprodden zu haben 
fheint. Die Daimijo's nahmen ihn beim Wort, die möächtigften derſelben ver 
fammelten fi in Kioto und verftänbigten fi über eine neue Regierumgsform. !) 
In dieſer fand der Er⸗Taikun gar keine Stelle mehr. Das Oberlommanvo über 
tie Reichätruppen wurde Ihm genommen umb bie neue Regierung befland ganz 
aus dem Taikun feindlihen Mitgliedern. Diefelbe erfannte den Milkado als ben 
alleinigen und oberften Herrſcher von Iapan an. Unter ihm flieht eine Urt Premier, 
Sofai genannt, zu welder hoben Etellung ein naher Verwandter des Milado 
ernannt wurbe. Ihm umtergeorpnet find zwei Kammern, die erfle, Gojio genannt, ' 
eine Art Reichsrath, in welchem bie höheren Daimijo's der Färften figen, bie 
zweite, Sango genannt, vertritt den nieberen Adel, da eine Mittelllaffe in Iapan 
noch nicht anerfannt iſt. Der bisherige Taikun ſank auf dieſe Welfe zu dem Range 
eines gewöhnlichen Daimijo herab; es verfiand fi daher von felbfl, daß er mit 
diefen Reformen nicht eimverfianden war, und in der That bradden im Januar 
1868 die Feindſeligkeiten aus. Die Truppen des Taikun beflanden meift ans 
Soldaten, welde feit Jahren von franzdfifchen Offizieren erercht und felbft mit 
Ehaffepotgewehren nnd gezogenen Kanonen bewaffnet waren, allein fie wurben 
ſchlecht geführt, einer der Fürſten, die fi dem Taikun angefchloffen hatten, ging 
im entfheibenden Momente zum Feind über und bie Anhänger des Mikado waren 
überall fiegreich. Nach ven neueften Nachrichten Kat ſich jedoch das Kriegsgläd 
gewendet und der Ausgang diefer Kämpfe iſt noch nicht abzufehen. Inzwiſchen 
batten ſich bie Vertreter der verſchiedenen europälſchen Nationen mit dem Mikado 
in Verbindung gejegt und von biefem bie beſtimmte Erklärung empfangen, daß 
er keineswegs beabfichtige, die Verträge mit dem Taikun in Fonge zu ftellen, 
fondern vielmehr entjchloffen fei, fie auch feinerfeits zu beftätigen. Jedenfalls hat 
ber Bürgerkrieg in Japan bis zum November 1868 nicht aufgehört, aber er findet nicht 
mehr zwiihen venfelben Gegnern ftatt. Der Talkun und feine Familie fliehen heute 
außerhalb des Kampfes. Es find die großen Daimijo's des Nordens, welde jetzt 





1) Augsb. Adgem. Zeitung 1868 Nr. 113. Qgl. „Unfere Zeit. 1888 Heft 19, 20. 


Japan. 849 


dem Säüdbunde, der fi unter die Fahne des Milado geftellt Kat, Blderſtand 
leiften, Die ganze Lage der Dinge iſt indeß vielfach durchans unklar. Haben bie 
Fürften des Nordens eima bie Waffen ergriffen, um die Autorität des Taikun 
ganz oder theilweiſe wieder herzuftellen? Das iſt doch kaum wahrſcheinlich. Ober 
weigern fie fidh vielleicht, das Anfehen und die Oberhoheit des Mikado anzu⸗ 
ertennen? Auch das fcheint nicht der Ball zu fein; denn indem fie feine Armeen 
befämpfen, ſprechen fie zur gleiher Zeit von ihrer Anerkennung feiner Rechte. 
Oder fürdten fie nur, daß die Fürften des Südens, die namentlich, welche bie 
Rechte des Milado fpeciell in ihre Hand genommen haben, ihren Privilegien zu 
nahe treten? Diefes Motiv wird ihnen faft allgemein untergelegt. Bielleicht auch, 
wenigften® wird es behauptet, macht Japan zugleich mit der politiihen auch eine 
fociale Krifis dyurch. Die Mittelklafſen ſollen nämlich, dieſer Anficht zufolge, mit mehr 
oder weniger klarem Bewußtſein befien, was fie wollen, darnach fireben, ſich neben 
den höheren Klafien auch einen Platz zu erlämpfen. Irgend eine genauere und 
*  zuverläffigere Einfiht in das innere Getriebe der Dinge iſt uns bis jegt nicht 
verſtattet und für den Europäer ſcheint es Aberhanpt außerordentlich ſchwer, fich über 
die Berwidelmmgen im Innern irgend wie Mar zu werben. Eine für den Augenblid 
unbeftreitbare Thatfache iſt es indeß, daß ter Milado an ber Spige des Suüdbundes 
feine Autorität über einen Theil der früher vom Taikun regierten Landſtriche aus⸗ 
gedehnt bat. Die Familie des Taikun, ſowie deſſen frühere Bafallen haben einen 
neuen vom Milado felbft bezeichneten Chef erhalten. Es ift dieß ein Kind von 
6 618 8 Jahren, dem der Milado ein Jahreseinkommen von 18 Mill. Fr. vom 
Ertrag gewiffer Teritorten angewiefen bat. Früher überftleg das jährlihe Cinkommen 
des Tailun, weldes er ans feinen Domänen zog, 200 Mil. Fr. und er war bei 
weiten ber reichſte aller japaniſchen Fürſten. Diefer Reichthum hatte ihn in den 
Stand geſetzt, feine Armee zu bewaffnen, und in europätfcher Weife zu vermehren, 
einige Kriegsichiffe von den Bereinigten Staaten zu kaufen und eine ganze Welt 
von Beamten und Wärbeträgern zu unterhalten, welche die Regierung der Taitun 
und zugleich den Elan ver Tokoungawa bildeten. — Nach den neneften Nachrichten 
(December 1868) ift das eigentliche, übrigens fehr eingefchräntte Kriegstheater im 
Nordoſten, in der Gegend von Nagosla. Dort wenigftens ftehen fi) die relativ 
großen Armeen der beiden Parteien gegenüber. Freilich wird der Krieg weder 
europäiſcher Taktik, noch Aberhaupt enropätfchen Ideen entſprechend geführt. Ver⸗ 
beerungen und Plünderungen ſpielen eine große Rolle und die Kämpfenden ſcheinen 
alle Angenblide ven eigentlichen Zwed des Kampfes aus ben Augen zu verlieren. 
Nach den legten Berichten hatte der Mikado Jeddo zur zweiten Hauptflabt erklärt 
und will abwechſelnd dort und in Kioto reſidiren; die Würde der Taikun bliebe 
definitiv abgeſchafft, der Mikado habe felbft vie Leitung aller Beziehungen mit 
den fremden Mächten in die Hand genommen, ver Nachfolger des früheren Taikun 
wäre gänzlich in die Reihen der Übrigen Daimijos zurüdgetreten. Im Ganzen 
ſcheint es ſchwer, anzunehmen, daß vie Revolution, welchen der Taitun erlegen iſt, 
zur wirflihen Triebfeder, wie behauptet wird, den Abſchluß der Verträge mit ben 
Fremden gehabt habe. Die Großmwürbenträger und die Würften des Südens, 
welche den Milado umgeben, find meift intelligente Männer, welche volltommen 
tm Stande zu fein feheinen, die Vortbeile des internationalen Handels einzufehen. 
Hat doch einer der mächtigften unter ihnen, der Färft von Satzownia aus eigenem 
Antriebe die Parifer Weltausftellung von 1867 beſchickt und anſcheinend großen 
Werth darauf gelegt, feine Produkte dort gewärbigt zu fehen. Es mar aber jeben- 
falls doch nicht der Wunſch nach Abſchließuug noch der Haß gegen die Fremden, 


630 Nachtrag. 


welche ihn und aubere feiner Verbündeten zu dieſer Handlungsweiſe antrieben. 
Ebenſo find wir auch völlig im Unklaren über die aus Japan in ver letzten Zeit 
gemeldeten Ehriftenverfolgungen. Sie deuten jedenfalls darauf hin, daß noch von 
früber her Ueberreſte von eingeborenen chriftlihen Gemeinden fih erhalten haben 
mäflen, und daß aud in der kurzen Zelt der Wiebererfchließung bes Landes ſowohl 
tatholifche als proteſtantiſche Miffionäre fehr thätig gewefen fein müſſen, auf dieſen 
Grundlagen weiter zu arbeiten. Bleibt Japan dem fremden Verkehr aud fortan, 
wie kaum zu zweifeln, geöffnet, wenn auch vielleiht vorerfi no unter Schwankungen, 
fo wird fi fiherlich aud das Chriſtenthum neuerdings dort feftfegen und ausbreiten 
und ein neues Band zwifchen ven Bevölkerungen des Landes und Europa abgeben. 

Japan if für Europa, fobald fi ein gefiherter Verkehr herftellen läßt, faft 
eben fo wichtig, in gewifier Beziehung vielleicht wichtiger als China. „Die Eivilifation 
Japans — meint Neumann — iſt der Kanal, dur welchen Europa anf den 
ganzen Orient einflußreih wirken und anderſeits auch feine eigenen Intereflen 
auf die außerorbentlihfte Weiſe fördern kann. Die Japaner bieten das großartige 
Schauſpiel eines jungen Fortſchritisvolkes inmitten der aſiatiſchen Verkommenheit, 
eines Volles, welches vor Allem lernen und feine Zuftände verbeflern will, Mit 
den reichen Keimen, die Japan in ben natürlichen Quellen feines Landes, in ven 
moralifhen Reflourcen feines Volkscharakters und felbft in feinen geſellſchaftlichen 
Sitten befißt, dürfte es feiner Zeit eine Größe erreichen, bie feinem Volk einen 
Platz umter den großen Vöolkern der Erde fihern kann. Aber nicht allein vie 
Grundbedingungen wahrer Madıt, welche Iapan befigt, ſonbern auch die Vor⸗ 
thelle, die e8 Europa: bietet, geben der japanefifchen Frage eine fo außerorbent« 
liche Wichtigkeit." Mau darf hinzufügen, daß Japan niht bloß für Europa, 
fondern auch für Amerika eine große und ſtets wachſende Bebeutung bat, ja für 
das letztere faft noch mehr als für das erftere. Und wie die Vereinigten Staaten 
biejenigen waren, die das Land zuerft wieder dem allgemeinen Verkehr geöffnet 
haben, fo tft es auch ihr Einfluß, der gegenwärtig dort bominirt in dem Wiber- 
fireit, ver fidh bereits unter den Seemädten in jenen Regionen gebilvet hat, wenn 
er aud bis jegt nur in einzelnen Erſcheinungen zu Tage getreten iſt. Die Ameri⸗ 
kaner haben fich fofort auf die Seite des Mikado und der Daimijo's geftellt, 
während Frankreich den Taikun unterflügte und einen Augenblid fogar an eine 
bewaffnete Dazwifchenkunft gedacht zu haben ſcheint, England aber fih mehr neu- 
tral verhielt. In jenen Regionen iſt e8 au, wo Norbamerifa und Rußland fich 
thatſfächlich und praktiſch die Hand bieten und wo ihre Interefien wirklich zufammen 
zu fallen fcheinen. 

Die flatiftiichen Augaben über die Größe des auswärtigen Hanbelsverlchrs 
find noch fehr lüdenhaft und ungenügend. Im Jahr 1863 warb der Werth ber 
Ausfuhr auf 18 MIN. Fr., derjenige der Einfuhr anf 42 Mill, Fr. gefchägt. 
Im Jahr 1865 Hat aber derjenige Englands allein viefe Summen betragen, in- 
dem die Ausfuhr aus Japan auf 614,327 Pfd. St., die Einfuhr in dasfelbe auf 
1,654,028 Pfd. St. angegeben wird. Diefe Zahlen find um fo fprechenver, ale 
bie engliihe Einfuhr in China in bemfelben Jahre nur zu 3,688,414 Pfd. St., 
alfo nur zu ungefähr dem doppelten angegeben wird, während Japan body nur 
eine Geſammtbevölkerung von etwa 35 Mil., China bagegen eime ſolche von 
300—400 Mill. Seelen bat. 








\ 


Airchenſtaat. | 651 


Kircbenftaat. 


(Nachtrag zu Band V S. 579 ff.) 


Die Erhebung der römifhen Provinzen gegen dad Priefterregiment war im 
Jahr 1831 durch öſterreichiſche, diejenige Noms und der Provinzen in den Jahren 
1848 und 1849 dur franzöflihe Waffen niebergefhlagen worben; aber ber 
Widerſtreit zwifhen den Anfchauungen und Bebärfniffen der Bevölkerung und ven 
Srunpfägen des päpftlihen Regiments war dadurch nicht befeitigt und trat feit 1849 
im Gegentheil wo möglich noch ſchroffer als früher zu Tage, da fi Pius IX. 
durch feine eigenen Erfahrungen überzeugt zu haben meinte, haß ver Gegenfat ein unver» 
ſöhnlicher nnd eine Vermittlung nicht möglich ſei. Zunächſt blieb der Bevölkerung 
indeß nichts anderes übrig, als fi zu fügen; kaum brad aber der franzöſiſch⸗ 
öfterreichifche Krieg von 1859 aus und fahen ſich die Defterreicher veranlaft, bie 
bisher von ihnen befegt gehaltenen Theile des Kirchenftante zu räumen, fo erhob 
ſich auch alsbald vie Romagna, warf das päpftlice Joch ab nnd verlangte ihre 
Bereinigung mit dem Königreih Sarbinien. Der Friede von Züri durchkreuzte 
ihre Hoffnungen; allein es zeigte fi bald, daß derſelbe wie bezüglich anderer 
Theile Italtens, fo auch und namentlid, bezüglich der Romagua abfolut nicht durch⸗ 
zuführen war. Ein Kongreß der Mächte follte die Schwierigkeit löfen. 1) Der Bapft 
war nicht ungeneigt, bdenfelben auf die Einladung Frankreichs zu beſchicken, feft 
überzeugt, daß ihm bie abgefallenen Provinzen dur den Kongreß wieber wärben 
zurädgegeben werben, da von einer Transaktion in irgend welder Weife von 
feinem Standpunkt ans nicht die Rebe fein konnte. Aber diefer Standpunkt war 
doch ‚nicht derjenige des Kaifers der Franzoſen, obgleich er es geweſen war, ver 
im Jahr 1849 Rom wieder erobert und ven Papft in feine Staaten zuräd- 
geführt Hatte. Damals beburfte Napoleon, um feine Plane in Frankreich zu rea⸗ 
firen, des franzöflihen Klerus und der katheliihen Maſſen Srankreiche. Im Jahr 
1859 ſchien er, geſtützt auf feine Siege gegen Rußland und gegen Oefterreich, 
biefer Unterflügung nicht mehr, wenigftens nicht mehr in demfelben Grade zu be 
bürfen wie früher, während er ſich feither hatte überzeugen müfien, daß von Re⸗ 
formen , die wenigftens annähernd die Bevölkerungen bes Kirchenſtaats Berjenigen 
Zuſtände theilhaft gemacht hätten, welde vie Zeit zu forbern ſchien und welche 
alle anderen Staaten Europa’s längft genoffen, gegenüber dem flarren Syſtem ver 
Kurie keine Rede fein werde. Unter diefen lmftänden wurde Europa plbtzlich in 
den legten Tagen des Jahres 1859 duch eine in Paris erſchienene Brofchäre: 
„Der Papſt und der Kongreß” überraſcht, die zwar den Namen des Senators 
Bicomte de Ia Gueronnidre trug, aber, wie man alsbald und ziemlich unzweifel- 
haft erfuhr, aus ber Feder des Kaiſers felber ftammte. In diefer Broſchüre wurde 
dem Papfte nit nur jede Hoffnung auf eine nöthigenfalls gewaltfame Wieder⸗ 
unterwerfung feiner Untertanen in ver Romagna kurzweg abgeſchnitten, fonbern 
foger die Idee entwidelt, daß die Kirche einer weltlichen Herrſchaft für vie 
Löiung ihrer Aufgabe überall nicht bebürfe, daß zu ihrer Unabhängigkeit ber 
Beſitz der Stadt Rom volllommen genden wärbe, und daß weltliche und politifche 
Sorgen fle von ihrer eigentlichen Aufgabe nur abzuziehen geeignet wären. Diefe 





—8 das Verhalten Frankreichs in der römiſchen Frage vol. den Nachtrag zum Artikel 


652 Nachtrag. 


Zumuthungen fchlugen in Rom wie ein Blitzſtrahl aus heiterem Himmel ein. Die 
Kurie erflärte fofort, daß der Papft unter biefen Umftänven fi auf dem beab- 
fichtigten Kongreß nicht vertreten Lafien könne, Defterreih trat auf feine Seite 
und Frankreich mußte die ganze Kongreßidee fallen laſſen. 

Aber Rom zog daraus keinerlei Bortheil. Napoleon verftänbigte fih mit Sar- 
dinien und England. Eavour, der nah Billafranca zurüdgetreien war, ergriff in 
Turin wieder die Zügel der Regierung und nun ging es raſch vorwärts. Nicht 
volle drei Monate fpäter (22. März 1860) ſprach Bictor Emanuel die Aunerion 
nicht bloß Toskana's, Parma's und Modena's, fondern auch der Romagna aus 
und unterzeichnete dafür (24. März) ven Traftat, durch welchen er Savoyen und 
Nizza an Franfreih abtrat. Der Papft aber ſchlenderte (26. März) bie große 
Erlommunifation auf „alle diejenigen, die den Eingriff in die päpftlihen Staaten 
begangen, veranlagt oder auch nur gebilligt haben“, d. h. nicht nur auf feine 
rebelliſchen Untertbanen, fondern auch auf den König Bictor Emanuel und auf 
den Kaiſer der Franzofen felbft, freilich ohne allen Erfolg, wie er e8 denn auch 
nicht gewagt oder Ming vermieden hatte, fie in feinem Breve ausprüdtich zu nennen. 
Die Dinge blieben felbft da nicht ſtehen. Keine vierzehn Tage fpäter (4. pri) 
brach ein Aufftand in Palermo aus und in Neapel gährte es ſchon verart, daß 
ein Königliher Prinz und Oheim des jungen Königs in einem offenen Memorandum 
von ihm die Verleihung einer Konftitutution und eine Allianz mit Piemont ver- 
langte. In Rom rüftete man fi zur Bertheinigung, warb Soldaten aus aller 
Herren Länder und ernannte (7. April) den franzöfifhen General Lamoricidre, 
einen der Gemaßregelten vom 2. December, zum Chef der päpftlicden Truppen. 
Am 6. Mai vesjelben Jahres ging Garibaldi mit taufend Pretwilligen von 
Genua ab, um das erlöfchende Fener in Sicilien wieder zu heller Flamme amzu- 
fachen, und bald wälzte fi ber Strom ver Revolution, Alles vor ſich nieber- 
werfenn, über Sichlien und Neapel, Rom und dem Kirchenſtaate entgegen, während 
Sardinien am 22. Mai feine Urmee auf ven Kriegsfuß gefegt hatte, Garibaldi, 
fo weit es der Anftand nur immer erlaubte, unzweifelhaft unterftügte unb ben 
Berlauf der Dinge mit Spannung abwartete. Ende Juni war ganz Gicilien bis 
anf Meffina in den Händen Garibaldi's; am 28. Juli räumten bie neapolitanifchen; 
Truppen Meſſina; am 7. Auguft begann Garibaldi Über die Dieerenge zu ſetzen⸗ 
am 21. fapitulixte Neggio; zwei Tage darauf firedten zwei neapolitaniſche Bri⸗ 
gaden bie Waffen — das Schidjal Neapels Tonnte nicht mehr zweifelhaft feint 
Da verftänbigte fih der Kaiſer ver Franzofen zu Chambery (28. Auguft) nochmals mi. 
dem Abgeſandten des Königs Victor Emanuel und gab ihm Neapel und ben Kirchen» 
ſtaat preis, die Stadt Rom allein ausgenommen: „Macht, aber macht ſchnell!“ 
Am 7. Auguſt 309 Garibaldi in Neapel ein. An vemfelben Tage richtete Sar- 
dinien ein Ultimatum an den päpftlihen Hof, in dem es verlangte, daß viefer 
feine fremden Soldtruppen, deren Eriftenz eine fortwährende Drohung gegen bie 
Ruhe Italiens fei, d. 5. fo ziemlich feine ganze Armee mit fammt ihrem erften 
Befehlshaber unverzüglich entwaffne und auflöfe und die Rundgebumg der Wünfde 
von Seite der Bevöllerungen, vie fich bereits anfchidten, durch Deputationen nach 
Turin den Schug des ſardiniſchen Königs gegen ihre Regierung anzurufen, nicht 
ferner gewaltfam hindere. Der päpftlihe Staatsſekretär, Kardinal Antonelli, wei⸗ 
gerte fi, den Abgeſandten Sarbintens auch nur zu empfangen, wies ihn aus bem 
päpftlihen Gebiet fürmlih aus und flug am 11. September fein Begehren 
unbedingt und „mit Enträftung” ab, Au demfelben Tage rückten bie piemon- 
tefifhen Truppen im Kirchenſtaat ein, Bis zum 18. September hatten fie Urbino, 











Kirchenfiaat. 653 


Peſaro, Sinigaglia, Berugia und die feften Stellungen von Torre di Seft, Oſimo 
und Gaftelfivarbo befegt. Bei legterem Orte griff fie an diefem Tage Ramoricläre 
mit ber päpftliden Armee an, unterlag aber nach kurzem, jebod heißem Kanıpfe: 
fein Untergeneral, der franzöſiſche Legitimift Pimodan, fiel an der Spige feiner 
Truppen, die fi theils ergaben, theils auflösten; ex felber fchlug fih nach Ancona 
durch, das indeß bereit an dieſem Tage von der ſardiniſch⸗neapolitaniſchen Flotte 
unter Perſano bombarbirt wurde und fih am 29. dem General anti ergab; 
Lamoricidre und die Oarnifon fielen in Kriegsgefangenſchaft. Während die ſardi⸗ 
nifche Hauptmacht ſich nach Neapel wandte, wurbe der ganze Kirhenftaat bis auf 
Rom felber und das Heine urfpränglihe Patrimonium Petri ohne den minveften 
weiteren Widerſtand von Seite der Bevölkerung olkupirt, ja felbft darüber hinaus 
auch Viterbo im Patrimonium, weil e8 aufgeftanden war und die farbinifchen 
Truppen berbeigerufen hatte. 

Frankreich ließ Alles geſchehen. Sein Okkupationskorps betrug nur eine 
ſchwache Divifion, kaum 10,000 Mann, die in Rom und Civitsvecchia lagen, 
und der Kommandant, General Goyon, war zufällig auf Urlaub in Paris. Als 
fih die farkinifhen Truppen ſchon an ber, Grenze des Kirchenſtaats zufammen- 
gezogen, zeigte der in Abweſenheit des Obergenerals kommandirende franzöfiiche 
General None feinen Officieren am 1. September an, daß „der Kaiſer ihm be⸗ 
fohlen, die Provinzen Rom, Civitavecchia, Comarca und Biterbo (d. h. eben daß 
alte Patrimonium) zu beihügen und vertheibigen”, ſchwieg aber von allen übrigen 
Provinzen des Kirchenſtaats, d. 5. allen, die wirklich gefährbet waren. Erft am 
12. September, da die ſardiniſchen Truppen ſchon im Kirchenſtaat flanren, beſchloß 
der franzöfifge Minifterrath, den General Goyon wieder nach Rom zurüdzufchiden 
und ihm einige Verſtärkungen mitzugeben. Er langte am 18. in Rom an, b. h. 
gerade am Tage von Gaftelfivarbo, der der päpftlicden Armee ein Ende machte, 
und erft als Alles vorbei war, am 27. September, befhloß das franzöſiſche Gon⸗ 
vernement, das Okkupationskorps in Rom um eine ganze Divifion zu verftärken 
und auf 22,000 Dann zu bringen. Für die päpftlihen Finanzen wie für bie 
Bevölkerung der ewigen Stabt war das nur eine Vermehrung der Laſt und ber 
Troft ein fehr geringer, daß die Franzoſen die Sarbinier zwangen, Viterbo wieber 
zu räumen und fo wenigftens das Patrimonium Petri dem Papſt vollftändig er⸗ 
bielten. Der Papft war geopfert und Feine Hand rührte fi für ihn. Umfonft 
tlagte er in einer Allotution an die Karbinäle am 28. September die „jubalpi« 
nifche Regierung, die dem Principe der Rebellion ſchändlich zu Willen iſt“, an 
und rief alle Fürſten zu feinem Schuge auf: „Mögen alle Färften überzeugt fein, 
daß unfere Sache mit der ihrigen eng verbunden iſt, daß fie, indem fie Uns 
Hülfe bringen, für die Unverleglichleit ihrer wie unferer Rechte forgen werben, 
und daß die ganze bürgerlihe Gefellihaft dem Verderben anheimfällt, wenn fo 
dem verhängnigvollen Kommunismus der Zugang geöffnet wirb"; feine Klagen 
und feine Bitten verhalten ungehört im Winde, Daß die franzöfiiche Geſandt⸗ 
haft am 18. Sptember Turin verließ und Frankreich für einige Zeit feine diplo⸗ 
matiſchen Beziehungen mit ber Megierung des Königs Victor Emannel abbrach, 
erſchien faft wie Ironie; diefe Ließ fi dadurch nicht im mindeften beirren. Am 
11. Oktober erflärte Cavour im offenen Parlament zu Turin, „das Minifterium 
wolle, daß die ewige Stadt die Hauptſtadt Italiens werve; wann und wie und 
unter welchen Beringungen könne er freilich jet noch nicht jagen“. 

Am 5. November votirten Umbrien und die Marken in allgemeiner Abſtim⸗ 
mung ihren Anſchluß an das Königreih Sardinien. Die Kurie richtete auch da⸗ 





654 Nachtrag. 


gegen an alle Mächte ihre felerliche Proteſtation; allein es half dem Vapfte wenig, 
daß Oeſterreich, Rußland und Preußen ihren ſtrengen Tadel über die Schritte des 
Königs von Sardinien ausſprachen, da fie nicht daran dachten, deßwegen Europa 
in einen allgemeinen Krieg zu ftürzen; England aber hatte feinerfeits die Um-⸗ 
wälzungen im Kirchenſtaat und in Neapel ſchon am 27. Oltober förmlich aner- 
kannt, es für einen hinreichenden Beweggrund erflärt, daß „bie Regierung des 
Papſtes und des Königs beider Sicilien fo ſchlecht für die Hanbhabung der Ge⸗ 
rechtigfett, den Schu ber perfönlichen Freiheit und die Wohlfahrt des Bolfes im 
Allgemeinen geforgt babe, daß ihre Unterthanen den Sturz ihrer Herrſcher als 
nothwendige Vorbedingung jeder Berbefierung "ihrer Lage erfehnten”, und es 
einen „erfreulihen Anblid" genannt, „ven ein Bolt gewähre, weldes unter den 
Sympathien nnd guten Wünfchen Europa’s das Gebäude feiner Freiheiten errichtet 
und den Bau feiner Unabhängigkeit befeftigt". Am 14. März 1861 nahm ber 
König Bictor Emanuel von Sarbinien nad dem Beſchluſſe beider Kammern den 
Titel eines Königs von Italien an und am 26. März faßte das italteniihe Bar» 
lament in jener denkwürdigen Steung, in der Cavour bie „freie Kirche im freien 
Staat" proffamirte, den Beſchluß, der Rom felber ohne weiteres als die Hanpt- 
ſtadt Italiens erflärte, „im Bertrauen baranf, daß wenn die Würde und Unab- 
haängigkeit des Papftes und die Freiheit ver Kirche geſichert fein werden, das 
Princip der Nichtintervention feine Anwendung finden und Rom tim Einverſtändniß 
mit Frankreich werbe zurückgegeben werden". Rom fah fi wiederum (15. April 
1861) auf eine bloße Broteftation befchräntt, die wiederum ohne alle Wirkung 
blieb. Der Kirchenſtaat, der zu Anfang des Jahres 1859 noch 214 Q.⸗M. mit 
3,124,688 Seelen gezählt hatte, ſah fih auf 214 D.-M. mit 682,806 Seelen 
befchränft. Aber die Kurie blieb, die fie war und zu allen Zeiten geweſen; ber 
Bapft widerfiand allen und jeden Zumuthungen mit feinem einfachen, immer 
wiederkehrenden non possumus; der bl. Stuhl auerfannte weder das neue König- 
reih Italien noch irgend etwas von Allen, was im Jahr 1860 geſchehen war. 
Der Papft-König erklärte, feloft die auf feinem ganzen früheren Staate ruhenbe 
Schuld nah wie vor bezahlen zu wollen, und fuhr wenigftens zunächſt fort, bie 
zahlreichen aus den ihm geranbten Provinzen nad Rom geflohenen früheren Be⸗ 
amten zu befolven, obgleich das eine wie das andere eine Laſt war, bie bas Kleine 
ihn allein übkig gebliebene Gebiet geradezu erdrücken mußte, da ber damals zuerft 
von den katholiſchen Biſchöfen überall erhobene fog. Peterspfennig, reichlich an fich, 
im Berbältniß zu dem Bedarf doch nur ein Tropfen auf einen heißen Stein war. 
Rom blieb feſt, und da nicht nur die territorialen, fondern auch bie kirchlichen 
Differenzen mit Italien ſich beflänbig ernenerten, auch der vertriebene König von 
Neapel dort In der Nähe feines ehemaligen Königreichs feinen bleibenden Wohnfig 
auffhug, fo wurde Rom bald zum Herd und Mittelpunft aller Machtnationen 
gegen Italien. 

Umfonft war Frankreich in den näcften Jahren nad dem großen Schnitt in 
den Beſtand ber weltlichen Herrſchaft des Bapftes bemüht, zwifchen biefem und 
dem Königreich Italien zu vermitteln, jenen zu befhwichtigen und biefes von jedem 
Gelüſte nah dem Reſt des ehemaligen Kicchenftants abzuhalten, und eine gegen- 
feitige Anerkennung der beiven Gebiete ala folder anzubahnen. Der Bapft wollte 
von feiner Berfländigung mit Italien etwas wifen, wenigftend von feiner auf 
Grund eines Verzichts bezüglich feiner früheren Provinzen. Die Idee Cavours vou 
der freien Kirche im freien Stant wurde in Rom welt mweggeworfen; ber freie 
Staat, wie ihn Cavour verſtand, widerſprach bem ganzen Syſtem ber katholiſchen 





[\ 


Kinchenflant. 655 


Kirche, wie es ſich fett Jahrhunderten ausgebildet nnd von der Kirche auch gegen- 
über der neueren Entwidelung des Staats feit dem Anfange des 16. Jahrhunderts 
wenigſtens principiell flarr aufrecht erhalten worden if; und wenn fie je von ber 
freien Kirche ſprach, fo verſtand fle darunter die herrſchende Kirche nad den For⸗ 
derungen jenes Syſtems, neben der ein freier Staat gar keinen Raum mehr fände, 
Eine Bermittlung nad dieſer Seite war unmöglih und Frankreich machte fidh 
darüber eigentlih auch Teine Illufionen: es hoffte einen Ausgleich nur von ber 
Zeit und von der allmäligen Wirkung der vollenveten Thatfachen, denen fich aller 
dings ſelbſt Rom fchließlih beugen muß und noch immer gebengt hat. Aber faſt 
nicht minder fchwierig war das Werk ver Bermittlaung auch nad der andern Geite 
bin, gegenüber Italien. Die italieniſche Regierung wäre wohl geneigt geweien, mit 
Rom in Unterhbandlung zu treten, aber im Sinne des Grunpfages der freien 
Kirche im freien Staat, und Ricafoli, der nächſte Nachfolger Cavours in der Lei⸗ 
tung der itallenifchen Regierung, wagte in der erften Zeit einige Berfuche in diefer 
Richtung, machte aber bald die Erfahrung, daß Rom weit entfernt fei, darauf 
auch nur im mindeften einzugehen, und daß vorerft weder Frankreich noch irgend 
eine andere Macht Luſt habe, ihn darin zu unterſtützen. Später ließ bie italieniſche 
Regierung jeden Verſuch, fi) mit der Kurie grunpfäglich zu verflänbigen, ganz 
fallen und fuhr fort, in der Emancipation des Staats von den kirchlichen An⸗ 
ſchauungen ver Bergangenheit thatfächlih vorzugehen, wie andere Staaten und 
ſchließlich felbft Defterreih auch, was den Gegenfag gegen Rom natürlih nur 
verfhärfte. Und wie der Papft nicht auf die abgefallenen Provinzen verzichten 
wollte, jo wollte die italieniſche Regierung ihrerfeits nicht auf ven Gedanken ver- 
zihten, Rom früher oder fpäter ale Hanptflabt zu gewinnen, zumal Turin 
feiner geographifchen Lage wegen dazu nach der Herſtellung ber italieniſchen Ein⸗ 
beit in der That nicht geeignet war, bie anderen großen Städte Italiens faſt 
gleihen Anfpruch darauf machen zu können jchienen und alle nur dem einen Mom 
freiwillig zu weichen geneigt waren. Alles, wozu die italtenifche Regierung ſich ver- 
fland, war bie Zufage, die Erwerbung nur durch „moralifche Mittel” anzuftreben; aber 
biefer Weg war vorerft nicht Mar vefinirbar, jedenfalls ein langer, und eine nichts 
weniger als Kleine Bartei, die ganze fog. Aktionspartei, war damit von allem An⸗ 
fang an nicht einverftanden und nur allzu geneigt, alsbald zur Gewalt zu greifen, 
trog Frankreich. 

An ihrer Spige ſtand der popnlärfte Mann des Landes, Garibaldi, der 
gegen Frankreich zudem ſeit der Abtretung Nizza’s, feines Geburtsortes, erbittert 
war und den felbft der König Bictor Emanuel zu ſchonen alle Urfache ver Klug⸗ 
heit wie der Dankbarkeit hatte. Die italieniſche Regierung war gegenüber Frank⸗ 
reih und Rom wie gegenüber ihrem eigenen Parlamente in einer fehr ungünftigen 
Lage. Ihre Aufgabe war es doch zunädhft, den neuen Staat zu organifiren und 
bie Finanzen zu orbnen. Wenn überhaupt von moralifhen Mitteln zur Erwerbung 
Roms die Rebe fein konnte, fo mochten folde nur auf diefer Bahn geſucht werben. 
Die ganze Art aber, wie das Königreih Italien zu Stande gelommen war, faft 
plöglih und mehr durch tie Gunft der Umſtände als durch die langſame und aus⸗ 
dauernde Urbeit des Bolfs, wirkte noch immer nad und beſtärkte einen großen 
Theil der Nation in dem Wahne, daß vor Allem auch noch Rom und VBenezien 
erworben und fo alle ihre- Glieder ohne Ausnahme vereinigt werden müßten. 
Diefer Wahn befeelte die Aktionspartei, arbeitete Garibaldi, der feinerfells von . 
einem glähenden Bfaffenhaß erfüllt war, in vie Hände und erzeugte, da Venezien 
ohne einen großen Krieg nicht zu gewinnen war, gu dieſem aber Italien allein 


Badıtrag. 


66 

zereıft ae) za jümed wer mar auf bie Unterſtützung irgend einer andern Macht 
- . «lerlei Plane gegen Rom, zumal die Thatfache feft ſtand, 
ver Stadt Rom in ihrer entſchiedenen Mehrheit dem Priefter- 
zegiment alyendigt wer umb michts lebhafter verlangte, als mit dem Königreich 
ja werben, das päpftliche Regiment aber ſchwach genug war, 
um beifen zu bärjen, daß es dem erſten energijchen Angriff erliegen mälle, ſofern 

6 nicht wen amfen geflüht und gehalten werde. 
Sqhes im Sommer 1862 unternahm baher Garibaldi von Sicilien aus einen 
gegen Rom, der zwar bie italieniſche Regierung in große Ber- 
Iegenheit fegte, aber ein ziemlich Hägliches Ende nahm. Nach langem Zögern und 
von dJrantreich drohen genug bazu getrieben, erklärte ſich endlich ver König Victor 
Smannel gegen Garibaldi und ſchickte Truppen unter einem zuverläffigen Führer 
ihn ab. Seine Freiwilligen wurden noch ferne von Rom in der Nähe 
io’3 bei Wipromonte umzingelt und ergaben fi ohne Widerſtand; nur durch 
wurde Garibaldi felbft ins Bein gefchoffen, was ihn wenigſtens für längere 
Zeit zur Unthätigkeit nöthigte. Wäre aber Garibaldi aud bis Rom vorgedrungen, 
fo hätte er dort wenigftens in legter Linie die franzöſiſchen Oktupationstrappen 
gefunten, und fo gering auch augenblidiih ihre Zahl war, fo ift es doch kaum 
wahrfcheinlich, daß er mit feinen Freiſchaaren auch dieſe überwältigt hätte. In 
dieſer Beziehung erfolgte ein fpäterer Berfuh unter günftigeren Umſtänden. Nach⸗ 
dem Italien lange genug umfonft die Zurädziehung ber franzöfifchen Truppen aus 
Rom verlangt hatte, kam endlih am 15. September 1864 zu Paris eine Kou- 
venticn mit Frankreich zu Stande, durch welche fich legteres gegenüber Italien 
— ver Papft wurde gar nicht gefragt — verpflichtete, feine Truppen binnen zwei 
Jahren zurüdzuziehen, wogegen Italien es übernahm, das römifche Gebiet nicht 
nur felber nicht anzugreifen, fondern im Gegentheil gegen allfällige Angriffe von 
außen, ſelbſtverſtändlich durch Freiſchaaren, zu [hügen, den Sig ber Regierung 
von Zurin nach Florenz zu verlegen, ohne indeß formell auf Rom als bereinftige 
definitive Hauptſtadt zu verzichten, gegen eine aus Sölbuern geworbene Armee 
bes Papftes nicht wie im Jahr 1860 Ginfprache zu erheben und ſchließlich einen 
verhältnigmäßigen Antbeil der päpſtlichen Staatsſchuld zu übernehmen. Die Kon⸗ 
vention gelangte noch in demſelben Jahre von Seite Italiens zur Ausführung und bie 
Franzoſen räumten vemgemäß zu Ende 1866 bie ewige Stavt und das Territorium 
berfelben. Kaum waren fie abgezogen, jo nahm Garibaldi das im Jahr 1862 miß- 
Iungene Unternehmen neuerbings in die Hand. Die Ausführung verzögerte fid 
indeß bis in den September 1867, und alle Betheiligten, vie päpftlihe Regierung 
zunächſt, dann aber die italienifche Regierung und Frankreich hatten Zeit, Stellung 
zu nehmen. Der Papſt vermehrte feine Truppen und brachte fie auf die Zahl von 
18,000 Mann, von denen er wenigftens über 12,000 im freien Felde verfügen 
konnte; Frankreich überwachte alle Vorgänge und ließ es an Warnungen und 
Mahnungen in Florenz nicht fehlen, während es gleichzeitig in Tonlon alle Vor⸗ 
bereitungen traf, um nöthigenfalls felber einzufchreiten; die italienifche Regierung 
aber — es war wiederum wie 1862 Rattazzi, der an ihrer Spige ſtand — wollte 
lange nicht recht an ven Ernſt der Sache und eine wirkliche Gefahr glauben. Am 
20. September 1867 traf indeß Garibaldi in Orvieto ein und begannen bie Frei- 
‚ willigen die römiſche Grenze zu überfhreiten. Da griff Rattazzi ein und ließ am 
24ften Garibaldi in Afinalunga verhaften und nah Aleſſandria abführen, von 
wo er jedoch ſchon nad wenigen Tagen nad feinem. Caprera entlaflen nnd dort 
bewacht wurde. Allein weber Garibalvi noch feine Freiwilligen verzichteten auf ihr 


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airhenſtaat. 657 


Vorhaben, und die äffentlihe Meinung Italiens, bie fi bisher ziemlich gleich“ 
gültig verhalten hatte, gerieth erft jet im weiteren Kreifen in Fluß. Anfangs 
Ditober bildete fi in Florenz ein Gentraltomite, das die Werbungen energijch in 
die Hand nahm, und Rattazzi begann ein zweideutiges Spiel, indem er mit ver 
einen Hand ben Freiſchaaren Hinderniſſe in den Weg legte, mit der andern fie 
unterftäßte. Yange konnte das Spiel freilich nicht dauern, er mußte ſich entjchließen. 
Aus den ſeither von der italientihen Megierung veröffentlichten Aktenſtücken gebt 
hervor, daß fein Entſchluß um den 12. Oktober gefaßt worden fein muß. Die 
Freiſchaaren wurben von da an namentlih von Neapel aus weſentlich unterftügt 
und. die Divifionsfommandanten von Terni, Perugia und Livorno erhielten den 
Befehl, fi bereit zu machen. Unter dem Vorwande einer Infpicirung der an ver 
Grenze flehenden Truppen wurde General Ricotti am 15. mit der Aufgabe ber 
Koncentrirung und der Bildung der Kolonnen betraut und am 17. zum Komman- 
danten der in Brigaben vertheilten Korps ernannt und erhielt genaue Inftruftionen 
bezügli der Weberfchreitung ber Grenzen und der zu beobachtenden Haltung. 
Aber Rattazzi konnte feinen Plan, wenn es ein Plan genannt zu werben verbient, 
nit ausführen. Frankreich hatte fhon am 16. ein Ultimatum an Itaiten ge 
richtet, und als Rattazzi vom Könige die entfcheivenden Befehle verlangte, wurben 
fie verweigert. Rattazzi gab nun am 19. feine Entlaffung, Cialdini konnte ober 
wollte kein Minifterium zu Stande bringen und fo herrſchte in Florenz eine Art 
Interregnum, das die Bewegung benügte Garibaldi, von Caprera entlommen, 
traf in Florenz ein, baranguirte äffentlih da8 Boll und fuhr öffentlich und mit 
einem Ertrazuge an die römiſche Grenze ab. Am 23. übernahm er das Kommando 
ber Freifhaaren, erftürmte am 26. Monte Rotondo und drang mit feinen Scharen 
am 27. bis Rom vor, wo inzwiſchen am 22. ein felbftändiger Aufſtandsverſuch 
der Römer gefcheitert war. Aber die Lage ver Stabt war trotzdem höochſt kritiſch. 
Das ganze Gebiet hatte nah dem Abzug ver päpftlihen Truppen bie italtenifche 
Fahne aufgeftedt, theilweiſe fogar in förmlichen Plebisciten ſich für vie Vereini⸗ 
gung mit dem Königreich Italien ausgeſprochen, währen die päpftlihen Truppen 
n der Stadt müde und abgehegt waren und recht wohl wußten und fühlten, daß 
die Mehrheit der Bevölkerung gegen fie war und mit dem Feinde fympathifirte, 
Wenn keine Hülfe von außen kam, fo war die Stabt doch kaum einige Tage zu 
halten und mußte Garibaldi faſt unausmweichlich in bie Hände fallen. Indeß dieſe Hülfe 
fam, wenn auch erſt, als die Noth am größten war. An demfelben Tage, an dem 
Garibaldi Monte Rotondo erftürmt hatte, war nad langem Zögern und wieber- 
holten Befehlen und Gegenbefehlen die franzöflihe Xransportflotte mit einer 
erften Divifion enblih von Zoulon abgegangen und am 80. Oktober trafen bie 
erften franzöfiihen Truppen in Rom ein. Die heilige Stabt war gerettet. Gegen 
Frankreich konnte Garibaldi nicht daran denken, fein Unternehmen durchzuführen. 
Er zog fih nah Monte Rotondo zurüd und bereitete feinen Abzug über Tivoli 
nah den Abruzzen. Allein am 3. November wurbe er bei Mentana von einem 
Theile der päpflliden Armee, der eine Brigade Franzoſen als Referve beigegeben 
wer, überfallen. Die Freiſchaaren hielten Stand, die Päpftliden vermochten nichts 
auszurichten und waren auf dem Punkte zu weichen, als die Franzoſen eintraten 
und mit ihren Chafjepotgewehren den Ausſchlag gaben: etwa 1000 Freifchärler 
wurben niedergemacht, etwa 1400 fielen in Gefangenſchaft. Garibaldi ſelbſt entlam 
über Eorrefe. Inzwijchen war nod eine zweite Divifion Franzofen in Rom anges 
gelangt. Beide räumten jedoch die Stabt im Taufe des Decembers wieber, bie eine 
derfelben kehrte nach Frankreich zurüd, vie andere hielt Civitavecchia beſetzt. Diejes 
Bluntſqqli un Brater, Deutſches Staatt⸗Wöörterbuch. XI. 42 





658 Nachtrag. 


und ſelbſt Rom wurden hierauf von franzdfiſchen Genieofficieren nach Kräften 
befeſtigt. Ein Berſuch Frankreichs, die Okktupation Roms durch eine europätice 
Konferenz regeln zu laſſen, mißlang. Der franzöfiſche Staatsminiſter Rouher aber 
gab im geſetzgebenden Körper am 5. December 1867 die unumwundene Erklärung 
ab, daß Italien Rom „niemals“ erhalten werde. Indeß ſcheinen mildere Erfärungen 
feither unter ver Hand gegeben wotden zu fein. So viel ift fiher, daß Italien 
anf den bereinftigen Belt Roms unb das Italienifihe Parlament auf feinen Be⸗ 
ſchluß von 1861 teinesweg® berzichtete, felbft der Senat ernenerte benfelben viel- 
mehr einftimmig aufs be mmtehe. Zunächſt mußte man ſich indeß fügen. Alles, 
was das nene Minifterium Menabrea ihn Tonnte, ivar, daß es die September 
Konvention für fo lauge fufpenbfrt und bie weiteten Unterhanplangen über die befi- 
nitive Uebernahme eines Theils der römifhen Staatsſchuld für elügeftellt erklärte, 
fo lange die Franzoſen das röinifche Gebiet nicht wieder vbllig geräumt hätten. 
Die Auffaffung der Sachlage war eine durchaus Porrefte, abet — dieſe Stellung 
konnte Italien nicht behaupten. Im Laufe des Juli 1868 ſchloß feine Regierung 
mit Frankreich eine Konvention ab, durch welche fie definitiv einen Theil der 
römifhen Staatsſchuld übernahm, ohne daß gleichzeitig die Franzoſen dad Römiſche 
geräumt hätten. Diefelben find vielmehr noch dort, und Frankreich ſcheint ent- 
fchloffen, fle vorerfi und auf unbeflimmte Zeit andy noch dort zu laſſen. 

Die Frage der weltlichen Herrihaft des Papftes iſt damit freilich keineswegs 
gelöst, ſondern lediglich vertagt. Go lange ver bl. Stuhl ver Benäfkerung die 
von Frankreich jeverzeit und beharrlich, ja Thon Früher ſelbſt aud von Defter- 
reich geforberten Reformen verfägt, entfprechen die Zuſtünde des Kirchenſtaats auch 
nicht ben beſcheidenſten politifchen und wirthſchaftlichen Anforderungen ber Zeit 
und bleibt die Unznfriebenheit wentgftens eined großen, oieeiät des größeren 
Theils ihrer Unterthanen eine Schwierigkeit, welche vie päpftliche Regierung nicht 
zu bewältigen, nut mit Gewalt niederzuhalten vermag. Eine Armee von circa 
18,000 Mann aller Baffengattungen, die ſogar auf 25,000 Mantı gebracht wer- 
den fol, abgefehen von ben immer noch circa 11,000 Mann Franzoſen, vie tm 
Lande liegen und deren Verpflegung eine ſchwere Laſt bildet, tft für ein jo Feines 
Gebiet und eine Bevölkerung von 700,000 Seelen eine hellloſe Abnormität. Die 
ganze Eriftenz des Staats ferner erfcheint für die Dauer ſchon financiell unbalt- 
bar. Yuverläffige Angaben über die Finanzgebahrung fehlen zwar bei ber herr⸗ 
[enden Bermifhung weltlicher und geiſtlicher Intereſſen und weil von jeher prin⸗ 
cipiell jene viefen als vurchaus vienſibar angeſehen wurden. Was von öffentlichen 
Geldern eingeht, wurde nie als Gigenthum des Landes, ſondern als Ertrag bes 
Patrimoniums der Geiſtlichkeit angefehen, werliber dieſe bellebig zu verfügen 
babe, Die veröffentlicgten Budgets geben darum nur ein ſehr unvolfflänbiges 
Bild des wirklichen Bebarfs, da in venfelben bie Fondsanweiſungen für be- 
fondere Titel ausgefchloffen find. Die päpftlichen Finanzen find eigentlid und 
begreifliger Weiſe ſchon ſeit der Zeit zerrüttet, in welcher bie regelmäßigen Zu⸗ 
flüffe ans ven übrigen katholiſchen Ländern verfiegten, was im 15. Jahrhundert 
begann und bis Ende bes 18. Jahrhunderts in fleigentem Maße der Fall war. 
Nach officiellem Eingefländnig war von 1828 bis 1847 auch nicht tin Jahr ohne 
Deficit geblieben. Erſt im Jahr 1859 wurde das Gleichgewicht wenigſtens anf 
dem Papiere hergeftellt mit circa 14 MI. Scudi Einnahme nad Autgabe. Uber 
(don in diefem Vudget figurirte das Intereffe ber Stantefigulb mit Aber 5, daS 

fftär mit Aber 2 Mill. und ſchon tm folgenden Jahre erfolgt wie Losreißung 
ber Romagna, Umbriens und der Warten, worauf es financhil raſch abwärts 


airchenſtaat. 659 


ging. Das Bnpget für 1864 zeigte 10,728,123 Scubi Ansgaben und nur 5,319,910 
Sendi Einnahme, 1866 circa 12 Mill. Scudi Ausgabe und nur 6 Mill. Ein- 
nahme, 1867 über 13 MU. Scudi Ausgaben (morunter faft 2 Mill. bloß für 
das Heer, wie 1859, als der Staat noch intaft war) und nur wenig über 6 Mill, 
Seudi Einnahme. Der Peterspfennig erträgt feit 1860 doch im Durbfähnitt jähr- 
lich nicht 2 Mil. Scubt, und die jegt regulirte Zahlung Italiens an die Staats- 
fhuld wenig mehr als 3 Mill. Scudi jährlid, jo daß immer nod ein jährliches 
Deficit von 1—2 Mil. Seudi bleibt. Seit dem Jahr 1860 mußten denn aud 
faſt Jahr für Jahr neue Anlehen behufs Dedung der Deficits gemadt werben, 
die aber niemals gänzlich realtfirt werben konnten. Die Geſammtſumme der Staats» 
ſchuld däürfte zu Anfang 1869 110 bis 120 Mil. Sendi betragen, alfo erfledlich 
über eine Milliarde Franes. Dabei wurden die Stenern und Abgaben feit 1838 
nad und nach bis auf das Doppelte gefteigert und find um fo brüdender, als 
das Land wirtbichaftlich in jener Beziehung zurück ift und nad den verfehrteften 
Grundſaͤtzen regiert und verwaltet wird. Die jest allgemein anerkannten Prin- 
eipien der Rationaldloenomie haben in Rom nod Teinen Eingang gefunden und 
werben theilmeife als „unchriſtlich“ zurückgewieſen. Eine ſchließliche Regulirung 
ber päpftlichen Finanzen erſcheint faſt nur dadurch möglich, daß Weltliches und 
Geiſtliches ganz von einander geſchieden, der Kirchenſtaat trotz der Leidenſchaft, 
wit der nicht bloß die Kurie, ſondern die ultramontanen Parteien aller Länder 
Europa’3 daran feſthalten, doch in dieſer oder jener Weiſe jälularifirt und bie 
Bedürfniſſe des päpfitichen Hofes fo wie der Gentralleitung der katholiſchen Kirche 
überhaupt durch regelmäßig und firtrte Beiträge der katholiſchen Staaten over aller 
Staaten im Verhäaltniß ihrer katholiſchen Unterthanen beftritten werben, wofür in 
Frankreich bereits eine Abgabe auf jeden Altar vorgefhlagen worven if. Die an- 

eblihe Unabhängigkeit des hl. Stuhls, die nur durch bie weltliche Herrſchaft ge- 

hert werve, kann einer ſolchen Mafregel unmöglih im Wege ſtehen. Für eine 
frühere Zeit mochte das mit mehr oder weniger Wahrheit gejagt werben; gegen- 
wärtig fann von einer folden Unabhängigkeit überall nicht mehr bie Rede fein. 
Seit der franzöfifhen Okkupation von 1849 ift fie ein leerer Schein, und biefer 
Schein wird nur fo lange dauern, als es ver franzöfifhen Politik konvenirt. 
Augenblidlih bedarf daB zweite Katferreih unumgänglih ber Hülfe des Klerus, 
und fo lange Tann fi der Papft auf den franzäfiihen Schuß verlaffen. Sollte 
dagegen irgend eine europälfche Berwidelung es dem Katfer der Franzoſen wünſchens⸗ 
werth oder nothwendig erſcheinen Iaflen, fi der Mitwirkung Itallens zu ver- 
fihern, jo würde er dieſe, wie bie Dinge liegen, wohl nur dadurch erzielen können, 
daß er ihm die Eriftenz ber weltlichen Herrfhaft Preis gibt, und vermuthlich 
wärbe er dieß in ſolchem Falle and ohne das mindeſte Bedenken thun. 

Ob aber Rom jemals die Hauptſtadt Italiens wird, iſt eine andere Frage. 
De allgemeine Meinung in Italien iſt allerdings dafür, allein es fehlt auch nicht 
an befonnenen Männern, die diefen Gedanken verwerfen. Maifimo d'Azeglio, ber 
doch Rom kannte und einen guten Theil feines Lebens dort zugebracht hatte, und 
beim ein weiter und unbefangener Blick nicht abgefprocdhen werben kann, war ver 
erfle, ver ſich dagegen zu erflären und fchon bald nad 1860 auf Florenz auf- 
merffam zn machen wagte. Die Konſtituirung Noms zu einer Art Freiſtadt, wäh- 
rend daB Gebiet mit Italten vereinigt würde, wie e8 bie Broſchüre „Rom und 
der Kongreß” nad den Ideen Napoleons III. vorgefchlagen bat, erfcheint in ber 
That als eine Idee, die den Imterefien Italtens wie der katholiſchen Welt gleich 
mäßfg am beften entfpredhen würbe, 

42 * 


660 Nachtrag. 


Die Frage der weltlichen Herrſchaft des Papſtes iſt übrigens nur ein einzelner 
Punkt aus einer langen Reihe von Gegenſätzen, die fi allmälig zwifchen ber 
ganzen Entwidelung bes modernen Staats und den Anfchauungen oder dem Syſtem 
der katholiſchen Kirche über die Aufgabe and die Stellung des Stantes gegenüber 
der Kirche herausgeftellt haben und anf beiden Seiten täglig mehr zum klaren 
und entſchiedenen Bewußtfein kommen. Auf den Zufammenhang jenes einzelnen 
Punktes mit allen anderen kann bier nicht näher eingetreten werben. Es muß ge- 
nügen, darauf hinzudeuten, wie die Kurie auf die September-Ronvention von 1864 
zwiſchen Yranfreih und Italien am 8. December gl. I. mit einer Wllofution des 
Bapftes und jenem Syllabus antwortete, in dem fie ber ganzen mobernen Ent- 
widelung der Wiſſenſchaft und des Staates, der ganzen modernen Auſchauung 
ver Welt den Handſchuh hinwarf. Den Ereigniffen von 1867 aber hat fie im 
Juni 1868 vie Einberufung eines ökumeniſchen Koncils auf den 8. December 
1869 folgen laflen, zu dem fie ſämmtliche Biſchöfe ver katholiſchen Chriftenheit, 
aber, abweichend von früherer Uebung, wenigftens vorerft feinen ber katholiſchen 
Fürften eingeladen bat. Zunächſt ſcheint es ſich dabei um eine erneuerte großartige 
Demonftration zu Gunſten der weltlichen Herrſchaft des Papſtee und um eine 
neue Berurtbeilung der modernen Givilifation zu handeln. Im weiteren will bie 
römiſche Kurie zwar von einer Trennung zwilhen Staat und Kirche nad ben 
Ideen der Nenzeit principiell nichts wiſſen; aber franzöflihe ultramontame Blätter 
haben doch in der Einberufung des Koncils den erften thatfächlichen Schritt felbft 
der Kurie auf der Bahn zu jener Trennung zwifhen Staat und Kirche erkennen 
wollen, die von der andern, weltlichen Seite überall wenn auch im verſchiedener 
Weife vorbereitet wird, bie eine ber höchſten Aufgaben der nädften Zukunft En- 
ropa's zu fein fcheint und vie, wenn anerlannt, den Beſtand eines Kirchenftants 
allerdings überhaupt ausfchliegen würde. 9. Saulthebd. 


Kongreſſe und Friedensichläffe. 


(Nachtrag zu Band V S. 666 ff.) 


Seit dem Abfchluffe des früheren Artikels hat Fein europälfher Kongreß 
ftattgefunden, obgleich der Kaiſer der Franzoſen im Jahr 1863 einen foldyen zu 
veranftalten mit großem Nahdrnd verſuchte. Dagegen fallen in ven feitherigen 
Abſchnitt der Gefhichte eine Reihe von Friedensſchlüſſen, im Jahr 1864 
der von Wien zwijchen Oefterreih und Preußen einerfeitS und Dänemark ander⸗ 
feits, im Jahr 1866 der Friede von Prag zwifchen Defterreih und Preußen, vem 
bie Friedensfchläffe von Berlin zwifchen Preußen einerfeits und Bayern, Württen- 
berg, Baden, Heflen-Darmftabt und Sachſen anberfeits theils vorangegangen waren, 
theils nadhfolgten, und im gleichen Jahre der Friede von Wien zwiſchen Defterveih 
und Italien. | 

1. Der Friede von Züri, mit dem der angeführte Ariikel ſchloß, 
konnte nit durchgeführt werden. Was der Krieg durch die Gewalt der Waffen 
entfchieden hatte, bie Lostrennung ver Lombarbei von Defterreih und die Ber 
einigung berfelben mit dem Königreih Sardinien blieb entſchieden und wurde burg 
ihn geregelt; aber der darüber hinaus gemachte Berfuch, auch die Reorganifation 
der päpfilihen Staaten im eigenen Interefie des Papftes wenigftens anzubahnen, 
den Souveränen von Toskana, Modena und Parma ihre Rechte zu wahren und 
ganz Italten als Staatenbund unter dem. Ehrenpräfitium des Papſtes zu 





Kongreffe und Sriedensſchlüſſe. 661 


tuiren, blieb ein tobter Buchſtabe. Die italieniſche Frage wurde zwar ſchon im 
folgenden Jahre (1860) im Wefentlichen gelöst, aber in anderer Weife, als es vie 
beiden Hauptlontrahenten des Friedens gewünſcht ober beabfidhtigt hatten. Das 
bem franzöflfcgsöfterreichifchen Kriege von 1859 zu Grunde gelegene Princip, der 
ttalienifhen Nationalität zur Anerfennung zu verhelfen und fle nah Jahrhunderten 
wechſelnder Fremdherrſchaft endlich fich felber zurlidzugeben, brach fi, durch das 
Nefultet des Krieges nur theilweife befriedigt, gewaltfiam Bahn und verfolgte 
feine weiteren Konfequenzen. Die ganze Reihe der brennenden Fragen, bie fi 
fofort an den Frieden von Zürich Inüpften, fanden ihre Löfung wirklich in ver 
Durchführung des Grundſatzes der Nihtintervention. Toskana, Mo⸗ 
dena, Parma nnd die Romagna wurden ihren früheren Sonveränen nicht wieber- 
gegeben, ſondern vereinigten fi ihrem Wunfche gemäß und Fraft des allgemeinen 
Etimmrechts im Frühjahr 1860 mit dem Königreich Sarbinten, das dagegen durch 
die franzöftich-italienifhe Konvention von Turin (24. März 1860) Savoyen 
und Nizza an Frankreich abtrat. Garibaldi trat bald darauf von Genna aus 
(Mai 1860) feinen Freifhaarenzug nad Sicilien an, revolutionirte dieſes und 
das Feſtland von Neapel, während bie ſardiniſche Armee im Einverſtändniß mit 
Brantreih in den Kirchenſtaat einrüdte, vie Feine päpftlicde Armee vernichtete, 
Umbrien und die Marten beſetzte, Garibaldi in Neapel die Hand gab, von ihm 
das eroberte Königreih in Empfang nahm und Franz II. aus dem letten ihm 
gebliebenen Stügpunfte, Gaeta, vertrieb. Das Königreich Italien war that- 
ſächlich gebildet, wurde im März 1861 vom Zuriner Parlament förmlich proffa« 
mirt und zunächft von England, fpäter und nah einigem Zögern von Frankreich 
und Rußland, zulegt (1866) auch von Oeſterreich rechtlich anerfannt. Aber das 
Princip, dem die neue Schöpfung ihr Dafein verbantte, wirkte fort, Defterreich 
fühlte fi im Beſitze Veneziens bedroht und Europa kam nicht zur Ruhe. Es 
war dieß um fo weniger der Ball, als im Jahr 1863 vie polnifhe Infurreltion 
ausbrach, die einen Augenblid den europätfchen Dingen eine neue Wendung geben 
zu follen fchien. Frankreich, England und Oeſterreich unterhandelten über gemeinfame 
Schritte zn Gunften des unglüdlihen Tandes, die, konſequent verfolgt, zum Kriege 
führen mußten. Allein Preußen ftellte fich neuerdings wie im orientalifchen Kriege 
von 1854 auf die Seite Ruflands und deckte Dasfelbe auf feiner fhwächften 
Seite; ein Krieg gegen Rußland und Preußen, der fih zunähft zu einem 
Kriege Frankreichs gegen Preußen geftaltet hätte, Tag nicht im Interefie Eng- 
lands und auch Defterreih und Frankreih waren über das, was zu Gunften 
Polens gegen Rußlands erreicht werben follte, keineswegs einig. Der Krleg unter 
biieb, diplomatiſche Unterhandlungen führten zu keinem Ziele und Rußland hatte 
gewonnenes Spiel, als ſchließlich auch Defterreih in Galizien einſchritt und ber 
Infurreftion aud von dleſer Seite jede weitere Nahrung. abſchnitt. Um viefelbe 
Zeit hatte die alte Streitfrage zwiſchen Dentfhland und Dänemarf um die Elb- 
herzogthümer In Folge des in Preußen eingetretenen Umſchwungs einen akuten 
Charakter angenommen und beunrubigte Europa um fo mehr, als unzweifelhaft 
hinter ihr die deutſche Frage fland, die von noch ganz anderer Tragweite war 
als die italientfche. 

Unter diefen Umftänden überrafchte der Kaiſer der Franzoſen am 5. November 
1863 die Welt durch die Idee eines allgemeinen Kongrefjes, zu dem 
er fünnmtlihe Sonveräne Europa's nad Paris einlud, und ber berufen fein ſollte, 
alle die zahlreichen ſchwebenden Fragen, vie Italienifch-äfterreichifche wegen Benezien, 
die römifche, die deutſch⸗däniſche, vie polnifhe und die orientalifche, zu löfen oder 


































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Ei encti⸗ ver row ihnen beriirten Easter üef Feagen 
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Anmal unatänreriih gefallen Id uub 5 ſich m Darzım 
hauzie, hele den gefallenen Entiele zu 
briegen, teils anf tiefer Iruntiage tie 
une fo Mes u cine Uetereiufiumung, im 
Eine Una Meinerer , Die von deu fdiwebenben 
waren, und Italien, das nichts zm 
Närten fi bereit, der Einlabung Fraulfrcichs 
Nuflane und Preußen zögerten, bis 
feine Thellnahme befimmı abichmte, 
Fan "ex beklnäniteren Gern 

2. Die von Fraukreich für dieſen Fall i 
verhi Kriege blieb umter den obwaltenden Berhältuiffen freilich mich 
aus, end die Mädte noch über ven Kongreßvorſchlag ichs unter 


Zraufreihs 
haudelten, farb König Friedrich VII. von Dänemart, und fein Tod führte Raate- 
rechtlich eine Lage herbei, welche die Loͤſung der nur zu fange ſchon ſchwebenden 
fiber das enrlihe Shidfal der dentſchen Elbherzogthfiner ganz unamd« 
weichlich machte Der Londoner Bertrag vom 8. Mai 1852, ber zwifchen 
Dänemark und dem ſaͤmmtlichen fünf Großmächten abgefhloffen worden, dem nadı- 
traͤglich auch eine Anzahl anderer Mächte zweiten Hanges fo wie eine Reihe dentſcher 
Mittel: und Kleinſtaaten beigetreten waren, hatte zwar die Frage nad ven Wünſchen 
Dänemarks gegen die Rechte der Herzogthümer und gegen bie Jutereſſen Deutſch⸗ 
lands gelöst, fo daß die Herzogthümer durch die Berjchievenheit der Thronfolge 
von Dänemark nit mehr follten abgelöst werben können; aber einer der Haupt⸗ 
Intereflenten In der ganzen Angelegenheit, der deutfhe Bund, war dem Vertrage 
nicht beigetreten und Hatte denfelben nicht anerkannt und überbieß waren bie Bor- 
ansfegungen, auf die er allein wenigftens mit einem Anſchein von Rechtsgültigkeit 

eftügt werden konnte, von Dänemark nur theilweife und in einigen entſcheidenden 
— **— entſchieden nicht erfüllt worden. Ganz Deutſchland und Dänemark ge 
riethen Im fleberhafte Bewegung, und es gelang den Bemühnngen der Großmächte, 
namentlich Englands nicht, jenes zu beſchwichtigen und dieſes zu vernünftigen 


7 


Mongrefle und Sriedensſchlüſſe. 663 


Konceffionen zu bewegen, Preußen, bas bie Bebeutung ver Angelegenheit für feine 
eigenften Intereffen wie für feine Stellung in Deuiſchland längft erfaunt hatte, 
befaß envli in dem Grafen Bismard einen Staatsmann, ber den Muth und bie 
nöthige Gewandtheit befaß, um für dieſe Interefien mit Erfolg einzuftehen. Gerade 
den Umftond, daß Preußen dem Londoner Vertrage beigetreten war, benützte er, 
am bie nicht⸗deutſchen Großmächte zu beſchwichtigen und von einer Einmiſchung 
abzuhalten, Defterreid über feine legten Ziele zu täuſchen und zu einer Allianz 
mit Preußen zu verloden, indem er der abſolutiſtiſchen Abneigung des Wiener 
Kabinets gegen die populäre Bewegung in Deutſchland entgegen kam. Mit großer 
Geſchicklichteit wußte ex Deferreih in dem nun ausbrechenden Kriege mit Däne⸗ 
mark Schritt für Schritt weiter zu führen. Erſt als die Dinge ſchon viel zu weit 
gebichen und bie Intereffen Dänemarks bereits auf's Aeußerſte bedroht waren, trat 
die Londoner Konferenz (vom 20. April bis zum 25. Juni 1864) zufammen, 
an ber anfer Dänemark und dem deutſchen Bund aud Schweden Theil nahm, 
führte indeß zw feiner Verſtändigung, fondern ging ſchließlich refultatios aus ein- 
ander, ohne daß irgend eine Medi qguf die Seite Dänemarks trat, obgleich Preußen 
fidy während der Konferenz vom Londoner Vertrag unumwunden losgefagt hatte 
und Dänemark ven Beinen heutfchen Großmächten gegenüber mit ven Waffen in 
der Hand mothwendig unterliegen mußte. Der Krieg hatte denn auch ein fchnelles 
Enve: vie Dänen ſuchten um Waffenſtillſtand nad, dem nad längeren Unterhand⸗ 
Inngen der Wiener Friede nom 30. Ditober 1864 folgte. Der deutſche 
Bund wurde von ben riebeusunterhandlungen ausgeſchlofſen, Dänemark mußte 
ganz Schleswig mit Holftein und Lauenburg abtreten, indeß nit au ven Erb- 
prinzen Friedrich von Anguftenburg, obgleih Preußen und Defterreih auf ver 
Londoner Konferenz ſelbſt deſſen Erbrechte auerkaunt hatten, und gu nit an 
ben deutſchen Bund, ſondern an die Herrfcher von Defterreih und Preußen, mit 
ber Berpflihtung, „die Verfügungen anznerleunen, welche biefelben hinſichtlich dieſer 
Herzogthümer treffen würden“. 

3. Preußen Hatte erreicht, was es in erfter Linie angeftrebt hatte. Die 
ſchleswig⸗holſteiniſche Frage wor gelögt gegenüber Dänemark, aber noch unerlevigt 
gegenüber Deutichland. Preußen wor entſchloſſen, fie ſchließlich in feinem Intereite 
und nah feinem Willen zu erledigen, jeder anderen Erledi ung bagegen fi zu 
widerfegen, und Deſterreich hewies nochmals eine un —* urzſichtigkeit, in⸗ 
dem es durch die erwähnte Beſtimmung bes Wiener Friedens Preußen die Mög- 
lichfeit dazu in bie Sand gab. Es follte dafür bald genug ſchwer hüßen. Aus 
der fchleswig-holfteinifhen Frage, gerade fo weit fie n0d ungelöst war, entwidelte 
fi) die beutihe Frage. Die neue Allianz zwiſchen Defterreih und Breufen ſchlug 
über die gemeinſame Bente wiedar In die alte Feindſchaft um, und als Defter- 
veih enplidh feinen Mißgriff erlannte und den beutfhen Bund wieder In die An« 
gelegenheit hiveinjiegen wollte, war es au fpät. Es fehlte ihm dazu die von ihm 
ſelbſt preis gegebene vehtlihe Handhabe und zubem hatte e8 die früheren Sym- 
pathieen ver Mittelſtaoten großentheils verfcherzt. Preußen Hatte das Mefler in 
der Hand und Graf Bismard war entſchloſſen, es zu gebrauden und bie fdyles- 
wigehoffteinifhe Frage zu benügen, um bie alte Rivalität mit Defterreih und 
damit zugleich die deutſche Frage zur Entfcheibung zu bringen. Schon im Sommer 
1865 war ber Krieg auf dem Bunkte auszubrehen. Preußen war dazu bereit und 
hatte foger ſchon mit Italien angekuüpft. Aber Defterreih war es nicht und fo 
lam denn vorläufig ver Bertrag von Baftein (14. Auguft 1865) zu 
Stande, der die Frage nit löste, ſondern lediglich vertagte. Die Streitigkeite 


664 Nadıtrag. 


zwifchen Preußen und Oefterreih fiber Schleswig-Holfteln brachen alsbald auf’e 
Nene aus (vgl ven Nachtrag zum Artikel „Deutſchland“), fie führten zu dem 
Mobilmahungsbeichluffe der Bundesverfammlung vom 14, Juni, den Preußen zum 
voraus als eine Kriegserklärung bezeichnet hatte und als ſolche behandelte. Der 
Krieg war eben fo kurz als entſcheidend. Die Breußen befegten fofort Hannover, 
Kurhefien und Sachſen, ſchlugen am 3. Juli bei Königgräg oder Sadowa unter 
dem Befehle des Königs ſelbſt die Defterreicher in entſcheidender Feldſchlacht auf“s 
Haupt und rädten bis Wien vor, fchlngen die überlegenen, aber uneinigen Streit- 
Träfte der ſüddeutſchen Staaten zurück und waren am 2. Anguft im Befite von 
Naſſau und Frankfurt, Mannheim, Würzburg und Nürnberg. Am 26. Juli wur» 
ben zwiſchen Defterreih und Preußen die FGriedenspräliminarienvon 
Nidolsburg, am 23. Auguft der Friedensvertrag von Prag 
abgeſchloſſen: Defterreih mußte fi dazu verftehen, ganz ans Dentſchlaud auszu- 
ſcheiden; Preußen annektirte Schleswig-Holftein, Hannover, Kurheſſen, Raffan und 
Vranffurt und bildete mit ſämmtlichen norddeutſchen Mittel- und Kleinftaaten bis 
zur Linie des Mains einen neuen Bund unter feiner Leitung. Zagen ſchloß 
Preußen beſondere Friedensverträge zu Berlin, am 13. Auguſt mit 
Württemberg, am 17. Angaft mit Baden, am 22. Auguſt mit Bayern, am 
3. September mit Helen, am 26. September mit Reuß A. L., am 8. Oltober 
mit Sahfen-Meiningen und am 21. Oftober mit dem Konigreich Sachen. Letzteres 
trat ganz, Heflen mit einem Theile feines Gebietes dem norbveutfhen Bunde bei. 
Hinſichtlich der norddeutſchen Staaten erklärte fi (Art. IV. des Prager Friedens) 
Defterreih „damit einverflanden”, daß biefelben „In einen Verein zufammentreten, 
deſſen nationale Verbindung mit dem norddeutſchen Bund der näheren Berflän- 
biguug zwifchen beiden vorbehalten Bleibt und der eine internationale unabhängige 
Eriftenz haben wird". Der angebeutete Verein (Säpbund) iſt bis jet nicht zu 
Stande gelommen und es hat überall nicht den Anfchein, als ob derſelbe jemals 
zu Stande kommen werde. Dagegen ſchloſſen die drei ſüddeutſchen Staaten noch 
im Jahr 1866 und zugleich mit ihren Friedensverträgen, Heſſen aber erſt nach⸗ 
träglich im Jahr 1867, mit Preußen Schutz und Trutzbändnifſſe ab, 
buch welche ſich dieſelben verpflichteten, für den Kriegsfall den Oberbefehl über 
die Truppen dem Könige von Preußen zu übertragen, wogegen ihnen dieſer die 
Integrität ihrer reſp. Gebiete garantirte. Der wülrttembergiſche Bertrag wurde am 
13., der badiſche am 17., der bayeriſche am 22. Auguſt 1866, der heffiihe am 
11. April 1867 in Berlin unterzeichnet. Ferner fchloffen viefelben vier Staaten 
mit Preußen am 4. Juni 1867 einen Prältiminarvertrag gu Berlin 
behufs Wieverherfielung des Follvereins af, der am 8. Juli zum Abſchluß 
ber definitiven Verträge führte. Dur dieſe Verträge wurben biefelben für bie 
Zollangelegenyeiten fo wie für gewiſſe invirefte Steuern dem norbbeutfhen Bunde 
ein» oder doch angefügt, Indem mit Beſeitigung des bisherigen liberum veto ber 
einzelnen Zollvereinsgliever die Entſcheidung in biefen Dingen von einem über: 
einftimmenven Beichluffe der Regierungen und ber Bevölferungen abhängig ge 
macht und zu dieſem Ende ver Bunbesrath des norbbeutfhen Bundes durch Ber- 
treter ber ſüddeutſchen Regierungen, der Reichstag des norbbeutfhen Buntes durch 
Bertreter der ſüddeutſchen Bevölkerungen verflärft und als „Zollparlament“ Ton» 
ſtituirt werben follte. Durch beive ift die Erweiterung des norbdentfchen zu einem 
ganz Deutihland umfaflenden Bunde wenigftens angebahnt und der Eintritt oder 
Beitritt der fünbentihen Staaten zu jenem offenbar nur noch eine Frage ber Zeit: 


Kongreffe und Sriedensfchlüffe. 665 


4. Zu derſelben Zeit, da im Juni 1866 der Krieg zwiſchen Preußen und 
Defterreih ausbrach, begann au Italien, gemäß dem von ihm am 9. April mit 
Preußen abgefhlofjenen Bündniß, die Feindfeligleiten gegen Oeſterreich. Die ita- 
Iienifhe Armee wurde nnter dem General Lamarmora am 24. Juni bei Euflozye 
von den Deflerreihern unter dem Erzherzog Albrecht nnd bie italienifche Flotte 
unter dem Admiral Perfano am 21. Juli bei Life von der Öfterreichifchen unter 
dem Admiral Tegethoff glänzend gefchlagen. Dennod trug Italien als Preis ven 
Erwerb Beneziend davon, aber es verdankte venfelben lediglich dem Siege ber 
Preußen über die Defterreicher bei Königgräg. Oefterreich erlitt bier eine fo voll- 
fändige und fo entſcheidende Nieverlage, daß der Kaifer Franz Joſeph ſich ent- 
ſchloß, Benezien fon am folgennen Tage (4. Juni) beringungslos an ben Kaifer 
der Franzoſen abzutreten, um durch dieſen Schritt fi) vielleicht die materielle, 
jedenfalls aber die diplomatiſche Unterftägung Frankreichs gegen Preußen zu fichern 
und zugleich über venjenigen Theil feiner Streitkräfte, der bisher Italien gegenüber 
geflanben hatte, gegen bie anrückenden Preußen verfügen zu Können. Erſt als bie 

efterreicher nach Norden abzogen, rädten ihnen die Itallener nad uud befegten 
das Beneztantfhe, das ihnen denn au burh den Friedensvertrag zu 
Bien vom 3. Oftober 1866 gefidyert blieb, obgleih Frankreich fein formell er⸗ 
worbenes Recht wahrte, nnd nachdem die Bevölkerung fi durch allgemeine Ab⸗ 
flimmung für die Bereinigung mit dem Königreich Italien ausgeſprochen hatte, 
durch feinen Bevollmächtigten das Rand denjenigen bes Königs von Italien über- 
geben ließ. Italiens Anfprüche mef das Trientinifhe fanden dagegen In Folge bes 
unglädlihen Ausgangs der Schlacht von Cuſtozza, und da Preußen ihm dießfalls 
feine Unterflügung verfagte, feine Befriedigung, nnd feine weiteren Anſprüche auf 
Trieſt, Iftrien und Dalmatien wurden durch den öſterreichiſchen Sieg bei Liſſa 
zum minbeften auf längere Zeit völlig in den Hintergrund gebrängt. 

Die Entſcheidungen, welche die legten Jahre in den Angelegenheiten Italiens 
und Deutſchlands gebracht haben, werben ihren Einfluß and anf vie einflige Wſung 
ver orientalifhen Frage ausüben. Dur ven gleichzeitigen Verluſt feines 
deutſchen und feines italieniſchen Einfluffes auf fih felbft zurädgeworfen, hat 
Defterreich eublich mit dem ganzen veralteten Wuft feiner inneren Zuſtände gründ- 
lich aufgeräumt, fih durch den Ausgleich mit Ungarn eine nene Organifation anf 
ber Bafis des Dnalismus gegeben, feine Berfaffung in liberalfter Weife ausgebaut 
und {ft durch die thatfächliche Befeitigung des Konkordats auch feinerfeits nunmehr 
in die Reihe der modernen Staaten eingetreten. In ber Ordnung ihrer Inneren 
Zuftände haben die dentfchen Provinzen Oeſterreichs in Folge der Ereigniſſe des 
Jahres 1866 unenblih gewonnen, aber, fo ſchwer das Geſtändniß dem Deutſchen 
fallen mag, leugnen Täßt es fi wicht, daß durch die Ausſcheidung ans Deutſch⸗ 
lond und durd das Emporlommen einer felbfländigen und gewaltigen deutſchen 
Macht ohne Defterreih, das Schwergewicht der Monardie thatfächlih allerdings 
von Wien nad Ofen verlegt worden ifl. Die felbftändige Aufgabe Defterreihs im 
Weſten hat im Wefentliben ihren Abſchluß gefunden, feine lange vernachläßigte 
Aufgabe im Oſten beginnt erft und bat jebenfalls nunmehr ein gauz anderes 
Gewicht gewonnen als bisher. Die Löfung der orientalifhen Frage iſt für Defter- 
rei geradezu zu einer Frage Über Sein oder Nichtfein geworben. Die öffentliche 
Meinung in Oeſterreich fühlt dieß bereits fo zu jagen in allen Adern und der 
erfte entſcheidende Kanonenſchuß auf der Ballanhalbinfel wird auch den lebten 
Zweifel verfcheuchen, der darüber noch beftehen möchte. Wenn Deſterreich ſich 
auf feiner neuen Grundlage wirklich zu Tonfolibiren vermag, fo ift es fein und 


668 Nechtrag 


nicht Ruſlaude Beruf, das Donauthal ver eusopälfchen CTiviliſation zu gewinnen 
und die Rolle eines Proteltors ſei es über die Pforte, ſei es über die auf ihren 
Zrünmern entſtehenden neuen Staatenbildungen zu übernehmen. — Zur Bernolllän- 
digung der Ueberficht ift bier noch anzuführen: 

5. Das Londoner Protokoll vom 14, November 1868, durch welches die Cin⸗ 
verleibung der Joniſchen Inſeln in das Kanigreich Griechenland ſauktionirt 
wurde. 


6. Das Londoner Protokoll vem 11. Mai 1867, durch welches die Hexr⸗ 
ſchaft des Hanfes Draniem-Raflon über das Großherzogthum Lurenburg 
anerlaunt fowie die Neutralifirung bes Großherzogthums, die Räumung ver Feumg 
von Seite Preußens und die Sqchleifung verfelben ansgefprocdgen wurde. 

7. Das Pariſer Protofell vom 21. Jannar 1869 und die tarin vom dem 
ſaͤmmtlichen Großmachten, Italien inbegriffen, nievergelegte Dellaration, durch welche 
bie wegen der Infel Caudia zwiſchen der Pforte una Griechenland [hen 
ſeit längerer Zeit ſchwebende Syannung, bie feit dem 1. Dezember 1868 ſich zu 
einer Frage Über Krieg und Friede zwiſchen ihnen zugeſpitzt Batte, befeitige und 
die Gefahr eines neuen Ausbruche ber orientalifGen Grage geheben werben foll. 
Das Ergebuiß dieſer diplomatiſchen Bemühungen wird in dem Nachtrag zum 
Urtilel Türkein vegiftirt werdru lönnen. oe 


Metternich. 


Zwei große Ideen bewegen bie Nenzeit ſeit 1789, die Idee von der 
Berfönlidleit der Böller und die Idee von der polttifden 
Freiheit ver Gefellfchaft. Jede Staatslehre, die unferer Zeit ebenbärtig fein 
will, muß von ihnen ausgehen und jede Staatöluuft unferer Tage muß fie ihrem 
Redimnugen und Beftrebungen zu Grunde legen. Unfer Urtheil über Werth und 
Unwerti der einen wie der anderen hängt in erfler Reihe von ber Stellung ab, 
die fie zu diefen allmädtigen Hebeln der modernen Entwickelung einnimmt; auch 
das Syſtem und das Berfahren Metteruihs muß hienach gemeflen werben. 
Fürſt M. Iannte beide Ideen, aber er auerlannte fie nicht; fie waren für ihn 
nicht fittliche, weltgefchichtlide Mächte, ſondern unheimlihe Gefpenfter, vie ihm 
die Nachtruhe raubten, Brandfäden in den Händen leder Verſchwörer, die bem 
ganzen Bau ſeiner Weltordnung in vie Luft zu ſprengen drohten; vie Todes» 
ang vor dem Ginheitsprang der Nationen unb tem Freiheits 
drang ber Geſellſchaft nannte er fein „Brincip“ ober fein Syſtem“ 
und ber Inbegriff von Mitteln und Mittelhen, ihren Ausbrud zu werhüten ober, 
wenn er unverſehens geichehen war, wieber zu erftiden, machte feine Staatsweis- 
heit oder beſſer gefagt, feine Routine aus. 

Bollig fruchtlos ift jeder Berfuch, in ven mündlichen und fchriftliden Kund- 
gebungen, wie in ven thätlihen Aeußerungen feiner Bolitil, angefichts ihrer zahl- 
Iofen Widerſprüche, irgend einen pofitiven Grundgedanken feſtzuhalten; 
wenn für Talleyrand die Sprache dazu da war, um die Gedanken zu verhüllen, 
ſo war fie für M. bei allen wirklich ſchwierigen Fragen dazu da, um ſeine 
Gedankenlofſigkeit zu verſchleiern. Hält man aber feine Handlungen und 
noch mehr feine Unterlafjungen mit den Worten zuſammen, in denen er fein an⸗ 

eblih „unwanbelbares" Syſtem vorzutragen liebt, fo weiß man in ber großen 
— 2* ber Fälle nicht, worüber man mehr erſtaunen ſoll, ob über die Dreiſtig⸗ 


Metternich. 667 


teit bes Selbſtbetrugs oder über bie gelftige Armſeligkelt eines Diplomaten 
geſchlechts, weiches mit fo unglanblid wenig Wis zu mihſtificiren war. „Defter- 
rei ändert fein Syſtem niemals und unter keinen Umſtänden“ fagte er 1829, 
als er die Unterflüägung der griechifhen Revolution durch Rußland zugelafien, vie 
mit allen Kräften zu hindern, nad feinem eignen Geſtändniß Oeſterreich durch 
die Konſequenz“ und „pie Pflicht der Selbfterhaltung” aufgeforbert war; in 
der Frage des ſchweizeriſchen Sonderbundes hat er, wie jegt W. Schmidt nach⸗ 
gewiejen, feine Meinung und Haltung binnen einer Woche mehrere Male von Orund 
aus geändert; bie Einverleibung Krakaus 1846 war ber erſte eigenhäubige 
Mordanfall einer der Kongreßmächte auf die Wiener Berträge und doc hatte M. 
unzahligemal erflärt, Defterreih mwürbe die legte Macht fein, welche ven Rechts- 
boden der enropäifchen Friedensordnung preitgäbe Trotzdem blieb das Syſtem 
im S$rinchp „feit und unbezwinglid wie ein Fels“; geftattete es doch, wie er 
1834 dem flaunenden Barnhagen von Enſe anseinandergefett, in ber Anwen⸗ 
dung, „taufend Mopifilationen" , mußte doch nad diefem Programm ein Staate⸗ 
mann nit „eine Stange von Eifen”, fendern gleich einer „Stahlfeder fein, vie 
fi unter jebem Drude biegt, ihm aber auch wiberfieht und gleich wieder, wenn 
er aufhört, vie frühere Geſtalt annimmt”. DVerfihert dann berfelfe Mann in 
einem Athemzuge, er „haſſe ben Liberaliemus, aber im beſten Sinne liberal zu 
fein, dürfe ex fih wohl rühmen” und lehrt er den badiſchen Miniſter von Ber- 
fett, Neuerungen feien unzuläffig, außer wenn fie „durchanusg nöthig werben 
foßten”, dann aber müßten fie „in volllommener Freiheit“ vorgenommen 
werben, fo haben wir augenfcheinlih einen Staatsweifen vor uns, deſſen Syſtem 
die Syſtemloſigkeit, deſſen Konfequenz die Gewohnheit bes Widerſpruchs ift und 
ben ber Herzog von! Raguſa richtig zeichnete, als er fagte: homme de conoessions 
il ne parle que prin . 

Unwandelbar ift M. nur in einem Gedanken, in dem, Miniſter zu 
bleiben um jeden Preis; Ihm opfert er gute und ſchlechte Abſichten, ihm 
zu lieb gibt er Städ für Städ, auch von bem Scheine, feines Suftemes auf, 
ihm bingegeben ſchlägt er im ven legten 24 Stunden feiner Amtefährang feine 
ganze Vergangenheit in die Schanze und ſcheidet von ver Bühne nicht wie ein 
Held, der auf feinem Poften fällt, ſondern wie ein Fahnenflüchtling, der fruchtlos 
am Pardon gebettelt. | 

Diefes Eine, worin fih DM. während feiner viezigjährigen Amtsnerwaltung 
unverbrädlih treu geblieben iR, wird Niemand ein „PBrincip”, ein „Syſtem“ in 
dem Sinne nennen wollen, ben gewöhnliche Sterbliche mit dieſen Bezeichnungen 
verbinden; von diefer einen Konjeguenz aber abgefehen, findet fi in ven Zeng- 
niffen feiner langen Thätigkeit keine andre als die hartnädige Leugnung bes 
Beitgeiftes, die verſtockte Abwehr feiner nationalen wie ferner poli- 
tifchen Forderungen, beides Anfangs „um jeven Preis”, fpäter „bis an bie Gren⸗ 
zen der Möglichkeit”. 

Ein rein negatives Programm Fieſer Art zeugt gewiß nicht für einen 
Staatamaun vom ſchopferiſchen Ideen, aber es kann zu einer gewiſſen Größe 
geadelt werben durch eine rüädfihtsles, unnachgiebige, felbft vor tragiſchen Ver⸗ 
widelungen nicht zurüdjchenende Folgeſtrenge des Handelns; eine ſolche beſaß M. 
nicht, wie wir bereitö angedentet und im Nachfolgenven eingehend zeigen werden 
und er konnte fie nicht befigen, weil ihm einmal vie Stärke des Charakters und 
fodann jener Ölaube an feine Sade fehlte, ver allein Helden zu erzeugen 
bermmng. 


688 Nachtrag. 

Bir find mit U. Schmidt der Ueberzengung, daß es M. volllommen Gruft 
war mit der unaufhörlichen Betheurung, er ſehe eine ungeheure Feuersbruuſt tm 
Anzuge, die früher ober ſpäter bie ganze beſtehende Orduung Europas verſchlingen 
werbe, daß er dem monarchiſchen Princip an und für ſich in der That die Fähig- 
feit nicht zutraute, ſich gegemäber ver „im Sturme vorwärts ſchreitenden Zeit“ 
unverſehrt zu behaupten, und daß er, bei aller Lächerlichlelt der Deuunctatiowen 
im Einzelnen, allervings ter Meinung war, nicht bloß im Deutſchland, ſondern 
in Europa überhaupt „gebe die Revolution mit ſtarken Schritten ihrer Reife 

em". 


Richt dem monarchiſchen Princip, fontern dem „Suftem” von Mitteln zum 
Schutze desſelben, in deſſen alleinigem Befig er fi glaubte, ſchrieb er die ge 
heimnißvolle Kraft der Erhaltung und Wieberbelebung zu; das geht ganz Flar 
hervor aus dem Geſpräch mit Barnhagen won Enfe, wenn er viefem feine 
als das allein „Beharrenve” darſtellt, wo während Alles want umb wechfelt, 
. das Suchende fich anfchließen, das Berirrte feine Zuflucht finden konnte“, und no 
fiorer aus ben fonft ganz unverſtändlichen Werten, mit denen er fih am 13. Mär, 
1848 gegen die Unterftellung verwahrt, als hätte er durch feine Abdankung „bie 
Monerdie davon getragen”. Er muß ſich doch wohl für den Edflein gehalten 
haben, mit deſſen Weichen Alles zuſammenbrechen werde, wenn er „mit Sicher⸗ 
heit vorausfehen konnte”, man werde ihm die Schuld der Kataftrophe, des Unter- 
gangt der Monarchie, aufbürnen. Auch bie wiederholt (zuerſt in dem Schreiben 
am Berſtett) ausgeſprochene Übneigung gegen offene Staatsſtreiche und 
gewaltfamen Berfaffungsumfturg, die ſelbſtverſtändlich die Neigung zu 
ſchleihenden Rehtsbrud durch Benntzung der „Handhaben“ alles Kom- 
fitationaliemus nicht ausſchloß, läßt fi nur aus der Unnahme erflären, daß 
fein Glaube an die wirkliche Kraft des Abſolutismus nicht fo weit trug, als der 
der Ultras in Parts, in Kaffel mb Hmmmoner und daß er es vermeiden wollte, 
das obmehin ſtarke Gefälle ter, wie er fo oft ausſprach, unausbleiblichen Ent- 
widiung no zu beſchleunigen; ganz ebenfo ſteht es wohl mit den vom maras- 
mus senilis angefränfelten Reformanläufen, die er wenig Jahre vor dem Sturz 
tren nach ber Schablone preuftiher Ordonnanzen beabfihtigt, offenbar nur, damit 
nit die „unbenutzte Kraft, die fih ſtets einen Weg zu bahnen wifle, vom ber 
höchſten Schichte in die niedere herabfinte" und fo bie elementare Gewalt der 

von unten ber verftärke. 

So hat es fein Bewenven bei dem „Wochenpolititer”, den ſchon Talleyraud 
und Stein auf dem Wiener Kongreß in ihm entdedten, „der fly vor jeber Fräf- 
tigen Maßregel ſchent, fih das Ziel nahe ſteckt und fi flets mit kümmerlichem 
Flickwerk behilft“, und die Schilderung Barnhagens behält Net: „in großen 
Dingen, entſchloffener Kraft gegenüber, hat ex immer nachgegeben und dann mie 
ber im Nleinen hiuterliſtigen Widerſtand dabei angewendet, er bat Leinen 
andren Muth als ven feines Platzes“. 

1. Die Anfänge 1773—1809. Clemens Wenzel Nepomuf Lothar 
Graf von Metternig M am 15. Mat 1773 zu Koblenz geboren. Gein 
Vater war öoͤſterreichiſcher Geſaudter am Hofe des Kurfürften zu Trier und drei 
feiner Vorfahren waren Grzlanzler zu Mainz umd Trier geweien. Bon dem 
Charakter des Ideentreifes, in welchem ter begabte Sohn einer an ben geiftlichen 
Höfen der Rheinlande heimiſchen Adelsfamilie jener Tage naturgemäß aufmachen 
mußte, lönnen wir uns nicht leicht mehr eine Borftelung bilden. Sicher iſt dad 
Eine, daß den deutſchen Bewohnern des linken Rheinufers von damals die Iren 





Acttexnich. 663 


Staat und Baterland vollflänbig abgingen, unb daß erft bie harte Schule 
der 21jährigen franzöfifcgen Okkupation viefen verlorenen Poften des deutſchen 
Weſens unferer Nation und unferer politiihen Zukunft gerettet bat. Keines ber 
deutfhen Völker, fagt eine deutſche Flugſchrift von 1793 („die Yranzofen am 
Rheinfirom" , ©. 80) bat weniger Charakter als vie Rhelnländer: großer Lafter 
ebenjo unfähig ald großer Tugenden, mit keiner vorftechenden Leidenſchaft begabt, 
fheint ihr größtes Glück zu fein, einen weifen Regenten zu haben, ber ihre 
Schwächen und ihren Leichtſinn durch gute Gefege leitet”; die Urfache dieſes 
Grundmangels findet der ungenannte Verfaſſer weniger in dem „fhlaffen” Klima, 
und in der „mubezwingliden Säure felbft der beften Weine (!) des Landes, bie 
nit viel Schnelllraft zu geben vermöge”", als in dem Fluch der Klein» und 
Bielftaaterei, die auf den Bewohnern biefes fonft gefegueten bentjchen Lan⸗ 
des lafte und fie von Hauſe aus für große Angelegenheiten und allgemeine Em⸗ 
pfindungen abflumpfe. 

Der mäßige Tanpfirih von etwa 300 Meilen ift, die Reichsritterfchaft 
und Ordensbefigungen ungerechnet, unter mehr ald 20 Staaten getheilt, fo daß 
man felten 4 oder 5 Stunden Weges mahen kann, ohne mehrerlei Gebiet zu 
Berühren; zwifchen viefen „Ameiſenhäufchen“ gibt es Fein gemeinfames Interefie, 
nicht einmal ein gemeinfamer Stammesname erinnert die leibeignen Unter« 
tbanen von vielen dutzend Gebietern daran, daß fie einem Volle angehören. Der 
Spruch: „Vaterlaud hin, Vaterland ber”, in vem eine Koblenzer Flug⸗ 
ſchrift von 1794 ihre geſammte Weisheit zufammenfaßt, war das echte Wahr- 
zeichen einer durch das Pfaffenthum geiftig und wirthſchaftlich aufgeriebenen, durch 
die Kleinſtaaterei politiſch und fittlih entwärbigten Bevdlkerung. Wundre ſich 
Niemand über die Verwüſtungen, welche die Ideen von 1789 in ven begabteren 
Köpfen eines unter folhen Zuftänden großgeworvenen Geſchlechts angerichtet 
haben, aber auch Niemand über die namenlofe Blafirtheit derjenigen Nheinländer, - 
die fi diefem Rauſche entzogen, die trocknen Fußes und erfrornen Herzens durch 
die gewaltige Zeit hindurch gewandelt waren und die fi die vaterlandlofe After 
klugheit jener vorſündfluthlichen Tage unverfehrt bewahrt hatten. Die beiden 
Koblenzer Görres und Metternich können als klaſſiſche Belege diefes Gegen⸗ 
ſatzes in ber Uebereinftimmung gelten: der jugendliche Ialobiner, deſſen erfte Xiebe 
der ciarhenaniſchen Republik gegolten, der mit 21 Jahren ven Abſchluß des Frie⸗ 
dens von Campo Zormio mit der berühmten Leichenrede auf das heil. römiſche 
Reich dentſcher Nation begrüßt und in bemfelben Monat (December 1797) die 
unvergeßlihen Worte druden ließ: 

Die Natur ſchuf den Rhein zur Grenze von Frankreich; 
webe dem ohnmächtigen Sterblidden, ber ihre Grenzſteine verrücken und Koth— 
und Steiuhaufen ihren fharfgegogenen Umriſſen vorziegen wollte! — und da» 
neben der vornehme Kavalier aus dem Kreife jener rheiniſchen Apelöfomdilien, die, 
nachdem fie erfi mit den Emigranten des alten Frankreich um eine flächtige Here 
lichkeit gebuhlt, nachber in den Rheinlanden kein Vaterland, wohl aber fette 
Pfrünben verloren und. denen ernfle Männer, wie Georg Forſter, die gewiſſen⸗ 
Lofe feige Blut vor den Sanschletten nie verziehen haben; ber feine 
der noch in dem breißiger Iahren gegen Guizot Werth darauf legte, daß er im 
Bereich des franzöfiichen Revolution groß geworben, von Männern, wie Koch und 
Niklas Bogt feinen Unterricht erhalten, aber fih ven erſchütternden Begebenheiten 
gegenüber „vie Unabhängigkeit und Ruhe“ des Geiles bewahrt babe 
„nuchtern bin ich geboren und nüchtern ſtes geblieben" — beide find Kinder 




































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Metternid: 671 


(ih war es auch nicht Jedem gegeben, vie gelegentlihen Yußtritte des Kaiſers 
und feiner Marſchälle mit reglementmäßigem Dante binzunehmen, wie es M. 
gleihfalls gethan hat. 

2. Die Bermittelung zwifhen Sähwiegervater und Schwie⸗ 

erfohn 1810—1814. Am 20. Februar 1810 Hatte mit dem Tode Andreas 
Sofere zu Mantna die legte Zudung bes öfterreichifchen Freiheitskrieges von 1809 
ih ansgebtutet,; unt noch nicht fechs Wochen naher (2. April) fand eine che 
liche Verbindung zwiſchen ven beiden Höfen ftatt, die ſich eben noch anf Leben 
und Tod beiriegt. Die Batrioten wie bie Legitimiften knirſchten ob des unerhörten 
Wandels, die Maſſe fand den Galgenhnmor zu dem befannten Wigwort: „jet 
if er bin, jest haben mir ihm das öſterreichiſche Unglüd und die Öfterreichifche 
Dummbelt vaccinirt“, aber „trunfen vor Freuden, wie Gentz in feinen Tage 
büchern fich aunsbrädt, war ver nene Minifter des Auswärtigen, Graf Metter- 
nich (feit Oftober 1809), der bei Vermittlung dieſer Heirath feine erfte biplo- 
matiſche Heldenthat verrichtet hatte. Die entfchloffene Realtion der fterreichiichen 
olitik hatte begonnen und M. war Ihr geborener Miniſter. Als im April 1809 
herzog Karl ven bewaffneten Böllern Defterreichs zurief, „bie Freiheit Europas 
bat fih umter eure Fahnen geflüchtet“, als der biäherige Hort der Legitimität zu 
einem Syſtem der „Revolutiontrung” griff und fi auf das Eis einer nationalen 
Bewegung ftägen wollte, fär die fi wohl Hunderte von Berfhworenen, aber 
nicht Fin einziger Staat als Hilfe anbot, da hatte man die afte Lehre Kobenzis 
vergefien, bie da bejagte: „einem vorbeingenbem Feind kann ich jeberzeit mit einer 
Prov n den Mund Ropfen, aber das Volt bewafinen, heißt ven Thron um⸗ 
flärzen”, und als nun der vielverheigende Vollskrieg gefellert war, da hatten 
al die Kleingläubigen, die Mattherzigen Recht behalten, ver flüchtige Anlanf zu 
einer großen ‚ idealen Bolitit, wie ihn das Miniftertum Stadion vertreten, hatte 
mit bitterfter Enttauſchumg geendet, wie eine ſchwer beftrafte Yahnenfluht wurbe 
er fiber verabfhent und vie Rückkehr in die gewieſenen Gleife der alten unnatio⸗ 
nalen und zeitwibrigen Kabinet6politit des auswärtigen Amts war für immer 
entfchleden. Für folde Lage war M. der rechte Mann, die trübe Rückfluth, melde 
dem verfehlten Auffhwung von 1809 jegt folgte, bat ihn emporgetragen. Das 
unbeflegbare Mißtranen gegen alle organiſchen Triebfedern des ſtaatlichen Lebens, 
bie eiferfüchtige Angft vor jeder Selbftthätigkeit ver Maſſen und das vornehme 
Selbſtgenügen an diplomatiſchen Mandvern und Abmachungen bes grünen Tiſches 
— das war bie öfterreichifche Politik der Niederſchlag der 1809 empfangenen 
Lehren. Die Roth der Zeit nahm zu von Jahr zu Jahr, der Kampf gegen die 
Geißel Europas wurde immer gewaltiger, der Doppelfrieg gegen den Drang ber 
inneren und änßeren Lage forderte Immer größere Mittel und ungemwöhnlichere 
Waffen , aber Oefterreih hatte werer Stan fie zu finden noch Muth, fie anzu⸗ 
wenben. 

In Preußen heilten Stein und Harvenberg die Gelpnoth des Staates, Indem 
fie den Boden entlafteten, die Arbeit befreiten, die Duellen des Wohlſtandes 
öffneten; in Deflerrei rettete man den Staat durch eine Finanzmaßregel, vie 
Hunderttaufende zu Bettlern machte. In Preußen flug eine Heine Anzahl 
genialer Organffatoren die Waffenſchmiede der Befreiung Deutſchlands und 
Eutopas auf, indem fie durch Errichtung eines nationalen Heeres bie dentfche 
Kultur wehrhaft machten, durch Begründung der Selbftverwaltung der Gemeinden 
dem freien Bauer und dem mänbiggefprocdhnen Bürger ein Vaterland gaben, für 


— — — 



















672 Nachtrag. 


das er freudig zu ſterben bereit war, und in Oeſterreich galt als ba dau 
größtes, Napoleon diplomatiſch zu verfühnen oder, wenn das mit gi, ii 
diplomatiſch zu befiegen. | 

Dieß Leptere war ME Domaine. Rapoleon burchfchaute ihn u nie. 
fein Verfahren vollkommen richtig, als er Herzog von Baflans ja: je 
von M. verwechſelt die Intrigue mit der Politil“, aber hindern foazt: a ul 
daß ſeit der Katafirephe in Rußland dem Manne, dem er tief veradte, wi 
die Ereigniſſe felber eine Urt fchiebsrichterlicher VBermittlerrofle zufiel, wi ik 
u mit einer gewichtigen Thatfahe rechnen mußte, fo ärgerlid im i 

ar 


war. 

Das diplomatiſche Doppelfpiel, mir dem M. in den erfien Monda 4; 
Jahres 1813 die wirklichen Abſichten feiner Politit und ben Zweck ya de 
reichiſchen Rüſtungen vor dem Grafen Otto ebenfo gefhidt zu verhehlen mei 
wie Harbenberg die feinen vor St. Marſan, wäre immerhin einiger Aaedsmf 
werth, wenn der Zwed geeignet gewejen wäre, wie 1809 das Mittel zu he 
Über das zuzugeben, ift einem Dentſchen unmöglich, venn das Ziel der Bam 
lung zwiſchen Schwiegervater und Sämiegerfohn, welde den ganzen beit 
Freiheitskrieg von 1813 und 1814 begleitete, war ein fauler, ſchmählicher Fut 
deffen Anträge und Bebingungen uns jept noch das Blut in die Wangen trak 
wenn wir denken, daß es uur an Napoleon lag, auf Grund eines ſolchen % 
trags mit Hilfe Oeſterreichs das namenlofe Elend unferes Volles zu veremign. 

„An dem Tage, wo ih Ihnen meine Tochter gegeben babe, ſchrieb Ralf 
Sranz Ende Mai 1813 an Rapoleon, ift Ihre Ehre aud die meinige gewerda 
Bertrauen Sie mir, ich werde Nichts, was Ihrem Ruhm nachtheilig wäre, ve 
Ihnen verlangen“. Iu der That waren die Bebingungen, unter denen Defterrek 
Monate lang bereit war, das Bündniß vom 14. März 1812 im WBefeutliden 
aufrecht zu erhalten, alles Andre eher als ehrenrührig oder empfindlich; bei ta 
Erinnerung an dieſe Bebingungen, für bie Defterreih no im Juni des Jahres 
nöthigenfall3 das Schwert gegen Rußland und Preußen ziehen wollte, läuft einem 
Mann wie Thiers heute noch das Wafler im Munde zuſammen. Welch cn 
Friede! zuft er aus. Frankreich behält, abgefehen von Belgien und ben deutſcher 
Landen anf dem linken Rheinufer, die franzöflihen Departements Holland, Pie⸗ 
mont, Toscana, Kirchenſtaat, die Bafallenreihe Weftphalen, Yombarbei, Neapel, und 
opfert nichts al8 das Großherzogthum Warfhan an die Theilungsmädte, JUyrien 
an Defterreih, die drei Hanfeftädte Hamburg, Bremen, Lübed an ein Dentſch⸗ 
land, dem vie erſte Bedingung der Eriftenz fehlte, fo lange Frankreichs unmittel- 
barer Einfluß bis an die Elbe reichte. Denn was wollte eine „Auflöfung des Rbeim- 
bundes“ heißen, wenn das Königreich Weftphalen beftehen blieb und Preußen im 
Bolen entſchädigt, d. h. aus Deutſchland Hinausgebrängt wurde? Thiers meint, 
unter den Marfhällen hätte eine Menterei ausbrehen müſſen, wenn fie gewußt 
bätten, wel ein Friede e8 war, den Napoleon mit Enträftung verweigerte, er 
nennt dieſe Ablehnung „einen Irrthum fo verhängnißvoll ald ven Feldzug nad 
Rußland“, aber wie follen wir Deutſche eine Politit nennen, die uns auf folde 
Bedingungen preiszugeben bereit war? 

Nicht einmal Hug vom engflen Afterreihifhen Geſichtspunkt aus durfte fie 
heißen, denn wie wollte dieſes tief getroffene Staatswefen zur alten Macht fi 

wieder erheben, wenn ver erfie Kriegsfärft tes Jahrhunderts, der Verträge nur 
ſchloß, um fie zu brechen, ſobald es ihm gut dünkte, vechtlih und thatſächlich im 
Befitze einer Macht blieb, die ihm geftattete, nicht Bloß die Almofen, durch deren 


— — 


—— — 


s Aeiterniqh. 678 


nen Aeknmerfen er eine willlommene Frift erfauft, jeden Augenbli wieder zurüdzu- 
AMhmen, fordern auch ganz Europa von Neuem in tie Schranken zu fordern? 
olben zT von einem Geſichtspunkt kann man dieſem Verfahren eine gewiſſe Richtig- 
olcon hal; nicht abſtreiten, wenn man nämlich ſein maßgebendes Motiv erwägt, die 
damuin g ſi vor dem Freiheitsdrang der Nationen, den das erhebende Bei⸗ 
if „ie niel des preußiſchen Volls erwedt und bie Proflamation von Kaliſch gewiſſer⸗ 
ane, ahaßen mit der Weihe der Legitimität ausgeftattet hatte. Größer als bie Furcht 
taiimigx einem mächtigen Napoleon, war bie vor dem bewaffneten Zorn ber zertretenen 
must, idölker und die Öfterreichifche Diplomatie hat nie Etwas aufridtiger gemeint, als 
098 Schwarzenberg zu. Paris äußerte, „Nichts widerfirebe feinem Monarchen 
R. a amehr als eine Wendung der Dinge, welche vie geheiligten Bante zwiſchen Fürſten 
lt ru Völkern zu zerreißen trachte und ein gekröntes Haupt, wie jegt in Preußen, 
gie das mnbeilvolle Verhältniß einer Stellung — an der Geite feines Volkes 
'imahsringe; Alles müffe aufgeboten werben die jakobiniſche Gährung zu erftiden, bie 
160 wiäglih weiter um fich greife”. Auch ein. fauler Friede erichien diefer Politik noch 
tanisiglnfliger als ein Krieg fcheinbar. an der Spige, der That nad im Schlepptau 
vek miaufgeregter revolutionärer Glemente und tarum war das Erſte, deſſen fi Kaifer 
i ſat Franz und M. beim Eintritt in das Bündniß wider den Schwiegerfohn ver- 
But usificherten, die ausdrüdliche Bereitwilligkeit der Allirten, dem „verderblichen Geiſte“ 
[6nes der „jalobinifhen Ungehenerlichkeiten“ des Kaliſcher Aufrufs zu entfagen und 
{m lafertan die lorrekten Bahnen eines nüchternen Kabinetöfriegs zu wandeln; darum 
ak: auch war es fpäter diefes Monarchen größter Triumph, „mit Ordnung“ fertig ge- 
ms bracht zu haben, was Andere „mit Unordnung” unglücklich begonnen hätten, Dieſer 
zu: Stellung zu Napoleon entfprady es durchaus, daß der Chef der öſterreichiſchen Krleg⸗ 
ne führung, Schwarzenberg, ein Diplomat im Waffenrocke und daß ber wirkliche Held 
pp} des ganzen Feldzugs nicht einmal er, fondern M. war; der Krieg hatte für Defterseich 
za Miht den Zwed, Napoleon zu vernichten, wie für bie Jalobiner des preußifchen 
‚a5: Volksheeres; fondern allein den, ven ftörrifgen Schwiegerfohn mürbe zu maden, daß 
ni; er fih mit dem Schwiegervater abfinde in einem für beive Theile vortheilhaften 
de! Länderfchacher und wenn das nicht gelang, ihn aus Deutichland fänberlich hinaus zu 
‚a; Mandvriren. DM. ſelbſt hat dieß fpäter fo Mar gelegt, als nur irgend möglich; ber 
„is Aufrichtägfeit feines Verdruſſes darüber, daß all feine Bemühungen, Napoleon golone 
ib Brücken zu bauen, zumeift an deſſen eignem unheilbaren Starıfinn ſcheitern muß« 
‚ai ten, kam nur ber Heiterkeit der Ueberrafhung gleih, mit der er öfterreichifche 
Pr) Geſchichtſchreiber deutſch⸗patriotiſch beflifien fah, ihm den Ruhm viefes Thuns zu 
nis ſchmälern, indem fie die maßgebende Einwirkung feiner Diplomatie auf die Heer- 
führung Schwarzenbergs läugnen wollten; fo bat er auf die Frage, warum 
„4 Shmarzenberg nad) der Schlacht von Brienne nicht nah Paris marſchirt ſei? ganz 
ze Offen eingeftanden, daß Schwarzenberg niht durfte, meil die beftimmte Abrede 
‚z unter den verbänbeten Souveränen dagegen lautete. Wie er aber in Dresden, 
vr in Prag, in Fraukfurt und in Chatillon fort und fort emfig bemüht war, für 
5 Rapoleon die Legitimität und für Frankreich die „natürlichen Grenzen” zu retten, 
das iſt mehr als befamnt. 
3. Die Lehre vom geograpbifhen Begriff in Deutſchland 
. und Italien, 1814—1819. Dentſchland und Italien waren die beiden 
: Linden, in deren Innerem bie Napoleonifche Zeit tie tiefften Furchen zurückgelaſſen 
hatte, und deren Neugeftaltung darum den Lenfern des europäiſchen Friedens⸗ 
werles die ſchwierigſte Probe ihrer ſchöpferiſchen Einficht auferlegte. Wie viefe 
Probe beftanden worden iſt, darüber hat die Geſchichte geſprochen; die Ordnung, 
Blunt ſchli uns Berater, Dentſches Staats⸗MWörterbuch. XI. 43 


674 Nachtrag. 


welche für beide Länder zu Wien nicht geſchaffen, ſondern im Weſentlichen nur 
beftätigt worben ift, ift alebald das Ungriffsziel einer Ideenverſchwörung ge- 
worden, die auf ihrer erften Stufe nur das Privateigenthum unflarer Schwärmer 
war, auf ihrer zweiten das Loſungéwort zu ſtürmiſchen Vollsbemegungen ausge- 
geben bat, um auf ihrer legten endlich das Krebo erlendteter Staatsmänner zu 
werten, die nad langem, unfiherem Umhertaſten, nad vielen bintigen und un» 
blutigen Niederlagen ven geraden Weg zum Ziele endlich fanden, als der Mräf- 
tigfte nationale Einzeiftaat ihren Inhalt mit feiner Eriftenz unauflösli verknüpfte. 
Der doppelte Sieg, hier Preußens, dort Piemonts im Namen der nationalen 
Idee Über die Fremdherrſchaft Oeſterreichs, dießzſeits wie jenfeits der Alpen, war 
das legte Wort der Weltgejhichte über das Metternich'ſche Syſtem. 

Bas dieß Syſtem wollte, von welden Zielen es geleitet war, mit welchen 
Mitteln es arbeitete, wird am beflen an der dentſchen und italieniſchen Frage 
fubirt, denn die Begründung ver Doppelberrfhaft Defterreihs über 
Italien und Deutſchland war fein erfter entſcheidender Erfolg und iher 
Behauptung gegen ven Einheit und Wreiheitsprang beider Nationen war ſein 
ganzer Inhalt vom erſten his zum legten Tag. Die Anlage ver M.'ſchen Bo 
ütit iſt in Italien und Deutfhland durchaus identifh; nur ihre Praxis zeigt 
gewifie Verſchiedenheiten, die aber nicht groß genug find, um vollauf zu erflären, 
weßhalb tiefe Hebereinftimmung fo felten betont, fo häufig verfannt wird. 

Die ſtaatliche Form, in welche M. die deutſchen und italieniſchen Trümmer 
der napoleonifhen Weltmacht auffangen wollte, war jmes „Syſtem von 
Allianzen“, weldes gleih nah dem Gintritt Defterreihs in das Bündniß 
gegen Napoleon anfegt, um Schritt vor Schritt allen politifchen Eutſcheidungen 
vorzubeugen, welche nad erfochtenem Siege dem Vorherrſchen öfterreihiihen Ein- 
fluffes tm Norden oder im Süden ftörend den Weg verlegen konnten. 

Die independance entire et absolue, welde Defterreih fib am 9. Sep⸗ 
tember 1813 in aller Stille tur den Bertrag zu Teplitz für die theils wieder 
berzuftellenden , theil3 zu gewinnenden deutſchen Einzelſtaaten durch Prengen und 
Rußland zuſichern ließ, entſchied bereits die deutſche Frage durchaus in äfter- 
reihifhem Sinne, als Stein im Gentralverwaltungsrath noch von „Kompen⸗ 
fationsobjeften" fprad und von dem Schichſal der deutſchen Kleinfürften in und 
außer dem Rheinbund in ähnlihem Tone redete, wie jener preußiſche Ariegemann, 
der dem Kurprinzen von Heflen in ven Oktobertagen desſelben Iahres auf vie 
Frage, wann er wieder in fein Land zurückkehren werde, unbefangen antwortete: 
‚wenn es nad uns geht, fo erhalten Sie von Ihrem Lande nicht ſoviel wieder, 
als ih Erde an meinen Schuhſohlen trage”. 

Die Verträge zu Ried und Fulda waren nur die erflen entſcheidenden Au⸗ 
wendungen des zu Zeplig aufgeftellten Grundſatzes anf die beiden größten Mittel 
flaaten Süddeutſchlande; was dieſen gewährt worden war, konnte man ven 
Kleineren und Kieinften um fo weniger verweigern, als in Teplitz zu ihren Un⸗ 
gunften Nichte vorgefehen war und fo fand ber Wiener Kongreß, als er am 
die deutſche Verfaffungsfrage ging, nicht etwa eine res integra vor, bie bereit 
gewefen wäre, in jebe beliebige Form zu jhmelzen, fondern den fpröten Wider 
fand einer vertragemäßig feftgeftellten, nur durch ohnmächtige Berbehalte be- 
fhränften Souveränetät, auf die die Inhaber genan fo zuverſichtlich podkten, 
als Friedrich Wilhelm auf feinen rocher de bronze. 

Man überfieht melft bei den unfäglid) mähfeligen Berhanblungen, aus bemen 
endlich der fogenannte deutſche Bund hervorgegangen iſt, daß die Gtaatsmäuner 
des Wiener Kongrefies nach den Verträgen zu Teplig, Ried und Fulda, im Grunde 


« 


Metternich. 675 


nichts anbres zu thun hatten, als eine beſchönigende Formel zu finden für vie 
Berfaffungslofigteit, vie DM. bereits dort ftipulirt hatte Dan meint 
Hanfig, mit diefem oder jenem Entwurf aus dem Kreife der Stein, Hardenberg, 
Humboldt, mit diefem oder jenem Paragraphen, mit biefer oder jener Faſſung 
der Bunbesalte fei zu Wien noch ewas zu erreichen geweſen und beachtet nicht, 
daß jede Annäherung an eine firaffere Einheit der -deutfchen Staaten Opfer 
non ven Einzelfouveränetäten verlangte, gegen bie fie fich vertragsmäßig gefchügt 
fahen, die man ihnen nicht einmal zummthete, als fie durch einen rechtzeitigen 
Sprung ans Land der „verbienten Vernichtung‘ der Kalifher Proklamation zu 
entgehen ſuchten, wie viel weniger nachträglich abhandeln konnte, als erft ber 
Friede wmiebergelehrt war und nachher mit der Rückkunft Napoleons die ©efahr 
ihres Wbfalls ſich erneuerte. 

Es gab mithin für den Wiener Kongreß gar feine Möglichkeit mehr, eine 
dentfche Berfaflung zu fchaffen und wenn etwas geeignet war, M.'s ganzes Selbſt⸗ 
bewußtfein zu fättigen, fo mußte es das ftille Gefühl der Ueberlegenheit fein, mit 
dem er der Siſyphosarbeit des Verfafiungsausfhufies zuſah und in den Verband» 
lungen mit den Mittelftanten den einlenchtenven Beweis lieferte, daß er in allen 
. Städen mit den preußifhen Einheitemännern zufammenflimme, und daß nur Baiern 
und Württemberg daran ſchuld feien, wenn nichts Rechtes zu Stande komme. 

Die Barrieren gegen das gefährliche Phantom der beutfhen Einheit und 
gegen jebe Anwandlung preußifhen Ehrgeizes waren einmal aufgerichtet; ihrer 
natärlihen Widerſtandskraft konnte man überlaflen, jeden Anlauf zu Ordnungen, 
die dem Öfterreihifchen Intereffe entgegenliefen, zerichellen zu maden, ohne daß 
M. felber fi perjönlih no zu bemühen Hatte. Die Zeit kam freilid, wo M. 
bereuen mochte, bier nur nad einer Seite parirt zu haben; beun biefelbe Sou⸗ 
veränetät, melde gegen Preußen und gegen ben erwachten Einheitsdrang ber 
Nation unvergleichliche Dienfte that, enthüllte eine höchſt vertrieglihe Schattenfeite, 
als fi unter ihrem Schuge die Anfänge des deutfhen Konftitutionalismus 
entwidelten, der beiden Großmädten gleihmäßig verhaßt war und zu beffen Unter- 
brüdung man den nnantaftbarften Theil der fürftlihen Hoheitsrechte erſt wieder 
zu konfisciren fuchen mußte. Unberührt blieb auch nad) diefer Wandlung Eines: 
Deutſchland blieb ein geograpbifher Begriff, und bie veutfche Nation hatte 
keine andre Ginbeit, als die einer gemeinfamen polizeilichen Benormundung, als 
die derſelben Nechtlofigleit gegenüber der Bundesgewalt, derſelben fchmählichen 
Ohnmacht gegenüber dem Ausland. 

Genau diefelbe Bolitit war's, die um bie gleihe Zeit in Italien unter 
etwas anderen Bormen von Sieg zu Sieg vorwärts gefchritten war, 

Zn einem „italienifhen Bunde‘, unter Borfig des Kaiſers von 
Defterreih, kam e8 zwar nicht; Piemont und die Kurie, erfteres durch Rußland 
ermutbigt umd gebedt, lehnten auf's Entſchiedenſte ab. „Eine ſolche Ligue, hatte 
ber piemonteſiſche Bevollmächtigte in Rom vorzuftellen, wäre nichts anveres als 
der gleißende Borwand, die italienifhen Mächte in die Lage beweinenswerther 
Sklaverei herabzuſetzen“. Aber vie öſterreichiſche Herrſchaft entbehrte hienach nur 
des Vorwandes, ven fie in Deutſchland beſaß und reichlich verwerthete, das 
Werfen ihrer gebietenden Stellung war deſto ſicherer geborgen 1), 

Mittel und Methode bot aud hier ein Syſtem von Allianzen mit ben 
wieberhergeftellten Einzelftaaten, deren Idee in der Hauptſache mit dem Sinn ber 


2) Keuchlin, Geſchichte Italiens I. Ruth, Geſchichte von Stafien I. 
‘43% 


676 Nachtrag. 


Verträge von Ried und Fulda zufammenfiel, nur daß ihre Spitze im einen Fall 
gegen die Einheit, im andern gegen die Tonftitutionelle Freiheit gelehrt 
war und ihnen Überdem im Süden banpfeftere Bürgfchaften realen Einflufies zur 
Seite ftanvden als im Norden. 

Nächſt den Franzoſen felber batte fein Volk das Joch der napoleonifchen Har- 
ſchaft leichter ertragen, die revolutionären Wohlthaten und den Eriegerifchen Rum 
berfeiben gegen ihre Opfer und Laſten vaufbarer abgewogen, ale das ber Italiener. 
Napoleon, der Korje, war ihr erfter und größter Nationalheld; er hatte mit der 
uralten Zerfplitterung feiner Heimat aufgeräumt, den Fendalismus zerſchlagen, 
batte feine Lanpsleute in Sieg und Triumph beraufht und mehr als Alles das, 
er hatte den Traum Macchiavellis verwirkiiht, Italien „das Eiſen aus ver 
Wunde gezogen‘, ald er den Kirchenſtaat aufhob. „Frankreich haben Sie gerettet, 
fagte zu ihm der Patriarch von Venedig, aber Italien haben Sie geſchaf— 
fen“ und wie unredlich, wie argliftig das Spiel fonft war, das Napoleon I, 
mit der Idee der Nationalitäten trieb, wo es ihm paßte: wenn wir anachmen 
dürfen, vaß bei feinen Reden und Handlungen biefer Art überhaupt jemals rin 
Art Empfintung mitgewirkt bat, fo fann das nur bei Italien auf dem Schar 
plag feiner erften Siege geftatiet fein. Diefe Verknüpfung Italtens mit Napoleon 
bat auf die Schidfale des Landes bei und nad feinem Sturze verhängnißvell 
eingewirft, denn fie madte, von allen äußeren Schwierigkeiten abgefehen, eine 
nationale Erhebung gegen die Geißel des Welitheils unmöglich und bradte fo 
Italien um bie Gelegenheit, fi in bie europäiſche Völkerfamilie durch Waffen: 
thaten einzuführen, die es allein gegen die räuberiſchen Hände der großmächtlichen 
Diplomatie hätten ſchützen Können. 

Das Königreih Italien, welhem der Vicekönig Euger am 1. April 1809 
zurief: „es gibt jegt feine Lombarden, feine Benetianer, keine VBolognefen mehr, 
Sondern endlih Eine Nation, eine italienifhe Nation!” — zählte 61/, Millionen 
Einwohner; nicht foviel hatte das Preußen von 1813 und nur die unver 
gleichlichen Waffenthaten diefes Jahres haben ee vor dem Schidfal gerettet, gleich 
Italien als Entihäpigungsmafle zum Bortheil der Nachbarn eingefchlachtet zu 
werden. Als Erzherzog Iohann 1809 nad Italien fam, um auch dort wie in ber 
ganzen Monarchie vie Völker zum Befreiungekampfe aufzurufen, drohte er de 
Italienern, wenn fie nicht aufftänden, würten fie für jeden Sieger „nur ein 
erobertes Volt ohne Namen und Rechte fein‘; nichts anderes als dieß waren fie 
1814, weil fie, wie ber Patriot Cäfar Balbo ſchmerzlich beftagt, 1813 verfänmt 
hatten, den Preußen nachzueifern und darum wurden fte fhon im Frühling 1814 
„als ein erobertes Volk ohne Namen und Rechte” von Oeſterreich kurzweg in 
Beichlag genommen, wurbe über ihr Schickſal bei den Friedensſchlüfſen von Paris 
und Wien hinter verfchloffenen Thären entfhieden, wie über eime leblofe Sache. 

So wurde Italien zertheilt; den Löwenantheil nahm Defterreih und was 
es nicht für fih felber und feine VBerwantten erhielt, dad wurde entwaffnet 
durch die öſterreichiſche Beſatzung in faft fämmtlihen Feſtungen ber Haibinfel, 
und gebunden durd Verträge gegen ben böfen Feind der Fremdherrſthaft, den 
Konftitutionaltsmus. „Das Nepräfentatiofyftem mit den dazu gehö— 
rigen Einrihtungen fann und darf in feinem Staat der Halb- 
infel eingeführt werden‘, ſchrieb M. vamals an feinen Geſandten in 
Parts und das war und blieb fein leitender Grundfag um jeden Preis. 

Die fachliche Gleichartigfeit in der Anordnung der deutſchen und italienifchen 
Dinge fpringt in die Augen. Hier wie dort wird bei Zeiten, ehe irgend eine andre 








Metternich, 677 


Macht zugreifen Tann, jede Handhabe erfaßt, um theils ben öſterreichiſchen Macht 
befig pofitio zu begründen, theils die dem Uebergreifen feines Einfluffes entgegen- 
ftehenden Einwirkungen hinwegzuräumen; die Berlegenheit der übertretenden Rhein» 
bunpdsfürften auf der einen, die Hilflofigkeit der aus der Verbannung zurückkehrenden 
italienifhen Fürſten auf ber andern, wird geſchickt benugt, um fie dauernd an 
das öfterreichifche Syftem zu feſſeln; in Deutſchland gefhieht das mit einer gewiſſen 
Schonung, wie fie dem mit Rußland verbündeten Preußen und ver Macht ber 
Mittelſtaaten gebührt, in Italien mit all der Rüdfichtslofigleit, welde das ab⸗ 
folute Machtübergewicht geftattet; dort lernt die Bundesakte ein biplomatifches 
Mäntelhen über die Thatſache der öfterreihiichen Herrſchaft, bier hätte man das 
auch gern gethan — ein italienifcher Bund mit öſterreichiſcher Spige lag M. noch 
1817 im Sinn — aber als das nicht ging, fcheute man fih aud nicht nadt 
auszuſprechen: „bie von allen Mächten aufgericgtete Ordnung hat Defterreih ale 
natärlihen Wächter und Beſchützer verfeiben in Italien aufgeſtellt“ (Manifeft an 
die Nenpolitaner 1820). 

Auch das Verfahren Oeſterreichs gegen feine beiden Nebenbuhler in Deutſch⸗ 
land und Italien, gegen Preußen in der fächflfchen, gegen Piemont in der Mai» 
länder Angelegenheit, ift in der Hauptfahe wenig verfchienen. Der Anſpruch 
Piemonts, deſſen König eben erſt von Sarbinien in fein Land zurückkehrte, hatte 
freilich nichts zu fchaffen mit dem allerfeits anerlannten Rechte Preußens auf 
Entſchaͤdigung in Sachen, allein die gefchidte Intrigue, die hier einen aus Todes⸗ 
gefahr erretteten Schützling als Schildwache an das gefährlihfte Ausfallsthor 
gegen vie ſchwächſte Seite des preußifchen Staates zu ftellte, und dort eine durch den 
Befig von Piacenza und Pavia militärifch ſtarke Grenze gegen das ganz offene, 
feit ver Schleifung Aleſſandrias völlig ſchutzloſe Sardinien zu gewinnen mußte, 
wer im Grund und Weſen durchaus identifh und in der Sache verihlug es 
nichts, daß M. im einen all vie ebenbürtige Verftodtheit der Piemontefen und 
Mailänder, im andern Fall den Leichtfinn Hardenbergs und die Arglift Talley- 
rands auf feiner Seite hatte. 

Im Uebrigen war die Thellung Sachſens, M.'s eigentlichſtes Werk, doch wie 
ber. nur eine Anwendung der Lehre vom geographifchen Begriff im Kleinen. Ale 
Dellamationen von dem Recht der Stämme und Bölfer hören bier auf; gab man 
ein Recht des fächfiichen Volks überhaupt zu, fo mußte man aud dad erfte aller 
Rechte eines Bolls, das auf Untheilbarkeit zugeben. Entweder fam dann 
ganz Sachſen an Preußen, oder e8 fam ganz Sachſen an feinen König zurüd; eine 
Theilung, wie fie bier beliebt wurbe, war doh nur ein Rüdfall in die napoleo» 
zifhe Weife, mit Völkern und Staaten umzufpringen, wie mit Schadhfiguren. 

Sp hatte Defterreich bei dem europätichen Friedenswerke in Wahrheit außer- 
orbentli glänzende Gefhäfte gemacht; außer einem Reingewinn von 2 Millionen 
Seelen in wohlabgerundeten ©ebieten, der bei der „Wieverherftellung auf hen 
Stand von 1805" erzielt worden war, hatte e8 die Anker feiner Weltftellung in 
das Herz zweier Nationen geworfen, die keinen eigenen Willen und fein eigenes 
Dafein gewinnen durften, wenn nicht ein Gebäude wanken follte, deſſen Beſtand 
mit der „Ordaung und Ruhe Europas” zu verwecdfeln, die öſterreichiſche Diplo- 
matie nie verfäumt bat. 

Zwei große Kulturvölfer, die im bintigen und unblutigen Kampfe miteinan- 
ber die großen Geiſtesſchlachten der Menſchheit geſchlagen hatten und darüber 
einer Jahrhunderte langen Stantlofigkeit verfallen waren, follten in ihrer politiichen 
Entwidlung Halt maden für immer, ven natürlihftien Wünſchen und Begehren 





678 Hadıtrag. 


gebilveter Rationen Schweigen gebieten und im Namen bed eurspälfien Giell- 
gewichts auf jere Hoffnung verzibten, jemals als gleichberechtigte Glieder im vos 
Öefüge ter europäifhen Staatenwelt einzutreten. Ein gebundenes Deutichlent 
nnd ein gebundenes Italien follten im Kriegsfall fidhere Eiappenſtraßen und ge 
horſame Bafallenheere gegen franzöfiihen Ehrgeiz, im Frieden aber bie Breiten 
Bollwerle gegen vie Anftedung des franzöfiihen Liberalismus bilden: — vai 
machte den Kerngedanken tes Syſtems ans, deſſen Örkubung ter erſte greße 
Zriumpb, deſſen Aufredterhaltung vie Lebensanfgabe ver Politit nes Yürfken 
Metternih war. 

4. Die Sähredensherrfhaft aus Shreden und bie beginnende 
Ifolirnng 1819—1829. „Nun kann Jeder hingehen und lange Zeit rabig 
feinen Kohl bauen und wenn den Geſandten verboten wärbe, an ihre Höfe mu 
berichten, jo wäre tie einzige Urſache von Differenzen entfernt’; mit biefer trößfihen 
Gewißheit war M. im Oktober 1818 vom Aachener Kongreß zurückgekehrt. 

Die heilige Allianz hatte ihre erſte europäiſche Berathung gehalten; vie enb- 
giltige Auseinanderfegung mit Franfreih war erfolgt, die babiige Frage wer 
erledigt, wenn nicht zur Zufriedenheit des Kronprinzen von Baiern, ver ben 
Berluft feiner pfälzer „Wiege nicht verſchmerzen konnte, und bes Kaiſers Franz 
dem immer ein Stich durchs Herz fuhr, wenn er an feinen Breisgan dachte, fe 
doch zur großen Genugthunng M.'s, dem die Ruhe über Alles ging, — und and 
über die Burſchenſchaften und bie „Eiterbenle‘‘, das „Ungeheuer” des Turnweſent, 
wie Seng fi) ausprädte, war im Princip wenigftens ein Einverflänbuiß 

Noch nit ſechs Monate waren Ins Land gegangen, da geſchah Kotzebne“ 
Ermordung (23. Mär; 1819) und das Attentat anf bel, das die Polizeipiener- 
phantafie unferer Diplomatie fofort auh mit der Burſchenſchaft in Berbinbung 
brachte; mit einem Mal erlannte man, daß bie fpärlihen Broſamen verfaflung®- 
mäßiger Sreihelt, die man den Klein- und Mitielſtaaten auszumwerfen geflattet 
hatte, ein höchſt gefährliches Gift enthalten hätten und erfiärte fofort das Bater- 
land in Gefahr. Die Seelenrube, die Zuverfiht vom Aachener Kongreß wer 
dahin und es begann jetzt jenes planmäßige Bangemachen vor ber Revolution, 
vor der jatobinifhen VBranpftiftern ver Prefie, ber Kammern, der Hochichnien, 
jenes Ueberflürzen mit gewaltthätigen Sicherheitsmaßregeln, wie es das böfe Ge⸗ 
wiffen und das Gefühl der Innern Ohnmacht Überall eingibt. So kam es zu bem 
Karlebavder Kongreß 2) im Sommer 1819. Empdrend war, was dort befchlefin 
wurde; empdrender, was Gentz und Metternich im Schilde führten. P 
Handelsfreiheit und Ständelammern glaubte die Nation, ſeien ihr durch die Bun⸗ 
desafte als geringfte Abſchlagszahlung für den Berzicht auf ihre Höher fliegenden 
nationalen Hoffnungen verbeißen; Friebdrich Geng erflärte das zu Karlsbad für 
ein Mißverſtändniß, hervorgegangen aus der „allgemeinen Sprach⸗ und Ideen⸗ 
verwirrung”. Unter den „gleihförmigen Verfügungen über die Breßfreiheit” 
des 8. 18 der Bundesalte fei ſelbſtverſtändlich nicht Preßfreibeit, fondern Cenſur 
und zwar ftrenge Cenfur, unter den „lanbfländifhen Verfafiungen“ des $. 13 
aber feien eigentli gar keine Berfaffungen im modernen Sinn, ſondern 
allerhöchſtens Wiederherftellung jener „echt deutſchen“ Ständelandtage gemeint 
gewefen, vie bei verfchloffener Thür ohne Diskuffton der Regierung die Steuern 
zu verwilligen hatten, gleih den Boftulatenlanptagen der öoſterreichiſchen Erblande. 
Die Souveränetät ver deutfchen Färften aber habe ihre Schranten an der Bunde?’ 





9) Aegidi: Aus dem Jahr 1819, Hambg. 1861 und Raumer: Hifl. Taſchenbuch 1850. 











Metternich. 679 


pflicht, Leine Berfofiungen zu geben oder zn dulden. Das hier geforberte Todes⸗ 
urtheil gegen die Berfafiungen und Stänvefammern insbefondere von Weimar, 
Baiern, Baden, — die von Medienburg und Hannover waren forrelt und „echt 
deutſch“ — wurde nicht geſprochen: Graf Winzingerode wies aus den wärttembergifchen 
Erfehrungen nad, die neuen Stände möchten fhlimm fein, aber bie alten feien 
noch viel fhlimmer — er dachte an ben Kampf Friedrichs I und Wilhelms I. 
mit den „Schreibern“ — fo wurde bie Sache vertagt und nachher unter ben 
haarſträubenden Wivderſprüchen der Schlußafte begraben, dagegen fam vie Achts⸗ 
erllärung gegen die Prefie, die demagogiſchen Umtriebe ver deutſchen Turner, 
Studenten und Profefioren zu Stande. 

„Sinftimmig”, hieß es, ſeien die Beichlüffe zn Karlsbad gefaßt und 
einfimmig in Frankfurt zum Bundesgeſetz erhoben worten; aber‘ faum ver« 
fündigt, enthüllte ſich vie angebliche Einftimmigkeit, Württemberg und Balern, 
Sachſen und Kurbeflen, Weimar und Oldenburg fagten fi mit mehr oder weniger 
Schärfe von der Rechtsverbindlichkeit der Beſchlüſſe los und die ruffifhe Regie 
zung verfehlte niht, dem Fürften DR. ihr ernſtes Befremden über dieſe beſchä⸗ 
wende Thatſache kundzugeben 3). 

‚Über das il faut faire peur aux jacobins war auögegeben, die Gentral- 
unterfuhungstommiffion in Mainz begann ihr würbelofes Treibjagen und in der 
Wiener Hofburg durfte man wieder ruhiger athmen, freilich nur einen Augenblid, 
Der Norden war kaum zur Ruhe gebracht, da brach's im Süden los, dort hatte 
man einer Revolution ven Krieg erklärt, die gar nicht eriftixte, bier trat die wirk- 
Ihe Revolution auf den Plan und die ſtaatsrettende Politik M.'s erhielt Gelegen⸗ 
beit, in ihrer vollen Entfaltung vor die Welt zu treten. Die Eonftitutionellen 
Militärrevolten in Neapel und —* (1820/21), in denen fich die Erſchütte⸗ 
zungen der pyrenäiſchen Halbinſel analog fortſetzten, trugen in Anlage nnd Aus—⸗ 
führung das Gepräge unreifer Improviſation in einem Maße an ſich, das nicht 
wohl überboten werden konnte, wenn M. und Gentz ſich das Schauſpiel auf Be⸗ 
ſtellung hätten herrichten laſſen. Die Sache endete denn auch mit einem Siege 
Oeſterreichs, der einem glänzenden Theatereffekt gleich kam und alle anfänglichen 
Bedenken gegen Intervention verſtummen machte. Ganz Italien war wieder von 
Öfterreichifchen Bayonetten überfluthet, in Neapel ein meineipiger König zurüd- 
geführt, ver jegt an Defterreich fefter geſchmiedet war als je, der unrubige Kirchen 
ſtaat beſetzt, und in Piemont „das Neft der Revolutionäre”, wie M. ſich aus 
drüdte, völlig bemeiftert: König Viktor Emanuel durch eine gefhidte Intrigue 
befeitigt, ein Fürſt unbedingter Reftauration Karl Felix an feiner Stelle und der 
verdächtige Karl Albert in einem Gewahrfam, der nah M.'s Plan zu förmlichen 
Ausſchluß von der Erbfolge in Sardinien führen follte. | 

Die heilige Allianz fcheute fi nicht, in Neapel das Bündniß mit doppeltem 
Berrath und Eidbruch einzugeben und die Legitimität ſcheute fich ebenfowenig in Pie⸗ 
mout einen Thronraub zu begehen und auf einen zweiten Thronraub offen binzu- 
arbeiten; galt es doch „ven italtenifhen Unionsgeiſt und die fonftitutio» 
nellen Jveen zu verwifhen”?), damit vie Ruhe (Europas ungeftört bleibe, 

So war dießſeits und jenſeits der Alpen bie Schredensherrihaft zum Schug 
von Ordnungen eingeleitet, welche ſechs Jahre früher aufgerichtet worden waren, 
um den Frieden der Fürften und Völker dauernd zu begründen. Gegen bie bar⸗ 


3) Aegidi: Sybers Zeitfehrift XIV. 139 ff 
) Metiernih an San Margano: Ruth I. 228. Ueber die Intrigue gegen Karl Albert 
Reudlin ı, 194—99. 


680 Nachtrag. 


bariſchen Greuel der Reaktion in Neapel und Piemont, die zum Wien ber 
wadern öfterreichtfchen Truppen, aber doch unter ihren Angen und dem Schntze 
ihrer Bahonnette verübt wurden, iſt das fürchterliche öſterreichiſche Polizeiregiment 
in Lombardei und Benetien noch mild und menſchenfreundlich zu nennen: aber 
auh mas Hier gefhah, um die Unterthanen „vergefien zu machen, daß fie 
Italiener ſeien“, gibt eine düſtere Andeutung, weſſen diefe Politif fähig war, wo 
man ihr die Ellenbogen frei ließ. M. war, gegen bie Henkernatur des gutem 
Kaifers Franz, wie leichtfinnige Lebemänner feiner Art zu fein pflegen, im Ber 
zeihen und Vergeſſen ein verhältnigmäßig „guter Ehrift‘ und Doch meinte aud er, 
die Gentralunterfuhungstommiffion in Mainz ſei als eine haute cour de justice 
aufzufaflen, deren Heinftes Refultat eine Anzahl Todesurtheile fein müßte; 
GSefängnißftrafen feien eines ſolchen Gerichtshofes nicht würdig, und das in Deutſch⸗ 
land, wo gar feine Revolution ftattgefunden hatte. | 

Die durch U. Schmitt angeregte Brage, ob M. in demfelben Sinn abfo- 
Iutiftifch genannt werden müſſe wie Kaifer Franz, und ob er nicht vielmehr bloß 
konſervativ gewefen ſei, ift nicht bloß an der deutſchen, fondern auch nad 
vornehmlih an der Italienifhen Politik des Minifters zu prüfen und viefe 
geftattet eine ganz unzweideutige Antwort. 

Auf der ganzen Linie hatte M. triumphirt; aber die Großmächte gönnten 
ihm nicht die Muße, feinen Triumph fo ausgiebig zu verwerthen, wie er wünfchte. 
Schon mit dem Kongreß zu Berona (Oft. 1822) beginnt der Umſchlag und 
ber Niedergang feiner enropäiſchen Bolitif. Die Keilige Allianz, in deren Ans- 
beutung M.'s ganze Birtuofität nnd Oeſterreichs ganzer Einfluß beruhte, lockerte 
fih, als hier Frantreid und Rußland zu Gunſten PBiemonts gegen M. Front 
machten, der auf dem beften Wege war, auch biefen Staat der Reihe feiner 
italieniſchen Vaſallen einzuverleiben, und brach auseinander, als in der griechiſchen 
Trage England, Rußland, Frankreich gemeinfam gegen ihn Partei‘ ergriffen und 
nicht einmal Preußen mehr auf der alten Linte blieb. Es kam die Zeit des ge 
hatniſchten Philhellenismus an den Höfen Europas, der M. nnb Gens 
förmlich zur Verzweiflung brachte und ihre Ifolirtheit in Europa vollendete, ja 
fie am Ende zu einem offnen Bruche mit ihrer ganzen Vergangenheit trieb, nach⸗ 
bem fie alle Stadien ohnmächtigen Widerſpruchs und ſchielender Vermittlung durch⸗ 
laufen 5). Als M. und Geng, um bem ruffiihen Ehrgeiz ein Barolt zu bieten, 
anfingen für die Revolution der Griechen gegen ihren rechtmäßigen Landesherrn, 
den Sultan zu fhwärmen, da war ed zu Ende mit ver Legitimität um 
jeden Preis und doch nannte M. ven großen Canning ımb jeden andern 
einen Dummlopf, der wie viefer nit nad „Feften unabänderlichen Principien“ 
fondern nah „Rückſichten und Leidenſchaften“ handele. 

5. Noth und Rettung, 1830-1840. M. haßte das Tonftitutionelle 
Weſen, aber er baßte noch mehr jede Rubeftörung, mochte fie von oben oder von 
unten fommen; er wollte darum nichts von blanken Staatöftreihen willen, und 
rieth von jedem ofinen Berfaffungabrude ab. In Italien die Unlänfe zu einer 
Cortesverfaflung blutig niederzumerfen, durfte fi eine Großmacht wie Oeſterreich 
wohl erlauben, ſie wußte was fie that und mas fie konnte; aber andern, zumal 
Kleinern, konnten ſolche Gelüſte höchſt gefährlich werben, darum war im Allge 
meinen das richtige Princtp „von der einmal feſtſtehenden anertann- 
ten Ordnung, fie fei älteren oder neueren Urfprungs, fi um 


6) Mendelsfohn- Bartholdy: Fr. Geng S, 95 ff. 








Metlernich. 661 


Leinen Schritt weder vorwärts noch rükwärtsdrängen zu laffen” 
(Schreiben an Berftett Mai 1820), und darum ſah er mit Bangen dem jähen Treiben 
Karls X, und feines Polignac zu. „Ein Staatsftreih würde bie Dynaftie vernichten‘ 
hatte er ihnen noch furz vor der Kataftrophe fagen laſſen 6), aber in Paris hörte 
und fah man nichts mehr, die Ortonnanzen erfchienen und die Revolution brady aus. 

Es folgte Schlag auf Schlag: in Belgien erfüllte fih von Vincke's, in 
Polen Stein’s Prophezeiung. Die Septemberunruben in Kurbeffen, Braun» 
ſchweig, Sahfen und Thüringen, denen fih mit Beginn des neuen 
Jahres die in Hannover einer, in Mittelitalien andrerfeits anfchlofien, 
warfen zwar nod nicht entfernt die Ordnung der Wiener Berträge, wohl aber 
al die Lehren über den Haufen, auf die ihre Urheber gebaut und gepocht hatten 
und das verhehlte man fi in der Wiener Hofburg nidt. 

Noch im Oktober 1829 hatte Geng unter dem Eindruck des überraſchenden 
Friedens von Adrianopel mit vertrauenspollem Stolz geihrieben: „noch ftehen 
bie Grundpfeiler des Syſtems, welches mit der innern Reftauration Frankreichs 
begaun, feft und das Gebäude kann noch manden Plan überleben, bem feine 
Trümmer zur Unterlage dienen follten. Die Julirevolution und ihre Folgen 
machte diefe Zuverfiht fofort zu Schanden. Wie man jegt in Wien die Dinge 
anſah, das zeigen die ganz neuerdings herausgegebenen Stüde aus dem Nad- 
lafle von Geng 7), bei denen wir bier um ihrer Wichtigkeit willen mit einigen 
Worten verweilen. In einem Briefe an ten Fürſten Wittgenftein fpricht er e8 ganz 
ganz offen aus: über das Wert von 1815 iſt gerichtet. „Das unvoll« 
fommene und doc für den Uugenblid rettende Syſtem, woran wir durd fünfzehn 
Jahre mühſam und beharrlid gearbeitet haben, tft fo gut als zerfiört; 
Europa geht unverkennbar neuen Formen, neuen Rombina- 
tionen, nenen Schidfalen entgegen; ans dem unvermeidlichen Schiff⸗ 
brach alles Alten dasjenige zu retten, was uns am nächſten liegt und 
was der Erhaltung am wäürbigften ift, das allein muß und kann unfer eifriges 
Beftreben fein“. Aliſo das Urtheil der Gefchichte wirb acceptirt; Nichts mehr von 
Reftauration, Nichts mehr von Kongrefjen und Interventionen im 
alten Stil, das Alles gehört einer vergangenen Zeit an, nur noch an einen „Net- 
tungsproceß” ift zu denken und biefer darf nicht mit Gewalt — die würde das 
Uebel no ärger maden — fonbern kann nur buch ein „wohl berchnetes 
Zemporifirungsfyftem‘ mit einiger Ausfiht auf Erfolg verfuht werben. 

Nah einem Briefe vom 19. Januar 1831 zeigte M. nach Ueberwindung 
bes erften Schredens bereits wieber eine gefaßtere Haltung. „Die deutſchen und 
italieniſchen Fürſten verlangen zum Theil mit Ungeftüm (wie Württemberg und 

Sardinien) entfheidende Erklärungen und militärifge Demon- 
frationen von uns“. Denen wird nun erflärt: bis zur Ueberwältigung Polens 
jet nichts zu machen, fo lange „liege alles Heil im Temporiſiren“; dann aber, 
d. h. nah ME Rechnung „zu Ende März‘ follen vie drei Kontinentalhöfe 
energifch vorgehen und „das Princip der Nichtintervention, eine Mißgeburt 
des Augenblicks, mit welcher keine europäiſche Staatengeſellſchaft beftehen kann, 
muß in fein Nichts zurückfallen“. 

Gegen die Ausführbarkeit dieſes Plans hat nun Gentz perfönlich große Be⸗ 
benfen, denn „wer weiß ob wir den Zwiſchenraum, der uns von der Beendigung 


6 Schmidt, Zeitgendffiihe Geſchichten S. 263. \ 
7) (Prokeſch⸗Oſien) Aus dem Naclaffe Friedrichs v. Gentz I. Wien 1867. ©. 108 ff. 
Aus dem Jahre 1830, näheres Datum fehlt. S. 117 ff. S. 146 ff. 








682 Aachtrag. 


der polniſchen Revolution trennt, glücklich überleben?“ Wichtiger für uns als dieſe 
Bedenken ift der Inhalt eines Briefes vom 5. December 1830; dort fegt er aus⸗ 
einander, daß die Tegitimität, die nach den Ausführungen zu Karlsbad be= 
grifflih und thatſächlich jede Kapitulation mit Eonftitutionellen Ideen ausſchloß, 
mit der Volksſouveränetät, der dort ein Krieg bis an’s Meffer erklärt 
worden war, ſehr wohl verſöhnbar feid) und führt eine Aeußernug M.'s an 
Apponyi an, bie wieder einmal zeigt, wie wenig Glauben jener au das monar 
chiſche Princip hatte: „ver Krieg muß vermieden werden — die Republit, vie 
Bropagande, die allgemeine Zerflörung — daß wären die Uebel, 
die ein Krieg über Frankreich und über Europa bringen würde”. 

Die Niederwerfung Polens ging nit fo raf als M. gerechnet Hatte — 
ftatt im März gelang fie erfi im Herbſt 1831 — aber immer noch fräh 
genug, um der Iauernden Reaktion den mutbigen Beginn ihrer Operationen als⸗ 
bald zu geflatten; aud die Gefahr eines europäiſchen Kriegs, die man von Frank⸗ 
rei ber und um Belgiens willen beforgte, war geſchwunden, Italien war raſch 
—5 Mitteldentſchland Hatte ſich bei einem Thronwechſel und einigen neuen 

erfaflungdurtunden beruhigt, furz der Sturm hatte weit weniger Verheerungen 
angerichtet, ald man anfangs gefürchtet. 

Allbefannt iſt ber Gang dieſer Mealtion, bie fi) im Geleite ber flüchtigen 
Polen über Europa ausbreitet und in Deutihland an bem Thorheiten eines un- 
reifen Radikalismus willlommene Nahrung findet. 

Das Hambader Fer und vie Bundesbefhläffe des Sommers 1883, bie 
Bergewaltigung bes badiſchen Preßgeſezes und die Demagogenverfolgungen in ganz 
Mitteldeutſchland, das Frankfurter Attentat (3. April 1838) und vie Wiener 
Konferenzen (Juni 1834), die den Staatsfireih des Proviforiums von 1819/20 
wiederholten und in Syſtem braten, ſaͤmmtliche Stänvelammern rechtlos erklärten, 
jeve Willfür der Regierungsgewalt heiligten und bie ganze Nation einer mitleid- 
loſen Polizeiallmacht zn Füßen legten — das find die ailbelannten Stadien biefes 
mörderiſchen Krieges gegen den Rechtefinn nnd bie Würbe nnjeres Bolls. Der 
dienfleifrige Handlanger dieſes Syſtems war dasfelbe Preußen, ven 1831 Paul 
Bfizer, Schulz ante Darmſtadt un. a. Patrioten vie Führerrolle eines vom 
Oeſterreich erlösten Dentfchlands zugefprodhen hatten; für dieſe Unterwürfigkeit 
erhielt e8 ald Lohn freie Hand in der Bropaganda des Zollvereins, 
der 1828 in den’ organifirten Widerſtand Mittel- und Süddeutſchlande die erfte 
Breſche gelegt, 1835 den Rahmen feines bald ganz Deutſchland faflenden Um⸗ 
fange gewonnen hatte und deſſen wirkliche Bedentung für unfere nationale umb 
politifche Smancipation von Defterreih M. erft erkannte, als es zu fpät war feine 
Bollendung zu hemmen. 

Der ganz gewaltige Aufſchwung bes dentſchen Wohlftanpes durch ven Zoll«- 
verein einer- nnd das dentſche Ciſenbahnſyſtem anprerfeits — der Bolle- 
tribun beider war Friedrich Lin — iſt das Einzige, was uns in etwas mit 
dem Jammer unferer politiihen Zuſtände in den dreißiger Jahren verföhnen kann. 
Die Nemefis freilich), die das damals herrſchende Syſtem herausgefordert, if ba» 
durch nicht abgewendet worden. Die Ausicreitungen der deutſchen Revolution 
1848/49 beging ein Geſchlecht, das unter Staatsſtreich und Rechtsbruch groß 
geworden war, und befien Yehrmeifter ſich über nichts zu befchweren hatten. 


8) Sierüber fiehe nech den von Meudelsfohn S. 113—116 beſprochenen Artikel der Augöb. 
Ulg. Zeitz. 27/28. Sept. 1831. 








Metternich. 688 


6. Umkehr und Kataſtrophe, 1840—18489, M.s Politik gegen bie 
tonftitutionelle Idee war in Italien durchaus flegreich geblieben, in Deutſchland 
aber überall unterlegen. Die Reaktionen von 1819/20, von 1832/34 hatten 
Önnderte von Menſchen zeitlebens unglücklich gemadt, aber in der Sache nichts 
ansgerichtet; eine unheilbare Untergrabung des Kredits der Monardiien war ihr 
einziges Ergebnif. Der Konftitutionalismus felber ging feinen Weg langfam aber 
fiher; exrft hatte er in Süppeutfchland ausgerottet werben follen, da nahmen ihn 
die Regierungen felber in Schuß; und die Kammern von 1831 bewiefen, daß ein 
einziger Sonnenblid genügte, um den Winterfhlaf zu bannen, ver in den zwan⸗ 
ziger Iahren die Diplomaten zu dem Glauben verführt hatte, fie hätten den 
Konſtitutionalismus ansgehungert; jetzt traten gar die norbbentfhen Staaten 
Kuchefien, Braunfhmweig, Sachſen, Hannover gleichfalls in die Reihe der Ver⸗ 
faſſungsſtaaten ein, die Anfledung war nit nur nicht verhütet, fle hatte vielmehr 
reißend um ſich gegriffen und wer wußte, wie lange ihr nod der größte dentſche 
Staat widerftehen würde, der bisher mit fo rührender Vaſallentreue an Defters 
reich feftgehalten hatte ? 

Solche Erfahrungen und Erwägungen waren wohl geeignet, M.'e ganz be 
fondre Aufmerkſamkeit an alle Schritte des neuen Könige von Preußen ori 
Wilhelms IV. zu fefleln, von vefien Charakter gerade fo viel befannt war, daß 
die konfervative Politik zum mindeften nicht fidherer auf ihn rechnen konnte, als 
die liberale. Sen diefem Regierungswechſel ift M. nicht mehr der Alte; mancherlei 
Impulfe der Innern und äußern Verhältniſſe wirken zufammen, ven Fürften im 
die Bahnen einer von Jahr zu Jahr auffälligeren Umkehr zu drängen; der Glaube 
an die Dauerhaftigfeit des Witen iſt auch für ihn ummwieberbringlid dahin, die 
Ueberzgeugung, daß die Bafls der europätfhen und deutſchen Politik verſchoben, 
die Wiener Hofkanzlei nicht mehr ihr Mittel- und Schwerpunkt iſt, macht fid 
auch bei ihm flärfer und ſtärker geltend, ein unflchres Taten nad Oben und 
Unten, nad Rechts und ins, gelegentlich eine Mägliche Niederlage oder ein ſchroffer 
Abfall von den ehemals unwandelbaren Principien verräth dieſen Innern Verfall 
und vollendet jene impuissance d’exister, bie ſtets einer Kataſtrophe vorangeht. 

M. wird Reformer nah Innen und Revolntionär nah Außen: nur 
die Sprache feiner Kundgebungen bleibt die alte, aber fie tänfcht Niemanden mehr 
and wird von den ehemaligen Bnndesgenofien mit offnem Hohn erwiedert. 

Der Anſchluß Deferreihs an den Zollverein, ber Sturz des Pro⸗ 
Hibitiofpftems , d. h. eine vollswirtbihaftlihe Ummälzung ber ganzen Monarchie, 
war, wie wir jegt urkundlich wiflen, der ganz beftimmte Plan Metter- 
nich's und Ms allein; aber die Staatelonferenz fand das volllommen unaus- 
führbar, in ihr lebte der Geift des alten M., der „allen Neuerungen” grund⸗ 
fglih feind war. In Athen ging September 1843 über Nacht eine Revolution 
vor fih, die wieder einen Skonftitutionellen Staat an’s Tageslicht förderte und 
Defterreih, das „sein Syftem nie und unter keinen Umftänden änderte‘, ſchwieg, 
e8 vergaß, daß bier genau dasſelbe geiheben war, was es In befiem Tagen in 
Reapel und Piemont felbft untervrädt, in Spanien hatte unterpräden lafien. Das 
Unerbörtefte aber follte Europa 1846 erleben, als Defterreih ven Freiſtaat 
Kratkau konfiscirte und damit einen brutalen Gewaltſtreich gegen dasfelbe Wiener 
Briedenswert führte, für deſſen unbedingte Aufrechthaltung diefe Bolitit hundert⸗ 





) Schmidt: Zeitgen Geſchichte S. 534 bis Schluß, enthält über diefe Periode int 
reſſante Auffchlüffe ans ſchweizer iſchen Gefandtfchaftsberichten. . 


684 Hadirag, 


/ 

mal leben und fterben zu mollen bethenert Hatte. Manchen grellen Widerſpruch, 
manche fchneitende Inkonſequenz hatte DM. in Handlungen und Unterlaffungen 
bereits begangen; einen Selbſtmord an feinem Syftem beging er exft bei dieſer 
Gelegenheit; er berief fi auf das Recht der Nothmehr, auf das Gebot der Roth 
wendigteit; wohl, was aber war das für ein Syſtem, das feine eigenen Urheber in 
den Stand der Rothwehr gegen feine Harften Beſtimmungen verfeste, was konnte 
dieß Syftem vollends denen gelten, tie es nicht gemacht, die e8 vielmehr von Anfang 
an wie ein Io, wie eine Schmach grollend ertragen hatten ? 

In der That, neuen Scidfalen und Yormen zog Europa entgegen und bie 
Gewalt, die in diefem Umfhwung arbeitete, gefiel fich, ehe fie unter Donner und 
Blig über ihre Verleugner losbrach, noch einen Augenblid in einer weltgeſchicht⸗ 
lichen Ironie; fie ließ die Mächtigen, vie ihrer gefpottet, „ihre eignen Worte auf 
eſſen“, wie der Englänber fagt, und ihr Lieblingewerk mit eignen Hänben zer- 
breden. Mit großen Sorgen hatte M. vie nicht fehr planvollen, aber darum für 
ihn nicht weniger bebenflichen, Tonftitutionellen Erperimente Friedrich Wilhelms IV. 
verfolgt; das langfame Tempo, das in Berlin inne gehalten wurde, beruhigie 
nit vollſtändig, die Toderung ver Genfur felt December 1841, nod mehr 
feit Juli 1843 brachte ſelbſt In den flehenden Gewäſſern ver Bfterreichifchen Preffe 
üdwirtungen hervor, die auf Sturm denteten: aus den Kreifen des Lonfervativen 
Adels (v. Andrian: „Defterreih und deſſen Zulanft”, Hamburg 1843 — 
„Defterreih im Jahr 1840°) wurden Stimmen laut, die bewiefen, daß das Bom 
gefähl einer allgemeinen Auflöfung allen in ven Gliedern lag; ber niederöſter⸗ 
reihifhe Landtag, befeuert überdieß durch die Vorgänge auf dem Pre 
Landtag, ertrogte fi eine ähnlihe Stellung wie die preußiihen Provinzialſtände 
und wagte feibft Begehren allgemeinen Inhalts, Deffentlichleit des Staatshaus- 
halts, Antheil der Stände an allen wichtigen Stantsangelegenheiten, beflere Ber- 
tretung des Bürgerſtandes, zu ftellen. Das preußiſche Febrnarpatent von 1847 
und der Zufammentritt des vereinigten Landtags machte vollends einen wahrhaft 
gebieterifchen Einprud und als nun gar verlantete, Preußen beabfidhtige beim 
Bunde die Giltigkeit der Bunbespreßgefege von 1834 einzufchränten, da fandte M. 
rafh einen Hofrath nah Berlin, um dieſe zeitgemäße Reform Preußen vorwegzu- 
nehmen und burchznfegen, daß fle in ber üblichen Weiſe als Bräftpialautrag 
an den Bund gebracht würde, ja M. ftellte ver Staatokonferenz vor, auch Defter- 
reih habe etwas wie vereinigte Ausfhüffe und erweiterte Propinzialftände 
nöthig und müffe Anftalten zu einer. vereinftigen allgemeinen Reith sverfaffung 
treffen, aud in den ungarıfhen Angelegenheiten ergriff ex eine kecke Initiative. 
Soweit war es im Februar 1847 bereits gelommen; W. hatte fih vollſandig 
umgedacht, aber feine Kollegen in der Staatskonferenz erfreuten fi nicht fo gläd- 
licher Beweglichkeit, fie biteben ihren Ueberlieferungen tren und wiejen folde Zu⸗ 
muthungen energiſch ab. Die Verbiendung ber Träger heillofer Zuftänve iſt der 
einzige Schug ver Völker gegen ihre endloſe Dauer. 

Rod, eine unansfpredhliche Niederlage follte die Diplomatie alten Stils in 
der Schweizer Sonverbundsfrage erleiden, dann kam ihr Ende in den Stürmen 
bes Februar und März 1848. M. wurde von dem Erpbeben überraſcht, als er 
über allerlei Tonftitutionellen und liberalen Entwürfen brütete und die Staats» 
fonferenz für fie zu erwärmen fuchte; fein Unglück war, daß während er fi in 
das Studium der jüngften preußifchen Patente vertiefte, er die Symptome deſſen, 
was bevorftand, wie die wirkliche Bedeutung deflen, was in Italien, Deutſchland, 
Frankreich im Februar bereits wirklich geſchehen war, ganz mißverftand und noch 











Mcxziuo. 685 


Anfang März glaubte, zu Reformen, die nicht den Schein ver Nöthigung haben 
follten, fei e8 zu fpät, für gutwillige Gewährungen aber — und die 
paßten ja allein in fein Syſtem — werde fi immer noch der rechte Augenblid 
finden. Für die Parifer Februartage hatte die Wiener Zeitung noch am 4. März 
nur Uenßerungen überlegenen Hohnes. Die Brantftifter, meinte fie, hätten bie 
Bunte: zu früh angelegt, flatt einer allgemeinen Erplofion, bie freilich fehr gefähr- 
lich geworben wäre, fei es dur eine fehr dankenswerthe Uebereilung nur zu 
einem vereinzelten Yeuerlärm gelommen, der die Qutgefinuten rechtzeitig von ben 
finftern Plänen ihrer Feinde unterrichtet habe. 

Gerade neun ereignißvolle Tage fpäter, am 13. März, ſaß M. in der Staats⸗ 
tonferenz auf der Hofburg, ala brunten bie Revolution auffluthete und vroben ein 
zubringlidher Demagoge die Forderungen des Boll unter die zitternden Greiſe 
f&leuderte; vor dem unanfländigen Lärm flüchtete fih DR. in ein Nebenzimmer, 
um durch Gewährung von Bürgerwehr, Cenfurfreiheit, Verfaſſung — lauter 
Dingen, pie gegen feine Bergangenheit zum Himmel fchrieen — wenigftens feinen 
Poften zu retten. Es war umfonft: faum hatte er den Rüden gelehrt, fo ſcholl 
es ihm nad: Abdanken! Abdanken! Er brachte and dieß legte Opfer, nit ohne 
Proteft, daß er „vie Monarchie mit fih davon getragen — verſchwinden Reiche, 
fo gefchieht es nur, wenn fie fih jeibft aufgeben‘, aber, wenn er ehrlich gegen 
ſich wer, mit dem Bewußtſein, Daß er unter ven vollfien Unzeihen ver „Unfrei⸗ 
willigkeit“ Alles aufgegeben, was tie fittlihe Würde eines Staatemannes fordert, 
der einſt au des Spige Europas geſtanden. Das Schidfal gewährte ihm keinerlei 
Senugtbuung; die Monarchie, die er verloren glaubte, als er feine Hand von 
ihr abzog, retiete fih allein dadurch, daß fie feine Bahnen verließ und an der 
Stelle, wo fie feinem Syſtem am treuften blieb, erlebte ex noch ihre Strafe: er 
flarb in den Tagen zwiſchen den Schlachten von Magenta und Golferino. 
(111. Juli 1859.) 

Literatur. Binder, Fürſt Elemens von Metternich und fein Zeitalter. 
Audwigöburg 1836. Hormahyr: Kaiſer Franz und Metternich. Berlin 1848. 
Desfeiben Lebensbilder aus den Befreiungskriegen. Groß-Hoffinger: Fürft 
Metternih und das öſterreichiſche Staatsſyſtem. Leipzig 1846. 3 Bre. Av. 
Shmidt: Zeitgenöſſiſche Geſchichten. Berlin 1859. Gervinus: Gefchichte des 
19. Jahrhunderts. Leipzig 1853 fi. Springer: ODeſterreichiſche Geſchichte. 
Leipzig 1863. Springer: Preuß. Jahrb. IV. 1859. ©. 42—70, Häuffer 
in v. Sybels Hif. Zeitfehrift III. 1860. ©. 265—321. Unfere Zeit V. 
1861. ©. 401-441. Dazu die Depeihen des Grafen Münfter in den Bolit. 
Skizzen ſ. Sohnes 1867 u. U. m. ;tipelm Oncken. 


Mexiko. 
(Nachtrag zu Band VI ©. 612 ff.) 


Mirtto hat in den legten Jahren eine für Europa ganz ungewöhnliche Be⸗ 
beutung erlangt burch ten Berſuch Frankreichs, dort nnter feinem Schutze eine 
Monarchie zu gründen; es hat aber dieſe Bedeutung durch das vollftändige Schei⸗ 
tern des Verſuchs bereits wieder verloren. 

Zwei Parteien kämpften zu Ende des vorigen Jahrzehents um die Herrſchaft 
der Republik, die klerikale und die liberale. Da unterlag pie Merifale unter ihrem 
Brafidenten Miramon gegen die liberale unter Juarez und Ortega. Die Haupiſtadt 
fiel. in die Hände ver legteren, die fofort ſaͤmmtliche Klöfter des Landes für aufge- 


686 DNadteng. 


hoben und ihre Säter für Nationalgüter erklärte. Eine Anzahl hervorragender 
Männer der unterlegenen Partei flüchteten nady Europa, unter ihnen ber Erzbiſchof 
vom Merito Labaftiva, der General Almonte und viele Andere. Im Juli 1861 trat 
ber Kongreß der Republik zufammen, ernannte Benito Inarez zum definitiven 
Präfidenten, übertrug ihm die unbefchränfte Diktatur und fufpenbirte in der ganzen 
Republik die konſtitutionellen Garantieen. Wenige Wochen fpäter faßte er ferner, 
und zwar mit 112 gegen bloß 4 Stimmen, den Beſchluß, alle Zahlungen an das 
Ausland auf zwei Jahre zu fufpenviren. Diefer Beſchluß wurde zu einem ver 
haͤngnißvollen für die Republik. Die Vertreter Englands und Frankreichs brachen 
in Folge desſelben fofort allen Verkehr mit der meritaniihen Regierung ab und 
berichteten au ihre heimiſchen Gonvernements; die Flüchtlinge der unterlegeuen 
et aber in Europa bemädhtigten ſich diefes Berhältnifies, um an ben euro 
pälfhen Höfen gegen ihre Begner in Meriko, die dort augenblicklich das Heft im 
ben Händen hatten, zu Intriguiren und namentlih in Paris durch den gewanbten 
Beneral Almonte, der fih das Ohr der Kaiſerin Eugenie zu fihern wußte und 
durch fie bald aud auf den Kaiſer felber Einfluß gewann, der Ueberzengung Ein⸗ 
ang zu verfchaffen, dak ohne eine Regierungsänderung in Merxiko die europätfchen 
läubiger niemals wieder zu ihrem Eigenthume kommen, baß eine ſolche mit Hülfe 
der unterlegenen kleriklalen Partei unfchwer zu bewirken fein würde, daß aber eine 
dauernde Sicherheit nur durch Aenderung der Regierungsform felber zu erreichen 
fel, und daß dazın gar viele einfichtigere Männer, der ewigen Ummälgungen mäbe, 
nachgerade fehr geneigt, die Zuſtäͤnde dazu Überhaupt volllommen reif wären, daß 
Merito jedoch nie dazu kommen würde, wenn es nicht von Europa ans babel 
unterftügt würde u. dgl. Die zahlreichen, felber etwas abenteuerlichen, felber etwas 
zweifelhaften Eriftenzen am franzöflfchen Hofe griffen die abentenerlihe Idee mit 
Lebhaftigkeit auf, ver Kaiſer ging darauf ein und Inäpfte daran großartige poll 
tifhe Kombinationen. Am 31. Dftober 1861 unterzeichneten Frankreich, Spanien 
nnd England in London eine Konvention behnfs gemeinfchaftlidder Intervention in 
Merito, um dieſes zu zwingen, feinen europätfhen Slänbigern gerecht zn werben; 
aud die Regierung von Waſhington wurde zum Beitritt eingeladen, lehnte ihn 
jevoh ab. England hatte dabei wirklih nur den officiell angegebenen Zweck, 
Spanien war wie immer bereit, feinen ehemaligen Kolonien feine Macht zu 
zeigen, Frankreich allein nährte weitergehende Rückgedanken; ſchon am 11. Nevember 
1861 deutete eine Depefche Thouvenels an den franzdfifchen Geſandten in Meriko 
die Abſicht einer Megimentsneränderung an. 

Die Spanier hatten es am eiligften. Ihre Cokadre traf fon am 8. December 
1861 vor Veracruz ein und fie befegten am 18. bie Stabt, welde die Merikaner 
geräumt hatten, um ihre Streitträfte gegen die fremde Invafion im Innern zu 
toncentriren. Die franzöflfhen und engliſchen Erpepitionstorps Iangten dagegen erſt 
am 7. und 8. Januar 1862 an, Die Bevollmächtigten der Alltirten erliegen nun 
fofort eine Proflamation an die Mexikaner und eine Note an Juarez, fonnten 
fih Dagegen über ein beſtimmt formulirtes Ultimatum beziglich ihrer pelunlären 
Forderungen nicht verftändigen, weil bie Bevollmächtigten Englands und Spaniens 
fanden, daß die ihres franzöfiihen Kollegen theil® ganz übertrieben ſeien, theils 
der Belege entbehrten. Iene Proklamation und jene Note ſchwiegen daher über biefe 
Borderungen, die do angeblich das Motiv und ber eigentlihe und nächſte Zwed 
ber ganzen Erpebition waren, fprachen bagegen viel von einer „Wiedergeburt“ 
Merito’d und wie die Alliirten gelommen ſeien, um bie Freundeshand einem Bolle 
zu reihen, „an weldes bie Vorſehung alle ihre Gaben verfchwendet hat und weldes 








Mexilo. 697 


einen ſchmerzlichen Anblid gewährt, indem er feine Kräfte umd feine Lebensfähig- 
keit in Bürgerkriegen und fortwährenden Zudungen abnützt.“ Am 19. Februar 
fand eine Zufammenkunft von Bevollmächtigten beider Theile in Soledad flatt 
und führte zu der Konvention von Soledad zwiſchen dem fpanifchen General Prim als 
Bertreter ber Alliirten und dem merilanifhen Minifter Doblado. In diefer Konven- 
tion erflärten die Vertreter ver Alliirten, daß „fie keineswegs die Abficht hätten, 
der Sonreränetät ober der Unabhängigkeit ter merilanifhen Republik Abbruch zu 
thun”, und boten die Hand zu freundfhaftliden Unterhandlungen über die Be⸗ 
friedigung ihrer Forderungen, die in Orizaba eröffnet werden follten; für bie 
Dauer biefer Unterhandlungen geftattete die Republik den europälihen Truppen 
das Borrüden auf ein non dem ungefunden Beracruz durch leicht zu vertheidigende 
Eugpäfle getrenntes Plateau, aber unter der nur billigen Bedingung, daß wenn 
bie Unterhandlungen ſich zerfchlagen follten, die Alliirten fi alsbald wieder zurüd- 
zuziehen, aljo den status quo ante herzuftellen hätten. Der Vertrag wurde noch 
am gleihen Tage von allen drei Bevollmächtigten, venjenigen Frankreichs nicht 
ansgenommen, ratificirt und bie Truppen rüdten vor, bie franzöfiichen allen 
Abrigen voran. Allein noch bevor die verabrebeten Unterhandlungen beginnen 
tonnten, nahm bie ganze Lage der Dinge eine neue Wendung. Ende Februar 1862 
laugte ver ſchon erwähnte klerikale General Almonte, ein Tobfeind bes Juarez 
uud ber beftehennen Regierung Meriko’s, in Veracruz an und zwar mit einer Miffion 
und mit Inſtruktionen des Kaifers Napoleon, die birelte auf eine Regierungs⸗ 
änderung in Merito ausgingen, fonad mit der Konvention von Solevad abfolut 
nicht verträglih waren. Die merilanifhe Regierung verlangte daher von den 
Alliirten vie Entfernung des Generals, die Bevollmächtigten Englands und 
Spaniens fanben dieſes Verlangen billig und fetten fi deßhalb mit dem fran- 
zöfifhen in Kommunikation. Da erflärte diefer, dag Almonte und feine Partei⸗ 
genofien unter dem Schug der franzöſiſchen Fahne fländen, daß berfelbe neue 
Inſtruktionen des Kaiſere mitgebracht hätte, denen er fi zu unterziehen habe und 
daß er dem zufolge in der Lage fei, feine der Konvention von Soledad beigefügte 
Unterſchrift wieder zurüdnehmen zu müſſen, nm feinerjelts auf ganz anderen Grund⸗ 
lagen zu unterhandeln. Die Bevollmädtigten konnten fich darüber nicht verftän- 
digen: am 9. April hielten fie zu Orizaba die legte Konferenz und Tonftatirten 
den eingetretenen Bruch. Die englifhen Truppen waren ſchon eingefchifit, vie 
ipanifhen fchifften ſich nun gleihfalls ein: vie Franzoſen blieben allein in Merito 
zuräd, erließen am 16. April eine ſehr hochfahrende Proklamation an die Meri« 
faner und begannen am 20. d. M. weiter in das Innere des Tandes vorzurüden. 
Allein fie waren nur etwa 6000 Mann ſtark, erlitten am 5. Mai bei Puebla 
eine ſehr empfindliche Schlappe und fahen fich genöthigt, nah Orizaba zurüd- 
zumeihen. Ihre Lage war augenblidlic eine fo fehwierige, daß der merikaniſche 
General, ver ihnen gefolgt war, fie in Orizaba zur Kapitulation auffordern zu 
tönnen glaubte, was freilich mit Verachtung zurüdgewiefen wurde. Darauf griffen 
bie Mexikaner an, wurben aber zurüdgefchlagen. Die Franzofen verfchungten fid 
nunmehr; aber immerhin waren fie auf die Defenfive zurüdgeworfen und bie 
anze Erpedition fam zu einem längeren Stillſtand, währenn deſſen General 
onte fih in Veracruz zum Präfldenten der Republik ausrufen ließ, ein Mi⸗ 
nißterium beftellte und Steuern ausſchrieb. 
Nun aber griff Frankreich das Unternehmen in größerem Maßſtabe au. Der 
Kaiſer Üüberrug dem General Forey die gefammte militäriſche und diplomatiſche 
Oberleitung der Gypebition, mit einem Briefe, in dem ex fi über feine Abfichten 





688 Nadtrag. 


näher ausfprach und auf den wir zurückkommen werden. Foreyh Iangte am 22. Sep- 
tember in Veracruz an, machte fofort dem Treiben Almonte's ein Ente und er 
ließ eine Profiomation an die Merikaner, in ber er fagte: „Man hat euch glau⸗ 
ben machen wollen, wir fänen, um dem Lande eine Regierung nah unferem Be 
lieben aufzuzwingen; ganz im Gegentheil, das merllanifche Volt wird, durch unfere 
Waffen erlöst, vollftänvig freie Wahl haben für eine Regierung, welde ihm zu⸗ 
fagen wird. Ihm das zu erklären, habe ich auöbrädlihen Auftrag.” Die ganze 
Brollamation war aus der Feder des Kalfers, wie Forey fpäter ausprädlid er: 
flärte. Bis Ende Februar waren feine Streitträfte zu Lande auf 31— 32,000 
Mann gebradt, während die Flotte vor Veracruz 13,000 Mann zählte, die ge- 
fammten franzöfifchen Streitträfte aljo etwa 45,000 Mann betrugen. Am 17. Mai 
ergab fi) Puebla und damit war der aktive Widerftand Merilo’8 gebrochen. Inarez 
räumte ſchon am 29. Mai die Haupiftadt uud Forey mit den Franzoſen zog am 
10. Iunt in biefelbe ein. 

Forey’s erfte Maßregeln waren, einen neuen Gemeindrath der Stadt und eine 
Regierungstommiffion von 35, ſowie eine Regentſchaft von 3 Mitgliedern einzufegen 
und eine Berfammlung von 215 Rotabeln einzuberufen, um über tie Regierungsform zu 
entfheiden. Sie entichieb ohne langes Bedenken mit allen gegen eine Stimme für bie 
Einführung der abſoluten erblihen Monardie und ernannte auch fofort nad dem 
Willen Frankreiche den Erzherzog Marimiltan von Defterreih zum Kaifer 
von Merito. Eine Deputation ging nad) Enropa, um ihm vie Krone anzubieten. Der 
Erzherzog empfing fie in Miramare am 3. Dftober 1863 und antwortete ihr, 
dag er in dem Beſchluß doch nur die Willensmeinung der Hauptfladt zu erfeunen 
vermöge und feine Wahl dur allgemeine Abftimmung des Landes gewärtige, in 
welchem alle er geneigt fei, den Wünſchen vesfelben zu entfprehen. Bis jeht 
batten tie Franzoſen nur die Hauptfladt Mterito mit weiterer Umgebung und vie 
Linie von da bis Beracruz fo wie Tampico, neben jeuem den widhtigften Hafen 
bes Landee, beſetzt. Run begannen fie ſich auszubreiten nnd nahmen Ende 1863 
und Anfangs 1864 auch S. Luis Botofi, Guadalajara, Zacatecas zc. in Beſitz; 
Inarez zog ſich nad Monterey in die nörblihen Staaten zurüd. So weit tie 
Sranzofen vordrangen, ließen fie in ven Städten Dokumente darüber anfertigen, 
daß die Bürger einftimmig den Erzherzog Mar ald Kaifer begehrten. Diefe Art 
der Abftimmung war in Wahrheit noch weniger als eine Komödie; dennoch ge- 
nügte fie dem Ehrgeize des Erzherzogs, der am 10. April 1864 die definitive 
Annahme der Kaifertrone ausſprach, nachdem er fid vorher in Paris feibft über 
bie Bedingungen mit dem Kalfer der Franzofen birelt verflänvigt hatte. Diele 
Bedingungen wurden in einem förmlichen PVerttage mit Frankreich von demſelben 
Tage geregelt. Frankreich verſprach darin, fein Expeditionskorps fo bald wie mög 
lich auf 25,000 Dann zu reduciren, einfchlieglich der remdenlegion, und mit 
biefen nah und nad das Land zu räumen, fowie der neue Kaifer eine genägende 
einheimifche Armee organifirt hätte. Ein Zeitpunft, bis wann das der Yall fein 
folle, ward nicht angegeben, dagegen ftipulirt, daß bie franzöſiſche Fremdenlegion 
noch 6 Jahre länger in Merito bleiben follte, nachdem alle anderen franzöftſchen 
Streitträfte zurüdgezogen fein würden. Die bisherigen Koften der franzöfifchen 
Erpedition wurden zu 270 Mil. angeihlagen und als Schuld zu 3%, von 
Merito übernommen. Diefes übernahm ferner nicht bloß die Koften der franzöffchen 
GErpeditionstruppen, zu 1000 Br. per Dann und Jahr angefchlagen, alfo vorerft 
25 — 40 Mill. jährli, fondern der nene Kaifer Übernahm außerdem aud bie Alteren 
engliſchen Forderungen an Meriko und bie Befriedigung der Anſprüche franzöfifcher 





Heiko. | 689 


Gläubiger. Zu diefem Behuf und zur erften Einrichtung In Meriko wurbe als⸗ 
bald ein Anlehn von 201 Mill. Fr. zu 6 %/, und zum Kurfe von 63 contrahirt 
and eine Finanzkommiffion mit einem Hauptbuch der auswärtigen merilanifchen 
Schuld in Parts niedergefegt. Mit einem Wort, der neue Kaifer belud das Land 
von Anfang an mit einer Schulbenlaft, vie es niemals zu tragen im Stanbe war, 
teog der „unerfchöpflichen Hälfsquellen” desfelben, bie hier wie anberöwo eine 
verhängnißvelle Rolle fpielten, und befand ſich für den größten Theil dieſer Schuld 
ganz und gar in den Händen bes Kaifers der Franzoſen. Martmilian verließ 
Miramare am 14. April. und ging über Rom, wo er den Segen des Bapftes 
einholte, na Merilo, in deſſen Hauptfladt er am 12, Juni 1864 einzog. 

Der Kalfer ging mit dem größten Eifer und dem aufrichtigften Willen an 
feine Aufgabe und auf dem Papier war bald eine gewiffe Ordnung hergeftellt, 
aber großeutheild eben nur auf dem Papier. General Forey hatte kluger Weife 
bald, nachdem er die Stabt Merilo befegt, feine Vollmachten in die Hände des 
Generals Bazaine niedergelegt und ſich wiener nad Europa eingefhifft. Unter 
Bazaine's Befehl breiteten ſich die Franzoſen aud nad der Ankunft des Kaifers 
noh weiter aus, d. h. fie befegten vie größeren Städte au im Norden und 
brängten den Präflventen Juarez ſchließlich in die legte Stabt des Landes an ber 
Grenze gegen die Vereinigten Staaten zurüd. Wber-eigentli unterwerfen hielten 
bie Sranzofen doch nur die centralen Provinzen des Reichs und ben fchmalen 
Strih zwiihen Meriko und Beracruz, und felbft dieſer wurbe fortwährend von 
zepublitantfchen Guerillas beunruhigt. Die Macht des Kaifers und feiner Regie 
rung ging aber nicht weiter, als die franzöfifchen Waffen reichten, und die Civil 
zegierung bewegte fi daher jeverzeit in fehr engen Schranken und reichte oft nicht 
allzu weit äber die Bannmeile der Hauptſtadt hinaus. Bon bleibenden Inftitutionen 
tonnte daher kaum die Rede fein und Das Hauptgewicht, das eigentliche Interefje fällt 
auf die allgemeinen politiſchen Grundſätze, die der neue Kaiſer befolgte, um bie Be⸗ 
völferumg für fi zu gewinnen ober um fih mit Hülfe verfelben auf dem Throne zu 
erhalten. In diefer Beziehung zerfällt fein kurzes Regiment in zwei ſcharf abge⸗ 
grenzte Perioden , von benen bie eine bis zum 26. Juli 1866, die zweite bis 
zu ‚feinem Ende reichte. 

Die erſte Periode Tann als die Liberale bezeichnet werden, Der Kaifer 
wor mit der Orbnung einer bürgerliden Berwaltung und vor allem mit ber Bil- 
dung eines einheimifcgen Heeres beſchäftigt; daneben trug er fi mit allerlei Plänen 
für öffentliche Arbeiten, die Gründung einer Akademie ver Wiffenfchaften u. dgl. 
und vergnägte fich mit der Stiftung eines Ordens. Das Hauptinterefje nahmen 
aber aͤußerſt charakteriſtiſche Streitigkeiten mit den Bifchöfen und mit dem heil, 
Stuhle felber in Anſpruch. Schon vor der Ankunft Marimilians waren vie fran« 
zoſiſchen Autoritäten und die von ihnen eingefegte Regentfhaft mit dem meri⸗ 
kaniſchen Klerus in Konflift gerathen. Als die Franzoſen Ins Land kamen, war ein 
bedemender Theil der Kirchengüter verkauft und in gutem Glauben getauft wor« 
den; die Kaufſumme war zum Theil bereits bezahlt, zum Theil noch zu bezahlen 
und da bie von den Franzoſen eingefegte Negentichaft fih faſt ohne alle Mittel 
ſah, erkannte fie in diefen Zahlungen eine der hauptſächlichſten Quellen ihrer 
Criſtenz. Im Einverfiändnig mit den franzöfifchen Wutoritäten wollte fie daher 
diefe Berfänfe, fo welt fie in gutem Glauben erfolgt waren, anerkennen. Allein 
das war nit die Meinung des Klerus und der klerikalen Partei. Ste war es 
geweſen, welche die Franzoſen ins Land gerufen hatte, und zwar hauptfächlid durch 
den Berkauf der Kirchengäter erbittert und um biefen wieder rüdgängig zu machen, 

Blunti@li un Wrater, Deutſchet Staats⸗Wörterbuch. Xi. 44 


690 Nachtrag. 


Der Erzbiſchof von Meriko, ſelbſt ein Mitglied der Regentſchaft, proteſtirte daher 
gegen die Aufrechthaltung des Verkaufe der Kirchengüter, trat aus ber Regent⸗ 
{haft aus und verhängte bie Erfommunilation gegen die Käufer und ihre Be 
ſchützer. Dann kam der Kaiſer ſelbſt an. Aber auch er wollte fi nicht ausſchließlich 
anf Seite der Herikalen Partei ſtellen, ausſchließlich auf fie lägen, und fonnte es 
auch nit, wenn er nit von vorne herein baranf verzichten wollte, au nur 
Einen liberalen Merikaner auf feine Seite berüberzuziehen. Raum hatte er dann 
bie Zügel ver Regierung ergriffen, fo gerieth aud er in Konflikt mit der Kirche. 
AS guter Katholit, wie alle Glieder feines Haufes, hatte er den Gegen ves 
Bapftes eingeholt, bevor er feine Würbe übernahm, und kam nad) Meriko ficherlich 
mit den beiten Abfichten für das Wohl der Kirche. Aber er war doch ein Kind 
des 19. Jahrhunderts und die Zumuthungen des Papftes überftiegen alles Maß. 
Was in keinem einzigen Staate Europa’s, Spanien felbft nit ausgenommen, 
mehr möglih war, das hielt die römifhe Kurie wenigſtens in Meriko noch für 
möglih und verlangte es von Marimilian. Ws Mar noch nicht vier Monate auf 
dem Throne faß, richtete der Papft am 18. Oftober 1864 ein Schreiben an ihn, 
in dem er ſich bitter darüber beklagte, daß noch nichts zu Gunften der Kirche ge 
ſchehen fet, und dann wörtli fortfuhr: „Wir haben Unferen NRuntius beauftragt, 
in Unferem Namen von Em. Maj. die Zurädnahme ber unheilvollen Geſetze 
(bez. Einziehung der Kirchengüter, d. h. die Zurüdftellung ver bereits eingezogenen 
nud bereitö verfauften Kicchengäter an den Klerus) zu verlangen. Ew. Maj. wiſſen 
wohl, daß, um die der Kirche durch die Revolution verurfachten Unbilden wieber gut 
zu machen und derſelben fo bald als möglih eine glückliche Zukunft zu fichern, vor 
Allem erforderlich iſt, dag die katholiſche Kirche mit Aueſchluß jeder anderen 
Konfeffion zur Orundlage und Stäge des merilanifchen Reiches erhoben werbe, 
dag die Biſchöfe in der Ausübung ihres Hirtenamtes volllommen frei und unab- 

ngig feien, die religiöfen Orden wieder bergeftellt, das Kirchengut anerkannt und 

iemandem die Erlaubniß ertheilt werde, falſche und verderbliche Lehren zu ver 
breiten, daß fowohl der öffentlie wie der Privatunterricht der Ober 
auffiht der Kirche unterworfen bleibe und endlich bie Kirche Überhaupt von ben 
Feffeln befreit werbe, welde fie zu vem Staate in Wbhängigfeit fielen und 
feiner Willtär unterwerfen.” Der Kalfer erwachte wie aus einem Traum, als er 
am 21. December dieſes Schreiben ans den Händen des neuen Runtius empfing 
und diefe Brätenflonen las. Er hatte ein Konkordat mit Rom gewünfcht zu gegen 
feitiger Ansgleihung der kirchlichen und ſtaatlichen Intereflen; ſtatt deſſen kam ber 
Nuntius ohne alle JInſtruktionen hiefür, weil die Kurie einfache Untersronung des 
Staats unter bie Kirche und bie einfache Anerkennung ber weiteſtgehenden An- 
fprüdhe verlangte, bie der Klerus nur irgend jemals und irgend wo zu erheben 
gewagt hatte. Der Kaiſer verzichtete alsbald und mit Recht auf jede Berfländigung 
mit Rom auf diefen Grundlagen. In einem offenen Schreiben an feinen Minifter 
gab er dem „Außerfien Erſtaunen“ über die Forderungen Roms Ausdruck und er 
fiärte feinen feften Entſchluß, „die durch die Gefege gefchaffenen berechtigten 
Interefien (bezüglich der verlauften Kirchengüter), unter Abhälfe der in ihrem Namen 
verübten Ausfchreitungen und Ungeredtigleiten, ficher zu fielen" und dafür zu 
forgen, daß „im ganzen Land die Saframente gereicht und andere Funktionen des 
geil gottesdienſtlichen Amtes ausgeübt werden ohne irgend welche Koften ober 

aften für dad Boll”, As Grundlagen für ein Konkordat ftellte er den päpftlicken 
Forderungen folgenbe Brincipien entgegen: „i. Dulbung aller Kulte, die nicht gegen 
das bürgerliche Geſetz verſtoßen, Anerkennung des Ratholiclsmus als Staatsrellgion; 





Aexiko. 691 


2. Endgültige und förmliche Anerkennung der Säkularifation ber Sticdhenglter; 
3. Dotation des Klerus dur den Staat; 4. Einführung von Civilftandsregiftern 
und Aufrechthaltung ber alten Rechte der fpantfchen Krone gegenüber der Kirche“ 
und wies feine Regiesung an, vorerfi und bis zum Abſchluß eines Konkordats 
nach diefen Normen zu handeln. Am 7. Ianuar 1865 erneuerte er durch Dekret 
das placetum regium für alle päpftliden Bullen zc. nad dem alten Recht ver 
fpanifhen Krone. Der Nuntius proteftirte am folgenden Tage (8. Januar) gegen 
diefes Dekret und verftieg fih dabei bis zu der Behauptung, „baß, da ber Keil. 
Baler in der ganzen Welt als das Oberhaupt der Kirche anerlannt werbe, feine 
en die einer nnabhängigen und fonveränen Jurisdiktion felen, und 

ferner, daß Rom nie werbe begreifen können, vaß Untertbanen des Bapftes, 
feten es nun Kaiſer ober Könige, das Recht hätten, vie Veröffentlichung eines feiner 
Dekrete zu verbieten ober ihre Wirkung zu vereiteln.“ Die Regierung des Kaifers 
wies dieſes Anfinnen in der aller entfchienenften Weiſe zurück; ein völliger Bruch 
mit Rom wurde aber trogbem vermieden; vielmehr ſandte der Kaifer nun feiner 
felts eine Rommifion nah Rom, um über ein Konforbat zu unterhanveln, obne 
freilich etwas zu erreihen. Inzwiſchen orbnete er felbflänpig eine Reviſion ver 
Berläufe von Kirhengnt an, beflimmte bezüglich des Schulweſens, daß der reli- 
gidſe Unterricht ausfchlieglih der Kirche überlaffen werben folle, ftellte die Kirch 
böfe unter die Civilbehörden und feste die PBreife der Begräbniſſe feft, um ver 
geradezu fhamlofen Ausbeutung bes Volls durch die Geiftlichleit ein Ziel zu fegen. 
Während diefer Vorgänge hatte ſich bie Lage des Katferreichs verfhlimmert, 
feine Ausfihten verbäftert. Der Kaifer hatte von Anfang an fehr richtig erkannt, 
daß fein Thron anf Sand gebaut wäre, wenn er fich lediglich auf bie franzöfifchen 
Streitfräfte flüge und daneben bloß etwa von der klerikalen Partei unterftügt würde, 
bie nicht feine, fondern nur ihre eigenen und fehr materiellen Interefien im Auge 
hatte. Er hatte gehofft, daß zwar kaum bie Wührer, aber do ein großer Theil 
berjenigen Bevölkerung, vie der liberalen Partei anhing und die fremden Ein- 
dringlinge, zumal die Sranzofen haßte, fih allmälig mit dem Kaiſerthum aus- 
fühnen würde. Schon im Berlaufe des erften Jahres mußte er ſich überzeugen, 
daß dieß wicht oder doch nur In verfhwindendem Maße ver Fall war. Wer fich 
aufrichtig an ihn anfchloß, war die überwiegende Mehrheit ber indianiſchen Be⸗ 
vdikerung, die jedoch, ohne Selbſtaändigkeit und Willenskraft, politiſch gar nicht ins 
Gewicht fiel; alle übrigen feiner Regierung fi anfchliegenden Elemente wurben 
babei, mit fehr geringen Ausnahmen, Iebiglih durch fehr handgreifliche Intereſſen 
geleitet und ex Tonnte ſich auf fie fo wenig verlafien als auf bie new organifirten 
eingeborenen Truppen. Um vie militärtiche Unterwerfung bes Landes zu einer voll- 
fländigen und wirklichen zu machen, hätte es nicht einer allmäligen Berminberung 
des franzäfifhen Okkupationskorps, wie der Vertrag von Miramare flipnlirt hatte, 
fondern im Gegentheil einer Vermehrung bedurft. Das aber war für Frankreich 
fehr bald geradezu eine Unmöglichkeit. Die öffentliche Meinung in Frankreich war 
aufs Entjchtenenfte dagegen und ver Kaiſer Napoleon Bereits bis an bie äußerfte 
Grenze des Möglihen gegangen. Was ihm weiter zu gehen abfolut nicht erlaubte, 
waren die finanziellen Auforverungen des Unternehmens. Trotz ber „unerfchöpflichen 
Hälfsquellen" waren die wirfliden Eingänge in die Kafleu des Kaiſerreichs an 
Zollen und Steuern und felbft an Zahlungen für verkaufte Kicchengüter fehr be 
färänft, zumal die beiden letzteren Titel, und reichten für die Bedürfniſſe der Ber- 
waltung keineswegs aus. Das Kaiſerreich kontrahirte daher zwei größere Aulehen, 
bas eine im April 1864, das andere im April 1865, beide natürlich zu den aller- 

4* 


692 Nachtrag. 


ungünſtigſten Bedingungen. Beide konnten nicht vollſtändig untergebracht werben 
und der geringſte Theil ihres wirklichen Ertrags floß In die kaiſerlichen Kaſſen zu 
Mexiko. Er reichte kaum bin, um das tägliche Leben des Kaiſerreichs zu friften. 
Ein Theil blieb in Paris, aber ſelbſt dieſer bildete nur eine geringe Abſchlags⸗ 
zahlung an der Schuld, die das merilanifhe Kaiferreih von Anfang an Frankreich 
gegenüber übernommen hatte und die fi fortwährend und zwar riefenhaft ver- 
mehrte. Mexiko war außer Stande, die im Vertrag von Miramare ftipulirtem 
Rückzahlungen an die der Errichtung des Kalferthrons voransgegangenen Erpeditions- 
foften Frankreichs wirklich zu mahen, außer Stande, vie gleihfals ftipulirten 
Koften der franzöfiigen Offupation zu tragen, außer Stande fogar, die Koften 
ber neu organifirten eigenen Truppen zu bezahlen, die wiederum Frankreich vor- 
fbiegen mußte. Selbft für den Kaifer der Franzoſen wurde die Laſt, die er tragen 
follte, nachgerade zu fchwer. Und fie wurde es nm fo mehr, wenn das politiiche 
Nefultat, das erreicht warb oder erreiht werden konnte, in feinem Berhältniß zu 
derſelben ftand. Mit dem Frühjahr 1865 aber war dieß unzweifelhaft der Fall 
und trat, wenn auch äußerlich zunächſt nod nicht fihtbar, die Wendung und die 
Krifis ein, die dem ganzen Kaiferreich ein jähes Ende bereiten follte. Am 9. April 1865 
fiel Richmont den Armeen der nordamerifanifhen Union in die Hände und hatte 
er Verſuch der Süpftaaten, fih als felbftändige Konföveration zu konſtitniren, ein 
Ende. Damit fiel die Vorausjegung für das ganze Unternehmen Napoleons in 
Merito dahin und ſchwebte feine Schöpfung in der Luft. Man darf annehmen, 
daß mit diefem Ereignig fein Entſchluß feitftand, für die letztere keine irgend nam- 
haften Opfer weiter zu bringen, vielmehr feine Truppen zurüdzuziehen und das 
Unternehmen preiszugeben, ſobald es einerfeits mit feiner Würde und feinem An- 
fehen, anverfeit8 mit den gegenüber bem Kaiſer Mar unzweifelhaft eingegangenen 
moralifhen und rechtlihen Berpflihtungen nur irgend vereinbar wäre. Wenn auch 
dem Kaifer Marimilian darüber eine Notifikation zuging, fo fpürte er doch bald 
genug die Folgen diefes Entſchluſſes. Bis Ende des Jahres 1865 ging Alles noch fo 
leidlich und Morimilion mochte fi der Illuſion bingeben, weil Inarez nach Paſo 
del Norte zurüdgenrängt war und man gelegentlih feinen Uebertritt auf nerb- 
amerikaniſches Gebiet gewärtigen Tonute, daß das Kaiferreih gegründet ſei und 
daß es ihm förperlih fein werde, wenn er dieß in aller Form ausfprede. Gr 
that e8 in der verhängnißvollen Proklamation vom 2. Oktober 1865, durch melde 
er ben gefeglichen Widerſtand des republifanifchen Präſidenten Juarez für beendigt 
und feine Anhänger fortan für Banden erklärte, die er den Kriegögerichten unter⸗ 
warf und mit fofortigem Erſchießen bedrohte. Der Erfolg war der entgegengefeßte 
von dem, den er erwartete. Mit dem Jahr 1866 begann ihm ber Boden unter 
den Füßen zu weichen. Die franzöfifhen Truppen wurben nicht nur nidt ver 
ftärkt, fondern aud die Abgänge entweber gar nicht oder nur ungenügend erfeßt, 
bie einzelnen Korps berfelben unterliegen weitere Erpebitionen im Norden und ver 
riethen eher Neigung, fih zufammen zu ziehen, als fi auszubreiten, die Geld⸗ 
forderungen der Franzoſen wurden dringender, vie Gelvverlegenheiten der Regierung 
immer größer. . 

Nun begann um die Mitte des Jahres 1866 die zweite Periode ber 
kurzen Regierung des Kaiſers Mar. Napoleon hatte ihm ſchon im Februar biefes 
Jahres durch ten in außerorbentliher Miſſion nah Meriko gefandten Baron 
Seillard notificirt, daß er entſchloſſen fei, feine Truppen in Abtheilungen zurüd- 
zuziehen und baß damit im November der Anfang werde gemadt werden. File 
bie Taiferliche Regierung in Mexiko war dieß die Ankündigung des Todesſtoßes, 


Aeriko. 698 


eine Krifis konnte nicht ausbleiben und fie erfolgte im Juli. Um ſich zu halten, 
beſchloß Kaiſer Mar, nah der einen Seite Alles zu than, um bie Franzofen, bie 
bereits anfingen, tie Nordprovinzen zu räumen und fih auf bie Hauptſtadt zu 
zu koncentriren, zurückzuhalten, nad der andern aber fi mehr ala bisher auf die 
Klerilalen zu fügen, die wie er von den Juariſten Alles zu fürchten hatten und 
mit großen Berfprehungen ganz und gar nicht karg waren. Um jenen Zwed zu 
erreichen, wurde bie Katjerin Eharlotte ſelber nach Europa gefenvet, und um Frank⸗ 
rei günftig zu ftimmen und feinem Drängen entgegenzufonımen, am 30. Juli 
eine Konvention mit ihm unterzeichnet, die an die Stelle der finanziellen Beſtim⸗ 
mungen des Vertrags von Miramare treten follte. Sie beraubte das meritanifche 
Kaiferreih zu gutem Theile der einzigen Revenuen, auf die es ſicher rechnen 
konnte: denn nad Ihr follte vom 1. November ab die Hälfte des Ertrags von 
ben Einzangszöllen in Veracruz und Tampico zu Tilgung der franzöfifhen Schuld 
verwendet werben. Zugleich aber wechjelte der Kaifer am 26. Juli fein Minifterium 
und beftellte es aus Inuter Klerikalen, die dafür die Millionen ihrer Kirchenſchätze 
vor den Augen des verzweifelnden Kaiſers blinken ließen. Die Seele des nun- 
mehrigen Regiments war indeß der Kabinetaſekretär des Kaiſers, ver deutſche P. Fiſcher. 
Richt ganz im Einklang mit diefem Umfhwung Hatte die Katferin den Auftrag, 
von Parie auh nah Rom zu gehen, um den Papſt zum Abſchluß eines Kon⸗ 
tordats und zur Zuflimmung zur Sälularifation der Kirchengäter, die er ja ſchließlich 
auch Spanien zugeftanden hatte, zu bewegen. Der Katfer fuchte fi eben auf die 
verfchtenenften fi theilweiſe geradezu widerfpredenden Elemente zu flügen. Aber 
Alles mißlang. Napoleon wollte nichts von einem längeren Berbleiben feiner 
Truppen in Merilo, der Bapft nichts von der Säfularifation der Kirchengüter 
wiſſen — die Kaiſerin verfiel darüber am 4. Dftober in Rom in Wahnfinn — 
und bie Klerikalen hielten, wie vorauszuſehen, mit ihren Millionen zurüd. Napoleon 
ſchickte in demfelben Monat Oktober den General Eaftelnau mit einer neuen außer⸗ 
ordentlihen Miſſion nach Meriko, vie nnter allen Umftänden nichts Gutes bringen 
konnte. Kaiſer Mar, als er diefe und am 18. Oftober die telegrashifhe Nachricht 
von dem entſetzlichen Schiefal feiner Gemahlin erhielt, faßte raſch den Entihluß, 
auf fein Unternehmen gänzlih zu verzichten. Am 21. Dftober 1866 legte er 
nämlich feine Gewalt in die Hände des Marſchalls Bazaine und brach nach Orizaba 
auf, um von dort nad VBeracruz zu gehen, wo ver öſterreichiſche Dampfer Dan- 
dolo [chen feiner wartete, um ihn nad Europa überzuführen. In Orizaba wußten 
ihn jedoch P. Fiſcher und die eben angelommenen ultramontanen Generale Mar⸗ 
quez und Almonte wieder umzuftimmen. Jetzt beſchloß er, die Minifter und ven 
Stantsrafh nad Orizaba zu berufen und fehlug ihnen vor, einen Nationalkongreß 
ju verfammeln, von dem die bisherigen Gegner des Kaiſerthums nicht auszu- 
ſchließen wären, und ihm die Entfcheibung zwifhen der Erhaltung des Kaiſerthums 
und der Wieverherftellung der Republik zu überlafien. Bon 22 Stimmen fpraden 
fh nur 2 für Abdankung des Kalfers, 20 dagegen, bie in der That nichts dabei 
zu verlieren hatten, für Sefthalten aus. Die Klerikalen verfprachen neuerbings, 
20 Millionen Biafter aufzubringen, um bie Truppen bezahlen zu können und den 
Krieg gegen bie Liberalen zu organifiren. Inzwiſchen hatte ber Kaiſer der Fran⸗ 
zofen, von ben Bereinigten Staaten gebrängt und um nicht wenigftens einen Theil 
feiner Armee der äuferften Gefahr auszufegen, beſchloſſen, fein ganzes Erpeditions⸗ 
forps nicht nach und nah, fondern auf einmal, im Februar oder März 1867, 
zurückzuziehen, und bie Lage des Kalferreihs war ſchon Ende 1866 eine ver- 
zweifelte. Die Franzofen zogen fi überall aus dem Norden raſch zuräd, * 


694 Nachtrag. 


Inoriften rückten überall vor und an ihre Stelle, auf das einzige baare Gel, 
das einging, In Beracruz und Tampico, legten die Branzofen Beſchlag und die 
Verſprechungen der Klerilalen erwieſen fi nochmals als eitle Täufchung. 

Das Drama ging feinem Ende zu. Raifer Mar konnte nnd wollte jet nicht 
mehr den Thron im Stihe laſſen und wie ein Fahnenflächtiger mit ven Fran⸗ 
zofen und unter ihrem Schuge abziehen. Am 5. Februar 1867 räumten die Fran- 
zofen die Stadt Mexilo und begannen ihre Koncentrirung auf Veracruz, am 
12. Februar zog Kaiſer Marimilian mit einem Theile feiner Truppen nad) Quere⸗ 
taro, um dort die heranziehenden Juariften zu erwarten; am 6. März waren bie 
Franzoſen fammt und fonders in Beracruz eingefhifft und ſchwammen Europa zu, 
Mexiko feinem Schidfale überlaflend; am 15. Mai wurde Mar in Oueretaro ver- 
rathen und fiel den Juariften in vie Hände, vie ihn vor ein Kriegsgericht ſtellten. 
Er wurde von demfelben zum Tode veruribeilt und mit den Generalen Miramon 
und Mejia am 19. Juni erfchoffen. In Folge davon ergab fih Mexiko am 20. Juni, 
am 25. aud Beracınz den Streitfräften des Iuarez. Das Kaiſerreich war ver- 
fhwunden und bie Republik triumphirte auf's Rene. 

Das gänzlihe Mißlingen ver großen Erpebition if unzweifelhaft nicht zwar 
bie größte, wohl aber die perfönlih empfindlichſte Niederlage, welche vie Politit 
Napoleons erfahren bat, und um fo bebentungsvoller, als fie mit der anberen, 
welche die Ereigniffe von 1866 in Deutfchland Napoleon und Frankreich felber 
bereiteten, in einem verhaͤngnißvollen Zufammenbange fteht. 

Als er Mitte des Iahres 1862 befchlofien hatte, das begonnene Unternehmen 
in großartigem Maßftabe in die Hand zu nehmen und zu biefem Ende den Beneral 
Forey an. die Spige des verflärkten Erpetitionsierps ftellte, richtete er an den⸗ 
felben unter dem 3. Juli den oben erwähnten offenen Brigf, in dem er u. U 
fagte: „Es wird nit an Lenten fehlen, welde an Sie die Frage richten werben, 
weßhalb wir Meuſchen und Geld opfern, um in Merilo eine regelmäßige Re- 
gierung zu begründen. Wir haben ein Interefje daran, daß bie Republik der Ber- 
einigten Staaten mächtig und blühend fel, aber wir haben gar Fein Iuterefie, daß 
fie fi des ganzen Golfs von Merito bemächtige, von dort aus die Antillen unb 
Süpamerifa beberrfhe und über die Probufte der neuen Welt die alleinige Ber 
fügung in die Hände befomme. Wenn bagegen Merilo feine Unabhängigfelt bei- 
behält und vie Integrität feines Gebietes bewahrt, wenn dort mit der Hälfe Franl⸗ 
reichs eine ftabile Regierung errichtet wird, fo werben wir der Iateinifhen 
Naffe jenfeits des Dceans ihre Stärke und Ihr Präftige wiebergegeben, jo wer« 
den wir unferen und ven fpanifhen Kolonieen in den Antillen ihre Sicherheit 
verbürgt und unferen wohlthätigen Einfluß in Gentralamerila feftgefeßt haben.“ 
Das war das eigentliche politiihe Programm bes Kaifers für das Unternehmen 
und bie Höhe des Stanbpunftes wie vie Großartigkeit der Intention läßt fi 
unmöglih verkennen. Der Augenblick ſchien günſtig, ba die große Republil ver 
Bereinigten Staaten aus einander zu fallen, ſich zwiſchen ihren Kern, bie bemo- 
kratiſchen Nordſtaaten, und Mexiko ein neues ariftofratifhes Staatsgebilde Hineln- 
zuſchieben, jedenfalls aber beive Hälften der Union fi in einem furchtbaren Bürger 
kriege zu zerfleifhen und zu ſchwächen ſchienen. Aber die Ausführung des Planes 
von Seite des Kailers Napoleon entſprach der großen Konception body nicht; bie 
Aufgabe überftieg felbft die Kräfte des Kaiſers. Um fein Werk durchzuſetzen, burfte 
er bie Erringung ihrer Selbftänpigkeit von Seite der nordamerikaniſchen Süd⸗ 
fasten nicht bloß vorausfegen; er mußte die Boransfegung ſeinerſeits auch ſichern 
und zu biefem Ende entſchieden auf ihre Seite treten und felbf vor einem Kriege 








Mısike. 695 


mit der Unton nicht zurädichreden. Man barf aus anderen Thatſachen aus ber 
Rapoleons III. vielleicht fchließen, daß die Kühnheit feines Charakters 
doch nicht fo weit ging. Aber felbft wenn er den Muth zu einem fo riefenhaften 
Unternehmen gefunben hätte, fo konnte er doch nit daran denken, weil er fid 
niemals der Hoffnung hätte Hingeben bürfen, Frankreich mit ſich in einen folchen 
Kampf fortzureigen. Seine Boransfegung bewährte ſich nit, fein Unternehmen 
ſcheiterte daran, daß fie ſich nicht verwirklichte, und das ganze Gewicht ver in 
feinem Programm bargelegten Motive fällt mit doppelter Schwere auf ihn und 
die Interefien zurück, für die er das Schwert in die Wagfchaale hatte werfen 
wollen, die aber troßbem zu leicht befunden wurde. Die Niederlage der franzöftfchen 
Bolitit in Mexiko ift zugleich eine Niederlage ver lateiniſchen Raſſe in Amerika und 
der Erfolg, der dadurch von felbfl ven wieder vereinigten Staaten ber norbameri= 
laniſchen n zuwachſen mußte und zugewachſen iſt, iſt zugleich ein Erfolg ver 
ſchen Raſſe gegenüber ver lateiniſchen. Meriko iſt und bleibt früher ober 
fpäter die fichere Bente der Union, ſobald fie dasſelbe haben will, und bat bie 
Union erfi einmal fi) des ganzen Golfs von Merito bemädtigt, und zwar nicht 
bloß wit der Schärfe des Schwertes, ſoudern vermittelt der langfameren, aber 
fiherern Arbeit der KRolonifatien, fo beherrſcht fie allerbings fo ziemlich vie An⸗ 
tillen und Süpamerika ſchon durch ihre Weltſtellung. Nicht ohne Grund fagt ein 
nenerer Reiſender, indem er feine Beobachtungen und Einprüde zufammenfaßt: 
„Mittel- und Südamerila find in verfelben Rage wie Dieriko. Wäre dieſes ganze 
- ungeheure Kerritorium im Befitz einer anderen Rafle, wahrfheintih wäre es fchon 
an allen Eden und Enden in Angriff genommen und ansgebeutet worden. Gott 
bat es deßhalb ganz weile eingerichtet, daß er das Land zur Aufbewahrung in den 
Händen ber romaniſchen Raſſe ließ; vie thut ihm keinen Schaden, und fo bleibt 
es noch für lange Jahre eine Vorrathskammer für andere Vollker, eine Zufluchts« 
Rätte, wohin fie ziehen können, wenn das einft übervolkerte Nordamerika keinen 
freien Uder Laud mehr bietet, ein Zeitpunkt, ver freilich jest und fär längere 
Zeit noch nicht eingetreten iſt.“ Das ift allervings felbft bei der fchnellen Ent- 
widelung unferer Zeit die Sache nicht von Jahrzehenten, fondern von Jahrhun- 
berten. Über tie bisherige Entwidelung der Dinge läßt diefen Verlauf der Dinge 
foft mit Sicherheit vorausfegen. Die romanifhe Welt hat darum alle Urfache, 
über das Ereigniß in Merilo nachzudenken, und es iſt gar nicht zu verwundern, 
wenn fie über das Schickſal ihrer Rafle in der außerenropätihen Welt erfchridt 
and wenn fie eine bange Ahnung aud über das Schidfal beſchleicht, das ihr In 
Europa beſchieden fein Lönnte. 
Merito ift für Frankreich ſchon jet verhängnißooll geworden. Daß 30,000 
bis 40,000 Mann längere Zeit In weiter Ferne beihäftigt waren und der mili- 
täriihen Gefammtkcaft Frankreichs für fo lange entgingen, konnte nicht fo ſchwer, 
wie Viele meinten, ins Gewicht fallen. Um fo bedentfamer war e8 aber, daß bie 
kaiſerliche Regierung, weil fie der Sffentlihen Meinnng gegenüber nicht freie Hand 
hatte und unmögli eingeftehen konnte, welche Opfer die Expedition erforderte, 
gendthigt war, das für Frankreich felber beftimmte und zu feiner eigenen Sicher⸗ 
heit nöthige Kriegsmaterlol anzugreifen und zu einem fehr mwefentlichen Theile für 
bie megllanifhe Erpebition zu verwenden. Die Folge davon war, daß Frankreich 
für einen großen kontinentalen Krieg im Sommer des Jahres 1866 nidyt vorbe⸗ 
reitet war. Wäre 28 die gemwefen, ſo hätte Napoleon III. vielleicht dem deutſchen 
Kriege und der Entwidelung der deutſchen Dinge, fei es vor fei es nad der 


Schlacht von Königgräp, nicht unthätig augefehen. Frankreichs Waffenehre hat durch 


.- 


_ 


696 Nachtrag. 


jene Ereignifie in keiner Weiſe gelitten. Uber bie germaniſche Welt hat in Folge 
berjelben eine Stellung errungen, welde Frankreich nicht ohne Grund wie eine 
ſchwere Niederlage empfindet, 9. GSqulttes. 


Moldau und Wallachei. 
(Nachtrag zu Band VI S. 691 ff.) 


Die Moldau und Wallachei haben feit 1860 eine Bebentung erlangt, bie 
fie vorher nicht hatten und die fie wenigftens zeitweiſe mit al8 den Augelpunft der 
orientalifden Frage erfcheinen läßt. Der Pariſer Friede vom 80. Mix; 1856 
(Art. XXIL) entzog die beiden Donaufürftentbümer dem ruffiichen Protektorat 
und ftellte fie wieder unter die ausſchließliche Superänetät der Pforte; bie letztere 
. wurde, eben mit Beziehung auf diefe ihre Schutzſtaaten, unter eine Art Obervor⸗ 
munbfhaft der Großmächte geftellt. Diefe waren es denn auch, welche bie Rekon⸗ 
ftruftion der Donaufürftenthämer in die Hand nahmen, um einen Ausgleich zwi⸗ 
fhen ten Wünſchen ver Bevölkerungen, den oberherrlihen Rechten ver Pforte mb 
ven Interefien ver Mächte felber zu finden. Was die Wünfche ver Bendlkerungen 
betraf, fo gingen diefelben entſchieden und mit derjenigen Energie, deren fie über- 
haupt fähig waren, bahin, bie Bereinigung zn einem Stante und zwar unter 
der Herrfchaft eines nicht mehr wähibaren, fonbern erbliyen Yürften aus einer 
der europälfhen Dynaſtien, doch mit Ausſchluß derjenigen zu erreidhen, beren 
Ländergebiet an Rumänien grenze. Allein vie Pforte, die gerade in ber Trennung 
beider Fürſtenthümer und in der periodiſchen Wahl der Hospobaren unter ihrem 
Einfluß oder doch unter ihrer Beftätigung dem legten praktiſchen Reſt ihrer Ober⸗ 
herrlichleit ſah, weigerte fich entſchieden die Hand dazu zu bieten, Rußland und 
Defterreih unterſtützten fie, indem beide gleichmäßig das Emporkommen eines 
mehr oder weniger unabhängigen uud auf eigenen Füßen ſtehenden Staates iu 
diefen Gegenden mit ihren fpeciellen Interefien nicht vereinbar errachteten, Eng⸗ 
land zeigte fih dem Plan wenigftens in keiner Welfe geneigt, unr Frankreich 
fhien ihn mehr oder weniger unterftügen zu wollen. Eine im Juli 1858 in. Bars 
erſchienene officiöfe Broſchüre „Napoleon III. und die rumäniſche Frage” trat 
zuerft hier für dad Nationalitätsprinctp ein, erklärte es für das erfte Kennzeichen 
eines civiliſirten Staates, Defterreih aber für den natürlichen Feind diefes Prin⸗ 
cips und gefland den Rumänen das Recht zu, fich nach demſelben zu einigem. 
Vorerſt vermochte indeß Frankreich feine Anſchauungen noch nicht durchzufetzen. 
Die Pariſer Konferenz der Großmächte, zu welcher auch die Pforte und Sardinien 
beigezogen wurden, ſchloß am 19. Auguſt 1858 eine Konvention, welche die An⸗ 
gelegenheiten der Fürſtenthümer regelte, von ver Wahl eines fremben und erb⸗ 
lihen Fürften ganz abſah und bie Vereinigung beider Staaten lediglich vorzu⸗ 
bereiten und nur langſam anzubahnen unternahm. Demgemäß follten die beiden 
Länder zwei befondere Hospodare wählen, deren Beftätigung wie bisher ver Pforte 
vorbehalten blieb; dagegen wurde ihnen zugeflanden, eine gemeinfame Gentral- 
kommiſſion zu beftellen, welche bie fpätere Berfchmelzung anzubahnen hätte; ferner 
ſollten fie ſchon jet den Namen „Bereinigte Fürftentkämer der Moldau und 
Wallachei“ tragen und ſchließlich wurde die Oberhoheit der Pforte dahin befchränft, 
baß die Fürſtenthümer unter die Kollektiogarantie ver genannten fleben Mächte 
geftellt wurden unb zwar fo, daß Feine von biefen, aber auch die Pforte nicht 
shne Einverſtändniß der Übrigen fich irgendwie in ihre Angelegenheiten einmiſchen 








Moldan uns Wallacel, 697 


dürfe. Die: Rumänen aber ließen fid nicht abfäreden, ihr Ziel trotz alledem 
weiter zu verfolgen und zunächft erlangten fie wirklich zwar nicht die rechtliche, 
aber doch wenigftens bie thatfächliche Bereinigung unter einem Fürſten, wenn er 
and vorerſt noch nicht ein fremder, einer ber europäiſchen Dynaſtien angehöriger 
Fürſt war. Im Januar 1859 follte an einem und demſelben Tage vie Wahl der 
beiden neuen Hospobare fowohl in Jaſſy als in Buchareſt flattfinden. Die Wal- 
lachen verfchoben indeß ven Wahltag, bie Moldauer wählten am 19. Januar 
zuerft allein und ihre Wahl fiel ſchließlich einftimmig auf ven Oberſten Alexan⸗ 
der Johann Eonza, worauf die Wallachen am 24. März denſelben and 
ihrerfeit3 zum Hospodar ernannten. Die Mächte mußten daB fait accompli- an- 
ertenuen und felbR die Pforte fih fügen: Conza beftieg ale Fürſt Alexander 
Johann I. den Thron. 

Couza entiprad nur theilweiſe den Erwartungen ver Rumänen. Er entiprad 
ihnen, indem er, die Perfonalunion zu einer Realunion erweiternd, zu Anfang bes 
Jahres 1862 ganz unerwartet bie fogenannte Centralkommiſfion aufhob, bie 
Kammern .beiver Fürſtenthümer zu einer einzigen vereinigte, ein gemeinfames 
Minifterium bildete, Bnchareft zur alleinigen Hauptſtadt erhob, in der nunmehr 
bie ganze Verwaltung koncentrirt wurde, und fo mit einem Schlage bie vollflän- 
dige Verſchmelzung beider Fürſtenthümer zu einem neuen Staate, Rumänien, 
bewerfftelligte. Daram fchlefien fi) vier weitere tiefeingreifende Maßregeln, welche 
der Fürft in den folgenden Jahren nuternahm und theil im Einverfländnig mit 
ben Vertretern des Landes, theils gegen fie und aus eigener Machtvollkommenheit 
durchführte. Im Einverftänpnig mit der Kammer wırden im Jahr 1863 die ſo⸗ 
genannten griechiichen Kloſtergüter, die fl die außerhalb des Landes auf vem 
heiligen Berge Athos ‚Legenden griedifhen Klöſter allmällg anzuelgnen gemußt 
hatten, gegen Entſchädigung zu Handen des Staates eingezogen. Dann im Jahr 
1864 ergriff der Würft bie Gelegenheit von Differenzen mit ver Kammer zu einem 
förmlichen Staateſtreich, indem er biefelbe (14. Mat) durch Dekret für aufgelöst 
erflärte, den Berfammiungsfanl mit Gewalt räumen ließ- und nun and eigener 
Machtvellkommenheit ein neues Wahlgefeg verkündete, das den Bojaren ihren 
bisher faſt ausſchließlichen Einfluß in der Kammer gänzlid entriß und baran 
einen Zuſatz zum Berfaflungsftatut knüpfte, der einen Senat neben die Kammer 
ſtellte, veffen Mitglieder indeß gleichfalls aue Wahlen hervorgehen follten und 
der eben deßhalb den Bojarenfamilien keineswegs einen unbebingten Einfluß 
referoirte. Die Maßregel wurde dem allgemeinen Stimmrecht unterftellt, von 
dieſem mit 682,621 Stimmen gegen bloß 1307 genehmigt und jchließlich 
auch vom Sultan ratificirt. Noch in demſelben Jahre ſchloß fih an biefelbe 
wiederum ans eigener Machtvolllommenheit des Fürſten ein Ruralgefeg, durch 
welches die bisherige Leibeigenfchaft des Bauern befeitigt, die Aufhebung ber 
Frohnden gegen Entſchädigung ausgefprohen und den Bauern Grunpeigen- 
thum verliehen wurde, mit der weiteren Beſtimmung, daß dieſes Geſet ſchon 
am 23, April 1865 in Kraft treten ſolle. Die Bojaren und die zu ihnen 
baltende Partel äußerten über das Geſetz große Unzufriedenheit, indeß fielen vie 
Anfangs December 1864 ftattfindenden Wahlen zur neuen Nationalverfammlung 
entſchieden zu Gunften ber Regierung aus und ſah ſich bie Bojarenpartei von ber 
nenen Kammer faft vellfländig ausgefchloffen. Mit ven neuen Kammern that end- 
U Fürft Conza einen weitern beventfamen Schritt, und zwar auf kirchlichem Ge⸗ 
biete, nachdem er bereitd durch feine Maßregel bezüglich der griechiſchen Klöfter 
mit dem griechifähen Patriarchen und feiner Synode in Konftantinopel fi über- 


698 Radtrag. 


worfen hatte. Durch fürfllige Dekrete wurde pie rumäntiche Sprache als Kirchen⸗ 
fprache für das ganze Land bergeftellt, der gregorianifcge Kalender eingeführt und 
ſchließlich ein Geſetz berathen und von allen brei Faktoren ber geſetzgebenden Ge⸗ 
walt befchloffen, das die Wahl und Abſetzung ver rumäniichen Patriarchen und 
der Bifchöfe in die Hand des Fürften legte und fie infofern zu bloßen Gtantsbeauteten 
machte, ohne daß von ihrer Seite irgend ein Widerſtand erfolgte. 

Alle dieſe Maßregeln, obgleich fie fammt und fonderd ohne bie unerläßfichfte 
Vorbereitung überſtürzt durchgeführt werden follten, wurben von der Mehrheit ver 
Bevölkerung willig hingenommen nnd wären an ſich trog aller Unzulömmalichleiten, 
die fiy bald berausftellten und obgleih die Bojaren und ihre Partei ib wur 
ungern fügten, nicht geeignet geweſen, bie Herrichaft Conza's zu gefährben. 
Für die erſten Erforderniſſe eines geordneten Staates dagegen, eine gute Juſtiz 
und eine fletige Verwaltung geihah unter Couza abfolut nichts. Jene war note» 
rijch abhängig und gerabezu käuflich, dieſe wechſelte mit den umter Gonza alle 
Augenblick wechlelnden Minifterien von oben bis unten und anch in der Zwifchen- 
zeit nad) reinfter Willlär. Was aber das Regiment des Fürſten Conza am mei⸗ 
ſten erſchütterte und fchliegli zu alle brachte, war feine Urt, ſich nur zeit- und 
—— ſtoßweiſe den Regierungsgeſchäften zu widmen, dann aber in völliges 

ichtsthun zurüdzufinten und ſich einer liederlichen Mätrefjenwirtbichaft zu über 
laſſen und noch mehr feine völlig unbaltbare Finanzwirthſchaft. Als er im Jahr 
1859 vie Regierung der Fürſtenthümer antrat, hatte bie Wallachei einen Ein⸗ 
nahme⸗Ueberſchuß, die Moldan eine kaum nennenswerthe Staatsſchuld — zu An⸗ 
fang des Jahres 1866 war bereits eine gemeinfame Staatsſchuld bis zu 1453 
Millionen Piaftern berangewahfen. Ganz allmälig hatte fi daher die Ueber⸗ 
zeugung verbreitet und feftgefegt, daß Fürſt Couza den Ruin des Landes herbei- 
führe und deßhalb fallen mäfle. Die Werkzeuge zur Ausführung fanden ſich leicht, 
alle Barteien vereinigten fih zu diefem Zwecke und fein Sturz erfolgte ohne deu 
geringen Widerſtand. In der Nacht vom 10. zum 11. Februar 1866 brangen 
bie Berfchworenen in fein Schlafzimmer und zwangen ihn zur Abdankung. Gin 
Triumvirat ergriff als proviſoriſche Regierung die Zügel ver Regierung und be- 
ſtellte ein Miniſterium, worauf Couza ſchon nach zwei Tagen an die Grenze ge- 
bracht und dort entlaffen wurde. est war die Möglichkeit gegeben, auch den 
zweiten Wunfc der rumänifchen Patrioten neben ver Bereinigung und Berſchmel⸗ 
zung beider Fürſtenthümer, die Einſetzung eines fremden nnd erblien Fürſten 
aus einer der europälfchen Herriherfamilien, zu erfüllen. Die proviforiiche Regie 
rung zögerte aud keinen Augenblif mit biefem Schritte, indem fie fofort ven 
Orafen Dpilipp v. Flandern, ben jüngern Bruder des Königs der Belgier, zum 
Bürften von Rumänien ernannte nnd als biefer ablehnte, fiel ihre Wahl auf ven 
Prinzen Karl von Hohenzollern, einem Sohn des Fürſten von Hohenzollern» 
Sigmaringen. Die Pforte ihrerfeits war freilich nit damit einverflanden, durch 
das Zugeftänpniß eines fremden und erblihen Fürſten auch noch auf den letzten 

praftiichen Reſt ihrer Oberhoheit zu verzichten, fie verlangte im Gegentheil, daß 
auch ihr früheres Zugeſtäändniß, das fie num nothgedrungen und nur für hie Le⸗ 
benszeit Couza's gemacht hatte, wieder rüdgängig gemadt werde, daß demnach 
bie beiden Fürftenthämer wieder getrennt und für jedes derſelben ein eigener Hoe⸗ 
podar aus einer der einheimiſchen Bojarenfamilien auf Zeit und unter dem Bor» 
behalt ihrer Beflätigung gewählt werde. Sie wandte fi deßhalb an bie Groß⸗ 
mädte, deren Vertreter aud fon am 10. März 1866 in einer Konferenz zu 
Paris zufammentraten, ohne fi indeß vorerſt verfiänbigen zu lünnen. Defterreid, 


⸗ 


Moldau uns Wallace, | 6 


England, Rußland erflärten fi zu Gunſten ver Pforte, Fraukreich, Preußen und 
Italien dagegen für die Wünfde der Rumänen und alle flimmten mur darin 
überein, daß die Integrität, fowie die Oberbohelt der Pforte aufrecht erhalten 
werten folle. Die proviforifhe Regierung Rumäntens bielt bagegen an ihrem 
Blane feſt, ließ den Prinzen Karl am 11. April durch allgemeine Abſtimmung bes 
Boltes zum Fürften wählen und die Wahl den 17. al durch bie geſetzgebende 
Berſammlung des Landes beſtätigen; der von ihr Erkorene ging auch auf ihre 
Vorſchläge ein, erſchien ganz unerwartet in der Wallachei, zog am 22. Mat 
feierlich im Bucareft ein und erklärte den verfammelten Ständen feine Annahme ihrer 
Bahl. Die Pforte proteſtirte anfs entſchiedenſte und die Parifer Konferenz ging 
am 17. Mat in ſoweit auf ihr Verlangen ein, daß fie beſchloß, felber einen 
Hospodar in Vorſchlag zu bringen. Allein bie damalige allgemeine Lage Europa’s 
und der bevorfiehende Ausbruch des Krieges in Dentſchland präckiupirten bie 
Kabinete und hinderten fie zuerſt an der raſchen Grgreifung entfchlevener Maß⸗ 
regeln; dann brady der Krieg aus und fein Ausgang entſchied indirekt auch über 
' Rumänien und zu Gunften feiner Wünſche. Nah der Schlacht von Sadowa 
(3. Iult) und dem entſcheidenden Stege der Preußen in Deutſchland konnte von 
einer gewaltfamen Wiebervertreibung bes ihrem Königshaufe angehörigen neuen 
Furſten nicht mehr wohl die Rebe Fein. Die Pforte rügte fih am 11. Juli, an⸗ 
erkannte den Prinzen unter dem Namen Karls I. als erblihen Fürſten der ver 
einigten Fürftenthäer und biefer befchwor ſchon am folgenden Tage bie in aller 
Eile revidirte Berfaflung. Im Herbſt 1866 ging dann ber Fürſt felber nad Kon- 
flantinopel und nahm ans den Händen des Sultans ben Ferman feiner Anerken⸗ 
nung entgegen. Die Rumänen hatten damit alles erreicht, was zn ihrer thatfäd- 
lien Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit nad Außen erforberlic war, ber Pforte 
blieb Lediglich noch eine in Wahrheit bloß nominelle und formelle Oberhoheit, 
fowte ber bisherige jährliche Tribut als letzter Reft ihrer früheren Rechte. 

Diefe Rechte waren niemals fehr ansgebehnte nnd es iſt wahr, daß bie 
öffentlihe Meinung in Europa hierüber vielfah in ganz irrigen Borflellungen 
befangen war. Als vie Wallachei im Jahr 1393, die Moldau im Jahr 1511 im 
ein gewiffes Abhängigleitsverhältnig zu ber Bforte geriethen, war dieſes feines 
wegs ein Baſallenthum, fondern beftand vielmehr in einem Schutzvertrag, ber bie 
Bürftenthümer lediglich zu einem jährliden Tribut und zur Vorlage ihrer Abrigens 
freien Fürftenwahlen verpflichtete, wogegen ber Pforte bie Beihkkung ber beiden 
Laͤnder nad außen oblag, ohne ſich in die innere Verwaltung verjelben einmiſchen 
zu dürfen und ohne daß aud nur ein Türke fi ohne Erlaubniß der einheimifchen 
Behörden in: denfelben nieberlafien durfte. Als Rußland fi zwei Jahrhunderte 
fpäter unter Peter dem Großen zur enropälfben Macht und bald andy zur Groß⸗ 
macht emporfhwang und als es anfing, feine wachſenden Kräfte nach der Balkan⸗ 
halbinſel zn richten, während das tärkiihe Staatsweien verknöcherte, zurüdging 
und allmälig ſichtbar abzufterben begann, erhielten viefe Länder eine Bedeutung, 
bie fie vorher lange Zeit hindurch in keiner Weiſe gehabt hatten, indem fie zum 
natürlichen Ungriffepuntt Rußlands und zum wichtigften Vertheidigungspunkt ber 
Zürlei gegen diefes wurden. Bon dieſem Momente an erlangten vie Suzeränetäts- 
rechte der Pforte praktiſchen Werth und fo befchränft fie au Immerhin waren, 
jo genägten fie body dem Bebürfnifie. Die abminifixative Trennung beider Fürften- 
thämer erbielt fie ſchwach und unfelbfländig und machte fie ſchutzbedürftig und ber 

Umſtand, daß bie Hospodare bloße Wahlfürften waren, aus den rivalificenden 
Bojerenfamilien besfelben genommen unb zudem nur auf eine beftimmte Anzahl 


von Jahren gewählt wurben, ſchlleßlich aber der Beflätigung ber Pforte unter 
lagen, wies fie für den Schutz, deſſen fie beburften, an dieſe und nit an Ruß- 
land. Die Türkei in ihrer früheren Kraft hätte daher auch unzweifelhaft niemals 
barein gewilligt, auf jene Rechte zu verzichten; fie wärbe im Gegentheil verfucht 
baben und durch die Entwidelung des Staats felber dahin getrieben worden jein, 
jene ihre urfprüngliden Rechte vielmehr auszudehnen. Daß fie Rumänien fig 
allmälig von ihrem Körper losldfen ließ und noch mehr die Art wie es geſchah, 
find die fiherfien äußeren Merkmale ihres inneren Verfalls. Die Konceffionen 
der Pforte an die Fürſtenthümer bewegten fi felt einem halben Jahrhundert 
nicht auf dem Gebtet jener beilfamen ſtaatsrechtlichen Reformen, welche volkswirth⸗ 
ſchaftliche und geiftige Kräfte entfefleln und heben, nüglide Unternehmungen er- 
mutbigen, Mißbräudhe mit firenger Hand ansfegen, eine fefte rechtliche Ordnung 
und auf ihr ein größeres ober geringeres Maß polltiſcher Wreiheit gründen; es 
handelte fich vielmehr fortwährend um Konceffionen, welche das von Anfang au 
nur ſchwache Band Schritt für Sceitt lösten und bie Oberhoheit der Pforte 
immer fchattenhafler machten. 

Durch die Bereinigung der beiden Fürftentbämer unter einer Verfafſung 
und einer Berwaltung und unter einem fremden, erbliden FYürften iſt Rumänien 
in feiner imeren Entwidelung von der Pforte volllommen unabhängig geworben 
und feine noch aufrecht erhaltene Stellung unter die Suzeränetät des Sultans 
bat nur den einen negativen Sinn und Zwed nad Außen, es von einer Anlehnung 
an Rußland und eimer auf die rumänifchen Beſtandtheile Defterreiche berechneten 
aggreffiven Politit gegen legteres abzuhalten. Es ift aber die Frage, ob die Pforte 
bieß auf die Dauer wirb verhindern können, wie es überhaupt bie frage ift, ob 
fie noch lange im Stande fein wird, die völlige Unabhängigkeit Rumäniens zu 
verhindern. Obne den Schuß der Großmädhte, die vorerft noch bemüht find, das 
Wiederaufleben ver orientaliihen Frage hinzuhalten, wäre es "kaum ver Wall. 
Schon die noch kurze Regierung des Fürften Karl bat genügt, dieß fo ziemlid 
außer Zweifel zu ſetzen. 

Als Fürft Karl die Zügel der Regierung ergriff, mußte er fidh erſt und vor 
allem mit ver Sprache feines neuen Landes vertraut und mit feiner Geſchichte 
und feinen Zufländen befannt mahen. Dann banbelte e3 fi darum, bie völlig 
zerrätteten Finanzen bes Fürſtenthums menigftens leivlih zu ordnen unb ben 
Grund zu einer wirklichen Iuftizpflege wie zu einer flätigen Verwaltung zu legen. 
Wie weit ihm das gelimgen ift, kann erft die Zukunft zeigen; Erfolge auf biefem 
Gebiete, obgleich fie die Grundlage für jeden wirklichen Fortſchritt des Landes 
bilden, find jedenfalls der Natur der Sache nah nur langfam und durch große 
Beharrlichleit zu erreihen. Dann machte er fi daran, dem Lande burd Vertrag 
mit fremden Gefelliaften die Wohlthat von Eifenbahnen zu verfchaffen und bie 
Armee, die trog franzöfifcher Inftruftoren viel zu wünſchen übrig ließ, zu reor⸗ 
ganffiren. Unter ven Männern, vie Fürft Karl zu Regierung des Landes ſchon 
in fein erſtes Miniſterium rief, befand fih Ioan Bratiano, der zuerft das 
Bortefeuille der Finanzen, fpäter vorübergehend auch noch andere Departements 
übernahm, fih bald durch eine raftlofe Thätigkeit nnd ein andgefprochenes Or⸗ 
ganifationstalent zur Seele des Minifteriums erhob und dem Fürften faft ument- 
behrlih machte, Uber feine Gewandtheit führte ihn dahin, fi ohne Anſtand auf 
fehr bedenklicher Mittel zu bebienen, um tiefliegende Schwierigleiten zu überwin- 
den, und fein raftlofer Thätigkeitsbetrieb veranlaßte ihn za einer Politik nad 
außen, die voller Gefahren war, Da die Moldau und namentlich die frühere 











Moldan und Walladei. 701 


Hanpiſtadt Jaſſy duch bie Union und zumal dur bie Komcentrirung aller 
Gentraibehörben in Bulareft unläugbar verloren hatte und deßhalb ſchwierig wurde, 
ja fogar feparatiftifchen Gelüften und VBeftrebungen Raum gab, ſuchte und fand 
ex eine Ablenkung der bortigen öffentlichen Meinung tarin, daß er Ihe die Juden 
preis gab, was in den Jahren 1867 und 1868 wiederholt zu ven grauſamſten 
Berfolgungsfcenen führte und die Megierung in Konflifte mit Oeſterreich ver- 
widelte, dem viele der Verfolgten als Untertbanen angehörten. Er fompromittirte 
vie rumänifche Regierung dabei in unverantwortlicher Weife, indem ex Thatſachen 
abläugnete, bie nachher officiell konftatirt wurden, fo daß ihm weder Entſchädi⸗ 
gung noch förmlihe Abbitte erfpart werben mochten. Uber er ging noch weiter. 
Indem er fih auf Rußland ftügte und ruffifhen Einfläffen freien Paß ließ, dul⸗ 
dete und begünfligte er im Sommer 1868 wiederholte Freiſchaareneinfälle von 
zumänifhem Gebiet aus in das benachbarte türkiſche Bulgarien und rief dadurch 
energiſche Beſchwerden der Pforte bei den europälfchen Großmächten hervor, da 
es ihr nah den Beſtimmungen ber Parifer Verträge nicht geftattet war, felber 
einzugreifen und ſich felber Abhülfe und Genugthuung zu verfhaffen. Ebenfo 
knüpfie Bratiano mit den Rumänen Defterreihd Beziehungen an, die dieſem für 
die Zukunft im höchſter. Grade gefährlich fcheinen mußten. Seine ganze Politik 
fhien der rumäniſchen Regierung den Stempel aufzubrüden, daß fie damit um⸗ 
gebe, mit Rußland im Rüden die orienzaliihe Frage wieder in Fluß zu bringen, 
das Land von der Türkei völlig unabhängig zu maden und In ven Beodlkerungen 
gegen Defterreich die Idee des fogenannten daco-rumänifhen Reichs zu nähren. 
Bon viefem Geſichtspunkte aus mußte es fehr verdächtig erfcheinen, mit welchem 
Eifer, ja mit welcher Haft die Organifation einer möglihft zahlreichen Armee 
ua preußiſchem Vorbilde eingeleitet und betrieben wurbe und wie im Herbſte 1868 
ftarfe Sendungen von Gefhügröhren, Hinterladern und von Munition aller Art 
aus Preußen bezogen und nicht offen und anf dem nädflen Wege durch -Defter- 
reich, ſondern insgeheim und unter ermweislich falfcher Deklaration auf dem Um⸗ 
wege über Rußland geliefert wurden. Frankreich und England, vor Allem aber 
Defterreih, das die Feſtſetzung eines preußiſchen Prinzen an feiner Oftgrenze 
überhaupt nit gern fah und barin ſowie in der gefammten Politik desfelben we- 
nigftens einen eventuellen Schachzug des preußifchen Kabinets zu erkennen glaubte, 
wurben durch dieſe Maßregeln und den Zufammenhang verfelben aufgefchrect. Als 
Preußen fi überzeugen mußte, daß die Stimmung der Ungarn, die fi von den 
xumänifhen Umtrieben zunächſt und zumelft 8 fühlten, eine für ſeine In⸗ 
tereſſen ſehr bedenkliche geworden ſei, machte es ſeinen Einfluß in Buchareſt geltend 
und veranlaßte auch Rußland, die Poſition aufzugeben. Fürſt Karl mußte im 
November 1868 das Minifterium Bratiano fallen laflen und es durch ein anderes 
gemäßigteres erfegen, defjen Programın feinen Nachbarn volle Beruhigung zu ger 
währen geeiguet, von dem es aber zweifelhaft ift, ob es fich gegenüber den Kam⸗ 
mern, die beide in ihrer Majorität zu Bratiano und feiner Politit zu ſtehen 
feinen, wird halten können, zumal es fi fragt, ob felbft eine Kammerauflöfung 
und Neuwahlen eine andere Majorität ergeben würden. Alles deutet wenigftens 
darauf hin, daß die herrſchende Partei in Rumänien nur augenblidlih den ungün⸗ 
fligen Umftänven fi fügt, aber keineswegs baranf verzichtet, ihre Politik unter 
günftigeren alsbald wieder aufzunehmen. 

Statifiifhes. Genaue und namentlid zuverläffige Angaben fehlen nod 
vielfah. Der Flächeniuhalt beträgt 2197 Quadratmeilen, wovon 1330 auf bie 
Wallachei, 867 auf die Moldan fallen. Die Bendlferungszahl wurde 1860 wohl 






8* 
















€, 

auf vie Disivau fallen, auf 

Zaffh allein Gamgen nur etwas über 50,000 €, 
Vrchareſß ame Daupifiakt über 130,000 &. 
feiner N len ford ua — 

8 

ſogleich wit im Rominglbeirage von mer 
«ls 31 Millionen Bäpget für 1867 zeigte bei 
eiuer Einnahme von 136,098,400 Fr. und einer Ausgabe von 148,771,428 Fr. 
ein Deficit von 12,673,028 Fr. Das Badget für 1868 dagegen ſchloßz in Ein- 
name und gleigmäßig mit einer Summe von 78,291,233 Fr. ab, 
freilich vorerſt nur auf dem Papier, und es möchte etwas zweifelhaft ſein, ob es 
der Wirklichleit entſpricht. Die Staatéeſchuld beträgt 18,243,819 Fr. fogenaunte 
innere und 52,380,875 Fr. fogenannte änfere Schuld (die allein im den Jahren 
1864 und 1866 kontrahirt wurde), alfo zufaumıen 70,624,694 Fr. unb ferbert 
für Zinfen und Umortifation einen jährlichen Aufwand von 9,245,673 Fr. Rad 
der im Inni 1868 von beiven Kammern ifatiom der Armee 


angenonmenen 
diefelbe zur Zeit aus 23,776 Maun umd fol allmälig auf 30,000 Mann 
t werden, wozu noch 33 Schwahronen Dorobanzen ober Gendarmerie u 
exd, 24— 32,000 Bränger, fowie circa 30,000 Mann Miltzen oder Rational- 
e lommen. Die Organifation der Armee iſt preußifchen Muftern entnoumen 
enßiſche Offictere find es auch, welde die Inftruftion leiten. Trotz bes 
der die Milttärorganifation des Landes d wird unb trog ber 
ver fehr zahlreichen Armee, über welche ber verfügen zu können 
wänfht, iſt Rumänien als Kriegsmacht vorerfi und wohl noch auf ziemlich Lange 
binans nichts weniger als bebeutend ober für feine Nachbarn gefährlich und fickt 
in dieſer Beziehuug weit hinter bem viel Heineren Serbien zuräd. Die Rumänen 
find im Ganzen ein nichts weniger als kriegeriſcher BVollsſtamm. . agutiie. 


Niederlande. 
(Nachtrag zu Band VII ©. 269 ff.) 


Das Königreih der Nieberlande trat feit feiner Trennung von Belgten in 
den allgemeinen europätfchen Dingen noch mehr zurüd, als dieß ſchon im ber 
Beriove von 1815— 1830 im Vergleich mit der Weltftellung, die es im 16. und 
17. Iahrhundert eingenommen hatte, der Fall gemwejen war und fanb darin um 
fo mehr Gelegenheit, ſich ber inneren Ausbildung feines Staatswefens und ber 
Zuflände feiner Kolonien zn widmen. Un biefer Stelle kann es fidh indeß um 
darum handeln, den Gang der Entwidelung feit 1860 kurz anzudenten. Belannt- 
lich dauerte es nach dem Abfall Belgiens im Jahr 1830 noch faft zehn Jahre, 
bis 1839, bevor fi Holland dazu herbeiließ, fih mit Belgien definitiv zu verglei- 
den, und von da an wieberum faft zwanzig Jahre, bevor ber Innerlihe Ausgleich 
von feiner Seite ald gänzlich vollzogen angefehen werben konnte. Erſt die Ent⸗ 
widelung der ttalienifhen Dinge im Jahre 1860, wie fie fih theils nach ven 
Wunſchen, theils wenigftens unter der Zulafjung Frankreichs vollzog und bie Un 
nerion von Savoyen und Nizza durch ben Kaifer der Franzofen, die einen An 
genblid ganz Europa mit der Wiederkehr des napoleonifhen Annexionsſyſtemes 
u bedrohen ſchien, brachte die Bevöllerungen Hollands und Belgiens wie ihre 
—* wieder in ein entſchieden freundliches Berhältnig. Dieſe trafen zum erſten 


4 











Niederlande. 708 


Rai perſonlich zuſammen und jene fympathiftrten laut und energiſch gegen alle 
allfälligen Gelüſte ihrer franzöfifchen Nachbarn. Als eine Folge der damaligen 
Aufregung und ber damals gefaßten Beforgniffe ift das Bemühen zu betrachten, 
die Wehrkraft des Landes zu heben, das ſchon zu Anfang des Jahres 1861, frei« 
lich erſt nad heftigen Kämpfen, dazu führte, bie Miliz zwar nicht zu vermehren, 
aber doch mehr als bisher mit dem ſtehenden Heere zu verſchmelzen, obgleich dieß 
eigentlich den Beſtimmungen der Berfaflung zumiberlief. Noch in demſelben Jahre 
mußte fi, das Minifterium van Zuylen vor einem Mißtrauensvotum ver General- 
ſtaaten zurüdziehen und nad) einigem Zögern von Seite des Königs Anfangs 1862 
dem zweiten Minifterium Thorbede’s, des anertannten Hauptes ver liberalen 
Bartei, Blag machen. Seine Thätigfeit wandte fi hauptſächlich auf die Berhält- 
nifſe der Kolonien, die Aufhebung ver Sklaverei in ven weſtindiſchen und die Cin⸗ 
führung eines neuen liberaleren Kolonialfyftems in ben oftinbifhen Beflgungen 
des Staates. Jene ging im Jahr 1862 in dem Generalfiaaten durch nad trat 
Mitte 1868 in Wirkſamkeit; diefe, von der zweiten Kammer gleihfalls im Jahr 1862 
beſchloſſen, fheiterte zuerfl an dem Wiperflaude der erften Kammer, konnte erſt 
im Jahr 1863 and in dieſer burdhgefegt werden, und wurbe 1864 von beiden 
Kammern noch weſentlich erweitert. Im Jahr 1865 genehmigten vie Beneralftanten 
ein Berfaffungsgejeg für Snrinuam, durch welches die Kolonie ein aus birelten 
Wahlen hervorgehendes Parlament erhielt, ſowie Preßfreiheit und das Recht ver 
Berfammlung, der Aflociation und bes Betitionirens, alfo im Weſentlichen alle 
Rechte, deren fi das Mutterland felbft erfreute. ‚ 

Dat liberale Miniſterium fchien fi) in den Jahren 1864 und 1865 für 
lange binaus befeftigt zu haben nnd bie liberale Partei im Lande definitiv bie 
Oberhand gewonnen zu haben. Allein zu Anfang des Jahres 1866 brachen 
Differenzen im Minflerium felber aus, Thorbede gab feine Entlafiung nnd nad 
einigen Uiebergängen beftellte ver König im Mai nenerbings ein konfervatives Mi⸗ 
nifterinm van Zuylen, das jeboc bald mit der zweiten Kammer in Mißhelligleiten 
gerieth. Hr. Myer hatte die Stelle eines Kolonialminifters in demſelben nur an⸗ 
genommen, um alsbald wieder auszutreten und fi vom König zum Beneralgon- 
verneur von Indien ernennen zu lafien. Die Kammer beſchloß am 27. Sept. 1866 
ein Tadelsvotum gegen benfelben, worauf der König deren Auflöfung verfügte und 
durch eine Proklamation die Wähler direkt zu Unterflügung bes Tonfervativen 
Miniſteriums auffornerte. Die Wahlen ergaben jebod ein zweifelhaftes Refultat; 
weder das Mintfterium noch die liberale Oppofitian konnte in ber zweiten Kammer 
anf eine fihere Majorität zählen. 

Inzwiſchen war die Umwälzung von 1866 in Dentfchland erfolgt. Holland 
308 daraus einen doppelten Bortheil Bezüglich Limburgs und bezüglich —— 
Die Berbindung des erſteren mit Deutſchland und dem dentſchen Bunde war den 
Solländern längft ein Dorn im Auge zeweſen und hatte ſeit längerer Zeit und 
alljägrlich bei Gelegenheit der Adreßdebatte in ber zweiten Kammer zu Beſchwer⸗ 
den und Wünfchen einer Löfung Anlaß gegeben, denen vie Regierang mit bem 
beften Willen nicht abzubelfen ober zu entſprechen vermochte. Die Auflöfung des 
deutſchen Bundes brachte Ihnen nuhmehr unerwartet die vollftändige Erfüllung. 
Schwieriger war die Frage wegen Luremburg. Obwohl es nur durch Perfonal- 
union mit Holland verbunden war, nahm Preußen und mit Recht doch Anſtand, 
das Großherzogthum in den norbbeutihen Bund einzubeziehen, da ed die Nach- 
teile der bisherigen Verbindung deutſchen mit nicht» dentſchen außerhalb des Bundes 
Ikegenden Gebieten hinreichend erfahren Hatte; außerdem Lich fich nicht länguen, 


704 Nachtrag. 


daß das urſprünglich kerndeutſche Land ſeit längerer Zeit unter Zulaffung ımb 
Beginftigung der holländiſchen Herrſchaft weſentlich franzöſiſirt worden war. Da⸗ 
gegen war Luxemburg ſchon ſeit längerer Zeit ein Glied des Zollvereins und be⸗ 
fand ſich wohl bei der wirthſchaftlichen Gemeinſchaft mit Deutſchland; indeß in 
biefer medhte e8 ja auch fernerhin bleiben, wie die ſübdeutſchen Staaten, die and 
nicht in den norddeutſchen Bund treten follten. Die große Schwierigkeit bildete 
die Geltung Lıremburg, die Preußen bisher im Namen des dentſchen Bunbes be- 
fest gehalten hatte und vie es aud fernerhin befett zu Halten gedachte. Holland 
fürdtete ans dieſeni Verhältui allerlei Unannehmlichkeiten und unter Umſtänden 
fogar Verwidelungen mit Frankreich, gegen deſſen Uebergriffe der Play feiner Zeit 
ausdrücklich Deurfhlant und Prenfen eingeräumt worden war und das wenigfiene 
bier einen Bortheil für fih und gegen Deutſchland zu erringen tradtete, nachdem 
feine Kompenfationsforberungen an Deutſchland im Auguft 1866 von Preußen 
fo entfcgieden zurüdgewiefen waren. Frankreich knüpfte durch feinen Gefanbten in 
Haag Unterhandlangen mit Holland an, die in erfter Linie anf eine Befeitigung ber 
preußiſchen Befagung in Luremburg, in zweiter auf einen möglichen Erwerb bes 
ganzen Ländchens ausgingen. Der König, die holländiſche Regierung und die öffent- 
lihe Meinung in Holland traten biefen Wünfchen keineswegs entgegen. Der König 
feinerjeits war fehr bereit, den Meinen Beſitz, an dem er perſoͤnlich trog deu her⸗ 
gebrachten Revensarten von angeftammter Treue u. dgl. fehr wenig hing, gegen 
ein fchönes Stück Geld nnd die Freundſchaft Frankreichs einzutmuigen, und was 
bie öffentliche Meinung in Holland betraf, fo hatten fi gerade damals, Anfangs 
des Jahres 1867, allerlei Beforgniffe von preußifdyen Uebergriffen verbreitet, ober 
waren abfichtlich verbreitet worben, die fie gegen Preußen und Deutſchland fehr 
ungänftig flimmten. „Das Haager Kabinett — ſchrieb der franzöfifche Geſandte 
bafelbft Ende Januars an feinen Hof — ſcheint zu fürditen, daß Preußen, nit 
zufrieden mit den Erleichterungen, welde feln Handel in Holland wie in ben 
nieberlänbifchen Kclonien findet, fi auf feine germanifche Racegemeinfchaft uud auf 
die geographiſche Tage der Niederlande flügen Lönnte, um eine außerorbentlice 
Stellung zu wünſchen und eine Intime Allianz herbeizuführen, bern Refultat die 
Beroolifändigung feines Handels⸗ und Militärſyſtems befonders vom marittmen 
Standpunkt aus wäre.” Schon Im März wurden denn auch Fraukreich und Hol 
land fiber bie Abtretung Iurembargs an das erftere Handels einig. Deutſchlaud 
und Preußen waren indeß damit ganz und gar nicht einverſtanden; Preufen bachte 
vorerft nicht daran, auf feine thatfächlicye Stellung in Luremburg, fo zweifelhaft 
beren rechtliche Begründung and geworben fein mochte, zu verzichten und wurde 
darin vom eben verfummelten Reichstage und von der öffentlichen Meinung ganz 
Deutſchlands, im Süden wie im Norden, lebhaft unterftätt. Die ganze Ungele 
genheit wurde Anfangs April zu einer brennenden Frage und führte Curvpa für 
einen Augenbiid hart an den Rand bes Krieges. Doch legten fi die unbethei⸗ 
ligten Großmächte alsbald ins Mittel. Anfangs Mai trat eine Konferenz ver 
Mächte in London zufammen und erledigte die Frage durch einen Bertrag: Preußen 
mußte auf fein bisherige Beſatzungsrecht im der Feſtung Luremburg, Frankreich 
auf die beabſichtigte Erwerbung bes Ländchens verzichten, das für neutral erflärt 
und unter bie Garantie der Mächte geftellt wurbe. Holland und die holländiſche 
NRegterung mußten ſich damit ihrerſeits auch zufrieden geben und bie letztere war 
nur bemüht, ſelbſt den Schein einer Verantwortlichkeit für vie Verhältniſſe Lurem- 
burgs für bie Zukunft abzulehnen, zu welchem Ende die bisherige Vertretung bes 
Großherzogthums durch die diplomatiſchen Nepräfentanten des Königreichs beſeitigt 








Nieverlande. 706 


und biefelbe eingebornen,, felbftändigen Bertreteen in Paris und Berlin über 
tragen wurde. 

Diefe Vorgänge und die allgemeine Richtung aller andern europätichen 
Staaten veranlaßten die Regierung von Holland noch im gleihen Jahre, fi 
mit den Kammern über ein neues Bertheidigungsſyſtem zu er und zu 
Lande, namentlich aber zu Lande und im Anfchluß daran über eine Reorgani⸗ 
fation und Berflärkung der Armee zu vereinbaren. Die Differenzen zwifchen ber 
konſervativen, vom Könige unterflügten und gehaltenen Regierung und ber liberalen 
Dppofition der zweiten Kammer nahmen inzwifchen ihren Fortgang und Hatten im 
Rovember 1867 die Berwerfung bed Büdgets bes Auswärtigen buch bie Mehr⸗ 
beit der Kammer jur Folge. Der König appellirte duch Auflöfung der Kammer 
nochmals an das Land. Die Entſcheidung fiel dießmal unzweideutiger als früher 
gegen feine Wünfche aus: vie Wahlen ergaben im Frühjahr 1868 eine Meine 
aber entſchiedene Majorität der liberalen Partei. Das konſervative Minifterium 
war nicht länger zu halten, und der König ſah fih Anſangs Juni gemdthigt, zum 
britten Mal das anerkannte Haupt der Liberalen zu berufen. Thorbede nahm 
indeß einen Ruf in den Rath des Königs nicht mehr au, beförberte jedoch bie 
en einer liberalen Verwaltung, deren Seele der Miniſter des Innern 

0 , 

Seither iſt wieder Ruhe und ein frienlihes Zuſammenwirken der Regierung 
und der Generalſtaaten eingetveten. Während des Konfliktes zwiſchen beiden Hatte 
fich die konfervative Regierung auf die ſpecifiſch kirchlichen Parteien beider Kirchen, 
ber reformirten und der katholiſchen, zu ftügen verfucht, zu biefem Ende neuer 
bings bie Kultus- und Unterrichtsangelegenheiten beider zu eigenen Departements 
erhoben und damit bie bereits feit 1859 errungene und gejeplich fehgeReitt Txen- 
nung der Schule von der Kirche in Frage geftellt. Eine der erſten Maßregeln der 
neuen liberalen Regierung war ed, dieſe rückſchreitende Neuerung wieder zu be= 
feltigen und zu den bewährten, bereits in das Bewußtſein der Beudlferung über- 
gegangenen Grunpfägen einer princtpiellen Trennung zwiſchen Staat und Kirche 
zurädzufehren. 

Segen den Herbſt 1868 wurde die dffentliche Meinung Hollands nemerbinge 
erregt durch das ſeit den Ereignifien von 1866 in Deutſchland zum zweiten Mal 
auftauchende Gerücht von Planen und Beſtrebungen Frankreichs, Holland und 
mit diefem aud Belgien und die Schweiz zunähft auf wirthſchaftlichem, dann 
aber au auf politiihem und militärifhem Gebiete in eine nähere Verbindung 
mit Frankreich und in eine gewiſſe Abhängigkeit von vemfelben zu bringen, um 
fo ein Oegengewicht gegen das von Frankreich befürchtete und für den Hal einer 
Bereinigung Suüd⸗ und Norddeutſchlands unter der Hegemonie Preußens mit 
Sicherheit voransgefehene Uebergewiht Deutſchlands in Mitteleuropa zu ſchaffen. 
Das Gerüht wurde officiell dementirt; doc ſcheint es außer Zweifel, daß fich 
ber Kaiſer eventuell mit derartigen Planen trägt, wenn er ſich auch vielleicht noch 
nicht Mar ift, wie er dieſelben in Angriff nehmen fol und nicht vertennt, daß 
ihrer Verwirklichung große Schwierigkeiten im Wege ftehen. Die holländiſche Re- 
gierung bat fi bekanntlich felt 1815 Deutſchland und ben deutſchen Interefien 
nie freundlich gezeigt und die holländifche Bevölkerung fcheint augenblidlich wirk⸗ 
Hh von einer gewiflen Beforgniß ‘erfüllt zu fein, daß die Vollendung ver deutſchen 
Dinge und daB früher oder fpäter voransfichtlicde Emportommen eines mächtigen, 
ganz Deutfhland umfafſſenden Nattonalftnates ihren auf ber Emwicklung von 
Jahrhunderten beruhenden feft ansgebilneten Partitulariemus bedrohen und einen 

Bluntf@li und Brater, Deutſches Staate⸗Wörterbuch. XI. 45 
% 


108 Nachtrag. 


Drad antühen Tönnte, dem fle kaum gewachſen wäre. Die Möglicleit iſt nicht zu 
läugnen, wenn fie auch Zwiſchenglieder vorausfegt, deren Eintritt noch nicht fo 
nahe zu liegen ſcheint. Doc ift es immerhin begreiflich, wie wenigftens vorerft 
die Stimmung Hollands gegenüber Deutichland und feiner Neugeftaltung eine 
mehr oder weniger mißtrauiſche ift und wohl auch nod längere Zeit bleiben wird. 
Ben einer Hinnelgung zu Frankreich Tann indeß von Seite des holländiſchen 
Volkes auch nit im Entfernteften bie Rebe fein, während fie allerdings, mit Recht 
oder Unrecht, dem Hofe zugejchtieben wird, Die Regierung ihrerfeits ift ſichtlich 
bemübt, bie Unabhängipiel des Landes nach beiden Seiten bin zu wahren und 
— beiden großen Nachbarn gleichmäͤßig in freundſchaftlichen Verhältniſſen zu 
eiben. 


Statiſtiſches. Die Bevölkerung des Konigreichs der Niederlande, bie 
in dem Yrtilel des Staatswörterbuchs Bd. VII, ©. 378 für den 1. Ian. 1859 
8 8,348,747 Einwohner angegeben wurbe, Bat fi nach den Berechnungen bes 
k. ſtatiſtiſchen Büreau's im Jahr 1866 auf 3,552,655 gehoben und dürfte Ende 
1868 etwa 3,700,000 Einw. betragen. — Die Gefammtflärke der europälfchen 
Armee betrug im Jahre 1867 61,318 M,, diejenige der oftinpifhen Armee 
27,168 M. Die Flotte zählte 1868 125 Fahrzeuge aller Art mit 1325 Ka⸗ 
nonen und 6024 Seelen Bemannung nebft circa 2000 M. Marineinfanterie, — 
Was bie Staotäfinnnyen betrifft, fo find die Ausgaben wie überall im Steigen 
begriffen, Im Jahr 1847 betrugen viefelben 75,757,479 Gulden, t. I. 18568 
ſchon 84,706,696 ©, 1. 3. 1868 aber 99,665,824 ©. mit einem muthmaßlichen 
Defict von 3 bis 5 Mill. Gulden. Die Staatsſchuld betrug in bemfelben Jahre 
1868 968,243,913 ©. mit einer Binfenlafl von 28,029,668 G. Die Umorti- 
fation iſt eine wechſelnde je nach dem Nettoertrage der Kolonien: im Jahr 1847 
wurben dafür nur 322,000 ©. verwendet, 1. I. 1858 dagegen 14,483,423 G., 
während im Büdget für 1868 dafür gar fein Betrag angefeht if. 

Bon den niederländiſchen Kolonien heben fich diejenigen Oftinviens un- 
zweifelhaft und ziemlich raſch und find für das Mutterland, abgefehen von den 
indireften Handelsvortheilen, eine Quelle von Verwaltungs⸗Ueberſchüſſen und fomit 
von Einnahmen, während die weſtindiſchen Befigungen wo nicht zurüdgehen, doch 
jo ziemlich ſtille ſtehen und regelmäßige Deficite aufweifen, vie freilich gegenüber 
den Ueberſchüſſen Dftindiens nicht ins Gewicht fallen, aber doch ſchon wieberholt 
die Idee, ſich ihrer ganz zu entlebigen, nahe gelegt haben. Was bie oſtindiſchen 
Kolonien betrifft, fo zählten Java und Madure 1857 11,594,158 Seelen, 1866 
bagegen 14,562,473 Einw., die fogen. Außen-Befigungen 1857 5,557,000 Eimw., 
im Jahr 1866 dagegen 5,971,229 Einw. Der Finanz⸗Etat biefer oftinvifchen 
Kolonieen betrug im Jahr 1857 an Einnahmen ver Verwaltung 51,585,205 ©. 
und au Exlds aus Kolonialwaaren 66,037,739 G., zufammen alfo 117,622,944 G., 
im Jahr 1866 wurden jene auf 62,685,378 G., diefe dagegen nur zu 48,700,000 
geſchätzt (mas eben von den wechſelnden Handelskonjunkturen abhängt), zufammen 
alfo anf 111,385,3878 ©. Die Kolonialverwaltung felbft erforderte im Jahr 1857 
64,178,478 ©., im Jahr 1866 dagegen 89,410,284 ©. — Die weftindifchen 
Kolonteen zeigten im Jahr 1857 ein Deficit: Surinam von 217,227 ©., Su- 
zacao wit Zubehör von 387,629; im Jahr 1866 war das Deficit für Surinam 
anf 1,104,000 G. (wovon freilih 200,000 für Abſchaffung ber Sklaverei), das 
von Euracao mit Zubehör auf 550,000 ©. geſtiegen. — Noch ungünftiger ſtellt 
ſich die afrikaniſche Beſitzung an ber Küfte von Guinea: im Jahr 1857 ertreng 
ſie 4600, im Jahr 1866 7080 ©, und forderte im Jahr 1857 einen Zuſchuß 





Nordamerikaniſche Sreiflaaten. 707 
son 75,400 G., tm Jahr 1866 einen ſolchen vom 182,000 ©. von Gelte des 
Mutterlandes 


Was dem no immer fehr bedentenden Handel der Niederlande betrifft, fo 
betrug derſelbe Im Jahr 1858 an Einfuhr 416 Mil, t. I. 1866 dagegen 629 
Mill, an Ausfuhr im Jahr 1858 830 Mill. im Jahr 1866 dagegen 436 Mil. 
Dee Gtand der Handelsmarine war 1861 2382 Schiffe mit 386,217 Tonnen 
Schalt, im Jahr 1866 dagegen 2178 Schiffe mit 510,879 Tonnen, wobei der 
Nachdruck wicht auf die Zahl der Schiffe, fondern auf Ihren Tonnengehalt fällt 
und Bier alfo binnen zehn Jahren eine Vermehrung faſt um vas Doppelte 


nachweist. d. Squithet. 
Vereinigte Staaten von Nordamerika. 
I. Geſchachte. 1. Repräſentantenhaus. 
4. CErtdeckang und erſte Kolonien. 2. Senat. 
2. Birstnien. 9. Befngnife nes Rongrefet. 
5 Nen-Englan. 4 Techte der Mitzlieher. 
4. Mittelgruppe. C. Vollziehende Gewalt. Der Dräfvent. 
6. Nene Kolonicen der Gürgeuppe. 4. Wahl vesfelben. 
6, Ueberſicht vor ver Kevolution. 2. Befugaiffe un» Vflichten. 
7. Pie Bevolation unb bie Befreiung. 3. Chrenſtellaug nun Berantworkkiikeis. 
8. Unionswerfafiung von 1787. D. Unions Geiste. 
9% Bashington und die Föderaliſten. 3. Abdams. 4. Allgemeines. 
16. Die Republikaner. Jefferſon, Mapifon. 2. DOrganifatien. 
11. Die Gtaatsmänner. Monroe, ©. Wrams. 3. Kompetenz. ' 
1%. Die Demokraten. Jackſon, Ban Bär. A. Verantwortlichkeit der Nichter. 
13. Whige unb Demokraten. Harriſon, Tyler, E. Gefeggebung in den Binzelaaten. 
Bolt, Taylor, dillmore. | F. Bollziehende Gewalt in ven Einzelſtaaten. 
#4. Borbereitung zur Trennung. Bieree, Bu- G. KRiqhterliche Brwalt „ u F 
Ganan. I, Staripit. 
W Der Bingakrıg. Lintole. 1. Dat tan. 
16, Jehnſon, Micverherellung ver Union. 2. Bevöllerungsverhältnife. 
N. Gtasteverfaffung. 8. Kultur. 
A. Grunndaralter. . 4, Heer und Flotte. 
1. Union und Einzelſtaaten. 5. Verkehrsmittel. 
2. Bürgerreßt. 6. Bropuktiontwerhältnige. 
3. Trennung der Gewalten. 7. Handel und Sqhiffahri. 
4. Berfaffungsänterung. B. Baukweſen. 
B. Geſeggebende Gewalt der Unlon. Der 9. Die Tarifpolitik. 
Kongreß. 10. Finanzielle Eniwicklung. 
1. Geſchichte. 


—* Entdeckung nad eeße —— — ——A has Die 
erts beginnt Europa neues erento es Teben. Es 8 
Zeit der —* —z jenſeits des Oceans. Die Portugieſen und bie 
Spanier waren vorausgegangen und der Papſt Alexander VI. hatte, kraft der alten 
mütelalterliden Fiktion, daß der Papft der Stellvertreter Gottes fei und baf 
Chriſtus, der Herr der Welt, ihm alle Gewalt auf Erben übertragen Habe, bie 
nen entbedte Welt durch bie Bulle vom Jahr 1495 zwiſchen Portugal und Spa 
nien geteilt, damit fie die Herrſchaft des Kreuzes daſelbſt aufrichten. Diefe Bow 
Penge reizten bie ebenfalls feetächtige engliſche Nation am, fi auch in ber un⸗ 
en Welt umzuſehen nnd ‚ebenfalls auf neuen Landeserwerb auszufahren. 
Mit Bollmadıt des Könige Heinrih VII. unternahm der venetianifche Schiffe⸗ 
kapitan Caboto eine ſolche Entvedungszeife in den weftlichen Meeren. Es glückte 


“5. 


708 | Nachtrag. 


ihm, zuerſt wieder ben nordamerikaniſchen Kontinent zu entdecken. (ie mit 
feinem Gefchwaber der Küfte entlang von dem Kap Breton bis an ben von 
Merito nach Florida und ergriff für die englifche Krone Beil an dieſer weiten 
Seelüfte vom 56. bis zum 38. Grab nörblicher Breite. So feltfam das unferm 
heutigen entwidelteren Rechtsbewußtſein vorkommt, vie damaligen Fürſten waren 
eneigt, im ber bloßen Entvedung fremder, berrenlojer oder von Heiden bewohnter 
ande einen Rechtstitel für ihre hriftliche Herrichaft zu erkennen. Obwohl Ca⸗ 
boto laum hie und da das Rand nut beizeten, und faft die ganze Küſte mır 
aus ber Ferne gejehen hatte, fo berief fich die englifche Krone doch anf dieſe bloße 
Entdedung als auf einen rechtmäßigen Erwerbögrund. Man fagte: „Gott gibt 
die Länder denen, denen er fie zuerft zeigt, damit fie viefelben feinem Dienfte 
weihen" und half fi mit diefer frommen Erwägung über die ſtaats⸗ und völler⸗ 
rechtlichen Bedenken hinweg. 

Dieſe weiten Küſtenländer waren von indiauiſchen Jaͤgerſtämmen bewohnt, 
welche zwar unter Häuptlingen lebten, aber weder feſt geordnete Staaten bildeten 
noch das Grundeigenthum kannten. Wohl hatten dieſelben wie heute noch ihre 
dorfartigen Wohnflge und fuchten fih in dem ausſchließlichen Genuß ihrer Jagd⸗ 
gründe zu behaupten. Die englifchen Koloniften Batten auch fo viel Rechtsſinn, 
um (eis biefen Halbwilden gegenüber anzuerlennen, daß denſelben ein Befigrecht 
an biefem Gebiete zulomme. Sie fuchten daher von den Indianern Land zu kaufen, 
um bafelbft neue Anflevfungen zu machen. Ws die Pflanzflätten zunahmen, kam 
dann der Grunbfag auf: Grundeigenthum in dem neuen Gebiete kann urſprüng⸗ 
lich nur der Staat verleihen, dem allein die Landeshoheit gebährt. Aber der Staat 
fest fih mit den Indianern ans einander, und erwirbt von ihnen ben eigenthums⸗ 
fähigen Boden. BE 

Uebrigens ward jener englifche Ewerbstitel Teineswegs allgemein anerfannt. 
Die Franzoſen erwiebderten mit Recht, daß zur Befitergreifung das bloße Sehen 
eines Landes aus der Ferne durchaus nicht genüge, denn VBefig jet thatſächlich 
geübte Herrſchaft. Innerhalb jenes Küftengebietes wurde fo die franzöͤſiſche 
Kolonie Bort Royal 1605 gegründet. Ebenſo dachten bie Holländer, als 
fie 1620 ihr neues Amſterdam, bie fpätere Stadt New⸗York, und Albany 
gründeten. 

In der That, die engliſche Beſitznahme war lange. Zeit eine leere Fiktion. 
Un ein paar Stellen nur verſuchten es englifche Anfiedler, fich feflzufegen, ohne 
Glück. Ste erlagen in dem Kampfe mit einer fremdartigen und wilden Natur 
und mit der feinblich gefinnten Urbevölkerung. Ueber ein Jahrhundert lang machte 
bie Kolonifation keine erheblichen Fortſchritte. Erſt feit dem 17. Jahrhundert 
warb es anders unb befier. Bou ba an entfliehen fehle Kolonteen und wachen 
empor. Was urfprünglich an ber rechtlichen Begründung der engliſchet Yanbes- 
herrſchaft fehlte, dad wurde nun allmälig durch wie fortgefete Arbeit und Kulter 
ber Koloniften ergänzt. Die wahre Kolonifation hat ihren Rechtstitel in fich. 
Indem bie Nationen den VBoben dauernd bepflanzen, gewimen fle Eigenthum 
baran, und indem die Staaten bie menſchliche Ordnung und Gefittung in einem 
—F uanwirthlichen Gebiete befeſtigen und ausbreiten, verdienen und bewähren fle 
die Tandesh 

Die englifhe Kolonifation hatte Anfangs zwei Gauptfige, den einen im 
Süden, den andern im Norden, beibe von verichienenem Charakter, Virginien md 
Nen⸗England. 


4 











Norbamerikanifge Freiſtaaten. 309: 


3, Birginien, Der Name Virginien, von dem unglucklichen Gunſiling ber 
Königin Elijabeth, Sie Walther Raleigh, ver jungfränlichen Herrſcherin 
zu Ehren erdacht, wurde anfangs anf das ganze englifche Amerila bezogen, dann 
aber auf bie fühlichen Gebiete beſchränkt, zulegt ausſchließlich auf die zuerft Tolo- 
niſteten Theile desfelben angewendet. 

Unter Jakob I. befam die Kolonifatton einen neuen Auſtoß. Durch löuig- 
liche Freibriefe von 1606, 1609 umd 1612 wurden einer Geſellſchaft von Lon- 
doner Rapitaliften und Kauflenten wichtige Rechte verliehen. Den englifchen Aus- 
wanderern dahin wurde ver volle Genuß des englifgen Bürgerzechts gemwährleiflet. 
Anfangs wurde die Anfleblung anf gemeinfane Rechnung betrieben, aber bie Er⸗ 
feige flellten fi erſt dann ein, als der Boden gu Sonbereigenthum vertheilt ward 
und aud die Selbſtſucht der Wirthſchafter angeregt ward. Die Oberleitung ber 
Kolonie behielt zwar der Gefelihaftsrath in London bei, aber has Bedurfniß 
drängte dazu, einen örtlihen Rath aus ben Koloniften felber zu beflellen und 
demfelben ein weites Maß der Autonomie zu verflatten. Der Präfinent und 
vie Mitglieder dieſes Kolonterathes wurben noch von dem Oberrath in London 
erwählt und von dem Könige beftätigt, aber ſchon damals war man gendthigt, 
die Wünſche ner Koloniften zu beachten. 

Die erften Koloniften waren eine fehr gemifchte Bevdllerung. Übentenrer, 
welche fid in dem fremben Lande eine Eriftenz fchaffen wollten, die ihnen in bey 
Heimat verfagt ſchien, Unternehmer, welde ihre Kapitalien da anlegen wollten, 
Bauern, die nad Eigenthum trachteten, aber auch viele Arme, welche dahin ver- 
pflanzt wurben, um bie heimifchen Gemeinben zu entlaften, und nicht felten ver⸗ 
urtheilte Verbrecher, welche von Staats wegen bahin verbannt wurden, um bie 
Sefängntffe zu leexen, fanben fi da zuſammen. Über Alle mußten ſich felber 
beifen, wollten fie nicht untergehen. Die im Kampf mit ben Inbianern, der Un⸗ 
wirchlichlelt des Bodens und der Roth des Klimas fortwährend geübte Anſpan⸗ 
nung der Kräfte und bie Gewöhnung an Selbfihälfe entwidelte voraus das kecke 
Selbfivertrauen und das ſtolze Freiheitsgefühl viefer Pflanger, bie großentheils 
anf dem Lande lebten, Förberlic für das Stonomifche Gedeihen der Kolonie war bie 
Ginführung des Tabakbaues, befonvers ſeitdem man auch in Europa ef I 
rauchen. Aber verhängnißvoll war es, daß ſchon feit 1620 Negerſklaven ins Land 
gebracht und an bie Pflanger als Arbeiter auf den Aeckern verkauft wurben, und 
zugleih mit jenem Sreiheitsfiun bildete ſich hier auch eine. harte, die Menſchen 
ausbeutende Herrſchſucht aus. 

Die rafhe Zunahme der Kolonie machte ſchon 1621 eine nene Verfafſung 
nöthig. Außer dem Präfisenten ober Gouverneur und ben eigentlichen 
Kelnnialräthen wurde nun eine Generalverfamminng eingerichtet, mit einer 
autonomiſchen Statutengewalt. Diefelbe wurde zuſammengeſetzt 1) aus jenen Räthen, 
bie: zugleich einen Stantsratb ober Senat bildeten, 2) aus je zwei Depn« 
tieten der Pflanzergemeinden. Die engliichen Verordnungen, bie von London ge» 
fit wurden, beburften num, weil ihre Anwendbarkeit fraglid war, ber Prüfung 
und Zuftimmung biefer Generalverfommlung, um beachtet zu werben. Hinwieder 
bedurften die Ordnungen, welche biefe erließ, der Zuftimmung bes Gonverneurs und 
ber Beflätigung nes Oberraths in London. An die Stelle ver früheren Kriegs⸗ 
gerihte trat nun das Geſchwornengericht des Landes auch bei fehweren Verbrechen. 
Dem Weſen nah war Birginien fo ein repräfentativer Freiftaat geworben unter 
koniglicher Oberhoheit. Indeſſen war diefe Selbftänbigkeit noch manden Räd- 
fällen und Kämpfen ausgefegt. Nach der Auflöfung der Kompagnie wurbe das 























































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Nordamerikaniſche Sreiflanten. 711 


kenntniß wor kalviniſtiſch und die Rechtgläubigkeit eine Bedingung ber Aemter. Die 
Prediger waren die geiſtigen Führer der Gemeinde. 

© Nen⸗Hampfhire, mit Freibriefen von 1629 anfangs an I. Maſon 
von ber Plhmonth⸗Kompagnie ımb von 1635, zum Theil von Maffachufets her 
bevölkert, in religiöfer Hinficht weniger ausſchließlich, durch Karl II. 1679 zur 
Köntgliden Broving gemadt. Der König ernannte den Statthalter und bie 
Räthe, die Freiſaſſen aber die Repräfentanten. 

D. Maine ebenfo anfangs an einen Lanoheren vom König verliehen im 
Einverflänpnig mit der Plymonuth⸗Kompagnie, Namens Ferdinand Goyhes. 
Die Kolonie fam erft zu Gedeihen, als dieſe fogenannte Pfalzgrafſchaft aufhörte 
und Maflachufets dieſelbe losgekauft hatte. 

E. Connecticut, anfangs wieber eine landherrliche Kolonie unter dem 
Grafen Warmid 1630, dann unter Hamilton 1634, von ben Herm’ freige- 
fauft durch die Koloniften 1644. Nun wählten vie Pflanzer ihren Statthalter, 
be Näthe und die Nepräfentanten frei. Bou Karl IL empfingen fie einen Frei⸗ 
rief 1662. ' 

F. Rhode-Island. Diefe Kolonie ift deßhalb höchſt mertwärbig, weil im 
ihr zuerft der Grundſatz ber Belenntuißfreiheit zum Geſetz erhoben wurde. Ihr 
Stifter war ein Geiſtlichr Roger-Willieams aus Maffachuſets, welcher im 
Gegenſatz zu dem engbräftigen Calvinismus feiner frühern Heimat nun das Ge- 
feß gab, daß die Staatsämter in der neuen Kolonie Providence ohne Rüdficht 
auf den religiöfen Glauben vergeben werben und Jedermann, gleichviel was er 
für einen Glauben habe, freien Zutritt babe und dao Bürgerrecht erwerben könne. 
Alle wegen ihrer abweichenden religidfen Meinungen. Berfolgte follten da eine 
fihere Zufluctsftätte finden. Auch mit den Indianern ftellte er fi auf das 
Freundlichſte. Ste verehrten ihn wie einen Bater. Die Statuten von 1643 
wurden von König Karl II. beftätigt, ausdrücklich ale ein feltfamer ud, den 
man in einem fremden Lande wohl wagen könne. Die Welt fpottete biejed wun⸗ 
verliden Vorgangs, welcher, wie fie meinte, den Auswurf aller Staaten und Re 
l Ionen berbeiziehe. Indeſſen erflarkte das neue Princip, und eroberte fchlielich 
die Welt. | 
.Noch ins 17. Jahrhundert gehört der merkwürdige Bund der Bereinigten 
Kolonieen von Neuengland, 1643 bis 1686, zu weldem biefelben fich in 
ber Mbficht einigten, gegen bie Indianer gemeinfamen Schug einzurichten. Nur 
Rhode⸗Island war nit dabei. Die andern Kolonieen ſcheuten die Gemeinfhaft 
ber oem und bie Koloniften von Rhode⸗Island lebten mit ven Indianern 
im Frieden. 

4. Mittelgruppe. Zwiſchen Birginten und Neu-England trat allmälig 
eine beveutfame mittlere Gruppe von neuen Kolonien, Dahin gehören: 

A. Maryland. Zu Ehren der Königin Henriette Marie benannt und von 
König Karl J. an Lord Baltimore ale dantberrn überlaffen 1632. Dem Land⸗ 
beren wurde die vollziehende Gewalt verliehen und das Recht, mit Zuſtimmung 
ber Freimänner Gefege zu machen. Alles unter der Oberherrlichkeit des Könige. 
Zugleih wurde den Auſiedlern Steuerfreiheit und eine beſchränkte Religtonsfreiheit 
zugeſtchert. Nur die Läugnung der Trinität und die Blasphemie wurden noch 
als todeswürbige Verbrechen behandelt und im Berfolg and die Katholiken für 
nidt-fähig zu den Öffentlichen Wemtern erklärt. Die Oeneralverfaommlung wurbe 
bier in ein Ober- und ein Unterhaus gefpalten. Die Landesherrſchaft erhielt fich 
aber 518 ins 18, Jahrhundert hinein, 


713 Nadıtrag. 


B. New. York war anfangs eine hollaͤndiſche Kolonie, unter dem Namen 
Neu-Amftervam, gegründet von ver nieberlänvifchen Kompagnie für Weſtindien, 
welde anf dem amerilanifhen Kontinent die Neu-Nieder lande ſchaffen wollte. 
Kaufleute wurben da große Grundeigenthümer und überließen den Boors (Bauern) 
gegen eine Mente die Sonbergüter zur Wirthſchaft. Eine Repräfentation gab es 
nit. Der Generaldirektor mit feinen Räthen hatte alle Gewalt. ber religiäfe 
Zoleranz wurde geübt. In Felge der engliſch⸗holländiſchen Kriege wurde bie Ko⸗ 
lonie von den Englänvern eingenommen und zu Ehren des Herzogs von VPVork, 
ber Landherr wurde, neu benannt. Seit 1674 iſt fie in engliihem Beſitz ge 
blieben, eine königliche Provinz. Der König erannte den Statthalter und vie Räthe. 
Die Repräfentanten wurden von ben reimännern gewählt. Bon dem Geſchwor⸗ 
nengeridhte war die Berufung an den König im Rath zuläſſig. Der Supremat- 
und ber Zefleid mußten andy da gefchworen werben. Im Uebrigen erhielten bie 
verſchiedenen chriftlich-proteftantiichen Bekenntnifſſe Freiheit. Steuern durften nur 
mit Zuftimmung dex Repräfentanten auferlegt, gegen den Willen ver Bewohner 
feine Einquartirung von Solbaten anfgenöthigt und feine Kriegsgerichte einge 
richtet werben. | 

C. Reu-Derfey anfangs an Landherrn verliehen, fpäter feit 1702 Eönig« 
liche Provinz, mit Repräfentativverfaflung. 

D. Delaware urfprünglid von holländiſchen und ſchwediſchen Anfiedlern 
befegt, feit 1682 von William Penn erworben und an Bennfyloanien angelehnt. 

E. Pennſylvanien. Der Quäker William Penn erhielt 1681 von 
König Karl IL ein Patent, welches ihn zum Landherrn für ein weites Gebiet 
beftellte, in welchem damals nur zerftreute Riederlafjungen fih fanden, großentheils 
von Hollänbern und Schweden und empfing die Ermächtigung, für dieſes Gebiet 
Geſetze zu geben, wenn die Repräfentanten ver Freimänner zuftinnmen, jedoch unter 
der Kontrole der englifhen Regierung. Auch konnte die Kolonie fich felber be- 
feuern; das Steuerrecht des engliihen Parlaments wurde aber vorbehalten. Den 
Anfiedlern wurbe das englifhe Bürgerrecht zugefihert. Es follte in dem Lanbe 
feine prioilegirte Kirche geben. Über der Glaube an Chriftus wurde von bem 
Anfiedlern gefordert. Die Generalverſammlung wurde aus Abgeorbneten ber Graf. 
[haften befegt, vie in Einer Kammer tagten und gemeinfam mit dem Landherrn 
Statuten gaben. Die Sherifjs und Eonftabler wurben von ben Freiſaſſen, vie 
Richter von dem Geſetzgebenden Körper gewählt. Seit 1683 wurde das gleiche 
Erbrecht der Kinder eingeführt, mit der Ausnahme, daß ber ältefte Sohn eine 
boppelte Portion erhielt. An ver zahlreihen Einwanderung, zunähft ans Eng⸗ 
land, Irland und Schottland hatten religiöſe Motive einen ſtarken Antheil. Im 
Berfolg wendete fi die deutſche Einwanderung mit Vorliebe dahin. Phile- 
delphia, die Stadt ber Brüder, 1683 nur aus vier Hütten beftehend, erwuds 
raſch zu einer anfehnligen Stadt. 

5. Neue Kolonieen der füdlihen Gruppe. Diefe find 

A. und B. Nord» und Süd-Sarolina. Bereits hatte die demokratiſche 
Entwicklung der amerikaniſchen Kolonieen , verbunden mit den Erfahrungen ber 
englifden Revolution, in dem ariftofratifch-Königlihen Mutterland VBeforgniffe er⸗ 
regt für die Zufunft. Als daher König Karl II. an Ford Clarendon und feine 
Genofſen, unter denen Lord Shaftesbury, das amerifantiche Land vom 28. 
bis 36. Grad nörblicher Breite zur Kolonifirung und Landherrſchaft verlieh, 
wurde ber Verſuch unternommen, dieſes Gebiet in ariftofratifcher Weife zu orbnen, 
Der berühmte Staatsphilofopg Locke entwarf die Verfoffung für die nene zu 











Nordamerikaniſche Sreifiaaten. 713 


Ehren des Königs benannte Provinz 1669. Die VIII Lanpherren follten da 
herrſchen wie VIII Unterfönige, mit dynaſtiſcher Thronfolge in den VIII Kreiſen. 
Der Aelteſte unter ihnen hatte als Bfalzgraf ven Borfig in dem Fürſtenrathe, 
welcher dem deutſchen Kur-Rollegium ähnlich gemeinfam das ganze Gebiet regieren 
follte. Diefes warb in 40 Theile zerlegt, nämlih in 8 Herrfchaften, ven 
Landherrn vorbehalten, in 8 Baronieen, welche dem großbegüterten Grundadel 
überlaflen blieben und in 24 Kolonieen, deren Land an bie Koloniften abge- 
treten wurde. Jede Grafſchaft follte 480,000 Aeder haben und darin ein 
Landgraf mit 4 freiherrlihen Gütern nebſt 2 Caciken (Baronen) mit je zwei 
Herrengütern reſidiren. Die beiden grunpherrliden Elemente bekamen von Rechts 
wegen Sig und Stimme im Parlament. Jene Güter wurden zum Bau an gute 
unterthänige Grundholden gegen eine Rente verliehen. Die übrigen Kolonieen da⸗ 
gegen wurben an freie Eigenthümer vergeben. Ber aber ein Biertheil einer 
Kolonie erwarb, der konnte ein Stammgut machen und dann wieter an Grund⸗ 
holden die Stücke vergeben. 

Das Parlament befand aus vier Ständen: 1) den Landherrn, 2) ven Land⸗ 
grafen, 3) ven Caciken und 4) den Gemeinen, von denen je 4 Repräfentanten 
aus einer Srafichaft gewählt wurden. Das Stimmreht war burd ben Beflg 
von 50 Aeckern, die Wählbarkeit durch einen folden von 500 Aedern bebingt. 
Die Stände verfammelten fih von 2 zu 2 Jahren. Fur die Leitung der Gefchäfte 
wurben 8 Höfe befegt, in venen wieder zwei Dritttheile der Stellen grundherr⸗ 
lien Näthen vorbehalten waren. Die englifhe Kirche allein wurbe vom Staat 
unterflügt, aber ven andern Konfeffionen Dulvung gewährt. Die engliſchen Ge⸗ 
ſchwornengerichte und das englifhe Recht (auch das Erbrecht) blieben in Geltung. 
Die Sklaverei wurde ausdrücklich anerkannt. 

Aber der neue Boden war einer ſolchen Verpflanzung ver engliſchen Ariſto⸗ 
kratie nicht günſtig. Die Verfaffung konnte feine Wurzeln darin ſchlagen. Sie 
mußte bald wieder aufgegeben werden. Seit 1729 wurde das Land Königliche 
Provinz und dann 1732 in zwei Kolonieen Norb- und Süblarolina zerlegt. Die 
gewöhnliche amerilaniſche Berfafiung warb auch da eingeführt, Statthalter und 
Näthe, von der Krone ernannt, die Repräfentanten von den Yreilaflen. ber 
immerhin erhielten fidh in dieſer Provinz große ariftofratifche Güter und machte 
fi, wenn auch in veränderter Form, vie ariſtokratiſche Gefinnung mancher 
Familien geltend. 

6. Ueberſicht der Kolonieen vor ver Revolution. Man unter⸗ 
ſchied damals drei Arten von Kolonieen, die jedoch nicht ſyſtematiſch getrennt 
waren und mancherlei Uebergänge aus einer Klaſſe in bie andere zuließen. 

a) Hreibriefregierungen (Ehartergovernments), zulegt nur noch 
brei Maſſachuſets, Eonnecticut und Rhode⸗Island. Es waren das weientlih Freis 
ſtaat en mit felbfigewählten Obrigleiten und Repräfentauten, aber unter Anerken⸗ 
nung ber Oberhoheit des englifhen Königthums. 

b) Landherrliche Regierungen (Proprietary Government), 
an Landherrn zu erblichem Lehenrecht verliehen, Bafallenflaaten, unter ber 
Souveränetät der engliſchen Krone, aber mit befhräntten Bafallenfürften, welche einen 
Theil der königlichen Rechte ausübten. Zulegt waren noch Maryland, Pennſyl⸗ 
vanien und Delaware in dieſem Berhältniß. 

e) Königlihe Provinzen, in denen bie Vollmacht des Gtatthalters 
anf bem Königlichen Willen beruhte und durch Juſtruktionen beſchränkt wurd 
Durchweg galt daſelbſt die Berufung an ven König im Rath, auch von deu ober‘ 


⁊i⸗ naqtrag. 


Gerichtshofen. Für die Provinzialgeſetze, zu denen überall bie Repräfentanten ber 
Freiſafſen mitwirkten, war gewöhnlich Lönigliche Beftätigung vorbehalten. 

Im Allgemeinen wurde anerfannt, daß das engliihe Common Lam und 
Statute Law auch in Amerika gelten. Indeffen wurde diefe Regel durch die Auto- 
nomie der Kolonieen erheblich modificirt, theils indem ihre Geſetzgebungen je nad 
Umftänden die Anwendbarkeit mander englifher Gefege beftritten, theils Indem 
fie befondere Statuten für die Kolonteen machten und barin abweichende Beſtim⸗ 
mungen trafen. Im Einzelnen konnte darüber zwiſchen den engliſchen Iuriften und 
ben amerikaniſchen Behoͤrden geftritten werben. War das englifhe Parlament 
eiferfüchtig auf feine fonveräne Macht, fo betonten vie Kolonieen hinwieder bie 
Nothwendigkeit ihrer befondern Bedürfnifſe. Während jenes Gehorſam forberte, 
verlangten biefe Anerkennung ihrer Eigenthümlichkeit. Beſonders ftreitig war bie 
Frage bes Beſteurungsrechts. Die Koloniften hielten fi an ben alt«englifchen 
Grundſatz, daß feine Stener erhoben werben dürfe ohne Bewilligung ber 
Steuerpfliätigen. Da fie im engliſchen Parlamente nicht repräfentirt feten, fo 
behaupteten fie, habe das Parlament andy Fein Recht, ihnen eine Steuer aufzulegen. 
Das Parlament dagegen behauptete kraft feiner Sonveränetät, und weil es bie 
gefetzgebende Gewalt Über das ganze Reich Befige, fein Recht ber Auflage einer 
Reichsſteuer. Allerdings vermieb es eine direkte Stenererhebung und nahm fchlieh- 
lich, als e8 heftigen Widerſpruch erfuhr, die Stempelafte von 1765 zuräd. Da- 
gegen wollte es nun auf der Einfährung von Zöllen beharren, indem der Handel 
ganz in feine Kompetenz gehöre. An dieſem Streite entzünbete fi) die amerikaniſche 
Revolution. 

Unter fi hatten die Kolonteen wenig Zuſammenhang. Der neuenglifge Bund 
war von Jakob II. aufgelöst worden, deſſen Beftreben überall war, bie unmit- 
telbare Köntgsherrihaft einzurichten. Erſt im Jahre 1754 brachte die Gefahr im 
bem Kriege Englands mit Frankreich, die Abgeſandten der Kolonteen wieder zuſammen. 
Anf einem Kongreß beriethen file über gemeinſame Maßregeln zur Bertheibigung 
des Landes. Es war aber ehr ſchwierig, die partitulariftifch gefinnten Vertreter ber 
einzelnen Kolonieen zu irgend einem Beſchluſſe zufammen zu bringen. Noch 1761 
erflärte Franklin, nur eine arge Tyrannei vermöchte eine Einigung der Kolonteen 
berzuftellen. 

Indeffen der Streit mit dem Mutterland regte doch die Amerikaner fo auf, 
daß neuerdings Kongreffe zufammentraten, zuerft von 9 Kolonieen in New⸗NYork 
1765, dann von 12 Kolonieen (alle außer Georgien) in Philadelphia 1774. Da- 
mals kam jene berühmte Erklärung ver amerifanifchen Rechte zn Stande: „Die 
Einwohner der engliſchen Kolonieen haben ein Recht auf ihr Leben, Freiheit und 
Eigentbum und geftatten feiner fonveränen Macht, darüber zu verfügen ohne ihre 
Zuftimmung. Sie haben ihr Recht aus dem Mutterlande mitgebradt und nicht 
verloren dur ihre Auswanderung. Die Grundlage ter englifchen Freiheit und 
jeber freien Regierung iſt das Recht, an einem geſetzgebenden Rathe Theil zu 
nehmen. Sie find nicht repräfentirt in dem englifhen Barlament umb erkennen 
deflen Autorttät nur an, foweit biefelbe fih bona fide auf allgemeine äußere An- 
gelegenheiten des Reiches bezieht. Ste halten feft an dem gemeinen englifchen 
Recht und wollen nur gerichtet fein nah dem Urtheil ihrer Gleichen und ver 
Nachbarſchaft. Sie genießen der Wohlthaten der englifchen Gefege, welche zu ihren 
lofalen Bedurfniſſen paflen, und behalten ihre Freibriefe und Provinzialgefege vor. 
Sie haben pas Recht, fi zu verfammeln und Beſchwerden und Bitten an den 
König zu richten. Ein ſtehendes Heer im Lande in Frievenszeiten ohne Zuftim- 


— 


nNordamerinaniiche Sreiſtaaten. 716 


mung der Kolonien iſt geſetzwidrig. Eine koͤnigliche Geſetzgebung bloß mit ben 
Rathen iſt verfaſſungswidrig. Die Zweige ber gefegebenden Gewalt müſſen um- 
ig von einander fein.” 

7. Die Revolution und ber Befreiungstrieg. 1775—1782. Kon- 
föderation vom Juni 1778. Der anfänglide Kampf der Kolonien war nur 
auf Behauptung ihrer Unabhängigfett von ver Beſteurung des Parlaments ge- 
richtet. Aber der Stolz des Königs, die eitle Zuverfiht des Minifteriums und ber 
Uebermuth der Tories trieben die Spannung zum Bruch. Der engliſchen Gewalt 
der Regierung fetten die Amerikaner die Gewalt der bewaffneten Bürger entgegen. 
Als einmal Blut gefloffen war, wurde der Riß unhellbar. Die Kolonieen fühlten 
fi der engliihen Bormundſchaft entwachſen. Sie erflärten ihre Unabhangigkeit 
als mänbig geworbene Staaten und fagten fi) von der Unterthanentreite los gegen 
die britiſche Krone, welche die Rechte des Landes verlegt und durch die Thrannei 
ihre Herrſchaft verwirtt habe. Die Unabhängigfeitserflärung vom 4. Juli 1776, 
von dem jugendlichen Publiciſten Thomas Jefferfon verfaßt, verkündete und 
begränvete die Losfagung vor der Welt. Bon jet an nannten fid die verbän- 
beten Kolonien Bereinigte Staaten von Amerila. Die feit Langem ent- 
widelte republilaniſch⸗demokratiſche Berfaffung ftreifte nun bie fremd gewordene 
europãiſche Aönigsgewalt ab und mit ihr die Autorität der engliſchen Ariſtokratie 
tm Barlament. 

Der Kongreß befland ans einer Anzahl Abgeordneter der einzelnen Staaten, 
welche urfprünglich entweder von ber Geſetzgebung biefer Staaten, vorzüglich von 
ven Repräfentantenhäufern oder von eigentlichen Konventen gewählt und ermäch⸗ 
tigt waren. Was an der legitimen Bollmadıt fehlte, das erfegte die Bertfung 
auf die Noth des gemeinjamen Vaterlandes. Wiberfirebeude Rolonialregierungen 
wurben entlaffen und durch vollsthümliche Nachfolger erjest. | 

Die Berathungen über eine gemeinfame Bundesverfaſſung gingen während 
bes Kriegs langfam vorwärts und kamen erft im November 1777 zum Abfchluß, 
nachdem ber Kongreß fi ans Philadelphia Hatte flüchten müflen. Dann bauerte 
es wieder bis in den Juli 1778, bis biefelbe im Namen von 8 Staaten, deren 
Legislatıre zugeſtimmt Hatte, unterzeichnet wurbe. Die legten Zuftimmungen ließen 
bis in ven März 1781 auf fi warten.- 

In diefer Berfeffung war für die Einheit des Ganzen nur fehr wenig ge- 
forgt. Die Unabhängigkeit der Einzelftanten war noch das überwiegende Intereffe. 
Nur in einigen Beziehungen ließen fie ſich eine — ihrer Souveränetät 
gefallen. Sie verpflichteten fi, weber Gefandte fremder Mächte zu empfangen, 
noch Geſandte zu ſchicken, no Bünpniffe und Berträge mit andern Mächten ab» 
zufehließen, one Zuftimmung des Kongrefies. Jährlich follte ein Kongreß ver 
Staaten ans wiberruflicden Abgeorbneten verfelben zufammen treten und auf dem⸗ 
felben jeder Staat eine Stimme führen. Diefem Kongreß wurbe der Enticheid über 
Krieg und Frieden anvertraut, das Geſandtenrecht zuerkannt, die Einfegung von 
Brifengerichten und Erflärung über Priſenrecht vorbehalten, vie Befugniß zu Han⸗ 
belsverträgen und Berträgen mit den Inbianern, das Mänz- und Poſtrecht ein- 
eräumt, bie Befugniß verftattet, die Oberoffictere für die Landarmee und bie 

ciere der Buubesmarine zu ernennen, das Recht gegeben, die Truppenzahl zu 
beftimmen, welche die Einzelftanten liefern follten und eine Flotte auszurüſten und 
das Recht verftattet, Geld zu borgen und Papiergeld auszugeben. Streitigfeiten 
unter den Staaten über das Gebiet follten vor den Kongreß gebraht und ba 


ausgeglichen werben. 


716 Nadtrag. 


Der Staatsrath war gleichſam ein verkürzter Kongreß, in welden jeher 
Staat durch ein Mitglieb vertreten war, welches die andern Kongreßmitglieder 
besfelben bezeichneten. Er war nur ein Geſchäftsausſchuß zur Vorbereitung unb 
Bollziehang ver Kongreßbeſchlüſſe. 

Sogar im Kriege war der Kongreß ſehr unbehülflich, ſchwach und ganz ab- 
hängig von dem guten Willen der Einzelregierungen. Die Kriegführung litt fehr 
arg unter biefen Mängeln. Es fehlte der Bunbesarmee oft an dem Unentbehr- 
lihen. Nicht einmal ihre Beſtand war gefihert; von Zeit zu Zeit erflärten bie 
Truppen, ihre befchräntte Dienftzeit ſei abgelaufen und ließen fi) nit länger 
oder nur theilmelfe zufammenhalten. Der Sold wurde fehr unregelmäßig, lange 
gar nicht bezahlt. Lebensmittel, Schuhe, Waffen mußten von den Einzelſtaaten 
oder don deren freiwilligen Gaben erbettelt werden, Das übermäßig gefertigte Pa- 
piergelo war werthlos geworben, da für bie Einldſung wit geforgt war. Nur 
bie zähe Ausdauer, die unermüdliche Thatkraft und die große Popularität des 
Senerald Georg Washington (f. d. Art.) Tonnten über dieſe unzähligen 
Schwierigkeiten mühſam binüberhelfen. Zuwellen verzweifelte ber große Mann 
felber an der Ueberwindung derſelben. Er nannte den Kongreß „einen Schatten 
ohne Leib, ein bloßes Scheinweſen“. Glücklicher Welfe für Amerika hatte and 
das englijche Heer mit ungeheuren Schwierigleiten zu lämpfen, bauptfächlid ber 
geoßen Entfernung von feinen Hülfsquellen, ven unermeßlichen Räumen bes auf- 
ſtändiſchen Kontinents und der allgemeinen Abneigung einer männlich gearteten 
Bevölkerung. Dennoch wäre die Niederlage der Amerilaner ſchwerlich abzumenben 
gewejen, wenn fie nit in der Außerften Noth die Hülfe Frankreichs erhalten 


en. 

Eudlich wurde die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Englanb im 
Jahre 1782 zugeflanden und der Friede von Berfailles vom 8, Sept. 1783 be= 
fräftigte die Nengeftaltung, 

As nun im Frieden aud die Noth nicht mehr zu gemeinfamen Entſchlüfſen 
brängte, offenbarten fih die Mängel der Konföberation no mehr. Der Bund 
hatte weber eine Geſetzgebung noch eine Regierung, nod ein Gericht. Er konnte 
wohl Schulden machen, aber da er kein Steuerrecht befaß, vie Mittel nit aufe 
bringen, fie zu bezahlen. Nicht einmal für regelmäßige Berzinfang und Abzahlung 
ber im Befreiungstriege gemachten Borfhüffe konnte ex die Mittel aufbringen. Er 
fonnte ven Einzelftnaten wohl die moralifche Pflicht veorftellen, daß fie durch ihre 
Beiträge helfen, die Ehrenſchuld abtragen, aber er hatte feine Zwangsmittel; und 
bie VBeifteuern der Einzelſtaaten blieben Jahre lang im Rüdftand. Eiferſüchtig 
anf ihre Souveränetät wollten bie Staaten ihrem Bunde nicht einmal vorüber- 
gehen? irgend ein Steuerrecht verwilligen. Der Bund konnte mit andern Staaten 

erträge abfchliegen, insbeſondere auch Hanbelsverträge. Aber er hatte wieder 
die Macht nicht, die Durchführung biefer Verträge in Amerika zu fihern. Wenn 
bie Gefeßgebung over die Verwaltung eines Einzelftantes andere Grundfäge und 
Maximen guthieß, fo berief man ſich vergeblid auf den Handelsvertrag. Er wurde 
nicht beachtet. Es gelang dem Bunde nicht einmal, die Beftimmungen des Friedens⸗ 
vertrags mit England überall zum Vollzug zu bringen. Der finanzielle und ber 
politifhe Krebit des Bundes mußte nach folden Vorgängen zu Grunde gehen. 
Der jährliche Wechſel der Kongreßmitgliever verhinderte jede fetige Politit, und 
erfchwerte die Tradition der Geſchäftskunde ſehr. Die Armee war aufgelöst wor⸗ 
den. Es hatte ihr fogar im Kriege an der Einheit der Organlfation, an der Aus- 
bildung der Maunſchaft und au der Sicherheit des Zuſammenwirkens gefehlt, Die 





Nordamerikanifhe Seeiflanten. 117 


ängern Beziehungen waren unverläffig, der Handel in einem troftlofen Zuſtand, 
der innere Verkehr gehemmt und verwirrt. Das Gefühl, daß es fo nicht fort 
gehen könne, warb allgemein unter ven denkenden Bürgern, aber die Abhülfe ſchien 
ſehr ſchwierig. Allmälig wurbe die Alternative Mar: entweder 1d8t fi der Bund 
in völlig fouveräne, von einander getrennte Staaten auf, ober er muß durch einen 
viel engen und mädtigern Berband, buch einen Unionsſtaat erfegt werben. 
8 Begründung der Unionsverfaffung vom 17. Sept. 1787. Der 
erſte Hanptanftoß zur Befreiung Amerika’ war von Ren-England, befonbers von 
Maffachufets ausgegangen. Auch dießmal kam bie erfte officielle Anregung von 
ber Geſetzgebung und den Statthaltern von Maſſachuſets, melde Berufung 
eines neuen Berfaffungstonvents verlangten. Sommer 1786. Über noch waren 
bie Bedenken im Kongreß fo. groß, daß fogar bie Abgeordneten von Maſſachuſets 
im Kongreß die Aufträge ihrer Heimat Monate lang liegen ließen. Run fügte 
aber Birginien feine gewichtige Stimme bei. Der Antrag, daß eine Konvention 
von Abgeordneten der Staaten leviglih zum Zweck, die Handelsfrage zu exörtern 
and gemeinfome Einrichtungen zu fchaffen, um bie Beziehungen nad) Außen zu 
srbnen, berufen werde, von Birginien geftellt und von New⸗VYork unterftünt, brachte 
die Dinge in Fluß. Aber Hamilton (f. vd. rt.) der frühere Adjutant und 
Sekretär Washingtons und nun Advokat und Deputirter in New⸗York, ein flante- 
männtjher und organtfatorifcher Kopf erften Rangs machte bie Nothwendigkeit 
Mar, die Berfaflung der Union gründlich umzubilden, um ihr Leben und ihre 
Wohlfahrt zu fihern. Er war der eigentliche Geift der Bundesreform. Zwölf 
Staaten (alle außer Rhode-Island) befhidten den Berfafiungsrath, ber in 
Philadelphia zufammentrat und nun eine neue Unionsverfaffung entwarf. Mat 
1787. Diefmal fchidten die Staaten ihre bedentendſten politiſchen Männer, 
während in dem wenig befucdhten Kongrefie fi bie Mittelmäßigfeit niedergelafien 
Hatte. Da waren aus Birginien Georg Washington, Edmanı Ran- 
dolph und James Madiſon, aus New York Wlerander Hamilton, 
aus Pennſhlvanien Benjamin Franklin, Iames Wilfon und der Gou⸗ 
verseur Morris, aus Maſſachuſets Rufus King, aus Süplarolinn Karl 
Gotesworth Bindnen. 
Unter lebhaften Parteilämpfen kam die nene Union zın Stande. Der natür- 
Ihe Gegenſatz in allem zufammengejegten Staatswefen zeigte ſich auch bier. Den 
Föderaliſten, welde ſtarke und einheitlihe Organe für den Gejammtfinat, 
ſtrenge Pflihterfühung in der Schuldenzahlung und ausgedehnte Vollmachten für 
die Union forderten, ftanden bie Antiföderaliften entgegen, denen möglichfle 
Selbſtändigkeit und Freiheit ver Einzelſtaaten vorzügli am Herzen lag, und melde 
ſowohl die Befugniſſe der Union möglihft beſchränken, als auch die Bürger in 
der Abzahlung der Unionsfchulden erleichtern wollten. Die erftern betenten voraus 
das Intereffe ver Einheit und das Bedürfniß eines wirklichen Staats, die letztern 
erirten ſich als Borkämpfer für die Volksfreiheit. Am heftigften beſchwerten fie 
baräber, daß nicht einmal die Grundrechte in der neuen Berfaflung eine Saul⸗ 
tion gefunden haben. Manche Beſtimmungen jener waren nur durch ein Kon 
promiß der Parteien zum Abſchluß gelangt. 39 Kongreßmitgliever unterzeichneten 
am 17. Sept. 1787 den nenen Berfaffungsentwnrf, einige nur mit innerlichem 
BDiverfireben (mmter denen auch Franklin), 13 verweigerten ihre Unterfchrift. 
Der Kongreß empfahl denfelben den Staaten zur Annahme. 11 Staaten ſtimm⸗ 
ten zum Theil einfach, zum Theil mit ber Empfehlung von Amendements zu. Am 
Beftigften und zäbeften waren bie Parteflämpfe in Birginien und in New⸗VYort. 





T18 Ä Nachtrag. 


Norbd⸗Carolina und Rhode⸗Island folgten fpäter, nachdem die Union ge 
broßt Hatte, fie als Ausländer zu behandeln. Am 4. Mär; 1789, zwei Donate 
vor bem Zuſammentritt ver frangöfiihen Etats-Giöndraux begann ber erfle Kon⸗ 
greß der Union feine Wirkſamkeit. Nun erhielt die Verfaſſung auch noch weitere 
Bufäge, welche dem amerikaniſchen Belle gewiſſe Grundrechte fiherten. Damit 
wurde eine Haupteinwendung ber Gegner ber Berfaflung bejeitigt. 

9. Die Föderaliſten 1789—1801. Washington 1789—1797. 
John Adams 1797—1801. Einftimmig war ber Generel Washington 
zum erſten Präfidenten der Unton gewählt worden und er entzog fich dem Rufe 
des Baterlandes nit. Er führte bie nene Berfaflung ins Leben ein. Bon Au- 
fang an fuchte er die Parteien zu verſohnen. Das Haupt ver Föderaliſten Ha⸗ 
milton und die große Autorität der Republitauer, Iefferfon traten in das 
Kabinet ein, jener als Schagmeifter (Hinanzminifter), diefer als Stantsfelretär 
für die auswärtigen Angelegenheiten (Mlinifter des Aeußern). Sofort bob ſich ber 
gänzlich erſchütterte Kredit der Union. Hamilton drang darauf, daß auch bie 
einheimiſchen Gläubiger bezahlt werben; und vie Einführung von Zällen lieferte 
bie Mittel, Freilich wurde aud bie Spekulationsluſt und Gewinnfucht zumal in 
Reu- England dadurch gereizt und geftelgert. Auch eine Bereinigte Staaten- 
bank gründete er und ſchuf Damit eine große Geldmacht, die tm Verfolg der Beit 
für den Staat gefährlich murbe. | 

Die erſte Bolkszaählung vom Jahr 1790 ergab eine Geſammtzahl 

der freien Weißen der freien Garbigen der Sklaven Aller. 

2,898,172 68,197 682,633 8,639,002 

Die 5 fllavenhaltenden (Süh)ſtaaten hatten eine Bevdllerung vom 
1,798,407; die 8 nichtſklavenhaltenden (Nord⸗ und Gentral-)fiaaten eine ſolche 
von 1,845,505. Bon Anfang an machte fich dieſer Gegenſatz im Kongreß umd unter 
den Parteien fehr ſtark geltend und fogar ein Mana wie Jefferſon hielt die Ber 
einigung ber beiden Staatengruppen auf die Daner für unmöglid, währen 
Washington umgekehrt die Union als eine Lebensbeningung für Alle betrachtete. 
Um der Unionsregierung, die vorerfi in New⸗York verfammelt war, einen unab- 
Kängigen Wohnſitz zu geben, wurde der Bir! Columbia ansgeſchieden unb be 
bie Bundesſtadt Washington gegründet. Leider wurde ber große Gedaukr bes 
Bräfidenten, eine Unionsnantverfität zu gränben, nicht ausgeführt und be- 
durch die geiftige Einigung der Erziehung vernadhläffigt. Im Ganzen aber war 
die zweimalige Präflventichaft Washingtons 1789 bis 1797 glücklich. Das 
Land nahm zu im Frieden an Wohlſtand. Auch drei neue Staaten im Innern 
des Kontinents wurden in die Union aufgenommen: Bermont 1791, Ken» 
tucki 1792 und Tenneffee 1796. Die frievlichen Beziehungen zu einer Anzahl 
Indianerflämmen wurden nen geregelt. Als vie franzöftihden Ialobiner auch Amerika 
in den Krieg mit England verwideln wollten, widerſtand Washington, entfchloffen 
den Frieden zu bewahren. Er proflamirte bie Neutralität als die amerila⸗ 
niſche Politik in den emropätichen Streitigleiten und feste ein Reutralitätsgefek 
durch, welches die Beachtung der nemtralen Pflichten vorfchrieb. Die Grundfäge 
der frangöfifhen Revolution fanden auch in Amerifa lauten Beifall. Wieder flan- 
den fi) zwei Parteien gegenüber, deren eine mit den franzöfifcgen Republifanern, 
und die andere mehr mit ben engliſchen Staatsanſichten Tumpathifirie, wub wieder 
war Jefferſon anf jener und Hamilton auf biefer Seite. Der in der Bundes 
vegierung herrſchenden Partei warf damals Henry vor, fie „ſchiele nad ver 

onarchie“. 








Nordamerikaniſche Freiſtaaten. 719 


Zum dritten Dat lieh fi Washington nicht wählen. Er zog ſich ins Pri⸗ 
vatleben zurüd und binterließ der Nation noch fein berühmtes politiſches Te⸗ 
ffament vom 17. Sept. 1796 als eine Lehre und Warnung für die Zulunft. 

Dei der neuen Präfidentenwahl fiegten bie Föderqliſten, aber fie vermochten 
doch nicht ihren größten Führer Hamilton durchzuſetzen, ber als Ariftofrat ner 
ſchrieen war, fendern John Adams ans Maſſachuſets, ein ausgezeichneter 
Medner und Geſchäftsmann, aber ein mittelmäßiger Staatsmann gegen Jefferfon, 
der zum Bicepräfiventen erhoben ward. Dagegen wurde Hamilton, als ein 
Krieg mit Frankreich drohte, zum General ernannt. Der Krieg wurde jeboch durch 
die Gewandtheit des Präfidenten glücklich vermieden. Am 14. Dec, 1799 ftarb 
ber größte Bürger der Union, und ihr erſtes Stantshaupt, Georg Washington, 
Ef nach feinem Tone fiebelte die Unionsregierung in bie nad ihm bemannte 
Bundesſtadt über. 

10. Die Republilaner Jefferfon 1801—1809. Mapifon 1809 
bis 1817. Mit Adams ſank vie Föderaliftenpartei in jähem Fall und es erhob 
fih die fiegreihe Partei ver Republikaner. Jene hatte vie Unwürdigkeit be⸗ 
gangen, für den Schwindler Aaron Burr, ben Hamilton den Catiling Ame⸗ 
rita’s nannte, zu flimmen. Die Wahl des Konvents ſtand inne zwiichen ihm und 
Thomas Iefferfon. Nur nad ven zäheften Kämpfen im Repräfentantenhaug 
wurbe enblich diefer gemählt. Aud er war wie Washington während zwei Amts- 
perioben Bräfipent 1801—1809. Er war ein Mann von hoher Bildung, ein 
Liebhaber der Wiflenfchaften und ein freier Denker, in feinen politiſchen Anfichten 
ein leidenſchaftlicher Hafler ver Yürften, der Priefter, des Adels, ein Verehrer der. 
Menſchenrechte und der Doltrinen der franzöſiſchen Revolution, ein begeifterter 
Freund der Freibelt, aber daneben doch Flug genug, um bie Herrenrechte feiner 
Landsleute, der ſüdlichen Pflanger zu jchonen, eher den Franzofen old den Eng⸗ 
laudern befreundet; aber vor allen ‘Dingen ein amerilanifher Patriot. Er wollte 
ber Welt das Vorbild einer demokratiſchen Verwaltung hinterlafien, und er bat 
feinen Vorfag erfüllt. Als er die Regierung antrat, war ber zweite Cenſus non 
1800 eben vollzogen worden. Derfelbe ergab eine Bevölkerungszahl y 

ber Weißen ber freien Farbigen der Sklaven Insgefommt _ 

4,304,500 108,400 Ä 893,040 6,306,940 

Er ftellte bie englifdj-sriftofratifchen Tormen und Sitten ab, die am Regie⸗ 
rungsfige aufgenommen worden waren, und verhandelte nur no. ſchriftlich durch 
Botſchaften mit dem Kongreß, die Trennung ber beiden Gewalten zu ſehr ſchär⸗ 
fend. Die von Adams ernannten Richter entfernte er mit Hülfe einer neuen 
Gerichtsverfafſung wieder ans den Aemtern. Die direkten Steuern ſuchte er zu 
befeitigen, und begänftigte dagegen die Einwanderung. Im Weften gründete er bie 
Territorien Michigan und Illinois, indem er fie aus dem ältern Territprium 
Indiana ausſchied, und legte bamit ven Grund zu neuer Staatenbilbung. Indem 
er die große von Spanien an Napoleon abgetretene Provinz Louifiaue vom 
diefem erwarb, gegen eine Kauffumme von 60 Millionen Franken, wezu noch 
meitere 20 Millionen Entihäpigungen famen, gewann er für bie Bereinigten 
Staaten die volle Herrichaft Über den Mifftffippi und nahezu eine Verdoppe⸗ 
tung ihres Landesumfanges. Das fruchtbare Gebiet war freilich damals noch fehr 
dünn bewohnt, von hödftens 50,000 Menſchen. Damit waren auch bie, Wege 
nach Weſten geöffnet und jetzt erſt Tomnten fich die Blicke der amerikaniſchen An⸗ 
gelſachſen auch dem weſtlichen Welimeer zuwenden. Die ungeheusen Bände wurn 
den vorerſt in zwei Gebiete geiheilt: Ten Orleans und Louiſiana. Au die 


720 Nachtrag. 


Entdeckung bes Columbiafluſſes fiel in dieſe Megierung. Der Vorbehalt ber Ver⸗ 
faffung, die Zufuhr von Negerſtlaven von 1808 an zu verbieten, wurde trotz des 
ſtürmiſchen Widerſpruchs der Süpftanten von dem Kongreß von 1807 ausgeführt. 
* drohte Randolph, die Sklavenfrage werde die Trennung der Union her⸗ 


en. 

Die Mißachtung der freien Schiffahrt der Neutralen während der europäl« 
fen Kriege durch England, theilmeife andy durch Frankreich, veranlafte den Kon⸗ 
greß auf Jefferſons Antrag den ganzen Handelsverkehr mit viefen Staaten zu 
unteringen, d. 5. deu ſämmtlichen Schiffen biefee Nationen vie amerikaniſchen 
Häfen zu verſchließen (März 1809). Durch dieſe vorübergehende Ifolirang wurde 
die Selbftänpigkeit des jungen Staats geftärtt. 

Unter dem folgenden Präfiventen Madiſon (1809—1817) wurde aber bie 
Spannung mit England bis zum Kriege gefteigert, den ver Kongreß am 4. Juni 
1812 erklärte. Wieder zeigte fi’, daß bie Republik Anfangs fchlecht geräftet 
und fchwächer fei ald die kriegsgeübte Monarchie, daß aber die Kräfte jener raſch 
wachen und ſchließlich fie ſich ſtärler erweiſe. Die Eroberung und Zerflörung 
Washingtons duch die Engländer brach den Troy der Amerilaner nicht, aber 
exbitterte fi. Der Glaube an die Unüberwindlichkeit der englifchen Marine erlitt 
in biefen Kriege ſtarke Stöße, die Spekulation Englands auf die Spaltungen 
der Union mißglüdte und die Hülfe der Indianer war nicht ausreichend. Über 
auch Amerika warb bes Krieges bald müde unb der Friede von Gent vom 
24. Dec. 1814 wurbe in Washington mit großem Iubel begrüßt. Im erſten 
Krieg hatte die Unton ihre Unabhängigkeit erftritten, in dieſem zweiten die Aner⸗ 
tennung ihrer nationalen Würde und die Achtung ihres Handels. 

Die Regierung Madiſons iſt noch bedeutend geworben durch feine entfchie- 
bene Abmahnung an Birginien, vie Geiftliden von Staats wegen zu befolden. 
Seine Denkſchrift für die religiöfe Freiheit und wider jede Staatöfirhe wirkte 
weientlih zur Ablehnung derartiger Anträge. Gegen den Wiverfprud ver Nen- 
englandsflanten, welche die Abnahme ihres Einflufjes fürdteten, wurde Lou iftana 
als Staat aufgenommen (1812). Der vritte Cenſus von 1810 zeigte wieber ein 
rafches Wahsthum der Union, Die Gefammtbenölferung wurbe auf 7,239,814 
Seelen gezählt, worunter 1,191,364 Sklaven. Wenn aud ver Krieg die Finanzen 
mehr angeftrengt und bie Schuld wieder vergrößert hatte, fo erholte ſich vie Union 
doch bald von biefen Nöthen. 

Der Union gebührt das Berbienft, daf fie zuerſt den Dey von Algier nötbigte, 
auf jebe Zributforderung für die Schiffahrt zu verzichten und die gefanugenen 
Amerikaner freizugeben (1815), Man fpürte, daß eine nene Weltmacht aufs 
geftanden jet. 

11. Die Staatsmänner Monroe (1817—1825), John Duincy Adams 
(1825—1829). In glücklichem Frieden entwidelte fi die Nation währen ber 
Regierung von James Monroe aus Virginten. Halb gezwungen, halb freiwillig 
trat Spanien feine Rechte auf Florida an bie Union ab. Bald darauf fam 
e8 auch zu jener berühmten Ausſprache der amerikaniſchen im Gegenſatz zu ber 
europaiſchen Politik (j. ven Artitel Monroe). Während pie europätihen Mächte 
damals das Princip der dynaſtiſchen Legitimität feierlich proflamirten und im Na⸗ 
men berfelben jede freiere Regung der europäiſchen Böller mit Gewalt unterdrückten, 
erflärte fi der amerilantihe PBräfldent unter dem Beifall der äffentlihen Mei⸗ 
nung ju Gunflen der von Spanien abgefallenen ſüdamerikaniſchen Republilaner, 
für das Recht der Bölker, iht Schidfal felbft zu beſtimmen und nene Republilen 











Nordamerikanifche Sreiſtaaten. 721 


zu gründen und gegen jede europätfche Einmiſchung vritter Mächte in die ameri⸗ 
Innijchen Angelegenheiten (2. Dec. 1823). Der 8Ojährige Jefferſon hatte dieſe 
Erklärung vorbereitet durch fein Gutachten über die Lage. „Die europätfhe Alltanz 
ber Kaiſer und der Könige," fo fchrieb der Stantsfelretär Adams im Auftrag bes 
Präfidenten, „nimmt als Grundlage der menſchlichen Geſellſchaft die ewige Un- 
testhänigkeit. Unfere Lehre beruht auf ber Grundlage der ewigen Gerechtigkeit. 
Die europälfchen Alltirten haben vie Erhebung ver ſpaniſchen Kolonien als Rebellion 
gegeu ben gefeglihen Souverän betradtet: wir betrachten fie als bie Zurädfor- 
derung eines angebornen natürlichen Rechtes.“ 

Indem die Union die Bildung neuer Repnbliten auf amerikaniſchem Boden 
in ihren Schutz nahm, fegte fie in Gemeinfhaft mit England der Heiligen Allianz 
Schranken und bewahrte die Freiheit der amerikaniſchen Welt. Aber fie konnte den 
füb- und centralamerilantfchen Völkern nicht die politiiche Faͤhigkeit des angelſäch⸗ 
fiſchen Stammes zur Selbfiregierung mittbeilen. 

Im Innern der Union drohte fort umd fort die Sklavenfrage die Gemein⸗ 
ſchaft der Süd⸗ und der Nordſtaaten zu fpalten. Die Aufnahme der neuen Staaten 
Indiana (1816) Miffiffippi (1817) Illinois (1818) und Alabama 
(1819) Hatte das Gleichgewicht der Sklavenſtaaten mit den Nichtſklavenſtaaten 
zwar nicht aufgehoben, aber in einiges Schwanken gebradt. Als die Aufnahme 
des neuen Staates Miffouri im Kongreß verhandelt warb, verlangten bie Nord» 
ſtaaten, daß demſelben die Sklaverei unterfagt werde, während bie Süpftanten ſich 
diefer Forderung, die auch ihren Stiavenbeflg bebrohle, Aufs äußerſte widerfegten, 
Durch die vermittelnde Bemühung des Kentudiers Henry Clay gelang damals 
ber fogenaunte Ansgleih von Miffouri: Miffouri wurde ohne Bedingung auf⸗ 
genommen, zugleih aber Maine, ein früherer Beftanbtheil von Maſſachuſets, 
als ſelbſtändiger Stant anerlannt und ausgefprochen, daß in allen Ländern nörd⸗ 
lid von 861/, Grad (mit Ausnahme der Theile von Mifjonri) die Sklaverei für 
alle Zeiten unterfagt werbe. (Mär; 1820.) 

Der vierte Cenſue von 1820 ergab wieder eine ftarle Dermehrung ber Vollks⸗ 
zahl. Die Geſammtſumme ver Bevöllerung betrug nun 9,637,976 Seelen, mo» 
zunter 7,741,610 Weiße, 358,538 freie farbige und 1,538,126 Sklaven. Die 
Zahl der Staaten war nuu 24, wozu noch zwei Territorien famen und ber Di⸗ 
Arift Columbia. Die Bermehrung im Norden war aber jehr viel bebeutenver 
als im Süben. 

Die Neuwahl eines Präfirenten (1828) war fehr beftritten. Anfangs fehlen 
Clay erhoben zu werden, aber bald drehte fi der Kampf vorzüglih um Andrew 
Iadfon aus Tenneflee, das Haupt der Demokraten und John Ouincy Adams, 
ven Sohn des frühern Präfidenten und anerlannten Staatsmanns, als Führer der 
Whigs geehrt. Keiner erlangte in dem Wahllonvent die abfolute Mehrheit. 
Das Repröfentantenhaus aber wählte nun Clay zum Präfidenten und das Haupt 
der fühftaatlihen Partei Calhoun zum Picepräfinenten. 

In diefe Zeit fällt der fogenannte Tarif von 1828, über vefien Schutzzölle 
fih mehrere Sudſtaaten lebhaft befhwerten. Die Abgeorbneten von Süplarolina 
verließen fogar ven Kongreß uud biefer Staat erllärte das Bundesgeſetz für 
nichtig. Diefe von Calhoun verfochtene Nullifilationstheorie, welche die Einheit 
im Princip aufhob und ein liberum Veto ver Einzelſtaaten einführte, fand im 
Süden befouders lebhaften Beifall, Offen wurbe bereit von ber Trennung ber 
Union geiprochen. Der greife Iefferfon glaubte ſchon die „Zobtenglode ver Union‘ 
zu hören, dann flach er an dem Feſttage ver Union 4. Juli 1826, nur eine 

Bluntf@li uns Brater, Dentſches Staats⸗Woörterbuch. XI. 46 


723 Nachtrag. 


Woche fpäter, als ihr Vorlämpfer Madiſon (28. Juni 1826). Merkwürdig genng 
iſt's, daß noch zwei andere Präfidenten Iohn Adams und Monroe (1831) an 
demſelben Unabhängigkeitötage geftorben find. 

12. Die Demolraten. Andrew Jackſon (1829—1837), Ban Bären 
(1837—1841). Mit dem „harten Ahorn‘ Iadjon betrat ein neues Element bie 
politifhe Bühne. Die bisherigen Präfinenten hatten alle ven höher gebildeten 
Kreifen der Geſellſchaft angehört und fi zuvor in mehrjährigem Staatsdienſte 
als Gefandte, Minifter ausgezeihnet. Auch Iefferfon war zwar Demokrat von 
Grundſatz, aber feine gelehrte Bildung gab ihm doch in der Geſellſchaft ein vor⸗ 
nehmes Anſehen. Jackſon war aus urfprünglicderem Bolksftoff gebilvet. Bon iri⸗ 
ſcher Abkunft hatte er erft als Sattlergefell fein Brod verdient, war dann Bauer unb 
Sklavenzüchter in Tenneffee geworben; in dem englifchen Kriege von 1812 Bette 
er fig durch Kühnheit und Lift, aber auch durch wilde Grauſamkeit hervorgethan. 
Er war ein männliher Charakter, von brennendem Ehrgeiz getrieben, mit durch⸗ 
bringendem Scharfblid, ein Boltsführer erſten Nanges, rückfichtslos in den Mit- 
teln, groß in ben Zielen. Sein Anhang ſchwärmte für ihn. Wie ein Trium- 
phator 309 der General Iadfon, umjubelt von nahbrängenden Vollshaufen, der 
„Pöbellönig”, wie ihn die Gegner nannten, in das weiße Haus ein (4. März 
1829). Sofort fegte er die Beamten aus, die fi unter den vorigen Regierungen 
befeftigt hatten und beſetzte die Stellen mit feinen Freunden. Die frübern Brä- 
fiventen hatten faft gar nicht geändert. Der ſchroffe Wechfel erfchien Bielen wie eine 
Barbarei gegen bie Famillen, wie Undankbarkeit gegen treue Dienfte, wie die Zer- 
flörung der Staatsverwaltung, wie die Aufrihtung eines perfünlichen Regiments. 
Jachſon vertheipigte feine Mafregel: „Das Berbleiben verfelben Perfon im dem⸗ 
felben Dienfte bat nothwendig ein läffiges Weſen zur Folge, wodurch dann mehr 
verforen als mittelft der Brauchbarkeit und erlangten Geſchäftskenntniß gewonnen 
wird. Wer fein Amt verliert, erlangt wieder dieſelben Mittel, feinen Lehensunter- 
balt zu gewinnen, wie die Millionen, welche niemals ein Amt befommen. Die 
Meinung, das Amt fei ein Befitzthum, darf nicht aufkommen.“ 

Auch in feinem Kabinet nahm Iadfon ein paar Mal durchgreifende Aende⸗ 
rungen vor, Einzelne Freunde hielt er, wenn gleidh fie von den gebildeten Klaffen 
ansgefchloffen wurden. Seine nahen Beziehungen zu einigen anrüdhigen Frauen 
waren nit ohne Einfluß auf die Staatsleitung und erinnerten zum Thell an bie 
Maitreſſenwirthſchaft an europätfhen Höfen. Uber in ber Haupfſache griff er 
felber ein und durch. Die Gefängnißreform begünftigte er und bewirkte die Auf« 
hebung der Schuldhaft. 

Der Cenſus von 1830 ergab eine Gefammibenälferung von 12,866,020 
Seelen, unter denen 10,537,371 Weiße, freie Barbige 819,599, Sklaven 2,009,048. 
Die Bevölterung ſüdlich und nörbiih vom Potomac näherte fih aber ſchon dem 
Berhältniß von 10 : 15. Ebenſo zeigte fih eine Zunahme des Vermögens und 
ber Kultur in den freien Staaten. 

Bevor Iadfon feinen großen Kampf wider die Vereinigte Stantenbant unter 
nahm, überwand er den Verſuch ber Gädftanten, eine ſüdliche Konfdberatien zu 
gründen und fi von dem Norben zu trennen, an beren Spige Calho un mit 
Säpd-Earolina getreten war. Damals ſchon drohte ver Bürgerkrieg. Der Prüf 
dent erflärte: „Gewaltſame Trennung {ft Hochverrath” (Proflamation - vom 
10. Dec. 1832) und gab feinen Eutfhluß fund, den Kampf für vie Einheit ver 
Unton anfzunehmen. „An dem Ausgang besfelben hängt das Schiäfal aller freien 
Inftitutionen auf der ganzen Erde.“ Galhoun hatte die Kedheit, im Senat zn 














N 


Nordamerikaniſche Sreiſtaaten. 128 


erſcheinen, und de für „das Veto“ der Staaten zu werben. Ihm entgegnete 
Daniel Webfter: „Die Unton ift fein Vertrag zwiſchen unabhängigen ſonve⸗ 
sänen Staaten, fondern durch das ameritantiche Bolt begründet, das eime Regie⸗ 
rung wollte, Daher bat kein einzelner Staat das Recht, viefelbe zu Löfen.” 
Wieder vermittelte Eiay. Der Präfivent fefber ließ fich Am einigen Sen 
niffen herbei. Es kam zu einem Kommpromißtarif. Der Widerfiand der „Nich-⸗ 
tiger” hatte doch Manches erreicht, nnd biefer theilweiſe Erfolg ermuthigte zu neuen 
Trennungeverfuchen. Jackſon bereute fpäter, daß er nicht ſchaͤrfer eingeſchritten jet. 

Um fo entſchloffener griff er nun die Bank an. Um keinen Preis wollte er 
die Erneuerung ihrer Privilegien zugeftchen. Er betrachtete die Macht eines fo 
großen Gelpinftitutes für unverträglih mit ber Integrität der Staatsbehörden and 
ber bürgerlihen Freiheit. Er fürdtete, daß der Kongreß von ber Bank beſtochen 
und das Gemeinweſen ver Korrnption zur Beute werde. Obwohl der Kongreß feine 
Baftimmung verweigert hatte und feine Miniſter abmahnten, nahm ex dennsch ber 
Bank die Selber * welche vom Staate derſelben anvertraut worden wares. Das 
ſei, ſagte er, nothwendig zur Erhaltung der Volkamoral, ver Preßfreiheit und der 
Reinheit der Wahlen. Der Senat klagte laut über verfafſungswidrige Willkür bes 
Präfidenten. Aber diefer fegte feinen Willen durch trog allen Geſchreies uud ber 
Senat felber wurbe fpäter gendthigt, feine für venfelben beleidigende Reſolution 
(1834) im Protokoll zn fixeihen. (1837.) Die Depofiten wurden weggenommen, 
und das Bankprivilegium, das am 3. März 1836 zu Ende ging, nicht wieber 
erneuert. Die vereinigte Stantenbant wandelte fi nun in eine Bark für Penn⸗ 
feloanien um. Bald zeigte fih’s, daß Iohufons Scharfblid richtig die Saforveng 
der Banf erfonnt hatte, während ihre äffentlichen Berichte noch ein koloffales 
Aittivovermögen behauptet hatten nnd ſtarke Dividenden vertbeilt waren. Dex 

„Banklönig” Bionle hatte fich bereichert. Die Bank ſelbſt hatte —— 
Geſchaſi⸗ betrieben und war arm geworden. Trotz der großen Verluſte und der 
momentanen Entwerthung aller Güter, welche dieſer Rieſenkampf im Gefolge hatte, 
nahm die Maſſe des —* Partei für ſeinen Führer. Er war, ungeachtet er zuvor 
verlangt hatte, die Praͤſidenten ſollen nur auf eine Amtsdaner gewählt werben und 
fi wählen laſſen, während dieſes Kmpfes mit größerer Mehrheit, als bei ber 

erften Wahl wiehernm gewählt worben. 

Augen machte ſich die Energie des außergewöhnlichen Mannes 
ſpürbar. Als die franzöflfge Regierung mit der Erfüllung ihrer vertrogemäßigen 
Berpflihtungen zögerte, brohte er, fi durch Repreflalien (Wegnahme franzd- 
fiiher Si) bezahlt zu machen, und erreichte, indem er bie framzöfiiche Eitelkeit, 
der er feine Schläge verfeßt Hatte, wieder Ming fixeiielte, feinen Zweck (1836). 
Mit Marokle {bloß er einen Vertrag, welcher ein humaneres Kriege» und See 
recht einleitete (1837). 

Wieder wurben zwei neue Weflftanten Michigan und Urlanjae, trog 
ber revolutionären Form ihrer Entſtehung anerlannt (Iuni 1836) und bie Los⸗ 
fagung ber neuen Kolonie Teras durch angeljächfiiche Anfievler von Mexiko 
vorbereitet. 

In der letzten Biertelftumbe feiner Amtsdauer unterzeichnete Jackſon noch eine 
Botſchaft an den Kongreß, in welder er vemfelben anzeigte, daß er kraft feiner 
Machtvollkommenheit alle Regterungelafien angewiefen habe, nur Metallgeld und 
feine Bauknoten an Zahlung anzunehmen. Zu feiner Freude konnte er das Amt 
an feinen Ückling Ban Bären übergeben. Dan kehrte ex heim auf fein But, 


+ 


72 Nadıtrag. 
ohne Vermögen, aber mit bem Bewußtſein, Großes vollbracht zu haben. Seit 
Jefferfon war er der populärfte Präfident geweſen. 

Ban Büren war ber erfle Präfivent, der nach dem Befreiungefriege geboren 
war. Berjönlich gehörte ex dem Staate New⸗HYork an. Seine Regierung {fl ber 
Nachklang der Jackſonſchen Verwaltung. Der Kampf mit den Banken wurde fort- 
geſetzt. Die Union machte fih von venfelben durch Gründung eines Unterſchat⸗ 
amtes in ihrer Gelbverwaltung unabhängig. Die Banken ftellten zu großem Theile 
Ihre Zahlungen ein, und bie Gelvverhältuiffe waren in arger Zerrüttung. De 
gegen begann nun bie Dampfſchiffahrt zwiſchen Europa und Amerika ihre 
beſchleunigten Fahrten und man fing an, Telegraphen zu errichten. Die Ben 
haltniſſe zu Kanada verurfachten mancherlei Reibung, aber keinen ernflen Streit 
mit England. Im Innern murbe bie Spannung zwifhen Süd und Norb wieber 
größer. Es bildete ſich eine Partei der Abolitioniften, welche bie Sklaverei 
gänzlich beſeitigen wollten; und vie Südſtaaten brohten mit Treanung der Union 
und Bürgerkrieg, wenn ihre Herrenrechte nicht geachtet bleiben. Der fechste Cenſus 
zeigte nenen Fortſchritt, vorzüglich der nördlichen Bevölkerung. Die Geſammtzahl 
bee Bewohner erhöhte ſich auf 17,069,453 Perfonen, worunter 14,196,717 Weiße, 
886,343 freie Farbige und 2,487,858 Sklaven. Die Einfuhr flieg anf 132,085,946 
Dollars und die Ausfuhr auf 107,141,519 Dollars. 

13. Die Whigs H. Harrifon und John Tyler (1841—1845), Die 
Demokraten Bolt (1845—1849), 8. Taylor unn M. Fillmore 
(1849-1853). Bei der nenen Präfiventenwahl ftegte die Partei ver Whige 
Die Verwirrung der Gelbverhältnifie wurbe den Demokraten zur Laft gelegt. Aber 
bie bedeutendſten Stantsmänner der Whigs Clay und Webſter wurden mit 
auf den Schild erhoben, fonvern der alte General Harrifon, ver ſchon einen 
Monat nad feiner Einſetzung als Präfinent flarh, 4. April 1841. Ihn erſetzte 
der Bicepräfient John Tyler. Ihn Hatten bie Whigs erhoben, aber er machte 
aun eine entfchlenene Wenbung zu ben Demokraten. Den Anträgen auf eine neue 
Bank der Union trat er mit feinem Beto entgegen, verbrängte bie Whigs ans 
dem Kabinet und nahm zuletzt Calhoun in vasfelbe auf. Seine biplomatifcken 
Beziehungen mit dem Ausland waren glücktich. Mit England kam der Bertrag 
über die verbotene Sklavenzufuhr aus Afrika, mit China ein Hanbelövertrag zu 
Stande. Nur mit Merito bereitete fi eine Verwicklung vor durch die Begün⸗ 
fligung der Aufnahme von Texas als neuen Staates in die Union. Die Süb⸗ 
flanten voraus drangen barauf. Unter bem Feldgeſchrei Texas und Oregon 
fiegten wieder die Demokraten. James 8. Poll aus Tenneflee wurde gegen 
Clay gewählt. Mit England verſtand man fi endlich über bie Grenze im 
Beften (1846). In Folge diefes Vertrages. wurbe das neue Territorium Oregon 
bis zum 49. Grad als Untonsland anerkannt, und dabei ausbrüriidh beſtimmt, 
daß auf demfelben feine Sklaverei eingeführt werben dürfe. Dagegen kam es wegen 
Teras zum Kriege mit der Repablit Mexiko. Meberall zeigte ſich bie Ueberle⸗ 
genbeit der Angelſachſen unter, ven Gmeralen Taylor und Scott über die 
Romanen unter Santa Anna. Sogar die Hauptſtadt Merilo warb erobert. 
Aber die Sieger fanden es doch wicht geratben, das eroberte Reich mit Jeinem 
Tatholifchen Klerns und feiner ſpaniſchen Verwilderung der Unten einzuverleiben. 
Sie begnrügten ſich außer der Anerkennung des ſchon 1845 aufgenommenen Staates 
Teras mit der Abtretung von Neu-Mexiko, das einftweilen als Territorium 
ber Union einverleißt warb (1846) and ber Wegnahme von Raliforuien, 
deſſen Goldreichthum ſich erſt jet erſchloß. Als neue Staaten waren hinzugekom⸗ 











F 


| N 


Nordamerikaniſche Sreiſtaaten. aass 


men im Sübdoſten das blumenreiche Florida, und im Rordweſten das winter⸗ 
lihe Iowa (3. März 1845) und wieder im Often Wisconfin (1846). 

Dei der neuem Präfidentenwahl fiegte der Kanbivat der Whigs, der General 
Zachary Taylor Über die in fi gefpaltenen Demokraten. Über der General 
gehörte Doch nur wenig zu der Partei. Er war zugleih als Sklavenbeſitzer mit 
den ſüdlichen Interefien und Parteiführern verbunden. Während ber kurzen Zeit 
feines Umtes wirkte er verföhnlig im Sinne ver Erhaltung der Union. Unter 
ihm wurde die fogenannte Omnibns- Bill von Elan in der Abficht einge 
bracht, wie Gegenfäge auszugleichen. Ste kam aber erft nad feinem Tode (9. Juli 
1850) zu Stande und nur mit ſtarken Aenderungen (Herbfi 1850). Kalifor- 
nten wurde als ein Staat ohne Sklaverei aufgenommen. Mit Teras ‚verfläns 
digte man ſich über die Grenzen und die Entſchädigungen. Neu-Merite und 
Utah wurden als Territorien aufgenommen und ihnen geftattet, bei der Staaten⸗ 
bildung fich felber Aber Verbot oder Zulaſſung der Sklaverei zu entſcheiden. Zur 
Beruhigung der SMavenhalter wurbe ein Geſetz erlaflen, welches die nachjagenden 
Gigenthämer berechtigte, vie entflohenen Sklaven auch in den freien Staaten ge 
richtlich zu verfolgen. Dieſes Einfangungsgefeg wurbe freilich von den Freunden 
der Freiheit als eine Schmad empfunden und in der Praris zu umgeben geſucht. 
Aber die Whigs waren großentheild damit einverflanden und die Demokraten 
waren ohnehin mit den fühlihen Sklavenhaltern alliirt. Beiden Parteien zum 
Trotz entfland daher nun eine nene Bartei, welche rückſichtslos: „Freie Leute, 
freie Arbeit, freies Land" als Wahlſpruch auf ihre Sahne fchrieb. 

Inzwiſchen war ver Bicepräfident Millard Fillmore, ein früherer Ab⸗ 
vofat aus New⸗PYork, als Praͤſident eingetreten. Auch er, obwohl als Whig ge. 
wählt, neigte ſich doch in der neuen Stellung ven Politikern der Süpfinaten zu, 
obwohl ex Wehfter als Stantsjefretär behlelt und bie Verbindung mit ben Whigs 
zn bewahren ſuchte. Es war das bie Zeit der Kompromißpolitil, welche unverein⸗ 
bare Gegenfäge zu vermitteln unternahm, ſchließlich ohne Erfolg. Seine Wieder⸗ 
wahl fonnte er weber bei den Whigs noch bei den Demokraten durchſetzen. Auch 
der Kandidat jener, ber General Scott, mußte dem Kandidaten viefer, Fran! 
lin Pierce ans Neu-Hampfhire weihen. Im felben Jahre 1852 farben 
pte beiden bedeutendſten Stantsmänner der Whigs Henry Clah, ber eigentliche 
Bater der Kompromiffe, und Daniel Webfter. 

Der neue Cenſus von 1850 ergab eine Vermehrung ber Bevolkerung auf 
28,191,876 Seelen, unter denen 424,390 freie Farbige und 3,200,600 SHaven. 
Auch das Ländergebiet war ſeit 1840 von 2,055,168 auf 3,280,575 Quadrat⸗ 
meilen erweitert worben. Die Zunahme der Stadt Sant Francisco in dem 
gehuciäen Kaltfornien' hatte bie Bedeutung eines neuen Knotenpunktes für den 

eltverkehr, und zwar im Weften am ftillen Meer wie New⸗-York im. Ofen und 
an dem atlantiiden Ocean. Nach und nach wurden VBerbinbungen erbfinet durch 
den weiten Kontinent hindurch von Meer zu Meer, und Beziehungen angelnüpft 
mit Oſtaſien, wie zuvor mit Europa, Die großartige Weltfielung der Unten 
wurbe mehr und mehr Begriffen und thatfräftig benutzi. | 

Den Amerilanern zuerft gelang es, die ſcheue Ahfchlteßung Japans zu Ibfen 
mb ohne Krieg durch die Energie der Unterhanplung (1858) die japanifchen Hl» 
fen dem Welwerkehr zu öffnen. Ein amerikaniſches Geſchwader unter Kommobore 
Berry Hatte das bewirkt. Dann erft famen bie enropälfchen Staaten nad. 

Kit fo gläklich waren die Verſuche, die Infel Kuba für die Unlon zu 
erwerben. Die völterrechtöwinrigen Ftltöuftierumternehmungen, vom Süben aus U 





⸗ 


FR 


4 726 Badtrag. 


Intel mit Gewalt zu nehmen, mißlangen unb die Berfude ber Unionsregierung, 
võllerrechtliche Berhaubiungen Spanien zur Abtretung zu befiinmen, blicken 

falls ohne Erfolg. England und Frankreich arbeiteten entgegen. Die Union 
fih aber nicht von ben europälfchen Mächten bewegen, den 


Ken Bartei in Maerita als geführfic für ben Briebn und für ben BeRoud bes 
Vellerrechts angefehen wurbe. 
14. Borbereitung zur Trennnng der linion. Franklin Pierce 
—— * Buchanan 1857—1861. Der nene Freund 
Sonveränetät, nftigte, zunächft auf bie Rompronifi von 1850 
* die Sicherheit und die Wünſche der Sklavenhalter. Die ſüdlichen Staatt- 
manner hatten Aberhaupt das Gefühl, die Union zu regieren. Nur unter dieſer 


ã 


gefihaffen, die Zulunft der Civiliſation beruhe auf der Ausbreitung dieſer Sklaverei 
über ven Erdball. Sie bilde die Grundſchwelle jeder Geſellſchaft. 

In dieſem Intereſſe wurden auch die Freibenterzüge des fogenannten Generals 
Walker nad Kuba und nad Nicaragua begänftigt. Der Süden ſuchte ih durch 
Dtitelamerifa zu verftärten, freilich one nachhaltigen Erfolg. Glüdliger war bie 
Partei ver Skllavenherrn bei den Kongreßverhandlungen über die Bildung von zwei 
neuen Territorien Kanfas, weſtlich von Miſſonri und Nebrasta werlih vom 
Jowa (1854). Der Miffourivergleid von 1820, weldyer ver Sklaverei eine be⸗ 
ſtimmte Grenze zog, wurde als nicht mehr wirkſam erklärt and ven neuen Terri⸗ 
torten and Staaten das Recht zugeſtanden, frei zwiſchen ven beiden Primcipien 
der Eflaverei oder ber freien Arbeit zu wählen. Der Kampf darüber im Kongreß 
war war bein und zähe. Aber nody wilder tobte er in Kanfas ſelbſt, wo bie benach⸗ 

barten Miffourter zu Gunften ver Sklaverei fi einmiſchten. Brand und Mord 

waren au ber Tagesorunung und die Verhandlungen und Wahlen wurden durch 

blutige Händel geflört und durch ſchmähliche Fälſchungen entftellt. Beine Parteien 

gelangten an ven Kongreß und verlangten Anerkennung je ihrer Berfaflung. Eine 

—— bes Kongreſſes durch eine Abordnung brachte Licht, aber die Aufnahme 
Staates Kanſas verzögerte ſich doch bis 1858. 

Im dieſer Zeit bildete fih die neue Partei der Know⸗nothing (Nichts⸗ 
— aus, der amerikaniſchen Nativiſten, hauptſächlich im Gegenſatze zu den zahl⸗ 

reich einwandernden Iclänbern und dem Umſichgreifen ber katholiſchen 
Zwiſchen dieſer Partei und ihren Gegnern gab es manche Rauferet. Aber 
verlor biefe em: der angelfädsfifch-proteftantifchen Raſſe fih wieder. Man ante 
gewahr, daß fie ihren freien Grundprincipien widerſpreche. 

Die auswärtigen Beziehungen ver Union waren günſtig. Nur im Süpen 
beunruhigte Mertlo, wo die napoleoniſchen Plane, die lateiniſche Raffe zu 
einigen unb dem germaniichen Norden enigegenzujegen, ihre erſten Saaten aus 
firenten. Dagegen unterhielt die Union mit Rußland die freundlichſte —— 
Die Beſchlüſſe des Pariſer Kongreſſes über das Seerecht fanden in Amerika nur 
theilweiſe Billigung. Das Berbot der Ropere wollte die Union nur dann gut 
beißen, wenn gleichzeitig das Unrecht der Seebeute überhaupt aufgehoben werde 








Nordamerikaniſche Sreiſtaaten. mn 


Zu Ganften der freien Schiffahrt nöthigte die Union die Krone Dänemark, ven 
Sundzoll aufzugeben und ablöfen zu laſſen. 

In der nenen Wahlſchlacht fegten nochmals die Demokraten über die Re» 
publilauer. Dieſe hatten zu Philnvelphia als Brogramın bie Beſchränkung ber 
Stiaverei, einen freien Stant Kanjas, eine Eifenbahn zum ftillen Ocean, Sorge 
der Bundesgewalt für die gemeine Wohlfahrt und als Kandidaten John C. Fre⸗ 
mont aus Kalifornien; jene dagegen zu Cincinnati als Programm Achtung ber 
einzelſtaatlichen Selbftänpigkeit, Ueberlaflen der Stlavenfrage an bie Einzelftanten, 
frete Schiffahrt und Freihandel, Erwerb von Mittelamerils und al Kandidaten 
ven Rechtsgelehrten James Buchanan aus Pennfglvanien proklamirt. Der 
Lebtere wurbe gewählt. 

‚Die ohnehin ſtarken Leidenſchaften ber Barteien in der Sklavenfrage wurben 
durch einige Vorfälle heftig gereizt. Als der Senator Charles Sumner aus 
Maſſachuſets im Senat eine fulminante Rede wider die Sklaverei und „bas Ver⸗ 
breden gegen Kanſas“ gehalten hatte (Mai 1856), wurde er von einem Mitglied 
des Repräjentantenhaufes Preflon S. Brooks ans Süd⸗Karolina in dem dffent- 

Saal der Berfammlung mit einem Stod zu Boden geſchlagen. Diefe ver- 
brecheriſche Gewaltihat wurde nur mit einer Buße beftraft, und der Chäter in 
feiner Heimat wie ein ritterlicher Held gefeiert und wieber gewählt. Biel bedenk⸗ 
Uder noch war ein Urtheil des Obergerichte (März 1857), welches geradezu Kanfas 
als Sklavenſtaat erklärte, und den Grundſatz ausſprach, jedes Territorium könne 
als freies oder als Sklavenſtaat in die Unton eintreten und bie Herren mögen , 
überall und immer ihr Eigenthum an den Sklaven behaupten, Schwarze werben 
niemals Untonsbürger. Das Urtheil, welches mit Einer Stimme Mehrheit ges 
faßt wurde, erklaͤrte au das Mifjonri-Kompromiß für ungältig. In den Skla⸗ 
venſtaaten wurbe bie Lynch⸗Juſtiz wider bie Mbolitioniften geübt. Sie wurben 
betheert und befebert, nicht felten zu Tode gehetzt ober aufgehängt. Die Führer 
verlangten bereits Aufhebung des Verbots der Sflavenzufuhr aus Afrile und ber 
gänftigten befien Umgehung. Auf der andern Seite fchilverten eine Menge volks⸗ 
thümliher Schriften das Verderben und die Schmadh ber Sklaverei mit grellen 
Farben. Ein frommer Bollsmaun John Brown, ein Ablömmling eines jener 
pnritanifchen Pilger, vie zuerft nad Neuenglanb gekommen waren, wagte es, vom 
göttlichen Geiſte getrieben, mit bewaffneter Hand für die Befreiung der Sklaven 
zu wirken, Er wurde in Birginien hingerichtet (Dec. 1859). Aber ver Tob bes 
Märtyrers war eine Saat ber freiheit. Auf beiden Seiten ſah man einen bal- 
bigen Weltkampf voraus für die freie ober die Stlavenarbeit. 

Die Vertreibung der Mormonen-Gelte aus Ilionis nad Utah und an 
ven Salzfee umb der ſchwach geführte Krieg, durch welchen fie genöthigt werben 
follten, auf die Bielweiberei zu verzichten und ſich den Gefegen der Union zu fü- 
gen, war nur eine jeltfame Epiſode (1857) in dem größern Drama bes nahenven 


Bürgerkriegs. 

Die große Geld⸗ und Handelstrifis des Iahres 1857 erſchütterte zwar nicht 
mehr das Schagamt ber Union felber, aber brachte wie ein verheerender Orkan 
eine große Anzahl von Banken und Hanvelsfirmen zu Kal und wirkte auf alle 
Krevitverhätinifie ähmend, und erniebrigte alle Werthe. Doch exholte fi die Ge⸗ 
ſchaͤftewelt bald wieber. 

Der Präfident Buchanan war ein ſchwacher Mann, aber ganz unter bem 
beherrſchenden Einfluß der fünftantlihen Stantsmänner. In feinen Minifterium 
faßen mehrere Männer, welche enticgloffen waren, ihre amtliche Stellung zu wiß 


2128 Nachtrag. 


brauchen, um den Sudſtaaten bie Trennung von ber Union zu erleichtern, Korrup⸗ 
tion, Betrug und Verrath hatten ſich im dem oberften Kreifen eingeniſtet. Der 
Kriegsminifter insbeſondere ſtand völlig im Dienfte der ſüdſtaatlichen Sonber- 
bündler. Die nächfte Wahlſchlacht follte entfcheiden. Die beiven großen Parteien 
ſuchten dießmal ihre Kandidaten in dem Staate Illinois. Bei mehreren früheren 
Bolkskämpfen ſchon waren den erften und angefehenften Barteihäuptern und Staate 
mannern weniger belannte und daher auch weniger verläumbete und angefochtene 
Männer zweiten Ranges vorgezogen werden. So galt in ber republikani⸗ 
hen Partei ver Senator Seward aus New-ork ald der Hauptführer. ber 
nicht er, fonden Abraham Lincoln, geboren in Kentudy, aber fpäter ange 
fievelt in Illinois, der fih aus einem Bauern- und Floßknecht zu einem ange 
fehenen Advokaten, Redner und Staatsmann emporgearbeitet hatte, ein Daun, 
ber feine höhere Geiftesbildung aus der Bibel und Shakesſpeare und feine poli- 
tiſche Bildung aus dem Studium der amerilanifhen Prefie und aus dem Leben 
berholte, wurde ſchließlich auf dem Konvente zu Chicago als Kandidat vorgezogen. 
Chenſo wagte es die demokratiſche Partei nicht, das begabtefte Haupt der 
füdftantlihen Junkerſchaft Jofferſon Davis auf den Schild zu erheben, ſon⸗ 
dern ſchlug auf dem Konvent zu Baltimore den „Leinen Rieſen bes Weſtens“ 
Stephan U. Douglas, den Senator aus Illinoie vor, der ebenfalls in ge 
drüdter Stellung als Schulmeifter feine Laufbahn begonuen, und durch Fleiß und 
Talent aufgeftiegen war. Schroffer als nie zuvor ſchieden fi bei der Wahl bie 
freien Nord» und die ſüdlichen Sklavenſtaaten. Lincoln wurbe gewählt. Das war 
das Zeichen zur Tosfagung von der Union. 

In dem Genfus von 1860 hatte die Union bereits eine Gefammtbenöflerung 
von .31,443,322 Perfonen erreicht, die Indianer nicht gerechnet, welche auf unge 
führ 300,000 Seelen gejhägt wurden. Die Weißen zählten 26,973,848, bie 
freien Sarbigen 487,970 nnd die Sklaven 3,958,760. Wie flarl die Einwan⸗ 
berung gewejen war, ergab fi daraus, daß über 4 Millionen Welke nicht im 
Amerika geboren waren. Es wurben damals 34 Staaten und 7 Territorien ge 
rechnet. Als Staaten waren binzugelommen Minnefota, wo fi viele Dentfche 
anftedelten (1858), Oregon (1859) und enblih aud ber freie Staat Kanſas, 
befien Aufnahme der Senat erft anerlannte (Ian. 1861), nachdem Davis und 
andere Senatoren aus dem Süden ausgeſchieden waren. ALS Territorium war 
auch Revada von Utah getrennt uub georbnet worden. 

Die Wahl Lincolns wurde von feinen Gegnern in Süd⸗Karolina mit 
Jubel begrüßt. Endlich war der lange erjehnte Augenblid gelommen, um vie Los 
fogung von der Union zu erklären, und die Konföderation des Südens zu 
gründen. Sofort wurden die Senatoren von Süd⸗Karolina zurüdberufen und ver 
Wustritt des Staates aus der Union erklärt (Dec. 1860). Georgien, Alabama, 
Florida, Miffiffippi, Loniſiana, Texas und Arkanſas folgten dem 
Beiſpiel und nad der Einnahme des Forts Sumter traten and Nord⸗Karo⸗ 
lina, Birginien und Teneffee dem Sonberbunde bei. Sie nannten ſich 
bie Konföberirten Staaten von Amerila. Jefferfon Davis ans 
Miſſifftppi wurde zum Präfidenten gewählt (Febr. 1861), Alexander H. Ste- 
phens aus Georgia zum Bicepräfiventen. Die Konföderation war beſſer als bie 
Union auf den Krieg vorbereitet, aber fie hoffte noch, im Frieden ſcheiden zu Bu⸗ 
um. Der Bräfinent Budanan felber hatte zwar die Fortdauer ber Union als 
nöthig aber zugleih erflärt, daß er nicht berechtigt fei, vie ſcheidenden Staaten 
zum Bleiben zu zwingen. Das aber war nicht die Meinung ber Republilaner. 





Nordamerikaniſche Sreiflaaten. 729 


15. Dee Bürgerkrieg und Lincoln 1861—1865. Nur durch eine 
safe und heimliche Reiſe nach Washington war der neue Präfident den Mör⸗ 
dern entgangen, bie ihn unterwegs hatten befeitigen wollen. Seine Antrittsrede 
noch war verſöhnlich. Zwar erflärte er feinen feften Entihluß, die Union und 
ihre Geſetze zu ſchützen, und beftritt jede Lostrennung eines oder mehrerer Staaten 
als verfafjungswidrig und nicht zu dulden. Aber dem Bürgerfriege wollte er aus⸗ 
weichen, wo immer möglich, und verfprady, die Sklaverei, wo fie gefetlich beftehe, 
nicht anzutaften. Inzwifchen rief er die abſichtlich in ferne Gewäfler verfandten 
Bundesſchiffe zuräd und räftete fi zur Bertheibigung ber Bundesfeflungen. Se⸗ 
warb erhielt das Minifterium des Auswärtigen. 

Nachdem aber die Konföveration das Fort Sumter mit Gewalt eingenommen 
(14. April 1861), rief der Präfident 75,000 Mann Milizen unter die Waffen 
and erfiärte alle Häfen des Suüdbundes in Blokadezuſtand. Die raſche Neutra- 
Hitätserflärung von England und Frankreich erwedte den Verdacht, daß bie euro- 
paiſchen Mächte die Spaltung der Union begünfligen. Der Kongreß votirte da⸗ 
raufhin die Berufung von 500,000 Dann und gab einen Krevit von 500 
Millionen Dollars. 

Das erfte Kriegsjahr war für die Unton nicht glücklich. Wurben and) ein- 
zekne Vortheile erreiht, fo fiegte noch das Heer des Sonderbundes unter Beau⸗ 
regard über bie Untonsarmee in ber Schlacht bei Manafias Junction (21. Juli). 
Ueberdem nahm England in Folge der Mißachtung feiner Flagge dur Gefangen- 
nahme des fünftaatlihen Gefandten auf einem engliſchen Poſtſchiff (Trent-Affaire) 
eine drohende Haltung an. Die übrigen europälihen Mächte billigten die enge 
Uſche Forderung von Genugtinung und die Union geftand viefelbe zu. 
(Dec. 1861.) 

Auf beiden Seiten entwidelte fi) eine ungeheure Energie. Der Unions⸗Kon⸗ 

machte einen weitern Schritt zur Befreiung der Sklaven, indem er ben 
Staaten, welde vie Sklaven freilteßen, eine Entſchädigung verſprach (März 1861), 
Es wurde eine neue Artillerie gefchaffen. Zum erften Male erſchienen Panzerjchiffe 
im Kampf (Merrimac und Monitor. Der alte Oeneral Scott warb burd 
DM’Elellan erfegt. Die Unionsarmee näherte ſich ſiegreich Richmond, der Hauptſtadt 
bes Sonderbunds; aber vor Richmond ward ihr der Sieg wieder entwunben. Der 
Feldzug von 1862 ging wieder im Ganzen nicht glädlih für bie Union aus, 
Washington felber war momentan bedroht. Auch Burnfide, der Nachfolger 
M'Clellans im Oberbefehl, vermochte nicht, das Uebergewicht des Nordens zu 
behaupten. Bei Frederiksburg (13. Dec.) wurde er geſchlagen. Aber noch weniger 
war der Sübbund ſtark genug, die Union zu bezwingen. Der Riefenlampf dauerte 
fort und verſchlang furdtbare Opfer von Menſchen und Gütern. 

Der Präfivent Lincoln eröffnete das Jahr 1863 mit ber berühmten Prokla⸗ 
matlon, durch welche er alle bisherigen Sklaven in den aufftänbijchen Staaten für 
frei ertlärte. Für Burnfive war Hooler und wurde fpäter Meade zum Ober⸗ 
general ernannt. Jede Vermittlung der enropälfhen Mächte wurde abgelehut, 
England verantwortlih gemacht für die Begünſtigung ber ſüdſtaatlichen Kaperei, 
vie Unternehmung Frankreichs gegen Mexika rüdhaltlos gemißbilligt. Das Ge- 
fühl des endlichen Stege war im Norden immer mächtig und trieb zu immer 
größeren Anftrengungen. 

Über auch der Sonberkunb fpannte bie legten Kräfte an. Der Präflvent 
Davis berief alle Männer von 18 bis 40 Jahren unter die Waffen. Der Son- 
derbund Hatte ausgezeichnete Obergenerale, voraus Jackſon, dann nad befien 


⸗ 


x. 


730 Nachtrag. 


Tode Lee. As die Südlichen gefangene Reger wieder zu Sklaven machten, drohte 
Lincoln mit der Repreflalie, dann eben fo viele gefangene Süblänber zur Zwangs⸗ 
arbeit amzubalten (Juli 1830), Immerhin machte die Union in dieſem Jahre 
große Fortſchritte. Die Macht des Sonverbunds mwurbe in engere Grenzen ein- 
geſchloſſen. Seine finanziellen Kräfte maren bereits erſchöpft. Verſuche der bemo- 
tratifhen Partei, eine Bermittlung einzuleiten, wurben von bem Kongreß zurückge⸗ 
wiefen. Dagegen verſprach Lincoln den Bewohnern der Sübdſtaaten, bie der Union 
fih unterwärfen, Amneſtie, die höheren Milttärführer und Beamten ausgenommen. 
Im Norden wurden 1863 wieder 300,000 Mann, und aufangs 1864 
200,000, im Sommer 1864 nochmals 500,000. und im December wieder 
300,000 Mann ausgehoben. Der folgenve Felbdzug von 1864 nähete bie 
Entſcheidung. 

Der Öeneral Grant war zum Oberfeldherrn ernannt worden. Ihm gelang 
es nad) langen ſchweren Kämpfen mit Lee fich zwifchen Richmond umb Petersburg 
feftzufegen, und fogar im Winter feine Stellungen zu behaupten. Tiefer im 
Süben hatte General Sherman glänzende Erfolge. Der kühne Zug desſelben 
von Atlanta durch Georgien nach Savannah beweist bie große militärifche Tüch- 
tigteit feines Heeres. Die Union hatte eine Flotte von nahezu 700 Fahrzengen 
mit mehr als 4600 Geſchützen geſchaffen. Zur See war ihre Herrſchaft entſchie⸗ 
ben; und nur einige verwegene Kreuzer der Sübftanten beunrubigten ben Handel 
zerftörten eine Auzahl friedlicher Handelsſchiffe. Die Staatsſchuld aber wucht 
in riefigem Verhältniß. Im Jahr 1860 hatte fie nur etwas über 90 Millionen 
Dollars betragen. Am 1. Juli 1864 betrug fie bereits über 1740 Millionen 
und wurde am Ende bes TFinanzjahres bereit auf mehr als 2640 Millionen 

efhägt. 

ß Ein Amendement zur Berfaffung, welches die Sklaverei in der ganzen Union 
aufheben wollte, Konnte im Repräfentantenhaus noch nicht bie nöthige Zweidritt⸗ 
theilsmehrheit finden. Die bemofratifche Partei flimmte Dagegen. Aber bei ver 
neuen Präfidentenwahl erlag fle ven Republifanern, welche bie Neuwahl Lincolns 
gegen M'Clellan durchſetzten, obwohl gegen bie verfafiungswinrige Willtür, wo⸗ 
mit die Regierung bie Preßfreiheit und die perfönliche Freiheit vielfältig verlege und 
gegen die Militärvespotie des Präfidenten, der fogar die Konfkription einführte, 
nicht bloß von Demofraten heftig losgezogen worden war. Die Mehrheit ber 
Bürger betrachteten bie Ausnahmsmaßregeln für gerechtfertigt durch den Nothſtand 
des Kriege. 

Das Jahr 1865 brachte endlich die Entſcheidung. Bergeblich hatten fi Lin⸗ 
coln und Seward mit den Abgeorbneten ber Konföveration Stephens, Hunter und 
Campbell im Januar in dem Fort Monroe zufammen gefunden, um einen letzten 
Sriedensverfudh zu machen. Jene verlangten voraus Unterwerfung unter die Union 
und verfpradden für dieſen Fall liberale Zugeftänpnifie; dieſe wollten voraus An⸗ 
erfennung ber Konföberation. Sie gingen ohne Erfolg aus einander. Am Tage 
darauf (31. Ian.) nahm nun auch das Hepräfentantenhaus das Berfaffungsgefek 
mit der nöthigen Stimmenzahl an, weldes vie Sklaverei im ganzen Bereiche ber 
Union aufhob. Schon am 18. Dec, 1865 konnte proflamirt werben, daß biefe 
Berfafiungsänverung von 27 Staaten unter 36 flimmenben, alfo vom 3/, genehmigt 
worden jet. 

Bergebens entſchloß fi der Kongreß des Sonverbunds, auch durch bie Neger 
feine Armee zu verflärten. Die Uebermadt des Rordens, der nit weniger als 
140 ſchwarze Regimenter, mit mehr ale 100,000 Negern im Feld hatte, warb 











* 
* 


N. 
Nordamerikaniſche Sreiſtaaten. 731 


erdrückend für den Süden. Rach wiederholten blutigen Kämpfen mußte Lee Rich⸗ 
mond räumen, und Grants Armee zog am 3. April zugleich in Petersburg und 
Richmond ein. Lee kapitulirte mit feiner Armee 9. April. Damit war ber all 
des Süpbundes antjchieven. Aud die andere Armee des Südens unter Johnſon 
ergab fih uun an Sherman. Über die ungeheure blutige Tragödie des Bürger 
krieges erhielt ein nicht minder tragiſches und biutiges Nachſpiel in der Ermor⸗ 
dung Lincolns (14. April) im Theater zu Washington. Jefferſon Davis wurde 
gefangen genommen (13. Mai). Keiner der Südſtaaten konnte den Wiberfiand 
fortjegen. Der Sieg der Union war entſchieden. 

16. Johnſon 1865—1869. Wieverherftellung der Union. Dit einer für 
europälfcke Sitten unverftänblihen Raſchheit murbe die große Armee entlaffen, und ihre 
Glieder wieder deu bürgerlich-frievlihen Geſchäften zugeführt. Am 1. Mat nod 
zählte.die Unionsarmee über eine Million Männer. Anfangs December waren über 
800,000 bereits entlaflen und das Kriegebubget von 516 Millionen auf nahezu 
34 Millionen gemindert. Die Flotte zählte nur no 117 Schiffe mit 880 Ka» 
nonen. Die Staatsfhuld war in Folge des Bürgerkriegs bis auf 2740 Mil, 
Dollars geftiegen; es cirfulixten für 700 Millionen Bank⸗ und Schatnoten. 
ne bereits überftiegen wieder die Einnahmen der Union ihre Ausgaben um viele 

ionen. | 

Die Aufgabe ver friedlichen Wiedecherftellung der Unton war ein 
nicht minder ſchweres Werk als die Unterwerfung des Sonderbundes. Der Sieg 
war ſchließlich durch das Lebergewicht der Maſſen, welche tie Union in Bewegung 
verfegen konnte, entfchieden worden. Jetzt mußte die ſtaatamänniſche Weisheit die 
Berhältniffe neu ordnen. Sehr. bald aber zeigte fich's, daß ver neue Präfipent 
Andrew Johnſon aus Tenneſſee (bisher Bicepräfivent) nit mit der republi- 
Yaniihen Mehrheit im Kongreſſe einig über bie erforberlichen Maßregeln fei. Der 
Praſident ſetzte vorerft bie diktatoriſche Gewalt fort, die Lincoln ergriffen hatte, 
indem er den Süden in Militärbezirke eintheilte, Gouverneure ernannte und Ein» 
leitung traf zn einer neuen Konftituirung der Südſtaaten (Juni 1865), Er erließ 
unserm 29. Mai 1865 eine Amneftieproflamation zu Ounften ver Bevölkerung 
im den Süpftsaten, aber mit Ausnahme aller Führer, vom Hauptmann an aufs 
wärts und aller Reichen mit einem Bermögen von über 20,000 Dellars, aber 
ex erflärte zugleich, daß er aud den einzelnen dieſer ausgenommenen Klaſſen in 
freigebiger Weife auf ihr Anfuchen Amneftie ertheilen werde und machte von biefer 
Erflärung den ausgiebigften Gebrauch. Die Blokade wurde aufgehoben und ber 
Handel wieder freigegeben. Die Kriegögefangenen wurden fämmtlich begnabigt, 
Johnſon wollte den Südſtaaten wieder die Aufnahme in ven Stongreß eröffnen, 
ſobald fie auf die Sklaverei verzichten und. der Union huldigen. Durch baldige 
Wiedereinführung ber Sübftanten in ven Kongreß follte die Spaltung befeitigt 
und bie Union wieder bergeftellt, vie Meilitärherrichaft beenpigt werben. Im Nor⸗ 
ben wurde bie Habeas⸗Korpus⸗Alte hergeftellt, nur im Süden blieb fie nod 
fuspenbirt. 

Die Republilaner warfen dem Präfinenten vor, daß ex bie Früchte bes. Stege 
muthwillig verfchleubere, ven befiegten Junkern des Sübend wieber aufbelfe, ben 
BWiperftand gegen den nationalen Fortfchritt wieder ermuthige, mie ein Willtürherrfcher 
verfahre und bie Union verwirre. Der Kongreß verweigerte bie Zulafiung ber 
Abgeordneten aus den fogenannten NRebellenftaaten und nahm mehrere Bel 
an, zum Behuf der Rekonſtruktion des Südens und In ber Abſicht, die bi 
lichen Rechte ver befreiten Neger zu fihern. Beharrlich Iegte der Präfide 





7 782 Nachtrag. 


Beto dagegen ein, das aber mehrmals durch ermenerte und gefteigerte Mebrheits- 
abflimmungen entkräftet ward. Wo er das nicht konnte, weil Zufäge zn der Dem 
besverfaffung befchloffen wurden, bemühte er fi, bie nöthige Zuſtimmung ver 
Staaten zu verhindern. Den Kongreß bezeichnete er geradezu als verfafjungs- 
widrig. Die neuen Wahlen zum Repräfentantenhans (April 1865) fielen jedoch 
für die republikaniſche uud rabilale Partei entſchieden günflig aus. Ihre Mehrheit 
im Kongreß erhielt dadurch eine Verſtärkung. Der Präfivent kam mehr ins Ge» 
dränge, aber änderte die eingefhlagene Richtung nicht, fo daß bamals fchon ernſt⸗ 
li die Frage zur Sprade kam, eine Anklage gegen ihn (impeachment) einzu⸗ 
leiten. Immerhin führte er zunächſt ben Beſchluß bes Kongreffes aus, ven Süden 
unter militärifche Autorität zu flellen, aber er ſuchte dieſe Autorität möglich zu 
beſchraͤnken, und entließ Generale, melde ſich als eifrige PBarteimänner gezeigt 
hatten. Auch ven Kriegsminifter Stanton entließ er und übergab das 8» 
miniſterium an Grant. Seine auswärtige Politit fand mehr Billigung. Bon 
England forderte er Entſchädigung für die Unterflügung der füblichen Kreuzer, 
aber ohne daraus einen Kriegsfall zu machen. Bon Frankreich verlangte er 
Räumung von-Merito und trug durch feine feindliche Haltung gegen den Kaifer 
Marimiiian viel zn dem Gturz ber Monardie und zur Öeftellung einer 
Republik bei. 

Die Neuwahlen des Jahres 1867 zum Repräfentantenhaus fielen für bie 
demokratiſche Bartel etwas gäuftiger aus, als vie früheren, obwohl fie bie repa⸗ 
biifanifche Mehrheit im Kongreß nicht erſchütterten. Zumächft wirkten viefe Wahlen 
auf den Kongreß ermäßigend, auf ven PBräfiventen aber ermuthigend. Reuerdings 
fHärfte ſich ver Konflitt wieder zwifchen ven beiven Gewalten. Die Dinge wur⸗ 
den dadurch gereizter, daß der Senat bie Entlaffiung Stautons für ungehörig em» 
Härte und ein Geſetz durchging, welches den Präflventen in ver Entlafiung von 
Beamten beihräntte. Grant trat in Folge deſſen von feinem Amte zuräd. Indefſen 
erlannte ver Präfident die Verfügung nicht an, und eine Zeit lang ſtanden ſich zwei 
Kriegäminifter gegenüber, der eine von dem Kongreß, ber andere von dem Prü- 
fidenten anerfaunt. Diefer Konflitt führte nun doch (Frühjahr 1868) zu der Au⸗ 
Mage bes Präfidenten. Die erflaunte Welt fah dem feltenen Schaufpiel zu eines 
gegen den höchſten Magiftraten ver Republik eimgeleiteten Stantsprocefies, während 
deſſen biefer feine verfaflungsmäßige Amtsgewalt ungehindert ausübte, und bie 
öffentliche Ordnung trotz der Anklage nicht irgendwie ernftlich geſtört wurde. Im 
bem alten Europa hätte ein folder Kampf ver höchſten Gewalten ! obne Ex» 
hätterung des Staats und fchwerli ohne den Verſuch der Waffengewalt durch⸗ 
geführt werben Tünnen. In Amerika wartete das Boll mit relativer Seelenruhe 
den Ausgang des Procefies ab, überzeugt, daß Berfafiung und Geſetz Hleiben, auch 
wenn bie Berfonen wechſeln. Der Proceß wurde raſch burchgeführt, unter der 
Leitung des Bunbesrihters Ehafe, der den Senat präflbirte. Eine Kommiſſton 
des Repröfentantenhaufes betrieb die Anklage, pie Apvoleten des PBräfidenten, ber 
nicht perfönlih erſchien, führten bie Vertheidigung. Es wurben Zeugen einver⸗ 
nommen. Das Urtheil lautete auf Freiſprechung, weil bie für Schuldig fiimmen- 
den Sematoren zwar in der Mehrheit waren, aber nicht bie verfafiungsmäßig 
udthige Mehrheit von zwei Drittheilen herzuftellen vermodten. Es fehlte dazu am 
einer Stimme. In Folge defien blieb ver Präflvent im Umte. Wäre er verue- 
tgeilt umb demgemäß entjegt werben, jo wäre der Bräftbent des Senats, Senator 
Wade inzwiſchen Präfident geworben. 


Norbomerihanifce Sreiftanten. 738 


Der nene Wahllampf tm Oktober und anfangs November über die Wahl 
bes Präfidenten von 1869 bis 1873 erregte bie Union von Grund aus. Für 
ben Kandidaten der Republikaner, General Grant fprachen fich aber bei ver Vor⸗ 
wahl des 3. November 1868 die große Mehrheit von 26 Staaten mit 214 
Stimmen aus gegen 8 Staaten mit 79 Stimmen, welche für ven Kandidaten ber 
Demokraten Seymonr fi erllärten. Diefe Wahl erwedt die Hoffnung, daß 
fih die Union wieder Tonfoliviren und auch in den Süpftaaten wieder bie wilde 
Leidenſchaft der Parteien ihre Ermäßigung finden werde. 


I. Staatöverfaflung. 


A. Grundcqharalter. 
I. Union und Einzelftaaten. Wir pflegen bie Verfaflung ver Berei- 


nigten Stanten im Einzelnen und im Ganzen repräfentative Demokratie 
zu nennen (f. d. Art. Demokratie), Der finatsrechtlich gebildeteſte Autor über bie 
Unionsverfaffung, Alexander Hamilton, bezeichnete fie ald Republik im Gegen- 
fag zur Demokratie, Indem er als bie beiden Hauptmerkmale, durch welche 
jene von dieſer ſich unterfcheide, erſtens Ueberlafiung ver eigentlichen Staatsleitung 
an eine Heinere Zahl von gewählten Männern (Repräfentanten) und zweitens bie 
mögliche Ausbehnung auf ein weites Gebiet hervorhob, zwei Merkmale, welche 
gerade den Unterfchieb der repräfentativen von ber unmittelbaren Demokratie ber 
zeichnen. Daß aber noch andere Gegenfäge mit biefen beiven Ausdrücken auch iu 
Amerika gemeint werben, das beweist der Name der beiden großen Parteien ber 
Nepublikaner und der Demokraten, die fi) fortwährend in der Union um bie 
Hemſchaft fireiten. 

Der Geſammtſtaat wird in Amerifa die Union genannt, und damit zugleich 
tie Einheit in feiner Organifation befler angebeutet, als durch ben beutjchen 
Ausdruck Bundesſtaat. Wenn die Amerikaner eher darauf binweifen wollen, daß 
die Einzelſtaaten durch ihre Verbindung ein zufammengefettes Ganzes bilden, 
fo wählen fie dafür den Ausdruck Konföderation. Im dem großen Bürger- 
krieg vou 1861 —1865 kämpfte fo die Union wider bie Konföveration. Es war 
das auch ein Streit zwifchen zwei verſchiedenen Stantsprincipien. 

Ag im Iahr 1787 die neue Untensverfaffung berathen wurde, war ber Ge- 
banfe eines von ven Einzelfianten verfchtenenen Geſammtſtaates noch ganz 
neu, Dis dahin hatte man nur mehr oder weniger enge und wirkfame Verbände 
gekannt von Einzelftaaten, die nur mühſam über gemeinfame Rechte, Maßregelu 
und Iutexeffen fich verfländigten. Nun follte ein neuer, von den Ginzelftanten 
weſentlich unabhängiger, mit eigenen Organen zum Denken und Handeln, mit 
Möftigem Wien und energifcher Thatkraft ausgeflatteter Geſammtſtaat neu ge 
[haffen werden. Es war das ber große Gedanke Hamilton. (f. d. Art.) 

Die Grundbedingung des Gelingens war, in der amerikaniſchen Nation, bie 
bis dahin politifch in fo viel Bolker getheilt war, als die Konföderation Staaten 
zählte, das Bewußtfein zu weden, daß fie Ein Bolt fe. Deßhalb wurde in 
der Eingangsformel der Verfaffung das neue Princip proffamirt: „Wir, das 
Bolt der Bereinigten Stanten, ordnen und errichten die Verfafjung der Berei⸗ 
nigten Staaten von Amerika.“ Die nene Berfaffung follte fi nicht mehr als 
bloßen Vertrag der Staaten, ſondern ald das Grundgeſetz des Einen 
amerikaniſchen Volles darſtellen. Die amerifanifchen Publiciſten erörtern biefem 
Unterſchied im Grundgedanken mit viel Sorgfalt und Scharffinn; und wenn gleich 


- 
J Pr 
+ 


734 Nachtrag. 


es, zumal im Süden, immer einige Staatsmänner gab, welche die Berfaffung als 
Staatenvertrag auffaßten, fo war doch bie entgegengeſetzte Meinung die weit über⸗ 
wiegende und beffer begründete. Allerdings beachtet die Verfaſſung auch die Eri- 
ftenz der Einzelftanten, als der Mitgliever der Unton. Die Berfaffung felbft iſt 
doch ber Abftimmung des Bolks in den Einzelſtaaten unterworfen worden, und 
Abänderungen verfelben können nit vom Kongreß endgültig befchloffen werben, 
fondern bedürfen einer Dreiviertelömehrheit der ſämmtlichen Staaten. In alle dem 
zeigt fih eine Art Ausgleihung der beiden Principin. Das Einheitsprincip wirb 
modificirt durch die Rüdfiht auf die Vielheit der Staaten. 

In allen aus Einzelftaaten zufammengefetten Staatsweſen zeigt ſich ber 
Dualismus der Geſammtheit und der einzelnen Glieder. Nach der Unions- 
verfaflung wollen beide wirflide Staaten fein, d. h. mit felbflännigem Staats- 
willen und oberfter Staatsgewalt verfehene Gemeinwefen. Sowohl der Gefammt- 
ſtaat Bat feine ihm eigene Geſetzgebung, Regierung, Rechtspflege, als jeder Ein- 
zelftant hat wieder eine befondere Gefepgebung, Regierung und Rechtspflege. 
Keineswegs entlehnt jener für feine gemeinen Angelegenheiten die erforderlichen 
Organe ven Autoritäten der Einzelftanten. Er ſucht feine Geſetzgeber nit in den 
gefeßgebenven Körpern von Maſſachuſets, Virginien, New⸗York u. f. f., fondern 
bildet für feine Zwede einen eigenen Geſetzgebungskörper aus. Er zieht nicht die 
Gouverneure der Einzelftaaten oder ihre Gefandten zu einem Rathe zufanımen, 
welder tie Bundespolitik entfeheidet und die Vundesangelegenheiten verinaltet, fon- 
bern er flellt einen Untonspräfinenten mit Unionsmintftern an bie Spige der Unions- 
regierung, bie fänımtlih an keiner einzelftaatlichen Regierung Theil haben. Ebenſo 
find die Unionsgerichte völlig getrennt von den Gerichten der Einzelſtaaten. Da⸗ 
buch wird für die Entfhliegungen und Bewegungen bes Gefammtflantes volle 
Selbſtändigkeit und Freiheit gewahrt. Sie können nidt von den Einzelftanten 
gehemmt werben. 

Auf der andern Seite aber will auch der neuere Geſammiſtaat nicht die 
Selbſtändigkeit der Einzelftaaten vernichten, er will fie nicht zu bloßen Provinzen 
und Megierungsbezirten ver Union maden, fondern befäßt fie in ihrer Autonomie 
und Gelbftverwaltung. Die Gefeßgeber, Regierungen und Gerichte der Einzelftanten 
werben daher von ber Unionsgewalt weder ernannt noch betätigt. Ste ſtehen and 
nicht in einem Bafallenverhältnig zu den Unionsgewalten, fie leiten ihre Untorität 
nicht ab von der Unton, ſondern von dem Willen ver Einzelodlter, welche die 
verfähtebenen Stiuaten erfüllen. Sie find durchaus nicht als untere Inſtanzen zu 
betrachten gegenüber den obern Inflanzen der Union. Man Tann in ber Regel 
nit von einem kompetenten Urtheil des einzelftaatliden Gerichts an ein Bundes⸗ 
gericht appellicen, noch gegen eine Verfügung des einzelftantlidden Gonverneut 
fich beſchwerend an ben Untonspräfidenten wenden; noch kann dieſer jenem Huf 
träge geben, als feinem Unterbeamten. 

Die Amerikaner find alfo, wie ihr Land, in einem flaatliden Doppelver- 
haltniß. Der Einzelne iſt Bürger des Staats New-York ober Birginten und hin 
wieder der Unton und der Boden ift einerfeits einzelftantlidhes Land und ander 
ſeits Unionsgebiet. 

Selbſtverſtändlich hate dieſe Doppelbeziehung ihre großen praktiſchen Schwie⸗ 
rigkeiten. Man kann barüber Zweifel haben, ob irgend eine ſtaatliche Frage von 
der Unionsgewalt oder von den Gewalten des Einzelſtaats zn entſchelden ſei. Se 
lange die Union beftebt, drehen fich die größten Kämpfe ver Parteien um 











Nordamerikanifche Sreiſtaaten. 735 


folhe Streitfragen. Die Verfaſſung bat die Aufgabe, dieſe Zweifel zu löfen und 
jevem der beiberlei Staatserganismen den Bereich feiner Macht anzuweiſen. 

Dafür gibt e8 nur zwei Mittel: erftens die möglihft Mare und ſcharfe 
Sonderung ber beiderlei Staatsbereiche (Kompetenzen) im 
Brincip, damit möglihft wenig Zweifel entftehen, und fobann zweitens für 
die noch übrigen Zweifeld- und Streitfälle ein wohlgeorbuetes Recht ver⸗ 
fahren, um ven Konflitt der beiderlei Staatsgewalten frieplich zu entſcheiden. 

1. Ausſcheidung. Der allgemeine Grundſatz ift leicht auszuſprechen: 
Alles was vie gemeinfame Orbnung und bie gemeinfamen Intereffen des Geſammt⸗ 
volks betrifft, fFält in den Bereich der Unionsgewalt, Alles dagegen, was nur 
von lofalem Intereffe ift und nur die Verhältnifie der Bewohner eines Einzel⸗ 
ſtaates betrifft, ift der Ordnung des Einzelftants zu überlafien. Ebenſo zeigt fid 
fofort, daß vorzugswelfe die äußeren Angelegenheiten (Diplomatie, Handel, 
Krieg) die ganze Union und daß die tunern Angelegenheiten (der Wirthſchaft 
und Kultur und ſelbſt der bürgerlichen Rechte) eher die Einzelſtaaten angehen. 
Über mit diefen aus der Natur der Dinge abgeleiteten Grundſätzen reiht man 
in der Praris nit aus, weil im Einzelnen ihre Anwendung und ihre Örenze 
leicht fireitig wird. Ebenſo wenig kann die gefhihtliche Erinnerung daran 
alle Zeit aushelfen, daß vie Einzelftanten und ihre flaatlihen Befugniffe älter 
find als die Union und daher biefe nur diejenigen Vollmachten empfangen habe, 
welche jene ihr freiwillig und ausdrücklich Übertragen haben. Man hat daraus bie 
Iuterpretationsregel abgeleitet, daß die Einzelftaaten in allen ven Fällen kompe⸗ 
tent geblieben feien, in benen die Bunpesverfaffung flilllefhweige 
und daß bie Untonsgewalten nur infofern kompetent ſeien, als die Bun⸗ 
besverfaflung fie ausdrücklich er mächt ige. Einen derartigen Grundſatz hat bie 
ſchweizeriſche Bundesverfaffung (Art. 3) fogar ausdrücklich ſanktionirt und auch 
in Amerika wird vielfältig damit ven ven Parteien operirt. Aber einmal laffen 
die Beftimmungen ber Unionsverfaffung felber je nach Bedürfniß und Unfichten 
eine weitere oder engere Auslegung zu, da der Sinn der Worte dehnbar if, und 
ſodann zwingt die Noth des Staats und die Berautwortlichleit der Regierung und 
Geſetzgebung für vie Wohlfahrt des Volkes, wie voraus vie Geſchichte des legten 
Bürgerkriegs gezeigt bat, zu Erweiterungen der Unions⸗Kompetenz, die in folder 
Weiſe im Jahre 1787 nicht vorgefehen waren und daher in ver Verfaſſung noch 
feine ausdrückliche Gutheißung erfahren Hatten. Da die Völker und Staaten leben- 
bige Weſen find, fo läßt fih ihre Lebensentwicklung nicht durch irgend eine 
Geſetzesformel zum voraus vollftändig beflimmen und begrenzen. 

Zunädft alfo iſt es die Aufgabe der Unionsverfofiung, ausdrücklich bie 
Kompetenz der Union im Gegenfaß zu ben Ginzelfinaten zu beftimmen. 
Eine Reihe von Artikeln derfelben haben dieſen Zweck. Wo dieſe Beftimmungen 
llar find, da werben die Zweifel erteoigt Nur wo der Sinn berfelben zweifelhaft 
ift, oder wo fi im Verlanf der Zeit Lüden zeigen, bie einer Ergänzung bebürfen, 
da reiht die Bisherige Formulirung ber Berfaflung nicht aus, um die Aus ſcheiduug 
der Kompetenzen zu fidhern. 

2. Neben der Ausicheidung der beiverlei Bereiche gibt es auch eine Anzahl 
Berhäftniffe, in welchen zwar zunächſt die einzelftnatlige Kompetenz 
als begründet anerlannt wird, aber um ber mittelbaren Bedeutung jener für 
das Geſammtwohl willen, den Unionsgewalten eine Kontrole, und je nad 

en auch ein Recht dee Genehmigung ober des Veto eingeräumt 
werden mußte. In diefen Fällen erfcheint die Union ben Ginzelfinaten nicht 


\ 





136 Nachtrat. 


neben⸗ ſondern übergeordnet. 3. B. das Recht, mit auswärtigen Staaten 
Berträge abzuſchließen, iſt den Einzelſtaaten nit völlig entzogen, denn es k; 
möglich, daß Berhältniffe von bloß loka ler Vebentung zu ordnen find, wie 
Grenzen, Flußregulirungen u. ſ. f. Aber ſolche völferrechtlihe Derträge bedürfen 
zu ihrer Gültigfeit der Zuftimmung des Kongrefied (Berf. I. 10. 8. 2). Berner 
bärfen die Einzelfinaten in Friedenszeiten weder Truppen noch Kriegeſchiffe Kalten, 
ohne Zuftimmung des Kongrefies (Berf. I. 10. 8. 2). 

Diefe Berhältnifie der Unterorbuung bilden aber nur eine Würben 
fie zur Regel, fo würde damit das —— des ſtaatlichen Dualismus 
erſchüttert und man wäre anf das Princip des Einheitsftants mit provin⸗ 
zieller Autonomie übergegangen. 

3. Eine der widtigften Garantien für die Selbſtändigkeit und Freiheit 
ſowohl des Geſammiſtaats als der Einzelftanten liegt, wie Tocqueville in 
feinem berühmten Bud, über die amerikanifche Demokratie auch für Europa Har 
gemacht bat, in der möglihft burchgeführten Trennung ber Beamtung, 
welcher der Vollzug der Beſchlüfſe auvertraut wird. Die Union bedient fi burd- 
weg nicht der einzelftantlihen Beamten, um ihre Auordnungen durchzuführen; 
fonvdern fie bat bis auf die untergeorpneten Dienftleiftungen aud ber Steuer 
erhebung, des Poftwefens ihre befondern Unionsbeamten und Uniond- 
augeftellten, die als foldhe nicht den einzelftantlichen Regierungen, ſondern 
nur der Unionsregterung verpflichtet find. Durch biefe Einrichtungen werben bie 
Konflitte im Einzelnen verhindert, denn jebe Gewalt forgt ſelbſt durch ihre Orgene 
und Diener für den Vollzug ihrer Anordnungen und begegnet daher wicht leicht 
ber andern Gewalt. Jede wirkt für fi getrennt von der aubern. 

Nah dieſem Princip ift au im Lauf der Zeit die Armee immer entidhie 
dener zur Unionsarmee geworben, während Anfangs nur die Marine- 
offictere ganz und außer ben geringen Unionstruppen nur bie höhern Officiere 
ber wefentlih ans den Milizen der Einzelftanten aufommengefesten Landarmee 
von der Unionsgewalt ernannt worden waren, Der Bürgerkrieg bat auch hier 
gelehrt, die Armee einheitlicher zu geftalten und bie Macht der Unionsregierung 
zu vergrößern. 

4. Wie aber, wenn troß alledem ein Kompetenztonflitt entſteht zwiſchen 
ben Ginzelftanten und dem Geſammiſtaat? Die fchweizertiche Bumberverfehlung 
bat für ſolche Streitigfeiten eine Bereinigung ver beiden Räthe der Bunb 
fammlung angeorbnet, des Nationalrathes, in weldem das nationale Brinch, ber der 
Einheit des Ganzen, und bes Stänberathes, in welchem das föderale Princip der 
Einzelftanten ſtärker bedacht ift; in Gemeinfchaft haben fie darüber einen enbgältigen 
Beſchluß zu faflen. Die allgemeine Bermuthung fpricht für die Kompetenz de 
Kantone, die Auslegung aber im einzelnen Streitfall iſt der Nepräfentation der 
—— * in die Hände gegeben, Dort iſt das föderale, bier das nationale 

Interefie vorzugsweiſe berüdfichtigt. 

Die amerilantjche Berfoflmng kennt eine ſolche gefeßgeberifche Exlebigung nicht 
und meiß überhaupt nichts von einer eigentlichen Konflittsinftang. Aber vie P 
bat fid — wenigftend in weniger widtigen Fällen — in Umerila baburdy zu 
helfen geſucht, vah bie Frage, ob ein Geſetz, ſei es des Kongrefied ober eines 
Einzeiftantes, oder ob eine Regierungsverfügung, fei es des Untonspräfidenten 
oder eines einzelftantlihen Präfidenten (Gouverneurs) der Unionsverfaflung end 
ſpreche over verfafiungswibrig fei, der rechtlichen Präfung des oberſten Bundes 
gerichtöhofs im einzelnen konkreten Galle unterworfen und dann der Entſcheid des 





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Nordamerikaniſche Steiſtaaten. 737 


Gerichts zu reſpeltiren ſei. Die Autorität dieſes gerichtlichen Entſcheides iſt 
indeſſen keine abſolute. Die neuere Geſchichte der Union macht es Jedermaun 
deutlich, daß, ſobald vie Streitfragen eine größere politiſche Bedentung ent⸗ 
halten, fie nicht mehr in die engen Formen eines Proceſſes vor Gericht und bes 
gerichtlichen Urtheils fih hineinzwängen lafien, fonbern bie andern erregten Volk s⸗ 
und Staatsmäckhte, bie mit einander ringen, bie Trage felbftänbig zu ent- 
ſcheiden unternehmen. Der Bürgerkrieg zwifchen der Union und ven GSüpftanten 
konnte fo wenig durch ein Urtheil des oberften Gerichtshofs verhindert, als ber 
Spätere Streit zwiſchen dem Präfinenten und dem Kongreß über bie Relonftruftion 
des Sudens durch einen Richterſpruch beigelegt werben. 

I. Bürgerredt. Schon vor der Befreiung Nordamerikas waren bie Ko⸗ 
Inniften durch das gemeinfame englifche Untertbanen- und Bürgerredt 
bürgerlich verbunden und in manchen Staaten der Kolonien war ausdrücklich aus⸗ 
geſprochen, daß wer fi daſelbſt nieberlafle und aufgenommen werde, bas enge 
liſche VBürgerreht erwerbe. Nach ver Lostrennung trat das amerilanifde 
Bürgerrecht an die Stelle des frühern englifhen Rechts. Allgemein wurbe der 
Sat anerkannt, daß wer in irgend einem Staate der Union das Bürgerrecht 
erwarb, dadurch ohne weiter auch das allgemeine amerikaniſche Untons- 
bürgerrecht erworben habe. Da die Einzelſtaaten Teineswegs dieſelben Grund⸗ 
füge bei ihrer Ertheilung des Bürgerrechts beobachteten, fondern vie einen firengere, 
bie anderen larere Bedingungen ftellten, jo konnte dadurch eine nicht unbedentende 
Verſchiedenheit der Behandlung entftehen. Es konnte 3. B. ein Farbiger in einem 
Staate Aufnahme finden, in einem andern nicht. War er aber bort aufgenommen, 
fo konnte er fein Unionsbürgerrecht auch bier behaupten. Ueberbem iſt e8 möglich, 
bag Iemand Unionsbürger wird, ohne zum Bürger eines Einzelftaates geworben 
zu fein. Derartige Fälle aber find nur felten. Ä | 

Natürlich wird auh das amerikaniſche Bürgerrecht in weit ver Mehrzahl 
der Sale durch die Kortpflanzung amerllaniiher Eltern auf die Kinder 
überliefert. Die ehelichen Kinver folgen dem Bater, vie unehelichen der Mutter 
im Bürgerreht nad. Aber außerdem hat ſich in Amerika der englifhe Grundſatz 
erhalten, daß die Seburt auf ameritanifchem Gebiete einen Anſpruch auf amerika⸗ 
niſches Bürgerreht gewährt, fobald nicht von den Eitern ein fremdes Bürger- 
recht geltend gemacht wird. 

Ebenſo bewirkt für vie Ehefrau bie Verheirathung mit eimem Bürger ber 
Bereinigten Staaten den Erwerb des Bürgerrechte, 

Biel bebeutenver und leichter als anderwärts ift die Naturalifation In 
Folge der Einwanderung. Wer fih in dem Gebiet der Union anfiedelt, in ber 
Abſicht, feine frühere (enropätfche) Stantsgenofienfchaft aufzugeben und Amerifaner 
zu werben, ber wird es in ber Regel in kurzer Frift (nad 5 Jahren Auf⸗ 
enthalt) und ohne große Schwierigkeit. Der neue Bürger muß aber fi) von 
feinem frübern Staatsverband losfagen und ber Union Treue ſchwören. Hat er 
keinen guten Ruf, fo wird ihm die Aufnahme verweigert. 

Ber einmal amerikaniſcher Bürger iſt, ber kann das Bürgerrecht bei Leb⸗ 
zeiten (außer die Frau durch Heirath) nur durch Verzichtleiftung in Verbindung 
mit Uebergang in einen fremben Staatsverbanb verlieren. 

UL Krennung der Gewalten. In keinem Lande ver Welt iſt das 
moberne PBrincip der Sonderung der Gewalten, das heißt ver Grundſatz, daß bie 
verſchiedenartigen Funktionen der Gtantögewalt nidt Bloß in Art 
und Richtung, ſondern auch in den Berfonen Derer unterſchleden werben, welche 

Bluntjgli und Brater, Deutſchet Staate⸗Wörterbuch. Al. 47 


738 Nachtrag. 


fie ausüben, beifälliger aufgenommen und konſequenter durchgeführt worden, als 
in den Vereinigten Staaten. Schon im XVI. Jahrhundert hatte Bodin in 
Franfreih Trennung der Juſtiz von ber Regierung nnd Berwaltung verlangt 
und es ift dann dieſes Begehren vorzäglih im Interefie der Rechtspflege allge 
meiner anerkannt und ſchließlich in der Organifation der Stantsbehörben mehr 
und mehr berädfichtigt worden. Auch In England wurbe dasfelbe inſofern beachtet, 
als die Gerichtshöfe von ber Regierung. ausgefhieden und unabhängig geftellt 
wurben. Indeſſen ift tn Englanp bis heute diefe Ausſcheidung anf den untern 
Stufen der Verwaltung noch nit völlig vollzogen; inbem bie Friedensrichter 
zugleich Pollzeigewalt und richterliche Funktionen üben, und ſelbſt in der oberften 
Spitze die Lord Oberrihter au im Oberhaus in Verbindung mit dieſem ein 
Nichteramt üben. Montesquieu ging einen Schritt weiter, und verlangte auch 
Trennung der Regierung und ver Geſetzgebenden Gewalt. Dabei berief 
er ſich fonverbarer Weiſe vorzägli auf die englifhe Verfaflung, in welcher die⸗ 
felbe praftifh geworben ſei; während in Wahrheit der „König im Rathe“ als 
Regierung und der „König im Parlament” die beiverlei Gewalten wentgftens ber 
flantsrehtlihen Form nad in feiner Berfon einigte, und nod mehr die Minifter 
(das fogenannte Kabinet), welde in Wahrheit die Regierungsgefchäfte Leiteten 
und beforgten, zugleich als Führer im Parlamente ſaßen nud flimmten, alſo wie 
der in ihrer Berjon die beiven Gewalten verbanden. 

Die Theorie von Wontesquien fand in Amerika bei den Staatsmäunern 
lebhaften Beifall. Die Unionsverfaffung insbefondere wurde möglihft nad dieſem 
Grundſatze organifirt, der aud in den Einzelftanten herrſchend wurde. Die Ein- 
bett, beren freilich fein Staat entbehren Tann, wurde nur no in vem Bolte 
gefuht und gefunden, von dem alle befonvere Staatsgewalt ausgehe und abge 
leitet werde. Das Bolt gründet die Berfaflung, welche bie einzeluen Gewalten 
unterfheidet und den Trägern und Dienern derſelben vie nöthige Vollmacht gibt. 
In dieſer Weife werben unterfchleben: 

a) die gefeggebende Gewalt, welde größern repräfentativen Berfamm- 
lungen (in der Union dem Kongreß) anvertraut wird; 

b) die vollziehende Gewale, welde in einem Präfiventen Toncentrirt 
wird; 

c) die rigterlihe Gewalt, welde von ven Gerichtshöfen ausgeübt wird, 

In der Theorie werben viefe drei oberften Gewalten einanver gleich geftellt; 
in ber Praxis aber find die beiden erfien augenfcheinlich mächtiger als die dritte. 
Wenn gleich die Autorität des Gerichts, wie wir oben gefehen haben, (A. 1) and; bie 
Aufgabe hat, pie beiden andern Gewalten an ihre verfaffungsmäßigen Schranfen 
zu erinnern und zu befchränfen, jo werben bie Richter doch von dem Präſidenten 
ernannt, erhalten vom Kongreß ihre Rechtsregel und find bemfelben verantwortlid. 
Während Kongreß und Präfivent nah Bedürfniß und Umſtänden Neues und 
Entjheidendes anorbuen, können die Gerichte nur in einem einzelnen gewöhnlid 
feinen Streitfalle das beftehende Recht ſchützen. Der Bereinigung von Präftvent 
und Kongreß vermöchte kein Gericht lange zu widerftehen. 

Die Trennung ber rihterlihen von der vollziehenden Gewalt, bie im 
Großen aud in den europälfhen Staaten durchgeführt ift, bat nur infofern eine 
Beihräntung, als der Präfivent der Union ſowohl als die Gonverneure in ben 
Einzelftanten ein weit gehendes Begnadigungsrecht haben, beffen leichte Au⸗ 
regung die Geſchäfte der Regierung überlaflet und die Wirkung ber Strafjufiz 
unficher madıt. In neuerer Zeit wird daher bier eine Reform verlangt (Liebers 








Nordamerikaniſche Sreiftaaten. 739 


Vorſchläge zur Verfafiungsrevifion für New⸗HYork 1867). Zmedmäßiger ift eine 
andere Modifikation des allgemeinen Grundfages, indem einer Abtheilung ber 
geſetzgebenden Gewalt, vem Senat, in politifhen Berantwortliäkeitsprocefien 
(Impeahments) der oberfien Magiſtrate nach engliſchem Vorbild die Funktion 
eines Staatsgerihtshofs übertragen if. 

Ueberfpannt dagegen erfcheint die Trennung ber Regierung von ber 
Geſetzgebenden Gewalt. Zwar ließ fih auch in Amerifa diefer Grundſatz 
nit völlig durchführen. Der Präſident Tann durch feme Botſchaften an 
den Kongreß nit bloß auf das Bedürfniß einer gefeglihen Negulirung auf 
merffam machen und die Thätigkeit des Geſetzgebers anregen, ſondern auch feine 
Borihläge dazu entwideln und begründen. Ueberdem fteht ihm ein Veto zu gegen 
Geſetze, die er für ungerecht ober unzwedmäßig hält. Viele Präfiventen haben von 
dieſem Recht des Beto Gebrauch gemacht und daburd das Inkrafttreten folder 
Geſetze verhindert. Freilich iſt auch diefes Veto kein abfolutes Hinderniß. Es kann 
in Folge nochmaliger Erwägung des Kongrefſes durch eine zweite Abftimmung 
dann befeltigt werben, wenn in jebem Haus mit einer Mehrheit von zwei Dritt- 
tbeilen der Stimmen das Gefeg nochmals gut geheißen wird. Aber in vielen Fällen 
wirft das Beto doch, zumal wenn bie Parteien nahezu gleich ſtark vertreten und 
nidgt mit einander einig find, 

Aber der Präfivent bat doch Fein eigentlihes Net ver Initiative, fon- 
dern muß irgend ein Mitglied des Kongrefles beftimmen, daß es die Anträge 
fielle, die er nicht ftellen Tann. Das aber ift fhon ein Hemmniß feines Einfluffes 
und eine erheblihe Erſchwerung der Annahme feiner Vorſchläge, überdem iſt er 
ſelbſt und find feine Minifter von ber Berathung im Kongreß ausgefchloffen. 
Diefer Ausſchluß verhindert aber gerade die Berfonen, welche in vielen Fällen die 
meifte Sachkunde befiten, ihre Meinungen wirkſam zu vertreten und macht es 
möglih, daß andere weniger kundige Männer die Verſammlung leiten und viel- 
leicht auf Abwege führen. Diefe fchroffe Trennung reizt überdem bie beiden rivalen 
Mächte aus einander zu gehen und macht einen Zwieſpalt zwifchen beiden möglich, 
der für Lie Autorität der Staatsgewalt und für den Trieben des Landes fehr 
gefährlich werben kann. Allerdings forgt die VBerfaflung dafür, daß dieſer Zwie- 
fpalt fpäter nad einer Friſt von vier Jahren wieder gehoben und eine Art Har- 
monie bergeftellt werbe, inbem fie fowohl die Stellen. ver Kongreßmitglieder als 
die des Präfldenten einer nenen Bollswahl unterwirft und ven Wählern fo bie 
Möglichkeit eröffnet, der einen Partei den Sieg zu verfchaffen. 

IV. Berfaffungsänderungen. Das amerikaniſche Recht unterjcheivet 
fhärfer, als wir es in Europa zu thun gewohnt find, zwiſchen Berfaffung 
und Gefeg, obwohl man aud in Amerika ſich der Wahrheit nicht verfchliegen 
kann, baß eine Berfaſſungsbeſtimmung aud ein Gefeß, nur ein beſonders wich⸗ 
tiges, ein Grundgeſetz iſt. Die Berbefferungsfähigfeit einer jeven Berfaffung, 
als eines Menſchenwerks, wird ausprüdiih anerkannt und für die Möglichkeit 

eforgt, Verbeſſerungen einzuführen. Dabei denkt man und mit guten politifchen 
Gründen, zunächſt an die einzelnen Berbefferungen (ſog. BPartialrevifton), 
nicht an einen Umban ver ganzen Berfaffung (Totalrevifion), obwohl aud 
das möglih und nach weſentlicher Umgeftaltung der politiihen Anſichten und Be- 
durfniſſe nothwendig iſt. 

Die Initiative zu Verfafſungsänderungen (amendments) kann ausgehen ent- 
weder vom Kongreß, welcher mit einer Mehrheit von zwei Drittheilen beider 
Hänfer vie Vorſchlaͤge macht, oder von ven Einzelftaaten, wenn zwei Dritt- 


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Nordamerihanifche Sreiftaaten. 7a 
das ſchon fehr fraglich iſt, aber eine Mepräfentation des Volks, welche Wahlkreiſe 


 z: von je einer halben Million Menſchen vorausjegt, würbe fhwerlih mehr ven 


= 2] 


heutigen Charakter einer Vollsvertretung bewahren Yönnen, 
Die Wahlen gefchehen in Wahlkreiſen, wodurch der nationale Charafter 


= berfelben eine lokale Färbung erhält. Ueber die Ansvehnung des Stimmredts 


=; 
— 
31 
:3 


2. 


Voitures 


tonnte fi der Konvent nicht verftänbigen, indem die Anfichten und Intereffen im 
Süden und im Norden fehr weit auseinander gingen. Die Berfaffung überließ 
daher die Veftimmung ver Bedingungen des Stimmrechts den Einzelftanten ımb 
jegte nur feft, daß mer im Einzelſtaat das Stimmrecht habe für bie dortige 
Legislatur, au für die Wahlen zum Kongreß flimmberedhtigt ſei (T. 2. 8. 1.). 
Aumählih haben fi aber die Einrichtungen genähert und bie Aufhebung ber 
Sklaverei hat das größte Hinderniß bes gleichen Rechts befeitigt. Nur in wenig 
Staaten noch wird ein Cenſus geforbert, wohl aber in manden irgend eine 
Steuerleiftung. Das allgemeine Stimmrecht (f. d. Art. Wahlrecht) iſt auch in 
Amerifa in der Ausdehnung begriffen. 

Die Wahlen werden unmittelbar durch die Urwähler vollzogen, nicht 
buch Wahlmänner vermittelt und geſchehen in ven meiften Staaten burch geheime 
Stimmzebvel, in einigen aber nach englifher Weife durch offene Abftimmung. 

Die Bebingungen der Wählbarfeit find a) ein Alter von mindeftens 
25 Jahren, b) Amerikaniſches Bürgerrecht feit minveftens 7 Jahren. c) Wohnort 
in dem Lande ver Wahl. d) Die Bunvesbeamten find gänzlih von ver Wahl 
ansgefhloffen, nicht aber die Beamten ver Einzelftanten. Indeſſen fließen viele 
Berfafjungen der Einzelftaaten vie Mitglieder des Kongreſſes auch von ihren 
Aemtern aus. 

Die Dauer der Repräfentation iſt auf nur 2 Jahre befchränft, das ganze 
Repräfentantenhaus daher einem raſchen Wechſel und in Folge befien aud bie 
ganze Richtung der Gefeugebung großen Schwankungen ausgefekt. 

Am 1. December kommt das neue Haus zufammen, und wählt durch offene 
Abſtimmung feinen Präflnenten, ven Sprecher, und vie Übrigen Beamten bes 
Hauſes (Sehretäre, (Sergent-at arme). In Streitfällen entfcheinet das Haus felbft 
über die Gültigkeit der Wahlen feiner Mitglieder. 

D. Der Senat. Die Geſetzgebungen ber Einzelftaaten wählen je zwei 
Senatoren ohne Unterſchied der größern ober geringern Bevöllerung. Die Be- 
dingungen ber Wählbarleit find: a) ein Alter von mindeſtens 30 Jahren. 
b) Minveftens neunjähriges Bürgerredt in der Union. c) Wohnſitz in dem 
wählenden Staate (I. 3. 8. 1). Tocqueville und andere Beobachter haben bie 
Wahrnehmung gemacht, daß im Senate durchweg mehr Intelligenz und Geſchäfts⸗ 
funde fih finden, als im Nepräfentantenhaus. Die Amtsdauer der Senatoren iſt 
auf 6 Jahre beftimmt, fo daß je zu zwei Jahren nur- ein Dritttheil derſelben 
einer neuen Wahl ausgefegt wird. Der Präfivent des Senats wird nicht unter 
den Mitgliedern des Senats und nicht von dieſem, fonbern von demfelben Kon- 
vente des Volks gewählt, welcher ven Präſidenten wählt. Der Vicepräſident 
der Union iſt von Amtswegen Präfident des Senats. Im Senat wirb übrigens 
nicht nach Staaten geftimmt, fondern jever Senator macht feine Stimme geltend, 
feiner eigenen Ueberzengung gemäß. Inftruftionen der Staaten find nicht geftattet. 
Der Senat iſt daher nit ein Gefandten-Kongreß, fondern eine nationale Infti- 
tutlon mit föderaler Baſis. 

II. Befugniſſe des Kongreffes. Der amerilanifche Kongreß hält af 
jährlich eine orbentlihe Sitzung. Seine Hauptthätigkeit bezieht fid: 


742 Nachtrag. 


1. auf die Geſetzgebung ber Union. Er übt die gefeßgebenne Gewalt ver 
Theorie nad ausihlieglih aus. (Verf. I. 8.) Im Einzelnen find hervorzuheben: 

a) die organifhen Belege, zur Ausbildung der verfaffungsmäßigen In- 
Pitntionen, (Organifation der Bundesämter. Beftimmung ihrer Verantwortlichkeit. 
. 8. 18. 

b) Die Finanzgeſetze. Dahin gehören iusbeſondre bie alljährlichen 
Kreditbewilligungen für bie büdgetmäßigen Ausgaben (appropriations 
made by law). Der Sinanzminifter ertbeilt dem Kongreß von Zeit zu Zeit 
Bericht über die Einnahmen und Ausgaben und die Ergebnifle ver Schatzverwal⸗ 
tung. Diefelben werben veröffentliht; aber es iſt nicht Sache des Kongrefies vie 
Jahresrechnung zu genehmigen. Nur darf die Schatzverwaltung feine Gelder 
bezahlen, außer zu Folge der Krebitbewilligung. Rechnungsbehörden Tontroliren 
bie Sinanzverwaltung (I. 9. 8. 2). Ferner die ‚Stenergefege. Dieſe mie 
überhaupt alle Gefege, welche die Einkünfte des Staats betreffen, müfſen 
vorerfi im NRepräfentantenhaus berathen werben und kommen dann an den Senat, 
der im übrigen gleihe Rechte mit jenem bat, alfo auch Aenderungen befchliegen 
kann. Dan unterſcheidet die eigentlichen (birelten) Steuern (taxes) vor- 
züglih nach Vermögen und Einfommen, bie Gebühren (duties) worunter 
vorzüglich die Stempelgebühren, Tonnengelder und Durdgangszölle, die Zölle 
(imports) von ein- und ausgehenden Waaren und die Acciſen (excises) 
von dem Gebrauch und Verbrauch der Waaren, Konfumtionsftenern auf 

Salz, Getränke u. ſ. f. (I. 8. $. 1). Die Verfafſung beftimmt, daß auch alle 
Gebühren, Zölle und Acciſen gleihmäßig fein follen durch bie ganze Union 
und verbietet (I. 9. 5) bie Auflage von Steuern und Zöllen auf den Berlehr 
von einem Einzelſtaat in den andern, fowie allen Zwang gegen Schiffe eines 
Einzelftaates, in einem beftimmten Staatsgebiete nen und da Zölle oder 
Gebühren zu bezahlen. Kopffteuern dürfen nur nad Verhältniß der Repräfentation 
ter Einzelftanten auferlegt werben (I. 9. 4), eine Beflimmung- zu Öunften ver 
Sklavenſtaaten, die nun ihre Bebentung verloren bat. 

Das eigentlihe Zollwefen ift Unionsfadhe. Die Einzelfinaten- därfen nur 
mit Zuftimmung des Kongrefies Gebühren ober Auflagen auf die Ein- oder Aus- 
fuhr von Waaren legen, oder Zonnengelder erheben. Die Zölle fließen in ben 
Staatsihag der Union. Als der Staat Maryland 1821 eine Stener von 
50 Dollars vorfchrieb für je einen Ballen, oder ein Faß oder eine andere Ber- 
padung von fremden Artifeln, vie dort zu Markte gebradt wurben, jo erllärte 
ber oberfte Gerichtshof dieſes Gejeg für verfaſſungswidrig. 

Im Uebrigen konkurrirt die Steuerhoheit der Union mit ber Steuerhoheit 
der Einzelftanten. Jene forvert aber nur Steuern zu den Ausgaben ber Union, 
welche hinwieder durch die Bedürfniſſe der Landesvertheidigung und der allgemeinen 
Wohlfahrt der Vereinigten Staaten befchräntt find. Diefe erheben Steuern zn 
ben beſondern Sweden ver befondern Landeswohlfahrt. 

Auch die Aufnahme von Darlehn, und die Kontrolirung von Staats- 
ſchulden, fowie die Regulirung ihrer Verzinfung und Abzahlung wird durch 
Geſetze des Kongreſſes beftimmt (I. 8, 2). 

c) Die Regelung ferner der Geld- und Münzverhältnifſe iſt Sache 
der Union. Hierin ift feine Konkurrenz der Einzelſtaaten geftattet (1. 8, 4). 

d) Die Einführung und Ordnung gleiher Maße und Gewichte in 
der ganzen Union (I. 8, 4) ift ferner dem Kongreß ausſchließlich aufgetragen. 








Nordamerikanifhe Sreiflaaten. 7148 


oe) Das Boftwefen If Untonsfahe (I. 8, 7) und wird durch Unions⸗ 
beamte verwaltet. Der eneralpoftmeifter ift einer der erften Beamten, von dem 
eine fehr große Anzahl von unteren Beamten und Ungeftellten abhängig find, 
deſſen Anfehen daher zuweilen in den Augen ver Parteien dem des Präfidenten 
nabe kommt. 

f) Der Kongreß orbnet den Handel mit fremden Nationen und 
mit den Indianerſtämmen (I. 8, 3). Der Schiffahrtsverlehr wir 
darin mitbegriffen. Auch dieſes Recht des Kongrefies gilt als ausſchließlich. 
Die frühern Erfahrungen einer verſchiedenen Behandlung von Seite der Einzel 
flaaten waren fo ungänftig, daß bier vor allem eine Einheit nöthig ſchien. 

g) Militärwefen. Nirgends iſt die Einheit der Leitung unentbehrlicher 
als in der Heeresorganifation. Dennod wagte man nicht, das ganze Militärweſen 
zur Unionsſache zu exrflären. Bon Alters ber hatten die Kolonien ihre befondern 
Milizen, und felbft zur Zeit des VBefreiungstrieges mußte man fi diefer Milizen 
bedienen. Der General Wafhington hatte viel zu kämpfen mit dem partilulariftiichen 
Treiben der Einzelſtaaten. Dennoch ließ man das Milizſyſtem der Einzelftaaten 
beſtehen und fuchte nur die Gewalt der Union in einigen Beziehungen auszu- 
behnen. Man fürdtete, wenn die ganze Miliz von den Uniondgewalten geleitet 
werde, fo könnte das zur Vernichtung ber Einzelftaaten führen. Aber es wurbe 
dem Kongreß das Recht gegeben, über die Organifation, bie Bewaffnung 
und die Disciplinirung der Milizen allgemeine Gefege zu erlaflen und 
bie Milizen aufzurnfen, wenn es nötbig werde, Aufſtände zu unter- 
brüden oder das Land wider einen äußern Feind zu vertheipigen 
(L 8, 15 und 16). Unter dieſer Vorausſetzung ernennt der Bräftident and bie 
Befehlshaber der Milizen und iſt babei nicht an die Officiere der betreffenden 
Einzelſtaaten gebunden. Der Kongreß Tann aber aud eine ſtändige Armee 
gründen und auf Unionskoſten unterhalten. Die amerilanifhe Politik duldet jeboch 
in Sriedenszeiten nur fehr Heine ſtehende Heere. Diefelben waren meiſtens nur 
9—10,000 Mann flart und dienten hauptfählih zur Sicherung der Örenzgebiete 
gegen die Indianer. Auch nad dem großen Bürgerkriege wurbe die große Unions⸗ 
armee raſch wieder vermindert und beträgt gegenwärtig nicht mehr 50,000 Mann, 
obwohl die Wieverherftellung der Süpftanten noch nicht vollzogen ifl. In ber 
ftehenden Unionsarmee werden alle Offictere von der Unton ernannt (I. 8, 14). 
Gelver für die Armee dürfen höchſtens auf 2 Iahre bewilligt werben. 

Ebenfo if der Kongreß bereitigt, eine Kriegsmarine herzuftellen und 
zu unterhalten und zwar ausſchließlich. (I. 8, 13.) 

h) Die Geſetze über die Nataralifation erläßt ber Kongreß unbeſchadet 
ber Geſetze der Ginzelfinaten über ihr befonderes Bürgerreht (I. 8, 4). 

i) Sefege über Autorreht und Erfinpungspatente (I. 8, 8). 

k) Die Ausbildung des Privatrechts und des Strafrehts fowie des 
Proceßrechts — lan von dem unlonsgerichtlihen Verfahren — iſt den 
Einzelftaaten vorbehalten. Zwar wirkt in Amerika noch die bergebradhte Gemein» 
fhaft ve8 Common Law nad, das von England her dahin verpflanzt worden 
if. Aber es find doch mit der Zeit ziemlich erhebliche Unterſchiede in ber Rechts⸗ 
entwidlung hervorgetreien, und da8 Common Law wirb weber durch eine gemein- 
ſame Geſetzgebung noch durch eine gemeinfame Rechtspraris fortgebilbet. Offenbar 
iſt das Problem einer zwedmäßigen Ausſcheidung der Beſtandtheile des Rechts, 
welche der Gleichförmigkeit und Einheit bedürfen von benen, in welden bie reis 
beit der lolalen Geſtaltung wohlthätig iſt, noch gar nicht gelöst. Die Verfafſung 









Scher. | 

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2. Seheiterechte seh Unger Die Rriezserllärang wit au 
due fo wichtige Serhitnihe ver Huiom betrifft, 
bog dieſ Ae ubdt dem ſAberlaqſen wirt, feutere tem Romgrek vork: 


Dagegen vie Berträge mit auömärtigen Gtasten der 
Oenchmigung des Rougrefiet nid, fentera zur ber Zuflimmumg bet Senat! 


Ausdrud der Berfaffung über die Klagegründe iſt abſichtlich unbeſtimmt, nad 
engliſchem Vorbilſd, fo daß alle möglichen ſchweren Berlegungen des öffentlichen 
Rechts (ob auch der äffentlihen Intereſſen, ift beftritten) varunter begriffen werben 
können. Die Anklage wird durch eine Kommiffion der Repräfentanten dem Senat 
eröffnet und nun wird eine Verhandlung und ein VBeweisverfahren eingeleitet, 
ahnlich, nur weniger formell, als in andern Procefien. Die Schulvigerflärung 
bedarf 2/, der Stimmen ber anweſenden Senatoren nnd die Beftrafung beihräzukt 
fid auf Entfernung vom Amt und Unfähigkeit zu Aemtern. Würde 


— — 


—— — *3*- 


Nordamerikanifche Sreiftnaten. 745 


Fr zein gemeines Verbrechen konkurriren, fo kann hinterher immer noch eine Berfolgung 
vor den gewöhnlichen Schwurgerihten nachfolgen. Dem Senat, ber zunächſt nur 
we Staatsgerichtähof eine politiihe Strafe erfennen kann, fteht überdem das Recht 
"> Aber fpätern Reviflon zu, in Folge welder er dann mit einfacher Stimmenmehrheit 
2 pie Strafe wieder aufheben Tann. 
am 4. Uebervem kann der Kongreß au durch Refolutionen feine politifche 
: Meinung äußern. Nur ift dieſelbe für den Präſidenten nicht rechtsverbindlich. 
B.2 5. Endlich wird auch von den amerilanifchen Publiciſten anerlannt, daß ber 
Kongreß auh ſtillſchweigend verliehene Gewalten habe und 
rthaben mäfle kraft feiner rechtsordnenden Gefammtbefugniß, das für bie ge» 
= nmeine Wohlfahrt der Union Nothwendige anzuordnen. 
z Während bed Bürgerkriegs und nad demſelben zur Wiederherſtellung der Union 
SShat er von biefem Rechte einen fo weit gehenden Gebrauch gemacht, daß ber 
Praſident feinerfeits fi darüber als über VBerfaflungsverlegungen laut beſchwerte 
'Zm:umb Verwahrung einlegte. 
25 IV. Rechte der Mitglieder. Die Berfafiung ſchreibt vor, daß bie 
3 te Mitglieder des Kongreffes entſchädigt werben follen (I. 6, 1). Anfangs erhielten 
fie 6 Dollars Tagegelver und nad bemfelben Berhältnig Entihäpigung für bie 
E Reifeloften. Seit 1856 iſt eine fire Befolvung von 8000 Dollars eingeführt und 
„1: 1866 fogar auf 5000 Dollar erhöht worden. Die Mitgliever haben das Recht ber 
= freien Rede und können nit dafür zur Verantwortung gezogen werben. Sie 
-e; innen nur ausnahmewelfe wegen Hochverrath, oder Welonie verhaftet werben, 
-z!d. b. fie können in Folge eines Strafprocefies, nicht aber wegen Schulden 
mei verhaftet werben, Ein Recht der Wbbernfung aber dur die Wähler befteht 


1 nicht. 
a: C. Die vollziehende Bemwalt Der Bräfident der Union. 
Die ganze Regierungsgemwalt, wie wie fie heißen, ober bie Ere- 
se Eutide, wie fie in Amerika benannt wirb, ift in ber einen Hand des Unions⸗ 
ı präftidenten geeinigt m. z. in viel entſchiedenerer Welfe, als das in Europa 
geſchieht bezüglich der Tonftttutionelen Monarchen. Die Amerilaner wollten Tein 
Kolleginm, weldes die Einheit gefährde und vie Verantwortlichkeit durch 
Vertheilung ſchwäche, fondern Einen Dann, deſſen Wille entſcheide und der bafür 
verantwortli fe. Der Bicepräfident hat gar keine Gewalt. Er gehört 
überhaupt nicht zur Regierung.‘ Seine Stellung ift im Senat. Er bat nur bie 
Beſtimmung, wenn ber gewählte Präfident ſtirbt, an feine Stelle zu treten nnd 
die Lüde wieder auszufüllen. Au die Mintfter find nur Unterbeamte 
und Gehälfen des Präfidenten. Während in England bie eigentliche Regierung 
von dem fogenannten Kabinet (dem Minifterium) geleitet wird und vie 
Königin in der Regel durch Ihre Unterfchrift lediglich die Beſchlüſſe des Mini» 
fteriums formell fanktionirt, fo ift in Amerika ber Entſcheid bei dem Präfiventen 
nnd nur die Vorbereitung und Ausführung feiner Anorbnungen wirb von ben 
Miniftern beforgt. Der Präfldent fegt feinen Willen auch gegen die Meinung 
ber Minifter duch. Er nnd nicht biefe find dann vorzugsweiſe bafür verant- 
wortlich. Indeſſen gibt es Ausnahmen. 

J. Wahl des Präſidenten. Die Wahl des Präſidenten iſt keines⸗ 
wegs dem Kongreß anvertraut. Man wollte ven Präſidenten dadurch unabhängiger 
von dem Kongrefie machen, daß er ſich ebenfo wie,biefer und noch in einem all- 
gemeineren Sinne auf die Wahl des ganzen Volks beziehen könne, ale vie Duelle 
feiner Macht, und fürdtete die Intriguen- und Stimmenwerbungen im Kongreß, 


BMMxL 


— nwerrrr 


7148 Nachtrag. 


wenn biefer die Wahl entſcheide. Der Präftvent ſollte nicht zum Spielball werben 
ber fi belämpfenden Parteien im Kongreß, ſondern als felbflänbiger Nepräfentant 
des Bolls vemfelben zur Seite ftehen. | 

Über man ſcheute auch die ‚unmittelbare Vollswahl, die hiuwieder einen Bor- 
ſchlag vorausfege und fam fo anf ein komplicirtes Wahlſyſtem durch mittelbare 
Bollswahl. Jeder Einzelftaat follte fo viel Wahlmänner ernennen, als er 
Abgeordnete und Senatoren im Kongreß babe, aber er follte dazu andere 
Berfonen bezeichnen. Diefe Wahlmänner treten an bemfelben Tage (am erften 
Mittwoch im December) je in ihren Staaten zufammen und bezeichnen auf zwei 
Wahlzeddeln die von ihnen gewählten Präfiventen und Bicepräſidenten. Die 
Wahlprotofolle werden nad Wafhington geihidt, und im Kongreß (Februar) 
eröffnet. Wer die abfolnte Stimmenmehrheit bat, ift gewählt. Dat fein 
Kandidat fo viel Stimmen, fo wählt das Nepräfentantenhaus aus ben drei Per: 
fonen, welche vie meiften Stimmen haben, den Präfiventen, und der Senat ans 
ben zwei Kandidaten, auf welche bie meiften Stimmen ſich geeinigt haben, ven 
BVicepräfidenten. Im erftern Fall ſtimmt aber auch das Repräfentantenhaus nad 
Staaten, nit nach Köpfen. 

Die Schöpfer der Verfaſſung hatten gehofft, durch dieſe Einrichtung werbe 
die Wahl den Händen der unwiſſenden Maſſen entzogen und einem politifcy ge⸗ 
bildeteren und fählgeren Wahlkörper überlafien. Die Erfahrung hat diefe Hoffnung 
teineswegs bewährt. Vielmehr regt jede neue Wahl eines PBräfidenten bie gefammite 
Bevölkerung der Union in der Tiefe auf und es werben die Wahlmänner bereits 
mit Rückſicht auf einen beftimmten Kandidaten gewählt. Vor der Ernennung ber 
Wahlmänner treten vie Parteien in Konventen zufammen (caucus genannt), um 
ihre Wahlvorſchläge (nominations) zu machen. Dabei bat ſich fehr oft die Erfah⸗ 
rung gezeigt, daß die Parteien es für zwedmäßig finden, ihre beften Männer 
und bie eigentlihen Führer zurüdzufegen und unbelannte Namen vorzuzichen, 
welche eher durchgehen, weil bie Gegner weniger vorbereitet find, fie zu ver⸗ 
läumden und zu verbädtigen. Nur ein fehr populär geworbener Präfivent barf 
hoffen, ein zweites Dal nocd gewählt zu werben. Auch kommen ganz andere 
Ergebniffe heraus, wenn man die Zahlen der Stimmen ver Wahlmänner mit 
denen bes Urwähler vergleicht. ‚Die großen Parteien, Demofraten und Republi- 
kaner, fliehen fih unter den Urmählern oft fehr nahe, während tie Majorität 
unter den Wahlmännern zu Gunften ver einen Partei eine fehr große if. Es iſt 
ſogar möglich, daß ein Kandidat gewählt wird, weil er die Majorität der Wahl: 
männer für fi) bat, obgleih er die Majorität der Urwähler gegen fih bat. Es 
iſt das möglich, weil nach Staaten geftimmt wird und daher die Heinern Staaten 
ein bebentenderes Gewicht haben, als ihnen nad der Vollszahl zukäme. Richt bie 
Mehrheit des Bolts, fondern vie Mehrheit der Staaten entſcheidet. 

Trotzdem wirb jeder Vergleich der ftattlihen Neihe der Präflventen von Wa⸗ 
ſhington an bis auf Grant mit den Regenten irgend eines europälfchen Staates 
während berfelben Periode keineswegs ungünftig für Amerika ausfellen, und man 
wird anerkennen müſſen, daß mit den Mitteln des dortigen Wahlfyftems meiftens 
bebentende, zuweilen große Staatsmänner zur Leitung der öffentlichen Angelegen⸗ 
beiten berufen worden find. Aber die großen Wahlkrifen, die da® ganze Bolt in 
eine fieberhafte Aufregung verfegen, find dennocd eine bedenkliche und gefährlide 
Erſcheinung. Durch die Verfaſſung iſt der Nation ein politifches Wechſelfieber in 
vierjährigen Iuternallen eingeihpft worben. 











Nordamerikauifche Sreiflnaten. 747 


Nach ausführliden Erbrterungen ift die Umtspaner eines Präfinenten 
auf 4 Jahre beftimmt worden. Ein Präfident lann daher zwei Totalernene⸗ 
rungen des Nepräfentantenhaufes und die Erneuerung von zwei Deitttheilen bes 
Senats erleben. Daher iſt es möglih, daß das Boll durch die Wohlen ver 
Zwiſchenzeit die Harmonie zwifchen ihm und dem Kongreß berflellt, wenn biefelbe 
vorübergehend geftört war. Aber vie Amtsdauer iſt doch nur fehr kurz bemefien. 
Der neue Präfident braucht Zeit, am fi in die Regierungsgeihäfte hinein zu 
arbeiten; denn nicht immer wird, wie es früher öfter geſchehen, ein fräherer 
Stantsfelretär oder ein Gefandter gewählt. Wenn er aber fi vertranter gemacht 
bat mit feinen Pflichten und durch Erfahrung auch die Schwierigfeiten ver 
Regterungstunft kennen gelernt bat, dann zeigt ſich ſchon das Ende feiner Amts⸗ 
dauer in der Nähe und es begiunt die Vorbereitung auf die bevorftehende Wahl⸗ 
ſchlacht und hindert ihn in andern Arbeiten und weitern Plänen. Er muß über 
dem befürchten, daß fein Nachfolger einer andern Partei angehöre und alle feine 
Bemühungen und Erfolge wieder zu nichte mache. Die Verfafſung verbietet zwar 
bie mehrmalige Wiederwahl Teineswegs; aber die fefte Sitte geflattet höchſtens 
eine einmalige Wiederwahl. Waſhington, Jefferſon, Mabifon, Monroe, Iadfon 
und Lincoln find zwei Dal nad einander, alle andern Präfipenten nur ein Mal 
gewählt worben. 

Die Bedingungen feine Wählbarkeit find: a) Bürgerrecht in ben 
Bereinigten Staaten von der Geburt an, ober doch feit 1788; b) ein Alter von 
35 Jahren; c) Aufenthalt in der Union während mindeſtens 14 Jahren. Im 
Uebrigen ift die Wahl frei. Thatſächlich werden aber gewöhnlich Männer gewählt, 
bie fi) zuvor im Dienſte der Union oder doch in den Öffentlichen Geſchäften eines 
Einzelftants ausgezeichnet haben; Feldherrn und Generale, Staatöfelretäre umb 
Geſandte, Senatoren u. f. f. Oft iſt die Advokatur ber Weg zuerft in die einzel» 
ftantliche Legislatur und danu in den Kongreß. 

I. Befugniffe und Pflichten des Präfipdenten a) De 
Bräfident vepräfentirtpie Unton nah außen, ganz ähnlich wie in 
Europa der Fürft. Er ernennt die amerilanifhen Geſandten un Konfuln, 
aber „mit Beirat und Zuftimmung des Senats”. Wird diefe Zuftimmung ver- 
fagt, fo muß er eine nene Ernennung vorfchlagen. Zur Entlaffung ve 
Sefandten und Konfuln iſt der Präfivent für fi allein ermädtigt. Diefen 
Grundſatz bat Wafhington als Präfldent durchgefetzt, im Intereffe der Einheit 
und Kraft ber Regierung. Er ertheilt bie Bollmadten nnd gibt die In⸗ 
firultionen. De Öinifter des Aeußeren bereitet das alles vor und Abt 
thatfächlih natürlich einen fehr großen Einfluß aus. Er iſt nicht ein bloßer 
Sekretär des Präftventen, fondern verwaltet fein Departement mit einer relativen 
Selbſtändigkeit. Nichts Tann ohne Ihn gefchehen. Aber der Entſcheid iſt bei dem 
Präfinenten. Kann fih der Minifter nicht verfiehen, demgemäß zu handeln, fo 
tritt er zuräd oder wirb entlaflen. Der Präfident empfängt aud die fremden 
Geſandten und gibt ven fremden Konfuln das Erequatur. Deshalb iſt der Präfl« 
dent in ber Lage, einen fremden Staat ober deſſen Regierung allein anzu» 
ertennen, indem ex den Gefandten empfängt. Wie wichtig das fei, hat das 
Beifpiel von Merilo gezeigt. Die Nichtanerkennung des Gefandten, den der Kaifer 
Marimilion ſchickte, hat den Fall des Kaiſerthums zur Folge gehabt (1865. 66). 
Er fliegt die oölkerrehtlihen Berträge mit fremden Staaten 
ab, indefien unter der Beſchränkung der Zuftimmung bes Senats mit zwei Drittel» 
fimmenmehrheit, Die Sorge für bie Handhabung des Bölkerrechts liegt ihm 


7138 Nachtrag. 


fie ausüben, beifälliger aufgenommen und konſequenter durchgeführt worden, als 
in den Vereinigten Staaten. Schon im XVI. Jahrhundert hatte Bodin in 
Franfreih Trennung der Juſtiz von der Regierung und Verwaltung verlangt 
und es iſt dann dieſes Begehren vorzüglich im Interefie der Rechtspflege allge 
meiner auerkannt und ſchließlich in der Organifation der Staatsbehörben mehr 
und mehr berädfichtigt worben. Auch in England wurde basjelbe infoferm beachtet, 
als die Gerichtshöfe von der Regierung ausgefhieven und unabhängig geftellt 
wurden. Indeſſen tft in England bis heute diefe Ausfchelnung auf ven untern 
Stufen der Verwaltung noch nicht völlig vollzogen; indem bie Friedenkrichter 
zugleich Poltzeigewalt und richterliche Funktionen üben, und felbft in der oberften 
Spite die Lord Oberrihter aud im Oberhaus in Verbinbung mit biefem ein 
Richteramt üben. Montes quien ging einen Schritt weiter, und verlangte auch 
Trennung der Regierung und bee Gefetzgebenden Gewalt. Dabei berief 
ec fi) fonderbarer Weiſe vorzüglich auf die englifche Berfafiung, in welcher vie 
felbe praftifh geworben ſei; während in Wahrheit ber „König im Rathe“ als 
Regierung und der „König im Parlament” vie beiverlei Gewalten wenigſtens ber 
ſtaatsrechtlichen Form nad in feiner PBerfon einigte, und noch mehr die Minifter 
(da8 fogenannte Kabinet), welde in Wahrheit die Regterungsgefchäfte leiteten 
und beforgten, zugleich als Führer im Parlamente faßen und ftimmten, alfe wie 
der in ihrer Berfon die beiden Gewalten verbanden. 

Die Theorie von Montesquien fand in Amerila bei den Staatamaͤnnern 
lebhaften Beifall. Die Unionsverfaſſung insbefondere wurde möglichſt nach biefem 
Srundfage organifirt, der auch in ven Einzelſtaaten herrſchend wurde. Die Ein- 
heit, beren freilich kein Staat entbehren Tann, wurde nur no in dem Volke 
gefuht umd gefunden, von dem alle befonvere Staatsgewalt ausgehe ‚und abge- 
leitet werde. Das Boll gründet die Berfafiung, melde die einzelnen Gewalten 
nnterjcheidet und ben Trägern und Dienern derfelben die nöthige Bollmacht gibt. 
In diefer Weife werden unterſchieden: 

a) die geſetzgebende Gewalt, welde größern repräfentativen Berfamm- 
ungen (in der Union dem Kongreß) anvertraut wird; 
b) die vollziehende Gewale, melde in einem Präfiventen koncentrirt 


wird ; Ä 
c) die rihterlihe Gewalt, melde von ven Gerichtshöfen ausgeübt wird. 

In der Theorie werden dieſe drei oberften Gewalten einander gleich geftellt: 
in der Praxis aber find die beiden erften augenfcheinlich mächtiger als die dritte. 
Wenn gleich die Autorität des Gerichts, wie wir oben gefehen haben, (A. 1) auch bie 
Aufgabe hat, die beiden andern Gewalten an ihre verfafiungemäßigen Schranfen 
zu erinnern und zu befchränfen, fo werben die Richter doch von dem Präſidenten 
ernannt, erhalten vom Kongreß ihre Rechtsregel und find vemfelben verantwortlich. 
Während Kongreß und Präfivent nad Bedürfniß und Umſtänden Neues und 
Entſcheildendes anordnen, können die Gerichte nur in einem einzelnen gewöhnlich 
Heinen Streitfalle das beflehende Recht ſchützen. Der Bereinigung von Präfivent 
und Kongreß vermöchte kein Gericht lange zu wiberftehen. 

Die Trennung der richt erl ichen von ver vollziehenden Gewalt, vie im 
Großen aud in den europälihen Staaten durchgeführt If, bat nur infofern eine 
Beihränfung, als der Präfident der Union fowohl als die Gonvernenre in den 
Einzelſtaaten ein weit gebenves Beguadignngsredht haben, deſſen leichte Au⸗ 
regung die Geſchäfte der Regierung überlaftet und vie Wirkung ber Strafjuſtiz 
unficher macht. In neuerer Zeit wird daher bier eine Reform verlangt (Liebers 





Nordamerikanifche Sreiftaaten. 739 


Vorſchlage zur Berfaffungsrevtfion für New- Hort 1867). Zweckmäßiger iſt eine 
andere Modifikation des allgemeinen Grundfages, indem einer Abtheilung ber 
gefeggebenden Gewalt, dem Senat, in politiihen Berantwortlichkeitsprocefien 
(Impeachments) der oberfien Magiftrate nad engliſchem Vorbild die Funktion 
eines Staatsgerichts hofs übertragen fl. 

Uecberfpannt dagegen erſcheint die Zrennung der Regierung von ber 
Geſetzgebenden Gewalt. Zwar Tieß fih auch in Amerifa diefer Grundſatz 
nit völlig durchführen. Der Präfivent Tann durch feine Botfhaften an 
den Kongreß nicht bloß auf das Bedürfniß einer gejeglihen Regulirung aufs 
merkſam machen und die Thätigleit des Geſetzgebers anregen, fonvern aud feine 
Vorſchläge dazu entwideln und begründen. Ueberbem fteht ihm ein Beto zu gegen 
Geſetze, die er für ungerecht oder unzwedmäßig hält. Viele Präfiventen haben von 
biefem Recht des Veto Gebrauch gemadt und dadurch das Inkrafttreten folder 
Geſetze verhindert. Freilich iſt auch dieſes Veto Tein abfolutes Hinderniß. Es kann 
in Folge nochmaliger Erwägung des Kongreſſes durch eine zweite Abftimmung 
dann befeitigt werden, wenn in jebem Haus mit einer Mehrheit von zwei Dritt- 
tbeilen der Stimmen das Geſetz nochmals gut geheißen wird. Über in vielen Fällen 
wirkt das Veto doch, zumal wenn bie Parteien nahezu gleich flarf vertreten und 
nit mit einander einig find. 

Aber der Präfident hat doch Fein eigentliches Recht der Initiative, fon- 
dern muß irgend ein Mitglied des Kongreſſes beftimmen, daß es bie Anträge 
ftelle, die er nicht ftellen kann. Das aber ift fhon ein Hemmniß feines Einfluffes 
und eine erheblihe Erſchwerung der Annahme feiner Vorſchläge, überdem iſt er 
ſelbſt und find feine Miniſter von der Berathung im Kongreß ausgefchloffen. 
Diefer Ausſchluß verhindert aber gerade die Berfonen, welde in vielen Fällen die 
meifte Sachkunde befigen, ihre Meinungen wirkſam zu vertreten und macht es 
möglih, daß andere weniger kundige Männer die Berfammlung leiten und viel« 
leicht auf Abwege führen. Diefe Ichroffe Trennung reizt überdem bie beiden rivalen 
Mächte aus einander zu gehen und macht einen Zwieſpalt zwifchen beiden möglich, 
der für die Autorität der Stantögewalt und für ben Frieden des Landes fehr 
gefährlich werden Tann. Allervings forgt die Verfaſſung dafür, daß dieſer Zwie- 
fpalt fpäter nad) einer Frift von vier Jahren wieder gehoben und eine Art Har- 
monie bergeftellt werbe, indem fie fowohl bie Stellen. der Kongreßmitglieder als 
bie des Präfidenten einer neuen Volkswahl unterwirft und ben Wählern fo bie 
Möglichkeit eröffnet, der einen Partei ven Sieg zu verfchaffen. 

IV. Berfafiungsänderungen. Das amerilanifhe Recht unterfcheidet 
fhärfer, als wir es in Europa zu thun gewohnt find, zwilhen Berfaffung 
und Geſetz, obwehl man auch in Amerika ſich der Wahrheit nicht verſchließen 
kann, daß eine Berfaſſungsbeſtimmung auch ein Geſetz, nur ein beſonders wich⸗ 
tiges, ein Grundgeſetz ift. Die Verbeſſerungsfähigkeit einer jeden Berfafung, 
als eines Menfhenwerls, wird ausprüdlih anerkannt und für die Möglichkeit 
geforgt, Verbeſſerungen einzuführen. Dabei denkt man und mit guten politifchen 
Gründen, zunähft an bie einzelnen Berbefferungen (ſog. Bartialrevifion), 
nicht an einen Umbau der ganzen Verfaflung (Totalrevifton), obwohl aud 
das möglih und nad wefentlicher Umgeflaltung ber politiſchen Anfihten und Be⸗ 
därfuiffe nothwendig If. 

Die Inittative zu Berfafiungsänderungen (amendments) kann ausgehen ent- 
weder vom Kongreß, welder mit einer Mehrheit von zwei Drittheilen beiver 
Hänfer vie Vorſchläge macht, oder von ven Einzelfiaaten, wenn zwei Dritt- _ 

47% 


738 Nachtrag. 


fie ausäben, betfälliger aufgenommen und konſequenter burchgefährt worden, als 
in den Bereinigten Staaten. Schon im XVI. Jahrhundert Hatte Bodin in 
Frankreich Trennung ver Juſtiz von der Regierung und Verwaltung verlangt 
und es iſt dann dieſes Begehren vorzüglich im Interefie der Rechtspflege allge 
meiner anerkannt und ſchließlich im der Organifation der Stantsbehörden mehr 
und mehr berädfiätigt worden. Auch in England wurbe basfelbe infoferm beachtet, 
als die Serichtshöfe von der Regierung ausgeſchieden und unabhängig geftellt 
wurden. Indeſſen ift in England bis heute diefe Ausſcheidung auf den untern 
Stufen der Verwaltung noch nit völlig vollzogen; indem bie Friedensrichter 
zugleich Polizeigewalt und richterliche Funktionen üben, und felbft in der oberfien 
Spige die Lord Oberrihter auch im Oberhaus in Verbindung mit dieſem ein 
Richteramt Üben. Montes quieu ging einen Schritt weiter, und verlangte auch 
Trennung der Regierung und der Geſetzgebenden Gewalt. Dabei berief 
ec ſich fonderbarer Weiſe vorzüglich auf die englifche Berfafiung, in welcher vie 
felbe praftifch geworben ſei; während in Wahrheit der „König im Rathe“ als 
Regierung und der „König im Parlament“ vie beiderlei Gewalten wenigſtens ver 
ſtaatsrechtlichen Form nach in feiner Perfon einigte, und noch mehr die Minifter 
(da8 fogenannte Kabinet), welche in Wahrheit die Regierungsgefchäfte Leiteten 
und beforgten, zugleich als Führer im Parlamente faßen und ftimmten, alſo wie 
der in ihrer Perfon die beiden Gewalten verbanden. 

Die Theorie von Meontesquien fand in Amerika bei den Stantemännern 
lebhaften Beifall. Die Unionsverfaffung insbefonvere wurde möglichft nach biefem 
Srundfage organifirt, der auch In ven Einzelftanten herrſchend wurde. Die Ein- 
beit, deren freilich Tein Staat entbehren fann, wurbe nur noch in dem Bolte 
gefucht und gefunden, von dem alle befondere Staatsgewalt ausgehe und abge 
leitet werde. Das Bolt gründet die Berfaffung, welde die einzelnen Gewalten 
unterfcheidet und ben Trägern und Dienern derſelben die nöthige Bollmacht gibt. 
In dieſer Weife werben unterfchieven: 

a) die geſetzgebende Gewalt, welde größern repräfentativen Berfamm- 
lungen (in der Union dem Kongreß) anvertraut wird; 

b) die vollzieheune Gewale, welde in einem Präflventen koncentrirt 
wird; 

ce) die rihterlihe Gewalt, melde von den Gerichtshöfen ausgeht wird. 

In der Theorie werben dieſe drei oberften Gewalten einander gleich geftellt; 
In ber Praxis aber find die beiden erſten angenfcheinlich mächtiger als vie britte. 
Wenn gleich die Autorität des Berichts, wie wir oben gefeßen haben, (A. 1) auch die 
Aufgabe hat, die beiden andern Gewalten an ihre verfaffungsmäßigen Schranken 
zu erinnern und zu befchränfen, fo werben die Richter bo von dem Präſidenten 
ernannt, erhalten vom Kongreß ihre Rechtsregel und find vemfelben verantwortlich. 
Während Kongreß und Präfivent nad Bedürfniß und Umſtänden Neues und 
Entſcheidendes anorbuen, können die Gerichte nur in einem einzelnen gewähntid 
Heinen Streitfalle pas beſtehende Recht ſchützen. Der Bereinigung von Präftdent 
und Kongreß vermöcdte kein Gericht lange zu wiberftehen. 

Die Trennung ber richterlichen von ver vollzieheuden Gewalt, die im 
Großen auch in den europäiſchen Staaten durchgeführt iſt, hat nur infofern eine 
Beſchraͤnkung, als ber Präfivent der Union fowohl als die Gouvernenre in ben 
Ginzelftanten ein weit gehendes Begnabignngsreht haben, beiten leichte An- 
regung die Gefchäfte der Regierung überlaftet und die Wirkung der Strafjuſtiz 
unficher macht. In neuerer Zeit wird daher bier eine Retorm verlangt (Liebers 











Nordamerikaniſche Sreiflanten. 739 


Borfhläge zur Berfaffungsrevifion für New-Yorl 1867). Zweckmäßiger ift eine 
andere Modifikation des allgemeinen Grundſatzes, indem einer Abtheilung ber 
gefeggebenden Gewalt, dem Senat, in politifchen Berantwortlichkeitsprocefien 
(Impeahments) der oberfien Magiftrate nach engliſchem Vorbild die Funktion 
eines Staatsgerihtshofs übertragen if. 

Ueberfpannt dagegen erfheint die Trennung ber Regierung von ber 
Geſetzgebenden Gewalt. Zwar ließ fih auch in Amerifa diefer Grundſatz 
nit völlig durchführen. Der Präfident Tann durch feme Botſchaften an 
den Kongreß nit bloß auf das Bedürfniß einer gefetlihen Regulirung auf 
merffam machen und die Thätigleit des Geſetzgebers anregen, ſondern auch feine 
Borihläge dazu entwideln und begründen. Ueberdem ſteht ihm ein Beto zu gegen 
Geſetze, die er für ungerecht oder unzwedmäßig hält. Viele Präfidenten haben von 
biefem Recht des Veto Gebrauch gemadt und dadurch das Inkrafttreten folder 
Geſetze verhindert. Freilich ift auch dieſes Veto kein abfolutes Hinderniß. Es kann 
in Folge nodhmaliger Erwägung des Kongreſſes durch eine zweite Abftimmung 
dann befeltigt werben, wenn in jedem Haus mit einer Mehrheit von zwei Dritt- 
theilen der Stimmen das Geſetz nochmals gut geheißen wird. Aber in vielen Fällen 
wirkt das Veto doch, zumal wenn bie Parteien nahezu gleich ſtark vertreten und 
nicht mit einander einig find. 

Aber ver Präfident bat doc Fein eigentlihes Net der Initiative, fon- 
dern muß irgend ein Mitgliev des Kongreſſes beftimmen, daß es die Anträge 
fielle, die er nicht fielen kann. Das aber ift fhon ein Hemmniß feines Einfluffes 
und eine erhebliche Erſchwerung der Annahme feiner Borfchläge, überdem iſt er 
ſelbſt und find feine Miniſter von der Berathung im Kongreß ausgeſchloſſen. 
Diefer Ausſchluß verhindert aber gerade die Berfonen, welche in vielen Fällen bie 
meifte Sachkunde befigen, ihre Meinungen wirkfam zu vertreten und macht es 
möglich, daß andere weniger fundige Männer die VBerfammlung leiten und viele 
leiht auf Abwege führen. Diefe ſchroffe Trennung reizt überdem bie beiven rivalen 
Mächte aus einander zu gehen und macht einen Zwielpalt zwiſchen beiden möglich, 
der für vie. Autorität der Staatögewalt und für den Frieden des Landes fehr 
gefährlich werben kann. Allerdings forgt die Verfaſſung dafür, daß diefer Zwie- 
fpalt fpäter nad einer Friſt von vier Jahren wieder gehoben und eine Art Har- 
monie bergeftellt werbe, indem fie fowohl die Stellen. ver Kongreßmitglieder als 
bie des Präfinenten einer neuen Volkswahl unterwirft und ben Wählern fo vie 
Möglichkeit eröffnet, der einen Partei ven Sieg zu verfchaffen. 

IV, Berfaffungsänderungen. Das amerikaniſche Recht unterjcheivet 
ſchärfer, ale wir es in Europa zu thun gewohnt find, zwiſchen Berfaffung 
und Geſetz, obwohl man auch in Amerika fi der Wahrheit nicht verfchliegen 
kann, daß eine Verfafiungsdeftimmung auch ein Geſetz, nur ein beſonders wich⸗ 
tiges, ein Grundgeſetz iſt. Die Berbeſſerungsfähigkeit einer jeden Berfaffung, 
als eines Menſchenwerks, wird ausprädiih anerkannt und für die Möglichkeit 
geforgt, Verbeſſerungen einzuführen. Dabei denkt man und mit guten politifchen 
Gründen, zunähft an die einzelnen Berbefferungen (fog. Bartialrevifton), 
nicht an einen Umban ver ganzen Berfaffung (Zotalrevifion), obwohl aud 
das möglih und nad) wefentlicher Umgeftaltang ver politifhen Anſichten und Be- 
därfniffe nothwendig If. 

Die Initiative zu Berfaffungsänverungen (amendments) kann ausgehen ent- 
weder vom Kongreß, welder mit einer Mehrheit von zwei Drittheilen beiver 
Häufer nie Vorſchläge macht, oder von den Einzelſtaaten, wenn zwei Dritt- _ 

47% 


738 Nachtrag. 


fie ausäben, betfälliger aufgenommen und Tonfequenter burdägefhrt worben, als 
in ben Vereinigten Staaten. Schon im XVI. Jahrhundert hatte Bodin in 
Frankreich Trennung der Juſtiz von ber Regierung und Verwaltung verlangt 
und es ift dann dieſes Begehren vorzüglich im Interefie der Rechtspflege allge 
meiner anerkannt und ſchließlich in der Organifation ver Staatsbehörben mehr 
und mehr berädfiätigt worden. Auch in England wurbe vasfelbe inſofern beachtet, 
als die Gerichtshöfe von ber Regierung. ausgefchieven und unabhängig geftellt 
wurden. Indeſſen ift in England bis heute dieſe Ausſcheidung auf den unterm 
Stufen der Verwaltung noch nit völlig vollzogen; indem bie Friedensrichter 
zugleih Polizeigewalt und richterliche Funktionen üben, und felbft in der oberften 
Spite die Lord Dberrihter auch im Oberhand in Verbindung mit biefem ein 
Richteramt üben. Montesgnien ging einen Schritt weiter, und verlangte auch 
Trennung der Regierung ind dee Gefeggebenben Gewalt. Dabei berief 
ec fi fonderbarer Weiſe vorzüglich auf die englifche Verfafſung, in welcher vie- 
felbe praftifch geworben ſei; während in Wahrheit der „König im Rathe“ als 
Regierung und der „König im Parlament” vie beiverlei Gewalten wenigftens der 
ſtaatsrechtlichen Ferm nach in feiner Perfon einigte, und noch mehr die Miniſter 
(das fogenannte Kabinet), welde in Wahrheit die Regierungsgeichäfte leiteten 
und beforgten, zugleih als Führer im Parlamente faßen und fimmten, alſo wie 
der in ihrer Perſon die beiden Gewalten verbanven. 

Die Theorie von Meontesquien fand in Amerila bei den Staatsmännern 
lebhaften Beifall. Die Unionsverfafiung insbefondere wurde möglichſt nach biefem 
Srundfage organifirt, der au in ben Einzelftaaten herrſchend wurde. Die Ein- 
beit, beren freilich kein Staat entbehren Tann, wurbe nur noch in dem Bolte 
gefucht und gefunden, von dem alle befondere Staatsgewalt außgehe ‚und abge- 
leitet werde. Das Boll gründet die Verfafſuug, welche vie einzelnen Gewalten 
unterfcheivet und ben Trägern nnd Dienern derſelben die nöthige Bollmacht gibt. 
In diefer Weife werben. unterfchieben: 

a) die gefeggebende Gewalt, welde größern repräfentativen Berfamm- 
lungen (in ber Union dem Kongreß) anvertraut wird; 

b) die vollzieheude Gewale, melde in einem Präfiventen koncentrirt 
wird; Ä 

e) die rihterlihe Gewalt, welde von den Gerichtshöfen ausgeäbt wird. 

In der Theorie werben dieſe drei oberften Gewalten einander gleich geftellt; 
in ber Praris aber find bie beiden erſten augenfcheinlich mächtiger als die vritte. 
Wenn gleich die Autorität des Berichts, wie wir oben geſehen haben, (A. 1) andy bie 
Aufgabe hat, die beiden andern Gewalten an ihre verfaffungsmäßigen Schranken 
zu erinnern und zu befchränfen, fo werben die Richter doch von dem Präſidenten 
ernannt, erhalten vom Kongreß ihre Rechtsregel und find vemfelben verantwortlich. 
Während Kongreß und Präfivent nad Bedürfniß und Umftänden Neues und 
Entſcheidendes anorbnen, können die Gerichte nur im einem einzelnen gewöhnlich 
Heinen Streitfalle das beftehende Recht ſchützen. Der Bereinigung von Präftvent 
und Kongreß vermöcdte kein Gericht lange zu widerftehen. 

Die Trennung der rihterlidhen von der vollziehenden Gewalt, die im 
Großen aud in den europäiſchen Staaten durchgeführt iſt, hat nur infofern eine 
Beihränfung, als der Präfivent der Union fowohl ale die Gonvernenre in ben 
Ginzelftanten ein weit gehendes Begnadigungsreht haben, deſſen leichte Au⸗ 
regung die Geſchäfte der Regierung überlaftet und die Wirkung ber Strafiuftiz 
unficher macht. In neuerer Zeit wird daher hier eine Retorm verlangt (Liebers 











Tlordamerikanifhe Ereiſtaaten. 739 


Vorſchläge zur Berfaffungsrevifion für New⸗York 1867). Zweckmäßiger iſt eine 
andere Movifitation des allgemeinen Grundſatzes, indem einer Abtheilung ber 
gefeggebenden Gewalt, vem Senat, in politifchen Verantwortlichkeitsproceſſen 
(Impeahments) der oberfien Magiftrate nad englifhem Vorbild die Funktion 
eines Staatsgerihtshofs übertragen if. 

Uecberfpannt dagegen erjheint die Zrennung der Regierung von ver 
Geſetzgebenden Gewalt. Zwar ließ fih auch in Amerifa dieſer Grundſatz 
nicht völlig durchführen. Der Präfivent kann durch feine Botſchaften an 
den Kongreß nit bloß auf das Bedürfniß einer gefeglihen Regulirung auf- 
merffam machen und vie Thätigfeit des Geſetzgebers anregen, ſondern auch feine 
Vorſchläge dazu entwideln und begründen. Ueberdem ſteht ihn ein Beto zu gegen 
Gefetze, die er für ungereht oder unzwedmäßtg hält. Viele Präfidenten haben von 
biefem Recht des Beto Gebrauch gemadt und dadurch das Inkrafttreten folder 
Geſetze verhindert. Freilich ift auch diefes Veto fein abfolutes Hinderniß. Es kann 
in Folge nochmaliger Erwägung des Kongreſſes durch eine zweite Abftimmung 
bann befeltigt werden, wenn in jebem Haus mit einer Mehrheit von zwei Dritt- 
theilen der Stimmen das Geſetz nochmals gut geheißen wird. Über in vielen Fällen 
wirkt das Veto doch, zumal wenn bie Parteien nahezu gleich ſtark vertreten und 
nicht mit einander einig find. 

Aber der Präfident bat doch Fein eigentlihes Recht der Initiative, fon- 
bern muß irgend ein Mitglied des Kongreſſes beftimmen, daß es die Anträge 
elle, die er nicht ftellen kann. Das aber ift ſchon ein Hemmniß feines Einfluffes 
und eine erhebliche Erfchwerung der Annahme feiner Vorſchläge, überdem iſt er 
ſelbſt umb find feine Miniſter von der Berathung im Kongreß ausgefchloffen. 
Diefer Ausſchluß verhindert aber gerade die Berfonen, welde in vielen Fällen die 
meifte Sachkunde befigen, ihre Meinungen wirkfam zu vertreten und macht e8 
möglich, daß andere weniger kundige Männer die Verfammlung leiten und viel- 
lit auf Abwege führen. Diefe fchroffe Trennung reizt überdem die beiden rivalen 
Mächte aus einander zu gehen und macht einen Zwieſpalt zwifchen beiden möglich, 
ber für die, Autorität der Stantsgewalt und für den Frieden des Landes fehr 
gefährlich werben kann. Allervings forgt die Verfaſſung dafür, daß dieſer Zwie- 
ſpalt fpäter nad einer Frift von vier Jahren wieder gehoben und eine Art Har- 
monie bergeftellt werbe, indem fie ſowohl pie Stellen. der Kongreßmitglieder als 
die des Präfidenten einer nenen Volkswahl unterwirft und ven Wählern fo bie 
Möglichkeit eröffnet, der einen Partei ven Sieg zu verfchaffen. 

IV. Berfafiungsänderungen. Das amerikaniſche Recht unterjcheivet 
ſchärfer, als wir es in Europa zu thun gewohnt find, zwiſchen Berfafiung 
und Geſetz, obwohl man auch in Amerila ſich der Wahrheit nicht verfchliehen 
fann, daß eine Verfafjungsdeftimmung aud ein Geſetz, nur ein befonders wich⸗ 
tiges, ein Örunpgefeg ift. Die Verbefierungsfähigkeit einer jeden Berfaflung, 
als eines Menſchenwerks, wird ausdrücklich anerkannt und für die Möglichkeit 
geforgt, Verbeflerungen einzuführen. Dabei denkt man und mit guten politifchen 
Grunden, zunähft an die einzelnen Verbeſſerungen (ſog. Bartialrevifion), 
nicht an einen Umban ver ganzen Verfaſſung (Totalrevifion), obwohl audy 
das möglih und nad weſentlicher Umgeftaltung ver politiſchen Anflhten und Be⸗ 
därfniffe nothwendig If. 

Die Initiative zu Verfafſungsaͤnderungen (amendments) kann ausgehen ent- 
weder vom Kongreß, welder mit einer Mehrheit von zwei Drittheilen beider 
Hänfer die Vorſchlage macht, ober von ben Einzelftaaten, wenn zwei Dritt- _ 

47% 


l 


740 Nachtrag. 


theile derfelben durch ihre Legislaturen eine Berbeflerung beantragen, Im erftern 
Hal arbeitet der Kongreß felbft das neue Verfaffungsgefeg aus. Im letztern Gall 
dagegen beruft der Kongreß einen Konvent (Berfafjungsrath) ein, ber 
den Vorſchlag macht. In beiden Fällen wird das Amendment der Abſtimmung 
der Einzelftanten unterworfen, entweber ihrer Tegiölaturen ober eigener zu dieſem 
Behuf gewählter Konvente. Nur wenn drei Biertheile aller Staaten dazu flimmen, 
wird das neue Geſetz rechtsgültig als neuer Beſtandtheil der Verfafſſung. (Art. V 
der Untonsverf.) Während des Bürgerkriegs 1861—65 und auch nadher noch 
bis zur Wiederaufnahme der aufftänbifhen Staaten wurben vie Stimmen der⸗ 
felben bei Berechnung der drei Bierteldmehrheit nicht gezählt. 

B. Geſetzgebende Gewalt der Union. Der Kongreß. 

Schon vor der Bildung der Unionsverfaffung wurde bie gefeßgebenbe (auto- 
nomifche) Gewalt in den amerilanifhen Einzelftaaten faft überall durch eine Berfamm- 
lung geübt, vie in zwei Abtheilungen zerfiel, Repräfentanten und Senat. 
Nur in Pennfylvanien, Georgien und Vermont hatte man’s mit Einem repräfen- 
tativen Haufe verfuht und Franklin fomohl ale MadintosH in feiner Jugend 
vertheibigten biefe abweichende Einrichtung. Aber die große Mehrheit der Staaten 
und ber Publiciften zogen entjchieven das Zweikammerſyſtem vor. Diefe erflärten 
eine zweifeitige Prüfung für nöthig, um bie Gefahren einer leidenſchaftlichen oder 
allzuhaftigen und unvorfihtigen Geſetzesmacherei zu vermeiden und fanden im ber 
Einrichtung zweier Kammern eine wichtige Oarantie gegen bie Ueberſpannung 
uud den Abfolutismus der Autorität, zu welder große repräfentative Verſamm⸗ 
lungen leicht hinneigen. Die Gefahren, daß ein fortgefegter Widerſpruch und 
Streit ber beiden Kammern den Fortſchritt der Gefeßgebung hindere, hielten fie 
für gering, zumal dem Bolt die Gelegenheit gegeben war, durch Neuwahlen bie 
Harmonie berzuftellen. 

Der Kongreß der Union theilt fih in das Repräfentantenhaus 
und den Senat. Jener repräfentirt in höherem Grabe das nationale, biefer 
mehr das föderale Element in der Unton. Dort ift die amerikaniſche Geſammt⸗ 
bürgerfchaft, hier find die Einzelftaaten ver Union vargeftellt. Dort ift die Zahl 
der Bevölferung, hier die Anzahl der Staaten maßgebend. 

I Repraͤſentantenhaus. Anfangs mar bie Zahl der Mitglieder im 
Nepräfentantenhaus nad dem Verhältniß eines Mitglieds auf mindeſtens 30,000 
Seelen berechnet. Dabei wurden die nicht beftenerten Indianer nicht gezählt, und 
bie Sklavenbevölkerung nicht voll, fonbern nur zu brei Fünftheilen angejegt. Aber es 
warb dem Kongreß die Befugniß vorbehulten, biefe Zahl neu zu ordnen. Das 
große und rafhe Wachsthum der Bevolkerung machte dann aud eine neue Ord⸗ 
nung nothwendig, bamit nicht die Berfammlung zu groß und in Folge deſſen 
unfähig für die Gefchäfte werde. Die Verhältnißzahl wurbe daher erhöht, erft 
auf 35,000, dann auf 47,700, weiter auf 70,680 Seelen, bis man ſchließlich 
dahin kam, die Zahl der Mitgliever auf 233 zu firiren, und dann von biefer 
feften Größe an die wachſende Zahl der Wahlkreife zu beflimmen. Dabei wurde 
immer nod daran feftgehalten, daß jever Staat wenigfiens Einen Repräfentanten 
ftellen dürfe, aud wenn er eine geringere Bevölkerung habe, als fonft für bie 
Wahlkreiſe erforderlich ſei. Die Zahl der Mepräfentanten läßt fi ohne große 
Gefahren wohl noch ziemlih erhöhen; aber wenn die Bevölkerung der Union in 
bem bisherigen Verhältniß zu wachſen fortfährt, fo wird die Schwierigkeit einer 
Bollsvertretung jehr groß werben. Hunderttauſend Menfchen mögen noch mit 
Einem Repräfentauten in einem perjönlichen Bertrauensverhältuiß fichen, obwohl 











Nordamerihanifche Freiſtaaten. 741 


das ſchon fehr fraglich iſt, aber eine Mepräfentation bes Bolls, welche Wahlkreiſe 
von je einer halben Million Menſchen vorausfegt, würde ſchwerlich mehr ven 
bentigen Eharalter einer Bollövertretung bewahren können. 

Die Wahlen gefhehen in Wahltreifen, wodurch ber nationale Charafter 
berfelben eine lokale Färbung erhält. Ueber die Auspehnung des Stimmredts 
konnte fi) der Konvent nicht verftänbigen, indem bie Anſichten und Intereffen im 
Süden und im Norven fehr weit auseinander gingen. Die Berfaflung überließ 
daber die Beſtimmung ber VBebingungen des Stimmrechts den Einzelftaaten und 
feste nur feft, daß wer im Einzelfiant das Stimmrecht habe für bie bortige 
—5 auch für die Wahlen zum Kongreß ſtimmberechtigt ſei (T. 2. 8. 1.). 
Almählih haben fih aber die Einrichtungen genähert und die Aufhebung ber 
Sklaverei hat das größte Hinderniß des gleichen Rechts befeitigt. Nur in wenig 
Staaten noch wird ein Cenſus gefordert, wohl aber in manden irgend eine 
Steuerleiftung. Das allgemeine Stimmreht (f. d. Art. Wahlrecht) ift auch in 
Amerika in der Ausdehnung begriffen. 

Die Wahlen werben unmittelbar buch die Urwähler vollgogen, nicht 
durch Wahlmänner vermittelt und gefchehen in den meiften Staaten durch geheime 
Stimmzeddel, in einigeu aber nad englifcher Weiſe durch offene Abſtimmung. 

Die Bebingungen der Wählbarkeit find a) ein Alter von minveftens 
25 Jahren. b) Amerikanifches Bürgerrecht feit minveftens 7 Jahren. c) Wohnort 
in dem Lande der Wahl. d) Die Bunvesbeamten find gänzlih von der Wahl 
ansgefhloffen, nit aber die Beamten ver Einzelftanten. Indeſſen ſchließen viele 
Berfafiungen der Einzelftanten die Mitglieder des Kongrefies auch von ihren 
Aemtern aus. 

Die Dauer der Repräfentation iſt auf nur 2 Jahre befchränft, das ganze 
Repräfentantenhaus daher einem rafhen Wechſel und in Folge deſſen aud bie 
ganze Richtung der Geſetzgebung großen Schwankungen ausgejekt. 

Am 1. December fommt das neue Hans zufammen, und wählt durch offene 
Abſtimmung feinen Präfinenten, den Sprecher, und bie übrigen Beamten des 
Haufes (Setretäre, (Sergent-at arms). In Streitfällen entſcheidet das Hans ſelbſt 
über die Gültigkeit der Wahlen feiner Mitglieder. 

D. Der Senat. Die Gefeßgebungen ver Einzelfiaaten wählen je zwei 
Senatoren ohne Unterfhied der größern ober geringern Bevölkerung. “Die Be⸗ 
dingungen der Wählbarkeit find: a) ein Alter von mindeſtens 30 Jahren, 
db) Minveftens neunjähriges Bürgerrecht In ber Union. c) Wohnfig in bem 
wählenden Staate (I. 3. 8. 1). Zocqueville und andere Beobachter haben die 
Wahrnehmung gemacht, daß im Senate durchweg mehr Intelligenz und Geſchäfts⸗ 
kunde fi finden, als im Repräfentantenhaus. Die Amtsdauer ver Senatoren iſt 
auf 6 Jahre beftimmt, fo daß je zu zwei Jahren nur- ein Dritttheil verfelben 
einer neuen Wahl ausgefettt wird. Der Präfldent des Senats wird nit unter 
den Mitgliedern des Senats nnd nit von viefem, fondern von demſelben Kon. 
vente des Volks gewählt, welcher ben Präftdenten wählt. Der Vicepräſident 
der Union iſt von Amtöwegen Präftvent des Senats. Im Senat wird übrigens 
nit nad Staaten geftimmt, fondern jeder Senator madt feine Stimme geltend, 
feiner eigenen Ueberzeugung gemäß. Inftrultionen der Staaten find nicht geftattet. 
Der Senat ift daher nicht ein Gefanbten- Kongreß, fondern eine nationale Infti- 
tution mit föderaler Bafie, 

IL Befugniffe des Kongreffes. Der amerikanifche Kongreß Hält alle 
jährlich eine orbentlihe Sitzung. Seine Hauptthätigleit bezieht fi: 


742 Nachtrag. 


1. auf die Geſetzgebung ber Union. Er übt vie geſetzgebende Gewalt ver 
Theorie nad) ausfchlieglih aus. (Verf. L 8.) Im Einzelnen find hervorzuheben: 

a) die organifchen Gefege, zur Ausbildung ber verfaffungsmäßigen In- 
ftitutionen. (Organifation der Bundesämter. Beftimmung ihrer Verantwortlichkeit. 
L 8. 18. 

b) Die Binanzgefege. Dahin gehören insbefonpre die alljährlichen 
Kreditbewilligungen für bie büdgetmäßigen Ausgaben (appropriations 
made by law). Der Yinanzminifter ertheilt dem Kongreß von Belt zu Zeit 
Bericht über die Einnahmen und Ausgaben und die Ergebuifle der Schagverwal- 
tung. Diefelben werben veröffentlicht; aber es iſt nit Sache des Kongrefles bie 
Sahresrehnung zu genehmigen. Nur darf die Schagverwaltung feine Gelder 
bezahlen, außer zu Folge der Krevitbewilligung. Rechnungsbehörden Tontrolixen 
bie Yinanzverwaltung (I. 9. 8. 2). Ferner die .Steuergefege. Diefe mie 
überhaupt alle Gefege, weldhe die Einkünfte des Staats betreffen, mäüſſen 
vorerft im Repräfentantenhaus berathen werben und kommen dann am ben Genat, 
ber im übrigen gleiche Rechte mit jenem bat, alfo aud Aenderungen befchliegen 
foun. Dan üunterfcheidet die eigentlichen (bireften) Steuern (taxes) vor: 
züglih nad Bermögen und Einkommen, bie Gebühren (duties) worunte 
vorzüglid die Stempelgebühren, Tonnengelder und —— — bie Zölle 
(imports) von ein- und ausgehenden Waaren und die Accifen (excises) 
von dem Gebrauch und Verbraud ber Waaren, Konfumtionsſteuern auf Tabak, 
Salz, Getränke u. f. f. (I. 8. 8. 1). Die Verfaflung beftimmt, daß auch alle 
Gebühren, Zölle und Xccifen gheichmäßig fein follen durch die ganze Union 
und verbietet (I. 9. 5) die Auflage von Steuern und Zöllen auf ven Berlch 
von einem Einzelftaat in den andern, fowie allen Zwang gegen Schiffe ein 
Einzelftaates, in einem beftimmten Staatsgebiete einzulaufen und da Zölle oda 
Gebühren zu bezahlen. Kopffteuern dürfen nur nad Verhältniß der Repräfentation 
ver Ginzelftanten auferlegt werden (I. 9. 4), eine Beſtimmung / zu Öunften ver 
Sklavenſtaaten, die nun ihre Bedeutung verloren hat. 

Das eigentlihe Zollwefen ift Unionsfache. Die Einzelſtaaten bärfen nur 
mit Zuftimmung des Kongreſſes Gebühren over Auflagen auf bie Ein- oder Aus- 
fuhr von Waaren legen, ober Tonnengelder erheben. Die Zölle fließen in ben 
Staatsfhag der Union. Als der Staat Maryland 1821 eine Steuer vom 
50 Dollars vorfchrieb für je einen Ballen, ober ein Faß oder eine andere Ber 
padung von fremden Artikeln, vie dort zu Markte gebracht wurden, fo erklärte 
ber oberfte Gerichtshof dieſes Gefeg für verfafſungswidrig. 

Im Uebrigen konkurrirt die Steuerhoheit der Union mit der Stenerhohdi 
ber Einzelftanten. Jene fordert aber nur Steuern zu den Ausgaben der Unten, 
welche hinwieder durch bie Bedürfniſſe ver Yandesvertheinigung und ber allgemeinen 
Wohlfahrt der Vereinigten Staaten beſchränkt find. Dieſe erheben Stenern u 
den befondern Zwecken der befonvern Landeswohlfahrt. 

Auch die Aufnahme von Darlehn, und bie Kontrolirung von Staat?- 
fhulden, fowie die Regulirung ihrer Berzinfung und Abzahlung wird durch 
Geſetze des Kongrefies beftimmt (I. 8, 2). 

c) Die Regelung ferner der Geld- und Münzverhältniſſe iſt Sak 
der Unton. Hierin ift keine Konkurrenz der Einzelftanten geftattet (T. 8, 4). 

d) Die Einführung und Ordnung gleiher Maße und Gewichte in 
der ganzen Union (I. 8, 4) ift ferner dem Kongreß ausjchließlih aufgetragen. 








Nordamerikaniſche Sreiflaaten. 748 


eo) Das PBoftwefen ift Untonsfade (I. 8, 7) und wird durch Unions- 
beamte verwaltet. Der Generalpoftmeifter ift einer der erften Beamten, von vem 
eine fehr große Anzahl von unteren Beamten und Ungeftellten abhängig find, 
deſſen Anſehen daher zuweilen in den Augen der Parteien dem des Präfidenten 
nahe kommt. 

f) Der Kongreß orbnet den Handel mit fremden Nationen und 
mit den Indianerfiämmen (I. 8, 3). Der Schiffahrtsverkehr wird 
darin mitbegriffen. Auch diefes Recht des Kongrefies gilt ale ausſchließlich. 
Die frühern Erfahrungen einer verfhievenen Behandlung von Seite der Einzel- 
ſtaaten waren fo ungäuftig, daß bier vor allem eine Einheit nöthig ſchien. 

g) Militärwefen. Nirgends ift vie Einheit der Leitung umentbehrlicher 
als in der Heeresorganifation. Dennoch wagte man nit, das ganze Militärweien 
zur Unionsſache zu erflären. Bon Alters her hatten die Kolonien Ihre befonvern 
Milizen, und felbft zur Zeit bes Befreiungskrieges mußte man ſich diefer Milizen 
bedienen. Der General Wafhington hatte viel zu fämpfen mit dem partikulariftifchen 
Treiben der Einzelftaaten. Dennoch ließ man das Milizfuften der Einzelftanten 
beſtehen und fuchte nur die Gewalt der Union in einigen Beziehungen auszu⸗ 
behnen. Dan fürdtete, wenn die ganze Miliz von den Uniondgewalten geleitet 
werde, fo könnte das zur Vernichtung der Einzelftanten führen. Aber es wurbe 
dem Kongreß dad Mecht gegeben, über die Organifation, bie Bewaffnung 
und die Disciplinirung der Milizen allgemeine Gefege zu erlaflen und 
die Milizen aufzurnfen, wenn ed nöthig werde, Aufflände zu unter» 
brüden oder das Land wider einen äußern Feind zn vertheibigen 
(L 8, 15 und 16). Unter diefer Vorausſetzung ernennt der Präfident aud bie 
Befehlshaber ber Milizen und iſt dabei nicht an bie Officiere der betreffenden 
Einzelftanten gebunden. Der Kongreß Tann aber auch eine fläntige Armee 
gränden und auf Unionskoſten unterhalten. Die amerilaniſche Politik duldet jedoch 
in Friedenszeiten nur fehr Heine ſtehende Heere. Diefelben waren meiftens nur 
9—10,000 Dann flart und dienten hauptfählih zur Sicherung der Grenzgebiete 
gegen bie Indianer. Auch nad dem großen Bürgerkriege wurbe bie große Unions⸗ 
armee raſch wieder vermindert und beträgt gegenwärtig nicht mehr 50,000 Mann, 
obwohl die Wieverherftellung der Süpftanten noch nicht vollzogen ifl. In ber 
ftehenden Unionsarımee werden alle Officiere von ber Union ernannt (I. 8, 14). 
Gelder für die Armee dürfen höchſtens auf 2 Jahre bewilligt werben. 

Ebenſo ift der Kongreß beredtigt, eine Kriegsmarine herzuftellen und 
zu unterhalten und zwar ausfchlieglid. (I. 8, 13.) 

h) Die ©efege über pie Naturalifation erläßt der Kongreß unbeſchadet 
ber Geſetze der Einzelftanten über ihr befonveres Bürgerrecht (I. 8, 4). 

i) Sefege Über Autorreht und Erfinpungspatente (I. 8, 8). 

k) Die Ausbildung des Privatrechts und des Strafrechts fowie des 
Proceßrechts — Ta von dem untonsgerihtlichen Verfahren — iſt den 
Einzelftaaten vorbehalten. Zwar wirkt in Amerika noch die bergebrachte Gemein- 
ſchaft ve8 Common Law nad, das von England her dahin verpflanzt worden 
ift. Aber es find doch mit der Zeit ziemlich erhebliche Unterfchiebe in der Rechts⸗ 
entwidlung bervorgetreien, und da8 Common Law wird weber durch eine gemein- 
fame Geſetzgebung noch duch eine gemeinfame Rechtsprarxis fortgebilbet. Offenbar 
ift das Problem einer zwedmäßigen Ausſcheidung der Beſtandtheile des Rechts, 
weldhe ber Gleichförmigkeit und Einheit bedürfen von denen, in welchen bie Frei» 
heit der lolalen Geſtaltung wohlthätig ift, noch gar nicht gelöst. Die Verfafſung 





744 Nachtrag. 


bes norbbentfchen Bundes ift in viefer Hinficht vorzüglicher und fihert bie 
nationale Rechtsgemeinſchaft weit befler. 

Einzelne Berhältniffe find indeſſen ver Untonsgefeßgebung vorbehalten, fo 
insbefondere die Milttärftrafgefengebung, die Gefege gegen bie See⸗ 
räuberei und Verbrechen auf offener See, und über völferredt- 
lihe Vergeben (I. 8, 19), ferner die Geſetze Über ven Bankerott (1.8, 4), 
über die Priſengerichtsbarkeit und die Priſenordnungen (I. 8, 11), 
über Hodhverrath gegen den Bund (TIL 3. 1 und 2) und überhaupt 
alle Gefege bezüglich der Unionsgerichte. 

Ueberdem bat ver Kongreß in dem Diſtrikt Eolumbin, in welchem bie 
Unionsſtadt Wafbington liegt, alle die gefeßgebenne Gewalt, welde in ven 
Einzelftasten deren befondren Legislaturen zufteht, fo daß in dieſem Bezirk vie 
volle Einheit ver Staatsgewalt den fonft in Amerika beftehenden Dualismus ber 
Souveränetäten aufhebt. 

2. Hoheitsrechte nah Außen. Die Kriegserflärung wirb als 
eine fo wichtige Angelegenheit betrachtet, welche alle Verhältniſſe ver Union betrifft, 
baß biefelbe nicht dem Präfinenten überlaflen wird, fontern dem Kongreß vorbe- 
behalten bleibt (I. 8, 10). 

Dagegen vie Berträge mit auswärtigen Staaten bebürfen ber 
Genehmigung des Kongrefies nicht, fondern nur der Zuſtimmung des Senats 
(II. 2) Man nimmt an, baß der Senat eher geeignet fei, diplomatiſche Ber» 
bandlungen zu würdigen und vorzugswelfe berufen fei, bie Interefien der eben⸗ 
falls gebundenen Einzelſtaaten zu wahren. Damit ein völkerrechtlicher Bertrag 
Gültigkeit in der Union erlange, müfjen zwei Drittheile der anweſenden Senatoren 
zuftimmen. Der Schwerpunkt. für vie Unterhanblung und den Abſchluß folder 
Derträge liegt Übrigens nicht im Kongreß, auch nit im Senat, fonbern bei dem 
Präfiventen. 

Es gilt das au von Friedensſchlüſſen. Die ſcheinbare Inkonſequenz 
wird damit entſchuldigt, daß es im Intereſſe ver Republik liege, die Kriegs⸗ 
eröffnung zu erfchweren und den Friedensſchluß zu erleichtern. 

3. Das Met der Impeachments, d. 5. „ven Präfiventen felbft, ben 
Bicepräfinenten und alle bürgerlihen Beamten der Union wegen Hochverraths, 
Beftehung ober anderer hoher Verbrechen oder Bergehen” vom Amt zu entfernen. 
Dem Repräfentantenhans fteht das Recht der Anklage zu; der Senat verwanbelt 
fich in einen Staatsgerichtshof, der über die Anklage richtet (TI. 4, 1). 

Diefe Verantwortlichkeit bezieht fih nur auf bürgerliche, nit auf 
militäriſche Beamte, für welche die Militärftcafgefege maßgebend find, auch nicht 
auf die Mitglieder des Kongrefies, die nur der Disciplin des Haufes und ihren 
Wählern, und biefen nur infofern verantwortlih find, als fie bei der Reuwahl 
durchfallen. Das Haus kann eines feiner Mitglieder wegen orbnungswidrigem 
Berfahren mit einer Mehrheit von zwei Dritttheilen ansftoßen (I. 5, 2). 
Ausdruck der Berfaffung über die Klagegründe ift abfichtlich unbeſtimmt, nad 
engliſchem Vorbild, fo daß alle möglichen ſchweren Verletzungen bes öffentlichen 
Rechts (ob auch der Öffentlichen Intereſſen, iſt beftritten) varunter begriffen werben 
können. Die Anflage wird durch eine Kommiſſion der Repräfentanten dem Senat 
eröffnet und nun wird eine Verhandlung und ein VBeweisverfahren eingeleitet, 
äbnlih, nur weniger formell, als in andern Proceffen. Die Schulbigerkiärung 
bebarf 2/, der Stimmen der anwefenden Senatoren und bie Beftrafung beſchränkt 
fi$ anf Entfernung vom Amt und Unfähigkeit zu Aemtern. Würde 


Nordamerikanifche Freiſtaaten. 745 


ein gemeines Berbrechen konkurriren, fo kann hinterher immer noch eine Verfolgung 
vor den gewöhnlichen Schwurgerihten nachfolgen. Dem Senat, ber zunächſt nur 
als Staatsgerichtshof eine polittiche Strafe erkennen Tann, flieht überdem das Recht 
ber fpätern Revifion zu, in Folge welcher er dann mit einfaher Stimmenmehrheit 
die Strafe wieder aufheben Tann. 

4. Uebervem Tann der Kongreß au durch Refolutionen feine politifche 
Meinung äußern. Nur ift diefelbe für den Präſidenten nicht rechtsverbindlich. 

5. Endlich wird auch von den amerikaniſchen Publiciften anerkannt, daß ver 
Kongreß auch ſtillſchweigend verlichene Gewalten habe und 
baben müfſe fraft feiner rechtsorbnenden Geſammtbefugniß, das für die ge» 
meine Wohlfahrt der Union Nothwendige anzuordnen. 
Während des Bürgerkriegs und nad vemfelben zur Miederherſtellung ver Union 
bat er von biefem Rechte einen fo weit gehenden Gebrauch gemacht, daß ver 
Präfivent feinerfeits fi darüber als über Berfaflungsverlegungen laut beſchwerte 
und Berwahrnng einlegte. 

IV. Rechte der Mitglieder. Die Bafaffung ſchreibt vor, daß bie 
Mitglieder des Kongrefjes entſchädigt werben follen (I. 6, 1). Anfangs erhielten 
fie 6 Dollars Tagegelder und nad bemfelben Verhältniß Entſchädigung für bie 
Reiſekoſten. Seit 1856 ift eine fire Befolbung von 8000 Dollars eingeführt und 
1866 fogar auf 5000 Dollar erhöht worben. Die Mitglieder haben das Recht der 
freien Rebe umd können nicht bafür zur Verantwortung gezogen werben. Sie 
können nur ausnahmsweiſe wegen Hochverrath, oder Felonie verhaftet werben, 
d. 5. fie können in Folge eines Steafproceffes, nicht aber wegen Schulden 
en werden. Ein Recht ver Wbbernfung aber durch die Wähler befteht 
nicht. 

C. Die vollziehende Öewalt Der Präſident per Unton. 

Die ganze Regierungsgemalt, wie wir fie heißen, ober die Ere⸗ 
kutive, wie fie in Amerika benannt wird, ift in ber einen Hand bes Unions⸗ 
präfidenten geeinigt m. 3. im viel entſchiedenerer Weiſe, als das in Europa 
gefchieht bezüglich der Tonftitutionellen Monarchen. Die Amerikaner wollten Fein 
Kollegium, welhes die Einheit gefährde un oe Berantwortlichleit durch 
Bertheilung fchwäcde, fondern Einen Mann, vefien Wille entſcheide und der dafür 
verantwortlich fel. Der Bicepräfident hat gar keine Gewalt. Er gehört 
überhaupt nicht zur Regierung.‘ Seine Stellung ift im Senat. Er bat nnr die 
Beftimmung, wenn ber gewählte Präfivent ſtirbt, an feine Stelle zu treten umb 
die Lüde wieder auszufüllen. Anch die Minifter find nur Unterbeamte 
und Gehülfen des Präfiventen. Während in England bie eigentliche Regierung 
von dem fogenannten Kabinet (dem Mimiſterium) geleitet wird und bie 
Königin in der Regel durch ihre Unterfchrift Iebigli die Beſchlüſſe des Mint» 
fteriums formell ſanktionirt, fo tft in Amerika der Entſcheid bei dem Präfiventen 
nnd nur die Vorbereitung und Ausfährung feiner Anorbnnngen wirb von den 
Miniftern beforgt. Der Präfivent fegt feinen Willen aud gegen die Meinung 
ber Minifter durch. Er und nidt diefe find dann vorzugsweiſe dafür verant- 
wortlih. Indeſſen gibt es Ansnahmen. 

IL Wahl des Bräfidenten. Die Wahl des Präfiventen ift feines» 
wegs dem Kongreß anvertraut. Dan wollte den Präfidenten dadurch unabhängiger 
von dem Kongrefie maden, daß er fih ebenfo wie,dieſer und noch in einem all» 
gemeineren Sinne auf die Wahl des ganzen Volks beziehen könne, als vie Quelle 
feiner Macht, und fürdtete vie Intrignen- und Stimmenwerbungen im Kongreß, 


746 Nachtrag. 


wenn tiefer die Wahl entſcheide. Der Präſident follte nicht zum Spielball werben 
ber fich belämpfenven Parteien im Kongreß, fonvern als felbfländiger Repräfentant 
bes Volls vemfelben zur Seite ftehen. 

Über man fcheute auch die unmittelbare VBollswahl, die binwieber einen Bor- 
ſchlag vorausjege und kam fo auf ein komplicirtes Wahlſyſtem durch mittelbare 
Bellswahl. Jever Einzelftaat follte fo viel Wahlmänner ernennen, als er 
Abgeordnete und Senatoren im Kongreß babe, aber er follte dazu anbere 
PBerfonen bezeichnen. Diefe Wahlmänner treten an bemfelden Tage (am erften 
Mittwoch im December) je in ihren Staaten zufammen und bezelhnen auf zwei 
Wahlzeddeln die von ihnen gewählten Präfiventen und Bicepräfidenten. Die 
Wahlprotofolle werden nach Wafhington gefhidt, und im Kongreß (Februar) 
eröffnet. Wer die abfolnte Stimmenmehrheit hat, ift gewählt. Hat fein 
Kandidat fo viel Stimmen, fo wählt das Repräfentantenhaus aus ven drei Per- 
fonen, weldye vie meiften Stimmen haben, den Präfiventen, und ber Senat aus 
den zwei Kandidaten, auf welde bie meiften Stimmen ſich geeinigt haben, den 
Bicepräfidenten. Im erftern Fall flimmt aber auch das Repräfentantenhaus nad) 
Staaten, nicht nah Köpfen. 

. Die Schöpfer der Verfaffung hatten gehofft, duch dieſe Einrichtung werbe 
bie Wahl den Händen der unwiflenden Maflen entzogen uud einem politiſch ge⸗ 
bilneteren und fählgeren Wahllörper überlaflen. Die Erfahrung bat diefe Hoffnung 
feineswegs bewährt. Vielmehr regt jede neue Wahl eines Präfidenten die geſammte 
Bevölkerung ver Unton in der Tiefe auf und es werben die Wahlmänner bereits 
mit Rüdfiht auf einen beftimmten Kandidaten gewählt. Bor der Ernennung ber 
Wahlmänner treten die Parteien in Konventen zufammen (caucus genannt), um 
ihre Wablvorfchläge (nominations) zu machen. Dabei hat fich fehr oft die Erfah⸗ 
rung gezeigt, daß die Parteien es für zwedmäßig finden, ihre beften Männer 
und die eigentlichen Führer zurüdzufegen und unbelannte Namen vorzuziehen, 
welche eher durchgehen, weil die Gegner weniger vorbereitet find, fle zu ver- 
läumben und zu verbädtigen. Nur ein fehr populär geworbener Präfident darf 
hoffen, ein zweites Dal noch gewählt zu werben. Auch kommen ganz andere 
Ergebniffe heraus, wenn man die Zahlen der Stimmen der Wahlmänner mit 
dewen ber Urwähler vergleicht. Die großen Parteien, Demofraten und Republi⸗ 
kaner, ftehen fi unter den Urmählern oft fehr nahe, während tie Majorität 
unter den Wahlmännern zu Gunſten der einen Partei eine fehr große iſt. Es iſt 
ſogar möglich, daß ein Kambivat gewählt wird, weil er die Majorität der Wahl- 
männer für ſich bat, obgleid er die Majorität der Urmwähler gegen fih hat. Es 
ift das möglich, weil nad Staaten geftimmt wird nnd daher bie Heinern Stanten 
ein bedeutenderes Gewicht haben, als ihnen nad der Volkszahl zukäme. Richt die 
Meheheit des Bolls, fondern nie Mehrheit ver Stanten entfcheibet. 

Trotzdem wird jeber Vergleich der ftattlichen Reihe der Präſidenten von Wa⸗ 
fhington au bis auf Örant mit den Regenten irgend eines europklfchen Stante® 
während derfelben Periode Teineswegs ungünftig für Amerila ausfallen, und man 
wird anerkennen müſſen, daß mit den Mitteln des dortigen Wahlfyftems meiften® 
beveutende, zuweilen große Staatsmänner zur Leitung der öffentlichen Angelegen⸗ 
heiten berufen worben find. Über die großen Wahlkeifen, die das ganze Volk in 
eine fieberhafte Wufregung verfegen, find dennoch eine bevenflihe und gefährlide 
Erſcheinung. Durch die Berfafiung iſt der Nation ein politifhes Wechſelfieber in 
vierjährigen Intervallen eingeimpft worben. 

















Nordamerikauiſche Sreiftaaten. 747 


Nah ansführlicden Erdrterungen iſt die Umt daner eines Präflpenten 
auf 4 Jahre beftimmt worden. Ein Präfivent kann baher zwei Totalernene⸗ 
rungen bed Nepräfentantenhanfes und vie Erneuerung von zwei Dritttheilen des 
Senats erleben. Daher ift es möglih, daß das Voll durch die Wahlen ver 
Zwifchenzeit vie Harmonie zwifhen ihm und dem Kongreß berfiellt, wenn dieſelbe 
vorübergehend geftört war. Über vie Amtsdauer iſt doch nur fehr kurz bemeflen. 
Der neue Präfivent braudt Zeit, um fi in die Negierungsgefchäfte hinein zu 
arbeiten, denn nicht immer wird, wie es früher öfter gefchehen, ein fräherer 
Stoaatsfelretär oder ein Geſandter gewählt. Wenn er aber fi vertrauter gemacht 
bat mit feinen Pflihten und durch Erfahrung auch die Schwierigkeiten ver 
Regierungstunft lennen gelernt bat, dann zeigt fih fchon das Ende feiner Amts- 
bauer in der Nähe und ee beginnt bie Vorbereitung auf die bevorftehende Wahl⸗ 
ſchlacht und hindert ihn in andern Arbeiten und weitern Plänen. Er muß über- 
dem befürdten, daß fein Nachfolger einer andern Partei angehöre und alle feine 
Demühungen und Erfolge wieder zu nichte made. Die Berfaffung verbietet zwar 
bie mehrmalige Wiederwahl Teineswegs; aber die fefte Sitte geftattet höchſtens 
eine einmalige Wiederwahl. Waihington, Iefferfon, Madiſon, Monroe, Jackſon 
und Lincoln find zwei Mal nad einander, alle andern Präftventen nur ein Mal 
gewählt worden. 

Die Beringungen feine Wählbarkeit find: a) Bürgerrecht in ben 
Beareinigten Staaten von der Geburt an, ober doch feit 1788; b) ein Alter von 
35 Jahren; c) Aufenthalt in der Union während mindeflens 14 Jahren. Im 
Uebrigen iſt die Wahl frei. Thatſächlich werden aber gewöhnlich Männer gewählt, 
die fi zuvor im Dienſte der Union oder doch in den Öffentlichen Geſchäften eines 
Einzelftants ausgezeichnet haben; Feldherrn und Generale, Stantöfelretäre umb 
Sefandte, Senatoren un. f. f. Oft iſt die Advokatur der Weg zuerft in die einzel» 
ſtaatliche Legislatur und dann in den Kongreß. 

II. Befugniffe und Pflihten des Präfipenten. a) De 
Bräfident vepräfentirt pie Unton nah außen, ganz ähnli wie in 
Europa der Fürfl. Er ernennt die amerilanifhen Gejanpten und Konfuln, 
aber „mit Beirath und Zuftimmung bes Senats”. Wird dieſe Zuftimmung ver- 
jagt, fo muß er eine neue Ernennung vorichlagen. Zur Entlaffung ve 
Sefandten und Konfuln iſt der Präfident für fih allein ermädtigt. Diefen 
Grundſatz hat Wafhington als Präfivent durchgeſetzt, im Intereffe der Einheit 
und Kraft ber Reglerung. Er ertheilt vie Bollmadten nnd gibt vie In» 
iruttionen. Der Mintfter des Aeußeren bereitet das alles vor und übt 
tbatfächlih natürlich einen fehr großen Einfluß aus. Er iſt nicht ein bloßer 
Sekretär des Präftventen, fondern verwaltet fein Departement mit einer relativen 
Selbftänbigleit. Nichts kann ohne ihn gefchehen. Aber der Entſcheid iſt bei dem 
Präfidenten. Kann fi der Minifter nicht verftehen, demgemäß zu handeln, fo 
tritt er zurück oder wird entlaflen. Der Präfident empfängt aud die fremben 
Geſandten und gibt den fremden Konfuln das Erequatur. Deshalb iſt ver Präfi« 
dent in ber Lage, einen fremden Staat oder deſſen Regierung allein anzu» 
ertennen, indem er den Gefandten empfängt. Wie wichtig das fei, hat das 
Beifpiel von Meriko gezeigt. Die Nichtanerkennung des Gefandten, den der Kaifer 
Maximilian ſchickte, hat den Fall des Kaiſerthums zur Folge gehabt (1865. 66). 
Er fliegt die välterrehtlihen Berträge mit fremden Staaten 
ab, indefien unter der Beſchränkung der Zuftimmung des Senats mit zwei Drittel» 
fimmenmehrheit, Die Sorge für die Handhabung bes Völkerrechts Liegt ihm 





7148 Nachtrag. 


ob. Er iſt befugt zu vblkerrechtlichen Mitteln, gu Beobachtungskrenzern, zur Be⸗ 
ſtellung von Schiedsgerichten, foger zu Reprefialien, nur die Kriegserflärung 
bebarf eines Kongreßbeſchlufſes (IL. 2. 1, 2). 

b) Inneres. Ihm kommt vorerfi zu, was wir AmtsShoheit nennen, . 
d. 5. die Befugniß, die Wemter per Union zu befegen. Für vie widhtigeren 
Aemter freilich , insbefonvere die DBorflände der verfchienenen Departements 
(Minifter) und die Mitglieder des oberfien Gerichtshofs bedarf 
e8 der BZuftimmung bes Senats. Auch kann das Geſetz gewiſſe Aemter feiner 
Befegung ganz entziehen, wie es für die Poſtämter geſchehen tft ober ihr in ber 
Entlaflung beichränfen. In der Regel aber ernennt er zu den Unionsämtern entweder 
allein oder mit Zuftimmung des Senats (II. 2. 2, 3). Noch freier verfährt er in 
der Entlaſſung ver Beamten. Wenn daher eine andere Partei bei ver 
Präfiventenwahl fliegt, fo kommt es wohl vor, daß der neue Präflveut einem großen 
Theil der Beamten entläßt und Anhänger feiner Partei in ihre Stellen bringt. Das 
gejchieht nicht immer zu Nuten des öffentlichen Dienftes, fonvern lediglich zu Partei» 
314* Indeſſen wird doch der Präaſident vielfältig durch die Wacht der öffentlichen 

einung gendthigt und durch bie offenbaren Interefien auf Geſchäftskunde ver- 
anlagt, eine große Anzahl von Aemtern denen auch ferner zu überlafien, welde 
biefelben bisher verrichtet und fi darin bewährt hatten. Borzüglih gilt das 
von Finanzämtern, am wenigften von politiihen Aemtern. 

Daß Recht des Präfidenten, vie Aemter zu befegen, fteigt, wenn ber Senat 
nit verfammelt ift. Freilih kann er dann nur propiforifhe Emennungen 
machen, und fobald der Senat wieder zufammentritt, muß er dieſelben den Senat 
zur Zuftimmung vorlegen. Aber in der Zwiſchenzeit wirkt feine Ernennung und 
binterbrein {ft es doch ſchwieriger für ven Senat, feine Zuftimmung zu verfagen. 
Die vollendete Thatfache macht ſich aud in Amerila fpärbar (II. 2, 8). 

Der Bräfident iſt ferner berechtigt, den Negierungs- und Bermaltungsbeamten 
bie nöthigen Befehle und Aufträge zu geben; und er kann jederzeit von 
ihnen Berichte einfordern. Ueberhaupt ſteht ihm vie Kontrole ver 
Verwaltung zu. Zu dieſem Behuf kann er and Berorpnnngen erlaflen. 
Nur dürfen diefelben nit der Berfaflung noch beftimmten Geſetzen wiberfprechen. 
Sonft iſt Niemand zum Gehorfem verbunden. Die Gerichte wären auf keine 
Strafe ertennen. 

c) Minifterinm. Wichtige Angelegenheiten pflegt ber Präflvent im 
Kabinet, d. 5. gemeinfam mit allen Miniſtern zu verhandeln. Da wird 
gewöhnt ber Entſcheid gefaßt. Andere verhandelt er mit einzelnen Miniftern. 

oh andere äberläßt er dieſen. In der Regel übernimmt er felber nach Außen 
bie Berantwortlichleit. Während daher in England die Angriffe ver Gegner fid 
auf die Minifter richten und den König fehonen, wendet fich bie Kritit der Oppo⸗ 
fitton in Amerika vorzüglich gegen den Präfinenten und läßt bie Minifler in 
Ruhe. Aber werer jener no dieſe erfcheinen im Kongreß, um ihre Maß- 
Pr vertheidigen. Der Kongreß bat Teine eigentlide Kontrolle 
er fie. 

Die beftebennen Minifterien (Departements) find: 1. das Staatsmini-« 
Rerium (Departement of State), weldes die ängern Angelegenheitlen 
beforgt uud das Siegel ver Vereinigten Staaten befigt; 2. das Kriegs» 
minifterium und 3. das Marineminifterium für Landheer und 
Blotte. 4. Das Finanzminifterinm. Der Finanzminifter tritt dem Kon⸗ 
grefle gegenüber perjönlicher hervor als Die andern Minifter und ift weniger von 








Nordamerikanifdge Sreifiaaten. 149 


dem Präfinenten abhängig. Er berichtet ben Häufern bed Kongrefies über vie 
Sinanzzuflände; 5. das Departement des Innern feit 1849; 6. das Ältere 
Pofdepartement; 7. nenerlih aud ein Iufizpepartement und 
8. eines für vie Landwirthſchaft. 

d) Er forgt für den Bollzug der Bundesgeſetze auch in den 
Ginzelfiaaten, daher kann er Ungehorjame zur Beftrafung an die Bun- 
desgerichte überweilen und nöthigenfalls milltäriihe Maßregeln anwenden. 
Kur die Milizen darf er nicht aufbieten ohne den Kongrek (I. 8. 15. II. 8. 1). 

e) Er kann den Kongreß außerordentlicher Weiſe ver» 
fammeln, fogar nad) Bedürfniß nur eines der Häufer, insbeſondere den Senat. 
(II. 3, 1.) Aber er kann nicht den Kongreß auflöfen. 

Bon Beit zu Zeit, insbefondere bei der Eröffnung des Kongreſſes, erläßt er 
ſchriftliche Botfhaften an den Kongreß, in denen er Bericht gibt über vie 
öffentlichen Zuftände und bie Aufmerkſamleit des Kongreſſes auf Berbefferungen 
binlentt. (II. 3, 1.) 

Es ſteht ihm ein Begnadigungsrecht zu in allen Fällen, in denen 
bie Bunbesgerichte auf Strafe erfennen. Ausgenommen find nur bie Verurthei⸗ 
bangen durch den Senat in Staatsprocefien. Diejes Recht iſt nach dem Bürger 
krieg bis zu allgemeiner Ammeftie erweitert worden. (II. 2. £.). 

f) Er ift nicht gehindert, Broflamationen an das Boll zu erlaffen. 
Es ift das zwar in der Berfafiung nicht vorgefehen. Aber Waſhington nahm 
diefes Recht 1793 als felbfiverflännlih in Anſpruch, freilich damals nicht unbe 
Arttten. Aber feither iſt das Recht anerkannt. 

g) Schr ausgebehnte Befugnifie hat der Präfident ald Oberbefehlo⸗ 
baber des Heeres und aller Truppen, vie im altiven Dienft 
ber Union find. WIS folder ernennt er die Öenerale und entläßt fie nach 
freiem Ermeſſen. Die ganze Militärgewalt im Kriege, mit allen ihren 
ansgenehnten Rechten, ift dann bei ihm. In diefer Eigenſchaft hat aud der Präfi- 
dent Lincoln 1863 bie berühmten, von Profeflor Lieber verfaßten Kriegs⸗ 
artikel erlaflen, ohne viefelben dem Kongreß vorzulegen. 

III. Ehrenftellung und Verantwortlichkeit. Der Präfident 
führt keinen andern Titel als ven feines Amtes. Der Antrag, ihn „Hoheit“ ober 
Majeſtät“ oder auch nur „Egcellenz” zu nennen, wurbe ald unrepublilaniſch 
abgelehnt. Aber wenn er im amtlicher Eigenfchaft einen Marinepoſten ober eine 
Feſtung befucht, fo wird er mit dem Nationalgruß empfangen, d. h. mit fo viel 
Kanonenſchüſſen als Sterne im Unionsbanner find. , 

Seine Beſoldung iſt fehr kärglich zugemeflen und fleht außer Berhältniß 
zu der hohen Würbe, vie er bekleidet. Das weiße Haus if ihm als Amts 
wohnung zugewiefen und er empfängt 14,000 Dollars für vie Ausflattung und 
eine Jahresbeſoldung von nur 25,000 Dollars. Es ift ihm unterfagt, von ber 
Union over von den Einzelſtaaten irgend welche peluniäre Bortheile anzunehmen. 
Mehr als ein Präſident hat währen feiner Amtsbauer fein Privatvermögen über 
feine Kräfte anftrengen müſſen, um feiner Stellung zu genügen. Neuſtens ift ver 
Aatrag geftellt, die Beſoldung auf 100,000 Dollars zu erhöhen. 

en Impeahment ift auch der Präſident ausgelegt. Indeffen hat das, 
wie der Kampf des Präfidenten Iohnfon mit dem Kongreß zeigt, doch fehr große 
Schwierigkeiten. Nur in ven änßgerften Nothfällen wird es das Mepräfentanten- 
haus wagen bürfen, mit einer Anklage vorzugehen, und auch wenn das geſchieht, 
iſt wieder der Grfolg fehr in Frage. Der Präfivent wird ſchwerlich ohne Wine 








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eine Umtsheandinng der Amtsvernadläffignng fein Privatredit 
et, ine Entfhäbigunugstiage bei dem bürgerlichen Ridhter 
anhängig fan. Indeſſen iſt auch diefe Klage mit Gefahren für —— 
verbunden und bie Berurtheilung ſetzt eine Rompetenzüberichreitung — — is 
vorauns. Dagegen find gegen ven Staat berartige lagen nicht zuläffig. Der Staat 
wird nur tmbirelt betroffen, indem ex feinerfelts feinen Beamten wieder ſchablos 

D. Unionsgeridte. 

L Ullgeweines. In ver Negel gehört Die bärgerliche und bie 
Strafrehtspflege den Einzelflaaten zu Die Unionsge- 
sigtsbarleit Kite die Nusnahme Wo fie aber tur die Die Befotiuns 
— — wird, da wird ſie wieder durch beſondere Gerichte der Union amsgelbt, 
welche mit den Geriqi chten der Einzelſtaaten nicht im Verbindung ſtehen. Gs 


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al ein gemeinfamer Kaſſatioushof. 

Die Gerite find überdem gänzlih unabhängig, fowohl von 
Bräfidenten als von dem Kongreß. Werer die gejeßgebenbe Gewalt 
noch bie volylehend: dürfen ſich in —* gerichtliche Berfahren im einzelnen Fall 

Sie haben nicht einmal eine Auffichtsgewalt über die Thätigleit der 

Gerichte; außer infofern, als in ſchweren Fällen das Impeachment auch gegen 

angewendet werben lan. Der techniſche Ausdruck ift, Daß die Richter ihr 

Umt behalten, fo ange fie (dr ihre. Bfliht üben (during 

behariour)., Sie konnen aljo nit willkürlich entefien., fondern nur durch einen 
Staatsproceß von dem Senate entfernt werben (IIL 1. 4). 

D.DOrganifation. An der Spitze ſteht ein a) 'oberfier Öeriäts- 
bo f (Supreme Court), welder zur Zeit aus einem Präfldenten und neun Ober 
richtern (früher lange Zeit aus einen Präfidenten und 8 Oberrichtern) beſteht. Sie 
find gut befoldet. Ein Oberrichter erhält 6000 Dollar, der Präſident 6500 Dollar. 
Der Eis des Obergerichts iſt Waſhington. Es ift in einigen Fällen alleinige, in 
ven meiften oberfte Berufungsinſtanz gegenüber ben Kreisgerichten. Wenn bie 
beiden Richter in dieſen verſchiedener Meinung über die Rechtsfrage find, fo Tönnen 
fie diefelbe an das Obergericht ziehen. 

b) Daun folgen vie X Kreisgeriäte und c) eine größere Anzahl 
Diftriltsgerichte. Jeder Staat bildet einen Diſtrikt (Gerichtsbezirk), zu 
weiten A mehrere Diſtrikte. Im jedem Diftrikt tft ein Diſtriktsrichter. Zwei 
Mal tm Jahr werden die Kreisgerichte gehalten, und zwar durch einen Obi 
in Berbindung mit dem Diftriktörichter des Gerichtsorts. In einzelnen Fällen 


1 


Nordamerikaniidge Sreiflaaten. 751 


das Kreisgericht erfte, in andern zweite Inftanz, wenn das Diftriftögericht erfte 
Inftanz iſt. | 

Alle diefe Richter werben von dem Bräftpenten ernannt, mit Zuflim- 
mung bes Senats, nnd es hat fi dieſe Wahlform fehr bewährt. Der höchſt⸗ 
ſtehende Stantsmann der Republik ift offenbar befähigt, bie Eigenſchaften eines 
Richters zu würdigen und die Mitwirfung bes Senats hindert bloße Parteian- 
ftellungen. 

II.Rompeten;. a) Söllerrehtlihe Stretitigleiten. Dabin 
gehören alle Streitigkeiten, welche fih auf völkerrechtliche Verträge beziehen, ober 
welche Geſandte oder Konfuln fremder Staaten betreffen. Solde Sachen, bei 
denen die Unton ſelbſt in ihren völferredhtlihen Beziehungen betheiligt erfcheint, 
fommen von Anfang an vor das Obergericht. Es iſt das jedenfalls eine fehr 
nachahmungswürdige Einrihtung. Der höchſte Gerichtshof ift völkerrecht⸗ 
licher Gerichtshof. Ferner gehören dazu alle Fälle ver Admiralitäts- 
gerichtsbarkeit und der Seegerihtsbarkeit überhaupt. (Gerichts⸗ 
barkeit | offener See und fo weit Ebbe und Fluth wirkt, Priſengericht, Streite 
über die Lootjenforberungen, Bodmerei n. f. f.) Diefe Proceſſe werben zuerft bei 
einem Untergeriäte anhängig und lommen nur durch Berufung an’s 
Obergericht. 

b) Staatsrechtliche Streitigkeiten; insbeſondere Über bie 
Verfaſſangomaäßigkeit von Untonsgefegen ober Anorde 
nungen des Präfidenten, aber auch Über vie Beachtung ver 
Untondverfaffung, Geſetze und Anordnungen von Seite der einzelftant- 
lihen Öefeggebung und Berwaltung. 

ec) Ale bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten, ſowohl nah Geſetz als 
nah Billigkeit, für welde die Berfaffung oder die Geſetze 
der Unton maßgebend find. Das gefammte Unionerecht ſteht alfo 
unter dem Rechtsſchutz der Untonsgerihte Dan rechnet dahin auch das Han⸗ 
delsrecht, weil der Kongreß dasfelbe ordnen Tann. Das engltfch-gemeine Recht 
gilt infofern als Unionsreht. Freilich konkurriren Hier die Gerichte ver Einzel 
ftanten, welche ihrerfeits aud) da8 Common Law handhaben. Tyerner gehören dahin 
alle Eiofiproceffe, in denen die Union als Partei erſcheint (gleichuiel ob 
Kläger oder Bellagter), indem bie Unton fi nicht den einzelknatlihen Gerichten 
unterorbnet, die Streitigkeiten zwiſchen verſchiedenen Einzelſtaaten, ober eines 
Einzelſtaats mit einem fremden Staat, fodann die Streitigleiten zwifchen einzelnen 

gern über Orunpbeflg, der von ber Verleihung verjchieener Staaten abge 
leitet ift, wo alfo ein Streit zwiſchen ven Staaten zu erwarten If, Streitigkeiten 
zwifchen einem Staate und Bürgern eines andern Staates und endlich Streitig- 
feiten zwiſchen Bürgern verfchievener Staaten oder mit Fremden (III. 2, 1). Rad 
englifden Srunbfägen kann ein Staat kraft feiner Souveränetät überhaupt nur 
vor Gericht belangt werben, wenn er dazu feine Einwilligung gibt. Diefer Grund» 
ſatz ift auch in Amerika geltenbes Recht. Es bebarf‘ daher einer vorherigen Er⸗ 
laubniß, je nach Umftänden bes Kongreffes oder ber Legislaturen der Einzelftaaten, 
welche in Folge einer Petition des Klägers ertheilt wird. Zuweilen ernennt ' bie 
Geſetzgebung aber befondere Ko mmiffionen (anftatt des Gerichts) zur Unter 
fuchung des Falls und behält fi dann felber den Entſcheid vor. 

d) Die ſtrafgerichtliche Kompetenz der Untonsgerichte iſt auf bie 
Berbrechen und Vergehen wider vie Unton befchräntt. In den Kreis and Diftritte- 
geriäten werben zu dieſem Behuf Geſchworene beigezogen. 





752 Ä Nachtrag. 


IV. Berantwortlichkeit der Rihter. Bon dem Impeachment war 
ar die Rede. Dazu kommt aber die geſetzliche Verantwortlichkeit den verleuten 
rivatperfonen gegenüber. Wenn ein Richter die Borfchriften ver Habens- Korpus 
Alte mißachtet und Jemanden gegen das Gefet gefangen hält, fo iſt er bemfelben 
eine Sühne von 1000 Dollar fhuldig und kann bafür belangt werben. Ebenſo 
kann ein Richter auf Entſchädigung belangi werben, wenn er zum Schaben eines 
Berechtigten feine gefeglichen Pflichten verlegt. Aber felbftverftänplih kann ver 
Richter nicht für feine rechtliche Ueberzeugung verantwortlih gemacht werben, fo 
wenig als der Verwaltungsbenmte für die Ausübung feines politiſchen Rechts, 
nah Zwedmäßigkeitsrüdfichten Maßregeln anzuorbnen. In biefer Hinſicht wird 
auch in Amerika die Treiheit der Beamten vor unzuläffigen Klagen geſchützt. 

E. Geſetzgebung in den Einzelfiaaten. 

Das Zweikammerſyſtem iſt zur Zeit in ſämmtlichen Einzelſtaaten, 
auch in Penuſylvanien, Georgien und Vermont, wo früher nur Eine Verſammlung 
beftanden hatte, eingeführt. Die Amerikaner, wie die Engländer, erkennen darin 
eine der Hauptgarantien gegen die Fehler und Mißgriffe großer Verſammlungen. 

Die eine Kammer wird and in ben Einzelſtaaten gewöhnlid Repräfen- 
tantenhaus genannt, und bie andere Kammer Senat Die Berfammlung 
beiver Körper bildet die Zegislatur, zuweilen General Court genannt, Einige 
Beifpiele mögen zeigen, wie biefer Gefammtlörper gebildet wird. 

Nah der Verfaſſung von Maſſachuſetts z. B. treten alljährlich im 
April alle volljährigen (über 21 Jahre alten) Freiſaßen (Freeholdbefitzer), deren 
Güter wenigftens ein Einlommen von 3 Pfund ertragen oder andere Anfäßige 
mit einem Geihäft im Werth von 60 Pfund in ven Wahlpiftrikten zufammen, 
und geben ihre Stimmzeddel ab zur Wahl je eines Senators. Wenn nicht in 
folder Weife der ganze aus 40 Mitgliedern beftehende Senat nen bejegt wird, 
fo wird aus den höchſt beftimmten Kandidaten ber einzelnen Diſtrikte durch die 
mit Mebrheit gewählten Senatoren und Repräfentanten die Tüde ergänzt. Wähl- 
bar find nur ſolche Bewohner, welche entweber Grundbeſitz im Werth von 
500 Pfund oder perfönliches Vermögen von mindeſtens 600 Pfund haben. Der 
Senat if mit dem Repräfentautenhaus ein gleichherechtigter Faltor der Geſetz⸗ 
gebung und zugleih Staatsgerichtahof bei Impeachments gegen die Beamten bes 
Staats. Zu gültigen VBeichläffen ift bie Anweſenheit von wentgftens 16 Sena⸗ 
toren erforderlich. Ä 

Das Repräfentantenhaus wird ebenfalls jährlich gewählt, und zwar nad 
Verhaͤltniß der Zahl von flimmbereihtigten Einwohnern. Ortſchaften (corporate 
town) von 150 Bürgern wählen einen Repräfentanten, von 375 Bürgern zwei, 
von 600 Bürgern drei, und je für 225 Bürger mehr wieber einen Repräfen- 
tanten mehr. Sie werden durch Stimmgebdel gewählt. Das Stimmrecht kommt 
den männlichen volljährigen, ein Jahr lang angeleflenen Einwohnern zu mit einem 
Einkommen von wenigftense 3 Pfund vom Grundbeſitz ober einem Gefchäft von 
60 Pfund Werth. Die Wählbarkeit iſt an Grundeigenthum an bem Ort von 
minbeftens 100 Pfund oder Geſchäftsvermögen von 200 Pfund gebunden. Das 
Repräfentantenhaus erhebt bie lage bei Impeachments. Geldbills kommen zuerft 
bei ihm in Erwägung. Zu einem gültigen Beſchluß wird bie Anweſenheit von 
60 Mitglievern gefordert (fogenauntes Quorum). Jedes Haus wacht und erfennt 
felber über feine Privilegien. 

In New⸗PYork beſteht der Senat aus 32 Mitgliedern, bie auf 
2 Jahre in den Diftrikten gewählt werben und die Aſſembly ans 128 Mit- 








Nordamerikanifche Sreiflanten. 753 


gliedern, bie jährlich gewählt werben. Beiderlei Mitgliever erhalten Tagegelder von 
je 3 Dollars, aber nit mehr als 300 Dollars für die orbentlihe Sitzung, 
anßer bei Impeachments. Kein Mitglied darf ein Staatsamt bekleiden. 

In Birginien ift die General Afjembly in zwei Häufer getheilt 1. das Haus 
„of Delegates® (Repräfentanten) von 152 Mitgliedern, auf 2 Jahre gewählt, 
2) den Senat, von 50 auf 4 Jahre gewählten Mitgliedern. Für dieſe ift ein 
Alter von mindeftens 25 Jahren, für jene nur ein Alter von 21 Jahren nöthig; 
aber es Tann Niemand gewählt werben, ber ein bezahltes Amt hat, nod irgend 
ein Geiftliher. Bis anf die neuefte Zeit durften nur weiße Einwohner 'wählen, 
und Niemand, der im Solde ber Union fland (au nit Marinefolvaten, außer 
während eines Kriegs der Union). Die Stimmen werben öffentlih und mündlich 
abgegeben. 

Anh in Minneſota, einem ber jängften Staaten, ift die Geſetzgebung 
in zwei Häufer getheilt, einen Senat, im Berhältniß von einem Mitglien auf 
5000 Einwohner und ein Nepräfentantenhbaus im Verhältniß von 
1: 2000 Einw. Die Indianer werben nicht gerechnet. Die Mitglieder erhalten Tage- 
gelber von 3 Dollars. Beamte find nicht wählbar. Die Senatoren werben auf 2, 
die Repräfentanten auf ein Jahr gewählt. Das Nepräfentantenhaus ift Kläger, 
der Senat ift Richter bei Impeachments. Die Einfünftebils nehmen in jenem 
ihren Anfang, aber auch biefer kann Berbeflerungen beichließen gleich jenem. 

F. Die vollziehende Gemaltinden Einzelſtaaten 
ft regelmäßig Einem Oovernor anvertraut, dem ein lientenant 
govermor ergänzend und oft ein Rath (Council) hülfreich zur Seite ftebt. 

Maine z. DB. wirb feine „Excellenz“ ver Governor nad der Ber- 
fafiung von 1792 von den Bürgern alljährli gewählt, weldhe zur Senatswahl 
berechtigt find. Kommt keine Mehrheit zu Stande, fo wählt vie Legislatur. Ebenfo 
werden bie 5 Mitglieder des Council gewählt, mit denen er zu den Aemtern er- 
nennt, deren Rath und Hülfe ex genießt. Aehnlich it es in Maffahufetts; 
wo das Council aus 9 Mitgliedern befteht, aber von ver Legislatur gemählt 
wird. | 

Der Governor hat meiftens ein ähnliches Suspenfioveto, wie der Unions- 
präfident gegenüber von Gefegen. Wird er duch Impeachment entfernt oder ftirbt 
er, fo tritt der Bicepräfident an feine Stelle, ver ebenfalls in manden Staaten 
den Senat präflbirt. 

In Illinois wird der Präflnent auf 4 Iahre gewählt, in Jowa und 
Kalifornien auf 2 Iahre u. ſ. f. | 

Ueberdem finden fih meift in den Berfaffungen ber Einzelftaaten erwähnt 
ein Staatsfelretär (secretary of State), ein Shagmeifter (treasurer), 
ein Oberſtaatsanwalt (attorney-general) und en Generalanf- 
ſeher (surveyor-general), die oft von ber Legislatur gewählt werben; nur ber 
Sraatsjelretäe wird regelmäßig von dem Governor ernannt mit Zuftimmung bes 

nat, | | 

G. Richterliche Gewalt in den Einzelftaaten. 

Die Verfafſungen ver Einzelſtaaten unterſcheiden gewöhnlich folgende Gerichte, 

1. Ein Obergeriht(SupremeCourt) over Appellations- 
gericht (Court of Appeale), gewöhnlih nur aus wenig Mitgliedern beſtehend. 
Die Ernennung, beziehungsweife Wahl verfelben ift fehr verſchieden georbnet. 
Die ältere und beflere Methode war die Ernennung durch ben Governor, mit 
Zuftimmung feiner Räthe, wie z.B. in New-Hampshire, over des Senats, 

Biuntſhli und Brater, Deutſchet Staats⸗Wörterbuch. Xi. 48 





754 | Nachtrag. 


wie in Texas, ober durch den geſetzgebenden Körper (Senat und Repräfentanten- 
haus zu Einer Wahlverfammlung verbunden) wie in Maffahnfetts. Im 
neuerer Zeit dagegen werben auch bie oberften Richter in vielen Staaten durd 
allgemeine Volkswahlen gewählt, z.B. in New⸗York, Bennfylvanten, 
Kentudy, Ohio un. f. f. Die Juſtiz bat dach diefe Demokratifirung an 
Einheit und an Unparteilichkeit nicht gewonnen fondern verloren, und ba am 
meiften, wo überdem noch die Amtsdauer verkürzt wurde. Das ältere Syſtem war 
auch bier Ernennung auf good bevahiour, bie alte englifhe Formel bie: 
quamdiu bene gesserint. Durch Impeachment konnten und können die Richter 
allezeit entfernt werben. Außerdem findet fih z. B. in der Verfafſung von 
Maſſachuſetts die Beſtimmung, daß die Richter auf gemeinfame Aorefien 
beider Hänfer der Geſetzgebung und durch den Governor, mit Zuſtimmung feiner 
Näthe entfernt werden können. Diefes Syſtem gilt nod in mehreren Staaten, fo 
n Maſſachuſetts. Über nah und nad ift eine beftimmte Amtspauer einge 
führt worden, 3. B. von 15 Jahren in BPennfylvanien, von 12 Ichren in 
Birginien, von 10 Iahrenin Maryland, 9 Iahrenin Illinois, von 
8 Jahren in New⸗York, von 7 Iahren in Maine, von 6 Jahren in 
Mifjiffippi und von 5 Jahren in Ohio. (Bol. Rättimann $ 283.) 

In einzelnen Staaten befteht au eine Art Kaffationshof, z. B. in 
New⸗Yerſey der Court of Errors and Appeals, verfchieven von dem Supreme 
Court. 

Der oberfte Gerichtshof, der gewöhnlich aud die Befugnifie des englifchen 
KRanzleigerihtähofse (Court of Chancery) bat, zieht zur Beautwor- 
tung der Thatfragen, je nach beſondern Vorſchriften Geſchworne bei. 

2. Kreisgeridhte (Circuit Courts) und 

8. Diftriftsgerichte (Courts of district), die gewöhnlich zwei Mal 
im Jahr Eigungen halten und ſowohl eine Arafgerihtlide als eme civil- 
geridtlicde Kompetenz baden, aber in beiven Fällen Geſchworne ber 
ziehen. Sie find je nad) der Proceßorbnung zweite oder erfte oder einzige Inflanz. 
Die Ernennung oder Wahl der Richter ift ebenfo verfchieden georbnet, wie für 
das Obergericht. 

4. Aehnlich verhält es fich mit den fogenannten Graffhaftsgerid- 
ten (Courts of County), wo biefe nod befonvers beftehen neben ven 
Bezirksgerichten und 

5. den Courts of Record, bie mit jenen dfter zuſammen fallen. 

6. Envlih iſt das Inftitut der Friedensrichter (justicen of 
peace) auch nah Amerika aus England verpflanzt worben, bat aber dort einen 
demokratifchen Charakter angenommen, der Natur des Landes gemäß. Die Friedens 
ricgter werden durchweg von den Bürgern in ben einzelnen Ortſchaſten gewählt, 
meift auf kurze Zeit (2 Iahre). Sie fliehen dem Volke näher, als bie gebilveten 
eigentlichen Richter, haben aber meift eine nicht unbedeutende Kompetenz; 3. B. 
in Dinnefota bei Eivilproceffen bis auf 100 Dollars, und in Strafſachen bis 
auf eine Strafe von 3 Monat Gefängniß oder 100 Dollars Buße. Währent 
andere Richter bejolvet find, wird das Friedensrichteramt eher als Ehrenamt 
behanbelt. 

Daneben findet fi öfter die Beftimmung, daß aud alle anderen Richter 
das Recht und die Pflicht haben, im einzelnen Hal „ven Frieden zu bewahren“. 

Die Organifation und die Kompetenzen ber verfchiebenen Gerichte werben 
durch die Geſetzgebung näher beftimmt. 











Nordamerikanifdye Sreiſtaaten. 755 


Literatur. Aus der fehr reichen Literatur heben wir hauptſächlich hervor: 
a) für die ſtaatsrechtliche Sefhichte der Vereinigten Staaten, G. F. Curtis 
history of the Constitution of the United States. London 1854. 2 Bde. Ed. 
Laboulaye bistoire politique des Etats-Unis 1620—1789. Paris 1855 
bis 1866. 3 Bde. K. Fr. Neumann, Geihichte der Vereinigten Staaten, 
Berlin 1866. 3 Bde. bis zum Bürgerkrieg (1861). b) Für die Darftellung bes 
Rehts: J. Story Commentaries of the Constitution of the United States 
in vielen Ausgaben. Weberfegt von %. I. Buß unter dem ungenauen Titel: 
Das Bunbesftaatsreht der V. St. von Buß. Karlsruhe 1844; nad Story’s 
Commentaries. Kent Comment. on American Law. 4 Bde. öfter gedrudt. 
Walkers Introduction to Americ. Law. 4. Aufl. Boſton 1860, Rütti- 
mann Nordamerik. Bunvesflaatsreht 1. Thl. Zürih 1867. Biuntfät. 


III. Statiftik, 


Wenn wir von den Bereinigten Staaten reden, fo begegnen wir glei von 
vornherein einem charakteriſtiſchen Merkmal, das viefes Land und Volk von den 
Staaten Europa’s ſcharf unterfheivet. Wir baben es mit einer neuen Welt zu 
thun, mit neuen Menſchen, neuen Kulturformen. Und es iſt ein ganzer Kontinent, 
der und enigegentritt, ber. norbamerilanifhe Kontinent, ber beftimmt zu fein 
ſcheint, dereinft in feinem vollen Umfange der Herrfchaft der angelſächſiſchen Rafſe 
unterworfen zu werden. Während in den enropäiſchen Kulturſtaaten fih alle 
Merkmale einer im Laufe der Jahrhunderte unter gewaltigen Kämpfen beran- 
gereifien Civiliſation vorfinden, während mir hier faft auf allen Gebieten bes 

ebens vielfach todten Tormen begegnen und an der Hinwegräumung bes Ab⸗ 
geftorbenen arbeiten, tritt uns in der Unton überall nur Neues entgegen, nirgends 
iſt Stagnation bemerkbar. Das flantlihe wie das fociale Leben iſt in beftändigem 
Fluß, befindet fi gleihfam in fortwährender Metanıorphofe und das ganze Volt 
bat — die Bevölkerung einiger älterer Staaten ausgenommen — nod fo wenig 
Seßhaftigkeit gewonnen, daß es auch heute noch auf ver Wanderung zu fein 
fcheint. 


Der Menſch if freilih überall derſelbe, und fo unerſchöpflich die Hälfs- 
quellen des jngendlichen Landes zu fein ſcheinen, fo riefenhaft vie Zukunft dieſes 
Bolkes ſich vor unfern Bliden ausmalen mag — aud in ber neuen Welt hat 
der Wahrſpruch Geltung: „es iſt dafür geforgt, daß die Bäume nidt in den 
Himmel wachſen“. Einer Erklärung für das Neue, das überraſchend Großartige 
zu finden, muß aber für uns, die wir jährlih Taufende unfrer Yandöleute üb 
den Dcean ziehen fehen, von tiefgreifendem Interefie fein und ein Verſtändniß 
für Land und Volk der Union jheint vor Allem nöthig zu einer Zeit, wo bie 
Vereinigten Staaten bie erſte große Krifis in ihrer Eriftenz durchgemacht haben. 

1. Das Laub, Grenzen. Wir haben es mit einem Kontinent zu thun, — im 
Dften vom atlantifhen, im Weften vom ſtillen Weltmeer begrenzt, trifft die große 
Mepublit im Süden auf die Brandung des merilanifhen Meerbufens, während 
im Südweften Merilo vie Grenze bilvet, ein Land, das feit Jahrzehnden durch 
Revolutionen zerrüttet, namentlich nad der Kataftrophe des Kaiſerthums mehr 
denn je beſtimmt zu fein fcheint, dereinft von den Vereinigten Staaten das Geſetz 
feines Dafeind zu empfangen. Im Norben bilden die britifchen Befigungen bie 
Grenzen, die, was bie Hudſonsbailänder betrifft, für menſchliche Anſiede⸗ 
lungen nicht verlodend find; außer ven Kolonieen Neu-Braunfhweig, Neu- 
Schottland, Neu⸗Fundland, Prinz: Epwarbdsinfel, melde ebenfalls einer 

48 * 


maflenhaften Anflevelung ſchwer zugänglich find, kommen nur die beiden Ganad a’ s 
in Betracht, auf deren Befig Großbritannten befanntlid kein großes Gewicht Iegt, 
und die vermuthlich im Laufe der Zeit, gleih Mexiko, unter dem Sternenbanner 
bie ihnen gemäße ſtaatliche Eriftenz finden werben. Was die Vereinigten Staaten 
heute ihr Eigenthum nennen, beträgt nach oberflähliher Schägung 2,966,963 
englifhe Quadratmeilen 1). Die weitefte Ausdehnung von Often nad Weften, von 
Quoddy-Head bi8 Cape Lookout wird anf 2850 Meilen angegeben. Bon 
einer auf 10,000 M. geſchätzten Grenzlinie entfallen 5100 M. auf die See 
tüfte, 1200 M. auf Seen- und Flußküſte, und 3900 M. beträgt bie Gefammt- 
länge der politifhen Grenze im Norden und Süpweften. Folgen wir zunächſt dem 
Laufe der atlantiſchen Küfte, fo begegnen wir mannichfacher Gliederung. Hoch im 
Norden wird der Staat Maine von der tiefeinfchneidenden Bay of Yundp, 
oder richtiger, deren Fortſetzung befpült, und die Küfte fpringt dann wieder vor 
dem Staate Maſſachuſetts, veflen fünlicher Theil von ven Infeln Nantuetet, 
Martha'se Vineyard m. U. eingefaßt if. Gleich darauf tritt fie — im Süden 
den Staat Connecticut bildend, merklich zurüd; wir treffen auf ven durch 
diefe Küftenftrede und die Ianggeftredte Infel Long Island gebildeten Long Ieland 
Sum. Wir folgen der Küfte in gelinder Krümmung und begegnen der von den 
Staaten New-Ierfey und Delaware begrenzten Delaware-Bay, die nicht 
fehr tief in’s Land einfchneidet und fich in biefer Beziehung von ver nahe 
gelegenen, tief in den Staat Maryland eindringenden Cheſapeake⸗Bah unter 
fheidet. Nörblid vom Cape Charles, fünlih vom Cape Heurhy eingefaßt, 
mündet fie in ven Ocean. Nod einmal fpringt die Küfte vor; ed beginnt damit 
eine Reihe von Sunden, unter denen der Albemarle- nnd Bamlico-Sund 
vorzugsmeife zu nennen. Die äußerfte Oftfpite der Laguneninſeln bildet das feiner 
Stürme wegen von den Seefahrern mit Recht gefürdtete Cap Hatteras. Süb- 
lid davon madıt die Küfte einen weiten Bogen weftwärts und fchneibet auf der 
Grenze der Staaten Georgia und Florida am tiefften ein. Die ſüdliche Spige 
Tlorida’s, Cape Sable und die gegenübergelegene Infelgruppe bilden den Ein- 
gang in den mexikaniſchen Bufen, auf defjen Küftenbogen die Apaladee-Bay 
den erften, indeß viel tiefern Einſchnitt madt. Die Küfte läuft etwas unterhalb 
des 30. Breitengrabes fort bis zur Mobtle- Bay. Auf fafl gerader Linie weft- 
lich folgt dann ein tiefer Einfhnitt von Often nah Weften, Yale Bondar- 
train, ber nörbli den Staat Louiſiana befpälend, ven füblichen Ausläufer 
diefes Staates mit dem Delta des Miffiffippi gleihfam zu einer Halbiufel 
geftaltet. Die weftwärts nur durch geringe Einfchnitte umterbrochene, ziemlich 
gleihmäßig fortlaufende Küfte macht ungefähr auf dem 90. Tängengrabe, etwas 
wehtlih von der Galveſton⸗Bah, beinahe einen rechten Bogen und läuft dann 
in ſenkrechter Richtung bis zur Mündung des Mio bravo del Norte, veffen 
linfes Ufer der merlfanifhe Staat Tamaulipas begrenzt. Teras und Nen- 
Meriko find die fürlichften der grenzenbildenden Staaten der Union. Wir er 
reichen, dieſe Grenze verfolgend, den in den Golf von Kalifornien ausmündenden 
Rio Eolorado und damit die Oflgrenze des gleihnamigen Unionsflantes, ver 
in mehren Bogen vom 32. bis 42. Grab n. Br. fi ausdehnend, den für» 
lihften Theil ver die Union begrenzenden pacifiichen Küfte bildet. Die Letztere iſt 
im Oanzen gleihförmiger, weniger gegliedert, faſt ganz ohne tief einſchneidende 


1) Bei Angabe der Meilenzapl in diefem Artifel ett die engliſche Meile 31 
liſche Meile = reichlich 2/, geogr. (deutſche) Melle. iſt fl gliſ⸗ gemeint; 1 enge 








Norbamerikanifhe Sreiſtaaten. 757 


Buchten. Noch einfärmiger wirb fie, wo fie ven 42.9 n. Br. überfchreitet und 
die Gebiete Dregon und Wafhington hervortreten. Die Norbweftgrenze 
Waſhingtons nnd damit der Union bildet dagegen ein tiefer mondförmiger Ein- 
fhnitt, die Straits of San Iuan de Fuca, in welde die Großbritannien 
gehörige Ban Eouvers Infel hineinragt. 

er 47. Breitengrad bildet die Norbgrenze ber Union; erft auf ungefähr 
930 n. 8% von Greenwich macht bie Grenze eine ſchwache Neigung nad 
Süden und trifft dann in ihrem weiteren Verlauf auf ven Oberen See, ver im 
Norden und Oſten von britifhen Befigungen umgeben, in feinen anderen Rich» 
tungen von den Staaten Minnefota, Wisconſin und Michigan um- 
ſchloſſen iſt. Er ſtrömt in fünöftliher Richtung durch kurze Engen in ben von 
Kanada einerfeit und dem Staate Michigan andrerſeits umgrenzten Önronfee 
und biefer findet feinen Ausgang durch den Heinen St. Clairſee bei Detroit 
nah dem Ertiefee, der weſtlich von Michigan, fürlih von’ Ohio und im 
Oſten von New-Dort und Pennfylvanien umgränzt buch ben Niagara- 
Strom und über feine weltberühmten Bälle feine Gewäfler in ven Ontariofee 
entfendet. Diefer See bildet von Norpweften nach Oſten fließend gleihjam den 
Anfang des St. Lorenzftromes, ver Kanada und den Staat New-Hork befpült, 
Auf ungefähr 39 9 n. Br. treffen wir dann auf die, durch die Seen unterbrocene 
Demarklationslinie, weldhe die Grenze gegen Kanada bildet. Ehe wir den atlan- 
tiſchen Dcean wieder erreihen, begegnen wir dem weit nad Norden fi hinauf⸗ 
ziehenden, weftlih von Nieberfanada, öftlih von Neu» Braunjchweig umgrenzten 
Staat Maine und treffen, fünwärts gehend, auf die Bay of Fundy, ben 
Ausgangspunkt unferer Grenzwanderung. 

Gebirge. Zwei Hanptgebirgsfetten durchziehen das Unionsgebiet. Im Often 
find e3 bie Alleghanygebirge, die weniger die Benennung eines Gebirges, als 
eines in vielfachen Ketten auslaufenden, langgeftredten Plateau’s zu beanfpruchen 
fheinen. Die verſchiedenen Ausläufer werben größtentheils durch breite, nicht felten 
hoch Hinanfteigende Thäler getrennt. Deftlih vom Hudfonfluß beftchen bie 
Berge größtentheild ans Granit, während ihre runden Kuppen vielfah Torf und 
Moor zeigen; eine befondere Höhe erreien fie nicht; einige Spigen der Grünen 
Derge in Bermont, der weißen Berge in Newhampfhire fleigen bis zu 
5000 Bar. Fuß, der Berg Wafhington in legtgenanntem Staate iſt 6240‘ 
Hoch. Nach Ueberſchreitung des Hubfon ſcheint das Gebirge feinen Eharakter zu 
verändern: in Pennſylvanien und Birginien lange, parallel laufende Er⸗ 
bebungen, die fi in einer Höhe von 2500-4000’ fortziehen und eine Boden⸗ 
breite von etwa 100 M. einuehmen. In fünöftliher Richtung, in dem Süden 
Carolina’s wird die Erhebung flärker, dort erreicht eine Spike 6400°. In 
Georgia hingegen und dem nörblihen Theil Alabama's, dem Endpunft ber 
Allegbante’s verlieren viefe die Form fortlaufender Ketten und löfen fi in 
eine Menge vereinzelt liegender Berge auf, die nur hin und wieder eine beträcht⸗ 
fihere Höhe erreichen. 

Biel beveutender und dem nordamerikaniſchen Kontinent feinen eigentlichen 
Charakter verleihenv ift das Gelfengebirge, eine Fortfegung der in Süpamerifa 
bei Kap Horn anhebenden und dieſen Kontinent in feiner ganzen Länge von 
Süben nah Norden durchſchneidenden Cordillerakette. Die Baſis der Felſen⸗ 
a beträgt in ihrer äußerften Breite nicht weniger ald 300 M. und die zum 

eil mit ewigem Schnee bebedten Berge erheben ſich verfchiebentlich bis zu einer 
Höhe von 10—14,000°, In einer Entfernung von 5—600 M. von ber paci⸗ 


758 Radirag. 


ſiſchen Küſte laufen die Felſengebirge ziemlich parallel mit berfelben fort. Zeiſches 

diefen und dem Hauptgebirge finden fi Plateau’s unb Mei 

indeg weniger in Betradht Tommen. Weit binauf nach Norden, hinaus 

das Gebiet der Hntfons-BayGompagnie ſetzen fi vie 
hen Niederlaffung 


der gewaltigen 
bie Gebirge weder Die Bieifeitigteit, nod fie fo zahlreich, wie man erwarten 
ſollte. Bedentender find 

die Ströme, Fra denen der Den ne der 

Staat 

Minnefota (feine Duelen find af in m ne Zeit genau ermittelt), weſtlich 
vom Oberen See auf 479 47° m. Br. und begiunt | Teinen Sauf buch Kleine 
Seen und fumpfige Niederungen, die den Lande ben Gharalter eintüsiger 
Melancholie verleihen. Nach einem füröftliden Lauf von etwa 500 MR. erreicht 
der Strom die Fälle von Gt. Anthony, wo er ſenkrecht 16’ heranterfärzt 
and verſchiedene gewaltige Stromfchnellen bildet. In füröftlicher —— —*— er 
von dort aus feinen Lauf fort, ſchlägt dann eine ſüdliche Richtung ein 
auf der Weftfeite die Grenzen der Staaten Minneſota, Iowe, Mitfoaci 
und Arkanſas, öflih vn WBtsconfin, Illinois, Keutndy, Zen- 
nejfee und Miffiffippi. Süddſtlich firömt er dann durch einen Theil des 
Stantes Lonifiana und ergieht feine gewaltigen Waſſer durch mehrere Arme in 
ben mertlanifhen Bufen. Seine Gefammtlänge beträgt nahezu 3200 M. und If, 
geringe Hinverniffe abgerechnet, von feiner Mündung bis zn den St. Anthouy- Füllen 
ſchiffbar. Bon Often ber firdmen zu der Wisconfin, Illinois, Ohio und Yazoo, 
von Weſten der Minnefota, ve Moines, Miſſouri, Arkanſas und Rothe Fink, 
fänmtlih, mit Ausnahme der trodenften "Jahreszeit bis hoch — ſchiffbar. 

Weniger mächtig find vie öſtlich von den Alleghanies in den atlantiſchen 
Ocean mändenden Flüſſe, unter denen der Connecticut, Hudfon, Dela— 
ware, Susquehbanna, Potomac, James und Savannah vorzugsmelfe 
zu nennen find. In den ſüdlichen Abhängen der Alleghanies entipringem ber 
Apalachicola und Mobile, und mänden fammt den in ben Hocdlanden vom 
Zerad und Neu-Merilo entipringenden Sabine, Trinity, Brazos umb 
Rio Grande in den merilanifhen Golf. Weniger Ströme finden wir auf dem 
pacifiſchen Küftengebiet; ber in den Felſengebirgen entfpringende und Waſhington 
und Dragon ſcheidende Solumbia- Fuß ift unter ihnen ber bedeutendſte; ſammt 
den an Bebeutung nadftehenden Flüſſen Sacramento,, Joaquia, und 
Buenaventure, mündet er in ben flillen Ocean, während ver Colorado 
und Rio Gila in ſüdweſtlicher Richtung ihre Wafler in den Bufen von Kali 
fornien ergießen. 

Charakteriftifch für den nordamerikaniſchen Kontinent ift das im Norkoften 
gelegene Netz gewaltiger 

Seen. Liegt on mit Ansnahme des Mihigan- und Champlain- 
See’ 8 keines diefer ausgedehnten Süßwaflerbeden volfländig vom Untonsgebiet 
umſchloſſen, fo find doch Alle mächtige Vermittler bed Verkehrs feiner Bürger 
und ihnen kommen ihre Vortheile hanptfädlich zu Gute. Der am nörblidften 
gelegene Obere See, das Anfangsglien in der großen Kette, ift der größte Süß- 
wafjerfee der befamnten Erde. Der Gt, Lorenzfirom nimmt das Waller bes 
zwifchen New⸗York und Vermont gelegenen Champlainſees auf. Wan bat be 





Nordamerikaniſche Sreiflanten. 759 
zechnet, daß die ganze Wläche, welche dieſe Seen bebeden, im Durchmeſſer 1200 M. 
trägt. | 


be 

Es leuchtet ein, daß auf einem Gebiet von fo ungeheurer Ausdehnung bie 
Himatifhen Verhältnifſe ungemein verſchieden fi geftalten müflen. Den- 
noch fehlt es nit an einem allen Theilen der Union gemeinfamen Elimatifchen 
Merkmal. Es ift diefes der außerorventlih raſche Wechjel der Temperatur, das 
Unvermittelte zwifchen ihren Ertremen. In Louiſiana und in Maine gehört 
e8 keineswegs zu den Seltenheiten, daß ber Thermometer im Taufe weniger Stun- 
den 10—20 0 R. fintt, um alsbald um ebenſo viel wieder zu fleigen. In Wärme 
wie in Kälte zeigt das Klima nicht bloß weit raſchere, unvermitteltere Uebergänge, 
fondern auch ftärkere Extreme wie in Europa, Extreme, welde ſchon der Geſund⸗ 
heit des Ureinwohners oft verberblih wurden und jetzt den Neueingewanderten 
vielfahen Gefahren ausfegen. Wer von ber norbbeutichen Küfte kommend, fei es 
am atlantifhen Ocean, ſei es im Weften (bis zu den Felſengebirgen) fi anftebelt, 
wird fi überdem ſchwer an bie große Trodenheit ver Luft, an bie von Weften 
wehenden trodenen Winde gewöhnen; fie find bie vorherrſchenden Winde, häufiger 
und anhaltender, meiftens auch heftiger als bie feuchten, über ven atlantijchen 
Ocean herüberziehenden Oftwinde. Raub und für eine ſchwache Bruſt nicht geeignet, 
tft der Oſten, die fogenannten Neu-Englandflaaten, bie freilich im Sommer kaum 
geringere Temperaturgrade aufweljen, als bedeutend fünlicher gelegene Staaten, 
im Winter dagegen die menſchliche Konftitution um fo viel ſtärker angreifen. 
Lungen» und Halsentzundungen gehören, namentlih in Maffahufetts zu ven 
fehr Häufig und in bösartiger Form auftretenden Krankheiten. Iſt dod von mit 
den Berhältniffen vertrauten Aerzten bin und wieder die Behauptung aufgeftellt, 
daß ohne Einwanderung die Bevölkerung ber Neuenglandſtaaten wahrſcheinlich 
zum GStilftend kommen würde. Ungejund und vielfadh vom gelben Fieber heim- 
gefucht find die fühlihen, nad dem merilanifhen Golf zu gelegenen, zum Theil 
fumpfigen Niederungen und mit Recht bat man Auswanderer vor zu frübzeitiger 
Einfhiffung nah New-Drleans und anderen Südhäfen gewarnt. Durch Anfiede⸗ 
lung und theilweife Austrodnung der Sümpfe iſt indeß in gefunpheitliher Rüd- 
fiht ſchon Manches gethan, wie denn überhaupt die fortichreitende Beſiedlung 
des Landes in allen Richtungen, vie davon unzertrennlihe Lichtung der Wälder 
im Taufe der Zeit vielfahe Modifikationen des Klima’ bewirfen muß. Yür 
weiße Anfiedler vielfach verderblich iſt das Klima in ven fumpfigen Niederungen 
NRordcarolina’s, den niederen Fichtenwaldungen dieſes Staated und ben 
Neisfeldern Südkarolina's, wo bie Wechfelfieber ven größten Theil des Jahres 
über vocherrfhen. 

Welchen Veränderungen das Klima indeß im Laufe ber Zeit auch unterliegen 
möge, im Allgemeinen läßt fi) behaupten, daß vasjelbe der menſchlichen Geſund⸗ 
beit nicht minder günſtig iſt, als das europätihe; ja, man kann jagen, daß es 
in einigen Öebieten, wie 3. B. in Kalifornien, in mander Hinfiht vor biefem 
den Vorzug verdient, ein Umftand der, neben den Goldfundſtätten den beifpiellos 
rafhen Aufſchwung dieſes Staates miterflärt. Auch die vorherrſchend trodene Luft 
beredhtigt nicht auf Dürre der Bodenfläche zu fchließen; vielmehr ift der feuchte 
Nieverfhlag, die Regenmenge beträctliher als in Europa. Der Thau ift zu 
gewifien Jahreszeiten außerorbentlih ſtark, die Regengüffe heftig und anhaltend, 
aber ungleih im biefer Beziehung ter norddeutſchen Küfte, felten länger anhaltend 
als 3—4 Tage, nad deren Verlauf man dann auf helles, trofenes Wetter mit 
ziemliher Sicherheit rechnen kann, Wochenlanges Regenwetter kennt man in ven 








760 Nadıtrag. 


Bereinigten Staaten eigentlih gar nicht. Gerade der Spätherifi, bei uns eine 
in der Negel unliebfame Jahreszeit, iſt dort unvergleihlih fchön; milde Wärme, 
Mare, frifhe Luft und die wunderbar reihe Yarbenpracht der Herbftvegetation 
haben ven fogenannten Indian Summer weithin berühmt gemadt. Der Spätherbfl 
ift in der Union unbebingt die fchönfte Jahreszeit, während man ben Frühling 
mit feinen Reizen, feinem allmählichen Kommen unter linden Lüften in ver Regel 
entbehren muß; ber Mebergang vom Winter zum Sommer tft wenig vermittelt 
und oft ftellt fih fhon im Dat drückende Sommerhite ein, bie dann in ben 
Monaten Juli und Auguft um fo unangenehmer wird, als bie Luft um biefe 
Zeit au während der Naht nur wenig abkählt. 

Bodenbefhaffenheit. Zur Zeit, als die erflen Europäer dad Geſtade 
bes atlantifchen Dceans betraten, war das Land bis zu den Yelfengebirgen, mit 
nur wenigen Unterbrechungen mit dichtem, nur durch die Kriegspfade der Indianer 
durchſchnittenem Wald bevedt. Waldloſe Streden fanden fi vorzugsweiſe in ben 
Thälern der Hanptlette der Alleghanies. Im Norbweften und ſich ziemlidy 
weit nad Weften hin ausdehnend Iiegen die großen Prärieen, die wegen ihres 
Mangels an Holz und der Dürre des Bodens der Kultur große Schwierigleiten 
bieten. Das Gegentheil gilt von ven in ven Staaten am Miffiffippi und feinen 
Nebenflüffen gelegenen Prärteen. Fruchtbar und von milden Klima find fie 
recht eigentlich gejchaffen für menſchliche Anfievelung. If in ven anbern Gebieten 
allerdings der Holzreichthum and heute noch enorm, fo ift es doch im Interefle 
der Kultur zu beflagen, daß man mit Lichtung der Wälder in einer Welfe vor- 
geht, die dem deutſchen Forſtmann Entjegen erregen würde. Ein jeder handelt im 
biefer Beziehung nad eigenem Belieben; eine Aufficht findet nicht flatt, eine 
regierungsfeitig geübte Forſtkultur exiſtirt nicht, und ficherlid wirb eine Zeit 
fommen, wo fih ber Mangel eines jeden forftwirtbichaftlicden Betriebes im 
klimatiſcher wie vollöwirthichaftlicher Hinficht ſehr empfindlich geltend machen wird. 
Bo noch vor einem Jahrzehend die Jagd nicht bloß dem Zeitvertreib diente, 
ſondern zugleich ein einträgliches Gewerbe bilvete, zieht jegt auf gerovetem Walb- 
boden vie Pflugſchaar des Aderbauers ihre Furchen, und nur im fernften Welten, 
ganz in ber Nähe ber Telfengebirge, gedeiht auch heute noch die Jagd in größerm 
Maßſtabe; dort trifft man noch Wild in großer Menge, aud den Büffel; aber 
nicht lange, fo wird auch bort ber Jäger durch den Landwirth verbrängt werben, 

Bon großer Bedeutung find die mineralifhen Schäge des Landes, obgleich 
mit ihrer Ausbeutung nur erft ein vergleichsweiſe befcheidener Anfang gemacht iſt. 
Unterfuhungen haben ergeben, daß ſich in faft fämmtlichen Staaten der Union 
Kohlenfelder von mehr oder minder großer Ausdehnung befinden. Außer Benn- 
ſylvanien und Maryland hat in neuefter Zeit namentlich Miffouri 
feines großen Kohlenreichthums wegen die öffentliche Aufmerkſamkeit erregt. Dort 
giebt es, wie Friedrich Münch?) bemerft, „gewiß nur wenige Grafſchaften, in 
welchen die Kohlen gänzlich fehlen”. Neben ven Kohlen und ben ihnen ihre Ent- 
ftehung verdankenden, in neuefter Zeit in fo mächtiger Ausbehnung dem Handel 
erfhloffenen Delquellen (Betroleum), vorzugsweiſe bis jegt im Staate Benn- 
ſylvanien, iſt e8 das Eifen, welches in legtgenunntem Staate, dann in 
Miffourt und vielen andern Staaten, namentlid des Weftens, eine von Jahr 
zu Jahr zunehmende Ausbeute geftattet. In Miffourt vor allem wirb auch feit 


2) Der Staat Riffouri, ein Handbuch für deutſche Auswanderer, von Friedrich Münd, 
Dremen bei C. Eduard Müller, 1866. 





Norbamerikanifche Ereiſtaaten. 761 


längerer Zeit Blei in anfehnliden Onantitäten gewonnen. Das am Oberen See 
zu Tage geförberte Kupfer bat währent bes legten Jahrzehends im Hanbel einen 
großen Ruf gewonnen. Auch an anderen Mineralien, wie Zint, Kobalt, Borar 
u. f. w. fehlt es nicht und namentlich fcheint auch in dieſer Hinfiht Kalifornien 
große Schäge zu bergen. Was vie edlen Metalle betrifft, fo warb Gold vor der 
Entbedung ber großen Lager Kaliforniens nur in einigen Staaten, an ber at⸗ 
lantiſchen Küfte in Georgia und Süpcarolina, und hier nur in befchränf- 
tem Umfange gewonnen. In ben legten Jahren haben die Goldſchätze in Eolo- 
rado, Montana, Idaho, Nevada, Abenteurer aller Nationen an fi 
gelodt, auch iſt in legtgenannten Gebieten die Silberausbeute auf vielen Punkten 
mit namhaften Erfolg in Angriff genommen. Im Bergleih zum Golde ift bie 
Ausbeute jenes Edelmetalls indeß bis jegt von geringem Umfange geweſen, fein 
Wunder daher, daß der Amerikaner begehrlichen Blides nad Mexiko fchaut, deſſen 
Grenzſtaat Sonora Silber in unermeßlicher Menge zu enthalten jcheint. Die Edel⸗ 
metallpropultion Kaliforniens bat einen mächtigen Aufſchwung genommen, feit man 
in diefem Staate Duedfilber in großen Duantitäten aufgefunden; ver Staat foll 
davon genug enthalten, nm damit die Bedürfniſſe der ganzen Welt zu befriedigen. 

Sind nun allerdings die mineraliihen Schäge des Landes von nicht geringer 
Bedeutung und im ihrer weiteren Förderung geeignet, auf das wirthichaftliche 
und focinle Leben feiner Bewohner vielfach umgeftaltend zu wirken, fo ift das 
Land dennoch vorzugswelfe Ackerbauland. Es if einleuchtend, daß bei fo unge- 
heurer territorialer Auspehnung nicht bloß bie Produkte des Aderbaus im engeren 
Sinne gebeihen, fonvern auch theilweite die Früchte heißerer Zonen einen Plag 
finden. In Louiſiana und einem Theil von Texas gebeiht das Zuderrohr. Tabak 
wird in faft allen Staaten ver Union gepflanzt, vornehmlich in feinen ſchwereren 
Sorten in Birginten, Kentudy, Tenneffee und Miffourt, dann in 
leichterer Gattung in Maryland und Ohio, in wel’ letzterem Staate, wie auch 
in Gounecticut, New⸗York und Bennfylvanien, ein aus Havanahfaamen gezogenes, 
jehr beliebtes und für die Cigarrenfabrilation beſonders geeignetes Gewäͤchs, bag 
fogenannte seedleaf in großen Maffen kultivirt wird, Die eigentlihe Baumwollen- 
region liegt hauptfächli im Süden des 34. Grades n. Br.; fie reiht vom atlan- 
tifchen Dcean bis zum Miffiffippt, im Süpven bis zum merilanifchen Golf. Auch 
weiter nad Sütweften, in Texas ift die Baumwollenkultur, ſeit Beenvigung des 
Bürgerkrieges in größerem Maßſtab und vurdgängig mit großem Erfolge ein- 
geführt. Das Gros der Ernte liefern indeß nad wie vor die Staaten Alabama, 
Mifftffippt, Arltanfas, Süpdcarolina und Georgia, während Nord 
carolina und Birginien nur geringe Erträge geben. In Sübcareling und 
Georgia, beziehungsweife in deren fumpfigen Nieverungen, wurde vor dem Bürger⸗ 
Iriege die Reiskultur in beträchtlichem Umfange betrieben. Bon Kolontalprobuften 
find e8 Thee und Kaffee, welche in der Union nicht gebaut werben; Kulturver- 
ſuche mit Thee bat man allerdings zu verfchiedenen Zeiten gemacht, bis jegt indeß 
ohne nennenswerthen Erfolg, Auch mit der Zucht der Seivenraupe find, wie 
wir bier beiläufig erwähnen, in frühern Jahren vielfahe Verſuche gemacht; fie 
baben befanntlih zu den wildeften Spefulationen Anlaß gegeben, indeß damit 
geenbet, daß die Sache, wohl des der Kultur nicht günftigen Klima's wegen, anf 
gegeben wurde 3). 


3) In neuefter Zeit find in Kaltfornien viel verfprechende Verſuche in der Seidenraupenzucht 
gemacht; die auf der Parifer Ausftelung 1867 vorgezeigten kaliforniſchen Cocons erregten allge 
meine Aufmerkfamteit. 





762 Nadtrag. 


Bor Allem aber gedeihen auf amerikaniſchem Boden die enropätichen Getreide⸗ 
arten; ihr Anbau nimmt jest den größten Theil der ver Kultur gewonnenen 
Bodenfläche ein. Die Prophezeiung, dag bie Unton bereinft die Kornkammer für 
bie Übrige Welt fein werbe, geht augenfcheinlih und mit raſchen Schritten 
ihrer Erfüllung entgegen. Außer Walzen, Roggen, Gerfte, Hafer u. f. w. if 
es vor Allem der Mais, ver in allen Theilen der Union angebaut wird, im 
Weften und Sübdweſten indeß die größeften Erträgnifie liefert. Das eigentliche 
Waizenland umfaßt volle zehn Breitengrave; fünlih vom 359 n. Br. iſt der 
Balzenbau bis jet weniger lohnend geweſen. 

Ein nicht unerhebliher Theil der Bodenfläche ift au von Weideland bebedit 
und bat eine blühende für den Handel ungemein werthuolle Viehzucht veranlaßt. 
Weltbelannt ift die Schweinezudt in Oblo, Kentudy und Tenneflee. In den Neu- 
englanbftanten, wo Bodenverhältniffe und Klima dem Getreivebau minder günftig 
find, wird die Zucht des Hornvieh's und der Pferde in erheblihem Umfange 
betrieben. Für die Schafzucht feheint neben Kalifomien der Staat Kanfas 
mit feinen auögebehnten und fruchtbaren Prärieen günftige Ausfichten zu bieten. 

Gedenken wir ſchließlich noch kurz der Walbvegetation, fo finden wir, daß 
alle europälfchen Waldbäume auch in der neuen Welt geveihen, nur daß bort bie 
Zahl der Varietäten noch ungleich größer ift, als bei uns. Außerorbentli groß 
ift die Zahl der verſchiedenen Eichenarten. Die Ulme, „ver amerilanifche Freiheits⸗ 
baum”, die Linde und Eſche wachſen zu erheblichen Dimenfionen empor. Giner 
ber ſtattlichſten Bäume ift der Zuderahorn, aus deſſen Saft nicht unbeträdt- 
ide Onantitäten Zuder gewonnen werden. An günftigen Standorten gedeiht 
er nicht felten Bis zu einer Höhe von 80°, man findet ihn in faft allen Theilen 
der Union. Die riefigften Bäume hat man bis jest in Kalifornien gefunden, wo 
u. U. die Wellingtonie bis zu einer Höhe von 400° angetroffen wird. Bon Zier- 
bäumen tft vor Allem vie prächtige, greoßblumige Magnolie bemertenswerth, 
ein Baum, ber nicht felten eine Höhe von 100° erreicht, ferner der Lorbeer, 
Trompeten⸗ und ZTulpenbaum. 

Ale europäifhen Obftarten find auch in den Vereinigten Staaten vertreten; 
im legten Jahrzehend zumal hat die Obfttultur einen beveutenden Aufſchwung 
genommen. Aepfel bilden bereits einen nicht unwichtigen Theil des Ausfuhrhaudels. 
Der Pfirfihbaum Liefert reihe Erträgniffe und gedeiht in faft allen Theilen des 
Landes vortrefflih. Der Drangenbaum gebeiht vorzugsweife im Staate Florida. 
Dagegen ſcheint der DOlivenbaum in der neuen Welt nicht gut fortlommen zu 
wollen. Was envlih vie Weinrebe betrifft, fo iſt fie, durch die Cataw ba⸗ und 
Iſabella-Traube vertreten, in allen Theilen der Union einheimiſch. Der Wein 
bau iſt, namentlich im Weften, vorzugsweife in ven Hänten ber Deutfchen und 
durch fie in Ohio und Miſſouri auf eine hohe Stufe der Entwidiung gebradt. 
In Zukunft wird allem Anſchein nad Kalifornien für ven Weinbau von Wichtig 
feit werben. 

Staatenbildung. Eye wir zur Betrachtung ber Bevölferungsverhältnifie 
übergehen, werfen wir nod einen Blid auf ben territorialen Werbegang. Die 
breizehn Kolonieen, welche nad Beendigung des Unabhängigfeitälrieges zu einem 
Bunbesftaat zufammentraten, waren: Connecticut, Delaware, Georgia, Maryland, 
Maſſachuſetts, Newhampſhire, Neu-Ierfen, New-Yort, Nordcarolina, Pennſylvania, 
Rhode Island, Südecarolina und Virginien. Die unermeßlichen Gebiete, welche 
einige der Ginzelftanten, wie Virginien im Welten und Südweſten befaßen, gingen 
in den Beſitz der Union über; aus biefen: Gebiete, dann dur Kauf und Grobe 








Nordamerikanifhe Secifinaten. 768 


rung, durch Verträge mit den Indianern find im Laufe der Zeit eine Reihe von 
Staaten hervorgegangen, bie, nachdem fie zuvor zu Territorien conflituirt und bie 
erforderliche Bevöllerungsziffer (100,000) aufgewiefen, als folde in bie Union 
aufgenommen wurben. In folgender Reihenfolge wurden bie bis jegt aufgenommenen 
Staaten vollberedhtigte Glieder des Bundesſtaates: Vermont 1791, Kentudy 1792, 
Tennefiee 1796, Ohio 1802, Lonifiana, von Frankreich gegen Bezahlung von 
15 Milltonen Dollars erworben 1803, Inviana 1816, Miffiffippi 1817, Illi⸗ 
nois 1818, Alabama 1819, Miſſouri und Maine 1820, legterer Staat von 
Maflachufetts abgetrennt, Arkanſas und Michigan 1835, Iowa und Florida 1844, 
legterer Staat fhon 1819 ald Territortum von Spanien abgetreten, Texas durch 
erft 1848 von Meriko anerlanntes Dekret des Kongrefied 1845, Wisconfin 1848, 
Kalifornien durch den Frieden von Guadelonpe Hidalgo 1850, zum Zerritorium 
gemadt 1850, Minnefota und Oregon 1859, 1860, Kanfas 1861, Nevada 1864, 
Nebrasta 1867. Während des VBürgerkrieges (1863) wurde zum erfien Male 
ein ſchon konſtituirter Stant in zwei Theile getheilt; von Birginien wurde Weft- 
virginien als ſelbſtändiger Staat losgetrennt. In dieſem Jahr 1868 hat 
die Unton das an ber pacifiſchen Küfte gelegene ruſſiſche Territorium um ben 
Preis von 7 Mill. Dollars (Gold) erworben, ein unwirthlides Gebiet, Alaska 
genannt, deſſen Erwerb von mindeftens zweifelhaften Werthe von ber öffentlichen 
Meinung nicht eben freudig begrüßt wurbe. 

Im Iahre 1800 wurde von Maryland und Birginien ein Areal als Sig 
ber Bundesregierung abgetreten, dieſer und dem Kongreß zur Verwaltung über- 
geben und ale Diftritt von Columbia mit der Stadt Wafhington konftituirt, wohin 
im felben Iahre die Bundesregierung von Philadelphia, ihrem bisherigen Sitze, 
überfiedelte. Die Norbgrenze wurde 1841 zwifhen Lord Ashburton engliſcher, 
Web ſter amerilanifher Seits durch einen Vertrag endgültig geregelt, die Grenze 
ziwifchen der Union und Merito 1848 im oben genannten DBertrage feſtgeſetzt. 
Den durch diefe Orenzregulirungen gewonnenen Territorien Waſhington, Utah, 
Nen-Merilo, gefellten fi von 1861—1863 die Territorien Colorado, Dacotoh, 
Urtzona, Idaho, Montana zu. 

Die der Union gehörigen Ländereien in biefen Staaten und Territorien 
find größtentheil8 vermeflen; man fchätt ihre heutige Auspehnung auf 1465 
Millionen Acres 9), jo weit bis jetzi ermittelt, ift der Flächeninhalt der Staaten 


folgenber : 

[Meilen Meilen 
Connecticut 4,770 Louifiana 48,000 
Delaware 2,068 Intiana 36,000 
Georgia 60,000 Miſſiſſippi 45,375 
Maryland 10,829 Illinois 52,000 
Maflachufetts 7,800 Alabama 50,875 
Newhampfbire 64,000 Miſſouri 60,000 
New⸗Jerſey 9,280 Maine 31,900 
New-Hort 6,900 Arkanſas 57,000 
Nordcarolina 48,060 Michigan 65,000 
Pennſylvania 43,960 Jowa 12,015 
Rhode Island 1363 Florida 13,988 
Sütcarolina 24,000 Texas 237,504 


%) 1 Ace = 1,58494 preuß. Morgen. 


764 Naqtrag. 


Meilen Meilen 
Birginien 64,000 Wisconfin 53,924 
Bermont 10,205 Kalifornien 155,980 
Kentudy 42,000 Minneſota 100,000 
Tenneflee 40,000 Dregon 185,030 
Ohio 39,000 Kanfas 114,798 


Der Diftrift von Columbia umfaßt 60 [IM.S). Der Flächeninhalt beruht, 
was die neueften Staaten anbetrifit, meiftens auf Schätzung. Iſt die Annahme 
eines Geſammtflächeninhalts für die Unton von 2,966,000 DM. richtig, fo 
würben auf fämmtlihe heutigen Territorien und vie Inpianerbezirte im äußerſten 
Weften und Süpmweften, fowie die hier nicht angeführten neueften Staaten etwa 
1 Million IM. fommen. Das noch im Befig der Bundesregierung befindliche 
Land iſt zum größten Theil unfruchtbar; der wirklich Fulturfähige Boden tft faR 
ganz in Peivatbefig übergegangen. 

II. Bevölkerungsverhältniſſe. Ureinwohner Es wirb nie mit 
Sicyerheit zu ermitteln fein, wie groß zur Zeit der Unabhängigkeitserllärung bie 
Zahl der Indianer war. Nur das läßt fi) behaupten, daß das Geſchlecht bes 
rothen Mannes in Norbamerika dem Untergang geweiht ifl. Es vollzieht fi damit 
nur ein Naturgefeg; ein Boll, das unwandelbar beim Jägerleben verharrt, wird 
dahinſchwinden, ſobald der Aderbauer kommt, ihm das Terrain fireitig zu machen. 
Und immer weiter bringt bie Pflugſchaar des weißen Mannes, immer weiter zieht 
fi der Ureinwohner vor dem fortfchreitenden Licht einer neuen Kultur, die er fid 
nicht aneignen kann, zurüd. Ohne Verſtändniß für die Segnungen biefer Kultur 
unterliegt er nur au raſch ihren Laftern; neben ven Kriegen, welche viele Stämme 
gänzlich vertilgt haben, iſt e8 u. U. der Branntwein, „das Feuerwafſer“, das 
unter ihnen furchtbare Verheerungen angerichtet hat. Der Indianer bat für uns 
nur ein biftoriiches Intereffe. Ein neuerdings entbrannter Krieg mit einigen 
Stämmen in Nebraska hat zwar durch einen vortheilhaften Vertrag ein rafcheres 
Ende gefunden, als man hoffen burfte; allein jevesmal, wo bie Kultur auf die 
Indianer ſtößt, müffen viefe weiter zurüdweidhen, und der Zeitpunkt iſt nich 
fern, wo ihnen das lette Terrain ftreitig gemacht werben wird. Nach der Zählung bes 
Jahres 18606) betrug die Gefammtzahl der im Untondgebiete lebenden Indianer 
295,400, die fid auf die Staaten und Territorien wie folgt vertheilen : 

Im Werften von Arkanſas wohnten 65,680, in Kalifornien 13,540, Georgia 
377, Indiana 384, Kanjas 8189, Maine 969, Michigan 7777, Minneſota 17,900, 
Miffiffippt 900, New-York 3785, Norbcarolina 1499, Oregen 7000, Tenneſſer 
181, Wisconfin 2833, Colorado 6000, Dakotah 39,664, Nebraska 5072, Ne 
vada 7550, Neu-Merito 55,100, Utah 20,000, Waſhington 31,000. 

Geſammtbevölkeruag. As 1790 zum erften Male bie verfafjungs- 
mäßige Zählung flattfand, ergab fih eine Oefammtbeväfferung von 3,929,827. 
Die Bevölferungszunahme fett jener Zeit iſt außerordentlich und ſteht ohne Bei- 
fpiel in der Geſchichte da. Die folgende Tafel der Bendllerungsziffern in ven 
verſchiedenen Perioden mit ber prozentweifen Zunahme von 10 zu 10 Jahren 
gibt uns ein überraſchendes Bild. 


— — — 


5) Brüßer 100 M.; 1846 wurden 40 M. an Maryland und Birginien, weldye das Gebiet 
abgetreten hatten, retrocedirt. 

6) Wir legen in unfern Angaben den officiellen Genfusberidht von 1860 zu Grunde ; bei 
anderen und neueren Nachweifen find jedesmal die Quellen genannt. 








Nordamerikaniſche Sreiſtaaten. 


Jahr Geſammibevolkerung 9/, Zun. in 109. 
1790 3,929,827 

1800 5,305,925 35,02 
1810 7,239,814 36,45 
1820 9,638,131 38,13 
1830 12,866,020 33,49 
1840 17,069,453 32,67 
1850 23,191,876 35,87 
1860 31,445,089 35,59 


765 


Eine Zunahme in 70 Jahren von 700,16 9/,! Nehmen wir bei Berechnung ber 
Zukunft ven fi aus diefer Tafel ergebenden durchſchnittlichen Prozentfag der Zunahme 


an, fo würbe fi die Progreffion bis zum Schluß dieſes Jahrhunderts wie folgt ſtellen: 
1870 2 


2,328, 
1880 66,450,241 
1890 77,266,989 
1900 100,355,807 


Vielleiht würde der Verfafſer des Genjusberichtes dieſe Wahrfcheinlichkeits- 
rechnung nnterlaffen haben, hätte er die nähftjährigen Ereignifie vorausfehen können. 
Dennoch, unter Berückſichtigung der durch den Bürgerkrieg hervorgerufenen GStö- 
rungen der Bevölferungsentwidelung, ſcheint die Rechnung nicht allzufühn zu fein. 
Wir bemerfen in ter procentweifen Zunahme ter legten 70 Jahre eine große 
Gleichmäßigkeit, obwohl in den erften Jahrzehnden dieſes Jahrhunderts die euro- 
pätfche Einwanderung ſich noch In fehr engen Grenzen bewegte, obwohl 1812 ber 
Krieg mit England, 1846 der Kampf gegen Mexiko viele Opfer forderte. Ein 
Krieg, wie die Union ihn in dem legten Luſtrum befanden, wird ſicherlich wenn 
überhaupt, nicht jo bald wiederkehren; anbrerfeits ift bie Vermuthung nicht unbe⸗ 
gründet, daß die europäiſche Einwanderung tie Dimenfionen ter legten 10 Jahre 
auch fernerhin beibehalten werde. Die Erfahrung ber neueften Zeit lehrt, daß 
nicht Krieg oder Steuerlaſt die Urfahen der wachſenden europäiſchen Auswande⸗ 
rung find, daß biefe vielmehr in den meiften Fällen anderswo zu fuchen find; 
die Lücken, welde ver Bürgerkrieg gerifien, dürften durch Einwanderung und den 
natürlichen heimischen Zuwachs ſchon jegt nahezu ausgeglichen fein. Der Staat 
Wisconfin, der fucceffive 60,000 Mann in's Feld ſchickte, weist für bie letten 
5 Jahre gleihwohl eine Bevdllerungszunahme von 250%/, auf. Auch ift in dieſem 
Zufammenhange daran zu erinnern, daß mit der Sflavenemancipation die Süd⸗ 
flaaten, vie bisher gegen die freien Staaten zurüdgeblieben, in Zulunft aller 
Wahrſcheinlichkeit nach rafcher wachſen werden. Genug, vie Erfahrung berechtigt zu der 
Annahme einer gleihen Bevölkerungszunahme audy in den Tommenven Jahrzehnden. 

Nach der erften Zählung vertheilte fi die Bevölkerung auf die verſchiedenen 
Staaten wie folgt: 


Connecticut 238,141 1,195,168 
Delaware 69,096 New⸗VYork 340,120 
Georgia 82,648 Nordcarolina 393,751 
Kentudy 73,077 Pennſylvania 434,373 
Maine 96,640 Rhode Island 69,110 
Maryland 319,728 Südcarolina 249,073 
Newhampfhire 141,899 Tenneflee 35,791 
News Ferfen 184,139 Vermont 85,416 

1,195,168 Birginien 748,308 


3,551,110 


766 Nachtrag. 


Wie ſehr ſeitdem viele Staaten ihren Rang gewechſelt, wie ſich der Schwer⸗ 
punkt ſeitdem verfchoben, das erhellt aus folgender Aufftellung ver Bevdlferungs- 


ziffern für die verfchievenen Staaten und Zerritorien von. 1860: 


Alabama 964,201 14,952,135 
Arkanſas 436,450 New⸗Jerſey 672,035 
Californien 305,439 New⸗York 3,880,735 
Connecticut 460,147 Nordcarolina 992,622 
Delaware 112,216 Obio 2,339,502 
Florida 140,425 Oregon 62,465 
Georgia 1,057,286 Pennſylvania 2,906,115 
Illinois 1,711,951 Rhode Island 174,620 
Indiana 1,350,428 Sütcarolina 703,708 
Iowa 674,948 Tenneſſee 1,109,801 
Kanſas 107,206 Texas 604,215 
Kentudy 1,155,684 Bermont 815,098 
Loutfiana 708,002 Birginien 1,596,318 
Maine 628,279 Wisconſin 775,881 
Maryland 687,049 St. Colorado 36,638 
Maſſachuſetts 1,231,066 Dakotah 2,576 
Michigan 749,113 Nebrasta 28,841 
Minnefota 173,855 Nevada 17,364 
Miififfippi 791,305 Neu-Meriko 83,049 
Miffouri 1,182,012 Utah 40,699 
Newhampfhire 326,073 Waſhington 11,168 
902,155 Columbia 75,080 
31,870,565 


Bir fehen: die Staaten, weldhe 1790 in ver Bevblkerungszahl den erften 
Rang einnahmen, haben diefen im Laufe der Zeit ihren jüngern Nivalen ein 
räumen mäflen. So ift Virginien von ber erften Stelle auf bie fünfte zuräd- 
gegangen. Auch das verhältnigmäßige Zurüdbleiben der meiften Südſtaaten wir 
durch diefe Aufftellung konftatirt. Eine Abnahme ver Bevölkerung ift bis jet in 
feinem Umionsftaate bemerkbar. Vermont iſt 1850—1860 faft flattonär geblieben 
(Zunahme 1/, %/,), Newhampfhire hat in der gleichen Zeit nur 21/,0/, gewonnen. 
Ueberhaupt ſcheint in einigen älteren Staaten der Zeitpunkt erreiht zu fein, wo 
bie Bevölkerung, ftetig zwar, aber in langſamerem Tempo fortſchreitet. In andern 
Staaten würbe ohne die Induſtrie die Zunahme ebenfalls ſchwächer fein. 

Bon den Süpftaaten bat im genannten Da Sübcarolina nur etwas 
über 59%/, zugenommen, Tenneſſee beinahe 11%,, Birginten 9,28 %/,. Von ben 
ältern freien Staaten hat New⸗York 25 %/, gewonnen. Ein koloſſales Wachsthum 
weifen die neuen Staaten des Weſtens nah, unter denen Illinois über 100%, 
zugenommen bat. Die folgende Aufftellung macht die Beuölferungövertheilung nad 


Gruppen und teretorlaler Aabehenng anfhaulid : 


Staatengrupven 


eifen 


Be. 1850 aufd.[_Meile 


Bev. 1860 a, d.[_ Melle 


6 Neuenglanpftaaten 63,272 2,728,106 48,11 3,135,283 49,55 
6 Mittelftaaten 151,760 8,553,718 56,36 10,597,661 69,88 
6 ſüdl. Kuſtenſtaaten 286,077 3,557,872 12,43 4,364,927 185,25 
6 mittl. Süpftanten 309,210 5,167,276 16,71  6,471,867 20,983 
7 Nordweſtſtaaten 256,295 2,734,945 10,92 5,543,283 22,14 
Teras 237,821 212,592 0,89 604,315 2,55 
Kalifornien 188,982 165,000 0,87 879,994 2,01 








Nordamerikaniſche Sreiftaaten. 167 


Die Mittelfinaten Haben demnach in 10 Jahren 250/, gewonnen, während ber 
Zuwachs in ber Gruppe der Norbweftftanten über 100 0) beträgt. 

Was das Verhältniß der ſtädtiſchen zur länblichen Bevölkerung betrifft, fo 
it eine Scheidung, wie wir fie in Europa gewohnt find, für die Union ans 
bem Grunde ſchwierig, wenn nicht unmöglich, weil wir e8 bier nicht mit Stabt- 
und Landgemeinden in europälfhem Sinne zu thun haben. Dörfer nad unferen 
Begriffen gibt e8 eigentlich gar nit. Wo eine Heine Gemeinde durch die Gunft 
der örtlihen Lage und andre Vortheile fi) raſch vergrößert, da iſt aud fofort 
die Stadt mit allen ihren dharakteriftiihen Merkmalen da. Die amerikaniſchen 
Barmer leben nicht, wie unfere deutſchen Bauern, in Dorfgemeinven eng zufammen, 
vielmehr find, ihre Güter gefchloffen und fo wohnen die Einzelnen oft fehr weit 
von einander. Allerdings giebt es, namentlih im Weiten, Stäbte, bie vermöge 
der Beihäftigung ihrer Bewohner ober der Geringfügigfeit ihres Umfangs, viel 
eher den Namen eines Dorfes zu verdienen feinen. Eine firenge Scheidung ft 
indeß nicht durchführbar. Wenn wir Stäpte von 5000 Einwohnern der ländlichen 
Bevölkerung zuzählen oder auch dieſe Grenze noch weiter nach unten rüden, fo 
wird — und darauf fommt e8 an — das Ergebniß das fein, daß die ländliche Be⸗ 
völferung die ftäntifhe weit überwiegt und aller Wahrſcheinlichkeit nah auf 
geraume Zeit hinaus auch ferner überwiegen wird. Zu verfennen tft freilich nicht 
das beifpiellofe Wachen einiger Großftäpte, welches folgenne Tafel veranſchaulicht: 


Stäbte Zun. 1840—1850 1850—1860 
New Mr . . . 64,86 9%, 66,27 9%, 
Bhilavelphia . . . 54,27 „ 65,43 „ 
Bofton . . . 19,68 „ 29,90 „ 
Baltimore . . . 65,23 „ 25,65 „ 
Cincinnati . . , 149,11 „ 39,51 „ 
St. ou . . . 372,26 „ 106,49 „ 
New- Orleans . . 13,87 „ 44,94 „ 


Chicago . . . 570,31 „ 264,65 „ 

Wir fehen, die Zunahme ift namentlich im Weften enorm, indeß macht fih auch 
dort im legten Jahrzehend naturgemäß ſchon ein langfameres Tempo bemerkbar. 
Gerade im Weften hat auch die ländliche Bevölkerung außerorbentlih zugenommen. 
Die Geſammtbevölkerung vou fieben, im Cenfusberiht aufgeführten Stäpten in 
Illinois von 5000 Seelen unb barüber betrug 1860 noch nicht 10%, der 
Bevölferung diefes Staates. Es find eben doch nur wenige, durch ihre Lage 
beſonders ausgezeichnete Städte, deren Bevölkerungszunahme eine fo außerorbent- 
lich raſche Progreffion zeigt; gegen das große Ganze fallen fie bis jegt nicht all- 
zufehr in's Gewicht und ber Zeitpunkt, wo, wie in England dad Prozentverhältnig 
von ftädtifher und ländlicher Bevöllerung ein gleiches ift, dürfte für die Union 
no in weiter ferne liegen. 

Fragen wir nun nad dem Verhältniß der beiven Geſchlechter (wobei wir 
zunädft nur bie weiße Bevölkerung in's Auge faflen), fo begegnen wir ber That⸗ 
fadye, daß das männliche Geflecht das weibliche nicht unerheblich überwiegt, eine 
Erſcheinung, die in Ländern von vergleichsweife junger Kultur ſtets wiederkehren 
wird. Die neuen Anfleveler find naturgemäß zunächſt Dlänner; feit der erften 
Gründung von Kolonieen auf dem Boden der neuen Welt haben bie nenern An- 
fiebler über das Mißverhältnig der beiden Geſchlechter geflagt. Auch heute noch 
{ft dieſes Mißverhältniß, im Vergleich mit Ländern alter Kultur, nicht unerheblich. 
Während in der Union bei 31 Millionen Einwohnern der Ueberihuß der männ- 


768 Nachtrag. 


lichen Bevölkerung nicht weniger ala 730,000 beträgt, ift 3. ®. in Großbritannien 
das Berhältnig umgelehrt, denn dort ift bei einer Bevölkerung von rund 29 Mill. 
der Ueberfhuß von 877,000 auf Seiten des weiblichen Geſchlechts. Vergleichen 
wir bie einzelnen Staatengruppen miteinanter, fo finden wir das größefte Miß- 
verhältnig in den zulegt beſiedelten Staaten und Territorien, während in ben 
ältern Staaten der Ausgleihungsprogeß fletig fortichreitet. So mag beifpielswelfe 
erwähnt werten, daß in Illinois und Miffourt auf refp. 898,941 und 563,131 
Männer beziehungsweife 805,350 und 500,358 Frauen kommen, während andrer⸗ 
feits im Staat New-Hork das Mißverhältnig fi wicht bloß ausgeglichen, fonbern 
zu Ounften des weiblichen Gefchlehts veräntert bat, denn dort kommen auf 
1,910,279 Männer 1,921,311 Frauen. In einigen der Neuenglaudſtaaten find 
die Frauen unmeriſch entſchieden überwiegend; beifpielsweife kommen in Maſſachn⸗ 
ſetts auf 592,231 Männer 629,201 Frauen, eine Erſcheinung, die vorzugsweiſe 
daraus zu erflären, daß in ben zahlreichen und großen Spinnereien biefes In- 
duſtrieſtaates vorherrſchend weibliche Arbeit zur Anwendung kommt. In anderen 
Neuenglanpftaaten ift das Berhältnig, wenn gleich nicht fo grell hervortretend, 
doch ein ähnliches. In entgegengefegier Richtung verbient Kalifornien unfre Bead- 
tung. Dort waren 1860 bei einer Bevölferung von rund 300,000 bie Frauen 
nur in der Zahl von 98,149 vertreten, ein Mißverbältniß, fo groß, daß man 
verfnht iſt, die Nichtigkeit der Erhebung in Zweifel zu ziehen. Im Allgemeinen 
iſt die Erwartung beredtigt, daß fi das Mißverhältnig im ganzen Unionsgebiete 
im Laufe ter Iahre mehr und mehr ausgleichen werde. Je fefter ſich der Bevölke⸗ 
rungsſtand Konfolibirt, in je ruhigere Bahnen der Strom einlenkt, um fo ficherer 
wird ſich ein Mißverhältniß berichtigen, das für die fociale, wie wirthſchaftliche 
Entwidiung der Nation von nicht zu unterfhägenver Bedeutung iſt. 

Lebensalter. Auch die amerilantfhe Statiftil der menſchlichen Lebensalter 
giebt und Aufſchlüfſe, die von den bezäglichen Verhältnifſen in den weftenropäifchen 
Staaten bemerfenswerthe Abweichungen Tonftatiren. Unter der weißen Unions⸗ 
bevölterung kommen auf 10,000 Individuen: 


Alter Perfonen - ter Berfonen 
0—5 Jahr 1530 40-50 Jahr 849 
5-10 „ 1311 50-60 „ 521 
10-15 „ 1156 60-70 „ 291 
15—20 %„ 1060 70—80  „ 115 
20—30 %„ 1830 80—90 „ 30 
30—40 1303 90 u. darüber 3 


" 

Es fällt hiebei zunähft das fehr große Verhältniß ber erften Lebensalter, 
von 1—10 Jahren auf, namentlih, wenn wir bie bezüglicden Erhebungen ber 
Statiftit Frankreichs in Betracht ziehen, wo diefe Lebensalter nur mit etwa 1800 
vertreten find, alfo 1000 weniger als in der Unton. In England und Irland iſt 
ber Kontraft zwar nicht fo augenfällig, doch zeigen vie Vereinigten Staaten ein 
vergleihsweife ftarfes Weberwiegen der früheften Lebensalter; nur vie beiden 
Canada's bieten uns ein In diefer Beziehung die Vereinigten Staaten noch über 
treffendes Zahlenverhältnig. Während in den nächften Lebensaltern (25—40 Jahre) 
das Verhältniß den europälfchen Staaten nahezu entipridt, zeigen fich die höheren 
Lebensalter im Vergleih zu Europa fhwad vertreten; ſchon mit dem 40. Tebens- 
jahre beginnt der Unterjchteb Hervorzutreten. So ftellt fi in Großbritannien das 
Berhältniß beifpielsweife wie folgt: 1074 gegen (mie obenftehent) 849, 720 
gegen 521, 465 gegen 291, 200 gegen 115, 38 gegen 30, 4 gegen 3. Be 








Nordamerikaniſche Sreiſtaaten. 769 


Betrachtung der Lebensalter iſt der Charakter des Klima's, bie Lebens und Be⸗ 
ſchaͤftigungsweiſe des Volkes wohl zu berädfitigen. Das amerikaniſche Klima mit 
feinen heftigen und unvermittelten Temperaturwechſeln fcheint der Erreihung eines 
hohen Xebensalterd wenig günftig zu fein, es trägt dazu bei die Raftlofigkeit und 
nerudfe Erregung bes Ürbeitenden, bie durch die Jugend des Landes und das 
Temperament feiner Bewohner erflärlih werben, zu felgern. Ueberdem ift bie 
ganze Lebenswelfe werer in den Stäpten, no auf dem Lande, geeignet, einer 
langen Lebensdauer beſenders förderlich zu fein. Der allgemein verbreitete, nur zu 
häufig zum Uebermaß gefteigerte Genuß geiftiger Getränke, iſt u. A. ein Grund, 
dag Tauſende in der Blüthe ihrer Jahre vahingerafft werden und der Amerikaner 
barf es dem Deutfhen Dank wiſſen, daß dieſer ven Genuß des Bieres in ber 
neuen Welt heimiſch machte, des Bieres, das jept einen für die Gefittung be 
bentungsvollen und fegensreihen Kampf gegen ven Branntwein führt. 

Es erhellt aus obigen Aufftellungen, daß die mittlere Lebensdauer in ber 
Union vergleihsweife feine hohe fein kann; die Länder der alten Welt bieten uns 
in diefer Beziehung günftigere Erfheinungen. 1860 betrug bie mittlere Lebens⸗ 
bauer ber (weißen) Bevölkerung 23,53 während ſich beiſpielsweiſe in Frankreich 
31,06, in England 26,56 ergeben und überhaupt faft alle Staaten Europa’ ein 
günfligeres Berhältniß zeigen. Nur Canada fteht in diefer Beziehung noch hinter 
ber Union zurüd (21,86). Im Wllgemeinen tft indeß aud in Amerika ein Fort⸗ 
fhritt bemerkbar; 1850 betrug in ber Union die mittlere Lebensdauer 23,10, fe 
daß fi in den 10 Jahren eine Steigerung von nicht ganz 1/2 %/g berausftellt. 

Beburtsftatiftit. In Betreff der jährlihen Geburten iſt die Ermittlung 
in fofern ſchwierig, als belanntlih nur alle 10 Jahre ftatiftiihe Erhebungen 
fattfinden und ift in diefer Beziehung der Mangel zuverläßiger Eivilftandsregifter 
zu beflagen. Wir find daher gendtbigt, uns auf einige allgemeine Angaben zu 
befchränten, bie unter ven obwaltenden Umfländen aud eben nur approrimativ fein 
fönnen. Dan bat im Cenfus-Bureau den Weg eingefchlagen, die. Zahl der Leben- 
den unter 1 Jahr zu ermitteln und die Summe um 1/, zu vermehren. Danach 
ergiebt fi für 1860 folgendes Procentverhältnig der Geburten: 


Alabama 3,24 Maryland 2,86 Sübdcarolina 2,85 
Arkanſas 3,34 Maſſachuſetts 2,57 Tenneffee 3,17 
Galifomien 2,44 Michigan 2,85 Texas 3,41 
Gonnecticut 2,43 Minnefotea 3,62 Bermont 2,16 
Delaware 2,94 Miffiffippt 2,89 Birginien 3,00 
Florida 3,20 Miffourt 3,45 MWisconfin 3,31 
Georgia 3,22 Newhampſhire 2,05 Colorado 0,14 
Illinois 3,39 New⸗Jerſey 2,99 Dakotah 1,24 
Inbiana 3,33 New: Hort 2,67 Nebraska 3,49 
Jowa 3,69 Nordcarolina 2,91 Nevada 1,00 
Kanſas 3,36 Ohio 3,05 Neu: Mexiko 3,01 
Kentudy 3,32 Dregon 3,83 Utah 5,01 
Louifiana 2,65 Pennſylvania 3,03 Wafhington 2,82 
Maine 2,36 Rhode Island 2,63 Columbia 3,39 


Die Säb- und Weſtſtaaten zeigen darnach das größte Procentverhältniß jähr⸗ 
lich Geborener. Ungünftiger fleht es in dieſer Beziehung in den Neuenglandſtaaten 
ans, wohl in Folge klimatiſcher Verhäftniffe und des fi immer mehr ansbilden- 
den, andre Probuktionszweige verbrängenven Induſtrialismus. In den meiften neu> 
befiedelten Staaten, wie 3. B. in Kalifornien, ift die Geburtsziffer ebenfalls, im 

Bluntſchli und Wrater, Deuties Staatt⸗Wörterbuch. Xi. 49 


- 


770 Nachtrag. 


Derbi zu den älteren Agrikulturſtaaten des Weſtens ungänftig, am — 
im Territorium Colorado, eine Erſcheinung, bie unter 

—— der Erhebung, darin ihren Grund haben dürfte, daß die —X 

lung dieſes Gebietes kaum erſt begonnen und bie Bevölkerung bis 1860 einen 

gewiffermaßen tranſitoriſchen Charakter hatte. 

Die Erklärung der unverhältnißmäßig großen Geburtsziffer im Territorium 
Utah liegt ſelbſtverſtändlich in der foctalen Unfitte der Polggamie. 

Für das ganze Unionsgebiet fiellt fi das Procentverältuig für 1860 im 
Durchſchnitt auf 2,989/,, eine Steigerung gegen das Jay ı 1850, für welches wir 
bie Durchſchnittsziffer auf 2, 75 9/, angegeben finven. Das Berhältniß ber Ge 
ſchlechter iſt in der ganzen Union 1860 103 Knaben zu 100 Mädchen. Was das 
Berhältniß der unehelihen zu den ehelichen Geburten betrifft, fo fehlen im Eeufus- 
Bericht leider alle Angaben und bei dem Mangel regierungßfeitiger Kontrole wird 
man vorläufig auf Gewinnung eines Urtheild im biefer Hinficht verzichten müflen. 
Im ganzen kommt Eine Geburt auf 30 Lebende, ein den meiften enropätfchen 

Staaten analoges Berhältniß. 

Heirathsfrequenz. Auch bei Ermittlung ber Heirathefrequenz macht 
fih der oben gerägte Mangel jährliher Erhebungen fühlbar, und wir 5* 
uns daher auch hier auf allgemeine Angaben beſchränken. In der ganzen Union 
fam 1860 auf 122 Einwohner Eine Heirath; die Oefanumtzahl der Heirathen 
betrug 224,682 oder 0,82 %/, der Bendlferung, eine Abnahme gegen 1850, wo 
fih die Biffer auf 0,99 07 ftellte. Die geringfte Heirathsfrequenz zeigen Wis- 
confin und Bennfylvanien, wo auf refp. 157 und 152 Einwohner Eine Heirath 
kam (1860), vann Kalifornien 1:145, Dregon 1: 146. Am vortheilkafteften ſteht 
Tenneflee da mit 1:93. Ueber das durchſchnittliche Lebensalter, in welchem bie 
Heirathen fi vollzogen, find Augaben, welche das ganze Unionegebiet umfaflen, 
leiver nicht vorhanden; es find nur einige ſpecielle Erhebungen der Regiſtratur 
des Staates Maſſachuſetts beigefügt, denen zufolge das durchſchnittliche Alter ber 
Männer 28,4, ver Mädchen 24,6 Jahre betrug. Im ven Jahren 1851—1859 
find in jenem Staate im Banzen 108,400 Heirathen regifirirt, vavon 86,486 
unter Ledigen, 4085 ledige Männer mit Wittwen, 10,715 Wittwer mit Mäpden 

und 5538 Wittwer wit Wittwen (über den Reſt fehlen bie Angaben). Wären 
die obigen Altersverhältnifie für die ganze Union maßgebend, fo würde fich das 
durchſchnittliche Lebensalter, namentlich der Madchen, doch nicht fo niedrig fleflen, 
ale man unter Berädfihtigungeaper günftigen Erwerbsverhälmiſſe verſucht wäre, 
anzunehmen. Die Bermuthung ſcheint indeß gerechtfertigt, daß, zumal Bad ben 
Aderbauftnaten des Weſtens, der Durchſchnitt ein miebrigerer ift. Ks in 

der Heirathsfrequenz weifen viele europälfche Staaten ein —* —* 
auf (in Preußen 1: 106). 

Sterblichkeit. Die Mortalitätsftatiftit wurde 1850 zum erſten Male 

dem Genfjusbericht beigefügt und es find vergleichende Erhebungen für 1860 mit 
getheilt, die nicht ohne Interefle find. Im letztgenannten Jahre ftarben in ver 
Union 394,123 Perfonen, oder 1,282/, der weißen Bevolkerung gegen 1,41%, 
im Iahr 1850. (Das ungünflige Berhältniß legtgenannten Jahres vürfte im bem 
Borherrfhen der Cholera feine Erklärung finden) Cs kommt für 1860 Ein 
Todesfall anf 79. Nach der natärlihen Eintheilung des Gefammtgebietes ergiett 
fih folgende Sterblicgleitsziffer : 





Nordamerikanifge Sreiſtaaten. 771 


Todesfälle 1860 9/,b. Ben, 1850 0/, d. Ber. 

Niederungen ber atlantifchen 

Käfte, d. h. zwei Grafſchaften 

Breite, von Florida bis Dela⸗ 
Unteres Miffiffippitbal, d. h. 

Louiſiana u. zwei Grafſchaften 

an jever Seite des Stromes, 

nördlich bis Cap Girardeau, 

Milieu . . . 30,154 1,81 2,38 
Alleghany- Region, von ı Benn- 

ſylvanien durch Birginten, Oft 

Zenneflee u. f. w. bis Nord⸗Ala⸗ 

bama . 26,346 1,08 0,96 
Bon obigem Gebirge bis zu 

ben Nieverungen des atlant. 

Deeans nad das Mifftifippithal 79,615 1,32 1,19 
Pacifiſche Küfte, Raltfornien, 

Dregon und Walhington . . 3,991 0,95 0,92 
Maine, Newham ke, Ber- 

mot -. . 2 2 2 200% 
Wisconfin, Iowa, Minne- 

fa . . 15,508 0,98 1,01 

Es zeigen darnach der Nordweſten, die Alleghany-Region und bie pacifiſche Küfte 

die geringfie Sterblichkeit, die größte dagegen das untere Miffiffippithal und bie 

Niederungen an ber atlantifchen Küfte, Ergebuiffe, die den klimatiſchen Verbält- 

niſſen im Weſentlichen entſprechen. 

Es ſtarben 1860: 1,32 0/, der männlichen, 1,24 9/, ber weiblichen Bevölke⸗ 
rung. Bemerkenswerthe Ergebniffe ta Anfehung der Lebensalter der Geflorbenen 
ltefert uns folgende Tafel: 

Lebensalter 1860 %/, männl. 9/, weibl. Total 1850 %/, Total 


15,292 1,34 1,45 


15,438 1,24 1,25 


0—1 Yahr 11,35 9,39 20,74 16,90 
12, 5.25 51 97 

2-3 „ 3,19 285 6,04 

34 , 1,98 1811 0 370 21,41 1—5 Jahr 
45 „ 1,36 131 2367 

5-10 „ 8,53 348 7,01 6,68 

10-15 „ 1,68 1,73 3,36 4,18 

15-20 „ 2,07 236 448 4,19 

20-25 „ 2,65 269 5,34 

25—30 „ 2,41 2,44 1B5l 1114 20-30 „ 
30-40 „ 4,14 392 8.06 9,07 

40-50 „ 3,44 268 612 7.14 

50-60 „ 3,04 917 521 5,56 

60-70 „ 2,88 225 5,13 5,12 

70-80 „ 2,30 205 4,35 4,17 

80-90 „ 1.23 122 2,46 2,54 

0—- , 0,33 041 0,74 0,76 


Hr 


Sietabatun; Ihrer Rinter zut medien, tab vertecben fie wieder in 
Berherrſchenr in ameritzuiichen Kreiien if tie Unficht, taf man dem Kinde feinen 
Billen laſſen mäfle uns was es au Eyeife aut Tranf begehre, ihn nur in Ans 
wahınefällen vorenthalten türfe. Es leuchtet ein, va bie fräßgeitige praktiſche Un- 
un 


H 

f 
i 
ı 
i 


Bas vie Totesurfoden betrifit, fe mäflen wir ums taranf beſchränken, bie 
numeriſch bedententeren hervorzuheben. Es Karben 1860 au Dirniranfheit 10,335, 
Schwindfucht 48,971, Hühmerhuften (Croup) 15,188, Waſſerſucht 12,034, Ruk 
10,461, Bedfeificher 11,102, Typhus 19,207, Wltersfgwäde 10,887, Lungen 
entzäntung 27,076, Scharlachfieber 26,393, — eines gewaltfamen Todes flarben 
20,115 Perfonen, davon in Folge von Berbrennung oter Berbrühung 4276 
Ertrunfene 3119, Brüche durch Fallen 1321, Grfiidung 2136, Eifenbahunn: 
Pr 699, Gelbfimord 1002, unbeabfitigter Todſchlag 458, Wort 526 um 

inrichtung 61. 

Sanliätsverhäftniffe Bie fon bemerkt, iſt das amerikaniſche Klima 
im Ganzen der menfhligen Geſundheit nicht minder zuträglih, als das weſt⸗ 
europaiſche. Allerdings zeigen ſich auf jo ausgedehntem Raum, wie fi das von 
ſelbſt verftcht, große Unterſchiede. Der verderbliche Einfluß der erceifiven Sommer- 
hitze und des frühen Zemperaturmechfels erhellt aus einigen ver vorftehenben 
Mortalitätsangaben, refp. ven Todedurfachen. Im Allgemeinen fanu man fagen, dab 
bie Wefttüfte ver menſchlichen Geſundheit am zuträgiichften if; denn dort iſt bie 
Hitze durchſchnittlich minder erceffiv und auch die Temperatnrwechfel treten weniger 
ſchroff anf. Im Miffiffippithale find zur Sommer- und Herbfizeit Wechfelficher 
vorherrfchend. In den Niederungen Louiſiana's hat in fräheren Zeiten da® gelbe 
Fieber große Verheerungen angerichtet und dort, ſowie an der teraniichen Küfte Kat 
«6 Im legten Sommer (1867) wieder zahlreihe Opfer geforvert; auch in ben 
fumpfigen Nieverungen Nordcarolina's und an der virginiihen Küfte (Norfolk unt 
Umgegend) iſt e8 zu verſchiedenen Zeiten mit großer Heftigkeit aufgetreten. Im 
DVergleih mit früheren Jahrzehnden ift übrigens eine Beſſerung unverkennbar, 
Dank ver Lihtung der Wälder, der Trodenlegung der Sümpfe und einer ratio 
nelleren Behandlung der Krankheit. Alle Alterskiaffen werben vielfach von nervöſen 
Leiden heimgefucht, ohne Zweifel eine Folge des wechfelvollen Klima's und ber 


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Nordamerikaniſche Srciftaaten. 773 


Haſt im Arbeiten und Erwerben. Die klimatiſchen Ertreme ſpiegeln fich wieder 
im phyſiſchen und geiſtigen Leben des Volkes. Großer, überſchwellender Kraft und 
Lebendigkeit folgt jaͤhlings gänzlihe Abſpannung, der größeſten Hoffnungsfreudig⸗ 
keit ein gaͤnzliches Verzagen. Solche Erſcheinungen waren beſonders in den Jahren 
des Burgerkrieges bemerkbar; freilich hat die Hoffnung die Oberhand behalten, 
vie phuflfche und fittliche Kraft der Nation bat glänzend triumphirt — wir haben 
es mit einem jugenblichen, lebenskräftigen Volle zu thun. 

Die Geſundheitszuſtände der Union würden befier fein, wenn einentheils ber 
Einzelne fih einer vernänftigeren Diät befleißigte, andrentheils die öffentliche Ge⸗ 
funpheitspflege beſſer wäre. Ueber beide Punkte Laßt fich nicht viel Rühmliches 
fazen. Schon durch die Nadhläffigkeit bei der Kinder-Ernährung werden bie Keime 
fpäterer Krankheiten gelegt nnd der Erwachſene pflegt die Gewohnheiten feiner 
Jugendzeit nicht ohne zwingende Noth abzulegen. Underdaulichkeit (dyspepsia) tft 
ein weitverbreitetes Leiden, eine Exrfcheinung, vie nur zu erflärlih wird, wenn 
man beventt, wie trrationell die Ernährungsweife ift. Auf heißes Brod folgt — 
Eiswaſſer; außerorventlih ſtark gewürzt find die meiften Speiſen und es fcheint, 
daß der Amerilaner ſtarker Stimulanzen nicht entbehren kann. Um meiften fün« 
digen gegen die Diät die Frauen; ihre ganze Lebensweife, der Mangel an körper- 
licher Bewegung iſt neben dem Klima bie Urſache ihres auffallend raſchen Dahin- 
welkens. In viätetifher Hinficht fündigen fie durch maflenhaften Verbraud von 
Suſſigkeiten aller Art; Konditoren und — Zahnärzte kommen trog ihrer großen 
Zahl in Amerika befonders gut fort und lettere haben es befanntlih in Ihrer Kunft 
weiter gebracht, wie bie Europäer. Mangelhaft ift dann auderntheild die Geſund⸗ 
heitspflege, eine Folge ver Läffigkfeit der ganzen Verwaltung, auf melde wir 
zurädtommen; bei dem rafhen Wachsthum der Städte verdient dieſer Uebelſtand 
ernfte Erwägung. Es dürfte wenige Stäpte gleicher Größe geben, im benen bie 
Straßenreinigung fo mangelhaft ift, als in New⸗PYork. 

Bir fchließen hieran noch wenige Betrachtungen über das Berhältniß ber 
Blinden, Taubftummen, Ipioten und Öeifteöfronten. In der ganzen Unton kommt 
auf 2470 Einwohner 1 Blinder. Norbcarolina (1:1687) und Kentudy (1:1755) 

eigen in dieſer Hinfiht das ungünftigfte Verhältniß, Kanfas (1:10,711) und 

innefota (1: 7054) das günftigfte, auch Kalifornien (1 :6032) verdient als 
günftig hervorgehoben zu werven. Im Vergleih zu Europa iſt das Durdichnitts- 
verhältnig für die Union ein fehr günftiges. (In der Schweiz, dem in biefer 
Beziehung am günftigften fitnirten Yande kommt ein Blinder auf 1500 Einwohner). 
Hür die Pflege und Erziehung der Blinden ift viel gefchehen, 1860 befanden in 
der Union 23 Inftlitute mit 1126 Zöglingen, über 109/, aller Blinden, Außer» 
bem ift die Privatthätigkeit in anerfennenswerther Welfe und mit Erfolg bemüht, 
das Shidfal der Blinden zu erleichtern. Ueber die Tanbftummen finden wir 
folgende Angaben : 


Jahr Zahl 1 zu: 
1830 6363 1964 
1840 6682 2123 
1850 9085 2152 
1860 15,269 1925 


Diefe Zahlen umfaflen alle taubftumm Geborenen, ſowie alle Diejenigen, 
welde in früher Kindheit, zunächft das Gehör, fpäter auch die Sprache verloren. 
Kann bier überall von der Zuläffigkeit geographiſcher Scheipungen vie Rebe fein, 
fo verbient bemerkt zu werben, baß bie ganze atlantiihe Küftenregion das un- 


174 Nachtrag. 


günftigfte Verhältniß zeigt (1:1796), während in allen übrigen Thellen ber 
Union auf Einen Taubflummen 2080 Einwohner kommen. Auch für die Taub- 
flummen bat man in anerfennenewerther Weiſe geforgt (1860: 22 Anftalten mit 
130 Lehrern und 2000 Zöglingen). — Das Berhältuig ver Idioten zur Ger 
fanımtbevölterung hat in den letten Jahrzehnden etwas abgenommen (1860: 1 : 1590). 
Kalifornien, Rebrasta und — eigenthümlicher Weiſe — Utah weiſen das gänftigfe 
Verhältniß auf, Georgia, Kentudy und Tenneflee das ungünſtigſte. Heirathen 
unter nahen Verwandten tritt auch in der Unten als eine der Urſachen ber Idioſie 
der Kinder hervor. — Die Zahl ver Geiftestranten betrug 1860 in ber ganzen 
Union 23,999 oder 1:1290. Trunffuht wird als eine ber vornehmflen Urſachen 
ber Geiſteskrankheit angegeben; bie einzelnen Staaten zeigen in dieſer Hinfict 
feine bemerlenswerthen Unterſchiede. Die Pflege ver Geiſteskranken hat man fid 
in der Union feit früher Zeit fehr angelegen fen laſſen und in vem legten Jahr⸗ 
zehnven in dieſer Beziehung namhafte Fortſchritte gemacht. Gin 

ift das Pennsylvania hospital for the insane in Philadelphia, wo den Kranuken 
gleichzeitig die Wohlthaten einer religiöfen Erziehung und körperlier Arbeit, zu 
Haufe und im Freien, zu Theil werben. 1862 befanden ſich bafelbft durchſchnit⸗ 
lich 267 Kranke. Das Inſtitut wurbe 1841 eröffnet und es wurben bort bis 
1862 im Ganzen 3947 Kranke behandelt, davor 2097 männlichen Geſchlechtes, die, 
mit Ausnahme von 273 Arbeitsunfähigen, in verfchlevenen Handwerken in der 
Anftalt befhäftigt waren. In Pennſylvanien bat man ſich überhaupt in berver- 
ragender Weiſe der Geiſteskranken angenommen, und fon im vorigen Jahrhundert 
waren es vorzüglich die Duäler, welche ven Unglädlichen ihre Pflege und menſchen⸗ 
freundliche Sorge zuwanbten. 

Es dürften fih bier am pafiendfien noch kurze Rotigen über das Urmen- 
wefen und die Berbrecherſtatiſtik anfhließen. Die Urmenverforgung if 
Sache theild der Einzelftaaten, thelis der ſtädtiſchen und ländlichen Gemeinden 
In der ganzen Union wurben im Lanfe des Jahres 1860 im Sanzen 319,543 
Arme buch Behörden unterftügt; davon waren nicht weniger ale 160,787 Eia- 
gewanberte; die Zahl der Armen tin den öffentlihen Armenhänfern betrug am 
1. Iuni 1860: 82,791, davon 50,383 Cingemwanderte. Der Einfluß der Grof- 
Käbte und Ihres rapiden Wachsthums iſt aus folgenden Angaben ertenubar: Die 
Zahl der öffentlich unterftügten Armen betrug im Staate New⸗-York 164,782, 
über die Hälfte der Gefammtzahl, davon 85,641 Eingewanberte, in Maſſachuſetts: 
51,880, davon 33,870 Eingewanderte, in Pennfyloanien: 16,463, davon 8805 
Eingewanderte. Die Koften der öffentlichen Urmenpflege betrugen 1860 für bas 
gefammte Unionsgebiet: Dollar 5,445,543. — Die Privatthätigkeit iſt außervem 
in ungemein freigebiger Weiſe bemüht, das Loos der Armen zu verbefiern. Faſt 
in allen größern Stäpten des Landes beftehen Geſellſchaften zu dieſem Zwecke, 
unter denen ſich bie in den Häfen nnd in den Groffläbten des Innern beftehen- 
den, den armen Einwanderer unterſtützenden Gefellichaften, rühmlich hervorthun. 
Beiſpielsweiſe mag erwähnt werben, daß die deutſche Gefelfhaft der Stadt New- Port 
tim Jahr 1865 in 29086 Fällen die Summe von Doll. 6167. 235 Ets. an Unter: 
flügungen verausgabte. In Kranfheitsfällen werben ärztlicher Rath, ſowie Medi⸗ 
famente, Bandagen n. f. w. von allen Einwanderungsgeſellſchaften an Bebürftige 
unentgeltlich ertheilt; vie meiften derſelben haben dann in neuerer Zeit Arbeitsnach⸗ 
weifungsbüreau’s errichtet, Inftitute, die fich trefflih bewährt und Tauſende von Unbe⸗ 
mittelten vor materiellem umd fittlidem Bertommen bewahrt haben. Die genannte New- 
Dorker Gefellfchaft hatte 1865 nicht weniger als 712 Berfonen Beſchäftigung verſchafft. 








Nordamerikaniſche Freiſtaaten. 776 


Uns der BVerbrecherſtatiſtik erſehen wir leider ebenfalls, daß die Ein- 
gewanberten den größeren Theil der Gefängnißinſaſſen ausmachen; von 98,502 
Individnen, welche 1860 verfchiedener Verbrechen wegen verurtheilt wurden, waren 
nicht weniger als 65,736 Eingewanderte; auch hier madt fi, analog den obigen 
Angaben, der Einfluß der Großſtädte bemerkbar; im Stante New-ork mußten 
1860: 58,067 Perſonen anf fürzere oder längere Zelt in's Gefängniß wandern, 
darunter 42,837 Eingewanverte. In den melften Fällen werben vie Gefangenen 
zur Ürbeit angehalten und befommen Lohn in Geld, der fi für ven männlichen 
Urbeiter von 50 Cents bis Doll. 1. 90 Cents, im Durchſchnitt auf 81 Cts. 
per Tag ſtellt; Frauen verbienen bei freier Station wöchentlich Doll. 1. 14 Cts. 
bis Doll. 5. 40 Ets., im Durchſchnitt Doll. 1. 85 Ets. Ueber den Zuſtand ber 
Gefängniffe lauten die Berichte widerſprechend; bie officiellen Berichte find aus 
Gründen, auf die wir zurückkommen, mit Borfiht aufzunehmen. Gewiß fcheint 
nur, daß namentlih im Staate New- Dort und vor Allem in der Stadt das 
Sefängnißweien fehr im Argen liegt, während in Pennfylvanien, das in dieſer 
Beziehung von ven früheften Zeiten an Großes geleiftet bat, die Zuftände aud 
heute noch fi vortheilhaft vor benjenigen in anderen Staaten auszeichnen. 

Naffenverhältniffe Man kann fagen: das erfte Sklavenſchiff, welches 
im Jahre 1645 in Boſton Neger landete, war für ben Gang ber politifchen 
Entwidiung der Union bedeutungsvoll, entſcheidend. Das Verhältniß der ſchwarzen 
zu ber weißen Raſſe, zieht ſich wie ein rother Faden burd die ganze politifhe und 
fociale Gefchihte der neuen Welt. Wir betrachten zunächſt diejenige Bevölkerungs⸗ 
Hoffe, welche bis zum Bürgerkrieg im Zuſtande ber Hörigkeit lebte. Bor dem 
Unabhängigkeitötriege und in der erften Zeit deö neuen Bundes war die Sklaven. 
bevällerung ränmlidh anders vertheilt als fpäter und, wenn aud der Schwerpunft 
fon damals im Säven lag, fo war body die Sklaverei auch in den meiften nörb- 
lihen Staaten wenigftens geduldet. Es zeigte fih indeß früh, daß über einen 
gewiffen Breitengrav nördlich binaus die Sklaverei wirthſchaftlich unhaltbar fet. 
Nachdem Rhode Island fhon 1774 die Einfuhr von Sklaven unterfagt hatte, 
befretirte Maffachufetts 1780 die Abſchaffung der Sklaverei innerhalb feines Ge⸗ 
bietes und feinem Beifpiel folgten Pennfylvanien im felben Jahre, Connecticut 
1784, Newhampfhire 1792, New-Mort 1799, News Ierfen 1820. Die erſte 
Zählung (1790) ergab eine Sklavenbevölkerung von 697,897; ſeitdem iſt dieſelbe 


in folgender Progrefien gefttegen : 


ahr Sklaven Zun. %, 
1800: 893,041 27,97 
1810: 1,191,364 33,40 
1820: 1,538,038 28,79 
1830 : 2,009,043 30,61 
1840: 2,487,455 23,81 
1850: 3,204,313 28,82 
1860: 3,958,587 23,38 


Die Sflavereifrage, jo unbebeutenn fie In ihren erften Anfängen zu jeln 
ſchien, fpielte doch ſchon bei Berathung der Bunvesverfaflung eine fo wichtige 
Rolle, daß man ihr Rechnung tragen zu müſſen glaubte Die Gegner ber 
Sklaverei konnten das fofortige Verbot der Sklaveneinfuhr nit durchſetzen und 
mußten fih mit einem Kompromiß begnügen, demzufolge mit dem Jahre 1808 
der auswärtige Sklavenhandel aufhören follte Im Innern blieb die Sklaverei 
geduldet und es ift bis zum Bürgerkriege die Taktik der Sklavereifreunde gewejen, 





776 Nachtrag. 


bie Bundesverfafſung in ihrem Intereſſe auszulegen und ihr gegenüber auf dieſem 
Gebiete die Souveränität der Einzelftaaten nahprüdliihft zu betonen. Und was 
Waſhington am Abend feines Lebens mit ſchwerer Sorge erfüllte, das follte 
wenige Jahre nach feinem Tode in feinen Anfängen bereits beutli bervortreten: 
der Kampf auf Tod und Leben zwiſchen zwei Principien, bie aud ihrem 
äußeren Wirkungstreife nach fi geographifc immer fhärfer von einanber ſchieden. 
Doch waren bis zum Schluß des vorigen Jahrhunderts die Kämpfe zwiſchen 
Sklaverei und Freiheit im Vergleih mit fpätern Jahrzehnden nit grade heftig. 
Durch die englifhen Erfindungen auf dem Gebiete des Maſchinenweſens, denen 
fid 1793 des Amerilanrs Whitney Erfindung der Baummollenreinigungs- 
mafchine zugefellte, wurbe der Sklaverei ein fo mächtiger Impuls gegeben, daß 
ihre Bejeitigung auf frievlihem Wege immer unwahrſcheinlicher werden mußte und 
vie Löfung endlih nur auf gewaltfame Weife erfolgen konnte. Bor dem genannten 
Jahre hatte man die Baumwolle in der Union faum gelaunt und 1793 gelang. 
ten noch Feine 200,000 D. zur Ansfuhr; aber ſchon im folgenden Jahre hatte 
fi diefe auf 11/, Mill. D. gefteigert; feitvem ift die Steigerung ber Produktion 
unanfhaltfom gewefen und für 1860 ergab fih das Folofiale Quautum von 
5 Mil. Ballen (zu 400 D.)! Den in der Baummollenregton gelegenen Staaten 
erwuchs daraus eine Duelle außerorventlihen Wohlftandes und dieſe Produktion 
mit ihrer eigenthämlihen Bewirthſchaftungsweiſe hat Land und Lenten im Süpen 
in jeder Beziehung ihr eigentliches, von den freien Staaten ſcharf unterjchiebenes 
und auch durch die Srenzflanten nur wenig vermitteltes Merkmal aufgeprüdt. 
Die Größe der Güter und die dadurch bedingte Maſſe der Sklaven half bie 
Ariſtokraten der ſüdſtaatlichen Plantagenbefiger großziehen; der von ver SHaven- 
arbeit bei Baummolle unzertrennlide Raubbau gab den Anftoß zur Erftrebung 
immer neuer Sklavereigebiete und damit zu ben verhängnißvollften politifchen 
Konflikten. Alle Kompromiffe find in viefer Beziehung theils von zweifelhaften, 
theil8 von vorübergehendem Erfolg geweſen, auch ift bei allen Vergleichen in 
ber Regel der überwiegende Bortheil auf Seiten der Sklavenhalter gewejen; 
waren fie gleih numeriſch in der Minderzahl, fo Hatten fie doch In der foge- 
nannten demokratiſchen Partei der freien Staaten mächtige Bundesgenofien, 
bie aus Furdt vor einer Gefährbung des Baumwollenhandels fih zu Kon⸗ 
ceffionen bereit finden ließen und im Punkte des Freihandels überdem principiell 
den im Süden vorherrfhenden Anſchauungen huldigten. Jedesmal, wo es fi um 
bie Zulafjung nener Territorien als Staaten handelte, bilvete fortan die Sklaverei⸗ 
frage den Kernpunft erbitterter Kämpfe. Das idylliſche Zeitalter der „Banern- 
republifen” war vorüber, die „Ideen ohne Baummolle” hatten der „Baumwolle 
ohne Ideen“ Plag gemacht7). Das fogenannte Miffourt-Kompromiß (6. März 
1820), demzufolge nörblih von 360 36° n. Br. vie Sklaverei nicht geduldet 
werben follte, wurde zwar nod 1845 wieber beftätigt, dagegen hatte der Süden 
bie Aufnahme von Texas als Sklavenftaat durchgeſetzt, fowie in Betreff der 
Sklaverei die freie Verfügung über alle fünlih von der Kompromißlinie gelegenen 
Territorien erhalten. Die Erwerbung Kaliforniens gab zu nenen Kämpfen Anlaß 
und führte zu dem Kompromiß von 1850, zu dem berüchtigten „Sklavenjagdgeſetz“, 
bemzufolge Stlavenbefiger ihre flüchtigen Hörigen auf freiftantlihem Gebiete ver 
folgen und zu diefem Zwecke ven Schug der Bundesbehörden beanfpruchen konnten, 


7) Friedrich Kapp, Geſchichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten von Amerifa, 
New Dort 1860. pp raid . 8 














Norbamerikanifdhe Sreiftaaten. 777 


ein Geſetz, das zur Erbitterung der Gemüther und zur Beichleunigung der großen 
Krifls, des „unabwendbaren Konfliktes“, mie es der jetzige Staatsfelretär Seward 
nannte, wejentlich beigetragen hat. Im folgenden Jahrzehend bat dann bie Auf- 
uahme von Nebraska und Kanſas theils zu erbitterten Debatten und Siegen ber 
Stiavenhalter, theils zu offenen Gewaltthätigleiten geführt. Ein Bud The im- 
pending erisis of the Sonth, von H. R. Helper, weldes zuerft gegen Schluß bes 
legten Jahrzehends erfchien und bald in hunverttaufenden von Eremplaren Ber» 
breitung fand, war ganz geeignet, die Gluth zu ſchüren und die Grbitterung des 
Südens zum wildeflen Fanatismus zu felgen. John Brown’s raf unter 
drüdter und mit der Hinrichtung beftrafter Emancipationsverfuh bei Harper’ s 
Gerry in Birginien, ließ ahnen, daß die Krifis mit rafhen Schritten nahe. Die 
Wahl Lincoln’s zum Präfidenten führte ihren Ausbruch herbei; die Waffen 
haben entſchieden: in vierjährigem blutigem Kampfe ift der Fluch, der ber Republik 
in die Wiege gelegt wurde, hinweggenommen. Für denjenigen, ber dem Bündniß 
der freien Staaten unbebingte Lebenskraft zutrante, konnte der Ausgang nicht 
zweifelhaft fein. An Bevölkerungszahl, fittliher Kraft und materiellen Hülfsmitteln 
batten die freien Staaten zu entſchieden das Uebergewiht und wenn fie nidt 
raſcher zum Siege gelangten, fo lag der Grund in der anfänglid größern Kriegs⸗ 
bereitfchaft und Kampftüchtigkeit des Südens. 

Die folgende Tafel giebt ein Bilb von ber Bevölkerung der Sklavenſtaaten 
und ihrer Zunahme felt 1850: 


Staaten Sklavenbev. 1860 Weiße Bev. 1860 Zun. d. SHaven Y, d. Weißen % 
Alabama . . .. 435,080 526,431 23,43 27,18 
Arkanfas . 111,115 124,191 135,91 99,98 
Delaware 1,798 90,589 21,48 Abn. 27,28 
Florida 61,745 74,148 57,05 64,70 
Georgia 462,198 591,588 21,10 13,42 
Kentudy . 225,483 919,517 6,07 20,76 . 
Eonifiana . 331,726 357,629 35,50 39,98 
Maryland 87,189 515,918 3,52 Abn. 23,14 
Miſſiſſippi 486,631 353,901 40,90 19,68 
Miffouri . 114,931 _ 1,063,509 31,47 79,64 
Korbcarolina . 331,050 631,100 14,73 14,12 
Süpcarolina . 402,406 291,388 4,53 6,13 
Zenneflee . 275,719 826,782 15,14 9,24 
Terab . . 182,566 421,294 213,89 173,51 
Ohrginin . . . . 496,865 1,047,411 3,88 17,06 
Diſtr. v. Columbia . 3,185 60,764 13,62 Abn. 60,15 

3,953,687 8,099,760 


Man flieht, der Schwerpunft der Sklaverei liegt oder lag in den Staaten 
der Baummollenregion, nad der freiftaatlihen Grenze zu nimmt das procentale 
Berhältnig der Sklaven zu den Weißen immer mehr ab. Der Tabaksbau erforderte 
nicht die Sklavenarbeit; wenn gleihwohl in Miffouri, Kentudy, Tenneſſee und 
Birginien fein ernftliher Verſuch zur Abſchaffung der Sklaverei gemacht wurde, fo 
erllärt fich diefes zum Theil aus der wachſenden Erbitterung, der blinden Leiden⸗ 
ſchaft, die die Hörigleit der Schwarzen aus einem „nothwendigen Uebel” all« 
mählig in den Augen der Mafle „zu einem Segen des Himmels“ umzugeftalten 
wußte und jede humane Beſtrebung, ja nur eine der „Jnuſtitution“ feindliche 
Meinungsäußerung als einen „verbrecheriſchen Eingriff“ in bie Sonveränität ber 


778 Nadıteng. 


Einzelftanten zu brandmarken verſuchte. Anderntheils mußte der mit der Beren- 
tung der Baummollenkultur in feiner Steigerung Schritt haltende Geldwerth der 
Sklaven eine Löſung auch da erfehweren, wo man bie Sklaverei felbft wirthſchaft⸗ 
lih als eine Laſt zu empfinden begann; fo ift es gefommen, daß bis zum Aus- 
bruch des Bürgertrieges, beziehungsmwelfe bem Emancipatiousdekrete vom 22. Sep- 
tember 1862 die Sklaverei ſelbſt in Delaware, wo fie gar keine Berechtigung in 
wirthſchaftlicher Beziehung, felbft vom Standpunkte des eingefletfchteften Pro⸗ 
fliavereimannes haben konnte, gefetlich beftehen blieb. Der hohe Geldwerth ber 
Sklaven führte dann andrerſeits zu dem ſedes fittliche Gefühl empörenden Gewerbe 
der Sklavenzüchtung, das namentlich in Birginien in großem Umfange betrieben 
wurde. War der auswärtige Sklavenhandel abgefhafft, fo gelangte dafür ver 
binmenlänbifche zn um fo größerer Blüthe. Auf den Märkten zu Rew- Orleans 
und in anderen Stäpten famen die Sklaven zur äffentliden Verfteigerung; dort 
wurden frauen von ihren Männern, Kinder von ihren Eltern durch ben Zufall 
bes höchſten Angebotes unbarmherzig und für immer getrennt, ein Borgang, an 
bem das abgeftumpfte fittliche Gefühl des Bolkes im Süden durchans keinen An- 
ſtoß nahm. Mit der zunehmenden Bedeutung ber Sklaverei verflärkte ſich das 
Streben, alle die „Inftitution” bedrohenden geiftigen und fittlihen Einfläffe von 
ber Sklavenbevälterung fern zu halten. In vielen Staaten warden Gefege erlaffen, 
bie denjenigen, welder die Sklaven im Lefen und Schreiben unterrichtete, mit ben 
fhwerften Strafen bevrohten. Bon den freien Staaten eingebradgte Bücher wur⸗ 
den der ftrengften Eenfur unterworfen und „Onkel Tom’s Hütte”, ein Bud, defien 
Inhalt vielmehr der Phantafle entfprungen, als auf Thatſachen fußt, von einem 
korrekten Süpländer nicht minder verabichent,/ ale das oben erwähnte Bud 
Halper’s. Freilih därfen wir, wenn wir die Größe des Uebels und die ungehenren 
Schwierigkeiten feiner Befeitigung in's Auge faflen, nit unbedingt den An» 
fhauungen der Abolitioniften beipflihten und noch weniger können wir ihr frühere 
Berfaberungsweife überall in Schug nehmen. So iſt die, vorzugsweiſe biefen 
Kreifen entfprungene Behauptung, daß die Sklaven auf die graufamfte Weiſe 
behandelt, Weiber ausgepeitfcht wurden, fiherlich übertrieben und nur für immer 
ſeltener geworbene Ausnahmen zufäffig; vielmehr ift eine mildere Praris in ven 
“ Testen Jahrzehnden mehr und mehr die Regel, Unmenfchlicfeit mehr die Ausnahme 
geworben, aus dem leicht begreiflidyen Grunde des ſteigenden Geldwerthes ver 
Sklaven, der den Befiger fhonfam mit feinem „Eigenthum“ umgehen hieß. Der 
Umftand, daß unter der Sklavenbevblkerung die Geſchlechter beinahe gleich ver- 
theilt find (100 Männer :99 rauen) erflärt fi nicht lediglich aus der fehlen- 
den Einwanderung, die, wie wir fahen, bei den meiften ein ſtarkes Ueberwiegen 
des männlichen Geſchlechts zur Folge hatte, fondern auch daraus, daß bie Sklaven⸗ 
befiger ihre weiblichen Sklaven im eigenen wohlverſtandenen Interefie mehr ſchon⸗ 
ten, ihnen weniger harte Arbeit aufbärbeten. Nady dem bisher Gefagten kann es 
auch nicht befremven, daß der Geſundheitszuſtand der Sklaven im Allgemeinen 
ein guter war; der Sklave war in kranken Tagen einer guten Pflege ficher und 
jein Herr war, wenn er fein eigenes Intereffe verftand, ftets bemüht, ver Gefund- 
beit ſchädliche Einflüffe von ihm fern zu halten. Dazu kommt, daß bie Kom- 
Ritution des Negers befier zur Ertragung von Strapazen, großer Hige u. f. w. 
geeignet ift, als bie Natur des Weißen. 

Welches aber wird das Schickſal der Farbigen nah ihrer nunmehr geſetzlich 
gewordenen Smancipation fein? Kein infichtiger wird behaupten wollen, daß 
das Problem jegt ſchon praktifch gelöst ſei. Auch das Verhaͤltniß der freien Far 











Hordamerikanifhe Sreiſtaaten. 779 


bigen, das wir weiter unten barftellen werben, bietet feinen verläßlichen Stütz⸗ 
punkt für eine Wahrfcheinlicgleitsberehnung, denn theils iſt die Zahl der frühern 
Sklaven ımendli viel größer, theild und vor Allem iſt dieſelbe territorial kon⸗ 
zenteirt und wenn, wie in Sübcarolina, das Uebergewicht fo erheblih auf Seiten 
der Schwarzen ifl, darf man nicht erwarten, daß das Berhältniß der Freigelaffenen 
fih in Zukunft jo entwidelı werde, wie etwa in New-ork over Maflachufetts. 
Legen wir die auf S. 765 gegebene Wahrſcheinlichkensrechnung auch bei der 
ESflavenbevdllerung zu Grunde, jo wirb zwar bis zum Ausgang des Jahrhunderts 
der Procentantheil derſelben an der Gefammtbevälferung ſich merklich verringert 
haben. Die Sklavenbevölkerung würde barnad) ausmachen : 

1870: 12,77%, der Sefammtben. 

1880: 11,68 „ nn " 

1890: 10,24 „ " " 

1900: 9,46 " n " 

Der Bürgerkrieg hat dieſe Rechnung indeß nicht unweſentlich mobificirt. Se 
mehr im Verlaufe vesfelben das Vertrauen auf einen glädlihen Ausgang für ven 
Süden ſchwand, je prelärer mithin der Sklavenbeſitz wurde, um fo größer wurbe 
bie Desorganifation der Sklavenbevöllerung, ven vorrüdenden norbftaatlicen 
Truppen zogen Taufende von entflohenen Sflauen, Männer, Weiber und Kinder 
entgegen ; ohne Subfiftenzmittel ift ein großer Theil derfelden zu Grande gegan- 
gen; in den Örenzflaaten zumal war bie Desorganifation vollſtändig; im Staate 
Maryland war der größte Theil der Plantagen im letten Jahre des Krieges ohne 
Sklaven; fie waren befreit, ober früher entfloben; ein Theil bat in den Schladh- 
ten für die Union einen ehrenvollen Tod gefunden; Hunger und Krankheiten 
haben einen anderen Theil binweggerafft und es iſt ſchwer zu fagen, wie viele 
von ihnen beftimmt find, der Segnungen ver freiheit in vollem Maaße theil- 
haftig zn werben. In den eigentlihen Baummollenftanten hat fi die Sklaven⸗ 
bevällerung aud vielfach verihoben; viele Pflanzer von Alabama, Georgia nut 
Miififfippi flevelten mit ihren Sklaven nah Teras über, in Louifiana traten nad 
ber VBeflgergreifung von New» Orleans in vieler Hinficht den nörblichen Grenz⸗ 
Raaten analoge Erſcheinungen hervor. Jedenfalls bat der Krieg mit feinen direkten 
und indirekten Yolgen die Sflavenbevölferung ſtark gelichtet. Nicht unwahrſcheiulich 
iſt es ferner, daß die Zunahme der nunmehr Befreiten in langjamen Tempo fort- 
fhreiten werde, wie das Beifptel der freien Farbigen zeigt; auch ſcheint es zweifel⸗ 
los, dag fhon bei den Mulatten und bei weiterer Bintvermifhung noch mehr, 
bie Geburten relativ abnehmen. 

Fuür die Erziehung der Freigeworbenen bat die Privatthätigfeit durch maſſen⸗ 
bafte Errichtung von Säulen bereit Großes gethan, für ihren rechtlichen Schutz 
die überall von ber Bundesregierung eingerichteten fogenannten freedmens bureaux. 
Die Zukunft wird lehren, wie weit ber frühere Save befähigt, ein freier, felbft- 
fändiger Menfc zu werden; die bis jet gemachten Erfahrungen, obgleich fie zu 
guten Hoffnungen berechtigen, reihen noch nicht bin ein endgältiges Urtheil zu 
fällen. Die Hauptfahe tft nähft der Erziehung die Förderung wirtbihaftlicher 
Selbſtändigkeit; um biefe ganz und vol herbeizuführen ift überall der Lohn in 
Geld zu entriäten und die Naturalleiftungen müſſen aufhören. Die freedmens 
bureaux follten noch für längere Zeit fortbeftehen, vamit die noch immer grollen- 
den ehemaligen Sklavenhalter fih an bie neue Ordnung der Dinge gewöhnen 
lernen. Für bebenflih in dem jegigen Stadium der Entwidlung würden wir 
bie Ertheilung des Stimmrechtes halten, eine Wohlthat, vie vielleicht erſt in 


770 Nachtrag. 


Verhältniß zu ven älteren Agrikalturſtaaten des Weſtens ungünſtig, am ungänfig- 
fien im Zerritorium Colorado, eine Erſcheinung, die unter Borausfegung ber 
Zuverläffigteit der Erhebung, darin ihren Grund haben bärfte, daß die Befiede⸗ 
lung biejes Gebietes kaum erft begonnen und bie Bevölkerung bis 1860 einen 
gewifjermagen tranfitoriihen Charakter hatte. 

Die Erklärung der unverhältnigmäßig großen Geburtöziffer im Territorium 
Utah liegt ſelbſtverſtändlich in der fociaten Unfitte ver Polygamie. 

Für das ganze Unionsgebiet ſtellt ſich das Procentverhältuig für 18360 im 
Durchſchnitt auf 2,98 0/5, eine Steigerung gegen das Jahr 1850, für welches wir 
die Durchſchnittsziffer auf 2,75%, angegeben finden. Das Berhältniß der Ge 
fchtechter ifi in der ganzen Union 1860 103 Knaben zu 100 Mädchen. Was das 
Berhältnig der unehelihen zu den ehelichen Geburten betrifft, jo fehlen im Eenfus- 
Bericht leider alle Angaben und bei dem Mangel regierungdfeitiger Kontrole wird 
man vorläufig auf Gewinnung eines Urtheils im dieſer Hinficht verzichten müſſen. 
Im ganzen kommt Eine Geburt auf 30 Lebende, ein ben meiften 
Staaten analoges Verhältniß. 

Heirathsfrequenz. Auch bei Ermittlung ber Heirathofrequenz macht 
fih der oben gerügte Mangel jährlicher Erhebungen fühlbar, und wir mäffen 
uns daher aud hier auf allgemeine Angaben befchränfen. In der ganzen Union 
fam 1860 auf 122 Einwohner Eine Heirath; die Gefammtzahl der Heirathen 
betrug 224,682 oder 0,82 %/, der Bevölferung, eine Abnahme gegen 1850, wo 
fih die Ziffer auf 0,99 %/, ſtellte. Die geringfle Heirathöfrequenz zeigen Wis⸗ 
coufin und Pennfylvanten, wo auf reip. 157 und 152 Einwohner Eine Heirath 
kam (1860), dann Kalifornien 1: 145, Oregon 1: 146. Am vortbeilbafteften fteht 
Tenneffee da mit 1:93. Ueber das durchſchnittliche Lebensalter, in welchem bie 
Heirathen fih vollzogen, find Angaben, welde das ganze Unionsgebiet umfaflen, 
leider nicht vorhanden; es find nur einige fpecielle ‚Erhebungen der Regiſtratur 
des Staates Maflahufetts beigefügt, denen zufolge das durchſchnittliche Alter ver 
Männer 28,4, der Mädchen 24,6 Jahre betrug. Im den Jahren 1851—1859 
find in jenem Staate im Ganzen 108,400 Heirathen vegifieirt, davon 86,486 
unter Ledigen, 4085 Iebige Männer mit Wittwen, 10,715 Wittwer mit Mäpchen 
und 5538 Wittwer mit Wittwen (Über ven Reft fehlen die Augaben). Wären 
die obigen Alteröverhältniffe für die ganze Union maßgebend, fo würde fick das 
durchſchnittliche Lebensalter, namentlih der Mäpchen, doch nicht fo niedrig flellen, 
als man unter VBerädfitigungader günftigen Exwerbsverhältniffe verfucht wäre, 
anzunehmen. Die Bermuthung ſcheint indeß gerechtfertigt, daß, zumal im ben 
Aderbauftanten des Weftens, der Durchſchnitt ein niebrigerer iſt. aa in Betreff 
der Heirathsfrequenz weifen viele europätfche Staaten ein günftigeres Verhältniß 
auf (in Preußen 1: 106). 

Sterblichkeit. Die Mortalitätsftatiftil wurde 1850 zum erften Wale 
dem Cenſusbericht beigefügt und es find vergleichende Erhebungen für 1860 mit 
getheilt, die nicht ohne Interefie find. Im letztgenannten Jahre fiarben tm ber 
Union 394,123 Perfonen, oder 1,2820/, der weißen Bevölkerung gegen 1,41%, 
im Jahr 1850. (Das ungünflige Verhältniß lebtgenannten Jahres bürfte im dem 
Vorherrſchen der Cholera feine Erklärung finden.) Es kommt für 1860 Ein 
Todesfall anf 79. Nach der natärlihen Eintheilung bes Geſammtgebietes ergiebt 
fig folgende Sterblichkeitsziffer : 








Nordamerikanife Sreiftaaten. 771 


Todesfälle-1860 9/,d. Ber. 1850 0/, d. Ber. 
Riederungen der atlantifchen 
Käfte, d. 5. zwei Grafſchaften 
Breite, von Florida bis Dela- 
wre 2 2 
Unteres Miſſiſſippithal, d. h. 
Loniſiana u. zwei Grafſchaften 
an jeder Seite des Stromes, 
nordlich bis Cap Girarbean, 
Miſſouri 30,154 1,81 2,38 
Alleghany-Region, von Benn- 
ſylvanien durch Birginien, Oſt⸗ 
Tenneſſee u. ſ. w. bis Nord⸗Ala⸗ 
bama . . 26,346 1,08 0,96 
Bon obigem Gebitge bis zu 
den Niederungen des atlant. 


15,292 1,34 1,45 


Oceans und das Miffiſſippithal 79,615 1,32 1,19 
Pacifiſche Küfte, Kalifornien, 
Dregon und Wafhington . . 8,991 0,95 0,92 
reine, Newbampfbire, Ber- 
15,438 1,24 1,25 
—2 Jowa, Minne 
. 15,508 0,98 1,01 


u zeigen darnach der Nordweſten, die Alleghany · Region und die pacifiſche Küfte 
die geringfie Sterblichkeit, vie größte dagegen das untere Miffiffippithal und bie 
Niederungen an der atlantiſchen Küfte, Ergebnifie, vie den klimatiſchen Verhält⸗ 
niſſen im Wefentlichen entſprechen. 

Es ſtarben 1860: 1,32 %/, der männlichen, 1,24 0/, der weiblichen Bevölke⸗ 
rung. Bemerlenswertbe Exgeöniffe in Anfehung der Lebensalter der Geftorbenen 
liefert uns folgende Tafel: 

Lebensalter 1860 9%, männl, O/, weibl. Total 1850 9/, Total 


0—1 Jahr 11,85 939 20,74 16,90 

12 5 5.25 51 97 

2-3 „ 3,19 285 6,04 

34 5 1,93 181 0 374 21,41 1-5 Jahr 
a, 1,36 131 2,67 

6-10 „ 3,53 348 701 6,68 

10—15 „ 1,63 173 336 4,18 

15—20 „ 2,07 236 443 4,79 

20-25 „ 2,65 269 5,34 

25-30 „ 2,41 2,44 IH 11,74 20-30 „ 
30-40 „ 4,14 392 8,06 9,07 

40-50 „ 3,44 268 612 114 

50-60 , 3,04 217 521 5,56 

6070 „ 2,88 225 5,13 512 

70-80 „ 9,30 205 4,35 4,17 

80-90 „ 1,23 122 245 2,54 

0—- , 0,33 041 0,74 0,76 


49 * 


770 Nachtrag. 


Berhaͤltniß zu den älteren Agrikulturſtaaten des Weſtens ungünſtig, am ungünſtig⸗ 
ſten im Territorium Colorado, eine Erſcheinung, die unter Boransfegung ver 
Zuverläffigfeit der Erhebung, darin Ihren Grund haben bärfte, daß die Befiede⸗ 
lung dieſes Gebietes kaum erſt begonnen und bie Bevölkerung bis 1860 einen 
gewiffermagen tranfitorifhen Charalter hatte. 

Die Erklärung der unverhältnigmäßig großen Geburtsziffer im Territorium 
Utah Liegt felbftverftändlih in der ſocialen Unfitte ver Polygamie. 

Für das ganze Unionsgebiet ftellt fi das Procentverhältuiß für 1860 im 
Durchſchnitt auf 2,98 0/,, eine Steigerung gegen das Jahr 1850, für welches wir 
bie Durchſchnittsziffer auf 2,75%, angegeben finden. Das Berhältniß der Ge 
ſchlechter ifi in der ganzen Union 1860 103 Knaben zu 100 Mädchen. Was das 
Berhältni der unehelihen zu den ehelichen Geburten betrifft, jo fehlen im Ceufus- 
Bericht leider alle Augaben und bei dem Mangel regierungdfeitiger Kontrole wird 
man vorläufig auf Gewinnung eined Urtheils in dieſer Hinficht verzichten müffen. 
Im ganzen kommt Eine Geburt auf 30 Lebende, ein ben meiften enropätfchen 
Staaten analoges Berhältuiß. 

Heirathsfrequenz. Auch bei Ermittlung ber Heirathefrequenz macht 
fih der oben gerügte Mangel jührlicher Erhebungen fühlber, und wir mäflen 
uns daher auch hier auf allgemeine Angaben befchränfen. In der ganzen Union 
fam 1860 auf 122 Einwohner Eine Helrath; die Gefammtzahl der Heirathen 
betrug 224,682 oder 0,82 %/, der Bevölkerung, eine Abnahme gegen 1850, wo 
fih die Ziffer auf 0,99 %/, ſtellte. Die geringfle Heirathsfrequenz zeigen Wis⸗ 
confin und Penniylvauien, wo auf refp. 157 und 152 Einwohner Eine Heirath 
fam (1860), dann Kalifornien 1: 145, Oregon 1:146. Am vortheilbafteften ſteht 
Tenneffee da mit 1:93. lieber das durchſchnittliche Lebensalter, im welchem bie 
Heirathen fi) vollzogen, find Angaben, welde das ganze Unionsgebiet umfaflen, 
leider nicht vorhanden; es find nur einige fpecielle Erhebungen ver Regifiratur 
des Staates Maſſachuſens beigefügt, denen zufolge das durchſchnittliche Alter der 
Männer 28,4, der München 24,6 Jahre beitrug. Iu ven Jahren 1851—1859 
find in jenem Staate im Ganzen 108,400 Heirathen vegifieirt, davon 86,486 
unter Ledigen, 4085 ledige Männer mit Wittwen, 10,715 Wittwer mit Mäbchen 
und 5538 Wittwer mit Wittwen (über den Reft fehlen bie Angaben). Wären 
die obigen Altersverhältniffe für die ganze Union maßgebend, fo würbe fi das 
durchſchnittliche Lebensalter, namentlich der Mäpchen, doch nicht fo niedrig flellen, 
als man unter VBerädfihtigungader günftigen Erwerbsverhälmiſſe verfucht wäre, 
anzunehmen. Die Vermuthung ſcheint indeß gerechtfertigt, daß, zumal in ben 
Aderbauftsaten des Weſtens, der Durchſchnitt ein niedrigerer iſt. aus in Betreff 
der Heirathöfrequeng weiſen viele europäifche Staaten ein günftigeres Verhältniß 
auf (in Preußen 1: 106). 

Sterblichkeit. Die Mortalitätsftatiftil wurde 1850 zum erften Wale 
dem Eenfusbericht beigefügt und es find vergleichende Erhebungen für 1860 mit- 
getheilt, die nicht ohne Interefle find. Im legtgenannten Jahre fiarben in ber 
Unton 394,123 Perfonen, obex 1,2820), der weißen Bevölkerung gegen 1,41 9/, 
im Jahr 1850. (Das ungünftige Verhältniß letztgenannten Jahres dürfte im bem 
Borherrfhen der Cholera jeine Erklärung finden) Es kommt für 1860 Ein 
Todesfall anf 79. Na der natärliden Einthellung bes Geſammtgebietes ergiebt 
ſich folgende Sterblichleitsziffer : 











Nordamerikanifhe Sreiftaaten. 771 


Todesfälle-1860 %/,d. Ben. 1850 0/, d. Ber. 
Niederungen ver atlantiichen 
Käfte, d. h. zwei Grafſchaften 
Breite, von Florida bis Dela- 
wre 2. 2 2 ne 
Unteres Miffffippitbal, d. h. 
Loulfiana u. zwei Grafſchaften 
an jeber Seite des Stromes, 
nõördlich bis Cap Girerbean. 
Miſſouri 30,154 1,81 2,38 
Alleghany⸗ Region, von Benn- 
—— durch Virginien, Oſt⸗ 
Tenneſſee u. ſ. w. bis Nord⸗Ala⸗ 
bama . . 26,346 1,08 0,96 
Bon obigem Gebitge bis zu 
den Niederungen des atlant. 


15,292 1,34 1,45 


Deeand und das Miffiifippithal 79,615 1,32 1,19 
Pacifiſche Küfte, Kalifornien, 
Dregon und Wafhington . . 8,991 0,95 0,92 
eine, Danhempfhe, Ber: 
15,438 1,24 1,25 
TE ieconfin, Jowa , inne: 
fa . . . 15,508 0,98 1,01 


Es zeigen darnach der Nordweſten, die Alleghany-Region und bie pacififche Küfte 
die geringfle Sterbligleit, die größte dagegen das untere Mifftifippithal und bie 
Niederungen an ber atlantifhen Küfte, Ergebnifle, die den klimatiſchen Berhält- 
uiffen im Wefentlichen entfprechen. 

Es ſtarben 1860: 1,32 %/, der männlichen, 1,240/, der weiblichen Bevölke⸗ 
rung. Bemerkenswerthe Ergebnifie in Anfehung der Lebensalter der Geftorbenen 
liefert uns folgende Tafel: 

Lebensalter 1860 %/, männl 9, weibl. Total 1850 %/, Total 


0—1 Jahr 11,35 939 20,74 16,90 

1-2, 5,25 451 97 

2-3 „ 3,19 285 6,04 

34 5 1,93 181 374 tl 1-5 Jahr 
a5 „ 1,36 131 2,67 

5-10 „ 8,53 3418 701 6,68 

10—15 „ 1,63 173 336 4,18 

15—20 , 2,07 236 4483 4,79 

20-25 „ 2,65 269 5,34 

25-30 „ 2,41 2,44 234 11,714 20-30, 
30-40 „ 4,14 392 8,06 9,07 

40-50 „ 3,44 268 612 114 

50-60 „ 3,04 217 521 5,56 

60-70 „ 2,88 225 5,18 5,12 

70-80 „ 2,30 205 4,36 4,17 

80-90 „ 1,23 12 245 2,54 

0—- _ 0,33 04 0,74 0,76 


49 * 


770 Nachtrag. 


Verhaältniß zu ben älteren Agrikalturſtaaten des Weſtens ungänftig, am ungünfig- 
ftien im Zerritorium Colorado, eine Erſcheinung, die unter Vorausſetzung ber 
Zuverläffigfeit ver Erhebung, darin ihren Grund haben bärfte, daß die Befiede⸗ 
lung biejes Gebietes kaum erft begonnen und die Bendtlerung bis 1860 einen 
gewiffermaßen tranfitoriichen Charakter hatte. 

Die Erklärung der unverhältnigmäßig großen Geburtsziffer im Territortum 
Utah liegt ſelbſtverſtändlich in der ſocialen Unfitte der Polygamie. 

Für das ganze Unionsgebiet ftellt ſich das Procentverhältuig für 1860 im 
Durchſchnitt auf 2,98 0/,, eine Steigerung gegen das Jahr 1850, für welches wir 
die Durchſchnittsziffer auf 2,75 %/, angegeben finden. Das Berbältui der Ge 
ſchlechter ifl in der ganzen Union 1860 103 Anaben zu 100 Mädchen. Was das 
Berhältnig der unehelihen zu den ehelichen Geburten betrifft, jo fehlen im Ceufus- 
Bericht leider alle Angaben und bei vem Mangel regierungdfeitiger Kontrole wirb 
man vorläufig auf Gewinnung eines Urtheils in dieſer Hinficht verzichten müffen. 
Im ganzen kommt Eine Geburt auf 30 Xebenve, ein ven meiften 
Staaten analoges Verhältniß. 

Heirathsfrequenz. Auh bei Ermittlung der Helrathöfrequenz macht 
fi der oben gerägte Mangel jährliher Erhebungen fühlbar, und wir mäüflen 
uns daher auch hier auf allgemeine Angaben befchränfen. In der ganzen Union 
kam 1860 auf 122 Ginwohner Eine Heirat; die Gefanumtzahl der Heirathen 
betrug 224,682 oder 0,82 %/, der Bevölferung, eine Abnahme gegen 1850, wo 
fih die Ziffer auf 0,99 9/, ſtellte. Die geringfle Heirathsfrequenz zeigen Wis- 
confin und Pennfylvanien, wo auf refp. 157 und 152 Einwohner Eine Beirath 
tam (1860), dann Kalifornien 1:145, Oregon 1: 146. Am vortbeilbafteften fteht 
Tennefiee da mit 1:93. Ueber das durchſchnittliche Lebensalter, in welchem bie 
Heirathen ſich vollzogen, find Angaben, welche das ganze Untonsgebiet umfaflen, 
leider nicht vorhanden; es find nur einige fpecielle Erhebungen ver Regiflratur 
des Staates Maflachufetts beigefügt, denen zufolge das durchſchnittliche Alter ber 
Männer 28,4, der Mädchen 24,6 Jahre betrug. In ven Jahren 1851—1859 
find in jenem Staate im Ganzen 108,400 Hetrathen regifeirt, davon 86,486 
unter Ledigen, 4085 ledige Männer mit Bittwen, 10,715 Bittwer mit Madchen 
und 5538 Wittwer wit Wittwen (über den Reft fehlen die Angaben). Wären 
ie obigen Altersverhältnifie für die ganze Union maßgebend, fo würbe fi das 
durchſchnittliche Lebensalter, namentlih der Mäpchen, doch nicht fo niedrig fielen, 
als man unter Berädfihtigungader günftigen Erwerbsverhältnifſe verfucht wäre, 
anzunehmen. Die Vermuthung ſcheint indeß gerechtfertigt, daß, zumal in den 
Aderbauftoaten des Weftens, der Durchſchnitt ein niedrigerer iſt. as in Betreff 
der Heirathsfrequenz weiſen viele europälfche Staaten ein günftigeres Verhältniß 
auf (in Preußen 1: 106). 

Sterblidkeit. Die Mortalttätsftatiftil wurde 1850 zum erſten BRale 
dem Genfusbericht beigefügt und es find vergleichende Erhebungen für 1860 mit- 
getheilt, die nicht ohne Interefle find. Im letztgenannten Jahre finrben im ber 
Unton 394,123 Perſonen, odex 1,2820), der weißen Bendlferung gegen 1,41 %, 
im Iahr 1850. (Das ungünflige Verhältniß letztgenannten Jahres dürfte in dem 
Vorherrſchen der Cholera feine Erklärung finden.) Es kommt für 1860 Ein 
Todesfall auf 79. Nach der natärlihen Eintheilung bes Geſammtgebietes ergiebt 
fih folgende Sterblichkeitsziffer : 











Nordamerikanife Sreiftaaten. 


Niederungen der atlantifchen 
Küſte, d. h. zwei Grafſchaften 
Breite, von Florida bis Dela⸗ 
wareeee 

Unteres Miſſiſſippithal, d. h. 
Lonifiana u. zwei Grafſchaften 
an jeder Seite des Stromes, 
nõördlich bis Cap Girardeau, 
Miſſouri... 

Alleghany⸗Region, von ı Benn- 
ſylvanien durch Birginien, Oſt⸗ 
Tenneſſee u. ſ. w. bis Nord⸗Ala⸗ 
bama . . 

Bon obigem Gebirge bis zu 
ben Nieberungen des atlant. 
Deeand und das Miſſiſſippithal 

Pacifiſche Küfte, Kalifornien, 
Dregon und Wafhington . 


Maine, Newbampfbire, Ber- 
mont . . 00%. 

Wisconfin, Jowa ‚ Minne- 
fota 


15,292 


30,154 


26,346 


79,615 

3,991 
15,438 
15,508 


Tobesfälle-1860 ©/, d. Ben. 


1,34 


1,81 


1,08 


1,32 
0,95 
1,24 
0,98 


1,45 


0,96 


1,19 
0,92 
1,25 


1,01 


771 


Es zeigen darnach der Nordweſten, die Aleghany-Region und bie pacififche Küfte 
die geringfie Sterblicgfeit, die größte dagegen das untere Miffiffippithal und die 
Niederungen an der atlantiſchen Küfte, Ergebniſſe, die ven klimatiſchen Verhält⸗ 
uifien im Wefentlichen entfprechen. 

Es ſtarben 1860: 1,32 %/, der männlichen, 1,240/, der weiblichen Bevölke⸗ 
rung. Bemerkenswerthe Ergebniffe in Auſehung der Lebensalter ber Geftorbenen 
Itefert uns folgende Zafel: 

Lebensalter 1860 %/, männl, weibl. Total 1850 9%), Total 


0—1 Jahr 11,36 9,39 20,74 16,90 
1-2 , 5.25 451 97 

2-3 „5 3,19 285 6,04 

34 5 1,98 181 37400 21,41 1-5 Jahr 
5 5 1,36 131 2,67 

5-10 „ 3,53 348 701 6,68 

10-15 „ 1,63 173 336 4.18 

15—20 „ 2,07 236 443 4,79 

20-25 „ 2,65 269 5,34 

25-30 „ 241 2,44 230 11714 20-30 „ 
30—40 „ 4,14 392 8,06 9,07 

40-50 „ 3,44 268 6,12 7,14 

50-60 „ 3,04 217 521 5,56 

60-70 „ 2,88 225 5,13 512 

70-80 „ 2,30 205 4,35 4,17 

80-90 „ 1,23 12 2,45 2,54 

90—- „ 0,33 04 0,74 0,76 


49 * 


772 | Nachtrag. 


Das Progentverhältnig der Geſchlechter entſpricht ungefähr bemjenigen ber 
Bevölkerung. In Anfehung der Alterstiafien uud ihres Sterblichleitsperhättnifies, 
bietet die vorftehende Tafel dagegen auffallende Erfheinungen. Ueber 389%), ver 
Todesfälle fommt in ven erften 10 Lebensjahren ver, ein außerordentlich hoher 
Prozentfag, deſſen Erklärung vorzugswelfe in klimatiſchen VBerhältniffen, ver Lebens⸗ 
weife der Eltern und ber Behandlung der Kinder zu fuchen. Die erſten zwei 
Lebensjahre fint in der Union für vie Kinder eine veſonders kritiſche Zeit; vie 
andauernde Hige in den Sommermonaten wird Taufenden von Kindern verberb- 
Iih; die fogenannte Summer-complaint tritt in allen Theilen ver Union uub 
namentlih in beißen Sommern mit großer SHeftigleit auf und ein untrügliches 
Mittel zur Bewältigung diefer, den Organismus furdtbar ſchwächenden Krankheit 
ift noch nicht gefunden, Zum Theil ift indeß aud bie vielfad verkehrte Behand⸗ 
lung an ber großen Gterblidtett Schuld. Wir erinnern uns, daß einft ein 
deutfcher, in Amerika prakticirender Arzt, äußerte: „Was die Eltern in Betreff der 
Neinhaltung ihrer Kinder gut machen, das verberben fie wieber in ihrer Diät“. 
Borberrfchend in amerikaniſchen Kreifen ift bie Anficht, daß man dem Kinde feinen 
Willen lafien müfje und was es an Gpeife nnd Trank begehre, ihm nur in Aus 
nabhmefällen vorenthalten dürfe. Es leuchtet ein, daß bie frühzeitige praktiſche An- 
wenbung eines ſolchen Princips zu ten verberblichften Folgen führen muß; um 
fo mehr, wenn man erwägt, in wie hohen Grave, namentlih in ven heißen 
Monaten, grade bie Berbauungsorgane durch das amerikaniſche Klima afficirt 
werben. 

Was die Tobesurfachen betrifft, fo mäflen wir uns darauf beſchränken, vie 
numerifh bedentenderen hervorzuheben. Es ftarben 1860 an Hirnkranlheit 10,335, 
Schwindſucht 48,971, Hühnerhuften (Eroup) 15,188, Waſſerſucht 12,084, Nuhr 
10,461, Wechſelfieber 11,102, Typhus 19,207, Altersſchwäͤche 10,887, Aungen- 
entzändung 27,076, Scharladjfieber 26,393, — eines gewaltfamen Todes flarben 
20,115 Perfonen, davon in Folge von Berbrennung ober VBerbrühung 4276, 
Ertrunfene 3119, Brüche durch allen 1321, Erftidung 2136, Eifenbahnun- 
fälle 599, Selbfimorb 1002, unbeabfihtigter Todſchlag 458, Mord 526 und 
Hinrichtung 61. 

Sanitätsverhältniffe. Wie fhon bemerkt, ift das amerikaniſche Klima 
im Ganzen der menſchlichen Geſundheit nicht minder zuträglih, als das weſt⸗ 
europätfche. Allerdings zeigen fi auf fo ausgedehntem Raum, wie fi das von 
ſelbſt verfteht, große Unterfchieve. Der verberbliche Einfluß der erceffiven Sommer 
hige und des frühen Temperaturwechſels erhellt aus einigen der vorftehenben 
Mortalitätsangaben, refp. ven Todesurſachen. Im Allgemeinen kanu man fagen, daß 
die Wefttüfte der menfchlichen Geſundheit am zuträglichften iſt; denn bort ift bie 
Hitze durchſchnittlich minder erceffivo und aud die Temperaturmwechfel treten weniger 
fhroff auf. Im Mifftifippithale find zur Sommer- unb Herbfizeit Wechſelfieber 
vorherrſchend. In den Nieverungen Louifiana's hat in früheren Zeiten das gelbe 
Sieber große Berheerungen angerichtet und dort, fowie an der teranifchen Küfte Hat 
es im legten Sommer (1867) wieder zahlreihe Opfer geforvert; and in ven 
fumpfigen Niederungen Nordcarolina's und an der virginifchen Küfte (Norfolk und 
Umgegend) iſt e8 zu verfchlevenen Zeiten mit großer Heftigkeit aufgetreten. Im 
Bergleih mit früheren Jahrzehnden ift übrigens eine Beſſerung unverkennbar, 
Dank ver Lichtung der Wälder, der Trodenlegung der Sümpfe und einer ratio 
nelleren Behandlung der Krankheit. Alle Altersliaffen werben vielfach von nerodfen 
Zeiven heimgefucht, ohne Zweifel eine Folge des wechjelvollen Klima’ und ber 








Nordamerikanifche Srciflaaten. 713 


Haft im Urbeiten und Erwerben. Die klimatiſchen Ertreme fpiegeln fi wieber 
im phyſiſchen und geiftigen Leben des Volkes. Großer, überfhwellenver Kraft und 
Lebendigkeit folgt jählings gänzlihe Abſpannung, ber größeften Hoffnungsfreudig⸗ 
keit ein gänzliches Verzagen. Solche Erſcheinungen waren bejonders in ben Jahren 
bes Burgerkrieges bemerkbar; freilich bat die Hoffnung die Oberhand behalten, 
pie phuflfche und fittlihe Kraft der Nation hat glänzend triumphirt — wir haben 
es mit einem jugenplichen, lebensträftigen Volle zu thun. 

Die Sefundheitszuftände der Union würden befler fein, wenn einentheil® ber 
Einzelne fi einer vernänftigeren Diät befleißigte, andrentheils die öffentliche Ge⸗ 
ſundheitspflege beſſer wäre. Ueber beide Punkte Laßt ſich nicht viel Rühmliches 
fagen. Schon durd die Nadläffigfeit bei der Kinder-Ernährung werden bie Keime 
fpäterer Kranfheiten gelegt und ber Erwachſene pflegt die Gewohnheiten feiner 
Jugendzeit nicht ohme zwingende Noth abzulegen, Underdaulichkeit (dyspepsia) iſt 
ein weitverbreitetes Leiden, eine Erſcheinung, die nur zu erflärlih wird, wenn 
man beventt, wie irrationell die Ernährungsweife if. Auf heißes Brod folgt — 
Etswafler; außerordentlich ſtark gewürzt find die meiften Speifen und es fcheint, 
daß der Amerikaner flarfer Stimulanzen nit entbehren kann. Am meiften fün- 
bigen gegen vie Diät die Frauen; ihre ganze Lebensweife, der Mangel an körper- 
licher Bewegung ift neben dem Klima die Urfadhe ihres auffallend raſchen Dahin- 
welfens. In viätetifher Hinſicht ſündigen fie dur maflenhaften Verbrauch von 
Süffigteiten aller Art; Konditoren und — Zahnärzte kommen trog ihrer großen 
Zahl in Amerika befonders qut fort und Iegtere haben es befanntlih in ihrer Kunft 
weiter gebracht, wie die Europäer. Mangelhaft ift dann anderntheils die Befund» 
heitspflege, eine Folge der Läffigkeit der ganzen Berwaltung, auf welche wir 
zurädfommen; bei dem rafhen Wadhsthnm der Städte verdient dieſer Uebelſtand 
ernfte Erwägung. Es bärfte wenige Städte gleicher Größe geben, in denen bie 
Straßenreinigung fo mangelhaft iſt, als in New⸗PYork. 

Bir ſchließen hieran noch wenige Betrahtungen über das Verhältniß der 
Blinden, Taubftummen, Idioten und Geiſteskranken. In der ganzen Union kommt 
anf 2470 Einwohner 1 Blinder. Norbcarolina (1:1687) und Kentudy (1:1756) 
zeigen in dieſer Hinſicht das ungünftigfte Berbättnig, Kanjas (1:10,711) und 
Minnefota (1: 7054) das günftigfte, auch Kalifornien (1:6032) verbient als 
günftig hervorgehoben zu werben. Im Vergleich zu Europa iſt das Durchſchnitts⸗ 
verhältniß für die Union ein fehr günftiges. (In der Schweiz, dem in dieſer 
Beziehung am günftigften fitnirten Lande kommt ein Blinder auf 1500 Einwohner). 
Fuür die Pflege und Erziehung der Blinden iſt viel geſchehen; 1860 beftanven in 
der Union 23 Inftitute mit 1126 Zöglingen, über 10°), aller Blinden. Außer» 
dem ift die Privatthätigkeit in anertennenswerther Welfe und mit Erfolg bemüht, 
das Schidfal der Blinden zu erleigtern. Ueber bie Taubſtummen finden mir 
folgende Angaben : 


Jahr Zahl 1 zu: 
1830 5363 1964 
1840 6682 2123 
1850 9085 2152 
1860 15,269 1925 


Diefe Zahlen umfaflen alle taubftumm Geborenen, fowie alle Diejenigen, 
welche in früher Kindheit, zunächft das Gehör, fpäter auch die Sprache verloren. 
Kann hier überall von der Zuläffigleit geographiſcher Scheldungen vie Rebe fein, 
fo verbient bemerkt zu werben, daß bie ganze atlantiiche Küftenregion das un⸗ 





774 Nachtrag. 


günſtigſte Berhältniß zeigt (1:1796), während in allen übrigen Theilen ber 
Union auf Einen Taubflummen 2080 Einwohner tommen. Auch für die Tau» 
flummen hat man in anerfennenswertber Weiſe geforgt (1860: 22 Anftalten mit 
130 Lehrern und 2000 Zöglingen). — Das Berhältuig der Idioten zur Ge— 
fammtbevdlterung hat in ben legten Jahrzehnden etwas abgenommen (1860 :1 : 1590). 
Kalifornien, Nebraska und — eigenthämlicher Weife — Utah weifen das günſtigſte 
Berbältnig auf, Georgia, Kentudy und Tenneflee das ungünfligfte. Heirathen 
unter nahen Verwandten tritt auch in ber Union als eine der Urſachen der Ipiofte 
ber Kinder hervor. — Die Zahl der Geiſteskranken betrug 1860 in ber ganzen 
Union 23,999 oder 1:1290. Trunffuht wird als eine der vornehmſten Urfadgen 
ber Geiſteskrankheit angegeben; bie einzelnen Staaten zeigen im biefer Hinficht 
teine bemerlenswerthen Unterſchiede. Die Pflege ver Geiftestranten hat man fi 
in der Union feit früher Zeit fehr angelegen fein laſſen und in ven legten Jahr⸗ 
zehnven in diefer Beziehung namhafte Fortſchritte gemacht, Ein Mufterinftitut 
ift daS Pennsylvania hospital for the insane in Philadelphia, wo den Kranten 
gleichzeitig die Wohlthaten einer religiöfen Erziehung und korperlicher Arbeit, zu 
Haufe und im Freien, zu Theil werben. 1862 befanden ſich daſelbſt durchſchnitt⸗ 
lich 267 Kranke. Das Inftitut wurde 1841 eröffnet und es wurben bort bis 
1862 im Ganzen 3947 Kranke behandelt, davor 2097 männlichen Geſchlechtes, vie, 
mit Ausnahme von 273 Arbeitdunfähigen, in verfchledenen Handwerken in ber 
Anftalt befhäftigt waren. In Pennſylvanien bat man fi überhaupt in hervor⸗ 
ragenber Weiſe der Geiſteskranken angenommen, und ſchon im vorigen Jahrhundert 
waren es vorzüglich die Quaͤker, welche ven Unglädlihen ihre Pflege und menfchen- 
freundlide Sorge zuwanbten. 

Es dürften fi bier am pafiendften noch kurze Notizen Über das Urmen- 
wefen und die Verbrecherſtatiſtik anfchließen. Die Urmenverforgung iR 
Sache theild der Einzelſtaaten, theiis ver ſtädtiſchen und ländlichen Gemeinden. 
In der ganzen Union wurden im Laufe des Jahres 1860 im Ganzen 319,543 
Arme durch Behörden unterſtützt; davon waren nicht weniger als 160,787 Gia- 
gewanderte; die Zahl der Armen in ven öffentlichen Armenhänſern betrug am 
1. Juni 1860: 82,791, davon 50,383 Eingewanderte. Der Einfluß der Grof- 
ftäbte und ihres rapiden Wachsthums iſt aus folgenden Angaben erkennbar: Die 
Zahl der öffentlich unterftügten Armen betrug im Staate New⸗York 164,782, 
über die Hälfte der Gefammtzahl, davon 85,641 Eingewanberte, in Maffachufetts: 
51,880, davon 33,870 Eingewanderte, in Pennfyloanien: 16,463, davon 8805 
Eingewanderte. Die Koften der äffentlihen Armenpflege betrugen 1860 für das 
gejammte Unionsgebiet: Dollar 5,445,543. — Die Privatthätigkeit ift außervem 
in ungemein freigebiger Weiſe bemüht, das Loos der Armen zu verbeflern. Faſt 
in allen größern Stäbten des Landes beftehen Gefellfchaften zu dieſem Zwede, 
unter benen fih die in den Häfen und in ben Großſtädten des Innern beftehen- 
ben, den armen Einwanderer unterftägenden Geſellſchaften, rühmlich hervorthun. 
Beiſpielsweiſe mag erwähnt werben, daß die deutſche Geſellſchaft der Stadt New-Port 
im Jahr 1865 in 2908 Fällen die Summe von Doll, 6167. 25 Cts. an Unter 
ftügungen verausgabte. In Krankheitsfällen werben ärztlicher Rath, fowie Medi⸗ 
famente, Bandagen u. ſ. w. von allen Einwanberungsgefellfchaften an Bedürftige 
unentgeltlich ertheilt; die meiften derſelben baben dann in neuerer Zeit Arbeitsund- 
weifungsbürenu’s errichtet, Inftitute, die fich trefflich bewährt und Laufende von Unbe⸗ 
mittelten vor materiellem und fittlichem VBerlommen bewahrt haben. Die genanırte New⸗ 
Yorker Gefellſchaft hatte 1865 nicht weniger als 712 Perſonen Beſchäftigung verſchafft. 











Nordamerikaniſche Sreifianten. 775 


Aus der Berbrecherſtatiſtik erfehen wir leider ebenfalls, daß vie Ein- 
gewanberten den größeren Theil der Gefängnißinfaflen ausmachen; von 98,502 
Individnen, welde 1860 verſchiedener Verbrechen wegen verurtheilt wurden, waren 
nicht weniger als 65,736 Eingewanderte; auch hier macht fi, analog ben obigen 
Angaben, der Einfluß ver Großſtädte bemerkbar; im Staate Nem- Vorl mußten 
1860: 58,067 Berfonen auf kürzere oder längere Zeit in’s Gefängniß wandern, 
darunter 43,837 Eingewanderte. In ben meiften Fällen werben bie Gefangenen 
zur Ürbeit angehalten und bekommen Lohn in Geld, der fih für ven männlichen 
Urbeiter von 50 Cents bis Doll, 1. 90 Cents, im Durchſchnitt auf 81 Ets. 
per Tag fiellt; Frauen verbienen bei freier Station wöchentlich Doll. 1. 14 Eis. 
bis Doll. 5. 40 CEts., im Durchſchnitt Doll. 1. 85 Et. Ueber den Zuftand der 
Sefängniffe lauten die Berichte widerſprechend; bie offickellen Berichte find aus 
SrÄnvden, auf die wir zurädtommen, mit Vorſicht aufzunehmen. Gewiß fcheint 
nur, daß namentlich im Staate New-Dork und vor Allem in der Stabt das 
Gefangnißweſen fehr im Urgen liegt, während in Peunſylvanien, das in vieler 
Beziehung von dem fräheften Zeiten an Großes geleiftet bat, die Zuſtände aud 
heute noch fig vortheilhaft vor denjenigen in anderen Staaten auszeichnen. 

Naffenverhältniffe Dan kann fagen: das erſte Sklavenſchiff, welches 
im Jahre 1645 in Boſton Neger landete, war für ben Gang der politiſchen 
Entwidiung der Unton bebeutungsvoll, entſcheidend. Das Verbältnig der ſchwarzen 
zu ber weißen Raſſe, zieht fi wie ein rother Faden durch die ganze polltifhe und 
foctale Geſchichte der neuen Welt. Wir betrachten zunächft diejenige Bevöllerungs⸗ 
klaſſe, welche 618 zum Bürgerkrieg im Zuftande ber Hörigkeit lebte. Bor dem 
Unabhängigkeitötrtege und in ber erften Zeit des neuen Bundes war bie Sklaven» 
bevälterung räumlich anders vertheilt ald fräter und, wenn aud der Schwerpuntft 
Schon damals im Säven lag, fo war dod die Sklaverei auch in den meiften nörb- 
lichen Staaten wenigftens gebuldet. Es zeigte fi indeß früh, daß über einen 

erwiffen Breitengrad nörblid binaus die Sklaverei wirtbfchaftli unhaltbar fet. 

achdem Rhode Island fon 1774 vie Einfuhr von Sklaven unterfagt hatte, 
dekretirte Maſſachuſetts 1780 die Abfchaffung der Sklaverei innerhalb feines Ge⸗ 
bietes und feinem Beiſpiel folgten PBennfyloanien im felben Jahre, Eonnecticut 
1784, Newhampfhire 1792, New- ort 1799, New⸗Jerſey 1820. Die erfte 
Zählung (1790) ergab eine Sklavenbevölkerung von 697,897; ſeitdem iſt dieſelbe 


in folgender Progreffion geftiegen : 
Jahr 


Sklaven Zun. %, 
1800: 893,041 27,97 
1810: 1,191,364 33,40 
1820: 1,538,038 28,79 
1830 : 2,009,043 30,61 
1840: 2,487,455 23,81 
1850: 3,204,313 28,82 
1860: 3,953,587 23,38 


Die Sklavereifrage, fo unbedentend fie in ihren erften Anfängen zu fein 
ſchien, fpielte doch ſchon bei Berathung der Bundesverfaffung eine fo wichtige 
Rolle, dag man ihr Rechnung tragen zu müſſen glaubte. Die Gegner ver 
Sklaverei konnten das fofortige Verbot der Sklaveneinfuhr nicht durchſetzen und 
mußten fih mit einem Kompromiß begnügen, vemzufolge mit dem Jahre 1808 
ber auswärtige Sklavenhanvel aufhören follte Im Innern blieb die Sklaverei 
gebuldet und es ift bis zum Vürgerkriege die Taktik der Sklavereifreunde geweſer 


776 Nachtrag. 


bie Bundesverfafſung in ihrem Intereſſe auszulegen und ihr gegenüber auf dieſem 
Gebiete die Souveränität der Einzelſtaaten nachdrücklichſt zu betonen. Und was 
Wafhington am Abend feines Lebens mit ſchwerer Sorge erfüllte, das follte 
wenige Jahre nach feinem Tode in feinen Anfängen bereits deutlich hervortreten: 
der Kampf auf Tod umd Leben zwiſchen zwei Principien, bie auch ihrem 
äußeren Wirkungstreife nach fi geographiich Immer fhärfer von einander ſchieden. 
Doch waren bis zum Schluß des vorigen Jahrhunderts die Kämpfe zwijchen 
Sklaverei und Freiheit im Vergleich mit fpätern Jahrzehnden nicht grabe heftig. 
Durch die englifchen Erfindungen auf dem Gebiete des Mafchinenwefens, denen 
fid 1793 des Amerilaners Whitney Erfindung der Baummollenreinigungs- 
mafchine zugefellte, wurbe der Sflaverei ein fo mächtiger Impuls gegeben, daß 
ihre Befeitigung auf frievlihem Wege immer unwahrfcheinlier werben mußte und 
die Löſung endlich nur auf gewaltfame Weife erfolgen konnte. Bor dem genannten 
Jahre hatte man die Baummolle in der Union kaum gelannt und 1793 gelang» 
ten noch feine 200,000 D. zur Ausfuhr; aber ſchon im folgenden Jahre hatte 
fih diefe auf 11/, DIR. D. gefteigert; ſeitdem iſt vie Steigerung der Produktion 
unaufhaltſam gewefen und für 1860 ergab fih das kolofiale Quantum von 
5 Mil. Ballen (zu 400 D.)! Den in der Baummollenregton gelegenen Staaten 
erwuchs daraus eine Duelle außerorventlihen Wohlftandes und dieſe Produktion 
mit ihrer eigenthümlihen Bewirthſchaftungsweiſe hat Land und Tenten im Süden 
in jeder Beziehung ihr eigentliges, von den freien Staaten ſcharf unterjchiebenes 
und auch dur die Grenzſtaaten nur wenig vermitteltes Merkmal aufgebrüdt. 
Die Größe der Güter und die dadurch bedingte Maſſe der Sklaven half vie 
Ariſtokraten der fürftaatlichen Plantagenbefiger großziehen; der von der Sklaven⸗ 
arbeit bei Baumwolle ungertrennlihe Raubbau gab den Auftoß zur Erftrebung 
Immer neuer Stlavereigebiete und bamit zu den verbängnißvollfien politifchen 
Konflikten. Alle Kompromifie find in dieſer Beziehung theild von zweifelhaften, 
theild von vorübergehendem Erfolg geweſen, and ift bei allen Vergleichen in 
der Regel ver überwiegende Vortheil anf Seiten ver Stiavenhalter geweſen; 
waren fie gleih numeriſch in der Minderzahl, fo Hatten fie doch in der foge- 
nannten demokratiſchen Partei der freien Staaten mächtige Bundesgenoflen, 
bie aus Furdt vor einer Gefährdung des Baummollenhanvel® fi zu Kon- 
ceffionen bereit finden ließen und im Punkte des Freihandels überdem principiell 
ben im Süden vorberrfchenden Anfhauungen bulvigten. Jedesmal, wo es fi um 
bie Zulaffung neuer Territorien als Staaten handelte, bildete fortan die Sklaverei⸗ 
frage den Kernpunft erbitterter Kämpfe. Das idylliſche Zeitalter der „Bauern- 
republifen” war voräber, bie „Ideen ohne Baumwolle” hatten der „Baummolle 
ohne Ideen" Plag gemacht 7). Das fogenannte Miffouri-Kompromik (6. März 
1820), demzufolge nörblid von 369 36° n. Br. die Sklaverei nicht gebulbet 
werben follte, wurde zwar noch 1845 wieder beftätigt, vagegen hatte der Süden 
bie Aufnahme von Teras ale Sklavenſtaat durchgeſetzt, fowie in Betreff ber 
Sklaverei die freie Verfügung über alle füplih von ver Kompromißlinie gelegenen 
Territorien erhalten. Die Erwerbung Kaliforniens gab zu neuen Kämpfen Anlaß 
und führte zu dem Kompromiß von 1850, zu dem berlichtigten „Stlavenjagdgejeg“, 
demzufolge Sklavenbefiger ihre flüchtigen Hörigen auf freiftantlidem Gebiete ver» 
folgen und zu dieſem Zwede den Schug der Bundesbehörden beanfpruchen konnten, 


7) Kapp, Gefchihte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten von Amerifa, 
or . . 


Nordamerikaniſche Sreiftaaten. 777 


ein Geſetz, das zur Erbitterung der Gemüther und zur Beſchleunigung der großen 
Krifls, des „unabwendbaren Konfliktes”, wie es der jetzige Staatsſekretär Seward 
nannte, wefentli beigetragen bat. Im folgenden Jahrzehend bat dann die Auf- 
nahme von Nebrasfa und Kanjas theil® zu erbitterten Debatten und Siegen ber 
Sklavenhalter, theild zu ofjenen Sewaltthätigkeiten geführt. Ein Bud The im- 
pending erisis of the Sonth, von H. R. Helper, welches zuerft gegen Schluß bes 
legten Jahrzehends erſchien und bald in hunderttauſenden von Eremplaren Ver⸗ 
breitung fand, war ganz geeignet, vie Gluth zu ſchüren und bie Erbitterung des 
Südens zum wildeften Fanatiemus zu fleigern. John Bromn’s raſch unter 
drädter und mit der Hinrichtung beftrafter Emancipationsverfuh bei Harper’s 
Berry in Birginien, ließ ahnen, daß die Krifis mit raſchen Schritten nahe. Die 
Wahl Lincoln's zum Präfivdenten führte ihren Ausbruch herbei; vie Waffen 
haben entſchieden: in vierjährigem biutigem Kampfe iſt der Fluch, der der Republik 
in die Wiege gelegt wurde, binmweggenommen. Für demjenigen, ber dem Bündniß 
der freien Staaten unbebingte Lebensfraft zutraute, konnte der Ausgang nicht 
zweifelhaft fein. An Bevölkerungszahl, fittlicher Kraft und materiellen Hülfsmitteln 
hatten die freien Staaten zu entſchieden das Uebergewicht und wenn fie nicht 
rafher zum Siege gelangten, fo lag der Grund in der anfänglich größern Kriege- 
bereitichaft und Kampftüchtigkeit des Südens. 

Die folgende Zafel giebt ein Bild von der Bevöllerung ber Sklavenſtaaten 
und ihrer Zunahme ſeit 1850: 


Staaten Stlavenbev. 1860 Weiße Bev. 1860 Zun.d. Sklaven Y d. Weißen % 
Alabama . . . . 435,080 526,431 23,43 27,18 
Arlanfas . 111,115 124,191 135,91 99,98 
Delaware 1,798 90,589 21,48 Abn. 27,28 
Florida 61,745 14,148 57,05 64,70 
Georgia 462,198 591,588 21,10 13,42 
Kentudy . 225,483 919,517 6,07 20,76 _ 
Lonifiana . 331,726 367,629 35,50 39,98 
Maryland 87,189 515,918 3,52 Abn. 23,14 
Mitfffippt 436,631 353,901 40,90 19,68 
Deifionri . 114,931 1,063,509 31,47 79,64 
Norbcaroling . 331,050 631,100 14,73 14,12 
Sübearolina . 402,406 291,388 4,53 6,13 
Tenneflee . 275,719 826,782 15,14 9,24 
Terad. . 182,566 421,294 213,89 173,51 
Birginien . . . . 496,865 1,047,411 3,88 17,06 
Diftr. v. Eolumbla . 3,185 60,764 13,62 Abn. 60,15 

3,953,687 8,099,760 


Mean fieht, der Schwerpunkt der Stiaveret liegt oder lag in den Staaten 
der Baummollenregion, nach der freiftantlihen Grenze zu nimmt das procentale 
Berhältuig der Sklaven zu den Weißen immer mehr ab. Der Tabaksbau erforderte 
nicht die Sklavenarbeit; wenn gleichwohl in Miſſouri, Kentudy, Tenneſſee und 
Birginten kein ernftlicher Berfuch zur Abſchaffung der Sklaverei gemadyt wurde, fo 
erflärt ſich dieſes zum Theil aus der wachſenden Erbitterung, ver blinden Leiden⸗ 
haft, die die Hörigkeit ver Schwarzen aus einem „nothwenbigen Uebel” all 
mählig in ben Augen ver Maſſe „zu einem Segen des Himmels“ umzugeftalten 
wußte und jede humane VBeftrebung, ja nur eine der „Inftitutlon” feindliche 
Meinungsäußerung als einen „verbrecheriſchen Eingriff” in die Souveränität der 


178 Nachtrag. 


Einzelſtaaten zu brandmarken verſuchte. Anderntheils mußte der mit ber Beden⸗ 
tung der Baumwollenkultur in feiner Steigerung Schritt haltende Geldwerth der 
Sklaven eine Löſung auch da erfchweren, wo man die Sklaverei felbft wirthſchaft⸗ 
lih als eine Laft zu empfinden begann; fo ift es gelommen, daß bis zum Aus- 
bruch des Bürgerkrieges, beziehungsmelfe dem Emancipationsbelrete vom 22. Sep- 
tember 1862 die Sklaverei felbft in Delaware, wo fie gar keine Berechtigung tm 
wirthſchaftlicher Beziehung, felbft vom Standpunkte des efingefleifchteften Bro. 
ftlavereimannes haben konnte, geſetzlich beftehen blieb. Der hohe Geldwerth der 
Sklaven führte dann andrerfeits zu dem ſedes fittlihe Gefühl empörenden Gewerbe 
ber Sklavenzüchtung, das namentlich in Birginien in großem Umfange betrieben 
wurde. War der auswärtige Sklavenhandel abgefhafit, jo gelangte dafür der 
binmenländtfche zu um fo größerer Blüthe. Anf ven Märkten zu New- Orleans 
und in anderen Stäpten kamen die Sklaven zur öffentlichen Berfteigerung; bort 
wurden frauen von ihren Männern, Kinder von ihren Eltern durch den Zufall 
des höchſten Angebotes unbarmberzig und für immer getrennt, ein Borgang, an 
bem das abgeflumpfte fittlihe Gefühl des Volkes im Süden durchaus keinen An- 
ftoß nahm. Mit der zunehmenden Bedeutung der Sklaverei verflärkte ſich das 
Streben, alle die „Inftitution” bedrohenden geiftigen und fittlihen Ginfläffe von 
ber Sflavenbevälterung fern zu halten. In vielen Staaten wurden Geſetze erlafien, 
die denjenigen, welcher die Sklaven im Lefen und Schreiben unterrichtete, mit den 
ſchwerſten Strafen bebrohten. Bon den freien Staaten eingebradhte Bücher wur- 
den der firengften Cenſur unterworfen und Onkel Tom's Hütte”, ein Buch, deſſen 
Inhalt vielmehr der Phantaſie entfprungen, als auf Thatfachen fußt, von einem 
korrekten Süpländer nit minder verabfchent,! ala das oben erwähnte Bach 
Halper’s. Freilih dürfen wir, wenn wir die Größe des Uebels und bie ungehenren 
Schwierigkeiten feiner Befeitigung in's Ange faflen, nicht unbedingt den An⸗ 
ſchauungen der Abolitiontften beipfligten und nod weniger können wir ihr frühere 
Berfaherungsmweife überall in Schutz nehmen. So iſt die, vorzugsweiſe biefen 
Kreifen entfprungene Behanptung, daß die Sklaven auf die graufanfte Weife 
behandelt, Weiber ausgepeitfht wurten, fiherlich übertrieben und nur für immer 
ſeltener geworvene Ausnahmen zuläffig; vielmehr iſt eine mildere Praris in den 
“ legten Jahrzehnden mehr und mehr die Regel, Unmenfchlichleit mehr die Ausnahme 
geworden, aus dem leicht begreiflidyen Srunde bes fteigenden Geldwerthes ver 
Sklaven, ber den Befiger fchonfam mit feinem „Eigenthum“ umgehen hieß. Der 
Umſtand, daß unter der Sklavenbevölkerung die Geſchlechter beinahe gleich ver- 
theilt find (100 Männer :99 Frauen) erklärt fih nicht lediglih ans ver fehlen- 
ven Einwanderung, die, wie wir fahen, bei den meiften ein ſtarkes Ueberwiegen 
bes männlichen Geſchlechts zur folge hatte, fondern auch daraus, daß die Sklaven⸗ 
befiger ihre weiblichen Sklaven im eigenen wohlverſtandenen Interefie mehr fchon- 
ten, ihnen weniger harte Arbeit aufbärbeten. Nah dem bisher Gefagten kann es 
auch nicht befremben, daß der Geſundheitszuſtand der Sklaven im Allgemeinen 
ein guter war; ber SHave war in Franken Tagen einer guten Pflege ſicher und 
fein Herr war, wenn er fein eigenes Interefie verftand, ftets bemüht, der Geſund⸗ 
beit ſchädliche Einflüffe von ihm fern zu halten. Dazu kommt, daß die Kon⸗ 
Ritution des Megers befier zur Ertragung von Strapazen, großer Hite u. f. w. 
geeignet ift, ald die Natur des Weißen. 
Welches aber wird das Schickſal der Farbigen nad ihrer nunmehr gefeglic 
gewordenen Emancipation fein? Kein Einfihtiger wird behaupten wollen, daß 
das Problem jet fchon praktiſch gelöst ſei. Auch das Berbältniß ver freien Far 





Nordamerikaniſche Sreiflaaten. 779 


gen, das wir weiter unten barftellen werben, bietet feinen verläßlihden Stäp- 
puntt für eine Wahrſcheinlichkeitaberechnung, denn theils iſt die Zahl der frühern 
Haven uendlich viel größer, theild und vor Allem iſt biefelbe territorial kon⸗ 
zeutrirt und wenn, wie in Sübcarolina, das Uebergewidht fo erheblich auf Seiten 
der Schwarzen iſt, darf man nit erwarten, daß das Verhältniß der Freigelaffenen 
fih in Zukunft fo entwideln werbe, wie etwa in Rew-Pork over Maflachufetts. 
Legen wir die auf ©. 765 gegebene Wahrfcheinlileitsrehnung aud bei ber 
Sklavenbevdllerung zu Grunde, jo wird zwar bis zum Ausgang des Jahrhunderts 
der Procentantheil derſelben an der Gejammtbevälferung fi merklich verringert 
haben. Die Sklavenbevdlkerung würde darnach ausmachen: 

1870: 12,77%, der Geſammtbev. 


z 


1880: 11,68 „ nm n 
1890: 10,24 „u m " 
1900: 946 u m " 


Der Bürgerkrieg hat dieſe Rechnung indeß nicht anmwefentlih modificirt. Je 
mehr im Berlaufe vesfelben das Vertrauen auf einen glüdlichen Ausgang für den 
Eden ſchwand, je prelärer mithin der Sflavenbefig wurde, um fo größer wurbe 
die Desorganifation der Sklavenbevöllerung, den vorrädenden norbfiaatlichen 
Truppen zogen Tauſende von entflohenen Sflaven, Männer, Weiber und Kinder 
entgegen ; ohne Subfiftenzmittel ift ein großer Theil verfelben zu Grunde gegan- 
gen; in den Grenzſtaaten zumal war die Desorganifation vollſtändig; im Staate 
Maryland war der größte Theil der Plantagen im legten Jahre des Krieges ohne 
Sklaven; fie waren befreit, ober früher entflohen; ein Theil hat in den Schlach⸗ 
ten für die Union einen ebrenvollen Tod gefunden; Hunger und Krankheiten 
haben einen anderen Theil binweggerafft und es iſt ſchwer zu fagen, wie viele 
von ihnen beſtimmt find, der Segnungen ber Freiheit in vollem Maaße theil- 
Yaftig zu werben. In den eigentlihen Baummollenftanten hat fi die Sklaven⸗ 
bevöllerung and vielfach verihoben; viele Pflanzer von Alabama, Georgia unt 
Miffiifippi fiedelten mit ihren Sklaven nad Teras über, in Lonifiana traten nad 
ber Befigergreifung von Rem» Orleans in vieler Hinfiht den nörblichen Grenz⸗ 
Raaten analoge Exrfcheinungen hervor. Jedenfalls hat der Krieg mit feinen direkten 
und indirekten Folgen bie Sklavenbevölkerung ſtark gelichtet. Richt unwahrſcheinlich 
it es ferner, daß bie Zunahme ber nunmehr VBefreiten in langfamen Tempo forte 
ſchreiten werbe, wie das Beifpiel der freien Farbigen zeigt; auch fcheint es zweifel⸗ 
108, dag ſchon bei den Mulatten und bei weiterer Bintvermifgung noch mehr, 
die Geburten relativ abnehmen. 

Für die Erziehung der Freigewordenen hat die Privatthätigleit durch mafjen- 
hafte Errichtung von ulen bereit Großes getkan, für Ihren rechtlihen Schug 
bie überall von der Bundesregierung eingerichteten fogenannten freedmens bureaux. 
Die Zukunft wird lehren, wie weit ber frühere SHave befähigt, ein freier, ſelbſt⸗ 
fländiger Menſch zu werben; die bis jegt gemachten Erfahrungen, obgleich fie zu 
guten Hoffnungen berechtigen, reihen noch nicht bin ein endgültiges Urtheil zu 
fällen. Die Hauptfade ift nähft der Erziehung vie Förderung wirthſchaftlicher 
Selbſtändigkeit; um diefe ganz und voll herbeizuführen ift überall der Lohn in 
Gelb zu entriäten und die Naturalleiftungen müſſen aufhören. Die freedmens 
bureaux follten noch für längere Zeit fortbeftehen, damit die noch immer grollen- 
den ehemaligen Sklavenhalter fih an die neue Ordnung der Dinge gewöhnen 
lernen. Für bevenflih in dem jetzigen Stadium der Entwidlung würden wir 
die Ertheilung des Stimmredtes halten, eine Wohlthat, vie vielleicht exft in 


7180 Nachtrag. 


ferner Zeit wird gewährt werben konnen, ſich jetzt aber wahrſcheinlich ta einen 
Fluch verwandeln würde. Wirthſchaftliche Selbſtändigkeit, Schutz von Berfon und 
Eigenthum und Gleichheit vor dem Geſetz — das find bie Forderungen, bon 
deren nung zunächſt eine erfolgreiche Löfung bes großen Problems abhängen 
därfte °). 

38 Bevölkerung der freien Farbigen beirng 1790: 59,466 Seelen umb 
bat ſeitdem folgende Fortſchritte gemacht: 

Jahr Benölferung Zun. 9/, 


1800 : 108,395 82,28 
1810: 186,446 72,00 
1820: 233,524 25,28 
1830: 319,599 36,87 
1840: 386,308 20,87 
1850: 434,449 12,46 
1860 : 482,122 10,97 


Mit nur Einer Unterbrechung ift die Berminderung in ber procentweilen Zunahme 
ber Bevölkerung, wie man flieht, eben fo ftetig, wie bedentend geweſen. Bon ber 
Bevdlferung bes Jahres 1860 entfallen anf pie fräberen Stiavenflaaten etwas 
über 50 9/, (261,918). In den Baummollenftaaten ift fie theilmeife verſchwindend 
Hein (Arkanſas 144, Teras 355, Miffiffippi 773), währemb nad der Grenze 
ber freien Staaten zu das Verhältniß das entgegengefegte wird: Tennefiee 7300, 
Kentudy 10,684, Norbearolina 30,463, Birginien 5,042, Maryland 83,942, 
Delaware 19,829. Es if tiefe Erſcheinung erflärlih, wenn man bedenkt, daß 
in den Sfiavenflaaten, wo der Sklavenwerth am hödften ſtand, freiwillige Frei⸗ 
lafſungen allmählig gänzlich aufhörten umd ver Loskauf in der Regel an bie Be⸗ 
bingung ber Auswanderung geknüpft war. Das Zufammenjein der Sklaven mit 
freien Yarbigen konnte den Sklavenhaltern felbftverfiäuplich nicht erwünfdt fein 
und die freien Farbigen hatten feine Beranlaflung auf einem Gebiete zu ver- 
bleiben, wo man fie nod weniger refpeltirte als die von ber Hand in ven Mund 
lebende weiße Bevölferung, vie bei dem Mangel ber größeren Städte ſtets in 
gebrüdter Lage blieb, und von den Sklavenhaltern mit Beratung, als misera 
plebs contribuens angefehen wurde. In den freien Staaten findet fidh bie Be⸗ 
völferung der freien Farbigen ziemlich gleihmäßig vertheilt, erreicht aber nirgends 
die höchſte Ziffer der Grenzſtaaten; Pennſylvanien fommt ihr mit 56,849 Seelen 
am nädften,; es folgen New-York mit 49,005, Ohio mit 36,664, New-Ierfeh 
mit 25,318 Seelen, Nur in Illinois war 618 zum Eintritt der neueften Ereig⸗ 
niffe der Aufenthalt freien Farbigen geſetzlich verwehrt, obgleich dieſes Geſetz nicht 
ſtets in feiner ganzen Strenge zur Anwendung kam. Bon einer foctalen Gleich⸗ 
ftellung der freien Farbigen mit den Weißen war bis zum Ausbruch des Bürger: 
frieges in keinem der freien Staaten die Rebe. Grabe in den Neuenglandftaaten, 
dem Heerb und Ausgangspunkt aller auf die Abſchaffung der Sklaverei gerichteten 
DBeftrebungen, bat vie Rafienantipathie zu einer fcharfen, bem Europäer oft un⸗ 


8) Leider bat der Radilalismus mittlerweile das Stimmrecht ber Schwarzen dekretirt und 
damit den Kreigelafienen ein Dangergeſchenk gemacht, deſſen verbängnißvolle Kolgen chen jebt 
nur zu deutlich erfennbar find. Namentlich in Louifiana und Texas, wo man an manden Orien 
Schwarze zu Richtern und Dermaltungsbeamten erwählte. find die Zuflände der Art, daß ohne 
— Fr der Bundesbehörde, reſp. milisärifhe Mapregeln völlig anarchiſche Zuflände zu 

orgen find. 














- 


Nordamerikaniſche Sreiflanten. 781 


begreifliden Schelvang in focialer Beziehung geführt. Daß ein Farbiger es 
wagen wärbe, an ber Mittagstafel von Weißen Play zu nehmen, war ebenfo 
unerbhört, al® das fahren von Schwarzen in einem von Weißen offupixten 
Omnibus. Ob diefe, zum Theil in der Natur begründete Naflenantipathie jemals 
ganz verfhwinven wird, fteht dahin. Manche Borurtheile find feit der Emanci⸗ 
pation fon jett geſchwunden; in ben Primärſchulen von Maſſachuſetts findet das 
Rafienvorurtheil jegt feine Stätte mehr und farbige figen dort neben weißen 
Kindern, ein Vorgang, der auf die Farbigen von dem mwohlthätigften Einfluß fein 
muß und Hoffentlih in den anderen Staaten allgemeine Nahahmung findet. Es 
gilt auch bier, die ſchwarze Raſſe aus dem Kinbheitsalter in das Mannesalter 
binüberzuführen. Die Sucht, die Lebensweiſe der Weißen nachzuahmen, es Ihnen 
namentlih im äußeren Bus gleihzuthun, bie Sorglofigkeit im Hinblid auf die 
Zukunft, das find Eigenfchaften, vie den früheren Sklaven, wie ben freien Far⸗ 
bigen Tennzeichnen. Ohne Zweifel finden ſich von Legteren, namentlih in ben 
Großſtädten, Biele, die durch Fleiß und Ausdauer materielles Wohl erlangt haben 
und aud in geiftiger Beziehung hat fih unter ihnen bin nnd wieder ein hober 
Grad von Bildungefähigkeit gezeigt. Solche Fälle gehörten aber bisher zu ben 
Ausnahmen; bie große Maffe lebt von der Hand in ven Mund und denkt nicht 
an den morgenden Tag. Bielfady begegnen wir der Erſcheinung, daß ein plögliches 
Aufhören des Verbienftes Noth und Elend zur fofortigen Folge hat; daraus wird 
auch zum Theil die große Kinverfterblihkeit und das relativ langfame Wachſen 
der Bevdllerung zu erklären fein. Der Mangel an Borausfiht ift um fo mehr 
zu bellagen, als im Ganzen eine gewiſſe Arbeitsanftelligfeit ver farbigen Raſſe 
nicht abzuſprechen if. 

In der Kürze gedenken wir bier noch eines menſchenfreundlichen Verſuches, 
das Loos der farbigen Seoditerung zu verbeffern. An ver afrikaniſchen Küfte, auf 
49 41' n.Br. und 89 8° w. % von Greenwich, auf einer Küftenlänge von 
etwa 200 Stunden, wurde 1816 von einer amerilanifhen Kolonifationsgefellfchaft 
das Gebiet der fogenannten Republit „Liberia“ erworben; dorthin wurden freie 
Farbige und Iosgelaufte Sklaven geſandt und bie Geſellſchaft hat es namentlich 
unter der Aegide des patriotifhen Henry Clay immerhin zu erfprießlichen 
Refultaten gebracht, wenngleih das ganze Unternehmen natürlih nicht vermocht 
bat, dem Uebel ver Sklaverei in wirkſamer Weiſe zu begegnen, geſchweige denn, 
ben Lauf der großen Krifis aufzuhalten. Ueber die Zuftände in Liberia Iauten bie 
Berichte fehr widerſprechend; vie periodiſchen Veröffentlichungen der Kolonifations- 
gefellfhaft, deren Zweigverein in Baltimore vor Allem Anerkenuungswertbes 
geleiftet bat, find jedenfalls mit VBorfiht aufzunehmen. Neben 15—20,000 Ein- 
geborenen mögen bort jegt etwa 8—10,000 Eingewanderte wohnen, bie allerdings 
im Durchſchnitt gut fortlommen follen. Auch vie Berichte Über die focialen Zur 
fände lauten nicht unbefriedigend. Leber die Lebensfähigkeit der Kolonie wird 
indeß u. E. erſt dann endgültig zu entfcheiven fein, wenn einmal bie Leitung ver 
Weißen ganz befeitigt und das Schidfal des Staates ausſchließlich in die Hände 
der ſchwarzen Benöllerung gelegt fein wird. Die Republik iſt von allen Mächten 
anerkannt; befanntlih hat der norbbentihe Bund vor Kurzem einem Handels⸗ 
vertrag mit derfelben feine Zuftimmung erthellt. - 

Für die Betrachtung der kulturhiſtoriſchen Entwidiung der Union muß endlich 
die Darflellung der Nationalitätsperhältniffe von nit geringem Interefie 
fein, Hat freilich der Anglonmeritaner einen hohen Grad von Fähigkeit gezeigt 
Fremdes in fih aufzunehmen und vie ihm zuftrömenden VBevdlferungselemente 





782 Nadtrag. 


einem einbeitlihen Ganzen in Staat und Geſellſchaft zu verfhmelzen, fo hat 
bennod die eurorälfhe Einwanderung, mit der wir es bier zu thun haben, viel» 
fach mobificirend anf den heimiſchen Charakter eingewirkt und aller Wahrſcheinlich⸗ 
feit nach wird dieſe Erſcheinung in der Zukunft nur immer deutlicher hervortreten. 
Die mafienhafte Ueberfiedelung von Europa nad ber Union ift vergleichsweiſe 
neuen Datums; gehen wir einige Jahrzehnde zurüd, fo finden wir noch fehr 
beſcheidene Zahlen. In den Jahren 17901800 betrug die Sefammteinwanderung 
nod nicht über 50,000 Berfonen, 1800—1810: 70,000; 1810—1820: 114,000. 
Bon da an macht fi ein etwas rafcheres Steigen bemerkbar; für das Jahr 1828 
alein wird bie Gefammtzahl beifpielsweife auf 27,382 angegeben; feitvem iſt pas 
Wahsihum bedeutend und, mit geringen Unterbredhungen, ftetig gewejen. Die 
Einwanderung 1842 beitrug ſchon über 60,000, ſeitdem hat fie die großartigen 
Dimenfionen angenommen, die heute unſer befonderes Interefie beanfpruchen und 
allem Anfhein nah, auch in der nächſten Zeit ungefchwächt fortbauern werben. 
Das riefenhafte Wachſsihum der Einwanderung erhellt ans folgender Zufammen- 
ftellung ber drei letzten Cenſusperioden: 

1830—1840 : 652,000 

1840— 1850 : 1,558,300 

1850— 1860 : 2,1707,624 
Reichlich 5 MIN. Europäer find von 1820--1860 auf dem Boden ber neuem 
Welt gelandet. Dem Geſchlecht nad findet ein erhebtiches Ueberwiegen der Männer 
ftatt, denn von der Öefammteinwanderung ber Jahre 1820-1860 entfallen 
60,6 9%, auf das männlihe Geſchlecht. Dem Lebensalter nad) find in dieſem ganzen 
Zeitraum die Jahre 15—35, namentlid 20—25 am ſtärkſten vertreten. Alſo 
grabe das kräftigſte Lebensalter, vorwiegend männlichen Geſchlechts kam der Union 
in der Auswanderung zu Öute und es bebarf keiner Erwähnung, welchen Impuls 
das der Probuftion von Gütern und dem Wachsthum der Benölterung geben 
mußte. Großbritannien (vor Allem Irland) und Deutſchland fielen ſeit Jahr⸗ 
zehnven das Hauptlontingent zur Einwanderung; jeit dem Jahre 1810 find von 
Erfterem reichlich 3, von Letzterem 11/, Mill. eingewandert. In neuefter Zeit bat 
bie beutfche Einwanverung relativ flärler zugenommen, als die engliſche, beziehungs⸗ 
weise irifhe; im Jahre 1865 war fie auch abfolut größer ald biefe; nad dem 
Jahresbericht der deutſchen Geſellſchaft der Stadt New⸗York waren in jenem Sabre 
in Rew-Dort, als dem Hanptausfhiffungshafen gelandet 82,894 Deutiche, 75,046 
Englänber, beziehungewetje Irlänzer. Die folgenven Angaben über bie jährliche 
Sefammteinwanderung feit 1865 machten u. X. auch die Einwirkungen bes Bürger 
krieges und feiner unmittelbaren Yolgen erkennbar. 


1855: 136,233 1859: 79,858 1863: 155,223 
1856: 142,557 1860: 107,802 1864: 185,208 
1857: 182,753 1861: 67,248 1865: 200,009 
1858: 78,859 1862: 76,700 1866: 233,717 


Die Einwandermg von 1867 bat die vorjährige noch überfchrittien 9) und 
die europätfhen Zuflände find noch keineswegs ver Art, um für bie kommen⸗ 
den Jahre auf eime mefentliche Abnahme rechnen zu können. Wer fünnte leugnen, 
daß viefes maflenhafte Fortziehen, namentlich ‚für unfer Vaterland ein Berluft 
fei; mag die Auswanderung ihre kulturhiſtoriſche Berechtigung haben, im beften 


— — — 





9) Wir erſehen aus einer Rotiz der New⸗Yorker Handeldzeitung, daß fie 241,854 onen 
betrug, darımter 115,829 Deutiche. ® ve 
& 








Nordamerikaniſche Sreiflaaten. 783 


Balle wird man fie von bier aus nicht anders als mit fehr gemifchten Empfin- 
dungen anſehen können. Im Intereffe ver Menſchlichkeit und geleitet von richtigem 
geihäftlihen Blick iſt man in den beutfhen Einfchiffungshäfen Hamburg und 
Dremen mit Erfolg bemüht, den Auswanterer bis zu feiner Einfchiffung vor 
Uebervortheilung zu ſchützen und ihm überhaupt nach allen Richtungen bin mit 
bewährtem Rath an die Hand zu gehen. Dem Streben der Nachwelfungsblireaur 
in den deutfchen Häfen kommen bie deutſchen Geſellſchaften in ver Union burd 
Derichte, Rathſchläge und Winke in anerfennenswerther Weife entgegen und ihren 
unabläffigen Bemühungen ift e8 zu banken, taß der Einwanverer auch bei feiner 
Landung auf amerilanifhem Boden befieren Schuß, zuverläffigere Rathgeber findet, 
als ehedem, wo In diefer Beziehung grabe in dem Hauptausfhiffungshafen New- 
Dort die Dinge übel genug beftellt woren. Durch Koncentrirung der Ausihiffung 
anf Einen Hauptplatz, den fogenannten Castle garden ift ein beſſerer Schuß, 
eine wirkfamere Kontrole erzielt und namentlih den Schwinveleien, welde man 
früher mit Eifenbahnbillets für Einwanderer trieb, wenigftend zum Theil abge 
bolfen. 

Was die Beichäftigung ber Eingewanberten betrifft, jo ſind Lohnarbeiter, 
Landwirthe und Handwerker numerifch entſchieden überwiegend und erſt im vierten 
Rang erjcheinen diejenigen, die fich in den Paflagierliften ale „Kaufleute haben 
einſchreiben lafien. Bon circa 2 Mill, von 1820-1860 Eingewanderten, deren 
Gewerbe befannt, waren 872,570 Lohnarbeiter, 764,837 Landwirthe, 407,524 
Handwerker und 231,852 Kaufleute. Der weitaus größte Theil ver Eingewander⸗ 
ten bat fi in den freien Staaten nievergelaflen; auch von den in New⸗Orleans 
Gelandeten iſt der größere Theil deu Miffiffippi aufwärts gezogen, um in ben 
freien Staaten und Territorien des Weftens eine neue Heimath zu begründen. 
Der Weften ift es, der vorzugsweife unfre Landsleute an fi gezogen bat, wäh. 
rend die Irländer vergleichsweiſe mehr in den Großſtädten ver atlantifhen Staaten 
in verſchiedenen Gewerben ihr Unterfommen fanden. In vielen Staaten des Weftens 
treffen wir auf Grafſchaften, wo faſt nur Deutſche uns begeguen und Zeugniß 
davon ablegen, was beutfche Betriebſamkeit vermag, wenn fie frei fi entfalten 
kann und feine büreankratifche Bevormundung fie hindert, vie reihen Hülfsguellen 
der Natur nugbar zu machen. Bon den atlantiichen Staaten iſt e8 Pennſylpanien, 
das ſchon im vorigen Jahrhundert in einigen Theilen von unfern Landsleuten 
beflevelt wurde; die Farmen ihrer Nachkommen fliehen in dem Rufe vorzüglicher 
Bewirthſchaftung. Seit Beendigung des VBürgerfrieges hat Miffouri ein ſtarkes 
Kontingent deutſcher Anſiedler erhalten; hier fcheint das deutſche Element ganz 
befonvers zu gebeihen und bürfte mehr und mehr zu focialer und auch politiicher 
Bedeutung gelangen. Daß Miſſouri Im Bürgerkriege ſchließlich der Unionsfache 
erhalten blieb, daß dort zuerft die Sklavenemancipation gejegliche Sanktion erhielt, 
ift vornehmlich der Deutfchen Verdienſt. 

Das amerikaniſche Volt hat bis jegt, wie ſchon erwähnt, die Maſſe zuger 
wanderter Bevölkerungselemente wunderbar raſch ſich zu affimiliren gewußt, wenn⸗ 
gleih die Einflüffe der Einwanderung auf den nationalen Charakter uamentlich 
da nit zu verkennen, wo, wie im Welten die fremden Elemente fo ſtark vers 
treten find. Der deutſche Einwanderer vor Allem fcheint beftimmt, vie Härten 
und Ertreme im amerilaniſchen Charakter auszugleihen, und zwar in wirthſchaft⸗ 
licher nicht minder, wie foctaler Beziehung. Wo der Amerikaner, der eigentliche 
Pionier, die erfte Art an den jungfräulihen Wald im fernen Weften gelegt, ba 
wird der nachziehende Deutiche feßhaft, mit ihm deutſche Geflttung und ber Sinn 


784 Nachtrag. 


für Berihönerung und Veredlung des Daſeins, ver beim Amerilaner in weit 
geringerem Grade entwidelt ifl. Ob dagegen ber Irländer ein der foctalen Ent 
widelung der Union förverlidhes Element bilde, ift einigermaßen zweifelhaft. 
Während der Deutiche in der Regel raſch fih in die neuen Berhältnifie einlebt, 
ja nur zu ſehr fi auch feiner guten nationalen Eigenihümlichkeiten entäußert, bleibt 
bie Natur des Irlänvders mit ihren Liebenswärbigen, aber auch ihren vielen bedenk⸗ 
lihen Seiten ziemlich unverändert und wenn der Deutfhe, ber in ber Heimath 
die Fefleln verkehrter Geſetzgebung vielfach fo feymerzlih empfand, in der neuen 
Welt nur zu oft jede Schranke durchbricht, ift der Irländer dort wie in feiner 
Heimath jeber Beeinflufjung, namentlid der hierarchiſchen nur zu fehr zugänglid 
und wird allzuleiht ein gefügiges Werkzeug in den Händen der Demagogen. 

Wenn man früher von der Bedeutung bes deutſchen Elements in ver Union 
ſprach, fo verband man damit vielfach übertriebene Vorſtellungen 1%. Die Maſſe 
unfrer vor dem Revolutionsjahre 1848 ühbergeftevelten Landsleute gehörte den 
unbemittelten Ständen an und hatte bie geringen, in ber Heimath empfangenen 
Bildungselemente unter den Arbeiten und Mühen in der fremde bald mehr ober 
weniger eingebüßt. Was vor 1848 an beutichen Lehrkräften und deutſchen Büchern 
nah Amerika kam, war feiner Menge, wie feinem Gehalte nach unbedeutend und 
in feiner Mehrzahl nicht eben geeignet, dem Amerikaner Achtung für ven beutfchen 
Geiſt abzundthigen. Seitdem iſt das anders geworden. Der Sturm ber Realtion, 
welcher über unfer Vaterland dahinzog, veranlaßte Taufende von gebildeten und 
nicht unbemittelten Männern, ihr Heil in der neuen Welt zu verfuden und der 
Einfluß diefer neuen Elemente mußte fih mit der Zeit geltend machen. Ueberhanpt 
bat fi, namentlich in den legten zehn Jahren, der Charakter der deutſchen Ein⸗ 
wanderung infofern weſentlich geänvert, als weit mehr Bemittelte fi der neuen 
- Welt zuwenden, ald ehedem, Leute, vie die Koften ver Reife auf einem beutjchen 
Dampfer beftreiten können, bei ihrer Ankunft noch eine Baarſchaft zur Berfügung 
haben und von Freunden und Berwandten willlommen geheißen werben. Seit 
1848 bat au die dentſche Brefie und deutſche Literatur in der Union an Be 
beutung nicht unerheblih gewonnen. Wo früher in dem befcheidenen Haufe des 
deutſchen Landwirthes im Weften Bibel, Gefangbuh und Kalender vie ganze 
Bibliothek ausmachten, da begegnet man jest nicht bloß den Werken unferer 
Klaſſiker, fondern nicht felten auch ven neueren Erzeugnifien unferer Literatur. In den 
großen Städten finden wir namhafte deutſche Buchhandlungen, vie, Dank 
den unendlich verbefierten und verpielfältigten Kommunilationsmitteln den Litera- 
rifhen Verkehr zwifchen den Deutfchen beider Hemisphären vermitteln. Die Ein⸗ 
fuhr deutfcher Bücher würde weit umfangreicher fein, wenn nicht eine kurzfichtige 
Handelspolitik die Geiſtesprodukte fremder Nationen mit einem unverantwertlid 
hohen Zoll belaftet hätte. Dagegen iſt der Zeitungsverkehr in rafcher Zunahme 
begriffen und die Einrihtung von Wochenausgaben, welde mehrere unferer be 
beutendexen politiihen Zeitungen neuerbings in's Leben gerufen, wird ben Ber- 
kehr ohne Zweifel bebeutend erweitern. 


10) Die Berdienfte, welche fich deutſche Cingewanderte um bie Unabhängigkeit der Bereinigten 
Staaten erworben, find faft gänzlich vergeſſen; Friedrich Kapp bat In feiner unlängft erſchienenen 
„Geſchichte Der deutſchen Einwanderung‘ diefelben in anerkennenswerther Weile feinen Lande 
leuten in’6 Gedächtniß gerufen und nadgemicfen, daß obne den in furchtbaren Leiden bewährten 
Heldenfinn der deutfhen Bauern von Mobawf und Schoharie der Unabhängigfeitsfampf, im 
Staate Rewe dort wenigſtens, einen verderblichen Ausgang gehabt hätte, 











Nordamerikanifhe Sreiftanten. | 785 


Ein gewiſſes Vorurtheil, weldes der Amerikaner den Deutfchen gegenüber 
auch nad; dem Jahre 1848 nicht zu überwinden wußte, {ft feit Beendigung bes 
Dürgerkrieges in raſchem Verſchwinden begriffen. Im Kampfe für die Union haben 
bie Deutſchen Anertennenswerthes geleiftet und ven Amerikaner gelehrt, die Be⸗ 
beutung bed deutſchen Elements mit einem andern Maßftabe zu meflen, als ehe⸗ 
dem. Die großen Greigniffe des Jahres 1866 mußten dann aud dazu beitragen, 
feine Achtung, die er bisher mehr dem Individuum zollte, auf die Nation zu 
übertragen. So findet denn der jest auf amerifanifhem Boden landende Deutfche 
einen Boden, den er faft umfonft erwerben fann 11), Freunde und Angehörige, 
bie ihm die erften Schritte in der neuen Welt erleichtern, von Seiten ver Ein 
geborenen, wenn er ſich tüchtig erweist, alsbald volle Anerkennung. | 

Über nicht bloß das Moment der von Außen zuftrömenden Einwanderung 
verleiht der Betrachtung der amerikaniſchen Bendtkerungsverhältnifie ein eigenthüm⸗ 
lies Intereſſe; charakteriſtiſch flr den Werbegang des jugendlichen Staatsweſens 
iſt nicht minder das binnenlänbifhe Ab- und Zuziehen der Menſchen. Wo der 
Pionier des Weftens nur ſchwache Spuren feiner Anfievelung hinterließ, dorthin 
fegt der mehr an ein feßhaftes Leben gewöhnte Europäer feinen Fuß und in 
feiner Begleitung erfcheint nicht felten ver Bewohner ver Neuenglandſtaaten, ber, 
in der Heimath an der Inpuftrie fein Gefallen, zum Aderbau den Boden unge 
eignet findend, fi dem Weften zuwendet, um bort als Landwirth fein Glüd zu 
verfudhen. Und, wie in den Häfen europälfche Kaufleute dem ganzen Leben einen 
vielfeitigeren Anſtrich geben, fo find es Kaufleute vom Often der Union, vie in 
den Großſtädten bes Deftens, in Cincinnati, Chiago und St. Louis dem dortigen 
Leben nene Elemente ber Befruchtung und Anregung zuführen. Aber aud ber 
rüdfluthende Strom verbient unfre Beachtung. Nicht nur biejenigen Amerikaner, 
welche es im Weften zu Wohlftand gebracht, ehren häufig in ven Staat ihrer 
Geburt zurüd, aud viele im Weften Geborene wenden fich der atlantifhen Küfte 
zu, um bort, fei e8 im Gewähl ver Weltſtadt das Glück zu erjagen, ſei es in 
Lawrence oder Lowell ver Kette großartiger inbuftrieller Thätigleit ein neues 
Glied einzufügen. Was die Süpftanten betrifft, fo war dort die Bevölkerung aus 
nahe liegenden Gründen vergleichsweiſe feſt figend und namentlih war das in 
ven Baumwollenſtaaten ver Fall. Umfangreicher, feſtgeſchloſſener Grunvbefig, 
Mangel an großen Städten, bie die Iugenb des Landes hätten anloden können, 
biefe Momente mußten einem den freien Staaten analogen Ab- und Zuftrömen 
der Bendtterung hinderlich fein. Wie ſchon bemerkt, wandte fi die europäiſche 
Einwanderung den Süpftaaten bisher in geringem Umfange zu, am wenigſten bie 
Deutfchen, deren angeborene Abneigung gegen die Hörigleit die Sklavenſtaaten 
meiden hieß. Erſt jeßt nad Aufhebung der Sklaverei, wird fich für ven euro» 
paiſchen wie amerikaniſchen Einwanderer im Süpen ein Feld lohnender Tätigkeit 
bieten, namentlih wenn der Vorgang in einigen Süpftaaten, große Plantagen 
in ‚Heinere. Barcellen zu zerlegen, in größerem Maßftabe nachgeahmt wird, mas 


11) Das fogenannte Heimftättegefeh (homestead-bill), welches mit dem 1. Januar 1863 
in's Leben trat, weist dem Einwandrer, fojern er Bürger der Union werden will und ſich im 
Kampfe gegen die Union nicht betheiligt bat, das Vorfaufsreht von 160 Acres Land zum Preife 
von 1 Dot. 25 Gt. für den Acre zu, oder zu 2 Doll. 50 Acre für die Hälfte. Die Zahlung 
fann auf 5 Jahre geflundet werden; erfolgt fie eher, fo tritt der Anfledler fofort in fein volles 
Cigenthum ein. Haͤufig iſt auch Anfledelern, fo nicht felten aus volitiichen Motiven un? Sym⸗ 
patbieen, Grundkefig unentgeltlich überlaſſen worden. 

Bluntfäli un Brater, Deutſchet Staatt⸗Worterbuch. XI. 50 


786 Nachtrag. 


man zuverſichtlich hoffen darf 12). Freilich iſt der Zeitpunkt noch nicht gekommen, 
wo dem europäifchen Einwanderer die Anfiedlung im Süden anzurathen if. Erſt 
dann wird die maflenhafte Einwanderung ftatthaft fein, wenn das politifche Re 
Tonftruftionswert vollendet oder doch feiner Vollendung nahe und bie Berhältnifie 
zwifhen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in rationeller Weiſe geordnet fein 
werben. 

Im Jahrzehend 1850/60 Hat fi das Berhältmiß der Bevölkerung⸗ abgebenven 
zu den empfangenven Staaten nicht unweſentlich veränbert. Im Cenſusbericht von 
1850 werben fieben Staaten als abgebenve aufgeführt: Connecticut, Delaware, 
Georgia, New Ierfey, Nordcarolina, Rhode Island und Birginien; fie waren 
1860 Einwanderer empfangende Staaten geworben. So beträgt beiſpielsweiſe 
in Georgia der Ueberfhuß der Zugewanderten über die fortgezogenen fu 
10 Jahren 75,000. Bier Staaten, welde 1850 einen Ueberfhuß der Zuge 
wanderten aufweifen, find ſeitdem abgebende Staaten geworben: Alabama, Indiana, 
Louniſiana und Mifftifippt. 

Werfen wir noch einen flüchtigen Bid anf die Wohnungsverhältniffe, 
fo finden wir einestheilß eine nicht unerbebliche Berbefferung im Jahrzehnd 1850/60, 
anderntheils ein fehr günftiges Verhältniß tm Vergleich zu den meiften Staaten 
Europa’s. Die Zahl bemohnter Häufer in der Union, welche 1850 ungefähr 
31/, Mil. betrug, hatte fih 1860 auf nahezu 5 Mill. gefteigert, eine Zunahme 
von 47,81 9/,, erheblich mehr, als ver gleichzeitige procentale Bevölkernugszuwacht. 
War 1850 ein Haus im Durchſchnitt von 5,95 Perſonen bewohnt, fo hatte fid 
1860 die Zahl anf 5,53 ermäßigt. Den hödften Durchſchnitt ergiebt ver vor 
wiegenb induftrielle Staat Rhode Island mit 6,43, den niebrigften mit 3,04 
Californien, wo muthmaßlich jede Hütte des Goldgräbers am Sacramento für ein 
Haus gezählt iſt und überdem das Mißverhäftniß ber beiden Geſchlechter zahl⸗ 
reiherem Zufammenwohnen unter Einem Dache entgegenfteht. In Hinſicht ber 
Bohnungsverhältniffe iſt der Einflng der Art wirthſchaftlicher Thätigfeit deutlich 
ertennbar. Die induftriellen Nenenglandftaaten, ſodann New⸗York und feine Welt⸗ 
ſtadt zeigen den höchſten Durhjchnitt der auf Ein Haus Tommenden Bewohner- 
zahl; ungleich geringer ift diefelbe im aderbautreibenden Norden und Nordweſten, 
ungefähr die Mitte halten vie Süpftaaten ein. Den meiflen enropätfhen Staaten 
gegenüber ift das Berhältnig, wie gefagt, ſehr günftig. Für Preußen ohne bie 
neuen Provinzen ſtellt fih der Durchſchnitt auf über 8, In Sachen beträgt ver 
felbe faft 9. Daß in England trog feiner großartigen Inbuftrie nur 5,47 Be 
wohner anf Ein Haus kommen, zeigt eben n. A. die Macht des dem Angelfadifen 
eingebornen Triebes ein eigenes Haus zu ansfchlieglicher Benugung zn erl 
eines Triebe, der, wie wir fahen, au in ber neuen Welt fi bethätigt Bat. 

Befhäftigung. Es leuchtet ein, daß in einem Lande von fo j | 
Kultur und fo unermeßlidem territorialen Umfange die Arbeit feiner en 
vorwiegend anf Urbarmahung des Bodens und die Erſchließung feiner aurker 
ordentlich reihen Hülfsqguellen gerichtet if. Es kommt dazu das Naturell des 


13) Wie fehr die Vereinigten Staaten noch das Land der extenfiven Landwirthſchaft Aut. 
erhellt aus dem Umſtande, daß auf den Grundbefiger durchſchnittlich 199 Acres fommen. Red 
zeigt fih das im Süden, ‚wo auf etwa 74 M. U. urbar gemachtes und 171 M. = 

bautes Land nur 764,900 Büter, aljo 320 A auf den Befiber kommen (in Maffadhufeits M, 
8* Ohio Pie Pe Man ange A jet dem  ünen aus einer Berlegung 
ro er erwachleu werten. v. , Finanzen die Finanzgeſchichte ber 
Dereinigten Staaten, Stuttgart, 1867, 











Nordamerikaniſche Sreiftaaten. 787 


Ungelfadfen, das, von Hans aus ſtark der erwerbenben Thätigleit zugewandt, 
in ber neuen Welt mit ihren taufendfachen Gelegenheiten zu wirthſchaftlicher 
Thätiglett und Tanfmänntfcher Spekulation, diefem Triebe einen ganz außerorbent- 
lichen Impul® geben mußte. Der Erwerbötrieb des Yankee, die harte, raftlofe 
Arbeit des weftlihen Farmers ift fprihwörtlich geworden. Die Statiftil beftätigt 
diefe Kulturerfcheinung. Im legten Genfusbericht find nicht meniger als 2,423,895 
Perſonen als Farmer, 795,679 als Barmarbeiter aufgeführt, ein Berhältnig, das 
ertennen läßt, wie fehr die Landwirthe felbft mitarbeiten um bei ven hoben 
Löhnen der Nothwendigkeit fremder Arbeitskraft nach Möglichkeit zu entgehen. 
Im Süden (felbfiverflänplih find die früheren Sklaven in die obige Angabe nicht 
mit einbegriffen) ift das freilich anders; bort iſt der Plantagenbefiter gewohnt, 
Alles feinem Auffeher zu überlafien, was freilich jet auch anders werben wird. 
Barmer und Farmarbeiter bilden nahezu den dritten Theil der in ber Statifit 
unter den verſchiedenen VBeichäftigungsweifen aufgeführten Berfonen. Die Zahl 
der in der Induſtrie (im weiteften Sinne) Beihäftigten betrug 1860 nahezu 
1 Mill., Kanflente 123,378, Banguiers 2753, außerdem Bankbeamte 11,140. 
In den Minen waren beihäftigt 147,750, als Zagelöhner 969,301 Berfonen. 
Bas die fogenannten gelehrten VBerufsftände betrifft, jo waren befchäftigt als 
Advsolaten 33,198, Aerzte 54,543, Zahnärzte 5606, Geiftlihe aller Konfelfionen 
37,529, Lehrer 110,469. Als Buchhändler endlich arbeiteten 1861, als Verleger 
von Zeitungen und periodiſch erſcheinenden Schriften 917 Berfonen. 

IE. tur. WUuterricht. Neligionsverhältniſſe. IR freili, wie 
wir ſahen, beim Amerikaner ber Trieb zum Erwerb materieller Güter entſchieden 
vorherrſchend, fo iſt damit doch nicht gefagt, daß vie Pflege geiftiger Intexefien 
vernadhläffigt fei. Nicht bloß in wirthſchaftlichen Dingen hat ver Amerikaner einen 
hohen Brad von Anfielligkeit bewiefen, nicht nur auf dem Gebiete mechaniſcher 
Erfindungen hat er in kurzer Zeit Staunenswerthes geleiftet, ſondern aud auf 
dem rein geiftigen Gebiete verbient das Streben ber Nation volle Anerkennung. 
Europäifhe Maffläbe find hier allerdings nicht zuläffig, und wir finden, baß der 
Amerilaner zunächft und naturgemäß dahin firebt, etwas für das praktiſche Leben 
unmittelbar Brauchbares zu erlernen, dagegen ber Theorie, zumal der theoretifchen 
Spekulstion mit Mißtrauen, ja mit Verachtung begegnet. In feinem Streben bie 
Kinder zu tüchtigen Menfchen für das praktiihe Leben beranzubilden, bat ber 
amerilaniſche Bater ven Bergleich mit Teiner anderen Nation zu fchenen. Daß er 
in dieſem Streben zu einfeitig befangen bleibt, ift freilich nicht zu leugnen. Das 
dentſche Element bat die Miffton, das amerilaniſche Leben reicher und vielfeitiger 
m geftalten, den Sinn für höhere geiftige Bildung, für bie idealen Güter des 

8 zu weden und immer neu zu beleben — dann erft wird bie oft gehörte 
Behauptung, vie Dentfchen feien das vereveinde Element im Eutwidlungsproceh 
der transatlantifhen Republik, zur Wahrheit werden. Bis jett erzieht das Leben 
den Menfchen in ver neuen Welt in ganz anderem Sinne als in Europa, ber 
Einfluß der Schule und namentlih der Familie kommt dort nicht in gleichem 
Maße, geſchweige venn in analogen Formen zur Geltung. Der Amerikaner iſt 
Abends mehr zu Haufe, als der Deutfhe, dennoch vermiflen wir dasjenige, 
was dem häuslichen Leben bie eigentliche Weihe giebt: Innigkeit des Berhältnifies 
der Ehegatten zu einander und zu ihren Kindern, Pietät der Jüngeren gegen bie 
Aelteren. Der Innnigleit und Gemüthlichkeit des häuslichen Lebens iſt auch der 
Bildungs. und Erziehungsgang der Kinder nit eben förderlich. Daß ihre Göhme 
möglich früh ſelbſiändig in's praktifhe Leben treten, das iſt das Hauptſtreben 

50 « 


788 Nachtrag. 


amertlantiher Vater; kein Wunder, daß dieſe Selbftänpigleit in zahlloſen Fallen 
nur auf Koften wahrer menfhlicher Bildung erreicht wirb, bag man bie Jugend 
zeit ihrer Hauptreize beraubt. Was man gute Erziehung nennt, läßt men vor⸗ 
zugswelfe den Mädchen zu Theil werben. Kaum erwachſen, führen dieſe das 
Regiment, nit als Haushaltsvorfteherinnen, fonbern als Gefellihaftspamen. Ste 
bewegen fi ſchon im frühen Alter mit einer bei uns völlig unbelannten Selbſtſtändig 
fett, und in ihrem Berfehr mit jungen Männern herrſcht große Freiheit und Uingeziwun- 
‚genheit, ein Ton, der fi) zwar fireng innerhalb der Grenzen des Auſtandes hält, 
der aber der Wärme entbehrt und für uns Deutſche wenig Anmuthendes bat. Die 
Mäpchen "begreifen ſehr früh, zu früh, daß es für fie vor Allem darauf anfomme, 
‚eine gute Partie zu machen. Töchter einigermagen bemittelter Eltern 
ihre Bildung In tanfend Fällen nicht nnter dem Dad des Elternhanfes, ſondern 
in Mäpden-Penflonaten; nachdem fie dort „ihre Erziehung vollendet" treten fie 
dann bald in den Stand der Ehe, vielmehr ansgeräftet mit tauſend halbgelernten, 
zur Verwerthung im Galon pafjenden Dingen und Formen als mit Kenntniffen 
und Gigenfchaften verfehen, die der Gattin amd Mutter zn wahren Schmud und 
Segen gereihen. Vielleicht giebt e8 in der Union mehr zufriedene Ehen, als In 
anderen Ländern, ob aber auch mehr glüdliche, mit dem wahren Gehalt des Lebens 
erfüllte Berbindungen — das iſt eine Trage, vie wir wenigfiene nit unbebimgt 
bejahen möchten. Das wegwerfende Urtheil, weiches mande veutfche Schriftſteller 
über die amerilanifchen rauen gefällt haben, wollen wir übrigens Teineswegs 
unbebingt unterfchreiben. Unter den unverkennbaren Schattenfeiten Sat man zu oft 
die Lichtſeiten des Bildes hervorzuheben verfäumt. Die Natur des Amerflanere 
if elaſtiſch; mie leicht fih der Dann in nene Berufsarten findet, iſt befaunt. 
Auch die Frau lebt fi ungemein raſch in nene VBerhältnifie ein. Ueberbem bäzfte 
fie an Muth und Opferwilligleit, an Treue und Hingebung in ſchweren Zeiten 
hinter ihren europälfhen Schweftern nicht zurädftehen. Sie bat, wenn es galt, 
‚ein Mppiges Leben in ber Großſtadt gegen ein Dafeln voll Entbehrungen, ja 
Gefahren an der Grenze menſchlicher Kultur zu vertaufhen, oft einen Grab von 
"Helvenftan bekundet, der unfre Bewunderung verdient. Der Fehler ver amerila⸗ 
niſchen Hauserziehung liegt, wie gefagt, in dem Wahn, daß wur, wenn man ben 
Kindern frühzeitig ihren Willen laffe, ver Menfch zu der wünihenswerthen Gelbk- 
fändigkeit gelangen könne. Der Mangel an Gehorfam, Pietät, Disciplin ift Im 
Hinblid anf die Zulunft des Landes ſicherlich von fehwer wiegender Bedentung 
Bo im wirtbfchaftlihen Leben keine Schranten beſtehen, wo tn der Politt de 
solle Gleichberechtigung herrſcht und im forialer Beziehung Standesunterſchiede 
nit in's Gewicht fallen, wo alfo der freien Bewegung auf jeglihem Gebiete 
"des Lebens Fein Gegengewicht gegeben, da entbehrt Die Sorge, es möchte ein Gel 
der Zägellofigkeit allmälig bie Oberhand gewinnen, nicht ver Berechtigung. Auch 
bier önnen die Deutſchen wohlikätig anf bie -Aulturentwidiung einwirken, indem 
fle zeigen, daß eine tüchtige Dischplin mit wahrer Freiheit wohl vertwäglich if. 
Für das Schulweſen haben Staaten und Gemeinden in liberalfter Welle 
-geforgt. Auch der Kongreß bat von Zeit zu Zeit für Schulzwecke anfehnlide 
Landſchenkungen veranlaßt; wo. die Art an ben Urwald gelegt if, da emtfleht 
alsbald eine Schule. Der Beſuch der öffentlichen Echulen (Elementar- und höheren 
BDürgerfchulen), melde zum großen Theil ans Gemeindemitteln unterhalten werben, 
iſt frei für Alle, denen bie Mittel zur WBezahlang fehlen, das Schulgeld für 
Andre in den meiften Fällen gering; Schulzwang eriftirt: nicht 13). Die :Beunf- 
fihtigung Tiegt den fogenannten school-Commissioners (Ortsfhulräthen) ob; ihre 








Nordamerikaniſche Sreiftanten. 789 


Wahl wird in einigen Staaten direkt vom Volke, In Anderen von der Legislatur 
vollzogen. Außerdem find ſtaatlicher Seits höhere Tehranftalten in’s Leben gerufen, 
fogenannte universities, wo die Zöglinge nach abfolvirten Sudien fi einer Prü⸗ 
fung zu unterwerfen haben, ähnlich der Promotionsprüfung anf unſeren deutſchen 
Univerfitäten. Uebrigens If im Schulwefen der Privatthätigkeit volle Freiheit 
gelafien und dieſe hat auf biefem Felde vielfah Großes geleiftet. Erwähnt zu 
werben verbient an biefer Stelle die wahrhaft fürſtliche Freigebigkeit, mit ber 
einzelne amerikaniſche Bürger Schulen und VBildungsanftalten aller Art bedacht 
haben. Wir brauchen nur den Namen bes eblen, in beiden Hemifphären mit 
Achtung und Dankbarkeit genannten Philantropen Peabodyh zu nennen, ber in 
feinem Heimathsſtaate Mafjachufetts, dann in Baltimore, wo er längere Zeit lebte, 
aus eigenen Mitten Schulen und VBibliothefen gründete. In den größeren Stäbten 
ſind namentlich in newerer Zeit auch durch Deutſche Schulen gegründet, bie meiftens 
. gut. gebeihen. und Anerkennenswerthes leiften. Ungemein groß iſt bie Zahl ber 
Töchterfhulen und Penflonate; im Interefle einer tüchtigen Geiſtesbildung fcheint 
ber Wunſch gerechtfertigt, daß von Letzteren entweber eine geringere Anzahl bes 
flünde oder doch ihre Lehrpläne theils weientlich modificirt, theils gänzlich) umge⸗ 
ftaltet werben möchten. Es ift erflaunlid, was das Programm eines folden 
Töchterpenfionats an Lehrgegenftänden aufweist; es ift in den melften Yälen eben 
mehr auf faſhionable Scheinbildung, als auf gründliche Bildung des Geiſtes und 
Bertieſung und Veredelung des Gemüthes abgefehen. 

Bo ver Schulzwang fehlt, da {ft die Unterſcheidung zwiſchen Schulpflichtigen 
und Schulbefuchern natürlich ſchwer. Wir müſſen uns auf folgende allgemeine Au⸗ 
gaben befchränten : 

Die Geſammtzahl der Erziehungsinftiitute (öffentlihe Schulen, Kollegien, 
Univerfitäten, Brivatbärgerfhulen, Peuſionate) betrug 1850: 87,302, der Lehren« 
den beiderlei Geſchlechts 105,904, der Schüler und Schülerinnen 8,644,92B und 
das ans verſchiedenen Duellen fließende Einkommen zur Unterhaltung biefer Lehr⸗ 
inftitute DoU. 16,138,184. Dagegen finden wir im Jahre 1860 folgende Zahlen« 
verhältniffe: Schulen u. f. w. 113,006, Zunahme gegen 1850: 26 %/4;, Lehrer 
und Lehrerinnen 148,742 (40,45%), Schüler und Schülerinnen 5,417,880 
(48,61 %,,), Einfommen Doll. 33,990,482 (110,62 %/). Saflen wir ausſchließlich 
bie weiße Bevölkerung in's Auge, fo kam 1860 auf je fünf Einwohner Ein 
Schulbeſucher; die Quellen des Einkommens für öffentlihe Schulen waren 
folgende : 

Bon Legaten (endowments). . Doll. 416,606 
„ Semeinpefleuen. -. - - „m 12,259,440 
„ Öffentliden Fonds -. - - u 6,692,633 
„ Schulgelvern und Gefhenten „  3,179,840 


Oefammteinlommen Doll, 22,548,519 
fo daß an jährlihem Schulgelde auf den einzelnen Schulbefucher durchſchnittlich 
weniger mie 1 Do. kommen würde, was unfre obige Behauptung beftätigt. 
Folgende Geſammtüberficht möge bier noch einen Play finden, wobel zu bemerken, 
daß in diefe auch die Inftitute für Blinde, Waifen u. f. w. einbegriffen, was bie 
Abweihung von obigen Zahlen erflärt. 


13) Nur in einzelnen Staaten des Oftens hat man in neueſter Zeit den Schulbeſuch obfl 
gatoriſch gemadt. 


190 Nadteag. 


I Lehrer HBögling Gintommen 

Kolleglen (wiffenfchaftl. Schulen). . . er 2,895 86.120 Doll. 3,176,717. — 
Akademieen (Oochſchulen), Anftalten für 

Blinde, Taubftumme, Waiſen u. ſ.f. 6,877 16,247 465.023 „ 8,891,876. — 

Deffentliche Ehulen. . . . .. . 107.880 131,099 4,955.896 „ 22,548,519. — 

Bufammen 115,224 150,241 5,477,037 Doll. 34,717,113. — 

Ackerbauſchulen wurden zuerft im Jahre 1861 gegründet; ihre Zahl wird 

uns anf ungefähre 30 angegeben; mit Landſchenkungen bat man fie freigebig 

edacht. 


Die Frage, ob Schulzwang einzuführen ſei, iſt auch in der Union zu ver- 
ſchiedenen Zeiten ventilirt, bis jegt aber mit vereingelten Ausnahmen, wie oben 
bemerkt, ſtets zu Gunſten der Freiheit entfchieben worden. Die Zahl der Berfonen 
über 20 Jahre, die weder lefen noch fchreiben konnten, betrug 1860 1,218,311 
(Eingeborne 871,418, Eingewanderte 346,893), ein ziemlich ungänftiges Berhält- 
niß, das nit gerade für die unbebingte Freiheit des Schulbefuches fpricht und 
eine Nachahmung bes Beiſpiels einiger Neuenglandſtaaten als fehr wünſchens⸗ 
werth erſcheinen läßt. 

Einen außerordentlichen Eiufluß auf die Erziehung und Geſittung bes amert- 
laniſchen Bolles Abt bie Tagespreffe aus; fie hat in der Union eine Be 
deutung, die in Europa, felbft England nit ausgenommen, unbekannt if. Die 
Konfamtion von Zeitungsiefeftoff ift in der Union größer, als in irgend einem 
anderen Lande der Welt, und ber Preis vefien, mas dem Publikum geboten wird, 
fo nievrig, daß die hervorragendſten Zeitungen des Landes bis in vie entlegenfte 
Hütte des Hinterwälnlers dringen. Ramentlih if vie politiihe Tagesprefie ein 
mächtiger Hebel für bie Verbreitung. allgemeiner Bollsbildung und wenn fie and 
vielfag zu unlanteren Zweden mißbrandt wird, fo verbauft bie große Maſſe ihr 
doch eine fo erhebliche Menge von Wohlthaten, daß Niemand einer Preßbeichrän- 
hing das Wort reden mag. Wäre die Prefie nicht feit Gründung der Bundes: 
sepublit umbebingt frei gewejen, ber Bildungsgang des amerilantichen Volkes wäre 
ein anderer, auf alle Faͤlle ein langſamerer gewefen. Nach unferen Begriffen iſt 
der Ton der Tagesprefie allervinge ber Berfeinerung und größerer Anftaude- 
beobadktung entſchieden bebärftig und in Zelten politifcher Agitation herrſcht 
in der Preſſe hänfig ein Ton perfönlicher Gereiztheit und Robheit, daß man fa 
verſucht iſt, den allgemeinen Bildungsſtand, ver folde Erzeugnifie Tag für Tag 
mit größter Selafienheit über fich ergehen läßt, fehr niedrig zu veranfchlagen. 
Der einzige Eenfor, die öffentlihe Meinung, ift fehr nachficdhtig, dennoch giebt es 
in dieſer Beziehung aud in der Union eine Grenze, über welde hinaus vie 
Öffentliche Meinung bie Preßlicenz nicht buldet, und die Redakteure wiſſen das in 
der Regel auch ſehr wohl und fi) demgemäß zu verhalten. Zeitungslektüre ift für 
bie weitaus größte Maſſe des Volkes gleihfam das tägliche Brod und nicht Bloß 
in politiſcher, ſoudern auch in wiſſenſchaftlicher und allgemein menſchlicher Bezie⸗ 
hung für Millionen, wenn nit das einzige, fo do das Hauptbildungsmittel. 
Das Geheimniß des fo billigen Angebotes (Papier und Drud lafien freilich im 
den meiften Fällen Biel zu wünſchen übrig) ift die enorme Einnahme, bie allen 
Blättern von VBebentung aus Inferaten zufließt. Die Zeitungsreflame fteht in 
ben Vereinigten Staaten in höchſter Blüthe; es giebt Geſchäftsleute, unter ihnen 
natärlih auch Schwindler, vor allem mediciniſche Dundfalber (quacks), deren 
jährliches Inferatenbühget ſich auf Hunderttauſende beziffert. Da kann dann ber 
Abonnementapreis ungemein billig geftellt werben, und dadurch wirb ein enormer 
Abſatz erzielt, der, je größer er wird, um fo befruchtender auf die Inſeratenein⸗ 








Norbamerikanifdge Sreiftanten. 791 


nahme zurüdwirken muß. Bon großer Rentabilität bat fi auch bie von ven 
meiften Dauptzeitungen getroffene Einrichtung der ganz-, halb⸗ und viertelmödhent- 
lien Ausgaben erwieſen; in ihnen findet ſich der befte und wichtigfte Stoff ber 
täglichen Ausgaben kondenſirt, und fie haben baher eine ſehr erhebliche Verbrei- 
tung gefunden. Ueberhaupt hat fih im Zeitungsweſen ber geſchäftliche Unter 
nehmungsgeift der Amerilaner in wahrhaft großartiger Welfe bethätigt. So haben 
fich beiſpielsweiſe die Hauptzeitungen der Stadt New-Pork zum Zwede ver Er» 
langung telegraphifcher Depefchen affoclirt (the associated press) und bringen 
täglich ganze Spalten voll telegraphifcher Berichte politiihen und kommerciellen 
Inhalts. Das Volk leitend und belehrend, iſt die Preffe eine Macht, die doch auch 
wieder von biefem kontrollirt, vom Bublitum aufmerkſam überwadt wird. Im 
gewiflen Sinne ift fie ein Tonfervatives Glement und das ift Angeflchts der Flucht 
und Fluth, in melden das Volksleben auf- und nieberwogt, eine Wohlthat zu 
nennen. 

Aus fehr beſcheidenen Anfängen iſt die amerifanifhe Preſſe zu ihrer jegigen 
Macht und Beveutung emporgeftiegen. Die erſte Tageszeitung in den Kolonien 
war der mit dem Jahre 1704 in's Leben gerufene Boston newsletter. Im Jahre 
1788 betrug die jährliche Eirkulation der politifchen Zeitungen bereits 4 MI, 
Exemplare. 1850 gab e8 in der Union nicht weniger als 2526, größtentheils 
politifche Zeitungen mit einer jährliden Eirkulation von über 400 Mill. Exem⸗ 
plaren; 1860 war bie Zahl auf 4051, die Cirkulation auf 928 Mil. Eremplare 
geftiegen. Diefe Zahlen werben genügen, um den gewaltigen Einfluß der politifchen 
Tagespreſſe auf das öffentliche Leben zu ermeffen. Neben ver politifhen Tagespreſſe hat 
dann aud die Literatur periobifcher Schriften, theils allgemein literariſchen, theils 
wiſſenſchaftlichen und technifhen Inhalts, eine nicht geringe Bebeutung gewonnen 
und man bat in biefer Beziehung das Beifpiel Englands mit feinem Reviews 
frühzeitig und mit Erfolg nachgeahmt. An Monats-, Vierteljahrs⸗ und Jahres⸗ 
Ihriften verſchiedenen Inhaltes erfchienen 1860 nicht weniger als 243, deren 
Abſatz über A Mill. Exemplare jährlich betrug. 

Neben der periobifhen Literatur hat dann auch der allgemeine Buchhandel 
ſtetige Sortfchritte gemacht. Der umfangreihe Abſatz von Büchern beweist, daß 
die Amerikaner nicht bloß eine auf den materiellen Erwerb gerichtete, fonbern 
auch eine leſende und zwar viellefende Nation find. Auf dem Gebiete der Belle- 
triftil, namentlich der Romanliteratur ift die Produktion vor Allem flart und wenn 
man zu ber eigenen Probultion bie maffenhaft nnd in koloffalen Auflagen er- 
fheinenden Nachdrucke englifher Romane hinznrechnet, fo muß der Umfang ber 
Konfumtion dieſer Art von Lefefloff in der That Staunen erregen. Für den durch⸗ 
ſchnittlichen Bildungsgrad iſt damit freilih noch fein zuverläßiger Maßſtab ber 
Beurtheilung gewonnen. Was fpectell die amerikaniſche Romanliteratur betrifft, 
fo erhebt fich die große Mafle der von Amerilanern und namentlih Amerikaue⸗ 
rinnen verfaßten Romane und Gedichte nicht Über pas Niveau des Mittelmäßigen, 
Uber vielverfprechende Anfänge find gemacht; Namen wie Wafbington Ir- 
wing, Xongfellow, Bryant, Samtkorne u. A. haben auch in Europa 
einen guten Klang und auf anderen Gebieten, wie z. B. der Geſchichtsſchreibung, 
darf der Amerikaner ſich feiner Lanbslente Bancroft, Prescott, Motley mit 
vollem Nechte rühmen. Der deutſche Buchhandel bat in den legten Jahren an Be⸗ 
bentung ebenfalls gewonnen. Iſt der hohe Zoll der Einfuhr deutſcher Bücher allerbinge 
Im Wege, fo bat dagegen ber Nachdrudk deutſcher Geiftesprobufte, namentlich unfrer 
Klaffier, von Jahr zu Jahr zugenommen und die billigen, in Philadelphia un 








792 MNachtrag. 


New⸗-Nork veranſtalteten Ausgaben erfreuen ſich ber wachſenden Gunft des 
Publikums. 

Kirchliche Zuſtände. Die Kirche, vom Staat vollſtändig getrennt, ledig⸗ 
lich ſich ſelbſt überlafſen, mußte fih von Anfang an in größter Freiheit, zu 
größter Mannigfaltigfeit entwideln. Wie in foctaler und wirthſchaftlicher Beziehung 
es kaum ein Erperiment giebt, das auf dem Boden ber neuen Welt nicht ſchon 
einmal verfuht wäre, fo bat man auch in kirchlicher Hinfiht mandy” wunderliche 
Dinge zu Tage geförbert, wie unter Andrem die Mormonen beweiſen. In ver 
chriſtlichen Kicche ift jede konfeffionelle Sekte mit Ihren verſchiedenen Nücancirungen 
vertreten; die freiere, überhaupt bie freireligiöfe Richtung zählt hauptſächlich unter 
ven Deutfchen ihre Anhänger. Die Juden find zahlreich vertreten, (bemerkenswerth 
ift, daß fie vie Eigenthämlichkeiten ihres Volles in der neuen Welt ungemein raſch 
verlieren) und in nenerer Zeit haben felbft hinefifche Kultusformen auf vem Boden 
der Union ihre Verehrer gefunden 14). Ein Jever, der den Beruf in fi fühlt, eine 
religiöfe Sekte zu bilden, hat Freiheit diefes zu thun, fofern er nur in den Grenzen 
des ftaatlih und fittlih Erlaubten verbleibt. (Die Mormonen, deren Sagungen be- 
kanntlich theilweife dagegen verftoßen, wurben aus Miffonrt und Illinois in dem 
Jahren 1838 und 1845 auf gewaltfame, ja graufame Weife vertrieben und gründeten 
1847 ihr „neues Zion” am großen Salzſee im Zerdtorium Utah, wo fie für 
jegt bei der gewaltigen Entfernung für die Staatögewalt faum erreihber find; 
ihr fpäteres Schidfal kann indeß nicht zweifelhaft fein.) Er mag verfucdhen, ob ex 
Anhänger gewinnt, die ihm eine Kirche bauen und ihn zu ihrem Seeljorger er- 
nennen. Ganz frei haben fid) die kirchlichen Gemeinden gebildet; wo das Bedürf⸗ 
niß der kirchlichen Einigung ſich geltend macht, da fehlt es in der Regel nicht an 
Mitteln, Kirchen zu Bauen, Geiftlihe zu beftellen und angemeflen zu befolven. 
Nicht felten wird eine Kirche lediglich zum Zwecke Taufmännifher Spekulation 
gebant; man kauft einen Play, baut darauf eine Kirche, Täßt fie bequem und 
elegant einrichten nnd Tann fie dann an eine wohlhabende Gemeinde entweder mit 
Gewinn verlaufen oder aus der Bermiethung des Lokale, namentlich der Kirchen⸗ 
fühle im günftigen Yal eine hohe Rente ziehen. 

Diele Schriftfteller haben den tiefreligiäfen Sinn, ver das amerilaniſche Bolt 
auszeihne, die Macht des Glaubens, die die Gemüther beherrſche, als eine ſegens⸗ 
reihe Tolge der vom fiaatlihen Einfluß gänzlich befreiten religiöſen Entwidelung 
bezeichnet. Gewiß war diefe Freiheit der Entwidlung eine Wohlthat und grade 
In der Union hätte die Vermiſchung des Staatlihen mit dem Religiöfen zu be⸗ 
venflichen Folgen führen müſſen. Auch unterliegt es feinem Zweifel, daß, wenn 
es fih um die Bethätigung chriftlider Liebe durch Hingabe von materiellen 
Gütern an Arme und Bedürftige bundelt, das amerikaniſche Bolt fi bewunderns- 
werther Anftrengungen fähig erwiefen hat. Dit Ausnahme weniger Selten iſt die ſtrenge 
Beobachtung kirchlicher Form allen Konfefficnen in Amerika gemeinfam. Wir bärfen 
uns aber nicht darüber täuſchen, daß bie Firhlihe Form grade in der Union 
eine fo große Bedeutung erlangt hat, daß das Wefen der Religion dadurch viel 
fach verfümmert worden iſt. Strenge äußere Beobachtung bes Sonntags, regel 
mäßiger Kirchenbeſuch, der Beſitz eines zu recht hohen Preifen erworbenen Kirchen 


14) Chineſen in Kalifornien, deren Zahl fin 1860 auf 34.935 angegeben wird; die Bewölle: 
rung ift aber ftarfen Schwankungen unterworfen, da die Chineſen felten lange von der Heimath 
fern bleiben und um eine baldige Rüdfehr zu ermöglichen auf Erwerb und Erſparniß in einem 
Grade audgehen, daß fie ein keineswegs gern gefehenes Element der Einwanderung bilden. 








Nordamerikanifhe Sreiſtaaten. 793 


ſtuhls, das find grade in den fogenannten gebilveten Ständen in Amerika mehr 
wie anderswo Dinge, die den Krevit Im focialen und wirthſchaftlichen Leben 
befeftigen. Wer die kirchlichen Formen beobachtet, der kann darauf rechnen, daß 
Bergeben, deren er fi auf anveren Lebensgebieten ſchuldig macht, eine milde 
Beurtheilung finden; wer fi dagegen über vie lirchlichen Gebräuche hinwegfegt, 
deffen Kampf um Erringung eimer achtunggebietenden focialen Stellung wird in 
ber Regel doppelt fchwer fein, mag er fonft aud vie trefflichfien Eigenſchaften des 
Seiftes und Gemüthes befigen. Daß unfre Landsleute erft fo fpät die ihnen 
gebührende Anerkennung fanden, mag zum Theil aud darin begründet fein, daß 
der Amerikaner Anftoß an ihrer religiöfen Richtung nahm und namentlich ihre 
Sonntagsfeier als eine Entheiligung des Sabaths anfah. Die Trennung ver 
Kirche vom Staate iſt auch nicht fo zu verftehen, als ob gar keine Vermiſchung 
der beiden Gebtete flattfände. Miſcht fi) der Staat nicht in die Kirche, fo haben 
body, namentlich in neuerer Zeit, ihre Geiftlichen vielfach die Politik in das Bereich 
ihrer Diskuffion gezogen, zum Schaden der Religion und zur Schwächung ihres, 
allerdings noch immer fehr erheblichen Anſehens. Noch jegt ift die fociale Stellung 
der amerikaniſchen Geiftlihen ungemein einflußreih und beide Geſchlechter zollen 
ihnen einen Grad von Ehrerbietung, ber uns eine Anomalie im amerikaniſchen 
Charakter zu fein fcheint. Man kanu fagen: die amerikaniſchen Geiſtlichen üben 
eine Art von Sittenpolizei aus, und wenn man erwägt, wie wenig ſtabil pas 
Leben bis jet geworben ift, wie unbegrenzt die Freiheit auf allen Gebieten des⸗ 
felben, fo wird man nicht anftehen, viefe Erſcheinung als eine Wohlthat anzu- 
erkennen, mag fie glei mit vielen Schattenfeiten verknüpft fein und der Schein- 
heiligkeit und Heuchelei auf beiden Seiten nur allzufehr Vorſchub leiften. Uebrigens 
wird dem aufmerlfamen Beobachter auch in kirchlicher Beziehung die wachſende 
Bedeutung der Einwanderung, namentli der deutſchen Einwanderung nicht ent- 
gehen. Ste ift auch auf dem religiöfen Gebiete ein Element geworben, mit dem 
man rechrien muß. Der Dentfche bat von der Sonntagsfeter andere Begriffe, als 
der Amerikaner, er will fi feine Gewohnheit am Sonntage fittlih erlaubten 
Bergnügungen nachzugehen, nicht verlümmern laffen, und der neuerdings gemachte 
Verſuch, das in einigen Nenenglandftaaten herrſchende Verbot bes fonntäglichen 
Ausfchantes geiftiger Getränke auh im Stgate New-York einzuführen, hat bort 
Taufende unfrer Tandsiente veranlaßt, bie politifche Partei, der fie bisher ange- 
Hörten, zu verlaffen und entweber ber Oppofition zugnftimmen oder fi ver Ab⸗ 
Aimmung bis auf Weiteres zu enthalten. Wie gewöhnlid, wirb in berartigen 
Konflikten auf beiden Seiten gefehlt. Die firenge amerikaniſche Sonntagsfeier hat 
— man muß das zugeben — eine gewifie Berechtigung und ift nicht lediglich 
ans religiöfen Urfachen zn erflären. In. einem Lande, mo fo viel und fo anhaltend 
gearbeitet wird, wo namentlich die wirthſchaftliche Thätigleit fo vorwiegend dem 
Charakter der Spekulation an fih trägt, daher mit großen Aufregungen unzer- 
trennlih verbunden tft, muß fi das Bebürfnig nad volllommener Ruhe an 
Einem Tage der Woche 15) dringender geltend machen als bei uns, die mir unter 





. 18) Feſttage giebt es wenige; die. zweiten Kelertage von Weihnacht, Oſtern und Pfingſten 
find tn der Union Arbeitätage; eine kirchliche Feier Findet nur in einigen Gemeinden flait; 

itet wird gleichfalls am Bründonnerftag und Charfreitag. Der Tag, an dem der auöges 
aſſenſten Luſtigkeit feine Schranke geſetzt, der vierte Juli. Der in der Regel in den Nos 
vember fallende Dank⸗ Buß: und Beitag erinnert in feiner Feier noch am meiten an unferen 
deutſchen Sonntag. 


794 Nachtrag. 


fo vielfach anderen Berhältnifien leben. Im Süben, wo weniger gearbeitet wird, 
iſt das ſchon anders und in New⸗Orleans ift die Sonntagsfeler ähnlich, wie in 
Frankreich oder Dentichland. 

Was das Verhältniß der beiden großen chriſtlichen Konfeffionen betrifft, fo 
ft der Katholicismus numerifh dem Proteftantismus nachſtehend, obgleich bie 
Katholifhe Kirche außerorbentlihe Anftrengungen gemadt bat, iu ber neuen Welt 
eine Macht zu bilden und bis in bie fernften Gegenden des Weftens Mijfionen 
gründete. Der Proteftantismus, in eine Unzahl von Selten zerfallend, iſt vor 
wiegend in den Neuenglaudſtaaten und einem großen Theil ber weftlichen unb 
mittlern Staaten vertreten, währen ber Katholicismus feine meiften Anhänger im 
Süden, vorzugsweife in Maryland und Loniflana zählt. Bou der Einwanderung 
erhält er namentlich durch die Irländer Verftärkungen; die deutſche Einwanderung 
hat, beſonders tm den legten Jahren ihr flärffles Kontingent ben Reihen bes 
Proteftantismus zugeführt. 

Wir laflen zum Schluß biefes Abſchnittes die für 1860 geltenden Erhebun- 
gen über bie religidfen Gemeinfchaften folgen : 

Benennung Zahl d. Kirchen der Geiſtlichen ver Belenner 
Proteftanten und zwar: 


Metbobiien -. -. - - . . 17,000 26,526 5,000,000 
Bartiflen - © © 2 2 2. 16,565 11,862 3,000,000 
Prespgterine . . . . . 6,907 5,649 1,500,000 
Epistopalen - - 2 2.2 03,045 2,079 500,000 
Unter . . 2 2 20200. 251 297 20,000 
Andre prot. Selten . . . 14011 11,102 3,715,000 
Römiſche Katholien . . *. . 2,517 2,317 3,177,140 
Swebenborginr . . . . .» 57 49 7,860 
Deftn . oo 2 2 00. 1,000,000 
Sfraelitien. - - - 2 2 02. 170 170 500,000 
Mormonn . . 2 220. 12 12 100,000 
Öcedten . . 2 2 2 2 2. | 4,500,000 
Unbelannt . . . 2 202. 8,719,765 
59,535 60,063 31,739,765 


Diefe dem international almanac von 1866 entnommenen Zahlen find jedenfalls 
nur annähernd richtig, es wird 3. B. darin zugegeben, daß von den Unbelannten 
wahrfheinlid 2 Mill. römtfh-Latholiih und ebenfoniel methodiſtiſch feien. Unter 
die „Heiden” hat man neben ven Indianern und Aſtaten fehr willkürlich faft bie 
gefammte frühere Sklavenbevölferung aufgenommen, während fiherlih eis fehr 
großer Theil derfelben einen gewiflen, wenn aud noch fo geringen und in feinem 
Werthe zweifelhaften Religionsunterriht genoß. Was bie Öefanmtzahl der Geif- 
lichen betrifft, fo erklärt fi die Abweichung der obigen Angabe von deu Er 
bebungen bes Eenfusberichtes daraus, daß in dieſen nicht die vielen Reiſeprediger 
inbegriffen find, vie namentlich bei den Methodiſten, van auch bei ambern 
Religionsgemeinihaften funktioniren. 

Die Greiheit der Bewegung. Die Kämpfe, welde bei uns jest felt 
vielen Jahren um die Freiheit und Freizügigkeit der wirthſchaftlichen Arbeit ger 
führt werden, find in Amerika unbelannt. &ewerbefreiheit bat bort lange vor 
Einführung der Bunbesverfaflung beftanden und wo im Betreff der Zugfreihen 
noch Schranken zwifchen den Einzelftaaten fi vorfanden, hat man dieſe nad dem 
Unabhängigteitstriege befeitigt. Nicht bloß der amerilanifche Bürger, auch der bie 








Nordamerikaniſche Sreiſtaaten. 796 


Naturaliſation wänfhendne Einwanderer kann, bevor er dieſe geſetzlich erlangt, im 
geſammten Unionsgebiete frei Eigenthum erwerben, es finden nur in einzelnen 
Fällen Ausnahmen flatt, fo 3. B. bei Erwerbung von Schiffen, bie an bie Be⸗ 
dingung des amerikaniſchen Bürgerrechtes geknüpft ift; Bürger kann Jever werben, 
bee fünf Iahre im Lande geweien und feine Abfiht, das frühere Unterthanen- 
verhältniß zu löfen, vor einem amerifanifhen Gerichtöhofe fund gegeben bat, wie 
Jedermann die ihm zufagende Beihäftigung ergreifen, fo weit nicht gejunpheite- 
polizeiliche Rüdfihten eine Modifilation erheiſchen; einer Konceffion bedarf es 
nicht. Meifterprüfungen, Geſellenwandern uud andre Eingriffe der Stantsgewalt 
in die Freiheit des Individuums find in Amerika unbelannte Dinge. Ein Jeder 
mag ſehen, wie und wo er wirtbfchaftlid am beften weiterflommt; das Publikum 
ift der alleinige Richter Über den Werth feiner Leiftungen. Die unbebingt freie 
Konkurrenz ſchärft ven Bid in hohem Grade und giebt ber Arbeit des Amer» 
kaners immer neue, naturgemäße und wohlthätige Impulſe. Dieſer Freiheit und 
Beweglichkeit kommt die ihm angeborne und große Anftelligfeit in allen prak⸗ 
tiſchen Dingen und Berrichtungen trefflih zu Statten und fo bat die amerilaniſche 
Arbeit in ver That Staunenswerthes geleiftet, unb ber dur bie Kon 

immer wad erhaltene Erfindungsgeift hat auf einer Reihe von Arbeitögebieten 
namhafte Triumphe errungen. Auch der nee Ankömmling empfindet bald ben 
Segen unbeningt wirthfchaftlicder Freiheit. Woran ber deutſche Handwerker daheim 
durch legislatoriſche Schranfen und fociale Vorurtheile gehindert war, das mag 
er in ver neuen Welt getroft ergreifen und bei Tüchtigkeit und Ausdauer wird 
das Gelingen nicht fehlen. Arbeit iſt die höchſte Ehre, Müffiggang, in welche 
äußerlich beſtechende Formen er fi auch kleide, die größte Schande — nirgenbs 
iſt dieſe Wahrheit im praltifhen. Leben fo ganz und unbeſtritten zur Geltung 
gelommen als in Amerika. Bon den mwohlthätigen Impulfen bex freien Konkurrenz 
getrieben, leiftet der deutſche Handwerker in Amerila in der Regel Tüchtigeres als 
daheim. In den großen, auf Lager arbeitenden Schreiner- und Dredhslerwerf- 
flätten, in Tabals⸗ Pianoforte- und andern Babrilen find unfre Landsleute fehr 
zahlreich vertreten und vie Tüchtigkeit ihrer Leiftungen wird von Amerikanern 
immer mehr anerlannt; fie werben namentlid) da vorzugsweife berüdfidtigt, wo 
es fih um die höhere Technik in den Gewerben handelt. Steht die deutfche Arbeit 
an Schönheit nnd Eleganz der Form hinter der amerikaniſchen Leiftung zurüd, 
fo verdient fie Dagegen in Betreff der Solivität und Haltbarkeit vor diefer in vielen 
Fällen den Borzug. Daß die unbegrenzte wirthſchaftliche Freiheit auch ihre 
Schattenjeiten, auch Gefahren in ihrem Gefolge habe, kein Unbefangener wirb das 
leugnen, ohne darum ihre Nothwendigkeit und ihre überwiegenden Wohlthaten zu 
verfennen. Daß die Freiheit drüben vielleicht zu häufigeren Ausfchreitungen führt, 
als bei nnd zu bdeforgen wäre, bat zum Theil au darin feinen Grund, daß, 
wo polizellihe Schranken im allgemeinen Interefie geboten, ihre Aufrechthaltung 
in der Megel in allzu laxer Weiſe überwacht wird. Theoretiſch find alle, zumal 
bie niederſten Staats» und Gemeindebeamten fo lange im Amte, als fie bieles 
gut verwalten, praktiſch iſt viefer vernünftige Grundſatz feit der Präfidentfchaft 
bes Generals Jackſon immer mehr befeitigt. So fehlt e® den Beamten an Er- 
fahrung und auch an Iutereffe, ihre Amt, das fie vielleicht nach einigen Jahren 
wieder abgeben mäflen, treu zu verwalten; die Befoldungen find für amerilanifche 
Berhältnifie zu gering und die Berlodungen zur Beſtechlichkeit unter ſolchen Um⸗ 
fländen nur zu nahe gelegt. Sind gleichwohl die daraus entfpringenden wirth⸗ 
ſchaftlichen und focialen Nachtheile im Berhältnig zu der ungeheuren Ausdehnung 


796 Nachtrag. 


und Bielfeitigfett des wirthfchaftlichen Lebens keinesweges ſo groß, ala man im 
Europa gemeiniglih annimmt, fo ift dabei nicht zu vergeflen, daß auf fo weitem, 
dünn bevälfertem Raum die Gefahren fi verringern und daß anbrerfeits bie 
Praris der freien Bewegung den Einzelnen befler lehrt, auf feiner Hut zu fein, 
als dieß durch Eingreifen ver Behörden vielleicht gefchehen würbe. Dennoch find 
in den größern Städten die Nachtheile der Iaren polizeilichen Kontrole, z. B. im 
Bauwefen nicht zu verfennen und vielfad und immer lauter hat ſich dort in ben 
legten Jahren das Bedürfniß nach größerer Strenge geltend gemacht. 

Auch in Bezug anf die fogenannten gelehrten Stände herrſcht, wenn nicht 
durchweg in der Theorie, fo doch in der Praris nahezu unbefchräntte Gewerbe⸗ 
feeiheit. Die Bundesregierung bat fidh weder hindernd noch förbernd eingemifcht, 
und nur bie Regierungen ver Einzelſtaaten haben hin und wieder Mormen vor- 
gefchrieben, vie indeß praktiſch keine tiefgreifende Bedeutung erlangt haben. Sie 
find in den verfchievenen Staaten verfchieven, doch find die Abweichungen nicht 
groß und dad Beifpiel Eines Staates (Maryland) wird genügen, um die Berhäft- 
niffe zu veranfchaulichen. Völlig frei iſt dort, was zunächſt die juriſtiſche Praris 
betrifft, jener Stand, welcher, vom Pläpiren in den Gerichtähäfen abſehend, fid 
lediglich auf die im Gefhäftsbereih eines einfachen Rechtötonfulenten liegenden 
Funktionen befchräntt. Wer dagegen Mitglied der eigentlichen Advokatenkorporation 
(member of the bar) werven will, der muß zunächft den Beweis erbringen, daß 
er mindeſtens zwei Jahre lang dem Studium der Nechtswiffenfaft obgelegen 
babe nnd unbefholtenen Charakters fei. Daraufhin ernennt der Mihter zwei Ad⸗ 
vofaten, die den Applilonten einer Prüfung unterwerfen. Fallt ihr Bericht über 
das in der Regel nicht allzufchwierige und in feiner Strenge von der Gunſt ber 
Parteien und Betterfchaften vielfach mebificirte Eramen günfttg aus, fo ftellt der 
Richter dem Applikanten ein Dokument aus, das dieſen tigt, im Umfange 
bes ganzen Staates ale mit der Advokatur verbundenen Funktionen auzutreten. 
Um bei den in jedem Staat befindlichen Bezirksgerichten des oberften Gerichte 
hofes der Union zur Advokatur zugelaffen zu werben, bebarf es eines befonderen 
Untrages eines refpeftablen Advokaten beim Richter und es wird dann in ber 
Regel von einer abermaligen Prüfung abgefehen nud dem Applitanten ein Eertificat 
ausgefertigt, das ihm dann auch die Thüren der Bezirksgerichte öffnet. Im Fall 
der Ueberflevelung in einen anteren Unionsftaat bispenfirt der Umſtand, daß der 
Heberfievelnde ſchon früher die juriftiihe Praris betrieben, viefen nicht vom ber 
Beobachtung der in dem andern Staat geltenden Normen. Tritt indeß der Fall 
ein, wo der Advokat, der einen Proceß im Einen Staate begonnen, benfelben tm 
einem andern Staate weiter verfolgen muß, fo wird ihm fein Hinderniß bereitet; 
bie interfantonale Höflichkeit hat im Laufe ver Zeit in dieſer Beziehung alle 
Schranken befeitigt. Wie man fteht, find die Bedingungen zur Ausübung ber 
jariftifchen Praris nicht allzuſchwer zu erfüllen, und in ver Praxis wird überbem 
immer wenige auf ihre ftrikte Einhaltung beſtanden. Gefellfchaftlih hat ſich der 
Stand der Abvolaten nicht gehoben und das kollegialiſche Berhältniß iſt mit ber 
Zeit immer Toderer geworben. Allein es würbe voreilig fein, bafür tie Gewerbe 
freiheit oder die an Gewerbefreiheit grenzende Milde der Praris verantwertiiä 
zu machen, vielmehr ſcheint das politiſche Parteitreiben, welches vorzugäweife den 
Advokatenſtand immer tiefer ergriffen bat, die Hauptſchuld zu tragen. 

In der Praris herrſcht, was den ärztlichen Beruf betrifft, volle Freiheit und 
feine ſtaatliche Gewalt kann Iemanden, der fi als Arzt etabliren will und eisen 
Doktorſchild an feine Thür heftet, an der Ausäbung felnes Berufes Kindern. 





Nordamerikaniſche Sreiſtaaten. 797 


Zwar kann ein Arzt, der ohne Diplom von der Fakultät pralticirt, einen Schuldner 
gerichtlich nicht belangen, allein man kann dennoch zu ſeinem Gelde kommen, wenn 
men bie ärztlihen Gebühren nicht ſpeciell in der Rechnung aufführt, ſondern dieſe 
auf den Preis gelieferter Medikamente ſchlägt — mit dem Vertrieb von Arzneien 
befchäftigen fih folde nicht ſtudirte Aerzte faft ausnahmslos. Zwar beftehen in 
den meiften Staaten mebicinifche Lehranftalten, doch werben dieſe vorzugsweiſe 
von folden beſucht, die es im Intereſſe ihrer geſellſchaftlichen Stellung für 
wünſchenswerth halten, behufs Erlangung eines Diploms einen Kurfus durchzu⸗ 
maden. Darüber, ob eine ftantlihe Oberauffiht wünſchenswerth fei, find bie 
Meinungen unter den Aerzten felbft fehr getheilt. Ohne Zweifel giebt es unter 
den Amerikanern fehr viele tüchtige Aerzte; die Meiften indeß Legen auf die Bor- 
ſtudien nicht den gebührenden Werth und meinen, das Lernen in der Praris fei 
die Hauptſache; es iſt indeß die Frage, ob ein foldhes vorwiegend praftifches 
Lernen-im Interefje der leidenden Menſchheit zu wünfchen ſei. Uns jcheint nament- 
lich in neubeſiedelten Gegenden die Wohlthat einer unbebingten Freiheit des ärzt⸗ 
lichen Berufes von fehr zweifelhafter Natur zu fein. 

Das Gewerbe der Apotheker ift frei und ſtaatlicher Seits nur die Vorſchrift 
gemacht, daß alle Gifte oder giftige Beftanbtheile enthaltenden Gegenftänve bie 
entiprechende Bezeichnung Kar und beutlid an ſich tragen. Allervings findet von 
‚Seiten der flantlihen Behörde von Zeit zu Zeit eine Infpeftion flatt, und wo 
biefe ungünftige Reſultate ergiebt, kann eine Entziehung der Gewerbelicenz ſtatt⸗ 
finden. Thatfählih nimmt man es indeß mit einer folhen Infpeltion in der Regel 
fehr leiht, Parteirüdfichten und DVetterfchaften haben auch bier zu einer milveren 
Praris geführt; mangelhafte Borbildung und Oberflädhlichkeit ver Beamten thun 
ein Uebriges, um ben Werth einer foldhen Infpektion nahezu illuſoriſch zu machen. 
Das Publikum verhält fih der Sache gegenüber fehr gleichgültig und der Mip- 
braud der Freiheit muß einen jehr hohen Grab erreicht haben, ehe es energifch 
auf Abhülfe dringt. Einzeln hat man diefe auf dem Wege der Aſſociation gefucht; 
fo befteht beiſpielsweiſe in Baltimore ein pharmaceutifcher Verein, der es ſich zur 
Aufgabe gemadt bat, ven Stand der Apotheler vor allen Dingen wiſſenſchaftlich 
zu heben. Apothekerlehrlingen bietet ſich in viefem Verein Gelegenheit, fih durch 
‚Hören von Vorträgen und durch Experimente in Phyſik und Chemie weiter zu 
‚bilden. Auch bat der Berein aus feinen Mitgliedern einen Ausſchuß beftellt, ver 
‚pange Leute, welche Apotheken errichten wollen, einer Prüfung unterwirft. Selt⸗ 
'famer Wetfe bat man aber bei biefer fonft anerfennenöwerthen Einrichtung das 
freiheitliche Princip in der Art verlegt, daß Leute, die nit minbeftens vier Jahre 
bei einem Apotheker in der Lehre geweien, zur Prüfung nicht zugelafjen. werben. 
Eine folche Bedingung wird indeß bereits von Sachverſtändigen als, minbeftens 
ve Modifikation bebärftig. angefehen ‚und faun auf bie Dauer nicht beſtehen 

eiben. | 

Für die Ausbildung der Geiftlihen beftehen in faft fämmtlihen Unions- 
ſtaaten theologifche Fakultäten. Biele Selten, deren Gemeinden in fortgeſetztem 
Berkehr miteinander ftehen, wie 3. B. die Methobiften, haben Anftalten gegründet, 
anf denen junge Leute zu Prebigern, Reifeprebigern, und Mifftonaren herangebildet 
werden. Die Gemeinde wählt frei ihre Seelforger; einer flaatlihen Beftätigung 
bedarf es nicht. 

Was den Stand der Lehrer anbetrifft, fo bat man zwiſchen Privat- nnd 
Öffentlichen Schulen zu unterſcheiden. Erftere find frei, ihre Unternehmer in ver 
‚Regel die Lehrer, die ihre Gehülfen oder Gehülfinnen nach eigenem Gutdünker 


798 Nadıtrag. 


ernennen. Die Oberanfficht Uber die öffentlichen Schulen iſt in einigen —— der 
Einzelſtaatsgewalt, in anderen den Gemeindebehörden anvertraut. ogenaunten 
School-commissioners beſtimmen über die Lehrkraͤfte, in welcher Bee leider 
nur zu oft weniger bie perjönlihe Begabung des Applikanten, als feine politiſche 
Partetrihtung maßgebend if. Mit der Begründung von Lehrerfeminaren find in 
nenefter Zeit. in verſchiedenen Staaten Anfänge gemacht, und bereits iſt mande 
tüchtige Lehrkraft ans biefen Inflituten hervorgegangen. Der ameritanifche Lehrer 
iR, wenn es ihm mit feinem Berufe Ernſt ifl, in der Regel nicht eben auf Rofen 
gebettet; will er nicht den Zorn ber Bäter auf fi laden, fo darf er bei den 
jungen „Männern“ die Zügel ver Disciplin nicht zu flraff anfpannen. Dem Be 
bürrniß nad ober gründlicher Bildung gewägt das amerilaniſche Schulmejen 
in feiner hentigen Berfafjung nur unvolllommen; man beginnt das im immer 
weiteren Kreiſen zu fühlen, wie das die jährlich wachſende Zahl junger Umerilaner 
beweist, die zum Zwecke ihrer wiflenfhaftlihen Ausbildung beutfche 


So finden wir faft anf allen Lebensgebieten die unbevingte Freiheit ver Be 
wegung praktiſch verwirklicht. In allen Lebensbeziehungen iſt jener auf fi 
ſelbſt geftellt. Bon früher Kinpheit an wirb der Amerilaner an felbftänbiges Dew- 
ten und Handeln gewöhnt. Will er fi dann einen eigenen Heerd gründen, fo 
fann ihn weder der Staat noch die Kirche darau hindern; obligatorifch iſt nur bie 
Cwilehe und diefe zu vollziehen, ift unendlich leicht. Mögen die Eltern mit einer 
Berbindung nicht einverfianden fein — die Kinder lafien fi darum häufig genug 
nicht beirren; überall findet fi ein Rotar, der die Flüchtigen „zufammengiebt” 
und das fait accompli bequemen fi bann "die Eitern in der Regel anguerteunen; 
in einigen Staaten foll felbft die notarielle Beglaubigung nicht nöthig fein, und 
eine Ehe gefeglich zu machen, lediglich die freie Einwilligung ber Ehelontrahenten. 
Der des Staates in die Freiheit des Indwidnums ift auch da, wo er 
im Intereffe der Geſammtheit abjolnt geboten ift, fehr ſchwach; baqn to fommt, daß 
die Achtung des Bolkes vor feinen Beamten, feit das Amt faft überall von der 
politifchen Geeteirihtung eig, 8 gemacht ift, fehr abgenommen hat. Daß dieſe 
große Freiheit, dieſer faſt gänzliche — an Gegengewichten bis icd nicht größere 
Uebelflände zur Folge gehabt Hat, liegt zum Theil darin, daß die Freiheit den 
Menſchen zur Selbftänbigkeit erzicht, fo daß in kritiſchen Tagen ein Jever weiß, 
was er zu thun bat. Man Hilft ſich felbft und iſt weit Davon entferut, den Stast 
als eine Art von Borfehnng zu betradyten, vie über dem Leben des Einzelnen 
wache. Anderntheils machen fid) Webelflände, bie unläugbar vorhanden find, in 
Amerika nicht in dem Maße fühlbar, als bei uns, dort iR Raum für jegliches 
Erperiment und bei der bünnen Bevolkerung erweiſen ſich and die Exceſſe ber 
Freiheit als minder gefährlih. If einmal das Land dichter beuälfert, fo wird 
man wahrſcheinlich du in Amerila ber inbivinuellen Freiheit einige Schranken 
fegen und namentlich mit dem verberblihen Syſtem bes Aemterwechſels brechen 
müffen. In den Großftäbten, namentlih in New⸗York mit feiner, fo viele bevenf- 
Ude Elemente enthaltenden WBendlferung hat fi das Bedürfniß nah einem 

firafferen Regiment ſchon jetzt geltend gemacht und größere Stabilität in Ber- 
waltumg und Rechtspflege ift in der That dort dringend zu wünſchen. Wo aber 
die Rothwenbigfeit der Befchräntung und einer gewifien Antorität aus des Volles 
eigener Erkenntniß hervorgeht, da fleht nicht zu beforgen, — dieſe Beſchraͤnkung 
auf gewaltſame Weiſe werde eingeführt werben; alle Wandlungen in dieſer Be 
ziehung werben fich vorausfichtli ohne ernſte Eehältterungen vollziehen und daß 





Sordamerikanifche Sreiflaaten. 199 


diefes möglich, das iſt der Segen der Freiheit, die den Menſchen bildet und fein 
Urtheil ſchaͤrft. 

IV. Heer und Flotte. Es war bis zum Ausbruch des Bärgerkrieges ber 
Stolz des Amerikaners, daß das Land ohne ſtehendes Heer exiſtiren könne nnd 
auch die Kriegsmarine innerhalb befcheidener Dimenfionen gehalten werde. Ein 
fiehenbes Heer wurde ala eine Gefahr für bie freiheitlihen Inftitntionen ange 
fehen, und fett vie Bundesverfaſſung in's Leben getreten, haben ver Kungreß und 
die Legislaturen der Einzelftanten forgfältig darüber gewadt, daß die Ba der 
regulären Truppen auf das dringend Nothwendige eingefhränkt bleibe. Der Frie⸗ 
bensftand blieb daher ungemein niebrig; an regulären Truppen unterhielt bie 
Bundesregierung 1850 nicht mehr ale 12,326 Dann (Dffictere und Gemeine 
aller Waffengattungen), Die regelmäßige Armee ift Bundesarmee und vom Präft- 
denten, als Oberbefehlöhaber, fo wie vom Kongreß abhängig. Das gefammte 
Kriegsweien ſteht unter der Leitung des Kriegsfelretärs in Wafhington; er ernennt 
in Einvernehmung mil der Erefutiogewalt die Officiere, die, fo lange fie im Dienft 
find, zu feinem Umte wählbar find. In den freien Staaten bat ſtets geringe 
Neigung zum Mititärbienfte geherrſcht; geringer Sold und ein ziemlich müffiges 
Leben oft in entlegenen Forts konnte nichts Verlockendes für Diejenigen haben, 
denen auf allen anderen Gebieten fich beffere Ausſichten zum Weiterfommen boten 
Im Süden war das anders; für den an ftrenge bürgerliche Arbeit wenig ge 
wohnten Sohn bes reichen Bflanzers hatte die militäriſche Laufbahn viel An⸗ 
jiehendes und die Südſtaaten haben ftets das flärkfte Kontingent zum Officier⸗ 
korps geftellt, währenn die Gemeinen zu nicht geringem Theil aus Eingewanderten 
beſtanden. Die militäriſche Biltungsanftalt für Bundesofficiere ift in Weftpoint 
im Staate New⸗York; Waffendepots befanden fi 1860 in ver Stabt gleichen 
Ramens, in Waſhington, Springfield im Staate Maffachufetts (mit einer 

oßartigen WBaffenfabrif) und an verſchiedenen Orten im Norden, Süden unb 
en, im Wehen bis zum flillen Dcean (Benicia im Staate Kalifornien). 
Das Hauptquartier der Armee befand fi in der Stadt New⸗York und das Heer 
war auf folgende Departements vertheilt: 1. Oft» Departement, im Often des 
Miffiffippi, Hauptquartier Troy, New-NYork; 2. Weft-Departement, weftli vom 
Miffffippi, öftlih vom Welfengebirge, Teras und Nen-Merito ausgenommen, 
Hauptquartier St. Louis, Miflouri; 3. Teras-Departement, Hauptquartier San 
Antonio, Teras; A. Departement Neu- Merito, Hauptquartier Santa F6, 
Neu» Derilo; 5. Departement Utah, Hauptquartier Camp Floyd, Utah; 
6. Pacififhes Departement, Hauptquartier San Francisco; 7. Dregon- 
Departement, Hauptquartier Fort Vanco uver im Zerritorium Wafhington. 

Die Miliz over Landwehr ift in Friedenszeiten durchaus Sache der Einzel» 
flanten; im Kriege übernimmt dagegen der Bundespräfident auch über fie ben 
Oberbefehl. Jeder Bürger ift bis zu einem gewiflen Alter landwehrpflichtig vnd 
nur einige VBerufszweige, wie Prediger, Lehrer u. A. find von der Dienftpflict 
befreit. Uebrigens muß man fih den Landwehrdienſt nicht etwa fo denken, wie 


derfelbe bei uns theils beſteht, theils demnächſt in's Leben treten wird. Bis zum 


Beginn des Vürgerkrieges wurde die ganze Einrichtung In fo loderer, oberfläd- 
liher Weiſe aufrecht erhalten, daß Tauſende, die zum Dienft geſetzlich verpflichtet 
waren, doch niemals militäriſche Uebungen mitgemadt hatten, fo baß bei Aus⸗ 
bruch des Krieges die Milizen nicht in ber gewänfchten Weife fhlagfertig waren. 
Sold wird der Miliz nur in Kriegszeiten gezahlt. In Friedenszeiten ift ber Gon⸗ 
verneur bes Ginzelflantes Befehlshaber der Staatsmiliz. Bor dem Vürgerkriege 


800 Nachtrag. 


mußte der militäriſche Werth der amerikaniſchen Landwehr als zweifelhaft er⸗ 
ſcheinen. In den vier Jahren des Krieges bat es ſich indeß gezeigt, welch' treff⸗ 
liches Material in viefen Milizen ftedte, wie bald auch in ven freien Staaten, 
wo man nit mit Unrecht auf die größte Abneigung gegen den Kriegsdieuſt zu 
treffen fürchtete, fih ein tüchtiges Heer mit tüchtigen Yührern beranbilbete. In 
Zapferfeit, in Ertragung von Strapazen auf tagelangen Märfchen haben die 
amerifanifhen Zruppen in der That Bewundernswürdiges gelelftet. 

Die Revolutionskriege wurden zu nicht geringem Theil dur Freiwillige 
gefährt; in den Jahren 1775—83 beftand das Heer aus 231,791 Mann, wo- 
von etwa bie Hälfte von den einzelnen Kolonien als Milizen eingeftellt war. 
Für den Krieg mit England, 1812, wurden 32,260 reguläre Truppen, 6000 
Breiwillige und etwa 30,000 Milizſoldaten fucceffive in's Feld gefchidt, eine 
Macht, die nicht genügte, dem Feinde auf ben vielen fich bletenden Angriffs- 
punkten zu widerftehen, fo daß vie Einnahme ver Bundeshauptſtadt nicht ver- 
bindert werden konnte. Im merikaniſchen Kriege, 1846, war für eine ähnliche 
Streitmacht der Sieg leichter zu erringen; hat body in ver Schladt bei Buena 
Bifte, am 23. Februar 1847 General Taylor mit 6000 Mann Milizen bie 
20,000 Mann flarle, von Santa Anna befehligte mexikaniſche Armee völlig 
geſchlagen. Kein Wunder, daß man nad folden Refultaten einer Verftärfung ver 
ſtehenden Truppenmacht in Friedenszeiten auch dann noch abgeneigt war, als mit 
ber Ausdehnung der Grenzen vie Landesvertheidigung eine folhe immer mehr 
uothwendig machte. Im Jahr 1860 betrug die ſtehende Armee nur wenig mehr 
als 10 Jahre früher, nämlich 14,310 Mann. 

Erwägt man biefe Umftände und erinnert fih dabet, daß kurz vor Aushrud 
bes Bürgerkrieges Waffen und Munition betrügerifher Weife durch Bundesbeamte 
maflenhaft nad) dem Süden virigirt wurden, fo begreift man, daß ber Norben 
anfänglich fo entſchieden gegen feine Feinde im Nachtheil war. Die erften kriege⸗ 
riihen Maßnahmen der Bundesregierung beiwiefen, daß man ben ungehenren 
Eruft der Lage noch keineswegs nad Gebühr würdigte. Das Heer follte uam — 
20,000 Dann verftärkt, (1. April 1861) außerdem 40 Regimenter von Frei⸗ 
willigen errichtet werben. Dan weiß, mie bitter fi die Unzulänglichkeit ſolcher 
Maßregeln bald darauf In der Schlaht bei Bull Run rädte. Eine energiſche 
Anfpannung aller Kräfte war unauffchiebber geworben. Im Jahre 1862 wurden, 
nachdem weitere Berftärtungen ſich als immer noch unzulänglicy erwiefen hatten, 
300,000 Freiwillige aufgerufen, in den Dienft des Vaterlandes zu treten und 
zugleih den inzelftanten die Einftellung von 300,000 Mann Miligen aufge 
geben. Doch auch dieſe Anftrengungen vermochten feine entfcheivende Werbung 
des Waffenglüdes für die Sache ber Union herbeizuführen. Weitere Aufgebote 
wurben nothwendig. Zu Anfang des Jahres 1863 führte die Union 1,097,452 
Soldaten aller Waffengattungen in ihren Xiften, meift fogenannte Freiwillige, die 
auch dann diefen Namen behielten, wenn die Regierung fie durch eine Art von 
Zwangsgebot über die Dauer ihrer urſprünglichen Dienftzeit hinaus bei ven 
Fahnen hielt. Mochten auch nicht Alle, deren Namen in den Liften erihienen, 
im Felde ftehen oder überhaupt Dienfte thun, mochten viele Taufende fampfunfähig 
geworben fein, fo hat fih die Zahl ver wirklich altiven Truppen im genannten 
Fahre doch auf mindeftens ’700,000 Mann belaufen und ift in ber folgenden 
‚Zeit durch nene Aufgebote verftärkt worden. Im Herbft des Jahres 1864 war 
endlich der entfcheidende Wendepunkt eingetreten. Durh Sherman’s kühnen 
Zug nah Savannah, durch Grant's kluge und energifche Taktik warb die 








Nordamerikanifche Sreiftanten. 801 


Sauptarmee ber Südſtaaten in der Art umfaßt, daß die, wie man fpäter erfuhr, 
ſchon im Jahre 1863 im Süben felbft als hoffnungslos betrachtete Sache ver 
Seceſſion unrettbar dem Untergange verfallen mußte. So lange ver Verlauf des 
Krieges dem Süden günſtig war, hatte man dort Freiwillige ohne Mühe belommen ; 
fpäter fchritt man zu Zwangsmaßregeln, und als die Neth den hödften Grad 
erreicht Hatte, fand der Vorſchlag, Sklaven in die Armee zu ftellen, wenigftens 
Erwägung. Der Süden war erſchöpft, während fein Gegner, obwohl an taufend 
Wunden blutend, dennoch Immer nenen Anftrengungen gewachſen blieb. Freilich 
waren die Opfer Toloffal; man hat berechnet, daß die Zahl der Todten, Ber- 
wunbeten und durch Krankheit und Strapazen fampfunfähig Geworbenen in ben 
freien Staaten mindeftens eine halbe Million erreicht haben dürfte. Entſprechend 
groß waren vie Gelbopfer, die der Krieg In immer ſteigenden Maße erheifchte. 
Das Kriegsbepartement, deſſen Büdget 1860 wenig über 16 Millionen Dollars 
betragen hatte, weist für 1864 eine Ausgabe von 690 Mill. auf und nod 
für 1866 wurben über 200 Mill. geforvert, . obgleich bereits 800,000 Mann 
ihren Abſchied erhalten hatten und die Gefammtftärke bes Heeres nur noch etwa 
60,000 Dann betrug. Zu diefen Loloffalen Summen find die Ansgaben hinzuzu- 
rechnen, denen fi vie Einzelſtaaten für Einſtandsgelder (bounties) und andre 
Dinge zu. unterziehen hatten, genug, das Gefammtopfer an Menfchen nnd Gelb 
IR der Art geweien, daß die Frage nicht unberechtigt fcheint, ob der Nutzen, bis 
zum großen Kriege chne ein ſtehendes Heer ausgelommen zu fein, nit am Ende 
zu thener erlauft if. Nach dem Bericht des Kriegsfelretärs vom December 1867 
betrug die Gefammiftärke bes Heeres noch 56,315 Mann; ber drohende, aber 
‚gadia Beigelegte Konflitt mit den Indianern, die wirkliche oder vermeintliche 

othwendigkeit milttärifher Soncentrationen In einigen Süpftaaten haben eine 
weitere Reduktion bis jet verhindert. Hoffentlih wird man ſich nicht verleiten 
lafien, das Heer auf den früheren Friedensftand herabzumindern, der ſchon damals 
ungenügend, ven jetzigen Berhältniffen vollends nicht entſpricht. 

Das Befeſtigungsſhſtem hatte vor dem Bürgerkriege mande Läden und 
fand im Kongreß felten die Berückſichtigung, die es verbiente. Der Krieg hat in 
biefer Beziehung Wandel geſchafft. Alle irgendwie bereutenden und exponirten 
Häfen der Seekäfte find, wenn nicht vollſtändig befeftigt, doch mit Werfen ver- 
fehen, au deren Bervollfländigung, wie aus dem Bericht bes Kriegsminifters von 
1866 erhellt, auch jewt noch rüftig weiter gearbeitet wird. An den binnenlänbijchen 
Sem und nad der kanadiſchen Grenze Hin ift ebenfalls für Befefligungen in ven 
legten Iahren Manches gefchehen und was ven fernen Weften betrifft, jo wird ber 
jängfte Konflitt mit den Indianern Hoffentlich den Anſtoß zu einer dort, wie es 
ſcheint, fehr nöthigen Erweiterung ver Fortifikationen geben. 

Unalog der Entwidiung des Heerweiens bat fi die Kriegsflotte aus ge- 
ringen Anfängen zu jener großartigen Macht geftaltet, die in den legten Jahren 
des Värgerkrieges bie Aufmerffamteit der Welt auf fi zog. Beim Beginn des 
Unabhängigkeitötrieges konnten die Amerikaner nur über wenige Kriegsſchiffe ver- 
fügen, und es war mehr vie erfolgreiche Thätigkeit der Kaper, als die eigentliche 

sflotte, welche der Sache ver Unabhängigkeit nütte. Im Kriege von 1812 
waren ſchen 276 Kriegefchiffe mit 1636 Kanonen thätig und die Thaten zur See 
In biefem Kampfe bezeichnen eines der glänzendften Blätter der amerilaniſchen 
Kriegsgeſchichte. Im Kriege mit Mexiko fpielte vie Flotte als Kampfmacht eine 
minder bedeutende Rolle und bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges bot ſich feine 
Beranlaffung, ihr regierungsfeitig eine erhöhte Aufmerkſamkeit zu ſchenken. Die 

Bluntſchli und Brater, Deutfes Staate-MBörtertuß. XI. 51 


802 Naqtrag. 


Forderungen, welche diefe Krieg von Anfang bis zu Ende an die Flotte ſtellte, 
waren fo umfangreih und gewaltig, daß ihnen erſt allmälig void genügt werben 
fonnte. Bewundernswürdig find bie Leiftungen au auf viefem Gebiete gewefen ; 
in vergleichsweiſe kurzer Zeit war eine Flotte gefhaffen, an Zahl und Bemannung 
ber Schiffe in der legten Zeit des Krieges der britiichen überlegen, eine Flotte, 
die auh in Bezug auf die Dualität der Fahrzeuge und Tüchtigfeit der Mann⸗ 
[haft den Bergleih mit der meerumgürteten Rivalin nicht zu fchenen brauchte. 
Es galt eine Küftenlänge von nahezu 3000 engliſche Meilen zu überwachen, 
beziehungsmweife zu blofiren und in verhältnigmäßig furzer Zeit ift dieſe ſchwierige 
Aufgabe gelöst worden, zwar nicht fo, taß die ganze ſüdſtaatliche Küfte gewiſſer⸗ 
maſſen hermetiſch wäre verfchloffen geweien, aber doch in ver Art, daß die Zahl 
ber Blokadebrecher, wenn man die Küftenausbehnung berüdfichtigt, geringfügig er 
fheint und vie Schwierigkeiten und Gefahren, denen der Blockadebrecher begegnete, 
von Monat zu Monat wuchſen. Die gefammte Kriegsflotte der Union betrug 
1860 nur 92 Schiffe aller Art mit im Ganzen 134,500 Zons und 2270 Ka- 
nonen 16), Gegen Ende des Bürgerfrieges, im März; 1865 zählte fie 694 Fahr⸗ 
zeuge aller Art, Tonnengehalt 519,252 Tons, Kanonen 4477, Bemannung 6000 
Dfficiere und 45,000 Solpaten. Seitdem ift, analog der Landarmee, aud iu ber 
Marine eine wejentlihe Reduktion eingetreten, wie folgende, dem Bericht des 
Marinefelretärs vom December 1867 eninommenen Zahlen ergeben: Geſammt⸗ 
zahl der Kriegsihiffe 238, Kanonen 1869, Mannfdaft 11,900 (DOfficiere und 
Soldaten). Das Marinebübget, das 1860 wenig über 11 Mil. Doll. betragen, 
hatte fi für das Jahr 1864 auf 85 Mill, erhöht und flellte ſich auch ned Für 
das Etatsjahr 1867 auf nahezu 40 Mil. Die Flotte iſt in verſchiedene Ge⸗ 
ſchwader getheil. Das europäiſche Geſchwader kreuzt vorzugsweiſe im Süden 
Europa's, im mittelländiſchen Meere und an ber portugieſiſchen Küfte. Das Revier 
des aftatifchen Geſchwaders erfiredt fi von ber Küfte China's duch den indiſchen 
Arhipelagus bis zur Süpfpige Afrika's. Das norbatlantifhe Geſchwader nerficht 
den Dienft an ber ncrpatlantifchen Unionsküſte und In ben weſtindiſchen Gewäſſern, 
wo man ald Stationen die Infeln St. Thomas und St. Johns nenerkings 
von Dänemark erworben hat 17), Das füdatlantifche Geſchwader kreuzt an ber 
Süpoftlüfte Südamerika's vom Kap der guten Hoffnung bis nad St. Banl de 
Loando. Für den Dienft im meritanifhen Meerbufen iſt das Golfgefchwaber 
beftimmt und die langgeftredte Unionsküſte am fillen Ocean wird von ben nord⸗ 
und fübpacififhen Geſchwadern überwadt. So ift Aberall, wo amerilanifige Han⸗ 
delsintereſſen beftehen, bie Flotte thätig, fie zu ſchützen; ihre Expanſipkraft bet ih 
in den legten Jahren glänzend erprobt und burchgreifende Reformen ſcheinen nicht 
dringlich zu fein, fo wünfchenswerth technifhe und dkonomiſche Berbeflerungen faı 
Einzelnen immerhin fein mögen. 

Blottenwerften befinden fi in verſchiedenen Häfen, u. 4. NRew-PDort, 
Bofton, Philadelphia, Wafhington, Norfolk in Birginien, Mere’s 
Island in Kalifornien, ein Bilbungsiuftitut für Flottenefficiere in Annmapolis 
in Maryland, für Invalive das fogenannte naval asylum in Philadelphia. 

V. Verkehromittel. Nafürliche Wafferfiraßen und Kanäle. 
Die Gunft der Natur und die Energie des Menſchen haben ein Verkehrsſyſtem 


Eat 2 Indastrisl and financial Resources of the United States, New- York, 1864, 
e 34. 

37) Der deßfallfige Vertrag wurde unter Borbehalt der Ratifikatlon am 20. Oftober 1867 
abgefchloffen. ’ 











Nordamerikanifche Sreiftaaten 808 


für die Union gefchaffen, wie es an Großartigkeit und Vollſtändigkeit fein andres 
Land aufzuweiſen bat. Anf den großen binnenlänvifchen Bafferftrafen dem 
Mifmffippi mit feinen mächtigen Zuflüffen, dem Hubfon und anderen Strömen, 
anf den großen Süßmafferfeen im Norden und Norvoften herrſchte Iange, bevor 
ter erſte Dampfer erichten, ein lebhafter Verkehr durch Segelſchiffe. Wit ber 
Dienfibarmadung der Dampflraft brad für die amerikaniſche Binnenſchiffahrt 
eine neue Yera an. Zahllos find die Dampfer, die feitvem auf allen birmenlän- 
diſchen Waſſerſtraßen den Verkehr vermitteln. Die Privatthätigkeit, gefpornt durch 
die freie Konkurrenz, bat auf diefen Gebiete menfchliher Thätigkeit Staunens- 
werthes geleiftet. Wo die Natur die Waflerftraße verfagte, da hat man früßzeitig, 
{bon zu Anfang des Jahrhunderts, große Anftrengimgen gemacht, durch Kanäle 
vie fehlenden Glieder zu ergänzen. Der bedeutendſte Kanal iſt der den Hudſon 
bei Albany mit dem Griefee bei Buffalo verbindende Eriefanal, 8501/, engl. 
Meilen lang, veffen Herftellungatoften einfchließlih einiger Nebenzweige über 
40 Mill. Doll. betrugen. An Länge, wenn gleich nicht an kommercieller Bedeu⸗ 
tung übertroffen, wird derſelbe durch ven Wabafh und Eriekanal (379 engl. M.), 
der bei Evansville am Ohio beginnend, bis zur Staatseiſenbahnlinie von 
Ohio geht. Micht minder bedeutend Ifl der, den Ohio bei Portsmouth mit 
ben Eriefee bei Cleveland verbindende Ohio⸗ und Erielanal (307 engl. M.). 
Bon Wichtigkeit iſt ferner ver Cheſapeake⸗ und Oblolanal, bei Georgetomwn 
im Diftrift von Columbia beginnend und bei Bumberland in Maryland endend 
( 18412 engl. M.). Bon ven bebentenderen. Kanälen nennen wir noch folgende: 
den Miami- und Erielanal, zwiſchen Cincinati am Ohio und dem Städtchen 
Defiance an der Fort Wayne und Chicago Eifenbahn, 178 M., ben 
Illinois und Michigankanal, Chicago am Michiganfee mit La Salle am 
Illinoisfluß verbindend, 102 M., ven Geneſſee Balleykanal, Rocheſter 
am Eriefee mit Olein am Alleghanyfluß verbinndend 107 M., ven Dela- 
ware- und Hupfonkanal, 102 M. Sehr groß IM die Zahl der kleineren 
Kandle, von 5—100 M. Länge. Wir werden weiter unten fehen, welche Be⸗ 
— ee Ergänzung der natärlihen Waſſerſtraßen für den binnenlänbifhen 
ande . 

Handelsmarine. Bei ver beträchtlihen Ausdehnung ber Seeküſte mußte 
die Küfenfhifehrt früh eine große Bedeutung gewinnen, und mit bem Erwerbe 
Kaliforniens iſt dieſe —— enorm — 5 — In den Angaben über den 
Tonnengehalt ver Hanbelsflotte iſt der in der Kuſtenſchiffahrt beſchäftigte⸗ Theil 
derſelben nicht ſpeciell aufgeführt und es mochte das auch unthunlich ſein, da bei 
ber Ausdehnung der Küſten an beiden Oceanen die Srenze zwiſchen ver Küſten⸗ 
und oceaniſchen Schiffahrt ſchwer zu beſtimmen iſt. Weber die binnenlandiſche 
Schiffahrt, in der faſt ausſchließlich Dampfer beſchäftigt ſind, liegen einige Nach⸗ 
weiſe vor, denen zufolge die Zahl der auf dem Mifftffippi und feinen Nebenflüfſen 
fahrenden Dampfer im Iahre 1865: 910 Betrag, mit einer Tragfähigfeit von 
"262,144 Tons!9). Dampfer vermitteln jetst andy vorzugswelfe den Küftenverfehr. 
New» Dort unterhält mit allen bebeutenderen Unionshäfen einen regelmäßigen 
Dampfſchiffahrtsverkehr, and mit San Francisco (von New⸗York nah Aspin⸗ 
wall, von dort Eifenbahn über den Iſthmus bei Banama, von letzterem Orte 
Dampfer nah San Francisco). Auch von anderen Häfen, mie Baltimore umb 


18) The soclal solence review, Heft Januar Hs April 1868, ©. 154. 
31* 


804 Nachtrag. 


Philadelphia jest faft wöchentlih Dampfer nah Richmond, Charleſton, 
Savannah, Mobtle, New- Orleans. In der oceanifhen Schiffahrt hat Europe, 
was die Dampfer betrifft, ven Vorrang behauptet, während bie amerilaniſchen 
Segelihiffe ihrer vorzüglicen, auf Schnelligkeit berechneten Bauart wegen, einen 
weit verbreiteten Ruf haben. Die Union liefert das beſte und dauerhafteſte 
Schiffebauholz und der amerilanifche Erfindungsgeiſt hat es verfianden, in der 
äußeren Form und Inneren Einrichtung DMuftergältiges zu fchaffen. Daß Amerila 
gleihwohl fon vor dem Bürgerkriege vie europäifche Konkurrenz [wer empfand, 
bat in dem koftfpieligen Betriebe, hohen Löhnen, theurer Einrichtung feinen Grund. 
Bemerkt zn werben verbient bier noch die außerordentliche durchſchnittliche Zunahme 
im Tonnengehalt bes einzelnen Fahrzeuges, bei Dampfern nicht minder, wie ganz 
beſondert bei den Segelichiffen. Währenn 1850 Schiffe von 5—600 Tons Trag 
fühigleit als Ausnahmen galten, find jebt Fahrzenge von 1000 Tons im ocea- 
niſchen Verkehr die Negel und Schiffe von 3—4000 Tons Teinesweges eine 
Seltenheit mehr. 
Ein anſchauliches Bild der Entwidlung ber gefammten amerikaniſchen Handels⸗ 

flette giebt ung folgende Tafel: 

Zonuengebalt der Hanbelsflotte 1814: 1,368,127 Tons 

Bis zum Juni 1861 gebaut . . . 8,807,897 „ 


Im Sanıen . 2 2 202. 9,675,524 Tons 
Zonnengehalt vom 30. Iunt 1861 . 5,539,812 „ 
Abgang von 1814—1861 . „. . .„ 4,135,712 Tons 

Gebaut wurden : 

In den Jahren Tonnengehalt Im jährlichen Durchſchnitt 

1815—1821 . . . . 638,563 Tons 91,223 Tone 

1822-1831 . . - . 901,598 „ 90,159 

1832—1841 . . . . 1.178,69 „ 117,867 

1842—1851 . . . . 1,999,268 „ 199,926 „ 

1852 —1861 .„ . .„ . 3,598,300 „ 358,930 „ 
8,316,417 Tons 176,753 Tons 


Dem rapiven Fortfchreiten im Schiffsban bat der VBürgerfrieg belauntli Halt 
geboten. Mit der Blodade der Sünhäfen begann für bie amerilanifche Rhederti 
eine ſchlimme Zeit und Ihre Lage wurde noch bedenklicher, feit die Südſtaaten 
anfingen, bewaffnete Piratendampfer, wie bie berühmte oder berüchtigte Alabam 
auszuſenden und norbfaatliches Schiffseigenthum, wo fie es antrafen, zu zerflören. 
Eine nit geringe Zahl amerikaniſcher Schiffe iſt viefen Piraten zur Beute ge 
fallen; größer war bie Zahl berjenigen Fahrzeuge, welche theils zum Schein, theils 
bona fide um der Gefahr der Wegnahme ober Zerflörung vorzubeugen, im ben 
Defig Auswärtiger übergingen. Seit Beendigung des Krieges hat zwar vielfad 
ein Rüdtauf flattgefunden, allein die Wunden, welche der Krieg ver amerilauifchen 
Schiffahrt geſchlagen, find noch feineswegs vernarbt. Die anhaltend hohen Preike 
aller Waaren und Leiftungen haben außerdem die Konkurrenz mit den enropätfcen 
Rationen noch mehr erjchwert. Dem Bericht des Schapfehetärs vom December 
1867 zufolge if eine Wenverung zum Beſſern bis jegt nicht bemerkbar; bie 
meiften Bauwerften ſtehen leer und es iſt nad ber Meinung des VBerichterflatters 
zweifelhaft, ob einem Verfall dieſes Zweiges nationaler Gewerbethätigkeit andert 
vorzubeugen, als durch Rückvergütung des Zolls auf importirte Schiffsban- 
materialien oder eine dem Schiffbau gerechter werdende Stenerveranlagung. 





Nordamerikanifche Sreiſtaaten. 805 


Wir Tehren zum Binnenlänbifchen Verkehr zurück, ber feine großartige Ent- 
widlung neben der Schiffahrt auf natürlichen und künftlihen Waflerftragen, in 
neuerer Zeit vor Allen den Eiſenbahnen verbankt. Die erſte amerilanifche 
Eifenbahn, die 4 M. lange Oninchbahn in Maſſachufetts, wurbe 1827 gebaut; 
1829 wurden bie erſten neun Meilen der großen Baltimore und Obto-Eifen- 
bahn, von Baltimore nah Relayhoufe, dem Verkehr übergeben, andre Heine 
Bahnen folgten In den nächften Jahren; fon im Jahrzehnd 1830—1840 entwidelte 
fih der Eiſenbahnbau in großartiger und vielfeitiger Weife, um in den folgenden 
Delaven zu noch glängenderen Ergebniffen zu führen. Das in Gifenbahnen ange- 
Isgte Kapital betrug 1849 fon 130 Mil. Doll, Der Anfang des Jahrzehnds 
1850—1860 bezeichnet einen venfwürbigen Abfchnitt in der Gefchichte der ameri- 
laniſchen Berfehrsanftalten. Bon den großen Bahnen, welche einerfeits die binnen- 
Undiſchen Seen, anbrerjeits das Stromgebiet des Miffiffippi mit ber atlantifchen 
Küfte verbinden, war bie New⸗Vork⸗ und Eriebahn (von New «Port nad dem 
Erieſee) in einer Länge von 294 M., Ende 1850 nahezu vollendet; im Mai 
1851 wurde fie in ihrer ganzen Ränge vem Berlehr übergeben. Einſchließlich 
einiger, von ber Geſellſchaft allmählich übernommenen Zweigbahnen, betrug bie 
Sefommtlänge des ‚unter dem Namen New⸗NYork und Eriebahn bekannten Neges 
1860: A65 M. (18650: 337 M.) und bie Gefammitbauloften werben auf 
35 Mil. Doll. angegeben. Die zweite große Bahn, die ben Hafen von Balti- 
more mit dem Ohlofluß bei Wheeling und Parkersburg in Birginien ver- 
bindende Baltimore» und Obio-Eifenbahn mit der von Baltimore nah Waſhington 
führenden Zweigbahn wurde, obgleich faſt von allen Bahnen zuerſt in Augriff 
genommen, exft 1858 vollendet (Oefammtlänge 386,80 M.), Erbauungstoften 
25 MIN. Doll, Die etwas fpäter eröffnete New-Vork-Gentralbahn (Länge 555,88MR., 
Bankoſten 30 Mil. Doll.) verbindet New⸗York mit den nördlichen Seen und bem 
St. Lorenzſtrom. Es repräfentiren biefe großen Bahnen drei Syſteme binnen- 
lãndiſchen Verkehrs, die Berbindung ber atlantifhen Küfte mit dem Norpweften, 
dem Südweften und dem Welten; an ihre inländiſchen Ausgangspunkte ſchließen 
fi) dann die Bahnen in der Richtung weiter nad) Weften, während bie Verbin⸗ 
bung mit dem Süden wenige Jahre vor dem Kriege, durch Herftellung bes lebten 
Gliedes der von New⸗Orleans beginnenden Bahn ebenfalls vollendet iſt. Es find 
ganz vorzugeweile die freien Staaten, welde im Eifenbahnbau in ber That 
Großes geleiftet haben; dagegen find bie frühern Sklavenſtaaten, einige der Grenz 
ſtaaten, wie Maryland, Delaware, Mifionri ausgenommen, auf biefem Gebiete, 
wie auf fo vielen andern entfchieven zurückgeblieben; es Iag nicht an ben Worb» 
flaaten, daß die Eifenbahnverbindung mit New- Orleans vergleihsweife fo fpät 
vollſtaͤndig hergeftellt warb. Erſt in den legten Jahren vor dem Kriege hatte man 
au im Süden den Eifenbahnbau energifcher in Angriff genommen. Der Krieg 

dort den Stillſtaud aller Bahnbauten, aber jet darf man einem neuen 
Aufſchwung entgegen fehen, ſobald ſich bie politifchen und ſocialen Berhältnifie 
konſolidirt haben werben; Kapitalzufluß und Arbeitslraft werden dem Süden in 
ſolchem Falle nicht fehlen. 

Die folgende Aufftelung macht die Tolofialen Fortſchritte im Gifenbahnben 
in neneſter Zeit anfchanlid. 


806 Nachtrag. 
Stasleugruppen Meilenzahl Grbauungstoflen 


1850 1860 1850 1860 

Kalifornien u. Oregon . — 73,85 D. — D. 3,680,000. 
Neuenglandſtaaten . . 250748 8669,39 , 87,264 201. „ 148,366,514. 
Mittl. atlant. Staaten . 2723,96 6321,22 „ 180.350,170. „ 329,588,231. 
Güdetlantifihe „ . 1717,87 5454,27 „ 36.875,456. „ 141,739,629. 
Golffaaten . . . . 287.00 225621 „ 5.286,209. „ 64,943,74B. 
Innere Staaten, füdli 78,21 1806,35 „ 1,830,541. „ 49,761,199. 

. „ nöedll 1275,77 1121238 „ 25.063,57. „ 413,541,510, 


"8589,79 30,793,67° %D. 296,660,148. D. 1,151,560,829. 

Diefe Zahlen bedürfen keines Kommentars, bie Entwidiung iſt au bier, 
wie anf den meiften anderen ©ebteten, eine durchaus naturgemäße geweien, und 
bat mit der Bevölkerungs⸗ und Probufttonszunahme ſtets in geſunder Welhfel⸗ 
wirkung geftanden. Wohl haben Staaten und Gemeinnen durch Ueberacchme 
von Obligationen, durch Zinsgarantieen und Landſchenkungen oftmals fFürkern» 
eingegriffen; vie Initiative aber blieb beim Volle. Staatseiſenbahnen fennt Ye 
Unton nidt. Dazu kommt, daß bie Terrainfchwierigkeiten meiftens gering fit; 
das Land iſt noch Billig, Erpropriationen in größerem Maßſtabe find felten er- 
forderlich; Freibtiefe, welche einer Aktiengeſellſchaft Korporationstehte verleihen, 
find leicht zu bekommen; war einmal das Gegentheil ver Fall, bat man dänn 
freilich auch — zu dem bedenklichen Mittel der Beſtechung gegriffen. 
Auch die Konftruftion der Bahnen iſt meiſtens ri einfach; erft in neueſter Zeit 
bat man begonnen, die großen Hauptbahnen durch Legung eines zweiten @eleifes 
zur Bewältigung bes riefenhaft auwachſenden Verkehts gefchidter zu machen. Die 
Bahnhofeinrichtungen find mit wenigen Ausnahmen, nach europäifchen Begriffen, 
pürftig. Bahnwärter kennt man faum, die Einfriebigung der Bahnſtrecke if oft 
entfhieven mangelhaft, die Konſtruktion der Eifenbahnbräden laͤßt Manches zu 
wünſchen übrig. Dagegen find endre Sinrichtungen wieder ſehr zweckmüßig wuıd 
ihre Rachahmung, für uns mwenisftens, der Erwägung werth. Die laugen, heiz⸗ 
baren Berfonenwagen find im Winter weit angenehmer, als unfre engen, kalten 
Conpe’s, während fie im Sommer friſchen Luftzug geben und, da die au ben 
Langenden befinpliden Thüren nicht verriegelt find, den Pafſſagieren freie Be—⸗ 
wegung, häufiges Wechſeln der Sitze geftalten. DE dagegen das Fehlen jeber 
KHaffeneintheilung (man bat allerdings Damenmwagen, zu welchen Männer in Be 
gleitung von Damen Zutritt haben) ein Vorzug fei, iſt eine, unſeres Crachtens 
ſtark zu bezweifelnde Frage. Wenn der Amerilaner in feinen Theatern an der Rung- 
eintbeilung und den dadurch bedingten verfchlevenen Preifen Leinen Anſtoß nimmt, 
fo iſt die Logik, die im Pafſagierverkehr auf Eifenbahnen das Princip abfoluter 
Gleichheit aufftellt, ſchwer zu begreifen. 

Während bes Krieges iſt ein Theil der fühftantlihen Bahnen an vielen 
Stellen zerfiirt worden; die übrigen waren, da aus Mangel au Geb und 
Arbeitskraft nichts für fie gefchehen Konnte, am Schluß des Krieges im Zuſtaude 
großen Verfalls. Auch ver Verkehr anf ver Baltimore un Obio-Eifenbahn und 
der von Baltimore in den Staat Pennfyieanien führenyen Northern Central 
bahn war In Folge fühftaatliher Invafionen, durch Aufreigen der Schienen, Zer⸗ 
Mörung von Brikden und Sprengung von Tunnels mehrere Dale gehemmt; doch 
wurbe der Schaden ſtets raſch reparirt. Gleich nad Beendigung ves Krieges if 
bie Ausbeflerung ber fühftaatliben Bahnen mit großer Energie in Angriff ge- 
nommen, fo daß fie jegt minbeflens wieder auf dem Punkte fliehen, auf dem fie 
fi vor Ausbruch des Krieges befanden. 








Nordamerikanifche Sreiftanten. | 807 


Zum Schluß fei bier noch in Kürze bes großartigen Projektes gedacht, das 
die Eifenbahnverbindung des atlantifhen mit dem ſtillen Ocean zum Zweck bat. 
Die fogenannte Union Pacific Eifenbahn hat ihren Ausgangspunft am oberen 
Miffouri bei Omaha City im Staate Nebraska, von wo fie Ende 1867 in einer 
Länge von 500 M. bis an ben Fuß der fogenannten Clarkes hills geführt war, 
von dort aus fol fie fih über Salt Lakn City im Territorium — und dann 
weſtlich nach der Sierra nevada hinziehen. Dort wird fie mit der von Sacra⸗ 
mento Eity in Kalifornien beginnenden, jest in einer Länge von 50 M. voll» 
endeten Eentral Pacific Bahn zufammentreffen. Wie wir von kompetenter Seite 
hören, bürften beide Bahnen in 5—7 Jahren vollendet werben. Eine Parallel 
Bahn, die Unton Pacific, Eaftern Divifion, beginnt in St. Louis im Staate 
Miffourt, geht nad Kanſas Eity In Kanfas und von bort in mehr fllnweftlicher 
Richtung weiter, um fpäter durch Arizona nnd Neun» Merito geführt zu- werben 
und einen Anſchluß an die Eentral Pacifie Bahn zu fuhen. Man glaubt, daß 
dieſe Bahn in Anfehung der milderen Wintermonate vor der nördlichen Parallel 
Bahn den Vorzug verdienen bürfte. Das Land für beide Bahnen in einer Breite 
von 2 M. wird von der Bundesregierung geſchenkt und dieſe Teiftet eine Sub⸗ 
vention in ber Art, daß fie für eine gewiffe Meilenzahl (726 M. ver Central 
Bacific Bahn) Obligationen übernimmt, die indeß nur fuborbinirtes Pfandrecht 
beſitzen und den Obligationen von Privatperfonen nachftehen 19), ' 

Die Breite und Regelmäßigkeit der Straßen hat, namentlih in ben großen 
Städten ber Unton, dem Bau von Iofalen Pferde - Eifenbahnen namhaften Vor⸗ 
ſchub geletftet. Im Jahre 1860 waren von folden, ausſchließlich dem ſtädtiſchen 
Berkehr dienenden, billig und bequem eingerichteten Bahnen im Betrieb: 


In Boſton 67,39 M., koſtend D. 2,964,875. 
„New⸗York 61,79 „ » nn  5,002,835. 
„ Brooklyn 79,92 „ rn  2,071,678. 
„ "Hobofen 1,79 u 1) " 32,000. 
„ Cincinnati 17,388 „ on 403,163. 
„ St. Lonis 26,380 „ nn. 576,590. 
» Philadelphia 148,00 „ " „ 3,811,700. 
- Insgefammt: 402,57 M., D. 14,862,841. 


Die Landſtraßen nehmen jest, nachdem der Eiſenbahnverkehr einen fo 
großartigen Auffhwung genommen, nur noch geringe Bebentung in Anſpruch. 
Nicht mit Unrecht hat man gefagt, daß für die amerikaniſchen Landſtraßen bie 
Eifenbahnen zu früh gelommen felen, Während man in Europa über dem Bahnbau 
vie Inſtandhaltung der Chauffeen nicht vernachläffigte, hat man in der Union 
den Lanpftraßen geringe Aufmerkſamkeit gefchenkt; es fehlt zwar weber an großen 
Verkehrsſtraßen, noch an Bicinalmegen — ihre Nothwenbigkeit hat ber praktiſche 
Geiſt des Amerifaners früh begriffen; im Punkte der Beſchaffenheit eben indeß 
bie beften derfelben unferen deutſchen Chauffeen nad. Diele von ihnen find in 


19) Den neueſten Nachrichten zufolge iſt die Ausficht auf eine viel frühere Eröffnung der 
beiden Bahnen nicht unbegründet; im Juni des Jahres 1868 hat die erſte Lokomotive bie 
Sierra nevada, in einer Höhe von 7000° überfchritten; man traf noch auf bedeutende Gchnees 
maflen und ob im frengen Binter die Bahn ohne Unterbrechung fahrbar zu Halten fein wird, 
ſcheint nach dem erfien Verſuchen wmindeftens zweit zu fein. Nach einer Notig in der Rew⸗ 
Dorker Handelszeitung (1. Oktober 1868) hatte die Centralbahn 350 engl. M. öftlih von Sarra- 
mento City im Betrieb und bis zum großen Galzfee nur noch etwa 300 engl. M. zu bauen. 


808 Nachtrag. 


ver fchlechten Jahreszeit abſolut unpaffirbar , vielfach hat man fich durch Iogenamat: 
Bohlenwege geholfen, die bei dem großen Holzreichthum in ben meiſten Gegenden 
mit vergleichsweiſe geringen Koften berzuftellen waren; es giebt deren viele, die 
eine Ränge von 50 M. unb barüber haben, 

Poſtweſen. Das erfte allgemeine Poftamt für die vereinigten Kolonieen 
wurde erft nad dem Jahre 1770 errichtet. Duck, die Bundesverfaflung ging das 
Recht, Poftämter und Poftronten einzurichten, auf den Kongreß über. Entſprechend 
der Auspehnung der binnenländiſchen VBerfehrsanftalten zu Wafler und zu Lande 
bat fi das Poſtweſen entwidelt; man begriff regierungsfeitig früh, daß der Pof- 
betrieb dem Publitum dienen, das fisfalifche Interefie dagegen In zweite Linie 
treten müffe, und im nenefler Zeit hat man dieſes volkswirthſchaftlich geſunde 
Princip immer entfchiebener zur Anwendung gebradt. Wo es galt, die Bortofäge 
u ermäßigen, die Poſtkommunilationen zu vervieffältigen oder das Syſtem ber 
Boftvorfhäffe zu verbeffern, da hat man den Verkehrsbedürfniſſen in ausgiebiger 
Belle Rechnung _getragen. Im Jahre 1790 zählte man erſt 75 Poſtämter und 
das Geſammteinkommen aus dem Poftbetriebe betrug nit ganz 40,000 Doll 
Dagegen gab es: 

im Jahre Poſtämter Boftrouten in M. Einlommen Betriebstoften 
903 








1800 : 20,817 D. 280,804. D. 213,994. 
1810: 2,300 36,406 „ 551,684. „495,969. 
1820: 4,500 72,492 „1,111,927. „ 1,160,926, 
1830: 8,450 115,176 „1,850,583. „ 1,932,708. 
1840: 13,468 156,739 „4,543,522. „ 4,718,236. 
1850: 18,417 178,672 „5,552,971. „ 5,212,963. 
1860: 26,586 242,601 „8,063,952. „11,508,068. 


Durch den Krieg wurde der poftaliiche Verkehr mit den Sädſtaaten voll- 
Rändig unterbroden und Briefe und Zeitungen gelangten nur gelegentlih un- 
gefährbet über die Grenze. Mit dem Vorbringen ber norbflaatlihen Truppen 
wurben bie Poftverbindungen alsbald wieder angenäpft und ver Berlehr im 
ganzen Unionsgebiet ift jetzt längft vollftänbig wieberhergeftellt. Dem Jahresbericht 
des Generalpoftmeiftere vom December 1867, der, mit wenigen, ber Initiative 
des Präfivdenten anbeimfallennen Ausnahmen, fämmtliche Poftbeamte ernennt, ent- 
nehmen wir nod folgende Angaben: Die Zahl der Poftämter betrug im genannten 
Jahre 25,163, der Poftrouten 7743 von 203,245 M. Länge, tie Einnahmen 
Doll. 19,968,693. 54, die Ausgaben Doll. 19,235,489. 46. Das binnenlänbifche 
Porto beträgt 3 Cents für den einfachen Brief; für bie europätfhe Korreiponvenz 
ift mit dem Jahre 1868 eine namhafte Portoermäßigung eingetreten. An Poſt⸗ 
marken, geftempelten Brief» und Zeitungsconverts wurden 1867 nahezu 400 Mill. 
Städ verlauft und dafür über 13 Mill. Doll. gelöst. Seit 1866 iſt auch mit 
China und Iapan eine direfte Poftverbinnung durch Dampfer (die auf den 
Sanpwidhinfeln anlaufen) eingerichtet und für 1868 eine folde mit Bra- 
filien in Ausfiht genommen. Für die Entgegennahme von Öelvfendungen waren 
Eude 1867: 1224 Büreaur eingerichtet (gegen 766 im Borjahr), die Zahl ver 
Poftanweifungen betrug 474,496, ihr Gefammtbetrag Doll. 9,229,327. 72 (gegen 
Doll. 3,977,259. 28 im Vorjahr). 

Der Perfonenverkehr ift mit der Erweiterung bes Eiſenbahnnetzes jelbfiver: 
Kändlid immer mehr Sache ver Privatthätigleit geworben, fowie aud die Ber- 
mittlung von Paketen jett faft ausſchließlich durch die großartigen fogenannten 
express-companies beforgt wird, Auch im fernen Weften, wo zur Zeit ber 





Norbamerikanifche Sreiflaaten. 809 


Schienenfirang noch fehlt und Poftkutichen ven Perſonenverkehr vermitteln, iſt ber 
Betrieb jegt in den Händen von Privatunternehmer und Gefellichaften. 

Das Telegraphenweſen ift ver Privatthätigleit, der freien Konkurrenz 
auaſchließlich überlafien, und das amerikaniſche Publitum bat keine Urſache, ſich 
darüber zu beflagen. Das nad dem Amerikaner Morſe benannte eleltrormagne- 
tiſche Syſtem bat fi felbftverflänplich in ver Union frühzeitig eingebürgert und 
das rührige Bolt hat ſich deſſen Vortheile in flaunenswerther Ausvehnung zu 
Nutze gemadt. Zwiſchen Baltimore und Wafhington wurbe der erfte elektro⸗mag⸗ 
netiſche Telegraph errichtet, ſeitdem bat fi das Net telegraphiicher Drähte in 
folgender Progreffion erweitert: 1845: 39 M., 1850: 6679 M., 1855: 20,000 M., 
1860: 45,000 M., 1865: 52,218 M.2), Mau flieht, trog des Krieges, der 
vielfach die Telegraphen zerftörte, hat man bie kurze Friedenszeit doch jo benutzt, 
daß das legte Luftrum eine Yängenzunahme von über 7000 M. ergiebt. 

VI. Produktionoverhaltuiſſe. Produkte des Waldes Wie fon 
bemerkt, befteht eine eigentliche Sorftkultur in Amerika nicht; die meiften Land» 
leute befigen weben ihrem Acker- und Wiesland einen Annex von Wald und 
(lagen dort das Holz für ihren eigenen, bei dem amerilanifchen Syſtem der Ein- 
friebigung (fenoes) bebeutenden Bedarf und zum Berlauf. Ans biefem Grunde 
iſt es wicht möglich, die jährlihe Holzproduktion anzugeben und wir müffen uus 
auf einige allgemeine Angaben befhränlen. Am flärkften ift bie Probuftion in den 
werlihen, am ſchwächſten in ben Neuenglandſtaaten; man fieht, wie bei bichter 
werbenber Benälkerung und mangelhafter Forſtkultur, der Holzbefig theils immer 
laugſamer wähst, theils in fletiger Abnahme begriffen if. So hatte der Gelb- 
werth des in den Handel gebrachten gefchnittenen Holzes im Jahrzehnt 1850/60 
abgenommen in den Staaten Rhobe-Island, Comnecticut, New⸗York, Sübceroline 
und Lonifina, in den andern Staaten zugenommen; folgende Aufftellung iſt nicht 
ohne Interefie : 





1850 1860 
In den Neuenglanpflanten D. 9,918,745. — D. 12,069,895. — 
7 m Miättelfiaatn . . „ 22,829,900.—  „ 26,455,005. — 
vn Weflenten . . „ 14,577,250. — „ 33,274,793. — 
» n Süpfenten. . . u 8,846,476.—  „ 17,941,162. — 
» pacifiſchen Staaten „ 2,349,605. — „ 6,171,431.— 
Gefammtwerth: D. 58,521,976.— BD. 95,912,286. -— 


Immerhin in den legten 10 Jahren nod eine Zunahme von 63,9 %/,, was ben 
ungebeuren Holzreichthum des Landes beweist und theilmeife erklärt, wie man 
bis jett jo wenig fein Augenmerk auf eine rationelle Bewirthſchaftung der Forſten 
geritet bat. Wir bemerken, daß die obigen Werthe nur das Bauholz repräfen- 
tiren. Weldes Onantum Brennholz jährlih anf den Markt kommt, läßt fich 
natürlich nicht angeben; die Holzlonfumtion macht indeß in ben dichter beſiedelten 
Staaten, namentlich in den Großſtädten dem Koblenverbraud; immer mehr Plag. 
Koloffal iſt der Holzverbrauch auf Eiſenbahnen und Dampfichiffen; follte man 
auf ihnen Kohlen einführen, fo würde das einerfeits den Holgverbraud des Lan⸗ 
ei canıım verringern, anderentheils der Koblenprobuftion einen mächtigen Im⸗ 
puis g 

Bon anderen Probulten des Waldes verdienen Harz, Theer, Beh, Terpentin 
und Terpentindl wenigftens beiläufige Beachtung. In den mit Fichten beſtandenen 


3%) Social scienoe review, Heft Januar bis April 1866, ©. 154. 


u 
810 Nachtrag. 


Niederungen Nordcarolinas werden dieſe Produkte vorzugsweiſe gewomen; was 
andre Staaten davon liefern, iſt von durchaus untergeordneter Bedeutung. Was 
von Wilmington, dem Haupthafen des genannten Staates in Einem Jahre 
nad auswärts und küſtenweiſe verſchifft wurde, kommt dem Geſammtquantum ber 
ja hrlichen Produktion ſehr nahe. Verſchifft wurden 1860 21): 

Bon Harz 497,962 Barreld (von circa 800 Pb.) 


„ Xerpentin 75,123 ” ” " 
„ Xerpentindl 147,962 » „ „ 
„Theer 49,176 " " " 


„Pech 6,278 ⸗⸗ ” ". 

Während des Bürgertrieges hatte bie Probultion faft ganz aufgehört, und bie Preiſe 
filegen in Folge deſſen bis zu einer ſchwindelhaften Höhe. Jetzt find Pie normalen 
Berhältnifie wieder bergeftellt; in New-Vork wurden von Harz 1867 ſchon wieder 
nahe an 400,000 Barrels gelandet 2). Obwohl nicht eigentlich zu den Produkten 
des Waldes gehörig, möchte doch die ans verbrannten Begetabilten gewonnene, zu 
einem nicht unwichtigen Handelsartikel gewordene Aſche (Pot⸗ und Perlaſche, deren 
beſte Qualitat in der Union erzeugt wird) bier am paſſendſten kutz erwähnt werben. 
Sie wird vornehmlich in den mittleren Staaten gewonnen und die große Maſſe 
der Probultion findet in New⸗VYork einen Markt, veſſen Einfuhr 1864 etwa 
15,000 Yäfler (durchſchnittlich etwa 800 Pfp. wiegend) Betrug. 

Produkte der Fiſcherei. Fiſchreich find die großen binnenlänbffdien 
Sem und zum größten Theil auch die amerikaniſchen Ströme; die atlantifche Aüften- 
fiiherei if in ſchwunghaftem Betrieb, und endlich iſt es das aus dem Wallfifchjeng 
heimgebrachte Produkt, deflen Gewinnung Tauſende beſchäftigt und Ins einen nit 
unwichtigen Theil des amerilaniſchen Sandels bildet. Das Geſammtprodukt ber 
See, Fluß⸗ und Meerestüftenfifcherei, fowie des Wallfiihfangese wird für das 
Jahr 1860 auf 12 Mil. Doll. geſchätzt, wovon etwa bie Hälfte auf den Wal⸗ 
fiſchfang Tommit, für ungefähr Doll. 400,000 — auf ben Aufternfang. Maffa- 
hufetts und Maine find die vorzugswelfe den Wallfiſchfang betreibenden Staaten, 
ber in erflern Staat gelegene Hafen New⸗Bedford hat in biefer Beziehung 
einen Weltruf erlangt. In ven legten Jahren iſt der Yang minder ergiebig ge⸗ 
weſen; der Wallfiſch bat feine alten Reviere allmählig verlaffen und fich dem 
hohen Norden, den arktiihen Megionen zugewendet. 

Mit der Küftenfifcherei (Schellfiſch, Makrelen, Aufter u. ſ. w.) find ebenfalls 
Maſſachuſetts und Maine vorzugsweife beſchäftigt; der Geldwerth ihrer Produktien 
im Jahre 1860 wird anf refpeltive Doll. 2,774,204 — und Doll. 1,050,7655 — 
geſchätzt; mit Ausnahme dieſer Staaten, fowie Eonnecticat (Doll. 281,189 —) 
und New = Jerfey’s (Doll. 209,000 —) iſt die Produktion ber Abrigen Küften- 
fiaaten von geringer Bebentung. 

In der Kürze gedenken wir bier noch ber amerikaniſchen Eisprobuftion; fle wird 
namentlich in ben Neuenglantflaaten in großartiger Weiſe betrieben und bat dort 
in ben legten Jahrzehnden enorme Dimenfionen erreicht. In der Nähe won Boften 
befinden ſich große Teiche (ponds) und das Eis wirb weit bis nad Oſtindien in 
ganzen Schiffslabdungen verführt, über 100,000 Tons werben jährlig in ben 
internationalen Handel gebracht und das Eis iſt ein fehr belichter Ausfuhrartilel 





31) Hant’s Merchants Magazine 1861, Julibeft, &. 748. 
33) Rew⸗NYorker Handeldzeitung. December 1867. 


Nordamerihanifche Sreiftaaten. 811 


geworben. Nicht minder bedeutend iſt aber der heimiſche Bebarf; es bürfte w 
amerikaniſche Familien geben, vie nicht wenigftens in ver heißeften Zeit täglich 
Eis in ihrem Haushalt gebrauchten, es ift ihnen zu einem nothwenbigen Lebens⸗ 
bebürfniß geworben. Ueberall beftehen Lieferungsgeſellſchaften, welche auf ein Jahr 
oder einige Monate Kontrafte zu feften Preiſen abjchließen und in den Sommer- 
monaten fieht man alle Morgen bie Eiswagen durch bie Straßen fahren und ihr 
Produkt vor den Hausthüren abladen. Der Preis variirt zwifchen 1 und 3 Cents 
das Pfund, billig genug, um das nützliche Prodult auch dem weniger Bemittelten 
zugänglid zu machen. 

Minen⸗Prodakte. — Erſt in den legten Jahrzehnden hat man begonnen, 
die unermeßlichen Schäge von Mineralien, welche der Boden ber Union birgt, 
an's Licht zu fördern; jegt richtet man in faft allen Staaten fein Augenmerk auf 
biefen wichtigen Zweig ber nationalen Arbeit. Bon Kohlen fällt bis jeti die Hälfte 
ver Geſammtproduktion auf den Staat Penufylvanien, welcher 1860 ungefäht 
67 Mill. Bufgels (u 60 Doll.) und circa 9 Mill. Tons lieferte. Dann 
lommt Ohio mit 30 MIN. Buſhels, ed folgen Maryland und Illinois mit je 
14 Mill. Buſhels. Die Gefammtprobuftion betrug im genannten Jahre: 

Bon bitumindſer Kohle: 144,376,917 Buſhel, Werth Doll. 7,491,191 
m Autheacht 9,398,332 Ton nm 11,874,574, 
mas. für das Jahrzehnt 1850/60 einer Steigerung von 169,9 0/, entipricht. Der 
Bürgerkrieg hat dem Fortfchreiten der Probuftion zeitweilig Einhalt gethan; ver 
Mangel an Arbeitskraft wurde im Verlauf vesjelben immer fühlbarer und bie 
Strites in den Kohlengruben bildeten längere Zeit hindurch ven Gegenſtand all» 
gemeiner lage, Jetzt find zwar dieſe Uebelſtände gehoben, dagegen bat die Be- 
ſteuerung der einheimiſchen Kohle zu mannigfahen Klagen Anlaß gegeben, und, 
wie es fcheint, find dieſe nicht unberechtigt. Es unterliegı keinem Zweifel, daß fich 
in faft allen Staaten, namentlich im Welten außerordentlich reiche Kohlenlager 
befinden und daß pie bieherige Produktion, fo belangreich fie iſt, doch erſt einen 
beſcheidenen Anfang deſſen bildet, was die Arbeit kommender Jahrzehnde an's 
Licht fordern wird. 
Die Salzproduktion repräfentixte 1860 einen Geldwerth von Doll. 2,177,945. — 
In den Hanptprobuftionsftanten New⸗York, Virginten, Ohio und Pennſylvanien 
wurben im genannten Jahre 12 MIN. Bufhels gewonnen. Was andre Staaten 
zur Geſammiproduktion beitragen, ift bis jegt unerheblich, und ob die Produktion 
einer fo großen Ausbehnung fähig, um ven ſtarken fremden Import ganz ober 
theilweife entbehren zu können, ſteht dahin. 

Ein anderes Probuft, in nenefter Zeit zu fo überraſchender Bedeutung gelangt, 
das Petroleum, war zwar ſchon ven Ureinwohnern befannt und bildete ein Taufchobjeft 
zwiſchen ihnen und ben erſten Anſiedlern; fpäter fiel e8 faft ganz der Vergefien- 
beit aubeim und erſt in ben legten 10 Jahren iſt es ein fo wichtiger, au Be⸗ 
dentung ftetig nen Handelsartifel geworden. Im Jahre 1845 wurde bie 
erfte Delquelle gewifſermaßen neu entbedt (im Staat Bennfylvanien, 85 M. aber 
halb der Stadt Pittsburgh in der Nähe des Alleghany- Fluſſes). Noch in den 
folgenden Jahren fand indeß das Probult geringe Beachtung. Erſt in pie Mitte 
bes nachſten Jahrzehubs (1850/60) fallen die großen Entvedungen des peunſhl⸗ 
vaniſchen Quellen, bie feitvem in immer wachſender Ausbehnung in Betrieb gelegt 
würden, famen 1859 erft einige hundert Barrels in den Handel, fo wurden 1861 
ſchon 500,000 Bartels an den, Markt gebracht; die wöchentliche Ertragsfähigfeit 


812 Nadhtrag. 


ſaͤmmtlicher bis jest In Betrieb gefetzten Werke wird jetzt bereits auf 250,000 
Barrels gefhägt. Die Produktion betrug : 

1863: 1,020,747 Bartels 

1864: 1,0386,915 „ 

1865: 993,208 „ 
Die Abnahme von 1865 war bie Folge niedriger Preiſe im Vorjahr; feltbem 
bat die Probultion wieder zugenommen und bärfte für 1867 mindeſtens 11/, 
Mil. Barrels erreicht haben. Es wirb im rohen uud raffinirten Zuſtande haupt- 
fühlih von New⸗-VYork ausgeführt, von wo die Berfhiffungen nad fremben 
Sundern in ben genannten Jahren refpeftive 19,21 unb 14 Mill. Gallens (zu 
4 Litter) betrugen 7%). Auch die Ausfuhr von Philadelphia ift erheblih. Dieſelbe 
iR jegt anf etwa 5 Mil. Gall. anzımehmen. 

Einer unermeßlichen Ausdehnung fcheint bie eigentliche Metallprobuftion 
fähig zu fein. Bon Roheiſen wurden 1860: 884,000 Tons gewonnen im Werthe 
von 19 Mill. Doll., dem Werthe nach gegen 1850 ein Mehrertrag von 449),. 
Auch von biefem Produkte Lieferte Pennſylvanien faft die Hälfte; der Reſt wurbe 
vornehmlich in New⸗York, Maryland und New-Ierfen gewonnen. Unter ben weft 
lichen Staaten ſcheint namentlih Miſſouri einen großen, faſt nmerfchöpflichen 
Reichthum an Eifen zu befigen; der nicht weit von der Stadt St. Louis 
fogenannte Iron mountain führt feinen Ramen mit Recht, wenn bie Bermuthung, 
das es fafl ganz aus Gifenerzen beftebt, fich als richtig erweifen follte. Die Säb- 
ftanten haben bis jett fehr wenig zur Gifenprobultion beigetragen, obgleich auch 
ihr Boden, namentlih in Birginien, Kentudy und Tenneſſee allem Anſchein nad 
ſehr beträchtliche Schäge birgt. Ueber bie Förderung andrer Metalle im Jahre 1860 
finden wir folgende Angaben : Ä 

Kupfer: 14,432 Tons, Werth: Doll. 8,316,516. — 

Blei: 9,000 „ „ „977,281. — 

Bin: 11,800 „ „ n 72,600. — 

Nidll: 2,348 „ „ „ 2,876. — 
Bon Kupfer lieferten Wisconfin und cin Theil von Michigan faſt zwei Drittel 
bes Sefammtertrags. Die Diinen am Oberen See find fehr reichhaltig und liefern 
ein Metall von vorzüglicder Onalität. Bon Blei lieferte Miſſonri faft vie Hälfte 
der Probuftion, dieſem Staate zunächſt fliehen Wisconfin und Jowa. Zink and 
Nidel wurben bis jetzt nur in Pennſylvanien gewonnen. Sehr ergiebig verſpricht 
Kaltforniens Ausbeute au Graphit zu werben! bie Adern dieſes Minerals haben 
dort durchſchnittlich eine Mächtigleit von 20 Fuß. 

Was die Produktion der Edelmetalle betrifft, fo war fie vor der Erwerbung 
Kaliforniens gering und beſchränkte fih auf Georgia und Birginien, vie 
von Gold, (nur viefes findet fi} dort) von 1793—1800 für 1 Mil. Doll. 
geliefert hatten; bis zum Jahre 1840 betrug das zehnjährige Produkt wenig über 
18 Mil. Do. In ven legten Jahren des folgenden Decenniums begann dann 
bie kaliforniſche Ansbente Hinzuzutreten, fo daß von 1840-1850 bereite für 
89 Mill, Do. an die amerikaniſchen Münzftätten abgeliefert wurden. Im Jahre 
zehnd 1850/60 erreichte die Ausbente ven größten Umfang; in biefem Zeitraum 
prägten bie Münzflätten amertlanifhes Gold im Betrage von 470 Mill. Doll, 
alſo durchſchnittlich 47 Mil. jährlich; dazu kommt das ımgemänzt zur Ausfuhr 


33) Hunt’s Merchants Magazine, Yebruarheft 1866, ©. 122 ff. 





Ntordamerikanifche Sreifianten. 813 


gelangte unb zu fonfligen Sweden dem heimiſchen Verbrauch zugeführte Solo, 
beffen Geſammibetrag fih der Schägung entzieht, aber. von wicht unerheblicher 
Bedeutung if. Seit 1860 bat fi die geſammte Goldansfuhr San Francidco’s 
durchſchnittlich niedriger geftellt (etwa 42 Mil, Doll. jährlid) und foweit Kali: 
fornien in Frage kommt, fcheint die amerikaniſche Goldproduktion ihren Höhepunkt 
erreicht zn haben. Dagegen find in ven letzten Jahren im fernen Welten und 
Süpweften nene Schäge entvedt und vie Probultion der Territorien Colorado, 
Idaho und Montana If ſchon jest von nicht geringer Bedeutung; man ſchätzt 
biefelbe im Durchſchnitt der letzten Jahre auf faſt 5 Mil. Dol.; bavon geht 
ein Theil nach San Francisco, der oftwärts „gebende Theil betrug In den Jahren 
1861—1864 etwa 21/, Mill. Doll. jäbrlih A). In Verbindung mit Gold iſt das 
Silber, uamentlih in ben genannten Territorien in nicht unerheblicher Menge 
gefunden ; von großer Bedeutung wird aller Wahrfcheinlichkeit nad die Silber- 
probuftion des nenen Staates Nevada werden. Leider fehlen darüber officielle 
Ungaben bis jet gänzlich 25). 

Der Evelmetallpropuftion in Kalifornien hat die Entvedung von Duedfilber 
in biefem Staate wefentlichen Vorſchub geleiftet. E83 wirb davon fo viel gewonnen, 
daß große Mengen davon zum Erport gelangen. Das Gros der Probultion wird 
bis jest duch die New⸗Almaden Mine im genannten Staate gewonnen; 
1865 lieferte dieſe nicht weniger als 47,000 Flaſchen (fHasks). Die Ausfuhr 
** in von 9000 Flafhen im Jahr 1860 auf 42,000 Flaſchen im Jahr 1865 

en *0), 
® Brodufte der Bichzudt. Zu einem Großbetrieb der Biebzudt iſt das 
Terrain namentlih in ben Staaten des Weftens und Südweſtens in hohem 
Grade geeignet, von den atlantifhen Staaten ein großer Theil des Staates New- 
York. Früh Hat man den vollswirthfhaftlihen Werth der Viehzucht in ber Unton 
begriffen und für Verebelung der Raſſen für die Verwerthung der Viehproduktion 
in den mannigfachften Formen Sorge getragen. Im Jahrzehnd 1850/60 war ber 
Werth des Lebenden Viches um das boppelte geftiegen; aud ber Menge nach 
weifen foft alle Gattungen eine erhebliche Zunahme nad. So war im genannten 
Jahrzehud der Pferbebeftand im ganzen Unionsgebiet von 4 anf 6 Mil. Stüd 
geftiegen, hatte fi die Zahl der Ejel und Maulthiere von 500,000 auf über 
1 Mil. Stüd gehoben, der Kühe von 6 auf 8, der Ochſen von 11/2 auf 21/, 
Schafe von 21 auf 23, Schweine von 30 auf 32 Mil. Stüd. Den größten 
Reichthum on Kühen und Ochſen haben die Staaten New-Pork (1,123,634 Kühe, 
121,702 Ochſen); Ohio (reſp. 696,309 und 61,760); Texas (reſp. 598,086 und 
172,243); Illinois (refp. 532,731 und 90,973); PBennfylvanien (refp. 673,547 
und 60,371) und Miffouri (refp. 345,243 und 166,588); an Schafen New Port 
(2,617,855), Obio (8,063,887), Indiana (2,157,375), Pennſhlvanien (1,631,540) 
mb Michigan (1,466,477); an Schweinen Tenneſſee (2,343,948), Kentudy 





26) Jahresbericht des Schapfefretärd, December 1864, ©. 182. 

25) In der New» Dorker Handelszeitung (9. April 1868) finden wir neuere Nachweiſe, die 
tm Weſenilichen richtig fein dürften. Darnach hat Kalifornien feit 1849 an Gold für 900, Mit. 
Dot. producirt; feit einigen Jahren bat der Ertrag fich fetig verringert und man fchäßt den 
Ertrag für 1868 auf nur 25 Mill. Doll. Montana hat bis jept an Edelmetall, meiſtens Silber, 
für 65 Mit. Doll. product. Idaho 45, Colorado 25 MN. Dou. Die Produftion von Nevada 
—— re Silber) wird für dieſes Jahr auf 20, diejenige von Montana auf 

. Doll, geſchätzt. 
26) Hant's Mercbants Magazine, Maͤrzheft 1866, ©. 213. 


814 Nachtrag. 


(2,330,595), Indiana (2,498,528), Ohio (2,175,623), Illinois (2,279,729) und 
Georgia (2,086,116). In Ohio, Kentudy, Tenneſſee und Illmois befinden fid 
jene großartigen Schlächtereien, deren Produkte einen namhaften Theil des Inneren 
und äußeren Handels bifven. Bis zum Jahre 1855 war Cincinnati (darum auch 
Porkopolis genannt) ver Hauptfitz biefes Gewerbes, ſeitdem hat es an Ehfcage 
einen Rivalen gefunden, ver e8 im Berlauf weniger Jahre überflägelt hat md 
fett 0 den erften Rang behanptet. In der Padfaifon 1854/55 wurben 
gepackt: 

in Cincinnati: 355,786 St. Schweine; 1865/66: 354,079 St. 

„ Chicago: 73,694 „ „ n 601,462 „ 
Die Pöckelung von Ochfenfleifh wird ebenfalls vorzugsweiſe in ben Weſtſtaaten 
betrieben. Der Geſammtwerth des in der Union geſchlachteten Viehs Betrag 1850: 
111 Mill. Doll. und war 1860 auf 212 Mil. Doll. gefliegen. Während ves 
Dürgerkrieges Hatte der enorme Bedarf des Heeres und ber Flotte ber 
probnftion einen neuen Impuls gegeben; feit dem Wriebensfchluß iſt bie umver- 
meidliche Reaktion eingetreten, in der erften Zeit nur aufgehalten durch den Bedarf 
der Süpftaaten, ‘ 

Entfprehend den Fortſchritten ber Viehproduktion iſt die Probuftion von 
Butter gewachfen, wovon 1850: 313, 1860: 450 Mill. Pfund erzeugt wurben, 
New York fieht mit 105 Mil. Pfo. in biefer Produktion allen andren Staaten 
voran. Pennſylvanien und Obio erzeugten im felben Jahre (1860) je 58 md 
50 Mil. Pfo., Illinois 28 Mill. Pfr. Dagegen it die Produktion von Küfe 
quantitativ nicht fortgefehritten und mit 105 Mid. Pfo.. 1850 und 1860 flationär 
geblteben, wovon wiederum New-Dort das größte Quantum, fa die Hälfte 
(49 Mil. Pfd.) erzeugte. 

Erfreulicde Fortſchritte hat auch die Wollproduktion gemacht; fie hob ſich im 
10 Jahren (1850/60) von 50 auf 60 Mill. Pfund, alſo um 200/. Man Hätte 
erwarten bürfen, daß Angefihts der der Schafzucht fo günftigen Bobenverhältniffe, 
noch beſſere Refultate erzielt worden wären. Der Grund fell, wie die Schaf⸗ 
züchter behaupten, In ver, ihre Interefien feindlichen Tarifpolitik gelegen Haben, 
allein diefer Grund ift jedenfalls nur theilweife zuläfftg, denn auch jetzt, nachdem 
man im Schuß ber. heimiſchen Arbeit das Mögliche geleiftet, find die Klagen 
feinesmeges verftummmt. Yen Hart und Ohio producirten bisher faſt ein Drittel 
bes Gefammtertrages, bagegen bat Ihre Probuftion in dem genannten Jahrzehnd 
nicht zugenommen, während fie ſich in Michigan verboppelte (von 2 auf 4 Mid. 
Pfd.). Die Hemerfenswertheften Fortſchritte hat aber Kalifornien gemadt, das 
1850 mit einer Produktion von nur 5000 Pfo. eingetreten war und 1860 {don 
21/, Mill. Pfund lieferte; fettvem iſt der Fortſchritt Bi tapiver geweſen; 1866 
betrugen di: Ausfuhren in San Francisco allem 8 . Bunt. 

Produkte des Ackerbau's. Trog der großartigen Entwidiung, welde 
in neuefter Zeit tie amerikaniſche Inpuftrie genommen, iſt doch Amerika bis jegt 
vorzugswelfe Aderbauftaat und wird vorausfihtlid noch auf lange Zeit hinaus 
biefen Sharakter behaupten. If zwar die Probuftion von Cerealien ſchon jegt zu 
tiefigen Dimenfionen angewachſen, fo bleibt gleichwohl noch eine unermeßlige 
Fläche fruchtbaren Bodens, der nur der Hand bes Menſchen harrt, um feine 
Schäge zu erfchließen. Allen Anſchein nah wird die Union mehr nnd mehr die 
Kormnlammer werben, beftimmt, bie übrige Welt in Jahren der Mißernte mit 
ihrem Ueberſchuß zu verforgen, Es gilt freilich in dieſer Beziehung bie ofleuro- 
pätfche Konkurrenz zu bewältigen, d. 5. bie Tramsportloften zu vermindern, eine 











Nordamerikanifche Sreiſtaaten. 815 


Brage, die für die Staaten des ferneren Weftens große Schwierigkeiten bietet 
und vielleiht nur gelöst werben kann, wenn man fih zum Bau eines großen 
Kanals entſchließt, da die Eifenbahnen tie Maſſen kaum bewältigen können unb 
überdem außer Stande find, vie Zransportkoflen auf das zur Konkurrenzfähigkeit 
erforderliche Minimum herabzumindern 27). 

Die amerilanifhe Waizenernte lieferte 1860: 100 Mill. Buſhels; 1860 
war der Ertrag auf 180 Mil. B. geftiegen, Roggen von 14 auf nahezu 20, 
Mais (Welſchkorn) von 591 auf 827, Hafer von 146 auf 172, Gerſte von 5 
auf 15, Buchwaizen von 8 auf 14, Kartoffeln von 55 auf 100 Mid. 8. Der 
Walzen gebeiht verzugswelje in ven Weflftaaten, vor Allem auf dem humusreichen 
Boden des Prärieftantes Illinois, defien Produktion fih von 9 auf 24 Mill. B. 
hob und jetzt den erflen Rang in diefem Zweige der Landwirthſchaft einnimmt. 
Dieſem Staste an Bedeutung zunähft ftehen Indiana und Wisconfin mit je 
15 Mill. B., es folgen Ohio mit 14, Pennfyloanien und Birginien mit je 
13 MIT. B. Eine fleunenswerthe Entwidlung der Waizenkaltur zeigt uns ber 
an Wunden fo reihe Staat Kalifornien, mo 1850 erft 17,000 B. geerntet 
wurden, 1860 faſt 6 Mil. zum Konfum kamen und 1867 fi der Ertrag auf 
nahezu 20 MIN. B. geftellt haben fol. Eine namhafte Abnahme bes Ertrages 
zeigt nur der Stant New⸗York (1850: 13, 1860: 81/, Mill, B.). Die eigent- 
lie Waizenregion liegt im Weſten und Norbweften; von Mais liefert dagegen 
aud der Süden einen immerhin nit unbeträchtlichen Beitrag zur Gefammtpro- 
duktion. Beran ſieht aber auch bier der Staat Illinois, der Über ein Wchtel des 
Geſammtertrages lieferte (1860: 115 Mil. B.); ein Rivale in viefer Kultur ver- 
fpricht der Staat Miſſonri zu werden, der 1860 fa 73 Mil. B. erntete; es 
folgen Indiaua und Kentudy mit reſp. 69 und 64 Mill. B., Zeuneflee (51 MIN. B.), 
Wisconfin (41 Mill. B.), Virginien (38 Dil. B.), Alabama (32 Mil, B.), 
Georgia und Nordcarolina mit je 30 Mil. B. Uebrigens gedeiht der Mais, 
glei dem Walzen, in allen Stanten der Union und felbft der am nörblichften 
gelegene derſelben, Maine, prodncirte davon 1860 nahezu 11/, Mil, B. Der 
Mais vient den mannihfachften Zwecken (felbft zur Fenerung in Gegenden, denen 
zur Zeit noch billige Kommunikationsmittel fehlen), fowohl zur menſchlichen, wie 
thieriſchen Nahrung; die Produktion von Schweinefleifch iſt in erſter Linie non 
dem jedesmaligen Ertrage ber Maisernte abhängig. Die Roggenkultur, welche 
vorzagsmweife in PBennfylonnien und New⸗NYork (reip. 5 u. 4 Mil. B. i. I. 1860) 
betrieben wird, iR im Allgemeinen nicht ſehr beliebt und aller Wahrfcheinlichteit 
nad wirb man dem fo leichten und einträglichen Maisbau auch fernerhin ben 
Borzug geben. Die Hauptproduktionoſtaaten von Hafer find New⸗York (35 Mil. B.) 
und PBennfylvanien (27 Mid. B.), von Gerſte Nem- York und Kalifornien (je 
4 Mil. 8.) In der Kartoffelproduftion nimmt wieherum Wem - York wit 
26 Mid. B. weitaus den erſten Play ein. Pennfylvanien, der nächſtfolgende 
Staat, Ueferte 1860 doch nur 12 Mil. B. Bon nicht geringer Bebeutung iſt 
bie Kultur der fogenannten füßen Kartoffel (sweet potatoe); die Frucht bildet, 
geröftet, ein fehr beliebtes Nahrungsmittel amd ift im Geſchmack unfrer zahmen 
Kaſtanie zu vergleihen; fie wird faft ausfchlieglih in den Südſtaaten lultivirt. 


l. einen leſenswerthen A im 18. Bd. der Dierteljahresfchrift Boltswirtbfehaft 
und —* : de Anbei —A —ES chen Don 


816 naqhtrag. 


Von dem Geſammiertrage (41 Mill. B. i. J. 1860) lieferten Nordcarolina und 
Georgia faſt ein Drittel. 

Bon anderen agrikolen Produkten nennen wir noch den Hanf, befien Pre- 
dultion von 33,193 Tone im Jahr 1850 auf 83,240 Tone tm Jahr 1860 
geftlegen war, davon lieferten im leßtgenannten Jahre Kentudy 33,044, New- 
Dort 32,191 und Mifiouri 15,789 Tone. Erheblich zurädgegangen ift die Flachs⸗ 
fultur, von 71/2 auf 31/, Mill. Pfund, von welchem letzteren Ertrage New⸗Hork 
faft die Hälfte lieferte. Dagegen bat vie Hopfenprobuftion einen großen Aufſchwung 
enommen (1850: 3,496,974 Pfo., 1860: 11,009,883 Pfb.). Im Gtaate 

ew⸗York wurden faft drei Biertel des Gejfammtertrages geerntet; von einiger 
Bebentung iſt nächſt dieſem Staate nur Vermont, das 1860: 631,641. Pfr. 
lieferte. Bon Flachsſaat wurden im ganzen Unionsgebtete gewonnen 1850: 
562,307 ®., 1860: 611,780 8. 

Es begreift fih, daß auf den großen, grasreihen Ebenen, an denen es fafl 
in keinem Staate fehlt, die jährliche Heuernte von erheblihem Umfange fein muß. 
Un der Geſammtproduktion (1850: 14, 1860: 19 Mill. Tone) particpirten im 
hervorragender Weiſe: Nem-Work mit 31/,, Pennſylvanien mit 21/,, Illinois mit 
13/, und Ohio mit 11/, Mill. Tons (i. I. 1860). Bon Kleeſamen iſt vie Pro⸗ 
dutiion von 468,973 B. im Jahr 1850 auf 928,849 B. im Jahr 1860 ge 
filegen, von Örasfamen von refp. 416,831 anf 899,838 B. 

Der Ausbreitung unb Bereblung der Obſtkultur bat bie deutſche Ehnvanbe- 
rung nicht geringen Vorſchub geleiftet. Der Werth der Obſtproduktion hob Aid 
von 71/2 Mi. Doll. im Jahr 1850 anf 191/, Mil. Doll. im Jahr 1860. 
Der die Märkte der großen Stäpte beſuche nde Fremde ftaunt über die nngeheuren 
Mengen von Kirſchen, Erbbeeren, Himbeeren, Pfirfihen, Melonen n. |. w., bie 
dort in großen Haufen aufgeflapelt liegen und im binnenlänbifhen Berlehr eine 
nicht unbedeutende Rolle fpielen, während fi die Kultur ber Hepfel und Birnen 
quantitativ wie qualitativ in neuerer Zeit fo gehoben bat, daß namentlid 
erftere roh und getrodnet au auf ben europätfhen Märkten einen ftetig wachſen⸗ 
den Abfat finden. Auch der Weinbau verbanft feinen Aufſchwung vorzugswelfe 
der Pflege unfrer Yandsleute; derfelbe hat in Ohio, Kentucky und Miffouri, neuer 
dings aber auch in Kalifornien erhebliche Fortſchritte gemadt. Das Produkt ver 
Catawba⸗ und Iſabella⸗Traube iſt zwar nit fehr aromatiſch, doch gilt es 
für geſund und iſt bei der eingeborenen Bevölkerung ſehr beliebt. Wie es ſcheint, 
iſt die große, die Reife zu ſehr beſchleunigende Hitze, verbunden mit dem raſchen 
Temperaturmwechfel der Erzielung eines wirklich feinen, ven beſſeren deutſchen und 
franzöſiſchen Weinen ebenbürtigen Gewächfes binberlih, obwohl man namhafte 
Unftrengungen zur Hebung und Beredlung der Kultur gemacht Bat. Bon großem 
Erfolge find biefe da geweien, wo das Klima der Kultur günftiger iſt, in Kali⸗ 
fornien, welcher Staat allem Unfcheln nad dereinſt im Weinbau einen hervor⸗ 
tragenden Rang einnehmen wird, Die Zunakme ber Geſammiproduktion iſt fehr 
erheblich. 1850 überftieg fie nicht 200,000 Gallens (zu cg. 4 Quartflaſchen); 
1860 wurden 1,800,000 ©. gewonnen, wovon auf Kalifornien bereits 499,000 ©. 
(gegen 60,000 ©. i. 3. 1850) kommen. 

Der namhafte Aufſchwung, welhen im legten Jahrzehnp ver Gemüfebau 
genommen, iſt ebenfalls zu nicht geringem Theil das Berbieuft unfrer Landsleute. 
Dem Werihe nad betrug bie Geſammtproduktion von Gemüfe aller Art 1850: 
5, 1860: 15 Mill. Doll, woran New⸗York, New-Ierfey, Pennſylvanien und 
Kalifornien vorzugsweiſe participirten. Das Einmachen von Gemüfe und Obſt im 


% 


Nordamerikauifche Sreiftaaten. 817 


Blechbuchſen zum binnenlandiſchen und überfeeifchen Berfanbt wird in ben atlan« 
tifchen Küftenftäbten, dann auch in den Hanptplägen bes Weftens in großem Um⸗ 
fange betrieben. 

In Betreff ver Vertheilung der agrikolen Probuftion wird ber Bürgerkrieg 
wahrſcheinlich dauernde Veränderungen zur Folge haben. Bor Ausbruch vesfelben 
probuchrten die Sühftsaten nicht genug, um ihren eigenen Bedarf an Brodfrüchten 
zu deden und der Weften mußte anshelfen; bie Noth des Krieges zwanz fie zur 
Einfhräntung ver Banmmollenkultur, zur Auspehnung bed Anbans von Gerealien, 
und es fleht zu erwarten, baß man dem Lebteren fortan größere Aufmerkſamkeit 
fhenlen werde. 

Die Getreiveernte ber Jahre 1865 und 1866 war nicht ergiebig, theils in 
Folge ungänftiger Witterung, theils, weil in vielen Staaten bie Arbeitäfräfte fich 
als unzureichend erwieſen. Uebrigens verbient an biefer Stelle die Thatſache Er⸗ 
wähnung, daß während des Krieges ber Ausfall der Arbeitskraft der Entwidlung 
der Fabrikation von Aderbaugeräth und Maſchinen einen mächtigen Impuls gegeben 
bat; nur dadurch wird bie bemerkenswerthe Erſcheinung begreiflich, daß, während 
Öunberttaufende ber Feldarbeit entzogen waren, dennoch die agrikole Probultton 
der Nordſtaaten im Durchſchnitt der vier Kriegsjahre eine nennenswerthe Einbuße 
nicht erlitten hat. Sehr ergiebig Ift, wie wir aus Mitthellungen bes bureau of 
agriculture in Waſhington erfehen, bie Getreideernte des Jahres 1867 geweien. 
Bon Waizen und Mais find die größten Erträge erzielt, fie werben annäherung®- 
weife auf refp. über 200 und 1000 Mil. B. gefchägt 29). 

Produkte der Plantagenwirtbfhaft. Die Banmwelle, ein bem 
amerikaniſchen Kontinent einheimiſches Gewaͤchs, hat in der Geſchichte deg Welt- 
handels einer neuen Epoche die Wege gebahnt und if, man kann fagen, für das 
Wohl und Wehe beider Hemisphären von enticheivender Bedeutung gemorben. 
Erft in dieſem Jahrhundert iſt die Baumwollenkultur ber Union zn ihrer welt⸗ 
ll Bedeutung gelangt; was bis zum Schluß des achtzehnten Jahr⸗ 

erts probucht wurde, war unerheblih und erregte nirgends befondere Auf 
merkſamleit. Konnte man in England doch noch im Jahre 1792 die Frage auf 
werfen, ob ganz Nordamerika wohl im Stand fein werde, jährli 100 Ballen 
zu liefern 2) Man ahnte nicht, daß wenige Jahre fpäter der Erfindungsgeift 
eines Whitney der Baumwolle unter ven Stapelprobuften der Welt näcft dem 
Getreide den vorberften Rang erobern werve. Mit der Erfinpung der Reinigungs⸗ 
maſchine beginnt für die Süpftanten der Union die eigentlihe Baummollenära 
mit ihrem Fluch, ver Sklaverei, ber ſchließlich nur in langem, biutigem Ringen 
gejühnt werben Tonnte. 

Verſchiedene Arten von Banmmwolle gebeihen anf amerikaniſchem Boden, 
u. A. hirsutum, herbacaeum und arborescens; die ſogenannte Sea⸗ 
Islaud Baumwolle iſt ihres langen und feinen Stapels wegen beſonders geſchätzt 
und bedingt die höchſten Preiſe. Die Pflanze liebt einen guten, nicht zu ſchweren 
Boden; trockenes Herbſtwetter iſt der Erzielung eines großen Ertrages foͤrderlich, 
der aber ſchließlich durch frühzeitige Nachtfröfte noch weſentüch verkürzt werben 
kann. Diefe, fowie das Ungeziefer (u. U. eine Raupe, der Caterpillar) haben bie 
Erntefhägungen manchmal zu Schanden gemadit. Obgleich im legten Decennium 


, , 4 868 pf4-t 
en madeen zig, de Ede von AR af 


Bluutigli un Bratez, Deuties Staate⸗Woͤrterbuch. Xi. 52 





\ " ⸗ 
818 Nachtrag. 


vor dem Bürgerkriege ſchon jaͤhrliche Ernteerträge von 4 Mill. Ballen (zu 400 Pb.) 
und darüber erzielt wurden, fo ift gleichwohl nod eine wefentlidhe cherang der 
Produktion zu erwarten; noch harren viele Tanfende von Morgen für Baum⸗ 
wollenbau geeigneten Landes ber Menſchenhand, am ihre Schäge zu erfchlieen, 
und wenn mau bebenft, daß bisher nur ertenfio gewirthſchaftet 2 ober vlel⸗ 
mehr der Raubbau die Regel bildete, fo muß man 637 Fi in Zulunft eine 
Berboppelung bes Ertrages keinesweges unwahrfcheinlih ift, wenn einmal vie 
——— geregelt fein werben und man durch Parcellirung großer Guter 
mit Hülfe tüchtiger Urbeitsfräfte ans dem Norden und Enropa eine Intenfive Be⸗ 
wirthihaftung wird eingeführt haben. Was die Dualität betrifft, fo unterliegt 
es laum einem Zweifel, daß vie Vereinigten Staaten das Monopol der Pro- 
duktion auch in Zukunft behaupten werben, denn in der Bereinigung zweckdien⸗ 
liher Eigenfhaften kommt das Prodult keines anderen Landes ber im Handel 
unter ei, Namen Gulf und Upland ootton befaunten amerikanifhen Baum⸗ 
wolle gle 

& ift von Interefle, das Wachen ber Probuttion feit Beginn unferes Jahr⸗ 
hunderts am der Hand der GStatiftil zu Igen. Im Jahr 1801 beteng bie 
Sefammternte faum 100,000 Ballen 9 und ber jahrliche Ertrag hatte ſich bis 
zum Jahre 1820 noch auf wenig über 400,000 BE, gehoben, von da an beginnt 
eine fletige Steigerung, vie im Jahrzehend 1850/60 foloffale Dimenflonen an⸗ 
nimmt und mit dem Jahre 1860 vorläufig ihren Kulminationepunkt erreicht. Die 





Ernte betrug : 
18234: 509,158 Du. 1850: 2,445,793 BU. 
1830: 976,845 „ 1860: 5,196,940 „” 
1840: 2,128,880 „ 
Der daten g des legtgenaunten Jahres vertheilt ſich anf bie verſchiedenen Staaten 
wie 
tet: Miffiifippi: 1,195,699 BL, 1860: 484,292 DU. 
Alabama : 997,978 „m 564429 „ 
Loniſiana: 722,218 „” n„ 178,737 „ 
Georgia : 701,840 „ nv 499,091 „ 
Texas : 405,100 „ " 58,072 „ 
Arkanſas: 867,485 „ n 65,344 „ 
Süpcarolinn: 353,413 „ „300,901 „ 
Zenneflee : 227, ‚450 " 194,532 n 
Nordcaroling 145, 514 45 


: " 50,54 
Der Reft kommt faft ganz auf Florida unb Birginien; was in ben übrigen Staaten 
gebaut wird, iſt durchaus unerheblich, 

Diefem Eoloffalen Fortſchreiten der Probuftion bat der Bürgerfrieg vorläufig 
Halt geboten, Der Impuls zur Steigerung derſelben war mit ber Blockade ber 
Gübftontficen Häfen befeitigt. Die Nothwendigkeit einer Ausdehnung ber Getreide⸗ 
kultur zur Befriedigung bed eigenen Bedarfes, vie allmälig eintretenbe Demorali⸗ 
ſation der hörigen Bevöllerung mußten alsbald zn einer Einſchränkung bes 
Baumwollenbaues führen, und als das Glück des Krieges ſich mehr und mehr 
an die Fahnen der Union heftete', als die Gefahr ber Vedrohung bes eigenen 
Gebietes wuchs, da trat nahezu Stillſtand in ber Baumwollenkultur ein. Was 





30) Wir nehmen das Durchſchnittogewicht wit 400 Pd. pr. Ballen an, was der Witklichteit 
am naͤchſten fein dürfte. 





Nordamerikanifche Sreiftaaten. 819 


von den in ben Ktriegéjahren erzielten Exträgen nach Abzug der durch Freund 
and Feind verbraunten, * ſchlechtem Lager ruinirten oder in den Südſtaaten ver⸗ 
brauchten Baumwolle übrig blieb, war weit weniger, als man allgemein angenommen 
hatte, Ianm über 21/, MIN. Bll., obgleih die belangreiche Ernte des Jahres 1861 
im Laube geblieben wear, Langſam erholt ſich bie Kultur von ben 

en bes Krieges, ber bie Illuſion, als ob die Baumwolle ben Frieden im 

. Zaube erhalten werde, daß Banswalle „König“ fei (cotton is king — damit 
brüßteten ſich hie ſũdſtaatlichen Pflanzer und ihre Geſinnungsgenoſſen tm Norden und 
Bern) allerdinga auf das Gründlichſte zerfiört bat. Im Jahre 1866 wurden 
foum 2 Mid. BU, geerutel und bie Schaͤtzungen des 1867er Ertrages gehen 
meiſtens micht viel über 21/, MIN, BU. hinaus 21). Die Sklavenemancipation 
al Griästerungen berporgerufen, bie erſt langſam und allmälig zu befeltigen 

en. 


Minder ſchwer vom Ariene betroffen wurbe der Tabalebau, der weber im 
Unionsgeblete nweichlieliches Monopol der Sühftanten ift, noch im Welthandel 
Die gleiche Bedeutung hat, wie die Baumwolle. Der Tabak iſt dem neuen Konti- 
nent ebenfalls einheimiſch; bie dem Anbau günſtige Region liegt zwiſchen dem 
84, und 40.0 u. Br. Was von Tabak unter dem Namen Kentudy in ben 
Handel kommt, umfaßt das Produkt dieſes Staates, fowie von Tenneſſee und 
Miſſouri; won Beventung iſt ferner ber Birginy-, ber Maryland» und Ohio⸗ 
Tabak; alle dieſe Sorten kommen in Fäſſer verpadt (Kentudy und Birginy zu 
12 - 1600 Pfb., Maryland und Ohio zu 8900 Pfd.) in den Hanbel, wo⸗ 
gegen ber weiter oben erwähnte soedief Tabak in Kiften von A—500 Pfb. 
verpadt wird, glei Dem Prodult des Staates Florida, einem bem seedlef ver- 





wauhten Gewãchs. 
Der Tabakaban bildete ſchon e vor dem Unabhängigkeitöfriege einen 
nicht en Theil der nationalen it; in ben Altern Kolonialgeiten ver- 


traten Teba (ia Birginien) beinuntlich die Stelle von Umlaufmitteln. Seit 
Beginn. unſres Jahrhunderts hat die Kultur au Ausdehnung zugenommen, indeß 
nicht in der Axt, wie Baumwolle, ba der Tabalsbau den Boden ſtark ausfaugt, 
fo doß afte Steigerung der Produktion, namentlich der ſchwereren Sorten 
nur anf dem Wege rationellerer Bewirthſchaftung möglich fein dürfte. Die Geſammt⸗ 


probsultion betrug : 
1840: 319 Mil. Pfuud 
1850: 19 5, 


2] 


1860: 429 „ 

Anch für den Tabalaban gilt das in Betreff der Baummollenkultur Gefagte; 
Die Witterungönerhältuiife medificren ben Ertrag von Jahr zu Jahr erhebli; 
in Beweff der Menge und Güte weiſen die Iahrgänge oft fehr bebentenbe Unter 
chiede auf. Im Jahre 1860 lieferte Birginien mit 123 Mil. Pfd. das größte 

‚ dann folgte Kentudy mit 108 Mill. Pfo., Tenneſſee und Maryland 
mit je 38 Mill. Pfo. Der Geldwerth der Geſammtproduktion jenes Jahres wird 
auf AO MIN, Doll geihänt. In Folge des Bürgerkrieges hat die Probultton in 
Birginien die größte Kinbuge erlitten; au In Kentudy konnten ber Nähe bes 
xicgeſchaplatzes wegen, ſowie in Folge zunehmender Desorganiſation der Sklaven⸗ 
berditerung in ben letzten Jahren des Kriages früheren Jahren analoge Ertraͤge 


— 


31) ine gleiche Ziffer wird für 1868 in Ausficht geſtellt. 
52% 


820 Nachtrag. 


nicht mehr erzielt werben und fpäter machte fih auch in Maryland der Einfiuf 
bes Krieges in dieſer Hinficht geltend. Uebrigens baflrte der Tabaksban nicht fo 
ausſchließlich aut Sklavenarbeit als die Baumwolle, jo daß fi die durch ven 
Krieg hervorgerufene Umwandlung auf dem Arbeitsgebiete bier raſcher und leichter 
vollzieht und ſchon jetzt wieder normale Propnttionsverhäftniffe eingetreten find. 

Raumlich begrenzter iſt die Kultur des Zuckerrohrs; es kommt hier eigentlich 
nur Loniſiana in Betracht; Texas lieferte bis jetzt wenig ober Nichts und was 
Georgia und Florida ernten, iſt von ganz untergeordneter Bedeutung. Die Pro⸗ 
vuftion Louifiana's betrug 1840: 249,937 Fäfler (gu 1000 Pfe.) 1850: 
226,000 F., 1860: 297,816 %. Die Ernteerträge find großen Schwankungen 
nnterwworfen, veranlaßt durch Witterungsverbältniffe und Infelten. Gntfprechenb 
der Zuckerernte iſt der Ertrag des zurüdhleibenden Theile, der Melaſſe, wonemn 
Lonifiang 1850: 12, 1860: 16 Mill. Gallons lieferte, In der Zeit des Bürger 
krieges iſt die Produktion erheblich eingefhräntt und auch in den leuten Jahren 
tft fie weit Hinter früheren Erträgen zurückgeblieben. In der Kürze gedenken wir 
bier noch der Produktion des Ahornzuckers, wovon 1850: 34, 1860: 40 ME. 
Bfo. gewonnen wurden. New⸗York iſt dabei am flärkfien betheiligt umb Liefert 
Sr den vierten Theil der Gefanmtprobultion. In den Kriegsjahren hat man in 

olge der Abſchließung Lonifiana’s und hoher Zölle anf fremden Zucker vie Pre 
duktion von Ahornzucker nicht nnerheblih gefteigert und au in dem Sorghum 
(Moorhirſe) ein brauchbares Produkt gefunden, von deſſen Melaſſe [don 1860 
über 7 Dil. Gallons gewonnen wurden. Dagegen Bat man ber Kultur des 
wübengnders bi8 jest kaum vorübergehende Aufmerkſamleit geſchenkt. 

b die amerikaniſche Reiekultur bemnächft ihre frühere Bedentung wieder 
erlangen wird, dürfte vor Allem von der Frage abhangen, ob der Neget 
Willens ſein wird, die ſchweren und der Geſundheit nachtheiligen Arbeiten auf 
ben Reisfeldern zu verrichten, denn es iſt mehr wie zweifelhaft, ob die Weißen ben 
Beſchwerden und klimatiſchen Einfläffen der Reisregion —* find. In Georgia 
wurde der Reisbau zuerft verfucht und zwar gegen Ende bes 17. Jahrhunderts, 
mit Körnern von Madagaskar und iſt ſeitdem bort heimiſch geblieben, fo inte 
fpäter and In Suüdcarolina mit Erfolg und In großem Umfang betrieben 2%), In 
den letzten Jahrzehnden bat diefer Staat im Reisbau vor feinem 
entſchiedenen Vorſprung gewonnen. Die Gefammtprobuftion betrug 1850: 215, 
1860 dagegen nur 187 Mid. Pfd. wovon 119 auf Südcarolina, 52 Mid. Pfr. 
auf Georgia entfallen. 

Brodufte der Gewerbthätigleit. Der koloniale Charakter, welcher 
Jahrzehnde lang nad dem NRevolutionskriege dem Wirthſchaftsleben ver Tinten 
anfgeprägt blieb, Hat fich zwar felbft heute noch nicht vbllig verloren und bei vem 
Mangel au Kapital und bei theurer Arbeitskraft mußten Aderbau und Biehzucht 
auf dem jungfräulichen Boden erſt zu voller Entfaltung gelangen, ehe die indu⸗ 
firtelle Entwidlung in größerm Maßſtabe beginnen Tonnte. ber Ueber 
bat fih in Amerika ungleich raſcher vollzogen als anderswo. Die Einwanderung 
von Arbeitskraft und Kapital, der den Amerikaner auszeichnende Erfinbungsgei, 
endlich die Schutzzollpolitik, alle diefe Momente mußten ven Uebergang befihlen- 
nigen und haben in ber That eine bewundernswerthe Blüthe ber induſtriellen 

igfeit hervorgerufen. Es ſind namentlich die Neuenglandſtaaten, melde fräß- 
zeitig bebadht waren, für die Ungunft Ihrer Bobenverhältniffe Erfah in ber In⸗ 


32) Mc. Gregor, 'The progress of America, 2. II, ©. 490, - 











Nordamerikanifche Sreiſtaaten. 821 


buftrie zu ſuchen. Sie bilden ben eigentlichen Gig ber amerilaniſchen Induſtrie, 
namentlih in Baumwolle und Wolle, dann auch in Maſchinen, verfchiebenen 
Metall» und Lederfabrilaten. Als die Region, welde wir heute den „nahen Weſten“ 
nennen, noch eine Wildniß war und New- Ports Welthandel noch in den Winveln 
lag, machten die Neuenglänver fon Verſuche auf induſtriellem Gebtete, Berfuche, 
bie freilich anfänglich erfolglos blieben, aber mit der dem Bewohner bes ameri- 
laniſchen Dftens vorzugsweiſe eigenen Energie und Zähigkeit Immer wieder aufge- 
sommen wurden. Schon im erſten Iahrzehend unferes Jahrhunderts hatte man 
nicht anbebeutend an Terrain gewonnen. Im Jahre 1810 auf Beraulaffung des 
Schagfelretärs veranftaltete Erhebungen ergaben einen jährlihen Geſammtwerth 
amerilaniſcher Induſtrieerzeugniſſe von Doll. 127,694,602. —, wovon weitan® 
dee größte Theil auf die Neuenglandſtaaten entfiel. Die Fabrikate aus Baumwolle, 
Wolle, Hanf, Flachs und Seide vepräfentirten einen Werth von nahezu 40 Mill. 
Doll, Eifenfabritate 14, Lederwaaren 17, Mühlenfabrilate 16. Mil. Doll. Seit⸗ 
dem bat vor Allem die Baumwolleninduſtrie in ben genannten Staaten ftetige 
und großartige Hortfchritte gemacht, fo fehr, daß in ben legten Jahren vor dem 
Bürgerkriege faft der vierte Theil der amerilanifhen Baumwollenernte von hei⸗ 
miſchen Fabrilanten gelauft wurde. Im Jahr 1854 waren 795 Baumwollen- 
fpinnereien und ⸗Webereien in Betrieb, größtentheils im Often, mit einem Kapital» 
aufwand von AO MI Doll. und 62,148 Arbeitern; damals wurbe das Spinnen 
uud Weben noch vielfach als Hausinduſtrie oder in fehr Heinen Etablifiements 
betrieben und der nicht ermittelte Werth viefer Induſtrie wärbe alfo zu obigen 
Ziffern hinzuzufuͤgen fein. 

In der meneften Zeit Haben fih auch In andern Staaten Sige induſtrieller 
ee gebilbet, vor Allem in New⸗York und New⸗Jerſey; von den Staaten 
bes ens verdienen bier Ohio und Miffouri Erwähnung; bort, beziehungs⸗ 
weile in Cincinnati und St. Lonis hat fi, geſtützt durch bie nahe gelegenen 
Schaͤtze an Eifen und Kohlen, ein ziemlich veges induſtrielles Leben entwidelt. 
Dagegen iſt der Süben in induſtrieller Beziehung entfchieben zurüdgeblieben. Iſt 
auch der Ausfprach eines der Abolitionspartei angehörigen Schriftftellere 33) über» 
trieben, „daß der Süden ohne bie Induſtrie der freien Staaten nicht leben und 
nicht ſterben könne”, fo IR doc nicht zu leugnen, daß von einer irgend nennens⸗ 
werthen induſtriellen Thätigkeit in denjenigen Süpftasten, in welchen bie Sklaverei 
das Lehen des Bolles vollſtändig durchdrungen hatte, nicht die Rebe war, und 
auch nicht fein konnte. In wie weit die Inbuftrie auch im Süben Wurzel faflen 
wird, muß die Zukunft lehren; erſt, nachdem bas Problem der Emancipation 
auch in der Praris zn vollftändiger Löſung gelangt, und ein frifcher Zuzug nener 
Urbeitsträfte. efunden, werben bie Bedingungen gegeben fein, unter benen 
allein die. geſunde Entfaltung gewerblicher Thätigleit möglich fein wird. 

Die nachfolgenden Angaben werben die rapide Entwidiung der amerikaniſchen 
Gewerbsthaͤtigkeit veranſchaulichen. Der Gefammtwerth amerikaniſcher Kabrilate betrug 
1850: Doll. 1,019,106,616 —, 1860 vagegen ſchon Doll. 1,900,000,000 — eine 
Zunahme voy 86 %/, in zehn Iahren. Im Iahr 1860 waren in der Inbuftrie 
beidyäftigt 1,385,000 Berfonen, darunter nahe an 300,000 weiblichen Geſchlechts. 
Nimmt man an, daß auf jebe Perfon im Durchſchnitt zwei bis drei Perfonen 
tommen, bie. von dem GErlöfe ihrer Arbeit leben, fo exgiebt fih, daß faſt ver 


3) Helper, The impending crisis of the South, New-York, 1860. 


(u — |) 






833 NAachtrag. 


ſechtie Theil der Bevblkerung direkt ober indirekt von induſtrieller Thazteit I. 
Un roher Baumwolle verbrauchten bie amerikaniſchen Spinnereien 1860: 910000 
(zu 400 Doll.); von 5 Dil. Spindeln befanden fi 4 Mill. allein in ven Ren 
englanbflanten. And die Wolleninduſtrie hat einen namhaften Auffchwung ge 
nommen und if dem Werthe nad von 45 Mill. Doll, im Jahr 1850, anf 
68 Mill. Doll. im Jahr 1860 geftiegen. Dagegen bat die Leineninduſtrie ven 
übrigen Induftriegweigen analoge Fortſchritte bis jest nicht gemacht. Anteerfeits 
ift in der Lederinduſtrie ein ſehr erheblicher Aufſchwung bemerkbar und der Werth 
berfelben Hat fi im genannten Jahrzehnd von 37 auf 63 Mill. Del, gehoben, 
Bekannt iſt die, vorzugswelfe in ven Neuenglandſtaaten einheimtiche Yabrikıtien 
von Schuhen und Stiefein, die einen nicht — Erportartilel biiden. Der 
Werth dieſer Produktion betrug im Jahr 1860 in Maſſachuſetts allein 46 MM. 
Doll. oder 860/, des Geſammtprodultionswerthes im Jahr 1850. Beruhmt find 
ferner die amerikaniſchen Gummiwaaren, deren Geldwerth 1860 nahen 6 MU. 
Doll. betrug, eine Steigerung von 90%, in zehn Jahren. Im Mofchiuenben 
haben die Amerikaner begonnen, mit den Engländern erfolgreich zu konkurriren 
und biefe vielfach bereits überflägelt. Wunderbare Erfolge hat der amertkaniſche 
Erfindungsgeiſt überall da erzielt, wo es fi um bie Erfparniß von Zeit um 
Menſchenkraft in den Heineren Verrichtungen bes täglichen Lebens handelt. In 
Ackerbau hat dieſes Bedürfniß durch die großartig entwidelte Fabrikation wer 
und Maſchinen aller Urt Befrledigung gefunden. Der Gelbwertb her 
Adergeräthe and Mafchinen, der im Jahr 1850 noch nicht 7 Mill. Doll. evreiiht 
Batte, bob fih tm Jahr 1860 anf nahezu 18 Mil. Doll. In ven weſtlichen 
Staaten war der Aufſchwung dieſer Inbuftrie am bebeutenbften un vort bat ihr 
Gelpwerth in dem genannten Jahrzehend um 3—300 9, zugenommen. Im haus⸗ 
lichen Leben fpielt bie amerikaniſche Nahmaſchine jetzt auch bei uns eine widhtige 
Rolle; der Werth diefer Inbuftrie betrug Im Jahr 1860: 41/, RE. Dell. In 


“ ver Fabrikation von Möbeln find ebenfalls erhebliche Fortſchritte zu verzeichnen 


und nur wo die Schnigerel noch einen großen Theil des Gelbwerthes ver einzelnen 
Städe bildet, finden eneopätfde Möbel in der Union auch heute noch eimen, 
freilich beicränkten Markt. Die Schwarzwälberubhren, weldhe früher in Amerlle 
ein bebeutendes Abfatgebiet fanven, find feit Jahren durch die ebenfalls vorzuge- 
weile In den Neuenglandflanten fabricirten, fogenaunten Yankee olocks vom ameri-⸗ 
Tantihen Markte nahezu ganz verbrängt, ja, biefe machen auf fremden Märkten 
dem deutſchen Produlte nicht ohne Erfolg Komkurrenz. 

Der Geſammtwerth amerikaniſcher Induſtrieerzeugniſſe being 1860 (is 
Millionen Dollars) 


Mühlenfabrilate . . . . 224 Eifengaßwaarn . . . . 38 
Baumwollmaarn . . . . 115 Spirktuofe Getrine . . . 25 
Buhl . 2. 2 2 020. 96 Mitcln. . ». 2. 2.2. 24 
Schuhe und Stiefen. . . 90 Gewalztes und Gtangenefn 22 
Leberwanen . . 2... 72 Noblfen . . . 0. . 19 
Tertige Melpungsftäde . .  7O Gegohrene Seträue . . . 18 
Wollenfabriate . . . . 69 Udergeräthe und Maſchinen 17 
Mafhinen . . . .» . .. 47 Baplr . 2 0... 17 
Drudjahen (Bühern.f.w) 42 Seife und ihtr. . . . 17 
Fabricirter ud . . . 8 


8 
Trotz des Auffhwungs der amerikaniſchen Induſtrie war man doch zur Zeit, 
als der Bürgerkrieg begann, in fehr vielen Dingen noch von freuder Imporiation 


Nordamerikaniſche Freiſtaaten. 823 


abhängig. Diefer Umſtand, verbunden mit der wenig freundlichen Haltung, welche 
England und Frankreich den amerilanifhen Wirren gegenüber beobachteten, macht 
es erflärlich, dag der Ruf nad größerem und ‚pielfeitigerem Schuß ber nationalen 
Arbeit überall im Lande Widerhall fand, und das Einlenken in ſchutzzoöllneriſche 
Bahnen raſch und ohne großen Wiberftand fi vollzog. Man kann die Schub- 
zollpolitit verbammen, ohne fein Auge der Thatſache zu verjchließen, daß bie 
amerikaniſche Induſtrie feit Beginn des Krieges duch fie zu flaunenswerther 
Blüthe gelangt if. Ihrer Entwidlung wurde außerbem namhafter Vorſchub ge⸗ 
leiftet durch die raſch und riefenhaft anwachſenden Bedürfniſſe ber Armee und 
Flotte. So feltiem es auf den erften Blid fcheinen mag, es iſt nicht deſto weniger 
Thatfahe, daß das wirthichaftliche Leben in den freien Staaten zu Teiner Zeit 
ſchwungpoller und meiſtens von fo reichen Gewinnen begleitet war, wie in jenen 
Jahren, ale auf den Schlachtfeldern im Süben und Südweſten Hunderttauſende 
ihr Leben opferten.. In ven großen Fabrikdiſtrilten der Nenmglandfinaten, in 
Lowell, Lawrence, Springfield, Providence und anderen Orten 
herrſchte während der legten Jahre des Krieges Tag und Nacht die ange- 
ſtrengteſte Thätigkelt und wohl Eu feiner früheren Zeit wurbe dieſe glängenber 
belohnt. Wie viel von dieſem Aufſchwung ben abnormen Kriege- unb Gelbver- 
hältniffen, wie viel der Tarifpolitik zu danken, iſt ſchwer zu fagen, gewiß iſt nur, 
bag man fi auf einer gefährlichen Bahn befand, daß mit wieberbergeftelltem 
Frieden das induſtrielle Arbeitsgebiet eine weſentliche Einfchränfung erfuhr und 
bie bald darauf eingetretene, unvermeiblihe Reaktion auch heute noch Teinesweges 
völlig überwunden iſt. Für bie europäiſche Inpuftrie iſt vie Wiederherſtellung bes 
amerilanifhen Abſatzgebietes in feinem früheren Umfange kaum zu erwarten. Uns 
belämmert um weitere Konfeguenzen wird man, fo lange bad Schutzzollſhyſtem 
danert, immer mehr ſtreben, fich felb zu genfigen, und in biefem Streben wirb man 
auch darin unterſtützt, daß intelligente Arbeitsfräfte von Europa jet in immer 
größerer Zahl in ber neuen Welt eine induſtrielle Beſchäftigung fuchen und fo 
zur Berbeflerung ber amerilaniihen Fabrikate beiteagen. Die Kehrſeiten des Bildes 
werben ſich erſt mit der Zeit zeigen, obgleich fie dem Tieferblickenden fchon jet 
wicht entgehen. Der Inbuftrialismus, durch den Krieg In feiner Entwidiung bes 
fchleunigt, Yen zu einer, der Neinheit des focinlen und politifchen Lebens 
gefährlihen Macht emporzufteigen, der Geldariſtokratie Hat fi die fogenaunte 
shoddy-xiftofratie %) ebenbũrtig, freilich noch in unliebfamerer Form an bie 


geftellt. 
VIEL Saudel und Schiffahrt. Es iſt der innere Handel ber Union, 
der zunãchſt unfce Aufmerkſamkeit in Anſpruch nimmt, ein Bild fo raſchen und 
en Wachſens und Werbens, daß es fchwer hält, es zn firtren. Wir wer⸗ 
den hier auf Detallangaben um fo eher verzichten bürfen, als einige allgemeine, 
aber charakteriſtiſche Hauptzlige am beften bazu dienen, von ber Entwidlung bes 
Verlehrslebens ein anfchauliches Bild zu geben. Wir ziehen zunächſt deu Güter 
anstauſch zwiſchen Often und Weften in Betracht, als deſſen Hanptvermittler 
New⸗NYork einerfeits, Cincinnati und St. Louis, Buffalo und Chicago anbrere 
feits erſcheinen. Durch New ePorker Banquiers und Händler wird alljährlich bie 


3) shoddy nennt man einen Wollſtoff, der aus den geringften Sorten der Wolle und Abs 

fallen Sei der Schur und Appretur fabricirt, während des Krieges vielfach zur Verwendung fan, 

urch Bent, welche zur Erlangung von Negierungstontraften nicht felten die bedenklichften Mittel 
anwan 


! 


un m I 


822 Nachtrag. 


ſechſte Theil der Bevdlkerung direkt oder indirekt von tabuftieller Thatigteit lebte. 
Un roher Baumwolle verbrauchten die amerilaniſchen Spinnereien 1860: 910, 000 VI. 
(zu — on 5 Bin —— 4 DIE. allein in ven Wern⸗ 
englanbfianten. Auch vie Wolleniubuftrie hat einen namhaften Aufſchwung ge⸗ 
nommen unb {fl den Wertbe nach von 45 Dill. Doll. im Jahr 1850, 5 
68 Mill. Doll. im Jahr 1860 geſtiegen. Dagegen hat die Leineninbuftri⸗ den 
übrigen Induſtriezweigen analoge Fortſchritte bis jet nicht gemacht. Auprerfeits 
iſt im der Eederinbuftre ein ſehr erheblicher Aufſchwung bemerkbar und der Werth 
berfelben Kat fi im genannten Jahrzehnd von 87 auf 63 MIN. Dell 
Bekannt iſt die, vorzugswelfe in den Neuenglandſtaaten einheimiſche 
von Schuhen und Stiefein, die einen nit umwidtigen Erportartilel bilden. Der 
Werth vieler Probuftion betrag Im Jahr 1860 in Maſſachuſetts allein 46 RIM. 
Doll. oder 869), des Sefammtprobuftionawertges im Jahr 1850. Berklaut finb 
ferner die am antfäjen Oummiwaaren, beren Geldwerth 1860 nahezu 6 Mil. 
Doll. betrug, eine Steigerung von 90%, in zehn Jahren. Im Maſchinenban 
haben bie Amerilaner begonnen, mit den Engländern erfolgreich zu konkurriren 
und biefe vielfach bereits überflägelt. Wunderbare Erfolge bat ber — 
Erfindungsgeiſt überall da erzielt, wo es ſich um bie Erſparniß von Beit uns 
Menfchenkraft in ben Tleineren Verrichtungen des täglichen Lebens haudelt. Im 
Aderbau bat dieſes Bedürfniß durch bie —2* entwidelte Fabrtilation von 
Geräten und Maſchinen aller Urt Befrienigung gefunden. Der Gelbwerth ber 
Adergeräthe und Maſchinen, der im Jahr 1850 noch nidht 7 Mill. Doll. ervehiht 
hatte, bob fih tm Jahr 1860 auf nahezu 18 Mil. Doll. In ven weſtlichen 
Staaten war der Aufſchwung diefer Induſtrie am bedeutendſten un vort bat ihr 
Gelbdwerth in dem genannten Jahrzehend um 3—800 9%, —— en. Im Hius- 
lichen Leben fpielt bie amerikaniſche Nahmafchine jest amd bei uns eine wichtige 
Rolle; der Werth diefer Inbuftrie betrug im Jahr 1860: 4/, Re. Dan. Dil. Im 





5 


" der Sabritation von Möbeln find ebenfalls erheblige Fortſchritte zu verzeichnen 


und nur wo die Schnigerel noch einen großen Theil des Gulbwerthes ber 
Städe bildet, finden enropätfhe Möbel in der Union auch Yente noch einen, 
freilich beicjeänften Marti. Die Schwarzwälderuhren, welde früher in Amerika 
ein bebeutenbes Abſatzgebiet fanven, find feit Jahren duch die ebenfalle vorznge- 
weile in den Neuenglandflanten fabricirten, ſogenaunten Yankee olockz vom anıeri« 
kaniſchen Markte nahezu ganz verbrängt, je, bi dieſe auf fremden Märkten 
bem ua Produlte nit ohne Erfolg K 

Der Geſanmtwerth amerilanifcher araferengnife betrug 1860 (im 
Millionen Dollars) 


ini 


Mühlenfabrllate . . . . 224 Eifengaßwnaren . . . . 38 
Baumwollwaarn . . . . 115 Spirktuofe Getränk . . . 25 

Bub . 2. 2 20. 96 Mich. . . 2.2... 24 
Schuhe und Stiefeln. . . 90 ee und Gtangeneffen 22 
Lederwaren . . . . 72 Robin . . 20“ 19 
Fertige Kebungeftäde .. 70 Gegohrene Getraͤnke 18 
—— .... 69 Ackergerathe und Drajchinen 17 
Maſchinen. .. 47 Papier.. 17 
Drudjahen (Bücher n. ſ. w.) 42 Seife und Üihtr. . . . 17 
Fabricirter Zudr . 38 


Troß bes Auffhimungs der amerikaniſchen Induſtrie war man doch zur Bett, 
als ver Bürgerkrieg begann, in fehr vielen Dingen noch von frember Importation 





Nordamerikaniſche Freiſtaaten. 828 


abhängig. Dieſer Umſtand, verbunden mit der wenig freundlichen Haltung, welche 
England und Frankreich den amerikaniſchen Wirren gegenüber beobachteten, macht 
es erklaͤrlich, daß der Ruf nach größerem und ‚pielfeitigerem Schutz ber nationalen 
Arbeit überall im Lande Widerhall fand, und das Einlenken in fchugzölineriiche 
Bahnen raſch und ohne großen Widerſtaud fi vollzog. Dan Tann bie Schutz⸗ 
zollpolitit verbammen, ohne fein Auge ber Thatfache zu verfchließen, daß bie 
amerikaniſche Iubuftrie feit Beginn des Krieges buch ſie zu flaunenswerther 
Blüthe gelangt iſt. Ihrer Entwidlung wurde außerdem namhafter Vorſchub ge- 
leiftet durch die raſch und riefenhaft anwachſenden Bedürfniſſe ber Armee und 
lotte. Sp jeltiem es auf dem erſten Blid fcheinen mag, es iſt nicht& deſto weniger 
atſache, daß das wirthichaftlihe Leben in ben freien Staaten zu keiner Zeit 
ſchwungpoller und meiftens von fo xeichen Gewinnen begleitet war, wie in jenen 
Jahren, ale auf den Schlachtfeldern im Süden und Südweſten Hunberttanfenbe 
Leben opferten. In ben großen Fabrikdiſtrikten der Nenenglandſtaaten, in 
Lowell, Lawrence, Springfield, Providence umd anderen Orten 
herrſchte während ber legten Jahre bes Krieges Tag und Nacht bie ange- 
firengtefte Thätigleit und wohl zu keiner früheren Zeit wurbe dieſe glänzenber 
belohnt. Wie viel von dieſem Aufiäwung ben abnormen Kriegs» und Gelbdver⸗ 
Hältniffen, wie viel ver Tarifpolitit zu danken, iſt ſchwer zu fagen, gewiß ift nur, 
bag man fi auf einer gefährlichen Bahn befand, daß mit wieberhergeftelltem 
Frieden das induſtrielle Arbeitsgebiet eine weſentliche Einſchränkung erfuhr und 
bie bald darauf eingetretene, unvermeidliche Reaktion auch hente noch keinesweges 
völlig überwunden iſt. Für bie europätfche Induſtrie iſt die Wiederherſtellung bes 
amerikaniſchen Abfatgebietes in feinem früheren Umfange kaum zu erwarten. Uns 
befümmert um weitere Konfequenzen wird man, fo lange das Schutzzollſyſtem 
Dauert, immer mehr fixeben, fich ſelbſt zu genfigen, und in viefem Streben wird man 
auch darin unterflägt, daß intelligente Arbeitsfräfte von Enropa jest in immer 
größerer Bahl in ber neuen Welt eine inbuftrielle Beſchäftigung ſuchen und fo 
zur Berbeflerung ber amerikaniſchen Fabrikate beitragen, Die Kehrjeiten des Bildes 
werben ſich erſt mit ber Zeit zeigen, obgleich fie dem Tieferblickenden fchon jetzt 
wicht entgehen. Der Inbuftrialismus, durch den Krieg in feiner Eutwidiung be⸗ 
fchleunigt, beginnt zu einer, der Reinheit des ſocialen und politifchen Lebens 
geführlihen Wacht emporzufteigen, ber Geldariſtokratie bat fi die fogenannte 
shoddy>»Hriftofratie %) ebenbürtig, freilich noch im wunliebfamerer Form an bie 


ſtellt. 

* Kaudel und Schiffahrt. Es iſt ber innere Handel der Union, 

der zunãchſt unſre Aufmerkſamkeit in Anſpruch nimmt, ein Bild fo raſchen und 
| en Wachſens und Werbens, daß es fchwer Hält, es zu firiren. Wir wer⸗ 
den bier auf Detallangaben um fo eher verzichten dürfen, als einige allgemeine, 
aber charakteriſtiſche Hauptzüge am beften dazu bienen, von der Entwidlung bes 
Derichrötebens ein anfchauliches Bild zu geben. Wir ziehen zunächſt ven er⸗ 
anstauſch zwiſchen Oſten und Weſten in Betracht, als deſſen Hanptvermittler 
Resort einerſeits, Cincinnati und St. Louis, Buffalo und Chicago andrer⸗ 
feits erſcheinen. Durch New⸗NVorker Banquiers und Händler wirb alljährlich bie 


3) shoddy nennt man einen Wollſtoff, der aus den gerinaften Sorten der Wolle und Abs 

Sei der Schur und Appretur fabrieirt, während des Krieges vielfach zur Verwendung kam, 

Kate, weldye zur Erlangung von Regierungskontrakten nicht felten die bedenklichften Mittel 
anıyan 


824 Ä Nachtrag. 


große Produktenbewegung von Weſten nach Oſten vermittelt, durch den von New⸗ 
Hort gewährten Krebit ber Abſatz enropäticher und neuengliſcher Fabrilate und ber 
Produkte von Oſt⸗ und Weſtindien in den Stanten des Weſtens bewirkt. 
folgen wir den Waarenzug nad Weſten zunächſt bis Cincinnati, fo treffen wir 
bort auf bie Verkehrsadern, melde ver Ohio und feine Nebenftröme, fowie Eifen- 
bahnen nad verſchiedenen Richtungen bin bilden; geben wir weiter, fo 
wir in Gt. Louis den Pla, der beftimmt zu fein fcheint, für den Berkchr 
zwiichen ben beiden Oceanen dereinſt das große binnenlänbifge Emporium 
werben. Die jetige Bedeutung des raſch emporblähenden Handelsplatzes (Gt. 
zählt bereits über 200,000 Einw.) beruht auf der Vermittlung des Berkehrs 
dem Miſſtſſippi bis nach New⸗Orleans. Die Produkte des Aderbans, ber 
zucht, der Inbuftrie firdmen aus der Nähe und aus weiter Ferne, von der atlan⸗ 
tifhen Küfte kommend, in St. Louis zufammen, um über bie im Bereich bes 
Mifftffippt liegenden Sudſtaaten vertheilt zu werben, und biefe wieber führen 
ihre Baumwolle, ihren Tabak firomanfwärts, um fie in St. Louis abzugeben, ſei 
es, daß fle.bort zum Verlauf gelangen, fet es, daß fie nad Often oder Norben 
vertrieben werben, denn auch nad dem Norben bin gewinnt mit der zunehmenden 
Befievelung die Verkehrsentwicklung, Dank den herrlichen Waſſerſtraßen, welche 
der Miffiifippt und nicht minder der Miſſouri bilden und ben fie ergänzenben 
und ſtützenden Gifenbahnen jährlich größere Dimenflonen. Wird bie große Gifen- 

bem flillen Ocean, in ber von St. Lonis aus lebhaft befürworteten, 
ſüdweſtlichen Richtung (über Arizona und Reu-Meriko) fortgefegt und in wicht zu 
ferner Zeit vollendet, fo würde St. Louis in ver That der Hanptfiapelplak bes 
Binuenlandes werben, wo bie Produkte Afiens und Europa’s mit den Erzeug ⸗ 
niffen der heimifchen Arbeit zum Austaufch gelangen werben. 

Für eine andre, theils durch die Küftenfhiffahrt, theils durch Eiſenbahnen 
geleitete Verkehrsſtrömung, ven Handel zwiſchen Norden unb Süben, bildet wieberum 
New-Hork den Hauptvermittler, während im Süden New-Drleans das Gehen, 
Empfangen umb Bertbeilen von Produkten und Fabrilkaten über ein bebentenbes 
binnenlänbtfches Verkehrsgebiet übernommen hat. Dur New⸗Yorker Krebite wirb 
bie Bewegung von Baumwolle, Tabak uud anderen Probuften nit bloß nad 
den heimiſchen Abſatzgebieten vermittelt, durch die Hände von New - Berker 
Banquiers geht aud weitaus der größte Theil der gegen Berſchiffungen biefer 
Probufkte nad Europa gezogenen Tratten. In New⸗NYork kauft der fühftnntliche 
Händler europäiſche und uenenglifche Fabrikate und forgt für Dedung, nachden 
ihn fein Abnehmer, der ſüdſtaatliche Pflanzer mit dem Erlbſe aus feiner Ernte 
bezahlt Hat. New⸗Otleans, ver Hauptausfuhrplag der Union, bat in Folge des 
bay gehöeen, um Me Gtaht winet ja Ihrer früheren Tommerellen Bebentung 
dazu ren, um bie t wieber zu ihrer 
emporzußeben. Auch Richmond, Gharlefton” Savannah, Mobile und Galveſton 
haben fehr geltten, doch find dieſe Häfen vergleihswelfe von geringerer Beden⸗ 
tung, ihr ehrögebiet reicht nicht weit über bie Grenzen ihrer reſpeltiven 
Staaten hinaus, auch im internationalen Handel nehmen fie unter den Untons- 
häfen den zweiten Rang ein, ein großer Theil der ihnen zugehenden binmenlän- 
bifhen Produkte gelangt erft auf dem Umwege über New⸗York in den Welthandel; 
von Bedeutung iſt Ihr Küſtenſchiffahrtsverkehr, der durch Dampferverbinbungen 
mit New⸗York, Philadelphia und Baltimore zu immer größerer Blüthe gelangt. 

Bon New-Hork wenden wir uns nad Norbweften, wo hauptjächlich ber theiis 
durch die binnenlänbijchen Seen, theils durch Kanäle und Eifenbahnen 


— 


$8 er 








Nordamerikaniſche Sreiſtaaten. 826 


Getreidehandel unfre Beachtung verdient. Im Jahre 1862 wurden 145 Mill. 
Buſhelt Geireide von Nordweſten nad der atlantifhen Hüfte befärbert, eine 
flaunenswerthe Zunahme, wenn man bebenkt, daß das Geſammtquantum, das in 
biefer Richtung 1840 zur Verſendung kam, Taum 5 MIN. B. betrug. In Buffalo, 
viefem großen Getreideemporium am Erieſee, wurben im Jahr 1862 an Getreide 
und Mehl 72 Mill. B. eingeführt, in Chicago am Michiganſee betrugen bie Zu- 
fahren im Jahr 1865: von Walzen 11, Welſchkorn 13, anderen Getreiveforten 
18 MIN. B., von Mehl 11/, Dil. Barrels (zu circa 200 Pfund). Ehicago zieht 
allmälig in fein Vertehrsbereih die Produkte der Staaten Illinois, Wisconfin, 
Jowa, Minneſota, Kanſas und der nördlich und norbiweftlich gelegenen Territorien, 
fowie eines Theils des Staates Miſſouri und vermittelt dahin wieder die Pro- 
dukte eigener, nenenglifcher und europälfcher Gewerbthätigleit: in erfter Beziehung 
nimmt, wie wir ſahen, das gefalzene Fleiſch einen hervorragenden Rang ein. 

Iſt im ganzen Gebiete von Norden nad Süden, von Often big au bie 
Weſtgrenze Miffourt’8 der Handel zu hoher Entwidlung und großer Mannig⸗ 
faltigteit gelangt, jo bewegt er ſich auf den weiter weſtwaͤrts gelegenen unermeß- 
schen Flächen noch vielfach in primitiven Formen. Erft zu Anfang der zwanziger 
Jahre wagten kühne Abentheurer fi weſtwärts von St. Louis vor uud Manche 
von ihnen mußten ihre Kühnheit mit dem Tode duch die Streitart des Indianers 
büäßen. Die Beförderung von Waaren gefhah bis zum Jahre 1824 auf Saum- 
tieren; im darauf folgenden Jahre wurde zum erften Male ein Wagen zu biefem 
Zwecke gebraudt. Die ehrsentwidlung war ſeitdem zwar ftetig, aber body nur 
longjam, denn der Waarentransport war theils durch die Unwegfamfeit der Straßen, 
theils duch Weinpfeligleiten der Indianer vielfach gehemmt; jetzt, wo es mit der 
großen Eiſenbahn nad dem flillen Dcean Ernſt wird, entwidelt fih auch in 
jenem fernen Welten mit der zunehmenden Sicherheit ein regeres Verkehrsleben. 
est iſt der Perfonen- und Güterverkehr zwiſchen Kanſas City im Gtante Kanfas 
und Utah und Neu⸗Meriko einerfeits, Nebrasta, Colorado und Dacotah andrerfeits 
vollſtaͤndig geregelt und auf den verfchiebenen Routen findet zn gewiflen Jahres- 
zeiten ein reges Leben flatt. Die Lage ber Straßen iſt genan nach den Forde⸗ 
rungen des Berlkehrs gewählt; die Reifen gejchehen noch heute in Geſellſchaften, 
bie Waarentransporte gehen nicht ohne binlängliche Bedeckung; beſchwerlich und 
abentenerlih iſt das Leben, welches vie Begleiter folder Karavanen auf ihren 
Zügen über bie weiten Prärien und Gteppen führen. Der Geldwerth dieſes 
Handels wird für das Jahr 1861 auf 101/, Mill. Doll, gefhäst, wovon 3 auf 
den Hanbel mit Nen⸗Mexiko, 6 auf die Goldregionen von BPile's Beat, 
1/ auf Utah und 1 Dill. auf den Handel mit Indianern kommen. Beſchäftigt 
find in biefem Handel 11,000 Treiber, 844 Pferde, 67,950 Ochſen umb 
69223 Wagen. Der Verkehr bewegt fi auf einem Theil ver Ueberlaubronte narh 
Galifornien. 

Der Handel biefes Staates, eben fo raſch emporgebläht wie ſein Hafen 
San-francisco, iſt von dem Verkehr der atlantifchen Küfte mit dem weftlichen 
Hinterlande vielfach, verſchieden. Noch iſt das Hinterland am ftillen Ocean gu 
dünn befievelt, al® daß von einem weitverzweigten binnenlänbifchen Berkehr die 
Rede fein könnte. Der Weg von der pachfifhen bis zur atlantifchen Küfte ift felbft 
mit Dampfern und mit der Eifenbahn über die Landenge von Panama welt umd 
toftfpielig, der Waarenverkehr geht daher zum großen Theil um das Gap Horn 
und nur Paflagiere und werthvolle Sachen gehen ven kürzeren Weg. Die große 
Eifenbahn wirb in dieſer Beziehung erhebliche Veränderungen hervorrufen. —* 


826 Badtrag. 


feiner noch dünnen Beflevelung ift ber Innere Hanbel Californiens ſchon jet von 
nicht geringer Bedentung; das Produkt ver Goldminen (i. 3. 1865 für 45 Mil. 
Dol,) wird nad San Francisco gebracht, um von dort na New-Morl und 
europätfchen Häfen beförbert zu werben. Wie ſich der Handel mit anders Pro 


bulten gehoben, zeigen folgente Zahlen der Ausfuhr San o für a8 
Jahr 1865 35): 

Waizen 392,791 Side Häute 335,690 Stüd 

Hafer 107,964 „ Bolle 15,000 Ballen 

Gafe 149,115 „ Holz 9,941,681 Fuß 


Ueber ven Iſthmus von Panama wurden im Laufe des genannten Jahres 
über 24,000 Tons (zn 2240 Pfund) Warren nah Sau Frauciéco befärbert. 
Bon jährlich fleigendem Umfange iſt der pacifiſche Küſtenverkehr wit für 
amerilaniſchen Häfen; jetzt eröffnet ſich mit der Einrichtung einer direkten Dampfer- 
verbindung eine neue, große Zukunft für ven Handel mit den Häfen Ehina’s 
Iapan’s 


und . 

Wir berüßren bier den internationalen Handel der Union und wenden uns, 
um von biefem ein allgemeines Bild za entwerfen und bie Darftellung des binnen- 
landiſchen Verkehrs zugleich im vielen Punkten zu vervollfiännigen, wieber bem 
Hafen New Port zu, dem Hauptvermittler des internationalen Handels der Union. 
New- Hort, das mit Einfhluß ver Nachbarſtädte Brofiyn, Williamsburg und 
Hobolen jegt über 1 MIN. Einw. zählt, verdankt fein außerorbentliches ⸗ 
thum der Guuſt feiner geographiſchen Tage nicht minder als dem praktiſchen Büd 
feiner Kaufleute, der fräh die natürlichen Bortheile nutzbar zu machen ſtrebte. So 
bat fich aus beſcheidenen Anfängen bie Stadt rafh zu einem Welthaubelsplag 
erften Ranges emporgeboben; felbft vie ſchweren Zeiten bes Bürgerkrieges, bie 
andre Stäbte ber Union in ihrer Entwidiung aufbielten, haben New» York zu 
neuem Aufſchwung verholfen. Rew⸗York hat dadurch, daß es ven Geldverkehr ber 
gefammten Union in feinen Mauern toncentrirte, feine vorherrſchende Stellung im 
amerilaniſchen Handel für allezeit befeftigt; die Zeit, wo die Nachbarhäfen durch 
Ihre Konkurrenz gefährlich zu werden drohten, ift längft dahin; felt ver Erielanal 
uud bie Eriebahn vollendet, iſt das Wadsthum des inneren Handels New⸗NYork's 


unaufbaltfam geweſen. Bon heimiſchen Probulten wurden im Jahr 1866 in New⸗ 
York eingeführt : 
Mehl 3,650,490 Barrels 
—— 44,000,000 Bushelo 
erpentin 
a Beh ht. } 548,628 Barrel 
Provifionen 1,746,163 Colli 
Reis 4,544 „ 
Zuder 5,591 Täffer 
Tabat 63,624 „ 
Baumwolle 657,883 Ballen 
Volle | 119,998 „ 


Die Einfuhr New⸗Nork's von Tabak und Baumwolle war vor dem Kriege 
noch nicht erheblih; bald nad eingetretener Blodabe ver Süphäfen begaunen bie 
Pflanzer von Kentudy, Tenneflee und andren Staaten ihre Probulte nah Rew⸗ 


Pig) Baiät des Bremer Confuls in San Francisco, Bremer Handelsblatt, Jahrgang 1986. 


nNnordamerinaniſche Sreiſtaaten. 997 


York zn Venen und fo iſt biefer Play jetzt auch zu einem Tabalsmarkte von 
besvorragender VBebentung geworben unb ben Händlern von New» Orleans wirb 
es ſchwer werden, das in biefer Beziehung verlorene Terrain in feiner früheren 
Ausdehnung wieder zu gewinnen. Bermöge feiner ausgebehnten und vielfeitigen 
— hat New⸗ —28 auch dem Baumwollengeſchäft eine immer größere 


zu geben verfl 
er bebeutenb iR ie Stadt aber im Hinblid auf ben Internationalen 
Handel der Union; New⸗Hork ift der Haupteinfuhrhafen des Landes und gegen 
bie Importation New⸗NYorks fällt die Geſammteinfuhr aller übrigen Häfen kaum 
in’6 Gewicht. Im Jahr 1832 betrug die Einfuhr New⸗York's dem Wertbe nad 
kaum 50 Mill, Doll, feitdem iſt fie ſelbſtverſtaäͤndlich mit vielfachen Schwankungen 
het 8 gewachſen und hatte für das Jahr 1866 einen Gefammiwertb ven 
Mil, Doll, erreit; davon kommen auf: 


MAD. 
Europätiche Fabrilate 126 
Kolonialwaaren u. ſ. f. 171 
Edelmetalle 9 
Dagegen betrug ber Werth der Ausfuhr nach fremden Häfen im felben Jahre: 
254 Mill. Doll. (in Papiergeld; der Werth der Einfuhr iſt in Gold angegeben), 
von biefer Wusfuhr fallen auf: 


Heimiſche Produkte 1861, 
Fremde Waaren sh 
Edelmetalle 
Dan fieht, daß and die Ausfuhr von nicht geringer Bedentung iſt; der Krieg 
bat der Stadt, wie bemerkt, in biefer Hinficht große Vortheile augefübrt. 
Zahr Was die ann 3 bes Platzes betrifft, fo Tiefen im genannten 


Sch gnnengeh. Schiffe ee onnen sch. 

Ameritaniſche Flagge 1616 944, 863 Ton 1138 756,222 ons 
Fremde Flaggen 8372 1,752, 462 „ 3282 1,752,668 „ =). 
In Wolge des Krieges hat fi das aumertiche Berhättaif zu Ungunften der 

hetmikhen Sing: erheblich berknbert, wie ſchon oben bemerkt 

ew⸗York für den Importhandel, das iſt ober war New · Orleans für 
das —235 Erportgeſchaft. Dort fand vor dem Kriege der größte Theil der 
Baumwollenernte und faſt bie ganze Tabalsernte von Kentudy, Tenneſſee unb 
Miſſouri ihren natürliden Markt, denn vermöge ver billigen Transportkoften auf 
dem Miffiffippt und feinen Rebenflüffen fonnten anbre —* namentlich ſo lange 
das Eiſenbahnnetz noch wichtiger Mittelglieder entbehrte, nicht mit dem fir den 
bel unvergleichlich gunnn gelegenen Golfhafen konkurriren. Im Jahr 
1857 betrag der Werth der in New⸗Orleans eingeführten heimiſchen Produkte 
167 Mill. Doll, darunter 75,000 Faſſer Tabak im Werth von 111/, Mil. Doll, 
nnd 1,678,616 Ballen Banmwolle im Werth von 88 Mil. Doll.; von biefen 
beiden Artikeln gelangte der größte Theil der Anfuhren feewärts ober tüftenwelfe 
zur Ausfuhr, während ber Geſammtwerth der fremden Einfuhr im gemaunten 
Jahre nur 25 Mil. DoU. betrug. Außer Tabak und Baumwolle fand faft bie 


3) Commerce and navigation 1866, herausgegeben vom Bureau of statistics in Wa⸗ 


828 Nachtrag. 


ganze Zuckerernte Louiſiana's in New-Drleans ihren Markt (1857: 897,697 Fäffer 
im Werth von 18 Mill. Doll.). Davon gelangte der größte Theil zur küſten⸗ 
weiſen Berfhiffung nach allen atlantifchen Häfen, nörblih Bis Portland im 
Staate Maine. Dur ven Krieg wurde, wie erwähnt, bie Hanbelsbläthe von 
New «Orleans geknickt und erft almälig erholt man fi von ben Leiven bes 
blutigen und zerflörenden Kampfes; im Jahre 1866 hatte die Baumwollenzufuhr 
erft wieber bie Ziffer 780,490 BU. erreicht, wovon 145,000 BU. nah New⸗York, 
80,000 BU. nad Boſton verfhifft wurden. 
Ueber die Schiffahrtsbewegung finden wir folgende Zahlen für 1866: 


Eingelaufen Ausgelaufen 
Ameritaniſche Flagge 159 Schiffe 74,116 Tons 290 Schiffe 173,926 Tons 
Fremde Flaggen AT nm 154200 „ 43 „ 141812 „ 


Bon den übrigen Häfen nennen wir nod einige Plätze, bie zwar an Be 
deutung ben großen Emporten am Hubfon und am Golf weſentlich nachftehen, 
immerhin indeß unfre Beachtung verbienen. Wir gedenken zunähft Baltimore’s, 
bas vermöge feiner natürlichen Tage manche Vortheile bietet und, wäre biefe recht⸗ 
zeitig ausgenützt, für ben binnenlänbifchen Verkehr New⸗Nork eine nicht verädt- 
lihe Konkurrenz gemacht haben würde; aber indem bie großen Verkehrsſtraßen 
nad dem Ertefee früher vollendet wurden, als die Baltimore- und Ohlo⸗Eiſen⸗ 
bahn, entſchied fi das Uebergewicht New- Ports: Der Lage und Größe Balti⸗ 
more's (etwa 250,000 Einw.) ſcheint der Umfang ber Handelsbewegung wenig 
zu entfpredhen; bie Statiſtik ber letzten Dekade (1850/60) entbehrt jener über- 
rafchenden Momente, welche die Handelsentwicklung New⸗Yorks kennzeichnen. So 
bat fi ver Werth der Einfuhr Im genannten Jahrzehnd von 7 auf wenig über 
10 Mil. Do. gehoben und aud die Ausfuhrziffern zeigen ungefähr dasſelbe 
Berhältnuiß (6 auf 9 Mill. Doll). Im Iahr 1860 machte man erfolgreiche Ber- 
fude, Baumwolle und Kentucky⸗Tabak in größeren Maffen nah Baltimore zu 
ziehen. Bon Memphis in Tenneffee konnte der Ballen Baumwolle zu wenig 
über 3 Doll, direkt an Borb des Schiffes in Baltimore geliefert werben umb 
Tabak mit der Eifenbahn felbft von St. Louis zu etwa 1 Doll. die 100 Pfund. 
Durch Dampferverbindung mit Rihmond gelangte auch ein, freilich geringer Theil 
der virginifgen Tabalsernte nach Baltimore und da ber Play für land und 
Ohio⸗Tabak ein natürliches Monopol befaß, fo war die Erwartung gerechtfertigt, 
daß wit der Zeit Baltimore zum erften Tabaksmarkte ver Unton emiporwadhien 
werde: Der Krieg bat diefe Hoffnungen vereitelt. In feinen Sy getbeilt 
und von der Bundesregierung mit Argwohn angefehen, äberbem nicht felten mit 
feindlichen Invaflonen bedroht und durch Berftörung von Eiſenbahnen von ber 
Berbindung mit dem Junern mehrere Male faft gänzlich abgeſchnitten, konnte 
Baltimore als Markt Teine Anziehungskraft bieten und ver Strom der Waaren 
wandte fich in immer ſteigendem Umfange New⸗Vork zu. Seit Wi 
bes Friedens ift man nicht ohne Erfolg beftrebt geweſen, bie erlittenen Einbußen 
wieber gut zu machen und Berjäumtes nachzuholen. Durch Einrichtung einer 
direkten Dampferverbinbung mit England iſt dem internationalen Verkehr bereits 
ein lebhafter Impuls aegehen; mit dem Jahre 1868 trat aud eine virelte 
Dampferverbindung mit Bremen in's Leben; unter folden Auſpicien wird man 
Alles aufbieten, um bie 1860 gemachten Verſuche in größerem Mafftabe zu er 
neuern. Früher war Baltimore der erſte Kaffeemarkt der Union, fpäter nahm 
New⸗Orleans in diefer Beziehung ven erfien Plag ein, bis in nenefler Zeit auch 
in biefer Branche New⸗York die Vorherrſchaft zugefallen if. Doc iſt Baltimore 








Nordamerikaniſche Sreiflaaten. 829 


Kaffeezufuhr jet wieder im Zunehmen und betrug, nachbem fie (1868) auf 
73,957 Säde gefunten war, 1866 ſchon wieber 160,487 Säde, faſt ansfchließlich 
von Braftlien importirt, Im Jahre 1867 betrug bie Zufuhr fogar 266,926 ©. 
pie hoöchſte Bis jegt erreichte Ziffer, 

Bon anderen Häfen kommt Richmond vornehmlih für ben Export von 
Birginy-Tabat und Stengen ,‚ dann auch von Mehl in Betracht. Charlefton, 
Savannah, Mobile und Galveflon vermitteln neben New⸗Orleans und New⸗VYork 
vorzugsweiſe die Ausfuhr von Baumwolle; Eharlefton iſt daneben der Haupt. 
reismarkt, der fih aus früher angegebenen Gründen indeß ſchwerlich wieder zu 
ſeiner früheren Bedentung in dieſer Branche emporheben dürfte. Philadelphia iſt 
weniger wichtig für ben internationalen Handel, als für ven binnenlänbifchen 
Bertehr in einzelnen Produkten. Die ungehenren Kohlen- und Eiſenſchätze Penns 
Iyluantens gelangen zu nicht geringem Shell in Philadelphia und deſſen nächfter 
Umgebung zu weiterer VBerwenbung und and von Petroleum gelangı ein großer 
Theil der Ausbeute dorthin. Auch die Erzeugniffe der Baummolleninbuftrie be» 
nachbarter Staaten finden in Philadelphia ein ſich ftetig erweiterndes Abſatzgebiet; 
ver Einfuhrwerth viefer Fabrilate betrug dort 1860 ſchon reichlich AO MIN. Doll. 
und bat ſich feitvem noch erheblich geftelgert. 

Wir gedenken ſchließlich noch in der Kürze des Handels ber Union mit den 
beiden Kanada's und den übrigen Provinzen von Britiſch⸗Nordamerika. Seit 
Abſchluß des Neciprocitätsnertrages von 1854, welder einer großen Zahl von 
Lebensmitteln und Robftoffen der Inpuftrie beim Ein- und Ausgang Zollfreiheit 
gewährte, hat ber Verkehr einen namhaften Auffhwung genommen. Die Koblen- 
ausfuhr aus Neu⸗Schottland, weldhe 1860 erſt 204,000 Tons beirug, mar 1864 
auf 500,000 Ton geftiegen. Der Geſammtwerth ber zollfrei aus Kanada ein- 

eführten Waaren betrug im Durchſchnitt der Jahre 185663: 14,5 MIN. Doll, 

ndirekt ift freilich durch den Vertrag auch dem Schmuggelhanbel in bebenklicher 
Weiſe Vorſchub geleiftet worden; beiſpielsweiſe wurbe amertlantiher Mais nad 
Kanada gelegt, um in ber Form von Branntwein wieber in bie Union geſchmuggelt 
zu werben. Bielfache Mißverſtändnifſe und Streitigkeiten entflanden daraus, und 
bie, England feindlihe Stimmung der Amerilaner während des Bürgerkrieges 
that ein Uebriges, um ben Kongreh zur Kündigung bes 1866 abgelaufeneu Ver⸗ 
trages zn veranlaffen 37). Uns ſcheint man bei biefem Beſchluß mehr ber natio- 
nalen Animofität nachgegeben zu haben, als von richtiger Würbigung ber beider 
ſeitigen Interefien geleitet geweſen zu fein. Eine Erneuerung des Vertrages, mit 
einigen Mopifilationen wird früher over fpäter unansbleiblich fein, benn bie Be⸗ 
ziehungen zwiſchen beiden Stantengruppen find mannigfach und von intimſter Art 
und bie Bortheile des alten Vertrages waren für bie Union wahrlich nicht gering. 
Bon der Geſammtzufuhr amerikaniſcher Produkte in Kanada, Im Jahr 1863: 
14 Mill. Doll. betragend, vepräfentirten 12 Mill, Doll. Waaren, welde, Dank 
dem Reciprocitätsvertrage, zollfrei eingegangen waren. 

Faſſen wir fehlieglih ven Gefammt-Erport und »Import zu verfchiebenen 
Zeiten in Zahlen zufammen, fo zeigt fi and im Ganzen das überraſchende 
Wachethum des Internationalen Handels: 


37) Bol. Freiherr v. Hol: Die Finanzen umd Finanzgeſchichte der Vereinigten Staaten, 
— ei Cotta 1867, ein mit außerordentlichem Fleiß und nicht geringer Sachkenntniß 
gefhriebenes Buch, dem wir auch für die nächften Abſchnitte werthvolle Notizen entlehnen. 





828 


⸗ 


Nachtrag. 
Eh an geuifana’e in 8 in Reiw-Drleans Ihren Markt gest; 4 
weifen Sein tl. Doll). Davon gelangte der gräl 


nach allen atlaı na Häfen, nd 
Bene ah 
Blntigen mans gelnidt und erft almälig erholt man fihz 
er 8 und —— Kampfes; im Jahre 1866 bei 
20,000 2 oer 780,490 Br. reißt, monen ı un 
el ac Bofkon verfaifit 


te —— — finden wir io 


MM =$ E33 
J 

—— Flagge RS Ei 1 74, us 57 * 
Bon — übrigen Haf⸗e 


jener, 
aa une Kine natürliche ” 2 ® %; 

genäßt, für ben bi * 
liche —E Fr at I = 


Kar; Häfen Yeanen Er sets} er 
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raſchenden — mel, { 5“ 


me 
4488,38 „ 
über 8 Doll. m wen zwar füonı Bor dem Unabhn; 
Ta te u ihre Baht, wie fir, äfstunfeng Waren, ber 
Dan 208 Bolt ik vielfach gehemmiten — 


der Annahme der Bundesverfafiung das —— — in 
aepublik kaum 2 Mill. Doll. Hamilton, ber —— währe 


‚ga site Beäfbentjäaft, mat: 1790 den Borfiflag 


zur Errichtung 
Saatsbant „ala Mittel, vie Staaieſchald leichter und ben matle- 
* 4 Melt von auswärtigen Fre unabhängiger zu —*2 Er fie damit 


beftige Oppofition, an beren Spige keine geingezen en Dekmner, als Jeffer- 
A und Mapdifon fanden. Nach langen Debatten kam man überehn, 

tom die Entſcheldung zum überlaſſen, welcher fich fer die A ge 
Hamiltonſchen Vorſchlages — fo daß die Bank 17: 

United States in’ Lehen trat. nene Jufitut, beffen Freibrtef bie 
unter allen Umftänden in Kraft hen "te, war eine Wohlthat für bie Wirte 
ſchaftointereſſen der Union und warf feinen Aktionären zugleig eine 
deutende Rente ab. Schatzſekretär Gallatin, ber im Jahr 1809 eine 


bes Freibriefes bi t Ausweis über die 
— — sn 


a 
& 
E 
mR 





3) Commeros and navigation, 1886, 


Nordamerikanifche Sreiftnaten. 831 
> Onthaben in Stantspapiren D. 2,230,000. — 
” Darlehen 0 . . 0 0 0 M 15,000,000. — 
* Wuthaben bei anderen Banken 800,000. - D. 18,080,000. — 
ar \ woorrath . . . . . . 60 . . . . N) 5,000,000. — 
2 4 ‘dbefig, Gebäude und Inventar. . . 2 2 m 480,000. — 
2% N D. 23,510,000, — 


Hal.» 2.2... DD. 10,000,000. — 


2 5% 5 ee 200m 8,500,000. — 
N 3 » Umlaufe . . „ 4,500,000.— D. 23,000,000. — 
a Se „ Adentliche Säle einzubehaltender Uebecſchuh von Doll. 
—22 5% an indeß Über Gallatin's Antrag ſchlüſſig mwurbe, 
* er #35 id der Freibrief erloſch, mit ihm die Thätigkeit ber 
er = way des Krieges mit England übernahmen bie Banken 
ou 52 8% Heil der Bundesanleihen und vermittelten zugleich 
> 2 r Bundeseinkünfte. Aber ſchwer lag der Handel 
a % „ a2 on Papiergeld hatten zur Folge, daß bie ſüd⸗ 
h 5, => pn Tirten Banken ihre Baarzahlungen einftellten. 


* —3 8 1814 brachte der bamalige Schapfelretär 
& x 4 * 2 * gals zur Sprache. Der Vorſchlag führte 


—A * 9 rãſentantenhauſe ſtellte fich bei der Ab⸗ 
u RR 8 2 enbirte BIN Stimmengleichheit heraus, 
%; ** x dem Haufe zurüd. Die Wiederauf⸗ 
EN »tte kein Ergebniß; völlig in den 
| Jan der Sache, als bald darauf 


„uyiand eintraf. Der Kongreß ließ bie 

„ »uyen, brachte fie vielmehr bald darauf wieber zur 

„yooße einer zu biefem Zwecke nicbergefegten Kommiſſion 

„art hervor, der, mit zahlreihen Zufägen verfehen, durch Zeichnung 

ſidenten Mapdifon am 10. April 1816 Gefegestraft erhielt. Doch nicht 
‚gleich begann das neue Staatsinftitut the United States Bank feine Wirkfam- 
keit. Gin Agent wurde nach Guropa gefandt um Gold zu kaufen, wovon 1817 
md 1818 7 Mil. Doll. importirt wurben und ehe bie Bank ihre Iegitimen 
Gefhäfte begann, gab fie ſich dazu ber, ver wildeſten Fondsſpekulation Vorſchub 
3 leiften, ein Verfahren, das ihr nicht unerhebliche Verluſte zuzog, und fie lange 
eit verhinderte, mit Gewinn zu arbeiten. Im Jahre 1820, wo ein großer Theil 
ber in Folge der Ermerbung Louiſiana's kreirten Schuld fällig wurde, während 
bie Staarslaffe leer war, unterftügte die Bank die Regierung duch ein Darlehen 
und rettete dadurch den Öffentlichen Kredit. Ohne befonbere Unfälle fegte fie tn 
ben folgenden Jahren ihre legitimen Geſchäfte fort. In feinee Botfhaft vom 
Jahr 1829 erflärte Präfivent Jackſon, daß er fomohl bie Zwedmäßigteit, als 
auch die Fonftitutionelle Berechtigung einer Staatsbank entſchieden in Abrede ftelle, 
eine Auſicht, der indeß bie Legislatur nicht beipflichtete. Der Rechenſchaftsbericht 
der Bank für das Jahr 1832 lautete günftig, nah Abzug ver Paſſiva ftellte ſich 
ein Bankvermögen von 43 Mill. Doll. heraus. Das Kapital der Bank war auf 
35 MIN, Doll. feftgefegt. Kein Wunder, daß das Publikum Vertrauen faßte und 
bie Depofiten ver Regierung und von Privatperfonen anſehnlich zunahmen. Gleich 
wohl beharrte Jackſon (December —* bei er Anfiht und bezweifelte fogar 
bie Zahlungsfähigkeit der Bank, fo daß er fih 1833 veranlaßt fah, öffentliche 
Welver im Betrage von 8 MIN. Do. plöglih ans ven Gewölben ber Bant 





826 Badtrag, 


feiner noch binnen Beflebelung iſt der innere Hanbel Ealiforniens ſchon jeit 
nicht geringer Bedeutung; das Probuft der Golpminen (t. I. 1865 für 45 
Doll.) wird nad San Francisco gebraht, um von bort nad New «Vorl 
europätfchen Häfen beförbert zu werben. Wie fih ber Handel mit andern 
bulten gehoben, zeigen folgente Zahlen ber Ausfuhr San Fraueisce’s für 
Jahr 1865 85): 

Waizen 392,791 Säde Hänte 335,690 Stüd 

Safer 107,964 „ Wolle 15,000 Ballen 

SGerſte 149,115 „ Holz 9,941,681 Fuß 

Ueber den Iſthmus von Panama wurden im Laufe des genannten Jahres 
über 24,000 Tons (zn 2240 Pfund) Waaren nah San fyrancisco befärvert. 

Bon jährlich fleigendem Umfange ift ber pacifiſche Küſtenverkehr mit füß 
amerilaniſchen Häfen; jegt eröffnet ſich mit ver Einrichtung einer direlten Dampfer⸗ 
berölnbung eine neue, große Zukunft für den Handel mit den Häfen China's 
und Japan's. 

Wir berühren hier dem internationalen Handel der Union und wenben ums, 
um von biefem ein allgemeines Bild za entwerfen und bie Darftellung des binnen⸗ 
landiſchen Verkehrs zugleih in vielen Punkten zu vervollſtaͤndigen, wieber dem 
Hafen New⸗NYork zu, dem Hanptvermittler des internationalen Handels der Union. 
New Hort, pas mit Einfchlug der Nachbarſtädte Broflyn, Williamsburg und 
Hobofen jegt über 1 MIN. Einw. zählt, verbantt fein außerorventliches Wachs⸗ 
thum der Gunft feiner gesgrapbiiden Lage nicht minder als dem praftifhen Blid 
feiner Kaufleute, der fräh die natürlichen Vortheile nutzbar zu machen firebte. So 
bat fih aus beſcheidenen Anfängen bie Stabt raſch zu einem Welthaudelsplat 
erftien Ranges emporgehoben; felbft die ſchweren Zeiten des Bürgerkrieges, bie 
andre Städte der Union in ihrer Entwidlung aufbielten, haben New -Pork zu 
neuem Aufſchwung verholfen. Rem-Nork bat dadurch, daß es ben Gelbverlehr ber 
gefammten Union in feinen Mauern koncentrirte, feine vorherrſchende Stellung im 
amerilaniſchen Handel für allezeit befeftigt; die Zeit, wo bie Nachbarhäfen durch 
ihre Konkurrenz gefährli zu werben brohten, iſt längſt dahin; feit ver Erielanal 
und bie Eriebahn vollendet, if das Wachſthum des inneren Handels New- Ports 
unaufhaltſam gewefen. Bon heimifchen Produkten wurden im Jahr 1866 in New⸗ 
York eingeführt : 


4 





Mehl 3,650,490 Bartels 
— 44.000,000 Bushels 
erpentin 
Sa Beh ef. } 548,628 Barrels 
Brovifionen 1,746,168 Colli 
Reis 4,544 „ 
Zucker 5,591 Fäffer 
Tabal 63,624 „ 
Baumwolle 657,383 Ballen 


Wolle 119,998 „ 
Die Einfuhr New⸗Nork's von Tabak und Baumwolle war vor dem Kriege 
noch nicht erheblich; bald nach eingetretener Blockade der Süphäfen begannen bie 
Pflanzer von Kentudy, Tenneflee und andren Stanten ihre Probulte nad New⸗ 


eeite ı Zeriqht des Bremer Conſuld in San Francibco, Bremer Handelsblatt. Jahrgang 1866, 








Norbamerikanifche Ereiſtaaten. 997 


York zn fenden und fo iſt biefer Platz jet auch zu einem Tabaksmarkte von 
besvorragender VBebentung geworben unb den Hänblern von New - Orleans wirb 
e8 ſchwer werben, bas in biefer Beziehung verlorene Zerrain in feiner früheren 
Anadehnung wieder zu gewinnen. Bermöge feiner ausgebehnten und vielfeitigen 
Küſtenſchiffahrt hat New Dort auch dem Baummollengefhäft eine immer größere 
Unspehnung zu geben verſtanden. 

Bor Allem beveutend iſt die Stadt aber im Hinblid auf den internationalen 
Handel der Union; New-Dork ift der Hanpteinfuhrhafen des Landes und gegen 
bie Importation New⸗Yorks fällt die Geſammteinfuhr aller übrigen Häfen kaum 
in's Gewicht. Im Jahr 1832 betrug die Einfuhr New⸗York's dem Werthe nad) 
kaum 50 Mil. Doll., ſeitdem ift fie felbftverflänblich mit vielfachen Schwankungen 
ſtetig ge und batte für das Jahr 1866 einen Geſammtwerth von 
3 ill. Doll. erreiht; davon kommen auf: 


Mill. D. 
Europälfche Fabrilate 126 
Kolonialwaaren u. |. f. 171 
Edelmetalle 9 
Dagegen betrug der Werth der Ausfuhr nach fremden Häfen im felben Jahre: 
254 Mil. Doll. (in Papiergeld; ver Werth der Einfuhr iſt in Gold angegeben), 
von biefer Ausfuhr fallen auf: 


Mill. D. 
Heimiſche Produlkte 1861/. 
Fremde Baaren —* 
Edelmetalle 62 


Man ne daß auch die Ausfuhr von nicht geringer Vebentung iſt; der Krieg 

bat der Stadt, wie bemerkt, in dieſer Hinficht große Vortheile zugeführt. 

Ya Was die Schiffahrtsbewegung des Plages betrifft, fo Iiefen im genannten 
re: 


ein aus 
Schiffe Tonnengeh. Schiffe Tonnengeh. 
Ameritaniſche Flagge 1616 944,863 Tons 1138 766,222 Tons 
Freude Flaggen 3372 1,752,462 „ 3282 1,752,668 „ ®). 
In daolge des Krieges bat fi das numerifche VBerhältniß zu Ungunften ber 
heimiſchen Flagge erheblich verindert, wie ſchon oben bemerft. 

Was New⸗NYork für den Importhandel, das if oder war New⸗Orleans für 
das amerikaniſche Erportgefhäft. Dort fand vor dem Kriege der größte Theil ber 
Baumwollenernte und faft die ganze Tabalsernte von Kentudy, Tenneſſee und 
Miffouri ihren. natürlichen Markt, denn vermöge der billigen Transportloften auf 
dem Miffffippi und feinen Nebenflüfſen konnten andre Okken, namentlich fo lange 
das Eiſenbahnnetz noch wichtiger Mittelgliener entbehrte, nicht mit dem für den 
Erporthandel anbeegleichtich auf gelegenen Golfhafen Tonkurriren. Im Jahr 
1857 Betrag ber Werth der in New» Orleans eingeführten heimiſchen Produkte 
167 Mil. Doll,, darunter 75,000 Fäfler Tabak im Werth von 111/, Mill. Doll. 
und 1,678,616 Ballen Baumwolle im Werth von 88 MIN. Doll; von biefen 
beiden Artikeln gelangte der größte Theil der Anfuhren ſeewärts oder küſtenweiſe 
zue Ausfuhr, während der Geſammtwerth der fremben Einfuhr im genannten 
Jahre nur 25 Mil, Doll, betrug. Außer Tabak und Baumwolle fanb faft bie 


36) Commerce and navigation 1866, beraudgegeben vom Bureau of statistics in Wa⸗ 


40 





826 Nachtrag. 


feiner noch dännen Befiedelung iſt der innere Handel Callforniens ſchon jetzt 
nieht geringer Bedeutung; das Probuft der Goldminen (i. I. 1865 für 
Doll.) wird nad San Francisco gebradt, um von bort nad Nem-Morl und 
europäiſchen Häfen beförbert zu werben. Wie fih der Handel mit andern Pro 
buften gehoben, zeigen folgente Zahlen der Ausfuhr San Frauecisco's für das 
Jahr 1865 9): 
Walzen 392,791 Side Haute 835,690 Stüd 
Safe 107,964 „ Wolle 15,000 Ballen 
Gefe 149,115 „ Hol 9,941,681 Fuß 
Ueber den Iſthmus von Panama wurden im Laufe des genannten Iahres 
über 24,000 Tons (zu 2240 Pfund) Waaren nah San Francisco befärbert. 
Bon jährlich ſteigendem Umfange iſt der pacifiſche Küſtenverkehr mit füh- 
amerilaniſchen Häfen; jest eröffnet fi mit ber Einrichtung einer direlten Dampfer⸗ 
—— eine neue, große Zukunft für den Handel mit den Häfen Ehina’s 
und Japan's. | 
Wir berühren bier den internationalen Handel der Union und wenben ums, 
um von biefem ein allgemeines Bild zu entwerfen und bie Darftellung des binnen⸗ 
länbifhen Berkehrs zugleih in vielen Punkten zu vervollfländigen, wieder dem 
Hafen New⸗York zu, dem Hanptvermittler des internationalen Handels der Union, 
New⸗VYork, das mit Einfchluß der Nachbarſtädte Broklyn, —— und 
Hoboken jetzt über 1 Mill. Einw. zählt, verdankt fein außerordentliches Wachs⸗ 
thum der Gunft feiner geographiſchen Tage nicht minder als dem praftifhen Bid 
feiner Kaufleute, der früh bie natürlichen Vortheile nutzbar zu machen firebte. So 
bat fih aus beſcheidenen Anfängen die Stabt raſch zu einem Welthandeloplat 
erfin Ranges emporgehoben; felbft vie ſchweren Zeiten bes Bürgerkrieges, die 
anbre Stäbte der Union in ihrer Entwidlung aufbielten, haben New - York zu 
neuem Aufihwung verholfen. New⸗NYork bat dadurch, daß es ven Geldverkehr ber 
gefammten Union in feinen Manern foncentrirte, feine vorherrſchende Stellung Im 
amerilanifgen Handel für allezeit befeftigt; die Zeit, wo bie Nahbarhäfen burd 
ihre Konkurrenz gefährlich zu werben drohten, iſt längft dahin; ſeit ver Crielanal 
unb die Eriebahı vollendet, ift das Wachſthum bed inneren Handels New- Ports 
unaufbaltiam geweien. Bon heimifchen Produkten wurden im Jahr 1866 in Hew- 
Dort eingeführt: 


Mehl 3,650,490 Barrels 
Setrelbe 44,000,000 Bushels 
erpentin 
—— ef. } 548,628 Barrel 
Brovifionen 1,746,163 Colli 
Neid 4,544 „ 
Buder 5,591 Fäfier 
Tabak 63,624 „ 
Baumwolle 657,383 Ballen 


Wolle 119,998 „ 
Die Einfuhr New-Yor!’s von Tabak und Baumwolle war vor dem Kriege 
noch nicht erheblich; bald nad) eingetretener Blockade der Süphäfen begannen bie 
Pflanzer von Kentudy, Tenueflee uud andren Stanten ihre Probufte nah Rew- 


Geite } geiät des Bremer Conſuls in San Francieco, Bremer Hanbelöblatt, Jahrgang 1886, 








Norbonerikanifdhe Sreiſtaaten. 827 


York zu fenden und fo iſt dieſer Platz jest auch zu einem Tabaksmarkte von 
besvorragender Bedeutung geworben unb den Händlern von New > Orleans wirb 
e8 fchwer werben, bas in biefer Beziehung verlorene Zerrain in feiner früheren 
Ausvehuung wieder zu gewinnen. Bermöge feiner ausgebehuten und vielfeitigen 
Küftenichiffahrt hat News Mor auch dem Baummollengefhäft eine immer größere 
Ausbehnung zu geben verſtanden. 

Bor Allem bedeutend iſt die Stadt aber im Hinblid auf den internationalen 
Handel der Union; New-Nork ift der Hanpteinfuhrhafen des Landes und gegen 
bie Importation New⸗VYorks fällt die Gefammteinfuhr aller übrigen Häfen kaum 
in’s Gewidt. Im Jahr 1832 betrug die Einfuhr New⸗Yorlk's dem Werthe nad 
faum 50 Mill. Doll., ſeitdem ift fie jelbfiverftänblic mit vielfahen Schwankungen 
ſtetig gewachſen und hatte für das Jahr 1866 einen Geſammtwerth von 
306 Mil, Do, erreicht; davon kommen auf: 


Mill. D. 
Europälfche Fabrilkate 126 
Kolonialwaaren u. ſ. f. 171 
Edelmetalle 9 
Dagegen betrug der Werth der Ausfuhr nad fremden Häfen im ſelben Jahre: 
254 MI. Doll. (in Papiergeld; der Werth. der Einfuhr iſt in Gold angegeben), 
von biefer Ausfuhr fallen auf: 


MU. D. 
Heimiſche Produkte 1861/, 
Fremde Waaren bi 
Edelmetalle 62 


Man fieht, daß auch die Ausfuhr von nicht geringer Bebentung iſt; ber Krieg 

bat ber Stabt, wie bemerkt, in biefer Hinficht große Vortheile zugeführt. 

Ya Was die Schiffahrtsbewegung bes Pilates betrifft, fo Tiefen im genannten 
te: 


ein aus 
Me Tonnengeh. Schiffe Tonmengeh. 
Ameritaniſche Flagge 1616 944,863 Tons 1138 766,222 Tons 
Frende Flaggen 3372 1,752,462 „ 3282 1,762663 „ ®). 

In Folge des Krieges hat fi das numerifche Verhältmiß zu Ungunften ber 
heimiſchen Flagge erheblich verinvert, wie ſchon oben bemerkt. 

Was MNew-Pork für den Importbandel, pas if ober war New Orleans für 
das amerikaniſche Erportgefhäft. Dort fand vor dem Kriege der größte Theil ber 
Baumwollenerute und faſt bie ganze Tabalsernte von Kentudy, Tenneſſee und 
Mifionri ihren natürlichen Markt, denn vermöge der billigen Transportloften auf 
dem Miffiffippt und feinen Nebenflüffen konnten andre Häfen, namentlich fo lange 
das Eiſenbahunetz noch wichtiger Mittelgliever entbehrte, nicht mit dem für den 
Exrporthandel unvergleictid gunn, gelegenen Golfhafen konkurriren. Im Jahr 
1887 betrug der Werth der in New⸗Orleans eingeführten heimiſchen Produkte 
167 Mill. Doll,, darunter 75,000 Fafſer Tabak im Werth von 111/, Mill. Doll. 
und 1,678,616 Ballen Baumwolle im Werth von 88 Mill. Doll.; von biefen 
beiden Artikeln gelangte ber größte Theil der Anfuhren ſeewärts ober küſtenweiſe 
zur Ausfuhr, während der Geſammtwerth ber fremben Einfuhr im genannten 
Jahre nur 25 Mill. Doll, betrug. Außer Tabat und Baumwolle fand faft die 


36) Commerce and navigation 1866, herausgegeben vom Bureau of statistics in Wa⸗ 


40 


826. Nachtrag. 


feiner noch dünnen Befiedelung iſt ver innere Handel Ealiforuiens ſchon jetzt 
nicht geringer Bedentung; das Prodult der Goldminen (i. I. 1865 für 45 
Doll.) wird nad San Francisco gebradt, um von dort nad Nem-Morl und 
enropätfchen Häfen beförbert zu werden. Wie fi der Handel mit andem Pro 
dulten gehoben, zeigen folgente Zahlen der Ausfuhr San Francisco’s für das 
Jahr 1865 9): | 
Waizen 392,791 Säde Häute 335,690 Stüd 

Safer 107,964 „ Wolle 15,000 Ballen 

Gafe 149,115 „ Hol 9,941,681 Fu 

Ueber den Iſthmus von Panama wurden im Laufe des genannten Jahres 
über 24,000 Zons (zu 2240 Pfund) Waaren nad San Francisco befärkert. 

Bon jährlich fleigendem Umfange iſt der pacifiſche Küſtenverklehr mit ſüd⸗ 
amerilaniſchen Häfen; jegt eröffnet fi mit der Einrichtung einer direlten Dampfer⸗ 
besinbung eine neue, große Zukunft für den Handel mit den Häfen China's 
und Japan’s. 

Wir berühren bier ven internationalen Handel ber Union und wenben ums, 
um von biefem ein allgemeines Bild zu entwerfen und bie Darftellung des binnen⸗ 
ländifhen Berkehrs zugleih in vielen Punkten zu vervollfländigen, wieder bem 
Hafen New Port zu, dem Hanptvermittler des internationalen Handels ber Union. 
New York, das mit Einſchluß der Nachbarſtädte Broklhyn, Williamsburg und 
Hoboken jegt über 1 MIN. Einw. zählt, verdankt fein außerorbentliches Wadhs- 
thum ber Gunſt feiner geographiſchen Lage nicht minder als dem praftiihen Bld 
feiner Kaufleute, der früh bie natärlihen Vortheile nutzbar zu machen firebte. So 
hat fi aus beſcheidenen Anfängen die Stabt raſch zu einem Welthaubelspiag 
erfien Ranges emporgehoben; ſelbſt die ſchweren Zeiten bes Bürgerkrieges, bie 
andre Städte der Union in ihrer Entwidlung aufbielten, haben New » York zu 
neuem Aufihwung verholfen. Rew-Hork hat dadurch, daß es ven Geldverkehr ber 
gefammten Union in feinen Mauern foncentrirte, feine vorherrſchende Stellung im 
amerilanifgen Handel für allezeit befeftigt; die Zeit, wo bie Nachbarhäfen durch 
ihre Konkurrenz gefährli zu werben drohten, ift längſt dahin; ſeit ver Erielanal 
unb die Eriebahn vollendet, ift das Wachſthum bes inneren Handels New⸗VYork's 
unaufhaltſam geweien. Bon heimiſchen Produkten wurden im Jahr 1866 in New⸗ 
Dork eingeführt: 


J— 


Mehl 3,650,490 Barrels 
—— 44,000, 000 Bushels 
erpentiu 
Se Bet. } 548,628 Barrels 
Provifionen 1,746,163 Colli 
Reis 4,544 „ 
Buder 5,591 Fäfier 
Tabak 63,624 „ 
Baumwolle 657,383 Ballen 


Wolle 119,998 „ 

Die Einfuhr New⸗Nork's von Tabak und Baumwolle war vor bem Kriege 
noch nicht erheblich; bald nad) eingetretener Blockade der Süphäfen begannen bie 
Pflanzer von Kentudy, Tenueflee und andren Staaten ihre Probulte nach Rew⸗ 


u, Briöt des Bremer Conſale in San rancie, Bremer Sunblsielt, Japrgeng 1896, 








nordamerinaniſche Sreiftaaten. 827 


York zu ſenden und fo iſt dieſer Platz jest auch zu einem Tabalsmarkte von 
besvorragenber VBebentung geworben und den Hänblern von New» Orleans wirb 
es ſchwer werben, das in biefer Beziehung verlorene Zerrain in feiner früheren 
Ausdehnung wieder zu gewinnen. Bermöge feiner ausgedehnten und vieljeitigen 
Küftenfchiffahrt hat New⸗Vork auch dem Baumwollengeſchäft eine immer größere 
Ausbehnung zu geben verflanden. 

Bor Allen beveutend iſt die Stadt aber im Hinblid auf dem internationalen 
Handel der Union; New⸗-York ift der Hanpteinfuhrhafen des Landes und gegen 
bie Importation New⸗Yorks fällt die Geſammteinfuhr aller übrigen Häfen kaum 
in's Gewicht. Im Jahr 1832 betrug die Einfuhr New-Por!’s dem Werthe nad) 
taum 50 Mil. Doll., feitvem ift fie felbftverftänblic mit vielfachen Schwankungen 
fletig gewachſen und hatte für das Jahr 1866 einen Gefammtwertb von 
306 Mil, Doll, erreicht; davon kommen auf: 


Mill. D. 
Europäifche Fabrikate 126 
Kolonialwaaren u. |. f. 171 
Edelmetalle 
Dagegen betrug der Werth der Ausfuhr nach fremden Häfen im felben Jahre: 
254 Mill. Doll. (in Papiergeld; der Werth der Einfuhr ift in Gold angegeben), 
von biefer Wusfuhr fallen auf: 


Mill. D. 
Heimiſche Produkte 1861/, 
Fremde Waaren 51/z 

. Edelmetalle 62. 
Man fieht, daß auch die Ausfuhr von nicht geringer Bedentung iſt; ber Krieg 
Bat der Stabt, wie bemerkt, in dieſer Hinficht große Vortheile angeführt. 
Was die Schiffahrtobewegung bes Platzes betrifft, fo Liefen im genannten 
te: 


ein aus 
Schiffe Tonnengeh. Schiffe Tonnengeh. 
Ameritaniſche Flagge 1616 944,863 Tons 1138 766,222 Tons 
Fremde Flaggen 3372 1,7562,462 „ 3282 1,752,668 , 3). 

In Volge des Krieges hat fi das numeriiche Verhältniß zu Ungunften der 
heimiſchen Flagge erheblich veründert, wie ſchon oben bemerft. 

Bas New⸗NYork für den Importbandel, das ift oder war New⸗Orleans für 
das amerilaniſche Erportgefähäft. Dort fand vor dem Kriege ber größte Theil der 
Baummwollenerste und faſt die ganze Tabalsernte von Kentudy, Tenneſſee und 
Miſſouri ihren. natiirliden Markt, denn vermöge der billigen Transportkoſten auf 
dem Miffffippi und feinen Nebenflüffen konnten andre Oken, namentli fo lange 
das Eifenbahunes noch wichtiger Mittelgliever entbehrte, nicht mit bem für ven 
Erporthandel unvergleichlich zunnn gelegenen Golfhafen konkurriren. Im Jahr 
1857 betrug ber Werth der in New⸗Orleans eingeführten heimiſchen Produlkte 
167 Mi. Doll,, darunter 75,000 Faſſer Tabak im Werth von 111/, Mil. Doll. 
unb 1,678,616 Ballen Baumwolle im Wert von 88 Mill. Doll.; von biefen 
beiden Artikeln gelangte ber größte Theil der Unfuhren ſeewärts oder küſtenweiſe 
zur Ausfuhr, während der Gefammtwerth ber fremden Einfuhr im genannten 
Jahre nur 25 Mil. Doll, betrug. Außer Tabak und Baumwolle fand faft bie 


356) Commerce and navigation 1866, herausgegeben vom Bureau of statistics in Wa⸗ 


40 





828 Nachtrag. 


ganze Zuckerernte Louiſiana's in New⸗Orleaus ihren Markt (1857: 397,697 Fäffer 
im Werth von 18 Mil. Doll.). Davon gelangte der größte Theil zur kliſten⸗ 
weiſen Verſchiffung nach allen atlantifchen Häfen, nörklih bis Portland im 
Staate Maine. Dar ven Krieg wurde, wie erwähnt, bie Handelsblüthe von 
New⸗Orleans geknickt und erſt allmälig erholt man fi von ven Leiden bes 
blutigen und zerftörenden Kampfes; im Jahre 1866 hatte die Baummollenzufuhr 
erft wieber bie Ziffer 780,490 DH. erreicht, wovon 145,000 BU. nah New⸗VYork, 
80,000 BU. nad Boſton verfhifft wurden. 
Ueber die Schiffahrtsbewegung finden wir folgende Zahlen für 1866: 


Eingelaufen Ansgelaufen 
Amerilanifche Flagge 159 Schiffe 74,116 Tons 290 Schiffe 173,926 Toms 
Fremde Flaggen 477 5 15422 „ 18 „ 141812 „ 


Bon ben übrigen Häfen nennen wir noch einige Plätze, bie zwar an Be⸗ 
deutung ben großen Emporien am Hubfon und am Golf weientlih nachfichen, 
immerhin inbeß unfre Beachtung vervienen. Wir gebenten zunähft Baltimore’s, 
das vermöge feiner natürlichen Lage manche Vortheile bietet und, wäre dieſe recht⸗ 
zeitig ausgenägt, für ven binnenlänbifhen Verkehr New⸗Nork eine nicht verächt⸗ 
lihe Konkurrenz gemacht haben würbe; aber indem die großen Verkehrsſtraßen 
nad dem Ertefee früher vollendet wurden, als bie Baltimore- und Obio-Eifen- 
bahn, entfchied fi das Uebergewicht New- Ports. Der Lage und Größe Balti⸗ 
more’8 (etwa 250,000 Einw.) fcheint der Umfang der Handelsbewegung wenig 
zu entfpredden; die Statiftif ber legten Dekade (1850/60) entbehrt jener über- 
raſchenden Momente, welche bie Handelsentwicklung New⸗Yorks kennzeichnen. So 
bat fi der Werth der Einfuhr im genannten Jabrzehnb von 7 anf wenig über 
10 Mil. Doll, gehoben und and vie Ausfuhrziffern zeigen ungefähr dasſelbe 
Berhältnig (6 auf 9 MIN. Doll). Im Jahr 1860 machte man erfolgreiche Ber- 
fuhe, Baumwolle und Kentudy-Tabal in größeren Maflen nah Baltimore zu 
ziehen. Bon Memphis in Tenneffee konnte der Ballen Baummolle zu wenig 
über 8 Doll. birelt an Borb des Schiffes in Baltimore geliefert werben und 
Tabak mit der Eifenbahn felbft von St. Louis zu etwa 1 Doll. die 100 Pfund. 
Durh Dampferverbindung mit Richmond gelangte aud ein, freilich geringer Theil 
ver pirginifchen Tabalsernte nah Baltimore und da der Play für land und 
Ohio⸗Tabak ein natürliches Monopol befaß, fo war die Erwartung gerechtfertigt, 
daß wit der Zeit Baltimore zum erften Tabaksmarkte der Union emporwachſen 
werbe: Der Krieg hat diefe Hoffnungen vereitelt. In feinen 
und von ber Bunbesregierung mit Argwohn angeſehen, überdem nicht felten wit 
feindligen Invaflowen bedroht unb durch Zerflörung von Eiſenbahnen von ber 
Berbindung mit dem Innern mehrere Male faft gänzlich abgefdmitten, konnte 
Baltimore als Markt Yeine Anziehungsfraft bieten und ber Strom der Waaren 
wandte fi in immer ſteigendem Umfange New- Port zu. Seit Wiederherſtellung 
bes Friedens iſt man nicht ohne Erfolg beftrebt geweien, die erlittenen Cinbußen 
wieder gut zu machen und Berfäumtes nachzuholen. Durch Einrichtung einer 
birelten Dampferverbinbung mit England iſt dem internationalen Verkehr bereits 
ein lebhafter Impuls 5 — mit dem Jahre 1868 trat auch eine virelte 
Dampferverbindung mit Bremen in's Leben; unter folden Aufpicien wird men 
Alles aufbieten, um bie 1860 gemachten Berfuche in größerem Mafftabe zu er- 
neuern. Früher war Baltimore ber erſte Kaffeemarkt der Union, fpäter nahm 
New⸗Orleans in dieſer Beziehung ven erften Plag ein, bis in neuefler Zeit auch 
in diefer Branche Rew-Pork die Vorherrſchaft zugefallen iſt. Doch iſt Baltimore's 


Nordameribkaniſche Sreiflaaten. 829 


Kaffeezufuhr jet wieder im Zunehmen und betrug, nachdem fie (1863) auf 
73,957 Säde gefunten war, 1866 ſchon wieder 160,487 Säde, faft ausſchließlich 
von Brafllien importirt. Im Jahre 1867 betrug die Zufuhr fogar 266,926 ©. 
die hoͤchſte bis jegt erreichte Ziffer. 

Bon anderen Häfen kommt Richmond vornehmlih für den Erport von 
Birginy-Tabal und Seengeln ‚ dann auch von Mehl in Betracht. Charlefton, 
Savannah, Mobile und Balvefton vermitteln neben New⸗Orleans und New⸗York 
vorzngöweife die Ausfuhr von Baumwolle; Eharlefton ift daneben ber Haupt⸗ 
reismarkt, ver fih aus früher angegebenen Gründen indeß ſchwerlich wieder zu 
feiner früheren Bebentung in dieſer Branche emporheben dürfte. Philadelphia iſt 
weniger widtig für ben Internationalen Handel, als für den binnenlänbifchen 
Berlehr in einzelnen Produkten. Die ungeheuren Kohlen⸗ und Gifenfhäge Penn⸗ 
ſhlwaniens gelangen zu nicht geringem Theil in Philadelphia und deſſen nächſter 
Umgebung zu weiterer Berwenbung und auch von Petroleum gelangt ein großer 
Theil der Ansbente dorthin. Auch die Erzengnifie der Baummwolleninbuftrie be» 
nachbarter Staaten finden in Philadelphia ein fich ftetig erweiterndes Abfatgebiet; 
ber Einfuhrwerth diefer Fabrikate betrug dort 1860 ſchon reichlih AO Mil, Doll. 
und bat fich feitbem noch erheblich gefteigert. 

Wir gedenken ſchließlich noch in ver Kürze des Handels ber Union mit ben 
beiden Kanada's und den übrigen Provinzen von Britiſch⸗Nordamerika. Seit 
Abſchluß des NReciprocitätsnertrages von 1854, welder einer großen Zahl von 
Lebensmitteln und Rohſtoffen der Induſtrie beim Ein- und Ausgang Zollfreiheit 
gewährte, bat ber Berlehr einen namhaften Aufſchwung genommen. Die Kohlen- 
ausfuhr aus Neu⸗Schottland, welche 1860 erfl 204,000 Tons betrug, war 1864 
auf 500,000 Tons geftiegen. Der Geſammtwerth ver zollfrei aus Kanada ein- 

eführten Waaren betrug im Durchſchnitt der Jahre 1856—63: 14,5 Mill. Doll, 

nbiret iſt freilich durch ben Vertrag auch dem Schmuggelhanbel in bedenklicher 
Weiſe Vorſchub geleiftet worden; beiſpielsweiſe wurde amerikaniſcher Mais nad) 
Kanada gelegt, um in ber Form von Branntwein wieber in bie Union gefchmuggelt 
zu werben. Bielfache Mißverſtändnifſe und Streitigkeiten entflanden daraus, und 
bie, England feindliche Stimmung ber Amerilaner währen des Bürgerkrieges 
that ein Uebriges, um den Kongreß zur Kündigung des 1866 abgelaufenen Ber⸗ 
trages zu veranlaffen 37), Ins fcheint man bet biefem Beſchluß mehr ber natio⸗ 
nalen Animofttät nachgegeben zu haben, als von richtiger Würbigung ber beider 
jeitigen Interefien geleitet gewefen zu fein. Eine Erneuerung bes Bertrages, mit 
einigen Modifikationen wird früher oder fpäter unanshleibli fein, denn die Be⸗ 
ziehungen zwiſchen beiden Staatengruppen find mannigfad und von intimfler Art 
und bie Bortheile des alten Vertrages waren für bie Union wahrlidh nicht gering. 
Bon der Geſammtzufuhr amerilantfher Produlte in Kanada, im Jahr 1863: 
14 Mill. Doll. betragend, repräfentirten 12 Mil. Doll. Waaren, welde, Dant 
dem NReciprocitätsvertrage, zollfrei eingegangen waren. 

Baffen wir fehlieglih den Sefammt- Export und Import zu verfchiebenen 
Zeiten in Zahlen zufammen, fo zeigt fi and im Ganzen das überrafchenbe 
Wachsthum des internationalen Handels: 


. 


37) Bol. Freiherr v. Hol: Die Finanzen und Finanzgeſchichte der Vereinigten Staaten, 
enge Con 1867, ein mit en —* und nicht geringer Sachlenntniß 
geſchriebenes Buch, dem wir auch für die nächften Abfchnitte werthvolle Notizen entlehnen. 


880 Nachtrag. 


Jahre Ewort MIN. Do. Import Mill. Doll. 
1790 20 23 


1800 70 91 

1810 66 85 

1820 69 Ta 

1880 78 10 

1840 182 107 

688 —3 178 

1860 362 
Im Jahr 1866 berug die — *8 (Gold) Doll. 437,640 367 —, die Aus 
fuhr (Papiergeld) Doll. 565,426,894 — mit Ausnahme von 14 Mil. Doll. 
fanmtlig Prodnukte der Unten vepräfentirenb. Den Ausfuhrwerih anf Sol 
rebucht, würde fich Ein- und Ausfuhr ungefähr begleichen ua ber Gefanumt- 


werth des internationalen Handels für das genannte Jahr rund 800 Mill. 
Gold betragen. An der Ein- und Anefuhe diefes Jahres waren (im DRIN. 
vorzugsweiſe betheifigt : 


BE 


Einfuhr Anefuhe 
Großbritannien und Kolonleen 371 383 
Frankreich 24 62 
Bollverein und Hanfeftädte 27 26 
Spanien und Kolonieen 50 24 
ina 10 


—* 16 
Die Shiffahrtsbemegung In allen Häfen ber Union ſtellte fich im genannten 
* wie folgt a ationnle und Käfenfälffahrt): 


aufen 

Amerft. Flagge 8, * Ch. 8,872,060%6. 8,044 Sch. 3,386,176 Te.) 
Fremde —* 17, 587 „ 4,410,424 „ 17490 „  4,438,384 „ 

VIII. Sankwefen. Bauten seftauden. zwar fon vor dem Unabbängigleite- 
kriege in ben Kolonieen, allein ihre Zahl, wie ihr Geſchafteumfang waren, ber 
damaligen, durch Englands Polltik fo vielfach Geheaanten 
gering. Zur Zelt der Annahme der Bunbesverfafl —— 
der ganzen Republlikekaum 2 DRIN. Doll. te eig re 
Waſhingtons erfter —— — „, machte 1790 ben Vorſch 
einer Staatsbank, „als Mittel, die Staatoſchuld leichter zu * 3 den natlo⸗ 
nalen Kredit von auswärtigen "Einfläffen unabhängiger zu machen”. Er Rich 
auf Heftige Oppofition, an deren Spite keine geringeren Bänner, als Ieffe 
fon und Madiſon fanden. Nach langen Debatten kam man überen, Waſh 
ton die Entſcheidung zu überlaffen, welcher ſich für die Berfaffungsmäßigkeit 
Hamilton'ſchen Vorſchlages ausſprach, fo daß die Bank 1794 als ve of 
United States in's Leben trat. Das neue Inſtitut, deſſen Freibrief bis 
unter allen Umftänden in Kraft bleiben mußte, war eine Wohlthat für bie W 
fHaftsinterefien der Union und warf feinen Aktionkren zuglei eine nicht 
beutende Rente ab. Schapfelretär Gallatin, ver im Jahr 1809 eine Ern 
bes Freibriefes beantragte, Tonnte folgenden” günftigen Ausweis über die Gef 
ber Bank in jenem Jahre geben: 


ih 


Ä 


2% 


00 
far 


181 


te: 


38) Commeros and navigation, 1866, 





Nordamerikanifhe Sreiftaaten. 831 


Aktiva: Guthaben in Stantspapieren D. 2,230,000. — 
Darlehen . . > „. 15,000,000. — 


Buthaben bei anderen Bantn „ 800,000. ©. 18,030,000. — 
Baarvorrath . 010 Tr Le, ı ı 0 " 5,000,000, — 
Grundbeſitz, Gebäude und Inventaer....480,000. — 


Ä D. 23,510,000, — 
Baffiva: Banl-Kapitel . -. - . . D. 10,000,000. — 

Depofin - © © ©. . nm. 8,500,000, — 

Danknoten im Umlaufe . . „ 4,500,000.— D. 23,000,000. — 
fo daß ein für außerordentliche Fälle einzubehaltender Ueberſchuß von Doll. 
510,000 — blieb. Ehe man indeß über Gallatin’3 Antrag fchlüffig wurde, 
vertagte fi der Kongreß und ber Treibrief erlofh, mit ihm bie Thätigkeit ber 
erften Staatsbank. Während des Krieges mit England übernahmen die Banken 
der Einzelftanten den größten Theil der Bunbesanleihen und vermittelten zugleich 
die Erhebung und BVertheilung der Bundeseinkünfte. Uber ſchwer Ing der Handel 
darnieber, bie ſtarken Emifflonen von Papiergeld hatten zur Yolge, daß bie füb- 
lid von ven Neuenglandſtaaten vomicilirten Banken ihre Baarzahlungen einftellten. 
Während der Kongrekfigung des Jahres 1814 brachte der damalige Schatfelretär 
Dallas die Idee einer Staatsbant abermals zur Sprache. Der Vorſchlag führte 
u langen und heftigen Debatten, im Repräfentantenhaufe fellte ſich bei der Ab⸗ 

Immung über bie inzwifchen vielfach amenbirte BIN Stimmengleichheit heraus, 
ber Präjident fandte fie mit feinem Veto dem Haufe zurüd, Die Wieberauf 
nahme der Debatten im folgenden Jahre Hatte kein Ergebniß; völlig in ben 
Hintergrund trat auf Kurze Zeit das Interefje an der Sache, als bald darauf 
die Nadriht vom Friedensſchluß mit England eintraf. Der Kongreß lieg bie 
Angelegenheit indeß nicht ganz ruhen, brachte fie vielmehr bald darauf wieder zur 
Sprache; aus dem Schooße einer zu biefem Zwecke niedergefegten Kommilfton 
ging ein Entwurf hervor, der, mit zahlreichen Zufägen verfehen, durch Zeichnung 
bes Präfidentn Mapifon am 10, April 1816 Gefegestraft erhielt. Do nicht 
foglei begann das neue Staatsinſtitut the United States Bank feine Wirkfam- 
teit. Ein Agent wurde nach Europa gefanbt um Gold zu Taufen, wovon 1817 
und 1818 7 Mil. Doll. importirt wurden und ehe die Bank ihre legitimen 
Geſchäfte begann, gab fie ſich dazu her, der wildeſten Fondsſpekulation Vorſchub 

u leiften, ein Berfahren, das ihr nicht umerhebliche Verlufte zuzog, und fie lange 
Ben verhinderte, mit Gewinn zu arbeiten. Im Jahre 1820, wo ein großer Theil 
ber in folge der Erwerbung Louiſiana's kreirten Schuld fällig wurde, während 
bie Staatsfafle leer war, unterftügte bie Bank die Regierung durch ein Darlehen 
und rettete dadurch den äffentlichen Kredit. Ohne befonvere Unfälle fegte fie im 
ben folgenden Jahren ihre Iegitimen Geſchäfte fort. In feiner Botſchaft vom 
Jahr 1829 erklärte Präfivent Fackſon, daß er Jemoht bie Zwedmäßigfeit, als 
auch bie konftitutionelle Berechtigung einer Staatsbank entſchieden in Abrede flelle, 
eine Anfiht, der indeß die Legislatur nicht beipflictete. Der Rechenſchaftsbericht 
der Bank für das Jahr 1882 Iautete günftig, nah Abzug der Paſſiva ftellte ſich 
ein Dankvermögen von 43 Mill. Doll. heraus. Das Kapitel ver Bank war auf 
35 Mil. Doll. feftgefegt. Kein Wunder, daß dad Publikum Vertrauen faßte und 
bie Depofiten ver Regierung und von Privatperfouen amehnlich zunahmen. Gleich⸗ 
wohl beharrte Jackſon (December 1832) bei jeiner Anficht und bezweifelte fogar 
bie Zahlungsfähiglelt ver Bank, fo daß er fi 1833 veranlaßt ſah, äffentliche 
Welder im Betrage von 8 Mil. Doll, plöglid aus den Gewölben ver Bauk 





830 Nachtrag. 
Jahre Erport Mill. Doll. Import Mill. Do. 
20 23 


1790 

1800 70 9 
1810 66 85 
1820 69 Ta 
1880 78 10 
1840 182 107 
1850 151 178 


1860 400 362 

Im Jahr 1866 5 bie Einfuhr: (Bold) Doll. 437,640,357 —, die Aut 
fuhr (Papiergeld) Doll. 565,426,894 — wit Ausnahme von 14 MIN. Doll. 
ſammtlich Produkte ver Unten repräſentirend. Den Wusfuhrwerib anf Gol 
reducirt, wärbe fich Ein⸗ und Ausfuhr ungefähr begleichen umb ber 
werth des internationalen Handels für das genannte Jahr rund 800 
Gold betragen. Un der Ein- und Ausfuhre diefes Jahres waren (im 
vorzugsweiſe bethetfigt : 


| 


E 


D 


u. 


Einfuhr Unsfuhe 
Großbritannien und Kolonieen 371 883 
Frankr 24 68 
Bollverein und Hanfeftäbte 27 26 
Spanien uud Kolonieen 60 24 
10 8 


Vrafilien 16 6 
Die Schiffahrtsbewegumg In allen Häfen ber Union ſtellte fi} im gemammten 
Jahre wie folgt (Internationale und Kuſtenſchiffahrt): 


Umerfl. Flagge 8,846 Sch. 8,872,060 Te. 8,644 Sch. 8,386,176 IE.3) 
Fremde Flaggen 17,587 „ 4,4104 „ 17490 „ 4,438,384 „ 
VIII. Bautwefen. Bauten beſtanden zwar ſchon vor dem Unabhangigkeite⸗ 
kriege in den Kolonien, allein ihre Zahl, wie ihr Geſchäfteumfang waren, ber 
——— — —— — fo vielfach gehemmten en N 
8 . Zn der me der Bunbesverfaflung Deuflopktal 
ber hanen Republik kaum 2 Mil. Doll. Hamilton, — währe 
Waſhingtons erſter Präftventfhaft, machte 1790 ven Borſchlag zur Errichtung 
einer Staatsbank, „als Mittel, die Staatoſchuld leichter zu tilgen und ben nmatie⸗ 
nalen Kredit von auswärtigen Einfläffen unabhängiger zu machen“. Er Rich bamit 
auf Heftige Oppofition, an deren Spige keine geringeren Maͤnner, als Jeffer⸗ 
fon und Madiſon flanden. Nach langen Debatten kam man überein, Wathing 
ton die Entſcheidung zu überlafien, welcher ſich für die Berfafiungsmäßigkeit des 
Hamilton’fchen Borfihlages ausfprach, fo daR die Bank 1794 als Bank of the 
United States in’s Lehen trat. Das neue Inftitut, deſſen Freibrief Bis 1811 
unter allen Umflänben in Kraft bleiben mußte, war eine Wohlthat für bie Wirth 
ſchaftsintereſſen ber Union und warf feinen Aktionären zugleich eime nicht unbe 
beutende Rente ab. Schapfelretär Gallatin, ver im Jahr 1809 due 
bes Freibriefes beantragte, konnte folgenden gänftigen Ausweis über die Gefchäfte 
ber Bank in jenem Jahre geben: 


3%) Commeros and navigation, 1866, 





| 


Nordamerikanifche Sreiſtaaten. 831 


Altiva: Guthaben in Stantspapieren D. 2,230,000. — 
Darlehen „ 18,000,000. — 


Buthaben bei anderen Bann . 800,000. D. 18,080,000, — 
Baarporratb - > © 2 2 02 2 2 2 ee en 5,000,000, — 
Grundbefitz, Gebäude und Inventar. -. . » » u 480,000. — 


Ä D. 23,510,000. — 
Baffiva: Banl-Rapital . . . . . D. 10,000,000. — 

Depoſitenn. n  8,500,000. — 

Banknoten im Umlaufe . . „ 4,500,000.— D. 23,000,000. — 
fo daß ein für außerordentliche Fälle einzubehaltender Ueberſchuß von Doll. 
510,000 — blieb. Ehe man indeß über Gallatin’s Antrag ſchlüſſig wurbe, 
vertagte fi der Kongreß und ber Freibrief exlofh, mit ihm die Thätigkeit ber 
erften Stantsbanf, Während des Krieges mit England übernahmen die Banten 
der Einzelftanten den größten Theil der Bundesanleihen und vermittelten zugleich 
die Erhebung und Bertheilung der Bundeseinkünfte. Uber ſchwer lag ber Handel 
darnieder, die ſtarken Emiffionen von Papiergeld hatten zur Folge, baß bie ſüd⸗ 
li von den Neuenglanpftanten bomicilirten Banken ihre Baarzahlungen einftellten. 
Während der Kongrehfigung des Jahres 1814 brachte der damalige Schatfelretär 
Dallas vie Idee einer Staatsbant abermals zur Sprache. Der Vorſchlag führte 
zu langen und heftigen Debatten, im Repräfentantenhaufe ftellte fih bei der Ab⸗ 
flimmung über die inzwifchen vielfach amenbirte BIN Stimmengleicäheit herans, 
der Präfivent fandte fie mit feinem Veto dem Haufe zurüd. Die Wieberaufe 
nahme ver Debatten im folgenden Jahre Hatte Fein Ergebniß; völlig in ven 
Hintergrund trat anf kurze Zeit das Interefje an der Sache, als bald darauf 
die Nachricht vom Friedensſchluß mit England eintraf. Der Kongreß ließ bie 
Angelegenheit indeß nicht ganz ruhen, brachte fie vielmehr bald darauf wieber zur 
Sprade; aus dem Schooße einer zu biefem Zwede niebergefegten Rommiffton 
Bing ein Entwurf hervor, der, mit zahlreichen Zufägen verfehen, durch Zeichnung 

es Präfidenten Mapifon am 10. April 1816 Gefegestraft erhielt. Doch nicht 
fogleih begann das neue Staatsinftitut the United States Bank feine Wirkfam- 
tet. Ein Agent wurde nach Europa geſandt um Gold zu Taufen, wovon 1817 
und 1818 er 7 Miu. Doll. Importirt wurden und ehe die Bank ihre Tegitimen 
Geſchäfte begann, gab fie fi dazu her, der wildeſten Fondeſpekulation Vorſchub 
u leiften, ein Verfahren, das ihr nicht umerhebliche Verlufte zuzog, und fie lange 
Bei verhinderte, mit Gewinn zu arbeiten. Im Jahre 1820, wo ein großer Theil 
ber in Bolge ber Erwerbung Louiſiana's kreirten Schuld fällig wurbe, während 
bie Staatskaſſe leer war, unterflügte die Bank die Regierung duch ein Darlehen 
und rettete dadurch den öffentlichen Kredit. Ohne befonvere Unfälle fegte fie in 
ben folgenden Jahren ihre Iegitimen Geſchäfte fort. In feiner Botfhaft vom 
Jahr 1829 erklärte Präfivent Iadfon, daß er ſowohl vie Zweckmäßigkeit, als 
auch die Fonftitutionelle Berechtigung einer Staatsbank entſchieden in Abrede ftelle, 
eine Anfiht, der indeß bie Legislatur nicht beipflichtete. Der Rechenſchaftsbericht 
der Bank für das Jahr 1832 Iautete günftig, nad Abzug der Paſſiva ftellte ſich 
ein Bankvermögen von 43 DIN. Doll. heraus. Das Kapital der Bank war auf 
35 MIN. Doll. feftgefegt. Kein Wunber, daß das Publikum Vertrauen faßte und 
bie Depofiten ber Regierung und von Privatperfonen anſehnlich zunahmen. Gleich 
wohl beharrte Jackſon (December 1832) bei feiner Auficht und bezweifelte fogar 
bie Zahlungsfähigkeit der Bank, fo daß er fi 1833 veranlaßt fah, äffentliche 
Welver im Betrage von 8 MIN. Doll. ylöglih aus den Gewölben ver Bant 


— — ———— 


832 Nachtrag. 


fortſchaffen zu laſſen. Die Folge war, daß die Bank ihre Operationen ſofort ein⸗ 
ſchränkte und die übrigen Banken des Landes dieſem Beiſpiel folgten. Bald trat 
eine allgemeine Verkehrsſtockung ein, die Preiſe aller Waaren fielen, bie Falliſſe⸗ 
ments mehrten fi, — eine Krifis war vor ber Thür. Au eine Ermenerung bes 
Breibriefes der Bank war unter folden Umfländen nicht zu denken; 1836, bis 
wohin ber Treibrief in Kraft war, entſchloß man fi zur Aufgabe des Gefchäftes 
und aus ber Staatsbank entſtand die United States Bank of Philadelphia, ein 
Inſtitut, das indeß wenig prosperirte und 1839 einging nicht ohne erheblichen 
Schaden für die Aktionäre. Faſt alle Banken der Union waren durch dieſe Bor- 
gänge in ihren Operationen mehr ober minder ſtark berährt worben, und afl- 
gemein machte fi das Bedürfniß gelten, bie Auswüchſe der unbebingten 
Bankfreipeit durch beſchränkende Neglements für die Folge zu befeitigen. Den 
entſcheidenden Schritt that in dieſer Beziehung die Geſetzgebung bes Gtantes 
New» York. Die Errihtung einer Bank follte an bie Bewilligung bes Staates 
geknüpft, die Banknoten von biefem gebrudt und ihre Eirkulation in ber Urt 
fihergeftellt werden, daß Obligationen der Bundesregierung oder der Einzelſtaaten, 
im Berhältnig von 90:100 beim Schatzmeiſter des Staates hinterlegt würben; 
ein verhältuigmäßiger Baarvorrath warb obligatorifch gemacht und, falls eine Bauk 
ihre Engagements nicht prompt erfülle, Hatte der Staat das Recht und die Pflicht, 
die Liquidation anzuordnen und fie zn überwachen. Ein befonderer Beamter, ber 
Superintendant, hatte die Kontrole zu üben. Diefe mit Beifall aufgenommenen 
Grundzüge erhielten in New-Vort Gefegestraft und in ben Jahren 1838 bis 
1858 folgten zwölf andre Staaten biefem Beiſpiel. In anderen Staaten, vor- 
zugsweiſe in den Nenenglandftanten hatte das fogenannte Suffolt-Syfiem 
Eingang gefunden; es befand eine Art von Clearing-house unb der Baxt, 
welde in biefer Affociation Ihren Verpflichtungen nicht nachlam, warb das Recht 
zur Notenausgabe entzogen. 

Wir laffen Hier, ehe wir zur Darftellung der neuen Nationalbanlalte über 
gehen, eine Ueberſicht über die Gefchäftsthätigkelt fämmtliher Banken der Uuton 
z — en a ſotgen: Darl Ba Rotenumlauf 

a V. 
3 3 D. a Ton 200 D. yet 4— D. ——— D. 61,323,88.— 
1840: 901 „ 358,442,692.— , 462,892,523.-— , 33,105,155.— „ 106,968,572.— 
1850: 872 „ 227,469,074.— , 412,607,653.— , 48,677,138.— „ 155,012,911.— 
1860: 1562 „ 421,880,095.— „ 691,945,580.— „ 83,594,537.— , 207,102,477.— 

New Dort nimmt im Bankgefhäft ven erften Rang ein; bort beftcht, wie 
auch in Boſton und Philadelphia das dem englifhen Syſtem nachgeahmte clearing- 
houre (feit 1852), das fidh ſeitdem ber wachſenden Gunſt bes Publitums erfreut. 
Der Gefammtbetrag der in der Stadt New-Pork in Einem Jahre mittelft bes 
clearing-house ausgetaufchten cheques beläuft ſich auf 5600 Mil. Doll 

Bon 1837—1850 wurden in Illinois, Miffiffippt, Arkanſas und Florida 
keine neuen Banken gegründet, dann ging man aud in biefen Staaten mit ber 
Errichtung neuer Banken vor, was zum Theil die enorme Zumahme bis 1860 
erflärt; der Reſt Yommt auf Rehnnng des allgemeinen Geſchäftsaufſchwunges. 

Theils die Bankfreiheit, welche noch in vielen Staaten herrſchte, theils bie 
mangelhafte Kontrole da, wo man geſetzliche Beſchränkungen ber Freiheit belicht 
hatte, führte zu vielen und großen Unzuträglichleiten. In vielen Staaten, nament- 
lich des Weftens waren Banken entflanden ‚, deren Noten ungenügend funbirt, 
außerhalb des Staates entweder gar nicht oder nur zu einem mehr ober minder 
hohen Agio genommen wurden. In ganz entlegenen Oxtihaften waren Banlın 











Nordamerikanifche Sreiſtaaten. 833 


lediglich zum Zwecke einer aller ſoliden Grundlage entbehrenden Notenemiſſion 
gegründet, die fogenannten wild cat banks, bie in der Bankgeſchichte der Union 
eine traurige Berühmtheit erlangt haben. Das Bedürfniß nad einem uniformen, 
ſicher fundirten Zahlungsmittel wurde immer dringender und Schagfelretär Chaſe, 
ber eine dur vie Noth des Krieges veranlafte Emiffion von Staatsnoten aus 
leicht erflärlihen Gründen nicht noch vergrößern mochte, ergriff begierig vie Ge⸗ 
legenheit, um bem Bebürfnig des Volkes entgegenzufommen und auf biefe Weiſe 
unmerklich die Noten » Cirkulation zu vermehren. Ob er hoffte, durch Schöpfung 
der Nationalbantafte und Koncentration bes ganzen Geldweſens in den Händen 
der Bundesgewalt für ſich felbft eine fichere Borflufe zur Präfldentihaft zu 
gewinnen, lafien wir dahin geftellt; genug, er wußte es burdyzufegen, daß am 
25. Februar 1863 die fogenannte Nationalbankakte Gefegestraft erlangte; es 
follen nad dieſem Gefege Bewilligungen zur Errihtung von Nationalbanken er 
theilt werben, die in ihrer ganzen Gebahrung ber Kontrole des Bundesfhapamtes 
untergeben find, nad einem: Syſtem, das im Wefentlichen dem oben In feinen 
Grundzügen vargeftellten Bankgeſetz des Staates New-Pork nachgebildet iſt. Jede 
Nationalbank muß wenigſtens ein Drittel ihres Kapitals in Staatspapieren beim 
Bundesſchatzamt hinterlegen und erhält dagegen im Verhältniß von 90: 100 bes 
DBörfenkurfed der Papiere vom Staat gebrudte und mit der Unterfchrift bes 
Dberkontroleurs der Umlaufmittel verfehene Noten. Kommt eine Bank ihren Ber- 
pflihtungen niht nad, fo hat die Bundesbehörde die fofortige Liquidation zu 
veranlafjen. Je fünf Perfonen mit einem Kapital von 50,000 Doll. können die 
Konceffion zur Errichtung einer Rationalbant erhalten; die Rotenciriulation ift 
vorläufig auf höchſtens 300 Mi. Do. feftgefegt und im Geſetz eine, bis jegt 
freilich nicht fireng befolgte Vertheilung der Banken auf die verfchiebenen Staaten 
nach Maßgabe ihrer Bevölkerung vorgefchen. 

Mit einer Kritil der neuen Banlalte würben wir ver Darftellung ber 
finanziellen Entwidlung vorgreifen und befchränten uns bier anf einige fachliche 
Angaben, Die Stantsbanfen find jegt bis auf wenige Inftitute ſämmtlich in 
Nationalbanten umgewandelt und neue Banken unter der neuen Alte in fehr 
großer Anzahl in's Leben gerufen. Nach dem Jahresbericht des Oberfontroleurs 
der Umlaufmittel (comptroller of the curreney) waren im December 1867 im 
Geſchäftsbetrieb 1639 Banken, ihr eingezahltes Kapital Doll. 424,394,861 — 
ihre Notencirtulation Doll. 299,103,996 — und ber Nennwerth beim Schatzamt 
hinterlegtee Papiere Doll. 340,675,000. Seit das Geſetz in’s Leben trat, 
haben im Ganzen zehn Nationalbanten ihre Zahlungen einftellen müſſen mit 
Altivis Doll. 1,800,000 —, Paffivis im Betrage von Doll. 4,560,100 (da⸗ 
von Doll. 1,187,900 — Noten, der Reſt Depofiten). Die Noten werben vom 
Schatzamt zum Vollen eingelöst und da der Verlauf der Aktiva einen namhaften 
Nutzen ergeben, fo wirb der das Publitum treffende Gefammtverluft 1 Mill. Doll, 
nicht überfchreiten. New⸗VYork, Maſſachuſetts, Pennfylvanien und Ohio find am 
ſtärkſten mit Banfen bedacht, währenn ſämmtliche Südſtaaten mit nur 126 National« 
banken vertreten find. Ueber den Betrieb in ben genannten vier Staaten entlehnen 
wir dem offictellen Jahresbericht folgende Angaben : 

3.2.82. Kapital Rotenumlauf Werthpapiere 
New⸗NYork 306 D. 116,494,941.. — D. 69,209,277.— D. 79,510,050.— 
Maſſachuſetts 206 „ 78,932,000 —„S56,96 1,666. — „ 64,450,900.— 
Bennfylvanien 198 „ 50,277,990.— ,„ 38,839,030.— „ 44,244,250.,— 
Ohio 185 „ 22,404,700.— „ 18,405,920.— „ 20,772,900,— 
Bhiuntſchli una Brater, Deutfihes Staate⸗Mörterbuch. ZI. 53 


834 Nachtrag. 


Der Beamte des Bureaus empfiehlt auf's Neue bie Amendirung des Bauf- 
gejeges dahin, daß bie Einlösbarkeit der Banknoten an gewiffen Berkehräcentren, wo 
möglich an Einem, New⸗York, für fämmtliche Nationalbanten obligatorifch gemacht 
werde, ein Wunſch, beffen Erfüllung im Interefie des gefammten Verkehrslebens 
als wohlberechtigt exfcheint. Dagegen hat man einen früheren Vorſchlag, die Roten- 
cirfulation um 100 Mil, Doll. zu vergrößern, biefes Mal nicht erneuert und 
wird daran in der nächſten Zeit auch nicht zu denken fein. 

IX. Die Tarifpolitit. Um die finanzpolitiihe Entwiclung zu ver⸗ 
fteben, iſt es nothig daran zu erinnern, daß feit dem Beſtehen ber Union bie 
Haupteinnahmen der Bundesregierung aus ben Ginfuhrzöllen befanden, und daß 
man zur bireften VBefteuerung nur in außerorventlihen Fällen griff. Als vie 
Bundesverfaſſung in’s Leben trat, waren bie Kaflen leer und eine ver erflen 
Maßregeln des Kongref[es war bie Beſtimmung der Einfuhrzölle, wobei lediglich 
das fistalifche Moment zur Geltung kam. Der erſte Zolltarif (Iuli 1789) hielt 
fih innerhalb fehr beſcheidener Grenzen; nur wenige Artikel unterlagen einem 
Werthzoll von 7 und 10%, im Durchſchnitt flellte ſich derfelbe nicht über 5%), 
Größere Ausgaben madten ſchon 1792 eine theilweiſe Zollerhöhung nöthig, fo 
daß ber revidirte Tarif dieſes Jahres einen Durchſchnitt von 74/,%/, ergab. 
Damit warb es zur Gewohnheit, größere finanzielle Forberungen dur ven 
zwar einfachen aber rohen Mechanismus der Zufchläge zu deu Zöllen zu beden. 
So wurden bis zum Schluß des Jahrhunderts in Folge größerer Ausgaben 
neue Zollerhöhungen beliebt. In den freien, namentlich den Neuenglandſtaaten, hatte 
fid mittlerweile der Erfindungsgeift ſchon mächtig entwidelt und allarmirt durch 
bie riefig anwachfende Induſtrie Englands ließ man von den öſtlichen Staaten 
‘aus zum erften Male den Ruf nah Schuß ber heimifchen Gewerbthätigkeit er 
ſchallen. Faſt gleichzeitig hatte die englifhe Regierung durch rädfichtslofe und 
verlegende Handhabung des Durdjuhungsreiites große Erbitterang in der Union 
bervorgernfen, ber. endlich 1807 der Kongrek durch ein embargo Rechuung 
tragen zu müfjen glaubte. Wurde biefes auch bereits 1809 zurädgenommen, fo blick 
in —* des non intercourse law ober direkten Verkehrsverbots der Handel mit 
England und Frankreich ſehr erfhwert. Frankreich gegenüber wurbe dieſes Verbot 
freilich bald aufgehoben, dagegen fam es mit England bald zu neuen NReibungen, 
bie fhlieglih (19. Juni 1812) zur Kriegserklärung führten. Um die Koften des 
Krieges zu decken, wurden zuerft bie Einfuhrzölle verboppelt. Der Süpen fonnte 
in diefem ſummariſchen Verfahren allerdings nichtE anderes, als eine Schäbigung 
feiner auf den Ackerbau und die Plantagenwirthichaft baſirenden Interefien er- 
bliden, indeß tröftete man fi bort mit dem Gedanken, daß nad Beendigung bes 
Krieges Wandel zu fhaffen fein werbe, während im Often bie Inbaftele unter 
dem Zollſchutz einen namhaften Aufſchwung nahm und alle Mittel in 
gebracht wurden, um bie Fortdauer ber Privilegien fiher zn ftellen. Das gelang; 
die Fortdauer der Zölle bis zum Jahre 1816 wurde befchlofien; von ta ab follte 
zu den Zöllen, wie fie 1812 beſtanden ein Zufchlag von 42 9/, treten und dieſe 
Bofitionen fo lange Geltung behalten, bis ein neuer Tarif vereinbart fein wärbe. 
Ein neuer Entwurf Tieß nicht lange auf fi warten; leitender Grundſatz dabei 
war, daß, was im Lande genügend erzeugt werbe, mit Probibitionszöllen zu be 
legen ſei; andre, im Lande nicht genügend erzeugte Waaren follten je nach Umſtänden 
Schutzzöllen, alles Uebrige reinen Finanzzöllen unterworfen fein. Diefer Tarif, in 
feinen eytremen Pofitionen noch etwas modificirt, trat bereits Im Jahr 1816 in’s 
Leben und wurde in ven folgenden Jahren mehrfachen Revifionen zu Öunften der 








Nordamerikanifhe Sreiflnaten. 835 


Schupzöllner unterworfen. Den Intereflen bes Sübens wurde dabei fo wenig 

Rechnung getragen, daß man felbfl den Zoll auf bie grobe, zu Baummollenballen 

verwandte Leinwand erhöhte Sleihwohl waren die Schupzöliner mit dem Er- 

reichten noch Teinesweges zufrieden und immer entfchiebener ertönte ver Ruf nad 

"Schuß der nationalen Arbeit”, da fle fisfaliihe Geſichtspunkte zu Ihren Gunften 

nicht wohl geltend machen konnten, denn die Lage der Bnndesfinanzen war um 

jene Zeit eine blühende; in der Abtragung der Schuld Hatte man erhebliche Fort⸗ 

ſchritte gemacht; jedes Büdget ſchloß mit einem Ueberfhuß der Einnahmen. Das 

nationale Borurtheil, im Bunde mit der ſtets wad erhaltenen Animofität gegen 

England feierte einen abermaligen Triumph. In ben am 19. Mai 1828 vom 

Präfidenten gezeichneten neuen Tarif erreihte der Zoll im Durchſchnitt 48 9/, 

vom Werthe der Waaren — damit konnten die Schutzzöllner zufrieben fein. Run 

aber begann man im Süpen fi zu rühren; für's Erfte begnügte man fih miı 

Proteften, noch immer hoffend, es werve gelingen, demnähft in freihänblerifche 

Bahnen zurüdzulenten, eine Hoffnung, die fi) vorerft an den Namen des neuen 

Präfidentn, Jackſon von Tennefjee Müpfte Wirklich empfahl diefer bald 

mehrere Tarifermäßigungen, wurbe indeß von ber Mehrheit des Kongrefies bamit 

abgewiefen. Der freihandleriſchen Agitation im Süpen wurbe durch bieje Bor- 

gäange neuer Zünbftoff zugeführt; eine nach Auguſta im Staat Georgia berufene 
Antitarif⸗Konvention hatte die heilfame Folge, daß man fi entſchloß, eine enqu&te 
über den Zuſtand der heimifhen Inbuftrie anzuftellen und daß der Schagfelretär 
am 27. April 1882 einen neuen Tarifentwurf einbrachte, der ven durchſchnitt⸗ 
lihen Wertbzoll auf 27 9/, ermäßigte. Der Kongreß antwortete mit einem Begen- 
entwurf, ber zwar bie Zahl ber zollfreien Gegenftänve erheblich vermehrte, im 
Uebrigen indeß die alten Pofitionen beibehielt, ja felbft einige Erhöhungen 
ftatutrte. Noch einmal flegte bie Partei der Schupzöliner; der Entwurf erhielt am 
14. Inli 1832 gefeglihe Kroft. Jetzt ging man im Süben von Worten zu 
Thaten über; Süpcarolina erließ eine Ungültigleitserflärung (nullification laws), 
andre Südftanten traten diefer Erklärung bei. Diefer offenen Auflehnung gegen 
ein verfafiungsmäßig befchlofjenes Geſetz trat Iadjon mit aller Energie entgegen 
und forderte vom Kongreß bie nöthigen Vollmachten zur Unterbrüdung ver Em⸗ 
pörung. Gleichzeitig erhob er indeß auch feine Stimme zu Gunſten einer Tarif⸗ 
ermäßzigung. Aus langen und heftigen Debatten ging ein Kompromiß hervor, an 
befien Zuſtandekommen Henry Clay das Hauptverbienft hat. Er ſuchte darzu⸗ 
tun, daß zur Dedung der laufenden Ausgaben der Bundesregierung ein durch⸗ 
ſchnittlicher Wertbzoll von 20%, genüge und nun einigte man fi dahin, daß, 
mit dem Jahre 1835 beginnend, von den biefen Satz überjchreitenden Zöllen 
jährlich ein Zehntheil des Weberfchuffes in Wegfall kommen folle. Bis zum Jahre. 
1841 follte diefe Rebuftion fortgehen, von da ab bie dann nod verbleibende 
Hälfte des Ueberfchuffes, im darauf folgenden Jahre der Neft wegfallen. Elay’s 
PBatrtotismus feierte feinen fhönften Triumph, der Kompromiß fand Annahme, 
Süpvcaroling verfügte die fofortige Zurücknahme der Nullifitationsatte, 

Wichtige Exeignifie trugen fi in den Jahren 1833—1838 zu; wir gedach⸗ 
ten ihrer oben. Durch das Uebermaß der Importationen waren die Bollein- 
nahmen derartig angewachſen, daß man fi entſchloß, die Ueberſchüſſe unter 
die Einzelftanten zu vertheilen, ein weder der Billigkeit noch der Klugheit ent- 
fprechenvder Borgang , der der hanvelspolitiihen und finanziellen Einfiht ver 
Bundeslegislatur kein günftiges Zeugniß ausſtellt. Man follte ven Schritt bald 


53 * 


836 Nachtrag. 


bereuen. Als nächfte Folge der unvermeiblich geworbenen Handelskrifis zeigte ſich 
eine namhafte Einſchränkung des Importgefhäftes und demnach Verringerung ber 
Zolleinnahmen, angefihts deren im Schooße der Bunbeslegislatur alsbald wieber 
die Frage entfland, ob ber Tarif nicht einer Reviſion betärftig fei. Dem Kom 
promiß zuwider befhlog man 1838, einige bislang zollfrei gewefene Artikel mit 
einem Werthzoll von 20%, zu belegen. Fortdauernde Abnahme der Importationen 
in ven folgenden Jahren ſchien eine vorzeitige Revifion bes Tarifes gebieteriſch 
zu fordern. Wieder war e8 Henry Clay, ber bier die Initiative ergriff, in dem 
Fürſprecher ſüdſtaatlicher Interefien, dem Freihäudler Calhoun freilid einen 
nicht verächtlichen Gegner fand. Aber Elay’s Beredtſamkeit trug den Sieg davon; 
aus den Debatten ging ein Tarif hervor, der 1842 in's Leben tretend, den 
durchſchnittlichen Werthzoll auf 35 %/, erhöhte, vie Bezahlung ver Zölle in baarem 
Gelde obligatoriſch machte und das Princip der Wertbbeftimmung ber Waaren 
am Urfprungsorte einführte. Erhöhte finanzielle Opfer beifchte der wenige Jahre 
fpäter (1846) ausbrechende Krieg mit Meriko und ver. hiftorifchen Gewohnheit 
gemäß warb damit fofort wieder die ZTariffrage auf bie Tagesordnung gebradit. 

ber die Parteigruppirung führte viefes mal zu einer Nieberlage der Schup- 
zöllner; es gelang, einen Tarif durchzuſetzen, deſſen durchſchnittliche Werthzollhöhe 
auf 240/, reducirt wurde und zugleich die fogenannte warehouse act in die 
Praris einzuführen, ein Geſetz, wonach fremde Waaren ein Jahr lang unverzollt 
unter Verſchluß lagern dürfen; dadurch wurbe dem Zwiſchenhandel eine weſentliche 
Erleihterung verſchafft. Die Importation begann zuzunehmen; zu einer Reoiflon 
lag um fo weniger Anlaß vor, als einestheils die Bundeseinnahmen fletig wuchſen, 
anberntheils faft auf allen Gebieten des wirtbfchaftlihen Lebens eine rege und 
reichlich lohnende Thätigkeit herrfchte und dieſer Thätigleit wurbe wenige Jahre 
nad) dem Inslebentreten des neuen Tarifes dur die Enttedung der Goldſchätze 
Saliforntens ein eben fo ungeahnter, als gewaltiger Impuls gegeben. Der Tarif 
blieb bis zum Jahre 1857 in Kraft; der Adminiſtration des Präfiventen Pierce 
war e8 vorbehalten, auf der freihänpleriihen Bahn einen entfcheidenden Schritt 
vorwärts zu thun. Im Jahre 1857 wurde ein Tarif aboptirt, in weldem zunächſt 
bie Zahl ber zollfreien Gegenſtände anfehnli vermehrt wurde, faft alle PBofitionen 
wurden ermäßigt. Der Tarif wurde durch bie tm Herbft vesjelben Jahres herein- 
brechende Krifis gleih auf eine harte Probe geftellt. In der That begann bie 
Partei der Schutzzöllner alsbald wieder eine größere Rührigkeit zu entfalten, 
vorerft freilich ohne Erfolg, da die demokratiſche Mehrheit des Kongrefieg an dem 
beftehenden Tarif feftzubalten den Willen und bie Macht befaß. 

Mit dem großen politifhen Wendepunkt, der mit der Wahl Lincoln’s 
zum Präfinenten und dem bald erfolgten Abfall ver Süpftaaten bezeichnet warb, 
fallt auch der hanvelspolitifche Wendepunkt zufammen. Der politiihen Krifis, vor 
welde man fi plöglich geftellt fah, folgte faft auf dem Fuße eine Hanbelskrifie 
und bamit Verringerung ber Zolleinnahme. Den Kampf um bie Eriftenz mußte 
man antreten, angefichts eines faft leeren Schages und tiefer Krediterſchütterung; 
fein Wunder, daß die Schutzzöllner lediglich die finanzielle Bebrängnig als Argu⸗ 
ment für den oft erprobten Rettungsanler einer Zollerhöhung gebraudten. Der 
unter dem Namen feines Urhebers Morill befannt geworvene Tarif trat im Mai 
1861 ins Leben. Neben ver Höhe der Zollfäge zeichnet ſich derſelbe durch einen 
äuferft komplicirten Modus der Erhebung, ſowie durch Einführung gemifchter 
3ölle (ad valorem and specific duties) aus. Nicht genug, baß ben einzelnen 
Artikel vielfach zugleih der Wertbzol und der Gewichtszoll treffen, bei vielen 





Rorbamerikantfhe Sreiftaaten. 887 


Artikeln bemißt ſich der Zoll, auch dem Gewichte oder dem Maaße nad, nad) 
der Qualität, der Weinheit des Gewebes, ver Fädenzahl u, ſ. w. Mit dieſer erſten 
Erhöhung war aber weder bem Geſchrei ber Schugzöllner genug gethan, noch ber 
wachſenden finanziellen Bebrängnig aud nur entfernt abgeholfen. Noch im näm- 
lichen Jahre (Angnft 1861) wurde eine weitere Erhöhung befchloffen, und Schlag 
auf Schlag (December 1861, Yuli 1862, März 1863, April und Iuli 1864 
und März 1865) folgten weitere Revifionen im Sinne der Schußzoll- oder viel- 
mehr ber Prohibitionspelitit, denn bei vielen Artiteln kam man allmählig auf 
einer Höhe des Zolles an, die dem abfolnten Ausflug ber fremden Waare gleiche 
tam. Die Zöle mußten in Gold bezahlt werben, während die übrigen, bald un- 
vermeidlich werdenden Abgaben in tergeld geleiftet wurben, einer finanziell 
verhängnißvollen Erbſchaft des Krieges, anf welche mir weiter unten zurüdkommen. 
Indem man die meiften Tarifveränderungen faft fofort praktiſche Wirkfamfeit er- 
langen ließ, ſchädigte man bie Interefien des internationalen Handels, der ohne» 
dieß durch Abſchließung der Südſtaaten in arge Vebrängniß gebragt wer, auf 
ſchwer zu verantwortende Weiſe. Auch bie Ftiſt der zolffreten Lagerung unter 
Berihluß warb erheblich eingeſchränkt, die Bewachung ver Zollgrengen, die Strafen 
gegen ben naturgemäß aufblühenden Schmuggelhandel faft bei jeder Amendation 
bebentenb verfhärft. In dem Streben nah Schu jeder nationalen Arbeit hat 
men bann nicht felten geradezu komiſche Maßnahmen beliebt und Artikel, mie 
Petroleum, defien maffenhafte Erzeugung bis jet unbeftrittenes Monopol bet 
Union iſt, ferner. Getreide und Provffionen mit hohen Zöllen belegt! 

Bir müflen und auf diefe allgemeinen Angaben beſchränlen; aus Gründen, 
bie wir weiter unten berühren werben, tft das finanzielle Ergebuiß ber neuen 
Tarifpolitit, namentlich in den legten Jahren ein glänzendes gewefen; bie Zoll- 
einnahmen, für das Etatsjahr 1864 auf 72 MIN. DoU. gefhägt, ergaben 102 Mir 
Doll., fie find ſeitdem noch nambaft geftiegen und erreichten für das Gtatsjaf 
1867 die Höhe von 175 Mil. Doll. Und dennoch, ober vielmehr fehr erklärlich 
Weiſe iſt der Ruf nad) Zollſchutz auch jegt nicht gänzlich verflummt, Auch in di 
nenen Welt bewährt fi der alte Sag, daß, wo einmal bie Bahnen ver Schut 
zollpolitik betreten, es kein Halten mehr giebt, daß die Gefepgebung, indem f 
ſtrebt, Allen gerecht zu werben, ſchließiich Niemanden völlig befriebigt. 

Theils aus der Noth ber Zeit, theild ans ber zur zweiten Natur gemorbene 
finanzpolitiſchen Einfeitigfeit, die für Bundeszwede faft Iebiglih die Eingangt 
zöle in's Auge faßte, erklärt fi der raſche, völlig unvermittelte Uebergang vo 
der Freihaudels · zur ausgeſprochenen Schugzollpolitil. Der Bürgerkrieg hat bı 
befannten Schule Earey’8 einen willtommenen Anlaß gegeben, den Gebanfen dı 
nationalen im Oegenfag zur internationalen Hanbelsfreiheit praftifh zu verwir 
lichen; bie ver Unton wenig freundliche Haltung Gnglands und Frankreich 
während bes VBürgerfrieges Tonnte dem als originell und nen ausgegebenen vol 
wirthſchaftlichen „Syem“ des geiftvollen Philadelphiers nur Votſchub leiſten 
Kommenden Oventnalitäten gegenüber wollte man ſich wirthſchaftlich felbft genüge 
und fuchte ber großen Maffe einzureben, bag nur die Schutzzollpolitik zum Zie 
führe, daß fie die Urſache der allgemeinen „PBrosperität” ſel und baß fie Hanbeli 
kriſen fortan ih machen werde. Der einfeitigen, ſtets einen namhafte 
Kapitalverluſt zur Wolge habenden Ackerwirthſchaft follte die Vielſeltigleit einı 
allen nationalen Bebürfnifien genügenden Induſtrie zur Seite treten; bie Stimm 
derer, welche meinten, daß bie Bielfeitigfeit mit der Zeit fi naturgemäß en 
wideln werde und ihre Beſchleunigung auf dem Wege ber Schußzollpolii 


838 Nachtrag. 


jedenfalls gu thener erfauft ſei, vermochte nicht zur Geltung zu gelangen. Rod 
laſſen fih vie Folgen der jetzigen Hanbelspolitit nicht überſehen. Erft nachdem 
bie politiſche und wirthſchaftliche Reorganifation der Süpftanten zum Abſchluß 
gelangt, nachdem vor Allem bie Goldvaluta wieder zu ihrem Rechte gekommen 
und dann erft voransfichtlicd nad einer Reihe ven Jahren wird man Urſache 
und Wirkung feft zu unterfeiten, bie Folgen der Carey'ſchen Principien env- 
gültig zu beurtheilen in ver Lage fein. Sicher iſt nur, daß die amerilantfche Ju⸗ 
duſtrie durch den Schutzzoll zu hoher Blüthe gelangt iſt unb ber europälfdgen 
Sewerbthätigleit das trandatlantifche Abfapgebtet Retig fich verengert. An eine 
Umtehr zu freihändleriſchen Grundſätzen wird, fo lange bie jebt herrſchende 
republikauiſche Partei am Ruder bleibt, nit zu denken fein. Bis zur Wieder 
herſtellung ver Baluta dürfte auch ber Süden hinlänglich erſtarkt fein und im ven 
Hallen der Bundesgeſetzgebung wieder zu Worte kommen; in vem Weſten wir 
er dann hoffentlih einen verläßlichen Verbündeten in feinem Streben nad Ber 
wirklichung freihändlerifder Principien gegen ben Fanatismus der Schugzöllner 
des Oftens finden. Die wirtbichaftlihen Naturgefege werben ſich — daran dürfen 
wir am wenigften zweifeln, aud in ber nenen Welt geltend machen; aber freilich 
haben fi dort alle Berhältnifie in ven legten Jahren in fo abnormer Weiſe 
geftaltet, daß wir uns hüten mäflen, für nufre Konjelturen ſchlechtweg europäifche 
Maßſtabe anzulegen. 

X. Finanzielle Entwicklung. Ehe wir zur Darftellung ber, vornehm⸗ 
lich unjre Beachtung verbienenden Bundesfinanzen übergehen, laflen wir hier 
wenige Bemerkungen über die Finanzen der Einzelſtaaten, Städte und Gemeinden 
folgen. Bekanntlich find die auswärtige Vertretung, die Regelung ber internationalen 
Sanvelsbeziehungen, Heer und Flotte u. |. w., Augelegenheiten der Bundesgewalt, 
deren Büdget bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges, wie ſchon bemerft, die Gin 
fuhrzölle zu feiner hauptſächlichen Einnahmeguelle hatte. Die Einzelftanten, auf 
allen übrigen Gebieten fonverän, haben natürlich alle ihre befonderen Büdgets; 
ber Aufwand vom Staat, Stabt und Gemeinde wird theils durch Grund⸗ und 
Bermögensftener, theils durch Stenerzufchläge für Schulen und Arme, theils durch 
Abgaben auf einzelne Gegenflände des Lurus, theils endlich buch Handdienſte 
und Naturallieferungen aufgebradt. Wie fi die verſchiedenen Einkünfte auf 
Staat, Stadt und Gemeinde vertheilen, in welchen formen fie erhoben werden, 
erhellt aus folgender Zufammenftellung der Einnahme des Jahres 1860 (Beträge 
in Mil. Dol.): 

Staat Land Stadt kl. Stabt f. Schulen Arme Wege Verſchiedenes Summe 
24,50. 19. 21. 3,8. 12. 26. 5,9. ‚3. 94 

davon In Geld 90,9, in Dienften und Lieferungen 3,2 Mil. Doll, fo daß an 
Staats und Gemeindeſtenern auf den Kopf der Bevölkerung in jenem Jahre etwa 
3 Doll. entfielen. Durch den Bürgerkrieg find auch bie durch Staaten uud Ge- 
meinden auferlegten Laften weſentlich erfchwert worven. Die meiften ber freien 
Staaten fahen fi genöthigt, entweber neue Anleihen machen oder die Steuern 
weſentlich zu erhöhen, um für Handgeld an Freiwillige, Equipirungen, Mumitions- 
und Proviantlieferungen zu forgen. Ob uud in wie weit bie Bundesgewalt ver- 
pflichtet fei, den Einzelfiaaten ihre, aus dem Kriege erwachſenen Laſten abju- 
nehmen, dieſe Frage ift bis jegt Eontrovers. Die Geſammtſumme biefer Laſten 
beziffert fih auf mindeſtens 200 Mil. Doll,, wovon bis Ende 1867 em 
30 Mil. Doll, als begründete Anſprüche von dem Bundesichakamt anerlanzt 
waren; viele Anfprücde find höchſt zweifelhafter Natur und ob die Einzelftnnten 











Nordamerikanifche Freiſtaaten. 889 


mit allen ihren Forderungen durchdringen werben, ift mehr wie fraglid. Die 
Geſammtſchuld der Einzelſtaaten betrug im Jahr 1860 bereits über 230 Mill. 
Doll., außernem haben Städte und Gemeinden (townships) nicht unerhebliche 
Schulden (Im Jahr 1860: New⸗York 20, Baltimore 15, Broofiyn 5, St. Louis 
4 Mil. Doll. u. f. w.). Die meiften dieſer Anleihen wurben indeß für pro⸗ 
buktive Zwecke gemacht: Uebernahme von Obligationen zur Förberung von gewifien 
Eifenbahnbanten, für Kanäle, Landſtraßen, Speiher, Quai's u. f. w. So finden 
fih unter den Schuldkategorieen von Stadt und Grafſchaft New-Pork, deren 
Geſammtheit im Jahr 1867 auf 431/, Mill. Dol. angewachſen war, folgende 
als produktiv zu bezeihnende Poſten: Bon der Stadtſchuld 11 Mil. Doll. 
Bafferanleihe, für Onat’s 1/,, von der Schuld der Graffhaft Doll. 20,000 
r die Brüde über den Harlem⸗Fluß u. ſ. w. Für Unterflügung der Familien von 
iwilligen, Handgelder u. ſ. w. hatte die Stabt 3%/,, die Grafſchaft 8 MIN. Doll. 
angeliehen. Die Ausgaben der Stabt für das Jahr 1868 waren auf 11 Mill. Doll. 
veranfchlagt, wovon auf bie Stadtverwaltung (wohl die theuerfte und ſchlechteſte Ver⸗ 
waltung irgend einer Stabt von gleicher Größe) 91/,, auf Berzinfung und Amortifation 
der Schuld 13/, Mil. Doll. kommen 39). Bon ver Schuld des Staates New⸗ 
York, welche am 30. September 1867: 441/, Mill. Doll, betrug, war über die Hälfte 
durch den Kanalfonds repräfentirt, eine Anleihe, die fih als produktiv bewährt hat. 
In Betreff der Bundesfinanzen find zwei Perioden zu unterfcheiden, vie 
erfte, in ber das Büdget äußerft einfach war, aus wenigen Poſten befand und 
dem Schatzſekreiär bei den reichlih fließenden Einnahmequellen, wenn wir bie 
furzen Kriege mit England und Meriko ausnehmen, geringes Kopfbrechen verur- 
ſachte. Sie beginnt mit dem Inslebentreten der Bundesverfaflung und fließt mit 
dem Ausbruch des VBürgerfrieges, der auch in der finanziellen Entwidlung ver 
Union einen entſcheidenden Wenbepunft bildet. Werfen wir zunächſt einen flüchtigen 
Blid auf die erſte Periode. Neben den Einfuhrzöllen bildete der Erlös aus dem 
Berlauf Öffentlicher Ländereien eine allerdings nicht große und vielen Schwan- 
tungen nuterworfene Einnahmequelle. Nur vorübergehend hat man verfuht, bie 
birefte Beftenerung auch für Bunbeszwede einzuführen. Die Erinnerung an bie 
britifchen Steuerdekrete, welche den erften Auftoß zum Unabhängigkeitsfriege gaben, 
bat die birefte Beftenerung in Amerila niemals populär werden laſſen. Der Krieg 
mit England machte zwar neben verfchiebenen Anleihen direkte Steuern nothwendig, 
aber fie wurden nur auf kurze Zeit eingeführt und bald wieber abgeſchafft. Die 
Anleihen find je nad Bedürfniß von Zeit zu Zeit wiederholt worben; bei ber 
allgemeinen fletig wachſenden Prosperität und bem guten Krebit der Bunbes- 
regterung wurden fie in der Regel zu fehr günftigen Bedingungen für das Schag- 
amt negoclirt. Ungleich ver Praxis in den meiſten europätjchen Staaten war bei 
den amerilanifhen Anleihen ein Termin der Rüdzahlung feftgefegt; derſelbe ift 
bis jest flets pünktlih eingehalten worden. Es gab Zeiten, wo bie Tage bes 
Schatzamtes fo gänftig war, daß der Schagfelretär die Anleihen vor Verfall zu 
einer nambaften Brämie auflaufen ließ, um die im Schage tobt liegenden Gelder 
wieder dem Verkehr zuzuführen; noch im Jahrzehend 1850/60 konnte der Inhaber 
von jechöprocentigen Bunbesobligationen diefe zu 16—179/, Brämie an’s Schatz⸗ 
amt verlaufen, 
In wie beſcheidenen Dimenfionen fi das Bundesbüdget in den erften Zeiten 
ber Republit bewegte, das zeigen die folgenden Finanznachweiſe aus dem Jahre 


2) Jahresbericht des Mayor der Stadt New⸗York, December 1867. 


840 Nadıtrag. 


1794, dem erften, in welchem man neben dem Heer aud für bie Kriegsflotte 
Sorge zu tragen hatte: 

Ausgaben: Einnahmen: . 
Clvildienſt D. 440,946. 68 C. Einfuhrzolle D. 4,801,065. 28 € 
Dipl. Vertretung „ 146,403.51 „ Innere Abgaben „ 274,089.62 „ 
Kriegövepartement „ 2,639,097.59 „ Ueberſchuß d. Pot „ 29,478.49 „ 


Kriegsflotte © „ 61,408.97 „  Deffentl.Ränereien f Die Berräufe paginner 
Benflonen „ 81,399. 24 „ Bon Bankaktien und 
Indianer „ .. 13,042.46 „ Dividenden „ 303,472 — u 


Verſchiedenes „ 118,248.30 „ Verſchiedenes n..23,799.48 „ 


Ordentl. Ausg. D. 3,500,546.65 C. Ordentl. Einn. D. 5,431,904. 87 & 
ein ebenſo einfaches, wie in feinem Abſchluß befriedigendes Büdget. Mit der Zu- 
nahme der Bevölkerung, der Erweiterung der Grenzen und ber vielfeitigen Ge 
ftaltung der amerikaniſchen Intereffen in fremden Ländern iſt natärlid der Bun- 
bedetat mit der Zeit ein größerer geworben, doch ift die Zunahme der Ausgaben, 
wenngleich ftetig, nur langfam geweſen, viel rafcher nahm die allgemeine Pros- 
perität zu. Wie fhon bemerkt, hat der Erlös aus dem Verlaufe öffentlicher 
Ländereien von Jahr zu Jahr erheblich geſchwankt; im erften Jahre (1796) find 
im Ganzen nur Doll, 4836. 13 Ct8. unter viefer Kategorie aufgeführt; im 
folgenden Jahre wurben nad Abzug der Koften aber ſchon Doll, 83,540. 60 €. 
Fra im Jahre 1833 war der Betrag fon auf nahe zu 5 Mill. Doll. ge 
egen, um im barauf folgenden Jahre die Summe von 141/, Mill. Doll. zu 
erreihen. Der höchſte Erlös wurde im Jahre 1836 mit 20 Mil. Doll. erzielt; 
ſeitdem bat derſelbe ziemlich ftetig abgenommen, und iſt zumal feitbem pas Heim⸗ 
ſtättegeſetz in's Leben getreten, auf ganz unbeveutende Beträge herabgefunten. 
Die Bundesſchuld, welde im Jahr 1791 etwas über 75 Mil. Doll. betrug, 
erfuhr bis zum Ausbruch des Krieges mit England feine bemerfenswerthe Ber» 
änderung; damit begann fie zu felgen, war im Jahr 1814 bereits auf 80 Mil. 
Doll. angewachſen und erreichte im Jahr 1816 mit 127 MIN. Doll. ihren Höhe- 
punkt, von dem fle dann ftetig zurüdging und in der Art herabgemintert wurde, 
daß im Jahre 1836 biefelbe nur noch etwas über 300,000 Doll. betrug. Der 
merilanifche Krieg veranlaßte dann eine namhafte Vermehrung der Schuld, die im 
Jahre 1849 wieder auf 65 Mill. Doll. angewachſen war. Reichlicher fließende Ein- 
nahmequellen ermöglichten eine raſche Reduktion, fo daß die Schuld ſchon im Jahr 
1857 nur noch 29 Mil. Doll. betrug; raſch flieg fie, in Folge vermehrter Be 
bürfniffe bei abnehmenden Zolleinnahmen, in den nädften Jahren und hatte, als 
der Bürgerkrieg ausbrach, beinahe wieder den Standpunkt von 1849 erreicht. 
Wir Iaffen hier, als Abſchluß der erften Periode finanzieller Entwicklung ben 
Etat des Jahres 1859 folgen: 


Ausgaben: ’ Siunahmen: " 
Civildienſt D. 5,913,281.50€. Einfuhrzolle D. 49,565,824. 38 €, 
Dipl. Vertretung 981,946. 87 „ Ländereien „  1,756,687. 30 „ 


Kriegsdepartement,, 23,154,720. 53 „ Verſchiedenes „  2,163,953. 96 „ 
Kriegsflotte „ 14,690,927. 90 „ 


Penfionen „ 161,190.66 „ 
Indianer „ 4,551,566. 58 „ 
Verſchiedenes „ 16,873,771.68 „ 
Binfen n„  2,637,664. 39 „ 


D, 68,965,070. 11, D. 53,486,465. 64 €. 











Norbamerikanifce Freiſtaaten. 841 


demnach ein Mehr der Ausgaben von reichlich 15 Mill. Doll., die durch An- 
leihen und Emiffion von Schaglammerfheihen gebedt wurden. Dan fieht, das 
Büdget bat in feiner Gliederung bis zum Ausbruch des Bürgerfrieges feine 
frühere Einfachheit behalten, dagegen bat ſich ber Abſchluß wefentlich verſchlechtert; 
das Jahr 1859 fließt mit einem ſtarken Deficit -- kein Wunder, daß man 
ver nun hereinbrechenden großen Kriſis ziemlich rathlos gegenüberfiand. Noch un- 
günftiger flellte fih ver Etat für das Yinanzjahr 1860/61 4), als zwar bie 
Krifis Schon ausgebrochen, die Hoffnung auf eine frienlihe Beilegung des Kon- 
fliftes indeß noch nicht völlig geſchwunden war; den orbentlihen Ausgaben von 
83,4 Mil. Doll. fand eine ordentlihe Einnahme von nur 41,5 Mil. Doll, 
gegenäber und Schapfekretär Chaſe mußte fih bis zum Zufammentritt des Kon- 
grefies (Iuli 1861) helfen, fo gut es eben ging. Er flellte 6 %/, Schuldverſchrei⸗ 
bungen aus, die inveß bei der zunehmenben Spröbigleit des Geldmarktes nur 
fchwer Nehmer fanden und bald im Courſe ſanken. Der Kongreß gewährte ihm 
gleich nach feinem Zufammentritt Hülfe, die indeß nicht ausreihte. Er wurbe 
ermädtigt, Schapfheine zu verſchiedenem Zinsfug (73/4, und 35/00 0/o, d. b. 
tefp. 2 uud 1 Eent für den Tag) zu emittiren, ferner Papiergeld bis zu 50 Dil. 
Doll., in Stüden unter 50, aber nicht unter 10 Dol., bei Anſicht zum Nenn- 
wertbe Sei den Staatälafien zahlbar (jogenannte demand notes, au für Bezah- 
lung von Zöllen gefeglih qualificitt). Auf ein anfänglich in Ausficht genommenes 
Anleihen in Europa mußte das Schakamt verzichten, da der Kongreß bie für deu 
Erfolg einer ſolchen Operation entfheidende Klaufel, die Berpfändung der Ein- 
fuhrzölle geftrihen hatte. Auch in Betreff der heimiſchen Beſtenerung, auf deren 
Nothwendigleit der Schagfetretär ſchon damals mit Ernft und Nahbrud binge- 
wiefen, zeigte fiy der Kongreß wenig entgegenlommend; man geſtand nur eine 
Grundſteuer zu, deren Ertrag für die, allein nod finanziell in Frage lommen- 
ben freien Staaten auf nicht über 12 Mil. Doll. fih belief. Erft viel fpäter, 
als die Noth nahezu ihren Höhepunkt erreicht hatte, entſchloß man fi zum Erlaß 
einer Steuerorbnung; bie Berfäumniß bat wefentlih dazu beigetragen, die finan- 
zielle Entwidlung in verhängnißvolle Bahnen zu drängen. 

Die unglüdlichen Kriegsereigniffe im Sommer 1861 hatten ein nambaftes 
Ballen ber ausgegebenen Werthpapiere zur Folge; in feiner Noth wandte fi 
Hear Chaſe an die Banken New-Dork’s, Philadelphia's und Boſton's und machte 
ihnen gegenüber aus ber bevrängten Lage des Schagamtes kein Hehl. Die Banlen 
famen ihm in liberaler Weife entgegen; fie übernahmen für 50 Mil. Doll. nene 
Schatzſcheine al pari und flellten bie Uebernahme weiterer 100 Mil. Doll. zum 
gleichen Eourfe in Ausfiht. Raſch bob fi in Folge diefer Vorgänge wieder das 
öffentliche Vertrauen, aber Ungefihts der riefig wachſenden Anſprüche an das 
Schapamt erwies fi die von den Banken gewährte Hülfe nur zu ‚bald als un- 
zureichend,; ſchon bis Ende bes genannten Jahres waren 25 Mil. Doll. mehr 
als die von den Banken bis dahin vorgefchoflenen 100 Mil, Doll verbraudt, 
während gleichzeitig bie Kriegsereignifie einen Verlauf nahmen, der neue, große 
und gewaltige Auſtrengungen dringend nothwendig machte. Und dennoch hätte 
man die Betretung bes verhängnigvollen Weges, den man balb darauf einihlug, 
wenigftens binansfchieben können, wenu Schapfelretär Chaſe, unbelannt mit der 


“0, Seit 1843 fällt das Kalenderjahr nicht mehr mit dem Etatsjahr zufammen, es beginnt 
mit dem 1. Juli und fchliegt mit dem 30, Juni des folgenden Jahres. 


843 Nachtrag. 


Rolle, welche „Cheque's“ im modernen Berkehrsleben fpielen, auf die vereinigten 
Danlen durch Cheque's feine laufenden Bedürfnifſe entnommen und nit vorge 
zogen hätte, den Banken jevesmal die Kingende Münze zu entziehen. Selbſtver⸗ 
ſtaͤndlich wurde diefe bald in alle Winde verftreut; bei dem zunehmenden Bif- 
trauen floß das Gelb entweder gar nicht, oder doch fehr langſam zuräd — geung, 
am Schluß des Jahres 1861 waren die Banken gendtbigt, ibre gen 
einzuftellen, weldem Beiſpiel das Schatzamt, ſowie ſaͤmmtliche übrigen Banken 
des Landes in wenigen Tagen folgten. An neue Auleihen war unter ſolchen Um⸗ 
Ränden nicht zn denken; erperimentirend hatte man von ber Hand in ven Mund 
gelebt und ſtand jegt vor der Alternative, fi) entweder für banferott zu erklären 
oder — zur Papiergeldwirthſchaft überzugehen. Natürlich entſchloß man fig zur 
legten Maßregel; am 25. Februar 1862 genehmigte der Kongreß die erſte Roten- 
emiffion im Betrage von 250 Mill. Doll. in Abſchnitten von nit unter 5 Dell, 
die als gefegliches Zahlungsmittel erflärt wurden; es warb gleichyeitig geflattet, 
biefe Noten in Beträgen von 50 Doll. und barüber in fecheprogentige Obll⸗ 
gationen zum Nennwerthe umzuwandeln; für bie Berzinfung diefer Obligatiomen 
im Gold follten die, fortan nur in Gold zu zahlenden Zölle bereit geftellt 
werben. Auch wurde das Schatzamt ermädtigt, mit 5%), pr. a. zu verzinfende 
Depofiten anzunehmen und ferner (März 1862) Lieferanten für Heer umb 
Blotte durch fünfprocentige, nah einem Jahr, oder nach dem Belieben bes 
Ma x auch |päter rũckzahlbare Schulpcertificate (certificates of indebtedness) 
zu edigen. 

Die Vorgänge auf den verſchiedenen Schauplätzen des Krieges hatten 
inzwiſchen nicht günſtiger geſtaltet; neue Truppen mußten ausgehoben werden, 
Augefihts einer Staatsſchuld, die am 1. Juli 1862 bereits auf über 600 Mi 
Doll, angewachſen war. Da erft entfchloß fich der Kongreß zum Erlaß einer Stener- 
orbuung, die, nachdem fie in der folgenden Zeit vielfache Abänderungen erfahren, 
im Weſentlichen noch heute befteht und alsbald glänzende Grgebnifie lieferte. Zu 
begründeten Bedenken giebt fie durch ihre große Komplicirtheit und bie vielfad 
irrationelle und ungerechte Veranlagung auch noch in ihrer jegigen Seftalt Aulaß. 
Inzwiſchen dauerte der Kampf mit wechſelndem Glücke fort, ohne Ausficht auf 
baldigen und vollſtändigen Sieg ber Unionswaffen. Im März 1863 wurben 
fowohl vie Einfuhrzölle, als auch die heimiſchen Steuern weiter erböht, die Kon⸗ 
teole bei Erhebung der Einkommen⸗ und Babrilationsftenern verjchärft, ferner bie 
Ausgabe von 150 Mil. Doll. Papiergeld und 400 Mill. Doll. nad drei Jahren 
rädzablbarer, ſechsprocentiger Schaylammerfcheinen verfügt und endlich, Ungefichts 
ber zunehmenden Schwierigkeit, feine Silbermünze zu belommen, vie &milfien 
von 50 Mil. Doll. Papiergeldſcheidemünze beſchlofſen. Schliekli erhielt Der 
Chaſe die Befugniß, Edelmetall als verzinsliche Depofiten anzunehmen, 
der Handel mit Gold gleichzeitig vielfachen Bexationen unterworfen wurde. 

Bald nachdem bie erfien Beträge uneinlöslien, mit Zwangscours verjehenen 
Baptergelves in den Verkehr gelommen, hatte das Goldagio begonnen, feine ner 
derbliche Rolle zu fpielen; im Juli 1862 ſtand es bereits auf 20°), und ging 
unter heftigen Schwankungen von da an weiter in die Höhe. Eine fernere Ber- 
mehrung bes Regierungspapiergeldes (green backs, fo benaunt nad ber Farbe 
ber betreffenden Roten) mußte unter folden Umftänven als mißlich erfcheinen; für 
Herrn Chaſe war der Zeitpunkt gefommen, um feinen lange gehegten Lieblings 
wunfh, bie oben in ihren Hanptmomenten geſchilderte Rationalbantafte in’s 
Leben zu rufen; fie wurde nach langen Debatten, im Genate mit 23 gegen 





Norbamerikanifche Sreiflanten. 848 


21, tm Repräfentantenhaufe mit 83 gegen 66 Stimmen angenommen. Die Ab⸗ 
ſtimmung zeigt, baß die neue Ute fi Im Kongreß keinesweges eines hohen 
Grades von Popularität erfreute; das Urtheil über ihren Werth lautete in den 
Hallen der Geſetzgebung, wie im Publikum fehr verſchieden und fand in der Brefie 
und in Broſchüren nah allen Richtungen hin einen Ansdruck. Finanzielle 
Autoritäten, wie Iames Gallatin in New» Mork fprachen fih mit Nachdruck 
gegen bie neue Alte aus und wieſen namentlich auf bie Gefahren bin, welche 
dem Kredit von Bolt und Regierung aus dem Umſtande erwachſen wären, 
daß bie gefammte Cirkulation von Noten fortan lediglich den Regierungsfrebit, 
nicht aber Elingende Münze zur Bafls habe. Die Zeit war aber nicht dazu an⸗ 
getban, um den Mahnungen weifer und erfahrener Männer, wenn fie nicht 
bedingungslos der herrſchenden Partei ergeben waren, Eingang zu verfchaffen. 
In der großen Maſſe des Publitums wurde eine Banknote von überall gleichem 
Werthe als eine Wohlthat, nicht mit Unrecht, empfunden; ob die Wohlthat utcht 
zu theuer erfauft fet, folde Erwägungen lagen dem burchichnittlichen Verſtande 
des Volles fern. Uneingevent ber Dienfte, welche ihm vie Banken der Einzel⸗ 
ſtaaten buch ihre Darlehen in ver Stunde der Gefahr geleiftet, begann Herr 
Chaſe jest einen Kampf gegen biefe Gelbinflitute, deſſen Ausgang freilich nicht 
lange zweifelhaft fein konnte, ihre Konverflon in Nationalbanken wurde immer 
unvermeidlicher. Mag man bie Hinausgabe von uneinlöslihem Papiergelve immer: 
bin mit der Noth der Zeit entſchuldigen, als eine Wohlthat wird fie fein denken⸗ 
der Volkswirth jemals anerkennen. Gleichwohl hat fih Herr Chafe zu fo fühnem 
Fluge erhoben; in gänzlier Verkennung ver Urſachen der Balutaentwerthung 
Angefichts einer Emiffion von 5—600 Mill. in Negiernngöpapiergeld war er fo 
naiv zu behaupten, die geringe Eirkulation der Banken in den Einzelflasten trage 
bie eigentlihe Schuld an der Entwertbung, im Grunde fei der Papierbollar genau 
foviel werth, als der Golddollar, nur die Golvfpefulanten hätten das buch Nichts 
gerehtfertigte Agio zu verantworten, ihnen das Handwerk zu legen fet Pflicht ver 
Geſetzgebung. 

Die Kriegsereigniſſe in der erſten Hälfte des Jahres 1863 waren den Unions⸗ 
waffen noch nicht günſtig geweſen; am 1. Juli betrug die Bundesſchuld 
1098,8 Mill. Doll., das Goldagio ſtand zwiſchen 40 und 50 %/,; aber ver 
Wendepunkt war nahe, wenngleih das nicht fofort in aller Welt Augen erkennbar 
ward. Seit die Hoffunngen auf endlichen Steg der Unionsfadhe Grund gewonnen, 
begann die Opferwilligkeit der Nation einen neuen und wunderbaren Aufſchwung 
zu uehmen. Immer neue Truppen eilten freudig in den Kampf. In der Negocii⸗ 
rung neuer Anleihen leifteten die Rationalbanken der Regierung wefentliche Dieufte. 
Mit Beginn des Jahres 1864 wurde ein neuer Feldzugsplan inaugurirt, der, 
wenn auch langfam, dennoch ficher zum Ziele führte, mit der Vernichtung ber 
füdftantlihen Hauptarmee und der Einnahme Richmond's feinen glorreihen Ab⸗ 
ſchluß fand. Zwar machte der Süden noch einmal (Juli 1864) einen verzweifelten 
Verſuch, durch einen Einfall in die Staaten Maryland und Pennſylvanien uud 
unmittelbare Bedrohung Waſhingtons fih Luft zu ſchaffen; noch einmal erlitt der 
Öffentlihe Kredit eine tiefe Erſchütterung und in jenen verhängnißvollen Tagen, 
als ein fünftantlihes Corps fih zwiſchen Baltimore und Waſhington geſchoben 
hatte und beide Städte ernſtlich bedrohte, erreichte das Goldagio mit 180%, 
feinen höchſten Punkt. Abermals wurden bie Steuern erhöht und ein Gefeg zur 
volftändigen Unterbrädung der Golpfpefulation erlaflen, gegen weldes indeß 
fofort die Gefchäftswelt lebhaft proteftirte Dan mußte durch Zurücknahme ber 


844 Nachtrag. 


bedenklichſten Paragraphen eingeflehen, daß man fi an ber wirthſchaftlichen Frei⸗ 
beit ſchwer verfündigt Babe. Diefer moraliſchen Nieverlage, ſowie Intriguen im 
Schooße des Kabinets war es zuzufchreiben, daß Herr Ehafe am 2. Iuli 1864 
feinen Boften verließ und Herrn Feſſenden von Maine Platz machte. Seine, 
nur mit Widerwillen angetretene Verwaltung wird bezeichnet durch eine Anleihe 
von 600 Mil. Doll. in 72/,,%/, Schatzſcheinen, in 2—3 Jahren rüdzahlbar, 
Kapital und Zinfen auf „geſetzliche Währung”, alfo Papiergeld lautend, mit ber 
Debingung, daß die Inhaber entweber die Rückzahlung in dieſer Form ober die 
Konverfion in fechöprocentige, in Gold verzinsliche Obligationen a) 

können. Die Anleihe hatte großen Erfolg; in hohem Grave fehmeihelhaft war es 
dem amerilanifchen Volle, zu fehen, daß man, um „Geld“ zum befommen, ver 
Hülfe des Auslandes entrathen könne. 

Wir müflen uns verfagen, die finanzielle Entwidiung in ihren Details zu 
verfolgen; als Rihmond fiei (April, 1865), hatte die Bundesſchuld die gewaltige 
Summe von 2700 Mil. Doll, erreiht unt der bald darauf, nad der Ermordung 
Lincoln's und Inauguration Johnſon's an die Spige der Finanzverwaltung 
tretende Schapfelretär Herr Hugh Mac Culloch fah fi vor eine ſchwierige 
Unfgabe geftelt. Am 1. September 1865 betrug bie PBapiergelbcirkulation (Roten 
bes Schapamtes und fänmtlicher Banken) nahezu 1000 Mid. Doll. Zunähft galt 
es indeß weniger die Mafle der Umlaufmittel zu reduciren, ale für Dedung ber 
fucceffive fällig werdenden Turzen Anleihen Sorge zu tragen. Bevor namentlich 
die fogenannte Siebendreißiger, Herrn Feſſenden's Anleihe befeitigt, konnte man 
auf die Wiederherſtellung der Valuta ungetheilt fein Augenmerk nicht richten, 
vielmehr mußte der Schapfelretär wünſchen, bis dahin dad Goldagio auf einer 
gewifien Höhe erhalten zu fehen, da in ſolchem alle die Kouverfion fidher zu 
erwarten fland, während im andren Falle die Inhaber auf Rüdzablung in Papier 
angetragen umb in Unfehung ver großen gleichzeitig fällig werdenden Schulbpoflen 
dem Schapamt ernfte Berlegenheiten würden bereitet haben, Herr Mac Culloch 
hat diefe feine Aufgabe von Anfang an Mar begriffen, fich gleichzeitig indeß aud 
in Betreff ver Uebel ver Papiergelowirtbfchaft keiner Illufion Hingegeben. Um mit 
ber Rebultion der Umlaufmittel einen Anfang zu machen, ließ er fi vom 
Kongreß die Befugniß ertheilen, zuerſt 6, dann monatlid A Mil. Doll. 
Papiergeld einzuziehen und zu vernichten, eine Befugniß, die freilich Ende 
December 1867 wieder zurüdgenommen wurbe; die Zurüdnahme iſt indeß kein 
pofitioes Hinderniß für ben Schatzſekretär, die genannte Summe monatlid 
bem Verkehr zu entziehen; da die Einkünfte jest nämlich aufehnliche Ueberſchüſſe 
ergeben, fo Tann er dieſe ganz oder theilweife zurüdbehalten, die Wirkung auf 
den Gang des Agio's dürfte diefelbe fein, als wenn vie betreffenden Noten 
vernichtet wären. 

Welch' gewaltige Summen zu beihaffen waren, um die wachjenden Anforde⸗ 
rungen der verſchiedenen Departements zu befriedigen, erhellt beiſpielsweiſe aus 
dem Büdget des Etatsjahres 1864, deſſen Specialitäten wir, um ben Koutraft 
zwilchen fonft und jest zu zeigen, bier folgen lafien : 





#1), In fogenannte 5—20er Bonds, deren erſte Emiffion vom Mai 1862 datirt; fie fünnen 
5 Jahre nad) der Ausftellung nach Dem Belieben der Regierung eingeldst, müſſen aber jedeniuls 
20 Jahre nad der Ausftellung zurüdbezablt werden, — und zwar nad) einem während des 
Drudes diefer Bogen bekannt werdenden Beichluffe des Kongrefies, in Gold. 


Nordamerikanifhe Sreiſtaaten. 845 


Ausgaben: Einnahmen: 

Eiviint D. 8,059,177.23€. Einfuhrzölle D.102,316,152.99 €. 
Dipl. Vertretung „  1,290,691. 92 „ Heim. Steuer „ 109,741,134.10 „ 
Kriegsdepartem. „ 690,791,842.97 „ Direlte Zaren „ 475,648. 96 „ 
Kriegöflotte „  85,733,292. 77 „ Ländereien " 583,333. 29 „ 
Benflonen „  4,979,633.17 „  Berfhievenee „ 51,505,502.26 „ 
Indianer „ 2,538,297. 80 „ 

Berſchiedenes 18,155,730. 81 „ 

Zinſen „ 653,685,421.65 „ 

D. 865,234,087.82 C. D. 264,621,771.60 €. 
fo daß 600 Mill. Doll, durch Anleihen aufzubringen waren zu einer Zeit, als 
bie Staatsſchuld ſchon nahe an 1500 Mill, Doll. betrug. Aber das Ende bes 
Kampfes war nahe. Mögen wir den Maßnahmen des Schatamtes nicht durchweg 
unferen Beifall ſcheuken, an dem guten Willen ihrer Chefs bat es eben fo wenig 
gefehlt, ald an der Opferbereitfchaft nes Volkes, ihr ift e8 zu danken, daß ber 
Krieg zu einem glüdlihen Ende geführt wurde. 

Ehe wir fhließen, mögen bier noch wenige Bemerkungen über die Finanzen 
ber fünlichen Staaten während des Krieges folgen. Die Emiffion von Papiergeld, 
zu der die Konföderation buch die Not gebrängt, weit früher fchritt, als 
thre Feinde, Hatte im Süden ungleich verhängnißvollere Folgen und bat unftreitig 
zu feiner frühen Ermattung mwefentlid beigetragen. Zwar fonnte aud im Süpen 
das Papiergeld in zinstragende Obligationen umgewandelt werben, aber das Ver⸗ 
trauen zu dieſen Papieren ift wohl zu keiner Zeit allgemein genug gewefen, um 
der wachſenden Fluth des Papiergelves auch nur einigermaßen Einhalt zu thun. 
Auch die frühzeitig ausgefchriebenen Steuern konnten nicht entfernt die gewaltigen 
Ausgaben deden, während eine andre Einuahmequelle, vie Zölle, dem Süden 
gänzlih verflegt war. Kein Wunder, daß man Anleihe auf Anleihe häufte und 
bei den geringen Erfolgen ihrer Regoctirung in immer größerem Umfange Papier- 
geld emittirte. Schon gegen Ende des Jahres 1861, zu einer Zeit alfo, in ber 
das Waffenglück no entſchieden auf Seiten der Südſtaaten war, fland dort das 
Soldagio auf 20%, und ftieg ſeitdem raſch und ftetig, Ende December 1863 
fand e8 auf — 2000, kurz vor dem Ball Richmonds, im März 1865 repräfen- 
tirten 3500 Doll. Papiergeld Einen Golddollar! Je verzweifelter die Lage des 
Südens wurde, zu um fo verzweifelteren Mitteln griff man, um den hoffnungsiofen 
Kampf fortzuführen; man fchritt zu Kontributionen (impressments) und forderte, 
wo die Steuern in Geld nicht einzutreiben waren, Haturallieferungen ‚oft in 
höchſt willkührlich bemeſſener Weiſe. Unter den Anleihen bat die mit dem Haus 
Erlanger in Paris im Wuguft 1861 abgefchloffene fogenannte Baumwollen- 
anleihe eine traurige Berühmtheit erlangt; man hatte durch Vermittlung dieſes 
Hanfes im Ganzen 75 Mil. Franken 79/, jährlicher Zinſen belommen, beren 
Kapital ſechs Monate nah Abſchluß des Friedens entweder baar ober in Baum- 
wolle heimgezahlt werben follte Das Schickſal dieſer, wie aller übrigen durch 
die Konföderation kontrabirten Anleihen iſt bekannt; gleih den Millionen, welche 
im Berfehr als Umlaufmittel dienten, find fie heute nicht das Papier werth, auf 
welches fie gefchrieben. Ueber vie von der Konföberation kontrahirten Unleihen in 
ihren verſchiedenen Formen liegen uns leider keine fpectellen Nachweiſe vor, ber 
Totalbetrag wird in feinem Nennwerth nit weit von der Gefammtihuld ber 
Union, alfo etwa 2600 Mil. Doll. entfernt fein, Selbſtverſtändlich ift das Aus, 


846 Nachtrag. 

löſchen dieſer Schuld nicht als ein Verluſt zu rechnen; dieſer beziffert fich nach den 
Opfern an Menſchenleben und Arbeitskraft, an nutzloſer Verzehrung von Lebens⸗ 
mitteln und Zerſtörung von Produkten, Speichern, Eiſenbahnen, Brüden u. |. w. 
Auch darf man bie Freigebung der Sklaven nicht als einen baaren Gelbverlufl 
anſehen, wiewohl ein folder in vielen Fallen ohne Frage vorliegt; find erft bie 
Berhältniffe im Süden auf neuer Bafld konſolidirt, fo wird ſich ber Verluſt in 
einen pofitiven Gewinn verwandeln; wer da glaubt, daß bie freie Arbeit quall- 
tatio wie quantitativ befjere Nefultate liefere, als der Dienft des Hörigen, darf 
biefe Prophezeiung unbedenklich machen, mag ihre VBerwirklihung auch noch nidt 
in unmittelbarer Nähe liegen. 

Seit der Frieden wiedergekehrt, ift e8 dem von Marer Einficht geleiteten und 
durch die Umftände begünftigten Streben des Herrn Mac Culloch gelungen, 
nicht nur die fchwebenve, fondern auch bie fundirte Schuld fucceffive und in 
einem Umfange zu rebuciren, der unfere Bewunderung erregen muß und be 
Großartigkeit der Hülfsquellen des Landes, fowie der Steuerkraft des Volles ein 
glänzendes Zeugniß ausftellt. Die gefammte Papiergelvcirkulation, welche am 
1. September 1865 noch 980 Mill. Doll, betrug, war Anfang Ianuar 1868 
auf 734 Mil. Doll. reduchtt, wovon 434 Mill. Doll. fogenannte greenbacks 
fowte compoun interest-notes (Zinfeszins tragende Noten) mit geſetzlicher Wäh- 
rung, in kürzern Friſten rüdzahlbar und meiftens von den Banken als Referve 
gehalten und 300 Mil. Doll. Noten der Nationalbanten waren. Der Stand 
der Öffentlichen Schuld am 1. September 1865: Doll. 2,757,689,571. — %) 
war Anfang Januar 1868 auf Doll. 2508,125,650. — rebucirt worben, fo daß 
fih für 28 Monate eine Abnahme der Schuld von Doll. 249,563,921. — her⸗ 
ausftellt, ein Nefultat, um weldes wohl alle europäifchen Yinanzminifter Herrn 
Mac Culloch beneiden werben. Die fogenannte 7—30er Anleihe, deren wir oben 
gedachten, allmählig auf 800 Mil. Doll. gebraht, war Unfang Januar 
1868 durch Konverfion und Heimzahlung auf 328 Mil. Doll, reducirt worten, 
diefer Reft muß im Laufe des genannten Jahres gefeglich befeitigt werben 9). 
Der weitaus größte Betrag der Anleihe wurde lonvertirt, und der Betrag der in 


43) Auf welchen Punkte fie fi, geringe Schwankungen abgeredinet, bis zum Herbft 1868 
gehalten hat. Einem im Januar 1868 dem Kongreß übergebenen Bericht des Steuer kommiſſärt 
ift eine Aufftelung über die Summe der öffentlihen Ausgaben beigefügt, welche in verfchiedenen 
Perioden (feit 1820) auf den Kopf der Bevölkerung entfällt, die wir bier auszugsweiſe wieder 
geben (ed find nur die Ausgaben der Bundesregierung gemeint). 


10jäbrige Perioden Ordentl. Audgaben infen Insgeſammt 
1821— 1830 O D. O7 C. 5M. 0D. 32C. EM. 1D. 406. 3M. 
1831—1840 13 61,5, 0,0,„9, 1, 63,4» 
1841—1850 1, 693,5 0, 09,6„ 1, 73 315 


1851—1860 2,065, 0„-410,0, 7, 16,5% 
Diefe Beträge find in Goldvaluta, wie fie id zum Ausbruch des Bürgerfrieges beftand, ange 
geben. Bei den nun folgenden jährlichen Nachweiſen ift Gold- und Papiervaluta gefondert auf 





geführt. 
Papier Gold Manier Gold Papier Sol 

D. C. M. DER DEN DEN DEN DEN 
1861— 1862 14. 13. 2 13.90.9. 0. 40. 4. 0. 38. 7. 14, 53. 6. 14. 30. 6. 
1862— 1863 20. 77.0 15.36.2. 0.74.44 0.551. 21. 51. 4. 15. 91.3. 
1863— 1864 241. 00. 9 15. 20. 5, 1. 58, 8. 1.00.06. 25. 59.7 16. 21.1. 
1864— 1865 35. 25. 6 17.60.2. 2. 25. 0. 1. 12. 3. 37. 50. 6 18. 72. 3. 
1865—1866 11. 06. 8 7.88.3. 3. 79. 9. 2. 70. 6. 14. 86.7 10. 58.9. 
1866—1867 5. 68.9. 4.03.5. 403.0, 2.85.8, 9.71.9 6. 83. .3. 

43) Was bis auf etwa 50 Mil. Doll. bis Herbft 1868 gefchehen war. 





Nordamerikanifche Sreiſtaaten. 847 


Gold verzinslihen Schuld iſt demnach entſprechend gewachſen; verfelbe wird am 
1. Januar 1868 auf Doll. 1,890,102,091. 80 &. angegeben und wird zum 
größten Theil dur fogenannte 5—20er Obligationen repräfentirt. Namhafte 
Summen biefer Anleihe find allmählig in den Beſitz europälfcher, namentlich 
deutſcher und holländiſcher Kapitaliften und Banquiers übergegangen; man jchäßt 
ihren Gejammtbetrag auf 3—400 Mill. Doll.; in neuefter Zeit bat auch bie Be- 
theiligung englifcher und franzöflfcher Kapitaliften größere Dimenfionen angenommen 
und anf allen europätfchen Fondsbörſen fpielen jet „Amerilaner" eine wichtige Rolle 
und geben dem atlantifhen Kabel täglich neue und umfangreihe Beſchäftigung. 
Daß die fremde Importation trog dem Schußzolltarif in den legten Jahren 
größere Dimenflonen angenommen, als je zuvor, erklärt ſich zunächſt aus dem 
Umftande, daß die Süpftanten, beim Friedensſchluß von allen Waaren entblößt, 
einen enormen Bedarf zu befriedigen hatten; eine weitere Urſache der noch fort- 
dauernden maflenhaften Importation ift minder erfreuliher Art — bie Papier- 
gebaiethfhaft, welche überall vie Tendenz bat, die Importation in ungejunder 
eife zu fleigern, ber Ausfuhr dagegen Abbruch zu thun. Diefe Eigenthümlicy 
keit des umeinlöglihen Papiergelves verfannte auch Mac Culloch keinesweges 
und ſprach fich in feinem legten Iahresbericht (December 1867) auf’8 Neue und 
entſchieden ſür weitere Reduktion der ſchwebenden Schuld aus. Gleichzeitig räth 
er indeß, und, wie uns ſcheint, mit Recht, an dem Tarif vorläufig nicht zu 
rätteln und nur einzelne Partieen in Einklang mit den Säten ber Steuerord- 
nung zu bringen. Die Zeit für einen Freihandelstarif ift noch nicht gelommen, 
vorerft gilt es, andre, ſchwerere Webelftände, darunter in erfter Linie vie Papier- 
geldwirthfchaft zu befeitigen. 
Wie fih das jetzige Friedensbudget geftaltet bat, darüber giebt uns ber 
officiele Ausweis über das Etatsjahr 1866/67 folgenden Aufſchluß: 
Uusgaben: Einnahmen: 
Civildienſt D. 51,110,027. 27C. Einfuhrzölle D. 176,417,810. 88 C. 
Penſion. u. Ind. 26,679,083. a8, Heim. Steuern„266,027,837. 48, 
Kriegsdepartem. 95,224,415.63 „ DdDirekte andre, 4,200,233. 70 „ 
Kriegsflotte31,034,011. 04 Landereien LAIGS 76. 76 
Zinſen „ 143,781,591.91 „ Verſchiedenee42,824,852. 60, 
Ausgaben D. 346,729,129. 33 ©. Einnahmen D. 490,634,010. 27 €. 
jo daß ſich ein Ueberfhuß von nahezu 150 Mill. Doll. für jenes Jahr heraus- 
ftelt. Die direften und indirekten Steuern haben, wie man flieht, über 400 Mill 
Doll. eingetragen; berüdfidhtigt man die komplicirte Manipulation und vielfad 
ungerechte, dabei gar nicht zu Tontrolivende Veranlagung der heimiſchen Steuern, 
jo darf es uns nicht Wunder nehmen, wenn ber Exheber über Defrauben klagt und 
eine Bereinfahung des Steuerfyftems dringend befürwortet; zu verwundern iſt nur, 
daß ſich die Erhebungskoſten auf wenig über 21/2 0/, der Bruttoeinnahme flellent4). 


) Für das am 30. Juni 1869 abfaufende Finanzjahr waren Einnahmen und Ausgaben 
wie folgt veranſchlagt: 


Ausgaben: Einnahmen: 
Cutwildienſt D. 51,000,000 Einfuhrzölle D. 145,000,000 
Penſionen und Indianer » 35.000,000 Heimiſche Steuern „  *05,000,000 
Kriegädepartement incl. Ländereien „ 1,000,000 
25% Mid. Prämien Verſchiedenes „30,000,000 
gelber für Soldaten D. 120,000,000 
egöflotte „ 36,000,000 
Zinſen „130,000, 


Ausgaben D. 372,000,000 Einnahmen D. 381,000,000 


848 Nachtrag. 


Keine Frage, das amerikaniſche Volk hat die Bürgſchaften feiner Integrität 
mit kolofjalen Opfern exrfauft; *) ſchwer drüden bie Steuern viele wichtige Interefien ; 
Handel und Berfehr befinden fi zur Zeit im Zuftande großer Stagnation, bie 
Zuftände im Süden find Teinesweges derartig konſolidirt, um mit rubigem Ver⸗ 
trauen in die Zukunft bliden zu können, bericht doch in manden Diftrikten 
nahezu Hungersnotb, fo daß die Rede davon iſt, durch regierungsfeitig zu leiſtende 
Borfchüfie den ſchwer leidenden Uderbauintereffen aufzuhelfen — kurz, die Dinge 
bieten zur Zeit keinen erfreulihen Anblid dar. Schon haben fih vie Stimmen 
der Demagogen vernehmen laffen, die der Repudiation in ſchlecht verhitllten 
Formen das Wort reden und eine Heimzahlung der Schulden in Papiergeld an- 
gelegentlich befürworten. Das Volk in feiner Mehrheit iſt indeß andern Sinnes, 
es weiß, daß eine folde Maßregel, vie in erſter Inflanz eiue ungeheure Ver⸗ 
mehrung des Papiergeldes involviren würde, jeden Einzelnen auf das empfinb- 
lichſte beeinträchtigen müfle. Herr Mac Culloch hat in feinem mehr erwähnten 
Jahresbericht emphatifh erklärt, die Ehre und bie Habe der Nation hafte für 
eine pünktlihe Erfüllung aller eingegangenen finanziellen Verpflichtungen; eimer 
großen Nation ſtehe es fchleht an, dabei lediglich den Buchſtaben des Gefeber 
im eigenen Lande zu berückfichtigen, alle Kontrakte ſeien zu erfüllen in dem Geiſte, 
in dem fie abgeſchloſſen. Dieje Erklärung bat zur Beruhigung ver Gemüther 
wefentlich beigetragen; Anträgen im Kongreß, welche auf eine Repudiation abzielten, 
bat man nidht einmal die Ehre der Diskufflon angethban, man if} über fie zur 
Tagesordnung übergegangen. Ob der Kongreß vagegen die Anbahnung normaler 
Balntaverhältnifie energifch in Angriff nehmen wird, ift zweifelhaft; der Kampf 
für die nähfte Präfiventenwahl beginnt, die Gemüther zu erhigen und alles 
Audre in den Hintergrund zu drängen. Man wird fi darauf gefaßt machen 
müflen, daß in den nädften Monaten au vie VBerlodungen zur MRepubiation als 
Wahlmanöver benugt werben, wie wir zuverfichtlich hoffen, ohne Erfolg — das 
Boll, welches einen vierjährigen blutigen Kampf für bie Integrität des Lanbes 
nit ſchente und ihn fiegreich beftand, hat den Willen und die Kraft, die Schul- 
den, welde der Krieg hinterlaſſen, pünktlich zu tilgen! Die früher oft gehörte 
Redensart, daß man ven Europäern, die in Papier gelauft, in Papier heimzahlen 
müſſe, verfchlägt nicht mehr; das Bolt weiß, daß dad Treu und Glauben Halten 
die Orundlage alles wirtbfchaftlihen Lebens ift, mag fein Schauplag der binnen- 
ländiſche oder der internationale Handel fein. Das Schagamt iſt auch Europa 
gegenüber reblich bemüht, Bertrauen in feine Ehrenhaftigfeit zu erweden; man 
erinnert fi einer Untwort, bie. der Steuerfommillär David U. Wells vor einigen 
Monaten einem Mitarbeiter von Blackwood’s Magazine ertheilt und bie Zweifel 
an der Zahlungsfähigkeit des amerikaniſchen Volkes fiegreich widerlegt bat *5), 

Bielfadye Pläne zur Befeitigung der finanziellen Mißftände find in neuefter 
Zeit zur Disfuffion gelangt; Herr Mac Culloch wünſcht die ganze Schuld in 
eine einheitliche Form zu konfolidiren; bie neue „konſolidirte Schuld" der Vereinigten 


*) Anm. d. Red. Die folgenden Anfangs 1868 geichriebenen Betrachtungen find beim 
Drud des Artikeld unverändert aufgenommen worden, weil fie den Stand der Dinge, wie er ſich 
am Schluß der lebten Präfidentichattöperiode darftellte, Tennzeichnen Die Repudiationstheorie bat 
bekanntlich inzwifchen eine Niederlage erlitten (vgl. Note®1,, die ald endgültig betrachtet wird. 

65) Die Finanzen der Bereinigten Staaten, Abdrud in deutfcher Ucberfegung, veranlaft 
durch den amerifanifchen Konful in Frankfurt a. M. (Allgemeine Zeitung, Beilagen No. 271 u 
212, 28, u. 29. Septbr. 1867). 











Nordamerikaniſche Sreiflaaten. 849 


Staaten foll nominell 69/, Zinfen in Gold tragen; der fechste Theil der Zinſen 
indeß den Einzelſtaaten nad aafgebe ihrer Devölferung aufallen, um bieje für den 
Steuerausfall, den fie durch die Steuerbefreiung von Bundesobligationen erleiben, 
zu entfhäbigen, Im Kongreß find ähnliche Vorſchläge gemacht, wobei häufig ein 
noch niebrigerer Zinsfuß empfohlen wurde. Alle tiefe Vorfchläge haben indeß für's 
Erſte keine Ausſicht, berüdfichtigt zu werben; ſie werben ſchon an Ihrer innern 
Unausführbarkeit ſcheitern, wenn man überall die Zinfen reduciren will, ohne den 
Glaͤubigern für den Zinsausfell ein Aequivalent im Courſe zu geben; jest iſt 
überdbem, wie gejagt, die Wahlagitation jeder ernften Arbeit auf dem Gebiete 
financieller Reformen binderlih und unter folden Umftänden fcheint ver In ber 
amerilanifhen Prefie vielfad laut gewordene Wunfd berechtigt, e8 möge dem 
Kongreß gefallen — fich mit den financiellen Zuſtänden einftweilen gar nit zu 
befafjen und nur für eine gerechtere Veranlagung ver heimifchen Steuern zuforgen. 

Gewig wird die Nation die der financiellen und politiſchen Konſolidirung 
zur Zeit noch entgegenftehenden Schwierigfeiten überwinden; gleichwohl läßt fich 
die Nothwendigkeit rafhen und energifhen Handelns nicht verfennen. Die poli⸗ 
tiſche Rekouſtruktion des Sudens iſt nicht länger aufzuſchieben und die republi- 
kaniſche Mehrheit im Kongreß würde nicht weile handeln, in ben Sübftanten fort 
und fort lebigli das Geſetz des Siegers zur Geltung zu bringen. Das mwirth- 
ſchaftliche Leben des Bolles bewegt ſich auf ſchwankender, ungejunder Grundlage 
umd die Prosperität, deren fi viele Theile des Landes erfreuen, ift vielfach 
trugeriſch. Es gilt, die unerläßlichen Bedingungen einer gefunden Entwidlung ber 
nationalen Produktion zu fchaffen, jever Aufſchub beventet nicht bloß eine Ver⸗ 
längerung, fonvern auch eine Verſchlimmerung des Uebels. Zu diefen Bedingungen 
it in erfter Linie zu rechnen: die Wiederaufnahme von Goldzahlungen; fie ift 
nur durch Einziehung eines namhaften Theils des jegt umlaufenden Papiergeldes 
anzubahnen. Wil man mit Herm Mac Culloch die Notencirkulation fpäter lebig- 
lich ven Nationalbanken überlafien, fo ift die betreffende Alte jedenfalls abzuändern, 
infofern zur Sicerftellung ver Noten eine Bereitſtellung größerer Metallvorräthe 
obligatorif zu machen iſt. Bielleiht wird man indeß früher ober fpäter zu einer 
gründlichen Reform bes Bankweſens an Haupt und Gliedern fchreiten; ift bie 
Goldvaluta wieder hergeſtellt, und dieſer That wird die Wiedereinführung bes 
Krevitfyftems unvermeidlich folgen, fo dürften fie in ihrer jegigen Berfaffung in 
einer ernften Handelskrifis fi ſchwerlich behaupten und durch ihre Verbindung 
mit ver Regierung den Kredit des Schagamtes in Mitleivenfchaft ziehen. Die 
Banffreiheit mit der Bedingung eines die ganze Union gleihmäßig umfaſſenden 
Baut- oder vielmehr Bankerottgeſetzes, Vorſchriften über Haftbarkeit u. f. w., fie 
wird u. A., wenn aud nicht in den nächſten Jahren, in der Union zum Siege 
Iommen. Eine grũndliche Reform der Stenergefeßgebung iſt eine andre Bedingung 
der Gefundung des Wirthſchaftslebens und endlich wird man als eine ſolche auch 
vie Ummantiung des Tarifes im Sinne der Handelsfreiheit erkennen. 

Die Erfüllung aller viefer, von dem einfichtigen Theile der amerilaniſchen 
Sehgäftswelt geiheilten Wunſche mag uch nicht der nähften Zukunft vorbehalten 
fein. Daß fie aber früher oder fpäter eintreten werde, tafür bärgt der gefunbe, 
jever Fefſelung wirthſchaftlicher Thätigleit widerftrebende Stun der Nation, Wer 
aber Tönnte leugnen, daß, nad Erfüllung dieſer Beringungen das amerilauiſche 
Bell vie Schwelle einer nenen Hera betreten wirb, einer Epoche, tie dasjenige, 
was wir unter den Erſcheinungen vergangener Jahre flauuent betrachteten, tief 
in Schatten wird? 





850 Nachtrag. 


Nachtrag. Nachdem durch eine überwältigende Mehrheit die Wahl des 
Generals Grant zum nächſten Präfidenten der Vereinigten Staaten geflgert, darf man 
mit Grund Hoffen, daß politifh wie financiell die Entwidiung fortan einen 
erfprießlicgern Fortgang nehmen werde. Der Dann, der an der flegreihen Be 
endigung des Bürgerfrieges einen fo wefentlichen Antheil bat, ift auf Grund eines 
Programmes gewählt, das das Nekonftruftionswerk folgeritig durchzuführen ver- 
beißt, darin allein die Gewähr eines dauerhaften Friedens erblidt, und in Betreff 
der Finanzen erllärt, daß die Nation gefonnen fei, Iren und Slauben zu halten, 
daß auch auf financiellem Gebtete die Gefege nicht bloß dem Buchſtaben, ſondern 
and dem Geifte nach ausgeführt werben follen. Durch Graut's Erwählung ifl 
der Kouflift zwiſchen der gefeßgeberlihen und der volljiehenden Gewalt, ber all- 
zulange jeber Entwidlung zum Befleren hemmend in den Weg trat und die Be 
lebung des öffentlichen Vertrauens nahezu unmöglich machte, definitiv befeitigt, 
und biefer Umftand allein läßt hoffen, daß, Dank dem fon jest überall fi fund 
gebenden Bertrauen, die Hebung der financielen Schwierigfeiten in nicht ferner 
Zeit erfolgen werde. Freilich beftehen dieſe financtellen Schwierigkeiten zur Zeit 
noch unverändert fort; zu ihrer Beſeitigung bebarf es, wie wir gefehen haben, 
großer Kraft und Einficht, nicht unerheblider Opfer von Seiten Aller. Biel wir 
von der Perfönlichkeit und Befähigung bes künftigen Schagfelretärs, viel von ber 
Haltung der republifanifhen Mehrheit im Kongreß abhängen. Über man darf 
jest mit einigem Grunde hoffen, einmal, daß von ver Repubiation in irgend 
welcher Form oder Verhüllung binfort nicht mehr die Rebe fein werbe, jobann, 
taß man bie von uns bezeichneten Vorbedingungen einer befriebigenten Föfnng 
der Finanzfragen, wie dies unter dem intelligenten Handelsſtande ſchon jegt der 
Hall ift, auch in den Hallen der Bunbesgefeugebung immer mehr als unerläßlice 
erlennen und bemgemäß handeln werde. 2. H.Reier. 


Norddeutſcher Buud. 


Hinfigtlih der Entſtehungsgeſchichte und 8 erfaffung bes norb- 
deutfhen Bundes Tann auf bie oben ©. 485—99 gegebene Darftellung verwieſen 
werben. 

Bundesgebiet nud Bevölkerung, letztere nah der Zählung vom 
December 1867: 


Staaten: Meilen: Seelen: 

Königreich Preußen mit Yauenburg 6387,63 23,990,170 
n Sadjen 271,83 2,423,586 
Großh. Medlendurg- Schwerin 244,12 560,618 
„  Sadjen-Weimar 66,03 283,044 

„ Medlenburg-Strelig 49,49 98,770 
„Oldbenburg 116,22 315,622 
Herzogth. Braunfhweig 67,02 302,792 
„ Sadfen-Meiningen 44,97 180,335 

n Sadfen-Altenburg 24,00 141,426 

» Sadfen-Koburg u. Gotha 35,73 168,735 
JAnhalt 48,28 197,041 
Fürftenth. Schwarzburg-NRubolftadt 17,58 75,074 
„ Schwarzburg-Sondershaufen 15,63 67,454 


Uebertrag 7388,43 28,804,667 





Norddeutſcher Bund. 861 

Staaten: D Meilen: Seelen: 
Uebertrag 7388,43 28,804,667 
Fürſtenth. Walded 20,36 56,809 
" Ruß ä. 2. 6,80 43,889 
" Reuß j. 8. 15,16 88,097 
p Schaumburg-Fippe 8,05 3 1 ' 1 86 
" Lippe-Detmold 20,60 111,362 
Freie Stadt Lübeck 5,06 48,638 
" „ Bremen 8,50 109,672 
" „Hamburg 7,32 306,196 
Großh. heſſiſche Provinz Oberheſſen 60,19 267,479 


1535,46 29,906,763 
Bundeshaushalt. Da die gemeinfamen Inftitutionen des Bundes — mit 
Ausnahme der militärtfchen — noch nicht vollftändig entwidelt find, fo füllen ſich 
die Rubrifen in feinem Büdget nur allmählig. Der neuefte Voranſchlag für das 


Jahr 1870 enthält folgende Pofitionen : 
Ausgaben: 
- , Bortbauernbe, 


Thlr. 
Bundeskanzleramt (unter ven ordentlichen Ausgaben 
65,350 Befolbungen, 93,000 Penfionen und 
Unterft., 30,000 Dispofitionsfonds, *6400 Nor⸗ 
mal-Eihungstommiffion, *1700 Verwaltung ber 
Bundesſchuld; unter den aufßerorbentl. Ausg. 
173,057 zweite Mate „zur Erwerbung eines 
Grundſtückes für den Bund” in Berlin) . 221,950 
Bundesrath u. Ausfchüfie des Bundesrathes: Die 
erforderlichen Ausgaben werden für jet aus ben 
für das Kanzleramt ausgefegten Fonds mitbe⸗ 
ſtritten . . . oo. . . 
Reichstag . . . . . . . 
*Mintfterium der auswärtigen Ungelegenheiten 
(unter den ordentl. Ausg. 158,550 Minifterium, 
627,170 Sefandtfchaften, 16,000 Geheime Aus- 
gaben) . . . . . . . 832,730 
Bundeskonſulate (unter den orbentl. Ausg. 252,450 
Beſoldungen u. NRemunerationen, 10,000 zur 
Unterftägung für hülfsbed. Bundesangehörige) 335,450 
Militärverwaltung (darunter die Hauptpoften: 
Geldverpflegung der Truppen 22,768,368, 
Naturalverpflegung 14,352,461, Belleivung 
4,731,982, Servis 4,268,006, Benfionen u. 
Unterflügungen 6,342,598) . . . 66,699,765 
Außerordentl. Ausgabe: Zur Küftenbefeftigung — 
Marineverwaltung (unter den ordentl. Ausgaben 
Indienſthaltung der Fahrzeuge 740,000, Werft: 
Uebertrag 71,242,406 


20,563 


Einmalige und 
außerordentliche. 
Thlr. 


178,067 


30,000 


9,000 


1,251,076 


4,096,509 


54 * 


a P> 


852 Nachtrag. 


Fortdauernde Einmalige und 
außerordentliche. 
Thlr. Thlr. 
Uebernag 71,242,406 4,096,509 
u. Depotbetrieb, Unterhaltung der Fahrzeunge u. 
ihres Inventare 800,000, Milttärperfonal 
952,633; unter ben anferorbentl. Ausg. Jade⸗ 
bafen 1,400,000, Kieler Hafen 800,000, Bau 
u. Armirung von Schiffen 1,460,000) . .  3,131,948 2,628,376*) 
Bundesſchuld (Berzinfung d. Anleihe v. 10,000,000 
zur Erweiterung des Kriegsmarine u. Herftellung 
der Küftenvertheitigung) . . . . 450,000 — 
Rechnungshof des Norbt. Bundes . . . 59,700 — 


*Oberſter Handelsgerichtshof 62,100 4,000 

Poftverwaltung?) . . . . . . — 32,073 

Telegraphenverwaltung ?) — 77,804 

Ordinarium 71,814,206 4,210,389 
Ertraorvinarium 4,210,389 


Summa der Ausgaben 76,024,595 
Die mit einem Stern bezeichneten PBofitionen treten im Voranſchlag für 1870 
zum erften Mal auf. Vergleicht man bie brei Büdgets von 1868, 1869 und 
1870, mit Ausnahme des Hauptpoftens für die Milttärverwaltung, der nur unbe⸗ 
beutende Wenverungen erfahren hat, fo zeigt fih bie allmählige Zunahme des 
orventlihen fortdauernden Bebarfs, entjprechend dem allmähligen Wachsthum ver 
Bunbdeseinrihtungen in folgenden Ziffern: 


1868 1869 1870 

Thlr. Thlr. Thlr. 
Kanzleramt und Bundesrath 70,550 178,830 221,950 
Reichstag 20,458 20,563 20,563 
Minifterium der ausw. Angelegenheiten _ — 832,730 
Konfulate 152,000 275,650 335,450 
Marine 2,340,603 2,636,405 3,131,948 
Berzinfung der Bundesſchuld (Marineanleihe) — 277,875 460, 000 
Rechnungshof — — 59,700 
Ob. Hanvelsgerichtehof — 62,100 


Dagegen beträgt bie Gefammtausgabe fir 1870 um 1,742,640 Tflr. 
weniger als im Vorjahr, hauptſächlich deshalb, weil für den außerorbentlichen und 
einmaligen Bebarf ber Marine 1870 um 3,353,000 Thle. weniger als 1869 


angeſetzt find. 


1) Das Extraordinarium für die Marine beträgt im Ganzen 4,200,000 Thlr., woron jedoch 
nur der obige Betrag in den Boranichlag eingeftellt und die Dedung des Reſtes durch befonbere 
Kreditbewilligung Sk dann auch erfolgt ift — f. weiter unten) vorbehalten wurde Die von den 
10 Millionen der MarinesAnteihe noch verfügbare, für die Koflen ver Küftenbefeftigung beftimmte 
Summe ift unter den Einnahmen vorgetragen. 

8) Die ordentlichen Wusgaben der Pofl» und Telegraphenverwaltung erfcheinen intra 
lineam im Boranfchlag der Einnahmen. 





Norddentſcher Bund, 858 


Sinnabmen: 
Thlr. 

Zölle und Verbrauchsſtenern (vom Zollverein: Ein⸗ und Ausgangs» 

abgaben 19,089,660, Mübenzuderfteuer 7,573,800, Salzfteuer 

8,115,340, Tabakfteuer 247,400, Steuer- und Uebergangsabgabe 

von Branntwein 9,693,920, Braumalzfteuer und Uebergangsabgabe 

von Bier 2,737,650, Üverfen für Zölle und Verbrauchsſteuern 

von nit zum Zollverein gehörigem Bundesgebiet 1,049,180, 

barunter Bremen mit 247,370, Hamburg mit 656,250) 3) .  48,506,950 
Poſt⸗ und Zeitungsverwaltung (Bruttoertrag 21,861,270, Ausgabe 


21,596,899 ; bleibt Meberfhuß:) . . . . . . 264,371 
Zelegraphenverwaltung (Bruttoertrag 2,934,300, Ausgabe 2,856,493; 
bleibt Ueberſchuß:) . . . . . . . . 77,807 


Verſchiedene Einnahmen . . . . . . . . 103,568 
Aus der Bundesanleihe no verfügbar . . . . .  1,251,076 
Matritularbeiträge zur Dedung des durch die übrigen Einnahmen 

nicht aufgebrachten Bebarfs (davon treffen auf Preußen 21,491,928, 

auf Sachſen 2,083,293, auf bie übrigen Bundesſtaaten 2,179,502) 25,754,723 


Summe der Einnahmen 75,958,495 

Ausgaben ımb Einnahmen find vom Reichstage nach dem mitgetheilten Vor⸗ 
anſchlag genehmigt worden, mit Ausnahme eines Meinen, in der obigen Zufammen- 
ſtellung ſchon berüdfichtigten Abſtriches an dem nachträglich eingebradhten Etat des 
Handelsgerichtes. Die Einnahme bat fi fehlieglich gegenüber dem Boranfchlag 
duch Vereinbarung der Geſetze über die Portofreiheiten und über die Wechſel⸗ 
ftiempel-Steuer nod um 1,800,000 und 896,000 Thlr. erhöht. Es beträgt fo- 
nach mit Rückficht auf die hinzukommene Ausgabe für das Handelsgericht der durch 
Matrilularumlagen zu dedende Berarf nur nody 23,124,823 Thlr. 

Die Landmacht des Bundes beſteht aus den Kontingenten von Preußen 
mit Lauenburg, 8. Sachſen, Medienburg-Strelig, Braunfchweig, Großh. Heſſen. 
Die Truppen der fibrigen Bunbesftaaten bilden vertragsmäßig einen Theil der 
preußifhen Armee. Die Friebenspräfenzftärte ift nad Art. 60 der Verfaflung auf 
ein Procent der Bevölkerung von 1867 — 299,704 feftgefegt 2). Das Bundes- 
heer umfaßt 13 Armeekorps oder 27 Divifionen, 54 Infanterie, 28 Kavallerie 
und 13 Artilleriebrigaden. Zu dieſen Truppenkörpern flellt 

Preußen Sachſen Hefien Medienburg Braunfchweig Summa 
18 


Infanterieregimenter 102 9 4 2(?) 
Jãgerbataillone 13 2 2 1 — 18 
Kavallerieregimenter 

(darunter 10 Küäraf- 

fleeregimenter) . 65 6 2 2(?) 1 76 
Feld⸗Artillerieregim. 12 1 1/ 2 — — 131 / 2 
Veftungsartillerieregim. 91, 1 — — — 1ot/, 
Pionierbataillone 12 1 1/ — oo 131/; 
Trainbataillone 12 1 1, — — 131/2 


3) In Folge des Anfchluffes von Lauenburg, Medienburg und Lübe an den Zollverein find 
die Zoll: und Steuererteägniffe gegen 1869 um 1,643,150 Thlr. höher angefebt, die Averſa um 
1,152,830 Thlr. gemindert. 

%) Die einer andern Angabe entnommene Bevöfterungsüberfiht im Eingang dieſes Artikels 
zeigt eine Meine Differenz. 


854 Nachtrag. 


Die Kriegsftärte des Bundesheeres iſt anf folgende Zahlen berechnet: 
1 


Belbtruppen. 


9 Infanterie-Barberegimenter (27 Bat.) 27,451 
109 Infanterte-Linienregimenter (323 Bat.) 326,121 
2 Garde⸗Jaäger⸗ und Schügenbataillone 2,012 
16 Jägerbataillone 16,096 
8 Oarbe-Kavallerieregimenter (40 Schwadr.) 4,857 
68 Linien-Ravallerteregimenter 41,280 
1 Garde-Feldartillerieregiment (16 Batt., 96 Geſch.) 3,131 
121/, Beldartillerieregimenter (198 Batt., 1176 Geld.) 38,308 
1 Garbe-Bionierbotaillone 606 
121/, Bionterbataillone 7,424 
1 Garve-Trainbataillon | 44 540 

121/, Trainbataillone ' 
511,826 

2. Erfagtruppen, bie bei der Mobilmachung formirt werben. 

118 Bataillone Infanterie (1 auf jedes Regiment) 118,826 
18 Jäger-Rompagnieen (1 auf jeves Bataillon) 3,618 
76 Schwabronen Kavallerie (1 auf jedes Regiment) 15,200 
52 Batterieen mit 208 Geſchützen (4 Batterieen auf jede Brigade) 7,176 
13 Pionter-Kompagnieen 2,626 
13 Tratnabtheilungen 6,526 

153,973 

Handwerker bei ben Erſatztruppen 26,700 

180,672 
3. Beſatzungstruppen. 
12 Garde⸗Landwehrbataillone 12,072 

199 Lanpwehrbataillone 200,194 
18 Jäger-Erfatabtheilungen 7,236 
64 Schwabronen Kavallerie 9,696 
101/, Beftungs-Artillerieregimenter 32,200 

Pioniere zur Feftungsbefagung 3,684 

265,082 

Dazu Erfagtruppen 180,672 

Feldarmee 511,826 

Im Ganzen Unteroffiziere und Gemeine 957,580 

Dazn Offiziere 15,000 

Befondere Formationen . 4,682 

977,262 

Die Kriegsmarine bes Bundes zählte Ende 1868 
39 Schraubendampfer, darunter 3 PBanzerfregatten mit 55 Ge 
ſchützen und 3 kleinere Panzerſchiffe, 10 SKorvetten, 

22 Kanonenboote, im Ganzen mit 330 Geſchützen. 

7 Rabbampfer mit 15 " 


8 Segelſchiffe, darunter 3 Fregatten, mit 150 
36 Ruderſchiffe (Ranonenfhaluppen und Iollen) mit 68 


n 


89 Fahrzenge mit 563 Gefchügen. 








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* 


Norddeniſcher Bund. 855 


Nah dem bei Bewilligung der obenerwähnten, 1869 von 10 auf 17 
Min. Thlr. erhöhten Anleihe zu Grund gelegten Plan follte die Flotte auf 
16 Banzer- Fahrzeuge, 20 Korvetten, 8 Aviſo's, 3 Transportſchiffe, 22 Dampf- . 
Fanonenboote, 2 Artilleriefhiffe und 5 Uebungsfchiffe gebracht werben. Zu Kriegs⸗ 
Häfen find der feiner Vollendung entgegengehende „Wilhelmshafen” im Jadebuſen 
und ber Kieler Hafen beflimmt. j 

Die Geſetzgebung des Bundes wird beeinträdtigt einerfeits durch die 
Eiferfucht der Heineren Bundesregierungen, anderſeits durch den bürenufratifchen Zug, 
über deu fich die Berliner Politif in ihrer Thätigkeit nach innen nicht zu erheben ver- 
mag. Gleichwohl ift während ber erften drei Reihstagsfeffionen fchon fehr Bedeu⸗ 
tendes gefchehen, namentlih auf volkswirthſchaftlichem Gebiet und für die Befreiung 
der Staatsangehörigen von polizeilihder Vormundſchaft. Wichtig find In biefer 
Richtung die Geſetze Über das Paßweſen, vie Freizügigkeit, vie Freiheit ver Ehe— 
ſchließung. Den Grundſatz ber Gewerbefreiheit hat die Gewerbeordnung von 1869 
zum größten Theil verwirfliht. Dur andere Geſetze iſt die Beichränfung des 
Zindfußes, die Schulbhaft, ferner der Unfug der Spielbanken (für Ende 1872) 
aufgehoben, die Beihlagnahme der Arbeits- und Dienſildhne beſchränkt, die private 
rechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirthichaftsgenoffenfhaften nach richtigen 
Srundfägen geregelt, eine rationelle Maß⸗ unt Gewichtsordnung (für Anfang 
1872) eingeführt, das Salzmonopol abgefhafft, legteres freilich bei gleichzeitiger 
Einführung einer anfehnliden Salzfteuer. Bon fonftigen Steuerprojeften tft bis 
jegt nur der Umwandlung bes Wechjelftempels in eine Bunbesfteuer, mit erhöhtem 
Betrage, die Zuftimmung des Reichstages zu Theil geworden. Dur das Poft- 
gefeg von 1867 und eine Neihe internationaler Verträge wurbe ver Verkehr er» 
leihtert; den Intereflen des Internationalen Handels, der im Auslande fi auf- 
baltenden Bunvesangehörigen und der Auswanderer dient die Geſetzgebung über 
das Konfulstswefen und über die Bunvesflagge, fowie der mit den Vereinigten 
Staaten abgefhloffene, vom Reichstag gutgeheißene Naturalifationsvertrag. Die 
Gleichſtellung der Konfeffionen in bürgerlicher und ſtaatsbürgerlicher Beziehung ift 
für das ganze Bundesgebiet zur Geltung gebradit. Das allgemeine und birelte 
Wahlreht, aber au das Princip der Diätenlofigkeit, wird durch ein Gefeg der 
legten Seffion ven Reihstagswahlen befinitiv zu Grund gelegt. Andere Geſetze 
haben bie preußiſche Heeresverfaffung auf den Bund ausgedehnt, vie wedhjelfeitige 
Rechtshülfe in den Bundesftaaten gefihert, die deutſche Wechſelordnung und das 
Handelögefegbuh zu Bunbesgefegen erhoben und ein oberfles Handesgericht für 
ben Bund gefchaffen. Für Herftellung eines gemeinfamen Haudelsgeſetzbuches, 
Straf und Civilprozeßgeſetzes find die Vorarbeiten im Gang. 


fi 





856 Nachtrag. 


Oeſterreichiſch⸗ungariſche Monarchie. 


(Nachtrag zu Band VII ©. 477, Band X ©. 646.) 


Das Oftoberbiplom und vie Behruarverfaffung. Der Sturz Beleredi’s. una ver politifge Ausgiei® 
Das Minikerium Schmerling. Neuer Bruch mit mit Ungarn. 

Ungarn. Wiederherſtellung der Februarverfaſſung, Ungarn als 
Der Reisrath von 1862-65. feldRänpige Rei@ehälfte. 
Auswärtige Politik von 1860-65. Liberale Umgeflaltung auch der weſtlichen Reihe 
Sturz des Miniftieriums G@merling. hälfte. Sinanzieller Ausgleig mit Ungarn. 
Dat Rinikerium Belcredi⸗Eſterhazy. Bruch des Konkordats. 
Krieg von 1866, Verluſt der deutſchen u. italieniſchen Bartieller Staatebankerott. 

Gtellung. Reform ver Armee und eiſerner Etat derſelben. 
Neue Krifie. Die neue Aera in Weſtöſterreich. Die Bolen u. Sehen. 


Die Berfafiung vom 26. Februar 1861 war ein ernenerter Verſuch, mit 
ben erverbten Uebelſtänden Oeſterreichs aufzuräumen, den immer dringenbern Be 
bürfniffen feiner Völker zu entſprechen, den unabweisbaren Forderungen der Zeit 
gerecht zu werben und das Reich endlich auch feinerfeits in den Kreis der modernen 
Staaten Europa’s einzuführen. Noch vor dem italienifchen Kriege von 1859 ſtand 
Defterreih ſcheinbar fett und mädtig da: in Wahrheit war alles innerlich ver 
kuöchert over hohl und faul. Da brachte die Niederlage in Italien das ganze Elend 
zu Tage und öffnete endlich ſelbſt dem Kaiſer die Augen. Alle Welt mußte er- 
tennen, daß man. auf dem bisherigen Wege nicht beharren könne, ohne das Reid 
augenfheinlic ind Berberben zu flürzen, und baß dem Zeitgeifte wenigſtens gewiffe 
Koncefflonen ganz unausweihlih gemadht werben müßten, wenn Defterreich feine 
Macdtftelung in Europa aud fernerhin aufrecht erhalten folle. Die Folge davon 
war die Einberufung des fog. verflärkten Reichsrathes, das Diplom vom 20. Ofs 
tober 1860 und die VBerfaffung vom 26. Februar 1861. Die regierenden Kreife, 
obgleich gerade fie im ganzen Verlaufe des italienifchen Krieges eine viel entſchie⸗ 
denere Niederlage erlitten hatten als bie Armee, waren aber body nod weit 
davon entfernt, den ganzen Umfang ber Gebrechen zu erfennen, an denen Oeſter⸗ 
reich darnieder lag, und noch weiter davon, zu fo umfaflenden und tief eingrei- 
fenven Dlitteln greifen zu wollen, deren es unausweichlich beburfte, wenn das alte 
Reich fih verjüngen und aud nur bie Möglichkeit gefchaffen werben follte, feine 
frühere Madtftellung in Europa nicht fowohl zu erhalten, als fi neuerdings zu 
erringen. Allerdings hatte man erkannt, daß die bisherige Bahn verlafien werben 
müſſe, und daß nichts anderes übrig bleibe, als dem leidigen Zeitgeifle auch von 
Seite Defterreih8 Konceffionen zu maden; aber vorerfl meinte man, daß viefe 
Konceffionen immerhin auf ein fehr beſcheidenes Maß ſich rebuciren ließen, und 
daß ed genügen werde, ſich gewiſſe Formen anzueignen, ohne darum auf ben bie 
herigen Geiſt des Regiments verzichten zu müffen. Es beburfte noch längerer Zeit 
und wiederholt mißlingender Berfuche, es bedurfte namentlich einer noch viel furcht⸗ 
bareren Nieverlage, als es die von Magenta und Solferino gewefen waren, um 
endlih die Einfiht und ben Entſchluß zu reifen, nicht bloß mit ben bisherigen 
dormen, fondern mit dem ganzen bisherigen Geiſte des Regierungsfuftens zu 
brechen, und nicht bloß die Formen, fondern aud den ganzen Gelft des mobernen 
Staats in fih aufzunehmen. Zwifchen dem Geifte, der im Frühjahr 1860 Im ver- 
ftärkten Reichsrathe zu Tage trat, und dem Geiſte, der ſich ſchließlich in den Staats⸗ 
grundgeſetzen vom December 1867 ausgeprägt und ſelber wieder erſt im Frühjahr 
1868 durch die thatſächliche Beſeitigung des Konkordates ſeine Garantie gefunden 
hat, liegt ein ganz ungeheurer Weg, der ſich in die kurze Spanne von acht Jahren, 





— 11 er 


Be — 8 


Oeſterreichiſche ungariſche Monarchie. 857 


1860 bis 1868, zufammenbrängt und biefe Periode der Öfterreichifchen Geſchichte 
unftreitig zu einer ber merkwürdigſten und interefianteften macht, welche vie Ge⸗ 
hichte neuerer Zeit überhaupt aufzumeijen bat. 

Das Ditoberbiplom und die Februarverfaffung Die Ber 
faffung vom 26. Yebruar 1861 Tann in ihrer Bebentung für die öſterreichiſche 
Rekonſtruktionsfrage und deren endliche Löfuug im Jahr 1867 nicht richtig beur⸗ 
theilt werden, als im Zuſammenhang mit dem kaiſerlichen Patent von 20. Ol⸗ 


tober 1860, da8 feinerfeits wiederum wefentlich auf ven Beſchlüſſen des verftärkten 


Reichsraths vom 27. September desſelben Jahres beruht. Zwei Momente waren 
es, die den Zufammentritt des verftärkten Reichsrathes veranlaßten und vie ganze 
Situation durch alle Wandlungen hindurch bis zu Ende beherrſchten, die Finanz 
lage des Reihe und die Stellung Ungarns innerhalb desſelben. Ungarn, ſchon 
vor dem italieniſchen Kriege fchwierig und Über felne ganze Oberfläche bin von 
gährender Unzufriedenheit durchwühlt, fonnte nach dem unglüdlichen Ausgange des- 
ſelben nicht laͤnger mehr rein willkürlich beherrſcht und als erobertes Land behan⸗ 
delt werden: zum erſten Mal konnte eine kaiſerliche Maßregel, das Proteſtanten⸗ 
patent von 1. September 1859, nicht mehr gewaltſam durchgeführt werden. Und 
zwar fcheiterte es nicht an innerer Unzwedmäßigkeit vom Standpunkte der evan- 
geliſchen Kirche felber, fondern daran, daß es, wenn aud zwedmäßig an fidh, ven 
biftoriihen Rechten der ungarifhen Proteftanten widerſprach und daß bie abfolute 
centraliftiide Gewalt von Wien aus nicht mehr die Kraft hatte, auch biefe Rechte 
zu beugen. Am 19. April 1860 mußte ber Kalfer den bisherigen Regierungs- 
apparat in Ungarn fallen laffen, zu einem bloßen Uebergangszuftande fih verſtehen 
und bereits bie volle Wieberherftelung der autonomen Komitatsverwaltungen und 
des Landtags in Ausfiht ftellen. Damit war der Hebel an das ganze Suftem 
des centralen Abſolutismus feit 1849 angelegt und die Ungarn mochten ſich ver 
Hoffnung bingeben, Schritt für Schritt vorgehend, bald paffiv aber zäh bald 
wieder altiv und energifch opponirend, fehließlich ihr ganzes altes Landesrecht zurück⸗ 
zuerobern, was ihnen benn and binnen fieben Jahren vollſtändig und fogar noch 
mehr als volftändig gelungen if. Die Peripetie ihrer Ansſichten, wie fie 
dem Ziele bald fhon nahe zu fein, bald wieder weit bavon zurüdgefdhlagen 
ſchienen, fi aber allmählig feft vemfelben näherten, bis fie in ber Lage waren, 
die Hand entſchloſſen darnach auszuftreden, und damit die ganze Frage nicht bloß 
für fi, fondern für das gefammte Reich zum Abſchluß zu bringen, bildet den Kern 
der ganzen inneren öſterreichiſchen Entwidelung feit 1860. Für den Moment und 
für die Intereffen der nichteungarifhhen Länder der Monarchie trat indeß bamals 
die Schwierigkeit der Finanzlage faft noch beveutfamer, jebenfalls brennenber in 
den Bordergrund. Der centrale Abfolutismus feit 1849 hatte in Oeſterreich abge- 
wirthichaftet: das Rei ftand am Rande des Bankerotts. Bis zum Uebermaß hatte 
man von ben „unerfhöpflichen Hülfsguellen” Defterreihs geiprochen und auf diefe 
erft zu bebenden und eben noch ungehobenen Schäge Hin geſündigt. Die Mafle 
der Staatsſchuld Hatte ſich verboppelt und verbreifacht, das Steuermaß war bereits 
aufs Außerfte angefpannt und konnte unmöglich vermehrt werben, und dennoch 
zeigte das jährliche Bühget ein regelmäßiges Deficit von erfchredender Höhe, das 
nur durch neue Krebitoperationen, d. 5. durch neue Schulden gebedt werden Tonnte: 
der Krebit Defterreih8 aber war nahezu auf Null gefunten. Alle Ilufionen dar⸗ 
über mußten definitiv bei Seite gelegt werben: ein am 22. März 1860 ausge- 
fchriebenes Anlehen von 200 Mil. Önlden mißlang vollſtändig, indem bis zum 
15. April nur 76,177,800 ©. gezeichnet wurden. Der genlale Yinanzminifter 


858 Aachtrag. 


Bruck, die einzig hervorragende geiſtige Kraft des Miniſteriums, legte, verzwei⸗ 
felnd, vie Schwierigkeiten bewältigen zu können, am 23. April ſelber Hand an 
jein Leben. Dieß war die Tage des Reichs, als der Kaiſer am 1. Juni 1860 ben 
verflärkten Reichsrath mit einer Thronrede eröffnete. Alle Welt, in und außerhalb 
Defterreihs, fühlte, daß mit bloßen Palliatiomitteln dieſen tiefen Gebrechen gegen- 
über dem Reiche nicht mehr zu helfen fei, daß mit dem bisherigen Abfolutisums 
vielmehr ganz und vefinttio gebrochen, daß das Rei auf ganz neue Örunblagen 
geftellt werben müſſe; aber ver Verfolg zeigte, wie ſchwer man fi praktiſch von 
oben dazu euntſchloß und wie vieler mißlungener Berfuge und Anfttengungen von 
unten auf es noch beburfte, bevor praktiſche Ideen durchſchlugen nud enblid 
wenigſtens ein vorläufiges Gleichgewicht der unter ſich ringenden Kräfte gefunden 
wurde, das die Möglichkeit der Eriftenz und einer neuen Entwidelung in fi tung. 

Auf das Elaborat des verftärkten Reichsraths, auf das DOftoberpatent und die 
Vebrnarverfaffung kann bier nicht näher eingetreten werden; fie find in dem frä- 
beren Artikel theil® gefchildert, theils wenigſtens angeventet. Die Beſchlüfſe des 
verflärften Meicherathes bildeten ausgeſprochener Maßen und bis auf einen ge- 
wiſſen Brad abſichtlich ein verfhwommenes Operat, das der Regierung freie Hand 
ließ. Einflimmig verurtbeilte der verſtärkte Reichsrath das „jetzt beftehende Syſtem 
ber inneren Organifation ver Monarchie”, dagegen gingen feine Mitglieder über 
das, was an die Stelle biefes Syſtemes zu ſetzen fei, aus einander. Die Majorität 
wollte vor Allem auf die „hiſtoriſch⸗politiſchen Individnalitäten“ zurädgreifen und 
an die „fräher beſtandenen Inftitutionen und Rechtszufläude” anknüpfen, vie Mi- 
norität betonte dagegen die Interefien der „Reichseinheit und einer ſtarken einheit⸗ 
lihen Reichsgewalt“ und forderte den Kaiſer auf, „aus eigener Machtvollkommen⸗ 
beit jene Inftitutionen ins Leben zu rufen, durch welche bei möglichfter Entwidelung 
freien Selbſtverwaltungsrechts in allen Kronländern und bei vollſtändiger Wahrung 
der Einheit des Reichs und der Legidlative fowie der Exekutivgewalt der Regierung, 
dann bei wirkfamer und unabhängiger Kontrolle des Staatshaushaltes alle Intereflen 
der Bevölkerung in der Kommune, im Landtag und im Reichsrath ihre geeignete 
Bertretung fänden“. Das alles war doch fehr unbeflimmt und war es um fo 
mehr, als der Wortführer der Minorität, Dr. Heim, es am Plate fand, fich 
in feinem und feiner Meinungsgenoſſen Namen gegen ven Borwurf konſtitutioneller 
Gefinnung ausdrüdlih zu verwahren. Aber auch die „biftorifch-politifchen Indivi⸗ 
bualitäten” der Wajorität boten ver Regierung feinen feften Boden: nur bie Länder 
der ungarifchen Krone waren in ber That immer noch folde Indivibualitäten, bie 
jeden Augenblid ganz oder theilweife wiever ind Leben gerufen werben konnten, 
für Galizien und Venezien mochte der Ausdruck doch nur nneigentlich gebraucht 
werben, für Böhmen Hatte er zum mindeſten etwas fehr Nebelhaftes, woraus man 
geradezu machen konnte, was man nur wollte, und für bie übrigen deutſch⸗ſlaviſchen 
Kronländer, die längft zu reinen Provinzen geworden waren und gar nicht mehr 
zu fein verlangten, wenn fie auch als foldye, aber eben nur als joldye, ein gewiſſet 
Maß von Selöftverwaltung wünſchten, poßte er gar nicht und war zum Theil 
geradezu lächerlich. Der Kaifer verabſchiedete am 29. September 1860 den verflärkten 
Reihsrath und erließ am 20. Oktober ans eigener Machtvollkommenheit die Gruut- 
züge einer Berfafiung, durch welche ex mit dem bisherigen Bach'ſchen Centralismut 
und Abfolntismus entfchieden brach und beiden Anſchauungen gerecht zu werben 
ſuchte. Das Patent von dieſem Tage wollte auf der einen Seite die „Sicherung, 
Feſtſtellung und Vertretung des flantsrechtlichen Verbandes ver Geſammtmonarchie 
erneuern” und auf ber andern „ben Rechten und der Stellung ber einzelnen 





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Orfterreihifh-ungarifhie Alonardie. 859 


Königreihe umd Länder” ein Genüge thun. Zu biefem Ende follte auf der einen 
Seite der Reihsrath weiter ausgebilvet, die Zahl feiner Mitgliever auf 100 er- 
höht werben, die Mitglieder desfelben nicht mehr aus kaiſerlicher Ernennung, fon- 
dern aus Wahlen ver Landtage hervorgehen und ihm die Mitwirkung bei ber Ge⸗ 
feßgebung für ſämmtliche allen Königreihen und Ländern gemeinfame Angelegen- 
beiten, namentlich aber für nene Steuern und Auflagen, das Jahresbüdget und bie 
Staatsrechnungsabſchlüſſe eingeräumt werben; auf der andern Seite wurde dagegen 
alles Uebrige ven theils wieder herzuftellenden, theils neu zu oftropivenden Sta⸗ 
tuten (Berfafiungen) der einzelnen Königreihe und Länder und ihren Landtagen 
zugeſchieden. | 

. Die Schwierigkeit begann alsbald und zwar riefengroß, als man es unter- 
nahm, dieſe Principien in Thatſachen umzufegen. Die Intereflen ver Geſammt⸗ 
monardie waren zwar grunbfäglic gewahrt, aber die dem Reichsrath zugetheilte 
Kompetenz war eine fehr unbeflimmte und die ganze Inftitution des aus den Land⸗ 
tagen hervorgehenden Reichsraths ein überaus ſchwaches Gefäß für feine Aufgabe, 
wenn diefe Lanbtage, wie es ja doch möglich war, ſich zum mindeſten theilweiſe 
als lebensoolle, mächtige Inbivipualitäten erweifen wärben. Entweder wurde darum 
die Centralgewalt unwilltürlich doch wieder als eine mehr oder weniger abfolute, wie es 
bisher der Fall gemejen war, gedacht, oder man durfte den neu anerfannten hiſtoriſch⸗ 
politiſchen Individualitäten nur ein ſehr befchränktes, ver Centralgewalt wenig 
gefährliches Dafein verftatten. Das Iegtere war denn auch wirklich, wenigftens 
theilweiſe beabfichtigt und ſchien für diejenigen Kronlänver, vie längft keine hifto- 
riſch⸗politiſchen Inbividuglitäten im prägnanten Sinne des Wortes, fondern zu 
einfahen Provinzen berabgefunfen oder umgewandelt worben waren, feinerlei 
Schwierigteiten zu bereiten; aber bezüglich einer ganzen Gruppe war dieſes nicht 
der Fall und konnte daher jenes Mittel nicht, wenigſtens nicht in vollem Um- 
fange in Anwendung gebracht werden. Diek waren die Länder der ungarifhen 
Krone und hier entwidelten fih danı Bald Gefahren und Schwierigkeiten, bie 
man fid) an entfcheidender Stelle jedenfalls nicht in ſolchem Umfange und in folder 
Intenſivität vorgeftellt hatte. 

Zugleih mit vem Oktoberdiplome wurden durch futferliches Dekret die frühere 
ungarifhe und bie fiebenbürgifche Hoflanzlei wieder hergeftellt und ebenſo auch 
die früheren ungarifhen Komitatsverfaflungen und die alten Komitatsgrängen 
wieberbergeftellt, vie gefammte Gerihtöverwaltung Ungarns wieber innerhalb biefes 
Königreihs verlegt und die ungariihe Sprade wieder als Geſchäfts⸗ und Amts- 
ſprache aller politifchen und Gerichtsbehörden Ungarns anerlannt, die Wileberein- 
verleibung der ſerbiſchen Woiwodſchaft und des Temeſer Komitats eingeleitet und 
pie Herftellung des ungarifchen Landtags, fowie der Landtage Siebenbürgens und 
Kroatiens „im Sinne ihrer früheren Verfaſſungen“ in Ausficht geftellt. Das war 
viel, aber nicht Alles, was die Ungarn wünfchten und anftrebten und bie Ungarn, 
die allerdings noch eine lebendige hifkorifch - politiiche Individualität darftellten, 
waren aud fähig und nicht minder geneigt, das ihnen Dargebotene mit entfchlofjener 
Daud zu ergreifen und biefe auch alsbald weiter nad dem ihnen noch nicht Dar- 
gebotenen, ihnen vielmehr vorerfi noch Borenthaltenen auszuftreden. Noch im 
Laufe desfelben Monats Oktober 1860 ernannte der Kaiſer auf den Vorſchlag 
des neuen ungariſchen Hoflanzlers Baron Bay die Obergefpane der Komitate 
und zwar ohne Engherzigkeit aus den verſchiedenen Parteien des Landes ohne 
Rückſicht auf die Vergangenheit. Und nun entwidelte fi tn Ungarn, wo bie 
Autonomie der Komitate feit Jahrhunderten in Fleiſch und Blut der Bevöllerungen 


860 u Nachtrag. 


übergegangen war, ein überaus reges politiſches Leben und Treiben, das aber den 
Erwartungen nnd Hoffnungen und den darauf geftügten Abfichten und Plänen 
ber Wiener Hofburg fehr wenig entiprad. Der Kalfer umb feine Regierung in 
Wien waren durchaus nicht gemeint geweſen, die Berfaffung Ungarns ganz nnd 
vollftändig fo wie fie vor 1848 beflanden hatte, wieder berzuftellen, gefchweige 
denn fo wie fie im Jahr 1848 von den Ungarn umgewandelt worden war, fondern 
nur fo weit und mit allen ven Beſchränkungen, wie fie das Interefie der Ge⸗ 
fammimonardie und die neue Inftitution des Reichsraths für biefe nothwendig 
verlangte und der neue ungariſche Hoftanzler ließ in dieſem Sinne und zu dieſem 
Ende den Obergefpanen der Komitate unter dem 26. Nov. 1860 eine fehr ge 
mefiene Inftrultion zugeben. Allen die Ungarn nahmen darauf richt die mindeſte 
Rückficht und firebten einmäthig und energifch der vollen Wiederherſtellung ihrer 
früheren Verfaſſung mit fammt den Geſetzen von 1848 zu, obgleich dieß mit dem 
Wortlaut wie mit dem Sinn und Gelft des Oktoberdiploms und der barin nieber- 
gelegten Berfafiungsgrundzüge bandgreifli unvereinbar war. Das Pefter Komitat 
ging mit feinem Beifpiele allen voran. Schon am 30. Nov. 1860 erließ fein 
Adminiſtrator (Obergefpan) Graf Stephan Karolyi, ein Rundfchreiben au die Ge⸗ 
meinden feiner Geſpanſchaft, durch das er eine Generallongregation einberief und 
in dem er von den Inftruftionen des Hofkanzlers „Umgang nahm" mit dem Be- 
merken: „es gehöre zu ben wichtigften Privilegien des ungariihen Municipal⸗ 
fuftems, mißliebige Reſtripte der Regierung unausgeführt zu laffen”. Die General- 
fongregation trat am 10. Dec. zufammen, erflärte fi) damit einverſtanden und 
ging fofort no einen Schritt weiter, indem fie befchloß, vom Hofkanzler bie 
Einberufung des Landtags und zwar auf Grundlage der Geſetze von 1848 zu 
verlangen, 618 dahin aber die Einhebung der Stenern zu fiftiren. Bon viefen 
Beihläfien machte das Komitat allen Übrigen officiele Mittheilung und bald 
foßte num ein Komitat nad dem anderen biefelben oder doch ganz ähnliche Be 
ſchlüſſe. Zugleich beſchloß eine vom Fürften Primas nad Gran einberufene 
Notabelntonferenz eiuſtimmig, fi bezüglih der Einberufung eines ungarifchen 
Landtags für die einfache Wiederherſtellung des Wahlgefeges von 1848 auszu- 
ſprechen. Zwar erließ am 16. Jannar 1861 der Kalfer ein ernfiliches Reftript 
an fämmtlihe Komitate, durch das er tie eingetretene allgemeine Bewegung ent- 
ſchieden zuräd und in bie Schranfen des Oktoberbiploms wies und ernftlich befahl: 
„die in die Komitatsausfchäffe gewählten, im Auslande lebenden Hoch und Landes⸗ 
verräther von 1848 wieder auszufcheiden, die VBeihlüffe wegen Steuerverweigerung 
unverzüglich wieder aufzuheben, die noch aufredht erhaltenen Iuftizbehörben und 
Geſetze zu reſpektiren, und enbli den Verfuhen, die Geſetze von 1848 faltifd 
ins Leben treten zu lafien, mit den ernfteften Mitteln entgegen zu treten”. Allein 
eine lange Reihe von Komitaten beantwortete diefes Reſkript durch Repräfentationen, 
welde mit Nachdruck die volle Wiederherſtellung ver Berfaffung ſammt den 48er 
Geſetzen forderten und inzwiſchen die Zumutbungen des köoniglichen Reffripts 
„mit Achtung bei Seite legten” ganz wie fie vorher von der Infiruftion der Hof 
kanzlers achtungsuoll „Umgang genommen" hatten. Um 14. Februar 1861 erlich 
der Kalfer vie Löniglihen Schreiben zu Einberufung des Landtags auf den 2. April. 
Sie Iauteten in die Königsburg zu Ofen, nicht nach Peſt, wie es die ABer Ge⸗ 
fege feſtſetzten und enthielten auch für vie Lanttagswahlen einige von biefen 
Geſetzen abweichende Beſtimmungen. Das Peſther Komitat befchloß aber ſofort, auf 
die letzteren keine Rüdfiht zu nehmen, und daß man nicht nad Ofen gehen were, 
fand alsbald in der äffentliden Meinung fefl. Der Hoflanzler Bay war au 





Oeſterreichiſch· ungariſche Monarchie. 861 


demſelben Tage nach Peſt gelommen, wohln er ſaͤmmtliche Obergeſpane zu einer 
Konferenz eingeladen hatte. Aber dieſe zeigten weder Luſt noch Macht, dem un⸗ 
widerſtehlichen Zuge, der die Komitate beherrſchte, entgegen zu treten. 

Das Miniſterium Schmerling. Nener Bruch mit Ungarn. 
Die Rückwirkung all dieſer Vorgänge auf die Wiener Regierung und bie Dinge 
biesfeits der Leitha konnte nicht ausbleiben. Wollte jene nicht alsbald in Ungarn 
wieder zur Gewalt greifen, fo konnte fie nur in ben übrigen Provinzen ein 
Gegengewicht gegen das Vorgehen der Ungarn ſuchen. Anfangs meinte fie noch, 
fie könne, wie fie es bisher gewohnt war, mit diefen Provinzen machen was fie 
nur wolle. Allein bald überzeugte fie fi, daß dieß doch nicht mehr fo ganz der 
Tall fei. Umfonft hatten bie Ungarn zur Zeit des Oftoberbiploms in Wien darauf 
gebrungen, zugleich das Minifterium in liberalem Sinne zu ändern, um bie neue 

era für Defterreih zu Inauguriren, und, gerade im Sinne weiſer Mößigung, 
ein möglichft übereinftinnmendes Vorgehen in den verſchiedenen Theilen des Reichs 
zu erzielen. In Wien war man zu folder Einſicht noch nicht vorgebrungen. Graf 
Goluchowski, ver bisherige Minifter des Iunern, wurde als neuer „Staats- 
minifter mit der Aufgabe betraut, das Oftoberbiplom durchzuführen und zunächſt 
ben nichteungarifchen Königreihen und Ländern, vie keine alten Verfaſſungen oder 
Eanbesftatute hatten, foldye zu ertheilen. Die Aufgabe war keine Meine, vielmehr 
für die Zulunft Oeſterreichs nad der eingetretenen Wenbung, wenn fie für das 
anze Reich eine entſcheidende fein follte, mie fie e8 für Ungarn von Tag zu 

g mehr wurde, felbftverftännlidh maßgebend. Graf Goluchoweki aber, der an 
der Spige der Reichsregierung ftand, hielt es für überflüffig, fi deshalb viel 
Kopfzerbrehens zu machen. Unter ven zahllofen Entwürfen aller Art, vie in der 
verflofienen Periode auögenrbeitet, aber wieder ad acta gelegt worden waren, be 
fanden fi aud im Archiv neue Tandesorbnungen, vie noch Bad einmal projektirt - 
hatte und pie natürlid, dem damals herrſchenden Geifte entſprechend, höchſt un» 
ſchuldiger Natur waren. Jetzt wurden fie aus dem Staube hervorgezogen und mit 
einiger Mobifilation, oder and ganz ohne foldye, mit der kaiſerlichen Unterſchrift 
verfehen zum Drud gegeben. Ende Oktober und Anfangs November 1860 er- 
ſchienen fo zunächſt Yandesftatnte für Steiermark, Kärnthen, Salzburg und Torol. 
Aber die äffentlihe Meinung war inzwiſchen doch auch in Defterreich fortgefchritten 
und namentlih in Wien trante fie ihren Wugen kaum, als fie ſah, was ibr vie 
Neglerung gedankenlos bieten zu dürfen gemeint hatte. Es genügt anzuführen, 
daß dem Mel und dem Klerus bis auf vie Hälfte der Zahl der Landesvertreter 
eingeräumt war. Die Unfähigfeit des Grafen Goluhowsli war badurd body kon⸗ 
ftatirt und die Nachrichten von ber Bewegung in Ungarn, die ſich faft gleichzeitig 
Schlag auf Schlag folgten, waren body geeignet, ven Machthabern das ganze 
Gewicht ver Lage vor bie Augen zu rüden und bie Geifter aufzurätteln. Golu⸗ 
chowsti wurbe am 13. December entlafjen und Ritter von Schmerling zum 
Staatsminifter ernannt. 

Diefe Ernennung zeigte die tief greifende Aenderung, bie in Oeſterrelch ein- 
getreten war und fi durch Maßregeln größeren Styls darlegen mußte, und bazu 
war es in der That die allerhöchfte Zeit. Das Heft, das der Regierung in Un- 
garn aus der Hand gewunden wurde, follte wieder gefaßt und mit Hülfe der 
übrigen Provinzen, mit Hülfe des Reichs als eines Ganzen auf Ungern ein 
Drud ausgeübt werden. Ende Januar ſtand bereits der Entſchluß feft, die im 
Oktoberdiplom nievergelegten Berfafjungsgrunbzäge, vie ſich aber dort ganz ent- 
ſchieden nach der Seite der fog. hiſtoriſch- politifchen Individualitäten geneigt und 


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862 nadhtrag. 


ihnen in dem projektirten Reichsrath nur ein ſehr ſchwaches und ungenügendes 
Gegengewicht an die Seite geſetzt hatten, im Sinne einer förmlichen, modernen 
Konſtitution mit einem Reichsparlamente auszubauen, der fich auch Ungarn 
als bloßer Theil der Reichslande unterziehen und einfügen lafſen müfle. Am 
26. Behr. 1861 überraſchte bie Wiener Zeitung die Bevölkerung des Kalferftaats 
mit der Publikation biefer Berfaffung, der die den einzelnen Kronländern dießſeits 
der Leitha oktroyirten Landesſtatute anf dem Fuße folgten, Statute, bie ben 
thatfächlihen Zuftäuden derſelben umb den Forderungen der Zeit ziemlich ent- 
ſprachen nnd denen man politifche Gebanfen und ein kluges Abwägen der mannid- 
faltigen Interefien der einzelnen Klafien ver Bevölkerung wie ber verſchiedenen 
Theile des Reihe nicht, wie den Goluchowski'ſchen Elaboraten, abfpredden Tonnte. 

Die Februarverfaſſung ift in Band VII des Staatswärterbuhs in ihrem 
Organismus und ihren einzelnen Theilen hinreichend geſchildert; es genügt zu 
bemerken, daß der neue durch fle eingeführte Reichsrath ſowohl um der vergrößer- 
ten Zahl feiner Mitglieder wie feiner Trennung in ein Ober- und Unterhaus 
willen und nad feiner Kompetenz ein wirkliches Neiheparlament war oder bed 
die völlige Anlage dazu hatte und ganz geeignet ſchien, den Sonvergelüften ber 
Ungarn einen Damm entgegen zu jegen und fie zu zwingen, fich dem Reich unter 
zuordnen und bie gemeinfamen Angelegenheiten fortan nur in der Witte von 
Bertretern aller Kronländer und mit ihnen zu berathen. Ging bie Febrnarver⸗ 
foflung darin entſchieden und welt über die Abſichten und Anfchauungen des 
Dftoberbiploms hinaus, fo war dieß prinzipiell noch viel unzweifelhafter in ber 
Beſtimmung der Fall, daß ber Neichsrath zwar orbentlidher Weile noch immer 
aus den verſchiedenen Landtagen hervorgehen follte, aber der Regierung doch das 
Recht vorbehalten war, unter gewifien Umſtänden virelte Wahlen anordnen zu 


. dürfen. Diefe Beflimmung war geradezu gegen die Magyaren getroffen worden. 


Obgleih die Magyaren in Ungarn nur ungefähr vie Hälfte der Bevölkerung 
zählen, fo ifl ihnen doch im ungariſchen Landtag die Majorität volllommen ger 
fihert und darum mochten fie auch über-bie Vertretung Ungarns im Reichsrathe 
verfügen, wofern fie fih dazu herbei ließen, die Februarverfafſung anzuerkennen. 
Sollte aber das nicht der Hall fein, jo mochte fi} die Regierung jener Beftim- 

gemäß direkt an die Bevölkerung wenden und konnte dann mit Zuverfidt 
hoffen, daß die nicht⸗magyariſchen Bevölkerungen Ungarns, vie Serben, Siowalen, 
Aumänen ꝛc. den Magyaren zum Trotz ihrem Rufe folgen und fo über Ungarn 
eine Gefahr bringen würden, die es mehr als fonft irgend etwas zu fürchten 
hatte. Im übrigen war ein im Oftoberbiplom gemachter Vorbehalt in der Februar 
verfaflung zu einer fländigen Inſtitution ansgebilvet, indem der Reichsrath ohne 
die Mitglieder aus den ungarifchen Ländern als engerer, mit benfelben als 
weiterer, biefer bie Angelegenheiten des ganzen Reichs, jener biejenigen fänmt- 
licher Kronländer außer denen ber ungarifchen Kroue beratben follte. 

Theoretiſch, das ließ fi gar nicht läugnen, war der nene Berfaffungstompier 
ein wohl durchdachtes, organifches Ganzes, in dem fowohl bezüglich der einzelnen 
Lambesftatute die verfchiedenen „Interefien”, die an die Stelle der alten „Stände“ 
treten follten, als bezüglich des gefammten Reichs das Gewicht des Reichsraths 
und hinwieder ber einzelnen Landtage und ihre beiberfeitigen Kompetenzen mit 
großer Borficht gegen einander abgewogen waren; und wenn fi) auch nicht alle 
Elemente in dem von Schmerling aufgebauten Werte bewährt haben, fo verbient 
dasſelbe doc felbft heute, wo ums ein ſchließliches Urtheil darüber zufteht, worau 
bie volle Durchführung vdesfelben geſcheitert iſt, bie entſchiedenſte Anerfenuung. 


L 





Ocfterreihifch-ungarifche Monarchie. 863 


Die öffentliche Meinung biesfelts der Leitha war mit der Verfaſſung im GOroßen 
und Ganzen zufrieden, von dem eingetretenen Umſchwung entſchieden befriebigt, 
wenn and) die in Tyrol herrſchende klerikale Partei fich über die hereinwogende 


Fluth moderner Ideen befreuzte und bie böhmifhen Czechen bald her, 


ausfanden, daß das Landesftatut für Böhmen darauf berechnet mar, fie gegen- 
über dem deutſchen Element in die Minderheit zu bringen. Da und bort bildeten 
fid) alsbald leiſe Gegenfträmungen, bie überall zahlreiche, aber vereinzelte Sym⸗ 
patbien fanden: für einmal fielen fie durchaus nicht ins Gewicht. 

Da e8 bei der kritlihen Lage in Ungarn bringend wünſchbar ſchien, ven 
Reichsrath fo bald wie möglich ins Leben zu rufen, jo wurden, vorerft eben nur 
um die Wahlen in venfelben vorzunehmen, bie Landtage der Kronländer und mit 
ihnen auch derjenige Ungarns — wie man es von oben herab angefehen wiflen 
wollte, eben auch nur ein einzelner Landtag wie jeter andere — ſchon auf die 
erften Tage April einberufen. Die nicht- ungarifhen Landtage entiprachen ver 
Aufforderung, den Reichsrath zu befhiden, ohne Ausnahme: die Tyroler konnten 
boch nicht umbin, dem Befehl des Kaifers zu gehorchen, die czechiſche Partei in 
Böhmen begnügte ſich mit einer Urt von Proteft, der vorerft feine Folgen hatte, 
und felbft pie Bolen Galiziens ließen fih zu den Wahlen herbei, wenn auch 
unter dem Borbehalt ihrer Wutonomie und der angeblich diſtoriſchen Mechte des 
Landes. Nur Benezten wurde bei Seite gelaffen und hielt ſich felber wiederum 
auch zur Seite. Ihm allein hatte bie Regierung im Februar fein felbfländiges 
Lanbesftatut ertheilt. Sie berechnete ganz richtig, daß ein venezianifcher Landtag, 
fie mochte ihn wie nar immer fie wollte zufammenfegen, fi ohne allen Zweifel 
fofort und mit großer Mehrheit gegen die Verbindung mit Defterreih und für 
die Bereinigung mit dem neuen Königreich Italien ansfpreden würde. und biefe 
Gefahr wollte fie ganz unnüger Welfe doch nicht laufen. Dagegen hätte fie ge- 
wünfcht, auch Benezien im Reichsrath vertreten zu fehen, und orbitete darum durch 
die Central» Kongregation eine Art virefter Wahlen an. Wlein nicht einmal vie 
Hälfte. der Gemeinden ließ fi dazu herbei und als fich die Regierung fogar mit 
Minderheitswahlen begnügen wollte, lehnten vie Gewählten felber ſaͤmmilich ab, 
worauf die Regierung feinen weiteren Verſuch in dieſer Richtung mehr machte. 
In Ungarn hatte ſich vie öffentliche Meinung von Anfang an aufs entichtedenfte 
gegen die Februarverfafiung, fo meit fie aud für Ungarn Gültigkeit haben follte, 
und gegen eine Beihidung des Reichsraths ausgefprodhen und bei der Eröffnung 
des ungarifchen Landtags wagte die Regierung es nicht einmal, bes Februar- 
patentes ausdrücklich zu erwähnen: fie hoffte wohl, fchliegtih aud Ungarn dazu 
zu vermögen, aber betrachtete es felbft ald eine Frage ver Zeit. Zuverfictlichere 
Hoffnungen hegte fie bezüglih Kroatiens, aber auch von Kroatien war eine 
fofortige Beihidung bes Reichsraths nicht zu gewärtigen. Siebenbürgen fparte 
fie fih noch weiterer Beeinflufiung auf. 

So trat, nachdem der Kaiſer am 8. April noch ein Proteflantenpatent er⸗ 
laffen hatte, das aud die Proteftanten befriedigen follte, aber nur fehr theilweife 
befrtedigte und neben dem Konkordat unmöglih ganz. befrienigen - fonnte, am 
1. Mat der Reihsrath zum erftien Mal in Wien zufammen und wurde vom 
Kaifer mit großem Glanze eröffnet. Die Sige der Ungarn, . der anderen Lander 
ber ungarifchen Krone und diejenigen Beneziens blieben freitih leer. In feiner 
Thronrede fagte der Kaiſer: „Die Perioden der Geſchichte, in welchen es den Völkern 
vergännt iſt, auf bereits gebahnten Wegen vorwärts zu fchreiten, werben im 
Laufe der Jahrhunderte von Zeit zu Zeit von entſcheidenden Wendepunften unter 


864 Nachtrag. 


brochen. Uns ward das Glück einer ruhigen, klaren Epoche nicht zu Theil. Die 
Aufgabe, welche durch die Rathſchlüſſe der Borfehung uns zugefallen iſt, beſteht 
darin, die Geſchicke des Baterlandes über den ſchwierigſten aller Wendepunkte 
glücklich hinüberzuleiten. Sole Schwierigkeiten laſſen fi nicht ohne Anftrengung 
und mannhafte Ausdauer, nicht ohne Opfer an Gut und Blut Töfen; aber gelöst 
mäflen fie werben”. Der Kaiſer ſchloß mit der feierlichen Erklärung: „Ich extenne 
es ald Meine im Angeſichte aller Meiner Böller übernommene Regentenpflicht, im 
Sinne der im Diplome vom 20. Oft. v. I. ausgeſprochenen und in den Grund⸗ 
gefegen vom 26. Behr. I. I. zur Durdführung gelangten Ideen, die Gefammt- 
verfofiung als das unantaſtbare Fundament Meines einigen und unthellbaren 
Kaiſerreichs, dem in felerliger Stunde geleifteten Angelöbniß getren, mit meiner 
taiferliden Macht zu fügen und bin feften Willens, jede Verlegung besfelben 
als einen Angriff anf den Beſtand der Monardie, auf die Rechte aller Meiner 
Länder und Bölfer nachdrücklich zurädzumelfen". Die Beziehung auf Ungarn und 
die dort immer eutfchloffener auftretenden Tendenzen ließ fi nicht vertennen und 
e8 mag mit Recht bezweifelt werben, ob es von Seite des Minifteriums Schwer: 
ling Hug war, dem Kalfer Worte in ven Mund zu legen, melde die Bräde von 
Unterhandlungen abbraden, es faft unmöglich machten, ven Ungarn weitere Kon- 
ceffionen in Ausfit zu ftelen, und eine gewaltfame Löfung der eingetretenen 
Differenz von vorneherein faft als unausweichlich erfcheinen Liegen. Zunächſt fan- 
den dieſe Hindentungen im Reichsrathe, foweit er eben dem Rufe tes Kaiſers 
gefolgt war, entfchievenen Auflang und tie prägnanteften Stellen wurden von 
ibm mit lang anhaltenden Zurufen erwiebert. In ver Antwortsadreffe beider 
Häufer begnügten fich viefelben, theils vie Abweſenheit ver Ungarn fchmerzlich zu 
bevauren, theils die Worte bes Kaiſers nachdrücklich zu wiederholen, nachdem fie eine 
ganze Reihe von Auträgen ber Föperaliften, als welche ſich die Feudalen, die Czechen, 
Bolen, Tyroler zc. zufammen gefuuden hatten, mit großer Mehrheit abgelehnt 
hatten. Selbſtverſtändlich fragte es fich vor allem, ob der Reichsrath, wie er ver- 
fammelt war, als der engere ober als der weitere anzufehen fei, da bie Befug⸗ 
niffe beider fehr verfehteven waren. Der Pole Smolla regte vie Frage Ende Mai 
an und die Regierung entjchied fie Anfangs Juni dahin, daß die Berfammlung 
von ihr nur als der engere Reichſsrath angefehen werde. Es mochte das als eine 
Konceffton gegenüber den Ungarn angefehen werben, die man doch nicht fontuma- 
ciren wollte Allein zu berfelben Zeit hatten die Dinge in Peft bereits eine 
Wendung genommen, vie den fhlieglihen Vruch mit ihnen und Ihren Forderungen 
faft anßer Zweifel ſetzte. 

Wie fon bemerkt, war am 14. ehr. die Ginberufung des ungarifchen 
Landtags auf den 2. April erfolgt, aber von vornherein in bie Königsburg von 
Dfen, nit nad Peft, wie es bie Geſetze von 1848 forverten. Im März er⸗ 
folgten die Wahlen. Sie fielen nicht nad den Wünſchen der Regierung in Wien 
and. Die Regierungspartei, wenn überhaupt von einer foldyen geſprochen werben 
tonnte, bildete nur eine Feine Minorität und trat nicht einmal entſchieden als 
folde auf. Die Hälfte der übrigen Wahlen fiel der Partei Edtvds-Deak zu, 
deren Führer in der letzten Zeit eine refervirte Haltung beobachtet und fowohl 
die Berufung in ven verſtärkten Reichsrath als die Ernennung zu Obergeipanen 
der Komitate abgelehnt und offenbar keinerlei Neigung hatten, auf die Abfihten 
der Regierung bezüglich ver Februarverfaffung einingehen; die andere Hälfte aber, 
die in bem erft kürzlich begnabigten und in fein Vaterland zurüdgelehrten Grafen 
Ladislaus Teleki ihren hervorragendſten und eutſchiedenſten Führer exlannte, 








Oeſterreichiſch/ ungariſche Monarchie. 865 


ging nod weiter, indem fie von ber Februarverfaſſung nicht nur nichts wiſſen, 
fondern mit der Wiener Regierung überhaupt ſich auf gar feine Unterhanblungen ein- 
laffen wollte. Als die Deputirten am 2. April in Peſt zufammen kamen, waren alle 
in einer Vorkonferenz barüber einig, den Landtag jedenfalls nicht in Ofen, fon- 
bern nur in Peft abzuhalten und der Kaifer mußte fon darin nachgeben und 
fih begnügen, wenigflens die Form zu wahren, indem er nur tarauf befland, 
daß die Eröffnung in Ofen flattfinde, dagegen einwilligte, daß ver Landtag hier- 
anf fofort nad Peſt überſfiedle. Am 6. April fant vie feierliche Eröffnung durch 
den judex curie Graf Apponyi flatt, der des Febrnarpatentes ausprüdlich nicht 
einmal erwähnte, geſchweige denn die Anerkennung vesfelben und die Beſchickung 
des Reichsrathes als eine der erſten Borlage der Regierung bezeichnete. Und fchon 
wenige Tage nachher ging das Graner Komitat, das dadurch in Ungarn eine 
hervorragende Stellung einzunehmen gewohnt war, daß der jeweilige Fürft-Primas 
des Landes ihm als Obergeipan vorftand, mit einem Beſchluß voran, der nicht 
nur gegen die Februarverfafſung aufs entfchiebenfte proteftirte, ſondern auch jeden, 
der an ber Bildung des Reichsraths, gleichviel ob als Gewählter oder ale 
Wähler mitwirken follte, für einen Baterlandsverräther erklärte, vefien Name 
gebrandmarkt und der Schande Übergeben werten müſſe. Zunächſt war von Seite 
des Landtags von einer Entſcheidung bezüglih der Februarverfafſung noch gar 
feine Rebe. Die erſte Frage war, ob, wie Dealk beantragte, eine Adreſſe an ven 
Kaifer erlaffen werden folle, um bie Anfprüche des Landes zu begründen ober ob, 
wie bie andere Hälfte verlangte, dieſe Anſprüche einfach in eine Refolution nieder⸗ 
zulegen feien, es ber Wiener Regierung überlaffend, ob und mie fie ihrerjeits 
darauf eintreten wolle, in Wahrheit alfo der Faden einfach ba wieder aufge- 
nommen werden follte, wo er im Jahr 1849 dur die Gewalt ber Waffen ab⸗ 
geriffen worben war. Die Adreßdebatte nahm mehrere Wochen in Anſpruch: end» 
ih am 5. Juni wurde der Adreßentwurf Deals mit 155 gegen 152 Stinmen, 
alfo nur mit 3 Stimmen Mehrheit im Princip angenommen. In der Special- 
bebatte neigte fid) dagegen das Zünglein ver Wage auf die andere Seite und 
wurte mit großer Mehrheit befchloffen, den Kaiſer nicht wie Deak wollte, als 
„Allerdurchlauchtigſten Katfer und König” ſondern blos als „allerdurchlauchtigſten 
Herrn” anzureden, auch mit 134 gegen 120 Stimmen ver Schluß des Deak'ſchen 
Entwurfs abgelehnt und bezüglich der Abdikation Kaiſer Ferdinands und bes Erz- 
herzogs Franz Karl, die ohne die Zuftimmung Ungarns erfolgt war, die Erklä⸗ 
rung beſchloſſen, daß der ungarifhe Landtag bis zu feiner Bervollſtändigung durch 
bie fogenannten partes adnex®, Siebenbürgen und Kroatien, ſich in Verhand⸗ 
lungen darüber nicht einlaffen und über die Thronveränberungsfrage fi nicht 
ansſprechen könne. Die fogenannte Beſchlußpartei und mit ihr alfo, wie es ſchien, 
bie Majorität des Landtags hatte es damit offen ausgeſprochen, baf fie den Kaifer 
nicht als den legalen, fondern vorerft nur als den faktifchen Herrfher des Landes 
anerfenne und daß fie ihm jene Eigenfhaft erſt dann zugeftehen werbe, wenn er 
vorher alle ihre Forberungen zugeftannen haben würde. Die Magnatentafel ſtimmte 
dieſen Beſchlüſſen des Unterhaufes einftimmig bei, jo fehr war ihre Bedeutung 
bereits in ben Hintergrund getreten und fo gänzlich hatte fie bereits alle und jebe 
Selöftänbigkeit verloren oder geopfert, um fih nur möglid zu erhalten. Demgemäß 
wurde auch von beiden Häufern am 22. Juni befälofien, bie Adreſſe durch ihre 
Präftdenten dem Kaifer offen, ohne Siegel und ohne Convert überreichen zu 
laſſen. Selöftverflänplih nahm der Kaifer, der zwar nicht auf bie Rechte eines 
gefrönten, aber immerhin auf bie eines „erblichen Königs von Ungarn’ Auſpruch 
Bluntſchli und Brater, Deutſchet Staats⸗Wörterbuch. XI. 55 


866 Nachtrag, 


machte, bie Adreſſe in dieſer Form (30. Juni) gar nidt an und nad einigem 
Befinnen ging ſelbſt die Beſchlußpartei auf feine Begehren ein und flellte (5. Iult) 
ohne Widerſpruch die urſprüngliche Form der Adreſſe ber. Nun nahm fie ber 
Katfer entgegen. Sie erklärte fi in Kngerer Ausführung dahin, daß „von einer 
wahrbaften Realunton wit den übrigen Ländern S. Majeftät in unſeren Gefegen 
feine Spur zu finden ſei“, erklärte feierli, „bag wir die durch einen finatd- 
rechtlichen Grundertrag, durch Gefete, königliche Inauguraldiplome und Krönungs- 
eide gewährleiftete konſtitutionelle Selbſtändigkeit und gefegliche Unabhängigkeit des 
Landes keinerlei Nüdfigten und Intereflen opfern koͤnnen“, daß „wir bloß geneigt 
find, mit den Tonftitutionellen Völkern der Erblänver als ſelbſtändige freie Nation 
mit einer anderen felbfländigen freien Nation, unter voller Wahrung unferer Un- 
abhängigkeit, von Fall zu Yal zu verlehren“, und ſchloß, alles zufammenfaflend, 
dahin: „Der König von Ungarn wird erft dur bie Krönung zum gefeglichen 
König von Ungarn. Die Krönung aber iſt an vurd das Geſetz vorgefchriebene 
Bedingungen gelnüpft, beren vorgängige Erfüllung unabweisbar nothwendig if. 
Die unverlegte Aufrechthaltung unjerer Tonftitutionellen Selbftänbigteit, die terri- 
toriale und politiiche Integrität des Landes, bie Integrirung unjeres Landtags, 
die vollſtändige Wiederherſtellung unferer Grundgeſetze, das Wiederinslebenrufen 
unferer parlamentariihen Regierung nnd unſeres verantwortlichen Minifteriums, 
fowie die Beſeitigung der noch beftehenden Folgen des abjoluten Syſtems find 
folde yräliminäre Bedingungen, ohne beren Erfüllung die Berathung und ber 
Ausgleih unmöglih find‘. | 
Gewiß, diefe erfte Adreſſe des ungarifhen Landtags am den Katfer in ihrer 
nicht unehrerbietigen, aber ſehr gemefjenen und ſehr beftimmten Sprade lich au 
Deutlichkeit nichts zu wünſchen übrig. Sie formulirte alle Forberungen Ungarns; 
die Ungarn gingen nicht davon ab und ber Ausgleih, ber ſechs Jahre fpäter 
erfolgte, zeigt, daß fie alle ohne Ausnahme und im weientlihen auch ganz umb 
vol erreicht haben. Doc es vergingen darüber eben noch ſechs wechſelvolle Jahre. 
Zunächſt waren ber Katfer und feine Berather, war aud die öffentliche Meinung 
bießfeits der Leitha noch ganz umd gar nicht geneigt, auf die Forderungen Un⸗ 
garns einzugehen. Der Kaifer lehnte biefelben in einem Reſkript vom 21. Juli 
entfchieven ab. Diefes anerfannte offen, daß das Oktoberbiplom bis anf einen 
gewiffen Grad allerdings der pragmatifhen Sanltion, dem Ausgangspunfte alles 
beftehenden ungariſchen Staatsrechts, widerfpredhe, meinte aber, daß die Garan⸗ 
tien der konſtitutionellen Selbſtändigkeit in Ungarn durch bie mit den Vertretern 
der übrigen Königreihe und Länder Defterreihs bezüglich gewiſſer gemeinfamer 
Interefien auch gemeinfam zu veranftaltenden Berathungen und Beſchlüſſe nicht 
geſchwächt, ſondern vielmehr eher geftärkt würden und machte bie Frage ziemlich 
anummunben nit zu einer Frage bes Rechts, fondern der Politik, indem es fagte: 
„Durd bie feit drei Jahrhunderten gemeinfaftlich erlebten Schidfele unter einer 
gemeinfamen Regierung ift unfer Königreid Ungarn mit den Ländern unferes 
Sefammtreihs in eine viel engere Verbindung getreten, als daß man biefe Ber 
einigung nur eine Perfonalunton nennen könute“. Diefe bloße Perfonalunion 
babe allerdings die Bewegung von 1848 angeftrebt, aber nicht erreicht. Soweit 
nun die Geſetze von 1848 neuerdings wieder bergeftellt werben wollten, lönne 
der Kaiſer dazu, foweit fie eben dahin zielten, die Hand nicht bieten, wohl aber 
foweit dieſelben von jener Abfiht unabhängig geweſen ſeien. Das ganze Reſtript 
hielt fi demgemäß entſchieden innerhalb der Grängen der vom Katjer im Oftober- 
diplom und in ber Februarverfaſſung anerlannten Verpflichtungen bezüglich bes 














Oeſterreichiſch⸗ ungariſche Monarchie. 867 


Geſammiſtaats, wollte daher auch bezüglich der ſogenannten Reintegrirung bes 
Landtags d. h. bezüglich feiner Stellung zu Siebenbürgen und Kroatien nur fo 
weit gehen, als es ohne Beeinträdtigung ber Webruarverfaffung geſchehen mochte 
und forderte nunmehr ben ungarifchen Landtag in aller Form auf, Abgeordnete 
in den Reichsrath nach Wien zu entſenden und fomit Dftoberbiplom und Februar⸗ 
verfafjung anzuerfennen. Die Ungarn blieben jedoch feſt. Auf Deak's Antrag 
nahm der Landtag am 8. Auguft einftimmig eine zweite Adreſſe an ben Kaiſer 
an, bie von den Porberungen ver erften nicht abging, die Anerlennung ver 
Februarverfaſſung aufs beftimmtefte ablehnte und zum Schluß erklärte: „Wir 
fehen mit Schmerz, daß Ew. Majeſtät durch das Reſtript jede gegenfeitige Ver⸗ 
fändigung unmöglich gemadt und deren Faden definitiv abgeriffen hat“. Dem 
Katfer blieb feinerfeits unter diefen Umſtänden und von dem durch ihn einge- 
nommenen Stanppunft, den beide Häufer des Reichsraths ausdrücklich und zu 
Protokoll genehmigt Hatten, nichts anderes Abrig, als den Landtag aufzulöfen. 
Die Auflöfung erfolgte am 21. Auguft 1861; der Landtag fügte fi, jedoch 
nit ohne Proteft: „der Gewalt können wir uns faktiſch nicht widerſetzen, 
aber gegen das, was auf folhe Weiſe gefchieht, Legen wir feierliden Proteft ein 
und erllären, daß wir, treu an unferen rechtlich beftehenden Gefegen und fo auch 
an den fanktionirten und noch nicht landtäglich umgeänderten Gefegen bes Jahres 
1848 bängend, jeden Schritt der Macht, welche venfelben zuwiderläuft, ala ver- 
fafſungswidrig betrachten werden. 

Die Oppofition, die der Landtag nicht weiter fortführen konnte, wurbe indeß 
von den Komitaten aufgenommen, die fi zu Heinen Parlamenten geftalteten, fich 
unter einander in Verbindung festen, den Proteft des Landtags zu dem ihrigen 
machten und den Widerftand über das ganze Land hin verbreiteten. Das Komitat 
von Peſth ging dabei allen voran: da wurde bie Sufpenflon feiner Kommiffions- 
figungen verfügt, aber um fie durchzuſetzen, mußte jchlieglih das Komitatshaus 
mit Truppen befegt werden. In andere Komitate wurden königliche Kommifjäre 
geſchickt und zwar mit der Vollmacht, Muntcipalbeamte jeder Art ab- und einzu- 
fegen, nöthigenfalle an bie Spige der Komitats⸗ oder ftäbtifchen Verwaltung zu 
Treten und ihren Befehlen durch Anwendung von Milttärgewalt Gehorfam zu 
verſchaffen. Die Mafregel half nur fehr ungenügenn: wenn ber Wiperfland an 
einem Drt erftidt ſchien, loverte er an einem anderen um fo heftiger empor und 
tand neue Nahrung und einen frifehen Halt, als felbft vie Königliche Statthalteret 

° in Peft fi in einer Mepräfentation gegen biefes Vorgehen In den Komitaten wandte, 
und da fie abſchlägig beſchieden wurde, die Repräfentation uneingefhächtert wieber- 
holte. Die kaiſerliche Regterung in Wien, das mußte fie fehr bald einfehen, konnte 
fich auf feine nationale Behörde in Ungarn, wie immer fle geartet fein und welder 
nationalen Partei immer fle angehören mochte, und in legter Linie nur auf bie 
Truppen, die im Lande ftanden und die fie allerbings vor einer Wieberholung 
ber Ereigniſſe von 1848 ſicher ftellten, verlaffen. Die Bertretungen einer Anzahl 
ber lauteſten Romitate wurden aufgelöst, aber die andern ließen fi) auch baburd) 
nicht abfchreden. Die Stellung ber Regierung war in biefer Weiſe auf die Dauer 
doch eine ganz unbaltbare, zumal die Rekrutenaushebung vor der Thüre ſtand 
‚und dieſe wie die Stenereinhebung legal nur durch die Komitate und bie von 
ihnen eingefegten Beamten erfolgen konnte. Bis dahin war die Regierung ent« 
ſchlofſen geweſen, die den Ungarn gemachten Konceffionen, namentlich die Wieder⸗ 
berftellung ber Komitate, nidt zurädzunehmen; jest erkannte fie, daß dleß ab⸗ 
folut unmdglih fet ohne vie heilloſeſte Verwirrung, in der die Autorität ber 

55 * 


868 Nachtrag. 


Regierung gänzlich paralyfirt wäre. Am 27. Oft. 1861 beſchloß daher der Miniſter⸗ 
rath in Wien eine „durchgreifende Reorganifation‘ als eine Art von Proviforium 
in Ungarn d. 5. wenigftens bie thatſächliche völlige Wienerbefeitigung der Komi- 
tatsantonomie und am 5. Nov. ernannte der Kalfer den Grafen Mori; Balffy 
zu feinem Statthalter in Ungarn, fufpendirte die korporative Wirkſamkeit des 
königlichen Statthaltereirathes zu Peſth, befahl die Auflöfung ſämmtlicher noch 
beftehenver Ausſchüſſe der Komitate und Diftritte und der Gemeindevertretungen ver 
föniglihen Freiſtaͤdte, erfegte fie überall durch königliche Kommiffäre und orbnete 
bie Einfegung von Milttärgerihten in ganz Ungarn an, um gewifle gegen vie 
öffentliche Ordnung und die Sicherheit von Perfouen und Eigenthum begangenen 
ftrafbaren Handlungen flatt der orbentliden Civil- und Strafgerihte zu beur- 
theilen. Da verflummte denn freilich aller Widerſtand, aber auch alles feit einem 
Jahre wieder erwachte politifche Leben in Ungarn. Geftägt auf die Militärmacht, 
regierte neuerdings ein k. k. Statthalter von Peſth aus lediglich nad ven Wei⸗ 
jungen, vie ihm von Wien aus zulamen. 

Auch in Kroatien war ber Landtag am 15. April in Agram zufammen- 
getreten, entfprady aber weder den in Peſth noch den in Wien gehegten Wünſchen, 
indem er am 13. Juli befhloß, erſt nah Anerkennung der Unabhängigkeit des 
breieinigen Königreichs und der zwiſchen ihm und Ungarn freitigen Territorien 
feitens bes Ießteren mit biefem über ihre gegenfeitigen Beziehungen in Unterhand⸗ 
lung zu treten, am 3. Auguft aber ebenſo faft einftimmig die Beſchickung bes 
Reichsraths in Wien ablehnte und ſchließlich am 24. Auguft in einer Adreſſe an 
den Kaifer die vollftändige Autonomie Kroatiens ſowohl gegenüber ven Erbländern 
ald gegenüber Ungarn verlangte. Der Kalfer lehnte das von dem Tleinen Lande 
ziemlih unfinnige Begehren am 12. Rov. 1861 ab und nur der Umftand, daß 
bie kroatiſchen Komitate, durch die Maßregeln des Kalfers in Ungarn gewipigt, 
fih dazu herbeiließen, bie Taiferlihen Behörden in ber Nekrutirung ihrerfeits zu 
nunterflügen, rettete fie vor demſelben Schidjale wie die ungarifhen Komitate. In 
Siebenbürgen war der Landtag im Jahr 1861 gar nicht einberufen worben 
ober vielmehr wurbe die gleichfalls (im Sept.) ſchon erfolgte Einberufung (im 
Okt.) wieder zurüdgenommen und in Wien befchloffen, hier, wo bie Nationalitäts- 
verhältniffe günftiger für die Wünſche der Regierung lagen, vorfichtiger vorzugehen 
und demgemäß vorerft bloß bie im erften Augenblid gleichfalls an bie Spige 
geftelten Magyaren wieder abzurufen und durch zuverläffige Anhänger des &e- 
jammtftaats und ber Februarverfafſung zu erfegen. 

Der Reihsrath von 1862 — 65. Während dieſer Borgänge in Un⸗ 
garn faß der Reichsrath in Wien feit ſechs Monaten beifammen. Seine erften 
Schritte verriethen, wie das gar nicht anders zu erwarten war, fehr viel Mangel 
an parlamentarifher Erfahrung, aber auch fehr viel guten Willen und zahlreiche 
nit zu unterfhägende Talente Iraten hervor. Die Parteibildung im Abgeordneten⸗ 
hauſe war noch nnd blieb and eine ziemlich primitine. Die Mehrzahl ver Ber 
fammlung ging auf das neue fonftitutionelle Princip gern und mit Eifer ein, ohne 
doch über eine Reihe der entſcheidendſten Fragen durchgebildete Ueberzeugungen mitzu- 
bringen; andere gingen mit, da fie den Kaifer allem Anfchein nad entſchieden und 
in voller Uebereinftimmung mit dem Minifterium, deſſen Präſidium fogar ein Erz⸗ 
herzog übernommen hatte, auf der nen betretenen Bahn vorfchreiten ſahen; vie 
geheimen und offenen Gegner der Verfaſſung und namentlih der Inftitution des 
Reichsraths, vie Feudalen und Klerikalen, die Ezechen, Polen und Tyroler bildeten 
nur eine Minorität und hielten vorerſt zuwartend zuräd. Da das Miniſterium 








ae ven 5 ze u ze, 


— ⁊ 1 


— 


14 


Orflerreihifch-ungarifche Monarchie. 869 


Schmerling Anfangs und nur zu lange auch fpäter, ja bis zum ſchließlichen Bruche 
mit dem ungarifchen Landtag fi ber Hoffnung Hingab, den Reichsrath menigftens 
binnen einiger Zeit dur den Hinzutritt der Ungarn vervollftänbigt zu fehen, 
fo warb berfelbe längere Zeit von ver Regierung nur mit fehr unbebeutenden 
Borlagen bebelligt, was feinem Anfehen dießſeits der Leitha unmöglich förberlich 
fein konnte, und auch nicht geeignet war, ven Ungarn bie Ueberzeugung beizu- 
bringen, daß im Reichsrath eine mächtige Inftitution gefhaffen worben ſei, ber 
fie mit Beruhigung einen Theil ihrer bisherigen Konftitutionellen Befugniffe, und 
zwar der Regierung gegenüber gerade bie entſcheidendſten, rubig als gemeinfame 
und zu gemelnfamer Wahrung überlaffen könnten. Es war dieß um jo weniger 
ber Tall, ale die Verwaltung auch unter Schmerling im Ganzen und Weſent⸗ 
lihen dieſelbe mangelhafte und abfolutiftiihe blieb, die fie früher geweien war 
und nad oben wie nad unten im Grunde wenig von einem neuen Geiſte zu 
fpüren war, wie denn auch felbft die Yebruarverfaffung den öſterreichiſchen Völkern 
weder Preßfreiheit no das Berfammlungs- und Vereinsrecht eingeräumt Hatte. 
Diefelbe entbehrte fomit der widhtigften Garantien für ven berechtigten Einfluß 
ber öffentlichen Meinung auf ben Gang der Regierung und einer wirkſamen Kon- 
trole derſelben. Dieß ließ, zufammen mit andern Momenten, namentlich dem fo- 
genannten Oltropirungsartifel, an dem guten Willen der Regierung wie an dem 
nnwiderruflihen Entſchluſſe derfelben nit ohne Grund einigermaßen zweifeln, 
und arbeitete dem Pejfimismus, ver fi feit lange ſehr zahlreicher Kreife in Defter- 
reich bemädtigt hatte, in bie Hände. Dabei war es zwar keineswegs richtig, aber 
bagegen ſehr begreiflih, wenn bie große Majorität des Reichsraths bie wieder⸗ 
holten Berfiherungen des Kaiſers, an ven gemachten freiheidlihen Konceffionen 
unverbrüchlich feftzuhalten, als unzertrennlich auſah von dem Feſthalten des einigen 
und untbeilbaren Gefammtflants in der nun einmal befloffenen Form, alfo aud 
gegenüber Ungarn. Und das Minifterium Schmerling unterflügte und nährte biefe 
nfhauung, wo und mie e8 nur immer konnte. Bon den gegen Ungarn ergriffenen 
Maßregeln machte e8 dem Reichsrathe fncceffive Mittheilung, um dafür die un- 
umwundenſte Zuſtimmung beider Häufer desfelben einzutaufchen. An die Stelle 
des früheren abfoluten war der konſtitutionelle Centralismus getreten und von 
Seite des Reichsraths war dieß um fo natärliher, als die Beſtrebungen ber Un⸗ 
gern den föderaliſtiſchen und wenigftens theilweife unzweifelhaft reaftionären Be⸗ 
ftrebungen der Ezehen, Polen, Tyroler und aller Feudalen in bie Hände zu 
arbeiten fchienen, gegen dieſe aber in erfter Linie und mit Entſchiedenheit Front 
gemadht werden mußte. Daß beide nicht nothwendig zufammen fielen, daß ben 
Ungarn Konceffionen gemacht werben konnten, ohne fie darum auch den galiziſchen 
Bolen zu machen und ohne darum den czechiſchen Feudalen oder ben Tyroler 
Klerifalen freie Hand zu geben, wurde damals noch nicht näher erwogen. Am 
bevenflichften aber war es, daß der Reichsrath feinen Widerſpruch dagegen erhob, 
als die Botſchaft, durch welche das Minifterium Schmerling ihm am 23. Auguſt 
1861 die Auftöfung bes ungarifhen Landtags anfündigte, biefe Maßregel und 
feine ganze Haltung gegenüber Ungarn damit begrünbete: „Ungarns Berfaffung 
war durch die revolutionäre Gewalt nit nur gebrohen, fomit von rechtswegen 
verwirkt, fondern auch faktiſch befeitigt” — mit jener Verwirkungstheorie, welche 
bie Ungarn nie und nimmer zugeftanden und auf deren Grund ein Ausgleih mit 
thnen nie und nimmer denkbar war. 
Erſt nad dem neuen Bruche mit Ungarn konnte und mußte der Reichsrath 
aus der zuwart enden Stellung beraustreten, bie ihm vie Regierung bis bahin an⸗ 


PA 870 Nadıtrag. 


gewiefen hatte, Wie ſchon erwähnt, Hatte ihm dieſe von Anfang an, um bie Um 
an, deren Gintritt man noch hoffen mochte, nicht von vorneherein vor bem 
opf zu flogen, nur bie Eigenfchaft des engeren zuerkannt. Allein viefe Auf⸗ 
fafjung war mit der Zeit praftiich kaum aufrecht zu erhalten. Einer ber Hanpt- 
momente, ber überhaupt zum Erlaß der Verfafſung und ber Inftitution des Reichs» 
raths geführt hatte, war bie verzweifelte Tage der äfterreihifhen Yinanzen. Seit 
einer Reihe von Jahren lagen fie an einem jährliden Defictt danieder, das burd 
Erhöhung der Steuern oder durch Eriparnifie in der Berwaltung vielleicht ver 
mindert, aber jebenfalls nicht jo bald gänzlich befeitigt werben Tonnte und daher 
aljährlih nur durch neue Schulden gebedt werben konnte, Über eben dazu beburfte 
man nachgerade ganz unausweichlich der Garantie einer Vollsvertretung, nachdem 
das abjolute Regiment den Krebit im Auslande wie im Inlande gänzlich verloren 
hatte. Nah der Februarverfafſung ſtand felbftverftännlih bie Bewilligung des 
Büudgets wie das Recht, zu jeber Vermehrung ver Staatsſchuld feine Einwilligung 
zu ertbeilm, nur dem vollftännigen, alſo dem weiteren, nicht aber dem engeren 
Reichsrathe zu. Um dazu zu gelangen, blieb daher der Regierung nichts anderes 
übrig, als den Reichsrath wenigftens ad hoc für den weiteren zu erkläre. 
Herr dv. Schmerling griff no zu Ende tes Jahres 1861 zu dieſem Austunfts- 
mittel und kündigte am 17. Dec. die Vorlage des Gefammtbübgets für 1862 am. 
Der Reichsrath erklärte fi) mit großer Mebrbeit damit einverflanden, doch nahmen 
bie föderaliftifch gefinnten Gzechen und Polen davon Beranlaffung, eine Sonber- 
Ä ſtellung einzunehmen und fi an diefen Berathungen nicht zu beiheiligen. Der 
Reichsrath blieb faft während des ganzen Jahres 1862 verfammelt und befchäf- 
tigte fih faſt ausfhlieglih mit dem Büdget für 1862 und 1863. Das erfte 
wurde mit großer Grünblichlelt durchberathen: vie Berfammlung war vom ber 
dringenden Nothwendigkeit durchdrungen, die Ausgaben zu rebuciren und in bem 
Forderungen ber Regierung ſtarke Abftrihe vorzunehmen, aber der Erfolg war 
ein überaus beſcheidener, da fie es nicht wagte, dem Militärbübget und dem 
ganzen militäriſchen und politifgen Syſtem, das demfelben zu Grunde lag, emt- 
fchloffen zu Leibe zu gehen und überbieß die Anträge der Regierung auf Erhöhung 
ber Inbirelten Steuern nur theilweiſe genehmigte, eine Erhöhung der bireften 
Steuern aber gänzli ablehnte. Zugleih wurde eine neue Banlalte berathen um» 
beihlofjen, welde bie allmählige Rückzahlung der Staatsſchuld an die Ratiomal- 
bank und dagegen bie allmählige Verminderung ver umlaufenden Banknoten nor 
mirte, fo daß nah Ablauf weniger Jahre ber Zeitpunkt voransgefehen Werken 
fonnte, wo bie Bank ihre Zahlungen wieder in baar aufnehmen und damit kie 
Baluta wieder hergeftellt würbe, wenn der Friede erhalten blieb, was freilich 
ber Fall war, fo daß alle vie erfreulihen Erwartungen wieber zu nichte w 
Neben den VBüdgetberathungen des Reihsraths im Jahr 1862 find uur 
Verhandlungen und Beihläfle anderer Art von tiefgreifendem Interefle zu xer- 
zeichnen: bie Vereinbarung eines nad dem Willen des Miniftertums Schmerlinz 
nichts weniger als liberalen Prefgefeges, das aber doch die Prefle wenigftens der 
bisher rein willfährlihen Behandlung von Seite ver Berwaltungsbehörten eutzeg 
und fo immerhin als ein zwar Meiner aber doch entſchiedener Fortichritt anerkummt 
werben mußte, und dann daß der Kaifer die Berantwortlileit der Mimifter, 
freilich vorerft nur im Princip, alfo in einer für die Praris völlig ſterilen WBeife, 
anerfannte. Als der Reichsrath Ende 1862 nad anberthalbjährigem Wirken vom 
Kaiſer mit einer Thronrede gefchlofien wurde, war bie Befrierigung ber äffem- 
lihen Meinung über die Refultete dieſer Wirkſamleit unr eine ſehhr mäfige um 


HR 





Orfterreihifch-ungarifche Monarchie. 871 


bebingte: man glaubte ſich viel mehr einigen Hoffnungen für bie Zukunft hingeben 
zu dürfen, als daß man Urſache gehabt hätte, fich über das bereits Erreichte 
freuen zu lönnen. Das bloße Beſtehen eiuer Verfaſſung, das bloße Bewußtfein, 
daß bie Angelegenheiten des ganzen Reichs im Reichsrathe, vie ber einzelnen 
Länder in den Lanbtagen mit berathen wurben, genügte dazu bod nicht; eine 
Berfländigung mit Ungarn war mißlungen und durch ben nen eingetretenen Bruch 
in ganz unbeflimmte Ferne hinansgerädt, die Finanzlage war im Grunde biefelbe 
geblieben und ftand dem Bankerott noch ebenfo nahe wie früher. Die Refultate 
der Verhandlungen des Reichsrathes fchrumpften fomit genau befehen auf fehr 
Weniges zujammen und die Verwaltung war in ihren Organen wie in den 
Marimen, vie file befolgte, troß der neuen Wera noch ganz diefelbe geblieben mit 
allen ihren taufenvfältigen Mängeln und Gebreben unter Schmerling wie unter 
feinen Borgängern zurüd bis auf Bad, der wenigſtens eine Energie entwidelt 
hatte, von der unter Schmerling nichts zu verjpüren war. 

Die erfte Hälfte des Jahres 1863 füllten die Landtage der einzelnen König⸗ 
reihe und Länder bießfeits der Leitha aus — in Ungarn und in Kroatien war 
e8 dagegen wieder ganz ftill geworben und herrſchte wieder fo ziemlidy berjelbe 
Abſolutiamus der katferlihen Regierung wie vor dem Oftoberbiplome — und 
nahmen bie ihnen verfaflungsmäßig zuftehenden VBefugniffe an bie Haud. Eine 
Reihe provinzieller Angelegenheiten wurde durch fie in mehr oder weniger befrie- 
digender Weiſe erlebigt, aber eine burchgreifende Veränderung brachten auch fie 
durhaus nit: man konnte Überall noch nit von einem neuen Geiſte, der in 
Defterreih zur Herrſchaft gelommen ſei, ſprechen, fondern höchſtens von ſchwachen 
Sen, von der Möglichkeit, vielleicht Wahrfcheinlichleit eines ſolchen neuen 

es. 
Inzwiſchen war die Regierung, die in Ungarn und ſelbſt in Kroatien, wo 
es doch mit etwas mehr Cnergie und etwas größerer Gewandtheit ganz und gar 
nicht unmöglich geweſen wäre, abfolut nichts erreiht hatte, bemüht gewefen, 
wenigftens in Siebenbürgen bie Dinge nicht ebenfo verlaufen zu laflen. Hier 
zögerte fie vorfichtig mit der Einberufung des Landtags, entfernte erfi vie ihr 
feinyfellgen, magyariſch gefinnten Beamteten, erſetzte fie durch zuverläffige Anhänger 
bes Februarpatentes, rief dann zuerſt die Nationsuniverfität der deutſchen Sachſen 
und einen Kongreß ber Rumänen zufammen, vie fi beide vorläufig gegen bie 
von Ungarn beanfprudte Union von 1848 und für die Februarverfaſſung aus⸗ 
fpraden und ſchritt dann erft (Mitte Juni 1863) zur Einberufung eines Land» 
tags. Derfelbe wurde Mitte Juli in dem deutſchen Hermannftabt eröffnet und ba 
die ungariſch gefinnten Mitglieder nicht erfchienen, fondern fi mit einer Art 
Proteft begnägten, fo widelten fi die Dinge um fo glatter ab: bie bisher gar 
nicht vertretene rumäniſche Nation wurde als politiih und religiös gleichberechtigt 
anerlannt, das Oktoberdiplom und die Februarverfafiung (Ende Sept.) förmlich 
inartilulirt und wenige Tage fpäter ſchon erfolgten auch die Wahlen in den Reichs⸗ 
rath, die auf 10 Sachen, 13 Rumänen und 3 Magharen fielen. 

Für den Reichsrath und die Februarverfoffung war biefer Erfolg von 
ſehr weſentlicher Bedeutung. Schon am 18. Juni 1863 eröffnet, nahm er am 
20. Oft. die ſiebenbürgiſchen Mitgliever feierlich in feinen Schoß auf und erflärte 
fi nun verfaffungsmäßig für den weiteren. Die VBübgetberathung für 1864 
war eben darum bis jegt verfchoben worden, wurde aber nunmehr fofort in An- 
griff genommen. Der Abſchluß zog ſich indeß bis in ven Anfang bes Jahres 1864 
hinaus. Und wiederum geſchah fehr wenig für vie Befferung der Finanzlage. Für 


j 872 Uachtrag. 


den Militaäretat wurden 123 Millionen bewilligt, nur 2 Millionen weniger als 
bie MNegierung gefordert hatte, Das Deficit being immer noch mehr als 
45 Mill. fl., für die beiden vorhergehenden Jahre hatte es freilich noch mehr 
betragen, für 1862 über 94 und für 1863 über 62 Mil, Der Reichsrath mußte 
dann auch dafür und für andere dringende Bedürfniſſe ein neues Anlehen be- 
willigen im Betrage von 69, eventuell von 85 Mil. und gleich darauf 
wieder 40 Mil. Dann wurde der Reichsrath gefchlofien, ohne daß das von ihm 
aus eigener Initiative in Angriff genommene Bereins- und Berfammlungsgefek 
zu Stande gelommen wäre Zunähft wurden nun wieder bie Landtage einberufen 
und erft im Nov. 1864 trat der Reichsrath wieder zufammen, ba man feiner für 
das Büdget für 1865 und für 1866 bedurfte. Die czechiſchen Mitglieder aus 
Böhmen und Mähren erfchtenen wieder, wie ſchon in ber vorhergehenden Seffton, 
nit und bie czechifche Prefie nahm gegen den Reichsrath und die Februarder⸗ 
fafjung eine immer feinpfeligere Stellung ein. Der Reichsrath ließ fi baburd 
nicht beirren, aber feine Seffion begann unter nit gänftigen Auſpicien. Schon 
bie Thronrede machte vielfad einen fehr unbefriedigenden Einprud und die Adreß⸗ 
bebatten im Abgeorpnetenhaufe legten bie aligemeine Unzufriebenheit jehr deutlich 
an den Tag. Nachgerade war es der äffentlihen Meinung in ven weiteſten Kreifen 
Mar geworben, daß in Defterreih feit 1861 in Wahrheit doch nur eine fehr 
geringe Veränderung vorgegangen ſei: die auswärtige Politit war unter ber Lei⸗ 
tung des Grafen Rechberg noch genau biefelbe konferpativ-reaktionäre wie vorher, 
bie nicht nur den Anfhauungen und Wünfchen ver weit überwiegenden Mehrheit 


‚der politiſch Denkenden nicht entſprach, fondern auch offenbar nidt ohne Das 


Neid immer mehr zu ſchädigen aufrecht erhalten werben Tonnte; im Iunern war 
es gleichfalls außerhalb der parlamentarifhen Berfammlungen wenig anders ge- 
worden, bie Organe der Verwaltung folgten in den Provinzen nod immer unb 
mit wenigen Ausnahmen venfelben veralteten Anfchauungen wie zur Zeit bes 
Regiments Bad, nur mit Mühe war die Prefle wenigftens der Willlär der 
Beamteten entriffen und wenigftens unter das Geſetz, wenn auch ein ſehr dra⸗ 
koniſches geftellt worden, von einem freien Vereinsrecht war noch immer gar feine 
Nebe; das wenige, was der Neichsrath außer den VBüdgetberathungen zu Stande 
gebracht Hatte, war in der That nicht geeignet, den Ungarn zu imponiren und 
fie geneigt zu maden, auf fehr wefentlihe Theile ihrer Autonomie zu Gunften 
eben dieſes Reichſsraths zu verzichten; nachgerade mußte fi das befchämende Ge⸗ 
fühl Bahn brechen, daß der Neichsrath bisher im Grunde doch nur als ein un- 
entbehrlihes Werkzeug angefehen und behandelt worden war, um die Yinanzen 
nicht ſowohl zu ordnen, fondern aufrecht zu halten und die bisherige Wirthſchaft 
im Intereffe veffen, was man die Großmachtſtellung Defterreihs nannte, aud 
weiterhin fortfegen zu können. Dazu kam, daß die Regierung das Konkordat mit 
Rom geradezu als ein noli me tangere betrachtete ober zu betrachten ſich ge 
zwungen glaubte, fo daß Schmerling nicht einmal im Stande wer, ben \wieber- 
holten Beſchwerden des Reichsraths bezüglih der unzweifelhaft geſetzwidrigen 
Stellung einiger Iefuitengymnafien Abhülfe zu ſchaffen. Und doch lag es auf der 
Hand, daß von einer wirklihen und burdgreifenden Erneuerung bes alt und ſchwach 
und gebrechlich geworbenen öſterreichiſchen Staatswefens keine Nebe fein konnte, 
fo lange der Staat in dieſer unfelbftänpigen und unwärbigen Stellung gegenüber 
der Kirche verharrte. Schmerling fuchte zwar bie Öffentlihe Meinung und ben 
Reichsrath damit Hinzubalten, daß er Unterhandlungen mit Nom über eine Modi⸗ 
Nation des Konkordats anfnüpfte oder wentgftens angenüpft zu haben vorgab; 


.. 
— 





Oeſterreichiſch⸗ ungariſche Monarchie. 878 


allein niemand ließ fi darüber tänſchen, daß mit Unterhandlungen in dieſem 
Sinne und auf biefee Grundlage, d. h. ohne mit dem Princip felbft, auf dem 
das Konkordat beruhte, zu brechen, nie und nimmer aud nicht einmal ver Schein 
eines Erfolges zn erreichen fein werde. AL das machte die Ueberzeugung nach 
gerade zu einer durchſchlagenden, daß der Konflitutionalismus Schmerlings lediglich 
ein Scheinkonftitutionalismns fe, deſſen praltiſche Refultate zu dem Aufwande in 
gar keinem Verhaltniß ſtünden. 

Ws der Reichsrath Mitte Nov. 1864 zufammentrat, machte fi) biefe Ueber⸗ 
zeugung entſchieden und vernehmlih genug geltend. Die Antwortsabrefle des 
Herrenhaufes war zwar bloß eine Umfchreibung der Thronreve. Dagegen trat im 
Abgeorpnetenhaufe eine ganz andere Stimmung zu Tage. In ber Adreßdebatte 
verlangten die hervorragenpften und anerfannteften Führer ver bisherigen Majorität 
übereinftimmend und energifch geradezu eine Umfehr auf der bisher betretenen 
Bahn und die Adreſſe, vie fchlieglih mit ganz überwiegenner Mehrheit ange» 
“ nommen wurde, gab diefer Stimmung Ausprud. Sie verlangte nachdrücklich bie 
Wiedereinberufung ber Landtage von Ungarn und Kroatien, um ſich mit benfelben 
auf billigen Grundlagen vereinbaren zu können, während Schmerling fi dem 
verhängnißvollen Irrthume bingab, Ungarn würde von jelber mürbe werben und 
fhlieglich einfach zum Kreuze Trieben, fo daß er das befannte Wort ausſprach: 
„Wir lönnen warten”. Der Reichsrath blieb aber dabei nicht fliehen. Anfangs 
1865 nahm er das Büdget für biefes Jahr in Behandlung und fein Ausſchuß 
beſchloß alsbald einſtimmig, es an die Regierung zurüdzufenden, mit ber Auf⸗ 
forderung, ſelbſt darin die zu Beſeitigung des Deficits erforberlihen Abftriche 
vorzunehmen, widrigenfalls es der Ausſchuß thun müßte. Daraus entwidelte ſich 
dann allmälig ein immer ſchärfer fich geftaltender Konflift der Regierung zunächſt 
mit dem Fimanzausſchuſſe und meiterhin mit dem Übgeorbnetenhaufe. felber. 
Schmerling entſchloß fih endlich, einen Abſtrich von 20 Mill. auf das ganze 
Büdget für 1865 anzubieten. Der Ausfhuß ging hierauf nicht mehr ein, fuhr 
in den einmal begonnenen ſelbſtändigen Abſtrichen fort und reducirte u. A. ben 
Militäretat allein um 171/, Mill., während bie Regierung höchftens 11 DRIN. hatte 
zugeftehen wollen. Am 17. März fhloß der Ausſchuß feine Berathungen: trog 
feiner ausgiebigen Abſtriche blieb doch noch ein Deficit von 7 Mil: Inzwiſchen 
war noch ein weiterer Differenzpunkt zwifchen der Regierung und dem Abgeorb- 
netenhaufe aufgetaucht: bei Gelegenheit einer Interpellation Giskra's bezüglich bes 
Belagerungszuſtandes in Galizien, hatte ſich Schmerling hinter ven Art. XI 
der Berfaffung, ven fogenannten Oftropirungsartitel verfhanzt und von einer 
„Lüde” in der Berfafiung gefprohen, wie in Preußen, wo dieſe Lüdentheorie 
befanntlih ſeit 3 Jahren zu einem fchweren Berfaffungstonflitt geführt Hatte. 
Sofort beantragten Berger und 75 Genofien einen Gejegesentwurf, wonach 
jede auf Grund jenes Artikels getroffene NRegierungsmaßregel außer Wirkfamteit 
treten follte, wenn biefelbe nicht die Genehmigung bes Reichsraths erhalte und 
da8 Haus wies den Antrag an einen Ausſchuß, der aus 5 Oppofitionellen und 
nur 4 Minifteriellen zufammengefegt wurde. Wenige Tage nachher beſchloß es, 
bem Anliegen ver Regierung, ohne Verzug aud das Büdget für 1866 in Angriff 
zu nehmen, zwar zu entfpredden, vasfelbe aber einem neuen befonveren Ausſchuſſe 
zu übermweifen und befegte benfelben darauf wiederum mit 24 Oppofitionellen 
und nur 12 Miniſteriellen. 

In diefer Stimmung begann am 27. März bie Berathung des Büdgets für 
1865 im Abgeorbnetenhaufe. Schmerling erklärte von vornherein, baß die Regierun 


874 Radirag. 


auf ihren Anerbletungen bezüglich des Bübgels und auf ihrer Auſicht 
Urt. XIII der Berfaffung beharre und drohte, wenn das Haus fich nicht 
offen mit feinem Rädtritt und zwar mit dem Beifügen, daß er bie 
für regierungsfäßig halte — weldye Aufiht bie Folgezeit belanntlih nicht beflätigt 
bat — fo daß zur bie Wahl zwifdden Nachgeben und einem nenerbings realtie- 
wären Rabinete zu bleiben ſchien. Das Abgeordnetenhaus gab aber trogbem wid 
die 

Uns 

zwei 

eine 


IH 


nah. Die Büdgetberathung dauerte vom 27. März bis zum 8. April und 
während berf bie 


Regierung 

ſchuſſes, wenn auch freilih vie Oppofition cft nur eine Mehrheit vom 
Stimmen für fih hatte. Rah den Beichlüflen des Hanfes zeigte 

Ausgabe von 522 Mill., eine Einnahme von bloß 515 Mill. i 
von 7 Mill., deren Bedechung durch ein beſonderes Geſetz ſich das Haus vorbehielt. 
Allein bei feinem Wiederzuſammentritt nach Pfingſten wurde es vom Miniſterium 
mit einer Kreditforderung von nicht weniger als 117 Mill. überraſcht, melde 
ſelbſt die ſchlimmſten Erwartungen weit übertraf und im Haufe allgemein einen 
wahren Schreden über vie verzweifelte Finanzlage und einen tiefen Ingrimm über 
Die Urt, wie offenbar noch immer mit den Geldern des Staats gewirtbädhaftet 
werbe, erzengte. Der Finanzansſchuß befchloß fofort, mit 20 gegen bloß 5 Stimmen, 
dem Haufe auch nicht bie allergeringfte Krevitbewilligung zuzumuthen, bevor nidgt 
das Büdget für 1865 verfafiungsmäßig feftgeftellt fein werbe, d. h. bevor fi 
nicht das Herrenhaus und die Krone zu den vom Abgeorimetenhaufe befchloffenen 
Abſtrichen auch ihrerſeits würden herbeigelafien haben und weiterhin einftimmig: 
jeve Bewilligung dürfe nur erfolgen unter binreichender Garantie, daß bie „Un- 
regelmäßigfeiten” der Jahre 1863—65 (Pd. 5. die willlärliden B 

tungen und verftedten Anlehen ohne Zuſtimmung bes Reichsraths von Seite der 
Regierung) für die Zukunft unmöglich und ber Grundſatz ver Berfafjung, 
die Staatsſchuld unter ber Kontrolle des Reichsraths ſtehe und die S 

mt anders denn nad voransgegangener Zuſtimmung bes Reichsraths kontrahirt 
werben könnten, zur Wahrheit gemacht werde. Doch mußte der Reichörath ſchon 
wenige Tage naher (21. Iumi) wenigftens ein Anlehen von 13 Mill. bewilligen, 
als der Yinanzminifter eingeftand, daß bie im Juli fälligen Zinfen ver GStaatk- 
ſchuld ſonſt nicht bezahlt werden könnten. Zu derfelben Zeit genehmigte das Haus 
den fchon erwähnten Sefegesentwurf behufs Beſchränkung des fegenannten Ol⸗ 
tropirungsartileld der Berfaflung und fuchte fi mit 117 gegen 44 Stimmen 
durch eine Refolution gegm die Möglichkeit zu wahren, baß biefer Artikel zu 
Aufhebumg oder Modifilation der Verfaffung ſelbſt benüpt werde. Alles das er⸗ 
ſchien gewiffermaßen als Einleitung zur Behandlung bes Büdgets für 1866. 
Allein noch che dieſes in Angriff genommen werben konnte, bevor nur das Bädget 
für 1865 aud vom Herrenhaufe genehmigt war, trat ein Ereignif ein, das bie 
ganze Sachlage veränderte. 

Am 26. Iunt 1865 erfolgte nämlih, allervinge nit ganz unerwartet, 
bie nicht nachgeſuchte Entlaffung der Hoflanzler für Ungarn und Siebenbärgen, 
ber Grafen Zichh und Nadacdi, die beide ausgeiprohene Anhänger ver 
Februarverfafſung waren und die Ernennung des Grafen Maylath zum um 
gariſchen Hoflanzler, fowie des Grafen Mori; Efterhayy zum (ungariſchen) 
Minifter ohne Portefenille. Die Ernennungen erfolgten, ohne daß das Minifterium 
Schmerling deshalb zu Rathe gezogen worben wäre. Maylath und Eſterhazy ge- 
börten der alttonfervativen Partei Ungarns an, bie zwar In Ungarn ſelbſt feit 
1848 allen Einfluß verloren hatte, aber dafür am Hofe um fo mehr galt mud 


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Oeſterreichiſch⸗· ungariſche Monarchie. 878 


bie Hr. v. Schmerling erſt unlängſt im offenen Reichsrath für feine gefährlichſten 
Feinde erflärt hatte. Die Folge davon war, daß das Miniflerium Schmerling, 
fo weit es aus mehr oder weniger konſtitutionell geftiunten Männern beftand, 
ſchon am folgenden Tage feine Entlafjung eingab und mit ihnen aud ber Erz» 
berzog Rainer als Minifterpräftnent, ja felbft der Präfivent bes Staatsraths, 
Freiherr v. lihtenfels. Die Demiffion wurde vom Kaiſer ohne Zögem an⸗ 
genommen. Ohne Zweifel war fie nit bloß voransgefehen, fonbern geradezu 
beabſichtigt worben, obgleich über pas, was nun zu gefchehen habe, noch kein all⸗ 
feitiger und fefter Entſchluß obwaltete. Zunächſt trat daher eine lange Minifter- 
kriſis ein. So viel aber war außer Zweifel, daß vie ganze bisherige Berfafiungs- 
entwidelung wieder in Frage geftellt war. 

Auswärtige Bolttil von 1860 — 65. Bevor wir indeß weiter gehen, 
ſcheint es unerläglih, wenigſtens einen flüchtigen Blid auf die answärtigen Ber- 
haͤltniſſe Oeſterreichs feit 1859 zu werfen, da fie vielfah, und zwar ſichtlich im 
fleigendem Maße, auf die innere Entwidelung des Reiche zurüdwirkten. Die 
Großmachtsſtellung oder richtiger gefagt, die Stellung und der Einfluß des Reichs 
und feines Herrſchers im Kreiſe der europäiſchen Staaten hat in Oeſterreich feit 
feiner Ausſcheidung aus dem ehemaligen deutſchen Reiche eine größere Rolle ge- 
ipielt, ale, Frankreich allein ausgenommen, in irgend einem anberen Staate 
Europas. Wie feine andere, zeigt bie Geſchichte diefer Staaten den gemeinfamen 
Charalterzug, daß beide mehr oder weniger konſtant bie innere Entwidelung bes 
Staats oder der Nation der Stellung nad außen unterorbneten und vielſach 
geradezu zum Opfer brachten, während beide wieder darin ganz entſchieden aus⸗ 
einander gingen, daß Brankreih fortwährend au ber Spige ber europälfcgen 
Entwidelung fichen wollte, währen Oeſterreich feine Aufgabe vielmehr darin 
erfaunte, fich diefer Entwidelung zu wiberfegen und fi) zum Hort ber fogenannten 
fonfervativen Principien aufzumerfen. Seine große Stellung in Deutſchland 
und feine große Stellung in Italien, von denen jene nur ein Reft, aber immer- 
bin ein bedeutungsvoller Neft des ehemaligen HI. römifchen Reichs deutſcher Nation 
und der Rolle, die Defterreih und feine Herrſcher während Jahrhunderten an ber 
Spige verfelben gefpielt hatten, war, biefe aber fih wenigfiens an eben basjelbe 
angelnäpft hatte, gaben ihm ſeit dem Sturze bes erſten Napoleons vie Mittel in 
bie Hand, die bezeichnete Politit mit Nachdruck zu verfolgen und aufrecht zu er- 
halten. Allein der Natur der Sache nach mußte Defterreich auf biefer Bahn 
ſchwere Scidfalsfchläge erleiden und ſchließlich erliegen, und zwar in bemielben 
Maße, ‚in welchem die moberne Entwickelung fortſchritt und fich mehr und mehr von 
denjenigen Auswüchſen und Mißgriffen reinigte, die ihr Anfangs angehaftet hatten. 
Lange wogte der Kampf hin und ber. Die Geſchichte Oeſiterreichs feit 1859 zeigt 
uns fein gewaltiges, aber vergebliches Ringen, feine große Stellung In Italien 
und in Deutichland zu behaupten. Iu den Jahren 1859 und 1860 verlor es 
jene, im Jahr 1866 auch dieſe und nun bat es, auf fich ſelbſt zurückgeworfen, 
auf jene konſervativen Principien verzichtet, iſt felber in den Kreis moderner 
Staaten eingetreten und bemüht, das VBerfäumte nachzubolen. Che aber das ber 
Val war und fo lange es feine innere Entwidelung feiner auswärtigen Politik 
unterorbnete und zum Opfer brachte, mußte die an ſich unnatärlihe Erſcheinung 
zu Tage treten, daß jede Nieverlage Defterreichs und feiner auswärtigen konſerva⸗ 
tiven Polittt feiner inneren Gntwidelung zu Gute kam und fi in einen Sieg 
ber liberalen inneren Oppoſition umfette, bis nad dem vollſtändigen Berlufte 
Italiens und Deutſchlands das Rei, anf ſich felbft, auf feine eigenen Krüfte 


mn lm Mb He u Me FE ——— nut, 


876 Nachtrag. 


und deren Entwickelung beſchränkt und angewiefen war und bie bisherige Oppo⸗ 
ſttion, deren Prineip man damit bezeichnen könnte, daß Oeſterreich deu Oeſter⸗ 
reichern gehören und nicht lediglich ale Subſtrat einer europaͤiſchen Machtſtellung 
und ber Aufrechthaltung eines der großen Majorität der Bevölkerung widerſtreben⸗ 
den politiſchen Syſtems dienen folle, allem Anſchein nach befinitio die Oberhand 
gewonnen bat. Durch den franzöfiſch⸗italieniſchen Krieg von 1859 verlor Defter 
reich die Lombardei, allein in den Präliminarien von Billafranca glaubte es fid 
eine große Stellung in Italien erhalten zu haben. Der Friede von Zürkd 
konnte jedoch nicht durchgeführt werben unb bie Greignifle von 1860, die zur 
Konftitutrung des Königreichs Italien führten, entriffen Defterreih auch jene 
Stellung und befhränkten es dort auf Venezien und das Feſtungsviereck. Aber 
auch dieſer letzte Reſt feiner italientichen Befigungen ſchien gefährbet, da das neue 
Königreih fofort auch darauf Anſpruch machte. Defterreihs Beſitzſtand erſchien in 
den erften Jahren bes Jahrzehnts nach diefer Seite bin fortwährend gefährdet 
en zwang es zu milltärifchen Anftrengungen,, vie ſchwer auf feinen Finanzen 
lafteten. | 

Inzwifhen ſah Defterreih aber au feine große Stellung in Deutid- 
land mehr und mehr ernfthaft gefährvet und wurde in fleigendem Maße gemöthigt, 
feine Sorge überwiegend nach dieſer Seite hin zu lenken. Die nächfte Veraulafſung 
dazu entwidelte fih gleichfalls aus dem verhängnißvollen Kriege von 1859. 
Preußen Hatte fi geweigert, Defterreih in ber Anfrechthaltung feiner, über feinen 
eigentlichen Befitzſtand in Italien weit hinausreichenden italienifchen Politik gegen 
Frankreich zu unterflügen, und als es endlich für jemen einzutreten bereit war, 
ſchloß Defterreih ganz unerwartet einen Waffenſtillſtand mit Frankreich und ver- 
zichtete lieber auf die Lombardei, als daß es feinem Nivalen auch nur momentan 
eine Stellung an der Spige Deutfchlands eingeräumt hätte. Die Folge bavon 
war eime tiefe gegenfeitige Verſtimmung zwifchen beiden und als Preußen, wenn 
aud) Anfangs noch fehr vorfihtig und fehr ſchüchtern, feine deutſche Politik von 
1849, der DVefterreih in Olmutz ein fo jähes Ende gemacht hatte, wieder aufzu- 
nehmen ſchien, trat ihm Defterreih auf Schritt und Tritt entgegen, auch fo welt 
bie Beftrebungen Preußens nicht bloß im äußerften Grabe beſcheidene und ge 
gemäßigte waren, fondern auch unzwelfelhaft im gemeinfamen Intereffe Deutſch⸗ 
lands und des deutſchen Bundes lagen, wie in ber trage einer Reform ber 
durchaus veralteten Bundesfriegeverfaffung, in ber Oberfeldherrufrage, in der 
Frage des dentſchen Küſtenſchutzes, in der kurheſſiſchen Angelegenheit und im ver 
Trage der Genehmigung des von Preufen im Namen des Zollvereins mit Frank⸗ 
reich abgeſchloſſenen Handelsvertrags von Seite der übrigen Zollvereinsfianten. Mit 
Hülfe der Mittelftaaten, zumal der Königreiche, war Defterreih in den erflen 
Jahren des Jahrzehnts in Deutfchland gegenüber Preußen ohne Widerrede fm 
Bortheil, die Mittelſtaaten ſchloſſen fi immer fefter und enger an basjelbe an, 
fo daß Defterreih im Jahr 1863 den Berfuh machen zu können glaubte, auf 
dem Furſtenkongreſſe in Frankfurt eine Reform der deutfhen Bundesverfaflung in 
feinem Sinne in die Hand zu nehmen und Preußen allmälig in bie Reihe ber 
anderen dentſchen Königreiche herabzudrücken. Der Verſuch fcheiterte jetod an dem 
energifchen Widerſtande Preußens nicht nur, fondern aud an der fehr geringen 
Neigung der Mittelftanten, an ihrer tbatfächlich vollen Souveränetät irgend etwas 
und zu Gunften von wen immer zu opfern. Und noch in vemfelben Jahre trat 
mit dem Tode des Königs Friedrich von Dänemark und dem Momente, da bie 


fen fo lange ſchwebende ſchleswig⸗ holſteiniſche Frage fo oder fo endlich gelöst 














X 


Oeſterreichiſch⸗ ungariſche Monarchie. 877 


werden mußte, eine Wendung ein, vie Preußen Gelegenheit bot, das Heft in Deutſch⸗ 
land in ganz anderer Weife als bisher in die Hand zu nehmen und die Defter- 
reich in den ſchroffſten Gegenſatz gegen feine bisherigen engeren Verbündeten, bie 
Mittelſtaaten, bradte. Es war ein verhängnißvoller Schritt, als Defterreih fi in 
ben erfien Tagen des Jahres 1864 zu einer fürmlihen Allianz mit Preußen 
berbeitteß, um die fchleswig » holſtein'ſche Frage negen die Majorität am Bunde 
und gegen die Wünfche der großen Mehrheit ver Nation zu löfen und ſich von 
Breußen zum Kriege gegen Dänemark und Schritt für Schritt in eine Politik 
bineinleiten ließ, beren Reſultate es durchaus nicht vorausgeſehen und durchaus 
nicht beabfidtigt hatte und die feinen fpeciellen Interefien gar nicht entfprachen. 
Durch den Frieden von Wien (30. Oft. 1864) waren die Eibherzogthümer von 
Dänemart an Defterreih und Preußen gemeinfam abgetreten worden, um barüber 
nah Gutdünken zu verfügen. Darüber entzweiten fich jevod die beiden Alllirten; 
Preußen gebachte viefelben für fi) zu erwerben, während Defterreich feinerfeits 
wieder einen Weg fuchte, ber zum Bunde und zu den Auguftenburgifchen An⸗ 
ſprüchen zurüd führen follte, dem es ſich aber felbft bisher auf jede Weiſe ver- 
legt hatte. Preußen Hatte bereits thatſächlich das Uebergewiht im Norden von 
Deutihland errungen und feine Stellung auf gegenüber den Mittelftanten war 
wenigftens infofern eine andere geworben, daß dieſe den bisher fo energiſch ver- 
worfenen Hanbelsvertrag mit Frankreich gegen die Wünſche und gegen die Inte 
reſſen Defterreih nunmehr einfach genehmigten und damit wenigftens ber Zoll⸗ 
verein für Preußen wieder außer Trage geftellt war. 

Das war die Lage der deutfhen Dinge im Frühjahr 1865 1): Preußen 
Tonnte allervings auf der betretenen Bahn nicht weiter gehen, ohne Defterreich 
geradezu zum Kriege zu propociren, aber ebenſo konnte Oeſterreich nicht daran 
benfen, Preußen das bereits Gewonnene wieder aus ben Händen zu winben, ohne 
feinerfeits zu dieſem äAußerfien Deittel zu fchreiten. So waren es Mißerfolge nad 
Außen nit minder als ſolche im Innern, welche den Sturz Schmerlings her⸗ 
beiführten, obgleih das Schwergewicht allerdings nicht auf jene, ſondern auf 
diefe fiel 

Sturz des Minifleriums Schmerling. Wie oben angebeutet, war 
zu Ende des Jahres 1860 Schmerling hauptſächlich darum an bie. Spige ber 
Regierung geftellt und bald darauf die Februarverfaflung ertheilt worden, um ber 
angarifhen Bewegung, bie, ſobald fie fi frei fühlte, fofort unmittelbar an vie 
Errungenfhaften des Jahres 1848 anfnäpfte, im Interefie des Geſammtſtaats 
und ber Machtſtellung bes Reichs ein Gegengewicht zu ſchaffen. Diefer Plan 
mußte längft als volllommen geſcheitert betrachtet werben, während Schmerling 
eine in Defterxeich geradezu unerhörte Popularität binnen vier Jahren auch in 
den Übrigen heilen des Reiche vollftändig abgenügt hatte. In Ungara war bie 
Berfaffung wieder ſuspendirt, Venezien konnte nur durch bie Militärgewalt regiert 
reſpeltive danievergehalten werben, in Galizien war neuerbings ber Velagerunge- 
zuftand verfündet worden, in Böhmen und Mähren verfagten die Czechen der 
Regierung jede Unterflügung und hielten fich ſchon feit längerer Zeit vom Reichs⸗ 
rathe fern, jo daß in der That fat nur die deutſche Bevölkerung übrig geblieben 
und ber Reichsrath zu einem völligen Rumpfparlament zufammen gefchrumpft er» 
ſchien. Schmerling aber mußte nothwendig aud/ feinen legten Haltpunkt in der 


1) Vgl. das Nähere oben in dem Nachtrag zum Art. „Deutſchland“. 


N, 


878 Radtrag. 


verieren, als ſelbſt diefes Element, anf das er fi noch lägen zu Fünnen 
meinte, ihn in der Seifen von 1864 auf 1865 im Stiche lieh, indem es 
wenigſtens das einzige Recht, das ihm eingeräumt worben wer, bie 
des Büpdgets zu einer Wahrheit, ver noch immer berrfchenden Berfdjleuberung 
der Finanzen ein Ende machen und bem übermäßigen Militärbüdget endlich 
ernfihaft zu Leibe gehen wollte. Die Regierung Schmerlings ſah fi in ver Büdget 
berathung zu Uufang des Jahres 1865 im Wbgeorbnetenhaufe einer ziemlich kom 
pakten Majorttät gegenüber, ver fie fortwährenn unterlag und die fie ſelbſt wit 
Hätfe des Herrenhaufes kaum zu bewältigen und wieder in das bisherige bequeme 
Geleiſe zurüd zu leiten hoffen Tonnte. 

Das war der Moment, auf den die fendalen und klerilalen Elemente Längf 
gewartet hatten, um bie Zügel, die ihnen ans den Händen gefallen waren, wieder 
zn ergreifen. Während Schmerling den Ungarn im Neichsrathe fein berihmtes 
Wort „Bir können warten“ entgegengeſchlendert hatte, nahte fih ihm die Ge 
fahr gerade von biefer Seite ber. Seit vier Jahren faß ber ungariſche Graf 


Moritz Eſterhazy neben ihm im Kabinet. Als ungarifher Minifter ohne Porte 


feutlle fptelte er ſcheinbar nur eine fehr untergeorbnete Rolle, zumal er von Natur 
überand indolent war und ſich in deu Gang ver Dinge nur wenig zu miſcher 
ſchien. Uber als vollendeter Hofmann und Intrigant genoß er in den höchſten 
Kreifen einen nicht geringen Einfluß, und durch und durch klerikal und fendal gefiunt, 
wartete er felnerfeits nur auf den gänftigen Moment, um in Aktion zu treten 
und mit Hülfe der ungariſchen e der ganzen Sachlage gegenüber der bie⸗ 
berigen immerhin mehr oder weniger liberalen Strömung eine vollfländig andere 
Wendung zu geben: ven Forderungen der Ungarn follte in einer Beziehung voll- 
ſtändig entſprochen werden nnd damit jenfeits ber Leitha über Deak und feine 
Partei hinweg den fogenannten Alt- Konfervativen, diesſeits der Leitha über 
Schmerling und die beutfdy «liberalen Elemente hinweg den alten Fenbalen med 
Kleritalen neuerdings das Heft in die Bände gefpielt werben. Die Einleitung 
dazu bildete ein Befuch des Kaifers in Peſth zu Unfangs Juni 1865, wo ihn 
von den in ben Blau eingeweihten Kreifen ein überaus glänzenver, faft enter 
flaſtiſcher Empfang bereitet war. Wenige Wochen fpäter erfolgte plöglic bie ſchon 
erwähnte Entlafjung der beiden entſchieden für die Febrnarverfafſung gemonnenen 
Hoflangler für Ungarn und Siebenbürgen, und die Erfegung bes einen burh 
den Grafen Mahlath, der wie Eſterhazy ber altstonfernativen Partei angehörte, 
ded andern durch einen ungerifchen General ohne politiſche Bedeutung. Die Mi⸗ 
nifter erfuhren diefe Mafregel wie das übrige Publikum einfach durch vie äffen- 
lichen Blaͤtter. Die Tragweite derfelben konnte ihnen indeß keinen Augenblid zweifel 
haft fein: offenbar handelte es fih vom Hof ans um eine Berfländigung mit 
Ungarn auf einer andern Baſis als derjenigen der Februarverfaffung, auf Grund 
ganz aubderer politiſcher Anſchauungen wie vie, als deren Repräfentanten fid 
Schmerliug und fein Kabinet bisher angejehen hatten. Das ganze Kabinet geh 
baber noch am felben Tage (26. Junt) feine Entlaffung ein. 

Der Sturz Schmerlinge war viel leichter gelungen, als feine Gegner fid 
vielleicht vorgeftellt hatten. Schwieriger war es, eine nene Regierung zu bilden 
und bes Reichsraths, der noch. immer verfammelt war, auf gute Art los zu wer 
ven. Für jene war die Auswahl unter den Gliedern bes klerilal⸗ feudalen Melt 
nicht ſehr groß, zumal die Urheber des Umſchwungs nicht allzu ſchnell und nicht alle 
ſchroff mit ihren Abfichten bervortreten wollten, da ver Reichsrath in jenem Anger 
biide weber das Büdget fiir 1865 nod auch die Kreditforderung der Regierung 


Oeſterreichiſch⸗· vngariſche Monarchie. 879 


im Betrage von mehr ale 100 Mill. fl. bewilligt Hatte, mit dieſen beiden An⸗ 
gelegenheiten aber unzweifelhaft die Mittel in den Händen hatte, ven Umſchwung 
abſolut unmögli zu machen, jobald er wollte. Indeß diefe Schwierigkeit zeigte 
fi viel geringer, als man hätte denken follen. Der Reichsrath hatte umter dem 
Scmerling’ichen Regimente nachgerade allen Glauben an ſich felbft und vie Ver⸗ 
faffung, auf der er fand, verloren. Das nächſte Hemmuiß, die Differenz bezüglich 
des Militäretats, hob die oberfte Militärverwaltung felbft aus dem Wege, indem 
fie jest plöglih für möglih erkannte, was fie foeben noch für ganz und gar 
„unmöglich“ erflärt hatte; ein kaiſerliches Handſchreiben vom 3. Juli befahl bie 
unverzügliche VBerfegung der italieniſchen Armee auf ben vollen Friedensfland und 
gab damit dem Herrenhaufe die Möglileit an die Hand, anf feine bisherige 
Dppofition gegen bie Abſtriche im Militärwefen zu verzichten und. fi ven dieß⸗ 
fälligen Beihlüflen des Abgeorpnetenhaufes zu fügen. Am 22. Iuli hatten beide 
Hänjer fih über das Finanzgeſetz für 1865 vereinbart und fon zwei Tage 
fpäter kündigte bie Regierung denfelben den Sching ver Seſſion auf ven 27. Iuli 
an, obgleich über vie Bevedung des Deficits noch Fein Veſchluß gefaßt war und 
ebenfo wenig über die geforderte Krebitbewilligung. Das Minifterium hatte bie 
fhon einen vollen Monat vorher nahgefuchte Entlaffung bis dahin nod nicht 
erhalten und führte die Gefchäfte proviforifch fort, währenn Aber bie Bildung 
eines unzweifelhaft feudalen Kabinets unterhandelt wurde und das Abgeordnetenhaus 
machte fi felh keine IUufion darüber, was beabfichtigt werde; aber von einem 
energifchen Auffhwung war dennoch keine Rebe. Als ihm der Schluß der Seffton 
am 24. auf den 27. angefündigt wurde, beſchloß es, bis dahin feine Sigung 
mehr zu halten und ſchnitt ſich damit ſelbſt die Möglichkeit irgend welchen Schrittes 
gegen die drohende Gefahr, ja felbft nur die Möglichkeit einer Proteftation ab. 
Einer der Führer der Mehrheit, der gewefene Miniſter Pratobevern, meinte 
voller Refignation: „ob und auf welche Weife wir uns in biefen Räumen wieber 
ſehen werden, weiß ich nicht, aber ich will es hoffen”; und eine auf jenen Abend 
augeſetzte Berſammlung von Abgeorbneten, um bie Lage wenigftens in Erwägung 
zu ziehen, kam aus Mangel an Theilnehmern nicht zu Stande. Die dentſch- 
liberale Majorität ergab fih willenlos in ihr Schidfal, Der Reichsrath wurde - 
am 27. nicht vom Kaiſer, fondern von feinem Bruder, dem Erzherzog Ludwig 
Biltor mit einer Thronrede gefchloffen. Unter ſcheinbarer Anerfennung der patrio- 
tiſchen Wirkjamleit des Reichsraths wurde ihn angekündigt, daß verfelben ein 
vorzeitiges Ziel babe geftedt werden müflen, weil „gewichtige Gründe, welche das 
Geſanmtintereſſe der Monarchie berührten, zu befdjleunigter Einberufung ber 
legalen Vertreter der Völker in den öſtlichen Theilen des Reis riethen”. In der 
That mit Ungern und von Ungarn aus follte eine neue Organifation des Reis 
in die Hand genommen werben. 

Das Minifterium Belcredi⸗Eſterhazy. Am 27. Juli erhielt end⸗ 
ih aud das Minifterium Schmerling feine förmliche Entlafjung und wurden die 
neuen Ernennungen belannt gemadt. Graf Egbert Belcrepdi, der Bruder eines 
mãhriſchen Magnaten nnd bisher Statthalter von Böhmen, übernahm die Kon- 
feilspräfinentfchaft des Staats ˖ und bes Polizeiminifteriums; Graf Tarif, ein 
reicher fchlefiicher Grundbeſitzer, die Finanzen; Hr. vo. Komers, Chef des Lem- 
berger Oberlandsgerichts, die Juſtiz; Graf Mensporff und Ritter v. Grant 
blieben als Oenerale und behielten jener das Auswärtige, dieſer das Kriegsdeparte⸗ 
ment. In Wien nannte man bie neue Regierung das „Drei-Brafen-Minifterium”, 
Ueber feine Farbe und feine Tendenzen Tonnte kein Zweifel fein. Obgleich vie 


880 Nachtrag. 


neuen Mitglieder ſaͤmmtlich ver dentſchen Nationalität angehörten, ſuchten fie die⸗ 
ſelbe nach Kräften zu verläugnen und wollten als Slaven angeſehen werden. 
Die Februarverfafſung wurde in ver officiellen Wienerzeitung als bloße „Filtion“ 
behandelt, das Schwergewicht ſollte vom Reichsrathe in die einzelnen Provinzen 
und ihre ſiebzehn Landtage verlegt und über ihnen, bis ein neues Grundgeſetz, 
über das fi) alle verſtändigt hätten, gefunden wäre, der Tatjerlihe Abfolntismus 
neuerdings auf den Schild gehoben werben; bad Konkordat wurde nicht bloß wie 
unter Schmerling nicht angerührt, jondern von den neuen Machthabern wiederum 
wie eines der Orundgefege des Reichs anerkannt. Mit der Februarverfafiung und 
dem deutſchen Elemente konnte der feudale Adel nicht hoffen, das Heft je wieder 
wie früher in die Hände zu befommen; mit dem flavifhen Element und ben 
Landtagen ber verfchiedenen Kronländer war das eher möglich. Ein beſtimmter 
Plan bezüglih der zufünftigen Ordnung der Gefammtftantsverhältniffe waltete 
indeß überall nicht 0b: das Überließen vie neuen Gewalthaber völlig der Zukunft 
und den Umſtänden; es ſchien ihnen genügend, vorerfi wo möglich Ungarn wenig⸗ 
ftens bis auf einen gewiſſen Grad zu gewinnen und damit der Oppofition von 
biefer Seite her die Spige abzubrechen, auf der andern Seite aber den Reichs⸗ 
rath und die Yebruarverfaflung überhaupt thatfächlich zu befeitigen, wodurch, wie 
es ſchien, das Schwergewicht von felber den Landtagen zufallen mußte, zumal 
wenn Übel und Klerus feft zufammenhaltend in ben dentſch⸗ſlaviſchen Kronländern 
dem leßteren Element das Webergewicht ſicherten, fo daß die rein deutſchen Pro- 
vinzen fammt ber Hauptſtadt Wien in bie entſchiedene Minorität zurädgebrängt 
wurden. 

Die Altion des neuen Miniſteriums begann am 1. Sept. 1865 tamit, daß 
ber ungarifche Kanzler Siebenbürgen, welches fi zwei Jahre vorher auf einer für 
die verſchiedenen Nationalitäten des Landes billigen Grundlage neu louſtituirt, 
den Reichsrath beſchickt und dadurch erſt zum weiteren gemacht hatte, durch kaiſer⸗ 
liches Reſtript einfach wieder aus dem Verbande des Reichsraths herausriß, indem 
die neue Landtagsordnung umgeſtoßen und die frühere hergeſtellt wurde, die den 
Magyaren das Uebergewicht ſicherte. Durch dieſe Maßregel ſollten auf der einen 
Seite die Magyaren befriedigt, auf der andern der Februarverfafſung eine töbt- 
liche Wunde beigebracht werden. Dann wurben am 18. Sept. die ſämmtlichen 
Tandtage ber nicht⸗ungariſchen Kronländer einberufen und am 20, vesfelben Monats 
fiel endlich der große Schlag, der in der Form eines kaiſerlichen Manifeſtes und 
Batentes die Gebruarverfaffung „fifirte”, d. h. in Wahrheit und 
nad der Abficht des nunmehrigen Regiments aufhob, um eine anbere Gefammt« 
ſtaatsverfaſſung auf wefentlih anderen Grundlagen zu ſuchen oder einzuleiten. 
Die nämlid) das Manifeft des Kaiſers Mar genug anbentete, follte, in gerabem 
Begenfage zu dem Berfuche von 1861, dießmal zunächſt eine Verſtändigung mit 
dem ungarifchen Landtage eingeleitet und, wenn fie zu einem Mefultate führen 
würbe, diefes „den legalen Vertretern der anderen (cisleithaniſchen) Königreiche 
und Länder vorgelegt werden, um ihren gleichgewichtigen Ansiprud zu vernehmen 
und zu würdigen". In biefen wenigen, aber inhaltſchweren Worten lag bie legte 
Idee des eingetretenen Umſchwungs eingeſchloſſen. Wie im Jahr 1861 die Februar 
verfaflung wefentlih vom Standpunkte ver Bedürfniſſe und Unfchanungen ber 
cigleithanifhen Länder aus erlaſſen und die transleithantfchen Länder eingeladen 
worden waren, fi) berjelben anzubeguemen und zu fügen, fo follte num umgekehrt 
zunächſt mit den transleithanifhen Ländern eine ihren Bedürfnifſen und An 
ſchauungen entſprechende Reichsverfaſſung wo möglich vereinbart und biefelbe dann 


r 











Oeſterreichiſch· ungariſche Monarchie. | 881 


ihrerfelts den ciöleithanifhen Ländern zur Annahme vorgelegt werben, wobei es 
abfichtlich zweifelhaft gelaffen wurbe, ob der Ausſpruch berfelben durch den gemein⸗ 
famen Reichsrath ober durch bie 17 ober 18 verſchiedenen Landtage zu erfolgen 
hätte. In der Abficht der Gewalthaber des Tags Iag offenbar nicht das erftere, fon- 
dern das letztere, obgleich gar nicht abgefehen werden mochte, wie lange e8 wohl dauern 
werde, bis alle diefe Landtage fi über eine und biefelbe Reichäverfaflung würden 
verflänbigen können. Gerade das entſprach jebod den Plänen ver Regierung: bie 
einzelnen Kronlänber follten fih ale „hiſtoriſch-politiſche Individnali—- 
täten“ unter dem vorwiegenben Einflufie des Adels und des Klerus weiter ent- 
wideln, über allen aber für bie gemeinfamen Interefien und nad außen ber 
Taiferliche Abſolutismus wieder hergeftellt werben. Eben dazu war bie Februar: 
verfaffung auch für bie cisleithanifchen Länver vorläufig fiftirt worden, um wo 
immer möglid nie wieber reaktivirt zu werben. 

Diefem ganzen Plane ſtand indeß in erſter Linie eine große Schwierigfeit 
im Wege, die mehr als bevenklihe Finanzlage des Reiche, die der Reichsrath 
während feines Beſtehens feit 1861 zwar weiter gefriftet, aber aud nicht von 
ferne auf eine nene folive Grundlage zu ftellen vermodt hatte. Nun konnte vie 
neue Regierung kaum zu wirtbfchaften anfangen, jedenfalls aber fich nicht lange 
halten, wofern fie nicht fofort auf dem Kreditwege ſich mindeſtens 100 Mil. 
verfchaffte, die der Reichsrath nicht mehr bewilligt hatte, und beinahe ihr erftes 
Geſchaͤft war es denn aud, den Unterflantsfefretär im Finanzminiſterium auf 
eine Rundreife nad Frankfurt, Paris, London und Amſterdam zu fchiden, um ein 
Unlehen in jenem Betrage zu negociren. Neue Schuldtitel zu Laflen des Staats 
hatten aber verfafiungsmäßig feine Gültigkeit ohne die Gegenzeihnung ber von 
beiden Häufern des Reichsraths beftellten ſtändigen Staatsſchulden - Kontrolllom- 
milfton, und biefe, in der mehrere ber hervorragendſten Bührer des Abgeordneten⸗ 
hauſes faßen, war unzweifelhaft berechtigt, ihre Gegenzeihnung für die Titel einer 
vom Reichsrathe nicht bewilligten Anlehens zu verweigern und damit jedes ber- 
artige Anlehen volllommen unmöglich zu machen, aus dem einfachen Grunde, weil 
fih dafür feine Glänbiger gefunden hatten. Die Staatsſchulden⸗Kontrollkommiſſion 
war darum auch vom Minifterium VBelcrevi nicht zugleih mit ber Februarver⸗ 
foffuug fiftirt, fondern von der Sifirung ausprädlih ausgenommen worben unb 
zugleich Hatte es fih durch das Septemberpatent vom Kaiſer bepollmädtigen 
lofien, „fo lange vie Reichövertretung nicht verfammelt fei, vie unaufſchieblichen 
finanziellen Maßregeln zu treffen, welche das finanzielle Intereffe des Reichs er- 
heifche". Während nun Hr. v. Becke an ben europätfhen Börfen vergeblich nad) 
Geld fuchte, trat jene Kommiffion Anfangs Oktober zufammen und beſchloß zu⸗ 
nähft, daß fie fih als mit ver Verfafſung zugleich auch fiftirt betrachte, lehnte 
fomit indirekt die Gegenzeihnung irgend welcher neuer Schuibtitel ihrerfeits ab 
und handelte infofern durchaus Torrelt. Als jedoch der Kaiſer am 16. Oft. 
durch ein Handſchreiben vermittelnd dazwiſchen trat, das die Kommiſſion ihrer 
bisherigen Verpflichtung enthob und fie auf eine ganz neue Bafis ftellte, nad 
welcher fie nicht mehr vie Berfafiungsmäßigkeit eines Anlehens, fondern bloß nod 
bie formelle Uebereinftimmung ver Gebahrung mit den Beſchlüſſen der Regterung 
zu überwachen hatte, waren die Mitgliever berfelben bis auf ein einziges, 
den Grafen Eugen Kinsky, ſchwach genug zu bleiben und fo das verfaflungs- 
widrige Vorgehen ver Regierung mit ihren Namen zu beden. Erſt am 10. Nov. 
gelang es enblih dem Hr. v. Bede, in Paris ein Anlehen von 90 Mid. 
Silber nah unfägliher Mühe und zu Bedingungen abzufchließen, bie ſelbſt 

Bluntſchli un Brater, Deutſches Staate⸗Wörterbuch. XL. 56 


De 


882 Nachtrag. 


für Oeſterreich unerhört ungfinfig waren. Hätte die Kommiffion des Reichs⸗ 
raths, die Überwiegend aus Deutſchen zufammengefegt war, ihr Recht mutbig und 
feſt behanptet, fo wäre das Anlehen unzweifelhaft nicht und nirgends zu Stanbe 
gelommen und das Minifterium Beleredi von vornherein wieber zu Ball gebracht 
worden. ' 

Obgleich die minifteriellen Abfichten cher auf die Länder der ungartichen 
Krone als auf die cisleithaniſchen berechnet waren, fo wollen wir doch zuerft einen 
Blick auf die Iegteren werfen. Am 23 Nov. traten ihre 17 Laudtage zufammen 
unb bald zeigte es fi, daß bie beutfche Bevölkerung des Reichs doch nicht fo 
ſchwachmüthig war, wie bie Machthaber bes Tage fih vielleicht vorgeftellt hatten. 
Der Drang des Momentes hatte ſchon Ende Oktober eine Anzahl der hervor⸗ 
ragendften Abgeoroneten ber Landtage von Ober» und Niener-Vefterreih, Steler⸗ 
marf, Kärntben, Salzburg und Vorarlberg in Wien zufammengefährt, vie ſich 
alsbald darüber verflänpigten, fi die Befeitigung der Verfaffung nicht ohne 
Widerſtand gefallen zu laflen, vielmehr von den Landtagen aus möglihft überein- 
ſtimmend fih zur Wehr zu fegen. Die Urt, wie die Landtage am 23. Nov, 
eröffnet wurden, konnte fie in ihrem Entſchluſſe nur beſtärken. Das Septemberpatent 
wurde den Landtagen blog „mitgetheilt" und das Talferlihe Handſchreiben vom 
7. Rov., das dieß befahl, fprady bereits nicht mehr von der (Hebruar-)Berfafiung, 
die fo oder fo modificirt werben follte, um aud Ungarn für viefelbe zu gewinnen 
und in biefelbe einzufügen, ſondern bereits von „einer“ Berfaffung, bie für 
das gefammte Reich vereinbart werben follte. In ben Landtagen aller genannten, 
der rein oder doch ganz Überwiegend deutſchen Kronläuber wurben fofort Anträge 
eingebracht, das SGeptemberpatent einer näheren Prüfung zu unterziehen und bis 
Mitte Decembers 1865 erließen fie alle, Riever- und Oberöfterreih, Steiermark, 
Kärnthen, Salzburg, Schlefien und Borarlberg und zwar meift faft einftimmig, 
Adrefſen an die Krone, in denen das Recht der öſterreichiſchen Böller nicht auf 
„eine“ vielleicht niemals auffinpbare, fontern auf bie Berfofiuug von 1861 
entſchieden ausgeſprochen wurde. Tyrol allein machte von ben überwiegend deutſchen 
Zandtagen eine Ausnahme: ber Merikalen Mehrheit feines Landtags Iag nur bie 
Erhaltung der fogenannten Ölaubenseinheit, d. h. der klerikalen Herrſchaft am 
Hazen, was zwar au den Anfchauungen bes Minifterinums Belcredi entfprach, 
was basjelbe aber doch nicht fofort und ganz bewilligen konnte, ohne bie Öffent- 
lihe Meinung allzufehr herauszufordem und feine Tendenzen allzu beutlih an 
den Tag zu legen. Anders freilich ftellten fich die flavifchen und überhaupt bie 
nicht deutfhen Elemente des Reis zur Regierung. Die ſlaviſch⸗italieniſchen Kron⸗ 
länder, Trieft, Görz, Iftrien und Dalmatien bereiteten dem Miniſterium wenig- 
ſtens feine Schwierigleiten und bewiefen fich bezüglich ber Sebruarverfaffung völlig 
gleichgültig. Galizien und die Bulowina erliegen ohne Berzug einftimmig Dank⸗ 
abrefien an eine Megterung, die offenbar auf ihrer und der Seite der fogenannten 
hiſtoriſch⸗politiſchen Individualitaͤten gegen die von ber deutſchen Benälterung des 
Reichs getragene Idee der Eimheit desſelben fand. Das Hauptinterefie loncentrirte 
fid aber auf die Tandtage von Böhmen, Mähren und Krain, wo fi Deutſche 
und Slaven gegenüber ſahen und das Uebergewicht der einen ober der anderen 
ein zweifelhaftes war. Wuch dort verlangten die Deutſchen, daß ſich ber Landtag 
gegen, die Slaven, vaß er fi für ven verſuchten Bruch der Berfaffung ausfpreche. 
In Mähren und Krain kam es zu keiner Entſcheidung, wenigftens infofern, als 
in dieſen Landtagen gar feine Adreſſe, weder eine ſolche für, noch eine ſolche 
gegen das Miniflerium zu Stande kam. In Böhmen dagegen unterlag bie dentſche 








Orfterreichifh-ungarifche Monarchie. 883 


Bartei den vereinigten Unftrengungen des czechiſchen und der feudal- Klerifalen 
Bartei; der Adreßantrag der Deutfchen wurbe mit 111 gegen 105 und ber 
weitere Antrag, gar Feine Woreffe zu erlafien, mit 118 gegen 97 Stimmen ver- 
worfen und eine ganz im Sinne der Czechen und ber fogenannten WBieberherftellung 
des Königreihe Böhmen, das auch Mähren und Schleſien umfaflen follte, be⸗ 
fchloffen. Im Ganzen war das Minifterium Beleredi mit dem Refultat der Land⸗ 
tagsfeffion, die fich 618 in ben April 1866 hinauszog, nicht unzufrieden: über 
die Oppofition der deutſchen Landtage ging es vorerft zur Tagesordnung über 
und, ohne den Eintritt nicht vorausgefehener Ereigniffe, durfte es in ver That 
boffen, mit venfelben ohne große Schwierigkeit fertig zum werden; mit Hülfe 
Bohmens dachte es dagegen bie Februarverfaſſung definitiv zu befeitigen und auf 
bie hiſtoriſch⸗politiſchen Individualitäten zurädgreifen zu können, bie dem Einfluß 
bes Adels und des Klerus ganz andere Ausſichten boten, als der Reichsrath ober 
überhanpt irgend ein centrales Parlament. Gelang es aber jenen vefinitiv zu 
begraben, fo ftand ein foldes überhaupt in geradezu unabjehbarer Berne. Denn 
in den Landtagen hatten die Statthalter, die Vertreter der Regierung, es bereits 
jehr deutlich ausgeſprochen, daß dieſe unter den „legalen Vertretern” ber König» 
reiche und Länder, die zu einem allfälligen Ausgleih mit Ungarn ihr „gleich 
gewichtiges Votum“ abgeben follten, nicht etwa den Reichsrath, fondern, was im 
Septemberpatent abfihtlid unklar gelafien worden war, vie ſiebzehn Lanbtage 
verftanden habe. Wie lange mochte es aber dauern, bis bie fiebzehn Landtage fi 
mit Ungarn, Siebenbürgen und Kroatien über eine Reichsverfafſung verflänpigt 
und vereinbart haben würden? Bis dahin mochten Übel und Klerus in den einzelnen 
Kronländern wieder das Uebergewicht erlangen, dem Kalfer aber in allen gemein- 
famen Angelegenheiten, in allem voraus, was die Armee und bie Leitung der aus⸗ 
wärtigen Ungelegenheiten betraf, wieber wie früher tie alleinige abfolute Ent- 
ſcheidung zufallen. 

Die abſolutiſtiſch⸗willkürliche Wirthſchaft des Miniſteriums Belcredi, das ſich 
auf die ſlaviſchen Elemente und ihre centrifugalen Tendenzen gegen die deutſchen 
Bevolkerungen und ihre liberalen Ideen ftügte und mit ihrer Hülfe neuerbings, 
wenn aud nur allmälig wieder den fendalen und klerikalen Iuterefien zur Herr⸗ 
ſchaft zu helfen gedachte, fehlen nın fo läuger dauern und um fo ficherer ſchließ⸗ 
ih ans Ziel führen zu können, als auch die Loſung der ungartifhen Frage 
noch in weiter Ferne fand, obgleich gerade fie den Grund oder Borwand für 
den Sturz Schmerlings und die Siftirung der von ihm inaugurirten Verfafſung 
hatte abgeben müſſen. Es lag aud gar nicht in ver Abſicht Belcrebis und feiner 
Genoſſen, die nationalen, aber zugleich auch Liberalen Beftrebungen Deat’s und 
feiner Partei zu befriedigen. Ihr ganzes Bemühen ging vielmehr dahin, biefer 
Partei den bisherigen Einfluß wo immer möglih aus den Händen zu winben 
und jedes Zufammenwirken des liberalen Elements diesſeits und jenfelts der Leitha 
zu verhindern, beide vielmehr nad Kräften anseinander zu halten. Graf Morig 
Eſterhazy, der Schmerling zu Ball gebracht, war ganz geeignet, mit Belcrebi und 
feinen Genoſſen viesfeits der Leitha Hand in Hand zu gehen. Auch die ungariſche 
Brage follte nicht im nationalen und liberalen, fondern im nationalen und abſo⸗ 
lutiſtiſchen Sinne geldst werben. Dit leeren Händen konnte freilich aud die alte 
Tonfervative Partei nicht daran denken, fi der ungarifhen Dinge zu bemächtigen, 
Aber fie unternahm es anch nicht mit leeren Händen, Wenigftens dem Macht⸗ 
beftreben der Magyaren follte ein Genüge gethan, die Krone des hl. Stephan in 
ihrer vollen Integrität hergeftellt, Siebenbürgen den Ungarn preisgegeben, Kroatien 


ö6 * 


884 . Nachtrag. 


ihnen entſchieden untergeordnet werden, und dazu bot Beleredi gerne die Hand, 
da wenigſtens die erſtere Maßregel zugleich direkt gegen den Reichsrath gerichtet 
war. In fo weit unterſtützte fi bie Politik des neuen Regiments diesſeits und 
jenfeit8 der Leitha ganz entjchieden. 

Shen am 1. Sept. 1865 löste ein kaiſerliches Reſeript den fiebenbür- 
gifhen Landtag von 1863, ver bie Annahme ver Februarverfaflung ausge⸗ 
ſprochen und ben Reichsrath beſchickt hatte, auf, befeitigte die damals ertheilte 
Wahlordnung, die das frühere Uebergewicht der Magyaren gebrochen hatte, ftellte 
diejenige von 1791, vie dasſelbe neuerdings ficherte, wieder ber, reaftinirte 
bie 1863 abgefegten ungarifch gefinnten Würbeträger und Beamteten von 1861 
und berief den Landtag auf ven 19. Nov. ein. Als einziger Berathungsgegenftand 
für denjelben wurde die Wiederherftellung ber von der Regierung bisher nicht 
anerfannten Union Siebenbürgens mit Ungarn unter dem Zitel einer „Repifion”, 
diefes Worts der Revolution von 1848, bezeichnet. Auch das war offenbar ein 
Brud der Berfafſung, eine Verlegung der in förmlichfter und felerlichfter Weiſe 
gemachten Zuficherungen. Allein die viesfeitige Reichshälfte hatte keinerlei Mittel, 
e8 zu verhindern. Die Sachſen und Rumänen aber verfuchten dagegen nur eine 
ſehr ſchwächliche Oppofition: jene fügten fih auf ihrer Nationsuniverfität mit 
nihtöfagenden Vorbehalten, dieſe kamen auf einer Berfammlung zu Blafenborf 
nicht einmal zu einem Entſchluß, beide befchidten ven Landtag und diefer beſchloß 
denn auch bie Wiederherftellung der Union am 6. Dec. 1865 ohne Wiperftand; 
er hätte auch nichts geholfen, vie Regierung Hatte vermittelft der fogenannten 
Negaliften die Majorttät unter allen Umflänven in der Hand. Schwieriger war 
es, and Kroatien, das Schooßlind der Reaktion, Ungarn wieder unterzuorbnen, 
Als der Landtag om 12. Nov. in Agram zufammentrat, fanden ſich vie beiben 
Barteien, die ungariſch gefinnte und die nationale, ſchroff gegenüber. Die letztere 
hatte noch entſchieden das Uebergewicht, und als fie ih auch im März dazu 
berbeiließ, eine jogenannte NRegnilolarbeputation zu wählen, bie mit einer gleichen 
des ungarifhen Landtags in Perth einen Ausgleih zu Stande bringen follte, 
geihah es nur unter bindenden Inftruftionen, die ein ˖ Zuſtandekommen vorerft 
ganz unmöglih machten. Doch das war nur eine Frage der Zeit und der Um- 
fände; in Wien wußte man fe gut wie in Pefth, daß es immerhin Mittel gebe, 
biefen Widerſtand zu befeitigen. Die Hauptfrage für das Regiment Belcredi⸗ 
Eſterhazh war, ob es möglich fein werde, ſich ohne liberale Zugeftänbniffe mit 
bem ungarifchen Landtag zu verflännigen, und um bies in Peſth zu erzielen, hatte 
fi die Regierung in Stebenbärgen und in Kroatien allerlei Hinterthüren offen 
zu halten bemüht, welche ver abfoluten Gewalt auch jenfeits ver Leitha bie letzte 
Entfheivung vorbehalten follten, Vorbehalte, die ſich fpäter freilih als völlig 
werthlos erwiefen. 

Das Regiment Belerebi- Efterhayy follte bald genug erfahren, daß es ben 
Ungarn gegenüber, vie genau wußten was fie wollten und bie es durch zähes 
Feſthalten an ihrem alten Rechte, durch ihren jahrelangen paffiven Wiverftand 
doch bereits dahin gebracht hatten, daß man neuerdings mit ihnen unterhandeln 
mußte, blutwenig vermöge. Der ungarifche Laudtag trat am 14. Dec. in Pefth 
zufammen. Um ihn nur möglich zu machen, hatten die Ungarn auf die vorgängige 
Wiederherſtellung ver Komitatsverfofjungen verzichtet und ſich mit einem Protefle 
dagegen begnügt. Das Nefultat der Wahlen hatte eine überwältigende Majorität 
der Deakpartei ergeben und die Führer verfelben Hatten fi lange vor der Erdff⸗ 
nung dahin verfländigt, daß der Landtag auf nichts eintreten folle, bevor nicht 


Oeſter reichiſch ungariſche Monarchie. 886 


bie 48er Geſetze wiederhergeſtellt, namentlich ein eigenes verantwortliches Mini⸗ 
ſterium zugeſtanden fein würde. Der Kaiſer eröffnete den Landtag in Perſon durch 
eine Thronrede. Dieſelbe iſt ein höchft merkwürdiges Atenftüd. Die frühere Ber- 
wirtungstheorie wurde ausdrücklich fallen gelaffen und die „formelle Gültigkeit" 
der 48er Geſetze nicht beftritten. Damit hatten die Ungarn in Wahrheit von 
vornherein gewonnenes Spiel. Denn wenn ber Kaffer mit der andern Hand aud 
fofort wieder nahm, was er mit ber einen gegeben, indem er beifügte, daß das 
unveränderte Inslebentreten der Gefege eine „Unmöglichkeit" ſei und daß ſie zwed- 
mäßig abgeändert werben mäßten, bevor er fie durch feinen Inauguraleid befräf- 
tigen könne, fo konnten ſich die Ungarn doch mit der enblid erlangten principiellen 
Anerkennung um fo eher begnügen, als fie wohl mußten, daß auch die thatfächliche 
Anerkennung nur davon abhängen werde, wer ed länger auszuhalten vermöge, 
der König oder die Nation. Daneben betonte ver Kalfer die nothwendig „gemein- 
fome Behandlung der gemeinfamen Angelegenheiten” , verzichtete ausdrücklich auf 
die Durchführung der Februarverfaſſung ohne „WModifilationen” , denen durd die 
Siftirung verfelben in den Exbländern freier Plan gefhaffen fe. Die Ungarn 
liegen ſich indeß dadurch weder einſchüchtern noch gewinnen, wußten fie doch wie 
alle Welt, daß dem Miniſterium Belcredi⸗Eſterhazy gar nichts anderes mehr in bie 
Quere hätte fommen können, als die Wieverherftellung ver wie immer „mobificirten‘ 
Februarverfaſſung, die ihm diesſeits der Leitha den Boden unter den Füßen weg« 
gezogen und allen feinen Plänen im Sinne der hiſtoriſch⸗politiſchen Individualitäten 
mit Hülfe der flavifchen Elemente des Reichs, ein jähes Ende gemacht hätte, Nah 
längerem Schwanfen waren den Führern der Ungarn die Augen darüber endlich 
aufgegangen, daß die deutſchen Bevölkerungen des Reichs und der deutſche Libe⸗ 
ralismus es feien, mit denen fi Ungarn verſtändigen und verbinden müfle, wenn 
e8 fein Ziel erreichen und das Erreichte für die Zukunft fihern wolle. Der Sturz 
Schmerlings Hatte in Ungarn eine gewiſſe Vefrievigung erzeugt, aber die Sifii- 
rung der ganzen Februarverfaffung, nicht nur diejenigen Theile derfelben, vie auch 
Ungarn betrafen, des engeren zugleich mit dem weiteren Reichsrathe, hatte das 
politiſch gefchulte Volk über die eigentlihen Abfichten ber neuen Regierung hin- 
länglich aufgelärt. Die Freunde berfelben bilbeten im ungariſchen Landtage nur 
eine Feine Minverheit, die mie 1861 ohne Einfluß blieb. Am 24. Februar 1866 
beſchloß das Unterhaus eine Adreſſe in Antwort auf die Thronrede, weldhe bei ven 
alten Fordernugen feft beharrte, indem fie vor allem ein eigenes verautwort- 
liches Miniſterium verlangte, wenn fie au dem „unabweisbaren” Begehren ber 
Krone fo weit entgegen kam, daß fie gewiſſe Berhältniffe, tie Ungarn mit den 
Erblanden „gemein habe”, anerlannte und verſprach, „in Beziehung auf bie Feſt⸗ 
Relung und Behandlungsart diefer Berbältniffe ohne Berzug zur Wusarbeitung 
eines Gefegesentwurfs zu fchreiten” und außerdem fi damit bereit erflärte, alle 
Borſchläge der Regierung über die Revifion der ABer Artikel in „reifliche Er⸗ 
wägung” zu ziehen. Schließli fand aber foger der Wunſch Play, dag aud auf 
der andern Geite der Leitha „der wahre Konftitutionalismus möglichſt bald ins 
Leben treten möge”. Das war ein offenbares Mißtrauenspotum gegen das ganze 
Regiment Belcredi⸗Eſterhazy. Der Kaiſer nahm vie Adreſſe ziemlih ungnädig ent» 
gegen und lehnte durch Reftript vom 3. März die Fordernngen bes Landtags 
rundweg ab. Hiemit fehlen ber Faden wieder wie im Jahr 1861 abgerifien. Doc 
war die Frage infofern ihrer Löfung etwas näher gerüdt, als die Regierung In 
dem Refkript vom 3. März ihre Forberungen wegen Modifikation der 48er Gr 
fege zum erfien Bol mäher prächfirie, während ber wngariidhe Landiag feinerjet 


886 Nachtrag. 


eine 6T7er-Rommifion nieberfegte, um ben Kreis der gemeinfamen Angelegenheiten 
und ihre Behanhlungsart vom ungariſchen Standpunkt ans in die Form eines 
Sefegesentwurfs zu bringen. Damit waren die Bedingungen eines Ausgleichs von 
der einen und von der anderen Seite mehr als bisher feftgeftellt, wenn fie auch 
vorerft no weit auselinanbergingen, fo daß zunähft an ein Refultat nicht zu 
benten war. Aber fhon rüdten die Ereigniffe mit ſchnellen Schritten näher, vie 
ber Sachlage eine total andere Wendung zu geben beftimmt waren. 

Krieg von 1866 und VBerluft der dentſchen und italtenifden 
Stellung. € kann nit die Aufgabe dieſes Artikels fein, den Krieg von 1866 
zu ſchildern, weder in feinen Anfängen nod in feinem weiteren Berlaufe (ſ. dem 
Nachtrag Über Deutſchland), fondern lediglich die Refultate und die Räd- 
wirkung besfelben auf die inneren Zuftände und ftantsrechtlihen Verhältniſſe ver 
Monardie. Nur fo viel muß bemerkt werden und geht aus dem Bisherigen mehr 
ale genügend hervor, daß Defterreih gerade damals, da bie beiden wichtigſten 
Elemente des Reihe, das deutſche und das magyariſche, im höchſten Grabe unzu- 
frieden, die flavifhen aber noch lange nicht zufrieden waren, fi} in ver aller- 
ungänftigften Lage befand, einen Krieg auf Leben und Tod mit einem feit hundert 
Jahren langfam aber flätig gewachfenen, bereits unzweifelhaft mächtigen, ja in 
Wahrheit bereits übermächtigen Rivalen aufzunehmen, daß ihm aber nichts anderes 
übrig blieb, als dieſen Kampf zu wagen, wenn es nicht ohne Schwertichlag vir- 
tuell und gewiffermaßen freiwillig auf feine bisherige Stellung in Deutſchland 
verzichten wollte. Trotz der Meberhebung, die der Wiener Hofburg Preußen der 
über von jeher eigen war, machte fih Defterreih Über bie ihm drohende Gefahr 
keine IUufionen, zumal da Preußen in Italien zum Boraus eines Bundesgenoffen 
fiher fein konnte, der für Defterreih unter allen Umſtänden jhon aus Gründen 
ber geograpbifchen Tage gefährlich fein mußte, wofern nicht Frankreich ſich da- 
zwifchen legte, Beide Theile waren denn auch bemüht, ſich diefes mächtigen Fak⸗ 
tor8 zu verfihern. Defterreih war auch darin, obgleich es mehr zu bieten Hatte, 
unglücklich. Jetzt envlih war es, im Mal, geneigt, Venezien, das ſchon längſt für 
Defterreih nicht ein Element der Kraft, fonbern vielmehr ver Schwädhe mar, 
nit an Italien, fondern an Frankreich für jenes abzutreten. Allein Italien ging 
jegt nit mehr darauf ein und aud in Paris fand man die von Defterreich daran 
geknüpften Bedingungen nicht fehr annehmbar. Napoleon gab fi} der verhängniß- 
vollen Illuſion bin, daß Defterreih Preußen auch fo noch zum mindeften ge 
wachſen, eher noch überlegen fet, daß der Krieg ſich jedenfalls in bie Länge ziehen 
und daß Franfreih, ohne das Schwert zu ziehen, bloß diplomatiſch in der Lage 
fein werde, die Früchte vesfelben zu ernten. Der Krieg war fürzer, Preußen 
ſtaͤrker ale alle Welt gedacht Hatte. Defterreih, flegreih im Süden zu Wafler 
und zu Lande, unterlag feinem Gegner definitiv in Einer Schlacht. Selbſt feine 
Hoffnung, dur augenblidlihe Abtretung Veneziens an Frankreich, Italien zur 
Untreue gegen feinen Bundesgenoſſen, Frankreich zu aftiver Betheillgung am Kriege 
zu verloden, mißlang. Wien fland dem Steger offen. Frankreich mußte ſich mit 
bipfomatifcher Vermittlung begnügen. Im Frieden von Prag behielt zwar Defter- 
reich fein Gebiet (außer Benezien) intakt, aber e8 mußte auf feine bisherige große 
Stellung in Deutfhland und in Italien verzichten. Die Ueberrefte ber alten 
deuten Kaiſerkrone waren verloren, bie Monarchie auf ſich felber angewieſen. 

Hätte Defterreih geflegt, fo wäre ber Kaifer niemald auf einen Ausgleich 
mit den Ungarn nad den Forderungen biefer legteren eingegangen, und felbft bie 
Vermehrung feiner Machtſtellung in Deutſchland wäre von ben feubalen und 











Oeſterreichiſch⸗· ungariſche Monarchie. 887 


klerilalen Parteien nur dazn benützt worben, das beutihe Element bes Reichs 
völlig mundodt zu machen und feine freie geiftige Entwidelung neuerdings in 
Gefleln zu legen. Obgleich ver Krieg gewiffermaßen neben dem Minifterium Bel⸗ 
erebi von den aus dem Schmerling’ihen Kabinet berübergenommenen Miniftern 
des Auswärtigen und des Kriege, Graf Mensporff und Ritter v. Grand 
geführt worden war, fo geftaltete fi) die Niederlage ver Armee alsbald zu einer 

eberlage bes Kabinets, das jedoch verzweifelte Anftrengungen machte, fich zu 
halten, bevor es fiel, 

Neue Krifis. Die veutihe Bevölkerung Oeſterreichs fühlte ficherlich tiefer 
und fchmerzliher als alle andern die entſetzliche Nieverlage, bie der Staat auf 
dem Schlachtfelde erlitten, aber fle war es auch, die fofort überzengt war, daß 
der ſchwere Alporuck, den Feudale und Klerikale neuerbings auf ſie zu legen 
verſucht hatten, nun einfach nicht mehr möglich fein werde und bie daher alsbald 
wieder aufzuathmen begann. Schon am 7. Juli, nur vier Tage nad Sadowa, 
richtete der Gemeinverath von Salzburg eine Adreſſe an den Kalfer, in ver ex 
einfach bie Wievereinberufung des Reichſsraths verlangte, am 17. forberte der Ge⸗ 
meinderath von Wien die Entlaffung bes realtionären Minifteriums, Der erftere 
erhielt feine Antwort, der legtere eine entſchieden ungnäbige und ablehnende und 
das Minifterium felbft verhängte am 26. den Belagerungszuftend über Wien, 
bloß um folde Demonftrationen unmöglih zu mahen. Die Lage mußte fi mit 
dem Momente Hören, wo die Landtage zufammentraten, was bie Regierung nicht 
vermeiden konnte; noch mehr aber, wenn biefelbe fi, fei es burd bie Landtage, 
ſei e8 durch die allgemeine Situation genöthigt ſah, irgend einen über das Si⸗ 
fiirungspatent hinausgehenden Schritt bezüglih ver Berfaffungsfrage zu wagen. 
Beides geſchah: das erftere Ende 1866, das leßtere zu Anfang des folgenden Jahres 
und die eutſcheidende Krifis folgte unverzüglich. 

Die Politik des Miniſteriums war keine klare und beflimmte, vielmehr eine 
jehr zweidentige und daraus entfprang eine Schwäche, die bald zu feinem Ver⸗ 
derben ausſchlagen mußte, Ueber feine Abneigung, feinen feinplichen Gegenſatz gegen 
das deutſche und liberale Element konnte allerdings kein Zweifel walten und eben fo 
wenig über feine entſchiedenſte Hinneigung zu fendalen und klerikalen Tendenzen. 
Daraus entiprang feine Unterflügung ter flavifhen Glemente bes Reihe und 
ihrer Auſprüche; indeß es wagte doch nicht, ſich offen auf diefe Seite zu ftellen und 
biefen Anfprüden ganz und vol zu entipreden. Die Siaven aber trugen fi 
damals mit fehr weit gehenden Plänen. Das Reich follte in Gruppen aufzeldst 
und ber ungarifhen (mit Siebenblirgen und Kroatien), in Oſten eine polnifche 
(Galizien mit ver Bukowina), im Norden eine böhmiſche (mit Mähren und Schlefien), 
im Süpen eine ſlaveniſche (Krain mit Theilen von Kärnthen und Steiermarl und 
mit den ſlaviſch⸗italieniſchen Provinzen) an die Seite geſetzt, bie deutſchen Erb⸗ 
lande aber als fünfte Gruppe in eine ungefährlihde Minorität gebrängt werben. 
Dazu fehlte dem Minifterium Beleredi denn doch der Muth. Es begnügte ſich, 
ben Siaven bloß halbe Koucefflonen zu machen und im übrigen bie nationalen 
und hiſtoriſchen Gegenfäge zwiſchen ven verfhievenen Kronlänbern zu benügen, 
um fie alle zufammen niederzuhalten und für die Regierung vorläufig möglichft 
freie Hand zu gewinnen, Inzwiſchen fuchten vie bisherigen Führer ver beutfchen 
Parteien im Reichsrathe ſich über das, was zu thun fei, zu verfländigen: baß - 
bie Februarverfaſſung als Gefammtflaatöverfoflung an dem Widerſtande ver Uu- 
gam definitiv gefcheitert fei, darüber konnte man fih freilich Feine Illuſionen 
mehr machen, aber welches neue Verhältnig zu ven Ungarn anzuftreben, welch⸗ 


888 naqtras. 


Modifilationen der Februarverfafſung nun ins Ange zu faſſen fein möchten, wo- 
fern man .bie Initiative und den Eutſcheid nicht gänzli ben Ungarn überlaffen 
wolle, darüber fehlte e8 auf deutſcher Seite an jeder Haren Idee, an jeber feſten 
Billensmeinung und fand feinerlei Einigung ftatt, fo daß man fi darauf be⸗ 
fhräntte, vie bevorſtehenden Tandtage zu möglihft übereinftimmenven, energiſchen 
Kundgebungen gegen bie Siftieungepolitif bes Miniſteriums zu benügen unb dm 
übrigen einmäthig die fofortige Wievereinberufung des Reichsraths zu verlangen. 
Schon einige Zeit vorher, am 30. Okt., Hatte in Prag während ber Reife des 
Koifers eine theilweife Mopifitation des Miniſteriums ftattgefunnen, indem Graf 
Efterhazy, deſſen Intriguen e8 zwar gelungen war, das Miniftertum Schmerling 
zu Fall zu bringen, deſſen Einfluß aber fi in Ungarn felber ver Deakpartei 
egenüber als völlig machtlos erwiefen hatte unb der jenfeits wie diesſeits ber 
eitha offenbar gleih unpopulär geworden, feine GEntlafjung erhielt und Graf 
Mensporff ale Minifter des Auswärtigen durch den bisherigen ſächſiſchen 
Premier Freiheren v. Beuſt erfegt wurbe. Der Ernennung waren längere Unter- 
handlungen voransgegangen, die indeß, wie nachgerade ziemlich feft ſteht, lediglich 
bie auswärtigen Berhältnifie Defterreihs betrafen, fo daß Beuſt ohne Brogramm 
für die inneren Fragen in das Miniſterium eintrat und allem Anfchein nad fo 
wenig als Graf Belcredi eine Ahnung davon hatte, daß er dazu beftimmt fein 
würde, dieſen binnen Kurzem aus dem Sattel zu heben. 
Am 19. Nov. traten die 17 Landtage ber weftlihen Neichshälfte zuſammen. 
Die Vorlagen, die das Miniſterium venfelben machte, waren im hödften Grabe 
unbebentend, zum Theil geradezu lächerlich. Bon einem feften Plan der Regierung 
war augenſcheinlich feine Rebe; flatt die Dinge zu leiten, ließ es fie vielmehr au 
ſich herankommen und handelte lediglich nach Umfländen, außer daß es bie abfolute 
Entſcheidung unter der Krone zu wahren ſuchte und feinen Kompaß feft auf die 
möglihfte Erhaltung oder Wieverherftellung fendaler und klerikaler Iuftitutionen 
gerichtet hielt. Die rein veutfchen oder überwiegend deutſchen Lanbtage waren 
ebenfo einmüthig ald entſchieden gegen das verfaflungswinrige Gebahren der Re 
gierung,, gegen das Wieberaufleben des Konkordats, gegen die Begänftigung ber 
Jefuiten und ihres Anhangs. Über ihre Adreſſen konnten im Grunde nur ihre 
ſchon in ver vorigen Seffion nadprüdlich genug ausgefprochene Willensmeinung 
wiederholen, nur daß in den Adreßdebatten ein Ingrimm und eine Wuth über 
das Schidfal, das Defterreih von feinen eigenen Lenkern bereitet werbe, zu Tage 
trat, die Niemand ben bisher fo gebulbigen und von Natur etwas leichtlehigen 
Deutfch - Defterreicdern zugetrant hatte. Das Maß war eben endlich voll und 
ſchon nahe daran überzulaufen. Es ergab fih, daß die Regierung aud in den 
ſlaviſchen Provinzen feit dem verfloffenen Jahre keine Fortfchritte gemacht Hatte. 
Damals hatte der Landtag der Bukowina noch eine Bertrauensadrefie an bie 
Regierung erlaffen, diesmal wurde ein gleicher Antrag abgelehnt und der Landtag 
ſprach ſich vielmehr mit 15 gegen 11 Stimmen für die Wieberherftellung der 
Berfoflung aus. In Krain und Mähren, ebenfo in Thyrol, hielten fi vie 
Parteien das Gleichgewicht, oder war die deutſche Partei wenigftens ſtark geung, 
Bertrauensabreflen an das Miniſterium zu verhindern. Die ſiaviſch⸗ italtenifchen 
Provinzen, Iftrien und Dalmatim, Görz und Trieft bieten fi immer ziemlid 
neutral und erliegen gar keine Worefien. In Galizien wurde ein Adreßantrag der 
Authenen und ebenfo ihr Antrag auf Trennung des Landes in einen polnifchen 
und einen ruthenifhen Theil allervings abgelehnt und eine entſchieden polniſche 
Adreſſe mit 84 gegen 40 Stimmen angenommen, allein bei ber immer Flarer zu 











Oeſterreichiſch˖ ungariſche Monarchie. 889 


Tage tretenden Tendenz ber gallzifchen Polen, ihre Autonomie möoglichſt auszubehnen, 
aber lediglich als Uebergangsſtadium, ſchließlich um eine Stellung nicht innerhalb, 
fondern außerhalb Oeſterreichs zu erringen, fonnte von einer Stärkung des Mini⸗ 
fteriums Belcrebi von diefer Seite her eigentlich Teine Rebe fein. Sein einziger 
wirklicher Erfolg auf ven 17 Landtagen ver weftlihen Reichshälfte befchränfte * 
daher auf Böhmen, wo die deutſche Partei unterlag und am 6. December eine 
rein czechiſche Adreſſe mit 126 gegen 91 Stimmen erlafien wurde. Indeß ſelbſt 
im czechifhen Theile Böhmens war die Stimmung für das Miniſterium Belcredi 
keine ſehr entſchiedene, weil dasſelbe zwar wohl die Czechen unterſtützte, um bie 
Dentjgen niederzubalten, aber wenig geneigt fhien, ihnen Mähren und Schleflen 
nötbigenfall3 gewaltfam unterzuornnen und einem „©enerallandtag” biefer „Länder 
der böhmifhen Krone” eine „Stellung wie ven Ländern der ungariſchen Krone” 
einzuräumen. 

Während auf dieſe Weiſe die Dinge diesſeits ber Leitha in der Schwebe 
blieben und vie dentſchen Bevölkerungen mit dem Syſtem ber Regiernng entfchie- 
den unzufrieden, die ſlaviſchen aber auch nicht zufrieden waren, rüdten bie Ungarn 
ihrem Ziele Iangfam aber fiher immer näher. Zugleich mit den Landtagen dies⸗ 
feits der Leitha war am 19. Nov. 1866 auch ber ungarifche eröffnet worden. 
Ein Reſtript des Kaifers kam den Wünfchen des Landes wieder um einen Schritt 
näher, indem es das Elaborat des Sublomite des 67er Ausfchufles Über die 
gemeinfamen Angelegenheiten und ihre Behandlung als „geeigneten Antnüpfungs- 
punkt für das Zuflandelommen des Ausgleichs” anerlannte und ſogar zugab, daß 
bie verlangte Reviſion ver 1848er Geſetze „im Wege eines verantwortlichen 
Mintfteriums", alfo nad Emennung eines folchen, erfolgen folle. Und wie das 
Reſtript vom 3. März 1866 die Fordernungen der Regierung In Bezug auf 
Revifion der 1848er Gefepe näher präcifirt hatte, fo präcifirte das nunmehrige 
vom 19. Nov, die Forderungen berfelben beziehungsweife verjenigen Ungelegen- 
beiten, weldhe als gemeinfame anerfannt und als folhe behandelt werden follten. 
Die Beringungen des Ausgleichs waren fomit von beiden Selten wenigftens in 
ihren allgemeinen Umrifien bereits formulirt und biefe Bedingungen giugen nicht 
mehr allzumweit auseinander. Unzweifelhaft war es dabei nit Ungarn, ſondern 
bie Regierung gewefen, welche almälig die größeren Konceffionen gemacht hatte. 
Die weſentlichſte Konceffion Ungarns war eigentlich die gewefen, daß es auf bie 
Behandlung der gemeinfamen Angelegenheiten „nur von Fall zu Tall”, wie Deak 
und feine Kartei noch 1861 verlangten, verzichtet hatte; bie Regierung dagegen 
hatte zuerft ihre frühere Verwirkungstheorie fallen gelaflen, dann Siebenbürgen 
und Kroatien preisgegeben, erklärte weiter eine Begrenzung und Behandlung der 
gemeinfamen Angelegenheiten, wie fle das Sublomite des ungarifhen Landtags 
vorſchlug und die weit hinter die Forderungen nicht nur der Yebruarverfaflung, 
ſondern felbft des Oftobertiploms zurüdging und ſich der bloßen Berfonalunton 
fehr annäherte, wenigftens für eine „annehmbare Verhandlungsbafis“ und gab 
ſchließlich ſogar die Einfegung eines verantwortlichen Minifteriums vor erfolgter 
Reviſion der 1848er Gefege zu, wofern man nur gegenfeltig über das Meri- 
tortfche diefer Nevifion zum voraus einverflanden wäre. Die ganze Schwierigfeit 
für eine Berfländigung lag, abgefehen vom Detail, das noch mandyerlei Differenzen 
herausſtellen modte, darin, baß jeder ver beiden Theile vom anderen forberte, 
daß er auf irgend einem ber fireitigen Gebtete den erſten bindenden Schritt thue, 
feiner von beiden aber noch fich Hierzu verftehen wollte, weil keiner dem anderen 
trante, 


890 Nachtrag. 


Seit dem Starze Schmerlings hatte die Regierung eingeſehen, daß nichts 
anderes übrig bleibe, al8 den Ungarn entgegen zu kommen unb im größerem ober 
geringerem Maße, je nad den Umfländen, auf ihre Forderungen einzugehen, und 
feit der Zeit hatte fie fib auch flätig auf disfer Linie bewegt. Der Ausgang des 
Krieges von 1866 befeitigte bie legte Schranke, die fie zurädhielt. Die Unfläube 
hatten fi eben gegen vie Regierung geftaltet: feiner bisherigen GteHung ta 
Deutſchland und Italien beraubt nnd auf fi ſelbſt und feine eigenen Kräfte 
zurüdgeworfen, mußte Defterreih den Ausgleich mit Ungarn faſt um jeden Preis 
fuchen. Die Ungarn Batten gewonnenes Spiel, wenn es auch noch einige Zeit 
dauerte, bis bie paflende Form gefunden und eine VBorbebingung erledigt war, 
pie fi nachgerade in den Borbergrund gebrängt hatte und die in nichts anderem 
beftand, als daß nothwendig das Tonftitutionelle Syſtem auch biesfeits ber Leithe, 
wo es angeblid um ver Ungarn willen thatſächlich befeitigt war, wieber ber- 
geftellt werden mußte, wenn ben Ungarn irgend welche Sicherheit für bie ihnen 
zu machenden Konceifionen geboten werben follte. Demn der Ausgleich mußte nad 
ver allgemeinen Anſchauung nicht blos ein foldher zwijchen den Ungarn unb ber 
Krone fein, fondern auch zwiſchen ven beiven Reihshälften ſelbſt. Ihre ganze 
Geſchichte neuerer Zeit machte es den Ungarn vollkommen far, daß eime wirklich 
verfaffungsmäßige Orbnung der Dinge innerhalb des Gebiets der Stephanstrone 
in feiner Weiſe gefichert fein werde. Während daher der nene Miniſter des Aus 
wärtigen Freiherr v. Beuft, ver von Anfang nur zu klar erlannt hatte, daß ohme 
eine ſchnelle Berfländigung mit Ungarn nit daran zu benfen ſei, das Reich aus 
ber tiefen Erniedrigung, in der es durch den Ausgang des dentſchen Krieges ge- 
rathen war, wieder emporzuheben, und das als Fremder unbefangener zu fehen 
ſchien als irgend ein öfterreigiiher Staatsmann, zu Weihnachten perfünlih nah 
Perh gegangen war, um fi von ber Lage ber Dinge zu unterrichten und auf 
fofort die erfien Ginleitungen zur befinitiven Verfländigung traf, mußte Graf 
Belcrebi jeinerfeits einen Entſchluß faflen, bezägli der Wiedereinberufung bes 
Reichsraths, als der unerläßliden Ergänzung deſſen, was in Ungarn vorbereitet 
ober eingeleitet wurbe. Bei der Stimmung ber gefammten deutſchen DBevölferung 
des Reichs gegen ihn und feine Politik konnte fi) Belcredi indeß nicht verhehlen, 
daß der Reichsrath ohne Zweifel feine wiederhergeſtellte Thätigkeit fofort damit 
beginnen werde, ihm und feinen Kollegen ein energifches Miktrauensootum zu 
erteilen, gegen das er fi nicht zu behaupten im Stanve wäre. Dieſer ſicheren 
Eventualität wollte ex fi nit ansfegen und griff daher zu einem Mittelwege, 
ber dem Bedürfniß nach einer Gefammtvertretung fämmtlider Länder diesſeits ber 
Leitha genügen oder innerhalb einer ſolchen das dentſche durch das ſlaviſche Ele- 
ment möglihf paralpfiren follte. Am 2. Januar 1867 erſchien ein, nicht bloß 
von Belcredi, ſondern aud von Beuſt gegengezeichnetes kaiſerliches Patent, das 
auf Grund des Siftirungspatentes vom 20. Sept. 1865 und um ben in biefem 
verheißenen „gleihgemwichtigen" Auoſpruch der „legalen“ Vertreter der weſtlichen 
Neichshälfte über ven mit ber öftlichen abzuſchließenden Ausgleich abzugeben, nicht 
deu verfafiungsmäßigen, fonvern einen „außerorbentlihden Reichsrath“ 
einberief. Zu diefem Ende wurben die fämmtlihen ſiebzehn Landtage diesſeits der 
Leitha aufgelöst und Neuwahlen angeordnet. Die nenen Landtage follten am 
11. Febr. der außerordentliche Reichsrath am 25. Febr. zufammentreten, jene 
aber ſich ausſchließlich mit ven Wahlen in ven außerorbentlichen Reichsrath, dieſer 
fich ausfchlieglih mit der Berfafiungsfrage beſchäftigen. 








Oeſterreichiſch· ungariſche Monarchie. 891 


Dffenbar war ber anßerorbentlige Reichsrath im Sinne Belcrebi’s eine form⸗ 
liche Konftituante und bie Webruarverfaflung durch denſelben definitiv befeltigt. 
Die Maßregel war aber nichts weniger als eine liberale; ganz im Gegentheil. 
Wenn es Belcredi gelang, fie durchzuführen, wie er fie ausgedacht Hatte, fo 
ſollte fie ihm eine kompakte ſlaviſch⸗-feudal⸗klerilale Mehrheit, ja fogar bie zur 
Berfafiungsfrage nothwendige Zweibrittel-Mehrheit ſchaffen, gegen welche vie Ver⸗ 
treter ber deutfchen VBevölterung des Reichs mit ihrem mndernen Liberalismus 
nimmermehr aufzulommen vermödten. Dies gedachte er dadurch zu erreihen, daß 
er es ben Landtagen frei ftellte, bei ihren Wahlen in ben außerurdentlichen Reichs⸗ 
rath entweber das von ber Februarverfaffung vorgeſchriebene Gruppenfſyſtem bei- 
zubehalten oder aber ohne NRüdfiht auf dasfelbe frei aus dem Plenum zu wählen. 
Das Gruppenſyſtem war feine Zeit von Schmerling ausgedacht und in bie 
Bebrnarverfaffung und die Lanbesftatute aufgenommen worden, um den beutfhen 
Minoritäten in den überwiegend ſlaviſchen Kronlänvern eine angemeflene Ber» 
tretung zu fihern. Diefer Shut wurde ihnen nun von Belcreri mit Einem 
— genommen. Denn wenn bie Regierung bei den bevorſtehenden Nenwahlen 
für die Landtage, wie es Belcrebi gut im Sinne hatte und wozu er auch fofort 
bie erforderlichen Weifungen erließ, alle nur möglichen Hebel in Bewegung ſetzte, 
um bie liberalen und deutfchen Kandidaten zu hemmen und dagegen feine ſlaviſchen, 
feudalen und klerikalen Anhänger zu unterflügen, fo war vorausznfehen, daß bie 
rein und bie Überwiegend flavifhen Landtage fih unzweifelhaft der ihnen ver- 
liehenen Be guib bedienen und fomit in Böhmen, Mähren und Kratn auch nicht 
ein einziger Deutſcher, in Galizien auch nicht ein einziger Ruthene, im klerilalen 
Tyrol auch nicht ein Liberale, in der Bukowina und ben ſlaviſch⸗ italieniſchen 
Kronländern, die wenig Selbſtändigkeit befigen, lauter ergebene Auhänger ber 
Negierung ober doch ſolche Mitglieder in den außerorventlihen Reichsrath gefchidt 
würden, bie es nicht wagten, gegen die Regierung und gegen bie ſlaviſche Partei 
u fimmen, während die rein ober Überwiegend deutſchen Landtage fih ohne 

mweifel genau an die Februarverfafſung halten, und um biefer ja nichts zu ver⸗ 
geben, nad dem Gruppenſyſtem wählen, aljo vielfad genöthigt würben, Groß- 
geundbefiger zu ernennen, welche wiederum mit der Regierung gingen. Velczebi 
mochte ſich alfo wohl mit Grund der zuverſichtlichen Soffnung bingeben, eine 
Berfammlung zu Stande zu bringen, vie ihm eine gerabezu überwältigenbe 
Majorität gegen die Deutſchen fihern werde. War der Plan gut ausgebadt, fo 
ließ es Belcredi auch nicht an der erforberlihen Energie fehlen, ihn durchzuführen. 
Die Statthalfer erhielten den Befehl, dafür zu forgen, daß fein Beamteter es 
wage, gegen die Negierung und ihre Kandidaten zu flimmen, bad Sand wurbe 
mit flempelfreien Blättern und Blätthen überſchwemmt, die im Sinne der Regie 
rung thätig waren, ver abelidhe Großgrunpbefig wurbe aufs thätigfte bearbeitet, 
ausſchließlich in feudalem Sinne zu wählen, der Klerus war bereit, allen feinen 
Einfluß für vie Regierung einzufegen. ‘ 

Der Moment war entiheidenn. Noch nie war der deutſchen Bevölkerung 
des Reich die Gefahr näher geftanven, von ven feudalen und Herilalen Intereflen 
neuerdings ins Gängelbanb genommen, von der flavifhen Majorität vefinitiv in 
eine einflußloſe Minorität berabgebrüdt zu werden. Hier galt es, den principiellen 
Gegenſatz der deutſchen Erblande gegen den Stantöftreih Belcredi's aufs ſchärfſte 
binzuftellen und ben Nechtöboden, den ihnen die Regierung unter den Füßen weg- 
zuziehen verfuchte, ebenfo zäh wie energifch zu behaupten. Eine Berfammlnng von 
Führern der beutfhen Partei ans allen deutſchen Kronländern beihloß dann and 


893 Nachtrag. 


wirklich ſchon am 13. Januar unter dem Vorſitze des Fürſten Colloredo ein⸗ 
ſtimmig, mit allen erlaubten Mitteln dahin zu wirken, daß bie deutſchen Landtage 
die ihnen zugemuthete Wahl in ven außerorventlihen Reichsrath geradezu ab⸗ 
Ichnen und dagegen die Wahlen in den orventlihen Reichsrath der Yebruarver- 
faffung nad ven Lanbesorbnungen von 1861 vornehmen follten. Diefes Vorgehen 
entſchied und bald hatte in den deutſchen Provinzen der Entfhluß, diefer Fahne 
zu folgen, durchweg die Oberhand gewonnen. Allein der Sieg war dadurch nod 
lange nicht entihieden. Als Ende Ianuars die Landtagswahlen flattfanden, fielen 
fie zwar in den rein deutſchen oder doch ganz Überwiegend beutfchen Kronländern, 
Dber- und Niederröfterreih, Steiermark, Kärntben, Salzburg, Vorarlberg und 
Schleſien derart aus, dag mit Sicherheit angenommen werben fonnte, e8 würben 
diefe Landtage die Wahl in den außerorbentlihen Reichsrath entfchtenen verweigern. 
Allein einmüthig waren felhft die deutfchen Provinzen nicht. Krain war ganz von 
ihnen abgefallen, indem die Wahlen dort zum erflen Mal eine flovenifhe Majo⸗ 
rität ergaben und nur der deutſche Großgrundbeſitz deutſch wählte; felbft in Steter- 
mark hatten die Landgemeinden Unterſteiermarks Tauter Siovenen gewählt; im 
Tyrol hatten ferner die Klerilalen, wie vorauszufehen war, die Majorität er- 
rungen, und diefe gingen entſchieden mit den Fendalen und mit den Slaven gegen 
bie deutſche Partei; endlich hatten die adeligen Großgrundbeſitzer felbft in ven 
dentfhen Provinzen meift Feudale zu ihren Vertretern gewählt, jogar in Nieber- 
öfterreih, wo nad einem zähen Kampfe mit einer Mehrheit von nur wenigen 
Stimmen 12 Feudale und nur 1 Berfaflungstreuer aus den Wahlen biefer 
Gruppe hervorgingen; ebenfo Tonnte Fein Zweifel walten, daß aud auf ben 
deutſchen Landtagen die geiftlichen Birilſtimmen mit der Regierung Belcredi's und 
gegen die deutſche Partei gehen würden. Immerhin erlitt Belcredi in den deutſchen 
Provinzen eine Niederlage. Doc daranf war er vorbereitet. Dagegen war jein 
Sieg mit Hülfe der Feudalen nnd Ezechen über die Deutfchen in Böhmen und 
Mähren ein vollſtändiger, ebenfo in Galizien, wo die Ruthenen fehr geſchwächt 
aus den Wahlen hervorgingen. Bezüglich dieſer brei Landtage und ebenfo bezäglid 
derjenigen von Krain und Tyrol konnte er darauf zählen, daß biefelben von ber 
ihnen eingeräumten Befugnig Gebrauch machen und aud nit Einen Anhänger 
der liberalen deutſchen Partei in den außerorbentlihen Reichsrath ſchicken würden. 
Rehnet man dazu, daß er von Seite der ſlaviſch⸗ italieniſchen Landtage zum 
mindeften keine entſchiedene Oppofition zum gewärtigen Hatte, jo mochte fein Regi⸗ 
ment der Majorität fiher fein und die Ungarn hatten ven Ausgleich mit ven 
Slaven, Feudalen und Klerikalen zu vereinbaren, gleichviel ob nun die deutſchen 
Zandtage in die Berfammlung wählen ober ſich proteftirend von berfelben fern 
halten mochten. 

Der Sturz Belcrevi’s und der politifhe Ausgleich mit 
Ungern. Die Gefahr für die deutſche Bevölkerung des Reichs war fomit durch 
das Ergebniß der Landtagswahlen keineswegs gefhwunden. Da fielen glücklicher 
Weiſe für fie zwei Momente in die Wagſchale nnd vereinigten ſich zu ihrer Rettung. 
Die Energie, mit welder das bürgerliche Element auf allen deutſchen Yandtagen 
den außerordentlichen Reichsrath verwarf und für bie Wieberherftellung ber Ber: 
feffung eintrat, Hatte in der Hofburg doch einen tiefen Eindruck gemadt. Ein 
Nichterſcheinen fämmtlicher deutſchen Mitglieder im außerordentlichen Reichsrathe 
wäre doch von ganz anderem Gewicht geweſen, als das nachträgliche Fernbleiben 
der Czechen von dem ordentlichen unter Schmerling, ganz abgeſehen davon, daß 
dieſe fich dabei nur auf ein mehr als zweifelhaftes, ja geradezu nebelhaftes 














Oeſterreichiſch⸗ ungariſche Monarchie. 898 


böhmifches Staatsrecht, dieſe dagegen auf bie ftierlich ertheilte, eben noch in auer⸗ 
kannter Wirkſamkeit geweſene und auch bis jetzt formell keineswegs aufgehobene 
Verfafſung ſtützten. Nach der ſchweren Niederlage von 1866 galt es im Sinne 
des Kaiſers vor allem, die europäifhe Machtſtellung des Reichs wieder herzuſtellen, 
und nur zu dieſem Ende war in ihm der Entfchluß gereift, ih mit Ungarn zu 
verfländigen und zwar auf Bebingungen Hin, die er feit 1861 wieberholt für 
durchaus unannehmbar ertlärt hatte. Was war aber für die enropäiſche Macht 
ftellung bes Reichs gewonnen, wenn zwar bie Ungarn befriedigt, dafür aber bie 
gefammte deutſche Bevolkerung des Reichs in eine Oppofitionsftellung gebrängt 
wurbe, bie leicht noch viel gefährlicher ſich geſtalten mochte als felbft die bisherige 
Haltung der Ungern, da eben Preußen bie Gründung eines ſtarken deutſchen 
Nationalftantes in die Hand nahm, eine Thatfadhe von unermeßlicder VBebentung, 
die auch auf Deutfch-Defterreih trog ver Niederlage von 1866 fichtli einen tiefen 
und nachhaltigen Eindrud machte? Die Feudalen hatten ſich zwar Tängft mit ven 
Ezehen und anderen Slaven alliirt, um mit Hülfe dieſer nod wenig entwidelten 
Elemente ihre frühere Stellung zurüd zu erobern. Die Klerikalen waren aus Haß 
gegen den deutſchen Liberalismus ganz bereit mit ihnen Hand in Hand zu gehen, 
und beide flellten ber Krone neuerbings eine abjolute Machtfülle in Ausficht, 
welche die Deutjchen nicht minder als die Ungarn gerade umgefehrt zu beſchränken 
trachteten; allein dem Kalfer mußte eine Politit doc ſchwere Bedenken erregen, 
die offenbar aller feften Zielpuntte entbehrte, die das Reich in feine Atome auf 
zulöfen drohte und keinerlei fichere Grundlage für bie nächſte Zukunft darzubieten 
im Stande war. Dazu kam, daß die Ungarn immer klarer einfahen, daß es fid 
für fie teineswegs allein um einen Palt mit ihrem König, ſondern ebenfo fehr 
um einen folden mit der anderen Reichshälfte handle und daß fie ganz und gar keine 
Luft Hatten, durch einen Palt mit den Feudalen ihrer eigenen Koterie ber Alt 
Konfervativen wieder in den Sattel zu helfen, durch die Siaven biesfelts ber 
Leitha auch im ihren eigenen ſlaviſchen Elementen Gelüfte zu weden und biefen 
einen Nüdhalt zu fchaffen, veren Gefahr ihnen unter Schmerling wiederholt nahe 
genng gelegt worden war. Die Deakpartei, die feit den Wahlen von 1865 im 
Peſther Unterhaufe das entſchiedenſte Uebergewidht Hatte und der das Oberhaus 
ſelbſt nach dem Sturze Schmerlings keinerlei Oppofition mehr zu machen wagte, 
- hatte fih allmälig und zumal unter Velcredi davon überzeugt, daß bie parlamen« 
tariſche Unabhängigkeit, die fie anftrebte, gegen einen neuen Rüdfall nur dann 
gefihert fein werde, wenn das parlamentariihe Syſtem auch diesſeits der Leitha 
definitiv die Oberhand gewinne. Deshalb hatte fle die Sifiirung der gefammten 
Gebruarverfaflung im September 1865 entfhieven mißbilligt und drang jeßt 
mitten in den Unterhanblungen über ihren eigenen Ausgleih darauf, daß bie Idee 
bes außerorbentlihen Reichsraths, der den Slaven die Meajorität in die Hände 
iptelen follte, fallen gelafien und ganz einfach die Februarverfafſung wieder her⸗ 
geftellt. und der orventliche Reichsrath, in dem bie Deutjchen die Majorität hatten, 
einberufen werbe. | 
Eine kräftige Unterftägung in diefem ihrem Begehren fanden fle alsbald in 
dem Minifter des Auswärtigen, Freiherrn v. Beuft, der fi ſchnell davon über- 
zengte, daß eine Erhebung Oeſterreichs von feinem tiefen Sturze nicht mit ben 
Slaven und nicht mit den Feudalen zu erreichen fein werde, fondern nur durch 
volle Befriedigung Ungarns und durch eine nicht wider, fondern mit dem Zeitgeifte 
gehende Politik diesfelts der Leitha, wozu er bie Elemente felbftverfländlich nicht 
unter den Ezechen und Slovenen, fondern nur in den deutſchen Erblanden fuchen 


894 Nachtrag. 


fonnte. Als Beleredi am 2, Jamar 1869 fein Patent für Einberufimg bes 
anßerorbentlichen Reichsraths erließ, ſtand bereits von Seite der Hofburg wie von 
Seite der ungarifhen Führer der Entſchluß, fih wo immer möglich zu verfiün- 
digen, fe. Graf Andraffy, eines der Häupter der Deakpartei und von biefer 
zum Chef eines ungariſchen Minifteriums vefignirt, war felt dem Prager Frieden 
wiederholt in Wien geweſen und hatte es endlich dahin gebracht, daß Freiherr 
v. Beuſt zu Weihnachten 1866 felber nad Peſth ging. Offenbar verſtändigten 
fih damals beine Theile ſchon Aber die Principien des Ausgleichs, vorbehaltlich 
aller Details. Zu Anfang Iannars 1867 ſchickte dann der ungarifche Landtag 
eine zahlreiche Deputation, in ber fi die einfingreichfien Führer der Deakpartei 
befanden, jedoch ohne biefen felber, nad Wien, angeblih um dem Kaiſer die Neu⸗ 
jahrswänfche bes Landtags barzubringen, in Wahrheit aber, um tin förmlichen 
Konferenzen über das Detail der Ausgleihsbebingungen zu unterhanbeln. Dieſe 
gingen, wie bie weitere Entwidelung zeigt, bahin, daß, wenn das 67er Komite 
des ungarifhen Landtags fih dazu herbellafſe, den Entwurf feines Sublomite 
über den Umfang und die Behanblungsart ber gemeinfamen Ungelegenheiten aller 
Königreihe uud ber, ben die Regierung ja ſchon vorher als eine „geeignete 
Grundlage der Berfländigung” erfiärt hatte, nod etwas zu modificiren, ber’ Kaiſer 
fi$ dazu herbei Tafien wolle, der Hauptforberung des Landtags zu entſprechen 
und vor allem ein ungariſches Minifteriam zu ernennen, biefem aber es zutrauens⸗ 
vol zu überlaffen, fowohl jenen Geſetzesentwurf als die unerläßliden Mobt 
filattenen in den 1848er Geſetzen, über welche man fi ebenfalls einigte, tm 
Landtage durchzuſetzen. Schon am 4. Februar vollendete das 67er Komite feine 
Berathungen nad den in Wien getroffenen Vereinbarungen, fo daß bem defini⸗ 
tiven Abſchluß des Ausgleihs von dieſen Seiten kein wejentliches Hinberni mehr 
im Wege fland. Aber derſelbe mußte aud vom „gleichgewichtigen” Votum ber 
Bertreter der viesfeitigen Reichshälfte acceptirt werden und nun brang Freiherr 
dv. Beuft, von ben Ungarn energifch unterflägt, daranf, bag ber außerorbentiiche 
Neichsrath fallen gelafien und der ordentliche einbernfen werde, um jenes Votum 
abzugeben. Dadurch geriety das Miniſterinm Beleredi ins Wanken und am 
1. Februar gab Beleredi feine Eutlaſſung ein. Der Kaiſer nahm fie am 7. an, 
und ernannte Beuft zum Minifterpräfiventen, dem daneben und neben dem Borte 
fenille des Auswärtigen auch noch diejenigen des Stantsminiftertums d. h. bes 
Innern, der Polizei, der Kultur und des Unterrichts übertragen wurden. Das 
Ballenlaffen bes außerordentlichen Reicheraths als einer förmlichen Konftiiuante 
war befchloffene Sache und ebenfo bie einfache Rückkehr zur Februarverfaffung, 
bie nur anf dem von ihr felber vorgefchriebenem Wege im Sinne bes mit Un- 
garn abzuſchließenden Ansgleichs modificirt werben follte. Diefer wurde fchon am 
folgenden Tage, 8. Februar, definitiv abgefchloffen. Deak traf nämlich an biefem 
Zage in Wien ein, wurde fofort vom Kaiſer empfangen und orbnete mit ihm 
die allein noch nicht feftgeftellten Perfonalten des künftigen felbflänpigen ungarl 
fhen Minifteriums. Am 17. Februar verkündete ein Tatferliches Reſtript an ven 
ungariſchen Landtag den thatfächlih vollzogenen Ausgleich und die Einfegung 
eines ungarifhen WMinifteriums, indem der Kaifer nah ten 1848er Geſetzer 
den Grafen Andraffy zum Minifterpräfidenten ernannte und ihn mit ber 
Aufammenfegung des Miniſteriums betraute. 

Bon diefem Tage an datirt der ftantsrechtlihe Dualiemus und zerfällt 
bie „Sfterrethifh-enngarifge Monarchie” im zwei getrennte, ſelbſtän⸗ 
dige Reihshälften, die nur das Heer, die auswärtigen Angelegenheiten und gemfffe 














Oeſterreichiſch/ ungariſche Monarchie. | 895 


matertelle Interefien gemeinfam haben, deren Beſorgung einem befonderen Mini. 
ftertum für die gemeinfamen Angelegenheiten und zwei neben einander ſtehenden 
Delegationen des Reichsraths und des ungarifhen Reichstags Übertragen wird, 
Wiederherfiellung der Fcehruarverfaffung, Ungarn als felb- 
ſtäudige NReihshälfte Am 18. Febrnar traten die 17 Yandtage biesfelts 
ver Leitha zufammen. Ein kaiferlicher Erlaß ließ erſt jegt ven außerorbentlichen 
Reichsraih offictell fallen und forderte die Landtage anf, ausſchließlich vie Wahlen 
in den orbentlihen Reichsrath ber Februarverfafſung vorzunehmen und berief 
diefen auf den 18. März ein, um ihm die „rädfichtlic des Ausgleichs mit Un- 
arn nothmwendigen Verfafſungsveränderungen zur Annahme vorzulegen”. Da der 
Ansgleid bereit8 eine vollendete Thatfache war und dem Reichsrathe ein Einfluß 
auf deſſen Geftattung nicht mehr geftattet war, fondern einfach die Anerkennung 
derfelben von ihm gefordert werben mußte, namentlih aber die neue Iuftitutton 
der Delegationen den mehr oder weniger entſchieden cemtraliftiifch gefärbten An⸗ 
ſchauungen und Wünfchen der Deutſchen fehr weniz entiprad, fo flellte der kaiſer⸗ 
Ihe Erlaß von vormeherein and mehrfache liberale Berbefierungen oder Ergän⸗ 
zungen ber Febrnarverfaflung, wie bezüglih des Artikels 13 verfelben, des 
fogenannten Oktroyirungsartikels, und bezüglich einer wirklichen Miniſterver⸗ 
antwortlichleit in beftimmte Wusfiht. Die Herftellung der Berfafiung und ver 
Nädtritt Belcredi's war für die deutſchen Exrblande eine große Genngthnung, aber 
die Gefahr, von ven flavifhen und feubalen Elementen vielleicht überftimmt, 
jedenfalls aber in ihrem weiteren Vorgehen gehemmt und möglicher Weiſe in eine 
falſche Bahn gedrängt zu werden, war durch vie Rückkehr von dem fogenannten 
außerorbentlihen zum orbentlihen Reichſsrath noch mit nichten abgewendet. Die 
deutſchen Landtage wählten zwar in ven Reichsrath überwiegend im Sinne eines 
liberalen Fortſchritis, und von den Abgeordneten der ſlaviſch⸗italieniſchen Kron⸗ 
länder ſowie der Bukowina war voranszuſehen, daß fie aus jegt wieder nicht 
gegen, fonvern mit der Regierung gehen würden; aber von ven Landtagen Böhmens, 
Mährens, Galiziens, Krains und Tyrols mußte man gewärtigen, daß fle das 
deutfche Element theils ganz aueſchließen, theild wenigftens auf ein Minimum 
berabbräden und in Verbindung mit den fenbalen und klerikalen Elementen aus 
den beutfchen Erblanden zum allermindeften eine ſtarke Minorität bilden wärben. 
Die größte Gefahr, oder wenigftens die größte Schwierigleit drohte von Böhmen 
ber. Glücklicher Weiſe boten Inden die Ezechen felbft die Gelegenheit, fie zu be» 
ſeitigen. Statt einfach in den Reichsrath zu wählen und auch auf dieſem Boden 
das Gewicht ihrer zahlreichen Stimmen zu verwerthen, zog es die czechifch-feudale 
Mehrheit des Landtags mit 156 gegen 76 Stimmen vor, die Rechtsbeſtändigken 
ber Februarverfaffung zu beftreiten und ver Regierung Bedingungen ftellen zu 
wollen, unter denen fie allein fi zur Vornahme der Wahlen verfichen würde. 
Eben dasſelbe that mit 57 gegen 37 Stimmen bie czechijch-fendale Mehrheit bes 
mahriſchen nad die flovenifhe Mehrheit des Krainer Landtags. Die Regierung 
antwortete auf diefe Demonftrationen fofort (26. Febr.) damit, daß fie alle drei 
Landtage auflöste und Neumahlen anorbnete. In den beiden Landtagen Böhmens 
und Mährens halten fi die deutſchen und die czechiſchen Elemente der Städte 
und der Landbevolkerung fo ziemlid die Wage: ven Ausſchlag geben bie Vertreter 
bes Großgrumbbefiges, die 3. ®. in ben böhmifchen Landtag nit weniger als 
70 Abgeordnete ftellen. Durch fie bat die Regierung biefe Landtage mehr ober 
weniger in der Hand, Unter Belcrebi und dem Cinflufle feiner Organe hat 
denn auch die Großgrundbeſitzer im Januar ausſchließlich czechiſch und fer 





896 Nachtrag. 


gewählt, jest wählte er in Böhmen und Mähren unter dem Hochdrucke ber ver 
änderten Regierung ausſchließlich deutſch und wo nicht liberal bo verfaffung- 
getreu. Am 6. April traten bie nengewählten Lanbtage zufammen unb wählt 
nunmehr bebingungslos und im Sinne der jet deutſchen Majorität in ven Weiche 
rath, Böhmen 42 Deutſche und bloß 12 Czechen, Mähren 19 Dentſche und Bi 
3 Czechen. Die Czechen betbeiligten fih indeß nit an den Wahlen, verliche 
vielmehr unter Proteſt den Saal; die aus ihren Reihen Gewählten gämge 
nicht nah Wien und Mitte Mai festen fie fogar eine förmlide Wallfahrt nad 
Petersburg und Moskau in Scene, um aller Welt zu verlünden, daß fie ve 
Defterreih nichts mehr hofften und unter Umflänven bereit wären, ſich Ruplam 
in die Arme zu werfen. In Krain waren and bie neuen Wahlen überwiegen 
ſloveniſch ausgefallen und and der neue Landtag ſchickte lauter Slovenen nad 
Wien, da der deutſche Großgrundbeſitz dort nit ven Ausſchlag gibt, ſondern bicf 
eine Minderheit bildei. Der galiziſche Landtag hatte, um einer Auflöfung zu em: 
gehen, feinerfeit® gewählt und zwar faft lauter Bolen gegenüber wenigen Ruthenen: 
anders ale die Ezechen fpielte denn auch die polniſche Fraktion fpäter im Reichsrath 
eine fehr bebeutfame und folgenreihe Rolle. Der Reichsrath konnte unter dieſer 
Umftänden erfi am 22. Mai 1867 eröffnet werben. 
Bis dahin Hatten vie Ungarn Zeit, fih auf der nen errungenen bualifii- 
[hen Grundlage vollftändig einzuridten. Schon am 28. Februar brachte bat 
neue Minifterium Anbrafiy feine erften polittihen Borlagen im Landtage ein: bie 
proviſoriſche Berwilligung der Steuern, die Vollmacht zu Aushebung von 48,000 
Rekruten, die Wieberherftellung ver früheren autonomen Komitatsverfaffung in 
ihrem ganzen Umfange, vie Reftitution des Preßgefeges von 1848 und außerdem 
allgemeine Vollmacht bezüglich ver Ueberleitung der bisherigen Zuflände in vie 
neu zugeftandenen, Bis zum 9. März waren alle dieſe Vorlagen vom Land» 
tage und zwar mit großen Mebrheiten bewilligt; doch hatte derſelbe vie Vorficht, 
am 10. einftimmig eine Refolutien zu beſchließen, daß jene Vollmachten nur dieſem 
und keinem andern Miniſterium zugeftanden jeten. An vemfelben Tage übernahm 
das Iegtere die gefammte Verwaltung des Landes von ben bisherigen Miniſtern 
in Wien und legte am folgenten Tage den Ein in die Hände bes Königs ab. 
Sofort brachte es benn and ben Geſetzesentwurf bezäglih des Umfangs 
und der Behanblungsart der gemeinfamen Ungelegenheiten beider nunmehriger 
Neihshälften, das fogenannte 67er Elaborat, ein und bis zum 30. März war 
auch dieſes Geſetz ohne alle irgend welche wefentliche Mopififation mit 257 gegen 
117 Stimmen, die allerdings noch weiter gehen wollten und bie reine Perſonal⸗ 
union verlangt hatten, genehmigt. Die Vertreter Siebenbürgens faßen während 
biefer Zeit bereits im Peſther Landtag; die Beſchluſſe desſelben wurben aber 
vorerſt auf Ungarn beſchränkt und nit aud auf Stebenbürgen ausgedehnt, bas 
vielmehr, um den Rumänen und Sachſen keinerlei Handhabe zu einer gefährlicden 
Dppofition zu geben, von Peſth aus bloß „proviſoriſch“, d. h. ziemlich willfärlid 
und geradezu rüdfihtslos verwaltet wurde, Um fo rüdfihtsvoller dagegen glaubte 
das neue ungarifche Regiment für einmal noch gegenüber dem flörrigen Kroatien 
fein zu follen. Am 9. April wurde der dortige Landtag einfach aufgeforbert, feine 
Krönungsbeputirten nad Peſth zu entfenden, unter allem Borbebalt bezüglich bes 
übrigen Ausgleichs zwiſchen ven beiden Gliedern der Stephanstrone. Doc benftte 
Ungarn vie erfte Öelegenheit an fi unbenentender Unruhen in Fiume, um fofert 
einen töniglihen ungariſchen Kommiffär dahin zu ſchicken und ſich auf dieſe Weiſe 
des wichtigen und zwiſchen beiden Ländern ſeit lange fixeitigen Punktes zum 


u 











Ocherreihifh-ungarifhe Monarchie. 897 


voraus zu verfidern. Als der eisleithaniſche Reichsrath am 22. Mai in Wien 
zufammentrat, war von ben Ausgleihsbeningungen mit Ungarn nur noch die ver- 
fpeochene Reviſion der 1848er Geſetze unerledigt. Die Ungarn zögerten gerne 
bamit, bis fie exft fähen, wie fih bie Dinge in Wien und die Stimmung bes 
Reichsraths bezüglich des Ausgleichs anließen, bevor fie auch dieſe Konceifion in 
aller Form Seflegeften Daß aber auch dazu die Majorität des Landtags eventuell 
völlig bereit fei, darüber konnte gleichfalls kein Zweifel mehr walten. Zwiſchen 
dem Hof, der zeitweilig bereits in Ofen refibirte und dem neuen ungariſchen 
Minifterium fo wie der entſchieden überwiegenden Öffentlichen Meinung Ungarns 
war bereits das befte Berhältniß eingetreten. 

Liberale Umgeftaltung aud der weſtlichen Neihshälfte Fi— 
nanzieller Ausgleih mit Ungarn. So fand der Reichsrath, als er am 
22. Mai zufammen trat, die Neugeftaltung des Reihs auf dualiftifcher Grundlage 
als eine fo ziemlich vollendete Thatſache vor, die er einfach genehmigen mußte, 
Beide Hänfer fprachen dies auch in Ihren Antwortsadrefſen auf die Thronrede in 
den erflen Tagen des Inni unummunden aus und räumten damit die legten Be⸗ 
forgniffe der Ungarn aus dem Wege. Der ungariſche Landtag erlenigte daher 
nunmehr aud ohne alle Schwierigkeit die Revifion der 1848er Örfege und ſtellte 
am 6. Juni das fogenannte Inauguralbiplom fehl. Der König unterzeichnete es 
am folgenden Tage ohne Anfland und fo konnte denn endlich am 8. Juni vie für 
Ungarn fo bebentfame Krönung des Königs unter großem Gepränge flattfinden. 
Die ungarifche Frage war tamit für einmal und wie man gofen burfte, anf 
längere Zeit hinaus völlig erledigt. Nur ver finanzielle Ausgleih zwiſchen 
den beiden Neihshälften war noch zu treffen. Daß auch er zu Stande kommen 
werbe, war kaum zweifelhaft, obgleih vorauszufehen war, daß gerade dieſe Aus⸗ 
einanberfegung noch große Schwierigkeiten bieten werde. Das Abgeordnetenhaus 
des Reichsraths fand es denn auch für paſſend, ſchon jetzt darauf binzubeuten 
und bie Interefien dieſer Reihshälfte zum vorans zu wahren. Aber zunächſt gab 
die Worefie derjenigen Anfhanung, die fi in ben legten Monaten diesſeits ber 
Leitha immer mächtiger emporgerungen Batte, energifhen Ausprud, der Anſchauung, 
daß die Berfaflung endlich eine Wahrheit werden, daß einer Wiederkehr feubaler 
Gelüſte wie unter Belcredi für immer ein Damm entgegen gefegt, daß zu biefem 
Ende die Berfaffung revidirt und in liberalem Sinne ergänzt, daß bie gefammte 
Geſetzgebung und Verwaltung im Sinne der Freiheit und des Fortfchrittes einer 
gründlichen Reform unterzogen werben und daß fchließlih auch ven bisherigen 
Uebergriffen der Kirche ein Ziel gejegt und das Konkordat, das Schmerling nicht 
anzutaften gewagt hatte, mit ober ohne Einwilligung der Kurie in mehr als einer 
Beziehung revidirt, refpeftive geradezu abgeſchafft werben mäffe. Ungarn fland 
dabei den Vertretern Weftöfterreihs als leuchtendes Beiſpiel vor Augen: und In 
der That, was bie Krone jenfeits der Leitha zuzugeſtehen fich bemälfigt gefehen 
hatte, konnte fie der Neichöhälfte diesſeits der Leitha nicht vorenthalten, wofern 
ber Reichsrath die rechten Wege einfhlug, dahin zu gelangen. Die Regierung 
felber war aud bereit, dem Verlangen der Öffentlihen Meinung entgegen zu 
Iommen. Der Abſolutismus hatte in Defterreih volllommen abgewirthſchaftet. 

Bei aller Neigung zum Entgegenlommen mußte e8 der Regierung indeß doch 
wer fallen, auf die alte, eingemwurzelte Gewohnheit willtärlihen rückſichtsloſen 
Borgehens nunmehr gänzlich zu verzihten und bie Energie des Reichsraths follte 
ion von vorneherein auf die Probe geftellt werben. Der unglückliche Krieg von 
1866 Hatte felbftverflännlih eine Reform der Armee ganz unausweichlich erſcheinen 

Biluutjgli un Brater, Deutſchet Staats-EBörierbuß. XI. 57 


— 


898 Nachtrag. 


lafſen und die Regierung erließ denn auch noch vor Ablauf bes Jahres 1866 
ein anf die allgemeine Wehrpflicht gegründetes nenes SHeerergänzungsgefeg, Das 
zwar feiner Zeit den Bertretungslörpern zur verfaffungsmäßigen Zuftlimmung 
vorgelegt werben follte, das fie jedoch bis dahin in feinen wichtigfien Befimmungen 
fofort ins Leben rufen wollte und alfo oftropirte. Die Ungarn aber remen 

fofort energifh und die Regierung fah fi ſchon Mitte Ianuars 1867 gendthigt, 
das Geſetz für Ungarn wieder anfer Kraft zu fegen. Mit den gebulvigeren 
Deutſchen viesfeits der Leitha glaubte fie dagegen weniger Umſtände machen zu 
dürfen und nahm auf die Remonftrationen der bald darauf zuſammentretenden 
Landtage, namentlich desjenigen von Niederöſterreich Teinerlei Rädfiht. Noch mehr 
erbitterte bier ein anderer Vorgang. Bald nad dem Kriege von 1866 hatte vie 
Regierung den Plan gefaßt, Wien zu befeftigen und obgleih die Ausführung 
felbftverftändlih Millionen verfhlingen mußte, nicht daran gedacht, daß dazu vor⸗ 
ber die Bewilligung der Volksvertretung einzuholen fein möchte Der Kriegs- 
miniftee John beabfidhtigte vorläufig die paar Millionen, die Italien nach dem 
Frieden von Wien an Oeſterreich zu zahlen Hatte, auf diefe Arbeiten zu verwen⸗ 
den, und zwar ohne darüber aud nur mit dem Winanzminifter Rückſprache zu 
nehmen und obgleih fie überdieß noch gar nicht fällig waren; wäre nur erft au- 
gefangen, fo müßte der Reichsrath das weitere gern oder ungern wohl bewilligen. 
Wien gerieth darüber in Aufregung und ver niederdſterreichiſche Landtag ſprach 
fih Anfangs März aufs elnpringlichfte gegen den Plan ans. Demungeachtet ſchloß 
der Kriegaminifter wenige Woden vor dem Zufammentritt des Meicheraths eime 
Reihe von Verträgen über dieſe Befeftigungsarbeiten mit Unternehmern ab. Das 
war in der That der alte Abſolutismus in ſchönſter Blüthe. Allein das eigen» 
mächtige Vorgehen des Kriegsminifters fließ fhon in der Kommiſſion des Reichs- 
rathe anf einen fo energifhen Tadel und auf fo entſchloſſenen Widerſtand, daß 
die Regierung gar nit wagen mochte, es auf eine Diskuffion im Wbgeorbueten- 
hauſe anlommen zu laflen. Schon am 17. Juni erllärte Beuſt, daß das Mini 
fterium auf bie Befeftigung Wiens verzichte und das Heerergänzungegeſetz vor 
feiner Ausführung dem Entſcheid des Haufes unterftellen werde. Damit war der 
Boden für die parlamentariihe Thätigkeit des Reichsraths wenigftens geebnet. 
Der Minifterpräfident legte auch fofort Gefegesentwärfe bezüglich des fogenannten 
Dfiroyirungsartifeld und der Minifterverantwortlicleit vor. Beide Vorlagen wur⸗ 
den etwas fpäter vom Reichsrathe mit nicht unwefentlihen Modifikationen ge 
nehmigt. Das legtere Gefeg gehört zur Tonftitutionellen Theorie und die Faflung, 
die es vom Reichsrath ſchließlich erhielt, varf für die Materie nahezu ale muſter⸗ 
gültig angefehen werden. Bon großem praktiſchem Werthe ift es trogbem faum. 
Biel wichtiger war, daß am 11. Juni die Generaladiutantur des Kaiſers, welde 
die Berantwortlicgleit des Kriegsminifters in den weſentlichſten Dingen zu einer 
Illuſion machte, aufgehoben wurde (freilich blieb vorerft noch das dem (Erzherzog 
Albrecht übertragene Armee-⸗Oberkommando, das biefelben Uebelſtände in noch viel 
höherem Grade wit fi führte), daß am 30. Juni eine volle Amneſtie für alle 
Berurtheilten von 1848 ber ertheilt und daß fchon im Lanfe des Juni bie. Ein- 
jegung eines parlamentariſchen Minifteriums, aus den Reihen der DMajorität des 
Abgeortnetenhaufes, in ernfle Erwägung gezogen wurde. Die Ausführung verzögerte 
ſich allerdings noch trog aller Bereitwilligkeit Beufts, weil der Hof noch immer 
in dem Wahne fand, das Konfordat mit Nom intat erhalten zu können unb 
von den parlamentariſchen Minifterfanbivaten verlangte, daß fie für die volle 
Ausführung des mit Ungarn getroffenen Ausgleichs zum voraus einftehen follten, 











Oeſterreichiſch⸗ ungariſche Monarchie. 899 


Die Führer des Abgeordnetenhauſes wollten und konnten ſich aber weder zum 
einen noch zum anderen verſtehen. Die Majorität des Hauſes war vielmehr, und 
ganz richtig entſchloſſen, dem politiſchen Ausgleich mit Ungarn nicht eher beizu⸗ 
treten, als Bis auch ver finanzielle vereinbart ſein werde und ſpäter wurde bie 
Zufimmung nod weiter verſchoben, bis die Regierung auch pie liberale Reviſion 
der Stantögrundgefege ihrerſeits fanktionirt und damit dem Konkordat wenigftend 
princtpiell den Boden entzogen und einem parlamentarifchen Regiment wirklid und 
nach allen Seiten vie Bahn frei gemacht haben werde. Das Haus hatte niit 
feiner Zufimmung zum Ausgleiche mit Ungarn bie Regierung In der Hand und 
machte davon im Intereffe einer freiheitlihen Entwidelung auch der biesfeitigen 
Reichshälfte nah dem Vorgange ber anderen benjenigen Gebrauch, den ber für 
Defterreih entſcheidende Moment zu verlangen fchien. Das Miniflerium wurde 
daher am 30. Juni vorläufig bloß dahin modificirt, daß Freiherr v. Beuft zum 
Reichtkanzler, Graf Taaffe zum Minifterpräfinenten » Stellvertreter und Hye, 
ein gewandter Arbeiter aber unfelbftänbiger Charakter, zum Iuftizminifter er⸗ 
nannt wurde, 

Die nächte Aufgabe war, den politiihen Ausgleich mit Ungarn durch einen 
finanziellen zu vervollſtündigen. Der Reichsrath und der ungariſche Landtag be- 
ſtellten zu dieſem Ende Kommiffionen von je 15 Mitgliedern, von denen wieber 
je 10 dem beiveffenden Abgeordnetenhauſe, je 5 dem Oberhaufe angehörten, bie 
am T. Unguft in Wien zufammentraten. Der Finanzminifter v. Bede Hatte 
vorher dem Abgeordnetenhauſe bes Reichsraths eine Darlegung der Finanzlage 
übermittelt, weiche die verzweifelten Finanzzuflände mit gewohnten Optimismus 
im rofigften Lite erſcheinen ließ, während ein vom Reichsrath felber niedergefegter 
Finanzausſchuß durch den Abgeordneten Herbft einen Bericht erflattete, ber um⸗ 
gelehrt die Finanzlage fo troſtlos anſah, daß in Wahrheit nichts als ein Staats⸗ 
banferott übrig zu bleiben fchien, obgleih fi vie Rommilfion wohl hütete, das 
verhaͤngnißvolle Wort felber auszuſprechen und bie Verantwortlichkeit dafür viel- 
mehr der Regierung zuzuſchieben bemüht war. Allen Anſchein nad war bie 
Majorität des Reichsraths zu jener Zeit derſelben Anſicht oder fland ihr wenig. 
ſtens verzweifelt nahe. Noch viel mehr aber war dies von Seite Ungarns der Fall. 
Ungarn hatte von jeber Fein Hehl daraus gemacht, daß es die Stantsfchuln, 
bie fein Landtag wit bewilligt habe, nicht anerfenne, und daß es Feine Luft 
habe, einen aliquoten Theil verjelben auf feine Rechnung zu übernehmen, ber 
es von Anfang an dazu verurtheilt hätte, ſein felbflänpiges Leben mit einem 
Defickt zu beginnen und ſomit alsbald verfelben Mifere zu verfallen, in ver 
fih ber Geſammtſtaat ſeit Iahren befand. Die Uusgleihstommiffionen hatten 
indeß erft in zweiter Linie über die Staatsſchuld, in erfter Über bie Art 
wuıd Welle zu verhandeln, wie inskünftig hie Koften der als gemeinfam an« 
ertannten Ungelegenbeiten auf vie beiden Reihshälften vertheilt werben follten. 
Auch diefer Ausgleich fiel fehr ungünftig für Weftöfterreih aus, Anfangs hatten 
die Ungarn ſogar die Stirne, vorzufhlagen, daß Weftöfterreihd von biefen 
Koſten drei Biertheile, fie ſelber aber nur ein Biertheil übernehmen jollten; 
ſchließlich verkändigte man fi Über das Verhältniß von 70 und von 30 Procent. 
Bezüglich der Staatsſchuld aber proponirten die Ungarn zunächſt geradezu ben 
Staatabankerott und erft als die reichsräthliche Kommiſſion daranf nit eingehen 
wollte, entihloflen fie fih, von ben Zinfen der Staatsſchuld nicht ganz 30 Pro⸗ 
cent als fire, feiner Beränberung unterworfene jährliche Abihlagsfumme zu über- 
nehmen, ‚ohne indeß fich ihrerſeits zu irgend einer Verpflichtung bezüglich des 

| 57 * 


900 Nachtrag. 


Kapitals ſelber zu verſtehen. Die Bertreter Weſtöͤſterreichs mußten zufrieden fein, 
nur ſoviel erreicht zu haben, obgleich fle ſich nicht verhehlen konnten und and 
nicht verhehlten, daß biefes abfolut außer Stande fei, die fo Übernommene Laſt 
zu tragen und baß daher eine Entlaflung db. h. ein wenigftens theilmeifer Staat#- 
banterott früher ober fpäter ganz unansweidhlich fein würde, fo fehr fie fih auf 
fperren mochten, dies jegt ſchon offen einzugeftehen. Im übrigen tröfteten fich biz 
Weftöfterreicher, wenn fie über die Schwere der ihnen zugeſchobenen Autheils der 
jährlichen Koften für bie gemeinfamen Angelegenheiten, alſo namentlih auch für 
das gemeinfame Heer feufzten, damit, taß Ungarn auf dieſe Weiſe wenigfiens fefl 
an das Geſammtreich gebunden fein werde und bie bloße Perfonalunion in weitere 
Gerne gerüdt fein dürfte. 

Inzwifchen hatte ſich der Reichsrath feit dem 25. Juli vertagt und trat erft 
am 23. Sept. wieder zufammen. Die Lage geftaltete fi alsbald ſehr bedeutungs⸗ 
voll. Je ungünſtiger der Ausgleih. mit Ungarn für Weflöfterreih nit nur po- 
litifh, fondern auch financiel auszufallen drohte, je größer die Laſt war, bie es 
auf feine ohnehin ſchoun genug gebrüdten Schultern übernehmen follte, um fo 
tiefer wurzelte der Entſchluß, dafür wenigftens ver ererbten Uebelſtände ein für 
allemal gänzlich los nnd einer Freiheit, wie fie Ungarn nunmehr genoß, theilhaft 
zu werben. Zu dieſem Ende aber mußte vor allem das Konkordat befeitigt over 
doch wenigſtens entſcheidend durchbrochen werden. In rein politiihen Dingen bst 
die Regierung den Wünfchen des Reihsrath8 und der Öffentlihen Meinung jest 
willig die Hand; bezüglich des Konkordats aber hielt der Hof noch immer an 
feinen alten Anſchauungen feft und kam die Regierung ber Öffentlihen Meinunz 
ganz und gar nicht entgegen. Die Durchbrechung dieſes unfeligen Bertrags murfte 
gegen bie Regierung, gegen vie Krone und gegen ben zähen Widerſtand eines 
mächtigen und erbitterten Klerus von ber Öffentlihen Meinung durchgeſetzt werben 
und iſt aud von ihr allein durchgeſetzt worden. Selbſt Beuft hatte nicht Den 
Muth, auf bier den Hebel anzufegen. Entſchuldigte er ſich doch noch Mitte 
Septembers in Brünn, daß er fein Ziel nicht aufer Uugen lafle, „wenn er auch 
nicht die abſchüſſigſte Stelle wähle, um auf den Berg binaufzulommen”. Der 
erfte Anlauf gegen das Konkordat erfolgte fon vor der Bertagung des Reichs 
raths, nod im Juli: Mühlfeld, ver alte Kämpfer für flaatlie Freiheit gegen 
bie Uebergriffe der Kirche, nahm ven Faden da, wo er im Jahr 1862 durdy die 
Shwähe Schmerlings abgebrochen worden war, wieder auf und trug auf ein 
umfaflendes Religionsgefeg, Herbft auf die Wieverherflellung ber weltlichen Ge— 
richtsbarkeit in Eheſachen, auf die Emancipation der Schule vom Klerus und auf 
die Regelung ver Interfonfeffionellen Verhälteniſſe durch Gefege an. Der Minifter v 
Hye fuchte den Schlag abzuwenden, indem er neuerdings „koncillatoriſche“ Ber 
handlungen mit Rom in Ausficht ftellte. Das Abgeordnetenhaus war aber fo gut 
die Regierung Überzeugt, daß auf biefem Wege niemals aud nur das Geringſte za 
erzielen fein werde und der Minifter reizte die Berfammlung daher nur, als er beifügte, 
es müfle „jelbft der Anfchein ver Mißachtung beſtehender Vertragsv 
vermieden werden”. Das Haus erlannte, daß von der Regierung in vieler 
nichts zu erwarten ſei. „Hilf dir felbft und Gott wird dir helfen”! rief ein Red 
und der allgemeinfte Beifall antwortete feiner Aufforverung. Ein förmlicher 
trag auf Unterhandlungen mit Nom wurde faft einftimmig abgelehnt und 
Antrag Herbſts mit 134 gegen bloß 22 Stimmen einem konfeffionellen Ausf 
üherwiefen. Anfangs September trat der erſte öſterreichiſche Lehrertag in Wien 
fammen und derfelbe geftaltete fich alsbald zu einer wahrhaft vernichtenden Demo 














uam D muennnT 


Oefterreichifch-ungarifche Monarchie. 90L 


firation gegen das Konkordat. Obgleich meift abhängig vom Klerus batten bie 1500 
aus allen Thellen ver Monarchie herbeigeeilten Lehrer ben nicht zu unterſchätzenden 
Muth, faſt einftimmig die Selbflänbigkeit der Schule d. 5. ihre Emancipation 
vom Klerus zu verlangen. 

Jetzt hielten es die mächtigen und folgen Biſchöfe Defterreihs an der Zeit, 
für da8 Konkordat und ihre Herrſchaft durch eine, wie fie meinten, entſcheidende 
Demenftration einzutreten. Kaum war der finanzielle Ausgleich mit Ungarn vor⸗ 
läufig abgeſchloſſen, was fie abwarteten, um ber Regierung darin keinerlei Schwierige 
teiten zu verurfahen, als 25 Erzbifhöfe und Biſchöfe unter dem VBorfige des 
Wiener Karvinal- Erzbifhofs Rauſcher zufammentraten und eine Adreſſe an ben 
Kaiſer beſchloſſen, in ver fie das angegriffene Konkordat unter den Schuß des⸗ 
felben flellten. Die Adreſſe war in ber leidenſchaftlichſten Sprade abgefaßt und 
gams geeignet, einen ebenfo leidenſchaftlichen Widerſpruch hervorzurufen. Wenige 

age nachher war der Obmann des Tonfeffionellen Ausſchuſſes des Abgeordneten⸗ 
hauſes in der Lage, demfelben anzuzeigen, ver Minifter v. Hye babe fein Er- 
ſcheinen im Ausſchuſſe verweigert, nachdem ihm Karbinal Rauſcher mitgetheilt, 
„daß er zur Zeit des Konkordatsabſchluſſes mit einer Generalvollmacht ver Regie⸗ 
rung verfehen worden, kraft welcher keine Berhandlung über interfonfeffionelle 
Angelegenheiten, fpeciell über gewifle Punkte (Miſchehen) ohne Zuftimmung der 
Kurie ins Werk geſetzt werben könne”. Nun brach ver fhon lange drohende Sturm 
mit aller Gewalt los und die Biſchofe mußten fi fagen, daß fle felbft es ge- 
weien jeien, die ihn entfefjelt. Der Lonfeffionelle Ausſchluß beſchloß fofort ein- 
ſtimmig, ohne weitere Rüdfihtnahme auf die Regierung an bie Uusarbeitung ber 
ihm übertragenen Gefegesentwärfe zu gehen und namentlih volle Emancipation 
der Schule von der Kirche, mit Ausnahme des Religionsunterrichts, zu beantragen, 
Der Gemeindersth von Wien, der niht ohne Grund eine Stelle der Biſchofs⸗ 
adrefie auf fih und fein Wirken für Berbefierung des ſtädtiſchen Schulweſens 
bezog, votirte einftimmig eine Adreſſe an den Kalfer, um ſich gegen fo ungerechte 
Bormwürfe zu verwahren und bald kamen ans allen größeren und mittleren Stäbten 
ber Monarchie Betitionen und Apreflen gegen das Konkordat. So ſtark war ber 
momentane Bug der Geiſter, daß die Biſchöfe für den Ungenblid nicht einmal 
Gegenadrefſen zu Stande brachten und daß folde auch fpäter auffallend wenig 
Unterfohriften zählten. Die Biſchbfe erlitten eine erſte Niederlage, ale der Kaifer 
ihnen am 16. Oft. notificirte, daß er die Übreffe, die an ihn perſönlich als an 
benjenigen, der das Konkordat unterzeichnet und fi damit, wie fie meinten, ver- 
tragsmäßig gebunden hatte, gerichtet war, feinem verantwortliden Miniſterium zuge» 
mittelt babe und ihnen fogar einen fehr verſtändlichen Tadel wegen ihres leiden⸗ 
ſchaftlichen Wuftretens nit erfparte. Um 23. Oft. nahm das Abgeordnetenhaus 
das Geſetz betreffend Wieverherftellung der bürgerlichen Ehegerichte und brei Tage 
darauf and) das Schulgefeh, das die Kirche und den Klerue auf ven Neligions- 
unterricht beſchränkte und alles übrige für die Stantsgewalt vindicirte, mit großen 
Mehrheiten an. Beide Gefege gingen nun ans Herrenhaus, während das britte 
über die Interfonfeffionellen Berhältniffe noch im Ausſchuſſe vorberathen, die Ent⸗ 
ſcheidung bes Herrenhaufes aber bie zum Frühjahr 1868 Hinausgezogen wurde. 

Zu verfelben Zeit, in den leuten Monaten des Jahres 1867, war das 

Abgeorpnetenhaus mit der Aufgabe befhäftigt, die Februarverfaffung zn revidiren und 
ihr weitere Fundamente beizufügen, um fo den Boden zu gewinnen, auf dem fid 
ein wirklich parlamentarifches Syſtem für Cisleithanten erheben tönnte, wie es 
nunmehr in Ungarn bereits in anerfannter Wirkfamleit war. Am 5. Oft. legte 
























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Oeſterreichiſch/ ungariſche Monarchie. 903 


enanrie, in vlerzehn Punkten aufgezählte Rechte zu, während alles übrige den 
andiagen vorbehalten Bleibt. 
8 ua Principiell beruht daher Defterreich feit 1867, ganz abgefehen von Ungarn 
Mund dem Daalismns im Großen und zwifchen den beiden Reichshälften, aud für 
i Zu Wæweſtoerreich nicht mehr auf einheitlicher, ſondern bereits auf unzweifelhaft föde⸗ 
M xaliſtiſcher Grundlage und wenn and ſeither das von den deutſchen Elementen 
= * gehaltene einheitliche Princip noch das Uebergewicht behauptet hat, fo kann doch 
—— 2 erſt die Zukunft lehren, ob es den flavifchen Elementen nicht gelingt, auf ber im 
= 2 Dftober 1867 errungenen Grundlage weiterſchreitend dem entgegengefegten Princip 
= zum liebergemicht zu verhelfen, wozu dieſelben Polen Galiziens bereits im Jahr 
= 8 1868 einen entfchienenen Anlanf zu maden unternahmen, über den in biefem 
== Augenblid noch nit definitiv entſchieden ift. Jenes Princip findet inzwifchen feine 
eu Bervofifländigung zu Gunften der verſchiedenen flavifhen, rumäniſchen und Ita» 
—=z: lieniſchen, überhaupt aller nicht ˖deutſchen Elemente Weftöfierreihs darin, daß durch 
= m die Stantögeundgefege ausdrücklich jegejebt ward, daß „ohne Anwendung eines 
m Zmangs zur Grlernung einer zweiten Sprache, jeve Nationalität die erforberlichen 
= Mittel zur Ausbildung ihrer Sprade erhalten folle”. Rechnet man dazu, baß 
2 == duch bie revidirte Verfaffung auch das gefammte Vollsſchulweſen mit einziger 
— Uusnahme der darüber aufzuftellenden Normen, vie fi der Reichsrath vorbehielt, 
es den Landtagen Überlafien wurde und daß demgemäß fon jest in allen rein 
ze flavifhen zc. Gegenden Deflerreiche durchaus national amtirt wird, d. h. Gerichte, 
Verwaltungsbehörden, Bezirksvertretungen, Schulen fi der nationalen Sprade 
un hebienen, fo läßt fi kanm läugnen, daß den nicht⸗deutſchen Nationalitäten politifch 
:za und fpradhlich die Arena meit geöffnet ift, nm nicht bloß ihres nationalen Lebens 
zz in voller Sreiheit zu genießen, ſondern basfelbe auch zu entwideln, fo weit fie es 
nur immer ihrer Innern Kraft nad vermögen und daß jeder weitere Schritt in 
si dieſer Richtung leicht dahin führt, das deutſche Element, das wie in Böhmen, 
Mähren :c. neben ihnen wohnt unb alle viefe Bölkerſchaften als allgemeines 
Kultuselement durchzieht, zu unterbräden und daß Oeſterreich allen feinen nicht⸗ 
deutſchen hiſtoriſch⸗ politiſchen Inbividunlitäten eine Selbſtändigkeit eingeräumt und 
garantirt bat, bis an jene Linie, die es abfolut nicht überfchreiten barf, ohne in 
feine Elemente zu zerfallen, die ſich dann vielleicht nicht föderal zufammenfcließen, 
fondern wenigftens theilweife ihren naturgemäßen Anſchluß anderswo ſuchen wür- 
den. Eine Art Gegengewicht gegen die föderaliſtiſche Tendenz des Reichs wurde 
ſchon damals bei Gelegenheit der Berfaffungsrenifion darin gejucht, daß die Zahl 
ber Mitglieder des Abgeordnetenhanſes um die Hälfte ober fogar um das Doppelte 
vermehrt und biefelben nit mehr von den Landtagen, fondern birelt von der 
Bevötlerung gewählt würden. Diesfällige Anträge blieben aber damals noch in 
großer Minprität. Zur Stärkung der Gentralgewalt gegenüber ven polnifchen Be- 
firebungen nah Schwächung verfelben und verftärkter Zandtagsautonomie wurben 
auch dieſe Verſuche ſeither (1868) wieder aufgenommen und zwar felbftverftänplich 
von beutfcher Seite, zunächſt vom niederöfterreichiſchen Lanbtage: aber vorerft 
ohne Ansfiht auf Verwirklichung. 

Nun exſt (12.20. Neo.) wurde auch das Delegationsgefeg vom Reiche: 
rathe votirt und zwar vom Abgeorbnetenhaufe in feinen wichtigeren Beftimmungen 
mit allen gegen bloß 4 Stimmen. Nach dem Borjchlage ver Regierung wurbe 
aber au Hier das föderaliftiiche Princip in Anwendung gebracht, fo daß bie 
40 Delegirten des Abgeordnetenhauſes nicht frei aus dem Plenum, ſondern nad 
einer feftgefegten Berbältuigzahl durch. vie Vertreter Böhmens, Baliziens ıc. ⸗ 


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904 Nachtrag. 


wählt werben. Größere Schwierigkeiten machte das fogenannte Quotengeſetz und 
das Staaitsſchuldengeſetz, zumal das letztere, das auf die Schultern Citleithauient 
eine übermäßige Laft wälzte. Wieverum kam daher bie Frage eines wenigſtens 
theilweiſen Staatsbankerotts zur Sprache. Allein wie bie biesfeitigen Delegirten 
in der Ausgleihstommtifton viefen Plan, als er von Ungarn angeregt wurde, 
ablebnten, fo erfhrad auch jet wieder das Abgeordnetenhaus des Reichsrathe, 
als er ihm tn einer Refolution offen vorgelegt wurbe, genehmigte aber freilich eine 
andere Refolution, die verhält im Grunde doch dasſelbe fagte, und berem Urheber, 
inzwifchen Minifter geworben, kaum ſechs Monate [päter mit feinen Kollegen ben 
theilwelfen Staatsbanterott im Namen der Regierung ragen genöthigt war. 
Faſt in denfelben Tagen genehmigte auch der ungariſche tag dieſelben Geſetze, 
doch ſtanden dort der Majorität von 225 und 229 Stimmen eine Mincrität 
von 89 und von 110 Stimmen entgegen, welde bie für Ungarn financlell doch 
fo überaus günftigen Verträge verwarfen, weil fie der reinen Perfonalunion wider 
fpradden. Dagegen wurde das Zoll⸗ und Handelsbündniß zwiſchen beiden Reichs- 
bälften von beiden Vollövertretungen mit großen Mehrheiten angenommen. Bis 
zum 20. Dec. hatte au das Herrenhaus allen dieſen Geſetzen feine Zufimmung 
ertbeilt. Um fie zu ſichern, war von der Regierung vorfiätshalber Ende Rovember 
noch ein neuer Pärsſchub vorgenommen worben. Der Ausgleich mit Ungarn war 
nah allen Seiten vollendet. Es fehlte nichts mehr als die kalferlihe Sanktion. 

Bezüglich der Ausgleichsgeſetze war an biefer freilich nicht zu zweifeln. ber 
beide Bollsvertretungen glaubten virtuell an ven Ausgleich die Bebingung fuäpfen 
zu müſſen, daß die weſtliche wie bie öſtliche Reichshälfte fortan Tonftituttomell 
regiert und daß jeder Rückkehr des früheren feubal-Flertlalen Abfolutiemus ein 
Niegel vorgefehoben werden müſſe. Der Reichsrath hatte ſeinerſeits biefes Ziel feit 
dem Sommer nie aus den Augen gelafien und an feine Zuflimmung zu ben Aus- 
gleihögefegen wenigftens die Bedingung der Sanktion der vier Staatsgrundgefege 
fowie der revidirten Febrnarverfafiung geknüpft und jene erft ertheilt, als ber 
Minifterpräftvent ſich daflic geradezu verbärgt hatte Am 21. Dec. ſprach ber 
Kaiſer diefe Sanktion aus und die Geſetze traten ſchon am folgenden Tage zu⸗ 
gleich mit der Verkündigung auch in Kraft. Der ungarifhe Landtag aber verſchob 
die Wahl feiner Delegation, bis der Kaiſer auch ned ein parlamentariſches Mini- 
ſterium eingefegt haben werde. Am 30. Dec. wurbe aud dies vollzogen, indem 
ber Kaiſer die bisherigen Führer der Majorität des Wbgeorbnetenhaufes, Gistra, 
Herbſt und Breftel in das Minifterium berief, dem ber liberale Fürſt Carlos 
Auersperg als Präfldent vorgefegt wurde, nachdem ber Kalfer ſchon am 24. Der. 
den Reichskanzler Beuft, den Kriegsminifter John und ben Yinan 
Bede zu Reichsminiſtern oder Miniftern für die gemeinfamen Angelegenheiten 
beider Reichshälften erhoben hatte. 

Der Bruch des Konlordats. Defterreih, bis dahin der Hort bes 
abfolutiftifch-reaktionären Syſtems, trat mit dieſem Momente in bie Reihe ver 
liberalen Staaten Europas ein. Auf den Namen eines modernen Staates Tonnte 
e8 aber erft Anfpruch maden, wenn es ihm gelang, bad Konkordat zu durchbrechen 
und die ſtaatlichen Interefien von der alles überwuchernden Herrſchaft der Kirche 
zu befreien. Gerne hätte die Majorität des Abgeordnetenhauſes aud dies zur 
Bedingung ihrer Zuftimmung zu dem Ausgleih mit Ungarn, vie Ihr ohnehin 
politifh und finance fo ſchwer fiel, gemadt; aber fie mußte ſchließlich darauf 
verzichten. Das britte ber fogenannten Tonfeffionellen Geſetze war vom Ausſchnuß 
noch gar nicht eingebracht und das Herrenhaus zögerte, auch nur bie beiden ſchen 





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Oeſterreichiſch⸗ ungariſche Monarchie. 905 


vom Wögenrbnetenhanfe genehmigten in Behandlung zu ziehen. Daß auch nad 
ber Zuftimmung des Herrenhanfes bie kaiſerliche Sanktion zweifelhaft fei and daß 
dieſes Zugeffänpnig an den Zeitgeifi den Kaifer mehr als alles andere koſten 
werde, konnte man ſich nicht verheblen. Allein es ſchien doch allzu gefährlid, auf 
das, was augenblidlih zu erlangen war, vorerft zu verzichten, um Alles zu ge» 
winnen, aber mögliher Weiſe auch Alles wieder in Frage zu flellen. Die öffent- 
liche Meinung fette ihren Willen doch dur; der Zug ber Zeit war zu ſtark, 
als daß es möglich geweſen wäre, fi) dieſem Schritt zu entziehen, der zubem 
nur als eine Konfequenz der ganzen Umwandlung erſchien, in melde Oeſterreich 
obne Rückhalt eingetreten war. Um 12. März wurbe aud das britte Tonfeffionelle 
Geſetz, über die interlonfeffionellen Verhältniffe, anf das die neuen Minifter 
bereit3 einen entſchieden mäßigenden Einfluß ausgeübt hatten, um es den Un- 
ſchauungen der Kirche und des Kaiſers annehnibarer zu wachen, im Abgeorbneten- 
hauſe eingebracht und Bald baranf ohne allzu große Schwierigfeiten durchgeſetzt. 
Die nähfte Entſcheidung lag nunmehr in der Hand des Herrenhaufes. Dasfelbe 
fühlte die ganze Schwere der Verantwortlichkeit, die dabei auf ihm lag, für bie 
Zulunft des Reichs wie für feine eigene Eriftenz. Außerhalb bes Haufes hatte 
die Spannung der Bffentlihen Meinung ven hochſten Grad erreicht, innerhalb 
desfelben aber traten fih zum erften Mal zwei Parteien kompalt und ſchroff ent- 
gegen. Die Mehrheit der Kommlffion trug anf Annahme des Gefepes, die Minder⸗ 
beit auf nene Unterhandlungen mit Nom an, Graf Mensporff ftellte ben Ber- 
mittlingsantrag auf Vertagung. Am 21. März 1868 wurde nad zweitägiger 
Debatte zur Abſtimmung gefäritten. Das Haus war von gewaltigen Volkomaſſen 
umlagert, die jedem Ja und Nein mit athemlofer Spannung folgten. Endlich 
ergab fi das Reſultat: der Vertagungsantrag war mit 65 gegen Ab Stimmen, 
der Minoritätsantrag mit 69 gegen 34 Stimmen abgelehnt. Die große Frage 
war entjchieden. Schmollend zogen ſich die YBifchöfe und die Spigen der Feudalen 
zurüd und erfchienen vorerft nit mehr in den Sitzungen bes Haufes. Bis zum 
14. Mai hatte dasfelbe alle drei Geſetze mit nicht allzu weientlihen Mobi- 
fifationen angenommen, denen das Abgeordnetenhaus fofort beitrat, um Gefammt- 
befchläffe zu erzielen. Am 25. Dat ſprach aud ber Kaiſer feine Sanktion aus, 
die er nicht mehr verweigern fonnte, ohne feinerfeits Alles wieder in Frage zu 
fielen, was auch er bereits erreicht zu haben glaubte, um Oeſterreich von dem 
tiefen Sturze von 1866 wieder zu Macht und Auſehen zu heben. Der Reichs⸗ 
kanzler zeigte dem päpftlihen Nuntius noch am gleichen Tage die erfolgte Santtion 
yerfönlih an. Der Nuntins proteflizte fofort fchriftlih gegen ben angeblichen 
Bertragsbrud ; Beuft antwortete durch eine bloße Empfangsbefheinigung. In ber 
Hofburg fürdtete man indeß den Zorn des Papſtes und Beuſt that alles mög⸗ 
(ihe, um wenigſtens einen offenen Brud mit Rom zu vermeiden. Dies gelang 
ihm auch, doch konnte er es durch alle vertraulihen Mifflonen nicht abmenden, 
daß ber Papft am 22. Juni in einer Allolkution nicht blos die drei Geſetze, fon- 
dern auch die Stantsgrunngefege felber, als deren Ausflug fie ſich darſtellten, 
verdammte, und fi überhaupt aufs Bitterfte über Oeſterreich ausſprach. Beuſt 
antwortete am 3. Juli fehr praftifh, indem er der Kurie zu Gemüthe zu führen 
ſuchte, daß fie doch nicht verfennen dürfe, wie der Kirche trog alledem in Oeſter⸗ 
reih mehr geblieben fei als Im vielen anderen katholifchen Ländern und daß es 
fing von ihr fein dürfte, nicht dur, allzu große Schroffheit auch das nod zu 
gefährden. Er meinte ihren Im Defterreich überaus reichen weltlichen Befig. Unt 
diefe Warnung lag in. der That nahe genug. 


908 | Nachtrag. 


Partieller Staatsbankerott. Nachdem der Ausgleich mit Ungern im 
ben legten Tagen des Jahres 1867 eine vollendete Thatfache geworben, traten 
am 19. Januar 1868 zum erflen Mal die Delegationen der beiden NReicgshälften 
In Wien zufanımen uud erledigten bid zum 24. März das Büdget ber gemein 
ſamen Angelegenheiten für 1868 im Betrage von etwas mehr als 80 Mill. ©. 
ohne beſondere Schwierigkeiten. An vemfelben Tage brachte der neue Finanz- 
minifiee Dr. Breſtel im Abgeorbnetenhaufe des Reichsrathe umfaflende Borlagen 
ein, um das ſchwere Deficht zu befeltigen, das durch den Ausgleich mit Ungarn 
auf die alleinigen Schultern Weſtöſterreiche gewälzt worden war. Die Aufgabe 
war in der That eine ſchwierige. Hatte doch das bisherige Geſammtreich die jähe- 
lien Wusgaben der Staatsverwaltung chen feit langem nit aufzubringen 
und das jährliche Defich nur durch Krebitoperationen, d. 5. buch neue 
Schulden zu decken vermodt, bis der Kredit Defterreihs buchſtäblich erihäpft 
wer, während es als Thatfache feſtſtand, daß das Land mit Stenern bereits 
überbürbet fei. Wie ſollte nun Defterreih nit nur feinen verhältuigmäßigen Un- 
theil, fondern ein gut Theil mehr, den Ungarn feinerfeite abgelehnt hatte, allein 
und ohne neue Schulden zu tragen vermögen, zumal an eine wejentliche Reduktion 
bes Milttäreiste nad 1866 und bei der allgemeinen Lage Europas in ber That 
ernfihaft nicht gedacht werben konnte? Eine beffere, namentlich gerechtere Berthei⸗ 
Inng ber bisherigen Steuern mochte doch nur die Laſt weniger drückend machen, 
zu Bebedung des Deficits konnte fie nicht viel beitragen und erforberte umter 
allen Umfländen umfaflende Vorarbeiten und darum längere Zeit. Schon jetzt 
mochten vielleicht die Steuern noch um etwas erhöht werben, aber in keinem Falle 
fonnten fie dies bis zur Höhe des vorausgefehenen Deficits. Bei diefer Sachlage 
blieb offenbar nur von zwei Maßregeln, vie beide gleich gehäffig, gleich ungerecht 
waren, eine. Entweder mußte ein Eingriff in das Kischengut ober im die Rechte 
der Staatsglänbiger gethan werben. Jenes lieh fi zum mindeften ebenfo gut 
zehtfertigen wie dieſes. Denn in Defterreih dient ein namhafter Theil der Reid- 
thämer ver Kirche, die viel bedeutender find als diejenigen anberer auch katholiſcher 
Länder, wahrlid nicht ver Förderung der Meligiofttät, nicht deu geiftlihen Be 
bärfniffen der Gläubigen und nit dem Nothbedarf ber armen Tandgeiftlichen 
oder der chriſtlichen Mildthaͤtigkeit, ſondern lebiglich dem weltlichen Luxus des 
hoben Klerus und darf unter Umfländen mit Recht ſelbſt von kirchlichem Stand⸗ 
punkte aus als überfläffig bezeihnet werden. Dennoch war von einer folden 
Maßregel auch nicht einmal die Rebe. Der Reichéraih hatte fi die Möglichkeit 
berfelben durch die Beflimmung der Staatögrundgefeke, wonach: „jede gefeglid 
anerlannte Kirche im Beſitze und Genufle ihrer für Kultus, Unterrichts⸗ und 
Wohlthatigkeits zwede befimmten Anftalten, Stiftungen und Yonds bleibt”, felber 
abgefchnitten. Es blieb alfo nur der Eingriff in das Eigenthum ber Staat 
gläubiger übrig. Die Regierung war jedoch bemüht, einen ſolchen fo viel wie nar 
immer möglich zu ermäßigen und ſchlug daher eine Gouponftener von 12 Procent 
neben einer auf 30 Mill. angeſchlagenen allgemeinen sfteuer und einer 
Beräußerung von Stantöbomänen im Betrage von 25 Mil. G. vor. Der Finanz⸗ 
miniſter ſtellte die Maßregel gegen die Stantöglänbiger als einen Alt der durch 
bie Mepnbiation der Ungarn verſchuldeten Roth dar und appellirte bezäglid ver 
Bermögensfteuer an den Patriotismns des Landes, Der Ausſchuß, dem biefe Bor- 
lage überwiefen wurbe, war überwiegend ans Gegnern derfelben und aus Männern 
zuſammengeſetzt, bie von neuen Laſten nichts wiſſen wollten und bie alten ganz ober 
doch größtentheils auf die Stantsgläubiger abzuwälgen geneigt waren, ja felbft vor 








Oeſte rreichiſch ungariſche Monarchie. 907 


Gem offenen Wort eines Gtantsbankerotts durchaus nicht mehr zurädicredien. 
Die vorgefhlagene Bermögensflener wurde daher abgelehnt und bagegen vie 
Kouponftener in eine 2bprocentige Zinſenreduktion umgewandelt. Die Regierung 
erklaͤrte, darauf uicht eingehen zu lünnen, aber nachdem einmal bie erfle Scham 
überntunden war, entſprachen bie Anträge des Ausſchuffes in Wahrheit fo fehr 
ven Wunſchen und Anſchaunngen des Reichsſsraths, daß fi die Regierung am 
Ende (6. Juni) dazu verſtehen mußte, nicht nur die Bermögensfiener fallen zu 
lafien, ſondern fih aub gu einer 2Oprocentigen Eouponftener zu verficken und 
felbft das nur baburd erreichte, daß fie bie Frage unummunden zur Rabinets- 
frage machte. Steuererhöhungen werben fpäter freili nicht ansbleiben, aber bie 
Regierung glaubt, mit den befglofienen Maßregeln den Boden gewonnen zu haben, 
um binnen wenigen Jahren zur Befeitigung des Deficits und geſunden Finanz 
zuftänden gelangen zu können. Der Erfolg fteht babin. 

Neform der Armee und eiferner Etat derfelben. Schwierigkeiten 
anderer Urt bot die zu derfelben Zeit vom gemeinfamen Miniſterium In Angriff 
genommene NReorganifation der Armee. Daß die allgemeine Wehrpflicht derjelben 
za Grunde zu legen ſei, fland feit ben Ereigniffen von 1866 feft und wurbe 
faum ernſthaft befiritten. Dagegen drehte filh ver Kampf von Anfang an um bie 
Frage, ob vie Landwehr wie in Preußen aus ver altiven Armee ober wie im 
Grankreich größtentheils direkt aus den Pflicgtigen hervorgehen ſolle. Yür jenes 
fysch fi eine vom Kriegsminifter einberufene Kommiſſion von Generalen aus, 
dieſes verlangten dagegen mit großem Nachdruck die Ungarn, bie, wenn fie keine 
nationale Theilung der altiven Armee durdfegen konnten, wenigftens eine nationale 
Landwehr zu ihrer alleinigen und ausfchlieglihen Verfügung haben wollten. Schon 
Mitte März 1868 begannen die Unterhandlungen zwiſchen dem Reichskriegsminiſter 
Kuhn, der inzwiſchen an die Stelle John's getreten war, unb dem Grafen 
Audraffy über die Armeefrage und no Mitte April wurden fie in Ofen 
unter dem Borfige des Kalſers zum Abſchluß gebracht. Die Ungarn gaben bie 
Einheit der aktiven Armee, auf welcher der Kaiſer und die Militärs feſt beharrten, 
zu, dagegen fheiterte der Plan der Generalkommiſſion tm übrigen an ihrem ent- 
ſchiedenen Widerſtande. Als principielle Grundlage für die Reorganifation der 
Armee wurde feftgefegt, daß die altive Armee mit der Reſerve für die nächften 
zehn Jahre ohne die Militärgränze 800,000 Mann wie in Frankreich beitragen 
müffe umb demnach wurde die Dienftzeit der Pflichtigen auf Grund der allgemeinen 
Wehrpflicht auf 3 Jahre in der altiven Armee, auf 7 Jahre in der Referve und 
auf 2 Jahre in der Landwehr normirt. Die legtere follte ans derjenigen 
älteren Maunſchaft beftehen, bie fo ihre 10 Jahre in der Armee abgebient hätten, 
und noch 2 Jahre in der Landwehr dienen müßten und and. bemjenigen Theile 
des Jahreskontingents, der nicht in die aktive Armee aufgenommen werde und 
demnad alle 12 Jahre in der Landwehr abzubienen habe. Diefe Landwehr folle 
von jeder Reihshälfte für ſich organifirt und bezahlt werden, dem Lanbestriegs- 
minifter umterfiehen und in Ungarn unter dem Namen Honved eime nationale 
Landwehr » Armee bilden, jedoch ansfchlieglih aus Infanterie und Kavallerie 
ohne Artillerie and Genie beftehen. Die ungariſchen Minifter und die von ihnen 

Rathe gezogenen Bertrauensmänner wie 3. B. General Klapla u. U. erllärten 
Hy damit grunbfäglich zufrieden geftellt und der Reicherath, In feinen Fraktions⸗ 
verfemmlungen vertraulih zu Mathe gezogen, ſchien nichts dagegen einzumenben 
zu haben. Auf dieſer Grundlage wurden die betreffenden Belege ausgearbeitet 
und bald darauf als Vorlagen im ungariſchen Reichsſtag eingebracht. Am 4. Aug. 


908 Nedteag. 


beſchloß das Unterhaus desſelben nad vorangegangener Generalbebatte mit 235 
gegen blos 43 Stimmen in bie Detatlberathuug einzutreten und nahm hierauf 
die Geſetze mit nicht weſentlichen Mopifilationen an. Der Kaiſer war 

bie Einheit ber aktiven Armee und damit die umbevingte Verfügung über viefelbe 
gerettet und aud die Berlegung ver Regimenter in ihre Rekrutirungsbezirke ab» 
gewendet zu haben; doch machte ex im Laufe des Jahres auch bezüglich der 
attiven Armee mehrere fehr wefentliche Konceffionen, namentlid daß bie ungarifchen 
Dfficiere in Zukunft auch in die ungariſchen Regimenter eingereiht, und vaf 
eigene ungariſche Wrtillerie- und Benteregimenter gebildet werben follten, während 
bisher für biefe Waffen auf die Nationalität gar feine Rüdficht genommen wor⸗ 
den war. Ja am Ende verfland ſich der Kaiſer fogar dazu, bie ehemaligen E. E. 
Dfficdere, die im Jahr 1848 in die Honvedarmee Übergetreten waren und bie 
Waffen gegen Defterreih getragen hatten, zu peufloniren. 

Die Ungarn Hatten in der That alle Urſache zufrieven zu fein: fie hatten 
je nun eine eigene Landwehrarmee und für bie aktive Armee bezahlten fie ja nur 
300%/,, während 70 auf Weftöfterrei fielen. Eben darum mochte bie von Unger 
angenommene neue Drgantfation bier doch anf Schwierigleiten ſtoßen. Da im 
Sommer bie Lanbtage faßen und der Reichsrath während viefer Zeit vertagt wer, 
fonnten die Geſetze erſt im Herbft eingebracht werben. Dasjenige bezüglich ber 
aktiven Armee ftimmte ſelbſtverſtändlich ganz mit dem von Ungarn beſchlofſenen 
überein, dagegen wid das Landwehrgefe vom ungarifchen weit ab, indem bie 
Landwehr diesſeits der Leitha den Kommandanten der aktiven Armee unterftellt 
wurbe und fi daher in Wahrheit einfach als eine weitere Referve ber letzteren 
ohne allen und jeden bürgerlichen Charakter varftellte. Weftöfterreih Hatte daher 
bei allem Patriotismue Urfache, die Armee ſeinerſeite nur als eine ungeheure 
Loft zu betrachten, deren Koften zum größten Theile auf ihm ruhen follten. Die 
Hauptbedenlen Eoncentrirten fid auf den gewaltigen Kriegsſtand der Armee mit 
800,000 Mann, anf den Mangel ver Feftfegung irgend einer Ziffer für den 
Friedeneſtand, der alfo völlig dem Belieben ber Regierung überlafen blieb, nud 
dag ver Reichsrath das Jahrestontingent mit 100,000 reſp. 58,000 Mann 
volle 10 Jahre zum voraus bewilligen follte, wodurch das verfafiangsmäßige un- 
bedingte Rekrutenbewilligungsredgt auf eben fo lange thatſächlich ſuspendirt wurde, 
Das erfle Bedenken bob ver Reichskanzler am 26. Oft. im Ausſchuß durch eine 
Rede, die, wie es nnter folden Umſtänden gebräuchlich iſt, die europätfche Lage 
in den fchwärzeften Farben ſchilderte und damit den gewünſchten Eindruck her⸗ 
vorbrachte; und auch bezüglich der beiden anderen Punkte vermochte bie Oppofition 
nicht, e8 in der Kommiſſion zu einer Mehrheit zu bringen. Am 10. Rov. gelangte 
die Vorlage on das Abgeordnetenhaus; am 12. war fie fhon wit kaum nennen‘ 
werther Modifilation votirt. Die Debatte war nicht einmal eine beſonders lebhafte, 
bagegen entſprachen vie liberalen Minifter volllommen ber vom Kaiſer gehegten 
Erwartung, indem fie einer nah dem andern mit Nachdruck für die unveränderte 
Borlage eintraten, Bon Konceſſionen war feitens der Regierung nicht die Rebe 
und die Majorität des Haufes zeigte fi in dieſer Frage gefügig. Um billig zu 
fein, muß man allerdings geftehen, daß es dabei unter dem Drud mehr nod ber 
europätfchen Zwangslage als der Regierung fland. Aber ebenfo entſchieden darf 
behauptet werden, daß der dſterreichiſche Reichsrath dem norbbeutichen Reichötage 
und ben von biefem zugeflandenen „eifernen Militärbüdget“ nichts mehr vorzu⸗ 
werfen bat. Genau wie dieſer hat er zugeftanden, die Militärkraft, die Ziffer des 
Kriegöfußes der Armee aufo höcfte anzufpannen, und bezüglich bed Friedensfußes 





Ocfterreichifch-ungarifche Monarchie. 909 


und bes Jahrestontingents iſt ex gegenüber feiner Regierung fogar noch melter 

egangen als jener, Indem er den Srlebensftand ganz dem Belieben der Regierung 
überließ, die ihm jebenfalls fo hoch halten wird, als es die Finanzen nur immer 
erlauben und die Rekrutenbewilligung anf 10 Jahre ans der Hand gab, was bie 
preußifhe Regierung vom norddeutſchen Reichstage uripränglih auch gefordert 
hatte, von biefem aber nur auf 5 Jahre zugeflauden worben iſt. Der einzige 
Unterſchied befteht darin, daß fig der norddeutſche Reichstag auch bezüglich bes 
Militäretats durch die befannten 225 Thlr. per Dann gebunden bat, während in 
Defterreih den Delegationen das Büpgetbewilligungsreht ungeſchmälert geblieben 
iſt. Allein indem der Reihsrath auf dieſes Recht zu Dunſten ver Delegationen 
verzichtete, bat er thatfählih überhaupt daranf verzichtet. Darin einen Vorzug 
Defterreih® vor dem norddeutſchen Bunde ſehen zu wollen, wäre eine reine 
Illuſion. Denn fo lange ver Ausgleig mit Ungarn aufrecht bleibt, kann vie 
Megierung daranf zählen, ihre Forderungen für die Armeebedürfnifſe In ven Dele- 
gationen jederzeit, wie fi das bereits gezeigt bat, mit geringen Abſtrichen durch⸗ 
zubringen und wenn bie beutfche Bevöllerung Deſterreichs jemals einen ern 
lichen Widerſtand verſuchen wollte, fo würde fie in Folge der Zufammenfegung 
der reichäräthlichen Delegation bei einer Durchzaͤhlung fen allein den Stimmen 
ber Ungarn und Polen unterliegen. Auch Oefterreih hat fein „eiſernes“ WBäpget, 
wie es der norddeutſche Bund, wie «6 Frankreich und verhältui ſelbſt alle 
kleineren Staaten haben, und wird es behalten, fo lange bie europälſche Zwange⸗ 
lage dauert, die keinem einzelnen Staat zur Laft gelegt werden faun und deren 
Ende vorerſt nicht abzufehen If. 

Die uene Hera in Weföfterreig. Die Polen und (Czechen. 
Inzwiſchen richteten fi die beiten Neihshälften im Laufe des Jahres 1868 als 
uunmehr feibfläubige und von einander weſentlich ge Staateweſen ein, 
Eine Reihe von Geſetzen Über die Reform der politifhen Bermwaltung, über die 
Heorgantfation der Iuftiz, über die Einführung der Jury wenigen für Preß- 

der 


weien Europas bemäßt if. Die anerleunenswerihen B der 
Regierung —— — mit großen — elten zu laͤmpfen. gt bie 
Gertleritt mu {ee Wenig vorbercit” ano benfeißen nur möhfen 15 folgen im 

aur ‚u n olgen im 
Stande If. Wie in Italien, fo find die an une in 35* nur all 

plöglich eiret d weniger den en en der DevBllerung 

Gerbasten, Be ber —— *— daß das ——— — 44 
ment außer Stande war, das Reich länger aufrecht und zuſammen zu halten. 





910 Nadteag. 


Die Polen verlangen für Galizien eine Autonomie, vie in Wahrheit auf 
eine SHioße Perfonalunion binansliefe, oder doch eine Stellung, wie fie Ungarn 
zum Geſammiſtaate einnimmt, zum allermindeflen eine Stellung, wie fie Ungern 
zulegt Kroatien eingeräumt bat; bie Ezechen Wöhmens und Mährens fireben nad 
einer Wiederherſtellung ber fogenannten böhmifhen Krone, der auch Schlefien 
überantwortet werben fol und für fie wiederum nach einer Stellung, wie fie Ungern 
errungen hat; ſelbſt die Slovenen in Krain, Steiermark zc. regen ſich neuerdings 
lebhaft und wünſchen eine Bereinigung ihrer getrennten Elemente zu einen eigenen 
Kronlande. Das letztere Streben if 3. 3. noch ſehr ungefährlich, dagegen tft dies 
durchaus nicht der Fall bezäglid ber Polen and Czechen. 

Selbſt die genannten Forderungen ver Polen find nichts als Stufen zu 
einem noch weiter geftedten Ziele, das eingeſtandenermaßen dahin geht, fi von 
Defterreih vollfländig loszuldſen, um alsbald in einem \wieberbergeftellten pol⸗ 
nen Reihe aufzugeben. Dabei verwideln fſich indeß vie Polen in eisen banb- 
gretflichen Wwerſpruch dadurch, daß fle ſich gegenüber Defterreih auf das Princip 
der Rationalität flügen, während fie felber eben dieſes Prinetp gegenüber den 
Ruthenen außer Uugen fegen und fortwährend aufs grelfte verlegen. Der gali- 
ziſche Landtag hat am 24. Gept. 1868 eine Reihe von Refolutionen beichloffen, 
bie ihre Sorberungen formulizen und die galisifhe Fraktion des Reichsraths bat 
es ſeither vucchgefegt, daß viefelben von viefem wenigftens im Behanblung gezogen 
werben follen. Defterreih hat ‚aber den nicht deutfchen Nationalitäten uud dem 
föderalen Princip in ten Lanvesflatuten ven 1881, in den Staatsgrundgeſetzen 
und der revidirten Februarverfaffung und in ver Zufammenfegung der biesfeltigen 
Delsgation bereits Konceifionen gemadt, die fa das Außerſte Maß befien be 
zeichnen, was für das Weich möglich ft, ohne feine Ariftenz zu gefäheben. Die 
Regierung bat den Polen bezüglich ihres Verhältniffes zu den Ruthenen vielleidgt 
fon zu niel eingeräumt. Denn wenn irgend etwas, fo iſt es die Aufgabe Defter- 
reis, Die verfchlenenen Nationalitäten, aus denen #8 zufammengefeßt IR, gegen 
Vergewaltigung der einen durch Die audere zu fhägen und jeder vie Möglichkeit 
ihrer Entwicklung zu gewähren. Zur Zeit find pie Ruthenen wohl die einzige 
Rationalität, die fi diesfalls zu beklagen berechtigt wäre, nicht Aber die Deutſchen, 
fondern über die Polen. 0 

Immerhin wäre eine völlige Losldſung Galiziens von Deflerreih noch denk⸗ 
bar, ohne daß darum Oefſterreich felber in bie Brüche gehen müßte. Wohl aber 
if}. dies geradezu undenkbar, wenn je die Czechen ihre Wände befriedigt fehen 
follten. Bei Eröffnung ver Landtage von 1868 übergaben die Czechen im Böhmen 
und Mähren denſelben übereinſtimmende „Deklarationen“, durch welde fie die 
Wiederherſtellung der böhmifchen Krone für Böhmen, Mähren und Schleflen und 
‚für viefelbe eine Stellung wie Ungarn verlangten; an ben Arbeiten ber beiben 
Landtage nahmen die Unterzeichner feinen Theil, wie bie vom ihnen tm den Reichs⸗ 
rath gewählten Mitglieder in dieſem nicht erfchlenen. Die Landtage blieben indeß 
troß diefer Seceffion mit Hülfe der Großgrundbefiger, die zur Zeit der dentſchen 
Bartei angehören, beihlußfählg und erllärten die „Dellaratten” für null und 
nichtig, währenn der fchleflfche —* ſeinerſeits einſtimmig gegen bie Prätention 
ver Czechen, auch Schleſien in den Bereich der böhmiſchen Krone einzubeziehen, 
proteftirte. Die Ezechen berubigten fi aber dabei keineswegs und fetten vielmehr 
in der Prefie, durch zahlreiche Bellöverfammlungen und durch Demonftrationen, 
zu deuen fir jede Gelegenheit ergriffen, eine Agitation ins Werk, die bis Ente 
Septenber 1868 einen allgemeinen Aufſtand befürchten ließ. Der Regierung blieb 











Oeſterreichiſch· ungaciſche Monarchie. 911 


nichts anderes brig, ale Anfang Oktober über Prag und bie nächſte Umgebung 
den Belagerungszuftend zu verhängen, der bis jetzt (April 1869) fortbefleht *). 
Es iſt das für Oeſterreich eine Schwierigkeit, teren Loſung zur Stunde noch nicht 
abzufehen if. Seit dem legten Beſuche des Kaifers in Fran. während deſſen er 
ben Reichskanzler dahin berief und biefer eine Unterrebung mir ven Czechenführern 
Palady und Rieger pflog, wurde vielfach von Ausgleichsunterhandlungen 
auch mit Böhmen wie früher mit Ungarn gefprochen. Allein es ift nicht recht Mar, 
welche Konceffionen ber Reichsrath Böhmen und den Czechen machen koͤnnte, ohne 
die Berfafiung einer neuen Revifion zu unterziehen, und damit nody welter auf 
der verhängnißvoflen Bahn der fdderaliſtiſchen Zerfplitterung fortzufegreiten, an 
deren Ende, wie die Dinge in Europa fi geftaltet haben, faft unzweifelhaft 
nichts anderes läge, als die definitive Auflöſung des Reichs. 

Ausgleih Ungarns mit Kroatien. Löſung der Nationali- 
tätenfrage in Ungarn. Ungarn hat für die Reform feiner auf die Dauer 
unmöglich baltbaren inneren Zuflände während derſelben Zeit viel weniger als 
Weſtoſterreich gethan, Indem die neue Regierung es noch nicht wagte, weder ber 
politifchen Komitatewirtbfchaft zu Leibe zu gehen, noch die mehr als bedenklichen 
Nechtözuftände zu ordnen, noch endlich ein ſolides Beamtenthum zu ſchaffen, ob⸗ 
gleih fie desfelben fchon für die regelmäßige Einhebung der Steuern gar nidt 
wird entbehren können. Das erſte Budget des Landes wurde denn auch nicht for 
wohl berathen, als im Herbft in aller Eile abgemacht, nicht ohne in Wahrheit 
bereits ein Meines Deftcit auszuweiſen, und ein Halb mißlungenes Anlehen zu 
Eifenbahnziweden hat gezeigt, daß der Krebit Ungarns noch gar fein fehr großer 
iſt. Dagegen gelang es Ungarn, das ſtaatsrechtliche Verhältniß zu Kroatien 
u oronen und and) die Nationatitätenfrage ziemlich leicht, wenigſtens für einmal, 

3 Reine zu bringen. Während die Union mit Siebenbürgen als eine vollendete 
Thatfache behandelt wurde und viefed Land, deſſen Bewohner der Mehrzahl nad 
bem noch fehr wenig entwidelten ruminifhen Volksſtamm angehören, ebenfo wie 
die gebilbeteren und felbfibemußteren Sachſen ganz willkürlich von Peſth ans 
regiert wird, hielt es der ungarifhe Landtag in Anger Erinnerung an das 
Jahr 1848 für angemeflen, gegen Kroatien mit der äußerften Nüdficht vorzugehen, 
Überzengt, daß nad dem Sturz der Schmerling’fhen Februarverfafſung und nad 
dem Abſchluß dee Ausgleichs zwifchen Ungarn und der Dynaftie den Kroaten 
doch nichts anderes übrig bleibe, als auf Ihre füdſlaviſchen Träume für einmal 
zu verzichten und gebulbig in ihr früheres Verhältniß zur ungarifgen Krone 
zurädzutehren. In der That war ihr Widerftand mit dem vollendeten Ausgleich 
und mit ver Königsfrönung In Peſth, von ver fie ſich noch fern hielten, gebrochen. 
Die neue ungarijche Regierung aber und die Dynaſtie boten fi fichtlich die Hand, 
um bier dar sinen leifen Drud, dort durch weiſes Nachgeben vie ftörrifchen 
Kronten zur Vernunft zurädzuführen. Unter ver klugen Führung eines neuen 
Danus, des Baron Hand, eines ungartfh gefinnten Magnaten Kroatiens, 
ſchlug die Stimmung bald um, die neuen Lanvtagswahlen warfen bie Nationalen 
in die Oppofition und ergaben eine Majorität, die für ven Ausgleich mit Ungarn 
einftand. Reue Regnilolarbeputationen verflänpigten fich jetzt bald in Peſth: 
Kroatien behielt eine gewiffe Autonomie, eine eigene von feinem Landtag gewählte 
Landesregierung und feine eigenen Finanzen, deren Summe feftgefegt wurde. Nur 
der Ueberfhuß wird nad Pefth abgeliefert zur Beſtreitung der gemeinfamen An⸗ 


*) Er wurde Ende April aufgehoben, Anm. d, Ned, 


912 Nachtrag. 


gelegenheiten, für welche Kroatien and 31 Deputirte in das ungariſche Unter 
haus und ebenfo feine beſonderen NRepräfentanten ins Oberbans und in bie 
ungarijche Delegation fenbet. Für die Auflöfung der Militärgränge und für Die 
Sinverleibung Dalmatiens follte fih nach dieſen Verabredungen Ungarn ernfilic 
verwenden. Nur bezüglih Fiume's kam Teine Verfländigung zu Stande. Der 
Unsgleih wurde im Herbſt von beiden Landtagen faft einftiimmig angenommen 
und fo der feit 1848 beftehende Zwieſpalt gehoben. Fiume, feinen Zulunftshafen 
am adriatiſchen Meer, Hatte fit Ungarn längft faktiſch gefichert. 

Ebenso ſchnell wurde gegen Ende des Jahres 1868 au die Rationali- 
tätenfrage erledigt. Die Magyaren zeigten fih auch darin als ebenfo Fluge 
wie energiſche Politiker. So lange ber Ausgleih mit Defterreih noch ungewiß 
wear, hatte der fogenannte große Nationalitätenausfhuß des Yandtags den Gerben, 
Rumänen, Slovaken zc. nidht nur den freien Gebrauch ihrer nationalen Sprachen, 
fondern auch eine gewifle nationale Individualität in Ausfiht geftellt. Iegt wollten 
die Magharen nichts mehr davon wiflen. Das im November 1868 vom Landtag 
angenommene Nationalitätengefeg räumt ben Intivibuen jeder nicht magyarifchen 
Nationalität volllommene ſprachliche Freiheit ein, aber es fchnelbet ihnen jebe 
Möglichkeit der Bildung nationaler Individunalitäten definitiv ab und Hält bie 
magyarifhe Sprache als Staatsipradhe rückfichtalos aufreht. Die Führer ber 
nationalen Parteien waren davon fehr wenig befriedigt, allein dieſe nicht magya- 
riihen Nationalitäten find in Ungarn zn ſehr zeriplittert und durch einander 
gewürfelt und in ihrer Entwidelung noch viel zu weit zuräd, als daß fie, ber 
energifchen Regierung in Peſth gegenüber und ohne alle Unterftägung von Wien 
aus, fo leicht irgend gefährlich werben könnten. | 

Als der Kaiſer am 10. Dec. 1868 den ungarifhen Landtag perſoönlich durch 
eine Thronrede ſchloß, Tonnte er in berfelben bie ganze Befriedigung au ven Tag 
legen, vie er felbft und das Land über die Konfolidirung der neuen Orbuung 
der Dinge fühlten. Die feither im März 1869 eingetretenen Renwahlen zum 
Landtage haben im wefentlihen nichts verändert. Die bisherige Majorität der 
Deakpartei bat zwar von ihrem Uebergewicht empfindlich verloren und eine nam⸗ 
bafte Anzahl gerade ihrer Führer iſt auf dem Wahlplage geblieben. Dennoch ver- 
fügt fie nody immer über eine Mehrheit von 70 Stimmen, wenn es aud aller 
bings bevenfli iſt, daß fe fo viele Sige nit an Gemäßigte, fondern am bie 
äußerfte Linke verloren bat und daß fie ſich zumeiſt anf die Vertreter der fla 
vifhen u. a. Nationalitäten ſtützt, das rein-magharifhe Element dagegen fid 
meift in der Oppofition befindet. Um ihre ſtaatsrechtlichen Ziele zu erreichen, hat 
die Deakpartei ihren Anhängern viel zu viel dur die Finger fehen mäflen und 
die Ausbeutung des Staats duxch diefelben ſcheint ed namentlich geweſen zu jeln, 
was ihr in den legten Wahlen ſchwere Berlufte verurſacht hat. Eine innere Reis 
nigung, die ihr aber durch die eingewurzelten Gewohnheiten des Landes ſehr er- 
ſchwert wird, und dann bie energifche Reform ber fehr im Argen liegenden Ber 
waltungs- und Iuftizorganifation iſt nunmehr ihre nächfte Aufgabe, wenn fie fid 
am Ruder erhalten und nod mehr, wenn fle Ungarn wirklich auf diejenige Stufe 
und zu derjenigen Geltung in Europa bringen will, auf die e8 Anſpruch macht. 

H- Sqhulthet 


Polen. 913 


Das Königreich Polen. 


(Bl. Bo. VII ©. 117.) 


Wenn bie Politiker des neunzehnten Jahrhunderts dem polnifhen Lande und 
Volle eine unverhältnigmäßige Aufmerkſamkeit zuwendeten, fo legt die nächſte Ur⸗ 
fadhe in dem Unftand, daß Polen in feiner Bertheilung an vie drei öſtlichen 
Großmächte das Ferment einer bis vor furzem noch nicht ganz aufgelöften politifchen 
Goalition geworden ift, denn fefter feibft als durch alle ihre abfolutiftifchen 
und reaftionären Beſtrebungen ift die heilige Allianz durch ven Zufammenhang ver 
Interefien bezüglich Polens geknüpft geweien. Ein weiterer Grund aber für vie 
auffallend Häufige Aefhäftigung der Staatswiffenfhaft mit dieſem Gemeinwefen 
ift einerfeits in feiner kaum vergleihbaren Eigenthümlichleit, welde im Weſentlichen 
auf dem Konflikt feiner Naturanlage mit den aufgenommenen Elementen feiner 
Fortbildung beruht, andererfeits in der großartigen Logik zu fuchen, mit welcher 
Entftehung und Untergang vesfelben einander entſprechen, ein um fo mehr an- 
ziehenber Umftand, als der ganze Verlauf der Entfaltung und Auflöfung dieſes 
Staats innerhalb hiſtoriſch beglaubigter, erkennbarer Zeiten, Innerhalb des jüngſten 
Jahrtauſends fi vollzog. Denn felbft die Sage dehnt die Zeit des Beſteheus 
eines polnifhen Gemeinweſens nur um ein Öeringes über den Augenblid aus, 
da das Chriſtenthum und die von Dentihland herüberftrömenven Kulturelemente 
demſelben (in ver zweiten Hälfte des 10. Jahrh.) eine lebendige Dafeinsform 
gaben. Die polnifhe Urfage fällt rüdfihtlih ihres Inhalts mit der gemeinfla- 
wilden, die uns 3. B. aud in Böhmen entgegentritt, zufammen. Es ift kein 
Ärgerer Mißbrauch denkbar, als mit dem Begriff Demokratismus getrieben wurde, 
wenn man In der fInvifhen Sage einen „demokratiſchen Zug” erkennen wollte, 
während fie doch nichts Anderes als gerade das Aufkommen der Yürftengewalt 
verdeutlidhte und einen Gefelfchaftözuftend an ven Tag legt, welchen man füglich 
nur als einen atomiftifhen bezeichnen Tann, nnd welder in ver That das vor« 
herrſchende Ehnrafteriftitum der flawifchen Staatögebilve, das moderne Rußland 
mit eingefchlofien, geblieben if. Mit dieſer Borftellung ausgerüftet, kann man alle 
die widerfprüädigen und bizarren Vegriffsverbindungen, welche das polnifhe Staats⸗ 
weſen aufweist, wie „Adelsdemokratie“, „monarhiiche Republik“, und andererfeits 
bie überrafhenden Erſcheinungen ver rechtlichen Apelsgleihheit ohne Rückſicht auf 
den Umfang des Beſitzes und die unverfähnliche Trennung der adeligen und ber 
nichtabeligen Geſellſchaftsſchichten, ſowie die eigenthümliche, in der ruſſiſchen Volks⸗ 
auffeflung noch heute durchklingende, volllommen direkte, unvermittelte Beziehung 
der unterfien Klaffen zum Fürſten ausreichend begründen. Ja noch mehr. Die 
tragifhe Schuld des großen polnifhen Drama’s knüpfte an biefem Punkte an. 
Während Böhmen der abendlaͤndiſchen und ſpeciell deutſchen Kultur gegenüber feine 
ſlawiſche Grundanlage größtentheils zum Opfer brachte, Rußland dagegen dieſe letztere 
allein unter Abweiſung der weftenropätfhen Bildung auszugeftalten beftrebt war, 
erhob fi Polen zu dem Verſuch, beide mit einander trog ihres ausſchließenden 
Gegenſatzes zu verbinden, jene beiden Grundfaktoren der wefteuropälfchen Civilifation, 
bie hierarchiſche Kirche und pie im weitern Sinne Tonflitutionelle Geſellſchaftsform 
auf die ſlawiſche Eigenart, welche ſich gegen beide firäubte, zu pfropfen; jene bei» 
den find die Wirkungen eines FTorporativen Zuges, und gerade dieſes Element 
iſt der ethniſchen Anlage der Slawen fern ftehenn. Das bei ihnen urſprünglich 
ſammelnde Motiv war die Familie, das Geflecht, in weldem das einzelne Ins 

Dluntſchli un Brater, Deuties Staate⸗Worterbuch. Al, 58 


914 Nachtrag. 


dividnum bezüglich aller feiner Rechte aufgeht. Das Bedürfniß bes gegenfeitigen 
Schutzes führt die Geſchlechtsverbände zu Lolalvereinigungen (vieinia, opole) und 
diefe werden dann dem Adel unterworfen, welcher entweder, wie wohl wahrfchein- 
licher, ein eingewanderter flegreicher fühflawifcher Volksſtamm ift, oder durch bie 
Berfhiebung des Örunbbefigers aus dem Vollksaggregat fi herausgeſondert hat. 
Aus der Unterwerfung der Schugverbände unter die Szlachta geht die Kaftelle- 
neiverfafjung hervor, welche die Grundlage ver fpäter entwidelten Staatsorgani- 
fatton bildet. Das Voll zerfällt nunmehr in völlig Freie, zu denen allein bie 
Szlachta gehört, und in Sole, welde entweder ganz und gar, perfönlih und 
dinglih (Sflaven, glebae adscripti) oder nur dinglich unfrei (Rmieci, Kmetonen, 
Kmeten) waren. Ueber Allen ſtand — und zwar in Unumſchränktheit — ver 
Fürft. Wenn die dichtende, das volksthümliche Gefühl ausprüdenne Sage biefen 
ans dem niedern Volke erhoben werden läßt, fo zeugt dies bereits für 
einen Standpunkt wehmütbhiger Neflerion über Elend und Gebunvenheit ber 
untern Volksſchichten. Die Szlachta wird In dem Verlauf der geſchichtlichen Ent⸗ 
widelung die ftarfe Macht, welche alle Gerechtfame vou unten wie von oben her 
an fi zieht, und da biefer Vorgang weſentlich den Inhalt der Innern Geſchichte 
Polens bildet, fo ergeben fi nad dieſem Eintheilungsgrunde drei große Epochen, 
beren erſte bis zum Gintritt der Iagellonenherrfchaft reiht, und in welder fid 
die politiſche Nechtlofigleit des niedern Standes einerfeits, die Schwächung ber 
Fürſtengewalt anbererfeits vollzieht. In der zweiten Epoche, welche bis zur Cin⸗ 
rihtung des Wahlkönigthums anzufegen If, wird das Königthum nad) und nad 
aller feiner Vorrechte entlleivet und die Souveränetät in die Szlachta verlegt, 
die ſich eine ſtaatsrechtliche Form giebt; in der dritten Epode ruht das König- 
thum nur no auf einem von der abfoluten Willfür ver Szlachta abhängigen 
Bertragsverhältniß. 

Ungebrochen tritt uns die Fürftengewalt in der Zeit entgegen, da Mieczys⸗ 
law L fi und fein Bolt dem Chriftenthum zuwendete und unter bie „Mann⸗ 
ſchaft“ des deutſchen Kalfers trat. Sein Sohn Boleslam Chrobry (922 bie 
1025) dehute die Herrfhaft der Polen in einer Weife aus, daß vorübergehend 
fein Rei damals das größte in Europa war. Nach allen denjenigen Richtungen, 
woher fpäter den Polen das Dafein fireitig gemacht werben follte, trug er fieg⸗ 
reich feine Waffen. Er leitete fchon jenen unaufhörliden Kampf mit den oftfia- 
wilden Ruſſen ein, der in allen Stadien der Entwidelung beider Völler immer 
von Nenem wieder hervorbrach. Während Boleslaw aber hier mit einem flanım- 
verwandten Aggregat eine unauslöfhlihe Feindſchaft anzündete, machte er den 
böhmifhen Slawen gegenüber das Gefühl einer „Blutsverwandtſchaft“, bie erſten 
Elemente einer panflawiftifden Idee, welde fpäter von den Feinden in die Hand 
genommen wurbe, geltend, Bis an die Donau bin gegen Süben und an bie 
Saale gegen Welten erftredte fih das Uebergewicht ber Polen und nah Maß⸗ 
gabe der Außern Madtftellung und ber Bedeutung ber Fürflengewalt im Innern 
war es gewiß nicht unberedhtigt, daß Boleslaw fi die Königskrone aufſetzte. 
Allein ſchon unter feinem Sohne Mieczyslamw II. (1025—1034) und noch mehr 
unter feinem Enkel Kafimir (—1058) offenbarten fi die ſtärkſten Rüdfchläge 
gegen das allzurafche Emporblühen ber polnifhen Macht. Die Erwerbungen nad 
Außen hin gingen verloren, im Staate felbft gaben fi Nüdfälle zum Heiden 
thume fund, um den Thron erhob fi Zwiefpalt und Brudermord, und nur 
fhwer gelang e8 dem gewaltigen Sohne Kofimirs, Boleslam dem Kühnen 
(— 1080) theilweife die glanzvolle Machtſtellung feines Urgroßvaters wieder 











Dolen, 916 


berzuftellen. Bewegte fih fortan der Ehrgeiz der Polen nur in beſcheidenern 
Grenzen, fo fam auch die Bedeutung der Fürftenmaht bald von ihrer Höhezuräd. 
Der Nachfolger Boleslams des Kühnen, Wladislaw Hermann ließ ſchon 
den Königstitel fallen, und bei feinem Tode wurbe das Reich unter feine zwei 
Söhne getheilt, und nur das Uebergewicdht des einen verjelben, des Boleslam 
Kınmmmanl ftellte die Reichseinheit einftweilen wiever her, aber gegen Ende feines 
Lebens traf er eine Maßregel, welhe von den verhängnißvollſten Folgen für 
Polen und die Fürftenwärde war. Er theilte nämlich fein Reich unter feine vier 
mönbigen Söhne und beftimmte als künftig gültiges Geſetz, daß bei allen Exb- 
theilungen das ältefte Ölieb der Familie mit dem Befig von Krakau ein Ehrenprincipat 
alg maximus dux, monarcha ausüben und die Reichseinheit varftellen follte. In 
der litthauiſch⸗ruſſiſchen Geſchichte finden ſich in Betreff dieſer Senioratsherrfchaft 
fo ganz und gar analoge Berhältniffe, fo dag man wohl nicht fehl geht, viefelbe 
für eine echt flawifche mit den uralten Geſchlechtsverbänden in Zuſammenhang 
ftehende Einrihtung zu halten. Während in Rußland aber die eigene, nationale 
Kirche über alle Zerfplitterungen bes Landes und Kämpfe um das Seniorat hin- 
weg ein ausreichendes Band für alle anseinanderftrebenden Theile darbot, entbehrte 
das roͤmiſch⸗chriſtliche und mit dem Weften in innigen Beziehungen ſtehende Bolen, 
weldes durch das Exbtheilungsprincip einer Auflöfung in immer Kleinere Theile 
verfiel, faft jedes einigenden Beweggrundes, und fo konnte es gefchehen, daß eine 
der fhönften und beften Provinzen des polniſchen Landes, Schlefien, anfänglich 
eine eigene, abgeſonderte Entwidelung durchmachte und fpäter von dem gemein- 
famen Körper fih ganz ablöste. Die untergrabenden Kämpfe und Bürgerkriege, 
welche nunmehr um das Senlorat ausbrahen und das Land in namenlofes Elend 
ſtürzten, füllen die Geſchichte des breizehnten Jahrhunderts aus. Bon Welten ber 
brangen, da alle Widerſtandskraft gebrochen war, die deutſchen Elemente unauf- 
haltfam ein, von Often überfchütteten die Mongolen das Land bis an die Oper 
hin, Pommern entzog fi dem polnifchen Einfluß, die ſchwächlichen Theilherzog- 
thümer waren fo ohnmächtig, daß fie dort, wo eine Kraft anſprechende Aufgabe 
berantrat, fremde Hülfe um jeden Preis erfaufen mußten. Um ſich der litthauiſchen 
Helden zu erwehren, mußte der Herzog von Mafowien ben deutfhen Orden 
in fein Land rufen und es geftatten, daß biefer Polen zu Häupten eine allmälig 
fih ausbreitende Territorialherrihaft begründete, welche das polnifhe Reich feiner 
maritimen Ausgänge beraubte. Eine allgemeine Entoöllerung trat ein unb die 
Öölonomifche Lage des Landes war trofllos verwildert. Die zum großen Theil 
deutſche Geiſtlichkeit griff Hiergegen zu einem bald von den Herzögen nachgeahmten 
Mittel. Ste rief deutſche Auswanderer in gemeindlich organifirten Haufen ine 
Land, räumte ihnen unter Entbindung von ben drückenden Laften bes polniſchen 
Gewohnheitorechtes Tulturlofe Ländereien ein, und gewährte ihnen bie Bilbung 
bentfcher dörfliher und ſtädtiſcher Gemeinden mitten im polnifhen Lande. Hoben 
fich dadurch die dkonomiſchen Verhältniſſe zu einer bei allen ſlawiſchen Stämmen 
ungetannten Höhe, fo litt dabei doch der nationale Geift und Zufammenhang 
unverlennbare Einbuße. Bei ſolchen Zuftänden bedarf e8 kaum nod ber befonvern 
Erwähnung, daß die Fürftengewalt zu gänzliher Ohnmacht beruntergelommen, 
und bie Szlachta in der Lage war, Über bie Fürftenwürbe nad ihrem Gutdünken 
zu falten. Unter allen Nachkömmlingen des piaftiihen Geſchlechts hatte am Ende 
des 13. Jahrhunderts Keiner mehr die Möglichkeit, eine umfaflende Autorität 
an fi zu ziehen, und der in feiner Willkür unbefchränkte Adel rief einen Frem⸗ 
den, den König Wenzel II. von Böhmen als Regenten in das Land, nachdem 


55 * 


916 Nachtrag. 


ein Verſuch des großpolniſchen Herzogs, Przemyslaw IL. die alte Aönigswürde 
wieder zu erheben, durch feinen frühzeitigen Tod vereitelt war. 

Diefe nur wenige Jahre andauernde Fremdherrſchaft gab das Iehrreiche Bei⸗ 
fpiel der Neichseinheit, und als der böhmiſche Thron felbft der Zankapfel anf- 
reibender Kämpfe wurde, gelang es dem piaftiihen Herzog Wlabislam Kolie- 
tet (Ellenlang) wenigftens vie beiden Haupttheile des polnifhen Landes Groß⸗ 
und Stleinpolen unter feine Botmäßigkeit zu bringen, und im Jahre 1320, 
geſtützt auf die päpftlihe Anerkennung, fih die Königslrome aufzufegen. Die 
Wirren, welche durch dieſe Uebergänge veranlapt wurden, benugte der dentſche 
Orden, um das Unterland der Weichfel, Pommerellen an fi zu reißen und un- 
widerbringlich dem Deutſchthum zu unterwerfen. Eine flärtere Befefligung und 
Sicherung aller VBerhältniffe brachte die den Segnungen friedliher Arbeit zuge 
fehrte Regierung Kafimirs des Großen (1333— 1370) hervor. Er fegte fich 
durch den Verzicht feiner inhaltlofen Aufprüche auf Schleſien mit Böhmen, burg 
die Abtretung Pommerellens mit dem beutfhen Orden auseinander, umnterwarf 
die mafowifhen Theilfürften der poluifhen Lehenshohelt, befürderte den Zuzug 
deutſcher Einwanderer, deren Zufammenhang mit dem Mutterlanve er jedoch durch 
geeignete Satungen zu durchſchneiden bemüht war, ließ dad Gewohnheitsrecht 
todifichren und Im Sinne der Reichseinheit aus feinen verſchiedenen Beſtandtheilen 
ineinanderfchmelzen, gründete (1364) zu Krakau bie erſte polnifhe Univerfität, 
und traf, da ex der Legte des piaftifchen Stammes war, mit dem König Ludwig 
von Ungarn, feinem leiblichen Vetter, ein Ablommen wegen ver Nachfolge auf 
dem polnifhen Throne. Diefer König Kaſimir iſt ver legte, welcher die Fürſten⸗ 
gewalt noch in einer mindeſtens rechtlichen Unumſchränktheit vepräfentirt, denn 
fein Nachfolger Ludwig erfaufte die Zuftimmung der Szlachta zur Succeffion 
feiner Tochter durch die gefegliche Verleihung foldyer Vorrechte, welhe das König. 
thum aller weſentlichen Machtbefugnifſe eutkleiveten. Und als diefe Tochter Hedwig, 
ein unmändiges Kind, auf den Thron gelommen war, fand dem Adel keine Macht 
im Wege, die Krone in einer ſolchen Weife zu vergeben, daß fie in eimer fort- 
währenden Abhängigkeit von ihm verblieb. 

Die von der Szlachta getroffene Wahl eines Gatten für vie junge Königin 
war nicht blos dadurch in hohem Maße bemerfenswerth, daß mit ihr ein neues 
Dynaftengefhleht, das Jagielloniſche, auf den Thron kam, welches benfelben 
über zwei Jahrhunderte inne hatte, ſondern insbeſondere tur den Zuwachs an 
einer den Einwirkungen ber Eivilifation entgegenfehenden großen Ländermaffe, 
und durch die daraus hervorgehende Steigerung ver Lebensaufgabe für Polen, 
ber es jedoch nicht gewachſen war. Es ift nothwendig, diefen nahezu wichtigften 
Punkt in der Geſchichte Polens ein wenig näher zu betrachten. Die Szlachta 
oder vielmehr die in ihrem Namen und Sinne handelnden Magnaten („die 
Baronie”) verwarfen nämlich den kraft teftamentlicher Verfügungen und Verträge 
rechtmäßigen Gemahl der Königin und erhoben, beftochen einerjeitS durd Gaben 
und Verleihungen, andererſeits durch das patriotifhe Interefie den litthauiſches 
Großfürſten Wladyslaw Jagiello zum Gatten Hedwigs und zum König 

von Polen. Das auf diefe Weife in die politifhe Machtſphäre Polens gelangte 
Litthauen befand fih aber den Oftflawen gegenüber in einem eigenen Ber 
hältwifie. Das eigentliche Litthauen, ein verhältnigmäßig fehr kleines Territorium, 
hatte zwar noch das Heidenthbum bewahrt, dennoch aber fi einen fehr großen 
Theil des ruſſiſchen Landes, das in viele Heine Herzogthlimer zerfallen war, und 
der gricchifchen orthodoren Kirche angehörte, unterworfen. Diefe Heinen Herzog 








Dolen, 917 


thümer wurden ziemlid analog ven von Polen erwähnten Zufländen dur eine 
Urt von Senioratsherrfchaft zufammengehalten. Der ältefte Mittelpunkt einer 
folden war — zufammenfallend mit dem der orthoboren Kirche — Kiew. Geit 
der Eroberung der Stabt aber dur den Litthauer Gebymin (1320) erhob ſich 
ein machtvolles, weithin herrſchendes Sentorat in Wilno, das jedoch den Innern 
Widerſpruch in fi trug, feinem Glauben nad dem Heidenthume anzugehören. 
Im Forlgang einer ununterbrohenen Entwidelung würbe ohne Zweifel biefer 
Widerſpruch fich geebnet und das litthauiſche Herriherhaus das Bekenntniß der 
orthodoxen Kirche angenommen haben — wenn nicht durch die Nötbigung von 
innen ber, dann doch gedrängt von dem allmälig im Verlauf des vierzehnten 
Jahrhunderts fi hebenden und mit der Landeskirche kongruirenden Seniorat von 
Mostan, das bei feinem fteigenden Wahsthum mit Wilno einen gefährlichen 
Wettbewerb einging: Hatte auch das legtere unftreitig den größeren Machtumfang, 
jo lagen doch in Moskau mehr von den Dauer und Konfolibirung eines Gemein⸗ 
weſens begründenden und bindenden Elementen. Es iſt gewiß charafteriftifch, daß 
in dem Augenblid, va fi der Schwerpunkt der orthoboren Kirche von Kiew nad 
Modkan wendet, der römische Katholichsmus in Wilno feinen Einzug Hält. Damit 
trat Polen in jene NRivalität mit ein. Belang es Polen im Verlauf der Zeit 
Litthauen völlig der Botmäßigfeit der römiſchen Kurie zu unterwerfen, fo nahm 
ber bi8 auf den heutigen Tag nicht geendete Kampf mit den Oſtſlawen einen 
andern Berlauf. In der That aber glüdte den Polen die Katholifirung im Weſent⸗ 
lichen nur den noch heidniſchen Elementen gegenüber, während von ber überwiegend 
großen in der orthodoxen Kirche bereits eingeborenen und aufgewachſenen Be⸗ 
völferung nur ein verſchwindend Heiner Bruchtheil fih dem abendländiſchen Kirchen⸗ 
thume zuwendete. Mit der Statiftif in der Hand findet man biefen Zuſtand im 
Ganzen und Großen heute nur infofern anders, als die lange Herrſchaft ber 
Polen eine ſtarke Einwanderung ihres in Litthauen Beſitz ſuchenden Adels zur 
Folge hatte; in der Breiten Volksmaſſe erhielt fi die hiſtoriſche Struftur 

Es verfteht fih von ſelbſt, daß bie im erſten Anlauf unter Wlabyslam 
Jagiello erfolgte Bereinigung Polens und Litthauens nur eine nominelle, feine 
innerlide war, und daß in ber Verwirklichung diefer Idee eine der bedeutendſten 
Lebensaufgaben Polens ruhte. Das kleine Polen mit feiner kümmerlichen Ab⸗ 
hängigleit von dem abenblänpifchen und insbefonbere deutfchen Kulturimport, untere 
zog fih derſelben und fegte damit fein eigenes Dafeln ein. Die Entfaltung ber 
polnifhen Macht nad außenhin ſchien dem gefteigerten Beruf entgegenzulommen. 
Der innerlich morſch gewordene deutſche Orden, welder in Bezug auf Litthauen 
gleihe Tendenzen wie Polen hatte, diefe aber in feiner Urt verfolgte, wurde nad 
unzäbligen Kämpfen und nad) einer beifpiellofen Verheerung bes preußifchen Lan⸗ 
des niedergeworfen, zertrümmert, und faft all ſein VBefig durch die Jagtellonen dem 
polniſchen Reiche einverleibt. Unfhägbares war damit gewonnen: Meerausgänge 
für eine merfontile Entwidelung, urbar gemachtes und durch Tängern Anbau 
gemäßigtes Land, eine fleigige agrifole, und eine rührige im Handel und Hand» 
wert beraufgelommene ſtädtiſche Bevölkerung, welde von jener zähen, unzerflör- 
baren deutſchen Kommunalorganiſation gegliedert und geſchichtlich durchdrungen 
war; aber daneben trat mit dem Erwerb Preußens in den Lebenskreis des pol 
nifchen Volkes ein nationales Aggregat, das auf die Dauer niemals und nirgenbs 
mit dem Slawenthum eine frievlihe Gemeinfhaft hatte, da®, mochten auch vor⸗ 
übergehende Berhältniffe vemfelben vie Wahl der polntfchen Herrſchaft gegenüber 
der exlittenen heimifchen Tyrannei empfehlen, doch mit berechenbarer Gewißheit 








918 Nachtrag. 


aus dem Verband und der Schickſalsgemeinſchaft mit Polen wieder herausſtreben 
mußte. Hätte das preußiſche Land für eine unbegrenzte Dauer dem polniſchen 
Gemeinwefen verbunden bleiben follen, fo genügte nicht einmal die Ausfyättung 
aller Segnungen eines guten Regiments, bie Folem nachzuſagen wohl felbfl ber 
feurigſte Fürſprecher nicht den Muth haben dürfte, fondern es bedurfte bazu einer 
von unten herauf wachſenden Umwandlung ber bevölkernden Rationalität. Wie 
hätte Polen das bereits in Litthauen zu einer ähnlichen Aufgabe engagirt war 
und mit welcher e8 vergebens fi abmühete, einer bevartigen fion gewachſen 
fein ſollen? Es if gewiß eine ver merkwürbigften Thatſachen in der Gefchichte 
Polens, daß ein beutfcher Herzog, der Herzog Wladyslaw von Oppeln bereits im 
Jahre 1392 einen Plan zur Theilung Polens entwarf, der im Wefent- 
lichen biefelben Grundzüge Hatte, wie vie vierhundert Jahre fpäter eimgetretene 
Berwirklichung aufwies. Bedenkt man, daß dieſer Plan kurz nad dem Regterungs- 
antritt Iagiello’s gefaßt wurde, fo muß man annehmen, daß ber Herzog Polen 
eine tunere Auflöfung fremder VBollsarten nicht zutraute. Die Unmöglichkeit einer 
ſolchen Leiftung wärbe felbft einem großen Volke mit einer flarfen, tiefwurzelnden, 
originalen Kultur entgegengetreten fein, wenn es fo, wie bie Polen, dem ganz 
ungeeigneten Weg eingefchlagen hätte, bie nationale Umbildung von oben nach 
unten flatt von unten herauf in der VBendlferung zu verfuhen und anzuftreben. 
So gab Polen an Litthauen und zum Theil auch an Preußen nur ein Oxantım 
von dem Meberfluß feines herrſchenden Adels ab und ftrebte in die untern Maſſen 
einzig mit dem Mittel einer roͤmiſch⸗katholiſchen, mit allem Gifer betriebenen 
Propaganda einzubringen. E83 war unter foldyen Umfländen eine ſchon von 
ven auswärtigen Aufgaben aufgevrungene Nothwendigkeit für den Adel fi durch 
organiſche Seftaltung einen flärferen Zuſammenhang und eine ſchärfere Umſchrei⸗ 
bung, eine grundrechtlich feſtgeſtellte Bürgſchaft feiner faſt unbeſchränkten „Frei⸗ 
heit” zu verſchaffen. So entſtand in ber HRilte bes 15. Jahrhunderts der perio⸗ 
diſche Reichstag. 

Schon vie Thronbefteigung Wladyslaw Jagiellos beruhte auf einem Bertrag, 
und um die Souveränetät zu kennzeichnen, mit welcher damals fchon die Szlachta 
bie Fürftengewalt von fi abhängig erhielt, erfolgte die Anerkennung bes Königs 
nur auf Lebenszeit. Um feinem ohne Wladyslaw III. (1434—1444) die 
Nachfolge zn erwirken, mußte der König fich noch weiter feiner ſchon beſcheidenen 
Vorrechte emtkleiven. In dieſen immer bei jever Succeffion wiederkehrenden Ber- 
trägen liegt im Grunde bereits eine Art Wahl, die fih nur kraft einer mer 
würdigen Loyalität des Adels gegen das Dynaſtengeſchlecht und kraft einer im 
polnifhen Staatsleben fihtli wirkenden „antiqua consuetudo“ innerhalb eines 
und desſelben Herrfherhanfes bewegt. So wurden nad Wladyslaw III. deſſen 
Bruder Kafimir IV. (1446— 92) und dann der Reihe nad die Söhne bes 
felben Johann Albrecht, Alerander, Sigismund I. und endlih der Sohn 
des Legtern Sigiomund Auguſt, ver legte Sproß des Iagisllonengefdledhte, 
auf den polnifhen Thron erhoben. Diefe Zeiten waren verhältnigmäßig bie 
glänzendflen in der Geſchichte Polens, venn fie zeigen den Staat mit ber 
Erfüllung einer Europa förberlihen Aufgabe eifrig beichäftigt; freilich aud in 
biefer macht fih der Mangel an Kontinuität, an Befähigung zur Organifation 
und zur Unterorbnung im Intrefie allgemeiner Ziele in aufreibender Weiſe 
geltend, vennod aber weifen fie ein Maß von Kraftäußerung auf, welches 
die Nation noch in ungefhwächter Geſundheit erkennen läßt. Man kämpfte 
glüdlih mit den Tataren, glüdlih mit den Türken, mit ven Ruffen; Iagellowen 








Polen, 919 


kamen auf den ungrifgen, ben böhmifchen Thron, die Ausdehnung ber Landes⸗ 
grenzen ließ dem Baterlandsfreunde Nichts zu wünfchen übrig, und wenn aud 
der Parlamentarisung, welder fi auf dem Reichstag entwidelte, bereits 
beutlihe Spuren der Zerrüttung kund gab, die ihn fpäter ſprichwörtlich ge» 
madt bat, fo erwies ſich doch zuweilen in Folge ber geiftigen Beherrſchung 
der Maſſe durch hervorragendere Perfönlichkeiten noch eine Summe von burd- 
greifender Autorität, Aber in zwei Richtungen, die mit einander in einem 
gewiflen Zufammenhang ftehen, entwidelten fi) mitten in dieſer Glanzepoche 
verheerende Keime, die für die Zukunft Unheil ankündeten. Es verfiegte erſtlich 
die Lebenskraft und Energie ber ganz aus beutfchen eingewanderten Elementen 
beftehenven Städte, melde von dem Mutterlande durch immer ſchärfer ausgeprägte 
Staatsglieverung abgefhnitten, in dem jüngern Gemeinweſen zu feiner politifchen 
—— nnd Mitwirkung gelangt waren, bie ihre Interefien gefichert und geförbert 
hätten. Allerdings machten in dem Uebergangszeitalter von bem Mittelalter zur neuern 
Zeit die Städte überall allmälig den Staaten Platz, bier in Polen aber einem 
Staatsweien, das jeden nicht dem Adel Ungehörigen rechtlos machte. In ben 
andern Staaten diente das bürgerlihe Element neben dem freien agritolen dazu, 
ber Fürftengewalt in ihrem Kampfe gegen das ausgelebte Nitterthum einen fihern 
Stüßpunft und eine Duelle der Macht varzubieten, hier in Polen konnte von 
feinem ber Fürften ein folder Verſuch auch nur gewagt werben, da e8 eine freie 
Bauernfhaft nicht mehr gab, und das Bürgerthum einer andern Nationalität an- 
gehörte. Würde nicht fhon die ethniſche Begabung der Polen allen bie Be- 
fähigung zur Kolonifatton in hohem Maße ansgefchlofien haben, fo würden biefe 
traurigen Seiten ihrer Staatsverfafiung es ihrerſeits ficherlich gethan haben. Dan 
kann daraus fließen, wie es mit den gefchilderten nach Litthauen und Preußen 
gelehrten Lebensaufgaben des polnifhen Volles befand, und damit berühren 
wir den andern verberblihen Keim, der die glänzende Geſchichtsepoche Polens 
durchwuchs. 

Man hat wohl gefagt, Polen habe keine Religionskriege gerührt; das Gegentheil 
ift wohl richtiger; in alle feine Kriege und politifhen Thaten mifchte ſich ein religiöfes 
Motiv. Polen war für felne wichtigſten Beziehungen angewiefen auf eine kirchlich⸗ 
religidfe Propaganda, und wie diefe nur ein einfeitiges Mittel if, um fremde Aggregate 
politifch zu verfnüpfen, fo bat fie andererfeits ven Nachtheil, vie Gegenſätze mit um fo 
größerer Gewalt zu erweden. Wenn im Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts bie 
ruſſiſche Bevölkerung noch zwifchen ben beiden Mittelpunkten ihrer Individualität, 

wiſchen Wilno und Moskau ſchwanken konnte, fo erhob ſich am Ende vesfelben das 
egtere mit uıfwiderftchlier Gewalt. In Wilno hatte fih ein Hauptſitz bes 
römifhen Katholicismus nievergelafien, den das Ruſſenthum haßte und fürch⸗ 
tete, während fih in Moskau die nationale Herrfchaft mit ver nationalen Kirche 
aufs innigfle durchdraug, und der Uebergang Großnomgorods und Weißrußlands 
an die moskowiſche Macht, war ein deutlicher Fingerzeig für den Berlauf, ven 
bie Berhältniffe nehmen werden. In ähnlihe Beziehungen trat Preußen zu 
Polen; nachdem die fcharfen Gegenfäge und Leidenfchaften in dem Halbtod pol« 
nifher, drüdender Herrſchaft, ausgetobt hatten, erhob ſich der Widerwille der 
Deutſchen gegen das ſlawiſche Uebergewicht, und wenn auch überall, wo deutſche 
Stämme faßen, ver Abfall von Rom und bie Einführung der neuen gereinigten 
Lehre einen ſchnell um ſich greifenden Anklang fand, fo trug doch zu der Gründ⸗ 
lichkeit und Unerſchütterlichkeit, mit welder die neue Kirche in Preußen Wurzel 
faßte, unzweifelhaft das allgemeine, vollsthümliche Beſtreben bei, einen neuen 


920 Nachtrag. 


Gegenſatz gegen das polniſche Weſen zu erfaſſen. Yu dem nationalen Unterfchicd 
bäufte fich der kirchliche, und ſchon damals bahnte fi das noch hente bentlicdke 
und in der Volksanſchauung lebendige Berhältnig an, daß evangelif und deutſch 
einerfeits, katholiſch und polnisch andererſeits dermaßen zufammenfielen, daß bie 
Dezeihnung der einen Eigenfhaft immer bie andere mit einfchloß. Inzwiſchen 
aber Hatte fid) in Polen felbft die Anhänglichfeit an die römiſche Kirche durch bie 
einftrömende Reformation abgefhwädht, und faft fünf Sechetel der Bevölkerung 
hingen ver neuen Lehre an. In vdemfelben Maße aber wurde das Mittel, durch 
weldes die fremden Bevölkerungselemente polonifitt werben follten, in feiner 
Wirkung matter und flumpferr. Es mußten andere aufgeboten werden. Darauf 
nun beruhen die Untonsbeftrebungen des ſechszehnten Jahrhunderts, welche wefent- 
ih vom Könige und der liberaleren Partei gegen den fanatifhen Widerſtand der 
der alten Kirche und dem alten Syſtem Getrenen betrieben wurden, und tie in 
der politifgen Bereinigung und Gleichſtellung Litthanens, Podoliens, Bolyniens, 
der Ufraine, Podlachiens, Preußens mit dem altem Reichskörper ven Erſatz für 
jenes religtöfe Bindeelement fuchten, das tm Augenblid beinahe hinfällig geworben 
war. Unter ſchweren Kämpfen wurde biefe Union envlih im Jahre 1569 (in 
Lublin) zu Stande gebracht, allein einmal wegen ihrer Naturwibrigfeit, dann aber 
durch die umfafjenden Umwandlungen, melde der ſchon zwei Jahre darauf ers 
folgende Dynaftiewechfel zur Folge hatte, blieb fie lediglich auf dem Papiere; 
eine Wahrheit wurde fie niemals. 

Indefien bezeichnet dvennod vie Union von Lublin den Höhepunlt ber 
polntfhen Geſchichte; denn vie folgenden zwei Jahrhunderte enthalten nichts 
anderes als die Leidensgeſchichte einer haltlos von Ihrer Höhe herabſtürzenden und 
elendiglich zerſchellenden Nation. Längft if man gewohnt, die Urſachen dieſes 
Sturzes in dem polnifhen Adel ver eine ftarfe Regierungsgemalt nicht anf- 
kommen ließ, und in der furchtbaren katholiſchen Reftauration zu ſuchen, weldye 
von den Jeſuiten herbeigeführt wurde; iſt ſchon jedes inzelne dieſer Motive 
allerdings geeignet ein Stantswefen zu zerrätten, fo werben fte in ihrer Ber- 
flehtung und in ihrer Anwendung anf Polen im Verhältniß zu Litthauen und 
Prengen weit furdtbarer. Faſt in ganz Europa beruht ber Adel auf dem 
Princip der Feudalität; in Polen auf einem gleihmäßigen Uebergewicht über vie 
unfreien Volksklaſſen; faſt überall läßt fi mehr oder weniger bentlid ber 
Borgang feiner Entflehung und Bildung erkennen, in Polen müſſen wir ihm von 
vornherein als eine hiſtoriſche Thatfache nehmen; überall fonft ftellt der Übel vie 
vermittelnde Stufenleiter von Ständen dar, welde von dem Bürften abwärts 
führt; in Polen iſt der Adel, wie die Slawen überhaupt, eine atomiftifhe, aus 
lauter gleihartigen Elementen beſtehende Volksſchicht, bie einzig durch die &e- 
ſchlechtsverbände in „Brüberfchaften” zufammengehalten wird. Ser Einzelne bat 
das Kriegsdienſtrecht, was ihn von dem Nichtadligen unterfcheidet, jeder Einzelne, 
und befäße er auch nur eine halbe Hufe, iſt dem Andern, und ſei er aud ein 
Wojewode, rechtlich gleih; nur das Amt madt Unterſchiede, aber das Amt ifl 
nicht erblih, iſt höchſtens nur auf Lebenszeit verliehen. Thatſächlich geftaltet fichs 
ja anders; die Verſchiebungen des Vefiges, bie Berdienfte des Einzelnen bald um 
ben Fürften, bald auch um das Vaterland, mit einem Worte die geſchichtliche 
Bewegung bringen ja große Berfchievenheiten mit fi, allein die Vorſtellung von 
jenem Gleichheitsrecht, das in dem Bewußtſein des Einzelnen lebt, erzeugt eine 
Ambition, welche bie immerwährende Nevolntion begründet. Iene Brüderſchaften, 
melde um das Wappen (herb) geſchaart find, befommen eine größere Bedeutung, 





Polen. 921 


als die Fürftengewalt in Folge der Erbtheilungen zerfprengt, machtlos und ab- 
hängig war; in Meiner abgegrenzten Organismen wirkend, wirb es ben Brüder⸗ 
{haften nit ſchwer, ſich die verminderte Fürftengewalt zu unterwerfen. Die 
Neflauration des Königthums am Anfang des 14. Jahrhundert? wird durch bie 
Fremdherrſchaft herbeigeführt, aufrecht erhalten Tann e8 nur dadurch werben, daß 
es fi auf immer neue Kapttulationen mit der Szlachta einläßt. Die Münze in 
diefen SKapitulationen find die wenigen Rechte bes untern Standes und die 
einzelnen Stücke der Hoheitsrechte. Viel hatten freilich die untern Stände nicht 
berzugeben. Bon den ganz Unfreien und mithin Rechtloſen Tann bier nicht Die 
Rebe fein, aber die oben erwähnten Kmeten gerlethen am Ende des fünfzehnten 
Jahrhunderts in eine Lage, welde fie wenig von Ienen unterfchten. Hatten die 
Kmeten ſchon von vornherein nad dem polnifhen Gewohnheitsrecht eine ganz 
außerordentliche Ueberbürdung an Stenerlaften zu tragen, entbehrten fie auch zur 
Wahrung ihrer Rechte eines Gemeindeverbands, einer politiichen Vertretung, mußten 
fie auch unter der Form der Zinspacht dem Gutsheren Robot leiften, fo ver- 
bürgten ihnen doc vie Geſetze des vierzehnten Jahrhunderts uoch ein, wenn aud 
ſehr bebingtes Maß von Freizügigkeit, noch das Erbreht, ein Wehrgeld für ven 
Zodtfhlag durch einen Adligen, bie Erwerbung von Grunpbefig u. dgl. Das 
Alles aber wird ihnen Stück für Stüd genommen; fie werden dem über Leben 
und Tod unbeſchränkt verfügenden Grundherrn preisgegeben; er bat fie vor Ge- 
richt zu vertreten, denn ihre eigene Stimme hat Teine Gültigkeit — fie werben 
bes Adligen freier ungeftörter Beſitz. Demſelben Schidfal verfallen aud vie 
außerordentlich zahlreich eingewanderten deutſchen börflihen und ſtädtiſchen Ge⸗ 
meinden, und wenn bei ihnen der Verfall nicht ſo rapid vor ſich ging ſo iſt der 
Grund dafür in ihrer beſſern kommunalen Einrichtung zu ſuchen. Allein auch fie 
und beſonders die Städte find ein Gegenfland fortwährender Verfolgung, und als 
im ſechszehnten Jahrhundert die ſtädtiſchen Bevölkerungen durch ben Zuſtrom 
evangeliſcher, deutſcher Cinwanderer wiederum einige Stärkung erfuhren, gaben 
bie religiöfen Gegenfäge einen weitern Vorwand, um jede Spur von Selbftändig- 
feit in den Städten zn brechen. In gleicher Weife zog der Adel die fürftlichen 
Hoheitsrechte an fi, und ſeitdem Ludwig von Anjon angefangen hatte, bie 
Succeffion feiner Tochter dur eine faſt gänzliche Befreiung des Adels von allen 
birelten Steuern und durch andere tief greifende Privilegien zu erfaufen, ſah der Adel 
in jedem Thronwechſel die günftige Öelegenbeit, neue Rechte zu erwerben. Bald 
wußte er fih aud von den intireften Steuern zu befreien, alle Aemter bis herab 
auf den Gerichtsausrufer (e8 gab 20,000 Aemter in Polen) feiner Kategorie aus- 
ſchließlich zuzuſchteiben. Der Befig, die Erweiterung und der Schuß ar aus⸗ 
gedehnter Gerechtſamen machten bald eine feſter zuſammengefaßte organiſche Ge⸗ 
ſtaltung der Szlachta erforderlich, und ſie fand dieſe in dem ſeit 1468 periodiſch 
wiederlehrenden Reihstage, für welchen vorbereitende Erſcheinungen aus den 
Jahren 1384 und 1405 die Grundlage bildeten. Der Reichstag beſtand aus 
dem Senat, welder im Wefentlichen die frühere Baronte, das ift die oberften 
Staatsbeamten und hervorragenpften Kirhenwürbenträger umfaßte, und der Yand> 
botenfammer, veren Mitglieder von den einzelnen Landſchaften und zwar in 
nicht beſchränkter Anzahl gewählt wurden. Die Deputirten ſtimmten nad der ihnen 
von ben Landſchaften mitgegebenen Inftruftion, und es kam daher nicht darauf 
- an, 05 eine Landſchaft durch viele oder nur zwei Voten vertreten war. Das gab 
nun Veranlafſung, daß fi allmälig ver gefammte müffige Abel in dem Reichs⸗ 
tage einfand. Einmal korporativ ausgebildet, und von dem Bewußtſein eines 


923 Nachtrag. 


ſolidariſchen Intereſſes durchdrungen, ging die Szlachta gleich an die Wurzel des 
ganzen Staatslebens, und indem fie im Anfang des 16. Jahrhunderts der Krone 
bad Recht der Eutſcheidung über Krieg und Frieden, fowie das Recht, neue Geſetze 
zu erlafien, nahm und ſich ſelbſt zneignete, brachte fie das Gemeinwefen in jene 
abftürzende Bahn, welde unter dem Namen „polntihe Wirtbichaft” mehr als 
genug bekannt ift, und dennoch bei jeber neuen Forſchung ſich noch immer boben- 
lofer erweist, als man annahm. 

Nach dem Ausfterben der Jagiellonendynaſtie wurde auf Betrieb der römijd- 
latholiſchen Partei das Recht, den König zu wählen, über alle Mitglieder des 
Reichſtags ausgedehnt, weil fi nur daburd die Ausfiht ergab, einen dem Papfte 
ergebenen Fürften auf den Thron zn bringen, und ven Neigungen ber evange- 
liihen, von den Preußen unterflägten Partei, fowie ver Littbaner, welche unum- 
wunben damals ſchon den Moskowiter als Thronkandidaten vorfhlugen, die Spige 
zu bieten. Gar nicht umrichtig nennt Montalembert Polen den am weiteften vor⸗ 
geihobenen Poften der flxeitenden Kirche, aber man kann nur nit wollen, baß 
darüber das politiihe Glück nicht Hätte zuſammenbrechen follen. Nahm Polen mit 
feiner Vorfechterrolle für die römiſche Kirche feinen Nachbarn gegenüber eine feiner 
Innern Lage am menigften entſprechende, herausfordernde Stellung ein, wie kann 
man fich darüber wundern, daß dieſe den Handſchuh aufnahmen? Jetzt erſt reiht 
und bis zum legten Athemzuge des polniihen Staates waren feine Kriege und 
Kämpfe durchdrungen von einer religiöfen Beziehung, weldhe Polen nad Oſten 
wie nad) Weſten zu einem Stein des Anftoßes machte. Die Wahl Heinrids 
von Valois, des Lieblingſohnes der Katharina von Medici, bezeihmete bie 
Richtung, welche die fogenannte Republit zu nehmen im Begriff war, eine Rid- 
tung der au die Nachfolger Stephan Bathory und befonders Sigis- 
mund IIL in hohem Maße entſprachen Zur Unterftügung biefes für die Kirche 
ftreitenden Volles wurde vie päpftliche Geiſtesgensdarmerie, die Jefutten herbeigernfen, 
und nun begann eine Reftauration des römiſchen Kirchenweſens, welche durch ihre 
Ausdauer, ihre Strupellofigleit, ihren Eifer, ihre Eindringlichkeit dem ſich gern 
in &rtremen bewegenden, polniſchen Volke eine Art raſenden Fanatismus einflößte, 
der fonft bei dem Mangel an Empfänglichkeit für tiefere Ideen, der die ſlawiſchen 
Bölfer auszeichnet, gar nicht zu erfiären wäre. Wenn man fi erinnert, was wir 
oben als bie das Leben bedingende Aufgabe des polnifhen Staates bezeichnet 
baben, die Polonifirung von Litthauen und Preußen, und baß ſich zu biefem 
Zwede den Bolen kein anderes, befferes Mittel darbot als die religidfe Propa- 
ganda, fo wirb man leicht begreifen, daß dieſe brutale Reſtauration, melde fi 
weit über die polniſchen Grenzen hinaus ergoß, einen Anftrih von nationaler, 
politifch-patrtotifcher That erhielt. So kam es au, daß der jämmerlichſte Regent 
des polniihen Voller, Sigismund III., vemfelben ſcheinbar den höchſten Glanz 
in der Geſchichte gab, denn er trug bie polnifhen Waffen big nah Moskau, umd 
fein Sohn gebot einige Zeit auf dem Kreml. Es verdient gewiß bemerkt zu wer 
ben, daß in der Epoche, in welcher In Polen durch den Einfluß ber Reformation 
die religiöfe Propaganda erfahmt war, das moskowitiſche Neih aus Mangel eines 
anfpannenvden Gegenfages einer unbefchreiblihen Zerrüttung verfiel, in dem Augen⸗ 
blick aber, da jene ihre höchſte Höhe erreicht, und zu einem hitzgen Eifer fid 
erhoben hatte, es fih von Reuem fammelte und Träftigte, und jo wie das 
Haus Romanow der Beforgnig nnd Furcht vor Polen feine Erhebung auf ben 
Zarenfig verdankte, fo ſchwor e8 von dem erften Augenblid feiner Herrſchaft an 
diefem Feinde die Vernichtung. Bon ba an wurde bie Bolitit der Romanomiczen 











Polen. 993 


in erſter Tinte eine antikatholiſche, eine Eigenſchaft welche ihr fofort die unter 
bemfelben Drud der Katholifirungswutb leidenden Kofaten ver Ukraine und Po» 
doliens zuführte und ihre Macht unwiderſtehlich machte. Unter ver Regierung 
der beiden Söhne Sigiemunds, unter Wladys law IV. mb Johann Kafi- 
mir traten diefe Berhältniffe, gegen welche vie Innere Lage ber polnifgen An- 
gelegenheiten nicht nur Leinen Schuß bot, fondern denen fie einen heillofen Bor- 
{hub leiftete, der Urt zu Tage, daß ihr unglüdliher Ausgang mit Händen zu 
greifen war. Analog verhielten fih bie Dinge auf der andern Seite, denn nicht 
weniger als vie griechifg Orthodoxen litten die Edvangeliſchen, die Deutſchen; nur 
hatten jene einen Staat, einen feften Sammelpunkt, an welchen fie ihre Hoff- 
nungen und Wünfche anlehnen Tonnten, was dieſen noch abging. In der erften 
Hälfte des fiebzehnten Jahrhunderts hatte Schweben die Nolle Übernommen, den 
Proteftantismus in Europa mit dem Blute zu erlaufen, mit welchem, wie es 
fheint, alle großen Menſchheitsideen gefittet werden müfjen. Diejes, fowie dyna⸗ 
ſtiſche Beziehungen regten den nordiſchen Staat zur Einmifihung an, und in ber 
Mitte des fiebzehnten Jahrhunderts gab e8 einen Wugenblid, in welchem Polen 
fon volllommen getheilt war; 1654 flanden die Ruffen in Lemberg, 1655 bie 
Schweden in Kralau und der polnifhe König war auf der Flucht. Freilich war 
das Feine Thellung, um banernbe Zuftänbe zu begründen, denn no verflanden 
fih die Theilungsmächte nicht mit einander, noch lagen zwiſchen ihnen ſelbſt An⸗ 
ftöße heftiger Kriege, und wenn auch der ſpäter nod einmal entworfene Theilungs⸗ 
plan Karl Guſtavs von Schweren darin einen vernünftigen Sinn hatte, daß er 
dem brandenburgifhen Kurfürften ein Stüd abgeben wollte, fo verfehlte er doch 
bie Forderung der europälfhen Verhältniffe, daß er, flatt Defterreih dem ſieben⸗ 
bürgifchen Herzog Georg Rakoczy Kleinpolen zuwelfen wollte. Schweben bot zwar 
den Diffidenten in Polen einen religiöfen Stügpuntt, nicht aber den ebenjo noth- 
wenbigen nationalen. Beides vereinigte fi) jedoch in dem von dem großen Kurs 
fürften aufgerichteten PBreußenftaat, und der König Johann Kafimir hatte 
einen richtigern Einblid in die Sachlage, als er dem Reichétag zurief: ich meine 
der Moskowiter wird Litthauen, der Brandenburger Großpolen und Preußen, 
und Oeſterreich Krakau und die angrenzenden Länder nehmen. Dreihundert Jahre 
früher hatte jener ſchleſiſche Herzog dasfelbe ungefähr vorgefchlagen. 

Seit dem Erldſchen des Jagiellonengeſchlechts Hatte fih das Haus Habs- 
burg faft bei jever Wahl um die Krone Polens beworben, wenn auch ſtets nur 
mit geringem Nachdruck. Nachdem in Mihael Wisnomwiedi und Johann 
Sobiesti einheimifhe Magneten auf den Thron gelangt waren, um ſchließlich 
ven Beweis zu liefern, daß auch hierdurch dem Elend und Untergang biefes 
Reiches nicht mehr geftenert werden könne, richtete Defterreih fein Augenmerk 
etwas fefter auf die polniſchen Ereignifle. Schon ſah es den ruffifhen Staat auf 
ber einen, ben evangelifhen auf der andern Seite bereit, fi der Diffiventen an⸗ 
zunehmen, und wie es überall zu feinem eigenen Schaben fi ver katholiſchen 
Interefien annahm, fo befbrderte e8 bier eine Kombination, welche viefelben in 
Polen wahren und in Deutſchland zugleih durch einen Zuwachs bereihern follte; 
man machte nämlih den Kurfürften —— Auguſt von Sachſen erſt zu 
einem Katholiken nnd bob damit für immer den Beruf Sachſens als proteſtantiſche 
Vormacht auf, was Preußen wefentlih zu Gute kam, dann zum König von Polen, 
und gab damit dem verlommenen Lande einen der fchlehteften Regenten, der viel- 
leicht nur von feinem Nachfolger Auguſt III. an Berworfenheit übertroffen wurde. 
Wenn Defterreih gemeint bat, mit dieſem katholiſchen Fürſten ven ruffifchen 


924 Nadıteng. 


Zenbenzen, welche zunächft auf bie Erwerbung Litthauens, dann aber auf bie 
Unterjodung Polens ausgingen, entgegenzuarbeiten, dann hatte es fi tief geirrt, 
denn Peter der Große, welcher viel tiefer in die Sache ver Annexion Polens an 
Rußland bereits eingebrumgen war, als die bisherigen Geſchichtsdarſtellungen an- 
gaben, warf fi zum Beſchützer des durch Karl XII. von Schweden gefährbeten 
Königs Auguft auf, denn um den Ausblutungsproceß des verendenden Reiches zu 
beſchleunigen, waren Fürften dieſer Gattung vortrefili geeignet. In dem Inappen 
Raume, der uns bier zu Gebote fleht, läßt fich aud nicht einmal in großen 
Zügen das widrige Bild malen, das die Gefchihte der Theilungen Polens 
darbietet; es ift im Bezug hierauf nöthig, auf die ausführlichen Geſchichtswerke 
zu verweilen, bie freilid jegt erft anfangen, ven konfeffionellen Beweggrund ge 
bührlich in den Vorbergrund zu ſtellen. Rur einige Bemerkungen mögen mir hier 
erlaubt fein. 

Jahrzehnte hindurch hat man in einer wenig verflänbigen Weile varäber 
bebattirt, wem die Schuld diefes Borgangs beizumeſſen fet, und madte von ber 
einen Seite das polnifche Boll, von der aubern bie Thellungsmäcte dafür ver 
antwortlih, von denen jede wiederum ven andern den Anfang, die urfprünglide 
Idee zumälzte Wegen des großen Eifer und ver Maftiofigleit, mit der er bie 
Sade betrieb, ift namentlich Friedrich der Große von ben Kleingeiftern angeflagt 
worden. Wer da meint, daß ein Staat, eingeflemmt zwiſchen zwei gewaltig empor- 
firebenden, von einer Innern nationalen Triebkraft gehobenen Mächten, welde 
beide von ſehr beträchtlichen, in Sprache, Bekenntniß und Nationalität mit ihnen 
übereinftimmenden Braftionen gegen eine grenzenlofe Bebrädung angerufen werben; 
ein Staat, ver feit Jahrhunderten vie Seelüfte befigt und noch nicht einmal dem 
Verſuch zu einer maritimen Entwidelung gemacht hat, ein Staat, welcher acht 
Jahrhunderte hindurch den Zuſtrom europälfcher Eivilifation empfangen und bed 
nit einen einzigen Menſchen hervorgebracht bat, welcher fi mit einer Ent- 
bedung oder Schöpfung an dieſem Bildungsgute tief eingreifend betheiligt hätte, ein 
Staat, der felbft ohne bürgerlihe Elemente, aus dem Nachbarlande viefelben reichlich 
empfängt und fchon nach zwei bis brei Jahrhunderten fie bis auf den Schatten ab» 
forbirt hat, ein Staat, der mehr als den vritten Theil feiner Bevölkerung, und gerate 
den arbeitfamen, erwerbenven in einem rechtlofen Helotenthum herunterzubalten 
verftand, ein Staat, welcher es in Jahrhunderten feiner unbehelligten Eriftenz für 
feine fih ſelbſt regierenden, freien Elemente nicht weiter als bis zu einer Ber- 
fafſung gebradt, welche nur wenig fi) von ber legitimirten Zuchtloſigkeit unter: 
ſcheidet, ein Staat, welcher rädfichtlic feiner Einkünfte faft ausſchließlich am bie 
Wucherzinſen angewiefen ift, um welche das ſchattenhafte Königthum 
wurde, ein Staat, der feit zwei Jahrhunderten der Spielball feiler, beftechlicher 
Magnaten, wüfter Weiber, herzlofer, ihren Schwerpuntt außerhalb des vater 
ländiſchen Interefieg ſuchender Briefter iſt, wer da meint, daß ein folder Gtaat 
beftehen konnte, der muß von ver Geſetzmäßigkeit im Leben der Völker nur gerimge 
Begriffe haben. Wer aber wieder fchliegen zu dürfen meint, wie man ja alle 
Tage hören Tann, das polnifche Bolt habe an feinem flaatlichen Untergange Schui, 
ber wird ſich minveftens den Vorwurf ver Läſſigkeit im Ausdruck zuzichen, bewz 
Schuld if das perfönlicfte, was man denken kaun; wohl haben einige, wiele, 
fehr viele Polen Schuld an dem Untergange Polens, und zwar insbefonbere die 
Gefinnungsgenoſſen derer, melde mit Borliebe von der Schuld des 
Bolkes deflamiren. Aber in Polen — das erweifen die verzweiflungsvollen Uns- 
brüche des Widerſtande — war bie Wuzahl derer, welden das Herz über vem 








Dolen. 925 


Unglück der Nation brach, größer als derer die es bereitet hatten, nur flanben 
jene nicht au dem Plage, von welchem fih Gutes oder Schlimmes bewirken Ließ. 
— Unter dem Gefſichtspunkt der Gejegmäßigfeit im Bölfer- und Staatenleben iſt 
e8 fo ganz und gar gleichgültig, wer das Wort Teilung ausgefproden hat, daß 
man, wollte man fi eine Ironie erlauben, die Subtilitätenträmer auf jenen 
fchlefifchen Herzog verweifen Tann, der das furdtbare Wort fhon 1392, alfo 
gewiß vor Friedrich dem Großen ausgefprochen hat. Genügt das nit und will 
man denjenigen kennen, ver für die Thellung von 1772 das erſte Wort ertheilt, 
nun fo find wir im Stande aus ben Papieren des geheimen moskauiſchen Staats- 
archivs den Beweis zu führen, dag ein ruffifcher Mönch aus einem Wilno’fchen 
Klofter, deſſen Korrefponvdenz mit ven Staatsmännern von Petersburg und der 
Kaiferin Katharina im höchſten Grade bemertenswerth vie Berhältuiffe der Diffi- 
denten zu Rußland und Preußen illuſtrirt, zuerft ven Rath gegeben hat, einen 
Rath Übrigens, der auf der Straße lag Wen aber gleihwohl ver Eifer 
und die Raftlofigleit des großen Friedrich noch verdächtig bleiben, der hätte ven 
Deweis zu führen, daß biefer bemunderungswürbige Staatsmann irgend einen 
Plan, den er für heilfam und erfprießlih für das Gedeihen feines Staates hielt, 
obne Eifer und Raſtloſigkeit betrieben bat. Und nun noch zur Moral der Sache! 
Denn . das, fagt man geſtützt auf ben aus ber reinen Privatrechtsfphäre ab» 
aezogenen Moralbegriff, ift doch ohne Zweifel der Geſichtspunkt, unter dem fie 
verwerflih, abjhenlih wird. Wenn je ein Staat, der ſich foeben erſt anf ben 
Principien eines beftimmten Glaubensbekenntniſſes und zur Schutzwehr feiner 
Nationalität aufgebaut bat, von einigen Millionen feiner Glaubens, Sprach⸗ 
und Nationalitätsverwandten In einem namenlofen Elend und in der verlommen- 
fin Lage zur Hülfe angerufen wird, und eine Krifis herantreten fieht, 
welche von feiner Einmiſchung die Rettung, von feiner Enthaltung den VBerluft 
jener Unglädlihen au einen rührigern Gewalthaber abhängig madt, dann wird 
ein folder Staat wohl wünſchen mäffen, daß an feiner Spige nicht jene Männer 
mit dem Pathos einer ſcheinbaren Sittlichkeit fländen. Sie könnten, es wäre faſt 
denkbar, die Hände in den Schooß legen — aus Moral, 

Im Uebrigen beruht das Urtheil über die Thellung Polens tim Allgemeinen 
weniger auf einer objeltiven Würdiguug, als vielmehr auf Adoption der die po⸗ 
litiſche Meinung in der erften Hälfte unferes Jahrhunderts beherrſchenden Anficht 
der franzöfifhen Iournaliftit, welche mit den tiefen Antipathien gegen bie fonftige 
Politik der drei Großmaͤchte eine Urt von Kainszeihen daraus zuſammendichtete. 
Den Legitimiften bot Polen die Gemeinfamteit des ariftofratifhen, ven Klerikalen 
die des kirchlichen Interefles, und den Ialobinern neben vielen andern Beziehungen 
die Gemeinſamkeit des Feindes. Nur Einer in Frankreich, ver freilich außerhalb 
jener Parteien ftand, war tief von dem Gedanken durchdrungen, daß „eine Wieder⸗ 
herſtellung Polens ein politifcher Yehler wäre”, und handelte au danach; viefer 
Eine war Rapoleon. Denn die Aufrihtung des „Herzogthums Warſchau“ war 
nit mehr als ein Operationsmittel in dem Kampf gegen vie Oſtmächte, dem der 
Berweinngsleim in der Anlage mitgegeben war. Und diefer ſchändliche und tief 
erniebrigende Mißbraud, den Napoleon mit dem Vertrauen, den Hoffnungen und 
der Hingebung der Polen getrieben hat, ift von allen Regierungen, deren ſämmi⸗ 
liche Schattirungen Frankreich In viefem Jahrhundert durchzuprüfen bie Gelegen- 
beit hatte, und von -faft der gefammten franzöfifchen Preſſe immer wieber und 
bis anf den heutigen Tag nachgeahmt worden, ohne baß bie fonft nur zu po= 
Iitifihen Opfer von dem Wahn einer franzöfifgen Unterſtützung abließen. Seiner 


926 Nachtrag. 


trat auf dem Wiener Kongreß mit größerer Lebhaftigkeit dem unpolitifchen aber 
der Hochherzigkeit nit entbehrenden Plane Alexanders I., ein neues Polenreich mit 
parlamentarifhen JInftitutionen unter Perfonalnuion mit Rußland herzuftellen, 
entgegen, als ver Geſandte Frankreichs und der mit dem Weſen bes PBarlamen- 
tarismus wohl tiefer vertraute Lord Caſtelreagh erfhraf vor dem Gedanken eines 
polnifhen Parlaments. Wenn man auch an den Ernſt Aleranvers, ber bamals 
von den Eingebungen bes Fürften Czartoryjsti, feines Freundes, Über feine ſpecifiſch 
nationalen Interefien hinaus in eine gewiffe Schwärmerel getragen wurbe, nicht 
zu zweifeln braucht, fo fand man ihn in fpätern Jahren fehr glädlich, das Projelt 
nicht durchgeführt zu Haben. Die neue Theilung, welche ber Wiener Kongreß vor- 
nahın, hatte, wenn überhaupt ein PBrincip nur das eine zur Unterlage, Preußen 
feiner gerechten Anſprüche auf das Königreih Sachſen zu berauben und in bie 
Mitleidenſchaft aller Konfeguenzen ver ungeſchickten und charalterloſen Politik 
Defterreihs und Rußlands in der Polenfrage zn ziehen. 

Bir rigten unfer Augenmerk bier nur auf ven Theil Bolens, der als ein 
fompaltes, ziemlich rein polnifches Bruchſtück an Rußland gelommen war. Er 
betrug etwa 2327 [Meilen von etwas mehr als 4 Millionen Einwohnern be 
völfert, wobei freilich zu bemerken ift, daß vie litthanifchen und ruffiigen Pro- 
vinzen des alten Bolen mit einem Geviertgehalt von über 6000 [ JM. olme 
Weiteres dem rufflihen Sefammtreih einverleibt wurden. Am 15. December 1815 
wurde die verfprodene Berfaffung des „Königreichs Bolen“ proflamirt, welde ein 
eigenes polniſches Minifterium, eine eigene Tonftitutionelle Regierung einſetzte. 
Auffiiche Geſetze ſehen freilih auf dem Papiere anders als In der Praris aus, 
aber immerhin wird man zugeben mäffen, daß vielleiht von England abgefjchen, 
fein Staat in Furopa zn der Zeit fi einer fo freifinnigen und auf bie glückliche 
Entwicklung des Landes abzielenden Verfaſſung zu erfreuen hatte. Die Landes- 
vertretung, aus Senatoren- und Landbotenkammer beftehend, erhielt ein jäßrliches 
Bürger, das in 13 Jahren, einige Schwankungen nngerechnet, einen zwiſchen 
10—12 Millionen Thaler fi) bewegenden Etat der Einkünfte, und einen fletigen 
von 9—11 Millionen Thaler auffleigenden Ausgabenetat aufwies. Somit wären 
die Finanzen im blühendfien Stande gewefen, wenn die Gefammtlafle des Reichs 
auch fernerhin, wie es anfängli geſchah, die gefammten Militärnukoſten allein 
tragen umb fi mit einer geringen Quote der Ueberfchäffe hätte befriebigen wollen. 
Da dies nit der Ball war, fo entſtanden ſteigende Deficite, was das i 
zwiſchen Regierung und Parlament in der Regel zu zerſetzen pflegt, und auch hier 
nicht ausblieb. Der Landesvertretung zur Bafis dienten die Wojewodſchafts⸗ Kreis 
und Stabtrathsverjammiungen „ und felbft den Bauern wurde das Stimmrecht 
eingeräumt. Nichts, gar RNichts aber gefhah weder von Seiten der Regierung 
noch von Seiten bes Landtags, um die Bauern zu emancipiren unb fie namentlid 
von dem brädenden Robot oder Hofbienft abzuldfen. Diefer Theil der Bevölkerung 
feuchte unter der Laſt der willtührlih von dem Gutsherrn beftimmten „Präfte 
tionen”, und bei der herrſchenden Patrimonialgeridhtsbarteit war der Bauer gänz- 
lich preisgegeben. In der langen Leidensgefchichte feines Volles aber und bei der 
Abneigung gegen ernftere gemwiffenhafte Arbeit war der polnifche Edelmann ein 
—— nrolızıxog geworben; er konnte das Mitregieren nicht laſſen, und ba 
im Ganzen und Großen der Staat fi in Bahnen bewegte, gegen welde eine 
Dppofition nicht recht erhoben werben lonnte, fo wurben vie geringften Kleinig⸗ 
feiten als — ber Deklamation über Bedrückung und Elend zur Auſ⸗ 
reizung und Aufwiegelung namentlich der Jugend aufgeblaſen. Bedenkt man, daß 


Delen. 927 


no im Jahre 1862 und 1863 der höchſte Wunſch der PBatrioten auf eine Wieder⸗ 
einführung der Verfaflung von 1815 Hinauslief und zwar in gerechter Wärbigung 
der die geiftigen und materiellen Güter in hohem Maße wahrenden und ſchützen⸗ 
den Kraft verjelben, fo wird man den Werth jener von ver äußerſten Demolratte 
und dem katholiſchen Klerus glei beförberten Oppofition zu bemeflen wiffen. In« 
deſſen waren alle jene Steine des Anftopes nur Vorwand; der Kern der Unzu⸗ 
frievenheit lag dort, wo bie Unverföhnlichkeit zwiſchen Rußland und Polen wiederum 
zu Tage trat, in Litthbauen. Die Demokraten jahen mit Schreden vie nationale 
Kluft zwiſchen Polen und Litthauen (im weitern Sinne), bie unter verſchiedenen 
Berfafſungen lebten, fih erweitern; die Klerikalen hatten nicht blos den Boden 
ihrer religidſen Propaganda eingebüßt, fondern fahen durch die Unterſtützung ber 
bem griechifch-orthoboren Glauben anhänglichen untern Volksſchicht, die ſchismatiſche 
Kirche fo bedenkliche Fortſchritte machen, daß auf die Länge ver Zeit ein Wider⸗ 
ftand der katholiſchen Bevölkerung, die weientlid aus dem bel beftand, nicht 
möglich ſchien. Das Werk von vier Jahrhunderten, das an den innerften Lebens⸗ 
fäften des polniſchen Gemeinweſens gefogen Hatte, war aufs tieffte gefährdet. Die 
Emancipation der Bauern, weldhe Preußen und Oeſterreich in den an fie gelom- 
menen Landestheilen fi als erfles und bringendftes Werk angelegen ſein ließen, 
hatte auch in Rußland bereitS warme Fürfprecher gefunden, und immerhin er 
fannte man, daß man aud dort fi nicht immer davor werde verfchließen können. 
Belam in den in Frage ſtehenden Provinzen die untere Bevölkerung bie ihr ber 
Zahl nad gebührende Bedeutung, fo verfiel mit und ohne Unterflügung ber 
Regierung der römiſche Katholicismus auf dieſem Felde gänzlich. 

Unter dem jelten fonft gehörten Zufammenklang der Billigung ſeitens der 
rabifalen Demokratie oder richtiger der Republikaner und der römifhen Kurie, 
eutwidelte fi in Polen ein Syſtem des Wiperftands gegen bie Regierung, zu 
befien Betrieb fi unzählig viele wühlende geheime Geſellſchaften bildeten, veren 
nächſter Zwed war, der Regierung Schwierigfeiten zu bereiten. In dem Maße, 
als dieſes Syſtem fi entwidelte, fchritt jene von der betretenen freifinnigen Bahn 
zurüd; die Cenſur wurde wieder eingeführt; die Oppofitionsführer, vie BVrüder 
Riemajowski, aus der Kammer entfernt; da bie Schulen zum Gern ber geheimen 
Geſellſchaften gemacht wurden, taftete man fie bier und da an und ſchloß mande; 
die zu Ehicanen geneigten Polizeibehörden begiengen Ungefchidlichleiten, weldye die 
Empörung nährten; der Großfürft Konftantin, welcher früher nur Chef ver Armee 
geweſen, befam aud für Civilangelegenheiten eine. unverantwortliche Gewalt und 
bebiente fich derfelben mit umverantwortlichen Launen. Der Tod des Katfers 
Alexander änderte Nichts in viefen Verhältniſſen, und fein Nachfolger Nikolaus, 
im Uebrigen ein gefchworener Feind aller fonftitutionellen Einritungen, und ob» 
wohl tief gekränft burd die Enthällung, daß die Militäraufftände bei feinem 
Regierungsantritt von den polnifhen Karbonarts unterftägt worden waren, glaubte 
dennod die Ordnung im Königreih nicht umſtürzen zu dürfen, denn fichtlih war 
unter ihr das verarmte und unglädliche Land zu einem Gedeihen emporgelommen, 
das für dasſelbe eine vBllig neue Erfahrung war, die e8 am wenigflen in ver 
Zeit des felbftänvigen Polenreichs gemacht Hatte. Die von Alexander geftiftete 
Univerfität zu Warſchau förderte den Betrieb der Wiflenfchaften, für den Unter- 
richt forgten — allerdings in unzureichender Weiſe — im Ganzen etwa 700 
Säulen, vie von etwa 50000 Schülern befuht wurden; in Warſchau, Lublin 
und Plock beftand eine „philomathiſche Geſellſchaft“; die Konjumtionsfteuer lieferte 
1829 einen Ertrag von 11/, Millionen Thaler; im Jahre 1828 wurde, was 


9 naqtrag. 


von beſonderer Wichtigkeit, eine Nationalbank mit einer Einlage von em 
20 Millionen Thaler errichtet und im erflen Geſchäftsjahr belief ſich ihr Berkehr 
bereits auf über 6O Mil. Thlr. Außerdem gab es fon feit ven Jahre 1826 
einen Landſchafts⸗Kreditverein, welcher auf vie Hälfte ver durch Abgeordnete Ber 
Landſchaft abgefhägten Güter gegen 6%, Pfandbriefe ausftellte, vie dem Inhaber 
49%, eintrugen. Die von diefem Verein ausgegebenen Billets betrugen bis zum 
14. Januar 1829 etwa 20 Mill. Thlr. Diefe Inflitute in Verbindung mit dem 
PBrohibitio-Syftem, den Yreiheitspatenten und ben wiederholten Kunftansftellungen 
förderten vie Iubdufterie und den Handel, wenn man auch fagen muß, daß bie 
vorzugsweife in den Händen ber Deutihen und Juden waren. Aus einem Bericht 
vom Jahr 1830 geht hervor, daß damals von polnifhen Fabriken geliefert wurde: 
an Leinwand verſchiedener Gattung 6,592,666 Ellen; an Tuch: 6,524,663 Ellen; 
Baummwollenzeuge: 17,185 Stüd; an Papier 148,564 Ries; au Ölasfabrifaten: 
399,106 Eentner. Dies giebt einen Maßſtab für vie inpuftriellen Leiſtungen, 
denen gegenüber man bie Erwägung im Auge behalten muß, daß bie Induſtrie 
im zweiten Jahrzehnt unjeres Säkulums erſt anfieng den Rieſenſchritt zu nehmen, 
der uns jet geläufig iſt. 

In diefe Zuftände brady die Iulirevolution hinein, und vie Warſchauer 
Politiker, welche den Doktrinarismus der parifer Touangeber für das klaſſifche 
Mufter von Staatsweisheit nahmen, hielten es für dringend geboten, auch ihrer⸗ 
ſeits eine Revolution zu machen, die aus verhältnuigmäßig winzigen Anfängen zu 
großartiger Auspehuung anſchwoll, und in welcher es fi nicht ſowohl um konſti⸗ 
tutionelle Zugeftänpnifie ald um die Wietererwerbung Liuhauens handelte. Wenr 
ih num fage, daß die Einzelnheiten diefer gewaltigen Tragödie hier um fo eher 
übergangen werben können, well fie im Allgemeinen befannt find, fo mödte id 
nicht damit ausgebrüdt haben, daß fle bereits einer wifſenſchaftlich objektiven un- 
befangenen lnterfuhung nuterzogen worden wären. Wllein bie großen Züge 
derfelben mit ihrem jammervollen Ausgang ftehen noch in ber lebhaften Griune- 
rung des Zeitalters. Die Revolution war niedergefchlagen und am 16. Dftober 
1831 veranftaltete der zum Yürften von Warſchau und Statthalter ernannte 
General Paskiewicz ⸗Eriwanski eine Siegesfeier in der unglüdlihen Hauptſtadt 
Es begann nun ein Regiment fo eigener Art, daß vielleicht kommende Gefchlechter 
im Gegenfag zu ber berüchtigten polnifhen Wirthſchaft biefe Regierungsweiſe 
fprihwörtlic die ruſſiſche Wirthfhaft nennen werden. Um 26. Februar 1832 
erjhien zwar ein fogeuanntes organiſches Statut, weldes vie Berwaltung regeln 
follte, aber fo lärglih auch die Gabe war, fo fhien es doch den Adminiſtratoren 
des Landes zu viel zu fein, und fie fhoben daher dem Geſetze ihre eigenen Ideen 
unter. Au bie Stelle der Minifterien traten vier Regierungstommiffionen für 
innere, geiftlide und Unterrichts⸗, Finanz und Juſtizſachen; der Adminiſtrations⸗ 
rath unter dem Borfig des Statthalters befland aus ben Präfidenten der vier 
Kommiffionen und einigen andern Berwaltungsfommitäten, die Kammern, bie 
Wojewodſchafts⸗, Kreis- und Stadtrathsverfammlungen wurden aufgehoben; das 
höchſte Gericht wurde zu zwei ruſſiſchen Senatsbepartements verwandelt; bie ruf- 
fiſche Sprache wurde in den Schulen obligatoriſch; bie Univerfität wurde aufge- 
boden, viele Schulen geihloffen. Das Alles war fhlimm, aber immerhin zu 
ertragen, und mit den Gefegfammlungen in ber Hand können hypokritiſche Schrift: 
fteller uns beweifen, daß der Kaifer Nikolaus nah Maßgabe des ——— 
das die Revolution In feine Hand gelegt, durchaus milde und „väterlich“ gehandelt 
babe. Ja man wird finden, daß überhaupt wenig Geſetze erlaffen wurben, aber 


N 








Polen, 29 


das Schümmſte geſchah, was ein Gemeinweſen treffen kann; ftatt der Geſetze 
ergoß ſich eine Fluth von Mafregeln, nicht in organifhem Zufammenhang, fon- 
dern immer einen einzelnen Fall oder auch eine einzelne Perfon treffend. Der Fürſt 
Pastiemitfh Lehrte fi nicht einmal an die ihm aus Peteröburg zulommenben 
Berorbnungen, geſchweige denn an beftehende Geſetze. Eine burchgreifende Ruffificirung 
fand nicht flatt; ganz im Gegentheil: man ließ Polen in den Aemtern, und 
gab fih den Anſchein nicht zu bemerken, daß fie die furchtbarſten Pflichtvergefien- 
beiten, die abſcheulichſten Beruntreuungen, die widrigſten Defraudationen, die aus⸗ 
gejuchteften Piadereien gegen das Bolt fi erlaubten. Man förderte die Depra- 
vation, man richtete den äffentlihen Geift auf Lurus, Spiel, Tand, ver bie 
Beſitzenden ruinirte und die Beſttzloſen in die niebrigfte Berfuntenheit hineintrieb. 
Alle die eiferne Kraft, welche dem Regimente des Nikolaus inne wohnte, wurde 
verwenbet auf die hermetifche Abiperrung des Landes von allen Beziehungen zu 
dem übrigen Europa, und fo gut gelang biefe Abficht, daß die wühlende und 
damals gerade blühende Emigration ihre Entwürfe gegen die von Preußen und 
Defterreih regierten ehemals polnifhen Landestheile richtete und in dem König⸗ 
reich nicht einmal einen Verſuch zum Aufftand anzuzetteln im Stande war. Die 
Revolten im Bofen’ihen ſcheiterten befanntlih an dem kräftig emporgewmachfenen 
deutſchen, in Defterreih an dem frühzeitig emancipirten bäuerlihen Clement. 
Theils um einen folden Gegenſatz auch im Königreih hervorzurufen, ber bie 
leichtere Ueberwindung des aufrührerifchen Adels ermöglicht hätte, theilts um ber 
maßlofen Berlommenheit des allgemeinen Wohlftands zu flenern, eriheilte ber 
Graf Kiffelem, welcher au bei den Süpflawen fih um bie Bauernemancipation 
große Berbienfte erworben hatte, dem Kalfer ven Rath, eine allmälige Ablöfung 
der Bauern von den fchweren Leiftungen und Hofbienften, bie bie Gutsherren 
von ihnen bezogen, in die Hand zu nehmen. Die Borgänge in Galizien gaben 
bem Rath des Grafen Nachdruck, und in der That erſchien am 26. Mai/7. Jani 
1846 ein Edikt, weldes die fogenannte daremezyzna (willlürlih von dem Guts⸗ 
herrn zu beſtimmende Laften und Gaben) aufhob und beftimmte Berzinfungs- 
normen einführte. Zur Durchführung und Entwidelung diefer Maßregel follen 
die Gutsherrn fogenannte „Präftetionstabellen” einreihen, in welden vie zur 
Zeit üblichen Leiftungen ein für alle Mal firtrt bleiben follten. Es gingen folder 
Präftationstabellen 17,000 ein, und bie aus polnifchen Herrn beftehenve Regie⸗ 
rungstommiffion wußte diefe 17,000 in dem Zeitraum von brei Woden zu — 
verifichren. Dan kann daraus fchließen, wie das Wohl der Bauern durch folde 
Negierungsfaktoren gewahrt wurbe. Faßt man bie Megierungsepodhe des Kaiſers 
Nikolaus ſeit der Revolution zufammen, fo möchten bie Aufhebung des fogenannten 
Häfner- ober Heinen Adels, zu dem über 100,000 Individuen zählten, und allen 
falls die Befeitigung der Zollgrenze zwifchen Polen und Rußland die einzigen 
Wohlthaten fen, die dem Lande zu Theil wurben. 

Die eiferne Fauſt des ruffifhen Regiments laſtete fo feft auf dem Königreich, 
baß weber 1846 noch 1848, noch aud In dem Augenblid, da das ruſſiſche Reich 
eine feiner fchwerften Krifen zu beftehen hatte, in der Zeit des Krieges mit Eng⸗ 
land und Frankreich eine Bewegung in dem Lande zu verſpüren war. Wohl hatte 
Napoleon in diefer Zeit Polen — nit etwa wieberherftellen — fonbern zum 
Schanplag des Krieges machen gewollt, allein Preußen glaubte Rußland beden 
zu müſſen, obgleich ihm für die Zuftimmung zu jener Abſicht der Befig von Schleswig 
und Holftein angeboten wurde. Rußland unterlag; Kaiſer Nikolaus ſtarb an ge- 
brochenem Herzen, und fein fremden Einfläffen fehr zugänglicher Sohn Alerander IL, 

Blunt li und Berater, Deutſchet Staate⸗Woͤrterbuch. Xi. 59 


930 Nadtreg. 


fam auf den Thron. Der tiefe Sturz, den die Männer der alten Schule bem 
ruffifchen Stante zugezogen hatten, diskreditirte diefe auf einige Zeit, unb eine 
liberale, wohlmeinende, der Civilifation zugeneigte Richtung gewann den beftimmen- 
den Einfluß. Wo man, um bie tiefen Uebelftände zu heilen, in Rußlaud das Wert 
ber Regeneration anzufaffen habe, dad war Kar, denn fo lange 22 Millionen 
Seelen unter der trübfeligen Leibeigenſchaft ſchmachteten, durfte man ſich nick 
der Hoffnung auf Entwidelung der niedergehaltenen Staatskräfte hingeben. Die 
Art, wie die Befreiung der Leibeigenen in Rußland durchgeführt wurde, war trog 
der Schwanfungen und Rückſchläge, die das Werk bier und da verwirrten, groß: 
finnig und hochherzig. Irgend etwas Achnliches hatte man die Abſicht auch für 
die Polen zu thun, allein man war in BVerlegenheit, was zur Löſung der ver 
widelten Verhältniffe unternommen werben könnte, ohne wieder die Anſprüche ver 
Polen auf die fogenannten weftlihen Neihsprovinzen hervortreten zu ſehen, denn 
gerade in diefem Punkte zeigte fidy die nationale Partei in Rußland, auf welde 
fi die Regierung gegen den in feinem Befig gefränkten Adel fügte, in hohem 
Maße empfindlid. Deuteten die Führer in Polen an, daß bie Reftitution ber 
Berfofiung von 1815 das geringfte Maß deſſen wäre, was fie erwarteten, je 
warnte der Kaifer feinerfeits vor „Träumereien“, denn das war das Aunſtößige 
eben an jener Berfaffung gewefen, daß daraus vie Rivalität um Litthauen wieder 
hervorgegangen war, eine Gefahr, ver fid} die Regierung jegt, da durch bie Leib⸗ 
eignenemancipation das ruffifhe Element in ben fraglihen Provinzen im Auf- 
fteigen begriffen war, um fo weniger ausjegen konnte. In diefer Rathlofigfeit 
fand ber Plan des Markgrafen Wielopolski aus dem Haufe Gonzaga-Mysz 
kowski, eines gewiegten Staatömannes, Gehör, welder fi ſchon im Jahre 1842 
im Sinne des Panflawismus für den Verzicht aller polnifhen Anſprüche auf die 
wetruffifhen Provinzen ausgefprohen Hatte; dafür jedoch wollte er eine kräftige 
Förderung aller materiellen und intelleftuellen Intereffen feinem Vaterlande zu- 
wenden, und da eben damals — um das Jahr 1859 — der öfterreihifche Staat 
förper fih auflöfen und Preußen feine ganze Macht auf vie Yufraffung ber 
deutſchen Nationalität richten zu wollen fdhien, fo, meinte der Markgraf, fände 
die Ausfiht nicht außer aller Möglichfeit, Galizien und Poſen mit dem nen 
gefräftigten Polen einmal zu vereinigen. „Wohl will ih, fol der Markgraf zu 
einem feiner Freunde geäußert haben, den Panflawismus, aber id babe zu ber 
Befähigung des polnifchen Volkes das Vertrauen, daß wenn feine getrennten 
Theile erft zufammengefaßt fein werden, das Slawenthum von Warſchau aus, 
nicht von Petersburg regiert werden wird." Indeſſen fcheiterten bereits bie An- 
fänge. Zu Heiner Zeit feiner Gedichte nämlich hatte fih das polnifhe Bolt für 
bie Idee des Panſlawismus zu erwärmen vermodt. Die weittragenden Pläne bes 
Markgrafen waren theils nicht bekannt, theils den Wünſchen ver Führer in Polen 
nicht entiprechend. Eine Koalition der ariftokratifchen und republitantihen Parteien 
ftellte fich feinen Beftrebungen entgegen. Die erftiere war vorwiegend in bem 
„Landwirthſchaftlichen Verein“ zu Warfhau unter Leitung des Grafen Andreas 
Zamojski vertreten; bie andere bearbeitete das Volk und organifirte alsbald in 
dem fanatifirten Yande eine geheime revolutionäre Regierung; am rührigſten er⸗ 
wies fih der katholiſche Klerus, welcher namentlich in ben litthauifch » ruffijchen 
Provinzen für fein Dafein kämpfte. Bon der Regierung wurbe zuerft die Bauern 
frage angefaßt und in einem Edikt vom 16./28. December 1858 bie freiwillige 
Einführung des Zinfes behufs ver Ablöfung verorbnet; Keiner gehorchte. In einem 
andern vom 4. / 16. Mai 1861 wurde bie Abldfung der Frohn durch geſezliche 








Polen. 931 


Reluirung vorgefchrieben, allein es blieb ebenfo ohne Erfolg, ald das vom 
24. Mat/5. Juni 1862, über die Zwangseinführung des Zinſes. Indeſſen hatten 
aber dieſe offenkundigen Beweiſe, daß es ber Regierung um eine Neugeftaltung 
der bäuerlichen Berhältniffe Ernſt fei, die Wirkung, daß das gefammte Bauern- 
thum, foviel auch mit ihm von dem bel fraternifirt und von dem Klerus der 
Fanatismus angefacht wurde, weber von der ariftofratifhen nod von ber radi⸗ 
falen Revolutionspartei etwas wiffen wollte und faft überall fi zur Megie- 
rung bielt. 

Der Markgraf Wielopolstt, welcher fich fein neues Polenreich unter einer 
ruffifhen Sekundogenitur dachte und damit den Großfärften Konftantin, den Bru⸗ 
der des Kaiſers fehr beſtochen hatte, begann unter der Statthalterfchaft des Groß⸗ 
fürften als fogenannter Civiladlatus feine Thätigkeit. Ein Nationalrath wurde 
eingejegt zur Borbereitung einer Art von ſtändiſchen Bertretung; bie Univerfität 
zu Warfhau wurde wieder eröffnet und mit lauter polnifchen Lehrern befegt; bie 
großartige Entwidelung des Volksunterrichts, welche beabfichtigt war, begann mit 
der Errichtung vieler Volks- und Bürgerſchulen, die wahrhaft Entjegen erregend 
elende Tage der Juden fing man an, wenn auch nur in untergeorbneten Dingen 
zu verbefiern, und für jedes unbefangene Auge lag es Har, daß der eingejchlagene 
Weg, von weldher Seite man ihn betrachtete, der wohlthätigſte war, ber unter 
den vorliegenden Berhältniffen erdacht werben konnte. Die revolutionäre Koalition 
aber verhielt fih durchaus ablehnend, der Adel verfagte feine Theilnahme an dem 
Berfofiungswerte und befhäftigte fih mit Waffenanfäufen in Frankreich und 
Belgien, kurz mit der Organifirung der Revolution, welde ſchon feit einigen 
Jahren betrieben wurde. Zur Entflammung ver Menge wurben bie ver- 
ſchiedenſten Aufführungen in Scene gefegt, bald ein Trauergottesdienſt für einen 
Bifhof, bald für einen nationalen Schriftfteller, dann wieder Wallfahrten ver 
Grauen und dergleihen aufreizende Schauftellungen mehr, die dem theatralifchen 
Weſen der Polen in hohem Maße entſprachen. Drei bis vier Jahre hindurch 
enthielten ſich viele Leute des Tabakrauchens und zahlten die Erfparnifie In eine 
Revolutionskaſſe, die daraus einen Ertrag von 5 Millionen Thaler gehabt haben 
fol. In Paris druckte man ſchon 1860 in polniſcher Sprache Inftruftionen über 
ben Felbdienft und die Heeresorgantfation, und biefelbe Jahreszahl neben dem 
polnifhen Wappen findet fi auf Gewehren, bie im Auslande verfertigt wurden. 
Obwohl die Aufregung bereits einen fehr hohen Grab erreicht hatte, fühlten ven- 
noch die Nevolutionsmänner, daß bis dahin no ganz wefentlihe Elemente ver 
Bewöllerung das Bertrauen zu der Regierung bes Markgrafen nicht verloren 
hatten und fih von dem Treiben jener fern hielten. Es wurbe baher eine viel 
gegliederte, in ihrer Spige bis nad) Paris fi verlievende geheime Nationalregie- 
rung eingerichtet, welche einen Terrorismus ind Wert fegte, in welhem eine Art 
von Suspenfion aller Moral proflamirt und der Meuchelmord berechtigt war. 
War die öffentliche Polizei erfinberifch in Berationen und Berfolgungen aus Bitter⸗ 
feit darüber, daß ſich ihr die Fäden der Nevolution immer wieder entzogen (bie 
Hauptipur zog dur die Klöfter und Pfarrhäufer), fo ließ es die geheime National⸗ 
regterung nicht an immer neuen Gräueln im Dunkeln fchleihender Morde und 
Berfehmungen fehlen und verftand es bie Bevölkerung fortwährend in fieberhafter 
Aufregung zu erhalten. Atentate mit Schußwaffen und Gift wurden auf das 
Leben des Großfürften, feiner Familie, des Miniſters Wielopolsfi gemacht, ver 
Klerus entwidelte unter Zuftimmung der römiſchen Kurie eine unermüdliche Thätig⸗ 
keit, und bald fehlen ver Zeitpunkt beftimmbar, In welchem man enblih aus biefem 


59* 


Radytrag. 
feigen une cheloſen Kampf zum sflenen Stiege wärte übergehen Samen Ja 


Monat Mai 1863 ſollte, fo war won ven Revolutionsmämmer: 
feRgefeygt, Iosgeiglagen werden. Im vem aber zerzubengen, aka 
BRetgrei Widget vn —— Seit u 
‚um 
ba . . 





geſchloſſen Hätte. Der thatendurftige preußiſche Minifterpräfivent, welcher lang 
in Petersburg gelebt hatte, pie Stimmung der dortigen oberfien Leiter der Boit! 
fehr genau launte, unb banadı wußte, man fühle fi) dort von den yolnikga 


Arrondirung zu verfhaflen, da die im Wiener Kongreß beftimmte Srenzlisz 
namentlid in firategifcher Beziehung die klaͤglichſte ift, die man denken kann. Dick 
Einmiſchung Preußens erwedie einen Sturm im Barifer Kabinet, welches mir 
dem Dedmantel eines humanen Interefies pas engliige, und durch dem Hinwei 
auf das von Defterreich gehaßte Preußen das Diener Minifterium aufftachelte 
und in identifhen Roten wurde bas ruffiſche Miniſterium von ben drei Mächten 
wegen der Behandlung der Polen in möglihft fharfen Worten zu Rebe geflelt 
Der Bürft Gortſchakoff hielt feine Antwort fo lange hin, bis er vie Nadridt 
erhielt, daß der Aufſtand im Wefentlichen niebergeworfen ſei, dann aber, wohl 
wiffend, daß jene Noten nur Demonftrationen gegen bie durch die Konvention 
zu Tage getretene Annäherung Preußens und Rußlands feien, antwortete er ia 


A FA d. Med. Ueber die Greigniffe von 1863 ff. vgl. den Nachtrag zum Artikel 
u an „ 


Dolen. 933 


feinen aber weder des Hohns no der Herausforderung entbehrenden Worten. 
Gegenüber dem Sturme jeboch, den bie Konvention bei dem liberalen preußifchen 
Abgeorbnetenhaufe erregt hatte, mußte fie zwar unterbrüdt werben, gleichwohl 
aber erleihterte die Haltung Preußens die Nieberwerfung der Infurgenten. 

Mit diefer Uufgabe wurden in Bolen ver Graf Berg, in Litthauen ver 
Seneral Muramwieff betraut, da der Großfürſt Konftantin und der Markgraf 
Wielopolstt, der fpäter in eine Gemüthskrankheit verfiel, das Rand verlafien hatten. 
Graf Berg, ein Mann aus der Schule des Kaiſers Nikolaus, wurbe zwar kurz 
nad feinem Amtsantritt durch eine meuchelmörvertfche Kugel ſchwer verwundet, 
genas aber wieder und begann nun bie Pacifilatton des Landes mit einer Strenge 
und Härte, die nur von dem Blutdurſt des Generals Murawieff übertroffen wurbe. 
Während aber mit ven rachfüchtigen Operationen des Letzteren eine gewaltfame 
Auffificrung des polnifchen Elements in Litthauen verbunden war, dachte man 
— im Jahre 1863 — noch nit daran, bie polniihe Nationalität zu vernichten. 
Berfchiedene Umftände kamen zufammen, um den Gedanken zu erweden. Die 
iventifhen Noten nämlich hatten, gewiß gegen die Abficht der Entjenver, eine ganz 
unglaublide Erhebung bes ruſſiſchen Patriotismus zur Folge, und bie damals 
mit ſchweren Nöthen kämpfende Regierung ſah fi plöglich von einer unermeß- 
lichen Opferwilligkeit getragen. Dagegen verlangte fpäter bie nationale Partei ein 
Syſtem grümdlicher Ruffifichrung Polens, umd die Megierung war um fo mehr In 
der Lage dieſer Forderung entgegenlommen zu können, als duch ben Tod bes 
Daãnenkonigs Friedrich VII. die fhleswig-hoffteinifhe und im Znfammenhang mit 
ihr die deutſche Frage in den Borbergrund traten und die Aufmerkſamkeit Europas 
von den Vorgängen in Polen abzogen. Ferner hatte die Fortführung der Maf- 
regeln zu Gunſten der Bauernemancipation in Polen einen fo günftigen Erfolg, daß 
die Regierung mit einem Male einen Träftigen Stützpunkt im polniſchen Lande felbft 
gewann, von dem aus fie alle Wagniffe unternehmen zu dürfen glaubte. In ven denk⸗ 
würdigen Edikten vom 19. Februar/2. März 1864, welche endlich die volllommene _ 
Emancipation der Bauern und die Ausftattung verfelben mit Grunbbeflg amorb- 
neten, wurben bie 1846 eingereichten 17,699 Präftationstabellen als Grundlage 
angenommen, was freilich zu vielen heillofen Berwirrungen Beranlaffung gab, 
und bie Vorſchlaͤge der Orunpbefigerverfammlung vom 1. Mat 1861 im Wejent- 
lihen aboptirt, welche nad vier Klaſſen den Güterwerth und einen Mittelfag ber 
Kornpreife normirten. Die Entfhädigung der Gutsherrn erfolgt durch zinstragenbe, 
Kurs habende Liquidationsbriefe, zu deren Amortifotion und Berzinfung 1) eine 
Erhöhung ber Grundſteuer um 509%/,, 2) der Ertrag der Propinationen (Brenn- 
und Schanfgerechtigfeit) und 3) der Erlds von zu verfaufendem Staatseigenthum 
und Steuern verwendet werben follen. Wenn dieſe Operation bis jegt einen fehr 
guten Wortgang hatte, jo wird man nicht außer Acht Iafien dürfen, daß die zahl 
reihen Güterfonfistationen ver Regierung ein wohlfelles VBerfügungsmatertal Lieferten. 
Hand in Hand mit diefen Anorbnungen ging eine nene Gemeinbeverfaflung, welche 
auf die Eintheilung der Adminiſtrationsbezirke in Kreiſe (gmina) und Gemeinven 
(gromada) gegründet war; bie Patrimonialgerichtsbarkeit wurde abgefhafft und 
vie Kreisverwaltung einem gewählten „Vogt”, bie der Gemeinde einem ebenfalls 
gewählten „Schulzen” untergeben. Eine der wichtigſten Maßregeln aber, welde 
am tiefften auf die Umwandlung des Volksgeiſtes einwirkte, war vie Aufhebung 
der römiſch⸗katholiſchen Mönds- und Nonnenklöfter mit Ausſchluß einiger dem 
Hofpitalbienft vorzugsweiſe gewidmeten (25 Mönds- und 10 Nonnenklöfter) und bie 
Salarirung der Weltgeiftlichen aus ver Stantslafle. (Ukaſe vom 8./20. Nov. 1864 








934 Nachtrag. 


und 14./26. Dec. 1865.) Die Härte, mit welcher dieſe Anordnung ansgefüht 
wurbe, beeinträdhtigte den moraliſchen Eindruck, aber in wenig Stüden erfreute 
fih vie Regierung eines Beifalls, wie für dieſe Maßnahme Die eingezogener 
Kirhengüter wurden der Staatslaffe zu Schulzweden überwiefen. Auch das Schul 
wejen erhielt durch die Ukaſe vom 30. Anguſt / 11. September 1864 eine voll 
kommen neue, leider nicht lange feftgehaltene Geftalt, deren wejentlichftes Princip 
pie Berüdfihtigung aller in Polen lebender Nationalitäten war, fo daß neben beu 
polniihen Schulen eben foldhe für die Deutſchen, Juden, Litthauer und Rufen 
ins Leben gerufen werben follten. Die Univerfität blieb anfangs in den von 
Wielopolsfi angelegten Berhältniffen, und auch die Anzahl der verſchiedenen Schulen 
ließ einftweilen nichts zu wünſchen übrig, aber bald gab die ſchwache Regierung ten 
Hetereien der brutalen moskauiſchen Prefle nach, führte zwangsweife in den meiften 
Säulen den Unterriht in ruffiiher Sprade ein, und aud ben Profefloren va 
Warſchauer Univerfität wurde im Frühjahr 1868 die Zumuthung geftellt, nad 
21/, Iahren ruſſiſche Vorlefungen zu halten.*) Demgemäß wurde auch die eigeme 
Unterrichtsbehörve aufgelöst, und das Land ald Warfchauer Lehrbezirl dem rufji 
ſchen Minifter der Volkaufklärung überwiefen. Neben dieſer Entnationalifiruug 
der Schule ging eine von der Regierung mit guten und jchlehten Mitteln geför- 
berte Propaganda für die griechiſch-orthodore Kirche, und in einem ber legten 
Jahre find verfelben an 36,000 römiſch- katholiſche Individuen beigetreten. Daß 
alle dieſe Gewaltthaten gegen die Tatholifche Kirche einen Bruch mit der päpft- 
lihen Kurie herbeiführen mußten, lag auf ver Hand, und nachdem das Konlorbat 
von 1847 zerrifien und durch einen — wie ed ſcheint — abfichtlich herbeigeführten 
Zwift die diplomatifchen Beziehungen zwifchen beiden Höfen abgebrochen waren, 
jegte ein kaiſerlicher Ukas eine Behörde in Petersburg zur Leitung der römifd- 
katholiſchen Kichenfahen ein, deren Anordnungen der Kontrole des ruffiſchen 
Minifteriums unterliegen. **) Bei allen dieſen organifch durchgreifenden Reformen 
waren die Städte, welde zum Theil unter einem ähnlichen Drud von Abgaben 
und Leiftungen an den Domanialherrn wie bie bäuerlide Bevöllerung ſeufzten, 
noch unberüdfichtigt, bis ein Ukas vom 28. Oftober/9. November 1866 au 
dieſe aller folder Pflichten entlevigte, und die Befiger der Städte durch vier- 
procentige Tiquidationsbriefe entjhädigte. Die durch das Geſetz vom 19./31. De 
cember 1866 verfügte Eintheilung bes Landes in zehn Gouvernements und 85 
Kreife bezwedte eine größere Decentralifirung ver früher in Warſchau zujfammen- 
gebrängten Oberbehörben. Die jelbfifländige Poftdireltion von Warſchau iſt auf- 
gehoben und dem Minifterium der Poften und Telegraphen des Kaiferreih ein 
verleiht (UL. vom 19./31 December 1866.) Das Rekrutirungswefen wurde durd 
die Herftellung gleicher Normen mit ven in Rußland üblichen mwefeutli erleichtert. 
(Ulas 1./13. Juni 1865). Nachdem envli dur Ukas vom 28. März/I. April 
1867 beinahe alle obern Centralftellen aufgelöst und deren Befugnifie den ent 
ſprechenden Minifterien in Petersburg zugewiefen find, ift nahezu bie legte Spur 
von politifher Seibfläupigfeit getilgt und das „Polen“ des Wiener Kongrefjes zu 
einem lediglich mit befonderer Aengſtlichkeit bewachten und barum niebergehaltenen 





*% Anm. d. Ned. Nach fpätern Zeitungsberichten follte im Geptember 1869 die Bar: 
ſchauer Hochſchule vonftändig in eine ruſſiſche Univerfität mit ausſchließlich ruffilder Lehrſprache 
umgewandelt werden. 

xx) Anm. d. Red. Im Sommer 1869 waren die ſämmtlichen polniſchen Biſchöfe, mi 
einer einzigen, wie es ſcheint nur zeitweiligen Ausnahme, ind Innere verbannt oder Ins Ausland 
verwieſen, weil fie ſich geweigert hatten, dieſe Behörde anzuerkennen. 


Drenften. 935 


ruffifhen „Souvernement” heruntergebracht. Unter dem heftigen Andrängen ber 
altruſſiſchen Partei wurde zu gleicher Zeit ein umfaflendes Syſtem zur Unter: 
brüdung aller biftorifchen und ausfondernden Bezeichnungen ins Wert gefegt. Durch 
zahlreiche Einſchiebungen ruffifher Beamten wurde thatfählih der Gebraud ver 
zufftfihen Sprade in Iuftiz und Berwaltung angebahnt. Bei Subhaftationen und 
fonftwie amtlichen Verkaͤufen von Grundbeſitz wurden Polen als Käufer von vorn- 
herein ebenfo ausgeſchloſſen, wie von allen den zahlreihen Bortheilen, weldye vie 
in Rußland vermöge des flraff durchgeführten Schutzſyftems fehr häufigen Staats- 
fubventionen für Hochwirthſchaft und Oewerbetrieb darbieten. Während die Litthaui- 
ſchen, Mein» und weißruffiihen Provinzen ſchon längft als „weſtliche Provinzen“ 
in ber Reichsſtatiſtik figuriren, war man um einen die alte Bezeihnung „Köntg- 
reih Polen” umgehenden Namen in Berlegenheit. Eine Verordnung vom April 
1868 unterfagt ven Gebranch dieſes rein biftorifch geworbenen Namens, und es 
bevienen fih die Verwaltungsbehörben nur ben von den Berwaltungsbezirten ab» 
geleiteten LTofalnamen, und wo die Erwähnung des Gefammtlandes unumgänglich 
ift, wird es ale „Weichfelland” bezeichnet. Trog Allem aber find die Hoffnungen 
der Polen noch nicht erfchöpft, und mit Eifer find fie bemüht, einerfeits vie gegen- 
wärtige Lage des äfterreihifhen Staates zu benützen, um ſich in Galizien eine 
Stätte zu bereiten, auf der fih das polniſche Volksthum kulturlich ausleben Tann, 
andererfeits die Verflechtung ber polniſchen Angelegenheit mit ber fogenannten 
orientalifden Frage audzubeuten, um ver lebhaften ruffifhen Propaganda in pan« 
flawiftiihem Sinne eine von den Weftmächten und Deflerreich geförderte Agitation 
entgegenzufegen. Die in neufter Zeit von der herrſchenden Partei in Rußland 
fanatifch betriebene Unterbrädung des deutſchen Elements in den Oftfeeprovinzen 
giebt der Bezeichnung „Weichjelland" für Polen eine Beleuchtung, welche doch 
dahin wirken Könnte, daß felbft derjenige Staat, welcher bis jegt am wenigften 
für eine Veränderung in der ſtaatlichen Lage der Polen fi zu erwärmen geneigt 
war, eine andere Stellung biefem Punkte gegenüber einnähme. Es ſcheint faft 
zweifellos, daß in dem aus der Ballanfrage entipringenven europäiſchen Zufammen- 
ftoß .die Sache der Polen wiederum eine Rolle zu fpielen haben wird. Die pol⸗ 
nifhe Sache ift noch nicht aus ber Welt gefchafft. J. Caro. 


Preußen. 
(Nachtrag zu Band VIII S. 255.) 


Den treibenden Keim der gefammten inneren Geſchichte Preußens feit 1860 
und wefentlih aud das treibende Element feiner großartigen Entwidelung nad 
außen feit 1866 bildet die fhon im Jahr 1859 unternommene Reorganifation 
feinee Armee, die fofort zu einem Konflikte zwiſchen ver Krone unb der Bolfsver- 
tsetung führte und alsbald in einen gewaltigen Kampf um ben verfaffungsmäßigen 
Einfluß des Abgeordnetenhauſes auf die Feſtſtellung des jährlichen Voranſchlags 
der Staatsansgaben umſchlug. Die Wage ſchwankte lange und bie Kräfte fanden 
fi fo gleichgewogen gegenüber, daß fchlieglih kaum ein anderes Ende voraus- 
gefehen werden mochte, als entweder ein Staatöftreih von oben oder eine gewalt- 
fame Erhebung von unten, bis es dem Orafen Bismark gelang, die ganze 
Kraft des Staates nad einer andern Seite Hin zu werfen, indem er bie fchon 
lange ſchwebende deutſche Frage ergriff, um fie in einem günftigen Momente 
zu einer gewaltfamen Löſung zu bringen. Das große Unternehmen gelang durch 


986 Nachtrag. 


Energie und Glück und brängte den inneren preußiſchen Konfliklt momentan fo 
weit in ben Hintergrund, baß er unmittelbar nachher durch eine Art Kompromiß 
begliden werben konnte. Wllein, wenn aud momentan ausgeglihen und vorerfl 
befeitigt, ift ex in Wahrheit doch eigentlich uicht gelöst und wenn auch gemildert, 
beftehen die Gegenſätze, die fih im preußiſchen Staatsleben feit 1860 entwidelt 
und ausgebildet haben, unter der Aſche fortglimmernd heute noch in faft gleicher 
Stärle und kein Menſch vermag zur Stunde noch abzufehen, wie bald unb in 
welcher Weiſe dieſelben fi ſchließlich verfühnen werben, 

Die Borgänge bis zum Eintritt Bismards in das Mini— 
ſterium. Bei der burd ven italienifhen Krieg veranlaßten Mobilmahung hatte 
man von neuem erfennt, baß bie preußiſche Milttärorgantfation den Berbältniffen 
und Bebürfnifien ver Gegenwart nit mehr genügte, ſobald es fih um einen 
großen und möglier Weiſe lange banernden Krieg handelte. Mit der Linienarmee 
allein war an eimen folden nicht zu beufen, es mußte von Anfang an fon vie 
Landwehr beigezogen werben, mit allen dabei unvermeiblichen tiefgreifenden Unze» 
Ümmlichleiten, ganz abgejehen davon, daß die gefammte Milltärkraft des Staates, 
nad der damaligen Organtjation, ben Auſprüchen und ber Aufgabe Preußens, 
verglichen mit benjenigen ber übrigen Großmächte, Franfreihs zumal und aud 
Defterreichs, nicht mehr entſprach, zumal auf die buntfhädigen und unter fidh in 
gar keinem Zufammenhange ftehenden Kontingente der zahlreihen deutſchen Mittel 
und Kleinflaaten in grellem Kontraft gegen bie politiſchen und wmilitärifchen An- 
ſprüche ihrer Regierungen in Wahrheit gar kein Verlag war. Kaum war ver 
franzöfifchettaltenifche Krieg beendigt, fo nahm ber Regent, der nicht zum Throne 
beſtimmt und erzogen worden war und ber ſich daher feine Lebtage fafl aus 
ſchließlich mit militäriſchen Angelegenheiten beihäftigt hatte, viefe Fragen nad 
allen Seiten energiſch an vie Hand, fo zwar, daß bie nad Befcitigung des Man⸗ 
teuffel'ſchen Regiments nicht miuder dringenden, ja nad dem Urtheile der öffent 
lihen Meinung viel dringenderen tuneren Reformen bagegen unzweifelhaft zuräd- 
treten mußten, was bie Öffentlige Meinung in Preußen nur allzubald und allzu 
lebhaft fühlte, und zwar auf Koften des bisherigen jaft unbebingten Vertrauens 
in das Minifterium der neuen Aera. Schon am 9. Yebruar 1860 legte ber un⸗ 
längft als Kriegsminifter an die Stelle Bontn’s getretene General v. Roon dem 
Abgeordnetenhaus einen völlig ausgearbeiteten Plan für die Reorgantfation ver 
Urmee vor. Rah demfelben follte die Dienftpflicht im ſtehenden Heere unter Bei- 
bebaltung der breijährigen Präfenzzeit unter der Fahne von 5 auf 8 Jahre erhöht 
und fo das ſtehende Heer auf Koften der Landwehr ſehr weſentlich, von circa 
150,000 Manu auf mehr als 200,000 erhöht werden. Diefer Plan wiberfprad; 
unzweifelhaft ven Gefeßen von 1814, 1815, 1819 über die Landwehr umd konnte 
Ion darum und auch wegen der muthmaßlich bedeutenden Mehrbelaſtung des 
Militäretats verfaffungsmäßig nicht ohne Zuftimmung der Kammern ausgeführt 
werden. Im Übgeorbnetenhaufe war aber die überwiegende Stimmung demſelben 
ganz und gar nit günſtig. Das Minifterium zog den Entwinf daher vorerft 
zurüd und verlangte vom Landtage lediglich, ihm vom 1. Mai 1860 bis 30. Juni 
1861 einen aufßerorbentlichen Krebit von 9 Mil. Thlrn. zu bewilligen, um „bie 
fernere Kriegsbereitſchaft und Streitbarkeit des Heeres nad den bisherigen gefeh- 
lien Grundlagen aufrecht zu halten”. Die in Folge der damaligen Vorgänge in 
Italien, der Haltung Frankreichs und ber eben damals durch dieſes bewerkſtelligten 
Einverleibung Savoyens und Nizza's ungewifle Tage der europätfchen Dinge ließ 
eine fernere Kriegsbereitihaft Preußen allerdings vielfach als geboten erſcheinen. 





Dreufen. 937 


Dennod war es eine Schwäche ber bamaligen liberalen Majorität des Abgeordneten⸗ 
hauſes, daß fie darauf einging, Iebiglih um einen Konflitt mit der Regierung, den 
fie ſchließlich doch wicht vermeiden konnte, hinauszuſchieben. Die Regierung ibrer- 
feits nahm keine folde Rüdfiht: kaum war ber Landtag auseinander gegangen, 
fo begann fie den zurüdgezogenen Entwurf thatfähli Ins Leben zu führen, bie 
Zahl ver Infanteriebataillone des ftehenden Heeres von 136 nad und nach auf 
nit weniger als 253, die der Kavalleriefhwabronen von 152 auf 200 zu ver- 
mehren. Schon am 18. Januar 1861 wurden die Fahnen und Standarten ber 
neu gebildeten Negimenter und Schwadronen feierlich eingeweiht; es handelte ſich 
offenbar nicht um etwas provifortfches, fondern um etwas befinitives. Die Regie 
rung hatte einen Schritt gethan, von dem fie ihrer Anſchauung nach nicht mehr 
zurädweichen konnte, die Brüde hinter ſich gerabezu abgebroden. 

Die liberale Majorität des Abgeordnetenhauſes ließ ſich aud dadurch nod 
nicht aufſchrecken, obwohl die Zaghaftigkeit, mit der das Minifterlum ver neuen 
Aera bie Neformen im Innern betrieb, und die auch in der beutfhen und euro- 
paͤiſchen Politit Preußens nad allen Seiten zu Zage zu treten fchien, die öffent» 
liche Meinung in fleigendem Maße aufregte und allmälig zu fpalten begann. Die 
Grundſteuerreform, zu der fih das Herrenhaus nah langem Widerfireben am 
7. Mai 1861 mit 110 gegen 81 Stimmen berbeiließ, ift bie einzige große liberale 
Maßregel, deren fi das Minifterilum ver neuen Aera rühmen Tann und felbft 
dieſe fand in engem Zufammenhange mit der Armeereform, da fie vornehmlich 
von Anfang am die finanziellen Mittel bieten follte, welche jene Reform in An⸗ 
ſpruch nahm. Das Abgeorbnetenhaus ließ fi nun feinerfeits herbei, die Militär- 
frage noch einmal in der Schwebe zu laſſen und die Eutſcheidung nochmals zu 
verſchieben, indem es die auf bie Armeereorganifation fallende Mebrforberung 
zwar im Orbinarium des Büdgets ablehnte, aber als Ertraorbinarium body wieber 
für ein Jahr bewilligte. Die Folge diefer Schwäche war, daß vie bisher einige 
liberale Majorität, teren kompaktes Zufammenhalten ſchon im Laufe der Landtags⸗ 
feffion von 1861 wieberholt als gelodert erſchienen war, unmittelbar nad dem 
Schlufſe verfelben (5. Juni) völlig auseinanderfiel, indem namentlid auch für bie 
damals bevorftehenden Neuwahlen ein nicht unbeträdhtliher Theil berfelben fich 
abfonvderte, als „deutſche Fortſchrittspartei in Preußen" fich konftituirte und ſchon 
am 9. Juni mit einem entſchieden Liberalen und nationalen Programm hervortrat, 
das bezüglich der Militärfrage die größte Sparſamkeit im Frieden forderte, ohne 
doch einer erhöhten Wehrkraft des Staates für ven Krieg irgendwie entgegen zu 
treten 


Der feiner bisherigen Haltung treu gebliebene Theil der Majorität des Ab⸗ 
georbnetenhaufes, die nachher fogenannte alt-liberale Partei, hatte dieſem Programm 
der nenen Fortſchrittspartei kein anderes entgegenzufegen. Mit ven Zielen berfelben 
principiel auch ihrerfeits einverſtanden, wid file nur bezüglich der politifchen 
Tatil, jene Ziele zu erreihen, ab, namentlich fo lang ihre Gefinnungsgenofien 
am Ruder waren. Sobald diefer Grund mwegfiel, mußte fie mehr und mehr that- 
fachlich mit der neuen Partei zufammengehen. Und viefe Beränverung trat denn 
auch früher ein als fie erwartete. Die Lage der Dinge zur Zeit der Neuwahlen 
zum Landtag war dem Minifterium nicht günftig. Die äffentlide Meinung war 
nicht Bloß unbefrienigt duch die Langſamkeit, mit der die Inneren Reformen, nad 
denen fie energifh verlangte, in Angriff genommen und betrieben oder aud nich⸗ 
betrieben wurden, fie glaubte aud in der auswärtigen Politik des Kabinets et 
entſchiedenen Mangel an jeglicher Thatkraft zu erkennen. Eben in dieſem Mr 


938 Nachtrag, 


fand fle aber auch den Mangel jeglichen Motives, das die Armeeorganiſation und 
bie gewaltigen Laften, bie durch fle auf das Boll gewälzt werben würben, allein 
zu rechtfertigen vermocht hätte. Zu Ende des Jahres 1861 fand Preußen augen 
bitdlih mit feinen Nahbarn Rußland, Franfreih und Defterreih auf dem beften 
Fuße, wie die Zuſammenkünfte mit dem Kaiſer Napoleon in Baben-Baven (Imni 
1860) und mit dem Kaiſer Franz Iofeph in ZTeplig (Iuli 1861) zu beweiſen 
ſchienen, während vie kurheſſiſche Frage von der preußiſchen Regierung in liberalen, 
bie fhleswig - holftein’fche in nationalem Sinne wohl angeregt, aber turdhans 
nicht in irgend einer entſcheidenden Weife verfolgt, vie gleihfals am Bunbestage 
angeregten Tragen ver Bundeskriegsverfaſſung und des deutſchen Küftenfchutes 
reſpektive der Schaffung einer aud noch fo beſcheidenen deutſchen Marine von 
Preußen ohne allen Erfolg wieder fallen gelaffen worben waren. Im Gerbfl 
(18, Oft. 1861) erfolgte vie feierliche Krönung des Königs in Königsberg, wobd 
die ſtark Legitimiftifche Anſchauung vesfelden auf tie öffentlide Meinung einen 
nichts weniger als günftigen Eindruck machte. Die Folge von all dem war, daß 
bei ven Wahlen (6. Dec. 1861) die feudale Partei eine weitere Einbuße erlitt, 
bie neue Fortſchrittspartei dagegen wenigftens partiell und namentlid) in der Haupt⸗ 
ſtadt den Sieg davontrug, das MWinifterium Hohenzollern - Auerswald aber nad 
benfelben bereits nicht mehr auf eine zuverläffige Majorität im Daufe der Ab⸗ 
georbneten rechnen konnte. Die Borlagen ver Regierung zeigten den guten Willen 
berfelben, aber auch und noch mehr die ängftliche Borfiht, ja nicht zu weit und 
ja nicht zu fohnell in Reformen vorzugehen. Dem Abgeorpnetenhaufe wurde das 
Buͤdget für 1862 vorgelegt: die Mehrkoſten ver noch nicht gefetlihen Heeresreform 
waren barin wiederum einfach in die orbentlichen Jahresausgaben eingeftellt; bem 
Herrenhaufe dagegen ging ein Entwurf zu Abänverung und Ergänzung des Ges 
fees über vie Verpflichtung zum Kriegsvienft vom 3. September 1814 zu. Noch ehe 
indeß die Kammern ihre Arbeiten in Angriff nehmen konnten, erfolgte (2. Febr. 
1862) vie Uebergabe ver belannten inentifchen Noten Defterreih8 und der Mittel» 
flaaten, durch welde diefelben ber preußifchen Regierung bezüglich ber deutſchen 
Trage und der von ihr kurz vorher, freilich mehr nur theoretiih als praktiſch 
wieder hervorgehobenen Idee des Bunbesftnates geradezu ben Handſchuh Hin- 
warfen (f. ven Art. Deutfhland). Die Negierung nahm dieſen Schritt ſehr 
gelaflen auf und ließ ven Handſchuh einfach liegen, die öffentlide Meinung und 
bie Majorttät des Abgeordnetenhauſes aber erlannte darin einen neuen Spom, 
die Regierung zu entfchievenerem Vorgehen in den ragen der auswärtigen Politik 
wie bezüglich der inneren Reformen zu brängen. Schon vie Wahl des Bürean 
zeigte die wefentlich veränderte Tage: zum Präftventen wurde zwar Grabow, ein 
NRepräfentant der früheren Majorität gewählt, aber beide Bicepräfipenten fielen 
der neuen Fortichrittspartei zu und ihr gehörte aud die Majorität der Kom- 
mifflon an, welche für die Militäroorlagen beftellt wurbe, Eine Reihe von An 
trägen wurde geftellt, die über die Anfchauungen des Minifteriums und weit über 
ba8 Maß feiner Energie binausgiengen, deren Annahme aber von Geite bes 
Hanfes faum zweifelhaft war. No ehe indeß and nur eine berfelben zur Be 
ihlußfaflung gelangte, brachte ein unerwarteter Incidenzfall die Entfheidung. Als 
am 6. März im Haus Über den Antrag, die Titel des Büdgets künftig zu ver 
mehren, vefpeftive genauer zu fpecialiftren, berathen werben follte und die Kommiffion 
der Meinung war, die Angelegenheit bis zum fünftigen Jahr zu verfchieben, ſtellte 
der Abgeorbnete Hagen den Gegenantrag, die Specialifirung jofort und ſchon für 
das Büdget von 1862 zu bejchließen. Der Finanzminifter von Patom erklärte, 





Preußen. 939 


daß er „weit entfernt fei, dem Antrag im Princip entgegen zu treten”, meinte 
aber doch, es ſei fraglich, ob es nach Annahme des Vorſchlags „noch möglich fei, 
zu regieren“, ja ob nicht darin „ein Eingriff in die Exekutive liege". Der An⸗ 
trag wurde trotzdem mit 171 gegen 143 Stimmen angenommen. Zwei Tage nach⸗ 
ber bot das Miniſterium feine Entlafjung an, der König ging jedoch nicht darauf 
ein, fondern 309 e3 vor, die Auflöfung des Wbgeorbnetenhaufes auszufprehen und 
durch Neuwahlen an das Boll zu appelliren. An vie Stelle bes bisherigen 
Minifterpräfiventen Fürft von Hohenzollern trat indeß ſchon jetzt der Präfident 
des Herrenhaufes, Fürft von Hohenlohe-Ingelfingen und am 18. März 
entließ der König aud ben übrigen liberalen Theil des Miniftertums. Nur der 
Hanbelsminifler von der Heydt blieb als Ötnanniniher; der Kultus wurde 
Hm. von Mühler, vie Iuftiz vem Grafen zur Lippe und das Innere Hrn. 
von Jagow amvertraut, die liberalen Anſchauungen nicht huldigten. Die 
Majorität des Abgeorbnetenhaufes hatte dieſe Folgen ihres Befchluffes vom 6. 
ohne Zweifel nicht überlegt, während auf der andern Seite zugegeben werben - 
muß, daß ihr Beſchluß durchaus nicht Uebertriebenes verlangte, fondern eine Noth⸗ 
wenbigfeit war und fi) vom Standpunkte der Berfaffung aus vollkommen rechtfertigen 
ließ, wenn nicht das Büdgetbewilligungsrecht der Volksvertretung vielfach rein 
illuſoriſch ſein follte, wie es in Preußen bisher in der Chat geweſen war. And 
konnte ber eingetretene Bruch auf die Dauer in keinem Wall vermieden werben. . 
Wäre er nicht bei jener zufälligen Frage erfolgt, fo würde er jebenfalls bei ver 
Militärfrage eingetreten fein, und eben weil bie leßtere drohend im Hintergrund 
lag, geiff der König fofort zur Auflöfung des Aögeorbneienhaufet und zur Ent⸗ 
lofjung des Minifteriums, das feinerfeits nicht geneigt fchien, in dieſer Frage dem 
Abgeordnetenhauſe allzu fchroff entgegenzutreten. | 

Die Regierung that alles möglihe, um die Neuwahlen auf ihre Seite zu 
Ienten unb zwar in doppelter Beziehung. Einmal nämlich mutbhete ber Finanz» 
minifter von der Heydt dem Kriegsminifter in einem Tonfidentiellen Schreiben, das 
bald den Weg in die Deffentlichleit fand, zu, den Militäretat für das laufende 
Jahr um wenigftens 21/, Mil. zu ermäßigen, mit dem offenen Geſtändniß, daß 
„in allen übrigen Berwaltungszweigen ſchon feit Iahren vie größtmöglichfte Be⸗ 
ſchränkung der Ausgaben ftatt gefunden habe, um nur einige Mittel zur Ver⸗ 
minberung des burdy die Mebrbebürfniffe ver Milttärverwaltung entflanpenen 
Deficits im Staatshaushalt zu gewinnen und menigftens ven Schein zu retten, 
daß die Regierung beftrebt fei, die dießfalls wiederholt gemachten Zufagen zu er⸗ 
füllen“ ; zugleich wurde, troß der fo geſchilderten Sinanzlage, ver 250/, Stenerzu- 
ſchlag aufgehoben und der Borfag ver Regierung angefündigt, dem neuen Landtag 
das Büdget für 1862 und 1863 mit berjenigen Specialifirtung vorzulegen, wie 
es der Antrag Hagen verlangt hatte. Anderſeits aber fegte man vie Preſſe wieder 
unter eine firengere Ueberwachung und forberte in fcharfem Gegenfaß gegen bas 
abgetretene Minifterium, das eine Beeinfluffung der Wahlen unterlaflen und aus- 
drücklich abgelehnt Hatte, in einem durch Drohungen verſchärften Cirkularerlaß vie 
„Afrige Unterftägung” der Beamten. Aber alle Mühe war umfonft: bis auf ein 
Dugend Feudale war das ganze neue Abgeorbnetenhaus ein dem Minifterium und 
feinen Beſtrebungen entſchieden feinpfellges. Der erfte Schritt des neuen Haufes 
war eine mit 219 gegen 101 Stimmen (der äußerften Unten und Rechten) an- 
genommene Adreſſe an den Thron, deren Hauptftelle lautete: „Es befteht keine 
gefahrbrohenbe Uufregung ver Gemütber, das preußiſche Volk bat ſich nicht ver⸗ 
ändert. Es vereinigt mit der alten Hingebung .an. den Thron eine feſte und 


940 Nachtrag. 


befonnene Anhänglichkeit an fein verfaffungsmäßiges Recht. Es erfehnt im Innern 
den Erlaß der zum Ausbau unferer Berfaflung, zur Begründung einer felbftän- 
digen Gemeinde und Kreisverwaltung und zur höheren Entwidelung ver Bolls- 
kraft nothwendigen Gefeße, die Zurüdführung der Gefammtftenerlaft auf ein ver 
Stenerkraft entſprchendes Maß, bie Sicherung bes Staats und der Schule gegen 
kirchliche Webergriffe, die verfafiungsmäßige Beſeitigung des Widerſtandes, welchen 
bisher ein Faktor der Geſetzgebung diefem Berlangen entgegen geftellt Hat. Es 
erfehnt nad Außen eine Träftige und vorwärts fchreitende Politik“. Trotz bes 
gemäßigten Tons der Adrefie nahm ber König biefelbe fehr ungnäbig entgegen 
unb fie blieb ohne Erfolg. In der Büdgetkommiſſion beharrte die Regierung, von 
unbedeutenden Konceffionen abgefehen, auf der Urmeereorganifation nad dem nr- 
ſprünglichen Plane vom 9. Februar 1860, was die Vermehrung ver flehenben 
Armee, ihre Verhältniß zur Landwehr und die Aufrechthaltung der vollen brei- 
jährigen Präfenzzeit betraf. Die Büpgetlonmiffion beantragte darnach, bie ſäͤmmt⸗ 
lichen Mehrkoſten für die Heeresform fowohl im orbentlihen als im außerorbent- 
lien Büdget zu fireichen, fo lange bie Regierung nicht die erforberlichen Geſetzes⸗ 
vorlagen gemabt und verfafiungsmäßig mit dem Laubtag vereinbart habe; umd 
ebenfo beſchloß die Marinelommiffion, anf vie Ablehnung des geforderten außer⸗ 
ordentlichen Krebites anzutragen, fo lange kein Gründungsplan für die geſammte 
zu erftellende Marine vorgelegt fet, obgleich die Regierung in beiden Kommiſſionen 
darauf aufmerffam gemacht hatte, daß das geforderte Geld für beide Zwede 
größtentheils eben ſchon ausgegeben jei. Am 7. September begann bie Debatte 
über den Militäretat im Abgeordnetenhanſe und nahm nicht weniger als acht 
Sitzungen in Unfprud. Im Berlaufe vderfelben ſchien der Kriegsminifter einen 
Augenblid geneigt und ermächtigt, dem Haufe die Konceffion der zweijährigen 
ftatt der bisher mit Zähigkeit feftgehaltenen dreijährigen Präfenzbauer zuzugeftehen 
und es ift kaum zweifelhaft, daß eine Mehrheit des Haufes unter biefer einen 
Bedingung die thatſächlich durchgeführte Reorganifation anerkannt und ben ganzen 
Konflitt zur Ruhe gebracht hätte; aber fon am folgenden Tage erklärte ber 
General Roon die Zufage ber zweijährigen Dienftpfliht aus techniſch milttärifchen 
Gründen für unmöglid. Die Folge war, daß bei der Abſtimmung vom 23. Set. 
bie Forderung der Regierung mit 308 gegen bloß 11 (feudale) Stimmen abge 
lehnt und die fämmtlichen für bie Reorgantfation eingeftellten Mehrkoſten au im 
Ertraorbinarium geftriden wurben. Schon am folgenden Tage wurbe ver Minifter- 
präfident Fürft Hohenlohe entlaflen und von Bismard-Shönhanfen zum 
Minifterpräfidenten ernannt. Schon vorher (14. Aug.) hatte die offictdfe Stern- 
zeitung bie „VBeforgnig vor einer Berfafiungstrifis" ausgefprochen und gefunden, 
daß die Berfafjung eine „Lücke“ habe und gefragt, was zu thun fei, wenn der Etat 
nit oder doch nicht rechtzeitig zu Stande komme. Jetzt hob fie vie Gefahr hervor, 
daß „Umſtände eintreten könnten, unter denen irgend etwas gefchehen mäffe, was 
nicht ansdrücklich in der Berfafjung gefchrieben fei” und wenige Tage fpäter „baf 
He Be bes Abgeordnetenhauſes vom 23, einfach und fchlechterbings unane- 
rbar el". 

Bom Eintritt Bismard’s bis zum Kriege von 1866. Bismard, 
eine rückſichtslos energijche Natur, galt als das Haupt der fendalen Partei. In 
den Parteifämpfen von 1849 und 1850 hatte er fi als entjchiebener Abfolutift 
ausgeſprochen; daß er feither feine damaligen Anſchauungen vielfach und wefentiid 
mobificirt babe und daß in feiner Natur neben abfolutiftifchen Neigungen und 
Sewohnheiten mächtige liberale Elemente lagen, davon wußte man in größeren 











Preufen. 


Kreifen nichts und konnte nichts willen. Die liberale öfentliche DR 
Mojorität des Abgeordnetenhauſes kam ihm daher mit dem äußerften 

entgegen und ber neue Minifterpräfident that auch nichts und wollte nichts tbum, 
um die allgemeine Anſicht umzuwandeln. Zunähft galt es ihm 
darum, bie Armeereform ganz und ungeihmälert anfredht zu erhalten und bie 
Bollsvertretung thatſaͤchlich innerhalb derjenigen Bedentung feflzubalten, deren fie 
bisher geuofien hatte, —— ob dies num der allgemein geltenden konſtitutio- 
wellen Tbeorie und bem Budhflaben ober dem Geifte der Berfaffung entſpreche oder 
ubcht. Um 29. Sept. z0g er das dem Landtage bereits vergelegte Büdget für 
1863 zuräd, ohne ſich beſtimmt darüber anszufpredgen, was bie Regierung gegen- 
über demjenigen von 1862 nad ben Beſchlüſſen des Abgeorbnetenhaufes zu thun 
gebente. Da indeß die Organe der Regierung laut erflärten, daß biefe es — an⸗ 
nehmen und nicht ausführen were, und bie ſchon erwähnte Lüdentheorie erörterten, 
fo beſchloß die Bädgetlommiffion im Abgeorbnetenhaufe die Erklärung — 
daß es —— ſei, wenn bie Regierung über eine Ausgabe verfüge, bie 
durch das Abgeordnetenhaus gerabezu abgelehnt Bag Diefer Antrag wurde 


Net. 


ronetenbauf —— 

abzulehnen fondern beſchloß vielmehr auf den Antrag des Grafen Urmim-VBongenburg 
mit 114 gegen 44 Stimmen, das Bürget, wie es am 25. Mai von der Regierung 

vorgelegt worben, anzunehmen, wozu das Herrenhaus nad) ber Derfeflung nicht befugt 
wor. Damit war die Lüdentheorie in die Praris eingeführt: ein Finanzgeſetz für 
1862 war nicht zu Stande gelommen, die Berfafiung enthielt für. viefen Fall 
feine Befimmung, bie Regierung hatte fomit ie: des Budgets freie Hand. 
Der Befälnh des Herzenfaufes verfegte inzwilchen das Abgeorbuetenhans in eine 
Rarfe Aufregung. Sämmtlide Fraktionen mit Ausnahme der feudalen hielten am 
12. Dit. eine vertrauliche Konferenz unter dem Borfige des Grafen Schwerin 
von ber alt-liberalen Partei, dem vielleicht ein Uebermaß ängftlidder Loyalität, 
aber nimmermehr eim foldhes am Energie vorgeworfen werben konnte: alle Unter 
ſchiede waren verfgwunden. Am folgenden Morgen früh fand eine Sitzung bes 
Übgeorbnetenhaufes fixtt und wurde einftimmig von 237 Anweſenden (die Fen- 
dalen hielten fidh — der Beſchluß des Herrenhauſes als unvereinbar mit dem 
Haren Sinn und Wortlaut des Art. 62 der Verfaffung und darum für null und 
nichtig erllärt, fo daß die Regierung daraus teineriei Reihe herleiten könne. Kaum 
war der Beſchluß gefaßt, ol8 die Miniler eintraten und vie eenartee Einige 
Botſchaft verlafen, welche bie Seifen Mer ſchloß. In der Thronrede, welde Hr. von 

Bismard verlas, wurde dem Lande erklaͤrt, daß bie Regierung fi in die Roth 
wenbigfeit gejegt fehe „ben Staatsbanshalt ohne die in der Berfafiung voran 
geſetzte Unterlage fügren zu mäflen“. Das Abgeordnetenhaus wurbe bis Ende 
1862 nit mehr einberufen und auch nicht aufgelöst: wenn vie Regierung in 
der Militärfrage keine, wenigſtens keine nennenswerthe Konceffion machen wollte, 
jo war eine Berfländigung wit biefem Haufe unmöglih, Reuwahlen aber ließen 


bei der allgemeinen Stimmung ver Gemäther kein der Regierung günftiges Refultat 


gewärtigen; Bismark verzichtete daher anf das eine und das andere umd regierte 
obne ein durch Geſet d. h. durch übereinſtimmende Beſchlüfſe aller Faktoren ber 
gefeßgebenben Gewalt genehmigtes Bädget. Sein nächſtes Bemühen ging dahir 


— — iD — Bi _ 


.“ 


942 Nachtrag. 


die Regierungsgewalt zu ſtärken. Zu dieſem Ende wurde eine Anzahl von höheren 
Beamtelen, die eine mehr ober weniger hervorragende Rolle in der Oppoſition 
gefpielt hatten, zur Strafe verjegt oder gänzlih zur Dispofition geftelt, vom 
Suftizminifter wieder eine Art von Conduiteliſten für die ihm untergeorbneten 
Beamteten eingeführt und im Einverftänpnig mit der feudalen Partei eine lange 
Reihe von Loyalitätsaprefien und Deputationen an den König arrangirt, welde 
fi für volllommen einverftanden mit der Armeereorganifation erllärten und vie 
ſchwerſten Anklagen, Beſchuldigungen und felbft Schmähungen gegen das Abgeord- 
netenhbaus an bie Stufen des Thrones trugen. Daß diefe Demonftrationen ner 
einen jeher geringen Bruchtheil der Bevölkerung hinter fi) hatten, war außer 
Zweifel und wenn diefelben dem König, der ihnen wiederholt erklärte, daß er und er 
allein der Schöpfer der neuen Organifation fei, eine gewifle Befriedigung ge- 
währten, fo trugen fie auf der andern Seite weſentlich bazu bei, vie öffentliche 
Meinung gegen das Regiment Bismard nur immer mehr zu erbittern. 

In viefer Stimmung trat der Landtag am 10. Januar 1863 wieder zn- 
ſammen. Eine Verfländigung fand gar nicht in Ausſicht und erfolgte auch nicht: 
im Gegentheil fleigerte ſich bie gegenſeitige Exbitterung. bis auf den höchſten faſt 
nur denkbaren Grad. Der erfte Schritt des Abgesrhnetenhaufes (29. Januar 1863) 
war eine Adreſſe an den König, in der es entfchievden ausgefprocdhen wurbe, daß 
in der Fortführung ver Staatöverwaltung ohne ein vom Landtage und zwar in 
erfter Linie von der Volfövertretung genehmigtes Büdget eine unzweifelhafte Ber- 
legung ver Berfafiung Itege und um Rüdtehr zu verfaſſungsmäßigen Zuftänden 
gebeten wurde. Die Regierung legte das Büdget für 1863 und eine Novelle zum 
Wehrpflichtgefeg von 1814 vor, in ber fie indeß keinerlei Konceffion machte, ſon⸗ 
dern auf ihren hauptſächlichſften Forderungen bezüglid der Militärorgantfation, 
der Erhöhung der jährlich auszuhebenden Rekrutenzahl um 23,000, ber breijährigen 
Dienftzeit und der Erhöhung ber Refervepflidt von 2 auf 4 Jahre bebarrte. 
Bezüglich des erfteren faßte das Haus am 17. Febr. mit 274 gegen 45 Stimmen 
ben vorläufigen Beihluß, daß es ſich vorbehalte, für 1862 diejenigen Wusgabe- 
poften feftzuftellen, „für melde als verfaffungswibrige die Minifter mit ihrer 
Perſon nnd ihrem Vermögen verhaftet bleiben"; der erwähnten Gefegvorlage aber 
feste der AUbgeorpnete von Fordenbed einen anderen Entwurf entgegen und bie 
Militärkommiſſion befchloß, diefen Entwurf ihren Berathungen zu Grunde zn 
legen. Weder über die eine noch über bie andere Trage kam es in biefer Seffion 
von 1863 zur Beſchlußfafſung. Die wichtigfte Angelegenheit, welche im exften 
Theile derfelben das Land, die Regierung und das Abgeorbnetenhaus befchäftigte, 
war die in Polen damals ausgebrocdhene allgemeine Inſurrektion. Bismard fcheint 
den Plan genährt zu haben, durch energiſche Betheiligung an biefer Frage im 
Einverftänpniffe mit Rufland Preußen möglicher Weiſe eine Gebietserweiterung 
bis zur Weichfel erwerben, um dadurch der öffentlichen Meinung eine ganz andere 
Richtung und ein anderes Feld der Bethätigung als die inneren Verfafſungskämpfe 
darbieten zu können. Am 3. Febr. wurde von Preußen eine geheime Konvention 
mit Rußland zu Warſchau abgefhloffen, von ver man burd eine Mebe Lord 
Nuffels im englifchen Oberhaufe vom 21. Febr. nähere Kenntniß erhielt. Das 
Abgeordnetenhaus, nicht geneigt, den inneren Fragen und dem Kampfe um bie 
jelben auswärtige Interefien fubftituiren zu laflen und noch weniger geneigt, gerabe 
in biefer Angelegenheit Hand in Hand mit Rußland zu gehen, ſprach ſich ſchon 
am 28. Febr. mit 246 gegen 57 Stimmen gegen bie Konvention aus und da 
kurz darauf der Kaiſer der Franzoſen einen Verſuch machte, fie feinerfeits zu be 








Preußen. 983 


nugen, um eine Koalition Frankreichs, Englands und Defterreihs gegen Rußland 
und Preußen, aber in erfter Linie gegen Preußen zu Stande zu Bringen, fo 
mußte Bismard, um diefen Plan zu vereiteln, auf feinen eigenen wieder verzicäten. 
Erft am 7. Mai kam die Novelle zum Kriegäpienfigefeg von 1814 als Grund⸗ 
lage für eine Verſtändigung und gefegliche Erledigung ber Frage der Armeereform 
zur Behandlung, ſchlug aber fofort in einen perſönlichen Konflilt zuerft zwiſchen 
dem Kriegsminifter und dem Bicepräfidenten des Hanfes, dann zwiſchen dem 
ganzen Haufe und dem Minifterium um. Diefer Konflitt gab dem Haufe Anlaß, 
in einer Adreſſe an den König (22. Mai) geradezu zu erflären, daß „zwilchen 
ben Rathgebern ver Krone und dem Lande eine Kluft beftehe, welche nicht anders 
als durch einen Wechjel der Perfonen und mehr noch durd einen Wechſel des 
Syſtemes ausgefüllt werden wird”. Der König lehnte das Begehren ab und er- 
Härte in feiner Antwort im Gegentheil „er wifle es gerade dieſen Miniftern 
Dank, daß fe es fich angelegen fein laffen, dem verfaflungswinrigen Streben des 
Abgeorbnetenhaujes nah Machterweiterung entgegenzutreten” und fchloß die Seffton 
(27. Mai), ohne daß vie Berathung der Militärnovelle zum Schluß gekommen, 
bas Büdget für 1863 auch nur in Angriff genommen worden wäre In feiner 
Abſchiedsrede ſprach es der Präſident des Abgeorduetenhauſes ſehr verftännlid aus, 
daß die öffentliche Meinung nunmehr „verfaffungswidrige Oktroyirungen“ erwartete 
und befürchtete. 

Am 1. Juni 1869 wurde in der That eine Preßordonnanz erlaffen, welche 
bie verfaffungsmäßige Preßfreiheit befeitigte, indem fie die Iuftiz für unzureichend 
gegenüber den Ausjchreitungen, der Preſſe exrflärte, das Syſtem der Berwar- 
nungen einführte und ben Berwaltungsbehörben das Recht beilegte, ein Blatt um 
feiner „Geſammthaltung“ willen nad) zmweimaliger Verwarnung zu ımterbrüden. 
Eine Minifterialinftruftion verfügte namentlid, in den Zeitungen nichts zuzulaſſen, 
wodurch Negierungsmaßregeln als ungefeglih oder verfaffungswidrig bingeftellt 
würden. Die Gemeindebehörden nahmen fi der bebrängten Prefſe an, Stabtver- 
orbnete und Magifirat von Berlin gingen voran, erließen eine Adreſſe an ven 
König mit der Bitte, „durch fehleunige Wiebereinberufung des Landtags die Wie- 
verherftellung eines verfaffungsmäßigen Zuftandes herbeizuführen” , und alsbalb 
geriethen bie Gemeindebehörden einer ganzen Reihe großer und mittlerer Städte 
der Monarchie in Bewegung, um ähnlihe Demonftrationen zu berathen und zu 
befchließen. An die Stelle des Abgeorbnetenhaufes traten auf dieſe Weile zahl« 
reiche Meine Parlamente über das ganze Land bin, bie den Kampf gegen das 
Minifterium aufnahmen und nen organifirten. Diefes verkannte pie Gefahr feinen 
Augenblid, zumal die Stimmung eine in den weiteften Kreifen jo tief erbitterte 
war, daß fie felbft den Gliedern der königlichen Yamilie gegenüber nicht zurückhielt 
und bei wiederholten Gelegenheiten vie Unterlafjung der fonft üblichen Empfangs- 
feierlichleiten, Deputationen u. dgl. beihloffen wurde. Ein Erlaß des Minifters 
des Innern verbot daher (6. Juni 1863) die Berathung von politifchen Ange⸗ 
legenheiten durch bie Stabtverorbnetenverfammlungen und orbnete bie ftrengften 

aßregeln dagegen an; und wirklich gelang es bis Ende Juli, ver Bewegung 
Meifter zu werden und die Preßorbnung aufrecht zu halten, fo daß die Oppofition 
ber Prefje Über innere Angelegenheiten nachgerade faft gänzlich verftummte. 

Inzwiſchen benugten Defterreih und bie deutſchen Mittelftanten die ſchwierige 
Lage Preußens und die unläugbare Thatfahe, daß ber 'eingetretene Konflikt 
zwiſchen der Vollsvertretung und ber Krone Preußens dieſem pie öffentlihe Mei⸗ 
nung in ganz Deutichland momentan durchaus entfrendet hatte, um ben Branl- 


944 Nachtrag. 


furter Fürſtenkongreß (Auguſt 1863) in Scene zu ſetzen (f. den Urt. „Deutic- 
land"), Diefer Plan fheiterte indeß an dem Widerſpruche Preußens, freilich noch 
mehr an feiner inneren Unzulänglichleit, gab aber der Regierung Bismards Ge⸗ 
legenheit, fich öffentlih dahin auszufprechen, daß Preußen „eine Vürgſchaft, daß 
in der beabfidhtigten neuen Organifation des Bundes die wahren Berürfniffe uud 
Interefien der deutſchen Nation und nicht partikulariſtiſche VBeftrebungen zur Gel⸗ 
tung fommen, nur in einer wahren, aus birelter Betheiligung der ganzen Nation 
hervorgehenden Nationalvertretung finden könne“. Bismark hoffte ans diefer Lage 
der Dinge und dem Scheitern bes äfterreichifchen Planes weiteren Nuten zu ziehen 
auch für die Inneren Verhältniffe nnd Zuftände: am 3. Sept. ſprach der König 
bie Anflöfung des Abgeorvnetenhaufes aus und orbnete Nenwahlen au. Allen 
vorerft erwies fi jene Hoffnung noch als eine Täuſchung. Die Aufhebung ber 
Zahlung von Stellvertretungstoften aus Staatsmitteln für die eine Wahl ins 
Abgeorpnetenhans anuehmennen Beamten, alle anberweitigen Maßregelungen 
oppofttioneller Beamteter, alle direkten Anftrengungen der Regierung, um vie 
Wahlen zu beeinfluflen, halfen nichts: das Mefultat verfelben (28. Sept.) war, 
daß die Regierung nur 37 ihrer Kandidaten durchbrachte und die eigentliche Linke 
fogar verflärkt erſchien und zwar auf Koften ver bisherigen katholiſchen Fraktion 
und mehr nod der Wltliberalen, vie eine vollflänpige Nieverlage erlitten. Der 
neue Landtag trat am 9. Nov. zufammen: die Regierung brachte die Preforbuung 
vom 1. Juli zur verfaflungsmäßigen Genehmigung, einen Nachtragskredit zum 
Büpget für 1863, das für 1864, und den etwas umgearbeiteten Entwurf der 
Militärnovelle ein. Das Herrenhaus genehmigte die Pregorbnung mit 37 gegen 
8 Stimmen, das Abgeortnetenhaus verfagte ihr vagegen feine Genehmigung und 
erlärte fie für verfaflungswibrig mit 260 gegen 46 Stimmen: bie Regierung 
wurde biefem Beſchlufſe gerecht und hob die Ordonnanz am 21. Nov. auf; ber 
Zwed war im Wejentlihen erreicht. Inzwifhen traten bie auswärtigen Angelegen- 


beiten d. h. die deutſche Frage in den Vordergrund: was ber Fürſtenkongreß 


nicht bewirkt hatte, war die natärlihe Folge der fhleswig-holfteinifhen 
Frage, weldhe duch den Tob des Däniſchen Königs Friebrih (15. Nov.) endlich 
zur definitiven Löfung kommen mußte. 

Bismarck und das Abgeordnetenhaus hatten in dieſer Angelegenheit, deren 
verbängnigvolle Schwere Niemandem entgehen Tonnte, basfelbe Ziel im Auge, 
aber die Lage war derart, daß fie fi vorerft noch nicht verfianden und nod 
weniger zu verflänbigen vermodten. War das Ziel weſentlich vasfelbe, fo gingen 
bie Wege doch zumächft fchroff auseinander. Die Regierung verlangte (9. Dec.) ein 
Aulehen von 12 Mil. Thlrn. zu Veftreitung der außerorbentlihen Ansgaben für 
bie wegen ber fchleswig-holfteinifchen Angelegenheit erforderlichen militärifhen Daß 
regeln. Das Abgeorbnetenhaus fah fi) dadurch veranlaßt, eine Adreſſe an die Krone 
zu richten, worin der NRüdtritt Preußens vom Londoner Bertrag unb die Aner⸗ 
kennung des Auguftenburgers geforbert wurde, als das einzige Mittel, um ben 
Rechten ver Herzogthümer wie den nationalen Interefien Deutſchlands gegen 
Dänemark zum Sieg. zu verhelfen. Da der König dieſes Begehren ablehnte, fo 
erfolgte auch die Ablehnung des Aulehens mit 275 gegen 51 Stimmen (22. Jar. 
1864). Schon vorher (13. Ian.) waren im Büdget für 1864 vie ſämmtlichen 
Mehrkoſten der Armeereform mit 280 gegen 35 (fenbale) Stimmen wieber ein 
fach geftrichen worben. Das Herrenhaus verwarf biefes Büdget mit 58 gegen 
17 Stimmen und ftellte wie 1862 dasjenige ver Regierung wieder her, das Ab⸗ 
georbnetenhaus erflärte auch diefen Beſchluß (25. Ian.) für null und nichtig, mit 


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Dreußen. 945 


dem Beifügen, daß die Regierung einen offenen Verfafſungsbruch begehe, wenn fie 
fortfahre ohne Zuftimmung beider Häufer über Staatsmittel einfeitig zu verfügen und 
daß ein Anlehen ohne Genehmigung der Landesvertretung verfaffungswibrig und für 
den Staat für alle Zeit unverbindlih wäre. Der König ſchloß die Seffion noh an 
demſelben Tage. Die innere Tage blieb alfo vorerft diefelbe wie feit dem Herbft 1862. 

Inzwifhen begannen bie kriegerifhen Ereignifie in Schleewig-Holftein wirklich 
die inneren Fragen einigermaßen zurüdzubrängen. Preußen mit Defterreich führte 
bie Angelegenheit vorfichtig und doch nachdrücklich weiter und fchlieglich zu einem 
für Dentſchland, Dänemark gegenüber, volllommen befriedigenden Ende. Die 
Beurtbeilung Bismards mußte allmalie eine andere werden, wenigſtens was 
feine diplomatiſche Virtuofität in der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten 
betraf. Bismarcks Spiel war von Anfang an ein breifadhes, und nach drei Rich⸗ 
tungen erfolgreich: gegen Dänemark refpektive gegen das Ausland überhaupt, gegen 
Oeſterreich, feinen fcheinbaren Verbünveten, und gegen ven Bundestag refpeltive 
die Mittelfianten. Am 30. Oktober wurde ver Friede In Wien gefhloflen, am 
7. December hielten die aus Schleswig zurüdgelehrten fiegreichen Truppen ihren 
glänzenden Einzug in Berlin, vefien Oberbürgermeifter bei viefer Gelegenheit 
bereit8 von „Preußens firenger Zucht und Orbnung und von feiner flaatenbilben- 
den Kraft” ſprach. Bis Ende des Jahres 1864 hatte fich die preußifche Preſſe 
mit nur fehr wenigen Ausnahmen bereits eifrig für die Unnerion der Herzog⸗ 
thümer oder doch für ven engften Anſchluß verfelben an Preußen ausgeſprochen, 
eine Anzahl oppofitioneller Abgeorbneter befhloß, in der Militärfrage zwar bie 
bisherige Stellung feftzubalten, bezüglich der auswärtigen Politik dagegen eine 
möglihft paffive Haltung zu beobachten. Der erſte Erfolg der Ereigniſſe von 1864 
für Preußen in Deutſchland war, daß (im Herbfte) die Mittelſtaaten, welche ten 
Abſchluß eines Handelsvertrags mit Frankreich als einen entichievenen Schritt zum 
Vreihandelsprincip belämpft und es lediglich im Jutereſſe Defterreichs bis an den 
Rand einer Auflöfung des Zollvereins getrieben hatten, fi vollftändig ergaben 
und zu Preußen und dem Zollverein zurüdtehrten. 

In den inneren Zuftänden Preußens war jedoch feine Veränderung einge- 
treten und fand auch Feine in Ausficht. Am 14. Ian. 1865 wurde die Landtags⸗ 
felfton eröffnet; die Thronrede, der Form nad verſöhnlich, machte doch wiederum 
teinerlei Konceifion weder bezüglich der Armeefrage noch bezüglid des Büdget⸗ 
echtes des Abgeordnetenhauſes. Das Iegtere verwarf (5. Mat) bie wieberum vor- 
gelegte Militärnovelle neuerdings mit 258 gegen 33 Stimmen, ba fi ber Kriegs- 
minifter aufs entſchiedenſte weigerte, auf bie breijährige Präfenzzeit zu verzichten, 
lehnte (2. Juni) ein von ber Regierung geforbertes Anlehen für Marinezwede 
ab, ſtrich (8. Juni) tm Büdget vie Reorganifationsloften mit 207 gegen 22 ohne 
Debatte und erflärte (23. Juni) die für den däniſchen Krieg ohne Bewilligung 
bes Landtags gefhehene Entnahme von Geldern aus dem Staatsſchatz mit allen 
‚gegen bie Stimmen der feubalen Fraktion für verfaffungswibrig. Das Herrenhaus 
verwarf das Büdget für 1865, wie es aus ben Beſchlüfſſen des Abgeorpneten- 
baufes hervorgegangen, ftellte aber dießmal nicht mehr die urſprüngliche Regie⸗ 
rungsvorlage her, ba es dazu In ver That unzweifelhaft verfafiungsmäßig nicht 
befugt war, und die Regierung einer Stüge nicht mehr zu bebürfen ſchien, um 
zu verfahren wie bisher. Die Seffion wurde am 17. Juni geſchloſſen: bie Lage 
blieb genau diefelbe die fie vorher geweſen war. 

Ste blieb dieß auch während der folgenden Sefflon, die im Januar 1866 
eröffnet wurde. In demfelben Monat faßte das Obertribungl einen Beſchluß, der 

Bluntfgliund Brater, Deutſches Staats-Wörterbug. Al. 60 


946 Nnachtrag 


die Erbitterung des Abgeordnetenhauſes anfs höchſte — In der vorhergehen⸗ 
den Seffton (20. Mai 1866) hatten die Abgeordneten Tweſten, Gneiſt u. A. auf 
bie der Unabhängigkeit der Gerichte durch den Inſtizminiſter zugefügte Schädigung 
hingewieſen und das Herrenhaus deshalb den Verfuch gemacht, vie Redefreiheit 
ber Abgeordneten zu beſchränken. Die Regierung fand es jedoch unthunlich und 
man verfländigte fi, den Zwed wo möglid durch die Gerichte, in legter Inftanz 
alfo durch das Obertribunal, zu erreihen. Der Abgeorbnete Tweſten wurbe alfo 
gerichtlich belangt, verweigerte jedoch, geſtützt auf den Art. 84 ver Berfaffung, 
der die Nebefreiheit der Abgeordneten garantirte, jede Auskunft. Dasſelbe geſchah 
von Seite des Abgeorbneten Frenzel wegen einer Aeußerung über ven Regierung 
präfident in Gumbinnen. Die legtere Angelegenheit gelaugte am 29. Januar wer 
das Obertribunal und diefes gab nun, im ſchreiendem Widerſprach mit eigenen 
früheren Entſcheidungen und mit einer nur durch Zuziehung von zwei Hälfs- 
richtern erlangten Stimmenmehrheit, dem Art. 84 eine Auslegung, durch welche das 
Recht der Abgeordneten in Frage geftellt war. Diefer Beichlu brachte das Haus 
in völligen Aufruhr: nad zweitägiger Debatte wurbe er (10. Febr.) mit 263 
gegen 35 Stimmen für verfaffungswibrig erklärt und dagegen Proteſt erhoben. 
Wenige Tage vorber (3. Febr.) hatte das Haus die Bereinigung auenburgs mit 
der Krone Preußen für rechteungültig erflärt, fo lange nicht die verfafiungemäßige 
Zuftimmung beider Häufer dazu erfolgt fei und am 16. d. M. wurben vie Maß 
regeln der Beamten, die im vorigen Jahr ein Abgeordnetenfeſt in Köln gewaltfem 
gehindert hatten, für geſetzwidrig erflärt. Die Regierung verweigerte die Annahme 
diefer drei Beſchlüſſe, indem ſie behauptete, daß viefelben ſäͤmmtlich die Kompetenz 
bes Abgeordnetenhauſes überſchritten und ſchloß ganz plöglih wenige Zage fpäter 
(23. Febr.) die Seffton, nachdem fie den Laudtag erft augenblidlich vertagt hatte, 
um alle weiteren Beſchlüſſe unmöglich zu machen, obgleidh das Büget fir 1866 
noch gar nicht in Angriff genommen, überhaupt bis dahin noch ger feine Ingis- 
latoriſche Maßregel zu Stande gelommen war. Ste behauptete In ver Thromreke, 
daß „auf dem vom Haufe eingefhlagenen Wege pas Land ernfteren Zerwürfuiffen 
entgegen geführt und eine Ausgleihung ver beſtehenden aud für bie Zukunft 
erſchwert werben würde", was fie verhäten wolle. Wahrſcheinlich ift es, daß fle 
dazu durd das Verhältniß zu Oeſterreich beivogen murbe. 

Das Nähere Über die zwiſchen Defterreih und Preußen fchon fett Anfang 
1865 eingetretene, allmählig bis zum Bruch gefteigerte Entfrembung iſt oben 
©. 485—491 mitgetheilt. Nur vier Tage nah dem plöglihen Schluß des Laub 
tags fand in Beriin ein Minifterkonfeil unter dem Borfige des Könige und umter 
Beiziehung des Gefandten in Parts und der hervorragendſten Generale ſtatt, im 
welchem die Kriegefrage erörtert wurbe; ein Beſchluß fcheint indeß nicht gefaßt 
worden zu fein und die Kreiegsoperationen begannen erft am 15. Juni (S. 491 
bis 493). Um fo rafcher folgten nad der Eutſcheidungsſchlacht von Königgrüt 
(Sadowa) die Friedensunterhandlungen. In ven Präliminarten zu Nikoldburg 
(26. Juli) und in dem Frieden von Prag (23. Aug.) mußte Oeſterreich barein 
willigen, aus Deutſchland auszuſcheiden; doch blieb es nad biefer Seite intalt 
und rettete auch die Integrität Sachſens; auf Betreiben Frankreichs behielten and 
pie ſüddentſchen Staaten ihre volle Souveränität und internationale Unabhängigkeit, 
wogegen Preußen zugeflanden wurde, nicht Bloß Schleswig-Holftein, jondern aud 
Hannover, Kurheflen, Naffau und Frankfurt ſich einzuverleiben und alle beutfchen 
Staaten nördlich des Maines in einen neuen Bund unter feiner Führung m 
vereinigen. Die fo lange ſchwebende deutſche Frage war damit virtuell gelöst, 








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Drenßen. 947 


wenn and das ganze Werk nad der einen Seite erft in feinen Grunblinien ge- 
zeichnet war, nad ber andern ein unvollenvetes blieb. | 

Bom Kriege von 1866 bis zur Öegenwart. Zu Anfang bes Jahres 
1866, jobald die Entſcheidung gegenüber Defterreih näher rüdte, nahm die 
preußiſche Negierung audy die Grage der Bundesreform in die Hand. Am 
9. April trug dieſelbe am Bunde auf Einberufung eines aus birekten Wahlen und 
allgemeinem Stimmrecht hervorgehenden Parlamentes an, und zwar in dem Sinne, 
daß bie Berufung des Parlaments ſchon jegt auf einen beftimmten Termin erfolge, 
bie Borlagen für dasfelbe alfo bis dahin durch Verfiändigung ber Regierungen 
unter einander feftgeftellt fein müßten. Am 27. April richtete fie an bie deutſchen 
Regierungen eine Cirkularbepefche zu Unterftügung bes Vorſchlags und des babet 
nady ihrer Auſicht einzufchlagenden Weges. Am 10. Juni entwidelte fie in einer 
weiteren Depeihe die Grundzüge ihres Vorſchlags und in ber legten entfcheiven- 
den Sitzung des Bundestags vom 14. d. M. legte der preußiſche Gefanbte den⸗ 
jelben bei feinem Ausfcheiden als das letzte Wort Preußens auf den Tiſch nieder. 
Zwei Tage fpäter forderte Preußen die fämmtlihen Kleinſtaaten Norddeutſchlands 
zu einem Bündniß auf diefer Grundlage auf, die aud bis auf zwei nach und 
nad) darauf eingingen. Kaum war ber Krieg vorüber, fo legte Preußen benfelben 
Regierungen den Entwurf einer weiteren Bünbnißvertrags vor, zunächſt für bie 
Dauer eine® Jahres, binnen weldhem der neue norbbeutf—he Bund unter Preußens 
Gährung gegründet werben follte. Bis zum 21. Aug. war der Entwurf von allen 
betreffenden Staaten genehmigt und unterzeichnet. Geftügt darauf lud Preußen 
am 21. Nov, die Regierungen ein, Bevollmädtigte nach Berlin zu fenden, um 
den Entwurf einer Berfafiung bes künftigen norddeutſchen Bundes feftzuftellen, 
wie er einem einzuberufenben Reichstage zur Vereinbarung vorgelegt werben follte. 
Die Bevollmächtigten traten am 15. Dec. zufammen, vollendeten ihr Werk bis 
zum 30. Jan. 1867 umd unterzeichneten es am 9. ehr. Am 12. Febr. fanden 
die Wahlen zum Reichstage flatt und ſchon am 24. trat berfelbe zufammen. 
Deutfhland war in Folge der Stege Preußens ein ganz anderes geworben. Die 
beiden großen Gebrechen, an venen es vorher gelitten und bie einer Reform auf 
geſetzlichem Wege abfolut im Wege geftanden hatten, der Partikularismus reſpektive 
bie volle Souveränetät der Einzelſtaaten und ver Dualismus zwifchen den beiben 
Großmächten, waren burd die „Revolution von oben“ jener gebrochen, biefer 
Bejeitigt. Die Bahn für einen einheitlichen und freien nationalen Bunbesflaat war 
jetzt wenigſtens frei, wenn auch Frankreich durch feine diplomatiſche Intervention 
bie ſüddeutſchen Staaten dem urfprünglichen Plane Preußens entzogen und ihnen 
für einmal noch die volle, unbefhränfte Sonveränetät und internationale Selbft- 
Ränbigfeit gevettet hatte. Die Rückwirkung all diefer Thatfachen auf die öffentliche 
Meinung und auf das Bisherige Urtheil Über ven Leiter der preußifchen Regierung, 
feine Politik und feine Ziele konnte unmöglich ausbleiben, ganz abgefjehen von dem 
überwältigenden Einfluß der vollendeten Thatfahen auf die Maflen. 

Diefe Rückwirkung blieb aud nicht aus. Am 9. Mai 1866 hatte der König 
bon Preußen die Auflöfung bes Abgeorbnetenhaufes ausgeſprochen und Neuwahlen 
angeordnet. Diefelben fanden am 3. Jull flatt und die Regierung erfocht an biefem 
Zage einen boprelten Sieg, auf dem Schlachtfelde bei Sadowa und in den all- 
gemeinen Landtagswahlen. Während die Regierungspartei in den vorlegten Wahlen 
auf 11 Stimmen berabgefunfen war und bei den legten fi trog aller An- 
firengungen nur auf 37 gehoben hatte, errang fie jett zwar entſchieden nicht die 
Mehrheit, aber doch eine der Mehrheit nahe kommende Minderheit. Ein Kom- 

60* 


948 Nachtrag. 


promiß war für die Regierung, von ihrem Standpunkte aus, jetzt wen igſtens 
möglich und der Oppofition blieb kaum etwas auderes übrig, als darauf einzu⸗ 
gehen, wenn fie nicht in thörichter Illuſion fi von aller Thätigkeit zurückziehen 
oder In erfolglofem Widerftreben ſich nutlos erfhöpfen, fondern auf dem weiten 
Felde, das vor ihr lag, zu ſchaffen mithelfen wollte Am 5. Aug. eröffnete ber 
König den Landtag. In feiner Thronrede bot er der Bollövertretung den Kom⸗ 
promig an. Bon einer Rüdgängigmahung ver Urmeereform ober au nur von 
Konceffionen bezüglich derfelben war freilich feine Rebe: der König hatte fie wieder- 
bolt als fein eigenftes Werk erklärt umd der Krieg ſchien zu ihren Gunſten ent- 
hieden zu haben. Dagegen geftand er zu, daß die Stantsausgaben in ven legten 
Jahren der geſetzlichen Grundlage eutbehrt hätten, und erflärte, daß die Regierung 
die Landesvertretung um Invemnität dafür angehen folle. Es war dies, wenn es 
vom Wbgeorbnetenhaufe angenommen wurde, allerdings ein magerer Vergleich, 
allein e8 war nach dem boppelten Siege der Regierung vom 3. Juli nit wahr- 
ſcheinlich, daß man bei weiterer Verfolgung des Proceſſes fo bald mehr erreichen 
werde. Die Majorität des Abgeordnetenhauſes war offenbar von vorneherein 
geneigt, auf das Angebot einzugehen, Grabow, der bisherige Präfivent, exrflärte, 
im Interefje der Berföhnung auf eine Wiederwahl zu verzichten. Die Regierung 
ſuchte (am 14. Aug.) in aller Yorm um die Indemnität nah und verlangte zu- 
glei einen Krebit von 60 Mil. Thlrn. Der von der Xoreflommiffion vorgelegte 
Entwurf einer Antwortsahrefie auf die Thronrede ließ die Armeereform auf fid 
beruhen, betonte dagegen bie Reichsverfaflung von 1849 als Grundlage für bie 
Berfaflung des künftigen norbveutfchen Bundes und das verfafiungsmäßige Büdget- 
bewilligungsrecht des Abgeordnetenhauſes. Die Mehrheit ging aber bereits felbft 
darauf nit mehr ein und genehmigte ein von Stavenhagen vorgejchlagenes 
ziemlich farblofes Gegenprojelt. Des Königs mündliche Antwort lautete fehr freund- 
lich, doch meinte er, er babe bezüglich des Büdgets fo handeln müflen, wie er e6 
gethan und fo werde er immer handeln, wenn ſich ähnliche Zuftände wiederholen 
folten, fügte indeß bei, „aber es wird nicht wieder vorlommen". Am 3. Sept. 
wurde der Regierung die Indemnität vom Wbgeorbnetenhaufe in aller Form mit 
230 Stimmen gegen 75 (die Bolen, die Ulteamontanen und etwa 30 Mitgliebern 
ber bisherigen Fortſchrittspartei) ertheilt und am 25. d. M. aud der geforberte 
Kredit von 60 Mil. Thlen., namentlich auch behufs Wieverfüllung des Staatd- 
Ihayes bis zur Höhe von 30 Mil. Thlrn. wieder mit 230 gegen 83 Stimmen 
berfelben Fraktionen zugeftanden. Am 5. Dec. genehmigte das Haus mit 219 
Stimmen die von ber Regierung beantragte Dotation derjenigen Generale, vie 
fih im Kriege am melften ausgezeichnet und fügte ſogar nach dem Antrage ber 
Kommiffion den von der Regierung nicht genannten Namen des Grafen Bismard 
und zwar an erfter Stelle bei. Bei der Berathung des Büdgets für 1867 wur- 
den die geheimen Fonds nicht weiter verweigert und der Militäretat im orbent- 
lihen Büdget mit 163 gegen 153 Stimmen bewilligt, die Armeereorgantjation alfe 
als zu Recht beftehend anerfannt. Der Konflitt war damit beenbigt. 

Ueber die künftige Berfaffung des norbveutichen Bundes hatte das Abgeord⸗ 
netenhaus nur einmal Gelegenheit, ſich theilmelfe zu äußern, bei ber Weftfegung 
bes Wahlgeſetzes für ven bevorftehenden Reichstag. Dasfelbe ſprach fi dabei für 
bie bireften Wahlen mit allgemeinem Stimmredt mit allen gegen 13, für voll 
fländige Sicherung der Nevefreiheit mit 141 gegen 134 Stimmen aus und ver 
taufhte das Wort „zur Vereinbarung” in der Regierungsvorlage mit dem Ans- 
brud „zur Berathung”, um auf dieſe Weife dem preußifhen Landtag bie 








Drenfen. 949 


Zuftimmung oder die Ablehnung ber Beſchlüfſſe des Meichstage zu referviren. 
Dagegen wurbe der Antrag auf Bewilligung von Diäten mit 152 gegen 124 
Stimmen verworfen. 

Bon viel eingreifenderer flantsrechtlicher Bedeutung waren die Verhandlungen 
und Beſchlüſſe des Landtags über bie Trage der Einverleibung von Han» 
nover, Kurbeffen, Noffau, Frankfurt und Schleswig-Holftein. 
Am 17. Aug. 1866 richtete der König eine Votſchaft bezüglich ver Unnerion der 
vier erften an den Landtag — diejenige von Schleswig» Holftein mußte bis nad 
der Ratififation des Prager Friedens noch verjchoben werden — in welcher bieje 
Maßregel auf das Recht der Eroberung und bie „politifhe Nothwendigkeit“ geſtützt 
wurde. Zugleich legte vie Regierung einen Gefegesentwurf vor, der es ungewiß 
ließ, ob die Annerion ſchließlich durch Berfonal- oder Realunion bewerfftelligt 
werben folle. Die beigefügten Motive legten den Nachdruck mehr auf die poli⸗ 
tiſche Nothwenpigkeit für die Sicherheit Preußens und die Beſeitigung der natio- 
nalen Bedürfniſſe als auf das Recht der Eroberung. Der Minifterpräfinent ſprach 
dazu mündlich von der Abſicht einer fpätern völligen Einverleibung in Preußen, 
betonte aber die Nothwendigkeit, vorläufig die Machtvollkommenheit in die Hand 
des Königs zu legen, um in jenen Ländern biejenigen Modifikationen ihrer bis⸗ 
herigen Einrichtungen und Berfaffungen einzuführen ober vorzubereiten, welde ihre 
Berjchmelzung mit dem prenßifhen Stant erleichtern würben. Das Abgeorbneten- 
haus wies die Vorlage an eine Kommifflon, die darüber am 7. Sept. berichtete, 
Der Minifterpräfivdent hatte in derſelben wiederum das Net der Eroberung mit 
vollſter Wirkung für Preußen in Anſpruch genommen, aber zugleid ven Bormwurf 
„nadter Gewalt" mit dem „Recht der deutſchen Nation, zu eriftiven, zu athmen, 
fih zu einigen” zu befeitigen geſucht. Der Gebanfe, den Mechtstitel Preußens 
dur eine allgemeine Abſtimmung wenigftend zu verftärken, hatte Mn ver Koms 
mifflon feinen Auklang gefunden, weil man fi fagte, daß biefelbe mehr Schein 
als Wefen fei. Aber auch die proponirte Zuftimmung des Reichstags bes nord» 
deutfhen Bundes hielt man weder für erforderlih no für angemeflen, da der⸗ 
felbe zur Zeit noch nicht eriftive, dazu nicht Tompetent, überdies aud wegen feiner 
überwiegend preußiſchen Zufammenfegung zu einem derartigen Verdikt nicht geeignet 
fl. Die bisherigen Derfaflungen und die durch fie begrändeten flaatlihen Ein⸗ 
richtungen in den eroberten Yänvern erflärte die Regierung für erlofchen; Ver⸗ 
faffung und Dynaſtie felen untrennbar, in Hannover die Dynaſtie viel älter als 
pie Berfaffung; mit jener fei auch biefe befeitigt, auch bie neuere Doktrin bes 
Böllerrehts Halte nur das Privatrecht des Volks und die damit zufammenhängen- 
den Einrihtungen unbedingt aufredt. Die Kommiffton in ihrer Mehrheit ſchloß 
fi) der Anſicht der Regierung an und erflärte, ein Recht der bisherigen Landes⸗ 
vertretungen auf Mitwirkung bei ver Entſcheidung über die Einverleibung mit dem 
Untergange ver ſtaatsrechtlichen Selbftänvigkeit diefer Länder für nicht vereinbar. 
Mit der von der Regierung zugefiherten Schonung der „beredtigten Eigenthün- 
lichkeiten” war tie Kommiffion völlig einverfianden und fand, daß biefelben zum 
Theil vortrefflihe Einrichtungen befäßen, welche nur befrudgtend auf bie preußifchen 
Zuftände zurückwirken könnten. In welchem Umfange freilid viefe Einrichtungen 
u ‚erhalten ſeien, laſſe fih zur Zeit nicht beſtimmen. Die Herftellung einer bloßen 
Berfonalunion warb einftimmig verworfen und beantragt, ven Grundſatz der Ber- 
einigung ber neuen Länder mit der Monarchie fofort auszufprehen. Der Minif 
präfident erflärte fi damit einverftanden, nur nicht mit einer fofortigen Ei 
rung ber preußlfhen Verfaffung, fondern unter Feſtſetzung einer Uebergan 


950 Nachtrag. 


und einer Art Diktatur bes Königs für dieſe Zeit. Die Kommiffion ging hlerauf 
ein und firirte den Zeitpunkt für den Eintritt der preußiſchen Verfafſung auf ben 
1. Oft. 1867. Zum Schluß hatte der Minifterpräfinent angeventet, daß es fich 
vielleicht empfehlen Könnte, mit einem vereinigten Ausſchuß aus ven zu annel- 
tirenden Ländern über bie neuen Organifationen fid) in Verbindung zu ſetzen 
und fellte beftimmt in Wusficht, daß bie Megierung in benfelben eine Rommilfton 
von höheren Beamten unter Borfig eines preußiſchen Beamten zur Berathung 
darüber zufammentreten laffen werde, wie bie verfhiebenen Rechtszuſtände auszu⸗ 
gleihen und die VBerfhmelzung anzubahnen fei; inzwiſchen würden zur Unter⸗ 
flügung des Minifteriums fachverftännige Männer aus den neuen Lanvestheilen 
nad) Berlin berufen werden. Bor allen Dingen aber mäffe die preußiſche Militär- 
verfaflung zur Ausführung gebracht werden, um bie Wehrkraft der eroberten 
Länder für Preußen verwertben zu lönnen. Die große Mehrheit des Abgeordneten⸗ 
baufes erklärte fi mit ven Anſchauungen und Anträgen ber Kommiffion einver- 
flanden und das Geſetz wurde In der vorgefchlagenen Faſſung mit 273 gegen 
14 Stimmen angenommen. Das Herrenhaus flimmte (10. Sept.) mit allen gegen 
1 Stimme zu und ber König genehmigte es feinerfeit8 am 20. Sept. Am 3. Oft. 
ergriff ex durch Patent Beflg von biefen neuen Theilen der preußifhen Monarchie. 
Erft am 20. Dec. wurde vom Abgeorpnetenhaufe auch die Aunerion von Schleswig- 
Holftein ansgefproden. 1) 

Am folgenden Tage und in zweiter Lefung am 12. Jan. 1867 gemehmigte 
das Haus die Vorlage ber Regierung auf Vermehrung ber Zahl der Abgeordneten 
um 80 für die anneftirten Landestheile. Um fo lebhafteren Widerſtand fand da⸗ 
gegen dieſes Gefeg im Herrenhaufe, weil e8 nur bie Zahl der Abgeorbneten, nicht 
and die der Herrenhamsmitglieder für den alten und gefefligten Grunpbefig ver: 
mehrte. Zum erften Mal trat es bei biefer Gelegenheit zu Tage, wie die Partei, 
welche das Herrenhaus beberrfchte, wohl mit der inneren Politik Bismarks, wie 
fie während der Konfliftszeit fid manifeftirt Hatte, aber keineswegs mit feinem 
nationalen Vorgehen einverflanden war und vie Rüdwirtung berjelben auf bie 
preußiſchen Zuftände fürchtete, die allerdings nicht ausbleiben konute. Die Kom- 
miffion des Herrenhaufes trug (15. Ian.) auf Ablehnung des Gefegesentwurfs an 
und ein weiterer Antrag forderte wenigftens gleichmäßige Erweiterung bes Herren- 
baufes aus dem alten und gefefligten Grunbbeflg der neuen Provinzen. Die 
Heinen Herren des Herrenhanfes erflärten geradezu, wenn man das Geſetz an- 
nehme, fo „gehe man über fi feläft zur Tagesordnung über und nnterzeichue 
fein eigenes Todesurtheil“. Der Minifterpräfldent mußte perfönltih und mit allem 
Nachdruck für die Vorlage eintreten, um fie mit 54 gegen 48 reipeltive 49 Stimmen 
unverändert durchzuſetzen. Das Abgeorbnetenhaus Hätte natürlich niemals in eine 


1) Flächeninhalt und Bevölkerung der neuerworbenen Zandestheile beträgt: 
Hannover 698,795 [JR.  1,937,637 €. 


Regierungs:Bezirt Kaffel 184,9 » 770,589 „ 

.n Wiesbaden (mit Krankfurt) 9.00 " 600,724 „ 

Schleswig: Holflein 312,59 # 981,718 „ 
Lauenburg (vorerſt noch durch PBerfonalunion mit Preußen 

vereinigt) 21,090 49,978 „ 

1315,095 LIR. 4.349.654 ©, 

Hiezu die alten Provinzen 5072,40 m 19,672,276 „ 


” 18,228 „ 


Militär außerhalb — 
6387,65: [IR. 24,040,148 ©. 


Preußen, 951 


Berftärtung gerade dieſes Elementes bes Herrenhaufes gemilligt und die Vertretung 
der neuen Landestheile im Landtag wäre dadurch ins Unbeftimmte hinaus ver- 
zögert worden. Schon lange vorher (11. Oft. 1866) hatte eine königliche Kabinets⸗ 
ordre die Bildung von drei neuen Armeekorps für die neuerworbenen Landestheile 
befohlen und zugleid damit bereits auch die Cinfügung der zulünftigen Bunbes- 
fontingente theil® in dieſe nenen, theils in die ſchon beſtehenden preußiichen Armee» 
forp® geregelt und biefer Kabinetsorbre war auf dem Fuße eine andere (13. Oft.) 
gefolgt, welche die allgemeine Wehrpfliht und fämmtlide Militäreinrichtungen 
Preußens aud auf die neu erworbenen Tanvestheile ausdehnte. Der König fchloß 
am 9. Febr. 1867 die inhaltſchwere Seſſion mit dem Ausdruck ver Befriedigung 
über das hergeſtellte einheitlihe Zufammenwirten der Landesvertretung mit ber 
Regierung umd mit der lebhaften Hoffnung auf das bevorftehenne Werk des nord⸗ 
deutſchen Bundes. 

An demfelben Tage war ber Entwurf einer Berfaflung des norddeutſchen 
Bundes von den fänmtlihen Bevollmächtigten ber denjelben bildenden Staaten 
in Berlin unterzeichnet worben; am 4. März wurbe er dem erſten norbbeutichen 
Reichsrath vorgelegt und durchberathen, ſchon am 16. April genehmigt. Die Krone 
Preußen nimmt nad dieſer Verfafſung (f. oben S. 495 ff.) im norbbeutichen 
Bunde eine gebietende Stellung ein: die Leitung ber auswärtigen Angelegenheiten 
und die Militärangelegenheiten liegen ausfchließlich in ihrer Hand, wefentlich ift 
es nur bie Ordnung der großen, gemeinfamen Interefien des Verkehrs und Han⸗ 
bels, die fie mit dem Bundesrath und dem Reichstage theilt. Bisher hat fie indeß 
einen lebhaften Eifer an den Tag gelegt, die Empfindlichkeit der mit ihr verbün- 
beten bisher fouveränen kleinen Fürften zu fhonen und ven Bundesrath nicht 
alzujehr herabzudrücken. Nur bezüglih der Militärangelegenheiten ſetzte fie jebe 
Rüdficht bei Seite und ſpannte ihre Forderungen jo hoch als es nur immer möglich 
ſchien. Dur Militärtonventionen gelang es ihr aud, das Bundesheer mehr und 
mehr einheitlih zu geftalten. Es ſchien ihr das völlig unerläglid für vie Be⸗ 
bauptung ihrer new errungenen Machtſtellung in Europa; geſtand dod Graf Bis⸗ 
mar! im preußiſchen Übgeorbnetenhaufe ganz unummwunden, daß feine einzige 
Macht (ſicherlich auch Rußland nicht und vielleicht allein England) mit Wohl- 
wollen auf das Emporlommen eines flarlen deutſchen Nationalftaats blide. Wie 
in allen Staaten des Bundes mußte auch der prußifche Landtag einen erheblichen 
Theil feiner bisherigen Befugniffe an ven Reichstag abgeben und eben darum 
baite er fih das Recht vorbehalten, die neue Bundesverfaflung erſt dahin zu 
präfen, ob die Rechte, auf die er verzichte, auch ganz und voll auf ven Reichstag 
übergingen, bevor er ihr feine verfaffungsmäßige Zuftimmung ertheile. Bezüglich 
der Militärangelegenheiten war nun jenes offenbar nicht der Hal und die Fort⸗ 
ſchrittspartei, der Reft der Oppofition von vor 1866, trug daher in einer einläßlichen 
Refolution auf Ablehnung an. Diefer Antrag wurde jedoch gegen eine Minber- 
beit von 77 Stimmen verworfen und bie Bundeöverfaffung mit 226 Stimmen 
gegen 91 angenommen. 

Nachdem Preußen dieſe neue Schöpfung, die, wie unvolllommen fle auch 
noch war, dod als der Anfang und der Kern eines künftigen deutſchen National« 
ſtaats betrachtet werden muß, und bie ihm zwar nicht die Herrihaft, aber doch 
bie Führung von 30 Millionen und damit eine ganz andere Stellung in Europa, 
als es bisher beſeſſen, gefichert hatte, ging der Leiter feiner Politik daran, auch 
die ſüddeutſchen Staaten näher heranzuziehen. Schon im Auguſt 1866 
hatte er bei Gelegenheit der Frienensjchläffe mit venfelben Shug- und Trug- 


—F 


982 Nadıtrag. 


büändniffe abgefhloffen, welche für Deutſchland, wenn and vorerft nur eventuell 
eine Art militärifcher Einheit gegen das Ausland unter dem Oberbefehl des Könige 
von Preußen herfiellten und nun ‚nahm er aud die Rekonſtruktion des Zoll- 
vereins (f. diefen Artikel) in die Hand, ver durch den Krieg gleichfalls dahin⸗ 
gefallen und durch die Friedensfchläffe nur proviſoriſch wieder hergeftelli worden 
war. Auch das gelang ihm ohne allzugroße Schwierigkeit und in vorläufig befrie- 
bigender Weiſe; das bisherige liberum veto der Bereinsregierungen wurde befei- 
tigt und eine dem norddeutſchen Bunde nachgebildete Organifation mit Präfidium, 
Zollbundesrath und Zolldepartement gefchloffen, welches letztere fih in Wahrheit 
doch als eine Art weiterer Reichdtag darftellt und die wirthichaftlidhe Einheit des 
gefammten Deutſchland, deutſch⸗Oeſterreich allein ausgenommen, erhielt und durch 
bie Natur der Dinge gezwungen werben wird, feine Kompetenz über bie engen 
Grenzen, die ihm die Verträge vorerft noch geftedt haben, hinaus allmählig aue- 
zubehnen, wenn es nit in einem ventfchen Neichöparlament aufgeht. Am 
27. April 1868 eröffnete der König von Preußen das erfle Zollparlament und 
im Juni 1869 trat dasſelbe bereits zum zweiten Dal zufammen. 

Preußen nimmt in beiden Organifationen, dem norddeutſchen Bunde und 
dem beutfchen Bollvereine eine fo Hervorragende Stellung ein, daß die weitere 
Entwidelung der deutſchen Dinge nothwendig nicht bloß von ber europäiſchen 
Konftellation, ſondern nicht minder aud von ver weiteren Entwidelung feiner eigenen 
inneren Zuftände abhängt. Eine feiner hauptſächlichſten Aufgaben in dieſer Be- 
ziehung liegt ohne Zweifel darin, die neu erworbenen Landestheile feh 
mit dem übrigen Theile der alten Monarchie zu verfhmelzen und zu dieſem Ende 
entfhieben mit ihren nenen Verhältniſſen zu befriedigen. Es läßt ſich nicht jagen, 
daß biefe Aufgabe bereits geldst fe. Die vom Landtag bis zum 1. Okt. 1867 
zugeftaubene königliche Diktatur bezüglich der neuen Landestheile, follte Niefelben 
unter Wahrung ihrer „bereitigten Eigenthümlichkeiten“ „fchonend” in das neue 
größere Ganze herüberleiten, der König felber hatte unzweifelhaft ven beften Willen 
und jo au Graf Bismark; aber vie Büreaukratie der Minifterien der Zinanzen, 
bes Innern und ber Juftiz beeilten fih von der neuen Domäne Beſitz zu ergreifen 
und die preußifhen Einrichtungen mehr oder weniger nad) der Schablone, an 
die fie gewöhnt waren, auf diefelben anszunehnen. Zu Anfang Juli 1867 ergo 
fih eine wahre Fluth von Verordnungen über dieſe Landestheile, weldye mene 
Inftitutionen und neue Laften brachten und viele alte Einrichtungen, bie den Ein- 
wohnern wenigſtens als fehr berechtigte erfchienen, kurzer Hand befeitigten oder 
gänzlih ummandelten. Was aber am meiſten ſchmerzte und verlegte, war, daß bie 
vorhandenen Staatsfapitalien biefer eben erft noch felbftändigen Landestheile ohne 
alle Ausnahme ver Generalſtaatskaſſe in Berlin zugewiefen wurben. Bis auf feinen 
gewiffen Grab war dies freilich nur natürlich; aber daß gar fein Unterfjchieb 
gemadt, gar keine Ausſcheidung getroffen wurbe, daß biefen neuen Provinzen auch 
gar nichts als Provinzialfonds bleiben follte und nur die Steuern und Laſten 
auf einmal und zwar in fehr erheblihem Grade vergrößert wurden, erregte eine 
tiefe und allgemeine Mißſtimmung, namentlich in Kurheſſen, das auf feinen foge- 
nannten Staatsſchatz ein ganz befonderes Anrecht zu Haben glaubte. Der frühere 
Ständeausſchuß vemonftrirte dagegen direfte beim König und bie Verſtimmung 
war in Kurhefien und aus ähnlichen Gründen in Frankfurt eine fo entſchiedene 
und fo allgemeine, daß der König es für angemefien fand, die Bevölkerung bei 
Gelegenheit eines Beſuchs perfönlih aufs freunblichfte zu beruhigen und den Kur 
heſſen die Erhaltung ihres Staatsſchatzes förmlich zuzufihern, während aud bie 











Drenßen. 953 


vom Minifterium in Berlin berufenen hannoverſchen Bertranensmänner die Aus⸗ 
ſcheidung eines bejonderen Provinzialfonds aus dem reihen Landesvermögen, das 
Hannover Preußen zubrachte, mit Nachdruck forderten. Sie erhielten wentgftens 
eine halbe Zufage. Noch ehe fie aber zur Ausführung fam, wurde bie königliche 
Diktatur benützt, um Hannover (22. Aug.) eine provinzialflänpifhe und etwas 
fpäter (12. Sept.) auch eine Amts» und Kreisverfaflung zu oltroyiren, und ähn- 
liches geſchah and in Kurheſſen, Naffau und Schlesmig-Holftein. Diefelben befrie- 
bigten durchaus nicht allgemein, das Princip der drei Stände, das bie preußtfche 
Regierung in biefelben einführte und zwar in ausſchließlichem Interefle des Adels, 
gewann 3. B. die hannoverſchen Ritterfhaften, vie der Einverleibung in Preußen 
durchaus abgeneigt iſt, nicht nnd widerftrekte dagegen gerade ver Partei, welde 
jener von Anfang an entſchieden fi gefügt und Preußen mit ber größten Bereit 
willigleit entgegen gelommen war. 

Zu derſelben Zeit bemühte fi die Regierung, mit ben gemejenen Fürſten 
diefer Lanbestheile fih abzufinden. Mit dem Kurfürften von Heflen war ein 
Arrangement ſchon im Jahr 1866 getroffen worben, jetzt wurben auch fogenannte 
Ausgleihungsverträge mit dem Herzog von Naflan und unmittelbar vor dem Ende 
der Föniglichen Diktatur au noch mit dem König Georg von Hannover zu Stande 
gebracht. Preußen bewilligte beiden mit Müdfiht auf ihren urfprünglichen 
Domänenbefig eine wahrhaft großartige Sunme, jenem faft 9, biefem 16 Dit. 
Thlr. d. 5. mehr als fle fräber als Souveräne genofſen hatten. Preußen betrachtete 
daher die Verträge als fürmliche Abſindungsverträge, wenn aud jene formell dabei 
anf keine ihrer Rechte oder Anſprüche verzichteten. Nur mit Mühe brachte die 
Regierung bie Verträge (1. Febr. 1868) Im Abgeordnetenhaufe durch; König 
Georg beeilte fiy den dadurch frei gewordenen Silberſchatz eilig nach Hieking zu 
ziehen, benützte aber glei darauf (18. Febr.) die Feier feiner filbernen Hochzeit, 
um eine eflatante welfiihe Demonftration in Scene zu fegen, bei der er auf feine 
Baldige Rüdtehr ins Welfenreich toaſtirte, während er gleichzeitig eine militäriſch 
organifirte welfifche Legion flüchtiger Hannoveraner unterhielt, die er um biefelbe 
Zeit aus der Schweiz nach Frankreich überfievelte. Das war doch gar zu ftarf: 
die preußifche Regierung antwortete am 8. März mit einer Siſtirung bes Ber- 
trags und einer Beihlagnahme des Vermögens des Könige Georg. Dagegen 
feßte die Regierung (6. Febr.) im Landtag die Bewilligung eines Provinzialfonds 
von 500,000 Thlr. jährlih an Hannover dur, jedoch nit ohne die Äußerfte 
Anſtrengung gegen bie konſervative oder feudale Partei, deren Unzufriedenheit mit 
der ganzen Wentung der Dinge feit 1866 nnd mit dem Grafen Bismard, ten 
fie bisher doch als ihr Haupt zu verehren gewohnt war, nunmehr aud im Ab⸗ 
georbneterhanfe in hellen Flammen zu Tage brach. Die officidfen Organe Bis- 
mards machten die Konjervativen darauf aufmerkſam, ob fie denn nicht einjähen, 
daß dies das legte Fonfersative Minifterium in Preußen fei und daß fie daher 
alle Urfache Hätten, dasſelbe zu unterftägen, auch wenn es nicht in Allem ihnen 
zu Willen fei; Graf Bismard ſelbſt hatte ihnen im Wbgeorbnetenhaufe gedroht, 
fih anf eime andere Partei zu flügen, wenn er nicht auf fle zählen könne. Die 
Konfervativen befannen ſich auch bald eines befiern und legten bie unzeitige Oppo⸗ 
fitton bei Seite: die Vorlage ging im Herrenhanfe ohne große Oppofition durch. 
An die Maßregeln für Hannover und Kurheſſen ſchloß fi eine ähnliche, wenn 
auch viel geringere Bewilligung für Naffau und anch Scleswig- Holftein wurde 
etwas in Ausfiht geftellt. Im Oktober und November 1868 beriethen die Pro⸗ 
vinzial- und Kommunallandtage von Hannover, Kurbefien und Rafſau über bie 


954 Nodtsog. 


Organiſation flänbifcger Uusihäffe zur Verwaltung ihres Provinzialfvnds und bie 
Regierung (Miniſterium des Innern) gab fi große Mühe, vie Zufammenfegung 
derſelben nah Ständen zu Wege zu bringen; in Hannover gelang ihr das aud 
ziemlich leicht, in Kurbeflen fchwerer, in Naſſau fcheiterte fie pamit. Mit . 
furt, das die Regierung feit 1866 fortfuhr, mit nicht gerechtfertigter und kaum 
Muger Härte zu behandeln, fam bie Ausſcheidung zwiſchen Staatagut und Stabt- 
gut erft im Frühjahr 1869, und zwar gegenüber dem wirklichen oder angeblichen 
Widerſtaude des Minifteriums nur Durch direkte Intervention des Königs zu Stande, 
defien wohlmollende Abfihten aber wiederum durch bie Büreaulratie verberben 
wurden, bie mit Emphafe von der „Bnade” des Könige ſprach, wo die Stadt mar 
ihr gutes „Recht”, wie fie meinte, verlangte und felbft das lange nicht vollſtändig 
erhalten hatte. Die Stimmung ift in allen den neu erworbenen Landestheilen für 
Preußen keine fehr befriebigenve, in Öannover vielleicht überwiegenb eine oppe- 
fittenelle, obwohl es doch fo leicht geweſen wäre, die früheren Regierungen und 
ihre Mißwirthſchaft bald nun gänzlich im Vergeſſenheit zu bringen; «ber gefährlich 
ift fie für Preußen allervings nirgends, felbft in Hannover ift dies entfchieben 
nit der Fall. 

Schon bei Gelegenheit des hannoverſchen Provinzialfonds kam bie alte Frage 
einer Reform des Proviuzial- und Kreisverfaffung und bie Zu 
tbellung von Provinzialfonds an alle auch die alten Provinzen im Sinne größerer 
Selbfivermaltung zur Sprade. Die Regierung erklärte ſich bamit einverftauben 
und bie ganze Frage kam ſeither in ven Seffionen des Abgeorbnetmbaufes von 
1868 und 1869 wieberholt, lebhaft umd ziemlich eingeben zur Sprade nud e4 
wurden auch wiederholt und mit großer Majorität Refolutionen in biefem Sinne 
gefaßt, denen die Regierung grundſätzlich nicht wiberfprad. Trotzdem führte bie 
Bewegung in biefer Richtung lange zu Feinerlei Refnltat. Ein Entwurf bezäglid 
ber Kreisverfaflungen, den der Minifier des Innern, Graf zu Enlenburg, endlich 
(At. 1869) dem Abgeordnetenhauſe vorgelegt hat, und angenblidid von biefem 
berathen wird, fcheint zwar allgemein als eine brauchbare Grundlage enerfaunt 
zu werben, bärfte aber kaum ohne eingreifenne Mopificatiomen zur Wanahme 
gelangen, die das Schidfal der Vorlage hinwieder im Herrenhaufe als zweifelhaft 
erſcheinen laflen. 

Daneben trat in der leuten Seffion des Lanbtags eine andere Zunge in ben 
Vordergrund, die Ueberraſchung eines Deficits von mehr ale fünf Millionen 
im Büdget für 1869. Theils Mlinvereingänge in den Einnahmen, theils die 
Matriknlarumlagen des norddeutſchen Bundes in Folge bes gewaltigen Militär 
etat8 besfelben waren bie Urſache. Der Binanzminifter v. d. Heydt ſtellte bie 
Thatfache als durchaus nicht Bedenken erregenb dar und bas Deficit wurbe vor⸗ 
erft aus vorhandenen Altivbeſtänden nad) dem Vorſchlage der Regierung zu beden 
beſchloſſen. Schon damals trug der Abgeorduete Lasler daranf an, durch eine 
Nefolution anszufprechen, daß es wünſchenswerth wäre, bie eigenen Einnahmen 
bes Bunbes, aber allerbings nur unter gleichzeitiger und gleihmäßiger Entlaftung 
Preußens zu vermehren. Die Regierung ging nicht darauf ein und ber Antrag 
erhielt nit vie Mehrheit des Abgeordnetenhauſes. Die Regierung zog es vor, 
dem Reichſtage (Mai 1869) und dem Zollparlamente (Iuni 1869) eine ganze 
Reihe von inbiretten Steuern theils zur Erhöhung tbeils zu neuer Einführung 
vorzuſchlagen. Bis auf einige wenige wurden jedoch fänuntlihe Vorlagen von 
jenem wie von biefem abgelehnt, fo daß die Regierung genöthigt war, bed 
wieder an ven preußiſchen Landtag zu gehen, zumal eine dem Reichstag über 








Rußland. 956 


machte Denkſchrift des Yinangminifters v. d. Heydt Tonflatirt hatte, daß dad Defieit 
km preußiſchen Büdget für 1870 noch bebeutenber fein werde als das fir 1869, 
und vielleicht auf 10 bis 11 Millionen anfteigen könnte mas indeß (At. 1869) 
nit der Fall. if. Die ungänftige Aufnahme aller Finanzprojekte des Minifters 
v. d. Hegbt hatten im Dftober deſſen Ausſcheiden zur Folge und die Ernennung 
des Präfidenten der Seehandlung Camphanſen zum Finanzminiſter, der es 
iofort Mar machte, daß ein wahres Deficit nicht vorhanden ei. 

Die Anforderungen an die innere Politik Preußens, vie fi ans feiner 
eigen Stellung ergeben, find oben S. 503 f. beſprochen. 9. Samdes. 


Rußland. 
(Nachtrag zu Band VIII S. 753 ff.) 


Der Krimkrieg hat Rußlaud nicht geſchwächt, ihm felbft in derjenigen Be⸗ 
jiegung, in welcher es durch ven Parifer Frieden aufs beftinnmtefte und ausdrück⸗ 
ihfte geſchehen follte, in feiner maritimen Stellang im ſchwarzen Meere, nur 
heinbar gewiſſe Schranken gezogen; feine Stellung zur Pforte und allen den⸗ 
enigen Fragen, vie man unter dem Namen ber orientalifhen Frage zuſammen 
u faffen pflegt, ft im Grunde nad wie vor biefelbe geblieben. Seine Hoffnungen 
md Pläne find damals nur durchkreuzt und momentan gehemmt, feine Ausfichten 
ber für eine Wſung in feinem Sinne kaum verändert worden. Dagegen hat 
ener Krieg die tiefen Schäden und Gebrehen, bie militäriſche Schwäche bes 
ewaltigen Reichs felbft dem bloͤdeſten Auge bloß gelegt, der Präponderang des⸗ 
elben in Europa, die durch nichts gerechtfertigt war, vorerft ein Ende gemadt und 
tegierung und Bolt auf fi felbft zurädgeworfen und gezwungen, flatt ben aus⸗ 
ärtigen Ungelegenheiten und dem verjchlungenen Intrigenfpiel der europäifchen 
Diplomatie zunächſt ber Innern Entwidelung des Staats, wo noch fo viel, fafl 
iöchte man fagen, alles zu thun war, ihre Aufmerffamkeit und ihre Kräfte zu 
»idmen. Die Gemüther ver Nation waren dazu vorbereitet und alles reif zu einem 
lmſchwung, zu bem ber Tob des Kaifers Nikolaus nur das Signal gab und ven 
ud er nicht zurädsuhalten vermocht haben würde, felbft wenn er Kinger gelebt hätte. 
sein Nachfolger Alexander II. ging fofort nad allen Seiten mit dem beften Willen 
nd nit ohne eine Energie, die man ihm kaum zugetraut hatte, auf die Bewegung 
n, ſobald ex feiner nädften Wufgabe, ven Krieg ehrenvoll und mit den mögliäft 
eringen Opfern für das Neid zu Ende zu bringen, genügt hatte. Das innere 
'egterungsfuftem,, wie es unter Nikolaus und zwar in fcheofffter Weiſe in Au⸗ 
endung gebracht worben war, konnte fo ziemlidy in feiner Richtung mehr auf⸗ 
ht erhalten werden und wurde denn aud von Aleranver vollfländig fallen 
lafien zur großen Befriedigung ber dffentlihen Meinung, in der jedoch die ver- 
yiedenartigften Anfhaunngen und VBeftrebungen meift in fehr unreifer und vor 
ft noch fehr geftaltlofer Weiſe fo durch einander mwogten, daß ber Kalſer wicht 
ran denken fonnte, auch wenn er es gewollt hätte, was übrigens kaum wahr« 
yeinlich ift, ſich von ihr weſentlich beftimmen oder gar leiten zu laffen, ſondern 
ndthigt war, ſelbſt feine Bahn zu fuchen. 

Mit dem Anfange des laufenden Iahrzehents begann vie Reformthätigfeit bes 
ılfers. Am 28. Ianuar 1861 entſchied ſich der Reichsrath unter feinem Borfige für 
e von ihm beabfichtigte durchgreifende Aufhebung der Teibeigenfhaft. 
m 3. März desjelben Jahres erſchien der Ukas, ver bie große Maßregel be- 
gelte. Durch veufelben erhielten die bisher an die Scholle gebundenen Leibeigenen 


956 Nachtrag. 


zunächſt gegen zum voraus beſtimmte Abgaben bie volle, unabhängige NRupnıieiunz 
ihrer Gehöfte, im fernexen aber das Recht, jene Abgaben abzulöfen, und baburd 
freie Eigenthümer zu werben. Die gehofften Refultate viefer Maßregel finb Eis 
jest nicht eingetreten. Ein großer Theil der früheren Leibeigenen hat bie new 
Freiheit nicht dazu benägt, um nun, weil für fi felber, mehr, fondern um 
weniger zu arbeiten und fih mit dem Müffiggang noch mehr als bisher ver 
Leidenſchaft für ven Branntwein zu ergeben. Die Theurung der legten Jahre, tie 
fih in einzeinen Thellen des Reichs bis zur Hungersnoth fteigerte, rührt jebenfalls 
bis zu einem gewiflen Grave auch daher. In Wefteuropa ift man von bem 
früheren Einfall, in dem Kommunismus der ruffifhen Dorfgemeinden ein neues 
fruchtbares Princip der Zukunft fehen zu wollen, nachgerade entſchieden zurüd 
und vielmehr zu der Einſicht gelommen, taß die wirtbfchaftlihe Entwickelung 
I ra vor allem durch Abſchaffung gerade diefer Einrichtung gefördert werbru 
mäpte. 

An die Smancipation der Leibeigenen ſchloß ſich durh den Ukas vom 
10. Oft. 1862 eine neue Organifation bes Iuftizwefens, nad} weldyer bie 
richterlihe Gewalt fi von den Yyriedensrichtern uud den Berfammlungen der Friedens 
richter durch Bezirksgerichte und Gouvernementsgerihtshöfe bis zum birigirenben 
Senat aufbaute, wobel der legtere bie Stelle eines Kaffationshofes einnahm. Das 
Berfahren follte durchweg ein öffentliches und größtentheils and mündliches, die 
Stellung der Richter aber daburd eine unabhängige fein, daß fie fowohl umet- 
fegbar als unverfegbar waren. Als dritte Mafregel kam dazu durch Ukas vom 
21. Jan. 1864 die Einführung von Kreis» und Provinzialvertretungen 


im ganzen eigentlichen Rußland, alfo Bolen und feine früheren Annerien, die nun | 


mehr fog. weftlihen Gonvernements, Finnland und bie Oflfeeproninzen ausgenommen. 
Die Selbfiverwaltung der Diftritte und Gouvernements erhielt dadurch wenigſtent 
gefeetich eine fehr breite Grundlage — die Provinzialvertretungen over Gubernial- 
buerfammlungen, wie fie heißen, find zur Hälfte aus Vertretern des größeren 
Orunbbefiges, zur anderen Hälfte aus Vertretern der Städte und Landgemeinden 
zufammengefegt, die Zahl verfelben fleigt für einzelne Gouvernements bis auf 
hundert und ihre Ausſchüſſe oder Landämter werben von den Berfammiungen 
jelbft gewählt, deren Kompetenz eine ziemlih ausgedehnte ift — wie weit es that 
fählih der Fall fein mag, ift ſchwer zu beurtheilen. Die ganze Organtfation wie 
biejenige der Iuftiz ift feither ins Leben geführt worden nnd überall im Gange. 
Die Emancipation der Leibeigenen wird wenigftens formell ala gänzlich burd- 
geführt betrachtet. Der Adel hat durch diefelbe materiell fehr weſentliche Einbußen 
erlitten, fcheint fih jedoch überall ziemlich gutwillig in bie neue Lage gefügt zu 
haben. Gewiffermaßen als Entſchädigung verlangte er dagegen hie und ba mad 
Einführung einer Tonftitutionellen Reichsverſammlung, in ber er die nothwendige 
Ergänzung der bisher gewährten Einrichtungen erkannte; namentlih war dies 
von Seite der Bertretungslörper von St. Petersburg und Moskau der Fall Ber 
Kaifer war gemöthigt, fie momentan aufzuldfen und entfchieben in ihre Schrauken 
zurädzumelien. Offenbar if e8 dazu noch viel zu früh. | 
Domit gingen nicht minder bedeutende Reformmaßregeln auch in ben übrigen 
Theilen des Reis außer dem eigentliden Rußland Hand in Hand. Schon am 
10. April 1861 leitete ein Manifeft des Kaiſers die Wieberherftellung der fräheren 
Verfaſſung Finnlands ein, indem berfelbe wenigftens den Zufammentritt eines 
Ausfchufies von Männern ‚aus den vier Ständen des Landes geftattete, bis a 
bie Zeitverhältniſſe für die Einberufung ver Landſtände ſelbſt geeignet fände. Die 





Rußland. 957 


Maßregel befrienigte in Finnland nicht ganz und der Kalfer fah fi veranlaft, 
noch am 24. April wenigftens die Befugniffe jenes Ausfchuffes weiter, als er 
urſprünglich beabſichtigt hatte, auszubehnen. Im JIannar 1861 trat der ſtändiſche 
Ausſchuß zufammen und bereits am 18. Juni 1863 flellte ein Ukas des Kalfers 
die finnifhe Berfafjung von 1772 wieder ber und berief auf den 15. Sept. des- 
felben Jahres den Landtag ein, weldyen der Kaiſer perfönlich erbffnete. Im Ianuar 
1867 trat der Tandtag zum zweitenmal zufammen. Was verfelbe in Ueberein⸗ 
ſtimmung wit der dffentlihen Meinung des Landes wünfchte, war eine andere 
Zuſammenſetzung flatt der 4 Stände, die inzwiſchen auch in Schweben gefallen 
waren, und alljährlicher Zufammentritt. Auf dieſe Wünſche ift die Regierung bis 
jeßt nicht eingegangen. Dagegen wurde. um ven ihr mißfälligen Gebraud ber 
ſchwediſchen Spradhe zu verbrängen, ſchon im Februar 1865 das Finniſche als 
officielle Landesſprache anerkannt und verorbnet, daß alle Beamten, Lehrer u. f. w. 
fi) derfelben vom Jahr 1872 an zu bebienen hätten. 

Schwieriger war es, die Bolen zu befriedigen *). Dennoh wurde aud 
tiefer Verſuch gemadt, hatte aber ſowohl für fie als für Rußland felbft verhäng- 
nißoolle Folgen. Wenn man billig fein will, fo wird man zugeftehen müſſen, vaß 
Rußland nit daran denken konnte, den Wunſchen der Polen vie vollen Zügel 
{hießen zu laſſen, da biefe nicht bloß dahin gingen, bie Berfaflung von 1815 
für das damals Tonftituirte Königreich Polen, fondern dieſes, fowie es vor der 
erften Theilung beſtanden Hatte, wiederhergeftellt zn fehen, alfo auch vie von Ihm 
losgeriffenen, dem eigentlichen Rußland einverleibten und nur zum Theil polniſchen 
Souvernements und ebenſo die an Defterreih und Preußen gelangten Theile mit 
dem Königreich wieder zu vereinigen. Die unausweichlidhe Folge der Begünſtigung 
folder Beftrebungen wäre in erſter Linie die gewefen, Rußland mit Defterreid 
und Preußen zu verfeinden, in zweiter aber die Polen auch von Rußland loszu⸗ 
reißen ober ihnen doch eine Seldftänbigleit zn fihern, die von einer Losreißung 
nur dem Namen nad fi unterſchieden hätte Mit anderen Worten, Rußland 
befand fi im Jahr 1861 den Wünfchen der Polen gegenüber genau in berfelben 
Lage, In der fi Defterreih heute gegenüber ven Wünfchen und den lebten Zielen 
der galizifchen Polen befindet. Was Rußland damals wie Defterreich heute den 
Polen gewähren konnte und gewähren wollte, war nur eine bebingte Selbſtändig⸗ 
feit, fo weit fie eben möglich ſchien, ohne den ruſſiſchen Intereflen zu nahe zu 
treten, im Gegentheil geeignet fein mochte, diefe zu fördern, indem fie an bie 
Stelle des Gegenſatzes und fomit der Schwäde für Rußland eine Berfländigung 
unter dem Gefihtspunft ber höheren Einheit, derjenigen der gemeinfamen ſlaviſchen 
Rafle, zu fegen verfuchte. Die Polen waren jedenfalls nicht berechtigt, von Ruß- 
land mehr zu forbern over mehr zu erwarten und ebenfo iſt man aud kaum 
beredtigt, anzunehmen, daß jener Verſuch nicht vor 1863 von Kaiſer Aleranber 
und feiner Regierung in befter Abfiht und mit aufrihtigem Willen unternommen 
wurde, wenn er auch durch die Ereigniffe von 1863 vollkommen fcheiterte und 
ſeither in das gerade Gegentheil umgeſchlagen Bat. 

Der Gang der Ereigniſſe kann hier nur kurz angedeutet werden. Am 
23. März 1861 wurde ber verhaßte Direktor bes Innern in Warſchau, ver 
Auffe Muchanoff, die eigentliche Seele des Polizeiregiments, das bisher Über Polen 
gewaltet, entlaffen und trat der Markgraf Wielopolski, ein geborener Pole, 
ber aber ganz auf die Intentionen der ruffifchen Regierung für Polen mit ben 


*) Bol. den Artikel „Polen“ In diefem Nachtrag, 


958 Nachtrag. 


oben angebenieten für Rußland abfolut gebotenen Ginjhränkungen zuus i 
einging, in bie dortige Regierung ein und zwar zunächft ale Ehef ms 
bepartements zugleich aber auch für basjenige des Kultus uub IEzeterziies. 
ſpeciell für ihn und zu Befriedigung der bereiitigten nationnlem zum 
Anſprüche ver Polen von dem Inneren, mit dem es bisher veriigt game: 
ausgefhieden wurde. Nur drei Tage nachher, am 26. März 1551 wuwee ı 
talferlien Utas den Polen die Wiederherſtellung des freilid mächt gemü 
fondern vom Kaiſer ernannten Staatsraths, zugleich aber die GErzüchten 
wählbaren Subernial- und Kreisräthen und von wählbaren Muntcipuiuikfben n 
ſtens für die größeren Städte, zugeftanden. Es war bies ein Nufmueg wen ı 
weniger als werthlofen Eonceffionen, vie aber bie Bolen um fo zuemiger ı 
bigten, als die rufſiſche Regierung gleichzeitig bemäßt war, bie Zege = 
fchärfer anzugichen, ba vorandgegangene wiederholte Unruhen in Bacher 
entgegenfommenden Schritte keineswegs als ganz freiwillige hatten erfdipeimr di 
Eine Reihe von Repreſſivmaßregeln verbitterte (April 1861) die Geimama: 
Warſchau mußte der Andrang der Bollsmaflen gegen das Shlog des 
halters wiederholt vom Militär zurüdgetrieben und fhlieglih eine Reihe won 
figtömaßregeln getroffen werben, die dem Belngerungspuflaub fehr zuahe 
Unter diefen Umfländen wurde zwar der neue Staatsrath am 16. Iufi 
exöffuet, dagegen die Wahlen für pie Bubernial-, Kreis- und - 
vorerſt wieder verfhoben. Die Stimmung in Warſchau blieb eine fer ang 
Demonftration felgte dort in ächt polniſcher Weiſe anf Demonfiration mb 
Demonftretionen trugen wiederum in fpecififch polnifcher Weife neben Dear 
tiihen Zwed ein Hart lirchliches Gepräge. Schon im April hatte ſich 
zu einem Erlaß gegen die Agitetion der polnifchen Geiftlichleit genöthig: gede 
und im September richtete der gefammte Epiflopat eine Adreſſe an den Ew 
halter, vie in 16 Punkten fehr weit gehende Forderungen forumlirte und des 
Annahme diefer geradezu verweigern zu müffen glaubte. Die Feier des Koh 
tages (15. Oft.) führte zu einem förmlichen Konflikt zwiſchen der Regierung = 
der Kirche: verbotene politifch-religtöfe Lieder wurden in den Kirchen gefasst 
das Militär drang in biefelben ein und räumte fie, worauf ber Generalntei® 
flrator der Erzdidceſe die ſämmtlichen Kirchen der Stadt trog aller Proteßate 
ber Reglerung fliegen ließ. Er wurde verhaftet, einem Kriegsgericht überzie 
und von biefem zum Tode verurteilt; in Kiew wurbe eine allgemeine 
nung angeorbnet, iu Wilng ber Velagerungszuftand verkündet. Wielopolsti vr 
fangte feine Entlaſſung und erhielt fie au, nad St. Petersburg befchieben, © 
Direktor der Juſtiz und des Kultus, fo dag ex vorerſt nur feinen Sig im Stat U 
rath behielt. Das Jahr 1861 ſchloß ſchon in einer gegenfeitig fehr verbittat® 
Stimmung. Der Kaiſer begnadigte zwar zu Anfang 1862 ben zum Tode dr 
urtheilten Adminiſtrator der Erzdiöceſe Warſchau und ernannte einen einfuht 
Priefter, der bisher in St. Petersburg gelebt hatte, zum Erzbifhof won Workde 
das Domtapital ließ fih die Wahl gefallen und die Kirchen wurden wie 
geöffnet; aber der Adminiſtrator wurde dod in Haft behalten, mehrere anttr 
Warſchauer Geiftlihe wurden zur Deportation abgeführt, der kirchliche Gegerſeh 
blieb, bie verbotenen Lieder wurben immer wieber in den Kirchen gefangen ut 
wiederholt deshalb Verhaftungen felbft in diefen vorgenommen (Mat 1862). 
Der Kalfer gab trotzdem die Hoffnung nicht auf, ſich mit dem Polen m ' 
verfländigen. Im April waren ber Statthalter General Lüders und Wicopaf I 
nad St. Petersburg gegangen, um ihre verſchiedenen Anfchauungen über bie I 






















“ Rußland. 9% 


"en iititen erforderliche Regierungspolitik an höchſter Stelle zu vertreten. Der Kaiſer 
Fer zug, noch einmal auf Seite des legteren und ernannte am 11. Juni 1862 feinen 
de De Akten, ven Großfürſten Konftantin zu feinem Statthalter in Polen, 
reden elopolstt zum Chef der gefammten Einilverwaltung und zum Bicepräfidenten des 
MA ie miſchen Staatsrathes. Am 28. Juni eröffnete derfelbe die Iahresfeffion des Gtants- 
„A Khs mit der Ankündigung zahlreicher Reformen; am 4. Juli wurben drei feiner 
lng ⸗ rätgliever an die Stelle ruſſiſcher Generale zu Eivilgouverneuren ber Provinzen 
zegli aryauınt, fo daß nummehr fanmtliche fünf Gomverneurftellen mit eingeborenen 
wählen len befegt waren; am 5. Juli verkündete der Großfürſt Ronftantin felbft dem 
der inaknatsrathe vie bevorſtehende Eröffnung ber Kreisräthe als „Anfang der Ber- 
die Fa iberumgen in ber Eivilverwaltung auf Grundlage der Einigkeit ver Negierung 
kei mit dem Lande“. Am 27. Aug. verhieß der Großfürſt in einer Proklamation an 
holte Int Polen weitere Reformen unter Aufzählung alles deſſen, was bereits in Aus⸗ 
einig aihrung gebracht werben ſel. Allein alles was Rußland that, entfprady nur wenig 
Ir psy am viel weiter gehenden Wimſchen und gar nicht dem letzten Zielpunften der 
ga olen und fiel baber auf ein fehr fleiniges Erdreich. Schon am 27. Juni war 
Aigigafn Attentat gegen ben bamaligen Statthalter General Lübers erfolgt, am 8. Juli 
por ein ſolches auch gegen deu klaum in Warſchau angelangten Großfürften Kon- 
Sieg antin verfucht worken und am 7. und 15. Aug. folgten Ihnen zwei ambere auf 
Ins Bielopoloti. Am 13. Sept. beſchloß eine von Orafen Andreas Zamoysti ver- 
u igmpufaltete Adeloverfammlung eine Worefie an Wielopolsfi, in welcher eine ans 
ai ahlen entſtandene Vertretung des geſammten Landes mit. freier Diskuffion über 
er gpie Bebärfniffe desfelben, fo wie die Wiebervereiuigung ber ehaft zu Polen 
bie hörigen, jest aber Rußland einverleibten Provinzen mit Polen gefordert wurde. 
it nd legteres Begehren fand in dem polniſchen Adel biefer Provinzen lauten 
FBieverhall: am 1. DM. 1882 beſchloh die belöverjammiung Podoliens ein- 
- ftimmig, im Dec. bie von Minsk in Litthauen faft einftimmig, In Adrefſen an 
35 den Kaiſer die Bereinigung mit Polen zu verlangen. Soweit konnte und wollte 
DE yußland wicht gehen: Graf Zamoysti wurse anf Reifen ins Ausland geſchin 
Hat, b. verbannt, jene Abelsverfammlungen aufgelöst. 
5 h Die Stimmung war Ende 1862 bereits eine revolutionäre; durch die Rekru⸗ 
we tirung, die im Januar 1863 flattfand, wurbe ber Ausbruch herbeigeführt. Die 
J Regierung hatte alle Vorbereitungen getroffen, daß die ländliche Bevölkerung von 
dieſer Maßregel möglichſt verſchont, dagegen bie unruhigen Elemente ver Städte 
159 um fo ſchwerer heimgefucht und unfchäptid gemacht werden ſollten. Die Maßregel, 
J willkürlich und gewaltſam, aber dem bisherigen Syſtem entſprechend und den 
#8 beſtehenden Gefegen nicht widerſprechend, kam am 14. Januar zur Ausführung 
2Y und wurbe fofort das Signal zu förmlicher Empörung. Am 22. konſtituirte fich 
3 in Warſchau eine proviſoriſche Nationalregierung, welde fofort dur Proflamation 
ve die Nation zn den Waffen rief und Mieroflawsti zum Diktator ernannte, 
:% Allein zwei Defrete biefer Nationalregiefung zu Gunften der bäuerlichen Veſitzer, 
"# durch welche vie Bevölkerung im Großen und Ganzen für die Erhebung gewonnen 
# werben follte, blieben ohne Erfolg und machten nur geringen Einprud auf bie 
°F Bauern, Mieroſlawski wurde noch im Januar von ben Nuffen gefchlagen, ergriff 
pie Flucht und Hatte damit feine Rolle fchnell ausgefpielt, An feiner Stelle erhob 
# fig ein anderer Infurgentenführer Tangtewicz, ver fi felbft zum Diktator 
cerllaͤrte, aber gleichfalls nicht zu halten vermochte, ſondern fehon im März gendthigt 
”  fah, nach Defterreich Überzutreten, wo ex interniert wurde. Die ganze Bewegung 
bdermochte nirgends feflen Fuß zu faflen, ſich nicht zu einer machtvollen, natior 


I 
H 


960 Nachtrag. 


nalen Erhebung zu geſtalten, ſondern blieb eine bloße Inſurrektion, freilich eine 
ſehr allgemeine über einen großen Theil des geſammten Königreichs hin und 
machte auch fo den Ruſſen lange und viel zu ſchaffen, bevor fie vollſtändig unter- 
drüdt werden konnte, wobel ihnen Preußen vie weientlihftien Dienfte leiftete, wenn 
andy die am 8. Wehr. 1863 mit vemfelben abgefchloffene Konvention von Preußen 
felber nicht ausgeführt und ſtillſchweigend wieder fallen gelaffen wurbe, um fid 
nit Frankreich mit England und Defterreih auf den Hals zu laden. Die Zwecke 
Rußlands und Preußens wurden übrigens doch erreicht und die Thatfache newer: 
dings Tonftatirt, daß ohne die aktive Theilnahme Preußens Rußland nit wirkſam 
beizulommen if. Der urfprünglide Plan Frankreichs, die Spige der Koalition 
gegen Preußen zu Tehren, wurde durch England vereitelt, aber and gegen Ruf- 
land fam es zu keinem aktiven Borgehen, ba England nicht über diplomatiſche 
Demonftrationen hinausgehen wollte und Oeſterreich nur fehr bedingungsweiſe ſich 
den Weftmähten anſchloß. So führte denn ver biplomatifche Feldzug zu gar 
feinem praltifhen Refultate und nahm ein fehr klägliches Ende, lediglich geeiguet, 
das Nationalgefühl ver Ruffen zu flärken und ihnen eine Zuverſicht einzufläßen, 
die an ſich keineswegs berechtigt iſt. Inzwiſchen war bie polniſche Inſurrektion, fe 
weit fie fi in offenem Felde zu zeigen wagte, ſchon bis Mitte bes Tahres 1863 
unterbrädt und bis Ende desfelden aud die geheime, fchleichende, nur bie unb 
da faßbare größtentheils ausgetreten: fchon am 26. Januar war ber Belagerungs- 
zuftand über Warfhau und bald Aber das ganze Königreich verhängt worden, 
am 30. März wurbe ber geflrenge General Graf Berg zum adlatus des Grof- 
fürften Statthalters ernannt, am 13. Juni ber Erzbifhof von Warſchau nah 
St. Petersburg berufen und dort feftgehalten, am 7. Juli Wielopolgfi entlaflen, 
am 31. OK. auch der Groffürft-Statthalter abberufen, am 30. Dec. eine oberfle 
Landespolizei » Berwaltung gefhaffen und im firengften Zufammenhange über das 
ganze Land Hin in der Art organifirt, dag ihre felbft die Militärchefs der Gu- 
bernien ſowohl als der einzelnen Kreife untergeorbnet wurben, bis e8 1864 mehr 
und mehr gelang, ber geheimen Infurreftion, die duch Angſt and Schreden zu 
wirken fuchte und mit Dolch und Strid operirte, den Hals vollends zuzuſchnüren 
und felbft die letzte Hoffnung der Berzweiflung zu’ erfliden. 

Kluger Weife hatte fi) die geheime Nationalregierung [don Anfangs Mär 
1863 gegen eine Ausdehnung ber Infurreltion auf die polniſchen Provinzen Defter- 
reih8 und Preußens ausgefprodhen; dagegen wurde biefelbe fofort auch auf bie 
fogenannten weftliden Gouvernements Rußlands, vie früher zu Polen gehört 
hatten, auf Litthauen, Volhynien, Podolien und die Ukräne ausgenehnt und ſprach 
es der Erzbiſchof von Warſchau bereitd am 15. März offen aus, daß „Polen ſich 
nit mit einer Berwaltungdautonomie zufrieden gebe, fondern bes politifcgen Lebens 
einer unabhängigen Nation bebürfe, vie nur durch das Band ber Dynaſtie mit 
Rußland verbunden fei und daß das bie einzige Löſung fet, welche dem Blut⸗ 
vergießen Einhalt zu thun und bie Grundlage einer definitiven Beruhigung des 
Landes zu ſchaffen vermöge". Anfangs und fo lange es möglich fchien, bie Sofen 
burch eine bloße Berwaltungsautonomie, follte diefe au noch jo weit gehen, zu- 
frieven zu ftellen, hatte bie liberale Strömung in Rußland felber mit den Polen 
aufs entſchiedenſte fympathifirt und in der Sade der Polen vielfach ihre eigene 
erkannt. In den oben genannten DRomenten lag jevod bie Urfache eines voll- 
tommenen Umſchwungs ver Öffentliden Meinung in Rußland, ber bis heute die 
Grundlage der dortigen politiſchen Zuſtände geblieben if. 











Rußland, 961 


Den entfheidenden Einfluß auf dieſen Umſchwung äußerte namentlich ber 
Berſuch, jene ruffifhen Sonvernements, in denen nur der Übel und ein Theil 
der ſtädtiſchen Bevölkerung ver polniſchen Rafle und dem Kathollciemus, der 
größere Theil der ländlichen Bevolkerung dagegen dem ruffifhen Stamme und ber 
griechiſchen Kirche angehörte, zu Infurgiren, von Rußland loszureigen und wieder 
mit einem von Rußland wefentlih ganz unabhängigen Polen zu vereinigen. 
Wirklich bildete fih im März 1863 auch in Litthauen (Wilna) eine geheime 
polnifche Nationalregierung und brad die Infurreftion im Mai dieſes Jahres 
auch in Podolien, Bolhynien und der Ulräne aus, Die Rüdmtrkung auf bie 
öffentliche Meinung in Rußland war eine geradezu draſtiſche, bie bisherige Sym- 
pathie mit den Polen und ihren Veflrebungen warb dadurch mie abgejchnitten, 
bie Ruflen wurben dadurch wie mit Gewalt ihrer Regierung in die Arme getrieben, 
ſelbſt jedes Mitleid mit ven Polen und allen, die mit ihnen halten mochten erftidt. 
Jetzt fühlte fi die ruffiihe Regierung von der Strömung ber öffentliden Mei⸗ 
nung ihrer Nation und zwar von einer gewaltigen Strömung, bie fie eher zu 
zügeln als anzuftaheln in der Lage war, getragen und hatte zu allen Maßregeln, 
zu denen fle nur immer greifen mochte, um jene Provinzen Rußland zu erhalten 
und die polniſche Infnrreltion, die Quelle aller Gefahr, in jeder nur denkbaren 
Weile zu untervräden, freie Hand. Und fie machte davon Gebrauch. Bon biefem 
Moment an fchlug ver Wunfh, vie Polen zu befriedigen und zu gewinnen, in 
fein gerades Gegentheil, In das Beſtreben um, fie im fogenannten Königreich 
Polen um jeden Preis nieberzumwerfen und für immer unfhäplih zu machen, In 
ben fogenannten weftlihen Bouvernements aber geradezu auszurotten. 

Die erſte politiiche Maßregel Rußlands Següglih ber genannten ruffiſchen 
Gouvernements war, daß zuerft, im März 1863, für Litthauen, dann, im Auguft, 
auch für Podolien zc. die fofortige Emancipation der Bauern dekretirt und bie 
Entſchadigung der polnifhen Gutsbefiger duch die meift ruffifhen Bauern in 
einer Weiſe der Regierung in die Hand gelegt wurde, daß das polnifche Element 
materiell fortan in die vollſte Abhängigkeit von ihr gerathen mußte. Die Hoff 
nungen ber Polen auf dieſe Gouvernements wurde dadurch von Rußland fehr 
geleiet im Keime erftidt, und bie Infurreltion biente lediglich dazu, den polnischen 

del zn kompromittiren und ber Regierung das Meſſer gegen ihn in die Hand 
zu brüden. Am 14. Dat wurde General Murawiew zum Gouverneur ber 
fogenannten nordweſtlichen (ehemals litthauiſchen) Provinzen ernannt und derſelbe 
ergriff Tofort die Änfßerften Maßregeln, um die Infurretion in dem ihm anver- 
trauten Gebiete zu erftiden. Die Bauern wurden von ihm gegen ben aufflän- 
bifhen polniſchen Adel bewaffnet, auf jeden Kopf besfelben ein Preis von 3—5 
Rubel geſetzt und die Aufgegriffenen Binnen 24 Stunben erfhoffen. Katholifche 
Priefter und öfter wurden nicht nur nicht geſchont, ſondern als bie geheimen 
Schlupfwinkel der Inſurrektion mit doppelter Strenge behandelt, die Güter des 
höheren Übels, wenn er au nur bie „Tendenz“ verrathen hatte, die Gewalt der 
Regierung umzuftürzen, mit Sequefter belegt (8. Iunt), die Grundſtücke des nie 
beren Adels und ber fogenannten Einhufner, vie vormals zum niederen Adel gehört 
Batten, benfelben (30. Juni) fofort abgenommen und den Fleinen Bauern und 
Zaglöhnern zur Benugung übergeben, allen aber eine willfürliche Steuer von 
10 Procent des Bruttoertrags zu Bezahlung ber Inſurrektionskoſten (25. JIunt) 
auferlegt. In Folge folder Mittel konnte Muramiew fon am 15. Oft. 1863 
die Infurrektion in feinem Bezirk für völlig unterdrüdt erflären. In den fop 
nannten fühweftlihen Provinzen wurden, dem Beiſpiele Murawiews folge 

Bluntſchli und Brater, Deutſches Stante-Wörterbud. XI. 61 


962 Nachtrag. 


ahnliche Maßregeln mit ähnlichem Erfolge ins Werk geſetzt; bis Ende 1863 war 
auch dort die Inſurrektion gänzlih unterbrädt. Die öffentlide Meinung in NRu# 
land verſchluckte, um uns fo auszubräden, das entſetzliche Syſten — der Zırd 
ſchien die Mittel zu rechtfertigen — damals und feither. 

Es kam Rußland zu Gute, daß um diefelbe Zeit (Ende 1863) tn Folge dei 
Todes König Friedrichs von Dänemark die ſchon fo lange fhwebende fdhleswiz- 
holſteiniſche Frage endlich zur Erledigung fommen mußte und daß fi Darans 
auch die Löſung der dentfhen Frage im Jahr 1866 entwidelte. Sicher nur mit 
Rückſicht auf die Zuftände in Polen und deſſen ehemalige Auneren verzichtete 
es damals anf die Geltendmachung feiner holſteiniſchen Anſprüche thatfächlich, wem 
auch nicht formell zn Gunften Preußens und willigte nur aus benfelben Gruͤuder 
in eine Löſung ber deutfchen Frage durch Preußen, wie fie den Interefien Ruf: 
lands nicht entfprad und niemals eutfpreden kann. Nur darum ſteht es and 
ſelther mit Preußen zwar nicht in förmliher Allianz aber doch in einer Un 
Entente cordiale gegen Frankreich, bie jedenfalls Defterreih von einer Mllien 
mit Fraukreich durch die Drohung zurädhält, in einem folden Falle fofort die 
orientalifide Frage in die Hand zu nehmen. | 

Im Königreich Polen waren Ende Januar 1864 bereits wieber alle geborenen 
Polen von den Oouverneuräftellen entfernt; im December hatten auch ſämmtliche 
Abtheilungen ver Regierung in Warſchau, fowie die Oberrechnungskammer, bie 
Bank, die Cenſur wieder ausnahmslos ruſſiſche Chefs, im März; 1865 wurte 
au in ven unteren Beamtungen aufgeräumt und hatten unter ben bisheriger 
Beamteten polntiher Nationalität maffenhafte Entlaffungen ftatt. Erſt am 17. Fehr. 
1866 wurde ber Belagerungszuftaud aufgehoben. Dafür trat im Juni Mi- 
lintin, der Bruder des Kriegsminifters, als Minifter für bie polnifchen An⸗ 
gelegenheiten in St. Petersburg ein und Fürſt Ezerlasli an die Spige ber Regie 
rung in Warſchau: beide arbeiteten Hand in Hand an der Ruffificirung, fo weit 
fie nur immer möglich war; ihre rüdfihtslofe Energie kannte keine Hindernifle. 
Jener wurde zwar bald ſchwer frank und mußte noch in vemfelben Jahre entlaffen 
werben, worauf auch diefer feinen Abſchied erhielt. Die Ruſſificirnng ſtand aber 
darum nit fill. Alles war bereits für den Schlußftein reif gemacht. Noch am 
31. Dec. desfelben Jahres erließ der Kaifer 3 Ulafe, welde die völlige Einver: 
lelbung Polens in Rußland vorbereiteten, namentlich wurben bie bisherigen fünf 
in zehn Gouvernements mit 85 Kreifen zertheilt und dadurch im wefentlichen ganz 
biefelbe Eintheilung wie im eigentlichen Rußland bergeftellt. Am 26. März 1867 
wurde die Einverleibung durch kaiſerlichen Ukas förmlich angelünbigt und noch in 
demfelben Jahre mit ſämmtlichen Abtheilungen ver bisherigen Regierung in 
Warſchau bis auf die Kommiſſion des Innern burdgeführtt. Am 13. Juli 1868 
hörte auch dieſe auf und waren nunmehr bie fämmtlichen Geſchäfte der bisherigen 
Regierung in Warfhau an die verfhledenen ruſſiſchen Minifterten in St. Betert: 
burg übergegangen. Das Königreih Polen hatte damit auch formell aufgehört zu 

- erifiiren. Es blieb nur der Name und aud biefer nur zum Schein gegenüber 
dem Ausland, für das Innere wurde das Land als die Gouvernementé 
des Weichſellandes“ bezeichnet und felbft aus der Zitulatur des Kalfers 
verſchwand für den inneren Gebraud die Bezeichnung als König von Polen. 
Neben diefer Reihe von Maßregeln Itef eine andere gegen vie katholiſche Kirche. 
Am 8. Nov. 1864 wurden die katholiſchen Mönchs⸗ und Nonnenklöfter bis anf 
einige wenige aufgehoben und die Mafregel am 28. in Einer Nacht im gangen 
Lande zur Ausführung gebradt. Am 26. Dec, 1865 wurden bie katholiſchen 





Nußland. 963 


Kirchengüter vom Staate eingezogen, der Klerus auf Staatsbeſoldung geſetzt, d. 6. 
vom Stante abhängig gemadt. Am 27. December führte eine Scene zwiſchen bem 
rufftfhen Geſandten in Nom und dem Bapfte zum Abbruch der diplomatiſchen 
Beziehungen mit Rom; am 4. Dec. 1866 wurde das Konlordat mit viefem in 
aller Form für aufgehoben erflärt und die Verbindung ver Fatholifhen Kirche 
Polens mit ihrem Mittelpunft am 22. Mat 1867 durch kaiſerlichen Ulas dahin 
geregelt, daß dieſelbe fünftig durch das fogenannte römiſch⸗katholiſche Kollegium 
in St. Petersburg geſchehen, d. h. auf ein Minimum herabgedrückt werben follte. 
Es gelang dies freilich nicht ganz. In jenes Kollegium follten auch ſämmtliche 
Biſchöfe —* ihre Vertreter ſchicken und Anfangs ließen fich wirklich alle dazu 
herbei. Allein im Jahr 1868 ſcheint Rom Mittel gefunden zu haben, ihnen ein 
Brede zukommen zu laffen, das ihnen dies bei Strafe der Exkommunikation verbot, 
worauf fie fi beeilten, ihre Vertreter wieder abzurufen. Die Folge war ber 
heftigfte Zuſammenſtoß mit Rom. Heute ift die Lage die, daß bis auf zwei 
fämmtlihe Bifchofsfige Polens verwaist find, indem ihre Inhaber von der Regie- 
rung gewaltfam aus ihren Didcefen entfernt und ins Innere Rußlands interntrt 
worben find. Gleichzeitig wurde das höhere Unterrichtsweſen möglichſt ruffificirt 
und dem Syſtem neneftens (Juli 1869) damit die Krone aufgefett, daß befchloffen 
worden ift, die. Warſchauer Univerfität in eine ruſſiſche, natürlich mit vorwiegend 
ruffifher Vortragsſprache, umzuwandeln; in den Bollsfhulen wurde 1868 wenig» 
ſtens das ruffifhe Schulgebet „für den Kaifer und vie heilige orthobore Kirche” 
eingeführt. Der Ausbreitung bes orthoboren Ölaubens warb in den leuten Jahren 
aller nur mögliche Vorſchub und zwar nicht ohne Erfolg geleiftet und bie griechiſch⸗ 
anirte Didcefe Chelm gewaltfam ihres occidentaliſchen Charakters entfleivet, jo 
daß fie fih vom der griechifch- orthoboren nur wenig mehr unterfcheinet. Gegen- 
wärtig gebt das Bemühen ver xuffifchen Regierung dahin, vie polnifhe Sprache 
— gegen bie lateiniſche hat fie nichts einzuwenden — aus ber Tatholifhen Kirche 
Polens zu entfernen und wo immer möglich durch die ruffifche zu erfegen. Rom 
bat aber feine Einwilligung dazu noch nicht ertheilt und wird fie auch kaum er- 
theilen und ohne Nom iſt diefe Maßregel nicht durchzuſetzen. 

Noch ganz anders aber als im fog. Könlgreih Polen war das Borgehen Ruß⸗ 
[ands in den erwähnten norbweftlihen und ſüdweſtlichen Gouvernements, die unter 
befonderen General⸗Gouverneurs vereinigt wurden. Diefe Gebiete betrachteten vie 
NRuflen als urfprängli ruffiſches Eigenthum und den polnifhen bel bier als 
bloße Eindringlinge. Hier galt e8 ihnen denn audy nad 1863 nicht darum, das 
polnifhe Wefen bloß nieberzuhalten, fonbern fie gingen geradezu darauf aus, es 
anszurotten und mit ihm wo möglih aud bie katholiſche Kirhe, um das Land 
wieder vollftändig und in jeder Beziehung rufflfch zu maden. Und in dem General 
Murawiew als General⸗Gouverneur für die fogenannten nordweſtlichen (litthaui⸗ 
ſchen) Gouvernements fanden fie denn auch das rechte Werkzeug für dieſe Zwede. 
Nachdem er bis Ende des Jahres 1863 vie Infnrreition erbarmungslos nieder- 
geworfen unb die fon oben erwähnten Maßregeln gegen die faft ausſchließlich 
polniſchen Grundbeſitzer getroffen hatte, konnte er ſchon Anfangs 1864 feiner 
Negierung melden, daß bereits bei 1500 polnifche Familien nad dem Inneren Ruß- 
lands ausgewandert feien, bie er durch ruſſiſche und griechifcheorthobore erfett zu 
feben wünſche. Obgleich vie polniſche Sprache bis dahin biejenige aller gebildeten 
Elemente feiner Gouvernements geweſen war, führte er doch durch Verordnung 
vom 5. Fehr. 1864 die ruſſiſche als die ausſchließliche Geſchäftsſprache aller Be⸗ 
hörden von feiner eigenen Kanzlei bis zu ben unterfien Stellen und zwar bei 


61? 


964 Nachtrag. 


Strafe gegen Zuwiderhandelnde ein. Um ver polniſchen Sprache ven Athen p 
entziehen, wurben am 21. April einfach alle polnifhen Buchhandlungen und Bud- 
drudereien außer Betrieb gefett. Daneben gründete ex ruffifhe Volksſchulen fi 
das (ruſſiſche) Landvolk und Begünftigte den MWebertrit von ber Tatholifchen za 
griechiſchen Kirche, der denn auch zahlreich erfolgte. Neue katholiſche Kirchen unt 
Kapellen durften nicht gebaut, ſchadhafte nicht reparixt werben ohne fpecielle Er- 
laubniß und mit diefer hatte es wenigftens feine Eile. Sein Spflem Tannte fein 
Erbarmen. Ein katholiſches Dorf, in dem ein ruffiſch gefinnter Einwohner ermerbe 
worden war, wurde am 19. Inni vom Militär dem Erdboden glei gemacht. 
Die ruffifche Regierung war mit dem Spftem einverftanden. Uber der 

den es nad außen machte, veranlafte doch, daß Murawiew im Jahr 1865 umter 
Erhebung in den Grafenftand abberufen und durch General Kaufmann erfegt 
wurde. Noch tm December vesfelben Jahres erfolgte der entſcheidenſte und 
ſchwerſte Schlag gegen das polniſche Element. Durch kaiſerlichen Ukas vom 
22. Dec. 1865 wurde „Berfonen polnifher Herkunft” verboten, Güter in ven 
9 fogenannten weftliden Gonvernements neu zu erwerben und allen VBefigen 
von Gütern, die wegen Thellnahme an der Iufurzeltion von 1863 fequeftrit 
worden — und faft der ganze Übel hatte fid} mehr oder weniger daran bethefligt, 
Murawiew aber dafür geforgt, daß Feiner, der fih auch nur im mindeſten be 
theiligt hatte, ohne Beſchlagnahme davon gelommen war — geboten, biefelben 
biunen zwei Jahren Rufien oder Deutfchen zu verlaufen. Die Mafregel war um 
fo härter, als die meiften biefer polnifhen Gutsbefiger, im Auslande fllichtig, 

teinerlet Gelegenheit Hatten, den gezwungenen Verkauf aud nur zu bewerkftelligen. 

Umfonft fuchte die ruſſiſche Regierung Käufer Eelzutreiben. Bis auf einige wenige 

gingen daher die Güter mit Ablauf der Frift am 22. Dec. 1867 in ihre Hände 

über. Auch ſeither gelang es ihr nur, wenige, meift durch Zerſchlagung, anza- 

bringen; eine Anzahl fchenkte fie geradezu an ruſſiſche Generale, wie dies aud in 

Polen geihehen if. Und doch war felbft das noch nidt bie färkfte Maßregel. 

Am 20. Juli 1868 erging von dem Gouverneur der norbweftliden Gonnernements 

ber Befehl und wurde im Auguft aud anf die ſüdweſtlichen ausgedehnt, dag bie 


polniſche Sprache fortan auf den engften Familienkreis eingefchräntt werben mäfle 


und daß auf der Straße fowie in allen öffentlichen Lokalen, Wirthshäuſern, Cafée, 
Theatern zc, nur ruſſiſch gefprodhen werben bürfe und zwar bei Vermeibung einer 
Strafe, pie von der Polizei ganz willkürlich bemefien wird, je nad ben Be: 
mögensverhältniffen des Kontravenienten, aber immer fo, daß fie für ihn empfin- 
lich ſei. Die volle Durdführung eines folchen Erlafſes tft freilih unmöglid is 
einer Stadt wie 3. B. Wilna, wo der größte Theil der Bevölkerung nicht ruffiid 
und ein fehr großer Theil nur polniſch ſprechen kann; aber fo weit es möglld 
ift, ward und wirb er ausgeführt! In demfelben Jahre 1868 wurden and in 
biefen weſtlichen Gonvernements vie Güter der Tatholifhen Kirche wie fchon frühe 
in Polen vom Staate zu Handen genommen und bie Geiftlichen auf Staatsbefel 
dung gelegt. 

Auch die deutſchen Oſtſeeprovinzen blieben von der fett 1863 eier 
etretenen Wendung der Dinge nicht unberührt. Bereits im Jahr 1850 Hatte ber 
atfer duch einen Ukas vom 3. Januar allen dortigen Kronbehörben befohlen, 

ihren Schriftwechfel in ruffifher, flatt wie bisher in deutſcher Sprache zu führen; 
der Ukas war indeß vorerft ein tobter Buchſtabe geblieben. Am 13. Juni 1867 
beſchloß jedod die ruſſiſche Regierung den Ukas in Ausführung zu bringen um 
bie verſchiedenen ruffiihen Minifterien find feither bemüht, dieſem Beſchluß Ach 





Rußland, 965 


tung zu verfhaffen. Die deutſche Bevöllerung der Oſtſeeprovinzen, bie bisher zu 
ben loyalften und dem Kaiſerhaus treneften des Reichs gezählt Hatte, iſt dadurch 
in eine Oppofitionsftellung gebrängt worben, deren Folgen nicht abzufehen find. 
Rußland befigt diefe Provinzen nicht kraft der Eroberung, bie Livlänber nament- 
lich find vielmehr durch Vertrag und mit Bebingnugen in den ruffifhen Staats- 
verband eingetreten zur Zeit Peters des Großen. Im großen nordiſchen Kriege 
waren nämlih die gegen Schweden verbünbeten Mächte übereingelommen, Livland 
den Prien auszuliefern; um alfo das Land zu behalten, mußte für Rußland ein 
rechtöfräftiger Alt erft gefchaffen werden. Dieſer rechtskräftige Alt war der Ber- 
trag mit den livländiſchen Ständen In ihrem eigenen und im Namen des Landes, 
Zu den von Peter dem Großen befhworenen Rechten gehörte ganz befonbers 
„der Gebrand der deutſchen Sprade in den Gonvernementd- und Stabtlanzleien, 
ebenfo bei ven Gerichten“, und viefelben Privilegien wurden feither von allen 
ruſſiſchen Monarchen bei ihrem Negierungsantritte befchworen. Auf ber anderen 
Seite dagegen hält die ruffifde Regierung fi zu dem Eingriffe in die Landes⸗ 
privilegien für volllommen berechtigt, da dieſe Frovingen fi) den „Örunpfägen 
der Reichseinheit“ bevingungslos zu unterwerfen hätten und in ber That haben 
die Kaifer Alexander I., Nikolaus und Alexander II. bei ihrer Thronbefteigung 
die Privilegien der baltifhen Lande nur unter dem ausdrücklichen Vorbehalte bes 
flätigt „fo weit fie den allgemeinen Inftitutionen und Gefegen unferes Reichs 
entſprechen“. Diefe Klaufel muß jetzt dazu bienen, um gegen das Deutfhthum ber 
Dfifeeprovinzen vorzugehen. Es läßt fi nicht läugnen, daß die politiihen Eiu⸗ 
richtungen der Provinzen theilweife veraltet waren. Nach einigem Sträuben wurde 
aber das ſchließlich von ihnen felbft eingefehen und an vie Reform felber willig 
Hand gelegt. Namentlich wurde im Taufe viefes Iahrzehntes von allen drei Land⸗ 
tagen das bisher allein dem Adel zuftehenne Recht des Befitzes von Nittergütern 
fallen gelafien und ebenfo für Ansflattung bes Bauernflandes mit eigenem Grund⸗ 
befig fehr erhebliches geleiftet. Gegenüber der ruffifgen Regierung wurden freilich 
lange nur allzu viele Rädfihten genommen und alles aufgeboten, um nur nidt 
Anſtoß zu erregen. Es Hat nichts geholfen und jest ift bie dffentlihe Meinung 
in Livland namentlih nicht geneigt, fih der Ruffifichrung ohne Widerſtand zu 
unterwerfen. In jüngfter Zeit (Iunt 1869) hat der Dorpater Profefior €. Schirren 
in feiner „livlaͤndiſchen Antwort" auf die im Herbft 1868 in Prag in ruffiiher 
Sprache erſchienene Schrift der Rufen Juri Samarin „pie ruffifden Grenzmarken“ 
bie Beſchwerden der Oftfeepropinzen in einem gebrungenen aber lichtvollen Ge⸗ 
mälbe zufammen geftellt; er wurde bafür von feiner Stelle an der Univerfität 
Dorpat entfernt und mußte fi, wie auch andere feiner deutfch gefinnten Landsleute In 
den legten Jahren, nah Deutihland wenden. Die ruffifche Breffe aber fährt fort, 
das Deutſchthum der baltifhen Provinzen ebenfo bitter wie unabläffig anzugreifen, 
ohne daß es der baltifhen Preffe, die unter Eenfur fleht, geftattet wäre, darauf 
zu antworten, 

Set dem Jahr 1863 Hat fi nämlich eine „nationale Partei” auch in 
Rußland aufgethan, die ihren Hanptfig in Moslan bat, deren Führer ver Publi⸗ 
ciſt Aatkoff ik und als deren Organe die „Moskauer Zeitung” und ber 
„Golos“ erſcheinen. Dieſe Partei hat fi aus der feit dem vorigen Jahrzehent 
namentlich duch Wlerander Herzen angeregten Bewegung als bie momentan 
einflußreihfte und tonangebende herausgeſchält und ihr Einfluß auf die Regierung 
jelbft iſt unverkennbar, obgleich viefelbe von Zeit zu Zeit durch Berwarnunger 
und Suspenflonen ihrer Blätter gegen fle einfchreitet und allerdings nicht genei 


966 Nachtrag. 


ſcheint, ſich von derſelben gänzlih ins Schlepptau nehmen zu laflen. Die vor- 
nehmfte Anregung und die entſchiedenſte Unterftägung aber findet die ruſſtſche 
Regierung in ihrer nad allen Seiten zu Tage tretenden Ruffifilationstenvenz jeben- 
falls von Seite dieſer rührigen und energifhen Partei und ver Einfluß verfelben 
auf die öffentlihde Meinung iu Rußland iſt groß, wenn aud allerdings nicht un- 
beftritten. Die Blicke viefer Partei find fortwährend feft auf die Balfanhalbinfel 
gerichtet, deren ſlaviſche Bevölkerungen fie nicht bloß als die natürlichen Schüg- 
linge, fondern bereits als künftige Theile des ruſſiſchen Reichs betrachtet. Iu den 
legten Jahren ift ihren panflaviftifhen Anſchauungen und Beftrebungen aber auf 
noch eine weitere Ausfiht eröffnet worben, die fie wenigftens in dieſer Weife bis 
dahin gar nicht erwartet hatte. Unzufrieven mit dem zu Anfang des Jahres 1867 
eſchloſſenen Ansgleih zwiſchen Defterreih und Ungarn, der dort den Deutſchen 
Bier ben Magyaren das Heft in bie Hände gab, richteten die öfterreidhiihen 
Slaven plögli ihre Blide nah Rußland als dem Hort aller ſlaviſchen Völker 
und aller flavifhen Beftrebungen und nahmen von einer nationalen Kulturaus- 
ftellung in Moskau Veranlaffung, eine große Demonftration ins Wert zu ſetzen, 
indem (Mai 1868) eine zabhlreihe Deputation von Czechen, Slovenen zc. nad 
Rußland pilgerte, wo fie felbft vom Kalfer empfangen wurde und in Petersburg 
und Mostau mit den Ruſſen Brüperfhaft ſchloß. Die Demonftratiou darf als 
Symptom nit unterfhägt werben; von praftiihen Folgen war fie nit und 
von den Ezechen wohl aud nicht ernftlih gemeint, da man ihnen bod fo viel 
gefunden Verſtand zutrauen darf, um einzufehen, daß es fi für fie unter den 
gegenwärtigen Zuftänden Defterreihs doch ficherer und behaglicher leben läßt als 
unter dem ruffifhen Scepter. 

Der wirthſchaftliche Fortſchritt und die Einfiht in bie Grundbedingungen 
desfelben Täßt in Rußland noch viel zu wünſchen übrig: das Zollſyſtem beruht 
zum Scaben ber Gefammthelt und ſpeciell zum Schaben des Fiskus noch immer 
auf dem Princip des Schutes und felbft die neuefte Tarifreform (1869) hat nad 
einem Anlaufe, der beſſeres verſprach, ſchließlich mit fehr geringen Erleichterungen 
geeudigt. Dagegen bürfte die jüngfte beveutfame Mafregel, durch welche bie kaſten⸗ 
artige Erblichkeit der Bopen aufgehoben und ven Söhnen berfelben erlaubt wurde 
(Juni 1869), fi künftighin jedem beliebigen Berufe zu widmen, von heilfamen 
Volgen fein, wenn die Regierung dafür forgt, daß den künftigen Bopen eine ihrem 
Berufe entſprechende wiſſenſchaftliche Bilpung zu Theil wird, was bisher durchaus 
nicht der Fall war. Zunächſt iſt nicht allzu viel Ausfiht dazu, da die Staats⸗ 
finanzen, deren Stand überhaupt kein foliver ift, nach anderer Seite nur allzufehr 
In Anfprud genommen find. In erfter Linie gehört dahin ver Aufwand für bie 
Eifenbahnen, deren Bebeutung in ſtaatswiſſeuſchaftlicher, politifcher und uilitärifcher 
Beziehung für Rußland naturgemäß eine größere ift als vielleicht für irgend ein 
anderes Land Europas. Bis zum Tode bes Kaiſers Nikolaus gefhah dafür nur 
wenig, unter Alexander II. wurde indeß das Verſäumte durch die Erſtellung vou 
Staatsbahnen und die Subpentionixung von Privatbehuen nachzuholen geſucht 
und in diefem Augenblid herrſcht im Eifenbahnwefen vie emfigfte Thätigkeit, indem 
die Oouvernementövertretungen Garantieen Übernehmen, wo der Staat es nidt 
glaubt thun zu können. 

Für die Machtftelung Rußlands in Europa refpeltive Europa gegenüber iſt 
ein ausgebilbetes Eiſenbahnſyſtem nicht nur ein gewaltiges Vehikel, ſondern, wie 
der Krimmkrieg gezeigt bat, geradezu ein abfolntes Erforderniß. Rußland hat 
durchaus nicht daranf verzichtet, die orientalifche Frage in feinem Sinue und in 








Rufland. 967 


feinem Intereffe zu Iöfen, wenn es die Aufgabe aud erſt zu gelegener Zeit, bie 
feither nicht eingetreten Ift, wieber in die Hand nehmen will. Inzwilchen iſt es 
bemüht, ven Zerfall der Türkei nah Kräften und in jeder Weife zu befördern. 
Daß Rußland behufs Löfung der orientalifhen Frage ſich fobald mit England 
und Frankreich oder aud nur mit einer biefer Mächte werde verflänpigen können, 
ift heute fo wenig wahrſcheinlich wie vor fünfzehn Jahren. Die bei dem endlichen 
Schickſal der Türkei zumelft betheiligte Macht iſt ohne Zweifel Defterreih, für 
das bie dereinſtige Löſung der Frage nicht blos eine Macht» fonbern eine Erxiftenz- 
frage iſt. Oeſterreich bat Yein Interefie, den Sturz ber Osmanenherrſchaft iu 
Europa zu befchleunigen, wenn es auch davon zurüdgelommen iſt, dieſelbe 
wie unter Metternih um jeden Preis aufrecht erhalten zu wollen. Aber wenn ber 
Sturz nit follte vermieden werben können, und die orientalifhe Frage follte 
gelöst werden müſſen, fo kann Defterreid nicht zugeben, daß die Erbſchaft ganz 
oder auch nur zum Theil Rußland anheimfalle Um dies zu verhindern, wirb es 
genöthigt fein, alle feine Kräfte einzufegen und, mwofern es fi überhaupt auf ber 
feit 1867 betretenen Bahn zu konfolipiren vermag, auch gern ober ungern ge- 
nöthigt fein, eine Art Proteltorat über die neuen politiihen Gebilde auf ber 
Ballanhaldinfel in Anſpruch zu nehmen, ein Anfprud, den es freilich kaum wird 
durchführen können, wofern nicht die ganze deutſche Nation mit vereinigter Macht 
hinter ihm ftebt. 

Rußland trägt wenig ober units bei zur Entwidelung ber Civiliſation 
Europas; es ift und bleibt für Mittel- und Wefteuropa eine weſentlich barbariſche 
Nation, die nichts gibt, fondern nur empfängt. Seine civilificende Aufgabe liegt 
nicht in Europa, auch nit in dem Ihm allervings näher ftehenden Südoſten des⸗ 
felben, fondern in Aften. Und darauf war denn auch feit dem Krimmkriege feine 
politiiche und feine wirtbichaftlide Thätigkeit vorzugsweiſe gerichtet, im Kaufafus, 
in Mittelaften, im fernen Gebiete des Amur. Der Kaulafus ift feine volle, nicht 
mehr beftrittene Domäne geworben. Nah ber Beflegung Schamyl’8 ging der Plan 
dahin, um jeden Preis die noch im Weften ftehenden VBergbewohner aus ihrem 
Heimatlande zu verdrängen und das in den erften Jahren dieſes Iahrzehnte 
befolgte Syſtem befand darin, bie Truppen fowie bie koſakiſchen Forts und 
Nieverlaffungen Iangfam aber ſicher jene Thäler hinaufzuſchieben, deren Gewäfſer 
norbwärts dem Flußbecken des Kuban zuftrömen, und die Gingeborenen von 
Säritt zu Schritt ans ihrem Grund und Boden zu drängen, bis zuletzt vie höch⸗ 
ften Bergfeften erreiht und das bie WBaflerfcheive bewohnende Bolt hinüber und 
binab in die ſüdlich nad dem ſchwarzen Meere hin abfallenden Thäler gefchoben 
worden wären, woburch zugleich bie in jenen Gegenden anjäffigen, uncivilifirten und 
der. Welt abgefhloffenen Stämme in Maſſe nach der Küfte getrieben wurden. Big 
Mitte des laufenden Jahrzehents war diefe Arbeit vollendet: die unglüdlichen 
Tſcherkeſfſen namentlih ſnchten eine neue Heimat in der Türke. Am 2. Juni 
1864 konnte der Großfürft Michael dem Kaifer telegraphifh die vollfländige 
Unterwerfung des Kaukaſus melden: „Gegenwärtig eriftirt fein einziger nicht unter- 
worfener Volksſtamm mehr”. Für die aflatifche Politik Rußlands ſchloß fih damit 
ein Abſchnitt feiner Geſchichte, der von der allergrößten Bebeutung ifl. Kaum war 
biefer Erfolg gefihert, fo nahm es feine Aufgabe in Mittelafien energiicher 
als bisher auf. Noch in demfelben Iahre nahm es Tſchemkand im Chanat Koland, 
ficherte dadurch feine Operationglinte von Almetſched bis Antietta und bedrohte 
Koland ſelbſt. Fürſt Gortſchakoff hielt es für nöthig, dieſes Vorgehen durch eine 
befondere Cirkulardepeſche zu rechtfertigen. Rußland, erklärte er, wohl zumeift zu 


968 Nachtrag. 


Handen Englands, ſei gerabezu genötbigt, entweder was es ſchon befige wieber 
aufzugeben, ober weiter zu fchreiten; ohne das letztere feien fefte Beziehungen zu 
Zurkeftan, Roland und Bochara, vie fortwährenn im inneren Streite lägen, nicht 
zu gewinnen; aber Rußland ſuche nit, es ſchene vielmehr ebehnte Erobe⸗ 
rungen in jenen Regionen; worauf es ausgehe, fei nur, fefte lagen für 
feine Herrfhaft zu gewinnen. Ohne Zweifel fah er ſchon damals voraus, daß es 
eben darum nod weiter werbe gehen mäflen. Am 17. Aug. 1866 nahm es auch 
Zafchlend in Ehanat Koland und tiefes trat angeblih auf fein eigenes Begehren 
fofort in den ruffiſchen Stantsverband. Am 2. Okt. biefes Jahr ſtürmten die Ruflen 
die Feſtung Urtube an der Grenze und am 30. besjelben Monats bie Feſtung 
Dſchuſak innerhalb des Ehanats Bochara. Immer näher rüdten fie gegen dieſes 
felber vor. Am 1. Mai 1868 brach der Krieg mit demfelben nenerbings los und 
ſchon am 9. viefes Monats flug General Kaufmann bie Bocdaren und beſetzte 
Samarland und rädte gegen Bochara vor. Er ſtand nur noch 12 Meilen davon, 
als der Friedenoſchluß mit dem Emir ihm ein Ziel feßte, aber dieſen ſelbſt in 
entſchiedene Abhängigkeit von Rußland bradıte, das ihm im Oktober bereits gegen 
feinen aufſtändiſchen Sohn wirkfamen Beiſtaud leiſtete. Direlte ober indirekte 
gehorcht feitber ganz Turkeſtan dem Machtgebote des Czaaren. Dort fiehen jet 
die Ruffen à cheval auf deu Karawanenſtraßen, die nach Südweſt über Vochara, 
Miſched und Teheren nah Erzerum, nah Often in die chineſiſche Welt, nah 
Yarkand und Tibet, nad Süden über Herat, den „Schlüffel von Indien“, nad 
Kabul und Piſchwar ins Fünfftromland führen. 

Was haben fie dort vor? Die Britten in Indien, die den ruſſiſchen Fort⸗ 
ſchritten in Turkeftan längft mit mißtranifhen Augen gefolgt waren, und ſelbſt 
in England wurben barüber aufgefäredt. Bon Oſtindien trennt bie Ruflen nur 
mehr der verhältuigmäßig female Saum von Afghauiftan, wo zu berfelben Zeit 
ein neuer Herrſcher Schir Ali die Oberhand gewonnen Bat, deſſen Herrſchaft 
indeß noch eine fehr wenig befeftigte if. Denken fie daran, die Afghanen auf 
ihre Seite zu ziehen und Indien von Mittelafien aus anzugreifen? Das ift doch 
aus zahlreichen Gründen vorerft und noch auf lange hinaus unwahrſcheinlich. 
Aber Borfiht ſcheint am Plake und beunrubigen konnen fie die brittifche Herr⸗ 
{Haft in Oſtindien ſchon jest, ſchon durch die bloße Thatſache, daß bie unzufrie- 
denen Elemente Indiens nummehr wiſſen, daß eine Macht In Aſien iſt, die, in 
ihrer Phantafle zumal, ven Engländern gewachſen, vielleiht gar Überlegen ſei. 
Die engliihe Negierung fand es daher für gerathen, Afghaniftan nicht länger fi 
ſelbſt zu überlaffen und Graf Mayo, der neue Bicelönig von Oftindien hielt im 
März 1869 In Amballah einen fogenannten Darbar mit dem Herrſcher von Af⸗ 
ghaniſtan. Ein Vertrag ſcheint indeß wit bemfelben nicht eigentlich abgeſchloſſen 
worben zu fein, wohl aber eine Art Einverftändniß, das ihm Subſidien, Waffen 
und wohl auch einige geſchickte Ratgeber in Form von englifchen Agenten ficherte, 
um fih zunöhft gegen feine Widerſacher im Lande zu halten und zu eg 
und im weiteren einen genügenden Damm gegen ruffijhe Geläfte zu ſchaffen. 
berfelben Zeit ober etwas fpäter wurden mit Rußland förmliche Unterhandlungen 
eingeleitet, um Afghaniflan für neutrai zu erflären; biefelben ſcheinen indeß ned 
zu keinem Nefultate geführt zu haben. Aber auch nod ein anderer Plan wir 
ben Ruffen und zwar in ziemlich weiten Kreiſen zugemeflen. Schon bisher Hatte 
ruſſiſcher Einfluß in Perfien die Oberhand gewonnen über ben englifhen und 
feit ihrer neuen Stellung in Turkeſtan muß das noch mehr der Tall fein als 
früher. Fällt Perfim in Abhängigkeit von Rußland fo wäre es eine vortreffliche 





Schlesmig-olftein. 909 


Operationsbaſis nicht nur über Herat gegen Indien, fondern aud über Bagbab 
und burd) "den perſiſchen Golf gegen bie aſiatiſchen Beflgungen der Osmanen in 
Konftontinopel, die man fo von zwei Seiten umflägeln könnie. Wie die zuffiihe 
Bolktit gewohnt iſt, ganz Europa zu umfpannen und anf jeves Moment zu achten, 
das ihren Intereffen förderlich fein Könnte, fo umfpannt fle ohne Zweifel fhon 
jegt ganz Aften, wo nur Oftinbien und China ihrer unermüdlichen Thätigkeit eine 
gewiffe Schranke zu fegen feinen. Veſtimmte Pläne gegen die Pforte von Aflen 
aus walten zur Zeit aber kaum noch ob. Zunachſt fammeln ſich die Muffen wohl 
noch bloß im arabiſchen Mefopotamien, um dort das nordweſtliche Seltenſtück zu 
dem vorderindiſchen ber Vritten zu gründen: ein theils aus annektirten, thelis 
ans protegirten Gebieten zufammen yefittetes Reich, das den Muffen den Bortpeit 
der zwar durch Wuſten erſchwerten, doch räumlich ungetrennten Verbindung ges 

während die Britten felbft Über Suez noch einen ganzen Monat gebrauchen, 
um ihr oftindifches Gebiet zu erreichen. 

Inzwifgen haben die Ruſſen nicht bloß auf bem kaſpiſchen Meere und dem 
Aralfee, fondern and, fo welt möglih, auf dem Gyr-Darja eine unter ſich 
sufammenhängende Dampfſchifffahrt eingerichtet, die nicht bloß milltäriſchen Zwecken 
und ber Verbindung mit ihrem nädften Gtügpuntt in Orenburg, fondern auch 
bem Handel und Verlehr dient. Und hier äben fie eine wirtiih ciullifatortiäe 
Miffion ans, indem fie namentlich and in Turkeflan eine mehr oder weniger 
feſte Rechtsordaung und einen geregelten Verkehr handhaben, wo biäher wur zu 
oft ein wahrer Krieg Aller gegen Alle geherrſcht und der wildeſte mohammie ⸗ 
daniſche Fanatismns feine vornehmfte Stätte aufgefhlagen hatte. Pier und ulcht 
in Europa liegt die wahre Aufgabe ver Auffen und darum ſcheint aud der In- 
Rintt feibſt vie unternehmenven Elemente des ruffifhen Bolle dahin zu leiten. 
Mit Recht wurde es wenigfiens als ſehr auffallend hernorgehoben, daß e8 ber Regler 
rung in ben legten Jahren nit gelang, ruffiſche Roloniflen nad den von ben 
Volen entvölferten weſtiichen Gonvernements, Litthauen, Podollen x. In Irgemb 
nennenswerther Zahl zu ziehen, trog der Gpottpreife aud allen möglihen Be- 
gäuftigungen, unter benen fie bort große und Meine Güter ausbot, daß es die 
unternchmenben Ruflen vielmehr vorzogen, ihr Bläd auf Bauft in den 
neuen laulaſiſchen Befigungen zu fuchen, in Mittelafien ober im Ammurgebiet, das 
füd feit dem lazım zehn Jahren, da es im ruffifchen Befig IB, jom mertwärbig ge- 
hoben bat und aud in ber That jever Urt von Thätigleit einen reichen Erfolg im 


970 Nachtrag. 


Während Über die urfpränglihe deutſche Bevdlkerung bes jekt 
Schleswig-Holftein Bildenden Theil der Limbrifchen Halbinfel bis in eine verhält- 
nigmäßig jüngfte Zeit kein Streit beſtand, hat der politifche Gegenfat des Dänen- 
thums nnd des deutſchen Elements fih auch biefer Trage bemädtigt, und bie 
deutfche Wifjenfchaft war gezwungen, den erneuten Beweis anzutreten, baß bie 
zuerfi genannten Bewohner bes Landes von der Königsau bis zur Elbe zwifchen 
Dfifee und Norbfee, die Friefen, Angeln und Sachſen, dem füdlichen Stamme 
der Germanen und nicht der ſkandinaviſchen Abzweigung verfelben angehören. 
Allerdings aber tft gerade die nörbliche Hälfte des fo eben nad feinen Haupt⸗ 
grenzen bezeichneten Landſtrichs Jahrhunderte lang Kampfplag und Kampfpreis 
zwifchen den Skandinaviern und ven Deutfhen gewefen, und erft bie allerlegten 
Tage haben, fo weit menfchlihe Vorausfiht urtheilen Tann, ven vielhundert- 
jährigen Streit dauernd zu Gunften Deutfhlands entfchieben. 

Das ſchmale in die See hinaus geftredte Land bildet eine natürliche Brücke 
zwifchen den Nationen Nordeuropa’ und dem großen beutfchen Gebiete, umb ge- 
rade um der Enge des Zugangs willen hat jener Gegenfag zwifhen dem Dänen- 
ſtamme ale Borlämpfer des flandinavifchen Germanenthums und den beutfchen 
Elementen feit Jahrhunderten eine Schärfe und Intenfität gezeigt, wie fie felten 
zwiſchen Völkern fo nahe verwandten Urfprungs fihtbar werben. 

Als eine Thatfahe von großem Einfluß auf die Geſchicke des Landes tritt 
uns die Einwanderung ber Angeln und Sachſen nad Britannien ent- 
gegen. Auch dieſe ift gewiflermaßen in den politifhen Kampf der Gegenwart ge- 
zogen worden, indem man behauptet hat, daß jene Einwanderung oder Eroberung 
der Britteninfel überhaupt nicht von Dentfchland aus flattgefunden habe und fie 
zu einer ſtandinaviſchen Nationalthat ſtempeln möchte. Wenn tie hiſtoriſche For⸗ 
ſchung aud den Auſpruch der Dänen auf die Grändung der angelfähfiigen Reiche 
in Britannien als völlig unhaltbar nachgewieſen bat, fo waren jene Züge über 
das Meer, die man nicht als einen einzigen Akt, fondern einen bie Geſchichte von 
mehreren Jahrhunderten füllenden langfamen Proceß des Völterlebens betrachten 
muß, infofern von Wichtigkeit, als dem Eindringen der ſtandinaviſchen Elemente 
in die alten Sitze der Angeln durch die Entvölkerung, welde die Auswanberungen 
mit fih führten, großer Vorſchub geleiftet wurde. So folgte ber urjpränglid 
deutſchen Einwohnerſchaft eine Epifode däniſcher Eroberung; wie weit biefe fidh 
nah Süden erftredt, wie weit namentlich ein Feſtſetzen dänifcher Bevölkerungs⸗ 
elemente im Süben des Landes ftattgefunden, läßt fi mit Sicherheit nicht nach⸗ 
weifen. Nur fo viel ſteht feft, daß in dem Gebiete des [päteren Herzogthums 
Holſteins däniſche Bevdlferungselemente keinen feften Fuß gewonnen Haben. 
Innerhalb der Grenzen Schleswigs hat fih vom jeher die Grenzſcheide und ber 
Grenzftreit zwifchen den Deutfgen und Dänen bewegt. Daß die erftere im Lanfe 
ber Jahrhunderte eine ſchwankende geweſen, entfpriht der Ratur der Dinge, und 
je nachdem die Gunft ober Ungunft der Berhältniffe Angriffs- oder Winerflande- 
fraft der flreitenden Nationalitäten ändern, verfchiebt fih aud der Beſitzſtand, bis 
endlich das geiftig und materiell flärkere Element den Rampfplag behauptet. Die 
Kraft der Dänenherrſchaft und der Einfluß dieſes Bevölkerungstheils wurde ver 
bältnigmäßig dadurch gefteigert, daß bie deutſche Bevölkerung des durch die Aus— 
wanberung halb entuölferten Landes im mehrere Stämme zerfiel, die ſchon fehr 
fräh als riefen, Angeln und Sadjen unterfchieven werben unb wovon ber im 
Nordoften von Schleswig angefledelte Stamm ber Angeln am meiften von däniſchen 
Elementen durchſetzt wurbe. Die ftarre Natur des riefen, welche bis auf den 





Schleswig-Holfleln. 971 


heutigen Tag in einem ſchmalen Streifen die weſtliche Meerestüfte von Schleswig 
beſetzt Hält, war nicht fo leicht zu überwinden, während die Sadfen in Holftein 
und dem füplichften Theile von Schleswig ayf beiden Seiten der Eider durch bie 
bazwifchenliegenden Völterfchaften gegen die norbiiche Einwanderung gefhligt waren. 

Dagegen hat die deutſche Bevölkerung in Holftein eine gefährlihe Nachbar⸗ 
[haft an den flawifhen Einpringlingen, welde an den Geſtaden ber 
Dfifee entlang bis an die nördliche Grenze des jegigen Holfteins reichten und bie 
ganze äöftliche Hälfte des Landes in VBeflg nahmen. So erwuchs für die Deutfchen 
biefes Landes ein boppelter Kampf mit dem bäntfchen Elemente im Norben und 
den Wenden im Oſten des Landes. Der Iebtere war aber ein Theil des allge 
meinen Weitervorbringens bes Germanenthums nad Often, der die deutſche Grenze 
ſchließlich bis an den Niemen gebracht bat. Der Grenzfireit zwiſchen ven Deutſchen 
und den Dänen auf der kimbriſchen Halbinfel hat dagegen ſtets einen bejchränf- 
teren Charakter gehabt, woraus fich zum großen Theil vie lange Fortdauer des⸗ 
ſelben erllaͤrt. | 

ALS unter Karl dem Großen die fränkiſche Monarchie fi zur deutſchen 
erweiterte, waren es befonders die Sachſen, welche dem Frankenkönige den äußerſten 
Widerſtand leifteten. Der Waffenerfolg ber Franken erreicht mit der Beſiegung ber 
Sachſen die Eider als Grenze des Reihs und darüber hinaus erſcheint ber füpliche 
Streif des Herzogthums Schleswigs bis an die Schley, wo der däniſche Brenz. 
wall, das Danevirke, den Anfang der Danenherrſchaft bezeichnete, ein keinem Theile 
feft zugebörender Raum gemwefen zu fein. Ob eine fürmlihe Markgrafihaft hier 

ebildet worben, ift bis auf den heutigen Tag der Gegenſtand eines gelehrten 
treites, der wie fo mancher andere unentfchleben bleiben wird. 

In dem Kampfe zwifchen ber fränkiſch-⸗deutſchen Neichseiniguug und bem 
Sachſenvolke tritt befanntlih das Chriſtenthum als Bundesgenoſſe der Franken 
‚ anf. Ws nach jahrelangen Mühen der Wiverſtand der Sachſen gegen Franfentönig 

und Chriſtenthum endlich gebrochen war, nahm die Kriftliche Lehre eine ähnliche 
Stellung in dem beginnenden Kampfe zwiſchen ben Deutſchen und den Dänen ein, 
bis die dauernde Belehrung ber däniſchen Könige den Unterſchied der Religions» 
anfhauungen allmählig verwiſchte. Ganz ähnlih war aud der Berlauf in Eng» 
land gewefen, wo mit den frühzeitig hriftianifirten Angelfachfen die jpäteren bäntie- 
normannifden Einwanderer langjährige Kämpfe führten. 

Indem die Deutfchen in der nörblihen Hälfte des Landes der däniſchen Herr- 
[haft unterlagen und längere Zeit hindurch eine Verſtärkung der vänifhen Be⸗ 
völferung Schleswigs freie Wege hatte, theilte das jegige Holftein, fo weit es 
nicht in den Händen der Slawen fi befand, die Geſchicke des fächfifchen Herzog. 
thums unter dem Haufe der Billung. Zahlreihe blutige Kämpfe mit den Wenden 
bezeichnen pie anderthalb Jahrhunderte, in denen dad Baus Billung das fächftiche 
Herzogthum inne hatte, bis 1125 der nachmalige deutſche König Lothar II., dem 
von feinem Vorgänger Heinrich V. das freigeworbene Herzogthum verliehen war, 
die Grafſchaft Holftein und Stormarn dem Örafen von Shauenburg übertrug. 
Bis dahin Hatten Angehörige des Billung’fhen Haufes die Grafenwürbe und bie 
Pfligten ver Markvertheivigung geübt. Der britte Landesbeſtandtheil neben dem 
eigentlihen Holftein und Stormarn, Dietbmarfen, hielt fih unter 
eigenen Grafen. Später werben die Grafen von Stade als Landesherrn genannt, 
welche feit 1062 als Bafallen des Erzbistyums von Bremen erſcheinen. 

I. Mit vem Schauenburg’fhen Geſchlechte, welches feine Stammburg 
bei Rinteln an der Weſer hatte, bat mehrere Jahrhunderte hindurch das Land 


972 Nachtrag, 


Schleswig⸗ Holſtein gute und böfe Tage zufammen ertragen. Die Schauenime 
find infofern die eigentlihen Schöpfer von Gchleswig-Holftein, als unter ihan 
durch Tapferkeit und Umfiht Schleswig aus der Verbindung mit Däneme 
gerifien und zwiſchen Eiver und Königsau dentſche Kultur nen befefligt wurk 
Unter Wolf I., welder fhon 1128 ftarb, drohte vie Gefahr, daß das Tan 
Wagrien ale befondere Herrfhaft unter wendifchen Yürrten oder als Belle 
theil des Dänenreidhes von dem übrigen Lande abgetrennt ward. Der Radfelz: 
Wolf II, unterflägt von dem Miifionar Bicelin, wehrte dieſes ab, Dagege 
warb er mit in die Kämpfe gezogen, weldye nad Katfer Lothars Tode zwiſche 
den Welfen und Hobenftaufen ausbrahen. Als Anhänger Heinrih des Gtehe 
mußte er, als viefer das Herzogtum Sachſen an Albrecht ben Bären verlor, tk 
Grafſchaft räumen; va das Gluck fi wieder ven Welfen zuneigte, Lehrte er 
fügt durch vie Gunſt des jungen Heinrich des Löwen in das Land zurüdf mi 
empfing 1143 von biefem auch Wagrien zum Lehen. In feine Zeit fällt die Er 
wanderung zahlreicher Niederdeutſcher namentlih aus Holland und Flandern u 
das äftlihe Holſtein, zugleih aber werden in den no von Wenden bewoke: 
bleibenden Theilen des es zahlreiche Klöfter und abelige Herrenfige gegrünse, 
wie auch anderswo das Werk ber Germanifirung, 3. B. in Preußen, durch Gel: 
lichkeit und Ritterſchaft vollzogen wird und für beide fehr fruchtbringend gemeies 
ift. Bis auf den heutigen Tag bilvet dieſer Theil von Holftein den Sig zahlreiche 
Nittergäter und nirgenbswo tft von ber Bevdlkerung das Joch ber Leibelgenfcek 
ſchwerer getragen worden. Als der eigentlihe Gründer ver Stadt Lübel nad Zr 
flörung der alten Stabt hat Graf Adolf den wichtigſten Baufttiu zur fpäter weh- 
berühmten Hanfa gelegt. Im Jahre 1158 fand dann nad) manden Streitigkeite 
zwifchen Heinrich vem Löwen und dem Grafen die eigentlihe Ordnung des Lübeck ſche 
Stäptewejens unter dem Kinfluffe Heinrich bes Löwen ftatt. 

Rachdem Adolf IL im Sabre 1164 im flegreihen Kampfe gegen die im 
heutigen Medienburg wohnenden Wenden gefallen war, folgte ihm nad längeren 
Jahren der Vormundſchaft fein Sohn Adolf III. Ju dem Streite zwiſchen Friedriqh 
Barbarofia und Heinrih dem Löwen ftellte fi ber Graf von Holfteln wie vie 
meiften Bafallen des gewaltigen Sachſenherzogs auf die Seite des Kaifers. Nah 
dem Sturze Heinrich des Löwen, als das ſächfiſche Herzogthum au ben Geha 
Albrecht des Bären, Bernhard von Askanien, fam, bot fih für die Dänen 
Gelegenheit unter Waldemar J. und deſſen Sohne Kulnd, vie inneren Zragen 
in Holſtein zur Eroberung zu benutzen und das deutſche Doppellönigthum 
von Braunſchweig und Philipp's von Schwaben vermehrte die Guuſt der Um 
fände. Graf Adolf gefhlagen, gefangen genommen, z0g fi) auf bie väterliche 
Stammburg Schauenburg zuräd der 1202 auf den Thron gelangte bäntik 
König, Waldemar der Sieger genannt, herrſchte weithin über das ganze Holftifce 
Land und der junge beutfche König aus dem Gefchlehte der Hohenftanfen, Fried⸗ 
rich II, beflätigte im Jahre 1214 dem fiegreihen Dänen alle feine Exroberungen 
im römifhen Reihe nnd dem Wendenlande. 

Bekanntlich ift die Zeit Waldemar des Siegers die glerreichfte in der ganzen 
däniſchen Gedichte, fie war aber zugleih die gefährlichſte für die Entwidelung 
Deutſchlands im Norden. Auf den ununterbrohenen Siegeslauf des Dänenkönigd 
traf 1223 feine Befangennehmung buch den Grafen Heinrich von Schwerin. Um 
feine Freilafſung zu erreihen, verzichtete der Dänenlönig auf ganz Norbalbingien 
und faft alle feine weiteren Eroberungen. Nachdem er ſich bald darauf durch den Papfl 
von feinen eiblichen Verpflichtungen hatte Idfen lafien, brach ex ben geſchlofſenen Arte 


Schleswig-Holftein. 0 973 


ben, wurde aber in der Schlacht bei Bornhöved 1227 durch die vereinigten Kräfte 
des Landes, an beren Spige der Schauenburger Abolf IV., der Sohn Adolf III., 
fi geftellt Hatte, vollſtändig aufs Haupt gefchlagen. Mit Recht hieß es davon In 
ber Chronik: „alfo wurden bes Tages die Lande gelöst von der Dänen Gewalt, 
daß fie alle Bott gaben Lob und Ehre”. Die deutſche Entwidelung in Holftein 
fowie das Aufblühen der im Holftein’ihen und wagrien'ſchen Gebiete gegründeten 
Städte Lübeck und Hamburg ift unzweifelhaft dem glädlihen Ausgang jener Schlacht 
zu verbanten. Selbft vie fpätere Verbindung mit Dänemarf durch das Haus Olden⸗ 
burg Hat dem deutſchen Charakter Holfteins und die Zufammengehörigkeit mit dem 
Reihe, fo lange dieſes beftand, nicht mehr gefährden können. Daß bie beiden 
Städte Lübeck und Hamburg fpäter aus der Grafſchaft ausſchieden und als freie 
Städte und Gemeinweſen fih mehr, und mehr entwidelten, iſt für da® ganze 
Dentfhland fiherlih nur von Bortheil geweſen. 

In der nächſt folgenden Zeit bietet Dänemark das Schanfpiel ſchwacher Fürften 
und innerer Unruhen, die Schauenburger in Holftein traten in nahe verwanbt- 
ſchaftliche Beziehungen zu dem Herzogen ven Schleswig, und die bamit zu⸗ 
fammenhängenve Politik Hatte günftigen Yortgang trog ber Theilung, welde jetzt 
ähnlih fo manden Borgängen in anderen deutſchen Fürſtenhäuſern unter ven 
Strafen von Holftein ſtattfanden. Die Berfaffung der Grafſchaft unterſqied fich im 
Weſentlichen nicht von derjenigen, welche damals in den meiften dentſchen Territorien 
fhon Fuß gefaßt Hatte. Die Abhängigkeit von dem ſächſiſchen Herzogthum war 
eine mehr formelle geworden, wenn aud die Grafen von Holftein noch feine 
eigene Reichsſtandſchaft hatten. Ihre Gewalten im Lande waren bie gewöhn- 
lien Rechte ber Landeshoheit, ihre Beſchränkungen durch die Ritterfhaft beflanben 
mehr faktiſch und dies mehr nad dem Wedel von Macht und Einfluß, als daß 
fie rechtlich feftgeftellt gewefen wären. Die Formen bes Lehensweſens machten fi 
and bier in den Öffentlich rechtlichen Beziehungen bemerkbar. Hauptfig des Brafen- 
hauſes war Segeberg geworben. 

Als Adolf III. in Erfüllung eines in der Schlacht von Bornhöved gegebenen 
Gelübves im Jahre 1239 ins Kloſter trat, hinterließ ex die Nachfolge feinen beiden 
Söhnen Johann und Gerhard, für welde Herzog Abel von Schleswig, der Schwieger- 
fohn Adolf IV., die Vormundſchaft führte. Blutige Schlachten und fiegreihe Kämpfe 
gegen den König Erich von Dänemark bezeichnen die nächſten Jahre, bie Flotte 

übel’8 zerftlörte fogar Kopenhagen; erſt nad dem Tode Erik wurde der Streit 
frievlih beigelegt. In Holftein Hatten die Brüder Johann und Gerhard gemein- 
ſchaftlich regiert und nur die Einkünfte aus ben verſchiedenen Landestheilen waren 
pen beiden Zweigen der Yamilie getrennt zugemwiefen. Für bie Söhue Johanns, 
ber 1268 flarb, führte ihr Oheim Gerhard die Regentfchaft, bis im Jahre 1273 
eine förmliche Theiluug bes Landes flattfand. Bemerkenswerth dabei Ift die Ten⸗ 
denz, von den drei Hanpttheilen des Landes einer jeden Linie wenigftens etwas 
zuzuwelfen. Auf die Theilung zwiſchen Gerharb und feinen Neffen Adolf V. und 
Johann II. folgte eine Trennung des väterlichen Erbes zwiſchen biefen letzteren; 
die Gerhard'ſche Linie wird die Rentsburger genannt, bie andere -zerfälit in bie 
beiden nad; den gewählten Sitzen fo genannten Kieler und Segeberger Linien. 

Unter den Söhnen Gerhard I., der im Jahre 1290 ftarb, kam es zu einer 
weiteren Theilung. Adolf erhielt die alte Stammherrſchaft Schauenburg an ber 
Weſer und einen Heinen Landfſtrich nörblih der Elbe, der von da an, wenn aud 
nit rechtlich, fo doch faktiſch aus der Grafſchaft und dem fpäteren Herzogthum 
Holſtein bis zum Erlöfchen der Linie 1640 ſcheidet. Gerhard II. erhielt die Hälfte 


974 Nadtrag. 


des Abrigen väterlihen Befitzthuns nördlich ber Elbe nnd namentlidh wagrifdhes 
Land; fein Bruder Heinrich, dem vorwiegend holſteiniſche Lanbestheile 
nahm ſeinen Hauptfig in Rendsburg. Einen tiefer eingreifenden Einfing amf ben 
Zuſammenhang des ganzen Landes haben viefe Theilungen vorerfi nicht gebt, die 
Bafallen wurden als allen Landesherren gemeinſchaftlich verpflicdtet angefehen. Um 
jedoch vie nach altfächfiihem Lehenserbrecht ansgefchloflene Lehensnachfolge ver 
Seitenverwandten für den Fall des Ausſterbens einer Anie zu gewinnen, um 
dadurch den Heimfall dieſes Lehens au den Lehensherrn auszufchliegen, wurde im 
Jahre 1307 vie Belehnung fämmtlider Grafen mit ihren Landen zur ge- 
fammten Hand durchgeſetzt. 

Es iſt dies ver erſte lehens⸗ und ſtaatsrechtlich wichtige Vorgang für ben 
Streit über die Erbfolge Schleswig-Holfleins nad bem Unsfterben des Löniglichen 
Mannsſtammes. 

III. Um dieſelbe Zeit tritt, nachdem bie Schlacht bei Bornhöved Holſtein 
dauernd für Deutfhland gewonnen, ber Wendepunkt in den Geſchicken des nördlich 
der Eier gelegenen Shleswigs ein. Jahrhunderte lang war hier vie däniſche 
Herrſchaft begründet gewefen, Statthalter mit bald größerer bald geringerer Macht 
führten das Regiment, das namentlih an den Örenzen gegen Süden und gegen 
bie ſtete unruhigen Briefen ſchwer zu behaupten war. Die bedentenpfte Perſoͤnlich⸗ 
keit in biefer Stellung iſt unter König Rils fein Bruterfohn Rund, der 1115, 
nachdem er in Deuntſchland feine Bildung genoffen, die Statthalterfhaft, und da⸗ 
mit das Herzogthum im Sinne der Heeresführung erlangte. Siegreihe Kämpfe 
gegen die Wenden trugen ihm vom- beutfchen Kaiſer als Lehen die Herrſchaft über 
das Öftliche Holften und Medienburg ein; deutſche Kultur war unter ihm vielfod 
in Schleswig begänftigt und Annd Lavord, wie er nach dem angelfächfifchen 
Worte biaford (Nord), der Herr, genannt wurde, war in feiner Doppelftellung 
zu Dänemark und Deutſchland ein Repräfentent des Landes felber. Die Gefahr, 
welche fein Anfehen und feine Macht dem dänifhen Königshauſe bringen Tonnte, 
bäßte er mit feinem Leben; 1133 ward er von dem Sohne des Könige Magnas 
bei Ringftänt auf Seeland menchelmörderiſch erſchlagen. Zur Sühne dafür mußte 
Dänemark dem deutſchen Kaifer huldigen und eine Geldbuße zahlen. 1134 a- 
[hingen aber die Bürger Schleswigs In Blutrache für ihren gefallenen Herm und 
Gildebruder den däniſchen König. Die blutigen Inneren Streitigfeiten führten endllch 
den Sohn Kund Lavords, Waldemar, auf den däniſchen Thron. Ihm folgte im 
Jahre 1182 fein jüngfter Sohn des gleihen Namens im Herzogthum Schleswizg. 
1202 beftieg dann nad dem Finderlofen Tode feines Bruder Knud Herzog Wal 
demar als Waldemar II. den Thron von Dänemark, doc wirb bie befonbere 
Stellung dieſes Lanvestheils im Bergleih zu den übrigen Theilen des Reiches 
vielfach anerfannt; das Herzogthum wird aber nod nit Schleswig, fondern Jut⸗ 
land genannt. - 

In die Zeit Waldemar II. fällt die Entwidelung des Städteweſens durch 
—— dee Gewohnheitsrechtes in denſelben. Auch das Landrechtsbuch, 
„Jütiſches Kom“ genannt, aus dem Jahre 1241, umfaßt ſowohl das äffentlice 
Recht des Landes als privatrechtliche Ordnungen. Wenn aud das Rechtsbuch im 
Unterſchiede von dem eigentlichen deutſchen Rechte auf norbifhen Grundlagen ruht, 
fo bat fih doch fpäter durch ben Zufammenhang Schleswigs mit Holftein das 
Gultigkeitsgebiet desfelben bebeutend geminvert und die Redtsentwidelung in 
Schleswig von derjenigen im eigentlihen Dänemark einen ganz verſchiedenen Ganz 
genommen. Nach dem Tode Waldemars II. folgte ihm als König von Dänemart ſein 














Scleswig-Holftein. 575 


Sohn Erich, während ber jüngere Abel das Herzogthum Schleswig erhielt. Durch feine 
Deirath mit Mechthildis, der Tochter Adolf III., wurde Abel wie ſchon ermähnt, in 
‚te Holfteinifchen Verhältniffe mit bineingezogen; friebliche Beziehungen zu ben 
Schauenburgern erhielten fi auch, als er nady dem Tode feines Bruders 1250 den 
aniichen Thron beſtieg. Da aber nad feiner Erſchlagung im Kampfe gegen bie 
Rordfriefen 1252 nicht der Sohn Waldemar, fondern der Bruder Abels, Ehriftoph, 
ie Herrfchaft in Dänemark erhielt, wurde zwifchen dem fchleswig’fchen Herzogshaufe 
ınd Dänemark ein politifcher Gegenfag hervorgerufen, den das Verwandtſchafts⸗ 
band zwiſchen dem Grafen von Holftein und ber Abel’fchen Linie nur noch ſchärfer 
nahen mußte. Da das Herzogthum Süt-Jätland, wie e8 jegt au heißt, un» 
weifelhaft ein Lehen ver däniſchen Krone war, fam e8 bei dem Innern Zwieſpalt 
es Fürftenhaufes im Wefentliden darauf an, ob das Herzogthum wie die deuntſchen 
dehen als ein erbliches zu gelten hatte. Im Laufe der Zeiten iſt die Entſcheidung 
ür die Erblichkeit gefallen, zunächſt mußte dieſelbe mit ven Waffen gefucht werben. 
Der Erfolg war, daß Herzog Waldemar als folder 1254 die Belehnung vom 
König Chriftoph erhielt. Die Belehnung mit der Fahne erfolgte nad deutſcher 
Welfe. Nah dem Tode König Waldemar III. braden neue Streitigkeiten aus; 
sie Schlacht auf der Lohheide 1261 fiel zn Ungunften der Königin Regentin von 
Dänemart, Margaretha, und ihres Sohnes Erich aus und von da an befefligte 
jich der Einfluß des Hauſes Schauenburg in Schleswig. Die Kämpfe werben mehr 
und mehr zwiſchen dem holſteiniſchen Srafenhaufe und dem däniſchen Könige geführt, 

Nah mehrfahen Verſchiebungen durch Thellungen und Wieberzufammenfaflen 
er Landesbeſtandtheile flehen im Anfange des 14. Jahrhunderts die beiden Vettern 
Sraf Gerhard von der Renpsburger Tinte und Iohann von der Plön-Kieler in 
yen Vordergrund der Ereignifie, jeder der Zahl nach der III. genannt. Johann 
var erfahrner in den Künften der Diplomatie, während Gerhard, fpäter ber 
Sroße genannt, dem Waffenglüd feinen Ruhm verdanfte. Ein Neffe Gerhards 
var der minderjährige Sohn des 1325 verftorbenen Herzogs Erich II. von Schles- 
vig. As der König von Dänemark, Chriftoph, der Nachfolger des Königs Erich 
Menved, die Vormundſchaft über feinen inngen Bafallen beanfpruchte und zugleich 
das Rand befegte, wurde er von deu holfteinifchen Grafen und ihren Verbündeten 
zefhlagen und floh ein Jahr fpäter 1326 felbft aus Dänemark, Zu feinem Nad- 
'olger ward der junge Herzog von Schleswig von den Großen des Reichs ermählt 
ınd Gerhard felber als Vormund des Reiches zu Dänemarf anerlannt. Aus eben 
jiefem Jahre ſtammt bie Verfiherung, welche König Waldemar unter dem Ein- 
Aufle Gerhards abgeben mußte: „daß das Herzogthum Süd⸗Jütland weder mit 
em Reihe noch mit Dänemark vereinigt oder verbunden werde, fo daß ein Herr 
iber beide ſei.“ Es iſt dies bie fogenannte Constitutio Waldemariana, welche zwar 
ils eigene Urkunde nicht erhalten worben ift, aber in Ihrem Inhalte fo vollftändig 
‚er Schauenburg’ihen Politik entſpricht, daß die Wirklichkeit jener Erflärung von 
ven Hiſtorikern nicht bezweifelt wird. Ein weiterer und bebeutenderer Schritt als 
iefe in die Zukunft gerichtete Erflärung war die Uebergabe des Herzogthums 
Süd⸗Jütlands an die Grafen von Holftein. Am 15. Auguft 1326 wurde das 
janze Herzogthbum auf dem Reichstage zu Nyburg dem Grafen Gerharb als ein 
Sahnenlehen übertragen und gleichzeitig dem Grafen Johann III. und feinen Erben 
ie Infel Femarn als Lehen gegeben. Die Rückkehr des Königs Chriſtoph auf den 
däniſchen Thron bewirkte, daß Herzog Waldemar in den Befig des Herzogthums 
Schleswig wieder eingefegt wurbe. Sur Sicherung des Anfallsrechtes an Gerhard 
ınd feine Exben, wenn Waldemar unbeerbt ſterben follte, wurbe dem Grafen Ger- 


976 | Nachtrag. 


hard die Infel Fänen in Pfand gegeben. Mitten in feinen Entwürfen aber, nachdem er 
einem guten Theil verfelben die Wege gebahnt, farb Berharb 1340 durch Meudel- 
mord zu Ranbers. Unter feinem Einfluß bat das deutſche Element in Schleswig 
bedentende Fortfchritte gemacht, die Bffentliheu Urkunden ans biefer Zeit, bie ver 
ber in dänifcher Sprache abgefaßt waren, werben jett deutſch. Daneben ber ging 
die gefteigerte Aufiedelung holſteiniſcher und fonftiger deutſcher Rittergefchlechter im 
Süden und Süpoften des Herzogthums. Bon ben Söhnen Gerhards führten Hein- 
rih II. und Claus, von deſſen Weisheit das Bolt noch nad Jahrhunderten feize 
Sagen erzählte, fowie von der Tapferkeit Gerhards, fein Wert fort. 

Der Graf Johann von der Kieler Linie flarb 1859 und hinterließ einen 
Sohn Wolf VII. Bemerkenswerth aus der nächften Zeit if} der große Kampf der 
Hanfa mit den Dänen, an welchem aud bie Holſteiniſchen Grafen als Berbündete 
der Städte Antheil nahmen. Gin glängender Friede ſchloß für Deutſchland ben 
Kampf, mit den Holfteinifhen Grafen wurde 1373 zu Rendsburg der Bergleich 
geſchloſſen. Der Sohn Waldemars, Herzog Heinrich, lebte ohne Erben unb fo 
rüdte der Moment immer näher, wo die zukünftigen Anfprüde, bie Gerhard der 
Große erworben, von feinen Söhnen verwirklicht werben konnten. Herzog Heinrich 
flarb 1375 und wenige Monate nad ihm auch ver Däuenkdnig Waldemar, ben 
noch im ben legten Lebenetagen ver Plan beichäftigte, die alte Herrſchaft Däne 
marks über das Herzogthum wieder zu gewinnen. Die Grafen Heinrich und Elaus 
festen fih raſch im den Beſitz des Herzogthums, wenn auch da und dort ned 
gelämpft werben mußte. Es dauerte geraume Zeit, bis ein ſchließlicher Friedens 
vertrag mit der Königin Margaretha, welche für ihren minderjährigen Sohn Disf 
die Regentfchaft führte, mit den Holfteinifchen Grafen zu Staude kam. Zu Nyburg If 
dann 1886 am 15. Anguft die förmliche Einwelfung in das Herzogthum Schleswig 
gefhehen. Statt des Grafen Heinrich, der kurz vorher mit Tod abgegangen war, 
traten feine drei Söhne Gerhard, Albrecht and Heinrich III. ein. Nach ver Berhaublung, 
die durch feterliche Belehnung und Eidesleiſtung bekräftigt wurbe, follte Die Holften 
Herren da® Herzogthum Schleswig befigen, „Kindesfind zu erben” und davon bem 
Reiche Dänemark Mannfhaft und Dienfte than, doch follte von den Holfteinifchen 
Strafen immer nur Einer der regierenbe Herzog fein. Nach dem Tode des Grafen Elans 
1397 kam es zur Thellung zwifchen ven 3 Söhnen feine® Bruders, nachdem ſchen 
vorher eine nseinanberjehung wit ben andern Schauenburgern ftattgefunden hatte. 
Bei diefer Theilung bat die Mannfchaft bes Taudes, d. h. die Lehensträger ſowohl 
Holſteins ale Schleswigs einen wejentligen Antheil genommen; ber Herzog Ger⸗ 
hard erhielt das Hauptſchloß Plön, Kiel am an Albrecht, Segeberg mit Rende⸗ 
burg an Heinrich. Ungetheilt und ungezweit fol außer Anderm auch bie Mitter- 
und Mannfhaft fein, während das —** 9 Jahre lang dem bisherigen 
Herzog Gerhard verbleiben follte. Gerhard fand 1404 im Kampfe gegen bie 
Dieihmarſen feinen Tod, und auf lange Zeit unterbleiben nad ber ſchweren Nieder⸗ 
Inge in der Suber Hamm bie Angriffe auf das freie Bauernvoll. Gerhard Hinter 
ließ nur unmündbige Kinder, fein Bruder Wlbreht war ohne Erben geftorben, ber 
britte, Heiurich, war Geiflliher geworden, und ba Graf Elaus au nur eine 
Tochter hinterlaſſen hatte, fo ſchien die große Zeit des Schauenburger Haufe 
vorbei zu fein. Margaretha von Dänemark benugte dieſe Lage, um fidh im dem 
Befig des Herzogthums zu fegen. Der Neffe der Königin Margaretha Erich von 
Bommern war auf den däniſchen Königsthron gelommen und führte Jahre lang 
ben Streit, der befonders um bie feften Städte und Pläge im Herzogthum ge 
fohten wurde. 1412 flarb dann bie große Königin, welde bie Bereinigung ber 
brei norbifchen Reiche durch die kalmariſche Union zu Stande gebracht. 





Schleswig-Holftein. 9m 


Die Witwe Gerhards IT, Eliſabeth, hatte dieſem drei Söhne geboren, ber 
ältefte derſelben Heinrih trat als Herzog auf; es gelang ihm, fi mit andern 
deutſchen Fürſten zu vereinigen, während König Erich die Freundſchaft der Stäbte 
und namtentlid) des wichtigen Lübeck erlangte. 

Die Beſchreibung dieſer Kriegegeiten Iefen fi wie ein Borfpiel des dreißig⸗ 

jährigen Arieges in Deutſchland, nur daß der däniſch⸗deutſche Kampf damals nicht 
nur zu Land, fondern aud auf dem Wafler gelämpft wurde. Dann und wann 
trat eine kurze Waffenruhe ein, aber ein wahrer Friebe war bei dem Gegenſatz 
der Interefien nicht zu erlangen. Der väntihe König beftritt die Erblichkeit des 
ſchleswigſchen Lehens eben fo heftig, als fie von deutſcher Eeite behauptet wurde. 
Der deutſche König Sigismund, der endlich 1424 als Schiedsrichter angerufen 
wurde, gab fein Urtheil ganz zu Gunften des Königs, indem er erflärte, daß 
ganz Süp-Fütlend mit Zugehör dem Könige und Reiche Dänemark zulomme und 
den Grafen von Holftein, Heinrich, Adolf und Gerhard, Tein Recht daran zu- 
tomme. Bon Geiten ber Schauenburger warb gegen biefes ungerechte Urtheil 
Appellation an den Papft eingelegt; doch wurbe biefer burd die Drohung bes 
deutfhen Königs veranlaft, auf die Sache nicht weiter einzugehen. Nachfolger bes 
1421 geftorbenen Grafen Heinrich, des Bruders Gerhard VI., war Abolf VIII. 
geworben. Zur Unterflügung ber Holfteiner traten endlich die Städte der Hanfa 
zufammen und Graf Gerhard, der jüngfte Sohn des Grafen Gerhard VI., über- 
nahm tie Führung der Flotte. Leider fand Herzog Heinri beim nächtlichen Sturm 
auf Flensburg fhon 1427 feinen Tod. So kam das Herzogthum an ben zweiten 
Bruder Adolf VIII, dem fchon vorher der Oheim Heinrich einen Antheil an 
Holftein übergeben hatte. Nach wieberholten vergeblihen Verſuchen zur frieblichen 
Beilegung emtbrannte der Kampf, ber jet Über 20 Jahre gedauert, mit größerer 
Heftigkeit, aber diesmal mit fiegreihem Erfolg für die deutſche Sade. Endlich kam 
es zu Verträgen, in welden ver König dem Herzog Adolf für feine Lebenszeit das 
Herzogtbum Säleswig einräumte. Auch mit den Städten warb Friede gefchlofien, 
König Erich aber verlor in Folge der Zerrättung, welche der Krieg dem Reiche 
Dänemark gebracht hatte, ſelbſt feine Derrfhaft in dieſem. Nah der Vertreibung 
Erichs wurde dann vom dänifchen Reichsrath, der einen ſtets größer werdenden 
Einfluß gewann, tem Herzog Übolf nicht bloß der volle Beſitz des Herzogthums 
Säleswige eingeräumt, fontern für den neu zu wählenden König die Verpflichtung 
übernommen, vie Belehnung für den Herzog zu gewähren. Der neue König Chriftoph 
von Baiern, der Neffe des_vertriebenen Erich, ertheilte dann 1440 zu Kolbing bie 
Belehnung mit ansgeftredter Fahne zu einem rechten Erblehen unter Zuflimmung 
bes gefammten bäntihen Neihsraths, und im Jahre 1443 wurbe bei der Krönung 
des Königs Chriſtoph die Lehensurkunde erneuert. 

IV. Wenn auch fo Herzog Abolf den Zuſammenhang der Lande Schleswig 
und Holftein und fein eigenes Mecht glüdlich zu Stande gebracht hatte, fehlte doch 
für die Zukunft Schleswig-Holfteins ein Weſentliches — die Erbfolge nad Adolf 
VIIL war nicht gefichert. Bor ihm war wie wir gefehen fein älterer Bruder Heinrich 
in jungen Jahren vor Flensburg gefallen, ohne Nachkommen zu hinterlaffen. Der 
dritte Bruder Gerhard flarb 1433 anf einer Reife zu Emmerih am Rhein; bie 
Aechtheit der von ihm flammenden 2 Kiuder, eine Tochter und ein Sohn, ward 
beftritten. Die Mannfchaft des Landes, welche mehr und mehr die Rechte und 
Stellung einer ſtändiſchen Vertretung gewonnen hatte, weigerte fi, diefe Kinder 
als eröberechtigt anzuerkennen und der Sohn iſt verfhollen. Herzog Adolf ſchloß 
eine nene Ehe, aber auch dieſe blieb unbeerbt. Es beftand nod von dem Schauen- 

BluntfQli und Brater, Deutſchet Staats⸗Woörterbuch. Al. 62 


978 Nachtrag. 


Burger Haufe der Zweig, welcher die Stammgrafſchaft und jene kleine Herrſchaft 
an der Elbe befaß; aber mit Uebergehung der Anſprüche beifelben ſuchte Herzog 
Adolf den älteflen Sohn feiner Schwefter, welche mit dem Grafen Diederich von 
Oldenburg vermählt war, die Nachfolge in feinen Ländern zu verfchaffen. Im 
Herzogthum Schleswig leiſtete Die Mannfchaft ſchon 1447 dem Grafen Chriſtias 
von Oldenburg als tünftigen Landesherrn die Huldigung; in Holkeln ging bie 
Suche ſchwieriger, da bier das Recht der andern Schanenburger Tinte unantaf- 
bar ſchien. Mitten in vie Vorbereitung, weldye Herzog Wolf traf, um feinem 
Schwefterfohn auch die Nachfolge in Holfteln zu fichern (e8 gehörte dazu nmament- 
ih auch, daß für ven deutſchen Katfer der Bifchof von Lübeck eine nene Belehnunz 
des Herzogs mit Holftein, die ſich auf bie Schauenburger Linie nicht erftredite, vor: 
nahm), traf ihn den Auf, den bäntfhen Königsthron zu Befteigen. Seine vielfachen 
Beziehungen zu dem daäniſchen Reichsrathe gaben dazu Befonvern Anlaß. Herzog 
Adolf lehnte jedo den Untrag ab, fchlug dagegen den Grafen Ehriftian von Olden 
burg vor, der in Folge deſſen auf die ihm fchon zu Theil gewordene Hultigung 
in Schleswig und Holftein verziäten mußte und ebenfo die Veftimmung aus ber 
Handvefte des Königs Waldemar über das Getrennthalten des Herzogthums Schleswig 
dom Reihe Dänemark beftätigte. Huf diefe Weiſe ſuchte man fi In Schleswig-Holftelu 
gegen eine neue Verbindung mit Dänemark zu fihern, aber wie die Folge lehrte, 
wurbe das kaum zerriffene Band raſch wieder gelnüpft. 1455 beflätigte Chriffian 
als vänifher König feinem Oheim Schleswig ald ein rechtes Erblehen, worin 
unzweifelhaft das Streben nad dem Erwerb von Seiten des neuen Dänentönigt 
fi verrieth. 12 Jahre lang regierte noch der legte Schauenburger bie Graffchaft 
Holfteln, wie jegt das fpätere Herzogthum in feinem ganzen Umfang genannt zu 
werden pflegte. Er flarb im Schlofſe Segeberg am 4. September 1459. Nadı 
den damals herrfchenden Rechtsanſichten war große Gefahr vorhanden, daß bie 
Bereinigung des Herzogthums und der Grafſchaft geiprengt werben würde; ben 
Schauenburgern an der Weſer wurde ein Anrecht anf Schleswig beftritten; König 
Ehriftion und feine Brüder waren dem verftorbenen Herzog nur durch ben Weiber 
ſtamm verwandt und wenn man dieß auch für Schleswig als vänifches Lehen 
elten lafien wollte, fo Tonnte ein Erbrecht auf Holften für die Schwefterfühne 
—* ſicherlich nicht behauptet werben; für Schleswig ſtand wieder zur Frage, 
wie der dänifche König als Lehensherr fih zu irgend einer fonftigen Herrfder- 
familie ftellen wrd. Unter viefen Umftänden waren die Stände der Grafſchaft 
und des Herzogsthams darauf ans, fi vor Allem gegen die Tremmung der beiten 
Lande zu fihern. Die Unfprüde bes Grafen Dito von Schauenburg wurden 
—8 abgewieſen; ſpäter gelang es durch allerlei Beſprechungen unb Ver⸗ 
jprechungen für die Wahl des Dibenburgers eine Anzahl ber leitenden Männe 
zu gewinnen. Enblih kam am 5. März 1460 die berühmte Urkunde zu Stande, 
welde zu Ripen auögefertigt wurde und das eigentlihe Staatsgrundgefetz ber 
Lande Schleswig und Holſtein gewefen iſt. 

Nachdem zugleih mit ven Brüdern bes Königs von biefen eine Abfinbung 
getroffen war, ba diefelben, wenn er ein Erbrecht hatte, ein gleihes beſaßen und 
da fi der König verpflihtet hatte, vie Auſprüche ber Schauenburger ebenfalls 
zu befeitigen, fo warb ber erfie Dänenlönig aus dem Haufe Oldenburg in Ripen 
von ben vereinigten Ständen von Schleswig und Holftein als Herzog und Graf 
gewählt und anerfennt. Ausdrücklich wird dabei hervorgehoben, dag ex „nicht als 
König von Dänemark” gewählt werde. Das Wahlreht war in biefen Landen 
fiherli eine Neuerung, aber der Einfluß ber Landſtände auf die Regierungt 


Schleswig-Holften. 979 


nachfolge war damals vielfach ein fo mächtiger, daß faktifch die Ausübung viefes 
Rechtes als eine Aenderung nicht erfchien, zumal bier der größere Theil der etwa 
Erbberechtigten oder fonft Betheiligten zu dieſem Wege der Entſcheidung feine 
Zuftimmung gab. Die fpäteren Kontreverfen über vie Erbfolge in Schleswig. 
Holftein haben den Regierungserwerb Ehriftian I. als ihren Hauptausgangspunft 
genommen und den ganzen Vorgang eingehender Unterſuchung unterworfen. Dar⸗ 
nad find 3 Momente wohl zu unterfheiden. Die beiden Lande, für welche 1460 
eine nene Dynaftie eintrat, waren Lehensgebiete; die Befolgung ver allgemeinen 
Lehendrechtsgrundſätze war daher die erfte Vorausfegung. Sie waren baneben 
erblihe Lehen und dadurch Fonnte in Bezug auf fie Erbberedhtigung vorhanden 
fein. Endlich ward durch die Thatfahe der Wahl und die Aufnahme des Wahl« 
rechts der Stände für die Zukunft diefen eine Mitwirkung bei der jeweiligen - 
Emennung des Herrſchers zugeftanden. Diefes Wahlreht hat jedoch nach den 
beiden Priveligien⸗Urkunden Chriſtian I. nur innerhalb ber erbberechtigten Familie 
unter bes Königs Kindern oder bei ihrem Mangel unter den fonfligen Erben 
ftattzufinden. Iſt nur ein Erbberedhtigter vorhanden, fo ift nad dem wahren In« 
halt der Ripener und Kieler Urkunde ein von demfelben etwa abſehendes Wahl- 
recht nicht vorhanden. Wie die Wahl oder doch Anerkennung des Königs Ehri- 
fitan I. als Herzog ihren eigentlihen rund darin hatte, die Unzertrennlichkeit 
von Schleswig-Holftein zu fihern; fo follte das Wahlrecht, indem es geftattete, 
aus mehreren Gleicherbberechtigten einen zu ernennen, ebenfalls dazu dienen und 
das Verſprechen des Königs für alle Zeiten wahr zu halten, daß die Lande zu- 
fammen bleiben follen, ewig ungetheilt. Allerdings hat eine fpätere Zeit fidh theil- 
weife gegen den urfprängliden Sinn der grundlegenden Orduung von 1460 ver» 
gangen; aber weder find jemals Holftein und Schleswig ganz auseinander geriffen 
worden, noch haben die unter dem Landesheren gemachten Theilungen bie Ge⸗ 
meinſchaftlichkeit der Hauptinflitutionen des Landes gebroden. Die Rechte, welche 
Chriſtian I. bei feiner Thronbefteigung in Holftein und Schleswig erwarb, gingen 
nad Maßgabe der gemeinen deuiſchen Lehenerbfolge auf feine fämmtlihen Des» 
cendenten im Mannsflamme über, nur beſchränkt durd das innerhalb des Familien⸗ 
erbrehts den Ständen gewährte Ernennungs- und Auswahlreht. Es unterliegt 
auch feinem gegründeten Zweifel, daß fämmtlihe zu Schleswig und Holftein ge» 
hörige Nebenherrfaften dem allgemeinen Erbgang im Haufe Chriſtian I. als 
erften Erwerbers unterlegen, wie dieß dann auch bei dem Wusfterben der Schauen. 
burger Nebenlinie zur Geltung gelommen ift. 

V. Die Bedentung der Vorgänge von 1460 befchränften fi aber nicht blos 
auf diefes Erb- und Wahlrecht. Nicht mit Unrecht bat man bie Handveſte 
Chriftian I. und ihre „tapfere Verbeſſerung“ vie magna charta von Schleswig-Hol- 
fein genannt. Der Math des Landes, welder mit dem König und vem bänifchen 
Neicherath Über die Annahme des Erſteren als Herzogs und Grafen zu berathen 
hatte, Hat zunähft darauf Bedacht genommen, daß ber jeweilige neue Fürft bie 
Beſtätigungen ber Landesfreiheiten zu gewähren Babe, und dieſe werben dann in 
der Urkunde theils Im Allgemeinen gefihert, theils im Einzelnen eine Reihe ſolcher 
Grundrechte aufgeftellt. Alle Beamte, der Droft von Schleswig, der Marſchall 
von Holftein, follen Einwohner diefer Lande fein. Für die gehörige Rechtspflege 
und ihre Unabhängigkeit wird Sorge getragen. Keine Schatzung fol, abgefehen 
von den unmittelbaren Outsangehdrigen des LTanvesheren, ohne Zuflimmung ber 
Zandftänbe auferlegt werden. Ebenſo darf ohne Zuflimmung ter Näthe und ger 
meiner Mannſchaft kein Krieg angefangen werden. Den Zufammenhang von 


62 * 





980 Radtrag. 


Handel und Berkehr des Landes mit den benachbarten Stäbten Lübel und Ham- 
burg, wovon leßteres formell noch ein Beſtandtheil der Grafchaft Holflein war, 
wird dadurch anerfennt, daß ver Fürſt feine andere Münze einführen darf, als 
in Lübel und Hamburg gäng und gebe if. Sowohl bei Anwejenheit des Königs 
als wenn der Fürft außer Landes ift, bat der Rath, der weſentlich als ſtãndiſcher 
Ausſchuß erfcheint, einen hervorragenden Antheil an den öffentlihen Geſchäften. 
Die Landesprivilegien von 1460 bilden in ihrer Gefammtheit bie freifinnigfle 
Berfoffung, wie fie die alt ſtändiſche Entwidlung in Deutfchland je nur bervorge- 
rufen bat. 

Wenn and König von Dänemark, fo war Ehriflian I, der erſte Olden 
burger aufdem Throneder Herzogthümer, doch ein Fürſt aus deutfchem 
Stamme und gegen die Gefahren, welche durch die Bereinigung der Kronen der 
beiden Lande auf einem Haupte entftehen konnten, glaubte man fi in Schleswig- 
Holftein durch das neue Erb- und BVerfaflungsreht wohl gefihert. So kam ſchon 
im Jahre 1466 zwiſchen Vertretern des Reiches Dänemark und Schleswig. 
Holftein am 20. Juli ein weiterer Vertrag zu Stande, dem der König und Herzog 
ebenfalls zuftimmte, wodurch die Wahl eines Landesheren ald eine gemeinfchaft- 
lie Sache durch 12 Näthe ans dem Königreihe und 12 aus Schleswig-Holſtein 
erforberlihen Falls vor fih gehen ſollte. Zwiſchen ven beiden Ländern foll ewiger 
Friede befiehen, alle Streitigkeiten dur den Zujfammentritt der Räthe beigelegt 
werben. Unter Ehriftian I. ift denn auch 1474 die Erhebung der Grafſchaften 
Holftein, Stormarn und des dazu gehörigen Dithmarfen, das fchon im Jahre 
1473 von dem Kalfer Friedrich III. dem König Chriſtian I. und feinen Erben 
zu Leben verliehen war, zu einem Herzogthbum Holftein, und die Belehnung 
des Fürften mit diefem fo vereinigten Lande gefchehen. Bis dahin hatte im Namen 
des Kaiſers der Biſchof von Lübeck die Grafſchaften verliehen, dieß follte von 
nun an au für dad neue Herzogthum gelten. Dithmarſen war freilich za- 
nächſt nur ein Beſitz in der Hoffnung, und unter Chriftian L ift es zum Ber 
ſuche eines Zwanges gegen das Land nit gelommen. Der Papſt ftellte fich ven 
Plänen von König und Kalfer entgegen und beftätigte die alte Verbindung des 
Landes Dithmarfen mit dem Erzbistum Bremen. Bald darauf konnten die Ditk- 
marfer auch den Kaifer auf ihre Seite hinüberziehen. Die leuten Jahre feiner 
Herrſchaft verbrachte Chriftian in dem Streben, ven Gewaltthätigfeiten des Adels, 
bie damals wie überall bei vem Mangel einer ausgebilteten Iuftiz und Polizei 
das Land ſchwer brüdten, entgegen zu treten. 

Chriftion I. hatte zwei Söhne, Johann und Friedrich. Schon jetzt wurbe 
das Wahlrecht, wie es die Privilegien von 1460 gegeben, von Johann, ber ben 
bänifhen Thron nad der Wahl des dortigen Reichsraths beſtiegen, angefochten. 
Der Plan, den jüngern Friedrich allein zum Herzog von Schleswig und Holftein 
zu wählen, ward bintertrieben und ben beiden Brüdern zugleich gehuldigt. Während 
der Unmündigkeit Friedrichs führte der König allein die Regierung; nad, erlangter 
Volljährigkeit des jüngern Bruders wurde im Jahre 1490 die Theilung ver 
Lande, aljo ein weiterer Bruch in der Orbnung von 1460 vorgenommen. Wie 
ehemals unter den Schauenburgern, wurben aud jetzt die Hauptſchlöſſer mit den 
zu ihnen gehörigen Aemtern in zwei Theile geſchieden, ber jüngere Bruter Friedrich 
nahm den nad dem Hauptfchloffe Gottorp bei Schleewig, fpäter fogenannten 
Gottorper Untheil; die andere dem König zufallende Hälfte wurbe der Gegeberger 
Antheil genannt. Nicht in viefe Theilung wurde gezogen das Verhältnig zu dem 
Prälaten und der Nitterfchaft, ebenfo das allgemeine Steuerwefen, überhanpt 











Schleswig-Holftein. 981 


alles, was fih auf vie Landſtände bezog. Ebenſo blieben in ver Gemeinſchaft 
die Anfprähe auf Dithmarfen, die denn auch fehr bald mit ven Waffen geltend 
zu machen, verfucht wurde. Die gemeinſchaftlich gebliebenen Angelegenheiten, ſowie 
tie Territorial-Auseinanderfegung bergeftalt, daß bie Befigungen ver Brüder unter 
einander lagen, follten, trog ber fonfligen Trennung in Verwaltung und Nutz⸗ 
nießung, den Zufammenhang ver Lande fihern. Im Jahre 1500 wurbe von dem 
König und Herzog gemeinfchaftlich der Zug gegen Dithmarſen unternommen; zahl⸗ 
reich⸗ Landsknechte waren dafür geworben; dazu fam bie gefammte Ritterfchaft 
des Landes. Die Tapferkeit und Umfiht der Ditbmarfen, unterflügt durch bie 
Witterung, fiegte über die weit zahlreihern Schaaren der Eindringenden; maffen- 
haft wurden bie Angreifer zu Boden gefhlagen und mit genauer Roth entlamen 
der König und der Herzog felber. 

Die Schlacht bei Hemmingſtädt bildet ein würbiges Seitenſtück zu dem Kampfe 
in der Süderhamme, in welchem 1404 derzog Derharh Niederlage und Tod fand, 
Unter dem Cinfluß der Hanfeftäbte kam ein Bergleih zu Stande, aber es war 
mehr ein Verhältnig des Nichtkrieges als des Friedens. In den leuten NRegierungs- 
jahren Johanns fpielte ein Krieg des Königs mit den Hanfa-Stäpten felber, ver 
größten Theils zur See geführt wurde, aber Schleswig. Holftein war an biefem Kampfe 
unbetheiligt, der nur von dem eigentlihen Dänemark und für dänifche Interefien 
geführt wurde. Der Sohn und Nachfolger Johanns, Chriſtian II. wurde vom Biſchof 
von Lübeck mit dem Herzogthum Holftein belichen, als König von Dänemark gab er 
fi felber das Lehen von Schleswig nnd er empfing gemeinfchaftlid mit feinem 
Oheim Frieprih unter Beſtätigung der Tandesprivilegien die Huldigung ber Land⸗ 
ſtände. 

Die Regierungsgeſchichte Chriſtian II. hat ihren eigentlichen Sitz in den drei 
nordiſchen Reichen. Für Schleswig und Holſtein iſt bemerkenswerth, daß durch 
feine Verwandtſchaft mit Karl V. ihm das aktive Recht der Belehnung mit Holſtein an 
Stelle des Biſchofs von Kübel zu Theil wurde. Dieß gab Anlaß zu einer Er- 
weiterung der Spannung, welde ſchon längere Zeit zwifchen dem Herzog Friedrich 
und dem Koönig beflanden hatte. Die Stimmung in dem Lande war offenbar zu 
Bunften des Herzoge und gegen ven jähzornigen wilden König. Endlich Brad 
der Sturm gegen Chriftian in Dänemark los und Herzog Friedrich verband fich 
mit den Wufftänpifhen und der Stadt Lübeck. Am 26. März; 1523 empfing 
Der Oheim zu Noborg die bänifche Krone, welde der Neffe veripielt Hatte. 
Durch den Sturz König Ehriftians wurde die Theilung, welde 1490 in ben 
Herzogthümern flattgefunden, wieder aufgehoben. In dem bis dahin köoniglichen 
Antheil empfing Friedrich die Huldigung. Da die Hanfeftäpte befonders diejenigen 
waren, welde den Sturz Ehriftians als eines Feindes ihrer Intereffen in ber 
Öftfee herbeigeführt hatten, beſchützten fie auch die Herzogthümer gegen erneute 
Angriffe des vertiiebenen Königs Herzogs. Die neue Situation, daß der einzige 
Herzog der Lande Scleswig-Holftein zugleih audh König von Dänemarf war, 
führte zu mancherlei Veränderungen in dem Berfaflungsrechte des Landes. Da 
bie Privilegienbeftätigung durch Friedrich I. erſt 1583 in die Hände der Stände 
kom, pflegt man fie nad diefem Jahre zu citiren, obgleich fie ſchon früher 1524 
andgeftellt war. Im Allgemeinen zeigt fih darin eine Begünſtigung des Adels, 
wie denn gerade In dieſem Kreife fih die Hanptgegnerfhaft des vertriebenen 
Könige- Herzogs Chriſtian vorfand. Bon befonberer Wichtigkeit für das allgemeine 
Verfafſungsleben iſt die Beſtimmung, daß anch für Schleswig eine Appellation 
nicht außerhalb des Landes nad Dänemark gehen folle. Als hoͤchſte Inſtanz follte 


982 Nachtrag. 


ber Landtag jährlich 2 Mal zu Fleneburg und zu Kiel fi verfammeln und da⸗ 
durch kam auch in die politifchen Berhanplungen eine gewiffe Regelmäßigfeit. 
Uebrigens war es ſtets der gemeinfchaftliche Landtag für beide Herzogthümer. 

Ein Borgang aus der Herrſcherzeit Chriſtian II. und Friedrichs, der noch 
in den jüngften Tagen zu einer komiſchen Wieveraufwedung gelangt if, war bas 
Beftreben des Churfürſten Ioahim von Brandenburg, feine Heirath mit der 
Toter König Iohann’s ale Mittel zum Erwerb der Herzogthümer zu verwerthen. 
Die angeblihen Anrechte feiner Gemahlin auf die Hälfte der von König Johann 
beſeſſenen Erblande ließ er fih vom Kaiſer Marimilian beftätigen und von bem- 
jelben zugleih eine Anwartſchaft auf bie andere Hälfte geben. Ihre Verwirklichung 
jegte aber voraus, daß der Mannsftamm in Schleswig-Holftein ausflarb und 
daß überhaupt eine Weibernachfolge in biefen Landen zuläffig fe. Da es fich um 
das reine Wahlreih Dänemark bei diefen Plänen nicht handeln konnte, and nur 
Schleswig - Holftein als Oldenburgiſches Erbland erſchien, iſt wenigſtens die frühe 
Theilnahme, welde das Haus Brandenburg ſchon vor mehr ale 300 Jahren dem 
Erwerb des Landes zwifhen Nord- und Oſtſee gefchentt hat, bemerfenswerth. 

VI. Wenige Jahre fpäter wurden die Herzogthümer von der Bewegung ber 
Reformation ergriffen, die bekanntlich in Chriſtian II. einen lebhaften Freund 
fand. Berhäftnigmäßig raſch wurbe die nene Lehre in den Herzogthümern feßhaft 
und aud von Seiten ver höheren und nieveren Geiftlichleit wurde wenig Wider- 
ſtand geboten. Sehr bald erfah der Adel des Landes, daß fi audy materielle Vor⸗ 
theile für ihn aus dem Meformationswerke ergeben Könnten. Ehe uod die Refor- 
mation vollſtändig fiegte, farb der König Herzog Friedrich I. Sein ältefter Sohn 
Chriſtian III. hatte fih ganz beſonders der neuen Lehre zugewandt und dieß er⸗ 
leichterte bei der damaligen Stimmung feine und feiner brei unmündigen Brüder 
Anerkennung in ver Herrfhaft durch den Landtag 1533. Im Bezug auf das 
— wird ein vorläufiges Abkommen getroffen, bis fämntlihe Fürſten 
mindig ſeien. 

Unter ven ſchwankenden Berhältuiffen und namentlih wegen der noch in 
Danemark ausftehenden Königswahl wurde in Erneuerung der alten Union 
1533 ein neues Bündniß zwilchen dem däniſchen Reichsrath und dem Rathe von 
Holftein gefhloffen. Darnach fol ale Streitigkeiten zwifchen beiden Landen, fo- 
wie zwifhen den Unterthanen ein Schiedsgericht entſcheiden, gegenfeltige Kriegs⸗ 
bülfe wird zugeflanden, im alle der Noth mit aller Macht. Das Bünduiß fol 
gelten, fo lange aus dem Geblüte Königs Friedrichs ein König in Dänemarf 
bleibt und fortan zu ewigen Zeiten. In Bezug auf den Iegteren Punkt iſt offen- 
bar die Ueberzeugung vorwiegend, daß die Nachfolge In den Herzogthämern auf 
Erbrecht beruht. Bemerkenswerth if, daß Anſprüche des Neihes Dänemark auf 
das Herzogthum Schleswig ebenfo vorbehalten bleiben, wie die Anrechte ber Fürſten 
von Schleswig und Holftein darauf. Die Union bat feit der Zeit Chriſtian I. 
fihtbar eine Erweiterung erhalten und der Gedanke war vorwiegend, daß Däne- 
mar! und Holſtein auf die Dauer dur die Perjon des Fürſten verbunden fein 
ſollten. Gemeinfam war ven beiden Landen jegt der Krieg, den zur Unterflügung 
Ehriftian II. Lübed unter der Führung von Wullenmweber unternahm; bei 
den vielen Prätententen, weldge neben dem vertriebenen Chriftian IL in’s Feld 
geführt wurden, einigte man fi raſcher als es fonft gefhehen wäre unt am 18. 
Auguft 1533 empfing Ehriftian III. zu Horfen® die Wahl als König von Düne 
mark. In dem Kriege wird zunächft durch ven zu Stokelsdorf gefchloffenen Frieden 
infofern eine Aenderung herbeigeführt, daß Schleewig-Holftein nicht ferner Kriegs⸗ 


Schleswig · Halſtein. 983 


ſchauplatz fein fol. Am 12. Auguft 1533 kam dann endlich der Friede zu Stande. 
Durch den Tod Wullenweberd war dem menen däniſchen König ebenfo wie dem 
Rande Schleswig-Holftein ein erbitterter Gegner vom Schauplage abgetreten. Da» 
jegen bat die dentſche Sache im Norden dur das allmälige Zurldgleiten Lübecks 
yon feiner ehemals behaupteten Stellung einen nicht geringen Verluſt erlitten. 
Die Zeit der Stäpterepublifen war überhaupt im Erlöfhen und fo winde aud) 
une Wullenmebers Unternehmungen dem erflartenden Reihe Dänemark die einzelne 
Stabt nit mehr gewachſen geweien fein. 

Um fo mehr bat auf das deutſche Element in den Herzogthümern und nament» 
ih in Schleswig die Durhführung der Neformation einen wohlthätigen 
Einfluß geübt. Auf dem Landtage zu Rendsburg 1540 warb die Kirchenreform 
entſchieden in's Werk gefent. 1542 wurde bie neue Kirhenorbnung von bem 
Landtage zu Rendsburg angenommen, doch iſt erſt Manches im Laufe ber 
Beit zu völligem Abſchluß gebiehen. Am fpäteften ift vie neue Lehre Im Schanen- 
burger Antheil in der fogenannten Herrfhaft Pinneberg zur Geltung gelommen. 
Im eigenthümlichen Zufammenbang mit der Meformation fteht bei den Nordfriefen 
und Diethmarſen die Umwandlung bes alten Rechts der Blutrache und der Mann» 
uße bei Todſchlägen. Die proteſtantiſche Geiſtlichkeit war e8, welche ſtatt biejer 
mittelalterlihen Abfindung die Einführung der Tobeöftrafe durchſetzte. Werthuoller 
war, daß mit der VBibelüberfegung und den vielen Prebigern aus Oberdeutſchland 
bie hochdeutſche Sprache in das Land kam. Außerdem hatten natürlih auch bie 
neu entflandenen beutfhen Univerfitäten, wo bie rechtsgelehrten Räthe des 
Landes und Doktoren gebildet wurden, einen Einfluß auf das tiefere Eingreifen 
bes deutſchen Elementes bis in bie nördlichſten Gegenden Schleswigs. 

Nah den Stürmen bes Kriegs und der Reformationsarbeit Fam Chriftian III. 
auf die Erledigung der Erbfolgefrage zurüd. Der Köniz Herzog wollte 
jowohl von der Vormundſchaft über feine Brüder durch Rechnungsablage befreit 
werden, als auch eine Theilung zwiſchen den Berechtigten herbeiführen. Im Jahre 
1544 iſt dann wieder auf einem Landtage zu Rendsburg die Theilung in's Wert 
gefegt worden. Es waren vier berechtigte Brüder, aber es gelang, den jüngſten 
derfelben zu einem Verzicht zu beftimmen, fo daß, wie ehemals zwei, jegt brei Be⸗ 
ſtandtheile gebildet wurden. Auch diefes Mal wurde das Verhäliniß zur Land⸗ 
ſtandſchaft und Anderes als gemeinfam erhalten. Die drei Theile fielen: Gottorp 
mit Zugehör auf den jüngſten Bruder Wolf, Sonderburg auf Chriftian IIL, 
Hadersleben bekam Johann. Es iſt jegt wohl einmüthig angenommen, baß dieſe 
Theilung ebenſo wie die frühere auf das Erbrecht am geſammten Lande keinen 
Einfluß übte. Die Landesherrſchaft in ihrer Geſammtheit blieb trotzdem eine 
gemeinfame und ebenfo wenig konnte durch fie der auf ver Abflammung vom 
erftien Erwerber beruheude Kulprud ber einzelnen Mitgliever des Oldenburgiſchen 
Haufes aufgehoben werben. Bon Seiten des Landtages warb nicht Bloß eine 
förmlihe Veftätigung der alten Landes-Privilegien, fondern namentlich auch eine 
einheitliche Organiſation der Verwaltung verlangt. Bald darauf gaben bie An⸗ 
ſprüche, welche das deutſche Reich an die einzelnen Stände erhob, fowohl in 
Milttärangelegenheiten als bei Gelbleiftungen zu vielen Auseinanverfegungen An⸗ 
laß. Dabei kam auch zur Sprade, daß die Landesherrn von Holftein für das 
Land Dithmarſen die Reichsſteuern bezahlen müßten, ohne doch von biefem irgend 
melde Einkünfte zu beziehen und bie wirkliche Herrſchaft über das Land zu ge⸗ 
niegen. Endlich wurde 1548 das Verhältniß Holfteins zum Reiche dadurch neuer⸗ 
bings anerkannt, daß ein Geſandter ver brei Landesherrn für dieſe gemeinfchaft- 


984 Nachtrag. 


lich das Herzogthum Holſtein mit auedrücklicher Hervorhebung von Dithmarfen 
als einen Beſtandtheil desſelben vom Kaiſer zu Lehen empfing. 

Bon nun an fiel faltiſch die mittelbare Belehnung durch den Biſchof von 
Lübeck fort, Holftein warb als ein unmittelbares Reichslehen betradkiet 
und dieß fonnte um fo eher geſchehen, als bie Fürſten nicht mehr perſönlich zur 
Belehnung am Faiferliden Hofe zu erſcheinen pflegten. 

Ueberhaupt ift der Antheil, den die Herzöge von Holftein an ven Geſchäften 
beim Reichstag genommen haben, niemals bedeutend geweſen. In ber nädhften 
Zeit iſt es das Berbältni zu Ditbmarfen, was die Aufmerkfamkeit ver 
Fürſten in Anſpruch nahm. Die unabhängige Bauernrepublil war bei dem be- 
fannten Streben der Fürften, fie unter ihre Gewalt zu bringen, eine unbequeme 
Nahberin. Die alten Ordnungen im Lande felber reichten nit ans, um bie 
Pflihten guter Nahbarfhaft zu erfüllen, oft fehlte auch der Wille dazu. Es 
war namentlih Herzog Adolf von Gottorp, welcher den Plan der Unterwerfung 
Dithmarſen's betrieb. Der König Chriſtian III, weldher mit andern auswärtigen 
Händeln beſchäftigt war, zog die kriegeriſche Loöſung in vie Sänge. Immer beut- 
liher ward aber, daß die Dithmarfer weder auf fremde Hülfe rechnen konnten, 
noch im Innern das alte Zufammenhalten vorhanden war; es kam noch hinzu, 
daß den Herzögen vie friegsgewohnten Landsknechte aus den. deutfchen Kämpfen 
za Gebote ftanden und ſämmtliche Fürften im Stillen die Unterwerfung des 
Bauernvolls begünftigten. Als daher Chriftian III. geftorben war, warb e8 Herzog 
Adolf leicht, den jungen Friedrich II., der alsbald‘ in Dänemark zur Regierung 
gelommen war und dann and in Scleswig-Holftein ohne weiters für fi une 
zwei jüngere Brüder den königlichen Antheil zur Herrihaft übernahm, zum Kriege 
gegen Dithmarſen zu beftimmen. Die drei Landesherrn vereinigten ihre Truppen 
und biefer Kriegsmacht und der beflern Kriegstunft unterlag nach wenigen Wochen 
ber Meine tapfere Bollsfamm. Dod gelang es ihm noch, bei der Unterwerfung 
ein gewiſſes Maß von Selbſtſtändigkeit in der Verwaltung fi zu bewahren, ähn- 
lich wie fie auch in Schleswig die riefen beiaßen. ine befonvere Eigenthäm- 
lichfeit war und blieb, daß nur Eingeborne zu Öffentlihen Aemtern verwendet 
werben follten. Die ganze Stellung des Landestheils wird dadurch bezeichnet, ba 
berfelde an der landſtändiſchen Verfaſſung Schleswig - Holfteins feinen Antheil 
nahm, fondern innerhalb ver eigenen Grenzen eine halb gemeinvlihe halb flant- 
lie Bertretung ausbildete. Wie das übrige Land, fo wurde au Dithmarjen in 
brei Theile zerlegt; der Bottorper Herzog befam den Norden, Herzog Iohanz 
von Habersieben die Mitte, der Süden wurde dem König zugethellt, der mit 
feinen Brüdern zunächſt die Gemeinfchaft fortfegte. Einige Jahre fpäter, 1564, 
warb aber au unter ihnen zur Theilung gefchritten. Zunähft gelang es, für 
den zweiten Bruder Magnus einen Erfag für ven Verzicht auf feinen Antheil 
am väterlihen Erbe zu gewinnen. Für den ihm verfchafften Erwerb der Stifte 
Dnfel und Meval überließ Magnus feinem Töniglihen Bruder feinen Autheil 
an Schleswig-Holftein. 

Darnach fiel auf den jüngeren Bruder Johann, ber Jüngere genannt, 
nur ein Dritttbeil des Befiges Chriſtian II. Zu den Iohann zugemiefenen 
Beſtandtheilen gehörte auch Schloß und Amt Sonderburg und von da an heißt 
diefe Linie die Sonderburgiſche. In Holftein kam Plön und Arnsboel an den 
jängern Bruder. Der König übernahm es, für den holſteiniſchen Antheil Iohann’s 
bie Reichs⸗ und Kreisfteuern zu entrichten; als aber die Brüder von dem Land 
tage die Hulbigung verlangten, weigerte fidh biefer zu den ſchon vorhandenen eine 


Schleswig-Golftein. 985 


weitere Perſonlichkeit als gemeinfchaftlichen Landesherrn zuzulafſen. Es wird geltend 
gemadt, daß man von jever Linie nur einem Herrn zu huldigen braude. Auf 
dem Landtage zu Flensburg im Oktober 1564, wo die Stäbte und Ritterſchaft 
des Landes zahlreich, vertreten waren, wurbe nur Friedrich IT. gemeinſchaftlich mit 
feinen ſchon im Beflg befindlichen Oheimen Iohann dem Helteren und dem Herzog 
Adolf gehuldigt. 

Natürlich hörte die eventuelle Erbberedgtigung des Herzogs Johann des 
Süngeren burd feinen Nichteintritt in die gemeinfame Regierung nicht auf. 

Wie in andern deutſchen Territorien kam es um diefe Zeit auch in Schleswig. 
Holftein zu einer neuen Ordnung des Gerichteweſens. Die zwiſchen ven Fürften 
und den Ständen vereinbarte Landgerichtbordnung flammt aus dem Jahre 
1573, von diefer Zeit an iſt die Zuftänpigfeit des Landtages auf eigentliche 
politiſche Streitigteiten befhränft, aber auf die Nehteübung in den Untergerihten 
war es nicht ohne flarfe Nüdwirkung, daß in dem Landgerichte romaniftiihe Ein- 
ftäffe fih Geltung verfchafften. 

Während 1548 die Berhältniffe Holfteins als deutfches Reichslehen georbnet 

waren, hatte vie Beziehung Schleswigs als Lehen der Krone Däne⸗ 
mark nicht aufgehört, Schwierigkeiten zu bereiten. Bon dem Augenblide an, wo 
Chriſtian I. zur dänifhen Königskrone auch das. herzogliche Scepter fügte, war 
der däniſche und deutſche Standpunkt ein verfchiedener; beftritten war namentlich, 
ob der Eintritt Chriftian I. als eine Neubelehnung anzufehen ſei, was ber daäniſche 
Reichsrath behauptete, während von herzoglicher Seite auf da® Erbrecht Ehriftians 
ale Schwefterfohn des legten Schauenburgers hingewieſen wurde. Ebenſo warb 
däntfcherfeits behauptet, daß die Herzoge dem König und ber Krone Dänemarf 
Lehenopflichten ſchuldig ſeien; hberzoglidherfeits dagegen behauptete man ein bienfl- 
freies Lehen. In den Anseinanderfegungen über diefe Punkte wurden auch die alten 
Handveflen aus der Schauenburgiſchen Zeit, namentlich die Constitutio Walde- 
mariana in Erinnerung gebradt. Mehrere Anläufe zu einer gütliden Auseinander- 
jegung blieben ohne Refultat. Gutachten deutſcher Iuriftenfafultäten wurden ebenfo 
fruchtlos eingeholt. Endlich kam anf einer Zufammentunft zu Odenſee 1579 
der Ausgleih zu Stande. Ebenfo wie die Thellung von 1564 iſt aud dieſer 
Vorgang einer der Hauptpunkte in der fchleswig-bolfteinifhen Exrbfolgefrage. Das 
Mefultat war, daß der König mit dem Fürſtenthum Schleswig fammt dem, was 
von Alters dazu gehörig, als einem altväterlihen, vom Reihe Dänemark her» 
rährenden anererbten Fahnenlehen vie Herzoge zu belehnen verfprach, „dergeftalt, daß 
in folder Belehnung alle Herzoge zu Holftein des Oldenburgiſchen Stammes, bie 
jego leben oder Künftig fein werden, welche doch nicht all bereitS durch fonder- 
lihe Berträge abgefunden und davon Verzicht gethan, fammt deren Nachkommen 
begriffen fein follen.“ Dagegen wurden Lehensdienſte in vemfelben Maße wie fie 
Hofftein dem beutfchen Neiche zu leiften hatte, AO Reiter und 80 Dann Fußvolk von 
den Herzogen übernommen. Die feierliche Belehnuug mit Schleswig iſt dann am 
3. Mai 1580 vollzogen worden und zwar außer für die drei regierenden Herzoge 
and für Jehann den Jüngern. 

Bold darauf trat duch den Tod Johann des Helteren von Habersleben ber 

Anlaß zu einer neuen Theilung ein. Zunächft gab es darüber Streit, wie getheilt 
werden ſolle. Herzog Adolf von Gottorp behauptete, daß die ſchleswig'ſchen Be⸗ 
fitzungen nach dem Landrechte, wie es in Jütſchen Low enthalten fei, vererben 
müßten, wonach der Bruder die Brubersfühne ausſchließe; der König ließ dagegen 
bie Geltung des gemeinen Lehenrechtes anrufen, das gleihmäßig für Holfteln unr 





986 Nachtrag. 


für Schleswig Geltung habe. Eudlich entſchied fi der Herzog Adolf für bie 
Annahme des vom König behaupteten Nechtsgrundfages und beide Linien, bie 
Chriſtian's III. und die Gottorp'ſche, erhielten die Hälfte So fam namentlid 
Rendsburg und Hadersleben zum königlichen Antheil. 

VI. Bon diefer Zeit an ſtanden fih nun die jest ausſchüeßlich ſogenaunte 
herzogliche ober Sottorper Tinte und bie königliche Tinte als vegierende 
Häufer im Lande gegenüber. Johann der Jüngere erhielt zwar 1590 die Be- 
lehnung auch mit Holfteln, aber zu einer Theilnahme an der Regierung bat es 
bie Sonderburgerſche Linie nicht gebracht, wohl aber erhielt Johann 1582 feinen 
Antheil an der Hälfte, welche der königlichen Tinte aus der Berlaffenfhaft Johann 
des Aelteren zufiel Faſt gleichzeitig trat in den beiden Häufern ein Regierungs- 
wechſel ein; Herzog Adolf, der 1586 ſtarb, hinterlich teftamentarifch feinen zwei 
älteften Eöhnen die Herrſchaft, aber in der Folgezeit gelang es den Ständen, 
bie Erbfolge eines Einzigen im Geifte der alten Landesprivilegien burchzufegen. 
Nachdem der Heltefte Friedrich II. nur ein Jahr regiert, fonnte der Zweitgeborne 
Philipp nur für fi, nit auch für feinen Bruder Johann Wolf die Huldigung 
erlangen und als dieſer nady dem Tode Philippe 1590 zur Regierung fam, mußte 
fi der jängfte Bruder Johann Friedrich, der die Bisthümer Lübel und Bremen 
erhalten hatte, ebenfalls mit einer Abfindung durch privative Beſitzthümer zufrieden 
geben. In gleicher Weife ging es mit der Töniglichen Linie. Der 1588 verftorbene 
König Friedrich II. hinterließ drei unmünbige Söhne, von benen nur ber Aelteſte, 
König Chriſtian IV., von dem Landtage angenommen wird und bie Hulbiguug ber 
Stände empfängt. Indem fo im Jutereffe einer weniger zeriplitterten Regierung 
die Landſtände unter Ausſchluß der Nachgebornen ven Erfigebornen unter Brüdern 
bevorzugen und in viefem Sinne auf den Grundgebanten der Privilegien von 
1460 zurüdgehen, wirken viefelben darauf hin, daß an die Stelle ihres befchräntten 
Wahlrechtes das jet auch in andern deutſchen Fürftenhäufern und theilweiſe ſchon 
früher zum Durchbruch gelommen, das Recht der Primogenitur trat, Die Frage, 
ob Wahlrecht oder Erbrecht, befhäftigte von nun an in einer Reihe vom Jahren 
bie Fürſten und das Rand, Unter legterem war natürlich bei dem Borwiegen des 
abeligen &lements in allen Bffentlihen Angelegenheiten zunächſt der Landtag zu 
verſtehen. Der Kaiſer trat entſchieden für das Erbrecht ein und bezeichnete das 
von den Ständen behauptete Wahlrecht umd vie deshalb verweigerte Hultigung 
als förmlihe Rebellion. 

Ws 1593, der König Herzog Chriſtian IV. die Privilegien beflätigte unb bie 
Huldigung erlangte, wurde aud bie Union zwiſchen Dänemark und ben Herzog⸗ 
thümern noch einmal erneuert, bie freilich ‚niemals eine große praftifhe Bedeutung 
gehabt hat. Unter dem Einfluß jener Streitigleiten über Erfigeburt, Theilung und 
ſtändiſches Wahlrecht führte der Herzog Johann Adolf, nachdem er den Anſpruch 
ſeines Vruders befriedigt, 1608 für ſeine Linie das Recht der Erſtgeburt 
durch Hausgeſetz ein. Die rechtliche Wirkung dieſes Schritte gegenüber dem 
Wahlrechte der Stände konnte duch vie lehensherrliche Beſtätigung von Seiten 
bes Kaiſers für Holftein und des däniſchen Königs für Schleswig nicht verſtärkt 
werben, aber fhon nah wenigen Jahren mußten auh bie Stände In vielem 
Punkte nachgeben und fie konnten dies um fo cher, da von jeher eine Berüd- 
fihtigung ber Erfigeburt flattgefuuden hatte und faktiſch der Erſtgeborne nie über: 
gangen worden war. Die trogdem ſtattgefundenen Theilungen waren als Ausnahmen 
von der Regel angefehen und ftet# den Ständen ein Dorn im Auge gewefen. Konnte 
man bier aud nicht wie anderswo zur reinen Einzelherrſchaft gelangen, jo war 





Schleswig-Hoiftein. 987 


‚oh von jeher das Beſtreben gewefen, in jeber Linie nur einem Lanbesherrn 
zuldigen zu mäflen. Zum endlichen Austrag kam die Sade bei dem Tode Johann 
Adolfs, der 1616 flarb. In der Zwifchenzeit waren es befonders die Anfprüche 
ver Fürſten auf eine Beſteuerung ver Beflgungen ber Nitterfchaft, welche bie 
Bemüther in Aufregung erhielten. Bon Seiten des Landtags wollte man fih nur 
wmf freie Gaben einlaflen und zu einem endlichen Entſcheid kam dieſe Sache nicht. 
Der neue Herzog Friedrich III., der Sohn Johann Adolfs, hatte fih alsbald 
vom Kalfer unt Könige die Belehnung geben laſſen, aber feiner Forderung, daß 
Gm gleich gehuldigt werbe, wiberfegte man fi an einzelnen Orten und fo warb 
‚er Landtag zur Erbhultigung nah Schleswig einberufen. Chrifttan IV. hatte 
nittlerer Weile dem Herzoge die Theilnahme an der gemeinfamen Regierung 
ingeräumt und beide Yürften kämpften jetzt gemeinfhaftlih für das Erbredt 
jegen das ſtändiſche Wahlreht. Im ſtändiſchen Ausſchuß war wohl fein 
Zweifel mehr, daß die Tage des Wahlrechts in feinem vollen Umfange gezählt 
eien, aber man fuchte einen ehrenpollen Ausweg. Ihe Erxbieten, wenn ber Herzog 
hre Privilegien beftätigen und die gravamina abſchaffen wolle, fo fei die Land⸗ 
Haft gewillt, ihn zum Landesfürfien und Herm zu erwählen, anzunehmen und 
u bulbigen, wird ohne Umſchweif zurüdgemieien; die Fürſten erklären, man babe 
eine Wahl, die fchuldige Erbhulvigung wird verlangt, tie Regierung fel von 
‚en beiden Lehensherrn, die das Wahlrecht durchaus verwerfen, aufgetragen und 
yereit8 angetreten. Ein nochmaliger Verfuh der Stände redhtfertigt das Wahl⸗ 
:cht aus ten alten Landesprivilegien, fowie durch ven Hinweis auf feinen ur« 
prüngliden Zwed, fchließt aber mit dem Erbieten: im Erlebigungsfalle ven 
ilteſten Sohn, baferne er zur Negterung habilis und qualifichtt, ans ber er- 
evigten Linie zur Regierung benennen zu wollen. Dan will demnad ben Herzog 
18 feines Vaters älteften Sohn für den regierenden Herrn angenommen haben. 
Während ber Herzog ſich mit diefer Erklärung begnügte, lehnten bie königlichen 
Räthe einfach und fchroff ab. Das Wahlrecht wird ale nie zum Recht beftehenn 
ingeftelt. Die Regierung foll einzig und allein fowohl bei den Schauenburgern 
[8 den Oldenburgern auf der exblien Succeffion beruht Gaben. Auch babe 
Shriftion I. zum —5*— bes oberſten Lehenesherrn und der Krone Dänemarks 
nichts feftfegen können. Endlich kam man nun bo dur Hinwendbung an ben 
tönig perjönlih zu einem Ziele: Die Stände erllären in der Erbhuldigung, daß 
te den Herzog Friedrich als des Herzogs Johann Adolfs Älteften Sohn für ihren 
'egierenben Sandesfürften und Heren erkennen und annehmen. In dem Landtags» 
Abſchied, welder diefer Verhandlung folgte, iſt dann die Privilegienbeftätigung 
rneuert worden mit dem Zufage: „jedoch in puncto electionis vorinjerirter 
Frflärung nad) ad jus primo geniturae reduciret.* Das Wahlrecht ver Landſtände, 
venn es auch nur beſchränkt beflanden hatte, war dadurch befeitigt. Richtiger Er- 
(ärung nad, die fh aus dem ganzen Zuſammenhange umd den hiftorifchen Vor⸗ 
jängen ergibt, ift damit an die Stelle des flänvifhen Wahlrehts die Primo- 
renitur Erbfolge getreten. Durd die Uebereinftimmung ver beiden Lanbesherrn 
nd des Landtages iſt ebenfo gewiß der Grundſatz der Primogenitor Erbfolge 
u einem allgemeinen Landesverfaflungsgrundfak geworden, als es früher das be» 
chraͤnkte ſtaͤndiſche Wablreht war. Es hat diefe Thatfahe inſofern eine gewifle 
Bictigleit, als fpäter behauptet worden ift, daß für die Sonderburgiſche Linie 
‚te Primogenitur nicht gelte, foweit es fih um ihren Anſpruch auf die allge 
neine Landeserbfolge handle. Man wollte nämlich einen 1633 abgeichloffenen 
Srbvertrag der Kinder eines Sohnes Johann des Iüngern, des Herzogs Alexander, 


988 Nachtrag, 


von dem bie jet noch blühenden Linien Auguftenburg und Glücksburg abflamımen 
und ber für diefes Haus die Primogenitur unzweifelhaft einführt, nur auf bie 
vom Bater Herzog Alexander überkommene Erbſchaft beſchränken, was ebenfalls 
falf war. Nachdem auf dieſe Weife das fürftliche, nach der Erfigeburt beſtinmete 
Erbredt für beide Linien Landesgejeg geworben war (die fpäter 1650 erlaffen: 
Primogenitur Ordnung für die Töniglide Linie des Herzogs-Haufes hatte wur 
die Bedeutung, auch innerhalb des privativen Antheils derjelben den Borzug ber 
Erſtgeburt zu fihern), treten die Verhältniſſe der Herzogthümer mit dem Ausbruch 
des ZOjährigen Krieges in den allgemeinen Rahmen der gleichzeitig deutſchen Se— 
jhichte. Die Thellnahme des Köntgs-Herzogs Chriftian IV. auf Seiten der prote- 
ſtantiſchen Fürſten mit ihrem unglücklichen Erfolg ift befannt. 

Doch zeigt fih auch hier der Gegenfag und vie Rivalität zwiſchen dem 
berzoglihen und königliden Zweige. Bei den Streitigkeiten, welde Ehriftian IV. 
mit Hamburg führte, hatte ſchon ber Herzog Friedrich keinen Antheil genommen 
und aud bei ihrer fpäteren Wiederholung wurde bie Politik Gottorp nicht ge- 
ändert. Über auch während der kriegeriſchen Betheiligung König Chriſtian's, die 
zum Verluſt der Schlacht bei Lutter am Bahrenberg und zum Einrücken ver 
Kaiſerlichen in Schleswig⸗Holſtein führte, hielt fi) der Herzog mehr ober minder 
offen auf kaiſerlicher Seite. Ein Bruder des Herzogs fand als Bertrauter Tilly's 
felber unter den Tatferlihen Bahnen. Trotzdem machte die kaiſerliche Armee Teinen 
Unterſchied zwiſchen herzoglichem und königlichem Gebiete. In beiden Antbellen 
wurde mit gleiher Wuth geplänvert, gefengt und gemordet. Wie im übrigen 
Deutſchland and, haben Generationen dazu gehört, im Lande Schleswig-Holfteln 
bie ſchreckliche Berwüſtung eines einzigen Iahres feindlicher Beſetzung zu ver 
wifgen. Die dem König Chriftian IV. feindliche Bolitit des Hauſes 
wurbe, namentlih durch den zum Haufe Gottorp gehörenden Erzbiſchof von 
Bremen verfolgt, dem deshalb der König ale Oberfter des niederſächfiſchen Kreiſes 
das Erzbisthum abbecretirt hatte, ebenfo wie er ihn der Infel Fehmern als eines 
däniſchen Lehens verluftig erklärte. 

In ten Friedensverhandlungen, welche 1629 zu Lübeck begonnen worben, 
iſt bemerkenswerth, daß Wallenftein einen völligen Ausſchluß des däniſchen Rönigs 
vom deutfchen Gebiet, wozu aud Schleswig gezählt wurde, verlangte; tod kam 
enblich der Friete zu Stande ohne Landesabiretung. Dagegen mußten die Be 
ſitzungen des Gottorp'ſchen Haufes, welche noch kurz vor Friedensfhluß ver KWuig⸗ 
Herzog ohne Rechtsgrund in Befitz genommen hatte, wieder zurückgegeben werben. 
Daß eine folhe Maßregel unternommen werben konnte, tft bezeichnend für bat 
ganze Berhältnig zwifhen den beiden Fürftenhäufern, wie es bis an's Ende dee 
Dualismns geblieben If. Aue dieſer Rivalität entflanden dann fpäter vie näheren 
Beziehungen ver Gottorper Tinte zum ſchwediſchen Königshauſe. 

Ju Allgemeinen ift der 30jährige Krieg die Zeit, in welcher bie ſtändiſchen 
Rechte mehr und mehr verfhmwanden oder zur Form werden. Aud in Schleswig: 
Holftein iſt die Sade nicht anders. Um dieſe Zeit tritt auch der Gedanke auf, 
ftatt der Landtage, deren häufige Berufung ſehr befchwerlih ſchien, nur einen 
Ausſchuß zu berufen, allein zu einem wirklihen Refaltat führten dieſe Muläufe 
nicht. Auch ohne dieſes Anstunftsmittel ſtärkte fich zuſehends die fürſtliche Macht. 
In die Zeit des 30jährigen Krieges fällt auch die Bereinigung der Alt⸗Schauen⸗ 
burger’fhen Herrfhaft Pinneberg mit den im Beflge ver beiden regierenten 
Fürften befindlichen Theile Holfteins. Im Jahre 1640 ftarb Graf Otto VIII. von 
Schanenburg und der König ließ gleih darauf das Land befegen. Mit den 





Schleswig-Holfteln. 989 


)exzog vertrug er fi) dahin, daß biefer zwei Fünftel des Landes erhielt. Eine Anzahl 
Ritbewerber traten auf, von denen die Mutter des legten Grafen burd eine 
zeldſumme zum Verzicht bewogen wurde. Die Sade kam an die Reichögerichte, 
ıittlerer Weile verkaufte der Herzog den ihm gewordenen Untheil der Herrſchaft 
650 an den Statthalter Ranzau, wozu aud die Einwilligung der Fürften von 
er Sonderburger Linie eingeholt wurde. Die drohende Stellung, weldye Chriftian IV. 
ı dem bevorſtehenden Friedenswerke einnahm, führte die Schweden in vie Herzog- 
yümer. Auch diesmal ftellte fih der Herzog Friedrich auf feinen eigenen Stand⸗ 
unkt und dies war feineswegs zu Guuſten feines Mitregenten. Kamen fpäter 
uch die Katferlihen dem däniſchen Könige zu Hülfe, fo mußte das Land jetzt an 
luflagen und Erprefiungen doppelt büßen. Endlich wurde dem Kriege, der nament- 
ch zur See für Dänemark ungünftig verlaufen war, durch den Frieden zu 
Zrömſebro 1645 ein Ende gemadt, in dem bie Intereffen des Gottorper 
)erzog6- Haufed durd die Schweden vertreten wurden. Damit erfolgte ein weiterer 
Schritt auf der Bahn, welhe emplih zum Kampfe auf Leben und Tod zwiſchen 
‚en beiden Linien führte. 

VIII. In dem weftphälifhen Frieden find die Angelegenheiten Schleswig- 
Solfteins nur beiläufig berührt; audy die freiere Stellung, welche er ven Landes⸗ 
‚ern im Verhältniß zu Kaiſer und Reich einräumte, hatte für die Herzoge wenig 
u bebauten, da die Macht des Könige-Herzogs ſchon früher zu einer foldhen Un» 
ıbhängigfeit geführt hatte. Im Jahre 1650 wurde dann, wie ſchon erwähnt, das 
Sxchftatut auch hausgeſetzlich für die lönigliche Linie ausgefprochen. Im Jahre 1654 
vurden die Pläne, welde die Öottorper Linie auf eine nähere Verbindung mit 
Schweden hegte, dadurch beftätigt, daß eine Tochter des Herzogs Friedrich ILL. 
nit dem Nachfolger der Tochter Guftav Adolfs auf dem ſchwediſchen Thron, Karl 
Yuftav, vermählt wurde. Als bald darauf der Krieg zwiſchen Dänemark und 
Schweden entbrannte, in welden man bänijcherfeits den Berluft von Brömfebro 
vieder gut zu machen hoffte, verfuchte der Gottorper Herzog, der als Schwieger- 
yater des ſchwediſchen und als Mitregent bes dänifchen Königs in den mit Däne- 
nark durch ein Schug- und Trugbündnig verbundenen Herzogthümern daſtand, 
ich neutral zu verhalten, aber dies warb von Selten des dänifchen Königs nicht 
ugegeben. 

ae Kriegsglüd war entſchieden und glänzend für die Schweben. Dex Friede 
zu Rothſchild 1658 überftieg noh an Schwere die Auflagen von Brömſebro. Der 
Derzog von ©ottorp betrieb bei ven Friedensverhandlungen, an deuen er feinen 
anmittelbaren Untheil nahm, vor Allem die Aufhebung der vänifchen Lehenshoheit über 
Schleswig und der gemeinfchaftliden Regierung in den Herzogthümern. Dan wollte 
nicht blos von Dänemark frei werben, fondern auch das herzogliche Gebiet als ein 
völlig ge-fchlofjenes Territorhim befigen. In dem Frieden vom 2. Mai 1658 wurde 
die Aufhebung der gemeinſchaftlichen Regierung weiterer Uebereinkunft vorbehalten, 
dagegen aber die Aufhebung der däniſchen Lehensoberhoheit über 
Schleswig und die Souveränetät des Herzogs In dem Herzogthum 
anerfannt. Bon allen Pflichten, wie fie der Odenſeeer Vertrag auferlegt, wird 
der Herzog freigefprohen. Das Souveränitätspiplom bat ausführlih vie näheren 
Beftimmungen über diefe Löſnng des lang beſtandenen Verhältniſſes gegeben. 
Sleichzeitig hat aber auch der König mit Zuflimmung ver däniſchen Reichsräthe 
fih als Herzog und feinen Nachkommen in gleiher Weiſe die Souveränetät im 
Herzogthjum Schleswig und bie Töfung des Lehens⸗Nexus zugeſprochen. Vorbe⸗ 
halten wurde in beiden Diplomen, daß das Herzogthum nicht ganz oder theilweife 


990 Nachtrag 


veräußert werde, ebenſo ſollten vie Rechte und Freiheiten aller Stäude und Unter: 
thanen, nidt minder au die Union mit Dänemark gewahrt bleiben. Da jedoq 
die Aufhebung des Tehens-Nerus nur für den König und feine ehemännlichen 
Nachkommen um für vie herzogliche Linie ausgeſprochen wurde, blieb für bie 
Sonderburger'ſche Linie die Verpflichtung zur Nachſuchung der Belehnung für das 
Herzogthum beftehen. 

Der durch den Uebermuth Karl Guſtav X. hervorgerufene neue Krieg über 
fintbete die Herzogthämer mit den brandenburgfden und kaiſerlichen Truppen, 
welde dem König von Dänemark zu Hülfe kamen. Dem Herzog warb wenigftens 
Neutralität und die Erhaltung feiner Sonveränetät in Schleswig durch den Kalfer 
und den Ehurfärften von Brandenburg zugefihert, was bei vem König von Däne 
mar? fpäter großen Anftoß erregte, der jenes Zugeſtändniß im Rothſchilder Frieden 
widerrufen zu können glauben mochte. Die Regierungszeit des bald darauf 1659 
geftorbenen Herzogs Friedrich III. it der Wendepunkt in ben Verhältniffen der 
beiden mitregierenten Häufer zn einander gewejen. Ans ihr heraus laufen vie 
Faden, weldhe das Haus Holflein-Gottorp auf die Throne von Shweden um 
fpäter Rußlands führte. Die eigentbämliche Stellung eines Könige von Däne- 
wart, der zugleid in der Hälfte der Herzogthümer herrſchte, hatte ſchon bisher 
oft zu Schwierigkeiten und Berwidelungen gefährt; von nun an war offene Feind⸗ 
ſchaft oder doch verbedter Krieg zwifchen ter löniglicden und der herzoglichen Tinte 
auf ver Tagesorbnung. 

Nachfolger Friedrichs III. warb fein Altefter Sohn Chriſtian Wibredht, der 
fih damals im ſchwediſchen Heerlager befand. In dem ſchließlichen Friedenswerke, 
welches zu Ollva und zu Kopenhagen zu Stande kam, wurde trog des Todes 
Karl Guſtav's und der ungünftigen Wechfelfälle des Kriegs dem Gottorper Berzog 
die Einräumnng der früheren Friedensſchlüſſe beflätigt und mit andern Beftimmungen 
‚auch die Sonveränetät des Herzogs in Schleswig durch England, Frankreich umd 
Holland garantirt. 

Der Gegenſatz zwiſchen Dänemark und Schleswig-Holftein, fowelt dies im 
Bes der Gottorper war, wurde noch dadurch gefleigert, daß die Gtaatsum- 
wälzung im Königreih 1660 die abfolute Yürftengewalt in die Hände des Königs 
legte. In den legten Jahren ber Regierung Königs Friedrichs IIT., der 1670 ſtarb, 
war Friede zwiſchen ven beiden Fürſtenhäuſern gewefen; aber glei nachher brach 
zunähft über den Oldenburgiſchen Erbfall der Streit aufs Neue ans. 
Der legte Graf von Oldenburg und Delmenhorft hatte den beiden regierenden 
Linien die gemeinfhaftlihe Nachfolge in feinem Beſitz zugefihert. Als fi herans- 
ftellte, daß als näherer Verwandter der Herzog Ernfi von ber Plön-Gtädsburger 
Tinte der allein Berechtigte zur Nachfolge fei, wußte der Nachfolger Friedrich ZIL, 
König Ehriftian V., dem Herzoge von Plön fein Erbtheil abzubandeln, was ben 
alten Haß der Bottorper wieder neu wach rief. Im Jahre 1675, als Dänen 
in Bundesgenoffenfchaft mit Brandenburg ben Schweben den Krieg erklärte, wurde 
der Herzog Chriſtian Albrecht von feinem Schwager, dem König, nad Rendsburg 
gelodt, dort zum Befangenen gemacht und gezwungen, den fogenannten Rends— 
burger Bergleidh zu unterzeihnen, in welchem er auf die Sonveränetät des 
berzoglichen Antheils in Schleswig verzichtete und Feſtungen und Mannfchaft dem 
König einräumte., Der Herzog ging außer Landes und proteftixte gegen den er 
Koungenen Alt. In Folge deflen beſetzte der Köntg den Gottorp’ihen Antheil von 

chleswig, mußte aber jowohl diefen 1679 beim Friedensſchluß wieder aufgeben, 
als auch auf alle Borthelle, die ihm der Rendsburger Bergleich eingebracht, ver- 








Schleswig-Holfein. 991 


zihten. Die Ruhe dauerte nicht lange; 1684 wirb nad neuen Streitigkeiten ber 
berzogliche Antheil wieder bejegt, aber auch hier treten vie größeren und Nachbar⸗ 
mächte in's Mittel und durch den Bertrag von Altona 1689 kam ber 
Herzog Chrifttan Albrecht, der feit 1676 außer Landes gelebt hatte, wieder im 
ten Beſitz feiner Herrſchaften. Er flarb 1694. Der ältefte Sohn vesfelben, Herzog 
Friedrich IV., ſchloß fih eng am die ſchwediſche Politik an und vermählte fid 
1698 mit der Schwefter Karl XIL, dem er.aud in der Yreude am Kriegshand⸗ 
wert ähnlid war. Die Minderjährigleit Karl XII. lodte Dänemark zum Verſuch, 
die alten Berlufte wieder zurüdzugewinnen. Gegen den Herzog wurde glei An⸗ 
fangs in's Feld gerüdt, angeblich weil diefer ohne Recht neue Feſtungen anlegte, 
aber die Einmifhung der Garanten des Altonaer Vergleichs, England, Holland, 
und Schweden, namentlich aber ver rafche Stegeslauf des jungen Karl XII. führte 
1700 zum Frieden von Travendal, moburd die Somveränetätserflärung 
für Schleswig beflätigt, das Recht, Feſtungen anzulegen, ebenfalls anerkannt und 
eine entſchädigende Geldſumme dem Herzog zugejprodhen wurde. Der bald er- 
folgte Tod besfelben, 1702, in der Schlaht bei Klifſow führte zur Regentſchaft 
des Adminiſtrators Chriſtian Auguſt für den zweijährigen Sohn des Herzogs 
Karl Friedrich. Das Kriegsunglüd Karl XII. wirkte aud auf das Schidfal des 
ihm naheftehenden berzoglihen Haufes zurüd. Wenn auch 1711 und 1712 nod 
durch die Bergleihe zu Hamburg und Rendsburg eine bauernde Beilegung ge= 
wonnen ſchien, rubte doch die däniſche Politif in Bezug auf Schleswig nicht, 
und als fi im nächſten Jahre der ſchwediſche General Steenböl auf einem Rüd- 
zuge in die herzogliche Feſtung Tönningen geworfen hatte, die ihm anf Befehl 
ber Sottorper Regierung geöffnet worden war, nahın der König Friedrich IV. bie 
Befigungen des herzoglihen Haufes als verwirktes Lehen und nad Kriegsrecht 
in feine Hand. Vorher war 1711 zum legten Male ver fchleswigehoffteinifche 
Landtag verfammelt gewefen, aber bie gemeinfdhaftlihen Angelegenheiten waren 
ſchon durch den Frieden von Travendal auf das landſtändiſche Weſen beſchränkt 
worden. Wenn auch der mündig gewordene Herzog Karl Friedrich durch das 
Eingreifen des dentſchen Reihe, ſowie engliſch⸗franzöfiſcher Vermittlung wieder tm 
ben Befig des herzoglichen Antheils an Holften gelangte, fo erhielt Dänemarf 
doch 1720 vie Garantie des Erwerbs des herzoglihen Theils von Schleswig 
durch England und Branfreih. Nah richtiger Auslegung sing jedoch diefe Garantie 
nur dahin, daß der König von Dänemark als Herzog den bisherigen berzoglichen 
Theil gerabe fo befigen folle, wie den königlichen Antheil. Die neneften Unter- 
ſuchnungen aud von Seiten der englifhen Kronjuriften find zu feinem andern 
Refultat gelommen, als was von jeher Über dieſen Punkt ber deutſch⸗däniſchen 
Controverſe von der dentfchen Wifienfchaft behauptet worden iſt. 

Seftügt auf diefen Rüdhalt nahm der König Friedrich IV. durch Patent 
vom 22. Augnft 1721 ven herzoglichen Untheil an Schleswig fürmlih in 
Befig und am 4. September desfelben Jahres fand die Hulvigung der damaligen 
Stände flatt. Eine berühmte Gontroverfe in dem ſchleswig-holſteiniſchen Rechts⸗ 
Rreite Inüpft an ten Wortlaut des Patents und ber Hulbigungserflärungen an: 
Daß die Intention des däniſchen Königs und feiner Räthe darauf ging, nicht 
blo8 den herzoglichen Antheil an Schleswig mit dem königlichen zu vereinigen und 
beive als das fonveräne Herzogthum Schleswig in deſſen bisherigem Verhältniß 
zu Dänemark zu befigen, ift wahrjheinlih, aber fomohl das Hulbigungspatent als 
zu der Eid beweist nichts für die Berwirklihung dieſer Abſicht. Selbſt die 
yänifche Kommiffion, welche die Borunterfuhung für den offenen Brief von 1846 





992 Nachtrag. 


gepflogen Hat, iſt nicht weiter gegangen, als bis zur Behanptung, daß 1721 die 
förmlihe Inkorporation des ganzen Herzogthums Schleswigs zwar beabfichtigt, 
aber nicht durchgeführt worden jet, indem der König fi auf die Einführung der 
Erbfolge des daäniſchen Königsgefeges für Schleswig beſchränkt habe. In jemem 
Patent bezeichnet ſich der König als entfchlofien: „felbigen Antheil mit dem Unfrigen 
zn vereinigen und zu inkorporiren.“ Bon der Befiguahme im Jahre 1713 heißt 
es in dem Patente, daß ter König wegen der Kolluflon, welde bie Gottorper 
Regierung mit dem Feinde geübt, die fih auch treulos erwieſen, durch Ein⸗ 
räumung Zöningens gegen ihn als Aggreſſor aufgeführt und über die Theilung feiner 
Länder mit dem Feinde Traftate errichtet, „dahero bewogen worden, den Gotiorper 
Antheil als ein altes in befhwerlichen Zeiten unrehtmäßiger Weiſe von der Krone 
Dänemarls abgerifienes Bertinenz wieder in Pofleffion zu nehmen." Bon einer In- 
torporirung bes gefammten Herzogthums Schleswigs in das Königreih Dänemark ift 
nirgendwo tie Rede und was deu Huldigungeeid anbetrifft, fo mag es immerhin bie 
Abficht des Königs und feiner Räthe gewefen fein, daß das Gelöbniß der Schwörenben: 
„denfelben wie aud den: königlihen Erbſucceſſoren in der Regierung seeundum 
tenorem Logis Regiae, Treu, Hold und gemwärtig fein... wollen ꝛc.“, fi auf 
vie Lex regia das bänifche Königsgejeg und feine Erbfolgeordnung beziehen follte; 
aber es ftebt nicht feſt, daß jener Palins fo verftanden werden mußte and auf 
feinen Fall konnte die Meinung eines einzelnen Schwörenden in ben ſtaatsrecht⸗ 
lihen Berhältniffen ver Erbfolgeorvnung zum Nachtheil Dritter Etwas ändern. 
Die Bedeutung ber Auffaſſung von Lex regia als bem bänijden Königegefepe 
von 1665 liegt befanntli darin, daß durch biefes für das Königreih auch bie 
weibliche Erbfolge als berechtigt eingeführt worden ift, und der Zwed der 1721 
etwa beabfidhtigten Zweibeutigfeit ging daun tarauf, im Gegenſatze zu ber bis 
dahin für ganz Schleswig-Holfleiu angenommenen ausſchließend agnatiſchen Erb⸗ 
"folge au die Eoguaten des bänihen Königehaufes in Schleswig erbfähig zu 
machen. Uebrigens bat Friedrich IV. felber feinen Rechtötitel auf den herzoglichen 
Autheil in Schleswig in verfchierener Weife begründet, indem er balb von bem 
Rechte Iriegeriicher Eroberung ſprach, bald trog der 1658 anerlannten Souveränetät 
den Herzog der Lehensuntreue zich und die Wegnahme feines Gebietes anf biefe 
Felonie fügte. Wegender ſpäter wichtig gewordenen Anſprüche der Sonderburgiſchen 
Linie ſei gleich hier bemerkt, daß der Verſuch aus der Hulvigung, welde bie 
damaligen Herzoge von Anguftenburg und Glüdsburg 1721 geleiftet haben, einen 
Berziht auf ihr eventuelles Erbrecht am Lande herzuleiten, jeder Begründung ent 
behrt, fie haben nur als gewöhnliche Gutöbefiger „ratione meiner barin gelegenen 
Büter” den Huldigungseid geleiftet. 

IX. Immerhin war e8 nit ohne Bedeutung, daß in Umkehr ver von ben 
großen Schauenburgern begonnenen Beſtrebungen das ganze Herzogtum Schleswig 
unter einen dänifchen Herrſcher kam. Wenn auch bei der urfprünglichen beutfchen 
Abſtammung der Oldenburger die erſten Könige auf dem bänifhen Throne nur 
für die politiſchen Interefien des Reiches eintreten, ohne in Schleswig das vor 
handene däniſche Element in feinem Kampfe mit den vorbringenden Deutſchen zu 
bevorzugen und auch fpäter noch am Kopenhagener Hofe felber deutſche Sitte und 
Spradye vorwog, fo war es doch ganz befonvers das Gottorp'ſche Hans gemeien, 
durch welches im Gerichts⸗ und Kirchenweſen ver deutſche Einfluß in Schleswig 
gefördert wurde. Es war dies weniger bewußte Politit als die Natur der Sache 
Bis zur Gründung der Univerfität Kiel, vie felbft vollſtändig deuiſch orgamifirt 
wurbe und eine ver legten Errungenfchaften ift, welche dem Haufe Gottorp ner 














Schleswig-Bolflein. 998 


dankt wird (yon Herzog Friedrich III. hatte den Plan dazu gefaßt, deſſen Ans- 
führung aber feinem Sohne Herzog Ehriftian Albrecht vorbehalten blieb), war der 
ganze gelehrte Beamtenſtand in Kiche und Staat auf deutſchen Univerfitäten ge- 
bildet und das ganze Volkeſchulweſen namentlich völlig in deutihen Händen. Als 
Bollöfprache gewann das Plattveutfhe den in Nord⸗ und Mitteljhleswig ge 
ſprochenen friefiihen nud däniſchen Dialelten immer mehr Boden ab und ohne 
bie fünftliche Unterſtützung aus dem eigentlichen Königreiche Dänemark und von 
Dben her, welde der bänifhen Sprad - gitation in Nordſchleswig zur Hülfe 
kam, wäre der Umbildungsprozeß vielleicht jest ſchon abgeſchloſſen. Was Immer 
aud die Pläne und Gedanken bes Könige-Herzogs Friedrich IV. bei den Vor⸗ 
fällen von 1721 gewefen fein mögen, in ben innern Verhältniffen des Herzog⸗ 
thums Schleswig wurbe dadurch wenig geändert. Ein königlicher Statthalter ver- 
trat fowohl für den königlichen Antheil an Holftein als für Schleswig ven Fürſten, 
und die Bermaltung wurbe von der des Königreichs, welches eine ganz befonbere 
Geſetzgebung und Rechtsordnung hatte, völlig getrennt gehalten. Es beruhte bies 
alles aber auf der Macht der Gewohnheit und dem Temperament ver einzelnen 
bänifhen Könige. Die landfſtändiſche Berfafiung war in Verfall gerathen und 
hätte bei einer anderen Politit nad der damaligen Zeitlage doc keinen Wider⸗ 
fand leiften Tönnen. 

Mittlerer Weile hatte der Herzog Karl Friedrich, der durch den Einfluß der 
Großmãchte die holſteiniſchen VBefigungen wieder erlangt hatte, durch feine Heirath 
mit der Tochter Peters des Großen einen Einfluß erlangt, welcher feiner fort 
währenden Weigerung, den Berluft des herzoglichen Antheils an Schleswig als 
redhtögiltig anzuertennen, einen für Dänemark gefährlicden Rückhalt geben konnte, 
Durch den Aufenthalt in Rußland aber wurde das herzoglihe Haus den Dingen 
in feinem Heimathlande entfremdet und nur das NRachegefühl trieb fpäter den 
Sohn Karl Friedriche, der 1748 zum Thronfolger Rußlauds ernannt wurde, zum 
Kampfe gegen Dänemark. Dem König Friedrich IV., der 1730 flarb, gelang noch 
1725 bie Erwerbung des früher Sottorper Antheild an der Herrſchaft Pinneberg, 
weldher von dem Herzog Friedrich III. dem Grafen Ranzau verlauft worden war. 
Der teute Inhaber fiel durch Mörderhand und auf dem fonft erbberechtigten 
jüngeren Bruder Ing der Verdacht, bie That angeftiftet zu haben. Bald darauf 
wurde noch einmal ver Berſuch gemacht (1732), das Gottorper Haus durch eine Geld⸗ 
zablung zum Berzicht auf feinen Antheil an Schleswig zu bewegen, allein vergebene. 

end die Föniglihen Vefigungen im Herzogthum von Glückſtadt aus, 
und das herzogliche Holftein von ber in Kiel befindlichen fogenannten großfürft- 
lien Regierung verwaltet wurde und umter Friedrich V. von Dänemarf im 
Königreiche felber das nationale Element, wie es ganz gerechtfertigt war, mehr 
unb mehr in den Borbergrund trat, war doch die auswärtige Politik Dänemarks 
vorwiegend in den Händen deutſch geborner Staatsmänner; vorzüglid war es der 
ältere Bernſtorff, weldger den größten Einfluß beſaß. Die Politit des Königlichen 
Haufes ging nun erfihtlich dahin, tie gefammten Herzogthümer in eine Hand zu 
vereinigen und fo gelang es zunähft mit der jungen Linie des Gottorp’fchen 
Haufes, deren Haupt Adolf Frievrid zum Thronfolger in Schweben ermwählt 
worden war, ein Abkommen babin zu treffen, daß der Gottorp’fche Antheil an 
Holftein, wenn er jemals an dieſe jüngere Linie fallen follte, vem königlichen 
Haufe eingeräumt und von diefem dafür die Graffchaften Oldenburg und Delmen- 
borft in Tauſch gegeben werben follten. Zugleich wurbe von Seiten biefer Linie 
ber Befig der däniſchen an dem früheren herzoglichen Antheil an Schleswig anerkannt, 

Dluntſchli und Brater, Deut ges Staate⸗Mörterbuch. Xi. 68 


994 Nachtrag. 


Obgleich Rußland, das 1732 die Bardntie der damaligen Befigungen Däne 
marks übernommen, bei einer Erneuerung bes bezüglichen Vertrages 1746 vie 
Gottorper Veftgungen in Schleswig von der Barantie ausgeihloffen Hatte, fo 
konnte doch jener Vertrag mit ber jüngeren Linie deshalb für genügend erfcheinen, 
weil der Großfärft und Herzog Karl Peter Ulrich, der Sohn Karl Friedrichs, ned 
ohne Nachkommenſchaft war. Dies änderte ſich aber durch die Geburt eines Sohmes, 
des Gropfürften und fpäteren Kaiſers Paul. Es wurden jetzt neue gen 
mit dem Großfürften begonnen, aber von diefem nur ſcheiubar acceptirt. Als a 
durch den Tod ver Kaiſerin Elifabetb anf den Thron von Rußland ge 
fommen war, ging fein erfter Gedanke dahin, an den Dänen Rache zu nehmen. 
Flotte und Heer wurde gegen Schleswig-Holftein in Marſch geſetzt, aber vie Er⸗ 
morbung des Kaiſers machie dieſer Politik ein raſches Ende. Die Gemahlin amt 
Nachfolgerin desſelben, Katharina TI., Hatte fon glei 1762 verſprochen, in 
Unterhandlungen gu Schleswig und Holflen zu treten, 1767 wurden bieleiben 
zum Abſchluß gebracht. Als Vormünderin ihres Sohnes Paul, deſſen Ratihabitien 
nach erlangter Volljährigkeit verſprochen wurde, verzichtete die Kaiſerin unter ver 
ſchledenen Gegenleiftungen anf bie Rechte ihres Sohnes an dem herzoglichen Zell 
von Schleswig, umb für das groeßfürſtliche Holfteln wurde der Zaufd gegen bie 
Grafihaften Oldenburg und Delmenhorft, weldhe der jüngern Gottorper Linie 
überlaffen werben follten, verabredet. Als Gropfärft Paul volljährig geworden 
war, wurde zwiſchen ihm und dem König von Dänemar!, Ehrifian VIEL, der 
1766 anf den Thron gekommen war, ber befinitive Vertrag am 1. Jumt 1773 
abgefhlofien. Im Laufe des Jahres erfelgte noch die Tradition de herzoglichen 
Holfleins am dem König, fowie der Srafſchaften an ven Großfürften von Raf- 
land und von biefem wieder an den Biſchof Friedrich Auguſt ven Lübel, Herzag von 
Gottorp. Der deutſche Kaiſer hat vann Pphter das ganze Geſchäft beftätigt. Im 
Bezug auf diefen Erwerb des herzoglichen Holfieind if fpäter in dem fihleswig- 
bolfteinifchen Erbfolgeftreit von Selten des Großherzogse von Oldenburg behanpiet 
worden, taß der ganze Vorgang nicht auf der funberburgiihen Linie, ſondern 
nur dem Mannsſtamm des Königs Friedrich III. Rechte gegeben habe. Gin weiterer 
Streitpunft iſt noch der gewefen, ob in dem Bericht auf Schleswig das Hans 
Gottorp ein und für allemal venundrt habe oder auch hier nur Die herzoglichen 
Anſprüche Hinter der männliden Descendenz König Chriſtian VII. uns feines 
Stiefbruders Friedrich zurückſtehen follten. Ein Hauptmiangel und Berbadztägrand 
gegen bie fpäter von Oldenburgiſcher Seite erhobenen Erbanſprüche liegt darin, 
daß wichtige VBegleitfiüde des Traktats von 1767, namentlich ber Wortlaut bes 
Ceſſtonsformulars aus den ruffifhen Archiven wicht verdffentlicht worben ſtud. 
Die politfiden Zwede, welche in einer fpätern Zeit bahin führten, das Zauf: 

efhäft Aber das großfürftliche Holſtein und die Graffchaften Oibenburg mb 

elmenborft unter andere Gefichtspunkte zu rüden, dürfen das juriſtiſche Urtheil 
über den ganzen Hergang nicht beirren. Allerdings zeigt ſuh ſchon Iange Zeit ein 
Beftreben ber regierenden Linien, die nicht zur Regiermmgsgemeinfchaft mehr zuge 
laſſene Sonderburgiſche Tinte zu benachtheiligen, aber die alten, auf Erbredgt mb 
Geſammtbelehnung beruhenden Auſprüche diefes Haufes an dem Gefammtlompfer 
der Herzogthümer Tonnten durch jene Abfihten und Beſtrebungen nicht geändert 
werden. Ehe auf diefe Weiſe die Lönigliche Kinie den legten Schritt zur Allein⸗ 
berrfchaft in den Herzegihämern that, war mit der Plön'ſchen Abzweigung bes 
Sonderburg'ſchen Haufes ebenfalls ein Erbwertrag zu Stande gekommen. Im Jahre 
1756 bat der damalige Chef des Hauſes Karl Friedrich von Plön für den Wall des 








Schleswig-Holfkcin. 9985 


Ausfterbens feines Mannsftammes feine Befitzungen der Königlichen Linie Aberlaflen 
und 1761 trat durch ben Tob des Herzog® Karl Friedrich die Konſolidation dieſes 
Antheilt mit dem Abrigen Befigthum ver königlichen Linie in Holftein ein. Als letzter 
Reſt der ſelbſtaͤndigen Vefigungen des Haufes Sonderburg blieb, nad der Aus 
einander fegung mit dem Gottorp’ichen Hanfe, noch der Glucksburg'ſche Antheil, welcher 
1779 an den König Chriſtian VII. überging. So Ionnte erft 1788 dem König 
Chriſtian VII. von dem deutſchen Kaiſer die Belehnung mit dem ganzen Berzog- , 
thum Holſtein gegeben werben, eine Belehnung, welde nad anerkannten Rechts⸗ 
grundfägen auch für die übrigen nicht beſitzenden Lehenserben am ganzen Herzog⸗ 
thum und feinen einzelnen Theilen galt. Die Regierungsverhältnifſe in den deutſchen 
Herzogthümern, wie in der damaligen Zeit und noch viel fpäter Schleswig-Holftein 
zufammengefaßt genannt worden, wurden durch den Wegfall dieſer Sonverver- 
waltungen in ihrem Geſammtcharakter nicht geändert. An der Spike der Ge⸗ 
fhäfte fand in Kopenhagen der jüngere Bernflorff, und bie deutſche Kanzlei, 
weiche die oberfle Regierungsbehörde für die Herzogthümer war, flellte eine von 
der däntfhen Inneren Verwaltung völlig getrennten Behörbe bar. Die Zeitläufte 
waren nit dazu angethan, tm Innern eine unpopuläre, einen Theil der Be 
völlerung verkürzende Boliti zu treißen. Un den äußeren Erlebniſſen der gefammten 
Monarchie, ven Bünpniffen der bewaffneten Neutralität und feinen folgen nahmen 
die Herzogthümer in gleicher Weife Antheil wie das Königreich; der kurze Krieg 
mit England bei Begründung des zweiten Reutralitätsbundes traf natürlich aud 
die Schleswig-Holfteinifhe Schifffahrt, die bis dahin die Früchte der fo lange als 
mögli eingehaftenen Reutralitätspolitit Dänemarks im franzöſiſch⸗engliſchen Kriege 
ebenfall® genoffen Hatte. 

x. Ein neuer Abſchnitt in den Verhältniſſen ver Herzogthümer zu dem 
Reiche Dänemark wirb duch den Iufammenfturz des deutfhen Reiches 1806 und 
durch die Veftrebungen gebildet, welche daran gefmäpft anf eine Intorporation 
des Herzogthums Holſteins in das Königreih Dänemark gingen. Der damalige 
Prinzregent, fpätere König Friedrich VI. warb als Däne erzogen und fo war er 
leicht für den Vorſchlag zu gewinnen, Holflein, das durch den lintergang bes 
deutſchen Reiches feine Eigenſchaft als Lehensterritorium verloren Hatte, zu einem 
„unzertrennlihen” Theil der däntfchen Monarchie zu erlären. Man dachte dabei 
wohl an eine Auslegung ber Vorgänge von 1721, wonach diefe fir Schleswig 
basfelbe und wentgftens die Einführung der cognatiſchen Erbfolge des Königs» 
Geſetzes bewirkt haben follten. Allein ber Widerſpruch des damaligen Herzogs von 
Auguſtenburg, ſowie vie Proteftation der Gottorp'ſchen Agnaten verhinderten, auch 
nur eine ſolche Erklärung zu erlafien. Das Herzogthum Holſtein wurde In dem 
betreffenden Patent nur ein „ungetrennter“ Theil der daniſchen Monarchie ge⸗ 
nannt, was fi ſowohl auf bie bis jetzt mit Ihm verſchmolzenen, bisher in einer 
gewiffen Selbſtſtändigkeit Anßerlih gehaltenen, ehemals Schauenburg'ſchen Ve⸗ 
ſitzungen, als auch darauf beziehen konnte, daß ſich die allodiale Veſitzqualität, wie 
fie für die übrigen Theile der däniſchen Monarchie beſtand, jetzt auch auf das 
bis dahin lehenbare Herzogthum Holſtein erſtrecke. Die ganze Tragweite des Vor⸗ 
gangs von 1806 beſchränkte ſich darauf, daß jetzt Holſtein aus dem Neiche- und 
Neichslegensverbanve entlaflen war, an ven ftantsrechtliden Verbältniffen und 
namentlich an dem für das Land geltenden Erbfolgereht wurde dadurch nichts 
geändert. Bedeutungsvoll war nur der Umſtand, daß wie früher die Gottorper 
Herzoge als die Gegner der dänifhen mit der Läniglichen Linie verwebten Be⸗ 
firebungen erfcheinen, von nun an die Linie Auguftenburg es ift, welde 


63 + 


996 | Nachtrag. 


gegen die immer Harer hervortretenden Tendenzen, vie beutfchen Herzogthämter ol 
Brovinzen des Königreihs zu behanveln und zu biefem Zwede aud vie Nationab 
tätöfrage zu benuben, zum Schutze bes eigenen Erbrechts und ver allgemeine 
Lanbesrechte auftritt. 

Das nächſte Jahr brachte für Dänemark und feine Nebenländer vie Be- 
theiligung am Kriege, welcher für bie Herzogthümer ſchwere VBerrüdung bare 
fortwährende Einquartirung und Stenern im Gefolge hatte. Schon 1802, als 
die fogenannte Grund» und VBenngungsftener burd königliche Verordnung einge 
führt wurde, Hatten vie Reſte ver alten Stände, Prälaten und Nitterfchaft ven 
Berfuh gemadt, ihr altes Steuerbewilligungsredht in Erinnerung za 
bringen, aber vergeblih. Auch bie weiteren durch den Krieg nothwendig werbenten 
Steuererhöhungen und ebenfo tie im Anfang des Jahres 1813 gegründete Reichs- 
banf, feit 1818 Nationalbank genannt, wurden ohne weiters für das ganze Reid 
buch Löniglihen Befehl angeorpnet. Aus diefer Zeit ſtammt auch ein ſpäter vid 
genanntes Löntgliches Reſcript an die deutſche Kanzlei, worin pie möglihfte Förderung 
der däniſchen Sprache als Gerichtsſprache in Schleswig den Behörden auferlegt wurde. 
Eine unmittelbare Befolgung fand bei dem Wiperftreben des fchleswig-holfteinifchen 
Beamtenſtandes viefer erfle Verſuch der Danifirung nicht. Die franzöfifche Bundes⸗ 
genofienihaft hatte für Dänemark den Verluſt Rorwegens jur Folge und ber 
Friede fand dieſes Königreih, ſowie aud die Derzogthümer in ben 
Simanpverhältniffen, wozu bald darauf Jahre ſchlechter Ernbten und förmlicher 

otb kamen. 

Trotz des politiihen Zufammengehens des Staates mit den Franzofen, Batte 
der deutſche Befreiungstrieg in den Herzogthlimern warme Sympathien und ebenfe 
Inüpfte man dort wie im übrigen Deutſchland ſchöne Hoffnungen an das beutfde 
Berfaffungswerk, welches auf dem Wiener Kongreſſe gefehaffen werben follte. Bon 
Seiten der fortwährenden Deputation ver Prälaten und Nitterfdaft ( im 
Schleswig⸗Holſtein war der Reft von Lebensfähigkett in den altflänpiichen ⸗ 
nungen auf einen Ausſchuß übergegangen) iſt der Verſuch gemacht worden, eine 
Nenerung der Laudesverfafſung in zeitgemäßer Form zu erhalten, wozu nament- 
ih die Bedrängniß durch neue Steneranflagen führte Daß dabei auf die alte 
Berbindung zwiſchen Schleswig und Holftein hingewieſen warb, wurbe beſonders 
übel vermerkt, wie denn die Veftätigung ver Privilegien ber Prälaten und Ritter 
ſchaft dur den König Herzog 1816 in weſentlich befchränkter Form erfolgte. 
Später ward ausbrädiih darauf hingewiefen, daß Prälaten und Ritterſchaft nidt 
bie Vertretung ber gefammten Benölterung ber Herzogthümer felen und fie ben 
ſtändiſchen Berathungen in Holſtein nit vorzugreifen hätten; für biefes Herzog. 
thum allein, nicht aber auch für Schleswig, welches, wie es ulcht zum beutfchen 
Reich gehört Hatte, fo auch jet nicht in den deutſchn Bund aufgenommen worben 
war, hatte bie deutſche Bundesakte das ſchwache Verſprechen des Artikels 
13 gegeben. Mit Aufnüpfung an venfelben, zugleih aber unter fortwährendem 
Betonen der alten Zufammengehöriglelt der beiden Herzogthümer|, hatte fi im 
Lande eine lebhafte Literarifche Bewegung für Herflellung einer freifinnigen Landes⸗ 
verfaflung gebildet, deren Hauptfig die Univerfität Kiel und deren Hauptorgane 
die von den Brofefioren Dahlmann, Bald, Welder, Tweften u. ſ. w. 

„Kieler Blätter” waren. Bis die erdrückenden Mafregeln der Karlsbader Beſchlüſſe 
auch in Schleswig-Holfleig zur Ausführung famen, war viefes Blatt auch für 
allgemein deutſche Verhältniffe von Herorragenber Bedeutung. In Schleswig: 
Hoiſtein verfhmolzen fi in eigenthümlicher Weife miteinander bie Auſprüche bes 








Schleswig-Holftein, 997 


ten Lanbesrechtes, wie fie namentlich durch vie Prälaten und Ritterſchaft ver- 
ochten wurben, mit dem modernen Berlangen nad ven Eonflitutionellen Einrich⸗ 
ungen der Neuzeit, und Dahlmann (vgl. d. Art.) war als Sefretär ber fort» 
vährenden Depntation ber lebendige Nepräfentant dieſer Richtung. As fi die 
Erfüllung der im Artikel 18 der Bundesakte enthaltenen Vorſchrift von Jahr zu 
Jahr verzögerte und die Wiener Schlußakte „die in anerlannter Wirkfamteit 
tehenden" Tandfländifchen Verfaflungen In ihren Schuß zu nehmen fchien, wandten 
ich Prälaten und Ritterfhaft in einer aus Dahlmann's Feder geflofienen Denlſchrift 
1822 an bie deutſche Bundesverſammlung, um durch deren Vermittlung die pral« 
tiſche Wiederherfielung der, wie man behanptete, in anerlannter Wirkfamkeit be- 
ſtehenden landſtändiſchen Berfafliung und insbefonvere Ihre Steuergerechtſame zu 
erlangen. Der berüchtigte Beſcheid der Vundesverſammlung auf dieſe Eingabe iſt 
vom. 27. November 1823 umd eröffnet die Reihe der vielen Inlompetenzerflärungen 
diefes zu allem Guten impotenten politiſchen Körpers. Die Bunbesverfammlung 
ertlärt fi) dahin, dag die alte Berfaffung in Holfteln in anerfannter Wirkfamfeit 
nicht beftehe, der Antrag der Prälaten und Ritterfchaft daher unftattbaft ſei und 
man fich vertrauensooll anf die Erfüllung des Artikels 13 durch den König von 
Dänemark verlaflen folle. ' 

Uebler Wille weniger als die Schwierigleit, diefelben Einrichtungen zu treffen, 
für die verfchienenen Felle der dänischen Monardie, welche man jest ſchon in 
Kopenhagen ald dauernd zufammengehörenb betrachtete, verzögerte die Inangriffnahme 
der landſtandiſchen Ordnung. 

XI. Erſt die regere Bewegung der Geiſter, welche auch in Deutſchland der 
franzöfifchen Julirevolution folgte, brachte die Sache einen Schritt vorwärts. Ein 
Sohn des freiheitsliebenden Frieslandes, der Landvogt von Sylt Ume Jens 
Lornfen, war e8, welder durch eine Meine Schrift „Aber das Berfaflungswert 
in Schleswig-Holftein” dem in den gebilveten Kreifen weit verbreiteten Berlangen 
Ausdruck gab. Das Heine Pamphlet wurde als der Ausdruck der öffentlichen 
Meinung aller Orten anerfannt, hatte aber trog feiner gemäßigten Haltung für 
ben Berfaffer einen Kriminalprogeß, Dienftentlaflung und Heftungshaft zur Folge. 
Der heut zu Tage tie wenigen Selten dieſes Schriftchens liest, Hält es nicht 
für möglich, daß ein Gerichtshof ein ſolches Urtheil fällen konnte. Eingaben und 
andere Schritte fchlofien fi an das Vorgehen Lornfens und wenn auch jetzt die 
Ritterſchaft fi von der allgemeinen Bewegung als Stütze des Thrones und ber 
tonfervativen Intereffen zu trennen fuchte, beſchleunigten die Vorgänge doch das 
Auftandefommen der fländifchen Inftitutionen, welche durch das Geſetz vom 28. 
Mai 1831 für die einzelnen Theile der Geſammtmonarchie angeorunet wurden. 
As Mufter für die neuen Einrichtungen wurden die preußifhen Provinzialftände 
bezeichnet. Im Einklange mit der allgemeinen däntfchen Politit wurbe für jedes 
Herzogthum eine befondere Provinzialſtaäͤndeverſammlung angeorbnet und deshalb wohl 
andy im eigentlichen Rönigreiche die Vertretung für Jütland und die Infeln getrennt. 
Durch die Berorbnung vom 15. Mat 1834 wurde die Zufammenfegung der einzelnen 
Ständeverfammlungen, fowie die ihnen zukommenden Rechte näher beftimmt. Letztere 
waren der kümmerlichſten Art, entfprechenb dem Mufter, nad dem gearbeitet wurbe. 
Es wurden zwar gleich Anfangs Anläufe genommen, ans den berathenden Ständen 

eine wahre, mit Stenerbewilligungsredt ansgerüftete Volkovertretung zu machen, 
aber die allgemeine Stagnation in Deutfhland, fowie die für die Maſſe des 
Bolles vorhandene Neuheit des ganzen Apparates ließ dieſe Anfänge bedeutungslos 
verrinnen. Es kam dazu, daß der damals regierende greife König Herzog Friedrich Vr 





wenig wirkliche Theilnahme 
jeuigen zwei Punkte, welche beſonders sedgnet waren, in der Mafle der 
zu zunden, vie Rationalitätsfrage und bie wurben | 
beruhrt. Wußte man au, daß die Bertkeilung ver Finanzlaſt zwiſchen 
zeich und bem eine für die Iegteren ungänfige mar, fo muadite fa 


aus begonnen wurden, jo waren dies P 
beutichen fhleswig-holfteistichen Beamienihoft genügenbe Abwehr fanbem. 
Der ganze Zuſtand änderte fich mit ver Thron beſteigung Ehriftiam VIIL 
Als Abnig von Norwegen hatte biefer in feiner Jugend bie norwegiſche demssfrutifie 
Berfafiung annehmen mäflen uud fo hoffte man ſowohl in Dauemark als ‚im am 
Herzogthlimeru, dag mit ihm eine neue Aera beginnen werde. In Däncmarl ver 
band ih aber mit dem Berlangen nad einer wahren Berfafiung zugleich Dei 
Beſtreben, Schleswig als einen Beftanbtheil des „alten Dänemarls“ wieber au fi 
nehmen zu wollen. Der alte Rame Süder Jätlaud, wurde wieder berpongehmd 
und anf alle Weile Sympathie ix Norbicleswig für —— Sprade zub 
daniſches Weſen hervorzurufen gefuht. Man bezeichnete biefe Politik als * bei 
Eiderdänenthums. Die Konfervatiwen ver | 
im Konigreiche verlangten bagegen ein BZufammenhalten der ganzen —— 
einſchließlich von Fer und | 
Geiammtfantsmänner aufgetaudt. Im Laufe der Zeit wurde jeboch vice 
legtere Richtung mehr und mehr auf die eiderdäniſche Seite gebrängt, da amd fx 
feine Gleichberechtigung in der Monarchie, fondern einen pänifhen Befemme- 
flaat wollte. Der neue König befeitigte bald jebe Hoffnung, daß es ihm mit 
einem wahrhaft lonfitutionellen Regimente Ernſt fei, um fo unglihe betonte 
er feine Eigenſchaft ale geborner Däne und wenn aud feine Berwandtſchaft mit 
dem Auguftenburg’ihen Haufe (er war in zweiter Che mit der Schweſter bes 
damaligen Herzogs von Auguſtenburg vermählt) Zweifel srregen konnte, fo 
trat fein Beftreben unter Feſthaltung ber vom däniſchen Bolle allgemein ge 
forderten Danifirungspolitit in Schleswig bie gefammte Monardie auch in Zw 
tanft zufammenzubalten, fehr bald ‚veutlih zu Tage. In legterer Beziehung rückt⸗ 
der Yugenblid immer näher, wo nah bem in ben —— Sardestbeiten 
geltenden Erbfolgerecht, wie e8 bis dahin angenommen wurte, ein Auselnanber 
fallen der Monarchie drohte. Der König hatte nur einen Sohn und einen Bruder, 
beide kinderlos; auf biefen ſechs Augen fand der Manusſtamm der älteren könig⸗ 
lihen Linie. Wenn in den Herzogthümern nur ber Mannsflamm zur Erbfolge 
beredtigt war, fo mußte das eigentlihe Dänemark an bie Gognaten bes könig 
lihen Haufes, vie Herzogthümer an dem in ber jüngern Sonderburg'ſchen Linie 
blühenden Maunsfamm übergehen. In den Stänveverfammlungen, welde ſei 
1840 zufammentraten, bewegte dieſer Punkt diesſeits und jenſeits der 
die Gemüther nit weniger als bie ijce Propaganda in Nordſchleswig und 
die Abwehr dagegen. Der Plan der Befammtflaatsmänner wurde im Jahre 1844 
auf der Stänveverfammlung für die däniſchen Infeln zu Rothſchild durch Algreen 
Uffing in die officdelle Politik eingeführt. Der von ber großen Mehrheit biefer 


Schiesmig-Halftein. 909 


xopinzialvertretung angenommene Antxag forderte von dem König die Erklärung, 
daß Dänemark und die Herzogthümer eineu einigen und untheilbaren Staat 
zamachten, welcher nach der Berorbnung des däniſchen Königsgefeges vererbe." 
m Gtillen hatte der König ſchon diplomatiſche Schritte gethan, um für das 
eiche Refultat die Zuftimmung der Großmächte zu erlangen. In den Herzog⸗ 
yämern wurde biefer Antrag als Infulte und ſchnöde Beeinträchtigung ver Landes⸗ 
:chte betrachtet, vie Regierung fuchte duch ſchöne Worte zu beruhigen, aber da 
ie Männer der Gefammtflaatspolitit mit den Eiderdänen in dem Danificungs- 
veben in Schleswig Hand in Hand gingen und in biefem Punkt König und 
Rinifterium allen ervenklihen Vorſchub leifteten, wurbe die Spannung zwifchen 
er dentſchen Bevölkerung und ben Dänen täglich ſtärker. Es gelang ben ver- 
inigten Ginfläffen in Nordſchleswig einen Theil ber Bevölkerung bes flachen 
andes für die däniſchen Beſtrebungen zu gewinnen. Publiziflifche uud peluniäre 
Rittel aller. Art wurden nicht gejpart und fo wurde Innerhalb des Herzogthums 
Schleswig der nationale Gegenſas, der Jahrhunderte laug geruht hatte, wieder 
ervorgerufen, wie er denn auch jetzt noch mit alter Stärke vorhanden if. 

XI. Belanntlih beginnt mit dem Jahre 1840 in deu einzelnen beutjchen 
andern einge neue Periode für die konflitutionellen Beftrebungen, die zugleich auf 
a8 Ziel nationaler Einigung gehen. Die Deutihen in Schleswig-Holfteln find 
wich in diefen Richtungen nicht zuriidgeblieben und wenn aud die ſtändiſche Ver⸗ 
zetung für Schleswig und Holftein eine getrennte war, fand doch der deutſche 
Zedanke unb das Verlangen nad) wahren Berfafiungszuftänden bei der Majorität 
ver beiden Ständeverfammlungen bie gleiche wachſende Billigung, Die Abwehr ver 
däniſchen Propaganda in Schleswig, die Zufammengehörigkeit beider Herzog⸗ 
thümer, Einfügung beider in einen zu erftrebenden deutſchen Bundesſtaat und als 
Borarbeit dafür zunähft Aufnahme Schleswigs im ven beutfhen Bund, ächt 
konſtitutionelle Einrichtungen für Schleswig-Holftein, dies‘ waren die leitenden 
Gevanten, welche um biefe Zeit von der politifch regfamen Bevölkerung der deutſchen 
Herzogthümer an erfter Stelle feflgehalten wurden. Immer deutlicher fam zugleich 
in immer weitere Kreife dag Bewußtſein, daß im eigentlichen Dänemark jelber vie 
fonftitutionelle Entwidlung nothwendig zum Bruche mit dem Rechte der Herzog⸗ 
thümer führen werde und um fo vertrauter machte man fi mit ven Gedanken, 
daß in nicht langer Zeit die verſchiedenen Sueceffionsorbnungen bie Herzogthümer 
aus der Verbindung mit Dänemark friedlich löfen würden. Dan wußte, daß biefer 
Ausgang von dem vegierenden König mit allen Mitteln zu verhindern verlucht 
ward, aber eine ernftlihe Gefahr für die Anerkennung ver rechtmäßigen Succeffion 
wollte Niemand annehmen, da gerade in diefer Zeit erneute flaatsrechtlihe Unter - 
fuhungen, 3. B. durch Sammer in feiner Schrift: „die Steatserbfolge der Herzog⸗ 
thämer Schleswig-Holftein”, die volle Richtigkeit des bis dahin allgemein ange- 
nommenen Berhältniffes aufs Neue beftätigt hatten. Nichts deſto weniger trat ber 
König Ghriftian VIII. mit jenem berüchtigten Offeuen Briefe vom 8. Juli 
1846 hervor, wodurch die Aufmerkfamkeit niht nur von ganz Deutſchland, 
ſondern auch von ganz Europa auf das künftige Schidfal der däniſchen Monarchie 
gelenkt ward, Durch dieſe königliche Proflamation wurbe den Bewohnern ber 
bisher unter Chriftian VIII. Scepter vereinigten Länder mitgetheilt, daß das 
Herzogthum Schleswig durch die Vorgänge non 1721 unmittelbar mit Dänemarf 
verbunden ſei und nach ber däniſchen Erbfolgeordnung ber lex regia vererhe; 
daß basjelbe für Xheile von Holftein gelte, während für andere Beſtandtheile des 
letzteren Herzogthums die Sache zweifelhaft ſtehe. Indem ber König viefe feine 


1000 Nachtrag. 


Ueberzengung ausſpricht, betont er zugleich feine fortgeſezten Bemäßungen, eine 
einheitliche Gucceifion für den ganzen KRompler der bisherigen Veſtandtheile der 
Monarchie zu fihern. Es tft handgreiflich, daß dieſe einfeitige Erklärung das be⸗ 
ftebende Recht nicht ändern konnte. Die jurifiifde Grundlage für den Offenen 
Brief bildet das fogenaunte „Kommiffionsbebenten" einer vom Könige Chriſtian 
zur Prüfung ber Exbfolgefrage eingefeßten Rommiffion. Durch das Gutachten von 
9 Brofefioren der Kieler Univerfität wurde das Ganze der von biefer Kommiffien 
aufgebauten Gründe vernichtet. 

Neben dieſer wiffenfchaftlihen Widerlegnng fiemmte fi aber das gefammte 
Bolt gegen biefe Verlegung feines Rechtögefühles auf. ‚Eine große Bollsverfamm- 
lung zu NReumänfter proteftirte gegen dieſe grobe Berbrehung bes Landesrechts umd 
die in Igehde verfammelten Stände von Holftein faßten gleichfalls die wichtigften 
Punkte bes Streits in den Sägen zufammen: „die Herzogthümer Schleswig- Holfteln 
find ſelbſtaͤndige, aber unter fich unzertrennlic verbundene Staaten und in ihnen 
herrſcht ansfchlieglih bie Erbfolge des Mannsſtamms.“ Bine Beſchwerde umb 
Berwahrung bei der dentſchen Bunbesverfanmlung führte zu einer lahmen Er 
Härung dieſer Körperihaft vom 17. September 1846. Am Tage darauf verſuchte 
König Chriftian VIIT. durch einen zweiten offenen Brief ven Einbrud bes erſten 
abzufhwäden, aber vergebens. Mißtrauen und Haß waren einmal eingekehrt und 
das Gemuth eines Boltsftamms vergiftet, veflen Gerald und Anhänglichkeit am 
die alten gewohnten Formen faft fprühwörtlic geworden iſt. Aus ganz Dentid- 
land famen Zuftimmungsadrefien zur deutſchen Haltung ber Bevöflerung ben Ber- 
tretern ihrer Imterefien. Indeſſen arbeitete die däniſche Diplomatie mit allen 
Kräften die Meinung der großmädtlichen Höfe für die Wſung der Erbfolgefrage 
nach der Sefammtftaatsivee zn gewinnen. Ein Sanptargument dabei war, daß das 
europätfche Gleichgewicht im Norden den däniſchen Gefammtftant forbere. Bei ben 
nicht deutfchen Großmächten warb baranf hingewiefen, daß die Herzogthümer 
Säleswig-Holften von Dänemark getrennt und mit Deutſchland In engere Ber- 
bindung gebracht, die gefährliche Srunblage einer deutfhen Seemacht abgeben 
würden. Der offene Brief Hatte namentlih aud die Folge gehabt, daß zwiſchen 
dem Könige und feinen Schwägern vom Auguftenburg’shen Danfe offener Zwie⸗ 
fpalt ausbrach. 

Im Jahre 1847 find dann in Kopenhagen unter eifriger Mitwirkung bes 
Königs die Vorbereitungen für eine neue Sejammtflaatsverfaifung ge- 
troffen worben, indem man durch die Verleihung größerer konſtitutioneller Rechte 
fowohl in den Herzogthümern als in Dänemark ſich eine eigentliche Regierungs- 
partei zu gründen hoffte. Che jedoch die legte Hand an biefe Vorſchlaͤge gelegt 
warb, ſtarb Chriſtian VIII. am 20. Ianuar 1848 unb unter feinem Sohn und 
Nachfolger Friedrich VII. dem legten ſchleswig⸗holſteiniſchen Herzoge aus der älteren 
däntfhen Königslinie trat jene Krifis des fchleswigsholfteinifchen Streites ein, wo⸗ 
durch dieſer volltäntig in die deutſche Reformbewegung einmündete und zu einem 
untrennbaren Beſtandtheile der allgemeinen deutſchen Geſchichte geworben iſt, auf 
deren Darftelung deshalb auch fpäter verwiefen werben muß. 

XIII. Das von König Ehriftian VIII. noch ansgearbeitete, dur den Schu 
am 28. Januar 1848 vorgelegte Projekt einer Gefammtflaatsverfaffung befriedigte 
Niemanden. Die eiverbänifche Partei war dagegen, weil weber Schleswig mit dem 
Königreich völlig vereinigt noch andy die Tonflitutionelle Freiheit in voller Wahr⸗ 
heit gegeben werben follte. In den Herzogthümern wurbe vie beabſichtigte halb⸗ 
tonftitutionelle Gefammtverfafiung teshalb perhorreschtt, weil fie die Unzertrenn⸗ 


Shleswig-Boiftein. 1001 


ichkeit Dänemarls und ber Herzogthümer zur Voransfehung Hatte und fo flill- 
chweigend in der Erbfolgefrage ven Standpunkt des Offenen Briefes behanptete. 
Eben fo großen Anftoß als der Grundplan der Berfafiung erregte bie Anorbuung, 
vie ihre Einzelheiten beratben werben follten. Reben fechszehn von dem König- 
Serzog in gleiher Zahl ans dem Königreich und den beiden Herzogthümern zu 
rnennenden Bertrauensmännern follten aus den bisherigen Provinzialſtänden je 
18 für das Königreih und 18 Berather aus ben —— — gewählt werben. 
in Dänemarl war man empört über die numeriſche Gleichſtellung der Herzog» 
hümer, in legteren ſah man vie Gefahr vor Augen, daß ein Einziger der vom König 
ınd ernannten Mitglieder den Ausſchlag geben konnte. Als Borberathung für pie Wahl 
er Bertrauensmänner traten am 17. Februar die Mitglieder der beiden Stände⸗ 
erfammlangen in Kiel zuſammen. Die Meinung, vie Wahl gar nicht vorzunehmen, 
mterlag, aber man beſchloß, nur ſolche Leute zu wählen, weldye gegen die Ge⸗ 
ammtflaatsverfaflung und für eine für die beiven Herzogthümer gemeinfchaftliche 
onftitutionelle Berfafiung fiimmen wärben. Die Stimmung in den Herzogthämern 
var feit 11/, Jahren namentlih dadurch erbittert worden, daß die oberfle Ber- 
paltang des Landes in die Hände von zugleich däniſch und abſolutiſtiſch ge⸗ 
innten Männern gelegt war. In Kopenhagen felber leitete bie ſchleswig⸗ 
yolfteinifche Kanzlei der fpäter noch mehrgenannte Graf Karl Moltke. Durch vie 
anzöflfche Februar⸗ revolution wurde in Dänemark und in den Herzogthümern bie 
Bewegung bedeutend verftärkt. Kopenhagen, der eigehtliche Sig des politifchen Dänen- 
hums, konnte jeden Tag feine Revolution erleben; in den Herzogthämern wußte man, 
vas ihr Erfolg für fie beventen würde und fo führte die gemeinfame Gefahr 
afcher als es fonft wohl geſchehen wäre, vie verſchiedenen Elemente der Bendlferung 
ufammen und zu gemelnfamer Schritten ber Abwehr. Um 18. März traten noch 
inmal die Mitglieder der beiden Stänveverfammlungen in Kiel zufammen. Das 
Refultat war vie Abſendung einer Depntation, welche dem König Herzog fünf 
Forderungen zu unterbreiten hatte. Diefe gingen anf Bereinigung ber beiden Stände- 
yerfammlungen und Vorlage eines ſchleswig ⸗holſteiniſchen Berfafinugsgefeges, anf 
‚en Eintritt Schleswigs in den deutſchen Bund, all e Boiteb g, 
Preßfreiheit und freies Berſammlungsrecht, Entlaſſung des ſchleswig⸗holſteiniſchen 
Regierungspräfidenten von Scheel. Während die gedachte Deputation in Kopen⸗ 
zagen war, trat am 23. März dort der Miniſterwechſel ein, die entſchiedenſten 
Männer der eiverväntfchen Partei Orla Lehmann und Tſcherning wurden Minifter 
ınd am 24. März wurde der Deputation eine Antwort ertheilt, worin Holftein 
ils befonderer Staat im deutſchen Bunde anerfannt, dagegen aber die ungertrennliche 
Berbindung Schleswigs mit Dänemark als Grundlage ter nationalen Politik be- 
ont wurde. Damit war däntfcherfeits die Entſcheidung auf den Weg der Gewalt 
yerwiefen. In den Herzogthümern, wohin die Nachricht von dem Umſchwung in 
Ropenhagen im Lauf des 24. gelangt war, wurde noch am Abend desfelben Tazs 
n Kiel eine proviſoriſche Negterung beftehend aus dem Advolaten Befeler, dem 
Bruder des Herzogs von Au puftendurg Brinz Friedrich von Schleswig-Holftein, 
em Grafen Reventlon-Preeg, dem Kaufmann Schmidt, dem fpäter der Advolat 
Bremer und als Vertreter der demokratiſchen Richtung Redakteur Olshauſen bei⸗ 
roten. In Berlin Hatte an demfelden Tage der Herzog von Auguſtenburg eine 
Erflärung des Königs von Preußen erwirkt, wonach dieſer die drei Gruudrechts⸗ 
äge des ſchleswig⸗holſteiniſchen Staatsrehts anerkannte und fie zu ſchützen ver- 
ſprach. Der Stanbpunft, von dem die proviſoriſche Regierung ihre Aufgabe be- 
tradjtete, war die Regentfchaft für den Kbnig Herzog, den man in den Händen 


„ 008 Recdynag. 


ſeiner dänlſchen Unterthanen als „wufrel“ erflärte Das ganze Land aufriammi 
ſowohl die Regierung als biefe Grundlage ihres Wirbens. Die in hen Herzog⸗ 
thämern flehendean, aus ihnen refrutirten Truppen ſchlugen fig auf bie Seite des 
Boltes, die Feſtung Rendsburg warb ohne Schwertſtreich genommen, 

Die anf vn 3. April zufammenberufenen vexeinigte Stänbeverfaunmiung 
beflätigten die Reglerung, bewilligte die Ausſchreibung der nöthigen Stenern um 
ee Regierung die Ausarbeitung eines Berfafiungsgejenes für das Land. 
Die nähften Monate wurden durch die Kriegsereigniſſe in Auſpruch genommen. 
Nachdem es ver befier geräfteten nun zahlreicheren däniſchen Armee gelungen war, 
bie raſch zufammengerafften und vielfach der nöthigen Offichere entbehrenden ſchles 
wig-bolfteinifchen Truppen in dem Gefechte non Bau zurädzwdrängen, ging bie 
leitende Kriegsführung an die jeweils in Deutſchland beſtimmende Gewalt über. 
Rur eine kurze Zeit war dies befanntlih das deutiche Bolt in feiner Nationale 
‚ bertretung, das Schickſal der Herzogthümer wurde damals nicht ſowohl durch bie 

auf dem Kriegsſchauplatz als durch den Gang bes deutſchen Reform- 
und Berfaflungswerts und durch die enropätlihe Diplomatie beſtiumt. Trog bes 
Baffengläds der dentſchen Truppen gelang es den Einwirkungen ber Diplomatie 
und namentlih dem Drohen Ruflauds fehr bald Waffenſtillſtandsverhandlangen im 
Gang zu ſetzen. Einen nicht zur Ausführung gelommenen enſtillſtand won 
Belleune vom 15. Jull folgte der vielberufene Malmöer Waffenſt i lIſt aun d vom 
26. Anguſt, ver auch für die Geſchicke Dentſchlanda fo verhäugnißvoll geworben iſt. 
Mittlerer Welle hatten die vereinigten Stände die politiſche Arbeit nach den Vor⸗ 
ſchlägen der Regierung In die Hand genommen, namentli warb ein Wahlgeſetz 
für die verfaffungsgebende Lanvesverfemmlung auf breitefter Bafis angenommen 
und am 18. Jull publicirt. Um 15. Auguſt trat die konſtituirende Laudeswer- 
fammlung in Kiel zufammen, allein gleich darauf wurde unter Preſſion von Ftaul⸗ 
fart aus, weil mau die Einwirkung ber Laudesvertretung auf die Waffenfiliftsuns- 
fenge fürdtete, eine Bertagung beichlofien. Unter dem Ginfluß der Nachrichten 
DEM ftillſtand wurde das Staatögrundgefek raſch angenommen, das fi von 
ben damals überall eingeführten ſogenannten demokratiſch monarchiſchen Berfaflungen 
burg einige dem Vollscharakter entſprechende konſervative Modifilationen unter 
ſchied. Nachden das —— qranbgekt am 15. September publieirt worden, wurde 
am 17. in Frankfurt ver Waffenſtillſtand von Malmd in der Rationalverfamm- 
lung geuehmigt. Bine ver Haupibeſtimmungen des Waffenſtillſtandes wer, daß für 
feine 7 monatlide Dauer flatt der abtretenden proviſoriſchen Regierung, ans ber 
Olshauſen fon früher ausgeſchieden war, eine neue gemeinfame Regierung einge 
fegt wurbe; die gefeggebende Thätigkeit im Lande follte während biefer Zeit ruhen, 
und fo ging am 20. Ditober bie Landecverſammlung auseinander. Die neue 
Regierung fuchte ſoweit als möglich den prontfortichen Zuftand in allen dem Laudes⸗ 
wohl dienenden Sachen zu erhalten, wodurch freilih in manchen Punkten dem 
Geiſte des unfeligen Malmder Waffenſtillſtands Gewalt angetan ward. Dänemarl 
protefliete Dagegen und fudte bei ben europälfchen Höfen fi als den verletzten 
Theil darzuſtellen. So wurden au durch die gemeinjame Regierung die bemtidgen 
Grundrechte für beide Herzogthlimer publicht. Die im Januar wieber julammen: 
getretene Landesverſanimlung, melde namentlich eine Bertretuung des des bei 
ben Friedensverhandlungen gefordert hatte, ging ſchon am 11. Februar wicher 
auseinander und bie flets größer werdende Schwäche ver deutſchen Politil Preußens 
führte raſch zur Kündigung bes Waffenſtillſtands durch Dänemarl. Darnach hatten 
bie Feindfeligkeiten am 26. März wieber zu beginnen, Gleichgeitig mit dem Näd- 








Schieswig-Holftein. 1008 


tritt ber für die Zeit des Waffenſtillſtands eingefehten gemeinfamen Regierung 
wurben Graf Meventlon und Beſeler won ver proviſoriſchen Gentralgewalt ale 
Statthalter eingefett. Die Kriegeführung bes Jahres 1849 gab den Herzogthämern 
Gelegenheit, zu beweiſen, wie viel au ein Kleines Land in kurzer Zeit an Waffen⸗ 
tüchtigkeit zu leiſten vermöge; bie Erfolge ver ſchleswig⸗holſteiniſchen Armee in dem 
erſten Treffen fpornten auch das von General Prittwis hrte Meichäheer an, 
doch lag der Schwerpunkt hei der Unluft ver die beutfche Politik leitenden Kreife. 
große Erfolge zu erringen, melde ber diplomatiſchen Beilegung binverli fein 
tonnten, in der Thätigkeit des ſchleswig⸗ holſteiniſchen Heeres, dem im legten 
Momente, als ſchon ver neue Waffenſtillſtand fo gut wie geſchlofſen war, von 
dem zahlreicheren vänifchen Heere bei der Belagerung von Friedericia eine ehren» 
volle Nieveriage bereitet wurde. In der Naht vom 5. bis zum 6. Juli wurde 
die Schlacht bei Friedericia geſchlagen und am 10. desfelben Monats ward zwiſchen 
Dänemark und Preußen für Deutfchland der neue Waffenſtillſtand vom 
Berlin unterzeichnet. 

Durch diefen trat wieder das Herzogthum Schleswig als eigentliche Kampf⸗ 
objelt in den Borbergrund. Während Holftein unter der Verwaltung ber Statt⸗ 
balterfaft blieb und in ihm das zu reducirende ſchleswig⸗holſteiniſche Heer feinen 
Sig behielt, ward ver nörblide Thell Schleswigs von ſchwediſchen, der ſudliche 
von yreußiihen Truppen beſezt. Die von Holflein getrennte Landesverwaltung 
für Schleswig follte aus einem bäntfchen, einem preußifchen und als Schiedsmann 
einem engliihen Konmiſſär beſtehen. Ein weiterer Schritt gu Gunſten ver bäntihen 
Politik Log darin, daß Preußen fih für ven künftigen Frieden zu ber Vefltumuug 
entihloß, „daß Schleswig eine abgeſonderte Berfaflung erhalten follte, ohne mit 
dem Herzogthum Holftein vereinigt zu fein und unbeſchadet der Verbindung, melde 
das Herzogtum Schleswig an die Krone Dänemarks knüpft.“ Trot anfänglichen 
Wiperfirebens gaben Statthalterfhaft und Landesverſammlung der fo gefchaffenen 
Situstion nad) und das Herzogihum Schleswig ward, ba ber daniſche Kommiffkr 
oe Benntnifle und Energie bewies, vollflänbig nad den Intentionen Dänemarks 


Wie fehr der jämmerliche Berlauf der deutſchen Dinge auch auf die ſchleswig⸗ 
holſteiniſche Polttil, foweit fie von Deutſchland abhängig, influirte, iſt an andern 
Stellen vargethan. Als Hauptarudmittel auf die ſchleswig⸗holſteiniſche Regierung 
und Landesverfammlung bemugte Preußen die Drohung, die im ſchleswig⸗holſteiniſchen 
Heere dienenden preußifhen Offiziere zurädzuziehen. Der Kampf, bem das deutſche 
Element im Herzogthum Schleswig dem vänifchen Regimente, wie man bie Regierung 
der Landeaverwaltung nennen faun, entgegenfegte, war zäh und nachhaltig. Zahl« 
reihe Beamte verweigerten die fernere Dienftleiftung, tie fie dem König von 
Dänemark als foldyen zu leiften aufgefordert worben. Etellenweife kam es zu 
förmlichen Bollsauffländen, die Steuern gingen weiftens nad Rendsburg In die 
ſchleswig⸗ holſteiniſche Staatstaffe; für die Kaflen der Lanvesverfammlung Blens- 
burg konnte man nur mit Gewalt Mittel eintreiben. Die Landesverwaltung bob 
eine Meihe von Gefegen der Statthalterfhaft und nementlih das Staatsgrund⸗ 
gefeß der Herzogthümer am 17. September auf, was Protefiationen von Selten 
faft des ganzen Landes hesvorrief. Die Wiedereinführung des Kirchengebets aus 
ber vormörzligen Zeit führte zu vielfahen Amtsentlaffungen ter fi) weigernden 
Geiſtlichen. Gleichzeitig mit diefer fhmählihen Behaudlung eines Landes, dem 
man das Recht gegeben Hatte, auf deutſche Hülfe feſt zu hoffen, beginnen im An⸗ 
fong des Jahres 1850 neue Friedensverhandlungen zwiſchen Preußen, im Ramen 


1004 Nachtrag. 


Deutſchlande nnd Danemark, während auch die Statthalterſchaft Berſuche machte, 
ein Einverfiänpniß mit dem Gegner zu erzielen. 

Wie die preußiſche Regierung in ihrer deutfchen Volitik fib ſtets geringere 
Ziele fiedte und doch and hinter biefen zurädblieb, fo wurde aud ihre Gtelluug 
in der fchleswig-holfteintihen Sache jeden Tag ſchwöcher, vie Preffion der Groß- 
machte und namentlih Rußlands nahm immer zu; Dänemark gewann bie volle 
Gunſt Defterreich® dadurch, daß es fh bereit erflärte, bei bem wieder ins Lehen 
gerufenen Bunvestage in Frankfurt mitzumirlen. Die Statthalterſchaft der Herzog- 
thämer hatte in ihrer Abhängigkeit von Preußen einen um fo ſchwereren Stan, 
als im März und April 1850 in ber fehlesiwig-holfteinifhen Landesverf 
das Mißtrauen in die Kraft der bisherigen Leitung die Mehrzahl der Abgeordneten 
ergriffen hatte. Rur das Gefühl der Rotkwendigteit, unter allen Umſtänden dem 
Feinde eine geeinigte Haltung zu zeigen, brachte e8 dahin, daß nadı Außen ber 
Riß weniger bemerkbar wurbe. 

Spätere VBeurtheilungen haben es nicht felten an ver reiten Wärbigung ber 
Schwierigkeiten fehlen lafſen, welche mit der eigenthämlichen Stellung der Gtatt- 
halterfchaft als einer Halb aus ver Bewegung des Jahres 1848 hervorgegan 
halb von dem guten Willen der fiegreich werdenden Reaktion abhängigen 
verfnäpft waren. Unter dem Eindrud der Warſchauer Konferenz fam baum 
am 2. Juli der Abſchluß des Friedens zu Stande, melden Preußen Im Namen 
Deutſchlands mit Dänemark ſchloß, wodurch Schleswig ganz preißgegeben warb 
und Dänemark das Mecht behielt, für die Pachfikation von Holftein die Hülfe bes 
Bundes in Anfprud zn nehmen; andern Falls follte es berechtigt fein, aud Hier 
felber mit Waffengewalt einzufchreiten. In einem geheimen Artitel bes Friedens hatte 
die preußiſche Regierung ſchon verſprochen, fi an den Verhandlungen zu be⸗ 
theiligen, welche der König von Dänemark wegen der Erbfolge in den unter feinem 
Scepter vereinigten Staaten veranlaßen werde. In Folge des Abzugs ber Breußen 
ans dem fänlichen Schleswig rüdte das fhleswig-holfteinifche Heer, das durch bie 
Abberufung der preußifchen Dfficiere ans feiner Mitte eine Reihe Triegögemohuter 
Führer verloren hatte, in Schleswig ein. Inter der Leitung des Generals vom 
Willtfen, der ein befferer Theoretifer als Praftiter und ficherlih nit ver Manz 
der Situation war, wurde am 25. Juli die blutige Schlacht bei Jdſtädt geſchlagen, 
welche ſtets ein Ghrentag in der Erinnerung Scähleswig-Holfteins bleiben wird, 
aber die Mebermadt der Dänen und bie unglüdtiche Leitung anf deutſcher Seite 
führte die fchleswig-holfteinifche Urmee auf Rendsburg zuräd, 

Der Krieg z0g ſich bis in den Winter hinein und namentlih wurbe ned 
um Friedrichoſtadt blutig, aber vergeblih gelämpft, aber ber Schwerpunft ber 
Entſcheidung war ſchon längft von vem Kriegöfelbe in die kalſerliche Diplomatie 
übergegangen nnd der Sieg der öflerreichtihen Politif über bie preußiſche, in ber 
churheffiſchen und allgemein deutſchen Sache, welde durd; den Tag von Ollmäg 
befiegelt wurde, war gleidhzeitig der Triumph der bänifchen Politit in der Sache 
der Serzogthämer Nachdem die Ratifitation des Friedens vom 2. Juli and von 
ven in Frankfurt vertretenen beutfchen Regierungen erfolgt war, und in Ollmäs 
ſchon tie näheren Mafregeln zur gewaltfamen, durch deutſche Waffen zu er⸗ 
zwingenden Bacifilatton getroffen waren, wurden endlich, nachdem ſich jeder Birer: 
fand als ausfichtslos ergeben hatte, von der Schleamig-Hoifteinifchen Fandesver 
fammlung die Forderungen ver preußiſchen und öſterreichiſchen Kommifjäre auge 
nommen. Schleswig warb ganz preisgegeben, in Holftein follte vie Armee rebucht 
und alle Feindfeligleiten eingeftellt warden. Die Landesverfummlung, bas lebendige 








Die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaſt. 1006 


Emblem deſſen, was anknüpfend an das alte Landesrecht die. Bewegung vom 
Jahre 1848 gewollt hatte, löste fih am 11. Januar 1851 auf. 

Eo begannen jegt für Schleswig Zage der Hechtung, eines Polizeiregimentes 
und einer Danifirungswuth, wie ähnliche Schritte nur von Rußland gegen Polen 
geübt worben find. Langſam erſtarkte die Widerſtandskraft der tiefgebeugten Be⸗ 
völlerung, die Verſuche, Schleswig in die däniſche Geſammtſtaatsordnung einzu- 
jwängen, würben vielleicht damals weniger Widerſtand gefunten haben, wenn nicht 
bie Danifirungsverfuhe das Bolt bis in das tieffte Heiligthum der Familie und 
ber religidfen Meberzeugungen verfolgt hätten. In ven diplomatiſchen Berbanplungen, 
welde in den nädften Jahren fpielten und die endliche Regelung zwifchen Deutſch⸗ 
land und Dänemark herbeiführen follten, iſt von Schleswig keine Rede, dagegen 
verzögerte ſich die Uebergabe Holfteius an die däniſche Regierung noch einige Zeit. 
Seinen Abſchluß fand endlich diefe Epoche der ſchleswig⸗holſteiniſchen Frage durch 
bie öffentliche Belanntmahung des Königs von Dänemark über die Organifation 
ber daniſchen Monardie vom 28. Januar 1852, welde durch den Beſchluß bes 
wiebererftandenen Bundestags in Fraulfurt am 29. Juli 1852 in Bezug auf 
Holftein und Lauenburz als mit den Geſetzen und Rechten des Bundes überein» 
ſtimmend, anerlannt und genehmigt wurde, Mit dem Sieg ter Reaktion in Deutſch⸗ 
land wurde auch die ſchleswig⸗holſteiniſche Sache begraben, aber wie jener kein 
dauernder war, fo iſt auch der fhleswig-holfteinifhe Streit nur ſcheinbar beige 
legt gewefen. Wie er neu begann und zu welcher allerdings von dem alten Land⸗ 
rechte weit abweichenden Löſung die Auseinanderſetzung zwifchen Deutſchland und 
Dänemark führte, iſt an anderer Stelle, in dem Nachtrag zum Artikel „Deutich- 
land” geſchildert worden. 9. Rerauardien. 


Die fchweizerifche Eidgenoffenfchaft. 


Statiftit. Das Land. DieSchweiz befindet ſich ziemlich auf den mittelften 
Borallelen, zwifhen dem Aequator und dem Norppole der Erdkugel; fie reiht von 
450 48° bis 47% 48° N., over 30 geographiſche Meilen ver Breite nnd vom 
50 58° bis 100 30° O. der Ränge (Öreenwid), Sie liegt im Mittelpunft von 
Europa, glei weit von der Sünfpige Italiens und der Norvfpige Jütland's, von 
der Mündung ver Donau’ unf des Tajo. 

Die Grenzen der Schweiz fallen genau mit ver Richtung ber Himmels- 
gegenden zufammen: im Weften ftößt fie an Frankreich, im Norden an den Zoll⸗ 
verein, im Oſten an Defterreih, im Süden an Italien, | 

Die Weftgrenze enthält in zwei Abthellungen, von der Schufterinfel im Rhein 
unterhalb Baſel bis zur Rhone unterhalb Genf, und von bier bis zum Mont 
Dolent im Wallis, die ganze franzdfifch-fchmeizerifhe Grenze. Die Norbgrenze 
zwifchen ver Schufterinfel und der Rheinmündung bei Rheineck fällt mit der ſchwei⸗ 
zeriſch⸗ſüddeutſchen Grenze zufammen. Die Oftgrenze von ver Rheinmündung bis 
zum leid ift die ſchweizeriſche Grenze gegen die öſterreichiſchen Staaten, 
und die Süpgrenze vom Mont Dolent zum Stüfferjoh bildet ausſchließlich bie 
ſchweizeriſch⸗italieniſche Grenze. 

Die Ausdehnung der Grenzen der Schweiz ergibt fi aus ben folgenden 
Abftänden einiger ertremen Örenzpunfte vom Meridian und vom Perpendilel ber 
Sternwarte in Bern: 


1006 Nachtrag. 


der Punkte. Zohan v. Merian. Abſtand v. Perpendtlel 
Säufteriufel im ——— Beben um unterhalb Ba 


Orenzpon ..  11548W O, 709068% N. 
—— des Want be Bofogne in bie 
Rhone, weftlichfter Punkt im Rt. Genf 114460= W. 90320= 8. 
Mont Dolent (38300) . . 80430% W. 1143008 8, 
Pedrinate, ſudlichſter Grengpuntt im 
Menprifotto . 122550m O, 124640m 8. 
Stilfferjod 230860m 0. 423300 8. 
By Ciovalatfh, zſtlͤchſter Grenzpunkt 2328260 0. 3276000 S. 
Rheinmündung in dem Bobenfee 160000= O. 62800= N. 
Oberbargen, udrdlichſter Grenzpunkt im 
Kanton Schaffhaufen . 84660 0. 95880=m N. 
Groͤßte Ausdehnung in der Richtung von en nah Norb, Bargen-Berrtuate, 
auf dem Merivian gemefin . 2205200 ober 46 Schweizerfiin. 


Srößte Ausdehnung von De nah Oft, Bofogne- 
Cavalatſch, auf dem Perpendilel gemeflen 347285 „ 72, ” 
Gradlinige Ausdehnung der Grenzfronten. 


Weftgrenze, Scufterinfel-Bofogne . . 2046750 „ 42, n 
Weſtgrenze, BofogneMont-Dolent . .. 873840 „ 18 n 
Sübgrenze, Mont⸗Dolent⸗Stilfferjoch . 2701108 „ 56% n 
Dfigrenze, Stilfierjoh-RhelnmändtungnG . 126699m „ 26, n 
Norbgrenze, Rheinmändung-Schuftertufel . 148676 „ 3% n 


Gebirge Die Schweiz ift ein Hochgebirgsland, veffen Berge und Thäle 
Theile der Eentralalpen und des Jura find. Die Alpen aichen fih von der Weſt⸗ 
greuze ihre Richtung von SW nah NO umänberub durch ben füblidden Theil ber 
Schweiz. Diefelben ſind aus eingelnen Gruppen — Ceniralmaſſen — gebaut, bie 
aus kryſtalliniſchem Geftein beftehen, defſen Bildung dem Dafeln von Organismen 
vorausgeht. Sie ragen durch ihre Mafle und durch die Höhe ver Gipfel über bie 
fe umgebenden Sedimentögefteine wie mitten aus vulkaniſchen Spalten empor und 

Üden den Kern des Gebirges. Die kryſtalliniſchen Gefteine find theils maffige: 
Granit, Syenit, Diorit, Serpentin, theils fehleferige: Oneis, Glimmerſchiefer, 
Talſſchiefer, Talfgneis u. a. Die Sevimentögefteine find weid oder flüfftg au von 
ſchiedenen Del und in urfjpränglid horizontalen Schichten abgefegt worben. 
Ron anter cheibet vier Hauptformationen: die primäre, fecunbäre, tertläre und 
quaternäre 

Der Iura, welcher den weſtlichen und nordweſtlichen Theil ber Schweiz 
von der franzöfifchen bis zur deutfchen Grenze durchzieht, befteht, mit Ausnahme 


vereinzelter Ausbrüche von Bafalt und Serpentin, ans Sagerfalgen ber Secunbär- 


zeit. Kalkſteine, Mergel oder Sanbfteine, wiederholt unter fid) abwechſelnd, fin 
zu Ianggebehnten Hochflächen, oder wellenähnlich, zu parallelen Oewölbfetten 
erhoben. 


Höhen. Während der Jura Bis zu 1655 Meter auffteigt, find in be 
Alpen der Schweiz die höchſten ange Europa’s, mit Ausnahme des Montblauds, 
bi8 auf 4638 Meter fi erheben 

Zwilhen den Alpen und 8 Jura dehnt fich ein Hügelland aus, das reich 
tih von See'n bewäflert ift, und deſſen Höhen zwiſchen 360—480 Meter ſchwanken. 

Flußgebiet. 1) Rhein, Flächeninhalt 27,866 Quadratkilom.; 2) Ware, 
11,500 Quadratkilom.; 3) Neuß, 3411 Onabratfilom.: ; 4) Zimmat, 2413 Duadrat- 











Die ſchweizeriſche Eingenoffenfchaft. 1007 


kilom.; 5) Ahene, 6788 Quadratkilom.; 6) Telfin, 3874 Duabrafllom.: 7) It, 
2716 Quadratlilon., im Ganzen 62420 Quadratkilometer. 
See’n über 1 Onabratlilom. Umfang [) Stunden. D Rilem. 

26 


Geuferſee (Nhone) ‚08 577,2 Ä 
Bobdenfee (Rhetn) 233.10 539,4, (Unterfee 2,7) 
Neuenburgerfee (Aar) 10,0 239,08 
Langenjee (Langenſee⸗Po) 9,30 214,9 
Walsfätterfer (Reuß) A 11B,yg 
Zürcherſee (Linth) 3,1 87 r18 
Luganerſee (Rangenfee-Po) 2,19 50,46 
Thunerſee (ar) 2,08 47,9 
Bielerfee (Uar) 1,g3 42,16 
ugerſee (Reuß) L,e7 38,48 
rienzerfee (Aar) 1,0 29,95 
Murtenerſee (Aar) 1,19 27 12 
Walenfee (Linth) 1,91 23,27 
Sempacherſee (At) O,62 14,25 
allmylerfee (Aar) OÖ, 10,57 
_ * und Brenetfee (Aar) O,u 9,50 
reifenfee (Rhein) 0,4 8,0 
Samerfee (Reuß) 0,2 T m 
Uegerifee (Reuß) OÖ, 7,00 
Baldeggerfee (Um) 0,2 Bar. 
Sllſerfee (Inn) 0,17 A,oo 
— A O,13 3,10 
anafee ( s 
Uobbererfe Ru) | O2. 2,85 


Defdinenfee (Aar) ie %. 1 
Klonthalerſee (Linth) ‚05 15 
Klima. Der ungeheure Unterfchied der Höhen bewirkt, daß die Schweiz in 
Beziehung auf bie klimatiſchen Verhältniffe und die Pflanzen ſich zwifchen ben 
beiden Ertremen Europa's bewegt und das Legtere im Kleinen varftellt. Was bie 
Temperatur-Bertheilung betrifft, fo befindet fich die Lage des Landes (nah Mühry), 
wenn Man den Boden ſich denkt als eine Ebene und rebucht anf die Meeres- 
gleiht, etwa zwifchen der Iſothetmenlinien von 119 und von 139 C, (90 und 
10,50 R.); alfo würde die Mitte des Gebiets durchzogen werben etwa von ber 
Sfothetinenlinie des Jahres von 12% C. (9,50 R.) und man Tann Hinzufügen, 
von ber des Winters don 29 C, und ver des Sommers von 200 C, (1,,° und 
16° R.), welde als die Fluctuntions-Amplitüde ber ertremen Monate ergeben 
18°C. (14,, R.). Diefe Temperaturgtave find Ausgangspunkte. Die mittlere 
Temperatur des Jahres wechfelt auf der Höhe von 1000—2500° von + 120 — 
— 17°; auf eine Höhe von 25004000 über dem Meer zwiihen + 6— 
— 129 und auf einer Höhe von 4000—5500 von + 4— + 6. In der 
Saueı beftehen 84 meteorologifhe Stationen. 
ineralquellen. Die Schweiz ift außerorbehtlih reich an Mineral 
quellen, deren man gegen 600 zählt, nämlih: 10 Muriatiſche Kochſalzquellen, 
6 falinifhe Quellen, 20 Natrongnellen, 34 Säuleringe, 60 Kall- oder erbige 
Quellen, 121 Eifenguellen, darunter 2 Vitriolquellen, 170 Schwefelquellen, 
"darunter 9 Jod haltende Unellen, 5 Aophult und Erdbl haltende Quellen, 6 Gas⸗ 


1008 Nachtrag. 
quellen, 177 Quellen, deren Gehalt nicht näher beſtimmt if, zufammen 609. 

Ferner gibt ed gegen 400 klimatiſche, Milch⸗ und Molkenkurorte umb Bleinere 
tlimatiſche Stationen. 

Flädeninhalt und Bepvölkernug. Die Schweiz iR ein YBunbesflaat 
von 25 fonveräuen Gauen odet Kantonen, woven 6 Halblantone, welde früher 
vereinigt waren, nämlich Appenzell Außerrhoden und Innerhoden, Unterwalden 
ob und nid dem Wald, Baſelſtadt und Baſellandſchaft. Diefe Kantone unter 
fegeiven ſich nah Areal und Bevölkerung (leptere nach ver Zählung vom 10. 
December 1860) wie folgt: 








Areal. Gefammtfläche 
Kantone. in Quabdratfilom. Bevölkerung. Auf 1000 Einw. Auf 1 Quadratlilom. 
Ouapratlilom. Einwohner. 
Zürid) _ 1728 266265 6 0155 
Bern 6889 467141 14,5 68 
Luzern 1501 130504 11,9 87 
Urt 1076 14741 72,99 14 
Schwyz 908 450389 - 20,16 50 
Unterwalden 0.0.8. 475 13376 88,51 28 
Unterwalden n. d. W. 290 11626 25,18 40 
Glarus 691 33363 20m 48 
Bug 239 19608 12,49 82 
Freiburg 1669 105523 15,93 63 
Solothurn 785 692363 11l,a 88 
Bafelftapt 37 40683 O1 1099 
Baſellaudſchaft 421 61682 Bis 123 
Shaffhaufen 300 35500 5 118 
Appenzell W. N. 261 48431 5, 186 
Appenzell I. R 159 12000 13,25 76 
Et. Gallen 2019 180411 11,99 89 
Graubunden 7185 90713 Tin 13 
Aargau 1405 194208 Ta 138 
Thurgau 988 9000 10,9 91 
Teffin 2836 116348 24,23 41 =. 
Waadt 3223 213157 Ada 66 
Balls 6247 907992 57, 17 
Renenburg 808 87369 9,25 108 
Ga 288 82876 33 289 
Schweiz 41418 2510494 16,49 61 
Bevödlferung nad Religion, 

Kantone Katholiken. Proteflanten. Ehr. Sekten. Juden und andere. 
Zürich 112586 253793 1054 162 
Bern 58319 408727 2275 820 
Luzern 127867 2619 4 14 
Uri 14705 86 — — 
Schwyz 44509 524 6 1 
Unterwalven 0.0.98. 13283 93 — — 
Unterwaldenn.d.B. 11475 51 _ — 
Glarus 6827 27606 28 2 

Uebertrag 187341 693349 3366 999 











Bie fchweizerifche Eidgenoſſenſchaſt. 1009 


Bevdllerung nad Religion. 


Kantone Katholiten. Proteftanten. Chr. Sekten. Juden und andere, 
Uebertrag 187241 693349 3366 999 
ng 18990 609 9 — 
Freiburg 89970 15522 23 8 
Solothurn 59624 9545 59 35 
Baſelſtadt 9746 30513 253 171 
Bajellaud 9751 41605 222 4 
Schaffhauſen 2478 32950 72 — 
Appenzell U. R. 2183 46218 29 1 
Appenzell I. R. 11884 115 1 — 
St. Gallen 119731 69492 88 100 
Oraubünden 39945 50760 8 — 
Aargau 88424 104167 79 1538 
Thurgan 22019 67735 316 10 
Teſſin 116238 93 11 6 
Waadt 12790 199452 519 396 
Neuenburg 9234 77095 475 565 
enf 42099 40069 331 377 
Wallis 90088 693 5 6 
1023430 1476982 5866 4216 


Bevdllerung nah Sprachen (und Haushaltungen). 


Kantone, Deutihe Sprade. Franz. Sprache. Italieniſch. Romaniſch. 
Zürich 56238 47 13 09 
Bern 176777 19343 31 3 
Luzern 23692 11 5 4 

31211 — — — 

Schwyz 8867 — 2 — 

Unterwalden o. d. W. 3232. — 7 — 

Unterwalden n. d. W. 3048 — 4 — 

Glarus 7864 1 — 1 

Zug 8630 — 2 2 

Freiburg 5530 15365 8 — 

Solothurn 13936 44 — — 

Bafelftadt 12288 242 16 5 
Bafelland 9463 5 — — 

Schaffhauſen 7759 6 1 — 

Appenzell U. R. 13237 — 1 1 
Appenzell J. R. 3159 — — — 
St. Gallen 39792 43 10 5 
Graubunden 9152 15 2849 8858 
Aargau 36832 12 2 — 
Thurgau 19391 4 6 — 
Teffin 112 6 26438 1 
Waadt 825 45724 66 7 
Wallis 6179 12527 134 — 
Neuchatel 2327 16234 44 3 
Genf 661 17829 63 6 
367065 123438 28697 8905 


Bluntſqli und Brater, Deutſchet Staate⸗Wörterbuch. Xi. 





1010 Nachtrag. 
Bevölkerung der Hanptſtädte Aber 10,000 Einwohner. 
Einwohner. Einwohner. 
1850. 1860. 1850, 1860. 
Genf 31238 41416 Chaur de fonds 12638 16778 
Baſel 27313 37918 St. Gallen 11234 14532 
Bern 27558 29016 Luzern 10068 11522 
Lauſanne 17108 20515 Freiburg 9065 10454 
Züri 17040 19758 Neuenburg 7765 10382 
dauptt efhäftigungsarten nad Procente en ber t Bendlterung. 
Urproduktion 44. 
Inbuftrie . . . . . . . 34; 
. Handel ee 5a 
Verkehr lg 
Oeffentliche Berwaltung, Wiſſenſchaften u. Rinfe 39 
Berjönlihe Dienflleiftungen . 6, 


Perfonen ohne Beruf reſp. Berufsangaben . 39 
Nah Abzug der Meifter refp. ſelbſtändig Beſchäftigten find bei 


den Fabrik- und Mannfalturgemerben perhätigt: 


Gehülfen 


Procentoerhältalfie zur Sqanniderdlicung 


Gehülfen 
an lfinnen 


Bendlferungsbewegung 1867. 
Geborne. anf Einwohner 
1 Gebt. 


Rantone. 
Appenzell 3. R. 494 


Glarus 1277 
Schwyz 1706 
Urt 544 
Schaffhauſen 1314 
Neuenburg 3239 
Bern 16879 
Solothurn 2364 
Bafelland 1780 
Appenzell A. R. 1670 
Bafelftapt 1366 
St. Gallen 6058 
Züri 8505 


Hebertrag 47196 


Kantone. 
Glarus 314 
Zurich 2215 


Ucbertrag 2529 


24 
26 
26 
27 
27 
27 
28 
29 
29 
29 
30 
30 
31 


Sasse 
163348 


. 262 
6 


TZrauungen. 
Kantone. Trauungen. auf Einwohner 


Zrauungen. auf Einwohner 
Trauung 


106 
120 


Uebertrag 2529 
Ridwalden 96 


Üebertrag 2625 


au ohne Luzern 


Kantone. Geborne. auf Einwohner 
1 Gebart. 
Uebertrag 47196 

Nidwalden 872 31 
Freiburg 3342 31 
Obwalden 422 32 
Zug 612 32 
Thurgau 2794 32 
Balls 2879 32 
Sranbänden 2690 34 
Yargan 5717 34 
Teſſin 3325 35 
Waadt 6033 36 
Luzern 3573 36 
Genf 2142 39 
Summa 81097 81 


Trauung 


120 








Die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaſt. 1011 
Trauungen. 
Kantone. Trauungen. auf Einwohner Kantone. Trauungen. auf Einwohner 
1 Trauung 1 Trauung 
Uebertrag 2625 Uebertrag 9556 
Schwyz 373 121 Luzern 907 144 
Zug 160 123 Graubünden 618 147 
St. Gallen 1421 127 Bern 3132 149 
Waadt 1673 - 127 Neuenburg 581 150 
Appengell IR. 94 128 Thurgau 597 151 
113 130 Zeffin 755 154 
Solothurn 511 135 Obwalden 86 156 
Genf 608 136 Walls 579 157 
Schaffhauſen 253 140 Freiburg 665 158 
Appenzel A. R. 346 140 Baſelland 815 164 
Hargan 1379 141 Baſelſtadt 109 373 
Uebertrag 9556 Summa 17900 140 
Sterbefälle, Sterbefälle 
Rantone. Geftorbene. 1 Sterbefall Kantone. Geftorbene. 1 Sterbefall 
auf Einw. auf Einw, 
Appenzell J. R. 897 80 Uebertrag 28783 
Sqhwyhy 1316 34 Zug 47 4 
Appenzell A. R. 1357 36 Waadt 4822 44 
Glarus 889 37 Solothurn 1629 45 
Thurgan 2414 37 Bern 10271 45 
Zürich 6075 88 Schaffhauſen 783 45 
St. Gallen 4799 38 Aargau 4223 46 
Baſelſtadt 1022 40 Obwalden 289 46 
Gaf 2019 4 Urt 816 47 
Neuenburg 2082 42 Luzern 8787 47 
walden 276 42 Baſelland 1096 47 
Freiburg 23500 42 Ballis 1909 48 
Teſſin 2738 42 Graubünden 1826 60 
Uebertrag 28788. Summe 59080 42 


danptergebniffe ber fhweizerifhen Bichzählung vom 21. April 1866. 
Pferd hthengſt 428 


uchthengſte 
Uebrige Sengfte Fr 2 und mehr Jahren 
Sohlen unter 2 Jahren 


und fäug.) 


Zuchtfinten trach 


3449 
5647 
9515 


Uebrige Stuten u. Balladen v von 4 u. mehr Jahren 64380 


el, Manlthiere und Manlefel 
Sndifiere (Bullen) wirklich verwendete 


Rindvieh: 


—2* Rinder 
Zug- und Maſtochſen 


Inngvieh über ein halbes Iahr 
Kälber unter einem halben Jahr 


16905 
5475 
Summa 105799 
10311 
553205 
74634 
52303 
172826 
130012 
Summe 9932°“ 
64 * 


unter 4 Jahren 


1012 Nachtrag. 


Schweine: Eher 1544 
Mutterſchweine 30228 

Faſel⸗ und Maſtſchweine 190705 

Ferkel 819561 

Summe 304428 

Schafe: 447001 
Ziegen: 375482 


Berfaſſung. Bund. Die Schweiz bildet einen republſkaniſchen Bundes⸗ 
ftaat von 25 Staaten, nämlid 19 Kantonen und 6 Halblantonen. Die Bundes 
verfaffung tft im Jahre 1848 aus einem Staatenbund, an befien Spige die Tag 
fagung von Abgeordneten der Kantone, deren Borort zwifhen Züri, Bern um 
Luzern wechfelte (einer dem a. deutſchen Bundestag ähnlichen Behörde), in eimen 
Bundesftaat verwandelt worden. Als Vorbild dienten bei der Berfaffungsrenifion 
die vereinigten Staaten von Norbamerila, doch wußte man bezügli der Erekutiv⸗ 
gewalt das. Gebrehen der Letzteren, vie direkte Wahl eines vierjährigen Präſidenten 
direft durh das Boll, welche ein Wahllönigthum Tonftituirt, deſſen Nachtheile 
unter der Präfiventfchaft von Johnſon Mar zu Tage traten, durch Das Kollegial- 
ſyſtem glüdlih zu umgehen. *) 

Die Kantone find fonverän fo weit ihre Selbſtherrlichkeit nicht durch die 
Bundesverfafiung beſchränkt ift und üben als folde alle Rechte aus, weiche nicht 
der Bundesgewalt abgetreten find. Der Bund allein hat das Recht, Krieg zu em 
klären und Frieden zu machen, Bünpniffe und Berträge mit auswärtigen Staatm 
abzuſchließen. Der Bund ernennt die Oberbefehlshaber des Heeres, aber hat nicht 
das Recht, ſtehende Truppen zu unterhalten. Die Verwaltung und bie Giunahme 
ver Zölle an den Grenzen ber Schweiz kommen dem Bunbe zu und berem Er⸗ 
trag fließt In die Bundeskaſſe. Ebenſo fieht dem Bunde zu: die Fefftellung tes 
Maaßes und Gewichtes, das Münz- umd Schiegpulverregal, das Telegrapkenmeien, 
beren Ertrag in die Bundeskaſſe fließt, und bie Verwaltung der Poſten deren Leben 
fhüffe den Kantonen ausgezahlt werben. 

Ale Schweizer find gleih vor dem Gefeg, Es gibt in ber Schweiz weber 
Untertbenen, noch Privilegirte von Realitäten, von Geburt, Staud, Familie oder 
Perfon. Die freie Nieverlaffung zum Gewerbebetrieb iſt auch Anglänbern ge 
währt. Die oberfle Gewalt des Bundes wird ausgeübt dur die Onudesver 
fammlung, welde aus zwei Häufern oder Räthen befteht: 1. bem National 
rath, welde aus Abgeordneten des ſchweizeriſchen PVolles,_b. h. aller unbe 
ſcholtenen Männer, vie das 20. Lebensjahr zurüdgelegt haben, zufammengefegt if. Auf 
je 20,000 Köpfe der Bevölkerung kommt ein Abgeordneter. Die Gefammtzahl der 
Wähler wurde 1865 auf 487,861 theils erhoben, theils geſchätzt, oder zu je 1 Wähler 
auf A,ag Einwohner. Jever wahlfähige Eidgenoſſe Tann an feinem Wohnfig wählen, 
wenn diefer au in einem andern, als feinem Heimathskanton liegt; 2. ans bem 
Ständerath, welder ans 44 Übgeorpneten befteht, von denen bie 19 Kantone 
je 2 und die 6 Halblantone je einen Abgeordneten durch die geſetzgebende Be- 
hörde (Großer Rath oder Tandsgemeinve) wählen. 

Die oberfte Erelutiv- Gewalt des Bundes, der „Bundesrath", beftcht 
aus fieben Mitglievern, welche alle brei Jahre von ber vereinigten Bunbesperfamm- 
lung gewählt werben und wozu alle Schweizer ernannt werben können, bie wähl- 


*) Anm. d. Red. Bor Johnſon hatte Präfident Lincoln die Einheit des Union gerettet. Für 
einen großen Weltftaat wie die amerikaniſche Unlon würde eine Kollegialregierung gang unpaffend fein. 





Die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaſt. 1018 


bar in ben Nationalrath. Der Bundespräſident und Vicepräſident werden jedes 
Jahr aus dem Schooße des Bunbesrathes durch die vereinigte Bundesverſamm⸗ 
lung gewählt. Eines ſchönen Brauches darf hier Erwähnung gefchehen, daß näm⸗ 
lich in beiden Häuſern der Bundesverfammlung weder Beifalls- noch Mißfalls- 
bezeugungen gegenüber den Rednern gebraucht werben, nicht in Folge der Strenge 
des Reglements, ſondern ber Sitte. (Vgl. den Art. Schweiz Berfafiung iu 
Baus IX). 

Kantone Go flabil die Bundesverfaflung, fo fehr find die Verfaſſungen 
der Kantone einer lebhaften periodiſchen Nevifionsbewegung unterworfen, fo daß 
Angaben, die man heute macht, in einigen Jahren veraltet find. Dennod kann 
man gewiſſe Brincipien und Fundamentaleinrichtungen unterfcheiden, welche bleibend 
find, wenn auch die Zahl der Kantone bezüglid der Annahme derſelben ſchwanken. 
Borauszufchiden ift dabei, daß über Verfafjungsänderungen fowohl des Bunves, 
wie der Kantone ſtets das ganze Bolt zu entſcheiden hat. 

Man hann im großen Ganzen brei Eufteme unterſcheiden, in welcher vie 
Bollsherrfhaft in den Kantonen ausgeübt wird: 1) Die reine Demokratie; 
2) das reine Repräſentativſyſtem, und 3) ein aus beiden gemifchtes 
Syſtem. 

Die 1) reine Demokratie wird ausgeübt durch die Landsgemeinde, d. h. 
durch ſämmtliche volljährige, unbeſcholtene Kantonsbürger, weldye fi an einem 
beftimmten Tage des Jahres, am legten Sonntag des April ober am erften 
Sonntag des Mai gewöhnlid unter freiem Himmel verfammeln, bie Staatöred- 
nung genehmigen, über Verfaffungsrevifionen abftimmen und den Yandpammann, 
die übrigen 5—8 Mitglieder der Regierung und den aus 5070 Mitgliever 
beftehenden Landrath wählen, welder ſich durchſchnittlich 6 Mal im Jahr ver- 
fammelt und der Regierung als berathende Behörde zur Seite flieht. Diefe Ber- 
faflung befteht, nur in Kleinigkeiten je abweichend, in den Kantonen Uri, den 
beiden Unterwalpen, beiden Appenzell und Glarus. 

Die 2) reine Repräfentatio-Berfaflung befteht in den Kantonen Wallis, 
Teifin, Freiburg, Zug, Baſelſtadt, Genf. 

Das 3) gemifhte Syſtem bat neben dem Repräfentativ-Körper noch mehrere 
demolratifche Formen, die unter ſich felbft wieder in mehrere Arten zerfallen. 
Zuerſt kommt a. das Referendum im Verein mit Initiative und birelter 
Wahl der Regierung durch das Boll, Das Referendum iſt das Necht des 
Bolles, daß jedes von der Regierung vorgefchlagene und vom gefeßgebenden Reprä⸗ 
fentativförper (Großer Rath) beratbene und angenommene Gefeg der Volksab⸗ 
ſtimmung in den Gemeinden unterworfen werben muß. Die Initiative iſt das 
Recht des Boltes, gemäß deſſen die Regierung ein Geſetz dem großen Math zu 
Berathung vorlegen muß, wenn eine beftimmte Anzahl von Bürgern (5000— 6000) 
es verlangt. Diefe drei Rechte zuſammen beftehen fin den Kantonen Zürich und 
Thurgau; b. das Referendum in ben Kantonen Graubünden, Schwyz, 
Baſellandſchaft, Bern, Yargau; e. das finanzielle Referendum im Kanton 
Waadt bei Summen über 1 Millionen Franken, in Neuenburg bei Summen 
über 2,000,000 Fr.; d. das Beto, das Recht, ein vom geſetzgebenden Körper 
berathenes und angenommenes, von ber Regierung publicittes. Geſetz zu verwerfen, 
wenn eine beftimmte Anzahl von Bürgern (zirka 5000 in den Mittellantonen) 
es verlangen, in den Kantonen Luzern, Solothurn, Schaffhauſen, St. Gallen, 
Waadt. Außerdem befteht die virefte Wahl der Regierung uoch in Genf und bie 
Initiative uch in Waadt für 6000, in Aargau für 5000 Kantonsbürger. 


„ 2008 Weckioag. 


fehner värtfigen Unterthauen als „uufrei“ erflärte, Du gan: Fand anfıtaund 
ſowohl die Regierung ale biefe Grundlage ihres Wirdens. Die in ben Herzeg⸗ 
thämern ſtehenden, aus ihnen rekrutirten Truppen ſchlugen ſich auf die Seite det 
Bolkes, die Feſtung Reudaburg ward ohne Schwertſtreich genomm 

Die auf den 8. April zuſammenberufenen vereinigte Stänbeverfam amudinng 
beflätigten die Regierung, bewilligte vie Ausſchreibung ver nöthigen Stenern umd 
an Gealerens bie Ausarbeitung eines Berfafiungsgefege® für das Yanb. 

ſten Monate wurden durch die Kriegsereignifie in Auſpruch gememumen. 

Nachdem es ver beſſer geräfteten und zahlreicheren däniſchen Armee gelungen war, 
die raſch zuſammengerafften und vie der nöthigen Dffictere eutbehrenben ſchles⸗ 
wig-hoffteinifchen Truppen in dem Gefechte von Bau zurädzedrängen, ging die 
leitende Ari hrung au bie jeweils in Deutſchland beſtimmende Gewalt übe. 
Rur eine kurze Zeit war dies befanmtlih das beutfche Bolt in feiner National- 
vertretuug, das Schickſal der Hexzogthümer wurde damals nicht ſowohl durch Die 
Borgänge auf dem Kriegsſchauplatz als durch den Gaug bed deutſchen Reform- 
und Berfaflungswerts und ur die encopätfche Diplomatie beſtimmt. Tre des 
Baffengläds der dentſchen Truppen gelang es ben Einwirkungen ber Diptomatie 
und uamentlih dem Drohen NRußlauds fehr bald Waffenſtillſtandsverhaudlangen in 
Gang zu ſetzen. Einen nicht zur Ausführung gelommenen Waffenſtillſtaud non 
Beleune vom 15. Jull folgte ve vielberufene —* Waffenſt il lſtaud vom 
26. Wuguft, der auch für die Geſchicke Dentjſchlande fo verhaängnißvoll geworden if. 
Mittlerer Welle hatten vie vereiwigten Stände die politiſche Urbeit nad) ben Bor⸗ 
[lägen ver Regierung in die gie Hand genommen, namentlid warb ein Wahlgeſet 
für die verfaffungsgebende Landesuerfemmlung auf breitefler Baſis angenommen 
und am 18. Jull publicirt. Um 186. Kuga trat die konſtituirende Laudesver⸗ 
fammlung in Kiel zufammen, allein gleich Darauf wurbe unter Preſſion von Frank 
furt aus, weil mau die Einwirkung ber Laudesvertretung auf die Waffenſtillſtande⸗ 
frage fürdhtete, eine Bertagung befclofien. Unter dem Ginfluß der Nachrichten 

vom Waffenfiliftost wurbe das Staatsgrundgeſet raſch angenommen, das fidh vom 
dem damals überall eingeführten fogenanntem demokratiſch —— Verfaff ungen 
durch einige dem VBolkscharakter entſprechende kbonſervative Modifilationen unter- 
ſchied. Nachdem das Staats —— am 15. September publieirt worden, wurde 
am 17. in Frankfurt ver Waffenſtillſtand von Malmd in der Nationalverſamm⸗ 
lung genehmigt. Eine der Haupibeftinmungen des Waffenſtillſtandes wer, daß für 
feine 7 monatlide Dauer flatt der abtretenden proviforiichen Regierung , F von 
Dishaufen fon früher ausgeſchieden war, eine neue gemeinfame Regierung ein 
fegt wurbe; bie e gefeggebenbe Thätigkeit im Lande follte während dieſer Zeit zuben, 
und fo ging am 20. Dftober bie Landesverſammlung auseinguber. Die nene 
Regierung fuchte Komet als mögli den proviſoriſchen Zuftand in allen dem Laudes⸗ 
wohl dienenden Saden zu erhalten, wodurch freilid in manden Punkten vem 
Geiſte des unfeligen Malmder Waffenſtillſtands Gewalt angethan warb. Dänemart 
proteftiete Dagegen und fudte bei den europäifcken Höfen fi als ben verleiten 
Theil darzuſtellen. So wurden auch durch die gemeinſame Regierung bie —— 
Grundrechte für beide Herzogthümer publichtt. Die im Jannar wieder —— 
getretene Landesverſanimlung, welche namentlich eine Vertretung des Landes bei 
ben Friedensverhandlungen gefordert hatte, ging ſchon am 11. Februar wieder 
auseinauder und die ſteis größer werdende — ber deutſchen Politit Preußens 
führte raſch zur Küntigung des Waffenſtillſtands durch Dänemarl. Darnach hatten 
bie Feindſeligkeiten am 26. März wieder zu beginnen, Gleichzeitig mit dem Näd- 





Schleswig-Holftein. 1008 


tritt ber für die Belt des Waffenſtillſtands eingefehten gemeinfamen Megterung 
wurben ei Reventlou und Beſeler won der proviſoriſchen Gentralgemwalt ale 
Statthalter eingeſetzt. Die Kriegeführung bes Jahres 1849 gab dem —— — 
Gelegenheit, zu beweiſen, wie viel au ein kleines Land in kurzer Zeit au Waffen⸗ 
tüchtigleht zu leiſten vermöge; vie Erfolge ver ſchleswig⸗holſteiniſchen Armee in dem 
erften Treffen fporuten auch das von General Prittwis geführte Reichsheer an, 
doch Ing der Schwerpunkt bei der Unluft ver bie deuntſche —**— leitenden Kreiſe. 
große Eefoige zu erringen, melde ber biplomatiihen Beilegung hinderlich fein 
konnten, in der Thätigleit des ſchleswig - holfteinifgen Heeres, dem im legten 
Momente, als ſchon ver neue Waffenſtillſtand fo gut wie gefchlofien war, von 
dem zahlreicheren däniſchen Heere bei ver Belagerung von Friedericia eine ehren» 
polle Nieverlage bereitet wurde In der Macht vom 5. bis zum 6. Juli wurbe 
bie Schlacht bei Friedericia gefhlagen und am 10. besfelben Monats warb zwifchen 
Dänemark und Preußen für Deutfhland der neue Waffenſtillſtaud vom 
Berlin unterzeichnet. 

Durch diefen trat wieber das Herzogthum Schleswig als eigentliches d 
objelt in den Vordergrund. Während Holſtein unter der Verwaltung der Statt⸗ 
halterſchaft blieb und in ihm das zu reducirende ſchleswig⸗holſteiniſche * ſeinen 
Sig behielt, warb der nördliche Thell Schleswigs von ſchwediſchen, der — 
son preußiſchen Truppen beſetzt. Die von Holſtein getrennte esverwaltun 
für Schleswig follte aus einem däniſchen, einem preußiſchen und als —— —* 
einem engliſchen Kommiſſär beſtehen. Ein weiterer Schritt zu Gunſten der daͤniſchen 
Petitif lag darin, daß Preußen ſich für dem künftigen Frieden zu ber Beflimmung 
entſchloß, „daß Schleswig eine abgefouderte Berfaffang erhalten ſollte, ohne mit 
ven Herzogthum Holftein vereinigt zu fein und unbefchabet der Verbindung, melde 
8 Herzogthum Schleswig au die Krone Dänemarks nüpft." Trot anfänglichen 
Biderſtrebens gaben Statthalterfchaft und Lanvesverfammlung der fo gefchaffenen 
Situation nad und das Derzogthum Schleswig ward, ba ber bänifche —— 
illein ernmiße und Energie be bewies, vollftändig nad den Intentionen Dänemaris 
ehand 

Wie ſehr der jämmerliche Verlauf der veutfchen Dinge auch auf die ſchleswig⸗ 
olfteimifche Polttit, foweit fie von Deutſchland abhängig, influirte, iR au andern 

Stellen dargethan. Als Haupterudmittel auf die fchleswig-holfteinifhe Regierung 
ind Landesverſammlung bemugte Preußen bie Drohung, die im ſchleswig⸗ holſteiniſchen 
zeere dienenden preußifchen Offiziere zurädzuziehen. Der Kampf, dem das deutſche 
Element im Herzogthum Schleswig dem daniſchen Regimente, wie man die Regierung 
er Landeaverwaltung nennen faun, entgegenfegte, war zäh und nachhaltig. Zahl 
eiche Beamte verweigerten die fernere Dienftleiftung, tie fle dem König von 
Dänemark als foldyen zu leiften aufgefordert worden. Stellenweiſe kam es zu 
örmligen Bolldauffländen, die Steuern gingen weiftens nad Renböburg in die 
chleswig⸗holſteiniſche Staatskafſe; für die Kaſſen der Landesverſammlung Flens⸗ 
arg fonnte man nur mit Gewalt Mittel eintreiben. Die Landesverwaltung bob 
ine Meihe von Gefegen der Statthalterfhaft und namentlich das Staatsgrund⸗ 
efeß der Herzogthümer am 17. September auf, was Proteflationen von Seiten 
aft Des ganzen Landes hervorrief. Die Wiedereinführung des Kirchengebets aus 
er vormörzliden Zeit führte zu vielfachen Ymtsentlaffungen ber ſich weigernden 
deiftlihen. Gleichzeitig mit biefer (hmähligen Behandlung eines Landes, bem 
aan das Recht gegeben hatte, auf deutſche Hälfe feft zu hoffen, beginnen im An« 
ıng des Jahres 1850 neue Friedenſsverhandlungen zwiſchen Preußen, Im Namen 


2008 Rechoag. 


febner bärtfigen Uutertgauen als „ımfrei” erflärte Das ganze Land ausriuumk 
ſowehi die Regierung als biefe Grundlage ihres Wirkens. Die in ben H 
tgämern ftehendaı, aus ihnen refrutirten Zruppen ſchlugen fi auf bie Seite ves 
Bolkes, die Feſtung Rendsburg ward ohne Schwertfireich genemmen, 

Die anf ven 8. April zufammenberufenen vereinigte Ständeverfammiung 
beflätigten die Regierung, bewilligte bie Ausſchreibung der nöthigen Stemern umb 
hen Regierung vie Ausarbeitung eines Verfafiungsgefeges für das Laud. 
Die nähften Monate wurden durch vie Kriegsereigniſſe in Auſpruch gememumen. 
Nachdem es der befier geräfteten uud zahlreicheren däniſchen Armee gelungen war, 
bie raſch zufammengerafften und vielfach der nöthigen Offictere entbehrenben ſchlet⸗ 
wig⸗holſteiniſchen Truppen in vem Gefechte non Bau zurädzebrängen, gisg bie 
leitende Kriegsführung an die jemeits in Deutſchland beſtimmende Gewalt über. 
Rur eine tarye Zeit war dies belanntlih das beutiche Volt in feiner Rational 
: vertreiung, das Schidfal der Herzogthͤmer wurde damals nicht fowohl durch bie 
Borzämge auf dem Kriegsſchauplaz als dur den Gang des veutichen Reform- 
und Berfaffungswerts und durch die enropätfge Diplsmatie beſtimmt. Trotz des 
Woffengläds ver veutichen Truppen gelang es ben Einwirkungen ber Diplomatie 
und namentlich dem Drohen Ruflauds fehr bald Waffenftillkanpsnerkanhlungen im 
Gang zu fegen. Einen nicht zur Ausführung gelommenen Wefjenßillitend von 
Belleune vom 15. Jull folgte der vielberufene Dralmder Waffenſt illſt aud nem 
26. Anguſt, ver auch für die Gefchicke Dentfchlande fo verhängnißvoll gemorben if. 
Mittlerer Welle hatten vie vereinigten Stände die politiſche Wrbeit nad den Bor⸗ 
ſchlägen ver Regternug in vie Hand genommen, namentlih warb ein Wahlgeſetz 
für die verfaffungsgebenve mlung auf breitefter Bafis angenommen 
und am 18. Juli public. Au 15. Auguſt trat pie Tonflituirende Laudesver⸗ 
fammlung in Rlel zufammen, allein gleich darauf wurde unter Preffion von Frazi- 
fart aus, weil mau die Einwirkung ber Landesvertretung anf die Waffenſtillſtande⸗ 
frage füürdtete, eine Vertagung beicloffen. Unter dem Einfluß der Nachrichten 
vom Waffenfſtillſtand wurde das Staatsgrundgeſet raſch angenommen, das fidh vom 
ben damals Aßerall eingeführten fogenannten demokratiſch monarchiſchen Berfaffuugen 
durch einige dem Bollscharalter entſprechende konſervative Modifilationen unter- 
ſchied. Nachdem das Staatsgrundgeſetz am 15. September publieirt worden, wurde 
am 17. tn Fraukfurt ver Baffenſtiilſtand von Malmd in der Nationalverſamm⸗ 
ung genehmigt. Cine der Haupibeftimmungen des Waffenſtillſtandes wer, daß für 
feine 7 monatlihe Dauer ſtatt der abtretenden proviſoriſchen Regierung, aus ber 
Dishaufen fon fräher autgefchieden war, eine nene gemeinfame Regierung einge⸗ 
fegt wurde; bie gefeggebende Thätigkeit im Lande follte während dieſer Zeit ruhen, 
uud m 20. Oktober die Lanvesverfamminug auseinander. Die nene 
Regierung fuchte feweit als möglich den proviſoriſchen Zuftand in allen dem Laudes⸗ 
wohl dienenden Saden zu erhalten, worurd freilih in manden Punkten dem 
Geiſte des uufeligen Malmder Waffenſtillſtande Gewalt angethan warb. Dänemart 
proteftiete bagegen und ſuchte bei ben europälfgen Häfen ſich als den verleiten 
Theil darzuſtellen. So wurden auch durch die gemeinfeme Regierung bie dentſchen 
Grundrechte für beide Herzogthämer publichtt. Die im Januar wieder gulammen- 
getretene Lanbesverfantniung, welche namemtlich eine Bertretung des bes bei 
dem Friedensverhandlungen geforbert hatte, ging ſchon am 11. Februar wieder 
anseinanber und bie ſteis größer werdende Schwäche ber deutſchen Politik Preußens 
führte raſch zur Kündigung des Waffenſtillnands durch Dänemark. Darnach hatten 
bie Feindſeligkeiten am 26. März wieder zu beginnen. Gleichzeitig mılt dem Rud⸗ 





Schleswig-Holftein. 1008 


tritt der für die Zeit des Waffenſtillſtands eingejehten gemeinfamen Regierung 
wurden Graf Meventlon und Beſeler won der proviſoriſchen Gentralgewalt als 
Gtatthalter eingelegt. Die Ariegeführung bes Jahres 1849 gab den Herzogtkämern 
Gelegenheit, zu beweifen, wie viel auch ein kleines Land in kurzer Zeit an Waffen⸗ 
tächtigleit zu leiften vermöge; die Erfolge der fchle&iwig-holfteinifcgen Armee in dem 
erften Treffen ſpornten auch das von General Prittwig hrte Reichsheer an, 
bach lag der Schwerpunkt bei der Unluſt ver die deutſche Politik leitenden Kreiſe. 
große Erfolge zu erringen, melde der diplomatiſchen Beilegung hinderlich fein 
tonnten, in der Thätigkeit des fhleswig - holſteiniſchen Heeres, dem im legten 
Momente, als ſchon ver neue Waffenſtillſtand fo gut wie gefchloffen war, von 
dem zahlreicheren väntichen Heere bei ver Belagerung von Friedericia eine ehren» 
volle Niederlage bereitet wurde. In der Nacht vom 5. bis zum 6. Juli wurde 
bie Schlacht bei Friedericia gefhlagen und am 10. desfelben Monats warb zwifchen 
Dänemark und Preußen für Deutfhland der neue Waffenſtillſtand von 
Berlin unterzeidnet. 

Dur diefen trat wieder das Herzogthum Schleswig als eigentliches Kampf 
objelt in den Vordergrund. Während Holftein unter der Berwaltung ber Statt⸗ 
halterſchaft blieb und in ihm das zum rebucirende fchleswig-holfteinifche Heer feinen 
Sig behielt, ward ber nörhlie Thell Schleswigs von ſchwediſchen, ber fäbliche 
son zreußiſchen Truppen beſetzt. Die von Holftein getrennte Landesverwaltung 
für Schleswig follte aus einem däniſchen, einem preußiſchen und als 
einem engliihen Kommifjär beſtehen. Ein weiterer Schritt gu Gunften ber daniſchen 
Botitif lag darin, daß Preußen ſich für den künftigen Frieden zu ber Beflimmung 
miihloß, „daß Schleswig eine abgeſonderte Verfafſung erhalten ſollte, ohne mit 
ven Herzogthum Holftein vereinigt zu fein und unbeſchadet der Verbindung, melde 
a8 Herzogthum Schleswig au die Krone Dänemarks knupft.“ Trotz anfänglichen 
Widerſtrebens gaben Statthalterfhaft und Landesverfammlung der fo geſchaffenen 
Situation nah und das Herzogthum Schleswig ward, ba ber bänifche Kommifjär 
Mein Kenatnifle und Energie bewies, vollftännig nad) ben Intentionen Dänemarls 
yehandelt. 

Wie fehr der jämmerliche Verlauf der deutſchen Dinge auch auf bie ſchleswig⸗ 
jolſteiniſche Politik, foweit fie von Deutſchland abhängig, inflnirte, iſt an andern 
Stellen dargethan. As Haupterudmittel auf bie ſchleswig⸗holſteiniſche Regierung 
md Landesverſammlung benutzte Preußen die Drohung, bie im ſchleswig⸗hoſſteiniſchen 
zeere dienenden preußifchen Offiziere zurückzuziehen. Der Kampf, dem das beutfche 
Element im Herzogthum Schleswig dem bäntichen Regimente, wie man bie Megierung 
er Zanbesverwaltung nennen lann, entgegenſetzte, war zäh und nachhaltig. Zahl⸗ 
eiche Beamte verweigerten die fernere Dienfleiftung, tie fle dem König von 
Dänemark als foldyen zu leiften aufgefordert worben. Stellenweiſe kam es zu 
örmlichen Bollgauffländen, die Steuern gingen meiftens nad Rendaburg in die 
chleswig⸗ holſteiniſche Staatslaffe; für die Kaflen der Lanvesverfammmlung Flens⸗ 
arg fonnte man nur mit Gewalt Mittel eintreiben. Die Landesverwaltung hob 
ine Meihe von Geſetzen ver Statthalterfhaft und namentlih das Gtastögrund- 
‚efeg ber Herzogthümer am 17. September auf, was Proteflationen von Seiten 
aft Des ganzen Laudes hesvorrief. Die Wiebereinführung des Kirchengebets aus 
er vormärzliden Zeit führte zu vielfahen Amtsentlaſſungen ter fih weigernden 
deiftlihen. Gleichzeitig mit dieſer ſchmählichen Behandlung eines Landes, dem 
aan das Recht gegeben hatte, auf deutſche Hälfe feſt zu hoffen, beginnen im An⸗ 
ang des Jahres 1850 neue Friedensverhandlungen zwiſchen Preußen, im Ramen 


„ 2008 Reckioag. 


ſelner bärtfegen Unterthanen als „umfrei” erklärte. Das ganze Land auerimmmie 
ſowehl vie Regierung als biefe Grundlage ihres Wirkens. Die in den exp 
t5ämern ſteheuden, aus ihnen rekrutirten Truppen ſchlugen fi auf bie Geite bes 
Boltes, die Feſtung Rendsburg ward ohne Schwertſtrelch genommen, 
Die auf um 8. April zufammenberafenen vereinigte Ständeverfauminng 
irn die Regierung, bewilligte die Ausſchreibung ber nötkigen Stenern und 
der Regierung vie Ausarbeitung eines Verfafſungsgeſetzes für das Laud. 
ſten Donate wurden durch die Kriegsereigniffe in Auſpruch mn 
—* es der beffer geräfteten uud zahlreicheren däniſchen Armee gelungen 
bie raſch zufammengerafften und vielfad der nöthigen Offictere entbehrenben —8 
wig⸗holſteiniſchen Truppen in dem Gefechte nom Bau zurückzudrängen, gisg * 
leitende Kriegsführung au die jeweils in Deutſchland beſtimmende Gewalt üb 
Rur eine kurze Zeit war dies befanmtlih das deutſche Volk in feiner — 
—— das Schickſal der Herzogthümer wurde damals nicht ſowohl durch bie 
Borzämge auf dem Kriegsſchauplaz als dur den Bang des deutſchen Reform- 
und Berfaflungswerts und durch die enropäiſche Diplomatie befkinmt. Troy des 
Waffengläds der veutfchen Truppen gelang es ben Einwirkungen ber Dipiometie 
uud namentlich dem Drohen Nußlands fehr baln ee ——— in 
Gang zu ſetzen. Einen nicht zur Ausführung gelommenen Waff 
Bellepne vom 15. Jull folgte ver * — Waffenſtillſtaud vom 
36. Auguft, der auch fir die Geſchicke Deutſchlanda fo verhängnißvoll gemorben iR. 
Meittlerer Welle Hatten vie vereinigten Stände die politifche —* nach den Bor⸗ 
[lägen ver Regierung in die gie and genommen, namentlih warb ein Wahlgeſetz 
für die verfaffungsgebende Landetderſamulung auf breitefler Bafis angenommen 
und am 18. Sa Pakllch publicirt. Um 15. Hayek trat die konſtituirende — 
ſammlung in Riel zuſammen, allein gleich darauf wurde unter Breffion von Grant 
fart aus, weil mau die Einwirkung ber Landesvertretung anf die Waffenſtillſtande 
Trage fürdtete, eine Bertagung beſchloſſen. Unter vem Cinfluß der Rorhrichten 
Nlfaud wurde das Gtantögrundgefek raſch angenommen, das fidh vom 
8 —— äßerall eingeführten ſogenannten demokratiſch monarchiſchen Verfaffungen 
ige dem Bolkscharakter entſprechende konſervative Modifilationen unter⸗- 
dem das Staatsgrundgeſetz am 16. September publieirt worden, wurde 
I ir — Frankfurt —— — db von Malmd in der Nationalperſamm⸗ 
Inng genehmigt. Gine * —— des Waffenſtillſtandes wer, daß für 
feine 7 monatlihe Dauer ſtatt der abtretenden proviſoriſchen Regierung, un: * 
Dishaufen ſchon früher ausgeſchieden war, Kr ueue gemeinfame Regierung ein 
fegt wurbe; bie geſetzgebende Et im Sande follte während diefer Zeit vuben, 
und fo ging am 20. Dftober bie Lanbesverfamminug auseinander. Die neue 
Regierung ſuchte ſoweit als möglich den proviſoriſchen Zufland in allen dem Landes⸗ 
wohl dienenden Sachen zu erhalten, wodurch freilih in manden Punkten vem 
Geiſte des unfeligen Malmder Waffenſtillſtands Gewalt angethan ward. Dänemart 
protefliete bagegen und ſuchte bei dem europsiſchen Häfen fih als den verleiten 
Theil varzuftellen. So wurden auch durch bie gemeiniame Regierung bie —— 
Grundrechte für beide Herzogthämer publicht. Die im Januar wieder —— 
getretene Landesverſantmlung, welche namentlich eine Vertretung des Landes bei 
ben Friedensverhandlungen gefordert hatte, ging ſchon am 11. Februar wieder 
auseinander und bie ſtets größer werdende Schwäche ver dentſchen Politit Preußens 
führte raſch zur Kündigung bes Waffenſtillſtands durch Dänemark. Darnach hatten 
die FelnMeligteiten am 26. März mieber zu beginnen. Gleichgeitig nılt dem Nüd- 





Scieswig-Holfteln. 1008 


tritt der für die Zeit des Waffenſtillſtands eingejehten gemeinfamen KRegierung 
wurden Graf Meventlou und Beſeler won der proviſoriſchen Gentralgewalt als 
Statthalter eingefest. Die Rriegeführung bes Jahres 1849 gab den Herzogthümern 
Gelegenheit, zu beweifen, wie viel auch ein kleines Land in kurzer Zeit an Waffen⸗ 
tächtiglelt zu leiten vermöge; die Erfolge der ſchleswig⸗holſteiniſchen Armee in dem 
erften Treffen ſpornten auch das von General Prittwis geführte Reichsheer an, 
bad lag ber Schmerpuntt bei der Unluſt der die deutfche Politik leitenden Kreife. 
große Erfolge zu erringen, welche der diplomatiſchen Beilegung hinderlich fein 
tonnten, in der Thätigfeit des ſchleswig⸗ holſteiniſchen Heeres, dem im legten 
Momente, als ſchon der neue Waffenſtillſtand fo gut wie gefchloffen war, von 
dem zahlreicheren väntichen Heere bei ver Belagerung von Friedericia eine ehren» 
volle Nieverlage bexeitet wurde. In der Nacht vom 5. bis zum 6. Juli wurde 
be Schlacht bei Friedericia gefhlagen und am 10, vesfelben Monats ward zwiſchen 
Dänemark und Preußen für Deutfhland ver neue Waffenſtilliſtand von 
Berlin unterzeichnet, 

Durch diefen trat wieder das Herzogthum Schleswig als eigentliches Kampf⸗ 
objelt in den Vordergrund. Während Holſtein unter der Berwaltung ber Gtatt- 
halterſchaft blieb und In ihm das zu reducirende fehleswig-holfteinifche Heer feinen 
Sig behielt, ward der nörblie Thell Schleswigs von ſchwediſchen, ber ſudliche 
son zreußiſchen Truppen beſetzt. Die von Holflein getrennte Landesverwaltung 
für Schleswig follte aus einem bäntfchen, einem preußifden und als Schiedsmann 
einem emgliichen Kommifjär beſtehen. Ein weiterer Schritt gu Gunſten ber päntjhen 
Belitif lag darin, daß Preußen ſich fär den kinftigen Frieden zu ber Beflimmung 
mtihloß, „daß Schleswig eine abgeſonderte Verfafſung erhalten ſollte, ohne mit 
ven Herzogthum Holftein vereinigt zu fein und unbeſchadet der Verbindung, melde 
8 Herzogthum Schleswig au die Krone Dänemarks nüpft." Trotz anfänglichen 
Widerſtrebens gaben Stattbalterfchaft und Landesverfammlung ber fo geſchaffenen 
Situation nad und das Herzogihum Schleswig ward, ba ber daniſche Kommifjär 
Mein Kenntniſſe und Energie bewies, vollſtändig nad) ben Intentionen Dänemaris 
ehand 

Wie ſehr der jämmerliche Verlauf der deutſchen Dinge auch auf bie ſchleswig⸗ 
jolſteiniſche Politik, ſoweit fie von Deutſchland abhängig, influirte, if an andern 
Stellen bargethan. Als Hauptarudmittel auf die fhleswig-holfteinifhe Regierung 
md Landesverſammlung bemupte Preußen bie Drohung, die im ſchleswig⸗holſteiniſchen 
zeere dienenden preußiihen Dffiziere zurückzuziehen. Der Kampf, den bas deutſche 
Element im Herzogthum Schleswig dem däniſchen Regimente, wie man bie Regierung 
er Landesverwaltung nennen kaun, enigegenjegte, war zäh und nachhaltig. Zahle 
eihe Beamte verweigerten die fernere Dienftleiftung, tie fie dem König von 
Dänemark als foldhen zu leiften aufgefordert worven. Etellenweije kam es gu 
örmlien Bollsauffländen, die Steuern gingen weiftens nad Rendasburg in die 
chleswig⸗holſteiniſche Staatslafle; für die Kaſſen der Landesverſammlung Ylens- 
urg fonnte man nur mit Gewalt Mittel eintreiben. Die Landesverwaltung hob 
ine Meihe von Geſetzen der Statthalterſchaft und namentli das Staatsgrund⸗ 
‚efeg ber Herzogthümer am 17. September auf, was Proteflatienen von Seiten 
aft des ganzen Laubes hervorrief. Die Wievereinführung des Kirchengebets aus 
er vormärzlihen Zeit führte zu vielfahen Amtsentlaffungen ter fi weigernden 
Heiſtlichen. Gleichzeitig mit dieſer ſchmählichen Behandlung eines Landes, dem 
aan das Recht gegeben hatte, auf deutſche Hülfe feft zu hoffen, beginnen im An⸗ 
ang des Jahres 1850 neue Friedensverhandlungen zwiſchen Preußen, im Ramen 


1004 Nadıtrag. 


Dentſchlands und Dänemark, während auch bie Statthalterſchaft Berfuche machte, 
ein Einverſtaͤndniß mit dem Gegner zu erzielen. 

Die die preußiſche Regierung in ihrer deutfhen Politik fi flets geringere 
Ziele fledte und doch and hinter diefen zurädblieh, fo wurde auch ihre Stellung 
in der fehleswig-holfteintfhen Sache jeden Tag ſchwoͤcher, die Preffion der Groß 
mächte und namentlih Rußlands nahm immer zu; Dänemark gewann die volle 
Gunſt Oeſterreichs dadurch, daß es ſich bereit erflärte, bei dem wieder ins Leben 
gerufenen Bundestage in Frankfurt mitzuwirken. Die Statthalterihaft der Herzog 
thämer hatte in ihrer Abhängigkeit von Preußen einen um fo ſchwereren Stand, 
als im März und April 1850 in ver fehleswig-holfteinifchen Lanbesverfanmiung 
das Mißtranen in die Kraft der bisherigen Leitung bie Mehrzahl der Abgeordneten 
ergriften hatte, Rur das Gefühl der Nothwendigkeit, unter allen Umſtänden dem 
Feinde eine geeinigte Haltung zu zeigen, brachte es dahin, daß nad; Hufen ber 
Riß weniger bemerfbar wurbe. 

Spätere Beurteilungen haben es nicht felten an der rechten Würbigung ber 
Schwierigkeiten fehlen Laflen, welche mit ver eigenthämlihen Stellung der Gtatt- 
halterſchaſt als einer Halb ans der Bewegung bes Jahres 1848 — gan, 
halb von dem guten Willen der fiegreich werdenden Reaktion abhängigen 
verfuäpft waren. Unter dem Einbruf der Barfhauer Konferenz kam banı 
am 2. Juli der Abſchluß des Friedens zu Stande, welhen Preußen im Namen 
Deutfhlands mit Dänemark ſchloß, wodurch Schleswig ganz preiögegeben ward 
und Dänemark das Recht behielt, für bie Packfilation von Holftein die Hälfe des 
Bundes in Anſpruch zu nehmen; andern Falls follte es berechtigt fein, auch hier 
feiber mit Waffengewalt einzufchreiten. In einem geheimen Artitel des Friedens hatte 
die preußiſche Regierung ſchon verfprocen, fih an ven Berhandlungen zu be 
theiligen, welde ber König von Dänemark wegen ber Erbfolge in den unter feinem 
Sceptex vereinigten Staaten veranlaßen werde. In Folge des Abzugs der Preußen 
aus dem ſüdlichen Schleswig rädte das ſchleswig⸗hoiſteiniſche Heer, das durch bie 
Abberufung der preußiſchen Officiere aus feiner Mitte eine Reihe kriegsgewohnter 
Führer verloren hatte, in Schleswig ein. Unter der Leitung des Generals vom 
Williſen, der ein befferer Theoretiter als Praktiker und ficherlih nit ter Mann 
der Situation war, wurde am 25. Juli die blutige Schlacht bei Idſtädt geſchlagen, 
welche flets ein Ehrentag iu ver Erinnerung Schleswig-Holfteins bleiben wird, 
aber die Uebermacht der Dänen und die unglüdliche Leitung anf deutſcher Seite 
führte die fhleswig-holfteinifhe Armee auf Rendsburg zuräd, 

Der Krieg zog fih bis in den Winter hinein und namentlich wurde nod 
um Friedrichofiadt blutig, aber vergeblich gelämpft, aber ber Schwerpunlt ber 
Entſcheidung war ſchon langſt von dem Kriegsfelde in bie kaiſerliche Diplomatie 
übergegangen und der Sieg der öſterreichiſchen Politik über die preußiſche, in der 
churheſſiſchen und allgemein dentfhen Sache, welche dur den Tag von Ollmäg 
befiegelt wurbe, war gleichzeitig der Trinmph der däniſchen Politik in der Sache 
ber Derpogtbämer. Nachdem die Ratifilation des Friedens vom 2. Jull auch don 
ven in Frankfurt vertretenen beutfchen Regierungen erfolgt war, und in Olluds 
ſchon vie näheren Maßregeln zur gemwaltfamen, durch bentfche Waffen an er 
zwingenden Pacifikation getroffen waren, wurben enblid, nachdem fi jeder Wider⸗ 
fand als ausfichtslos ergeben hatte, von der Schleemig-Hoifteinifhen Landesver⸗ 
fammlung die Forberungen ver preußifchen und öſterreichiſchen Kommifjäre arge: 
nommen. Schleswig warb ganz preisgegeben, in Holſtein follte die Armee redudrt 
und alle Feindſeligkeiten eingeftellt werden. Die Landesverfammlung, das lebendige 


Wie ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaſt. 1006 


Emblem deſſen, was anknüpfend an das alte Lanbesrecht die Bewegung vom 
Jahre 1848 gewollt Hatte, löste fih am 11. Januar 1851 auf. 

Es begannen jegt für Schleswig Tage der Aechtung, eines Polizeiregimentes 
mb einer aifirangemuth, wie ähnlihe Schritte nur von Rußland gegen Polen 
jeübt worden find. Langfam erflarkte die Widerſtandskraft der tiefgebeugten Be⸗ 
‚ölferung, die Verſuche, Schleswig in die däniſche Geſammtſtaatsordnung einzu- 
jwängen, würden vieleiht damals weniger Widerſtaud gefunten haben, wenn nicht 
te Danifirungsverfudhe das Bolt bis in das tieffte Heiligthum der Familie und 
‚er religidfen Ueberzeugungen verfolgt hätten. In den biplomattichen Verhandlungen, 
velde in den nädften Jahren fpielten und die endliche Regelung zwiſchen Deutſch⸗ 
and und Dänemark herbeiführen follten, ift von Schleswig feine Rede, dagegen 
serzögerte fi die Uebergabe Holfteins an die däniſche Regierung noch einige Zeit. 
Seinen Abſchluß fand endlich diefe Epoche der fehleswig-holfleinifchen Frage durch 
die Öffentliche Belanntimahung des Königs von Dänemark über die Organifation 
der daniſchen Monarchie vom 28. Januar 1852, welde durch den Beſchluß des 
wiebererfianvenen Bundestags in Franlfurt am 29. Juli 1852 in Bezug auf 
Holftein und Lauenburz als mit den Oefegen und Mechten des Bundes überein» 
Rimmend, anerkannt uud genehmigt wurde. Mit dem Sieg ter Reaktion in Deutſch⸗ 
land wurde auch die ſchleswig⸗holſteiniſche Sache begraben, aber wie jener kein 
bauernder war, jo tft aud der ſchleswig⸗holſteiniſche Streit nur fcheinbar beige» 
legt gewefen. Wie er nen begann nnd zu welder allerdings von dem alten Land⸗ 
rechte weit abweichenden Löfung bie Auseinanverfegung zwifchen Deutſchland und 
Dänemark führte, ift an anderer Stelle, in dem Nachtrag zum Artikel „Deutfch- 
land” geſchildert worden. 9. Meranazdien. 


Die fchweizerifche Eidgenoffenfchaft. 


Statiftit. Das Land. Die Schweiz befindet fid ziemlich auf den mittelften 
Barallelen, zwiſchen dem Aequator umd dem Norppole der Erdkugel; fie reiht von 
460 48° bis 47% 48° N., oder 30 geographiſche Meilen ver Breite und vom 
50 53° His 109 30° O. der Länge (Greenwich). Sie liegt im Mittelpunkt von 
Europa, gleih weit von der Süpfpige Italiens und der Rorbfpige Jütlanb’s, von 
der Mündung der Donau’ unf des Tajo. 

Die Grenzen der Schweiz fallen genau mit der Richtung ber Himmels⸗ 
gegenden zufammen: im Weſten ſtößt fie an Fraukreich, im Norden an den Zoll» 
verein, im Often an Oeſterreich, im Süpden an Italien. 

Die Weſtgrenze enthält In zwei Abtheilungen, von der Schufterinfel im Rhein 
unterhalb Baſel bis zur Rhone unterhalb Genf, und von bier bis zum Mont 
Dolent tm Wallis, die ganze franzöfif-fchweizeriihe Grenze. Die Nordgrenze 
zwiſchen ver Schufterinfel und der Rheinmündung bei Rheined fällt mit der ſchwei⸗ 
zeriſch⸗ſüddeutſchen Grenze zufammen. Die Oftgrenze von ver Rheinmündung bie 
zum Stilfſerjoch ift die ſchweizeriſche Grenze gegen vie Öfterreichiichen Staaten, 
und die Südgreuze vom Mont Doleut zum Stüfferjod bildet ausſchließlich die 
ſchweizeriſch⸗ italieniſche Grenze. 

Die Ausdehnung der Grenzen der Schweiz ergibt fich aus den folgenden 
Abftänden einiger ertremen Grenzpunkte vom Meridian und vom Perpendikel der 
Sternwarte in Bern: 





1006 Nachtrag. 


der Pumkte. Abſtand v. Meridian. vv 
en aa in — e Sc v an. Abſtanb v. Berpenditd. 
im oo. 


nm... 1154g9m 0. 70908% N. 
Einmündung des Nant de Bofogne in bie 
Rbone, weſtlichſter Punkt im At. Genf 1144600 W. 903208 8. 
Mont Dolent (38300) . . . 304300 W. 114300= 8, 
Pedrinate, füͤdlichſter Grenzpunkt im 
Menprifotto . . . . 132550m O. 124640M 8, 
Se 2 > 22. 230860m 0. 42330m 8. 
Piz Ciavalatſch, Efliäfler Grenzpunkt 2328260 O. 323750m 8. 
Rheinmündung tn den Bodenſee . 160000= 0. 628000 I. 
Oberdargen, nörblihfter Grenzpunkt im 
Kanton en 84565 0. 95880@ N. 


Größte Ausvehnung in ber Richtung von Süd nah Nord, Bargen-Pebrtuate, 
auf dem Merivian gemfien . . .. 220520m ober 46 Schweizerſton. 
Srößte Ausdehnung von Weſt nach Of, Bofogne- 
Cavalatſch, anf dem Perpendikel gemefien 3472850 „ 72, ” 
Gradlinige Ausdehnung der Grenzfronten. 


Weſtgrenze, Schufterinfel-Bofogne . . 2046750 „ 42 n 
Beftgrenze, BofogneMont-Dolnt . . 87384 „ 18 " 
Süudgrenze, Mont-Dolent-Stilffrioh 2 . 270110@ „ 5 n 


Dfigrenze, Stilfferjoh-Rheunmäntung . 120699m „ 26, 
Nordgrenze, Rheinnändung-Schuftertufel . 148676 „ 39 
Gebirge. Die Schweiz iſt ein Hochgebirgsland, deſſen Berge und Thäler 
Theile Hi ——— und des Jura find. Die Alpen ziehen ſich von ro Weſt⸗ 
grenze ihre Richtung von SW nad NO umänbernd durch den ſüdlichen il der 
Schweiz. Diefelben find aus einzelnen Gruppen — Ceniralmaſſen — gebant, bie 
ans kryſtalliniſchem Geſtein beftehen, deſſen Bildung dem Dafeln von Or 
vorausgeht. Sie ragen durch ihre Maffe und durch die Höhe der Gipfel über bie 
umgebenden Sedimentögefteine wie mitten aus vulkaniſchen Spalten empor und 
Üben den Kern des Gebirges. Die kryſtalliniſchen Gefteine find theils maffige: 
Sranit, Syenit, Diorit, Serpentin, theils ſchieferige: Oneis, Glimmerſchiefer, 
Talkſchiefer, Talkgneis n. a. Die Sedimentsgeſteine find weich oder fläfftg zu ver- 
ſchiedenen Zeiten und in urfpränglih horizontalen Schichten abgefegt worden. 
Man unterjcheidet vier Hauptformationen: die primäre, fecanbäre, tertläre und 
quaternäre. 

Der Iura, welcher ben weſtlichen und norbwefllicen Theil der Schweiz 
von der franzöfifhen bis zur deutſchen Grenze durchzieht, befteht, mit Ausnahme 
 vereinzelter Ausbrüche von Bafalt und Serpentin, aus Lagerfalgen der Secundär- 
zeit. Kalkſteine, Mergel oder Sandſteine, wiederholt unter fi abwechſelnd, find 
zu Ianggebehnten Hochflächen, oder wellenähnlih, zu parallelen Gewölbfetten 


oben. 

Höhen. Während der Jura bis zu 1655 Meter auffteigt, find in ben 
Alpen der Schweiz die höchſten Berge Europa’s, mit Ausnahme des Montblancs, 
bis auf 4638 Meter fit erhebend. 

Zwiſchen den Alpen und dem Jura dehnt fi ein Hügelland aus, das reid- 
ih von See'n bewäflert ift, und deſſen Höhen zwiichen 360—480 Meter ſchwanken. 

Blußgebiet. 1) Rhein, Flächeninhalt 27,866 Duabdratlilom.; 2) Ware, 
11,500 Onabratlilom.; 3) Reuß, 3411 Quadratkilom.; 4) Limmat, 2413 Duadrat- 


222 





Die ſchweizeriſche Eidgenoffenfchaft. 1007 


Klo, 5) Rhene, 6788 Quadratkilom.; 6) Teffin, 3874 Quabrakillom. 7) Ice, 
1716 Quadratlilon. im Ganzen 62420 Quabratkilometer. 


See'n über 1 Quadratkilom. Umfang (J Stunden. DIRilem. 
Gmferjee (Rhone) ab, 577,2 
Bodenſee (Rhein) 33.10 539,44 (Unterfee 2,7) 
Neuenburgerfee (Aar) 10,0 939,08 
Langenfee (Langenſee⸗Po) 9,0 214,9 
Walpfätterfee (Neuß) A 11B,g 
Bürcgerfee (Linth) 335 87 18 
Inganerfee (Tangenfee-Po) 2.19 50,48 
Thunerſee (Aar) 2,08 47,92 
Bielerfee (Aar) 1,g3 42,16 

ugerfee (Reuß) 1,67 38,18 
tienzerfee (Aar) 1,30 29,95 
Murtenerfee (Aar) 1,19 27, 
Wolenfee (Linth) 1,01 23,27 
Sempacherſee (Ur) O,62 14,29 
allwylerfee (Aar) O,a5 10,97 
Ser und Brenelfte (Aar) O,u 9,30 
reifenſee (Rhein) 0,37 8,4 
Sarnerfee (Reuß) 0,» Tom 
Hegerifee (Reuß) — 7,00 
Baldeggerfee (Mar) O,22 5. 
‚Stlferfee (Inn) O,7 44 
Ffaffilonerſee (Rhein) O,13 3,10 
Silvaplanaſee (Im) | , 0 9 
Lowerzerfee (Neuß) | je A Ze ‚85 


Oeſchinenſee (Hat) je 0. 1 
Klönthalerfee (LimtE) I ‚os 15 
Klima. Der ungeheure Unterfchlen der Höhen bewirkt, daß die Schweiz in 
Beziehung auf die klimatiſchen Verbältniffe und vie Pflanzen fi zwifchen bes 
beiven Gprtremen Europa's bewegt und das Letztere im Kleinen barftellt. Was bie 
Temperatur Vertheilung betrifft, fo befindet fich die Rage des Landes (nad Mühry). 
wenn Man ben Boden flih denkt als eine Ebene und reducirt auf die Meeres⸗ 
gleiche, etwa zwiſchen ver Ifothermenlinien von 119 und von 139 C. (9° und 
10,50 R.); alfo würde die Mitte 93 Gebiets durchzogen werben etwa von ber 
Ifotherinenlinie des Jahres von 12 C. (9,,0 R) und man kann hinzufügen, 
von ber des Winters don 20 0. und der des Sontmers von 20° C, (1,50 und 
16° R.), welde als die Fluctuations⸗Amplitüde ber extremen Monate ergeben 
18°C. (14, R.). Diefe Temperaturgtade find Ausgangspunkte. Die mittlere 
Zemperatur des Jahres wechjelt auf der Höhe von 1000—2500° von + 120 — 
— 179; auf eine Höhe von 25004000 über dem Meer zwifhen + 6— 
— 12° unb auf einer Höhe von 4000—5500 von + 4— + 6". In der 
a: befiehen 84 meteorologifhe Stationen. 
ineralquellen. Die Schweiz ift außerorbentlid reich an Mineral- 
juellen, deren man gegen 600 zählt, nämlih: 10 Muriatiſche Kochſalzquellen, 
5 falinifhe Duellen, 20 Natronquellen, 34 Säuleringe, 60 Kalk⸗ oder erbige 
Duellen, 121 Eifenquellen, darunter 2 Bitriolguelln, 170 Schwefelquellen, 
daruntet 9 Jod haltende Onellen, 5 Aophiilt und Erdbl haltende Quellen, 6 Gas⸗ 


1008 Nachtrag. 


quellen, 177 Quellen, deren Gehalt nicht näher beſtimmt if, zufammen 609. 

Ferner gibt es gegen 400 klimatiſche, Mild- und — 2 unb kleinere 
tlimatiſche Stationen. 

Fläaächeninhalt and Bevölkerung. Die Schweiz if ein Bundesſtaat 
von 25 ſouveränen Gauen odet Kantonen, wovon 6 Halbkantone, welde frühe 
vereinigt waren, nämlih Appenzell Außerrhoven und Inner Unterwalben 
ob und nid dem Wald, Baſelſtadt und Baſellandſchaft. oele Kantone unter- 
fheiden fi nad) Areal und Bevölkerung (letztere nad ver Zählung vom 10. 
December 1860) wie folgt: 








Areal. Gefammtfläche 
Kantone. in Quadrattilom. Bevölkerung. Auf 1000 Einw. Auf 1 Quadratlilon 
Quadratkilom. Einwohner. 
Zurich 1728 266265 Gyr 155 
Bern 6889 467141 14,5 68 
Enzern 1501 130504 11, 87 
Urt 1076 14741 73,99 14 
Schwyz 908 45039 - 20,16 50 
Untermalben 0.0.3. 475 13376 85,51 28 
Unterwaldenn. d. W. 290 11626 25,16 40 
Glarus 691 33363 20m 48 
Zug 239 19608 12,19 82 
Freiburg 1669 105523 15,53 63 
Solothurn 785 69268 ll, 88 
Bafelftadt 87 40683 Og 1099 
BDaf ellandſchaft 421 61682 8,16 123 
Schaffhauſen 300 35500 8,5 118 
Uppenzel U. R. 261 48481 5, 186 
Appenzell I. N. 159 12000 13,25 76 
©t. Gallen 2019 180411 11,19 89 
Graubünden 7185 90713 703 13 
Aargau 1405 194208 7,2 138 
Thurgan 988 9000 10, 91 
Teffin 2836 116343 24,2 4 
Waadt 3223 213157 15,12 66 
Ballis 65247 90792 57, 17 
Reuenburg 808 87369 9,25 108 
Bf 283 82876 u 239 
Schweiz 41418 2510494 16,18 61 
Bevölkerung nad Religion. 

Kantone Katholiten. Proteftanten. Chr. Selten. Juden und andere. 
Züri 11256 253793 1054 162 
Bern 58319 408727 2275 820 
Luzern 127867 2619 4 14 
Urt 14705 36 — — 
Schwyz 44609 624 6 1 
Unterwalden 0.0.8. 13283 93 — — 
Unterwalden u. d. B. 11475 61 — — 
Glarus 5827 27506 28 2 

Ücherirag 187241 693849 3566 999 





Die fchweizerifche Eidgenoſſenſchaſt. 


Bevslkerung nad Religion. 


1009 


Kantone Katholiken. Proteftanten. Chr. Selten. Juden und andere. 
Uebertrag 187241 693349 3366 999 
ug 18990 609 9 _ 
reiburg 89970 15522 23 8 
Solothurn 59624 9545 59 35 
zaſelſtadt 9746 30513 253 171 
zaſelland 9751 41605 222 4 
xchaffhauſen 2478 32960 72 — 
lppenzell A. R. 2183 46218 29 1 
'ppenzell I. R. 11884 115 1 — 
5t. Gallen 119731 69492 88 100 
)raubünden 39945 50760 8 — 
largau 88424 104167 79 1538 
hurgau 22019 67735 316 10 
eſſin 116233 93 11 6 
Baadt 12790 199452 519 396 
teuenburg 9234 77095 475 565 
denf 42099 40069 331 377 
Ballie 90088 693 5 6 
1023430 1476982 5866 4216 
Bevöllerung nah Sprachen (und Haushaltungen), 
Kantone, Deutihe Sprade. Franz. Sprache. Italieniſch. Romaniſch. 
ürich 56238 47 13 9 
ern 76777 19343 31 3 
uzern 23692 11 5 4 
ri 31211 — — — 
chwyz 8867 — 9 — 
nterwalben o. d. W. 3232. — 7 — 
nterwalden u. d. W. 3048 — 4 — 
larus 7864 1 — 1 
ng 3630 — 2 2 
reiburg 6630 15365 3 — 
olothurn 13936 44 — — 
aſelſtadt 12288 242 16 5 
Jafelland 9463 5 — — 
chaffhauſen 7759 6 1 — 
ppenzell A. R. 13237 — 1 1 
ppenzell J. R. 3159 — — — 
t. Gallen 39792 43 10 5 
raubänden 9152 15 2849 8858 
argan 36832 12 2 — 
hurgau 19391 4 6 — 
effin 112 6 26438 1 
zaadt 825 45724 66 7 
zallis 6179 12527 134 — 
euchatel 2327 16234 4 3 
enf 661 17829 63 6 
367065 123438 28697 8905 


Bluntſchli und Brater, Deutſchet Staate⸗Woͤrterbuch. Xi. 


2 


1010 


Bevölkerung der Hauptſtädte Aber 10,000 Einwohner. 


Nachtrag. 





Einwohner. Einwohner. 
1850, 1860. 1850. 1860. 
Genf 31238 41415 Chaur de fonds 12638 16778 
Baſel 37313 37918 St.Gallen 11234 14532 
B 27558 29016 Luzern 10068 11532 
Lauſanne 17108 20515 Freiburg 9065 10454 
Züri 17040 19758 Reuenburg 7765 10382 
Beuptt efhäftigungsarten nach Procente en der t Bepblternns 
Urproduktion .. 44 
Induſtrrfie.. 24, 
Handel . . .. 52 
Berlehr . 1 
Deffentliche Verwaltung, Viſſenſchafien u. Rufe 39 
Perfönligde Dienftleiftungen . 63 


Perfonen ohue Beruf reip. Berufsangaben . 3, 
Nah Abzug der Meifter refp. ſelbſtändig Befhäftigten find bei 
ben Fabrik- und Danufalturgewerben bethätigt: 
. 98719 





Schäfen . ,. . 
Schälfinnen oe. 62396 
Total . . 163348 
PBrocentverhältniffe zur Sefommtseoäiterung 
Schülffen . . 91 ohne Luzern 
Sehtlfinen . . . . 262 
659 


Bendlferungsbewegung 1867. 

















Kantone. Geborne. anf Einwohner Kantone. Geborne. auf Einwohner 
1 Geburt. 1 Scart. 

Uppenzel I. R. 494 24 Uebertrag 47196 
Glarus 1277 26 Nidwalden 372 31 
Schwyz 1706 26 Freiburg 3342 31 
Urt 544 27 Obwalden 422 32 
Schaffhauſen 1314 27 Zug 612 32 
Neuenburg 3239 27 Thurgan 2794 32 
Bern 16879 28 Wallis 2879 32 
Solothurn 2364 29 Graubänden 2690 34 
Baſelland 1780 29 Aargau 6717 34 
Appenzell U. R. 1670 29 Teſfin 3325 35 
Bafelftabt 1366 30 Want 6033 35 
St. Gallen 6058 30 Luzern 3573 36 
Zurich 8505 31 Senf 2142 39 

Uebertrag 47196 Summa 81097 81 

Trauungen. 
Kantone. Trauungen. auf Einwohner Kantone. Trauungen. auf Einwohner 
Trauung 1 Zranung 

Glarus 314 106 Uebertrag 2529 
Zürid 2215 120 Nidwalden 96 120 

Uebertrag 2529 Uebertrag 2625 

















Die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaſt. 1011 


Trauungen. 
Kantone. Trauungen, anf Einwohner Kantone Trauungen. auf Einwohner 


1 Trauung 1 Trauung 
Uebertrag 2625 Uebertrag 9556 
Zchwyz 3783 121 Luzern 907 144 
Zug 160 123 Oraubünden 618 147 
5t. Gallen 1421 127 Bern 3132 149 
Vaadt 1673 - 127 Neuenburg 581 150 
Appenzell J. R. 94 128 Thurgau 697 151 
Lri 113 130 Zeffin 155 154 
Solothurn 511 136 Obwalden 86 156 
denf 608 136 Wallis 579 157 
Schaffhauſen 253 140 Freiburg 665 158 
Appenzell A. R. 346 140 Bafelland 315 164 
largau 1379 141 Baſelſtadt 109 373 
Uebertrag 9556 Summa 17900 140 
Sterbefälle. Sterbefälle 
Kantone. Geſtorbene. 1 Sterbefall Kantone. Geftorbene. 1 Sterbefall 
auf Einw, auf Einw. 
Appenzell J. R. 897 30 Uebertrag 28783 
Schwyz 1816 84 Zug 447 44 
Appenzell A. R. 1367 36 Waadt 4822 44 
Glarus 889 37 Solothurn 1529 45 
Thurgan 2414 37 Bern 10271 45 
Zürich 6975 38 Schaffhaufen 783 45 
St. Gallen 4799 38 Aargau 4228 46 
Baſelſtadt 1022 40 Obwalden 289 46 
Senf 2019 4 Uri 316 47 
Reuenburg 2082 42 Luzern 9787 47 
Ripwalden 275 42 Baſelland 1095 47 
Freiburg 2500 42 Ballis 1909 48 
Teſſin 21838 42 Graubünden _1826 50 
Uebertrag 28783 Summa 59080 42 
yanptergebutfle der ſchweizeriſchen Viehzählung vom 21. april 1866. 
Pferd Zuchthengſte 428 
Uebrige —8— von 2 und mehr Jahren 3449 
Sohlen unter 2 Jahren 5647 
Zuqhtſtuten trachn —8— ſaͤug.) 9515 
Uebrige Stuten u. Wallachen von 4 u. mehr Jahren 64380 
unter 4 Jahren 16905 
&fet, Manithiere und Mautefel 5475 
Summa 105799 
Rindvieh: HZuciftiere (Bullen) wirklich verwendete 10811 
Kühe 653205 
Trachtige Rinder 14634 
Zug⸗ und Maſtochſen 52308 
Jungvieh über ein halbes Jahr 172826 
Kälber unter einem halben Jahr 130012 


Summe 993291 
64 * 





1012 Nachtrag. 


Schweine: Eber 1644 
Mutterſchweine 30328 

Tafel- und Maſtſchweine 190705 

Ferkel 81951 

Summe 304428 

Säafe: 447001 
Btegen: 375482 


Berfaffung Bund. Die Schweiz bildet einen republikaniſchen Buubes- 
flat von 25 Staaten, nämlih 19 Kantonen und 6 Halblantonen. Die Bundes 
verfaffung Ift im Fahre 1848 aus einem Staatenbund, an deſſen Spige die Tag 
fagung von Abgeordneten der Kantone, deren Borort zwifhen Zürih, Bern um 
Luzern wechfelte (einer dem a. deutſchen Bundestag ähnlichen Behörde), in einen 
Bundesftant verwandelt worden. Als Borbild dienten bei der Berfaffungsrenifion 
die vereinigten Staaten von Nordamerika, doc wußte man bezüglicd der Erekutiv⸗ 
gewalt das. Gebrechen der Letzteren, die direkte Wahl eines vierjährigen Präſidenten 
direft durch das Boll, welche ein Wahlkönigthum konſtitnirt, deſſen Nachtheile 
unter der Präſidentſchaft von Johnſon klar zu Tage traten, durch das Kollegial⸗ 
ſyſtem glücklich zu umgeben. *) 

Die Kantone ſind ſonverän ſo weit ihre Selbſtherrlichkeit nicht durch die 
Bundesverfafſung beſchränkt iſt und üben als ſolche alle Rechte aus, welche nicht 
der Bundesgewalt abgetreten ſind. Der Bund allein hat das Recht, Krieg zu er⸗ 
klären und Frieden zu machen, Bündniſſe und Verträge mit auswärtigen Staaten 
abzuſchließen. Der Bund ernennt die Oberbefehlshaber des Heeres, aber hat nicht 
das Recht, ſtehende Truppen zu unterhalten. Die Verwaltung und die Einnahme 
ber Zölle an den Grenzen der Schweiz fommen dem Bunde zu und beren Er⸗ 
trag fließt in die Bundeskaſſe. Ebenfo flieht dem Bunde zu: die Yefiftelluug des 
Maaßes und Gewichtes, das Münz- und Schießpulverregal, das Telegrapkenmejen, 
deren Ertrag In bie Bundeskaſſe fließt, und die Verwaltung der Poſten deren Ueber 
ſchüſſe den Kantonen ausgezahlt werben. 

Alle Schweizer find gleih vor dem Geſetz. Es gibt in der Schweiz weber 
Untertdenen, noch Privilegirte von Realitäten, von Geburt, Stand, Familie oder 
Perfon. Die freie Niederlaſſung zum Gewerbebetrieb iſt auch Ausländern ge 
währt. Die oberfle Gewalt des Bunbes wirb ausgeübt tur die Bundespver- 
fammlung, welde aus zwei Häufern oder Räthen befteht: 1. dem National 
rath, welhe aus Übgeorbneten des ſchweizeriſchen Bolles,_d. h. aller unbe- 
ſcholtenen Männer, die das 20. Lebensjahr zurädgelegt haben, zufammengefegt iſt. Auf 
je 20,000 Köpfe der Benölferung kommt ein Aögeothneter. Die Gefamntzahl ver 
Wähler wurde 1865 auf 487,861 theild erhoben, theils geſchätzt, oder zu je 1 Wähler 
auf 4,2, Einwohner. Jever wahlfähige Eidgenoſſe kaun an feinem Wohnfig wählen, 
wenn biefer au in einem andern, als feinem Heimathskanton liegt; 2. aus dem 
Ständerath, welder and 44 Übgeorbneten befteht, von denen die 19 Kantone 
je 2 und die 6 Halblantone je einen Abgeordneten dur die gefeßgebende Be- 
hörde (Großer Rath oder Landsgemeinde) wählen. 

Die oberfte Erelutiv- Gewalt des Bundes, der „Bundesrath”, befteht 
aus fieben Mitgliedern, welche alle drei Jahre von der vereinigten Bunbesverfamm- 
lung gewählt werden und wozu alle Schweizer ernannt werben können, die wähl- 


*) Anm. d. Ned, Bor Johnſon hatte Präfident Lincoln die Einheit der Union gerettet. Kür 
einen großen Weltftaat wie die amerilanifhe Union würde eine Rollegialregierung gang unpaffend fein. 








Die ſchwetzeriſche Eidgenoffenfhaft. 1018 


bar in ben Nationalrath. Der Bunbespräfident und Bicepräfident werben jedes 
Jahr aus dem Schooße des Bundbesrathes durch bie vereinigte Bunbesverfanm- 
lung gewählt. Eines ſchönen Brauches darf hier Erwähnung geſchehen, daß näm⸗ 
(ih in beiden Häufern der Bundesverfammlung weder Beifalls- noch Mißfalls⸗ 
bezeugungen gegenüber den Rednern gebraudt werben, nidt in Folge ber Strenge 
des Reglements, fondern der Sitte, (Bgl den Art. Schweiz Berfaflung in 
Band IX). 

Kantone. So ſtabil bie Bundesverfaffung, fo fehr find vie Berfaflungen 
der Kantone einer lebhaften periopifchen Revifionsbewegung unterworfen, fo daß 
Angaben, die man heute macht, in einigen Iahren veraltet find. Dennoch Tann 
man gewifle Brincipien und Fundamentaleinrihtungen unterfcheiden, welche bleibend 
find, wenn aud bie Zahl der Kantone bezüglich der Annahme derfelben ſchwanken. 
Voraugzuſchicken ift dabei, daß über Berfaflungsänderungen fowohl des Bundes, 
wie der Kantone ſtets das ganze Bolt zu entſcheiden hat. 

Man kann im großen Ganzen drei Syſteme unterſcheiden, in welcher bie 
Bollsherrihaft in den Kantonen ausgeübt wird: 1) Die reine Demokratie; 
2) das reine Repräſeutativſyſtem, und 3) ein aus beiden gemifchtes 
Syftem. 

Die 1) reine Demokratie wird ausgeübt duch die Landsgemeinde, d. h. 
durch ſämmtliche volljährige, unbeſcholtene Kantonsbürger, weldye fid an einem 
beftimmten Tage des Jahres, am legten Sonntag des April oder am erflen 
Sonntag des Mai gewöhnlich unter freiem Himmel verfammeln, bie Staatsrech⸗ 
nung genehmigen, über Berfaflungsrevifionen abftimmen und den Landammann, 
die übrigen 5—8 Mitglieder der Regierung und den aus 50-70 Mitglieder 
beſtehenden Landrath wählen, welder fih durchſchnittlich 6 Dal im Jahr ver- 
fammelt und der Negierung als berathende Behörde zur Seite ſteht. Dieſe Ver⸗ 
faflung befteht, nur in Kleinigkeiten je abweichend, in ben Kantonen Uri, den 
beiden Uuterwalben, beiden Appenzell und Glarus. 

Die 2) reine Repräfentatio-Berfaffung beftcht in ben Kantonen Wallis, 
Telfin, Freiburg, Zug, Baſelſtadt, Genf. . 

Das 3) gemifchte Syfem Hat neben dem Repräfentativ-Körper noch mehrere 
bemolratifche Formen, die unter fi felbft wieder in mehrere Arten zerfallen. 
Zuerfi kommt a. das Referendum im Berein mit Initiative und direlter 
Wahl der Regierung durch das Boll, Das Referendum iſt das Recht des 
Volkes, daß jedes von der Regierung vorgefchlagene und vom gefegebenden Reprä- 
fentativförper (Großer Rath) berathene und angenommene Gefeg der Volksab⸗ 
fiimmung in den Gemeinden unterworfen werben muß. Die Initiative ift das 
Recht des Volles, gemäß deſſen vie Regierung ein Geſetz dem großen Rath zu 
Berathung vorlegen muß, wenn eine beftimmte Anzahl von Bürgern (50006000) 
es verlangt. Diefe drei Rechte znfammen beſtehen in den Kantonen Zürich und 
Thurgau; b. das Referendum in den Kantonen Graublinden, Schwyz, 
Baſellandſchaft, Bew, Aargau; e. das finanzielle Referendum im Kanton 
Waadt bei Summen über 1 Millionen Franken, in Neuenburg bei Summen 
über 2,000,000 Fr.; d. das Beto, das Net, ein vom geſetzgebenden Körper 
berathenes und angenommenes, von ber Regierung publicittes Geſetz zu verwerfen, 
wenn eine beftimmte Auzahl von Bürgern (zirka 5000 in ven Mittellantonen) 
es verlangen, in ben Kantonen Luzern, Solothurn, Schafihaufen, St. Gallen, 
Waadt. Außerdem befteht vie direlte Wahl der Regierung noch in Genf und vie 
Initiative noch in Waadt für 6000, in Yargan für 5000 Kantonsbürger. 








1014 Aachtrag. 
Bemeinpen. Die Gemeinden haben eine je nach den 
auifatien. Die 





Abminiſtratlon 

In einigen Kantonen verwaltet vie politiſche Gemeinde Ulles: Seche, Cie 
Armenpflege; ee ee ee ee — 
wohnergemeisbe, welche vie weitere Organifation bilvet, für die Beblirfmälfe der Eu 

und Yirmenpflege auf die Beftenerung angewielen ifl, fo vaß das Eiufsumumen ans 
Gemeindevermögen uur Ki Gunſten der Armen der Burgergemeinbe werweube mi 

Kirche. Durch die Revifion der Bunvesverfafiung von 1366 Fiub Tune 
liche Konfelfionen (Hriftlihe und wicht driftiiche) bepäglich der icberkaffung ges 
geftelt,, uud kann die Zulaflang dem Anhänger irgend einer Gecrte im ksz 
Kanton verweigert werben. Bezüglich des Rechtes ber Ausübung bes GBottessicd 
fagt der Urt. 44 der Bundesverfafſung: „Die freie Unsäbung bes 
ft den anerfaunten chriſtlichen Konfeffionen im ganzen Umfange ber Gingesis 
ſchaft gewährieifiet. Den Kantonen, fowie dem Bunde, bleibt vorbehalten, & 
Gempabung der Beutigen Orbmung und bes Friedens unter beu Komfefue 
bie geeigneten Maßregeln zu treffen.” Diefer Urtitel feplicht die Unsäbung ante 
Konfeffionen nit aus, wenn die Kantone folge dulden wollen. rt. 58. „De 
Orden der Iefuiten und die ihm affiliirten et bürfen tm teimem Ti: 
ber Schweiz Aufnahme finden.” Urt. 64. „Wahlfähig als Mitglich des Matisse 
vathes iſt jeder — — Schweizer weltlichen Standes.” 
ſih auf das Berhältniß der Rinde zum Gtant beftchen große Werfäilcbenhehn 
nicht bloß zwiſchen proteſtantiſchen und katholiſchen Kantonen, ſondern im Süd: 
der einen, wie der andern felbfl. Die Beziehung bes ats Im Kirche iR 
mehr, dort er eng. In den reformirten Kantonen iſt bie im 
organtfirt, als eine gewiſſermaßen unabhängige Synode befteht, nee meiſt 
Lalen und Geiſtlichen zuſammengeſetzt und durch die Gemeinden 
ſelbe regulirt die rein geiſtlichen Angelegenheiten, unter Borschalt der Bı der Zuflimmun 
der Megierung, und welde in gemifchten Sachen das Recht ber get. 
— Die Ermennung der Geiftlihen iſt in viefen Kantonen hier der Regierung asf 
Präfentation von Selten der Gemeinde, da der Gemeinde auf Präfentation durt 
das Eonfiftorium, und bort der Gemeinde nach freier Wahl äberlaffen. Im 
meinen iſt e8 der Staat, ausnahmsweife die Gemeinde, welche bie Beſoldung da 
Geiftlihen tragen. — And in den katholiſchen Kantonen gibt es Verſchiedenheiten 
Nicht bloß die Stellung des Staates zur Kirche wechſelt nach den verjchiebenen 
Didceſen, von welden bie einen Berfaflungen haben, welde eine Staattreligie 
einſetzen, während die andern nit, — fondern and das kirchliche Recht des 
Staates wechfelt je nad den Kantonen im Schooße einer und berfelben Diöcefe. 

Das „Bincet”i (Beto oder Zuftimmung ver Megierung) iſt überall vorbe 
halten, und Gingriffe der Kirche auf das bürgerlide Leben und bie politiſche⸗ 
Rechte, namentlih der Gemeinden find unmöglich. 

Militär. Die Heerverfaflung beruht auf ver allgemeinen Wehrpfliht aller 
waftenfähigen Mannfhaft vom 20. bie 45. Jahre. Erimirt find Lehrer, Geif- 
liche, Poſt- und Eifenbahnbeamte, Außerdem gibt es noch einzelne Wusuahmefälk. 











il 















"+ 
7 


—A — 


Die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaſt. 1016 


lle Erimirten aber mäflen die Militärſtener zahlen, welche im Jahre 1868 
a Kantonen 1,022, 160 eingetragen bat. Die Inſtruktion der Rekruten beginnt 
it dem 20. Jahre und dauert bei der Infanterie vier bis fünf Wochen, für die 
pecialwaffen ſechs Wochen. Jaͤhrlich werden in ber ganzen Schweiz ungefähr 
0,000 Rekruten inftruirt, befleivet, bewaffnet und den Corps zugetheilt. Vom 
1. bis durchſchnittlich 28. Ultersjahr gehört der Mann zum Auszuge ober 
flen Uufgebot; der Auszug bat alle zwei Jahre einen Wiederholungskurs, die In- 
mterie von 6, bie Specialwaffen von 12 Tagen; die Kavallerie einen jährlichen 
3iederholungsturs von 6 Tagen. Ungefähr 40,000 Mann Auszug erhalten 
brlüh den Wiederholungsunterriht. Mit dem 28. Jahre tritt der Dann zur 
eferve oder zum 2. Aufgebot und gehört dazu burdhfchnittlih bis zum 34. 
bentjahr. Die Referve erhält ebenfalls alle zwer Jahre einen Wienerholungs- 
unterricht, die Infanterie von 4, die Specialwaffen von 6 Tagen. Etwa 20,000 
Rann erhalten jährlich viefen Unterricht. Bom 34. bis 45. Jahr gehört der Dann 
ır Landwehr, die nur in Fällen allgemein dringender Landesgefahr zur Ver⸗ 
endung kommt. — Für die Unterofficiere und —2 beſteht eine etwas ver⸗ 
ngerte Inſtruktionszeit, für den Unterricht der General» und Special⸗Stabs⸗ 
fficdere eine Gentralmilitärfchule mit durchſchnittlich neunwöchentlichem Kurſe. Für 
ie höheren praltifgen Uebungen werben alle zwei Jahre Truppenzufammenzäge 
8 auf 10,000 Dann Stärke und 14tägige Dauer abgehalten. Es beftehen auch 
pecialkurſe für Officiere einzelner Waffen, für das Sanitäts- und Kommiffariats- 
jerfonal. Ende 1868 war der Soll-Befland ber Armee folgender nad den einzelnen 
Baffengattungen: 
Auszug. Referve. Landwehr. 


Genie, Sappenrs und Bontonniers 1307 1036 567 
Artillerie 7867 6327 4471 
Kavallerie 1921 - 1068 1532 
Scharffhügen 6866 3372 4878 
Infanterie 67901 39640 52795 
Befunpheitöperfonal 276 99 80 
Büchfenjchmiebe 17 

85138 50559 64323 


Bufammen 200,020 Dann. 
Das Kriegsmaterial befteht ans: 57,137 Hinterlapungsgewehren kleinen, 
4,856 großen Kaliber und 15,000 aus den DBereinigten Staaten bezogenen 
zeabodygewehren Heinen Kalibers, zufammen 126,993 Städ Hinterladern. Dazu find 
0,000 Repetirgewehre zu 14 Patronen in's Magazin in Arbeit. Die entiprechenbe 
Inzahl Fenerfchlänve befteht aus: 311 gezogenen Borberlader Bierpfündern, 
nd zwar 96 zu 16 nenen Auszugsbatterien, 66 zu 11 Refervebatterien, 18 zu 
ı Erfapbatterien ſtatt der abgeſchafften Naketenbatterien, 36 Ergänzungsgefhägen, 
O kantonalen und 25 eibgenöffifchen überzähligen nnd Schulgefhügen; ferner aus 
0 Bierpfünvder-Borberlabergebirgsgefhägen. An gezogenen Hinter- 
adern find vorhanden: 102 Achtpfünder aus Gußſtahl, 118 Zwölfpfünder 
Sofltionsgefhäge; zufammen 551 gezogene Kanonen. Dazu kommen 144 
Iatte Geſchütze, nämlich 42 Sechspfünder nad eingendffliger Orbonnanz ; 
6 unorbonnanzmäßige Sechs⸗ und Achtpfünder, 30 lange 24 Pfünder Hanbigen, 
6 von den ehemaligen 24 Pfünder Haubigenbatterien, 18 kurze 24 Pfünder 
Yaubigen, 2 lange 2 Pfünder Hanbigen und 10 Yünfzig-Pfünder Mörfer. 








1016 Nachtrag. 


Dazu ift befäloffen worden noch 44 gezogene 8 Pfünder Hinterlaber u“ 
44 Bierpfünver gezogene Borterlaber herzuftellen, fo daß bennähft!595 gezogene 
und 188 glatte, im Ganzen 783 Feuerfchlände vorhanden fein werben. 
Ausgaben der Kantone und des Bundes. 


enofiens 

Kantone. aft. Generaltotal 

Berwendung der Netto-Ausgaben. . a 
1. Berzinfang und Tilgung von Säulden 3003909 — 3003909 

2. Geſetzgebung, Central- und Bezirksver⸗ | 
waltungen 2299013 470659 2769672 
3. Milttärweien 4049241 2523067 6572308 
Davon aus Fonds 45611 45611 
4. Gerichtsweſen 1788859 43120 1831979 
5. Gefängnißwefen 789108 — 789108 
6. Bolizeimefen 1968818 5000 1973818 
Fonds 411 411 
7. Santtätswefen 17397 — 173997 
8. Landwirthſchaft, Forft- und Gewerbewefn 453929 20000 473929 
9. Finanzweſen 647719 57351 705070 
10. Bauweſen 6812099 1535427 8347526 
Fonds 782464 782464 
11. ẽrziehungeweſen 4453976 484971 4938947 
Fonds 348844 16913 365757 
12. Kirchenweſen 2479923 — 2479923 
Fonds 173773 173773 
13. Defientlihe Woblthätigkeit 1726626 10000 1736626 
Bonds 358203 358203 
14. Diverfe Ausgaben 323931 50901 374832 
Bonds 9086 9086 
Total 30971148 5200496 36171644 
Fonds 1672781 62524 1735305 


Zu den Militärausgaben kommen noch Fr. 800,000 für einen Theil der Be- 








kleidung und Bewaffnung der Mannfchaft, welder von den Einzelnen getragen wirt. 

Gemeindevermögen. Nah einer Aufuchme aus bem Jahr 1866 be 
trug das Bermögen der Gemeinden ‚von 21 Kantonen (ausfhließlih der Kantone 
Waadt, das auf 90,453,825 Fr. gefhägt wird, Wallis, das auf 8,092,784 und 
Genf das auf 5,022,865 gefhägt wird; fowie der Kantone Uri, Unterwalden 
n. d. W. und Teffin) Fr. 469,157,362; die Einnahmen gegen 36 Millionen. 

Eifenbahnen. Die Öefanmtlänge der ſchweizeriſchen Eiſenbahnen beträgt 
1288 Kilometer ; das gefammte Anlagelapital 440,968,515 $r.; bie wirklichen Ban- 
toften 408,086,472 Fr.; die Bruttoeinnahmen (im Jahre 1866) 28,774,878 Fr., per 
Kilometer 22,340 Fr. ; die Betriebstoften 14,565,867 Fr. ; Reimertrag 14,208,511 Fr. 
Es wurden 13,548,747 Perfonen und 13,186,498 Centner Güter befördert. 

Schifffahrt. Die fhweizeriihen Flüſſe, Rhone, Aar, Reuß, Limmat, 
find mit Ausnahme des Rheins nur für kleine Kähne ſchiffbar. Auf 10 Gern 
aber, dem Bodenſee, Zürichfee, Zugerfee, Walpftätterfee, Thunerſee, Brienzerſee, 
Lungernfee, Neuenburgerfee, Wurtenerfee und Greifenfee, fowie auf dem Rhein 
fahren außer einer unbelannten Zahl von Heinen Booten, bie mit Segel und 
Ruder getrieben werben, 86 Dampffchiffe mit gegen 3400 Pferbeizäften. 








Die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaſt. 1017 


Fof. Die Geſammtzahl der jährlich befärderten Briefe überſtieg (1867) 
0 Millionen, der Reifenden 852,512, der PBadete zirka 5 Millionen, der Zel- 
ungen 27,890,704 Blätter, Geldanweiſungen zirfa 18 Millionen Fr. Die Brutto⸗ 
Innahmen waren (1865) 8,348,173 $r., bie Ausgaben 6,867,806 Fr. Ent⸗ 
Hädigungen wurben an die Kantone bezahlt 1,490,866 Fr. 

Telegraphenwefen. Nebft Belgien bat die Schweiz bie meiften Tele⸗ 
raphenbureau's auf dem europälfchen Kontinent. Seit Herabfegung bes Tarifs 
er einfachen Depeſche auf 50 Eentimen (auf 1. Jamar 1868) bat ſich bie Zahl 
er Telegramme verdoppelt. Zahl der Telegramme: 1864 — 479,606, 1865 — 
60,495, 1866 — 606,777, 1867 — 708,020, 1868 — 1,153,092. 

Maaf und Gewicht. Durch Bunvdesgefeg wurde 1851 für die ganze 
tidgenofienfchaft gleihes Maaß und Gewicht, welches vom metrifgen Maaß ab- 
eleitet und mit ihm in Uebereinfiimmung gebracht wird, angenommen. Seit 1868 
t da8 reine metriſche Maaß und Gewidt faknltativ eingeführt. 

Münze. Seit 1850 befleht das Decimalſyſtem und 1867 wurbe eine 
Rünztonvention mit Frankreich, Belgien, Italien abgeſchloſſen, dem fpäter Griechen⸗ 
ind und Rumänen beigetreten find. Danach werden Solpmänzen zu 900/000 rich 
Igem Goldgehalt, Bünfrantenflüde zu 9 /gogp rihtigem Gehalt und lleinere 
5ülbermünzen zu Fr. 2, 1, und 50 und 20 Gentimes zu 338/00 richtigem Ge⸗ 
alt ausgeprägt. Die Schweiz hat feit 1850 folgende Stüde ausgeprägt: 5 Fr.: 
00,000; 2 Fr.: 1,500,000; 1 fr.: 5,000,000; 1/2 Fr.: 4,000,000; 20 Et.» 
Sstäd: 11,559,783; 10 &t.-St.: 13,316,548; 5 &t.-St.: 20,023,066 ; 2 &t.-St.: 
1,000,000; 1 &t.-St.: 5,000,000; ein Geſammtwerth von 17,414,764 Fr. 70; 
it den in Parts und Strakburg geprägten 2 und 1 Frankenſtücken und 20, 2 
nd 1 Gentimesftäden 28,904,576 Sr. 67. Aus dem Verkehr zuridgezogen wurben 
agegen Münzen für 10,000,000 Er. 

Handel. Die Gefammteinfuhr (Durchfuhr abgerechnet) hat einen Werth 
on zirkla 457,200,000 Fr. oder 182,114 per Kopf, die Ausfuhr 417,800,000 Fr. 
ber 166,32 per Kopf. — Die.fhweizeiifchen Erportenre haben Commanditen in 
Uen See- nnd Handelsſtädten der Erbe. 

Zollweſen. igentlihe Grenzzölle find in ber Schweiz erſt fett 1848 
mgeführt worden. Borher beftanden fie mehr als eine Art von Weg- und Brücken⸗ 
Jöllen, nicht Bloß an der Grenze der Schweiz, fondern von Kanton zu Kanton. 
tur Bern und Teffin hatten eigentliche Waarenzölle. Nachdem die Bundesver⸗ 
ıffung von 1848 das Zollmefen für Sache des Bundes erklärt uad ben Verkehr 
n Innern freigegeben hatte, wurde ein Grenzzolltarif nad beflimmten Klaffen 
nd in den Anfägen nad dem Brincip des Finanzzolles entworfen. Jedoch wurden 
te für die ſchweizeriſche Induſtrie erforderliden Rohprodukte möglihft niedrig 
elegt, alle Lebensmittel möglihft geſchont, die Produkte des Handwerkerſtandes 
ı höhere Klaffen geſetzt und Lurasmittel am höchſten beſteuert. Bei ber 
lusfuhr und befonders bei der Durdfahr hielt man es für nöthig, die Zollan⸗ 
ige auf einfahe Fontrolgebühren zu beſchränken. Gewiffe Kategorien wurden, 
amentli für den Grenzverkehr, nah Städ und Zugthierlaſt beftenert. Seit 1864 
t der Tarif durch die Handelsverträge mit Frankreich, Italien, Defterreih und dem 
‚ollverein mobifichtt worden. — An die Kantone werben jährlich gegen 2,400,000 
tanten für die Zollablöfnng bezahlt. Die Bruttoeinnahme beträgt gegen 8,800,000 
tanken. Die gefammten Ausgaben 3,537,000 Fr. 

Banlen. In ven meiften Kantonen beftehen eine Geſetze über Banken ober 
totenemtiffionen, Die Mehrzahl der Geſetze und Verordnungen, welde baräber 


1018 NAachtrag. 


vorhanden, tft bei Gelegenheit der Errichtung von Kantonal⸗( Staats⸗) Banken 
erlafſen worden. Nur ber Kanton Züri hat ſpecielle geſegliche Beftimmmsmgen, 
welche bie Notenausgabe von ber Genehmigung des Großen Rathes abhängig 
machen. Atiengefellihaften bebärfen in allen Kantonen, mit Ausnahme von Genf, 
welches 1869, dem Beiſpiel England’s folgend, bie Konceffiontrung der Aktiengeſell⸗ 
ſchaften anfgehoben Kat, — der Genehmigung der Regierung. In den Kantonen 
Bern, Bajel und Luzern beftehen noch beſondere Geſege über bie Wfttengefell- 
(haften. Die Zettelausgabe iſt in den meiften Kantonen nicht verboten, und kaun 
von Einzelnen, von Aktien⸗Geſellſchaften aber nur unter der Bedingung ausge 
übt werben, daß fie überhaupt bie Genehmigung ver Regierung erhalten. Es be 
fiehen in der Schweiz 48 Bauten, wovon 4 reine Staatsbaufen (dazu kommt nod 
die Zürder Kantonalbant), 34 reine Privatbanken und 10 gemiſchte Banken. 
Bei 4 Banken hat der Staat (Kanton) das ganze, bei 9 einen Theil des Kapitals 
eingefchoflen. Bon biefen Banken find 20 Notenbanken, 10 Hypothekenbanken und 
18 Handels- und Krebitbanten. Die Statuten gewähren den meiften Banlen über- 
aus großen Spielraum, fo daß die Mehrzahl zugleig als Mobiliar und Voden⸗ 
kreditanſtalten zu betrachten find, da fie fämmtliche Geſchafte der Privatbanguiers, z. 
B. auch Uebernahme von Anleihen beforgen. Sehr bedeutend ifl die Summe ber 
Depofiten (282,631,530 Fr.), welche diefen Vanken anvertraut werben; ſebr unbe 
deutend die Notencirenlation, nämlih 16,301,896 Fr. im Mittel oder nur zirka 
7 Fr. per Kopf. Das Kapital der 20 Notenbanten beträgt 59,196,600 Fr., ber 
10 Hypothekenbanken 28,714,633 Fr., ber 18 Krebit- und Hanbdelsbanken 
75,142,552 $r., im Ganzen 163,053,785 Fr. 

Spar- und Leihlaffen. Diefe Anflalten verfehen den Dienſt der Bor- 
fchußvereine in land. Diefelben beruhen auf bejchräntter Haftpflicht, d. 6. 
blog bis zum Betrag der Altienzeihnung, wie bei gewöhnlichen Altiengeſellſchaften; 
dennoch genießen fie noch größern Krebit, d. h. fie haben mehr Depofiten, als 
bie anf ſolidariſcher Haftpflicht beruhenden Vorſchußvereine. 43 folder Kaſſen, 
deren Statuten und Rechnungsabſchlüſſe aus ven Jahren 1865—67 und vor» 
lagen, befaßen zufammen ein Aktienkapital von 7,487,259 Fr., einen Refervefonds 
von 882,941 Fr. und Depofiten im Betrag von 27,251,424 Fr. Bänf berfelben 
befigen nicht einmal Stammlapital, fondern arbeiten nur mit Spareinlagen (Depofiten). 


Sparkaſſen: Ginleger. Einlagen. Reſervefonds. 
1852: 181172 60366759 37442370 
1854: 216151 70972722 3461929 
1858: 301887 103245625 4646989 
1862: 353855 131542639 6402994 


Gegenfeitige Hülfsgefellfgaften. 608 Bereine mit 97754 Mit- 
gliedern, wovon 131 zur Unterflägung im all der Krankheit, 308 im Ball von 
ober Tod, 11 im Fall von Krankheit und Gebrechlichkeit, 39 tm Fall 
von Krankheit, Gebrechlichkeit oder Tod; 15 im Fall von Tod, 16 im Wall von 
Alter oder Gebrechlichkeit, 22 für Alter, Wittwen und Waiſen, 39 für Wittwen 
nub Waiſen, 12 für Krankheit, Gebrechlichkeit (Tod), Wittwen und Waiſen, 15 
zuglei für andere Zwede. Im Jahr 1865 wurden auf Bereinstoften im Ganzen 
969 DBegräbniffe beforgt nud 1422 Wittwen und Walfen unterflügt, wovon 1368 
jährliche Benflonen erhalten. Die Zahl der unterflägten alten und gebred- 
lien Mitglieder war 1220; das Vermögen betrug 7,872,020 Fr., bie Ein- 
nahmen: an Eintrittsgelbern und Beiträgen 979,259 $r., an Gelchenfen 195,013 
Granten, au Zinfen und Bußen 354,826 Fr., zufammen 1,529,098 Gr. Die 
Ausgaben betrugen 1,059,418 Fr. 








Wie ſchweizeriſche Engenoſſenſchaſt. 1019 


Bereine. Die Geſammtzahl der Bereine der Schweiz Üüberftelgt 4000 mit zirka 
line. Der Bund fubventionirt 12 gemeinmügige Vereine mit 
67, . 

Schweizeriſche Hülfsvereine Im Ausland beftehen 45 in zwölf ver 
ſchiedenen Ländern, welde ber Bund mit 10,000 Er. fubventionirt. Diefe Bereine 
äblen zufammen 6662 Mitglieder, befigen 867,156 Fr. Vermögen, hatten (1862) 
397,990 Er. Einnahmen, 313,938 Fr. Ausgaben, wovon 172,316 Br. Unterflägungen 
an Berfonen, beziehnngsweiſe Familien. 

Berfigernugsanftalten. In 16 Kantonen beftehen Berfiherungsgefell- 
[haften gegen Fenerſchaden, welche auf dem Princip der Gegenfeltiglelt der Ber- 
fiberten vom Staate verwaltet werben. Außerbem gibt es 6 große Berfiherungs- 
geſellſchaften gegen Feuerſchaden, 3 Lebens⸗ und Rentenverfiderungsanftalten, 
fowie eine Zranaport- nnd eine Mobiliarverſicherungsgeſellſchaft. 

Bodenbau. Bon diefem Zweige ver Vollkswirthſchaft iſt bie jeyt nur bie 
Statiil der Alpenwirthſchaft erhoben worden. Wir mäflen uns bezüglich 
ber übrigen Abtheilungen, des Aderbaus, des Weinbaus, der Forſtwirthſchaft auf 
bie Mittheilung beſchränken, daß die Bobenproduftion nicht volllommen zur 
Ernährung der einheimifchen Bevdlkerung und der Fremden, von weldem in jedem 
Sommer im Durchſchnitt gegen 50,000 die Schweiz beſuchen, ausreicht. Es werben 
daher nicht bloß 3—4 Millionen (1867: 3,683,819; 1868: 3,680,959) Eentner 
Betreide eingeführt, nur zirka 60,000 ausgeführt, ſondern txog der kolofſalen 
inländiſchen Weinproduktion auch noch 8—900,000 Centner Wein, 106,000 
Branntwein, zirka 44,000 Centner Bier, während bie Ausfuhr von Kaſe nad 
Abzug der Einfuhr, obgleih die ganze, Erbe damit verfehen wird, nur 70,000 
Bentner beträgt. Auch fogar an Vieh und Butter wird mehr ein- als ausgeführt, 
wie aus folgender Zufammenftellung hervorgeht: 

Butter einſchl. Schweinefgmalz. Kälber. Gtäd. Rindvieh. Gtüd. 


1867. 1868, 1867. 1868. 1867. 1868. 

Ausfuhr 10309 Pfr. 15743 Pfr. 10386 11483 60291 62016 

Einfuhr 680674 „ 779764 „ 2683 2027 91769 79179 
Schweine über 80 Pfd. Schweine unter 80 Pfr. Schaafe. 

1867. 1868. 1867. 1868. 1867. 1868. 

Ausfuhr 2704 3076 19050 22267 20392 22417 

br 23159 21068 46207 37710 62810 62178 


Dabei ift in Anſchlag zu bringen, daß das ausgeführte Rinbvich mit wenigen 
Ausnahmen entweder ſchwerer iſt und zwar nicht bloß, weil es gemäftet, ſondern 
veil es flärker im Schlag iſt, ober viel höher im Preife ſteht, da es, von ebler 
Race, als Zuchwieh geſucht wird. 

Der Werth ſämmtlichen Biehes wird auf 260,000,000 Fr. geſchätzt. 

Ulpeumirtbfhaft. Die Schweiz befist in 19 Kantonen und Halblan- 
onen, in 691 ®emeinden zufammen 4559 Alpen, wozu noch gegen 50 hinzu⸗ 
jurechnen, über welche keine Berichte eingegangen find, Als Einheit des Flächen⸗ 
naßes der Alpen gilt ein Stüd Weide von ſolcher Auspehnung, daß eine Kuh 
yarauf gefonmert werden Tann (Kuhreht). Dasſelbe ſchwankt von 2 Jucharten 
der Morgen (zu 40,000 Quadratfuß) bis zu über 10, je nad ber Höhe der 
Rage und beträgt im Durdfchnitt 5 Morgen 18 Quadratruthen. Das Correlat 
bes Kuhrechtes iſt ver Stoß, d. h. die Viehzahl, welde auf einem Kuhrecht 
zeweidet werden faum. Es kommt nämli anf einen Stoß = 1 Kuh, auf ein Pferb 
von 1, 2 oder 3 Jahren kommen = 1, 2 oder 3 Stöße, auf 3 Rinder = 23 Gtöße, 


1030 | Hadytrag. 


1 Kalb — 1/ı, 1 Schwein = 1/,, 1 Biege ober 1 Schaf = 1/, Stoß. Die 
45569 Alpen, von welden 1525 oder 83,,0/, ben Gemeinden, 80 = 1,9% 
Gemeinden und Privaten zufammen, 453 — 9,,%/, Korporationen, 2,488 — 
54,6 %/, Privaten und 11 = 0,%/, dem Staate gehören und die in Höhen von 
2000 bis 9000 Fuß liegen, waren (1864) mit 270,389 Stößen Bich befekt. 
Die Gefammtzahl der Weidetage beitrug 25,074,238. Der Kapitalwerth der Alpen 
wird ſehr nitdrig zu 77,186,103 Fr. angegeben. Der Bergeins (Pachtzint) 
fümmtlider Alpen betrug 3,362,642 Fr. Ziemlich genau iſt der Ertrag ermittelt. 
Im Jahr 1864 weideten 158,320 Kühe auf den Alpen ver Schweiz, welche einen 
Ertrag von 8,182,788 Fr. ergaben, fowie 115,941 Galwieh, d. h. nit Mii- 
gebendes Rindvieh und übrige Biehgattungen, bie durch Zuwachs 2,703,463 Fr. 
abwarfen. Der Gefammtbetrag ift demnach 10,893,874 Fr. oder 14,1, %/, Dei 
gefhägten Kapitalwerthes, oder nah Abzug der Zinfen und Amortiſation des 
Vetriebslapitals (Bieh ꝛc.) 9,545,000 fr. oder 12,4%). Zu 5%, gerechnet be 
träge der Werth der Alpen 190,900,120 Fr. und mit ven nicht im Nedhuung 
gezogenen Alpen wenigſtens 200,000,000 Fr. 

Forſtertrag. Auch hierin find wir auf Schägungen auf Gruudlage ber 
Zollliſten beſchränkt. Die Schweiz hat eine ſtarke Ausfuhr an Stämmen zu 
und Brembol, fowie an Brettern (für über 7 Millonen Fr.); verarbeitete Holz⸗ 
wanren werben mehr ein- ale ausgeführt. 

Induftrie. Auch Hinfichtlic ver Gewerbsthätigteit iſt noch Feine allgemeine 
Statiſtik in der Schweiz erhoben werben; nur einzelne Kantone haben bezäglid 
ver Fabriken fratiftifche Erhebungen gemacht, worunter bie bes Kanton Et. Gallen 
befonders hervorgehoben zu werden verdienen. Die Hauptinduſtriezweige ſind vie 
Seiden⸗ und Baummollfabritatioe (Spinnerei, Weberei, Yärberei und Uppretar) 
und bie Uhrenmacherei. Die erftere und ber legtere Zweig iſt zum großen Theil 
als Hausinduſtrie zu bezeichnen. Zur Hausinduſtrie find ferner noch die Stroh⸗ 
umd Haarflecqhterei, fowie die Holzſchnitzerei zu rechnen. In den Gebirgsfantonen, 
namentlih aud im Kanton Bern verfertigt das Landvolk noch felbft en und 
Tuch aus natwrfarbener Wolle für feine Kleidung. 

Dad Seidengewerbe flieht an Größe des Umfages an ber Spitze ber 
Induſtrie, denn mit einem Export von sirfa 215 Millionen Franken Im Jahre 
fomamt es in feinem Betriebslapital der Landwirthſchaft am nädften, deren 
Biehſtand, wie bemerkt, auf 260 Millionen gefhägt wird. Zunähft kommt die 
Banmmwolleninduftrie, von weldher uns nur annähernd bie Zahl der Spindeln 
der Spinnereien aus verſchiedenen Jahren, fümmtlich aberſeit 1861, zu Gebote ſicht: 


1. Züri 607082 
2. Wargau 266805 
3. Glarus 250793 
4. St. Sallen 172136 
5. Zug 111292 
6. Bern 60000 
7. Schwy 50400 
8. Thurgan 42800 
9. Graubünden 31600 
10. Solothurn 22768 
11. Bafel (Stabt und Land) 10000 
12. Schaffhauſen 6120 
18. Luzern 6016 


Summa 1636812 





Wie ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaſt. 1021 


Der Sabritinbuftrie ſteht eine große Zukunft bevor, weil Hunderttauſende von 
moermenbeten WBaflerpferbefräften ohne zu hohe Anlagefoften noch nutzbar gemacht 
verben Bunen. Jetzt ſchon iſt es wefentlic die Wafferkertt mat nie Kümalruitihe 
Jaumwolleninbuftrte trog erhöhter Transportloften m 
acht; der hohe Werth jener Wafferkräfte wird aber 
aan einmal bie britiſchen Kohlenlager erſchopft fein t 

Unterridtsmwefen. In allen Kantonen, mit 
teht der obligatorifche Unterricht. In Genf | 
er gefeglihen und freiwilligen Bemühungen Hinter 
atoriſchen Unterriäts nicht zuräd. Die Pflicht, die Al 
teht in den meiften Kantonen bis zum 14., in el 
Boramsgefett, daß derjenige Unterricht gereicht werbe, 
chulen verlangt, fleht es Jedem frei, feine Kinder auc 
nterrichten. Die Mißachtung des Schulzwanges von S 
uit Geldbuße und im Wiederholungefalle mit Gefä 
Jater, ber fi beharrlich weigern würde, feine Kinder 
dnnten dieſelben fogar weggenommen werben. Gold 
‚or, weil bie Notwendigkeit eines tüchtigen Unterrid 
sußtfeln gebrungen iſt. Die Abfenzliften werben von 
on ben Schulinſpektoren Yontrolirt. 

Selbftverftändlich iſt für arme Kinder bie Schule u 
!antonen {ft bie Unentgeltlicfeit der Brimarfdule < 
Maffen gefeglich feftgeftellt; in noch andern wird eir 
B. 3 Br. jührlih gezahlt. Jede Gemeinde iſt in ı 
der mehrere Äffentlige Säulen zu halten. Dog kör 
‚on benen erſt wieber mehrere eine politiſche Gemeinbı 
zahl ihrer Kinder mit anderen zur Errichtung einer € 
071 Gemeinden Tonnen in ber Schweiz fat 7000 Bı 
3 in erfter Linie verpfliätet, das Lokal zu flellen, fom 
vohnung, bie genöhntih im Schulhauſe ſelbſt ſich befir 
Aufer gegenwärtig bie fchnſten Gebäude der Gemeli 
eſorgt bie Gemeinde allein bie Befolbung der Lehrer; 
Ippenzell A. R. fogar zu den beftbefolveten. In ben i 
er Staat einen Theil der Lehrerbeſoldung. Eingezog 
eiche Stiftungen erleichtern die Dotation der Schule. 

Im Jahr 1864 betrugen die Ausgaben ber Kant 
Inndes (für das Polytegnttam mit zirla 250,000 Fr.) 
[8 4,988,947 Br. Einſchueßlich des Werthes der 
urchſchnitiliche Jahresgehali eines Primarlehrers auf 8C 
‚erben. — Zur Ausbildung von Lehrern beftchen in der 

In Gebirgsfantonen wird bie Schule Im Somme 
ände find Lefen, Schreiben, Arithmetli, Linienzeichnen 
hyfik, Schweizerifche Geſchichte (im Kanton Bern a 
defang. Meift wirb in ben nenern Geſetzen und Vero 
hebrauch der Schriftiprache vorgeſchrieben. 

Die Scäulinfpeltoren werden in ber Regel von I 

Den Primarſchulen fließen fih die Setundaı 
icht obligatorif iſt, und im welchen zu ben übrigen 
nd) die drei Sprachen der Schweiz: italieniſch, franzöfifd 


1012 Nachtrag. 


Schweine: Eber 1644 
Mutterſchweine 30288 

Fafel- und Maftfchweine 190705 

Ferkel 81951 

Summe 304428 

Schafe: 447001 
Ziegen: 376482 


Berfaſſung. Bund. Die Schweiz bildet einen republikaniſchen Bundes- 
flaat von 25 Staaten, nämlih 19 Kantonen und 6 Halblantonen. Die Bundes 
verfaflung ift im Jahre 1848 aus einem Staatenbund, an deſſen Spige bie Tag 
fagung von Abgeordneten der Kantone, deren Borort zwifhen Zürich, Bern um 
Luzern wechſelte (einer dem a. beutihen Bundestag Ähnlichen Behörde), in einen 
Bundesftaat verwanpelt worden. Als Borbild dienten bei der Verfaffun 

bie vereinigten Staaten von Nordamerika, doch wußte man bezüglich der Erelutiv- 
gewalt das Gebrechen der Letzteren, die direkte Wahl eines vierjährigen Präfidenten 
bireft durch das Bolt, welche ein Wahlkönigthum Tonftituirt, deſſen Nachtheile 
unter der Präfidentfhaft von Johnſon Har zu Tage traten, durch das Kollegial- 
foftem glüdlih zu umgeben. *) 

Die Kantone find fouverän fo weit ihre Selbſtherrlichkeit nicht burd die 
Bundesverfofiung beſchränkt ift und üben als ſolche alle Rechte aus, welche nicht 
ber Bundesgewalt abgetreten find. Der Bund allein hat das Recht, Krieg zu er 
Hören und Frieden zu machen, Bündnifſſe und Berträge mit auswärtigen Staaten 
abzuſchließen. Der Bund ernennt die Oberbefehlshaber des Heeres, aber hat nidk 
das Recht, ſtehende Truppen zu unterhalten. Die Verwaltung und die Einnahme 
ber Zölle an den Grenzen der Schweiz kommen dem Bunbe zu unb deren Er⸗ 
trag fließt in die Bundeskaſſe. Ebenfo fleht dem Bunde zu: bie Feflftellung tes 
Maaßes und Gewichtes, das Münz- und Schießpulverregal, das Telegrappenmeien, 
deren Ertrag in die Bundeskaſſe fließt, und die Berwaltung ber Boften deren Leber 
fhüffe den Kantonen ausgezahlt werben. 

Alle Schweizer find gleih vor dem Geſetz. Es gibt in ber Schweiz weder 
Untertbenen, noch Privilegirte von Realitäten, von Geburt, Stand, Yamilie over 
PBerfon. Die freie Nieverlaffung zum Gewerbebetrieb if auch Ausländern ge 
währt. Die oberfte Gewalt des Bundes wird ausgeübt Tuch die Bundesver 
fammlung, welde ans zwei Häufern oder Räthen befieht: 1. dem National 
rath, welche aus Übgeorbneten des ſchweizeriſchen Bolles,_d. b. aller unbe- 
fholtenen Männer, die das 20. Lebensjahr zurüdgelegt haben, zuſammengeſetzt iſt. Auf 
je 20,000 Köpfe der Beodlferung fommt ein Abgeordneter. Die Gefammtzahl ver 
Wähler wurde 1865 auf 487,861 theils erhoben, theils geſchätzt, aber zu je 1 Wähler 
auf 4,2 Einwohner. Jeder wahlfähige Eidgenofle kann an feinem Wohnftg wählen, 
wenn dieſer aud in einem andern, als feinem Heimathskanton liegt; 2. aus bem 
Ständerath, welder aus 44 Abgeorbneten beflebt, von beuen die 19 Kantone 
je 2 und die 6 Halblantone je einen Abgeordneten durch bie gefeßgebende Be⸗ 
hörde (Großer Rath oder Tandsgemeinde) wählen. 

Die oberfte Erekutio- Gewalt des Bundes, der „Bundesrath", befteht 
aus fieben Mitglievern, welche alle brei Jahre von der vereinigten Bunbesverfanm- 
Iung gewählt werden und wozu alle Schweizer ernannt werben können, bie wähl- 


*) Anm. d. Red. Bor Johnſon hatte Präfident Lincoln die Einheit der Union gerettet. Für 
einen großen Weltftaat wie die amerlkaniſche Union würde eine Kollegialregierung ganz unpaffend ſein 








Die ſchwetzeriſche Eidgenoffenfhaft. _ 1018 


bar in ben Nationakrath. Der Bunvespräfinent und Vicepräſident werben jedes 
Jahr aus dem Schooße des Bundesrathes durch die vereinigte Bundesverſamm⸗ 
lung gewählt. Eines ſchönen Braudes darf hier Erwähnung gefchehen, daß näm⸗ 
lid in beiden Häuſern der Bundesverſammlung weder Beifalls⸗ noch Mißfalls⸗ 
bezeugungen gegenüber den Rednern gebraudt werben, nicht in Folge der Strenge 
des Reglements, fondern der Sitte, (Bgl den Art. Schweiz Verfaſſung in 
Band IX). 

Kantone Go flabll die Bundesverfafſung, fo fehr find die Berfaflungen 
ber Kantoue euer lebhaften periodiſchen NRevifionsbewegung unterworfen, fo daß 
Angaben, die man heute madt, In einigen Jahren veraltet find. Dennod fann 
man gewiſſe Principien und Bundamentaleinrihtungen unterfcheiden, welche bleibend 
find, wenn auch die Zahl ver Kantone bezüglid der Annahme berfelben ſchwanken. 
Borauszufhiden ift dabei, daß über Berfafiungsänderungen fowohl bes Bundes, 
wie der Kantone ſtets das ganze Bolt zu entfcheiden hat. 

Man kann im großen Oanzen drei Enfteme uuterfheiden, in welcher vie 
Bollsherrfchaft in den Kantonen ausgeübt wird: 1) Die reine Demofratie; 
2) das reine Repräſentativſyſtem, und 3) ein aus beiden gemifchtes 
Sy ſtem. 

Die 1) reine Demokratie wird ausgeübt durch die Landsgemeinde, d. h. 
duch ſämmtliche volljährige, unbeſcholtene Kantonsbürger, welche ſich an einem 
beſtimmten Tage des Jahres, am letzten Sonntag des April oder am erſten 
Sonntag des Mai gewöhnlich unter freiem Himmel verſammeln, die Staatsred- 
nung genehmigen, über Verfaſſungsreviſionen abftimmen und ven Landammann, 
die übrigen 6—8 Mitglieder der Regierung und den aus 5070 Mitgliever 
beſtehenden Landrath wählen, welder fih durchſchnittlich 6 Mal im Jahr ver- 
fammelt und der Regierung als berathende Behörde zur Geite ſteht. Dieſe Ver⸗ 
faflung befteht, nur in Kleinigkeiten je abweichend, in den Kantonen Url, den 
beiden Unterwalven, beiven Appenzell und Glarus. 

Die 2) reine Repräfentativ-Berfaflung befteht in den Kantonen Wallis, 
Teſſin, Freiburg, Zug, Bafelftabt, Genf. 

Das 3) gemifhte Syſtem hat neben dem Repräfentativ-Rörper noch mehrere 
yenofratifhe Formen, die unter fi felbft wieder im mehrere Arten zerfallen. 
Zuerft kommt a. das Referendum im Berein mit Initiative und direkter 
Wahl ver Regierung durch das Boll, Das Referendum ift das Recht des 
Bolfes, daß jebes von ber Regierung vorgefhlagene und vom gefeßgebenven Reprä- 
entativkörper (Großer Rath) beratbene und angenommene Gefeg der Volksab⸗ 
timmung in den Gemeinden unterworfen werben muß. Die Initiative ifl das 
Redht des Volles, gemäß deſſen die Regierung ein Geſetz dem großen Rath zu 
Berathung vorlegen muß, wenn eine beftimmte Anzahl von Bürgern (5000— 6000) 
3 verlangt. Diefe drei Rechte zuſammen beftehen in ben Kantonen Zürich und 
Ehurgan; b. das Referendum in ben Kantonen Graubünden, Schwyz, 
JZaſellandſchaft, Bern, Yargau; ce. das finanzielle Referendum im Kanton 
Baadt bei Summen über 1 Millionen Franken, in Neuenburg bei Summen 
ber 2,000,000 Fr.; d. das Beto, das Recht, ein vom gefeßgebenden Körper 
erathenes und angenommenes, von ber Regierung publicirtes Geje zu verwerfen, 
yenn eine beftimmte Anzahl von Bürgern (zirfa 5000 in den Mittellantonen) 
8 verlangen, in den Kantonen Luzern, Solothurn, Schafihaufen, St. Gallen, 
Baadt. Außerdem beftebt die direkte Wahl der Regierung noch in Genf und bie 
mitiative noch in Waadt für 6000, in Aargau für 5000 Kantonsbürger. 


1012 Nachtrag. 


Schweine: Eber 1544 
Mutterfäweine 302328 

Safel- und Maſtſchweine 190705 

Ferkel 81961 

Summe 304428 

Schafe: 447001 
Ziegen: 375482 


Berfaffung. Bnnd. Die Schweiz bildet einen republikaniſchen Bunbet- 
flaat von 25 Staaten, uämlid 19 Kantonen und 6 Halblantonen. Die Bundes 
verfaffung ift im Jahre 1848 aus einem Staatenbund, an deſſen Spige die Tag 
fagung von Abgeorbneten der Kantone, deren Borort zwiſchen Zürich, Bern um 
Luzern wechſelte (einer dem a. deutſchen Bundestag ähnlichen Behörde), in einen 
Bundesftaat verwandelt worben. Als Vorbild dienten bei der Berfaffungsrenifien 
bie vereinigten Staaten von Nordamerika, doch wußte man bezüglid der Eyrelutiv- 
gewalt das Gebrechen der Letzteren, die direkte Wahl eines vierjährigen Präfldenten 
direkt duch das Boll, welche ein Wahllönigthum Tonftituirt, deſſen Nachtheile 
unter ber Präſidentſchaft von Johnſon Mar zu Tage traten, durch Das Kollegial- 
foftem glüdlidh zu umgehen. *) 

Die Kantone find fonverän fo weit ihre Selbftherrlichleit nicht durch bie 
Bundesverfaflung beſchränkt ift und üben als folde alle Rechte aus, welche nicht 
der Bundesgewalt abgetreten find. Der Bund allein hat das Recht, Krieg zu ew 
Hören und Frieden zu maden, Bünpniffe und Berträge mit answärtigen Staaten 
abzufhließen. Der Bund ernennt die Oberbefehlshaber des Heeres, aber bat nidk 
bas Recht, ſtehende Truppen zu unterhalten. Die Verwaltung und die Giunahme 
ber Zölle an den Grenzen der Schweiz kommen dem Bunbe zu unb deren Er 
trag fließt in die Bundeskaſſe. Ebenfo fteht dem Bunde zu: die Feſtſtellung tes 
Maaßes und Gewichtes, das Münz- und Schießpuiverregal, das ZTelegrapgenmeien, 
deren Ertrag in die Bundeskaſſe fließt, und bie Verwaltung der Boften deren Leber 
fhüffe ven Kantonen ausgezahlt werden. 

Ale Schweizer find gleih vor dem Gefeg, Es gibt im der Schweiz weber 
Untertbenen, noch Privilegirte von Realitäten, von Geburt, Stand, Familie over 
Perſon. Die freie Nieverlafiung zum Gewerbebetrieb iſt au Ausländern ge 
währt. Die oberfte Gewalt des Bundes wird ausgeübt tur die Bundesver 
fammlung, welde aus zwei Häufern oder Räthen beflebt: 1. bem National 
rath, welde aus Übgeorbneten des ſchweizeriſchen Boltes,_d. h. aller unbe 
ſcholtenen Männer, die das 20. Lebensjahr zurüdgelegt haben, zufammengefegt iſt. Auf 
je 20,000 Köpfe der Bendlferung kommt ein Abgeordneter. Die Gefammtzahl ver 
Wähler wurde 1865 auf 487,861 theild erhoben, theils geſchätzt, eber zu je 1 Wähler 
auf A,2g Einwohner. Jeder wahlfähige Eidgenoſſe kann an feinem Wohnfig wählen, 
wenn diefer auch In einem andern, als feinem Heimathskanton liegt; 2. aus bem 
Ständerath, welder aus 44 Abgeordneten befleht, von denen die 19 Kantone 
je 2 und die 6 Halblantone je einen Abgeorbneten durch die gefeßgebende Be⸗ 
hörde (Großer Rath oder Landsgemeinde) wählen. 

Die oberfte Erelutiv- Gewalt des Bundes, der „Bundesrath", befteht 
aus fieben Mitgliedern, welche alle drei Jahre von der vereinigten Bunbesverfanm- 
Iung gewählt werben und wozu alle Schweizer ernannt werben können, die wähl⸗ 


*) Anm. d. Red. Bor Johnſon hatte Präfident Lincoln die Einheit der Union gerettet. Zar 
einen großen Weltftaat wie die amerlfanifhe Union würde eine Kollegialregierung ganz unpaffend ſein. 











Die fchweizerifhe Eidgenoffenihaft. 1018 


bar in ben Nationalrath. Der Bunvespräfinent und Vicepräſident werben jedes 
Jahr aus dem Schooße des Bundesrathes durch die vereinigte Bundesverſamm⸗ 
lung gewählt. Eines ſchönen Brauches darf bier Erwähnung gefchehen, dag näm⸗ 
lid in beiden Hänfern der Bundesverfammlung weder Beifalls- noch Mißfalls- 
bezeugungen gegenüber den Rednern gebraudt werben, nicht in Folge der Strenge 
des Reglemente, fondern der Sitte. (Bgl den Art. Schweiz Verfaſſung in 
Band IX). 

Kantone. Go flabil Die Bunbesverfaffung, jo fehr find die Berfaffungen 
ber Kantone einer lebhaften periodiſchen Revifionsbewegung unterworfen, fo vaß 
Angaben, die man heute macht, in einigen Jahren veraltet find. Dennod kann 
man gewiffe Principien und Fundamentaleinrichtungen unterfheiden, welche bleibend 
find, wenn auch die Zahl ver Kantone bezüglidy der Annahme verfelben ſchwanken. 
Vorauszuſchicken ift dabei, daß über Berfafjungsänderungen ſowohl des Bundes, 
wie der Kantone ſtets das ganze Volk zu entſcheiden hat. 

Man kann im großen Oanzen drei Enfteme nuterſcheiden, in welder bie 
Bollsherrfhaft in den Kantonen ausgeübt wird: 1) Die reine Demokratie; 
2) das reine Repräfentativfpfiem, und 3) ein aus beiden gemifchtes 
Syftem. 

Die 1) reine Demokratie wirb ausgeübt durch die Landagemeinde, d. h. 
duch ſämmtliche volljährige, unbefcholtene Kantonsbürger, welche fi) an einem 
beftimmten Tage des Jahres, am legten Sonntag des April oder am erften 
Sonntag des Mai gewöhnlich unter freiem Himmel verfammeln, die Staatsrech⸗ 
nung genehmigen, über Berfafiungsrevifionen abftimmen und den Yandammann, 
die übrigen 5—8 Mitglieder der Regierung und ben aus 50-70 Mitglieder 
beſtehenden Landrath wählen, welcher fih durchſchnittlich 6 Mal im Jahr ver- 
fammelt und ber Regierung als berathende Behörde zur Seite fteht. Dieſe Ver⸗ 
faflung befteht, nur in Kleinigkeiten je abweichend, in ven Kantonen Uri, den 
beiden Unterwalven, beiden Appenzell und Glarus. 

Die 2) reine Repräfentativ-Berfaflung beftcht in. den Kantonen Wallis, 
Teſſin, Freiburg, Zug, Bafelftabt, Genf. 

Das 3) gemifhte Syſtem hat neben dem Repräfentativ-Rörper noch mehrere 
senolratifhe Formen, die unter ſich felbft wieder in mehrere Arten zerfallen. 
Zuerft kommt a. das Referendum im Verein mit Initiative und direkter 
Vahl der Regierung durch das Boll, Das Referendum iſt das Recht des 
Bolfes, daß jebes von ber Regierung vorgefchlagene und vom gefeßgebenden Reprä- 
entatioförper (Großer Rath) berathbene und angenommene Gefeg der Volksab⸗ 
timmung in den Gemeinden unterworfen werben muß. Die Initiative iſt das 
Recht des Volkes, gemäß deſſen die Regierung ein Geſetz dem großen Rath zu 
Berathung vorlegen muß, wenn eine beftimmte Anzahl von Bürgern (5000— 6000) 
8 verlangt. Diefe drei Rechte anfammen beftehen in den Kantonen Zürich und 
-burgan; b. dad Referendum in den Kantonen Graubünden, Schwyz, 
zaſellandſchaft, Bern, Yargau; c. das finanzielle Referendum im Kanton 
Baadt bei Summen über 1 Millionen Franken, in Neuenburg bei Summen 
ber 2,000,000 Fr.; d. das Beto, das Recht, ein vom gefeßgebenden Körper 
erathenes und angenommenes, von ber Regierung publicirtes. Geſetz zu verwerfen, 
enn eine beflimmte Anzahl von Bürgern (zirta 5000 in ben Mittellantonen) 
3 verlangen, tn den Kantonen Luzern, Solothurn, Schafihaufen, St. Gallen, 
Baadt. Außerdem befteht die direkte Wahl ver Regierung noch in Genf und vie 
nitiative noch in Waadt für 6000, in Aargau für 5000 Kantonsbürger, 


1012 Nachtrag. 


Schweine: Eber 1544 
Mutterfhweine 30328 

Fafel- und Maſtſchweine 190705 

Ferkel 81951 

Summe 304438 

Safe: 447001 
Biegen: 375482 

Berfaffung. Bund. Die Schweiz bildet einen republikaniſchen Bunbet- 
flaat von 25 Staaten, nämlih 19 Kantonen nnd 6 Halblantonen. Die Bundes 
verfaffung ift im Jahre 1848 aus einem Staatenbund, an deſſen Spige die Tag 
fagung von Abgeorbneten der Kantone, deren Borort zwiſchen Züri, Bern um 
Luzern wechſelte (einer dem a. deutſchen Bundestag Ähnlichen Behörde), in eimen 
Bundesflaat verwandelt worden. Als Borbild dienten bei der Berfaffungsrentfion 
bie vereinigten Staaten von Norbamerifa, doch wußte man bezüglich der Spekutiv⸗ 
gewalt das. Gebrechen ber Letzteren, bie virefte Wahl eines vierjährigen Präftventen 
bireft durch das Bolt, welche ein Wahlkönigthum Tonftituirt, deſſen Nachtheile 
unter der Präfidentfhaft von Johnſon Mar zu Tage traten, durch das Kollegial- 
foftem glücklich zu umgeben. *) 

Die Kantone find fonverän fo weit ihre Selbſtherrlichkeit nicht durch bie 
Bundesverfafſung beſchränkt ift und üben als folde alle Rechte aus, welche nicht 
ber Bundesgewalt abgetreten find. Der Bund allein hat das Recht, Krieg zu er 
Hören und Frieden zu machen, Bünpniffe und Berträge mit auswärtigen Staaten 
abzuſchließen. Der Bund ernennt vie Oberbefehlshaber des Heeres, aber hat nicht 
das Recht, ftehende Truppen zu unterhalten. Die Verwaltung und die Ginnchme 
ber Zölle an den Grenzen der Schweiz kommen bem Bunde zu und deren Er⸗ 
trag fließt in die Bundeskaſſe. Ebenſo fteht dem Bunde zu: die Teftftellung bes 
Maaßes und Gewichtes, das Münz- und Schiegpulverregal, das Telegraphenwelen, 
deren Ertrag In die Bundeskaſſe fließt, und die Verwaltung ber Boften deren Ueber 
ſchüſſe den Kantonen ausgezahlt werben. ' 

Ale Schweizer find gleich vor deu Geſetz. Es gibt in der Schweiz weber 
Untertbenen, noch Privilegirte von Realitäten, von Geburt, Stond, Familie oder 
Perfon. Die freie Nieverlafiung zum Gewerbebetrieb if auch Ansländern ge 
währt. Die oberfte Gewalt des Bundes wird ausgeübt tur die Bunbesver 
fammlung, welde aus zwei Häufern ober Räthen befieht: 1. dem National 
rath, welde aus Abgeordneten des ſchweizeriſchen Voltes,_d. b. aller unbe 
fholtenen Männer, die das 20. Lebensjahr zurüdgelegt haben, zufammengefegt iſt. Auf 
je 20,000 Köpfe ver Bendlferung kommt ein Abgeorbneter. Die Gefammtzahl ber 
Wähler wurde 1865 auf 487,861 theilg erhoben, theils gefchätst, oder zu je 1 Wähler 
auf A,2g Einwohner, Jeder wahlfähige Eidgenoſſe kann an feinem Wohnftg wählen, 
wenn biefer auch In einem andern, als feinem Heimathskanton liegt; 2. aus bem 
Ständerath, welder aus 44 Abgeorbneten beftebt, von beuen die 19 Kantone 
je 2 und die 6 Halblantone je einen Abgeordneten durch die geſetzgebende Be⸗ 
börbe (Großer Rath oder Randsgemeinde) wählen. 

Die oberfle Erelutio- Gewalt des Bundes, der „Bundesrath”, befteht 
aus fieben Mitgliedern, welche alle rei Jahre von ber vereinigten Bunbesverfamm- 
lung gewählt werben und wozu alle Schweizer ernannt werben Tünnen, die wähl- 


*) Anm. d. Red. Bor Johnſon hatte Präfident Lincoln die Einheit der Union gerettet. Für 
einen großen Weltftaat wie die amerlkaniſche Unton würde eine Roegialregierung ganz unpafiend fein. 








Die ſchwetzeriſche Eidgenoffenfcaft. 1018 


bar in ben Natienakrath. Der Bunbespräfivent und Bicepräflpent werben jedes 
Jahr aus dem Schooße des Bundesrathes durch die vereinigte Bundesverſamm⸗ 
ung gewählt. Eines ſchönen Brauches darf hier Erwähnung gefchehen, daß näm⸗ 
ih in beiden Häufern der Bunbesverfammlung weder Beifalld- noch Mißfalls- 
jezeugungen gegenüber den Rednern gebraudt werben, nicht in Folge der Strenge 
‚es Neglements, fondern ber Sitte. (Vgl den Art. Schweiz PVerfaflung in 
DBand IX), 

Kantone So fabil die Bunbesverfoffung, fo fehr find die Verfaffungen 
ver Kantone einer lebhaften periopifhen Revifionsbewegung unterworfen, fo daß 
Angaben, die man heute madt, in einigen Jahren veraltet find. Dennoch kann 
nan gewiſſe Principien und Fundamentaleinrichtungen unterfcheiden, welde bleibend 
ind, wenn aud bie Zahl der Kantone bezüglich der Annahme derſelben ſchwanken. 
Borauszufciden ift dabei, daß über Berfaflungsänderungen fowohl des Bundes, 
vie der Kantone ftets das ganze Bolt zu entfcheiden hat. 

Man kann im großen Ganzen drei Enfteme unterſcheiden, in welder bie 
Bolksherrſchaft in den Kantonen ausgeübt wird: 1) Die reine Demokratie; 
!) das reine Repräſentativſyſtem, und 3) ein aus beiden gemifchtes 
Syftem. 

Die 1) reine Demokratie wird ausgeübt durd die Landsgemeinde, d.h. 
vurch ſämmtliche volljährige, unbefcholtene Kantonsbürger, weldye fi) an einem 
yeftimmten Tage des Jahres, am lebten Sonntag des April over am erften 
Sonntag des Mai gewöhnlih unter freiem Himmel verfammeln, die Staatsrech⸗ 
ng genehmigen, über Berfaflungdrevifionen abflimmen und den Yandammann, 
te übrigen 5—8 Mitglieder der Regierung und den aus 5070 Mitglieder 
eftehenden Landrath wählen, welder fih durchſchnittlich 6 Mal im Jahr vers 
ammelt und ber Regierung als berathende Behörde zur Seite fleht. Diefe Ver⸗ 
aflung befteht, nur in Kleinigfeiten je abweichend, in den Kantonen Uri, ven 
eiden Unterwalben, beiden Appenzell und Glarus. 

Die 2) reine Repräfentatio-Berfaflung befteht in ben Kantonen Wallis, 
Teſſin, Freiburg, Zug, Baſelſtadt, Genf. 

Das 3) gemifchte Syſtem hat neben dem Repräfentativ-Rörper noch mehrere 
emolratifhe Formen, die unter ſich felbft wieder in mehrere Arten zerfallen. 
Juerft lommt a. das Referendum im Berein mit Initiative und direkter 
Bahl der Regierung durch das Boll, Das Referendum tft das Recht des 
3olfes, daß jedes von ber Regierung vorgefchlagene und vom geſetzgebenden Reprä- 
ꝛntativkörper (Großer Rath) berathene und angenommene Gefeg ver Volksab⸗ 
timmung in ben Gemeinden unterworfen werben muß. Die Initiative if das 
techt des Volles, gemäß deſſen die Regierung ein Geſetz dem großen Math zu 
Jerathung vorlegen muß, wenn eine beftimmte Anzahl von Bürgern (5000— 6000) 
3 verlangt. Diefe drei Rechte znfammen beftehen in den Kantonen Zürich und 
hurgau; b. das Referendum in den Kantonen Graublinden, Schwyz, 
Yafelanpfchaft, Bern, Yargau; c. das finanzielle Referendum im Kanton 
Baadt bei Summen über 1 Millionen Franken, in Neuenburg bei Summen 
ber 2,000,000 Fr.; d. das Beto, das Recht, ein vom gefeßgebenden Körper 
rathenes und angenommenes, von ber Regierung publicirtes Geſetz zu verwerfen, 
enn eine beflimmte Anzahl von Bürgern (zirka 5000 in den Mittellantonen) 
3 verlangen, in ben Kantonen Tuzern, Solothurn, Schafihaufen, St. Gallen, 
3gadt. Außerdem befteht die virefte Wahl der Regierung noch in Genf und die 
nitiative noch in Waadt für 6000, in Aargau für 5000 Kantonsbürger. 


1014 Nadıtrag. 


Gemeinden. Die Gemeinden haben eine je nad den Kantonen verſchledene 
Organiſation. Die Schweiz als Ganzes genommen befigt 1) die Kirchgemeinde, 
2) die politifche oder Einwohnergemeinde, 3) die Burgergemeinde, 4) Schulge⸗ 
meinden, 5) Ortögemeinden und endlich auch noch korporative Gemeindefraktionen, 
Ueberbleibſel von Gilden und Zünften, welche nur noch ven Zwedck der Ber⸗ 
mögensverwaltung und Unterſtützung ihrer Mitglieder verfolgen. Dieſe Gemeinde⸗ 
fraktionen beſtehen nicht überall zugleich; fämmtli haben fie volle Selbſtändigkeit 
der Ernennung ihrer Behörden, ihrer Adminiſtration und Bermögensverwaltung. 
In einigen Kantonen verwaltet die politiſche Gemeinde Alles: Kirche, Schule, 
Armenpflege; in anderen gehört das Bermögen der Burgergemeinve, während bie Ein- 
wohnergemeinde, welche die weitere Organifation bilbet, für die Bebärfnifie ver Schule 
und Armenpflege anf die Beftenerung angewiefen if, fo daß das Einfommen aus dem 
Gemeindevermögen nur zu Gunſten ber Armen ber Burgergemeinbe verwendet wird. 

Kirche. Dur die Reviſion der Bundesverfafiung vou 1866 find fümmt- 
liche Konfeffionen (chriſtliche und nicht chriftliche) bezüglich ber Riederlafiung gleich 
geftellt, und Tann die Zulaffung dem Anhänger irgend einer Gecte in feinem 
Kanton verweigert werben. Bezüglich des Rechtes der Ausübung bes Gottespienftes 
fagt der Art. 44 der Bunbesverfaffung: „Die freie Ansäbung des Gottes dienſtes 
ft den anerlannten chriſtlichen Konfeffionen im ganzen Umfange der Eidgenoſſen⸗ 
ſchaft gewährleiftet. Den Kantonen, fowie dem Bunte, bleibt vorbehalten, für 
Handhabung der Affentlihen Orbuung und bes Friedens unter ben Konfeffionen 
die geeigneten Maßregeln zu treffen.” Diefer Artikel fchließt bie Ausübung auderer 
Konfeffionen nit aus, wenn die Kantone folde dulden wollen. Art. 58. „Der 
Orden der Iefuiten und die ihm affiliirten Geſellſchaften dürfen in teinem Theile 
ber Schweiz Aufnahme finden.” Art. 64. „Wahlfählg als Mitglied des Rational- 
rathes iſt jeder flinnmberechtigte Schweizer weltlihen Standes.” — In Hin⸗ 
fiht auf das Verhältniß der Kirche zum Staat beftehen große Verſchiedenheiten 
nicht bloß zwifchen proteftanttichen nud katholiſchen Kantonen, fondern im Schooße 
der einen, wie der andern ſelbſt. Die Beziehung des Staates zur Kirche iſt hier 
mehr, dort weniger eng. In den reformirten Kantonen iſt bie Kirche in fo weit 
organifirt, als eine gewiſſermaßen unabhängige Synode befteht, welde meift aus 
Laien und Geiftlihen zuſammengeſetzt und durch die Gemeinden ernannt iſt. Die- 
ſelbe regulirt die rein geiftlihen Angelegenheiten, unter Borbehalt ver Zuſtimmung 
ber Megierung, und welche in gemifchten Sachen das Recht der Mitberathung bat. 
— Die Ermennung der Geiftlihen iſt in diefen Kantonen bier der Regierung auf 
Präfentation von Selten der Gemeinde, da der Gemeinde auf Präfentation durch 
das Eonfiftorium, und dort der Gemeinde nach freier Wahl äderlaffen. Im Allge⸗ 
meinen ift es der Staat, ausnahmsmweife die Gemeinde, welde vie Beſoldung ber 
Geiftlihen tragen. — Auch in den Tatholtichen Kantonen gibt e8 Verſchiedenheiten. 
Nicht bloß die Stellung des Staates zur Kirche wechſelt nah ben verſchiedenen 
Diöcefen, von welden die einen Berfafinungen haben, welde eine Staatsrefigion 
einfegen, während die andern nit, — fondern auch das kirchliche Recht des 
Staates wechſelt je nach den Kantonen im Schooße einer und derſelben Diöcefe. 

Das „Pincet”i (Veto oder Zuftimmung der Megierung) ift überall vorbe- 
halten, und Eingriffe der Kiche auf das bürgerliche Leben und bie politifägen 
Rechte, namentlid der Gemeinden find unmöglich. 

Militär. Die Heerverfaflung beruht auf der allgemeinen Wehrpfliht aller 
waffenfähigen Mannfhaft vom 20. bis 45. Jahre. Erimirt find Lehrer, Geiſt⸗ 
lie, Poſt- und Eifenbahnbeamte. Außerdem gibt es nod einzelne Ausnahmefülle. 





Die ſchweizeriſche Eidgenoffenfchaft. 1016 


Ille Srimirten aber müſſen die Militärſtener zahlen, welche im Jahre 1868 
‚en Kantonen’ 1,032,160 eingetragen bat. Die Iuftrution der Rekruten beginnt 
mit dem 20. Jahre und dauert bei der Infanterie vier bis fünf Wochen, für bie 
Specialwaffen ſechs Wochen. Jaͤhrlich werden in ber ganzen Schweiz ungefähr 
10,000 Rekruten inſtruirt, befleivet, bewaffnet und den Corps zugetheilt. Vom 
31. bis durchſchnittlich 28. Altersjahr gehört der Mann zum Auszuge oder 
ften Aufgebot; der Auszug hat alle zwei Jahre einen Wieberholungsturs, die In- 
anterie von 6, bie Specialwaffen von 12 Tagen; die Kavallerie einen jährlichen 
Biederholungsturs von 6 Lagen. Ungefähr 40,000 Dann Auszug erhalten 
ährlih den Wieverholungsunterriht. Mit dem 28. Jahre tritt der Mann zur 
Referpe ober zum 2. Aufgebot und gehört dazu durchſchnittlich bis zum 34. 
tebenejahr. Die Referve erhält ebenfalls alle zwer Jahre einen Wieverholungs- 
Interrit, die Infanterie von 4, die Specialwaffen von 6 Tagen. Etwa 20,000 
Mann erhalten jährlich dieſen Unterricht. Bom 34. bis 45, Jahr gehört der Mann 
ur Landwehr, die nur in Fällen allgemein bringender Landesgefahr zur Ber 
vendung kommt. — Für die Unterofficiere und Sifieiere befteht eine etwas ver- 
ängerte Juſtruktionszeit, für den Unterricht ber General» und Special-Stab8- 
fficdere eine Eentralmilitärfhule mit durchſchnittlich neunwöchentlichem Kurfe. Für 
ie höheren praftifhen Uebungen werben alle zwei Jahre Truppenzufammenzäge 
is auf 10,000 Mann Stärke und 14tägige Dauer abgehalten. Es beftehen auch 
Specialturfe für Officere einzelner Waffen, für das Sanitäts- und Kommiffariats- 
zerſonal. Ende 1868 war der Soll-Befland der Armee folgender nad ben einzelnen 
Baffengattungen : 


Auszug. Reſerve. Landwehr. 
Genie, Sappeurs und Pontonniers 1307 1036 667 
Artillerie 7867 6327 4471 
Kavallerie 1921 1068 1532 
Scharfſchůtzen 5866 3372 4878 
Infanterie 67901 39640 52795 
Sefunvheitsperfonal 276 99 80 
Buchſenſchmiede 17 

86138 50559 64323 


BZufammen 200,020 Mann. 
Das Kriegsmaterial beſteht aus: 57,137 Hinterlapungsgewehren Keinen, " 
4,856 großen Kalibers und 15,000 ans ven Bereinigten Staaten bezogenen 
zeabodygewehren Heinen Kalibers, zufammen 126,993 Städ Hinterladern. Dazu find 
0,000 Repetirgewehre zu 14 Patronen in's Magazin in Arbeit. Die entfprechenbe 
Inzahl Fenerfhlände befteht aus: 311 gezogenen Borberlader Bierpfündern, 
ad zwar 96 zu 16 neuen Auszugsbatterien, 66 zu 11 NRefervebatterien, 18 zu 
; Erfagbatterien ftatt der abgeſchafften Raketenbatterien, 36 Ergänzungsgeſchützen, 
O Tantonalen und 25 eingenöffifchen überzähligen und Schulgeſchützen; ferner aus 
O Bierpfünder⸗Vorderladergebirgsgeſchützen. Un gezogenen Hinter- 
adern find vorhanden: 102 Adtpfünder aus Gußſtahl, 118 Zwölfpfünder 
tofitionsgefhäge; zufammen 551 gezogene Kanonen. Dazu kommen 144 
latte Geſchütze, nämlid 42 Schöpfünver ua eidgenöſſiſcher Ordonnanz; 
6 unordonnanzmäßtge Sechs⸗ und Achtpfünder, 30 lange 24 Pfünder Haubigen, 
6 von den ehemaligen 24 Pfünder Hanbigenbatterien, 18 kurze 24 Pfünber 
aubigen, 2 lange 2 Pfünder Hanbigen und 10 Yünfzig-Pfänder Mörfer. 


1016 Nachtrag. 


Dazu iſt beſchloſſen worden noch 44 gezogene 8 Pfünder Hinterlader eb 
44 Bierpfünber gezogene Borterlader herzuftellen, jo daß beumähf!595 gezogene 
und 188 glatte, tm Ganzen 783 Yenerfchlände vorhanden fein werben. 
Ausgaben der Kantone unb des Bundes. 


Kantone. — Generaltotal 


Verwendung der Netto⸗Ausgaben. Fr. Ä 

1. Berzinfung und Tilgung von Schulden 3003909 — 3003909 
2. Geſetzgebung, Eentral- und Bezirfsver- 

waltungen 2299013 470659 2769672 
3. Militärweien 4049241 2523067 6572308 
Davon ans Fonds 45611 45611 
4. Gerichtsweſen 1788859 43120 1831979 
5. Gefängnißwefen 789108 — 789108 
6. Boltzeiwefen 1968818 5000 1973818 
Fonds 411 411 
7. Santtätswefen 173997 — 173997 
8. Landwirthſchaft, Forfl- und Gewerbeweſen 453929 20000 473929 
9. Finanzweſen 647719 57351 705070 
10. Bauweſen 6812099 1535427 8347526 
Fonds 782464 782464 
11. Erziehungsweſen 4463976 484971 4938947 
Fonds 348844 16913 8365757 
12. Kirchenweſen 2479923 — 2479933 
Fonds 173773 173773 
13. Oeffentliche Wohlthaͤtigkeit 1726626 10000 1736626 
Fonds 358203 358203 
14. Diverfe Ausgaben 323931 50901 374832 
Fonds 9086 9086 


Total 30971148 5200496 36171644 
Fonds 1672781 62524 1735305 
Zu den Militärausgaben kommen nod Fr. 800,000 für einen Theil der Be 
kleidung und Bewaffnung der Mannfchaft, weldher von den Einzelnen getragen wirb. 
Gemeindevermögen. Nah einer Aufnahme aus dem Jahr 1866 be⸗ 
trug das Vermögen ber Gemeinden von 21 Kantonen (ausfhließli der Kantone 
Waadt, das auf 90,453,825 Fr. geſchätzt wird, Wallis, das auf 8,092,784 und 
Genf das auf 5,022,855 gefhägt wird; fowie der Kantome Uri, Unteriwalven 
n.d. W. und Zeffin) Fr. 469,157,362; vie Einnahmen gegen 36 Millionen. 
Eifenbahnen. Die Geſammtlänge der ſchweizeriſchen Eifenbahnen beträgt 
1288 Kilometer; da8 gefammte Anlagelapital 440,968,515 $r.; die wirklichen Ban- 
toften 408,086,472 Fr. ; die Bruttoeinnahmen (im Jahre 1866) 28,774,878 Fr., per 
Kilometer 22,340 Fr. ; bie Betriebstoften 14,565,867 Fr. ; Reinertrag 14,208,511 Fr. 
Es wurden 13,548,747 Berfonen und 13,186,498 Gentner Güter befärbert. 
Schifffahrt. Die fhweizerifhen Flüſſe, Nhone, Aar, Reuß, Limmat, 
find mit Ausnahme des Rheins nur für Kleine Kähne ſchiffbar. Auf 10 See'n 
aber, dem Bodenſee, Zürichjee, Zugerfee, Walpftätterfee, Thunerſee, Brienzerſee, 
Lungernfee, Reuenburgerfee, Murtenerſee und Greifenfee, ſowie anf dem Rhede 
fahren außer einer unbelannten Zahl von Heinen Booten, bie mit Segel un) 
Ruder getrieben werben, 86 Dampfchiffe mit gegen 3400 Pferbeiräften. 





Die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaſt. 1017 


Bof. Die Gefammtzahl ver jährlich beförberten Vriefe überftieg (1867) 
40 Millionen, der Reiſenden 852,512, der Padete zirka 5 Millionen, ver Zei 
tungen 27,890,704 Blätter, Oeldanweifungen zirka 18 Millionen Fr. Die Brutto 
einnahmen waren (1865) 8,348,173 Fr., die Ausgaben 6,857,306 Fr. Ent 
[hädtgungen wurden an bie Kantone bezahlt 1,490,866 Fr. 

Telegraphenweſen. Nebft Belgien bat die Schweiz bie meiften Tele 
graphenbureau's auf dem europäifchen Kontinent. Seit Herabfegung bes Tarifs 
ber einfachen Depefhe auf 50 Eentimen (auf 1. Januar 1868) bat ſich bie Zahl 
der Zelegramme verboppelt. Zahl der Telegramme: 1864 — 479,606, 1865 — 
560,495, 1866 — 606,777, 1867 — 708,020, 1868 — 1,153,092. 

Maaß und Gewiht Durch Bunvdesgefeg wurde 1851 für die ganze 
Eidgenofienfhaft gleihes Maaß nnd Gewicht, weldhes vom metrifhen Maaß ab- 
geleitet und mit ihm in Uebereinftiimmung gebracht wird, angenommen. Seit 1868 
ift das reine metrifhe Maaß und Gewidt falultativ eingeführt. 

Münze Seit 1850 befleht das Decimalſyſtem und 1867 wurbe eine 
Münzkonvention mit Frankreich, Belgien, Italien abgefhlofien, dem fpäter Griechen⸗ 
land und Numänen beigetreten find. Danach werben Goldmünzen zu %0/ oo rich 
tigem Goldgehalt, Fünfrantenftüde zu Moog richtigem Gehalt und Kleinere 
Sildermänzen zu Fr. 2, 1, und 50 und 20 Gentimes zu 335/00 rihtigem Ge⸗ 
halt ausgeprägt. Die Schweiz bat feit 1850 folgende Stüde ausgeprägt: 5 Fr.: 
500,000; 2 $t.: 1,500,000; 1 $r.: 5,000,000; 1/, $r.: 4,000,000; 20 Ct. 
Städ: 11,559,783; 10 &t.-St.: 13,316,548; 5 Et.-St.: 20,023,066 ; 2 &t.-St.: 
11,000,000; 1 €t.-St.: 5,000,000; ein Gefammtwerth von 17,414,764 Fr. 70; 
mit den in Paris und Straßburg geprägten 2 und 1 Frankenſtücken und 20, 2 
und 1 Gentimesftüden 28,904,576 Fr. 67. Ans dem Verkehr zurüdgezogen wurben 
dagegen atüngen für 10,000,000 $r. 

Handel, Die Gefammteinfuhr (Durchfuhr abgerechnet) bat einen Werth 
von zirka 457,200,000 Fr. oder 182,1, per Kopf, die Ausfuhr 417,800,000 Fr. 
oder 166,45 per Kopf. — Die.fhweizerifgen Erportenre Haben Commanbiten in 
allen See- nnd Handelsfläbten der Erde. 

Zollwefen. Eigentliche Grenzzölle find in der Schweiz erft feit 1848 
eingeführt worden. Borher beftanden fie mehr als eine Art von Weg⸗ und Brüden- 
Zöllen, nicht bloß an der Grenze der Schweiz, fondern von Kanton zu Kanton, 
Nur Bern und Teffin hatten eigentliche Waarenzölle. Nachdem bie Bundesver- 
fafjung von 1848 das Zollweien für Sache des Bundes erklärt und ben Berfehr 
im Innern freigegeben hatte, wurde ein Orenzzolltarif nad beftimmten Klafſen 
und in den Wnfägen nad dem Princip des Finanzzolles entworfen. Jedoch wurden 
bie für die ſchweizeriſche Imbuftrie erforderlihen Rohprodulte möglihft niebrig 
belegt, alle Lebensmittel möglichft geſchont, die Produkte des Handwerkerſtandes 
in böhere Klafſſen gefegt und Lurasmittel am höchſten beſteuert. Bei ber 
Ausfuhr und befonders bei der Durchfahr hielt man es für nöthig, bie Zollan⸗ 
füge auf einfache Kontrolgebühren zu beſchränken. Gewiſſe Kategorien wurden, 
namentlich für den Grenzverkehr, nach Stüd und Zugthierlaft befteuert. Seit 1864 
ift der Tarif durch vie Hanbelsverträge mit Frankreich, Italien, Defterreih und dem 
Zollverein modificitt worden. — Un bie Kantone werben jährlich gegen 2,400,000 
Franken für die Zollablöfung bezahlt. Die Bruttoeinnahme beträgt gegen 8,800,000 
Franken. Die gefammten Ansgaben 8,537,000 Fr. 

Banken. In den meiften Kantonen beftehen feine Geſetze über Banken ober 
Rotenemiffionen, Die Mehrzahl der Geſetze und Berorbnungen, welde darüber 


1018 Nachtrag. 


vorhanden, iſt bei Gelegenheit der Errichtung von Kantonal⸗(Staats⸗) Banken 
erlafſen worben. Nur ber Kanton Zürich bat ſpecielle geſegliche Beftimmerumgen, 
welche die Notenausgabe von ber Genehmigung bes Großen Rathes 

maden. Altiengeſellſchaften bebärfen in allen Kantonen, mit Ausnafme von Genf, 
welches 1869, dem Beiſpiel England’s folgend, die Konceffionirung ber Aftiewgefell- 
haften aufgehoben bat, — der Genehmigung der Regierung. In den Ranionen 
Bern, Bafel und Luzern beftehen no befondere Geſetze über bie Alttengefell- 
haften. Die Zettelausgabe iſt in den meiften Kantonen nicht verboten, und fawn 
von Einzelnen, von Aktien⸗Geſellſchaften aber nur unter der Bedingung ausge- 
übt werben, daß fie überhaupt die Genehmigung ver Regierung erhalten, Es be- 
ſtehen in der Schweiz 48 Banken, wovon 4 reine Staatsbanken (dazu kommt nod 
bie Zürder Kantonalbant), 34 reine Brivatbanten und 10 gemiſchte Banken. 
Dei 4 Banken bat der Staat (Kanton) das ganze, bei 9 einen Theil des Kapitals 
eingefchoffen. Bon dieſen Banken find 20 Notenbanken, 10 Hypothekenbanken unt 
18 Handels- und Krebitbanten. Die Statuten gewähren den meiften Banken über- 
aus großen Spielraum, fo daß die Mehrzahl zugleih als Mobiliar und Boden⸗ 
frebitanftalten zu betrachten find, da fie ſaͤmmtliche Geſchäfte der Privatbanguiers, 5 
DB. auch Uebernahme von Anleihen beforgen. Sehr bedeutend tft bie Summe ber 
Depofiten (282,631,530 Fr.), welche diefen Banken anvertraut werben; fehr unbe 
dentenb die Rotencirenlation, nämlich 16,301,896 Fr. im Mittel oder nur zirka 
7 Fr. per Kopf. Das Kapital der 20 Notenbanfen beträgt 59,196,600 Fr., ber 
10 Hypothekenbanken 28,714,683 Fr., ber 18 Kredit- und Handelsbanken 
75,142,552 $r., im Ganzen 163;063,785 Fr. 

Spar- und Leihlaffen. Diefe Anftalten verfehen den Dienft der Bor- 
ſchußvereine in Dentfchland. Diefelben beruhen auf befchränfter Haftpflicht, d. h. 
bloß bis zum Betrag ber Alktienzeichnung, wie bei gewöhnlichen Aktiengeſellſchaften; 
bennod) genießen fie noch größern Krebit, d. h. fie haben mehr Depofiten, als 
bie auf ſolidariſcher Haftpflicht beruhenden Vorſchußvereine. 48 folder Kaffen, 
beren Statuten umd Rechnungsabſchlüſſe aus den Jahren 1865—67 un® ver- 
lagen, beſaßen zufammen ein Attienlapital von 7,487,259 Fr., einen Refervefoubs 
von 882,941 Fr. und Depofiten im Betrag von 27,251,424 Gr. Gänf berfelben 
befigen nicht einmal Stammlapital, fonbern arbeiten nur mit Spareinlagen (Depofiten). 





Sparlaffen: GCinleger. Einlagen. Reſervefonds. 
1852: 181172 60366759 2744270 
1854: 216151 70972722 3461929 
1858: 301887 103245625 4646989 
1862: 353855 131542639 6402994 


Gegenfeitige Hülfsgeſellſchaften. 608 Bereine mit 97754 Mit- 
gliedern, wovon 131 zur Unterftägung im Hal der Krankheit, 308 im Fall von 
Krankheit oder Tod, 11 im Fall von Krankheit und Gebrechlichkeit, 39 im Fall 
von Krankheit, Gebrechlichkeit oder Tod; 15 im Fall von Tod, 16 im Gall von 
Alter oder Gebrechlichkeit, 22 für Alter, Wittwen und Waiſen, 39 für Wittwen 
und Waiſen, 12 für Krankheit, Gehrechlickeit (Tod), Witwen und Waiſen, 15 
zugleich für andere Zwecke. Im Jahr 1865 wurden auf Bereinsloften im Ganzen 
969 Begräbntfie beforgt und 1422 Wittwen unb Walfen unterſtützt, wovon 1368 
jährliche Benfionen erhalten. Die Zahl der unterftügten alten und gebred- 
lien Mitgliever war 1220; das Vermögen betrug 7,872,020 Fr., bie Ein- 
nahmen: an Eintrittsgelbern und Beiträgen 979,259 Fr., an Geſchenken 195,013 
Franken, au Zinfen und Bußen 354,826 Fr., zufammen 1,529,098 Gr. Die 
Ausgaben betrugen 1,059,418 Fr. 





Wie ſchweizeriſche Eingenoffenfcaft. 1019 


Bereine. Die Geſammtzahl der Bereine der Schweiz überſteigt 4000 mit zirka 
ni Der Bund fubventionirt 12 gemeinnügige Vereine mit 
7, . 

Schweizeriſche Hülfsvereine im Ausland beſtehen 45 in zwölf ver 
hiedenen Ländern, welde der Bund mit 10,000 Fr. fubventionirt. Diefe Vereine 
ihlen zufammen 6662 Mitgliever, befinden 857,156 Fr. Bermögen, hatten (1862) 
97,990 Fr. Einnahmen, 313,938 Fr. Ausgaben, wovon 172,316 Fr. Unterflägungen 
n Berfonen, bezlehungsweiſe Familien. 

Berfiderungsanftalten. In 16 Kantonen beftehen Berfiherungsgefell- 
haften gegen Feuerſchaden, welde auf dem Princip ver Gegenſeitigkeit ver Ber- 
iherten vom Staate verwaltet werben. Außerbem gibt es 6 große Berficherungs- 
efellihaften gegen Feuerſchaden, 3 Lebend- und Rentenverfiherungsanftalten, 
owie eine Transport⸗ und eine Mobiliarverfiherungsgefelliäaft. 

Bobdenbau. Bon dieſem Zweige der Bollewirtbihaft ift bis jetzt nur bie 
Statiit der Alpenwirthſchaft erhoben worden. Wir mäflen uns bezüglich 
er übrigen Abtheilungen, des Aderbaus, des Weinbaus, der Forſtwirthſchaft auf 
ie Mittheilnng beſchränken, daß vie Bodenproduktion nicht volllommen zur 
rnährung ber einheimifhen Bevölkerung und der Fremden, vom weldem in jenem 
Sommer im Durchſchnitt gegen 50,000 die Schweiz befuchen, ausreicht. Es werben 
aber nit bloß 3—4A Millionen (1867: 3,683,819; 1868: 3,680,959) Centner 
Jetreide eingeführt, nur zirka 60,000 ausgeführt, fonbern trotz der kolofſalen 
ilandiſchen Weinprobultion auch noch 8—900,000 Gentner Wein, 106,000 
Iranntwein, zixfa 44,000 Gentner Bier, während bie Ausfuhr von Käfe nad 
‚bang der Einfuhr, obgleich die ganze Erbe damit verjehen wird, nur 70,000 
entner beträgt. Auch fogar an Bich und Butter wird mehr ein⸗ als ausgeführt, 
ie ans folgender Zufammenftellung hervorgeht: 

Butter einſchl. Schweineſchmalz. Kälber. Gtäd. Rindvieh. Gtäd. 


1867. 1868, 1867. 1868. 1867. 1868. 
usfuhr 10309 Pfdb. 15743 Pfd. 10386 11483 60291 62016 
infuhr 680674 „ 779764 „5 2683 2027 91769 79179 

Schweine über 80 Pfo. Schweine unter 80 Pfd. Schaafe. 

1867, 1868, 1867. 1868. 1867. 1868. 
usfuhr 2704 3076 19060 22267 20392 22417 
infuhr 23159 21068 46207 37710 62810 62178 


Dabei ift in Anfchlag zu bringen, daß das angeführte Rindvieh mit wenigen 
usnahmen entweder ſchwerer ift und zwar nicht bloß, weil es gemäftet, fonbern 
eil es flärker im Schlag iſt, oder viel höher im Preife flieht, da es, von ebler 
ace, als Zuchwieh geſucht wir. 

Der Werth ſämmtlichen Biches wird auf 260,000,000 Fr. geſchätzt. 

Alpenwirthſchaft. Die Schweiz befigt in 19 Kantonen und Halbfan- 
nen, in 691 Gemeinden zufammen 4559 Alpen, wozu noch gegen 50 Hinzu- 
rechnen, Über welche keine Berichte eingegangen find. Als Einheit des Flächen⸗ 
Bes der Alpen gilt ein Städ Weide von folder Auſsdehnung, daß eine Kuh 
rauf geſommert werden Tann (Kuhrecht). Dasſelbe ſchwankt von 2 Jucharten 
er Morgen (zu 40,000 Quadratfuß) bis zu über 10, je nad der Höhe ber 
ige und beträgt im Durchſchnitt 5 Morgen 18 Dunbratrutben. Das Correlat 
8 Kuhrechtes ift der Stoß, d. 5. die Biehzahl, melde auf einem Kuhrecht 
weidet werden farm. Es kommt nämlich auf einen Stoß = 1 Kuh, auf ein Pferd 
m 1, 2 oder 3 Jahren fommen = 1, 2 over 3 Stöße, auf 3 Rinder = 2 Gtöße, 


1 Kalb = !/,, 1 Schwein = 1/,, 1 Ziege oder 1 Schaf == 1/, Steh. Die 
4559 Alpen, von melden 1525 oder 88,,0/, den Gemeinden, 80 — 1,9% 
Gemeinden und Privaten zufammen, 453 = 9,9%), Korporationen, 2,488 — 
54,6%), Privaten und 11 = 0,9, dem Staate gehören und bie in Höhen von 
2000 bis 9000 Fuß liegen, waren (1864) mit 270,389 Stößen Bich befest. 
Die Gefammtzahl der Weidetage betrug 25,074,238. Der Kapitalwerth der Alpen 
wird ſehr niedrig zu 77,186,103 Br. angegeben. Der Bergeius (Pachtzins) 
fümmtliger Alpen betrug 3,362,642 Fr. Ziemlich genau ift ver Ertrag ermiittelt. 
Im Jahr 1864 meideten 153,320 Kühe auf ben Alpen der Schweiz, welche einen 
Ertrag von 8,182,788 Fr. ergaben, jowie 115,941 Galtvieh, d. h. nicht Milch⸗ 
gebendes Rindvieh und übrige Biehgattungen, die durch Zuwachs 2,703,463 Fr. 
abwarfen. Der Gefammtbetrag iſt demnad 10,893,874 Fr. ober 14,11%, bes 
geihägten Kapitalwerthes, oder nah Abzug der Binfen und Wmortifation bes 
Vetriebotapitals (Bich zc.) 9,545,000 fr. oder 12,,%/,. Zu 59, gerechnet be 
träge der Werth der Alpen 190,900,120 Fr. und mit den nit in Redhunng 
gezogenen Alpen wenigſtens 200,000,000 $r. 

Forflertrag. Auch bierin find wir auf Schägungen auf —3 
Zollliſten beſchränkt. Die Schweiz hat eine ſtarke Ansfuhr an Stämmen zu 
und Brennholz, fowie an Brettern (für über 7 Millonen Fr.); verarbeitete Holz⸗ 
waaren werben mehr ein- als ausgeführt. 

Induftrie. Auch binfichtlich ver Gewerbsthätigkeit ift noch Feine allgemeine 
Statiſtik in der Schweiz erhoben werden; nur einzelne Kantone haben bezäglih 
der Fabriken ſtatiſtiſche Erhebungen gemacht, worunter die bes Kanton St. Gallen 
befenders hervorgehoben zu werben verdienen. Die Hauptinduſtriezweige ſind bie 
Seiden⸗ und Baummwollfabritation (Spinnerei, Weberei, Färberei und Alppretur) 
und die Uhrenmacherei. Die erftere und ber legtere Zweig iſt zum großen Theil 
als Hausinduſtrie zu bezeichnen. Zur Hausinduſtrie find ferner noch die Stioß- 
umd Haarflechterei, ſowie die Holzſchnitzerei zu reinen. In den Gebirgslantonen, 
namentlich aud im Kanton Bern verfertigt das Landvolk noch felbft en und 
Tuch aus naturfarbener Wolle für feine Kleidung. 

Das Seidengewerbe ſteht an Größe des Umfages an der Spige der 
Induſtrie, denn mit einem Ewport von zirka 215 Millionen Franken im Jahre 
kommt es in feinem Betriebskapital der Lanpwirtbfchaft am nächſten, berem 
Viehſtand, wie bemerkt, auf 260 Millionen geſchätzt wird. Zunähft kommt bie 
Baumwollenindpuftrte, von welcher uns nur annähernd bie Zahl der Spindeln 
ber Spinnereien aus verfcgiebenen Jahren, fämmtlicy aberfeit 1861, zu Gebote fickt: 

082 


1. Züri 607 

2. Yargau 266805 
3. Glarus 250793 
4, St. Gallen 172136 
5. Zug 111292 
6. Bern 60000 
7. Schwyz 50400 
8. Thurgau 42800 
9. Oraubünden 31600 
10. Solothurn 22768 
11. Bafel (Stadt und Land) 10000 
12. Schaffhauſen . 6120 
18. Luzern 6016 


Summa 1636812 





Die fchweiserifhe Etvgenoffenfchaft. ‚ 1021 


Der Fabrifinbuftrie fteht eine große Zufumft bevor, weil Hunberttaufende von 
mperwenbeten Waſſerpferdekraäften ohne zu hohe Anlagekoſten noch nutzbar gemacht 
verben können. Jetzt ſchon iſt es weſentlich die Waſſerkraft, welche die ſchweizeriſche 
zZaumwolleninduſtrie trotz erhöhter Transportkoſten mit England konkurrenzfähig 
aacht; der hohe Werth jener Wafſſerkräfte wird aber erſt völlig erkannt werben, 
van einmal die britiſchen Kohlenlager erſchöpft fein werden. ' 

Unterridtswefen. In allen Kantonen, mit Yusnahme von Genf, ber 
teht der obligatorifhe Unterricht. In Genf fteht indeſſen die Wirkung 
ex geſetzlichen und freiwilligen Bemühungen hinter den Refultaten des obli⸗ 
atoriſchen Unterrichts nicht zuräd. Die Pflicht, die Alltagsjchule zu beſuchen, bes 
teht in den meiften Kantonen bis zum 14,, in einigen bis zum 12, Jahre. 
Boransgefegt, daß derjenige Unterricht gereicht werbe, welchen man von Primar- 
chulen verlangt, fieht e8 Jedem frei, feine Kinder auch außerhalb der Schule zu 
mterrihten. Die Mißachtung des Schulzwanges von Seiten der Eltern ift überall 
it Geldbaße und im Wiederholungsfalle mit Gefängnifftrafe belegt. Einem 
3ater, der ſich bebarrlich weigern würde, feine Kinder zum Unterricht zu ſchicken, 
Önnten biefelben fogar weggenommen werben. Solche Fälle kommen aber nicht 
or, weil die Nothwendigkeit eines tüchtigen Unterrichts allgemein in’s Vollksbe⸗ 
sußtfein gebrungen if. Die Abfenzliften werben von ben Tehrern gehalten und 
on den Schulinſpektoren kontrolirt. 

Selbſtverſtändlich ift für arme Kinder die Schule unentgeltlid. In einigen 
kantonen iſt die Unentgeltlichkeit der Primarſchule auch für bie wohlhabenden 
Maflen gejeglich feftgeftellt; in noch andern wird ein unbedentendes Schulgeld, 
.B. 3 Er. jährli gezahlt. Jede Gemeinde ift in ber Regel verpflichtet, eine 
ber mehrere äffentlihe Säulen zu halten. Doch können kleine Ortsgemeinden, 
‚on benen erft wieder mehrere eine politifhe Gemeinde bilden, wegen ber geringen 
zahl ihrer Kinder mit anderen zur Errichtung einer Schule zufammenftehen. Auf 
071 ©emeinden kommen in der Schweiz faft 7000 Primarſchulen. Die Gemeinde 
R in erfler Linie verpflichtet, das Lokal zu ftellen, fowie in ver Regel die Lehrer- 
sohnung, die gewöhnlich im Schulhaufe felbft ſich befindet. Meiſt find dieſe Schul⸗ 
Häufer gegenwärtig die Tchönften Gebäude der Gemeinde. In einigen Kantonen 
'eforgt die Gemeinde allein die Befoldung der Lehrer; darunter gehören bie von 
lppenzell U. R. fogar zu den befibefoldeten. In den meiften Kantonen zahlt aber 
er Staat einen Theil der Lehrerbefoldung. Eingezogene Kloftergüter und zahl⸗ 
eihe Stiftungen erleichtern die Dotation der Schule, 

Im Jahr 1864 betrugen die Ausgaben der Kantone, mit Einfluß der des 
Iundes (für das Polytechnikum mit zirka 250,000 Fr.), für Schulen nicht weniger 
18 4,988,947 Br. Einjhließlih des Werthes der Naturalleiftungen Tann der 
urchſchnittliche Iahresgehalt eines Primarlehrers auf 800—1000 Fr. augenommen 
erden. — Zur Ausbildung von Lehrern beftehen in der Schweiz 18 Seminarien. 

In Gebirgstantonen wird bie Schule im Sommer ansgefegt. Die Tehrgegen- 
fände find Leſen, Schreiben, Arithmetit, Lintenzeichnen, Geographie, Elemente ber 
zhyfik, Schmweizerifche Geſchichte (im Kanton Bern auch Abriß der Berfaffung), 
Befang. Meift wird in den neuern Gefegen und Berorbnungen (3. B. Bern) ber 
Hebrauch der Schriftfprache borgefchrieben. . 

Die Schulinſpektoren werden in ver Regel von der Gemeinde gewählt. 

Den Primarſchulen ſchließen fih die Sekundarſchulen an, deren Beſuch 
ht obligatoriſch iſt, und in welchen zu den Übrigen Lehrgegenftänden namentlich 
a bie drei Sprachen der Schweiz: italieniſch, franzöſiſch und deutſch gelehrt werben, 


1022 , Nachtrag 


Ferner beſtehen Gewerbeſchnlen und Aderbaufänlen, ſowie in faſt 
jedem Kanton ein ober mehrere Kantonsſchulen, mit je zwei Abtheilumgen, eime 
für die alten Sprachen und bie andere mehr für bie nenern Sprachen und Uns- 
bildung in den eralten Fächern. 

In der Schweiz iſt Sache des Bundes nur das Bolytehnilum in Zurich, 
welches eine Forſtſchule einſchließt und nun auch durch eine höhere landwirthſchaft⸗ 
lihe Säule erweitert wird. Das Polytechnikum iſt von Schälern aus beiden 
Welttheilen beſucht und find die Diplome, welche es ven Examinirten ausfelt, 
werthuoll für die induſtrielle Laufbahn. 

Die Univerfitäten find Sache der Kantone. Es beflchen brei lniverfitäten 
mit fämmtliden Fakultäten in Zürich, Ban und Bafel; ferner höhere Fachſchulen 
wie das Seminar für katholiſche Theologen in Solothurn und bie Alademlen in 
Laufanne und Senf und für Naturwiſſenſchaften in Neuenburg, deren Fächer zub 
Frequenz nachſtehend verzeichnet find: 

Zahl der Dozirenden und Studirenden an den ſchweizeriſchen 
Univerfitäten und Akademien. 
iverfitäten. 


Geuf. 
Fakultäten. Zürich. Baſel. Bern. Lauſanne. Winter —* Totel. 
Prof. Stud. Prof. Stud. Prof. Stud. Prof. Stud. Prof. Stud. Prof. Eh. 
Theologe 8 9 7 0 7 21 3 1 5 60 30 1a 
Jurisprudenz 10 38 4 8 8 48 3 37 4 15 29 146 
Mohn 13107 14 9193 98 — — — — 4 231 
pᷣhilojophie 30 46 24 23 23 28 14 156 13 140 104 393 


Total 61 230 49 102 57 180 20 204 22 215 209 931 
m. Mech. 


Skandinaviſche Halbiuſel. 
Gachtrag zu Bd. Xı S. 123.) 


Das wichtigſte Ereigniß in ber Inneren Entwidelung Shwedens feit dem 
Jahr 1864 bildet die Reform feiner Verfaſſung, fo weit fie das Princip ber 
Nepräfentation betrifft. Schon in ben Jahren vorher waren unter bem jegt regie 
renden Könige wefentlihe und zum Theil fehr eingreifende Fortſchritte im ber 
Geſetzgebung gemacht worden, wohin namentlich die königlichen Beroromumgen I 
Betreff bes Kommunalweſens in den Städten und auf bem Lande und der 
things vom 21. März 1862, in Betreff ber Gemeindeverſammlungen, bes 
Kirchen⸗ und Schulraths vom 20. Nov. 1863, daB Geſetz über die Kirdgenver 
fammlungen (Synoben) der Geiftlihen vom 16. Nov. 1863, das neue Kriminak 
gefehbud vom 16. Febr. 1864, das neue Seegefeß vom 23. Febr. 1864, um 
das Gefeg über vie Gewerbefreiheit vom 18. Juni 1864, fo wie der Handels 
vertrag mit Sranfreih vom 15. April 1865, der auch dem Freihandelsprinch 
die Bahn Brady, gehören. Über alle diefe Reformen treten an Bedeutung Kiuter 
die Reform des Reichstags zurüd, zu der jene früheren theilweiſe uub zwar zit 
vollem Bewußtſein nur eine Art principieller Hin- und Ueberleitung hatten bilden 
mäflen. Bis dahin war ber Reichstag auf das Princip ber Stände gegründet um 
zerfiel in die 4 Abtheilungen des Adels⸗, des Priefter-, bes Bürger, bes BVauern 
ftandes, feine Beſchlüſſe konnten nur aus ver Uebereinftimmung aller vier Stände 
hervorgehen und durch bie beharrliche Menitenz auch nur eines berfelben verhindet 








Skandinavifhe Galbinfel. 1083 


werben. Die Schwerfälligfeit ver Deefäinerie war nicht ihr einziger Nachtheil, 
obgleich fie oft in faſt unerträglier Weife gefühlt wurde. Das ganze Princip 
hatte fi vielmehr in Schweden wie im ganzen übrigen Europa, wo es nod 
befand und zum Theil heute noch befteht, entichieben überlebt. Uber im Gegenſat 
egen andere näher liegende Staaten, wo man nidt einfehen will, daß das 
rincip ſich überlebt hat umb mit großem Cifer bemäht if, es troß allem noch 
ufrecht zu halten, ja fogar ſelbſt auszubehnen, gereicht es Schweben zur Ehre, 
aß man die Dringlichkeit ver Reform nicht nur volllommen einfah, fonbern auch 
vem Drang von nnten mit Berflänbnig und Bereitwilligleit von oben entgegen 
'am. Der König felbft war es, der die Frage, unterftägt von einem unbefangenen 
Staatsmann, feinem Iuftizminifter Freiherr, de Geern zu Aufang bes Jahres 1863 
n die Hand genommen hatte und im December 1865 glücklich zu Ende brachte, 
Ihne diefe einfihtige Intervention bes Staatsoberhanpts wäre die Aenderung 
aum in verhältnigmäßig fo kurzer Zeit erreicht worden noch aud in ihrem Ber- 
auf fo glatt abgegangen. Eben darum entfhloß fih der König, leitend aber 
uch mäßigenn gewiflermaßen perfönlih an bie Spige der ganzen Reformbewegung 
u treten. Demgemäß beauftragte er Enbe 1862 den Juftizminifter einen betail- 
irten, einläßlich motivixten Vorſchlag zur Berfaflungsveränderung dem Staatsrath 
vorzulegen, dem ſaͤmmtliche Mitglieder zuftimmten, worauf nad) dem Wutrage ber 
Idrefien des Bürger- und Bauernflandes, fo wie in Folge der von allen Theilen 
es Lanbes eingereichten Petitionen, der König refolvirte, daß derſelbe als könig⸗ 
iche Propofition an die Stände abgegeben werben folle, was am 5. Jannar 1863 
eſchah. Der Reichstag hatte in erfter Linte darüber zu entſcheiden, ob ver 
Öniglide Borfchlag fofort zu verwerfen oder nad den Beſtimmungen bes 
Srundgefepes bis zum nächſten Reichſstage für ruhend zu erklären ſei. Bis 
um 20. März fpradhen fih alle 4 Stände, die beiben unteren einſtimmig und 
aſt ohne Debatte, das Ritterhaus erſt nad einläßlicher Verhandlung aber doch 
chließlich mit guter Art, nur der Priefterfiand offenbar widerwillig und moralifch 
ſendthigt, für das legtere aus. Der Borfchlag ruhte alfo bis zur Exdffnung des 
ſeuen Reichstags im Jahr 1865. Am 4. Dec. kam die Trage gleichzeitig vor 
Ue 4 Stände. Der Bauernfland diskutirte gar nicht: einmüthig erhob er fid 
on feinen Gigen und ſprach feine Zuftimmung aus. Der Bürgerfland bebattirte 
ur kurz und bie Entſcheidung fiel eben dahin mit 60 gegen 5 Stimmen aus, 
m Mitterhaufe war die Verhandlung dagegen eine lange nud ziemlich Heftige: 
icht weniger ald 56 Rebner ſprachen gegen, nur 30 für den Gutwurf; aber am 
inde fügte fi der Stand mit Würbe in fein Schidfal, 361 Stimmen erflärten 
ch ſchließlich für ihn, gegen 274, von denen etwa 200 ihre abweichende Willeng- 
einung in einer Art Proteft zu Protokoll gaben. Nur im Priefterftande war vie 
Rebrhelt von Aufang an dagegen und hatte aud gute Luft, ihre Anficht geltend 
ı machen, fo weit fie glaubte, es wagen zu bürfen. Das letztere war ber Fall, 
‘ lange fie noch auf Beiſtand von Seite ver Mehrheit des Adels hoffte und fie 
ſchloß daher zunähft, Ihr Botum erft nach viefem abzugeben. Als dieſer fid 
igte, blieb freilich auch ihm nichts anderes übrig, doch wagte der Borfigende 
ine fürmlide Abftimmung, fragte nur mündlich an und als einige überlaute Ja 
it einigen ſchwächeren Nein ertönten, erlärte er das Ia für überwiegend und 
fätigte es als Beſchluß mit dem Schlage feines Hammers auf den Tiſch; nur 
it Mühe gelang es ihm and, die nachherigen Proteſte nicht zu einer Majorität 
ler Stimmen bes Standes anſchwellen und fi fo ein Dementi geben zr 
ſſen. 


1024 Nachtrag. 


Die nene Repräſentationsordnung von 1865 iſt, wie fie au 
ihren Urfprung keiner Sturm⸗ und Drangperiobe verbanft, das Werl ruhiger uns 
vorfichtiger Ueberlegung und zwar einer eminent praktiſchen Weberlegung, bie mid 
bloß ans der gangbaren Theorie modern Tonftitntioneller Einrichtungen ſchöpfte, 
fondern unbefangenen Blicks die wirklichen Bebärfniffe des ſchwediſchen Bolls ut 
feiner e, wie fie find, nicht wie fie vielleicht fein MWunten ober bereinf 
fein werben, ins Auge faßte. Die Wahl ber neuen zweiten Sammer berubt nit 
auf dem allgemeinen Stimmrecht, fett vielmehr ein Minimum von birelten Staate 
Reuern voraus, wobel wieder in fonfervativem Sinne bie Befiger von Gruud⸗ 
eigenthum begänftigt find. Ueber biefes Minimum binans iſt dagegen das Stimm- 
recht nicht bloß ein allgemeines, fondern aud ein gleidhes und direktes, das letztere 
wentgftens inſofern als bie Möglichkeit direkter Wahlen in die eigene Eutfcheibung 
ber erſchaft gelegt iſt und indirekte Wahlen nur ba vorerſt angeorduet bleiben, 
wo direlte wegen der allzu bännen Bevölkernng des Wahlbezirks fat nicht möglich 
find ohne eine unverbältnigmäßige Beläftiigung ber Wähler, fobald man dieſe 
nicht völlig dem Einfluß des Zufalls überlaſſen will. Um nicht bie Parteien, 
fondern das Land felbft in der zweiten Kammer repräfentirt zu Haben, finb bie 
Wähler für ihre Wahl auf die Eingefeflenen des Wahlkreiſes beſchränkt, wogegen 
fi$ indeß mit Ging manderlei einwenden laſſen dürfte. Ebenſo dagegen, baf 
zwar das aktive Wahlrecht unabhängig von jeder Konfeifion oder jenem Glauben, 
das paffive dagegen auf die Bekenner ver lutheriſchen Konfeffion eingefchränft tk. 
Die Wahllreiſe fallen auf dem Lande mit ven Gerichtsfprengeln zufammen, wofers 
ihre Bevolkerung die Zahl von 40,000 nicht überfchreitet; kleinere Städte find 
zu einem Wahltreiſe vereinigt. Die Vertretung von Stabt nnd Laub ifl getvemzt 
und die Stäbtebenölferung als politifch beventfamer inſofern begünftigt, als im ber 
Regel eine Bolismenge von bloß 10,000 Seelen fläbtifder Bevdlkerung einer 
landlichen von 20,000 Seelen gleihgeachtet wird; dennoch fallen im Gargen 
etwa 130 Repräfentanten auf das Land und nur 50 auf bie Stäbte. Die Mit 
glieder erhalten Diäten. — Ganz anders ift die Zuſammenſetzung ber erflen 
Kammer. Auch fie befteht indeß ausſchließlich ans gewählten Mitgliedern. Die 
Wahl ift jedoch eine indirekte, indem die Mitglieder der, übrigens felber fo ziem- 
ih nad allgemeinem Stimmrechte gewählten, Landesthinge zugleich aud als Wahl 
männer für bie erfte Kammer fungixen. Der paffive Eenfus iſt zudem für Schwe⸗ 
ben verhältnigmäßig ziemlich hoch: 80,000 The. ſchwediſch (30,000 Thlr. preußiſch) 
in Grundbefitz oder 4000 Thlr. ſchwediſch (1500 Thlr. preußiſch) an Einkommen. 
Auf 30,000 Bewohner foll ein Mitglien der erflen Kammer fallen; doch beträgt 
ihre Geſammtzahl nur 115 gegen 180 ber zweiten Kammer. Für die Wahl felbfl 
find die Wahlkörper nit auf die Eingefeflenen des Kreifes beſchränkt. Die Mi 
glieder der zweiten Aammer werben auf bloß 3 Jahre gewählt und ihre Ernene⸗ 
rung iſt eine Integrale, bie ganze Kammer das Element ber Bewegung; die Mit 
glieber der erften Kammer dagegen werben auf 9 Jahre gewählt und ihre Er- 
neuerung iſt keine Integrale, ſondern partielle und fucceffive, um die Kammer zum 
Element des Beharrens zu machen. Die Mitgliever der erften Kammer bezichen 
feine Diäten. — Bezüglich gewifler Sinanzfragen treten beide Kammern , fo eft 
fie in ihren Beſchlüſſen bifferiren, zufaumen und wird durchgeſtimmt, während 
aubere moberne Konftitutionen in biefem Halle vielmehr der zweiten Kammer cin 
gewiſſes Borredt einräumen. 

Adel und Geiſtlichkeit verloren alfo durch die Berfaffungereform von 1865 
ihren bisherigen Anshell am Reichstage als Stände vollſtändig. Für ihre ſpeckellen 








Shandinauifde Galbinfel. 1025 


Intereflen dagegen behielten fie im weſentlichen ihre hergebrachte Organifation als 
Körperfchaften, jener für die Intereflen feines Standes, die Führung der Adels⸗ 
matrileln u. dgl., diefer für bie Angelegenheiten ver Kirche. Dod bat bie Geif- 
lihleit mehr nur das Recht der Untragfiellung und der Begutachtung in allen 
Fragen kirchlicher Organifation; die Entſcheidung iſt größtentheils dem Neichstage, 
alfo dem Staat, vorbehalten. Die Trennung zwiſchen Kirche und Staat, zwiſchen 
rein religiöfen und rein kirchlichen Dingen, in welde der Staat ſich befler gar 
aicht einmifht und der Kirche. völlige Autonomie einräumt, und bagegen aus- 
ihließlih oder doch Überwiegend politifden Dingen, in welden er ter Kirche und 
kirchliche Anſchauungen nad moderner Auffafjung feinerlei Einfluß geftattet, iſt in 
Schweden’ noch weniger weit fortgefäritten ale anderswo; doch bat die frühere 
Erktufivität, die fich vielfach als krafſe Intoleranz gegen Andersgläubige, namentlich 
Katholifen, darftellte, and) in ven legten Jahren geſetzlich und nody mehr thatſächlich 
abgenommen und wahre Toleranz große Fortfchritte gemacht. Im Jahr 1866 wurde 
der legte Reichstag nach der alten Zufammenfegung geſchloſſen und fanden (im 
Sept.) zum erfin Mal vie Wahlen nad dem neuen Syſtem flatt; bie ganze neue 
Einrichtung funktionirt feither in befrienigender Weiſe und im Wefentlichen fo, wie 
6 bie Regierung bei ihrem Vorſchlage voransgefehen hatte; die Adelsverſammlung 
rat für ihre befonberen Aufgaben zum erſten Male im Jahr 1867, die Landesſynode 
ver frühere Priefterfiand) zum erften Mal im Jahr 1868 zuſammen. Eine ver 
fragen, die neben der Berfafinngsreform das Land feit 1864 befonders beſchäftigt, 
ſt die Urmeereform und das Beſtreben, die militäriihen Kräfte Schwedens und 
Norwegens nicht bloß zu vermehren, nicht bloß gleihmäßiger zu geftalten, fondern 
uch mehr als bisher in bie Hände des Königs zu legen. Diefes Beftreben erhielt 
einen erften Anftoß durch die deutſch⸗-däniſche Berwidelung und wurde feither, 
uch die Ereigniſſe von 1866 In Deutſchland, in Skandinavien wie in allen 
ınderen Staaten Europas mächtig gefärbert. In Schweren war bie Regierung 
ndeß bis zur Stunde nicht gerade glädlih. Ihr erfter Entwurf wurde im Mat 
.866 von allen vier Ständen bes Reichstags abgelehnt; im Jahr 1867 war fie 
amit in der neuen zweiten Kammer nicht glüdlicher und im Jahr 1868 hielt 
le es für angemeflen, bie bereits angekündigte Vorlage behufs neuer Umarbeitung 
vieder zurüdzuziehen. Nur der geforderte Krebit zu Einführung des Hinterladungs- 
yſtems In der Urmee wurde bewilligt; Schweden mußte eben hierin mit allen 
mberen Armeen mehr ober weniger Schritt halten. 

In Norwegen beſchloß der Stortbing im Jahr 1866 auf den eigenen 
zorſchlag der Regierung jährlide Seffionen und fam ber Regieruug bezüglich der 
Rilitärfrage In demfelben Jahre wenigftens einigermaßen entgegen. Dagegen er» 
richte die Regierung bisher noch nichts bezüglich einer Wenverung des gefeglichen 
zerhäliniſſes zwiſchen Schweden und Norwegen und einer größeren Aunäherung 
viſchen beiden. Ihre wiederholten Bemühungen ſcheiterten namentlih an dem 
Rißtrauen Norwegens und feinem entſchieden bemokcatifhen Zuge, während iu 
Schweden wenigftens bis zur Reform von 1865 ariftofratifhe Interefien und 
‚eubenzen das Uebergewicht hatten oder doch zu haben ſchienen. In Folge ber 
hwediſchen Reform von 1865 ſcheint diefes Mißtrauen allmählig zu weichen, aber 
hu nur fehr allmählig. 

Das Berhältniß beider, Schwedens und Norwegens, zu Dänemark ift ſeit 
er Löfung bes deutſch⸗däniſchen Konfliktes ein freundliches, aber bie fogenannte 
andinaviſche Idee hat in den leuten Jahren doch Leine weſentlichen Fortfchritte 
macht, wenn man nicht die im Juli 1868 beſchloſſene und im Juli 1869 ge 

Bluntf@ii und Wrater, Deutſchet Staate⸗Woͤrterbuch. ZI. 65 


1026 Radirag. 


feterte Verbindung bes daniſchen Kronprinzen mit der einzigen Tochter bes Königs 
von Schweden und Norwegen dahin rechnen will. Namentlich iſt es wiederum Nor⸗ 
wegen das von einem eventuellen Unionsparlamente vorerft nichts wiffen mag, ba es 
vorausficht, daß es darin felbft mit den Repräfentanten Dänemarls regelmäßig 
den Schweden gegenüber in ter Minderheit bliebe. Dennoch ſcheint die ganze Ent- 
widelung Europas die drei Reiche zu einer näheren Verbindung geradezu hin- 
zubrängen. Weberftürzt wirb dieſelbe aber, wenn nicht alles trägt, jedenfalls nidt 
werben. 9. Squtthes. 


Spanien. 


(Nachtrag zu Band ıX ©. 559 ff.) 


Us am 13. Sept. 1864 das Minifterium Mon feine Entlaffung gab 
(. a. O. ©. 593) trat mit dem Marfhall Narvaez wieber ein entfchieten 
reaktionaͤres Kabinet an feine Stelle. Um fih die Zuſtimmung ber Eortes zu 
fihern, wurden biefelben behufs von Neuwahlen am 23. diefes Monats aufgelöst 
und gleichzeitig der Königin Chriftine tie Rückkehr nah Spanien geftattet. Die 
Neuwahlen im November fielen, wie in den legten Jahren immer, im Sinne ber 
Regierung aus. Anfangs Januar 1865 beſchloß die Regierung das kaum gewonnme 
St. Domingo, das ohne unverhältnigmäßige Koflen nicht zu erhalten war, wieber 
aufzugeben. Die Lage der Finanzen war eine äußerſt bedenkliche, die Regierung 
ſprach bereit8 von einem Zwangsanlehen. Nah außen verweigerte Narvaez bie 
geforderte Anerkennung des Königreihs Italien. „Die Yrage, die allem amteren 
vorangeben muß, meinte er, tft die des heiligen Vaters.“ Die Cortes waren zu 
allem willig und bereit. Die Freiheit der Preſſe wurde noch mehr befchränft, ber 
Rektor der Univerfität Madrid und ebenfo der Brofeflor Emilio Caſtelar warden 
abgefest, im Juni eine Militärverſchwörung in Balencia, bereits mit der Tenderz, 
bie Donaftie zu befeitigen und Spanten mit Portugal zu vereinigen d. h. bie 
portugieſiſche Dynaſtie auf den fpanifhen Thron zu berufen, entvedt, General 
Prim, der obgleich zur Zeit im Auslande als ver geiftige Urheber angefehen 
ward, beorbert, augenblidiih nah Madrid zurüdzufchren. Narvaej ſcheute fich 
nit, den Eortes die Wiedereinführung der Genfur zuzumuthen. Borerft ging 
foiherlet dech noch zu weit. Die öffentlihe Meinung wurde fchwierig und Ifabella 
verftand ſich dazu, Narvaez zu entlafien und die Neubildung bes Kabinetd wener- 
dings D’Donnel zu übertragen (19. Juni 1865). Diesmal glaubte ſich dieſer 
nur durch ein aufrichtig liberales Regiment halten zu können. Das erſte was er 
that, war, dem heiligen Stuhl die bevorftehente Anerfennung des Königreichs 
Italien zu notificren (26. Juni) und biefe felbft alsbald (15. Julh) bedingumgelot 
anszufpreden, ber Befehl an Prim wurde zurüdgenonmen, das Wahlgefen in 
liberalem Sinne modificirt und der Preſſe wieder größere Freiheit gefichert. 
P. Claret, der Beichtvater, und bie biaher allmächtige Schwefter Patrocinto hielten 
es für geratben, fi in ihre Klöſter zurädzuziehen. Der Berlauf ber Kirchengäter 
wurde wieder aufgenommen und dem neapolitanifhen Geſandten bedeutet, daß 
feine Miffion zu Ende ſei. Dennoh mußte fh D’Donnel lediglich auf die Partei 
der fogenannten liberalen Union ftügen, da vie Progrefiften und Demokraren 
niht ganz ohne Grund in ihrem Miißtrauen gegen ihn beharrten und als er 
(10. Okt.) auch feinerfeits die Cortes auflöste und Neuwahlen ausfchrieb, nahmen 
diefe Parteien einen Antheil an den Wahlen. Bald erfchienen auch P. Clare 
und die Schwefter Patrocinio wieder am Hofe (Der) und nahmen ihre altes 








Spanien. 1027 


Stellen wieder ein, übten ihren früheren Einfluß wieder aus. Da erhob Prim 
n den erſten Tagen bes Jahres 1866 in der Nähe von Madrid an ver Spitze 
'iniger Regimenter die Fahne der Empörung gegen bie Regierung „die uns im 
Huslande entehrt und im Inlande zu Grunde richtet”, fand aber nicht vie er- 
vartete Unterflägung und ſah fi bald gemöthigt, nad Portugal überzutreten 
20. Jan.). Nun betrat aud das Miutfterium O'Donnel wieder entſchieden bie 
Bahn der Reaktion: die Preffreihelt und das Berfammlungsreht wurden neuer- 
‚ings beſchränkt und bald fand es die Königin für angemeflen, das Ruder wiederum 
em Marſchall Rarvaez zu übergeben (11. Junh) und ver Reaktion vie Zügel 
‚ölig ſchießen zu laſſen. 
Die Eortes boten willig die Hand. Die konflitutionellen Garantieen wurden 
2. Iult) fuspenbirt und fofort nah dem Schluß der Seffion auch die verfafiungs- 
näßigen WBefuguiffe der Provinzial- und Gemeinveräthe aus Tönigliher Macht⸗ 
olltommenheit befhräntt (21. Oft.). Die Stimmung in Madrid ward inzwifchen 
o bedrohlich, daß Narvaez die Bahnıhöfe-durch fliegende Militärkolonnen beſetzen 
ieß. In ſeinem Syſtem ließ er ſich nicht beirren und machte gar keine Miene, 
‚te Cortes zu ihrer ordentlichen Sefflon einzuberufen. Die Königin ſchien mit ihm 
janz abfolut regieren zu wollen. Das war felbft für die Partei ber liberalen 
Anton zu ſtark; am 28. Dec. unterzeichneten 137 ihr angehörige Mitglieder der 
Sortes eine Adrefie an die Königin gegen das Militärregiment des Marſchalls. 
Diefer antwortete jedoch augenblicklich durch einen förmlichen Staatsſtreich: ber 
Bräfident der Deputirtenkammer und vier andere Mitglieder derſelben, Führer 
ver liberalen Unton, wurden am 29. Dec. verhaftet und als der Präſident des 
Senats, Marſchall Serrano, es wagte, der Königin dagegen Borftellungen zu 
naden, wurde aud er verhaftet und alle zur Internirung von Madrid abgeführt. 
Die liberale Union gerieth darüber in ſolchen Schreden, daß fie, als noch weitere 
Berhaftungen theils erfolgten theils in Ausſicht flanden, in alle Winde aus ein- 
anderſtob; in Mafle ging fle freiwillig ins Eril ins Ausland, die meiften wandten 
ſich nad Frankreich, unter ihnen aud D’Donnel, ihr bisheriges Haupt, der bald 
yaranf dort mit Tod abging. In Spanien, zumal in Madrid, herrfchte inzwifchen 
in förmliches Schredensregiment, deſſen Seele neben Narvaez der Generallapitän 
er Provinz, General Bezuela, Graf von Cheſte, eines der Häupter der Abfolu- 
iften, war. Um 22. März 1867 wurde ein fogenanntes Sicherheitsgeſetz erlaffen, 
a8 ganz Spanien in eine Art permanenten Belagerungszuftandes ſetzte. Doch 
vurden in demfelben Monat die Cortes wieber verfammelt. Das war indeß eitel 
Form nnd half blutwenig: fie boten die Hände zu Allem, was die Regierung 
ur Immer verlangte, felbft zu einer unter der Form einer Reviſion der Geſchäfts⸗ 
ordnung von ihnen verlangten ſehr weſentlichen Beſchränkung der eigenen Befug⸗ 
atfje (25. Juni und 11. Juli); nur der Senat machte Anfangs einige Oppofition, 
go6 fich aber bald zur Ruhe. Die Lage wird am beften dadurch bezeichnet, daß 
arvaez am 14. Mai im Senat unumwunden zugab, daß ber Thron nur auf 
ver bewaffneten Gewalt, ber Armee, beruhe und daß die ultamontane Partei, 
ort Neoeattolicos genannt, in ber Deputirtenlammer am 24. Mai auf bie 
Bteverherftellung aller ſeit 1834 aufgehobenen Köfter antrug. Kein Wunver, daß 
ım 15. Juni eine ſchon länger vorbereitete Infurreition anf vier verfchledenen 
Bnntten ausbrach. Der gefährlihfte Punkt war Barcelona; aber General Pezuela 
chloß die Stadt (20. Aug.) militäriſch ringenm ab und erſtickte dadurch die In⸗ 
urreftion im Kelme. Die Regierung war längft nur noch die einer entjchievenen 
Minderheit, aber bie Mehrheit zerfiel in bie verſchiedenen Parteien der liberalen 


65° 





1028 Nadıtrag. 


Union, ver Progreffiften und ber Demokraten, deren Führer ſich unter einander 
anz und gar nit verfianden und barum vereinzelt unterliegen mußten. (Ende 
uguft 1867 konnte die Infurreltion überall als gefcheitert angefehen werben und 

das Regiment Narvaez ſchien fefter als je zu ſtehen: nur bie Zahl der ins Aus⸗ 

land getriebenen Flüchtlinge Hatte fih und zwar nicht unbeträdtlid vermehrt. Die 

Königin fuhr fort, fi ihren Günſtlingen Hinzugeben, damals einem gewtffen 

Marfori; P. Elaret und die Nonne Patrocinio dominitten am Hofe, —* 

regierte nach Willkür und mit nicht ſanfter Hand. Die Finanzen waren in einer 

wahrhaft jämmerlihen Lage; aber dafür ſandte der Papſt der Königin am 6. Febr. 

1868 bie geweihte goldene Nofe. Da flarb ganz unerwartet am 23. April biefes 

Jahres der Marſchall Narvaez, die Seele des Regiments, und an feine Gtelle 

trat nun der bisherige Minifter des Innern Gonzales Bravo, fräher ein 

fenriger Liberaler, jetzt ein Hartgefottener Abfolntifi, ein eminenter Schönrebuer, 
aber ein fehr zweifelhafter Staatsmann. Sein Programm war das bisherige tes 

Marſchalls Narvaez, aber dem Regiment fehlte die bisherige Seele, die alles zu- 
fommen zu halten vermodte. And er fchredte freilich vor keiner Gewaltthätigfeit 
zurüd, aber die Ahnung größerer Ereigniffe durchzuckte doch fofort ganz Spanien. 
Es lag in der Natur der Zuflänte und war ein öffentliches Geheimniß, daß 

ion vor Narvaez Tode gegen die herrſchende Gewalt konſpirirt worben war unt 
daß andy nad bemfelben und natürlich jegt noch mehr gegen dieſelbe konfpirirt 
wurde und zwar nad ber feit Jahrzehnten eingerifienen Gewohnheit vor allem 
aus von Seite der hervorragendſten Generale, die dem verjchiebenen der Regierung 
feintlihen Parteien angehörten. Gonzales Bravo konnte es wifjen, ohne fi bazu 
der Polizei zu bebienen und ließ am 7. Jult 1868 fieben ober acht der ange 
fehenften Generale, darunter Serrano, Dulce und Eaballero de Rotas, an einem 

Tage in den verfhlebenen Städten, wo fie refibirten, ergreifen und zur Inter 
nirung nad ven Infeln abführen, gleichzeitig aber dem Herzog von Montpenfier, 
dem Gemahl der einzigen Schwefter ver Königin, der feit Iahren fern von ben 
Geſchäften in Sevilla refidirte, bebenten, das Land zu verlafien, da er ben Fein 
den der Regierung als Fahne dienen „Lönnte”. Der Herzog ging nad Lifjabon: 
daß er bis dahin Fonfpirirt babe, iſt nicht erwiefen, aber von da an that er es 

allerdings. Der Gewaltſtreich des Gonzales Bravo hatte den ganz entgegen geſetzten 

Erfolg von dem, den er fi davon verfprodhen. Statt der Berfhwörung den Kopf 

abzuſchlagen, gab er ihr vielmehr biefen und eine Fahne und vie Mittel zu einem 
endlich entſcheldenden Schlage. Die liberale Union, ber jene Generale zumeiſt aw 

gehörten, Hatte bisher nichts davon wiflen wollen, die Frage au der Wurzel zu 
pie nnd die Hand zur Befeitigung der Dynaſtie zu bieten, während die anderen 

arteien längft and der Erfahrung bie entſchiedenſte Ueberzeugung ſich abftrahirt 
hatten, daß ohne dieſen Schritt von einem wirklichen Umſchwunge, vom einer 
grünplicden Beflerung feine Rebe fein könne und daß wenig baranf anlomme, ob 
biefer ober jener General dem Regiment feinen Namen gebe. Run boten auch bie 

Generale bie Hand zur Befeitigung der Königin und alle Parteien waren jet 

einig, zufammenzumirfen: da reiner Zif gemacht und die Geſchicke des Landet 

tonftitutrenden Cortes und zwar auf Örnnd des allgemeinen Stimmredts anvertrazt 
werben follten — das war ber Inhalt ver Berfländigung — fo mochte jede hoffen, 

ihren fpeciellen Anſchauungen zum Siege zu helfen. Bis gegen Mitte Sept. 1868 

war alles zur Erhebung vorbereitet. Die nuter dem Admiral Topete vor Gabiz Legende 

Blotte ſollte das Zeichen zum Ausbruch geben und bie internirten Generale hatten 

bie Abrede getroffen, fi an einem und bemfelben Tage In Cadir einzufinven. 


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Spanien, 1029 


Um 18, Sept. 1868 erhob Topete, ein ehrlicher Seemann, in Cadir bie 
Fahne der Empörung und forberte die Stabt auf fi Ihm auzufchliegen, was fie 
auch fofort that, Indem fie eine revolutionäre Junta ernannte. An demſelben Tage 
traf General Brim bet ihm ein, am folgenden die übrigen Generale, Serrano x. 
Semeinfam erließen fie nun ein Manifeft an die Spanier, das fle zu den Waffen 
rief: „Wir wollen ein Leben der Freiheit und Ehre leben”, fagten fie bezeichnend. 
Als ihre nächſte Abſicht nannten fle die Errichtung einer proviſoriſchen Regierung 
mb baß die allgemeine Abſtimmung bie Grundlage der focialen und politiichen 
Regeneration Spaniens bilde. Sevilla ſchloß fih der Bewegung an bemfelben 
Tage an nnd erhob zuerft den Ruf: Nieder mit der Dynaſtie! Andaluſien bildete 
ichnell eine fefte Operationsbafis für die Revolution. Aber Barcelona und Madrid 
jögerten fih zu erheben. Die Königin war in S. Sebaſtian und Eonnte fih nicht 
entſchließen, fofort nah Madrid zurüdzulehren und Alles an Alles zu fegen. Sie 
begnägte fich, das Minifterium Gonzales Bravo zu entlaffen und ven General 
Toncha zum Minifterpräfldenten zu ernennen, ver, ohne indeß ein Kabinet zu 
silden, nach der Hauptflabt eilte, hier den Belagerungszuſtand verhängte und ben 
Beneral Rovaliges mit Truppen gegen die aufflänbifcgen Generale in Anda⸗ 
ufien abfchidte. Bel der Brücke von Wlcolca unweit Eorbova trafen am 28. Sept. 
jeide auf einanber. Die Königlichen unterlagen nad kurzem Gefechte. Run war bie 
Rönigin verloren: Madrid und Barcelona und mit ihuen das ganze Land erhoben 
äh jegt ebenfalls und Ifabella gab Ihre Sache ſchon am 30. dieſes Monats auf, 
indem fie nach Frankreich übertrat. Ueberall entflanden jest revolutionäre Junten. 
Am 3, Oft. zog Serrano in Madrid ein, am 4. dieſes Monats übertrug ihm bie 
Junta von Madrid die Bildung einer proviforifhen Regierung bis zum 
Zufammentritt der konſtituirenden Cortes. Am 8. Oktober bildete er bie proviſo⸗ 
riſche Regierung, von deren Mitglievern 5 der progreffiftifhen Partei, 4 ber 
iberalen Union angehörten. Der bebentenpfte und einflußreichfte darunter war 
jedenfalls Prim als Krlegsminifter. Die Demokraten gingen zunächſt leer and und 
yerfielen Bald in Monardiften und Republikaner. An der Spige jener fand 
Ridero, der nene Bürgermeifter von Madrid, an der Spige biefer Orenfe, 
Marquis von Albaida, ver mit großem Eifer für die Errichtung einer füderativen 
Republit thätig war. Die Regierung bob am 12. Oft. des Jeſuitenorden für 
Spanien auf, befahl feine Hänfer binnen drei Tagen zu ſchließen und zog feine 
Hüter zu Handen des Staates ein; am 19. folgte ein weiteres Defret, das alle 
eibſter, geiftlichen Genoſſenſchaften, Kloſterſchulen und anderen kirchlichen Anftalten, 
o weit fie gegen das Geſetz von 1837 feither gegründet worden waren, wieder 
mterbrädte nnd wenige Tage fpäter wurde bie Eröffnung eines proteftantifchen 
Bethaufes in Madrid geftattet, alſo thatſächlich die Glaubensfreiheit auerkannt. 
Die ganze Umwälzung erfolgte ruhig und ohne irgend nennenswerthe Exceſſe. 
Die Bertreter der Mächte traten denn auch alsbald mit der proviſoriſchen Regie- 
ung in officiöfe und fpäter aud in officielle Beziehungen. Am 20. Oft. beſchloß 
ie proviſoriſche Regierung die Auflöfung der revolutionären Junten und bie Er⸗ 
egung berjelben durch regelmäßige Wahlen. Die Junta von Madrid gehorchte 
‚une Bedenken und bald folgten auch alle anderen. Schwieriger war vie Befeitie 
jung reſpektive die Reorganifation ver freiwilligen Nationalgarben oder der Frei⸗ 
willigen der Freiheit, wie fie fi nannten, die fi in den erften Tagen ber 
Revolution gebilvet hatten. Die Frage, ob Monarchie oder Republik 
war nämlich inzwiſchen mehr und mehr in den Borbergrund getreten. In ven 
großen Stäpten des Landes that fi überall eine zahlreiche, ſehr rührige republi⸗ 


1030 Nachtrag. 


laniſche Partei auf, im Süden, namentlich in Andaluſien, gewann fie bereits bie 
Dberhand; die fogenannten fyreimilligen ber Freiheit gehörten wmeift ihr an und 
bildeten ihre vornehmſte Stäge. Eben darum aber hielt es die proufforifche Regie 
rung im Intereffe der künftigen monardhiihen Gewalt und überhaupt im Imterefle 
einer ſtarken oder auch uur gefidherten Regierungsgewalt für unerläßlich, jene 
Greiwilligenlorps wieder aufzuldfen, zu reorganifiren und in größere Abhängigkeit 
von ihr felbft zu bringen. Der Verſuch mißlang jedoh in Cadix, wo er am 
5. Dec. zu einem förmlichen Aufftand führte, der erfi am 13. und nur mit Hälfe 
einer flarfen Militärmacht durch den General Caballero de Rodas bewältigt wer- 
den konnte. Kaum war dies gefchehen, fo brach der Aufſtand (31. Dec.) auch In 
Malaga aus, konnte jedoch ſchon am 1. Jan. 1869 unterbrädt werben nmb im 
März (16.—18.) wiederholte fich gelegentlich der Koufcription biefelbe Erſcheinung 
in Xeres. Doc blieb die Bewegung immer nur auf bie betreffende Lolalität be- 
ſchränkt, fo daß die Ordnung im Ganzen jeverzeit aufrecht gehalten werben Tounte. 
Inzwifhen machte aber vie republitaniihe Strömung unläugbare Wortfchritte, 
zumal es den monarchiſchen Parteien an einem geeigneten Thronkandidaten durch⸗ 
aus fehlte, da die große Mehrheit der Spanier von einer Kandidatur des 
Prinzen von Afturien, der dem verberblihen Einfluß Ifabellens ober ger 
ber alten Köutgin Ehriftine neuerdings Thür und Thor geöffnet hätte, nichts 
wiffen wollte und noch weniger von einer foldhen bes Infanten Don Earlos, 
obgleih fich diefer dem Lande von Paris ans fofort als Karl VII. angeländigt 
batte, von anderen Kanbibaten aber der Herzog von Moutpenfier nur vom 
ber liberalen Unton begünftigt wurbe, während König Ferdinand von Por- 
tugal, dem fi bie Irogreififen zuneigten, felber feine Luft zeigte, feine behag⸗ 
liche Muße mit ‚der fchwierigen Aufgabe eines von ‚allen Seiten angefochtenen 
Könige von Spanien zu vertaufhen. Ein Theil der Progreffiften fo wie bie 
monarchiſchen Demokraten dachten zudem ausgeſprochener 8 nur au bie 
Aufrichtung eines nicht» erblichen Thrones, fo daß auch Serrano, Prim, ſelbſt ver 
alte Efpartero in Frage kommen konnten, während Audere, wie Dlozaga, große 
Geſchäftigkeit entwidelten, einen geeigneten Kandidaten im Ausland ansfinbig zu 
machen und bald an den Herzog von Aoſta, bald au ben Prinzen Thomas von 
Savoyen, bald an einen Hohenzollern vou der katholiſchen Brauche dachten. 

So wogten innerhalb der monardifhen Parteien die verichiebenartigften 
Ideen und Beftrebungen ziemlih bunt durch einander und arbeiteten damit nur 
den anfänglich ſchwachen, bald aber zahlreicheren republikaniſchen Elementen in bie 
Hände, die inzwifhen Zeit gewannen, fi feſter zu organifiren und für ihre Idee 
einer Foͤderativ⸗Republik, zu der ihnen bie noch immer ſtarke provinzielle Selbſt⸗ 
ftänvigleit in Spanten nicht allzu gering auzufdlagende Anhaltspunkte Det, zu 
arbeiten. In ihrer Berlegenheit zögerte auch die proviſoriſche Regierung im Gin- 
verftändniß mit den übrigen führern ber monardifhen Barteien mit der Gin- 
berufung der fonveränen Eortes, die doch allein entfcheinen konnten, und gaben 
damit den Beſtrebungen ver republifanifch Gefinnten vorerſt freie Hand, obme 
doch ihre Abficht. dabei zu erreichen, vie Gemüther zur Ruhe kommen und bie 
Dinge fih klären zu laflen, in ver Zwiſchenzeit aber vielleicht doch einen allen 
genehmen Kandidaten für den Thron auffinden zu können. Ob Serrano und Prim, 
die inzwiſchen thatſächlich die Gewalt in Händen hatten, hiebei ihre eigenen Hinter 
gedanken nährten, muß dahin geftellt bleiben. ur gegen eine Ueberrumpelung 
dur die plögliche Aufftellung irgend einer Kandidatur und bie Anordnung eimer 
allgemeinen Abflimmung über biefelbe noch vor dem Zuſammentritt der Cortes, 








Spanien, 1081 


denen es dann lediglich obgelegen hätte, eine neue Verfafſung mit biefem Mo- 
aarchen zu vereinbaren, glaubten die Republitaner und bie ihnen zunähft fichen- 
den monarchiſchen Demokraten und vorgefdritterfien Progreffiften auf der Hut 
jein zu möüflen. Wie es fbeint, beftand einmal (Mitte Oft.) ein derartiger Plan, 
murbe aber von ber Junta von Madrid vereitelt. Die Trage blieb alfo unent- 
ſchieden nnd den Cortes wirklich vorbehalten, da die proviforifche Megierung und 
die monarchiſchen Parteien ſtark genug waren, eine vorfhnelle Cutſcheidung auch 
von ber anderen Seite zu verhindern, was wohl verfudt worden wäre, wenn bie 
ſchon erwähnten zepublifanifchen Aufftände in Kadix, Malaga und Xeres gelungen 
wären. Nach langem, vielleiht nur zu langem Zögern fegte bie proviſoriſche 
Regierung endlih am 6. Dec. die Corteswahien auf den 15. bis 17. Januar 
1869, den Zufammentritt der Verſammlung ſelbſt auf den 10. Febr. an. Gin 
Borfpiel dazu bildete die Wahl der Oemeinderäthe (Mjuntiamentos) in ganz Spanien 
am 18. Dec., die den Parteien eigentlich zum erften Mal Belegenheit gab, ſich 
zu mefien. In der weitaus größeren Zahl ver Ortſchaften fiegten die konſervativen 
und monarchiſchen Elemente; doch wählte eine ziemliche Meihe großer und mittlerer 
Städte, zumal im Güven, republitaniſch, in Madrid felbft blieben die Republie 
tauer mit cha 3600 Stimmen gegen cirta 24,000 in der Minderheit. Die 
Corteswahlen im Januar 1869 legten das Verhältniß der Parteien deutlicher an 
ven Tag: bie vereinigten monarchiſchen Parteien ver liberalen Unioniften, der 
Progteſſiſten und der monarchiſchen Demokraten trugen mehr als 200 Wahlen 
davon, während bie Republikaner es nur auf etwa 70, bie Iſabelliſten und Gar- 
liften nicht einmal auf 30 brachten. Beachtenswerth war dabei, baf unter ben 
Monargiften die Progreffiften faft boppelt fo ſtark erſchienen als die fonfer- 
vativeren Anhänger der liberalen Union und daß die Republifaner zwar faum 
den vierten Theil der Berfammlung, aber eben doc eine Minorität bildeten, mit 
der gerechnet werben mußte, da fie jevenfalls flart genug waren, mit den demo» 
tratiſchen Monarchiſten und ven Progreffiften eine Majorität zu bilden gegen bie 
Sfabelliften, Carliften und Unioniften, wenn biefe zu reaftionären Tendenzen hin ⸗ 
neigen follten. 

An 11. Gebr. 1869 wurben bie Cortes in Madrid vom Marfchall Serrano 
als Haupt der proviforifhen Regierung eröffnet. Die verſchiedenen monarchiſchen 
Braktionen organifirten ſich fofort al Partei der Mojorität, zeigten aber auch 
Sofort, daß fie ſtark nad lints neigen mußten, wenn fie die Majorität fer in den 
Händen zu haben wünſchten, indem fie nicht Dlozage, fondern Rivero, den Bürger 
meifter von Madrid, das Haupt der monarhifden Demokraten als ihren Randie 
daten für das Präſidium der Gortes befignirten, ber denn auch am 12. ehr. 
mit 168 Stimmen gegen 50, die auf den Republifaner Orenfe fielen, gewählt 
wurde. Am 25. Febr. wurde Gerrano neuerdings zum Haupt ver egelutiven 
Gewalt proflamirt und vom ihm vie proviſoriſche Regi 
Mitgliedern beſtätigt. Am 3. März wurde eine Kommiſ 
nievergefegt, um den Entwurf einer Verfaſſung ai 
mifflon wählte nun Dlozaga zu ihrem Präfiventen, Noch 
über die Verfafjung begann, glaubte die monarbifke P 
tigen Königs in der Perfon des Königs Ferdinand von 
tönnen und that in Liſſabon dafür die einleitenden Sch 
nand lehnte das Anerbieten nicht nur fon am 6. Ay 
dies duch das Organ der portugieflihen Regierung un 
fondten in Madrid in fo verlegenber Welfe, daß ber 


1082 Nachtrag. 


einer empfindlichen Niederlage der monarchſchen Partei geſtaltete und fie momentan 
ſtark entmuthigte. Am folgenden Tage (7. Upril) begann die Debatte über ben 
Entwurf ver Berfafiung, der Spanten zu einer wirklich Eonftitutionellen Monarchie 
machen wollte und daher hie Gewalt des Königs ſtark einfchräntte, im übrigen 
aber die Cortes in zwei Kammern theilte, von denen die zweite, durch das all⸗ 
gemeine Stimmrecht auf 3 Jahre, die erfte aber ober ber Senat auf 12 Jahre 
und nur aus ben Höchftbefleuerten und den höchſten Stantsbeamten gewählt, aber 
eben doch auch gewählt werben follte Die Debatten zogen fi bis Ende Mei 
hinaus. Wir heben aus benfelben indeß nur zwei Punkte hervor, demjenigen über 
das Verhältniß des Staats zur Kirche und den Über die Staatsform. Im jemer 
Beziehung wurde fowohl der Antrag auf Beibehaltung der bisherigen Blaubent- 
einheit mit Ausſchließung aller anderen Kulte, als der Untrag auf Gewährung voller 
Slaubensfreiheit verworfen und am 5. Mai mit 164 gegen 40 Stimmen bie 
Anerkennung der katholiſchen Religion als Staatsreligion doch mit Duldung and 
anderer Aulte neben berfelben ausgefprochen. Bezüglich des zweiten Buntes aber 
wurde am 15. Mai der Antrag auf Errichtung einer Föderativ - Republit mit 
182 gegen 64 Stimmen verworfen und am 20. dieſes Monats mit 204 gegen 
71 Stimmen der Art. 33 angenommen, ber die monarchiſche Regterungsform für 
Spanien feftfegt. Am 29. Mat wurde die Verfafiung ale Ganzes angenommen 
und am 6. Juni wurde fie in ganz Spanien feierlich publicirt und allfeltig au 
erfannt; es lief keinerlei Proteſt gegen fie ein weder von Seite der Republilene 
nod von derjenigen ber Iſabellinos oder Earliften. Zu ihrer Ausführung fehlte 
nur der Monarch, der darin vorgefehen war und der fi} noch nicht hatte finden 
laſſen wollen, da aud die Anhänger des Herzogs von Montpenfier darauf ver 
zichteten, wentgflens vorerft eine Majorität der Eortes für feine Wahl zu Staub: 
zu bringen. So blieb nichts anderes übrig, ale zunähft zur Ernennung einer 
Regentſchaft zu fhreiten, und fo wurde dann am 14. Juni Gerrano zum 
Regenten Spantens, doc ohne die Befugniß ber Sanktion der Geſetze und ber 
Bertagung oder Wuflöfung der fonveränen Eortes, mit 193 gegen 45 Stimmen 
ernannt, worauf er feinerfeits Prim als Kriegsminifter und Minifterprä 
beftätigte und das Winifterium nenerbings aus allen Parteien, diejenigen ver 
Republik und der Reaktion allein ausgeſchloſſen, zuſammenſetzte. 

Mitte Inlt vertagten fi die Eortes bie zum Oktober, ohne nur das Budget 
für 1869 vollfiänbig .erlenigt zu haben. Die Wahl des Monarden blieb babe 
auf unbeſtimmte Zeit verfhoben und Spanien iſt inzwiſchen troß der Berfaffung 
thatfächlih als Republik kouſtituirt, Serrano nichts anders als der Präflpent ver- 
felben, wenn er auch als Regent den Titel konigliche Hoheit führt. Die Republi⸗ 
kaner haben alle Urfadge, mit diefem Zuſtande der Dinge volllommen zufrieden 
zu fen. Gerrano und Prim haben ihrerſeits fein Interrefle, einem Zuſtand, der 
jenem alle Ehren, dieſem alle Macht in den Händen läßt, ein Ende zu machen. 
Im Laufe des Iuni und Juli bat fi die republikaniſche Partei gruppenwelfe 
organifirt, um ihrem Ziel einer Föderativ-Republil weiter vorzuarbeiten, vie BR» 
Iihen Provinzen (Catalonten und Arragonien) auf einem Bereins- oder Bunbet- 
tage in Tortofa, die füdlichen (Andaluflen sc.) in Cordova, bie mittleren ( Caſtilien 
und Leon) in Ballavolid, die norbmeftlihen (fog. kantabriſchen) in Sion, foger 
bie norböftlihen baskiihen im Guipuzcoa. So iſt ganz Spanien von einem wohl: 
organifirten, zufammenhängenden republitantfhen Neg überfponuen, während vie 
monardifchen Beftrebungen der Mehrheit praftifh auseinanvergehen und auf große 
Schwierigkeiten ſtoßen. Der Herzog von Montpenfier hat es offenbar nicht verſtan 





Spanien, 1088 


ben, ſich in ſeinem neuen Baterlaube beliebt zu machen, ebenſowenig feine Gemahlin 
bie Infantin, am wenigften allem Anſchein nah in Sevilla und Andalufien, wo 
fie doch ſeit Jahren refidirt haben und feit dem Juni 1869 wieder reflbixen. Die 
Raubidaten ber Iegitimiftifchen und ver Halb legitimiftiihen Parteien, ‘Don Carlos 
oder Karl VIL wie er fi nennt, und ber Prinz von Afturien, haben für jetzt 
nicht die geringfte Ausficht, den gegenwärtigen Zuftand der Dinge au nur ernfl- 
yaft in Frage zu ftellen. Bom Prinzen von Afturien will augenblidlih wenigftens 
205 Niemand etwas wifien, fo wenig als von feiner Mutter Ifabella oder von 
einer Großmutter Chriſtine und feine Kandidatur fcheint unter der Hand lediglich 
von Napoleon, der das Emporlommen eines Orleans in Spanien fürchtet, an⸗ 
eregt und begänftigt zu werben; eine Schilderhebung der Garliften aber im 

mmer 1869 in ona, der Mancha und einigen anderen Stäpten iſt für 
dießmal klaͤglich geſcheitert. 

Rah außen erſcheint Spanien in Folge der Umwälzung paralyfirt und ſpielt 
vorerft felbftverftänplich Teinerlel aktive Rolle. Doch hat die ſpaniſche Umwälzung 
dadurch. einen nicht gering anzuſchlagenden Einfluß ausgeübt und übt fortwährend 
einen folden aus, daß fie die Aufmerffamleit und die Sorge der laiſerlichen 
Regierung von Frankreich ſtark in Auſpruch nimmt und in ihrer Politik gegen- 
hber Preußen und Deutſchland mehr oder weniger hemmt, fomit unzweifelhaft 
ein Moment der Erhaltung bes Friedens in Mitteleuropa bildet. Einen weiteren 
mittelbaren Einfluß übt Spanien infofern augenblidiih auf Europa aus, als es 
bie republikaniſchen Beſtrebungen in den beiden anderen romaniſchen Nationen, 
im Italten und Frankreich, nährt und begünſtigt. Doch find dieſe Veſtrebungen 
mehr oder weniger no in Intentem Zuftande uud Lönnten nur unter Umflänben, 
bie fi nicht zum voraus berechnen laſſen, zu einer akuten Gefahr für die dort 
beftehenden Zuflände werben. Vorerſt ſchwebt Spanien vielmehr felber in Gefahr, 
von der Machtſtellung, die ihm überhaupt noch übrig geblieben, empfindlich ein- 
zubüßen. In dem Belle von Euba, der „Perle ver Antillen” und Sisher einer 
der ergiebigften Quellen feines ohnehin fehr zerrütteten Finanzweſens, iſt es feit 
and in Folge feiner Umwälzung ſchwer bedroht. Als die Revolution im September 
1868 ausbrach, fland die Infel unter dem General Lerſundi als Generallapitän, 
Er wurde im December abberufen und durch einen der Generale, welche die Um⸗ 
wälzung zu Stande gebracht haben,. Dulce, erfegt. Schon vorher aber (Ende 
Dit. 1868) war eine Empdrumg auf derfelben ansgebrodyen, die auf Emancipation 
ver Sklaven, Losreißung von Spanien und ber fpanifhen Berwaltung, auf eine 
republifanifche Organifatiou mit ver ohne Anſchluß an die Vereinigten Staaten 
von Nordamerika ausging und bis Ende des Jahres bereits einen großen Theil 
des Landes im ihre Gewalt brachte. Mit dem General Dulce und ſeither wieder⸗ 
yolt ſchickte zwar die fpanifhe Regierung nene Truppen zu Bewältigung des Auf 
Randes hinüber; aber das Klima und andere Urfachen decimirten fie ſchnell, jo daß 
Dulce nichts anderes übrig blieb, als den fpanifchen Theil der Bevölkerung felber 
als Freiwillige zu bewaffnen und zur Vertheidigung ber Rechte des Mutterlaudes 
yeranzuziehen. Unzufrieben Aber das mehr oder weniger gemäßigte und verjöhnliche 
Syſtem des Beneralfaritäns gegenüber den Aufſtändiſchen, empörten ſich aber 
dtefe Freiwilligen Ende Mai 1869 gegen Dulce und zwangen ihn, in ben erflen 
Tagen des Junt feine Gewalt niederzulegen und nah Spanien zurädzulchren. 
An feine Stelle trat Eaballero de Rodas, einer ber euergifheften Generale, vie 
Spanien befigt; aber ob es ihm gelingen wird, die Freimilligen feiner Disciplin 
‚u unterwerfen und ben Aufſtand zu unterbrääden, bleibt mehr als zweifelhaft und 





1083 Nantrag. 


eh wlichen Mieverlage der — rt. „ Erapyın Ya! 
Rat re el IE Gone der Schwädnmg 
“  Cutwurf der Berfoffung, GE 19° gencgt gemeien, Spazia 
machen wollte unb dab v2 —— abzutaufen. Das iſt herte nich 


j 


aber | m haben aus ven Bereinigten Staaten 
gemeli rasen Freiwilliger und Senpungen un 
and ı Yoftenere Unterftägung wider bie beftchente 
eben t wit eiferner Energie verhindert. Die Rare 
hinau⸗ um mit einer ſchweren Gelpfumme ein 
das 2 ie zunächft nur einen bevingten Werth hätte 
Doziel in zu winfen ſcheint. In Spanien felbk iR 
einhel den Gedanken gekommen, die Inſel, um bo 
Glaul meritanern, ſondern den Eubanern ſelbſt zum 
Anerlı Doll. verkaufen zu wollen. Ob das möglich 
ander für vie fpantfchen Finanzen wäre eim folder 
wurr B68 verfuchte Anleihe mißlang, indem ver 
18° g ſuchte, faum 500 gezeichnet wurden un 
T das bie Cortee im Aprit 1869 bewilligten, 
e 3ermittlung von Bankhänfern zu Gtand, bie 


en wurde jebodh vom Finanzminiſter den 

u ufländen und nod mehr in renotutionären 

— die Finanzen oft von entſcheidender Bedentung und könnten dies auf 

— unter Umſtanden leicht werden, obgleich es bis jegt den Anftrengungen 

fer mgirung uoch glüdiidh gelangen iſt, die Gonpons der Staatsſchuld zu bezahlen 

ven Bankerott zu vermeiden. Nahe genug Liegt er aber jevenfalls umd bie 
‚os wären kaum zu berechnen, 6. gun. 


Südameritanifche Nepubliten. 


1) Die Höderatiorepublit Benezuela (Rlein-Benebig genannt, weil bie 
erſten Entdeder die Hänfer Ahnlich auf Pfählen erbaut fanden, wie es im 
der Fall ift) Liegt zwifhen 1° 8° und 120 16° n. Br. und 42° und 55° 38‘ 
wel. Länge, im W. von Nen · Grauada, im ©. von Brafllien und im D. um 
SD. von britifh Guyana begrenzt, mit einem Flächeninhalt von 20,223 D.-M. 
Die Horizontale Gliederung des Landes If günftig; es fommen 200 geogr. M. 
auf die Kaſten, deren inte im W. ven Golf von Maralaibo, im D. den Golf 
von Paria einfaßt; 71 Imfelm liegen dem Feſtland gegenüber. Drei Gebirge ⸗ 
ſyſteme durchſchneiden das Sand: das venezuelanifhe Undesgebirge, das Käften- 
gebirge von Venezuela und das Syſtem ber Sierra Barime, Dem gegenäber if 
der Charakter der Ebene eigenthümiich ausgeprägt in den Llanos (getrennt im bir 
von Eumand, bie von Garkcas, bie von Barfnos und bie von Apure) umd ben 
Savanen. Ausgedehnte Hocebenen fehlen ; dagegen bat das Sand eigene, wicht 
ſehr hohe, wegen ihres Quellreichthums wichtige Zafelflächen, welche Mejaz helfen; 
die Bewäflerung bes Landes ift eine fehr ſtarke und günftige; die Hauptaber if 
der Orinoko. — Wie alle andern Republiten Südamerifas gehörte andy das Gebiet 
von Benezuela feit der Entvedung des Landes den Spanien; im Jahre 1818 
erfolgte dur Voltvar bie Unabhängigteitserkiärung und 1819 bie Proflamatica 
der Republit Colaubia (Benezuele, Ren-Granada und GEcuabör), 1830 zerfiel fe 


Süpamerikautfäge Bepubliken. 1085 


" drei von einander unabhängige Staaten; als folder wurbe Venezuela 

h von Spanien anerlannt. Die Republik zerfiel in 13 Provinzen, fett 

„er in 7 Staaten; fon 1864 aber riffen fi fünf berfelben von dem 
PP. 108, wegen ber beftehenven finanziellen -errättung. — Die Bevdlkerung 
Landes betrug 1865 ungefähr 1,565,000 Einw.; fte iſt eine fehr gemifchte 

ad beſteht ans Weißen (298,000), Mifchlingen aus Weißen, Negern und India⸗ 
nern in verſchiedenen Stufen (480,000), Negern (48,000), civiliſirten Indianern 
(Indios seducidos, welche ihren Stammcharakter bewahrten, aber ſpaniſche Sitten 
und Sprade angenommen haben, 160,000), unterworfenen Indianern (Indios 
catequisados , welche unter ftaatlicher Aufficht ſtehen, aber nod eigene Sprache 
and Sitten haben, 14,000) und unabhängigen Indianern (Indios bravos, 52,000); 
bie Dichtigkeit der Bevölkerung ift eine fehr ungleiche. Die Sprache der Indianer 
zerfällt in zahlreiche Dialekte. -- Sämmtliche Klimate fommen in Venezuela vor; 
bie heiße Region (tierra caliente) nimmt aber den allergrößeften Theil des Landes 
ein und bie Käften find ungefund. Unter den Probuften bes Landes aus bem 
Mineralreich ift wenig Gold, beſonders Kupfer und Zinn zu nennen; Kohlen 
führt das Küftengebirge uud Salz wird viel an den Küften gewonnen, Sehr man- 
nigfach find die Produkte des Pflanzenreihs: Cacao (einheimiſch), Kaffee (vorzüge 
lie Qualität), Baumwolle und Indigo (Produltion in der Abnahme), Buder, 
Tabak (befonders früher der Barinas, nenerbings andre, mehr zur Cigarrenfabri⸗ 
kation geeignete Sorten), Mais, Bananen. Ebenfo reich iſt die Fauna, unter ben 
wilden Thieren der Jaguar und Puma wichtig wegen ihrer Felle; vor Wllem 
aber find die Heerven von Rindern, Pferden und Eſeln auf den Weide bietenden 
Ebenen zu nennen, obwohl die Viehzucht und ihre Ansbentung in Folge der 
inneren Wirren abgenommen haben. — Bon Fabrik⸗ und Manufaltarthätigteit 
kann kaum bie Rebe fein; doch bat fie in den legten Jahrzehnten durch Eiuwan⸗ 
berung fremder Handwerker einigermaßen zugenommen; erzeugt werben beſonders 
Baumwollenwaaren, Strohhlite, Matten, Thongefchirre. — Der Handel des Landes 
and die Schifffahrt heben fi in neuerer Zeit; im Jahre 189%/,, betrug ber Werth 
der Ausfuhr 8,395,180, ver der Ginfuhbr 6,996,411 Peſos, Geſammwerth 
15,291,541 (1 Peſo ift gleih 1 Thaler 2°/, Sgr.). Dabei iſt noch ein fehr 
beveutender Schmuggelhanbel im Anſchlag von anderthalb Millionen bei ber 
Einfuhr zu berädficgtigen. Unsgeführt werben die angegebenen Probufte der Na⸗ 
tur und Fabriken; eingeführt befonders Baummollen-, Leinen-, Wollen⸗, Geiden-, 
Eifenwaaren, Welzenmehl, gemünztes Gold und Silber. Die Haupthäfen find: La 
Guaira (befonders für den Hamburger Handel), Buerto-Eabello, Marakaibo, Ein- 
dad Bolfvar. Die Ausfuhr geht vorzüglich nad den vereinigten Staaten von Norb- 
Amerila, Hanfeftäpten, Frankreich, Spanien xc., die Einfuhr kommt von Großbri⸗ 
tannien, deu vereinigten Staaten von Nord Amerika, den. Hanfeftäbten (Hamburg 
und Bremen). Die VBerbindungswege der Küfte mit bem Innern laflen nod viel 
zu wünfhen übrig, zumal die Bodenbeſchaffenheit keine beventende Schwierigkeit 
macht; Eifenbahnen fängt man an zu bauen. Das Poſtweſen if wohl georbnet 
und ebenfo die Dampferlinten zur Verbindung mit Europa. — Die Bildung bes 
Volkes iſt noch weit zurüd und verhältnigmäßig befler für höhere Unterritsanftal« 
ten (Univerfität Garkcas und Märida) geforgt, als für Elementarfhulen. Die 
Religion des Landes iſt die römifch-Tatholifhe; die Biſchöfe werben durch ben Kon⸗ 
greß gewählt und müſſen die Verfafſung beſchwören. Diefe iſt nah dem Mufter 
ber Vereinigten Staaten von N.⸗Amerika entworfen. Durch allgemeines Stimm- 
recht werben Wahlmäuner, auf je 4000 einer, gewählt auf 2 Jahre; biefe wieber 





1082 Nachtrag. 


einer empfindlichen Niederlage der monarchſchen Partei geſtaltete und fie momentan 
ſtark entmuthigte. Am folgenden Tage (7. Upril) begann die Debatte über ben 
Entwurf der Berfafiung, der Spanien zu einer wirklich Ionftitutionellen Momardie 
machen wollte und daher hie Gewalt des Königs ſtark einſchränkte, im 
aber die Cortes in zwei Kammern teilte, von denen die zweite, bard das afl- 
gemeine Stimmrecht auf 3 Jahre, die erfte aber ober der Senat auf 12 Jahre 
und nur aus ben Höchftbefteuerten und den höchſten Stantsbeamten gewählt, aber 
eben doch auch gewählt werben follte. Die Debatten zogen fih bis Ende Mai 
hinaus, Wir heben aus bdenfelben indeß nur zwei Punkte hervor, denjenigen über 
das Berbältniß des Staats zur Kirche und den Aber bie Staateform. In j 
Beziehung wurde fowohl der Antrag auf Beibehaltung der bisherigen Slaubent- 
einheit mit Ausſchließung aller anderen Kulte, als der Untra voller 
Slaubensfreiheit verworfen nnd am 5. Mat mit 164 gegen 40 Stimmen bie 
Unerlennung ber katholiſchen Neligton als Stantsreligion doch mit Duldung and 
anderer Kulte neben derſelben ausgefprochen. Bezüglich des zweiten Punktes aber 
wurde am 15. Mai der Antrag auf Erriätung einer Wöderativ - Republik mit 
182 gegen 64 Stimmen verworfen und am 20. diefes Monats mit 204 gegen 
71 Stimmen der Art. 33 angenommen, der die monarchiſche Regierungsform für 
Spanten feflfegt. Am 29. Mat wurbe die Berfafiung als Ganzes angenommen 
und am 6. Juni wurbe fle in ganz Spanien feierlich publicirt und aljeitig an- 
erfannt; es lief keinerlei Proteſt gegen fle ein weder von Seite der Republikaner 
nod von derjenigen der Iſabellinos oder Earliften. Zn ihrer Ausführung 

nur der Monarch, der darin vorgefehen war und ber fi noch nicht hatte finden 
laſſen wollen, va aud die Anhänger des Herzogs von Wontpenfier darauf ver» 
zichteten, wentgflens vorerft eine Majorität der Eortes für feine Wahl zu Stande 
zu bringen. So biteb nichts anderes übrig, ale zunähft zur Ernennung einer 
Regentſchaft zu fhreiten, und fo wurde dann am 14. Juni Gerrano zum 
Regenten Spaniens, do ohne die Befugniß ber Sanktion ber Gefehe und ber 
Bertagung oder Auflöfung ber fonveränen Eortes, mit 193 gen 45 Stimmen 
ernannt, worauf er feinerfeits Prim als Kriegsminiſter und iſterp 

beſtätigte und das Miniſterium neuerdings aus allen Parteien, diejenigen ver 
Republik und der Realtion allein ausgeſchloſſen, zuſammenſette. 

Mitte Juli vertagten ſich die Cortes bis zum Oktober, ohne nur das Bäbdget 
für 1869 volftändig erledigt zu haben. Die Wahl des Monarchen blieb dabei 
auf unbeflimmte Zeit verfhoben und Spanten iſt inzwiſchen troß der Berfaffung 
thatfählih als Republik konſtituirt, Serrano nichts anders als ver Präflpent der 
felben, wenn er au als Regent den Titel Königliche Hoheit führt. Die Republi- 
Taner haben alle Urfache, mit dieſem Zuſtande ber Dinge volllommen zufrieden 
zu fein. Serrano und Prim haben ihrerfeits fein Interrefie, einem Zuſtand, der 
jenem alle Ehren, dieſem alle Macht in den Händen läßt, ein Ende zu machen. 
Im Lanfe des Juni und Juli bat fi die republilaniſche Partei gruppenwelfe 
organifirt, um ihrem Biel einer Föderativ-Republil weiter vorzuarbeiten, die öf- 
Iihen Provinzen (Eatalouten und Arragonien) auf einem Vereins⸗ oder Bunbes- 
tage in Tortofa, die ſüdlichen (Andalufien zc.) in Cordova, die mittleren (Caſtilien 
und Leon) in Valladolid, die nordweſtlichen (fog. kantabriſchen) in Gijon, fogar 
bie norböftliden baskiſchen in Guipuzcoa. So iſt ganz Spanten von einem wohl 
organifirten, zufammenbängenden republifantihen Reg überfponnen, während bie 
monardifchen —— der Mehrheit praktiſch auseinandergehen und auf große 
Schwierigkeiten ſtoßen. Der Herzog von Montpenfier bat es offenbar nicht verſtan⸗ 


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Syaniın, 1088 


yen, ſich in feinem neuen Baterlande beliebt zu machen, ebeufowenig feine Gemahlin 
te Infantin, am wenigften allem Auſchein nach in Sevilla und Andalufien, wo 
ie doch ſeit Jahren refidirt haben und feit dem Juni 1869 wieder refidiren. Die 
dandidaten ber legitimiftiichen und ver Halb legitimiſtiſchen Parteien, Dou Carlos 
der Karl VIL wie er fi nennt, und der Prinz von Afturien, haben für jegt 
richt die geringfte Ausficht, den gegenwärtigen Zuſtand der Dinge auch nur erufl- 
yaft in Frage zu ftellen. Bom Prinzen von Afturien will augenblidlih wenigftens 
oh Niemand etwas wiffen, fo wenig als von feiner Mutter Ifabella oder von 
einer Großmutter Ehriftine und feine Kandidatur ſcheint unter der Haub lediglich 
on Napoleon, der das Emporlommen eines Drleans in Spanien fürdtet, au⸗ 
jeregt und begünſtigt zu werben; eine Schilderhebung der Garliften aber im 
Sommer 1869 in Pampelona, der Mancha und einigen anderen Städten iſt für 
teßmal Häglich geſcheitert. 

Rah außen eriheint Spanien in Folge der Ummälzung paralyfirt und fpielt 
orerft felbftwerftännlich keinerlei aktive Rolle. Doch hat die ſpaniſche Umwälung 
adurch. einen nicht gering anzufchlagenven Einfluß ausgeübt und übt fortwährend 
inen folgen aus, daß fie die Aufmerkſamleit und bie Sorge ber kaiſerlichen 
Regierung von Frankreich ſtark in Auſpruch nimmt und in ihrer Politik gegen- 
iber Preußen und Deutſchland mehr oder weniger hemmt, fomit unzweifelhaft 
in Moment der Erhaltung des Friedens in Mitteleuropa bildet. Einen weiteren 
nittelbaren Einfluß übt Spanten infofern augenblidiih anf Europa aus, als es 
te republikaniſchen Beſtrebungen in den beiden anderen romaniſchen Nationen, 
n Italien und Frankreich, nährt und begänftigt. Dod find dieſe Veſtrebungen 
nehr ober weniger noch in Intentem Zuftande und Könnten nur unter Umflänben, 
te fi nicht zum voraus berechnen laſſen, zu einer aluten Gefahr für die dort 
eftehenden Zuflände werden. Vorerſt ſchwebt Spanien vielmehr jelber in Gefahr, 
on der Machtſtellnng, die ihm überhaupt noch übrig geblieben, empfindlich ein- 
ubäßen. In dem Beſitz von Cuba, der „Perle der Antillen” und Fisher einer 
er ergiebigften Onellen feines ohnehin fehr zerrätteten Finanzweſens, ift es feit 
md in Folge feiner Ummälzung ſchwer bedroht. Als die Revolution im September 
868 ausbrach, fand die Infel unter dem General Lerfunvi als Generallapitän. 
Er wurde im December abberufen und burch einen der Generale, melde bie Um⸗ 
Yalzung zu Stande gebradt haben,. Dulce, erfegt. Schon vorher aber (Enbe 
It. 1868) war eine Empdrumg auf berfelben ausgebrochen, die auf Emancipation 
er Sklaven, Losreifung von Spanien und der fpanifchen Berwaltung, anf eine 
epublilantfche Organifation mit ver ohne Anflug an die Vereinigten Staaten 
on Nordamerika ausging und bis Ende bes Jahres bereits einen großen Theil 
es Landes in ihre Gewalt brachte. Mit dem General Dulce und feither wieber- 
olt ſchicte zwar die fpantiche Regierung neue Truppen zu Bewältigaug des Auf⸗ 
'anbes hinüber; aber das Klima und andere Urfachen decimirten fie ſchnell, jo daß 
dulce nichts anderes übrig blick, als den ſpaniſchen Theil der Bevölkerung felber 
18 Freiwillige zu bewaffnen und zur Vertheibigung der Rechte des Wutterlandes 
eranzuziehen. Unzufrteben Aber das mehr oder weniger gemäßigte und verjöhnliche 
Suftem des Generallapitäns gegenüber den Aufſtändiſchen, empörten ſich aber 
tefe Freiwilligen Ende Mat 1869 gegen Dulce und zwangen ihn, in den erften 
Fagen des Juni feine Gewalt niederzulegen und nad Spanien zurückzukehren. 
In feine Stelle trat Eaballero de Rodas, einer der energiſcheſten Generale, bie 
Spanien beſitzt; aber ob es ihm gelingen wird, die Freiwilligen feiner Disciplin 
u unterwerfen und den Aufſtand zu unterbräden, bleibt mehr als zweifelhaft und 





1084 Hadtrag. 


wenn Spanien genbthigt If, noch mehr Schiffe und Truppen Iinfiberzufchiden 
fo wird die Infel mehr und mehr unzweifelhaft ein Element ber Schwädung für 
dasfelbe. Früher wären die Vereinigten Staaten fehr geneigt geweſen, Spanien 
die Infel um 100 oder mehr Millionen Dollars abznlanfen. Das iſt Heute nicht 
mehr der Fall. Die Aufftänpifhen auf Cuba haben aus den Bereinigten Staaten 
zeither wiederholt Zuzug von kleineren Schaaren Freimilliger und Genpungen vos 
Munition erhalten, aber größere und offenere Unterſtützung wider bie beftehenben 
Neutralitätsgefege hat Präfident Grant mit eiſerner Euergie verhindert. Die Nord⸗ 
amerifaner find allzn gute Rechner, um mit einer ſchweren Gelpfumme einen 
Befig erlaufen zu wollen, der für fie zunächſt nur einen bebingten Werth hätte 
and der ihnen ohne alle Opfer ohnehin zu winken fcheint. In Spanien felbft if 
man daher neneflend (Aug. 1869) auf den Gedanken gelommen, vie Infel, um bob 
noch etwas zu retten, nicht den Norbamerilanern, fondern ben Eubanern jelbfi um 
die beiläufige Summe von 100 Mil. Doll. verlaufen zu wollen. Ob Das 

fein wird, muß dahin geftellt bleiben; für die fpantichen Finanzen wäre ein fotder 
Zufluß fehr erwünſcht. Eine Ende 1868 verfuchte Anleihe mißlang, indem vou 
2000 Mil. Nealen, die die Regierung fuchte, Taum 500 gezeichnet wurden uns 
ein zweites Anlehen von 1000 Mill., vas bie Corte im April 1869 bewilligten, 
kam zwar, wie es ſcheint, durch die Vermittlung von Bankhäufern zu Stand, bie 
Mittdeilung ver näheren Bedingungen wurde jedoch vom Yinanzminifter ven 
Korte vorenthalten. In Uebergangszuftäuden und noch mehr in revoiutiomären 
Zeiten find die Finanzen oft vom entfcheidender Bedeutung und könnten bies and 
“ für Spanien unter Umftänden leicht werben, obgleich es bis jegt den Anftrengungen 
der Regierung noch glücklich gelungen ifl, die Coupons der Stanteihuld zu bezahlen 
und den Bankerott zu vermeiden. Nahe genug liegt er aber jevenfalls umd bie 
Folgen wären kaum zu bereuen. 8. Saatiyet. 


Südamerikaniſche Nepubliken. 


1) Die Fdderativrepublik Benezuela (Klein-Benebig genannt, weil bie 
erſten Entdeder die Häufer ähnlich auf Pfählen erbaut fanven, wie es in Venedig 
der Fall iſt) liegt zwifhen 19 8’ nnd 120 16° n. Br. und 42° und 559 38‘ 
wert. Länge, im W. von Nen-Öranada, im S. von Brafliien und im O. um 
SD. von britifh Guyana begrenzt, mit einem Flächeninhalt von 20,223 D-M. 
Die horizontale Gliederung des Landes if günftig; es fommen 200 gergr. M. 
auf die Küften, deren Linte im W. den Golf von Waralaibo, im DO. den Gelf 
von Paria einfaßt; 71 Infeln liegen dem Feſtland gegenüber. Drei Gebirgs- 
ſyſteme durchſchneiden das Land: das venezuelanifche Andesgebirge, das Küften- 
gebirge von Venezuela und das Syftem der Sierra Parime. Dem gegenüber iſt 
der Charakter der Ebene eigenthümlich ausgeprägt in den Llanos (getrennt im bie 
von Cumans, die von Cardcas, die von Barfnos und die von Apure) und ben 
Savanen. Ausgedehnte Hochebenen fehlen; dagegen hat das Land eigene, nicht 
fehr hohe, wegen ihres Quellreichthums wichtige Tafelflächen, welche Meſaz heißen; 
die Bewäflerung des Landes iſt eine fehr flarte und günftige; bie Hauptader if 
der Orinoko. — Wie alle andern Republilen Südamerikas gehörte and) das Gebiet 
von Benezuela ſeit der Entvedung des Landes den Spaniern; im Jahre 1818 
erfolgte dur Bolivar die Unabhängigfeitserliärung und 1819 bie Proklamation 
der Republik Columbia (Benezuele, Neu⸗Granada und Ecuadoͤr). 1830 zerfiel fe 








Südomerikauffge Republiken. 1065 


bieber in brei von einander unabhängige Staaten; als folder wurde VBenezuela 
1845 and von Spanien anerlannt. Die Republik zerfiel in 13 Provingen, fett 
1868 aber in 7 Staaten; fon 1864 aber riffen fich fünf berfelben von dem 
Bunbe 108, wegen ber beftehenden finanziellen Zerrättung. — Die Bevölkerung 
‚e8 Landes betrug 1865 ungefähr 1,565,000 Einw.; fie iſt eine fehr gemiſchte 
ind beſteht aus Weißen (298,000), Miichlingen aus Weißen, Negern und India⸗ 
ern in verſchiedenen Stufen (480,000), Negern (48,000), cioflifirten Indianern 
Indios reducidos, weldhe ihren Stammdaralter bewahrten, aber ſpaniſche Sitten 
mb Sprade angenommen haben, 160,000), unterworfenen Indianern (Indios 
atequisados , welche unter ftaatliher Aufficht ftehen, aber noch eigene Sprache 
nd Sitten haben, 14,000) und unabhängigen Indianern (Indios bravos, 52,000); 
te Dichtigkeit der Bevdllerung iſt eine fehr ungleihe. Die Sprache der Indianer 
erfällt in zahlreiche Dialekte. -- Sämmtlihe Klimate fommen in Venezuela vor; 
ie heiße Region (tierra caliente) nimmt aber den allergrößeften Theil des Landes 
in und die Käften find ungeſund. Unter den Probulten des Landes aus dem 
Mineralreich ift wenig Gold, beſonders Kupfer und Zinn zu nennen; Kohlen 
übrt das Küftengebirge und Salz wird viel an den Küften gewonnen. Sehr man⸗ 
ligfach find die Probufte des Pflanzenreichs: Cacao (einheimiſch), Kaffee (vorzäge 
ide Onalttät), Baummolle und Indigo (Produktion in der Abnahme), Zucker, 
Eabat (befonders früher der Varinas, neuerdings andre, mehr zur Cigarrenfabri- 
'ation geeignete Sorten), Mais, Bananen. Ebenſo rei iſt die Fauna, unter dem 
oilden —*— ber Jaguar und Puma wichtig wegen ihrer Felle; vor Allem 
ber find bie Heerden von Rindern, Pferden und Eſeln auf ven Weide bietenden 
Ebenen zu nennen, obwohl bie Viehzucht und ihre Ausbeutung ‚in Folge ver 
nneren Wirren abgenommen haben. — Bon Fabril- und Manufakturthatigkeit 
ann kaum bie Rebe fein; doch bat fie in den legten Jahrzehnten durch Ciuwan⸗ 
erung fremder Handwerker einigermaßen zugenommen; erzeugt werben beſonders 
Baummollenwaaren, Strohhüte, Matten, Thongefchirre. — Der Handel des Landes 
md die Schifffahrt heben fi In uenerer Zeit; im Jahre 1888/,, betrug der Werth 
er Ausfuhr 8,295,180, der der Einfuhr 6,996,411 Peſos, Gefammtwerth 
.5,291,541 (1 Peſo ift glei 1 Thaler 2°/, Sgr.). Dabei iſt noch ein fehr 
edeutender Schmuggelhanbel im Anſchlag von anderthalb Millionen bei ber 
Einfuhr zu berädfichtigen. Ausgeführt werben vie angegebenen Probufte der Na- 
ur und Fabriken; eingeführt befonders Baummollen-, Leinen, Wollen, Seiden⸗, 
EHfenwaaren, Weizenmehl, gemünztes Gold und Silber. Die Haupthäfen find: La 
Buaira (beſonders für den Hamburger Handel), Buerto-Eabello, Marakaibo, Ein- 
ad Bolfvar. Die Ausfuhr gebt vorzäglid nad) den vereinigten Staaten von Nord⸗ 
Imerita, Hanfeftäpten, Frankreich, Spanien ıc., bie Einfuhr kommt von Großbri⸗ 
annien, ben vereinigten Staaten von Norb- Amerika, den. Hanfeftäbten (Hamburg 
mb Bremen). Die Berbindungswege der Küfte mit dem Innern lafien noch viel 
u wünſchen übrig, zumal die Bodenbeſchaffenheit Feine beventende Schwierigkeit 
naht; Eifenbahnen fängt man an zu bauen. Das Poſtweſen iſt wohl georbnet 
nd ebenfo die Dampferlinien zur Verbindung mit Europa. — Die Bildung des 
zolkes iſt noch weit zuräd und verhältnigmäßig befler für höhere Unterrichtsanftal⸗ 
m (Univerfität Garkcas und Märiva) geforgt, ats für Klementarfhulen. Die 
teligion des Landes iſt die römijch-Tatholifche; die Bifchöfe werben durch den Kon- 
reß gewählt und mäflen die Verfafſung beſchwören. Diefe iſt nah dem Muſter 
er Vereinigten Staaten von R.-Amerila entworfen. Dur allgemeines Stimm⸗ 
echt werben Wahlmäuner, auf je 4000 einer, gewählt auf 2 Jahre; biefe wieber 


1086 Radtrag. 


erwählen ben Präfidenten und bie Ditgliever ber gefehgebenben Berfammkung, bie 
alle zwei Jahre zur Hälfte nen ernannt wird. Sie zerfällt in ben Senat (zwei 
Mitglieder aus jeder Provinz) und das Haus der Gemeinen (einer auf 25,000). 
Die zahlreihen Infurretionen und politifhen Wirren der legten Zeit Gaben ben 
Wohlſtand des Landes ſehr untergraben und der Stand der Finanzen iſt ein fer 
ſchlimmer. 1859 (neuere Angaben fehlen gänzlich) wurbe die Schuld zu 114,128,120 
(davon auswärtige 104,611,065) Francs berechnet; im Jahre 18%/,, zeigte das 
Budget 8,248,031 Peſos Bedarf und nur 2,705,055 Einnahme und fomit erklart 
fih das raſche Steigen der Schuld leicht. 

3) Die vereinigten Staaten von Columbien, früher Ren-Iranaba, Hegen 
zwiſchen 30 85° |. Br. und 120 30° n. Br, 47% 70' und 65° 26° w. Zänge, 
mit einem Flacheninhalt von 24,178 geogr. D.-M.; die Grenze im Güven und 
Oſten iſt im Ganzen voch fehr unbeftiimmt. Die Küften bes karaibiſchen Meeres, 
wie des ftilen Dceans find mit trefflihen Häfen und ver Schifffahrt 
Buchten reich verfehen; neben den Freihäfen Banaıms, Aopinwall (Eolon) umd 
Cartagena find vor allen zu nennen: Santa Marta, Rio Hacha, Sabantlla, Porte⸗ 
bello ıc. Ein interoceaniſcher Kanal auf der Lanvenge von PBanamık iſt projeliikt; 
bis zu feiner Herftellung verbindet eine Eifenbahn die beiden Meere. Bebentende 
Ströme durchſchneiden das Land; der Magdalena-Strom iſt bis zu feinen Strom- 
ſchnellen mit Dampfern befahren; das Schiiffahrtsredit auf dem Umazonenfrem 
it Kolumbia zugeflanden und feine Dampfer befahren den Orinolo und deſſen 
Nebenfläfle Guabiare und Meta. Auch die dem großen Ocean zufließenven Patka 
und San Juan werben für den Handel ansgebeutet. Zahlreihe Infeln gehören 
zu Kolumbien, außer 11 in ver Laguna von Chiriqui, 20 au der Käfle 
Cartagena, befonders der PBerlen-Archipel im Golf von Panams, 10 Iufeln um- 
faffend, dann die Infel Taboga im Panamk-Bafen und das 21 DER. große 
Coiba. Die urjpränglicden Eingeborenen find die Chilcha ober Muibcas, die eime 
entwideltere Kultur, ähnlich ber meritaniihen und pernanifchen, eine ausgeblibete 
Religion mit Unfterblichleitäglauben und reichem Mythus befaßen. Bon ben Spe- 
niern beflegt, haben fie nad und nach ihre Sprache, die rei und wohllantend 
war, eingebäßt und die ſpaniſche dafür angenommen. Im wilden Zuſtand und 
meift noch im Befitz ihrer Sprache leben in den äftlichen Landestheilen eine große 
Zahl Indianerflämme (Meſehas, Omaguas, Mokoas zc.)innb an der Käfle bes 
atlantifden Dceans von Chiriqui bis Goajira Karaibenvoller. Bon der Geſamm—⸗ 
bevölferung bes Landes, die auf 2,800,000 geſchätzt wird, iſt weitaus bie größere 
Hälfte, über 11/, Milltonen Weiße, ein günftigeres Berhältuig als in irgend einem 
andern ſpaniſchen Lande von Sübamerifa; in bie Heinere Hälfte find zu rechnen 
gegen 120,000 wilde Urbewohner, die cioilifirten Indianer, die Neger umd bie 
verſchiedenen Miſchlinge. — Unter dem Einfluß bes tropifhen Klima (man unter 
ſcheidet eine trodene und eine naſſe Jahreszeit, in einigen Gegenden aud zwei 
trodene und zwei naffe) entwidelt fi bie reichſte Fauna und Flora. Weizen, Brot 
früchte, China, Batate, Vanille, Mahagont find Begenftände gewinnreicher Aus⸗ 
fuhr; an der Käfte finden fih in Fülle Perlen, Muſcheln, Berlmutter und Korallen; 
die Gebirge find veih an Bold (Goldſand von Antioquia; es wirb trog unnell- 
tommener Manier der Ausbeutung jährlich für 12,000,000 Pefos gewonnen), 
Silber, Blei, Kupfer, Eifen, Epelfteine (Smaragde von Muzo); Kohlen finden ſich 
häufig und in mächtigen Lagern; zwiſchen Sonde und Rare wirb ans a 
Bernſtein ausgebentet. — Alonzo de Djebe (1499), Rodrigo Baſtides (1501) uud 
Kolumbus (1502) waren bie exften, welche die Küften Neu⸗Granada's befudten; 


Südamerihanifde Republiken. 1087 


‚08 Land wurbe 1536 und 37 erobert, 1718 ein Bicelbnigreich Spaniens, in 
wei Vezirke; Panams, Santa 6 de Bogots und Duito getheilt. Nach mehreren 
‚efheiterten Verſuchen (1781 und 1795) begann 1811 die Revolution gegen Spa» 
ıten; nach ber Schlacht von Calobozo (1818) wurde die Unabhängigfeit 1819 
eflärt. Neu · Granada bildete mit Venezuela uud Ccuador eine Union bis 1830; 
ach deren Auflöfung fonflitnirte ſich Neu⸗Granada als befonderer Staat mit repu⸗ 
litauiſcher Berfaflung (feit 1832); 1843 erlitt dieſe eine Reform; Abſchaffung 
& Sklaverei und Meligionsfreiheit datien von 1851. Die 28, früher 38 Bro« 
singen bes Landes wurden 1857 in 8 föberirte Staaten (Autloqula, Boliver, 
Bopark, Cauca, Cundinamarca, Magdalena, Panams, Santander) gefdieven, zu , 
enen fpäter als neunter Tolium (ans ehemaligen Theilen von Candinamarca 
eblldet) hinzukam 1). Die gefepgebende Gewalt beftcht aus einer Rammer der 
Isgeorbneten und einem Senat ber Bevollmächtigten der föberirten Staaten. Zu 
egterem ftellt jeder Staat drei; Deputicte kommen einer auf 50,000 Einw. und 
iner mehr für einen Ref von mehr als 20,000. Dan zäplt 27 Senatoren und 
est 66 Bolls-Repräfentanten. Die Erekutive hat ber Präfident (1870 General 
5. Qutierrez) und vier Minifler (Gekretarios). Iener wird auf zwei Jahre durch 
de abfolnte Majorität ver Staaten, in dieſen durch das Boll gewählt; der Anfang 
er Präöfvensfaft in immer der 1. Mpril des betreffenden Jahres, Der Sig der 
teglerung iſt in Bogota. Das Budget ergab für 1861/., 1,824,000 Pefos Ein 
ahme und 2,186,517 P. Ausgabe; 186%/g5 2,200,000 und 2,700,000; 18%/., 
1,020,000 und 2,715,128 Peſos Einnahme und Ausgabe; in dem Budget vom 
1868/g7 wurden belde mit 2,350,000 ®. gleich gejegt. (Ein Peſo oder Viaſter 
ſt gleich 5 Francs.) Die Haupteinnahme bilden mit ungefähr 1 Milion bie 
öde. Der Präfident bezicht 9500, jeber der Minifter 2500 und ein aktiver 
Beneral 2000 B. Gehalt. In rievenszeiten zählt das Heer der vereinigten Staa» 
m 1420 Mann; im Krieg muß jeber der Staaten ein Procent ber Benällerung 
tellen; eine Sriegsmarine egiftirt nicht. Die öffentliche Schuld belle fi 1861 
af 44 Millionen Peſos, wovon 34,690,000 bei englifhen Blänbigern Rauben. 
zinſen und übriger Bebarf ergab 1861 2,640,000, alfo ein Deficit von 820,000 B. 
Dagegen wurde 18%/g, zur Dedung der Zinfen nur 488,204 (außere Schuld 
:02,000, innere 218,104, ſchwebende 68,100) Peſos verlangt. Was den Handel 
anbelangt, fo wurde 1864 bie Einfuhr für den eigenen Gebrauch mit 11/,, bie 
Insfuhr mit 1 Million P. angegeben. Bel dem in fietem Gteigen begriffenen 
'raufithandel über ben Ifhmus betrug bie Einfuhr 38%/,, die Ausfuhr 66 Mil 
ionen. Der ganze Handelsverlehr beziffert ſich aiſo auf mehr als 100 Millionen, 
oahrend er für 1860 mit uur eimas mehr als 10 Millionen angegeben wird. 
Inter den Sanpiplägen liefen 1865 in Panam& 170 Säiffe ein und 188 aus 
ıit 360,000 Tonnen Gehalt, 1864 in Golon 276 Echiffe ein und 280 aus mit 
85,044 Tonnen. — Durd die feit 37. Ian. 1855 eröffnete Gifenbabn iſt der 
Amus die wichtigfe Verlehrsſtraße geworten für die OR- und We 

ia’ uicht allein, ſondern aud nad Auſtralien, ben Infeln ber 

hina; in etwa je drei Jahren pflegt ſich der Berlehr auf biefer Et 

oppelm und 1866 beting ber Frachiverkehr anf diefer Linie 107,5: 

e Zahl der aus Pauama nnd Colon monatlich anslonfenden groß 

a 1867 auf 23 geftiegen. 


3) 1864 wurde die alte Benennung „Dereinigte Staaten von Kolumbien“ ı 
n Rewranada wieder aufgenommen. 


1088 Nachtrag. 
3) Dur ſeine Geſchichte mit Kolumbia eng verfnäpft il das ſeit 1831 vou 
ihm als felofiftänpiger Staat getrennte Ecnador. Diefe nach dem fie burdhzie 
benden Aequator genannte Republik reiht von 2° n. Br. bis 60 f. Br. umb von 
52 bis 649 wefll, Länge. Die Oftgrenze ift keine feſt befiimmte nnd es ſchwanken 
die Angaben über den Flächeninhalt zwiſchen 10,300 und 16,200 D.-M. Das 
ganze Land tft von mehreren Parallelfetten ber Andes durchzogen, zwiſchen umb 
auf welchen fi Ebenen anspehnen; Meſas oder PAramos nennt man die unwirth- 
lihen auf der Höhe des Gebirges felbft, Meſetas die zwifchen den einzelnen Ketten 
gelegenen mit gemäßigten Klima und fruchtbarem Boden. Heißes Klima (inter 
oder Megenzeit von Iuni bis November und Frühling oder Zeit der Winde vom 
December bit Mat) beherrſcht die tiefer liegenden Flußthäler und Käftenfiridhe. 
Zu Ecuador gehört der Ardipel der Galäpagos, 130 Meilen von der Küfte und 
and 11 größeren und vielen Heinern Infeln beſtehend mit einem Flächeninhali 
von 189 Q.M. — Die Einwohnerzahl wird 1858 einfchließlih 200,000 wilnen 
Indianern im Often anf 1,300,000 angegeben, worunter 600,000 von Curopãern 
ſtammende Weiße, 460,000 civilifirte Indianer, 8000 Neger und 36,000 Brifd- 
linge, Die widtigften Indianerfiämme find die Ouitus, Jumbos, Cayopa, Iwara 
und Zapara. — Neben den Produkten des Ackerbanes, Weizen, Mais, Häülſen⸗ 
früchten, Bataten, Yuca, Gemüfen ſtehen Kaffee, Kakao, Tamorinde. Zummet⸗ 
rinde, Baumwolle als Haupterzengniffe des Bodens; baneben bildet ein bebenten- 
ber Biehftand einen Hauptreihthum des Landes; die Heerden weiden den größten 
Theil des Jahres auf den Hochebenen; man ſucht jetzt das Merinosſchaf in größe 
rem Maß einzuführen und Seidenzucht zu kultiviren. Die Manufaktur if nidt 
unbebentend; außer Tuchſtoffen find es alle Arten von Flechtwerk, vor Allen Strob- 
hüte, welche eimen beträchtlichen Ausfuhrartikel bilden. — Nach der Trennung Ecua⸗ 
dors von Reu-Branada und Venezuela wurde 1845 die Konftitation zu Cuenca ange 
nommen, Die gefeßgebende Gewalt hat eine erfte Kammer von 18 Senatoren und 
eine zweite von 30 Deputirten in der Hand; die Exekutive iſt einem Präflpenten 
oder Bicepräfidenten (1870 Xrtata) übertragen, der auf 4 Jahre durch Meajori- 
tät gewählt wird und erft nad 4 Jahren wieder wählbar iſt. Er bezieht 12,000 
Peſoo Gehalt. — Das Land iſt in drei Diſtrike (Quito, Guahaquil, Azuay) 
und 10 Provinzen eingetheilt; in Quito, dem Regierungsfig, iſt der oberſte Ge⸗ 
richtahof, dem drei obere Höfe untergeorduet find; Geſchworene urtheilen in 8 Ram 
tonen ab. Unterrigt und eoifienigaft Itegen noch fehr im Argen und die Gtaate- 
religion iſt die katholiſche; die bekehrten Indianer verflehen vom 
hoͤchſtens den Kultus mitzumachen; bie wilden treiben ktafſen Fetiſchiemut. — 
Eine ſtehende Armee oder eine Flotte iſt nit vorhanden. Die Finanzen anlan- 
end betrugen 1866 bie Einnahmen 1,372,800 und bie Ausgaben 1,358,498 
fer, 1865 aber 1,401,300 (darunter 522,122 Cinfuhrzölle) und 1,399,672 
Piaſter Einnahme und Ausgabe. Im Jahre 1866 beliefen fih die Einfuhrzolle 
auf 701,247 P. Die Schuld beträgt über 19 Millionen P.; nad den officiellen 
Angaben war 1865 die innere Schuld 9,390,554 und die äußere 3,692,955 Piafter. 
1865 betrug bie Einfuhr 31/, und die Ausfuhr A1/, Milltonen. Die wichtigſten 
Gegenfläude der Ausfuhr find Kakao, Gtrobhäte und Baumwolle. Den Hafen 
von Guayaquil verließen 1866 an Kakao für 3,662,421, Strohhüten für 342,825 
und an Baummolle für 227,984, aber 1867 für 2,614,651, 205,950 und 97,740, 
und 1868 für 2,077,550, 185,710 und 77,994 Biafter. In legterm Jahre bes 
teug bie Ausfahr von Gummi elaſtikum 406,825 und von Chinarinde 156,440 P. 





Sñdamerikaniſche Republiken. 1089 


Die Zahl der 1867 im Hafen von Gnahaquil einlaufenden Schiffe war 108 Schiffe 
mit 11,798 Tonnen (nebft 58 englifhen Poſtdampfern). 

4) Der Freiſtaat Berm dehnt fih von 8° 25° bis 219 30° ſ. Br. und 
son 470 31° bis 630 51° w. Läuge aus; die fehr hafenarme Küſte bat eine 
änge von 273 geogr. Meilen; die beften Baien für die Schifffahrt find Die vom 
Sallao und Payta. Zu Peru gehören vie Ehindas-Infeln und die guanoreichen 
dobos⸗Inſeln An der Weſtküſte des Landes finden fily nur kurze, reißende Küften- 
lüffe, während von der öftlihen Abdachung der Anden der Marannon, Huallaha 
and Yurayali tief und ſchiffbar herablommen. Das Klima Peru's zerfällt im vier 
Zonen: das Küftenflima, das milde und veränderliche der Sierras ober Hoclänber 
‚a8 kalte der Korbilleren und das warme und fenchte ber öfſtlichen Landjchaften; 
ach ihnen richtet fich die verſchiedene, in der zweiten und vierten hoͤchſt reiche 
Begetation. — Das Land ift den Bewegungen aus dem Grbinnern fehr ausge 
est und feine Geſchichte bezeichnet die ſchrecklichſten Erdbeben. — Auf den etwa 
24,000 geogr. D.-M. des Landes wohnen (nad einer Schägung vom Jahre 
1859): 2,500,000 Einwohner, von denen 1,620,000 eingeberene Indianer find. 
Die Nachkommen der Untertbanen des fräher mächtigen Inkareiches: Guichuas, 
Aimaras, Atacamas und Ehanyos haben ihre Sprade großentheils beibehalten, 
ndere haben das Spauiſche angenommen. Der Abkunft nad Spanier find etwa 
300,000; ganz reines Blut ift felten; fie find energielos und unbeflänpig. Reben 
40,000 Negern bilden den Reft der Bevölkerung vie verſchiedenſten Miſchlings⸗ 
racen. — Der Reichthum Peru's Liegt nicht zum kleinſten Theil im Mineralreich; 
faſt alle Ströme führen Bold, aber es wird auch anf Gold gebaut; Silbererz, 
Duedfilber und Kupfer find vorhanden; nur wird namentlich legteres ungenügend 
ausgebeutet, theils wegen des nievern Standes des Bergban’s, theild wegen ber 
Ummödglichleit leiten Transports. Die jährliche Ausbeute an Gold und Silber 
wird zu 7,803,400 Thaler gefchägt. Die Pampa oder die große Ebene von Tamarnpal 
iſt reich am Salz, Natron, Salpeter und andern Salzen. Unter ven anferorbent- 
lich zahlreihen Produkten des Pflangenreichs ſeien bier angeführt: Kohl⸗ und Kokoe⸗ 
Balmen, Banmwolle, Bananen, Zuderrohr, Einhona-Arten, Kalao, Kopriva- 
Balfam, Vanille, Weintrauben und Dliven. Die wilde Thierwelt ift auf ver Weſt⸗ 
feite faft ganz zurüdgebrängt; auf den Anden und im Often finden ſich zahlreiche 
Arten wilder Thiere: Puma, Iagnar, Hirſch, Wildſchwein, Yaulthier, Armadill 
und Affenarten. Das pernvianiſche Schaf, das Mama, Alpaco, Bicuno haben 
für das Land den meiften Werth; aus Europa iſt das Schaf, Pferd, Rindvieh 
und Efel eingeführt, welche alle im Tiefland gebeihen, aber auf ber Hochebene 
degeneriren. Auf die zahllofen Schanren von Seevögeln weifen die Guauolager 
bin. — Der Aderbau iſt nicht beveutend und das Land muß, nameutlich aus 
Shile, Lebensmittel einführen. Ebenſo ift es mit der Induſtrie; fie beſchränkt fich 
zuf wenige baumwollene und wollene Babrilate, Gerbereien, Seifenſiedereien zc. und 
Filigranarbeiten in Gold und Silber. — Das Gold lodte zuerft Europäer im 
Anfang des ſechszehnten Jahrhunderts wiederholt ins Land; aber exft 1532 gelang 
es Pizarro feften Fuß zu fallen und 1535 gründete er die neue Hauptſtadt Lime; 
jeit 1550 war Peru eines ver vier ſpaniſchen Königreicge in Amerika, das von 
Quito bis zum Fluſſe Maulo in Chile und bis Tukuman in Argentine reichte, 
1718 wurde Oufto an das Königreih Neu⸗Granada angeſchloſſen; 1788 aus 
ven Theilen von La Blata die Provinz Buenos⸗Aires und aud Chile, Venezuela 
c. zu befondern Gouvernements gemacht. Erſt im Jahre 1821 wurde die Ipani- 
ie Herrfhaft in Peru abgeworfen und die Unabhängigkeit unter dem Präfiven- 


1040 Nachtrag. 


ten San Martin erklaͤrt. 1824 vernichtete Diktator Volivar bie letzte ſpaniſche 
Truppe und trennte Bolivia als befondern Staat von Bern ab. Innere Kriege 
erſchutterten das Land von da ab fehr häufig. Erſt 1855 fchaffte Eaflilla die Sflave 
zei wirklich ab, obſchon die Abſchaffung ſchon in die Unabhängigteitserllärung mit auf- 
genommen war. Im Jahre 1867 wurde eine neue Konſtitution augenommen, welde 
bie Praſidentſchaftaperiode auf 5 Jahre feftfegt. Neben dem Präfiveuten eriftinen 4 Mi⸗ 
nifterien. Der Kongreß befteht aus vem Senat, in ben jeves Departement zwei 
Mitglieder fendet und der Deputirtenfammer, zu welcher von je 20,000 Eintw. ein 
Repräfentant gewählt wird. — Die Armee Peru’s befland 1866 aus 12 Batall⸗ 
lons Jufanterie (8400 Mann), 4 Regimenter Kavallerie (4200) und 2 Regimenter 
Ürtillerie (1000 Daun). Die Flotte zählte 11 Schiffe mit 108 Kanonen, 1 Panzer 
fregatte, 3 Monitors, 1 Thurmſchiff c. — Die Sinanzen wiefen im Jahr 1:66 
16,652,720 Soles auf, Darunter 13,300,000 Öruttoertrag für Guano und 3,352,700 
aus Zöllen), während die Ausgaben auf 15,795,000 (51/, Mill. für pie Schulv und 
5 Mil. für Heer und flotte) fich bezifferten. Das Budget von 1867 zeigte im ben 
Einnahmen 14,844,000 Bruttoertrag am ®uano (der Reinertrag wirb mit 7,440,00 
aufgeführt), Zölle 4,000,000, im —* mit Steuern ꝛc. 19,034,000 gegenäber 
16,302,198 Ausgaben, was den Reinertrag des Öuano abgerechnet ein Deficit von 
31/, Millionen ergibt. Dazu kommen Kriegstoften und Steuerausfälle. (1 Sol if 
glei 11/, Dollar.) Die Bedürfnifſe des Staates wachen in großen Berhältniffen 
und die Staatsſchuld war demgemäß 1866 bereits 55,892,161 Soles (innere Schulb 
7,218,811, äußere 48,678,350), während fle 1864 noch 34,288,245 betrug. Pa 
piergeld (Males) cirkulirt in großer Menge; die Finanzwirthſchaft fol eine ſehr 
ſchlechte fein. 1865 war der Geſammtwerth der ein- und ausgeführten Waaren 50 
MU. Dollars, darunter 20 Mill. für die Einfuhr. Guano und falpeterfaures Ra 
tron find die vorzäglichften Eiunahmsgnellen. 1865 wurben 626,427 Tonnen Guano 
im Werth von 17,039,125 Dollars und 2,441,735 Eentner falpeterfaures Natron 
im Werthe von 6,104,838 Dollars ausgeführt. Die Lager des letzteren follen noch 
für Jahrhunderte ausreihen. Für pen Guano behonpten Einige dasſelbe, während 
Andere den noch auf den Ehinha-Infeln vorhandenen Borrath als fehr gering ange 
ben. Indeſſen find an andern Stellen, befonders im ubrdlichen Chile, neme, gute 
Guanolager entvedt worven. Im Jahre 1866 Hatte der Krieg mit Spanien ungänftig 
anf den Handel gewirkt und die Einfuhr auf 14 Mill. die Ausfuhr auf 36,77 MU. 
Dollars herabgedrückt. In Kallao, dem Haupthafen liefen (1866) 1534 Schiffe mit 
998,000 Tonnen ein und 15,620 aus mit 997,642 Tonnen. Die einheimiſche Han- 
belsflotte zählte (1861) 110 Schiffe mit 24,234 Tonnen. Eine britiide Dampfer- 
geſellſchaft vermittelt duch 14 Dampfer mit 12,480 Tonnen Gehalt (für Poſtbeför⸗ 
berung zahlt das Land 265,400 Dollars Eubvention) den Verkehr zwiſchen Pern 
und allen Häfen der Weſtküſte von Nordamerika. Seit 1860 berährt auch eine 
nordamerilaniſche Dampferlinie monatlich zweimal die Häfen des Landes, Die 
Länge der bis jet exiſtirenden Eifenbahnen beträgt ungefähr 12 geogr. Meilen: 
von Calluo nad Lime, von Lima nad Ehorillas nnd vom Hafen von Arica nad 
Zacna. Untere Linien find in Ausfit genonimen, befonders von Jquique nach den 
Galpeterminen von La Noria, von Arequipa nach Bort d’Islav zc. Ein Dekret vom 
12. Juni 1866 orbnet die Herftellung einer Telegraphenlinie durch das ganze 
Land und bie telegraphifche Verbindung der Hauptfläbte alleı Departements an. 
Deren find feit 1855 zwölf nebft drei Küftenpropinzen (das Land jenfelte der Anden 
bildet das Territorial-Bonvernement Loreto). 








Sübamerikanifche Republiken. 1041 


5) Der Freiſtaat Bolivia Liegt zwifhen 10% 21’ und 249 f, Br. und 500 
und 630 weſtl. Länge. Die Grenzen find aber wenig beflimmt; ein Grenzvertrag 
zwiſchen Bolivia und Chile nimmt 249 als Scheivelinie an und ein 1827 (27. März) 
abgefchlofiener Vertrag follte die Gränze zwifchen Bolivia und Braſilien regnliren. 
Die Angaben über den Flächeninhalt find demgemäß jehr ungenau und ſchwanken 
zwifhen 22,500 und 30,000 geogr. DM. Während die im Weften gelegene hohe 
und felfige Küfte eine vegenlofe Wüfte ift, dehnt fih nad Oſten ein weites, frucht⸗ 
bares Plateau aus, das von ſchiffbaren Nebenflüflen des Amazonas, Madeira uno 
Parand bewäflert wird. Man nnterfheidet 3 Mimatifche Regionen: die Talte, hohe 
Puno (die höheren Gebirgsftriche heißen Puno brava, die Heimat des Vicuun); ge- 
mäßigter ift das PAramo an den Oftabhängen der Audes ; unterhalb biefer folgen 
bie Yungas mit tropiſcher Hige und reicher Vegetation (Kaffee, Kakao.) — 1858 
betrug die Bevolkerung 1,750,000 Einwohner, von denen drei Viertheile Iudianer 
find; die Hauptſtämme find Ahmaras, Quichuas, Mojos und Chiquitos. Die Kreo- 
len von fpanifcher Apkunft find befonders in den Bergwerksdiſtrikten zahlreich und 
bie Meftizen (Cholos und Zainbos) wohnen zumeift im Weften ver Andes. Bon ber 
Höhe der früheren Kultur der Eingeborenen reden noch zahlreiche Ruinen. Wäh- 
rend bie frühere Geſchichte Bolivia's mit der Pern's zufammenging, wurde das Land 
im Jahre 1825 als ein felbftändiger Staat von Peru losgetrennt und am 11. Au⸗ 
guft desfelben Jahres nad ſeinem Befreier Bolivar als Republit Bolivia konſti⸗ 
tutrt. Die von ihm gegebene Konftitution, in der That nur eine gemäßigte Monar⸗ 
hie, ward 1829 wieder aufgehoben und feitvem folgte eine Revolution der andern. 
Je nachdem die eine ober die andere Partei herrſcht, wechfelt pie Hauptſtadt; im Au⸗ 
genblick ift e8 Sucre. Die erelutive Gewalt ift einem auf 4 Jahre zu wählenven 
Präftdenten übertragen, während bie gefeßgeberifche TChättgkeit von dem Kongreß ober 
ber Nationalverfammlung ausgeibt wird. Indeß iſt die von dem legten Kongreß 
(Auguft 1868( ansgearbeitete Kouftitution bereit8 1869 wieder aufgehoben worden: 
damit Härte die Tonftiturionelle Republik auf, und feitbem regiert Melgarejo als 
Diktator. Das Land wird in 11 Departements getheilt. Die induſtrielle Thätig- 
keit ift fehr gering und auch der Handel mit dem Ausland noch unbeveutend. Haupt⸗ 
gegenftände ber Ausfuhr find: Gold, Silber, Kupfer, Ehinarinde, Alpafawolle und 
Kaffee tm Betrag von jährlih 3 bis 31/, Millionen Dollars, während bie zumeift 
aus England kommende Einfuhr etwa 21/, Millionen ausmadt. Nah dem Budget 
von 1867 beliefen fi die Einnahmen auf 4,529,345, die Ausgaben auf 5,957,275 
Peſos; das Deficit war alfo 1,425,930 B. Einen Thell der Einnahmen bilden 
I/, Million Pefos, welche Peru der bolivian. Regierung jährlih zahlt für die in 
Arita erhobenen Zölle auf nach Bolivia gehende Warren. Der einzige Hafen von 
Cobija, den Bollvia beſitzt, ertrug 1867: 135,382 Pefos. Unter den Ausgaben 
Aguriren mit jährlich circa 2 Millionen die Koften des ftehenden Heeres (31 Ge⸗ 
nerale, über 1000 Ober: und Subaltern-Officiere, 3034 Mann und 522 Pferbe). 
Die Staatéſchuld fol Mitte 1868 nah amtlichem Bericht nur 2,181,215 Pefos 
yetragen haben, wobei jebod die fälligen und ſchuldigen Zinfe nicht gerechnet zu 
ein feinen. Das Land iſt bis heute nur in geringem Verkehr mit dem Ausland und 
yei feiner Außerft pünnen Benölferung noch außer Stande, feine reihen Hülfs⸗ 
mellen vollfländig zu verwerthen. Die Regierung macht deshalb die größten An⸗ 
trengungen, namentlich deutſche Einwanderer in das Land zu ziehen. Mehrere Eifen- 
ahnen, befonders bie von Cobija nad Potofi, welche bis 1872 vollendet fein 
ollen, find beftinmt, den Verkehr zu erleichtern, und im Oſten bieten bie Neben- 
Yüffe des Madeira und Parans eine natürliche Verbindung mit Brafilien, ven La Plata⸗ 

Bluntfali und Brater, Deutfhes Staats⸗Wörterbuch. XI. 66 


1042 Nachtrag. 


Staaten und dem atlantiſchen Ocean. Außer den argentiniſchen Republiken bärfte fein 
Land Süpamerila’8 den Koloniften eine fo fihere und lohnende Zukunſt bieten, 
als Bolivia. 

6) Chile oder Chili zwifchen 24 und 56° f. Br., liegt ganz anf ber Be 
feite der Undes in einer Breite zwifhen 4 und 40 geogr. Wellen; fein Flachen⸗ 
inhalt beträgt nad) dem Eenfus von 1865 6237,57 geogr. Q.⸗M., in dreizehn Brr 
vinzen getheilt (Atafama, Tolle, Moule, Arauko, Valdivia zc.). Zu diefen fomm 
jegt noch Ehiloe, wozu außer der gleichnamigen Infel der ganze weſtliche Küftenfriä 
Batagoniens bis zur Höhe ver Korbilleren und bie vorliegenden Juſeln geyäkt 
‚werden; nur wenige Theile davon find bewohnt; feit 1852 ift endlich die Prost 
Magellanes in Batagonien gegründet. Un der über 500 geogr. Meilen langen Räft: 
liegen viele Hafenpläge, deren bedeutendſte Balparalfo, Baldivia (für Feine Schiffe), 
Tallohuano und Kaldera (Silber- und Kupfer Berfhiffung) find. Die Bälle der 
Anden find hoch, ſchwer und wegen der Indianer auch gefährlich paffirbar. Die 
Flußbildung iſt eine geringe; nur Küftenfläffe, bei der Schneeſchmelze wafſerreich, 
aber nur geringe Streden beſchiffbar, ftärzen fidh in den flillen Ocean. Unter einen 
ber beften Klimate gedeihen alle Früchte der tropiihen und gemäßigten You; 
doch hat das Land große Orkane (Temporales) auszuhalten und iſt ſtarken Gr» 
beben ausgeſetzt, bei denen man die häufigen aber unſchädlichen Temblores unterjäc 
det von den heftigen Terremotos. Ganze Küftenftreden Chile's find gehoben mer 
ben, 3. B. 1822 bie Käfte von Balparalfo um 6 Fuß. — Die Einwohneruhl 
wird nach dem Genfus von 1865 auf 1,819,223 angegeben, wozu aber mod eim 
10 Procent Ungezählte, 80,000 Araucaner und gegen 4000 Patagonier zu vegon 
find; nur ein Drittel der Chilenos find reiner ſpaniſcher Abkunft, bie andern fin) Je 
bianer oder gemifhten Blutes. Im Ganzen find die Chilenen arbeitfamer als alle 
übrigen Bewohner Südamerika's und obgleidy der Aderban nicht gerade wuf einer 
hoben Stufe flieht, wifien fie ihre Güter oder Haciendas vortrefflid amszunugen. 
Die Pflanzer felbR wohnen gewöhnlich in den Städten und überlaffen ihr Land ber 
Auffiht eines Inſpektors; tie Inquilinos, welde von den Pflanzern ein Kleinere 
Stüd Land zu Eigenthum zu erhalten pflegen, unterftügen ven Pflanzer in feine 
Thätigleit. — Obgleih ein Theil Chile's wegen ber Kälte oder aud zu geringe 
Ackerkrume nicht zu bebauen tft, erzeugt der übrige Theil bes Bodens fo wel, bei 
Chile eine Menge Getreide und Fleiſch ausführen kann, dazu bat das Land einen 

großen Reichthum im ben verfchievenflen und werthuollften Erzlagern. — Erſt im 
Jahre 1550 war es nach vielen vergeblichen Berſuchen und empfindlichen Verlaufe 
den Spaniern gelungen, im Lande Fuß zu faflen und Konception zu gründen, 
aber andy dies wurde fhon 1553 wieder zerflört und der Krieg begann von Rum 
für ein Iahrhundert, bis 1665 die Spanier unter Anerlennung ber Unabhängigkii 
ber inbianifhen Stämme einen Friedensvertrag mit den Eingebornen abiclofen. 
Bon 1723 an begann ein neuer 5Ojähriger Krieg um den Bey des Laudet 
Chile blieb ein ſpaniſches Königreih, bis 1810 am 18. September die Unabhängig 
teitserflärung vom Mutterlande erfolgte, aber erſt 1817 konnte fi Chile ale Raw 
blik konſtitniren. Nach ber Konflitution von 1833 theilt fich die Regierung in dri 
Gewalten: die geſetzgebende, beſtehend aus einem Senat, deſſen 20 Miitglieder au 
9 Jahre gewählt find, nnd einer Deputirtenlammer mit Zjähriger Amtsbener (da 
Abgeorbneter auf 20,000 Ginw.); die Erekutive, beſtehend aus dem auf 5 Jaht 
gewählten Präfidenten der Republit (fett 1866 3. 3. Perez) und dem Staattrath 
bie richterliche Gewalt. — Seit 1850 war in den Kammern keine 

vorhanden; denn bie Wahlen find ganz der Regierung anbelmgegebem, da bie größer 


Südamerikanifhe Republiken. 1043 


Zahl der Wähler Mitglieder der Nationalgarde find, welche vom Präflventen er- 
naunt werben, ober Arbeiter in den Pflanzungen, deren Eigenthümer mit dem Präfi- 
benten gleiche Intereflen verfolgen. — Das Heer zählte 1869 an Linientruppen 
3705 Mann (2329 Infanterie, 572 Kavallerie, 804 Artillerie) und 1868 an Natios 
nalgarbe 50,618 (28,933 Infanterie, 19,423 Kavallerie, 2262 Artillerie). Die 
Flotte beſtand 1869 ans 10 Dampfidiffen mit 400 Mann Befagung. Das Bub- 
et wies in den Einnahmen 1851 4,481,254, 1862 6,287,155, 1867 9,756,838 
Befoe auf, und bradte 1869 11 Millionen in Boranfchlag; dagegen betrugen bie 
Unsgaben 1867 10,814,000 und wurden für 1869 mit 12,297,000 angefest. Bon 
diefen fommen 2,576,800 auf das Minifterium des Aeußern und Innern, 5,896,000 
auf das der Finanzen und 21/, Millionen auf das Kriegeminifterium; 1,337,000 
verwendet das Minifterium ver Juſtiz, des Kultus und des äffentlichen Unterrichts; 
für legteren gejhieht im Ehile mehr als in den übrigen Staaten Südamerilka's; 
1861 zählte man 39,700 Schüler in 950 Schulen gegen 33,000 Schüler in 
857 Schulen des Jahres 1857. — Was die Öffentliche Schuld angeht, fo betrug 
bie Geſammtſchuld am 15. Mai 1868 34,574,634 Befos (innere 9,515,708 und 
äußere Schuld 25,058,926 B.), während fie am 1. Januar 1865 zu nicht ganz 
19 Millionen angegeben wurde. — Der Handel, welder durch ben Krieg Ehile’s 
mit Spanien gelitten hatte, ift feit befien Beendigung in beträchtlicher Zunahme. 
1867 beteng die Einfuhr 24,86 Millionen gegen 18,76 im Vorjahr, die Ausfuhr 
30,69 gegen 26,68, ver Käftenhandel 34,81 gegen 27,74, die Durchfuhr 3,5 gegen 
2,41, der Befammtwerth der Handelsbewegung alfo 1867 93,41 gegen 75,59 Mil⸗ 
lionen im Jahre 1866. Bon ber Einfuhr kommen 1867 auf Amerika 5,34, auf 
Europa 19,51; von der Ausfuhr auf Amerika 6,04, auf Europa 23,93 Millio- 
nen. Deu Hanptbetrag der Ansfuhr machen die Erzeugniffe der Minen mit 18,14 
(Rupfer 13,87, Silber 4) und bes Aderban’s und ver Viehzucht mit 10,15 Mil⸗ 
lionen aus. Auch die Sciffahrtebewegung nahm 1867 zu, und es liefen in ben 
chileniſchen Häfen ein 3585 Schiffe von 1,723,000 Tonnen (gegen 3094 Schiffe 
von 1,417,000 Tonnen des Jahres 1866 und 2830 Schiffen mit 776,468 Ton- 
nen im Jahr 1864). Regelmäßige Dampferlinien verbinden die Küſtenpunkte Chile’s 
nit nur mit den Haupthäfen ver Weſtküſte Amerila’s, fondern auch mit Europa. 
— Kiſenbahnen in der Länge von 84,09 geogr. Meilen verfnüpfen bie Haupt- 
punkte des Landes (Bant Iago mit Balparaifo, Kaldera mit San Antonio u. f. w.). 
— Auch das Telegraphenneg iſt Aber alle wichtigen Orte ausgebehnt; von befon- 
derer Wichtigkeit wird eine nene, projeltirte Vahn von Tolla nad dem Rio Negro 
werben für bie Verbindung der beiben großen Agrifulturftanten, Chile und Argen- 
tiniſche Republik, wie für die Erleichterung des Verlehrs zwiſchen der Weſt⸗ und 
Oſtkuſte Südamerila’3 überhaupt. 

7) Argentinifher Gtantenbuud. Ju biefer Republik haben die Zu- 
flände begonnen, eine feftere Beflalt anzunehmen, mehr als irgend fonf in Süh- 
amerfla, Das ungeheure Gebiet, welches auf Über 42,000 geogr. Q.⸗M. angegeben 
wird, umfaßt 14 Staaten (au Provinzen genannt), deren widtigfte Buenos» 
Ayres iſt, dann brei Gebiete und das von unabhängigen Indianern bewohnte 
Patagonien. — Die Bevölterung iſt eine fehr verſchiedene. Die auf den weiten 
Ebenen der Pampas wohnenden Indianer gehören zu brei von einander zu tren⸗ 
nenden Völlern: 1. im Nordweſten ein Boll peruanifhen Urfprungs, die Qui⸗ 
chua⸗Sprache redend; 2. die im Norboften wohnenden Guaranis, die fi aud 
über Paraguay bis nad Brafilien anusbehnen; 3. im Süden Gtämme ber Arau⸗ 
faner; von allen dieſen iſt der geringfte Theil den Spaniern unterworfen und 

66'* 


1044 Nadtrag. 


ſeßhaft geworben, die meiften leben als Nomaden. Im Ehaco argentino ſollen ihra 
40,000, in den eigentlihen Pampas argentinas 6000 und in Patagonien 40,008 
wohnen; die Zahl der In den 14 Staaten feßhaften Bewohner wir auf 11/, Mil⸗ 
onen angegeben. Die herrſchende Nation ift die fpanifhe. Zu den Mifcglingen, 
welche in vielen Landestheilen die Hauptbevdllerung ausmaden, gehören auch bie 
Gauchos, die Bauern der Bampas. In neuerer Zeit find nah biefen Gegenden 
viele Europäer ausgewandert und bilden mit ihren Nachkommen faft ausſchließlich bie 
Stäptebevölferung. Während 1858 die Zahl der in Buenos-Ayres gelandeten Ein- 
wohner nur 4658 betrugen, ſtieg fie 1863 auf 10,408, 1866 auf 13,960, 1867 auf 
17,046 ,. 1868 auf 29,384; in ber letzten Zahl find 10,004 Italiener, 8856 
Franzoſen und Schweizer, 3318 Spanter, 1096 Engländer, 1044 Deutſche und 
5066 von andern Nationalitäten begriffen. Die Einwanderung ver Italiener war 
bierher von je vie bedeutendſte. — 1516 wurde das Land von Dias de Solis 
entdeckt und für Spanien in Befitz genommen, aber erſt nach der dritten Gründung 
1580 vermodte Buenos⸗Ayres den Angriffen der Indianer zu widerſtehen, bis 
zum Jahre 1778 war vie Regierung der La Plata-Länder von Peru abhängig und fle 
wurben in jeber erbenklihen Weiſe in ihrem Emporlommen gehindert. Da wurde 
aus den Provinzen Rio de la Plata, Paraguay, Urngnay und Bolivia ein Bice- 
königreich gebildet, defien Hauptſtadt Buenos-Ayres wurde. Bald nad einer kurzen 
Herrfchaft der Briten Über Montevideo und Buenos-Ayres (1806 und 1807) 
griffen auch bier die Unabhängigkeitsideen Platz, der Vicekönig wurde vertrieben und 
am 25. Mai 1810 eine Junta gubernativa eingefegt. Die Kämpfe mit den Spantern 
dauerten nocd bis 1821; eiferfüchtige Streiterelen zwifchen ben einzelnen Staaten 
und beſonders mit Vuenos-Ayres, welches immer eine Art bevorzugter Stellung 
für fi beanſpruchte, hemmten die Entwidlung, zumal während der Diktatur Rofa’s 
1835 bis 1852, Am 1. Mai 1853 wurde von einem Kongreß ber Deputirten 
aller Staaten außer Buenos-Ayres eine Bundestonftitution in Santa 36 publicht 
und Bajada zur Bunbeshauptflabt gemacht. Buenos⸗Ayres Tonftituirte fi als 
felbfländiger Staat. Bel ber Wiedervereinigung mit diefem, am 6. Iuni 1860, wurde 
pie Wöderallonftitution reformirt, der Präfident wird anf 6 Jahre gewählt und iſt 
gegenwärtig (1870) Sarmiento. Er regiert mit 2 Kammern, deren erfte 28 Senato- 
ren, bie zweite 54 Deputirte zählt, Diefem Kongreß unterliegen befonbers bie ans. 
wärtigen und bie Finanzverhältniffe, außerdem bat jede der 14 Provinzen für ihre 
fpeciellen Angelegenheiten ihre befondere Bertretung. — Obgleich feit dem Beginn 
des Krieges gegen Paraguay, den die Republik im Bündniß mit Braſilien und 
Uruguay führt (flehe Brafilien und Paraguay), viefe fih 30 bis 40,000 IR. zu 
ftellen verpflichtete, ſoll die thatſächliche Stärke der Urgentiner auf dem Kampfplatz uie 
über 8000 Eetragen haben und bie Gefammtftärfe der Armee wird auf 10,700M. 
angegeben mit Ausnahme der Miliz und Nationalgarde von Buenos Ayres. Kriegs 
ſchiffe befigt die Nepublit niht. — Das Bubget von 1864 zeigte in ben Ein 
nahmen 7 Millionen, in den Ausgaben 6,179,490 P. fuertes (1 = 11/, Thlr.), 
1866 — 9,568,564 und 13,745,900, 1867 — 12,040,287 und 13,526,464. 
Unter deu Einnahmen von 1867 fignriren die Einfuhrzölle mit 8,713,074, vie 
Ausfuhrzölle mit 2,533,629; von den Ausgaben vesjelben Jahres brauchte ba8 
‚Kriegsminifterium 1,490,000 und verlangte die Staatsſchuld 2,488,903, die außer 
ordentlichen Ausgaben allen bezifferten fi auf 7,541,372.B. Die äußere Schuld 
beträgt 4,516,700, die innere 3,845,597, die ganze alfo 8,362,297 Pfd. Shl. — 
Die Einfuhr in Buenos-Ayres hatte 1867 den Werth von 83,37 M. P. (gegen 
32,37 von 1866 und 27,10 von 1865); England mit 10,20, Frankreich mit 9,11, 


Sũdamerikaniſche Republiken. 1045 


Brofilien mit 3,60 find bie wichtigften der Einfuhrlänver. Die Ausfuhr desſelben 
Jahres ergab 28,08 (gegen 23,03 von 1866 und 22,00 von 1865); fie nahm 
ihren Weg nad Belgien mit 9,54, nad Frankreich mit 8,37, nad ben Verei⸗ 
nigten Staaten mit 4,57, nach England mit 2,42 Millionen. Die Hauptpropufte ber 
Ausfuhr find folhe aus dem Thierreih und es war ber Werth der 1867 ausge- 
führten Wolle 13,8 Millionen P., der im gleihen Jahr ausgeführten Häute 6,8, 
bes Talgs 3,8, der Felle 2,1 Millionen. Die Ausfuhr an ſämmtlichen Zolftät- 
ten der Republik belief fih 1865 auf 26,490,000B. Dabei kommen zu obigen Pro⸗ 
dukten nod bie. lebend ausgeführten Thiere und die in immer größerem Maßſtab 
ausgebeuteten Mineralien, namentlich Kupfer, Silber und Gold. Es liefen im Hafen 
von Buenos-Ayres 1866 1036 Schiffe mit 267,213 Tonnen, 1867 1136 Schiffe 
von 297,307 Zonnen ein, und im Jahr 1866 1103 Schiffe mit 263,339 Ton- 
nen, 1867 1316 Schiffe mit 337,541 Tonnen aus, darunter liefen 1866 437 
und 1867 882 Dampfer ein. — Un Eifenbahnen war am 31. Dec. 1868 89,7 
geogr. Meilen im Betrieb, 38,8 im Bau und 139,8 M. projektirt. Eine Telegra- 
phenlinie verbindet Buenos-Ayres mit Rofario und ein unterirdiſcher Telegraph mit 
Montevideo. - 

8) Uruguay oder Banda oriental, zwiſchen 30 und 350 ſüdl. Breite 
und zwifhen 35 und 400 weftl. Länge, nah den neneften Grenzbeftimmungen 
3375 geogr. Q⸗M. groß, ift eine terraffirte Hochfläche zwifchen dem La Plata 
und Rio Negro. Die Angaben über vie Bevölkerung find fehr unficher zwifchen 240,000 
und 450,000 ſchwankend. In den legten Jahren bat die Einwanderung fehr zu- 
genommen: 1866 Betrug fie 9327, 1867 17,318 und 1868 16,892 Seelen; aud 
bier fliehen die Italiener an Zahl voran, dann folgen zunächſt die Spanter und 
Branzofen. — 1825 erfolgte die Unabhängigkeitserklärung durch die in der Stabt La 
Florida verfammelten Deputirten und 1828 wurde das Land durch den Vertrag 
von Montevideo als Republik anerlannt. Die Proklamation der Konftitution erfolgte 
am 18. Juli 1830. Ununterbrochene Kriege mit den Nahbarftaaten ließen das 
Land nit zur Blüthe kommen, bis 1851 ein befinitiver Friede mit Vnenos⸗Ayres 
erfolgte. Seitdem bat fi das Land unter den Schutz Brafiliens geftellt, welches 
tief in feine innern Verhältniſſe eingreift und es aud in den unfrudtbaren Krieg 
mit Paraguay verwidelt hat. — Die Siyungen des gefeßgebenden Körpers be- 
ginnen gewöhnlih am 15. Februar; während feiner Bertagung bleibt eine perma- 
nente KRommifflon von 2 Senatoren und 5 Deputirten. Die vollziehende Gewalt 
it in der Hand des Präfidenten (Februar 1868 8. Battle), dem vier Minifte- 
rien zur Seite ftehen. — Das ſtehende Heer beträgt 2—3000 Mann und bie Natio- 
nalgarbe des ganzen Landes 20,000 Mann. — Unter den Einnahmen find im 
Budget nur bie monatlihen 3— 400,000 Thaler Zölle zu rechnen (die Ertrazölle find 
für die Berzinfung ver Staatsſchuld beftimmt); alle andern Abgaben find zu ge- 
ring und meift für Gemeindezwecke vernust. Den Einnahmen follen die Ausgaben 
zwar entipredhen; indeß fchließt jedes Jahr mit großem Deficit und die Staatoſchuld 
ift cirka 20 Millinnen Piaſter. Als die Hauptbanten ihre Zahlung einftellten, 
übernahm 1869 der Staat ihre Emiffionen zu 8 Mill. P., welde durch die Ertra» 
zölle in 6 bis 8 Jahren amortifirt fein follen. — Die Einfuhr betrug 1862 8,151,802 
und 1868 16,102,475; vie Ausfuhr 1862 8,804,443 und 1868 12,139,720 P. 
Die Zolleinnahmen an den Grenzlinien find hiebei nicht gerechnet und bei der Aus- 
dehnung der Schmuggelei mag der Gefammtwerth der Ein» und Ausfuhr 190 DRIN, 
Francs betragen. Hauptartifel der Ausfuhr find Produkte aus dem Thierreich: 
Wolle, Häute, Fleifhertralt. In Montevideo kamen 1867 1462 Schiffe an mit 


1046 Nachtrag. 


607,520 Tonnen und 1868 1197 Schiffe mit 469,220. Erſt nad 
des Kriegs mit Paraguay und Aufhebung des brafilffchen Einfluffes Tan das 
rafcherer Entwidiung entgegenfehen. 

9) Baraguay if das Land zwiſchen bem Fluß Paraguay uns Parank, 
zwiſchen 200 58° und 279 30° ſüdl. Br. Na offictellen Angaben umfaft es 
einen Flächenraum von 16,576 geogr. D.M. Das faltiih zu Paraguay gehi- 
rige Land zwiſchen den heiden Flüſſen mißt aber nur 3256 und mit Hinzunahuie 
bes ftreitigen Gran Chako am rechten Ufer bes Paraguay erſt 5943 gesgr. DAMM. 
Im Norden iſt Grenze volllommen zweifelhaft. Das Laud, mäßig Hoch gelegen zu» 
durchſetzt von einigen nicht bedeutenden Sebirgszligen, iR warn und troden; unter 
feinem milden Klima erfreut es ſich einer reichen, wenn auch freilich nicht teopiich 
üppigen Vegetation. Durch den Krieg von allen Zufuhren abgeſchnitten, Bat es 
doch Alles erzeugen können, was das Leben erfordert. Außer den Getteldearten 
findet man eine Reihe der fefteften Hölger (Lapache, Tatam zc.), zahlreiche Dro⸗ 
guen und Farbhölzer, dann vor Allen der in ven Berbates wachſende Derbe ats 
ober Paraguay«Thee, der befonvers den argentiniihen Gaucho ganz unentbehrlich 
if. Auch die Thierwelt (Bierfüßler und Bögel) ift eine fehr manuigfaltige. — Bald 
nach der Entbedung des La Plata fegelten Spanier ſtromaufwärts. 1536 gründete 
Mendoza die Kolonie Afſuncion. Die intelligentn GOuarani nahmen rafıh vie 
gebotene Kivilifatton an. Bis 1620 gehörte das Land zu Bert, dann zu Rio be 
1a Plata. Zuerft hatten Franciskauer, daun Iefuiten das Land kolenifirt und dir Leg» 
teren fi ziemlich unabhängig gemacht, bis fie 1768 vertrieben wurben. 1776 grün- 
bete man ein Bicelönigreih La Plata, dad Paraguay umfhloß; aber ſchon 1811 
machte ſich dieſes von der ſpaniſchen Herrſchaft loe. Nah einem Konfnlat (1813) 
wurbe fhon 1814 das Land einem Diktator, Brauche, übergeben, ber bald auf 
Lebenszeit gewählt bis 1840 abfolnter Hetrſcher blieb. Er ſchloß das Laub den Frem- 
ben ab, entmwidelte aber die Hülftquellen vesfelben und forgte für Schulen und ein 
neues Geſetzbuch. Auf ein neues kurzes Konſnlat wurde 1844 Lopez Präftvem, 
ber e8 bis 1862 blieb. Nach feinem Tode übernahm fein Sohn F. ©. Lopez bie 
Präfidentihaft. Der Vorwand eines Grenzſtreites ließ 1865 VBroafilien im Bünb- 
niß mit Uruguay und den Argrntinifgen Republiten einen Krieg beginnen, ber bexte 
(1870) noch nicht beendet ift (f. Brafliien). Allerdings hat Lopez nad verzweifelter 
Gegenwehr eine Pofition nach der andern aufgeben mäflen und if, wenn die Be 
richte wahr find, auf brafilifhes Gebiet nad der Provinz Matto groffo geflohen, 
wo er unter den Iublanern gute Aufnahme finden wird. Der brafiliſche Führer iR mit 
feinen Bundesgenoſſen fiegreih abgezogen und Hat in Aſſuncion eine proviforiſche 
Regierung zurädgelaffen. Aber das legte Wort iſt damit in biefem Krieg nod 
nicht geſprochen. — Im Jahre 1857 (aud ven Iepten Jahren fehlen natürlich alle ge- 
naueren Daten) betrug bie Gefammtbevöflerung in 25 Departements 1,337,439 Ein- 
wohner. Reines ſpaniſches Blut gibt es jetzt nur noch fehr wenig in Paraguay, 
auch die fpanifge Sprache beſchränkt fih auf die Stäbte und beren Nähe Die 
Landesſprache tft das in Süd⸗Amerika am weiteften verbreitete Guarani, das frei- 
lich mit fpanifhen Wörtern vielfach vermiſcht if. Die reinen Indianer find im RW. 
häufiger, im S. gibt es fehr viele Meftizen nud Mulatten. — Der Staub der Fi⸗ 
nanzen iſt unbefannt. 1860 betragen vie Ginnahmen etwa 81/, Mill. Thaler, aus 
einem Einfuhrzol von 100/, und Monopolen bejonders auf. Paraguay These uud 
Bauhölzer fließend. Eine Staatsſchuld kannte P. nicht, bis 1865 der Natiomal- 
Kongreß den Präfldenten ermädtigte, zur Führung des Krieges mit Braftlien eine 
Schuld von 5 Mid. Pfd. Sterl. zu kontrahiren. — Die Armee, urfprünglich anf 





Türke, 1047 


12,000 Dann befhräntt, hat im Krieg die größtmöglichen Berhältniffe angenommen, 
ba namentlich in den legten Jahren alle waffenfählgen Männer unter den Fahnen 
flanden. Da feit 1865 die Häfen PBaraguay’s blolirt find, Ift von einem Handel 
nit mehr bie Rebe. 1854 betrug bie Einfuhr 595,823 und die Ausfuhr 777,861, 
1860 fon 885,841 und 1,693,904 P. und es famen 1858 208 Schiffe mit 10,126 
und 1859 210 Schiffe mit 8445 Tonnen an. — Ein Boll, das Jahre lang gegen 
eine fo gewaltige Uebermacht, wie Brafllien und feine Bundesgenoffen, ſich zu be 
haupten weiß, bat nicht nur in feinem Baterlande, fondern vor Allem in fid 
felbft reihe Mittel und der Paraguite dürfte neben den Bewohnern von Chile, 
Bolivia und den Argentinifhen Republiten die wichtigfte Role in Sud⸗Amerika zu 
fpielen berufen fein, 9. Thorbede. 


Türkei. 


Radtrag zu Band X S. 590 fg. Vgl. die Nachträge zu Aegypten, Griechenland, 
Moldau und Wallachel.) 


Die innere Lage der Türkei ift im Weſentlichen noch biefelbe und bie Frage, 
ob die Regierung der Osmanen ſich vermittelft eingreifender und Immer eingreifen- 
derer Reformen durchzuringen und ihre Herrſchaft auf der illyriſchen Halbinfel auf- 
recht zu erhalten im Stande fein werde, nit nur noch nicht gelöst, ſondern es 
ſcheint diefelbe ihrer Loͤſung überhaupt noch keineswegs nahe zu fein. Die Wahr- 
ſcheinlichkeit, daß es ihnen gelingen werbe, hat inzwiſchen offenbar nit zuge- 
nommen, wenn es auch vielleicht no zu früh iſt, über fie befinitio den Stab 
zu drehen. Die legten Jahre waren ihnen Im Ganzen und Großen nidt un- 
gänftig und doch Fann man eher ein allmäliges Abnehmen und Sinken ihrer 
phyſiſchen und pſychiſchen Kräfte, und ebenjo ein allmäliges Zurüdweidhen von 
der Peripherie ihres ehemaligen Reiches und ein Erflarfen der dortigen mehr oder 
weniger von ihr unabhängigen neuen politifchen Geftaltungen als ein Erftarten 
im Mittelpunkt, ein Wieveraufraffen der ihren Händen faft entfallenen Zügel und 
ein Wiebervorrüden nad ber Peripherie hin beobachten. 

Die beiden halbfonveränen Staaten, welche fih längft im Norden an ber 
Donau gebildet hatten, find auch in den legten Jahren theils wirkii innerlich 
erſtarkt, theils und foweit dies nicht der all war, haben fie wenigftens in ihrer 
Unabhängigkeit von jedem Einfluß ber Pforte unläugbar Fortſchritte gemacht. 
Serbien iſt eigentlih nur ein kleines Land und könnte an fidy der Pforte un» 
möglid gefährlich fein; aber der Stamm ift ein überaus kriegeriſcher und In 
feiner inneren Entwidelung wie in feiner Stellung nad Außen weiß er ein 
gewifles Maß zu Halten, das mehr ein BZeihen von Kraft ald von Schwäde 
ift. Unter dem Fürſten Michael hatte es In den legten Jahren feine militäriſche 
Drganifation mit dem äußerften Eifer ausgebilvet und fo, daß es in der That 
in der Lage fchien, gegebenen Falls ein nicht gering zu achteudes Gewicht in bie 
Wagſchale legen zu können. Unglüdlicher Weife für das Land ftel der verflännige 
Fürſt am 10. Juni 1868 unter Mörderhand. Die nähfte Folge war eine gewifle 
Berwirrung, die einen Augenblid das Schlimmfte ahnen ließ: halbciviliſirte Völker 
find nur allzu geneigt, fih als Faltionen um einzelne Häupter zu ſchaaren und 
in blutigen Kämpfen gegenfeitig zu ſchwächen. Die Serben zeigten aber in ver 
erwähnten großen Prüfung einen befjeren Inftinlt. Sie ſchaarten fih ſchnell um 
den legten Sprößling des Geſchlechts ver Obremovic und die Scupſchtina oder 
Roationalverfamminng ernannte ihn einftimmig zum Nachfolger des Ermorbeten. 





1046 naqhtrag 


507,520 Tonnen und 1868 1197 Gäiffe mit 462,920. u betigte die 
des Kriege mit varaguah und Aufhebung des brafilifhr „ud Eine Regenihaft 
raſcherer Entwidiung entgegenfehen. „pre vorerft, aber ch 
9) Baraguay If das Band zuifgen 2 aichts zu fürchten. 

zwiſchen 200 58° und 27° 30° für, Br  ,.” ‚im fm Sommer 1868 wich 
einen Flachenraum von 16,676 geogr. C  , ’ ‚emommen, um aug biefes u 
rige Sand wiſchen den beiben Bläffen „ze Rumänien und Serbien zu vn 
bes freitigen Oran Chako am rechten , ge thatjſachlich faft eutſchieden: Ba: 
Im Norben iſt Grenze volfommen manen in Europa; fällt es, fo Reit 
durchſetzt von einigen nicht bebent - uft und Können fie fih nur mod anf 
feinem milden Klima erfreut e Borerft mißlangen indeß die Umtrihe 
üppigen Vegetation. Durd d dazu Fam glüdtiher Weife für bie Bor, 
boch Mes erzeugen tönn ⸗ /;zzuiren Treiben and bie Magharen in Eiche 
findet man eine Reihe + Donſtrirte dagegen (Nov. 1868) in Berlin un 
guen und Farbhölzer, auiiono fallen zu laffen und das Berhältniß zuiden 

’ zu na Sultan, iſt feitbem ein durchaus freundüiches mi 


















oder Paraguay-The · 

— auch ber dritte, urſprünglich aus ihrem Körper ge 
Den nd, {hr feit einigen Jahren ernfhafte Sorgen beein. 
gebob ilich eine Infurreltion auf Candia amsgebroden, 
1a vi & für die Pforte gefährlich wurde, daß bie Grichen 
teren 5 mit ihnen zu vereinigen begehrten, tm jeder Bell, 
dete Munition und Geld annahmen, während bie Regtermg 
mach mittelbar nachdem Bratiano zu ihrer großen Genug 
wur jt worden war, geſchah es, daß bie Pforte den Mut) 
ger ind vorzugehen, zu biefem Ende in then ein Ultimatun 
vd en Schiffe, welde die Verbindung mit Candia unter 


die griechiſchen Häfen verfolgte. Griechenland hatte nz 
en nachzugeben ober aber einen Verzweiflungelampf p 
. ber zur See noch zu Rande gewachſen war. Rußland u 
dalfen ihm aus ber Berlegenheit: eine europäljche Konferenz trat in Bart 
‚en und bemühte fid bie Differenz zu ſchlichten und Griechenland eine Brit: 
I fälogen, was ihr aud (Ian. und Febr. 1869) gelang. Sobald inzwifgen de 
Amerfägung ans Hellas abgefchnitten war, konnie ſich die Imfnrreition viht 
Hänger mebe halten und die Infel kehrte denn and; fofort unter die tärkijhe Be 
‚äßtgleit 31 
" her die Pforte folte noch Feine Ruhe haben. Auch der vierte ihrer Bafılm 
bereitet ihr ſchwere Sorgen. Ismael Paſcha von Aeghpten fpielte in be 
Iegten Jahren in faft auffallender Weife den Getreuen gegenüber bem Gala 
und erreichte es hauptſächlich dadurch, daß biefer ſich dazu berbeilieh, ihm zum 
ein erhebliche Vermehrung des Tribute den Titel Khedive zu verleihen umd je 
Gunſten ber perfönligen Nachtommen Jomaels die Nachfolge in Aeghpten chf 
ändern. In neuefter Zeit glaubt aber die Pforte Urfache zu haben, die Treue vi 
Bicelönigs als blogen Schein anzufehen, unter dem fi entſchiebene Pläne af 
Losreißung verbärgen. Im Frühjahr 1869 unternahm Jomael mit auffallenter 
DOftentation eine Reife nach Europa, wo er nad einanber bie Höfe von Alk, 
Florenz, Wien, Berlin, Paris und London beſuchte, um bie betreffenden Sordain 
zu ber felerlihen Eröffnung bes Suezkanals einzuladen und, wie man wila 
wollte, Über ihre Dispofitionen bezüglich Wegyptens überhaupt zu fonbiren. & 


Türkei. 1049 
“t zwar als unabhängiger Souverän, aber doch überall mit ganz 


% ng empfangen. Die Pforte nahm aud daran Auftog und 
7 oteftirt zu haben, daß der Khebire zu jener Feierlichkeit 
X “a8 nur dem Sultan als dem Süzerain zuſtehe. Die 
% ffieiss ſchon mit ver Abſetung des BVicelönigs, bie 
8 % ‚. Muſtapha Yazyl Paſcha, der Halbbruber Ismael’s 
FUN .y die Veränderung der Erbfolge in Wegypten feines Erb⸗ 
.% % „on feinem Halbbruder auch aus dem Lande getrieben worden 
NY ‚ger glühend haft, wurde Anfangs Juli diefes Jahres plötzlich 
4 „ıfter ohne Portefeuille ernannt und vom Homburg, wo er fi 
>» r „ telegraphifh nach KRonftantinopel beſchieden. Die europälfhe Diplo- 


in diefem Augenblick bemüht, die Differenzen auszugleihen und in 
„tinopel mäßigend einzuwirken. 
Das Verhältniß zu Aegypten ift nicht ohne ernfle Gefahr für die Türkei. 
„or den Fall, daß deren jetiger Beſtand von anderer Seite in frage geftellt 
verden follte, würde ohne Zweifel auch der Bicelönig daran benfen, ſich zum 
yorans feinen Theil an der Erbſchaft zu fichern und nicht bloß bie volle 
zhlihe Unabhängigkeit, fondern wohl auch einen guten Theil weiteren tür« 
ifchen Gebiets zu erwerben, namentlid Syrien und was damit allenfalls zu 
yerbinden wäre. Der Beſitz Syriens würde Aegypten in der orientaliihen Welt 
ine ganz andere Stellung ale biäher fihern; die Tendenz nad dieſer Seite, ob- 
jleih fie in den leuten Jahren ganz bei Seite gelegt ſchien, if eine hifkorifche 
ind für die Beherrſcher Aegyptens eine von felbft gegebene. Aber daß es von 
ih aus und von diefer Seite ber die orientalifhe Frage in Angriff zu nehmen 
yeabfichtige, iſt doch unmwahricheinlih und zunächſt bürfte es den Bemühungen ber 
Diplomatie wohl gelingen, die Differenz wieber auszugleichen. Inzwiſchen iſt ber 
kintritt Muftapba Fazyl's in die Pfortenregierung, wenn er ſich darin zu halten 
yermag, was nad dem Tode feines alten Gegner Fuad Paſcha allerdings nicht 
ınmöglih iſt, ſchon an fih ein Ereigniß für die Inneren Zuftlänbe ber Türkei, 
a Fazyl für das Haupt der türkiſchen Neformer gilt, bie viel weiter zu gehen 
eabſichtigen, als Aali und Fuad es bisher gewagt haben. Der Sultan felber 
cheint auch perjönli dazu entfchieven geneigt zu fein. In feinen politifhen An⸗ 
hanungen iſt in den legten Jahren offenbar eine große Wandlung eingetreten. 
Bie alle türkiſchen Herrfcher im Harem erzogen oder vielmehr ohne Erziehung 
mfgetwachfen, lernte er erft allmälig und an der Hand der Erfahrung feine eigene 
Stellung nad Innen und Außen kennen und die Kräfte richtiger abzufchägen, 
sit denen und gegen bie er rechnen muß. Wie es fcheint, mußte er in ſich den 
tampf zwiſchen dem alten und nenen Syſtem türkiſcher Bolitit noch einmal durch⸗ 
impfen, bie ſchließlich das letztere vefinitiv in ihm die Oberhand gewann. Seine 
Reife nad den Hauptfigen europälicher Kultur im Jahr 1867, an fih fon ein 
Ereiguiß für einen osmanifhen Herrſcher und allen Trabitionen widerfprechend, 
heint den Ausſchlag gegeben zu haben. Offenbar hat er mit verfländigen Augen 
jefehen und kam mit ganz anderen Anſchaunngen nad Konftantinopel zurüd als 
r e8 verlaſſen hatte. Wie er felbft fagte, müflen die Dsmanen binnen wenigen 
fahren ganz ungeheure Fortfchritte maden, wenn fle fi in Europa halten follen. 
der Parifer Vertrag von 1856 bat die Pforte formell in das europälfche Koncert 
ufgenommen; Sultan Abdul Azid ſcheint entſchloſſen, fie aus einem orientalifchen 
irklich in einen europäiſchen Staat umzuwandeln, wenn das überhaupt möglich 
Rt, was freilich eben bie Frage iſt, die noch ungelöst gelöst werden muß. Schon 


1046 Nachtrag. 


607,520 Tonnen und 1868 1197 Schiffe mit 462,220. vH Berubiaung 
des Kriege mit Paraguay und Aufhebung des brafliffihen 5— faun 
rafcherer Entwidlung entgegenfehen. 

9) Baragnay if das Land zwiſchen dem Fluß Paraguay uub Paranl, 
zwifhen 200 58° und 279 30° fühl. Br. Nach officiellen Angaben umfaßt es 
einen Flächenraum von 16,576 geogr. O.M. Das fohlih zu Paraguay gehe 
rige Land zwiſchen den beiden Flüfſen mißt aber nır 3256 und mit Hinzunahme 
bes fireltigen Gran Chako am reiten Ufer bes Paraguay erſt 5943 gesgr. DM. 
Im Norden iſt Grenze volllommen zweifelhaft. Das Laud, mäßig ho gelegen un) zu 
durchſetzt von einigen nicht beveutertven Gebirgszügen, ift warn und troden; 
feinem milden Klima erfreut es fih einer reichen, wenn auch freilich nicht —* 
üppigen Vegetation. Durch ven Krieg von allen Zufuhren —— * hat es 
bo Alles erzeugen können, was bad Leben erfordert. Außer den Gettelvearten 
findet man eine Reihe ver fefteften Hðlzer (Lapache, Tatam ꝛc.), zahlreiche Dro⸗ 
guen und Farbhölzer, dann vor Allen ver int den Verbates wachſende Yerbe Mats 
oder Paraguay⸗Thee, der beſonders den argentiniſchen Gaucho ganz unentbehrlich 
if. Auch die Thierwelt (Vierfüßler und Bögel) iſt eine ſehr manuigfaltige. — Bald 
nach der Entdedung des Ra Plata fegeiten Spanier firemanfwärts. 1536 gründete 
Mendoza die Kolonie Affuncion. intelligenten Onarani nahmen raſch bie 
gebotene Civiliſation an. Bis 1620 gehörte das Land zu Peru, dann zu Rio be 
1a Plata. Zuerſt Hatten Francislaner, dann Jeſniten das Land kolenifirt und dir Letz⸗ 
teren ſich ziemlich unabhängig gemacht, bis fie 1768 vertrieben wurben. 1776 grän- 
bete man ein Bicelönigreih La Plata, dad Paraguay umfhloß; aber ſchon 1811 
machte fi dieſes von der ſpaniſchen Herrſchaft los. Rad einem Ronfulat (1813) 
wurbe fhon 1814 das Land einem Diktator, — übergeben, der bald auf 
Lebenszeit gewählt bis 1840 abfoluter Herrſcher blieb. Er ſchloß das Land den Grm 
ben ab, entwidelte aber die Hülfsquellen besfelben und forgte für Schulen und ein 
neues Geſebbud. Auf ein neues kurzes Konſulat wurde 1844 Tem Srafbent, 
der e8 bis 1862 blieb. Nach feinem Tode übernahm fein Sohn F 
Präfidentfaft. Der Borwand eines Grenzſtreites ließ 1865 Vrafilien im a 
niß mit Uruguay und ben Argrntinifchen —* einen Krieg beginnen, ber bente 
(1870) noch nicht beendet iſt (f. Brafilien). Allerdings Hat Lopez nad verzweifelter 
Gegenwehr eine Pofition nad der andern aufgeben mäfjen und if, wenn die Be 
richte wahr find, auf braſiliſches Gebiet nad der Provinz Matto grofio geflohen, 
wo er unter den Indianern gute Aufnahme finden wird. Der brafiliſche Führer I mit 
feinen Bundesgenofien ſiegreich abgezogen und bat in Aſſuncion eine proviſoriſche 
Regierung zurüdgelafien. Aber das leute Wort iſt damit in biefem Krieg mod 
nicht geſprochen. — Im Jahre 1857 (aud ven lepten Jahren fehlen natürlich alle ge» 
naueren Daten) betrng bie Gefammtbevöfterung in 25 Departements 1,337,439 —* 
wohner. Reines ſpaniſches Blut gibt es jetzt nur noch ſehr wenig ia Paraguay, 
auch die fpanifge Sprache befhräntt fi auf die Stäbte und beren Nähe. Die 
Landesfprache tft das in Süd⸗Amerika am weiteften verbreitete Guaraui, das frei- 
li mit ſpaniſchen Wörtern vielfach vermiſcht iſt. Die reinen Indianer find im N. 
häufiger, im S. gibt es ſehr viele Meftizen nud Mulatten. — Der Gtaud der Fi- 
nanzen tft unbelannt. 1860 betragen die Ginnahmen etwa B1/, DRIN, Thaler, aus 
einem Einfuhrzoll von 100/, nnd Monopolen befonvers auf. Baraguay-iChıe uud 
Bauhölzer fließend. Eine Staatsſchuld kaunte P. nicht, bis 1865 der Mational- 
Kongreß den Präfldenten ermädtigte, zur Führung des Krieges mit Braftlien eine 
Schuld von 5 Mill. Pfd. Sterl. zu konttahiren. — Die Armee, urſprüuglich anf 





Lürkel, 1047 


12,000 Dann befchräntt, Hat im Krieg die größtmöglichen Verhältniffe angenommen, 
da namentlich in den legten Jahren alle wafjenfähigen Männer unter den Fahnen 
ſtanden. Da feit 1865 bie Häfen Paraguay’s blokirt find, ift von einem Handel 
niht mehr bie Rebe. 1854 betrug die Einfuhr 595,823 und die Ausfuhr 777,861, 
1860 fon 885,841 und 1,693,904 P. und es kamen 1858 208 Schiffe mit 10,126 
und 1859 210 Schiffe mit 8445 Tonnen an. — Ein Boll, das Jahre lang gegen 
eine fo gewaltige Uebermacht, wie Braftlien und feine Bundesgenoflen, fi) zu be= 
baupten weiß, bat nicht nur In feinem Baterlande, fondern vor Allem in fi 
felbft reihe Mittel und ber Paraguite dürfte neben den Bewohnern von Chile, 
Bolivia und den Argentinifhen Republiten die wichtigfte Rolle in Suüd⸗Amerika zu 
fpielen berufen fein. 5. Thorbede. 


Türkei. 


GMachtrag zu Band X S. 590 fg. Bol. die Nachträge zu Aegypten, Griechenland, 
Moldau und Wallachei.) 


Die Innere Lage der Türke ift im Weſentlichen noch biefelbe und bie Frage, 
ob die Regierung der Dsmanen ſich vermittelft eingreifender und Immer eingreifen- 
derer Reformen durchzuringen und ihre Herrſchaft auf der illyriſchen Halbinfel auf⸗ 
recht zu erhalten im Stande fein werde, nicht nur noch nicht gelöst, ſondern es 
ſcheint diefelbe ihrer Löfung überhaupt noch keineswegs nahe zu fein. Die Wahr- 
ſcheinlichkeit, daß es ihnen gelingen werde, hat inzwiſchen offenbar nicht zuge⸗ 
nommen, wenn es aud vielleiht noch zu früh ift, über fie definitiv den Stab 
zu brechen. Die legten Jahre waren ihnen im Ganzen und Großen nidt un- 
gänftig und doch kann man eher ein allmäliges Abnehmen und Sinten ihrer 
phyſiſchen und pſhchiſchen Kräfte, und ebenfo ein allmäliges Zurüdweihen von 
der Peripherie ihres ehemaligen Neihes und ein Erſtarken ver dortigen mehr oder 
weniger von ihr nnabhängigen neuen politifhen Geftaltungen als ein Erſtarken 
im Mittelpunkt, ein Wieveraufraffen der ihren Händen faft entfallenen Zügel und 
ein Wiebervorrüden nad ber Peripherie hin beobachten. 

Die beiden balbfouveränen Staaten, welche fi längft im Norben an ber 
Donau gebildet hatten, find auch in den letten Jahren theild wirklich innerlich, 
erſtarkt, theild und foweit dies nidht der Fall war, haben fie wenigftens in ihrer 
Unabhängigkeit von jedem Einfluß ver Pforte unläugbar Tortfchritte gemacht. 
Serbien if eigentlih nur ein Meines Land und könnte an fi der Pforte un- 
möglich gefährlich fein; aber der Stamm iſt ein überaus Triegerifcher und in 
feiner inneren Entwidelung wie in feiner Stellung nad Außen weiß er ein 
gewifies Maß zu Halten, das mehr ein BZeihen von Kraft als von Schwäde 
ift. Unter dem Fürſten Michael batte es in den legten Jahren feine militärtiche 
Drgantfation mit dem äußerften Eifer ausgebilvet und fo, daß es in ber That 
in der Lage fhien, gegebenen Falls ein nicht gering zu achtendes Gewicht in bie 
Wagſchale legen zu können, Unglüdliher Weife für das Land fiel ver verſtändige 
Türft am 10. Jnni 1868 unter Mörderhand. Die nähfte Folge war eine gewifle 
Bermirrung, bie einen Augenblid das Schlimmfte ahnen ließ: halbcivilifirte Völker 
find nur allzu geneigt, fih als Baltionen um einzelne Häupter zu ſchaaren und 
in blutigen Kämpfen gegenfeitig zu ſchwächen. Die Serben zeigten aber in ver 
erwähnten großen Prüfung einen befleren Inſtinkt. Ste fchaarten ſich ſchnell um 
ven letzten Sprößling des Geſchlechts der Obrenovie und die Scupfätina ober 
Roatlonalverfamminng ernannte ihn einfiimmig zum Nachfolger des Ermorbeten. 





1048 Nachtrag. 


Die enropätfche Diplomatie unterſtützte Ihr Bemühen und die Pforte beflätigte die 
Wahl. Aber der junge Fürſt Milan iſt no ein Knabe und eine Regentichaft 
führt die Verwaltung. Wenn nit alles trägt, hat bie Pforte vorerfi, aber eben 
nur vorerft und auf Einige Zeit bin, von biefer Seite nichts zu fürchten. 

Bon Rumänien ans (f. oben S. 700) wurden im Sommer 1868 wieder⸗ 
holte Einfälle über die Donau in Bulgarien unternommen, um auch viefes zu 
infurgiren und ihm eine ähnliche Stellung wie Rumänien und Serbien zu ver- 
ſchaffen. Gelaug es, fo war die türkifche Frage thatſächlich faft entſchieden: Vul⸗ 
garien bildet noch der legte fefte Hort der Osmanen in Europa; fällt es, fo fickt 
ihre Herrfhaft in Europa völlig in der Luft und Fönnen fie fi nur noch auf 
Aſien und ihre aflatifhen Kräfte fügen. Vorerſt mißlangen indeß bie Umtriebe 
Rumäniens in Bulgarien gänzlich. Und dazu kam glüdlicher Weife für die Pforte, 
dag Bratiano in feinem revolutionären Treiben auch die Magyaren in Sieben⸗ 
bürgen beunruhbigte. Ungarn remonftrirte dagegen (Nov. 1868) in Berlin unb 
Fürft Karl war gendthigt, Bratiano fallen zu lafſen uud das Berhältnig zwiſchen 
ihm und feinem Suzerain, dem Sultan, iſt feitvem ein durchaus freundliches und 
befriedigende. 

Inzwiſchen batte aber aud der dritte, urſprünglich aus ihrem Körper ge- 
ſchnittene Staat, Griechenland, ihr feit einigen Jahren ernfihafte Sorgen bereitet. 
Im Mai 1866 war nämlih eine Infurreltion auf Candia ansgebroden, 
(f. oben ©. 561) die dadurch für die Pforte gefährlih wurde, daß bie Griechen 
fi der Infurgenten, die fih mit ihnen zu vereinigen begehrten, in jeber Weiſe, 
dur Freiwillige, Waffen, Munition und Geld annahmen, während die Regierung 
fheinbar neutral blieb. Unmittelbar nachdem Bratiano zu ihrer großen Genug: 
thuung in Rumänien geftärzt worden war, geihah es, daß bie Pforte den Mut) 
faßte, direft gegen Griechenland vorzugehen, zu biefem Ende in Athen ein 
überreichte und bie griechiſchen Schiffe, welde die Verbindung mit Candia unter 
hielten, als Eorfaren bis in die griechiſchen Häfen verfolgte. Griechenland hatte ner 
bie Wahl, entweder entjchieven nachzugeben oder aber einen Verzweiflungslampf zu 
wagen, dem e8 momentan weder zur See noch zu ande gewachſen war. Rußland up 
Preußen halfen ihm aus der Berlegenheit: eine europäifhe Konferenz trat in Paris 
zufammen und bemühte fic die Differenz zu fehlichten und Griechenland eine Bräde 
zu ſchlagen, was ihr auch (Ian. und Febr. 1869) gelang. Sobald inzwifchen die 
Unterflägung aus Hellas abgefchnitten war, konnte fi die Inſurrektion nicht 
länger mehr halten und die Infel lehrte denn and fofort unter bie türkiſche Bot⸗ 
mäßigleit zurüd. 

Aber die Pforte follte noch keine Ruhe haben. Auch der vierte ihrer Vaſallen 
bereitet ihr ſchwere Sorgen. Jemael Paſcha von Aegypten fpielte in den 
legten Jahren in faft auffallender Weiſe den Getreuen gegenüber dem Saltan 
und erreichte es bauptfählid dadurch, daß biefer fich dazu herbeiließ, ihm gegen 
ein erhebliche Vermehrung des Tributs den Titel Khebive zu verleihen umb zu 
Gunſten der perfönliden Nahlommen Ismaeld die Nachfolge in Aegypten abzu⸗ 
ändern. In neuefter Zeit glaubt aber die Pforte Urfache zu haben, die Trene des 
Dicelönigs als bloßen Schein anzufehen, unter dem fi entſchiedene Pläne auf 
Losreißung verbärgen. Im Frühjahr 1869 unternahm Jsmael mit auffallender 
Dftentation eine Reife nach Europa, wo er nad einander bie Höfe von Achen, 
Vlorenz, Wien, Berlin, Paris und London befuchte, um bie betreffenden Souveräue 
zu ber feierlihen Eröffnung des Suezkanals einzuladen und, wie man willen 
wollte, über ihre Dispofitionen bezüglich Aegyptens überhaupt zu fonbiren. Er 





Türkei. 1049 


wurde überall nicht zwar als unabhängiger Souverän, aber doch überall mit ganz 
befonderer Auszeichnung empfangen. Die Pforte nahm auch daran Anftoß und 
Scheint fogar dagegen proteflirt zu haben, daß ber Khebire zu jener Feierlichkeit 
einzuladen fich erlaube, wa8 nur dem Sultan als dem Süzerain zuſtehe. Die 
türkiſchen Blätter drohten officids ſchon mit der Abfenung des Bicelönigs, die 
dem Sultan allein zuſtehe. Muſtapha Fazyl Paſcha, ver Halbbruder Ismael’s 
und derjenige, der durch die Beränderung ver Erbfolge in Aegypten feines Erb⸗ 
rechtes beranbt und von feinem Halbbruder auch aus dem Lande getrieben worden 
mar, ber ihn daher glühend haft, wurbe Anfangs Juli diefes Jahres plöglich 
zum Pfortenminifter ohne Portefeuille ernannt und ven Homburg, wo er fi 
eben aufhielt, telegraphiih nach Konftantinopel befchieven. Die europäliche Diplo- 
matie iſt in biefem Augenblick bemüht, vie Differenzen auszugleihen und iu 
Konftantinopel mäßigend einzuwirken. 

Das Berhältnig zu Aegypten ift nit ohne ernfle Gefahr für die Türkei. 
Für den Fall, daß deren jetziger Beſtand von anderer Seite in frage geftellt 
werben follte, würde ohne Zweifel auch der Bicelönig daran denken, fi zum 
porans feinen Theil an ver Erbſchaft zu fichern und nit bloß die volle 
erbliche Unabhängigkeit, fondern wohl auch einen guten Theil weiteren tür 
kiſchen Gebiets zu erwerben, namentlih Syrien und was bamit allenfalls zu 
verbinden wäre. Der Beſitz Syriens würde Aegypten in ber orientallihen Welt 
eine ganz andere Stellung als bisher fihern; die Tendenz nad) biefer Seite, ob- 
gleich fie in den letzten Jahren ganz bei Seite gelegt fehlen, ift eine hiſtoriſche 
nnd für die Beherrſcher Aegyptens eine von felbft gegebene. Aber daß es von 
ih aus und von diefer Seite her die orientaliſche Frage in Angriff zu nehmen 
beabfichtige, iſt doch unwahrſcheinlich und zunähft pürfte es ven Bemühungen ber 
Diplomatie wohl gelingen, die Differenz wieder auszugleichen. Inzwiſchen ift ber 
Eintritt Muſtapha Fazyl's in die Pfortenregierung, wenn er fi) darin zu halten 
vermag, was nad bem Tode feines alten Gegner Fuad Paſcha allerdings nicht 
unmöglich tft, Thon an fih ein Ereignig für bie Inneren Zuflände ber Türkei, 
da Fazyl für das Haupt der türkiſchen Reformer gilt, die viel weiter zu geben 
heabfichtigen, als Yali und Fuad es bisher gewagt haben. Der Sultan felber 
ichetut auch perfönlih dazu entfchieven geneigt zu fein. In feinen politiſchen An⸗ 
ihanungen iſt in den legten Jahren offenbar eine große Wandlung eingetreten, 
Wie alle türkiſchen Herrſcher im Harem erzogen over vielmehr ohne Erziehung 
zufgewachien, lernte er erft allmälig und an der Hand der Erfahrung feine eigene 
Stellung nad Innen und Außen kennen und die Kräfte richtiger abzufchägen, 
nit denen und gegen bie ex rechnen muß. Wie es fcheint, mußte er in fich den 
ſtampf zwifchen dem alten und neuen Syſtem türkiſcher Bolitit no einmal durch⸗ 
ämpfen, bis ſchließlich das letztere definitiv in ihm die Oberhand gewann. Seine 
Reiſe nach den Haupifigen europätfher Kultur im Jahr 1867, an fi fhon ein 
Ereigniß für einen osmaniſchen Herrſcher und allen Traditionen widerfprechend, 
iheint ben Ausſchlag gegeben zu haben. Offenbar hat er mit verfländigen Angen 
gefehen und kam mit ganz anderen Anfchauungen nah Konftantinopel zurüd als 
er es verlaffen hatte. Wie er felbft fagte, müflen die Osmanen binnen wenigen 
Jahren ganz ungeheure Fortſchritte machen, wenn fie fi in Europa halten follen. 
Der Parifer Vertrag von 1856 bat die Pforte formell in das europälfche Koncert 
wmfgenommen; Sultan Abdul Azid fcheint entichlofen, fie aus einem orientalifchen 
virflih in einen europätfhen Staat umzuwandeln, wenn das überhaupt möglich 
ft, was freilich eben die Frage ift, die noch ungelöst gelöst werben muß. Schor 


1080 Nachtrag. 


im folgenden Jahre (1868) heb ex den. bisherigen Staaterath, ver fich ledigüq 
aus den als unbrauchbar entſetzten türkiſchen Wurdenträgern rekrutirte und dahet 
nur ein Hemmſchuh für Reformen, wohl aber ein unerfcöoflices Feld für M⸗ 
triguen aller Art war, auf und rekonſtituirte ihn ganz nen, indem er den Zutritt 
zu demfelben allen feinen Untertbaneu ohne Umerſchied das Slaubensbelfenntzifie 
öffnete und Ihn zugleih in zwei Sektionen, für bie oberfle Verwaltung umb für 
die oberſte Juſtizpflege, abtheilte. Am 10. Mai 1868 eröffnete er denfelben fogaz 
mit einer Art Thronrede, die er ohne Beihülfe Aali's oder Fnads felber verfeft 
hatte und die jedenfalls ein hoͤchſt merkwürdiges Altenftüd If, das den ungehern 
Bortfchritt der Ideen, zu dem die Osmanen fi gezwungen fehen, kennzeichnet. 
Sie iſt von allen religiöfen Vorurtheilen durchaus frei und erwähnt bes Itlams 
ober des Korans auch nicht mit einem Worte. 

Hierin aber liegt offenbar der eigentliche Scläffel für die Frage eimer 
—*—*— der —* Das ganze alte Staateweſen der Osmanen beruht auf 
der Einheit der religiäfen und ber —*8* Principien und ber Koran wer bie einzige 
and abfolute Quelle uud Richtſchnur nit nur für die Religion, ſondern au für 
den Staat derfelben. Hierin aber Liegt ein Gegenſatz zu allen Anſchauungen und 
Veftrebungen ihres chriſtlichen Unterthanen, ver geradezu unverföhnlig iſt um 
zu dem jede Brüde fehlt. Die Pforte befindet fi daher mertwürbiger Weiſe in be 
jelben Lage wie alle anderen enropälfhen Staaten und kämpft mit berfeiben 
Schwierigkeit wie diefe, nur daß dieſelbe dort noch viel größer iſt als hier. 
giöfe und politiſche Intereffen müffen aus einander gehalten und damit eim * 
geſchaffen werden, auf dem ſich Osmanen und Rajahs zuſammen finden können, 
um gemeinſam an ber Löoſung gemeinfamer Interefien nnd Aufgaben zu arbeiten. 
Schon für die Hriftliden Stämme ver Türkei wird das ſchwer halten. Aber bie 
Entwidelung wer chriſtlichen Nationen Europas zeigt, daß es jebenfalls nicht am- 
möglich ift und wenn auch bie bisherigen geiftlich - politiichen Führer der Rajahs 
nur fehr ungern auf das neue Princip, das fie eines großen Theils ihres Cia⸗ 
fluſſes alımnälig entfleiven muß, eingehen werben, fo haben doch die letzteren felber 
ein großes und nahe liegendes Interefie, ſich nicht allzufehr gegen das Betreten 
ber einzigen Bahn zu fperren, auf der fie zu befferen Zuftänven gelangen Tönnen, 
ohne alle ihre Hoffnungen anf die immerhin fehr zweifelhafte Karte gewaltſamer 
Losreißung zu fegen. Ob aber eben dasfelbe aud) den Osmanen möglich fein wirt, 
deren biäherige Anfgauungen duch den Kontakt mit Europa allervings erfcgättert 
find, wo indeß für neue Geftaltungen von innen heraus im Grunde noch wide 
geſchehen iſt und noch alles zu thun übrig bleibt, da bloß eine äußerliche * 
encopätfher Inſtitutionen ſelbſtverſtuüͤndlich nicht ausreicht? Hierin dürfte Die 
eigentliche Frage Über Sein oder Nichtſein des Osmaniſchen Reiche in Eurepa 
liegen und fo ſehr man auch wünſchen mag, daß vie Osmanen dieſelbe Löfen, pie be 
greiflih iſt es doch, wenn gerade diejenigen, welche bie türkiſchen Zufläube 
eigener iangiähriger Stfabrung kennen, entſchieden geneigt find, die Frage eg ai 
beantwort 5. Haut 


Zollverein. 


Sollvereinigungen überhaupt. Die Theorie des Staatsrechts wnter- 
ſcheidet mit Rüdfigt auf bie Gegenftände der Wirkſamkeit bes Staates zwiſchen we 
fentliden and unmefentlichen oder zufälligen Hoheitsrehten des Staates. Das 
Finanzhoheitorecht gehört in die erftere Klaſſe. Aber von einem befonveren Zoll⸗ 
hoheltsrechte, als einem efientiellen Regal, zu reden iſt um beswillen verkehrt, 


⸗ 











Zollverein. 1061 


yeil es nur eine, allerbings zeitlich umb räumlich fehr weit verbreitete, Bufälligkeit, 
ı nach dem Urtheile einer an Unfehen fort und fort wachſenden politiſchen Schule 
ine Anomalie ift, daß die materiellen Mittel zur Erfüllung der Staatszwecke theil- 
eiſe durch Erhebung von Srenzzöllen beſchafft werben. 

Wo indeß, wie in allen modernen Kulturftaaten, dieſe Zufälligkeit zur Regel 
eworben, tft zwifchen je zwei oder mehreren benadybarten, im Uebrigen mehr ober 
yeniger bon einander unabhängigen Staaten eine gemeinfchaftliche Ausübung jenes 
zollhoheitsrechtes in verſchiedenen Formen denkbar. Thatfächli find in ber neue» 
ee derartige Vereinigungen theils nur in Ausficht genommen, theils wirklich 

worden, 

Ha bem Borgange G. Fiſcher's) wird man zunächſt zwifchen ver Bundes- 
ollgemeinfhaft und dem Bollverbande zu unterfihelden, und als bie 
vei Hauptformen des lebteren den Zollverein und den Zollanſchluß zu 
etradgten haben. Bei der Bunbeszollgemeinidaft, wie fie jeit 1789 in den Bereinig- 
m Staaten von Nordamerika, feit 1849 in der Schweiz und feit 1867 im Rorb» 
eutſchen Bunde beftäht, begeben fich bie einzelnen Bundesftanten ihres Zollhoheits⸗ 
chtes zu Bunften der Bundescentralgewalt. Die Bundeszollgemeinfcaft geftaltet 
as Bundesterritorium zu einem einheitlichen Bolgenie mit gemeinichaftlicger 
ußenzollgrenze und im Wefentlihen freien inneten Verkehr; die Zollgefeßgebung 
egt in den Händen ber gefeßgebenden Bunbesgewalten, die Zollverwaltung in denen 
er Bundesregierung; die Zollrevenüen fließen in die Bunbestafle und werben zu 
Inndesftantsgweden verwendet; jene Kafle beftreitet auch die Zollverwaltungstoften, 
i es, daß fle diefelben ſich bei der Einzahlung der Revenien abrechnen läßt, fei es 
idlich, daß bie ganze Bollverwaltung in ſolchem Maße centralifirt iſt, daß vie 
Innbesflnaten als foldde nit einmal mehr als VBerwaltungspiftrilte in Betracht 
MINEN. 

Tit. VI ber Verfefiung bes norddentſchen Bundes enthält volllommen genan 





2) Brgi. Hildebrand'e Jahrbücher für Dollswirthfchaft und Gtatiftil. Bd. 11 ©, 817 
„®. 897 ff. 3b. Vii &. 225 ff., Bd. vl S. 252 ff. »leber das Weſen und die Be 

ngen eines Bollvereind.« Der, ohnlängft verftorbene Verfaſſer bat das unbeſtreitbare Ver⸗ 
eh in der bier citirten Artikelfolge nicht nur äußert werthvolle Beiträge zur Geſchichte des 
utſchen Zollvereins geliefert, fondern auch zum etflen Dale die verfchiedenen Grundlagen eſt⸗ 
ſtelli zu haben. uf dehen mehr ober minder innige Zo —— (nicht etwa denkbar, 
ser) in Weirklichkeit in des Geſchichte wergelommen find. iſche Aus 
afen Aufſaͤtzen nicht fehlt, richten fich zum Theil gegen ſolche Schriften, welche die Verſchieden⸗ 
tigkeit jener Grundlagen, 5. B. bei Reformnorfä ägen für den deutfchen Bollverein, wo es fi 
‚eh de lege ferenda handelte, nicht berüdffidht J ben, theils auch und mit beſonderer Hef⸗ 
zkett gegen In Cinzelnheiten nicht vollig kotrekte Darſtellungen Der Geſchichte des deutſchen Zoll⸗ 
reins mit welcher der Detf. ſich viele Jahre lang eingehend zu befchäftigen beſonders bequeme 
id günſtige Gelegenheit Hatte, Rach beiden Richtungen hin bat auch der Verfaſſer dieſer Beilen 
uer den gewichtigen Streichen des verſtorbenen Herrn Prof. Fiſcher zu leiden gehabt. Die 
GN, de n 34 dieſe heftigen Angriffe gerichtet find, erſchien unter dem Ttiel: »Entwicke⸗ 
" fiö und Aukunft des deutſchen Zollvereinde 9, Beorg Wigand 1863.) als Gele 
ndeitöfehrift mitten im Kampfe um den bdeutfchsfranzöflichen Gandelövertrag. Herrn Fiſchers 
ngriffe richten fich Ienialıc gegen den erften Abſchnitt (wdie äußere Geſchichte des Zollvereins 
B zur wärtigen u. in welchem allerdings der angel an genügenden Hülfemitteln 
ıd Die der ıbeit © age Derftöße gegen die Damals noch ſehr wenig aufgehellte hiſtoriſche 
jahtheit verfchuldet haben, ber aber keineßswegt den weſentlichſten Theil der Schrift bildete. 
er Verf. diefer Zeilen glaubt das Andenten an den Berftorbenen nicht befler ehren zu können, 
6 indem er, jede G@ereiztheit über die ungerechtfertigte Härte des Tadels unterdrüdend, in der 
ıhfolgenden Darftelung, wo ſich Gelegenheit bietet, den von Fiſcher geebneten Bahnen folgt 
ıd auf den unſchwer zu erbringenden Rachweis, daß der leptere Bei feiner Polemik bioweilen 
‚it über das Biel Hinausgefchoflen, verzichtet. 


fälle, an denen es in 


1058 Nachtrag. 


diejenigen Grundzüge, welche für jede Bundeszollgemeinſchaft im Weſentlichen ma 
gebend ſein müſſen. Daß ber Urt. 34 einige Theile bes Bundesgebietes vom ver 
allgemeinen Bollgrenze ausſchließt, alterirt den Charakter jener Verbindung «di 
einer Bnnveszollgemeinihaft nicht. Die ansgefhloffenen Gebietstheile werben auß 
drücklich als Yreihäfen bezeichnet, wie fie ja aud in dem Zollfyftem eines Cinzel⸗ 
fiaates vorlommen können. 

Es wird fih im fpäteren Verlaufe diefer Darftellung Gelegenheit finden, 
auf die Organifation des Zollweſens des norddentſchen Bundes zurü 

Das Weien des Zollverbandes befteht darin, daß berfelbe ſich darſtellt 
als eine auf beftimmte Zeit abgefchlofiene Bereinigung mehrerer fonveräner Stanten 
zur Herflellung ber mwentgftens als Regel geltenden Verkehrsfreiheit zwifchen ihnen 
durch ein gemeinſchaftliches Grenzzollſyſtem und zur verhältuigmäßigen Theilung ber 
and bemfelben erwadferden Einnahmen ?). 

Der Zollverband kann als Zollverein oder als Zollanſchluß⸗Berhältniß auf 
treten. 

Unter „Zollverein“ wird man biejenige Art eines Zollverbandes zu ver 
fiehen haben, bei welcher zu Aenderungen ber gemeinfchaftlihen Zollgefeggebung im 
weiteften Sinne die ausbrüdiihe Einwilligung jenes Vereinsſtaates erforderlich if 
und bemfelben bie felbftännige Zollverwaltung innerhalb feines Gebietes, ber ver- 
einbarten Geſetzgebung gemäß, zuftebt 3). 

Dagegen ift ein Zollanſchluß⸗Verhältniß vorhanden, wenn ein Staat 
für fein ganzes Gebiet oder für einen Theil desſelben das Zollſyſtem eines ante- 
ren Staates in ber Weiſe angenonmen bat, daß er auf pie ſelbſtändige Theilnahme 
an der gemeinfchaftlihen Zollgefeßgebung und anf bie ſelbſtändige Zollverwaltung 
Innerhalb feines Gebietes in größerer oder geringerer Ausdehnung verzichtet 9). 

Während alfo die Genofien einer Bundeszollgemeinſchaft auf vie Zollhokelt 
und auf das Berfügungsredht über den in ihrem Gebiete zur Erhebung kommenden 
Theil der Zolleevenien gänzlich zu Gunften der Geſammtheit Berzicht leiften, fordert 
ber Zollverein nur eine Beſchränkung der Zollhoheit und eine auf gewiſſen, ver- 
einbarten Normen beruhende Revenüeneintheilung, erheifcht der Zollanfhluß ande⸗ 
rerfeit® das Opfer der ganzen Zollhoheit, nicht aber zugleich, wie die Bunbeszoll- 
gemeinfchaft, ven Verzicht auf einen Separat-Antheil an den Zollrevenen. 

Zollvereine find eine Erſcheinung des neunzehnten Jahrhunderts, und bis 
jegt nur unter deutfchen Staaten zu Stande gelommen. Beifplele einer ſolchen Berei 
nigung find: der bayerif-württembergifhe Zollverein vom 18. Jannar 1828; 
ber preußifch-heffifche Berein vom 14. Februar 1828; der Steuerverein zwiſchen 
Hannover, Braunfhmweig, Oldenburg und Schanmburg-Fippe (1. Mai 1834, 7. 
Mai 1836, 11. November 1837); der große dentſche Zoll- und Handelsvereiz 
und endlich der jegige auf ven Verträgen vom 8. Juli 1867 beruhende Zollverein 
zwifchen dem norbveutfhen Bunde und den ſüddentſchen Staaten, der aber allerbings, 
wie weiter unten gezeigt werden fol, nur als mobifichrte Form eines Zollvereins 
aufzufaffen iſt. 

Ein Zollanfhluß-Berhältuig warb dur den Vertrag vom 25. Oltober 
1819 zwifhen Schwarzburg-Sonbershaufen, am 4. Juni 1822 zwifchen Schwarz- 
burg-Rubolftabt, am 27. Juni 1823 zwiſchen Sadjen-Weimar u. |. w. einer 


2,6. Fiſcher, a. a. DO. VII 309. 
3) Derjelbe a. a. ©. VIlı 316. 
s%) Derielbe a. a. O. VIII 332. 








Zollverein. 1068 


eits und Preußen andererſeits, am 28. Juli 1824 zwiſchen den Fürſtenthümern 
Sohenzollern und Württemberg begründet. Daß und inwiefern die Zollanſchlüfſe 
in fehr wichtiges Moment in der Entwidelungsgefhichte des deutſchen Zollvereins 
len, wird and ber weiter unten folgenden Darftelung zur Genüge erbellen. 

Der deutfche Zollverein. Das wichtigſte Beiſpiel eines Zollvereins iſt 
a8 des großen deutſchen Zoll- undHandelsvereins, jener Bereinigung, 
zelche lange Zeit den einzigen Ausdruck des nationalen VBebürfniffes des deutfchen 
zolkes gebildet und dem in unferen Tagen fi emtwidelnden deutſchen Stants- 
sefen trefflih vorgearbeitet bat. 

Es iſt die Aufgabe ver nadfolgenden Darftellung, vie Entſtehung dieſes Vereins 
md feine Entwidelung bis zu feiner in das Jahr 1867 fallenden totalen Um⸗ 
teftaltung, feine Organifation, feine Handelspolitik, feinen Einfluß auf das deutfche 
Birtbfchaftsleben, endlich feine finanziellen Erfolge zu ſchildern; ſodann aber in 
urzen Zügen die Hauptmomente der Umwandlung des Zollvereins in eine Bundes» 
ollgemeinſchaft, und des Anſchluſſes der ſüddeutſchen Staaten an biefelbe, ſowie 
fe bisherigen Leiftungen biefes neu organifirten Gemeinwefens vorzuführen. 

I. Aeußere Entwidelung bis zum Jahre 1866. Cs gibt vieleicht 
u der ganzen Geſchichte kein Beiſpiel von politiſcher Konſequenz, Vorausſicht und Ge⸗ 
uld, welches dem an die Seite geſetzt werben könnte, dem wir in ter Geſchichte 
ea deutſchen Zollvereind auf Seiten ver Begründer desfelben begegnen. Iene Kämpfe 
ınd Mühen, auf die fi das berühmte und oft citixte Dichterwort: „Tanta 
molee erat etc.“ bezieht, reihen enifernt nicht heran an die unfäglihen Be⸗ 
hwerben, welche es gefoftet hat, die Trümmer des römifhen Reiches deutſcher 
Ratton, zumal, nachdem fie zum Theil unter den Händen eines fremden Erobe⸗ 
ers und nad feiner Laune und Willkühr zu formell ſelbſtändigen quafiftantlichen 
Hebilden umgeformt oder fünftlich vereinigt worden waren, zu einem einheitlichen 
md unzerreißbaren Wirthſchaftsgebiete zufammenzufaflen, und durch diefe Form 
»as Zufammengehdrigkeitägefühl des deutfchen Volles wieder lebendig zu machen, 
ebendig zu erhalten bis zu der Zeit, wo es einen verflänblideren Ausdruck drin⸗ 
end forberte. 

8 deutfche Reich war das wirthſchaftsfeindlichſte Stantengebilde, welches 
nan ſich denken kann. Zerlläftet und zerrifien in eine zahllofe Menge weltlicher 
ind geiftliher Territorien, deren jedes ein beſonderes Rechts- und Verwaltunge⸗ 
zebiet darzuftellen, überhaupt von der mehr und mehr abfterbenden Reichsgewalt 
ih zu emancipiven trachtete, ohne doch bie Macht zum Schutze des Rechtes und 
er Sicherheit der Unterthanen zu befigen, insbefondere da, wo die Karte am 
unteften war, ausgebeutet und ausgefogen durch, ihrks Beſitzes unfichere, Terri⸗ 
ortalherren; ungeichägt gegen äußere Feinde, bot das Reichsgebiet einer gefunden 
otrtbfchaftlihen Entwidelung nach keiner Richtung bin Raum, Die Arbeit in die 
Feffeln des Lehensweſens, einer verfommenen Zunft und Monopolwirthſchaft geſchmie⸗ 
et, der Verkehr gehemmt durch zahllofe Mauth- und Acciſe⸗Schranken, der Kredit 
urch die ärgfte Rechtsunficherheit untergraben, das Münzwefen buntihediger, als 
ie Landkarte, und von plusmacheriſchen Zerritorialherren gänzlich korrumpirt — 
nan muß fih wundern, daß unter folden Bedingungen dem deutfhen Volk die 
draft zu einem endlichen potitifchen, nationalen und wirthſchaftlichen Wieberaufe 
hwung nicht gänzlich abhanken Iamd, 


5) von Feſtenberg⸗Packiſch, Geſchichte des Zollvereins mit befonderer Berüdfichtigun 
er Adele utwidelung Deutſchlands. Leipzig. %. A. Brodhaus, 1869. Abſchn. TI — 


1054 Nachtrag. 


Beſonders die Zuflände des Verkehrsweſens interefficen uns an dieſer Stele 
Das dentſche Reich hatte keine Zollgrenzen gegen das Ausland; aber an deu Gre- 
zen und im Inneren der einzelnen Territorien wurben unzählige Land⸗ und Wet 
ſerzoͤlle nach fehr verfchiedenartigen, oft nur auf dem Herfommen bernhenden Te 
rifen erhoben. So zweifelhaft auch in den meiften Faällen die Rechtsbafle folder A⸗ 
gabenerhebung war — die vielfach um Hälfe angerufene Reichsgewalt vermedte 
nichts dagegen auszurichten. Zu ven Grenzzöllen gefellten fi noch vielfache andere 
Hemmungen des Verkehrs zwiſchen den verſchiedenen Territorien und im Imgiern der 
jelben, theild im der Form der Aus» und Einfuhrverbote, der Acciſen, ber Stapel 
und Umfelagsrechte, theils in der Form hoher Auflagen auf Käufe und Berlänfe, 
ſtarker Abgaben für die Benugung öffentlider Berlehrsanftalten, umfänglicher BR 
nopole der Regierungen und begünftigter Privaten. 

Bar fo der Innere Verkehr im deutſchen Reiche aufs Aeußerſte gehemmt, fs 
wurde andererſeits aud die legale Ausfuhr in die Nachbarſtaaten vielfach bard 
deren im 18. Jahrhunderte Immer fehroffer fi entwidelnde Prohibiti⸗⸗ und Maut 
fofteme Beinahe unmöglich gemacht. 

Nach der Auflöfung des deutſchen Reiches gefaiteten fig viele Berbättaifi: 
infofern gänftiger, als nun das reichsgeſetliche ot der Berlegung der Zoll 
finten in Wegfall kam und viele innere Zölle in Grenzzölle umgewandelt werben 
fonnten, was auch in einigen, namentlich ſüddeutſchen, Staaten geſchah. Dagegen 
f&loffen fi eben viefe Staaten — beſonders die Rheinbundsſtaaten — tells weil 
fie, was ihnen an Binnenzöllen entging, durch Grenzzolle wieder erlangen m 
mäffen glaubten, theils befangen in dem Irthume, daß die erlangte Bollfoupeni- 
netät aud in der äußeren Abſchließung ihren Uusprud gewinnen müſſe, mehr unt 
mehr von einander ab. 

Auch nah dem Sturze Napoleons und der Beſeitigung bes für die Eutwide 
[ung des dentſchen Wirthſchaftslebens fo mannigfach verhänguißeollen Konttmental- 
ſyſtems 6) führte zwar die Rückkehr des Friedens zu einem friſcheren Aufſchwung 
in manchen Zweigen der Probultion nnd des Berkehrs; aber von den Gemmun- 
gen des letzteren wurben doch nur wenige durch eine etwas rationellere Gefey 
gebung in den nun völlig fonveränen und der Zahl nach flarf rebuckten bentichen 
Staatsterritorien einigermaßen gemildert. Und nod immer waren vie Berfehrs- 
verbältntfie fo verwidelt, daß das ihnen geltende Witzwort des Yranzofen de Pradt, 
in Deutſchland ſei e8 dahin gelommen, daß deffen Betwohner un ned durch 
mit einander verlehren könnten, für völlig zutreffend gehalten werben muß. 

Hatten jedoch ſchon die Verminderung der jelbfländigen Zollgebiete, und bie 
in einigen berfelben eingeführten geſetzlichen Reformen gezeigt, daß der Druck, war 
Ger auf dem Wirtbfchaftslehen des dentſchen Volles laftete, wicht einem umper 
meidlihen Berhängnif gleich zu achten ſei, fo wuds mit dem feit bem 
friegen erſtarkenden Ginheitöbemußtfein des beutfchen Volles ebenſo die Eupfin⸗ 
dung jenes Druckes, wie das Veftreben, ihn abzuſchütteln. Zum erſten Male hörte 
man die Forderung nad völliger innerer Berkehrsfreiheit und Sanbelseinigung 
ſammtlicher deatfcher Staaten ausiprechen und diekutiren — eine Yorberung, bie 
num wicht mehr von der Tagesordnung Öffentlicher Distuffiouen verſchwinden fellte 
bis ihr vollſtaͤndig Genlge geſchehen. u 

Freilich — man wußte zunädhfi nur, was man wollte, nicht aber, wie 
daB Erſtrebte ins Leben einzuführen fei, und von ven unfäglidden Schwierigfeiten, 


6) Vieber die verderblihen Wirkungen diefes Syſtems vrgl. v. FeſtenbergePackiſqh 
a. a. O. G. 78 ff. 








Seliverein. 10565 


velhe\fih der erfehnten deutſchen Handelseinigung entgegenftellen wärben, hatten 
sol nur wenige Eingemweihte beim Beginne jener Bewegung eine annähernd rich⸗ 
ige Borflellung. Die Schiwierigleiten lagen in der Eiferfucht der neuen Gonveraine 
af ihre Sonverainetät, in dem Umftanve, daß bie lange Kriegszeit bie Staats⸗ 
aſſen ſtark erfchöpft hatte und die Neigung zu Erperimenten, welche die Staats⸗ 
innahmen fehr nahe berühren mußten, natürlich eben jegt gering war; in dem 
ief eingewurzelten Partitulerismns der Maſſen; endlich in der Stellung der beiden 
eutſchen Großmachte zu einander und zu den übrigen deutſchen Gtanten. Diefen 
Schwierigkeiten iſt es zu banken, daß, obwohl bei mehreren ver Vorarbeiten für 
ie dentſche Bunbesverfaflung die Abficht, die Rechte der Bunbesgewalt in Hinſicht 
er Zoll⸗ und Hanbelsangelegenheiten ſehr weit auszudehnen, deutlich erkeunbar If, 
a3 allen Berhandlungen Über dieſen wichtigen Gegenſtand nichts gerettet werben 
onnte als der berüdytigte Artikel XIX der Bundesalte mit feiner dürftigen Ver⸗ 
eigung, daß die Bundesglieder bei der erften Zuſammenkunft der Bundesverfamm« 
ung wegen des Handels und Verkehrs zwifchen ven verfchlevenen Bundesſtaaten, 
owie über die Schiffahrt in Berathung treten würden. Die bier verbheißenen, und 
uvörderfi auf den im Spätherbſt 1819 beginnenden Wiener Miniferlonferenzen 
epflogenen Berathungen würden ohne Zweifel zu keinem nennenswerthen Ergeb⸗ 
tffe geführt haben, aud wenn der größte reindeutſche Bundesftant, Preußen, ſich 
er Behandlung des Handels und Berkehrsweſens als Bundesfadhe nicht fo, wie 
n feinem und ganz Deutſchlands Interefie geſchehen, wiberjegt hätte, 

In dem allmälig, Dank einer fräftigen und Augen Bolitil, im Kampfe mit 
mBeren und inneren Feinden, im Kampfe mit der Reichsgewalt zu einem mäch⸗ 
igen Staatswefen emporgewadhfenen Preußen ward nämlid das Bedürfniß nad 
jerftellung innerer Verkehrefreiheit nicht minder dringend, ja vielleicht dringender 
elbſt empfunden, als in den politifch zerfiüdelten @ebieten Mittel- und Säudweſt⸗ 
Deutſchlanda. Denn dort hemmte die Vielfältigkeit der inneren Verkehreſchrauken 
ach die im Mebrigen dort mögliche polittide Machtentfaltung. Was in einem Kom⸗ 
leg vieler Kleinfiaaten allenfalls ale nothwendige Folge der ſtaatlichen Zerfplit- 
rung betrachtet und als bis zu einem gewiflen Grade unvermeidlich erduldet wer⸗ 
en modte, war im Innern eines Großſtaates geradezu unerträglih. Und doch 
saren in dieſem Großftante nicht nur die Provinzen durch künſtliche Verkehrs⸗ 
Hranten von einander geſchieden; felbft die Städte fchloffen ih durch Oktroilinien 
nd andere Verkehrserſchwerungen gegen einander und gegen das umliegende flache 
Yand engherzig ab. Aud Preußen hatte ja keine einheitliche Außenzollgrenze, Wller 
zandel war im die Städte gewiejen und nur mit Begleitſcheinen der Aecciſeämter 
omnte ſelbſt der Berkehr von Stadt zu Stabt betrieben werben 7). Natürlich muß- 
en dieſe taufendfältigen Beſchränkungen tn gleicher Welfe den wirthichaftlichen 
lufſchwung, der viefem Lande nad den Bebrängniflen langjähriger Kriege fo nöthig 
yar, und bie politifche Kraftentfaltung hemmen, die ber junge Großſtaat, nachbem 
r fi und ganz Dentichland von der Fremdherrſchaft befreit hatte, num auch wei- 
er bewähren wollte. Jene Beſchränkuugen mußten befeitigt werden. Der Staat 
Breußen Tonnte nicht auf die vagen Verheißungen des Art. XIX der Bundesalte 
yarten, und, wenn dieſe zur Wahrheit werben follten, war vielleicht eine vorgän⸗ 
ige Schaffung geregelter Berfehrsverhältnifle in dem zweitgrößten der Bundes» 
aaten fogar eime ſehr erjprießlicde Vorarbeit. 

7) Vrgl. die Schrift von Ludwig Karl Aegidi: »Aus der Dorzeit des Zollvereinde (Ham 


1865. B d Geller), welche überfaupt bei d den Da el 
ennpt iſt. — r Bl. aud v. —WR Ba ſch a. .. eh ff. Melung vielſah 


1054 ’ Nachtrag. 


Beſonders die Zuflände des Verkehrsweſens intereffiren uns am dieſer Stele 
Das deutſche Reich hatte keine Zollgrenzen gegen das Ausland; aber au deu Gre- 
zen und Im Inneren der einzelnen Territorien wurben unzählige Laub- und Bet 
ferzöfle nach fehr verſchiebenartigen, oft nur auf dem Herlommen 
rifen erhoben. So zweifelhaft auch in den meiften Fallen vie Retsbafls ſolcher * 
gabenerhebung war — die vielfach um Hälfe angerufene Neichsgewalt vermechte 
nichts dagegen auszurichten. Zu ven Grenzzdllen geſellten fich noch vielfache andere 
Hemmungen des Verkehrs zwiſchen den verſchiedenen Territorien und im Imsiern den 
jelben, theild im der Form der Aus und GEinfuhrverbote, der Uccifen, ber | 
und Umſchlagsrechte, theils in der Form hoher Auflagen auf Käufe und 255 
ſtarker Abgaben für die Benutzung öffentlicher Berkehrsanftalten, umfänglicher Mo⸗ 
nopoie der Regierungen und begünſtigter Privaten. 

Bar fo der Innere Verkehr im dentſchen Reiche aufs Aeußerſte gehemmt, fo 
wurde andererſeits auch bie legale Ausfuhr in vie Nachbarſtaaten vielfach bar 
deren im 18. Jahrhunderte Immer fchroffer fi entwidelnde Prohibitiv⸗ und Me 
ſoften. beinahe unmoglich gemacht. 

Nah der Aufloſung des deutſchen Reiches gefaltet en fih diefe Berhältutfi: 
infofern günftiger, als nun das reichsgeſetzliche ot der Berlegung der Zoß⸗ 
finten in Wegfall kam und viele innere Zölle in Srenzzölle umgewandelt werben 
fonnten, was auch in einigen, namentlich ſüddeutſchen, Staaten geſchah. Dagegen 
ſchloſſen fig eben diefe Staaten — beſonders die Rheinbandsſtaaten — tells weil 
fie, was ihnen an Binnenzollen entging, durch Grenzzölle wieder erlangen pa 
mäffen glaubten, theils Befangen in dem Irthume, daß die erlangte Bollfouneri- 
netät auch in der Äußeren Abfchliegung ihren Uusprud gewinnen mäffe, mehr un 
mehr von einander ab. 

Auch nah dem Sturze Napoleons und der Beſeitigung bes für bie Exutwide 
lung des deutſchen Wirthichaftslehens fo mannigfach verhänguißvollen Kontinental- 
ſyſtems 6) führte zwar die Rückkehr des Friedens zu einem Auffchw 
in manchen Zweigen der Produktion und des Berkehrs; aber von den Hemmun- 
gen des legteren wurden doch nur wenige burch eine etwas rationellere Gehege 

ebung in den nun völlig fonveränen und der Zahl nach flarf rebuckten bentiden 
Stontöterritorlen einigermaßen gemildert. Und noch immer waren die 
verhäftnifie fo verwidelt, daß das Ihnen geltende Witzwort des Franzoſen de Pradt, 
in Deutſchlaud ſei es dahin gekommen, daß defien Bewohner nur noch durch Gitter 
mit einander verfehren könnten, für völlig zutreffend gehalten werben nf 

Hatten jedoch fon die Verminderung der ſelbſtändigen Zollgeblete, uub 
in einigen verfelben eingeführten gefeglichen Bean gezeigt, daß der Drad, 
her auf dem Wirthſchaftoleben des dentſchen Volles Iaftete, wicht einem unver 
meiplichen VBerhängniß gleich zu achten fei, fo wuds mit dem feit bem 
kriegen erflarfenden Einheitsbewußtſein des deutſchen Bolles ebenſo die Empfin- 
dung jenes Druckes, wie das Beſtreben, ihn abzuſchütteln. Zum erften Male hörte 
man die Forderung nad völliger innerer Berfehröfreikeit und Handelseinigung 
fämmtliger deutſcher Staaten ausſprechen und diokutiren — eine Yorberung, die 
num wicht mehr von der Tagesorbnung öffentlicher Distuffionen verſchwinden feilte 
bis ihr vollſtaͤndig Genüge gefchehen. 

Freilich — man wußte zunähfi nur, was man wollte, nicht aber, wie 
das Erſtrebte ins Leben einzufähren fei, unb von den unfäglichen Säwierigfeiten, 


* Meber a ehligen Birkungen dieſes Syſtems vıgl. v. Feſtenberg⸗Pacdciſq 





an TH 


a. a. 











Seliverein. 1056 


vele: fi der erfehnten deutſchen Hanbelseinigung entgegenftellen wärben, hatten 
sopl nur wenige Eingeweihte beim VBeginne jener Bewegung eine annähernd rich⸗ 
ige Vorſtellung. Die Schwierigkeiten lagen in der Eiferfudht der nenen Sonveraine 
uf ihre Sonverainetät, in dem Umſtande, daß bie lange Kriegszelt bie Staats⸗ 
aſſen ſtark erfäpft Hatte und die Neigung zu Experimenten, welche die Staats⸗ 
innahmen ſehr nahe berühren mußten, natürlich eben jegt gering war; in dem 
ief eingemurzelten Partitularismus der Maſſen; endlich in der Stellung der beiden 
eutſchen Großmächte zu einander und zu ven Übrigen deutſchen Staaten. Diefen 
Schwierigkeiten iſt e8 zu danken, daß, obwohl bei mehreren der Vorarbeiten für 
te deutſche Bundesverfaſſung die Abficht, die Rechte der Bundesgewalt in Binficht 
er Zoll- und Handelsangelegenheiten ſehr weit anszudehnen, deutlich erkennbar iſt, 
us allen Berhandinngen über dieſen wichtigen Gegenſtand nichts gerettet werden 
onnte ale der berüdhtigte Artikel XIX der Bundesafte mit feiner vürftigen Ver⸗ 
eigung, daß die Bunbesglieder bei der erſten Zuſammenkunft der Bunvesverfanm« 
ung wegen des Handels und Verkehrs zwiſchen den verfchledenen Bundesftaaten, 
wie über die Schiffahrt in Berathung treten würden. Die bier verheißenen, und 
uvdrderſt auf den im Gpätherbft 1819 beginnenden Wiener Miniſterkonferenzen 
epflogenen Berathungen würden ohne Zweifel zu keinem nennenswertben Grgeb- 
iffe geführt haben, audy wenn ber größte reindeutſche Bundesſtaat, Preußen, fi 
er Behaublung des Handels⸗ und Verkehrsweſens als Bundeoſache nicht fo, wie 
ı feinem und ganz Deutfchlands Jutereſſe gefhehen, wiberjegt hätte. 

In dem allmälig, Dank einer Fräftigen und Augen Bolitil, im Kampfe mit 
ußeren und inneren Feinden, im Kampfe mit der Reichsgewalt zn einem mäch⸗ 
gen Staatöwelen emporgewadjenen Preußen ward nämlid das Bedürfniß mad 
jerftellung innerer Verkehrsfreiheit nicht minder dringend, ja vielleicht dringender 
eibſt empfunden, als in den politifch zerftüdelten @ebieten Mittel- und Güpweft- 
)eutſchlands. Denn dort hemmte die Bielfältigleit der inneren Verkehreſchrauken 
ach die im Mebrigen dort mögliche polittihe Machtentfaltung. Was in einem Kom- 
ler vieler Kleinſtaaten allenfalls als nothwendige Folge der ſtaatlichen Zerfplit- 
rung betradtet und als bis zu einem gewiſſen Grade unvermeidlich erduldet wer⸗ 
en mochte, war im Innern eines Öroßflantes gerabezu nnerträglih. Und doch 
yaren in dieſem Großftaate nicht nur die Provinzen durch künſtliche Verkehrs⸗ 
hranken von einander geſchieden; felbft die Städte ſchloſſen ih dur Oftroilinien 
nd andere Verkehrserſchwerungen gegen einander und gegen das umliegende flache 
and engherzig ab. Auch Preußen hatte ja keine einheitliche Außenzollgrenze, Aller 
andel war in bie Stäbte gewiefen und nur mit Begleitſcheinen der Aeciſeämter 
ante felhft der Berkehr von Stadt zu Stadt betrieben werben 7). Natürlich muß» 
n dieſe taufendfältigen Beichränfungen in gleicher Welfe den wirthſchaftlichen 
lufſchwung, ber diefem Lande nach den Bebrängnifien langjähriger Kriege fo udthig 
var, und bie politifche Kraftentfaltung hemmen, die der junge Großſtaat, nachdem 
e fi und ganz Deutſchland von der Fremdherrſchaft befreit hatte, num auch wei- 
er bewähren wollte Jene Beſchränkungen mußten befeitigt werden. Der Staat 
zreußen konnte nicht auf die vagen Berheißungen des Art. XIX der Bundesatie 
arten, und, wenn biefe zur Wahrheit werben follten, war vielleicht eine vorgän- 
ige Schaffung geregelter Berlehröverhältniffe in dem zweitgrößten ber Bunbes- 
aaten fogar eime fehr erſprießliche Vorarbeit. 

7) Vrgl. die Schrift von Ludwig Karl Aegidi: »Aus der Vorzeit des Zollvereind« ( Ham⸗ 


18656. Bo d Geisler), welche üb t bei d jenden Da lel 
mußt iſt. — Tal. auf v. Bnenbera- Bunt f Pr .. Sn ff. Melung vielſaqh 





1056 Redtrag, 


Diefe Vorarbeit einzuleiten wurde einem ans 24 Mitgliedern des Gtaait- 
rathes gebilveten Ausſchufſe aufgegeben, deſſen Verhandlungen Wilkelm von Ham 
boldt leitete, und welhem Männer wie Graf Bülow, Karl Georg Maaßen, Peter 
Ehriftoph Wilhelm Beuth und Gottlob Johann Chriftian Kunth ihre bewährten 
Kräfte winmeten. Aus den Berathungen dieſes Ausihuffe® ging das Geſetz vom 
26. Mai 1818 „über den Zoll und die Berbrauhsftener von ausländiſchen Bas- 
ven und über ben Verkehr zwifchen den Provinzen des Staates“ hervor 8). Diefet 
Geſetz ſchuf ein neues Zoll- und Stener-Syften, zunächſt allerdings nur für ben 
prenßiſchen Staat. Es iſt aber, wie demnädhft erhellen wird, als ber eigentlide 
Ausgangspunkt des deutſchen Zoll- und Handelsvereins zu betrachten. Es ſicherte 
dem Staate Preußen in feiner tiefen Bedürftigkeit reihe, flets anwachſende Ein⸗ 
nahmen, hervorgehen vornehmlih aus Eingangsabgaben von ausländiſchen, zum 
inneren Berbrauch beftimmten Exrzeugniffen, die nicht zu dem unentbehrlichften Kom 
ſum der nunbemittelten Maffen gehörten. Es befeitigte alle Binnenzölle und verlegte 
die Zolllinien an die Landesgrenze; es vereinigte Stadt und Land, Provinzen und 
Brovinzen. Der Verkehr im Innern warb frei und jedes Gewerbe konnte ferner 
bin ebenjowohl in Fleden und Dörfern, als in Städten betrieben werben. „OH 
dahin bildeten die verſchiedenen Lanbestheile im Weiten und Often, bie altererbten, 
die wiebergewonnenen, bie neuerworbenen, eine Herrfhaft: fie wurben burd 
das Gefeh von 1818 eine Lebensgemeinſchaft; ver Name Preußen beventete fortan 
ein großes Wirthfchaftögebiet, und Millionen Deutfche, befreit von all’ den ver 
widelten Zoll«, Durchgangs· und Hanbels-Abgaben, welde fie bisher von einan⸗ 
ber getrennt, befiegelten ihre ideale Zufammengehörigkeit in ungehinbertem Berkehe 
durch die Gemeinſamkeit aller Tebensintereffen” (Wegivt). 

Das Gefeg war für die Entwidelung des preußtihen Staatsweſens alfo ven 
ber größten Bedeutung; es rief in dem ganzen außerpreußiichen Deutſchlaud ge 
waltige Aufregung hervor. Über es 309 auch die Blide anderer europäiſcher Gteo- 
ten auf fih. Konnte doch der berühmte Staatsmann William Huslifſon in feiner 
für die Gefchichte des Freihandels bemerkenswerthen Barlamentörede vom 7. Mai 
1827 nit umbin, den bringenden Wunſch auszuſprechen, e8 möge bald bie Zeit 
tommen, wo bie Engländer im Stande fein würden, fi eines gleihen Tarifs zu 
rühmen, wie ber dur das Geſetz von 1818 In Preußen eingeführte fei! 

In jener Blüthezeit bes Mertantil- und Prohibitiv⸗Syſtems warb in dem 
prenßiſchen Geſetze erflärt, vaß alle Erzeugniffe ver Natur nnd Kunft im ganzen 
Umfange des prenßiſchen Staates eingebracht, verbraucht und burdgeführt, daß 
alle Inländifchen Erzeugnifje der Natur und Kunft aus dem preußiſchen Staate 
ausgeführt werben Lönnten; daß dieſe geſetzlich ausgeſprochene Handelefreiheit den 

gem mit anderen Staaten zur Grundlage dienen folle, daß Erleichte⸗ 
rungen, welche preußiihen Unterthanen in anderen Ländern zugeſtanden woficden, 
erwidert, dagegen aber freilich auch Beſchraͤnkungen, wodurch der Verkehr der preußi⸗ 
hen Unterthanen in fremden Ländern wefentlid litte, durch angemeflene Mafregelx 
vergolten werben follten. Ws Regel ſollte bei der Einfuhr fremder Waaren ein 
Sewiätezol von 1/, Rtble. für den Centner und außerdem eime Berbraudgsfteuer 
bein Berbleiben der Waaren im Inlande für Yabril- und Manufakturwaaren bei 
Auslaudes bis zu zehn vom Hundert des Durchſchnittapreiſes erhoben werben. Alſo 
ein Geſetz, welches zum erſten Dale alle Ein-, Durch⸗ und Ausfuhrverbote befelr 
tigte, und die ausländifche Einfuhr zwar mit Zöllen, aber mit bis dahin umerhärt 


Ba Pre —— dieſes Geſetzes wird ausführlich erzählt bei v. Beftenberg: 





Bollverein. 1057 


tebrigen Zöllen, belegte. Die Berkünbigung folder Grundſätze mußte in Europa 
‚Ügemeines Staunen hervorrufen. Und die unerwartet günftigen Erfolge des neuen 
Syſtems 9) mahnten hie und da auch wirkfam zur Nacheiferung. 

Das Geſetz von 1818 machte den Staat Preußen zu einem eluheitlichen 
Birthfchaftögebiete. Aber diefer Staat war von Haus aus hierauf ſchlecht ange- 
egt. Rur mit dem einen Theile eine kompakte Ländermaſſe bildend, war er auch 
er, noch mehr aber in den neuen weftlihen Territorien, vielfady von Spreng⸗ 
tüden anderer beutiher Staaten und Stäätlein durhfegt. Zwifchen bie beiven 
woßen Hälften des preußifchen Staates war deutſches Ausland eingeteilt, und von 
reußiſchem Gebiete gänzlich umſchloſſen lagen fremde Enklaven. Das neue Zoll- 
bftem mußte die dentſchen Örenzftanten wie Ausland, die ſremden Enklaven aber 
vie preußifches Inland behandeln. Man Tann denken, wie dieſe durch die Pflicht 
LE Sehergaltung auf Seiten Preußens gebotene Härte auf die deutſchen Nach⸗ 
ara wirkte. Die Nachbarſtaaten fahen ſich durch eine, wie immer niedrige, Zoll- 
chranke in dem Verkehr mit Preußen, und, wo preußifches Gebiet zwiſchen ihnen 
nd dem Auslande lag, and in dem Verkehr mit dem Auslande beeinträchtigt, 
richt ſtärker zwar als früher, aber ſyſtematiſcher, augenfälliger, verlegenver. Und 
ie Landesherren der in Preußen entiavirten Theile fohen fi in ihrer Souve⸗ 
anetät geſchaͤdigt, da die preußiſche Zollgrenze and ihre Bebietstheile mit um⸗ 
chloß, ihre Landeskinder alfo, was fie vom Auslande, ja vom Mutterlande gar, 
tauften, nur um einen durch den preußiichen Zoll erhöhten Preis kaufen konnten, 
alfo in die preußifhe Stantslafle indirekte Steuern zahlen mußten. 

Sin Schrei des Entſetzens ertönte aus allen mittel- und kleindeutſchen Kabi⸗ 
retten und Kanzleien ob der preußifchen Bergewaltigung. Erſt nahm man an, e8 
ei Preußen nit Ernſt mit feiner Maßregel; dann, als fie vollzogen wurde, be⸗ 
chuldigte man Preußen des Bundesbruches. Aber man war nicht baar aller Hoffe 
ug, daß es gelingen werbe, dieſen Bewaltftreih doch nod zu pariren. In jene 
Zeit fallen die erſten Aufänge einer öffentlichen Agitation für wirthſchaftliche Re⸗ 
ormen in Deutſchland. Dem Tübinger Brofeffor, Friedrich Lift, gebührt das Ber- 
tenft, diefe Neuerung eingeleitet zu haben. Er gründete einen Berein von Kauf- 
euten und Induſtriellen mit der Tendenz, ganz Dentfchland zu einem einheitlichen 
Danbels» und Verkehrsgebiete zu geftalten. Um ihn ſchaarte fi Alles, was in 
yem preußifhen Vorgehen entweder eine Bereitelung diefes Zieles, oder eine Be⸗ 
:inträchtigung des guten Rechtes erblidte. Die Regierungen der deutſchen Mittel⸗ 
ınd Kleinftaaten, fonft aller öffentlichen wie geheimen Agitation abhold, ſahen doch 
dieſe Bewegung nicht ungern. Nicht nur, daß fie in ihr einen Übleiter für dema- 
jogiſche Umtriebe erblidten; fie ertannten in der Lif’fchen Partei auch eine nicht 
a verachtende Bundesgenoffin im Kampfe gegen die preußiihe Vergewaltigung. 

Über größere Hoffnungen, ala auf diefe Agitationen, fegten die mittel- und 
leinſtaatlichen Höfe freilich auf die, wie erwähnt, im November 1819 beginnenden 
Biener Diinifterlonferenzen. Enthielt doch der Art. XIX der Bundesakte 
ven feierlichen und klaren Vorbehalt einer Berathung über Handel und Berkehr 
wiſchen den deutſchen Bunvesftanten! War doch in der legten Karlsbader Kon- 
ferenz, am 31. Auguſt 1819, beſchloſſen worden, in Wien aud mit zu verhan- 
veln über „vie Erleichterung des Handels und Berkehrs zwifhen dem verſchie⸗ 
denen Bundesſtaaten, um den Urt. XIX der B.A. zur möglihften Ausführung 


9) Diefe Erfolge können ſchon ſehr bald nach Einführung der neuen Geſetze konſtatirt wer⸗ 
den. Brgl. 3. B. Kerber, Beiträge gut Kenntniß des gewerblichen und kommerciellen Zuſtan⸗ 
des in der preußifchen Monardie. Berlin, 1829. 


Binntf@li und Brater, Denties Gtaats-Wörterbuß. XI. 67 


1058 Aachtrag. 


bringen”! fühlte man fich doch, Preußen gegenüber, einig in ber Berurtheilun; 
—* Zollſyſtems! Wie ſollte Preußen dem vereinten Andringen ſeiner Gegner 
widerſtehen können? 

Zu ben erſten Arbeiten der Wiener Konferenzen gehörte bie Nieberfegung 
eines befonderen Ausſchuſſes (des zehnten) „für Handel und Verkehr". Die Ber- 
banblungen dieſes Ausſchuſſes dauerten bis in den Mat 1820. 2. A. Wegidi hei 
in der ſchon erwähnten Schrift ein urlundenmäßiges und Iebenbiges Bild biefer 
Berhandlungen gezeihnet. So deutlich aus dieſen legteren auch die Tendenzen ber 
dem werdenden Zollverein feindlichen Mächte hervorleuchten und fo wichtig es für 
das Verſtaͤndniß der Gefchichte des Zollvereins ift, dieſe Tendenzen fennen zu ler: 
nen, fo geftattet uns doch bier der Raum nicht, nnd näher in jene diplomatiſchen 
Kämpfe einzulafien. Es wurde in Wien Alles verfuht, um Preußen von feine 
felbftändigen Handelspolitik abzubringen. Aber weder wußte man biefer haltbare 
anderweitige Pläne entgegenznftellen, noch ließ fi Preußen durch die gegem eb 
ins Werk geſetzten Intriguen, durch Verleumdungen und Drohungen, womit man 
es überjhättete, wanten machen; es beharrte bei feinem Geſetz vom 26. Mai 1818 
und dem bamit inangnrirten Syſtem. Diefe Feſtigkeit war die eigentliche Trieb⸗ 
kraſt zur Gründung des deutſchen Zollvereina. Denn fie zwang die andern Bun- 
desglieder, fi dem preußifhen Zollfyſtem, welches fie neben ſich nicht 
welches fie aber auch nicht Über den Haufen werfen konnten, einer nach 
beren, duch Separatverträge, anzufchliegen. Diefe Separatverträge ſchu 
almälige Erweiterung des preußiſchen Zollſyſtems. Diefes Syſtem ruhete auf dem 
Geſetz von 1818. Das Geſetz von 1818 iſt alfo in der That der Grundſtein des 
beutichen Zollvereins. 

Es wird bier am Plage fein, mit einem Worte die Stellung zu daralteri- 
firen, welche Defterreich in dieſem frühefien Stabium ber Zollvereinsbildung 
gegenüber einnahm. Nichts läßt die ſchwachen Seiten der Metternich' ſchen Diple 
matie deutlicher erkennen, als der Umſtand, daß fie zwar über den Sturm froh⸗ 
lodte, den das preußiſche Geſetz von 1818 bei ven anderen Bundesgenofſen ber 
vorgerufen, und daß fie in der Agitation, welche in Deutfchlaud auf wirthſchaftlichen 
Gebiete erwacht war, einen willlommenen Übleiter von bemagogifhen Umtrichen 
begrüßte; daß fie aber weder viefe Agitation „unberufener und unlegitimirter Men⸗ 
ſchen“ begünftigte — Liſt und feine Genoſſen find während der Minifterfonferen- 
zen Monate lang von Metternih mit vagen Berfprechungen bingehalten worden 
— noch aud) der von Preußen bewieſenen Feſtigkeit irgenb ein beflimmtes Pre- 

ramm entgegenzuftellen wußte. Es fehlte in jenem Kabinet vollfländig an ber 

Fühigteit, bie große Bedeutung der vorliegenden Frage zu wärbigen; daß Preußen 
fiy mit feinem Zollſyſtem die Suprenatie in Dentfhland erobern werde — bat 
kam der öfterreichifchen Diplomatie bei ihrer Geringſchaͤrung der wirthſchaftlichen 
Interefien der Ration nicht in den Sim. So fam es, daß unter dem heftigen 
Gegnern Preußens, bie auf den Wiener Minifterlonferenzen zum Worte kamen, 
die Praſidialmacht nicht zu finden war. Ja biefe mag e8 für ein Glück gehalten 
haben, daß der Nivale, in „elendem Krämergeiſt“ befaugen, die Zeit und Aufmerk 
famleit für andere, angeblich wichtigere, diplomatiſche Aufgaben verlor. Zu fpät 
ſollte fie ertennen, daß fie durch den Zollverein um ihre Oberherrſchaft im Rede 
gebradyt werden würde — was freilich, wie die Gegenwart zeigt, beiden Theilen 
nur zum Beſten gereichen Tonnte. 

Der deutſche Zollverein, fo mächtige Hinderniffe fih ihm auch „tm Reiche“ 





dulden, 
Dem an⸗ 
fen eine 





Zollverein. 1059 


ſelbſt entgegenthürmten, wuchs aus unſcheinbaren Anfängen mit gerabezu probi« 
dentieller Sicherheit Schritt für Schritt zu feiner Macht empor. 

Schon am 25. Oktober 1819, alfo noch vor Beginn der Wiener Konferenzen, 
jatte Schwarzburg-Sondershanfen einen Staatövertrag mit Preußen abgeſchloſſen, 
vodurch die Berhältnifie des größeren Theiles feiner Beflgungen, weldyer im preußi⸗ 
‚hen Gebiete enflavirt war, in Bezug auf Zölle und Verbrauchsſteuern georpnet, 
5. auf preußiihen Fuß gefegt wurden. Das war nad den Anfchauungen ber 
nittele und kleindeutſchen Kabinette ein entwürbigender Borgang, Verrath an ver 
yentfchen Fürſtenwürde. Eine Nachahmung dieſes verabfchenenswerthen Schrittes 
on anderer Seite warb für ganz unmöglich gehalten. Allerdings bauerte es brei 
Jahre, ehe der zweite ſolche Verrath begangen wurde, aber audy nicht länger, als 
rei Jahre. Am 4. Juni 1822 folgte Schwarzburg-Rubolftabt bezüglich feiner 
Ianvesherrfchaft dem Beiſpiel ver anderen Linie nah. Es folgten dann weiter bie 
ibrigen Souveräne enfiavirter Landestheile: Sahfen-Welmar am 27. Juni 1823; 
Yppe-Detmold am 17. Juni 1826; Medienburg- Schwerin am 2. December 1826; 
Bernburg am 10. Oftober 1828 und bezüglich am 17. Juni 1826; endlich, und 
war mit ihren ganzen Gebieten auch bie beiden anderen anhaltiſchen Her⸗ 
ogthämer (17. Iult 1828), die fih, nächſt Raffau, in den Wiener Minifterlonfe- 
enzen am höchften gegen Preußen aufgebäumt hatten; Oldenburg wegen: Birken. 
elds am 24. Juli 1830. Bei jedem diefer Verträge galt es, beſondere Berhält- 
niſſe zu berüdjichtigen, befondere Liebhabereien zu ſchonen. Aber alle verfchafften 
en Enklaven doch folgende erheblichen Vorthtile: fie fiherten den Bewohnern völlig 
reien Berlehr im ganzen preußiſchen Staate, und fie gewährten ben Staatskafſen 
inen nad Berhältniß der Volkszahl der Enklaven berechneten Antheil an dem 
kinkommen Preußens aus den Verbrauchsftenern von auslänpifchen Waaren. 

DIE zum Schluſſe des Jahres 1826 war das Machtgebiet des preußifchen 
Zollſyſtems auf 5087 Q.⸗M. mit 12,584,000 Einwohnern gewachſen unb hatte 
ich gleichzeitig wentgftens nothhärftig arronbirt. Aber das war noch kein Zollverein; 
8 war nur ein einheitliches Zollſyſtem mit Zollanfchläffen. Der am 17. Iuli 
1838 erfolgte Beitritt der ganzen Herzogthämer Anhalt Deffan und Köthen änderte 
m biefem Charakter ebenfomenig, wie der am 16. April 1831 erfolgende Beitritt 
es Fürſtenthums Walded. | 

In Wien war nichts von der geringften Bedeutung für den Tünftigen Zoll⸗ 
verein zu Stande gekommen, ald der Separatvertrag zwiſchen Bayern, Württem⸗ 
erg, Baden, Hefien-Darmflabt, den fächſiſchen Großherzogthümern und Herzog⸗ 
bümern, ven reußifchen Fürſtenthümern und Naffau (vom 19. Mai 1820), worin 
ih diefe Staaten verhießen, unter fi einen Zoll- und Handelsverein bilden zu 
vollen 10), Diefe fogenannte Darmfläpter Koalition kam zuerfi im Septem- 
‚er 1820 in Darmſtadt zufammen. Es betheiligten fi vorerft an den Berhanb» 
ungen nur bie obengenannten Unterzeichner des Wiener Präliminarvertrages, ſpäter 
uch Kurheſſen, Walde, vie beiden Hohenzollern, die jenem Bertrage nachträglich 
'eigetreten waren. Allein fehr bald zeigte es fi, daß die Unfchauungen über bie 
Irganifation und den hanvelspolitiihen Charakter des zu grünbenven Zollverein® 
ehr weit auseinanvergingen; erſt die kleineren Kontrahenten, baun — am 5. Juli 
823 — Heflen-Darmftadt, fagten fich von den Berhandlungen los, die num im 
Sande verliefen. Auch als viefelben zwei Jahre fpäter, in Stuttgart, zwifchen 
Bayern, Württemberg, Baden, Heflen-Darmftadt und Naffau wieder aufgenommen 


10) Ueber diefen Vertrag f. das Nähere bei Aegidi a. a. D. ©. 98 ff. 
67* 


1060 Nachtrag. 


wurden, zeigte fich, daß auf dieſem Wege die widerſtreitenden Intereſſen nicht 
vereinigt werben konnten (Bayern wollte z. ®. einen hohen Tarif, Baden einen 
möglichft niedrigen), und das Unternehmen fcheiterte abermals. Am beften hatten 
fich fon in Darmftapt, mehr nody in Stuttgart, Bayern uud Württemberg 
mit einander verfländigt. Diefe traten dann in Separatverhandlungen ein, deren 
Ergebnig der erſte in Dentihland zu Stande gelommene eigentlide Zollverein — 
der bayrifh-wärttembergifhe — war. (Vertrag vom 18. Ian. 1828. Beginn 
am 1. Juli 1828.) Hefien-Darmftabt Hatte fi gleich nad, den Stuttgarter Kon: 
ferengen — im März 1826 — wit der Unfrage nad Berlin gemen det, ob das 
preußiſche Kabinet geneigt ſei, in Verhandlungen wegen gegenfeitiger Berkehrs⸗ 
erleigterungen mit ihm einzutreten. Die erſten Korrefpondenzen über den Gegen- 
ſtand gaben nur ſchwache Hoffaungen. Aber als dann wirklich, zu Beginn bes 
Jahres 1828, ernftlihe Unterhandiungen zwiſchen Preußen und Heflen angelnäpft 
wurden, führten viefe bald zu einem beiberfelts erwünfchten Ziel, nämlich zu dem 
Bertrage vom 14. Februar 1828, der den zweiten deutſchen Zollverein, ben 
preußifch-heffifchen, in's Leben rief. Der Bertrag trat gleichzeitig mit dem 
bayriſch⸗ württembergiſchen in Kraft. 

Die preußifche Zollgefeggebung ward von dem Großherzogthum Hefſen ange 
nommen; eine Zolllinie umfchloß fortan beide Staaten; in Hinficht der Inneren 
Berbrauchsfteuern wurden Ausgleihungsabgaben eingeführt. Die Zollverwaltung 
war zwar gleihförmig mit der preußlichen organifirt, aber der heſſiſchen Regie 
tung zur felbflänpigen Leitung überlaffen; vie Thellung der reinen Zolleintänfte 
erfolgte nach der Einwohnerzahl; beiverfeitige Zuftimmung war zu allen Tarif⸗ 
änderungen und fonftigen Anorbnungen hinſichtlich des Zollweſens erforverlid; 
Hanbelöverträge zwifchen Preußen und anderen Staaten, welche bie Iuterefien 
Heflens und der preußiſchen Weſtprovinzen berährten, follten nur unter Mitivir 
tung der heffiſchen Regierung abgeſchloſſen werben 11), 

Bayern und Württemberg machten mit ihrem Separatverein üble Erfahren- 
gen. Das gemeinſchaftliche Zollgebiet war zu klein und zu wenig abgerundet. Es 
war von dem Seeverlehr abgefhnitten. Die verhältuigmäßig zu lange Zollgrenze 
fteigerte den Berwaltungsaufwand gewaltig. Im Durchſchnitt der Jahre 1829 bis 
1831 betrugen die Zollverwaltungsfoften nicht weniger, ala 449/, der rohen Zoll- 
einnahme. In dem bayrifchen Rheinkreiſe koſtete die Zollverwaltung im Jahre 1830 
fogar 83,034 fl. mehr, als die Zölle einbrachten! 12). Der Separatverein war in 
völliger Sonverftellung nicht länger zu halten. Er näherte ſich dem preußiſch⸗heffi⸗ 
ſchen Verband; zu Anfang 1829 begannen die Verhandlungen, am 27. Dat 1829 
kam ein Handelövertrag zwiſchen Ba hernund Württemberg einer» Breußen 
und Heſſen⸗Darmſtadt andererfeitszu Stande, demzufolge die Kontrahen- 
ten fi vorläufig auf 12 Jahre erhebliche Zollerleihterungen zugeflanden und fih 
verpflichteten, ihre Zollfufteme mehr und mehr im Uebereiuftimmung zu bringen. 

Wie aus ver fündentfchen Koalition gegen Preußen vie Zollvereinigung Hefien- 
Darmſtadts mit Preußen, fo ging aus einem unter'm 24. September 1828 zu 
Kaſſel geſchloſſenen mittelveutihen Bunde, befien Glieder fih fogar verpflichten 
mußten, ohne ausprüdiiche Genehmigung aller anderen mit feinem außenvorſtehen⸗ 
ben Staate in einen Zoll- oder Mauth⸗Verband zu treten, bie SZollvereinigung 
Kurheſſens mit Preußen hervor (25. Auguft 1831), die für Preußen aus auf 

11) G. Fiſcher a. a. O It. 357. 


13, 9. Viebahn, Statiſtik tes zollvereinten und nördlichen Deutfchlandd. Berlin 1858 
Bd. 1. ©. 156. Rau, Bıunrf. dır Zinangwiffenfchaft. 4. Aufl. $ 454 Anmerk. 2, 











Roliverein. 1061 


ber. Hand liegenden geographiſchen Gründen von erheblichem Werthe war. Auch 
ber mittelbeutfche Bund erwies fi nämlich als gänzlich unfruchtbar; er mar 
nichts, als eine Demonftration gegen Preußen; es bildeten fi Sondervereine 
innerhalb desſelben; Kuchefien fürchtete, zumal nachdem Bayern und Württemberg 
mit Preußen und Heflen-Darmftabt ſich vorläufig verftändigt hatten, iſolirt zu 
werben; es reichte demfelben Preußen, welches bisher von ihm fo heftig angefein- 
det worden war, bie Hand. Mit diefem Schritte war der Sieg des preußiſchen 
Zollſyſtems, war die Begründung des deutſchen Zollvereins entſchieden. 

Die Losfagung Kurhefiens von dem mitteldeutfhen Berbande und von dem 
baraus herborgegangenen Eimbeder Bertrag (27. März 1830 zwifchen 
Hannover, Kurheflen, Oldenburg und Braunfchweig) führte eine Interefiante Epi⸗ 
fode in der Geſchichte des Zollvereins herbei. Zunächft erhob Hannover mit ande 
ren Verbündeten beim Bunde Beſchwerde gegen Kurhefien wegen Verlegung des 
Kaſſeler Vertrags vom 24. September 1828. Die Sache wurde verzögert, bis ber 
Kaffeler Vercrag abgelaufen und alfo der Klaggrund hinweggefallen war. Und 
dbayn beantragte Hannover (am 24. Mai 1832) beim Bunde eine Erneuerung 
der Berathungen über den Vollzug des Art. XIX der B.A., die feit 1818, alfo 
vierzehn Jahre lang, gänzlich geruht hatten 13). Es kam über dieſen Antrag, ob- 
wohl er von Seiten Sachſens eifrig unterflägt wurde, zu keinem Beſchluſſe Seitens 
der Bunpesverfammlung. 

Bald nad dem Beitritt Kurhefiens begannen zwifchen dem bayriſch⸗württem⸗ 
bergiſchen Zollvereine und Preußen neue Verhandlungen. Diefes Mal galt es dem 
Abſchluſſe einer volllommenen Zollvereinigung. Der Bereinigung 
vertrag batirt vom 22. März 1833. Er fileß bei deu Kammern und DBe- 
völferungen ber beiden betheiligten ſüddeutſchen Staaten auf die heftigſte Oppo- 
fition. Aber die Genehmigung erfolgte uad) langen und leidenſchaftlichen Kämpfen. 
Wenige Jahre fpäter durfte man bie Führer der Oppofition nicht mehr an jene 
Kämpfe erinnern. | 

Je mehr fi) das Gebiet des werbenden Zollvereins ausbehnte, mit um fo 
größeren Nachtheilen fahen ſich die außenverbleibendeu Staaten bedroht, wenn fie 
noch zögerten. Am deutlihften mußte viefe Gefahr dem Königreih Sachſen und 
den Thüringen’fhen Staaten vor Augen treten. Denn ihre Territorien wurden 
bereits auf drei Seiten von dem neugebilbeten Zollgebiete umſchloſſen. Die ſäch⸗ 
ſiſche Regierung, obwohl fie noch erft durch Unterflügung bes hannöver'ſchen An⸗ 
trages am Bunde gezeigt hatte, wie fehr fie der allmäligen Auspehnung des preußi- 
ſchen Bundes adgeneigt fei, knüpfte doch im Spätherbfi 1832 Unterhandlungen 
mit Preußen an, und am 30. März 1833 kam auch diefer Zollvereinigangs- 
vertrag zu Stande. Die — damals noch neun, jetzt acht — thüringiſchen 
Staaten fahen fih nun gendthigt, zu einem befonderen Zoll- und Handels- 
verein zufammenzutreten (Vertrag vom 10. Mai 1833) und fo als Ganzes dem 
Zollverein fid ebenfalls anzuſchließen (Vertrag vom 11. Mai 1833). 

Der letztere dehnte fi nun bereits über ein Gebiet von 7730 Q.⸗M. mit 
23,478,120 Einwohnern aus. 

Alle Beitrittöverträge vom Jahre 1833 traten am 1. Januar 1834 In Kraft. 
„Diefer Tag“ — fagt ©. Fiſcher a. a. DO. — „wird für immer ein denkwür⸗ 
diger, höchſt erfreuliher Moment in der deutſchen Geſchichte bleiben. Die älteren 
Zeitgenofjen werben fih aus den Zeitungen noch der Schilderungen erinnern, wie 


13, ©. Fiſcher a. a. O. IE 387. 


1063 Nachtrag. 


frenbig die erfle Stunde des Jahres 1834 von der Berkehrswelt begrüßt wurde. 
Lange Wagenzäge flanden auf den Hauptfiraßen, bie bisher durch Zolllinten burd- 
ſchnitten waren. Als die Mitternachtsſtunde flug, öffneten fih die Schlagbäume 
und unter lantem Jubel eilten die Wagenzüge über die Grenze, die fle fortan mit 
voller Freiheit überfchreiten follten. Alle waren von dem Gefühle durchdrungen, 
daß Großes errungen ſei.“ 

Bevor wir in der Darftellung der Geſchichte des Zollvereins fortfahren, mag 
mit einigen Worten eines über vie intellektuelle Urheberſchaft dieſes Bereins aus- 
gebrochenen literariſchen Streites gedacht werden. Die nächſte Beranlaffung zu bie- 
ſem Streite, wenigftens in der Form, bie er neuerdings angenommen bat, ſcheint 
in einem Worte der Urkunde zn liegen, welde bei der Öruntfieinfegung eimes 
Reiterſtandbildes Friedrich Wilhelm’s In. am 17. Mai 1863 verlefen wurbe. Da 
heißt es: „Der Zollverein, des Königs eigenfter Gedankerc.“ &. Fifcher 
0. 0, O. II. S. 842 ff. tritt der bier und anderwärts mehrfach ansgefprocdhenen 
Behauptung entgegen und vindicirt die intellektuelle Urheberſchaft für den ausge⸗ 
zeichneten und um bie Entwidelung bes Zollvereins hochverbienten badiſchen Staats. 
mann Friedrich Nebenius, der im Jahr 1818 fi mit einer naher — durch 
die Wiener Minifterlonferenzgen — wenigftens in Regterungsfreifen belannt gewors 
denen (aber erſt im I. 1833 veröffentlichten) Denffchrift über vie Bebingungen 
eines einheitlichen deutſchen Zollſyſtems befhäftigte. Ludwig Karl Aegidi ſucht da⸗ 
gegen in ver mehrfach citirten Schrift S. 129 ff. unter Berufung auf amtliche 
Dokumente nachzuweiſen, daß wirklich die preußifchen Stantsmänner, die Gründer 
ber Zollreform von 1818, der Königliche Geſetzgeber felbft, bereits im Iahre 1819 
von den Bortheilen einer fubfequenten Vergrößerung bed Zollgebietes über den 
Umfang ber preußiſchen Länder hinaus überzeugt waren und ihre Polttit dieſer 
Ueberzeugung gemäß einrichteten. Es folgte hierauf eine Replik ©. Fiſchers a. a. D. 
vo ©. 228 .ff., nachdem inzwifhen auch Aegidi feine Anfiht andermeit aufs 
Neue zu begründen verſucht Hatte. Die Streitfrage ift für ven Hiftorifer, bem bie 
Aufgabe zufiele, 3. B. die preußiſch⸗deutſche Bolitit ſeit den Befreiungskriegen ein- 
gehend zu charakterifiren, gewiß von Bedeutung. Uns, bie wir geneigt find, auf 
Aegidi's Seite zu treten, ſcheint wenigftens darüber ein Zweifel nicht beftehen zum 
önnen, daß auf anderem, als dem von Preußen eingefhlagenen mb von allen 
anderen Bundesglievern (auch von Baden, dem doch die Nebenius'ſche Denkichrift 
zur Richtſchnur dienen konnte) perhorrescirten Wege ein Zollverein in Dentſch⸗ 
land nicht hätte begründet werben können, und es Kann fi fein Kenner der Ge 
ſchichte des Zollvereins der Ueberzeugung verfchließen, daß ver letztere Lediglich eine 
preußifche That, der mühſam errungene Erfolg der anf diefer Bahn ſtets Torre 
ten und fonfequenten preußifchen Politik geweſen iſt. 

Man mag es kaum glauben, daß das fihere, wenn auch langfame und müh 
felige Borwärtsfchreiten des preußiſchen Zollfuftems, da es doch einmal big zu dem 
Punkte gelangt war, auf dem es bereits eine gefchloffene und anfehnlihde Macht 
repräfentirte, noch ſelbſt bei folhen Staaten auf hartnädigen Widerſtand flick, 
deren geographiiche Lage und politifche Ohnmacht es ihnen doch ganz einleschtent 
machen mußte, daß ihr längeres Außenvorbleiben lediglich ihnen felbft zum größten 
Nachtheile gereichen würde. Thatſächlich aber koſtete es bie größten Anftrengungen 
— Preußen enthielt fi derartiger Bemühungen ganz konfequent —, Baden, Naf 
fon und Franffurt von der Unerläßlichleit des Anfchluffes zu überzeugen. Wie 
len werben dieſe Schwierigfeiten erſt ex post — aus der Geſchichte des Jeh⸗ 
res 1866 — recht erflärlih geworben fein. Die Urgumente ber Oppoſition, welde 





Zollverein. 1068 


2 diefew Ländern in den Dreißiger Jahren dem Anſchluß an den Zollverein wi» 
erftrebte, find gar vielfach in Suüddentſchland auch jüngft wieder vernommen wor⸗ 
en, wo e8 fi um Wiedererneuerung und eutfprechende Mobifilation der durch 
en Krieg von 1866 zerrifienen Zollverträge handelte. Heftige Kämpfe, in denen 
tebenins, Matthy, Regenaner die Borlämpfer für den Anſchluß, v. Weflenberg, 
tottedd, Welder, Ipftein die der Oppofition waren, gingen dem Abſchluß und ber 
tatifilation des mit Baben unterm 12. Mai 1835 vereinbarten Zollvereinigungs- 
extrages, der mit dem 1. Januar 1836 in Bollzug trat, voraus. 

Naffan, in welchem Ländchen der Widerſtand gegen den Anſchluß von Hans 
us eher noch flärker war, als in Baden, hatte fi fogar durch einen Handels⸗ 
ertrag mit Frankreich — ähnlich wie nachmals Medienburg — no künſtlich die 
Hände gebunden, um vor der Berfuchung oder vor SchwächeAnwandelungen ganz 
her zu fein 1%), Aber auch. mit ihm kam — unter'm 10. Dec. 1885 — ber 
‚olleinigungevertrag zu Stande. Bon ben franzdfifgen Feſſeln mußte man fid 
durch einen kühnen Rud, der, wenn auch keinen Krieg zwifchen ben betheiligten 
zroßmächten, fo doch einen erbitterten Zeltungsftreit nad ſich zog”, frei machen. 

Ebenfo wie naher Naffen durch einen Hanbelövertrag mit Frankreich, Hatte 
ch ſchon vorher die freie Stabt Frankfurt durch einen Hanbelsvertrag mit 
droßbritannten (13, Wat 1832) freiwillig Feſſeln angelegt. Auch hier war bie 
Ippofition gegen ven Eintritt in ven preußiſch-deutſchen Zollverein fehr heftig. 
Iber je dichter fi die Grenzen bes geeinigten Zollgebietes um das Territorium 
es Meinen Stabtftantes fchloffen, nın fo größere Gefahren ftellte bie längere Ber- 
3gerung des BVeitrittes in Ausſicht. Die Vertretung der Kaufmannfchaft, die 
andelskammer, gab den Anftoß zur Eröffnung von Berhanblungen -mit Preußen. 
Yefe führten, nachdem es dem Senate gelungen war, am 23. Dec. 1835 bie 
ufhebung bes englifchen Handelsvertrages zu erwirken, zum Abſchluß des Bei⸗ 
eittSvertrages vom 2. Jannar 1836, der am 1. April desfelben Jah⸗ 
ꝛs zur vollftändigen Ausführung kam. In diefem Vertrage wurde ran 
er beilung der gemeinſchaftlichen Zolleinkünfte ein erhebliches Praäͤcipuum 
willigt. 

Schon früher, als Naſſau und Frankfurt in ben Zollverein traten, nämlich 
m 20. Februar 1835, Hatte fih Heffen-Homburg dem Großh. Heſſiſchen 
olgebiete angeſchloſſen. Außer ven Verträgen über den Beitritt ganzer Staaten 
men eine Reihe anderer zu Stande, welche fi auf die ganz ober größtentheils 
illavirten Gebietstheile mehrerer Staaten bezogen, und die Zollverwaltung weient« 
ch erleichterten 15), So wurde am 1. Nov. 1837 ein Bertrag mit Hannover we⸗ 
a der Graffchaft Hohenftein. und mit Braunfhweig wegen bes Kürftenthums 
lankenburg vereinbart. 

Zu Ende des Jahres 1887 hatte der Zollverein ein zufammenhängenbes, 
eilich noch nicht abgerumbetes, Gebiet von 8110 Q.⸗M. mit 27,142,116 Ein- 
ohnern. Er umfaßte 25 Stanten und ben größten Theil des beutfchen Volkes. 
x warb fortan der „deutſche Zoll und Hanbels-Berein” genannt. 

Noch fehlten dem Berein aber in den Küftenflanten Hannover und Olden⸗ 
ırg, in den gefegneten Agrikulturgebieten Braunfchweig und Medlenburg und in 


14) 8. Braun, „Naffau mit Frankreich gegen Preußen.a Bierteljahrsfchrift für Volkes 
irthſchaft und Kulturgeſchichte. 4. Jahrg. 111. 55 ff. 

15) 5. Nebenius, „Ueber die Eniſtehung und Erweiterung des großen deutſchen Boll 
teinds * denſchcn Viertetjahrsſchrif.. Jahrg. 1838. Heft 2. S. 349 ff. v. Viebahn 
’ a. 0 1 0 0 


1069 n⸗⸗ 
7 anderen Reinflanten 
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Bang Dat z 7 engniſſe erhärtet iſt 16), ven 

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vi er Breite Mn en per war, fo wurde, wenigfiens dem bıe 

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B ——* anberer Weg ein; lagen. ie 

Bevor 27 EEE Sandelde und Bertehrefeihelt, im Interefie da 


mit einigen 2 Bereinsgebietes i 

4. ‚ zu gewinnen. Gben jene brd 
al Be — hatten ſich durch Verträge vom 1. Me 
in eine Pr zo nnd 11. November 1837, zu einem Befonbere 
Rete rn  emngehloflen, der, bei niebrigen Gremyöllen und Ge 


1b yarels ‚oben, finanziell gut gedieh, obwohl bie verl 
ve 5 pH ——eſ e verurſachte. (Durchſchnittlich 200/, ter 
RO rd ige Zollverein mit dem Jahre 1841 feine erfle Gertrageperiede 
24 Ey per Bertrag von feiner Seite gelündigt worden war, gelang es 
wenlälr appe-Detmold (18. Oktober 1841) zu gewinnen, welches bieher 
aan, Berbanbe angehört hatte; dann — unterm 19. Dftober 1841 — 
3 ronnfhweig mit dem größeren Theil feines Gebietes aus dem Gtener- 
Mi web [hloß ſich dem Zollvereine an. Unter'm 8. Febrnar 1842 erfolgte ver 
PT} &uremburgs. 
Sawieriger und wichtiger, als dieſe Meinen Staaten, war es, Hannover 
ven Bortheilen eines Anſchluſſes zu überzeugen. Man fann wohl behaupten, 
v6 pieß überhaupt erſt im legten Momente, unmittelbar vor dem Vertragseb- 
farluffe, gelungen if. Die Verhandlungen mit Hannover, melde faft die ganzen 
vierzigee Jahre hindurch, freilih mit mancen Unterbrechungen, bauertem, ſchienen 
das Ziel der Vereinigung immer weiter hinanszuräden. Da kamen bie Jahre der 
Revolution; es folgten Zeiten ter tiefften Demüthigung für den kurz vorher durch 
die Frankfurter Kaiferwahl ſcheinbar fo Hody erhobenen Staat Preußen. Die deut- 
ſchen Mittelſtaaten verrieihen lebhafte Neigung, fih von dem bisherigen Berbün- 
deten ab», und Oeſterreich, welches inzwiſchen längft erfannt hatte, dag Preußen 
als maßgebende Zollvereinsmadt feinen — Defterreihe — Cinfluß im Rede 
mehr und mehr untergrub 17), und weldes nun mit Zolleinigungsplänen Lodie, 
fih zuzumenden. Eine Sprengung des Zollvereins fland zu fürchten. Preußen 
mußte ſich für dieſe Eventualität fein Zollſyſtem und ein geſchloffenes Handel 
gebiet fihern. Für den Fall der Fortdauer des Zollvereins audererfeits that ihm 
ein feiner handelöfreiheitlichen Tendenz geneigter Bundesgenoffe um fo mehr Roth, 
je mehr im Süden fhugpöllnerifhe Beſtrebungen überhandnahmen. Zugeftäntnifie, 
melde früher Hannover vergebens geforbert hatte, erſchlenen jegt ais eim keine 
wegs zu hoher Preis für die Vortheile eines fefteren Zuſammenſchlufſes des dem ⸗ 
fen Nordens. In aller Stille ward am 7. September 1851 ver Zollvereini- 
gungävertrag zwifden Preußen und Hannover abgefchlofien. Schon am 
25. September trat Shaumburg-Lippe, am 1. März 1852 Divenburg 
dem Vertrage bei. Der „Septembervertrag”, in weldem Preußen ben neuen Bun 
besgenoffen bis dahin in der That unerhörte Zygeflänbulfie (3. B. das des Prür 


16) 5. Rebenins a. a. D. in der D. Biert.I.Cchr. Heft 2. ©. 349. 8. Kühne, m 
deutfeke Zollverein während der Jahre 1834—46. ©. 10 ff. 
37) Adolf Schmidt, geitgenöffffge Geſchlhten. Berlin 1859. ©. 453 ff. u. ©. 54 f. 


Bolluerein. 1065 


ums) gemacht hatte, bewirkte, als er den übrigen Bereinsmitglievern 24 Stun⸗ 
ı nah feinem Abfchluffe mitgeteilt wurde, bei biefen gewaltige Aufregung. 
Ran beſchwerte fi über das willlührliche, einfeitige Vorgehen Preußens; man 
prach von Oktroyirung und Bertragsbrud 18). Es bedarf einer etwas eingehende⸗ 
en Darfiellung, um ven Verlauf diefer ſchweren Krife verſtändlich zu machen. 
Preußens Einfluß in Deutfchland war durch die Begründung und ben all« 
näligen Ausbau des Zollvereins zuſehends gewachſen. Das rivalifiende Defter- 
:eich erlannte jegt deutlid, daB, wenn es der Demütbigung, bie der Rivale im 
Bertrag von Olmütz erfuhr, die Krone auffegen wollte, e8 eine Sprengung des 
Zollvereins bewerffielligen mußte. Dazu ſchien der Zeitpunkt des bevorſtehenden 
weiten Wblaufs der Zollvereinsverträge um fo mehr geeignet, da eben jegt Preußen 
uch den eigenmädtigen Vertragsabſchluß mit Hannover den größten Theil feiner 
Bereinsgenofjen wider ſich aufgebracht hatte. Als fchon die Frage der Erneuerung 
er Zollvereinsverträge alle Gemüther in Deutfchland heftig bewegte, trat das 
Biener Kabinet mit dem Unerbieten hervor, mit dem Zollverein vom 1. Januar 
854 ab einen Handelsvertrag zu fchließen, der den beiberfeitigen Verkehr mög⸗ 
ihft erleichtern, die Zarifänderungen des einen Gebietes von der Zuſtimmung bes 
ndern abhängig machen uub dem dann vom 1, Jaunar 1859 an eine völlige 
Zolleintgung folgen follte 19). Das Auerbieten hatte für die fübdentfchen und einige 
sitteldentfhe Staaten viel Berlodendes. Am 20. April 1852 unterzeichneten 
zayern, Württemberg, beide Heflen, Naſſau und Homburg zu Wien ein Proto- 
U, worin fie fi verpflichteten, für das öſterreichiſche Projekt nach Kräften zu 
teten. Baden ſchloß fi der Koalition nur unter Vorbehalt an. Die Lage, in 
yelhe Preußen durch diefen Schritt verfegt wurde, war eine mißliche. Auf den 
fterreichtihen Gedanken einzugehen war politifch wie wirthſchaftlich ein Ding der 
nmöglichleit; als Folge der Bekämpfung und Nicdhtannahme der öfterreichifchen 
zorſchläge dagegen fand die Sprengung des Zollvereins in ziemlich fiherer Aus⸗ 
ht. Preußen ließ es hierauf ankommen. Es forderte von feinen Bundesgenofien 
tatihabition des Septembervertrages und alfo Aufnahme bes Steuervereind in den 
‚ollverein. Nur Braunfhweig und der Thüringen’fhe Zoll- unb Handelsverein 
atſprachen diefer Aufforderung; die anderen Genoſſen verfagten die Ratihabition. 
Ya fah fi Preußen gendthigt, den Bollvereinsvertrag für den 31. December 
853 zu fündigen. Öleichzeitig jedoch Ind es die Zollvereinsflaaten zu einer Kon⸗ 
ven; im April 1852 nad Berlin ein, um den Zollverein auf ber Grundlage des 
5eptembervertrages zu erneuern. In diefer Zeit nun trat Defterreich mit vollftän- 
ig artikulirten Handelövertrags- und Zolleinigungspropofitionen hervor. — Defter- 
ichs Koalirten traten in Bamberg, fpäter in Darmſtadt, zufammen, um ſich über 
:meinfchaftlihe Schritte zu verfländigen. Man kam überein, in Berlin barauf 
ı bringen, daß mit Defterreih unter Zugrundlegung der in Wien entworfenen 
erträge Unterhandlungen angelnüpft würben, und daß, fo lange dies nicht ge⸗ 
jehe, die Erneuerung und Erweiterung des Zollvereins nicht zu genehmigen ſei; 
ıglei verpflichteten fi die Verbündeten für den Fall, daß der Zollverein zer 


18) Eine jchlagende Widerlegung der von den Stoalitiondftaaten genen den Geptembervertrag 
bobenen Einwendungen f. bei 8 Kühne, Anforache an die deutfhe Fabrik⸗ und Handelswelt 
er die fchließliche Wendung der Zollvereine= und GHandelöverträge Braunſchw. 1853 ©. 3 ff. 
- 39) Soldye Anerbletungen und Pläne waren fchon im Herbft 1849, zunächſt in nicht offi⸗ 
Der Form, aufgetreten. In der Mitte des Jahres 1851 begannen officielle Unterbandlungen 
iſchen Defterreich einer- und Preußen und den Mittelftaaten andererfeits. Nach dem Abſchluß 
B Septembervertrageö wurden die öfterreichiichen Anerbietungen dringender, die Berhandlungen 
er zunächft nicht mehr mit Preußen geführt. 


1066 Nachtrag. 


falle, vie bisherigen Zollvereinsverträge auch ferner unter fi als fortbeſtehend 
anzuerlennen, und mit Oeſterreich alsbald einen befinitiven Vertrag abzufdhliehen, 
durch welden letzteres die Barantie der bisherigen Zollvereins- Kim 
fünfte übernehmen ſolle. Unter diefen Aufpicien wurben am 19. April 1882 
in Berlin die Konferenzen eröffnet. Bon Seiten Preußens und feiner Berbünbeten 
forderte man vor Allen die Aufnahme des GSteuervereins; von Seiten ber Roc» 
lirten verwarf man bie einfeitige Ausdehnung des Vereins nad, Norden und Emäpfte 
bie Erneuerung desſelben an Garantieeen für ven Abſchluß des Öfterreichiichen 
Bertrags. Zwar gaben die Koalirten nach langen Verhandlungen endlich inſoweit 
nach, daß fie den Vertrag mit Hannover anzunehmen und bie Berfanbinngen über 
bie öfterreichifche Zolleinigung aufzugeben beſchloſſen; dagegen beharzten fie anf 
der fofortigen Abſchließung eines Handelsvertrags mit Defterreih auf Grund des 
Wiener Entwurfes und forberten, daß der Zollverein mur auf ſechs, Höchflens 
acht Jahre erneuert werbe, und daß Preußen ſich verpflichte, wenigfiews ein Jahr 
dor Ablauf diefer Periode die Berathungen mit Defterreich über vie Zolleinigung 
zu beginnen. Auch Preußen gab nun inſoweit nad, daß es den Wiener Bertrag 
den, aber erſt nad Rekonfirutrung des Zollvereins zu beginnenden, Berbanbian- 
gen zum runde zu legen verfprad; nur wollte es jeve Hlubentung auf eine 
Zolleinigung' ausſchließen und forberte eine Erneuerung bes Zollvereins auf 12 
Fahre. Als die Koalirten das letztere verwarfen, brad Preußen, am 27. Geptem: 
ber 1852, die Berhandlungen mit ihnen ab, ımb ſchloß im Rovember mit Braum 
ſchweig und Thüringen einen Separatvertrag über die Zollvereinigung mit bem 
Steuerverein. 
Die Koalirten wanbten ſich nach dem reſultatloſen Schluffe der Berliner Kom 
ferenzen fofort wieder nad Wien und verhanbelten Aber die Begründung eimes 
fübdentfhen Zollvereins und bie Garantie ihrer feitherigen Zolleintünfte von Sei⸗ 
ten Oeſterreichs. Letzteres, als es einfah, daß die Sprengung bes Zollvereins olme 
Gewährung einer folhen Einnahmegarantie nit zu ermöglichen, bie letztere aber 
zu gewähren bei dem traurigen Stande feiner Finanzen unmöglid fei, zog bie 
Berhandlungen mit den Koalirten in die Länge, Inlipfte aber unterbeß geheime 
Berhandlungen mit bem Berliner Kabinet über ven Abflug eines Hand 
an. Diefer legtere kam am 19. Februar 1853, unter von Brud’s perfönlicger 
Mitwirkung, in Berlin auch wirklich zu Stande. Diefer, der fogenannte „Bebruar- 
vertrag”, gewährte zwar beiden Kontrahenten erhebliche Zollerleichterungen, enthielt 
au einen Hinweis auf die Anbahnung einer Tünftigen Zolleinigung, legte aber 
den Kontrahenten in diefer Beziehung keine beftimmten Berpfliättungen auf. Die 
Bevollmächtigten der Koalitionsftanten erflärten, fo von Vefterreih tm Stiche 
laſſen, bierauf, daß, nachdem ihren Forberiimgen Genüge gefhehen (!), ver 
nehmigung des Bertragse mit Hannover nichts mehr im Wege fiche, uub am 
4. April 1853 wurde der Zollverein in Berlin auf den neuen Grunblagen für 
weitere 12 Jahre abgefchloffen 2). 


20) Daß an diefer Stelle der in die mit dem 31. December 1853 abgelaufene Zollvereink 
Vertrags Periode fallenten Revolutionsjaßre, der Frankfurter Parlamente-Berbandiungen und der 
Berathungen des volfewirthichaftlichen Ausfchuffes über Zollfragen nicht gedacht wurde, tedtier 
tigt ih wohl durch die, immerhin bemerkenöwertbe, Thatfadhe, daß alle dieſe Verhandlungen, def 
die ganze Revolutiongzeit faft ohne jeden Einfluß auf die Äußere und innere Entwidelung des 
Bollvereind geblieben if, wenn man nicht annehmen will, Pe; die über den Septembervertrag 
ausgebrochene Krifis erft In Kolge der aus den Mevolutionsjahren bativenden GErfchütterung ber 
preußiſchen Guprematie in Deutichland eine ſo ernſtliche Geftalt gewonnen hat. Vrgl. übrigens 
Dr gie ee Borgänge, foweit fie das Zollweſen betreffen, v. Feſtenberg⸗Packiſch a: 





Zollverein. 1067 


Der fo mit. Inapper Roth vor der Gefahr feines Zerfalles glücklich bewahrte 
und weſentlich vergrößerte Berein umfaßte nun, wenn man bie, allerbings erſt im 
Jahre 1856 angefchlofienen Heinen bremiſchen Gebietstheile mit hinzurechnet, eim 
Gebiet von 9047 Q.⸗M. mit eirka 35 Millionen Einwohnern, und erfuhr ale 
Zollverein eine weitere Vergrößerung fortan nicht. | 

Die, mit dem 1. Ian. 1854 beginnende neue Vertragsperiode iſt in ihrer 
erften Hälfte arm an Äußeren, ven Beſtand des Vereins berübrenden Ereigniflen. 
Das einzige von einiger Bedentung ift ver Vertrag vom 26. Ian. 1856 mit ver 
freien Hanſeſtadt Bremen wegen Beförderung ver gegenfeitigen Verkehrsverhält⸗ 
niffe, wodurch, wie ſchon erwähnt, auch einige Feine bremifche Gebietstheile dem 
Zollverein einverleibt wurden. Die zweite Hälfte diefer pritten, mit vem 31. De- 
cember 1865 ſchließenden Bertragsperiode dagegen gehört zu ben bewegteften Zei⸗ 
ten in der ganzen Geſchichte des Zollvereins, vielleicht zu den lehrreichſten Partieen 
der deutfchen Gefchichte bis zum Jahre 1866 überhaupt. Es füllt in dieſe Zeit zu- 
vörderfi der nad unfäglihden Schwierigkeiten envli gelungene Anfchluß des deut⸗ 
Iöen Zollvereins an das fogenannte Syftem der weftenropälfhen VBer- 
träge. 

Diefer Borgang iſt es, dem an biefer Stelle eine wenigftens flüchtige Be⸗ 
trachtung 21) gewinmet werben muß. | 

Der engliih-franzöfifhe Hanvelsvertrag vom 23. Januar 1860 eröffnete 
befanntlih eine neue Epode in der Gefchichte der europätfchen Handelspolitik. 
England brach von jenem Tage an vollfländig mit dem Schutzzoll⸗, Frankreich 
mit feinem Prohibitiv⸗Syſtem. England eröffnete feinen Markt aller Welt; es be- 
bielt der Eingangsbefteurung nur eine geringe Anzahl finanziell wichtiger Artikel 
vor. Frankreich begann feine Tarifermäßigungen und die Aufhebung feiner Ein- 
fuhrverbote im Auslande durch eine Reihe von Verträgen zu verwertben, durch 
welche e8 feinen europätichen Abſatzmarkt zu erweitern beabfichtigte, zur Entſchä⸗ 
bigung feiner Induſtrie für die erleihterte auswärtige Konkurrenz. Unter ber Be- 
dingung gleichzeitig einzuführender Kinfuhrerleichterungen wurden Belgien und 
Italien in Frankreich mit England auf gleihen Fuß geftellt; auch mit der Schweiz 
begannen gleichzeitig Verhandlungen. Diefe Berträge gelangten fämmtlich in ver- 
Hältnigmäßig kurzer Zeit zum Abſchluß. 

So erftand im Welten von Europa ein gefchloffenes, großes Handelsgebiet, 
zu dem fich mehrere ber inpnftriereihften Staaten der alten Welt unter gegenfei- 
tiger Eröffnung ihrer Märkte vereinigten. Die Vortheile dieſes Marktes konnte 
nur genießen, wer feinerfeits zur Gewähr gleicher Bortheile fi verftand; wenig- 
fiens in Frankreich, demjenigen unter den verbundenen Staaten, in welchem bie 
Induftrie des übrigen Europa noch den ausgebehnteften und gewinnverfpredhend- 
fien Markt erwarten durfte, war vorläufig von einer Generalifirung des Zarifs 
abgeſehen. 

Wenn der Zollverein ſich die Vortheile des ermäßigten franzöſiſchen Tarifs 
nicht bald zu verſchaffen wußte, jo war feine Induſtrie vielleicht für Iunge Jahre 
von dem dortigen Markte ausgefchloffen; venn es festen ſich dort die begünftigten 
Konkurrenten bes Zollvereins — England, Belgien, vie Schweiz, Italien — feft 
und fnüpften mit den franzöfifchen Abnehmern Verbindungen an, aus denen fie 


21, Ausführlich tft der Verlauf der Ichten großen Krifis des alten Zollvereind, wenigftens 
bis zu demjenigen Stadlum, in weldem fie FF, zu Anfang Auguft 1863 berand, entwidelt in 
dem Auffag des Berfaffers über die »Zollvereinsfragen in Bd. VII &. 490 - 507 der Beit- 
ſchrift —* Zein. Vrgl. auch v. Feſtenberg⸗Packiſch a. a. O. ©. 354 ff. 


1068 Nadtrag. 


jpäterhin fo Leit nicht wieber zu verbrängen waren. Jedenfalls war tem 
Zollverein, wenn er nicht England, Belgien u. f. w. an ber franzöfiſchen Bra 
gleichgeftellt wurde, der an fi ſchon ziemlig dürftige Abſatz nah Frankrei 
den er bisher mühjam unterhalten hatte, gänzlich verloren. Denn bei 100-5008, 
böheren Zöllen konnte man auch mit ven niebrigft denkbaren Preifen nicht meh 


Tonkurriren. Ein Anſchluß überbieß mußte neben anderen wichtigen Borthetlen aut 


den mit ſich bringen, daß enblih im Zollverein das Schutzzollſyſtem zum guten 


Theil über Bord geworfen wurde. Konnte man fi entfchließen, dem Bündeiß 


beizutreten, fo war damit zugleid dem Zuftande völliger Stagnation, im melden 
der Zollverein mehr und mehr gerathen war, ein für alle Male ein Ende gemadt”, 

Alles ſprach dafür, daß der Zollverein fo ſchnell als möglih jenem „Suften 
der weſteuropäiſchen Verträge" fidy anfchliege. Als daher vie frauzöfifhe Regierumy 
im Juni 1860 dem preußiſchen Kabinet ihre Bereitwilligkeit zu erfennen geh, 


Berhandlungen wegen Herbeiführung eines Handels⸗ und Schifffahrts-Bertrage 
mit dem Zollverein anzufnüpfen, fette die preußifche Regierung ihre Zollverkiu 


beten von biefer Erklärung in Kenntnig und erſuchte diefelben um ihre Zuſtin— 


mung zur Eröffuung der Verhandlungen. Die zuftimmenden Erklärungen der Job 


vereinsſtaaten waren ſchon bis zum September 1860 ſämmtlich eingegangen, ie 


daß am 15. Januar 1862 mit den Berhandlungen zwiſchen den preußiſchen um 
franzöfifhen Bevollmäcktigten begonnen werben Tonnte. Am 29. März 1862 wır- 
den die Verträge paraphirt, am 2. Auguſt 1862 förmlich unterzeichnet. Die 
preußifche Regierung hatte ihre Zollverbünbdeten von dem ganzen Verlaufe der Ber- 
handlungen in genauefter Kenntniß erhalten, und war in allen Stabien allfeitiger 
Uebereinftiimmung mit ihrem Berhalten begegnet. Nun aber, ald die Ratikabitien 
der Verträge erfolgen follte, zögerten Hannover und Kurheflen lange mit der ge 
forderten Genehmigung und verfagten Bayern, Württemberg und Heflen-Darz- 


ftabt diefelbe ausprüdlih. In Preußen, Sachen, Thüringen, Braunfhweig, Diva 


burg, Naffau, Frankfurt, Baden hatten die Regierungen vor Abgabe ihrer Exfi 


rung die Verträge ven Bollsvertretungen zur Genehmigung vorgelegt und dieſelbe 


überall entweder einftimmig ober mit überwiegenvder Stimmenmehrheit erhalten. 
Neben den officiellen erklärten fih überall in Deutfhland auh bie GStimma 


größerer Korporationen übereinflimmend für bie Berträge; gegen die leßteren mäh 
ſam ins Wert gefegte Agitationen nahmen einen Häglihen Berlauf; man fam 
fagen, daß feit Jahren in keinem Punkte das dentſche Bolt einiger geweſen war, 
als es fi jegt zu Gunſten dieſes für den Zollverein allerdings hochwichtigen 
Bertragswerles erhob; aber die renitenten Staaten, insbefondere Bayern um 
Württemberg, beharrten auf ihrer Weigerung. 

Es fragt fi, welche gewidtige Gründe es fein fonnten, durch welhe Preußen⸗ 
Gegner zu ihrer fo folgenfchweren Renitenz vermoht wurden. Officiell wurde 
allerdings gegen einzelne Pofitionen der vereinbarten neuen Tarife, die man bie 


ber immer gut gebeißen, und gegen einzelne offenbar unweſentliche Bertragsartitel, | 


benen mau aber früher auch keinen Widerſtand entgegengefeut hatte, Bedenker 
erhoben. Auch wurde officiell und officids die Anficht geltend gemacht, daß ein 
vollftändige Zarifreform nicht im Wege eines Traftates hätte vollzogen werben 
follen; daß Preußen vor Eröffnung der Berhandlungen mit Frankreich zumädk 


22) Die Bortheile des Anſchluſſes und die Gefahren der Zögerung find lichwoll dargeſtel 

in dem Bericht der vereinigten Kommilfionen des preuß. Abgeordnetenhaufes für Yinanzen ua 

de und für Handel und Gewerbe über den deutſchefranzöfiſchen Handelsvertrag. Rr. 25 te 
rudjachen. 7te Legidlat. Per. 1. Seff. 1862. Berichterfl.: Abg. O. Michaelis. 








Zollverein. 1069 


tt Defterreih über die Weiterentwidelung des Yebruarvertrages hätte verhandeln 
üffen; es wurde Preußen vorgeworfen, daß es bei feinen Verhandlungen mit 
rankreich ein eigenmächtiges Verfahren beobachtet und eine verlegende Nichtachtung 
iner Zollverbündeten an den Tag gelegt habe; endlich wurde behauptet, ber 
Jandbelsvertrag fei einer Weiterentwidelung bes Webrnarvertrages mit Deſterreich 
inderlih. Ale diefe Einwendungen waren aber Borwände, um fo nidhtigere, als 
e post festum famen. Der eigentliche Grund der Weigerung lag in dem Um⸗ 
ande, daß Defterreih den Moment benugt hatte, um den Zollverein wo möglich 
u jprengen. Darum trat e8 zur rechten Zeit mit einem fogenannten Zollelnigungs- 
rojekt (10. Juli 1862) hervor, an deſſen Zuftantelommen es zwar felbft nicht 
laubte, von dem es aber erwartete, daß es die preußifhen Gegner im Zollverein 
un offenen Bruce mit Preußen treiben, daß es den deutfch-franzöfifchen Handels⸗ 
ertrag noch in ber zwölften Stunde vereiteln, daß es eine Neubelebung der Zoll- 
ereinspolitif, eine neue Konfolivirung des preußiſchen Einflufjes in Deutſchland 
nmöglich machen werde. | 

Diefe Abfihten traten im Verlauf der Krifis, wegen deren einzelner Momente 
Münchener Generalzolltonferenz im Frühjahr 1863, Münchener Separatverhant- 
angen über die bayrifchen Punktationen vom 18. Juni 1863; Berliner Zellten- 
ren; wegen Eruenerung ber Zollvereinsverträge) auf die oben citirten Schriften 
erwiejen werben muß, immer deutlicher hervor. Allein fie follten abermals ſcheitern. 
zreußen ſchritt, Angefihts des von Defterreih gefhürten Widerſtandes einiger 
ner Buudesgenoſſen, endlich zu dem ſchon einmal bewährten Mittel der Kün- 
igung der alten Zollvereinsverträge. Anch diefes Mal wirkte feine ſtandhafte 
inergie, man kam ſchließlich im Laufe des Jahres 1864 zur Verfländigung, und 
8 erfolgte die Verlängerung der Zollvereinsverträge, zuerft mit Sachſen, Baden, 
turhefien, Thüringen, Braunfhweig, Frankfurt, Hannover und Oldenburg; Bayern, 
Bürttemberg, Hefien-Darmftadt und Naflau traten dem Erneuerungsvertrage noch 
urz vor der ihnen geftellten Präkluſiv⸗Friſt — 1. Oltober 1864 — ebenfalls bei. 
50 war bie Fortdauer des Zollvereins abermals geficyert, und gleichzeitig der Anſchluß 
n das „Syftem der weftenropälfchen Verträge” bewerfftelligt. Mit dem 1. Juli 
865 teaten gleichzeitig die Handeld- und Schiffahrtöverträge mit Deflerreich, mit 
srantreih, mit England, mit Belgien, traten einige der neueren franzöfiſchen 
zerträge mit anderen europäiſchen Staaten, trat der hanfeatijch-franzöflfhe Han⸗ 
elövertrag in Kraft. Diefe Verträge haben Tarifermäßigungen zu Stande gebradit, 
u denen es auf anderem Wege vielleiht in Jahrzehnten nicht gelommen wäre. 
Sie ſchufen ein Berhältnig gwifhen den verbundenen Staaten, in welchem Vor⸗ 
ehr getroffen iſt gegen Rüdfälle in die eben geheilten merkantiliſtiſchen Gebrechen, 
n weldyem der banvelöpolitifche Fortſchritt des einen Mitgliedes alsbalt allen 
nderen zu Statten kommt, und in welhem an Stelle der handelsfeindlichen Be⸗ 
rebungen, welche das alte Syſtem kennzeichneten, ein neuer Wetteifer in handels⸗ 
ceiheitlichen Reformen getreten iſt. 

Es muß an diefer Stelle den deutſch-franzöfiſchen, dann ben oben 
rwähnten deutſch-belgiſchen unt veutfh-öfterreihifhen Handels- 
erträgen nod eine kurze Betradhtung gewidmet werben. 

Was den Handelsvertrag mit frankreich insbeſondere anlangt, fo tft daran 
as Wichtigſte, daß dadurch dem Zollverein im Weſentlichen alle die Begünſti⸗ 
ungen gewährt werden, welche Sranfrei England und Belgien zugeflanven hatte, 
nd daß der Zollverein anvererfeits zur Einführung einer Tarifermäßigung fi 
erpflihtete, die er feinerfeits zu generalifiren beabfidtigte und aud generalifirt 


1070 Nachtrag. 


hat. Die Tarifreform ſelbſt (Tarif B. des deutſch⸗franzoöſtſchen Handelsvertratt, 
fur die Zollvereins⸗Einfuhr) iſt freilich nur als ein erſter Anfang zu betrachte 
Aber es hat ſich inzwiſchen ſchon gezeigt, daß ein ſolcher, im Vergleich mit tes 
auf dem gewöhnlichen Wege bis dahin mühſam bewerfftelligten Heinen Zarifände 
rungen, grünblier Anfang in fi felbft vie Trieblraft zu weiteren Refornen 
birgt. Eine weitere bemerlenswerthe Erſcheinung iſt es, daß fi die Koutraßente 
zur Befeitigung aller Ausfuhrzölle (mit nur einer Ausnahme auf franzöftfcher um 
einer auf Seite des Bollvereins) und Durdfuhrzölle verpfliten. Die ermäßigten 
Zariffäge für die zollvereinslänvifchen Waaren follten zwar in Branfreich gr» 
fäglih nur bei ver bireften Einfuhr zu Lande, oder zur See unter ber Flazze 
bes Zollvereins oder Frankreichs, gelten. Preußen erlangte jedoch bald ein os* 
nahmsweifes Zugeſtändniß aud zu Gunften bes Erports aus Bremen und Ham⸗ 
burg. Im Art. 31 des Handelsvertrages geftehen ſich die Kontrahenten beiderfeits 
die Rechte der meiftbegänftigten Nation zu. Im Schiffahrtspvertrage hi 
Frankreich zunähf nod an dem Syſtem ver bifferenziellen Behandlung ber Schi 
fahrt feſt; es dehnte die yleiche Behandlung der Zollvereinsflagge mit .ber natir- 
nalen nur auf bie direlte Fahrt aus, und nur mit Mühe konnte ihm das inc 
tere Zugeſtändniß abgerungen werben, daß für die Begriffobeſtimmung ber birelten 
Fahrt die Häfen der Hanfeftäbte an der Weſer und Elbe den zollvereiusslänbifchen 
von dem Angenblide an gleichgeadhtel werden follten, wo die franzöflicden Schiffe 
in den letzteren Häfen den nationalen gleichgeftellt würden. 

Der deutſch⸗, oder befier preußifh-belgifhe Bertrag vom 28. Mi 
1863 wurde von Preußen, welcdes in diefer Beziehung nad Art. 39 uub Sep» 
tatart. 20 des Bollvereinsvertrags vom 4. April 1853 an die Zuftimmumng feiner 
Zollverbündeten nicht gebunden war, weil es fidh bier nicht um Berlegungen irgen 
einer Beftimmung der Zollvereinsverträge handelte, auf eigene Fauſt abgefchlefien, 
aber ben übrigen Zollverbündeten der Beitritt offen gehalten, welcher dann and 
nad und nad allerfeits erfolgt iſt. Das Wichtigfte in diefem Bertrage 23) if, daß 
darin dem Zollverein die Bortheile der Gleihftellung mit England und ber 
Schweiz auf dem beigifhen Markte gewährt werden, während ber Zollverein fih 
zu nichts weiteren verpflichtet, als zur Behandlung Belgiens auf dem Fuße da 
meiftbegünftigten Nation. Preußen erklärte fi, dem belgifhen Zugeſtändniß gegew 
über, bereit, für den Hal des Zuftandelommens einer allgemeinen 
zwiſchen den Seemädten, feinen, nad den Grundfätzen bes belgiſchen Planes fefl- 
aufegenden, im Marimum anf 1,670,640 Br. begrenzten Antheil an ber Ablö 
fungsfumme des Schelbezolles in zwei Iahresraten zu übernehmen. 

Der deutfhröfterreihiiche Handelsvertrag vom 11. April 1865, zu 
deſſen Abſchluß Defterreih fi herbeilteh, ale es feine anf Sprengung bes Zol- 
vereins gerichteten VBeftrebungen fcheitern gefehen, flellt fi dar als eime zweite, 
aur in Gemäßheit der inzwiſchen durch Abſchluß des deutſch⸗franzöſiſchen Handels 
vertrags gefchaffenen neuen Berhältniffe veränderte Auflage des Februarvertrages. 
Er bat jedoch weit mehr, als diefer, den Charakter eines bloßen Hanbelönertragek. 
Die Ausichlieglichkeit der gegenſeitigen Zollbegänftigungen iſt darin, wenigfiens azf 
Seiten des Zollvereins, volftändig aufgegeben, ein Gleiches auf Selten Oeſter⸗ 
reichs zwar nicht direlt ausgefprochen, aber doch als natürliche Folge anzufehen 
Der Aprilvertrag war das Mittel, bie Handelspolitik Defterreihs auf bie Baba 
einer liberalm Entwidelung zu bringen, fie von der Herrſchaft politifher Rückfich 


33) Eine genaue Analyfe dieſes Bertrages vrgl. in »linfere Zeite a. a. O. ©. 499 ff. 











Zollverein. 1071 


ten zu befreien und ber kaiſerlichen Regierung gegen vie übermädtige Schutzzoll⸗ 
partei im eigenen Lande bei ihren Reformbeftrebungen eine Unterſtützung zu fichern. 
Er war der erfte Schritt Defterreihs zum Eintritt Defterreihs in das Syſtem 
ber wefteuropälichen Verträge, das erſte Auftreten ernfthafter Zarifreformen. Gin 
ſolcher Schritt brachte Defterreih auf eine fchiefe Ebene, auf der es fidh den in 
der Kaltur vorgeichrittenen Nationen Europa’s immer rafcher nähern mußte. Seine 
mit Großbritannien am 16. December 1865, mit Frankreich am 11. Dec. 1866, 
mit Belgien am 23. Yebruar, mit Holland am 26. März und mit Italien am 
23. April 1867 abgeſchloſſenen Dandelsverträge haben dieſe Erwartung verwirk⸗ 
Licht. In dem Bertrage mit Frankreich find für eine Reihe von: Artikeln Ermäßi- 
gungen eingetreten, die zum Theil noch eiwas weiter gehen, als bie dem Zoll- 
verein im Aprilvertrage zugeftandenen. In ſämmilichen Verträgen aber ift die Be 
ſtimmung enthalten, daß alle, britten Staaten gewährten, Begünftigungen auch ben 
Mitlontrabenten gewährt werben follen. Während der Fehruarvertrag noch bie 
Kontrahenten zu Verhandlungen über eine Zolleinigung zwiſchen dem Hollverein 
und Gefammtöfterreich verpflichtete, befindet fih im Art. 25 des neuen (April⸗) 
Vertrages zwar auch no die Wendung, daß man über die Frage ber allgemei« 
wen beutfchen Zolleinigung in Verhandlung zu treten, ſich vorbehält; dagegen ent- 
hält der nämlicge Artikel die wichtige, und für die inzwiſchen gewachſene Hoff 
nungslofigteit Oeſterreichs bezeichnende Klaufel: „Es wird beiderſeits anerkannt, 
dag die Autonomie eines jeden der vertragenben Theile in der Geftaltung feiner 
Zoll⸗ und Hanbelsgefeugebung hierdurch nicht hat befchräntt werden wollen.” 

Der Zollverein trat, wie ſchon bemerkt, ohne Gebietsermeiterung in die neue, 
mit dem 1. Januar 1866 beginnende Bertragsperiode ein. Schleswig-Holfteln, 
——— Mecklenburg und die Hanſeſtädte ſtanden noch immer außerhalb des⸗ 
felben. 

Schleswig⸗Holſtein und Lauenburg waren zwar durch die verein⸗ 
ten Waffenthaten Prenßens und Oeſterreichs im Jahre 1864 vom däaniſchen Joche 
befreit und Deutſchland erhalten worben; aber e8 war nicht gelungen, biefe Ge⸗ 
Biete mit einer flantliden Organifation zu verfehen, welche ihre Aufnahme in den 
Zollverein, der auch der größte Theil der Bevölkerung der Elbherzogthümer ſelbſt 
wiberftrebte, geftattet hätte. Der Wiener Friede vom 30. Dftober 1864 ſchuf nur 
ein Proviſorium mit Thetlung des Beſitzes unter die beiden fiegreihen Großmächte 

Die Medienburgifhen Lande wären dur ihren Beitritt zum Zoll- 
verein dem legteren und ihren eigenen wohlverfiandenen Intereffen einen wichtigen 
Dienft geleiftet haben. Dem Zollverein würde jener Beitritt zu einer Arrondirung 
feines Gebietes, zu einem neuen Stück deutſchen Küftenlandes, zu einer Erleich⸗ 
terung der Zollverwaltung, zu einer erheblichen Steigerung der Einnahmen ver- 
holfen haben. Medienburg wäre durch feinen Anflug inniger mit Deutſchland 
verfnüpft und zu zeitgemäßen Meformen feiner vercotteten Berfaffungsverhältnifie 
gezivungen, zum guten Theile von dem Drude der herrſchenden fendalen Stände 
befreit worden. Aber: eben dieſe herrſchenden Stände opferten das Interefle des 
Landes ihrem eigenen vermeintlihen Interefie. Während der legten großen Zoll» 
vereinstrifls warb in Medlenburg eine ſelbſtändige Steuerreform durchgeführt und 
ein Orenzzollfyftem angenommen, weldes die aus ber Iſolirtheit der beiven Groß⸗ 
berzogthümer für den Zollverein entfpringenden Nachtheile in hohem Grade ſtei⸗ 
gerte. Hiermit nicht genug ſchuf fih aber Mecklenburg auch willkührlich ein Hin- 
derniß gegen einen zufänftigen Beitritt zum Zollverein. Denn es ſchloß unterm 
9, Juni 1865 mit Frakreich einen Handels⸗ und Scififahrtsvertrag ab, we’ 


1060 Nachtrag. 


wurden, zeigte ſich, daß auf dieſem Wege bie widerſtreitenden Intereſſen nicht 
vereinigt werden konnten (Bayern wollte z. B. einen hohen Tarif, Baden einen 
möglichft niedrigen), und das Unternehmen ſcheiterte abermals. Um beſten hatten 
fi ſchon in Darmftadt, mehr noch in Stuttgart, Bayern und Württemberg 
mit einander verfländigt. Dieſe traten dann in Separatverhandlungen ein, deren 
Ergebnig der erſte in Dentſchland zu Stande gelommene eigentlihe Zollverein — 
ber bayrifh-württembergifhe — war. (Bertrag vom 18. Jau. 1828. Begim 
am 1. Juli 1828.) Heflen-Darmftadt hatte fi glei nach den Stuttgarter Kon- 
ferenzen — im Mär} 1826 — mit der Anfrage nad Berlin gewen bet, ob das 
preußifche Kabinet geneigt fei, in Verhandlungen wegen gegenfeitiger Berlkehre⸗ 
erleihterungen mit ihm einzutreten. Die erſten Korrefponvenzen über den Gegen- 
ſtand gaben nur ſchwache Hoffaungen. Aber als dann wirklich, zu Beginn des 
Jahres 1828, ernftlihe Unterhandiungen zwifhen Preußen und Heflen ang 
wurden, führten diefe bald zu einem beiverfelts erwünfchten Ziel, nämlidy zu dem 
Bertrage vom 14. Februar 1828, ver den zweiten beutfchen Zollverein, ven 
preußifh-heffifchen, in's Leben rief. Der Bertrag trat gleichzeitig mit dem 
bayriſch⸗ württembergiſchen in Kraft. 

Die preußifche Zollgefeugebung warb von dem Großherzogthum Hefſen ange 
nommen; eine Zolllinie umfchloß fortan beide Staaten; in Hinfiht der inneren 
Berbraudhsfteueru wurden Ausgleihungsabgaben eingeführt. Die Zollverwaltung 
war zwar gleihförmig mit der preußifchen organifirt, aber der heſſiſchen Regie 
rung zur felbftändigen Leitung überlaffen; vie Thellung ver reinen Zolleinfänfte 
erfolgte nach der Einwohnerzahl; beiverfeitige Zuftimmung war zu allen Zar 
änderungen und fonftigen Anorbnungen hinſichtlich des Zollweſens erforbertid; 
Handelsverträge zwiſchen Preußen und anderen Staaten, welde die Iuterefien 
Heflend und der preußifhen Weftprovinzen berührten, follten nur unter Mitwir⸗ 
kung der hefſiſchen Regierung abgeſchloſſen werden 11), 

Bayern und Württemberg machten mit ihrem Separatverein üble Erfahrun- 
gen. Das gemeinfchaftlihe Zollgebiet war zu Mein umd zu wenig abgerundet. Es 
war von dem Seeverfehr abgejhnitten. Die verhältuigmäßig zu lange Zollgrenze 
flelgerte den Berwaltungsaufwand gewaltig. Im Durchſchnitt der Jahre 1829 bis 
1831 betrugen die Zollverwaltungsfoften nicht weniger, als 449/, der rohen Zoll⸗ 
einnahme. In dem bayrifchen Rheinkreiſe koftete die Zollverwaltung im Jahre 1830 
fogar 83,034 fl. mehr, als vie Zölle einbrachten! 12). Der Separatverein war in 
völliger Souderſtellung nicht länger zu halten. Er näherte ſich dem preußtich-heifi- 
ſchen Verband; zu Anfang 1829 begannen die Verhandlungen; am 27. Mai 1829 
fam ein Handelsvertrag zwiſchen Bayernund Württemberg einer- Breußen 
und Heffen-Darmftapt andererfeitszu Stande, vemzufolge die Kontrahen⸗ 
ten fi vorläufig auf 12 Jahre erhebliche Zollerleichterungen zugeſtanden und fi 
verpflichteten, ihre Zollfufteme mehr und mehr in Uebereinſtimmung zu bringen. 

Wie aus der ſüddentſchen Koalition gegen Preußen die Zollvereiniguug Heſſen⸗ 
Darmftadts mit Preußen, fo ging aus einem unter'm 24. September 1828 u 
Kafiel geihloffenen mittelveutihen Bunbe, deſſen Glieder fih ſogar verpflichten 
mußten, ohne ausprüdiihe Genehmigung aller anderen mit keinem außennorficher- 
den Staate in einen Zoll- oder Mauth⸗Verband zu treten, bie Zollvereinigung 
Kurheſſens mit Preußen hervor (25. Anguſt 1831), die für Preußen ans auf 

11) G. Fiſcher a. a. O 11. 357. 


13, 9, Vie bahn, Statiſtik tes zolinereinten und nördlichen Deutſchlands. Berlin 1858 
Bd. 1. ©. 156. Rau, Bıuntf. dır Finangwiffenichaft. 4. Aufl, $ 454 Anmerk. 2, 








Bollverein. 1061 


bee Hand Legenden geographifchen Gründen von erheblihem Werthe war. Auch 
ber mittelbeutiche Bund erwies fih nämlich als gänzlih unfrudhtbar; er war 
nichts, als eine Demonftration gegen Preußen; es bildeten fi Sonbervereine 
innerhalb desſelben; Kurheſſen fürdtete, zumal nachdem Bayern und Württemberg 
mit Preußen und Heflen-Darmfladt fi vorläufig verfländigt hatten, iſolirt zu 
werben; es veichte vemfelben Preußen, weldes bisher von ihm fo heftig angefein- 
det worben war, die Hand. Mit diefem Schritte war der Sieg des preußifchen 
Zollſyſtems, war die Begründung des deutfhen Zollvereins entſchieden. 

Die Losfagung Kurheſſens von dem mitteldeutfhen Verbande und von dem 
daraus hervorgegangenen Eimbeder Bertrag (27. März 1830 zwifchen 
Hannover, Kurhefien, Oldenburg und Braunſchweig) führte eine intereffante Epi⸗ 
fode in der Geſchichte des Zollvereins herbei. Zunächſt erhob Hannover mit ande 
ren Berbündeten beim Bunde Beſchwerde gegen Kurheflen wegen Berlegung des 
Kafleler Bertrags vom 24. September 1828. Die Sache wurde verzögert, bi8 der 
Kafleler Berirag abgelaufen und aljo der Klaggrund Hinweggefallen war. Und 
daun beantragte Hannover (am 24. Mat 1832) beim Bunde eine Grneuerung 
der Berathungen über ven Vollzug des Art. XIX der B.⸗A., die feit 1818, alfo 
vierzehn Jahre lang, gänzlich geruht hatten 13). Es kam über biefen Antrag, ob- 
wohl er von Seiten Sachſens eifrig unterflägt wurde, zu keinem Beichlufie Seitens 
der Bunbesverfammlung. 

Bald nad dem Beitritt Kurheſſens begannen zwifchen dem bayrijch-württem- 
bergifhen Zollvereine und Preußen neue Verhandlungen. Diefed Mal galt es dem 
Abſchlufſſe einer volllommenen Zollvereinigung. Der Bereinigung s- 
vertrag batirt vom 22. März 1833. Er ſtieß bei den Kammern und Be. 
völferungen ber beiden betheiligten ſüddeutſchen Staaten auf die heftigfie Oppo- 
fition. Aber die Genehmigung erfolgte nad) langen und leivenfchaftlihen Kämpfen. 
Benige Jahre fpäter durfte man die Führer der Oppofition nicht mehr an jene 
Kämpfe erinnern. 

Je mehr fih das Gebiet des werdenden Zollvereins ansbehnte, mit um fo 
größeren Nachtheilen fahen fi die außenverbleibenden Staaten bedroht, wenn fie 
noch zögerten. Am deutlichften mußte diefe Gefahr dem Königreih Sachfen und 
den Thäringen’ihen Staaten vor Yugen treten. Denn ihre Territorien wurben 
bereitö auf drei Seiten von dem neugebildeten Zollgebiete umfdloffen. Die ſäch⸗ 
ſiſche Regierung, obwohl fie noch erft durch Unterftügung des hanndver'ſchen An⸗ 
trages am Bunde gezeigt hatte, wie fehr fie der allmäligen Ausdehnung bed preußi⸗ 
fhen Bundes abgeneigt fei, knüpfte doch im Spätherbſt 1833 Unterhandlungen 
mit Preußen an, und am 30. März 1833 kam aud dieſer Zollvereinigungs- 
vertrag zu Stande. Die — damals nod neun, jest aht — thüringiſchen 
Staaten fahen fih nun genöthigt, zu einem bejonveren Zoll» und Handels⸗ 
verein zufammenzutreten (Vertrag vom 10. Mat 1833) und fo al® Ganzes dem 
Zollverein fich ebenfalls anzufchließen (Vertrag vom 11. Mai 1833). 

Der letztere dehnte fih num bereits über ein Gebiet von 7730 D.-M. mit 
23,478,120 Einwohnern aus. 

Alle Beitrittsverträge vom Jahre 1833 traten am 1. Januar 1834 in Kraft. 
„Diefer Tag" — fagt ©. Fiſcher a a. D. — „wird für immer ein denkwür⸗ 
biger, höchſt erfreuliher Moment in der deutſchen Geſchichte bleiben. Die älteren 
Zeitgenofjen werben fi aus den Zeitungen noch der Schilderungen erinnern, wie 


15, G. Fiſcher a. a. O. Il 387. 


1060 Nadıtrag. - 


wurben, zeigte fi, daß auf dieſem Wege vie wiverftreitenden Iuterefjen nicht 
vereinigt werben Tonnten (Bayern wollte 3. ®. einen hoben Tarif, Baden einen 
möglihft niedrigen), und das Unternehmen fcheiterte abermals. Am beften Hatten 
fich ſchon in Darmftadt, mehr noch in Stuttgart, Bayern und Württemberg 
mit einander verſtaͤndigt. Diefe traten dann in Separatverhandlungen ein, deren 
Ergebniß der erfte in Dentſchland zu Stande gelommene eigentlihe Zollverein — 
der bayriſch-württembergiſche — war. (Vertrag vom 18. Ian. 1828. Beginn 
am 1. Juli 1828.) Hefien-Darmftabt hatte ſich gleih nad den Stuttgarter Kon: 
ferenzgen — im Mär; 1826 — mit der Anfrage nad Berlin gewen det, ob das 
preußiſche Kabinet geneigt fei, in Verhandlungen wegen gegenfeitiger Bertehrt- 
erleichterungen mit ihm einzutreten. Die erften Korrefpondenzen über ven Gegen- 
ſtand gaben nur ſchwache Hoffaungen. Aber als dann wirklich, zu Beginn des 
Jahre® 1828, ernftlihe Unterhandlungen zwifchen Preußen und Hefien angelnäpft 
wurden, führten viefe bald zu einem beiderfelts erwünjchten Ziel, nämlich zu dem 
Bertrage vom 14. Februar 1828, der dem zweiten beutfchen Zollverein, ven 
preußiſch-heſſiſchen, in's Leben rief. Der Bertrag trat gleichzeitig mit dem 
bayriſch⸗ württembergiſchen in Kraft. 

Die preußifhe Zollgefeggebung ward von dem Großherzogthum Heffen ange 
nommen; eine Zolllinie umfchloß fortan beide Staaten; in Hinfiht der inneren 
Berbrauchsfteuern wurden Ausgleihungsabgaben eingeführt. Die Zollverwaltung 
war zwar gleihförmig mit der preußifchen organifirt, aber der heſſiſchen Regie 
zung zur felbflänvigen Leitung überlaffen; vie Theilung ver reinen Zolle inkünfte 
erfolgte nach der Einwohnerzahl; beiverfeitige Zuftimmung war zu allen Zarif 
änderungen und fonftigen Anorbnungen hinfihtlih des Zollweſens erforverlid; 
Hanvelöverträge zwiſchen Preußen und anderen Staaten, welde bie Iutereffen 
Heflens und der preußifchen Weſtprovinzen berührten, follten nur nnter Mitwir 
kung der heſſiſchen Regierung abgeſchloſſen werden 11). 

ern und Württemberg machten mit ihrem Separatverein üble Erfahren: 
gen. Das gemeinſchaftliche Zollgebiet war zu Hein und zu wenig abgerundet. Es 
war von dem Seeverlehr abgefchnitten. Die verhältnigmäßig zu lange Zollgrenze 
fieigerte den Bermaltungsaufwand gewaltig. Im Durchſchnitt der Jahre 1829 bis 
1831 betrugen die Zollverwaltungsfoften nicht weniger, als 440/, der rohen Zell. 
einnahme. In dem bayrifgen Rheinkreiſe koſtete die Zollverwaltung im Jahre 1830 
fogar 83,034 fl. mehr, als vie Zölle einbracdhten! 12), Der Separatvereiu war in 
völliger Sonderſtellung nicht länger zu halten. Er näherte fi dem preußiſch⸗ hejfi⸗ 
ſchen Verband; zu Anfang 1829 begannen bie Verhandlungen; am 27. Mai 1829 
fam ein Handelövertrag zwiſchen Bayernund Württemberg einer⸗, Preußen 
und Heffen-Darmftadt andererfeitsgu Stande, vemzufolge die Kontrahes⸗ 
ten fi vorläufig auf 12 Jahre erhebliche Zollerleihterungen zugeftanden und fi 
verpflichteten, ihre Zollfufteme mehr und mehr in Uebereinſtimmung zu bringen. 

Wie aus der jündeutfhen Koalition gegen Preußen die Zollvereinigung Hefien- 
Darmfladts mit Preußen, fo ging aus einem unter'm 24. September 1828 ja 
Kafiel gefhloffenen mittelvdeutihen Bunde, vefien Glieder fih fogar verpflidyten 
mußten, ohne ausdrückliche Genehmigung aller anderen mit feinem außenvorficher- 
den Staate In einen Zoll⸗ oder Mauth⸗Verband zu treten, die Zollvereinigung 
Kucheffens mit Preußen hervor (25. Auguft 1831), die für Preußen aus auf 


11, G. Fiſcher a. a. O 11. 357. 
13, 9. Viebahn, Statiſtik tes zollnereinten und nördlichen Deutſchlands. Berlin 1858 
Bd. 1. ©. 156. Rau, Bıunrf. dir Finanzwiſſenſchaft. 4. Aufl, $ 454 Anmerk. 2, 








Bollverein. 1061 


ber Hand liegenden geographiſchen Gründen von erheblihem Werthe war. Auch 
bes mitteldeutſche Bund erwies fih nämlih als gänzlid unfruchtbar; er war 
nichts, als eine Demonftration gegen Preußen; es bilveten fi Sondervereine 
innerhalb desſelben; Kurheſſen fürdtete, zumal nachdem Bayern und Württemberg 
mit Preußen und Heſſen⸗Darmſtadt fi vorläufig verſtändigt hatten, ifolirt zu 
werben; es reichte demſelben Preußen, welches bisher von ihm fo heftig angefein- 
det worden war, bie Hand. Mit diefem Schritte war der Sieg des preußifchen 
Zollſyſtems, war die Begründung des deutſchen Zollvereins entſchieden. 

Die Losfagung Kurbeflens von dem mitteldeutſchen Berbande und von dem 
daraus hervorgegangenen Eimbeder Bertrag (27. März 1830 zwifchen 
Hannover, Kurheflen, Oldenburg und Braunſchweig) führte eine interefiante Epi⸗ 
fode in der Geſchichte des Zollvereins herbei. Zunächft erhob Haunover mit ande- 
en Berbünbeten beim Bunde Beſchwerde gegen Kurhefien wegen Verlegung des 
Kafleler Vertrags vom 24. September 1828. Die Sache wurde verzögert, bis ber 
Kaffeler Berirag abgelaufen und aljo der Klaggrund hinweggefallen war. Und 
baum beantragte Hannover (am 24. Mat 1832) beim Bunde eine Erneuerung 
der Berathungen über den Bollzug des Art. XIX ver B.⸗A., die feit 1818, alfo 
vierzehn Jahre lang, gänzlich geruht hatten 13). Es kam über biefen Antrag, ob- 
wohl er von Seiten Sachſens eifrig unterflügt wurbe, zu keinem Beſchluſſe Seitens 
der Bundesverſammlung. 

Bald nah dem Beitritt Kurhefiens begaunen zwifchen dem bayriſch⸗württem⸗ 
bergiſchen Zollvereine und Preußen neue Verhandlungen. Diefes Mal galt e8 dem 
Abſchluſſe einer volllommenen Zollvereinigung. Der Bereinigung 
vertrag batirt vom 22. März 1833. Er fließ bei den Kammern und Be⸗ 
völferungen ber beiden betheiligten ſüddeutſchen Staaten auf bie heftigſte Oppo⸗ 
fition. Aber die Genehmigung erfolgte nad langen und leidenſchaftlichen Kämpfen. 
Wenige Jahre fpäter durfte man bie Führer der Oppofition nicht mehr an jene 
Kämpfe erinnern. 

Je mehr fih das Gebiet des werdenden Zollvereins ansbehnte, mit um fo 
größeren Nachtheilen fahen fi) die außenverbleibennen Staaten bedroht, wenn fie 
noch zögerten. Am deutlichſten mußte diefe Gefahr dem Konigreich Sachſen und 
den Thüringen'ſchen Staaten vor Augen treten. Denn ihre Territorien wurden 
bereitö anf drei Seiten von dem neugebildeten Zollgebiete umfdlofien. Die ſäch⸗ 
ſiſche Regierung, obwohl fie noch erſt durch Unterftügung bes hanndver'ſchen An⸗ 
trages am Bunde gezeigt hatte, wie fehr fie der allmäligen Ausdehnung des preußi- 
ſchen Bundes abgeneigt fei, Inüpfte doch im Spätherbfi 1832 Unterhanvlungen 
mit Preußen an, und am 30. März 1833 kam aud diefer Zollvereinigungs- 
vertrag zu Stande. Die — damals noch neun, jeßt aht — thüringifhen 
Staaten ſahen fih nun gendthigt, zu einem beſonderen Zoll- und Handels⸗ 
verein zufammenzutreten (Bertrag vom 10. Mai 1833) und fo als Ganzes dem 
Zollverein fich ebenfalls anzuſchließen (Bertrag vom 11. Mai 1833). 

Der letztere dehnte fih num bereits über ein Gebiet von 7730 Q.⸗M. mit 
23,478,120 Einwohnern aus. 

Alle Beitrittsverträge vom Jahre 1833 traten am 1. Januar 1834 in Kraft. 
„Diefer Tag“ — fagt G. Fiſcher a. a. DO. — „wird für immer ein denkwür⸗ 
diger, höchſt erfreulider Moment in der deutfhen Gefchichte bleiben. Die älteren 
Zeitgenofien werden fi aus ben Zeitungen noch der Schilderungen erinnern, wie 


13, G. Fiſcher a. a. O. Ik 387. 





1060 Nachtrag. 


wurden, zeigte fich, daß auf dieſem Wege die widerſtreitenden Interefſen nicht 
vereinigt werden konnten (Bayern wollte 3. B. einen hoben Tarif, Baden einen 
möglichft niedrigen), und das Unternehmen fcheiterte abermals. Am beften hatten 
fi Son tn Darmftadt, mehr noch in Stuttgart, Bayern und Württemberg 
mit einander verfländigt. Diefe traten dann in Separatverhandlungen ein, deren 
Ergebniß der erſte in Deutſchland zu Stande gelommene eigentlihe Zollverein — 
ber bayrifh-wärttembergifhe — war. (Bertrag vom 18. Ian. 1828. Beginz 
am 1. Juli 1828.) Hefien-Darmftadbt hatte fich glei nad den Stuttgarter Ron- 
ferenzen — im Mär; 1826 — mit der Anfrage nad Berlin gemen det, ob das 
preußiſche Kabinet geneigt ſei, in Verhandlungen wegen gegenfeitiger Berkehre⸗ 
erleihterungen mit ihm einzutreten. Die erften Korrefponvenzen über den Gegen⸗ 
ſtand gaben nur ſchwache Hoffnungen. Aber als dann wirklich, zu Beginn des 
Jahres 1828, ernftlihe Unterhandiungen zwifhen Preußen und Heflen angelnäpft 
wurden, führten dieſe bald zu einem beiverfeits erwünfchten Ziel, nämlich zu dem 
Bertrage vom 14. Februar 1828, der den zweiten beutfchen Zollverein, ven 
preußifch-heffifhen, in's Leben rief. Der Bertrag trat gleichzeitig wit dem 
bayriſch⸗ württembergiſchen in Kraft. 

Die preußiſche Zollgefeggebung warb von dem Großherzogthum Heflen ange 
nommen; eine Zolllinie umſchloß fortan beide Staaten; in Hinfiht der inneren 
Berbrauchsſtenern wurden Ausgleihungsabgaben eingeführt. Die Zollverwaltung 
war zwar gleihförmig mit der preußiſchen organifirt, aber der heifiigen Regie 
rung zur felbfländigen Leitung überlaffen; die Thellung ver reinen Zolle inkünfte 
erfolgte nach der Einwohnerzahl; beiverfeitige Zuftimmang war zu allen Zarif 
änderungen und fonftigen Anorbnungen binfihtlih des Zollweſens erforbertid; 
Handelöverträge zwiſchen Preußen und anderen Staaten, welche bie Interefien 
Heflens und der preußifchen Weftprovinzen berübrten, follten nur unter Mitiwir- 
tung der heififcden Regierung abgefhloffen werden 11), 

ern und Württemberg machten mit ihrem Separatverein üble Erfahrun- 
gen. Das gemeinfhaftlie Zollgebiet war zu Hein und zu wenig abgerundet. Es 
war von dem Seeverkehr abgefhnitten. Die verhältuigmäßig zu lange Zollgrenze 
fteigerte den Berwaltungsanfwand gewaltig. Im Durchſchnitt der Jahre 1829 bis 
1831 betrugen bie Zollverwaltungstoften nicht weniger, als 449%/, ver rohen Zoll- 
einnahme. In dem bayriſchen Mheintreife koſtete die Zollverwaltung im Jahre 1830 
fogar 83,034 fl. mehr, als die Zölle einbradhten! 12). Der Separatverein war in 
völliger Sonderftellung nicht länger zu halten. Er näherte fih dem prenßifch-heifi- 
ihen Berband; zu Anfang 1829 begannen die Verhandlungen; am 27. Mai 1839 
fam ein Hanbelövertrag zwiihen Bayernund Württemberg einer», Preußen 
und Heffen-Darmftadt andererfetts gu Stande, vemzufolge die Kontrahen- 
ten fi vorläufig auf 12 Jahre erhebliche Zollerleichterungen zugeflanden und fid 
verpflichteten, ihre Zollfufteme mehr und mehr in Uebereinftimmung zu bringen. 

Wie aus der fündentfhen Koalition gegen Preußen die Zollvereinigung Hefjen- 
Darmfladts mit Preußen, fo ging aus einem unter'm 24. September 1828 ja 
Kafſel gefhloffenen mitteldeutihen Bunde, vefien Glieder fih fogar verpflichten 
mußten, ohne ausdrückliche Genehmigung aller anderen mit feinem außenvorfichen- 
ben Staate in einen Zolle over MauthBerband zu treten, die Zollvereinigung 
Kurheffens mit Preußen hervor (25. Auguft 1831), die für Preußen aus auf 


11,8. Fiſcher a. a. O 11. 357. 
13, 9. Viebahn, Sturiftif tes zollvereinten und nördlichen Deutſchlands. Berlin 1858 
Bd. 1. ©. 156. Rau, Bruntf. dır Finanzwiſſenſchaſt. 4. Aufl, $ 454 Anmerk. 2. 








Zollverein. 1061 


der Hand liegenden geographiſchen Gründen von erheblichem Werthe war. Auch 
ber mitteldeutſche Bund erwies ſich nämlich als gänzlich unfruchtbar; er war 
nichts, als eine Demonſtration gegen Preußen; es bildeten ſich Sonbervereine 
Innerhalb besfelben, Kurheflen fürdtete, zumal nachdem Bayern und Württemberg 
mit Preußen und Heflen-Darmftabt fi vorläufig verflänbigt hatten, iſolirt zu 
werben; es reichte demſelben Preußen, weldes bisher von ihm fo heftig angefein- 
det worden war, bie Hand. Mit dieſem Schritte war der Sieg des preußiſchen 
BZolfuftems, war die Begründung des deutſchen Zollvereins entſchieden. 

Die Losjagung Kurheflens von dem mitteldeutſchen Verbande und von dem 
daraus hervorgegangenen Eimbeder Bertrag (27. März 1830 zwiſchen 
Hannover, Kurheflen, Oldenburg und Braunſchweig) führte eine intereflante Epi- 
fode in der Geſchichte des Zollvereins herbei. Zunächſt erhob Hannover mit ande 
ren Berbündeten beim Bunde Beſchwerde gegen Kurhefien wegen Verlegung bes 
Kafleler Vertrags vom 24. September 1828. Die Sache wurde verzögert, bis der 
Kafjeler Berirag abgelaufen und alfo der Klaggrund binweggefallen war. Und 
daun beantragte Hannover (am 24. Mat 1832) beim Bunde eine Erneuerung 
der Berathungen über den Bollzug des Art. XIX der B.⸗A., die feit 1818, alfo 
vierzehn Jahre lang, gänzlich geruht hatten 13). Es kam über dieſen Antrag, ob- 
wohl ex von Seiten Sachſens eifrig unterflügt wurde, zu keinem Beſchluſſe Seitens 
ber Bundeösverfammlung. 

Bald nad dem Beitritt Kurheſſens begannen zwifchen dem bayrijch-württem- 
bergifchen Zollvereine und Preußen nene Verhandlungen. Dieſes Mal galt e8 dem 
Abſchluſſe einer volltommenen Zollvereinigung. Der Bereinignngs 
vertrag batirt vom 22. März 1833. Er ftieß bei den Kammern und Be 
völferungen. ver beiden betheiligten ſüddeutſchen Stanten auf bie heftigfte Oppo- 
fition. Aber die Genehmigung erfolgte nach langen und leivenfchaftlihen Kämpfen. 
Wenige Iahre fpäter durfte man die Führer der Oppofition nicht mehr an jene 
Kämpfe erinnern. 

Je mehr fih das Gebiet des werdenden Zollvereins ausdehnte, mit um fo 
größeren Nachtheilen ſahen fi die außenverbleibenden Staaten beproht, wenn fie 
noch zögerten. Am deutlichften mußte diefe Gefahr dem Königreih Sachſen und 
den Thäringen’fhen Staaten vor Augen treten. Denn ihre Territorien wurden 
bereitö anf drei Seiten von dem neugebildeten Bollgebiete umfdloffen. Die jädh- 
fifche Regierung, obwohl fie noch erſt durch Unterftügung des hannöver'ſchen An- 
trages am Bunde gezeigt hatte, wie jehr fie der allmäligen Auadehnnng des preußi- 
fhen Bundes abgeneigt fet, knüpfte doch im Spätherbfi 1832 Unterhandlungen 
mit Preußen an, und am 30. März 1833 kam auch diefer Zollvereinigungs- 
vertrag zu Stande. Die — damals no neun, jetzt acht — thüringifhen 
Staaten fahen fi num genäthigt, zu einem bejonveren Zoll» und GHanbels- 
verein zufammenzutreten (Vertrag vom 10, Mai 1833) und fo als Ganzes dem 
Zollverein ſich ebenfalls anzufhließen (Vertrag vom 11. Mai 1833), 

Der letztere dehnte fi) num bereits über ein Gebiet von 7730 Q.⸗M. mit 
23,478,120 Einwohnern aus. 

Alle Beitrittsverträge vom Jahre 1833 traten am 1. Januar 1834 in Kraft. 
„Diefer Tag“ — fagt ©. Fiſcher a. a. DO. — „wird für immer ein denkwür⸗ 
diger, höchſt erfreulicher Moment in der deutſchen Geſchichte bleiben. Die älteren 
Zeitgenofien werben fi aus den Zeitungen noch ber Schilderungen erinnern, wie 


13, ©. Fiſcher a, a. O. Il 387. 








1069 Nachtrag. 


freudig bie erſte Stunde des Jahres 1834 von ber Berkehrswelt begrüßt wurde 
Lange Wagenzüge ſtanden auf den Hauptſtraßen, die bisher dur Zollliuten durch 
fönitten waren. Als die Mitternachtsſtunde flug, Bffneten fih bie Schlagbäume 
und unter lantem Jubel eilten bie Wagenzüge über die Grenze, vie fie fortan mit 
voller Freiheit überfchreiten follten. Alle waren von dem Gefühle durchdrungen, 
daß Großes errungen ſei.“ 

Bevor wir in der Darftellung der Gefchichte des Zollvereins fortfahren, mög 
mit einigen Worten eines über die intellektuelle Urheberſchaft dieſes Bereins aut- 
gebrochenen literariſcheu Streites gedacht werven. Die nädfte Beranlaffung zu bie- 
ſem Streite, wenigftens in der Form, die er neuerdings angenommen bat, ſcheint 
in einem Worte der Urkunde zu liegen, welche bei der Örunpfteinfegung eines 
Reiterſtandbildes Friedrich Wilhelm’s III. am 17. Mat 18683 verlefen wurbe. Da 
beißt es: „Der Zollverein, des Königs eigenſter Gedankerc.“ G. Fiſcher 
a. a. O. I. ©. 342 ff. tritt der hier nnd anderwärts mehrfah ansgefprocdgenen 
Behauptung entgegen und vinbichrt vie intellektuelle Urheberfchaft für ven ausge⸗ 
zeichneten und um bie Entwidelung des Zollvereins hochverbienten badiſchen Staatt- 
mann Friedrich Nebenius, der im Jahr 1818 fi mit einer naher — durch 
bie Wiener Miniftertonferenzen — wenigftens in Regierungsfreifen belaunt gewor⸗ 
denen (aber erft im 3. 1833 veröffentlichten) Denkſchrift über pie Bebingungen 
eines einheitlichen deutſchen Zollſyſtems beſchäftigte. Ludwig Karl Aegidi ſucht da⸗ 
gegen in der mehrfach citirten Schrift S. 129 ff. unter Berufung auf 
Dokumente nachzuweiſen, daß wirklich die preußiſchen Staatsmänner, die Gründer 
ber Zollreform von 1818, ver koͤnigliche Geſetzgeber ſelbſt, bereits im Jahre 1819 
von den VBortheilen einer fubfeguenten Vergrößerung bes Zollgebietes über ben 
Umfang der preußifhen Länder hinaus überzeugt waren und ihre Politik vieler 
Ueberzeugung gemäß einrichteten. Es folgte hierauf eine Replik G. Fiſchers a. a. D. 
vn ©. 228 ff., nachdem inzwiſchen aud Aegidi feine Anfiht auderweit aufs 
Neue zu begründen verſucht hatte. Die Streitfrage iſt für den Hiftorifer, dem bie 
Aufgabe zufiele, 3. B. die preußtfch-deutfche Bolitit fett den Befreiungstriegen ein- 
gehend zu charakterifiren, gewiß von Bebentung. Uns, die wir geneigt find, auf 
Aegidi's Seite zu treten, fcheint wenigftens darüber ein Zweifel nicht beftehen zum 
können, daß auf anderem, als dem von Preußen eingefhlagenen und von allen 
anderen Bunbesglievern (au von Baden, dem doch die Nebenius’fche Denkſchrift 
zur Richtfhnur dienen konnte) perhorreschten Wege ein Zollverein in Deutſch⸗ 
land nicht hätte begründet werben können, und es kann fi fein Kenner ber Ge 
ſchichte des Zollvereins ver Ueberzengung verfchließen, daß ver letztere lediglich eine 
preußiſche That, der mühfam errungene Erfolg der anf diefer Bahn ſtets Torrel- 
ten und konſequenten preußifchen Bolitit geweſen ift. 

Man mag es kaum glauben, daß das fichere, wenn aud langſame und mäh- 
felige Bormwärtsfchreiten des preußiſchen Zollſyſtems, da es doch einmal bis zu dem 
Bunte gelangt war, auf dem es bereits eine gefchlofiene nnd anſehnliche Macht 
repräfentirte, noch felbft bei folden Staaten auf hartnädigen Widerſtand ſtieß, 
deren geographiſche Lage und politifhe Ohnmacht es ihnen doch ganz einleuchtend 
machen mußte, daß ihr längeres Außenvorbleiben Ievigli ihnen felbft zum größten 
Nachtheile gereihen würde. Thatſächlich aber koſtete es bie größten Anſtrengunges 
— Preußen enthielt fi derartiger Bemühungen ganz konfeguent —, Baden, Naf 
fau und Frankfurt von der Unerläßlichleit des Anfchluffes zu überzeugen. Bie 
len werben dieſe Schwierigkeiten erſt ex post — aus ber Geſchichte des Jah 
res 1866 — recht erflärlic geworben fein. Die Argumente der Oppofition, welche 





Zollverein. 1063 


in dieſen Ländern in den Dreißiger Jahren dem Anſchluß an den Zollverein wi⸗ 
berftrebte, find gar vielfach in Süpbentfhland auch jüngft wieber vernommen wor⸗ 
den, wo e8 fih um WWieberernenerung unb entiprechende Modifilation ber durch 
den Krieg von 1866 zerrifienen Zollverträge handelte. Heftige Kämpfe, in benen 
Nebenins, Matthy, Regenauer die Borlämpfer für den Anſchluß, v. Weflenberg, 
Rotted, Welder, Itzſtein die der Oppofition waren, giugen dem Abſchluß und ber 
Ratifiletion des mit Baden umterm 12. Mai 1835 vereinbarten Zollvereinigungs- 
vertrages, der mit dem 1. Januar 1836 in Bollzug trat, voraus, 

Naffan, in welchem Ländchen der Widerſtand gegen ven Anſchluß von Hans 
aus eher noch flärker war, als in Baden, hatte fi fogar burd einen Hanbels- 
vertrag mit Frankreich — ähnlich wie nachmals Mecklenburg — no Tünftli die 
Hände gebunden, um vor ber Berfuhung oder vor Shwähe-Anumandelungen ganz 
fiher zu ſein 14), Aber auch. mit ihm kam — unter'm 10. Dec. 1885 — der 
Zolleintgungsvertrag zu Stande. Bon den franzöfligen Feſſeln mußte man fi 
„durch einen kühnen Rud, der, wenn auch Teinen Krieg zwiſchen ben bethelligten 
Großmãachten, fo doch einen erbitterten Zeitungsftreit nach ſich 309”, frei machen. 

Ebenſo wie nachher Naffan durch einen Handelsvertrag mit Frankreich, Hatte 
fi ſchon vorher die freie Stadt Frankfurt durch einen Handelsvertrag mit 
Großbritannien (13, Mat 1832) freiwillig Feſſeln angelegt. And hier war bie 
Dppofition gegen ven Eintritt in den preußifch-bentichen Zollverein fehr heftig. 
Uber je dichter fi die Grenzen bes geeinigten Zollgebietes um das Territorium 
bes Heinen Stadtſtaates fchlofien, um fo größere Gefahren ftellte die längere Ver⸗ 
zögerung bes Beitrittes in Ausfiht. Die Vertretung ber Raufmannfhaft, die 
Hanbelsfammer, gab den Anftoß zur Eröffnung von Berhanblungen mit Preußen, 
Diefe führten, nachdem es dem Senate gelungen war, am 23. Dec. 1835 bie 
Aufhebung des engliſchen Hanbelsvertrages zu erwirken, zum Abſchluß des Bei⸗ 
trittspertrages vom 2. Jannar 1836, der am 1, April vesfelben Jah⸗ 
res zur vollſtändigen Ausführung fam. In diefem Vertrage wurbe Frankfurt bei 
ber hr beilung der gemeinſchaftlichen Zolleintünfte ein erhebliches Präcipuum 

ewilligt. 

Schon früher, als Raffan und Frankfurt in ben Zollverein traten, nämlid 
am 20. Februar 1835, Hatte fih Heffen- Homburg dem Großb. Heffifhen 
Zollgebiete angefhlofien. Außer den Berträgen über den Beitritt ganzer Staaten 
famen eine Reihe anderer zu Stande, welche fi auf bie ganz ober größtentheils 
enfiavirten Gebletstheile mehrerer Staaten bezogen, und die Zollverwaltung weſent⸗ 
ih erleichterten 15). So wurde am 1. Nov. 1837 ein Bertrag mit Hannover we⸗ 
gen ver Graffchaft Hohenſtein und mit Braunfchweig wegen des Fürſtenthums 
Blankenburg vereinbart. 

Zu Ende des Iahres 1887 hatte der Zollverein ein zufammenhängenves, 
freilich noch nicht abgerunbetes, Behtet von 8110 Q.⸗M. mit 27,142,116 Ein- 
wohnern. Er umfaßte 25 Staaten und den größten Theil bes beutfchen Volkes. 
Er warb fortan ber „dentſche Zolle und Handels⸗Verein“ genannt. 

Noch fehlten dem Verein aber in ben Küftenftaaten Hannover und Olden⸗ 
Burg, in den gefegneten Agrikulturgebieten Braunſchweig und Medlenburg und in 


14) 8. Braun, „Naffau mit Frankreich gegen Preußen.a Vierteljahroſchrift für Volke⸗ 
wirthſchaft und Kulturgeſchichte. 4. Jahrg. 118, 55 ff. 

15) 5. Nebenius, „Ueber die Entflehung und Erweiterung des großen deutſchen Zoll 
bereindn * derſchz Viertetjahreſchrifi. Jahrg. 1838. Heft 2. S. 349 ff. v. Viebahn 
a. a. 1 — ® 


1064 Nachtrag. 


den emporſtrebenden Hanſeſtädten, ferner in einigen anderen Meinſtaaten, zum 
Theil ſehr wichtige Glieder. 

Während bisher, wie durch bie vollgültigften Zeugniffe erhärtet iſt 16), ven 
preußifher Seite niemals, weder birelt noch indirelt, der Anfto zur Adoptiea 
des preußifchen Bollfuftems gegeben worden war, fo wurde, wenigfiens ben drei 
erfigenannten unter den obigen Staaten gegenüber, nun von Seiten des bentfchen 
Zollverein, gewiß mit Net, ein anderer Weg eingeſchlagen. Diefe Staaten galt 
es in der That, im Interefie der Handeld- und Verkehrsfreiheit, im Intereſſe ver 
wirthſchaftlichen Entwidelung des Bereinsgebtetes, zu gewinnen. Eben jene brei 
Staaten, und außerdem Schaumburg-Fippe, hatten fi) durch Verträge vom 1. Mai 
1834, 7. Mai 1836 und bezüglih 11. November 1837, zu einem befonberen 
Stenerverein zufammengefchloffen, der, bei niebrigen Srenyöllen uud Gleich⸗ 
beit gewifler innerer Abgaben, finanziell gut gevieh, obwohl vie ver 
lange Grenze große Zoilverwaltungstoften verurſachte. (Durchſchnittlich 200/, ver 
Rob: Einnahme.) 

Als der deutfche Zollverein mit dem Jahre 1841 feine erfle Bertragsperiode 
beendigte, und der Bertrag von leiner Seite gekündigt worden war, gelang es 
zuvörderfi, Lippe-Detmold (18. Oftober 1841) zu gewinnen, welches bisher 
no keinem Verbande angehört hatte; dann — unter'm 19. Dltober 1841 — 
ſchied Braunfhweig mit dem größeren Teil feines Gebietes aus dem Gtener- 
verein, und ſchloß fih dem Zollvereine an. Unterm 8. Februar 1842 erfolgte ver 
nſchluß Luremburge. 

Schwieriger und wichtiger, als dieſe kleinen Staaten, war es, Hannover 
von den Vortheilen eines Anſchluſſes zu überzeugen. Dan kann wohl behaupten, 
dag dieß überhaupt erft im leuten Momente, unmittelbar vor dem 
fhluffe, gelungen ifl. Die Verhandlungen mit Hannover, welde faſt die ganzen 
vierziger Jahre hindurch, freilich mit manchen Unterbrechungen, dauerten, ſchienen 
das Ziel der Bereinigung immer weiter binauszuräden. Da kamen die Jahre ber 
Revolution; es folgten Zeiten ter tiefften Demütbigung für den kurz vorher dur‘ 
bie Sranffurter Kaiferwahl ſcheinbar fo body erhobenen Staat Preußen. Die deut- 
[hen Mittelftaaten verriethen lebhafte Neigung, fi von dem bisherigen Berbün- 
beten ab», und Defterreich, welches inzwiſchen längſt erfannt hatte, daß Preußen 
als mafjgebende Bollvereinsmadt feinen — Deſterreichs — Einfluß im Rede 
mehr und mehr untergrub 17), und weldes nun mit Zolleinigungspläuen Iodte, 
fih zuzuwenden. Eine Sprenguug des Zollvereins fand zu fürdten. Preußen 
mußte fi für dieſe Eventualität fein Zollſyſtem und ein gefchlofienes Hantele- 
gebiet fichern. Für den Fall der Fortdauer des Zollvereins andererfeits that ihm 
ein feiner handelsfreiheitlichen Tendenz geneigter Bundesgenoſſe um fo mehr Roth, 
je mehr im Süden ſchutzzöllneriſche Beſtrebungen überhandnahmen. Zugeftänpniffe, 
weldhe früher Hannover vergebens geforvert hatte, erichienen jebt als ein Teines- 
wegs zu hoher Preis für die Vortheile eines fefteren Zuſammenſchluſſes des bent- 
[hen Nordens. In aller Stille ward am 7. September 1851 der Zollvereini⸗ 
gungsvertrag zwifhen Breußen und Hannover abgefhloffen. Schon am 
25. September trat Shaumburg-Fippe, am 1. März 1852 Oldenburz 
dem Bertrage bei. Der „Septembervertrag”, in weldhem Preußen ven neuen Bun- 
besgenofien bi8 dahin in der That unerhörte Zygeftändnifle (3. B. das dee Prö- 

16) 5. Nebeniuns a. a. O. in der D. niet. 3.Sär. Heft 2. S. 349. 8. Kühne, Dr 
deutſa, Zollverein während der Jahre 1834—46. ©. 
27, Adolf Schmidt, zeitgenoͤſſiſche Geſchichten. Berlin 1859. S. 653 ff. u. ©. 534 ff. 





Zollverein. 1065 


Ipuums) gemadht hatte, bewirkte, als er den übrigen Vereinsmitgliedern 24 Stun- 
en nad feinem Abſchluſſe mitgeteilt wurde, bei diefen gewaltige Aufregung. 
Ran beſchwerte ſich über das willkührliche, einfeitige Vorgehen Preußens; man 
prach von Oktroyirung nnd Vertragsbrud 18). Es bedarf einer etwas eingehenve- 
em Darfiellung, um den Berlauf diefer ſchweren Krife verſtändlich zu machen. 
Preußens Einfluß in Deutfchland war durch die Begründung und den all- 
säligen Ausbau des Zollvereind zuſehends gewachſen. Das rivaliſirende Defter- 
eich erlannte jegt deutlich, daß, wenn es der Demütbhigung, die der Rivale im 
3ertrag von Olmütz erfuhr, die Krone aufjegen wollte, es eine Sprengung des 
zollvereins bewertfielligen mußte. Dazu ſchien der Zeitpuntt des bevorftehenven 
meiten Ablaufs der Zollvereinsverträge um fo mehr geeignet, da eben jegt Preußen 
urch ben eigenmädtigen Vertragsabſchluß mit Hannover den größten Theil feiner 
3ereinsgenofjen wider ſich aufgebracht hatte. Als ſchon bie Frage der Erneuerung 
er Zollvereänsverträge alle Gemüther in Deutfhland heftig bewegte, trat das 
Biener Kabinet mit dem Unerbieten hervor, mit dem Zollverein vom 1. Januar 
854 ab einen Handelsvertrag zu fließen, der ven beiberfeitigen Verkehr mög⸗ 
hft erleichtern, die Zarifänderungen des einen Gebietes von der Zuflimmung bes 
andern: abhängig machen und dem dann vom 1. Jaunar 1859 an eine völlige 
‚olleiniguug folgen follte 19). Das Unerbieten hatte für die fübdentfchen und einige 
itteldentfche Staaten viel Verlockendes. Am 20. April 1852 unterzeichneten 
Jayern, Württemberg, beide Hefien, Naſſau und Homburg zu Wien ein Proto- 
M, worin fie fi verpflichteten, für das äfterreichiiche Projekt nad Kräften zu 
irfen. Baden ſchloß ſich der Koalition nur unter Vorbehalt an. Die Lage, in 
elche Preußen durch diefen Schritt verfegt wurbe, war eine mißlihe. Auf den 
Rerreichifchen Gedanken einzugehen war politiſch wie wirthſchaftlich ein Ding ver 
nmöglichleit; als Folge der Belämpfung nnd Nichtannahme ver öfterreichifchen 
'jorfchläge dagegen fand die Sprengung des Zollvereins in ziemlich ſicherer Aus- 
dt. Preußen ließ es hierauf anlommen. Es forderte von feinen Bundesgenofien 
atihabition des Septembervertrages und alfo Anfnahme bes Steuervereins in den 
ollverein. Nur Braunſchweig und der Thüringen’fhe Zoll- und Handelsverein 
itſprachen diefer Aufforderung; die anderen Genoſſen verfagten vie Ratihabition. 
‚a ſah fi Preußen gendthigt, den Zollvereinsvertrag für den 31. December 
853 zu kündigen. Gleichzeitig jedoch Ind es die Zollvereinsftaaten zu einer Kon- 
ren; im April 1852 nad Berlin ein, um ben Zollverein anf der Grundlage des 
jeptembervertrages zu erneuern. In diefer Zeit nun trat Oefterreidh mit vollftän- 
g artikulirten Hanbelsvertrags- und Zolleinigungspropofitionen hervor. — Oeſter⸗ 
ichs Koalirten traten in Bamberg, fpäter In Darmftadt, zufammen, um ſich über 
meinſchaftliche Schritte zu verfländigen. Man kam überein, in Berlin darauf 
; dringen, daß mit Defterreih unter Zugrundlegung der in Wien entworfenen 
erträge Unterhandlungen angelnüpft würben, und daß, fo lange dies nicht ger 
yebe, die Ernenerung und Erweiterung des Zollvereins nicht zu genehmigen fei; 
gleich verpflichteten ſich die Verbündeten für den Fall, daß der Zollverein zer» 


18) Eine jchlagende eöiberlegung der von den Koafitionsflaaten genen den Septembervertrag 
yobenen Einwendungen f. bei &. Kühne, Anſprache an die deutfhe Fabrik: und Handelswelt 
er die ſchließliche Wendung der Zollvereine> und Handelsverträge Braunſchw. 1853 &. 3 1 
49) Soldye Anerbietungen und Pläne waren ſchon im Herbft 1849, zunächſt in nicht offi 
Der Form, aufgetreten. In der Mitte des Jahres 1851 begannen officiele Unterbandlungen 
iſchen Deflerreich einer» und Preußen und den Mittelftaaten andererfelts. Nach dem Abſchluß 
I Septembervertrage® wurden die öfterreichifchen Anerbietungen dringender, die Verhandlungen 
er zunächft nicht mehr mit Preußen geführt. 








1066 Radtrag. 


falle, vie bisherigen Zollvereinsverträge auch ferner unter fi als foribeftchen 
anzuerlennen, und mit Defterreih alsbald einen vefinitiven Bertrag abzuſchlleßen, 
durch welchen legteres die Öarantie der bisherigen Zollvereins- Ein 
fünfte übernehmen folle. Unter biefen Aufpicien wurben am 19. April 1852 
in Berlin die Konferenzen eröffnet. Bon Seiten Preußens and feiner Verbündeten 
forderte man vor Allem die Aufnahme des Steuervereins; von Seiten ber Koa⸗ 
lirten verwarf man bie einfeitige Ausdehnung des Vereins nad Norden und Inäpfte 
bie Erneuerung desjelben an Garantieeen für ven Abſchluß des öfterreichiſchen 
Vertrags. Zwar gaben die Koalirten nad langen Verhandlungen endlich inſoweit 
nach, daß fie den Vertrag mit Hannover anzunehmen und bie binugen über 
die öſterreichiſche Zolleinigung aufzugeben beſchloſſen; dagegen beharrten fie auf 
ber fofortigen Abſchließung eines Handelsvertrags mit Defterreih auf Grund bes 
Wiener Entwurfes und forderten, daß der Zellverein nur auf ſechs, höchftess 
acht Jahre erneuert werbe, und daß Preußen fi verpflichte, wenigſtens ein Jah 
vor Ablauf diefee Periode die Berathungen mit Defterreich über die Zolleimigung 
zu begiunen. Auch Preußen gab nun infoweit nad, daß es den Wiener Bertrag 
ben, aber erft nach Relonftruirung des Zollvereins zu beginnenden, Berhaublun- 
gen zum Grunde zu legen verſprach; nur wollte es jebe Hinbentung auf eine 
Zolleinigung ausſchließen und forberte eine Erneuerung des Zollvereins auf 12 
Jahre. Als die Koalirten das letztere verwarfen, brach Preußen, am 27. Septem- 
ber 1852, die Berhandlungen mit ihnen ab, umb ſchloß im November wit Drau 
ſchweig und Thüringen einen Separatvertrag über bie Zollvereinigung mit bem 
Steuerverein. 

Die Koalirten wandten ſich nach dem reſultatloſen Schluſſe ver Berliner Ron 
ferenzen fofort wieder nah Wien und verhandelten über die Begründung eines 
ſuddeutſchen Zollvereins umd bie Garantie Ihrer feitherigen Zolleinfänfte von Sei⸗ 
ten Oeſterreichs. Letzteres, als es einfah, daß die Sprengung bes Zollvereins ohme 
Gewährung einer folhen Einnahmegarantie nicht zu ermöglichen, vie letztere aber 
zu gewähren bei dem traurigen Stande feiner Finanzen uumöglih fel, zog bie 
Berhandlungen mit ben Koalirten in bie Ränge, knüpfte aber unterbeß geheime 
Berhandlungen mit dem Berliner Kabinet über den Abſchluß eines Hanbelsvertrags 
an. Diefer legtere kam am 19. Februar 1853, unter von Brud’8 perfönlider 
Mitwirkung, in Berlin auch wirklich zu Stande. Diefer, der fogenannte „Bebruar- 
vertrag”, gewährte zwar beiden Kontrahenten erhebliche Zollerleihterungen, enthielt 
and, einen Hinweis auf die Anbahnung einer künftigen Zolleinignng, legte aber 
den Kontrahenten in viefer Beziehung keine beftimmten Verpflichtungen anf. Die 
Bevollmächtigten der Koalitionsftanten erklärten, fo von Defterreih im Stiche ge 
lagen, hierauf, daß, nachdem ihren Forberimgen Genüge gefhehen (1), der Ge 
nehmigung des Vertrags mit Hannover nichts mehr im Wege fiche, und am 
4. April 1853 wurde der Zollverein in Berlin auf den neuen Grundlagen für 
weitere 12 Jahre abgefchloffen 29). 


20) Daß an diefer Stelle der in die mit dem 31. December 1853 abgelaufene Zollverein# 
Bertrag& Periode fallenten Revolutionsjaßre, der Frankfurter Parlamente Berbandlungen und der 
Berathungen des volfswirthichaftlichen Ausſchuſſes über Zolfragen nicht gedacht wurde, rechtfer 
tigt fi wohl durch die, immerhin bemerkenswerthe, Thatfadhe, daß alle diefe Derhandlungen, dei 
die ganze Revolutiongzeit fat ohne jeden Einfluß auf die äußere und innere (intwidelung bei 
Zollvereins geblieben ift, wenn man nicht annehmen wid, daß die über ben Septe 
ausgebrochene Krifid erft In Folge der aus den Revolutionsjahren batirenden Erſchũ ber 
preußifchen Guprematie in Deutichland eine fo ernfllihe Geftalt geavonnen hat. Vrgl 
ade ei" —A Dorgänge, ſoweit ſie das ZJollweſen betreffen, v. Feſtenberg⸗Packiſch a.a. 








Zollverein. 1067 


Der fo mit Inapper Roth vor ver Gefahr feines Zerfalles glücklich bewahrte 
nd weſentlich vergrößerte Verein umfaßte nun, wenn man die, allerdings erft im 
jahre 1856 angejchloffenen Heinen bremiſchen Gebletstheile mit binzurechnet, ein 
Hebiet von 9047 Q.⸗M. mit cirfa 35 Millionen Einwohnern, nnd erfuhr als 
Zollverein eine weitere Vergrößerung fortan nicht. 

Die, mit dem 1. Ian. 1854 beginnende neue Vertragoperiode iſt in ihrer 
rften Hälfte arm an äußeren, ven Beſtand des Bereins berührenven Ereigniffen. 
Das einzige von einiger Bedentung ift der Vertrag vom 26. Ian. 1856 mit der 
reien Hanſeſtadt Bremen wegen Beförderung der gegenfeitigen Verkehrsverhält⸗ 
iiffe, woburd, wie ſchon erwähnt, aud einige Feine bremifche Gebietstheile dem 
Zollverein einverleibt wurden. Die zweite Hälfte diefer dritten, mit dem 31. Dee 
ember 1865 fchließenden Bertragsperiode dagegen gehört zu den bewegteften Zei- 
en in der ganzen Geſchichte des Zollvereins, vielleiht zu den lehrreichſten Partieen 
er dentfhen Geſchichte bis zum Jahre 1866 überhaupt. Es füllt in dieſe Zeit zu- 
örderfi der nad unfäglichen Schwierigkeiten endlich gelungene Anfchluß des deut⸗ 
sn Zollvereins an das fogenannte Syſtem der weſteuropäiſchen Ber 
räge. 

Diefer Borgang iſt es, dem an dieſer Stelle eine wenigſtens flüchtige Be⸗ 
rachtung 29) gemwinmet werben muß. 

Der englifh-franzäfiihe Hanvelsvertrag vom 23. Januar 1860 eröffnete 
ekauntlich eine neue Epoche in der Geſchichte der enropätfhen Handelspolitif. 
England brach von jenem Tage an vollftändig mit dem Schutzzoll⸗, Frankreich 
nit feinem Prohibitiv⸗Syſtem. England eröffnete feinen Markt aller Welt; es be- 
telt der Eingangsbeſteurung nur eine geringe Anzahl finanziell wichtiger Artikel 
or. Frankreich begann feine Tarifermäßigungen und die Aufhebung feiner Ein- 
uhrverbote im Anslande durd eine Reihe von Berträgen zu verwertben, durch 
selche es feinen europäiſchen Abſatzmarkt zu erweitern beabfichtigte, zur Entſchä⸗ 
igung feiner Inpuftrie für die erleichterte auswärtige Konkurrenz. Unter der Be- 
ingung gleichzeitig einzuführender infuhrerleichterungen wurben Belgien und 
talten in Fraukreich mit England auf gleihen Fuß geftellt; aud mit der Schweiz 
egamen gleichzeitig Verhandlungen. Diefe Berträge gelangten ſämmtlich in ver- 
altnißmaßig kurzer Zeit zum Abſchluß. 

So erftand im Weſten von Europa ein gefchloffenes, großes Handelsgebiet, 
a dem fich mehrere ber inbuftriereihften Staaten der alten Welt unter gegenfel- 
iger Eröffnung ihrer Märkte vereinigten. Die Bortheile viefes Marktes konnte 
ur genießen, wer feinerfeits zur Gewähr gleicher Bortheile fih verſtand; wenig» 
'ens in Frankreich, demjenigen unter den verbundenen Staaten, in weldem vie 
induftrie des übrigen Europa nod den ausgebehnteften und gewinnverſprechend⸗ 
ten Markt erwarten burfte, war vorläufig von einer Generalifirung bes Tarife 
bgefehen. 

Wenn der Zollverein ſich die Bortheile des ermäßigten franzöftihen Tarifs 
icht bald zu verfhaffen wußte, fo war feine Induftrie vielleicht für ange Jahre 
on dem dortigen Markte ausgeſchloſſen; denn es fegten ſich bort die begünftigten 
tonfarrenten des Zollvereins — England, Belgien, die Schweiz, Italien — feft 
nd Mmüpften mit den franzöſiſchen Abnehmern Berbindungen an, aus denen fie 


21, Ausführlich iſt der Derlauf der ie roßen Krifis des alten Zollvereins, wenigſtens 
[6 zu demjenigen Stadium, in weldem fie he zu Anfang Auguft 1863 beiand, entwidelt in 
em Auffag des Berfaffers über die »Zollvereinsfragen in Dd. VIl S. 490 - 507 der Zeit 
drift »lnfere Zelte. Vrgl. auch v. Feſtenberg⸗Packiſch a. a. O. ©. 354 ff. 


N 


1068 Nachtrag. 
fpäterhin fo Leicht nicht wieder zu verbrängen waren. JIebenfalld war tem 


Zollverein, wenn er nicht England, Belgien u. f. w. an ber franzöfifhen Grenze 


gleichgeftellt wurbe, ber an fih fon ziemlih bürftige Abſatz nah Frankreiqh 

den er bisher mühſam unterhalten hatte, gänzlich verloren. Denn bei 100-5008), 
höheren Zöllen konnte man auch mit den niebrigft denkbaren Preifen nit mehr 
tonturriren. Ein Anflug überdieß mußte neben anderen widtigen Bortheilen and 
den mit fih bringen, daß enblih im Zollverein das Schupzollfyfiem zum gutes 
Theil über Bord geworfen wurde. Konnte man fi entjchließen, dem Bäutaik 
beizutreten, fo war damit zugleih dem Zuflande völliger Stagnation, im welchen 
der Zollverein mehr und mehr gerathen war, ein für alle Dale ein Ende gemacht?) 

Alles ſprach dafür, daß ver Zollverein fo fchnell als möglich jenem „Syften 
der weſteuropäiſchen Verträge" ſich anſchließe. Als daher die franzöfifche Regierung 
im Juni 1860 dem preußifchen Kabinet ihre Bereitwilligkeit zu erfennem gab, 
Berhandlungen wegen Herbeiführung eines Handels: und Schhififahrts-Bertreges 
mit dem Zollverein anzufnüpfen, fette die preußifche Regierung ihre Zollverbän- 
deten von diefer Erklärung in Kenntniß und erſuchte viefelben um ihre Zufim- 
mung zur Eröffuung der Verhandlungen. Die zuftimmenden Erklärungen der Fo 
vereinsftanten waren ſchon 5i8 zum September 1860 ſämmtlich eingegangen, fc 
daß am 15. Januar 1862 mit den Verhandlungen zwiſchen ven preußiſchen unt 
franzöfifgen Bevollmächtigten begonnen werben konnte. Am 29. März 1862 wur: 
den die Berträge paraphirt, am 2. Auguft 1862 förmlich unterzeichnet. Die 
preußifche Regierung hatte ihre Bolverbündeten von bem ganzen Berlanfe ber Ber 
handlungen in genauefter Kenntniß erhalten, und war in allen Gtabien alljeitiger 
Mebereinfiimmung mit ihrem Berhalten begegnet. Nun aber, als die Ratikabitisn 
der Verträge erfolgen follte, zögerten Hannover und Kurheſſen lange mit der ge 
forderten Öenehmiguug und verfagten Bayern, Württemberg und Hefjen-Darm- 
ftabt dielelbe ausdrücklich. In Prengen, Sachen, Thüringen, Braunfhweig, Oldes⸗ 
burg, Naflau, Frankfurt, Baden hatten vie Regierungen vor Abgabe ihrer Erik 
rung die Verträge den Vollövertretungen zur Genehmigung vorgelegt und biefelbe 
überall entweder einftimmig ober mit überwiegender Stimmenmehrheit erhalten. 
- Neben den offictellen erklärten ſich überall in Deutfhland auh die Stimme 
größerer Korporationen übereinftimmend für bie Verträge; gegen bie legteren müh⸗ 
fam ins Bert gefegte Agitationen nahmen einen Mäglihen Verlauf; man famn 
fagen, daß feit Jahren in keinem Punkte das deutiche Volt einiger gewefen wer, 
als es ſich jegt zu Gunften dieſes für den Zollverein allerdings —— 
Bertragswerkes erhob; aber die renitenten Staaten, insbeſoudere Bayern und 
Württemberg, beharrten auf ihrer Weigerung. 

Es fragt fih, welche gewichtige Gründe es fein fonnten, durch welche Preußens 
Gegner zu ihrer fo folgenfhweren Renitenz vermoht wurden. Officiell wurden 
allerdings gegen einzelne Pofllionen der vereinbarten neuen Zarife, bie man bis 
ber immer gut geheißen, und gegen einzelne offenbar unweſentliche Bertragsartitel, 
denen mau aber früher aud feinen Widerſtand entgegengefegt hatte, WBebenten 
erhoben. Auch wurde officiell und officids die Anficht geltend gemacht, daß eine 
vollftändige Zarifreform nicht im Wege eines Traktates hätte vollzogen werben 
ſollen; daß Preußen vor Eröffnung der Berhaudinngen mit Frankreich zumädfl 


28) Die Bortheile des Anfhluffes und die Gefahren der Zögerung find lichtvoll dargeſtelt 
in dem Bericht der vereinigten Kommiſſionen des preuß. eordnetenhaufes für Finanzen und 
le und für Handel und Gewerbe über den deutſch⸗franzöfiſchen erag. Nr. 25 ber 

ruckſachen. 7te Legislat. Ber. 1. Seſſ. 1862. Berichterfl.: Ag. D. Michaelis. 





I 


Zoliverein. 1069 


nit Defterreich über die Weiterentwidelung des Yebruarvertrages hätte verhandeln 
nüffen; es wurde Preußen vorgeworfen, daß es bei feinen Berhandlungen mit 
Frankreich ein eigenmächtiges Verfahren beobachtet und eine verlehende Nichtachtung 
einer Zollverbändeten an den Tag gelegt habe; endlich wurde behauptet, ber 
Handelsvertrag fei einer Weiterentwidelung des Februarvertrages mit Deflerreid; 
hinderlich. Ale dieſe Einwendungen waren aber VBorwände, um fo nichtigere, als 
Re post festum famen. Der eigentlihe Grund der Weigerung lag in dem Um⸗ 
ftande, daß Defterreih den Moment benugt hatte, um den Zollverein wo möglich 
zu jprengen. Darum trat ed zur rechten Zeit mit einem fogenannten Zolleinigungs- 
projeft (10. Juli 1862) hervor, an deſſen Zuftantefommen es zwar felbft nicht 
glanbie, vom dem es aber erwartete, daß es die preußifhen Gegner im Zollverein 
zum offenen Brudye mit Preußen treiben, daß es den deutſch⸗franzöfiſchen Handels⸗ 
vertrag noch in der zwölften Etunde vereiteln, daß es eine Nenbelebung ber Zoll- 
vereinspolitit, eine neue Konfollvirung des preußiſchen Einflufjes in Deutſchland 
unmöglich maden werde. ' 

Diefe Abfichten traten im Verlauf der Krifis, wegen deren einzelner Momente 
(Müncener Generalzolltonferenz im Frühjahr 1863, Münchener Separatverhand- 
lungen über die bayriſchen Punttationen vom 18. Juni 1863; Berliner Zolllon- 
ferenz wegen Erneuerung der Zollvereinsverträge) auf die oben citirten Schriften 
verwiejen werden muß, immer deutlicher hervor. Allein fie ſollten abermals fheitern. 
Preußen feritt, Angefihts de8 von Deflerreih gefhürten Widerſtandes einiger 
feiner Bundesgenoſſen, endlich zu dem ſchon einmal bewährten Mittel der Kün- 
digung der alten Zollvereinsverträge. Auch dieſes Mal wirkte feine flanphafte 
Energie; man kam ſchließlich im Laufe des Jahres 1864 zur Verftänbigung, und 
es erfolgte die Berlängerung der Zollvereinsverträge, zuerft mit Sachſen, Baden, 
Kurhefien, Thüringen, Braunſchweig, Frankfurt, Hannover und Oldenburg; Bahern, 
Württemberg, Heflen-Darmftadt und Naflau traten dem Erneuerungsvertrage noch 
furz vor der ihnen geftellten Präkluſiv⸗Friſt — 1. Oktober 1864 — ebenfalls bei. 
So war bie Fortdauer des Zollvereins abermals gefichert, und gleichzeitig der Auſchluß 
an das „Syſtem ver wefteuropälfchen Verträge” bewerkftelligt. Mit dem 1. Juli 
1865 traten gleichzeitig die Handels⸗ und Schiffahrtöverträge mit Defterreidh, mit 
Srantreih, mit England, mit Belgien, traten einige ber neueren franzöfiichen 
Berträge mit anderen europäiſchen Staaten, trat der banfeatifch-franzöfiihe Han⸗ 
belövertrag in Kraft. Diefe Verträge haben Tarifermäßigungen zu Stande gebradt, 
zu denen es auf anderem Wege vielleicht in Jahrzehnten nicht gelommen wäre. 
Ste ſchufen ein Verhältniß zwiſchen den verbundenen Staaten, in welchem Vor⸗ 
tehr getroffen ift gegen Rüdfälle in die eben geheilten merkantiliſtiſchen Gebrechen, 
in welchem ver handelspolitiſche Fortſchritt des einen Mitgliedes alsbalt allen 
anderen zu Statten fommt, und in weldem an Stelle der handelsfeindlichen Be⸗ 
firebungen, welche das alte Suftem Tennzeichneten, ein neuer Wetteifer in handels⸗ 
freiheitlichen Reformen getreten If. 

Es muß an dieſer Stelle den deutfh-franzdfifhen, dann den oben 
erwähnten deutſch⸗belgiſchen une deutfh-öfterreihifhen Handels- 
verträgen noch eine kurze Betrachtung gewidmet werben. 

Was den Handelsvertrag mit Frankreich insbefondere anlangt, fo iſt daran 
das Wichtigſte, daß dadurch dem Zollverein im Wefentlihen alle die Begünſti⸗ 
gungen gewährt werden, welche Frankreich England und Belgien zugeflanden hatte, 
und daß ber Zollverein andererfeits zur Einführung einer Tarifermäßigung fi 
verpflichtete, die er feinerfeits zu generalifiren beabfichtigte und auch generalifixt 


1070 Nadtvag. 


hat. Die Tarifreform ſelbſt (Tarif B. des deutſch⸗franzöſtſchen Kanbelöverirag, 
far die Zollvereins-Einfahr) iſt freilih nur als ein erfter Anfang zu 5 
Über es hat fich inzwiſchen ſchon gezeigt, daß ein folder, im Beralei mi 

auf dem gewöhnlihen Wege bis dahin mühfem bewerkftelligten Kleinen Tori 
rungen, grünblicher Anfang in ra jelbft die Triebkraft zu weiteren Reformen 
birgt. Eine weitere bemerlenswerthe Erſcheinung ift es, daß fih die Kontrahenter 
zur Befeitigung aller Ansfuhrzölle (mit nur einer Ausnahme auf franzöftger um 
einer auf Seite des Bollvereins) und Durchfuhrzölle verpflichten. Die ermäßigten 
Tariffäge für die zollvereinsländiſchen Waaren jollten zwar in Frankreich gun 
fäglih nur bei ver bireften Einfuhr zu Lande, oder zur See unter ber Flage 
bes Zollverein ober Frankreichs, gelten. Preußen erlangte jedoch bald du cs* 
nahmaweiſes Zugeſtändniß auch zu Gunſten bes Erports aus Bremen und Hau 
burg. Im Urt. 31 des Handelövertrages gefteben ſich die Kontrahenten beiverfett 
bie Rechte der meifibeglinftigten Nation zu. Im Schiffahrtspertrage hat 
Branfreih zunähft nod an dem Syſtem ber bifferenziellen Behandlung der Edif- 
fahrt feft; es dehnte die gleiche Behandlung der Zollvereinsflagge mit ber nat 
nalen nur auf die birelte Fahrt aus, und uur mit Mühe Eoumte ihm bas md 
tere Zugeſtändniß abgerungen werben, daß für die Begriffsbeſtimmung ber direlte 
Fahrt die Häfen der Hanfefläbte an der Wefer und Elbe dem zollvereintländijhe 
von dem Augenblide an gleichgeachtet werben follten, wo bie franzöftichen Ehile 
in den letteren Häfen ben nationalen gleichgeftellt würden. 

Der dentfch-, oder befler preußifh-belgifhe Bertrag vom 28. Riy 
1863 wurde von Preußen, welches in viefer Beziehung nad Art. 39 und Saw 
ratart. 20 des Zollvereinsvertrags vom 4. April 1853 an bie Zuſtimmung feine 
Zollverbündeten nicht gebunden war, weil es ſich hier nicht um Berlegungen ingm 
einer Beftimmung ber Zollvereinsverträge handelte, auf eigene Fauſft — 
aber den übrigen Zollverbündeten der Beitritt offen gehalten, welcher banm and 
nah und * allerſeits erfolgt iſt. Das Wichtigſte in dieſem Bertrage 2) ifl, * 
darin dem Zollverein die Vortheile der Gleichſtellung mit England und ie 
Schweiz auf dem belgiſchen Markte gewährt werden, während der Zollverein fd 
zu nichts weiterem verpflichtet, als zur Behandlung Belgiens auf dem Fuße va 
meiftbegünftigten Nation. Preußen erklärte fi, vem belgiſchen Zugeftänbnig gegar 
über, bexeit, für den Hall des Zuftanvelommens einer allgemeinen 
zwifchen den Seemächten, feinen, nad den Grundſätzen bes belgiſchen Planes ff. 
äufegenden, im Marimum auf 1,670,640 fr. begrenzten Antheil an der Abl⸗ 
fungsfumme bes Scheldezolles in zwei Jabresraten zu übernehmen. 

Der deutſch⸗ SRerreihifhe Hanvelsvertrag vom 11. April 1865, m 
deſſen Abſchluß Defterreich fi herbeilieh, als es feine anf Sprengung be# Bei 
vereins gerichteten Beftrebungen fcheitern gefehen, ftelt fi dar als eine zweit, 
nur in Gemaßheit der inzwiſchen durch Abfchluß des deutſch⸗ franzöfigen Handel⸗ 
vertrags geſchaffenen neuen Berhältnifſe veränderte Auflage des Webruarvertrogel. 
Er hat jedoch weit mehr, als dieſer, ven Charalter eines bloßen 
Die Ausſchließlichkeit der gegenfeitigen Zollbegünftigungen iſt darin, wenigfiens af 
Seiten des Zollvereins, volfländig aufgegeben, ein Gleiches auf Seiten Orfe 


reichs zwar nicht direlt ausgefproßen, aber doch als natürliche Folge anzufher 


Der Uprilvertrag wer das Mittel, die Hanbelspolitit Oeſterreichs anf vie Bar 
einer liberalen Entwidelung zu bringen, fie von ber Herrſchaft politiſcher Rädid 


33) Eine genaue Analhſe diefed Vertrages vrgl. in »lnfere Zeite a, a. ©. ©. 49 ff 


Zollverein. 1071 


en zu befreien und ber kaiſerlichen Regierung gegen die übermädtige Schutzzoll⸗ 
yartei im eigenen Lande bei ihren Reformbeftrebungen eine Unterflügung zu ſichern. 
Er war ber erſte Schritt Oeſterreichs zum Eintritt Defterreihe in das Syſtem 
er wefteuropälfchen Verträge, das erſte Auftreten ernfthafter Tarifreformen. Gin 
olcher Schritt brachte Defterreih auf eine fchiefe Ebene, auf der es ſich den in 
er Raltur vorgefchrittenen Nationen Europa’s immer raſcher nähern mußte. Seine 
nit Großbritannien am 16. December 1865, mit Frankreich am 11. Dec. 1866, 
nit Belgien am.23. Februar, mit Holland am 26. März und mit Italten am 
3, April 1867 abgeſchloſſenen Hamvelsverträge haben viefe Erwartung verwirk⸗ 
icht. In dem Vertrage mit Frankreich find für eine Neihe von. Artikeln Ermäßi- 
‚ungen eingetreten, bie zum Theil noch eiwas weiter gehen, als bie dem Zoll- 
verein im Aprilvertrage zugeftandenen. In ſämmtlichen Verträgen aber iſt die Be⸗ 
timmung enthalten, daß alle, vritten Staaten gewährten, Begünſtigungen and) den 
Ritlontrahenten gewährt werben follen. Während der fyebruarvertrag noch bie 
kontrahenten zu Verhandlungen über eine Zolleinigung zwifhen dem Hollverein 
nd Gefammtöfterreich verpflichtete, befindet id im Art. 25 des neuen (April⸗) 
Zertrages zwar auch noch die Wendung, daß man über bie Frage der allgemei- 
ven beutfchen Zolleinigung in Berhandlung zu treten, fich vorbehält, dagegen ent- 
alt der nämliche Artikel die wichtige, und für die inzwiſchen gewachſene Hoff 
mngslofigteit Defterreichs bezeiänende Kiaufel: „Es wird beiberfetts anerkannt, 
aß die Autonomie eines jeden ber vertragenden Theile in der Geftaltung feiner 
soll» und Handelsgeſetzgebung hierdurch nicht bat befchränft werben wollen." 

Der Zollverein trat, wie ſchon bemerkt, ohne Gebietserweiterung in die neue, 
ılt dem 1. Iannar 1866 beginnende Bertragsperiode ein. Schleewig-Holftein, 
anenburg, Medlenburg und bie Hanfeflädte flanden noch immer außerhalb des⸗ 
ılben. 

Scäleswig-Holflein und Lauenburg waren zwar durch bie werein- 
en Waffenthaten Preußens und Defterreihs im Jahre 1864 vom bänifchen Joche 
efreit und Deutihland erhalten worden; aber e8 war nicht gelungen, biefe Ge⸗ 
tete mit einer ſtaatlichen Organifation zu verfehen, welche ihre Aufnahme in den 
;ollverein, der aud ber größte Theil der Bevölkerung der Elbherzogthümer felbft 
viberftrebte, geftattet hätte. Der Wiener Friede vom 30. Oktober 1864 fehnf nur 
tn Proviforium mit Thellung des Beſitzes unter die beiven flegreihen Großmächte 

Die Medlenburgifhen Lande würden dur ihren Beitritt zum Zoll 
erein vem legteren und ihren eigenen wohlverflandenen Intereffen einen wichtigen 
Renſt geleiftet haben. Dem Zollverein würde jener Beitritt zu einer Arrondirung 
:ines Gebletes, zu einem neuen Stüd deutſchen Küftenlandes, zu einer Erleich⸗ 
zung ber Bollverwaltung, zu einer erheblihen Steigerung der Einnahmen ver- 
olfen haben. Medienburg wäre durch feinen Anflug inniger mit Deutſchland 
erfnäpft und zu zeitgemäßen Reformen feiner verrötteten Berfafjungsverhältniife 
ezwungen, zum guten Theile von dem Drude der herrſchenden feudalen Stände 
efreit worden. Aber eben dieſe herrſchenden Stände opferten das Intereſſe bes 
andes ihrem eigenen vermeintlichen Interefie. Während der legten großen Zoll 
ereinstrifls warb in Medlenburg eine felbftändige Steuerreform durchgeführt und 
m Grenzzollſyſtem angenommen, welches die aus ber Ifolirtheit der beiden Groß⸗ 
erzogthümer für den Zollverein entfpringenden Nachtheile in hohem Grabe ſtei⸗ 
erte. Hiermit nit genug ſchuf fih aber Mecklenburg auch willkührlich ein Hin⸗ 
erniß gegen einen zufünftigen Beitritt zum Zollverein. Denn es flog unterm 
. Iunt 1865 mit Frafreih einen Hanbels- und Schifffahrtsvertrag ab, wodurch 





1072 Nachtrag. 


nicht nur der Eintritt der Großherzogthümer in den Zollverein auf eine Nik 

von Jahren an fi erfhwert, fondern aud eine etwaige folde Entfchliegumg 

Medienburgs an den guten Willen, an die Zuftimmung Sranfreihs gebunten 
wurde 2), 

So ungegrünbet die Weigerung Medlenburgs war, fi) dem Zollverein an- 
zuſchließen, jo gerechtfertigt war bie Stanbhaftigkeit, welde die Hanfefäbte 
den nicht von Seiten Preußens, fonvern von Seiten mander ihrer Danbelsten- 
fnrrenten, fowie ſüd⸗ und ſüdweſt⸗deutſcher Handelsforporationen immer bringenber 
erhobenen Aufforberungen zum Beitritt entgegehftellten. Die ungehinderte Freiheit 
der Hanbelsbewegung hatte die Hanfeflänte zu Hauptverforgungsmärften großer 
Hanvelsgebiete gemacht, die keineswegs auf die deutſchen Grenzen beſchräukt waren. 
Dffenbar war es ein hoher Vortheil für Dentfchland, ſolche Weltmärkte am feine 
Küfte und in den günftigften Berbindungen mit dem Inlande zu befigen. Ein 
Aufgehen der Hanſeſtädte im Zollverein würde ihrem Bertehr läfttge Fefſeln anf 
gelegt haben, unter denen fie bald zu Märkten zweiten Ranges herabgefunten 
wären. Einem flarfen, ftaatlih ein Ganzes bildenden Deutſchland ſich unterzuort- 
nen, ihm zu Liebe andy Beſchwerden zn übernehmen und ſich mit ben Erleichte⸗ 
rungen zu begnügen, die der Zwiſchenhandel überall anſprechen kaun, wären bie 
Hanfeftäpte wohl gern bereit geweien. Sie vor allen mußten e8 ja bei ihrem 
lebhaften Verkehr mit dem Anslande fchmerzli empfinden, daß die Achtung, bie 
dem Ganzen vorenthalten war, dem Ginzelnen nur wie ein Gnadengeſchenk ge 
währt wurde. Aber in dem lofen Berbande der veutfhen Staaten bie handel— 
politiſche Selbftändigkeit von Seiten der Hanfeftäbte aufgegeben zu ſehn, lag am 
wenigften im Interefie Deutfchlands und des Zollvereins. Man bedurfte gerade 
folder Organe, wo der Welthandel das erſte Interefie bilvete, zu deren Se 
rung fi alle Faktoren des Staatsweiene und alle Theile der VBenöllerung verd- 
nigten, wo weder dynaſtiſche, noch partilulariftiihe und büreaufratifhe, ſondern 
vorwiegend bandelspolitifche Geſichtspunkte die Maßregeln der be⸗ 
ſtimmten, und wo bie Geſetzgebung fich jedem Bedürfniſſe bes internationalen 
Verkehrs leicht anſchmiegte 25). 

Wie ohne Gebietserweiterung, ſo trat der Zollverein auch ohne weſentliche 
Aenderung feiner organiſchen Einrichtungen in die mit dem Jahre 1866 begin⸗ 
nende neue Bertrugsperiobe ein. Die Erneuerung der Berträge erfolgte abermals 
auf der Orundlage des preußiſchen Gefeges vom 26. Mai 1818 und des Grund⸗ 
vertrages vom 22. Mär, 1833. Über der alte Zollverein überlebte das zweite 
Jahr der neuen Periode it "Der Krieg des Jahres 1866 bereitete, wie bem 
beutfhen Bunde, fo auch dem deutſchen Zollverein ein jähes Enbe, glüdiicher 
Weife nicht, ohne beides durch gefündere, lebensträftigere Öeftaitungen zu erſetzen 

Bevor wir die Schöpfung, welche aus dem Abfchnitt VI der Berfaffung bes 
norbdeutichen Bundes und aus den Verträgen zwifchen diefem Bunde und ben 
ſüddeutſchen Staaten vom 8. Iuli 1867 hervorging, fowte die Leiſtungen bei 
neuen dentſchen Zollverbandes des Näheren fchildern, muß der Berfaffung, ber 
Handelspolitik, den wirihſchaftlichen Wirkungen und ben finanziellen Ergebnifies 
des alten Zollvereins wenigftens eine kurze Betrachtung gewidmet werben. 





2%, M. Wiggers, die Mediendurgiihe Steuerreform, Preußen und der Zollverein. Berk, 
1862, — »dremer Handelshlatte Ar. 718 nom 15. Juli 1865. »Der medienburg.-fran 
zoͤfiſche Handels⸗ und Schifffahrte⸗Vertrag.« 

35) v. Feſtenberg⸗P ackiſch a. a. O. S. 399 ff. — Vagl. auch die Den chrift: Bre⸗ 

»Wmwen und der gollvesein « Der Bremifcyen Handeldfanımer überreiätvon® .. emen, 1868. 





Zollverein. 1073 


1. Die innere Organtifation des alten Zollvereins. An ber 
nneren Organtfation des Zollvereins ift in den etwa 33 Iahren feines Beſtandes 
iichts Erhebliches geändert worben. Das Verhältuiß ver im Zollvereine verbun- 
enen Staaten war lebiglic ein völkerrechtliches Vertrggsverhältniß zwiſchen ſou⸗ 
veränen Staaten. Jeder überhaupt limmberechtigte Bereinsgenofle hatte eine volle 
Stimme; zu allen Beſchlüſſen über wichtigere Fragen war Einſtimmigkeit erfor- 
exlich; jener Genoſſe konnte duch Berfagung feiner Stimme jeven Beſchluß über 
olche Angelegenheiten vexeiteln. Die gemeinfhaftligen Angelegenheiten follten durch 
Bevollmächtigte der ſämmtlichen Vereinsregierungen in Konferenzen (General- 
konferenzen), bie jährlich flattfinden follten 26), verhandelt und erlevigt wer- 
en, foweit e8 nit auf dem Korrefpondenzwege gefchehen Tann. Auf dieſen Gene⸗ 
allonferengen wurben bie Gefhäfte völlig nach ben Formen und Ufancen bes 
iplomatifchen Verkehrs behanelt. | 

Die dem Bereine angehörigen Stanten wurben unterſchieden ale unmittel 
are und mittelbare Bereinsmitglieder. Unmittelbare Mitglieder des Ver⸗ 
Ins waren beim Beginne ber legten Bereinsperiode folgende: Preußen, Bayern, Sach⸗ 
en, Hannover, Württemberg, Baben, Kurheſſen, Großherzogthum Heflen, bie 
Staaten des Thüringen'ſchen Zoll und Hanvelsvereins (in ihrer Geſammtiheit), 
Braunfchmeig, Olbenburg, Naffau und (jedoch hinſichtlich des Stimmrechts be- 
chränkt) Frankfurt a. M. Diefe Staaten gehörten felbfländig dem Verein an, 
ührten in vemfelben felbftändig in Gemäßheit der mit ben übrigen Bereinsglienern 
jetroffenen Bereinbarungen vie Verwaltung, konferirten mit, einander, faßten Be⸗ 
chlüſſe mit einauder, und hatten bei den Verhandlungen über Zolle und Handels⸗ 
yerträge mit anderen Staaten unmittelbar ober mittelbar zu konkurrixen. Die mit- 
elbaren Mitglieder des Vereins, zu denen außer ber Mehrzahl ber unmittelbaren 
Mitglieder (welche in Betreff gewifler Gebietstheile nur mittelbare Mitglieder des 
Bereins waren) noch Heflen-Homburg, Walded und Pyrmont, bie Herzogthümer 
Anhalt, vie Yürftenthämer Lippe und Luxemburg, als Staaten, welche mit ihrem 
yanzen Gebiete im Verein ſtanden, ferner Medienburg-Schwerin unb Bremen 
jehörten, waren theild mit dem ganzen Geblete, theils mit einzelnen Gebietsthei⸗ 
en je einem der Vereinsmitglieder ſpeciell, und nur mittelft besfelben dem Ge⸗ 
ammtvereine, angefchloffen, und hatten fi in allen ven Verein betreffenden An⸗ 
jelegenheiten durch diefes Mitglied vertreten zu laſſen. 

Rah den Grundverträgen des Vereins foltten in dem Gebiete des legteren 
übereinſtimmende Geſetze über Ein-, Aus- und Durdgangs- 
Abgaben beftehen, jedoch mit Modifikationen, welde, ohne dem gemeinjchaftli- 
hen Zwede Abbruch zu thun, aus den Eigenthümlichkeiten ber allgemeinen Geſetz⸗ 
jebung eines jeden der theilnehmenden Stanten oder aus lolalen Iutereflen ſich 
318 nothwenbig ergaben. Namentlich follten in Betreff ver Ein-, und Ausgangs- 
abgaben für nicht für den großen Handelsverkehr geeiguete Gegenſtände — und 
es follten früher, fo lange bie Durchgangsabgaben noch befanden, aud in Be⸗ 
tweff diefer je nach dem Zuge ber großen Tranſitſtraßen — gewiſſe Abweichnn⸗ 
zen von den allgemein augenommenen Exrhebungsfägen fintuirt werden. 

Die Zollverwaltung and die Organifation der Zollbehörden 
var anf gleichem Fuße eingerichtet; aber fie ſtand nicht unter einer gemeinfamen, 
ondern unter ber alleinigen Leitung einer jeden Bereiusregierung innerhalb Ihres 





5, a find nur 16 ordentliche Generaltonferenzen abgehalten worden, welche G. Fiſcher 
. a. O. Bd. VIII S. 303 einzeln aufführt. 


Binnsf@li und Brater, Deuntſches Staats⸗Wöͤrterbuch. Zi. 68 


1074 Nachteng. 


Gebietes. Jever Vereintſtaat erhob vie gemeinſchaftlichen Einkünfte, welche in ie 
nem Gebiete auflamen; über den Ertrag derſelben mußten von allen Bert 
regierungen a — Nachweifungen, nicht nur am Schluſſe jedes Rechnunzt 
jahres, ſondern auch tm Laufe desſelben an beſtimmten Zeitpunkten geliefert wer 
den. Huf Grund derſelben erfolgten die Abrechnungen, indem diejenigen Gtooten, 
welche mehr, als ihren verhältnißmäßigen Antheil an ben gemeinfchaftlichen Ei 
fünften erhoben hatten, an biejenigen, melde gegen ihren Antheil in der eigenen 
Hebung zurückſtanden, Herauszahlungen leifteten. Die Abrechmungen waren thrik 
proviſoriſche, theils definitive. Die erfleren waren nothwendig, damit diejenizer 
Staaten, an welche Herauszahlungen erfolgen mußten, diefelben nicht erſt am 
Schlufſe jedes Rechnungtjahres, ſondern theilweiſe ſchon tm Laufe desſelben en 
pfangen konnten. Die Ueberſichten der in jedem Staate erhobenen Einkünfte mof- 
ten an das zu Berlin beftehende Centralbürean eingefandt werben, vwelchet 
auf Grund der aus allen Bereinsftanten gelteferten Nadmweliungen ſowohl bie pr- 
viſoriſchen vierteljährlichen Abrechnungen, als die definitive Jahresrechnung fertigte, 
bezüglich vorbereitete. : 

Die Zotlerhebungs- und Zollverwaltungs-Koften trug jeder 
Vereinſtaat für fi; nur für die Koſten der Bewachung an den Anfengemm 
und für die Koften ber Zollerkebang an viefen Grenzen wurben bie Betreffenten 
‚Staaten durch feſtgeſetzte Bauſchquanta entſchädigt. 

Die Bereinaſtaaten waren befugt, bie Geſchäftsführung der Zolldirektione 
und Hauptzollaäuter gegenſeitig zu kontroliren. Die Kontrole wurde ia 
der Weiſe geübt, daß nit wur an bie Bolldireltionen anderer Bereinoſtaater 
fogenannte Bereins-Benollmädtigte adgefgidt, fonvern auch ben Haupt: 
zollämtern an den Grenzen und den Hauptftenerämtern im Inneren anderer Bm: 
einsftanten fogenanunte Stationslontroleure beigeorbnet wurben. 

Das Zollgefeg, der Zolltarif und die Zollordnmung bifveten Inte 
grtrende Beſtandtheile des Vereinsvertrags. Keiner biefer integrirenden Beſtandihelle 
tonnte in irgend welchen Stücke abgeändert werben ohne gleiche Uebereinfiim 
mung aller flimmberechtigten Kontrahenten. Dasjeibe galt auch von dem gemein 
fhaftitgen Zolltartell gegen Schmuggel und Defraubation. | 

Das zur Ueberwachung und Ausbildung des Bertragsnerhältnifies befiumk 
Organ war nicht in Form einer ſtäͤndigen Behörde, ſondern in der Form yerle 
diſcher Konferenzen (der ſchon erwähnten Generalkonferenzen) kenftrair. 
Die Grunbverträge fisllen die Kompetenz dieſer Generallonferenzen folgendernaßen 
fer: Es gehört vor die Verſammlung ver Konferenze Bevollmächtigten: „a. bie 
handlung über alte Beſchwerden und Mängel, welche in Beziehung auf die Ink 
führung des Grunddertrages und ver beſonderen Ueberrinkünfte, bes Zollgelspel, 
der Zollordnung und Tarife, In uinem ober dem andern Bereinsflaste wahrge 
nommen, und die nicht bereits im Taufe des Jahres ta Folge der darüber yeb 
ſchen den Minifterien geführten Korreſpondenz erledigt worden ſind; b. bie befl 
nitive Abrechnung zwiſchen ven Vereinsſtaaten Aber die gemeinſchaftliche Eimahee 
auf Grund ver von den oberfien Zollbehörden aufgeftellten, durch das Gentsuk 
bäreau vorzulegenden Nachweiſungen, wie foldje der Zwed einer dem 
Intereffe angemefjenen Prüfung erheiſcht; c. bie. Berathung über Wanſche un 
Borfchläge, welche von einzelnen Gtantöregienmgen zur Berbefierung ber Derek 
tung gemacht werben; d. die Verhandlungen über Abänverungen des Zollgeieted, 
des Zolltarifs, der Zollorduung und ber Berwaltungs-Organifatton, welche von 
einem der kontrahirenden Staaten in Antrag gebracht werden, überhaupt Aber bi 








Soliveretn, 1075 


te Entwidelung und Ausbilvung des gemeinfamen Zoll⸗ und Handels⸗ 
yſtemo. 

Unter dieſen Gegenſtänden find einige, bei deren Erledigung die Bevollmäd- 
Hgten fireng au Inftrultionen ihrer Regierungen gebunden waren; VBeichläffe Aber 
folge Gegenftände mußten von allen Bereinsregierungen ratificht werden, um 
Bälttgleit zn erlangen. Die Erledigung der anderen Gegenflände war mehr bem 
freien Ermeffen der Bevollmächtigten überlaflen, und feste nicht nothwendig Ein- 
ſtimmigkeit anter fämmtlidhen Bereinsregierangen voraus. Mit Nädfiht auf biefe 
Begenftände war für den Fall, dag eine Berfländigung nicht erzieit werden konnte, 
Iiedsrichterliche Entſcheidung vorgefehen. Eine folde ſchiedsrichterliche Entſcheidung 
it jedoch niemals vorgekommen. 

Im Inmern des Vereins follte völlige Berkehrsfreiheit herrſchen. Es 
ſollte al6 Norm gelten, daß Gegenftände, welde fi im frelen Berfehre des einen 
Staates Befinden, ohne Weiteres auch frei in das andere Gebiet eingeführt werben 
Ihnen. Diefer Grundſatz erlitt jedoch die folgenden Ausnahmen: 

A. int Betreff der zu den Staatsmonopolten gehörigen Gegenftänhe, 
nsbeſondere der Spiellarten und des Salzes. Der Salzverleht war an ben 
Irenzen und Im Innern des BZollvereins zu Gunften des Salzregals mannigfad 
eſchräukt. So war 5. B. die Einfuhr von Salz aus Nichtvereinslänbern verboten, 
Ber, wo fie für eigene Rechnung einer Zollvereinsregierung geſchah; fo war die 
Zalzdurchfuhr nur unter Kontrole erlaubt, während die Ausfuhr in fremde Staaten 
vet war; fo war ferner im Innern die Ausfuhr aus einem In den andern Bereind- 
taaf nur erlaubt, falls die Staatsverträge zwiſchen ben betreffenden Staaten 
önäcditch feftftellten; fo mnften Salzfendungen von einem Bereinsſtaate in den 
tberen mit Päffen von öffentlichen Behörden begleitet fein; Salzbezüge eines 
ereinsflanted ans dem Auslande oder aus einem anderen Vereinäflante burften 
Ih nur anf beftimmten Straßen bewegen und mußten fi gewiffen Kontrolen 
mterwerfen; bei erheblichen Differenzen im Preiſe des Salzes in zwei angrenzen- 
en Staaten durfte an die Grenzorte des Staates, wo das Salz billiger war, 
avon nicht mehr verabfolgt werben, als der genau zu ermittelnde Verbrauch betrug. 
Der Berkehr mit Spielkarten war in dem bei Weitem größten Theile des gemein- 
saftligen Zollgebietes mehrfach gehemmt, oder do an läftige Beſchränkungen 
eknupft. 


B. konnten im Innern nicht beliebig frei ein- und ausgehen ſolche Ge⸗ 
enftände, welde einerAusgleihungsabgabe anterworfen waren. 
In Preußen waren die Innern Verbrauchsabgaben durch das Geſetz vom 8. Fe⸗ 
ruar 1819 beſchränkt worden anf: Inländifhen Branntwein, Braumalz, Weln« 
oft, Tabaksblätter. Diefe heilſame Beſchränkung IR ohne Widerrede in die 
zeſetzgebungen einiger ver nad) und nad dem preußifchen Zollverein fich an« 
hlleßenden Staaten übergegangen; aber eine Vereinbarung über gleihe Normi- 
ang diefer Abgaben hat nicht flattgefunden. Sie follte, nach Art. 11 des Vertrags 
om 22. März 1833, allerfeits angefirebt werben, ift aber nicht erfolgt. „Zur 
zermeidung von Nachtheilen, welche für die Probucenten des einen Staates im 
zerhältniß zu den Probucenten der andern Bereinsftaaten erwachſen würden”, 
‚ten fo lange das nach jenem Artikel anzuftrebende Ziel nicht erreicht jet, Ergän- 
ings⸗ ober Ausgleichnngsabgaben von Der, geſchrotenem Malz, Branntwein, 
abak, Wein und Temubenmon erhoben werben. Diefe Abgaben wurden laut Ver⸗ 
ag von 1833 nad dem Abſtande der gefetlihen Stener im Lande der Beſtim⸗ 
ung von der benfelben Gegenſtand betreffenden Steuer im Lande ver Herkunft 


68* 





1076 Nachtrag. 


bemeſſen, und kamen daher im Verhältniffe gegen diejenigen Bereinslande ganz in 
Wegfall, wo eine gleiche oder höhere Verbrauchsfteuer auf das nämliche Erzeng 
niß gelegt war. Nüdvergüätungen ber inländiſchen Staatöftenern jollten nad dem 
Bertrage von 1833 bei ber Ueberfuhr der fraglichen Gegenflände in ein auberes 
Bereinsland nicht gewährt werben. Durch den Ermenerungsvertrag vom 8. Mai 
1841 wurde das Syſtem der Uebergangsfteuern mobificht und einigermaßen ver 
einfacht. Diefelben beftanden feitvem nicht mehr als „Ausgleichungsabgaben“, d. }. 
fie normirten ſich nicht mehr nad der Differenz bes Betrages ber fremden Ber 
brauchsfteuer von der Inlänpifchen, fondern fie wurben beim Uebergange tm vollen 
Betrage ber inlaͤndiſchen Steuer erhoben und die Ausfuhrbonifilation, früher an® 
gef&hlofien, bildete feit 1841 bei diefen Steuern bie Regel 

Durch die legten Exrnenerungsverträge wurbe für die Zeit vom 1. Januar 
1866 ab die Uebergangsftener für vereinsländiihen Wein und Traubenmof 
befeitigt, indem diejenigen Staaten, welde eine ſolche noch erhoben, nämlich Preußen, 
Sadjen, Hannover, Kurhefien, Thüringen, Brannichweig und Oldenburg, fid 
verpflichteten, jene Steuer nicht ferner zu erheben. Diefe Staaten hoben gletchzeitiz 
von dem genannten Termin ab die bei ihnen beſtehende innere Weinbaufteuer auf. 

Um die Hemmungen des freien Verkehrs, welche aus der Berfchiedenheit der 
Befteurung Inländifcher Erzeugniffe entftehen, fo viel ala möglich zu befeitigen, 
wurden theils fchon gleichzeitig mit der Gründung des Zollvereins, d. h. im Jahre 
1833, theils fpäter, als ber Beitritt einzelner ten erfolgte, 
zwifchen mehreren Bereinsftanten abgeſchlofſen, welde entweder nur die Gleich 
biefer Beftenrung, oder zugleich bie Gemeinfeaft bes Stenerertrages unter ihnen 
berbeiführten. Die zu einem folden Steuerverbande gehörigen Vereinsftaaten 
bildeten den übrigen gegenüber ein geſchloſſenes Steuergebiet und wurden in An- 
fehung ber —— Uebergangsabgaben gleichmäßig zu erheben, als ein Ganzes 
betrachtet. Die Steuerverbände erfiredten fi bald auf alle Uebergangsabgaben, 
bald nur auf die eine oder andere derſelben. Beim Beginn ber legten Periode 
befanden innerhalb des Zollverein mehrere GSteuerverbänvde Es fand zufolge 
befien übereinftimmenbe Befteurung und freier Verkehr flatt: 

1. Hinfihtlih des Branntweines und Bieres zwiihen Preußen, Zurem- 
burg, Sachſen, Thüringen und Braunſchweig; 


2. binfichtli des Tabakes zwiihen ſämmtlichen sub 1 genannten Staaten, 


Hannover, Kurhefien und Oldenburg; 
3. binfigtlih des Branntweins zwilhen Hannover und Oldenburg. 

In jedem biefer Verbäude waren diejenigen Staaten, melde fib dem Zollinfteme 
eines ber Verbandaſtaaten mit ihrem ganzen Gebiete, oder einem Theile desſelben 
angeſchloſſen hatten, mitbegriffen. | 

Anlangend bie Inneren Verbrauchsſteuern, fo beftand ein dreifach verſchiede⸗ 
nes Verhältniß unter den einzelnen Staaten des Zollvereins: zwiſchen einigen 
berfelben fand eine mehr oder minder bebeutende Verſchiedenheit dieſer Befteurun; 
ftatt, fo daß von ihnen Uebergangsabgaben erhoben wurden; andere hatten gleich 
mäßige Steuern eingeführt, aber ohne Gemeinfhaft des Ertrages berfelben; zuwt 
[hen noch anderen trat bei gleicher Befteurung auch Thellung des Ertrages ein?”, 

C. Auch der Verkehr mit folhen Gegenſtänden war nit nur befchräuf, 
jondern geradezu verboten, melde ohne Eingriff in die von einem der Bereint 
flaaten ertheilten Erfindungspatente oder Privilegien nicht nachgemadt 


27) ©. Fiſcher a a. O. VII 280 ff. 


Zollverein. 1077 


ober eingeführt werben konnten, daher für die Dauer ver Patente und Privilegien 
von der Einfuhr in den Staat, welder biefelben ertheilt hatte, noch ausgefchloflen 
bleiben mußten. 

In den Grunbverträgen des Bereins find jedoch auch noch andere, als bie 
vorftehend unter A—C gedachten, den Verkehr innerhalb des Bereins- 
gebietes betreffende Beftimmungen enthalten. So befafien fich dieſe Verträge 
auch mit dem Verkehr auf den Fonventionellen Strömen. Derfelbe 
ſoll mögliäft frei fein, und Befreiungen, welde in dieſer Beziehung der eine 
Staat zu Gunſten der eigenen Unterthanen eintreten läßt, follen auch ben Ange⸗ 
yörigen der Übrigen Bereinäftaaten zu Gute kommen. So follen ferner im 
Bereinsgebiete feine Stapel» und Umfchlagdrehte mehr beftehen, und Nie 
nand ſoll zur Anhaltung, Verladung und Lagerung gezwungen werben kön⸗ 
en, außer, wo die gemeinfhaftlihe Zollordnung ober bie betreffenden gemein- 
chaftlichen Schifffahrtsreglements es zulaflen oder vorjchreiben. Werner: be⸗ 
tebende Begünftigungen einiger Meßplätze, namentlih Rabattprivi⸗ 
egien, mo fie etwa noch beftehen, follten nicht erweitert, vielmehr ihrer baldi⸗ 
jen gänzlihen Aufhebung entgegengeführt werden. Chauffee-, Pflafter-, 
Brüädengelber u. f. w. follten nur in den, den gewöhnlichen Herftellungs- und 
Interhaltungsloften angemefjenen Beträgen erhoben werben. Ebenſo durften nad 
ven Berträgen Ranal-, Schleufen-, Brüden», Fähr⸗, Hafen-, Bang, 
trahn- und NiederlagesGebühren, fowie Leiftungen für Anftalten, die 
ur Erleichterung des Verkehrs beftimmt find, nnr bei Benugung wirklich beſtehen⸗ 
er berartiget Einrichtungen von den Benützenden gefordert werben. | 

Die Bereinsftanten verpflichteten fi in den Grundverträgen, dahin zu wir 
en, daß bınd Annahme gleihförmiger Grunvfäge die Gewerbſamkeit beför- 
ert, und der Befugniß der Unterthanen des einen Staates, In dem andern Ar⸗ 
eit und Erwerb zu fuhen, möglihft freier Spielraum gegeben werde. Daher follten 
Irbeit und Erwerb Suchende des einen Staates in dem anderen möglihft auf 
leichem Buße mit den eigenen Unterthauen behandelt werden. (Beiläufig gefagt, 
at diefe, wie fo manche andere In den Bollvereinsverträgen eingegangene, aus⸗ 
rüdlihe Berpflichtung nie zu irgend einem nennenswerthen Ergebnifje geführt. 
)as war andy beim angel jever erefutiven Gewalt durchaus nicht zu erwarten.) 

Hanpdelstonfulen des einen Staates follten fi ber Interefien der ande 
n, am gleihen Plage nicht vertretenen Staaten — mit annehmen. (Aber 
a die oft und eindringlich erhobene Forderung der Errichtung gemeinſchaftlicher 
andelskonſulate hat man bei Schließung und Erneuerung ber Örundverträge nie 
nſtlich gedacht.) 

Alle dieſe Beftimmungen fehleppen fi in ziemlich unveränderter Form durch 
Ie Berträge hindurch. Um bie Beobachtung aller berer unter ihnen, welde nicht 
gentlich die Zölle und inneren VBerbraudsftenern betreffen, hat man fich nie 
nftlidy bekümmert. 

Der Tarif bat in feiner Anordnung und Einihtung im Verlaufe der Zeit 
ehrfache Aenderungen erfahren. Beim Beginn der legten vollen (zwölf⸗ 
brigen) Bertragsperiode (1. Ian. 1854) war die Einrichtung folgende: 

Der Bereinszolltarif zerfiel in 5 Abtheilungen und einige Beilagen. 

Die erfte Abtheilung führte die Gegenftände auf, welche von jeber Berzol- 
ng frei bleiben follten. Die Abtheilung enthielt 29 Bofitionen. Die Zollbe- 
etung befchränfte fich im Wefentlihen auf gewifle Produkte der Land» nnd Forfte 


1078 Hadireg. 


wirthfhaft und des Bergbaues, auf gebrauchte Gegenflänbe und auf den ren 
verfehr mit einigen anbern Gegenftänpen. 

Nah der zweiten Abtheilung des Tarife follten alle im letzteren nidt 
ausprüdlich genannten Artikel einem allgemeinen Cingangszoll von 15 Gyr. pro 
Centner Bruttogewicht unterliegen. Der eigentliche Tarif enthielt 43 Haupt 
Hoffen. Für 160 verſchiedene Artikel nnd bezügl. Gattungen von Artikeln waren 
für die Einfuhr, für 19 dergleichen für die Ausfuhr-Berzollung beſondere Zoll- 
füge angegeben. Die Zahl der der Beſteurung unterliegenden und beim Cingange 
behufs der Klaffififation fpeciell zu deflarirenden Waarenartitel beitrag ungefähr 
2500! Der niebrigfte Einfuhrzoll Betrug 7/, Sgr. (Heidekorn), ber höchſte 110 
Rthlr. pro Eine. (Kleider und Wäſche), vie Ausfuhrzölle bewe fig wilden 
11/, Sgr. und 2 Rihle. pro Ctur. — Die Bergollang geſchah im Weſentlichen 
nach Gewicht, nur bei einigen Gütern nach der Stüchzahl. 

Für den Durchfuhrverkehr (dritte Abtheilung) wer der Sag non 
15 Sgr. die Megel; für Thiere varlirten jedoch die Zollfüge zwiſchen 5 Sgr. and 
1 Rthlr. 10 Sgr. pro Stück. Hinſichtlich dieſer Abgaben beflanden auch gemiji: 
Ausnahmen für beflimmte Staaten. Erſt im Berlaufe der fraglichen Bertrags- 
periode (1853—65) haben die Zollvereinsregierungen ben von allen Geiten 
verlautbarten, durch alle hervorragenden Organe ber öffentlichen Meinung ie 
Deutſchland Iahre lang konſequent wiederholten Beſchwerden über bie großartigen 
Nachtheile, welche dem deutſchen Verkehrsleben durch bie Durchfuhrzölle verurſacht 
wurden, Gehör gegeben. Am Schluſſe des Jahres 1860 vereinigte man fich in 
Folge der auf der Karlöruber Konferenz der Rheinuferftanten gefaßten Beſchlüffe 
barüber, daß dieſe Zölle und die an Stelle berfelben zur Erhebung gelamgenden 
Ausgangszölle vom 1. März 1861 ab befeitigt werben follten. Bon bem gebad- 
ten Tage an wurden alfo alle vie Durchfuhrzölle betreffenden Beflimmungen ber 
Zollvereinsverträge außer Kraft gefegt und kannte ber Vereinstarif nur noch Ein- 
und Ausfuhrzöle, 

Hiufigtlih der Schifffahrtsahgaben auf ben Fonventionellen Strömen 
ſollte es (nach Abtheilung 4 des Tarif) bei den Beflimmungen ber Wiener 
Kongrekalte bewenden. 

Die fünfte Abtheilung enpli enthielt allgemeine Beftimmungen Aber bie 
Technik der Berzollung, insbeſondere Über ven Begleitſcheinverkehr u. ſ. w. 

In den Beilagen waren bie befonderen Abweichungen vom Zarif und ber 
Bergellungaart aufgeführt, welche Bayern und Württemberg zugeſtanden werben 
waren. Diefelben betrafen nur den Ein- und Ausgang von Getreide und bie 
Holzausfuhr. 

Die Aenderungen, welche der Vereinszolltarif, auch in feiner Außeren Ein⸗ 
richtung, beſonders bei Gelegenheit des Abſchluſſes des deutſch-franzöfiſchen Ha 
delsvertrages, erfuhr, wurden buch ben legten Erneuerungvertrag in 
allen wefentlihen Punkten fanktionirt. Diefer neuefte, im Wefentlien feiner üuke 
ren Einrichtung wach noch heute beſtehende Tarif ift einfacher und rationeller, als 
ber, welcher für ven Zollverein während feiner längften Dauer maßgebend geme- 
fen if. Er hat nur drei Wöthellungen. Die erfte enthält zuvdrderſt „Beflimmun- 
gen über die Einfuhr" (Vorbemerkungen), d. 5. eine Aufzählung der Gegenſtände, 
welche unter gewifien Borausfegungen, und ver VBoransfegungen, unter benen tie 
erfieren vom Eingangszolle frei bleiben follen. Sodann enthält fie den Zarif, 
ber infofern einfacher geworben iſt, als bie Rubrik für den Ausgangszoll wegge · 
fallen if, Eine neue Sauptpofition iſt in den Eingangszolltarif eingeführt, burg 


Sollverein, 1079 


velche bie alte fogenannte „Allgemeine Eingangsabgabe“ befeitigt wird. Die Po- 
ition 44 des Tarifs Iantet nämlich: „Wrtilel, welche unter keinen der vorſtehen⸗ 
en Nummern begriffen find... frei.” Berzollt wird alfo jest, was im Tarif 
ür zollpflichtig erklärt wird, fonft weiter nichts; ja unter ben im Tarif genann- 
en Gegenflänven nicht einmal alle unter allen Umftänben. Auch der Tarif an ſich 
ourde durch manche Mopffilstionen einfacher und überfichtliher. Die zweite 
Ubtheilung behandelt in wenigen Zeilen ven einzigen übrig gebliebenen Aus» 
‚angezoll, den Tumpenzoll, Die dritte Abtheilung gibt die bisherige 
ünfte Abtheilung mit einigen Aenderungen wieber, welche durch die — mit Aus- 
rahme Bayerns — Überall erfolgte Einführung des Zollgewichts als Landesge⸗ 
bicht und durch die Aufhebung der Durchgangsabgaben bedingt find. 

Es würde uns zu weit führen, wollten wir an dieſer Stelle auch auf bie 
{8 integrivende Beſtandtheile der Zollvereinsverträge behandelten Gefege und 
Reglements (Zollordnung, Zolfftrafgejeg, Kartell u. f. w.), fowie auf die Beſtim⸗ 
nungen im Betreff ver Waarendeflaration und zollamtlichen Abfertigung eingehen 28). 

Die Orundlage der finanziellen Dispofitionen ber Örundverträge 
‚ed BZollvereins waren die folgenden: Die Zollrevenien follten ben Vereinsſtaaten 
jemeinfhaftlid zu Gute fommen; dem privativen Genuſſe der Vereinsftan- 
en follten Fe vorbehalten bleiben: 1. Steuern, melde im Innern ber Staaten 
von inländiſchen Erzeugniffen erhoben wurden, ausfchließlich jedoch der Rübenſteuer, 
ber einſchließlich der Mebergangsabgaben; 2. bie Waflerzöle auf den Binnen- 
lüfſen; 3, die Chanffeeabgaben, vie Pflafter-, Damm-, Brüden-, Fähr⸗, Kanals, 
Ichleuſen⸗, Hafengelvder, die Waage und Niederlagsgebühren u. |. w.; 4. die 
zollſtrafen und Konfisfate. 

Der Ertrag der in die Gemeinfhaft fallenden Abgaben warb, nach Abzug 
. ber Erhebungs⸗ und Berwaltungstoften, 2. der Rüderftattung für etwaige un- 
ichtige Erhebung, 3. der auf dem Grunde befonderer gemeinfhaftlicher Berabre⸗ 
ungen erfolgten Stenervergütungen und Grmäßigungen — unter bie Bereins- 
aaten nad dem VBerhältnig ihrer Bevölkerung vertheil. Zur Ermittelung ber 
Jevdlferungszahl waren alle drei Iahre Zählungen nad übereinftimmenden 
Srundfägen vorzunehmen. Bergünftigungen für Gewerbtreibende hinſichtlich ber 
zollentrichtung follten nur unter geniffen Bedingungen bewilligt werden Tünnen, 
nd, wo fie bewilligt wurden, der Kafle des bewilligenden Staates zur Laſt fallen. 

Dei der Bertheilung der gemeinfhaftlihen Einnahmen (Fin- und Muegenge- 
(bgaben und Rübenzuckerſteuer) wurde die Bevölkerung von Hannover und Olden- 
urg feit der Aufnahme diefer Staaten in den Zollverein 5i8 zum 31. Dec. 1865. 
nſtatt einfach 1°/,-fah und die Bevölkerung von Frankfurt a. M. feit dem 
eintritt diefer freien Stadt in ven Zollverein bis zur Auflöfung bes alten Zoll 
ereins anftatt einfach 42/ fach gezählt. Wir willen, daß die Gewährung jenes 
zräcipuums an Hannover und Oldenburg ein Kaufpreis war, zu befien Bewilli⸗ 
ung Preußen ſich verftehen mußte, als ihni — während der erften großen Zoll 
ereinskriſis — an einer Berftändigung mit Hannover Alles gelegen war. Bei der 
Bieperernenerung ber Zollvereinsverträge hatte Hannover wenig Ausfihten auf 
Biedererlangung des Präcipuums. Aber auch diesmal galt es, ſich diefen Staat, 
er, wie wir gefehen, im Bunde mit Kurheflen, Bayern, Württemberg xc. ber 





38) Prof. namentlich) über die Ieptgenannten Gegenſtände: K. SA re der neuefle, vom 
. Zuli 1865 am gültige Tarif u. f. w. Bremen 1865 ©. 1 ff., und die Denkſchrift der Hans 
elötammer zu Leipzig, betitelt: »Das Zollparlament gegenüber eimer neuen Zollvereinsgeſetz⸗ 


ebunge, Leipzig, 1868 


n 


1080 Nachtrag. 


Annahme des deutſch⸗franzöfiſchen Handelsvertrags lange widerſtrebte, willig zu 
machen. Es wurde daher * und Oldenburg abermals ein Präcipnum bewilligt, 
aber in anderer Form, als bisher. Erſtlich follten an den Erträgen ber Rüben- 
zuderfteuer pie Bevblkerungen biefer Staaten nur einfach betheiligt werben, umb, 
was bie anderen gemeinſchaftlichen Einnahmen betraf, fo verpflidtete man fi 
nur zur Garantie eines Kopfbetrefiniffes von 271/, Sgr. Ergab die einfache 
Kopfvertheilung der gemeinfchaftlihen Einnahmen für Hannover und Olbenburg 
nicht diefen Sag, fo mußten die Revenden-Antheile verjelben foweit ans ber Ge⸗ 
meinfchaft ergänzt werben, bis jenes Kopfbetreffniß erreiht war. 

III. Der banvelspolitifhe Charakter des alten Zollvereins. 
Die preußifche Steuergefeßgebung von 1818 ging Hinfichtlih der Zölle und Ber- 
brauchsfteuern u. U. von dem Orumbfage aus, daß die zu beſteuernden Artilel 
auf eine Kleine Zahl zu befchränten, und zwar nur ſolche Gegenflände zur Be 
fteurung herbeizuziehen feien, welche einen geringen Aufwand in ber Erhebung 
und wenig Kontrole gegen die Steuerpflidhtigen erforbern. 

Wie wenig man im Zollverein dieſen verſtändigen Grundſatz zu verwirklichen 
vermocht hat, geht aus der im vorigen Abſchnitt bezäglih der Zahl der ſpeciell 
zu deklarirenden Waarenartifel gemachten Angabe hervor. Und unter biefer großen 
Zahl von Artikeln befanden ſich doch nur einige wenige, ‘von denen man fagen 
tonnte, daß fie einen nennenswerthen Beitrag zu ben Solfeintänften ieferten. Im 
Jahr 1855 brachten 19 einzelne Artikel 869/, der ganzen Zolleinnahme, 1857 waren 
es gar nur 18 Artikel, welche 90.39%/, der Gefammt-Einnahme ergaben. Im 
J. 1862 waren es nur 7 Artikel, nämlich Zucker, Kaffee, Eifen und Eiſenwaaren, 
Tabak, Baumwollengarn, Wein und Wollenwaaren, welde über Einen Sgr. per 
Kopf der Bevölkerung zur Zolleinnahme beitrugen. Diefe Artikel lieferten über 
drei Diertel der Zollrevenäm. Nah einer auf Grund der Kommercialnachweifun- 
gen aufgeftellten Ueberfidht für das Jahr 1863 Betrug in biefem Jahre die Ein⸗ 
nahme von den Eingangsabgaben 25,651,544 Rihlr. Bon dieſer Summe waren 
24,923,744 Rthlr. oder 97.1630/, von ber Einfuhr einer jehr Heinen Anzahl 
von Artikeln erhoben worden. Es brachten über 260/, der ganzen Einnahme vie 
Artikel: Kaffee und Kakao, über 100/, der eine Artikel Tabak; mehr als 8 um 
weniger als 10%/,: Eifen, Stahl und vergleihen Waaren (nämlich 8.5520/,), und 
Zuder und Syrup (nämlih 8.1090/,). Es folgen Wein und Moft mit 6.014, 
wollene Waaren mit 4.913, Süpfrühte mit 3,697, Seide und Seidenwaaren 
mit 3.858, Neis mit 3.2710/,; die Artikel: Baummollengarn, Häringe, Gewürze, 
Leinengarn und Teinenwaaren, Branntwein, Droguerien und Farbewaaren, Vieh, 
baummollene Waaren, Del in Fäflern und Fleifh gaben zwiſchen 1.953 und 
1.2409%/,. Die bisher genannten Artikel Iteferten bereit? zufammen 90.0410/, ver 
gefammten Eingangszoll-Einnahme, Die übrigen 9.0590/, vertheilen fi auf 46 
eigens namhaft gemachte Artikel und Pofitionen und auf die Artikel und Poſitio⸗ 
nen der am Schluffe ver Nachwelfung enthaltenen Rubrik: „Objelte, welche vor- 
ftehend nicht genamnt find.“ 

Wfo man behelligte den Verkehr mit einem überans komplichten Tarif, def 
jen meifte Pofitionen nur verſchwindend Meine Beiträge zu ben Bolleinnahmen 
lieferten. 

Nah den, bekanntlich für den Zollvereinstarif normgebenden verhältuigmäßiz 
fehr freifinnigen Grunvfägen, melde die preußifhe Steuerreform von 1818 be 
ftimmten, follte die von fremben Waaren bei deren Berbleiben im Lande zu 
erhebende Verbraucheſteuer bei Yabril- und Manufalturwaaren des Wuslandes 








Sellverein. 1081 


cha vom Hundert des Durchſchnittopretſes in der Regel nicht Überfleigen, ' aber 
berail ba geringer fein, „wo es unbeſchadet der Inlänbifchen Induſttie geſchehen 
Inn,‘ , 1 . f 
Bon diefem Ziele hat ſich der Zollvereinstarif bie zur legten großen Krifie 
mmer mehr entfernt. Derjenige Theil biefes Tarifs, welder durch Einfuhrzolle 
on höochſtens 109/, des Preifes der inlänpifhen Gewerbſamkeit einen Schatz 
emwähren follte, hat eine —— gar nicht, dagegen zahlreiche und: beträdyte 
he Erhöhungen im Laufe der Zeit erfahren. Beiſpielsweiſe warde durch eine, 
rfpränglih nur als proviſoriſch betrachtete, fpäter aber lange Zeit nicht wieber 
urüdgenommene Seliechögung für fogenannte Halbfabrilate (Twiſt, Elfen ꝛc.) 
In Theil der Probuftion zu Bunften eines anderen erhöhten Steuern unterworfen. 
Inden Jahren von 1837 bis 1862 traten Zollermäßignngen nur ein 
Ür: Kupfer, Eiſenblech, Seife, Zuder, Syrup, Kaffee, Kakao, Gewärze, Dregum, 
xobe Zinkwaaren, Kurzwaaren, Porzellan, Sranzbranntwein, Baumdl, Tabaks⸗ 
(ätter, Thee, Wein in Fäffern, Talg, Mählenfabrilate. Dagegen Zollerhö- 
angen für: Leinenzwirn, Weißblech, Eiſendraht, gefürbtee Baumwollen⸗ uub: 
Bollengarn, gefärbte Seide, Seidengarn, feine Zint- und Karzwaaren, Eizarren, 
Hfenwaaren, Wollenwaaren, Roheiſen, Handſchihe, Franzbranntwein, Tapeten, 
wiſte, Leinengarn, Leinenwaaren, Korbflechterwaaren, Fourniere, Baſt⸗ und 
Arohhlte , Bacıstaffet, Muhlſteine, Gummimnaren, Lichter, Hefen, halbſeldene 
orten. - 


' Unter den Artikeln, deren Zoll erhöht wurbe, find die meiften folche, bezüg⸗ 
ch deren wer freihändleriſche Norden gewichtige Konceſſionen, unter denen, deren 
yoll ermäßigt wurde, ſolche, bezüglich deren der ſchutzzöllneriſche Suden pülsftige 
ʒegenkonceſfionen gemacht hat. Ans Konceſſionen und Gegenkonceſſionen eutſtauden 
nige magere Verbeſſerungen und viele ſtarke Verſchlechterungen des Tarife — 
as war das Wert einer bald dreißigjährigen Arbeit widerſtrebendet Elemente, 
ner Arbeit, an der die beſten Kräfte im Hinüber⸗ und Herübermarkten, in Wah⸗ 
ıng und Belimpfung von Sonderintereffen vergendet wurden!) 

User auch die Tariffäge, die im Laufe der Zeit nicht veräubert wurden, 
fprachen natürlich fpäterhin Teineswegs mehr den dem preußiſchen Tarif von 
B18 zum Grunde liegenden Anfordernngen. ‚In Folge der in den legten Jahr⸗ 
Hntet vor fich gegangenen erheblichen Preisermäßigung namentlih aller Fabrik⸗ 
zeugniſſe wurde durch Feſthaltung von Zellfägen, die früher nur etwa 10%), 
s Durchſchnittspreiſes vepräfentixten, fpäter die Einfuhr mancher Artikel geradezu 
:ohibirt, und jene umveränderten Zolljäge tepeäfentirten fpäter faft überall be⸗ 
ühtlih mehr, als nur '100/, des Durchſchnittopreiſes. Nah der oben eltirten 
ufftellung betrug im Herbft des Jahres 1862 der Durchfchninsprteis von Baum- 
ollenwanren I. Klaſſe 46 Rthle., von folhen III. Klaſſe 222 Rihlr., ver von: 
zollenwaaren III. Mlaffe 220 Rihlr. pro Ctur. im Anlauf vom Auslande. Der 
mals für dieſe Artikel geltende Zollſatz von 50 Rthlr. pro Cie. beteng alfe 
39,224/, und bezüglich 23%), des Durchſchnitispreiſes. Der damalige Zollſatz von 
Kthlr. pro Ctur. für Winkeleiſen, deffen Durchſchnittspreis ſich auf 3.9 Rihlr. 
o Ctur. ſtellte, betrug 770/,, für Eiſenbleche und Platten, bei 4.7 Rthlr. "Dwed- 
mittspreis, 63.80/0 | | rt 


29) 29 über die Tartfpofitit des Zollvereins bie im Eingang diefes Auffapet citirte Schrift 
> Derf. &, 57 ff. und den fchon cifirten Bericht der vereinigten Kommifflonen für Handel umd 
werbe und für Finanzen und Bde Über den den beiden Häufern des preuß. Landtags vor⸗ 
‚egten deutffranzöflfchen Handelsvertrag. S. 6 ff. J 





1082 Radieag. 


ı &8- If. eine belannte Thatſache, 33 bee Tarifpolitik des Zollbetreins mc 
und che ſchuwzoͤllneriſche Tendenzen die Herrſchaft erlangten, was ſich theüs is 
ben Tarifaͤnderungen, theils in ber der erfolgeeidhen Abwehr von auf Tartfermäßtgum 
gen gerichteten Veſtrebungen zeigte, Lehrreich in biefer Bezlehnng iR befonbeus bie 
Geſchichte ner Twiſt⸗ und Eiſenzölle im Zollverein. Noch vor dem Ablauf ber 
Periode ABS gs; kam aber — allerdings nur unter dem heftigſiſen Widerreben 
ter reformfeindlichen, namentlich einiger ſüddeutſchen, Staaten — ein friſcherer 
—* in die Terkfpolitif, Mit Recht beguüßten alle frethännleriihen Giemente den 

* den Zollvereias an das Syſtem ber weſteunropäiſchen Verträge als einen 

zur Wleperaufnahme der alten kulturgeſchichtlichen Miſſton dieſes Vereins 0) 

Um la weifet der in Folge dieſes Unichlaffes veformiste Zarif, mit welchem 
ber Bollgerein: in die 1866er Beriode. eintrat, eine fo große Zahl rationeller Ber 
befierungen auf, wie -fie währen ber ganzen Dauer bed Zollpereins bis bakke 
wit hatten, ermöglicht werben Tännen 31), 

- Wie an der gedeihlichen, ſchritweiſen Fortentwickelung feiner Infltutiowen 
nnd am berzeiägemäßen Reform feines Tarifes, fo hat ven Zollverein auch an 
einer Innftunlen Bertretung der wirtbfchaftlihen Intereſſen der Zollyereingangehö- 
rigen im Aualande und an einer glüdlichen, erfolgreichen Behandlung der änufe 
ven Sanbelspolttif- bie —* feiner Verfaſſung und fein ansgepraͤgi 
ſtaatenbundlicher Charalter ſtets ‚gehindert. Freuden Staaten gegenüher ſehrn mis 
vr erft von dem Augenblide an glücklich operiren, wo Preußen, ee unter 

ber Zeſtrarung ber Mehrzahl feiner Bunpesgenofien, und gedrängt vumch fein 
eigenes politiſches Mactberiixfnib, die Wition felbRäubig zu übernehmen begamı 
— wir weinen die Beitm, in welchen ber Anſchluß ou das Syſtem ber weft 
ontapälichen Bertraͤge angebahnt und pollzogen wurde. Oeſterreich gegenüber hat 
ber Verein allerdings von dem Zeitpankte an, mo dieſes feine antagoniſtiſchen 

Befſtrebungen geltend machte, meft glüdtich operirt; die auf eine fpätere Zolleini⸗ 
guug vermeilenden Kinufeln bes Februarvertrages und bie bifferenciellen Zollbe⸗ 
gänftigungen, welche in dieſem Bertrage Defterreich zugeſtanden warden, waren 
nur eine fehr bürftige Abſchlagszahlung auf bie von ihm und feinem —** 
noſſen exhobenen extravaganten Forderungen. — Uber auch in den O 
mit Oeſterreich war Preußen vor allen. Dingen pollitiſch engagirt und hütete ——— 
wohl, die Jmitiattpe feinen Händen entwinden zu laſſen. Und fauer-genug if ihm 
an in dieſem Verlehre das Leben dadurch gemacht worden, daß jeber Schritt an 
Die Sanktion feiner Zollverhündeten, Die öftend nur durch Drohung ber Kündi- 
gung oder wirkliche Kündigung erzwungen werben lonate, gebunden or. 

Im außerdeutſchen und —— Europe, ſowie jenſeits des Dcesas 
wurde der Verein allerdings mehr gun mehr als eine Macht anerkaunt. Den 
Frauzoſen, Englaändern, Riederländern, Belgiern, Amerikanern verlörperte ſich 
mehr und mehr der dentſche Band im beutfchen Zollverein. Es wurde dort nicht 
etma von ber Handelabewegung und der Induſtrie der deutſchen Bundegſtaaten, 
weht aben von ver Haubeldbewegumg und ber Inbufirte den deutſchen Zollwereint 
geſprochen. Wein, ſobald ingend einge jener Handelaſtaaten mit, diefem dentſchen 
Zeileerein in irgend welche offickelle Verhandlungen einzutreten. ‚ da ergeb 
es fi alsbald, daß er es nicht mit einem einheitlich organifirtem an thas 


30) Von diefer Auffaffung der Sache iſt auch ber peeußifihe Kommiffionsbericht über Inn 
Beulen anöfiigen Handelövertrag durchdrungen. Vgl. 4 

*) Bral. den zufop »der neue e Bollereinverisag und Larife in Nr. 702 des Bıema 

Gandelöblat ed vom 25. März 1865 











Zollgareig. 2088 


kete daß biefem Berein der einheitliche Wille und die GEhsheit der Erekutiye fehlte, 
je war. benn aud der Brund eines Maugele, des nicht tief genug : beklagt 
werben konnte, eines Mangels, deſſen Befeitigung ſelbſt unbeſchedet Yes zeim pöl⸗ 
ferrehtlühen Charalters des Bereins rent wohl zu ermöglichen geweſen wäre, h 
deſſen Beſeitigung aber von ben Vereinsgliedern, affenbar ans übertriebener Aengfi« 
lichkelt in Bewahrung ver sigenen Spuperänetät, ‚nie emflihe Schritte gethan 
worben find — mir meinen ben Mangel einer einheitlichen konſulariſchen Ver⸗ 
Ueberhaupt iſt bei Schl der Grundverträge des Zollvereins darauf, 
daß derſelbe als Ganzes im Welthandel aufzutreten und als eine Handelsmacht 
zu geriren haben werde, gar nicht Rückſicht genommen morden. Laſſen es dech 
alle jene Verträge dabei bewenden, daß ea bie Apfiht der kontrahixenden Staaten 
ji, „für bie Beförderung der Frelheit des Handels und gewerblichen VYerkehrs 
wiſchen den beihelligten Staaten, und hierdarch zu in Deutſchland über 
haupt“, aber nicht auch „für die Beförderung des Weltverkehrs her verbundenen 
Staaten", weitere Fürſorge zu treffen, Bis in die ſechsziger Jahre war es, Tanz 
nan jagen, beinahe Ausnahme, wenn irgend eine handelspolitiſche Transaktion wes 
— 7 — mit andern Mächten zu einem günfligen Erfolg für den erſteren führte, 
[8 eiu — Mißerfolg iſt der Abſchluß des Zoll⸗ und Handelsvertrags 
nit pen Niederlanden vom 21. Ian. 1839 zu betrachten. In jener Zeit, in 
velher jebes einer auswärtigen Macht gewährte Zugeſtaͤndniß als ein felbflauf- 
tlegtes Opfer angefehen und das Geſchaͤft für ungünftig gehalten wunhe, wenn 
ngn nicht mindeſtens gleich werthvolle Gegenzugeftändnifle exhielt, erſcheint 
ener ‚ in dem bie holländiſche Zuderrinfahr nach Denthland monopoli⸗ 
irt, dem Zolſverein aber dagegen kein irgend werthvolles Zugeſtändniß gemacht 
yurbe, geradezu als ein Löwenvertrag für hen legteren. Im Laufe bes Jahres 
841 wurde er denn auch von Seiten. des Zollverein gekündigt. 

Der länger als zehn Jahre dauernde Zollfiieg wit Belgien, welcher im 
ahre 1844 zu einer völligen Lahmlegung bes beiderjeitigen Berkehrs führte, iſt 
in weiteres Beiſpiel für die Unfähigfeit des Zollvereins zu Artigen vr 
olitiigen Altionen, Jener Zollkrieg wurde endlich durch den Handels und Echiff⸗ 
ihrtspertrag vom 1. September 1844 beigelegt; aber auch dieſer Berireg war. 
ur eim ſehr ſchwaches, wenig bauerhaftes Machwerk; er.wurbe nom 1. Sept. 
854 ab nicht mehr erneuert, Fortan hatte der Zollwerein, der im Waarenverlkehr 
Jelgien nad) feinem allgemeinen Tarif behandelte, dort. nicht mar mit ben hohen 
jägen des allgemeinen helgiichen Tarife, fondesn auch mil der begänfigten fran⸗ 
jfiſchen Konkurrenz auf dem für ihn fo wichtigen beigifhen Marite zu: kämpfen. 
nb vn Jahre ‚lang wurde es in keiner Weiſe verfucht, dieſem Mißverkältuifie 
quhelfen. J 

Ein, auch zu Anfang bee vierziger Jahre, zwiſchen dem Zollverein und den 
ereinigten Staaten von Nordamerila verhaud Vertrag, durch welchen 
r erſtere für verſchiedene Erzeugniſſe feiner Juhuſtrie Zollbegünftigungen in 
nerilg zu erlangen ſuchte, mährenb von ihn Ermäßigrug des Zolls anf meh⸗ 
:e amerikaniſche Rohftoffe angeboten wurde, erlangte die Ratifitation bes Senates 
er Union nidt, 

Auch der Bertrag mit Großbritannien nom 2. März 1841 unb ber in 
» Jahren 1842-45 zwiſchen Preußen und England geführte Notenwechſel über 





38) Vrgl. hierüber R.Quehl ndas preußifche und deutfche Konſularweſen.« Berti 1863. 


1084 Nachtrag. 


Zoll⸗ und Schifffahrts⸗Angelegenheiten war keineswegs geeignet, bie Sanbelspelkil 
des Zollvereins in erfreulichem Lichte erſcheinen zu lafien. Nirgends Hat diefelbe bis 
zum Eintritt in die weftentopäifchen Verträge Eorbeeren gepflädt 32). 

IV. Einfluß des Zollvereins anf die induftrfelle und mer- 
kantile Entwidlung Deutſchlands. Es ift gewiß ein Zeichen von großer 
Energie und induftrieller Befähigung, wenn es ber Zollvereinsbevölkerung gelun- 
gen iſt, troß der hänfigen Bereinstrifen, trog des irrationellen Tarif, troß ber 
mangelhaften auswärtigen Handelspolitik, zu einer namhaften induſtriellen Madt 
ſich aufzufhwingen,.und einen Immer fleigenden Antheil am Welthandel zu gewinnen. 

In welchem Maße die der Fall gewefen, und welchen Einfluß überhaupt 
ver alte Zollverein anf die Entwickelung der‘ Induſtrie und des Verkehrs im 
Deutfhland ausgeübt hat — dieß möge im Nachfolgenden wenigftens an einigen 
Beifpielen gezeigt werben. Die Handels⸗ Induſtrie⸗ und Verkehrsſtatiſtik des Zoll» 
vereins IA zu mangelhaft 3), ala daß man ein vollſtündiges Bild biefer Ent⸗ 
widelung in einigen Turzen Zügen zu entwerfen vermöchte. Allein bie nachfolgen- 
den Daten werben hinreichen, um wenigftens fo viel erfennen zu laffen, baß ver 
Zollverein das dentſche Wirthfchaftsichen in den wichtigſten Beziehungen mädhtig 
geiörbent, daß er auf dieſem Gebiete Früchte gezeitigt hat, wie fie nur anf dem 

n bes freien Berkehrs zu reifen vermögen. Ob freilich diefe Früchte unter 
ben Segnungen eines liberaleren Grenzzollſyſtems und unter dem Schuge einer 
kräftigen und einheitlichen Handhabung der äußeren Hanpelspolitit nicht noch viel 
üppiger gebichen wären, das iſt eine andere Frage. 

Nach zuverläffigen Werthabſchätzungen erhob fich die Zolluereinseinfihr au 
Ganzfabrikaten von 14.706 Millionen Thalern oder 18.8 Sgr. pro Kopf ber 
Bevbllerung im Jahre 1834 auf 35.102 Millionen Thlr. oder 31.3 Sgr. pro 
Kopf im Jahre 1858, nachdem fie fon im 3. 1857 nicht unerheblich höher ge 
wejen war. Für das Jahr 1864 gibt Bienengräber a. a. DO. eine Ganzfabrikaten⸗ 
Einfuhr-von 38.015 Millionen Thir. oder 27.5 Sgr. pro Kopf per Bevölkerung am. 
Während jo die Einfuhr in diefen Gegenfländen anfänglich ſtieg, daun aber all- 
mälig fid, verringerte, wu die Ausfuhr im venfelben Artikeln ziemlich Tonftant. 
Sie betrug 83.719 Mil. Thlr. oder 106.9 Sgr. pro Kopf der Bevölkerung 
im J. 1834, 203.683 MN. Thlr. oder 182.2 Sgr. pro Kopf im J. 1858, 
194.355 ME. Thle. oder:162.4 Sgr. pro Kopf im I. 1664. (Wobei bemerft 
werden muß, baß das Jahr 1864 wegen de# damals noch wäthenden amerikani- 
fen Bürgerkrieges. und des feine Wirkungen bereits energifch geltend machenden 
Morill-Tarifes keineswegs beſonders günſtig zur Bergleichung if.) Die Zollver⸗ 
einsmehrausfuhr an Ganzfabrikaten betrug 1834 nur 69.006 Mill. Thir. oder 
88.1 Sgr. pro Kopf; fie betrug dagegen '1858: 168.673 Mil. Thlr., ober 
150.9 Sgr. pro Kopf und 1864: 161.340 Mil. Thlr. oder 134.9 Sgr. pro Kopf. 

Der Werth ver Geſammtausfuhr an Ganzfabrikaten betrug alfo fm I. 1864 
beinahe 51/, Thlr. pro Kopf, d. 1. ungefähr ben neunten Theil derjenigen Summe, 
welde man als den Durchſchnittswerth bes gefammten Güterverbrauhs pro Kopf 
ber Bevöllerung im Zollverein annehmen kann. Und, wenn biefes Betreffniß in 


33) Eingebenbere Mitteilungen über die oben nur beifgielweife und flüchtig erwähnten 
Dorgänge fr et man in »linfere Beitd a. a. O.'S. 478 ff. 

”) natärlih das hohe Verdienſt von Arbeiten wie v. Biebadn?s Gtatifil bes 
zoüvereinten und nördlichen Deutfchlands 3 Theile (Berlin, &. Reimer) und Bienengräber's 
Statiſtik des Verkehrs und Verbrauchs im Zollvereins (Berlin, Alesander Dunder 1868) im 
Mindeften wicht gefchmälert werden ſoll. " 








Sollaczen 1085 


ben breißig Sahren von 1834—1864 fi) um .520/, gefleigert ‚hat ‚(bie Steige⸗ 
rung ftellt ſich ungleich ftärfer dar, wenn man ben Durchſchnitt zweier, -braißig 
Sahre aus einander liegender Jahrenreihen zur Bergleihung beuugt), je wird 
Niemand leugnen, daß ed ohne die Segnungen der durch ben ‚Zollverein gefchafe 
fenen inneren Verkehrsfreiheit nicht möglich geweſen wäre, bie Grportfähigteit 
unferer Inbuftrie in foldem Maße zu entwideln. , 
Die Zollvereinsansfuhr an. Gauzfabrikaten bildete im J. 1864, bem Werthe 
nad, den Hauptbeftandtheil (nämlich 51.55%/,).der Geſammtausfuhr. Das iſt kei⸗ 
neswegs immer fo geweſen. No im Jahre 1836 — in einer Zeit alfo, wo bie 
innere Verkehrsfreiheit noch auf Tin Feineres Gebiet beſchränkt war und auch da 
ihre volle Wirkung noch nicht geäußert hatte — machte die Ganzfabrilaten- 
ansfuhr des Zollvereins wenig über 3/, der Gefammtansfuhr aus. _ 
Der Gefammtans- und Einfuhrvertehr des Zollvereins betrug 
im 3. 1834: 249:5 Mill. Thlx. oder ca. 10 Thlr. pro Kopf der Bevölkerung, 
„ 1844: 8849 0 u nm Yo nn nm n 
„' 1858: 6728 „ u on 211, u ! 
„1864: 7874 „ n nn Mu nn 
Im Dirdfcnitt der Jahre 1834—38 wurden im Zöllverein 151,407 Utnr, 
Rohbanm wolle verarbeitet. Der Betrag dieſes Ouantums iſt feitbem von fünf 
zu fünf Jahren konſtant geſtiegen; im Durchſchnitt ver Jahre 1854—58 wurden 
730,151 Etnr. verbraucht. Alſo eine Zunahme von 578,744.Ctme. in 20 Jahren! 
Da Darchſchnittsverbrauch der Jahre 1856—61 Betrug 1,063,341 Ctnr., gegen 
deu ‚für bie Jahre von .:18386-—40 ein Zuwachs von 972%,1 Freilich wuchs auch 
bie Zahl der im Betrieb befindlichen Feinſpindeln von 750,298 €. tm I. 
1846 auf 2,235,195 im I. 1861. Die Öarneinfuhr- Zunahme ſteht natäy 
lich weit zurüd hinter der Zunahme ver Einfuhr des Rohſtoffes. Die Garn⸗Ein⸗ 
fuhr betrug 1836: 309,923 Einr., erhob ſich 1857 bis auf 365,169 Einr., fant 
dann 1861 wieder auf 457,276 Gtnr. und während des amerilaniihen Krieges 
noch weiter ganz beträchtlich (1864: 134,549 Etnr. 3#)) Das Quantum der 
Einfuhr von Banmwollen-Waaren fhwanlt in ven 28 Jahren von 1836 
bis 1864 ſehr bedeutend. Die Einfuhr betrug 1836: 16,505 Einr., 1848: 6160 
Etnr., 1858: 10,977 Ctnr., 1864: 7,094 Einer. Die Baumwollgarn⸗ ebenfo wie 
die Baummoliwaaren -Ausfahr iſt ar Seträchtlich geftiegen : 
I. Ä usfuhr ° Ä 


" mn " 9 


- - Banumol-Gum : Baumwoll⸗Waaren: 
Ctnr. Ctur. 
1836 27,92 84,323 
‘1841 30,683 87,018 . 
‚1846 ‚12,309 70,166 
‚.1861 13,584 _ 128,218. | 
"1866 ‚ 31,411. 178,623 4 
1860 | 30,125 195,445 | 
1864 56,977 177,555 . 


Aber auf der Baummollenverbrand hat in ven drei Jahrzehnten bes 
Beſtehens des Zollverein finıl zugenommen. Es wurben im Durchſchnitt ber 
Jahre 1836—40 im Zollverein 1.11 Pfo., im Durchſchnitt der Jahre, 1856 bis 
1861 dagegen 2,49 Pfd. Baumwolle pro Kopf ber Bevöllerung gerbraucht, fo 

36) Die oblgen Zahlen beziehe ſich lediglich auf ungebleichtes, eine und zmeibtätätzes Baum 
wollen Garn. .2. rn na Ber 


1086 Nachteug 


daß fich alſo eine Steigerung des Konfants ii 1.38 Pb., oder ine Bechattaj 
von 100 124 zeigt. 

Mehr als der vierte Thell der inlandiſchen Baumwollentubuſtrie arbeite 
ledigii⸗ für die Ausfuhr. 

Neberhanpt iſt die Ernarttähfgtelt der beutfeien Snbaftie fer h im allen 
Zweigen —*2* Mit zahlreichen Induſtrieptodukten konkurriren 
efolgreich anf dem MWeltmarfte, „m wir arhende vor andern —— Muſlich 
bevorzugt werden, EB betrug z. B 


Die —** Die Ausſuhr: 
In Wollenwaaren. In Seidenwaaren. In Kollenwaaren. In Geidenwaaren. 
80 The. 830 Thlr. Zoll. 56T à IM Thir. Zo 
1842 38,369 CEtr. 2710 Str, 4,390 Eis, 5446 Gir. 


1852 1886 Eine. 18,500 Etr. 3397 Ctr. 23,083 Etr. 109,109 Ctr. 8,823 Gtr. 
1864 2884 „ 25,219 „ 6607 „ 103 ‚082 „ 218,386 „..18,283 „ 
Man gewinnt ein annähernb dhtiges Bild ber transatlantifden Ans 
fuhr des Zollvereins, wenn man wie zollvereinsländiſche Ein fuhr ber 
Hanfeftänte, melde befauntlih die Hauptdermitiler jenes Erpoxtes find, be 


trachtet. 
⸗ Die Zollvereinsausfnhr nach Vremen und Hamburg if bis 1867 — ge 
machen, dann jedoch in Folge ber Krifis lichen gehlichen, und hat, nachdemt fie 


FH Jahre 1860 einen beträchtlichen Aufſchwung genommen, 1861 ven erſten Eia⸗ 
füffen des amerilaniſchen Krieges weichen. müflen, bis fie kann nach wiederher 
gefielltem Frieden allmälig wieder mus. Immer bewegt fie ſich jeboch im gam 
a ie Dimenſionen. Beiſpieloweiſe Betrug bie bremiſche Cucfuhr aus dan 


Total. Ser um Flußwärts. 
Millionen Thlr. Gold. Millionen Star. 
1847 “. 13.737 3.590 
1852 18.047 8.489 
1857 : 24.754 Ä 4.818 
1862 21,779 000.2: 8349 
1865 . 25.270 TAB . 
Die Zollvereinsausfuhr nach Hauiburg iſt aus ben Hamburgiſchen handels⸗ 
ſtatiſtiſchen Publikaionen ſchwer zu ermitteln. Ste ſteckt im ſolzenden Poſten: 


Hamb. Einfuhr ſeewärts, ans Deutſchland Hamb. Einfuh 
mit Ausnahme der Einfuhr vom land» x. — Zuſaumen. 


hanndvr. Weſernfer. außer d. Norden. 
Thlr. pr. €. Thlt. pr. C. Thlr. pr 
1861 505,218 78.992615 79 8* —* 
1856 500,890 138,B16,460 139,317,150 
1861 812,456 145,185,700 145.998.155 
1865 519,490 181, 100, 156 181, ‚618, ‚645 


In vielen Totalfninmen firb Einfuhren aus Bettenbug, aut aus Oeferzid, 
der Schweiz mit inbegriffen. Nah Bienengräber a. a 
Anefuhr aus dem Zolldereln nach Hamburg im J. 1864: on 740 Thlr. 

. Unter den Inbuflriezweigen bes Zollveteins ſtuy es neben Ber Syn 
nercl, Weberei, Fäaͤrberei und Druckerei von Baumwolle, Welle und Gelbe, na 
mentlid, die heile an Feder-, auch bie Holgwaaten-Fahritation, welde in Feige 








Sollwert. 1067 


= Muftebung ber Einen des Biumenverlehrd die großattigſten Wortfeetite 


emacht 

Nicht minder großartig find die Fortſchritte der Aübenzucker luvuſtrie, 
reilich etines erorbitant-gefhägten Gewerbszweiges, welcher aber trotz alles Schutzes 
hne die Freiheit des inneren Verkehrs ſchwetlich zu einiger Blüthe gediehen fein 
ürde. Die Zahl der Rübenzuckerfabriken flieg von 145 im Vetriehsjahr 18%/,,, 
nf 270 im Betriebsjahr 18P/a,, die Menge der verarbeiteten Rüben von 
‚829,794 Einr. auf 35,823,805 Eihe. und die Menge bes gewonnenen Roh 
nders ton 241,487 ir. auf 9,865,904 Einr. 

Um Beften würde man bie Wirkungen des Zollvereins auf vie Juduſtrie 
a beurtheilen vermögen, wenn man die induſtrielle Entwidelung einzelner mitten 
n Binnenlande gelegener Bereinsfidaten, 3. ©. des Königreigs Sachſen ober 
Bilrttemßerg, von dem Jahre ihres Gintritts im den Zollverein an, verfolgen 
Sunte. Leider fließt das Material auch für ſolche Beobachtungen tur ziemüch 
arlich. Es mehrt ſich zwar die Zahl gewerbeftatififfcher Arbeiten in Deutf 
ind; aber bie Grebungen beziehen fa ch meift, wie in dem amsgegeichneten, b 
Hirten Wert von v. Biebahn, auf ein einziges Jahr, oder auf eine kurze Jahres- 
eihe. Betläufig fei bemerit, daß ſich im Königreich Sachſen die Zahl der Dampf- 
tafchinen in dem: kurzen Zeitraum von 1856—61 von 550 auf 1008, die Zahl 
er babutıh repräfentirten Pferhelräfte von 7132 anf 15,633, die Zahl der benutzten 
Jampffefiel von 719 auf 1800 vermehrt hat. Ebendort waren im Jahr 1846 
ı Mafchinenfabriten nur 26 Dampfmaſchinen mit 208 Pferberäften, Dagegen 
861 106 Dampfmaſchinen mit 893 Pferbeträften in Tätigkeit. Sachſen hatte 
830 nur 84 Bamnnwollfpimmerdien. mit 361,202 Teinfpimseln, 1861 bagegen 
63 mit Maſchinen beſetzte Baumwollſpinnereien mit 707,387 Feinſpindeln 

Es IR bekannt, daß in Hannover. ımd. Oldenburg, zweien Staaten, welche 
über zu ben dubuftrieärneften Staaten Dentichlands gehörten, ber Bellverein gm 
etxächtliche und verhältniguäßig zahlreiche inbuftrielle Kntermehmungen ins 
stufen. Int, Bon deu 6949 —— — und —— mit einem 
abrikperſonal von 46,190 und 386 Dampfmaſchinen (mit. 6236 Pferdekräften, 
weiche v. Viebahn a. a. D. (©. 1083 ff.) für Hannover, und pon den 1119 
lchen Anfßalten mit einem Fabrilperfonnl von 7794 und 49 Damp inen 
nit 1092 Pferbefräften), welche er für Didenburg anführt, verbauft gewiß 
n ſehr guoßer Theil erſt dem Auſchluſſe des Stenervereins an dem Bellvereln 
ine g. Ir zer Heinen damals hanndver'ſchen Gtabt Hasburg Waren 
n Jahre 1863 47 Fabriken mit 13 Dampfmafhinen von. zuſammen 186 Pferbe- 
äften in Thätigkelt, Die meiſten und größten biefer Fabriken fin nachweislich 
— 1863, dem Jahre der Bereinigung bes Steuerneſens mit. dem Zollverein, 


Der Bergban-, Häütten- und Salinen-Betrich: im Zolloetein lieferte 
ı dem folgenden Jahren im * wichtigeren Branchen Pe Grgebeifle ; 


teintohtenförberung —E—E Thlix. 330 Mill. Ctr. —8 271/Mu THE. 
1860 
ifewergförberang: 28 „ „ 2.61Mill. 524, un mn 232 um 


Heteusförberung 8 un I. 3A nn 47 nn. 
upferetgrberung 186 „ 106 u 3127 50 20 un 








108 Aachtrag. 


Hüttenwerle. 1860: 1689 mit 23.4 Mill. Ctur. Brobuttionim Bertp u 84 DRIN Ti. 
1864: 1744 „ 37.39 „ 118.5 


n u" 

Selexreduhilen 1860 1. Steinfoß 1.02M. Cim. im Werih v. 0. 36. 
Beig-Rodfah 5.04 5 m nm 536m, 

Fi Schwargdi.Sa0.15 „ „nn 010 u. u 

1864 1. Steinfalg a nn 0900 

2 Weiß-Kochſalz 5.67 „ "nn 3700 % 

x&l0.19 „ „0.9, » 


3. Schwarzes 
Nach einer nur Preußen betzeffenben Zufonmenftellung lieferte ber " portige 
re =, Hütten« und Salinenbetrieb in ben Jahren 1842 und 18567 folgente 
rgebnifle:: 


1842 1857 
| Geldwerth am Erzengungsort in Tür. 
1. Erzengniffe des Bergbaues 7,984,809 84,125,861 
. ,Vutienbetriebes 22,190,083 _ 19,811,066 


Ä Summa 31,655,128 Tr. 45, ‚80 a3. 
Man wird kaum irgend eimen Impuftriegweig netinen innen, der nicht in 
Ahnlichem Maßflabe fi entwidelt Hätte, was ganz unzweifelhaft gerabezu unmäg- 
ih gewefen wäre, wenn das deutſche Zollgebiet nad wie vor in eine Menge von 
een, —— Zollgebieten abgetheilt geblieben wäre. 

Se eg Hegt e8 auf der Hand, daß der Binnen- wie ber internationale 
Berkehr caiſchien ds, wen bie Birmenzollgrengen ber Vorzollvereinszeit beftchen 
geblieben wären, unmöglich den bedeutenden Aufſchwung hätten nehmen länuen, 
ben fie in den legten dreißig Jahren notorifh genommen haben, daß die beutfdhe 
Handelsflotte Ah fhwerlih auf bem Range ber . Yrittgrößten ver Welt erhalten 
haben, daß die deutſchen Gifenbahnen nicht zu jenem vielmaſchigen Neue, weiches 
eine heutige Eifenbahntarte zeigt, fich verdichtet, bie Telegraphen und Boften wid 
jene großartigen Berkehrsleiftungen zu bewältigen gehabt haben wärben, welche 
wir fle jetzt in Immer fleigender Proportion bewältigen fehen. 

Es bedarf wohl bes Bemeifes nicht, daß bei dieſer verhältutgmäßigen Blthe 
der Berlehrsverhalmiſſe, bei dieſem Aufſchwunge der Induſtrie und ves Haubels 
und in Folge der Herſtellung der Verkehrsfreiheit im Fernern auch ber allgemeine 
Wohlſtand Im Zollvereinsgebiete beträchtlich zugenommen bat. Wer irgend daran 
zweifeln wollte, den wütde ein Einblick in die Statiſtik ver Sparkaſſen, der Ber 
ficherungsauſtalten, der Reubanten, des Verbrauche an den bet Befriebigung ver 
Bedaurfniſſe des Wohllebene bienenben Bütern, und — worauf befonberes Gewicht 
gelegt werben muß — eine Beobachtung ber -Sortfchritte des Bollöfefllebers im 
weiteften Sinne des Wortes, bald eines Befleren überzeugen. 

V. Die finanziellen Erfolge des Zollvereins Zu der, im vo 
rigen Abſchnitt geſchilderten, fo mannigfach erfrenlihen wirthſchaftlichen Cutwicke⸗ 
lung ſtehen die finanziellen Ergebniſſe des Zollvereins, in keinem richtigen Ber⸗ 
haltnifſe. Die Zollvereinsinduſtrie iſt durch das ausgeprägte Schubgollinfem, in 
welches die Geſetzgebung immer tiefer bineingerathen If, nur in manden Bran⸗ 
hen gehemmt worden; in vielen hat fie fi, wenn auch ohne buch den Schu 
gefördert zu werben, doch. wenigftens durch denfelben und durch den Mangel bes 
in ver freien: Konkurrenz liegenden Antriebes nicht niederhaiten laſſen. Wir willen 
nicht, weldhen Impuls fie erhalten haben würde, wenn man fie frühzeitig des 
Gangelbandes entwöhnt hätte; aber wir wiſſen, daß fie in faſt allen Zweigen 





Sollverein. 1089 


dem Bängelbande längft entwachſen iſt. Den Finanzen bat ber proteltive Charak⸗ 
ter des Tarifs entſchieden Abbruch gethan. Jedenfalls erficht man aus den finan- 
zielen Ergebniffen des Syſtems veutlih, daß es fi hier nit um ein Finanz⸗ 
zollſyſtem handelt. 
Ein wirkliches Finanzzollſyſtem würbe in einem Gebiete, in weldem ber 
allgemeine Wohlftand fo fehr im Auffteigen begriffen ift, wie dieß im Zollverein 
der Fall, die Wirkung haben müſſen, daß auch die Zolleinnahmen pro Kopf ber 
Bevölkerung in ähnlihem Maße fteigen. Dieß ift im Zollverein keineswegs ge⸗ 
ſchehen; denn es betrugen bie gemeinſchaftlichen Einnahmen, einfchlieglicd der 
Nübenzuderftener : " 
1847 1849 1853 1854 1858 1861 

28 Gr. 3 Pf. 23 Gr. 6 Pf. 23 Cr. 10 Pf. 24Gr.9Pf. 28 Gr. ꝰ Pf. 26 Cr. 5 Pf. 
1862 1863 1864 1865 

26 Or. 8 Pf. 27 Or. 4 Pf. 26 Gr. I Pf. 26 Gr. 3 Pf. pro Kopf der Bevölkerung. 

In Großbritannien ergaben die Zolleinnahmen bis zu der großen neueften 
Zarifreform Immer fleigende und im Ganzen ganz erheblih höhere Netto-Eriräge, 
als im Zollverein; 3. B. 1854: 151.74 Sgr., 1855: 15.871, 1856: 156.29, 
1857: 158,14, 1858: 162,47, 1859: 163,27 Gar. 

Es ift befannt, daß hohe, die Erzengnifie der Inpuftrie vertheuernde Schutz⸗ 
zöle auch ven Verbraud und fomit den Zollertrag verjenigen Waaren wefentlich 
beeinträchtigen, welde ben Dauptertrag ver Zölle bringen follen. Der Verbrauch 
folher titel, 3 DB. bes AZuders und des Kaffee’s, bat zwar in ben legten 
30 Jahren, zufolge des geftiegenen Wohlſtandes und des erleichterten Verkehrs 
aud im Zollverein zugenommen; allein er ftebt in keinem Verhältniſſe zu dem 
Berbraud in anderen Kulturftaaten. 

Nah den „ſtatiſtiſchen Zufammenftellungen in Bezug auf Einfuhrzölle nnd 
Berbrauhsfteuern in Deutfhland, Großbritannien und Frankreich“, welche ber 
neunten Berfammlung des Kongreſſes veutfcher Vollswirthe im I. 1367 vorgelegt 
wurben 9%), beirug ber Berbraud : 

Im Zollverein : 
von Zuder bei einer Belaſtung von 31/, Thlr. pro Einr. 8.54 Pfd. 
" Kaffee " " „ 5 " "n 3I0 m 
„ Thee n n „ 8 n n 0.03 u 
„ Reis n " „1 n " 1.76 u 
n fremden Wein „ „ 13 Thle. 17Gr. pr.100Quart 0,30 Quart. 
In Großbritannien : 
von Zuder bei einer Belaſtung von 3 Thlr. 12 Sgr. pro Eine. 33.70 Pfd. 


u Kaffee " n n„ 9er. AG 4 nn 105 „ 
„Thee " ) n 37 Thlr. „» nn 253 „ 
n Reid zollfrei 6.90 


" 

„ fremden Wein „ „ 19 Thlr. 14 Sgr. pr. 100 Quart 1.33 Quart. 

Wenn Inbuftrieerzenguiffe gering, oder nicht belaftet find, köͤnnen Verzeh⸗ 

rungsftoffe hochbelaftet fein, ohne dag dadurch ber Verbrauchszunahme Eintrag 
eſchieht. 

Wir haben ſchon oben darauf hingewieſen, daß im Zollverein ein ganz ge⸗ 

ringer Bruchtheil aller nach dem Tarif zollpflichtigen Artikel beinahe den ganzen 

Zollertrag einbringt, und daß bie weitaus größte Mehrzahl ver zollpflichtigen 





36) Hamburg 1867. Drud von A. FJ. M. Kümmel. 
BluntfYli un Brater, Deutſches Staateworterbuch. Al. 69 


1090 ° | Nadıtrag. 


Artikel dazu nur ganz minutiöfe Beiträge Tiefert. Ein Finanzzollſyſtem würbe, mie 
bies denn auch in England nenerbings gefhehen, alle die umzähligen unetnträgli- 
Gen Artikel dem freten Verkehr überlafien, die Berzollung ver einträgfichen aber 
nad möglihft einfachen und liberalen Grundſätzen und fo regultren müfſen, daß 
die Zunahme und bie Immer allgemeinere Berbreitung des Verbrauchs aud für 
eine immer fteigende Zunahme des finanziellen Ertrags Garantieen bietet. 

Es ergaben die widhtigften und für die Berzollung gesigneiften Berzehrungt: 
gegenftände: Zuder, Kaffee, Thee, Tabak, Spirituofen, Wein und Bier : 

1855 1860 1864 

im Zollverein BruttoErtrag 97), Thlr. 14,421,000 11,664,000 13,009,000 
Dagegen bie anderen Artikel des Tarife „ 11,073,000 11,821,000 11,360,000 
In Großbritannien dagegen braten die oben einzeln namhaft gemachten Artikel 

folgende Brutto-Erträge 7) Thlr. 139,682,000 142,033,000 138,761,000 
und die anderen Artikel des Tarife „ 15,078,000 18,154,000 11,426,000 

Diefe Gegenüberftellung zeigt auf's Deutlichſte, in welchem Maße der Zoll: 
vereinstarif hinter dem engltfchen zurüdfteht, wenn man den finanziellen Maßſtab anlegt. 

Wenn man biefe Gegenüberftellung und bie Poften, aus denen fie hervor 
gegangen ft, näher betrachtet, fo erfieht man nämlich, daß der Ertrag der oben 
nicht ansprüdli genannten Artikel In England jegt kaum höher if, als im Zoll. 
verein (nur find es bort viel weniger Artikel, die diefen Ertrag liefern, als bier); 
aber man fieht ferner, daß es unter den ausdrücklich namhaft gemachten Artileln 
eigentlih nur Zucker und Tabat find, bei denen im Zollverein aus Gründen, 
bie in den bei der Befteurung verfelben befolgten Brincipten lie 
gen, die Zolleinnahme fo erheblich niebriger ift, als in Großbritanuten. Zwar 
der Theezoll gibt in England einen Zoll-Ertrag von 30—39 Millionen Thlr. 
im Zollverein nur einen folhen von 114,000 bis 381,000 Thlr. Aber der The» 
Yonfum wird im Zollverein immer ganz erheblich geringer fein, als in Großbri⸗ 
tannien. Wenn ber Eingangszoll für Wein in Großbritannien bebentenb einträg- 
licher ift, als im Zollverein, fo bat bieß feinen natärliden Grund in der Mafle 
der inländifhen Weinprobuftion, wodurch fi) ber Zollverein vor Öroßbritannin 
auszeichnet. Der Eingangszoll von Bier ift eher im Zollverein einträglicher als 
in England, der von Kaffee entſchieden und bedeutend einträglider dort mie Bier, 
und, wenn Spirituofen in Großbritaunien 16—22 Millionen Thlr., tm Zollverein 
nur 3—400,000 Thlr. Eingangszoll ergeben, fo hat dieß wohl feinen Grum 
ebenfalls in dem flärferen Konfum ausländifher Spirituofen dort, welcher hier 
buch den Konſum inlänbifcher und den Weinlonfum erjegt wird. 

Wenn aber die Erträge von Zucker und Zabal in den beiten mit einamter 
in Parallele geftellten Tändern fo erheblich bifferiven, wie dieß aus folgender Ta- 

1864 


belle erfichtlich iſt: 1855 1860 
Ä Zollverein. 
Zu cker: Eingangszoll Thlr. 4,086,000 442,000 1,292,000 
Mübenfiur ,„  3,935,000 8,167,000 9,685,000 
Großbritannten. 
n Eingangszoll Thlr. 34,824,000 40,449,000 35,015,000 
Zollverein. 
Tabak: Eingangszoll Thlr. 1,956,000 2,662,000 2,763,000 
Großbritannien. 


„ Eingangszoll Thlr. 33,378,000 37,377,000 40,534,000 
37) Rad) Abzug der bei der Ausfuhr gewährten Bonifilationen, Drawbacks und Brämien. 





Solverei. 1091 


fo mäflen die Gründe dieſer Erſcheinung Lediglich anf Seiten ber für die Beſteu⸗ 
rung angenommenen Principien gefucht werben. 

Bas num freilich den Tabak anbelangt, fo kann nit verfannt werben, daß 
es Im Zollverein unnmehr zu fpät fein dürfte, biefen Artikel zu einem eimträgli- 
hen Finanzzollartikel zu machen. Im Laufe der Jahrhunderte bat fih Hier eine 
blühende Tabak⸗Kultur ausgebildet, und bie Tabakverarbeitung, ſowie ber Innere 
Tabal-Handel Immer größere Ausdehnung gewonnen. Hohe Erträge find aus einer 
Tabalsverbrauche-Abgabe nur zu ziehen, wenn man bie inlänbifhe Tabaksproduk⸗ 
tion verbietet, wie in England fchon im 17. Jahrhundert geſchehen, oder, wenn 
man bie Tabafsproduftion und Verarbeitung, fowie den Handel mit Tabak mono- 
polifirt, wie dieß in den meiften übrigen europäiſchen Staaten, zum Theil feit 
zwei Jahrhunderten, geſchehen iſt. Die eine wie bie andere Mafregel würde — 
ber fonftigen üblen Folgen insbefondere des Tabatmonopols son zu geichweigen 
— wie bei ım8 die Dinge liegen, einen unverantwortliden Gewaltalt gegen 
zeoßentheils auf gefundem Boden und zu hoher Blüthe erwachſene induſtrielle 
and merkantile Geſchäftszweige involviren, und gewaltfame Bermögensverlegungen 
adthig machen, wie fie böchftens dann entſchuldigt werben können, wenn alle an- 
deren Mittel zur Beſeitigung drückendſter Finanzverlegenheiten erfchöpft find. 

Dagegen bürften allerdings in dem Syſtem ber Zuder-Berzollung und 
Befteurung im Zollverein aud jetzt noch — nad den neueften Aenberungen 
zuf diefem Geblete — (vgl. Abſchnitt VI unten) Reformen möglih und unerläß- 
ich fein, unter denen kein wohlberechtigtes Intereffe zu leiden braucht. Keine Partie 
n bem ganzen Berzollungsfuften des Zollvereins war nämlich bisher ebenſowohl 
n finanzieller Beziehung wie In Rückſicht auf die fonftigen wirtbfhaftlihen Wir⸗ 
ungen fo trrationell und widernatürlich geregelt, als die Partie der Zuderverzol- 
ung und Beftenrung. 

Es tft Hier nicht der Ort, auf eine Kritik diefes Syſtems, wie e8 im We⸗ 
entlichen auch jetzt noch in Geltung ift, näher einzugehn. Noch ganz neuerbings 
aben bie tief einfchweidenden Mängel desfelben ſachverſtändige und eingehende 
ubliziſtiſche Erdrterungen hervorgerufen 3). Nur flüchtig bemerken wollen wir, 
aß durch jenes Shftem den Zollvereinsangehörigen der Iuderlonfum felbfwseftänd- 
ih künſtlich vertheuert wird, daß aber von biefem Preisanfichlage nur ein Theil 
eu Yinanzen des Zollvereind, der andere aber ben NRübenzuderprobucenten zu 
Inte kommt. Es ergibt ſich Hierans ein erheblihes Minus des Zuderverbraudes 
nd bes Sole und bezüglich Steuerertrags im Zollverein im Vergleich mit andern 
Staaten, 3. B. England und Frankreich, was buch bie folgende Zufammenftellung 


Inftrirt werben mag: 
Zollverein. Fraukreich. Großbritannien. 
zerbrauch per Kopf im Durchſchnitt der , 
Jahre 1860-64 8.54 Bfb. 12.09Pfr. 83.70 Pfo. 
steuertrag per Kopf im I. 1864 9.29 Sgr. 14.17 Sgr. 35.50 Ser. 
Als Ziel der auf eine dem finanziellen Intereffe des Zollvereins und dem 
irthſchaftlichen Interefie der Zollvereinsbendlterung entſprechende Reform gerich⸗ 
ten Beſtrebungen wird eine Ermäßigung und anderweite Tarifirung der Zuder- 
le, die Grfegung der Nübenflener durch eine zu klaſſifieirende Rübenzuderftener 


38) Brot. 3.8. die Denkſchrift, betreffend Reform der Buderbefteurung. Den deutfchen Hans 
stage vorgeleat von der Handelslammer in Hamburg im März 1868. Hamburg 1868. 


69 * 


1092 Nadtrag. 


(Fabrikatſteuer), und bie Normirung der Iudererport-Bontfilation nad; Maßgabe 
jener beiden Abgaben zu betrachten fein. 

Der eigentlich finanzielle Gefiätspuntt — fo fahen wir — iſt im altın 
Zollverein, namentlich bet ver Einrichtung feines Tarife, niht genägend im Unge 
behalten worden. Die Zollerträge flanden nicht Im richtigen Berhältutffe zu ber 
Belaftung, welche fie für die Bevölkerung berbeiführten. Ein anderer Mangel lag 
in der ungleihen und ungerechten Bertheilung ber gemeinſchaftlichen Einnahme. 

Für einige Zollvereinsmitglieder wurben fo bie finanziellen Grgebnifle bes 
Syſtems wirklich günftig, aber dieß freilich nur auf Koften der Geſammtheit. Za- 
folge der für bie Berthellung der gemeinfhaftlichen Zollintraden beftehenden Grund⸗ 
ſaͤtze ergab es fich nämlich, daß bie ſüddeutſchen Staaten: Bayern, Württemberg, 
Baden, Großh. Hefien, Nafian und Frankfurt a. M. ftets einen größeren Antheil 
am Bruttoertrage hatten, als fle an Zöllen einnahmen, während bie älteren nor» 
dentfchen Bereinsftaaten: Preußen (mit Luremburg), Sachen, Kurf. Heffen, Tbä- 
ringen und Braunſchweig (mit umgefähr der 2i/sfachen Bevölkerungszahl) Immer 
einen kleineren Antheil am Bruttoertrage erhielten, als fie an Zöllen vereinnahm- 
ten, und die jüngften norddeutſchen Bereinsflaaten: Hannover und Old 
zwar eine verhältnigmäßig viel größere Zolleinnahme hatten, als die ſüddentſche 
Gruppe, aber gleich viefer (In folge bes Präcipuums) and einen flärteren Autheil 
an der Geſammteinnahme, als fie felbft an Zollen vereinnahmten. Diefes Miß 
verhältnig befland Bezüglich der ſüddeutſchen und älteren norbbeutfchen Gruppe 
während ber ganzen Dauer bes Zollvereins und bezüglich jener Gruppen und ber 
Staaten Hannover und Oldenburg während ber ganzen Dauer ber Zugebörtgelt 
biefer Staaten zum Zollverein. Es möge dasſelbe durch folgende Zufommenftellung 


für das Jahr 1862 illuſtrirt werben : 
Zolleinnahme. Anth. am Brutto- Exir. 
Einw.⸗Zahl. Im Ganzen. peKonf. ImGanzen. pr.Ropf. 
r. gr. Ir. . 
1. Die ſüddeutſche Gruppe 9,437,898 4,694,865 14.993 6,629,494 21.073 
2. Die norbbentiche Gruppe 
Alten Bereinsflanten 23,828,157 18,568,639 23.88 16,422,752 21.190 
3. dieneueren norbbentfchen 
Bereinsſtaaten 2,147,193 2,583,032 36.09 2,794,180 38.579 
Erwägt man, daß im Jahre 1862 die Gefammt-Brutto-Einnahme auf ben 
Kopf der Bevölkerung (diejenige von Franukfurt a. M. zu 327,477 gerechnet) 
22.209 Sgr. betrug, fo ift dieſer Sat in der fühbentfhen Gruppe durch die 
vereinnahmten Zölle bei Weitem nicht erreicht, in der Gruppe ber älteren norb- 
deutſchen Bereinsftanten. um Etwas und in ben neueren norbbeutfhen Bereins⸗ 
ſtaaten erheblich überftiegen worben. Dagegen bezogen die beiden erften Gruppen 
ungefähr gleihe, Hannover nnd Oldenburg aber erheblich größere Antheile an der 
Brutto-Einnahme, Und dieſe Antheile find bei ber ſüddeutſchen Gruppe erheblich, 
bei der Gruppe 3 nicht unbeträdhtlic größer, bei der Gruppe 2 aber eben fo viel 
Heiner, als die wirklichen Zolleingänge. Mithin waren tie finanziellen Ergebuiſſe 
bes Jahres 1862 (und fo iſt e8 Immer geweſen) für die Gruppen 1 und 3 oben 
(mit zufammen 11.59 Mill. Einwohner im I. 1862) weſentlich gänftiger, als 
für die Gruppe 2 (mit 23.88 Mill. Einw. im I. 1862). Und zwar flanımte vie 
finanzielle Einbuße, welche die letztere Gruppe erlitt, und ber finanzielle Bortbell, 
allen fih die beiden anderen erfreuten, unmittelbar aus ber Verbindung dieſer 
ruppen. 











“ 


Boliverein. 1093 


Nach der zn Anfang 1863 zu Braunfchweig erfchienenen, bie bei ver dama⸗ 
ligen Zollvereinstrifis in Frage kommenden finanziellen Gefihtspunfte befonvers 
Iharf ind Auge faflenden, und überhaupt fehr werthuollen Schrift: „Der Zoll 
verein und bie Krifls, mit welcher er bedroht iſt“ (1. Heft), fleuerten zur gemein. 
fhaftliden Kaffe im 3. 1860: 

Weniger 


Mehr 
als nad dem Berhältniß der Bevölkerung 
Thlr. Thlr.pr.Kopf Thlr. Thlr.pr.Kopf 


b.Bevölferg. b.Bevällerg. 
Preußen 1,222,000 0.06 — — 
Sachſen und Braunſchweig 480,000 3.20 — — 
Hannover und Oldenburg 673,000 0.27 — — 
ſturhefſen und Thüringen — _ 294,000 0.17 
Der ganze Norden 1,981,005 0.08 — — 
Bayern und Württemberg — — 2,378,000 0.38 
Baden und Großh. Heſſen — — — — 
Raffan — — 24,000 0.01 
Frankfurt 606,000 7.49 — — 
Der ganze Süden — 1,980,000 0.22 


Hannover und Oldenburg bezogen im Jahre 1860 an ben Ein-, Aus⸗ und 
Drrrögangs-Abgaben und der Rübenzuderftener ein Präcipuum im Gefammtbetrnge 
von 1,891,966 Thle. Dieß betrug 464,000 Thlr. mehr, als bie Summe, welde 
in den genannten beiden Staaten an Zöllen mehr eingenommen wurbe, als nad 
Berhältnig der Bevölkerung einzunehmen geweſen wäre (928,000 Thlr.), und es 
betrug 696,000 Thlr. mehr, als es mit Rüdfiht auf den wahrfcheinlihen Mehr⸗ 
fonfum jener Staaten an zollpflichtigen Artikeln hätte betragen müſſen. Bon bem 
Bräcipuum, welches grunbfäglih nnd ausgefprodenermaßen dem Steuerverein mit 
Nüdfiht auf feinen angeblihen Mehrkonſum an Hauptfinanzartilein bewilligt 
wurde, war die Hälfte ein jedenfalls unverbientes Gefchent, welches bie Gruppe 
ber älteren norbdentfchen Vereinsſtaaten von ihren Zollintraven den Staaten bed 
ehemaligen Gteuervereins opfern mußte. Aber nur die Gruppe ber Älteren Staa⸗ 
ten. Denn, wie aus Obigem erfihtli, trugen bie ſüddeutſchen Staaten, welde 
an Konfumtionsktraft (Im Sinne der Zollvereinsfprache), mit Ausnahme von Frank⸗ 
furt, weit unter den Staaten ber nörblihen Gruppe fliehen, niht nur zu dem Han⸗ 
nover und Oldenburg gewährten Präcipunm tbatfächli nichts bei, fonbern fie 
liegen fih ihre Zolleinnahme fogar noch von Preußen, Sachſen, Braunſchweig 
u. f. w. kompletiren 9). Das war eine jedenfalls fehr ungünftige Folge des felt 
1853 im Zollverein eingeführten gemifchten Vertheilungs⸗Syſtems. Werm, wie 
wir am Schluffe des II. Abſchnittes diefer Abhandlung gezeigt haben, an biefem 
Syſtem auch beim letzten Vertragsabſchluſſe nichts Erhebliches geändert wurde, fo 
lag das nicht an einem Mangel an Einfit auf Selten Preußens, fondern an 
der traurigen Nothwendigkeit, Hannovers rechtzeitige Genehmigung bes bentfch- 
franzöflfchen Handelsvertrags fo theuer erfaufen zu müſſen. 

Ein günftiges Finanzzollſyſtem war übrigens das bes alten Zollvereins auch 
mit Rädfiht auf die Höhe der Koften, vie es verurſachte, nicht. 

Im Jahre 1864 betrug die Brutto-Einnahme an Ein- und Ausgangszöllen 
24,532,340 Thlr., bie gemeinfhaftlihen Koftlen der Zollerhebung, des 


”) Was fi im Wefentlichen auch noch heute ebenfo verhält, 


1094 Nachtrag. 


Zollſchutzes u. ſ. w. 2,884,479 Thlr., alſo 11.70/, ber Vrutto⸗Einnahme. Die 
Zollbewachungs⸗ und Kontrolekoſten find natärli unter ben Geſammtloſten der Zoll 
verwaltung weitaus bie beträdhtlichfien. Die Berwaltungsloften biefer Art ver 
mindern fi befanntli verhältnigmäßig mit dem Wahsthum bes Zollgebietes, 
fo daß fie am geringften da find, wo das Flächenraumbetreffniß pro Grenzmeile 
bas größte if. Im Zollverein war viefes Berhältnig 1864 ziemlich günſtig; denn 
e8 lamen bier auf die Außengrenzmeile 8,36 Quadratmeilen Bollgebtet. Und 
der größte Theil der Grenze bot der Bewachung feine abjonberlihen Schwierig 
keiten. Dennoch erfcheinen die gedachten Keften jehr erheblih, wenn man fie mit 
benen vergleicht, welche in anderen Staaten für bie nämlichen Zwede aufgemwenbet 
werben. In der Schweiz beifpielsweife entfallen auf eine Wußengrenzmeile aur 
4,27 Quadratmeilen Zollgebiet. Und dennoch betrugen bort im Jahr 1861 bie 
ſämmtlichen Berwaltungstoften nur 11,500/, der Brutto-Einnahme. Dabei if 
noch die Schwierigkeit der ſchweizeriſchen Orenzbewachung zu berüdfihtigen. 

Es ift eine bekannte Thatfache, daß niedrige Zölle die Koften ver Grenz. 
bewachung weſentlich vermindern, weil fie weniger zum Schmuggel anreizen, unb 
es iſt eine nicht minder bekannte, durch bie Refultate der neueren engliſchen Zoll⸗ 
gefepgebung vom Neuen erbärtete Thatſache, daß eine Nebultion in ber 
Zahl der zum verzollenden Artikel jene Wirkung no in höherem Maße ausübt. 
Ein entſchiedener Uebergang zum Finanzzollſyſtem würbe, bei ver güufligen Ge⸗ 
ftaltung des Gebietes des Zollvereins, gewiß auch nach dieſer Seite hin erhebliche 
finanzielle Bortheile gebracht haben. Aber dieſer Uebergang wäre bei ver Berfaf- 
fung bes alten Zollverein und den hanvelspolitiichen Anſchanungen ber meiften 
feiner migienen wohl fchwerlich jemals zu erreichen gewefen. 

VL Die Aufldfung des alten Zollverein Die Grändang 
einer Bundeszollgemeinfhaft. Der Anſchluß der Süddeuntſchen. 
Die Ergebniffe der erfien beiden Sigungsperiopen des deutſchen 
Zollparlaments. Der veutfhe Zollverein bat nur wenige Monate der mit 
dem 1. Januar 1866 beginnenden neuen Bertragspertobe überlebt. Allerdings 
haben wir ben ganzen Apparat ber Zollerhebung, der Abfertigung, des Gren. 
ſchutzes nicht außer Wirkung treten ſehn. Aber rechtlich außer Kraft gefeut waren 
bie Berträge währenb des Kriegszuftsndes zwiſchen ben Zollvereinsſtaaten ohne 
Zweifel und auch de facto warb jener Verein gleichzeitig mit der politiſchen Um⸗ 
gefaltung Dentfglanbs, die dem Kriege folgte, In ganz nene Formen übergefäht. 

In den heißen Tagen des Jahres 1866, auf ben Gefilben von Königgräg, 
ift dem deutfchen Volke feine Würde und Selbſtändigkeit und If ben mittelento⸗ 
pälfhen Kulturoöltern bie freie Bahn zur rationellen Geftaltung ihres wirth- 
ſchaftlichen Zufammenlebens erkämpft worden. Der Zollverein, obwohl eine Säö- 
pfung feltenen, fiaatsmännifchen Geiftes, und ein Werk, bem das deutſche Boll 
unenblid viel und Großes verdankt, war doch nur ein Nothbehelf; in Ermange 
Iung eines deutſchen Staates mußte ein völlerrehtliher Bund bie bringenpften 
Forderungen unferes Wirthſchaftslebens noihbärftig befriebigen. In die mangel- 
hafte Geſtalt eines Staatenbundes ad hoc eingezwängt, hinkten wir in umfjerer 
wirthſchaftlichen Entwidelung unferen Nachbarn nur mühfelig nach, ſtatt daß wir 
ihnen, entſprechend dem Stande unferer allgemeinen Kultur, hätten voranleuchten 
follen. In diefem Punkte hat ver Krieg von 1866, indem er uns einen Staat 
gab, Wandel gefhaffen. Und weiter, in allen Stüden gehemmt in feinem Iuuern, 
wie er war, durch feine Verfaſſung, durch bie wiberfprechenden Elemente, bie er 
In feinem Schoße barg, war dem Zollverein noch überdieß das Bleigewicht ber 








Solinerein. 1095 


Nädfichten auf den Bunbesftant Defterreih angehängt — den Bunbesflant Defter- 
reich, welcher, mit der Vormacht des Zollvereins um den politiſchen Einfluß in 
Deutſchland rivalificend, bie preußen⸗ und die handelsfreiheitsfeindlichen Elemente 
im Verein flägte und wiederholt zur Berfchärfung ausgebrochener Kriſen ermunterte. 
Jenes Bleigewichtes find wir ledig. Unfere Entfchliegungen find nicht mehr ge 
hemmt durch ein Einfpruchsreht bes öftlihen Nachbarn. Und — was das Er⸗ 
freulichſte iſt — diefer Nachbar felbft, durch ein ſchweres, aber fegensreiches Ge⸗ 
ſchick fich felbft wiedergegeben, auf feine eigene Sphäre verwiefen, befreit von dem 
Vorurtheil, daß feine Selbfterhaltung ein Darnieberhalten der deutſchen Großmacht 
fordere, tann nun beginnen mit der Reform feiner wirthſchaftlichen Zuſtände, mit 
ber Entfeflelung feiner reihen Kräfte, mit der allmäligen Erfchließung feiner Gren⸗ 
‚zen, mit aufrichtigem Fortſchreiten auf der Bahn der Handelsfreihelt 49). 

Die Berfaflung des norbdeutfhen Bundes vom 26. Juli 1867 enthält im 
Titel VI (Zol- und Handelsweien) die VBeflimmungen, welche bie neue, burd 
das Jahr 1866 geſchaffene Sachlage fanktioniven. „Der Bund bilbet ein Zoll» 
und Öanbelögebiet, umgeben von gemeinfhaftlicher Zollgrenze“ (f. w. unten). „Der 
Bund ausſchließlich Kat die Geſetzgebung Über das gefammte Zollmefen, über 
die Beftenrung des Verbrauches von einheimifhen Zuder, Branntwein, Salz, 
Bier und Tabak u. |. w.“ „Der Ertrag der Zölle und ber in Art. 35 bezeich- 
neten Verbrauchsabgaben fließt in die Bundeskaſſe.“ „Der Bundesrath beichliet : 
1. über die dem Reichsſstage vorzulegenden ober von bdemfelben angenommenen, 
unter die Beſtimmung des Art. 35 fallenden gejeglihen Anorbnungen, einſchließ⸗ 
lid der Handels⸗ und Schifffahrtsverträge zc.” Dies die großen Örunbfäge, welche 
für das Gebiet des norkbentfchen Bundes, aljo für ein Gebiet von 7540 D.-M. 
mit einer VBevölferung von nahe an 30 Millionen Seelen in Zoll» und Hanvels- 
angelegenheiten an Stelle ver früheren Stagnation und Unfidgerheit Bewegung 
und Sicherheit, an Stelle des Paltirens das Geſetz, an Stelle ver Diplomaten- 
Ionferenz das Zufammenwirten zwifchen der Stantsgewalt und ber Bollövertretung 
geftellt haben. 

Über freilih nur für einen, wenn auch ben weitaus größten, ‘Theil bes ehe⸗ 
—7 — Zollvereins. Ein anderer Theil, umfaſſend 2094 Q.⸗M. mit nahe an 
9 Millionen Seelen, die ſüddeutſchen Stanten, blieb außerhalb ſtehen. 

Preußen bat dafür geforgt, daß die Worte bes Art. 33 der norbbeutfchen 
. Bunbesverfaflung, „umgeben von gemeinfchaftlicger Zollgrenze”, bereits illuſoriſch 
waren, als fie fanktionirt wurden. Denn durch Zollverträge mit Bayern, Würt- 
temberg, Baden und Heflen war bereits unterm 8. Juli 1867 feftgeftellt wor⸗ 
ben, daß bie „gemeinfchaftlihe Zollgrenze” im Süden nicht mit ber Bunbesgrenze 
zufammenfallen, ſondern and jene früheren Zollvereinsflaaten mit umfchließen 
ſollte. Freilich: Angefihts der im Bruderkriege erlittenen Niederlagen, Angefichts 
ber Ifolirung, welcge die Gründung bes norbbeutfchen Bundes für pie Sübbent- 
ſchen herbeigeführt, Angefihts ver Gefahr einer Scheidung vom Norben aud 
in wirtbfchaftlicher Beziehung, fanden ſich in ber bayrifhen und wäürttewbergifchen 
Kammer Stimmen, welche fi gegen jene Verträge mit aller Leidenfchaftlichkeit 
und in unbegreiflicher Verblendung ſträubten. ber der Selbflerhaltungstrieb er- 
wies fi ſchließlich mächtiger, als die Verblendung und bie Apathie. Die Ber- 


420) Vrgl. des Derfaffers Schrift über die »reformatorifche Wirkſamkeit des norddeutſchen 
Bundes auf dem Gebiete des Wirtbichaftsiebense (Bremen, 1868) und feinen Auffaß: »der 
Porn Soinerein fonf, jegt umd zukünftige in Era’ Jahrbuch für Volkswirthichaft. IL. Jahrg. 


1096 Nadıtrag. 


träge gelangten zur Annahme. Und im Reihstage erkannte bie überwiegen: 
Mehrheit in der Sitzung vom 8. Oktober 1867, in welder bie Verträge z 
Berhandlung kamen, in den legteren wit dem Abgeordneten Wegiri „den grohn 
Triumph einer ausgezeichneten Bolitit.” Daß eine Inftitution, die nun über 
Jahre lang faft das einzige Übrige Symbol der Zufammengehörigkeit Dentid. 
lands geweſen war — eine Inflitution, die, trog der DRrängel Iiver Berfaflun;, 
do gleih in den erſten Jahren der beutfchen Ration größere Dienfte gelte 
hatte, als die alte Bunbesverfaflung während ihrer ganzen fünfzigjährigen Er 
ftenz, mit den jegt mögliden und gebotenen Aenderungen ausgeftattet, aber in 
dieſer weſentlich verbefierten Auflage auch dem deutſchen Volle erhalten wen 
mäffe — darüber konnte im norbbeutichen Neichstage Tein Zweifel walten, Der 
fehlte auch jebes Verftänpnig für die von ſüddentſchen Partikulariſten und U 
montanen verfuchte Deutung, man wolle buch bie Verträge den füdbentihe 
Regierungen eine Stimme im Bunbesrathe und dem in Zollſachen bisher mu 
tobten ſüddeutſchen Bolte eine Stimme im Zollparlamente gewähren, um beide - 
ihrer Selbftänbigfeit zu berauben. 

Durch die norddeutſche Bunbesverfoflung und bie Verträge vom 8, Yıl 
1867 iſt aus dem alten Zollverein eine neue Art von Zollverband geidafe 
worden — ein Zollverein zwifchen einer Bundeszollgenoſſenſchaft einer- und mi; 
reren fouveränen Staaten anbererfeits. Aber die Iepteren haben in ihrem nem 
Verhältni die alte Vollefouveränetät eben fo wenig behauptet, wie bie einzelun 
Staaten des norbbeutfchen Bundes. Sie haben das liberum veto verloren. De 
jegige Zollverband iſt eine Bundeszollgemeinſchaft mit Rüdfiht anf vie Legisie 
tive und ein Zollverein mit Rückſicht anf die Nevenden, welche zwifchen va 
norddeutſchen Bunde einer- und den einzelnen fündentihen Staaten amndererfeit 
getheilt werben. Aus dieſem Doppelverhältnig ergibt fi allerdings die Eige- 
thümlichleit, daß in den gefeßgebenven Körpern des Berbandes, dem Zollbunden 
rathe und dem Zollparlamente, ber eine Theil bei allen Berathungen und Br 
fhläffen von anderen Geſichtspunkten ausgehen muß, als der andere. Denn ta 
norddeutſchen Mitgliedern des Bundesrathes und Zollparlamentes gelten alle Zul: 
fragen als Bunbesfinauzfragen, den fühbentf—hen dagegen gelten file als Yıazı 
von finanzieller oder wirthfchaftiicder Bedeutung je für ben von ihnen vertretene 
Staat. Es Tann nicht ausbleiben, daß aus der Schwierigteit der Abſcheidung de 
Zollſachen von der ausſchließlichen Kompetenz des norddeutſchen Bundes umd ar 
dem Bedürfniß der Erweiterung des Gebietes ber „Zollvereinsangelegenheiter‘ 
über kurz oder lang Kompetenzlonflitte zwifchen dem norbdentihen WBurnbdesrot: 
und Reihstage einerfeits und dem Zollbundesrathe und Zollparlament ander 
feits entftehen, bie fi nicht löſen, fondern nur fo befeitigen laffen, daß bas Zeb 
parlament zum deutſchen Neichstage, der Zollbundesrath zum beuifhen Bunt 
rathe wird. Inzwiſchen können fi aber bie Segnungen bes neuen Berhältnifi 
welches in ber Garantie des freien Inneren Verkehrs, in der Sicherung einer tm 
fequent fortfchreitenden Tarifreform, in der Befeitigung ber Yurdt vor 2: 
vereinskrifen, wie fte fonft in jeder Bereinsperiobe einmal die Entwidelung unfer 
Handels und unferer Induftrie beeinträchtigten, beftehen, rubig entfalten, u 
wirklich machen fie fi ſchon in vielen Beziehungen geltend. 

Die wichtigſten, von früheren Verträgen abweichenden Beflimmungen d 
Bertrags vom 8. Juli 1867 find die folgenden: Nah Art. 3 8 3 und 4 fel 
im Zollvereinsgebiete neben den gleichen Beſtimmungen über die Zölle au M 
einftimmente Gefege über die Befteurung bes im Umfange bes Vereins geimen 


’ 


Zollverein. 1097 


nen Salzes und bes ans Müben bereiteten Zuders beftehen; auch foll ber im 
Umfange des Bereins gewonnene ober gubereitete Tabak einer übereinftimmenden 
Befteuerung unterworfen werben. In Art. 5 $ 2 find die Erzeugniſſe namentlich 
aufgeführt, deren Hervorbringung, Zubereitung oder Verbrauch mit einer inneren 
Steuer belegt werben darf; für einige dieſer Erzeugnifie find die Höchften zuläfft- 
gen Säge angegeben. Art. 7 überwelfet die Geſetzgebung in Zollfachen dem Bun- 
besrath des Bollvereins und dem Zollparlament. Der Bundesrath foll nach Art. 8 
8 51 aus den Bertretern der Mitglieder bes norddentſchen Bundes und der füb- 
bentfchen Staaten beftehen. Die Berfamminug entſcheidet per majora. Die Ver⸗ 
treter haben zufommen 58 Stimmen, bavon Preußen allein 17. Urt. 9 regelt 
die Zuftändigleit und Einrichtung des. Zollparlamentes; die Einrichtung ift in 
allen weſentlichen Stüden ber des Neihstage ähnlich. Nah Art. 9 S 11 find „bie 
Mitglieder des Zollparlamentes Vertreter des ganzen Volles" (mobel es nur zwei⸗ 
felhaft iſt, ob unter „Boll“ die ganze Zollvereinsbendlterung, und nicht, wenig⸗ 
ſtens für die ſübdentſchen Staaten, je die Bevölleruntz ihres Staates, gemeint iſh. 
Der Art. 10 handelt von der Gemeinfchaftlichkeit dev Cinnahmen; der darauf fol- 
n. gende Art. 11 fpricht die gemeinfchaftlide Theilung der in bie Gemeinſchaft fal⸗ 
ar lenden Einnahmen nach Verhältniß der Bevöllerung aus, bejeltigt alſo bie Zoll⸗ 
re: präcipua. Im Art. 29 iſt der Beginn des Vertrages auf den 1. Ian. 1868 fefl- 
5 gefeht, und andgefprochen, daß berfelbe, fofern er nicht vor dem 1. Ian. 1876 
un: don einem ber vertragenden Theile aufgefünbigt wird, vom 31. December 1877 
a an auf weitere 12 Jahre und fo fort von 12 zu 12 Jahren als verlängert an« 
in gefehen werben foll. Daß hiermit, felbft zwifchen dem Süden und Norden, nicht 
‚nö jene traurige Ausſicht auf Unbeſtändigkeit des Verhältnifſes, welche ben alten 
ina Zollverein auszeichnete, erneuert worden iſt, begreift ſich leicht. Die nene Berfaf- 
hy fung gewährleiftet zwar nit eine ewige Dauer dieſes Vertrags, aber fie bärfte 
u auch den Burdtfamften von der nunmehrigen Unldslicleit des wirtbfchaftlicden 

Bandes zwifchen dem Süden und Norden Übergengen. Dieß und bie Ueberwei⸗ 
mp fung der BZollgefeggebung an den Zollbundesrath und das Zollparlament find 
er wohl die wichtigften Errungenihaften des neuen Vertragsverhältnifies. 

Bas die im Urt. 11 neu georbnete Bertheilung ber Zollrevenüen anbelangt, 
mn! wird e8 Hier der Play fein, über die fhon jet zu Tage getretenen Wirkungen 
gig dieſer Unorbnung einige Bemerkungen einfließen zu laffen. 
per Nach den vorliegenden amtlichen Weberficten betrug : 

Die Roh-Einnahme von Ein- und Ausgangszöllen im I. 1868: Thlr. 27,319,525 
mo gdagegen die gemeinſchaftlichen Koſten n n 3,544,783 
Ber Blieben zur Vertheilung Thlr. 23,774,742 
im yes ergab ferner die Rübenzuderfteuer nach Abzug der Erport⸗ 
ie! vergütung und ber gemeinſchaftlichen Koften . . „  10,328,069 
an BES kamen alfo zur Bertheilung insgefammt ._ . .  . Thule. 34,102,811 
ie? Davon brachten auf 

3 Zölle. Rübenſtener. Zuſammen. exrhielt.vageg.2!) 
mifisex norddeutſche Bund 20,904,189 9,792,213 30,696,402 26,178,864 
(y ARuzemburg 88,868 — 89,858 180,274 

Bayern 979,445 91,038 1,070,483 4,346,201 
ir Uebertrag :21,973,492 9,883,251 31,866,743 30,705,339 


83 
h zus 1) Diefe Zahlen And das Nefultat einer auf Erund der Doreen Materialien aufge 
HM 


[:: Sue? Te" u 7 na 5 BED Bun a BE 1. EEE ED BEE 55———— 


ten Berechnung, welche nur in unmwefentlichen Punkten von der Wirklichleit abweichen Tann. 


1098 Nachtrag. 


Uebertrag 21,973,492 9,883,251 81,856,753 30, 706, 330 
Birtienbeg 549,828 257472 807,295 1,599,158 


4 


en 817,977 187,346 1,005,323 1,290,123 
Heflen (Provinz Starkenberg 
und Rheinbefien) 433,449 — 433,449 508,190 
23,774,741 10,328,069 34,102,810%2)34,102,810 
Es brachten daher auf mehr weniger 
als fie ſchließlich erhielten: 
Der norddeutſche md. . .  .  4,517,588 — 
Luxemburg . . 0 . 0 0 0 . 0 0 90,416 
Bayern . . . . . . . . . . 3,275,718 
Württeubeg. 791,863 
Baden . . . . 284,800 


Heflen (Btartenberg und Rheinhefſen) . . . . 74,741 

Dover m. a. W.: während ber ganze Rorben an BrattZöllen und Zuder 
fiener über A1/, Mil. Thlr. mehr vereiunahmte, als ihm ſchließlich bei der Ein⸗ 
nabmevertheilung verblieb, vereinnahmte der ganze Säben, mit Einfluß Lurem- 
burgs, um eben fo viel weniger, und erhielt deshalb jenes Pins ber Einnahme 
des Rorbens von letzterem ausbezahlt. 

Es ift bekannt, daß man nidt annehmen darf, um jenen ganzem Betrag 
von Über Al /, Millionen ſei der Zollverein finanziell vortheilhafter für den Su— 
den, als für den Norden. Denn eiri nicht unerheblich größerer Theil zolipflichtiger 
Berbranchegegenftände des Sudens wird im Norden verzöllt, als folder des Now 
bens im üben; aber der finanzielle Berluft, welden der Suden erleiven mäßte, 
wenn das wahnmwigige Verlangen gewiſſer Parteien im Süden nad ber Zer- 
reißung des Bollvereins verwirklicht wärbe, bürfte fih ohne Zweifel erheblich 
höher als anf jenen Betrag beziffern, und vie im Güten jegt fo vielfah ausge 
nugte Phraſe der Stenerüberbürdung wärbe daun allerdings in ganz umerwarte 
tem Maße zur Wahrheit werben. 

Im Jahr 1864 betrug: 
bie Bratto-Einnahme an Cin⸗ und Ausgangszöllen Thlr. 24,532,340 
die Summe der gemeinſchaftlichen Berwaltungeloften n 2,884,479 
blieben zur Bertheilung Thlr. 21,647,861 
Die Brutto-Einnahme an Rübenzuderftener . . „  10,050,681 
bie Summe der gemeinfchaftlidgen Abzüge 0 n 655,485 
blieben zur Vertheilung Thlr. 9,395,196 

Bon der Summe von 31,043,057 Thle. (Ein: und Ausgangsabgaben uud 
Nübenzuderftener, nad Abzug der gemeinſchaftlichen Koften) 

braten auf: 


erhielten bagegen: 
Zölle. Rüubenſtener. : 
Preußen 12,723,681 8,112,575 20,836,256 15,927,045 
Sachſen .. 2,515060 16,716 2,533,776 1,875,578 
Sun . . 1,446,211 21,105 1,467,316 2,986,625 
Kurbeflen . . 364,359 6,479 370,838 602,425 
Thüringen . . 314,688 65,711 870,399 901,716 


Uchertrag 17,363,999 8,212,686 25,578,585 22,293,389 
4) Die Differenz von 1 Thlr. rührt von der Richtberückfichtigung der Thalerbrüche ber. 


Solverein. 1099 
Mebertrag 17,863,999 8,212,586 25,578,585 22,298,889 


Braunfhweig. . 250,725 487,289 738,01& 217,571 
Oldenburg. 106,492 — 106,492 ___ 373,302 
Naffau oo. 100,069 — 100060 385,120 
Frankfurt 900,030 — 900,030 268,286 
vahern W 1,068,745 98,948 1,157,693 3,980,196 
Württemberg . . 469,628 297,119 766,747 1,458,603 
Ban. . 860,172 299,254 1,159,426 1,157,698 
Großh. Heflen . 608,442 _ 508,442 741,282 
Luremburgg . . 29,569 — 29,569 167,610 


21,647,861 9,395,196 31,043,057 31,043,067 
Es braten daher auf: \ mehr weniger 
als fie ſchließlich erhielten : 
Die Staaten des Zollvereins, welche jebt 


zum nosbbeutfchen Bunde gehören 2) . 8,888,512 — 
0 . ® O . 0 . . 2,822,608 


Bayhern . . 

Württemberg ER 691,856 

Baben © . . . . . 1, 128 0 . — 

Großh. Shen . . een . .. 282,840 
bur 138,041 


Over m. a. W.: während ber ganze Norden an Bruttozdllen und Zucker⸗ 
ſtenern 3,882 Millionen Thlr. mehr vereinnahmte, als ihm ſchließlich bei der Ein- 
nahme-Bertheilung verblieb, vereinnahmte der ganze Süden, mit Einfhluß Lurem- 
burge, um eben fo viel weniger und erhielt deshalb jenes Plus ver Einnahme 
des Nordens von legterem ausbezahlt. 

Belannilich bat fi ſeit 1864 nit une das Zollvereinsgebiet, fondern auch 
ber Maßſtab für pie Bertheilung der gemeinſchaftlichen Zolleinkünfte in ganz er⸗ 
heblihen Punkten geändert. Über das Ergebniß ber Revenitentbeilung ift für ben 
Süpen eher ein befieres geworden. Denn, wenn man bad rechtsmainiſche Zoll⸗ 
vereinsgeblet von 1864 mit Ausnahme der rechtemaintfchen heffiſchen und bayri⸗ 
ſchen ®ebietstheile für 1864 als nördliches, das linksmaiuiſche Zollvereinsgebiet, 
mit Hinzuziehung jener Landestheile als ſüdliches Zollvereinsgebiet betrachtet, und 
jenem das norbbentfche Bundesgebiet von heute, dieſem das nit zum Bunde 
gehörige ſüddeutſche Bollvereinsgebiet von heute gegenüberftellt, fo zeigt fi, daß 
ber Süben im Jahre 1868 13.25%/,, im Jahre 1864 aber nur 12.580/, ber 
ganzen gemeinſchaftlichen Zolleinnahme mehr erhielt, als er auf feinem Gebiet 
vereinnahmte, und daß alfo jet der ganze Norden verhältuigmäßig nod mehr von 
feiner Bollvereinseinnahme zu Gunften des Südens opfern muß, als vor den 
von gewiſſen ſüddeutſchen Parteien nod jet fo wenig gewürdigten Umgeſtaltun⸗ 
gen, welche das Jahr 1866 zur Folge gehabt Kat. — 

Wie die nenen Organe bes jepigen deutſchen Zollverbanves arbeiten, was 
fie im Vergleich mit den leitenden Organen des alten Zollvereins zu Stande zu 
bringen vermögen — darüber gibt eine flüchtige Durchficht des norddeutſchen 
Bunbesgejeblattes erfreulichen Aufſchluß. 

Dom 12. Oktober 1867 batirt bie Aufhebung des Salzmonopoles, 


3) Dabei mußten freilich bei der großen Schwierigkeit, die richtigen Zu- und Abzüge zu 
machen, Bayern und Heffen-Darmftadt mit ihrem ganzen Beftande noch mit zum Süden gerechnet 
werden, wad jedoch die Schlußfolgerung nur gang unbebeutend beeinträchtigt. 


1100 ' Nachtrag. 


bie Befreiung eines Theiles des Salzkonſums von jeder Stener und bie Einfäh 
rung einer gleichmäßigen Berbrauchäftener für den anderen Theil; vom 14. DI. 
tober ver Schifffahrtsvertrag zwifhen dem norbdentfgen Bunde 
und Italien — Beides Akte, die fofort für das ganze Zollverbanbsgeblet Gäl- 
tigkeit erlangten. Um 31. Oktober warb ber Freunbfdhafts-, Handeld- und Schiff 
fahrtsvertrag mit Liberia abgeſchloſſen, zu welchem den Güpveutfcen ber Bei- 
tritt ebenfalls vorbehalten wurde. Bom 18. Mat 1868 batirt das wichtige Geſetz 
wegen Abänderung einzelner Beflimmungen ber Zollorbnung und ber Zoll- 
firafgefeggebung; vom 9. März Desjefben Jahres der Handels⸗ und 
Zollvertrag mit Defterreih, welder den modus vivendi zwiſchen biefem 
Staate unb dem Zollverbande Marer als irgend ein früherer Berteg präcifirt und 
die beiderfeitigen e in weſentlichen Stücken abänder. — Ausführung 
ber im Art. 3 $ 4 des neuen Zollvereinsvertrages enthaltenen — wegen 
gleiher Befteurung bes inländiſchen Tabaks wird durch Das Geſetz 
vom 26. Mai 1868 dieſe nene Tabafobefteurung für das ganze Zollverbanbs- 
Gebiet geregelt, nit freilich mit der Wirkung vorausfiätlih erheblich höherer 
Revenden von biefem wichtigen Finanzartikel — in den Verhandlungen bes Zoll- 
parlamentes traten die oben gejchilberten Schwierigkeiten genügend zu zage —, 
aber doc mit der Wirkung der Befettigung einer weiteren inneren 
ſchranke — denn vom fübbeutigen Tabak braudt fortan beim ebergans Fi 
Norddeutſchland Keine Uebergangsabgabe mehr entrichtet zu werden. — 

80. März 1868 batirt ber Handelövertrag mit Spanien. — Durch * 
vom 4. und bezüglich 8. Inli 1868 werben Aenderungen in ber Befleurung 
Branmalzes und Branntweins für einige Staaten und Sebietstheile de 
norbbentihen Bundes eingeführt. — Am 8. Mai bereits war ber Hanbels- und 
Schifffahrtsvertrag zwifhen dem Zollverein und dem Kirchenſtaate abgefchlof 
fen worden. — Dazu kommt noch die Erweiterung des Zollverbaubs- 
gebietes durch die Aufnahme der Elbherzogthämer, Medlenburgs 
und Läbeds. Dieſes Gebiet iſt feit dem Schluſſe ber zweiten Zollvereinkver⸗ 
itagöperiode in Folge der großen GEreignifie des Jahres 1866 von 9047 DM. 
mit cirla 35 Millionen Selen auf 9675 Q.⸗M. mit 38,705,626 Ginwohnern 
genaden. Gewachſen alfo iſt der Zollverband an Gebiet, gewachſen aber ver 

Hem an innerer Feſtigkeit, an Beflänpigkeit und Beweglichkeit. Die Iauge Reihe 
ber oben aufgeführten, zum Theil tief einſchneidenden gefelichen und Bertrags- 
te, welche fi in ven kurzen Zeitraum von wenig mehr, ald 12 Monate ne 
fammenprängen, zeigt am —* daß ber bisher fo ſchwerfälligen Maſſe Leben 
und Bewegung eingehaudt iſt 

Hierzu fommen uun neqh bie Ergebnifſe der zweiten Sitzungsperiode bes 
dentſchen Bollparlamentes, welde in den Zeitranm vom 3. bis 22. Juni 1869 
fällt. Diefe Ergebnifſe gruppiren 1“ folgendermaßen: 1. Zoll⸗ und Handelsver⸗ 
träge, 2. Zollverwaltungsgefege, 3. Tarifänderungen, 4. Beſchluſſe Aber andere, 
als Zollangelegenheiten. 
3u 1. In der Parlamentsfigung vom 9. Juni 1869 wurden ber Zoll» und 

Öanbelsvertrag mit der Schweiz vom 18. Mai 1869 und ber Freundſchafts⸗, 
Handels⸗ und Schifffahrtövertrag mit Iapan vom 20. Febrnar 1869, beibe 
nad kurzer Debatte und einflimmig angenommen. Der erftere biefer Verträge bet 

ein altes und tief gefühltes Bedürfniß befrienigt; er hat den feit dem 13. Mai 
1865, bem Tage, an welchem in ber Berliner Zollfonferenz ein faft gleichlauten- 
ber Bertrag ‚ der aber dann nicht in Kraft trat, zwiſchen beiden Gebieten beſte⸗ 








Zollverein. 1101 


henden modus vivendi ſanktionirt; es behandeln fi feit dem 1. Juli d. 9. ver 
Zollverein und die Schweiz aud de jure gegenfeitig auf dem Fuße ber meiſibe⸗ 
ünftigten Nation, was feit dem Frühjahr 1865 nur de facto gefhehen war. 

eitvem find für uns ferner bie Durhfuhrzölle in der Schweiz — bis auf eine 
Meine Abfertigungsfchein-Gebühr — befeitigt, für beide Theile erhebliche Erleich⸗ 
terungen bes Grenzverkehrs eingeführt, werden Erzengniſſe beider Gebiete, welche 
in dem anderen einer inneren Probnitions- oder Verbrauchsabgabe unterliegen, 
völlig gleich behandelt ven gleichnamigen Erzeugniſſen des eigenen Landes — wit 
der einzigen Ausnahme, daß in einzelnen Kantonen der Schweiz für eingeführte 
Setränte no befondere Innere Berbrauchsabgaben erhoben werben bürfen, welche 
jedoch thunlichft befeitigt und jedenfalls nicht über ihren jegigen Betrag erhöht 
werben follen. (Gerade an biefem Punkte war das Zuſtandekommen bed Vertrages 
vom 13. Mai 1865 gefcheitert.) 

Auch der andere der beiden oben erwähnten Verträge — ber mit Japan — 
verfhafft dem gefammten deutſchen Zollverein bie Rechte der meiſtbegünſtigten 
Nation; er gibt durch Verleihung der Gerichtsbarkeit an bie deutſchen Konfuln 
dem fo friſch aufblühenden veutfchen Verkehr in japaneſiſchen Hanbelsplägen größere 
Sicherheit und durch die Eröffnung von vier neuen Häfen — geöffnet find jest 
bie Städte und Häfen von Hakodade, Hioga, Kanagama, Nagafali, Niegata mit 
Ebiſuminato auf der Infel Sabo und Oſaka, ſowie die Stabt Yeddo — dem beut- 
fhen Handel nene Ausdehnung, ganz abgefehen von anderen fehr wefentliden 
Grleihterungen, welche für die mit nnd in Japan verlehrenden Angehörigen bes 
Zollvereing zu erwirten unferen Unterhänblern glüdlich gelungen ifl. 

Zu 2. In der Parlamentsfigung vom 18, Juni gelangte der Entwurf eines 
Bereinszollgefeges, in ver vom 21. Iunt der Entwurf eines Geſetzes, be⸗ 
treffend die Sicherung der Zollvereinsgrenze in den vom Zoll— 
gebtet ausgefähloffenen Hamburgifhen Bebietstheilen zur An- 
nahme. Beide Entwärfe haben inzwifchen Gefegestraft erlangt; das erſtere Geſetz 
tritt vom 1. Januar 1870 ab in Wirkfamfeit, das andere ift bereits‘ feit dem 
1. Anguſt 1869 in Geltung. Das Bereinszollgefeg iſt vielleicht die werthvollfte 
Errungenſchaft der zweiten Sigungsperiode des Zollparlamentes; es hat eine große 
formelle und materielle Bebentung. Beim Erlaß der alten —— und des 
Zollgeſetzes war der Eiſenbahnverkehr noch unbekannt und konnte den Auforderun⸗ 
gen noch nicht entſprochen werben, welche bie außerordentliche Entwidelung ber 

mpfieifffahrtsverbindungen nachmals an bie Zollverwaltung ftellten. Dan wer 
daher bemüht, im apminiftrativen Wege nadzubelfen. Im Jahre 1852 wurbe 
durch ein Regulativ die Mbfertigung der auf ben Eifenbahnen aus- und eingehen- 
ben Büter gereaelt; das Regulativ erlitt [päter mannigfache Modifilationen. Ebenfo 
wurbe der Waaren-Ein» und Ausgang feewärts durch beſondere Hafenregulative 
geregelt. Auch diefe mußten im Laufe der Zeit mehrfach mobificitt werben. Bei 
biefen Reformarbeiten machte ſich immer bad Bedürfniß geltend, von den firengen 
Formen abzuweichen, welche bie Zollordnung vorſchrieb. Auch nach anderen Rich⸗ 
tungen hin mußten dieſe ſtrengen Formen durchbrochen werben: es zeigte ſich bald 
‚die Nothwendigkeit, die Begleitſchein⸗Abfertigung zu erleichtern, den Nieberlages 
Berlehr von manchen hemmenven Formen zu befreien, für den Poſtverkehr we⸗ 
ſentliche Bereinfachungen und Erleichterungen eintreten zu laſſen m. ſ. w. Alle 
biefe verfchiebenen Beftimmungen über die Zollabfertigung fanden fi nun zer⸗ 
ſtreut, theils im Zollgeſetz, theils in der Zollordnung, theils in einer Maſſe von 
Regulativen und fonftigen abminifirativen Borfchriften; es war für die Iuteref- 


1102 Nachtrag. 
fenten unmögli, den Beamten koſtete es unſägliche Mühe, in dieſem Chaos fid 
zurecht zu finden. Diefem großen Mangel Hilft unn das neue Bereinszollgefek in 
ger Weiſe ab. Es enthält in überfichtlicher Aufelnanverfolge Beftiumen- 
en über den bireften Eingang lanbwärts auf Flüfſen und Kanälen, über ben 
⸗ und Ausgang auf Gifenbahnen und in den Gechäfen; es behandelt aus 
führlih die Beflimmungen über ben Niederlageverkehr; es bezieht fi auf ven 
Poſwerkehr; es faßt in einem befonveren Abſchnitt zufammen das Verfahren bei 
ber Zollbehanblung des Reifeverkehrs. Es enthält endlich — und auch das iſt ein 
großer Fortſchritt — and Gtrafbeftimmungen, die bisher den gemeinſchaftlichen 
Bollgejegen nit einverleibt waren. (Im Jahr 1836 ward es verfudt, gelang 
aber nicht, Über eine gemeinfame Zollſtrafgeſetzgebung fi zu vereinigen.) Das 
Selen faßt in einem befondern Abſchnitte bie einheitliche Zollſtrafgeſezgebung für 
den ganzen Berein zufammen. 
Diefe formellen Uenderungen der alten Zollgeſetzgebung find ſehr bevent- 
fan. Uber man muß es anerkennen, daß die letztere dur) das neue 
geſetz au in materieller Beziehung eine ziemlich grändliche und zwerimäßige 
Revifion erfahren bat. Dieſe Revfiion ift auf eine Bereinfahung und Erleichte⸗ 
rang in den Kontrolen und im Mbfertigungsverfahren einerfeits und auf eine 
Miiderung der Stra gen andererfeits gerichtet gewefen. Bisher war bie 
Ueberfreitung ber Grenze gebunden an die Innehautung gewiffer Strafen; in 
biefer Beziehung iſt eine Erleichterung gewährt. Die Deklarationspfligt iſt erheb⸗ 
lich gemitdert, die Begleitfcheinabfertigung erleichtert; dad Unfageverfahren in ans- 
gebehnterem Maße als bisher für zuläßig erflärt; im dem Nieberlageverfehr find 
bebeutende Erleichterungen eingetreten und ber Kreis der zur Niederlage berech⸗ 
tigten PBerfonen iſt erweitert worden. Anlangend die Strafbefiimmungen, fo Tann 
man fi tet gegen vie geſetzliche Präfumtion der Defraude durch den &egen- 
beweis jhägen, daß nicht bie Abſicht vorgelegen habe, den Zoll zu umgehen. — 
Kurz Im jeder Beziehung iſt die Sefepgebung durch dieſe glückliche Reform mit 
. den Berlchröbenärfniffen ver Zeit und mit den modernen Anfhauungen in Ein- 
fang gebracht, fo gut es für biefen erflen Anlauf nur irgend zu erwarten war. 
Zu 3. Die ebatte vom 14. und die Specialbebatte vom 15. unt 
16. Iunt über den Befegentwurf, betreffend die Abänderung des Ber- 
einszolltarifs vom 1. Juli 1865 gehört viellekht zu den bedentendſten 
parlamentarijchen Leiflungen, die umfer modernes Tonftitutionelles Staatsleben über- 


46 Poſitionen des Bereinstarifs vom 1. Juli 1865 Befreiung vom (Eingange 
vorgefglagen. Das Zoliparlament ging auf biefen Theil des Entwurfs ein. 

tter war eine Ermäßigung des Eingangszolles für 27 Pofttionen vorgeſchla⸗ 
gen. Wu dieſe Aenderungen wurden, nach einer beſonders bewegten Debatte, mit 
geringen Modifilationen angenommen. Im III. Abfchnitt des Entwurfes warb eu 
gangszoll von 15 Sgr. für „Mineraldle, roh und gereinigt," 
gefordert. Die Borlage wurde mit 155 gegen 93 Stimmen abgelehnt Di 
übrigen Abſchnitte der Vorlage betreffen Abänverungen in den Taravergütunges 
für 5 verſchledene Begenftände, in den Borbemerkungen zu der erſten Wbtheilumng 
und in den Beſtimmungen der britten Abtheilung bes Tarife; endlich im ber 
Benennung einiger Tarifpofitiowen. Huch zu biefen Abthellungen des Gutwurfes 
ertheilte das Parlament feine Genehmigung. ber die Weigerung des Bunbesyzi 


Bollverein. 1108 


fidtums, die Borlage fo wie fie aus der Berathung bes Parlaments hervorgegan⸗ 
gen (mit Streihung bes Petroleumzolles) zum Geſetz zu erheben, hat 
ſchließlich dieſe ganze Tarifreform fcheitern machen. „Die Renifion des Bereins- 
zolltarifs“ — fo heißt e8 In der Thronrebe, mit welder am 22. Juni die zweite 
Sigungsperiode des Zollparlamentes gefchloffen wurde — „tft zu Meinem Be 
banern nicht zum Abſchluß gelangt. Ich gebe die Hoffnung nit anf, daß bie 
Berſchiedenheit der Meinungen über die finanziellen Aufgaben des Vereins, welde 
diefer Abſchluß verhindert hat, mit der Zeit ihre Ausglelhung finden werbe.” 
Um den Preis einer Nachgiebigkeit der exelutiven Gewalt, wie fie fich in allen 
Staaten mit einigermaßen tief eingewurzelten konftitutionellen Anfhauungen ganz 
von felbft verfianden haben würde, würde eine umfaflende Reduktion des ganzen 
Zolltarifs, einſchließlich der verderblichen Eifenzölle, erfolgt fein. Man muß hoffen, 
daß „die Berfchievdenheit der Meinungen über bie finanziellen Aufgaben des Ber- 
eins”, von denen bie Thronrede fpricht, fchon in der nächſten Sigungsperiobe 
des BZollparlamentes „ihre Ausgleichung“ In der Welfe finden möge, daß noch 
größere, als bie jegt durch das eigemfinnige Präfivialveto verhinderten Meformen 
von Seiten des Zollbnudesraths vorgeihlagen und vom Parlament fanktionirt 
werben. 

And der Entwurf ‚eines Geſetzes, betreffend die Beftenrung des 
Zuders, fam zur Berhanplung. Hiernach follte vom 1. Sept. 1869 ab bie 
Aübenfteuer auf 8 Sgr. erhöht werben. Es follte für Räbenzuder und Raffinade 
aus Rohrzuder eine der Rübenzuderfieuer entſprechende Erportvergätung gewährt 
werden, deren Betrag ber Zollbunbesrath jeweils feflzufegen fi vorbehielt. Für 
xaffinirten Zuder und Nobzuder von Standarbuummer 19 (Holländ.) und baräber 
follte der Eingangszol 4 Thlr. 20 Sgr., für anderen Robzuder follte ex 8 Thlr. 
221/, Sgr., für Syrup 2 Thlr. 15 Sgr. betragen; Melaſſe follte, wenn zur 
Bramntweinbereitung befitmmt, zollfrei fein. Der Entwurf ftellt ferner die Tara- 
vergätungen in anderer Weiſe feſt und enthält Strafßeftimmungen für den Fall 
der umrichtigen Angabe des Gehaltes von zur Ausfuhr dellarirtem Zucker. 

Die Plenmvorberathung über diefen Entwurf fand in ber Stgung vom 16. 
und 17. Juni, die Schlußberatbung in ber vom 21. Juni flatt. Die Borlage 
enthielt nur einen Heinen Schritt anf dem Wege nad der wünfhbaren Reform 
bin, wie wir fle in einigen flüchtigen Zügen oben angebeutet haben; es follte 
wenigftens eine Parltät des Eingangszolles auf Kolonialzuder mir der Inlänbi« 
fen Befleurung angefirebt werben. Die Beſchlüfſe des Parlamentes haben, wie 
es ſcheint, im der Abſicht, zwiſchen den freihänblerifchen Yorberungen und ben 
Interefien der Nübenzuderfabrilanten zu vermitteln, jene Beſtrebung vereitelt. Das 
Barlanıent bat die Steuererhöhung auf 8 Sgr. für den Etnr. Rüben angenom- 
men, bie Erportvergütung auf 3 Thlr. 4 Sgr. für unfere niebrigfte Onalität 
Robzuder, auf 3 Thlr. 25 Sgr. für Kanbis feftgeftellt, und flatt ber propo- 
nirten Eingangszollfäge von 4 Thlr. 20 Gr., 3 Thlr. 221/, Gr., 2 Thlr. 15 Gr. 
folde von bezäglid 5 Thlr., 4 Thlr. und 21/2 Thle. angenommen. Kundige Krie 
tier nehmen an, daß biefe Modifikationen ver Vorlage flatt eines finanziellen 
Gewinnes vielmehr eine große Einbuße zur Folge haben, die Einfuhr ausländi- 
fen Zuders nah wie vor unmöglid machen und den inländifhen Konfum eher 
verringern als fleigern werden. Solhe Wirkungen freilih würden dazu drängen, 
auf den Gegenftand demnächſt zurüdzulommen, und die mit einem Bermittelungs- 
verſuche gemachten ungünſtigen Erfahrungen werben ja endlich dem Uebergang zur 


1104 Nachtrag. 


Fabrilatbeſtenrung und zu einer größeren Ermäßigang ber Eingangszölle für aut- 
landiſchen Zuder die Bahn ebnen. 

Zu 4. In der 11. Sitzung bes Zollparlamentes, am 21. Juni, fam eine 
Petition des fländigen Ausſchufſes des dentſchen Hambelstages, die Einleitung 
einer Münzreform betreffend, zur Verhandlung. Der Antrag des Beridt- 
ecftatters der Petitions⸗Kommiſfion, welcher folgendermaßen lautete: „Dias Zoll- 
parlament wolle befchließen, die hohen verbündeten Regierungen aufzufordern, bie 
Schaffung eines neuen ſtreng decimalen Münzſyſtems baldthunlichſt in Angriff zu 
nehmen und babei befondere Rückſicht darauf zu nehmen, daß vasfelbe möglichſt 
viele Oarantieen feiner Erweiterung zu einem allgemeinen Syſteme aller cioilifiv- 
ten Nationen böte” wurde ohne Debatte einflimmig angenommen. 

Dieß die bemertenswertheften Refultate der zweiten Sigungsperiobe bes beut- 
ſchen Zollparlamentes, 

Neben den eben aufgeführten und bereits vollzogenen Alten ber Geirkge- 
bung und Vertragsichliegung find viele andere von gleiher Wichtigkeit in ve 
Borbereitung begriffen; reichliche Arbeit fteht no für jede ber nächſten Sitzungs- 
perioden des Zollparlamentes, oder ber anderen gefetgebenden Behörde, welde 
fih, wenn die Geſchicke des Vaterlandes fi erfüllen werben, mit der Zoll- und 
Handelsgeſetzgebung zu beihäftigen haben wird, bevor; unendlich viel bleibt noch 
zu thun, bevor wir fagen bürfen, es ſeien alle die ſchwerſten Gebrechen unſerer 
Zoll⸗ und Handelsgeſetzgebung geheilt, es jeien alle erheblid,en Hinberniffe unſe⸗ 
ver wirthſchaftlichen Entwidelung befeitigt, es feien unfere Verkehrsbeziehnugen zu 
anderen Staaten in allen Stüden rationell geregelt. Aber, wenn während des 
alten Zollvereins jever Verſuch zur Beſeitigung aller jener Gebrechen, Hinbernifie 
und Mängel hofinungslos war, und nur in Folge eines zufälligen Zufammen- 
treffens glücklicher Umflände bie und da einmal ans Ziel gelangte — jegt find 
wir über diefe Zeiten der Refignation hinaus. Und anvererjeits, wenn man frü- 
ber mit Recht „den Zollverein und bie Armee” für „die Grundſteine der dentſchen 
Einheit” erklärte (Aegidi) — mit nit minderem Rechte kann man heute ben nen- 
organifirten Zollverein als das ſicherſte Fundament des Tünftigen deutſchen Ge» 
fommtftants betrachten. R. Guuinghens. 








I. Regifter zun elften Baud. 


Die Ueberfäriften und Geitenzahlen ver in diefem Band enthaltenen Wrtilel find 
durch fette Schrift hervorgehoben. Die eingeflammerten Berweifungen 
beziehen ſich auf einem der vorhergehenden Bande. 


4. 


Abgeorbuetentag 470. 

Acciſepflichtige Waaren 364. 

Abdams, J. Qu. 721. 

Mans, John 719. 

Abel und Adelörechte in Walde 147, in Würtem⸗ 
berg 235, 243, in Großbritannien 563. 

Aegypten (Rachttrag z. B. J. ©, 82) 
209. 1048. 

Aftiengefellfchaften 6, 7. 

Allgemeines Stimmrecht 129. 

Ampbittyonenbund 82, 

Anatocismus 227. 

Anatocismus anniversarias 221. 

Andrafiy. 894, 907. 

Annexionen, f. Einverfeibung. 

Arbeiterkonſumtibilien (Bezollung) 390. 

Argentiniſcher Staatenbund 1043, 

Armeereorganifation (Preußen) 473, 

Ausfuhrprämien 355, 

Ausfuhrverbot 355, 

Ausfuhrgoll 348, 363, 355, 385. 

Ausgleihungszon (neben Schutz ⸗ und Konſum⸗ 
tionsgoll. Hoch 371. 

Ausſchließung der Farbigen 133, 

Ausſteuerkaſſen 20, 


8. 
Baden Machtrag z. 3. 1. ©. 631) 213. 


A, Geſchichte, Staatsrecht und Politik 413. 
B, Statiſtik 415, 


Binntf@li un Braten, Denties Stants-Wörterbuß. XI. 


Banda oriental 1045. 

Bankcontrolamt 338. 

Banlen, amerit. 830 f. 

Bankerott, öſterr. 906. 

Bankfreiheit für Kredite und Zettelbanken 324, 
336. 

Banknotengeſchäft 300. 

Bank of issue, banque d’ömission 293. 

Bankpolitit 336. 

Banquiergefchäft 315. 

Bafeler Koncil 87. 

Bauernftand und Bauernrecht in Walde 147, 
in Bürtemberg 243, in Aegypten 409, in 
Großbritannien 567. 

Baumwolle 817. 

Bayern (Rahtrag 3. 8. I. ©. 703) 417. 

Beauharnais, Eugen 622. 

Beccaria 620. 

Belenntnißfreiheit 204. 

Belcredi 879, 

Belgien Machtrag z. B. U. ©. 1. von 

Schultheß) 288. 

Berg, General 933, 960, 

Beichränkungen d. Stimmrechts 129, 

Befeltigung d. Wuchergefeße 225. 

v. Beuft 456, 464. 

v. Beuſt 888 f. 904. 

Bevölkerung der Union 764 f, 

Bevölkerungsftatiftit von Walde 146, von 
Bürtemberg 229, von Baden 415, von 


Bahyern 422, von Brafilien 428, von Däne 


mark 448, von Europa 508, von Frankreich 
557, von Griechenland 563, von Grof 
70 


l 


1106 


britannten 572, von Stallen 644, von Japan 
650, des Kirchenflaates 658, von Rumänien 
702, der Niederlande 706. 

dv. Beyer 415. 

Bildungsanftalten in Balder 146, in Würtem⸗ 
berg 251, in Baden 414, in Großbritannien 
573, in Mexico 690. 

Binnen oder Ortözolifuften 343. 

v. Bismard 471, 473, 489. 

Bismard»Schönhaufen 940 f. 

Boleslaw Chrobry 914. 

Boleslaw, der Kühne 914. 

Boleslaw Krummmaul 915. 

Bolivia 1041. 

Bonaparte 620. 

Braſilien (Nachtrag z. B. 11. ©. 216, von 
Thorbecke) RSS. Landwirthſchaft und 
Handel 429. Religion 429. Verfaſſung 430. 


Innere Verwaltung 430. Aeußere Politik 431. 


Einwanderung und Kolonifation 435. 
Bratiano 700. 
Bravo, Gonzales 1028. 
Britiicher Zolltarif (Bereinfadhung) 359. 
Brown 727. 
Buchanan 727. 
Bundesfriegswefen, norddeuſches 497. 
Bundesreform 947. 
Bürgerreit, ameril. 737. 


©. 
Caboto 707. 
Calhoun 721, 722, 724. 
Candia 1048, 


Gapitularien 85. 

Carolina (Nord» und Süd) 712. 

Cavour 522, 528, 630, 

Genfus 135. ; 

Chili 1042. 

China Machtrag 3. B. 11. ©. 430) 236. 

Elarendon 567. 

Clay 721, 723, 725. 

Colonialwaaren (Befteuerung durch Orts⸗ und 
Einfuhrzölle) 343, 364. 

Colonien Großbritanniens 572, der Niederlande 
706, franz, u. hollãnd. C. in Nordamerika 708, 

Columbien 1036, 

Eonnecticut 711. 

Convention (englifche) 202. 


Kegiſter. 


Convention (ſchottiſche) 203. 

Convention von Turin 661. 

Corfica 588. 

Couza, Aler. Joh. 697. 

Greditbanten 294. 

Creditvermittler (Erebitbanfen) 301 315. 
Cuba 1034. 

Czechen 909 f. 


D. 


v. Dalwigk 456. 

Dänemark (Nachtrag z. B. 
441. 

Davis, Jeff. 728. 

Deal, 864 f. 884 f. 892. 

Delaware 712, 

Depofitum 297, 299, 300, 

Derby: Disraeli 566. 

Deutfcher Ordern 915. 

Deuticher Reformmerein 470. 

Deutſchland (Nachtrag z3. B. IL. ©. 67, 
von Schultheß) 249. Dresdener Con⸗ 
ferengen 451. Reactivirter Bundestag 452. 
Neue Aera in Preußen 453. Italieniſcher Krieg 
454. Nationale Bewegung 455. Preußiſcher 
Entwurf 3. Revifion d. Bundeskrtegverfaſſung 
457. Küſtenſchutz⸗Projekte 458, Reformfrage 
überhaupt 459. Kurheffiſche Angelegenheit 460, 
486. Innere Zuftände. Fortſchtitt d. nationalen 
Bewegung 462. Sächfiſches Reformprojekt 
463. Schleswig⸗Holſteiniſche Angelegenheit 
467. Reue Gpaltung 468. Kransöfifcher 
Handelövertrag 469. Deſterreichiſch⸗ mittelſtaat⸗ 
liches Delegatlonoͤprojekt 470. Konflikt in 
Preußen 472. Deſterreichiſches Reformprojekt 
474. Frankfurter Fürſtentag 475. Däniſcher 
Krieg 480. Entzweiung Deſterreichs und 
Preußens 485. Graf Bismard 489. Gaſteiner 
Convention 490, Deutfcher Krieg 491. Prager 
Friede 493. Rorddeutfcher Bund 494. Bundes 
verfaffung 495. Schluß 500. 

Disciplin der Staatödiener In Walde 147, in 
Bürtemberg 250, in Aegypten 409, in Baden 
414. 

Discontirung 296. 


II. ©. 655) 


Dithmarſen 980, 984 f. 


Domaine de l’ötat 67, 
Domaine public 67, 








Regifter, 


Dur chſuht zol 341, 348. 
Dynaſtiſche Anlprůche 65. 


Ecuador 1038. 

v. Gbelöpeim 415. 

Ehrenämter 64, 145. 

Ciderdänen 998. 

Einfuhrzo 342, 348, 358, 387. 

Cinfuhrzolltarif (Bereinfahung) 358, 

Einverleibungen, Preußiſche 949 f. 

Eiſenbahnen. amerit. 805. 

Cifenbahnunfälleverfierung 23, 45. 

Entrepots, fingirte und reelle 382. 

Entfpädigung der Abgeordneten 145. 

Cotvds 864. 

Eſterbazy 874, 878 f. 

Europa (Rabtrag 3. B. II. ©. 455, von 
Säultheß) 507. I. Europälfcfe Staaten 
508. 11. Handel und Berfehr 509. III. Ver⸗ 
faffungszuftände 511. 1V. Finanzen und 
Kriegomacht 512. 

Erecutlonsverfahten (Dänemark) 444. 

Egportbonififation 355, 380, 


2 

Falliten (Stimmrecht) 131. 

Fauftpfänder (Ausleipung d. Banf auf F. 298, 

Vebruarverfaffung, öflerr. 857 f. 

Fenlanismus 571. 

Fenus nautioum u. quasi n. 221. 

Seuerverfiherung 11, 37, 47. 

Finanzen des norbdeutfchen Bundes 498. 

Binanzwefen In Waldet 147, In Würtemberg 
521, in Aegypten 408, in Baden 415, in 
Bayern 420, in Brafilien 430, in Europa 
512, in Frankrelch 558, in Griechenland 563, 
in Großbritannien 573, in Stalien 645, im 
Rirjenflant 668, in Rumänien 702, tn den 
Niederlanden 706. 

Binaland -956 

Florenz (Mepu 

Flotte, amerit 

Fod 705. 

Forderaliſten 

Fraukreich 
von Schu 
Ralieniſcher 


1107 


dv. 1860-68, 521. Weiterer Verlauf d. ital. 
Angelegenheiten 522. Römifde frage 528. 
Mexltaniſche Eppedition 534. Creignife in 
Deutfchland 536. Innere Zuſtaͤnde 546. Ause 
Röten 551. Gtatififger Rachtrag 557. 

Frang II (Neapel) 632, 

Franzdfiſch · deutſchet Handelövertrag 414, 469. 

Srangöfifhsenglifher Hanbelövertrag 568. 

Freipäfen 382. 

Freihandelöprincip 510. 

Frellager für fremde Waaren 381. 

dv. Frepdorff 416. 

Briedenspräfiminarien v. Nidolöburg 664. 

Srledendvertrag v. Prag 664. 

Friedendvertrag zu Berlin 664. 

Friedensvertrag zu Wien (1866) 665. 

Briede von Züri) 860. 

Ftiedrich Auguft 923. 

Friedrich v. Auguftenburg 444, 481. 


Garibaldi 624, 531, 631, 633, 

Gafleiner Vertrag 683, 

Gebãͤudeverſicherung 11. 

Gegenfeltigfeifsanftalten 6, 7. 

Geheimer Rath (privy copncil):205. 

Geiſtliche Gewalt (Berwerfung bei Ziwingli) 401. 

Geldbanken 294. 

Geld» oder Münzwechfel 295. 

Beleltögeld 341. 

Gemelndeverfaffung in Walde 147, in Bürtems 
berg 250, in Aegypten 409, in Bayern 420, 
in Itallen 642. 

Gemifchtes Verſicherungoſyſtem 10. 

Genua 600. 

Georgios 561. 

Gerihtöpöfe der Union 750 f. 

Gerichtohdfe der Eingelftaaten 753. 

Germanen (Völferreht) 83. 

Gewerbefreibeit 414, 510. 


1108 


Glötra 904. 

Gladſtone 567, 571. 

Glaßverfiderung 27. 

Gottorperlinie 986. 

Governers der Einzelſtaalen 753. 

Grant 730, 733. 

Grenzzöfle 340, 348. 

Griechenland (Rachtrag z. 3. IV. G. 390) 
559. 

Großbritaumien iNachtrag 3. B. IV. ©. 
423, von Schultheß) 562. 


SD. 


Sagelverfiherung 13, 41, 51. 

Handel, amerif. 823 f. 

Handelskreditverſicherung 46, 56. 

Sandeldmarine, amerit. 804. 

Hardeuberg (vn Onden) 875. 

Harrifon 724. 

Heer amerit. 799. 

Heerweien in Waldeck 147, in Würtemberg 252, 
in Belgien 426, in Brafilien 431, in Europa 
513,in Frankreich 558, fm Italien 646, im 
Kirchenftaat 658, in Rumänien 702, in den 
Niederlanden 706. 

Heinrich von Balois 922. 

Herbſt 899, 900, 904. 

Herzen 965, 

Heydt, von der 939. 

Hohenlohe, Ingelfingen 939. 

Hohenlohe: Schiliingsfürft 419. 

SHohenzollern-Aueröwald 453. 

Holſtein 441, 452, 467. 

Humanitätsidee 84, 

Hypothefenverficherung 26, 45, 56, 


I. 


Immobillarverſicherung 11. 

Impeachment 744, 

Jmperium mundi 183, 

Innocenz III. 87. 

Internationale Conventionen 512. 
Internationales Gewohnheitsrecht 96. 
Internationales Privatrecht 76. 
Internationale Gtaatörecht 76. 

Iriſche Frage 571. 

Italien (vgl. 3. V. ©. 360) 584, I. Land 


Regifter. 


und Boll, Rütbli auf die ältere Geſchichte 
584. II. Seit 1848 627. II. Berfaffung 641. 
IV. Statiftifges 644. v. Reuchlin. 

Jackſon, Andr. 722. 

Jagiellonen 916 ff. 

Japan (Nachtrag 3. 3. V. S. 400) 64 6. 

Sefferfon 719. 

Sefferfon, Thomas 715, 718. 

Jeſuiten in Polen 922, 

Jeſuiten (Schottland) 203. 

Johann Kaflair 923, 

Johnſon 731. 

Jolly 415. 

Zonifche Inſeln (Einverleibung) 666. 

Juden, deren ſtaatsbürgerliche Rechte in Baden 
414, in Italien 641, in Rumänien 702. 

Juden, deren Verbreitung in Waldeck 146, in 
Würtemberg 229, in Baden 416, in Europa 
515. 

Jus privalum 67, 

Jütiſches Low 974. 


Kalifornien 724. 

Karl Albert 625, 641. 

Karl Keliz 625. 

Karl v. Hohenzollern 698, 

Kaflmir 914. 

Kaſimir, der Große 916. 

Kathof 965. 

Katholiken und Proteftenten, deren Berbreitung, 
fe Religionsftatifit. ' 

Kaufmann, General 964, 

Kiew 917. 

Kinderverforgungsfaflen 20. 

Kirchenrath in Zürich 403. 

Kirchenſtaat Nachtrag z. B. V. S. 579, 
von Säultheh) Sul, 

Kirche, fichtbare und unfichtbare (Zwingfi) -402. 

Kirchliche Berbältniffe in Walde 147, in 
Würtemberg 250, in Baden 413, in Belgien 
422, In Braflien 429, in Frankreich 528, In 
Großbritannien 563, in Itallen 641, in Japan 
650, in Mexico 686. 

Kirchliche Zuftände In Rordamerika 794. 

Konförderation (amerik,) vom 1778, 715, 733. 

Kongreß 740 f. 

Kongrefie au) Friedensſchluffe (Reqh⸗ 





Regifier. 


trog 5. B. V. ©. 666, von Schultheß) 
660. 

Konkordat, öflerr. 900, 904 f. 

Konftantin, Großfürft 959. 


1109 
M. 


Madiſon 720. 
Mailand (Auſſtand) 627. 


Krantenkafien 24, 45. „ Maine 711. 

Kreuszüge 86. Manin 631. 

Kroatien 884, 911. Manteuffel 453. 

Kuba 725. Marine in Brafilien 431, in Dänemarl 448, 
Kuhn 907. in Frankreich 558, in Griechenland 563, in 
Kurbeffifche Frage 453, 460, 466, Stalien 646, in den Niederlanden 706. 
Kurverein 87. Maryland 711. 


®. 


Zamarmora 638. 

Lamey 413, 

Zandeszölle 340. 

Zandfeetransportverfidherung 19. 

Landtag in Walde 147, in Würtemberg 243, 
in Aegypten 409, in Baden 414, in Groß 
britannien 566, in Italien 641. 

Landtransportverfiherung 19. 

Landwirthſchaſt und Viehzucht in Walde 146, 
in Rürtemberg 231, in Brafilien 429, in 
Stalin 593. 

Langiewicz 932, 959. 

Lateiniſche Race (Mexico) 694, 

Lebensverfiherung 19, 42, 54. 

Keibeigenfchaft, ruſſiſche 955. 

Leopold (Belgien) 426. 

Les Genucia 221. 

Lex 992. 

Ligurifche Republit 606, 

Lincoln 728-731. 

Lippe, Graf 939, 

Rofalaccifen 371. 

Rode 712. 

Lombardei 592, 625, 628, 

Lombardgeſchaͤft 296. 

Lornſen 997. 

Londoner Konferenz (1864) 663. 

Londoner Bertrag (1862) 662. 

Louis Philipp 641. 

Lüders 958. 

Ludwig 11. (Bayern) 418. 

Ludwig von Anjou 921. 

Luxemburg (Reutralifirung) 666. 

Rugusnahrungsmittel Begellung) 390. 


Maſſachuſets 710, 717. 

Mathy 415. 

Maut 340, 

Maximilian II (Bayern) 418. 

Maximilian (Megico) 535, 688, 

Maylath 874. 

Mazzini 626. 

Medici 612. 

Menabrea 636, 638 

Mennsdorf 887, 888. 

Metternich, Clemens von (Onden) 
666. 

Mexico (Natrag z. B. Vi. ©. 612, von 
Schultheß) 6SB. 

Mieroslawsti 959. 

Mieczyelaw I. 914. 

Mieczyslaw II. 914. 

Milttärreorganifallon 936 f. 

Militärverfiherungsanftalten 20. 

Militärverwaltung 66, 

Miliutin 962. 

Minghetti 643, 

Mobiliarkreditoerficherung 46, 56. 

Mobiltarverfiderung 11. 

Moldau und Walachei (Nachtrag 3. 2. 
VI. ©. 691, von Schult heß) 696, 

Monroe 720. 

Mormonen 727. 

Muͤhler, von 939, 

Mübhlfeld 900. 

Mürat 622, 

Murewieff 933. 


N. 


Napoleon, Louis 518. 
Narvaez 1027. 


Natlonalverein 455. 


1110 


Neapel (Annexion) 524, 

ReusEngland 710. 

dv. Reumayr 417, 420. 

New: Hampöhire 711. 

New⸗Yerſey 712. 

New⸗NYork 712. 

Niederlaude (Nachtrag z. 3. VII. S. 269, 
von Schultheh) TO®S. 

Nizza (Annexion) 524. 

Nordamerikan. Befreiungskrieg 715. 

Norddeutſcher Bund 951. 

Norddeutfcher Bund, Nachtrag v. Brater 
8350. 

Norwegen, feit 1866 1025. 

Notendeckung 306, 307, 325, 329, 


D. 


Orffentliches But 67. 

Deffentliches Recht und Nechtöpflege 65: 

Oktoberdiplom 857. 

Drientalifche Frage 665. 

Ortszölle 340, 342, 

Defterreichifch sungarifhe Monar⸗ 
chie. Rachtrag von H. Schult heß SEE. 

Oſtindiſches Reich 574, 

Oftfeepropingen, deutfche 964 f. 

Otto (Griechenland) 559. 


P. 


Pallavicino 631. 

Palmerſton 538, 663, 666. 
Paraguay 432. 

Pariſer Protokoll (1869) 666. 
Parlamentariſches Budget 205. 
Parlamentsreform, engliſche 566. 
Paskiewicz 928. 

Paſſagezölle 340. 

Peel ſche Bankgeſetzgebung 324, 327. 
Pennſylvanien 712. 

Pentarchie 79. 

Peru 1039. 

Pflegeämter 145. 

v. d. Pfordten 417 ff., 156. 
Philofophie der Wirthfchaftögefchichte 104. 
Piercc 726. 

Pius VI. 620, \ 
Pius VII. 622, 


Regifier. 


Pins IX. 627. 

Plymouth 710. 

Polen, Königreid, v. I. Earo DIS f. Bgl. 
957 f. 

„Polen, öfterr. 909. 

Politiſches Gleichgewicht 88. 

Polizeiverwaltung 66. 

Polizeiverwaltung in Würtemberg 250, in 
Aegypten 409, in Baden 414. 

Volt 724, 

Prüliminarvertrag zu Berlin (Zollverein) 664. 

Prämiengefellfchaften 6, 7. 

Prämienreferve 23. 

Bräfident der Union 745 f. 

Preſſe, amerit 790 f. 

Preßfreiheit 204. ‚ 

Preußen, Rachtrag v. H Schultheß. 935. 

Prim 1029. 

Brimogenihur 987. 

Privatbanquiers (Roten ausgehende, in England) 
322. , 

Privatgut des Staates 67. 

Produktion in Nordamerifa 809 f. 

Proletariat 74. 

Provincialräthe in Walde 147, in Würtemberg 
250, in Aegypten 409, in Baden 414, in 
Stalien 643. 

Provincialverwaltung in Waldeck 147, in Würtem⸗ 
berg 249, in Aegypten 409, in Baden 414, 
in Stalien 642, 

Bublicttät in Bankſachen 337. 


. N 


Ratazzi 632, 634, 643. 

Rechberg 872. 

Rechtöpflege in Walde 147, in Wärtemberg 
250, in Baden 414, in Drafllin 430, in 
Italien 642. 

Reformirte Kirche (Urfprung) 403. . 

Regalität d. Zettehvefene 304. 

Reichstag, norddensicher 496. 

Reigeröberg 417. 

Reifeverfehr (300) 385. 

Religtonsflatiftit von Waldeck 146, von Bürtem 
berg 229, von Baden 416, von Europa 515. 

Rentenverfiherung 19, 24. 

Repräfentantenhaus 740. 

Republikaner (Antiförderatiften) 155, 717, 





Begifler. 


Ros privatao 87, 

Res publicae 67, 
Rhode⸗Island. 711. 
Ricaſoli 634. 

Ringelmann 417. 
Ritterthum 86. 

v. Roggenbad 413, 415. 
Romagna 596. 

Römer (Völlkerrecht) 83. 
Römiſche Zinsgefebgebung 220. 
Nücdverficherung 27, 46, 56. 
Rückzoll 355, 38V, 
Rumänien 697, 1048. 
Ruſſel 566. 


Ruplaud, Nachtrag von H. Schultheß. 


955 
S. 


Sardinien 587. 

Savoyen (Annexivn) 524. 

Schauenburgiſches Geſchlecht 971. 

Schleswig 442, 452, 467. 

Schleswig: Holftein von WRarquardfen 
969. 


Schleswig⸗ Holſteinſche Frage 9 

Schmerling 474, 861. 

Schmuygel 384. 

Schulen in Nordamerika 788. 

Schutz⸗ und Trupbündniffe der ſüdd. Staaten 
mit Preußen 664. 

Schutzzoll 364, 378, 379, 386, 

Schweden, Verfaflungsänderung 1022 f. 

Seeverſicherung 16, 36, 

Senat 741. 

Senat, ital. 641. 

Serbien 1047. 

Serrano 1027. 

Shermann 7%, 731. 

Sicilien 586. 

Siebenfingifcher Bandtag 8 884, 

Siegelmäßigkeit 151. 

Sigiemund III. 922. 

Stmplonftraße 580. ’ 

Eiftirung des Binfenlaufs 227. 

Skandinaviſche Bewegung 448. 

Staudinavifche SHalbinfel, Rachtrag 
von 9. Schultheß. 1088, 

Sklavenverſicherung 35. 


1111 


Sonderburgifhe Linie 984. 

Spanien, Nahtragv.H.SchultheB. 1086, 

Specififhe Zölle 382. 

Spiegelglasverfiherung 45, 56, 

Sponnel 561. 

Staatsbeamte (Wählbarkeit, 143. 

Staatöbürgerliche Rechte in Walde 147, in 
Würtemberg 243, in Aegypten 409, in 
Stalien 642. 

Staatsſchuld, amerikaniſche 840 f. 

Staatöverfaffung und Gtaatöverwaltung in 
Waldeck 146, in Würtemberg 243, 249, in 
Aegypten 409, in Baden 414, in Brafilien 
430, in Dänemarf 447, in Europa 511, in 
Briehenland 559, in Großbritannien 563, in 
Stalien 641, in Japan 647. 

Stabel 413. 

Staͤdtebũndniſſe 87. 

Stanley 568. 

GStatthalteramt 199. 

v. Stein 575. 

Steuerzölle 347. 

Stimmrecht 128. 

Südamerilanifche Nepubliken Nah: 
trag von H. Thorbede 1034. 

Suezkanal 409, 511. 

Suffrage universel 129. 

Suwaroff 621. 


T. 


Taaffe 899. 

Tabakmonopol (Rechtfertigung) 370. 
Taggelder (Parlament) 145. 
Taylor 725. 

Telefi 864. 

Iheilungen Polens 918, 924 f. 
Thiers 540. 

Thorbede 703, 705. 
Toleranggefeß in England 205. 
Tontine 25. 

Transatlantiſches Kabel 511. 
Trandportverfidherung 16, 53. 


Türkei, Nachtrag v. 9. Schultheß. 1047. 


Tyler 724. 
u. 


Ueberſchwemmungsverſicherung 45, 
Ungarn Ausgleich 892 f. 


1112 


Untonsverfafiung 717, 733 f. 
Untonsverfudh Preußens 450. 

Union von Zublin 920. 
Untverfalmonardhie 88, 
Univerfalftaat (Civitas maxima) 77. 
Uruguay 432, 1045. 


V. 


Van Büren 722. 

Venetien (Einverleibung) 635, 639. 

Denezuela 1034, 

Vereinigte Staaten 9. Nordamerika. 
1, Öefchichte von Bluntſchli 707. IL Staats 
verfaflung, von demfelben 733. HL. Gtatiflit, 
von H. Meyer 756. 

Berfehramittel in Würtemberg 230 ff., in 
Aegypten 409, in Baden 414, in Brafllien 
430, in Europa 509, 510. 

DBerfichernuugsanftalten (von Mako⸗ 
wiczta) 0. I. Bedürfnig und Princip der 
V. 1. II. Gegenftand derfelben 3. 111. Die 
V.Prämie und deren Maßſtab 4. IV. Syſtem 
ber V. 6. V. Zweige der V. 11. Vi. Dolls: 
wirthſchaftliche Bedeutung der B. 28. VIL. 
V.⸗Politik u. Poligel 31. VIII. Geſchäfte des 
V.⸗Weſens 35. IX. Statiſtik 47. X. Literatur 58, 

Verſicherungszwang 32. 

(Berforgungsanflalten, |. Waiſen⸗ Zindels u. a. 
2.2.) 

(Bertheidigung, |. Strafrechtepflege.) 

(Bertrag, |. Staatenvertrag.) 

Verwaltungs⸗Gerichtshöfe 65, 420. 

Derwaltuag und Verwaltungsrecht 
(von Bluntſchli) GO. 1. Begriff 60. II. 
Staats B. und Privat:B., Beamten-B. und 
Repräfentatis®. 62. IH. Verwaltungsrecht 
64. IV. Verwaltungsrechtöpflege 68. 

Diebverfiderung 14, 41, 52. 

Vierter Stamd (von Bluntfhli TS. 

Birginien 709, 717. 

(Bolt, ſ. Ration u. Volk.) 

Völkerrecht (von Berner) 36. I. Begriff 
u. Grundlage 76. 11. Geſchichte 80. 111. 
Literatur 89. IV. Ouellen 94. 

Völkerrechtliche Streitigkeiten 65. 

Volksbewaffnung, ſ. Heer.) 

(Volkoſchule, |. Schule.) 

(Doltöfouveränetät, ſ. Sonveränetät.) 


Kegiſter. 


(Volloverſammlungen, ſ. Bereine umb Ber 
fammfungen.) 

Volkswirthſchaft, Volkswirth⸗ 
ſchaftslehre (von v. Rangolidı 97. 
L Wirthſchaft, Vollswirthſchaft 97. IL Belle 
wirthſchaftslehre 102. III. Methodik d. Bolla 
wirthſchaftslehre 106.1V. Geſchichte d. B.2.121. 

Bolljãhrigkeit, politiſche 130. 

Bollziehende Gewalt, ſ. Staatögewalten.) 

(Voltaire, |. Encyklopaͤdiſten.) 

Bormundſchaft, ſ. Gericht, Regentfchaft.) 

Vorzugsrecht der Rotenglaͤubiger 321. 


W. 


Waadt, ſ. Schweiz.) 

Waffenruhe 127. 

Waffeuſtillſtand (von Berner) 187. 

Wahlkreiſe 137. 

Bahlmänner 141. | 

Wahlrecht uud Wählbarkeit (vom 
Bluntfhli) 198. I. Aktives Wahlrecht, 
Stimmrecht 128. 11. Wählbarkeit 142, 

(Wahlreich, |. Monarchie, Thronfolge.) 

Baifenpenfionen 25. 

(Walachei, f. Moldau und Walachei). 

Walde 146. 

(Wallis f. Schweiz.) 

Wappen, Landesfarben, Siegel 148. 

(Waſa, f. Skandinavien.) 

Waſhington 716, 718. 

Watbington, Georg(vonReimann) ik. 

(Baflerpolizet, ſ. Gewäfler.) 

(Bafferftraßen, |. Lande und Waſſerſtraßen.) 

Webſter 723, 724, 725. 

Wechſel (Handel damit) 296. 

Beggeld 341. 

Weibliches Geſchlecht (Stimmrecht) 130. 

Welfen (von Schulze) 160. 

Bellesiey, Arthur 171. 

Wellington (von Hörmann) 171 

Weltbürgerrecht 187. 

Meltfriede 185. 

Weltmacht u Weltreich(von Bluntſchii 
183. 

Weltrecht 184. 

Werthzolle 359, 382. - 

(Weftfäliicher Friede, |. Kongeſſe u. Friedens 
fHtüfle.) 





Begifler. 


Weſtindiſche Infeln 448. 

Wettiner (vn Schulze) 187. I. Er⸗ 
neftinifche Linie 190. II. Albertinifche 2. 196. 

(Biderfland, f. Gehorſam u. BWiderfland.) 

Wiedertäufer in Zürich 403. 

BWielopoläli 930 f., 967 f. 

Wiener Friede (1864) 663. 

(Wiener Kongreß, f. Kongreſſe und Friedens⸗ 
ſchlüfſe.) 

Wilde (deren Völlerrecht) 80. 

Wilheln Il. König von Euglaud 
(von Bluntſchlih 199, 

Birthfhaft 97. 

(Wirthfepaftspoligei, f. Polizei, Bollswirthfhaftt: 
pflege und Rolizet.) 

Wiſſeuſchaft (von Bluntfhli) 807. 

Wittelsbacher (von Schulze) SL. 1. 
Bayeriſche oder Ludwigiſche Linie 213. IL 
Rudolfiſche oder pfälziiche Linie 215. 

Bittwenpenfionen 25. 

(Woplfahrtspoligel, |. PBoligel.) 

(Bopithätigkeitsanftalten, |. Armenpflege, Ber. 
forgungsanftatten.) 

Wucher und Wuchergeſetze (von Bold» 
fhmidt) 819. 

Würtemsberg (von Küpfeh 229. 1, 
Geogr.⸗ flat. Ueberſ. 229. II. Politiſche Ges 
ſchichte und Verfaſſung 232, III. Staatepers 
waltung 249. 

Wöürtembergifche Dynaſtie (v. Schulze) 
3353. 

Würzburger Konferenz 456. 


3. 


Zachariä, K. Sal. (von Bluntſchli) Bet. 

Zäbringer (von Schulze) 267. I. Baden 
Badiſche Linie 269, II. Baden⸗Durlachſche 
8. 270, 

Zamoysli 959. , 

Bapow, von 939. 

BZeitgeift (von Sluntſchli) D7B, 


1113 


Beitungswefen (von Lammers) 888. 

Bettelbautwefen (von Wagner) 993. 
I. Begriff 293. 11. Entwickelung 284. 111. 
Banknote 302. IV. Notendeckungoſyſtem 305. 
V. Notenausgabe und Dislontogeichäft 310. 
VI. Staat und Bettelbanfwefen 315. VII 
Derhalten des Staats zur Banknote 319. VIIL. 
Derbalten des Staates zur Geichäftsführung 
der Bettelbanten 324. 1X. Verhalten des 
Staates zur Errichtung von Zetielbanten 330. 
x. Srundfäge der Bettelbankpolitit 335. 

insverbot, kanoniſches 222, 

Hollämter 385. 


Zölle (von Wagner) 840. I. Begriff, 


Entwidelung und allg. Bedeutung des Kandes« 
grenzzollſyſtems 340. 11. Finanz und Schuß: 
zölle. Durchfuhrzoll, Entwidelung und gegenw. 
Umfang des Ausfuhrzolls. Getreidezollpelitik 
347. 111. Entwidelung und Syſtem des Eins 
fuhrzolls 367. 1V. Einrichtung des Sollweiens 
382. V. Die Finanzgölle als Steuerart 385. 

Zollfreie Niederlagen 380. 

Zollgemeinſchaft 1051. 

Zollgeſetz. Prenßiſches 1056. 

Zohlkartell 384. 

Zoll⸗Rebengebühren 342. 

Zollſtatiſtit 361. 

Zollverband 1051. 

Zollverein 1050.(v. ECuminghaus Weſchichte 

v.1866, 1053, Organifation des alten 9. 1073. 

Ganbelspoftiiäer Charatter 1050. Einfluß des 
3. 1084. Finanzielle Erfolge 1088. Bundes⸗ 
zollgemeinfchaft nach 1866, 1094. - 

Zollvereinsprincip, deffen Fortbildung 392. 

Zuckerſtenerkonvention, internationale 381. 

(Zunft, |. Gewerbe.) 

(Züri, ſ. Schweiz.) 

von Zuylen 703. 

(Zweilammerfuften, f. Gefeßgebender Körper, 
Zandtag.) 

Zwingli (von Bluntſchli) 39%. 

(Zwifgenherrfhaft, |. Staatsoberhaupt.) 





II. 
Meberficht der ſämmtlichen Artikel des Sitaatswörterbuds. 


A. Arabien. Plath. I. 

Arbeit. A. v. Mangoldi. 1. 

Abgeordnete. Pößl. J. - Arbeitende Klaffe. Huber. I. 

Abfolute Gewalt. Bluntſchli. I. Archivweſen. Rodinger. I. 

Abſtimmung. Pol J. Ariſche Bölker und ariſche Rechte. 

Abzeichen. Pig. I. Bluntſchli. 1. 

Acht. Maurer. I. Ariſtokratie. Bluntſchli. J. 

Adams, John. kEher. I. Ariſtokratiſche und Vemworatifäe 

Adams, Sam. Löher. I. Ide en. Bluntſchli. I. 

Adams, J. Qu Ber. I. Artftoteles. Prantl. J. 

Adel. Bluntſchi. J. Armenpflege Stahl. 1. 

Adoption. Pögl. I. Armenpflege, öffentlich u. privat. 

Adreffe. Bluntſchli. J. Brater IL. 

Advokatur. Brater I. Armenpolizei. Stahl. r. 


Aegypten. Gumprecht. I, Nachtr. XL. Arndt. Malewiczta. 1. 
Afghaniſtan und Beindfhiften Arnold von Brescia. Widenmann. L 


Plath. I. Aflen. Plath. I. 
Afrika. Gumprecht. 1. Affociation. Huber. I. 
Alademie Bluntſchli. 1. Aſylrecht. Pl J. 
Akt, Alte Pözl. I. Attila. Bluntſchli. J. 
Aktenverſendung. Lak. L. Aufenthalto reiht. Pötl. ı. 
Alemannen. NRockinger I. Auslieferung. Dollmann. I. 
Alezander, der Große. Widenmannı L AustieferungvonpslitifgenBer: 
Alexander. I. Bodenſtedt I. bredern. 1. 
Algter. Schubert. 1. | Anı önahmegericht. Dollmann. 1. 
Allianz. Heffter. J. Ausnahmögefep. Brater. 1. 
Allianz, heilige Bluntſchli 1. Ansträge. Aegedi. 1. 
Altenflein. Helwing. I. Auftralien: Blatt. I. 
Amerika. Löher. I, Auswanderung, Recht der. Pöl. 1. 
Amneftie. Brauer. I. Auswanderung, Politik der. Brater. 1. 
Amortifation. Glaſer. 1. ' -Autofratie, Bluntfäli. 1. 
Amt. Pözl. I. Autonomie. Raurer. 1. 
Amtöverbreden, Amisvergehen. Autorität, Heffter. 1. 

Dollmann 1. Autorrecht. Bluntfäli. J. 
Anarchie. Ahrends. 1. 
Ancillion. 8. v. Kaltenborn. 1. B. 


Anerlennung. Berner. I. 

Anbaltifhe Herzgogthbümer. Baco von Derulam. Marquardſen 1. 
Schubert. 1. Baden. Schubert. 1. Nachtr. Bluntſchli. Xı. 

Araber. Plath. 1. Banken. Glaſer. J. 





Neberſicht. 


Basken. Mahn. I. 

Baftiat. v. Mangeldt. 1. 
Baubehörden, Bülau. I. 
Bauernftand. Riehl. ı. 
Bayern, Königreich Pözl. J. 
Bayern. Nachtr. Schultheß Xı. 
Bahern's. Politik. Bluntſchli. 1. 


2115 


Braſilien. Handelmann. FI. 
Braſilien. Thorbeckt. Nachtr. XL 
Braunſchweiq. Vorwerk. IE 
Briefgeheimniß. Brater. II. 
Brougham. Marquardſen. II. 


—Bräüderlichkeit. Ahrens. 11. 


Buddhismus. Weber. 11. 


Bayeriſcher Volkoſtamm. Rockinger. "Bundesftaat, Staatenbund. Pözl. II. 


Beccaria. Walther. L 
Begnadigung. Brawer I. 
Bekenntnißfreiheit. Ric. I. 


Delagerungdftand, Standrecht. 
Brauer. J. 

Belgten. Schubert IE Rachtrag 9. 
Schultheß. X. 


Bellarmin. Prantl. 11. 

Bentham. Gundermann. 11. 

Berberet. Gumprecht. II. 

Beredſamkeit, politiſche. Bläniſchli lI. 

Bergwefen. Gtamm. II. 

Bernadotte. SturgensBeder, II, 

Bernftorf der Weltere 
Beder. II. 

Bernflorf der Jüngere Sturzen 
Beer. 11. 

Berufsfreiheit. Braten. IL 

Beſatßzungsrecht. Berner. IL. 

Befhäftigunsanftalten Malo⸗ 
wicʒla. IL, 

Beſchwerderecht. Pözl. I1I. 

Befig, ſtaatrechtlicher. Zachariä. I. 

Bethmann⸗Hollweg. v. F. I. 

Beute. Berner. 11. 

Bevölkerung. v. Mangoldt. II. 

Beweis. Lauf. 11. 

Billigkeit. Drelli und Bluntſchll. 11. 

Biſchof. Schulte. 11. 

Blackſt one. Marquardſen. I. 

Blanc, Lonis. Glaſer. II. 

Blokade. Berner. 11. 


Sturzen⸗ 


Bureaufratie, Brater. IL 


—Bärgerſtand. Bluntſchli I. 


Burke. Geffcken. II. 
C. 


Calhoun. Reimann. II. 

Calvin. Blunt IE. 

Cambacérés. Levila. IL. 

Cancrin. Bodenſtedt. IL, 

Canning. v. Zatmmbd. I. : 

Gapetinger, Bourdonen. Schule. II. 

Don Carlos. Flegler. 11. 

Earmer. v. Kıltnbom I. 

GCarnot. RM. 2. II. 

Cäſar. Bluntſchli. 1. 

Cenſur, römiſche. Bluntfhlk II. 

Centraliſation, Decentraliſatton. 
Brater. II. 

Eeremoniell,völkerrechtlich. Berner. II. 

Channing. Bluntſchi. IL. 

Chateaubriand. v. Gonzenbach. IL, 

Chiffrirkunſt. Enderlein. II. 

Chinaund die Chineſen. Pth. II. 

China. Rachtt. XL 

Chlopizki. Bodenſtedt. II. 

Chriſtenthum. Bluntſchli. IE. 

Cicero. Dernburg. 11. 


Civilgeſetzgebung. Arndts. IL 


Civitiſation. Bluntſchli IL. 
Civilliſte. v. Treitſchke. II. 


Civitrecht. Arndis. IL. 
Civilrechtspflege. Lauk. 11. 
Clauſewltzz. M. B 
Clay. Loher. II. 
Clemens. Wegele. II. 
Clive. Gundermann. I. 
Cobden. Glafer I, 

Cocceji. v. Kaltenbom. II. 
Colbert. v. Mangoldt. I. 
Cbilibat. Wegele. IL 


Blücher. M. B. 11. 

Bodin v. Gonzenbach. II. 
Bolivar. Wöer. IL 

Bonald. v. Gonzenbach. AL. 
Börne. Bluntſchli. II. 

Börfe. Glaſer. IL, 
Börfenfpiel. Glafer IL 
Braganza. Schulze. II. 
Brahmanismus. Weber. II 


1116 j 


Columbus. Reimann. IL, 
ra Segler. 11. 
Conſtant. Muntſchli. II. 
Cortez. Duttenhofer. II. 
Ezartoryskt. Bodenſtedt. II. 
Czerni. Bodenſtedt. II. 


D. 


—Dahlmann. Bluntſchli. I. 
Dalmatien. S. Oeſtreich. 

Dänemark. Schubert. II. Nachtrag. H. 
Schultheß. XI. 

Dante. Wegele. II. 

Danton. v. Sybel II. 

Demagogie. Brater. II. 


©. 


Ebenbürtigtett. Säule IIL 
Ehe. Bluntſchli. II. 

Ehre, Epriofigkeit. Maurer. LII. 
Cichhorn. v. Richthofen. III. 

Eid. Meier. III. 

Eid, politiſcher. Brater. III. 


Eigenthum. Bluntſchli. III. 


Cite von Replow. Jolly. III. 
Cinkommen. v. Mangoldt. III. 
Tinkommen⸗und Kapitalrenten⸗ 
ſteuer. Fentſch. II. 
Einwanderung. Pöjzl. III. 
Eifenbahnen. Glaſer. III. 


Demokratie und demokratiſche gucyclopädiſten. Ahrens. III. 


Ideen. Blumtſchli. IL 
Denunciation. Brater. IL 
Despotie. Bluntſchli. IL. 

Deutſche. I. 

Deutſchland. Schubert. II. 
Deutſchland. Nachtr. H. Schultheß. Xı. 
Deutſches Staatérecht. Zachariä. II. 
Deutſcher König. Maurer. II. 
Deutſcher Bund, a Geſchichte. Ar 

gidi. III. 

Deutfher Bund, b. Berfaffung. Ae⸗ 

gidi. III. 

Deutfher Bund, Reform. Aegidi. III. 
DeutfheBundesverfammiung. He 

gidi. ILL 
Deutfhes Bürgerrecht Pözl. II. 
Dienfbarteit, ſtaatsrechtliche. 

Jachariã II. 
Dienftgebeimniß. I. 
Diplomatie. v. Kaltenborm. II. 
Diplomatifhes Korps. v. 

born. II. 


Kalten 


Disciplinarvergeben und Dis⸗ 


ciplinarverfahren. Bülau. III. 
Diſſidenten. E. Herman. Ill. 
Dohm. v. Kaltenborn. III. 
Doktorat. Mebius. II. | 
Doktorinarismms. Bluntſchli. I. 
Domänen. v. Treitſchke. III. 
Dritter Stand. Bluxntſchti. ILL. 
Oſchingisſschan. S. Jemudſchin. 
Durchſuchnungs recht. von Kaltenborn. III. 


Erbgüter. Maurer. III, 

Erbrecht, privatrechtlich. Brinz III. 

Erbrecht,ſtaatérechtlich. Bluntſchli. III. 

Erfindungs: und Einfährungs—⸗ 
patente. Makowiczka. III. 

Eroberung. Berner. III. 

Erziehung. Frohſchammer. II. 

Erziehung, körperliche. Pfaff. III. 

Espartero. Flegler. II. 

Eugenv Savoyen. Hörmann. III. 

Euroya Blumtſchli II. Rachtrag. H. 
Schultheß XL. 

Erpropriation. Brinz. II. 

Exterritorialität. v. Kaltenborn. III. 


3. 


Kabrilarbeiter und Fabrikweſen. 
Shäffle. 111. 

Fabrikgerichte f. Handeldgerichte. 
Ill. 

Familie. Maurer. II. 

Fenerbach. Mittermaier. II. 

Fichte. J. H. Fichte. III. 

Filangieri. Mittermaier. III. 

Finanzbehörden. Bülau. II. 

Finnen. Schiefner. III. 

Ktslalbeamte Riſch. IL. 

Fiskus Ric. II. 

Flotte. v. Kaltenborn. II. 

ForſtwirthſchaftundForſtpolizei. 
Fiſchbach. III. 


Aeberſicht. | 1117 


Korteseue. Gundermann. II. “ Gewerbe, Bewerbfreiheit, @es 
or. Geffcken. II. werbordnung. Schäffle ıV. 
Franken. Rodinger. III. Gewerbe: und Handelskammern. 
Frankfurt a M. Pfefferkorn. 1. Scääffle IV. 
Franklin. Reimann IT. Gewerbſtener. Fentſch. IV. 
Frankreich. Block. IIi. BGleichgewicht, potiriſqgee. Bluntſchli. 
Frankreich. H. Schultheß. Nachtr. Xi. , IV. 
Frauen. Brater. III. Gneiſenau. IV. | J 
Freihafen. v. Kaltenborn. III. Gdrres. v. Laſaulx. IV. | 
Freiheit. Ahrens. 118. Böthe. Bodenftedt. IV. | 
Freiheitsrechte. Ahrens. III. Gregor der Große. Vogel. IV. 
Freimaurer. Bluntſchli. II. Gregor VII Vogel. IV. 
Fremde, Fremdenrecht. Pözl. I. Griechen. Viſcher. IV. 
Friede Heffter. I. Griechenland. Viſcher IV. Nachtrag. 9. 
Friedensgericht. Laud. IT. Schultheß. XI. 
Friedrich der Große. v. Zadmund. IT. Griechiſche Kirche. Dove. IV. 
riefen. v. Richthofen. IV. Großbritannienund Irland. Gneifl. 
Fürft, fürſtliches Haus. Pl. IV. IV. Nachtrag. H. Schultheß. Xı. 
Grotius. Ahrens. IV, 
G. GSrundherrſchaft. Maurer. IV. 
Grund⸗ und Hausfteuer Fentſch. 
Gagern. H. v. Kaltenborn. IV. iv. 
Gagern. F. v. Brater. IV. Guizot v. Hottinger. IV. 


Gallikaniſche Kirche, Laboulaye. IV. Guſtav Adolph. Helbig. IV. 

Garantie, volterreqchttiche. Poͤzl und But, Güterproduktion. v. Mangoldt. 
Berner. IV. IV. 

Gefälle. Fentſch. IV. Gütervertheilung. v. Mangolbt. IV. 


"Gehorfam,Biderfkand. Bluntſchli. BW. Gymnafien und Eyceen. Pfaff. IV. 
Gel d. v. Mangoldt. 1V. 


Gemeinde. Brater. IV. S. 
RGemeinheitstheilung. v. Treitſchke. IV. 

Geng. Bluntſchli. IV. Habsburger. Schnlze. ıV. 

Gericht. Lauf. IV. Haller. Riſch. W. 


Gerichtliche Polizei. Medicus. IV. Hamilton. Reimann. IV. 

Geſandte, Geſandtſchaftsrecht. v. Handel, Sandelspolitik. Schäffle. IV. 
Kaltenborn. ıV. Handelsgerichte, Gewerbe⸗ und 

Geſellſchaft, anonyme, Erwerbs: Fabrikgerichte. Lauf. IV, 
gefeltfhaftüberhaupt Schäffle. V. Handelsconfulate. v. Kaltenborn. IV. 

-Gefellfhaft und Gefeltifhafts- Handelsverträge v. Kallenborn. IV. 


wiffenfhaft. Bluntſchli. 1V. Handels u Induſtrie⸗Kompagien. 
—Geſetz, Geſetzgebende Gewalt, Ge⸗ Schaͤffle IV. 
ſetzgebung. v. Mohl. 1V. Hannover. Stiwe. IV. 


Geſetzgebender Körper. Vluniſchli 1v. Hanſeſtädte. Lüb eck Mantels, Bremen. 
Geſinde, Geſindeordnung. Roß- Böhmert, Hammburg. Buek. IV. 


bach. IV. Hardenberg. Oncken. Nachtr. Xı. 
Geſundheitspflege und Geſund- Haus, Hausfriede, Hausſuchung. 
heitspolizei. Brater. EV. Maurer V. 


Gewäſſer, deren Benutzung. Naſſe. Hausinduſtrie. Scäfte. V. 
IV, Heer, Hörmann. V. 


1118 


Hegel und die Hegelianer. Braut, 
V. 

Heinmfallareqcht. Berne. V. 

Heinrich IV. Pfaff. V. 

Helleniſche Staatsidee. Ahrens. V. 

Herbart. Pranil. V. 

Herder. Scheidler. V. 

Herrenloſe Sachen. Pözl. V. 

Heſſen, Großhexzogthum. Bopp. V. 

Heſſen, Kurfürſtenthum. V. 

oſen Heumbutg, Landatafſaaft 
V. 

Hinderindien. WYuttke. V.. 

Hobbe3. Dahn, V. 

Hof, Hof-Beamte, Hof⸗Ceremo⸗ 
niell, Hof⸗Staat. v. Kaltenborm. V. 

Hohenftaufen Wegele. V. 

Hohenzollern. Schulze. V. 

Hontheim. Schulte V. 

Humboldt. W. v. Bluntſchli. V. 


J. 


—Ideokratien. Theokratie. Bluntſchli. 
V. 

Illuminaten. Prantl. V. 

Zmmoblliarsund Kreditanflalten. 
Rofcher. V. 

Indier. Wuttle V. 

Induftrieausftellung. Schäffle V. 

Innocenz III, Vogel. V. 

Inquifition, Dove V. _ 

Sutervention. Berge. V. 

Ysland. Maurer. V. 

Stalien. Reudlin, V. Radtsag. XI. 

Jackſon. Reimann. V, 

Jaad-und wiigerelreah Berchtold. 


— Wuitke. V. Nachtr. x 

Jarke. v. Böhm. V. 8: 

Sefferfon. Reimam. V. -' +» 

Joniſche Inſeln. Viſcher. V 

Joſeph. IL v. Sybel. V. 

Juden, Geſchichte der. Wuttke. V. 

Juden,rechtliche Stellun g. Bluniſchll 
V. 

Juſtizbeamte. Lauk. V. 

Juſtizverweigerung, 
jögerung. Lauf, V. 


Juſtizver⸗ 


"Konftituirende 


Aeberficht 


KR. 


Kaiſerthum. Blyaıfhli. V. 

Kant. Ahrens. V. 

Kapitulation. Berner. V. 

Karlder Große, Maurer. V. 

Karl Erzherzog. Hörmann. V. 

Karl Augufl, Großherzog. Wegele V. 

Kaften, Stände, Klaffen. Blmtfhk. 
V. 

Katharina II. Berchtold. V. 

Kelten. Diefenbach V. 

Kirchenhoheit. Bluntſchli. V. 

Kirchenſtaat. Reuchlin. V. 


Kirchenſtaat. H. Schultheß. Nachtr. Xi. 


Klerus. Riehl. V. 

Klüber. v. Kaltenborn. V. 

Königreih Ztalten Reuchlin. Raätr. 
XI. 


Kolonifation. u. Keloniſations— 
Politit. Schaͤfflle. V. 

Kompeteng, Konflikt. Lauk. V. 

Konfutfe. Bluatſchli. V. 

Kongreß, Konferenz. Berner. V. 

Kongreffe und Friedensſchläſſe. 
Berner. V 

Kongreffe und Friedensſchläſſe. 
G. Schultheß. Nachtr. XI. 

Konkordat. Herrmann. V. 

Bewalt, Ber: 
-faffungsgejege,Ronfituirende 
Berfammlung. Bluntfätl. V. 

ſtonſumtſon. v. Mangoldt. V. 

Konfumtiondfteuer. Fentſch. VI. 

Kontribution. Berner. VI. 

Korporationen und Genofjen: 
haften. Blunſſchli. VI. 

Korſika. Gregorovins. VE 

Kofciufgko. Bodenſtedt VI, 

Kraufe. Ahrens. VI. 

Kiuedtt. v. Mangaldt. VI. 

Kreittmayo. Dollmam. VI. 

Krieg, Rriegführung. Hörmann. VI. 

Kriegsrecht. Berer. VI. 

Krigstontrebande. Berner. VI. 

Kriegslaften. Berner. VI. 

Kriegsverfaffung. Rüſtow. VL 

Kulturpoliget. Medicus. VI. 

Kundſchafter. Berner. VI, 





Ucherdht. 11419 
Känſteakademie,Kunſtpflege. Moriz Marokko. Plath. VI. 


Garriere. VI. Martens Berrer. VI. j 
Kurfürfenthüämer. Fler. VI. ..Maaßbund Gewiht Jolly. VI. 

Ze Mecklenburgiſche Herzogthämet. 

2. Biggerb, VI. 
Medicinalbebörden. Meine. VI. 

gafayette v. Sybel VI. Menfhenrechte. Ahrens. VI. 
Laharpe. Hottinger. VI. Meffen. Zodlbauer. VI. 
La Mennais. Guber VI. Metternid. Onden. Nachtt. XI. 
Land. Rluntſchli. VI. Mexiko. Waguner. VI. 
Landeshoheit. Maurer. VI. Mexiko. H. Schultheß. Nacqhtt. XI, 
Landfriede, Landfriedensbrud. Miltitärgefepgebung. Brauer. VI. 

Gluckhohn. VI. MILE v. Mangoldt. VI. 


!andflände (ggeſchichtlich. Maurer. VI. Miloſch Obrenowitfc. Lemde. VI. 

Zandtaginden deutfhen Staaten Milton Zohn. v. Treitfäle VI. 
Zadarlä. VI. Mirabcau. Gefften. VI. 

Landu.G6tadt:-Gemeinde Shäffl Vi. Miffton. Friedberg. VI. 

Landu. Waſſer⸗Straßen. Schäffle VI. Mittelalterfihde und moderne 


Landwirthſchaft. Zodlbauer. VI. Staatstdeen. Bluntſchli. VI, 
Lauenburg. Hantelmann VI. Mittelamerila. Wagner. VI. 
Zebensmittelpolizei. Medicus. VI. Mohammed, Mobammedanifde 
Legitimität. Bluntſchli. VI. Staatsidee. Bluntſchli. VI. 
Lehenwefen. Baig, VI. Moldau u. Walachei. Reigebaur. VI, 
Lehrfreiheit und Lernfreiheit Nachtrag. H. Schultheß. XI. 

Bluntſchli. VI. Monarchie. Bluntſchli. VE. 
Leibeigenfhaft In Deutſchland. Mongolei. Plath. VI. 

Dahn. VI. Monroe. Reimann. VI. 
Leibeigenfhaftin Rußland. Tihie Montenegro. Klun. VI. 

ſcherin. VI. | Montesguteu. Gefflen. VI. 
Leib nitz. Prantl. VI. Montgelas. Pözl. VI. 
Leſſing. Bluntſchli. VI. Morus Sigwart. VII. 
Lkiechtenſtein. VI. Mofe. Bluniſchli. VII. 
Lippe. Falkmann. VI. Mofjer, $ und 3 J. v. Kallanborn. 
Locke. Dahn. VI. VU. 
Ludwig. XIV. Bluntſchli. IJI. Möſer. Wegele. VI. 
Luther. Bluntſchli. VI. Müller, Zobanneg. Emmert. VII. 
Luxemburg u Limburg. Zacharlä. VI. Minifter. Oppermann. VII. 
Luxus. v. Mangoldt. VI. Münzweſen. Wagner. VII. 
Lyfurg. Prantl. VI. 

4 u j J N. 

Napoleon I. v. Sybel. VII. 

Makaulay. Baizfäder. VI. Naffau, Herzogthum. Thewalt. VII. 
Macchiavelli. Bluntſchli. VI. Naſſau⸗Oranien. Schulze. VII. 
Madiſon. Reimann. VI. Nation und Bolt, Nationalitäts⸗ 
Magyaren. Flegler. VI. princip. Bluntſchli. VII, 
de Maiſtre. Waizſäcker. VI, Nationalverſammlung, deutſche 


Majeſtätu Majeftätsrehte. Pözl. VI. Häuſſer. VII. 
Martana und Suarez. Prantl. VL, Reger. Barth. VII. 


1120 


Negerftaaten. Barth. VII. 
Neſſelrode. Lemde. VII. 
Neutralität. Berne. VII. 
Niebuhr. Bluntſchli. VII. 
Niederlande Chais von Büren. VII. 
Nachtt. H. Schultheß. XI. 
Riederlaffung. Freizägigkeit. 
.. Mecdicus. VII. 
Nikolaus, Paulovwitſch. Leucke. VIE. 
Norddeutſcher Bund. Brater. Nachtr. XI. 
Notariat. Lauk. VII. 


Nothrecht. Bluntſchl. VII. 


O. 


D’Eonnell. Bluntſchli. VII. 
Deffentlihe Meinung. Bluntſchli. VII. 
Defterreid, Kaifertbum. I. Statifiil, 
Klun. II. Geſchichte, Beer. III. Staasrecht, 
Bagner. VI. 
Deſterreichiſch- ungariſche Monardie. 
H. Schultheß. Nachtr. XI. 
Ottupation. Berne. VII. 
Oldenburg. Lier. VII. 
Dliver Cromwell. Gefften. VII. 
Orden, geiſtliche. Dove. VII. 
Orden, weltliche. Heffter. VII. 
Oſtindien. Plath. VII. 
Oſtindiſcher Archipel. Plath. VII. 


P. 


Papiergeld. Wagner. VII. 

Papſt. Schulte. VII. 

Parteien, politifche. Bluntſchli. VII. 

Paskewitſch. v. Lemde. VII. 

Pattiarchte, und patriarchaliſche 
Staatsideen. Bluniſchli. VII. 

Parlamentariſche Geſchäftsord⸗ 
nung. Oppenheim. VII 

Patrimontalſtaatu patrimonlale 
Staatsideen. BVluntſchli. VII. 

Patronats-u. Präſentationsrecht. 
Dove. VII. 

Peel. Küpfel VIII. 

Penn. Reimann. VIII. 

Perikles. Kurtius. VIII. 

Perſien und die Perſer. Lemde. VIII. 

Perſon, Recht der Perſönlichkeit, 
Perſonenſtand. Bluntſchli. VIII. 


Ueberſicht. 


Peter der Große. Bobenfledt. VIIL 

Petitionsrecht. Bluntſchli. VIEL 

Pitt, der Aeltere. Klüpfel. VIII. 

Pitt, der Jüngere. Müpfel VIII. 

Plato. Pranti. VII. 

Bolen. (6. Slaven.) S. Caro, Rastr. XI. 

Politit und politifde Moral. 
Bluntſchli. VIII. 

Polizei. Redicus. VIII. 

Polizeidienſt. Organe desſelben. 
Medicus. VIII. 

Polizeigeſetzgebung. Medicus. VIII. 

Polizeiſtrafen. Medicus. VIII. 

Polizeiäbertretungen. Medicus. VIII. 

Bombal Baumgarten. VII. 

Portugal. Schubert. VII. 

Boften. Flegler. VIII. 

Preiſe. Schäffle VIII. 

Preßfreiheit und Breßvergeben 


Poil. VIII. 
Böll. VII. Zufapart. 


Breßpolizei. 
Brater. VIII. 

Breußen. Schubert. VII. Nachtrag. 9. 
Schultheß. XI. 

Prife, PBrifengerihtsbarteit v. 
Kaltenborn. VIII. 

Brivilegtium. Pöil. VII. 

Broteltorat. VIIL 

PBroteftantifhe Kirche, Evange» 
liſche Kirche. Herrmann. VIII. 

Provingialregierung, Provinz» 
talftände. Pözl. VIIL 

Bufendorf. Bluntſchli. VIII. 

Pütter. v. Kaltenborn. VIII. 

Pythagoras. Prantl. VIII. 


Q. 


Quesnay, Turgotund die Phyſio⸗ 
traten. Laspeyres. VIII. 


R. 


Radetzk y. Hörmann. VIII. 

Radowitz. v. Kaltenbora. VII. 

Raffe u Individium. Bluntfli. VIII. 

Recht, Rechtsbegriff. Bluntſchli. VIII. 

Rechtögleichheit und Rechtsver⸗ 
ſchiedenheit. Bluntiſchli. VIII. 

Rechtsphitoſophie. Dahn. VIII. 


. Meberfiägt. | 1121 


Rechtoſchulen. Dahn. VIII. 
Regalien. Pögl. VIII. 
Regentſchaft. Pözl. VIII. 
Rehabilitation. Gotthelf. VIII. 
Religion. Slinntſchli. VII. 
Repräfentativverfaffung. 
VIII. 
Repreifalie, Retorfion. Berner. VIII. 


Bluntſchli. 


Republik und republikaniſche Ideen, 


Bluntſchli. VIII. 


Revolutionund Reform. Bluntſchli. VIII. 


Kheinbund. Ktüpfel. VIII. 

Ricardo. Laspeyhres. VIII. 

RKichelien. Keuchlin. VII. 

Rohmer, Fr. und Th. Bluntſchli. VIII. 

Romaniſche Völker. Reuchlin. VIII. 

Romanow. Beude. VIII. 

Römifhe Juriſten. Bring. VII. 

Romiſch⸗Katholiſche Kirche. Schulte. 
VIII. 

Römiſches Neil deutſcher Ration. 
Aegidi. VIII. 

Römifche Staatstdeen. Ahrens. VIII, 

Rotted. v. Woringen. VIII 

Rouſſeau. Bluntſchli. VIII. 

Rudhart Pözl. VIII. 

Rußland und die Ruſſen. Bodenflet, 
VII. w IX. 

Rußland. H. Schultheß. Nachtr. xi. 


Saavedray Fazardo. Pranti. IX, 

Sachſen. Rockinger. IX. 

Sachſen, Königreich. Schletter. IX. 

San Marino. RKeuchlin. IX, 

Savigny. Goldſchmidt. IX. 

Gavoyifhe Dynaftie. Reuchlin. IX. 

Say. Raspeures. IX. 

Scandinaviſche Halbinfel. Malmfröm. 
IX. Rachtrag. Schuliheß. XI. 

Scharnhorſt. v. Hörmann. IX. 

Shaumburgs- Kippe, IX. 

Sähifffahrtsgefeg. v. Kaltenborn. IX, 

Schiller. Carrier. IX, 

Shleswig-Holftein. Marquardfen. Rate 
trag. XI, 

Schlozer. v. Kaltenborn. IX. 

Schmalz v. Kaltenbom. IX. 


Schmitthenner v. Kaltenborn. IX. 

Scholaſtiker. Prauil. IX 

Schuldbetreibeng. v. Wyß. IX. 

Säule. Holgmann. IX.’ 

Schwaben. Rodinger. IX. 

Schwarzenberg. v. Hörmann. IX, 

Schweiz. H. H. u. Bluntſchli. IX. Radıtrag. 
M. Birth. XI. 

Shwurgeriäht. Walther. IX 

Seegebiet. v. Kaltenborn. IX. 

Seetrieg. Kaltenborn. IX. 

Seerecht. Kaltenborn. IX. 

Gemitifhe Bölter und femitifhes 
Recht. Higig IX. 

Siche rheit ⸗Polizei. Medicus. IX. 

Sidney, Abg. Dahn. IX, 

Sieyes. Bluntſchli. IX. 


Siémondi. Bluntfhli. IX. 


Skandinaviſche, |. Scandinaviſche. 

Slaven. Lende, Bem. IK, 

Smith. Zaöpepres. IX. 

Sozialismus und Rommuniömus, 
Huber. IX. 

Sofrates. Prantl. IX. 

Solon. Prautl. IX, 

Sonnenfels. v. Böhm. IX. 

Souveränetät. Blunſſchli. IX. 

Gpanien. Baumgarten. IX. Nachtr. Schult⸗ 
heß. XI. 

Spartaffen. Labpeyres. IX. 

Spinoza. Huber. IX, 

Staat. Bluntfll. IX.’ 

Staatenverträge. Berner. IX. - 

Staatsangehörige, Staatsbürger, 
Bö. IX. 

Staatsanwaltfaft. Walther. IX. 

Staatsarzneitunde. Heder. IX. 

Staatsdiener. Böll. IX, 

Staatsgebiet, Staatsgrenze. Böl. IX, 

Staatégewalten. Bluntſchli. IX, 

Staatsminifterien. Jolly. IX. 

Staaté monopole. Laspegres. IX. 

Staatsoberhaupt, Regierungsnade 
folger. Bögl. IX, 

Staatsrath. Pol EX, 

Staatsfhulden, Gcähuldentilgung. 
Bagner. X, 

Staatsverbreſchen. Walther. X. 

Staatsvermögenſ.Staatewirthſchaft. L. 


Bluntf@li and Brater, Dentſches Staatewörterbuch. XI. 71 


— 





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1122 


Staatswirtbfchaft. Laspeyres. X. 

Staats wiſſenſchaft. Auntſchli. X. 

Stammgäter ſ. Standesherren. X, 

Stahl. Bluniſchli. X, 

Standesherren, Stammgüter. Berchtold, X⸗ 

Statiſtik. Wagner. X, 

Statutenkoliſſion. Bluniſchli. X. 

Stein. v. Treitſchke. J. 

Stenerbewilligungsrecht. Marquardſen. X. 

Steuern. ſ. Staatéwirthſchaft. Lab 
peyres. X. 

Stoiker. Prantl. X. 

Strafanftalten. v. Holtzendorff. X. 

Strafarten v. Holpenderff. X. 

Strafredtspflege Walther. X. 

Strafreht und Gtrafgefehgebung. 
Holkendorff. X. 

Strandrecht. Berne. X. 

Suarez f. Rariana und Guarez. 

Südamerikaniſche Republiten. Rachtr. 
Thorbecke. XI. 

Südſeeinſeln u. Neuſeeland. Plath. X. 

Suworow. v. Hörmann. X. 

Suzeränetät. Berner. X, 

Szödheny. Hunfalvy. X. 


T. 


Talleyrand. Klüpfel. X. 

Techniſche Schulen. Ph. Jolly. X. 

Telegrapbie. Ph. Jolly. X. 

Temudſchin. Dſchingischan). Kemde. X. 

Theater. Bluniftil. X, 

Theofratie.f. IZdeofratien. Theokratie. 

Tbomafins Bluntſchli. X. 

Thronfolge. Schule X. 

Thüringer. Rockinger. X. 

Thüringifhe Staaten. Brüdner. X. 

Tocqueville. Nah Laboulaye. X. 

Tübet. Schlagintweit. X. 

TZurgot, f. Quesnay, Turgot und bie 
Pbyfiokraten. 

Türkei. Lemde. X. Nachtr. Schultheß. XI. 

Turkeſt an. Lemke. X. 


u. 


Ultramontanismns. Bluntſchli. X. 
Ungarn. X. 

Union, Böll. X, 

Univerſitäten. Narquardſen. X. 


Aeberſicht. 


Battel. Berner, X. 

Venedig X, 

Verantwortlichkeit der höͤhhſten 
Staatöbeamten. Bluiſchli X. 

Vereine u Berfammiungen. Brater. X. 

BereinigteGtaatenvonRordamerile. 
Bluntſchli und Meier. XI. 

Berbaftung. v. Holpendorff. X. 

Verordnung BluntihH. X. 

Berfiherungsauflalten. Makowiczta. XI. 

Bertrag ſ. Staatenverträge. 

Berwaltung, Berwaltungsrent. 
Bluutſchli. XI. 

Bierter Stand. Bluntſchli. XI. 

Bolt, f. Ration und Boll. 

Böllerreät, Berner. XI. 

Bollsverfammlungf. Bereine u. Ber. 
fammlungen. 

Bolkswirthſchaftu. Volkswirthſchafte⸗ 
lehre. v. Rangoldt. XI. 


W. 


Waffenſtil Iſtand. Berner. XI. 
Wablrechtu. Wählbarkeit. Bluntſchli. XI. 
Waldec. XI. 

Wappen Landesfarben, Giegel.v. WyE.XI. 
Waſhington. E. Reimann. XI. 

Welfen. H. Schulze. XI. 

Wellington. L. v. Hörmann. XL 
Weltmacht u. Weltreich. Bluntſchli. XI. 
Wettiner. Schulze. XI. 

Biderftandf. Gehorſam, Widerftand. 
Bilhelm, Königv. England. Bluntſchli. XI. 
Biffenfhaft. Bluntſchli. XI. 
BWittelebadher. Schulze, XI. 

Wucher u. Buchergefege. Goldſchuidt. XI. 
Württemberg. Küpfel XI. 
Württembergifche Dynaftie. Säule. XI. 


3. 
Zachariä, Sal. Bluntſchli. XI. 
Zähringer. Schulze XI. 
Zeitgeift. Blunſſchli. XI. 
Beitungswefen. Laurmers. XI. 
Zettelbantwefen. Wagner. XI. 
Zölle. Wagner. XL 


Zollverein. Nachtrag. Emminghaus. XI. 
Zwingli. Bluntſchli. XL 


III. 
derzeichniß der Mitarbeiter. 
Herr Dr. Safer, Profeffor in Marburg. 


Herr Dr. Aegidi, Profefior in Bonn 


Dr. Ahrens, Profeffor in Leipzig. 

Dr. Arndte, Hofrath u. Prof. in Bien, 

Dr. Barth, Profeffor in Berlin. + 

Dr. Baumgarten, Prof. in Karlsruhe. 

A. Beer, Brofeffor in Wien. 

Dr, Berchtold, Profeffor in München. 

Dr. Berner, Profeffor in Berlin. 

Dr. Blod in Paris. 

Dr. v. Bodenftedt in Meiningen. 

Dr C. v. Böhm in Wien. 

Dr. 3. Böhmert, Brofeffor in Zürich, 

Graf v. Bothmer, General in München, 

Brandt, Profefior in Chriſtiania. 

Dr. Brauer, Geh.Rath u. G.Auditor 
in Karlsruhe. 

Dr. Brinz, Brofeffor in Tübingen. 

Brüdner, Archivrath in Meiningen. 

DOberauditor Buek in Hambıng. 


Dr. Bulmerincq, Profeffor in Dorpat, 


Dr. Ch. van Büren in Amſterdam. 
Br. Caro, Profeſſor in Jena 
Dr. Carriere, Profeſſor In München. 
Dr. Curtius, Profeſſor in Berlin. 
Dr. Dahn, Profeſſor in Würzburg. 
Dr. Dernburg, Profeſſor in Halle. 
Dr. F. Dieffenbach, Stadtbibliothelar 
in Frankfurt a. M. 
Dr. v. Dollmann, Hofratb u. Prof. 
in München. + 
Dr. R. Dove, Profefior in Göttingen. 
Fr. Emmert in Würzburg. 
Dr. Emminghaus, Prof. in Karlerube. 
Fallmann, Arhivrath in Detmold. 
Fentſch, Regierungsrat in München. 
Dr. Fichte, Profeffor in Stuttgart. 
Dr. Ficker, Profeffor in Innsbrud, 
Fiſchbach, Oberforftrath in Sigmaringen. 
Dr. Flegler, Profeffor in Nürnberg. 
Dr. &. Sriedberg, Profeffor in Halle. 
Dr. Frohſchammer, Prof. in Muͤnchen. 
Dr, Geffcken, Syndikus in Berlin. 


” 


Dr. Gneiſt, Brofeffor in Berlin. 

Dr. Goldſchmidt, Brof. in Heidelberg. 

Dr. Eug.v. Gonzenbach in St. Ballen. 

Dr, Gotthelf, Advokat in Mimden. 

F. Gregorovius in Rom. 

Dr. Bundermann, Advolat in München. 

Dr. Hantelmann, BProfefior in Kiel. 

Dr. Häuffer, Brofeflor in Heldelberg. + 

Dr. Häußler, Brofeffor in Bafel. 

Dr. Heder, Hofrath u. Brof. in München. 

Dr. Heffter, Geh. Obertribunalratb u. 
Profeſſor in Berlin. 

Helbig, Profeffor in Dresden. 

Dr. Helwing, Profefior in Berlin. 

Dr. & Herrmann, Geh. Rath u. Prof. 
in Heidelberg. 

Dr. Hitzig, Kirchenrath und Profeſſor 
in Heldelberg. 

Dr. v. Holtzendorff, Prof. in Berlin. 

Dr. Holtzmann, Prof. in Heidelberg. 

Hörmannv. Hörbad, Major in Würz⸗ 
burg. + 

H.Hottinger, Altftantsfchreiber in Belair 
bei Vevay. 

Dr. B. A. Huber in Wernigerode. + 

Dr. 3. Huber, Brofefior in Münden. 

Hunfalvy, Bibliothekar der Alademte 
in Peſt. 

Dr. v. Jasmund, Legations⸗R. in Berlin. 

Hodibauer, Rintfteriafaffeflor i. München. 

Dr. Jolly, Staaröminifter in Karlsruhe. 

Dr, Jolly, Profeffor in Münden. 

Dr, Frei. v. Kaltenborn, Leg.-Rath. 
in Kafjel. + 

Dr. Kluckhohn, Profeffor in München. 

Dr. Klun, Brofeflor in Wien. 

Dr. Klüpfel, Univ.Bibliothefar im 
Tübingen. 

Dr.Laboulaye, Alkadem.u. Prof. i. Paris, 

4. Lammers in Brenen, 

Dr. Laspeyres, Profefior in Dorpat. 


1124 


Herr Dr. Lemde, Profeffor in Helbelberg. 


Dr. 3. Levita in Paris. 

Lier, Minifterialfekretär in Oldenburg. 

Dr. 2ö her, RKeichdarchivdirektor 1. München, 

Dr. Mahn in Berlin. 

Dr. Makowiczka, Prof. in Erlangen. 

Dr. Malmftröm, Univerfitätsadjuntt in 
Upfala. 

Dr. v. Rangoldt, Prof. in Freiburg. + 

Profeffior Mantels in Kübel. 

Dr. MRarquardfen, Prof. in Erlangen. 

Dr. Maurer, Brofeflor in München. 

Dr. Medicus, Begirktsamtmann in Berg 
zabern. 


Dr. &. Meier, Privatdocent in Göttingen. 


D. H. Meier, in Freiburg. 

Dr. R. v. Mohl, großh. bad. Gefandter 
in Mänchen. 

Dr. Nafſe, Profeſſor in Bonn. 

Dr. Reigebaur, Geh.⸗Juſtizrath in 
Breslau. + 

Dr. Onden, Brofeflor in Heidelberg. 


Dr. Oppenheim, Stadtgerichtärath in 


Berlin, 
Oppermann, Advofat in Nienburg. 
Dr. 9, v. Drelli, Profeffor in Zůrich. 
Dr. A. Pfaff, Profefior in Schaffhaufen. 
Dr. S. Pfaff, Profeffor in Erlangen. + 
Dr. 

a. 
Dr. 
Dr. 


Bath in Münden. 

v Pözl, Hofratb u. Brof. in Münden. 

Dr. Brantl, Profeffor in Munchen. 

Dr. Reimann, Öberlehrer in Breslau. 

Dr. 9. Reudlin, in Stuttgart. 

Dr. Freih. Richthofen Prof, in Berlin. 

Dr. Riehl, Profeſſor in München. 

Dr. Riſch, Profeſſor in Würzburg. 

Dr. Rodinger, Reichsarchivſekretär in 
Münden. 


Dr. Roſcher, Hofrath u. Prof. in Leipzig. 


te rkorn, Advolat in Franfurt , 


Derzeichnif der Mlitarbeiter. 


Herr Dr. Roß bach, Ragiſtratsrath i Würzburg. 


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W. Rüſtow in Zürke. 

Dr. Schäffle, Brofeffor in Bien. 

Dr. Scäheidler, Profeffor in Jena. + 
Dr. Schiefner, Staatsrath in &t. 


Dr. Schlerter, Profefior in Leipzig. 

Dr, Schubert, Geh. Rath u. Profefisr 
in Königsberg. + 

Dr. Schulte, Brof. u. Koufifi.Reth in 


Prag. 
9 Schultheß in Münden. 
Dr. Schulze. Hofrath u. Prof. in Breslau. 
Dr. Sigwart, Brofefior in Tübingen. 
Dr. Stahl, Profefior in Gießen 
Dr. Stamm in Komotau. 
Dr. Stüpe, Dürgermeifter a. D. im 
Dsnadrüd. 
Dr. v. Sybel, Brofeffor in Bonn. 
J. 9. Thorefen in Chriſtiania 
H. Thorbede, Profeffor in Heidelberg. 
Dr. v. Treit ſchke, Prof. in Heidelberg 
Tſchitſcher in, Profeſſor in Mostau. 
Dr. Bifcher, Profeſſor in Baſel. 
Dr. Bogel, Profeffor in Jena. 
Borwert, Obergerichtörath i. Wolfenbüttel. 
Dr. A. Bagner, Profeſſor in Freiburg. 
Dr. Mor iz Bagner, Prof. in Münden. 
Dr. Baitz, Profefior in Göttingen. 
Dr. Balther, Brofefior in München. 
Dr. A. Beber, Brofefior in Berlin. 
Dr. Wegele, Profeffor in Bürzburg. 
Dr. Beisfäder, Profefior in Tübingen. 
Dr. ©. ®idenmann, in lm. 
Dr. Max Birth, Direktor des eidg. Rat. 
Bureau in Bern. 
Dr. v. Boringen, Prof. in Freiburg. + 
Dr. Buttke, Profeffor in Leipzig. + 


„ Dr. v. Wyß, Profefior in Züri. 
„ Dr. Zachariä, Staatsrath u. Profeffor 


in Göttingen.